4 —
HERAUSGEGEBEN VOR
JULIUS LOHAMEYER
BERLIN
VERLAG VnALEXANDER DUNCHER
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DEIIKSITBTOMEIKIG HEBEN
gesamte leben der gegenwart...
FPGGMV] Pound
J423 1007
Harvard College Librarꝑ
FROM THE REQUEST OF
JOHN AMORY LOWELL,
(Olass of 1815).
This fund is 820,000, and of its income three quarters
shall be spent for books and one quarter
be added to the principal.
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I
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Deutsce IMlonatsschrift
für das
gesamte keben der Gegenwart
Herausgegeben von
3UkluUs kKOHSMEVER
—
== Band I =
Oktober 1901 bis März 1902
©
BERLIN
Verlag von Alexander Duncker
10° -.1,;
Plru 147.7
— \ und
Inbalts-Verzeicbnis.
Erzäblungen und Movellen.
Seite
Adolph Wilbrandt, Große Zeiten . . . + bh 16L 321
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stratfund, ı ein Bild * ber —— .. 81, 64
Hermann Heiberg, Die beiden Hakess. BON
Julius Stinde, Schweiter San . >: na Erna il
Dichtungen.
Carl Buſſe, Es fchlägt ein Auf. . f 2
selir Dabn, Der Wunſch — Hort der —— 54
Dichtergaben aus dem Raabe-Albun . — 9
Reinhold Fuchs, Das deutſche Meer 1
Adolf Bartels, An Wilhelm Raabe . . 138
Ernſt von Wildbenbrud, An Wilhelm Raabe . 183
Garmen Sylva, Die Göttin. u . 191
Karl Weitbredt, Wenn ein Bolf auftwacht . 192
Karl Ernit Knodt, Abendjtimmung im Derbit . . 207
Rulins Lohmeyer, Herbſtklang 216
Fritz Pienbard, Gruß an das Meer. ö i . 227
Frida Schany, Gedichte Aus der Sammlung „Sttermeggo" . er. >;
sulius Lohmeyer, Deutihe Sprühe » 2: zn m 23258
Karl Ernft Knodt, Der Heimruf . . 280
sulins Lohmeyer, SHerbitmald . 292
Reinhold Fuchs, Auf den Grenzfamm 2 22m nee N
Neinhold Fuchs, Herbfteätroft . . 307
Frig Lienbard, Göttlihe Fahrt . 248
Julius Lohmeyer, Deutiche Sprüde . . 357
Frig Lienbard, Marſch der Seefadetten RE |
Karl Dove, Auf füblihem Meere - 2: 20 nenn. RO
Martin Gretf, Weibnadten . FE Ve GE |
Paul Friedrich, Die Großitadt ſchläät.. 40
Karl Vanſelow, Selig find . ; . 410
Heinrich Bierordt, Die Tauben ber Venus . 423
Pictor Blütdgen, Herbititimmung . 484
Bictor Blütdgen, Kinderlos . 440
Earl Buffe, Es raudit ein Gerd. . 461
Garl Dove, Totenfonutag am Meere . . Düh
Albert Klein, SKatferö Geburtstag auf See . 548
FZobannes Trojan, Weihnachtserinnerung XR
IV Inhalts⸗Verzeichnis.
Seite
G. Legerlotz, Epigramme . . . ....62
Emil Prinz; von Schönaich— — Leber bie sone nn... 685
Johannes Trojan, Ein Gruß an unfere Söhne auf der Ste. . .». » 22... .715
Hans Freiherr von Wolzogen, In medio veritas . . 2 2 2 2 nn. 746
Julius Lohmeyer, Den Deutfchen in Norbamerifa . . 830
Felir Dahn, Drei Weihnachten . j . 862
Garmen Sylva, Weitminfter Abbey . 861
Johannes Trojan, Diftichen . . 888
Johannes Trojan, Lahende Armut 894
Litteratur.
Carl Buffe, Ueber die neuere dentfhe Dihtung - - » 2 2 m 2 nn 44138
Adolf Bartels, Goethe und Eckermannn 443892
Carl Buffe, Litterarifhe Monatöberihte . . . - “2.0. 441, 618, 778, 935
Earl Buffe, Bon beutjcher Kritif und vom beutichen — Re u |
Adolf Stern, Ibſens Weltanfhauung SE Se re ee een a
Ludwig Schemann, Franz Zaver fraus. . . . ... 4864
H. von Blomberg, Wilhelm Bode, Goethe's Lebenskunſt 6
— ——
7
en. BE
Freiherr O. von Bebdlik und Reukire, Grinerungen an n Miguel . EI: |;
Erich Mards, Neues aus Bismards Werkftatt . . . . F 738, 844
Muſik und Kunft.
Mar Marterijteig, Vom deutihen Theater . - > 2 2 146, 458, 626, 786
Leopold Schmidt, Mufikaliihe Rundihau . » >» 2 2 222024308, 684, 792, 949
Friß Lienhard, Bom deutfhen Theater . . . . . 944
Hermann Mutbefjus, Die moderne Umbildung unferer aienthen anſchauungen 686
Cornelius Burlitt, Zur Heidelberger Schloffrage . » - - - VF a,’ : :
Staats und Völkerleben,
Theodor Schiemann, Deutjchland und die großen europäifchen Mächte . . . 109, 276
Theodor Lindner, Die un bes deutichen Nationalbemußtfeins . . . . . 34
Alerander don Beez,, Der en li wiichenbandel ala Deutihenfeind . . . 375
Wilhelm von Kardorfi-Wabnik, Ein Geſpräch mit — — . 731
Theodor Schiemann, Monatsihau über die auömärtige
‚ 115 er 424 604 763, 914
Inhalts-Verzeichnis. V
Seite
Geographie und Reiſen.
Friedrich Ratzel, Der Geiſt, der über den Waſſern ſchwebttbtb4242
Graf Joachim von Pfeil, Betrachtungen über Maroffo . . . . .. 55
Alfred Kirchhoff, Das Meer im Leben der Völker und in der Machtſteliung = Staaten 217
M. Wilhelm Maper, Die gemeinfamen Züge im Weltendbau . . 2 2 2... 362, 536
Etbik und Erziebung.
R. Euden, Die mweltgefchichtliche Aufgabe des deutfchen Geiftes . . . RE
Frhr. von Stengel, Die Friedensbemegung und die nationale Sefinnung en
Johannes Reinke, Der Menfc lebt nicht vom Brot allen -. . . » 2 4181
Friß Lienhbard, Die Gemütsmacdht der deutihen Frau 2 2 2 un nn nn. MR, 358
Fritz Lienhard, Berfönlichkeit und Kultur.43549
Wilhelm von Polenz, Aphoörismenn. 6390
Dans Schliepmann, Unſer Leſeſammer.. 7716
Wilhelm Münch, Nationale Erziehung... 3832
Hans Schliepmann, Geſchmack und Mode889
Deutſchtum im Auslande.
Paul Dehn, Deutſchtum im Ausland. . - » “2. . 134, 298, 435, 613, 773, 927
Karl Tanera, Der junge deutfhe Kaufmann in Ditafien — EEE TR EA,
Karl Tanera, Wie müjlen wir mit den Ehinefen verlehbren ?. . » > 2 2222. 881
Koloniales,
Hermanndon Wißmann, Meine Kämpfe in Een
1. Das Gefecht bei Sunda . . . ee Be A ee ee SE
II. Beitrafung der Wawernba-Sklavenräuber . ee
III. Das Gefecht am HiltmaMNdihare . . . » . 583
Karl Dove, Die künftige wirtſchaftliche Bedeutung Südweit- Afritas für Deutichland . 381
Beer und Flotte,
Marius, Die moderne Entwidelung der Kriegöflotten . > 2 > 2 nn nenne + 708
Volkswirtfchaft und Sozialretorm.
Adolf Wagner, Bankbrühe und Banklontrolle . . > 2 2 2 mn nn 274, 28
Wilhelm von Maffomw, Zur Zolltarifbewenum - : >: > 2 2 m nn nn nn. DIA
J. Rorden, Aus dem Leben der Hauptitadtt . . . . 404
Freiherr D.von Zedlitz und Neukirch, Bolltarif und Neichäftenerreform . ee. 554
Beter Jeſſen, Die Knabenhandarbeit und die volföwirtichaftlichen und — Aufgaben
unſerer Zeitttti.. eu EI
Induftrie und Landwirtfchaft. Technik und Verkebr.
Mar Sering, Die beutfhe Bauernfchaft und die Handelspolitif . . » > 2 2 2.20. 228
Baul Heyd, Ueber die fünftige Entrwidelung der Eiſenbahnen. . . . ee
Baul Hend, Ueberficht über den augenblidlichen Stand der Tlektrotechuit ee.
Heinrich Dade, Die Probleme der deutjchen —— für Landwirtſchaft und
Induſtrie. — 67
Paul Heyd, Der elektriſche —— Le re a a Eee a
VI Inhalts⸗ Verzeichnis
Litterariſche Rundſchau.
Seite
Albers, Paul, Am Wartburghof . . . . . . 480
Bachmann, Hermann, Deutfge Arbeit in
Boͤhmen. 22319
Bartels, Adolf, Eckermann, Geſpräche mit
Goethe 464
Bartels, wol, Gelchichte der deuten Bitte-
ZANE: ae aaa .. 820
Bartels, Adolf, Der junge Luther ... 4610
Bellermann, Ludwig, Schiller .. . ..%7
Herner, Ernft, Quellen und Unterjuhungen
zur Geſchichte des Haufes Hobenyollen . . . 159
Bettelbeim, Pr. Anton, Bricfe von Ludwig
Ungengruber . . ... .- . 640
Aeutner, Renata, Für frohe Viadchenhergen 480
Boelfhe, Wilhelm, Hinter der Weltſtadi
Frriebriähagener Gedanken zur äfthetifcen
Rultur. . - - . 500
Bormann, Ebwin, ‚ Die Kunft des Pfeudonvmẽ 169
Boffe, Dr. R, Eine Dienſtreiſe nah dem Orient 473
Brandes, Wilhelm, Balladen . . . . 476
Sraufewetter, ©, Finnländiſche Nundſchan . 466
Breda, Franz, Aus den Papieren eined modernen
Theologen. tn
Bulfe, Earl. Bagabunden tin . 468
GChamberlain, Houſton Stewart, Ridard
Wagner
Dahn, Felir, Meine Romane aus ber Bölter
wanderung. Band KIN. . . . . 168
Dähnhardt, Oskar, Heimatklänge aus Yeut-
fhen Gauen. 455
Denzsinger, Rolls, Aus Tantens Plauder
Rübhen 2 2 22 2a . 450
Dir, Mıtbur, Deutſchland auf den deanrnhen
des Weltwirtſchaftsverkehrss . 158
Ebner: Efhendbad, Marie von, Aus
Spätherbittapen - . . ... 467
Ehrhard, Auguſt, Frang Brifiparger. + +60
Eigenbrodt, Wolrad, Aus der ſchönen weiten
DE ar re er ae en &0
@ihelbad, Sans, Der Niedergang des Bolts
gelang . - - 2. rn 02% . 200
Guden, Rudol * "Der Babrbeitsgeal der
MReligiem . . . . 462
Taldenberg, Ridars, Rub. Eudens Bompf
gegen den Naturallömuß. . . . 2 2 2 0. 300
Falckenberg, Richard, Geſchichte der neueren
Vhiloſephhieeeee... ⸗
Felſing, Otto, Bert Zanflens Ehina- Fahrten 478
Fliedner, Frtp, Aus meinem Leben. Erinne⸗
rungen und Erfahrungen +» . .. . 640
Fode, Dr. Rudolf, Chodowiedi und Licstenberg 480
Franke, Dr phil. Sermann, Ghriflentum
und Darwinismud . » 2. 2 vr 2 2 nn na 159
Frommel, Dr. Otto, Das Brommelgedenfwert,
Frommels Bebensblld . - . .» 2... 49
Wäbderg, Karl Theodor, Aus Fritz Reuters
jungen und alten Tagen . 2. 2220. . 478
Grotthbuss, Jcannot Emil Frhr. von,
ZürmerJabrbuhb IM2 ... 2.20% . 640
daake und Cuhnert, Das Zierleben ber Erde 640
Seite
Hädel, Ernft, Sunftformen ber Ratur . . . 640
Halle, von, Prof. Dr. E, Bolks⸗ und Ecewirt:
ſchaft. Reden und Auffüte . 22.2...
HSamel.Rihbard, Bauber der &k .....19
Sarnad, U, Die Aufgabe ber theologifden
Fakultäten und die allgemeine Religionsger
fdihte. . . . 640
Harnack, Otto, Goethe in der Boos: [einer
Bollendbung . » 2 2 2 2 2. 2.0.9318
Saudrath, Ab, Zur @rinnerung . an deinris
von Treitſchfee a)
Sciberg, Sermann, Am Marktplag. .. .84
Selmolt, Sans F. on . 464
Hofmann, Elfe, Eli .... FR;
Jahrbuch bes beutfchen dplottenvereins . 6
RAatfenberg, Moritz von, Laigle et luig
lon, Napoleon L und fein Sohn . . . . I
Kaltbof, A, Die veligidfen Probleme in Goethes
Fauſt. Ernfte Antworten auf ernſte ungen #10
Katzenhofer, Guſtav, Bolitive Ethik. Die
Berwirklichung des Sittlich Seinfollenden , . on
Keridgenfteiner, Dr. Georg, Wie ift unfere
männliche Jugend von der Entlaffung aus der
Bolksihule biß zum Gintritt in ben Heeres—
dienſt am zweckmäßlgſten für die bürgerlide
Geſellſchaft zu ernichen? . . . . .817
Rlec, Dr. Gotthohd, Grundpige der deutſchen
Litteraturgeſchichte 2316
ſtobelte, Dr. W. Die Berbreitung der Tierwelt 610
Rönig, Karl, Im Sampf um Gott und um bas
eine Ih... ... 800
Kurlanb, Bortbard, Alltagsneigichten . 0
Lamprecht, Karl, Deutſche Geſchichte . 58
Lechner, Kornelia, Goldene Heime . 480
Leirner, Otto von, Aecſtheriſche Studien für
die Frauenwelt. — Plauderbriefe an eine junge
Frau, — Ueberflüſſige Herzensergießungen
eines Ungläubigen. — Ausgewählte poetiſche
Werktke . 610
Lienhard, Friv, Gefaumelte Gedichte.
asgaufahrten i . 472
Lienhard, Friß, Brüne defte für Kun und
Boldätum. - 2 2 ren 157
Lienbard, Friß, Neue Ideale ——467
LinzeWodtn, U, Dora Hıwal . . 4478
Lohmeyer, Julius, Auf weiter Fahrt ,„ . 490
Lohmeyer, Julius, Sumoresten . ....18
Lohmeyer, Aulins, Unter bem Dreisat . . 479
Lohmeyer, Aulius, Wir leben noch und anderes 158
gülmann, Lie Dr. &, Das Bild des Ehriften:
tums bei den großen beutichen Fbraliften . . 800
Mach. Franz, Das Religion® und Weltproblem 474
Malet, Edward, Diplomatenleben . . .. .465
Marks, Erich, Wilhelm I .. . Bon
Matthias, Dr. Xdolf, Aus Säule, unterrich
und Erziehung 4315
Meyers Hiſtoriſch geographiſcher Kalender 2. .d74
Mohl, Robert von, Lebenderinnerungen . , 640
Moulin:s@dart, Prof. Dr. &raf Du, Eng—
lands Politik und die Mähte. . . ....40
Muff, Chr, Nrealisnuß . . 2 2 2 2a.
Anhaltö-Verzeichnis.
Seite
Muellenbab, Ernf, Maria... ....
DRummenboff, Ernf. Monographien zur
dentiben ſulturgeſchichte Bd. 8, Der Hand⸗
werker in der beutihen Bergangenbeit . . . 470
NRaudés, WB, Die Getreidehandeläpolitit umd
Kriegdmagayin = Berwaltung Brandenburgs
Preußens bis 170 - » 2» 2... . 800
Nauticue, Jahrbuch für Deutfchlands Zeeinter:
effen, 20 2.2: 2er en 817
Ompteba, Georg Freiberrvon, Wicilie
von Sarrynnn. as 640
Fannwig, Mar, Große Krienshelden. „ . . 190
Peterien, Hand, Deutiblands Ruhmestage
zur Ser a er era tee Zi 320
Blordten, Otto von der, Werden und
Weſen des biftorifihen Dramad . . . .. . 0
PBrabl, R. H, Hoffmann von Fallersteben. Untere
voltstimlihen Sieber . . 2 2 2 22.0. 476
Kappel, Friedrid, Die Erde und das Veben . 640
Renner, Gnuftav, Abatverr . . . . 2. . 477
Schaible, G, Geiſtige Waffen. Ein Uphorisimene
KEEITON 2.20% 0 re er . uw
Shanz, Frida, Feuerlilie. . .. . 450
Schanz, Frida, Internes. . 2. 22 2.2. 473
Shäuffelin, Hand, Leiden, Sterben und
Auferfichung unſeres Heilandes Jeſu Ehrifti im
Schmid, Ehriftoph von, Solbenes Märchen.
buch :Dftereier) . . . . . 40
Steiff, Dr. Karl, Weſchichtliche Lieder und
Sprüde Bürttembergs :
Steinbaufen, Dr. Georg,
jur Deutiden Kulturgeſchichte
. .4471
Monographien
. + 16
Seite
Stern, Adolf, Ausgewählte Novellen. . . . 800
Stern, Adolf, Margarete Stern. . 472
Stern, Adolf, Bier Novellen . . 2.2... 300
Ztiller, Richard, Adolf Etem . . ....%00
Straßburger, Egon Hugo, Lieber für
Sinderhergen . . > 2: 2 Een 480
Straßburg, Gottfried von, Triitan und
SEHE N te Sen Sa A an are 412
Sybel, Heinrid von, Die Begründung des
Deutihen Reiches durch Wilhelm 1, . . 408
Barjelow, Karl, Bon Weib und Welt . . . 47%
Bierordt, Heinrih, Gemmen und Baften . 476
Wachler, Ernft, Schlefiihe Brautfahrt . . . 478
Wade, Otto, Malta, jeine Eriegähiftoriihe Ber:
rein und — — —— —
(ER a vr Bu |
den Bade . . .
Weichardt, E, Das Schloß bed Tiberius und
andere Römerbauten auf Gapri . . .
Weißenfels, Oskar, Die Bildungäwirren
ber Gegenwart. - » 2 2 2 m nn en en
Weitbrecht, Earl, Deuiſche Litte raturgeſchichte
640
des 19, Jehrhunderte — ee 166
Weitbrecht, Carl, Schiller und bie deutſche
aha mr 315
Weyer, B, Taichentuch der deutſchen und der
fremden Kriegeflotten. —E—
Windelband, Wilhelm, Platon er
Wirth, Albredt, Bolletum und Weltmacht in
. 475
. 464
ber Geſchichte. nen 470
Wittich, M, Bineta. . 2 > 2 ren 640
Wolzogen, Hans von, Haabenweisheit. 471
j
ZN v TI
| IDeutche Monatsfchrif
|für dassesamteLeben der Gegenwart
HERAUSGEGEBEN Von
JULIUS LORMEYER
anß-AMERIK4
ge np
Hamburg-Newyork Hamburg-Boston Hamburg-Mexiko Stettin-Newyork
Hamburg-Frankreich Hamburg-Philadelphia Hamburg-Canada Newyork-Mittelmeer
Hamburg-Belgien Hamburg-Galveston Hamburg-Ostasien Newyork-Ostasien
Hamburg-England Hamburg-New-Orleans Hamburg-Brasilien Newyork-Westindien
Hamburg-Portiand Hamburg-Venezuela Hamburg-La Plata Orientfahrten
Hamburg-Baltimore Hamburg-Westindien Genua-La Plata Nordiandfahrten
ferner mit den Dampfern der Deutschen Ost-Afrika-Linie: Hamburg-Ostafrika.
Hamburg . Newyork via Southampton und Cherbourg
Schnelldampferdienst.
Nähere Auskunft erteilt die
HAMBURG - AMERIKA LINIE, Abteilung Personenverkehr
Hamburg, Dovenfleth 18—21
sowie deren Vertreter.
u.
Es Ist doch der höchite Genuß auf Erden, deutich
zu veritehen, zumal wenn man unter dem Pfingit-
geläut das große Buch von Wahrheit und Dichtung,
das große deutihe Buch meniclicher Erfahrung und
Weisheit in Berz und Sirn trägt.
Wilhelm Raabe.
»— Große Zeiten «=
Erzählung von
Adolf Wilbrandt.
D: Krieg ift ein Uebel, ein fchredliches! Ich beftreit' e3 nicht. Wer kann es
beitreiten? — Daß er auch etwas wunderbar Herrliches fein kann, das hab’
ih erlebt; das haben alle die Deutichen erlebt, die im Jahr 1870 reife Menfchen
waren. Mein Dafein ift nicht arm an jchönen Tagen, noch an großen Stunden;
aber am geiwaltigften fühlte ich doch wohl des Lebens Wert, alö wie ein gott:
gelandt befreiendes Gewitter der große Krieg von 1870 heranzog, jich wölfte und
ih entlud. Es mußte die jauchzende Seele ergreifen, in jo vielen Taufenden die
gleihe Erhöhung des Dafeins zu jehn; zu jehn, wie alle die ungeheuren Kräfte,
die während der Friedensjahre eines. großen Volks gleihjam im Morgentraum
daltegen, beim Kriegsgeſchrei des galliihen Hahns jich redten, fi bäumten, wie
das aus Millionen Quellen und Quellen zufammenrinnende Nationalgefühl jich
wie ein jtürzender Strom ergoß. Nicht allein die beleidigte Ehre, nicht nur die
Empörung gegen den franzöfifhen Uebermut und der alte Haß auf den „böfen
Nachbar” wedte die germaniiche, Eriegsfreudige Tapferkeit; e& war auch, wie wenn
Ale in dem Kriegslärm von Welten ber die eherne Glodenftimme der Gejchichte
hörten: jest vollendet jich das Deutiche Reich! Und es kam etwas über ung, das
und größer, jünger, bejjer machte; ich hab’ e& oft mit Staunen erlebt. Wie
manchem Menjchen, den ich vorher wohl geringgeichägt, hab’ ich in diefen Sommer:
tagen heimlidy abgebeten: er wuchs gleihlam aus fich heraus, es famen Töne
aus feiner Bruft, die er vielleicht felber nie in fich gekannt oder längft verlernt
batte, in denen die große Glodenftimme wiederflang. Hohe Ehrgefühle, feuriger
Gemeinſinn, fröhliche Opferluft verichönerten jo manches verweltlichte Herz, ſo
manches verfümmerte Leben. Wie viel Blut dann auch fliegen mußte und wie
viele Thränen, e8 war eine heilige Feierzeit.
Bon einer merkwürdigen Wirkung diefer Zeit in zwei vom Scidjal ver-
wirrten Menfchen möcht’ ich hier erzählen; ich hab’ fte nicht felber miterlebt, aber
1
3 Adolf Wilbrandt, Große Yeiten.
ihon damals von ihr gehört. In Münden, wo ich jeit Jahren wohnte, war
Anfang 1867 eine junge Dame aufgetaucht, die durch ihre Schönheit und auch
durch ihr Schickſal, ihre Eigenart einiges Auffehen machte, obwohl fie nicht viel
in der Welt erichten. Sie war von Würzburg gefommen, wohin jie als Kind
aus Norddeutichland gezogen war und die ganze Werdezeit zugebracht hatte; zu-
erjt mit den Eltern, dann, als junge Waife, bei Herm von Reichthal, ihrem
Bormund, einem gemüthlich heiteren Mainfranfen und Würzburger Kind. Marie
Stephan war nicht gewöhnlich begabt, zumal für die Muſik; ihr warmblütiges,
feuriges Temperament gewann ibr die Derzen. Ihr ganzes Kinderherz batte fie
an einen Menfchen gehängt, eine Mitſchülerin, Eliſe von Lengfurt, die um ein
‚Jahr älter war. Martens Liebesſinn war jo leidenichaftlich, dat fie auch in der
Schrift mit Elije wie eins fein wollte, daß fie mit zwölf oder dreizehn Jahren
noch umlernte und die damals noch neuen, kühnen, ſtark ausladenden Budftaben
ihrer Freundin annahm. Sie ruhte nicht, bis fie zum Verwechſeln ähnlidy ſchrieben;
dann erit erfand fie ſich einige Bejonderbeiten, damit man doc, ihr Gefchriebenes
untericheiden könnte.
AS fie neunzehn Jahre alt war, trat in dieles freudig friſche Leben eine
unheimliche, vielleicht ererbte Störung ein, die zu ihrem Schieial ward. Es be:
gann eine nervöfe eberreizung, die langſam, aber unaufhaltiam wuchs; die nod)
eine Weile als geniale Steigerung ihres Geiſtes- und Seelenlebens erichien, fie
zur Schwärmerin, zur Komponiftin, zur Dichterin machte, auch ihr bis dahin
iprödes Herz erwedte — bis fie ſich in einer ſchweren Erkrankung entlarvte. Es
ging dabei jonderbar zu, jo ward wenigitens erzählt: fie machte mit einem jungen
Freund des Daufes Mufik, der, früher eine Art Wunderkind, fait alle Inſtrumente
jpielte und ſich Marien mit auffallender Wärme angeichloffen hatte; am Klavier
ſitzend fiel fie plößlid; um, auf feine Dilferufe fand man fie ohnmächtig in feinen
Armen. Es folgte bald Schüttelfvoft, beftiges Fieber, eine Gehimhautentzündung
brach aus, die zwar mit Geneſung endete, aber auf rätſelhafte Weile — viel-
leicht damals rätjelhafter als jett — zu einer vorübergehenden Geiftesftörung
führte. Als fich auch diefe verlor, blieb eine Gedächtnisſchwäche zurüd, die fich
nad; und nach begrenzte; die früheren Erinnerungen wurden wieder klar und
fräftig, aber die ganze nervöfe Zeit vor dem Zufammenbrud, etwa ein halbes
‚jahr, war ihr wie ausgelöfdht. Es tauchten bei aller Anftrengung nur unbe:
ftimmte, unfihere Gefühle auf, Traumgebilden ähnlich; es war, wie wenn fie
dieſes halbe Jahr verfchlafen hätte.
Welche Marter es für ein fo junges und fo ftarkfühlendes Weſen war, jich
gleihlam verſtümmelt und vom Scidfal gezeichnet zu jehn, brauch’ ich nicht zu
fagen. Als fie jich an die Yüde in ihrem Leben leidlich gewöhnt hatte, war fie
doch tief verändert; ihre jugendliche, oft Eindliche Heiterkeit hatte fich mit nervöjer
Unrube, mit Schärfe und Herbheit vermiicht, fie grübelte und träumte viel, ver-
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 3
ianf leicht in Schwermmth. Miptrauen und Zurüdhaltung, die fie früher nicht
gekannt hatte, legten jich oft wie Mauern um fie. Es verichönerte jie anderer:
ſeits ein tiefer Ernft, etwas eigen Geheimnisvolles, das noch allerlei Rätſel
einzuichließen und eine höhere Entwicklung zu verſprechen jchien. Sie ergab jid)
auch ernten Studien, wie um ſich von dem unfruchtbaren Grübeln abzulenken.
Dabei war ihre jchlanfe Geftalt fo jung wie möglich; faft zu mager, aber von
ariitofratiichem Ebenmaß. ihre braunen Augen lagen tief und wirkten oft
eritaunlih. Ahr Lächeln konnte bezaubernd fein.
Sp fam ſie 1867 mit Reichthal nah München, noch nicht einundzwanzig
Jahre alt. Sie fand dort ihre Freundin Elife wieder, die fehon vor Mariens
Erkrankung Würzburg verlaffen hatte: mit dem Negierungsrath von Plauen
vermählt, war fie ihrem Gatten nach München gefolgt. In Elifens Haus, das
durch die lebensluſtige und liebenswürdige Frau ſehr bald zu gefelliger Blüte
fam, lernte Marie Herrn von Plauens beiten Freund, den Profeſſor der Juris:
prudenz Helmuth von Dorn kennen; einen Mittelfvanfen aus der Nürnberger
Gegend, wohl jechzehn Jahre älter als fie. Sein Charafterkopf war nicht jchön
zu nennen, ein tief eingeprägter Ernft machte ihn zuweilen übermäßig alt; große
blaue Mugen erleuchteten ihn aber und Eonnten zu guter Stunde mit unwiderſteh—
licher Freudigkeit und Slarheit glänzen. Den feit Jahren frauenjcheuen, in
Wiſſenſchaft und Politit vergrabenen Mann feflelte Marie jofort. Ahr für ſolche
Jugend ungewöhnlicher Ernft entjprad), wie ev meinte, feinem Sinn und Weſen;
Ihr Geift, ihre Kenntniſſe imponierten ihm. Die, dachte er, wird mein Ideal einer
grau erfüllen! — Nur zu willig half ihm die Hausfrau, Elife. Sie hatte ihn
wie ihr Mann jchägen und lieben gelernt; fie war in ihrer Ehe glüdlich; fie
konnte das Kuppeln nicht laffen. Marie, von Helmuths blauen Mugen ummorben,
von der Freundin laut umd leife angefeuert, in fich lebensmatt, nach ihren Gefühl
um die Jugend betrogen, fich nad) Frieden jehnend, nach einem Zweck, nad) Ber-
nunft, grübelte jich in die Ehe hinein, wie fie fich aus der verftiimmelten Jugend
herausgegrübelt hatte. Sie erwärmte fich fir Helmuth, ohne ihn zu lieben, für
diefen innerlichft vornehmen, tiefen, edlen, für alles Große begeifterten Mann.
„Lieben?“ fagte fie eines Tages zu Elife, alö diefe wieder das Geſpräch, wie der
Wind die Wetterfahne, auf Helmuth gerichtet hatte. „Nein, ich lieb’ ihn nicht.
Ad), laß doch diefes dumme Wort! ch hab's einmal verſucht — mir ift wenigftens
jo — in der Zeit, von der ich eigentlich nichts mehr weiß — aber ich hab’ offen
bar zum Lieben kein Talent. Ich könnt‘ darum auch feinen nehmen, der in mid)
verliebt wär’; dann taugten wir gar nicht zuſammen. Achtung, Hochſchätzung!
Seelenfreundichaft! Gute Kameradichaft! Wenn Dein Herr von Dorn e8 aud) fo
meint — und damit zufrieden iſt — und weiter nicht verliebt ift — dann könnt'
ich in dies Wafjer fpringen, weißt Du. Aber anders nicht!”
Helmuth, auf diefen Punkt gedrängt und von feinen wachſenden Gefühlen
1*
4 Adolf Wilbrandt, rohe Zeiten.
fortgerifjen, that, was wohl vor allem der Stolz ihm eingab: er entihloß ſich,
eben diele feine Gefühle vor ihr zu verbergen, ihr nicht zu zeigen, daß der reife
Mann ſie wie ein Jüngling liebte, nur ahtungsvoll und ehrerbietig zu
werben, um ihr noch fränfelndes Gemüt ja nicht zu erjchreden. ft fie nur erſt
mein, dachte er, wenn ihm vor diefer „Vernunft“ felber bange ward, jo wird jich
alles finden. Sie wird ganz gefunden, und ohne Werliebtheit wird die Liebe
fommen; nur männlid; ruhig warten! nur Geduld! — „Eine edle Ehe!" „Gute
Stameradichaft guter Menfchen!“ wurde fein und ihr Loſungswort. So traten
ſie in die Ehe, noch im Sommer defjelben Nabres 1867.
Es war einer der Fülle, aus denen man lernen konnte, wie unvernünftig
oft die Vernunft it, wenn es fid um die tiefften Bedürfniife des Gemüthes
handelt. Die laſſen ſich wohl eine Weile wegtäufchen, aber nicht erftiden; jie
bleiben das Mächtigfte. Bon umterdrüdter, aber heißer Sehnfucht nach Liebe
waren auch diefe beiden erniten Menfchen erfüllt; fie erlebten- bald, daß ihre
Reftgnation eine Lüge war. Sie fühlten mehr und mehr den Stachel im Herzen,
nicht geliebt zu werden; fie warteten jeder Stolz auf des andern Yiebe. Nichts ift
leichter —- jo wunderbar es klingt — als daß ſich zwei Menſchen verfennen, die
alle Tage beifammen find. Jede Stunde hilft der andern; ein zufammengeichmie-
detes Paar kann ſich gründlicher auseinanderleben als eines, das der Ozean
trennt. Helmuth und Marie, fcheinbar fo vom Verſtand regiert, erwieſen ſich
doch als ebenio unverftändig wie alle, in denen die lebendig beqrabene Liebes-
jehnfucht ihre vulkanische Arbeit thut. Ihr, der noch jo leicht Erregten und
Sereizten, mißfiel faft von Tag zu Tage mehr, was fie vorher mit der „Vernunft“
an Delmuth geichäßt hatte: feine ruhige Würde und Feſtigkeit, ſein zuverläſſiges
Gleichmaß, das Ehrenfefte, Regelrechte, unverbrüchlich Pünktliche, das er ſich in
langer, ftrenger Selbfterziehung erfämpft hatte; es erfchten ihr bald „ſpartaniſch“,
langweilig, kalt. Ihn, den ein volles Liebesglück geichmolzen, verjüngt und ge-
Ichmeidigt hätte, verhärtete diefe fühle Eheluft; ihn verdroß nun Mariens nervöfe
Ruhe- und Negellofigkeit, ihre Geiftesiprünge, ihre Derbigfeiten, all das Zudende,
Daltlofe, das ihm erit das Zuſammenleben offenbarte, da es darin feine wuchernde
Nahrung fand. Kurz, ed begann ein Nuseinanderleben, das die Freunde mit
Schreden ſahen, das den ehemaligen Bormund Reichthal mit überfließender Er:
bitterung, die Freundin mit Stiller, banger Neue erfüllte, und das bi8 zu fremden
und kaltem Nebeneinandergeben gedieben war, als die Sturmmolfen des Sommers
von 1870 jich zufammenzogen.
Wer jene Zeit erlebt bat, der erinnert fih, wie auf einmal in der eriten
Juliwoche das Kriegsgeſpenſt wegen Spanien beraufftieg. Der Entſchluß des
Marichalls Prim, dem Erbprinzen von Hohenzollern die fpantiche Krone anzu-
bieten, und des Prinzen Zuftimmung erregten fogleich das franzöfifche Blut, und
in fo auffallender Art, daß man fich fragen mußte: fucht denn Frankreich den
Adolf Wilbrandt, Groge Zeiten. 5
Krieg? Das Gemwittergrollen von Paris her wuchs, das galliiche Kriegsfieber
jtieg; dann kam noch eine Stille vor dem Sturm: der Erbprinz von Hohenzollern
verzichtete um des europäifchen Friedens willen auf den ihm angebotenen Thron.
Helmuth von Dorn, ein eifriger Politifer und glühender Patriot, ward jofort von
der Stimmung der Zeit ergriffen ımd von einer tiefen Ahnung des Stommenden
erfüllt; er fühlte die große Wetterwolte, wie ein ſtark empfindlicher Körper ein
heranziehende3 Gewitter fühlt. In der Verdüfterung feines Gemüts, dem zu
Haus nicht wohl war, ſah er aber graue und ſchwarze Tage kommen; ein ent-
jegliches Völkerringen mit furchtbaren Schickſalswechſeln ſchien bevorzuftehen;
ſiegen werde wohl die deutjche Kraft, aber nad) wie viel Todesnot? Es wurmte
ihn in feinem wunden Derzen, daß nicht auch die andern fo dachten, daß nicht
num der leichtblütige Reichthal, die glücksfrohe Elife, ſondern aud) fein „Schickſal“,
Marie, wie aus Troß und Entfremdung Ddiefen jchwarzen Gedanfen aus dem
Wege ging. In ihm ward’s um jo finfterer. Er jah nur Oberflächlichkeit, mufi:
kaliihes Träumen, Unterhaltungswut um jich ber, ohne Sinn für die Zeichen
der Zeit. Ihm wurde fat zu Mut wie einem von langer Schwüle zerquälten
Menichen, der begierig auf die ſchwarzen Wolfen Schaut: möchten fie nur herunter:
wettern und fi in blindem Wüten entladen!
In diefer Stimmung kam er am Abend des dreizehnten Juli — am Morgen
war der Verzicht des Hohenzollernprinzen befannt geworden — in das Plauenſche
Haus, das fich das junge, mit zwei Kindern gejfegnete Baar nicht weit von den
Bropyläen erbaut hatte. Ein hübſcher Garten umgab das Haus; in den trat er
ein, da er aus dem Gartenzimmer, in dem eine Eleine Gefellfchaft verfammelt
war, eine Art von weicher Mufif hörte, die er jet nicht hören mochte, und ſich
lieber nod; eine Weile einfam mit feinen Gedanken erging. Er fam jpät, und
wie er hoffte, gegen das Ende des „Feites"; er wäre ganz fortgeblieben, wenn er
nicht der Hausfrau auf ihr Verlangen fein Wort gegeben hätte, diesmal zu er:
„deinen. Als er nun aber auf den Kieswegen hin und herging und an einer
haldgeichloffenen Laube vorbeifam, jah er Herrn von Reichthals große, behaglich
wohlbeleibte Geftalt, in einem Seſſel am Laubentiſch fchlafend und leiſe Schnarchend.
Ein Laut der Heberrajchung, den Helmuth ausftieß, wedte den Schläfer auf. Er
rieb fid) die Augen und wunderte ſich.
„Wohl geruht, Reichthal?* fragte Helmuth mit dem finfter fatirifchen Lächeln,
das ſich ihm jeßt jo leicht auf die Lippen legte. „Wie kommen Sie hierher, ftatt
bei der Gefellichaft und bei der Muſik zu fein?“
„sa, eben diefe Muſik!“ antwortete Reichthal. „Ihre Frau ſpielt da drinnen,
und gewiß jehr jchön wie immer; und es ift eigentlich mein Lieblingsftüd; aber
wie e3 jo geht mit den Lieblingsftüden, wenn man fie zehn, zwanzig Jahre lang
hört! — Das ift nun grade zehn Jahre her, als Marie als meine Eleine vierzehn:
Jährige Mündel zu uns ins Haus kam und ich fie nach einigen Reden fragte:
6 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
Du follit ja fo Ichön Klavier Ipielen, ich hab Did) aber noch nie gehört; was halt
Du denn befonderd gem? Da ging fie ftill, ohne ein Wort, an den Flügel, und
während ihre legten Thränen ſo ganz allmählidı ungeftört wegtrodneten, ſpielte
jie mir dieſes Stüd. Die fleine, ernitbafte Perſon jpielte es überrafchend ſchön!
Ich war weg! — Kind, jagt ich dann und gab ihr einen Kuß, Du bift ja ein
Wınderkind. Das vergiß nicht wieder, ich hör's jo gern, das ſpiel mir noch oft!“
Reichthal lächelte: „Unvorlichtiger Bormund! Seitdem bekam ich dies Deffert zu
jeder mufifalifchen Mahlzeit. Es bat Winterabende gegeben, wo ich dies mein
Leibſtück haßte!“ Er lächelte wieder, und diesmal mit all jeiner frohſinnigen
Gutherzigkeit: „Ich hab's ihr aber nie gejagt!”
„Sie haben Sie nichtäwürdig verzogen,“ eriwiderte Helmuth freundlich; er
unterdrüdte, was er dabei dadıte.
„sa, man fagt mir das nad! — Warum verfiel denn auch ihre gute Mutter
darauf, fie gerade mir zu vermachen; ich bin weder ein geborener Vormund,
noc ein gelernter. War aud eigentlich noch zu jung: achtunddreigig Jahre.
Und ein zu fideles Daus. Der Vormund bätt' ja faſt noch felber einen Vormund
gebraucht!”
Helmuth, der in jeiner inneren Unruhe auf und abging, blieb Stehen: „Na,
den hatten Sie ja wohl an Ihrer Frau.”
Neichthal antwortete ernfthaft, während Helmuth gelächelt hatte: „DO ja —
bis fie ftarb! — Da fing ich denn an, Marie zu erziehen — ganz auf meine
Weiſe. — Nichtswürdig verzogen, jagen Sie. Aa, mein lieber Helmuth, Sie
haben fie in diefen drei Jahren wohl auch nicht muſterhafter, noch —“
„Südlicher gemacht!” wollte er jagen; es lan ihm auf der Zunge, die ihm
gar jo loder faß. Er veritummte aber; wenn aud) nicht mehr ganz zur rechten
Zeit. Helmuth dachte den Sag von jelber zu Ende. Seine jcharfen Brauen
gingen tief hinunter; er wandte ſich ab, als hurchte er nach dem Haufe hin, wo
die Muſik eben endete und etwas Beifallklatfchen folgte. Dann Enirfchte wieder
der Nies unter feinen Schritten.
„sa, und was ich Jagen wollte,“ jeßte Neichthal hinzu, um dem unbehag—
lichen Schweigen ein Ende zu machen: „gewilfermaßen auf der Flucht vor diefem
Leibſtück, das nun aus ift, bin ich in die warme Nacht berausgeichlichen — und
bier eingelchlafen.“
Helmuth erwiderte nichts, er ging bin und ber.
„Lieber freund!“ ſagte Neichthal nach einer neuen Stille, vedte ſich und
ftand auf. „Wir müſſen wohl bineingehen, zu den Mitmenfchen. Frau Eliſe
ſchilt ſonſt.“
Helmuth ſchüttelte den Kopf. „Zur Geſellſchaft? — Ich nicht.“
„Warum nicht? — Hören Sie, wie fie lachen; beſonders dieſe Frau von
Werth mit der hoben Stimme.“
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 7
„Eben darum. Diefe Quftigkeit — in fo furchtbar erniten, unberechenbar
verhängnisvollen Stunden! In diefem Augenblid fliegt vielleicht die Kriegs:
erflärung über den Rhein herüber, und die ſchwatzen da noch von Hinz und
Kunz, von Anekdötchen und Toiletten!“
„Erlauben Sie!" entgegnete Reichthal. „Wir haben doc heut in allen
Zeitungen gelejen, daß der Dohenzoller auf Spanien verzichtet hat. Die Sadıe
it zu Ende."
Helmuth lächelte; wie ein Novembertag! dachte Reichthal, der diejes Lächeln
nicht mehr fehen Eonnte. „Glauben Sie? Dabei wird Frankreich fi) beruhigen,
meinen Sie? Frankreich will ja den Krieg!"
„a, das behaupten Sie alle Tage. Daß Sie das aber aud jegt nod)
jagen, wo die Geſchichte abgethan ift. . . Unverbefjerlicher Beifimift, der Sie find!“
„Unverbeflerliher Sanguinifer, der Sie waren und fein werden!" — Hel—
muths ſchlanke, faft hagere Geſtalt trat hart vor Reichthal hin: „Willen Sie,
woher ich Eomme? Aus dem Minijterium des Neußern; ich wollte hören, ob Freund
Richard etwas Neues wüßte. Er war nod da; eben war eine Depeſche aus
Berlin gefommen, die noch niemand fannte als der Miniſter ımd er. Ein Extra—
blatt der Norddeutichen Allgemeinen Zeitung von heut Mbend meldet: der fran-
zöfiiche Botfchafter hat in Ems vom König von Preußen verlangt, daß er —
hören Sie! — daß er fih für alle Zukunft verpflichten folle, nie wieder feine
Zuftimmung zu geben, wenn die Hohenzollern auf ihre ſpaniſche Kandidatur
zurückkommen jollten. Auf diefe unverfchämte Forderung —“
„Zum Teufel hinein!” rief nun Meichthal aus. „Das hat der Franzos
verlangt?"
„Wie ich Ahnen fage! — König Wilhelm bat darauf abgelehnt, den Herrn
Benedetti nochmals zu empfangen, und hat ihm durch den Adjutanten von Dienſt
jagen lafjen, Seine Majeftät habe ihm nicht3 weiter mitzuteilen.“
„Bravo! Das hat der Preuß’ gut gemacht!” rief Reichthal der Baier aus.
„So 'ne Frechheit! Pfui Teufel! Wie wenn der alte Herr ein Bub wär’, der was
Dummes gemacht hat und — — Aber alle Wetter, ja! Nun wird's ernſt.“
8 P,Sehn Sie's endlich, Neichthal! Sie wollen in Paris den Krieg. Wie ich
immer jagte und Sie nicht glaubten, und die rauen auch nicht. In vierumd:
zwanzig Stunden vielleicht haben wir den Krieg!“
E P,Wirflih? Meinen Sie?” Reichthals eben noch grimmiges Geficht fing ſchon
wieder an zu leuchten; feine grauen Augen lachten. Er nahnı Helmuth Arm:
Na, dann kommen Sie! Dann trinken wir ein Glas von Frau Elifens Erdbeer:
bowle auf den erſten Sieg!"
Helmuths Arm zudte; ev konnte fich nicht enthalten, zwiichen den Zähnen
zu murmeln: „Frevelhafter Uebermuth!” Etwas lauter und ruhiger jagte er dann:
„Sie vergejien wohl, lieber Freund, daß Frankreih anfängt, alfo gewiß im
8 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
Stillen gerüftet hat — und der Norddeutfhe Bund und wir Siüdbeutfchen nicht.
Und ob Bayern mitthut, wo es noch jo viel Schwarze und bajuvarifche und füd-
deutfche Feindfchaft gegen Preußen giebt —“
„Bah! Die werden wir fchon niederbügeln, wenn's erſt heißt: entweder mit
Preußen oder mit Napoleon! Ihre Schwarzieheraugen follen mich nicht anfteden.
Wenn Sie nicht wollen, dann trin® ich allein zwei Gläfer auf den erften Sieg!
Helmuth verzog das Geficht. „ES wird wohl mande Siege geben, die wir
beide nicht feiern!"
Neichtbal, der Schon ind Haus wollte, blieb ftehn. Ihn reizte an Helmuth,
den er ſonſt jehr lieb hatte, jedes Wort jet und jeder Ton. „Meinen Sie?"
fuhr aus ihm heraus. „Mit einem ähnlichen Geficht, mein Lieber, wie Sie heut
in unfre Zukunft Schauen, ja, grad’ mit diefem Geficht kamen Sie aud) an Ihrem
Hochzeitstag auf mid; zu — wo jeder andere wie en Maitag gelacht hätte.
Ah was! Ach muß Ihnen doch einmal fagen —“
Er hielt nun dod inne.
„Nur zu!” fagte Helmuth mit einem erziwungenen, ftolzen Lächeln. „Se:
nieren Sie ſich nicht!“
„sch genier’ mid; auch nicht“, eriwiderte Neichthal; die angeborene Gemüth—
lichkeit erichien aber fchon wieder auf feinem hübfchen, frifchen Gefiht. „Sch muß
Ihnen jagen: Sie find während eines Hagelfhauers ausgedacht worden ımd an
einem dunklen Novembermorgen and Licht gekommen; und um Sie zu ärgern,
trin® ich drei Gläfer Erdbeerbomwle auf den erften Sieg!"
* *
*
Eliſe von Plauen kam Arm in Arm mit Marie, beide ſommerlich hell ge—
kleidet, aus dem Gartenzimmer; die kleinere Eliſe jchon etwas frauenhaft voll
und rundlich, Marie noch ſchlank wie ein junges Mädchen. „Es ſcheint, der
Krieg fängt ſchon an!“ ſagte Eliſe, als ſie in den halbdunklen Garten trat; „aber
der Bürgerkrieg!“
Guten Abend, beſte Elife”, gab Helmuth nur zur Antwort, ging auf ſie
zu und gab ihr die Hand. Er begrüßte Marie mit einem Niden; Marie
erwiderte es.
„Die Hausfrau erwartet Dich ſchon lange”, warf fie hin. Dann ſah fie
mit einem ihrer träumenden Blide in die Luft.
„Ja,“ ſagte Elife, „Sie fehlten mir heut ſehr: ich hab’ mich ſo nach dem
widerwilligen, vorwurfsvollen Lächeln gejehnt, mit dem Sie meine fchlechten
Salembourgs zu affompagnieren pflegen. Heut wären Sie in eine wahre Hölle
von ſchnöden Wortfpielen gekommen; ftatt deſſen find’ ich Sie jet hier in
meinem Elifium. — Sehn Sie, da ift fchon eins! — — Aber heut Abenu
lächeln Sie nicht."
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 9
Helmuth dachte an die Berliner Depeche; und doch mochte er vor diejer
wortwigelnden, luftigen Elife und vor der verträumten Marie nicht davon reden,
es widerte ihm. „Berzeihen Sie," entgegnete er und blieb ernft. „Ach hol’ es
nad. Heut übers Jahr — wenn wir dann wieder Zeit haben, an nichts
zu denken.“
Elife zug ſich fcherzhaft zufammen: „OD weh! Das ift vernichtend. — Ich
hab's Ahnen ſchon angelehn! Wenn Ahre Stirn einmal fo zum — ja, zum
Ader geworden ift, Furche neben Furche — — Über bitte, fommen Sie, meine
Herren! Wir wollten Sie holen, ins Gartenzimmer."
„sa, ja," murmelte Helmuth. „Nur ein Wort mit Marie. — Nicht wahr,
diefer — verichleppte Brief, der ift nun beſorgt?“
Marie fuhr aus ihren Gedanken auf. „Was für ein Brief? — Ja fo. —
Wieder vergefien. In den Tod vergeſſen!“
Helmuth biß fich auf die Unterlippe; fo eine Antwort hatte er ſchon zu oft
gehört. „Wirklich," fagte er mit halber Stimme, „diefe Schwäche nimmt bei
Dir überhand.“
Sie wollte etwas erwidern, mit einem gereizt aufflammenden Blid; doch jie
faßte ih. Den Kopf etwas jenkend, halb abgewandt, warf fie erft nach einer
Weile hin: „Ach ja, du haft Recht. Es wird eher Schlimmer. Diefe Gedächtnis:
ihwäde... Meinetwegen gründlich, ganz; aber fo halb, das ift zu dumm! —
Und als Sind, da hatt’ ich das beite Gedädhtnis von der Welt.“
Reichthal, der pfeifend umherging, blieb ftehn: „Bis Du's bei mir verlorft,
in diefer niederträchtigen Krankheit ohne Ende!”
„Mit etwas mehr Selbiterziehung,“ murmelte Helmuth, „fand man's mohl
auch wieder... "
Marie wallte auf: „Du meint?" — Sie gab ſich alle Mühe, fich wieder
zu bezwingen; duch ihr mattes Lächeln ſchien aber doc die innen nagende
Bitterfeit Hindurd. „O gewiß, gewiß," fuhr fie fort. „Die Schuld liegt an
mir. Ich bin halt eine charakterlofe Frauenfeele, verzogen, undiscipliniert. Das
Gegenteil eines Muftermenjchen.“ Ihr Auge flog über Helmuth Bin: „Der
Anblid eines Muſtermenſchen drüdt mich nieder, ftatt mich zu erheben! —
Komm, Onkel Reichthal; — noch ein bishen Mufi. Du biſt kein normaler,
fein volllommener Mann — wenn Du auch mein Herr Vormund warft —
neben Dir fann ich mich vor den Menichen jehen laffen. Komm, komm, machen
wir Mufik!“
Sie nahm Reichthals Arm und zog ihn ins Haus hinein, durd die offene
Gartenthür. Elife ſah ihr nah. Sie feufzte leife. Helmuth, der ſtumm mit
den Achſeln gezudt hatte, nahm feinen Hut vom Tiſch in der Laube, er hatte
ihn dort abgelegt. Dann trat er auf Elife zu, wie zum Abfchiedsgruß.
„Was wollen Sie?" fragte fie. „Wo wollen Sie hin?"
10 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
„Bitte, entfchuldigen Ste mich," antwortete er, mit feiner noch fichtbaren
Berftörtheit fümpfend. „Ich — paſſe heut wirklich nicht ber. Sie hören, meine
Frau intereiftert fic leidenschaftlich für Mufit — und ich ebenfo leidenichaftlich
für den bevorjtehenden Krieg. Die Mufit wird da drinnen gemacht, und der
Krieg draußen; alle — lafjen Sie mid) lieber gehn!“
Er mwollte Eliſens Hand nehmen; fie zog fie aber zurüd. „Delmuth!” fagte
jte mit fo viel Schmerz und Vorwurf, daß es ihm durch die Seele ging. „Daß
doch fo oft die beiten Menschen auch die ungerechteiten find! und Unvollfommen-
heiten für ftrafbare Fehler oder Laſter halten! — Warum reden Sie fich denn
ein, Marie hab’ fein Herz für Ihren Krieg, für die deutiche Sache?“
„Kein Herz?" fragte Helmuth zurüd. „Wenn Herz haben fu viel heißt, wie:
immer bei was anderm fein, zerjtreut fein, muftzieren, träumen, laden — —
Aber ich vergefle, Sie laden ja aud).“
„Wenn es nun einmal Fo eingerichtet ift, daß jeder Tag vierundzwanzig
Stunden und jede Stunde Sechzig Minuten hat, fo haben diefe vielen Minuten
doc) auch verichiedene Beltunmungen; einige find fürd Sorgen, andere fürs Lachen.
Helmuth! Lieber Freund! Warum nehmen Sie jeit einiger Zeit alles jo ſchwer?“
„Seit einiger Zeit? Ach dächte, ich bin, wie id) war. Ein Menſch, dem
das Große höher fteht als das Kleine — die großen Ideen höher als die Kleinen
Menichen —”
Elise fiel ihm ins Wort: „Aber das Glück, 'ne Idee zu fein, haben fo menige;
die meiften von uns fommen als Menſchen auf die Welt! — Und aud Sie jind
ein Menſch, wenn Sie mir gefälligft erlauben, das zu jagen. Und Sie waren
ein fo angenehmer, liebensmwürdiger Menich, eh Sie — —" Eh Sie hei-
ratheten, dachte ſie; fie fprang aber darüber wen. „Wenn Sie uns Ihre Muſter—
bowle machten; oder wenn Sie uns vorlafen, mit Ihrem geicheiten, herzlichen
HIN:
Sie jah ein gutes Lächeln auf feinem finfteren, aber edlen Geficht; plötzlich
faın ihr ein Rieſenmuth. Etwas Schweres, Laſtendes wollte ſchon lange aus
ihr heraus . . „Delmmth! Ganz, ganz ernithaft. Es bringt mich jonft um.
Wollen Sie mir einreden, es fei jeßt bloß der Krieg, der Sie jo verftört? Sie
fühlen, daß Sie Marie nicht glücklich machen ... Sp, nun hab’ ich's von der
Brust!“
„Elite!“
„Berzeihen Sie. Wir haben ums einmal das Wort gegeben — mein Dann
war dabei, Sie wiſſen's noch — uns in jeder ernften Yebenslage die volle Wahrheit
zu Sagen! ch halt’ heut mein Wort und faq’ fie Ihnen. Helmuth, mein halbes
Herz iſt krank: denn Marie ift franf — und jie ift mein halbes Herz.“
Helmuths große blaue Augen fahen fie faft feindlich an. „Geh'n Sie lieber
zu Ihren Gäſten zurüd, und laffen Sie mich gehn!”
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. u
Eliſe Schüttelte tapfer den Kopf: „Sie finden mid) indiskret; das thut nichts.
Was ich Ahnen gelobt hab’, das hab’ ich gelobt! — Ka, ich warne Sie, Helmuth,
ih muß Sie warnen. ch, das thörichte Weib, den weilen Mann! Ad) weil;
einen Menfchen, dev Marie kennt — ihre gefährliche Benabtbeit, Ueberlegenheit,
ihre leidenfchaftliche, bedürftige, unausgefüllte Seele — dieſer Menſch bin id).
Ich weis Einen, der fie nicht fennt, dem fie ein Rätſel iſt — und der find Sie.“
Helmuth juchte ironisch zu lächeln: „Und doch ift fie meine Frau!”
„Ad Gott, ich geb’ meinem lieben Mann zuweilen auch nod ein Rätiel
auf; das verlernt man nie! — Aber Ihr Fall fteht in einem andern Bud. Sie
haben eine franfe Frau und willen nicht, was ihr fehlt. Sie haben — id) muß
Ihnen einmal alles jagen, verzeihen Sie — da Mariens ewige Mufizieren Sie
kränkt — Sie haben zu wenig Mufif in der Seele — und die Frau zu viel.
Sie find ein Freund, wie man feinen bejjeren twiinichen fann; aber was — was
Liebe ift, das haben Sie wohl nie erlebt!"
„Meinen Sie?" stieß Helmuth zwiichen den Zähnen hervor. Er lächelte
einen Augenblid. Er ſah jo wenig wie Elife, daß Marie eben in die Gartenthür
trat, wo jie, durch Elifens legte Worte überraſcht, unwillkürlich ftehen blieb.
„Und ich fage Ihnen,“ ſprach Elife weiter, „wenn Sie diefe gefährliche Fran
nicht behandeln lernen —“
Sie hielt einen Augenbli inne. Helmuth lachte kurz auf, innerlich er:
ihüttert. „Und wie müßte man fie nach Ihrer Meinung behandeln?“
„Das will ich Ihnen jagen —“
Weiter Fam Elife nicht. Neben der Gartenthir ftanden am Haus Stühle
und ein kleiner Tiich, auf dem ein paar Bücher lagen; mit einer unwilligen,
heftigen Bewegung, um diefem Geſpräch ein Ende zu machen, ſtieß Marie eins
der Bücher vom Tiih. Es fiel mit Geräusch auf die Erde. Helmuth wandte
den Kopf herum, Eliſe auch.
„Marie! Du biit da!" rief Elife, überraſcht und etwas verlegen. Dat fie
gehorcht? dachte fie.
„Ja, ich,” antwortete Marie jo unbefangen wie möglich. „ch kam, um Did)
was zu fragen; und in meiner gewohnten Ungeſchicklichkeit ftieß ich an den Tiſch.“
„Was wollt Du mich fragen?“
„Iſt es wahr, was fich die Damen erzählen, daß wir heut noch einen neuen
Orpheus am Klavier bewundern jollten, den großen Neifenden, unfern Ingend—
freund Franz ?*
Elife nidte: „Ja, er wollte kommen. Er hatte ich brieflich für morgen
angemeldet; auf der Durchreife, Tchreibt er. Da telegraphierte ich ihm nad)
Stragburg: kommen Sie doc gleich am Abend, nach Ihrer Ankunft, zu ung!
‚Mit Vergnügen‘ telegraphierte er zurüd. Da er ſich das Vergnügen noch nicht
12 Adolf Wilbrandt, Grohe Zeiten.
macht, jo hat ſich vielleicht jein Zug verfpätet. Na, dann fommt er noch — oder
auch nicht!“
Marie lachte über diefe Auskunft. „Und wenn er noch fommt, dann jpielt
er, meinſt Du?"
„Wenn Du recht artig bift, jpielt er Dir was vor!“
„Das wär’ alſo für mic das Zeichen, mich zu empfehlen,“ jagte Helmuth
mit gemachter Deiterfeit; „denn ich bin heut nicht fehr für Muſik. Entichuldigen
Sie mid, liebe Elife. Vielleicht giebt's auch noch wichtige Depejchen —*
„Ueber Deine Gejchäfte?” fragte Marie zeritreut.
„Meine Geichäfte! Was jind meine Geichäfte! Jetzt, wo wir Keinen Atome
nichts mehr bedeuten; wo wir alle nur nocd wie Nervenfäden eines großen
Organismus find, die das empfinden, was er thut und leidet. Diejer Krieg —
denn jeßt ijt er und gemiß, diejer neue Krieg um den Rhein —"
„Gewiß!“ vief Elife. „Ich dachte, umgekehrt!“
„Rein, er ift gewiß. Und glauben Sie mir, er wird nicht bloß für uns,
unfere Macht und Ehre, er wird für die Menichheit gekämpft!“
Marie ſchlug die jchönen braunen Augen jchmerzlich zum Himmel auf:
„Arme Menfchheit, die man durd; Menfchenopfer beglüdt!"
„Ohne Opfer wird nun einmal nichts auf diefer Welt!" — Helmuth jah
vor ſich nieder; aber nicht ohne Beziehung auf Marie fuhr er fort: „Ich finne
auch diefe Tage fo oft, was ic) thun könnte, um mein Eleines Ich doch auch
ein wenig zu opfern. Wenn’s mit dem Soldatenrod für mich vorbei ift, jo
möcht ich doch fonft, auf irgend eine Weile — — id) weiß; nid)t, was. Sfmmer
fo müßig dazufigen, wenn man doch aucd ein Mann ift — die Depefchen zu lejen
oder auf die Landkarte zu ftarren . . ."
Er blidte auf und ſah, daß er mit Marie allein war; Elife war leije ins
Haus gegangen, während er ſprach. Mit gepreßter Stimme jeßte er hinzu: Ich
wollte, ich könnte fort.’
„Wohin?" fragte Marie, der ſich jett das Herz beklemmte.
Ich weiß nicht.“
„Du Haft Deinen Beruf — Dein Haus.“
Helmuth war eine Weile ftil. Einen Seufzer unterdrüdend, erwidertefer
dann: „Wohl uns, daß uns jeßt das Allgemeine fordert, au unferm Cinzel-
dajein herauszieht! Wenn die Erde um mich her bebt, fo fühl’ ich nicht mehr,
daß der Zahn da weh, thut. Wenn ein ganzes Volk um feine Zukunft vingt, fo
vergeſſ' ic) die meine.“
Mit welchem heimlichen Summer er das jagt! dachte Marie, von Mitweb
ergriffen. Ach, warum können wir zwei uns nicht alüdlich machen! — „Helmuth!“
fagte fie, ohne ihn anzufehn, aber weich und gut.
„Was?“ fragte er.
Adolf Wilbrandt, Große Leiten. 13
„Es war immer Deine Art — Deine vornehme, edle Art — aber doch ein
Fehler, glaub’ ich — daß Du zu wenig an Dich dachteſt und an — an Dein
Haus.” Sie bemühte ſich, zu lächeln: „Wenn man zufällig Deine Frau ift, darf
man das ja wohl jagen.”
„Hm!“ gab er in tiefem Ernſt zurüd. „Meine Frau... Es war halt
mein Wunſch, diefe meine Frau aus ihrer — Kleinen weiblichen Welt etwas mehr
ins Große, ins Allgemeine zu ziehn. Ahr Franenfeelen feid wohl jehr geichidt, wie
durchs Mikroſkop das Kleinſte, Nächite, Zartefte zu jehn umd zu faſſen; aber mit
dem Fernrohr, das die Welt durcdhdringt, wißt Ihr nicht umzugehn. Meine
rau, dacht’ ich, die kann's, die lernt's! Meine Frau, bildete ich mir ein, ift
darin größer ala ihr Geſchlecht! Es wär’ mein höchſter Stolz geweſen — da
wir einmal fo ernithaft miteinander reden — Did) für meine Welt, für menfchen-
würdigere Ideale zu gewinnen. Auf diefe eine Karte fette ich viel — zu viel...
Es follte nicht jein. Es — wollte oder fonnte nicht. Laſſen wir's jet; und
gute Nacht!“
Er wollte gehn; eine lebhafte Bewegung Mariens hielt ihn nod) zurüd.
„Warum ſollt's auch jein?" erwiderte fie. „Wenn uns die Natur jo ge:
haften bat, warum willſt Du's ändern? Wenn fie uns diefe mikroſkopiſchen
Augen gegeben hat, daß wir alles Nächſte um ung ber liebevoller, inniger auf:
taffen ala ihr, warum wollt ihr uns zwingen, zu eurem Fernrohr zu greifen ?
Bir follen ja Mann und Frau jein, nicht Mann und Mann.“
Helmuth z0g die Brauen hoch: „Wenn Mann und Frau fi) nur darum
zufammenfinden, um ein jedes eigenfinnig zu bleiben, was es ift, dann war's
der Mühe nicht wert!"
„Aber wer bleibt denn eigenfinniger, was er it, Du oder ih? Wozu
Deine fonderbare Verachtung für unfre weibliche Welt?“ |
„Eure Welt!" Helmuth erregte ſich, ebenio wie jie. „Träumen wie 'ne
Blume! An unbeitimmten Gefühlen dahinleben, mit fich ſelbſt beichäftigt; un-
Hare Anjprüche an ein unbefanntes Glüd: Das iſt Eure Welt! Die Welt der
lenfitiven Frauen —“
„Wie ich eine bin!“
„Es ift eineKrankheit in Euch: Ahr verlangt eine Welt von Glüd für
Euer Jh — nie wollt Ahr Euer Ich bingeben für das Glüd der Welt. Und
nur was Ihr mit Augen feht und mit Händen greift, gebt Euch ans Herz; für
unfihtbare Ziele, für ideale Zwede der Menschheit feid Ihr fait ebenfo Ealt wie
die gefühllofe Natur! — Von diefer geiftigen Armuth hoffte ich wenigitens Dich,
meine Frau, zu befreien — “
„Du verſtehſt uns nicht!” unterbrad ihn Marie, die noch gegen ihre Ge:
teiztheit kämpfte. „Der Weg aus der Welt zu unferm Ich geht nicht durch
unfern Kopf, Sondern durch unfer Herz. Unfer Verftand hat fein Herz für Eure
14 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
Ideale; aber unjer Herz bat Berftand! Wenn Ihr diejen Berltand zu
weden wißt — *
„sc bin wohl ungefchiet. Ach hab’ den Weg nicht gefunden.“
„Suchet, fo werdet Ahr finden!“
„sah bab’ den Muth nicht mehr,“ warf Helmuth mit gedämpfter Stimme
bin, faſt, als jpräch’ er mit ſich. „Das Irregehn, das — Eoftet zu viel — Nefig:
nation! — Adieu!“
„Depeichen zu erwarten —“
Ich laſſ' Dir ja Neichthal bier, der mit Div Mufif madt. Der glüdliche
Menich! Der befitt das Mezept, Dich zu unterhalten, Div etwas zu jein.
Während mich diefe kriegsſchwüle Zeit ungenießbar macht, ift er jo liebens-
würdig, ich in Dein Idyll mit Div einzufpinnen . . .“
Er warf einen Blid nad) dem Gartenzimmer, den Marie in ihrer Erregung
falich verftand. „Das alles ſoll doc nicht etwa ſagen“, verjeßte fie haſtig, „daß
Du eiferfüchtig bit?"
Helmuth fuhr ftolz auf. „Wer fagt das?"
„sch frage nur.”
„Eiferfuht? Dazu bin ich denn doch zu Stolz. Steh’ ich Schon fo tief in
Deiner Schäßung ?"
„Wie Du gleich aufbegehrit. Ach dachte nur — “
„Berdadht auf meine Frau? — Zu der Frau, die meinen Namen und
meine Ehre trägt, hab’ ich Vertrauen — oder ich hab’ nichts. Wenn ich je
argwöhnen lernte, dann wär ja mein Leben aus: mein Glaube, mein Boden,
der Grund, auf dem ich ftehe, wär’ bin!“
Delmuth wollte noch weiterreden, er jah Elife wieder in die Thür treten
und brach ab. Er ftieß ein nicht ganz freies Lachen aus: „Sa, da ſteh' ich noch!
Liebe Freundin, Sie werden Ihre Wiße machen über diefen eiligen Mann, der
nicht vom Fleck kommt. Leben Sie wohl! — Gute Nacht!“
Er grüßte beide mit dev Dand und ging mit feinem raſchen, jugendlichen
Bang der Straßenthür zu.
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Marie jab ibn nad; als er verichwunden war, Schloß fie die Mugen.
„Gute Nacht, aute Nacht,“ wiederholte fie, jo leife, daß Elite es nidjt veritand,
„Und jo noch taufendmal bis zum Tod: qute Nadıt!“
„Was haft Du gejagt?" fragte Elife.
„ch, nur fo einen Monolog — über ihn; über meinen Mann. — Er ging
jo untadelhaft hinaus. Alles an ihm ift untadelhaft. Findeft Du nicht auch?
Gott gedachte einen Normalmenſchen zu machen, und das Werf gelang!”
Elife kannte diefe „Schnödigfeiten” an der ſeeliſch kranken Marie; fie ge:
Adolf Wilbrandt, Grohe Zeiten. 15
fielen ihr nicht, aber fie ertrug fie mit gefundem Phlegma. „Daft heut wieder
Deine Eritifche Yaume, mein Kind,“ erwiderte ſie mır.
Marie erihrat vor ſich ſelbſt; fie jchüttelte den Kopf. „Sch bin eine elende,
nichtstwürdige Perion! Diefer Mann — fo ehremwert, fo gut... DO pfui!“
Sie ftarrte in die Luft, auf den Boden; fie war blak getvorden.
Eliie berührte fie am Arm; fie fuhr zuſammen. „Was ich Di fragen
wollte, Marie: haft Du vorhin gehorcht ?"
„sh? Sch horche nie. — Was für ein Buch hab’ ich denn da vom Tiſch
geworfen?“ Marie trat hin und hob es auf. „Ah, das Neueſte aus Paris! —
Diejes vielbejprochene Buch, das lieſ'ſt Du auch? — Ach hab's jchon gelejen.
Es ift ein erbärmliches Buch!" Sie warf es auf den Tiich.
„Heut muß es wohl erbärmlich fein: weil Du erbarmungslos bift.“
Marie ftarrte wieder vor fi) bin. „ch, was wiſſen dieje Parifer — die
uns alſo wirklich den Krieg machen wollen, diefen wahnfinnigen Krieg — was
willen fie von den Herzensleiden einer wirklichen Frau? Da bejchreiben fie nun
zum taujend und eriten Mal, was fie vom Unglüd einer Ehe verftehn: der
Herr Gemahl liebt die Abenteuer — oder die Pferde und Hunde — oder das
Börjenipiel — oder fich jelbft. Und die Frau? DO Gott, diefe Nomanfrauen,
die würden ganz dasjelbe thun, wenn fie Männer wären: fie find ja aus dem
nämlihen Dolz gejchnigt! Fabrikware, Zindhölzhen aus QTannenholz; wenn
man fte da reibt, wo ihnen das Herz fißt: im Kopf, jo flammten fie einmal auf
— grade lang’ genug, um die dürre Phantafie des fogenannten Dichters dran zu
erhigen — umd dann find fie bin! — — Wenn ich jchreiben könnte — "
Marie verſank in fich und Sprach nicht weiter.
„a, was würd'ſt Du dann thun?“ fragte Elife endlich.
Mit ihren tiefliegenden, tiefblidenden Mugen Ichaute Marie jie lange an:
„sch — ich fuchte mir ein Menfchenpaar aus edlerem Holz! Ein paar Menfchen,
weißt Du, daß es ein — Sammer wär um ibr verlorenes Glück; Menjchen,
um die es Fi der Mühe verlohnte zu weinen... Sch meine natürlich einen
erfundenen Mann und eine erfundene Frau. Zwei Menichen, beide zu edel,
um fi zu mißacdhten, zu ftolz, um zu fündigen; aber zu ungleich oder was, um
ſich zu lieben; fie lächelte fo, daß es Elife ergriff: „und ihr fehlt's an Vernunft!
Sie achtet ihn; fie weiß feine Tugenden auswendig; wegen feiner Tugenden hat
fie ihn genommen; aber halbe Nächte liegt fie da und fehnt fich nach einem Becher
voll Glück. Glücklich machen, weißt Du — wahrhaft glücklich machen — und es
dann Selber fein! Sie hat eine unielige Phantafie: wie der Verhungernde von
den lederiten, ſchönſten Speilen träumt, fo träumt ihre verdurftende Seele von
den zauberijcheiten Glüdsgefühlen — kurz oder lang, das ift ihr gleich. Leben
müſſen! denkt fie. Mit allen Zähnen, wie ein Gefolterter in jein Tafchentud),
beißt fie in diefen Gedanken hinein: leben müſſen, und nur einmal leben, und
16 Adolf Wildrandt, Große Zeiten.
nicht glüdlich jein! Abgefunden mit einem elenden Pflichttheil der Natur — ſo
eine von taufend Blafen, die in der Schöpfung auffteigen und zerplagen — und
fo viel Talent zum Glüf — ach mein Gott, jo viel Talent!”
Elife ging unruhig zum Haus zurüd, Sie wollte diefem troftlojen Geſpräch
ein Ende machen, fie wollte zu ihren Gäften gehn; und doch mochte jie auch Marie
nicht in diefer Stimmung verlajjen. „Du bift krank, Marie,“ jagte fie kummervoll.
„Krant? Ganz und gar nicht. Nur den Kopf ein bischen erfriichen . . ."
Marie nahm ein mwinziges Fläſchchen mit Kölniſchem Waſſer, das ſie an der Bruft
trug — fie hatte ſich's angewöhnt — und benette ſich die Stimm. Dabei roch fie
nit etwas Erankhafter Gier: „O diefer göttliche Duft! — Wie ein Frühlingstraum.
— Duft! Duft!! Sie nahm Elifen ihr Sträufchen aus roten und gelben
Rofen von der Bruft: „Laß mich daran riechen! Wie gut. Das ift Wein für
meine Phantaſie. Da wird mir zu Muth wie — wie der Frau in meinem Roman.
Glück! Einen Beer voll Glüf! Und thät man and Scierling hinein, fie
jtürzt' ihn hinunter!"
„Daft Du Fieber, Marie?“
„Keine Spur. Fühl ber: mein Puls it fo normal — jo normal wie mein
Dann. Ich betrin® mich nur ein wenig in dem Blumenduft; ic) laſſ' mir von
ihm Märchen erzählen; mir wird dabei wohl — ganz wohl. — Was ift denn da
in Deinem Salon? Wer it noch gekommen?“
Sie hordte. Elife warf einen Blid durd die Thür hinein. „a, da jteht
er! Franz, unfer Würzburger. Doc nod Wort gehalten!”
„Wahrhaftig?“" ſagte Marie wie im Traum. „Der fogenannte Jugendfreund ?
Mit dem ich jo viel Klavier gefpielt haben jall, wie die Leute fagen? In deffen
Armen fie mich gefunden haben, als ich mein bischen Verstand verlor? — Das ift
doch ein komiſches Wiederfehn . . ."
„Räfonnier’ nicht mehr; fomm, komm!“
„Wohin?“
„Wunderbare Frage. Hinein! ihn zu begrüßen! Wir jchwagen bier ohnehin
ſchon 'ne Ewigkeit."
Marie hielt Elife am Arm: „Nein, nein! Bleib nod hier. Noch nicht zu
den Menfchen! Wir fehn uns den Franz von bier aus an, durch die Thür.“
„Aber heut bit Du doc ganz verrüdt! Ach, die Hausfrau —“
„Dein Mann madt ja die Honneurs. Schau hin. Hör doc, wie jie laden!
— Nein, nein, ich laſſ' Dich nicht fort. Bleib bier, oder ich zerrauf' Dir Deine
Friſur!“
„Aber jo ein Kind!"
Marie ftellte ſich hinter Elife, die Eleinere, und legte ihr beide Arme um
die vollen Schultern: „Ad, ad, ah! Guck ihn Dir an, diefen Yugendfreund, wie
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 17
er fi) verneigt! Sein Rüden Erümmt ſich fo eitel, jo ſelbſtbewußt; findeft Du
nicht auch ?*
„Richt einmal einen Jugendfreund zu verichonen!"
„Jugendfreund! Großer Gott, das iſt alfo von meiner Jugend noch übrig.
Ein eleganter, jiegreich lächelnder Damenheld; jchau, wie er ſich jegt um jeine
Achſe dreht. Und als wir uns fannten — das heißt, jo weit ich mitdenfen kann
— da war er ein bejcheidener, jchüchterner Menſch.“
‚Die Damen in der alten und neuen Welt haben ihn verwöhnt —"
Marie ftieß ein faft zu lautes „Ah!“ hervor. „Bud emal, fie nötigen ihn
ans Klavier! Frau von Werth mit ihrem großartigen Lächeln — — Wahrhaftig,
er geht an den ‚Flügel, er läßt fich nicht lang’ bitten. Rrr! Der erfte Lauf über
die Taſten. Wie groß jeine Hände find!”
„Aber ein edles, vornehmes Geſicht.“
„Beh! Diefe kalten Augen. Diefer dämonifh fein jollende Blid. Adı,
wie ihm jeßt die Fleinen Noten aus den Fingerſpitzen tröpfeln. Wie er Muſik
fäet, um Applaus zu ernten.“
„Du Läfterzunge!” flüfterte Elife. „Er ſpielt mit Feuer. — Mein Lieb:
lingsſtück.“
„Mein Gott, er nimmt ja jedes Tempo zu raſch! Er ſpielt ‚genial‘; wie
ein Mieje, der einen Rohrſtock balanciert. Gott fei Dank, daß ich nicht fein
Klavier bin!“
„sc wollt’, daß ich es aud) fo betaſten könnte... .“
Elife jpigte mit drolligem Erjchreden ihre vollen Lippen: „Kalauer Numero
fünfundvierzig! — Und ich kann noch ſchlechte Wortwige machen, während der
Mann fo ergreifend fpielt. Hoch! Hör doch zu!”
Marie jchüttelte den Kopf: „Sch hab’ genug. Seine Birtuofität macht mid)
müde.“ Sie fette fi auf einen der Stühle vor der Gartenthür.
„Du bift heut unerträglich, mein Herz. — Na, dann geh’ ich allein!"
Elife trat leiſe ins Haus.
Unerträglich! dachte Marie, in das Dunkel unter den Bäumen jtarrend.
Ü ja; vor allem mir felbft! — — Glücklich machen! Gott, gieb mir einen
Menihen, den ich glüdlich mache; ſonſt ift die Welt des Lebens nicht wert!
Das Klavierſtück ging zu Ende; lebhaftes Klatſchen folgte. Ad, die Ernte
dachte fie und lächelte. Jetzt überbieten fie fi in Entzüden. — Gott, ich wollte
dad unbeadtetite Gejchöpf unter dem Mond fein, wenn id; wüßte, mas Zu—
riedenheit ift! — —
Die Luft in den Zimmern war jchwül geworden, und ein zweites Stüd
wollte Franz nicht fpielen; die Gefellihaft kam noch für ein Weilhen in den
Garten hinaus. Elife ging mit Franz und Reichthal voran; zulegt brachten
2
18 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
Diener und Mädchen die Bowle mit den Gläfern und ftellten jie auf den Tiſch
vor der Thür. Marie war aufgeftanden, al& Franz erichien; fie Jah jekt, dak
er etwas größer war, als vorhin ihr ſatiriſcher Blid ihn aufgenommen hatte.
Sie wunderte fi widermillig, mit welcher ficheren und vornehmen Anmut, ohne
Eitelkeit oder Selbitbewußtiein, er num näher trat. Ihre wilde, ſpöttiſche Laune
verflog auf einmal. Sie fah den alten Belannten wieder, das gute Würzburger
Geſicht, nur reifer und wohl auch bedeutender geworden. Es zog fie, ihm ent:
gegenzugehen; in plößlicher Befangenheit ftand fie aber ftill.
„Liebe, gute Marie!” jagte feine weiche Tenorſtimme, bei der ſogleich allerlei
Erinnerungen erwacten; er lächelte fie in fihtbarer Bewegung an. „Ich begrüß'
alle Welt, nur nicht —“ Ihr allein verftändlih fuhr er fort: „Nur nicht den
einzigen Menichen, den ich wirklich ſuche. Seh’ ih Sie endlicd; wieder, Marie!“
„Guten Abend, lieber Freund," ermwiderte fie.
„Und Sie geben mir nicht die Hand?"
Sie hielt ihm die rechte Hand bin; er nahm fie und führte jie an jeine
Lippen; unwillkürlich 309 fie fie zurüd. Franz ſah ihr verwundert ins Geſicht;
er fagte aber nichts. Nachdem er eine Weile umhergeblickt, auch nod ein freund:
liches Lächeln mit Elife getaucht hatte, ſchritt er tiefer in den Garten hinein:
jein jonderbarer, etwas ſchwermütiger Blick — den Marie vorhin „dämoniſch
jein follend“ genannt hatte — zog fie mit fort, ſie wußte nicht wie. Erſt als fie
hinter der Laube gingen, von den andern wirklich abgetrennt — nur noch ein
Vichtichein fiel aus dein Haus auf den Weg — , trat ihm das Herz auf die
Zunge: „Was haben Sie, liebe Marie? Ich eitler Menſch hatte auf einen
wärmeren, berzliheren Empfang gehofft. Wenn man die — Freundin feiner
Jugend wiederfieht — "
„Was hilft uns das?" jagte Marie herber, als jie wollte. „Die Jugend
iſt ja dahin.“
Franz lächelte, zugleich über den Ton verwundert. Seine Augen flogen
über ihre fchlanfe und fo vollfommen junge Geftalt. „Die Jugend tft dahin?
Das fagen Sie?"
„sedenfalls jene Jugend — von damals.“
„Die Märzveilchentage des Lebens, nun ja! Die erften Gährungsd- und
Gewitterzeiten, wo man lacht und weint, ohne eigentlich zu willen, warum.
Diefe füß verrüdten — — Was iſt Ahnen?"
Marie hatte eine abwehrende Bewegung mit dem linfen Arm gemadt. hr
war ducch den Kopf gegangen: dieſe feligen Zeiten hatte fie entweder nie erlebt,
oder vergejjen, unmiederbringlich vergejjen! — „Bitte, lafjen wir die," murmelte fie.
„Wie Sie wollen. Was Sie wollen. — Nur weil Sie fie mir vorhin
duch Ihren Anblid ins Gedächtnis riefen — "
„Sch?
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 19
„Ja; als ich am Flügel ſaß und ſpielte, da entdedte ich Sie auf einmal in
dev offenen Thür — "
„Sie haben mich geiehn ?"
„Gewiß. Neben Elife. Oder hinter ihr. Sie jtanden jo merkwürdig da
— wie ein Geift aus der Jugendzeit — nein, nein, lächeln Sie nit. Wie ein
Geiſt — aber ernft, fait finfter; überrafchend finfter — und darum jo wehmütig
ergreifend. Sch wär’ beinah aufgeftanden. Ich hätt’ fait nicht zu Ende geipielt!"
Marie ihämte fich, fie fühlte ihr Erröten. Wehmütig ergreifend, dachte fie;
und da läfterte ich über ihn! — Sie wendete ihr Geficht eine Weile ab; dann
ſah jte ihn aber, wie um abzubitten, vecht herzlich an und gab ihm die Hand.
„Sie jind ein guter Menſch,“ fagte fie, um etwas zu fagen.
„Sie irren ſich; id) war einmal einer; das iſt längft vorbei! Die Welt —
und die Jahre! — — Wie aber auch Ihr Yeben fich verwandelt hat. Ein Herr
Gemahl — den ich noch nicht kenne — "
„Sie werden ihn alſo kennen lernen.“
„Bielleicht audy ein Kind —"
Sie jchüttelte den Kopf. „O nein!”
„Sie jagen das mit jo verjchleierter Traurigkeit, Marie — "
„Stehn Sie da, um meine Rätjel zu rathen?“ fiel fie ihm ins Wort.
„Berzeihen Sie! — Da hör! ich wieder Ihre andere Stimme: das mi:
trauifche, ftolze, herbe Mädchen von damald — das heißt, nach der großen
Krankheit. Nach dieſer gräulichen Krankheit, die ich taufendmal verflucht habe;
die Sie bei einem Saar umgebracht hätte; die Sie dann fo grüblerifch, To
lebend und menfchenfeindlich, fo — ablehnend machte. Na, verflucht hab’ ich fie —
und über fie geweint! — Borher waren Sie das alles nicht. Da waren Sie fo
weih und gut — fo lieblich — *
„Was?“ ſagte Marie und fuchte zu lächeln. „Das wär’ ich einmal ge-
weien und wüßt' es nicht?"
„sa, weiß man das, wenn man’s it? — Aber wenn Sie ji nur er-
innern wollten — "
„Mich erinnern? Das kann ich nicht.“
„DO ja, wollen Sie nur; dann geht's! — Marie! An dem einen Abend,
über dem Main — einer der letten Abende, eh’ die Krankheit ausbrah — "
„Was weiß ich davon?"
„Wir kamen vom Nifolausberg, wir beide, am „Käpelle“ vorbei. Die röt—
lichen Wolfen hingen fo fchwer über uns; der ſchwüle Atem der eben beran-
ziehenden Nacht wehte über die Hügel; — Sie klagten auch einmal über Ihren
Kopf. Aber dann fagten Sie wieder: ad), mir ift doc) fo gut, jo gut! Und die
Luft war jo voll Muſik. E3 war, al3 wenn alles tönte vor meinen Ohren; und
in mir nichts als Muſik; und Sie fo felig aufgelöft — fo Tieblich erregt... . “
*
20 Adolf Wilbrandt, Großze Zeiten.
Er ſchaute jie an, als fähe er fie fo wie damald. Dann verwirrte ihn
aber ihr ftarrer Blid, Die großen, tiefen Mugen gingen wie durch ihn hindurch;
darauf in die Nacht hinaus. Es war, wie wenn fie mit Anftrengung, mit Dual
das Derlorene ſuchten. Ihre Lippen öffneten ſich. Endlich murmelte fie:
„Selig aufgelöſt . . . “
„Sie entfinnen Sich nicht?”
„Rötliche Wolken,“ ſprach fie juchend und träumend weiter, „hingen über
und... Ach ja, es kann wohl fein. Wie ein blafjer, blafjer Schatten zog es
eben vorüber... Aber nun iſt's vorbei." Sie lächelte jo traurig, daß das Herz
ihm weh that: „Und was außer den Wolfen noch war, davon weiß ich nichts!“
„Nichts, Marie? Nichts?"
Sie Ichüttelte den Kopf.
„Nichts! Ach kann's nicht glauben! Es u ja unmöglich!"
„Es iſt doch jo."
„Die Erinnerung an damals wär alfo nie mehr aufgewaht? Und Sie
wüßten noch immer nicht, was man für Sie fühlte — noch was Sie jelber
gefühlt haben?”
„Was ih —? Was ich — ?" — Sie Stand, ſah ihn an und Schüttelte den Kopf.
„Mich erinnert alles — Ihre Roſen da — die fchmwülen Düfte aus dem
Garten — alles erinnert mid; an jenen duftfchweren Würzburger Abend; und
an die Nacht darauf. Ich hatte Sie nach Haus geführt, ſaß in meinem Zimmer
allein. Die Fenſter waren offen. Der Frühfommer, die Jugend, die — Gefühle
floffen mir wie feuriger Wein im Blut. Ach warf mich auf die Erde, ich fing
an zu fingen, mich durch den eigenen Gejang zu Thränen zu rühren; Wonne-
thränen. Ich fang finnlofe Worte — ich hoffte auf — auf irgendivas. Auf ein
unausiprechliches, unausdenktbares, unermeßliches Glück!“
Mariens Augen hingen an jeinen Lippen, an feinen jchmärmerifchen,
dunklen Augen. Borhin hatte fie fie kalt genannt; jet wedten fie gleichſam das
Leben in ihr. „OD Jugendzeit!“ fagte fie mit einem träumeriichen, warmen
Lächeln. „Sprechen Ste weiter. Sie machen mich wieder jung.“
„Ich ftand endlich auf, um mich als „Künftler” zu fallen; denn Sie wiſſen
ja, ich lebte in der Mufik, wenn auch nur als Dilettant — “
„As Künſtler!“ unterbrady fie ihn.
Er lädhelte: „Und ich war ein Sturmwind auf dem Klavier — *
Sie lächelte auch: „Na, das weiß ich nod; ein Orkan!”
„Und fo ftürmt' ich denn auf den Taften umher, fuchte eine muſikaliſche
‚Form für meine feierliche Seligkeit ... Daben Sie vorhin das Stüd gehört,
das ich jpielte? den Schubert?" Etwas verlegen nidte Marie.
„Aber meine Bhantafie über das Hauptthema darin fennen Sie nod)
nicht. Die Schrieb ich in jener Naht. Wie ein Betrunfener, wie ein glüdjelig
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 21
—
Wahnſinniger ſaß ich da; — und ſeit dieſer Nacht lieb' ic dieſen Schubert wie
ein Stück von meiner Jugend. Ich weiß, ich ſpiel' ihn ſchlecht: ich ſpiel' ihn
noch heut wie ein Orkan!“
„Dann wünſch' ich von Herzen,“ erwiderte ſie lächelnd, ſo anders war ihr
jetzt zu Muth, „ſpielen Sie ihn bis an Ihr Ende ſo ſchlecht!“
Er erwiderte nichts. Er betrachtete ſie nur. „Was machen Sie jetzt für
ein ernſtes, erſtauntes Geſicht?“ fragte fie.
„sch wundere mich nur, wie mädchenhaft jung und — ſchön Sie find. Sa,
wie mädchenhaft! Wie an jenem Abend! Als wär dann nicht die Krankheit
gefommen — und die Veränderung. Die Entfremdung. a, ja, ja, Sie wurden
dann jo fremd, To kalt! Und ich war jo heiß, jo — — Sie haben mid ja in
die Welt getrieben, Marie. Bier in Würzburg fterb’ ich! dacht! ich. — Nun, dann
ging mir's ja draußen gut, recht gut. Hab’ gefehn, gelernt, hab’ aus mir 'nen
Mann gemadt — und nen Künſtler auch — das kann ich wohl jagen. Und
das Leben hat mir auch wieder gelacht . . . Sie ſehn, ich Eofettier’ nicht mit meinem
Würzburger Elend. Aber wenn ich Sie nun fo wiederjeh’ — To anders und fo
wunderbar unverändert —"
„Marie!" rief jett Reichthals gemütliche Stimme vom Haufe her. „Bert
Weltumfenler! Die Derrichaften wollen fort!"
Es war, ald erwadhte Marie. „Die Herrichaften wollen fort,“ wiederholte
fte, noch wie im Traum. „a, dann geb’ ich auch.“
Ste warf noch einen Blid auf Franz, ging dann ftumm zurüd. Ex folgte
ihr. Er jab jede ihrer Bewegungen in dem balbdurchleuchteten Dunkel, den
ſtolzen, elaftiichen Gang, den Schönen Umriß der ſchlanken Geſtalt. An der Garten:
thür und drinnen ftanden die Säfte, die von Elite und dem Hausherren Abichied
nahmen. „Irinft denn niemand mehr ein Glas von meiner guten Bowle?“
fragte die Dausfran.
„Sie haben zwei Wiegen oder Wagen,“ antiwortete Neichtbal, „Sie brauchen
Ihr bischen Schlaf. Wir gehn!”
Philifter! dachte Franz, dem es —— hart erſchien, ſich ſo ſchnell von
Marie zu trennen, der eine Art von Rauſch im Herzen fühlte. „Gute Nacht,“
ſagte er mit Widerftreben zu ihr, als an ihn die Neihe kam. „Morgen darf id)
Sie ſehn?“
„Schon zum Frühſtück, wenn Sie wollen; jedenfalls kommen Site wicht viel
ipäter!“ erwiderte Marie mit jonniger Deiterfeit. „Ihre Bhantafien, die orfaniichen,
die bringen Sie mit!“
Eliſe begleitete einen Zeil ihrer Gäſte durchs Daus; andere gingen durch den
arten fort, der Hausherr mit ihnen. Als Eliſe zurückkam, hörte fie Klavierſpiel;
zu ihrem Erſtaunen ſah fie dann Marie am Flügel fiten. Sie jpielte dasselbe
Schubertiche Stüd, das ihr unter Franz Piebenaus Händen fo mißfallen hatte.
22 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
„Marie!" rief Elife nad einer Weile. „Du noch hier?“
Marie jpielte weiter; faft in demfelben Tempo, wie vorhin der „geniale Rieſe“.
„sch dadıte, Du gingft mit Reichthal fort?“
„Meine Dore wartet ja," warf Marie hin; dann fpielte fie zu Ende. Sie
blieb aber jiten, mit träumenden Augen.
„Willſt Du über Nacht hier bleiben, Kind?" fragte Elije fcherzend und legte
ihr eine Hand auf die Schulter. Marie ftand auf.
„ein, nein, nein. Ich gehe. Leb wohl!“
Sie ging aber nicht. Ihre Hände blieben auf den Taften liegen, der Blid
träumte meiter.
Elife kannte fie jo; wenn ihr and) heut der Sonnenschein auffiel, der Martens
Seficht verklärte. Sie lächelte übermütig: „Na, dann will id) Dich erleuchten,
mein ind, indem ich uns verdunkle!“ Sie blied die vier Kerzen auf dem
Flügel aus. „Wirft Du nun gehn?“
„ta, ja! — Ich gehe.“
„Aber davon merk ich nichts. — Und ſiehe, das Licht erlofch und es ward
Finſternis!“ life löfchte auch die Lampen aus.
Jetzt kam Marie ganz zu fi. „Ja fo! — Aha! — Du bift doc immer
die Alte!“
„a, Gott jei Dank!" — „Gute Nacht, Madame!“ — „Gute Nacht, Mylady!“
Fortſetzung folgt.)
—2
Es ſchlägt ein Ruf.
Es khlägt ein Ruf, ein klingend Vecken Volldampf voraus! Wie Adlerzungen
Die Grenzen jedes deutfchen Gaus, Wirkt ic im Wind der Wimpelitand,
O ieht, zu neuen Zielen ſtrecken fliegt zum Burra der blauen Fungen
Im Flug fich unire Wimpel aus! Das goldgeitikte Mutzenband.
Empor aus Sdumnis und aus Sorgen, Mandı fremde Flagge fank ichon nieder,
Deutichland, erwah! Sei groß wie eh’: Seit ihr den Plan der Meere meßt,
Die junge Flotte grüßt den Morgen Und längit verlor'ne deutiche Brüder
Und grüßt das Reidı und grüßt die See! Hält neu die Macht des Reiches feit.
Du, junger Kailer, wirlt uns führen, Einit kommt ein Tag, ein Tag der Ehre,
Du biit der Zukunft Herr und Sirt, Es jauchzt der Sturm um kuv und liee,
O laß nicht ab, die Glut zu fchüren, Wir find die Freunde aller Meere,
Daß lie zur reinen, Flamme wird! Wir find die Könige der See!
Die Kailerkrone hing am Griffe Ob Woge fidı auf Woge fürme,
Der Schwerter, die Dein Ahn gelenkt — kaßt fie nur droh’'n — wir lind dabei
Nun fieh, ob nicht am Kiel der Schiffe D Gott der Stille, Gott der Stürme,
Noc leuchtend eine zweite hängt. Gieb uns das Meer und mad’ uns frei!
Karl Buiie.
EHTNTNHTNTNTHTNTENTNTHTENENTEINTI
Die weltgeiciichtlihe Aufgabe des deutſchen Gelltes.
Von
Rudolf Eucen.
N: nationale Hochflut unjerer Zeit läßt die meilten Völker ihre Kraft auf-
bieten und ihr Dajein behaupten ohne viel Sorge darum, was ihre Eigen:
tümlichfeit dem Ganzen der Menfchheit und der Bewegung der Weltgeichichte be-
deute; es ift die wilde Yeidenichaft eines Naturtriebes, mit der fie ſich ausdehnen
md durchſetzen. Ein Hulturvolf, ein Volk, das bejtimmend eingriff in die Welt-
geihichte und deſſen Wirken alle Gebiete des menjclichen Lebens umfpannt,
würde zu Elein von fich denken, wollte es ſich eine jolche bloß inſtinktive Selbſt—
erhaltung genügen laſſen; ein ſolches Bolt muß fi) von jeinem Weſen Rechen-
haft geben und nad jeiner Bedeutung für das Ganze der Menjchheit fragen ;
es muß To fragen, um die innerfte Seele für jein Werk zu gewinnen, fragen
au, um das Bemwußtjein eines Wertes, ja einer Unentbehrlichfeit für jenes
Ganze allen etwaigen Zweifeln entgegenbalten zu Eönnen. Solche Zweifel
können heute den Deutichen bei allem Vordringen und Gelingen gar wohl be-
ihleihen. Mehr und mehr hat der Verlauf des 19. Jahrhunderts den Schau:
vlat des Lebens und den Kampfplat der Arbeit ausgedehnt. Nichts auf dem
ganzen Erdball gilt jest als fern und freind, überall muß zu Haufe fein, überall
am Wettbewerb der Waren nicht nur, jondern aud der Gedanken teilnehmen,
wer in dem Ganzen mitzählen will; auch die Kraft jeines Wollens jcheint überall
einlegen zu müſſen, wem nicht die dumpfe Enge eines abgeſonderten provinziellen
Dajeins genügt. ft nun das deutiche Volk ftark genug, einen ſolchen Wettitreit
aufzunehmen und in den Ganzen einer Weltkultur feine bejondere Art zur
Geltung zu bringen? Meußerlich angejehen ift dafür jeine Lage höchſt ungünitig;
wie kann es hoffen, mit feinen engen Grenzen, einer Umklammerung von
fremden und feindlichen Völkern, jeiner verjpäteten Mitbewerbung um die Welt
draußen eine Weltftellung gegenüber Bölfern zu erringen, die ſich über ganze
CErdteile ausdehnen und denen Yand über Yand in den Schoß fällt? Den Kampf
für das jcheinbar Unmögliche kann es nur aufnehmen bei einem feften Glauben
an die Größe feiner geiftigen Art und an eine Unentbehrlichkeit dieſer Art für
das Ganze der Menjchheit; die Kraft jelbft wird wachſen, wenn dieje Ueber—
zeugung ihre Entwidlung trägt und bejeelt.
24 Rudolf Euden, Die mweltgefchtchtliche Aufgabe des deutfchen Geiſtes.
Worin alſo beiteht das Eigentümliche und Auszeichnende der deutichen Art?
Wir find darüber heute unficherer als man es vor hundert Kahren war. Damals
erichienen die Deutichen den Anderen wie ſich felbit als ein Volk der Dichter
und Denker, als ein Volk, das, durd; feine Natur wie duch feine Scidjale
an einem thatkräftigen Wirken und Walten in der fichtbaren Welt behindert, ſich
durch geiftige Arbeit, namentlid; durch litterarifche Produktion, eine neue Welt
ichaffe und in fie den Schwerpunft feines Dafeins verlege. Als Bürger diefer Welt
glaubte man fich durch die Arbeit für die Güter der Wahrheit und Schönheit hoch
über alle äußeren Angelegenheiten, hoch auch über das politiiche und nationale
Leben hinausgehoben; es ift nicht die Meinung eines Einzelnen, es ift die Ueber—
zeugung eines großen Kreiſes, wenn Fr. Scjlegel fagt: „Nicht in die politiiche
Welt verjchleudere du Glauben und Liebe, aber in der göttlihen Welt der
Wiſſenſchaft und der Kunſt opfere dein Annerftes in den heiligen Feuerſtrom
ewiger Bildung.”
Den anderen Bölfern konnte ein jo williger Verzicht auf die fihtbare Welt
nur willflommen Sein; jo wurde denn der Deutiche der damaligen Zeit von
draußen ber mit Lobſprüchen überhäuft. Bulwer widmete feinen „Erneft Maltra:
vers" „dem großen deutjchen Volke, einer Nation von Denfern und Kunftrichtern“
(the great German people, a nation of thinkers and of critics).
Das 19. Rahrhundert hat diefes Bild vom Deutfchen zerjtört, zerftört durch
das wirkſamſte Mittel der That. Die Deutfchen haben gezeigt, daß fie auch
innerhalb der Welt etwas zu leiften vermögen; die Triumphe ihrer Waffen, die
Fortichritte ihrer Technik, die Erfolge ihres Handels und ihrer Anduftrie ftehen
viel zu deutlich vor Augen ald daß fie nun nody ein weltfremdes Volk heißen
und etiva, wie früher, als die „Inder Europas” gelten könnten.
Wie aber ift diefe höchſt auffallende Wendung von einem Reiche dichteriicher
Phantafie und philofophifcher Gedanfenarbeit zur fihhtbaren Welt zu beurteilen?
Iſt fie ein ſchnöder Abfall des Deutichen von feiner echten Natur, haben ihn
dieſer überwältigende äußere Eindrüde entfremdet? Oder bat er umgekehrt mit
jener etwas wieder aufgenomnten, was in feinem eigenen Weſen jtedt und was
nur widrige Schickſale zeitweile zurüdgedrängt hatten?
Ein Blid auf die Gefchichte des deutfchen Volkes zwingt das Letztere zu
bejahen. Denn nicht als ein Volk der Pitteratur, nicht als ein Volk des Dichtens
und Grübelns haben die Deutichen ihren Namen zuerit in die Weltgeihichte ein-
getragen, fie haben es gethan als ein Eräftiges, ein untiderftehliches Volk der
Waffen Mäctig braufte ihr Zug durch die Welt, zunächft niederwerfend und
zeritörend, dann aber erhaltend und weiterführend; im Mittelalter entwickelte ſich
die deutiche Arbeit zu böchfter Tüchtigkeit; dak es zu aller Sorgfamkeit im Ein-
zelnen nicht an organifatoriicher Kraft fehlte, das zeigen die Leiftungen der Hanfa
mit ihrer Derrichaft über die Meere und die des deutſchen Ritterordens mit
Rudolf Euden, Die meltgefchichtliche Aufgabe des beutfchen Geiſtes. 25
jeinem Aufbau eines höchft eigentümlichen Staatsweſens im Nordoften; daß biefe
Arbeit auch gefchidt genug war neue Wege zu erfinnen, das erweiſen die zahl-
reihen technifchen Erfindungen, in denen Deutfchland namentlich um die Wende
vom Mittelalter zur Neuzeit an der Spite aller Völker ftand. Denken wir nur
an die Buchdruderkunft, die Taſchenuhr, das Spinnrad! Go tft das Er:
findungsvermögen der Deutichen auch zur Zeit ihre äußeren Niederganges von
anderen Völkern, namentlich den Franzoſen, bereitwillig anerfannt. Sowohl der
große Kritiker Pierre Bayle (1647-1706) al3 die geiftvolle Frau von Stael in
ihrem berühmten Buche über Deutfchland haben folcher Anerkennung lebhaften
Ausdrud verliehen.
So gehört jenes Praftifche, Tehnifche, Weltgeftaltende zweifellos zu unſerem
Wefen ; im Bilde der älteren Deutfchen ift es jogar der beherrichende Hauptzug.
Erft feit der Reformation ift darin eine Wandlung eingetreten; zunächft wurden
nun die religiöfen Fragen zur Hauptſache, dann trat das Problem der Fünftle-
riſchen und litterariihen Bildung in den Vordergrund, wie es die Haffifche Zeit
unjerer Dichtung beherricht und unvergänglide Schöpfungen hervorgebracht hat.
Was an Innerlichkeit durch ſolche religiöfe und künſtleriſche Bethätigung entwidelt
it, da3 können wir nicht aufgeben, das würde uns feithalten, auch wenn wir es
aufgeben wollten.
Aber wie jollen wir nun uns felbft verftehen? Unſere eigene Natur fcheint
geipalten, gejpalten zwijchen einem fräftigen Erfaſſen der fichtbaren Welt und
der Entwidlung einer weltüberlegenen Innerlichkeit; treibt das nicht zu einer
entgegengefegten Schätung der Güter, müfjen wir nicht hier verwerfen, was mir
dort verehren? Vorausſichtlich würden wir bei joldher inneren Spaltung in zwei
Dauptlager zerfallen; die Praktiker und die Antellektuellen (wenn diefe Bezeich—
nung geftattet ift) würden nicht mit einander, fondern gegen einander arbeiten.
Könnten wir bei ſolcher Gegenfäßlichkeit hoffen eine Weltftellung zu behaupten?
Gefahren find hier unbeftreitbar vorhanden, das deutſche Weſen enthält in
der That einen Antrieb nad entgegengefegter Richtung. Aber das braucht uns
nicht zu erichreden. Es gab feine große Perjönlichkeit, die nicht Gegenfäte in fich
trug; eben in ihrer Ueberwindung hat fie die eigene Höhe erflommen. Sollte
es mit den Nationen ähnlich ftehen? Sollte nicht jedes große Kulturvolk Gegen-
fäge enthalten und in ihnen vornehmlich den Antrieb zur Umwandlung der
eriten Lage, zur Bertiefung des eigenen Seins, zu bleibenden Schöpfungen für
die Menfchheit finden? Die verfhiedenen Ströme dürften dann freilich nicht
gleichgültig neben einander hergehen, fie müßten ſich innerhalb eines gemein:
famen Lebensraumes begegnen und gegenfeitig verftärten. Sehen wir, ob das
bei den Deutſchen zutrifft.
Nur dem flüchtigen Blid können der ftarfe Zug zur fihtbaren Welt und
das Streben nad; mweltüberlegener Innerlichkeit als unverjöhnliche Gegner er-
26 Rudolf Euden, Die mweltgeihichtliche Aufgabe des deutſchen Geiites.
fcheinen; eine nähere Betrachtung erkennt bald, daß das eine auf das andere an:
gewiefen ift, daß fein die eigne Aufgabe groß fallen kann ohne ſich durch das
andere zu ergänzen. Es giebt Feine tüchtige und glüdliche Arbeit an der Welt
ohne eine Kraft des Geiftes und eine Annerlichkeit der Seele, aber e3 giebt auch
feinen Aufbau eines Neiches der Innerlichkeit ohne eine ftete Beziehung auf die
jichtbare Welt und ein männliches Ningen mit diefer Welt. Einen vollen Ein:
Elang erreicht freilich nicht der Durchfchnitt des Alltages, denn bier wird immer
die eine oder die andere Seite überwiegen; es Handelt ſich um ein deal, nicht
um eine fertige Thatiache. Aber wenn fich zeigen jollte, daß jenes nicht nur an
einzelnen Höhepuntten zu glänzender Entfaltung kam, jondern daß es von Haus
aus in der Art des Volkes ftedt und durch die Kahrtaufende der Geſchichte hin-
durch erziehend und erhöhend wirkte, fo ift das ſelbſt eine große Thatſache.
Solches aber läßt fih in Wahrheit zeigen.
Die Deutichen waren von Alters ber in der Arbeit tüchtig vor allen des»
wegen, weil ihnen die Arbeit nicht ein bloßes Mittel für den Erfolg oder Genuß
war, fondern weil fie freude an ihr hatten, fie als einen Selbftzwed behandelten,
innerlich mit dem Gegenitande verwuchlen, den ihre Arbeit ergriff. Nur fo
fonnten die Forderungen der Sade zu Antrieben für das eigne Streben
werden, nur jo Eonnte fich der Menſch jo in die Arbeit verſenken, mit ihr identi-
fizieren, daß alle ihre Not und Mühe, ja ihre Schmerzen und Opfer vergefjen
wurden um des Gelingens der Sache willen. Solche Befeelung der Arbeit iſt
aber nur möglich, wo eine reiche feelifche Annerlichkeit vorhanden ift, die an dem
Segenjtande der Arbeit ſich Telbit erlebt, die in der Arbeit nicht eine einzelne
Yeiltung ſieht, ſondern aus ihr einen Beruf des ganzen Menfchen madt. Das
aber begleitet überall die Entwidlung des deutichen Lebens. In den Künften des
Friedens wie im Werk des Krieges wurde die erwählte Arbeit den Deutjchen zu
einen fejten Yebensberuf, diefer Beruf erzeugte einen eigentümlichen Dafeinskreis,
ja eine eigentümliche Gedanfenwelt; dev Betrieb der Arbeit umgab ſich — denken
wir mir an die Ordnungen der mittelalterlichen Zünfte — mit eigentümlichen
Formeln und Sitten, die in allev wunderlichen Verſchnörkelung ehrwürdig find,
weil in ihnen die Ehre und Würde der Arbeit, auch der äußerlich noch fo ge:
ringen, zum Ausdruck kommt Das Wort Luthers, daß die Magd, welche die
Straße fehrt, wenn fie es im rechten Sinne thue, Gottesdienft übe, ift aus der
tiefiten Seele des deutſchen Volkes geiprochen. Wie verjchieden ift das von der
Schäßung der Arbeit im klaſſiſchen Altertum! Denn feinen großen Dentern
ichien nur in der aller äußeren Notwendigkeit enthobenen PBethätigung, der
freien Muße, ein menichenwürdiges Dajein erreichbar; „wer ein Handwerker:
(eben führt, der kann nicht Werke dev Tugend verrichten”, jo meinte der große
Aristoteles. Nur weil das deutiche Volk anders über die Arbeit dachte, Eonnte
es in ihr einen feiten Dalt im Leben und einen Troft in ſchweren Zeiten finden.
Rudolf Euden, Die meltgefchichtliche Aufgabe des deutſchen Geiſtes. 97
Auch ift mit jener Schätzung der Arbeit aufs Engfte verbunden die Gewiſſen—
haftigfeitt der Arbeit, die viel gerühmte „Gründlichkeit". Nur wer das Kleine
achtet, kann jene Eigenichaften entwideln; das Kleine, ſcheinbar Verſchwindende
aber wird nur achten, wen die Arbeit ſelbſt wertvoll, ja heilig it. So bezeugt
die Größe der deutschen Arbeit unmittelbar die Tiefe der deutichen Seele; daß
aber die Arbeit ohne die Kraft des Geiſtes nicht hätte neue Bahnen einjchlagen
und ind Große wirken können, das iſt ohne Grörterung einleucdhtend.
Nicht Fo einleuchtend ift von vornherein, daß die Entwidlung eines Reichs
der Innerlichfeit nur zufammen mit kräftiger Arbeit zur fichtbaren Welt gelingen
kann. Und doch ift auch dieſes zuverfichtlich zu behaupten. Allerdings bat bei
den Deutihen nicht felten das Streben zur Innerlichkeit geglaubt alle Beziehungen
ur fihtbaren Welt löjen und völlig eigne Wege einschlagen zu fünnen, aber
es it ſolches Unternehmen nicht nur auf wachſenden Widerſpruch von außen
geitoßen, es hat auch bei fich jelbft nicht vecht gelingen wollen. Ohne ein ener:
ches Ringen mit der Außenwelt erlangt das Innenleben feine volle Kraft und
Stärke, es bleibt zu ſehr eine Sache bloßer Gefühle, Stimmungen, Begriffe
itatt den ganzen Menjchen an fich zu ziehen und die Tiefe feiner Gejinnung zu
gewinnen; die erſtrebte Innenwelt droht unwahr zu werden, wenn fie nicht immer
von neuem dem fichtbaren Dafein abgerungen wird. Auch wird fich die Inner—
lichkeit zu einer zufammenhängenden Innenwelt nur entwideln Eönnen bei unab—
läffiger Beziehung, Prüfung, Daritellung in der ſichtbaren Welt; ohne dies ift
die Bewegung zur Innerlichkeit ftet3 in Gefahr fich ins Phantaftiiche und Form:
(ofe zu verlieren. Beſſer als lange Erörterungen zeigen Beilpiele, wie wichtig die
Bahrung des Zufammenhanges mit jener Welt auch für das innere Bauen und
Schaffen ift. Wir verehren Kant als den größten Denker, Goethe ald den größten
Dieter der Deutichen. Nun wohl, hatten beide Männer eine weltfremde Art,
war ihnen die Arbeit der Umgebung gleichgültig, war die anichauliche Welt ihrem
Blid entichwunden? Sie ftanden beide nidyt im Lärm und Getriebe der Geichäfte,
he bedurften einer Zurüdgezogenheit und vubigen Stille, um das große Wert
ihres Lebens zu verrichten. Aber weil fie in jolcher Stille ichufen, waren fie
durchaus feine bloßen Stubenmenichen, vielmehr waren ihnen die Eindrüde und
die Erfahrungen der Weltinngebung mit lebhafteiter Friſche gegenwärtig, ftanden
fie bei aller Erhebung über die Zeit zugleich mitten in der Zeit. Bei Goethe
zweifeln wir daran feinen Augenblid. Aber aud der große Philoſoph' hatte zu
jeiner Zeit und jeiner Umgebung weit engere Beziehungen als der erſte Eindrud
jeiner Schriften verrät. Eben die neueiten Forschungen haben deutlich heraus
geitellt, mit welchem Ernſt und Eifer er die ſchöne Litteratur feiner Zeit verfolgte;
jeine Sympathien für den amerifanifchen Unabhängigkeitstrieg wie für die An-
fänge der franzöfifchen Revolution find bekannt, ebenjo feine Teilnahme für die
Reformen des Unterrichtsweſens; alle wifjenichaftliche Arbeit entfrenidete ihn nicht
8 Rudolf Enden, Die meltgefchichtlihe Aufgabe des deutfchen Geiſtes.
dem gefjellfchaftlichen und freundfchaftlichen Verkehr, unter feinen Freunden aber
ftanden obenan Männer der Praris, Kaufleute, Bankdirektoren u. a.
Sollte folches perfönliche Verhalten der großen Geifter niht auch einen
notivendigen Zufammenhang der verichiedenen Lebensgebiete bezeugen, beftätigt
es nicht die Behauptung, daß die Innerlichkeit ſelbſt ihre volle Kraft und Klarheit
nur findet bei lebendiger Vergegenwärtigung der Außenwelt und der ihr zuge
wandten Arbeit?
So verlaufen die beiden Bewegungen, weldye das deutiche Leben umſchließt,
feineswegs gleichgültig neben einander, fie jind darauf angewiejen, ſich gegenfeitig
zu Suchen und einander zu ergänzen. Erſt im Zuſammenwirken beider erreicht
das deutiche Streben feine volle Höhe. Nur indem innerhalb Eines umfaſſenden
Lebenskreifes das Aeußere durch das Innere bejeelt, das Innere durch das Aeußere
gefräftigt wird, erlangt das Thun eine volle Selbitändigkeit, kann der Menich
den Kampf mit dem Ganzen der Welt aufnehmen, Tann er feine eigne Stellung
im Ganzen der Wirklichkeit aufzuklären ſuchen. Won beiden Seiten Kräfte ſam—
melnd, Eann er den unmittelbaren Eindrüden freier entgegentreten und fie ener-
giicher umwandeln, kann er die Mannigfaltigkeit jtärker zur Einheit verbinden,
fanıı er aus der Fülle dev Erfahrungen und Leiftungen bleibende und vein
menjchliche Güter herausarbeiten, fann er in allem Thun fein eignes Wejen
bilden und feit auf dieſem Weſen jtehen.
Wie daraus eine durchaus eigentümliche Geftaltung des Lebens hervorgeht,
zeigt ſich deutlich bei einer Wendung zu den einzelnen Dauptgebieten. So im
beiondern beim Verhältniß des Deutfchen zur Neligion, das fremden Völkern ort
faum verftändlich iſt. Deutichland it das Land der Neformation und die Heimat
der Eritiichen Theologie, auf feine Art der Freiheit it dev Deutſche mehr bedacht
als auf eine Freiheit in religiöfen Dingen; auch der deutiche Katholik ericheint
dem fremden leicht als einer, der jich die religiöfe Wahrbeit zu ſelbſtändig und
jubjektiv zurechtlegt. Wegen folder freieren Behandlung der Religion jind die
Deutjchen von draußen ber oft getadelt und als ungläubig angegriffen. Aber es
iſt jene Freiheit nur die Folge jener Wendung der Religion ins innere und Ganze
des Menſchen, wie fie der eben gejchilderten allgemeinen Art entipricht. Und jene
Begründung im Innern erklärt wieder den großen Ernſt und den gewaltigen
Eifer, mit dem dev Deutiche diefe Probleme behandelt. Frivolität erträgt er in diefen
Dingen niit. Selbit wo er ſich zu einer Berneinung getrieben fühlt, pflegt er ſo
viel Wärme der Gefinnung in fie hineinzulegen, daß der Unglaube jelbit zu einer
Art von Glauben wird. Wer nicht auf die äußere Erjcheinung, jondern auf das
Weſen der Sache ftebt, der wird nicht leugnen, daß in Deutichland die Religion
auch heute eine große Macht behauptet. Fremde pflegen dies jtärfer zu empfinden
als die Deutichen felbit. Die grundverfchiedene Stimmung beim Gottesdienit
im Kölner Dom und in den Barifer Kirchen bat mir einmal ein dänijcher Theolog
Rudolf Erden, Die mweltgeichichtliche Aufgabe des deutichen Geiftes. 3)
in lebhaften Farben geichildert. Und gerade eben lief durch die Zeitungen eine
Aeußerung des Bilhof3 Bonomelli von Gremona über den Eindrud, den er
gelegentlich einer Reiſe in Deutichland vom dortigen religiöfen Leben empfing
Es beißt dabei, „daß das religiöfe Gefühl des deutjchen Volkes tiefer und nach—
haltiger it ald das, was man in Frankreich gewahrt, viel mächtiger aber, als
wir es in Italien kennen." — Und dieſes fo in feiner Neligiofität anerkannte
Volk it zugleich der Träger jelbitändigen Denkens, freieiter Forſchung aud in
religiöfen Dingen.
Das Streben nad geiftiger Selbjtändigfeit und innerer Klärung macht
auch die Philvjophie zu einem Grundbeftandteil des deutfchen Lebens. Der Trieb
zur Bhilojophie mag fi in den meltumfpannenden Syitemen der Denker am
glänzenditen entfalten, er reicht weit darüber hinaus, er hindert den Deutjchen
durchgängig, den einzelnen Fall nach dem unmittelbaren Eindruck binzunehmen
und lediglich nad) der individuellen Lage zu behandeln, er zwingt, überall Ber-
fettungen zu juchen, das Handeln unter Ideen und Principien zu ftellen, die
Erfahrungen des befonderen Gebietes zu MWelterfahrungen zu erweitern. Aud)
der deutiche Praktiker bat oft eine, wenn auch nicht technifch durchgebildete, fo
doch in charafterijtiichen Zügen entworfene Weltanjchauung. Die frühere idea-
liſtiſche Philoſophie wird jett oft abgelehnt, teils aus Mißverftändnis, teild aber
auch aus guten Gründen. Aber jene Philojophie war nur eine befondere Art
der Philojophie; auch was in Deutichland an realiftiichen Bewegungen Macht
gewann, ſtrebte ſich zu emer Bhilofophie zu erweitern. Die urſprünglich rein
natımmiffenschaftlih angelegte Entwidlungslehre ift in Deutjchland alsbald zu
einer Philofophie geworden, und auch der Sozialismus hat fich nirgends mehr
als in Deutichland zu einer Welt- und Lebensanihauung geitaltet.
Eine philofophiiche Art hat weiterhin auch das litterarifche und künſtleriſche
Schaffen der Deutichen. Denn aud bier waltet die Neigung, das einzelne Werk
aus einer Gejfamtüberzeugung zu entwideln, dieje in ihm zu verkörpern, mit
ibm für ihre Wahrheit zu kämpfen. So vor allem bei unſeren klaſſiſchen Dichtern,
jo aber auch über fie hinaus bis in die Gegenwart hinein. Auch von unferen
Dihtern her ließe fid) eine Art Geſchichte der Philoſophie entwerfen. Und zeigt
nicht ein Mann wie Richard Wagner, wie ſich bei und mit urfprünglichitem künſt—
feriihen Schaffen eine hochentwidelte Gedanfenarbeit zu verbinden vermag?
Nirgends vielleicht ift die eigentümlich deutfche Art mit ihrer Wechjelwirtung
von Arbeit und Seele ausgeprägter als auf dem Gebiet der Erziehung. Seit
dem Beginn der Neuzeit jtanden hier die Deutjchen voran. Denn mögen die
anderen Völker noch jo jchäßbare Anregungen geboten haben, die volle Durd):
arbeitung und die Verbindung zu einem Ganzen erfolgte bei und. Die Reform
der Erziehung war es, zu der wir in den ſchwerſten Zeiten als zur wirkfjamften
Hülfe Hüchteten, Tolche Arbeit haben wir inmitten der Stürme des 30 jährigen
30 Rudolf Euden, Die weltgeichichtliche Aufgabe des deutichen Geiſtes.
Krieges mutig fortgeführt, auf fie hat Fichte in jeinen Reden an die deutiche
Nation feine zuverlichtlihe Doffnung begründet.
Die ragen der Erziehung und des Unterrichts haben neben denen der
Religion bis zur Gegenwart am meiiten unſer Gemüt bewegt. Solde Schäßung
fonnte die Erziehung nur erlangen bei einer tiefinnerlichen Faſſung ihrer Auf:
gabe, bei einer Faſſung, wie jie ein Peſtalozzi zu muftergültigem Ausdrud bringt.
Erziehen ift hier fein bloßes Bereiten für Zwecke des äußeren Lebens, es ijt ein
inneres Erwecken und Stärken des Menſchen, eine „Dandbietung” (Peftaluzzt)
für die aufitrebende Natur, ein Entiwideln aller Kräfte für den Zwed, ein
ganzer Menſch zu fein. Gewiß hat das deutiche Unterrichtsweien bei Verfolgung
jolcher Ziele oft zu fehr die unmittelbaren Bedürfnijje des praftiichen Lebens aus
dem Auge verloren, im Großen und Ganzen aber war jene innere Bildung
zugleich die beite Vorbereitung für das praftifche Leben, das ganz andere
Forderungen an den Menichen zu ftellen pflegt, als auch die Flügfte Berechnung
voraußfieht.
Sp aufs innere und Neinmenschliche hätte ſich die Erziehung nicht richten
fönnen, ohne die genaue Beachtung und liebevolle Schäßung des Kindes, welche
die Deutichen auszeichnet. Micht nur ihre pädagogische Theorie, nicht nur die
Kindergärten eines Fröbel bezeugen eine folche, könnten die Deutichen das
Kinderipielzeug allen Völkern darbieten, wenn ihnen nicht die Kindesſeele be:
jonders nahe ftünde? Mo hat die Märchenwelt und die Kinderpoeſie jo hervor:
ragende Geiſter beichäftigt ‘denken wir nur an die Gebrüder Grimm), wo haben
bedeutende Zeitfchriften, wie die „Deutiche Jugend“, fo ſehr die beiten Kräfte
für die Aufgaben der Jugendlitteratur zu ſammeln geludt? Alle ſolche Be
ftrebungen befunden die Thatjache, daß die deutiche Arbeit im Menfchen vor
allem den Menſchen ſucht und fieht; jo greift fie tiefer zurüd in die Anfänge
und will fie die Bildung ſchon im Werden erfaffen, fo wird ihr vieles wertvoll,
was fonft ala Klein verachtet wird.
Eine gleiche Geſinnung zeigt aud) die Ausbreitung der Arbeit nach außen.
Bayle, jener geiftreiche Freund der Deutichen, meinte, es fehle ihnen un certain
talent pour la bagatelle. Darin bat er Sicherlich recht, es gelingt uns nicht
immer, das wirklich Kleine von dem zu unterjcheiden, was nur £lein jcheint, die
Gefahr der Umſtändlichkeit, Schwerfälligkeit, Bedanterie liegt uns beſonders nahe.
Aber diefer Fehler ift Schlieglih nur die Kehrſeite jenes für alle tüchtige Leiftung
unentbehrlihen Ernftes, der die Schätung, welche dem Ganzen der Sache zu-
fommt, über ihre ganze Breite ausdehnt und daher an jeder Stelle die ganze
Neberzeugung, die ganze Berfönlichkeit einjeßt.
An allen ſolchen Entfaltungen erweiſt und beftätigt jich eine charafteriftiiche
Gejamtart der Deutihen; worin ihre Eigentümlichkeit und zugleich ihre welt-
geichichtliche Aufgabe beiteht, darüber kann nun fein Zweifel mehr jein. Das
Rudolf Enden, Die weltgefchichtliche Aufgabe des deutichen Geiſtes 31
deutſche Bolt ift vor allem berufen, für eine Vertiefung und Bejeelung der
Kultur zu wirken, ein Ganzes und Inneres des Menjchen zu entwideln und in
aller Bethätigung nad) außen gegenwärtig zu halten, die Arbeit an der Welt
intenfiv zu geftalten, in fie die Seele hineinzulegen und durd) fie die Seele zu
ftärken. In diefem weiteren Sinne find und bleiben die Deutſchen die Vertreter
der Innerlichkeit, auch wo ihr Wirken icheinbar nur nad außen gebt.
Wie die Deutschen feit ihrem Eintritt in die Weltgefchichte ſich in dieſer
Weife bethätigt haben, fo it auch heute die Sache nicht auf den bloßen Augen-
blid geftellt; die Vergangenheit übermittelt uns ein reiches Erbe und erleichtert
damit die Arbeit des Tages. Wir denken dabei nicht nur an die erziehende
Arbeit der Dichter und Denker und an den Nachhall großer Thaten, wir denfen
auh an das ftille Werk der Schule und Sitte, an die Macht eingewurzelter
Ueberzeugungen und Wertichätungen, wir denken im bejonderen an die veiche
Gedanfenmwelt, mit der und unjere durch mannigfache Schidjale hindurch zu
einem wunderbar gefügigen Werkzeug tieffter Gedanfen und innerlichiter Gefühle
geftaltete Sprache umfängt. Sie vollzieht an uns unabläflig ein Werk innerer
Bildung; mit ihrem Reichtum und ihrer Innerlichkeit ift fie ein Gauptmittel, die
geiitige Arbeit über alle Anterefjen des bloßen Tages und alle gemeine Nützlich—
feit binauszubeben. Für die unmittelbare Wirkung im Zufammentreffen der
Völker ift die engliihe Sprache mit ihrer Kürze, Faßlichkeit, Klarheit entjchieden
im Vorteil. Aber bei aller Wendung zu einer inneren Bildung erfolgt eine Um:
fehrung zu Gunften der deutichen Sprache. Sie jtellt uns für die inneren Er-
lebniffe de3 Menfchen und für den Aufbau einer jelbitändigen Gedanfenwelt jo
viel mehr Ausdrüde und Nüancen zur Berfügung, fie unterfcheidet das Ganze
der geiftigen Arbeit jo viel deutlicher vom bloßen Alltagsleben, daß fie eine
tete Aufforderung zu einer Verinnerlichung und Vergeiftigung unferes Daſeins
enthält. Daß die deutiche Sprache ein Stück der Weltkultur werde und bleibe,
das ift nicht blos eine Angelegenheit der Deutfchen, das ift eine Angelegenheit
der ganzen Menfchheit, der damit ein unentbehrliher Schat innerer Kultur
zuſtrömt. Oft genug haben hervorragende Engländer und Amerikaner befannt,
wie viel innere Erweiterung und Befreiung ihnen das Vertrautwerden mit der
deutihen Sprade, die Möglichkeit eines Denkens in deuticher Sprade brachte.
In dem allen iſt das deutſche Wejen fich jelbit ein deal, es muß immer
von neuem errungen werden, auch empfängt es im Lauf der Zeit immer neue
Aufgaben. So Steht es namentlich in der Gegenwart vor neuen Problemen,
welche die ganze Menjchheit angehen, kein Volk aber mehr treffen als das unjere.
Das 19. Kahrhundert hat uns nicht nur das Bild der Außenwelt viel eindring:
fiher, ed hat und aud das Wirken zur Außenwelt weit bedeutender gemadht;
immer mehr bat die Arbeit ſich ins Technifche geitaltet und ſich zugleich zu
immer größeren Rompleren zufammengeichlofien, jie umfängt durch ihre
39 Rudolf Euden, Die meltgejchichtliche Aufgabe des deutſchen Geiſtes.
Mafchinenbetriebe das Individuum mit ‚überwältigender Macht, fie droht den
Menſchen zu einem bloßen Mittel und Werkzeug eines raſtlos forteilenden
Kulturprozeſſes herabzudrücken. So wird die Selbitändigfeit des Innenlebens
bedroht, die Perjönlichkeit geſchwächt, die Seele gefährdet. Aber die Seele mit
ihrem Verlangen nach Befriedigung und Glüd ift da und läßt fich nicht einfad
auschalten; aud wirken jahrtaufendlange Erfahrungen und Entwidelungen in
ihr fort und laffen jie jener Zurüddrängung bartnädig wideritehen. So gerät
da8 Ganze umferer geiltigen Yage ins Unfichere; indem alte deale erjchüttert,
neue noch nicht genügend befeftigt find, ericheinen Probleme über Problemen,
es fehlen gemeinjame Ziele und Wertichäßgungen, an allen Hauptpuntten empfinden
wir peinlich eine große Uinfertigkeit. Dem ungebeuren Yebensdrange mit feinem
Egoismus der Individuen wie auch der Nationen fehlt das Gegengewicht Täutern-
der und veredelnder ethiſcher Mächte; alle emfige Arbeit der Wiffenfchaft kanr.
nicht eine wachlende Unficherheit über unfer Grundverbältnis zur Wirklichfeii
verdeden; dem litterariichen Schaffen fehlt eine ind Große und Weſenh ifte
hebende Lebensanjchauung; wie viel Probleme aber heute die Neligion enthält
und wie es fie mit zwingender Gewalt über die jeßige Verworrenheit hinaus:
treibt, daS habe ich joeben in einem größeren Werfe „Der Wahrheitögehalt der
Religion” (Veit & Comp.) näher dargelegt.
Alle diefe Fragen find viel zu dringlid, als daß fie ſich ohne ſchwerſten
Nachteil noch länger zurüdichieben liegen, jie müfjen aufgenommen werden, fie
werden ficherlich bald in den Vordergrund des Lebens treten. Nun find fie keines-
weg‘ Sache eines einzelnen Volkes, jie gehören dem Ganzen der Menjchheit umd
wollen von diefem Ganzen betrieben fein. So jehen wir in Wahrheit in den
verjchiedenften Ländern bedeutende Perjönlichkeiten in jener Richtung thätig. Aber
es bleibt zugleich überaus wichtig, wenn ſich in einer befonderen Volksart ein
Grundſtock entgegenfommender Ueberzeugungen und Wertihägungen gebildet hat,
wenn bier durch eine reiche Geſchichte eine entiprechende geiftige Atmofphäre ge:
ichaffen und ein gemeinfamer Boden bereitet it, auf dem ſich die Beftrebungen
nad jener Richtung zufammenfinden und zur Wirkung vereinen Eönnen.
An dieſem allen kann die deutjche Art eben jett der Menjchheit befonders
viel fein, weil das dringendfte Problem der Gegenwart, der Kampf um eine Seele
des Lebens, ihr von Alters her innewohnt und für fie ein Hauptftüd ihrer Selbit-
erhaltung bildet. Für uns it eine zwingende Notwendigkeit, was den meiften
Anderen eine Beihäftigung neben anderen bedeutet.
Aber vergeffen wir nie, daß wir die Höhe unjerer eigenen Art immer erft
wieder in energifcher Anftrengung zu finden haben, und daß wir unjer Eigentüm-
liches nur fiegreich behaupten können, wenn mir uns untereinander zufammen-
finden, wenn im bejonderen die beiden Hauptrihtungen unferes Lebens: die
Bewegung zur fihtbaren Welt und die Entwidlung eines Reiches der Innerlichkeit,
Rudolf Euden, Die weltgefchichtliche Aufgabe des deutfchen Geiſtes. 33
nicht gegen einander, jondern zu einander ftreben. Auch der Praktiker wirkt für
die Macht des deutichen Geiftes, auch der Forfcher und Künftler für die Welt:
itellung des deutſchen Volkes; jchließlich bedarf jeder des anderen; fuchen wir aljo
ung immer mehr gegenfeitig zu veritehen, von einander zu lernen und durcheinander
zu wachlen. Hoffen wir, daß das neue litterarische Unternehmen diejer Zeitjchrift,
indem es die verjchiedenen Kräfte einander näher bringt, der wichtigen, ja notwen—
digen Zufammenfafjung deutjchen Lebens wertvolle Dienite leifte.
Ein leuchtendes Vorbild für ſolches Streben nad) innerer Solidarität fann
uns unfer größter Dichter jein. Niemand hat mehr ald Goethe für die innere
Kultur der Deutſchen gethan, und zugleid hat er die jchon beginnende Wendung
zu einem mehr praftiichen und technijchen Yeben mit inniger freude begrüßt. In
den Gefprähen mit Edermann, diefem Vermächtnis an die Menjchheit wie an
jein Bolf, wünjcht er den Deutjchen „weniger Philvjophie und mehr Thatkraft,
weniger Theorie und mehr Praris", wobei ihm bei Philvjophie und Theorie die
ältere, enge Faſſung der bloßen Spekulation vorfchwebt. Wie hoch muß er von
der Anregungsfraft des Meeres denken, wenn er „alle Inſulaner und Meer-
anwohner des gemäßigten Klimas bei weiten für produftiver und thatkräftiger
hielt al3 die Bölfer im Innern großer Kontinente”. Nichts ift aber bezeicdynender
für die Berührung der beiden Welten in jeiner Perſönlichkeit, als daß der Ab-
ſchluß feines größten Yebenswerfes, des Fauſt, in direkter Beziehung zu dem
Bremerhavener Hafenbau fteht, jener genialen Schöpfung des Bürgermeifters
Smidt, deſſen Perjönlichkeit jelbjt die Bereinbarkeit einer idealen Denkweiſe mit
höchſter praftifcher Tüchtigkeit in glänzender Weife dartdut. Denn wie Edermanı
im Februar 1829 Goethe „von Karten und Plänen in Bezug auf den Bremer
Dafenbau umringt fand, für weldes großartige Unternehmen er ein bejonderes
Intereſſe zeigte”, jo kaun fein Zweifel darüber fein, daß auf diefe Anregung hin
das Bild der produftiven Arbeit entworfen ift, bei der Fauſt nad) allen Stürmen
und Wandlungen des Lebens feine Befriedigung findet. Reichen fich hier nicht
das alte und das neue Deutichland die Hand zum Bunde? Und bildet dieje ab-
ichließende Ueberzeugung unjeres größten Dichters nicht ein gutes Vorzeichen für
das Streben, Altes und Neues mit einander fejtzuhalten, die Gegenfäße in unjerer
Natur zu gegenfeitiger (Förderung zu verbinden und jo der Weltaufgabe des deut:
ichen Geiftes mit vereinter Kraft zu dienen?
©
Meine Kämpfe in Oitafrika.
Den
Dermann von Wissmann.
I.
Das Gefecht am Kilima-Ndſcharo.
I dem Gebiet des Kilima-Ndſcharo hatte ich, nachdem ich den nördlichen
Teil der Hüfte unterworfen hatte, einen Mann geichidt, der nicht als Soldat,
jondern als politiicher Agent die Freundichaft der Deutjchen mit dem uns feit
„jahren befreundeten Häuptling Mandara wieder anknüpfen und mir über die
Berhältniffe dort oben unausgeſetzt Bericht eritatten follte.
Bevor ich das Kommiſſariat an den erften Givilgouverneur abgab, war id
gezwungen, nod einen Zug nach dem Gebiet des Kilima-Ndſcharo zu unter:
nehmen, da mir mein Agent von der Unbotmäßigkeit befuonders eines Häuptlings,
mit Namen Sinna, der über die Wakiboſcho herricht, und der auch häufig den
und befreundeten Mandara, dent er an Macht weit überlegen war, bedrohte,
Bericht Tandte.
Ich ging mit drei Hompagnieen und einem Trupp ausgefuchter Träger von
Pangani ab. Beim Ausichiffen der Truppe in Pangani vor der PBarre des
Fluſſes Eenterte leider ein Boot und es ertranf ein Unteroffizier und fünf meiner
alten Sudaneſen. Auch ich war dicht daran, an diefer Stelle umzuſchlagen, die
außerordentlich gefährlich ift, tweil der hier den größten Teil des Jahres ftehende
Schwell der Monfume ſich auf der flachen Barre bricht und eine furchtbare
Brandung bildet. Faſt 100 m weit laufen die weißen Wände einer jeden bran-
denden Woge umd oft in der Höhe von 2 m, fodah fie ein Boot erreichend, das
nicht mit dem jcharfen Bug in fie hineingewendet das brandende Waſſer teilt,
vollichlagen und zum Sinken bringen.
Nach einer Furzen, aber nachhaltigen Belehrung der wilden Sogonoi-Maſſai,
die jedoch im Kampfe gegen eine Truppe mit Ointerladern kaum Feinde genannt
werden können, da fie feine Fernwaffen führen, jondern ihren Gegnern mit den
hellebardenartigen, jchweren Speeren zu Leibe gehen müjjen, eine Aufgabe, die
einer gut bewaffneten Truppe gegenüber fajt ein Ding der Unmöglichkeit it, ge—
langten wir auf die weiten Vorebenen des Kilima-Ndfcharo.
Prachtvolle Jagdtage verkürzten uns die Zeit; jo kehrten wir befonders am
Tage der Geburtstagsfeier unferes Kaiſers — natürlich einem Nuhetage — alle
-
Dermann von Wißmann, Das Gefecht am Kilima-Noſcharo. 35
gegen Mittag mit reicher Jagdbeute beladen und nun ſelbſtverſtändlich in einer
wahren Feititimmung zurüd.
Die Station, die mein Agent in Mofchi, dicht bei dem Hauptdorf Mandara's
gebaut hatte, mußte von militärischen Gefichtspunften aus, da ich fie von nun
bejegen wollte, durchaus umgebaut werden. Aber vorher mußte ich mit dem
Däuptling Sinna Rechnung halten. Er pocdte jo auf jene Macht, und war fo
allgemein gefürchtet, hielt fich für jo ficher in feinen labyrinthiſchen Befeitigungen,
daß er unierer jpottete und uns auf unjere Forderungen nur höhnende Ant:
worten jendete.
Mit drei Kompagnieen und einigen hundert Sriegern, die mir Mandara zu
ftellen hatte, Wadſchaga-Kriegern in ihrem jchönen Aufpuß, der auf Bildern meift
nur den Maſſai zugejchrieben wird, zog id) aus. Trotzdem Sinna wußte, daß
ich ihn zwingen wollte, fich zu unterwerfen und Buße zu zahlen für feine Ueber—
griffe, traf ich mit meiner Spite in der Landichaft Kiboſcho für ihn ganz über-
rajchend ein, wovon mid) das Schreien, die weit gellenden Warnungsrufe und
Schüſſe von allen Seiten her belehrten.
Die Hänge de3 mächtigen, alten, über 20000 Fuß hohen Bulfans, des
Kilima-Ndſcharo, find immer nur ſtückweiſe bevölkert, dann aber äußerſt dicht.
Die Eingeborenen laſſen dort, wo fie ſich niederlaflen, keinen Streifen Bodens
unbenußt. Sie legen außerordentlich Eünftlihe Bewäfferungsfanäle an umd bauen
Terraffen, die den meiſt aus vulkaniſchem Tuff beftehenden, guten Boden ab:
halten, weggeſchwemmt zu werden. Auch ift bei allen diefen Stämmen eine aus-
gedehnte Viehzucht vorhanden, und, fo wunderbar es flingen mag, dort weit im
Innern Afrikas faſt ausſchließlich Stallfütterung. Die Hauptnahrungspflanze
der Bewohner des Gebirges it die Banane. Jeder Bananenbaum trägt nur
eine Frudt, dann wird er weggeichlagen und der nächſte Baum, aus Schöflingen,
die am Fuße des vorigen entipringen, giebt im nächſten Jahre eine neue Frucht.
Der faftige, grüne Bananenſtamm aber wird, in Schmale Scheiben gejchnitten,
verfüttert und giebt den größten Teil des offenbar ausgezeichneten Viehfutters,
denn alles Rindvieh, das ich dort oben jah, war glatt und fett und gab vor-
trefflihe Mil, wenn auch nicht viel. Dieſe Eigenfchaft ift erit ein Erzeugnis
langjähriger Zucht.
Sp bat denn jeder diefer Stämme des Dſchagga-Volkes im Verhältnis zu
feiner Kopfzahl nur einen Eleinen Bereich inne, hält ſich aber, wie häufig unfere
Borfahren, ehe fie unter fräntiihem Scepter fultiviert wurden, eine Grenzwild-
nis um fein Gebiet, die fein (fremder betreten darf. Ihre Dörfer, ihre Gärten,
ihre Bananenkulturen und Felder find durch lebendige Heden, durch Pallifaden-
didichte u. f. w. mit einem jchier undurchdringlichen Ringe eingefaßt, und nur
wenige Pallifadenthore, die häufig im Zidzad führend ſo eng find, daß höchſtens
nur ein Mann Hinter dem andern ſich hindurchdrängen kann, und die durd)
gr
36 Hermann von Wißmann, Das Gefecht am HilimaNdfcharo.
Schießſcharten von allen Seiten noch bejonders gefichert find, führen in das
eigentliche Gebiet de3 Stammes, alfo gewöhnlich in ein Gelände, in deſſen Mitte
ein Komplex von großen Dörfern liegt, um die herum die vorbejchriebenen
Pflanzungen fich hinziehen.
Wenn auch nicht unbeobadıtet, jo waren wir doch unaufgehalten durch dieſe
Pforten, die ich natürlich durdy Art und Spaten für uns erweitern ließ, hinein
gedrungen in den eingehegten Gau der Wakiboſcho. Die Eingeborenen eilten,
. von allen Seiten flüchtend, jchreiend, johlend, Vieh vor ſich hertreibend nad) der
Mitte des Gebietes, wo, wie wir wußten, das Dauptdorf, das Dorf Sinna’s,
des Häuptlings des Stammes, lag.
Bevor ich weiter erzähle, will ich verſuchen, diefes Dorf zu jchildern. Es
lag, von tiefen Schluchten umgeben, die das von dem Schneehaupt des Gebirges
herabrauſchende Wafjer gerifjen hatte, auf einer am Ende flachen Bergzunge.
Auf dem Kamme derſelben Fam, von oben ber, forgfältig eingedämmt, ein Stanal
herunter, der ſich durch das Dorf verteilte und in Gräben von großer Tiefe an
verfchiedenen Stellen aufgefangen wurde. Das Dorf war durdy Gräben in viele
Teile geteilt, die den ganzen Plaß in einem labyrinthifchen Gewirr durchzogen.
Die Spannung der Grabenränder betrug durchſchnittlich 10 m, die Tiefe der
Gräben — man denfe fich, welche ungeheure Arbeit zur Anlegung dieſer
Gräben bei ihrer großen Ausdehnung und Zahl gehörte — 7 bis 10 m. Auf
der Schmalen Sohle der Gräben lief gewöhnlich, wenn nicht Wafjer darin ftand,
ein Fußpfad. Beide Ränder diefer Gräben, die ſie zum täglichen Verkehr mit
langen Planfen überdedten, waren an Stellen, an denen die Nänder ſich bis auf
6 m näberten, mit dreimannshohen undurddringlichen, ja undurchſehbaren Hecken
eingefaßt, die fo dicht gewachfen waren, daß ein Durchdringen mit Art und Buſch—
mefjer lange Zeit in Anfprud nahm. Tin diefem Gewirr von Heden und Gräben
waren num wieder Eleinere Abteilungen von Dörfern gelegen, von doppelten und
dreifachen Reihen von Pallifaden eingefaßt, und diefe jehr häufig von niedrig ge-
baltenem Dornengebüſch umgeben, das ſich an die Pallifaden anlehnte und bis
2 m vor dem Fuße derjelben fich ausdehnte.
Die Eingänge zu diefen Eleinen Bomas inmitten des unentwirrbaren Irr—
gartens waren ganz niedrige, enge PBallifadenthore, dte gerade hoch und breit genug
waren, um das Kleine Vieh der Eingeborenen durchzulaffen, die aber der Mann
nur gebüdt paſſiren konnte. Dieſe Thore waren zu tunnelartigen Gängen ins
Innere verlängert, jo daß man mindeitens 10 m zwiſchen ca. 50 cm aus-
einander ftehenden Ballifaden durchgehen mußte, bis man in den inneren Raum
gelangte. Zu beiden Seiten diefes engen Ganges waren Schießſcharten oder
Scharten für die Speere der Verteidiger frei gelaſſen.
Das merkfwürdigfte aber an diefen ganzen wunderbaren Verteidigungsiyften
twaren die Höhlen und unterirdiichen Gänge in Kiboſcho, von denen wir jchon
Hermann von Wißmann, Das Gefecht am Kilima-Ndſcharo. 37
lange hatten erzählen hören und die, wie wir bald erkannten, wirklich Hunderte
von Metern unterirdifch fortführen mußten. Ich will vorgreifend erzählen, daß,
ald wir die Eingeborenen am eriten Tage des Gefechtes — denn zwei Tage
waren nötig, um dieſes Gewirr zu nehmen — aus den meilten Befejtigungen
vertrieben und rings herum das Gelände inne hatten, ungefähr 800 m oberhalb
de3 Dorfes ein großer Haufen Srieger erfchien, deren Aufitieg wir nicht geliehen
hatten. Wir ſahen aber auf die Sohle der tiefen Gräben mündende Deffnungen
von Höblengängen, durch die fie fi) und unbemerkt genähert hatten. Mehrfad
hörten wir, wenn wir an dem Hand des Graben ftanden, aus ſolchen Deffnungen
Sejchrei von Weibern und Kindern, von Ziegen und Schafen zu uns heraufichallen.
Der Feind verfhwand in diefen Höhlen oft wie vom Boden verfchlungen
und kehrte auch ebenjo fchnell zurüd, jobald wir den Rüden wandten.
Zu alledem kam der Umftand, daß bis auf ganz kleine Pläße vor den
Häuſern und einem einzigen größeren Plaß, den id) am erjten Tage zum Sam:
meln meiner ganz verftreuten Truppe benutte und der fonft zu öffentlichen Ver—
jammlungen diente, alles dicht mit Bananenbäumen beitanden war, jo daß das
Ganze wie ein hellgrünes Bananendidicht ausfah, in dem die dunfeln Heden ſich
in langen Reihen abzeichneten. —
Wir marichierten zunächſt, nod nirgends angegriffen, von einem Manne ge:
führt, der hier vertraut war, bis auf einen Bergrüden, der von dem eigentlichen
Dorfe durch eine Schlucht getrennt war. Bier hatten die Wakibojcho einen neuen
Kanal angelegt, der von oben herab der Rückenlinie des Höhenzuges folgte, aber
oben offenbar noch nicht fertig war, denn er war leer und troden und fchien mir
zu einem feiten Lager, dicht amı Dorf des Feindes gelegen, zu einem Stüßpunft,
von dem aus ich operieren konnte, fehr geeignet.
Sch machte bier Halt, ließ meine ganze Truppe in den Graben treten,
Sicherung nach allen Seiten ausstellen und die Wadſchagga-Krieger hinter dem
Dalbbugen, den der Graben bildete, in einer Senkung lagern.
An der ganzen Mafle vorzugehen, wäre unmöglich gewefen, denn das ſahen
wir Schon, hier fonnte nur im Gänſemarſch marjchiert und jelbft gefochten werden;
wurden Doch ſpäter im Dorfe mehrfach Leute durch Speerftihe aus den Heden
heraus, welche die engen Wege begrenzten, verwundet, ohne auch nur den Feind
zu Geſicht zu befommen.
In mehreren Abteilungen dirigierte ich meine Truppe jo, daß wir das Gen:
trum, welches una bezeichnet wurde, das Gehöft des Sinna, wo auch eine rote
Flagge wehte, zunächſt in der Mitte behielten, um dann, wenn die Truppen un—
gefähr die ihnen angegebene Stellung erreicht hatten, ftrahlenförmig nach der
Mitte vorzudringen.
In dichten Bananenpflanzungen, die da8 Dorf umgaben, ftießen wir zuerit
auf den Feind und erwiderten jein Feuer, jo gut es eben ging. Wir trieben
38 Hermann von Wißmann, Das Gefecht am KilimaNdicharo.
überall die einzeln und zeritreut fechtenden Leute vor uns ber und famen, fort:
während einzeln, nad) vorwärts, rechts oder linf3 feuernd, in den Irrgarten hinein.
Häufig entitand ein langer Halt, denn die Planfen, die über die Gräben
geführt hatten, waren hinabgeworfen worden vder ganz verichwunden, und es
mußten neue Mittel gefunden werden, um binüber zu fommen. Bier und da
famen wir bis in die Gehöfte hinein und brannten diefe, um den Aufenthalt dort
Ichwieriger zu machen, nieder. Oft mußten wir, und zwar meiſtens nad) der dicht
vor uns liegenden Dedung, aus der wir Feuer erhielten, Salven abgeben, ohne
auch nur den Feind zu jehen, doch waren diefe Salven von größerer Wirkung,
al3 wir geglaubt hatten, denn der weiche Bananenftanım ift natürlich durchaus fein
Hindernis für ein Geichoß.
So zugen wir denn durchaus planlos — denn nur im allgemeinen konnten
wir die Himmelsrichtung verfolgen — Ereuz und quer durch diefes Gewirr, bis
ich endlich mit der Abteilung, die ich führte, jenen einen freien Plaß erreichte.
An allen Stellen, die wir paffiert hatten, war der Feind wieder erfchienen; mehrfach
hatten wir noch auf ihn feuern Eünnen, wenn wir ihn auf der Sohle der Gräben
entlang laufend eben in einem Höhlenwege verfchwinden jahen. Einige Male
mußte ich die Zulu, die ich bei mir hatte, abhalten, ja bejtrafen, weil fie auf ſich
rettende Weiber und Kinder, die fich unten in den Gräben drängten, jchojfen.
Bei einem Zulu kam ich leider zu fpät; er Schoß auf einen Mann, der, fein Kind
in Arm, flüchtete, und erichoß das Kind. Ich Ichlug den Zulu zu Boden, in der
Erregung des Mugenblid3 nicht bedenkend, daß diefe erſt jeit fo kurzer Zeit ae-
zogenen Wildlinge in der Aufregung des Gefechtes noch nicht mit Ueberlegung
bandelten.
Auf dem freien Plage angekommen, gab id) jo lange Signale, bis ſich der
größte Teil dev Truppe herangefunden hatte. Wir fanden jett den Eingang zu
dem Gentralpunft des Plaßes, zu dem Gehöft Sinna’s, aber diefer war nod) viel
fünftlicher befeftigt, al3 alles, was ich vorher beichrieben habe.
Zwei Unteroffiziere wurden angeſchoſſen und auch mehrere Yeute, che es
mir gelang, in die Berlängerung der Eingangsthüre das Geſchütz zu bringen.
Aber die Granaten zeigten fid) den mächtigen Planken und Stämmen gegenüber
durchaus wirkungslos.
Der Abend fam herbei. Leberall, wo wir durchgezogen waren, war der
Feind wieder wie aus dem Erdboden heraus erichienen und vor allem hatten jich
auch die Leute Mandara’s, meine Wadjchagga, deren id; als Führer und Randes-
kundige bier ſehr bedurfte, allmählich verfrümelt und waren ganz verichwunden.
Sie hatten ſich unterdejfen wieder bei den Yenten, die ich zum Schuße des
Lagers zurüdgelaffen hatte, eingefunden. Ich konnte in der Nacht hier nicht
bleiben, denn von allen Seiten mußte ich aus nächlter Nähe Feuer erivarten.
Hermann von Wißmann, Das Gefecht am Kilima-Ndſcharo. 39
Ich beichluß deshalb, für diefen Tag nad) dem Lagerplag zurüdzugehen, um am
nächſten Morgen das Gefecht von neuem aufzunehmen.
Jubel, Hohngeichrei und Angriffe auf die legten Leute bei dem Gänſemarſch
meined Abzuges folgte auf dem Rüdzug. Wir wurden, als wir die Hänge hinab-
und den von uns bejetten Berg hinaufflommen, von allen Seiten aus den
Bananendidungen beichofien. Am Yager angekommen, bemerften wir, daß einer
meiner Offiziere, mein Better, mit nur 15 Mann noch fehlte. Nach circa einer
halben Stunde hörten wir ein ſich näherndes Feuer und bemerften, wie an dem
mit Bananen dicht bededten gegenfeitigen Hügel jich etwas herabzug. Es war
mein Vetter mit feiner Truppe, der fich dem ihm dicht folgenden Feinde ſtets
erwehren mußte. Jetzt lagen wir Europäer alle am Rand des Grabens im
Anihlag, um feinen Rüdzug zu deden, und diejes Einzelfeuer belehrte die Ver—
folger jo nachdrüdlich, daß die Entfernung für unfere Waffen nur gering fei, daß
jie von der allerbedrohendjten Verfolgung in der Schlucht abitehen mußten. Eine
große Anzahl der Verfolger blieb, von unſern Geſchoſſen getroffen, liegen.
Yet war e3 dumfel geworden; wir lagen im Graben und verfuchten, jo
gut e3 ging, bier die Nacht zuzubringen. Die Nacht war ſchön, Elar und warm.
Bei völliger Dunkelheit verſuchten in der rechten und in der linfen Flanke noch
Trupps einiger befunders unternehmender Wakiboſcho uns anzugreifen, wurden
aber von den Kleinen Feldwachen, die ich nad) überall hin verteilt hatte, abge-
wiejen.
Da meine Boften ringsum feine Dedung hatten, mußten fie zu zweien mit
Abftänden von 15 bis 20 m liegend ihre Zeit verbringen, denn nur jo wurden
lie dem Feinde weniger jichtbar.
Während der Nacht hörte ich mehrfach, bejonders an einer Stelle, wahr:
iheinlich einem Hauptpunkt der boma, den wir niedergerijien hatten, Artjchläge;
der Feind arbeitete aljo an der Wiederheritellung feiner Dinderniffe. Ich richtete
nad) dem Gehör das maxim gun, gab ihm einen gewilfen Streuungsfegel und
feuerte dorthin. Einige laute Aufichreie und das Berftummen des Arbeits
geräufches zeigten, daß das Feuern nicht wirkungslos geweſen war. Noch dreimal
in der Nacht machte ich jo Gebrauch von dein maxim gun, welches jich für jolche
Zwede und auc zum Abftreuen dicht befetsten, uneinichbaren Bufchterrains außer:
ordentlich eignet.
Am nächſten Morgen ging der Tanz von neuem los. Set aber ging ich
vorlichtiger vor. Ich mußte mir vor allem in dem Didicht eine Umficht ver:
ihaffen. Syn einer langen Reihe klomm die Schüßenkette den Berg hinauf, ein
Mann ftet3 fertig mit dem Gewehr zum Feuern, wenn ſich etwas zeigte, der
andere mit dem Geitengewehr in der Hand, jeden Bananenbaum abfchneidend,
um jo eine weite freie Oeffnung Hinter uns zu lafjen, die ein etwaiges Ber:
folgen, wie geftern, fpäter unmöglich madıte.
40 Hermann von Wißmann, Das Gefecht am Htlima-Ndfcharo.
So ſchoſſen und arbeiteten fich meine Truppen langfam vorwärts und famen
durch vorbereitetes, beſſeres Ueberbrüden der Gräben, Durchſchlagen der Heden
auf große Breite, Niederrennen der Ballifaden unter dem Feuer anderer Ab:
teilungen, bi an die boma Sinna's heran. Sekt war auch Raum geichaffen
für das Geſchütz, und an einer anderen Stelle, die fih zum Einbruch befier
eignete, wurde abwechielnd mit Granaten und mit Rammen gearbeitet, um die
Dindernifje niederzulegen.
Ich ſelbſt war mit einer Abteilung im Lager geblieben, um irgendivo, wo
es not that, beſonders eingreifen, den Nüden der drei Trupps, die jett vorge:
gangen waren, deden zu Eünnen und jie eventuell aufzunehmen.
Nach heftigem Gefecht drang die Truppe in die Mitte ein und fand natür:
lid) da8 Gehöft des Sinna ganz verlaffen. Einige Elefantenzähne, Waffen und
große Trommeln murden herausgebradt. Schnell war das Haus Sinna’s an-
geſteckt. Unſer Führer fam zum Glück nocd zur rechten Zeit an diefen Bunt,
um alle Yeute aus dem Gehöft herauszurufen, — der Yeßte, der heraustrat, war
der Führer diefer Abteilung, dev Dr. Bumiller, — gerade ald mitten zwiſchen den
innerften Häufern, mit mächtigem, dumpfen Sinall, ein großer Teil der Hütten in
die Luft flog, eine mächtige Feuerfäule hoch emporfchoß und eine tieffchwarze Wolfe
aufſtieg. Bumiller wurde von dem Luftdrud eine ganze Strede zurüdgemworfen,
jedoch nicht verleßt. Nur en Manı, den wir vermißten, ift wabrfcheinlich bei
diefer Erplofion der Pulvervorräte Sinna's umgekommen.
Diefe Gefchehnis war das Signal zum Aufgeben weiteren Kampfes für den
Feind; jeßt wurde er überall flüchtig und jett hatten auch die mic; begleitenden
Wadfchagga, die Krieger Mandara’s, wieder Mut befommen, kamen aus allen
ihren Verſtecken hervor und ftürmten mit ihrem Kriegsgeheul in das Labyrinth.
Da einmal der Feind verſchwunden war, dann aber auch die weitere Ver—
folgung und das Eintreiben der Beute die Wadichagga beijer übernehmen Eunnten,
jo 6lies ich zum Sammeln und ſah bald die Truppe, die wieder lange Stunden
ſchwerer Arbeit und guten Fechtens hinter fich hatte, von allen Seiten zurüd-
foınmen. Die Abteilung Bumiller’s hatte das Kerngehöft genommen und den
Ausschlag gegeben zu jchnellerer Enticheidung und zur Ueberwindung des zähen
Feindes.
Unglaublich war die Menge des Viehs, welches die Gehöfte beherbergten.
Ich zog jetzt, um meine eigenen Wadſchagga-Krieger zu überwachen und zu kon—
trollieren, daß ſie die Beute nicht nach andern Stellen brachten, was bereits viel—
fach geſchehen war, in das Dorf. Leider war ſehr viel Vieh von unſern Geſchoſſen
getroffen, verwundet und verendet, aber immerhin blieben uns noch 4000 Stück
Rindvieh, 5000 Schafe und Ziegen, einiges Elfenbein, Waffen, Trommeln und
dergleichen an Beute.
Mit dieſer für Afrika großen Beute zogen wir zurück und wurden natürlich
Hermann von Wihmann, Das Gefecht am Kilima-Ndſcharo. 41
mit großem Aubel von dem Bolt Mandara’3 empfangen. Auch er befam einen
Teil dev Beute, 1500 Stück Rindvieh und 2000 Stüd Kleinvieh, das übrige er-
hielt, nachdem für mehrere Tage die Truppe und die Krieger mit Fleiſch veriorgt
worden waren, zum größten Teil meine Station.
Peider verfiel nur wenige Wochen nad) dem Gefecht alles Bieh der Seuche,
welche die ganze Kilima-Ndſcharo-Gegend, mit ihren Dunderttaufenden von Stüden
Vieh, verheerte.
Ich hatte während der zwei Tage des Gefechtes in der Truppe nur drei
Tote und jiebenzehn Verwundete gehabt. Bon den Wadjchagga waren eine ganze
Reihe verwundet und einige verſchwunden, von denen ich bis zu meinem Abmarich
nicht feititellen £onnte, ob fie gefallen waren. Die VBerwundeten ließen fich jedod)
nicht von unjerm Arzte behandeln, jondern machten ihre eigenen Kuren.
Die Wafibofcho hatten gegen 200 Tote. —
Erwähnen muß ich Schließlich noch einen für afrifanische Verhältnifie feltenen
und erfreulichen NAusnahmefall. Zwei Tage nad) dem Gefecht — ich hatte zu Sinna
hingefandt und ihm Sicherheit zugelagt, wenn er ſich unterwerfen wolle — erichien
der Häuptling Sinna in der Station mit vier Unterhäuptlingen. Frei und furdhtlos
ichritt er auf mid) zu, der ich mit meinen Offizieren zu feinem Empfang vor dem
Haufe ſaß. Die Leute rannten ihre mächtigen Speere in den Boden, madıten
ihren Salam und ließen mir jagen, ich ſei der Stärfere, fie unterwürfen fih. Sie
brachten zum Zeichen dejien als Geſchenk Elfenbein, das ihnen nacdgetragen
wurde, und jo viel Speere, daß jeder Europäer einen der fchönen Häuptlings:
Ipcere zum Andenken an das Gefecht erhalten konnte. Mir felbit überreichte
Sinna feinen wundervollen Speer, der gleichzeitig das Zeichen feiner Herrichaft,
fein Scepter war.
Seit jener Zeit hat Sinna ftetS auf unſerer Seite geitanden und gefochten.
Selbit als der Sohn Mandara’s von uns abfiel, den Angriff unferer Schußtruppe
blutig abichlug — es fielen ſogar zwei Offiziere bei dem Gefecht — war Simma
unentwegt unſer treuer Bundesgenofle und it es bis heute geblieben.
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Der Geilt, der über den Wailern ſchweht.
Von
Friedridı Raßel.
II: fleines Buch „Das Meer als Duelle der Bölfergröße" hatte ich
(1900) mit dem Gefühl abgeichloffen, daß das Tiefite und Größte, was vom
Meere zu jagen wäre und was man von ihm jagen müßte, ganz unausge—
jprochen geblieben war. Es war damals freilich darauf angefommen, die politiiche
Seite zu zeigen, und diefe verträgt befanntlicd; nicht die Bermengung mit der all-
gemein menfchlichen. Das Erfordernis der Stunde war die Betonung, Scharf wie
ein MWedruf, der Notivendigkeit, daß unſere Nation einen größeren Anteil an der
Veherrichung des Meeres gewinnen müſſe. Sie follte aus der Eontinentalen
Enge eines kleinen, geihichtlich alten Erdteiles mit allen Kräften dorthin hinaus-
jtreben, wo die Völker, wie die Einzelnen, mit dem eriten Mtemzug in reiner
Brandungsluft Blick und Herz fich erweitern fühlen. Oder, um dasjelbe Be:
dürfnis tiefer zu fallen: nicht auf die Dauer darf und kann der Zufall des Eon:
tinentalen Wohnplages über die Stellung unferes Bolfes in der Welt enticheiden.
ft nicht gerade das Meer, das keine Grenzen kennt und das feiner Macht zu
eigen fein kann, dazu gejchaffen, einem Volke jeine wahre Deimat, die ganze
Erde, zu zeigen und zu erfchließen? Diefen politifchen und wirtichaftlihen Nußen
des Meeres Kar binzuftellen, erforderten alfo damals die Zeitverhältnifie.
Ich wartete darauf, daß von ivgend einer Seite dann auch die Bedeutung
des Meeres für die Seele eines Volkes gezeigt werde. Vielleicht war es
icon geſchehen. Wie groß, aber auch wie verlodend ift doch die Aufgabe, ein-
mal alle Beziehungen einer großen Naturerſcheinung zur Menfchbeit, die nicht,
dem Nutzen angehören, treu darzuitellen! Man jollte meinen, in einer großen
Pitteratur, wie der deutfchen, müßten dafür Schäße zu heben jein. Der lieder:
fundige Herausgeber diefer Zeitichrift ließ damals ein Bändchen Gedichte „Zur
See, mein Volk!" ericheinen, wo man die größten Namen und außerordentlich
viel Schönes findet. Als er die Güte hatte, mir es zu ſchenken, ſchrieb ich ihm
mein Eritaunen über die Armut an Neuerungen über die jeeliichen Wirkungen
des Meeres. Wir ftimmten beide darin überein, daR, wo foviel über den praf:
tiichen Nußen des Meeres geiprochen worden, der ideale Gewinn, den es aus-
ftrahlt, jchlecht weggefommen war. Was wäre aber Eurzfichtiger, als das Meer
tie ein Sohlenbergwerf zu behandeln, aus deſſen Tiefen man marktbare Mare
Friedrich Natel, Der Geiſt, der über den Waſſern ſchwebt. 43
in beliebiger Menge heraufholt, und ſonſt nichts? So mag dem Meere gegen:
über der Fiſcher verfahren, für den ja die Meerestiefen auch nur ergiebige Schädhte
iind. Aber die Beherrichung des Meeres muß geiftige Mächte in Bewegung
jegen ımd an das, was am Meere geiltverwandt ift, muß jie daher auch an-
fnüpfen können. Die ftarfen Derzen, die das Meer fordert, müflen ihre Kraft
vom Meere jchöpfen; und ebenio die ſtarken Geifter. Venedigs Seeherrichaft
war eine Zeit lang die vollfommenfte, die es gegeben hat, und fie berubte nicht
bloß auf der Zahl der Galeeren; VBenedigs Gelehrte haben die Karte des Meeres
verbejjert, Wenedigs Künſtler haben das Meer und die Luft, die darüber ſchimmert,
jehen und malen gelehrt. In der Bermählung des Dogen mit der Adria liegt das
Symbol diefer tieferen Beziehungen zwiichen dem Meer und feinem Volk. In
noch viel größerem Maße ruht Englands Seebeherrihung nicht allein auf wirt:
ihaftlichen und politifchen Leitungen, Die Erforſchung des Meeres und die
fünftlerifche Darftellung desfelben, des Waſſers überhaupt, durch englijche Ent-
deder, Foricher, Kartographen und Künftler find nicht die ſchwächſten Quadern in
den Grumdmauern britiicher Seeherrſchaft.
Aber das Alles hängt doc irgendwie noch mit dem „Nußenziehen“ zuſammen.
Woran ich aber in dieſem Augenblid denke, das hat gar nichts mit irgend einem
greifbaren oder fihtbaren Gewinn zu thun, der dem Meere abgerungen würde,
und auch jogar nichts mit dem Verhältnis eines großen Dichter- oder Künſtler—
geiftes zum Meere. E3 betrifft vielmehr eine ganz zurüdliegende, unſcheinbare
Sache, die im Grund mächtig, aber doch jo wenig auffallend wie die Wiejen:
blumen oder wie eine hingehauchte Wolfe ift.
Ich meine die Beziehungen des Flüſſigen unferer Erde und befonders des
Meeres zu jenen unverdroſſenen Berfuchen, das Ewige zu erfaſſen, die die
Menihen zu allen Zeiten gewagt haben und wagen werden: im Ringen um
Hot. Man künnte auch hier von einem Nuten fprechen, aber es handelt ſich
dabei doch um viel mehr, als was wir mit diefen Worten zu bezeichnen pflegen.
Worte höherer Art, nicht entweiht durch alltäglichen Gebraud, find am Platz,
wo man von einer Naturericheinung jpricht, der von allen iwdiichen die ftärfite
Kraft innewohnt, und mit jener Bewunderung und Ehrfurcht zu erfüllen, die
Kant beim Aufblick zum gejtienten Himmel empfand. Bon. der Natur diejer
Kraft möchte ich fprechen und nicht bloß ihre mögliche Leiſtung darlegen, die weit
über die Kräfte jämtliher Wellen und Waflerfälle der Erde binausreicht, ſondern
auch verfuchen, zu zeigen, dab die göttliche Seite, die jedes Naturding bat, ſich
faum in einem ſo Elar bekundet, wie in dem mächtigen, Klaren, beweglichen,
taufendgeftaltigen Waſſer.
Hier liegt die Natur frei vor mir ausgebreitet. Ich muß nicht durch eine
Schale oder Rinde von vielgeftaltigen Geſchöpfen durchdringen, wie auf der
Wieſe oder im Wald, um zum Kern zu kommen. Die Pflanzen find Schön und
44 Friedrich Nagel, Der Geift, der über den Waſſern fchmebt.
ganz geeignet, und zu fejleln, aber ich möchte fie den Blafen vergleichen, die der
Strom wirft. Der Strom felbit find fie nicht. Wenn id) die Größe der Natur
ganz erfajjen und das, was darüber fein muß, voll empfinden will, dann find unter
allen Ericheinungen der Natur die des Wafjers mir die nächſten umd nüßlichften. Die
Schönheit im Einzelnen und den mannigfaltigen Neichtum zeigt allerdings die
organiiche Welt beſſer.“ Aber die Vorftellung von einem Hohen hat eine breite
Grundlage nötig, auf der jie jicher ruhen kann. Auch follte diefe Grundlage
einfach fein. So it das Meer, das uns nichts zeigt als Waſſer, ebenes Wafler
und Waffer zu Wellen erhoben, und die Wellen wieder in Waſſer zerrinnend, fo
daß, mit demfelben Etoff und immer in denfelben Formen fich beichäftigend, unier
Geiſt von Feiner fremden Erjcheinung abgezogen wird, die ein Recht für fich will,
jondern ungeltört die einfache Größe der Natur in fi aufnehmen kann.
Ich höre jagen: Im Bergleich mit der Stemenwelt bleibt die Welt des
Waflers immer eine enge und begrenzte. Die wahre Schule des Erhabenen liegt
doh in der Betrachtung „der Verknüpfung ins unendlich Große, einer Per:
fnüpfung mit Sternen über Sternen, mit Welten über Welten, Syftemen über
Syitemen” (Kant), Das mag fo jcheinen, wiewohl nicht alle Denker davon
ducchdrungen find, und Sant jelbjt am Schluß der angeführten Stelle fagt: „Das
Borftellen erliegt diefem Fortgehen ins Unermeßlich-Ferne, wo die fernite Welt
immer noch eine fernere hat, die jo weit zurüdgeführte Bergangenheit immer nod
eine weitere hinter jich; die noch fo weit hinausgeführte Zukunft immer noch eine
weitere vor fich; der Gedanfe erliegt diefer Vorftellung des Unermeßlichen, wie
ein Tram, daß einer einen langen Gang immer weiter und unabfehbar weiter
fortgebe, ohne ein Ende abzuiehen, mit Fallen oder mit Schwindel endet." Kant
will doch damit jagen, daß das Ende diefer Gedanfengänge, die aus einer un:
möglichen Borftellung von der Unendlichkeit das Gefühl des Erhabenen gewinnen
wollten, nichts als das Gefühl der Obnmadt jet. Ein anderer großer Denter,
Degel, bat das „Ichale Erftaunen“ jener Nitronomen gegeißelt, die das Er:
babene ihrer Wiffenichaft im Unermeßlichen der Zeiten und Räume fehen, jtatt
im Maß und im Geſetz. Und im Grunde hatte ichon vor Beiden Albrecht von
Haller in jeiner einft vielgerühmten, von Kant ſogenannten fchauderhaften Be-
ichreibung der Ewigkeit das Nichtigfte gefagt, wenn er nad) jenen großen Worten
„ich häufte ungeheure Zahlen, Gebürge Millionen auf, ich feße Zeit auf Zeit und
Welt auf Welt zu Hauf“ mit dem Bekenntnis endigt, daß alle diefe Mühe für
nicht3 war, denn es ift ja „alle Macht der Zahl, vermehrt zu taufendmalen noch
nicht ein Teil von Dir: ich zieh fie ab, und Du liegjt ganz vor mir.“ Kommt
man damit nicht auf die freilich durchaus nicht neue Erfahrung zurüd, daß die
äußere Größe an fih gar nicht Gegenftand unferer Bewunderung fein fünne?
Das ımendlich Kleine ift ebenfo bewundernswert wie das unendlich Große, umd
es it es nicht minder das, was zwiſchen beiden liegt. Degel hat recht: das Er:
Friedrich Natel, Der Geiſt, der über den Waſſern ſchwebt. 45
habene liegt in den Gejegen der Natur; und jo wie diefe allwaltend find, ift
die Natur überall erbaben.
Aber jo groß ift allerdings umjere menichlihe Schwäche, daß wir dod)
wenigitens die Anregungen unferer Sinne für das Erhabene im Weiten umd
Großen zu gewinnen ftreben. Vor der Tiefe der Ewigkeit gejehen ift ein Tau—
tropfen ein Meer, aber am Meere ftehen wir unmittelbar vor einer unabjehbaren
Größe, während den Tautropfen wir erft durch große Ueberlegungen denfend in
ein Meer vergrößern müſſen. Das alltägliche Leben drüdt uns immer wieder
die Kleinen Maßitäbe in die Hand und gewöhnt unjere Augen an die Furzen Per-
ipeftiven von einer Straßenede zur anderen. Wir mögen uns wohl beim Drehen
einer Luftblafe auf der Oberfläche des wirbelnden Bades jagen: jo find die
Wirbel, die eined Tages die Planeten in die Sonne ftürzen; es kommt endlich
doch immer wieder bei unjeren beengten und bejchränften Sinnen auf die Um—
itände an, unter denen wir an die Natur heranfommen. Wenn wir fie frei und
friſch empfinden follen, ſoll kein Tele: noch Mikroſkop unfer Werkzeug fein müſſen,
und wenn wir immer wieder zu ihr zurüdfehren jollen, möge ihre Erhabenheit
nicht Einförmigfeit fein. Würden wir uns ethiſch gehoben fühlen, wo wir äfthe-
tiich nicht angezogen oder nicht gefejlelt werden? Unſer Sinn für das Natur-
ihöne ift ja freilich durd) eine Menge von Nebenvorftellungen bedingt, die mit
der reinen Schönheit nichts zu thun haben. Aber welche Poeſie ſchied jemals die
erfriichende Kühle einer Quelle mit ihren mwohlthuenden Erinnerungen aus der
bewundernden Betrachtung ihrer Klarheit aus? Das Waſſer wird immer eine
raſchwirkende Arzenei der Seele fein, weil es im Großen und Kleinen dasjelbe,
ich immer gleiche ift. Und wie von der Duelle dev Bad) zum Strom und zum
Meere hinwächſt, wachſen aud) unfere Gedanken vom Tautropfen zum Meere,
und bleiben dabei ftromgleich doch in derjelben Bahn.
= *
*
„Und der Geiſt ſchwebte über den Waſſern.“ Mögen ſich die Sprachkenner
ihre Köpfe zerbrechen, ob es im hebräiſchen Urtert der Geneſis heißt: „ſchwebte“
oder „brütete”, und mögen fie das Brüten deuten auf einen Geift, deſſen Frittiche
die Erde überichatten, oder ſich an das Weltenei erinnern, daß das Dervorgehen
eines neuen Lebens aus zerbrehenden Schalen verfinnlihen will. Es bleibt der
Beift und das Waifer, und der Geiſt über den Wafjern. Und da dies nicht
das erſte Mal ift, daß uns das Wafler in den Gedanken der Völfer über die
Schöpfung der Welt begegnet, jo dürfen wir wohl fragen: Warum jchwebt der
ichaffende Geift über dem Wajfer? Und warum wird auch in anderen Welt:
ihöpfungsgeihichten das Waſſer an den Anfang geftellt? In den Einzelheiten der
Schöpfungsfagen liegt die Uebereinſtimmung nicht, fie liegt im Hervorſteigen der
Erde aus dem Waſſer. Ob nun ein Mavrififcher ſie im Netz heranfzieht, oder
4 Friedrich Nabel, Der Geiſt, der über den Waſſern fchmebt.
nordamerikaniſchen Indianern ein Biber oder eine Mofchusratte den Erdenfloß im
Munde bringt, oder ob das auf dem Meere ſchwimmende Weltenei ſich öffnet und
die eriten, Ichon mit dem Kahn verjehenen Polynefier entläßt: das Waſſer und der
ichaffende Geiſt find zuerft. Und wo eine Neufchöpfung der Erde nötig wird,
weil die erite durch die fündigen Menfchen oder die boshaften Götter verdorben
it, da fehren auch gleich die reinigenden Waflerfluten wieder.
Der babyloniſche Sintflutbericht und feine Nachkommen, zu denen der
bibliiche gehört, find erfüllt von der menjchenfeindlichen Macht des großen
Waflers, das entfteht, wenn „die Himmel Berderben regnen”, der Peftgott die
Wirbelwinde entfefjelt, der Gott Adar die Kanäle überftrömen läßt, die Götter
des ıumterirdiichen Wafjers gewaltige Fluten heraufbringen, jo daß die Erde
erzittert, ded3 SturmgottS Wogenfchtwall bis zum Himmel fteigt, und alles Licht
in Finſternis verwandelt wird.*) Ob nun, wie Sueh mit vielem Scharffinn nad):
zuweilen verfucht, eine Verbindung von Erdbebenfluten mit Wirbelftürmen die
Berwüftungen bewirkte, die bier in fagenhafter Geftalt ericheinen, wiſſen wir
nicht. Einzelne Züge der Erzählung mögen wohl einen derartigen Urſprung
haben. Das Wefentlihe ift aber die Heberflutung der Erde, die aud der Kern
zahlreicher anderer Leberlieferungen von offenbar ſehr hohem Alter ift, die wir
bei vielen anderen Völkern in allen Teilen der Erde finden, am reichiten aus:
gebildet und am weiteften verbreitet in Ozeanien und Amerika, weniger in Afrika.
Wiederum, wie bei der erſten Schöpfung aus dem Waffer, ift die Hebereinftim-
mung äußerer Züge überrafchend. An der deufalionifchen Flut der Griechen
finden wir das rettende Fahrzeug, das Deufalion und Pyrrha auf den Barnaf
trägt, wo es ftrandet, aud) die Edda kennt ein rettendes Boot, und in manden
anderen Formen kehrt die Arche Noäh wieder. Die Mandanen im oberen
Miſſourigebiet hatten ſogar nod) zur Zeit des Prinzen von Wied in jedem ihrer
Dörfer ein faßähnliches Gebäude aus Holz aufgeftellt zur Erinnerung an die
Rettung ihrer Ahnen in einem ähnlihen Bau, den fie vor der nahen Flut auf
einem Berge errichtet hatten. Andere weltweit verbreitete Beftandteile der
eslutfagen ift der Vogel, der das nahe Ebben verkündet. Die Taube mit dem
Oelzweig wird. bei den Krih-Indianern zu einem großen Bogel, an deffen Fuß fich
haltend die Ahnin des Stammes auf die Spige eines hohen Berges getragen wird,
in einer auftralifchen Sage tft jie der Pelikan, der die Menfchen vor dem Ertrinfen
rettet, und der auch auf den Andamanen den armen erften Menjchen Feuer bringt.
Der den Feuerbrand vom Himmel bringende Eisvogel kehrt in dem Raben Jälch
der Nordiweltamerifaner wieder, der überhaupt die Schöpfung vollendete, indem er
*) Ich halte mich an die Haupt'ſche Ueberſetzung des 1872 von ©, Smith entdedten, in
das zweite vorchrijtliche Jahrtaufend zurückreichenden chaldäifchen Berichts, der viel älter als
der bibtifche ift.
Friedrich Nabel, Der Geiſt, der über den Waflern ſchwebt. 47
die von einem boshaften Geifte in einen dunkeln Kaſten geiperrte Sonne den
Menichen brachte oder, nad) einer anderen Verſion, Feuer von einer Inſel im
Weſten holte. In ähnlicher Weife ift auch der Delzweig, den Noahs Vogel im
Schnabel trägt, nur ein Zweig von einem weltweit bekannten Baum, dev bald
in Birma ein Mangobaum ift, auf den fid) der auf der Flut umbhertreibende
Vater der Menſchen rettet, bald ein hundert Ellen hoher Tannenbaum, der die:
jelbe Aufgabe bei den Odichibwäh Nordamerikas hat, bald auf Palau der Baum,
an dem das rettende Floß befeftigt wird.
Zum dritten Mal leuchtet das Meer in die Gedanfenwelt einfacher Völker
herein, wo die große Frage Wohin? der Seelen der Abgeichiedenen fich vegt.
Da fteigen am goldenen Abendhimmel die fagenreichen Toteninjeln auf, wohin
die Seelen der Sonne folgen. Die Voritellung, daß die Sonne, die in das
Meer binabfinft, ſich in ein anderes Yand begebe, ift bei Küften= und Inſelvölkern,
die ein weiter Dorizont umfaßt, verbreitet. Man findet fie felten im Binnenland
ımd dort mag fie wohl von ſeewärts gelegenen Orten bingetragen worden fein.
Entweder liegt nım „das Land der Sonne”, wie die Palau-nfulaner ihr
mythiſches Land nennen, ganz fern im Weften, wo die Sonne hinabiteigt, und
wird dann als eine Inſel von großem Umfang gedacht, vder es foll gerade unter
der Erde gelegen fein. Der Sonne muß man folgen, um dahin zu gelangen, denn
wo fie ins Meer taucht, dort ift der Eingang. Darum zeigt man auf manchen der
Inſeln Ozeaniens weit in das Meer voripringende Klippen, Landipigen, Felsvor-
Iprünge, die der untergehenden Sonne zu gelegen find: von ihnen thaten die Seelen
den Sprung ind Meer, um ins Jenſeits zu gelangen. Im Tonga-Archipel hatte
jede einzelne Inſel einen ſolchen Sprungftein. Auf den Samoa-Inſeln ließ man
mit jener fonderbaren Spitfindigkeit, die manchmal in der polyneſiſchen Mytho—
logie bervortritt, die Seele alle Inſeln bis zur weftlichften Klippe durchwandern.
Anderswo war die Mündung eines Baches ins Meer der Sammelplat der
Seelen, die auf einem abſchüſſigen Korallenfels daneben ihre neuen, für die
Reiſe beitimmten Gemwänder bleichten.
An einigen Orten denkt man fich den Eingang in das Nenfeit ganz nahe,
ſo daß die Seelen einfach binabfteigen, an andern haben fie eine ermiüdende
Reiſe ſchwimmend zurüdzulegen, wieder an andern erwartet fie Kahn und
Seelenferge. Daher der Kahn als Sarg vder Grabdenkfmal. Auf den Phi:
lippinen waren die Geilter der Sklaven, die beim Begräbnis getötet wurden,
dazu beitimmt, den Geelenfahn ins Jenſeits zu rudern. Verwandte Vor—
tellungen begten einft auch europäiſche Völker: in der Bretagne zeigt man neben
Kap Raz eine „Seelenbucht“, von der aus die Toten ihre Reife antreten. Für
dieje Selten des Kontinents war Schon Britannien die Toteninfel. Prokop erzählt
von ihnen: fie feien zwar den Franken untertvorfen, bezahlten aber, joweit fie
der britannifchen Küfte gegenüber wohnen, keinen Tribut, da fie feit alter Zeit
48 Friedrich Raßel, Der Geiſt, der über den Waſſern ſchwebt.
die Pflicht hatten, die Seelen der Toten über zu fahren. Für die Kelten Jrlands
it Flath Innis, eine weftlihe Wiederholung des grünen Erin, Totenland.
Braude ih an die Inſeln der Seligen zu erinnern, wohin die Seelen der
Griechen gingen, ehe die BVBorftellung vom Hades fich ausgebildet hatte? Ich
möchte nur an zwei Züge der griechiſchen Sage erinnern: an die dicht an den
Grenzen des Dunfeld wohnenden Hejperiden, die die Eöftlichen Mepfel behüten,
und an die weitliche Inſel Erytbeia mit ihren Rindericharen. Der Garten der
Deiperiden entipricht jo manchem andern Fruchtbaum mit goldenen Früchten am
goldummvölkten Eingang zum Yande der Seligen, und auch die rötlichen Rinder:
ſcharen find nicht neu: fie verfinnlichen das Not des Weſthimmels bei Sonnen:
untergang. In Welt: und Südeuropa hat die meltweit verbreitete Sage von
der Toteninfel Jich in fo mannigfaltigen Formen und Yagen entwidelt, dab man
aud darin eine Wirkung des reihen Wechjels von Land, Inſeln und Meer zu
erbliden meint.
Die Nehnlichkeit des Dorizontes einer weiten Ebene mit dem des Meeres
veranlaßte ähnliche Gedanken über die Sonne, die jenjeit3 der Ebene zu anderen
Ebenen im Weften hinabjteigt, wie jie jenjeitS des Meeres zu weſtlichen Inſeln
geht. Wo dann Gebirge den Dintergrund der Ebene bilden, find jie willkommen,
um das Seelenland zu verbergen, das hinter ihnen liegt: fo in Zentralafien und
Indien. Doc ſelbſt die Ehinefen Eennen Inſeln der Seligen. Aber um zum
Meere zurüdzufehren: die Sonne verfinft nicht im Meere, um dort zu bleiben,
fie ehrt jeden Tag verjüngt wieder: auf den Abend folgt der Morgen. So
wird nım das Meer zur Yebensquelle. Die Lage diefer Duelle ift naturgemäß
in manchen Füllen diefelbe wie die des Seelenlandes. Die Sage der Mohammedaner
verjeßt fie an den Eingang zum Paradies. Aber andere Formen des Wajjers
bieten fich hier dar, bejonders die erfriichende Qiuelle, die geheimnisvoll aus einer
Höhle austritt, oder der See auf einem Berge; und nım liegt die Verbindung
mit den Flüſſen nicht fern, die in diefem See oder in jener Quelle entfpringen,
und wir kommen zu den Strömen des Paradiefes, die Fruchtbarkeit weit hinaus:
tragen, und an deren Ufern hinab die erften Menjchen, die Haustiere, die Kultur:
pflanzen ihren Weg in die tieferliegende Welt gemadjt haben.
= *
*
Aus dieſen Stimmen der Vorzeit, die wie abgebrochene und verhallende
Laute aus den Wäldern und von den Inſeln der „geſchichtsloſen“ Völker herüber—
tönen, ſpricht uns, ſo ſeltſam im einzelnen ihr Sinn und ihre Einkleidung be—
rühren mag, eine Grundverwandtſchaft des Naturgefühles wie etwas Altbekanntes,
Altbefreundetes an. Iſt es nicht wunderbar, daß bei fo weit entlegenen Völkern
und in den verfchtedeniten mythiichen Formen das Dervorgegangenfein der Erde
aus dem Waffer der Grundgedanke ihrer Schöpfungsgeidichte it? Das ift wie
Friedrich Ratzel, Der Geiſt, der über den Waſſern fchmwebt. 49
eine wiſſenſchaftliche Wahrheit, auf die mit einer gewiſſen Notwendigkeit die
Geiſter aller Denker, die ſich damit bejchäftigen, geführt werden. In beftimmten
Bölferfreifen mag es auf Uebertragung zurüdführen, im ganzen ftehen wir hier
doc vor einem jener elementaren Zujammenhänge, die unter den verfchiedeniten
Bedingungen wiederfehren. Das Wajjer unferer Erde muß Eigenſchaften haben,
die immer mit denjelben Lauten zum Menfchen jprechen. Allwirkſam ift in diefem
Sinn die Einfachheit und Größe des flüffigen Elementes. Zu deren Er:
faflung brauchte es feine Weltumfjegelungen und wiflenjchaftliche Ausrechnungen
der Größe der Wafjerfläche. Für das gebildete Europa hatte erft Bude 1783,
nad; Cooks Reifen, die den Stillen Ozean endlid; ald den wahren Großen Ozean
ſicher nachgewieſen hatten, das Verhältnis des Waſſers zum Land auf der Erde
durch das Zahlenverhältnis 1:3 feitgeitellt. Für die Völker der Hüften umd
Imfeln, an deren Horizont immer und überall das Flimmern des Meeres ftand,
war das Lebergewicht des Waſſers länaft feitgeftellt.
Was lange vor aller Wiflenichaft Denker und Dichter der Naturvölker,
beide noch unzertrennlich Eins, jahen, überdachten und überlieferten, das ift: das
Waſſer it überall und immer dasjelbe. Das Land ift mannigfaltig und trägt
noch Mannigfaltigeres. Das Einfache aber ift vor dem Mannigfaltigen da umd
jo denken die Priefter der Welträtfel: Mus dem Waſſer ift das Land empor:
geitiegen. Die Allgegenmwart des Waſſers machte einen mächtigen Eindrud auf diefe
Beifter. Es fällt vor der großen Flut vom Himmel in wigwangroßen Tropfen“,
e3 brauft aus dem Innern zerflüfteter Berge oder zeripaltenen Landes, ſchmelzender
Schnee überflutet bi zu den Spigen der Tannen. Und nicht genug mit dem Waſſer,
die ihm verwandten FFlüffigkeiten haben dieſelbe Gabe, die Erde zu ertränfen,
vor allem das Blut von Riefen, aus deren Wunden es. ftromhaft quillt, oder
von Schlangen, die ja ohnehin als „Regenichlangen‘ jo oft die vegenbringenden
Wolken verfinnbildlihen. Auch die Schildfröte, die triefend aus dem Wafjer fteigt,
oder deren braunes Schild gerade über den Waflerjpiegel, wie eine kleine Inſel,
hervorragt, gehört in den Kreis von Vorftellungen und Dichtungen, die fich zu
einer wahren mythologischen Philufophie des Flüffigen erweitert haben. Es giebt
aber überhaupt nichts, was in diefen Erzeugniffen einer bald tief ahnenden und
bald an der Oberfläche hinfpielenden Dichtungen nicht mit dem Wafler im Zu—
ſammenhang ftünde.
Gerade das ift eine wunderbare Eigenfchaft der Schöpfungs- und Flut—
jagen und ſelbſt auch der Borftellungen von Toteninjeln der verfchiedenften
Völker, daß ſie fich mit allen Elementen der übrigen Schöpfung in Verbindung
jegen. Die Erde, die Sterne, die Welt unter der Erde, Inſeln, Flüffe, Quellen,
Tiere jeder Art, beſonders Schlangen und Fiſche, die verjchiedeniten Pflanzen,
bejonders große Bäume, hängen mit der Waſſerflut urjächlic zufammen. Darin
liegt die Aynung der innigen Verknüpfung alles Feſten, alles Lebens mit dem
50 Friedrich Nabel, Der Geiſt, ber über den Waſſern ſchwebt.
Flüffigen, die felbjt in dem einfahen Naturmenſchen dur die allenthalben ſich
wieberholende Berührung mit dem Flüffigen aufdämmerte.
An allen rubenden Formen des Waſſers fehen wir die Klarheit eines
Kryſtalls. Auch in manden bewegten kommt fie überrafchend zum Vorſchein.
Im Meer, im See, im Fluß, und felbft in der leife aufwallenden Quelle liegt ein
Kryſtall vor uns, in deffen Tiefe unfer Blid hinabtaudt, und defjen glatte,
glänzende Fläche ihre Ueber: und Ummelt wiederjpiegelt. Auch ſtark bewegtes
Waſſer wirkt fo, fo lange e8 ein Ganzes bleibt: eine mächtige Dünung, die lang-
fam den Strand binanfchwillt, wobei fie immer dünner und durchfichtiger wird,
eine Wafjermaffe, die fich über ein Felsriff hinabbiegt, ohne zu zerreißen, wirken
wie geſchmolzenes Glas. In der ftarfen Spiegelung und dem ruhigen Glanz
einer gebogenen Waflermafje liegt das Geheimnis der fchönen Wirkung der
Nappes d’eau in der franzöfiihen Gartenfunft, in deren architektonische Grund:
linien die Wafferlinien und flächen fich jo ſchön einfügen. Es ift aber etwas
Tieferes. Wordsworth, auf deffen Dichtungen die Reflere der Seen und ftillen Flüffe
des nordweftlichen Englands liegen, bat die Wirkungen diefer Eigenfchaften des
Waſſers am beiten bezeichnet, ald er in jeinem faft vergejlenen „Führer dur
das Seengebiet" Nordenglands jagte: „Wenn wir die unbewegte Wafjerflädhe
betrachten, wird unſere Seele in Tiefen der Empfindung verfenkt, die uns fonft
unzugänglid find. Was anders ift der Grund, ald daß bier nicht bloß der
Himmel in die Erde herabfommt, fondern daß wir die Erde hauptfächlich durch
dad Medium eines reinen Glementes betrachten?“ Plan Eönnte diefen Wert
des flüffigen Kryſtalls in einer Kraft der Anfchauung fehen, wie fie aus der
Berührung unferes Blides mit der Oberfläche der Dinge nicht hervorgehen kann.
Gewiß zieht uns der Blid in ein Thal nad fich, auch felbft ein dunkler Wald-
weg ſcheint in endlofe Fernen zu führen. Aber dem Allen ift einmal ein Ziel
gefegt. Anders das Waſſer. Der Volksglaube giebt jedem See unergründliche
Tiefe und läßt jede Duelle aus entlegenem Erdfpalt herrinnen. Daher ließ er
hervorbrechende Waflermaffen die ganze Erde überfluten; denn der Wafjervorrat
des Erdinnern mußte ja umerfchöpflich fein. Der Wert der Sryftallflarheit
jteigert noch ihre Beftändigkeit. Mag der Sturm das Meer zerreißen, er treibt
doch nur mit der Oberfläche fein Spiel. „Die Windsbraut hat den Ozean ent-
wurzelt“ ift ein Bild ohne Wahrheit, eines von den gewaltiamen, erzwungenen,
die nur auf Geifter ohne Anſchauung wirken. Unter dem Sturm ruht das Meer
in alter, ficherer Klarheit. Auch die leichte Brife läßt einen matten Ton, wie von
orydiertem Silber, über das glänzende Metall des Spiegeld wandern, bier matte
Anfeln, dort Streifen, die ſich ſondern und wieder ineinander fließen. Am äußerften
Horizont bleibt ein leuchtender Streif unberührt, das ift die Summe ber
Spiegelungen der Wellen. Sobald die Brife einnidt, ift der Wafjerfpiegel in
alter Klarheit bergeitellt.
Friedrich Rabel, Der Seift, der über den Waſſern ſchwebt. 51
Die Stille des ruhenden Waſſers gehört nicht zu jenen tiefften Stillen der
Natur, die die Erwartung auf etwas Furchtbares fpannen, welches kommen foll.
Man kann fie nicht mit den „loca nocte late tacentia“ vergleichen, mit deren
leeren Behaufungen und hohlen Reichen Birgil feine Unterwelt ausftattet, um uns
in ein Graufen darüber zu verjegen. Unmillfürlich tönt uns vielmehr Goethes
„Meeresitille und glüdliche Fahrt” ins Ohr, indem wir von den ftillen Wafjern
Iprehen. Wer in einfamen Gegenden gewandert ift, für den werden gerade die
Yaute des Waſſers zu den frohen Erinnerungen gehören. In jedem hohen Gebirge
giebt es eine Stufe, die nur ftilles, d. h. feites Waſſer ala Schnee, Firn und Eis
hat, und darumter eine Stufe der Quellen und Bäche, die raufchen und reden. Welche
Rohlthat, nach tagelangem Wandern in jener das erfte Rauſchen wieder zu hören.
Aber was rede ich hier von Tönen des Wafjers. Ein Seefpiegel mag glatt wie
ene Metallplatte fein, es Spricht feine Klarheit und es ſprechen aus feiner Tiefe
die Spiegelbilder zu und. Das mögen uns die Maler zeigen, die in unferer
Zeit der Poefie des Waſſers viel näher gekommen find als die Dichter. Auf
dunkelm Wafferfpiegel ein vorübergehendes Leuchten, die Spiegelung eines fernen
Sternes, den wir nicht fehen, eines darüber hin hufchenden verirrten oder auf:
zudenden Sonnenftrahles: wirft e8 nicht wie ein verflingender Ruf aus der
Ferne oder der Tiefe? Es giebt tiefempfundene Waldbilder, in deren Dunfel
das Spiel eines Lichtftrahls auf einer kaum fichtbaren Wafferfläche die einzige
belle Stelle it. Jm Haag ift eine Eleine Scene von Hobbema, wo alles ruht
md ſchläft, nur eine jcheinbar zufällige Spiegelung in einem Tümpel belebt fie
in traumhafter Art. Allerdings verftand Hobbema vielleicht von allen Malern
(und Dichtern) des 17. Nahrhunderts die Poeſie des Wafferd am beiten, die
damals noch jehr jung war. E3 wäre fchön, wenn ein GSadjverftändiger uns
die Entwidelung der Kunft, das Waſſer zu malen, mit vielen Beifpielen vor
Augen führte. Ich erinnere mich nicht, lebendig bewegtes, leuchtendes Waſſer
vor dem Ende des 15. Jahrhunderts gemalt gefehen zu haben; es ift gewiß fein
Zufall, daß erft in derjelben Zeit die Wolfen, die bis dahin in zahmen Streifen
lagen, anfangen fich zu ballen oder zu zerfließen.
+ *
*
Wir nehmen es nicht mehr fo ernft mit der Natur wie die Schöpfer der
Flutmythen und Toteninfeln. Kennen wir denn nicht die meilten von ihren Ge-
beimniffien? Die Wiſſenſchaft hat una Macht über die Natur gegeben. So weit
unſer Auge reicht, meinen wir fie zu durchſchauen. Einige übrig gebliebene
Probleme werden ſchon noch gelöft werden. Das Bangen vor einem Unberechen-
baren, das in jenen Mythen fi ausfpricht, ja ſelbſt die Auffaffung der Natur als
einer Macht, der wir uns unterordnen, hat der „Sebildete” völlig überwunden. Wir
leugnen nicht ihre Größe, ihren Reichtunr und ihre Schönheit, denn gerade das wär
4*
52 Friedrich Nabel, Der Geiſt, der über den Waſſern ſchwebt.
ja ein Berftoß gegen die naturwiflenfchaftlihe Bildung diejes Zeitalters; aber
wir fchauen auf fie herab. Wir kennen fie und beherrichen fie, wie follten wir
nicht über ihr ftehen? Es wäre indefjen wiederum ein jchlechte8 Zeugnis für
unjere Bildung, wenn wir fie nur ftofflih ausnugen wollten. Wir find viel:
mehr ftolz darauf, mehr als vorangegangene Geſchlechter ihre ſeeliſche Heilkraft
zu würdigen. Halten wir aud) fonft wenig von Gefühlen, für dad Naturgefühl
ift ung eine gewiſſe Schwüche geblieben, und dem „Naturgenuß“ geben wir ums
mit vollem Bemwußtfein hin. Naturgenuß! Diejes Wort it fo recht be
zeichnend für die Naturauffaffung, die ich eben jchildere, die die Natur für die
Menichen da fein läßt. Wenn ich die Macht hätte, Wörter zu verbieten und zu
gebieten, jo würde ich „Naturgenuß“ ausmerzen und durch „Naturfreude”, ja
lieber noch durd; „Naturverehrung“ erjegen. ch glaube übrigens, man wird
ganz von felbft eines Tages Naturgenuß als ein veraltetes Wort empfinden.
Genuß, d. h. pajjives Hinnehmen und Aufnehmen, bezeichnet gar nicht die Art,
wie wir der Natur gegenüberftehen, noc viel weniger ift das genüßlich aus:
wählende Derausfuchen des Angenehmen, Anmutigen, Gefälligen unjerer Stellung
in der Natur gemäß. Amer ift die Natur älter, größer als wir jelbjt, die wir
nur ein Stäubchen, verglichen mit ihrer Größe, und nur Welen des Augenblids,
verglichen mit ihrer Dauer find.
Plato dachte nicht gerade an das Verhältnis einer jchönheitsdurftigen Seele
zur Natur, als er aus dem, was er das Schöne nannte,” alles entfernt haben
wollte, wa3 dem Reize und Genuß dient, bloß anmutig und gefällig iſt, bis
zuletzt das Schöne ımd das Wahre eins find. Wohl ift ihm der Bau des
Weltall3 mit feiner unmandelbaren Ordnung und Bewegung der Geſtirne das
Bild der Harmonie in der fichtbaren Welt, und er ahnte hinter allen Natur:
ericheinungen dasfelbe Ebenmaß, die gleiche Ordnung. Im einzelnen hat er
es nicht ausgefprochen. Doc war ihm ficherlich zwilchen dem Weltgebäude und
dem von Menfchenhand geichaffenen Kunſtwerk die unendlich reichere Natur
nicht jener fchönen Ordnung bar, deren höchſten Ausdruck er in der Harmonie des
Lebens, Handelns und der Bildung der Menſchen fab. Nur ftrebte er jicherlich
auch in ihrer Betrachtung über alle bloße Sinnlicjfeit hinaus dem Erhabenen zu.
Das Erhabene fchließt mun eigentlich den Genuß aus. Denn die Em-
pfindung unferer Kleinheit und Abhängigkeit, die jedes Erhabene in uns hewvor-
ruft, kann unmöglich genußreich fein. Und auf der anderen Seite ift das Gefühl
der geiltigen Erhebung und Unabhängigkeit, in dem wir das Erhabene erfaflen,
für einen Genuß zu groß. Scheint es da nicht, ald ob/gerade ein ernjtes und
tiefes Naturgefühl fich wieder jener Ehrfurcht nähern müffe, die den Geilt über
den Waſſern fchweben ſah? Eines Tages wird die alte Natıurverehrung, die in
diefem modernen Naturgenuß ftedt, wie ein Keim in der Schale ihre Hülle
fprengen, und wenn diefe in Stüden vor uns liegt, werden wir ftaunen, daß fie
Friedrich Natel, Der Geift, der über den Waſſern ſchwebt. 53
uns jo lange abhalten konnte, die wahre Natur dejjen zu erkennen, was jie ums
ihloß. Es ift ja das alte Fragen nad) unferem Woher? und Warum?, das vor
der Wiſſenſchaft war und nad) der Wiſſenſchaft fein wird. Denn die Wiſſenſchaft
hat zeitliche und räumliche Grenzen. Dagegen wird, folange es Menjchen giebt,
die Ahnung einer tiefen VBerwandtichaft uns zur Natur binziehen, mit der und
dag Rätſel der Schöpfung verbindet; denn wir find mit ihr und in fie hinein-
geihaffen und in gewiſſem Sinn zugleich aus ihr herausgebildet. Als das Werf
desjelben Geiftes, dem ich entiprungen bin, ift das Blümchen und der Stein
am Weg mir viel mehr als merkwürdig, fie erweden meine Teilnahme Wenn
jolhe Verſenkung in die Natur uns die ungeheure Beſchränktheit unferes Wiſſens
auf Schritt und Tritt fühlen läßt, werden wir zwar gegen die Illuſion geſchützt
jein, einen „Neuen Glauben” auf gemeinverftändlich gemachte Naturwifjenichaft
zu gründen; wohl aber werden wir unferer Stelle in der Welt beſſer inne werden,
indem wir uns eins mit allem fühlen. Daß die Natur nicht mehr im ftande
üt, da8 Ganze unferer Wirklichkeit zu fein, darüber läßt die enttäufchende Bilanz
der naturwiſſenſchaftlichen Aufklärung feinen Zweifel übrig. Aber diefes negative
Ergebnis jchließt unfere engfte Verbindung mit ihr um jo weniger aus, wenn id)
mir jagen muß, daß wir beide, fie und ich, feine zufällige Zuſammenwürfelung,
ſondern Werk einer finn- und zwedvollen Schöpfung fein müfjen. So wäre alfo
auch der Geiſt über den Waffern nicht vollftändig in Bücher und Karten hinüber:
deitilliert?
Ich verjege mich an das Ufer eines mittleren Landfees, über deſſen leuchtender
Waſſerlinie ferne Berge ſich aufbauen, die den Himmel tragen. Herbitmorgen,
tiefe Stille. Leichte Nebenmwöltchen fchweben zur Seite, das Wajjer liegt ruhig
wie ein Spiegel, und in feiner Tiefe wiederholt ſich die ganze Landichaft ſamt
dem Firmament darüber. Das Auge wird zu unbeftimmten Zielen hinaus und
binübergezogen und die Gedanken, die folgen, laffen "ihren Halt an taufend
einzelnen Dingen fahren. Unmillfürlich raucht in mir ein Sag 4. v. Humboldt
empor. „Die duftige Ferne, die den Eindrud des Sinnlich-Ilnendlichen hervorruft.“
Welch wohlthätige Berarmung! Ach taufche taufend Eindrüde gegen den einen weiten
umfafjenden Blid, der mir den See zum Meer macht. Der Horizont fcheint
binabzufinfen. Es ift wie eine fteigende Flut, die alles wieder in fih aufnimmt
was einft aus ihr heruorgegangen war. Auch mich jelbft, über den ein Gefühl
wie von geheilten Heimweh kommt. Wo fteht der Weltbaum, der am Thore zum
Jenſeits blüht? Hörſt Du nicht das Naufchen des Sonnenvogels, der das Licht
zur Erde bringt? Das ift zum Beiſpiel eine Stunde, die mir heilig ift; ich fühle
ed, der alte Geift ſchwebt immer noch über den Waſſern.
O
SIBIBIBIBIBIBIPIRIEIRIDIBIDIBIDIPIDIBIPDIDIPIPIPIPIPIPIB!
Der Wunidi-Sort der Germanen.
s ruht, verfenkt an ftillem Ort, tief unter Urwald-Eichen,
Ein teurer, berg-entrückter Sort, ein Wunid-Sort fondergleidıen.
Da liegt Gott Wotans Runen-Speer, dabei Frau Frigga’s Spule,
Dort blinkt der Becher, goldesichwer, des Königs Ring von Thule.
Der Amalungen weißer Schild, das Schwert Herrn Karls, das ſcharie:
keis tönet, wie verträumt fo mild, des Vogelweiders Harfe,
Der Schöppeniprudı auf Pergament, der Schapel holder Maide,
Manch kied, dess Sänger niemand kennt, und itein-beipangt Geichmeide,
Des Rotbart flatternd Kreuzpanier, des Bethausdaches Giebel,
Der Sana ftolze Flaggenzier und Doktor kuthers Bibel!
Darüber hin ein Baudı, ein Duft kernfirnen Rheinweins brütet: — —
O dringet kühn in dieie Gruft, die quillend Leben hütet!
All auf, Senoſſen! Unverwandt laßt nadı dem Schatz uns schürfen:
Nur reines Serz und treue Band wird ihn erheben dürfen!
Er it nicht tot, er wächlt, er blüht, er fteigt uns felbit entgegen:
Er will in Geilt und in Gemüt uns feinen Segen legen:
Den Segen deuticher Serrlidikeit, die Heldenichaft der Ahnen, —
Laßt uns den heben allezeit, den Wunid«-Sort der Germanen!
An folder Hebung woll'n wir hier mit treuer Arbeit ſchalfen,
Dem deutichen Volk nicht nur zur Zier, nein, auch zu Wehr und Waften.
Ja, Deuticıland und das Ausland foll'n an dieien unfern Werken,
Daß wir hier fchöpfen aus dem Voll'n des deutſchen Geiites, merken.
Dem Deutichen in dem Fremdiand audı ioll wohl damit geichehen:
Ihm foll ein warmer Heimat-Sauh aus diefen Blättern wehen!
Felix Dahn.
16
Betraditungen über Marokko.
Von
3. Graf von Pfeil.
n: Deutfchen bleiben das Bolt der Barteipolitifer. Zu jeßiger Zeit, wo unfere
Weltmacdtitellung nah außen bin ſich mit fait noch nie dagewefenem
Glanze präfentiert, uns faſt nötigend, jollte man meinen, in Weltmachtsfragen
ein enticheidendes Wort zu fprechen, ſehen wir, wie uns in erfter Linie Dinge
interejfieren, welchen nur deshalb eine bejondere Bedeutung zuerfannt wird, weil
jie mit dem Erfolge diefer oder jener Partei unmittelbar zufammenhängen.
Die Spalten unjerer Tageszeitungen liefern den untrüglichen Beweis hier-
für. Noch immer giebt es leider keinen Punkt, auf welchem ſich die Anhänger
aller Parteien in Einigkeit fcharen wollen, und um eine Sade zum Siege zu
führen, muß man fie zum PBarteiprogramm erheben. Weder die Entwidlung des
Deutihtums im Often, der Bau eines Binnenlandfanals, die wichtigen Handels:
verträge konnten eine Auffaffung erfahren, nad welcher fie im Lichte ihres
nationalen Wertes geihäßt und behandelt wurden, die Flammen des Parteihaders
werfen ihre fladernden Lichter auf jede Verhandlung über die betreffenden Gegen-
ftände. Ja jelbit der Gedanke an eine große Flotte bedurfte einer Populari-
ſierung, die faft fchon als Reklame bezeichnet werden fann, ehe er mit feinen
Wurzeln die Mehrheit des Volkes durchdringen und fie zu einem zulammenhän-
genden Ganzen verknüpfen Eonnte. Auf dem Gebiet der Kolonialpolitif iſt bis
jegt noch feine einheitliche Anfchauung erwachſen. Sie wird gepriejen oder ver-
worfen je nach dem Parteiftandpunft des Beurteilerd. Unter ſolchen Umftänden-
it eö nicht zu verwundern, jo betrüblich e3 jein mag, daß die öffentliche Meinung
einer jo wichtigen Frage wie der marokkaniſchen mit faft vollkommener Indifferenz
gegenüber fteht. Nur jelten bringt ein oder das andere Blatt einen kurzen
Artikel über Marokko, der fi dann meift in allgemeinen Betradtungen ergeht,
ohne jedoch die Wege zu weiſen, welche uns gefunden Fußes zu dem ung ge-
bührenden Fleckchen in der maroffanifhen Sonne führen können. Wenn man
beobachtet, wie Frankreich langſam aber unwiderſtehlich von Algerien nad) dem
Atlas vordringt, wie ed allmählich ſich in den Befit des ihm bequem gelegenen,
geographifch zu Algerien gehörigen Muluja-Thales fett, fo ſteht man beſchämt
vor der Wahrnehmung, daß diejes feit 1870 von feiner Führerrolle in Europa
56 J. Graf von Pfeil, Betrachtungen über Maroklko.
verdrängte Volk es beſſer als wir verſteht, auf afrikaniſchem Gebiet ſeine Macht
und ſein Anſehen aufzurichten und zu befeſtigen, indem es geſchickt die Momente
benutzt, in denen konkurrenzfähige Völker hypnotiſierten Auges beharrlich auf
einen Punkt ſtarren, ohne wahrzunehmen, was in ihrer Umgebung ſich abſpielt.
Wenn aber auch England zur Zeit nicht in der Lage iſt, Frankreich gegen—
über ein Veto zu ſprechen, warum tritt nicht Deutſchland in die Arena, um wie
Frankreich ein Kleinod des zerſplitternden Sherifen Rüſtzeuges ſich aufzuleſen.
Demütig genug wäre das Verfahren ja immer noch.
Die Zeiten einer nur auf den eigenen Vorteil gerichteten, daher unter Um:
tänden auch etwas rüdjichtslofen Politik find Für Deutjchland noch nicht ge—
fommen, daher it ein Handeln in der marokkaniſchen Frage auf alleiniger Bafıs
des bdeutichnationalen placet noch nicht angebradıt. Pur der chauviniftifche
Heißſporn kann fordern, daß Deutichland zur Zeit feine geharniſchte Hand nad)
marokfaniichem Gebiete ausſtrecke, dadurch eine Neihe von internationalen Madıt-
fragen aufrührend, deren Beilegung die Neichsmacht in unnötiger Weile anfpannen
dürfte. Seltſam aber berührt es den großdentich denfenden NReichsbürger, daß
feine Anftrengungen gemacht, oder anscheinend wenigitens nicht ſichtbar werden,
um bei dem Wettlauf der intereffierten Nationen nad) den leuchtenden Gipfeln
des Atlas wenigitens Schulter an Schulter mit dem leichtfüßigen galliichen
Nachbar ſich zu halten.
Marokko als Staatengebilde geht unaufhaltſam feinem Berfall entgegen.
Zwei Mittel nur verleihen ihm zeitweilig noch eine wenn auch ungebührlich ver-
längerte Scheinexiſtenz ftaatlihen Dajeins. Zunächſt die Eiferfucht der nad)
ſeiner Hinterlaſſenſchaft erbgierigen Nationen, deren feine wagt, an dem morfchen
Gebäude zu rütteln aus Beforgnis, die wertvollen Trümmer fönnten in das
- Gebiet des Nachbarn fallen, dann der wunderbare Dauerfitt mufelmännifchen
Befenntnifjfes. Lebteres enthält die wertvollen ngredienzien dev Anerkennung
einer unbejtreitbaren Autorität des Staatsoberhauptes, das Gefühl unbedingter
Zulammengebörigfeit und daraus rejultierendes Empfinden völfifcher Ueber—
(egenbeit über alle ‚Fremden. Zufriedenheit mit der beitehenden Sraduierung der
verfchiedenen Bolksichichten und der damit zufammenhängenden Unterjchiedlichkeit
der materiellen Lage des Einzelindividunms. Letztes Moment darf als wirk—
jamftes Antifeptitum gegen volkszerſetzende Gährungserreger betrachtet werden.
Obne das unglaublich zähe Band diejes Befenntniffes und der darin anbe-
fohlenen Unterthänigfeit müßte die ftaatliche Mißwirtſchaft der Sherifen Regierung
Ichon längit einen vernichtenden Sturm des Volksunwillens hervorgerufen haben.
Als eriter Anlaß dazu und als vornehmfter Erreger jtaatliher Fäulnis muß der
Mangel jeglicher Moral in unferem Sinne bei den ftaatsleitenden Perfönlichkeiten be-
zeichnet werden; das kann nicht überrafchen, befteht doc; fein Syftem, nad) welchem
bei Anftellung dev Beamten verfahren wird. Diefe haben weder irgend einen
x. Graf von Pieil, Betrachtungen über Maroffo. 57
Befähigungsnachweis zu erbringen, noch irgend welche Spezialkenntnis zu erwer—
ben, fie kaufen ihre Stellen und, wer am meiften bietet, erhält fie. Der angeftellte
Beamte bezieht keinerlei Gehalt, er muß, wie in alter Zeit bei uns auch, Sporteln
erheben. Da ihm von feiner Regierung Eeinerlei politifche oder Berwaltungsauf-
gaben geftellt werden, feine geſamte Thätigfeit vielmehr falt ausfchlieglich in der
Einziehung von Steuern befteht, jo läßt fich denken, daß er, um feine Stellen:
faufgelder, Sporteln, Staatsftenern wiederzuerhalten, alsbald ein Erpreſſungs—
ſyſtem einfchlägt, welches die nachteiligfte Wirkung auf die Bevölkerung haben muB.
Gewiſſermaßen läßt fich fein Verfahren auch wieder entfchuldigen. Er weiß jelbit
nie, twie lange er auf feiner Stelle bleiben wird. Kommt es zur Kenntnis
des Sultans, daß es ihm mit der Zeit gelungen ift, aus feinen Bezirkseingeſeſſe—
nen ein einigermaßen anfehnliches Vermögen zu erpreifen, To kann e8 ihm paflteren,
dak er plötzlich fchmerer Verbrechen gegen die Wohlfahrt des Staates vder des
Sultans angeklagt wird. Das hat natürlic) feine Amtsentfetsung und Einziehung
jeines Vermögens zur Folge, welch leßteres in die Kaſſen des Sultans, refp. zum
Zeil in die derjenigen Feinde des Beamten fließt, welche es vermocdten, ihn aus
jener Stelle zu verdrängen, um felbjt hineinzukommen und fpäter denfelben Weg
wie ihr Vorgänger zu wandern. Gin weiterer Verderb des Beamtentums iſt die
Sitte oder vielmehr Unfitte der Gefchenfedarbringung. Wird ein Beamter an
den Hof befohlen, fo darf er nicht mit leeren Händen ericheinen, fondern muß ein
feinem Nange angemefjenes Gefchent mitbringen, welches indeſſen nicht gegen die
abzuliefernde Steuerquote verrechnet werden darf. Dieje Geichenfe belaufen fich
oft auf gewaltige Summen, dreißig bis vierzigtaufend Dollars werden von den
Kaids großer wohlhabender Diftrikte erwartet. Man kann diefe Gewohnheit nicht
anders al3 eine Prämie auf die Erprefiung bezeichnen. Da, wie ſchon gefagt, den
Beamten Eeinerlei Berwaltungs: oder politiiche Aufgaben vbliegen, da ferner
alle Kontrolle ihrer amtlichen Thätigfeit fehlt, jo wird jede ihrer Amtshandlungen
zum Gelderprejfungsgeichäft, und der geringfte Anlaß wird zum Borwand der
Amtshandlung genommen. Ein Beifpiel möge das Verwaltungsſyſtem der Kaids
iluftrieren. Der Maroftaner hat die Gewohnheit, fein Geld zu verbergen, ftatt
es nugbringend anzulegen. Oft itirbt er, ohne von dem Aufbewahrungsort feiner
mitunter beträchtlichen Schäße Stunde binterlafjen zu haben. Es ift daher nichts
Ungewöhnliches in Marokko, beim Einreißen alter Häufer beträchtliche Summen
ın Gold im Gemäuer oder anderswo veritedt zu finden. In einem befannten
derartigen Falle gedachte der erfreute Finder gemächlich fein Glück zu genießen,
nahdem er vorfchriftsmäßig einen für die Regierung beftimmten Teil feines Fundes
an den Kaid des Diitriktes abgeliefert hatte. Da erichien leßterer mit der in
freundlichftem Tone vorgetragenen Behauptung, der Finder habe doch ficherlich
den der Regierung zuftehenden Zeil weit zu gering angegeben, diefe Fleine Hinter:
ziehung ſolle indefien unbeadhtet bleiben, wenn der Finder den zurüdbehaltenen
58 J. Graf von Pfeil, Betrachtungen über Marokko.
Betrag in aller Stille mit ihm, dem Kaid, teilen wolle. Gegenteiligen Falles müſſe
er, wie er wohl wiſſe, ins Gefängnis wandern. Der geängſtigte Mann erkannte
ſein Schickſal, und lieber als im Gefängnis zu verſchmachten, trennte er ſich von
ſeinem mühelos gewonnenen Reichtum und gab dem Kaid die von dieſem gefor—
derte Summe, welche ſo viel betrug als der zurückbehaltene Teil des Fundes.
Dieſen nahm der Kaid an ſich, verlangte indeſſen unmittelbar nachher von dem
Finder ganz erhebliche Leiſtungen für Rechnung der Regierung mit der Motivierung,
daß letterer durch den Fund in der Lage fei, dem Staatöwohl ein geringes Opfer
zu bringen. Die Forderungen brachten den Mann an den Rand des Ruins; da
ex fich fchließlich weigerte, mehr zu leijten, wurde er von dem Kaid ins Gefängnis
geworfen und fein Vermögen Eonfisziert. Derartige Beifpiele könnten in beliebiger
Anzahl angeführt werden. Die daraus jprechende Korruption findet fi in allen
Zweigen der Behörden. Von weittragenditer Wirkung und darum am jchlimmiten
ift die bekannte Unredlichkeit der Adulen, d. i. der Rechtsgelehrten und Advokaten.
Um dofumentariiche Kraft zu haben, muß ein Schriftftüf von zwei Adulen unter
zeichnet fein. Nun läßt fich indefjen durch hinreichende, bei größerer Konkurrenz
oft nur recht geringe Zahlurig die Auffaffung des Adulen jo beeinfluffen, daß er
ganz merkwürdige Vorgänge als der Wahrheit entfprechend bejcheinigt. Nehmen
wir an, es handele fich um die Feititellung, daß die Summe von 100 Doll. bezahlt
worden jei. Das Geſchäft vollzieht fich dann folgendermaßen. Die eine Partei
zahlt der anderen 10 Doll. auf den Tiſch, dann entfernen ſich beide mit dem
Gelde, um fogleich zurüdzufehren und die Handlung mit denfelben 10 Doll. zu
wiederholen. Das Spiel geht fo weiter, bis die betreffende Summe erlegt ilt.
Der Adul bejcheinigt nun der Wahrheit gemäß, daß die Summe bezahlt ift, und
erhält für feine Bemühung vielleicht fünf Doll., während ihm das reelle Gejchäft
möglicherweile nur zwei eingebracht hätte. In den bei der Angelegenheit erzielten
Gewinn teilen fich die beiden Parteien. Man könnte fagen, daß eine ſolche Auf-
fafjung von Beamtenehre und Pfliht uns ja nichts anginge, allein gerade der
Unfug mit den Adulen ift von weittragender Bedeutung. Auch Europäer be
dürfen der von ſolchen angefertigten, aller Zuverläffigfeit entbehrenden Dokumente,
und wo e3 ſich darum handelt, Zeugnis gegen Chriſten aufzubringen, find Leute
derartig weiter Gemwifjen von unſchätzbarem Wert. Thatfächlich gejchieht es nur
zu oft, daß Klagen von zuverlälfigen Europäern unberüdjichtigt bleiben müfjen,
da die Sherife Regierung amtliche Zeugniffe erbringt, daß diefer oder jener Sad):
verhalt fich in ganz entgegengefegtem Sinne abgefpielt habe, als vom Chriſten
berichtet worden ift. In ſolchen Fällen, die fie wohl zu erkennen vermögen, find
auch unjere Behörden machtlos, weil fie bei den Beamten des als Staat aner:
fannten Volksgebildes dieſelbe Wahrhaftigkeit vorausfegen müſſen, mit der fie
jelbft zu arbeiten gewohnt find.
Eine Regierung, in welcher alle Stellen, die niedrigiten wie die höchſten, mit
J. Graf von Pfeil, Betrachtungen über Mlarokto. 59
derartigem Beamtenmaterial beſetzt find, könnte, ſelbſt unter der Leitung eines
kräftigen Oberhauptes, nicht den Bedirfnifien des Landes Rechnung tragen, ja
nicht einmal fie erkennen. Bon innerpolitiichen Bedürfniffen kann kaum die Rede
jein, da das Volk hinlänglich befriedigt wäre, wenn der den Volkswohlſtand aufs
ärgfte fchädigende Steuerdrud nur ein wenig nachließe. Es läßt ſich nicht jagen,
ob bei größerer Steuerfreiheit das Volk nicht feine Aufmerkſamkeit anderen
Dingen zumwenden und einen Willen zu erfennen geben würde; allein einen jolchen
zu leiten, befäße dieſe Regierung ebenjowenig die Fähigkeit, wie einen Volks—
willen da zu Schaffen, wo jie vielleicht wünichen follte, von ihm getragen zu
werden. Ganz abgejehen von der politischen Seite dev Frage, ift die Sherife
Regierung nicht einmal im ftande, das materielle Wohl des Landes zu fördern,
weil fie jelbft in den Elariten Fällen unterläßt, es zu beobadıten. Das A und O
Sherifer Regierungsweisheit ift die Kunſt, die großmöglichjte Steuerquote zu er:
balten. Man follte demgemäß annehmen, da jte auch Sorge tragen würde, die
Steuerfraft des Landes entiprechend zu heben. Nirgends indeijen kann der Be—
obachter dahin zielende Maßregeln in der Verwaltung wahrnehmen. Die hödjiten
Steuerbeträge werden erreiht durch Konfigfation, die außerdem den Vorzug
größter Bequemlichkeit beim Verfahren hat. Es iſt begreiflich, daß wirklicher Wohl:
ſtand infolge deſſen nur jelten ift, dann aber ängftlich verheimlicht wird. Zur
Erleichterung des Inlandverkehrs geichieht nichts, Flüſſe werden nur da über:
brüct, wo der Hof fie auf feinen feltenen Reifen zu pafjieren hat. Nach Bollendung
der Reije fällt da8 Bauwerk dem Ruin anheim. Zwar eriftieren im Lande einige
ſchöne Brüden aus alter Zeit, von fo cyElopenhaften Bau, daß jelbit der Zahn der
Zeit fih daran ftumpf genagt zu haben jcheint, allein fir deren Unterhaltung
wird nichts gethan, follten fie einfallen, nun jo watet man durchs Waſſer.
Deffentliche Wege giebt es nicht, oder vielmehr, jeder Weg ift öffentlich, nur hat
niemand die Verpflichtung, für deſſen Beichaffenheit Sorge zu tragen. In der
trodenen Jahreszeit hat, das nichts zu bedeuten, in der nafjen Periode dagegen
jind die jogenannten Wege unergründlich und Lafttiere wie Menfchen bleiben
buchitäblich oft alle fünf Meter ſtecken. Kurze und fichere Berbindungen zwijchen
bedeutenden Orten berzuitellen, wagt die Regierung Telbft nicht. So iſt 3. B.
noch heute dev von Marakeſch nad Fez reilende Händler gezwungen, jtatt in
grader Richtung zu reifen, den Weg über die Küftenftadt Rabat zu nehmen.
Sogar der Sultan mit feiner ganzen Armee muß ſich diefes Umweges bedienen,
weil die das Zwilchengebiet bewohnenden Beni Zemur die Oberhoheit des Sultans
nicht anerkennen und mächtig genug find, die Anerkennung einer auf jo fchwachen
Füßen jtehenden Autorität zu verweigern. Daß unter ſolchen Verhältnijfen der
Inlandverkehr ſich nur wenig zu entwideln vermag, liegt auf der Hand. Aber
aucd den Verkehr mit dem Auslande unterbindet die Kurzſichtigkeit der unfähigen
Regierung. Daß Ausfuhr der Pandesprodufte ein Land niemals chädigen, feinen
60) J. Graf von Brei, Betrachtungen über Marokko—
Finanzen nur müßen kann, ift ein Grad ökonomischer Weisheit, zu dem fich die
Machthaber der Sherifen Regierung noch nicht haben aufichtwingen können. Es
geichieht daher auch nicht das geringste, den Handel zu beleben. Zwar ift neuer:
ding3 der Erport von Weizen und Gerite für den Zeitraum von zwei Jahren
freigegeben, *) allein hierin läßt ſich Fein Funken plöglicher öfonomifcher Erleuchtung
erblicken, höchitens erhärtet die Maßregel die Wahrheit der befanuten Thatſache
der tiefiten Ebbe in der Sherifen Staatskaſſe, jo daß man ſich jogar dazu herbei-
laffen muß, Getreide an die ewig hungernden Chrütenhunde, möge Allah fie ver:
dammen, zu verkaufen. Gründe ſchwächlicher Gefühlspolitif nicht gefunde Staats—
raifon bilden die Unterlage für fait alle wirtichaftlidyen Maßnahmen. Nicht um
die an und für ſich minderwertige Raſſe ihrer Pferde ausschlieglihh dem Lande zu
erhalten, ift der Erport von Pferden verboten, man will vielmehr den Europäern
nicht auch noch das Eoftbarite Hriegsmaterial in die Hände liefern, Wenn Allah
wollte, daß an den der Schiffahrt gefährlichen Stellen Yeuchttürme ftünden, jo hätte
er fie wohl ſelbſt dahingejett. Allerhand widerwärtige Ehifanen beim Ausladen
europäischer Schiffe werden als ungemein qute Wite auf Koſten der Ausländer be-
trachtet; Eifenbahnen find Icheußliche Erfindungen der ‚Fremden, die an ſich feinem
guten Zwede dienen, aber noch den Nachteil haben, daß fie, will man fie einführen,
den Frieden der vielen im Lande zerjtreuten Deiligendenfmäler ftören. Der
Telegraph ift eine höchit verdammungsmwürdige geheimnisvolle Einrichtung, mit der
ein guter Mufelmann nichts zu ſchaffen haben darf. Derartige Findliche An—
ſchanungen, welde man ſelbſt aus dem Munde beijerer Araber oft hören kann,
beweilen nur, wie wenig noch die führenden Klaſſen das Bedürfnis der Zeiten
erfaßt haben, wie wenig fie fich eine Vorſtellung von ftaatliher Entwidelung zu
machen im ftande find. Natürlich gehen mit diefen Anſchauungen eine außerordent-
liche Selbftüberhebung und eine tiefe, felten indeffen öffentlich zum Ausdrud ge-
brachte Berahtung des Europäers Hand in Dand. Daß letterer dem Muhame-
daner in irgend einer Richtung überlegen fein könnte, gefteht Tich fein Mujelmann
ein, und diefe Geringihätung zum Teil ift es, welche bislang die richtige Er-
füllung des Vertrages von Madrid illuforifch macht, nach welchem der Europäer
berechtigt jein joll, int Yande Grundbefig zu erwerben. Damit paart ſich wieder
eine nicht geringe Furcht vor dem Ausländer: weil diejer kommen und jie in
Belig nehmen könne, tjt der Betrieb von edelmetallführenden Minen im Lande
ftreng unterjagt.
Es fehlt jomit, teil8 aus bewußten, teild aus unbewußten Gründen, jegliche
ftaatliche Organifation, welche, das maroffanische Wolf verfürpernd, das Yand
nad innen hebend, es nach außen verteidigend, marokkaniſche Politik zu treiben
vermöchte. Die logiſche Folge diefer Thatſache iſt die oft beachtete Erjcheinung
*, Soeben auch Kartoffel und einiges andere.
3%. Graf von Pfeil, Betrachtungen über Marofto. 61
der Ummwahrheit bei politischen Verhandlungen. Wie foll eine Regierung aud)
fonjequent bleiben, wenn fie feine feiten Ziele hat und nur von den Eingebungen
des Momentes geleitet wird? Richtſchnur für das Verhalten it ftetS nur die
Laune diejes oder jenes Beamten, oder richtiger, jeine Erwägung, wie er den
vorliegenden Fall zu behandeln habe, um ihn mit materiellem Vorteil für ſich
jelbjt zu verwerten. Die endlojen Verzögerungen im Gejchäftsgange, unter
welchen unjere Kaufleute ſchwer zu leiden haben, find zum großen Zeil auf der-
artige Urſachen zurüdzuführen. Es it Elar, daß es für das Ausland unmöglich
it, durdy das Mittel einer fo bejchaffenen Regierung feine Stellungnahme zu
Marokko dem Lande ſelbſt zur Kenntnis zu bringen. Wie das Land niemals
von einem Siege marokkaniſcher Diplomatie Mitteilung erhalten würde, jo er-
fährt e8 auch niemals eine erlittene Niederlage. Sogenannte Reklamationen
verfehlen daher auch gänzlich, irgend welchen Eindrud auf das Volk zu machen;
es erfährt nicht den Zufammenhang, und da die Reklamation mit Sicherheit in
der Forderung einer Geldſumme ausläuft, To leidet direft nur der Säckel des
Sultans, der die geforderte Summe zu zahlen hat, das Volf leidet exit in ziveiter
Reihe, indem nad) Begleihung der Forderung die Steuerſchraube wieder ein
wenig jchärfer angezogen wird.
Diefer Mangel aller jtaatlihen Organifation, diejes Fehlen aller Fühlung
mit dem In- und Auslande ‚hatte wenig zu bedeuten in den Jahrhunderten, wo
das ganze Volk zufammengehalten und geführt wurde von zwar deſpotiſchen,
aber Eraftoollen, zielbewußten Herrichern. Unter jolchen erlebte Marokko eine
Zeit hoher Blüte des Anlandes, von der noch heute viele Bauwerke Zeugnis ab»
legen, deren Weberbleibjel der Reſt der vorhandenen marokkaniſchen Jnduftrie ift.
Wie jehr die Kraft ſolcher Herriher nad außen fid) zeigte, erhellt aus der Ge-
ichichte der in marokkaniſcher Sklaverei gehaltenen Ehriften, mit der wir ung bier
nicht befaffen können. Heute, im Zeitalter des rajchen Verkehrs, wären derartige
Deipoten auch in Marokko nicht mehr möglich. Die europätichen Staaten können
nicht mehr als Quantites negligeables betradjtet werden, ihre Machtitellung
und Machtmittel bedeuten eine wejentliche Beſchränkung auch des deſpotiſchſten
Sultanswillens. Nun aber ein jolcher nicht einmal vorhanden ift, bedingen die
fehlende Moral der Regierung ſowohl nad) innen wie nach außen, die Unfähig—
feit die Forderungen der Zeit zu begreifen, die mangelnde Organifation zu Aus:
führung etwa erfaßter Ideen den zunächſt wahrnehmbaren Grund des politischen
Verfalles, des wirtichaftlichen Ruins von Marokko.
Ueber diejen Verfall vermag ung auch die Nachäffung ftaatlihen Gebahrens
feitenö der Regierung nicht hinwegzutäufchen. Es verfängt nicht, day Marokko
prahlerifche Gejandtjchaften nah Europa ſchickt, Generale mit jumelenbejegten
Ehrenfäbeln beichenkt, feine Gefandten anweiſt, fich für Theater, Bauten, Wohl:
fahrtseinrichtungen zu intevejjieren. Dem Nenner imponiert es nicht, daß ders
62 J. Graf von Bfeil, Betrachtungen über Maroffo.
artige Gejandte mit hochklingenden Titeln bezeichnet, mit allerhand Orden ge:
ſchmückt, nad) den verjchiedenften Methoden beweihräuchert werden, wenn auch
unter maroffanifchen Beamten bier und da gewiß tüchtige, ehrbare Männer ge:
troffen werden, und der Verfaſſer hat jelbit folche kennen gelernt, ſo verhüllt
doch jelbft die große Schlauheit, das gewandte Auftreten eines vornehmen Marot:
fanerd nicht den trinfgeldhungrigen Käufling, deſſen Eebrige Handflächen den
Stempel der Unzuverläffigkeit und darum politifcher Unfähigkeit tragen. Unter
der Leitung folder Männer kann ein Land fich nicht auf dem Wege gedeihlicher
Fortentwickelung bewegen, es muß den Krebsgang des Verfalles antreten.
Bei dem rajchen Verkehr der heutigen Zeit, der allen Kulturmächten das
zwingende Geſetz der Erpanfion auferlegt, ihnen bei Schädigung der eigenen Be—
deutung verbietend es zu verlegen, ift ohne der erfteren Einmiſchung ftaatlicher
Berfall irgend eines Landes kaum mehr dentbar. So wird auch Maroffo jein zer-
ichliffenes Staatsfleid faum aufzutragen vermögen, ohne daß von verjchiedenen
Seiten Hände fih ausftreden werden, um ein möglichit großes Stüd des immer
noch äußerjt wertvollen Stoffes abzureißen. Allen voraus hat Frankreich einen
Zipfel erfaßt, und troß feierlicher Gefandtichaften, Verficherung ewiger Freund—
Ihaft und Gleichheit dev Intereſſen wird diejes in Eolonialen Erwerbungen un-
gemein gewandte Volk die von ihm beanſpruchte Intereſſenſphäre fehr bald zum
Länderbejig ausgeftaltet haben. Da das in Rede ftehende Gebiet geographisch zu
Algerien gehört, deſſen natürliche Weftgrenze der Atlas bildet, fo darf man dag
Vorgehen der Franzoſen nicht unbillig fchelten nach dem alten Grundfag: „That
those shall take who have the power and they shall keep who can.“
Die natürliche Mtlasgrenze fett aber auch Frankreichs Beftrebungen ein
Biel, deſſen Ueberjchreitung eine Verlegung der Billigkeit gegenüber anderen In—
tereffenten und der Verteilung de3 politiichen Gleichgewichtes bedeuten würde.
Zu den Anmwärtern auf einen Teil der maroffanischen Erbichaft gehören vor
allen anderen wir Deutihe. Mittelft der Statiftit, dem Handelsnachweis und
den Annalen der Geographie ließe ſich der hier überflüffige Beweis dafür leicht
erbringen. Auf der atlantiichen Seite des Atlas liegt nad) obigen Ausführungen
die Bone, in welcher unfere Anfprüche ihre dereinftige Verwirklichung finden
müffen. Dieje nach dem Beifpiel Frankreichs im Wege langfamer militärifcher
Operationen anzubahnen, die Hand auf uns bejonders zufagende Teile maroffa-
nischen Gebietes jet ſchon zu legen, würde ſich mit der von uns dargeftellten
politiichen Yage nicht vereinigen laffen. Zu einer uns am beften anftehenden
fräftigen Annerionspolitif fehlt uns annoch die erforderlihe Marine. Wir find
viel mehr als unſer transatlafiicher Stonkurrent dem Widerſpruch anderer Mächte
ausgefegt, haben nicht den trefflihen Borwand einer fehlerhaft regulierten
Grenze, wir würden mit mehr Eile als Frankreich der Ländergier beichuldigt
werden und mit mehr Recht bejchuldigt werden können. Ohne Frage dürfte der
3. Braf von Pfeil. Betrachtungen über Marofto. 63
Augenblif unſeres Zulangens auch das Signal für eine ganze Anzahl anderer
Hände fein, fich zum leder bereiteten Male zu erheben. Dabei könnten fich die
vielen Finger in fo unbequemer Weije mit einander verwideln, daß die Herbei-
führung der Löfung die Kräfte des Reiches in unnötiger Weife in Anſpruch
nehmen dürfte. Bei der uns damit erwachſenden Aufgabe würde ſich abermals
das Fehlen einer unferer Landmacht entjprecdhenden Marine ſchmerzlich bemerkbar
mahen. Wäre es jomit gewagt, unferen faufenden Hammer bis zur Atlaswand
hbinüberzufchleudern, jo dürfen wir doch in unjerem eigenen Intereſſe nicht unter:
laflen, den Augenblid zu Vorbereitungen zu benugen, in welchem unfer zur See
mächtigſter Mitbewerber gezwungen ift, feine Flotte anderweitig.zu verwenden, uns
liegt die Pflicht ob, Intereſſen zu Schaffen zur dereinftigen Begründung weiterer
Anſprüche. Die Erfahrung zeigt uns, daß unſer Vetter von jenfeit3 des Kanals
jeine Anfprüche meift nicht nach Maßgabe der jeweiligen politifchen Yage, Sondern
nad feinen nachgewiefenen oder auch nur behaupteten materiellen Intereſſen
bemißt.
Leider läßt bei uns fich nicht wahrnehmen, daß unfererfeit irgend etwas
geſchähe, diejenigen Sntereffen zu vertiefen, welche von Privaten im Laufe der
Zeiten unter großen Opfern gefchaffen worden find. Bier aber ift der Punkt,
wo wir einfegen follten, denn im Mugenblide des Zulangens wird derjenige die
fetteften Biffen erwifchen, der am beiten Bejcheid weiß, wo fie zu fuchen find.
Iſt e8 nad) wie vor die Aufgabe unferer Kaufleute, die guten Bifjen aufzufuchen,
fo fallen die zu deren dereinftiger Sicherung erforderlihen Maßnahmen unbedingt
unjerer Regierung zu. Das ift Eein unbilliges Verlangen, man fehe nur, wie
andere Nationen für ihre Zukunft Sorge tragen und für ihre Antereffen überall
offizielle und private Vertreter haben. Nur Deutichland, das mächtige Militär-
veih, hat erft ganz vor Eurzem fich aufgefchwungen, in Fez einen Vertreter zu
beitallen, und in der NRefidenz des Sultans, wo England, Frankreich und andere,
faum interejfierte Ränder in wirkſamſter Weife vertreten find, an den Orten, wo
allein man über die politifchen Vorgänge im Land etwas fieht und Hört, fucht man
vergeblich nach einem Repräfentanten des augenblidlich vielfach ausfchlaggebenden
Kulturftaates. Beichämend wirkt der Eindrud, den der deutiche Beſucher der
maroffanifchen Hafenorte erhält, wenn er fieht, daß die Konfulate aller anderen
Nationen in eigenen Häufern refidieren, daß nur das deutiche Konſulat ftets in
irgend einem winfligen arabifchen Gebäude zur Miete untergebracht ift. Es it
hart, zugeftehen zu müſſen, daß ſtets die Konfuln anderer Nationen die politische
und gefellihaftliche Führung in der Hand haben, zu welcher die durchaus tüchtigen
deutihen Kaufleute weit eher befähigt wären. An der Vernadhläffigung diefer
Aeußerlichkeiten liegt eine nicht zu unterichäßende Unterlafjungsfünde, durch welche
nicht allein unfer nationales Anſehen ſchwer gefchädigt wird, fondern durch welche
wir diveft uns die Möglichkeit vericherzen, fpäteren Anſprüchen denſelben Nach—
64 J. Graf von Pfeil, Betrachtungen über Marofko.
drud wie andere zu verleihen. Wir betonen noch einmal, Unterlage für alle zu-
künftigen Anſprüche find unfere materiellen Intereſſen. Deren Erweiterung mit
allen Kräften anzuftreben, muß in Marokko unjere jtändige Sorge fein. Ju
welcher Richtung ſich unſere diesbezüglichen Bemühungen eritreden, welche beſonde—
ren Unternehmen wir jeweilig fördern müſſen, werden wir leicht von unferen Kauf—
leuten erfahren. Es liegen eine Neihe von jorgfältig ausgearbeiteten Plänen vor,
deren Durchführung unferen Handel mit einem Schlage fait auf die Höhe des
englifchen bringen fünnten, allein ihre Ausführung ift nur mit der moralischen
Unterftügung der Negierung denkbar. Es kann natürlich) hier nicht unfere Auf:
gabe fein, in die Details kaufmänniſcher Unternehmungen einzutreten, allein
einige Punkte jeien doc) erwähnt, in denen die ohne die geringite Schwierigkeit
zu leiftende Mitwirkung der Negierung von unendlichen Burteil für den deutichen
Dandel jein würde,
Wiewohl in den beitehenden Dandelsverträgen Art und Höhe der in Marokko
zu erhebenden Ein: und Ausfuhrzölle auf europäische und einheimifche Waren genau
feftgelegt ift, befleißigen fich die Zollbeamten einer erichredenden Willkür in der Be-
rechnung der Zölle und der Art ihrer Erhebung. Eine Unſumme von Straft und
Intelligenz muß allein darauf verwandt werden, die Chifanen der Beamten der
Zullbehörde zu überwinden. So werden, um ein Beilpiel zu erwähnen, die aus-
geführten Teppiche in Rabat nad) dem Wert, in Cala Blanca nad) dem Gewicht
verzollt. Wie muß der Handel unter folcher Willkür leiden. Warum müſſen ſich
die Kaufleute gefallen laffen, daß die Entladung von Dampferfracht vollftändig dem
Belieben der Hafenbehörden anheim gegeben ift. Paßt es diefen gerade nicht, Reichter-
boote hinauszufenden, jo fann jich dev Dampfer draußen auf der Reede heifer
pfeifen, er muß mit feiner ungelöjchten Fracht weiter fahren und die Kaufleute
am Ort mögen jeben, mit welcher Gelegenheit fie ihre Waren erhalten. Der
Berfafler hat zu wiederholten Malen den Borgang miterlebt und kann bezeugen,
welcher Berluft durch dieſe Art der Chikane dem deutichen Handel erwachſen
muß. Warum ſind troß des Madrider Vertrages noch heute die Kaufleute ge:
zwingen, in beſtimmten Vierteln der Dafenftädte zu wohnen, warum ift es ihnen
bis heute noch unmöglich, eigene Häuſer zu errichten. Welch ſchwere pekuniäre
Laſt letzterer Umſtand dem Handel auferlegt, erkennt man daraus, dat die Eigen-
tümer der Häufer, in denen jeßt die Naufleute wohnen müſſen, ihre Mieter jährlich
in einer Weile fteigern, von der fich jelbit ein Berliner Dausbefiger kaum eine
Boritellung machen fann. Es ift ja klar, daß am Ende der Maure felbjt die
auf diefe Weife erprekten Gelder wieder bezahlen muß, allein es tritt felbitredend
eine ſtarke Verzögerung des Umſatzes ein, unter der der Kaufmann jchwer zu
leiden hat. Eine größere Sicerftellung des Eigentums ift ebenfalls noch für
das Gedeihen unferer Entwidlung in Marokko erforderlid. Wenn unfere Kauf:
leute ihre Handelöbeziehungen pflegen wollen, kommen fie fortwährend in die
J. Graf von Pfeil, Betrachtungen über Marokko 65
Lage, den Mauren Borihüfle gewähren zu müſſen. Die Darlebne wieder zu
erhalten, gehört zu den jchwierigiten Aufgaben unferer Dandelsbeflifjenen in
Marokko. Nicht, daß ein Maure die Schuld leugnete, das widerjpricht feinen
religiöjen Gewohnheiten, aber die Behörden verhindern auf tanfendfache Weite
den Europäer, fich gegenüber dem ſäumigen Schuldner der zuläſſigen Nechtsmittel
zu bedienen. Am Ende ift der Europäer froh, wenn er fein Kapital ohne Wer:
fürzung zurüderhält. Für Solche Fälle müßten den europäiſchen Behörden
bedeutend weiter gehende Befugniſſe zugeitanden, vor allen Dingen die Mitwirkung
der maroffaniichen Gerichtsbarkeit gänzlich ausgeichlojien, die der Polizei weit
kräftiger in Anipruch genommen werden. Soweit haben wir uns begnügt, auf
einige beitebende Uebeljtände hinzumeilen; deren Abänderung reip. Abjtellung zu
fordern, jollte der Dandel wohl die Berechtigung, unfere Regierung die Madıt
befigen. Allein die Unterdrüdung dev gegen ihn gerichteten Chikanen reicht nicht
aus, dem deutichen Dandel die ihm gebührende Stellung im Lande zu Ichaffen.
Soll er ſich entwideln, jo muß ihm der Weg in das innere des Yandes
eröffnet werden. Dierzu it in eriter Pinie die Innehaltung des Bertrages von
Madrid erforderlid, nach welchem Europäern geftattet fein Joll, fich im Yande
anzuſiedeln. Die Durchführung der diesbezüglichen Beſtimmung in dem Sinne,
wie fie gedacht wurde, fette den Kaufmann fofort in Stand, an verjchiedenen
Stellen des Inlandes jeine Niederlagen zu eröffnen und in ganz anderer Weiſe
als jegt, wo er nur in veritedter Form jich mit Kulturen beichäftigen darf, un—
bebaut liegende, aber wertvolle Yändereien dem Anbau vder der Viehzucht zu er-
ichliegen. Inter denielben Paſſus des Vertrages gehört die Bewirtichaftung
von Gärten innerhalb der Stadtmauern. Nur mit den größten Schwierigfeiten
ift es einigen Kaufleuten heute möglich), fich diefen Keinen Luxus zu gönnen. Die
meisten müfjen auf dieſe Annehmlichkeit verzichten. Von großer Wichtigkeit Für
die Entwidlung des Dandels wäre die Erleichterung des Geldverfehrs. Wir
können dieſe frage bier nur andeuten, fie zu erörtern müßte den nicht einge:
weibten Lejer ermüden. Der Fradtverfehr mit dem Meutterlande bedarf dringend
der Nevilion, um ihn mit dem des Auslandes kunkurrenzfähiger zu machen. Die
natürlihen Produkte des Landes, Wälder und küſtennahe Erzlagerſtätten, müßten
behufs ihrer Verwertung dem Kaufmann zugänglid” gemacht werden jtatt ihn
davon abzujperren, und die Ausfuhr jedes Landeserzeugniſſes jollte erlaubt jein.
Das Land müßte veranlaft werden, feine Küfte mit Leuchtfeuern, feine zahl:
reichen Küſtenſtädte mit telegraphiicher Berbindung zu verjehen. Wir haben uns
mit Aufzählung der allereinfadyiten Bedürfnifie begnügt, und mancher ſach—
veritändige Leſer wird eritaunt fein, daß dergleichen felbjtverftändliche Dinge über-
haupt der Gegenstand von Forderungen fein können. Zaghafte Gemüter werden
alsbald von übertriebenen Anforderungen reden und gegen dieje die Meiſt—
begünftigungsklaujel ins Feld führen. Allein die Geſchichte Lehrt, day aud)
1}
6b J. Graf von Pfeil, Betrachtungen über Marofto,
ſolche Klaufeln immer nur fo lange in Wirkſamkeit bleiben, bis jemand es durd)-
fett, irgend einen Vorteil fich zu fihern und ihn energisch zu behaupten. Möchten
wir ein Weniges diefer Kunft von unfern englifhen Vettern erlernen. Ging doc)
fürzlich eine Notiz durch die Zeitungen, fie haben den Bertrag für den Bau
einer Eilenbahn fertig in der Taſche. Ein folder Vertrag wäre allerdings eine
augenfällige Verlegung der Meiftbegünftigungsklaufel, allein das wiirde unfere
Bettern wenig anfechten und niemand würde thatſächlich in der Yage fein, ihnen
den Beſitz des erworbenen Rechtes ftreitig zu madıen, man würde Widerſpruch
einfach mit der einwandsfreien Formel begegnen, warum habt Ahr Euch denn
den Vertrag nicht geholt? Verſucht doch etwas Gleichwertiges zu erhalten. Eine
derartige Antwort enthält unſeres Eradtens den Schwerpunft aller maroffanifchen
Politik. Zugreifen im rechten Augenblit und nad den redjiten Dingen. Die
legteren laffen fi) leicht namhaft madhen, wer Maroffo einigermaßen fennt,
ſieht bald, was wir dort haben follten und haben könnten. Much der rechte Augen—
blid, wenigftens der unter Zugrundelegung allein maroffanifcher Berhältniffe richtige
Augenblid, ließe fich wohl beitimmen, allein das Zufaſſen ift nur im Ausnahme:
falle Sache des Privatmannes, es ift das Privileg und die Pflicht der Regierung.
Wie im alten Rom den Leitern ded Staates warnend zugerufen wurde, fie mögen
Sorge tragen, daß nicht irgend etwas Uebles dem Staatsweſen begegne, jo möchten
wir vor den unferen die Stimme erheben, damit fie nicht einen uns gebührenden
und erreihbaren Zuwahs an Macht und Vermögen fich entgehen laffen. Alfo,
videant consules!
1%
EREZRTEZTIEZRTETETREZIEAIER
Fürlt Bismark und die Kunlt.
Erinnerungen von
Anton von Werner.
D: Deutſchen find glüdlich, den Baumeifter des Deutichen Reiches, den Ge-
waltigen, feiern zu Eönnen, ohne daß fie feinem Andenken zu jchmeicheln
brauchen, und fie beleuchteten feine hehre, ihnen jo teure Geſtalt aud in diejen
Tagen der Feftesfreude bei Aufrichtung feines Denkmals in der Reichshauptitadt
von allen Seiten, um noch hier und da zwiſchen altbefannten marfigen Zügen
etwas Neues, Bewundernswertes zu entdeden.
„Die Kunſt hat fich jo vielfady mit Fürft Bismard befchäftigt“, jagt man
mir, „wie ftand Fürft Bismard zur Kunſt? Sie müfjen ja etwas davon wiſſen.“
Gewiß, meine künftlerifche Thätigkeit hat mich feit 1870 vielfad; mit dem
eifernen Kanzler zujammengeführt, und die Stunden, die ich mit ihm im Geſpräch
zubringen durfte, gehören zu den £öftlichiten Erinnerungen meines Lebens. Nur
erinnere ich mich nicht, jemals mit dem Fürſten eigentlich über Kunft geſprochen
zu haben. Aber er muß eine fünftlerifche Ader ſtark realiftiicher Natur in fich
gehabt haben, das fiel mir auf, als ich die Ehre hatte, ihm zum eriten Male
vorgeftellt zu werden und feinem Geſpräch lauſchen zu dürfen.
Das war eines Abends im Oktober oder November 1870 im Hauptquartier
des Kronprinzen zu Verſailles beim Diner. Nach Tiſch hatte Graf Bismard
behaglich auf einem Sopha Blag genommen, eine Corona aufmerfjamer Zuhörer
hatte ſich um ihn gebildet und er erzählte u. A. von feinem erften Zufammentreffen
mit les Favre in Ferrières. Er malte ihn von Kopf bis zu Fuß ab und
äußerte u. A.: „Er war mir gleich fympathiich, denn er hatte jo große Hände
und Füße, daß er eigentlich hätte ein Deuticher fein müfjen, weil das für einen
Franzoſen nicht charakteriſtiſch iſt.“ Sch wunderte mich im Stillen ehrfurdjtsvoll
darüber, daß man bei weltgejchichtlichen Ereigniljen Zeit und Stimmung haben
kann, ſolche Beobachtungen zu machen.
Meine eriten größeren künftleriichen Arbeiten in den fiebziger Jahren in
Berlin, der Fries um die Siegesjäule und die „Proflamierung des deutjchen Kaiſer—
reichs“, zwangen mich zu eingehenderer Beichäftigung mit dem Fürften Bismard,
der aber leider mit viel bejjeren und nötigeren Dingen zu thun hatte, als mit
meiner Malerei. Ich eröffnete troßdem die Laufgräben und Approchen gegen
5*
68 Anton von Werner, Fürſt Bismard und die Kunſt.
ihn, um ihn zu einer Sißung für mein Bild zu gewinnen, Ich hatte ihn aller-
dings ja am 18. Januar 1871, als er die Proflamations-Urkunde des neuen
Deutjchen Reiches im Spiegelfaale des Verfailler Schloffes vorlag, flüchtig fkizziert,
auch beobachtet, wie er bei Seite ſtand und, während Kaiſer Wilhelm von der
Eitrade herunterfchritt, vom bayerifchen General von Hartmann und dem General
von Blumenthal beglückwünſcht wurde.
Das genügte doc aber nicht fir mein Bild. Für Porträtſitzungen hatte der
Kanzler natürlich feine Zeit, aber er hatte die Freimdlichkeit, mid) mehrfach zu
Tafel oder zum Abend einzuladen und weiteres in Ausficht zu Stellen. Bei einem
diefer Ejjen, am 15. Januar 1877, Hatte ich dem Reichskanzler im Auftrage meines
Freundes J. V. von Sceffel die ziweite Auflage des von mir illuftrierten
„Gaudeamus“ überreicht. Er intereilterte ſich für Scheffel3 Berfönlichkeit, den
er exit etwas jpäter in Kiſſingen fennen lernte, und bedauerte, daß er ihn nicht
jenen Lanenburgern als Neichstagsfandidaten empfohlen habe. Er las nad)
Tiſch, nachdem ihm Geheimrat Obernit feine lange Pfeife gebracht und ange:
zündet hatte, mit ſichtlichem Bergnügen die Gedichte von „Guano“, vom „Ichwarzen
Walftic zu Askalon“ und andere laut vor, und ich zeichnete ihn indeſſen mehrfach.
Damit war aber für mein Bild immer nod) nicht viel zu machen. Der Nblieferungs:
termin — 22. März 1877, zum 80. Geburtstag Kaiſer Wilhelms — rüdte immer
näher und ich wurde immer dringender. Die Frau Fürftin verfprad) ihr mög:
lichites zu thun. Endlich — drei oder vier Tage vor dem legten Termin — wird
mir die Fürſtin Bismard gemeldet, ic ftürze aus dem Atelier hinunter und febe,
wie fi) aus dem vor der Thür hHaltenden Wagen der Arm der Frau Fürftin
berausftredt — die beiden mächtigen Kürafiieritiefel ihres hohen Gemahls mir
entgegenreichend. Das war alles... ..
Das Jahr 1878 führte mich in einer ernfthafteren, die Kunſt näher be:
rührenden Angelegenheit mit dem Neichsfanzler zufammen. Das Deutiche Reich
hatte abgelehnt, ih an der 1878er Pariſer Weltausftellung zu beteiligen. Der
Umſchwung in unjeren Beziehungen zu Frankreich indejlen, als das liberale
Minifterium Dufaure-Waddington die Negierung übernahm und Graf St. Vallier
als Botichafter nach Berlin kam, veranlaßte den Neichäfanzler, der franzöfiichen
Republik ein ſichtbares Zeichen freundlicher Gefinnmung dadurch zu geben, daß das
Deutiche Neich ſich noch in letter Stunde an der Weltausfteling in Paris in
irgend einer Form beteiligte. Er ließ mich am 21. Februar 1878 um 11 Uhr
Abends zu ſich rufen und legte mix die Frage vor, ob ich bis zum 1. Mai noch
eine deutſche Kunſtabteilung für Paris veranftalten könnte. Bon Kommiſſionen
und dergf., die ich ihm vorichlug, wollte ev nichts wiſſen, „damit habe ich mid)
in meinem Leben genug zu ärgern gehabt," meinte er, „machen Sie es oder es
unterbleibt.” Ich veriprah ihm darauf, in adıt Tagen Beicheid zu bringen.
Pünktlich an dem bejtimmten Tage gegen Mitternacht legte ich ihn mein Pro—
Anton von Werner, Fürſt Bismard und die Kunſt. 69
gramm dor, in dem in zehn Punkten meine Borichläge formuliert waren. Ich
war erjtaunt über den gejchäftlichen Blid, mit dem der Stanzler diefe zum Zeil
rein techniichen Punkte beachtete und mit mir durchſprach. Er blieb am Koften-
punkt haften. ch jagte ihm: „Wenn id) Ew. Durchlaucht recht verjtehe, jo handelt
e3 ic hier nicht um eine Frage der Kunft, Jondern um einen coup de politique;
wir jollen in Paris unfere Vifitenfarte abgeben, jo vornehm und anjtändig wie
möglich, und das wird Geld koſten!“ „Das ift richtig,” meinte ev, „aber denfen
Sie daran: ultra posse nemo obligatur.“ Er wiederholte diefen Sprud; jpäter,
nachdem ich in Paris geweien war und die Situation ftudiert hatte und mit dem
Koſtenpunkt vorrüdte, nocd öfters, bejonders an einem parlamentarifchen Abend,
als gerade der eben neu ernannte Finanzminiſter Dr. Hobrecht mit ihm am Kamin
tand. Der Minifter von Bülow fagte indeffen zu mir: „Sind wir ins Waſſer
geiprungen, jo müſſen wir auch ſchwimmen!“ und ich erhielt die umfajjendften
Vollmachten.
Die Ausſtellung erledigte ſich übrigens in zufriedenſtellendſter Weiſe; einige
der ausſtellenden Nationen ſchloſſen ihre Kunſtabteilungen — wenn ich nicht irre,
ſogar die Franzoſen ſelbſt —, um ihrer Einrichtung ſoweit als möglich nachzu—
helfen, nachdem ſie die unſrige, von Gedon-München mit vollendetem Geſchmaäck
ausgeſtattete, geſehen hatten. Die franzöſiſche Regierung verweigerte überdies allen
auf den Krieg von 1870/71 bezüglichen Kunſtwerken die Aufnahme in die fran-
zöfiiche Kunstabteilung, weil auch unfererfeits jede Erinnerung an 1870/71, jelbit
die Aufitellung einer Büfte des Kaiſers vder des Fürſten Bismard, vermieden
worden war. Die „Bilitenfarte“ war alfo fo höflich und korrekt als möglid)
abgegeben worden und auc das „ultra posse* forreft erledigt, denn ich Eonnte
von den mir zur Verfügung gejtellten Mitteln noch 30000 M. als unverbraucht
zurüdgeben.
Inzwiſchen war am 12. Juni in Berlin der europätiche Kongreß zufammen:
getreten, und die mir von der Stadt Berlin gejtellte Aufgabe, die Mitglieder des—
jelben in einem größeren Porträt-Sruppenbilde darzuftellen, führte mich aufs
neue in einer Künftleriichen Angelegenheit mit dem Fürſten Bismard zuſammen.
Ter Reichsfanzler hatte mir geftattet, zum Studium der delegierten Diplomaten
vor Beginn der Situngen anwelend zu fein. Graf St. Vallierv meinte dazu, id)
itudierte die Herren Diplomaten jet „comme les bötes fauves au jardin zoo-
logique.“ In den Morgenftunden machte ic Borträtftudien der Herren. Fürſt
Gortſchakow erzählte mir bei einer Borträtlikung, daß er übermorgen 80 Jahre
alt würde. Als er dann einige Tage fpäter meinen Studienkopf befichtigte, jagte
er mir: „Mais, mon ami, Sie haben mid) zehn Jahre älter gemadt.“ Das
wäre alſo als MWijähriger; ich glaube nicht, daß ich diefe Aufgabe, wenn jie als
Preisaufgabe geftellt worden wäre, hätte lülen können. Fürſt Dobenlohe, der
ſpätere Neichsfanzler, fagte mir eines Tages: „Andrafiy erzählte mir, Sie hätten
70 Anton von Werner, Fürft Bismard und die Kunſt.
eine fo gute Karrikatur von ihm gemadt." Da ich, außer in frühefter Slünftler-
jugend, nie Sarrifaturen gemacht habe, war ich einigermaßen erjtaunt über dieje
Mitteilung. Lord Beaconsfield, der unter allen beim Kongreß anweſenden hohen
Herren von der Natur wohl am wenigften mit körperlicher Schönheit bedacht war,
zeigte ſich am meiſten zufriedengejtellt von meiner Borträtitudie und wiederholte
öfters: „Mais c’est très bien, c'est magnifique.“ Er jaß, ſtark an der Gicht
leidend, aber guten Humors, halb liegend auf der Chaifelongue, während ic) ihn
zeichnete und malte, und meinte, auf fein Bein zeigend, lachend: „c’est la goutte,
mon cher!“ „Mais oui,“ antwortete ih ihm, „la maladie historique de
Downing-Street.“
Mit Fürft Bismard hatte ich mic ins Vernehmen zu feßen über die äußere
Gejtaltung der Schlußfigung, der Unterzeichnung der Verträge, die id) in einem
Bilde vereinigen follte. Herr von Radowitz und Graf Herbert Bismard waren
— als Sefretäre des Kongreſſes — die Bermittler. Ich hatte meine Kleinen
Wünſche. Eritens follten die Herren in Uniform ericheinen, da das Zivilkoftüm,
wie ich mid) überzeugt hatte, zu charakterlos für ein folches Bild war. Zweitens
jollten die Verträge nicht an dem Hufeifenförmigen Situngstifch, fondern an dem
Eleineren Kartentiſch unterzeichnet werden. Drittens wäre e8 mir erwünſcht ge-
wejen, wenn bei der Unterzeichnung aus dem dicht neben dem GSitungsjaale
liegenden Buffetzimmer Sekt präfentirt worden wäre; die türkischen Bevollmäch—
tigten, die auf dem Bilde recht$ von der betreffenden Thür zunächſt ſich befanden,
wären damit zuerit bedacht worden. Sie jollen ja nad) dem Koran wohl eigentlich)
feinen Wein trinfen, aber e8 war mir wohlbefannt, daß die Herren, vor allem
unjer Landsmann, Marjchall Mehemed Ali Paſcha (geb. Detroit aus Magdeburg)
einen guten Trank nicht verſchmähten. Endlich hätte ich gern auch den Reichshund
Tyras mit verewigt. Punkt eind und zwei bewilligte der Kaiſer, Punkt drei
erichten ihm bedenklich wegen der bulgarischen Greuel, und gegen Punkt vier war
des Umftandes zu gedenken, daß das Reichstier gelegentlich unbeabſichtigt dem
Fürſten Gortſchakow zwiichen die Beine gefahren war und den alten Herrn fait
zu Falle gebracht hatte. Punkt drei und vier wurden alfo fallen gelaffen.
Bei der Schlußfigung fiel es mir auf, mit welcher Sorgfalt Fürft Bismard,
welcher frei ſprach, die Worte wählte und ſich öfters Eorrigierte, 3. B. ftatt des
Wortes „observations“, den Sat wiederholend, das Wort „objecetions“ ge:
brauchte. Graf Andrafiy las feine kurze Dankesbemerfung an den präfidierenden
Reichsfanzler von einem Duartblatte ab.
Erſt zwei Jahre jpäter, im Juli 1880, konnte ich Porträtitudien des Fürften
in Friedrichsruh machen, wohin ex mid) für einige Tage freundlichft eingeladen
hatte. ch Hatte mehrere Studienköpfe untermalt, da ich ahnte, daß der Fürft
für die Situngen nicht gerade zu viel Zeit übrig haben würde und daß ich mid)
mit einigen Farbenfleden und Andeutungen begnügen müßte. Dem war aud) fo.
—
Anton von Werner, Fürſt Bismarck und die Kunſt. 71
Schon nad) fünf oder zehn Minuten jprang der Fürſt auf und erklärte, daß ihm
das Sitzen gräßlicd) ſei, jeitdem ihn die Bildhauerin Elifaberh Ney im Jahre 1866
unverantwortlic) damit gequält hätte. Much noch ein Eleiner Nebenumſtand machte
die erſte Sigung nicht gerade behaglich für mich. Ach bin gewohnt, mit dem
Malitof zu arbeiten. Als der Fürft, gefolgt von dem Neichshunde, eintrat und
den Stod in meiner Dand bemerkte, rief ev mir zu: „Um Gottes willen, legen
Sie den Stud weg, Tyras jpringt Ahnen jonft an die Kehle!” Recht angenehm
für einen harmloſen Porträtmaler! Ich konnte den Fürjten übrigens jeweils nad)
der Tafel genügend von allen Seiten zeichnen und feine Bewegungen ffizzieren, ohne
mit Tyras in Fehde zu geraten. Der Fürft jah damals jo rot und braun verbrannt
aus, daß er dem zu 1878 pajjenden Teint durchaus nicht entiprad).
Als ic) mit den Wandgemälden für den Nathausfaal in Saarbrüden, die
1880 fertig wurden, beichäftigt war, hatte ich den Fürften Bismard um eine
Devije für fein dazu gehöriges Porträt gebeten. Er gab mir als ſolche die Worte:
„Ohne Kaiſer fein Reich.” ch erinnere mich nicht, dab diefer Ausſpruch ſchon
früher in Anwendung war.
Daß Fürſt Bismard der liebenswürdigite und unermüdlichite Wirt umd
der geiftvollite Plauderer bei Tiſch war, bleibt wohl jedem, der das Glück gehabt
bat, unter feinem Dace zu wmweilen, in unvergeklicher Erinnerung. In jenen
Tagen war gerade der damalige Oberpräfident von Schleswig-Holjtein, Herr von
Bötticher, auch Gaft in Friedrichsruh, und täglich waren zu Tiſch nody einige
andere Derren anweſend. Die Geipräche, deren Koften der Fürft unermüdet faft
allein beftritt, drehten ſich um Fort: und Landwirtjchaft, die Verſtaatlichung der
Eiſenbahnen und die in Angriff genommene fozialpolitiiche Geſetzgebung. Als
ih eine bewundernde Bemerkung über des Fürften eingehende Kenntnis der
kleinſten Detaild der Landwirtichaft machte, antwortete er: „Das ift leicht er-
flärlich, ich bin ja eigentlich von Fach Yandwirt und nur aus Verſehen Miniiter
geworden. Deshalb bin ich auch am liebften hier oder in Varzin und jehr
ungern in Berlin, befonders im Neichstage, um Reden zu halten; meine Kanzler—
geichäfte Fann id; ganz gut aud) von bier aus erledigen, und ich begreife nicht,
warum die Zeitungen mich immer durchaus in Berlin und im Neichstage haben
wollen." ch konnte jogar eines guten Abends mit dem Fürften Erinnerungen
an die Tage in Verſailles 1870/71 austauschen, die höchſt intereſſante politifche
Aeußerungen des Fürften mit fi) brachten.
Als das Sedan: Panorama fertig geftellt ward, und ich die beiden erjten
Dioramen dazu: „General Reille überbringt dem König Napoleons Brief“ und
„Biemards und Napoleons Zufammentreffen auf der Chauſſee von Dondery“
vollendet hatte, war Fürſt Bismard von der Panorama-Direktion zur Befichtigung
eingeladen worden, und ic) jah ihn dort am 18. November 1884 wieder. Gr war
inzwijchen in Schweninger'ihe Behandlung getreten und ſah ſehr wohl und ver:
72 Anton von Werner, Fürſt Bismarck und die Kunſt.
gnügt aus. Er geitand, ein Banoranıa noch nie gejehen zu haben, und war von
dem eriten Eindrud ſichtlich überraſcht; er erzählte viele Eleine Epiſoden des
Scladttages und erinnerte ſich genau einiger charakteriftiichen Einzelheiten, jo
3 DB. daß er bei der llebergabe des Napoleon'ſchen Briefes etwas weiter rechts
vom Könige geitanden hätte, als id) es dargejtellt habe. Auch bedauerte er, daß
ich den Grafen Daßfeld nicht mit angebradjt hätte, „den einzigen Ziviliſten, der
dabei war."
Sein Zulammentreffen mit Napoleon fchilderte er etwas anders und weniger
draftiich, als ich es 1877 von ihm gehört hatte. Damals erzählte der Kanzler,
daß er bei feiner KHurzlichtigfeit erit, als er dem Wagen ſchon ganz nahe war,
Napoleon erfannt habe, mit drei Offizieren am Wagen ftehend. „Ach parierte
mein Pferd, um abzuiteigen; dabei war mir der Revolver zwiſchen die Beine
geruticht und genierte beim Abfteigen. Ach griff darnach und bei dieſer Be-
wegung wurde der . . . . (Napoleon) weiß, wie eine Kalkwand.“ Ich Falkulierte
daraus, daß Bismard dem Kaiſer ganz nahe geweſen fein müßte, um bei feiner
Nurzfichtigkeit dies zu bemerken und wählte deshalb für mein Bild nicht die Dar:
jtellung, welche Bismard in feinem offiziellen Bericht über fein Zufammentreffen
mit Napoleon gemacht hat. Unbewußt gab mir indejlen der Kanzler Nedt, in-
dem er fragte: „Daben Sie den Kaifer gekannt? Gerade jo, wie Sie ihn hier
gemalt haben, ftand Napoleon vor mir. Ich war in Wirklichkeit aber wohl
etwas höflicher, als ich bier ausſehe.“ Er erinnerte ſich nicht, ob er an
dem Morgen in der Eile, mit welcher er abgeritten jei, die Schärpe angelegt hätte,
und meinte, es jei inforreft, wenn ich ihm nicht auch die Kartuſche dazu gäbe.
„sch werde auf die Nachwelt als inforrefter Soldat übergeben, und wenn der
Kaiſer dies fieht, fo wird er es gewiß monieren. Die quite Roſa (des Kanzlers
Pferd) iſt aut netroffen, es war ein ftarffmochiges Tier, aber eine Stute, —
bier ıjt ihr Kopf etwas männlich — fie ift erit im vorigen Jahre geftorben."
Wenige Tage nachher, am 21. November, traf ich den Fürften zu meiner
größten Ueberraichung in einer Soiree bei den fronprinzlichen Derrichaften zur
eier des Geburtstages der Fran Kronprinzeſſin; er war jeit mehreren Jahren
nicht mebr in Gefellichaft gegangen. Gr wiederholte mir, als ich ihn begrüßte,
in verbindlichiter Weile, welchen Eindrud ihm das Sedan- Panorama gemadıt
babe und daß er „Immer noch unter diefem Gindrud ftehe.“
Zum 70. Geburtsfeite des Neichsfanzlers hatte ich das Ehrengeichent Kaiſer
Wilhelms und der königlichen Familie anzufertigen, eine Wiederholung der Kaiſer—
proflamation in Eleinerem Format, wie ich fie als Wandbild im Zeughauſe gemalt
hatte. Der Mailer hatte mehrfache Abänderungen mit Rüdjicht auf den vor:
liegenden Zweck gewünjcht. Am 1. April 1885 wurde das Bild dem Fürften vom
Kaiſer unter Aſſiſtenz des Kronprinzen perfönlich überreicht. ch war leider bei
diefem Akte nicht zugenen, Fam aber Mittags nad ein Uhr zum Kanzler und
Anton von Werner, Fürſt Bismard und die Kunſt. 3
fand ihn umringt von Hunderten von Gratulanten aller Stände, Abgeordneten,
Diplomaten, Studenten, unjeren Kunjtafademifern, die den Feſtzug vom Abend
vorber arrangiert hatten, Abordnungen und Herren und Damen aus allen Ständen.
Bismard war die Freude und Liebenswürdigkeit felbft, plauderte mit allen und
tranf überall din zu, allerdings ſcharf beobachtet von Dr. Schweninger, der ihm
nicht von der Seite wid. Er jagte mir viel Freundliches über mein Bild, das
ihm bejjer gefiel als das große im Sclofje befindliche. Seit dieſer Zeit bin ich
mit dem Fürſten nicht mehr in perjönliche Berührung gekommen. Ich habe ihn
nur noch gejehen, als er im Jahre 1890 als verabfchiedeter Kanzler von feiner
legten amtlichen Audienz vom Schlofje die Linden entlang zurüdfehrte, eine gelbe
Roſe in der Hand und vom Bublifum ftürmijch begrüßt. Und das letzte Mal,
als er am 26. Januar 1894 zur Beglückwünſchung des Kaifers hierher Fam, mit
füritlihen Ghrenbezeugungen empfangen und begleitet von Prinz Deinridy, in
einem Dofgalawagen, von Garde-Slüraffieren esfortiert, die Linden zum Schloſſe
binfubr.
Für feine Geſtalt auf dem 1893 vollendeten Reichstagsbilde habe ich mid) mit
den Skizzen behelfen müſſen, die ich bei der Feitlichfeit jelbjt, am 24. Juni 1888,
von ihm gemacht hatte.
Die feſtumriſſene Deldengeitalt des eifernen Kanzlers wird, wie aus der
deutichen Geſchichte, fo aud) aus der deutjchen Kunft nie verſchwinden, dafür bat
er ſelbſt geforgt, denn „eine Zeile Geſchichte it mehr als taufend Gedichte,“ wie
ihm mein Freund J. B. von Scheffel einft jchrieb.
Net
BIDIBIBIDIBIBIBIBIBIBIBIBIB]
Bankbrüche und Bankkontrollen.
Von
Adolph Wagner.
I.
Zur Diagnofe und Kritif.
D: vollftändigen oder partiellen Zufammenbrüde, Zahlungseinftellungen,
Zahlungsitodungen einer ganzen Anzahl größerer deuticher Banfen jeit
vorigem Winter haben weit über die Kreiſe derer, welche davon zunächſt ſchwer
- betroffen und zum Zeil ruiniert worden find, berecdhtigtermaßen das peinlichite
Aufiehen erregt, im bisher jo vertrauensfeligen Inlande wie im bisher neidifchen,
jet jchadenfrohen Auslande. Zuerft die Enthüllungen über die Hypothefenbanfen
der „Spielhagengruppe" — voran über die Preußiiche Hypotheken-Aktienbank mit
ihren Tochtergelellichaften, die Deutjche Grundſchuldbank, dann über die Pommerſche
Hypotheken-Aktienbank, die Mecklenburg-Strelitz'ſche Hypothekenbank —, jpäter
die noch überrajchenderen Enthüllungen über die Berhältuifje in der Gruppe
moderner jog. Effektenbanfen — bei der Dresdener Kreditanftalt für Anduftrie
und Dandel, der Leipziger Bank, der Rheinifchen Bank in Mülheim an der
Ruhr, um nur die wichtigften Fälle zu nennen. Dieſe Enthüllungen haben eine
Summe von geichäftlicher Unordnung, Mißwirtſchaft und Ungefchidlichkeit, von
Leichtjinn, Gewiſſenloſigkeit, Unredlichkeit, von Verſtößen gegen die Grundregeln
ordentlichen Bankbetriebs, von ſchamloſer Verlegung von Treu und Glauben und
gejeßlicher und ftatutarifcher Normen offenbart, wie es wenigftens in der neueren
Bankgeſchichte anderer Kulturländer, Großbritanniens, Frankreichs, Nordamerikas
kaum ähnlich vorgefommen if. Man muß auf die fchlimmiten Zeiten der
britiichen und nordamerifanischen älteren Bankgeſchichte zurüdgehen, um wirklich
Hehnliches, aber auch da kaum von folcher Ausdehnung und in ſolchem bedenk-
lichen Maße zu finden, und auch die franzöſiſche Bankgeſchichte meldet doc) immer
nur von einzelnen derartigen Fällen, nicht gleich von einer ganzen Epidemie
von Banfbrüchen.
In Wechſelwirkung mit diefen Vorgängen im großen Bankweſen ftehen
ähnliche Erjcheinungen auf dem Gebiete der Anduftrie, namentlich bei Induſtrie—
Aktiengeſellſchaften. Auch hier gleiche oder faft noch ärgere Mißwirtichaft, Ueber:
Adolph Wagner, Bankbrüche und Banktontrollen. 75
ſpannung der Geichäfte und des Kredits, bedenklichite und unlauterfte Berquidungen
der Unternehmungen untereinander, von Mutter: und Tochtergejellihaften, mit-
unter ein wahrer Rattenkönig von Gefchäften, unordentliche oder jelbft gefäljchte
Buchführung, Ungefchidlichkeit, Unredlichkeit, direkter Betrug. Die Banken leicht:
jinnig im Kreditgeben an folche induftrielle Unternehnnmgen bis zur Blindheit,
dann nicht mehr in der Lage, zurüd zu können, immer weiter gezogen, bis zum
eigenen unabmwendbaren Ruin, wie die Leipziger Bank in ihrer Verbindung mit
der Kafjeler Trebertrodnungs-Gefellihaft und deren Tochter: Knäuel, wie die
Dresdner Ereditanftalt in der Verbindung mit den in einer Dinficht ja tüchtigen,
aber geſchäftlich ebenfalls unverantwortlich geleiteten Kummerſchen Elektrizitäts—
werken. Die Induſtriegeſellſchaften, wie die oben genannten, den willfährig ge—
gebenen Bankkredit übermäßig ausbeutend, die fo erlangten Kapitalien in ihren
Anlagen feitlegend, beſtenfalls unerhört leichtjinnig geleitet, mehrfach direkt un—
ehrlich und betrügerifch, bis zu dem wahrhaft jfandalöfen Fall der G. Terlindenichen
Aktiengejellihaft mit Fälſchungen und Betrug aller Art im größten Maßjitabe.
Meift durch jene genannten — aber freilid) auch noch durch andere —
Hypothekenbanken begünftigt eine „wilde und wüſte Terrainjpefulation", wie es
jelbft die Börjenprefje jett nennt, in den großen Städten und deren Vororten,
voran in Berlin, ein wahrhafter „Bodenwucher”, der die Grundjtüdspreife empor:
ichnellte, da8 Bebauen maßlos verteuerte, das Baugefchäft in unjolide Bahnen
drängte, die dabei Beteiligten, eigentlich erft die Werte jchaffenden Elemente, die
wirklichen Bauhandwerker, ausbeutete. Millionen und aber Millionen „Brand:
briefe" dieſer Hypothekenbanken werden al3 „ſolideſtes Anlagepapier" auf den
Markt gebracht, in die Hände des Eleineren und mittleren Kapitaliftenpublifums
lanziert, ein Publikum, das für feine oft mühſamen Erjparniffe nur eine fichere
Anlage, fern von aller Spefulationstendenz und Gewinngier fucht, fich mit einer
mäßigen Rente begnügt; ein Bublitum, das durch Neklame mit unverdienten Hof:
prädifaten, wie die Pommerſche Hypothefen-Aktienbanf als „Hofbank der deutfchen
Kaiferin” und mit dein Hinweis auf die Stellung der Bank unter „ftaatlicher
Aufſicht“, noch mehr künſtlich herangelodt twird, — um elend betrogen und um
einen guten Teil feines ehrlich erworbenen Vermögens gebracht zu werden!
Es ift ein in jeder Hinficht trojtfofes Bild, das ſich hier bietet. Die end-
gültigen Bermögensverlufte, welche das Privatpubliftum an den Aktien der Banken
und Anduftrieunternehmungen, an den PBfandbriefen und Obligationen, den
Depofiten und fonftigen Forderungen erleiden wird, laſſen ſich noch nicht ganz
überjehen. Bieles wird von dem Ausfall der „Sanierungen, Abwidlungen, Liqui—
dationen, Konkurſe abhängen, aber in einzelnen Fällen, wie 3. DB. bei der
Yeipziger Banf, wird für die Aktionäre wohl alles, für die Gläubiger ein jehr er:
bebliher Teil ihrer Forderungen, man fpricht von 50 Prozent (!), unmiederbring-
ih verloren fein. Bei den Hypothekenbanken werden die eingeleiteten Sanie—
76 Adolph Warner, Bankbrüche und Bankkontrollen.
rungsmaßregeln wenigftens für die Pfandbriefbefiter die Verfufte glücklicher:
weije einichränten, — wenn alles gut gebt; in welchem Maße, hängt immer
nod; von mandherlei veränderlichen Faktoren ab. Ohne Berlufte, mindeftens
für eine Zeit lang an Zinien, wird es für die Pfandbriefbejiger kaum abgehen.
Die Unficherheit aller Wertihätungen bei den hypothekariſch als Dedung der
Pfandbriefe dienenden Grundjtüden hat ſich jchon bisher gezeigt, wie zu eriwarten
war, fo in den verjchiedenen Ergebniſſen, welche die Nevifionen, darunter auch
ſolche von ſtaatlichen Auffichtsorganen, in diefer Hinficht geliefert haben. Ein
Beleg für die Unficherheit des ganzen Gejchäfts der Oypothefenbanfen. Dauert
die abiteigende Konjunktur im allgemeinen Wirtichaftsleben, in die wir feit
Mitte 1900 unzweifelhaft eingetreten find, länger an und greift fie tiefer, was
beides zwar nicht gewiß, aber, aud) verbleibende politiiche Ruhe vorausgefekt,
nicht unwahrscheinlich ift, jo werden vermutlich ned) manche Enttäufchungen bei
den Werten großftädtiicher Grundjtüde, vollends der Bauterrains — aber aud)
bei den im Wert ſelbſt im ‚„Feuerkaſſenanſchlag“ überſchätzten Häuſern erlebt
werden. Jedoch auch unter günftigeren oder günftiger werdenden allgemeinen
Wirtſchaftsverhältniſſen jind erhebliche Berlufte, in verfchiedenem Grade freilich
bei den einzelnen Banfen und Anduftrieunternehmungen, ſchwerlich ausgeichlofien.
Nur nad dem gegenwärtigen Stand der Dinge (Anfang Auguft 1901) ver:
anfchlagt, ergeben Sich für einige der wichtigiten Fälle des Zuſammenbruchs fol-
gende Schäßungen des Berlufts, auf Grund der Materialien in den Salingjchen
Boörfenjahrbühern und nad den Surszetteln. Die Zahlen liefern mwenigitens
ein ungefähres Bild der Verwüſtungen in Vermögen der betroffenen Aktionäre
und Gläubiger. Es find dabei die Berluite nach dem ungefähren Kursſtand in
neuerer Zeit (1898— 1900) vor der Kataſtrophe verglichen mit dem gegemmärtigen
Kursſtand (Anfang Auguft 1901) in abgerundeten Summen berechnet.
Verluſt in Millionen Mark am
Altienkapital Pfandbriefkapital
am Nennwert am Kurswert am Nennwert am Kurswert
Preußiſche Hypotheken—
Aktienbank. . . . 19,5 26,5 75 66
Deutiche ®rundichuldbanf 9,7 12,7 57,0 56,2
Pommerſche Hypotheken:
Aetienbanf. . . . 11,5 17,5 38,9 37,4
Medlenburg Streligiche
Hypotheken-Bank . 10 14 12,6 12
Sa. d. 4 Hypoth.Bank. 50,7 70,7 184,1 171,6
Dresdener Kreditanftalt 175 255 —
Leipziger Bank. . . . 45,5 69,5 —
Summe d. 6 Banken . 1137 165,7 — —
Adolph Wagner, Bankbrüche und Bankkontrollen. 77
So ergäbe ſich nur bei dieſen ſechs Banken für die Aktionäre ein Ver—
luſt am Nennwert der Aktien von rund 114, am früheren Kurswert von
166 Mill. M.; für die Pfandbriefbefiker ein VBerluft von ca. 170—180 Mill. M.;
fir beide zufammen alfo von 334—344 Mil. M. im Verlauf von nod) nicht
einem Jahre. Diefer Berluft ift ja nicht durchaus ein reeller, er kann ich bei
Wiedergefundung einzelner der Anftalten, befonders der Oypothefenbanfen, wozu
erfofgreihe Schritte geichehen find, ermäßigen, der Kurs der Pfandbriefe und
jelbit der der Aktien kann wieder jteigen. Aber der Verluſt kann möglicher:
weile auch noch größer werden. Jedenfalls ift er fir denjenigen Befiter ein
veeller, welcher zu den jeßigen oder zeitweife vordem jelbit noch fchlechteren
Kurſen verkaufte, jei es aus Notwendigkeit und Geldbedarf, fei es aus Mengft-
lichkeit und um ſich den Ipefulativen Kursſchwankungen zu entziehen — und fo:
gar in Pfandbriefen der nutleidenden Banken bat ſich alsbald ein Differenz:
geichäft an der Börſe angefnüpft. Zu dem berechneten Verluſt fommt aber
ein ebenfalls noch nach Millionen zählender jchon bei den Gläubigern der Leip-
iger Bank allein, der übrigen Eleineren in Berfall geratenen Banken nicht zu
gedenken. Die Leipziger Bank bat mit ca. 2 Mill. M. Verbindlichkeiten gegen
Dritte, denen feine realifierbaren und großenteil® nur wertlofe Forderungen
gegenüber ftanden, ihre Zahlungen eingeftellt.
Aber ſelbſt die Kurſe der Aktien und der Brandbriefe anderer deuticher Banken,
jo ziemlich aller, auch der jolideiten, haben wenigſtens zeitweife unter dem Ein—
druck gelitten, welchen die Enthüllungen bei den befprochenen Banken hervorriefen,
weil man fürdjtete, dat Mehnliches auch bei noch feitftehenden Banken vorgekommen
jet oder vorkommen könne, wenn ed auch noch nicht befannt geworden jei, und
daß wenigitens auch diefe Banken von den Berluften an den zujammenge-
brochenen Banfen und vollends den induitriellen Unternehmungen mit betroffen
werden fönnten. Abgejehben von dem namentlich für Aktien überhaupt ungünſti—
gen Einflujfe der nach maßloſen Spekulationserzejfen, wie ſtets, ſtark herabgehen—
den wirtichaftlihen Konjunktur find durch die Ereigniſſe bei den erwähnten
Banken daher allgemeine Kursverlufte bei anderen Banfen eingetreten, die
wieder in die Millionen geben, in Summa mit den oben berechneten zuſammen
jicher in die vielfachen Hunderte von Millionen Mark.
sreilich find das ja nun zunächſt nur private VBermügensverlufte umd
Renteneindbußen. Ob und wieweit wirklich volfswirtichaftliche Verluite, d.h.
jolhe am eigentlihen Nativnalvermögen, ſteht noch dahin, da hierfür die
Kursitellung der Wertpapiere nicht das Beftimmende ift. Der eigentlich volks—
wirtichaftliche Berlujt an werfthätigem Nationalfapital, das im Wert vermindert
wird, fich zurüdzieht und brach liegt, der Berluft am Nationaleinfommen, weil
Arbeitskräfte infolge diefer Vorgänge nicht beichäftigt werden, ergiebt ſich erit
aus der Weiterwirfung folder GEreigniffe, wie den bei den Banken vorge:
78 Adolph Wagner, Bankbrüche und Bankkontrollen.
fommenen. Die von diefen bisher direkt und indireft mit Kapital unteritütten
Unternehmungen gehen jett ebenfall3 zu Grunde, weil ihre bisherige Kredit:
quelle verfiegt, oder müſſen ihre Gefchäfte deswegen einfchränfen. Eine ganze
Anzahl Konkurfe von Snduftrieunternehmungen war bereit3 die Folge der Kr:
eigniffe bei der Dresdner Streditanftalt und der Leipziger Bank. Hilfsaftionen,
wie fie von den großen Berliner Banken durch Gründung von Filialen u. |. w.
eingeleitet worden find, 3. B. in Sachſen, find daher audy gewiß richtig und
wertvoll, um die Weiterwirfungen folder Banfkrifen zu hemmen. Wieweit
mit Erfolg, muß fich freilich erft zeigen.
Auch die privaten Vermögens: und Einktommensverlufte, wie bei notwendig
werdenden Zinsfußreduftionen der Pfandbriefe und Dividendenkürzungen der
Aktien, haben indeflen eine da8 allgemeine Intereſſe berührende Seite. Am
ihlimmften in diefer Dinficht und überhaupt find bier die Vorfälle bei den
Hypothekenbanken, joweit fie die Pfandbriefe betrafen, und, wenn auch jchon
nicht in gleihem Maße, bei den Effektenbanken — binfichtlid der privaten, aus
nicht-gefchäftlichen Kreiſen ſtammenden Depofitengelder u. dgl. anzufehen.
Zugleich tritt hier der Bruh von Treu und Glauben in feiner gemeinihäd-
lichen Wirkung befonders fcharf hervor. Denn die bier betroffenen Kreife find,
zumal bei den Pfandbriefanlagen, großenteil3 diejenigen mittlerer und Eleinerer
Kapitaliften, denen e8 gar nicht auf Gewinne aus Kursdifferenzen, ſondern
fediglih nur auf fihere, meiftens dauernde Anlagen ihrer Erjparnifje zu
mäßigen Zinsfuße ankommt. Es it auch ein volfswirtfchaftliches Inter
ejle, daß diefen Streifen Gelegenheit gegeben wird, ihr jo ich bildendes fleines
Vermögen fiher anzulegen und es fo der foliden nationalen Produftionsthätig-
feit durd; Bermittelung der Banken zuzuführen, außerhalb der unjoliden Speku—
lationen de3 Börfengetriebes und vielen Aktienweſens. Deutſche Staatöpapiere
find für derartige Anlagen bei der relativen Kleinheit der deutfchen Etants-
ichulden nicht ausreichend, unterliegen in der heute verbreitetiten Yyorm der
Rentenfchuld feiner regelmäßigen Tilgung al pari und damit Feiner davon
mit bedingten Sicherung des Kurfes, haben in den legten 2—3 Jahren befannt:
ih auch erhebliche Kurseinbußen infolge der allgemeinen Bewegung des
Zinsfußes erlitten, von denen fie fich erft in neuejter Zeit wieder erholen. Won
landfchaftlihen Pfandbriefen gilt 3. T. Gleiches, namentlich, daß auch fie nicht
für das Anlagebedürfnis jener Sapitaliftenkreife ausreihen. Die nach den
Kurfen, auch bei ruhigem Geldmarkt und in der Zeit hoher Kurje bis 1898, eine
Kleinigkeit höhere Verzinfung der Bankpfandbriefe gegenüber Staatspapieren und
meiftens etwas aud; gegenüber landſchaftlichen Pfandbriefen fällt bei Eleineren
und mittleren Kapitaliſten namentlid) ſeit der allgemeinen ftarfen Ermäßigung
des Zinsfußes in den letten Jahrzehnten mit ins Gewicht. Die Zinsreduftionen
der Staatöpapiere und aller Pfandbriefe, welche gerade auch die deutjchen
Adolph Wagner, Bankbrüche und Bankkontrollen. 79
Sppothefenbanken unter Anwendung ihrer Machtftelung gegenüber den Pfand-
briefbefigern noch faft bis in die Tage des Beginns der finfenden Kurſe (1897)
hinein rückſichtslos forciert haben, find für diefe Kapitaliftenkreife ohnehin ſchon
oft befonder3 empfindlich für Einkommen und Lebenslage gewejen. Individual—
opothefen find in Eleineren Boften, gerade mit unter der Konkurrenz der
Hypothenbanken, Berficherungsanftalten, Sparkaffen für ihre hypothekariſchen
Beleihungen, in genügender Menge und erforderlicher Güte dem Privatmann immer
ſchwerer erlangbar geworden, vollends in großen Städten, wo hierfür auch die
erforderliche Perjonalfenntnis zu erwerben ſchwierig if. So war der Bank—
Prandbrief für die Kapitalanlagen der genannten Kreife in den legten Jahren
immer mehr ein wahres Bedürfnis geworden. Das zeigt ſich auch in der riefigen
Ausdehnung diefer Pfandbrief-Emijfion, deren Betrag vom „Deutfchen Oekonomiſt“
für Ende 1900 auf 6504 Mill. ME. gegen bloß 3721 Mill. ME. Ende 1892
berechnet wird. Sind es, wie die neueften Enthüllungen gezeigt haben, aud)
mancdherlei unlautere Mittel geivefen, mit denen mande Banfen den Bertrieb
ihrer Pfandbriefe in die Wege geleitet haben, fo liegt doch der Entwidlung
ftiher ein reelle8 Bedürfnis des Kapital zu Grunde und ift fie auch volf3-
wirtichaftlih vielfach al3 eine erwünſchte anzufehen. Someit die Banfen
nämlich folide Ausleihungen machten, wirklihe Baubypothefen gaben oder
auf bejtehende, ertragsfähige Häufer liehen und jo andere Kapitalien öfters für
andere produktive Zwecke flüffig machten, zu ländlichen Meliorationen Geld
lieferten, .. fann die Funktion der Hypothekenbanken auch al3 eine volfs-
wirtfchaftlih günftige gelten. Diefe Funktion wurde den Banken aber erit
durch die Pfandbrief - Musgabe ermöglidt. Wo freilich direft und indirekt,
durch Bermittlung von Zwifcheninftanzen, durch Schiebungen unter geichäfts:
verbundenen anderen Banken, wie in dem Falle der Spielhagengruppe, der
Pommershen und Medlenburg-Strelitihen Bank, weſentlich Terrainſpeku—
lationen felbjt getrieben oder für andere vermittelt wurden, bat eine fchlimme
Mikleitung des in den Pfandbriefen herangezugenen BPrivatfapitals ſtatt—
gefunden, wie fich leider nunmehr vielfach gezeigt hat.
Diefe mittleren und Eleineren Kapitaliftenfreife find nun durch die Vor:
gänge bei den Hypothekenbanken auf das jchmählichite getäufcht worden. Gie
haben auch nicht, wie doch wenigitens die Aftienbefiger, in jahrelangen hohen
Rentenbezügen wenigftens einen Ausgleid für die jegigen Verlufte gehabt.
Hier macht fich denn auch eine ftarfe Erfchütterung des Vertrauens in die
ganze Inſtitution des Aktien-Hypothekenbankweſens mit feiner Eolofjalen Pfand:
brief:Emiffion geltend. Die Ausweiſe, die Bilanzen, haben fich 3. T. als falſch
erwiejen, die hypothekariſchen Beleihungen beitenfall3 als vielfach, leichtfinnig,
viel zu hoch. Die Befürdtungen in leßterer Hinsicht, welche noch vor 2—3 Jahren
Dr. Baul Boigt auf Grund feiner Unterfuhungen der Berliner bezüglichen
80 Adolph Wagner, Banfbrüche und Banfkontrollen.
Berhältniffe geäußert, Befürchtungen, gegen die damals die fämtlichen Hope:
thefenbanten Proteſt erhoben Hatten, die man auch amtlich als unbegründet
bezeichnet hatte — jie find wenigſtens im aanzen offenbar nicht über:
trieben geweien. Die Staatsaufficht, auf welche Banken zu Reklame—
zweden bingewiefen haben, hat die nunmehr notoriich gewordenen Schäden und
Berfehlungen nicht verhütet, nicht einmal jelbft rechtzeitig aufgededt. Auch über
den Kreis der notleidend gewordenen Öypothefenbanfen hinaus jind Praftifen
befannt geworden, von denen tvenigitens tweitere Kreiſe, zumal die der gewöhn
lichen privaten Pfandbrieferwwerber, nicht3 wußten. 3. B. die Praktik, daß die
Banken jelbit durch Anterventionsfäufe und Aufnahme ihrer Pfandbriefe, wenn
fih aerade feine anderen Käufer fanden, die Kurſe ihrer Papiere hielten, Diele
Kurfe daher zum Teil nur Eünftliche waren, öfters wohl zu hohe. Diele Kurie
wurden nım aber von den Banfen wieder dazu benutst, um immer neue Maflen
Pfandbriefe ins Publifum zu ſolchem Kurſe zu bringen, um vermittelnden
Banquiers überhohe Brovifionen zu gewähren, um Zinsreduftionen mit durchzu—
jegen. Ob bier eine von allen Banken geübte Praris beitanden hat und wie
weit jie ausgeübt worden ijt, mag nod; fraglich fein, aber daß nicht nur die
„verkrachten“ Banfen jo vperierten, jcheint feitzuftehen. So bat fich hier ein Krebs—
Ichaden offenbart. Und wie fühlten ſich diefe Banken doch alle gefränft, wie em-
phatifch traten ihre Preßklientel und fonftigen Soldfchreiber für fie in die Schranten,
als ihren Pfandbriefen von der preußiichen Gefeßgebung die Eigenichaft der
Mündelſicherheit verfagt blieb (bis auf ihre fogen. Kommtunalobligationen), eine
Eigenschaft, welche landjchaftliche Pfandbriefe und in einigen deutfchen Ländern
auch Banf-Pfandbriefe befiten. Welche Triumphe hätte der arme Dr. P. Boigt
jeßt gefeiert, der. damals von diefer Prejfe und von den Banken und ihren
Brojchürenschreibern verunglimpft wurde! Wie ſehr wurden in denfelben reifen
manche Beſtinnnungen de3 neuen Reichs-Hypothekenbankgeſetzes (vom 13. Juli
1899) angegriffen, noch ftvengere, aber durchaus notwendige, zu bintertreiben ge-
jucht, weil ſie ein „ungerechtfertigtes Mißtrauen“ gegen die Oypothefenbanten
verrieten, „das Geſchäft zu ſehr hemmten“; 3. B. die Beitimmung über die nur
beichräntte Zulafjung von Hypotheken auf Baupläße und noch nicht fertige und
noch nicht ertragsfäbige Neubauten zur Pfandbriefdekung, im genannten Ge:
ſetz $ 11, Abſ. 3, eine Vorſchrift, die jelbit ein fo eminenter, mit Recht hoch—
angejehener Fachmann, Theoretiker wie Praktiker, wie der Direktor der Rheiniſchen
Hypothekenbank in Mannheim, Dr. Hecht, eine „allzuängitliche, der Entwidlung
des deutjchen Städteweſens nadjteilige” nennt, während man wohl einwenden
kann, Nie kommt gerade durch Beichränfung der Bauftellenipekulation auch dieſer
Entwidlung zu aute Bei der Pommerſchen und Medlenburg: Strelitichen
Hypothekenbank hat ſich jetzt gezeigt, wie es nit dem Wert folder Hypotheken
iteht. Welche mehrfach gehäſſige und ſachlich unrichtige Polemit haben einzelne
Adolph Wagner, Bankbrüce und Banklontvollen. 81
Organe der Börſenpreſſe und „Spezialiſten“ darin gegen die Landſchaften und
zu gunſten der Hypothekenbanken geführt. Da wurde die Sicherheit der land—
ſchaftlichen Pfandbriefe verdächtigt, die Wertloſigkeit des genoſſenſchaftlichen
Haftbarkeitsprinzips dabei proklamiert, der Vorzug der kulanten Geſchäfts—
führung der Hypothekenbanken, die beſſere Sicherheit der Pfandbriefe derſelben
wegen der Mithaftung von Aktienkapital und Reſervefonds neben den Hypotheken
prahleriſch gerühmt! Jetzt ſind in mehreren der erwähnten Fälle ſolche Kapitalien
und Fonds durch Mißwirtſchaft dahin geſchwunden und die hypothekariſchen
Deckungen haben ſich ſelbſt, wenigſtens teilweiſe, als faul oder unzureichend
erwieſen. Beim Vergleich zwiſchen dem genoöoſſenſchaftlichen Pfandbriefweſen der
Landſchaften, wo reelle Kreditbedürfniſſe befriedigt, aber nicht immer erſt künſtlich,
um Gewinne aus Proviſionen und ſonſt bei den Darlehnsgewährungen und Pfand—
briefausgaben zu erzielen, erweckt werden, mit dem ſogenannten Pfandbriefweſen
der Hypothekenbanken wird man nach den neueſten Vorgängen wohl wieder zu
dem gleichen Ergebnis wie auf dem Verſicherungsgebiet kommen: die genoſſen—
ſchaftliche Organiſationsform iſt in beiden Fällen die ſolidere, ge—
ſundere, privat- und volkswirtſchaftlich verdient ſie den Vorzug vor
dem Aktiengeſellſchaftsweſen. Es fallen bei jener nicht die unmäßigen und
unlauteren Gewinne für Direktoren, Aufſichtsräte und Preßtrabanten ab wie
bei diefen. Davon ließe ſich nad) mandem, was nunmehr befannt geworden
it, ein Lied fingen. Sch wenigftens fehe meine dem Aktien: Bank: und Ver:
jiherungswefen feit lange vielfach nicht eben günftige Auffaflung durd die
neueften Vorfälle nur zu jehr bejtätigt, wobei ich gewiß wichtige Ausnahmefälle
anerfenne und nicht völlig generalifieren will. Wie oft aber bin id; wegen diejer
Stellungnahme in der Frage angegriffen, förmlich verunglimpft worden. Der
Doktrinär“, der „Stubengelehrte”‘, der „graue Theoretiker“ hat duch gegenüber
dem ‚Realiſten“ und „grünen Praktiker“ wieder einmal recht behalten.
Leider! Denn der Vertrauensbrud, der auf den Gebiete des deutjchen
Oppothefenbanfwejens in den oben erwähnten Fällen Eund geworden ift, hat zahl:
oje ehrenwerte Elemente jchuldlos ruiniert oder jchwer geichädigt und die ganze
Inſtitution des Hypothekenbankweſens diskreditiert. Darüber kann leider fein
Zweifel jein. Diefe Vorfälle bei diefen Banken find wirtichaftlich und moralisch
daber auch beſonders ihlimm zu beurteilen, fie ſollten auch ſtrafrechtlich
am jchweriten getroffen werden.
Aber was wird in leterer Beziehung viel mehr heraus fommen, als
höhftens ein paar Jahre Gefängnis für die Schuldigen, was aud) neben der
eigenen Vermögensſchädigung diefer Perfonen feine genügende Sühne, zumal für
Yeute höheren jozialen und Bildunasitandes ift. Wie mander arme Teufel, der
durch Schlechte Erziehung von Jugend auf, böſes Beiſpiel u. j. w. auf Abwege
6
32 Adolph Wagner, Bankbrüche und Bankkontrollen.
geraten, büßt im Grunde leichtere und nicht ſo gemeinſchädliche Verfehlungen
mit weit ſtrengeren Strafen, Zuchthaus u. ſ. w.
Auch die Verluſte, welche Privatperſonen, darunter hier vornehmlich die
nicht-geſchäftlichen verſtanden, an Depoſitengeldern u. dgl., an Guthaben
im Contocorrentverkehr bei Banken, erleiden, wie vermutlich bei der Leipziger
Bank, haben doch ebenfalls eine das allgemeine volkswirtſchaftliche
Intereſſe berührende Seite. Daß ſich wenigftens das wohlhabendere Privat-
publifum auch bei uns mehr an die Benutzung von Banken zur Kafjenführung
und Zahlungsvermittelung gewöhne, iſt wegen der Rückwirkung davon auf ordent-
lihe Buchführung im Privathaushalt, wegen der wünjchenswerten Stonzentration
und der aeichäftlichen Verwendung von ſonſt brachliegenden Kaſſenbeſtänden
durch Banken erwünſcht. Die engliihe Sitte hat bier viel für fih. Benutzung
von Checks zu Zahlungen von jeiten der Privaten kann fih daran anschließen.
Erhebliche Geldbeträge werden jo dem Verkehr, der Produktion durch Ver—
mittelung der Banken zugeführt. Berzinfung, wenn auch nur eine mäßige,
braucht aber dabei und ſollte für die Depofiten- und Kontocorrentgelder nicht
fehlen. Gelegenbeit zu derartigen Einlagen zu geben, ift alio ein allgemeines,
auch volfswirtichaftlicies Defiderat. Auch, wiederum nad dem großen
britiichen Mufterbeiipiel, müßig liegende Geldſummen öffentlicher Kaſſen bei
Banken in ähnlicher Weile anzulegen, ift zwedmäßig. Aber eine unbedingte
Vorausſetzung it dabei Freilich immer: Sicherheit der Anlage in der Banf und
die PVorausießung diefer Sicherheit it wieder: entiprehende Geſchäfts—
führung der Bank.
Die wilfenichaftliche Banktheorie hat mit Necht ein zuerit von der britischen
Banfpraris aufgeltelltes Dauptgefeß für den ökonomiſch-techniſch richtigen Bank:
betrieb jo formuliert: „eine Bank (im modernen Sinne der Worts, alfo eine Kredit—
bank) darf im weientlichen nur ähnlichen Kredit — „nur gleichen‘ zu jagen,
geht zu weit — geben, wie ſie nimmt.“ Dagegen haben 3. B. die Peipziger Bank,
die Dresdner Nreditanitalt in gröbfter Weile verftoßen. Much eine andere praf:
ttiche Hegel hat die Theorie übernommen: „eine Bank muß ihre Musleihungen
verteilen, nicht zu viel bei Einer Berion, Einem Unternehmer anlegen." Auch
dagegen haben jene Banken verftoßen. Dieſe Verſtöße verurfachten jett, wie
jtet3 früher, den Ruin, ımd dagegen muß der private Deponent zumal ge:
jichert fein.
Die Reichsbank it troß ihres großartigen Filialenſyſtems nicht aus-
reichend, die betreffende Funktion einer allgemeinen Depoſitenbank zu erfüllen,
ihr Betrieb auch wohl dafür etwas zu ſchwerfällig und ſie giebt, wie die anderen
großen europäiichen Gentralbanfen, feine Zinfen auf ſtets fälliges Geld. Ob
nicht eine Entwidlung dieſes Geſchäftszweiges mit verzinslicdhen Depofiten, ſtets
fälligen wie an kurze Nündigungstermine gebundenen, für die Reichsbank ſelbſt
Adolph Wagner, Bankbrücde und Banflontrollen. 83
zwedmäßig wäre und ihre zu befchränften Mittel pafjend vermehren würde, aber
zugleich dem angedeuteten allgemeinen Bedürfnis und Intereſſe entjpräche, wäre
wohl einmal genauer zu erwägen. Ich bin geneigt, die Frage zu bejaben.
Das gewöhnliche private Banguiergeichäft bietet die Gelegenheit zu
Depofiteneinlagen für das private Publifun allerdings auch und bat dielen
Zweig jeit lange gepflegt. Aber gerade im Punkte der Sicherheit und vollen
Bertrauenswürdigkeit entjtehen doc Zweifel, ob bier alles den zu ftellenden
Anforderungen entipricht, zumal, im Gegenfat zu England, unſer Banquiertum
auch zu viel auf eigene Rechnung jpefuliert, dem Börjentreiben zu nahe ſteht
und — in verhängnisvoller Weife feine Kunden in dies Treiben bineinziebt.
Große folide Aftienbanfen mit öffentlicher Nehnumaslegung und Bilanz-
publifation wären für die Entwidlung diefes „privaten" Depofitengeihäfts im
engiten Sinne an ſich bejonderd geeignet. Aber leider haben wir feine jolche
Banfen, welche, nad; dem britiichen Vorbild, fich auf diefes Geichäft und auf die
ihm allein entſprechenden Aktivgeſchäfte, die ſolide Wechieldisfontierung und
Lombardierung, beſchränken. Es find fait nur unfere großen und FEleineren
Effeftenbanfen, welche diefe Privatdepofiten annehmen und — zum Teil
wenigjtens — mit in ihren mannigfachen Anlagegeichäften, ihren Kommiſſions-,
Gründungs-, Effekten-, „diverje Debitoren’-Gejchäften anlegen. Gewiß verfahren
die beiten dieſer Anftitute hier mit der notwendigen Vorſicht, Halten ent:
jprehende Barbeftände und wirklich raſch und ficher und leicht realifierbare,
liquide Aktiva, um allen Anforderungen ihrer Gläubiger, ihrer Deponenten
u. ſ. mw. ftet3 gerecht werden zu können. Aber es liegt in der Natur diefer
Gffeftenbanfen, mit ihrer großartigen Thätigkeit auf dem Gründungs- und
Emijfionägebiete, im In- und Muslande, bei jeder fehlenden gejeglichen Be:
ſtimmung über die Dedung der Paſſiva und über die betreffenden Nftiogejchäfte,
bei der fehlenden Trennung der verichiedenen SKategorieen der Balliva und
Aktiva, der einfachen Mitanlegung des eingezahlten Stammkapital und des
oder der Mefervefonds in den allgemeinen Geichäften, daher der Gejamt
jumme der Aktiva — daß eben eine genügende Sicherheit für die aus Depo
fiten u. ſ. w. bejtehenden Paſſiva nicht immer vorhanden ift, weder für die,
den vertragämäßigen Bedingungen entiprechende oder an kurze Kündigungs—
termine gebundene Rüdzabhlung, noch jelbjt für die Verhütung von defini—
tiven Berluften. Das zeigt auch das Yeipziger Beiipiel. Namentlich die Ab-
hängigfeit der Effeftenbanfen von der allgemeinen Lage des Geldmarktes, des
Kredit, der Konjunkturen, die regelmäßige intenfive, aber auch faſt immer für
fie ſelbſt überfpannte und die WVolkswirtichaft überſpannende Thätigkeit dieſer
Banken in Emiffionen und Gründungen in der Zeit der Hochkonjunktur, die
Feſtlegung eines großen Teils des eigenen Kapitals und beträchtlicher Beträge
des ihnen in verichiedenen Formen geliehenen fremden Stapitals in mehr oder
6*
84 Adolph Wagner, Bankbrüce und Bankkontrollen.
weniger unrealifierbaren oder nur fehr allmählich realifierbaren Anlagen, von
Ichlechten Anlagen gar nicht zu reden, die Rückwirkungen dann der finfenden
und der ſchlechten Konjunktur — alles das find PVerhältniffe, welche die bank—
techniſch und wirtfchaftlich wirklich befriedigende Funktion der Effeftenbanfen
überhaupt, io vollends als Depofitenbanfen beeinträchtigen. Das hat man
jeit lange bei uns erkannt, aber es ift weder legislativ noch fpontan etwas zur
Neform geichehen. Bedenken, wie fie jüngft wieder in einer Brofchüre
Dr. Lindenberg hervorgehoben hat, find daher ganz begründet (Die Gefahren im
deutichen Bankweſen, 1901).
Ich babe das ebenfall3 feit lange To angefehen und mich demgemäß ge—
äußert, wie ich denn überhaupt der wirtichaftlihen Thätigkeit der Effekten—
banfen etwas jfeptifch gegenüber ftehe, bei aller Anerfennung ihrer in ge
wiffen Maße zuzugebenden Lmentbehrlichfeit in unferen heutigen Wirt
Ichaftsorganismus, wie er namentlich in Deutichland beiteht, und bei gern von
mir eingeräumter Achtung vor den Leiftungen einiger unferer größten umd
tüchtigiten diefer Inſtitute. Aber die Hypertrophie des „Anduftrieftaats”, die
Ueberſpannung der Hochkonjunktur, „die Beteiligung an den verjchiedenartigften
Spefulationsgefchäften, darunter an den bedenklichiten, wie ſolche an heimischen
Srundftüdsfpekulationen, erotiichen Giniffionen, feiner Zeit an Spekulationen
in ruſſiſcher Valuta, findet ſich gerade bei den bdeutichen Effektenbanken.
Die großen verhängnisvollen Schwankungen im Erwerbsleben befördern ſie
durch Begünitigung der lleberipekulation in der Zeit der auffteigenden Konjunktur,
durch Unterftügung der Börfengefchäfte, durch neue Gründungen und Ummand-
(ungen, durch Kapitalerhöhungen, worauf dann der Rüdjchlag um fo ftärfer
werden muß." Dieje von mir im Jahre 1896 gefichriebenen Süße aus meinem
Vorwort zur Schrift meines — wie P. Boigt in den Alpen verunglüdten —
Schülers BP. Model „die großen Berliner Effektenbanken“ (1896), haben jie durd)
die Ereigniffe in der letten Daufjeperiode und in der gegenwärtigen Periode des
Rückſchlags nicht ihre volle Beftätigung gefunden? mr allgemeinen ımd noch in
ganz bejonderem Maße durch die Vorgänge bei der Dresdner Ereditanitalt und
vollends bei der Yeipziger Bank, wodurch zugleich das geſamte Depofitengeichäft
diefer ganzen Kategorie der Effeftenbanfen in der öüffentlihen Meinung einen
ftarfen Stoß erhalten hat? Das ift auch wieder eine volfswirtichaftlich üble
Wirkung diefer Vorgänge:
Die Leipziger Bank iſt ein altes, ſchon 1839 als Notenbank errichtetes
Inſtitut, das früher durchaus folide und fat etwas pedantijch ängſtlich geleitet
war. Die Bank hat fchon 1875 nach dem Erlaß des Reichsbankgeſetzes das ihr
danach noch verbliebene Notenrecht aufgegeben, um fich nicht den ftrengeren
nennen Beftimmmngen für die Sefchäftsführung der Notenbanten unterftellen zu
müljen. Sie ift dann mehr und mehr und vollends in ihrer neueſten Entwidlung,
Adolph Wagner, Bankbrüche und Bankkontrollen. 85
unter ihrem Direktor Exner, eine Effektenbank mit dem üblichen weiten Geſchäfts—
kreis einer ſolchen geworden. Ihr Aktienkapital von 48 Mill. M. war noch 1898
um die Hälfte erhöht worden, wobei 16 Mill. M. neue Aktien mit einem Agio
von 550/, begeben worden find. Die Bank hatte außerdem einen Reſervefonds
von mehr al3 einem Viertel ihres Kapitals, 14,07 Mill. M. und einem Spezial-
rejervefonds von I Mill. M., fie hatte in den letten Jahren 10, nod für 1900
90%, Dividende vertheilt, der Aktienkurs, früher 180—1% und höher, war nod)
Ende 1900 163 und noch im uni 1901 über 140. Diefe Bank ftellt, völlig un-
erwartet, am 25. Juni 1901 ihre Zahlungen ein und gerät bald darauf in
Konkurs, namentlich weil fie einen viel zu großen Teil ihrer eigenen und
erborgten Mittel, noch 17 Mill. M. über ihr ganzes Stammkapital und ihre
Rejervefonds hinaus, in dem Kaſſeler Trebertrodnungsunternehmen, einem völlig
ichwindelbaften Betriebe, feitgelegt hatte, in Widerjpruch mit jenem oben hervor:
gehobenen Grundfag für den Bankbetrieb. Ihr Aktienkurs ſank gleich nad)
Bekanntwerden der Zahlungseinftellung auf des bisherigen und fteht jeßt
(Auguft) — unter 5, wenig über halb jo hoch als noch die lettjährige Divi-
dende. Außer Privaten haben zahlreiche Geichäftsleute, auch öffentliche Kaſſen
(Sadien, Weimar), Städte (Leipzig), Stiftungen ihre Guthaben im Eontocorrent:
verkehr der Bank und aud in Aktien der Bank, die al3 „beites Anlagepapier“
galten, ihr Vermögen mit angelegt gehabt, was nun alles oder zum großen
Zeil verloren ift. Müſſen ſolche Erfahrungen nicht das allgemeine Bertrauen in
diefe Art Banken erfchüttern, wenn auch bei der Leipziger Bank ganz uner—
hörte, in diefer Art glüdlicherweife Faum noch wieder vorfommende Berhält-
niſſe beitanden haben?
Aus der vorausgebenden Diagnofe und Kritik laſſen fic einige allgemeine
Ergebniſſe ableiten und einige Neformanforderungen, befonders betreffs der Ver—
beijerung der Bankkontrollen, aus den neuen Erfahrungen abermals begründen.
Darüber joll fi ein zweiter Artikel verbreiten.
Artifet IT im nächſten Heft
5
NININ IN ITR IN TAN N IN N IN
Wilhelm Raabe.*)
Don
Adolf Stern.
D: weife Seneca, nicht der römische Philoſoph Lucius Annäus Seneca, nero:
nischen Angedenfens, fondern der ehemalige Göttinger Korpsftudent und der-
zeitige vegierende Bürgermeifter von Wanza an der Wipper, Derr Ludwig Dorften,
eine der fchier unzähligen prädjtigen und lebensvollen Geftalten, die Wilhelm Raabe
geſchaffen hat, erklärt es für den Gipfel der Weisheit, feinen Stoifermantel mit
dem fröhlichen Burpur des Vergnügens an der Welt zu färben. Mit diefem Maßſtab
gemejjen, als einer der jeltenen Menſchen betradjtet, die, mit bewußtem und un—
bewußtem Berzicht auf alle Nichtigfeiten, nach denen Millionen haften und meift
bis zum legten Atemzug vergeblich lechzen, ficd) dennoch die Luft an des Lebens
echter Herrlichkeit nie verfümmern ließen, hat der Dichter Wilhelm Raabe nicht
bloß in gutem Augenblid einen Gipfel der Weisheit erflommen, jondern er iſt
ein halbes Nahrhundert lang auf und über allen Gipfeln gewandelt, die man fo
benennen mag. Auch gewanır es angefichts des heutigen Feſttags gar jehr den
Anſchein, als ob der Denker, der Philoſoph, der liebevolle, ſcharfſichtige Beob—
achter alles Menfchenwefens, zumal alles deutichen Weſens, der Kulturhiſtoriker
des Halbjahrhunderts zwiſchen 1820 und 1870, vor dem Dichter und kräftiger als
der Dichter geprielen werden follte. Der unauslöfchlihe Durft der Gegenwart
über alles Gewachſene, Natürliche, Lebendige hinaus, phantaftiiche Zukunftsbilder
nicht etwa zu erträumen, fondern mit Prophetenficherheit zu offenbaren, verführt
jelbft Eluge Yeute dazu, das gewiſſe Gut mit Geringihätung, das erhoffte aus
der Lotterie einer neuen Welt mit fchrwindlerifcher Uebertreibung in Rechnung zu
jtellen. Als ob es nicht genug wäre, an einem Dichter, defjen große und reiche
Weltanschauung des Yebens Abgründe jo qut erkannt hat, wie feine lichten Höhen,
deſſen Ichaffende Phantafie ihn weit über feine unmittelbaren Umgebungen bin:
wegträgt, dejien Yiebe zum deutichen Volke ihn gleichwohl feit im Heimatboden
wurzeln, ja feine Wurzelfafern in der Tiefe fortipinnen läßt, foweit ein Stüd
deutichen Budens reicht — als vb irgendwer das ganze Verdienit ſolcher Natur
und folcher Yebensarbeit jchon ergründet hätte, möchte man mit überflüfliger
) Feſtrede zum Feier don Wilbelm Raabe's ſiebzigſtem Gebnrtstane.
Adolf Stern, Wilhelm Naabe. 37
Voriorge den gedanken: und jinnvollen Erzähler zu einem geitigen Etwas
itennpeln, das Beſtand und Geltung haben kann, wenn eine künftige deutiche
Welt feiner Dichter mehr bedürfen und feinen mehr ehren wird. Wahrlicdh unter
den Geftalten leßter Dand, die auf Raabes humoriſtiſche Meifterdarftellung noch
barren, follte der Eritifche Fernſchauer nicht fehlen, der die jchattenden Bäume
umbadt und feine Lauben mehr um ſich duldet, weil ja doch unfehlbar, man
weiß nur nicht genau wann, dermaleinjt die Eiszeit hereinbrechen wird. So
ſehr bat dies Geichlecht Sich dem Reſoluten, einfah Schönen entwöhnt, daß. ihm
der Gedanke, die Dinge beberzt und einfach zu erfaſſen und ſchön auf ſich wirken
zu laflen, viel ferner liegt, als die ſeltſamſte Grübelei.
Deute und an diejer Stelle jedoch jind wir hoffentlich diefer Gefahr entrüdt.
Da die Feier des fiebzigften Geburtstages Wilhelm Naabes aus wärmerer Anteil-
nahme der Derzen und ftärferer Kraft der Wahrheit ftrömt, al3 die zur bloßen
Sewohnheit gewordene Feitlihe Hervorhebung des biblischen Lebensalters eines
Mannes und unendlid; mehr bedeutet, al3 eine Anweilung auf das „Konverſations—
Lexikon“, fo kann ihr tieferer Sinn doc) eben nur fein, die ganze Erjcheinung des
Gefeierten in all’ ihrer Urfprünglichkeit und Eigenart freudig zu erkennen, dankbar
zu ehren, nicht aber ein Element feines Weſens ausſchließlich hervorzukehren,
eine Seite feines Berdienite3 als die allein wertvolle zu preiſen und im beiten
Falle die ganze Geftalt in das Licht einer Augenblidsftimmung, eines modiſchen
Zeitbedürfnifjes zu rüden. Nein, mit dem Dichter ſelbſt jagen wir: „Des
Menſchen Dafein auf Erden baut ſich immer von nenem auf, doch nicht von dem
äußersten Umkreis ber, ſondern ftet3 aus der Mitte. In unſerem deutichen
Rolfe weiß man das im Grunde gar nicht anders." Und wir jauchzen mit ihm:
„Es ift doch der höchite Genuß auf Erden, deutich zu veritehen. — — Es iſt in
der That ſehr trüftlich deutich zu verftehen, zumal wenn man unter dem Pfingſt—
geläut das große Buch von Wahrheit und Dichtung, das große deutiche Bud)
menjchlicher Erfahrung und Weisheit in Herz und Dirn trägt!“
Suchen wir nad) einer Formel für die Summe aller Bhantalie und Lebens:
fülle, aller Seftaltungsfraft aus der Mitte, das heißt aus dem Derzen heraus,
für all’ den Einflang mit dem innerjten und beften Weſen unſeres Volkes, die
wir bei Raabe finden, jo lautet fie doch wohl: die unvergänglichite Yiebe zum
Wirklichen und der hellite untrüglichite Bli für die ewigen Geſtirne des
Menichenlebend, die dem Wirklichen erit Wert und Weihe geben, Sind dieſem
Dichter zu eigen. Im Yicht jener Geſtirne findet er den Mut, die ganze Welt:
weite und Weltbreite mit den tauſenden ihrer Erjcheinungen, mit ihren Abgründen
und Widerfprüchen feſt ins Auge zu faflen, ein Erzähler, der vor der verwirrenden
Mannigfaltigkeit großen und kleinen Lebens nicht erichridt, ein Menſchendar
tteller, der hunderte von lebendigen, charakteriftiichen, ureigentümlichen Geftalten
von den Tonnigiten Höhen, wie aus den dunkelſten Tiefen des Daſeins erfaßt,
88 Adolf Stern, Wilbelm Raabe.
ergriimdet und vor unfere ftaunenden Augen geitellt hat, ein Humoriſt, dem es
bewußt blieb, daß gerade die, „die mit heiterem Lächeln den uralten bitteren
Kampf führen, in der rechten Stunde ernſt genug fein Eönnen und vor allen
anderen Erdenbürgern am menigiten wagen, des Lebens räthielhafte Tiefen,
durch leichtfinnigen Scherz zu überbrüden", ein Herzenskünder und Lebensdeuter,
der fein tiefiinniges Wort „Schuld haben ſie beide nicht, weder der Menſch, nod)
das Scidjal, fie pafjen nur immer ganz genau auf einander" in unerjchöpflicher
Erfindungskraft und Fabulierluſt wie oft und wie überzeugend verkörpert bat.
Es ift das mindefte, das er, der Dichter an folhem Ehrentage wie heute — und
foll der Tag einen wahrhaften Sinn haben, in aller Zukunft — von feinen
Verehrern fordern darf, daß fie ſich der Ganzheit feines Wejens bewußt find,
bevor fie den ragen über etwaige äfthetiiche Schranfen feiner Künftlernatur
und über etwaige Mängel jeines Stils nachgehen.
Wenn es aber die umerläßliche Vorbedingung zur freudigen und bleibenden
Würdigung des Dichters ift, den Umfang, den Reichtum feines Lebensgefühls
und feines Schaffens zu überfchauen und weder blos das eine und das andere
dem Ginzelnen bejonders nahetretende Bild, noch eine Folge glüdliher Einfälle
und Ausiprühe aus feinen Büdern in der Erinnerung zu tragen, jo find das
Gefühl für die Urfprünglichkeit feines Talents und die Heberzeugung von der
bleibenden, in alle Zufunft binausreihenden Wirkungsfraft feiner Gebilde und
Sejtalten nicht minder unentbehrlihe Borausfeßungen eines tiefer reichenden
Verſtändniſſes. Wilhelm Raabe ift kein Modefchriftiteller, iſt nie einer gewejen,
wird nie einer werden. So ift er aud nie ein Nachahmer, ein geiftiger Wieder:
käuer der gerade auf die Naufe gefchütteten, in allgemeiner Geltung ftehenden
Borftellungsreihen und Wortreihen gewefen, hat, mit eigenen Elaren jo jcharfen,
als liebevollen Augen Welt und Leben im fich aufnehmend, nie der Gläſer aus
anderer Werkitatt bedurft, hat die überftrömende Fülle, die ihm zu eigen ift, mit
eigener Dand aus den Tiefen gefhöpft und ein volles Recht darauf im Ganzen nur
mit ſich jelbit verglichen und aus dem Stern feines perfönlichen Weſens heraus
gedeutet zu werden. Wohl müßte blind fein, wer die Fäden nicht ſehen wollte,
die Raabes Weltanfhauung und Darftelluing bier mit Jean Pauls lebendigen
Gefühl für die Armen, die Mühſalbeladenen, die Stieffinder des Glücks, die den
großen Schidjalsihiffbrüchen mit knapper Not entronnen find, dort mit Charles
Didens bumorifticher, faſt jchwelgender Freude an feltjamen Geſichtern, an
twiunderlichen Käuzen, an Eraufen und bunten Lebenseindrüden verbinden. Much
die freude im Fleinen Geäder einzelner Raabeſcher Geftalten da und dort einen
abionderlidy gefärbten fremden Blutstropfen zu unterfcheiden, wollen wir feinem
verfümmern. Nur bedeutet folche Erkenntnis der Zuſammenhänge des Schrift:
ftellers mit anderen germanifchen Humoriſten, bedeutet das nod fo feine Er-
Iaufchen der Melodie anderer in Raabes Nompofitionen, ſehr wenig gegenüber feiner
Adolf Stern, Wilhelm Raabe. 89
eigenjten Weife, deren bald jtärkere, bald leifere Klänge immer vom Leben jelbit,
von fremder Dichtung aber nur injoweit gewedt wurden, als diefe Dichtung
Leben war und aus vollem Leben ftrömte.
Die dritte Borbedingung für ein ganzes Verſtändnis und eine reine
Würdigung des Dichter Wilhelm Raabe: die Heberzeugung von der fortdauern-
den Wirfungsfraft feiner Gebilde und Geftalten, iſt die bedeutſamſte, gewichtigite,
fie jchließt den ftärkiten Ruhmesanſpruch des Dichters und, mitten in der Gegen:
wart, ein ſichres Vorgefühl für die Zukunft nicht nur unferer litterariichen Ent—
widlung, jondern de3 deutjchen Volkes jelbft ein, fie ftellt die Frage an ung, ob
wir an ewige Gewalten des Lebens, an unmwandelbare Elemente der Menſchen—
natur wie der Bolköjeele glauben. Sie bildet die Grenzicheide zwijchen allen,
die vom lebendigen Quell Raabefcher Poefie wirklich getrunfen, und zwijchen den
Zaufenden, die von ihm nur genippt oder ihn gar nur prüfend betrachtet haben.
Nicht leicht wird jemand dem Dichter jeinen Pla in der deutjchen Litteraturge-
ihichte ftreitig machen. Als ein Glied in ihrer Entwidlung laſſen auch Gegner
die Erfindungen Raabes gelten und ihren kulturhiſtoriſchen Reichtum preijen juft
die, die in dem Humoriſten ausjchliegli den Scilderer alter Nefter, den glück—
lihen Bildnigmaler deutjcher Menfchen aus den Zeiten des feligen Bundestages,
den Lobredner einer Bergangenheit jehen, die zwar erjt ein paar Jahrzehnte
hinter ung liegt, von der wir aber nad) der Verficherung gar vieler Weltweiſen
und Zukunftsdeuter durd) tiefere Abgründe getrennt find, ald von der Diadodjen-
und jelbft von der Pharaonenzeit. Die Motive zu Haabes Hauptwerken, die
Zuftände, Bildungen und Schidfale einer langen Reihe feiner vorzüglichiten Ge:
ftalten wurzeln allerdings in den Jahrzehnten unjerer Großväter und Väter,
die Ideale und Irrthümer, die Träume und Stimmungen, wie die vielfach ſelt—
jamen Lebensläufe der in den zwanziger bis vierziger Jahren Geborenen
haben in dem Humporiften einen getreuen Beobachter und Zeichner erhalten, der
jelbjt, wo er karrikiert, noch mit Liebe jeden menſchlich gemwinnenden, jeden ver-
jöhmenden Zug auffaßt und bervorfehrt. Stein Wunder, daß Raabe vielen, die
das Bleibende im Vergänglichen nicht zu faffen vermögen, die an Aeußerlichkeiten
haften, durchaus als der Darfteller einer vergangenen und überwundenen Kultur
erſcheint. Wem die ewige Odyſſee nichts ijt, al3 ein Lügenmärchen von griedji-
ihen Scifferabenteuern, Goethes Werther nichts als der Abglanz einer Periode
überfchwänglicher Gefühlsjeligkeit und krankhafter Sehnſucht nad) dem idylliich
Beſchränkten, der ift für das Beſte in Raabes Gebilden von vornherein un—
empfänglid. Wer vollends träumt, es könnten jemals ein Weltalter und eine
Kultur aufgehen, in denen das Schidjal der Einzelnen feine Bedeutung mehr
hätte, irgend welche politifch-joziale Verbejjerungen und Zuftände ein völliges
Gleichmaß der Gharaktereigenichaften, der Bildungen, des Lebensgefühlse und
Lebensglückes fiher verbürgten oder wer umgekehrt einen Tag hofft, an dem
90 Adolf Stern, Wilhelm Raabe.
Kunſt und Dichtung es nur mit den einſamen Bevorzugten zu thun haben würden,
die als Götter über den Häuptern einer verſklavten, tieriſch ſtumpfen Maſſe dahin-
wandeln, dem muß Raabes Maßſtab für das deutiche Leben, fein herzenswarmer
Anteil an den Schidialen der Stleinen, Unfcheinbaren, der äußerlich Gefcheiterten,
innerlid; Siegreihen jchon heute als vollfommen antiquirt gelten. Für Lejer
und Beurteiler diefes Schlages ift ja ausgemadt, daß Charakteranlagen,
Menſchenherzen und Menſchenſinne, Wallungen des Blutes und tieffte Bedürfnifie
der Seele genau fo veralten, wie Trachten und Frifuren, wie der Biedermeier:
fragen, der Mendelsfohnmantel und die Schmadtloden verfloffener Tage und
böchftens in einem thörichten Faſching wieder auftauchen fünnen. Nach ihnen
geht uns die gewaltige Mannigfaltigkeit von Shakeſpeares Menjchengeftalten jchon
heute nicht mehr an, als uns die finnvolle und innerliche Mannigfaltigkeit von
Raabes Welt über ein Kleines angehen wird.
Zu gutem Glück zum Glück auch für den Dichter, vor allem aber doch
für uns! — verhält es fich gerade umgekehrt. Wer je fchaffend in das Innerſte
eines Derzens, den Kern eines Lebens hinabgedrungen ift, wer die Wahrheit er-
fahren und jchöpferifch geftaltet hat: „Die Jungen haben eine Sonne und die
Alten haben eine und es bleibt doc ein und diefelbe. Die Reichen haben ein
Leben und die Armen haben ein Leben und es ijt doch ein und dafjelbe,“ deſſen
beite Lebensarbeit kann überhaupt nicht veralten. Eben darum darf der Dichter
ohne akademiſch ängftliches Taten nad einem allgültigen Durchſchnitt der Yebens-
wahrheit und einer allwirfenden Allgemeinheit des Ausdruds, ind Reale mit all
jeiner Beichränftheit verliebt jein, fich ganz an die Ericheinung, die ihn reizt und
feffelt, hingeben. Er ift, wenn er jie warm und voll erfaßt, ficher genug, daß fie
neben dem vergänglichen das dauernde probehaltige Element in fich ſchließt. Eben
darum dankt es die Welt von heute Wilhelm Raabe, daß er mit liebevoller Hin-
gebung die deutichen Zuftände des Halbjahrhunderts, daS der Gründung des
neuen Reichs voranging, durchlebt und bleibend verkörpert hat. Eben darum
weiß fte, daß alles, was an troßiger Lebenskraft, an tiefem Gemüt, an leuchten-
der und unfcheinbarer DOpferfähigfeit, an demütiger Erkenntnis, Wert und Glüd
jeden Yebens liege in der Yiebe, die der Einzelne zu fühlen, zu finden, zu er:
weden vermag, die Geftalten der Großväterzeit und die Mauern von Raabes
alten Neſtern erfüllt, lebendige Kraft genug hat, um auch die Kommenden in
künftiger Zeit zu ergreifen. Denn was aud) die gefchichtliche Entwidlung unferes
Volkes oder der Welt bringen mag, bier find die Grenzen der Menjchheit und
des Menſchenſchickſals gegeben: die werktätige, verjüngende, erlöfende Liebe, die
der Einzelne dem Einzelnen giebt und von ihm hofft, können in keiner Form umd
Seftalt des Lebens entbehrt werden oder ihre tiefe und reine, Nachgefühl und
Sehnfuht erwedende Wirkung auf warme Herzen und offene Sinne verlieren.
Raabe hat ja unendlich mehr Welt- und Menſchenſchickſal geſchaut und gejpiegelt,
Adolf Stern, Wilhelm Raabe. 9
als der Rahmen der denkwürdigen llebergangszeit von der Schladht bei Waterloo
bis zur Schlacht bei Königgrätz zu fallen verniochte. Doc hätte er wirklich nur
dies Stück Leben erfaßt und fo dargeftellt, wie er es in den „Leuten von Walde"
und im „Dungerpaftor”, in der „Deimfehr vom Mondgebirge*, im „Dorader*
und im „Dorn von Wanza” gethan, es würde ausreichen, ihn unter die Dichter
zu reihen, deren ftarfes, unmittelbare Lebensgefühl die Dauer feiner Wirkung
verbürgt. Ja, wenn der Dichter felbit uns in einem Sat des Phantaſieſtücks
„Pfiſters Mühle“ die Verflechtung feines Schaffens mit den Eindrüden der vier:
ziger, fünfziger, fechziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts mit den Worten
enthüllt: „wenn fie geahnt hätten, die Yeute vor hundert Jahren, wo ihre Nad)-
fommen das „alte romantische Land“ zu fuchen haben würden. Wahrlich nicht
mehr in Bagdad. Nicht mehr am Hofe des Sultans von Babylon. Wer dort
nicht jelber gewejen it, der kennt das duch wohl zu genau aus Photographien,
Dolzichnitten, Konfularberichten, aus den Telegrammıen der „Kölniſchen Zeitung‘,
um es dort noch zu ſuchen. „Der Vorwelt Wunder”, zehn Schritt weit von
unferer Thür liegen fie, zehn, zwanzig, dreißig Jahre ab — als die Eifenbahn
nod feine Halteitelle am nächſten Dorfe hatte, al3 der Eichenfamp auf dem
Grafenblede noch nicht der Separation wegen niedergelegt war, al3 man die
Gänſeweide noch nicht unter die Bauernichaft verteilt und zu ſchlechtem Roggen
ader gemacht hatte, als die Weiden den Bad) entlang noch ftanden” jo müſſen
wir ihn gegen feine eigene Begrenzung in Schuß nehmen. Dichter wie er wifjen
das alte romantische Land und der Vorwelt Wunder auch dann noch zu finden,
wenn der Wald und die Heide von den Eifenichienen durchquert find, wenn der
ichrille Laut des Automobil die Luft widerwärtig durchichneide. Mit einem
Worte, wir fühlen innerhalb der Schranfen der von Raabe's Phantafie bevor-
- zugten Welt das Ewige und den zeitlich beitimmten Geftalten des Dichters
gegenüber den menſchlich puetifchen Gehalt, der jo wenig veralten, als vergehen
kann, der immer neu auflebt, jelbft wenn er unter der Ungunſt einer Zeit oder
den Yaunen einer Mode vorübergehend vergefjen werden jollte.
Das Wilhelm Raabe's erzählende Werke im Augenblide der legtern Gefahr
weit entrüdt jind, vielmehr im Lichte ihrer Geſamtwirkung ihr zweites Leben
beginnen, deſſen wejentlichfter Erfolg die Ueberraſchung ift, bier liege ein uner:
ſchöpflicher Schaß, von dejien Vorhandensein Unzählige jeither nichts geahnt haben
und den fie nun mit dankbarer Beglüdung hinnehmen, foll hierbei nicht befonders
in Betracht fommen. Die höhere Gewißheit, daß diefe Werke, in welchem Um:
fang immer, den dauernd lebendigen Schöpfungen deuticher Dichtung, den unver—
gänglichen Befigthümern der deutichen Litteratur angereiht find, erfüllt uns und
hebt die eier dieſes Dichtergeburtätages über alles Gemachte und Künftliche,
über jede Meußerlichkeit und tagesübliche Feftluft, wie über alle bloße Dankbar—
keit und Pietät erquicklich hinaus.
92 Adolf Stern, Wilhelm Naabe.
Alles Schönfte, wie alles Bleibende Wilhelm Raabe's erwächſt aus dem
tiefen Snnenleben des Dichters, aus feiner unverwüftlichen Freude an der jelbit:
ofen Herzenskraft, der Opfenvilligfeit der höheren menjchlihen Natur, die neben
dem Irrſal der Ichſucht, neben der Härte, dem Weh, dem Leid des menjchlichen
Lebens in der Welt vorhanden find, überall vorhanden find, aber in unferem deut:
ſchen Wejen ein beionderes Gepräge tragen, dus kaum ein zweiter jo bejtimmt,
jo Elar, jo unabläjjig ausgeprägt hat, als eben er. Lange, lange bevor modiſche
Zendenzdichter daraus Kapital fchlugen, hat Wilhelm Naabe gewußt und ent-
ſchloſſen dargeftellt, daß die höhere Menfchennatur in jeder äußeren Lage, im Elend
eines dörflihen Armenhaufes, in der Verktümmerung einer äußerlich geicheiterten
Exiſtenz ebenfowohl erwachſen und fich bethätigen fann, als im Glüd und Ge:
deihen und der vollen Thatkraft bevorzugter Menfchen. So reich, ſo mannigfaltig
ijt die Wiedergabe des Beiten alles Lebens bei unferem Erzähler, daß — auch
wenn wir uns auf deutjchen Boden bejchränfen — es unmöglich erjcheint ihre vor-
trefflichen Einzelheiten hier nur aufzuzählen. Sein Dichterrecht auf den gefamten
deutſchen Boden in Bergangenheit und Gegenwart hat Wilhelm Raabe ebenjo
ftegreich gegen einen allzumweit in die Ferne ſchweifenden Kosmopolitismus, wie
gegen die Verengung einer ganz provinziellen naturaliftiichen Kunſt vertheidigt.
Die deutjchen Stammeseigentümlicjfeiten waren und find ihm alle zugänglid),
ſprechen insgeſamt zu feiner Phantafie und feinem Gemüt. Er zeichnet Frau
Fortunata Madlenerin, die brave Wirtin zur Traube in Alberfchwend im Bre-
genzer Wald, nicht weniger gut und lebensvoll al3 den Müller Ehriftian Boden-
bagen an der Innerſte im Hannöverſchen. Wohl ift unfer Dichter nach Blut,
Seelenleben, Bildungsrichtung und Einfluß der Ueberlieferung ein Norddeutfcher,
aber die Fähigkeit, das bejondere Wejen der füdlicher wohnenden Volksgenoſſen
zu erfaffen und zu verſtehen, hat er längjt vor feinem mehrjährigen Leben unter
den Schwaben bejejjen. Eine lange Neihe feiner größeren Romane, wie jeiner
Eleineren Erzählungen jpielt auf dem Boden zwiichen Elbe und Weſer, nord» und
jüdwärts vom Harz — bier ift der Dichter vorzugsweije daheim, aber er be:
ſchränkt fic fo wenig auf dies Gebiet, al3 fein inneres Erleben fi im Bann der
eriten beiden Drittel des neunzehnten Jahrhunderts halten läßt.
Wilhelm Naabe fteht überall, in feinen größten, wie in feinen Eleinften Ge:
bilden, ja ſelbſt im fcheinbar phantaftifchen Capriccio der Natur nahe, er erlaufcht
zu Zeiten ihren geheimften Herzichlag und die Schauer, die von ihr aus in Die
Menfchenjeele übergehen und Schickſal werden. Dabei fennt er den künſtlichen
Gegenſatz nicht, in den volksthümliche Erzähler und gewiſſe Aeſthetiker die friſche
Unmittelbarfeit des Lebens zu jeder Erhebung über Eleinbürgerliche oder bäuer—
liche Lebenskreiſe jegen. Keiner weiß bejjer wie er, daß „alle hohen Männer,
weldhe uns durd die Zeiten voranfdhreiten, aus Nippenburg kommen und fich
ihres Herkommens nicht fchämen, dab im Lande zwischen Vogefen und Weichjel
Adolf Stern, Wilhelm Raabe. 93
ein ewiger Werfeltag herricht, daß e3 immerfort wie frifchgepflügter Ader dampft
und jeder Bliß, der aus dem fruchtbaren Schwaden aufwärts fährt einen Erd»
geruch an fich trägt," aber auf den Pflüger und den Handwerker fchränft er feine
Menſchen nicht ein. Ein eifervoller Pfarrer, ein emeritierter Schulmonarch, ein
Univerfitätsprofeflor oder Magifter kann ihm eben fo rund und natürlich zum
Helden werden, wie ein Bauer, Müller vder Jäger, ein Offizier fo gut wie ein
Sefreiter oder Gemeiner. Bei entichiedener Neigung zum Idyll ift ihn der Zug
zur Größe fo wenig fremd, wie der neuerdings mit Acht und Aberacht belegte
Zug zur Bildung. Die Breite und Manmnigfaltigfeit der Welt überwältigt ihn
nie, aber ſie fchredt ihn auch nicht ab, fie gehört aelegentlich eben auch zur Welt,
wie er fie erfaßt. Raabe tritt jeder Lebenserfcheinung und Pebensanfchauung,
fofern fie nicht der eitlen Selbitbeipiegelung, dem Erhabenheitsdinfel und der
brutalen Schlucht entftammt, die er ohne Pathos immer fatirifch überwindet, mit
dem gleichen warmen Antheil und lebendigen Verjtändnis gegenüber. Es iſt ein-
fach nicht wahr, daß ſich fein Bli und feine Herzensvorliebe auf eine fchöne
Philifterei beichränfe. Doch er fühlt und weiß, daß gar vieles Philifterei heißt,
was feine ift, er unterſcheidet Scharf zivifchen der Fügung in das Alltägliche und
zwifchen dem Einklang mit dem Niedrigen. Das gewaltige Wort: „das ift das
Scrednis in der Welt, fchlimmer al3 der Tod, daß die Canaille Herr ift und
Herr bleibt” ift bei ihm Eeine blitartig vorübergehende Sentenz. Doch er fühlt aud),
daß die Dichtung gar feine größere Gefahr laufen kann, als die, ihre Blicke aus-
ichließlich nach den Sounnenhöhen zu richten. Wer daran zweifelt, daß Wilhelm
Raabe des höchſten Pathos der tiefiten Lebensmächte fähig fei, kann die Er:
fchütterung nicht empfunden haben, die uns überfommt, wenn fich in „Des Neiches
Krone" die Schöne Mechthild in die Arme des unheilbar kranken verlorenen Ge-
liebten ftürzt und fi) mit ihm in die grauenhafte Weltabgeichiedenheit der Sonder:
fiehen, der Ausſätzigen, verbannt, „die Erde ift fir uns Beide untergegangen,
aber wir beide, du und ich, find doch gerettet," er erfaßt die Tragik wie den Troit
nicht, die den Kandidaten Dans Unwirſch aus dem „Dungerpaftor” am Sterbebett
jeiner Mutter erfüllen. Es iſt ebenjo falfch, zu meinen, daß die Vorliebe des
Dichters ihn allzufeit im Seife der verkümmerten Griftenzen, der ausgeglühten
Pebenskünftler halte. Am Gegenteil, fonniger, überquellender, herzgewinnender
haben wenige unter den Neueren Lebenshoffnung, Thatluft und Frohgefühl der
ungebrochenen Jugend dargeftellt, als Wilhelm Raabe. Nie ift feine Teilnahme
voller, wärmer, von feligerem Schimmer umbaudt, als wenn, wider Weltlauf
und Gewohnheit, die jubelnde Fahrt ins Meite einmal rasch zu glüdlihem Ziel
gelangt. Aber damit kann es nicht abgethan fein, und die Summe der Enttäu-
ihung und der unentbehrlihen Nefignation ift eben viel größer als ſich die Nei—
gung für das Herotiche träumen läßt. Es iſt weder fo willfürlich, wie es Einigen
icheint, noch jo fubjectiv hartnädig, daß die Zahl der in ſich gefakten, der ftill-
94 Adolf Stern, Wilhelm Raabe.
geivordenen Menfchen in Naabe's Dichtungen fo groß it: die Dichtung muß eben
gar Vielen in der Wirklichkeit Pebenden die Augen für die Wirklichkeit erſt öffnen.
Das Aneinanderjpiel von Yebensdrang und Verzicht, von Scherz umd
Schmerz in Raabe's Weltjchilderung ift jo lebendig und taufendfältig, als das
Spiel der Lichter über unjeres Dichters Schöpfungen. Wechſelnd fliegen dieſe
Lichter aus dem Humor wie aus der tragiichen Kraft des Erzählers und erhellen
die Wald- und Stadtwinkel, die die Schaupläße feiner Erfindungen find. Hier
findet ſich die ſchier unerichöpflihe Mannigfaltigfeit von Daide und Holz, von
Feld und Wiejen, von einfamen Gütern, ftillen Mühlen an kleinen Flüſſen, von
alten PBatrizier- und Bürgerhäufern in Eleinen deutichen Städten, von jtillen
Döfen, von Erfern und Giebelzimmeru mit altem Gerät. Die tiefe Wahrhaftig:
feit des Dichters ſchließt alles Auliffenhafte und Yeblofe auch in der Scenerie
feiner Erfindungen aus und beivährt das feinfte Gefühl für die geheimen und
unerklärlihen Einflüffe einer jtimmungsvollen Außenumgebung auf die tiefere
Phantaſie und die Gemütsfräfte.
Dabei vergißt Raabe feinen Augenblid, daß feine Weltanfchauung, wie
alles, was er tiefer erfaßt und bleibend geftaltet hat, niemals zur großen Natur,
zur Welt der Wirklichkeit, aber ſehr oft zu dem, wie jich die Neigung des Tages
die Welt zu malen liebt, im Gegenjaß ſteht. Er ſchwimmt nicht gegen den
Strom, aber er ringt gegen künſtlich erzeugte Wirbel und Strudel, die den natür:
lichen Lauf zu hemmen jcheinen, er fett alle Kraft gegen die Verſchlämmungen
ihlimmer Stellen ein, immer in der vollen Gewißheit, daß jenſeits ihrer der
natürliche urewige Stromlauf des gefunden, ſich erneuernden Lebens ihn und
ſeinesgleichen alsbald wieder tragen wird.
Die heitere, überlegene Ironie, mit der in der Pradterzählung „Dorader“
dev vourtreffliche, geicheidte Konrektor Eckerbuſch dem dünfelvollen, geiftreichelnden
Streber Oberlehrer Neubauer gegenübertritt, Scheint mix ſymboliſch für das ganze
Verhältnis des Dichters zur Unnatur und verlogenen Aufgeblafenheit der jchlechten
„Moderne“. Er läßt ſich Lächelnd einen „alten Herrn“ jchelten und fühlt ſich
dabei mit Hecht jünger als die Jungen, deren Bebahren alle Züge der Greifen:
haftigkeit trägt. In diefem Roman, wie in einer Reihe anderer Meiftererzählun:
gen ift gleichjan alles dreimal erlebt: in dem ſcharfen Blick für die Wirklichkeit
mit ihren taufend Wunderlichkeiten, in der verklärenden Erinnerung, in der ſchöpfe—
riihen Stimmung, die dem humoriftiichen Dichter offenbart, wozu die krauſen
Wirrſale und Widerfprücde des Dafeins qut find. Und wenn nad einem guten
Raabe'ſchen Wort „auf diefer lärmwollen Erde den Menidien am Ende dod
nichts jo ſehr imponirt, als einer von ihnen, der gar feinen Speftafel zu verur:
ſachen wünscht und doch feinen Willen effektvoll durchſetzt“ To gilt dies nicht bloß
vom Konrektor Eckerbuſch gegenüber den Ganſewinkler Bauern, Jondern auch von
hundert anderen Geitalten des Dichters gegenüber ihren Umgebungen und zuerit
Adolf Stern, Wilherm Raabe. 95
und zulegt vom Dichter jelbit gegenüber der lärmvollen Reflamelitteratur
feiner Tage.
Doch wahrlich nit an dieſe PLitteratur wollen wir heute und hier denken.
Vielmehr feithalten wollen wir alle Erinnerungs: und VBorftellungskraft im
weiten, reich ausgefüllten Darjtellungskreiie, den Raabe's Meiſterhand gezogen
bat. Der Unmöglichkeit gegenüber im Enappen Raum der Stunde auch nur die
eindringlichiten Bilder, die beiten Geftalten beraufzubeichwören, die dem Griffel
eines bumoriftiichen Erzählerd von jo vollem und übermwältigenden Pebensernft
entitammen, möchte man wohl auf ein raich zu durhblätterndes Bilderbuch hin-
weilen können, in dem von der „Chronik der Sperlingsgajje” bis zu „Haſtenbeck“
die lange Folge unvergeklicher Situationen und charafteriftiicher Geſtalten raſch
wechielnd vor unferen Blick träte. Da würden wir alles haben und fchauen: die
phantaſievollen Arabesfen, zwiſchen denen fchon lebendige Gefichter hervorbliden
aus der „Chronik und der Sammlung „Dalb Mär, halb Mehr"; den jungen
Srafen Philipp von Spiegelberg und die dämoniſche Fauſta la Maga fowie den
wadern Reiter Klaus Eckenbrecher mit feinem Pfarrerstüchterlein Monika Fichtner
aus dem „Deiligen Born”; die trogigen Glaubensitreiter aus „Unferes Herrgotts
Kanzlei"; die wunderliche Sippichaft in der Mufifantengaffe 12 aus den „Leuten
aus dem Walde”; den Knaben Dans Unwirſch ſamt feinem Oheim Grünebaum
und feiner Baſe Schlotterbed, den Trödelladen des Samuel Freudenftein, das
Daus des Geheimrats Göß, die Gefellfchaft der Neuntüter, den grimmen Oberſt
Bullan, das Herrenhaus und die Dungerpfarre von Grunzenow an der Oſtſee
aus dem „Dungerpaftor”,; die Verzweiflung, in der YPeonhard Dagebucher als
Sklave zu Abu Telfan im Qumurkielande die Arme in den Sand und den
Kopf zwiſchen die Arme bohrt und jene andere tiefere, die ihn überkommt, als
er in Deutfchland, in Bınnsdorf und Nippenburg wiederum daheim tit und Be-
iherd weiß; die bittere und doc jo menschliche Kane Warivolf im Armenhaus
aus dem „Schüdderump.“ Den Hausgarten des Konrektors Eckerbuſch, die Wald-
blöße, auf der der Schulmann mit dem Kollegen Windwebel Ferienvejper hält,
den Pfarrgarten von Ganfewinfel aus „Dorader' würden die prächtigen Ge—
ftalten des letten gelehrten Mohikaners und feiner noch prächtigeren Proceleus-
matifa, des Pfarrherrn Ehrijtian Winkler und feiner Billa, des Gemeindevor:-
iteherd Neddermeyer und des Oberlehrerd Dr. Neubauer beleben, des Räubers
Dorader und feines Lottchen Achterbang nicht zu vergefjen. Da träte uns das
wunderreihe Haus Weiland am Schloßberg der Mittelftadt, das Häuschen am
Unterthor und das zum Dorfwirtshaus herabgefommene Jagdhaus zum Ried—
horn mit den Figuren des phantaftiichen eyniſchen Sammelnarren des Negierungs:
rats Wunnigel und des neunzigjährigen Rottmeifters Wenzel Brüggemann vor
Augen; die Rittmeifterin Sophie Grünhage und der ftädtiiche Nachtwächter
Martin Marten aus dem „Dorn von Wanza”; der Vetter Juſt Everftein aus
7 Adolf Stern, Wilbelm Raabe.
den „Alten Neitern‘‘, der Zar und der Dräumling mit allen zu ihnen gehörigen
Geftalten, bis auf den entflohenen erblihen Scharfrichter und nachmaligen füd-
amerifaniichen Oberit in der Apothefe „Zum wilden Mann.” Und doc, wenn
alle genannten Schaupläße und alle genannten Menfchengeitalten im Bilde vor
ung ftünden, fie würden mur ein paar Dutend von mehr al3 hundert Pebens-
hintergründen, kaum ein halbes Hundert von vielen hundert Menfchenfiguren, die
Raabe lebendig geichaut und lebendig geichaffen hat, bedeuten. Und weil aud)
eine ganze Folge von Bildern an den inneren Reichtum des Erzähler nur da
und dort, gleichſam pfadzeigend, mahnen fönnte, fo mag wohl auch die flüchtige
Andeutung durch das trodene Wort genügen, lebendiges Verlangen nad) dem
Ueberfluß Raabe'ſcher Bhantafie, der Fülle Raabe'ſchem Humors, der nie verfiegen-
den Wärme Raabe'ſchen Herzenslebens neu anzuregen. Zuerſt und zuletzt wird
ein Dichter im jtillen Genuß feiner Schöpfungen, im lebendigen Anteil an allem
gefeiert, was ihm Natur und Leben war und ift. Der Hauch des mitlebenden,
nachſchaffenden Anteils, der vor diefer Stunde wirkſam war, der fie üiberdauern
joll, giebt auch ihr die beite Weihe. Und wenn es den Sprecher, der Raabe's
Geſchichten und Geitalten, jett in ſchier endlofer Reihe an fich vorüberziehen
ſieht, wohl lockte, noch vieles Einzelnen zu gedenken, fo gebietet ihm gerade heute
und in diefem Kreiſe die ftille Frage: wozu? und der Augenzuruf: „wir kennen
ſie alle, wie lieben ſie alle!“ rechtzeitig Einhalt.
Die geſammelte Erinnerung an alles, was der Dichter uns faſt durch ein
halbes Jahrhundert und bis zu dieſem Tage gegeben hat, der Eindruck, daß ein
wunderſamer Hauch unverwüſtlicher Jugend die älteſten wie die ſpäteſten Erfin—
dungen Raabe's durchdringt, verführt leicht dazu, die große und eigentümliche
innere Entwicklung zu überſehen, die in Wilhelm Raabe's Schaffen ſtattgefunden
hat. Freilich ziemt es hier nicht die einzelnen Phaſen dieſer Entwicklung, die auf—
und abſteigenden Linien der Anſchauungen und Eindrücke, der Gedanken über
Welt, Zeit und Ewigkeit, die wechſelnde Färbung der Stimmungen in Raabe's
einzelnen Dichtungen, die Gemeinſamkeit und das Gegenſätzliche in periodiſchen
Gruppen prüfend und nachſpürend zu fondern. Eine Eritifche Aufgabe, wie
folche Unterfuhung und Prüfung, würde nicht nur weit über die Spanne Zeit
hinausführen, die uns bier gegönnt ift, fondern für den Nugenblid das Ge—
famtbild des Dichters, das wir heute voll fchauen follen, entrüden. In unferem
Bewußtſein aber muß es Stehen, daß diefer Dichter nicht im Winkel geträumt,
jondern voll, wenn auch anders als Taufende, mit feiner Zeit und feinem Volke
gelebt hat, daß er die alten wie die neueften Gefchide und Wandlungen deutjchen
Lebens mit warmer Treue, mit hohem Stolz, oft genug freilich auch mit dunkler
herzprefjender Sorge geteilt hat. Die innere Entwidlung, die hinter ihm liegt,
stellt Wilhelm Raabe zu den Naturen, die, fich immer ernenernd, niemals ftill-
ſtanden, obſchon jie den Anfchein des Stillitandes nicht ſcheuten. Eines unver:
Adolf Stern, Wilhelm Raabe. 97
lierbaren Kerns in jeinem Wefen gewiß, hat ſich dev Dichter dem Zug jeiner
Phantafie und ſeines Humors in Eöftlicher Freiheit überlaffen. Die Zeit wird
fommen, da Raabe’3 gejammelte Werfe die reiffte Erfenntnid der Entwidlung
zeitigen, dad Verhältnis der einzelnen Dichtungen zu einander und mitten im
freien Spiel des poetifchen Laubwerks einen ftarfen feften Zug des inneren
ftarfen Wachstums, einen Zug nad) aufwärts, gewahren und würdigen lajjen
werden. Doch auch dann, wenn diefe eingehendere, breitere Würdigung aller Ber-
dienste und Eigenſchaften des Humoriften und Erzähler, im vollen Gang, wenn
fie in fich befchlofjen fein wird, kann die Nachwelt Wilhelm Raabe fein höheres
Rob fpenden, als das, was heute aus vollem Herzen erklingt: daß er feinem
deutfchen Volke nicht nur ein großer Schriftfteller, ein reicher Poet, der Taufen-
den lieb und erquidlich für den ganzen Lauf ihres Yebens geworden und Hundert-
taufenden taufend gute Stunden gefchentt hat, jondern daß er auch allezeit ein
getreuer Edart, der vor Srriwegen und gleißenden Phantomen gewarnt hat, daß
er einer ber Echaffenden gemwefen ift, die ihrem Volke nur Gutes gewirkt, ihm das
Bemwußtfein feiner innerften, höchſten Güter lebendig erhalten haben.
Aus der Meiftererzählung „Alte Nefter" leuchtet uns mit unvergänglichen
Licht ein Wort entgegen, in dem Alles beichloffen ift, was Mitwelt und Nad)-
welt von ihm rühmen mag. „Eine Blume, die fich erſchließt“ heißt es da, „macht
feinen Lärm dabei, aud) das, was man von der Aloe in diefer Beziehung be-
bauptet, alte ich für eine Fabel. Auf leifen Sohlen wandeln die Schönheit, das
wahre Glück und das rechte Heldentum. Unbemerkt kommt alles, was Dauer
haben wird in diefer wechjelnden, lärmvollen Welt voll falfchen Heldentumg,
falſchen Glüdes und unechter Schönheit." Wer zweifelt, daß dieſes Wortes tiefite
Wahrheit vor allem auf den Mann angewendet werden muß, dem twir heute
huldigen. In jener Stille, von der er fpricht, haben ſich feine lautere Natur,
fein reiches Schaffen entfaltet und die Dauer, die er wahrem Heldentum, wahren
Glück und echter Schönheit verheißt, wird fein Teil fein!
®
BSESESESESESESDSENSESESESSBSSENS
Didtergaben aus dem Raabe-Album.*)
Zum 70. Geburtstage des Meliters.
Uns alle dodı, die Deinen Mondbergwegen
Gelolgt im Schauen, laß aus Berzensgrunde
Uns frohen Dank gleic bunten Kränzen legen
Um Deinen Herd zur Felerabenditunde.
Du nahmit mit tiefem, glänzendem Bumor
Vom Haupt uns fort des Alltags Not und Trauer,
Du zeigteit uns der Sehnluct Strahlenthor,
Den Weg zur Kraft, zur itarken lsebensdauer.
Ein Volk, das Dichter Deines Stammes treibt,
Ragt durc die Zeit; es blüht, es relit, und bleibt.
Emil Schönaidı-Zarolath.
o
Man wird Dir, Teurer, in dielen Tagen laß lieber ichlecht und redıt mid lagen,
Dielhundertitimmig fingen und lagen, Daß ich im Berzen Did lang getragen,
Was alles Du uns warlt und bilt, Eh nodı um Didı verehrungsvoll
Bis: Deutichlands größter humoriſt, Ein Bymnus der Kritik ericholl.
Ein Berzenskündiger, tief und heiter, Und io nadı alter Melodie
Ein Weltverklärer und io weiter, Sing ih: Wie ichön, daß wir Didi haben,
Bis Dirs nadı Deiner iclichten Art Dem io viel Gelites- und Seelengaben
Scdiier allzuviel des Guten ward. Der Muie reicdıe Gunit verlieh,
In dieiem hochgeltimmten Chor Und der im Marktgewähl der Welt
Käm’ ich fürwahr mir thöricht vor, Binichritt mit unbeirrtem Fuß
Veriuct’ ichs aud, zu Deinen Ehren Nur lauichend ieinem Genius,
Did vor Dir lelber zu erklären, Von ernitem Mut die Bruit geicwellt!
Heithetiic zu viviiecieren, Nimm denn zu alt der lauten Ehrung
Dich und Dein Werk zu regiltrieren. Audı diele stille Liebeserklärung.
München. o Paul Seyle.
Schloß Ober-Eunewalde, Auguit 1901.
Der Virtuos mag den Beifall der Menge finden, Liebe wird nur durdı kiebe gewonnen.
Es jit tiefe tröftlihe Gerechtigkeit darin, dab, wer treu geliebt hat, wie Du, endlic von einem
Volke den Dank empfängt, um den er nie geworben hat. Wilhelm von Polenz.
o
Die beite Kunit beim Sagen und Singen:
Zwei Menidenherzen zulammen zu bringen.
Ernit Wichert.
* Gefammelt von Julius Pohmener und Emil Sarnom.
Dichtergaben aus dem Raabe-Album. 99
Publikus iteht und kraut lich das Saar: That genau wie der liebe Gott,
Wieder ein Dichter wird 70 Jahr? Schuf feine Welt für lich allein:
3a wohl, mein Lieber, und was für einer! Wer mid beiucht, joll willkommen fein!
Ein großer Dichter, ob jult nicht Deiner: Und die feine Wunder zu ſehen kamen,
Der baute nicht Dillchen, noch Mietskaiernen, Die trugen die allerbeiten Namen
Wußt' audı von der Mode nicts zu lernen, Und ichauten einander mit Rührung an:
Madıt' kein Verlegericifflein Hott — „Von Gottes Gnaden ein Dichter und Mann.“
Halt foldıe Meinung wohl mandımal veripürt —
Heut wird fie Dir feitlict präfentiert;
Und das thut wohl bei 70 Fahren:
Mag einer getroit von hinnen fahren!
Freienwalde a. O. ni Victor Blüthgen.
„Alte Kirhen — dunkle Giäler ,
Sagt ein Sprudı mit trübem Klange.
Doch mit Farbengluten bricht
Durch ehrwürd’ger Scheiben Licht
Deines Veſens gold’ne Sonne.
Und es laufht In lel'ger Wonne
Die Gemeinde Deinem Sange.
Charlottenburg, den 21. Auguit 1901. Otto Mardı.
o
Drei große Dinge halt Du Deinem Volke gelehrt: den Glauben an das Gute, die Liebe
zu den Menicen, die Treue zur Seimat.
Kriegladı, im September 1%1. Peter Roiegger.
o
Daß wahre Schönheit nichts als ſchöne Wahrheit,
Du hait’s gezeigt in herzerfreu'nder Klarheit.
Wildbad Gaitein, zum 8. September 1901. Felix Dahn.
o
Ein Prieiter, der dem Bochlten zugewandt, Uns aber, da zum Feit wir uns bereiten,
fernab vom Schwarm andäcteinder Gelichter, Uns ſchlägt das Berz, dab wir gewürdigt waren,
Um Gunit und Ehre unbelorgt, in ſchlichter, Den Lebensweg zu gehen Dir zu Seiten.
Einiamer Eindacht Khauend, Iätaflend Hand. Und wie mit Dir wir keid und luft erfahren,
So wirit Du endlich, der Du warit, erkannt : Den eignen Sinn zu welhen und zu weiten
Sie prelien Dich den deufichesten der Dichter, Im Aufblik zu dem Guten, Schönen, Wahren !
Sie bringen Deinem Alter Ihre Lichter,
Und, wie Du fprichit, geht Amen! durch das kand. Wollenbätiel. Nilkelm Brandes,
°
Mit den dunklen Mäcten ringen, lachend lic in Iicıten Zeiten
Die das Leben Itumm begleiten, Zu des Zubels Höhen icwingen —
Tief im Berzen ſſe bezwingen, Wem dies Wunder mag gelingen,
Topfer vor und höher ichreiten ; Wird fidı jelbit zum Frieden lelten,
Trüber Tage graue Weiten Tauienden Erlöfung bringen.
Mit des käcdelns Licht durchdringen, Wernigerode. Bans ßoftmann.
7,
100 Dichtergaben aus dem Raabe Album.
Aus meinem Erden-Sein könnte ich mir eine Fülle des Erkhauten und Erfahrenen, könnte ich
mir das Miterleben von tauiend Kunit- und Staatsereignifien, die der Welt für unermeßlic wichtig
gelten, könnte ich mir Perlönlichkeiten der vericiiedeniten Art ausgemerzt und ausgeihloffen denken,
ohne daß id einen Welensverluit veripüren würde. Fede Stunde aber, die ich mit Raabes Geltalten,
mit feinem Geiit in feinem Frieden zugebradıt, it mir ein liebes und Ewigkeitsbeilß ; in jeder habe
ich in editer und reiner Meniclichkeit gewonnen, in jeder das Wehen des Allgeiites beiellgend ver-
ipürt, von jeder ift mir ein Nadtempfinden geblieben, wie von etwas unendlidı Feinem, Lichten und
Köftlichen, von jener Weltweienheit, die da höher ift, denn alle Vernunft... ..
Charlottenburg. o Beinrid Bart.
Herz, mein altes Herz, idı muß Dich lieben, Wie vor Fahren Icon.
Immer findelt Du Dein Lachen wieder, Und fo preis ich Dich ob Deiner Tugend,
Singit die lieben Kindheitsmorgenlieder Deiner immer unverdroif’nen Jugend.
Mit dem alten, hellen, tapfren Ton, o Bamburg. Guitav Falke,
Sonntagskinder giebt’s in ünlern Landen, Denen ihres Volkes Seel’ auf Wieien,
Denen Mondlicht fit wie Sonnenklarheit, Beiden, alten Neitern it begegnet.
Die des Märchens blaue Blume fanden Du, erkannt, geliebt als eins von dieien,
Und fle flechten In den Kranz der Wahrheit; Sei von Gott und Deinem Volk gelegnet !
o Adolf Wilbrandt.
Galienlärm und Sternenfrieden, Oft In Deine Welt gekommen,
Deuticher Meilter, fingit Du ein. Sieh, und itets wenn es geſchleden,
Jit mein Gerz gedrüct, beklommen War es ruhig, war es rein!
Berlin. o Carl Bulle.
Farbengligernde Paradiesvögel, buntgefiederter Papageien lultiges Laden vernahm ich in der
Südiee und Indiens Palmenkronen, hodı von auitraliihen Summibäumen rief mich des fcopfigen
Kakadu ichallende Stimme, in Afrikas dunklem Buſch laufchte ich dem leilen Gefange der „Incwinowi“,
hörte die itille Lippe erklingen vom Schlage des „Sakabula“. Ueber alles wohllautend aber ertönte
mir in fernen Landen der heimatlidıe Klang Deines bledes, — Du deuticher Raabe !
Scioß Friedersdorf. 3oadim Graf v. Pfeil und Klein Ellgufh.
o
In dem herumreiienden Sammelbucde eines Autographenjägers fand ich ungefähr Folgendes :
„Wir ſchreiben nicht nur für die Autographeniammlungen und keihbibliotheken, londern
auch für den Bücherſdurank. Wilhelm Raabe.“
Da nodı ein Plätzqien daneben frei war, letzte ic dazu:
freund Raabe hat wie immer redt. Die denken, ile find Mäcene geweien,
Er kennt ſelne guten Deutihen nicht ichlecht, Wenn ile geborgte Büdher lelen!“
Doch nodı lit es nicht zu ipät, und io wünice ich denn dem verehrten Meiiter für feine
goldene Saat eine hunderifältige Ernte!
&r. kicdhterfelde. = Beinrid Seidel,
Ob nun die „Kunit“ von können abzuleiten,
So viel Iteht feit: aufs Können kommt es an,
Ira andere um Theorie'n lic Itreiten :
Du kannit es! So blit Du der rechte Mann.
Berlin, Friedrich Spielhagen.
&
BIDIBIBIBIDIBNIBIBIBIBIBIBIRI
Der junge deufihe Kaufmann in Oitalien.
Von
Karl Tanera.
Zestmet habe ich den Oſten, d. h. Nordoftafrita und insbefondere Aſien ge:
ſehen und dabei vielfach Gelegenheit gehabt, unfere dort lebenden Landsleute
fennen zu lernen. Das Ergebnis meiner Beobachtungen ift ein durchaus günftiges
geweſen. Ich bin zu der Ueberzeugung gefommen, daß wir auf die in Aſien lebenden
Deutihen ftolz zu fein alle Urfache haben; fie vertreten ung würdig, und in
mancher Beziehung können wir und an ihnen jogar ein Beifpiel nehmen. Lebteres
vor allem in politifcher und religiöfer Beziehung. Am großen Weltgetriebe fchleifen
ſich Einfeitigfeiten ab, man verliert die Empfindung für eine fpießbürgerliche
Schollenpolitik, für kleinlichen Partitularismus, für engherzige Standesvorurteile.
Schon der Umftand, daß Jeder „draußen“ auf feine eigene Kraft angewieſen ift,
ſich ſelbſt durchkämpfen muß, will er gelten und nicht verfommen, ift gar nicht
hoch genug anzufchlagen. „Draußen” gilt nicht der Name, nicht der Stand des
Baters, „draußen” kann kein fauler Müßiggänger, gededt durch Adel oder Ber:
mögen, eine Rolle fpielen, denn er findet feinen gleichgefinnten Umgang, es giebt
dort Feine vornehmen Bummler, Schlemmer, Spieler und Püftlinge, jeder muß
feinen Platz ausfüllen, feinen! Mann ftellen, fonft ift er nichts und genießt feine
Achtung, ſonſt kann er ſich nicht halten, muß fort, muß wieder heim. Es find
Männer des PVerdienites, der geiftigen und £örperlichen Arbeit, welche unter den
ſchwierigen PVerhältniffen des Welt-Wettbetriebes in fernen Landen ihre Stelle
behaupten und mühevoll aber ftetig vorwärts kommen. Solche Männer haben
für Eurzfichtige Eleinliche Fraktions- und Kirchturm: Bolitik der Heimat fein Ver—
ftändnis mehr. Sie haben jtet3 das ganze große Vaterland, deſſen Nuten und
Vorteil im Auge, fie denken einfach nur deutſch.
Wie habe ich mich gefreut, Anfichten folder Art in deutichen Familienkreiſen
und in Klubs von Rangoon, Madras, Singapore, Hongkong, Schanghai, Kobe, Yoko—
hama und an anderen Orten, in denen ich verkehrte, zu hören! Nie vernahm ich
das bei uns fo unvermeidliche Nörgeln und Sritifieren jeder, auch der neben-
fädhlichften Handlung unferes Kaifers und unferer Regierung. Ueberall Elang es
t02 Karl Tanera, Der junge deutfche Kaufmann in Ditaften.
durch, daß man gerade im Diten erfannt hat, wie viel wir dem zielbewußten,
Elaren Auftreten des Kaijers in allen weltpolitiichen Fragen verdanken, wie ex
unfer Anfehen vor allem auch durch feine Fürforge für die Flotte ungemein
gehoben hat, wie er damit dem deutichen Handel und unſerer Induſtrie freie
Bahn jchaffte, um immer weitere Abjatgebiete fich zu eröffnen, kurz, wie er der
Welt im Often erſt gezeigt bat, wie die andern Staaten mit der deutichen Welt:
macht jett und in Zukunft zu rechnen haben.
Wo ich von unferm Kaiſer reden hörte, oder wo ich abſichtlich das Geipräd
auf ihn lenkte, vernahm ich num begeifterte und anerfennende Worte, ohne jeden
nörgelnden Beifaß. Solche Zuſtimmung ift um jo höher anzujchlagen, als jene
Landsleute nicht dur; Beruf und Stellung Anhänger der Krone und ihres Trägers,
jondern meift Kaufleute, Jnduftrielle, Angenteure, Seeleute oder ſonſt vom Staate
völlig unabhängige Männer find.
In gleicher Weile hörte id; überall nur abſprechende Urteile über das Flein-
lihe Wejen unierer Reichdtags-Fraftionsmänner, über den heimatlichen Barti:
fularismus, über da3 Ausarten der heimiſchen Preſſe.
In Bezug auf religiöfes Leben fand ich überall in den deutfchen Kolo—
nien des Dftens Ruhe und Frieden. Dort findet man Eeine Eonfeffionellen
Streitereien und Gehäffigfeiten, feine Eunfellionellen Familienverhetzungen und
Feindſchaften. Auch von den Brieftern werden die Fonfeffionellen Unterichiede
nicht ftet3 von neuem betont und jede Toleranz verurteilt. „Draußen“ ift man
in Beziehung auf das Eonfejfionelle Leben fehr tolerant und läßt jeden nad feiner
Fagon jelig werden. Die Milftonare kommen im Ganzen zu wenig in Betradt,
da fie durch ihren Beruf dem gefellichaftlihen Umgang mit den Landsleuten fait
ganz entzogen werden.
Da aljo weder landsmännijch-partikulariftiiche, noch politifche oder konfeſſio—
nell ftörende Meinungsunterjchiede dort größere Bedeutung haben, dafür aber die
Vertretung des Deutichtums gegenüber den Angehörigen anderer Völker und
Raſſen hohe Geltung erlangt, jo bilden jich unfere Landsleute im Often allmählich
zu immer befjeren Deutjchen heraus, und mit ihrem Zuſammenhalt gewinnt auch
unjer engeres Baterland dort ftet3 höheres Anſehen. Das erfüllt mit hoher
Freude, bejonders wenn man mit diefen die Verhältniſſe in Nordamerika vergleicht,
wo der Deutiche vielfach Heimat, Sprache und Sitte verleugnet, um ein Bollblut-
Yankee zu werden. Freilich darf man nicht vergeffen, daß diefe Renegaten vielfach
auch ſolche Deutjche find, welchen der heimatliche Boden zu heiß wurde, während
der wadere Deutjche aud in Amerika feinen vaterländifchen Anfhauungen, Weſen
und Bräucdhen getreu bleibt. Dat dies — Gott ſei Dank! — noch in reichem
Maße der Fall ift, Habe ich unter anderem bei dem großen deutichen Sängerfeft
in Brooklyn in den eriten Julitagen von 1900 zu erfennen reiche Gelegenheit ge-
funden.
Karl Tanera, Der junge deutfche Kaufmann im Oſtaſien. 103
Wie mic die Beobachtungen in Bezug auf die politifche Auffaffung unferer
Yandgleute im Oſten mit wahrer Freude erfüllte, fo machte e8 mich ftolz ſehen
zu können, welche günftige materielle und gefellichaftliche Stellung ſich der Deutiche,
bejonders der deutjche Kaufmann, in den leßten zehn Jahren dort erworben hat.
Ich habe gefunden, daß gerade der deutſche Kaufmann es verftanden hat, ſich in
ganz Süd- und Oſt-Aſien eine erſte Stellung zu erobern, daß er den bis dahin
angejehenjten Kaufmann, den Engländer, in Beziehung auf perfönliche Leiftung
überall, aber auch in finanzieller Beziehung mehr und mehr aus dem Sattel
gehoben hat, und dadurd) die oftafiatiiche Welt lehrt, daß nicht nur Deutichlands
Soldaten und Gelehrte, jundern auch Deutichlands Kaufleute die aller andern
Völfer, felbft die eugliſchen, an Thatkraft vielfach überragen.
In der erften Zeit imponierte es mir jehr, daß die größten und geachtetften
Firmen in Aſien nicht, wie ich bisher geglaubt habe, englische, fondern eben
deutiche find. Schon auf Keylon fagte mir jedermann, daß die mächtigjten und
angefehenften Kaufleute die Deutichen Freudenberg und Hagenbeck jeien. Die
gleihe Beobachtung machte ich in Birma, Singapore, Hongkong, Schanghai, in
Tonfin, Japan und auf Honolulu 2c.
In meiner Jugend galt e8 geradezu als eine Art von Axiom, daß auf den
Meeren ſowohl als Sriegsleute, wie auch als Kauffarteifuhrer unftreitig die
Engländer die bedeutendften, die beiten, die eriten jeien. Damals hatte man aber
auch noch Reſpekt vor der englischen Yandarmee, weil man nur mit den Er:
fahrungen von Belle-Alliance und dem Krimkrieg vechnete, weil man damals noch
nichts von der Unfähigkeit der englischen Armee wußte, die bei dem Kriege gegen
die Buren und dem Verhalten engliicher Söldner bei der Seymourfchen
Erpedition in China u. f. to. fich gezeigt hat. Wie die englifche Kriegsmarine fich
in einem Kriege bewähren wird, muB abgewartet werden. Daß aber als Handels:
jeefahrer nicht mehr der Engländer, fondern der Deutjche im Dften das größte
Anfehen genießt, obwohl die deutiche Handelsflotte der Zahl nach noch lange nicht
die englifche erreicht, erkennt jeder, der mit offenen Augen Oftafien wiederholt bereit
hat. Seine engliihe Schiffahrtsgefellichaft, überhaupt Feine auf der Erde, kann
bier gegen den „Norddeutichen Lloyd“ auffommen, und als am 11. Mai 1900 die
„Hamburg” der „Hamburg-Amerika-Linie“ in Yokohama einlief, ſah man an den
beftürzten Gefichtern der Engländer, wie fie es berührte, daß nun noch eine zweite
deutſche Gefellfchaft mit ſolchen Riefendampfern in Aſien auftritt. Deutſche Firmen
haben in den leßten drei Jahren ganze englifche Flotten aufgekauft, 3. B. die voll
itändige Seotch-Oriental-Line, die Dolt-Line und andere. 27 Dampfer, welche nod)
vor drei Jahren englifche Flagge, Kapitäne, Offiziere und Mannſchaft führten, find
jet ganz deutich, vom Kapitän bis zum letten Schiffsjungen, und führen die
ſchwarz⸗weiß⸗rote Flagge. Damit ift der Handel, den diefe Linien vermittelten,
von englifhen in deutiche Hände übergegangen. Wir haben jet den gangen
104 Karl Tanera, Der junge deutſche Kaufmann in Oftafien.
Handel und Rofalverkehr zwifchen Honkong und Singapore, den nah Siam und
großenteil8 den nah Sumatra in ber Hand. Dadurch wurde nicht nur Zahl
und Macht der Handelsflotten fehr verfchoben, fondern auch dem englifchen Anſehen
ein unmwiedereinbringbarer Schlag zugefügt.
Ein Hauptgrund für die Bevorzugung der Schiffe der deutfchen Schiffahrt:
Geſellſchaften durch die NReifenden, aud; englifche Reiſende, ift nicht nur in der
Zuverläffigkeit der Schiffe, ihrer größeren Reinlichfeit und befferen Verpflegung,
jondern vor allem in dem Vertrauen zu fuchen. das fid die deutfchen Kapitäne,
Offiziere und Mannichaften duch Pflichttreue und Disziplin und durch ihr auf
opferndes Berhalten bei den verfchiedenften Sciffskataftrophen erworben haben.
Den Schiffen der großen deutichen Geſellſchaften vertraut ſich der Reiſende
ohne mweitere8 und mit Vorliebe an. So wurde uns die Thatfache erklärt, dak
die deutihen Schiffe meiſt überfüllt, während die engliihen oft halbleer von
oftafiatifhen Stationen abgehen.
Diele Beifpiele und andere Beobachtungen riefen in mir die Anficht hervor,
daß wir zu weiteren Erfolgen am ficherjten dann gelangen werden, wenn wir
auch andere Unternehmungen von Anfang an mehr im Großen betrieben.
Nah meinen Amformationen in verfchiedenen deutichen Kaufmannskreiſen
Icheint mir Afien nicht mehr der Boden zu fein, auf dem ein junger Dann wie
früher ohne Mittel auf gut Glück verfuhen kann, ſich empor zu arbeiten, felbfi
wenn er fehr tüchtig ift. Ein unbemittelter junger Kaufmann möge lieber nad
Amerika gehen, wenn er zu Haufe jein Brod durhaus nicht finden kann. In
Alten muß man mit einer fehr ficheren geldlihen Grundlage arbeiten, um durch
diefe Geldmadt, verbunden mit der zähen deutichen Arbeitskraft, die Konkurrenz
zu befiegen.
Die Eingeborenen arbeiten im allgemeinen, befonders was die Ehinejen be:
trifft, ebenfo zuverläffig wie wir, und alle viel billiger. Darum kann ein junger
Deutfher in China nicht allein durch feine tüchtige Arbeitsleiftung, auch nicht in
höheren faufmännifchen Stellen, 3. B. als Kaflierer, mit dem Ehinefen metteifern.
Ich habe im ganzen Often feine Bank, fein größeres Gefchäft gefehen, von
der deutjch-afiatifchen Bank angefangen, in der nicht Chineſen mit den wichtigſten
Bertrauensjtellungen betraut gewejen wären. Ebenfo fand id) es in Indien, wo
Hindu und Parfen jene Stellungen inne haben. Deutiche Bankbeamte geftanden
mir ein: „Wir fünnen ohne hinefiiche Kaffierer in China gar nicht arbeiten, ſchon
wegen der nötigen Sprachkenntniſſe und den Iofalen Erfahrungen, fomwie wegen
der fabelhaften Gefchidlichfeit der Chinefen in dev Behandlung der verjchiedenen
Geldſorten.“
Aehnlich wäre es in allen offenen Geſchäften, ſelbſt europäiſcher Waaren beim
Detailverkauf. Es bleibt alſo außer der Buchführung für einen jungen Mann
Karl Tanera, Der junge dbeutiche Kaufmann in DOftafien. 105
wenig übrig, wenn er nicht? mitbringt ald nur Arbeitskraft und guten Willen.
Ganz genau fo fteht es in Indien, auf Java und in Japan. Daher follte ein
junger Kaufmann nur nad, Afien gehen, wenn er in einem großen deutjchen
Haufe feſt angeftellt ift, alfo nicht ins Unfichere zieht. Ich habe junge, tüchtige
Leute Eennen gelernt, die diefe Vorficht verfäumten, darum mit beftem Willen nicht
in die Höhe kommen konnten und die mir darum in innerfter Seele leid thaten.
Wie in der Arbeit der Eingeborene, vor allem der Chineſe, jo ift bei der
Gründung von neuen Gefchäften der Engländer mit feinem vielfach noch ſehr ge:
jpidten Geldbeutel der Konkurrent unferer deutfchen Kaufleute im Dften. Mit
feiner angeborenen Rüdfichtslofigkeit macht nun der Brite jeden geldſchwächeren
Nebenkaufmann fo fchnell als möglich tot. Daher wird im allgemeinen ein
Kaufmann mit Kleinen Mitteln im Often wenig Ausficyt haben, auf einen grünen
Zweig zu kommen. Sch möchte jedem raten, dort nicht Elein anzufangen, wo eng:
liſche Konkurrenz zu befämpfen ift.
Wir haben in Ehina nur Tfingtau, wo Aehnliches nicht erwartet werden muß.
Dier, in Zapautan oder längs der Bahn nad) Kiautfchou, Eönnten nach meiner
Anficht auch noch der deutiche Kleinkaufmann und das Kleingewerbe Berdienft
finden. Auch mittelgroße und große Unternehmungen dürften dort noch am
Plage fein. Es fehlt eine Bierbrauerei, es Eönnten Feinbäcker, Schneider,
Tiſchler u. ſ. w. Arbeit finden. Ich glaube aud, daß Zwifchenhändler zwiſchen
dem chineſiſchen Hinterland und den europäifchen Bewohnern unferes Gebietes
lohnende Beichäftigung erhalten würden. Die zu gründenden Bergmwerfe werden
ebenfalls gut bezahlte Stellen eröffnen. Das Alles gilt aber, wie gejagt, nur
für Deutſch-China.
Früher hatte ich die landläufige Phrafe „der Engländer ift der erſte Kauf:
mann der Welt" auch ald bare Münze hingenommen und glaubte, diefes Ur-
teil beziehe fih aud auf die englifche perjönliche Leiftungsfähigkeit. Man hat
mir aber in diefer Beziehung gründlich die Augen geöffnet und mir bewielen,
daß felbit in größeren englifchen Gefchäften Deutjche die eigentliche Arbeitskraft
und nur Name und Geld englifch find. Ich kenne eine englifche Brauerei in
Yokohama, in der die ſechs europäifchen Angeftellten Deutiche find. Die dadurd)
erreichte tüchtige Leitung bewirkte, daß alle anderen Brauereien überflügelt wurden.
Sleihe Fälle kenne ich in Nangoon. Große Neismühlen dort gehören Eng:
ländern oder fogenannten Deutjchengländern, aber die Leiter find Deutfche. Die
größte Holzjägemühle gehört Engländern, der Leiter iſt ein Deutjcher, kurz eng-
liſches Kapital wird durch deutiche Arbeitskraft nußbar gemacht, Nicht nur durch
diefe praftifche Ausnützung, ſondern aud) theoretiich erkennen jett die Engländer
immer mehr die ihnen überlegene geiftige, und ich möchte jagen, auch phyſiſche
weil ausdauerndere Leiftungsfähigkeit des deutichen Kaufmannes an. Darum
fürdten fie ihn fehr und vernichten mit ihrer Geldmadt jeden, der den Kampf
106 Karl Tanera, Der funge deutiche Kaufmann in Oſtaſien.
nicht beitehen kann. in deuticher Kaufmann mit geringer Geldkraft ſollte alſo
den Kampf im Alten gar nicht erit beginnen.
Mit jtolzer Genugthuung aber muß uns die Erfahrung erfüllen, daß, wenn
ausreichendes deutsches Kapital fich mit deutfcher Leiſtungsfähigkeit vereint, weder
der reiche Engländer, nod der fleigige Eingeborene mit unferen Kaufleuten kon—
kurrieren können, daß diefer glüdlichen Vereinigung das überraichende Aufblühen
unſeres Handels auch im Oſten zu danken ift, umd daß wir auf diefem Wege
alle anderen Nationen auch in Zukunft aus dem Felde fchlagen werben.
Ih muß aber aud) von Erfahrungen berichten, die keineswegs jo erfreu:
licher Natur find. Sie betreffen jedoch mehr die deutichen VBergnügungs:, Er:
holungs- oder Studien-Meifenden. Leider giebt es bei uns immer noch genug
Deutjche, welche dadurd im Anfehen zu gewinnen fuchen, daß fie in fremden
Yändern fremde Sitte und fremde Neußerlichkeiten nachmachen, über deutfche Art
mißgünftig urteilen, auch da, wo fie keinerlei Berechtigung dazu haben, die über-
all mit Sprachkenntniſſen Eotettieren, felbit da, wo fie es gar nicht nötig haben,
kurz, die ihr Deutichtum verleugnen und ſich wohl gar freuen, wenn man fie für
einen Fremden hält. Am widerwärtigften find wohl jene, welche englifche Art in
möglichft läppiicher Weile nachzuahmen ſuchen und damit nicht nur fich jelbft,
jondern alle ihre Stammgenoijen in unglaublicher Weiſe herabfeßen. Sch lernte mehrere
ſolche Wichte kennen, einen jungen Grafen, der, wie ed den Anfchein hatte, gar
nicht mehr deutjch ſprechen konnte, der lieber mit jeder untergeordneten englifchen
Dame ſtatt mit einer deutfchen Frau ſprach, ich hörte von hochgeftellten deutichen
Herren ſprechen, die faſt ausschließlich in englifchen Klubs verkehren, während
in der gleichen Stadt ein jehr vornehmer deutfcher Klub befteht, die in geradezu
verlegender Art den enaliichen Gefellfchaftskreis bevorzugen, während die deut-
ſchen Großfaufleute und ihre Angehörigen keine Mühe und keine Koſten jcheuten,
ihnen in ihren Vereinigungen Angenehmes zu erweilen. Ich traf mit jungen,
reichen Hamburgern zufammen, die im Neußern, im Umgang, in Anschauungen,
kurz, in allem fo vollkommen die Engländer markierten, daß fie 3. B. ihrer Be-
geifterung für die englifchen Truppen im Burenkrieg und für die dort vertretene
engliiche Bolitit lauteften Ausdruck gaben; ja einem deutichen Neifenden begegnete
ich, der, freilich in engliichem Dienft, fi überhaupt als Engländer ausgab, ob—
wohl er bei der Garde als Einjähriger gedient hatte. Man erzählte mir in
Japan von einem jungen adeligen Offizier, der mit dem Hut auf dem Kopf in
ein deutiches Berufskonfulat (nicht faufmänniiches) eintrat, in englifcher Sprache
brüsk fein Verlangen äußerte und fich dort erft belehren laflen mußte, daß man
al3 Europäer beim Beſuche eines deutjchen Konjuls den Hut abzunehmen und
als Deutfcher dafelbit deutfch zu ſprechen habe.
Ich könnte noch eine Reihe folcher traurigen Beilpiele von Vaterlandsloſig—
feit anführen. Im Gegenfage freut man fi, wenn man fieht, wie fich deutjches
Karl Tanera, Der junge deutiche Kaufmann in Ditafien. 107
Selbitgefühl bei wirklich deutfchen Männern durch nichts herabdriden läßt
ud dann auch Achtung und Anerkennung findet. In diefer Beziehung möchte
ih in erfter Linie den deutjchen Klub in Rangvon erwähnen. Alle Achtung da-
vor, wie diefe Herren — aud wenn fie im englifchen Dienft ftehen — gut deutſch
aufzutreten willen, und wie fie ſich durch folches Verhalten ein ganz bejunderes
Anjehen bei allen Nichtdeutichen erwarben. An wenigen Pläten fteht ein deut
iher Klub jo Hoch im Anfehen wie bier. Aehnlich verhält es fi in Schanghai,
Kobe, Yokohama, Madras und felbit in Galcutta.
In Yokohama beklagte ich, daß man die deutichen Damen — und id)
fand deren dort bejonders viele reizende — von deutichen Klubs ausschließt.
Man zwingt die deutichen Frauen duch ſolche Ausichliegung zu fremdem Um—
gang. Für manden Herrn wäre e3 gewiß viel erfreulicher mit anderen Damen
zu verfehren, als nur mit japaniichem Spielzeug.
Noch einer Ichlechten deutichen Sitte möchte ich erwähnen, die ung im Ausland,
wo man jo viel nad) dem äußern Schein urteilt und zu urteilen gezwungen it,
entihieden fchadet. Viele unferer Landsleute meinen nämlich, fobald fie den Be-
fanntenfreifen der Heimatjtadt für einige Zeit Lebewohl gejagt, dürften fie fid)
in ihrem äußeren Auftreten vernacläfligen. Manche fragen jich während der
Reife nur: „Wie kann ich auf die billigste Weife möglichft weit gelangen?“
Dan ſieht und erlebt in diefer Beziehung geradezu tolle Dinge. Ach traf in
Sicilien einen aktiven deutichen Generalleutnant, den Chef einer unſerer höchiten
Behörden, mit feiner Familie in völlig unwürdiger Bekleiding. Dieſe Familie
lebte ftetS in den mäßigften Gafthänfern, ihr Auftreten war das einfacher Klein:
bürger oder befjerer Handwerker. Unangenehm ftachen von ſolchem Auftreten
dann die Adrejjen der eintreffenden Briefe ab: An Seine Ercellenz :c.
Auf einer Reife um die Erde traf ich wiederholt auf den Schiffen, in
1. Klaffe, mit einem Deutjchen, adeliger Herkunft, einen ehemaligen Landrat
ans einer der größten deutichen Städte, Rohanniterritter u. |. w. zufammen, der
ttet3 in gewöhnlichen, meift unreinem Jägerhemd, ohne Vorhemd, ſich zu den
Diners einfand. In den Tropen trug er nicht einmal eine Weite. Ach Eonnte
es Engländern, die ftet3 in feinfter Gefellichaftstoilette beim Diner erjcheinen,
wahrlich; nicht verargen, daß fie ſich von dem Tiſche wegfeßten, an dem der
Herr ſich niedergelaffen. Auch die übrigen Deutfchen hielten fich iiber ſolche Nach—
läffigkeit auf. Für derartige Ausartungen wüßte id} leider noch viele Beifpiele
anzuführen.
Solches Sichgehenlafjen Ichadet ums ganz ungemein, da die meiften Anges
hörigen anderer Nationen gerade auf Reifen befondere Surgfalt auf ihr äußeres
Eriheinen legen. Ach will gewiß mit diefer Ausftellung nicht jener übertriebenen
engliihen Mode das Wort reden, in den vornehmeren Hotel3 oder in den Speife-
lälen 1. Klajje der Dampfer ſtets in Balltoilette zu den Diners zu erfcheinen.
108 Karl Tanera, Der junge deutiche Kaufmann in Diftafien.
Man follte aber wenigftens ftetS bei größeren Reifen im Auslande äußerlich
würdig auftreten. Ich gehe von der Anficht aus, daß man in gejellichaftlicher
Beziehung ſich nach den Sitten des Landes zu richten habe, deſſen Gaſt man ilt.
Man follte daher 3. B. auf engliihen Schiffen beim Diner in ſchwarzem, in den
Tropen in weißem Gejellfchaftsangug erfcheinen. Solche Sitte verftößt gegen unfer
Deutfchtum gewiß nicht.
Wenn meine vieljährigen Reifeerfahrungen nich immer mehr mit Hocad)-
tung vor unfern deutichen Landsleuten, die ftändig oder längere Zeit im Often
leben, erfüllt haben, jo bleiben mir doch mande Wünjche noch übrig in Beziehung
auf viele unferer lieben Landsleute, die nur vorübergehend die afiatifchen Länder
bereifen. Aber auch in diefer Beziehung ift Schon ein Wandel zum Befjeren zu
beobachten, was zur Hebung unferes deutichen Aniehens nur dienlich fein kann.
Man betrachtet uns als eines der tüchtigften, der arbeitiamften und verläffigften
Völker, man beginnt, und als Induſtrie- und Handelsvolk zu fürchten, man
achtet unfere Landarmee als die erite der Welt, man gewinnt immer mehr
Reipekt vor unjerer Seemadt, aber man hält und im allgemeinen für gejellichaft-
(ih noch nicht jo gebildet wie die meiften andern europäiichen Völker. Wir
willen, wie wenig Berechtigung man für folde Meinung hat, übertrifft doch der
Deutiche in wiljenfchaftliher Bildung meiſt die Angehörigen anderer Nationen.
In Bezug auf die Beachtung der äußeren Formen aber ericheint der ung gemachte
Vorwurf allerdings noch berechtigt, wenigitens trifft er viele unter jenen Deut:
ichen mit Recht, welche ald Vergnügungs-, Studien: oder Erholungsreifende
ih im Nuslande aufhalten.
“
COGGGGOGGGGGGEC
Deutſchland und die groſsen europdiſchen Mächte.
Von
Theodor Schlemann.
I.
U" in politiihen Fragen einen fruchtbaren vegelmäßigen Berfehr aufrecht zu erhalten,
wie ihn die politische Monatsüberficht diefer Zeitichrift ihren Yejern gegenüber
erftrebt, ift es notwendig, ſich vorher über eine Neihe von Grundfragen verjtändigt zu
haben. Welche Stellung nimmt unfer Deutſches Reich im reife der großen Mächte ein,
was hat es zu behaupten, was abzumehren und was zu erringen? Sobald wir uns
über dieſe Hauptfache verftändigt haben, wird es leicht fein, in gutem Einvernehmen von
Monat zu Monat den Gang der Ereigniffe zu verfolgen.
Wir ſchicken voraus, daß die großen Ziele der Bolitif eines Staates einfach und
jedermann einleucdhtende fein müffen. Nur das Detail der Ausführung entzieht ſich meist
der Einficht der Beitgenofjen und muß naturgemäß Geheimnis derjenigen bleiben, welche
die Verantwortung zu tragen berufen find. Das ungeheure komplizierte Räderwerk der
Diplomatie ift dem Laien ebenjomwenig zugänglid wie der Mechanismus der Kraft:
maſchinen, deren Wirkung wir erkennen, ohne, wo die Erläuterung fehlt, die bejondere
Aufgabe jedes Rades oder jeder Schraube zu veritehen.
Bon der Stellung Deutichlands in der Reihe der großen Mächte denfen wir jehr
hoch. Am Lauf eines Menfchenalters hat Deutichland ſich von einer zwar beachteten,
aber an feinem Punkte enticheidenden Stellung aufgeſchwungen zu einer Pofition, die es
ausichließt, daß irgend eines der großen Probleme, welches der Völkerverkehr und die
Kulturbewegung der Zeit bedingte, ohne jein Zuthun gelöft werden kann. Wir bilden
einen Staat, deſſen Kraft fich zu einer Spike Fonzentriert, ohne dody das Fortwirken
biftoriich gewordener lebendiger kleinerer Zentren auszujchliegen. Kein Reich der Erde
bat eö wagen dürfen, wie wir es gethan haben, neben einem Kaifer Könige und Fürften
mit großer Machtvolltommenheit, mit einer ftolzen Gefchichte und mit eigenen Landes:
vertretungen bejtehen zu laffen. Wo etwas Aehnliches beitand, ift e8 unbarmherzig zerjtört
worden, wie das Beifpiel Rußlands, \ftaliens, im gewiſſen Sinne aud) Frankreichs, Eng:
lands und Spaniens zeigt. Nirgend in aller Welt giebt cs neben der Hauptſtadt jo
viele Städte, die ſich mit gutem Recht gleichfalls Hauptſtädte nennen, nirgend mehr
Mannigfaltigkeit in der Einheit. Nicht Uniformität und Eintönigfeit, nicht die Unter:
drüdung des Bejonderen war das Biel der großen Bauherren des Deutihen Reiches.
Es fam ihnen darauf an, unter Wahrung aller lebensfräftigen und gefunden Sonder:
heiten, die ftärkfte Aufammenfaflung der nationalen Kraft zu finden, auf daß der deutiche
Name wieder in Ehren genannt werde.
110 Theodor Schiemann, Deutfchland und die großen europäiſchen Mächte.
Ein deuticher Kaiſer, deutſche Fürsten, ein deuticher Neihstag, ein deutſches Heer,
das wie fein zweites das Ehrenrecht der allgemeinen Wehrpflicht zur Wahrheit gemacht
bat, eine deutiche Flotte, die uns ſchon heute ahnen läßt, was fie in Zukunft jein kann,
ein einheitliches Recht und endlich ein freies Feld für alle Beftrebungen der Aunft, der
Wiſſenſchaft, des materiellen Wettbeiwerbes, das ift es, was das neue Neih uns bietet.
Und mit diefem Schatz idealer Güter, welchen die Praxis des Lebens umfekt in
das, was Yuther in jeiner Erklärung der vierten Bitte das „tägliche Brot“ nennt, tritt
num Deutichland ein in das Getriebe jenes NRingens, das, jo weit die Winde wehen, die
Völfer der Erde in Berührung mit einander bringt. Kleines vermag fich der allgemeinen
Bewegung zu entziehen, die einen führend, die andern folgend, dieſe gebietend, jene die-
nend, alle beftrebt jid, ihren Blast, und wenn möglich den beften Pla, an der Sonne
zu fihern. Was Wunder, daß fie fich ftoren und drängen, daß der Vorteil des einen
der Nachteil des anderen wird, und daß fchließlid alle einander gegenüberzuftehen
icheinen wie erbitterte Stonfurrenten. Unſere Gejchichte, über deren Gang wir nicht
hadern wollen, denn fie hat uns wunderbar geführt, bedingte cs, daß Deutjchland, als
es endlid) feine Einigung erreicht hatte, in ungeheurem Rückſtande den anderen großen
Mächten gegenüber war. Seit den Tagen Ludwigs des Heiligen hatte Frankreich daran
gearbeitet, im afrikanischen Orient und im weitlichen Afien fich eine vorherrichende Stellung
zu erringen, es hatte in Amerifa und in Südafien Königreidhe gewonnen und verloren
und wiedergewonnen; unaufbaltiam war die Macht Englands über alle Meere ausge
dehnt worden und überall hatte es die Keime nationaler Neufchöpfungen in den Boden
bisher barbariicher Gebiete, ja ganzer Weltteile gejenft, die dann herrlich aufgegangen
waren; Rußland hatte ſich das nördliche umd mittlere Aſien durd die Jahrhunderte
rejerviert und war ratlos thätig, fi das ganze ungeheure Gebiet, das es nominell bejak,
thatlächlich zu eigen zu machen; immer gewaltiger war die Macht der Vereinigten Staaten
von Nordamerifa emporgewacfen — es war die höchite Zeit, daß auch wir, jollte nicht
das neue Reich in ſich eritiden, Naum gewannen, um die Ellenbogen frei zu bewegen.
Es iſt das unfterbliche Verdienft Bismards, das richtig erfannt und mit bewunderungs—
wiürdiger Umficht die Fundamente zu dem Ktolonialveich gelegt zu haben, das heute unier
it. Um jo bewunderungswürdiger, als er, was uns heute faum verftändlidy ericheint,
bei der ungeheuren Mehrheit der Volksvertretung und der öffentlichen Meinung zunächſt
fein Verſtändnis fand für feine Beitrebungen, und auf Schritt und Tritt mit der Eifer:
ſucht der anderen Stolonialmächte, zumal Englands, und mit den Schwierigfeiten zu
rechnen hatte, die auf dem Boden der europäiichen Politik ftets neu emportauchten und
die vor allem überwunden werden mußten. Unter dem drohenden Schatten eines europäi-
ichen Krieges, wie er von 1871 bis 1890 fait alle Zeit möglich gemwefen tft, hat ſich der
Eintritt Deutichlands in die Weltpolitif vollgogen. Die eriten Schritte waren aud) hier
die fchtwierigften, aber wir wollen nicht verfennen, daß es jeither — wenn wir von der
unglücklichen Gaprivifchen Periode abjehen, die uns die Anwartichaft auf Zanzibar ge
foftet hat — ftetig vorwärts gegangen tft. Unſere Stellung in Afrika, in der Sübdjee,
die vornehmlich wirtfchaftlichen Borpoften in Aſien, die gewaltige Entwidelung unſeres
Dandels in aller Welt, die heute ohne Zweifel vorhandene Möglichkeit, nicht nur alle dieje
weiten Gebiete wirkſam zu verteidigen, fondern darüber hinaus in aller Welt ſchützend
Theodor Schiemann, Deutfchland und die großen enropätichen Mächte. 111
einzutreten, wo das Necht eines Bürgers des Deutichen Reiches gekränkt wird — das ift
die Stellung, die wir heute einnehmen.
Man jage nicht, das ſei eine optimistisch gefärbte Zeichnung. Die Unvollkommenheit,
die allen menſchlichen Thun anhaftet, ift auch der Arbeit und dem Ausbau des Deut:
ichen Reiches nicht fern geblieben. Das liegt in der Natur der Dinge, und wenn im
Getriebe der Tagespolitif wir uns an jenen Menjchlichkeiten ärgern, jo ift auch das
verständlich. Aber der Augenblick überſchätzt im Guten wie im Böfen das Gegemwärtige,
und erſt wer auf einen längeren Zeitraum zurückblickt, wird die richtige Schätsung finden.
Was heute bedeutend erichien, ſchrumpft zufanımen, was für unerträglich galt, wird als
gleichgiltig bei Eeite gelaffen, während das Wefentliche, Enticheidende in fein Necht tritt.
Weſentlich aber ift gerade das, was meift freudlos und danflos wie Licht und Yuft als
etwas Selbjtverftändliches hingenonmmen wird: die Keftigkeit des Rechtsbodens, auf dem
wir jtehen, die Freiheit geiftiger und materieller Arbeit, die jedem gefichert ift, die Wahrung
der nationalen Ehre, die Erhaltung und Ausbildung der nationalen Kraft. Nur wo
dieje Fundamente feitftehen, arbeitet die Gegenwart ſegensreich für die Zukunft, wir
freuen uns aber, mit aller Beitimmtheit behaupten zu können, daß fein einziges diefer
Fundamente ins Wanfen geraten ift.
Aber Politik ift der Kompromiß zwifchen den nur zu oft auseinander gehenden
‚intereffen der Bölfer. Wer daher die deutjche Politik recht begreifen will, muß genau
willen, nicht nur was wir wollen, jondern aud) was das Ziel der Beltrebungen der
anderen Mächte ift. In jedem einzelnen Fall wird es ſich fragen, wie weit divergierende
Intereſſen ſich miteinander vereinigen laflen, und eine weile Staatsfunft wird bemüht
jein, jo lange es irgend möglich iſt, auf friedlichem Wege den Ausgleich zu finden. Ein
Friede in Ehren, das ift furz gefaßt das Ziel der deutfchen Politik, fein fauler Friede,
wie Preußen ihn von 1795 bis 1806 auf Koſten der Zukunft ſich gewahrt hatte, jondern
ein Friede in Ehren, wie wir ihn bon 1871 ab bis auf den heutigen Tag behauptet
haben und wie wir ihn auch in Zukunft jeder noch jo verlockenden Kriegspolitik vor:
ziehen werden.
Welches find nun die nach außen hin wirkenden Kräfte und Intereſſen der anderen
großen Mächte und wie weit treten fie mit unjeren Beitrebungen in Berührung und
Gegenſatz? das wird die Frage fein, die wir zu intimerer Verftändigung über die Rich—
tung unferer PBolitif beantworten müffen.
Wir beginnen mit England und heben zunächſt die Momente hervor, welche eine
freundliche Annäherung zwiſchen beiden Staaten und beiden Nationen als das Natürliche
ericheinen laffen. England ift nächſt Deutichland die einzige überwiegend proteftantifche
Großmacht. Die beiderjeitigen Herricher Stehen wie die Bölfer in naher Blutsverwandt-
ichaft und die Richtung in Wiffenichaft, Yebensführung, Sympathieen und Antipathieen
zeigt gleichfallö verwandte Züge. Zwiſchen dem gebildeten Deutjchen und dem gebildeten
Engländer ift daher aud) die gegenseitige Anziehungsfraft außerordentlich groß. In feinem
Lande der Welt hat Goethe einen mehr begeifterten und verjtändnispolleren Herold
gefunden als in England. Karlyle ift uns im feinen Verftändnis der großen Seiten des
Goetheſchen Geiftes faft vorausgegangen; ebenjo aber hat fein Volk der Welt Shate:
ipeare fo zu würdigen und ihn fi) fo zu eigen zu machen verſtanden wie das deutjche.
112 Theodor Schiemann, Deutichland und die großen europäifhen Mächte,
Was unjerem Volksbewußtſein den Engländer unliebenswürdig erfcheinen läßt, ift, abge-
jehen von ſeiner geſchäftlichen Rüdfichtstofigkeit, der ungeheure Hochmut der englifchen Bolitit.
Davon kann Deutſchland allerdings ein Yied fingen, und es wäre leicht ein langes Schuldfonto
aufzuftellen, wenn es überhaupt, politiich betrachtet, einen vernünftigen Sinn hätte, die
Sünden der Bäter an den Kindern heimzufuchen. Die Engländer ihrerjeitö glauben, daß
jowohl der Prinz Stonjort wie die Königin Viktoria jehr deutſchfreundlich gervejen feien,
und mit gewifjen Einichränfungen iſt das auch richtig. Die Zukunft wird e8 an der Hand der
Ktorreipondenz, welche von den Mitgliedern des preußiſchen Königshauſes nach England hin
geführt worden ift, wahricheinlic in merkwürdigſter Weife beftätigen. Aber dieſes Wohlmollen
hatte feine Grenzen und nahm nad) 1871 ftetig ab. Mit dem Moment, da Deutichland
den Weg der Ntolonialpolitit bejchritt und jo überraschend jchnell, danf der Snitiative
und der zähen Beftändigfeit Kaiſer Wilhelms, feine Seemacht auszubilden begann, wurde
England jo jehr unjer Gegner, daß es mehrfach Situationen gegeben hat, die einen Krieg
zwischen uns und ihm nicht unmahrjcheinlich machten. Daß er vermieden wurde, ift ohne
allen Zweifel ein großes Glück für beide Teile gewejen. Die Stihmworte: Delagoa,
Samoa, Philippinen bezeichnen den Höhepunft diejer Krifis. Es ift aber ein Arrtum,
wenn man annimmt, daß der engliiche Imperialismus jeine Spige gegen Deutſchland
richtet. Der Uebergang Englands zur imperialiftiichen Politik war eine unabweisbare
Notwendigkeit, die fi) aus dem Verhältnis des Mutterlandes zu jeinen Ktolonieen ergab.
Es mußte ein Band gefunden werden, das den Zuſammenhang aufrecht erhielt, wenn
nicht Canada und Auftralien zu politiihen Selbjtändigfeiten auswachſen jollten, Die
ähnliche Wege einfchlugen, wie fie die Vereinigten Staaten von Nordamerika gegangen
find. Das Opfer diefer Politik find die beiden jüdafrifanischen Republiten geworden,
deren Vernichtung die große afrikaniſche Nückzugslinie Englands fihern follte, wenn
einmal die engliihe Herrihaft in Indien ins Wanfen geriet. Es war eine weit aus:
ichauende Politik, die mit ſchlechten Mitteln zu einen unficheren Ausgang geführt worden
it, Die aber der übrigen Welt die Möglichkeit bot, einigermaßen den ungeheuren Vorſprung
nachzubolen, den England zur Eee voraus hatte. Das England, mit dem wir heute zu
rechnen haben, ift merklich beicheidener geworden, als es vor 1899 erjchien, jodaß eine
Berftändigung zwiſchen unjeren Intereſſen und den englischen heute leichter zu erreichen
icheint, alö vor wenigen Jahren möglih war. Schon der Samoa Vertrag ift unter
diefen Aufpizien geichloffen worden, das deutſch-engliſche Abkommen in betreff des Jangtſe—
Thales ift eine zweite Etappe auf diefem Wege, und es fann nur erfreulich fein, wenn
eine dritte fich bald anfchlieht. Denn fobald beiderfeits die beftehende politifche Lage
ſcharf und in nücjterner Erwägung ins Auge gefaßt wird, werden ſich vitale Intereſſen—
gegenjäte nicht nachweiien laffen. Gegen die egyptiſche Stellung Englands kann Deutid-
(and nichts einzumenden haben. Man mag über die Politik, die zur Okkupation Eghptens
durch die Engländer führte, denfen wie man will — und alle Welt denkt darüber anders
als die Engländer — beftreiten läßt ſich nicht, daß England auf diefem Boden eine
großartige Kulturarbeit durchführt, die bei weitem in den Schatten ftellt, was Frankreich
in den 70 Jahren geleiftet hat, die es nunmehr auf algeriihem Boden gebietet. Daß
an dem Aufblühen Eghptens intereffierte europäifhe Kapital, an welchem Deutjchland
mit rund 34 Millionen Mark beteiligt ift, ruht unter der engliihen Vorherrſchaft
Theodor Schiemann, Deutichland und die großen europäifchen Mächte. 113
ficherer, als bei jeder anderen Kombination wahricheinlid) ift, aucd) am Suezkanal ſehen
wir die englische Nachbarſchaft lieber als die beliebiger anderer Mächte, ganz wie für
Deutſch⸗Südweſtafrika England der noch verhältnismäßig beite Nachbar ift. Das mag
parador klingen, ift aber gewiß richtig — jo lange wir ſtark bleiben.
Im europätfhen Orient und in Border-Aften, an denen wir weit ntehr ein wirt:
ichaftliches als ein direkt politisches Antereije nehmen, ift England unfer Gegner nicht,
und ebenfo haben, jeit wir in Kiautſchou ficheren Fuß gefaßt und im übrigen China
unjere Gleichberechtigung zur Anerkennung gebracht haben, die englischen Bejtrebungen
dort für uns nichts Bedrohliches. Immer unter der VBorausjegung, dat wir ftarf bleiben.
Es fann von diefem Geſichtspunkte aus gar nicht hod) genug angejchlagen werden, daß
Deutichland während des legten chineftichen Itrieges den Beweis erbracht hat, daß es
eine Kolonialarmee in fürzefter Frift improvifieren und auf eigenen Schiffen transportieren
fann, zumal niemand in aller Welt behaupten wird, daß wir damit auch nur annähernd
an die Grenze unferer Leiftungsfäbigfeit gelangt jeien. Der chineſiſche Krieg ift vorüber:
gezogen, ohne dar das Reid) und der einzelne eine merfliche Yaft getragen hätten, und
der jchließlihe Ausgang zugleich ein glänzendes Zeugnis für die maßvolle Haltung
unferer Diplomatie im Felde jowohl wie in der Wilhelmftraße.
Ergiebt ſich aus alle dem, daß heute ein weiter Gegenſatz der Intereſſen zwijchen
Deutſchland und England nicht bejteht, jo läßt fich andererieits nicht verfennen, daß der
Burenkrieg unfer Volk dem engliſchen abgewandt hat. Ungerecht in feinen Anfängen,
ruchlos in den Mitteln der Kriegführung, die einen ungeheueren Rückſchritt in der Braris
des Völferrechtö bedeuten, iſt dieſer füdafrifaniiche Krieg allerdings dazu angethan, das
fittliche Empfinden zu beleidigen. Und doch iſt fein anderes Volk den Engländern in den
Arm gefallen: weder Rußland, noch Frankreich, noch die Vereinigten Staaten, die doch
ihrem Uriprung nad) meist berufen ſchienen einzugreifen! Ihre Neutralität ftand feft,
noch ehe Deutichland geiprochen hatte. Wären wir nur in unjerer Bolitif der aura
popularis nachgegangen, jo hätten wir durch ein Machtwort unfererjeits den Krieg von
Südafrika auf uns abgelenft und das wäre, wie ich zu behaupten wage, jorwohl cin
Frevel wie ein politischer Wahnfınn geweſen. Kriege, in welchen die eigene Eriftenz
aufs Spiel gefetst wird, darf ein Volk nur um feiner eigenen Exiſtenz willen auf ſich
nehmen. Das ift ein Axiom politischer Sittlichfeit, das noch niemals ungeitraft verleßt
worden ift. Unjere öffentliche Meinung war 1899 und iſt heute ebenio auf dem falfchen
Wege, wie 1848 und 1863, als fie ſich für die Wiederheritellung Polens begeifterte, oder
1886, als fie um Aleranders von Bulgarien willen einen ruſſiſchen Strieg auf ſich nehmen
wollte. Daß damals die öffentliche Meinung irrte, beftreitet heute niemand mehr, nadı
wenigen Jahren wird das Urteil in diefen fidafrifaniichen Dingen ſich ganz ebenju
zurechtſtellen. Die politische Zittenpolizei, wie die heilige Allianz fie ausüben wollte und
gewaltjam genug ausgeübt hat, gehört feinem Bolfe dem anderen gegenüber. Wo die
„ungeichriebenen Geſetze“ des ewigen Nechts verlekt werden, folgt die Nemefis aus der
inneren Kraft der Thatjachen, früher oder jpäter. Es iſt niemandes Aufgabe, ihr vorzugreifen.
Ich möchte nicht mißverjtanden werden. In dem jüdafrifanischen Kriege ftehen
alle meine Sympathieen auf jeiten der tapferen Buren. Sie haben der Welt ein Beifpiel
bewunderungswürdiger Freiheits- und VBaterlandsliebe gegeben, und die Früchte der
8
114 Theodor Schiemann, Deutſchland und die großen enropätfchen Mächte.
Standhaftigkeit, die fie aufrecht erhielt, werden weder ihnen noch der Welt verloren
gehen. Nur der Ausgang kann nicht mehr der fein, den die öffentliche Meinung Europas
vor der Niederlage Eronjes und vor der Einnahme von Prätoria erwartete und wünſchte.
Unterlag in jenem entjcheidenden Augenblid nicht der Burengeneral, fondern Lord Roberts,
jo war Südafrika für England verloren. Die Kapitulation Cronjes, die, wie heute faum
beftritten wird, fi) jehr wohl hätte vermeiden laffen, brachte eine Entſcheidung, die nicht
mehr rüdgängig zu maden ift, wenn nicht durch einen Abfall des Kaplandes Südafrifa
jich felbjt befreit. Die Engländer bleiben die Herren in Südafrifa. Daß der Krieg
noch fortdauert, kann daran nichts ändern, das iſt eine heroiſche Thorheit, welche
man bewundern, über die man aber im Intereſſe der Buren felbft fich nicht freuen
fann. Sie werden langjam aber ficher aufgerieben, ohne daß die erwartete Intervention
ihnen Rettung bringt. Früher oder fpäter, vielleiht erjt im Stadium äußerjter
Erihöpfung, aber infolge einer unerbittlichen Notwendigkeit, wird die Anerkennung der
engliichen Oberhoheit durd die Buren erfolgen. Die Konſequenzen, die fih daraus
ergeben, führen aber nidyt zum Vorteil der Engländer, jondern zu dem der Buren,
vder jagen wir richtiger der jogenannten Afrifander niederdeutichen Blutes, und jchlieken,
was als enticheidende Thatjache hervorgehoben werden muß, die Anglifierung der Be:
völferung aus. Damit aber gehört die Zukunft diefen faftifch unterlegenen Elementen,
die in der ſüdafrikaniſchen Republif der Zukunft ohne allen Zweifel die führende Rolle
jpielen werden. Und damit müffen auch wir uns zufrieden geben, wer bon der Gegen-
wart Unmögliches verlangt, dem ift nicht zu helfen.
Aber verfennen läht fich nicht, daß das hiftorisch begründete Mißtrauen gegen die
Aufrichtigfeit und Zuverläffigkeit der engliichen Politik, tombiniert mit den aus der eng—
lichen Berfaffung entipringenden weiteren Schwierigkeiten, durch die bei uns borherr-
ihende Strömung verjtärft, eine weitere Annäherung, als fie heute zwijchen uns und
England bejteht, außerordentlich) unmahricheinlih macht. Sollte fie trogdem fich an-
bahnen, fo hätte die Snitiative von England auszugehen, und Garantieen gegen einen
plöglichen Wechſel wären unerläßlih. Audı hat im Bewußtſein dieſer Realitäten die
englische Bubliziftit fich lebhaft um Kombinationen bemüht, die England mit Rußland
und Frankreich gegen uns in Verbindung zu ſetzen bejtimmt waren. Alle diefe Verſuche
laſſen fich heute als gejcheitert bezeichnen. England ſteht in Europa ifoliert; auch der
vielummworbene amerifanifche Better ift, troß der zum Teil jehr entgegentommenden
Haltung feiner Preſſe, in der Praris jeiner Bolitif eher als ein Gegner, denn als ein
Freund Englands zu bezeichnen, ſodaß jchlieglich nur jenes greater Britain übrig bleibt,
von dem wir bei unierer Beobachtung ausgingen: Australien, Canada, die Kronkolonieen,
das heute noch mehr hemmende als fürdernde Kapland. Immerhin eine gewaltige Macht,
die ihre volle Energie und Leiſtungsfähigkeit zu entfalten noch niemals Gelegenheit
gehabt hat. Sie hat erſt jet begonnen, als ein Faktor der großen Politik mitzujpielen.
Die Zufunftsfrage aber ift, ob England die Bolitif der Kolonieen, oder — in keineswegs
undenfbarer Umkehrung des imperialiftiichen Gedanfens — die Stolonieen die Politik des
Miutterlandes in ihre Bahnen leiten iverden.
1%
CHLCHHLHCH HELEN HNEH HUT
Weltwirtichaftlihe Umſchau.
Von
Paul Dehn.
jur weltiwirtjchaftlihen Entwicklung. — Die moderne Schutzollpolitit. — Deutjche Handels-
politif und der neue Zolltarifentwurf. — Wertvoll zuerit ein Hanbdelövertrag mit ben Vereinigten
Staaten von Nordamerika. — Ausfuhrzblle auch auf nordamerlfantiche Baummolle? — Die
Bagdadbahn, ihre politifche Anfeindung und ihre wirtfchaftliche Ueberſchätzung. — Der ver-
fehröpolitifche Wert anderer Ueberlandbahnen.
n‘ Weltwirtichaft entftand aus der allmählichen Einbeziehung aller Länder in den
internationalen Güteraustaufch, fie ift noch im Werden und fie entwickelt fich, je
mehr durch den internationalen Güteraustaufch die verjchiedenen Yänder von einander
in Abhängigkeit geraten. Die Weltwirtichaft ift eine Art natürlider Organifation,
die in allen Ländern auf Erzeugung und Verbrauch nachhaltig und auf die Breife maß—
gebend einwirft. Bor hundert Jahren fonnte man von jolcher Weltwirtihaft noch nicht
iprechen, weil der Güteraustaufch unter den verjchiedenen Völkern mehr oder minder
gelegentlich, zufällig und entbehrlich, weil er vielfach überhaupt nod) gar nicht vorhanden
war. Gegenwärtig müfjen alle Bölfer gemwiffe Erzeugniffe einführen, die einen Rohſtoffe,
die anderen Nahrungsmittel, wieder andere nduftrieerzeugniffe, und um diefe Einfuhr
zu bezahlen, müfjen fie ausführen, was fie beſonders preiswürdig erzeugen, was auf
dem Weltmarkt feinen Anwert findet. Bis zu einem gewiffen Grade find alle Völker
von einander abhängig, weil fie einführen und zugleich ausführen müffen, und zwar
find fie abhängig von dem Mittelpunft der Weltwirtichaft, von dem Weltmarkt, von
feinen Konjunkturen und vor allem von feinen Preifen, die maßgebend geworden find,
auch wenn fie mit den heimischen Erzeugungsbedingungen nicht immer in Einklang Stehen.
* +
Wie in der Weltpolitik, jo findet auch in der Weltwirtfchaft ein beftändiges Ringen
itatt. Inmitten der weltwirtichaftliden Entwicklung jucht jedes Volk und jeder Staat
jeine nationalen Kräfte zu entfalten, un einen möglichſt großen und lohnenden Anteil
an der Weltwirtfchaft zu erlangen. Es ift daher in abjehbarer Zeit eine Regelung der
Weltwirtſchaft auf ftreng freihändleriicher Grundlage ebenfo wenig denkbar wie etiva eine
Regelung der Weltpolitif durch die Einführung des ewigen Bölferfriedens. Als England
8*
116 Paul Dehn, Weltwirtichaftliche Umschau.
nad) Erftarfung feiner Induſtrie feine hohen Schutzzölle abjchaffte und zum Freihandel über:
ging, rief e8 die anderen Völfer zur Nachahmung auf nicht aus idealen Gründen, ſondern
um mit Hilfe des Freihandels ein induftrielles Monopol auf dem Weltmarkt zu erlangen
und fid) eine induftrielle Vorherrſchaft zu fihern. Darüber ift man ſich Tängft aller:
wärts Far. Alle Staaten haben fi) vom FFreihandel abgemwendet, in neuejter Beit in
gewillen Maße jelbjt England, und find bejtrebt, durd; mehr oder minder hohe Zoll:
ichranfen die nationale Arbeit nad) allen Richtungen hin gegen die Konkurrenz des Aus:
landes zu ſchützen, ohne ſich dabei don den internationalen Beziehungen, die fie nicht
entbehren fünnen, abzuſchließen. Im großen und ganzen hat die moderne Schußzoll:
politif anfcheinend überall günftige Wirkungen, zum Teil jogar, wie in der nordamert-
fanifchen Republik, glänzende Erfolge erzielt, jo daß eine Rückkehr zum Freihandel vor
der Hand nirgends in Ausficht fteht. Vielmehr ift anzunehmen, daß verichiedene Staaten
ihre Schuggollpolitit noch verichärfen werden.
* *
*
Zu diefen Staaten gehört in erſter Reihe das Deutihe Reich. Im Jahre 1879
vollzog Bismard den Umſchwung der deutjchen Wirtichaftspolitif und leitete fie in ſchutz—
zöllneriihe Bahnen. Als Ende der adıtziger Jahre der Ablauf der Handelsverträge
herannahte, gedachte Bismardf einen Doppeltarif aufzuftellen, einen Mindefttarif für die:
jenigen Staaten, die bereit waren, neue Verträge abzufchliegen, und einen Höchſttarif
für die anderen Staaten. Bismard wurde entlaffen. Sein Nachfolger aber beeilte ſich,
neue Handelöverträge zuftande zu bringen in der Beſorgnis, es fünne bei Eintreten einer
allgemeinen Bertragslofigfeit das Deutiche Reich, obwohl wirtfchaftlich der ftärfite Staat
auf dem europäifchen Feltlande, Fritiichen Zeiten entgegengehen. Diefe Handel3verträge
erregten bei den Landwirten große Unzufriedenheit und bei den Snduftriellen keine Be
friedigung. Ende 1902 fünnen fie aufgefündigt twerden, und es ift mit Sicherheit an:
zunehmen, daß dieſe Auffündigung erfolgen wird. Kündigt au nur ein Staat, fo
müffen die übrigen folgen. Oeſterreich-Ungarn ift im Begriff, fi einen neuen höheren
Bolltarif zu ſchaffen. Der neue deutiche Zolltarif ijt im Entwurf fertiggeitellt. Aud)
die Schweiz bereitet Zollerhöhungen vor. Rumänien will die alten Tarifverträge nicht
verlängern. Man wird alfo unter allen Umftänden am 1. Januar 1904 in den zoll-
politiihen Grundlagen des internationalen Giüteraustaufches erhebliche Veränderungen
zu erwarten haben.
Wie im Jahre 1879, fo wird auch jett wieder unter Hinweis auf den neuen
deutihen Zarifentwurf das Deutiche Reich ald das Karnickel hingeftellt, das mit der
Schußzollpolitif oder gar mit der Hochichugzollpolitit angefangen haben fol. Diefer
Vorwurf läßt fi heute jo wenig wie damals begründen. Damald waren andere
Staaten auf den Bahnen des Schutzzolles vorangegangen und Deutichland folgte ihnen
erft. Heute nimmt Deutichland unter den fchußzöllneriichen Staaten eine mittlere
Stellung ein und würde noch bei weitem nicht den Hochſchutzzollſtaaten zuzurechnen jein,
jelbft wenn der neue Tarifentwurf, was fo gut wie ausgefchloffen ift, ohne jede Aenderung
in Kraft treten ſollte. Das ließe fich ziffernmäßig genau feftftellen, wenn der fonderbare
Borichlag der Peteröburger „Nowofti” auf Einberufung einer internationalen Konferenz
Paul Dehn, Weltwirtichaftliche AUmfchau. 117
zur Berftändigung über die Grundfäge der europäifhen Zollpolitik vermirklicht
werden jollte.
Im großen und ganzen ift zutreffend, mas der „Induſtrielle Klub“, der ältefte
Verein öÖfterreichifcher Großinduftrieller, durd A. G. Raunig in feinem Organ über den
deutichen Zolltarif hat ausführen laſſen, daß die Logik der Thatfachen das Deutſche
Reich zu diefem Entwurf führen muhte und daß die leitenden beutichen Staatsmänner
ich ficherlich über die Bedürfniffe von Landwirtichaft und Induſtrie ſowie über die
bandelspolitiichen Abjichten ihrer Mitberverber auf das Gründlichfte unterrichten ließen,
bevor fie dem Zarifentwurf ihre Zuftimmung gaben.
Der Bolltarif fol die nationale Arbeit ſchützen, zunächſt ſoweit fie den heimifchen
Bedarf det, weil die am inländischen Markt intereffierten Gruppen weitaus die größeren
find. In zweiter Reihe fteht die Wahrnehmung der ntereffen der deutichen Ausfuhr:
indujtrie, die ja verhältnismäßig bedeutend ift und angemefjene Berüdfichtigung mit
Recht erheiicht. Darüber wird aber erjt in den bevorftehenden Handelsvertragsver-
handlungen entjichieden werden. Bis dahin mwird mit jeinem Urteil zurücdhalten, wer
nicht zu gunjten einer beſtimmten ntereffentengruppe agitatorisch twirfen will. Die
neuen Zölle werden erft dann in bejtimmten Sätzen vorliegen.
Lauten Widerfpruch hat die geplante Erhöhung der deutjchen Agrarzölle hervor:
gerufen. Am freihändleriichen Yager verichliegt man fic die Nugen vor der unleugbaren
Notlage jehr großer Teile der deutjchen Landwirtichaft und verlangt in Uebereinftimmung
mit den Sozialdemokraten die ungehinderte Weiterentwidlung Deutjchlands zum „m:
duftrieftaat”. Im Falle einer Erhöhung der Agrarzölle würden alle Yebensmittel ver-
teuert, die Yebensführung der Arbeiter verjchlechtert, die Arbeitslöhne gefteigert, die
tonfurrenzfähigfeit der deutichen Anduftrie auf den Weltmarkt erjchwert und der Ab
ichlug von Dandelsverträgen unmöglich gemacht werden. Manche von diefen Gründen
verdienen immerhin Beachtung bei der endgültigen Feſtſetzung der neuen Agrarzölle.
Aber es wird doc) weit über das Biel hinausgejchoffen, wenn man behauptet, daß die
deutſchen Agrarzollerhöhungen den Abfchlu neuer Dandelsverträge unmöglich machen,
ja das Deutjche Neich in eine ganze Fette von Zollkriegen verwickeln würden.
* Pr *
Bon europäiſcher Seite iſt die nordamerikaniſche Republik immer mit beſonderer
Rückſicht behandelt worden. Europa hat in ihr den Kunden geſehen, dem es liebens—
würdig entgegenzukommen bereit ift, und ſich ſelbſt als den Kaufmann und Reeder be
trachtet. Nun hat 3war die nordamerikaniſche Republik dieſe Liebenswürdigkeit mit
großer Rückſichtsloſigkeit, ja mit einer geradezu europafeindlichen Handelspolitik ver—
golten, allein hier enticheiden nidyt Gefühle, jondern Intereſſen. Und da iſt zu Jagen,
daß Deutihland bemüht jein jollte, Zolltriege überhaupt zu vermeiden, ganz bejonders
aber troß alledem und alledem einen Zolltrieg mit Nordamerifa. Nordamerika bezug
im Jahre 1900 immerhin für 440 Millionen Mark deutſche Erzeugnifle Es wäre jehr
vorteilhaft, wenn Deutichland diefe Ausfuhr nicht nur aufrecht erhalten, ſondern vielleicht
noch vermehren fünnte und zwar durch Abſchluß eines neuen Dandelsvertrages auf
Grundlage des neuen deutichen Tarifentwurfs. Nach Berichten aus New-Yoöork Toll in
118 Paul Dein, Weltwirtichaftliche Umſchau.
Bafhington dazu Geneigtheit beftehen. Die Nordamerikaner find Gefhäftsmenfchen und
nehmen es durchaus nicht übel, wenn man fid) von ihnen nicht übers Ohr hauen läßt.
Ausichlaggebend dafür, daß Deutichland zunächſt mit Nordamerika verhandelt und
abſchließt, ift folgende Erwägung. Bereinbart Deutichland zuerst mit den europäiichen
Staaten Handeldverträge und räumt es ihnen feinen Mindefttarif ein, dann ift eine
jehr unerquidliche Entwidlung des handelspolitiichen Verhältniffes mit Nordamerika zu
befürdten. Unter gar feinen Umſtänden werden es fich die Nordamerifaner gefallen
laffen, von Deutihland differentiell ungünftig behandelt zu werden. Wohl werden fie
fi) bereit zeigen, die deutſche Meiftbegünftigung durch Gegenzugeftändniffe zu er:
faufen, aber vermutlich werden fie diefe Gegenzugeitändniffe jehr gering bemefjen in der
Annahme, daß Deutichland ein dringendes Intereſſe hat, einen Zollfrieg mit Nordamerifa
zu vermeiden. Um nicht in dieſe Zivangslage zu geraten, empfiehlt es ſich für das
Deutſche Reich, zuerjt mit Nordamerifa einen Dandelövertrag zu vereinbaren, auf
deffen Grundlage die beiden Reiche ihre Dandelsbeziehungen dann auch zu anderen
Staaten regeln würden.
Ein Zollkrieg mit Nordamerifa würde auch Deutſchland empfindlich ſchädigen und
ihm gerade in jegiger Zeit höchjt unerwünfcht fein, während ein neuer Dandelsvertrag
mit Nordamerifa dem Deutichen Reiche eine fehr mwillfommene Rückendeckung bieten
fönnte gegenüber den Bollfriegsandrohungen, die wegen des deutjchen Bolltarifentwurjs
aus verjchiedenen Staaten, wenn auch zumeift von unberufener Eeite, ausgeſprochen
tworden find.
*
Aus der Rüſtkammer des alten Merkantilismus haben die Engländer den Aus
fuhrzoll bervorgeholt und find offenbar der Meinung, hiermit einen außerordentlich
glüclichen Griff gemacht zu haben. Wie fie behaupten, wird der Kohlenausfuhrzoli
einmal jehr einträglidy jein und jodann die nationalen Klohlenlager ſchützen. Darin Liegt
nun freilich ein Widerjpruch, denn wenn der Zoll jehr hohe Einnahmen ergiebt, fann er
nicht die nationalen Kohlenlager jhüten, und wenn er die nationalen ohlenlager ſchützt,
jo fann er feine hohen Einnahmen bringen. Aber mit Logik haben die Engländer nie-
mals praftiiche Politik getrieben. Vom Koblenzoll nehmen fie an, daß er in der einen
oder der anderen Weiſe wirfen wird, und rühmen ihm als bejonderen Vorzug nad), day
er unter allen Umftänden vom Auslande getragen werden wird.
Es fragt ſich nun, ob nicht mit der Zeit Englands Borgehen, da «8 jo große
Erfolge zu verheißen jcheint, anderweit Nachahmung findet, vielleicht gar eine Nadı-
ahmung, die den englifchen Intereſſen außerordentlic, abträglich werden könnte.
An Rohftoffen ift im allgemeinen während der legten Jahre Fein Mangel hervor—
getreten. Aber die Nachfrage ift vielfach ſtärker geftiegen al8 das Angebot, man bejorgt
eine Erichöpfung der Vorräte, man ijt beitrebt, gewiſſe Robftoffe thunlichft im Yande
zurüdzubalten, damit fie von der heimischen Induſtrie bearbeitet werden.
Dieje Erſcheinung zeigt fid u. a. im Dolzverfehr. In Rußland und in Defterreich
möchte man die Ausfuhr von rohem Holz erichtveren, um die heimiſche Holz- und Gellu-
tojeinduftrie zu begünftigen. In Oeſterreich verlangen die interejfierten Snduftriellen
Paul Dehn, Weltwirtfchaftlihe Umfchan. 119
fogar die Einführung eines Ausfuhrzolles auf Rohholz. Aus Petersburg wurde im
legten Frühjahr gemeldet, daß die ruffifche Regierung dieNaphtaausfuhr zu befteuern gedenkt.
Wichtiger ift die Frage, ob in Befolgung des englifchen Beijpiels für Kohle die
Erzeugungsftaaten e8 aus irgend welchen Gründen für zweckmäßig erachten, auch auf
Nohbaummolle einen Ausfuhrzoll zu legen. Bisher hat die Erzeugung zwar fort:
gejeßt zugenommen, namentlic) auch in Nordamerifa, aber nicht minder ftark der Verbraud),
der in den mwichtigften Staaten von durchſchnittlich 1500 Mill. Kilogramm in den fiebziger
Nahren auf durchichnittlid) über 2500 Mill. Kilogramm in den neunziger Jahren ftieg.
Zunächſt find die Erzeugungsftaaten von Rohbaumwolle mit Erfolg darauf bedacht,
diefen Rohſtoff jelbjt zu verarbeiten. Das gilt nicht nur von Nordamerika, fondern auch
von Andien, China, Japan und Rußland. Längft vorüber find die Beiten, da Nord—
amerifa den größten Teil feiner Rohbaumwolle nach Europa fandte und von dort
baummollene Stoffe und Kleider bezog. Zu Beginn der neunziger Nahre erntete man
in Nordamerifa 10 Mill. Ballen Baumwolle, und es verarbeiteten die nordamerifaniichen
Fabrifen davon 2 Mill. Ballen. Am Jahre 1900 belief jich die nordamerifaniiche Ernte
auf 9/, Mill. Ballen, wovon 4 Mill. Ballen in den dortigen Fabriken zur Verarbeitung
gelangten. Innerhalb eines kurzen Nahrzehnts hat fich aljo der Bedarf ber nord:
amerifanifhen Anduftrie an Rohbaummolle verdoppelt, während die Ernte etwas zurück—
gegangen ift. Es liegt nahe, daß der nordamerifanijche Spinner unter günftigeren Be:
dingungen arbeitet als jeine Konkurrenten in Yändern ohne eigene Erzeugung des Roh:
jtoffes, weil er, wie man in Nordamerika zu jagen pflegt, „über den Zaun” fauft, weil
er ganz bedeutende Fracht, Vermittlungs- und Verficherungsgebühren erfparen fann, die
beiläufig auf 20 p&t. der Fabrikationskoſten in der Spinnerei veranicjlagt werden. Au
Anfang der neunziger Jahre beſaßen die Südftaaten von Nordamerika nur 1'/, Mill.,
gegenwärtig zählt man dort etwa 5 Mill. Baummollipindeln. Borausfichtlic wird dieje
induftrielle Entwidlung weiter gehen und Nordamerifa immer mehr und mehr jelbit
jeine Robftoffe zu Fabrifaten verarbeiten.
Da haben nun die Engländer mit ihrem Stohlenausfuhrzoll den Nordamerifanern
ein allem Anjchein nach jehr wirkungsvolles Mittel gezeigt, wie man es anfangen fan,
die heimische Induſtrie zu ſchützen und zu kräftigen und die fremde Konkurrenz zu
ihädigen. Mit beſſeren Gründen als die Engländer einen Kohlenausfuhrzoll könnten die
Nordamerifaner einen Baunmollausfuhrzoll einführen. Ein nordamerifanticher Baum:
wollausfuhrzoll würde nicht nur finanziell ſehr ergiebig fein, jondern auch die nord:
amerikanische Baummwollinduftrie nahhaltig kräftigen, er würde überdies unbedingt vom
Auslande getragen werden mülfen.
Nordamerika hat in Rohbaummolle eine Art von natürlichem Monopol. In den
wichtigsten europäifchen Anduftrieftaaten wird gang überwiegend nordamerifaniiche Baum:
wolle verarbeitet, troßdem die eghptiiche Baumwolle gemwilfe Vorzüge befitt. England
bezog in den legten Jahren reichlich Dreiviertel jeines Bedarfs an Rohbaumwolle aus
Nordamerika, wie aus umftehender Ueberficht hervorgeht.
Deutichland führte im Jahre 1900 31,3 Mill. Doppelcentner Rohbaumwolle ein,
davon 25,6 Mill. aus Nordamerika, 2,6 Mill. aus Britiſch-Oſtindien und 2,6 Mill.
aus Eghpten.
120 Paul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umschau.
Englands Einfuhr an Rohbbaummolle.
Wert in Mill. Mark.
| 1896 1897 | 1898 | 1899 1900
nn — — — * - — — — — — * 7
Bereintgte Staaten von Nordamerika 60 | 4 550
408 | 604
Goubeen - - 6 17 | 156 180
Oſt⸗ Indien
Brafilien
Bert... ..
Andere Staaten
An ihrer Dandelspolitit haben die Vereinigten Staaten eine fteigende Rüdfichts-
Lofigfeit befundet und fie ungehindert durchführen fünnen, da man es in Europa nicht
für zweckmäßig bielt, Bergeltungsmahregeln zu ergreifen. Kenner nordamerifanijcher
Berhältniffe halten es für fehr wahrjcheinlich, da& der neue deutjche Bolltarifentwurf
die nordamerifaniihen Bolitifer nicht verftimmen, fondern von ihnen als eine begreifliche
"Verschärfung der deutihen Schußzollpolitif angefehen und als Grundlage für den Ab-
ichluß eines neuen Dandelsvertrages mit Deutichland angenommen werden dürfte.
Dagegen würden nordamerifaniiche Ausfuhrintereflen in großem Umfange gejchädigt
werden, wenn der größerbritiiche Zollverband troß all der großen politischen und wirt—
ihaftlihen Dindernifle, die fih ihm entgegenitellen, feiner Berwirflichung näher rüden,
wenn in Britiid-Südafrifa und in dem geeinigten Auftralien Vorzugszölle zu guniten
der englischen und zum Nachteil der fremden, alſo auch der nordamerifanifchen Erzeugniffe
eingeführt werden jollten. In diefem Falle würden die Nordamerifaner vermutlich nicht
zögern, Maßregeln zu ergreifen, um England an feiner empfindlichiten Stelle zu treffen.
Und da bietet fid) den Nordamerifanern eine fharfe Waffe, mit der fie den europäiichen
nduftrieftaaten, in erjter Reihe aber dem britifchen Reiche, einen empfindlichen Schlag
verſetzen können, nämlid die Einführung eines Ausfuhrzolles für nordamerifa-
niſche Baummolle Mit einem ſolchen Ausfuhrzoll würde Nordamerika die europäiſche
Baummollinduftrie fchädigen, ihr die Aufuhr des erforderlichen Rohftoffes erſchweren
und berteuern, zugleich der heimiihen Baummollinduftrie den Rohſtoff zu bejonders
billigen Preiſen fihern und fie dadurd) auf dem Weltmarkt nicht nur konkurrenzfähig,
jondern fonfurrenzüberlegen machen.
Ein nordamerifanischer Baummwollausfuhrzoll würde England zwar nicht an—
nähernd in jolche Kriſis ftürzen, wie es fie zu Anfang der fechziger Jahre durchmachen
mußte, als infolge des Bürgerfrieges die nordamerifaniihe Baummwollausfuhr nahezu
aufhörte. Aber die engliiche Tertilindustrie mit ihrer gewaltigen Ausfuhr würde auf
den Weltmarkt ihre bisherige Vorherrichaft wahricheinlih an Nordamerifa abtreten
müſſen, da ihr die nordamerifanische Baummolle unentbehrlich ift. Die indiiche Baum:
wolle iſt jchledhter umd teurer, fie findet außerdem in Indien und Oftafien ausreidyenden
Abſatz und kommt nach England nur noch in ganz geringen Mengen. Keinesfalls kann
indische durdy nordamerifanische Baummolle erjegt werden. Zu Anfang der jechziger
Baul Dehn, Weltwirtſchaftliche Umſchau. 121
Nahre waren die Berlufte Englands infolge der Baummollkrifis groß, aber doch nur
vorübergehend. ine lintergrabung der engliihen Baummollinduftrie durch nord»
amerifanifche Baummollausfuhrzölle und die Befeitigung der Derrichaft, ja des Monopols
der engliihen Baummollinduftrie auf dem Weltmarkt durch die nordamerifanijche Kon—
furrenz würden die induftrielle Entwidlung Englands auf das Nachteiligfte beeinfluffen
und neue große Wandlungen in der Weltwirtichaft einleiten.
Mohl hätte auch Deutichland unter einem nordamerifaniiden Baummwollausfuhr:
zoll zu leiden, aber nicht annähernd in ſolchem Make wie England. Deutichlands
wichtigfte Tertilinduftrie ift die Wollinduftrie, die ungzweifelhaften Nuten ziehen wird,
wenn die Entwidlung der Baummollinduftrie durch einen Ausfuhrzoll für nord:
amerifanijhe Baummolle erſchwert werden follte.
Außerdem würde man in Deutichland durch die Not der neuen Lage genötigt werden,
was feineswegs als ein Unglück zu betradıten ift, den Kolonieen größere Aufmerkjamfeit
zu widmen, fie thatfräftiger als bisher für das Neich nutzbar zu machen und dort aud)
die Baummollfultur zu entwideln, vor allem in Togo, wo man im Begriffe fteht, zu
dieſem Zwed farbige Baummollpflanzer aus Alabama heranzuzichen. Tauſende tüchtiger
Neger in Nordamerifa fjollen bereit fein, nad) Togo auszuwandern, um dort eine
Baumwollzucht zu begründen, wie fie in Nordamerifa lediglich durch Negerarbeit ge
Iihaffen wurde Alle Berfuche, in Afrita Baummollpflanzungen mit weißen Arbeitern
anzulegen, jcheiterten an dem heißen Klima. Auch in den Niederungen des Euphrat und
Tigris dürfte Baumwolle mit Erfolg angebaut werden können, und es ift zu hoffen,
dag mit dem meiteren Ausbau der PBagdadbahn auch diefe Gegend zur Dedung des
mitteleuropäifchen Bedarfes fruchtbar gemacht werden wird.
Berhältnismäkig am günftigften ſteht Rußland da, das jeit Beginn der adıtziger
Nahre in Turfeftan die Baummollfultur beförderte und zwar mit ſolchem Grfolge, dat
im fahre 1900 bereits 1 Mill. Doppelcentner zum Kajpiihen Meer gebracht werden
fonnten. Schon beziehen die ruſſiſchen Fabriken einen großen Teil ihres Bedarfes nicht
mehr aus Amerifa, und in abjehbarer Zeit wird Rußland auch in dieſer Dinficht un
abhängig geworden jein.
* * *
Nur der Levantehandel iſt noch frei und für Deutſchland jo günſtig als möglich.
Man läßt dieſen Handel den Franzoſen, Engländern und Holländern. Nach Smhrna,
nach Aleppo, nach Kairo ſollten unſere Haufmannsjöhne gehen. Hätten die wirtſchafts—
politiſchen Beſtrebungen der deutſchen Handelsſtädte im alten Reiche nicht Anfeindung,
ſondern Förderung gefunden, ſo würde nicht ein Engländer, ſondern ein Deutſcher am
Ganges Befehle erteilen. So ungefähr ſchrieb Juſtus Moeſer, der patriotiſche Rat
von Osnabrück, im Jahre 1763. Viel hat ſich ſeither geändert. Das Deutſche Reich
iſt politiſch und wirtſchaftlich aufgeſtiegen. Aber gerade in der Yevante, die ihm näher
liegt als Nordamerifa und günftigere NAusfichten fiir wirtichaftliche Thätigkeit bietet als
Afrifa oder China, hat es erit unbedeutende Fortichritte gemacht und noch nicht jene
Stellung errungen, wie fie bei nationaler Bethätigung feines Großkapitals längſt zu
erreichen gewejen wäre.
122 Paul Dehn, Weltwirtichaftliche Umſchau.
Auf die Bedeutung Klein-Aſiens haben zuerft Deutfche hingewieſen, vor allem der
Hallenſer Profeſſor Yudwig Roß in feinem Buche „Klein-Aften und Deutichland, Reife:
briefe und Auffäge mit Bezugnahme auf die Möglichkeit deutſcher Niederlafjungen in
Kleinafien“ (Halle 1850), dann Moltfe in feinen Briefer aus der Türkei, endlich
Dr. A. Sprenger, Profeffor und früher Vorfteher der mohammedaniichen Hochichule von
Kalfutta, in jeiner Schrift „Babylonien, das reichfte Yand der Vorzeit und das lohnendſte
Ktolonijationsfeld für die Gegenwart“. Praktiſche Arbeit leiftete Wilhelm BPreffel, der
ichwäbiiche ingenieur, der ichon im Jahre 1872 das Eleinaftatiiche Eiienbahnnet, fo wie
ed ausgebaut werden wird, im weſentlichen feſtſtellte und fpäter einen umfaffenden Plan
für die Stolonifterung Klein-Aſiens entwarf. Alle dieje Pioniere deutſcher Koloni—
jation blieben ohne Unterftügung deutjchen Kapitals. Franzöſiſche und englijche
Stapitaliften bauten die erften Eifenbahnen in Klein-Aſien, engliihe von Smyrna aus,
franzöfifche ebenfalls von Smyrna aus, ferner von Skutari nad; Ismidt und einige
Strefen in Sprien.
Erſt durch einen Agenten, der fi aus anderen Gründen in Konstantinopel aufhielt,
wurde die Aufmerkſamkeit der deutichen Hochfinanz auf Hlein-Afien gerichtet und bie
Deutiche Bank übernahm, nachdem fie die Strede Skutari—Ismidt angefauft hatte,
deren Fortführung in der Richtung nach Bagdad, wobei fie den hochverdienten Wilhelm
Preſſel mit jeinen Vorarbeiten zwar bemutte, aber wenig rückſichtsvoll bei ſeite fchob.
‚rertig gejtellt wurden von diefer Bahn bisher etwa 1000 km, 578 bi8 Angora und
445 km bis Sonia. Da beide Streden in derjelben Richtung laufen, die Ueberlandbahn
bis zum Berfiichen Meerbujen aber eine Länge von rund 2500 km erreichen würde, io
ift alfo von diefer Ueberlandbahn erft der fünfte Teil gebaut worden. Die ganze Bahn
wird ein Kapital von mindeitens 500 Mill. Mark erfordern. Indeſſen übernimmt die
Sejeflichaft Fein befonders Wagnis, da die türkische Negierung eine beſtimmte Mindeft-
einnahme für den Stilometer verbürgt. Seit Nahr und Tag ſtockt der Weiterbau, weil
die türkische Regierung zögert, diefe finanzielle Bürgſchaft auch für die weiteren Streifen
auf fich zu nehmen. Die Anatoliihe Bahngeiellihaft befist vorläufig nur die Vorkon—
zeſſion für die Erbauung der Bagdadbahn, es befteht nur ein Borvertrag. Der endgültige
Vertragsichluß ift noch vorbehalten worden, aber die Anatoliiche Eifenbahngefellichaft
befitst unter allen Umftänden das Vorredt.
Bon bornherein war zu beforgen, daß gegen die Anatolifche Eifenbahngefellichaft,
wenn fie als ein deutichenationales Unternehmen herbortrat, Ränke aller Art verjucht
werden würden. Das trat bald hervor. Engliſche Agenten waren bemüht, die Kon—
zeſſionserteilung an die deutiche Geſellſchaft zu durchfreuzen, fie unterboten die Deutjchen
Icheinbar, fie erflärten, die Bahn ohne jede Zinsbürgichaft bauen zu wollen, womit e8
ihnen indeifen durchaus nicht ernſt war. Nach der letzten Orientreiſe des Kaiſers er:
neuerten die engliichen Blätter ihre Verdächtigungen. Deutichland wolle die türkiiche
Erbichaft antreten, die Vormacht in Klein-Aſien werden, die ruffifchen Bahnpläne durch—
freuzen und begründete Rechte Ruklands jchädigen. In der ruffiihen Preſſe fanden
diefe Verdächtigungen empfängliche Aufnahme. Am widerwärtigſten benahm fich auch
hier wieder die Londoner „Times“, die Ende 1899 verficherte, es gäbe feine Macht, der
England die fragliche Konzeſſion lieber bewilligt gejehen hätte. Indeſſen habe Rußland
Paul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umfchau. 123
ein lebhaftes Sintereffe an der möglihen Schwäche der Türkei, Rußland müfje alfo mit
äußerftem Mißfallen auf eine Bethätigung des deutichen Unternehmungsgeiftes bliden,
deffen Ergebniffe zur wirtſchaftlichen und politiichen Kräftigung des türfifchen Reiches
beitragen!
Thatjählid nahm die Anatoliihe Eiſenbahngeſellſchaft die größte Rückſicht auf die
rusfischen Intereſſen. Man war beftrebt, der ruffiichsperfiichen Grenze nicht zu nahe zu
fommen. Rußland will jelbft nad) dem Perſiſchen Meerbujen bauen und wünſcht Feine
Konkurrenz. Die Eleinafiatifche Ueberlandbahn foll nicht als Tigrisbahn über Diarbefr
gebaut werden, fondern mehr als Euphratlinie, obwohl diefe technisch und wirtjchaftlich
nad) den Ermittelungen Preſſels weniger günftig ſchien. Da inzwijchen Rußland mit der
Türkei ein Abkommen abgejchloffen hat, wonach öjtlih von Heraklea (Eregli) am
Schwarzen Meer und nördlich von der Strede Angora-Diarbefr nur die Ruſſen oder
aber der türfifche Staat ſelbſt Eifenbahnen zu bauen das Recht haben, jo dürfte den
ruffiichen Anforderungen durd) diefe eigenartige Begrenzung einer ruffifchen Intereſſen—
iphäre im türkischen Klein-Aſien Genüge geichehen fein.
Außerdem festen fi) die deutichen Unternehmer mit franzöfiichen Kapitaliſten in
Verbindung und nahmen fie in die Gejellichaft mit einem Anteil von 40 Prozent des
Kapitals auf, jo daß thatjächlich die Anatolifche Eifenbahngejellihaft nicht eine deutjche
Sejellichaft ift, fondern eine deutſch-franzöſiſche mit 60 Prozent deutfchem und 40 Prozent
franzöfiihem Kapital. Zu diefer Verbindung joll Kaiſer Wilhelm felbjt geraten haben.
Und diefer Rat war gut. Denn ein rein deutsches Unternehmen oder eine deutich-englifche
Sruppierung hätte das Miktrauen und die Eiferfucht der Ruſſen auf das Meußerfte
erregt. In einer deutſch-franzöſiſchen Gefellihaft dagegen Fonnte Rußland feine poli—
tiiche Konkurrenz erbliden, eine deutſch-franzöſiſche Gejellichaft konnte e8 nicht von vorn—
herein feindlich behandeln. Mitte 1901 war die Rede davon, dak auch ruffiiches Kapital
zu dem Unternehmen herangezogen werden follte Die deutihen Teilnehmer wollten
von ihren 60 Prozent und die franzöfiichen von ihren 40 Prozent den Ruffen je 5 Prozent
ablaffen, fo daß aljo unter Aufrechterhaltung des Mehrheitöverhältniffes die ruffischen
Ktapitaliften mit 10 Prozent beteiligt worden wären, dod) jcheint dieſer Gedanke nicht
verwirflidit worden zu jein. Thatſächlich haben einige ruſſiſche Organe wieder ent-
ichiedener gegen das ganze Unternehmen Stellung genommen. Deutichland werde ernten,
jo derficherten die ruſſiſchen Blätter, was Rußland blutig gejäet habe, die Zukunft Klein—
Aliens werde dem Deutſchen Reiche gehören, es werde Anatolien und Mejopotamien
wirtfchaftlih erobern und Klein-Aſien von fic) abhängig maden. Das Eleinaftatiiche
Getreide werde das rufftiche verdrängen u. j. wm. Als Ende Juli 1901 das Pariſer
„Journal des Debats“ die Unterftüßung des Bagdadbahnunternehmens durch Frankreich
empfahl, erblidte in diefer Empfehlung die „Nomwoje Wremja“ eine Art von FFelonie.
Die Bagdadbahn, ſchrieb diejes Blatt, werde nicht für Frankreich, jondern für Deutid)-
land von Nuten fein; von Hamburg bis zum Berfiihen Meerbufen würden die Deutichen
herrichen, einen Schnitt durch ganz Europa und Südafien führen und die ſlaviſche
Welt auf lange, wenn nicht auf immer von der lateinischen trennen. Die Bagdadbahn
wurde von dem Beteröburger Blatt als einer der jehnlichiten Wünjche der Bangermanen
erflärt mit dem Bemerfen, wenn Frankreich für diefe Bahn wirfe, arbeite es gegen ſich
124 Paul Debn, Weltmwirtfchaftliche Umſchau
felbft und für die Kräftigung feines Erbfeindes. Bei richtiger Auffaffung der nationalen
ntereffen Frankreichs müßten die Franzoſen gegen die Bagdadbahn thatkräftig Ein-
ipruch erheben, weil fie Rußland politisch wie wirtichaftlich ſchwäche, daher auch SFrant:
reich zu Grunde richte und den Flügeln des deutjchen Adlers eine Kraft verleihe wie
nie zuvor.
Uns mill es jcheinen, als gefällt man fich in einer weitgehenden Ueberfchägung der
Bagdadbahn. Auch in Deutichland irrt man, menn man annimmt, daß die Bagdadbahn
nad) ihrer Vollendung im ftande fein werde, den indifch-europätfchen Handel wieder wie
in früheren Jahrhunderten auf den Landweg über Mitteleuropa zurückzulenken. Man
geht dabei von einer falichen Vorausjekung aus, nämlich von der Annahme, daß Die
Ueberlandbahn Bagdad— Konftantinopel—Peit— Wien —Köln— London gegenüber dem See-
wege nidht nur fonfurrenzfähig, fondern jogar fonfurrenzüberlegen fein wird. Das ift aber
bon vornherein ausgeſchloſſen. Konkurrenzfähig ift die Bagdadbahn nur in Bezug auf
den Eil- und Ballagierverfehr, den fie nach ihrer FFertigitellung alsbald übernehmen
wird, weil fie jchneller befördert als der Seeweg. Aber der Frachtverkehr wird nad)
wie vor dem Ecemwege verbleiben, weil dieſer undergleichlich billiger if. Vom Schwarzen
Meer wie von der ganzen Yevante aus werden durchichnittlich 100 Kilogramm Fracht—
gut auf dem weiten Umwege zur See nad den Nordjeehäfen um 1 Mark, häufig jogar
noch billiger verfrachtet, während die Eifenbahnen, troßdem fie einen erheblicd; fürzeren
Weg zurüczulegen haben, annähernd das Fünffache beredinen. So erklärt es ſich, daß
der ganze Maffenverfehr zwiichen dem Nordoften und dem Südweſten Europas den
billigen Seeweg benugt. Genau dasjelbe Verhältnis wird fi im Verkehr zwiſchen dem
Perſiſchen Meerbuien und Indien eimerjeits mit der Pevante und Europa andererieits
enttwiceln. Die Bagdadbahn muß mit viel zu hohen Tarifen arbeiten und kann ar
eine Konfurrenzierung des billigen Seeweges gar nicht denfen. Auch hochwertige Güter
werden die Bagdadbahn wenn irgend möglidy vermeiden. Selbſt die Fleinafiatiichen
Bitter werden zur Erlangung billiger Frachten immer jo bald als möglid den Seewen
zu erreichen fuchen, jei es nun bei Ismidt, Alerandrette oder einem anderen geeigneten
stüftenpunft. Vom Meere flankiert, d. h. vom Seewege fonfurrenziert wird die Bagdad-
bahn ſich im wejentlihen auf den örtlichen Verkehr beichränfen müffen. Ein großer
Durchgangsverkehr von Gittern wird ſich auf der Bandadbahn jo wenig entwideln, mie
er fich auf den füdofteuropäiichen Bahnen im Verkehr zwiſchen Mlitteleuropa und dem
näheren Orient einstellen konnte.
Uebertrieben ericheinen ums aud) die Befürchtungen agrariicher Kreiſe über Die
Belebung des anatoliichen Setreidebaues durd die Baqdadbahn, alie über die Schaffung
einer neuen Nonfurrenz für die deutiche Yandwirtichaft. Diefe Möglichkeit liegt vorläufig
in jo weiter Ferne wie die Vollendung der Bagdadbahır ſelbſt. Bis dahin können ſich
in der weltwirtichaftlichen Entwicklung eingreifende Wandlungen vollzogen haben, bis
dahin kann an die Stelle der Auvielerzeuqung von Getreide ein Zuvielverbraud ge
treten fein, fo da Zufuhren aus Klein-Aften willkommen jein müßten. Aber diefe Zu:
fuhren find nur möglich unter Borausjegungen, die gerade unter den türkiſchen Ver—
hältniffen nicht leicht herzuſtellen find. Die Wiederaufrichtung der Landwirtſchaft in
Anatolien wird bei der Schwäche dev türfifchen Negierung nur äußerſt langjam von
Baul Dehn, Weltwirtichaftliche Umſchan. 125
ftatten gehen. Und erweift fi) das Innere Klein-Aſiens wirklich in Landwirtjchaftlichen
Erzeugniffen ausfuhrkräftig, dann find die hohen Bahnfrachten zu überwinden, bevor
das Getreide zur See gelangt, und jo wird die neue Konkurrenz vorausſichtlich nicht
annähernd jo drüdend werden, wie man in manchen deutjchen Streifen befürchten zu
müjlen glaubt.
Da die Bagdadbahn unter allen Umjtänden einmal gebaut werden wird, jo ift es
auf jeden Fall erwünſcht, wenn diejes große Berfehrsunternehmen unter überwiegend
deutfchem Einfluffe fteht.
* *
Für den großen internationalen Durchgangsfrachtverkehhr werden Ueberlandbahnen,
mögen fie auch halbe Erdteile durchziehen, niemals eine Bedeutung erlangen, wen fie
von dem Seewege mit feiner überlegenen Billigkeit fonfurrenziert werden. Das gilt in
noch höherem Grade als von der Bagdadbahı von einer ganzen Reihe großer Ueber—
(andbahnpläne, die in neuefter Zeit von fih reden machten. So wurde vor Jahr und
Tag gemeldet, daß die Engländer eine Konkurrenz gegen die Bagdadbahn bauen wollen,
und zwar bon Kairo aus quer durch das öde Arabien in der Richtung auf Komeit am
Perſiſchen Meerbufen, wo aud die Bagdadbahn ausmünden joll. Indeſſen wird Dieje
engliiche Bahn niemals gebaut werden, weil fie nur für den Poſt- und Perſonenverkehr
in Betracht fommen fann.
Aus denfelben Gründen verfehlt ericheint aud) der Rhodesſche Plan einer Eijen-
bahn von Kairo nad) Kapftadt, die fid nur aus politifchen Erwägungen erflären läßt
als Unterlage für die Verwirklichung des größerbritiichen Zieles: Afrika englifh vom
Kap bis zum Nil! Als Ueberlandbahn hat fie nicht die geringfte Dafeinsberechtigung.
Auf Durdgangsgüter muß fie von vornherein verzichten und nur wenige Reifende dürften
fich bereit finden, aud) nur verfuchsweije den bewährten Seeweg mit dem bequemen
Schnelldampfer zu verlaffen und die lange Fahrt mit der Bahn durch Eindden und
Wüften zu unternehmen. In Afrika laſſen ſich grundſätzlich nur folhe Bahnen recht—
fertigen, die von der Küſte aus in das Innere gehen und dem Binnenverfehr eine neue
Verbindung mit dem Seewege eröffnen.
Nicht ernfthaft zu nehmen ift endlich die jogenannte panamerifanifche Eifenbahn,
die New-York und Buenos-Mires verbinden joll. Diefe Bahn hat als Ueberlandbahn
gar feinen und für die einzelnen Staaten nur jo geringen Wert, daß dafür unverhältnis-
mäßige Opfer gebracht werden müßten. Die panamerikanifche Eifenbahn ift, wie die
Stap-Rairobahn, nur ein Erzeugnis politiicher Unterftrömungen.
Welche Erwartungen hat man an die fibirische Eifenbahn geknüpft! Von ruffischen
Blättern wurde verfichert, daß jie eine „Bulsader des Welthandels“, dab fie eine „Welt:
handelsjtraße erjten Ranges“ werden und Berlin zum Mittelpunkt des Welthandels
maden würde. Indeſſen kann die fibirifsche Bahn niemald mit dem Seewege in Son:
furreng treten, da ihre Frachten viel zu hoch find. Von Bremen nad) Schanghai ver:
fradhtet der Norddeutiche Lloyd auf dem Seewege (rund 22000 $ilometer) eine Tonne
glei 1000 Kilogramm Güter für 25 bis 32'/, Marf mit einer Lieferungsfrift von 43 bis
47 Tagen. Der Eijenbahnmeg von Bremen nad) Wladiwoftof ift nur 11000 Kilometer,
1206 Paul Debn, Weltwirtfchaftliche Umſchau.
alio nur halb jo lang wie der Seeweg. Nimmt man an, daß auf diefer Eifenbahn die
Güter zum billigften deutſchen Sat gefahren werden, zu 2 Pfennig für den Tonnen:
filometer, d.Ch. daß die Beförderung von 1000 $tilogramm 1 Kilometer weit 2 Pfennig
foftet, jo würde 1 Tonne von 1000 Kilogramm von Bremen nad) Schanghai 11 000 x
2* 220 Mark koften, aljo ungefähr das Achtfache der durchſchnittlichen Säte des Nord-
deutichen Lloyd! Dabei würde die Lieferzeit auf der fibirifchen Bahn wenigftens vor-
(äufig nicht kürzer jein. Dazu kommt, daß die Peiftungsfähigfeit der fibiriichen Bahn
wenigitens vorläufig noch jehr beichränft, die Leiltungsfähigkeit des Norddeutihen Lloyd
dagegen jozujagen unbeichränft it. Auf dem Seewege unterliegen die Frachten feiner
Umladung, wohl aber auf der Eijenbahn, mindejtens beim Uebergang über die ruffifche
Grenze. Für den Güterverkehr wird Oſtaſien durch die fibirifche Bahn nicht näher an
Mitteleuropa herangerücdt, wohl aber wird im äußerjten DOften Sibiriend durch die
jibirifche Bahn ein wirtjchaftliches Gebiet erweitert, das bisher nur von der Seejeite zu
erreichen war und nun durch die jibirische Bahn weiter nad) innen hin aufgeſchloſſen
worden ift. Bekanntlich hat fid) daraufhin in Hamburg eine Deutjch-fibiriiche Handels—
und Sciffahrtögeiellichaft gebildet für die Entwicklung des Handels zwiichen dem Amur—
gebiet und Deutjchland.
æa Das deutiche Meer.
Sei mir gegrüßt, du deutiches Meer Wohl wiegt Du Deiner Söhne Schar
Mit Deiner grünen Wogen Rollen, In rauhgewalt'ger Wellenwiege,
Geliebte Nordiee, groß und hehr Dodı madit Du Ihre Augen klar
In Sonnenglait und Sturmesgrollen! Und ihre Sehnen Itark zum Siege.
Wie ieh’ ich gern von hohem Deck Ein Kiel, den Du im Zorn umtobt,
Auf Dir die fernen Segel gleiten, Darf kühnlicd zieh'n auf Abenteuer;
Wenn vor dem Bug und hinterm Hech Wer Dir getroßt, der lit erprobt,
Sich endlos Deine Waller breiten! Zu treten ke an jedes Steuer. —
Stürmit Du in grauligwilder Pracht Ob felten aud ein Lächeln bricht
Ans Bollwerk Deiner Inieldünen, Durd Deinen Ernit mit mildem Scheine
Dann dröhnt es durd die Frühlingsnacht Wer redıt Dir fah ins Angelict,
Gleich lautem Schlachtgelang der Hünen. Der bleibt fürs eben treu der Deine.
Für jeden Kummer, jedes Weh
Birgit Du den Troft im Wellenikhoße. —
Nimm mid ans Berz, o deutiche See,
Du ewigicdöne, ewiggroße!
©
Reinhold Fuds.
SEA Ee8 889898
Monatsbericte über deutiche innere Politik.
Von
Wilhelm von Maifow.
J.
Einleitende Betrachtung.
R" 16. Juni d. J. hielt der Neichöfangler Graf v. Bülow bei der Enthüllung des
Nationaldenfmals für den Fürften Bismard eine Rede, die das Verhältnis der heutigen
deutichen Politik zu der des Fürften Bismard ſcharf beleuchtete. „Er ift,“ jo zeichnete
der Kanzler die Bedeutung feines großen Vorgängers, „der Ausgangspunkt und Bahn:
brecher einer neuen Zeit für das deutiche Volk geworden. An jeder Hinficht ftehen wir
auf feinen Schultern. Nicht in dem Sinne, als ob es vaterländiiche Pflicht wäre, alles
zu billigen, was er gejagt und gethan hat. Nur Thoren oder Fanatiker werden behaupten
wollen, daß Fürſt Bismard niemals geirrt habe. Auch nicht in dem Sinne, als ob er
Marimen aufgeftellt hätte, die nun unter allen Umftänden, in jedem Falle und in jeder
Yage blindlings anzuwenden wären. Starre Dogmen gibt es weder im politischen, nod)
im wirtichaftlichen Yeben, und gerade Fürſt Bismarck hat von der Doftrin nicht viel
gehalten. Aber was uns Fürft Bismarcd gelehrt hat, ift, daß nicht perfünliche Lieb—
habereien, nicht populäre Augenblidsftrömungen, noch graue Theorie, jondern immer nur
das wirkliche und dauernde Antereffe der Volksgemeinſchaft, die salus publica, die Richt:
ſchnur einer vernünftigen und fittlich berechtigten Politik fein darf.“
Es ift bezeichnend, dab diefe Worte angefochten worden find, und zwar nicht von
den alten Gegnern des Fürften Bismard, fondern im Namen bismärdifcher Politik.
Fürſt Herbert Bismard ſelbſt hat kurz darauf in einer Anſprache an eine ftudentifche
Abordnung einige Bemerkungen nicht unterdrüden fünnen, die eine fcharfe Spitze gegen
die Bülowſche Rede enthielten. Und doch wird Fürft Herbert Bismard ficherlich davon
durchdrungen fein, daß nichts verfehrter jein würde, als der Politik feines großen Vaters
einen doftrinären Gharafter beizulegen. Niemals hat Fürft Bismard fih auf eine
politifhe Theorie feitgelegt. Grundlagen und Ziele feiner Politik find die denkbar all:
gemeinften gewefen, die für jedes Land und jede Zeit gelten. Er wollte die Macht und
Größe feines Baterlandes jchaffen, und jein ftaatsmännifcher Genius bejtand darin, daß
er zu jeder Zeit die äußerlich gegebenen Mittel und Möglichkeiten im Einklang mit dem
Pulsſchlag des deutichen Volkes zu erfaffen wußte. Gerade das wird der politische
heoretifer niemals können. Er wird die Neigung haben, jein Staatsideal verftandes-
mäßig auszumalen, und in dem Zuſammenſtoß jeiner Pläne mit der rauhen Wirklichkeit
Gefahr Taufen, manches zu überfehen und ſchief zu beurtheilen, was zum Gelingen führen
128 Wilhelm von Maſſow, Monatsberichte ber deutfche innere Bolttik.
fünnte. Der echte Staatsmann aber, der ein großes und weites Biel einmal mit dem
Herzen erfaßt hat, vermag mit voller Sicherheit in die Wirren der Tageskämpfe hinabzu-
fteigen ohne die Gefahr, darin zu verjinfen oder die Klarheit des Blickes zu verlieren.
‘a, je jchärfer er das Gebot des Augenblids, die Bedentung der gegebenen äußeren
Umftände erfaßt, deſto größer und erfolgreicher wird er jein; denn jein Xeitftern zum
großen Biel bleibt trog alles Wechfels im Grunde feiner Seele unverrüdbar. Es ift
ein Irrtum, wenn man einen großen Staatsmann dadurd zu feiern und zu erheben
glaubt, daß man leugnet, er jei ein Kind feiner Zeit geweien. Nein, er muß es jogar
fein; nur in der Fähigkeit, au$ den wirr durcheinander laufenden Zeitjtrömungen einen
gropen Gedanken zu formen, zeigt ſich die Kraft des ftaatSmännijchen Genies. So ift
aud) Fürft Bismard ganz und gar ein Kind jeines Zeitalter gewejen, Vertreter be:
ftimmter Anſchauungen über Staat und Gejellichaft, die vielleicht einmal nicht mehr jein
werden. Es iſt notwendig, diefe Wahrheit in aller Schärfe hinzuftellen und fich klar
zu macden, daß man dem Begründer des Reichs unauslöſchliche Danfbarfeit bewahren,
daß man von ihm als unvergleihlihem Meifter der Staatöfunft ſtets aufs neue lernen
und Doc fid) bewußt werden fann, daß die Gegenivart ſtets neue Aufgaben ftellt, die
aud) über den größten Staatsmann der Welt einmal hinausmweijen. Unvergänglid)
bleiben nur die grundfäglichen Yehren über die Art des Anfaffens politischer Aufgaben,
wie fie fi aus dem vorbildlichen Wirken eines großen Mannes von jelbjt ergeben, und
in dem Hervorheben diejes bleibenden Anhalts der Bismardihen Schule iſt Graf
Billows Rede geradezu muftergiltig zu nennen. Wenn nun trogdem gerade aus dem
Kreiſe derer, die dem Fürſten Bismark im Leben nahe ftanden, gegen diefe Fafjung
feiner Lehre Widerſpruch erhoben wird, jo muß eine Unterlage für die Befürchtung vor-
handen jein, daß felbft die Befolgung Bismardicher Grundjäge in der Politif nicht das
Einichlagen völlig neuer Wege hindern fann. Wir haben darin ein Merfzeichen, wie
weit twir bereit über das Zeitalter Bismards hinausgewachſen find.
Dem ift in der That jo. Der Mann, der mit gigantiicher Kraft alle die Hinder—
niffe hinwegzuräumen hatte, die der politischen Einigung Deutjchlands entgegenftanden,
fonnte bei aller Weite und Klarheit feines Blicks doch nicht die Fülle reifer Kraft ahnen,
die in dem deutjchen Volke nur der Entfeffelung harrte, um fidy überreich zu entfalten.
Wer jelbjt ſchwere Hebearbeit zu verrichten hat, kann fich nicht jo leicht vergegenmwärtigen,
twie leicht jpäter die Maffe ins Rollen fommt. Wohl hat aud) Bismard geglaubt, Frau
Germania werde reiten fünnen, wenn man fie in den Sattel gejegt habe. Aber dat
Frau Germania alsbald ein jo fräftiges Galopptempo einjchlagen würde, fonnte er nicht
borausjehen.
Was das Antlik der Yage in verhältnismäßig jo kurzer Zeit vollitändig verändert
bat, ift der ungeheure Aufichwung des mirtichaftlichen Lebens, der alsbald eintrat,
fobald die Schranke des Mißverhältniſſes zwiſchen der politifhen Stellung Deutichlands
anderen Mächten gegenüber und der im Volke vorhandenen, gejammelten kulturellen
Kraft gefallen war. Bismard hätte dem Deutjchen Reiche gern noch eine Zeit der
Sammlung und inneren Kräftigung gewünfcht, eine Friedens: und Kulturmiſſion, die
ſich Streng auf dem Boden des mit Blut und Eifen Errungenen hielt. Das Friedens—
prinzip ift, dank der weiſen Beſonnenheit unjerer Politif, dauernd feitgehalten worden,
Wilhelm von Maſſow, Monatsberichte über deutiche innere Politik. 129
aber die wirtichaftlichen Bedürfniffe der neugefeftigten und durch den politifchen Macht:
zuwachs beflügelten Volkskraft ſtrebten mit elementarer Gewalt über den engen Rahmen
hinaus. Unmerklich, aber doch mit jchnellen Schritten ift das deutiche Volk von jelbit
Dazu übergegangen, Weltpolitik zu treiben, eine Weltpolitik, die jchon um deswillen feine
Politit der Groberungen und politiihen Einmiſchungen jein konnte, weil die offizielle
Politik diefen Bedürfniſſen nur zögernd folgte und eher ein Gegengewicht als Unter-
früsung bot. Aber diefe Weltpolitif gewann eben ihre Bedeutung gerade dadurd), dai;
die Beteiligung des deutſchen Volkes am Welthandel feinen wirklichen Bedürfniffen und
Kräften genau angepaßt, durchaus nicht etwa Fünftlich gezüchtet und durch Machtgelüfte
geitügt war. Allmählich jedoch mußte die Zeit fommen, wo auch die Reichsgewalt diejer
Entwidlung nicht mehr zügernd folgen durfte, jondern die Führung übernehmen mußte.
Deshalb brauchte in der Art und Ausführung diejer Politik die Bismarckſche Schule
nicht verlaffen zu werden. Kaifer Wilhelm II. bat den eriten enticheidenden großen
Schritt in diefer neuen Richtung gewagt. Tb er den Schritt vielleicht zu früh gethan
bat, ob es richtig war, um der neuen Ideen willen auf eine ftaatsmännijche Kraft von
jo überragender Größe wie Bismard zu verzichten, che der natürliche Verlauf der Dinge
und höherer Ratjchluß diefe Notwendigkeit herbeiführte, dariiber wird erſt die Nadı-
welt zutreffend zu urteilen im ftande fein. Wir müſſen uns jedenfalls jagen, dag ein
Srollen mit dem Geſchehenen bei dem jetigen Stand der Entwicklung allermindeitens
eine grobe politiiche Pflichtvergeiienheit fein wirde. Wir ftehen der unabänderlichen
Thatſache gegenüber, dat ein Wandel bereits vollzogen it, dev dem deutichen Volk nicht
mehr geftattet, ın beichaulicher Ruhe alle Kraft allein auf den Ausbau feiner inneren
Einrichtungen zu veriwenden. Nicht der Wille eines Mächtigen, jondern eine aus wirt—
ichaftlichen Urjachen fließende Notwendigkeit treibt uns dazu, in friedlichen Wettbewerb
mit allen Völkern als weltwirtichaftlicher Faktor von Bedeutung unſern Plak aus-
zufüllen.
Welchen Einfluß bat nun dieſe Wandlung auf die innere Yage ausgeübt?
Zelbitverftändlih konnte die Entwiflung der Parteien davon nicht unberührt
bleiben. Die politischen Parteien haben aber der jchnellen Umgeftaltung unjerer Ber:
hältniffe nicht in gleichem Schritt folgen fünnen. Barteien haben überhaupt niemals
bejondere Anpaflungsfähigfeit an neue Verhältniſſe; erit durch Zerſetzungserſcheinungen
hindurch geht der Weg zu neuen Geftaltungen. Uniere Parteien ruhen noch heute auf
den Grundlagen, die ihnen durch die Aufgaben gegeben waren, die unfere politische Ent
wielung in den eriten zwei Dritteln des 19. Nahrhunderts beitimmt haben. Pieles
davon hat ja noch heute Gültigkeit. Selbſtverſtändlich giebt es feine Scheidewand
zwiichen zwei Zeitaltern, jondern nur allmähliche Uebergänge, und auch heute noch find
Zeile der Aufgaben zu Löten, die jchon uniere Väter beichäftigt haben. Außerdem
bleiben gewiſſe Grumdverichiedenheiten der Anjchauung durch alle Zeitalter beitehen,
wenn fie auch in den Ericheimmgsformen wechſeln. Stets wird es auf der einen Eeite
Yeute geben, die das Wohl des Ginzelnen am beiten in dem bejonnenen Nusbau und
organiihen Wachstum der Gemeinschaft, des Staates und der Geiellichaft gewahrt
glauben, und auf der anderen Seite jolche, die dem Einzelnen auf Grund der Bedürf-
niffe der Gegenwart möglichite Bemwegungsfreiheit wünjchen und überzeugt jind, dab
9
130 Wilhelm von Maſſow, Monatsberichte über deutsche innere Bolitik.
dabei auc das Ganze am beiten fährt. Mag man num heute jene fonfervativ und Diele
liberal, oder mag man fie nach hundert Jahren vielleicht anders nennen, das Weſen
diefes Unterſchieds wird ſtets bleiben, Jo lange es Menjchen giebt und wir Staatsfornen
haben, die überhaupt ein politiiches Yeben geftatten. Nicht nötig aber ift, daß dieje
Gegenſätze beitändig im Vordergrund ftehen und man verjucht, fie in grundjäßlicher
Fehde zum Austrag zu bringen, während wichtigere Aufgaben vorliegen, bei denen ein
Zufammengehen verichiedener Richtungen trog abweichender Grundauffaſſungen nicht nur
möglich, ſondern praktisch geboten iſt. Konſervative und Yiberale mußten naturgemäß
hart aufeinanderftoßen, als es ſich darum handelte, die Grundformen ſtaatlichen Yebens
ieftzuftellen. Der Abſchluß der Perfaffungsfämpfe in den Ginzeljtaaten und die Er-
fämpfung der deutjchen Einheit hat aber diejen Gegenſatz ſoweit zum Austrag gebradht,
daß den Spätergeborenen die Nachwehen jener inneren Kämpfe als nebenfächlich und halb
unverſtändlich erſcheinen müſſen. So weit ift die Ucberwindung diefer alten Gegenjäte
gediehen, daß 3. B. heute eine Partei, die aus biltoriichen Gründen und mit Rückſicht
auf die von ihr vertretenen Intereſſenkreiſe mit Recht Wert darauf legt, ſich liberal
zu nennen, — es ift die nationalliberale Partei —, ihrem innerften Wejen nad) fonfer-
vativ ift. Denn diejenigen Ideale des Piberalismus, die fie ſich zu eigen gemadjt hat,
iind in der heutigen Geſtaltung des Verfafiungslebens im twejentlichen erfüllt, und es
gilt nur, fie feitzuhalten und lebendig zu erhalten. Die alten Barteien würden alto den
Inhalt unjeres politiichen Yebens vollitändig falſch widerjpiegeln, wenn fie nicht allmäh
lic) aud) zu den modernen Tagesfragen Ztellung genommen und fich dadurch am Yeben
erhalten hätten. Freilich ift dieſe Flidarbeit an den alten Programmen mühſam genug
und nicht immer glücdlich gewejen. Aber wir müſſen im Parlament jelbjt und bei den
Wahlen damit rechnen. Schließlich wird ſich auch einmal die alte Form den Forderungen
der neuen Zeit anpaffen.
Es find, mie ſchon bemerkt, wirtichaftliche und, damit eng verbunden, joziale
Wandlungen, die den Umſchwung herbeigeführt haben. Darin kann ſich die ältere
Generation ſchwer finden. Gerade diefe Momente traten vor 1870 mehr zurüdf. Die
wirtichaftliche WBorbereitung der Einigung Deutschlands blieb dem eigentlichen Partei
itreit, dem politiichen Kampfgebiet, ziemlich entrüdt; die preugiiche Regierung war cs,
die mit ihrer Bollvereinspolitif in etwa vierzigjähriger stiller Arbeit dieien Teil der
Aufgabe faſt allein löſte. Und auch für die joziale Frage war die Zeit nody nicht reif.
Dadurch bemahrten ſich die Barteifümpfe jener Zeit den Charakter eines reinen Prin—
zipienftreits um die höchſten Ideale der Nation, und das gab auch dem politischen
Veben der eriten Jahre des jungen Reichs jenen frohen, unbekümmerten Aufihrwung,
der dem befriedigenden Gefühl erfüllter Hoffnungen entipringt und auf den heute die
Beteranen der Politit mit ſchmerzlicher Wehmut zurüdbliden. Sie können, im Einflang
auch mit manchen Jüngeren, das Gefühl nicht unterdrüden, daß dev wirtichaftliche und
joziale Kampf, der die Gegenwart bewegt, ein Berlaflen der idealen Richtung und dem:
gemäß ein Derabfinfen bedeutet,
Das iſt ein völliger Nrrtum. Aufmerkſame geichichtliche Betrachtung läßt in
dieſem ungeftümen Bordrängen wirtichaftlicher Intereſſen, nachdem wir 1871 unjer Haus
neu gebaut haben, eine Notwendigkeit erkennen, die uns den Weg zu einer neuen
Wilhelm von Maſſow, Monatöberichte über deutfche innere Politik. 134
Aufwärtsentwicklung zeigt. Wenn wir diefen Wink dev Borjehung nicht verftehen, und
wirklich darüber in Materialismus und Kümmerlichkeit verſinken follten, jo würde nur
uniere Berzagtheit und Ungelenkheit daran jchuld fein. Wir fünnen und follen aud an
diejen Aufgaben den Idealismus bethätigen, der der Ruhm unferer Väter geweſen iſt.
Es fragt ſich nur, melden Inhalt und Zweck man den wirtichaftlichen Beitrebungen
giebt und in welchem Geiſte man tbätig ift. Wo die materiellen nterefien im Sinne
der Erhaltung deuticher Eigenart und deutſchen Wejens und zum Gedeihen der Ge
jamtheit de3 deutſchen Volkes wahrgenommen werden, da bat auch diefes Schaffen
einen idealen Untergrund. Wo aber jeder nur an den Erfolg der eigenen Intereſſen
denkt, da beſteht allerdings die Gefahr, daß der Idealismus den Rüden kehrt. Das itt
der eine Grund, warum wir wünſchen, daß die wirtichaftlichen Aufgaben, die den Anhalt
unfrer nächften politifchen Entwicklung bilden, -in engem Zufammenhang mit dem tiefiten
Fühlen und Denken deuticher Volksart erfaßt oder, wie wir auch jagen fünnen, von
nationalem Geifte getragen werden. Die Leute, denen der wirtichaftliche Erfolg nur ein
Nechenerempel ift, die feinen Zuſammenhang anerkennen zwiichen ihrem Intereſſe und den
Nöten und den Bedürfnijfen des Volkes, diefe Vertreter des wirklichen Mammenismus
und Materialismus find ihrer Natur nach international.
Die falfche und einjeitige Ausbildung des wirtfchaftlichen Egoismus hat aud) auf
iozialem Gebiet die Mißſtände gezeitigt, deren Neaftion wir in der internationalen
Sozialdemokratie vor uns fehen. Wie die Partei auch in der Praris zur Zeit ausjehen
mag, ihre Parteitheorie ift umd bleibt durchaus revolutionären Charakters. Das bedeutet
aber nichtS Anderes, als daß fie außerhalb jedes gejchichtlichen Zufammenhanges Steht,
daß fie auf dem Wege der Verneinung der beftehenden Ordnung künſtlich ausgeflügelt
it. Will man fie alio als eine Gefahr wirkſam befämpfen, jo gehört neben dem ernſten
Willen zu einer vernünftigen Sozialreform vor allem dazu, daß man diefe Theorie an
ihrer größten Schwäche faßt, an der Blutlofigfeit, zu der jte durd ihren internationalen
Utopismus verurteilt ift. Der Kampf muß freilich vergeblid, bleiben, jo lange nur Die
Angst der Befitenden und Herrichenden um Eigentum und Autorität jeine Triebfeder
it. Es genügt aud) nicht, daß man, wie heute Pfarrer Naumann und jeine Getreuen,
einem immer einjeitiger werdenden Sozialismus einen Anjtandsbroden von Fühlen
Nationalismus beimifcht; nein, nur ein warmes Sich-Eins-Fühlen mit allen Intereſſen
und Sträften, die im Volk lebendig find und die es vorwärts bringen, fann die nötigen
Gegenwirkungen frei machen, durch welche die Gewiſſen zur Sozialreform geihärft und
zugleich die Empfindungen für das Thörichte und das Verderbliche der Sozialdemokratie
geweckt werden fünnen. Wir gewinnen aljo durd) eine tiefbegründete nationale Geſinnung
zugleich die wertvollite Stüße für unjere Gejundung auf jozialem Gebiet.
Die Aufgaben unjerer Zeit erfordern, wie jchon erwähnt, daß die Parteiunterſchiede,
die nicht in unmittelbarer Beziehung damit ftehen, möglichft in den Hintergrund geichoben
werden, und aud) um deswillen muß alles hervorgehoben werden, was die verjchiedenen
Antereffengruppen im Volfe vereinen und zu gegemjeitiger Rückſichtnahme bejtimmen kann.
Der mwajchechte Parteiftandpunft fürchtet den Kompromiß, und jo findet man mitunter
ein ängſtliches Sträuben gegen die rein nationalen Geſichtspunkte aud) bei einer Partei,
die ihrem Weſen nad) eigentlicd) national jein muß, nämlich bei dev deutich-fonjerpativen
g*
132 Rilhelm von Maſſow, Monatäberichte über deutiche innere Pofttik.
Partei. Es wäre zu wünjcen, dat aud) dieje Störungen und Schwankungen überwunden
würden. Die genannte Partei leidet überdies unter der Verquickung politifcher Ideen mit
firchlichen Beitrebungen. Die Löſung diejer Verkettung ericheint ihr als eine Berleugnung
der chriftlidien Idee. Sehr mit Unrecht! Je höher man die religiöfen Faktoren jchäkt,
defto mehr wird man erfennen, wie das religiöje Yeben, wo es fid) ftart und unabhängig
entfaltet, ein unveräußerlicer Beftandteil des Volkslebens ift. Andem wir in einem
chriftlichen Bolfe nationale Bolitif treiben, treiben wir auch chriſtliche Bolitif, wir mögen
wollen oder nicht. Es ift dies auch die einzige Grundlage, auf der ſich verichiedene Be
fenntniffe und Richtungen vertragen fünnen, ohne ihre Freiheit aufzugeben. Als ein
fonfefftonell geipaltenes Volk müffen wir uns aber vertragen lernen. So kann fi aud)
die Slaubenstreue der Katholifen bethätigen, ohne dat ſie Sich zu Werkzeugen der ſtaats—
feindlichen Macht hergeben, die in der Form des jogenannten Ultramontanismus die
Gewalt der römischen Kirche über die Gewiſſen zu weltlichen Machtzwecken mikbraudıt.
Nationalgefinnte Broteftanten und Katholiken werden in dem gemeinfamen vaterländiicdhen
Wirken ſtets auch ihren kirchlichen leberzeugungen gegenieitige Rückſicht erweifen. Indem
aber der evangeliiche Honjervatismus die Kirchlichfeit zur politiichen Parteiſache madıt.
wird er oft der Bundesgenofje des jtaatsfeindlichen Ultramontanismus und hilft die
verhängnispolle Machtitellung der diejen Zwecken dienenden Gentrumspartei verftärten.
Richt, ala ob es nicht ein gelegentliches Zujammengehen in einer praftiichen Frage geben
fünnte; aber die grundfäßliche Stärkung des Gentrums durch die fonjervative Politik
jollte aufhören.
Es wird alſo das Daupterfordernis unjerer inneren Politik fein, daß ſich die auf
nationalem Boden ftehenden Parteien nadı Möglichkeit zur Yöfung der großen wirtſchaft—
lichen Aufgaben zuſammenſchließen.
Damit haben wir ungefähr den Standpunkt feitgelent, von dem aus wir an die
Beurteilung der wichtiaften Frage der heutigen deutichen Volitik herantreten Fünnen.
Diele Frage ift die der Handelsverträge. Site beherricht, nachdem jüngjt der Entwurf
des Zolltarifs veröffentlicht worden ift, die ganze politische Yage. Frür den nationalen
Politifer muß die Grundlage der ganzen Betrachtung bleiben, daß die verjchiedenen
Zweige der Erwerbsthätigfeit, Yandwirtichaft, Induſtrie und Dandel, möglichſt gleich
mäßig auf ihre Redmung kommen. Die jüngfte wirtichaftliche Entwidlung bat die
Yandwirtichaft Durch eine Schwere Kriſis, deren Ueberwindung noch nicht gelungen iſt,
hindurchgeführt, der Induſtrie einen gewaltigen Aufſchwung gegeben und auf Grund dieſer
Sefamtlage den Dandel ein bedeutendes Uebergewicht verichafft. Unter joldhen Ber:
hälmiffen hat die große Mehrheit der industriellen Vertretungen das Bedürfnis anerkannt,
bei dem Abſchluß neuer Dandelsverträge nach Möglichkeit der Yandwirtichaft durch
erböbten Zollichur zu Dilfe zu fommen. An dem Zuftandefommen der Dandelsverträge
auf diefer Grundlage ift nad) der jorgfältigen Vorarbeit jachverftändiger Kräfte und
nach der Prüfung der Berhältniffe im Auslande nicht zu zweifeln. Kommen aber Dandels-
bertrüge zu ſtande, jo iſt es ebenjo ficher, daß unjer heutiger aufitrebender Welthandel
nicht nur unberührt bleiben, jondern auch einen weiteren Aufſchwung nehmen wird. Der
Egoismus derjenigen Dandelsfreije, die ſich vielleicht vorübergehend beeinträchtigt ſehen
und den Traum von dem Lebergang Deutichlands zum reinen Handelsſtaat aufgeben
Wilhelm von Major, Monatsberichte über deutfche innere Bolitif. 1.33
müſſen, rüſtet fich gleichwohl zu einen erbitterten Wideritand, indem er durch Dervor-
fehrung des vermeintlichen Konſumenten-Intereſſes die große Mafle für fi zu gewinnen
jucht. Yeider wird diejer Kampf mit zum Teil vermwerflichen Mitteln geführt. Was
dabei vor allem zu tadeln ift, iſt weniger die Uebertreibung, die immerhin aus einer
ehrlichen Ueberzeugung hervorgehen kann, als die gänzliche Empfindungslofigkeit für die
Prlicht, jedes deutſche Intereſſe doch unter allen Umftänden dem des Auslandes voranzı
ſtellen. Manchen Gegnern des Zolltarifs aber jteht der ausländiiche Händler, Broduzent
und Konjument näher als der Landsmann, der von andern wirtjchaftlidien Bedürfniſſen
ausgeht. Gegen diefe Gegner wird entichieden Front zu machen fein; im übrigen aber
wird man zunächſt die einfache Erwägung feftzubalten haben, dal ein autonomer Tarif
natürlich nidyt die Sätze enthalten kann, die ſchließlich als VBertragsergebnis heraus:
ipringen. Wir jtehen erit am Anfang diejer Kämpfe. Gin weiterer Bericht wird hoffent-
lich ſchon mande Klärung bringen. Dann wird es Reit fein, div Stellung der Parteien
noch näher zu erörtern.
©
An Wilhelm Raabe.
Wer aus dem Berzen leines Volkes Ichreibt,
Dem mag Erfolg am lauten Markte fehlen,
Dann plötzlih kommt ein Sturm mit Allgewalt,
Der fFrühlingssturm, nach dem die Knoipen
Doc pflegt er lich ins Gerz des Volks zu Itehlen
Wie benzeshaudı, der itill und heimlich treibt
Und ob lein Name noch im Dunkel bleibt,
Lebt er geborgen ſchon in taulend Seelen,
Und keinem kann die reine freude fehlen,
Dass Göttlidies nodı immer lebt und leibt.
Weimar, den 16. Auguit 1901
Ipringen
Und alles Grün entgegeniprlesst der Sonne - —
Der Sturm ift da! und wurdeit Du auc alt,
Dein Werk wird felber drum fein Werk
vollbringen,
0 Meilter, aller deutfhen Kerzen Wonne.
Adolf Bartels.
I
Als Adam aus dem Paradies veritoken,
Der Erden Not entgegenging, der großen,
Und Eva trdäumend ſchritt an jeiner Seite,
Da iette ihnen beiden zum Geleite,
Auf Adams Sculter fic ein kleiner Engel,
Ein krausgelockter, allerliebiter Bengel
Und flälterte: „Ihr müßt nicht fo verzagen,
Id will zum Troft Euch ein Geheimnis jagen :
Weimar.
Veritekt auf Erden wädlt ein winzig Reis,
Von dem man nidıts im Paradieie weiß,
Es wäclt nur, wo nicht immer Sonne ſcheint,
Es findet nur, wer einmal ſchon geweint,
Es heilt von Leiden, lindert die Beldiwerden,
Wer’s einmal fand, kann nie ganz elend werden,“
Adam und Eva ipigeten das Ohr:
„Wie heißt das Reis 1“ Er ipradı : „Es heißt Humor” !
Ernit v. Wildenbrud.,
LILILILILILILILILILITITILITILITILILITILILITILILILITITIG
Deufictes Ausland.
Don
Paul Dehn.
Il.
Kinleitendes über deutiche Stüßpinikte im Auslande umd die Notwendigkeit, die Beziehungen
nit den Dentichen aller Yänder zu pflegen. — Zur Erhaltung des Dentfchtums im Muslande. —
Ungarn. — Schweiz. — Belgien. — RordAmerifa. — Mittel: und Süd-Amerilka.
rn der Deutfchen auf der Erde beläuft fih auf rund 80 Millionen Seelen,
davon wohnen 69 Millionen in Europa, nämlich 52,6 im Deutjchen Reiche jelbit,
10,0 in Defterreich, 2,2 in Ungarn, 2,1 in der Schweiz umd über 2 Millionen im übrigen
Europa. In Amerika jollen 10, in Afrika, Aſien und Auftralien zufammen 1 Vlillion
Deutiche leben.
Zahlreicher als die Deutichen find die Angelſachſen, aber ftaatlich in zwei große
Gruppen geichieden, die feine andere als lediglid; ideale Gemeinſamkeit anerkennen und
eine jede für ſich nad) der Vorherrichaft ftreben.
Steine zweite große Nation ijt jo verbreitet, fo zerftreut und dabei jo zujammen:
hanglos, wie die deutfche. Weshalb? Weil die Deutjchen lange Zeit politifch und wirt:
ichaftlicy Schwach daftanden, politisch ſchwach, d. h. ohne Rückhalt an ein ftarfes natio=
nales Reich und wirtichaftlich ſchwach, d. h. ohne Großkapital, ja ohne Kapital über:
haupt. In beider Hinfidyt waren Engländer und Franzoſen befler daran und konnten
fich deshalb auch im Auslande national kräftiger fühlen, zufammenjchliegen und bethätigen.
Inzwiſchen haben fich auch die Verhältniffe für die Deutichen im Auslande günftiger
geftaltet. Ein Deutiches Reich ift erftanden, bereit und ſtark genug, um alle jeine An-
gehörigen zu Ichüten. Und allmählich wird hoffentlidy audı das deutſche Großfapital jo
erzogen werden, dab es fich geneigt zeigt, im Nuslande Hand in Hand mit deuticher
‚intelligenz, deuticher Unternehmungsluft und deuticher Arbeit zuiammen zu wirfen.
Aufgabe aller Deutichen aber muß es fein, den nationalen Zuſammenhang zwiſchen
den Deutichen im Reich und den Deutichen im Auslande auf dem Gebiet des geiitigen
und wirtichaftlichen Yebens inniger als bisher zu geitalten. Dazu ſoll an diefer Stelle
beftändige Anregung gegeben werden.
Zunächſt gilt e8, die Deutichen im Auslande durch thatkräftige Förderung ihrer
nationalen Vereinigungen zu ftärfen. An dieſer Stelle joll Intereſſe vor allem für die
deutichen Mifftonen, Kirchen und Schulen im Auslande erweckt werden, aber auch für
die deutichen Hülfs- und! Wohlthätigkeitsvereine, Strankenhäufer und Heime, ferner für
die deutichen Berufsvereine faufmänniicher und techniſcher Art, für Die deutichen
Stedelungs-, Handels- und Flottenvereine, für die deutichen Sprad):, Gelang- und Turn—
vereine, endlich für die deutichen Gejelligfeitsvereine im Auslande. Alle deutihen Or:
Paul Dehn, Deutfches Ausland. 135
ganijationen im Auslande jollen an diefer Stelle in ihrer Entwidlung verfolgt, in ihrer
Ihätigfeit gewürdigt und in ihren Beitrebungen gefördert werden mit Rückſicht darauf,
dat e3 notwendig ift, deutiche Stützpunkte im Auslande zu fchaffen und zu Fräftigen, um
auf allen Gebieten des Lebens innigere Beziehungen zwijchen den Deutichen im Reidı
und den Deutjchen im Auslande herzuftellen. Insbeſondere joll unter den Deutfchen im
YAuslande das Bemußtjein erweckt und gefräftigt werden, daß fie die Träger deutfcher
Kultur, aber auch deuticher Intereſſen find und für fich felbft arbeiten, wenn fie immer
und überall ihre Eigenart hochhalten.
Für die Kräftigung der Beziehungen zwijchen den Deutichen aller Yänder liegen
heute alle Berhältnijie günstiger als je. Politiſch ſtark fteht das Deutjche Reich da.
Im deutihen Volke ift das nationale Bewußtfein erwadjt. Und diefes Bewußtſein kann
ich bethätigen infolge der Fortjchritte der modernen Verkehrsmittel. Ehedem, als nodı
Wochen und Monate dazwiichen lagen zwijchen den Deutichen im Reich und den Deutjchen
in der Ferne, da war es ſchwer, faft unmöglich, das Bewußtſein der Zulammengehörigfeit
aller Deutjchen zu verbreiten. Heute ift das leicht. Denn alle Deutfche, wo immer auf
der Erde fie wohnen, ſtehen in bejtändigem Verkehr mit einander, alle Deutjche fünnen
fich als Angehörige einer großen Nation fühlen und mit der Zeit werden auch alle
Deutiche zu der Erkenntnis kommen, daß es für fie unter den heutigen Verhältniſſen
mindeitens ebenjo notwendig wie für andere Völker ift, fich zufammenzufchließen, um
alle Kämpfe der Zukunft fiegreich beftehen zu fünnen.
Zur Erhaltung des Dentjchtums im Anslande. Als Ende der fiebziger
Jahre die Deutihen in Ungarn über Unterdrüdungen und Bergemwaltigungen der
magdyariichen Staatösverwaltungen zu Hagen begannen, lenkten fie die Aufmerkſamkeit
deutichnationaler Kreiſe auf fi und im Jahre 1881 erfolgte die Gründung des „ALL:
gemeinen deutihen Schulvereins“ zur Erhaltung des Deutjchtums im Auslande,
zunädjit zur Unterftügung des fämpfenden oder mit dem Untergange bedrohten Deutjd)-
tums an den Sprachgrenzen, aljo des Deutjchtums in alten deutjchen Bolfögebieten.
Aber auch die deutichen Niederlaffungen und Kolonieen im fprachfremden und überfeeijchen
Auslande traten jpäter an den Schulverein heran und baten um jeine Hilfe. Viele
Tauiende von Deutjchen im Auslande find ihrem Volke verloren gegangen, weil ſich
niemand um fie kümmerte. Hier ift der Allgemeine deutſche Schulverein eingetreten umd
hat mit verhältnismäßig Kleinen Mitteln anfehnliche Erfolge erzielt. Dunderte von
Schulen hat er gebaut, eingerichtet oder fräftig unteritügt, zahlreiche Kirchen: und Pfarr
hofbauten gefördert, Kirchen: und Echulverwaltungen hilfreich beigejtanden, Kindergärten
errichtet, Volks- und Schülerbüchereien aufgefteltt, deutiche Studierende, Geiftliche und
Gehrer unterftüßt und entiendet.
Yeider hatte der Deutiche Schulverein jahrelang mit "großer Teilnahmslofigfeit zu
fämpfen, bis allmählid; die Erkenntnis, dat es notwendig jei, dem gefährdeten Deutſch—
tum im Auslande, zunächſt auf dem Gebiet von Schule und Kirche, Dilfe zu bringen,
in weitere Slreije drang. Im Nahre 1900 verausgabte der Schulverein rund 90 000 ME.
für gewährte Unterjtüßungen. Aber im Verhältnis zu ausländischen Bereinen ähnlicher
Art find feine Mittel nod) gering. In feinem letzten Jahresbericht Elagt der Vorſitzende
de3 Gejamtvereins Profeffor Dr. Brandl-Berlin: „Den Weg zum Derzen der deutichen
136 Paul Dehn, Deutfches Ausland.
Kapitaliſten haben wir immer noch nicht entdeckt. Unſer franzöfifcher Barallelverein, die
Alliance Frangaise, iſt hierin viel glüdlicher und verdankt es der Freigebigkeit der
iranzöfiichen SFinanzwelt, daß er, obwohl an Mitgliedern uns ungefähr gleichitehenDd,
doch mehr als das Doppelte unjeres Einkommens zur Verfügung hat. Bei uns find
vielmehr die mittleren Leute, denen der SXahresbeitrag von 3 ME. gerade ein bischen weh
thut, für unfere nationalen Zwede am opferwilligften und einfichtigiten.“ Gegenwärtig
zählt der Zchulverein annähernd 33 000 — die zu einem erheblichen Teile aka—
demiſchen Streifen angehören.
Ungarn. Yeider wohnen die Deutjchen in — über das ganze Land zerſtreut
und find daher der Entnationaliſierung, zumeiſt der Magyhariſierung, leichter ausgeſetzt.
Aber nicht überall find die Deutihen im Rückgange wie im ungarischen Erzgebirge, in
der Zips, in Peſt, Stuhlweißenburg, Fünfkirchen, Raab, Gran, Kaſchau u. |. w. Biel-
mehr vermehren ſich die Deutichen da, mo fie dichter zufammenfigen, wie in Sieben-
bürgen, ferner in den weltlichen Stomitaten Eiſenburg, Oedenburg und Wiejelburg, mo
300 000 deutiche „Deidebauern“ und „Deanzen* ſich an die Deutichen Nieder-Deiterreichs
und der Steiermark anlehnen. Bor allem aber ift die deutiche Bevölkerung angewadjjen
in den Stomitaten Tolna und Baranya zwijchen Donau und Drau, wo 225000, im
Banat, wo 450 000, und in der Baeska, nördlid von Neufag, zwiichen Donau und Theiß,
wo 250 000 Deutſche wohnen, ſich durch Fleiß, Sparfamkeit und religiöfen Sinn aus:
zeichnen, großen Stinderreihtum aufweilen und allmählich durch Güteranfauf die
Rumänen, Serben und Magyaren verdrängen. Die Deutihen in der Baeska kamen
um die Mitte des 18. Nahrhunderts aus dem Elſaß, aus Baden, Württemberg und der
Pfalz, zum Teil aud aus Thüringen, insgefamt etwa 30000 Köpfe ftarf. Am Jahre
1835 waren fie auf 92000 angewachſen und heute beläuft ſich ihre Zahl auf 250 000,
wovon */, römifch-fatholiih. Da das nationale Gefühl dieſer Deutjchen ſich kräftiger
als bisher befundet, jo ift nicht daran zu denken, dat es der magyariichen Verwaltung
gelingen wird, den deutſchen Unterricht und die deutfche Predigt gänzlich zu bejeitigen,
jelbft wenn fie an diefer Magyariſierungspolitik fefthalten follte.
Siebenbürgen. Das Heine Pölten der Siebenbürger Sadjen mit etwa
200000 Seelen fällt ins Gewicht durd feine Antelligenz, es bildet in Siebenbürgen den
begüterten Mittelftand, an dem es anderwärts in Ungarn vielfach fehlt. Welche Stellung
die Siebenbürger Sachſen gejellichaftlich einnehmen, ergiebt ſich aus ihrem akademiſchen
Nachwuchs. Am Sommerjemefter ftudierten 234 junge Sadjjen, davon 46 in Klauſen—
burg und 13 in Peſt, ferner 30 in Graz und 26 in Wien, endlich 22 in Berlin, 16 in
Münden, 13 in Leipzig u. ſ. w. Nach Deutichland gehen hauptiädhlich die Theologen,
Mediziner und Techniker.
Schweiz. Nach den Ergebnifjen der legten Volkszählung ift die Zahl der Deutid)-
iprechenden jeit der vorlekten Volkszählung um 17 vom Taufend zurüdgegangen, fie
betrug 18% 714 und 1900 nur nod) 697 vom Tauſend. Indeſſen ift dies nicht allzu
tragisch zu nehmen. In der Schweiz vermehrten ſich die Deutjchen um '/, Million auf
2,3 Millionen, die Franzoſen um 95000 auf 733 000 und die Italiener um 65000 auf
222000. Der Rückgang der Deutichen entfällt auf die nichtdeutichen Bezirke, insbejondere
auf Neuenburg, franzöſiſch Bern, franzöſiſch Wallis, Waadt, franzöſiſch Freiburg und
Paul Dehn, Deutiches Ausland. 137
Genf. Ber Vorhandenfein deutiher Schulen würde vielleicht diefer Rückgang nicht ein:
getreten jein. Dagegen werden in Graubündten die Rätoromanen von den Deutichen
zurüdgedrängt, was A. Sartorius Freiherr von Waltershauien in feiner Schrift „Die
Germanifierung der Rätoromanen in der Schweiz” (Stuttgart 1900 bei Engelhorm) des
näheren dargeftellt hat.
Belgien. U. d. Titel „Deutjchbelgien“ veröffentlicht der „ Deutiche Berein zur
Hebung und Pflege der Mutterſprache im deutjchredenden Belgien“ feit 1899
eine Zeitſchrift mit intereffanten Mitteilungen über das Deutihtum in Belgien. Be:
merfenöwerterweile ftügt fich der Verein beionders auf die katholiſche GSeiftlichkeit, die
mit rühmlichem Eifer die deutiche Volksſprache pflegt. Borlitender des Vereins it
Profeſſor ©. Kurth von der Hochſchule in Yiüttich.
Nordamerika. In der Tagespreffe wird auf den hervorragenden Anteil des
Teutijhtums an der panamerifaniihen Ausftellung in Buffalo hingewiefen. Ohne
Deutiche Intelligenz und ohne deutiche Organifationsfraft wäre fie mindeitens nicht in
diefer Ausdehnung zu jtande gekommen. Nächſt New-York, Chicago, Philadelphia, St.
Youis, Milmwaufee und Cincinnati bat Buffalo die verhältnismäßig ſtärkſte deutiche
Bevölkerung, die überdies beftändig zunimmt. Auch ſteht die Stadt ſchon jeit Jahren
unter Yeitung deutfcher Bürgermeifter. Unter ihren hervorragendften Induſtriellen be-
finden fid) viele deutiche Einwanderer, wie Jakob Schöllkopf, der als Gerbergejelle aus
Württemberg Fam und die Niagarafall-straftgeiellihaft gründete, der Eleftrifer Yuther
Ztieringen, der Kunſtgärtner Rudolf Ulrich, der Bildhauer Karl Bitter, der Architekt
Aug. E. Ejenwein aus Fitddeutichland, der mehrere Hauptbauten zur Ausftellung lieferte,
jo u.a. den Mufiftempel, vor allem aber Alt:Rürnberg ſchuf, dieſen „Clou“ der
panamerifaniihen Ausftellung, der den nordamerifanishen Deutichen ein Feines Stückchen
ihrer alten Heimat wieder vorführte. Unter den Ausftellern befinden ſich viele ange-
jehene deutiche Geihäftshäufer, jo u. a. die Papftiche Brauerei von Mihvaufee, die in
New: Hork den Palmengarten, ein Wirtshaus größten Stils mit einem Faſſungsraum
für 10000 Beſucher, begründet hat, die Firma Kohn A. Röbling & Söhne, die Erbauer
der Hängebrücde zwifchen New-York und Brooklyn, die Konfervenfabrif von Heinz in
Pittsburg, die SFleifchpaderei von Jakob Dold, einem eingewanderten Schwaben, in
Nebraska, Kanjas und Buffalo u. ſ. mw.
Die Klagen über den Rüdgang des Deutichtums in Nordamerika find alt. Uber
das Deutichtum befteht drüben bereits zweihundert Jahre. Wohl befchränft es ſich zu:
ineift auf das eingewanderte und auf das erfte dort geborene Geſchlecht und vererbt ſich
jelten oder nie auf fpätere Gefchlechter. Aber es bat ſich doch infolge der bejtändigen
Einwanderung erhalten und immer wieder erneuert. Und in der heutigen Zeit, da das
nationale Gefühl allerwärts erwadjt und fich immer ftärker geltend macht, wird es aud)
unter den Deutfchen in Nordamerika nicht verlöfchen, ob mun die deutiche Einwanderung
über furz oder lang wieder zunimmt oder nicht. Erkennen dody auch nordamerifaniiche
Kreiſe die Bedeutung des Deutſchtums, da fie ihre Kinder aud) in der deutichen Sprache
unterrichten laffen. Es ift begreiflid, daß die Deutfchen in Nordamerika, um fortzu-
fommen, engliih lernen und ſprechen müſſen, aber wenig flug wäre es von ihnen,
wollten fie darüber die deutſche Sprade vernadjläffigen und vergeffen oder ihren Kindern
136 Paul Debn, Deutiches Ausland.
vorenthalten. Von vornherein hat derjenige, der zwei Sprachen verſteht, immer beſſere
Ausfichten für jein Fortkommen. Das gilt ganz befonders für Nordamerifa. Wenn Die
Deutichen in Nordamerifa an der deutſchen Spracde feithalten und aud) ihre Kinder
deutich lernen laſſen, fo erfüllen fie nicht nur eine nationale Plicht, jondern erwerben
ſich auch einen wirtfchaftlichen Vorteil, der nicht zu unterichägen if. Das Deutſchtum
in Nordamerika jcheint fich feiner nationalen Ueberlieferungen wieder zu erinnern und
wird, wenn es daran fejthält, in der neuen Heimat auf allen Gebieten des Lebens eine
Bedeutung erlangen, wie fie feiner nationalen Stellung entipridt.
Nach dem ftatiftiichen Jahrbuch der deutichen evangeliich-lutheriihen Synode von
Miſſouri, Ohio und anderen Staaten für 1900 zählt die Ennode in 2147 Gemeinden
mit 1731 Baftoren rund 728000 Mitglieder, immerhin ein Fleiner, wenn auch unzuläng-
(icher Beitrag zur Kenntnis des Deutichtums in den Vereinigten Staaten.
ALS ein Anzeichen dafür, dat die Deutjchen in Nordamerifa ihr Bolkstum nicht
vergeſſen, fondern in Ehren halten, ift u. a. die „Deutich-amerifanifche hiftoriiche Geſell—
ichaft von Illinois“ in Chicago anzuführen, die beionders in ihrem Organ „Deutſch—
anterifanifhe Geichichtsblätter”, einer Pierteljabrsichrift, ihre Aufgabe, die Geichichte des
Deutjchtums aufzubellen, erfüllt. Gerade in Illinois ift das Deutjchtum ftarf verbreitet.
Bon den 5 Millionen Einwohnern diefes Staates find annähernd ein Drittel Deutiche
oder deutfcher Abjtammung. In Chicago allein wohnen über 400 000 Deutidhe. Tim
Nuliheft der genannten Bierteljahrsichrift findet fich u. a. ein Aufjat iiber die Gründung
des deutfchen Daufes in Chicago von 1854.
Mittel: und Südamerifa. An Zahl find die Deutjchen in Mittel: und Siüdamerifa
nicht herborragend. Nach den Berechnungen Dr. Winters (Die Deutichen im tropiichen
Amerifa, Münden 1900, J. F. Lehmann) wohnen in Merifo nur etwa 1600 Deutiche,
davon 600 in der Dauptitadt und 100 in Weracruz, in Guatemala 1000, in Nicaragua
125, in Venezuela 1200, in Beru 1500, in Bolivien 200 u. ſ. w. Allein die Deutichen
beherrichen in diejen Yändern einen großen Teil des Dandels, fie find am Bankweſen
beteiligt und außerdem Blantagenbefiter. Anläßlich der Erieneriihen Wirren zwiſchen
Venezuela und Columbien im August 1901 wurde von der Tagespreffe darauf hin—
gewieſen, welche bedeutende deutiche Antereffen dort vorhanden find. In Venezuela bat
die Disfonto:-&ejellichaft mit einem Aufwand von 60 bis 80 Millionen Marf eine
Eiſenbahn von Caracas nad Palencia gebaut. Nach einem Bericht des deutichen
Konfuls in San Chriftobal (Benezuela) beherrichen vier deutiche Dandelshäufer faſt
den gejamten Ein» und Ausfuhrhandel und vertreten ein Napital von 12 Millionen
Mark. Das in Venezuela angelegte deutjche Kapital wird auf 200 Millionen Marf
veranschlagt, in Golumbien auf weit über 100 Millionen Mark. Auch in Kolumbien
ift Die erfte und wichtigfte Eifenbahn von Deuticyen erbaut worden, es beftehen dort
deutiche Brauereien, Glasfabrifen u. j. mw. In Merifo jollen 200, in Guatemala 75
bis 85, in Cofta Rica 17 bis 18 und in Peru 81 Millionen Mark deutjches Kapital
arbeiten in Dandel, Gewerbe und Pflanzungen. Winger ift der Meinung, daß die Gebiete
im Norden des künftigen Nicaraguafanals den Vereinigten Staaten zufallen werden, jv
dak nur die ſüdlich davon *nelegenen Yänder fich für weitere deutiche Zumwanderungen
eigneten.
By
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Ueber die neuere deufiche Dichtung.
Rüd- und Ausblice*) von
Garl Buſſe.
D“ deutſche Volt hat vor anderen Nationen das Cine voraus, daß es ſowohl in
jeiner politiichen wie litterariihen Gejchichte auf zwei Glanzzeiten, zwei leuchtende
Höhepunkte der Entwidelung zurüdichauen farm. Teuer genug ward dieſes Glück erfauft.
"ie die Gipfel, die wir erreichten, höher find, jo find die Niederungen und Abgründe,
die wir durchwandern mußten, tiefer und finfterer. Nein Volk ift in feiner Entwicklung
jo oft gejtört umd zurückgeworfen worden wie das deutfche Durd Jahrhunderte hat
uns gefehlt, was andere Nationen durd) feſteres Gebundenjein und ruhigere Entwidlung
gleichſam jpielend erwarben: die gleichmäßige nationale allgemeine Durchbildung. Wir
Iprechen wohl das Zeitalter der Herder und Leifing, Goethe und Schiller nad) den be-
deutenden und umfaffenden Perjönlichkeiten, die es hervorgebrad)t, als das Zeitalter der
Humanität und Intelligenz an, aber wir erjchreefen, wenn der Blif von den geiftigen
Heroen herabjchmweift und die Niederungen durchforscht: fo tief liegen die Schatten darüber,
jo ungeheuer ift der Abjtand zwifchen den führenden Geiftern und dem Volksdurchſchnitt.
Erſt das neunzehnte Jahrhundert hat darin Wandel geichaffen; in planmäßiger Arbeit
wurde und wird der geiltige Befit der Nation den Maffen zugänglid; gemacht. Aber es
wird noch ein weiteres Jahrhundert dauern, ehe alles durch: Zeriplitterung und Unglück
Bernichtete und Verſäumte wieder eingebracht und nachgeholt tft, ehe wir völlig national
Durchgebildet find. Diefe Aufgabe mit allen Kräften zu fördern, ein immer reineres,
'peziell deutiches Bildungsideal herauszufrnftallifieren, unier Volt dadurd; auch geiitig
immer jtärfer zu einer wirklichen Nation zu verbinden, das ift der ſchöne Beruf, den
die geiftigen Führer des Volks, die Yehrer und die Dichter, zu erfüllen haben. Wenn
ſie fich dazu befennen, wenn fie diejen Zielen nacjtreben, dann wirfen fie das Band,
das uns bindet, unlösbar feſt, dann ftählen fie die Herzen und bereiten fie für die großen
Aufgaben, die in der Zukunft unferer warten. Auf jeder Scite lehrt die Geichichte, daR
es immer der moraliſche Faktor ift, dev den Ausschlag giebt. Ihn in unserem Volke
wachzuhalten und zu jtärken, ift die natürliche Aufgabe jedes Patrioten. Was kann die
deutſche Dichtung dazu thun und was thut fie? Das ift die Frage.
Es ift ja ohne weiteres klar, daß die politifchen und fozialen Berhältniffe des zer:
jtücfeften und zerriffenen Deutichlands die Art und Geftaltung der Yitteratur ebenſo
beeinflußt haben, wie umgefehrt diefe bald mehr, bald minder ftarf auf die äußeren Ver—
hältniffe gewirkt hat. In eine Nation geftellt, die feine war; umgeben von Heinlichem
*), Drientierende Einleitung für unjere litterariichen Vlonatsberichte.
140 Karl Buſſe, Ueber die neuere deutiche Dichtung.
Dader, wohin fie aud) jahen; preiögegeben der Gunſt oder Ungunjt von Duodezfürften —
jo ftanden die deutjchen Dichter da. Nur zwei, Möglichkeiten gab es für fie: entweder
jie paßten ji; dem Leben an und wurden Eleinlich mit ihm — aber einem unfreien und
Eleinlichen Derzen entblüht fein freies und großes Gedicht — oder fie flüchteten ins Neid)
der Träume, fehrten Ttch von der Welt und dem regen Yeben ab und famen zu einer
Phantaſiekunſt. Dielen Weg gingen gezwungenermaßen fait alle befferen PBoeten. Bon
hier aber datiert das uns immer wieder jhädigende Auseinanderfallen von Kunſt—
und Volksidealen. Beil unjere Didytung nit aufranfen konnte an großen Thaten,
ichloß fie die Augen und träumte. Die Ungunft der äugeren Berhältniffe trieb uns nad)
innen, machte uns zum Wolf der „Dichter und Denker“, machte uns zu Träumern und
Narren. Manch einer fühlte dumpf das Ungejunde des Zuſtandes. immer wieder
tönt aus den Blättern der deutichen Dichtung der verzweifelte Schrei nad) einem
größeren Yeben. Ob Schiller jeufzend gejteht, daß Freiheit „nur in dem Neid) der
Träume“ ift, ob Platen in wilden Schmerz ruft: „Wie bin ic) jatt von meinem Bater-
lande“, ob Immermann die „kalte jeelenmörderische” Zeit verflagt, ob andere nad) nur
einem Manne aus Millionen jchreien, ob nod Storm ſelbſt in Rejignation des Dichters
gedenft, der einjt „aus dem ofinen Schacht des Yebens“ den „Edelftein der Dichtung“
heben kann — es ift immer dasſelbe. Wollte man ſuchen — fein Dichter würde fid) finden,
der nicht an der Enge und Unfreiheit gelitten, der diejen Aufichrei, in welcher Form
aud) immer, nicht gethan.
Zweimal ichien ſich ein reines deutſches Bildungsidenl herauskryſtalliſieren zu
wollen. Das erjte Mal wurden alle Saaten, an denen die Hoffnung hing, durd) den
dreigigjährigen Krieg vernichtet. Das zweite Mal ward es fat erreicht; ja, der all:
gemeine Glaube ift jogar, dat; es vollftändig erfüllt ward. Aber ich bin nicht der erite,
der daran zweifelt, der die Frage aufwirft, ob die Goethe und Scjiller, die jo herrlid)
begammen, nicht noch ein tieferes deutiches Bildungs: und Dichtungsideal uns geichaffen
hätten, wenn die Zeit ihnen emen jtärferen nationalen Rückhalt hätte geben fünnen.
Aber ihre Zeit, aus der jie feine Straft jaugen fonnten, trieb fie ja gewaltiam in die
Welt der reinen Formen zurüc, zurück zu den heitren, ewigklaren Göttern von Hellas.
Die im „Götz“ Schon gegebene Yinie der Entwidlung wird jäh abgebrodyen. Was uns
dafür geboten wird, etwa die „Iphigenie“ oder der „Taſſo“, kann nicht dafür entichädigen,
ob untere Philologen aud) gerade das der deutichen Jugend mundgeredyt machen. Grit
im „Fauſt“ wird die Yinie wieder aufgenommen, aber doch nur im erjten, lange zurüd:
liegenden Teil mit dev alten Kraft. Hier find wir aud) dev Erfüllung unferer Sehnfucht
am näcjiten. Doch es bleibt beitehen, daß gerade aus dem, was auf unjeren Schulen
als echt klaſſiſch angeprieſen wird, ein -jpeziell deutiches Pildungsideal nicht heraus-
deitilliert werden fann, daß in ihm Kunſt- und Bolfsideal ſich ſchon trennen, dat
Yitteratenfunit an Stelle der Volkskunſt getreten it. Man nimmt dem großen Goethe,
der im „Fauſt“ deutjches Weſen doch wieder am gewaltigiten eingefangen hat, wahrhaftig
nichts, wenn man das ſtets von neuem betont. Auch er konnte nichts wider die Beit,
die jeden Idealismus enttäujchte, die aus des Yebens unerfreulihem Drang jeden „in
des Herzens heiligftille Räume“ zuriüctrieb. Aber jede Kunft, die nicht in fräftigen
Yebenswinden reift, verzärtelt und wird franf wie die Treibhausblume. Bor die erite
22 Carl Buſſe, Ueber die neuere deutſche Dichtung. 144
Auflage jeiner Gedichte jegte Uhland ein poetiſches Vorwort, in dem die Verſe ftehen:
„Fehlt das äußere freie Weſen / Leicht erkrankt auch das Gedicht"; ein Vorwort, in
dem er alles Kleinliche auf die peinliche Zeit jchiebt. Nun, eine „Erkrankung“ in dieſem
Sinne find aud) viele der jogenannten rein klaſſiſchen Werke, eine Erkrankung ſtellt die
erite Romantik in ihrer Ausartung dar. Die Kunſt „erkrankt“, wird Bhantafie- und
Yurusfunft, weil die äußere Freiheit, die That fehlt, auf die fie fid) ſtützen, an der fie
id; begeiltern fan. Und immer wieder giebt es Anläufe — fie fehren das Jahrhundert
durd) jtet$ don neuem wieder —, die das herrlich Begonnene, nicht zu Ende Geführte
vollenden wollen; immer wieder ſchreiben neue Richtungen es in ihr Programm, daß fie
an den jungen Goethe, den Goethe des „Götz“, des „Werthers“, des eriten „Fauſt“, an-
fnüpfen wollen; immer wieder das klare Bewußtſein oder die dunkle Ahnung, dag nur auf
dieſem Wege deutiches Weſen zu ſich jelbit kommen und ſich rein ausdrüden kann.
‚immer allgemeiner wird die Erfenntnis, ob auch gerade unjere Schulen fich ihr zum
Teil noch verichließen.
Es iſt gejagt worden, daß die äußeren Verhältniſſe die Abirrung vom ſchon ge
jundenen rechten Wege bedingten. Nun find die Schmerzensrufe der deutſchen Dichter
längſt verhallt. Die Zeit der Zerriffenheit ift vorüber, groß und mächtig fteht unſer
Deutichland da, geftillt und erfüllt ift die Sehnſucht nach dem einigen Baterlande. Und
die Frage liegt nahe: ob denn nun das ftarfe Deutichland feine Dichter nicht ſtark
machen muß, twie das ſchwache fie ſchwach gemadıt; ob von den gewaltigen Thaten der
deutichen Erhebung und unferer Heldengeftalten nicht aud) die deutiche Dichtung Gewinn
gezogen hat; ob der neu gewonnene Yebensgehalt ſich nicht aud) der deutichen Litteratur
mitteilen und fie befähigen muß, das große Werf auszubauen, das nationale Bildungs:
ideal zu erweitern oder feiter zu umfdjreiben, oder jedenfalls von ihm Zeugnis abzulegen?
Und man mird meiter fragen: Bis zu weldem Grade hat unjere politiiche Ginigung
das bewirkt? Bis zu weldyem Grade ift unfere neuere Dichtung echte Nationallitteratur?
Was jehlt ihr noch? was ift ihr not? auf welchem Wege geht fie und auf welchen: joll
fie gehen?
Seit Errichtung des Reiches laſſen fich drei Phaſen innerhalb der deutichen
Dichtung unterjcheiden. Die Pitteratur der jiebziger Jahre entſprach ganz dem Jahrzehnt,
das fie hervorbradite: fie war materialiftiich und peſſimiſtiſch. Gründerperiode und
stulturfampf bier — dort der große Siegeszug des Peſſimismus (Schopenhauer), der
Iriumph der rein materialiftiihen Weltanfchauung (Büchner), die begeifterte Aufnahme
von Griſebachs Zannhäuferliedern und Sacher-Maſochs Meffalinengeihichten, dazu
noch Offenbachſche Muſik und die pifanten „Unſittenſtücke“, mit denen das eben befiegte
‚sranfreicd in Berlin triumphierte. Die achtziger Nahre brachten uns den erfolgreichen
Vorſtoß Wildenbruchs, bald darauf aber den undeutfchen Naturalismus und die ewigen
Verbeugungen vor Zola, Doſtojewsky, Ibſen und anderen Göttern. Doch fahen fie und
ihre Nachfolger auch, wie einige beijere Bertreter der deutichen Litteratur ſich aus
Zturm und Drang, aus unfünftleriichem Naturaliamus langfam zu einem Fräftigen
poetiichen Realismus emporrangen, ſahen fie auch die Schilderhebung eines Keller und
eines Fontane. Am Schluß des Jahrhunderts wiederum fiel die deutſche Dichtung, die
nach Ueberwindung des Naturalismus durch Niekfche unbeilvoll beeinflußt ward, in das
142 Garl Buſſe, Ueber die neuere deutfche Dichtung.
dem Naturalismus entgegengeſetzte Grtrem; der l'art pour l’art-Standpunft gewann
Oberwaſſer, hohle Rorm- und Bhantafiefunft, eine Kunſt, die Futterale ohne Gehalt fabri—
zierte, machte ſich breit; myſtiſche, ſymboliſtiſche, neuromantiſche Strömungen gingen und
gehen daneben bin; Baudelaire, Berlaine, Maecterlind, d'Annunzio geben die Richtung an.
Man wird nicht gerade behaupten fünnen, daß danach die Yitteratur des Kaifer
veiches ein erirenliches Bild bietet. Nicht das iſt unerfreulich, daß uns große Dichter
ichlen, fondern vor allem berührt jehmerzlich, daß der Geift, der ſich in den poctijchen
Zchöpfungen fundgiebt, zum großen, ja größten Teil unfruchtbar ift. Große Dichter
iind eine Gnade des Himmels; wenn fie fehlen, müflen wir cben warten; fie laſſen ſich
nicht züchten. Wohl aber darf man erwarten, dak eine Nation, die zu Sich ſelbſt ae
fommen ift, die fih als ſolche fühlt, die große Aufgaben noch bewältigen joll, auch die
Araft hat, jedem Einzelnen, den Dichtern voran, unbejchadet aller individuellen Eigen
ichaften ein Gemeinſames mtitzugeben, gewiffermaßen den nationalen Derzichlag.
Vielleicht find wir als Nation, als auch äußerlich feit gebundene, noch zu jung dazu.
Thatſache iſt und bleibt einmal, daß diefer gewiffe nationale spiritus rector unjeren
Dichtern mehr oder minder noch fehlt. Und er fanıı nur dann fehlen, wenn ein reines
nationales Bildimgsideal fich entweder noch nicht vollftändig und Klar herauskryſtalliſiert
oder aber, wenn es das Volk noch nicht aleihmähig durchdrungen hat. Grit wenn diejes
Ziel erreicht ift, werden wir wahrhaft eine uns immer und überall begleitende, nicht
mehr unterbrochene nationale Dichtung haben. Nur eine Aufgabe giebt es jett: das
Rolf immer ftärfer mit dem nationalen Seit zu erfüllen und nicht müde zu werden,
bis es eben ganz und gleichmäßig davon durchdrungen tt. Wenn, die Litteratur dazu
mithilit, jo hilft ſie ſich ſelbſt. Denn taufendfältig wird fie einst zurüderbalten, was fie
jebt giebt
Wie aber fann die Dichtung dazu mithelfen? Soll fie Joſef Lauff auf den Kriegs
pfaden der Hohenzollern folgen? Zoll eine Maflenproduftion von ſchwarzweißroten
Flotten- Sedan- und Bismardgedichten das Yand überſchwemmen? Mit einem Worte:
joll die Dichtung Sich auf das bejchränfen oder das bevorzugen, was man gemeinhin
„Patriotiich" nennt? Nur kurzlichtige Thorheit kann das wünschen. Nationales Gefühl
lebt nicht am Stoffe Nein, was wir brauchen, ift eine Dichtung, die, jelbit voll ae
under fittlicher Kraft, die fittliche Kraft der Nation jtärfen fann, daß wir mit Würde
die Zukunft beitehen; it eine Dichtung, welche die verecundia hat fiir die große Ver—
gangenheit, aus der wir geworden; ift eine Dichtung, welche die fpeziell uns eigen:
tiimlichen, uns unterfcheidenden Eigenicaften rein zum Ausdruck bringt. Das und mur
das it eine nationale Dichtung im höheren Sinne. Zie fann der üblidyen patriotiſchen
unter Umſtänden direkt wideritreben. Der engere PBatriotismus kann eine Dichtung
ichädigen, wie etwa der „Michael Kohlhaas“ von Kleiſt dadurch geihädigt ift. Der weitere
Nationalismus fann die Dichtung nur heben. Zeine Wirkung ift tiefer und ftiller.
Patriotiſch war Theodor Hörner; er entflammte die Begeisterung. Aber die eigentlich
nationale Arbeit, das VBolf erit jo zu erziehen, dat die Begeilterung wieder Begeifterung
werden fonnte, that der Deidelberger Kreis. In ihm, hat der Freiherr von Stein aefagt,
hat ſich ein qut Teil des Feuers entzündet, das die Franzoſen ſpäter verzehrte. And
worin beſtand die nationale Arbeit? Bir brauchen nur an die Grimms und an Uhland,
Carl Buſſe, Ueber dte neuere deutſche Dichtung. 143
an Eichendorff;und Adim vonz Arnim zu denfen, um die Antwort zu wiflen; wir brauchen
nur vor dem Geiſte „Des Knaben Wunderhorn“, die Grimmſchen Kinder- und- Daus
märchen, die deutichen Zagen, die Forſchungen zur deutichen Mythologie, die „Teutichen
Volksbücher“, die volfstiimlichen Yieder Uhlands und Eichendorffs erftchen zu laſſen,
um nicht mehr zu fragen. Nicht nur die Kunſt, der Volksgeiſt jelber, das National-
bewußtjein verjüngte ſich an den Schätzen deuticher Vergangenheit. Die Gelehrten, die
ſie gelammelt, die Dichter, die davon befruchtet wurden, fie haben dasielbe gethan, was
Goethe nad) eigenem Zeugnis im „Götz“ erftrebt: fie haben „direkt an den Derzen des
Bolfes angefragt!” Als Deutjchland ganz verloren ſchien, fand es ſich wieder in dem,
was Gelehrte und Dichter vor ihm ausichütteten. „Die Gelundheit künftiger Tage,“
jagt Arnim, „grühte und ermutigte daraus das verzagte Bolf in den Tagen der Not
und Grniedrigung.“
Was unſere Didytung nad) tiefem äſthetiſchem Fall einst gerettet, kann fie auch heut
zur Gefundung führen. Nicht tief genug kann fie hineintauchen in den Aungbrumnen
alter echter Volkskunſt — nicht um archaifierend nachzuahmen, ſondern um geltählt zu
werden, um in dem gleichen fräftigen Geifte das zu geftalten, was unjerer Zeit Schn-
ſucht und Ziel iſt. An dem Geift, der qläubig und kernig aus den alten Mären ſchlägt.
jollen unjere Boeten genefen, nicht aber, wie die Butenjcheibendichter, an Wort und Reim
fleben. Unklar drängendes Fühlen wird flar und ficher, ftolz und fröhlich, wenn man
den Derzichlag, der in den alten Yiedern lebt, auch in fidy erfennt, wenn man fich un:
verlierbar verbunden fühlt den reinften Ausjtrahlungen deutichen Geiftes, deutſchem
Geiſt jelbit. Hein Gefühl, das einen ftärferen Rückhalt giebt; Feines aud), das eigenes
Schaffen mehr hebt und fördert.
Wenn die Augen dann hineinjehen in die Gegenwart und ihren großen Yitteratur-
marft, mag wohl ein dreimal heiliger Zorn das Herz erfüllen. Die Händler und Gaufler
find wieder in die Tempel gedrungen; das verruchte Evangelium der Zmedlofigkeit der
Stunit, das Fart pour l’art- Dogma wird an allen Altären gepredigt, und ein zwedlojes
Kunſtſtück ift allerdings audı das Meifte, was dargeboten wird. Nicht mehr Brot des
Lebens giebt und ift die Dichtung, jondern beiten Falles ein buntes Gaufelipiel der
Phantaſie, Schaumbrot, das nicht nährt, ein Yırrusartifel, bei dem die Form alles üt.
Und man muß fid) noch freuen, wenn Frechheit und Pirfternbeit, die als „geiunde Sinn—
lichkeit“ angeiprochen fein möchten, nicht Haſchen ſpielen. So wenigſtens ſieht der größte
Zeil der modernen Didytung aus, die Dichtung des Nachwuchſes. Vor zehn jahren
haben die Zwangzigjährigen naturaliftiich geichrieben und formlos; die heutigen Zwanzig:
jährigen, diejenigen, die doch auch einjt am Ruder ſtehen follen, erſticken im Formkunſt
ſtück, geben ſich in Phantafieflügen aus. Ahr Schaffen entbehrt jeder Notwendigkeit,
jedes inneren Gehalts. Gerade was die Jugend ſonſt ziert, das friiche, ſtarke, ja
ſtürmiſche Gefühl, das ſich Bahn bricht, jehlt, joweit man fehen fann, der nachwachienden
Generation.
Da iſt es doppelt notwendig, die Wachtpoſten zu beziehen. Immer wieder und
wieder muß man die Stimme erheben und zu den Irrenden reden; muß ihnen ſagen,
dag am Ende des Weges, auf dem fie dahingehen, nicht nur der künſtleriſche, ſondern
auch der fittlide Ruin ſteht; dat die Kunft, der fie nachjagen, die Kunſt, die nichts fein
144 Carl Buſſe, Ueber die neuere deutfche Dichtung.
joll als Kunſt, ih in eine reißende Wölfin vennvandelt und jedes Vollgefühl, alles
Menichlichnatürliche zeririkt; daß jede Kunſt degeneriert, die nicht erfüllt ift von einer
jittlichen ‚idee, heiße ſie Gott, Baterland, Freiheit, Yiebe. Erſt dieſe fittliche dee —
ich) verftehe jedes Vollgefühl, jede echte Begeisterung darunter — giebt der Kunſt wirkende
siraft, Die notwendige Schwere, die ſie hält und ohne welche fie — eine leere Hülſe —
dem Spiel der Winde fteuerlos preisgegeben ift und bald fpurlos verweht. Predigt Die
Geſchichte nicht laut genug für alle, die hören wollen? Sind nicht außer den ungezäblten,
die fein Buch mehr nennt, aud) Talente erjten Ranges von der ungezügelten Wölfin
Kunſt gehetzt, zerfrefien, dem Untergange entgegengetrieben worden? ft nicht jelbft ein
Kleiſt von ihr bis zur Erichöpfung gejagt und getötet worden, von ihr, die all jeine
Kraft, all jeinen Glauben, all jein Denken und Fühlen jo ausichlieglich abjorbierte, daß
nichts mehr für andere Bethätigungen und für kräftige Yebensführung übrig blieb, daß
ichlieglicd) das Yeben jelbit ihm zerrann und der Piſtolenſchuß das”Ende jein mußte?
Sprit der Aufichrei, den Yenau that, bevor ihn der Wahnſinn padte, nicht ganze Bände,
der Aufichrei: „ch muß jterben, Strafe muß fommen. Ich habe das Zittengefeg nicht
heilig geachtet, das Talent ſtand mir viel höher, und das Zittengefet ift doch das
Höchſte“ — 7 ſpricht dieſer Aufichrei, frage ich, nicht Bände? Und ift es nicht das-
jelbe, wenn Debbel am 19. Mürz 1842 in jein Tagebuch jchreibt: „ich habe das Talent
auf SKoften des Menſchen genährt, und was in meinen Dramen als aufflammende
Leidenschaft Yeben und Geitalt erzeugt, das ift in meinem wirklichen Yeben ein böfes,
unbeilgebärendes Feuer, das mid) jelbit und meine Yiebften und Teueriten verzehrt" —?
Muß denn die große Yehrmeifterin, die Gejchichte, immer tauben Ohren predigen? Die
Kunſt, die nicht geftüßt wird durd) eine große dee, ift einem Lichte vergleichbar, das
ohne feiten Halt jchnell zerrinnt und verichtwelt, während es auf ficherem Stande, auf
dem Leuchter, der es trägt, rein, rubig und lange brennt. Jede große dee giebt den ficheren
Standpunkt des Geiftes, die Gefühlseinheit, die allein wirken fann. Das aber ift das
Schreckliche, daß die meiften unferer jungen Dichter ihre Not zur Tugend maden, dak
ſie erklären, die Kunſt jolle garnicht wirken, dat fie für eine Dand voll gleichgefinnter Ar-
tijten fchreiben, nicht für die Nation! Sie ahnen nicht, wie fie damit ihrer jelbit jpotten,
wie fie die Kunſt und ſich jelbjt degradieren, wie fte ihr und fih das Höchſte nehmen:
die große priefterlihe Aufgabe, das Fühlen des Volkes zu beeinfluffen und reiner zu
jtimmen. Und wenn das GErziehen und das Durchläutern der Volksſeele, nicht durch
Moralpauferei, jondern durdy lebendige Geftaltung, nicht mehr Aufgabe und Beruf des
Didjters jein joll, dann ftellt er fi mit dem Seiltänzer auf eine Stufe, dann iſt er nur
ein geiltiger Boltigeur, dem niemand eine Thräne nachweinen wird.
Wir fünnen die Boeten, die wir eriehnen, nicht aus den Boden ftampfen, wir
fünnen die Geiltesrichtung einer Generation beklagen, aber nidyt von heut auf morgen
ändern. Was mir aber fünnen und müffen: die Waffen blank halten, nicht erlahmen im
Kampf gegen den unfruchtbaren Pügengeift, gegen die Hohlheit und Marklofigkeit, die
alle jich in unjerer modernen Dichtung breit machen. Auf den Binnen gilt es nach wie
vor zu Stehen; die echten Propheten, die Jonntägliche Deiligung unjeren Derzen vermitteln
fünnen, durch unjere jubelnden Zurufe zu ermuntern und zu fräftigen; die falfchen Pro—
pheten immer wieder mit allen Waffen des Geiftes zu jchlagen, daß die Entnervung nicht
Garl Buſſe, Ueber die neuere deutiche Dichtung. 145
übergreift auf unjer Volk und unjere Zukunft bedroht. So fann jeder helfen, jo ift
auch der nicht Schaffende berufen, mitzuarbeiten an der geiftigen Wohlfahrt der Nation
So übt man produktive Kritif! Nicht alle Keime, die fich zeigen, nicht alle Saaten, die
aufgehen wollen, find ja taub. Kräftig greift hier und da auch gefunder Geift in die
Dihtung ein. Der Ruf nad) der fogenannten Heimatsfunft, ob der Begriff auch allzu
eng ift für das poetiihe Schaffen einer großen Nation, ſpricht chen von einem Sich:
beiinnen auf das, was uns not thut, ift Schon ein Anfang, der gute Frucht verheißt.
Und wenn die Beſten des Volkes in Flarer Erkenntnis ihrer Pilichten und ſteter Arbeit
zujanmenftehen, wenn fie ihrem Ziel treu bleiben und in herzlicher Mühe das fittliche
und nationale Gefühl des Bolfes, in das Gott fie geftellt, zu ftärfen verſuchen, daß es
befähigt wird, die Aufgaben der Zukunft zu löfen, wenn zu der äußeren auch eine immer
itärfer werdende innere Bindung der Nation tritt, dann wird auch der Erfolg nicht
jehlen. „Um große Flammen geht ein großer Zug mit zu verlodern.” Bon dem großen
Zug wird auch die Dichtung ergriffen werden. Felt auf dem heiligen Boden des Pater:
landes ftehend, ihrer höchſten Aufgabe eingedent, werden die Dichter wie einft ihr Volk
begleiten, die Derzen mit Kraft und Glauben erfüllen, hohe Ziele abſtecken und darüber
hinaus auch weiter in deutichen Seelen das tiefe „Zonntagsheimmweh“ erwecken, das über
Welt und Leben zu ewigen Höhen führt.
Wir haben aucd, jett ſolche Dichter, die mit heiliger Yiebe ihr großes Baterland
umfaſſen und immer wieder darüber hinaus auf Schwingen der Sehniudjt ein größeres
ſuchen. Und wie könnt’ ich bejier ichliegen als mit einem Worte, das der gejagt hat,
der zu unferen Größten gehört, als mit einem Worte unjeres alten herrlichen Wilhelm
Raabe? ES Steht in feinem berühmteften, ob auch nicht beften Buche, in der „Ehronif
der Sperlingsgaffe*; es jollte ein Weifer jein auf allen Wegen, die unjere Dichter
gehen; e3 lautet:
„O Ahr Dichter und Schriftſteller Deutjchlands, jagt und ſchreibt nichts, Euer
Bolk zu entmutigen, wie e8 leider von Eud), die Ihr die ftolzeften Namen in Poeſie und
Riffenihaften führt, jo oft geichieht! Scheltet, fpottet, geikelt, aber hütet Euch, jene
ſchwächliche Refignation, von welcher der nächſte Schritt zur Gleichgültigkeit führt, zu
befördern oder gar fie hervorrufen zu wollen. .... hr habt die Gewohnheit, Ahr
Prediger und VBormünder des Volks, den Wegziehenden einen Bibelvers in das Gejang-
buch des Heimatsdorfs zu Ichreiben; jchreibt:
Vergeſſe ich Dein, Deutfchland, großes Vaterland:
jo werde meiner Rechten vergeffen!‘
Der Sprud) in aller Derzen, und — das Vaterland iſt ewig!”
10
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CCHENCHNE KEANE Ale —* Acc NEN AH Ace AreNeHe fer
Vom deutichen Theater.
1.
Einleitender Artikel für die regelmägigen Monatsberichte über unfere Bülme.
Von
Max Marteriteig.
D“ in deutjchen BZeitichriften üblichen Nahresrüdblide neigen gemeinhin einer doppelten
Sefabr zu: fie verfallen einmal leicht in den Fehler, einen foldyen Ridbli mit
einer faufmännifchen Inventur zu verwechieln und nad der Summtierung der eingeftellten
Poften eine Bermögensüberficht bekannt zu geben, die dann, mit irgend einem vorgefaßten
ehemaligen Zuſtand des deutichen Theaters verglichen, leicht zu jeder Art Peſſimismus
verleitet, — oder fie fuchen ungeduldig in dem gerade Geleifteten Symptome zu entdeden,
die eine Entwicklung der dramatiſchen Kunftform im Sinne einer rafch ſich vollziehenden
Ummandlung aller Werte zu bejtätigen jcheinen. Beides „it ein Brauch, wovon der
Bruch mehr ehrt als die Befolgung*.
Ein Generalglaubensbefenntnis über den AZuftand und die Aufgabe des deutjchen
Theaters abzulegen, hätte man immer auf mindeitens hundert Jahre zurüczubliden, und
wenn der mehr als nützlich ſchwankende Begriff eines „Nationaltheaterd” gar den Maß—
ftab abgeben ſoll, genügt felbjt diefe Spanne nicht. Man hätte dann zu fragen: wo, bei weldyen
Bölfern, unter welchen außerordentlichen Umftänden bejonderer Gunft und für melde
Beiträume jolche „Nationaltheater“ denn wirklich beftanden haben? Eine gemifienhafte
Antwort würde lehren, daß man große Epochen der dramatifchen Kunſt jo wenig züchten
kann wie folche religiöfer und fittlicher Produktivität, die den Glangperioden des
Theaters, die wir fennen, erft vorausgehen mußten. Aber wir neigen zu gem dahin,
den aus den Perſerſchlachten fiegreich heimfehrenden Griechen, den Spaniern im
jechzehnten Jahrhundert, die romantifches Rittertum, Patriotismus und Katholizismus,
zu untrennbarer Einheit verichmolgen, befeelte, oder den Bewohnern Londons unter dem
glüdlichen Szepter der Elifabeth, denen die geſamte Ernte der großen europäiichen
Sulturarbeit der Renaiffance in den Schoß fiel, uns gleichauftellen. Da meinen wir denn,
alles gute Necht auch auf einen Aeſchylos, einen Galderon, einen Shafeipeare und ihre
Theater zu haben. Da klagt dann der Peſſimiſt, dab dieſes Recht infolge diefer und
jener Tücke uns nicht erfüllt wird — und der Dptimift eriwartet, aus jedem unter dem
üblichen Geichrei gelegten Ei den erfehnten Phönix ausfliegen zu jehen, und begrüßt jedes
bloße Verſprechen als einen „Wendepunft“.
Das aber ift der befondere Irrtum unferer Zeit: das deutfche Theater erlebt fo
viele Wendepunfte, dak es einen feiten, fein Gedeihen ftükenden Punkt nie finden kann.
Wer nur oberflächlich zurückzählt, kann im letten Vierteljahrhundert ungefähr fünfund-
zwanzig „Wendepunfte” feſtſtellen: allein einige ſechs bis zehn Stile des Dramas und
ein Dupend etwa folder der Schaufpielfunft find in diefem Beitraum neu entdedt worden.
Leider giebt es aber im geiftigen umd im Eünftlerifchen Leben der Völker nur
Mar Marterfteig, Vom deutſchen Theater. 147
ſehr jelten einen Glüdsfall, und noch jeltener wird Der zum Wendepunft. Nur
vom Theater zu reden: Goethe war ein Glücksfall, — ein unerhört glüdlicher Zufall
ohne Folgen, meinte Nietzſche — der größte, jegensreichite, den wir je erfahren durften;
Stleift und Hebbel waren ähnliche, aber Wendepunfte unjerer Theaterfultur jind
von ihrem Ericheinen nicht zu datieren. Noch weniger, will mir jcheinen, geht es ferner an,
bei dem ganz bemerfenswerten Mangel eines feiten Wollend unjerer heutigen Drama—
tifer, — ſofern fie ſich nicht überhaupt ganz ehrlich als Fortſetzer der alten Theater:
firmen: Kotzebue, Raupach, Birch- Pfeiffer, Benedir, Mojer © tutti quanti etabliert haben
— die jamt und jonders nach dem Stein der Weijen inbrünftig beten, aus ihren taftenden
Fehlverſuchen die Hoffnung einer baldigen neuen Aera des Theaters abzuleiten.
Wer unter den Größen des Tages berechtigt eigentlich dazu? Es giebt Leute, die
jeit langem auf Sudermann das verehrungsbedürftige Auge richten. Und der Seftalter
der jo beionders modernen Magda, die auf allen Brettern Europas als die jenjeit3 von
Gut und Böje lebende Primadonna das deal judermänniicher Menjchheit verkörpert,
möchte fich ja offenbar nicht geringer eingejchäßt jehen. Das ging aus jeiner erichredenden
ex Heinze-Rede hervor, die mit erftaunlicher Schneidigfeit alle dramatiiche Yeiftung
des vorigen Nahrhunderts zum alten, raſſelnden Eijen verwarf. Mehr goethiich als
guethebündijch betrachtet, ericheint e$ aber doc) noch jehr fraglich, ob die Gejchichte dieie
Selbfteinihäkung beftätigen wird. Fraglich, ob der Grfinder der wundervollen
Weßkalnene im „Rohannisfeuer“, dem legten Werfe des Meifters, überhaupt ins goldene
Auch der deutichen Dichtung gehört. in dem der Theatergeichichte wird man ihn finden,
ganz zuverläffig! Und mit einem großen Stern, wie im Büdefer, summa cum laude:
erste Zenfur! Man kann das, wenn man gerecht wägt, bedauern, denn Sudermann hat
erfichtlich ein viel weiter reichendes Vermögen dem Moloch des Tageserfolges hingeopfert;
feines feiner Theaterftücfe geht die Bahnen mwahrhaftiger Konſequenz, auf denen dem
Dichter in einigen feiner früheren Erzählungen zu begegnen auch jeinem Gegner Freude
bereiten muß. Nun hat er mit dem ‚„Johannisfeuer“ die Erfahrung gemacht, daß man
nicht ungejtraft nach bicchpfeifferiichem Yorbeer langt, denn als der Theatralifer auf den
Dramatifer fi befinnen wollte, — im lebten Akt — verjagte der gewohnte Erfolg;
damit aber war das ganze Stüd, trotz der ſommerſchwülen Yiebesjcene, um deren twillen
ed, wie jedes Sudermannſche Stüd, geichrieben ift, verthanes Spiel. Und doc iſt viel-
feicht diefer lebte Akt das ehrlichite Stücd Arbeit, das er der Bühne je gebracht hat;
freilih enthüllt er aud) des Dichters wahre Meinung über jeruelle Sittlichfeit mit einer
Tapferkeit, die ihm Verderben bringen mußte: dab „ſündhafte“ Yiebe frei ausgehen
dürfe, ohne dat man erfährt, ob fie ſich Strafe oder Erlöjung jelbit ermwirfen werde,
hört man in unjeren Theatern der quten Gejellichaft nicht gern.
Mit diefer Hinneigung zu einem problematischen Schluß im Stile Ibſens erinnerte
Subdermann, der jonft jo Hug Erfahrene, an die vielen ehrlich Unbeholfenen, die nadı
dem großen Halbverjtandenen binjchielen, der jegt da oben in Ghriftiania jo merkwürdig
reflamelos der dunfelen Pforte des Todes entgegenichreitet. Der hatte das Recht, die
Wahrheit jagen zu dürfen, — darum aber bringt erö und brachte er e8 nie auf die viel:
begehrten hundert Aufführungen in einer Saijon, die gegenwärtig „aller Weisheit letter
Schluß” ımferer Theaterkultur au bedeuten fcheinen.
10*
148 Dar Marteriteig, Bon deutichen Tbenter,
Von einem gerade in diefen Tagen Bielgenannten, von Wilhelm Raabe, wird er:
zählt, daR er feit zwanzig Nahren dem Theater fern geblieben und auch nie einer An-
wandfung unterlegen jei, um Melpomenes oder Thaliens billige Kränze zu werben.
Aber find die von echtem Edellaub in der That fo billig? Warum reisten fie dann Ibſen,
den ftärfiten Verächter alles Berächtlichen, den Argos jeder Thorheit, die Lebensprobleme,
mit denen feine Seele rang, durdaus nur in der Form der ſzeniſchen Dichtung zu
löfen? Dieje Form muß ihn doch „aeheimmisvoll entzückt“ haben und in ihrer Fähigkeit,
das „Beilterzeugte feit zu bewahren“ ihm ein mächtigiter Sporn geweſen fein. Und ficher
bleibt ihr auch trog Allem und Allem der erſte Rang unter den Klunftformen, — vor:
ausgejeßt eben nur, daß wirklich der Dramatiker, wie Goethe von Shafefpeare jagt,
„zum Ieltgeift ſich gejellt, die Welt durchdringt wie jener“ und — daß man noch in
unfere Schaufpielhäuier ginge, von dieſen hohen Derren, ftatt von Faijeuren und Zauber:
lehrlingen unterhalten zu werden.
Als jold; ein Zauberlehrling enthüllt fi) immer mehr aud; Gerhart Hauptmann.
Aber nicht nur in zwei Teile hat ſich ihm der heraufbeichworene Weltgeift geipalten:
eine unheimliche Vielteilung ift im Yauf der Jahre eingetreten. An der Dauptmann-
Yitteratur ſelbſt herricht die größte Verwirrung darüber, welche Offenbarung nun eigentlid)
die gültige it. Die „Verſunkene Glocke“ jollte es eine Zeit lang fein; fie hatte fogar
einen großen Teil der früheren Widerfacher zu dem Dichter hinüber geläutet. Dem
Ringelreihenſchweſtertanz von etwas pervers angehaudter Sinnlichkeit, Myſtik und Er:
löſungshyſterie fonnten nur wenige poefteempfänglide Gemüter fern bleiben. Aber
dann kam dod) wieder der „Fuhrmann Henſchel“ mit feiner ſchlimmen Hanne! Wieder
ein Höhepunkt, — und zwiichen ihm und dem der „Berjunfenen“ allerdings wieder ein
Weltraum. Das aber gerade pries mar aufs höchſte; denn nun fonnte jeder im Schatten
Gerhart Hauptmann fich nach Belieben feine Hütte zur Aus: und Einſicht in die Welt
bauen. Wem Nidelmann und Rautendelein zu glitichig-ichlüpferig waren, modhte fich
dem ehernen Schickſal, das den fchlefiichen Yohnfuticher zum Range des König Dedipus
erhob, in erfcehauernder Ehrfurcht beugen!
Dabei hätte Hauptmann es nun bewenden laſſen jollen; er fing jett wirflih an,
feine Gönner zu berwirren und das Berliner „Deutiche Theater“, das von ihm die Jahres—
parole zu beziehen fi) gewöhnt hatte, erntlicdy zu gefährden. Gewiß Fünnen fi ein
moderner Dichter und ein modernes Theater nicht auf die Einſeitigkeit einer gefchloffenen
Weltanſchauung verpflichten; Antereffen der Kaffe und der Tantiemen verbieten das
geradezu, — aber dann muß man ſich überbieten und nicht unterbieten. „Schlud und
Jau“ war, wie erzählt wurde, eine von Dichter leicht verfchmerzte Niete. Aber „Michael
Kramer“ ....? Faſt fo fehr wie die Florian Geyer-Kataſtrophe ſoll ihn der Abfall
geichmerzt haben. Und wenn Dem fo wäre, jo jollte man daraus eine Hoffnung jchöpfen
und der Dichter eine Einficht. Er follte aus dem Schaden lernen, was er in der Per:
mwöhnung der Erfolge nicht lernen wollte: daß es auf die Dauer mit den dramatischen
Aeußerungen zufälliger Stimmungen nit geht. Daß eine Empfindung erft feite
poetiiche Geftalt erlangen muß, — und daß auf dem Theater eine wohlproportionierte
Dummheit immer noch mehr Glück macht als die formlofe Zufammenhäufung mühfam
fopierter „documents humains“ einer frühen perlönfichen Erinnernng; daß ber
Mar Marteriteig, Bom beutfchen Theater. 149
Dichter arbeiten, bilden und durdbilden muß: Handlung und Menjchen. Denn der
„Michael Kramer“ ift — von anderen Bedenken ganz zu fchmeigen — denn doch mit
betrübender KRunftlofigfeit gearbeitet.
Das Wirken der ftarfen Dramatiker von Schiller an, das Kleifts, Hebbels, Anzen—
grubers, Ibſens, umschließt bei jedem Einzelnen, nicht minder als bei Hauptmann, die
heterogenften Vorwürfe und Probleme; aber Alles an Allem vergleichend, wird man dod)
bei jedem diejer Dichter ein ſcharf umriffenes Bild der Welt, wie es jein Mikrofosmus
ihm enthüllte, nicht verfennen fünnen. Wer bei Hauptmann diejes Weltbild fonftruieren
will, fteht vor einer Berieraufgabe wie bei einem chinefiichen Geduldipiel. Aber es iſt
bezeichnend, daß die deutiche Bühne jo lange in Bewegung gehalten werden konnte bon
diefem zarten, für alles Kleine und Feine individuellfter Regungen, aber aud) für alles
Scrullenhafte in den Nebengäßchen des Gefühls mit finnigem Blick ausgerüfteten
dichteriichen Träumer, — dem leider Eines verjagt blieb: einmal das wahre Antlik der
Welt in feiner Seele Spiegel heraufbeihtwören zu können, ihm fejt ins Auge zu bliden
und, von diejem Blick gebannt, doc) auch zur tiefften Ueberzeugung durd) ihn gemerkt, nun
diejer Erkenntnis Kraft den Hammer werden zu lajfen, der jeine Gebilde jchmiedet.
Auf diefen Dramatifer wartet jegt wieder das Deutſche Theater.
Einftweilen, und weil die großen Schlager ausblieben, behalf es ſich, wie es fid)
immer beholfen hat und behelfen wird. Nur eigenfinnige Hefthetifer wollen nicht zugeben,
mit wie wenig Dichtung es ausfommen fann! Zur Not thut einmal ein Jahr hindurd)
auch „Yumpaci:Bagabundus“ feine Schuldigkeit, oder es giebt einen „Brobefandidaten* und
einen auf dejien Schultern zu noch höheren Sphären der Gunjt ſich hinaufredenden
„Flachsmann als Erzieher“. Der geiinnungsflammende Flemming des Hamburgers Otto
Ernſt hatte in diefem Jahre mit dem unglüdlichen Yeutnant im „Roſenmontag“ von Otto
Erich Dartleben un die Meijterichaft zu ringen und noch ift dev Preis nicht verteilt; fie
werden in der neuen Saiſon ſich wieder ſtellen müſſen. Mean konnte fic) gar zu ernjthaft
mit ihnen überhaupt nicht bejchäftigen, weil gleichzeitig die wirkliche neue Aera des
zwangzigiten Jahrhunderts heraufzog. Wieder läuteten einmal ſämtliche große und Kleine
Klüngelgloden zur feierlihen Anthroniation des „Ueberbrettls" als des zukünftigen
Ratiovnaltheaters der Deutichen!
ALS Ernit Freiherr von Wolzogen jein „Iheater zum vajenden Jüngling“ — wie
es uriprünglic heißen jollte — erfonnen hatte, durite er lange Zeit vergeblich in den
PBrivatbiireaus Eunftfördernder Bankier und bei den Direktoren der Yinden:Baläfte
antichambrieren, um jeinem Kinde ein Heim zu finden. Denn es jollte eines jein im vor:
nehmiten Berlin, wo fid) in jpäter Abenditunde die Antelleftuellen der Hauptitadt, die
der Devije „L’art pour Fart“ Zugeſchworenen in behaglichem, nicht au die Trivialität
der jonftigen Theater- und Konzertſäle erinnerndem Milien zuſammenfinden fonnten.
Dem mit unferen beften litterariichen Traditionen eng verwachſenen Sproſſen eines alten
Geſchlechts lag es ficher fern, ettwa die (hat-noir oder font eines der Barifer Cabarets
vom Montmartre nad Berlin zu verpflanzen. Nicht Ariftide Bruant, der fünftlerüche
Schukpatron der Dirnen und AZuhälter, war jein Vorbild, — höchſtens dod) ein Rudolphe
Salis: wie diefer die Jules Jouy, Fragerolles, MacNab, Goudeau, die Humoriften
Gourteline und Allais um jich veriammelte, jo dachte Wolgogen aus dem Schwarm
150 Mar Dlarterfteig, Bom deutfchen Theater.
unjerer jüngftdeutichen Lyriker fich jeine Helfer zu refrutieren. Ein Zufall endlich, eine
raſch zufammengebradjte Improviſation der neuen Kunſt, die nod) dazu ziemlich blamabel
ausftel, die aber unter Schu und Schirm des Goethe-Bundes bei einem Philharmonie:
tefte fich zeigen durfte, brachte die Sache endlid in Fluß. Das neue Genre wurde
„gegründet“ — aber nicht in das erhoffte vornehme Yofal unter den Linden zog es ein,
jondern in die wenig traulichen Räume des Aleranderplap- Theaters, die für die Platz
machende Egzejftonsbühne „zeitgemäß“ ausftaffiert waren. Der Gedanfe, ein litterarijch-
artiftiiches Deſſert für Feinſchmecker zu fervieren, dankte zu guniten des verheißungs—
vollen Borhabens ab, mit jchnell zufammengerafften Vorräten mın allabendliche Haupt-
mahlzeiten der neuen Kunſt zu gediegener Eättigung für Monsieur Tout-le-Monde zu
veranftalten.
Das gelang über alles Erwarten! Und der populäre Grfolg belehrte Herrn
von Wolzogen erft über die Tragweite jeiner Reform. Abend für Abend ausverfaufte
Häuſer ... und ehe noch drei Wochen ins Land gingen, fangen die Babies auf den ge:
ichorenen NRajenpläten der Thiergarten:Billen: „Ringelvingelrofenfranz, id tanz mit
meiner Frau“ und „Blatichepitih Spagatelregen— Schofolad auf allen Wegen“ ...
Der Kultur Pinholog zieht die Stirn in krauſe Falten: Was bedeutet das?
Woher diefer Umſchwung des Geſchmackes? Wie fommts, daß nun allabendlih am
Alexanderplatz Profeifor, Geheimerat, Börſenmakler, Schneider, Handſchuhmacher und
Stadtreifender, das Nonfektioneuschen neben der Geheimen ommerzienrätin denfelben
prieelnden Trunk jchlürfen? — Was fonft etwa nod) dort zuſammenkommt, das, wie in
der Rolfsichlucht, fieht ein Geſcheiter nicht! — Es iſt mit den Stirnefalten nicht gethan;
es muß Kar und rund herausgejagt werden, worin Wolzogens Erfolg und jein un:
beitreitbares Verdienst befteht: er hat einer allergrößten Mehrheit unjeres kunftbedürftigen
Tublifums das böje Gewiſſen abgenommen. Gr hat eine unausrottbare Neigung, die
die Gebildeten ſonſt ſchamhaft verjteeften und der te verborgen nur nadıgaben, mit dem
Nimbus litterariicher und fünftleriiher Ehrlichkeit umfleidet. Unter fi) waren dieje
veute aller Art Geſellſchaft längſt darüber einig, daß cs im Wintergarten, Apollo: und
Metropol-Theater im Grunde doc) viel vergnüglicher jet als im Deutichen oder im Leſſing—
Theater. In dieſe geht man doch eigentlich nur zu Premieren — das ijt eine Per:
pflichtung, damit man mitreden kann, — dorthin aber geht man, wenn man fich wirklid)
erholen und vergnügen will. Der in Berlin Kundige weil es gut jeit vielen Jahren,
daß er des Abends im Wintergarten weit mehr Chance hat, Yeute aus der Yitteratur,
Wiſſenſchaft, Kunſt, von der Börſe und namentlich ſolche unjerer Nobility anzutreffen —
wenigstens jolche männlichen Geſchlechtes — als etwa im Nöniglihen Schauſpielhauſe,
wohin allenfells die Frauen und höheren Tüchter abgejchoben werden. Das iſt nun,
Dank Herrn von ".olzogen, anders geworden: der Familienzuſammenhalt beim Kunſt—
genießen ift wieder hergejtellt und man braud)t, Bott jei Dank, nicht mehr zu erichreiden,
wenn man andern Tags bei der Deſſerteigarre ummillfürlic; das Couplet vom legten
Abend vor ſich hinſummt.
So betraditet, darf man das Meberbrettl in der That als ein Symptom der Ge-
ſundung begrüßen; — nur dat es cben, wie alle Moden, nicht von langer Dauer fein,
‘eine Miffton nit zu Ende führen wird! Das Geſtändnis, das es dem Publikum
Mar Marterfteig, Bom bdeutfchen Theater. 151
entlockt, das gute Gewiſſen, das es geichaffen hat, werden leider die Genefung von der
hronifhen Kulturfranfheit, die fich in der Art unferes modernen Theaterbefuchs verrät,
nicht verbürgen. Sonft wäre die dramatifche Kunſt nur zu beglücdwünjchen! Sie würde,
bon der Gunft der Kunſtnäſcher im Stich gelaffen, ſich darauf befinnen müfjen und
fönnen, daß fie im tragischen wie im komischen Fache der Konzentration auf immer ernit:
bafte Probleme nicht entraten darf, daR fie nie anders als mit dem Aufgebot des heilig:
iten Ernſtes vor das Volk treten joll. Das Theater könnte dann den großen aber jeltenen
Gelegenheiten vorbehalten bleiben, wo ein Dichter das Beſte und Neiffte feines inneren
Schauens der Volkheit offenbarte, wo die Schaufpieltunft ſtets Kraftproben eines nur
auserwählten Könnens darböte und das Publikum zu einer weihevollen Feier ſich ver:
jammelte, die jeines bürgerlichen, dev nationalen Arbeit gewidmeten Jahres Felt: und
Ehrentag bedeutete. So, wie es im Aufchnitt jegiger Civilifation ift, ein Geſchäft, ein
Handwerk, eine täglid an fünfundzwanzig Orten der Großftadt gebotene Zerftreuung,
zeitigt e8 fünfundzwanzig mal an jedem Tage eine Unwürdigkeit — und eine Profti:
tution der unjerem Volke eingeborenen Fünftleriichen Kraft. Nichts anderes ift es, wenn
die ernften Großthaten der Dichter täglich por einem müden, aufnahmeunfähigen, eben
in Haft feinen Tagesgejchäften entlaufenen Publikum mit ungulänglihen Mitteln umd
ohne jede Art von Weihe auf den Markt geftellt werden, oder wenn in raftlofer Hetzjagd
die Kunſtſpekulanten täglich jo und jo viele verlogene, mit heuchleriicher Dutendntoral
aufgepugte Zerrbilder des Lebens auf den entweihten Brettern uns vorgaufeln.
Darum ſage ih: Das Ueberbrettl hat uns vom schlechten Gewiffen befreit. Seine
in einen Portionen, pifant und ſchmackhaft zubereitete, abwechslungsreiche, leichte Koſt
it uns, wie wir im Zuſchnitt des modernen Lebens gemeinhin einmal fein müffen, ge
jundere Koſt als die einer wirklichen großen Kunſt, wenn dieſe in unanftändiger Eile, nur
um des lieben quten Tones willen, hinuntergejchlungen wird. Wie dem ungeduldig fie
Ertroßenden wird auch dem wahllos fie Schlingenden die goldene Himmelsfrucht der
Kunſt leicht — „jaure Speiſe“ . . . . Aber das Meberbrettl ift ja gewiß nur eine Mode.
Dafür jorgt ſchon die unheimlid; emporwucernde Nachkommenſchaft. Ich will der Ziffer
nicht nachſpüren der jett ſchon beitehenden und für die bevorjtehende Spielzeit unter:
nommenen QTingeltangel diejed Genres, — e8 iſt dazu Zeit, wenn die Lite der zu er:
wartenden Banferott3 erſchreckend anwächſt.
Eine wirklich geift: und geichmadfvolle Ausbildung fand die Ueberbrettl-Idee an
den von Schauspielern des Deutichen Theaters veranftalteten Abenden, die fie „Schall
und Rauch“ nannten; mit £öftlicher Yaune wurde da eine Selbitironifierung des theatra-
lichen Artiftentums einem geladenen Publikum dargeboten. Nun haben auch dieie
[uftigen Yibertins zu geichäftlicher, vegelmäkiger Ausbeutung diejes Genres fich „ge:
gründet* — und die Belorgnis ift nicht abzuweiſen, daR damit das qute Gewiſſen und
der qute Geſchmack auch diejes heiteven Spieles verpöbelt wird.
E*
GCEWEEWEELEEELELE Technik. WLELE LEE ELF 1515 1515
Ueber die künftige Entwicklung der Eisenbahnen.
ei allen Berkehrsarten iſt man bejtrebt, die Verkehrsgeſchwindigkeit ſo weit zu
fteigern, als es die Wirtichaftlichfeit des benusten Syſtems einerjeitS und die jeweilige
technijche Ausbildung desjelben andererjeitS zuläßt, wobei die Wahrung der Betriebs:
fiherheit natürlich ſtets oberjter Grundjat bleibt. Dabei ift vorausgejegt, daß Die
Erhöhung der Verkehrsgeſchwindigkeit einem allgemeinen Bedürfnis danach ent-
gegenfommt.
Betradhtet man num unjer heutige Eiſenbahnweſen, jo tritt bier die Forderung
höherer Fahrgeihmwindigfeiten mit jedem Jahre mehr hervor und zwar um jo dringender,
je weiter die einzelnen Züge durchgehen, je länger aljo der ununterbrodene Aufenthalt
des Reijenden in einem Zuge it, je mehr der Berfehr ein internationaler wird und je
größer die Städte find, die durd; eine Eijenbahnlinie mit einander verbunden find.
Jeder, der eine weite Reife zu machen bat, jucht im Kursbuch nad) der jchnellften Ber:
bindung und alle Annehmlichkeiten, die die durchgehenden Schnellzüge in den lebten
Jahren gebracht haben, helien nicht über die Yangwierigkeit der Neife hinweg. Die
Forderung direkter Schnellgüge mit weit höheren Gejchwindigfeiten, als jet üblich find
die Berlin mit Hamburg, Köln, Rranffurt, München und darüber hinaus mit der.
Hauptitädten der Nachbarländer verbinden, tritt immer mehr zu Tage.
Trogdem zeigen die Kursbücher mit jeder neuen Fahrplanordnung feine weſent—
lichen Erhöhungen der Auggeidwoindigkeiten. Wohl find die Eifenbahnverwaltungen
bemüht, durch häufigere Schnellzüge und Yuruszüge beifere Verbindungen zu jchaffen und
die Dauer der Reiſe zu vermindern, und thatjächlicd find dadurd die Fahrzeiten für
manche Stredfen im Yaufe der Jahre erheblich gekürzt, aber die Fahrgeſchwindigkeit jelbit
ift nicht wejentlich gefteigert. Die Betriebsordnnung für die Daupteifenbahnen Deutjchlands
vom ‚jahre 1897 jest als höchit zuläffige Fahrgeichwindigfeit für Berfonen-Schnellgüge
% km pro Stunde feit, und die thatjächlich im regelmäßigen Betriebe erreichte grüßte
Bejchwindigfeit beträgt 82,5 kın pro Etunde auf der Strede Wittenberge— Hamburg.
In den übrigen europäiichen Yändern, in denen die Rückſicht auf die Verkehrsſicherheit
etwa die gleiche ift wie in Deutjcyland, werden zwar etwas höhere Gejichwindigfeiten
erreicht — der jchnellfte Zug der franzöfiichen Nordbahn, PBaris—Amiens, fährt mit
104,8 km pro Stunde, während in England auf der Strede Frorfar— Perth eine
Geihwindigkeit von 95 km pro Stunde erreicht wird — aber man erfennt, daß Fahr—
geichwindigfeiten von über 100 km pro Stunde mit einer einzigen Nusnahme in Europa
nicht vorfommen, jondern daß mit 80 bis 95 km pro Stunde die Grenze der betriebs-
mäßigen Fahrgeſchwindigkeit überall erreicht ift.
Zomohl der Umstand, daß fich die Geichwindigfeiten von Jahr zu Jahr nicht
wejentlich ſteigern, als aud der, daß die in den verichiedenen Yändern erreichten
marimalen Gejchtwindigfeiten nicht jehr erheblih von einander abweidyen, legt den
Ueber die fünftige Entwidlung der Eifenbahnen. 153
Gedanfen nahe, dar bei Innehaltung des jekigen Betriebsipftems eine weſentliche
Steigerung der Zuggefhmwindigfeit nicht mehr zu erwarten ijt, entweder weil fie praftiich
und finanziell unwirtſchaftlich oder tehnijch unmöglich iſt.
Man wird ji fragen, ob es bei den jetigen, auf den Tagesfahrplan ſpärlich
verteilten Zügen mit oft langen Zeiträumen zwijchen den Etrefenanichlüffen überhaupt
Zweck hat, die Fahrgeſchwindigkeit wejentlich zu fteigern, da die gewonnene Zeit mit
Warten auf die Abfahrt oder Weiterfahrt leicht wieder verloren geht, und ebenjo, ob es
beim Güterverkehr lohnt, Scnellzüge mit hoher Geſchwindigkeit einzurichten, wo Die
Rangierarbeit für die großen Züge auf den vielen weitläufigen Güterbahnhöfen am
meilten Zeit in Anjprud nimmt. Man kommt jo vom Standpunkte der praktischen
Betriebsführung aus auf eine Ivennung des Fernverfehrs vom Yofalverfehr und weiter
dazu, den erjteren nicht durch jpärliche längere Züge, ſondern durdy häufig fahrende
furze Züge oder Einzelmagen zu bewerfitelligen. Auf dem Gebiete des Berjonenverfehrs
it die lleberlegenheit diejes Spitems, bei dem auf den großen Fernſtrecken etwa alle
10 oder 15 Minuten ein furzer Zug oder Einzelwagen in jeder Richtung fahren würde,
evident, aber auch im Güterverfehr bringt es große praftiiche Vorteile, wie Herr
Finanz: und Baurat Wiechel, Dresden, nachgewiejen hat, eine öftere Beförderung kurzer
Züge einzuführen, weil dadurch eine große Entlaftung der Güterbahnhöfe und Berein
fahung und damit Beichleunigung der Nangierarbeit möglich it; dabei würde die
Trennung in Fern- und Yolalverfehr ebenfalls durchzuführen ein.
Wie das Verfehrsintereffe, jo jpricht auch die Frage nadı der Wirtichaftlichkeit
für das oben geichilderte Syſtem. Allerdings nicht, wenn man den Dampfbetrieb bei
behält, der, um wirtfchaftlich zu fein, ftetS auf große Züge hindrängt, wohl aber, wenn
man elektriſchen Betrieb auf Bollbahnen einführt. Nach den auf der Wannjee-Bahn
angeftellten Verſuchen hat Herr Eijenbahndireftor Borf ermittelt, dat durd Einführung
des eleftriihen Betriebes auf Bollbahnen die Traftionsfoften um 10 Prozent vermindert
werden (nad einer Rechnung des engliidhen Gijenbahnelektrifers Yangdon jogar um
20 Prozent), wobei die jegige Zugzulammtenjeßung zu Grunde gelegt it. Es ift nidıt
unwahrjceinlidh, daß das Kefultat finanziell nod; günftiger wird, wenn man jtatt mit
wenigen langen mit häufigeren furzen Zügen rechnet. Jedoch bleibt abzumarten, was
hier die Erfahrung lehren wird.
Nun bleibt die Hauptfrage übrig: Iſt es techniich möglich, die Zuggeſchwindigkeiten
wejentlich, aljo etwa auf das Doppelte, zu fteigern und mit welchen Mitteln? Da
fommen zunächit die motorischen Mittel, die Dampftraft und die Elektrizität, für Voll-
bahnen in Betradht. Die Yofomotive, welche durch Dampfkraft den Zug vorwärts treibt,
arbeitet mit hin- und hergehbenden Majlen, auf jeder Seite treibt der Dampf von einem
oder mehreren Cylindern aus Kolben, Kolbenſtange und Kurbelſtange, und dieje fchnell
hin- und hergehenden Maſſen fünnen, wenn aud nad; Möglichkeit ausbalangiert, bei
hohen Geichwindigfeiten die ganze Yofomotive in jo ftarfe Schwingungen bringen, daß
ein Ausjpringen der Räder aus den Gleijen zu befürchten it. Beim eleftriihen Betriebe,
wo aljo die Yofomotive einen oder mehrere Elektromotore hat, denen die eleftriiche
Betriebskraft mitteld Leitungen und Bügeln zugeführt wird, fehlen alle hin und her—
gehenden Maſſen. Die Motoren. jind Ddiveft mit den Triebachſen der Yofomotive
154 Ueber bie fünftige Entwidlung ber Etienbahnen.
gefuppelt und jo find nur rotierende Mafjen vorhanden, welche feine DOscillationen des
ganzen Syſtems hervorbringen fünnen. Da man nun ferner einen Elektromotor mit
faft beliebig hoher Umdrehungsgefchwindigfeit fonjtruieren kann, jo ift bei eleftrifchem
Betriebe durch die motoriſchen Mittel eine höchit erreichbare Grenze der Geſchwindigkeit
nicht geitecft, während Ddiejes beim Dampfbetrieb jesigen Syſtems der Fall if. Man
macht zwar erfolgreiche Berfuche, durch Vergrößerung der Yofomotiven, durd) Anbringung
innerer Cylinder u. |. w. die Gejchwindigfeiten zu fteigern, ohme gleichzeitig die Fahr—
ficherheit zu jchmälern, aber eritens ift abzuwarten, ob dieje Steigerung bis zu der Höhe
möglich jein wird, die der Ecynellfernverfehr fordert, und zweitens drängt diefe Ent:
wicklung in legter Yinie immer auf große Yotomotiven, alſo auf Antrieb großer Züge,
während, wie wir oben jahen, alles gerade auf furze häufig fahrende Züge Hinzielt. Hier
ift aber der eleftriiche Betrieb am Plate, der es ermöglicht, die Betriebsfraft in größeren
Gentralen (eventuell durch Ausnutzung von Wafferfräften) öfonomijch zu erzeugen und
diefe dann beliebig vielen Einzelwagen, die mit Motoren, oder furzen Zügen, die mit
eleftriichen Yofomotiven ausgerüftet find, zuzuführen.
Nach den motorischen Mitteln fommen die übrigen in Betradıt, das Fahrſyſtem
und der Schienen= oder Oberbau, und es fragt fi), ob und in welcher Ausführung
diefe eine erheblich geiteigerte Fahrgeſchwindigkeit zulaffen.
Es ericheint wohl als ausgeſchloſſen, daß das jegige Gleiſeſyſtem mit feinen zahl-
veichen Weg: und Chauffeefreuzungen einem Verfehr dient, bei dem in furzen Zwiſchen—
räumen, vielleicht alle 10 Minuten, ein kurzer Zug oder Einzelwagen mit einer Ge—
ichmwindigfeit von 150 bis 200 km pro Stunde von beiden Endftationen abgelafjen wird.
Man würde alſo wohl für diefe Art von Fernverkehr bejondere Gleifeanlagen
bauen müfjen, die vorausfichtlich jo hoch zu legen find, daß fie alle jetigen Verkehrswege
nicht freuzen, jondern darüber hinweggehen. Wenn man nun den Bahnförper hochlegen
muß, jo wird man fich weiter fragen, ob man bei dem jegigen Syſtem der Standbahnen
bleiben joll (bei denen alſo der Wagen mittels Rädern auf den Schienen iteht) oder ob
man vielleicht den Dänge- oder Schwebebahnen den Vorzug geben joll. Bei letterem
Syſtem hängt dev Wagen mit mehreren gebogenen Armen, die die Räder tragen, an einer
oder mehreren Schienen, wobei dasjenige Syitem, welches mit nur einer Schiene arbeitet,
an der der Wagen mit den Nädern hängt, bisher die beiten Erfolge erzielt hat. Die feit
einiger Zeit im Betriebe befindliche und neuerdings eriveiterte Schwebebahn Elberfeld—
Barmen— Bohminfel ift in diefer Art gebaut und hat vorzügliche Fahrrejultate ergeben.
Au diefer Frage, ob Stand- oder Dängebahnen, wird man um jo mehr kommen,
als das legtere Syſtem gerade bei hohen Geſchwindigkeiten unverfennbare Vorzüge hat.
Es iſt jedem bekannt, daß bei Sleifen,für Standbahnen bei allen Kurven die äußere
Schiene höher Liegt, als die innere, damit der Zug ſich beim Durchfahren der Kurve
nad) innen ſchräg jtellt um der nach außen wirkenden Gentrifugalfraft entgegen das
Gleichgewicht zu behalten. Die Gentrifugalfraft ift um jo wirfjamer, je ftärfer die
Kurve gekrümmt it, und je fchneller der Zug fährt. Je höher alfo die Zuggeſchwindigkeit,
deito jtärfer muß die Heberhöhung der äußeren Schiene fein, defto ſchräger ftellt fich alſo
der Zug in der Kurve; andererjeits muß aber der Zug auf der Kurve zum Halten ge
Srıcht werden können, ohne umgufippen. Bei Innehaltung des jetigen zweigleifigen
Ueber die Fünftige Entwidlung der Eifenbahnen. 155
Standbahnſyſtems dürfte man aljo bei hohen Gefchwindigkeiten nur ganz flache Kurven
anmenden, d. h. die Stredfe müßte faft geradlinig fein. Daß dieje Bedingung nur in
jeltenen Fällen zu erfüllen wäre, liegt auf der Hand.
Anders iſt die Sache bei eingleifigen Dängebahnen. Hier nimmt der hängende
Wagen beim Durchfahren einer Kurve von felbft die ſchräge Yage ein, die dem Gleich—
gewichtözuftande entjpricht, und die oben erwähnte Schwebebahn Elberfeld-Barmen hat
praftiich erwiejen, daß diejer Vorgang bei richtig gewählten Uebergangskurven fich ohne
jede Gefahr und ohne die geringste Unannehmlichfeit für die Neifenden abipielt. Da
diefe Bahn zwar mit nur mittlerer Geſchwindigkeit führt, aber jehr ſtarke Krümmungen
hat, jo ift zu erwarten, daß aud) bei hohen Geſchwindigkeiten und entjprechender Ver—
minderung der Krümmungen diejes Syſtem brauchbar jein wird.
Welches diejer Syſteme aber den Sieg über die anderen davon tragen wird, mag
wohl die Zukunft lehren, denn das Bedürfnis nach höheren Verkehrsgeſchwindigkeiten
ift unabmweisbar und ſoviel ift fiher, dat die Technif im ftande ift, den allmählich ſich
jteigernden Forderungen auf dem einen oder anderen Lege zu folgen.
Um nun noch über den heutigen Stand der Beftrebungen auf diefem Gebiete zu
berichten, jeien einige Notizen gebracht, die, wie auch einige andere Einzeldaten diejes
Artifels, einem Bortrag des Herrn Givilingenieurs M. Schiemann auf der 9. Nahres:
verfammlumg des Verbandes Deutjcher Elektrotechniker in Dresden entlehnt find.
In Deutichland beſchäftigt ſich hauptſächlich die Deutſche Studiengejellihaft für
elektriſche Schnellbahnen fpeziell auf diefem Gebiet und hat die Ergründung aller tech—
nischen einjchlägigen ragen auf ihrem Programm. ine Brobejtrefe auf der Militär-
bahn Berlin—Zoſſen befindet fi) im Bau und foll nod in diejem Jahre in Betrieb
fommen. In Belgien beabjichtigt man, auf ein weites Netz elektrischer Bahnen hinzu:
wirken. Brüſſel joll mit Oſtende, Antwerpen mit Baris verbunden werden. In Italien,
wo bereits im Jahre 1897 die Negierung die beiden italienischen Eiſenbahngeſellſchaften
bewogen hat, die Umgejtaltung der Bahntraftion auf eleftriichen Betrieb in Erwägung
zu ziehen, find angeſichts der dort leidigen Slohlenfrage und der vorhandenen Waſſer—
fräfte bereits die eriten Erfolge zu verzeichnen. Es werden bier die Streden Vecco—
Zondrio und Golico—Ehiavenna in einer Yänge von 110 km auf eleftriichen Betrieb
eingerichtet und auf der Yinie Mailand— Portocerefio, die iiber 100 km lang ift, wird die
Rerionenbeförderung in den eleftriihen Zügen mit einer Geſchwindigkeit von 90 kın pru
Ztunde durchgeführt werden. Auch in Frankreich ift die Musnußung von Wajlerfräften
für Bahnzwede ın Ausficdt genommen, und zum Zwede der einschlägigen Studien eine
aus Gilenbahndireftoren, Profeſſoren und Etaatsingenieuren bejtehende Kommiſſion ne
gründet. Gin Konſortium ruſſiſcher Banken und Napitaliiten endlich hat den Bau einer
Zt. Petersburg und Moskau verbindenden elektriſchen Eiſenbahn in Erwägung gezogen,
wobei die etwa 650 km lange Strecke mit einer Geichwindigkeit von 150 km pro Stunde
durchfahren werden foll. Die Züge jollen aus 5 Wagen mit je 35 Sitzplätzen beftehen
und in Swifchenräumen von 10 Minuten von beiden Endftationen abgelaffen werden.
Paul Dend.
1%
Bucherſchau.
Monographien zur Deutſchen kulturgeſchichte. Herausgegeben von Dr. Georg Steinhaufen.
Verlegt bei Eugen Diederichs in Yeipzig.
Wir leben in der Zeit der Weltpolitik. Für uns Deutiche fallen ja die Anfänge unjeres
2seltmachtitrebens mit ;dem endlichen Erwachen eines politifchen und Nationalbewußtſeins
zuſammen. Tem Streben nach außen entiprict ein Drang nach innen, fein Sinnen und Träumen,
vielmehr ein stolzer Trieb und jtartes Sehnen nach Erkenntnis unſeres Volkstums, unferer eigen-
artigen Kräfte. Dieje Selbiterfenntnis muß das Gewiſſen und Verantwortlichkeitögefübl eines
Bolfes ftärfen, das ſich als den Träger feiner Geſchichte kennen gelernt hat, unbeichadet der großen
Führer, die ja ſelbſt nur der höchite Ausdrud der Volksſeele und des Vollswillens jind. Diejer
Selbjtertenntnis, die gleichbedeutend ift mit Stärkung des völfiichen Selbſtbewußtſeins, wollen die
„Monograpbien zur Deutihen Hulturgefchichte” dienen. In lebendiger Darjtellung führen
fie dem großen Kreis dev Bebrldeten das Wachen und Werden der wichtiniten Berufsitände und
Volksgruppen, der Sitten und Anschauungen unferes Volkes vor. Zugleich wird den Freunden
deuticher Art und Stunt die jeltene Gelegenbeit geboten, ſich an einer Fülle von Bildern alter
Meifter zu erfreuen; die Namen Baldung, Beham, Burgkfmair, Dürer, Holbein, Schäuffelein,
Schongauer u. a. fprechen für fich. Welch" ein Leben, welche Natur in diefen Holzſchnitten und
Kupfern! Welche Fülle von Anschauung in Flugblättern, Drudproben u. f. w. Bis jet jind
7 Bände erjchienen: Der Soldat (Georg Yiebe); Der Kaufmann (Steinbaufen),; Der Arzt
(Derm. Peters); Der Richter (J. Deinemann); Der Gelehrte (E. Stride); Minderleben (Dans
Boeſch); Der Bauer Adolf Bartelsı.
Worms. Karl Berger.
1. Deutihe Litteraturgefhichte des ı9. Jahrhunderts von Carl Weirbredht. Yeinzig, 1901.
Sammlung Goeſchen. Ver. 134, 135. Jedes Bändchen 0,80 M.
2. Neue Ideale. Gejanmelte Aufſätze von Frig Lienbard. YeipzigsBerlin, 1901. ©.9. Viener.
Subffriptionspreis (erliicht Ende 1901) 2,50 M.; geb. 3,50 M.; fpäter 4,— M.; geb. 5,— M.
Als Aeußerungen geiftesvertvandter deuticher Perjönlichkeiten, als litterarifhe Zeugniſſe
der Fräftigen Gegenbemwegung des Deutichtums wider den zerfabrenen Zeitgeift und alle Moderni-
tätsſucht stelle ich dtefe beiden Bücher zufammen.
Karl Weitbrecdt zeigt in feiner „Yitteraturgeichichte” sichere äſthetiſche Schulung
md natürlichen pfuchologifchen Scharfblid in einer Fülle treffender Urteile; als Dichter wei er
genau, was dichteriiches Schaffen ift, und vermag das Echte von dem Gemachten, das Berjünliche
von dem Schulmäßigen zu unterfcheiden. Schon in der Anordnung des ungeheuren Stoffes
befumdet er jeinen Sinn fir natürliche Gruppierung; er findet ſechs Dauptabjchnitte: Der Ans
fang des Jahrhunderts; Zwiſchen den !Revolutionen; Die Rückkehr zur Form; Der poetifche
Nealismus (darin erblidt er wie Ad. Bartels den litterariichen Höbepunft des 19. Jahr—
hunderts, eine Uebereinſtimmung, die wie jo manche andere fich aus den Aehnlichkeiten der
Grundanſchauungen beider mit Notwendigkeit ergiebt); Nationale Einigung und geiftige Ent—
artung; Die Moderne. Nur was lebt oder einmal wirklich lebendig geworden war, iſt berück—
lichtigt, wobei freilich bei dem Enappen Raum eine oder die andere Charaftergeitalt zu kurz ges
fommen ift oder mie ‚y. v. Saar ganz fehlt. Die einzelnen Perioden und Dichter werden ſtets
im Zuſammenhang mit dem Gejamtleben der Nation betrachtet und ihre Bedeutung mit den
Maßſtäben einer Aeſthetik gemeſſen, die auch ethtiche Zucht vom Dichter fordert und über ber
Form den Gehalt nicht vergißt. In Eraftvollen Berjönlichkeiten, die Fühlung haben mit dem
jtilfinnerlichen, vormärtstreibenden Yeben des deutichen Volkes, nicht in Theorieen und Schulen,
Beittendenzen und Moderichtungen erbiidt Weitbrecht das Heil der Poejie. Daraus ergiebt ſich
feine fritiiche Stellung zur „vomantischen Schule”, zum „undichterifchen jungen Deutjchland‘
Bücherſchau. 157
und zur zerfahrenen Moderne mit ihrer Nahabmungsfucht ganz von jelbit. Weitbredit's
vitteraturgeſchichte empfiehlt fich durch ihren deutfehnationalen Grundzug ebenfo jehr mie durch
ihre traftvolle, lebendige Daritellungsiweife.
ALS ftammesftolger und heimfefter Schwabe wei Weitbrecht die Bedentung der Heimat
und des Volkstums für alle echte Dichtung wohl zu ſchätzen: in der neuerdings viel berufenen
Heimatkunſt“ fieht er ein Stüd Genefungsboffnung für unfere poetifche Pitteratur. Inter den
eriten, die für eine gefunde, im deutjchen Bolfsleben wurzelnde Kunſt und Dichtung eintreten,
befand fich der Elſäſſer Fritz Lienhard. Inzwiſchen haben die flinfen Marktichreier und
Zwiſchenhändler in ſenſationellen Neuheiten aus der „Heimatkunſt“ eine Mode und ein
Schlagwort zu machen gefucht. Lienhard und feine Mittämpfer wurden grimdlich mißverſtanden.
Für fie follte fie ja mır der Ausgangspunkt einer möglichen gefunden Entwidlung deuticher
Dichtung, kein Endziel fein. Den von Tag zu Tag wechſelnden Strömmmgen und Richtungen,
den theoretifchen Forderungen und der Hetze nach meuen Ismen gegenüber wies Yienhard
auf die Heimat, die Yandichaft, den Stamm als den natürlich gegebenen Boden bin, von wo
aus eine gefunde, echte Kunſt wachfen könne; er bob die Pedeutung der Perfönlichkeit wieder
bervor. Erſt etwas fein, ehe ihr etwas machen wollt! Genen die Fremdſucht und Nachäfferei,
gegen die plumpen Schlagworte, gegen den pefiimiftifchen, „veritandesdürren Geiſt dev Elends—
dichter“ ftellte er eine im Volksgemüte wurzelnde, nad) weiten Horizonten und Ewigkeitswerten
fröhlich hinaus- und emporitrebende Dichtung. Und er forderte nicht nur, er ſchuf auch felber
Dichtungen voll ftarter Empfindung und Geitaltenfreude. Der mürrifchen Satire und patho—
logifchen Tüftelei und Nervenkofetterie mübder Seelen wurde nicht nur der Krieg erklärt, mein!
der Weg zu neuen Idealen wurde gezeigt, der Weg zur Höhe, wo mir unſerer tiefiten Vebens-
fräfte erjt inne werben. Anregen, ermutigen, erweitern wollte Yienbard die Geiſter. Was er
nun in verfchiedenen Blättern — namentlich in der Beilage zu Dr. Friedrich Yange’s
„Deutfcher Zeitung” ımd in der „Täglichen Rundſchau“ — dem deutichen Wolfe über
Fragen der Litteratur und des eitgeiftes in dieſem Sinne zu jagen hatte, das ift in dem vor—
liegenden Buche unter dem Titel „Neue Ideale“ zuſammengefaßt. Ich nenne die Titel
einiger ber fünfzehm Auffäße: Perjönlichkeit und VBolkstum — Grundlage der Dichtung; Tolitoi
und Ibſen; Ehriftentum und Deutichtum; Die litterariichen Aufgaben der deutichen Katholiken;
Heimatkunſt; Sommerfeftfpiele; Litteratur-FJugend von beute; Jahrhundertwende. — Neidhite
Anregung und Förderung wird Lienhard jeder Yefer verdanken, der noch nicht verlernt bat,
auch Litteratur- und Kunſtfragen als eine richtige nationale Angelegenbeit zu betrachten.
Worms. Karl Berger.
Malta, feine kriegshiftorifhe Vergangenheit und feine heutige ſtrategiſche Bedeutung. Yon
Oro Wachs, Major a. D. Berlin 1901. E. ©. Mittler & Sohn. Preis 50 Pf.
Melche Bedeutung Malta für England innewobnt, wird vom Berfafler, auf Grund langs
jähriger Studlen und unter Anführung zahlreiher Autoritäten, in trefflicher und anichanlicher
Meife dargejtellt, wobei der möglichen Stonitellationen des unvermeidlichen Stampfes um die
Vormacht im eingehender Weife gedacht wird. Den Schluß macht ein Ausfprud Mahans:
„Ausgeſchloſſen vom Mittelmeer, darf England in der Volitit eine wichtigere Rolle als die
Niederlande oder Dänemark zu jpielen kaum noch beanfpruchen.” Der Gntmidelung des
SGedanfenganges bis zu diefem Schluß von umerbörter Tragmeite zu folgen, fit von bobem
Intereſſe und trägt viel zum Verftändnis der Vorgänge unſerer Zeit bei,
Grüne Befte tür Kunft und Volkstum. Verlegt bei Georg Heinrich Mener, Berlin SW., Preis
jedes Heftes 15 Pf.; 12 Hefte 1 Marf.
In diefen billigen Heften, die der Werleger dev viel genannten und noch mehr verfannten
„neimatkunft in's Volk wirft, ift Verfaſſer diefer Unzeige felbft mit zwei Aufſätzen vertreten.
Seine Beiprehung wird aljo zum Teil eine Art Selbitanzeige, und jede Fritifche Zuthat vers
bietet fi von ſelber. Doch darf man wohl jagen, dat den Heftchen recht viele Leſer und
Käufer gegönnt werden dürften, weil es eine bequemere und billigere Einführung in eine note
wendig zu beachtende Pitternturhemenung micht wohl neben kann. Por allem mache ich auf
158 Aitcherichan.
Adolf Bartels’ prachtvoll aufammenfafiende Kennzeichnung unferes nun fiebzinjährigen Meifters
Milhelm Raabe aufmerkſam (Heft 2). in einem anderen Heft fpricht derſelbe befannte Litterar-
biftorifer und Schriftiteller über die „Heimatkunſt“ (Heft 9. Willn Paſtors Heine Einführung
in des geiftvollen Fechner Weltanſchauung (Beft 5) iſt gleichfalls ſehr anregend. Heinrich
Sohnren äußert ſich bedeutjam und anfchaufich über die Anfiedlerfrage in der Oſtmark (Der
Heine Heintich, Heft 4. Andere Hefte jprechen über „Pitteraturjugend von heute” Lienhard),
„Dentichsevangelifhe Volksſchauſpiele“ (Lienhbard), „Helmat und Pollsfchaufpiel" (Wachler),
„Das deutfche Biarrhaus und die Volkskunſt“ (Mielke), „Offener Brief an ben Bürgermelfter
einer deutfchen Kleinſtadt“ (Schwindraßbeim) u. j. mw. Kleinigkeiten, meinetwegen, aber ich dente
doch: anregende Hleinigfeiten.
Berlin. F. VYienbard.
Julius Lohmeyer, humoresken. Berlin, Verlag von Freund & ‚edel. 3. Auflage, 1901. —
Julius Lohmeyer, Wir leben noch und anderes. Neue Novellen. Stuttgart, Verlag von
Adolf Bonz & Comp. 1901.
„Ehrfurcht, ebrfürchtige Unterordnung, gleichviel mo man jie findet, dankbar freubige
Weltbejahung bleibt doch unter allen Umftänden das Höchite, das KHöftlichite, zu dem wir bier
überhaupt nur fommen fünnen.” Diefer Sab findet fich auf Seite 185 des zweiten der bier
angezeigten Bücher; und wenige Zeilen darüber ijt von einer „mit Gott und Welt in Harmonie
jtehenden Natur‘ die Rede und vom „treulich aufopfernden Thun im Heinen Sreife.” In folchen
Zäßen tritt klar ausgeſprochen zu Tage, was beiden Büchern und den ganzen Schaffen und
vebensmwert des herzenswarmen Berfaſſers jo ichön den Brundton und das Gepräge giebt.
Man liebt und fchäßt Lohmeyer längſt als ugendichriftiteller. Und es war in den materialiüti«
ſchen und naturaliſtiſchen Jahrzehnten, die hinter uns liegen, im jener Unftete und Gebe, die
einen rajchen Nervenverbrauc und eine Verkümmerung des Gemütslebens zur Folge hatte, ein
Deldenftüd, mit gejammelter Freudigkeit zu unferem Völkchen und Volke im deutſchen Heim zu
iprechen und doch in und mit der Zeit zu wandern. Man bat über dem Jugendſchriftſteller ben
Dichter, Plauderer und Erzähler gelegentlid; zu Fury kommen laſſen: — und doch beweiſen audı
dieſe Humoresken und Novellen wieder, wie viel temperamentvolle Geſtaltungskraft, mie viel
warme Freudigkeit des Frabulierens in diefer Dichternatur fteden. Wer die Bücher zu lefen be-
gonnen, legt fie fo leicht nicht wieder bei Seite. ich will nicht fagen, dat die Humoresfen,
äjthetifcher Wertung nad, alle 16 auf gleicher Höhe Steben; ich würde diefer oder jener gelegent-
lid mehr Fünftlertiche Feinheit wünjchen. Was aber von A bis 3 an dieſen Büchern fejlelt, iſt
das reiche Lebensfluidum, das in und zwiichen und binter den Worten, Gejtalten und Geſcheh—
nifjen flutet und leuchtet, immer feifelnd, immer erwärmend, oft zu heller Luſtigkeit und wahr:
baft charakteriftiihen Humor gefteigert, oft finnvoll zu milder Ironie abgetönt. ES ſteckt
Lebenserfahrung und Seelenerfabrung in Yohmeners Plaubderbühern; es ſteckt eine Weltan-
ſchammg dahinter. it fie veraltet? Können Derzenswärme und millensfräftige Selbiterziehung
eines echten \Ndealliten jemals veralten? Ich meinesteils, felber im Geiftesfampfe ftebend, babe
erit die feichten Dumoresfen, denn die erniteren, zum Teil vortrefflich erzählten Novellen mit
mwahrem Behagen genofien. Und ich hab' mir dabei gedacht: ältere und jüngere Generation
deuticher Litteraturmenſchen mögen durch mande Wandlung in Aeſthetik und Technik fcheinbar
getrennt marichteren: wir fchlagen dennoch berrlich auf dem einen Boden deutichen Herzens und
beutichen Glaubens! Wenigitens ichaffen wir daran, daß es bald wiederum jo merde!
Berlin. F. Lienhard.
Deutſchland auf den hochſtraßen des Weltwirtſchaftsverkehrs. Yon Arthur Dix, Jena 1901,
Guſtav Fiſcher.
Der Verfaſſer hat ſich der nützlichen und notwendigen Arbeit unterzogen, aus einem
überreichen, zerſtreuten Material das Wichtigſte zur Erkenntnis der deutſchen Weltſtellung in
fleinen Skizzen zufammenzufaiien; er iſt dabet von der Abſicht geleitet, „den Blid des Volkes
zu fchärfen für die Bedeutung unſerer Beziehungen auf den Hocitrafen bes meltiwirtfchaftlichen
und meltpofitifchen Nerfehr&, für ihre Vorteile fo gut mie fiir ihre möglichen Gefahren. Die
Aficherichai. 159
mwichtigiten Straßen des Weltverfebrs find ja heutzutage die Seewege. Darum fordert das
Wachſen und Wandern des deutjchen Volkes, das uns in immer engere Berührung mit dem
Weltmarft bringt, eine fortgejett geiteigerte Bilege und Sicherung gerade der überfeeiichen Ber
ziehungen. Nach einer geichichtlichen Betrachtung über Preußen-Deutichlands Weg zum Welt-
meer und Anteil am Weltwirtichaftsverfehr werden Dentichlands glänzend fich entwickelnder
Schiffsbau und die großen und Fleinen Reedereien geichildert, dann die Notwendigkeit moderner
Schiffabrtöpolitif und unfere wenig erfreuliche Stellung im überjeeifhen Nachrichtendienft er-
örtert. Den Kern des Buches bilden die unter dem Titel „Deutichland und die Hauptwege des
Weltverkehrs“ zufammengefakten Skizzen, die unfere Stellung in den europätichen Meeren, die
Seewege nad Afien, Afrika, den verichtedenen Teilen Amerikas unter jteter Berüdjichtigung ber
beitebenden politifchen Verhältniſſe und der Zufunftsaufgaben behandeln. Für Aſien fommen
befonders noch die bereits gebauten oder projeftierten Bahnen in Betradıt. Im lebten Teile
werden die Wechjelwirfungen zwiſchen Weltpolitift und Sozialpolitif, Weltwirtſchaftsaufgaben
und Sozialer Frage behandelt: fie bedingen fich nenenfeitin, der Erfolg der einen ift die Voraus—
jeßung für die Durchführung der anderen. Das Buch wird jedem im politifchen oder wirt:
schaftlichen Leben Stebenden nützlich fein; im Kampfe um unfere Flottenpolitik ift es ein unent—
behrliches Anreger und Yehrmittel. B.
Dr. phil. hermann Franke: Chriſtentum und Darwinismus. Berlin 1901. Alex. Duncker.
Es liegt uns bier wieder, umd zwar aus ber Feder eines Geiſtlichen, einer der Nerfuche
vor, eine Verfühnung zwiichen moderner Naturwiſſenſchaft und ftrenger Gläubigfeit herbeizu—
führen. Das Programm des Werkes entwidelt der Verfaſſer in dem eriten Sapitel, das ben
Kampf um die Weltanichauung behandelt. Sein Perfuch der Beilegung diefes Kampfes, einer
Verſöhnung der Gegner, fußt auf jener Erfenntnis, daß diefe Gegenſätze nicht fo ſchroff feten,
wie fie ericheinen, daß die Entwidlungslehre auch für das Chriſtentum und feine Geſchichte
anwendbar ijt. Die klare Darftellungsweife des intereffanten Buches wird dem Iwecke des
Wertes, manchen Leſer aus Zweifeln zu erlöfen, gewiß in hohem Make dienlich fein.
Zauber der Ehe. Ein Buch von Richard hamel. Pierte umgeſtaltete und vermehrte Auflage.
Berlin 1901. Alerander Dunders Verlag.
An dem vorliegenden Werf wird das Glück eines Liebenden und feiner in Ihm ganz auf:
gehenden Gattin in ſchwungvollen Poeſieen gefchildert. Beide Liebende werden durch ihre Liebe
auf den Gipfel böchiten menichlichen Glücdes gehoben. Da mird biefes befeligende Liebesleben
jäbling® unterbrochen, indem der Tod das fchöne irdifche Band zerfprengt. Die ben Zeitraum
eines Jahres umfpannende Dichtung, in melcher die Zartbeit der Empfindung, das Vollglück
des ehelichen Lebens, und die überaus glüdliche Wiedergabe der Stimmungen uns tief erfallen,
gewährt dem Leſer bis zum Schluß einen reinen Genuß.
Quellen und Unterfuchungen zur Gelchichte des Haufes Hohenzollern. Band ı. Aus dem Brief
mechfel König Friedrichs J. von Preußen und feiner Familie. Herausgegeben von Ernſt
Berner. Berlin 1901. Verlag von Alerander Dunder.
Der Königliche Hausarchivar, Archivrat Brof. Dr. Berner, bat ſich die überaus danf-
bare, mühevolle Aufgabe geitellt, in einem Sammelwerfe die Ergebniſſe feiner Forſchungen über
die BVerjönlichkeiten unferer Hobenzollern niederzulegen. Eine mehr als Mjährige Thätigfeit im
Köntglihen Hausarchiv ermöglicht es dem gefchäßten Verfaſſer, den umfangreichen Stoff in
biefen intereſſanten Peröffentlichungen voll zu beherrichen. Der erite Band, der gelegentlich der
Zmeibundertjabrfeier veröffentlicht murde, bringt den Briefmechfel Friedrich I. mit feiner Familie.
Aus den Papieren eines modernen Theologen. Yon Franz Breda. Berlin 1901. Alerander
Dunders Berlag.
Es find Bilder, denen man fomohl marmes Herz mie fcharfe Beobachtungsgabe und
friſche Urfprünglichkeit de8 Empfindens anfühlt. In dem Buche ſteckt fo viel Gefundbeit und
berzerquidende Geradheit des Urteild Über Firchliche® und pajtorales Leben, daß es dem Ber-
fafler zahlreiche Freunde erwerben wird, freilich auch mandien Gegner. N. G.
160 Ueberſee.
Ueherſee.
Nachrichten vom „Sauptverband deutſcher Flottenvereine im Ausland“.
J.
D: Hauptverband will: alle im Auslande lebenden Dentichen zur Berbätigung ihres Intereſſes
für die Eraftvolle Entwidelung der deutichen Marine anregen und vereinigen, und, jede
Parteipolitif fernbaltend, zur Erhaltung und Sträftigung der Beziehungen der Deutichen im
Auslande zur Deimat beitragen. —
Nach Beirut und Balencia {Benezuela) fenden wir unjern Dank für die Einfendung
des Beitrages von 865 bezw. 753,78 ME, Rhodus 48 ME. 30 Pf. Santos 1500 ME, Port au
Prince 1293,73 ME, Hapitadt 3059,79 IE —
Der 7rlottenverein zu Yonden berichtet über die Ergebnifie feines erſten Rereinsjabres.
Katurgemäß war die Arbeit zunächſt anf die Anwerbung von Mitgliedern gerichtet, und diefe
war nicht ohne Erfolg; denn troß der in dem Jahresbericht bervorgebobenen Ungunſt der
politiichen Verhältniſſe und beflagenömwerten Yaubeit des patriotifchen Zinnes eines großen
Teiles der in Yondon anfälligen Deutjchen, fonnte der Berein fein erites Gefchäftsjabr mit einen
Beitand von 330 Mitgliedern abjchlieren.
Der Verein beteiligte fich als folcher umter anderm an einer bon der deutjchen Kolonial—
gejellichaft veranitalteten Ehrung des in Yondon ammejenden Gouverneurs z. D. von Wißmann.
Der erite \\ahresbeitrag des Yondoner Vereins ift dem Dauptverband mit einer Summe
von 1000 ME. übermittelt worden.
Die Summe der Pereinsbeiträge beläuft fich zur Zeit auf rund 400000 WIE.
Der Flottenverein für Napftadt und die Weſtprovinz iſt im der Lage zu berichten, daß er
„trog Krieg und Peft wieder emporblüht”. Der Beitrag von 150 #, über den wir bereits in
der Augujt-Nummer auittierten, ift uns bierfür ein hocherfreuliches äußeres Zeichen.
Der Eingang wmeiterer Beiträge tt zu verzeichnen aus Guritiba mit 300 Mk.; Mogador
145 WIE.
Auf die Zeitjchrift „Armee und Marine” Fönnen wir unfere Yefer, wenn fie jich über bie
Angelegenheiten ber Flotte ſachgemäß informieren wollen, ganz befonders binmweifen. Sie bringt
außer meift recht guten Abbildungen, anfprechend gejchriebene Aufſätze über militärifche und
technifche ragen. Das Blatt ericheint im Berlage von Boll & Pidardt, Berlin NW. Der
Preis des einzelnen Heftes beträgt 30 Bf.
„Ueberſee“ joll der Hauptſache nach ein Nadrichtenblatt zur Wermittelung engerer Be:
ziebungen zwiſchen unferen Vereinen bilden. Der Schriftverfehr mit diefen Dat es uns audı
ermöglicht, allınonatlich eine Reihe allgemein interefiierender Mitteilungen zu bringen.
Die Auguſt- und Septemberbefte der „Ueberſee“ bringen von wertvollen Original-
artiteln die nachfolgenden: 1. Engliiche Flußkanonenboote. 2. Die Bionierfahrt des „Vorwärts“.
3. Die ‚amerikanische Gefahr. 4. Neue Schiffsverbindungen zwiſchen Chicago und Europa.
5. Mängel der engliihen Marine. 6. Amerifas Nnduftrie und Deutfchlands Zukunft. 7. Die
Monroe-Doktrin.
Anfragen wegen Beitrittöerflärungen von Auslandsvereinen werden aud) von der
Redaktion und Erpedition der „Deutichen Monatsichrift”, PBerlin W. 35, der Berliner
Dauptgeichäftsitelle übermittelt.
Neuerfhhienene Bücher für die Bücherſchau bitten wir an die Verlagsbuch handlung einfenden x
wollen. Befprechungen behält fi die Redaktion vor.
Nachdruck verboten. — Alle Rechte, insbefondere das der Meberfeung, vorbehalten.
Berlag von Alexander Dunder, Berlin W.35, — Drud von 9. ©. Hermann in Perlin
Für bie Redaktion verantwortiih: Dr. Aulius Lohmecyer, Berlin-CEharlottenburg.
De
—— nicht der : Partei
Ss — für die Gebildeten aller Stände. TU ?
TG 3 Ace
TE N W Hherausgeber: Heinrich Rippler, Berlin. Gr —
—— — — —— - u IC. ei *
PP, 0 — — — — ec — N _,
Morgen- und Abendausgabe,
Derlag des Bibliographifchen Inſtituts in Berlin und Eeipzig.
Bezugspreis: Bei den Poftanftalten des Deutfhen Reichs und Öfterreich- Ungarns vierteljährlich
5 Marf. — Monatliche Sonderbeftellungen fönnen zum Preife von je ı Marf 67 Pf. bewirkt werden.
Mit direkter Poftverjendung nah dem Ausland Foftet die „Tägliche Rundſchau“ einfchl. Porto
vierteljährlich 15 Mark — nad den deutjchen Schußgebieten 10 Marf.
In den einundzwanzig Jahren ihres Beftandes
tjt die
„Tägliche Rundichau“
das — Kieblingsblatt — der gebildeten
nationalen Kreife Deutfchlands geworden,
und fie hat befonders in der leiten Feit nicht nur
ihren Abonnentenftand — der faft alle Berliner
politifchen Tagesblätter um ein Bedeutendes über
fteigt — um mehrere Taufend neuer £efer ver-
mehrt, fondern auch eine unbeftrittene politifche
Geltung erften Ranges gewonnen.
Unabhängig nach allen Seiten, vornehm
im Ton und jachlich im Urteil, fucht die „Täg-
lihe Rundſchau“ Märend und fammelnd für die
fittlihen Jdeale des Deutfchtums ſowohl als für
den Dölferberuf unferer Nation einzutreten. Sie
befürwortet eine felbfibewußte und weitfchanende,
aber in ihrem Dorgehen nüchterne und befonnene
Realpolitif und war der Berold unferer Kolo-
nial- wie unferer $lottenpolitif, die fie beide
auch thatfräftig hat in die Wege leiten helfen.
In der inneren Polttif betont die „Tägliche
Rundſchau“, getreu ihrem Wahliprude:
Daterlande, nicht der Partei, das Gefamtinter-
effe gegenüber den Sraftionsanfprücen, ftellt ſich bei
fonfervativer Örundgefinnung jedem Anfturm auf
„Dem"
unfere Geiftesfreiheit wie jeder undeutſchen
Strömung entgegen nnd vertritt bei ſcharfer
Befämpfung der Umfturzpartei den Gedanken der
ehrlichen und befonnenen Soztalreform.
Un die gebildeten Kefer mit eigenem nnbe-
fangenen Urteil wendet fi die „Täglidye Rund-
ſchau“, nicht an die führerbedürftige Maffe. Aus
den Reihen der Gebildeten unferer Nation tft ihr
daher auch in immer fteigendem Maße der Lohn
geworden, daf fie die „Tägliche Rundfchan' als
ihr Blatt anerfennen und aus ihren Reihen das
Wort von der Rundfhangemeinde hervorge-
gangen ift.
eben ihren fachlichen Dorzügen, die wieder-
holt von berufenfter Seite öffentlich und in ehrend-
fier form anerfannt worden find, darf fich die
„Täglihe Rundfchau‘ ferner rühmen, eine der
reichhaltigjten deutfchen Zeitungen
zu fein; ihr Bezugspreis bleibt trotz der Neuerung,
nach welcher unfer Blatt nunmehr
— zwölfmal wöchentlich —
erfcheint, der alte, fo daf die „Täglihe Rund-
ſchau“ nicht nur die vornehmfte, fondern aud
die billigfte aller zweimal täglich erfcheinenden
großen politifhen Tageszeitungen ift.
Probenummern werden fofort nach Beftellung umfonft und poftfrei 7 Tage hinter
einander gefandt von der Geſchaftsſtelle der
„Täglichen Rundſchau“ in Berlin SW. 12, Simmerftraße 7—8.
Jahrgang 1%1/2. Ynhalt des Oktoberheftes. Beft 1.
Deuticıe Monatsichriit
für das gelamte Leben der Gegenwart.
Berausgegeben von Julius kohmeyer
Adolf Wilbrandt: Große Zeiten. Novelle.
Rudolf Euken: Die Aufgabe des deutkhen Gelltes,
Bermann von Wißmann: Aus meinen Kämpfen In Oftafrika. I. Das Gefecht am Kilima-Mdicaro,
Friedri Raßel: Der Gelit, der über den Vallern idıwebt.
Felix Dahn: An die Deuiſchen. j
Graf Joadıim von Pfeil: Marokko und Deutichland,
Anton von Werner: Bismard-Erinnerungen.
Adolf Wagner: Bankbrüde und Bankkontrolle, I.
Adolf Stern: Wilhelm Raabe zum 70 ten Geburtstage.
Dichtergaben aus dem Raabe-Album zum 7Oten Geburtstage des Meilters von Prinz Emil
Schönald+»Carolath, Paul Geyle, MW. von Polenz, Victor Blüthgen, DOito
Mardı, Peter Roiegger, Adolf Bartels, Felix Dahn, Ernit Wichert u. a.
Karl Tanera: Der junge deutihe Kaufmann In Oitalien.
Theodor Sciemann: Deufſchland und die großen europäiihen Mächte,
Paul Dehn: Weltwirtihaftliche Heberkhau. Monatsberict. T,
Wilhelm von Maliow: Monatsikhau über die Innere polltiihe Lage. I.
Paul Dehn: Die Deufihen im Auslande. Monatsihau. 1.
Karl Bulie:; TMeuere deuffde Dichtung. Monatsbericht. I.
Max Marterlteig: Die deutfhe Bühne. Monatsberiht. J.
Paul Bey: Technlihe Umſchau. I, Ueber die künftige Entwicklung der Ellenbahnen.
Bucherſchau von Frig Lienhard, Karl Berger, Adolf Bartels, Richard Veltbrecht u. a.
Beridıt des Gaupfverbandes deuticher Flottenvereine im Auslande, I,
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Die „Deutiche Monatsichrift” erſcheint in Seften von 160 Seiten Umfang
zu Beginn jeden Monats. Der Abonnementspreis beträgt:
vierteljährlich im deutichen und öiterr.-ungar. Poltgebiet . . . . Mk. 5,—
2 im Weltpoltvereins-Gebiet . . » 2 2 2 2 2 ee 06,25
jährlidı im deutichen und ölterr.-ungar. Poitgebit . . x 2 22 D,—
„ Im Weltpoitvereins-Gebit . . : : 2 2 2 2 2 2 2 2 00 Bd
Der Preis einzelner Hefte Mk. 2,—; im Weltpoitvereins- Gebiet „ 2,50
Die „Deuticıe Monatsicrift” ift zu beziehen durch die Buchhandlungen des In«
.und Auslandes, die Poltanitalten (Poitzeitungsliite für 1901 No. 1846«) oder die
Expedition, Alexander Dunder, Berlin W.35, küßowitr. 43. Prospekte gratis.
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Deutfche Monatsichrift
für dasgesamte Leben der Gegenwart
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HERAUSGEGEBEN Vor
JULIUS LOAMEYER
ERLIN
IA VERLAGVnALEXAMDER DUNCHER
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Einzelheft
30 Pige.
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Aufgabe der Zeitichrift iit die Verbreitung
der Kenntnilie über unſere und fremde
- Armeen - - » Marinen » » » Kolonieen -
Länderkunde und überleeilhe Intereiien,
ferner Waller«, Reit» und Jagdiport usw.
Reid Probehefte Skizzen,
Illuitrierte Aufätze
* koltenfrei * Novellen, Romane
Als Goethes „Gore“ erfchien, jubelte es auf: „Das iſt deunfch!“ Der [ich
erkennende deutjche Geift verftand es, [ih und der Welt zu zeigen, was
Shakefpeare jei, den jein eigenes Uolk nicht verltiand; er endechte der Welt,
was die Antike fei, er zeigte dem meniclichen Geilte, was die Natur und
die Welt fei. Diele Chaten wollbrachte der deuifche Geljt aus ſich, aus [einem
innerjten Verlangen, [ich feiner bewußt zu werden. Und diefes Bewußtfein
{agte ihm, was er zum erften Male der Weit verkünden konnte, dafı das
Schöne und Edle nicht um des Vorteils, ja felbjt nicht um des
Ruhmes und der Anerkennung willen in die Welt ıriti: und
alles, was im Sinne diefer Lehre gewirkt wird, ift „deutjch“, und deshalb
ift der Deutfche groß; und nur was In diefem Sinne gewirkt wird,
kann zur Größe Deuifchlands führen, —
Richard Wagner, aus: „Was ift deutſch?
— Große Zeiten ⸗
Erzählung von
Adolf Wilbrandt. (Sorsfegung.)
e: begann die große Woche, in der alles zur Entjcheidung kam; das Auf-
flammen der deutichen Empörung über die franzöliiche Herausforderung vom
Meer zum Feld und vom Fels zum Meer; die Kriegserflärung von Paris nad)
Berlin; die Mobilmahung Bayerns und der andern jüddeutichen Staaten. Das
deutiche Gefühl braufte aucd in München auf, jauchzte dem jungen König zu, der
ſich ſogleich als Schug- und Trußverbündeter zu Preußen geftellt hatte; Helmuth
von Dorn ftand mit dabei, vor der Refidenz, al3 eine ungeheure Menſchenmenge
fi drängte, um dem von Hohenſchwangau hereingefommenen König für jeine
rafche nationale Entfchließung zu danken. Er fah die hohe, jugendliche Geftalt
ans Fenſter treten, grüßen, ſich verneigen, er hörte den Donner der Hochrufe, die
vaterländifchen Lieder, die jo viele Taufende anftimmten, und fühlte endlich die
erfehnte Wonne: nun wachen auch wir Bayern hinein in das neue Reich! —
Dann folgten zwar noch die Kämpfe im Ständehaus in der Prannerftraße: die
Römlinge und die Stodbayern unter den Abgeordneten wehrten fich gegen die
deutiche Strömung, der Preußenhaß jchlug noch einmal mit den ſchwarzen Flügeln.
Den gut Deutfchen aber wuchs der Mut, fie fühlten den übermädtigen Wind
der Beit. Es war keine Ruhe mehr in der Welt; eine herrliche, fampffrohe Unraft
ergriff die Herzen. Das Lied von „Lieb Vaterland" tauchte plößlid) auf, man
wußte nicht woher, und es ward jchnell der allgemeine Gefang. Die Gleich—
gefinnten fuchten fih, auf der Straße, im Wirtshaus, in den von deutjcher Muſik
erflingenden Gärten. Auch Helmuth zog es hinaus, hinaus, ev ward faft ſo
bausfremd wie in der Studentenzeit. Wenn er nicht im Kolleg dozierte, wanderte
er in die Kammerſitzungen, zu jeinen Freunden in der Hegierung, neues zu er:
fahren, abends ins Cafe national, wo viele der feurigſten Patrioten ſich zu—
11
162 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
jammenfanden. Es erfüllte ji, was er an jenem Abend im „Eliſium“ zu Marie
gejagt hatte: das Allgemeine zog ihn aus jeinem inzeldaiein heraus; über dem
großen Scidjal vergaß er das jeine.
Sp erging es Marien nicht; ihr erging's fait umgekehrt. In ihr franfes
Gemüt war an demfelben Abend ein Blit gefahren; er hatte in das Dunkel,
das fie num fchon fo fange quälte, ein blendendes Licht geworfen, dann war die
alte Nacht wieder eingefehrt. Aber ein Ahnen war zurüdgeblieben, das ſie nicht
mehr lusließ; jtürmifcher als je war in ihr der Drang erwacht, fich in dieſem
Dunkel zurechtzufinden, das Ahnen zum Grfennen zu machen. Sie brütete über
der Bergangenheit, dev vergejienen, bis zur Ermattung: was hab’ ich erlebt?
was hab’ id) gefühlt? — Gefühlt? Für wen? Für diefen „Jugendfreund“ Franz?
Sie fah ihn an, fie horchte auf feine Stimme, fie hörte die warmen, aud) heißen
Worte, in denen er von jenen Zeiten ſprach. Er hatte geliebt, da$ war nun
gewiß. Sie au? Sie ihn auch? — Es war ein quälendes, doc auch dumpf
bejeligendes Suchen, Horchen, über dem fie die Welt vergaß. Ein gefährliches:
denn all ihre Gedanken kamen zu Franz, drehten fi um Franz, und inden fie
in die Vergangenheit tauchte, jchlug die Gegenwart über ihr zujammen.
Franz, in derfelben Gefahr, aber fich nicht vor ihr fürchtend wie Marie,
fam nun fait täglid in das Dornſche Haus, einen zierliden Neubau in der
Brienner Straße, den nur fie bewohnten; er brachte zuerjt jeine „Phantaften“
mit, dann andere Muſik, fie jpielten mit einander wie in alten Zeiten. Es be-
günftigte ſie nur zu fehr, daß Helmuth fait nie zu Haufe war; die beiden Männer
ſahen ſich gar nicht; zuerit verfehlte yranz den Hausherrn, dann diefer bei feinem
Gegenbeſuch Franz. Beiden war's wohl recht; Eeinem lag am andern‘... . In
Franz war alles wieder erwacht, was er einft gefühlt hatte; umd nie hatte er für
ein anderes Weib jo wie für Marie gefühlt. Wenn er mn ihr feines, edles,
leidendes Geficht jo gedantenvoll träumen ſah, mit allen Seelenorganen belauichte,
wie fie heimlich über dem gemeinfam Erlebten brütete und verworrene Erinne—
rungen in ihr zu erwachen jchienen, wenn er die holde, geliebte Frau in diefent
nachtwandleriſchen Zuftand jah, wie er ihn nod) nie an einem Menſchen geſehen
hatte, dann ward ihm wohl toll und jündhaft zu Mut. Krieg, Baterland, Ehre
— er hörte davon reden, aber wie im Schlaf. Eine unglüdlihe Frau erlöſen —
fie und fich beglüden — das war das deutjche Lied in feinem Herzen. „ch babe
ein Recht an fie!” damit lullte ev fein Gewifjen ein. Und wenn doch einmal eine
innere Mahnung ihm zuflüfterte: „Was willft Du bier? Geh! Du haft wieder
abreifen wollen; nun, fo reif’ doch ab!* dann rief die andere Stimme in ihm, auf die
er mit wilder Freude hörte: „Ich kann nicht fort, Marie! Ich kann noch nicht fort!“
Unterdejjen ging die Weltgejchichte auch im Ständehaus in der Brannergajie
ihren guten Gang; am neunzehnten Juli fiegte dort die deutfche Sache, die Mehr-
heit der Abgeordneten bemilligte die von der Negierung verlangten Summen zur
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 163
Kriegsaufitellung des bayrischen Heers. Am zwanzigiten folgte die Kammer der
Reichsräte, einftinmig. Am Abend diejes Tags erichien Neichthal im Dornjchen
Daus, um ſich mit Marie über diefen neuen Sieg zu freuen; doch eigentlich nod)
mebr, um nad dem Rechten zu jehn; denn wie die beiden „Muſikanten“ mit ein:
ander verfehrten, wie Marie darüber weltfremd wurde, das geftel ihm nicht. Ihn
wurmte, daß der Dausherr für fein Daheim feine Augen hatte... Er traf aud)
die beiden richtig wieder beilammen; ſie ftanden im Salon am Klavier, Marie
blätterte in Notenheften, die Franz joeben gebracht hatte. Es war nod) vor dem
Nachtmahl; in diefer Zeit der langen Tage wurde fpät gegeſſen. „sch will nur
melden,“ jagte Neichthal nach der erſten Begrüßung, „da Marie die Träumerin
es wohl nod nicht willen wird und Franz der Weltumfegler auch nicht: in
Bayern find wir nun fertig! Auch die Herren Neichsräte haben das Geld mobil
gemacht. Der Krieg kann nım allerfeits losgehn. Für die Herren Beinabfäger
kommt 'ne gute Zeit!“
„Bott, Gott, diefer Krieg!” ſeufzte Marie, indem ſie das Notenheft fallen
ließ. „Dieſer graufame Krieg!“
Reichthal verhärtete feinen menfchenfreundlichen Bariton: „Er muß fein, er
muß fein. Was hilft das alles? — Kann Ehre ein Bein anjeben? Nein, aller:
dings nicht. Aber kann Unehre das Herz brechen? Jawohl. Dann joll uns alfo
lieber die Ehre ein Bein brechen, als die Unehre das Herz!“
„Wem jagen Sie das?" verjegte Marie. „Eine Frau kann für ihre Ehre
fterben; warum nicht ein Volk? — Aber mein Gott, das Elend! it denn die
Welt noch nicht elend genug? Iſt es denn nicht jinnlos, auf diefer mitleidswerten
Welt zu haſſen, ftatt zu lieben?"
Statt zu lieben! wiederholte jie in Gedanken; jie jagte es aber nicht laut.
Sie verfiel wieder in ihr träumendes Starren. Franz hing mit den Mugen an
ihr. In feiner heimlich jchwelenden Erregung ging's ihm wunderbar: da fie zwar
aufredht, aber jo bewegungslos daftand, war ihm, wie wenn er jie liegen jähe,
regungslos ausgeftredt, wie eine Scheintote im Sarg. a, dachte er, jcheintot
ift Jie! So zur Liebe gejchaffen und zum Glück geboren; aber jtill und Ealt
und rührt ſich nicht. Sie atmet aber noch, jie jeufzt. Sie will eriwachen. Und
ich ſoll fie nicht wecken?
„Und es war einmal eine junge Frau,“ fing Neichthal an, dev ſie auch be-
trachtete, „die jann und träumte alleweil wie ein junges Mädchen . . .“
„Wer?" fragte Marie.
„Der Zuftand iſt nod im Wachſen: jie hört und veriteht nicht mehr, was
man zu ihr Spricht! — Wer doc diejen unfähigen Schurken von Vormund fennte,
der die Dame erzogen hat!“
Marie trat zu ihm umd legte ihm eine Band auf den Arm. Ihn nur flüch—
tig anblidend fragte fie: „Hältſt Du das für möglich, Onkel Reichthal?“
1*
164 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
„Was, mein Sind?‘
„Daß, wenn fo eine große Krankheit mit einem naflen Schwamm, wie ein
Schulmeiſter, über die Tafel gefahren iſt und die ganze Streideperivde eines —
Gefühls, eines — Grlebnifjes von der Gehirntafel weggewiiht bat — ſodaß man
nun nicht mehr weiß: was ift erlebt und was nur im Fieber geträumt — daf
dann doch nod), von außen gemwedt, nad) und nad Erinnerungen erwachen? und
— und — —"
Sie verftummte. Sie fah in die Luft; über ihre Wangen ging ein neroöfes,
den mitleidigen Reichthal ergreifendes Zuden.
Reichthal blidte von ihr auf Franz; der fchien nicht zugehört zu haben, er
vertiefte jich in ein Notenblatt. „Meine liebe Marie, gab NReichthal achielzudend
zur Antwort, „ich bin fein Mediziner, kann es Dir nicht jagen. Das kann id)
Dir aber jagen, daß Du ein weiblicher Hamlet biſt; — ja, ja, ganz das redjte
Wort. Sein oder Nichtfein — ſich erinnern oder ſich nicht erinnern! — Hätt'ſt
Du wenigſtens von mir gelernt, einen Eunftgerechten Salat zu maden; das hat
mehr Wert als all das Spintifieren. Heut werd’ ich ihn machen; für das Abend-
eſſen, zu dem ich mich hiermit einlade."
Marie lächelte liebenswürdig: „Sa, Deinen berühmten Salat! Er erfrijcht
jo; er fühlt."
„Es iſt der Salat der Salate! — Und wenn id) ihn für die Frau da mache,
jo gelingt er mir allemal; Inſpiration. Ich komm’ aljo mit einem vollendeten
Kunſtwerk wieder, oder nie!’
Neichthal ging zur Thür, der Küche zu. „Die zehnte Muje der Kochkunft,"
rief fie ihm nach, „führe Dir den Löffel!"
Das Wort wedte ein andres in ihm, er kam zurüd, es mußte heraus. „Und
die elfte Mufe, die der Yebenskunft, nehm’ fich Deiner ein wenig an! Erlaube
mir die unterthänige Bemerkung; phantafier' nicht zu viel! — Nun madıt fie mir
böjfe Augen. Es ift doch fo. Du grübelft zu viel! Du bift jchlecht erzugen; daher
mag’s ja kommen. Du — quälft Di) und mid. Jawohl, Du! Du! — — Ich
mad’ aljo den Salat!”
Neichthal ging. Marie ſah ihm beklommen und traurig nad. Franz warf
auf einmal die Noten mit einer jo leidenjchaftlihen Bewegung aufs Klavier, daß
jie zufammenfuhr. Dann heftete er die fchwarzen Augen auf fie, die unter jeinen
Stirnloden hervorflammten, und trat langjam auf fie zu, ohne zu ſprechen.
Eine plötliche Bangigfeit befiel fie. „Bleiben Sie nur, wo Sie find," ent:
fuhr ihr. „Bleiben Sie nur beim Klavier, — Warum fpielen Sie nicht?"
„Warum follt' ich ſpielen?“ entgegnete Franz, mit einem Blid, den fie nicht
ſehen mochte. „Es hat's ja niemand begehrt.‘
„So begehr' ich's jetzt!“
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 165
Sie ſah, daß diejer erregt gebietende Ton ihn befremdete; jich verbejjernd,
lächelnd fette fie hinzu: „Sit es unbefcheiden, franz, wenn ich Sie darum bitte?"
„So eine Bitte ift Befehl, erwiderte er etwas verfinitert.
„Bitte, ſpielen Sie mir nod) einmal — ja — die Würzburger Phantafien
zum Schubert. Und vorher den Schubert.‘
Er jeßte fih an den Flügel. „Wie Sie wollen, Marie. — Aber wenn Sie
mwühten —“
„Warum zögern Sie denn noch?“
„sch zögere nicht."
Er fpielte. Marie ließ ſich in einen Lehnjtuhl finfen; eine Hand an der
Stirn, ihn von der Geite her betrachtend, fiel fie bald in ihren Däntmerzuftand
zwijchen Sehen und Träumen zurüd. Ach wei es ja! dachte fie, da ein Er-
innerungsbild, das fie diefer Tage ſchon mehrmals gehabt, in berüdender Scein-
Elarheit wiederfehrte. Bei diefer Mufif erwacht's! Er ſaß am Klavier wie jekt;
es war aber nur ein Pianino, unjer Pianino. Und er blidte mich ſchwermütig,
ltebevoll an... Und id fagte mir — ja, jo war's — oder träum’ ich's nur —:
du bift ja ein Mädchen, fall’ ihm nicht um den Hals! — Und dann — —
Es war aus. Sie fuhr ſich mit der Hand über die brennende Stirn; es
nügte nichts. Won der Tafel weggewiicht, mit dem nafien Schwamm!
Die innere Unruhe trieb fie vom Stuhl empor; jte ging leife, aber wie im
trieber über den Teppich bin. Franz bemerfte ed. Mitten in einer Figur brach er ab.
„Nun?“ fagte fie. „Warum hören Sie auf?”
„Mir — zittert die Hand,“ antwortete er. Ihm zitterte die Stimme.
Sie fragte mit einem bangen Lädeln: „Wovon denn?‘
„Marie! — Fit es denn möglich? Wiſſen Sie das nicht mehr? Sp, wie id)
bier ftge, faß ich auch vor viereinhalb Jahren —
„Sehr möglid,“ unterbrach fie ihn. „IIrgendwo; zu Hauſe.“
„Rein, jo wie hier: Ahnen gegenüber. Sie faßen in demjelben Lehnſtuhl,
ich kenn’ in noch; Sie haben ihn offenbar aus Würzburg mitgebradt. Das
willen Sie alles nicht mehr? Das it alles hin?"
Marie begann zu zittern; fie wußte nicht recht, warum; aber jie fürdhtete fid).
Sie war zum Lehnftuhl zurüdgefommen, der fie nun jo anſah, als erinnere er fie.
Wieder hineinzufinfen wagte fie nicht; jie lehnte ſich aber auf ihn, fo blieb fie ftehn.
„sch wollte Ahnen die Phantaſien vorjpielen,“ fuhr er fort, mit jeinem be-
flemmend weichen Tenor; „zwei Tage vorher, in jener Nacht, hatt’ ich fie kom—
poniert. Ach — ich brach aber ab, wie jeßt; ich hatte feinen Sinn für Mufif.
Es war alles wie heut;“ — Franz itand in feiner tiefen Erregung auf — „nur
waren die Phantafien noch neu, und Sie — feine Frau!“
Jetzt bin ich's aber,“ erwiderte fie.
„Es war der Abend, an dem Ihre Strantheit ausbradh. ch ſeh' Und hör’
LER Adolf Kılbrandt. Große Yeiten.
ums wie damals, ich weiß jedes Wort! Ich ſaß da und Eonnt nicht mehr ſchwei
gen, ich jagte „ihnen, daß ich Sie liebte. Und Sie —“
Marie itarrte ihn mit unaufbaltiam Fragenden Augen an. „Und id —“
„Zie fagten mir fein Wort; aber Sie fchauten auf mich mit einem Blid,
der mir Ihr ganzes Herz — — ! Und ich Stand auf. Und ging jo auf fie zu —“
Dit einer halb unbewußten Geberde wehrte fie ihn ab: „Stehn Sie jtill.“
„I Marie!”
„Stehn Sie ſtill. — Und ih —“
„Franz! ‚Franz! jagten Sie. Und als Sie dann aufitanden, mir entgegen:
traten —*
Ich!“
„Und Ihnen das Wort auf den Lippen lag —“
„Nein, nein!“
„Warum verlieh Sie da auf einmal die Kraft? in dem Angenblid? Warum
mußten Sie ſtumm zulammenbrechen — in meinen Armen... ‘a, in meinen
Armen — da lagen Sie — zum erften und fetten Mal! — Marie!“
„Yajlen Sie meine Hand.“
„Marie, warum liegen Sie ſich aus meinen Armen auf das Krankenbett
tragen, und itanden evit nadı Monaten wieder auf? Ind nur um mid) grenzenlos
elend zu machen — ja, Sie! Wenn Ihr Derz, das mich lieb hatte, an diejer um:
finnigen Krankheit jtarb, und nur ein öder, falter, erinnerungslofer Reit Ihrer
Seele — — Sie gehörten mir! Mir allein! Und num ſteh' ich da — vor Ihnen
— Sie jind aber die Frau eines andern... Das it gegen die Natur, Marte!
Das nimmt mir die Vernunft!”
Das nimmt ihm die Bernunft! ſauſte es durch ihren Kopf; ihr war zu Mut,
als hätte er Recht. Nur mit ſchwacher Stimme bradıte fie hervor: „Sie jind
von Sinnen. Gehn Sie, gehn Sie..."
„Marie!“ jpradı er weiter; jie wollte ibn hindern und konnt' es nicht.
„Jugend, Schidial, Yiebe hatten uns für einander beſtimmt! Sie find eine un
glüdliche Frau; — Ichütteln Sie nicht den Kopf, lügen Ste doch nicht. Ich ſeh'
Sie nur an ımd ich weik es. Sie waren mein! Sie find es noch! Und jo
wahr ich Sie liebe — und Sie mich nicht haſſen — wir haben das ewige Kedt,
Marie, unfern Schidialsbecher auszutrinfen — *
Er kniete nieder. „Marie! Marie!”
„Dore!“ rief fie nun auf einmal laut; ſie hatte nach Puft, nadı Stimme
gerungen. Ahr Nel in ihrer Empörung, ihrem Entſetzen nichts anderes cin, als
nad der alten Köchin zu rufen. „Dore!“ wiederholte fie.
Franz Jprang auf. „ber Marie — *
Zie wid) hinter den Lehnſtuhl zurüd. Ihre Augen jaben mit Daß auf ihn.
Damm, nach einem tiefen Atembolen: „Gehn Ste! Fort, fort, fort!”
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 167
Die Thür vom Speilezimmer ging auf; es erſchien aber nicht Dove darin,
ſondern Reichthals hellgrau gefleidete, wohlbeleibte Gejtalt. Mit vollendet harm—
loſem Geficht lächelte er herein, wie wenn Marie nur geflingelt hätte. „Die
Köchin wird gerufen, der Koch tritt an! Was befiehlt unſre gnädige Frau?"
indem Marie an Franz vorbeiging, Eonnte fie ihm zuraunen, ohne daß
Reichthal es bemerken Eonnte: „Sie werden gehn, auf der Stelle." Mit aus-
reichend Elarer und feiter Stimme fagte fie dann laut: „Franz will leider vor
Deinem Salat wieder fort; er bat fid) verabredet. Deine Muje jchafft alſo heut
nur für mid.”
„Ah! Und ich wollte eben melden, daß fie fertig it!“
Franz nahm feinen Hut. Er vermochte kaum zu verbergen, was in ihm
vorging, vermochte nicht zu fprechen. Nur ein ausdrndslojes Lächeln ivrte über
jein Gefiht. Ein Wetterleuchten düfterer Scham oder Neue folgte. So ftand
er vor Marie und reichte ihr die Dand.
Sie nahm fie, um nicht aufzufallen. „Ich will Sie nie wiederjehn,” hauchte
fie ihm zu. „Nie!“
Er verneigte jih. „Gute Nacht!” jagte er dann, grüßte Reichthal und ging.
Was hat's hier gegeben? dachte Reichthal, noch völlig unficher zwilchen
Angft und Freude. Er bradite aber wieder ein ımbefangenes Lächeln zumege:
„Soll ic) alfo anrichten lajjen, gnädige Frau?“
Großer Gott! durchfuhr es Marie, als fie diefe Worte hörte. Pebt dem
Reichthal gegenüberfißen! ihm in die Augen jehn! Sie lechzte nad) nichts als
Einfamfeit. Sie fchüttelte den Kopf. „Armer Onkel Reichthal!" ſagte fie, ſo
qut ſie fonnte. „Dein Salat ift fertig — und nun findet jich niemand, der ihn
eſſen will! — Bitte, bitte, fchilt nicht. Beweiſ' mir nicht wieder, daß ich unbe—
vechenbar bin, daß ich Launen habe. SKopfweh! Das einfeitige! ch hab’ es
auch Franz gejagt; auch darum ift er jo früh gegangen. Komm morgen wieder!
‘ch leg’ meinen Kopf aufs Bett. Gute Nadıt!“
Sie nahm die Hand von der Stirn, winkte ihm damit und ging.
3 *
+
Franz verichwand aus München. Am zweiten Tag nach diefem Abend
kam ein Zettel, an Reichthal, nicht an Marie: er habe jich ins Gebirg begeben,
er ziehe dann wohl gleich von dort weiter nach Berlin. Seine leicht erregte
Seele war erichüttert; diefe plößlichen Rufe „Dore! Dore!* waren ihm durch
Mark und Bein gegangen; Mariens tiefer, feindlich erniter, ſchmerzuoll vorwurfs-
voller Bli hatte ihm das Herz umgekehrt. Sich ganz von ihr loszureißen fehlte
ihm zwar die Kraft; er floh nur in die bayrischen Berge, in der Hoffnung —
oder auch Furcht —, er werde dann weiterfliehn. Er fuhr und wanderte nadı
Tegerniee, nach Kreuth, über die Höhen ins Narthal, dann zum Walcheniee.
168 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
Während die deutjchen Soldaten in endlofen Zügen, Tag und Nadt, gen Weiten
zogen, um fich zu großen Heeren zu ſammeln, irrte er zwiſchen Wäldern und
Felfen herum, gegen den Feind in fich jelber kämpfend.
Auch in Marie war der Krieg; fie fühlte es zu ihrer Scham und Not.
Eine furchtbare Ermattung war nad) diefer Trennung von franz über fie ge-
fommen; ein Gefühl, als habe fie ihre Nugend zum zweiten Mal verloren, und
nun für immer. Dann ftieg’3 aber in ihr auf wie ein Aberglaube: Franz hat
ein Recht auf mich! Ich bin noch in feiner Schuld! Und diefe Gedanken, wenn
auch mit Empörung fortgewiefen, kehrten immer twieder, wie in einem fiebernden
oder überreizten Hirn diefelben Borftellungen jich im Kreiſe jagen. ihre Ge-
jundheit nahm ab; fie fchlief nicht mehr... Die Srtegsvorbereitungen, Die
Mobilmahung hüben und drüben, gingen unterdejjen ihren jtillen Weg. Die
erſten Vorpoſtenſchüſſe an der Grenze, bei Saarbrüden, fielen. Auch das
Mitleid machte mobil, die freiwillige Krankenpflege ward vrganifiert, um zur
vechten Zeit ins Feld zu rüden, freiwillige Sanitätstruppen begannen jich zu
bilden. Der fiebenundzwanzigfte Juli kam heran, für München ein größter Tag:
der Kronprinz von Preußen, der berufene Deerführer der „dritten Armee“, dar-
unter aller füddeutichen Truppen, zog durch das ihm entgegenjubelnde bayrijche
Land zur Hauptftadt, um vor feiner Fahrt über den Rhein König und Volk zu
begrüßen. Die fih vor vier Jahren, zum leßten Mal, als Feinde gemefjen,
fahen ſich nun als Waffenbrüder in die Augen. Zulammen mit dem bayrifchen
König, der ihm bis Röhrmoos entgegengeeilt war, fuhr der Kronprinz ein. Der
Bahnhof war in einen Garten verwandelt; an den Flaggenſtangen hingen
Schilder mit dem preußiichen Ndler, flatterten bayrifche, preußifche, norddeutjche
Bundesfahnen. Wer ein Seheranuge hatte, konnte auch ſchon das Vierte und
Reste flattern jehn: das Banner des Deutjchen Reichs!
An fo einer Scidfalsftunde fehlte Helmuth nicht. Er wanderte am
Morgen zum Bahnhof, allein; jeine Seele, ahnungslos, was diefer Tag ihm
noch bringen werde, ganz von vaterländiichen Gefühlen erfüllt, zitterte vor Freude
und Dankbarkeit. Unterwegs jollte er dod noch ein Mißgefühl erleben, das
einzige diefer Art, das ihm bisher begegnet war: ein junger Mann, den er jeit
Jahren kannte, ein Schriftiteller, ‚selir Bergheim, trat ihm in den Weg. Es
war ein Elſäſſer von Geburt, der aber jchon lange in Süddeutichland lebte; jetzt,
da der Krieg erklärt war, wollte er zu den Verwandten nad Straßburg zurüd.
An diefem Tag der Erhebung zeigte er ein kränklich ſorgenſchweres Geficht. Auf
Helmuths verwunderte Frage ſchüttelte er den Kopf, brach in Klagen über die
„verpfuichten Zeiten“ aus. Mit den Preußen, die da heute fümen, füme die
Miſere; die Neutralität der deutihen Südftaaten fei fchon verloren, nun werde
auch das Sclimmere kommen: der Berluft der „Fitddentichen Nationalität“.
Diefe beiden Worte hatte Helmuth noch nie zufammen gehört. ‚Er ſtand ein
Adolf Wilbrandt, Grohe Zeiten. 169
paar Augenblide und wußte nicht, ob er lachen oder wettern ſollte. Er that
feins von beiden: ohne ein Wort zu erwidern, ließ er den Mann jtehen und ging.
Ihm ward wieder wohl, als er in der Volksmenge am Bahnhof, einer von
Tauſenden, in das Gedränge eingefeilt, daS Lebermaß der gemeinfamen Freude
fühlte; als der Kronprinz Friedrich Wilhelm an des Königs Seite im offenen
Wagen, von Küraffieren geleitet, zum hohen Thor des Bahnhofs herausfuhr.
Unermeßliches Jubeln und Jauchzen braufte ihm entgegen; auf dem Plat und
weiter, den ganzen Weg. Es war Helmuth, als riefen alle die Stimmen: Du
wart unfer Feind, Du wirft uns nun zum Siege führen, wir vertrauen auf
Did! Und dazwiſchen jchien nod; eine Stiinme zu jagen oder zu flüftern, Feine
Menichenftimme: Heil Dir, zufünftiger Sailer des neuen deutichen Reichs! —
Dem ahnenden Helmuth wurden die Augen feucht. Er hörte den Jubel in der
Ferne verhallen, er ſchob ſich noch eine Weile im Gedränge weiter, das Bolt
verlief jih; er ging langjam, träumend nad Haus. Zuweilen blieb er ftehn,
über diefe Wendung der Geſchicke von neuem ftaunend, in ftiller Wonne den
Kopf Ichüttelnd. Es war ſchon Eſſenszeit geworden, als er endlich heimkam.
Sein Herz z0g ſich zufammen, da er num gleichjam wieder aus der Welt heraus
war, am Tiih mit Marie allein, gegenüber ihrem blafjen, fremden, freude:
loſen Geſicht.
Er fühlte auf einmal, vielleicht ſtärker als je, wie freudlos es war. Ihm
ſelber verging das Glücksgefühl; ein Schmerz zog durch ihn hin, für den er
feinen Namen hatte. „Marie,“ ſagte er nach einer Stille, „ich hab’ auch für
Dih ein Billet zu heute Abend, wenn Du willit. Sie jpielen Walleniteins
Lager, weißt Du; vorher ein Prolog. Es ift ja nur, damit man fie jieht, im
der großen Loge, den Kronprinzen und den König, und die Königin Mutter und
Otto; damit man ihnen zujauchzen fann. So was Feſtliches, das könnt'ſt Du
brauchen. Denn Di) packt's doch auch. Und Du ſiehſt aus, als — als
fehlte Dir's!“
„AS fehlte mir was?" fragte Marie, indem fie matt von ihrem
Teller aufjah.
„greude. Deiterkeit. Glück. — Und es ijt doch jeßt fo viel davon zu haben;
jie verkaufen es auf der Straße — umd ganz umſonſt. Willft Du alfo heut
Abend mit?"
Sie jichüttelte den Kopf. „Bitte, dent nicht: GHleichgültigkeit! Meine
Nerven vertragen'3 nicht. Sie — fcheuen ſich vor allem, was ſie angreift, auf-
regt; fie ſind jonderbar jchwach geworden. Sie werden wieder bejjer werden.
Gewiß, gewiß; hab’ nur noch Geduld!”
Die hab’ ih ja, dachte er. Dder nicht? — Was thu' ich ihr? Trag' ich
nicht jo ftill wie möglich, daß mir felbit in dieſer großen Zeit jo wenig zu—
jammenftimmen? — Er erwiderte nichts, er aß itumm, ſie aud. Seine Ge—
170 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
danfen gingen aber diefes Weges weiter; ihre Bläfje, das Fiebernde, Geipannte
in ihren abgezehrten Zügen — es war ihm noch nie fo aufgefallen — weckte
allerlei in ihm. Warum lebt fie fo wenig mit? fragte er fih. Sie hat ja dod)
ein deutiches Herz? Was quält fie denn, was zehrt an ihr, daß fie. ich aus der
Belt zurückzieht, jtatt hinanszujauchzen? Nur unsre mangelhafte Harmonie? —
Er Ichüttelte ummilltürlich den Kopf. Die ift ihr jo wenig neu wie mir. Die
macht ihr nicht ſolch' ein Geſicht! — Andere Gefühle? — Er erbebte; zum
eriten Mal. Eben zudte etwas in ihren Zügen; als rege ſich da irgend eine
Empfindung, von der er nichts wußte — eine Seelenwelle — ein Geheimnis,
von den er feine Ahnung hatte . . . Diefer Klavierſpieler? fuhres ihm durch den
Kopf. Diefer Jugendfreund? — Der tft ja aber fort?
Er fahte ji, er jagte diefe Gedanken weg. Das Mittagsmahl war zu
Ende, fie trennten ſich; Helmuth ging in jein Zimmer, die legten Borlefungen
dieſes Semefterd vorzubereiten, um dann ins Theater zu gehn. Marie war
allein. Sie hatte jich nach der Einſamkeit geiehnt, nun bangte ihr doch auch vor
ihr; denn die Vorftellungen und Gefühle, die jie empörten, die fich mit Franz
und feiner Liebe, feinem „Net auf fie" beichäftigten, fchlichen dann immer
wieder wie leife rafchelnde Schlangen aus ihren Verſtecken hervor. Sie floh zu
den Bücjern, zu den Zeitungen; es wollte aber die rechte Andacht nicht kommen.
Ein weiches Mitleid mit ich ſelbſt, ihrer tapferen Natur ſonſt ganz zuwider,
fegte fich wie eine feucht ſchwüle Yuft auf fie. Endli war der Abend da, die
Dämmerung drang langſam ins Zimmer. Marie zündete eine Lampe an und
nahm eine weibliche Arbeit zur Dand, um etwas zu thun.
Dore trat herein, die Köchin, das alte Familienſtück des Dornichen Hauſes,
früher „Mädchen Für alles", da ſie valtloje Arbeitsluft und einen rührenden Ehr—
geiz hatte; jegt fühlte fie doch ihre Gebrechen und aud ihre Jahre und ließ eine
zweite Dienerin neben jid) gelten. Sie kam mit einem Brief in der Hand, den
ſie nachdenklich betradjtete. „Was haben Sie da?” fragte Marie. i
„Das iſt nicht von der Bolt,” antwortete Dore; „das hat man mir fo in
die Hand geitedt. Ach ſteh' eben vor der Dausthür, bei dem Schönen Wetter; da
ſteht auf einmal der Herr Yiebenau da, der jo fchön Klavier |pielt — ordentlich
braun im Geficht geworden; wohl viel in die Berg’ berinngeftiegen — und hält
mir das Billet bin: ‚Guten Abend, Dore; geben Sie das Ihrer gnädigen
rau!’ *
„Na, fo geben Sie ber,” fagte Marie, ihren Schreck verbergend. Sie
nahm den Brief, ſo gleichmütig, wie wenn fie ihn erwartet hätte, und während
die Alte in das anftoßgende Boudoir verſchwand, machte jie ihn auf. Franz hatte
mit jeiner fleinen, haſtigen Schrift nur die erfte Seite beichrieben: „Liebe gute
Marie! Ich wollte Ihren Willen thun umd nicht wiederfommen. Seit einer
Stunde bin id) aus dem Gebirg zurüd. Mein, fo darf's nicht enden. Das wär’
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 171
ein Unrecht gegen uns beide, und Schmach für mich! Ich will ganz ruhig jein,
ganz Entjagung. Geben Sie mir nur noch einmal Gehör!
Sie find jtolz, Sie find gerecht, Sie jagen mir auf dieſe legte Bitte nicht
Nein, Oder fürchten Sie jih? Haben Site nicht den Mut?“
Marie zerdrüdte den Brief; fie jchüttelte langjam den Kopf. Nein, dachte
je, ich hab’ nicht den Mut. — O mein Gott! — Zufammenichaudernd, wie noch
nie, legte jie ji) beide Hände vors Geſicht.
Ein Geräuſch erjchredte ſie, daß fie auffuhr. Sie ſah Dore im Zimmer
ſtehn; und fie wußte doch, die war hinausgegangen. „Sie ſchon wieder dar"
jagte fie, indem jie nach Ruhe rang.
„Ich war im Boudoir der gnädigen Frau. Da mußt' ich ja doch hier
wieder durch.“
Marie betrachtete die Alte mit einem raſchen, forſchenden Blid; hatte jie
die Hände vor ihrem Geficht geſehn? Dore ftand aber jo harmlos da wie font,
ihre treuberzig Elugen Haustierzüge hatten vffenbar nicht8 zu verbergen.
„Warten Sie noch!" vief Marie mit plöglichem Entſchluß, da die Alte ging. Sie
trat an ihren Schreibtisch, Jette Jich und tauchte die Feder ein. „Ich hab’ Ahnen
gejagt,“ ſchrieb ſie mit feiter Dand auf ein Briefblatt, „ich wollte Sie nie wieder
ſehn. Sie haben mir gejagt, meine Wünfche jeien Ihnen Befehle! Marie.“
Sie Schloß den Brief, machte die Aufichrift, beflebte ihn; dann gab fie ihn
der Dore hin. „In den Briefkaſten!“ Dove nickte und ging.
O welche Schmach! dachte Marie, als fie wieder allein war. Ach hätte
nicht den Mut, ihn zu ſehn! — Sie war aufgeitanden, fie blickte an jich hinunter,
ſah fi dann im großen Spiegel ftehn; „das it ja nicht mehr Marie Dorn!“
murmelte fie in der Mufregung vor ſich bin. „Das it eine andere Frau! —
Was ich auch alles träume — was ich denfe — was id; mit mir Ipreche — wie
jeßt. Gott, mein Gott, was ift über mich gekommen!”
Sie ſchaute jich wieder im Spiegel an, erichraf vor dem fremden Geſicht,
das jo wenig Blut und jo tiefe Augen batte; darüber ward es aber allmählic)
wieder das alte, befannte, nur fchmerzvolle und ſich wundernde Geſicht. Als
wäre jie zu zwei Menſchen geworden, die einander quälten . . . Doch wer
von den beiden hatte nun Recht? Warum nicht der neue? Kin Gleichnis fiel ihr
wieder ein, das ſie in der legten jchlaflofen Nacht gemacht, das ſie beinahe in Verſe
gebradıt hätte: Mix it iwie einem Baum, der dem Winter verfprochen bat, ſchwarz
und fahl zu bleiben; aber der Frühling kommt, und taufend Knoſpen brechen
wie taufend falihe Schwüre aus ihm hervor!
Es dauerte nicht lange, ſo kam Dore zurüd, abermals einen Brief in der
Dand, diesmal verwundert und befvemdet, wie es fchien. „Bier, gnädige Fran,“
jagte fie, während jie herantrat.
„Was tit das?"
172 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
„Die Antwort. Der Herr hat mir Ahr Billet jelber abgenommen — “
Marie fuhr auf. „Wo denn?“
„Draußen, vor der Hausthür; ich wollt" zum Brieffaften. Er hatt‘ ja wohl
gewartet, er ftand da noch. Und hat eins zwei drei mit feinem Bleiftift geant-
mwortet; der hat ja wohl die Taſch' voll Billeten!“
Was beit das: antworten? dachte Marie. Sie riß das Briefchen auf
und las: „Vergeben Sie mir, Marie, wenn ich diesmal nicht gehorhe! Es ift
Ihre und meine heilige Pflicht, und nod einmal zu jehn. Verzweiflung macht
fühn! ch weiß, Sie find allein zu Haus. Gin viertel nach neun, oder halb
zehn, werd’ ich wiederfommen und Ihrer Dore jagen, daß id; Ahnen eine
wichtige Nachricht bringe. Und dann werden Sie gütig fein, dent’ ih, und
mich empfangen — “
Nein, rief es in ihr, ich werd’ ihn nicht empfangen, er wird mich nicht
Anden! Wofür hält er mich? — Sie überflog die legten Zeilen, die Unterjchrift,
fie hätte faft den Brief zerriiien; ihr fiel aber Dore in die Mugen, die drei
Schritte entfernt noch daftand, ald warte fie auf eine zweite Antwort oder
wenigſtens einen neuen Befehl. „Geben Sie mir meinen Hut, mein Mäntelchen,“
ſtieß Marie fait zu haſtig hervor. „Ach hab’ noch einen Gang. Zu Eliſe — —
zu rau von Plauen. Um halb elf joll die Erescenz mid abholen.“
Dore nidte. „Und jegt?”
Jetzt geh’ ich allein.“
„Es wird ſchon Nacht, gnädige Frau.“
„8 iſt noch hell genug!”
Er ift toll! dachte Marie, während Dore ging und fie in ihre Dandichube
fuhr. Und idy werd’ es. Fort, fort, fort! — Er komme nur mit feiner „wichtigen
Nachricht“. O wie Hug er ift! Sich fo den Einlaß zu erzwingen ... Er
treibt mich aus meinem eigenen Daus. Nein, nein, nein, ich will ihn nicht ſehn!
Dore fam mit Mantel und Hut, Marie lief die Treppe binunter und trat
auf die Straße. Es dämmerte noch; die Luft war ſchwül. Nach ſchönen
warmen Tagen begann eben eine Getwitterzeit; zuweilen zudte ein Wetterleuchten
zwilchen den in Gärten liegenden Häufern auf. Marie jog die Luft in fich ein,
ihr fchien fie wie Erquidung. Es war ein Dürften, ein Lechzen in ihr, das trank
num den Atem der ſinkenden Nacht. Schwere Düfte famen von den Gärten
ber, fchmeichelten jich wie Wellen heran. Bon den Hauswänden flutete noch die
Wärme, die die Sonne zurüdgelaffen, und legte fid) ihr wie warme Hände auf
Wangen und Stirn. Auch der Gewitterichein that ihr wohl. Es war, wie wenn
lauter verwandte Elemente zu ihrer Seele ſprächen . . . Sie floh aber dod
weiter, es trieb fie fort. Wer trieb fie? Sie wußte nicht mehr, wer in ihr
regierte. Zuweilen jtand sie ftill, den Kopf jchüttelnd, die Augen jchliegend;
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 173
dann fuhr fie auf, als hörte fie etwas PVerfolgendes hinter fich, und in einen
leiſen Taumel, mit balbgeöffneten Lippen, ſchwankte fie dahin.
Sp kam fie zum Königsplat, zu den Propyläen; durch die Quifenftraße
zogen marſchierende Soldaten heran, fie hörte den dröhnenden Schritt. Setzt
marſchierten fie hinter dem marmorweiß leuchtenden Thor vorbei, dem Bahnhof
zu; ihre Muſik fegte ein, die Trompeten jchmetterten fröhlich Eriegerifch in die
junge Nacht. Marie blieb ftehn; es lief ihr über die Haut. Da ziehn fie in den
Krieg, dachte fie, all das junge Blut; und wie fchreiten fie aus und wie jauchzen
die Hoboen, Poſaunen und Trompeten, als ging’ es fo recht ins Leben hinein!
— Und mas thu’ denn ih? Bin doc; aud ein deutjches Kind. Weiß, wofür
ie fämpfen werden und fterben; und fo friſch und fröhlich hinaus für ihre Ehre
und Pflicht — Taufende von Opfern — für ihre Ehre und Pflicht... .
Sie drüdte die naß werdenden Augen zu; erfchüttert, wie noch all diefe Tage
nicht, in ſich jelber fo Elein geworden, ftand fie da, bis alles vorüber war, der letste
Soldat und der lette Ton. Dann eilte fie ohne Ruhe weiter; endlich ftand fie in
Elifens Gartenzimmer nnd jah in deren verwundert fragendes Geſicht. Sie warf
ihr Mäntelchen ab, e8 lag wie eine Laft auf ihr. Sie nahm Elifend Arme und
drüdte fie. „Eliſe!“ jagte fie ohne weiteres. „Wie fängſt Du’s auf Ddiefer
wunderbaren Erde an, glüdlich zu fein?“
„Kommft Du darum ber," war Elifens Antwort, „um mic das zu fragen?“
„Ach, nur nicht fo lächeln. Sag's!“
„Haft Du wieder einen ganz verrüdten Tag? — Warum ich glüdlich bin?
Das könnt'ſt Du doch wiſſen. Mit meinem guten, gezähmten Tyrannen,
meinen beiden Eleinen Liebehens, meiner Nähmaſchine — "
„oh! Oh!“
„sn diefem gemütlichen, idylliichen — *
Marie legte ihr eine ihrer falten Hände auf den Kleinen Mund. „In
diefem Einerlei, diefer Proja ift ihr mwohl! ift fie glücklich!“ Sie jchüttelte den
Kopf, und ihre Arme zitterten nad. „Nein, lieber in einem wilden Strudel
untergehn — den Schaum mit den lechzenden Lippen trinken — und dann nie
mehr fein! So hätt’ ich doch wenigſtens im Sterben gelebt!"
Elife machte ihren Arm los, den Mariens linte Hand noch hielt; etwas
verleßt verzog fie die Lippen. „Diefe ewigen bizarren Phantafien! — Es ift
beſſer, ich hol’ meine ‚Broja', meinen langweiligen Tyrannen, und wir !reden
was Bernünftiges.”
„Hab' ich Dich beleidigt?”
„DBielleicht.“
„Ad verzeih mir. — Eliſe! Eliſe!“
Marie warf ſich an ihre Bruft. Dort lag fie eine Weile. Elife hielt fie
mit den Armen, aber nicht feft, nicht recht mit dem Herzen. Ihr war nicht wohl
174 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
bei diefem Ausbruch, jie wußte nicht, was fie davon denfen ſollte. Sie jchmwien.
Allmählich enttäufcht oder ernüchtert löfte ſich Marie von ihr und trat ein paar
Schritte zurüd.
„Was haft Du?" fragte Elife jest. „Was willit Du?“
„Ah ja — Du biſt glüdlih. Manchmal denf ich wohl auch: könnt' id
mein Schiefal mit Dir taufhen — — aber um Gotteswillen, das wär Dir
nicht recht. Mein, jo meint’ ich's nicht. Könnt' ich Div darin ähnlicher werden,
meint’ ich; fo ähnlich, wie ich Dir einft in der Handichrift wurde, weist Du
noch? — Dann denk' ich aber wieder — —“
Sie ſprach's nicht aus, ſie bewegte nur den Kopf wie in einem rhythmiſchen
„Mein — nein!" bin und her.
„Was hat man Dir demm nur gethan, Kind, dat Du fu verftört biit? -
Sie antivortet nicht. — Wollen wir in den Garten gehn? Willft Du was ge:
niegen? Gin Glas Wein?“
„Nichts, nichts.“
„Willſt Du meine Kleinen Sclafragen ſehn? Sie haben ſo rote Bäckchen,
wie es gar nicht giebt.“
„war nur.“ — Vielleicht wenn's meine eigenen wären! dachte Marie. Aber
das alles nützt mir nichts. Diefe gute, glückliche Frau — und ihr Mann — ihre
Nähmaſchine — ad), dus rettet mich nicht!
Auf einmal fuhr fie zufammen: die Uhr auf dem Spiegeltiich Ichlug ein
Biertel. Sie blidte hin; ja, ein Viertel auf zehn. Im nächjten oder im jelben
Augenblid Schoß ihr durd; den Kopf, durchs Derz: Nah Haus! Ihn nod
einmal jehn! Franz, deifen weiche, antlagende Stimme jie gehört hatte, während
Elife ſprach, Franz, der jeßt hinter der Glasthür im Garten zu ftehn und mit
blafiem Geſicht zu winken ſchien — ja, ihn doch noch ſehn! — Sie griff nad)
ihrem Mäntelchen. Sie rückte an ihrem But, der, als fie an Elifens Bruit lag,
ich verichoben hatte. „'s iſt viertel,“ ftieß fie heraus. „Dann geh’ ich!“
„Was? Du willft Schon wieder fort?"
„sch wollt! Div nur Guten Abend jagen. Ach lief ein wenig durch die
Gaſſen: Luft! Mir war fo ſchwül. Da kam ich auf einen Sprung berein.
Ach ja, ich bin heut etwas verrüdt. Das Wetter. Morgen it's vorbei.
Gute Nacht!“
„sch laſſ' Di nah! Haus bringen — "
„Kein Gedanke. Nicht nötig. Schlaf gut!”
Marie rannte fort.
* * +
Sie fam wieder in ihre Wohnung; es waren nod fünf Minuten vor halb.
Franz war offenbar noch nicht dageweſen, Dore, die ihr öffnete, hatte nichts
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 175
gelingt. In ihrem Zimmer ans offene Fenſter tretend, warf fie Gut und
Mantel hinter ſich, unbekümmert, wohin ſie fielen, viß die Handſchuhe von den
Fingern und rang nach Atem. Ihre Hände froren. Ihr Derz ſchlug, als ſäße
das Gewitter drin. Das ferne Wetterleuchten über den Häuſern und Bäumen
zucdte ihr durch den ganzen Leib. „Was will ich thun?“ ſprach fie vor jid hin,
und immer wieder; „was will id) thun?“ — Sie horchte und ſchrak zuſammen:
jein Tritt! hinter ihr! — Nein. Sein Tritt. Nur ein Hämmern in ihrem Ohr.
Was will ich ihm jagen? fragte jie fi, die Hände auf ihrer Bruft. Was will
ich ihm jagen?
Draußen war e3 fo tötlich jtill; auf einmal fingen fie an zu fpielen, zu
blafen, in einem Wirtgarten drüben in ihrer Brienneritraße. Am zweiten Ton
erkannte jie's: „Die Wacht am Rhein“. Das deutfche Lied, das jeßt jede Kehle
lang, jedes Ohr begehrte; e8 war wie vom Dimmel auf die deutiche Erde gefallen.
Saum hatten die Mufitanten den Anfang geblafen, jo fielen auch jchon die
Stimmen ein, zuerit wenige, dann mehr und mehr, und mit voller, jubeln-
der Kraft:
„Es brauft ein Ruf wie Donnerhall,
Wie Schwertgeflivv und Wogenprall:
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutſchen Rhein
Wer will des Stromes Hüter fein? —
Yieb Vaterland, magit ruhig jein,
Feſt Steht und treu die Wacht am Rhein!“
Marie zitterte. Borgebeugt, während ihr die Hände niederjanfen, jtand jie
am Fenſter und laufchte. Sie glaubte jedes Wort zu verftehen, denn jie kannte
und wußte fie. Es kam über jie und jie fang mit; — plößlich brach jie ab.
Ein fchredliches Gefühl ſchlug ihr auf die Bruft: ich darf nicht mitfingen! Die
alle dürfen’s, ich nicht! Was thu' ich hier? Was will ih? Was will ich?
Sie ſank auf einen Stuhl am Fenſter. Sie legte ſich die Hände aufs
Herz, weinte, ſchluchzte laut.
Reichthal trat ind Zimmer; er war im Theater geweſen, wo fie den Kron—
prinzen von Preußen bejubelt hatten, es trieb ihn her, ihr zu berichten, wie
ihön es war. „Marie!" rief er erfchroden aus, als er jie weinen hörte.
Sie fuhr mit Entjfegen vom Stuhl empor. „Wer fpriht? Wer ift da?"
est Jah fie, es war nit Franz. „Reichthal! — Wie kommſt Du — Du
hierher? Was ſtehſt Du da wie ein Geiſt?“
„Sch?“ fragte er zurüd. „Sch doc nicht. Aber wie ſtehſt Du vor mir
da? Wie ein Bild des — “
„Wie was?"
„Marie! Sind!”
Sie hob die Hand, es brach aus ihr hervor, alles, was jie fühlte. „Still!
176 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
Sag mir nichts. Ach weiß jedes Wort, das Du jagen willft. Na, ja, ja, es iſt
fo! Ach bin ein jchlechtes, erbärmliches, elendes Geſchöpf — “
„Marie!“ rief er tieferichroden dazwiſchen.
Draußen fangen fie nod, fie hörte es, fie ſprach unaufhaltiam weiter:
„Nicht wert, daß mich die Sonne bejceint! Keine deutiche Frau! Eine, die
fi} verderben, entehren wollte, jet, in diefer Stunde —“
„Nein, nein, nein!"
„Ein Weib ohne Treu’ und Glauben. Ta, ja, ja! Haß mid, verachte
mich — jo wie ich mich haſſe und veradte!" — Sie wollte mit beiden Fäuften
auf ihre Bruft ſchlagen, ihr ging aber der Atem aus. „Luft!“ fchrie fie noch
mit dem Reſt ihrer Stimme. Dann ftürzte fie auf den Fußboden hin.
Neichthal ftand entießt daneben, zuerft wie betäubt. „Marie! Marie!”
ftammelte er, al8 er an ihrem Kopf auf den Knieen lag und in die blidlos
itierenden Augen ſah. „Steh' auf! steh doh auf! Wenn nun jemand käme!
Er verjuchte fie emporzuheben, aber in der Aufregung ungeichidt oder zu Eraftlos,
vermochte er's nicht. „Wie kannſt Du jo fluchen,“ vaunte er dann, da fie nicht
ganz bewußtlos jchien; „noch it ja nichts verloren; Du wolltejt nur, jagit Du.
Kind, Kind. Tod und Teufel, wach auf! Steh auf!"
An die Thür hinter ihm ward geflopft; vor Schred hielt er den Athen an.
Nach einigen Augenbliden — er hatte den Kopf gewendet — ſah er die Thür
aufgehn und Franz erfchien. Nun begriff er alles. Die Mufit, der Geſang
hatten inzwifchen aufgehört. „Sie hier!“ ſtieß Reichthal füfternd hervor, in faumt
verhehlter Erbitterung. „Sie wieder hier!“
Franz fniete ihm gegenüber nieder. „Um des Himmels willen!“ jagte er
laut. „Marie!“
Es war, als füme fie durch den lang diefer Stimme zu ji; fie regte ſich
und erwachte fofort. „Das ift feine Stimme!“ jagte jie auch mit einem Ent—
jegen, das Neichthal durch alle Glieder ging. Sie begann ſich aufzurichten. Franz
wollte ihr helfen, fie wies ihn aber heftig zurüd.
„Was ift Ihnen geſchehen?“ fragte ‚Franz.
Sie ftand wieder, mit einem wilden Blid ſah jie ihn an wie den böſen
Feind. „Weg! Weg!" rief fie, mit zum Glück noch Schwacher Stimme. „Schau
Sie mid nit an! Ach will nichts von Ihnen! Was hab’ ich Ahnen gethan?
Was wollen Sie hier? — Gehn Sie. Ach ver — — Mein, nein. Nur mic
felbit. Gehn Sie! Gott joll Ahnen vergeben!“
Sie ſchwankte zur Thür, die zum Vorplag führte. Neichthal hielt fie nicht
auf, er trat ihr aus dem Weg. Mit einem erleichternden Aufatmen ſah er ihr
nad und fah, wie die Thür fich hinter ihr jchloß.
Gott jei Dank! dachte er; aber nur einen Augenblid. Er hörte ein Thüren-
ichlagen, darauf zu jeinem Entſetzen Helmuths Stimme. Jetzt, gerade jegt, zum
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 177
erſten Mal feit Wochen jo früh, kam Helmuth nad Haus! — Reichthal legte die
Hand and Ohr und horchte. Dore fprah ein Wort, dann ber Hausherr,
dann auch Marie. Sie fpradh mit einer unheimlichen, hohen, entftellten Stimme,
wie ein ganz verjtörter Menſch. Es jchien ſogar, als beginne jie fi anzuflagen;
„Bottes Tod!" murmelte Reichthal in feiner Angft, „it fie denn von Ginn und
Berftand!" Auf eine jehr erftaunte Frage Helmuths gab fie dann keine Antwort...
Franz ftand wie eine Bildjäule da, fihtbar faffungslos. „Unglüdjeliger
Menſch,“ flüfterte Neichthal, „wenn er Sie bier findet — und Mariens Ber-
wirrung — jo errät er alles!" Seine Augen gingen herum, er jah nur die Thür
zum Boudoir, eine Art von Zufluht. Er padte franz am Arm: „Kommen Sie!
Kommen Gie!"
„Wohin denn?"
„Marie retten! um jeden Preis! — Sie gehorchen mir blind! Berftehen Sie?"
Damit ſchob er ihn ſchon ins Boudoir und madte die Thür Hinter ihnen
beiden zu.
x J *
Im Hof- und Nationaltheater hatte dieſer Feſttag ſchön geendet; eine ſolche
Feier hatte das kunſtgeweihte Haus noch nicht erlebt. Der Feldherr der ver-
bündeten Truppen, die Berbrüderung Bayern und Preußend war von einer
feierlich bewegten, aus Hoc und Nieder gemifchten Menge bejubelt worden, im
Sturm der Begeifterung und immer wieder: beim Eintreten der Fürſten in die
Königsloge, nad) dem Prolog, nach „Wallenfteins Lager” und dem Schlußgefang.
Die erften Sänger der Oper fangen alle mit; als nad) den leßten Zeilen des
Chors am Ende:
Und jeßet ihr nicht das Leben ein,
Nie wird euch daß Leben gemonnen jein!
die kriegeriſche Stimmung fih in mächtigem Beifall entlud, trat noch einmal der
„erite Jäger“ vor und fang mit feinem herrlichen — eine hinzugedichtete
Strophe, die mit den Worten ſchloß:
Und ſetzen wir auch das Leben ein,
Befreit wird für emig der deutfche Rhein!
Da brach erit der gewaltigfte Jubel los, in der vollen Ahnung unferes kommenden
Glücks. Der Kronprinz Friedrich Wilhelm, der fich fchon entfernte, mußte noch
einmal an die Brüftung der Loge treten. Der letzte Freudenfturm umbraufte ihn.
Draußen dämmerte es nod), ald Helmuth aus dem Theater ins Freie kam.
Er war allein, und gern allein; fein Herz war zu ftarf erjchüttert und zu meihe-
voll bewegt, er mochte jett nicht reden hören. Man redet jich doch immer zu
geſchwind in die platte Alltäglichkeit zurüd. So vermied er diesmal den gewohnten
12
178 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
Berlammlungsort der „Begeilterten” und fchlenderte einfam durch die Gaſſen,
jeinem hohen Glüdsgefühl bingegeben, zugleich auch wieder vor die alte Frage
tretend: was fann ich denn thun, um mich auch zu opfern? — Er fann hin umd
ber. Endlich zog ihn das Alltäglichite, der Hunger, nad) Haus. Er ftieg die
Treppe binan und trat in das Vorzimmer zu den eigentlichen Wohngemächern;
bier fand er Marie. Site war leichenblaß und veritört, verwirrt. Sie jprady zu
Dore, dann zu ihm, wie jemand, der nicht recht weiß, was er thut; es entfielen
ihr Worte, die er nicht verftand; fie jchienen aber auf irgend eine Gemüts-
verirrung binzudeuten. Darauf ſchwieg fie, als‚er um bejjere Erklärung bat, und
trat in die Küche... Helmuth war daran gewöhnt, jie von Zeit zu Zeit in ner-
vöfer Erregung zu ſehen; diesmal traf's ihn aber anders als ſonſt. Seine arg:
wöhnifchen Mingefühle von diefem Mittag waren wieder aufgeichredt. Als er
durch! die Brienneritraße heimging, war's ihm auch jo vorgefommen, als hätte er
einen Mann, einen feingefleideten, ihm nicht befannten, in jein Haus treten jehen...
Dore befragen wollte er nicht. Auch mit der jo Erankhaft erregten Marie wollt‘
er jegt nicht veden. Er trat, den Dut auf dem Kopf, in ihr Wohnzimmer ein,
aus dem jie gekommen war.
Klarheit! Wahrheit! ſchrie es in ihm, der ſich eben noch in Glück berauſcht
hatte. ch ſuche, bis ich finde! — Er rang aber nad Faſſung, er hatte fich noch
immer wie ein Dann befonnen. Das Zimmer war lampenhell und leer. Kine
Weile jtand er ftill und horchte. Im Boudoir glaubte er ein Flüftern zu hören
oder jonft ein leiſes Geräuſch. „Wer it da?” fragte er mit lauter Stimme.
Die Bowdoirthür ging auf; zu feiner Ueberraſchung trat Reichthal heraus.
Der fonft jo behagliche Menſch hatte ein erbißtes, aufgeregtes, bald auch die
Farbe wechjelndes Geſicht. Er machte die Thür hinter ſich zu und blieb wie in
Verwirrung und Beklommenheit ftehn.
„NReichthal! Sie!" rief Helmuth.
„sa — id."
0, Was beißt dans? Was thun Sie da in Mariens Boudoir? Es iſt ja kein
Yicht darin. Es ift dunkel. Als Sie heraustraten, hab’ ich's ja gejehen.“
„Dunkel?“ entgegnete Reichthal. Er ſuchte noch nad; Worten. Er ſah, es
gab nur eine Möglichkeit auf der Welt, die noch helfen konnte; doch er wußte
jeinen Weg noch nicht.
„Antworten Ste dod! Was thun Sie da? — Warum find’ ich meine Fran
da draußen jo aufgeregt, jo wirt, daß fie nicht weiß, was fie jpriht? Warum
fommen Sie mit diefem Geſicht aus dem dunklen Zimmer? — So reden Sie
doch!”
„Argwohn gegen mich? —“
„Sie zwingen mid) ja dazu. Was iſt mit Marie?“
Eiferſucht? —“
Adolf Wilbrande, Große Zeiten. 179
„Antworten Sie! — Sie wollen niht? — Das ift — wunderbar. Dann
frag’ ich aljo meine Frau . . .“ Helmuth wendete jich zur Ihür.
Dann verrät fie alles! durchfuhr es Reichthal. Er weiß aber vffenbar noch
nichts! — „Helmuth!“ rief er jet hinter ihm ber. „Hören Sie mid an!“
Helmuth blieb ftehen.
Laſſen Sie Ihre arme Frau! Die hat keine Schuld! — Warum fie fo auf:
geregt it? Weil ich ihr geiagt hab’ — — Ich hab’ einen Wahnfinn begangen.
Ich bin verrüdt. ch hab’ ihr gelagt, daß ich fort muß, weil ih — fie zu lieb
hab'. Das ilt's."
„Sie!“
„sa, ih. In meinen Jahren; der ehemalige Bormund. Lachen Sie mid)
aus — oder fordern Sie mid) — mir ift alles eins, ich nehm’ alles hin. Es ift
über mich gefommen! Der helle Wahnſinn, ich weiß es; ich ſchäm' mich wie ein
Bub; es hat mich halt wie 'nen Buben gepackt!“ — Reichthal hatte die Stimme
gehoben, damit auch Franz im Boudoir ihn hörte; er ließ Helmuth nicht aus den
Augen, während er ſprach; er ſah, wie der ſtolze Mann an der Lippe nagte und
nad; Atem vang. „Höll' und Teufel auch!” fuhr er fort, um noch anderes [os
zu werden. „Ach bin elend verrüdt, das weiß ih; aber — id bin nit ganz
allein an dem Unfinn Schuld. Sie, Sie find es mit! Warum fraß mir’s denn
das Herz ab, wenn ich's mit anjehen mußte, dag Marie — nicht glüdlich war?
daß fie verſchmachtete — ja — nad) Leben, nad) Liebe, nad Glück? daß ihr Herr
und Gatte fie fo gehen ließ und ihr nur Bernunft predigte, ftatt fie recht unver:
nünftig lieb zu haben? Wenn einem da endlich zu weicd und zu wehe wird, und
die jchlechten Gedanfen einem über den Kopf wachen — wenn man vor dummem
Mitleid und Tröftenwollen und Kummer nach und nad) Veritand und alles ver:
liert — Sie haben die halbe Schuld!"
„Schweigen Sie!" fuhr ihn Helmuth an; e8 war aber ein unficheres Beben
in feiner Stimme. „Sie klagen mid an — jtatt daß ich Ahnen ſage, was
Sie find!"
„Sagen Sie. Ach wehr mich ja nicht. Und fordern Sie jede Genugthuung,
die Sie wollen; ich bin ja bereit!"
„Neihthal! So wahr Sie ein Mann von Ehre waren — jo wahr Sie
einjt ruhig Sterben wollen — was ift in meinem Haus geſchehn?“
Neichthal Stand nod) immer an der Boudoirthür; Franz! fiel ihm wieder ein,
der über jeinem Phantafieren halbvergeſſene Franz. Er bob abermals die
Stimme, für den; „Helmuth,“ jagte er, „To wahr id einft ruhig fterben will,
nichts, nichts ijt geichehen! Und bei Gott, ich gelob’ Ihnen, Ahr Hausreht fol
von diejer Stunde an wieder heilig fein; keine verfluchte Regung foll mehr über
Ihre Schwelle — vder Sie jollen mid; niederjchießen wie 'nen tollen Hund." Er
ſprach nod) lauter, wie von ſelbſt, aber jedes Wort galt Franz: „Wär ich noch
12*
180 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
ein junger Kerl, bei Gott, ich machte dieſen ichlechten Streich durch einen friichen
Yugendftreich wieder gut: zög' mit in den Krieg — ala Soldat, ald Nothelfer,
als irgendwas. Helmuth! Ach beſchwör' Sie nur. Thun Sie mit mir, was Sie
wollen, aber lajlen Sie Marie in Ruh, quälen Sie fie nit. Sie ift nur un—
glücklich. Micht ein Hauch von Schuld!"
Unglüdlich! dachte Helmuth, dem ein gräßliches Gefühl auf der Bruft lag:
nad) diefer vaterländiihen Erhebung die Vernichtung feines Ach. Unglüdlich,
durch meine Schuld! Der Mann, der fie liebt, jagt mir's ins Geſicht. Und ich
fann nicht nein jagen, ich hör’ mit an. Mein Haus tft nicht mehr mein Haus!
Meine Ehe it ein Fetzen Papier!
Er rik fih das Halstuch ab, das Hemd auf, jo jchrie auf einmal feine
Brust nach Luft. Was er erwidern wollte, blieb ihm in der Kehle. Er hielt es
nicht mehr aus, vor diefem Menſchen ſo dazuftehen; er ftürzte aus der Thür.
Reichthal horchte, die Thür blieb offen; er fonnte Helmuth auf der Treppe
hören. Der Borplaß war leer. Dann hörte er durchs offene Fenſter, daß die
Hausthür ging, und rajche Schritte. Er trat hin und fah ihm nad); es war
Delmutb, unverkennbar, der bald um die nächte Ede verſchwand.
Nest nur feine Zeit verlieren! — Er riß die Boudoirthür auf. In dem
Lichtichein, der bineinfiel, ſah er Franzens bleiches, offenbar tieferfchüttert ernites
Geſicht und zuſammengeſunkene Geſtalt. Kommen Sie!" raunte er. „In einer
Minute müfjen wir draußen fein!"
Franz gehorchte ftumm. Exit im andern Zimmer ergriff er Reichthals
Dand und preßte fie: „Ste ſprachen jo deutlich — ich hab’ alles verftanden.
Ich danke Ahnen!“
Sie famen ins Vorzimmer und zur Treppenthür. Die zur Küche war nur
angelehnt; jie ging leile weiter auf, Reichthal erkannte die fchlanfe Marie, die
dahinter ftand, die zu horchen jchien. „Gute Nacht, Marie!‘ jagte er laut. „Wir
gehen. Franz und ich, wir reifen alfo ab. Wir fchreiben Ihnen von unterwegs.
Al right! Alles gut!“
Schluß folgt.)
5
Der Mensch lebt nidit vom Brot allein.
Von
Johannes Reinke.
I.
[Ki jchweben über der Breite des Stroms noch Spuren zerfloffenen Morgen-
nebels. Ein Schleier von Maiengrün umhaucht das Gezmweig der Bäume,
durchlichtig, durchflutet von Sonnengold. In bläulihem Duft grüßt das jen-
jeitige Ufer mit feinen Häuſern und rauchenden Schloten. Stolze Schiffe ruhen
mojeitätifch auf der kaum gekräuſelten Flut, man fieht die Flaggen verjchiedener
Nationen friedlich neben der unfrigen ich bewegen. Die jtolzeften unter ihnen
ind deutiche Kriegsſchiffe, gewaltige Zeugen menfchliher Kraft; die deutfche
Kriegsflagge aber erfüllt uns mit freudigen Selbftbemußtjein. Da läutet es
acht Uhr von den Schiffen, und wie auf einen Zauberichlag überziehen fich die
Maften mit zahlloien Wimpeln in allen Farben, luftig flatternde Zeichen, die
nur der Eingeweihte zu leien weiß, deren Bedentung der Laie aber ahnt: denn
es it der Geburtstag des deutichen Kronprinzen.
Wie find wir begnadet, daß wir folches erleben können, daß es uns ver-
gönnt ift, ſolche Symbole deutjher Macht und Derrlichkeit zu ſchauen. Eine
deutiche Flotte, ein deutſcher Kaifer, ein deutiches Reich! Die Größe dieſer
Güter kann mur der völlig ermefjen, der jelbit noch den bundestäglichen Jammer
Deutichlands gefoftet, der im Sciffbruche jo vieler Hoffnungen, im Grame eines
erflärlichen Peſſimismus verzweifelte an der Wiedergeburt Deutichlands, der irre
wurde an dem Berufe der Hohenzollern, jeine Einigung durchzuführen. Als dann
der Frühling anbrad) nach der langen hiſtoriſchen Winternadht, al3 früher denn
erwartet der Gemwitterfturm losbrach, der unser Volk vor die legte und ſchwerſte
Probe ftellen jollte, da wußten wir alle, die wir jubelnd hinauszogen über den
Rhein, daß es nicht bloß galt, der Heimat Fluren zu fchirmen, fondern daß wir
Blut und Leben einjeßten um den höchiten Preis, um die Ehre der Nation; nicht
wie wir fie ererbt, von der Gejchichte überliefert erhalten hatten, jundern wie jie
und vorfchwebte in unjeren Träumen von Jugend auf, wie unfere Väter fie und
gefungen in den Liedern vom alten Blücher, der wunderjchönen Stadt Straßburg
und dem deutjchen Baterlande: kurz in dem Ideal von Kaiſer und Neid, einem
182 Johannes Reinke, Der Menich lebt nicht vom Brot allein.
deutſchen Kaiſer und einem deutſchen Reiche, das wie ein Phönir jich erheben
jollte aus der Aſche des abgejturbenen Phantoms eines heiligen römischen Reiches
deutfcher Zerſtückelung traurigen Angedentens.
Es ift eine Luft zu leben, wenn man an dieje Verwirklichung unjrer kühniten
geihichtlichen Hoffnungen denkt. Deutjchlands Einheit wurde errungen durch die
gewaltige Energie, die das deutiche Volk unter Führung feiner Fürſten, Staats-
männer und Feldherren einjeßte fir eine Idee, für feine geichichtliche Ehre. Nicht
um ein Huhn im Topfe wurde gerungen, fondern um unmwägbare Güter, und
heiliges Feuer der Begeifterung loderte von den Altären des VBaterlandes zum
Dimmel empor.
Eine alte Weisheit jagt, daß ein Volk errungene Güter nur mit den Mitteln
behaupten könne, durch die fie gewonnen wurden. Sind wir wachſam, unjern
Schatz zu hüten, der von jener heiligen Lohe umgeben ift, in dem Geiſte dev
großen Zeit, die ihn uns geſchenkt? Kopfichüttelnd ftehen wir oft vor den Er:
iheinungen des Tageslebens, das uns in Fragen des materiellen Intereſſes, in
Brotfragen aufzugeben jcheint; während die Güter, die wir erivarben, einer
höheren Ordnung der Dinge angehören.
Aber der Geilt, der das Deutiche Reich ſchuf, kann wohl zeitweilig ruhen
und andere, Eleinere Geijter einmal jich tummeln lajjen; er ift darum nicht ge
ſchwunden, er lebt in alter Kraft und Reinheit. Wehe dem Feinde, der wähnen
möchte, er jei uns verloren gegangen! Denn er ift der Yebensgeift unjver Nation,
und nur der Fanfare des Wüchters würde es bedürfen, um unjer Wolf bei
drohender Gefahr in gleicher Einmütigkeit, Opferfreudigkeit und Stärke zur Ber:
teidigung jeines NAllerheiligiten zu entflammen, wie in den Tagen des alten,
großen Kaiſers.
Eine mächtige Gewähr dafür, daß der nationale Geift unferes Bolfes ſich
niemal3 durch den Widerftreit materieller Tagesinterejien wird erjtiden lafjen,
bietet uns das Elarblidende Auge unjeres Eaiferlihen Herren. Er hat es heuer
mit lauter Stimme am deutichen Mufenfige Weimar verkündet, daß das Palladium
der Ideale hochzuhalten fei, um die Traditionen zu bewahren, denen wir unjere
geiftigen und nationalen Güter verdanken. In der weinlaubumkränzten Stadt
der Wiffenjchaft aber, deren Zinnen in den Fluten des Rheinſtroms ich ſpiegeln,
hatte kurz vorher die gleiche erhabene Stimme, auf den Zug der deutichen Ge-
ihichte von Karl dem Großen bis auf unfere Tage hinweiſend, die Perſön—
lichkeit des deutfhen Volkes gefeiert.
„Herrlich emporgeblüht ſteht das Neich vor Ahnen,” ſprach der Kaiſer zu
den Studenten, „Freude und dankbare Wonne erfülle Sie und der feite, mann—
bafte Borjat, ald Germanen an Germanien zu arbeiten, e8 zu heben, zu ftärfen,
zu tragen, durchglühe Sie. Die Zukunft erwartet Sie und wird Ihre Kräfte
gebrauchen; aber nicht, um fie in fosmopolitiichen Traumereien zu verſchwenden
Johannes Reinte, Der Menfch lebt nicht vom Brot allein. 183
oder in den Dienft einfeitiger Parteitendenzen zu ftellen, jondern um die Feſtig—
feit des nationalen Gedanfens und um unjere Ideale zu pflegen. Gewaltig find
die Geiftesheroen, welche der Stamm der Germanen durch Gottes Gnade hat
hervorbringen dürfen, von Bonifacius und Walther von der Bogelweide: bis auf
Goethe und Schiller, und fie find zum Lichte und Segen der ganzen Menjchheit
geworden. Sie wirkten univerjal umd waren doc) jtreng in ſich ſelbſt abageichloffene
Germanen, .d. h. Perjönlichkeiten, Männer! Die brauchen wir auch heute mehr
als je! Mögen Sie auch dahin ftreben, ſolche zu werden!“
So goldene Worte, von fo hoher Stelle geiprochen, können von deutjchen
Volke als eine Gewähr dafür aufgenommen werden, daß e3 vertrauensvoll in
jeine Zukunft bliden darf, und daß feine Reale einen mächtigen Hüter ge:
funden baben. ;
II. *
Die Vollendung ſeines geſchichtlichen und politiſchen Ideals hat dem deutſchen
Volke auch Brot gebracht, gutes, reichliches Brot. Das war gewiſſermaßen ein
Nebenerzeugnis ſeiner idealen Beſtrebungen, ſeiner nationalen Kämpfe; eine reife
Frucht, die ihm in den Schoß fiel von dem Baume, der, in den Freiheitskriegen
gepflanzt, mit der Kaiſerkrone auf dem Haupte der Hohenzollern zu herrlicher
Blüte gelangt war. Dantbar jullen wir dies Brot eflen; mur u. wir bes
Bodens nicht vergeſſen, auf dem es gewachſen it.
Auch die Wiſſenſchaft hat uns Brot gebradt, darin befteht eine iskdiehrhige
Analogie zu den Ergebnifjen der politiichen Entwidlung. Der gewaltige: Auf-
ihwung unferer Technik und Anduftrie ift der Wiſſenſchaft zu danken; ein Gleiches:
gilt von den gefteigerten Erträgen der Bodenkultur. Ohne die Förderung, die
ihr von der Willenjchaft zu teil geworden, würde die Produktion unjerer Land—
wirtichaft heute nicht entfernt die erreichte Höhe einnehmen. Und doch ift Willen:
ichaft ihrem Urfprunge und Wejen nad nur idealen Motiven der Menjchenbruft
entiprungen, das darf bei allem Preife der yortichritte unferes techniſchen Könnens
nicht überjehen werden. Das Heiligtum der Wiſſenſchaft ift ein Tempel, im dem
nach der Wahrheit geforjcht wird, unbefünmert darum, ob aus diefer Wahrheit
ein unmittelbar greifbarer, in Geldeswert zu berechnender Nuten erwächſt. Und
die Flammen auf den Altären dieſes Tenıpels würden Gefahr laufen, zu erlöjchen,
wenn einmal andere Mächte als lauterer Wahrheitstrieb und. ideale Begeifterung
ihre Pflege an ſich reißen jollten.
Man hat zwiichen Natur: und Geifteswilfenichaft unterfchieden, doch im
Ideal ihrer Wege und Ziele find beide gleich. her könnte man jagen, es giebt
Wiſſenſchaften, die felbjt der Hauptfache nad; Brot find, d. h. dem praftifchen
Leben des Menfchen unmittelbar dienen, wie Technologie, Jurisprudenz umd
Medizin; während andere fi) mım in der Sphäre des Idealen beivegen, für das
wirtichaftliche Leben und Gedeihen der Völker gleichgültig find, wie die klaſſiſche
184 Johannes Reinfe, Der Menich lebt nicht vom Brot allein.
Philologie, die vergleichende Sprachforſchung, die Philofophie. Die Naturwifjen-
Ihaft gehört mehr zur zweiten als zur erften Kategorie, weil die gewaltigen
wirtfchaftlichen Fortichritte, die fie der Menjchheit gebracht, ein Nebenerzeugnis
find, der Kern der Naturmifjfenichaften aber ein idealer ift, wie fie aud in
früheren Zeitaltern nur einen Zeil der PVhilofophie bildeten. Für jedes Volk
aber, das über das Niveau der Barbarei fich erhebt, ift reine Wiffenfhaft —
ohne Rüdfiht auf praftifhe Nebenerfolge, auf Brot, Bequemlichkeit oder Heil-
tränte — ein Lebensbedürfnis wie Luft und Sonnenjdein.
Der über feinen tieriichen Körper hinauslebende Menſch ſieht fich in eine
Welt der Myfterien bineingeftellt; Myſterien umgeben ihn von außen, Myſterien
findet er in feinem Innern. Er madt die Erfahrung, daß er durch Beobadıten
und durd; Nachdenken über den Zujammenhang des Beobadıteten den Schleier
des Geheimnifjes an einzelnen Stellen ein wenig zurüdichieben fann, und damit
ift der Anfang aller Wiſſenſchaft, insbejondere der Naturwiſſenſchaft gemadıt.
Durd den Beſitz ſolcher Wiljenihaft und durch das Streben nad) Erweiterung
und Bervollftändigung derielben unterjcheidet ji der Menſch vom Xier, für
welches Eörperliche Nahrung und materielle Wohlfein das Motiv alles Handelns
bilden. Der Schaf des Wiſſens wird von einer Generation auf die andere
vererbt; was die Vorfahren errangen, wird dadurd erhalten und der Befikitand
unausgejeßt vermehrt. So kämpft der Menſch um die Geheimnifje der Natur
und um die feines eigenen Geiftes; jein Gewinn ift in ftetigem Fortſchritte und
unauögefegter Mehrung begriffen, wenn auch der Kurs oft im Zidzad vorwärts
gebt, und die Ausmerzung eined Irrtums nicht weniger Mühe verurjacdht, ala
das Erkennen einer neuen Wahrheit. Was die Wifjenihaft errang, ift Gemein:
gut der Menichheit, die Wiſſenſchaft ift geiltige Speife des Menfhen; darum
balte ich es für unrichtig, zu jagen, die Wiffenfchaft fei um ihrer felbft willen da;
um des Menfchen willen wird fie gepflegt.
Weil Geift und Natur das Objekt der Wiffenihaft bilden, find daraus ver-
ſchiedene Sonftellationen und Gefichtspuntte entfprungen. Bon den beiden Er-
tremen behauptet der eine Standpunft, die Natur ſei Illuſion, nur des Geiftes
feien wir uns bewußt; der andere erklärt den Geift für ein Erzeugnis der
Materie. Da jeder Rabdikalismus fehlerhaft zu ſein pflegt, it es wohl auch
diefer, und die Wahrheit dürfte feine diefer „Anfichten“ für fih beanfpruden
fünnen. Die Wahrheit wird man nur finden, wenn man über die chinefifche
Mauer derartiger Borurteile hinauszubliden vermag. infeitigleit der Be:
trachtung bat wohl ein Erkennen von Einzelheiten, niemals aber ein Erkennen
des Zufammenhangs des Ganzen gefördert. Erſt, wern der von der Phantafie
unterjtügte Gedanfe das Stückwerk der Einzelfenntnifje zufammenfaßt, gewinnt
die wiſſenſchaftliche Forſchung Einheit und Leben.
Schon in der Phyfit und Chemie fpielt die fpekulative Betrachtung eine
‚sobannes Reinke, Der Menich lebt nicht vom Brot allein. 185
wichtige Rolle. Die Thatſachen werden durch dichterifhe Zuthaten der Ein:
dildungskraft ergänzt. Noch niemand jah ein Molekül, wog es, taitete es; und
doh operiert die theoretiiche Chemie mit Molekülen als realen Einheiten, ftellt
ibr Gewicht feſt, Handelt von ihrer Zuſammenſetzung aus Atomen, ja von deren
Lagerung innerhalb des Moleküls. Solche Dichtung braucht in keinen Gegenſatz
zur Wahrheit zu treten. Wahrheit läßt ſich nicht nur unmittelbar wahrnehnten,
iondern auch erichließen. Anderfeits muß man einräumen, daß beide Methoden,
dad Beobachten und das Nachdenken, nur zu relativen, angenäherten Wahrheiten
führen, daß die Wahrheiten der Naturwifjenichaft zum großen Zeil Wahrichein-
heiten jind, für die ein mathematijch-ficherer Beweis ſich nicht erbringen läßt.
Es giebt aber auch dichteriiche Wahrheiten, und wenn wir den Schritt thun
von der Phyſik und Chemie zur Biologie, zur Lehre vom Leben, jo begeben wir
und auf ein Gebiet, auf dem, wenn wir von den rein empiriich beobachteten
Thatſachen einmal abjehen, dad mathematisch beweisbare Willen immer mehr
jurüdtritt hinter das durch Gedankenflug „erichloflene”, an dem Dichtung und
Phantaſie einen jo bedeutenden Anteil haben. Darım auch die große Meinungs:
verichiedenheit der Biologen im Vergleich zu der Einftimmigfeit, die uns bei
Chemikern und Phyſikern entgegenzutreten pflegt. Es jei nur auf ein fundamen-
tales Problem bingewiejen, das aus dem Gebiete der Naturforihung in das der
Bhilojophie hineinragt.
sc befenne mic; zu der Ueberzeugung, daß in der lebenden Natur Gedanken
verkörpert jind. Wo immer wir auf Gedanken treffen, die nicht unfere eigenen
imd, da ſchließen wir auf jie und juchen fie zu verftehen aus ſinnlich wahrnehm—
baren Zeichen. Wenn mein Freund zu mir Spricht, jo ift ed das Ohr, das mir
jeine Gedanken vermittelt; jchreibt er mir, jo wird das Auge ihr Dolmetſcher.
Hat jemand ein verwideltes Bauwerk errichtet, jo entziffere ich feine Gedanken
aus den Blänen oder dem Studium des fertigen Gebäudes; jelbft aus den
Fundamenten kann ich fie vielleicht erfennen. Eine Maſchine, ein Uhrwerk ent-
büllt mir die Gedanken des Technikers in den Zweden, die es verwirklicht, und
in den Mitteln, durch die jene Zwecke erreicht werden. Aus einem. Gejeße er-
kenne ich die Abfichten des Gejeßgebers; aus feinen Handlungen kann id; Schlüjfe
auf die Gedanken eines Menſchen ziehen. Unter allen Umftänden ift ein gewiſſer
Zufammenhang von Gejchehensfolgen erforderlich, aud bei Wort und Schrift,
um daraus einen diefem Zufammenhange von Thatſachen vorausgegangenen
logiſchen Zufammenhang im Geifte des Urhebers jener Handlungen feititellen
zu fönnen. Denn ein ungeordneter Wortichwall wird uns feine Gedanken verraten.
Wenn id nun in der Welt der Pflanzen und Tiere lauter ziwedmäßig und
zielftrebig geordnete Borgänge erblide, jo bleibt mir nichts weiter übrig als die
Annahıne, daß diefen geordneten Erſcheinungen und Handlungen ein logiicher
Zufammenhang, daß ihnen Eusmiiche Gedanken zu Grunde liegen, wie den Hand—
186 Johannes Reinfe, Der Menfch lebt nicht vom Brot allein.
lungen der Menjchen menschliche Gedanken. Denn alle unjfere Erffärungen be:
ruhen auf Bergleiden und Analogieen. Die Hypotheſe der fosmifchen Gedanken
oder der Wirkfamkeit einer Weltvernunft erfährt eine Stüte dadurch, daß für
jene Zwedmäßigkeit der Organismen feine andere Erklärung zu finden ift. Der
Darmwinismus, der eine foldhe Erklärung aufzuftellen verluchte, ift damit ge-
icheitert; und die Philofophen, die uns glauben machen wollten, daß wir die
Zwedmäßigfeit erft in die Natur hineingedadht hätten, die wir darin zu finden
und daraus abzulefen glauben, find nicht ernſt zu nehmen, auch ift ihre Lehre
wiffenichaftlich längft widerlegt. Somit bleibt nichts Anderes übrig al3 die Er-
fenntmis, daß in der belebten Natur kosmiſche Gedanken ihren handelnden und
durch Thatfachen fprechenden, durch Sichtbare Zeichen zu uns vedenden Ausdruck
gefunden haben.
Es giebt nur einen einzigen wirkſamen Einwand gegen dieſe Auffaſſung der
lebendigen Natur. Dies ift das Dogma: es ift unftatthaft, andere Gedanken in
dev Welt anzuerkennen als joldhe, die im Hirn eines Menſchen ihren Urſprung
genommen haben, Aber auch dies Dogma ift nur wirkſam für diejenigen, die
fi; ihm blind unterwerfen, die abfichtlich jich mit der Mauer eines folden Vor—
urteils umgeben, über die dann allerdings nicht hinwegzukommen ift. Denn jeder
Unbefangene muß fragen: welcher Grund befteht für jolches Dogma? Und wenn
ein ftichhaltiger Grund nicht anzugeben ift, um das menjchliche Gehirn zum
Mittelpunkt der Welt und zur allen möglichen Gedantenwerkitatt zu erheben,
wenn die Anhänger jener Lehre zu ihren Gunften nur anführen können, daß fie
ihnen mehr zujagt als die andere, jo ift zwar gegen eine ſolche Anjchauung
ein Einwand nicht möglich; dann aber kommt es für die Wiffenfchaft auch nicht
mehr darauf an, was wahr ift, fondern nur noch darauf, was gefällt. Das wäre
der Banferott, das Ende der Wiſſenſchaft und zugleich eine geiſtige Tyrannei, die
berechtigten Widerſpruch hervorrufen muß.
Freiheit im weiteften Sinne, Luft, Licht und Raum zur Ausdehnung ift für
die Wiſſenſchaft zu fordern; nur die Erkenntnis der Wahrheit fei ihr Ziel, mögen
noch jo viele Borurteile darüber zufammenftürzen. Ein orthodoxes Mönchsſtum
in der Wiffenfchaft, wie der Atheismus es anftrebt, it zu befämpfen. Der
Prozeß Galileis darf fich nicht wiederholen; die Menichheit hat vor dem Richter:
ftuhl der Gefchichte genug an ihm zu tragen. ine reine Wahrheitsforichung er:
hebt den Menichen aber über den Staub der Alltäglichkeit und trägt ihn zu
DHimmelshöhen empor. Und das haben wir nötig.
II.
„Panem et eircenses* fchrie das Volk in der römischen Kaiſerzeit. Diefer
Ruf iſt auch eine Meußerung des tiefen Bedürfnilfes der Menjchheit, Nahrung
für die Seele, nicht nur für den Leib zu erhalten, mag der Inhalt jener Eircenfes
Johannes Reinte, Der Menſch lebt nicht vom Brot allein. 187
uns heute nod) jo jehr als Verirrung erfcheinen. Ein Hörnchen höheren Strebens
lag doch darin, ein Durft nad) der Kunſt, die das Gefühl zu befriedigen bejtinmt
it, wie die Wiflenichaft das Denken. Uniere Bewunderung für die Antike gilt
weniger ihrer Wiljenichaft als ihrer Kunſt, zu deren jtrahlender Vollendung wir
Itaunend emporbliden. Phidias und Prariteles; Domer, Aeſchylos und Sophofles
verkörpern in ihrer Sphäre unerreihte Ideale von bleibenden Wert. Bon jener
Kunſt war das Mltertum erfüllt, jie gehörte zu feiner Lebensluft, ohne die der
antife Kulturmenſch nicht atmen mochte. Der gegen jene Kunſt gerichtete An-
fturın der Barbaren hat der Menjchheit die tiefften Wunden geichlagen. Es hut
vieler Jahrhunderte der Selbitbeiinnung und Sammlung bedurft, bevor für die
Kunſt wieder eine Wertichägung erreicht wurde, wie fie zur Zeit des Perikles bejtand.
Ein Schönes Zeichen für die Gegenwart iſt es, daß ſie Kunſt und Wien:
haft mit gleicher Liebe pflegt; die Frucht der Erkenntnis, daß wir geiltiger
Speife bedürfen, und daß fie uns über die Sorge und Mühjal des Tages
binwegbilft. Darum joll die Kunſt volkstümlich und verftändlich jein, weil Die
Wiſſenſchaft dies ihrem Wejen nad) nicht ift und fie nur zum geringen Teil durch
Berdolmetichung unmittelbar auf die Maſſen zu wirken vermag.
Weil wir an die Kunſt die Forderung der Volkstümlichkeit richten, mag es
fi) um bildende Kunft, um Muſik oder um Poeſie handeln, muß fie rein bleiben
von Giftftoffen aller Art, ſonſt kann fie als gejunde Seelenjpeife nicht gelten.
Wie jchlechtes, verdorbenes Brot ichadet, jo kann eine vergiftete Kunſt nanten-
lofen Schaden anrichten. Wir bedürfen gejunder Geiftesnahrung nicht weniger
als geſunden Brotes.
Dies gilt auch von der Wilfenichaft. Eine Wiſſenſchaft, welche die Lüge
nicht von ſich fern hält, ift Gift für den geiftigen Organismus der Menjchheit.
Wenn ſie durch Bopularifierung angeblich begründeter Yehrjäße ſich an die urteils-
(oje Maſſe wendet; wenn Leuten, deren Urteil nicht ausreicht, das Wahre vom
Falſchen zu unterjcheiden, von angeblichen Autoritäten ein gefälichtes Bild der
Forſchungsergebniſſe vurgeipiegelt wird, ſo verdient dies die ſchärfſte Brand-
markung. Leider fehlt es nicht an folchen falfchen Propheten. Ein Treiben wie
das ihre hat Luther im Neuen Teftamente mit „Nergernis bringen" überlegt;
ihnen wird dort das Urteil geiprodhen: es wäre ihnen beffer, wenn jie mit einem
Mühlſtein am Halſe im Meere verienft würden, wo es am tiefiten ift. Cine
furchtbare Verantwortung laden fie vor dem Richterſtuhl dev Geſchichte auf ſich, da
jte indirekt daS Volk auffordern, aus jenen faljchen Lehren die Folgerungen zu ziehen.
Kunft und Wiffenfchaft haben vielfachen Anlaß, einander die Bände zu
reihen. Die Wiſſenſchaft erreicht erft dann ihre Vollendung, wenn fie in ihrer
Darftellung von fünftlerifchem Geifte durchhaucht wird. Die ſprachliche Behand:
fung wiflenichaftlichen Stoffes kann eine verklärende fein — und fie kann, dem
Wüftenfande gleich, das in dev Forſchung erbohrte lebendige Quellwaſſer durd)
188 Johannes Reinke, Der Menich lebt nicht vom Brot allein.
Dürre und Dede zum Berfiegen bringen. Nicht mit Unvecht leider hat man den
deutfchen Gelehrten vorgeworfen, daß fie vielfach nicht deutfch zu ſchreiben ver-
itehen, und in dieſer Hinficht find unjere weftlihen Nachbarn uns als Mujter
bingeftellt worden. ft e8 doc auch ein fünjtleriicher Genuß, eine Abhandlung
von d’Alembert, von Zagrange, von Elaude Bernard zu leſen.
Allerdings können wir mit einer gewiſſen Genugthuung jagen, daß es aud)
in Deutichland beffer zu werden beginnt. Beſonders die Phyſiker haben ſich Ber:
dienfte um die künftleriiche Geftaltung ihrer Gedanken erworben, und Meiiter
eriten Ranges ftehen darin voran, wie Helmholtz, Mad, Heinrich Hertz.
Sie find gerade in ihren tieffinnigften Betrachtungen zur edlen Sprache Goethes
und Alerander von Humboldt3 zurüdgefehrt, das können wir ihnen nidt
genug danken. Bei der ungeheuren Fülle des litterartichen Stoffes, der bewältigt
werden muß, follten die Fachleute Sich die ſaloppe Bernadhläffigung des Stils
nicht länger gefallen lafjen, die bei manchen deutfchen Gelehrten, ein Ausfluß
geiftiger Trägheit, uns noch immer begegnet. it das Wort auch übertrieben:
„der Stil ift der Menſch“, jo darf andererjeits nicht verfannt werden, daß Worte
und Wortfügung der Ausdrud der Gedankenbildung find, daß aus flaren Worten
auf klare Gedanken, aus einer verworrenen Darjtellung auf Unklarheit im
Denken geichlofjen werden kann. Denn mir denken in Worten, nur ausnahnıs-
iweife in wortlojen Begriffen. Darum jollten die Männer der Wifjenichaft es
ſich angelegen jein laflen, durch klaren, einfachen, edlen Stil uns zu erfreuen
und zu erheben, anftatt in ungeheuerlichen Perioden uns Rätjel aufzugeben oder
beitenfall$ uns eine widerwärtige und überflüjfige Anftrengung zu verurjachen.
Bon einer Unterſchätzung der Sprache rührt zum großen Theil der finkende
Einfluß der Wiffenichaft auf das geiltige Leben in breiten Schichten unſeres
Bolkes her, und zwar keineswegs bloß in den unteren, jondern gerade in den
höheren und höchſten Schichten. Wer mag es gebildeten und wohlhabenden
Männern verargen, wenn jie vorfichtig find, ein wiflenichaftliches Buch zu kaufen,
weil jie fürchten, darin ſtatt einer Quelle edlen Genuſſes und wahrer Be-
lehrung ein abjtoßendes Ungeheuer mit einem Uebermaß von barbariihen Aus-
drüden und von nachläffigiter Darftellung der Gedanken zu finden. Der ideale
Einfluß der Wifjenichaft leidet unter der gerügten Trägheit jo vieler Gelehrter,
jo daß im Bolfe ein Verjtändnis für die Bedeutung der Wiſſenſchaft erft auf:
dämmert, wenn fie Brot als Nebenproduft abwirft, Brot in Geftalt von Patenten,
Berfehrserleichterungen (Telephonie, drahtlofe Telegraphie) oder Heilmethoden.
Alle diefe guten Dinge jollen gewiß nicht unterſchätzt werden, doch rechne ich fie
zur materiellen, nicht zur geiftigen Nahrung. Iſt doc der Reichtum, den ein
Maler oder Bildhauer erwirbt, nur eine Nebenſache feines Schaffens, defjen
Wert ein geiltiger ift und damit ein Gemteingut der Menichheit. Man kann
nicht Sünftler werden, wie man Handwerker wird. Nur ödes Banaufentum
Johannes Reinte, Der Menfch lebt nicht vom Brot allein. 189
wird die Kunft und die Willenichaft zum Broterwerb erniedrigen; dahin rechne
ich ed auch, wenn man fie um perfönlichen Ruhmes und Ebrgeizes willen treibt.
IV.
Nach Abſchluß der Freiheitsfriege mahnte ein Sänger:
Aber eins noch mußt du dämpfen:
Dak und Neid und böfe Luſt;
Dann nach langen, jchweren Kämpfen
Kannst du vuben, deutiche Bruit.
Mag der Strom idealer Beitrebungen, wie er in Kunſt und Wiſſenſchaft
heute prächtig dabinflutet, mag das Geiftesteben in Denken und Fühlen mehr
und mehr zu begeilterndem Schwunge fich fteigern und unfer Herz erheben, —
wir dürfen auch das Sollen nicht vergeffen, den fategoriichen Nmperativ, der
die dritte Seite des Geifteslebens, den Willen, zu zügeln hat, wenn uniere Ideale
ih harmonisch geftalten jollen, wenn unjer Volt wahrhaft ewige Güter gewinnen
will. Die Antike ift an dem Yeichtfinn, mit dem fie fi) über die Stimme des
Gewiſſens hinwegiegte, zu Grunde gegangen; „videant Consules“ follen wir auch
heute den Wächtern zurufen, denen das Hüten des heiligen Feuers unferer Ideale
anvertraut ift.
„Wie hältft Du's mit der Religion?" Welcher ernſt geſtimmte Menſch ver:
nimmt nicht immer wieder mit Rührung dieje Frage des treuherzigen Mädchens!
Wohl find die Religionen jo mannigfaltig wie die Herzen der Menfchen, und in
jedem Kopfe malt das religiöfe deal ſich etwas verichieden, jelbit bei den An:
bängern eines in jtarre Formeln gegofjenen Kirchentums. Dennoch geht durd
alle Religionen ein gemeinfamer Zug, es ift das Gefühl der Abhängigkeit von
einem höchſten Willen, der in jenem Imperative zu uns ſpricht; der außerdem
aber aud in der Natur auf Schritt und Tritt ſich uns offenbart.
Dieje leßtere Offenbarung findet ihre Anerkennung in dem eriten Artikel
des apoftoliichen Glaubensbefenntnifjes, und ich bin meinerjeit3 davon überzeugt,
daß jede vorurteiläfreie Naturforihung in denjelben einftimmen kann. Mehr als
dies leiftet die Naturforichung für die Erkenntnis Gottes nicht, und man darf
nicht mehr von ihr fordern. Aber der Gottesglaube, mag er eine Geftalt an:
nehmen, weldje er will, eine Geitalt, auf welche die Einbildungskraft des Ein-
zelnen ſtets von Einfluß fein wird, bildet das Nüdgrat jeder Religion. Wenigitens
im Bolfe. Religion ift nur möglich bei einer Heberzeugung vom wirklichen Dajein
der „Elohim“, von Mächten, die über den greifbaren Dingen walten; fie ift das
Bemußtfein der Abhängigkeit von diefen Mächten. Die Erkenntnis der har-
monifchen Ordnung in der Natur muß zu diefer Ueberzeugung binführen, von
der jelbit ein jo vorausießungslojer Denker wie Voltaire feljenfeit durchdrungen
190 Johannes Reinke, Der Menich lebt nicht vom Brot allein.
war, und zu deven Erjchütterung die Frortichritte der Naturwiſſenſchaft bis in
unſere Tage nicht den geringiten Anlaß gaben. Im Gegenteil, je tiefer wir in
die Natur eindringen, um jo weniger können wir uns der Anerkennung des
Waltens eines höchſten Prinzips entichlagen, das als „Elohim“ in den eriten
Kapiteln der GenefiS gefeiert wird, und die uns zur bewundernden Anbetung
jenes höchſten Wejens treibt. Dann aber, wenn wir die Ordnung der Natur
erkannt haben, werden wir uns der fittlichen Weltordnung um jo weniger verichließen.
Die ideale Weltanihauung wird in den Geſetzen der Natur Geſetze der
Sottheit erkennen, was d'Alembert in folgender Weile ausdrüdt:
„Wenn die von der Erfahrung gelieferten Gelege mit jenen, twelche die
Ueberleaung allein finden ließ, übereinjtimmen,; wird ein Philoſoph daraus den
Schluß ziehen, dat die beobachteten Gejege notwendige Wahrheiten find, nicht
in dem Sinne, daß der Schöpfer nicht etwa ganz andere Geſetze hätte aufjtellen
können, jondern in dem Sinne, daß fein Entjchluß nicht dahin ging, andere auf:
zuftellen als jene, welche aus der bloßen GEriftenz der Materie ſich ergeben.“
Für die Bethätigung religiöfen Sinnes fordern wir Toleranz im weitelten,
edelften Sinne; unduldiam ſollen wir nur fein gegen das Schlechte, Berdorbene,
was unſer Geiftesleben zu verpeiten geeignet ift. Dies gilt namentlich) vom Gift
der Lüge, wenn es fih in die Wilfenjchaft einzufchleichen droht. In der Phyſik
und Chemie ift die Yüge weniger möglich, weil fie fich leicht widerlegen läßt, be-
jonders, wo das Hilfsmittel der mathematiiihen Kontrolle nicht verjagt. Anders
fteht e$ leider auf dem fchwierigeren und dumfleren Gebiete der Biologie; hier it
uns das bejchämende Schauipiel nicht eripart worden, die Lüge wuchern zu fehen
wie ein Unkraut, wie einen Krankheit erregenden Bacillus. Da wird es zur
Pflicht, dies Unkraut am Maßſtabe der Wahrheit auszurotten mit Stumpf und
Stiel. Denn eine Menithheit, welche die Wahrheit verachten wollte, wäre dem
Untergange verfallen.
E3 giebt einen Materialismus der Neligion, der darin eine Verſicherungs—
anitalt zum Schuß gegen die Folgen eigener Verfehlungen und zur mühelofen
Erreichung einer ewigen Glückſeligkeit erblidt. Diejer Standpunft hat mit dem
des Idealismus wenig gemein, denn auch er trachtet nach Brot. Das Suchen
nad) dem Reiche Gottes, wie es auch der Naturforicher in jeiner Thätigkeit übt
— bewußt oder unbewußt — und welches in einem Hohenliede zum Preife der
Größe Gottes ausläuft, ift weit davon verjchieden. Ich möchte glauben, daß
gerade der leßtere Standpunkt dem Willen Gottes entfpricht, wie er ſich in der
Natur und in den Imperativen des Menſchenherzens offenbart.
Unfer ideales Streben auf allen Gebieten der Wiffenichaft, der Kunft und
der Neligion muß dahin gehen, der praftiich-materialiftiichen Zeitſtrömung da?
(Gleichgewicht zu halten; denn dev Menſch lebt nicht vom Brat allein.
* *
*
Johannes Reinke, Der Menfch lebt nicht vom Brot allein. 191
Militärmuſik tönt von der Straße herauf. An feitem Schritte, das Gewehr
geichultert, zieht ein Trupp Matrofen einher, aus China heimkehrende Krieger.
Im fernen Diten erbeutete Fahnen werden ihnen vorauf getragen, ein Wink für
die Welt, daß ein geeintes, mächtiges Deutjchland hinter jedem feiner Söhne ſteht.
Das feite Zufaffen der eiſengepanzerten Fauſt wird man nicht leicht vergejjen.
Zwar ijt der Schritt der Gejchichte ein langſamer, den Wünſchen des Einzelnen
oft zu langiam; was die Freiheitskriege veriprachen, hat erit das Nuhr 1870
unjerem Volke gehalten. Aber die Probe auf unjere nationale Kraft haben wir
im Morgenrot des neuen Jahrhunderts beitanden, und den berechtigten Stolz
darauf werden wir uns nicht verfümmern lafjen. Nur bleiben wir auch deflen
eingedenf, daß die Welt uns einſt das Volk der Denker, der Dichter und des
fategoriichen Imperativs genannt hat; auch dies find Chrentitel, an denen wir
für alle Zufunft feithalten wollen. Denn die Größe der Deutjchen rubt
auf ihrem Idealismus.
Die Göttin.
ie hat io unergründlichen Blick,
Und mütterlii weiche Band,
Und eine Falte in ihrer Stirn;
Von Edelweiss ift ihr Gewand.
Ihr Haar ilt Ulbern, ein Schleier liegt
Wie Sommerfäden darauf,
Ihr Mund wie Blumen, ihr Bauch ein Duft,
Scließt alle Seheimnilfe auf.
Sie geht io leile wie Abendweh'n
Und ipricht mit Glodeenlang,
Der Domuhr gleich, und lächelt ftill,
Wie Pfirfich find Kinn und Wang.
Und keiner kennt ihre Rielenkraft,
Ihr Herrichen ob Schwäcte und Schuld,
Ihr ward das heiligite Heldentum,
Sie heißt die Göttin Geduld!
Carmen Sylva.
1616161616161616161616161 616161616 16161 6161616161 G1G1616}
Wenn ein Volk aufwaht —
ww ein Volk aufwact und des
Schlafes Blei
Im Zorn von den Wimpern ichüttelt,
Wenn fein Morgengeiang wird Kriegs-
geichrei,
Scladtiturm an den Fenitern rüttelt —
Wenn es aufipringt dann
Wie ein einziger Mann,
Mit dem Atem zerbläft feiner Schwäche
Bann
Und vor feine Thür tritt ichwertbereit:
Jit große Zeit!
Aus der Zukunft Nacht, ein flimmern-
der Stern,
keuchtet der Völkerfriede -
Die Sehnfuct mag ihn grüßen von fern
Und feiern in heiligem Isiede.
Doch, fordert der Tag
Den Stoß und den Schlag:
Sei geprieien das Schwert, dem der
Feind erlag,
Sei dem Krieg und dem Siege der
Sang geweiht,
Der großen Zeit!
Wo das Serzblut fließt, wo Knochen
und Mark
Schüftern in wilder Bewegung,
Wo fiedendes Sirn, gefaßt und Itark,
Bändigt die eig’'ne Erregung;
Wo das letzte gewagt,
Wo keiner zagt,
Wenn der Trauermarich um die Toten
klagt,
Wo des Scdimerzes Größe den Schmerz
befreit:
Jit große Zeit!
Audı das Größte geht hin. — Klein-
ichattig und eng
Keudıen die minderen Jahre.
Der Enkel genießt. In Müh und
Gedräng
Ergrauen den Siegern die Saare.
Arbeit und Pein,
Nücdıtern und klein,
Will gethan und verwirkt und gelitten
ein,
Und grau überfliegt Vergelienheit
Eine große Zeit.
Doch wenn es fi jährt und Erinnrung erwacht,
Großichreitend der blutige Reigen
Aus den Gräbern herauf, in der Winternadt
Auffteigt, feine Wunden zu zeigen:
Dann, ihr Berzen all,
Gebt Wiederhall,
Dann mit Glodengeläut und Trompetenicall
Erbraufe der Sang durdı die Lülte weit
Von der großen Zeit!
Carl Weitbrect.
0 GGGGGGGGGGGGGC
Die Friedensbewegung und nationale Gelinnung.
Don
Karl von Stengel,
I.
N: ee des jog. ewigen Friedens, d. b. eines dauernden Friedenszuſtandes
unter den jämtlichen die Menſchheit oder wenigitens die zivififierte Menſch—
beit bildenden Staaten und Bölfern, Bejeitigung des Krieges und Beilegung
internationaler Streitigkeiten durch friedliche Mittel, insbejondere durch Scieds-
ſpruch — ift verhältnismäßig neu. Den Anſchauungen des Altertums lag eine
derartige Idee vollkommen fern. „Die alte Welt it da3 Zeitalter des ewigen
Krieges entweder zwiſchen Einzelwejen vor der Begründung ftaatliher Ordnungen
oder zwiichen Nationen und Gemeinden nad der Einrichtung des Staates” ſagt
Hofgendorff (Die dee des ewigen Völkerfriedens ©. 5).
Die Geichichte der Völker des Altertums, der orientalifchen Völker ſowohl
wie der Griechen und Römer, iſt im wefentlichen eine fortlaufende Erzählung der
von ihnen geführten Striege, und in der Poeſie diefer Völker nimmt die Verherr—
hung Eriegeriiher Tüchtigkeit und Leiltungen den breiteften Raum ein.
Daß im Altertum fortwährender Kriegszuftand herrſchte, ift eine durchaus
natürliche Gricheinung, denn ganz abgejehen von denjenigen Urſachen, die auch
in der Gegenwart zu FEriegeriihen Bermidelungen führen fünnen, kommt vor
allem in Betracht, daß den Völkern des Altertums die Auffaifung völlig fremd
war, daß alle Völker gleihberechtigte Mitglieder einer höheren Gemeinſchaft find.
Jedes Volk betrachtete alle andern als Feinde und ſuchte die benachbarten Völker
zu unterjochen und zu .beherrichen. Bor allem jtellt ſich die Entmwidelung des
römiſchen Wolfes und Staatöweiens in der Hauptſache dar als unausgejeßter
Kampf um die Weltherrjchaft mit den verichiedeniten Völkern, die Rom nad und
nad) bejiegte und unter feine Derrichaft beugte.
Eine volljtändige Ummandelung in den bisherigen Anjchauungen wurde in:
jofern durch die Entftehung des Chriftentums angebahnt, als dasjelbe im Gegen
ing zu den Nativnalreligionen des Altertums den Anfpruch erhob, Weltreligion
zu werden, und von feinen Bekennern verlangte, alle Menſchen als Brüder zu
lieben, und daher den Menichen den Frieden jchon auf Erden predigte. In der
13
194 Karl von Stengel, Die riedenäbemegung und nationale Geſinnung.
That bat auch die Ausbreitung des Chriftentums immerhin die Folge gehabt,
daß die Völker, deren Rechts- und Staatöordnung auf der dhriftlichen Lehre
beruht, ſich allmählich als gleichberechtigt anerkannten und daß ſich aus dieſen
Völkern im Gegenſatz zur nichtschriftlihen Welt die völferrechtlicde Gemein-
ichaft der chriftlich-europäiichen Staaten bildete, deren Mitglieder in ihren fried:
lichen wie kriegeriſchen Beziehungen durch das fog. europäiſche Völkerrecht geregelt
wurden bezw. werden.
Dagegen läßt ſich nicht behaupten, daß die Entitehung und Ausbreitung des
Chriſtentums einen allgemeinen Friedenszuſtand unter den Bölfern bewirkt hätte.
Im Gegenteil, wie die eriten Kahrhunderte nad) der Entitehung des Ehriltentums
durch die Völkerwanderung und die jich daran anfchließenden wüſten Kämpfe
ausgefüllt waren, jo ift aud das ganze chriftliche Mittelalter eine umunter-
brochene Kette von Fehden und Kriegen der chriſtlichen Völker und Staaten
untereinander und diefer mit der mohamedaniichen Welt.
Die Reformation gab dann Anlaß zu häßlichen Glaubensfriegen, die Ent:
deckung der neuen Welt zu den unter den europäiſchen See- und Kolonialmächten
ausgefochtenen zahlreichen und lange dauernden Kolonial- und Dandelskriegen,
während die Ausgeitaltung und Bildung der verichiedenen Nationalftaaten im
Beginne der ſog. neuen Yeit eine ganze Reihe großer politiicher Kriege, nament-
(ih jug. Erbfolgefriege verurfachte. Infolgedeſſen ſehen wir mährend des 16.
und 17. Jahrhunderts allenthalben Krieg und immer wieder Krieg.
Ein Fortichritt war allerdings mit dev Entjtehung der abjoluten Monarchie
eingetreten, injofern das Fehderecht des Mittelalters bejeitigt wurde, auf Grund
deilen jeder Ritter und jede Stadt das Hecht der Kriegführung beanſpruchte. Es
trat nunmehr der Grundſatz auf, daß nur der Staat bezw. der ſouveräne Fürit
das Hecht der Hriegführumg habe. Damit waren wenigftens die fortwährenden
Kämpfe und Fehden innerhalb der einzelnen Völker und Staatsweſen bejeitigt
und die Möglichkeit gegeben, die Kriegführung jelbit in höherem Maße als früher
Nechtöregeln zu unterwerfen.
Wer die Geichichte des Mittelalters und des 16. und 17. Jahrhunderts auch
nur oberflächlich betrachtet, wird es begreiflich finden, daß den Menichen dieler
Zeit die dee eines ewigen Wölferfriedens im allgemeinen durchaus fern liegen
mußte. In der That ift die erite Schrift, in welcher das Problem des ewigen
Friedens erörtert wurde, die zu Anfang des 18. Nahrhunderts nad dem Ab-
ichluffe des Utrechter Friedensvertrags erichienene Schrift des Abbé de Saint
Pierre „Entwurf zur Deritellimg des ewigen Friedens“.
Anlaß zum GEricheinen der Schrift gaben wohl die Berwüftungen des
ſpaniſchen Erbfolgekrieges; vorgearbeitet war aber der in derjelben vertretenen
bee durch die von Hugo Grotins begründete Theorie des Naturrechts, denn die
naturrechtliche Schule hatte bereits wiederholt die Frage erörtert, ob Krieg—
Karl von Stengel, Die Friedensbewegung und nationale Geſimmmg, 195
führung und Sriegsgewalt überhaupt al3 ein angemejjenes, den Staatsinterejjen
entiprechendes Mittel zur Beilegung von Streitigkeiten erachtet werden könne
und ob nicht auswärtige Kriege innerhalb der europäiichen Staatenwelt in der-
jelben Weiſe entbehrlich gemacht werden fünnten, wie das mittelalterliche Fehde—
recht innerhalb der einzelnen itaatlichen Gemeinweſen durch den Landfrieden ver:
drängt worden iſt.
Bei Aufwerfung und Erörterung diejer Fragen fiel jehr ins Gewicht, daß
feit dem Ende des 16. Jahrhunderts der Wettbewerb der europäiſchen Seemächte
um Aneignung eines möglichjt großen Teil des neu entdedten amerifanijchen
Kontinents und des durch diefe Entdedung ungemein erweiterten Welthandels
eine Reihe von Seefriegen zwiichen diefen Staaten zur folge gehabt hatte, diefe
Kriege aber, wie alle Seefriege, die Anterejjen auch der Neutralen empfindlich
berührt hatten, zumal die großen Seemädte, namentlich yranfreich und England,
während des SHriegszuftandes beftrebt gewejen twaren, auch den Dandel der Neu-
tralen möglichft zu Schädigen und die Freiheit der Schiffahrt auf hoher See zu
beeinträchtigen. Die empfindlichen Nachteile, die den Neutralen aus den zwiſchen
anderen Staaten geführten Sriegen zugingen, legte denjelben begreiflicherweife
den Gedanken jehr nahe, daß jedenfalls thunlichite Befeitigung der Kriege jehr
wünſchenswert jei.
Das dreibändige Werk des Abbe de Saint Pierre, der einen dauernden
Friedenszuſtand unter den ſämtlichen chriftlihen Staaten Europas durch
Gründung eines europäiſchen Staatenbundes zu erreichen hoffte, in welchem
aber natürlich Frankreich eine hervorragende Rolle jpielen jollte, wurde als
Kuriofität viel gelejen, einen praftiichen Erfolg hatte e8 aber nicht. Ebenjomwenig
war Died der Tall mit der Ende des 18. Jahrhunderts erichienenen Schrift
Kants über den ewigen Frieden, wobei es ganz dahin gejtellt bleiben mag, ob
Kants Ausführungen mehr ironisch als ernit gemeint waren.
Einen fruhtbareren Boden fand die dee des ewigen Friedens erit im
19. Kahrhundert. Schon die aus der Anregung des Kaiferd Alerander I. von
Rußland hervorgegangene fog. heil. Allianz läßt jich in diefer Beziehung an—
führen. In dem vom 14./26. September 1815 datierten Bertrage erflärten die
Unterzeichner, daß fie die Ueberzeugung von der Notwendigkeit, das von den
Mächten einzuhaltende Berfahren auf die erhabenen Wahrheiten zu gründen,
welhe die ewige Neligion des göttlichen Erlöjers lehrt, erlangt hätten und daß
hie hiermit im Angefichte der ganzen Welt ihren unerjchütterlihen Entſchluß offen-
baren wollten, ſowohl in der Verwaltung ihrer eigenen Staaten als aud in
ihren politifchen Beziehungen zu fremden Regierungen feine andere Richtichnur
als die Vorjchriften diefer ‚heiligen Religion zu nehmen, nämlich die Borfchriften
der Gerechtigkeit, der chriftlihen Liebe und des Friedens, welche, weit entfernt
bloß auf das Privatleben anwendbar zu fein, vielmehr auf die Entſchließungen
18*
196 Karl von Stengel, Die Friedensbewegung und nationale Geitimmung.
der Fürften Einfluß haben und alle ihre Schritte leiten müſſen, da fie das einzige
Mittel feien, die menfchlichen Einrichtungen feit zu begründen und ihren Un—
vollkommenheiten abzubelfen.
An Art. 1 des Vertrages hieß es dann, daß in Uebereinſtimmung mit den
Worten der heiligen Schriften, welche allen Menichen befehlen, einander als
Brüder anzufehen, die drei vertragfchliegenden Monarchen durch die Bande einer
wahren und unauflöslichen Brüderlichfeit verbunden bleiben werden und, da fie
einander ala Mitbürger betrachten, fie einander bei jeder Gelegenheit und aller
Drten Unterſtützung, Beiftand und Hilfe gewähren werden, ſowie daß, da fie fid)
gegenüber ihren Unterthanen und Heeren als Familienväter anfehen, fie diefelben
in dem gleichen Beifte leiten werden, von welchem fie bejeelt jind, um die Religion,
den Frieden und die Gerechtigkeit zu bejchirmen u. ſ. mw.
Auf die Schickſale der heil. Allianz ift hier nicht weiter einzugehen. Jeden—
fall hat dieſelbe einen dauernden Friedenszuftand unter den europäiſchen
Bölfern nicht bewirkt; eher kann man jagen, daß die abjolutiftiich-patriarchalifche
Politif, deren Ausdrud die heil. Allianz war, eine ganze Neihe von Kriegen und
Revolutionen wenigftens mittelbar veranlaßt und verurſacht hat.
&8 liegt nahe, das jog. Friedensmanifeit des Zaren vom Auguſt 1898 mit
den in dem Wertrage über die heil. Allianz entbaltenen jchönen Redensarten
von Brüderlichkeit, Friede und Gerechtigkeit zu vergleichen. Bei einer jolchen
Bergleichung wird man finden, daß das Friedensmanifeſt ganz im Geiſte des
Begründers der heil. Allianz erlaffen it. Ob die Ergebnilfe der durch das
Friedensmanifeſt veranlagten Friedenskonferenz im Haag in Bezug auf die Der-
jtellung des ewigen Friedens beſſere Wirkungen erzielen werden als die heil. Allianz,
wird ja die Zukunft zeigen; aber die Frage follen jich doc) die leichtglänbigen
Schwärmer, die das Friedensmanifeit mit fu großem Jubel begrüßten, aufwerfen,
ob die innere und äußere Politik der ruffiichen Negterung in der Zeit nach dent
Abjchluffe der heil. Allianz in dem Make von den Ideen der Gerechtigkeit,
Brüderlichkeit und Friedensliebe beberricht war, wie es nach dem Inhalte des
über die heil. Allianz abgejchlojjenen Vertrags hätte jein müſſen. Bielleicht
werden ie es dann begreiflih finden, wenn troß des Friedensmanifeſtes umd
troß der Daager Konferenz nicht jedermann ein unbedingtes Vertrauen auf die
ruſſiſche Friedensliebe hat. Ob der Zar perjönlich friedfertig ift, it dabei ganz
gleichgültig, denn auch in Rußland find für die Richtung der Äußeren Bolitif
ichließlich die Antereifen des Staates und nicht die perfönlihen Neigungen des
Derrichers maßgebend.
Vom Abichluffe der heil. Alltanz bis zum Zufammentritte der Daager
Friedenskonferenz it von Seite dev Hegierungen fein ernithafter Verſuch einer
Bereinbarimg vder Organiſation im Sinne der Idee des ewigen Friedens ge—
macht worden. Um jo rühriger war auf diefem Gebiete die private Initiative.
Karl von Stengel, Die Friedensbewegung und nationale Gefſinnung. 197
Zahlreiche Friedensgeſellſchaften entjtanden faft in allen Staaten, nachdem zuerit
1816 eine jolche Gefellichaft (Peace society) in England «und wenige Jahre
ſpäter eine amerikaniſche Trriedensgejellichaft gegründet worden war. Im Jahre
1842 trat dann der erſte internationale Friedenskongreß zuſammen, dem ſeitdem
eine ganze Anzahl ſolcher Kongreſſe folgte, darunter in den letzten zwanzig Jahren
auch ſog. interparlamentariſche Friedenskongreſſe d. h. Verſammlungen von
Parlamentsmitgliedern verſchiedener Staaten, die Anhänger der Friedens—
bewegung ſind und ſich verpflichten, für die Idee des ewigen Friedens in den
Barlamenten einzutreten.
Eine beſondere Regiamkeit haben natürlich diefe Vereinigungen und Ber:
jammlungen ſowie einzelne hervorragende Vertreter und Wertreterinnen der
Friedensidee jeit dem Erlaffe des Friedensmanifeftes des Zaren. und während
der Haager Konferenz entfaltet, wie auch begreiflicherweiſe die Ergebniffe diejer
Konferenz von ihnen entiprechend verarbeitet und verwertet werden.
Die Beftrebungen der Friedensvereine und Friedensfreunde zielen auf gänz-
liche Abſchaffung des Krieges und zwar entiweder durch Begründung einer die
ämtlichen zivilifierten Staaten umfafienden Konföderation, in der der Krieg
unter den einzelnen Mitgliedern begrifflich ausgeichloffen wäre oder durch Ein-
führung des fog. obligatoriihen Schiedöverfahrens, d. h. des Grundſatzes, daß
jede Streitigfeit ımter Staaten friedlich, nämlich duch Schiedsſpruch beigelegt
werden muß. Daß die Friedensfreunde gleichzeitig möglichfte Abrüftung verlangen,
ift jelbftverftändlih, da auf dieſe Weile den Staaten die Fähigkeit, Mrieg zu
führen, entzogen oder doch erheblich beſchränkt wird.
Ob die Beſtrebungen der Friedensfreunde in ferner Zukunft je einmal ver
wirklicht werden, kann ganz dahingeitellt bleiben. Zweifellos ift jedenfalls für
jeden, der die politiichen Werhältnifje der Vergangenheit und der Gegenwart
nüchtern beurteilt, daß für abjehbare Zeit an eine Beſeitigung des Mrieges, als
des äußerften Mittels, um internationale Konflifte zum Austrag zu bringen,
nicht zu denken if. Daran haben auch die Ergebnifje der Daager Konferenz
nichtö geändert, wenn auch nicht beftritten werden joll, daR durch die Haager
Schiedsgerichtö- Konvention die Möglichkeit, internationale Streitigkeiten durch
Sciedsfprud zu erledigen, erleichtert worden if. Wer etwa infolge des
friedendmanifejtes des Zaren und des Zuſammentritts der Daager Friedens—
fonferenz in diefer Hinficht optimiftifch geitiummt war, kann inzwiſchen durd) den
jüdafrifanifchen Krieg ernüchtert worden fein. England, deifen Vertreter auf der
Konferenz nicht genug vom ewigen Frieden und ſchiedsgerichtlicher Beilegung
internationaler Streitigkeiten ſprechen Eonnten, bat faft unmittelbar nach dem
Schlufje der Konferenz den ſchon vorher geplanten Krieg mit den ſüdafrikaniſchen
Republiten begonnen, es weift jede Antervention zu Gunsten diefer Republiten,
ſowie die Austragung feines Streites mit denielben durch Schiedsſpruch zurüd
198 Karl von Stengel, Die Friedensbewegung und nationale Geſinnung.
und muß ſich Sogar den Vorwurf gefallen lafjen, dat es in Südafrika nicht in
jeder Beziehung die Geiete und Gebräude des Kriegsrechts beobachte. Daß dies
unter dem frifchen Eindrude der Beſchlüſſe der Haager Konferenz möglich ift,
beweift recht deutlich, wie wenig durch derartige, wenn auch vielleicht recht gut
gemeinte Veranstaltungen erreicht werden fann.
Die Gründe, die der Verwirklichung der Beftrebungen der Friedensfreunde
im Wege ftehen, find ichon jo oft dargelegt worden, dat es überflüfjig ift, die-
felben bier zu wiederholen. Dagegen ericheint es veranlaft, näher auf die
Gründe einzugehen, welche die Friedensbewegung in Gang gebradıt und ge
fördert haben.
Es fteht nun wohl außer Zweifel, daß auf die Entftehung und Entmwidelung
der Friedensbewegung vor allem wejentlihen Einfluß das Ruhebedürfnis gehabt
bat, das ganz naturgemäß nad) den langen und blutigen Kriegen der napoleoniſchen
Zeit fich geltend madıte. Alles jehnte fich nach dauerndem Friedenszuftand und
hoffte auch auf denjelben rechnen zu können, da man der allerdings irrigen
Meinung war, daß durch die Beltimmungen des Wiener Kongreſſes auf
abfehbare Zeit die politiichen Berbältniffe Europas in befriedigender Weile ge—
regelt jeien.
Diejes Nuhebedürfnis vereinigte ſich mit gewiſſen, im 18. Jahrhundert zur
Geltung gelangten Eosmopolitiichen Anjchauungen und der namentlidy im Anfange
der franzöfifchen Revolution ſtark betonten, von den Franzoſen freilich eigentüm-
li) verwirklidhten dee der Brüderlichkeit aller Menſchen, die begreiflichermweile
auf ſchwärmeriſch angelegte Gemüter großen Eindrud machen und in denfelben
Abſcheu vor kriegeriſchen Stonflikten hervorrufen mußte.
Dazu kamen dann jpäter die immer mehr Boden gewinnenden Ideen der
ſog. Mandheiterfchule und die freihändleriiche Richtung, welche thunlichit alle Zoll:
Ichranfen unter den Staaten bejeitigt wiffen wollte und lediglich friedlichen Wett:
bewerb unter den Völkern auf wirtichaftlihdem Gebiete erftrebte. Außerdem
wollten die Anhänger diefer Richtung das Eingreifen des Staates auf allen
Gebieten des Yebens möglichit eingejchränft haben, und waren daher jchon aus
dieſem Grunde grundfäßlich dem Sriege, in dem der Staat von feinen Unter:
thanen nicht bloß die größten mwirtfchaftlichen Opfer, jondern felbft das Opfer
ihrer Perfönlichkeit verlangt, abgeneigt. Es handelte fich bei diefen Strömungen
um Trolgerungen des durd die fog. naturrechtliche Schule zur Geltung gelangten
Individualismus. Die naturrechtliche Schule glaubte nämlich den Staat auf das
Einzelindividuum aufbauen zu follen und die Entitehung des Staates durch den
jog. Staatövertrag — contrat social — d.h. in der Weiſe erflären zu fönnen,
daß ftaatliche Gemeinweſen uriprünglich lediglich durch Freiwilliges Zufammen:
treten einzelner, von einander unabhängiger Menfchen gebildet wurden. Im
Gegenſatze zum Elaffiichen Altertum, das den Schwerpunft auf die Geſamtheit
Karl von Stengel, Die Friedensbervegung und nationale Geſinnung. 199
legt, weshalb Ariftotele® ganz folgerichtig fagte, die Gemeinichaft jei vor den
einzelnen vorhanden, jchob dieſe Theorie das Einzelindividuum mir jeinem Wohl
und Wehe in den Vordergrimd ; die nterefien der Gejanıtheit kommen erjt in
zweiter Linie im Betradt. Berüdfichtigt man dazu, daß mit der Zunahme der
Induſtrie und des Dandels und der fortwährenden Entwidelung des Wohl:
ftandes der Bevölkerung die Wirkungen eines Krieges immer verheerender wurden
und ſich den einzelnen noch fühlbarer machten als in früheren Zeiten, und daß
die verfeinerte Kultur die Menichen verweichlicht und fie dem Kriegshandwerk
entfvemdet, jo wird man es begreiflid) finden, daß eine Bewegung, die dieſer
Richtung und diefen Neigungen entgegenfam, in weiten Kreifen Anerkennung und
Anhänger finden konnte.
Bon den politiichen Parteien war es vor allem die liberale Partei, welche,
auf dem Boden des Individualismus jtebend und an den in der franzöfiichen
Revolution zur Geltung gelangten Ideen fejthaltend, der Friedensbewegung hold
war und jchon deshalb hold fein mußte, weil jie den Militarismus als Stüte
einer ſtarken Regierungsgewalt befämpfte und befürchtete, daß die Negierung
friegeriiche Konflikte mit freinden Staaten zur Unterdrüdung der ſog. Volks—
freiheit benüßen werde. Wir finden daher unter den Anhängern und Förderern
der Friedensbewegung vor allem Männer der liberalen Parteien, namentlich aber
derjenigen, in denen demofratiihe Strömungen in größerem oder geringerem
Grade vertreten find.
Daß die Friedensbewegung in eriter Yinie in Nordamerifa und in England
feſten Fuß gefaßt hat, hat aber noch jeine bejunderen Gründe. Gegenüber dem
angeblih vom Dejpotismus bedrüdten und im Militarismus verfommenen Europa
haben es die Amerikaner ja immer veritanden, ihr Staatöwelen als die fried-
fertige, auf den Ideen der ‚freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aufgebaute
demofratiiche Republik binzuftellen, die auch mit Rückſicht auf ihre geographiiche
Lage kein ſtehendes Heer braucht und der Eriegerijche Abenteuer jo fern als
möglich liegen. Es lag daher durchaus im Sinne diefer Richtung, daß in
Amerika einer der eriten Friedensvereine gegründet wurde, und daß ich Amerifaner
lebhaft an der Friedenspropaganda beteiligten. Inzwiſchen werden die Amerikaner
durch die Erfahrungen des Sezeifionsfriegs belehrt worden jein, wozu jtehende
Armeen nüglich find, die abſolute Friedensliebe der Union hat aber in dem von
ibr veranlaßten Kriege gegen Spanien eine eigentümliche Beleuchtung erfahren,
wie aud der jet in Nordamerifa berrichende „Imperialismus kein bejonders
friedfertiged Gepräge an jich trägt.
Was aber die Engländer anlangt, jo gehört es bei ihnen von jeher zum
guten Ton, für die Ideen der Humanität und Zivilifatton zu fchwärmen, wenn
fie auch bei der praftiichen Durchführung ſolcher een recht vurjichtig verfahren,
um ihre materiellen Intereſſen nicht zu jchädigen. Es war daher ganz jelbit-
200 Karl von Stengel, Die Friedensbewegung und nationale Geſinnung.
verftändlich, daß man ſich in England für die Friedensidee begeijterte, wie man
ed auch von jeher liebte, England als den Hort und Beichüter aller „unter-
drüdten Völker“ darzuftellen. Dazu kam aber noch, daß England nad den
napoleoniihen Kriegen mächtiger ald je daftand und namentlich durch jeine
gewaltige Flotte alle Meere beberrichte. Im Gefühle feiner Macıt und geihügt
durch jeine infulare Yage konnte fih England leicht als friedfertig darftellen, da
es wußte, daß es von feinem Staate einen Angriff zu befürchten babe, und fein
während der napoleonifchen Kriege errungenes wirtichaftliches Uebergewicht ſich
zunächſt am beiten während des ‚Friedens befejtigen und erhöhen ließ. Dar
England im Anterefie der Ausdehnung feiner Herrichaft in -verichiedenen Welt:
teilen fortwährend mit wilden und halb zivilifierten Völkern Kriege führte, wurde
als nebenfächlich nicht weiter in Betracht gezogen.
11.
Wie bereitö angedeutet, hat die ‚jriedensbewegung in den legten zwanzig
Jahren erheblih an Umfang zugenommen; in den meiften Staaten baben ſich
‚friedendvereine gebildet, auch Deutichland it in diefer Beziehung nicht ganz
zurüdgeblieben, wenn es aud nicht in eriter Yinie ſteht; fait jedes Jahr finden
Kongrefle der Friedensfreunde ftatt, die immer wieder auf die Deritellung des
ewigen Völferfriedens abzielende Nefolutionen fafjen, und die Litteratur über die
eriedensbewegung im allgemeinen und über völterrechtlihe Schiedägerichte im
beionderen ift, wenn auch nicht immer in die Tiefe, jo doch in die Breite
gewachſen.
Man könnte nun vielleicht ſagen, daß diejenigen, welche die Beſtrebungen
der Friedensfreunde als utopiſtiſch und jedenfalls auf abſehbare Zeit für undurch—
führbar halten, dieſelben mit vollkommener Gleichgültigkeit betrachten können, wie
etwa Diejenigen, welche die Beſtrebungen der Temperenzler als übertrieben und
teilweiſe ſelbſt Tächerlich halten, jich kaum die Mühe nehmen werden, diejelben
ausführlich zu befämpfen in der Meinung, daß die Dinge von felbit in richtigen
Geleiſe bleiben werden.
Bei den Beftrebungen der jog. Friedensfreunde liegt aber die Sache doch
etwas anderd. Dieje Beitrebungen haben eine politische Tragweite; jie beziweden
nicht bloß eine völlige Aenderung der internationalen Beziehungen der Staaten
zu einander, jondern auch eine Aenderung ftautlicher Einrichtungen, nämlid) des
Heer- und Kriegsweſens, wie fie auch eine völlige Umwälzung gewiſſer, jest das
Staatöleben beherrichender Anfchauungen beziveden.
Es iſt daher notwendig, die Beitrebungen vom ftaatlichen bezw. nationalen
Standpunfte aus zu beurteilen. Selbitverjtändlich wird ein kleiner, vielleicht nur
durch die gegenfeitige Eiferjucht der Großmächte in feiner Eriftenz ſich erbaltender
Staat der Friedensbewegung ſich anders gegenüberftellen wie ein Großſtaat, der
Marl von Stengel, Die Friedensbewegung und nationale Geſinnung. 201
eine Rolle in der Weltpolitik ſpielt und ſpielen muß. Ebenſo werden die ver:
ſchiedenen Großſtaaten die Friedensbewegung verſchieden beurteilen, je nachdem
hie Borteile"oder Nachteile von derſelben erwarten.
Wir haben die riedensbewegung lediglich von deutich-nationalen Stand-
punkte aus zu beurteilen und lediglid von dieſem Standpunfte aus die Frage
zu beantworten, ob es wünichenswert erjcheint, daß die ‚sriedensbemwegung weite
Areiſe des deutichen Volkes nachhaltig ergreift.
Deutjchland bat mehrere Nahrbunderte politiiher Ohnmacht durchzumachen
gehabt und zwar gerade die bedeutungsvollen Jahrhunderte, in melden andere
enropätiche Nationen ſich politiich Eonfolidierten und ſich ihren Anteil an den neu—
entdedten Weltteilen und dem ſich daraus entwidelnden großartigen —
und im Zuſammenhang damit an der Weltpolitik ſicherten.
Dervorgerufen wurde bekanntlich) dieje politiihde Ohnmacht Deutichlands
dadurch, daß in derjelben Zeit, in der in frankreich die Zujammenfafjung aller
nationalen Kräfte zum Ginheitäftaate erfolgte, das Deutihe Reich in eine große
Jahl immer jelbitändiger werdender Territorien zerfiel.
War Icon dieje politiiche Zerſplitterung für Deutichland ein Unglüd, jo
wurde das Uebel noch dadurch vericärft, daß infolge der Meformation das
deutihe Volk in zwei jich feindlich gegenüberftehende und ſich fortwährend be-
kämpfende Konfeſſionen zerfiel, denn es ift klar daß der politische Bartikularismus
an dem Eonfeljionellen Gegeniag immer wieder Dalt und neue Nahrung fand
und der politische Gegenſatz unter den deutichen Staatswejen, wie die Ver:
ihiedenheit der deutichen Stämme durd den konfeſſionellen Gegeniat in der
bedenklichſten Weile verichärft wurde.
Nach ichweren inneren Kämpfen und blutigen Kriegen ift ‚es dem deutjchen
Volke gelungen, jeine politiiche Einheit zu erringen, und auf Grundlage dieler
Einheit und der hierdurch geichaffenen Möglichkeit der Zufammenfafjung aller
nationalen Kräfte ſich in unglaublich Eurzer Zeit eine achtunggebietende Stellung
in der Weltpolitif zu erobern. So groß aber auch die Errungenjchaften des
deutichen Volkes in politiider und mwirtichaftlicher Beziehung find, die das
deutiche Volk im Yaufe des legten Menichenalters gemadt bat, in den Schoß
darf es die Dände nicht legen, wenn die erworbene Stellung feitgehalten
und die deutihe Macht und der deutiche Einfluß vergrößert und ermeitert
werden jollen.
Es ift ja ganz begreiflich, daß Deutichland, das fo lange lediglich ein
geographiicher Begriff war und weder in der Politif noch im wirtichaftlichen
Leben eine Rolle jpielte, von allen denjenigen Staaten, deren Kreiſe es durch
jein raſches Emporkommen jtörte, eben ala Emporfümmling mit Mißgunſt, in
die bei den Hleineren Nachbarn fich ein Gefühl der Beängitigung mijcht, betrachtet
wird. frankreich hat den Gedanken an Revanche für die im Jahre 1870771
202 Karl von Stengel, Die Friedensbewegung und nationale Geſinnung.
erlittenen Niederlagen immer nod nicht ganz aufgegeben, England hat begreif:
licherweife weder den Eintritt des Deutſchen Reiches in die Reihe der Kolonial-
mäcdhte, noch den ungeheuren wirtichaftliden Aufſchwung Deutichlands mit
bejonderer Freude begrüßt und ift auch darüber nicht jonderlich entzüdt geweſen,
daß das Deutiche Reich immer mehr aud ein Faktor in der Weltpolitit geworden
ft und in Oftafien, wie in der Südſee und in Afrika eine Rolle jpielt. Daß
die Slaven die erbittertiten Feinde der Deutichen find, darüber kann troß aller
wenigftens außerlih zur Schau getragenen zrreundichaft des offiziellen Rußland
nit dem Deutſchen Reiche niemand im Zweifel fein, wie auch alle Liebens—
würdigfeiten, die bei offiziellen und nidhtoffiziellen Gelegenheiten zwiſchen Deutſchen
und Amerifanern ausgetauscht werden, über die Gegenfäte nicht hinwegtäuſchen
fönnen, die in politiicher wie in wirtichaftlicher Beziehung zwiſchen dem empor-
jtrebenden Deutichen Reiche und der in den Bahnen des „Antperialiamus“
wandelnden großen transatlantiichen Republik vorhanden find.
Daß die äußere Politit des Deutichen Reichs eine friedliche ift, bat es jeit
nabezu einem Meenichenalter beiwielen, wie es auch zweifellos ift, daß feine
Bolitit gerade mit Rückſicht auf feine zahlreichen und mächtigen Gegner in ber
ganzen Welt eine friedliche jein muß, da eine friegeriiche Politik das vom deutichen
Volke jo ſchwer Errungene wieder in Frage Itellen könnte.
Eine ganz andere Frage ift es aber, ob die deutiche Politik eine friedliebende
im Sinne der Friedensfreunde ımd der Friedensbewegung jein kann. Dieje Frage
muß unbedingt verneint werden.
Das Deutiche Reid) darf, wenn es jeine Stellung als europäiſche Groß-
macht und als Faktor der Weltpolitit behaupten will, weder feine Waffenrüftung
zu Lande ſchwächen, noch nachlaſſen in dem Beitreben, fich eine achtunggebietende
Kriegsflotte zu Ichaffen, denn heute kann fein Staat in der Welt Anſpruch auf
den Namen einer Großmadıt erheben, der nicht die beiden Arme jeiner nationalen
Wehr, Heer und Flotte, mit voller Schlagkraft und Schlagfertigkeit zu gebrauchen
weiß. (Nautieus 1901 ©. 129.)
Es wäre geradezu politifcher Selbftmord, wenn etwa Deutjchland im Ber-
trauen darauf, daß es im Falle eines internationalen Konflikts jein Recht vor
einer nad) Maßgabe der auf der Danger Friedenskonferenz feitgeltellten Schieds-
gerichtöfonvention zur Geltung bringen fönne, abrüften wollte. Der beite Schuß
für das gute Recht eines Staates ift und bleibt inmer fein gutes Schwert. In
dem gleichen Sinne hat Nichelieu in feinem politifchen Tejtament gejagt:
„Niemals darf ſich ein großer Staat in die Lage bringen, eine Beleidigung zu
empfangen, ohne fie erwidern zu können.“ Ebenſo jagt Schmoller: „Wer ohne
Rüftung dafteht, wird mißhandelt. Es giebt feine internationale Wirtfchaftspolitif
ohne Madtvolitit, wenn einmal der betreffende Staat die Eiferfucht der Mächte
erregt.“
Karl von Stengel, Die Frriedensbewegung und nationale Geiinmung. 203
In diefem Ausſpruche Schmollers ift ganz richtig der Gedanke zum Ausdrud
gebradjt, daß auch der jog. friedliche Kampf der Nationen auf wirtichaftlichem
Sebiete von dem einzelnen Bolfe nur dann mit Erfolg geführt werden kann,
wenn dasjelbe fi auf eine achtunggebietende militäriiche Macht zu ftüßen in der
Lage iſt.
Mit Vorliebe betonen die Friedensfreunde, daß die Völker ſelbſt durchaus
friedlich geſinnt ſind und daß Kriegsluſt lediglich bei den Fürſten und Regierungen
zu finden iſt, die von jeher aus Händelſucht, Ehrgeiz, Ländergier oder anderen
gemeinen Beweggründen Kriege begonnen hätten. Dieſe Behauptung iſt durchaus
unrichtig; daß nicht bloß die Regierungen, ſondern auch und zwar in erſter Linie
die Völker kriegeriſch geſinnt ſind, beweiſt z. B. ganz deutlich die Haltung des
franzöſiſchen Volkes i. J. 1870/71 und die Haltung des engliſchen Volkes während
des jetzigen ſüdafrikaniſchen Krieges. Es iſt dies auch ganz begreiflich. Die
Beweggründe zu kriegeriſchen Konflikten liegen nicht in dem mehr oder weniger
willkürlichen Belieben der Regierungen, ſie ſind gegeben durch die Intereſſen der
Völker und Staaten. Wo ein Volk ſeine Ehre und ſeine wichtigſten Intereſſen
von gegneriſcher Seite bedroht ſieht, greift es trotz aller Friedenskongreſſe zu den
Waffen. Zu denjenigen Intereſſen, um deren willen aber wohl die meiſten Kriege
geführt worden ſind, gehören die wirtſchaftlichen. Man denke nur an die ſog.
Kolonialkriege des 16., 17. und auch 18. Jahrhunderts, bei denen es ſich darum
handelte, welche von den europätihen Seemädten in der Kolonialpolitit und im
Welthandel die führende Rolle zu fpielen berufen fein follte.
Selbſt bei ſolchen Kriegen, die in erjter Linie nicht um wirtjchaftliche Ziele
geführt werden, fallen die wirtichaftlichen Intereſſen ſtets injofern jehr erheblich
ins Gewicht, als in der Regel derjenige Staat, der aus dem Kampfe als Sieger
hervorgeht, durch den Sieg in feiner wirtichaftlichen Entwidelung ungemein ge-
fördert erjcheint, während der Bejiegte in der Hegel durd; die Niederlage nicht
bloß augenblicklich wirtſchaftlich geſchwächt iſt. Man braucht in diefer Beziehung
nur darauf hinzuweiſen, daß das wirtjchaftliche Mebergewicht, welches England
ich im 19. Jahrhundert zu erringen wußte, jedenfalls zum großen Teile darauf
zwurüdzuführen ift, daß es aus den langjährigen erbitterten Kriegen mit Frank:
reich als Sieger hervorgegangen iſt. Ebenſo kann e3 wohl feinem Zweifel
unterliegen, daß der für Deutjchland jiegreiche Ausgang des deutſch-franzöſiſchen
Krieges für die deutſche Volkäwirtichaft die Bahn für die Entwidelung geöffnet
bat, auf der das deutiche Volk jeit 30 Jahren unaufbaltiam vorwärts ge:
gangen iſt.
Kaum zu irgend einer Zeit war dev Gegenjat auf wirtſchaftlichem Gebiete
zwiichen den einzelnen Bölfern, ja jelbft zwiichen ganzen Weltteilen umfafjender
und erbitterter als in der Gegenwart. Wenn diefer Gegenjat zunächſt noch in
Kämpfen wirtichaftliher Natur zum Ausdrud kommt, jo kann doch niemand
204 Karl von Stengel, Die Friedenbbewegung und nationale Geiinmung.
dafür bürgen, daß der Kampf nicht früher oder jpäter auch in der Form bes
Krieges geführt wird. Es ift dies ebenfo möglich, wie die Gefahr befteht, dat
die wirtfchaftlich-jozialen Gegenfäre int Innern der einzelnen Staaten zu blutigen
Revolutionen führen.
Wenn wir aber jelbjt hoffen dürfen, daß in Europa der Friede auf die
Dauer gefichert bleibt, fo ift doch im vorigen Jahre durch die chineſiſchen Wirren
eine Frage aufgerolit worden, die in ihrer Tragweite noch gar nicht überjeben
werden kann. Es handelt fich in Oftafien nicht etwa bloß um den größeren oder _
geringeren Einfluß der einen oder anderen europäifchen Macht, jondern um den
Gegenſatz zwifchen der gelben und weißen Raſſe, um die Frage, ob in Oftafien
und weit darüber hinaus in Zukunft der Weihe oder der Mongole in mwirtichaft:
licher wie politifcher Hinſicht herrſchend und maßgebend fein Toll.
Derartige Lebensfragen für ganze Nationen und Raſſen jind aber nod)
niemals in friedlicher Weije zum Austrage gebracht worden. Allerdings iſt vor-
laufig in China eine gewiſſe, wenigitens oberflächlihe Beruhigung eingetreten,
aber Europa muß mit der Möglichkeit und jelbft mit der Wahricheinlichkeit rechnen,
daß in vielleicht nicht zu ferner Zukunft der Kampf in Oſtaſien abermals und
noch heftiger entbrennt.
Berüdfichtigt man alle diefe Verbältniffe, jo ift es nicht ſehr wahrſcheinlich,
daß das 20. Jahrhundert ein vollfommen friedliches fein wird. Es iſt daber be-
greiflich, daß alle Staaten an der Mufrechthaltung ihrer Kriegsmacht nicht bloß,
Jondern, namentlich was die Flotte betrifft, auch au deren Verſtärkung arbeiten; jelbit
wenn dies auch von den meiften Staaten im Sinne des befannten Saßes ge:
ſchieht: „Si vis pacem, para bellum!*
Die Friedensfreunde dagegen verlangen Entwaffnung und Abrüftung md
itellen diefes Anfinnen in erfter Linie an das Deutiche Neich, das von ihnen jo
gern als der Triedensftörer oder doch als derjenige Staat bezeichnet wird, der
der Verwirklichung der „idee des allgemeinen Friedens vor allem im Wege jteht.
Gewiß wird das Deutiche Neich abrüften, Tobald auch die übrigen Staaten,
namentlich aber franfreih und Rußland, die den Friedensfreunden ja jo ſehr
am Derzen liegen, entwaffnen; Deutjchland muß aber mit Rüdfticht auf feine
geographifche Yane und jeine politiich wie wirtſchaftlich erponierte Stellung
anderen Staaten den Bortritt laffen. Wenn die Friedensfreunde zur Begründung
ihres Verlangens nad Abrüftung geltend machen, daß die Völker unter der Laſt
der friegeriichen Rüſtungen erliegen und schließlich dem wirtichaftlfihen Ruine
entgegen gehen, jo mag, was das deutiche Volk anlangt, an die trefflihen Worte
erinnert werden, die der leider zu früh verftorbene General von Schwarzhoff in
der Situng der Haager Friedenskonferenz vom 26. Juni 1899 gefprocdhen hat:
„Das deutiche Volk ift nicht erdrüdt duch das Gewicht der Yaften und Auflagen,
es gleitet nicht auf Schiefer Ebene dem Abgrund zu; es gebt nicht der Erſchöpfung
Karl von Stengel, Die Friedensbewegung und nationa!e Geſinnung. 205
und dem Ruin entgegen. Ganz im Gegenteil! Der öffentliche und private
Reichtum mehrt ſich; der allgemeine Wohlftand, die ‚Standard of life‘ hebt ſich
von Jahr zu Jahr.“
Am Anfchluffe daran ſagte Schwarzhoff: „Was die allgemeine Wehrpflicht
anlangt, die auf das innigfte mit diejen Fragen zuſammenhängt, fo betrachtet
fie der Deutfche nicht als eine läftige Bürde, jondern als eine geheiligte patriotifche
Pflicht, deren Erfüllung ev jeines Vaterlandes Eriftenz, fein Wohlergehen und
jeine Zukunft verdanft.”
Mit diefem Ausjpruche hat Schwarzhoff einen jehr wichtigen, mit der ſoge—
nannten Friedenäbewegung zufammenhängenden Punkt berührt.
Die Friedenäfreunde wollen nicht bloß allgemeine Entwaffnung, jondern
auch Ertötung des Friegerifchen und militärischen Sinnes in den Völkern. Der:
artigen Beftrebungen müſſen wiv aber gerade in Deutichland auf das ent-
ichiedenfte entgegentreten.
Wenn bier von Eriegeriihem und militärischen Sinne gefprochen wird, jo
bandelt es ſich jelbftverftändlich nicht um rohe Raufluſt, jondern darum, daß im
Volke der feite Wille vorhanden ift, gegebenenfalls für die Ehre, das Recht und
das Intereſſe der jtaatlichen Gefamtheit zur Waffe zu greifen, und daß jeder
Staatsangehörige willig der Wehrpflicht ſich unterwirft, weil die Erfüllung der-
jelben im Intereſſe des Baterlandes geboten it. Unter diefem Gefichtspunfte ift
die kriegeriſche Geſinnung nur eine Seite der nationalen Gefinnung, d. h. der
Neigung in jedem Stantsangebörigen, bei allen Dingen zu fragen, was das Ned,
die Ehre und das Intereſſe feines Volkes verlangen, verbunden mit der Ent-
ichloffenbeit, für jein Waterland Gut und Blut zu opfern.
Nur dann, wenn ein Volt von einer jolchen Gefinnung durchdrungen ift,
wird es dauernd groß und mächtig fein.
Wir haben aber in Deutichland allen Grund, die nationale Geftnnung zu
heben und zu pflegen, denn wenn auch das deutiche Volk jegt nad außen geeint
ift, die das nationale Jutereſſe über alles ſetzende Gefinnung ift leider noch nicht
jo völlig durchgedrungen, twie es notwendig wäre. Wenn man ganz abfieht von
dem vaterlandslojen Gebaren der Sozialdemokraten, jo kann doc nicht überfehen
werden, daß eine mächtige politifhe Partei, die angeblich dur die Wahrung
veligiöfer Anterefjen zufammen gehalten wird, in Wirklichkeit aber die Herrſchaft
der Kirche über den Staat anftrebt und geneigt ift, die Eicchlichen Intereſſen
über die nationalen zu ftellen, infolgedejjen leider wiederholt Fein Bedenken ge—
tragen bat, alle möglichen dentich:feindlichen Elemente, wie 3. B. die Polen, in
der entjichiedenften Weile zu begünftigen. Ebenjo haben wir es oft genug erleben
müfjen, daß die äußeriten linfäliberalen Parteien, wenn es ihren politifchen oder
wirtichaftlichen Zielen förderlich fchien, die Einmifchung des Auslandes nicht bloß
nicht zurüdgewiejen, jondern jelbft veranlaßt haben.
206 Karl von Stengel, Die Friedensbewegung und nationale Sefinmuna.
Wie beihämend war ferner das Schaufpiel, das fich leider mehrmals
wiederholt hat, dat die Reichäregierung die Stärkung der nationalen Wehrkraft
zu Land und zu Wafjer dem Reichstag förmlich abringen mußte.
Wie ganz anders liegen in diefer Beziehung die Dinge in Frankreich und
England. Ohne Rückſicht auf feine PBarteiitellung und jeine Konfeſſionsange—
börigkeit fühlt fich jeder Franzoſe und Engländer in erfter Linie als Franzoſe
und Engländer. Das nationale Interejie fteht ihm in erfter Linie: right or
wrong — my country. Recht deutlid) hat jich dies in dem gegenwärtig noch
nicht beendigten jüdafrifanijchen Sriege gezeigt. Trotzdem in England eine ftarfe
Strömung gegen den Krieg vorhanden war und noch ift, ſtand von Anfang an
dad ganze Volk, nachdem einmal der Krieg begonnen und die Ehre und das
Intereſſe des Landes in Frage waren, auf Seite der Regierung, die den Krieg be-
gonnen hatte. Selbit der eifrige Friedensapoftel W. Stend hat ſchließlich den
Kampf gegen den Srieg (war against war) aufgegeben.
Bei national jo geſchloſſenen Völkern, wie es die Franzoſen und Engländer
iind, wird die Friedensbewegung begreiflicherweije feinen großen Schaden thun.
In Deutichland haben wir aber wohl Anlaß, diefelbe mit Miftrauen zu be-
trachten, denn in der Friedensbewegung liegt, wie dies auch nicht anders fein
fann, ein internationaler, kosmopolitiſcher, die nationalen Intereſſen nicht
beachtender Zug. Derartige Ideen finden aber gerade in Deutichland leider viel
mehr Anerkennung und Boden als anderswo.
Dazu kommt noch, daß in den ‚sriedendvereinigungen immer wieder eine
ausgeſprochen deutjch-feindliche Richtung zu Tage tritt. Der Beweis dafür liegt
darin, daß auf den Friedenskongreſſen ſchon wiederholt die jog. elſaß-lothringiſche
frage im Sinne einer: Barteinahme für Frankreich beiprocdyen wurde, dat
während der Haager Konferenz die deutiche Regierung und ihre Bertreter Gegen:
ſtand der gehäffigiten Angriffe feitens der Friedensfreunde und Friedensfreun—
dinnen waren und daß in den meilten der Schriften, die der Friedensbewegung
gemwidinet find, Deutichland mit Mißgunſt behandelt wird. in Beilpiel aus der
neueften Seit bietet die Schrift des Rufen J. Novicom „Die Föderation
Europas“, in welcher auf mehr als 700 Seiten die befannten Redensarten der
Friedensfreunde wiederholt und breitgetreten find, allenthalben aber eine Ge—
bäffigkeit gegen Preußen bezw. Deutichland fich geltend macht, das als der
eigentliche Friedensſtörer ericheint und das namentlich) dem unglücklichen Frank:
veih Elſaß-Lothringen geraubt hat, wie es auch ſchuld daran war, daß Die
Daager Konferenz. den von den Friedensfreunden erwarteten Erfolg nicht hatte.
Dieje Gehäſſigkeit hat den „Deutichen" A. Fried nicht gehindert, die ruſſiſche
Schrift mit Behngen zu überfegen, wie es aud) diejenigen unter den deutjchen
Friedenäfreunden, denen nationales Bemußtjein und das Gefühl für nationale
Ehre als überwundener Standpunft gelten, nicht abhalten wird, die Schrift als
Karl von Stengel, Die Friedensbewegung und nattonale Geſinnung. 207
hochbedeutſame Leiftung zu begrüßen. Hat man doch auch nicht davon gehört,
daf die deutichen FFriedensfreunde gegen die Behandlung der elfaß-lothringifchen
frage auf den verjchiedenen Friedenskoöngreſſen jo energiſch proteftiert
haben, wie es ihre patriotifche Pflicht geweien wäre. Ebenſo find die
deutihen FFriedensfreunde den Angriffen auf die Daltung der
deutichen Regierung während der Haager Konferenz nicht bloß nicht ent:
gegengetreten, ſondern fie haben wader in diejelben mit eingeftimmt.
Gegenüber derartigen Ericheinungen kann man wohl jagen, daß Jich die
Friedensbewegung mit geſunder nationaler Gefinnung ſchwer verträgt. Diejenigen
Deutichen, die aus Idealismus geneigt wären, der Friedensbewegung fich anzu:
ichließen, mögen ſich daher wohl bedenken, ob fie eine Bewegung unterjtüten
wollen, die dem nationalen Anterejje nicht förderlich ift, denn das nationale
Intereſſe muß uns ftet3 und in allen Fragen in erſter Linie jtehen. Erſt wenn
diejes Intereſſe gewahrt ift, mögen wir uns Eosmopolitiichen Schwärmereien und
Träumereien hingeben.
BS
Abenditimmung im Berbit.
ühllt Du den Heimweh-Kaudı des Herbites nicht ?
Nicht, wie er alles keben leife löit?
.. Das Meiite ging Icon müd' zur großen Ruh’,
Und was nodı glänzt, das glänzt in leftem Licht.
In ruhigem Rot reift mein verfärbter Wald.
In Seinen Tiefen hängt das Sonnengold
Die le&ten zarten Sommerträume auf;
Wie Schleier Ichweben fie um jeden Baum.
Dod oben leuchtet ganz in Sold gemalt
Das leife Land — und jede Wolke Iteht
Wie eine eigne Farbenwunderwelt
In die durdilictt'ge leichte Luft gebaut.
Mein naher Berg fteigt in den Horizont,
Als wär’ er aller Erdenichwere los.
So löft ſch meine Seele audı vom kärm
Des lauten Lebens. Diele Ruhe wirkt.
Erlöit it Herz und hirn von jeder Halt.
Die Sehnlucht ſpannt die weiten Flügel aus
Und möcdte heim. Der Serbit hat heimweh -Hauch.
Karl Ernit Knodt.
Erinnerungen an Miguel.
Von
Freiherrn ©. von Zedlitz und Neukirch.
15 der Eonftituierende Neichstag des Norddeutichen Bundes tagte, war ich in
Berlin, um die Arbeiten für da8 große Verwaltungseramen zu machen
und zugleich meinen, bei Königgräg ſtark verwundeten rechten Arm einigermaßen
auszubeilen. Natürlih war ich öfter auf der Zuhörertribiine des Reichstages.
Bei meiner erften Anwejenheit hatte gerade ein nod im beiten Mannesalter
jtehender Hedner das Wort, deſſen patriotiicher Schwung und dialektiſche Schärfe
alsbald Herz und Beritand zugleich gefangen nahmen. Es war Johannes Miquel.
Ich babe feitdem innerhalb und außerhalb der Parlamente zahlreiche vortreffliche
Neden und Redner gehört, niemals aber davon einen fo tiefen und nachhaltigen
Eindrud erhalten, wie von jener Miquelſchen Rede.
Dem eriten deutjchen Reichötage gehörte ich zuiammen mit Miquel an. In
nähere Beziehungen bin ich zu ihm dadurd) getreten, daß ich in die Kommiſſion
zur Vorberatung des NReichseigentums-Gejeges gewählt wurde, welche unter
Miqueld Vorſitz tagte. Die Löſung der gejeßgeberiihen Aufgabe war an ſich
nicht leicht, weil es galt, einen jachgemäßen Ausgleich zwijchen den entgegen:
gejegten \interefjen des Reiches und der Bundesftaaten zu finden, fie wurde noch
erheblich erichiwert durd den unter Führung Eugen Richter? unternommenen
Berfuch, angefichts des großen Interefjes der Regierung an dem Zuftandefommen
des für fie nahezu unentbehrlichen Gejeßes zugleich die Enticheidung einer ganzen
Reihe damit nicht unmittelbar zufammenhängender etatsrechtlicher Streitfragen
im Sinne der Reichsſtagsmehrheit und gegen Bismard durdjzudrüden. Bei den
Verhandlungen hatte ich Gelegenheit, Miquels große Geichäftsgewandtheit und
taftiiche Meiſterſchaft, jowie die Klaftizität feines Geiftes kennen und jchäßen
zu lernen.
Aus den folgenden Fahren bis zu Miquels Eintritt in das Minifterium
find mir namentlich zwei Begegnungen mit Miquel in friiher Erinnerung. Die
erite fand gegen Ende des Jahres 1879 im Arbeitöminifterum statt. Die
Miniſter Maybach und Bitter hatten eine Eleinere Zahl einflußreicher national:
sreiberr O. von Zedlitz amd Nenkirch, Erinnsvungen an Mintel. 204
liberaler, konſervativer und freikonſervativer Abgeordneten eingeladen, um mit
ihnen die bei der Verſtaatlichung der preußiſchen Privatbahnen zu gewährenden
wirtichaftlichen und finanziellen Garantieen zu vereinbaren. Es galt eine Reihe
noch ziemlich unbejtimmter und unklarer Gedanken in unmittelbar brauchbare
gefeßgeberifche Münze umzuprägen und alle die verichiedenen beteiligten Köpfe
unter einen Hut zu bringen. Cine Hauptſchwierigkeit lag in der Perſon des
Ainanzminifters, der, ein trefflicher Mufiker und verdienter Beantter, doch gerade
für Finanzfragen fein” Berjtändnis hatte und, wenn endlich alles klar ſchien,
immer wieder mit Bedenken und Wünichen bervortrat, in welche die anderen
Teilnehmer der Beiprechung ſich ſchwer hineindenfen Eonnten. Miquel gebührt
in eriter Linie das VBerdienft, daß troß alledem in wenigen Abendjtunden die
Aufgabe gelölt und dev Bereinigung der meilten Bahnen Preußens in der Hand
des Staates zu einem einheitlichen Berfehrsunternehmen von gewaltiger Größe
und mußerordentlicher volkswirtjchaftlicher und finanzieller Leiftungsfäbigkeit der
Boden geebnet wurde. Gr überragte die andern auf Grund der hannoverfchen
Erfahrungen mit dem Staatsbahnſyſteme an Sächkenntnis und ficherer Er:
fenntnis deifen, was winjchenswert und ausführbar war. Bor allem aber trug
jeine Schnelligkeit der Auffafiung und des Entichluffes, jein Neichtum an Aus:
funftämitteln zur Heberwindung von Schwierigkeiten, jeine glänzende Dialektik,
durch welche Widerjprüche befeitigt oder beglichen wurden, ſowie nicht zum
mindejten die nur groß angelegten Naturen eigene, für den Staatsmann To body:
wichtige Fähigkeit, um großer Ziele willen in Nebenfragen einmal fünf gerade
jein lafjen zu £ünnen, zu dem Erfolge bei. Charakteriftiicd hierfür iſt es, daß,
als in letter Stunde die Forderung des Finanzminiſters, das derzeitige Defizit
von 2,2 Millionen Mark in der die finanziellen Garantieen betreffenden Reſolution
zu berüdfichtigen, das im übrigen fertige Werf in Frage zu ftellen drohte, Miquel
alsbald ſich trog ihrer augenfälligen Sinnlofigkeit mit der Aufnahme einer:
Klauſel in jene Reſolntion einverjtanden erklärte, wonach im Falle eines Defizits
vorweg 2,2 Millionen aus dem Eiſenbahnüberſchuſſe zu deſſen Bedeckung zur
Verfügung geftellt werden follten. Damit war das legte Hindernis befeitigt.
Jene Beſtimmung it denn auch als ein Merkzeichen der finanzminifteriellen
Weisheit jener Tage, fowie der von jeder pedantiſchen Nechthaberei freien, lediglich
das große Ziel im Auge behaltenden Sadbehandlung jeitens der führenden
Parlamentarier, namentlid Miquels, in das Eilenbahngarantie-Gejeß über:
gegangen, das befanntlich junft ſehr wejentlid; von den 1879 vereinbarten Grund-
lagen abweicht und entgegen den bei der Berftaatlidyung verfolgten Abfichten die
Staatsbahnen fehr zum Schaden des Verkehrs zu einer der wichtigften Finanz:
quellen gemacht hat.
Die zweite Begegnung fand bald nad Neujahr 1888 ftatt. Die Wellen,
welcye die Walderſee-Verſammlung in der öffentlichen Meinung hervorgerufen
14
210 Frelherr D. von Zedlitz und Neukirch, Erinnerungen an Miguel.
hatte, gingen noch hoch. Es galt zu verhüten, daß die Perion des Thronerben
in den Streit der Parteien gezerrt, daß aus diefem Streit ein Schatten auf
feine Gefinnung und Gefamtanfchauung fiele, welcher da3 Vertrauen weiter und
wichtiger Sreife der Bevölkerung ſchwächen könnte. Sailer Wilhelms Leben
neigte dem Ende zu, die Tage des Sronprinzen waren gezählt. In naher Zeit
hatte der damalige Prinz Wilhelm das Erbe des erften deutichen Kaiſers anzu-
treten. Es leuchtet ein, wie wichtig e8 war, daß unter den Nachwirkungen der
Walderfee-Berfammlung das Anjehen des künftigen Herrichers und das Vertrauen
zu ihm im Volke wicht litte. Wichtig war es unter diefem Geſichtspunkte auch,
daß der Weg gefunden wurde, die feit der Walderjee-VBerfammlung auf einen
toten Strang geratene Aktion zur Verbeſſerung der kirchlichen Berhältniffe von
Berlin, an deren Spite nun dod einmal Prinz Wilhelm ſich geftellt hatte, wieder
in Fluß zu bringen.
Patriotiihe Erwägungen diejer Art hatten Graf Douglas veranlaft,
einen ganz Eleinen Kreis ihm politiſch naheftehender Männer in jeiner in der
Boßftraße belegenen Wohnung zu dem Verſuche zu verfammeln, einen nad) allen
Seiten hin befriedigenden Ausweg aus der verfahrenen Sache zu fuhen. Das
Ziel war Elar, der richtige Weg zu deſſen Erreihung zu finden um fo fchwerer,
al3 das perjönlihe Moment dabei eine große Rolle fpielte.e Der ſchließlich ver:
einbarte Vorſchlag, dem Aufrufe zur Begründung des Kirchenbauvereind eine
Einleitung vorauszufchiden, durch welche deſſen gänzliche Freiheit von einfeitigen
kirchlichen oder politifchen Parteibeftrebungen völlig Elargeftellt wurde, und ihn
von einer Anzahl von Perfonen mitunterzeihnen zu laffen, deren Namen eine
Bürgichaft gegen das Hineintragen folder Beftrebungen böte, hat den gewünfchten
Erfolg gehabt. Miqueld ficherem Urteil über die perfünlicdhe Seite der Sadıe
und jeiner diplomatischen Gefchiklichfeit gebührt das Hauptverdienft, wenn er
aud; felbft auf Bennigfens Abraten feine Unterfchrift unter dem Aufrufe zurüd-
gezogen hat.
Mehr noch als der geichäftliche Teil des Abends, an dem dod) einige be-
ſonders bemerkenswerte Eigenschaften Miquels in fehr intereffanter Art hervor:
getreten waren, haftet in meiner Erinnerung das ihm folgende gefellige Zuſammen—
fein im engften Sreife, weil es Gelegenheit bot, ihn als Cauſeur erften Ranges
fennen zu lemen. Es war allerdings feine gewöhnliche Saloncauferie, bei der
Miquel zumeift die Koften der Unterhaltung trug, der Geſprächsſtoff war vielmehr
geihichtsphilofophifcher Art und die Unterhaltung berührte die tiefiten Probleme
der Geichichte des Menſchengeſchlechts. Ob man Miqueld ungewöhnlich ftarken
hiftorifchen Sinn oder den Reichtum feines Wiſſens mehr bewundern follte, blieb
zweifelhaft. Beſonders reizvoll aber war feine Art, feine ernften und in die
Tiefe gehenden Betrachtungen in die Form leichter und anfprechender Plauderei
zu Eleiden.
‚reiherr O. von Zedlitz und Neufirch, Erinnerungen an Miquel. 1
Ich habe jpäter, ala Miguel Minifter geworden war, öfter Gelegenheit
gehabt, ähnlich yenußreiche Stunden mit ihm im Zwiegeſpräch zu verleben, an
jenem Abend aber war es das erite Mal, daß ich Miquel von diejer Seite fennen
lernte und zwar in bejonders padender Weile, weil ev jehr angeregt war umd
eine noch reichere Fülle von Gedanken zu Tage förderte als jonft.
Nach 1890 habe ich naturgemäß jehr viel mehr perſönliche Berührungen mit
Miquel gehabt als früher, hatte ich doch jeinem großen Werfe, der Steuerreform,
jeit Jahren im Parlament und in der Preſſe vorgearbeitet und habe ich doc)
dann redlich an deſſen Durchführung mitgearbeite. So häufig, wie mir von
politifchen Gegnern nachgelagt wurde, habe ich allerdings im Finanzminifterium
nicht verkehrt. ch vermied es namentlid; während der Yandtagsfeilion dort vor-
zufprechen, um nicht in der Unbefangenheit meines Urteils beirrt und in der
vollen Freiheit der Aktion behindert zu werden. Immerhin habe ich eine ganze
Reihe von mehrftündigen Zwiegeiprächen zwiſchen Miquel und mir in guter Er:
innerung. Der Schauplat diefer Unterredungen wechlelte. Zumeiit fanden ſie
in Miquels Arbeitszimmer ftatt, gleichviel, ob ſie au ein Mittagefien fich an:
ichloffen oder in eine jpätere Abendftunde fielen. Am Sommer aber, wo Miquel
jeine dienftfreien Tagesjtunden in den nach dem Garten hinausgehenden Räumen
zu ebener Erde zu verleben pflegte, ſaß man nad Tiſch in der offenen Veranda
oder wandelte in den Gängen des nicht großen, aber an fchönen Bäumen und
Sierpflanzen reihen Gartend. Miguel intereſſierte ſich für die gärtmeriichen
Anlagen ebenfo, wie für die fünftleriiche Ausihmüdfung jeiner Wohnräume, beides
im Gegenfag zu Bismard, der nur den Wald liebte und in feinen Räumen ohne
jeglichen künſtleriſchen Schmud, ja ohne den zur Behaglichkeit notwendigften
Komfort haufte. In Miquels Arbeitszimmer bildete bezeichnendermweile das be-
deutendfte Schmudftüf eine überlebensgroße antike Büfte Eäfars, den er mit
Monmfen unter den Staatsmännern des alten Nom, vielleicht jelbit aller Zeiten
am höchften ftellte. Das Mittagsmahl, an dem hier und da einer der Söhne
des Haufes teilnahm, beftand aus wenigen, aber erlefenen Gängen, alle Spetjen
waren bejonders leicht. Miquel war bis vor wenigen Jahren nicht nur ein
Kenner, jondern auch ein Liebhaber eines guten Tropfens; aud als er in der
legten Zeit mehr auf Wafjer geſetzt war, gab es jtetö einen zweiten Wein von
beſonderer Güte,
Im Zimmer pflegte Miquel während der Unterhaltung auf und ab zu gehen
und die Eigarre nicht ausgehen zu lajien; für den Aufenthalt im Garten ftülpte
er einen Hut oder ein Käppchen von ehrivürdigem Alter auf. Der Gefprädhsitoff
wechielte natürlich. Aber wie immer, wenn Miguel fich ınit einem Manne unter-
bielt, dem er Wiſſen und Urteil genug zutrante, um mit ihm mit Nuten größere
Probleme zu diskutieren, wandte ſich vegelmäßig die Unterhaltung von den an
der TC herfläche liegenden Fragen dev Tagespofitif zu einer der großen Toztalen,
14*
212 Freiberr O. von Zedliß und Neukirch, Erimmerumgen an Mianel.
wirtſchaftlichen oder politiichen Aufgaben, die unserer Zeit, unjerem Staate und
Volke geitellt find. Ebenſo ftreifte Miquel in ſolchen Momenten all die Schladen,
welche ihm aus der politiichen Tagesarbeit, von der man ja jagt, daß fie dei
Charakter verdirbt, anhaftete, ab, jein Geift war allein von dem Beitreben be:
berrfcht, das Problem, das ihn gerade beichäftigte, in jachlicher Wahrhaftigkeit
zu ergründen, zu vertiefen und jo ganz Herr desfelben zu werden. Dabei ent-
widelte Miquel nicht nur ein ſtaunenswertes Maß von Willen und Belejenheit
aus früherer Zeit ber, er-ließ auch erkennen, daß er in einem Alter, in welchem
ſonſt die vezeptive Thätigfeit mehr zurüdtritt und man von den Studien früherer
Zeit zu zehren pflegt, wie im allgemeinen theoretifch fortarbeitete, fo jede der
Ichwebenden großen Fragen wiflenichaftlich durcharbeitete. Wie er e8 auch nur
zeitlich möglich machte, neben den Dienft: und Repräfentationspflichten feines
Amtes all das zu lefen, was er ftudiert hatte, tft zu verwundern Mehr nod),
wie er all diejen gewaltigen Stoff, auch bei der größten Konzentration der Kraft,
ſich geiftig eigen machen Eonnte. Am meijten aber, daß der Feuergeiſt die ſchon
jeit Jahren mehr und mehr fchwindende Körperkraft zu erſetzen umd den Körper
bis zur gänzlichen Erfchöpfung in feinen Dienft zu zwingen wußte. Rechnet man
die Kunſt Hinzu, die ſchwierigſten Fragen ohne pedantiiche Langweiligkeit in den
gefälligen Formen gefelliger Unterhaltung zu behandeln, jo gewinnt man ein
Bild dejjen, was Geſpräche diefer Art mit Miquel an augenblidlihem Genuß
und an dauernder Frucht brachten,
In den legten Jahren, jeit die großen Aufgaben, welche Miguel ſich als
Finanzminiſter gejtellt hatte, die Steuerreform und die Sicherung der preußiichen
Finanzen in ſich und aus fich, im weſentlichen zum Abſchluß gebracht waren,
befchäftigte Meiquel vornehmlich) das Problem der wirtfchaftlihen Hebung der
preußifchen Oftprovinzen, auf das ich etwas näher eingehen möchte, weil dejien
Behandlung für Miquels Eigenart und feine Gejamtauffafjung auf. der letten
und höchſten Stufe feines ftaatSmännifchen Entwidlungsganges jehr bezeichnend
und demzufolge für feine Beurteilung von Wert ift.
Den Ausgangspunkt bildete für Miguel die außerordentlihe Verſchiedenheit
der Berhältniffe in den Dftprovinzen Preußens und den ihm aus feiner Wirf-
jamfeit in Hannover und Frankfurt aus eigener Anſchauung befannten Verhält-
niffen der weftlichen Dälfte der Monarchie. Zunähft war dem genauen Kenner
der wirtichaftlihen und jozialen Entwidlung des flachen Landes, namentlich der
Bauerſchaften feiner engeren Heimat, die völlig abweichende Struktur der länd—
lichen Bevölkerung der erſt dem Deutjchtum erworbenen Teile Preußens aufge:
fallen. Er jtudierte und fand die Urſache diefes tiefgehenden Unterſchiedes in der
Srundverjchiedenheit des Fundamentes für die joziale und wirtichaftlihe Ent:
wielung des flachen Yandes, |
In den altdeutichen Landesteilen ift die Bauergemeinde das Urſprüngliche;
Freiherr O. von Zedlig und Neukirch, Erinnerungen an Miguel. 213
auch die Gutsherrſchaften haben ſich erſt aus ihr heraus entwickelt. Umgekehrt
iſt zumeiſt in dem mit dem Ritterſchwert eroberten Oſten die Gutsherrſchaft die
Urform des ländlichen Beſitzes, die Bauerſchaften aber ſind überwiegend auf
Gutsland erſt angeſiedelt. Dieſer hiſtoriſche Vorgang rückt die innere Koloniſation,
welche ſich in der Hauptſache ja auf die öſtlichen Provinzen bezieht, erſt ins rechte
Licht, es Handelt ſich dabei um das planmäßige Fortſchreiten auf dem Wege, auf
dem bisher ſchon die meiften freien Bauerjhaften des Oſtens entitanden find.
Dabei kann es angefichts der hiftoriichen und Eulturellen Bedeutung des Groß—
grundbeſitzes in diejen Landesteilen nicht die Aufgabe des Staates fein, hier eine
vollftändige Ummälzung der Verteilung des ländlichen Grundbeſitzes nad) dem
Vorbilde derjenigen in den altdeutichen Zandesteilen herbeizuführen, wohl aber
konmit es darauf an, in den Yandesteilen mit überiviegenden Großgrundbefige
„die ſchwächeren Glieder derjelben durch lebensfräftigere Bauerjchaften zu erjeßen
und jo zugleich auf eine beſſere Verteilung des Grundbefiges, auf eine Gejundung
der wirtjchaftlichen Berhältniffe und zwar auch des Großgrundbefites, ſowie auf
eine Hemmung de3 Zuges nad) dem Weiten hinzurirfen.
Auf Erwägungen diefer Art gründet ſich das praftifche Imtereffe, das Miquel
an der Befiedelung im Großbetriebe unrentabler Ratifundien in den Oftprovinzen
mit mittleren und kleineren landwirtichaftlichen Betrieben nahm. Bon der Ein-
führung des Nentenguts und des Anitedelungsgedanfens in das von Bismard
anders geplante Polenausfaufsgefeg iſt er auf diefer Bahn ſchrittweiſe bis zur
Indienſtſtellung der Organe und des Kredits des Staates für Rentengutsbildungen
und zur Bereitftellung des größten Teild des Reſervefonds der Rentenbanten
zur Gewährung von Zwifchentredit bei Nentengutsbildungen fortgeichritten. Nur
dazu, den Staat, abgefehen von feinen Domanialbefit und der Thätigfeit der
Anfiedelungstommilfion für Poſen und Weftpreußen, felbit als Kolonifater auf:
treten zu laſſen, war er bis zu allerlett nicht zu bewegen. Er jcheute eine ſtarke
Erweiterung des Rahmens der ſtaatlichen Thätigkeit und die damit notivendig
verbundene Gentralifation jowie die Uebernahme der VBerantivortung für eine
gefunde Verteilung des ländlichen Grundbefites durch den Staat. Dem Hinweis
auf die Kolonifationen Friedrichs des Großen, auf welche er ſich ſonſt fo gern
für die Behandlung der Oftprovinzen bezog, begegnete er mit der Ausführung,
dat in der Zeit des aufgeklärten Abſolutismus bei dem Mangel fchaffender Kraft
der Bevölferung ſelbſt ein folches Vorgehen der Staatögewalt notwendig und
daher richtig geweien jei, in umferer Zeit kräftiger Entwidlung der Selbitthätig-
feit der Bevölkerung der Staat dagegen auf deren Eräftige Förderung und Unter—
ſtützung fi zu bejchränten habe. Erſt im letten Frühjahre hat Miquel fich
unter dem Eindrucke des Nüdganges der Bevölkerung Oftpreußens in dem letzten
Jahrfünft, in dem die Bevölkerung im Staatsganzen in überdurchichnittlichem
Maße und in den Großjtädten und Anduftriezentren geradezu übermäßig wuchs,
744 Freiherr ©. von Zedlitz und Neufirch, Erinnerungen an Miquel.
mit einem in engen Grenzen gehaltenen Berjuche direkter Koloniſation von Staats
wegen befreundet.
Aber e3 konnte einem Manne von Miquels Scharfblid auch nicht entgehen,
daß mit der inneren Kolontiation nur eine Seite eines weit allgemeineren Pro:
blems getroffen würde. Wo immer allgemeine Kulturfortichritte in Frage kamen,
mußte er wahrnehmen, daß Maßnahmen, welche in den wejtlichen und mittleren
Provinzen Preußens nicht den mindeften Schwierigkeiten begegneten, ſich für den
ganzen Umfang der Monardjie als unausführbar erwielen, weil den Oſtmarken
die erforderliche Leiitungsfähigkeit fehlt. Mag es ſich um die normale Auöge-
italtung der Volksſchule, um Gejundheitspflege vder um die Wohnungsfrage
handeln, überall jcheitert der eritrebenswerte und anderwärts erreichbare Fort-
ichritt an der unzureichenden wirtſchaftlichen Kraft jener Landesteile. Die Kultur:
pflege des Staates kann ſich nicht auf der dev Entwidlung der mittleren und
weitlichen Provinzen entiprechenden Höhe bewegen, jondern muß fich in den be-*
icheidenen Bahnen halten, auf denen die Oftprovinzen noch folgen können. Das
ift ein Zuftand, der für einen Staat von dem hiftorifchen Berufe und der Stel-
lung Preußens als Vormacht des Heiches, der notwendig an der Spite der
Kulturjtaaten jtehen muß, auf die Dauer unhaltbar ericheint.
Aber auch unter dem Gejichtspunfte, daß troß der Anpajjung der jtaatlichen
Wohlfahrtspflege an die ungünftigen wirtichaftlihen Verhältniſſe des Dftens,
defien Abitand von dem Kulturniveau der übrigen Landesteile infolge der weit
reicheren Kulturarbeit der Kommunen, Körperſchaften und Privatperjonen in
diejen fich jtetig vergrößert und demzufolge, wenn nicht Abhilfe eintritt, in näherer
oder fernerer Zeit died für eine erjprießliche einheitliche jtaatliche Zuſammen—
faffung ımerläßliche Maß von Gleichheit der Verhältniſſe ganz verloren zu gehen
droht. Abhilfe aber kann naturgemäß nicht durch Senkung des Kulturniveaus
der vorgeichrittenen, jondern nur Hebung derjenigen der zurüdgebliebenen Landes
teile herbeigeführt werden. Die Urſache dieſes Zurüdbleibens liegt teild in dem
ungünftigeren Klima und dem Mangel an Kohlen und anderen unterirdifchen
Schätzen, teild aber aud darin, daß die altdeutichen Teile Preußens einige Jahr:
hunderte Kulturarbeit vor den erſt mit dem Schwert ber deutichen Kultur er-
ſchloſſenen Landesteilen voraus haben. Inter diefen Eranfen die halbpolniſchen
Provinzen überdies noch an dem Nationalitätenhader. Dem Staate erwächſt
aus diefer Yage der Dinge die unabweisbare Aufgabe, feine Fürſorge weientlic
der Hebung der Oftprovinzen zuzumenden und auf die Erreichung dieſes großen
Zieles feine ganze Kraft zu konzentrieren, wie dies Tyriedrich der Große in der
Zeit nach dem Dubertusburger Frieden jo planmäßig, energijth und erfolgreid)
getban hat. Auf dieje Kulturarbeit des großen Königs und ihre Erfolge lenkte
Miquel mit Vorliebe das Geipräh; er jchilderte dann mit reicher Sachkenntnis
in der anichaulichiten Weile die Fraftuolle und jegensreiche Thätigkeit, welche
Freiherr O. von Zedlig und Neukirch, Erinnerungen an Miquel. 215
König Friedrich, abgejehen von der Befiedelung der entvölferten Landftriche, auf
dem Gebiete der Landeskultur, der Berbejjerung des Verkehrsweſens und der
Entwicklung von Handel und Gemerbe entfaltet hat, und pries dabei deſſen
weitfichtige und energifche Finanzpolitik, welche ihn in ftand jette, ohne Ge-
fährdung des Gleichgewichts im Staatshaushalt und ohne Bernadhläffigung der
Srundlagen der Sicherheit. und Machtitellung Preußens für jene Zeit und das
arme Land überaus reiche Mittel auf die Hebung jeiner Dftprovinzen zu
verwenden.
Nachdem die grogen und dringlichen Aufgaben, welche im vorigen Jahr—
hundert den preußilhen Staat an der Fortjeßung der Oftmarkenpolitif des
großen Königs gehindert hatten, alfo vornehmlich; der Neuaufbau des Staates
und feiner Finanzen nach dem Befreiungskriege und die Herftellung der deutjchen
Einheit, erledigt waren und die finanzielle Leiſtungsfähigkeit des preußijchen
Staated wieder auf die Höhe derjenigen der friderizianischen Zeit gehoben mar,
hielt Miquel es für angängig und demzufolge für geboten, ohne Verzug mit
voller Kraft die Kulturarbeiten in den Oftprovinzen nad) dem Vorbilde Friedrichs
des Großen wieder aufzunehmen. Allerdings mit zwei wejentlichen Abweichungen.
Wenn neben der inneren Kolonilation wie damald Hebung der Landeskultur und
de3 Verkehrs, Entwidlung von Handel und Induſtrie das Biel jein muß, Jo
kann dasjelbe doch nicht durch unmittelbar fchöpferiiche Thätigkeit des Staates
jelbit, jondern nur durch Entwidlung der eigenen wirtichaftlichen und fchaffenden
Kraft der Bevölkerung unter dem Schuge und mit kräftiger Hilfe des Staates
erreicht werden. Sodann ift bei der überwiegenden Bedeutung der Yandiwirt-
Ihaft für das Erwerböleben der betreffenden Yandesteile die Fürſorge für deren
Erhaltung und gedeihlihe Entwidlung im allgemeinen in das Programm aufzu-
nehmen. In der Hebung und Stärkung der eigenen mwirtichaftlichen und mora-
(ichen Kräfte der Deutjchen in den Oftmarfen fah Miquel zugleich ein ungleich
wirkſameres Schutmittel gegen den Polonismus als in polizeilihen Maß—
nahmen.
Miquel jelbft hatte feinen Zweifel darüber, daß es ih um eine jtetige
Kulturarbeit von Menjchenaltern handeln werde, aber er würde ſich durd die
Ausficht, die Früchte feiner Arbeit nicht ernten zu können, ficher nicht haben ab-
ſchrecken laſſen, jondern mit derjelben Kraft und derjelben Entjchlofjenheit, ganze
Arbeit zu machen wie bei der Steuerreform und der Sicherung der Staats—
finanzen, and Werf gegangen fein, wenn nicht Alter und Ueberanſtrengung jeine
Kräfte und namentlich feine Entſchlußfähigkeit mehr und mehr geſchwächt hätten.
Der Vaterlandsfreund muß es tief beflagen, daß es ihm nicht vergönnt war, in
der Zeit der Vollfraft an die Löjung der großen Aufgabe, welche ihn während
der legten Jahre feines Lebens jo lebhaft beſchäftigte, heranzugehen.
Borjtehende kurze Skizze läßt einen der wichtigften Leitſätze Miquelicher
216 Freiherr O. von Zedlitz und Neukirch, Erinnerungen an Miguel
Staatsweisheit erkennen. Bon der Auffaffung, daß es eine der vornehmſten
Aufgaben des Staates ift, alle feine Glieder auf gleicher wirtfchaftlicher und
fultureller Höhe zu erhalten und zu diefem Ende diejenigen unter ihnen, welche
aus eigener Kraft der fortichreitenden Entwidlung des Ganzen nicht zu folgen
vermögen, durch vorzugsweiſe Förderung und Unterftügung zu ftärfen und zu
heben, ift u. a. auch feine Mittelitandspolitif getragen,
Zugleich wird man aus der Skizze erfehen können, wie jehr die landläufige
Auffaſſung, daß Miquels Fiskalität Selbitzwed gewejen fei und fi) auf Koften
der Sulturaufgaben des Staates geltend gemacht habe, den wirklichen Sad):
verhalt karikiert. Wie Friedrich dev Große, der gleichfall3 dem Vorwurfe über:
mäßiger Fisfalität ausgefeßt war, Jah Miguel gute Finanzen als die unerläßliche
Borausfeßung für die befriedigende Löſung der Kulturaufgaben des Staats an,
und wenn er unabläſſig und ohne Scheu vor Unpopularität bemüht war, die
Staatäfinanzen zu beſſern, fo geichah dies vornehmlich zu dem Zwecke, um
Preußen in den Stand zu ſetzen, feine Rolle als führender Kulturftaat im
Deutichen Reihe voll durchzuführen. Die Finanzkunſt Miquels ſtand ftets im
Dienfte feiner Staatskunft; König und Volk werden ernten, was Miquel vor
forglich gefät hat.
Derbitklang.
ER uisiende Blätter
Um meinen Gang,
Pofthorngeicdımetter
Fern, abidiiedsbang,
Flüchten und Sorgen
Weit durdı die Welt — .
Wohl, wer geborgen
Sein kiebites hält!
Fulius kohmeyer
%
TLHTRTNHTNTHTNTNTNTNTN II EIN
Das Meer im keben der Völker und In der Machtitellung der Staaten.
Don
Alfred Kirchhoff.
I von ungefähr durchweht jüngit ein mariner Odem unſer Deutiches Neich
bis hin zu den Alpenhöhen. Nie vordem haben die Dentichen fo wie heute
durch alle Schichten der Bevölkerung, durch alle Gare in Nord und Süd jolchen
Anteil am Scewejen genöommen wie heute. Selbit unſere Binnenlanditänmme,
die niemals von ihrer Deimatichulle aus das ewig beivegte Spiel dev Meeres—
wogen fchauen, niemals das Dröhnen der Brandung vernehmen, ſelbſt ſie haben
wie über Nacht Anterefje für das Meer, Berftändnis für Flotte und Seehandel
gewonnen. Was mit all ihren Nuhmesthaten die Danfa nicht erzielte, das er:
reichte alfo in der kurzen Friſt dreier Jahrzehnte das neue Neich, die ſchwarz—
weißrote Flagge.
Veriuchen wir uns darüber Kar zu werden, daß in diefer plößlich unter
uns Deutschen jo allgemein gewordenen Neigung für Ozeanifches duch wahrlich
etwas Tieferes verborgen liegt als eine bloße Tagesmode, wie etwa in der
Matrofentracht, in die man jegt auch in Süddeutſchland gern die Buben, wohl
gar die Mädchen ftekt. Diele Trachten werden ſich wie andere wandeln; aber
find fie nicht in ihrem uniformen Marineblau ein vecht offenfichtiges Zeichen auf
unferen deutichen Straßen und Plätzen, bei jedem frohen Kinderfeft, wie populär
jene Vorliebe für das Meer auf einmal bei uns geworden it?
Jedoch gar nichts Modernes, etwas Wraltes vielmehr ift die Bermählung
des Menjchengeichlechts mit dem Weltmeer! Die Geichichte, die wir doc) jetzt
auf weit über ſechs Jahrtaufende zurück zu verfolgen im ftande find, weiß gar
nichts zu melden davon, wie und wann diefer merkfwürdige Bund einft ge—
ichloffen wide. Lange alio vor dem erjten Tagesgrauen dev Geichichte, lange
vor jeder Aufzeichnung geichichtlicher Erinnerung bat der Menic bereits den
tolgenreihen Schritt gewagt, jich dem Weltmeer anzuvertranen, wenn er auch
gewiß noch lange blog Küftenfahrer blieb. Geht die Erfindung mariner Fahr:
zeuge wohl auch nicht auf die Urzeit der eriten Feuerzündung durch Menjchen:
hand zurück, fo liegt fie doch ſicher in vorgefchichtlicher Zeitferne und mag mehr:
218 Alfred Kirchhoff. Dat Meer ım Leben der Völler.
fach an weit. dort‘ einander entlegenen Geſtaden den verfchiebenen‘ Menſchen⸗
ſtämmen geglückt fein, in Aſien, Europa, Amerika, als ſich Oſt- und Weſtfeſte
noch gar nicht kannten.
Die Urmenſchen waren wahrſcheinlich Früchte verzehrende Waldbewohner.
Wann im Verlauf der wohl mehr als 100000 Jahre meſſenden Entwickelungs—
zeit des Menſchen der Zeitpunkt eintrat, in dem er zuerjt der See anjichtig
wurde, bleibt uns natürlich für immer verborgen. Nur das dürfen wir be-
haupten: unſer Gejchleht kann ſich unmöglid aufs Meer bingezogen gefühlt
haben, ala es dasſelbe etwa vom Waldesfjaum zum erjtenmal erblidte.
Keinerlei Fruchtſpende lodte dahin, und jelbit um einen nur ſchmalen Sund zu
überfegen, der vielleiht von einer mit Waldesgrün winkenden Nahbäarküfte
trennte, fehlte da8 Boot, mangelte die Schwimmfähigkeit. Mithin muß es irgend
ein Zwang, irgend ein Notgebot gewejen fein, was den Menjchen antrieb, die
Scheu vor der gefahrvollen Salzflut zu überwinden, oder es könnte auch der
Zufall es gefügt haben, daß vom Ufer eines durch tropische Regen angejchwollenen,
übertretenden Stromes geringzählige Menfchenhorden jamt einem Stüd Wurzel:
boden ihres heimischen Waldes ftromabmwärts geriffen wurden und auf ihrer
ſchwimmenden Inſel in die See, ichlieglih an fremdes Gejtade gelangten. Die
ohne ihren Wurzelboden ins Waffer eines Fluſſes, eines PBinnenjees nieder:
gejunfenen Baumftämme jind wohl ohne Zweifel die früheften Vehikel für die
Fortbewegung des Menjchen auf den Binnengemwäfjern gewejen. E3 war nur
ein furzer Schritt, der vom durch die Natur dargebotenen Schwimmbaum zum
fünftlih ausgehöhlten Bootsbaum, zu dem noch weit und breit durch alle Erd—
teile (mit Ausnahme des flußarmen Auftraliens) benugten „Einbaum“ führte,
und wiederum nur ein Schritt, ſolche Flußboote, jeitdem man fie zu rudern ge:
lernt hatte, über die Strommiündung binaus zur Fahrt aufs Meer zu benugen.
An den Meeresgeitade haujende Stämme fonnten, als unſer Geſchlecht
(wohl bereits frühzeitig) fih an gemijchte Koſt gewöhnte, leicht die Scheu vor
dem Ozean überwinden, wenn ſie den eßbaren Seetieren, wie Filhen, Mujcheln,
Krebien, nachitellten, wozu fich beionders an ſeichten Stranditellen, die zur Ebbe-
zeit vom Meerwaſſer ganz oder teilmeile verlajlen wurden, Gelegenheit bot.
Was für gewaltige Aufternmafjen vorgefchichtlihe Strandvölfer der heutigen
dänischen Inſeln verzehrt haben, das lehren ja die an den dortigen Küften zu
ganzen Wällen aufgehäuften Aufternichalen der „Küchenabwürfe"‘. Der nagende
Hunger neben der Neugierde, die nach neuen Nabrungsquellen haſcht, mochte an
der einen Stelle einen Menichenitamm auf die See treiben, anderwärts ſcheuchte
vielleiht ein überlegener feindliher Angriff von der Landjeite einen der Boot-
fahrt nicht ganz unfundigen Stamm nad einer rettenden Gegenfüfte, die Den
Bedrängern ohne Flöße oder Einbäume unerreihbar bleiben mußte. So wird
bitterevr Zwang und Zufall die Doppelbrüde geichlagen haben, auf der der
Alfred Kirchhoff, Das Meer im Leben der Voller. 49
Menſch, diejer vorher ausfchließliche Landbervohner, zu einem anıphibiichen Weſen
fih entfaltete. u
Was den Vorfahren nur Zufoft geweſen, wurde bald Hauptfoft; fifcheijende
Bölker, die nach ihrer Fiſchnahrung bei den Griechen geradezu den Namen
Ichthyophagen) trugen, Eennen wir jchon aus grauem Altertum; die Bewohner
der Sübjeeinjeln, die Indianer der Fjordenregion des pazifiichen Nordweſtens
von Amerika wie die Feuerländer dürften wir noch heute zu den Ichthyophagen
rechnen. Was aber den mannigfaltigen Reiz betrifft, den von fernher lockende
Gegenküſten feitländiicher oder injularer Art ausübten, nicht bloß dort Zuflucht
im Kriegsfall zu juchen, jondern dortige Naturichäße auszubeuten, mit den An-
wohnern Handel zu treiben, zulett jelbit dort jich anzufiedeln, jo ift es gerade
diefer Anreiz gewejen, der ganzen Küſtenvölkern den Trieb zur Seebethätigung
einflößte, fie zu Sciffervölfern made.
Es kann gewiß feinen deutlicheren Beweis für die großartige, geradezu
weltgeichichtliche Bedeutung dieſes Rodrufs der Küftengliederung, der Auflöfung
von Landmaſſen in Halbinjeln und Inſeln geben als die geographiiche Verteilung
ber GSeetüchtigfeit. Die gliederärmften Erdteile, Afrita und Auftralien, haben
die eingeborene Menjchheit niemals feegewaltig werden lafjen; ja der Auftral-
ſchwarze kannte weder Boot noch Floß. In Amerika läßt fi) von der Land—
karte die urſprüngliche Berbreitung jeefundiger Völker ablejen: jie bewohnten die
fjordenzerichnittenen Küftenländer und die Archipele; die Arowaken Weftindieng,
die friedfertigen Maisbauer -auf der weſtindiſchen Inſelflur, lehren uns zwar,
daß der Menich auch auf Anjeln keineswegs den Mut zur Seefahrt wie mit der
Seeluft einatmen muß, dafür fielen fie aber auch den eroberumgaluftigen
Karaiben zur Beute, deren Scifferkunft jich genau da entiwidelt hatte, wo die
Antillen mit Trinidad das jüdamerifanische Feitland fait berühren; und wer
fennte nicht die unvergleichlichen Meifter im Kajaf, die Eskimos, auf dem großen
arktiihen Archipel der neuen Welt, deren Eriftenz geradezu an der Befahrung
der See haftet, meil ihnen allein der Seehundsfang das Leben zur Genüge friftet!
In Aſien gewahren wir abermals auf der geräumigen Inſelgruppe im Südoften,
dev malaiiſchen, die Heimitätte eines f£unftreihen Bootbaues (der jchmalen
„Prauen” mit Mattenjegeln und Auslegern), den Ausgangsort der größten
ozeaniſchen Kolonijation, die die Geſchichte kennt, der polynefischen.
Die Nautit Europas bat naturgemäß immer zwei getrennte Schaupläße
beſeſſen: den mittelmeeriichen im Süden, den atlantiichen im Weften. Auf jenem
wurden die Phönizier erſt Fiſcher und Taucher nach Burpurichneden am Syrer:
itrand, dann Süftenfahrer, Händler, Kolonifatoren, die Lehrer der Hellenen,
zumal der Jonier, die am thatkräftigiten die geograpbiichen Antriebe der ägäiſchen
Beftade zum Seeweſen ausnutzten. Auf der atlantifchen Seite erblühte im
härteren Kampf gegen ozeaniiche Gemalten, gegen Sturmmetter, wie ed das
220 Alfred Kirchhoff, Das Meer im Yeben der Völler.
Mittelmeer in folcher Furchtbarkeit nicht erfährt, das Seemannshandwerk zuerit
an dev Zadenfüjte der Bretagne und Norwegens zu achtungswerter Leiſtung
die Normannen führten ihre Piraten: und Groberungsziige bis in den Tonnigen
Süden, wo fie ſich auf dem Boden der Geresinfel mit den Sarazenen trafen,
jie wurden auf ihren geteerten Ruderfähnen, den „Seerappen‘‘, die beherzten
Entdeder Islands, Grönlands, des Ojftens des benachbarten nordamerifanijchen
Feſtlands. Erit jedoch nachdem Kolumbus die transatlantiihe Welt in den
reiheren Tropen enticjleiert hatte und danach ganz Amerika ſich den eritaunten
Biden Europas erichloß, regte füh in England und Deutichland die Begierde,
die geographifche Gunst der Lage wie dev Hafengüte zu ozeaniſchen Großthaten
auszukaufen, und ſo erſtanden zulegt unter dem fürdernden, Einfluß ftantlichen
Aufſchwungs die beiden maritimen Großmächte Europas. J
Im erfolgreichen Ringen mit der Gegnerſchaft aus Südweſten, von Amerika
daherziehender Meeresſtrömung, hauptfächlich gleichfalls aus Südweſt wehender
Winde war der Triumph der Neuzeit erzielt worden, gleihlam gegen den Willen
der Natur die verfehrsreichite jener überfeeifchen Brüden zu jchlagen, die erit
aus den zertrennten Grdfeiten ein Ganzes zulammenichmiedeten: diejenige
zwiihen Europa und der neuen Welt.
Ungleich früher dagegen, ſchon ſeit Menjchengedenfen war ein transozeaniicher
Seeverkehr in wirfungsvollem Gang, der etwas mit dem rhythmiſchen Pendel-
ſchlag gemein hat, nämlich dev über das indiſche Weltmeer. Dort, wo der
Wintermonſun die Segel mit Nordoftluft bläht, daß die Schiffe wie von ſelbſt
von Indien und von jidoftarabiichen Geftaden nach dem tropiichen Oftafrifa
treiben, und fodann im jummerlichen Dalbjahr die Segler mit dem entgegen:
gejegten Monfun wieder jo bequem die Rüdfahrt zu vollführen vermögen, iſt
ein natürliches Einungsband geſchloſſen zwiſchen Aſien und Afrika, das ſich in
uralten Warenaustaufch und daraus folgenden Kulturſymptomen ausſpricht.
Das menihemvimmelnde WBorderindien holte fich ſeit alters fein Elfenbein für
zahllojes Schmuckgerät aus den Wäldern und Savannen Afrifas, arabiſche Sflaven-
fänger drangen von der Hüfte gegenüber von Sanfibar bis zu den großen inner:
afrifaniihen Seen vor, bis wohin fie nebenbei indiichen Neisbau einführten;
auf den nämlichen Straßen bewegte ſich der vftafrifanische Handel jchon im
Altertum, denn diefer offenbar war es, der dem großen Btolemäos in Nlerandrien
eine genauere Kenntnis der Nilquellfeen vermittelte, als wir fie noch vor einem
Menjchenalter befaßen; von der Omanküſte aus ward fogar das Reich des
Herrſchers von Maskat bis an das oftafrifanische Geftade erweitert, ſodaß ein
wahrer „Monſunſtaat“ entitand rittlings Über dem Nordweitteil des indilchen
Ozeans; und nod) zur Stunde jigen indiſche Großkaufleute, arabijche lem:
händler an der Küſte Deutich-Ditafrifas.
So innig veritridt die Seefahrt weit entlegene Lande! Und wie deutlich
Alfred Kirchhoff, Das Meer. im Veben der Wölter. 221
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zeigt Jich jene wiederum abhängig von der Ländernatur, jchon in dev Wahl des
Materials für die Schiffe! Die Eingeborenen der Südſeeinſeln ſowie Alt—
Amerikas ermangelten gänzlic, des Eifens, folglich benugten fie feinen einzigen
Gifennagel zur Bootzimmerung. Die Südfeeinfulaner verwendeten jelbftver-
jtändlich nie Taue aus Peinen- oder Hanffafer; mit Kokosftriden banden fie ihre
Schiffsplanken zufammen, aus ihnen beftand ihre Tafelage, ihre Segel waren
aus Blattjtreifen geflochtene Matten. Leinwandjegel machen die nautifche
Signatur der Oſtfeſte aus, unter Baunmollfegeln fuhren die Karaiben, unter
Vederjegeln die xinderweidenden keltiſchen Beneter der Bretagne, die bereits vor
Jahrtauſenden folide Eiſenanker jich anfertigten.. Das auch auf unferen deutjchen
Werften für den Shiffsbau jo geichäßte Teakholz Indiens hat weſentlich mit
dazu beigetragen, die Engländer nad) Hinterindien lüftern zu machen.
Die höher umd höher gejteigerte Technik des Baues ſowie der Führung
mariner Fahrzeuge hat immer eine kräftige Anregung für technifche und. wiſſen—
ichaftliche Fortichritte verfchiedenfter Art geboten. Das wirkte befruchtend ſelbſt
anf rein theoretiiche Wiffensgebiete, Woher wären die Geldmittel zu beichaffen
geweſen, um die milliardenbaften Beobachtungen über den ganzen Erdball aus-
zubreiten, die erfordert wurden zum Musbau der Lehre vom Erdmagnetismus,
wenn nicht die Italiener des Mittelalters aus der Hand der Araber die chineſiſche
Entdeckung der Richtkraft eines jchwebenden Magnetitabes zur Einhaltung feiner
ganz beitimmten Winkellage zum Ortsimeridian empfangen und weiter vervoll-
fommnet hätten zur Derftellung dev Schiffsbufjole? Wie lehrreih für die Ein-
jicht viel fchnellerer Uebertragung von Gedanken durch See- als. durch Yandver:
kehr ijt Schon jene bligartig vor jich gehende Mitteilung dex Srundfraft, die wir
in der Magnetnadel ftaunend belaufen, von China nad) Portugal! Und wie
lehrreicd; dann wieder die Verwertung der Scifferbeobadhtungen. iiber Recht- und
Mikweifung der wunderbaren Stahlnadel von Ort zu Ort für den Entwurf erd-
magnetifcher Karten, die anjcheinend nur den Phyſiker oder den Geographen
angehen und doch zugleich To ımentbehrlich find für den Seemann, weil diejer
nur auf folcher Grundlage fein Schiff bei Nebel oder dichter Wolfenverfchleierung
des Himmels richtig zu ſteuern weiß. Vollends die unſterbliche That des
19, Jahrhunderts, die Dampfmalchine in den Dienſt der Schiffahrt zu ftellen,
um ſelbſt gegen Wind und Strömung, ja auch bei voller Windftille (mie in der
Glut des Roten Meeres, wo die Ruderknechte an Bord der Opbirfahrer entjeß-
lich ſich müſſen geplagt haben) das Fahrzeug möglichft geradlinig den Kurs be-
wahren.zu laffen, — fie hat das Wiffen und Können der Menjchheit mit dem
Stachel des Erwerbötriebes mächtig voran gebradjt. Wie viel Ueberlegung und
Kunſt fordert ſchon der Bau eines großen Segelichiffes, mie viel mehr aber der
unjerer U zcandampfer, die ob ihrer fo viel größeren Leiftungsfübigkeit die Segler
mehr und mehr verdrängen, und wie gewaltige Berdienftfiimmen wirft Tolcher
222 Alfred Kirchhoff, Das Meer im Leben der NRölter,
Schiffsbau ab für den Handel, für die Anduitrie, für die Arbeiterwelt! Bertritt
doch allein die deutiche Handelsflotte einen Geldwert von mehr denn 500 Milliv-
nen Marf, und in diefer Summe ſteckt ganz überwiegend der für die Bauarbeiter
gezahlte Lohn. Auf den Werften unferer failerlihen Marine werden den Werft:
arbeitern im Jahresdurchſchnitt rund 13 Millionen Mark ausgezahlt, ſodaß der
mittlere Jahreslohn eines jeden fich auf 1170 Mark beläuft.
So hoch fi aber auch die Summen des Berdienites beim Schiffäbau,
dazu diejenige der wader verdienten Löhne der Sciffsbemannung und Schiffs:
führer auf Erden belaufen mögen, ungleid) höher als dieſer für die Volkswirt:
ſchaft gewiß micht zu unterfchäßende Wert fteht uns denn doc die Bedeutung
der Schiffahrt aller Zeiten durd) den Endzwed, den fie bewußt oder unbewußt
verfolgt. Diejer ift doch fein geringerer als die Verbindung der jeit Urzeiten
völlig zerfplitterten Menſchheit zu einer alle Raffen und Länder um:
jpannenden Einheit. Weil e8 eben feine Verfnüpfung aller Lande auf Erden
von Natur wegen giebt, fondern allein der Ozean eine einheitliche Dede an der
Außenfeite des Erdballs bildet, ift weder wirtjchaftlich noch geiftig eine Einung
der Völker anders möglich als durch die See. Sie liefert zugleich die herrlichite Ge—
legenbeit, diefe einzig mögliche Einung zu verwirklichen; denn troß Aeolustücken, jelbit
wenn fie in wütende Eyflonenftürme ausarten, eröffnet die Meeresfläche im Gegen-
aß zur Landfläche die denkbar beite, weil völlig hemmnisfreie Bahn für mwohl-
feilfte Fortbewegung von Perfonen und Waren ohne Benötigung des Milliarden
verfchlingenden Wegebaues. Ilnjere Großhändler willen davon zu erzählen, wie
der Warenbezug auf viel weiter geftredten Wegen aus fernen Landen oft viel
billiger zu ftehen fommt als aus der Nahbarichaft, wenn nämlich diefe bloß zu
Land erreihbar ift, jene dagegen Seewege jind. Deshalb kann man Sigiliens
Apfelfinen beträchtlich wohlfeiler in Hamburg ala in Sübdeutfchland haben, und
vermögen weftfälifche Steinfohlen troß des Ausnahmetarifs, der ihnen gerade
zur Erleichterung des Wettbewerbs gegen die englische Kohle auf unferen Eifen-
bahnen gewährt wird, Hamburg nicht mit fo geringen Transportkoften zu er:
reihen wie die nordengliihen Kohlen auf der jo viel längeren Nordfeefahrt von
Neweaſtle her. Sp bedurfte ed denn nur der kühnen That der Pfadfinder quer
über das atlantiihe Meer, um das Kap nad) der indischen Ser, um Amerifa
herum in die Südſee — und die Wirtfchaftäfreiie der bis dahin armielig ver-
einzelten Völkergruppen wuchſen allmählich zufammen zu dem erdumfaffenden
Getriebe einer einheitlihen Weltwirtichaft. Doch Größeres vollzog fi im Ver—
lauf dev legten vier Jahrhunderte als der materielle Zuſammenſchluß der Völfer
auf dein Weltmarkt, wie es Schiller in den Berien andeutet:
Euch Ihr Götter gehbörer der Kaufmann!
&üter zu fuchen gebt er,
Toh an fein Schiff ſchließet das Gute fich an.
Alfred Kirchhoff, Das Meer im Yeben der Nölker. 223
Was Paulus den Athenern einjt predigte, alle Menſchen ohne Unterjchied,
Hellenen wie Barbaren jeien Brüder, — das vermochte man doch nicht früher
zu beiveifen, mithin auch nicht früher als eine feft begründete Wahrheit zum
Gemeingut des Bildungsichages von Geilt und Gemüt der Menfchheit zu
machen, als bis die Hochleefahrt aus den Meeren Brüden zwiſchen den
Erdfeften geftaltet hatte, da fie vorher abichranfende Mauern gewejen.
Dem Ozean in feiner Bewältigung durd die Seefahrt verdanken wir es, daß
wir das Erdenrund bis hart an den Nordpol, hoffentlich bald auch bis gegen
den Südpul hin fennen und daß wir unferen geiftigen Gefichtöfreis über
jämtliche Völker ausfpannten zum allmählidhen Begreifen des wahren Wejeus
der Menichheit, diejer unerläßlihen Borbedingung aller Humanität. Auf
Meereswogen allein kann Europas Gefittung ihren Siegeszug durch den ganzen
Erdenraum vollenden.
Wie zur Belohnung dafür, unjer Gejchleht nah der urzeitlichen Ber:
trennung auf den einzig möglichen Weg der Wiedervereinigung geführt zu haben,
ward feefahrenden Völkern eine reiche Fülle edelfter Spenden zu teil. Wer fein
Reben qutenteil8 auf dem Meere verbringt, füllt feine Lungen mit vzonreicher,
ftaubfreier Luft. Schon das vermittelt körperliche Geſundheit, die aber beim
Seemann noch wejentlich gejteigert wird durch harte Anspannung von Muskeln
und Nerven bei feiner anftrengenden Berufsarbeit. Diefe fordert ſcharfes Aus:
ipähen, Elarfinniges Beobachten, Geiftesgegenmwart, mutige That, zähe Ausdauer.
Es giebt gar feinen großartigeren Dafeinsfampf de3 Menfchen mit elementaren
Naturgewalten, ald ihn der wetterharte Seemann zu beftehen hat gegen die
vom Orkan zu furdtbarem Wogenſchwall aufgepeitichte Salzflut, wenn der
beulende Sturm etwa gar bei finfterer Nacht die Segel in Feten zerreißt, die
Maften und das Steuer zu brechen droht! Faſt allerwegen aber dräut dem
Schiffer Gefahr, jelbft bei jpiegelglatter See und freundlichftem Sonnenfdein;
tagtäglich findet auf ihn das Wort Anwendung:
„Und ſetzeſt dur nicht das Leben ein
Nie wird dir das Leben gewonnen fein!“
Das hat den Seeleuten in allen Zonen gewiſſe Verwandtſchaftszüge
jeelifcher wie leiblicdyer Art aufgeprägt, an denen man fie fait ebenfo untrüglich
erkennt, wie an dem breitjpurig langlamen Gang, ben fie vom hin- und her:
ſchwankenden Ded auf den feiten Boden des Landes mitzubringen pflegen.
Bei uns in Deutfchland kommt der Typus des Matrojen nur an den Ge-
ftaden von Nord: und Oſtſee recht zur Geltung; im feefernen Binnenland, etwa
ın Thüringen oder gar in Süddeutſchland gelangt er höchſtens in den Eräftigen
Seitalten beurlaubter Blaujaden der Kriegsmarine zur Erſcheinung. Wo hin-
gegen die Seefüfte nirgends fernliegt, wie auf den britiichen Inſeln, oder das
ganze Volk beinahe nur an der Hüfte wohnt, wie in Norwegen, ba übt das ge:
294 Alfred Kirchhoff, Das Meer im Yeben der Wölter.
ſamte Weſen dev Seemannsnatur einen merkwürdigen Einfluß aus auf die Nach—
ahmung und Nacheiferung der übrigen Stände, um fo mehr, "als der Schiffer:
beruf huchgeachtet dafteht im Kreis ſolcher Nationen, die es fühlen, wie viel jie
diefem Beruf danken für die Gefamtleiftung ihrer nationalen Wirtichaft. Dann
teilt fi} von der auf der Seefahrt geftählten Tüchtigkeit, dem Eugen, geipannten
Beobachten, dem ruhig jahlidhen Abwägen, dem unbeftechlichen Sinn für das
Wirflihe, dem weiten Blid, dem twagemutigen Unternehmungsgeift dem ganzen
Bolt mit. So wird es dereinft audh in Sidon und Tyrus, am Jonierſtrand
Stleinafiens, in Genua und Venedig geweſen fein! Dafür reden laut die
koloniſatoriſchen Großthaten diefer gewiß nur mäßig großen Stadtgemeinden,
vergleichbar denen unferer Hanfenten des Mittelalters. In Seeluft gedeiht
fein engherziges Philijtertum; wo Meeresbrandung das Land küßt, da thut ſich
dem Bervohner die Welt auf, ganz unbewußt richtet er fein Auge in die Fremde, lernt
anderer Leute Sitten kennen, die da anlanden oder die er in überjeeiichen Fernen
auffucht, fühlt ſich an der freien ozeanischen Bahn zu weltweiten Landen angeregt
zum Wettbewerb mit allen Völkern der Welt, empfindet es mit jedem neuen Ge-
lingen überfeeifcher That immter tiefer, daß wirklich „dem Mutigen gehört die Welt“,
Das Meer, einitmals gewiß für den Menfchen der Urzeit das Abjchredendfte
auf Erden, ward ſomit allmählicd) den Bölfern, die an ihm wohnten, die jich ihm
auf ihren Fahrzeugen anvertrauten, immer vertrauter. Man verehrte es wohl
ob der nahrhaften Spenden, die es aus feinem Mutterſchoß gewährte, als eine
dem Menſchen holde Göttin; doch des Meeres Uebergewalt, die furchtbaren Kata-
ftrophen, die es über den ihm gegenüber jo ohnmächtigen Menschen verhing,
icheuchte allzu vertraulichen Umgang zurüd. Ehrfurcht und Schreden begegnen
jich in den Mythologemen vom Ozean bei den Schiffervölfern, jeien es Südſee
infulaner oder Hellenen. Den gräßlichen, alles im Nu vernichtenden Angriff
der Seebebenwelle jchrieb man natürlid; dem plößlic, erregten Zorn der Meeres:
gottheit zu; darauf offenbar muß der Dreizad Pojeidons, des „Erderſchütterers“
der homeriſchen Geſänge, bezogen werden. In den Dichtungen aller Seeanmwohner
jpielt da3 Meer eine hervorragende Rolle; jein Wüten im Sturm ertönt, fein
Friedensſpiegel mit leifem Wellengekräufel erglänzt in den Eunftlofen Liedern
der braunen Menſchen pazifiſcher SKtoralleneilande, wie in den poetijchen Kunſt—
werfen der Kulturkreiſe Aliens und Europas. In prädtigen „Seejtüden“ offen
bart ji) auf anderem Kunſtgebiet nicht minder die Macht des Ozeans, wie fie
zumal bei MWeltichiffahrt treibenden Nationen Auge und Seelentiefe in wahrer
Andacht zu ergreifen pflegt. Es wäre eine lohnende Studie, zu verfolgen, mie
jich bei talienern und Niederländern, Engländern und Deutichen die Seemalerei
parallel entfaltete mit dem Aufſchwung zur nationalen Größe auf dem Meer.
i Längſt aber hat es die Geichichtichreibung beachtet, welch einen gewaltigen
Einfluß das Meer weit über den Küſtenſaum hinaus bis auf binnenländiſche
Alfred Kirchhoff, Das Mieer im Yeben der Bölfer. 235
Fernen ausübt auf das Staatenleben. Im Drängen aus dem Hinterland nad)
der Küfte liegt zuvörderſt der natürliche Trieb eines Staates, durch den Belit
einer, wenn auch nur Eleinen Küftenftrede, (vielleicht bloß eines einzigen Hafens
Anteil zu gewinnen am einträglihen Seehandel, an der Madhtentfaltung über
See bis hin zum entlegeniten Strand. Ein fräftig auswachſender Staat ver-
folgt indefjen bewußt oder unbewußt eine küſtenſuchende Politif niemals allein
im Streben nad) Anteilfhaft an jolchen ferner liegenden Aufgaben, wie fte ihn
al3 Ganzem, jowie allen jeinen Bürgern winken in Handelsgewinn, Stolonieen-
erwerb und jedweder jonftigen überjeeijchen Bethätigung, immer ſchwebt dabei
mehr oder weniger deutlich der Gedanke vor: die Seegrenze bietet den treuften
Schuß für den Staat nach außen und fie hält das Innere heilfamer zujammen
als hochragende Gebirge, indem jie nicht wie diejfe den Berfehr hemmt, jondern
ihn in ihrer Weile fogar aufs großartigjte fördert. Was wäre Rußland für ein
armjeliger Moskomwiterftaat im jeefernen Binnenraum Dfteuropas geblieben,
hätte ihm Peter der Große nicht den Impuls aufs Meer verliehen, daß nun ein
Staatögebilde dafteht von der Ditiee bis zum Gelben Meer, vom arktiſchen
Beitade bis zum Pontus! Und wie deutlich lehrt und Englands Gefchichte den
nationalpolitiichen Wert des Küſtenrings begreifen! Aus Selten, Angeln, Sadjen,
Frieſen, Normannen gebar dort das Mittelalter faſt ſchon die Einheitsnation,
wenn auch noch mit der durch ftaatliche Kandgrenze geſtützten Variierung in Eng—
länder: und Schottentum gegenüber der durch Meeresabſchluß wmejentlich jelbit-
itändiger verbliebenen Nachbarinjel Jrland; die Doppelfrone ſchwand, in jchärfiter
Umriſſenheit fonnte Großbritannien feine Eigenart entwideln im Gegenjaß zum
ganzen europäifchen Feitland, wie am anderen Ende der Ditfelte Japan im
Gegenjat zum afiatijchen, verharrte dabei aber im befruchtenden Austaufch mit
nah und fern, im Snjelfrieden fernerhin von feiner Bölferwelle überflutet, un-
berührt von den Wirrniſſen des Dreißigjährigen Kriegs wie der napoleonifchen
Eroberungszüge, jchließlich zufolge rechtzeitiger Ausnugung der Gunft feiner See-
lage ein Großjtaat mit Machtgebieten in jämtlichen Erdteilen, geeint durch diefelbe
irdiſche Großmacht, die allein jeine Gründung ermöglicht hat, durd den Ozean.
Kein Staat zeigt uns fo deutlich wie der engliiche das Meer in feiner Be-
deutung für Erklimmen einer Weltmadtitellung. England war nach der angel:
ſächſiſchen Eroberung, als ſich jein Volk einjeitig mit Feldbau, Schafzudt und,
an der Band der Seefilcherei, mit geringfügiger Kültenjchiffahrt beichäftigte, ein
Sleinftaat, der gar feine Nolle jpielte in der großen Politik Europas, ganz
zurüdjtand 3. B. in der Streuzzugsbewegung, in der fich zum erjtenmal die abend:
ländifche Chriftenheit als einheitliche Kulturmacht bethätigte. Kaum aber ift der
Bann gebrocdhen, der Mut zur Schiffahrt auf hoher See erwachſen, jo jtrömen
die Schäte der Welt in das vorher jo arme Land, von dejjen gewerblich rüd:
fändigem Volk die deutichen Danfeaten höhnten: „Wir kaufen ihm den Fuchs—
15
296 Alfred Kirchhoff, Das Meer im Leben der Völker.
velz (die Rohwolle) ab für einen Grofchen und verkaufen ihm den Fuchsſchwanz
(die Eoftbaren Zuche) für einen Gulden!” Der Warenabjat durd; Vermittlung
einer alle Meere befahrenden Dandeläflotte, die induftrielle Umſchaffung von
Rohſtoff in Hunfterzeugnis, der Erwerb umfangreicher, durch tropiiche wie außer:
tropifche Zandftriche ausgedehnt, arbeiteten einander aufs glüdlichite in die Dand,
die zuvörderſt zum Schirm des friedlichen Tagewerks der Nation berufene Kriegs—
flotte ward zufammen mit dem durd) jene einträglichite Richtung der Wirtjchafts-
thätigkeit mächtig vermehrten Staats- wie VBolfsreichtum die naturgemäße Grund:
lage für Englands Großmacht.
Weil höhere Stufen von Neihtum und Macht eben nur durd; Wettbewerb
auf der Weltbühne des Ozeans zu erjteigen find, deshalb mühen ſich nach Aus—
weis der Geſchichte die Staaten um Küftenanteil ab, falls fie nicht etwa wie
Sidon oder Athen, Portugal oder die Niederlande als Litoraljtaaten ſchon auf:
gewachſen waren. Auch die Politit des brandenburgiſch-preußiſchen Staates ift
nächjt dem felbitverjtändlichen Trieb nah Zuſammenſchluß feiner bedenklich zer-
itreuten Territorien durch nichts mehr geleitet wurden feit den Tagen des Großen
Kurfürften, als durch die heiße Sehnſucht, die baltische und die Nordſee-Küſte zu er:
werben, eine ‚Flotte unter brandenburgiich:preußiicher Flagge zu ſchaffen. Heutzu—
tage giebt es nur ganz wenige Staaten, die der Meeresberührung ermangeln: die
Schweiz, Serbien, Tibet, Abeijinien, Paraguay. Unter fihnen bietet allein die
Schweiz das merkwürdige Beilpiel eines Staates dar, deſſen Bürger anfehnliche
Werte im Getriebe des Welthandel umſetzen ohne jedweden Flottenſchutz im
‚all einer nicht friedlich zu Ichlichtenden Zwiltigfeit beim überfeeilchen Gejchäft
oder gar im Fall eines Weltkriegs, der als folcher in Zukunft ſtets das Meer
mit jeinen Dandelsfrachten ergreifen wird.
Noch vor wenigen Jahrzehnten unterschied man unter den Großmächten
Europas Land» und Seemächte. Das ift für immer vorüber. Moderne Groß:
mächte find ohne die Dauptquelle materiellen Neihtums, Anduftrie nebft See-
handel, fürder nicht denkbar; Seehandel aber fordert Seefüfte und den allzeit
bereiten Dedungsichild der Hauffabrtei: die gepanzerte Seewehr. Geräuſchlos
ift vor wenigen Monaten der erite Staat entitanden, der eine ganze Weltinjel
befaßt, der gelamtauftraliiche; die große Republik unter dem Sternenbanner
macht fein Hehl daraus, auswachſen zu wollen zu einem die ganze Weitfefte
erfüllenden panamerifaniihen Staat. Mit derartigen meerumgürteten Rieſen—
itaaten fünnen ebenjo wie mit England oder Japan Eriegeriihe Entſcheidungen
überhaupt nicht endgiltign auf andere Weiſe erzielt werden’ als mit Kriegsichiffen
und Zorpedos. Begriff es doch ſchon Nom im Kampf mit Karthago um Sizilien,
dat man mit einem bloßen Yandheer nie eine Seemadjt zwingen fann.
Wie ſchlimm ſähe es alio auch mit unferes Deutfchen Reiches Herrlichkeit
aus, wenn wir uns feine Schlagfräftige ‚Flotte von Eiſenpanzern fchleunigft er—
Alfred Kirchhoff, Das Meer im Leben dev Völfer. 3927
ichaffen hätten! Ganz überwiegend über unfere Hüfte finden die Güter der Welt,
Lebensmittel wie ebenjo unentbehrliche Rohſtoffe für industrielle Verwertung, den
Weg in deutihe Gaue. Jene Hüften im Kriegsfall auch nur einer Furzen
Blodade hilflos ausjegen, hiege den Lebensodem deuticher Nation mit Erdrofjeln
bedrohen laſſen. Wie viel beijer, kühn diejelben Küſten mit wohlgerüfteten
Striegshäfen benuten zum Vorbrechen unjerer Geichwader nad) dem altpreußifchen
Grundjat: Angreifen ift die befte Berteidigung! Wollen wir unfer wirtichaftliches
Aderſyſtem nicht unterbinden laſſen und im eigen der Nationen aud) fernerbin
gebört werden, fo gilt es mithin Deutichlands Seegeltung zu bewahren.
Gruß an das Meer.
Il Deine Hügel find Morgengebirge voll Glut!
All Deine Thäler find Schalen, gefüllt mit Glanz!
Zerbrech' idı mit ichwarzem Kiele die brennende Flut,
5o überladt mid,
So überdadt mid,
So überkhüttet die tropfende, iprühende Pradıt mich!
Sonnenkraft überichauert midı ganz!
Ich hab’ Dich lieb, o flammenichönes Meer!
Ihr Berge des Kichts, ihr Schalen voll Brand!
Troitvoll komm’ ich aus Tannengebirgen her,
Dir „Grüß Gott‘ bringend,
Den Waldhut Ichwingend,
Hochlandslieder und Heilwunidı fingend
Dir, großes Meer, groß wie mein Vaterland!
Fritz bienhard.
1%
15”
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Die deutſche Bauernicdaft und die Bandelspolitik.
Von
Max Sering.
Ei führende ſüddeutſche Zeitung ſprach in diefen Tagen ihre Berwunderung
aus über die bunte Mannigfaltigkeit der Meinungen, die in den jüngften
handelspolitifchen Debatten des Vereins für Sozialpolitit zu München ku Tage
getreten wären und Beifall gefunden hätten, während doc auch die national»
ökonomische Wahrheit nur eine einheitliche fein Eünne. Es liegt dem eine An:
Ihauung zu Grunde, welche zwar von manchen Nationalöfonomen geteilt wird,
aber das Berhältnis von Wiffenfhaft und Politik verfennt. Die Volkswirt:
ihaftslehre hat Thatjachen zu Jichten und Beziehungen nachzuweiſen, welde
für die Beurteilung der politifchen Probleme von Wichtigkeit find. Sie
fann und joll den entjcheidenden Inſtanzen den Blid ſchärfen helfen, jo daß
jie die Konfequenzen deſſen, was ſie thun und lajjen, nach allen Richtungen
bin zu erkennen vermögen. Aber politiſche Forderungen laffen ſich niemals reſt—
(v8 aus den wiſſenſchaftlich fejtgeitellten Naufalzufammenhängen ableiten. Die
große Richtung des politiichen Handelns beftimmt fich für Leute, welche perſönlich
an den Klaſſenkämpfen "unbeteiligt find, durch Ideale und Werturteile, die nie-
mals das alleinige Ergebnis wiſſenſchaftlichen Nachdenkens find, ſondern die Be—
deutung einer fubjektiven That haben. Treten deshalb Männer der Wiſſenſchaft
für, politifche Forderungen ein, jo thun fie es als Bolitifer und Patrioten. Es
finden ſich unter ihnen notwendig ähnliche Gegenjäße der politifhen Grund-
anjhauung wie unter den Parteien. Wiſſenſchaftlichen Wert hat lediglich ihre
Auffafjung von!dem inneren Zufammenhang der Dinge, jofern fie das Refultat
ernfthafter Forfchung ift. Nur auf diefem Gebiete kann von wiljenichaftlicher
Wahrheit die Nede fein und wird auch unter politifchen Gegnern, denen «es
um die Wahrheit zu thun ift, eine Einigung erzielt werden können. Die
politiichen Gegenfäte jelbft werden dadurd aber nicht befeitigt.
Der genannte Berein hatte in dieſem Jahr die Wirkungen der bisherigen
und die Ziele der künftigen deutfchen Dandelspolitif befonders in fozialpolitifcher
Hinfiht zum Hauptgegenftande feiner Erörterungen gemadt. Ein bejunders
heftiger Widerftreit der Meinungen trat bei der Beurteilung der Agrarzölle,
Mar Sering, Die deutfche Bauernjchaft und die Handelspolitit. 299
namentlich der Getreidezölle, zu Tage. Eine Anzahl von Rednern verwarf jie
ohne weiteres, weil fie den Lebensunterhalt der nichtlandwirtichaftlicdyen Bevölke—
rung verteuern, und manche erklärten Sozialreform und Kornzoll für unverein-
are Gegenfäge. Freilich wurde m. W. von keiner Seite die logiſche Konſequenz
gezogen und die Aufhebung der beftehenden Zölle gefordert.
Ich habe dem gegenüber auf gewiſſe Zufammenhänge des jozialen Lebens
bingemwiejen, welche mir in der bisherigen Erörterung der Frage nicht ausreichende
Beachtung gefunden zu haben fchienen. Ihre Darlegung an diefer Stelle joll
die Größe der nationalen Intereſſen, die dabei auf dem Spiele ftehen, weiteren
Kreifen fihtbar maden und dürfte zum mindeften geeignet fein, die öffentliche
Diskuſſion zu vertiefen. Manche Punkte follen! im folgenden etwas eingehender
behandelt werden, als es die viertelftündige Redezeit in München geftattete.
Die joziale Verfaſſung eines Landes ift ein einheitlicher Organismus derart,
daß die Agrarverfaffung überall die Grundlage des Ganzen bildet. Man kann
deshalb Deutichland als Bauernland bezeichnen. Drei Viertel feiner landwirt-
ichaftlich benußten Fläche werden von mittleren und £leineren Wirten, reichlid)
drei Fünftel von felbjtändigen Bauern bemwirtfchaftet. Daß hinter der Forderung
um ausreihenden Zollſchutz die deutichen Bauern ftehen, madt den darum ent-
brannten Streit ganz unvergleihbar den Kämpfen, welche in den Tagen Cobdens
und Bright3 in England ausgefochten wurden und lediglich den Intereſſengegen—
jag zwijchen dem neuaufgefommenen induftriellen Herrenftande und einer Eleinen
grumdbefitenden Ariftofratie zum Austrag bradten. Mit manchem politifchen
Gegner bin ich der Anficht, daß Getreidezölle fozialpolitifch nur gerechtfertigt
werden können, wenn die Erhaltung des Bauernftandes oder doch großer Teile
desfelben jie fordert. E83 ift deshalb die rein milienfchaftliche Borfrage zu
beantworten 1. ob ohne alle Zölle und 2. ob) auch bei den beftehenden Agrar—
zöllen jene Bevölferungsichicht ald gefährdet anzufehen ift.
Wie es um unfer Land ftehen würde, wenn wir uns die engliiche Freihandels—
politit zum Mufter genommen hätten, läßt ein Blick auf England felbft erkennen.
Es ift häufig darauf hingewiefen worden, daß troß fehlenden Zollſchutzes die dortige
Landwirtſchaft nicht zu Grunde gegangen wäre, weil fie verftanden hätte, die Krifis
durch geichidte Anpaflung an die weltwirtſchaftliche Konjunktur, insbefondere durch
Ausdehnung der Viehzucht, zu überwinden. Den deutfchen Landwirten — das ift die
Schlußfolgerung — zumal den Bauern, die jo vortreffliche Viehzüchter find, müſſe
das ebenfo gut gelingen. Wir find über die englilchen Verhältnifje faft befjer
unterrichtet als über umjere eigenen. In der ausgezeichneten Agrarenquete,
welche dort in den Jahren 1893—95 ftattgefunden hat, ergab fich, daß zwar in
allen Zeilen des Landes Grundbeſitzer und Pächter mit Schwierigkeiten und Not
zu fämpfen gehabt haben, daß aber allerdings in großem Umfange, nämlich im
ganzen Welten von Großbritannien, fich jene Anpafjung vollzogen hat.
230 Dar Sering, Die deutjche Banernichaft und die Dandelöpolitit.
„Wir halten es daher,“ jo heißt es im Schlußbericht der Enquetekommiſſion,
„nicht für unfinnig, zu glauben, daß der durd feine Natur und wirtichaft-
lihe Lage jo bevorzugte Boden Großbritanniens als Grasland, wenn nicht als
Aderland, auch in Zukunft bebaut bleiben wird. Er wird einen Ertrag gewähren,
der zwar niedrig und nur mit größter Anftrengung zu erarbeiten fein wird, aber
fi) doch mit dein in anderen Gewerben vergleichen läßt." Am Often Englands
dagegen, fo heißt es weiter, „in den ‚Kornbaudiftriften‘ muß mit den fallenden
Preiſen eine Zeit fommen, wo nicht allein die Entrichtung der Rente, fondern die
Kultur an jih aufhört. Das ift Schon zum Teil, befonders in den jüdöftlichen
Bezirken von Ejjer" — einer Grafichaft, die an das Weichbild von London
grenzt! — „eingetreten, und es würde in noch größerem Umfange geichehen fein, wenn
nicht Grundherren und Pächter unter großen Opfern dies abgewandt hätten. Mit
der Erihöpfung ihrer Kapitalmittel wird mehr Land ganz wüft bleiben oder ſich
in eine rauhe Weide von geringem Wert verwandeln.“ Cine weitere Renten—
ermäßigung kann dort nicht helfen. „Wo die Nenten nicht mehr zur Erhaltung
der Gebäude, der Drainagen und anderen Sultureinrichtungen ausreichen, da ver:
mögen fie mit Vorteil für den Pächter nicht mehr reduziert zu werden." Am
ſchwerſten wurden die Hefte des freien Bauernitandes getroffen, weil fie ftatt der
Pacht- Schuldzinfen zu zahlen haben und! für jie ein Rentennachlaß deshalb nicht in
stage kommen Eonnte.
Der Grund dafür, dat die Anpaffung im Weiten von Großbritannien gelang,
während im Often weite Streden der Gefahr der Verödung anheimfielen, ift
einleuchtend. Der Weiten ded Landes gehört zu den regenreichiten Gebieten
Europas. An manden Stellen fallen 3—-400 cm Regen im Jahr, während im
Diten, namentlih auf der Leeſeite der Gebirge viel weniger, nur 60—80 cm
Niederichläge erreicht werden.
An Deutichland*), find mit den weitlihen Bezirken Großbritanniens an
Reichtum und günftiger Berteilung der Niederichläge einigermaßen vergleichbar nur
die Nordjeefüfte von der Emsgegend bis in die ſchleswigſchen Marſchen einer:
jeits und die bayerifchen Alpen andererſeits. In beiden Gebieten find denn auch
die Wiefen und Weiden von größerem Umfang als das Aderland. Diejen Bezirken
find nach ihren Niederichlagsverhältniffen weite Landjtriche im Nordmweften und Süd—
often anzugliedern, außerdem manche mittel: und jüddeutiche Gebirgsgegenden und
geringe Teile der Ditjeefüfte, namentlich in Oftpreußen. Es herricht zwar wegen des
geringeren Regenfalls dort überall ſchon der Aderbau und im Aderbau die Getreide-
produftion vor; der Rüdgang der Ktornpreije mußte deshalb aud in diefen Gebieten
ichwer empfunden werden. Aber das Klima geitattet doch eine jo ausgedehnte Vieh—
haltung, daß bei den gegenwärtigen Preiſen — durch die veterinäre Grenziperre
*
) Vgl. Deutichlands landrwirtichaftliche Klimatograpbie von B. Thiele, Bonn 1595.
Mar Sering, Die deutfche Bauernjchaft und die Handelspolitif. 231
und die allgemeine Konjunktur hoch gehaltenen Biehpreifen und niedrigen Getreide:
preijen — unter den Bruttveinnahmen der Landwirte diejenigen aus der Viehzucht
meift überwiegen. Eine Sonderftellung nehmen die Thäler des Mittel: und
Oberrheines, des Main und Nedar ein, die man kurz als Wein: und Dandels-
gewächsbaubezirke bezeichnen fann, und die Centralmärfte der deutſchen Anduitrie,
weiche ſich um die Funditätten von Eifen und Sohle gruppieren.
Aber das übrige Deutjchland, etwa die Hälfte des Ganzen, ift in noch viel
höherem Maße als Kornbaugebiet anzufehen als der großbritannifche Often. Nur
von dieſen Bezirken joll im folgenden gefprochen werden. Sie haben meift nicht
mehr als 45—55 cm Regenfall. Sie müſſen in erjter Linie Getreide bauen,
weil feine andere Sulturpflanze jo leicht die Trodenheit verträgt. Die Viehzucht
aber ift beichränft, weil dev Futterbau weniger ſicher und ergiebig ift, als in Gegen-
den mit ftärferen Niederichlägen. Gewiß hat man aud dort die Viehzucht aus:
gedehnt, beionders in den Flußniederungen und mit Hilfe der Nebengewerbe ſowie
des Ankaufs von Kraftfuttermitteln auf den größeren Gütern. Mber im ganzen iſt
die Viehzucht, zumal die Aufzucht, die wefentlich den Bauern zufällt, dort mit großen
Riſiko verfnüpft. Haben doc; die beiden letten beſonders trodenen Jahre viele
Wirte gezwungen, ihren PViehitand auszuverkfaufen, weil es an Futter und an
Streu gebrach. Hierher gehört beſonders der größte Teil des deutfchen Oftens.
Es ift falih, wenn man Ddenfelben oft als Latifundiengebiet bezeichnet.
Yatifundien giebt es dort wenige, wohl Nittergüter, aber auch diefe herrſchen
nur in einigen Gegenden vor. 56°/, der landwirtichaftlich benußten Fläche des
öftlihen Deutjchland find in Händen von Bauern, werden in Betrieben von
weniger al3 100 ha bewirtichaftet.
Wenn es nun feftiteht, daß in den engliihen Kornbaubezirfen zur Zeit der
Agrarenquete die Produftiongkoften nicht gedeckt wurden und ftellenweile Die
Kultur aus diefem Grunde aufgegeben werden mußte, fo ift von vornherein
wahricheinlich, daß in Deutichland noch viel größere Gebiete der Verödung aus—
gejett gewejen wären, hätten wir die Preisbildung dem internationalen Verkehr
ganz überlaffen. Allerdings find die Getreidepreile in der zweiten Hälfte der
Mer Jahre etwas geitiegen, und ift in England auch wieder eine Zunahme des
Weizenareald infolgedejlen eingetreten. Aber im öftlichen Deutichland jtehen die
Preife nach Abzug des Zolles weſentlich tiefer als in England. Dabei find, wie
der englifche Bericht hervorhebt, die ertremen Bodenarten, die leichten Sand- und
die ſchweren Thonböden am meiften gefährdet. un: die ungünftigen Thon
böden auf der Höhe, die Moor» und Sandböden machen im Königreich Preußen
nach den Ergebniſſen der Einichägung zur Grundfteuer 44,2 %/, der Geſamtfläche
aus, Wir haben weite Flächen unter dem Bfluge, welche weltwirtichaftlidh nicht
mehr al3 anbaumwürdig anzujehen find. Es wird jo oft vergeſſen, dat Deutſch—
fand, verglichen mit feinen weftlihen Nachbarſtaaten, ein armes Yand ift, daß
232 Dar Sering. Die deutſche Bauernſchaft und die Handelöpotitif.
die Deutſchen auch bei der Befiedelung Europas „zu ſpät gekommen“ find, daß
wir umjere Lebensweiſe und Wirtichaftspolitit der Beichaffenheit unjeres Landes
anzupajien haben.
— Die gezogenen Analogieſchlüſſe werden‘ durch Beobachtungen, die ich auf
Studienreifen in beutfchen Kornbaubezirken gemacht babe, ‚betätigt. Ach habe
bejonders eingehend einige ‚niederfchlefiiche Dörfer nahe’ der pofenfchen Grenze
unterjucht, deren Boden- und Klimaverhältnifje typiſch find für weite Teile des
deutjchen Dftens. Ihr Grundfteuerreinertrag entfpriht dem Staatsdurdfchnitt.
Die Wirtfchaften haben Sand- und Iehmigen Sandboden, Roggen- und Ktartoffel-
bau herrſchen vor. ch habe in jenen Dorfichaften zweimal Nachforſchungen an-
geitellt, vor 6 Jahren und in diefem Herbſt. habe an der Hand der GSteuerein-
Ihätungsliften die Yage der einzelnen Bauer: und Gärtnerftellen mit den Befigern
und fonjtigen Sadverftändigen durchgeſprochen. Die Wirtſchaftsweiſe hat fich im
Laufe der legten 6 Jahre gehoben. Namentlich ift die Viehzucht ausgedehnt, der
Nohertrag durch Gründüngung geiteigert, auch das Kreditweſen durch genoſſenſchaft—
liche Einrichtungen verbefjert worden. Die Leute leben in äußerft einfacher Weife.
letich giebt es, umd zwar 3 mal in der Woche, nur dann, wenn man fremde
Leute beichäftigt.
Dbwohl die Bauern nicht Bud) führen, wiljen fie doch recht gut Beſcheid
mit ihren baren Einnahmen und Ausgaben.
Nehmen wir als Beifpiel einen bäuerlichen Hof von 100 Morgen (25 ha)!
Das Bild trifft mit geringen Modififationen für alle jelbftändigen Stellen zu;
die Grenze der Selbjtändigkeit liegt bei 30 Morgen (7!/, ha), ‚der regelmäßige
Getreideverfauf beginnt bei 3—5 ha. Als Lohn für das hart arbeitende Befiker-
paar, das drei unermwachjene Kinder zu ernähren bat, ſetze ich 400 M. bar ein,
während Knecht und Magd zufammen, alle Nebenkoften mitgerechnet, auf 350 M.
bar zu jtehen kommen. Was im Haushalt aus der eignen Wirtjchaft verzehrt
wird, ift ebenfalls in den Arbeitslohn zu rechnen und fällt gleihmäßig auf der
Einnahmen: und Ausgabenfeite fort. Für Amortifation und Verficherung wurden
mäßige Beträge in Anfat gebracht, hingegen nichts für die‘ Verzinfung des
Anlage: und Betriebsfapitald. Die durchfchnittliche Gefamtausgabe ftellt fi dann
auf 1550 M. im Jahr.
Bon 100 Morgen werden 50 mit Noggen beftellt; bei einem für dortige
Berhältniffe guten Ducchichnittsertrag von 4/,—5 Hentner vom Morgen werden
225—250 Zentner |geerntet. 100 Zentner werden ſals Saatgut, im Haufe und
zur Berfütterung gebraudt. Es bleiben alſo 125—150 Zentner zum Berkauf,
die bei dem Durchſchnittspreis, wie er 1892—1900 mit 6,50 M. pro Zentner er:
zielt wurde, 812,50 bezw. 975 M. bringen. Dazu fommt der Erlös aus ver-
kauften Kartoffeln mit 100 M., von 2—3 Stüd Vieh, die zweijährig veräußert
werden, durchſchnittlich 450 M., von 3 Schweinen 240 M., von Butter 75 M,
Mar Sering, Die deutfche Bauernichaft und die Dandelspolitif. - 233
Es ergiebt ji) eine Gejamteinnahme von 1677,50 bezw. 1840 M. und ein Mein:
ertrag von 152,50 bezw. 315 M. Zieht man nun den jeßt geltenden Noggenzoll
mit 1,75 M. für jeden verfauften Zentner ab, jo bleibt nur ein Reinertrag von
— 66,25 bezw. +52,50 M. Es dedte alfo bei einem ſehr geringen Arbeitslohn
des Befigers und ohne daß ein Pfennig Verzinfung in die Koften eingerechnet
wurde, der Durchichnittspreis der Fahre 1892/1900, abzüglich des Zolles, gerade
nur die Produftionskoften. Die Preife ftanden aber 5 Jahre lang unter dem
genannten Durchichnitt, 1893/97 betrugen fie im Mittel nur 5,50 ftatt 6,50 M.
für den Zentner Roggen. Sett man diejen geringeren Betrag ein, jo ergiebt ſich
ein Defizit von 191,25 bezw. 97,50 M. Zu, jener Zeit würde aljo nicht einmal
ein Dungerlohn erzielt worden fein. Es genügt eben nicht, wenn die Durchſchnitts—
preife gerade nur die Dedfung der eigentlichen Erzeugungskoften gewähren. Ein
Produktionszweig, der keinerlei Reinertrag abwirft), ift ſchon deshalb auf die
Dauer nicht zu halten, weil alle technischen Fortjchritte, die Geld Eoften, unmög-
lih werden und fremdes Kapital in die Wirtjchaft nicht herangezogen werden
fann. Die Sade fteht auch nicht fo, daß die Verlufte in Zeiten gedrüdter Preije
durch die Mehreinnahmen aus den höheren Preifen einzelner Jahre mit Sicher:
beit gededt werden Eünnten, . weil durch den Einfluß der internationalen Stonfurrenz
der örtliche Zufammenhang zwiichen Ernte und Breis zerriffen iſt.
Nach den englifchen Erhebungen und eigenen Beobadhtungen betradjte ich es
als erwiejen, daß, hätten wir feine Getreidezölle gehabt, nicht bloß in größter
Ausdehnung eine gänzliche Entwertung der im Boden firierten Kapitalien, jondem
auch die Berödung weiter heute bejiedelter Bezirke erfolgt wäre. An die Stelle
von Zehntaufenden von Bauern wären wenige Waldarbeiter und vielleicht Schaf:
birten getreten. ine ungeheure Krifis hätte nicht nur die Landiwirtichaft, ſondern
den ganzen Bau unferer volfäwirtichaftlichen und fuzialen Verfaffung erichüttert.
Die Induſtrie und ihre Arbeiterihaft wären durch eingejchränften Abſatz und
ftarf vermehrtes Arbeitsangebot unmittelbar in Mitleidenschaft gezugen worden.
Schon hieraus ergiebt ſich, daß es falfch iſt, wenn man bei der Erörterung der
Setreidezollfrage meift von der Voritellung eines unüberbrüdbaren Intereſſen—
gegenjaßes zwilchen Getreide-Konſumenten und Produzenten ausgeht. Es [liegt
dem eine anorganiiche Betrachtungsweiie der Volkswirtichaft zu Grunde. In den
großen Fragen der nationalen Eriftenz, und dazu gehört die Erhaltung der landwirt—
jchaftlichen Kultur und des Bauernftandes, find die Intereſſen aller Klaſſen identisch.
Wie aber iſt die geforderte Erhöhung der Getreidezölle zu beurteilen?
Zweifellos werden die eigentlichen Produfktionskoften heute mit Hilfe der Zölle
gededt. In unferen ſchleſiſchen Dörfern ift der Reinertrag für die beſſeren Stellen
auf etwa 1,6%, des Gejamtwertes derfelben zu berechnen. Diefer Reinertrag it,
beiläufig bemerft, nicht etwa, wie man gewöhnlich annimmt, als „Grundrente"
anzufeben; denn Gebäude und Iwwentar machen wenigitens die Hälfte des Geſamt—
234 Mar Sering, Die deutiche Bauernſchaft und die Handelspolitit.
wertes bei den jelditändigen Bauerngütern aus. Das in der Yandwirtichaft
thätige Produftivfapital erzielt aljo beitenfalls eine Berzinfung von ungefähr
3%, Für eine reine Grumdrente bleibt da jchlechterdings fein Raum.
Went jener Neinertrag unverfürzt zufließt, gilt bei den bejcheidenen Lebens:
aniprüchen unjerer Bauern im allgemeinen für einen gut fituierten Mann. Gr
bat fein erträgliches Auskommen und legt in beſſeren Jahren jo viel zurüd, daß er
auch die fchlechteren zu überitehen vermag. Aber der Reinertrag bleibt nur aus:
nahmsweife ımwerfürzt in den Dänden der Beliter. Denn die meilten haben
Schulden und müſſen den Ertrag ganz oder teilweife an ihre Gläubiger abführen.
Die Schulden jind nicht etwa aus Ankauf entitanden. Unjere Bauern find feine
Bodenfpekulanten, denen der Staat die erwartete Bodenrente garantieren foll.
Die Schulden find vielmehr ganz überwiegend Erbicdaftsichulden, d. h. entitanden
aus der rechtlichen und moralifchen Verpflichtung, die auf den Bauernftellen
ruht, eine Generation nad) der andern auszuftatten und allen anderen Volks—
klaſſen friſche Kräfte zuzuführen. Die Schulden find auch nicht hoch; deun e3
berricjt, wie in vier Fünfteln des Deutjchen Neichs, die Anerbenfitte, und fie
bewirkt, daß den Annehmern der Grundbefit zu einem ſehr mäßigen Preite,
nicht viel teurer, als ihn heute auch der Ginwanderer in den Vereinigten
Staaten allerdings für beijeren Boden anlegen muß, zufällt. Aber ielbit eine
mäßige Schuld ift durch den Rüdgang der Getreidepreife, der trotz der geltenden
(Hetreidezölle eintrat, drüdend und oft ruinös geworden. Ein Neinertrag von
1,6%, des Geſamtwerts einer Bauernjtelle wird durd eine 49, Schuld voll:
jtändig abiorbiert, die ?/, des Bodenwertes, oder, was dasjelbe bedeutet, Das 24= bis
28fache des Grunditenerreinertrages ausmacht. Die hypothekariſche Berichuldung
der mittleren Bauerngüter betrug nun aber in jämtlichen preußifchen Erbebungs-
bezirfen 1896 im Durcchichnitt bereits das 29 fache des Grimdftenerreinertrages.
Aus meinen fchlefischen Unterfuchungen ergiebt ſich alfo, daß fchon die Durchſchnitts—
belaftung in den Kornbaudiſtrikten als überaus gefährlich anzujehen ift. Freilich
beißt das nicht joviel, als daß der ganze dortige Bauernftand in jeiner Eriftenz
bedroht wäre. In den unterjuchten Dörfern jind 320/, der Beſitzer gar nicht
oder gering verjchuldet — auch dies entjpricht etwa den Durchichnittsverhält-
niffen — und unter den 68 %/,, welche annähernd mit der genannten Quote oder
höher belaftet find, erijcheinen immerhin nod 26°, als vorläufig durch individuelle
Verhältniſſe gefichert, wie Mithilfe erwachjener Slinder, bejondere Milde der in
der Berwandtichaft figenden Gläubiger ꝛe. Aber der Neft, das find einige 40 %/,,
bat auf das äußerite zu kämpfen. Jedes Unglück mit dem Vieh, jede Mißernte
bringt diefe Leute in die Gefahr des wirtichaftlihen Zufammenbruds.
Naturgemäß leidet unter dent jegigen Zuftande auch ihre Wirtichaftsführung.
Nicht wenige zahlen die Zinſen aus der Subſtanz des Gutes, indem fie not:
wendige Berbejlerungen und Neparaturen unterlaffen. Nur ansnahmsweiſe
Mar Sering, Die deutjche Bauernichaft und die Dandelspolitif. 235
fünnen noch vollwertige Hilfskräfte verwandt werden. Man begnügt ſich mit
halberwachſenen Burschen zum Schaden der Kraft und Ergiebigkeit des Betriebes.
12%, der bäuerlichen Befißer in jenen Dorficdaiten jind im Laufe der letten
6 Jahre thatſächlich wirtichaftlich zufammengebrochen, obſchon es nur ausnahms:
weiſe zur Subhaftation kam.
Den ſchlimmſten Ausblid in die Zukunft eröffnet der Umftand, daß unter
dem Preisdrud die Anerbenfitte ſchwindet. Die Erbichaftsichulden fünnen nid
mehr abgetragen werden. Kommt aber ein verichuldeter Hof zur Vererbung, To
wird er body veranſchlagt, überwertet, damit die weichenden Erben doch etwas
erhalten. Das enorme Anwachſen der ländlichen Schuldenlaft in neuerer Zeit
ift zum größten Teil eine durd) die Not bedingte Zunahme der Erbegelder.
Das alles jind ganz typifche Vorgänge, die man überall in den Getreide:
gebieten beobachten fann. An die Stelle der ruinierten Bauern tritt zumeilen
ein benachbarter fapitalkräftiger Großgrundbelißer, wie ſolche namentlich in
Sclejien noch vorkommen. Bor allem aber find es Eleine Leute, und jofern tie
ih) bei jolcher Gelegenheit zur Selbftändigkeit erheben, ift ihr Auffommen an
ih nur freudig zu begrüßen. Aber ſie find aus dem Ankauf höher verichuldet
al3 die mittleren Befiter; jie können das eher ertragen als dieje, weil fie feine
fremden Leute beichäftigen und deshalb ichlechter leben. Aber troß übermäßiger
Anftrengungen und unterdurdhichnittlicher Ernährung werden auch ſie ſich nicht
auf die Dauer halten fünnen, wenn die Preife nicht beijer werden.
Am meiſten indeſſen find die unfelbitändigen Stellen der Zahl nad) im
Wachſen, und deren Inhaber ſuchen ſich als Landarbeiter, Zimmerleute,
Maurer u. }. w. ihr Brot, meift weit in der Ferne. Kurz, an die Stelle unab:
hängiger Beſitzer treten Reute, die itbertwiegend als Yandproletarier zu bezeichnen ſind.
Dat die Nation, haben die Induſtriearbeiter ein Intereſſe daran, den
Zuſammenbruch der jelbftändigen Yandwirte, großer Teile des bäuerlichen Mittel:
itandes zu verhindern?
Die joziale Bedeutung der Banernichaft kommt in den üblichen ftatiftiichen Zu—
jammtenftellungen fon deshalb nur ungenügend zum Nusdrud, weil die in der Wirt
ihaft des bäuerlichen Bejigers mitarbeitenden Familienangehörigen fälichlid) den
Arbeitern zugerechnet werden, während doc) die Söhne und Töchter an allen Bor:
zügen der familienhaften Arbeitsverfafjung und des geordneten Dajeins unab-
hängiger Beſitzer teilnehmen. Zählt man die ſämtlichen Angehörigen, ſowohl die
mitarbeitenden als die fonftigen, den Unternehmern hinzu, fo umfaht die Schicht
der Selbftändigen in den drei aroßen wirtichaftlihen Berufsgruppen Deutſch—
lands 19!/, Millionen Menſchen. Davon entfallen 57%, auf die Landwirtſchaft,
das heißt überwiegend auf die Bauernfamilien. 290%, gehören zum Gewerbe,
14%, zum Handel und Verkehr. Annähernd 3/; aller derjenigen, die wirtichaftlid)
unabhängigen Familien angehören, haufen alfo auf den Bauernhöfen.
236 Mar Sering, Die deutſche Bauernſchaft und die Handelspolitik.
Ich bin nun der Anſicht, daß die Eigenſchaften, welche aus den dortigen
Lebensbedingungen hervorgehen, in dem Maße wertvoller werden für die Geſamt⸗
beit, für die Charakfterbildung der Nation, als die vordringende Induſtrie zu
einer wachjenden Zentralilation der Betriebe und Wohnftätten führt, die körper:
liche und geiftige Entwidlung der Menjchen gefährdet. Auf dem Lande find alle
öfonomischen Vorausfegungen gegeben, um dem Volke eine zahlreiche Klaffe ven
wahrhaft freien Menfchen, um ihm Eraftvolle Individualitäten und wehrhafte
Männer zu erhalten, die eine erdgefeftigte Heimat zu verteidigen haben. Die
foziale PVerfafjung des platten Landes jpiegelt fich aber überall auch in der:
jenigen der Städte wieder, weil die ſtädtiſche Bevölkerung ſich fortgefegt vom
Yande ber ergänzt und erneuert. Wo ein Fräftiger Bauernftand befteht, da blüht
das Handwerk in den noch lebensfähigen Zweigen, denn ihm ftrömt der er:
forderliche gut erzogene und ausgeftattete Nachwuchs vom Yande ber zu. Und
wo der Grundbefiß vorwiegend in Händen von felbitarbeitenden, aber wirt-
Ichaftlichh unabhängigen Landwirten ruht, da fteht auch die ftädtifche Arbeiterſchaf
hoch und ift weniger fchroff von den anderen Schichten getrennt. Man vergleiche
die ſoziale Entwidlung der Anduftrie in England einerfeits, in Mittel: und
Weftdeutfchland andererfeits. In England ein riefenhaftes Yumpenproletariat,
hervorgegangen aus den britischen und namentlich irifchen Yandarbeitern und
Kleinpächtern. Nur eine Oberſchicht von gelernten Arbeitern hat fich in heftigen
Kämpfen von anderthalb Jahrhunderten mit Hilfe der Gewerkvereine aus jenem
Elend emporgearbeitet. In den Dauptzentren der deutjchen Anduftrie hatten fich
die Arbeiter von vornherein und ohne daß es ſolcher Kämpfe bedurft hätte, einer
höheren Lebenshaltung zu erfreuen, weil die Induſtrie ihre Mannſchaft aus den
Bauernjöhnen und denjenigen Yandarbeitern zu refrutieren hatte, welche als
Gefinde am Haushalt der Bauernfamilien teilgenommen hatten. Die Lebens:
haltung der Mafje des Landvolkes beftimmt die Untergrenze der jtädtifchen Löhne.
Gewiß Fönnen die Löhne auf dem Lande ihrerjeits in 'gewilfen Grenzen durd
eine ftarfe Induftrieentwidlung gehoben werden. Aber die Proletarifierung des
Landvolkes bildet eine ſchwere Gefahr auch für die ftädtiiche Bevölkerung.
Yaflen wir das Fundament der jozialen Verfaſſung unferes Landes zerfallen,
jo wird aud der Oberbau jich fenken und abjtürzen. Die Induſtrie und ihre
Arbeiter, die Nation als ein Ganzes können der Zukunft nur jo lange ruhig
entgegenjehen, als die nachhaltige Quelle von Kraft und echter Freiheit intakt
bleibt, welche Deutichland in feinem Bauernitande bejigt.
Dies alles find ja Beziehungen und Zufammenhänge, welche fich nicht un-
mittelbar ftatiftiich erfaffen und beweifen Iafjen, aber niemandem, der die großen
Züge der jozialen Entwidlung in Bergangenbeit und Gegenwart überblidt,
fönnen ſie verborgen bleiben. Sch verweife nur auf Beobachter wie Karl Marr
md Kohn Ruskin. Wenn der leßtere ausruft: „England mag, wenn es will,
Max Sering, Die deutjche Bauernichaft und die Dandelspolitif.
IS
37
eine Fabrikſtadt werden, umd jeine Bewohner mögen inmitten von Lärm, Finſternis
und verpejteter Atmoſphäre eine verkürzte Lebenszeit leben“, und an anderer
Stelle auf Deutichland und die Alpenländer hinweiſt, wo er „millionenfache
Beijpiele zeigen kann, glüdliche Menſchen, glüdlih durch ihren eigenen Fleiß,
Hof an Hof, in Bayern, der Schweiz, Tirol”, jo jcheint mir darin eine dringliche
Mahnung zu liegen, eine Wirtjchaftspolitif zu verfolgen, deren Anhalt Ruskin
jelbft mit den Worten fennzeichnet: „Zwed und Ziel alles Neichtums ift, recht
viele breitbrüftige, helläugige, glüdjelige Menjchen aufzubringen.“ Dede nad)
haltige Sozialpolitit beginnt mit der Erhaltung, Kräftigung und Mehrung des
Bauernitandes.
Es erhebt ſich die Frage: find die Getreidezölle ein geeignetes Mittel, um
die gejchilderten Gefahren von der Ddeutichen Volkswirtſchaft abzumenden ?
Zweifellos bilden die von der Regierung vorgeichlagenen Minimalzölle eine jehr
wirkſame Hilfe für die Getreidebauern. Bei einer Verjchuldung von ?/; des Guts:
wertes bedeuten jie in unferen ſchleſiſchen Dörfern für den Beier von 100 Morgen,
der 150 Zentner Roggen zu verkaufen hat, eine jährliche Mehreinnahme von 112,5 OM.,
und eine Entlajtung von’/sjeiner jährlichen Zinsverpflichtungen; wer60 Morgen bejitt
und 70 Zentner verfauft, wird um !/, entlaftet; und der unfelbftändige Befiger von
15 Morgen, der bei Eleinerer Familie noch 27 Zentner zu verkaufen bat, wird, wenn
er zur Hälfte verjchuldet ift, um mehr als ’/, feiner Zinsverpflichtungen erleichtert.
Dabei ift die iim Minimaltarif geplante Erhöhung als eine durchaus maßvolle
Gegenwirkung gegen das fortgejette Sinken der Getreidepreife anzujehen. Hätten
wir in den adıt Jahren von 1892—1899 die jeßt vorgejchlagenen Zölle des
DMinimaltarifes gehabt, jo würden unjere Getreidepreife in diefer Zeit nody nicht
den Stand der vorhergehenden adıt Jahre erreicht haben, der jeinerleit3 wieder
weit hinter den vorhergehenden achtjährigen Perioden zurüdfblieb.
Es iſt auch falich, wenn behauptet wird, daß die Förderung, welche der
Grundbejig durch die Zullerhöhung erfährt, nach kurzer Frist immer wieder hin-
fällig werden müſſe durch das entſprechende Steigen der Bodenpreife und Beſitz—
jhulden. Denn die Anerbenfitte, welche gerade in den vorwiegend Getreide
bauenden Gebieten befteht, verhindert, daß der Grundbefit zum DandelSobjekt
gemacht wird, und bewirkt, daß die Erhöhung der Erträge nur mit ftarfer Ab-
ſchwächung in den ‚Uebernahmepreifen zum Ausdruck gelangt. Im Gegenteil ift
zu erwarten, daß durch die wieder gewährte Müglichkeit von Anfparung und
Schuldentilgung jene Sitte gefeftigt und der Gutänachfolger jeweils günftiger
gejtellt werde, als es in der fetten Zeit üblich und möglich war. Die Theoretifer,
welche dies leugnen, verfennen, daß ſich die Wertbildung innerhalb der Familie
nach anderen Grundſätzen vollzieht als im Handel. Jener Einwand trifft
lediglich auf Güter zu, die zu Handels: und Spefulationsobjeften geworden find,
wie es leider bei einem Teil des öftlihen Großgrundbefiges der Fall iſt.
238 Mar Sering, Dis deutiche Bauernichaft und die Dandelspolitif.
Endlich jind die Getreidezölle als eine Notftandshilfe anzufehen, welche nur
fir eine abjehbare Zeit erforderlich ift. Denn die Senkung der Kornpreiſe ift
eine Wirkung der mit Dilfe der modernen Technik überaus beichleunigten Er-
Ichließung und Befiedelung von Gebieten gemäßigten und jubtropiihen Klimas.
Sobald die Möglichkeit aufhört, den Getreidebau in ertenfiver Weile ganz im
großen zu vermehren, und dies iſt im Laufe eines Menfchenalters zu erwarten,
werden auch die Weltinarktpreife wieder eine aufwärts jteigende Tendenz gewinnen.
Wenn fie bisher immer tiefer gedrüdt werden fonnten, jo wirkte übrigens
dazu weientlid) der Umftand mit, dat die Yebenshaltung der Anbauer in wichtigen
Nonfurrenzgebieten eine jehr niedrige ift umd weit unter der unfrigen fteht. Die
gefährlichiten Mitbewerber unjerer Landwirte find nicht die nordamerifaniichen
Farmer — denn ihre Hulturbedürfniffe find hoch entwidelt —, jondern die bedürfnis—
(ofen italienischen Koloniften in Argentinien und die unter einem jchweren Wucher:
und Steuerdrud leidenden ruffiichen Bauern. Unterwerfen wir deren Erzeugniffe
einer erhöhten Abgabe, jo erhellt, daß fte auch aus diefem Grunde den Charakter
eines ſozialen Schußzolles befitt.
Man bat vorgeichlagen, die Erhöhung der Getreidezölle durch Direkte
Schuldentlaftung der Grundbefiger, das heißt durdy Zinserleichterung im Wege
verbejjerter Nreditorganijation unter öffentlicher Beihilfe unnötig zu machen.
Ich ſelbſt Habe mich um derartige Maßnahmen bemüht, bin aber zu der Anficht
gelangt, dat der Widerftand dagegen ein noch viel jchärferer fein würde. Es
bandelt fi) da um verwaltungstechnifch vecht jchiwierige Aufgaben, und jchon der
Grundgedanke it, ich möchte jagen, zu fein, als daß er viel Ausficht hätte, durch
den Ichwerfälligen Mechanismus einer demofkratilierten Geſetzgebung in die Wirk:
[ichfeit übergeführt zu werden.
Ich bin alfo für die von der Negierung vorgeichlagenen Minimalzölle. Sie
allein fommen ja praktisch in Betracht; denn daß fie den Abſchluß von lang-
friftigen Dandelsverträgen, fo wie die Induſtrie fie nötig hat, unmöglich machen
und in diejem Fall durch die vorgejehenen Marimalzölle eriett werden follten,
halte id für ausgeſchloſſen. richeinen doch die ins Auge gefaßten Vertrags:
zölle für Getreide als beicheiden, verglichen mit den Anduftriezöllen, welche die
wichtigiten Getreideerportländer, wie Rußland und die Vereinigten Staaten, er:
heben und vorausſichtlich im ganzen beibehalten werden.
Aber id; wünſche zwei Nompenfationen für die Zollerhöhung, die eine zu
Gunſten dev mehr belajteten Konfumenten, die andere zu Paften der meiftbe-
günftigten Produzenten.
Unter der VBorausfegung, daß die geplante Erhöhung des Zolles auf Brot:
getreide im Preiſe voll zum Ausdruck gelangt — eine Borausfegung, die aller-
dings nur bei Enappen Welternten zutreffen wird — ergiebt fih eine Mehr:
belaftung der Konſumenten zu Gunſten der Bauernichaft von fajt genau 3 M.
Mar Sering, Die deutihe Bauernidhaft und die Handelspolitif. 239
pro Kopf (Berbrauch von 110 Silo Roggen, 70 Kilo Weizen, Zollerhöhung von
1’/, bezw. 2 Pf. pro Kilo), Die Mehrbelaftung bedeutet gerade für die ärmiten
Konjumenten gewiß ein jchweres Opfer; es liegt aber keineswegs außerhalb der
finanziellen Möglichkeiten, an anderer Stelle, nämlich durch Aufhebung reiner
Finanzabgaben eine Entlaftung eintreten zu laſſen. Die Aufhebung des Kaffee-
und des Petroleumzoulles würde eine Entlaftung von etwa 2,80 M. pro Kopf herbei-
führen, und wenn die Befeitigung des Petroleumzolles gewichtigen Bedenken be-
gegnet, jo wäre die Beleitigung der Kaffee und Salzabgaben anzuftreben.
Dadurh würde immerhin eine Erleichterung um mehr als 2M. pro Kopf erreicht
werden fünnen. Die dann nod) verbleibende Mehrbelaftung würde in der That kaum
bemerfbar jein und ficherlich mehr als ausgeglichen werden durch die Kräftigung,
welche die landwirtichaftliche Bevölkerung und mittelbar die ganze Volkswirtſchaft
erfährt. Es würden damit aud) ganz und gar diejenigen Bedenken hinfällig werden,
welche die Anduftrie aus der Verteuerung der Lebenshaltung ihrer Arbeiter ab-
leiten könnte. Man darf dabei nicht vergeffen, daß unfer wichtigstes Brotforn,
der Noggen, troß des Zolles in Deutfchland bisher im Mittel immer noch etwa
ebenfo billig gewefen ift wie der Weizen, die Brotfrucht in England, und wejentlid)
billiger als der Weizen in Frankreich, daß auch die Steuerbelaftung pro Kopf
bei uns hinter der dortigen weit zurüdbleibt. Gin großer Teil des Einnahme:
Ausfalls für das Reid) würde durd) vermehrte Zolleinnahmen ausgeglichen werden,
und eine gründliche Reform der Neichöfinanzen unter Mehrbelaftung der größeren
Einkommen ift ohnehin, wie ich glaube, nicht mehr lange zu verichieben.
Die zweite Kompenfation betrifft den öftlihen Großgrundbefiß. Ich unter-
ihäße nicht feine Bedeutung ald Trägers des landwirtichaftlichen Fortichritts und
als unentbehrlichen Bertreters der Bauernſchaft in den politifchen Kämpfen. Aber
eine Ariftofratie fann eine Förderung auf Koften der Gejamtheit nur erwarten,
ſoweit ſich ihr Intereſſe mit demjenigen ihrer geringeren Berufsgenojien det.
Nun bat zweifellos der Großgrundbefi den Hauptnußen von den Getreidezöllen.
Soll ihnen an diefer Stelle die Bedeutung der Sonderbegünftigung einer
fleineren Dberihicht genommen und der Charakter einer fozialen Mafregel ge:
wahrt bleiben, jo iſt dafür zu forgen, daß auch der großen Mafje der Land:
bewohner in den Großgüterdiftrikten, der Yandarbeiterfchaft, ihrer Yebenshaltung
und Arbeitsverfaſſung zu Gute fomme, was durch Opfer der Gejamtheit erfauft
wird. Beute fehlt e8 dafür an jeder Garantie. Im Gegenteil ift zu beobad)ten,
daß Sich troß der Tendenz auf Steigerung der Geldlöhne eine fortjchreitende
Proletarifierung der öftlihen Landarbeiterfchaft vollzieht, weil immer mehr eine
Unterfchicht tiefitehender, meift ſlaviſcher Wanderarbeiter an die Stelle der ſeßhaften,
beſſer genährten und tüchtigeren deutjchen Gutstagelöhner tritt. Immer mehr bat
man unter dem Drud der Berhältnijie jenen Zuzug aus einer vorübergehenden
Aushilfe zur Grundlage des ganzen landwirtichaftlichen Betriebes gemadt. Die
340 Mar Sering, Die deutiche Bauernſchaft und die Handelspolitik.
allmähliche foziale Herabdrüdung, welche fich in dem großen Menſchenreſervoir der
induftrielofen Aderbaugebiete des Oſtens vollzieht, muß aber ſchließlich auch die
Induſtriebevölkerung mit ergreifen, und die foziale verknüpft ſich mit einer ſchweren
wirtſchaftlichen und! politiichen Gefahr. Denn in dem Maße, als der jlavifche
Zuftrom anjchwillt, wird unjere Bolkswirtihaft von dem guten Willen einer aus:
ländiſchen Regierung abhängig, und werden immer größere Teile des Reiches
aus dem geficherten Beſitzſtand deuticher Kultur und Macht ausgefcaltet.
Aus diefen Gründen find Mahnahmen vorzufehen, welde den Großgrund:
bejit nötigen, feine vermehrten Einnahmen zur Herftellung einer Arbeitsverfaffung
zu verwenden, welde ſich jenen Gefahren gewacdjen zeigt und der erhöhten
Lebenshaltung der deutichen Arbeiter anpaßt. Dazu bedarf es 1. der fchrittweifen
Zurüddämmung des Zuzugs flavijcher Arbeiter, und als Borbedingung dafür
2, einer energijchen Förderung ‚der inneren Kolonijation, d. h. der Beihaffung
von Staatsmitteln zum Ankauf großer Güter und ihrer Umwandlung in Bauern:
dörfer. So entitehen dann zahlreiche neue Centren eines gejicherten deutichen
Volkslebens im Diten, die Nachfrage nad) Arbeitskräften verringert jich, und
durch die geiteigerte Ausſicht auf Verfelbitändigung wird der jtrebjame deutiche
Arbeiter auch bei günftigen induftriellen Konjunkturen dort feftgehalten. Ohne
Staatsmittel aber giebt es feine gedeihliche Kolonifation. Sit fie doch außerhalb
des Wirkungskreifes der Anſiedlungskommiſſion für Weftpreußen und Bofen fait
ganz zum Stillftand gefommen. Durd) die bisherigen Erfahrungen ift zur Evidenz
erwiefen, daß die Eapitaliftiiche Unternehmung allein die große nationale Aufgabe
nicht in einem dem Gelamtinterefje genügenden Umfange und Grade zu löfen vermag.
Nur unter der Vorausfeßung, daß diefem Verlangen genügt wird, bin ich
für die Erhöhung der Getreidezölle, andernfalls dagegen. Denn es ift die logifche
Konſequenz der jozialpolitiihen und nationalmwirtichaftlichen Ideen, aus denen
allein die erhöhten Zölle zu rechtfertigen find. Man kann nicht ohne inneren
Wideriprud aus fozialen Gründen die Erzeugnifje billiger Muslandsarbeit ab-
wehren und doc eine Verfaſſung dulden, welche diejelbe Auslandsarbeit zu einem
integrierenden Beltandteil der eignen Bolkswirtihaft macht. Die öffentlichen
Borteile der Zollerhöhung werden wett gemacht durch die fozialen und politifchen
Schädigungen, welche die Fortdauer der heutigen Zultände im Often mit fich
bringt.
Auf der anderen Seite wird erit durch den erhöhten Zollſchutz die Koloni—
ſation in den Kornbaugebieten ausfihtsvoll, weil er den Anjiedlern eine geficherte
Griftenz verbürgt. Auch werden dadurd zahlreiche Befiger erſt in ftand geſetzt,
ihr Land zu verkaufen, weil fie nun erwarten können, einen Preis zu erhalten, der,
ohne den Anfiedler zu üiberlaften, einen Ueberſchuß über die Schulden des Gutes
abwirft.
Diejenigen werden meinem Borichlage am mwenigiten widerjprechen dürfen,
Mar Sering, Die deutfche Bauernichaft und die Handelöpolitif. 24
welche für eine größere Unabhängigkeit unjerer Volkswirtfchaft vom Auslande im
übrigen eintreten.
Jetzt oder nie hat e8 eine zielbewußte Regierung in der Hand, den Wibder-
ftand zu überwinden, welcher von einer Kleinen, aber einflußreichen Minderheit
gegen jene nationale Notwendigkeit aus einem mißleiteten Machtinſtinkt heraus
erhoben wird.
Nad dem allen ift die Erhöhung der Getreidezölle lediglich zu rechtfertigen
als Glied eines meitausfchauenden Brogramms, dann aber fteht fie nicht im
Wideripruch, fondern bildet geradezu die Grundlage einer groß gedachten jozialen
Bolitif.
1%
Gebete der Buren.
I IL
Gewaltiger Engel, erzeige
H' die Gewehre, io hallt der Ruf
Von ragenden Bergen nieder,
Die freie Steppe, wie Gott fie ichuf,
Wir halten fie, wadıre Brüder.
Ob audı im Nebel Englands Heer
Empor zu den Höhen klimme,
Dich gnädig unferm Flehn,
Sankt Michael, o ſteige
Hernieder aus SKimmelshöhn !
Wie Du geführt die Väter
Zum Siege in wilder Schlacht,
Von oben leudıtet flammende Wehr, Dem Bäulflein frommer Beter
Dröhnt laut die rädhende Stimme. — Ericheine in finiterer Nadıt.
Aufichwellt, ihr Bäche, zum wilden Strom, Umweht vom Pulverdampie,
Vernichtend brauiet zum Meere,
Zerberite kracdhend, du Feliendom,
Eine Mauer fei unierem Deere.
Du aber, Herr, im ewigen kict
Hoch über der dräuenden Wolke,
O hebe gnädig dein Angelicht
Auf über dem ringenden Volke.
Verlalfen von aller Welt,
Wir Hehen im legten Kampfe
Zu Dir, Du itarker Held.
Die Roiie itampien und ſcharren,
Der blutige Morgen erwadht.
O laß’ uns vergebens nicht harren,
Ericheine in alter Pracht!
Karl Dove.
O0O000000000000
Die Semütsmacht der deutſchen Frau.
Von
Frig kienhard.
[gsi beginnt es den Reichsdeutſchen bewußt zu werden, daß unjer litte-
rarifcher Zeitgeift im Berlauf der letzten Jahrzehnte nicht dem Stolz und
dev Würde eines großen Reiches entiprad).
Unjere Litteratur, beeinflußt von Zeitproblemen und kritiſchen Geiftern des
Auslandes, war und ift noch eine vorwiegend verneinende und zerjeende Profa,
eine aufbauende und erhebende Poeſie. Unreife und nervöfe junge Litteraten,
befangen in vergängliden Moden, noch nicht befähigt, die Welt ſchön und be-
deutend widerzufpiegeln, drängten rudelweife den wahren Ernſt und die wahre
Heiterfeit zurüd. Ein Hauch von jchillernder Zerſetzung und fünftlerifcher wie
jittlicher Unreinheit lag und liegt in der litterarifchen Luft, befonders der drei
Großftädte Berlin, Münden und Wien. Und nun, nad) fo viel „Revolution der
Litteratur“, hat ſich das Völkchen jelbft entthront und aus der ernfthaften Litteratur
verbannt: wir befinden uns in den beweglichen Tagen der 43 Berliner Ueberbrettl.
Das ift ein gutes Ende, weil es die Sadlage klärt. Denn gleichzeitig mit der
rajenden Epidbemie der Ueberbrettl feßte überall im Reiche eine „Dezentralifation”
ein. Und diefe Dezentralifation bedeutet nichts Geringeres als ſchlechthin ein
ernfthaftes Erwachen des Reichsgedantens und Neichsftolzes.
Es handelt fi hierbei nicht um eine rüdjchauende Bewegung gegen das
räumliche oder zeitliche Berlin. Denn wir felbft leben ja einen großen Teil des
Jahres in der ftetig wachſenden Reichshauptſtadt mit ihren angenehmen Verkehrs-
verhältnifien. Es handelt fich vielmehr um das Erwachen eines wertvolleren
Geiftes. ES handelt ſich darum, daß nad foviel Verftandestum und Nerventum
nunmehr auc die übrigen Organe, die den ganzen Menjchen ausmachen, vor
allem Gemüt und Willen, wieder in Thätigfeit treten. Es handelt ſich darum,
dat Litteratur und Kultur, Poefie und Gefamtvolf, Kunft und Perfönlichkeit ein-
heitlih und organiih emporwachſen, fi gegenfeitig befruchtend, ein herrliches
Ganze Ichaffend: dem großen Reiche eine große Seele!
Und da will ih nun einen einzelnen Punkt herausgreifen, an dem ſich jo
recht jcharf qute Art und ungute Entartung von einander jcheiden: die Stellung
zur Frau.
Fritz Lienhard, Die Gemütsmacht der deutichen Frau. 243
Dieje Frage fchneidet tief hinein, geht an den Nerv unjeres modernen
Lebens. Ein Zeitgeift und feine Litteratur, dejjen Träger unter dem Einfluß
einer lärmenden und genußfüchtigen Außenwelt verwirrt jind im ficheren Inſtinkt
für das Gute, Große und Wahre, wird ſich zu allererft daran verraten, wie er
das Weib jchildert, wie er die Frau einfchägt. Und ein Aundbli über unfere
moderne Litteratur und Kunſt genügt, um feftzuftellen, wie mißhandelt und miß-
adjtet die deutiche Frau fich widerfpiegelt in dieſer Litteratur.
Die deutihe Frau? Nein, das ift nicht die deutſche Frau, jo wenig wie
jene dumpf-erotiihe Stimmung unjerer modernjten Romane, Chanions und
Theaterfabrifate deutjche Litteratur it. Wir müſſen den Adel deutjchen Frauen:
gemüts erſt wieder entdeden, wie wir unfere Gemütöfraft überhaupt erſt wieder
entdeden und ihr zu ihrem Herrichertum verhelfen müſſen. Man muß wieder
mutig genug fein, Treue und Stolz mit treuen und jtolzen Tönen und Worten
modern=lebendig zu bejagen und zu befingen. Man muß einen reichen Sommer
über immer wieder Einſchau halten in die viele ungefünftelte Herzlichkeit und
das viele jeelenftarfe Sorgentragen im deutichen Haufe, um ganz zu empfinden,
welches Bohemientum und welde Boudoirluft, herübergeweht vom defadenten
und bejiegten Paris, über Europa hin als moderne Errungenſchaft frech die
Gafjen und Bühnen bejegt hält. Wie wir dem Reichskörper — um ein oft von
mir gebraudites Bild wieder zu gebrauchen — eine Reichsfeele zu ſchaffen haben,
jo wird es zu unſeren edelften Arbeiten gehören, die Achtung vor dem wahrhaft
Weiblichen und den Wert des wahrhaft Weiblichen feſt und unfentimental als eine
höchſte nationale Pflicht, als ein gut-altes Erbteil ehrfurchtsvoll und tapfer wieder
in den Vordergrund zu ftellen.
Wir find in den Tagen einer etwas aufgeregten Frauenbewegung. Ach will
mich über diefe Beftrebungen, die am breiten Baum der fozialen Frage nur ein
Aft find, hier nicht weiter ausfprechen. Es werden fi in der That mande
Berufe mutigen Frauen noch erichliegen lajjen — ob alle, die man heute ver:
langt, iſt mir jehr fraglih. Ach fürchte, ſelbſt bei befter Eingemwöhnung wird die
Frau oder Aungfrau in mandem herben Beruf ihr Beites verlieren, ihr Ach,
ihre weibliche Sonder-Art und Sonder-Sraft. In Bureau: und Mafjenarbeit
gebeiht die Kraft der Verinnerlicdyung nicht. Und gerade das fehlt unjerem Zeit:
geijt jo unermeßlih. Magenforgen find ja gewiß ein traurig Ding, aber Herzens:
forgen und Geelenverfümmerung find unfäglich ſchlimmer. Um wie viel leichter
ließen ſich foziale Nöte tragen, überwinden und verflären dazu, wenn jene jtärfite
Kraft, die etwa ein Jean Paul im Uebermaß beſaß, jene Kraft des Schul:
meijterlein Wuz und des alten Königs Midas: die Kraft des Bergoldens reicher
unter und verbreitet wäre. Und wer denn joll fie verbreiten, wenn nicht die
Berkörperung des Liebesgedankens und der Güte, die gemütsitarfe Frau?
Die Frau — und der wahre Dichter, der Erzieher der Erwachſenen. ch
16*
244 Fritz Lienhard, Die Gemütsmacht der deutichen Fra.
möchte faft jagen, das Wort, der Sänger folle mit dem König gehen, da fie
beide auf der Menfchheit Höhen ftehen, bedürfe einer zarten Ergänzung. Gewiß
fei der Poet ein Held und König: aber der wahre Held ift auch gütig. Wahre
Größe ift gütig, wahre Ritterlichkeit ift gütig., Wenn ich ftarf bin, darf ich aus
meinem Weberfluß fpenden und verichenfen. Und das Köftliche beim Nusteilen
von Liebe und Güte ift es ja, daß der Geber davon nur immer reicher wird.
Der Dichter muß nicht minder mit edlem Frauentum und anregendem Mädchen:
und Kinderfinn Hand in Dand gehen.
Und diefes Erzeugen und Austeilen von Liebesgütern, die vor allem
anderen it die Aufgabe der Frau, welchem Stande fie auch angehöre und wie
nah oder weit aud) ihr Machtbezirk fich erjtrede. Edles Frauentum, das über
Triebe und Bejchwernifje derart zu fiegen wußte, daß die Seele nur immer
reicher und ftärfer aus Kämpfen ſich ein Lichtgewand mob, ift eine Volkskraft, iſt
ein vulfswirtichaftlicher Gewinn für den ganzen Umkreis. Es geht wie ein
Leuchten von ihr aus, es fommt aus ihrem warmen Hauch und aus ihren zarten
Händen wie ein magnetifcher Strom voll Wohlthun und Beruhigung. Das
Evangelium nennt die Liebe das Höchfte; wir dürfen das nicht fo eng fallen, als
wäre nur eine farbloje Liebe zu Gott oder Kirche gemeint. Bift du im Geſamt—
zujtande liebevollen und hoheitvollen Verklärens deiner Eleineren oder größeren
Welt, jo fpiegelt fi) das in allem wieder, im Schmüden und Ordnen deines
Heim3 wie in deinem Schaffen für Volk, Staat und Zeitgeift. So wahrhaft
furchtbar entartete Liebe fich verhäßlichen, ja verteufeln kann, jo wahrhaft über
alle Bernunft hinaus kann fie auch fteigen. In die Höhen des Paradiefes konnte
den Döllen- und Himmelswanderer Dante nicht mehr der vernünftige Mann Birgil
geleiten, da mußte die Jungfrau Beatrice erjcheinen und ihn mit ihrer Din-
gebungskraft hinauftragen, hinan zu jener Liebe, die Sonn’ und Sterne beivent.
Aber andererſeits — und das ift eine Art Troft — fteht felbft entartete Liebe,
fofern fie Leidenfchaft ift, dem Himmelreich hohen Menfchentums immer noch
näher, al3 dürre und erftorbene Alltäglichkeit. Wahre Leidenjchaft verbrennt fich
rafch, der treibende Wille dahinter aber, wenn er nicht ganz von Dämonen zer:
rüttet ift, kann fich ebenſo ſtürmiſch auf edle Dinge werfen, wie wir das an
mandem Auguſtinus erlebt haben, der erft nach wilder Jugend feine Kräfte
fammelte auf den rubenden Bol in der Erfcheinungen Flucht. Chriftus bat nicht
umfonft das tiefe und meite Wort geſprochen: „Ihr ift viel vergeben, denn fie
hat viel geliebt.“ Wo Liebe ift, da iſt Wahstum möglich; wo gar feine Liebe
und gar fein Wille mehr treibt und glimmt — da freilich ift der Tod.
Liebt unfere Zeit? Nein, fie liebt eben nicht. Sie iſt lüftern, fie it
erotifch, fie Eranft an Entartungen; auch ift fie gelegentlich fentimental, zweifelnd
und jpöttelnd. Aber zur echten Lyrik und zur echten Tragik gehören echte Liebe
und echte Leidenſchaft. Mag die Liebe fündigen, fie wird ihre Wildheit büßen —
Fritz Lienhard, Die Gemütsmacht der deutſchen Frau. 245
aber ſie ſei geſegnet, wenn ſie mit Kämpfen des Willens und des Gewiſſens
verbunden bleibt, wenn ſie ſtolz bleibt, wenn ſie noch weinen und beten kann.
Unſere Zeit (was man eben nad) dem Getümmel der Mitläufer „unſere
Zeit" nennt) hat nit Mut und Sraft, mit voller Seele zu lieben. Ya, es iſt
das Grundgebrehen aller Stände, daß fie zu wenig Liebe haben. Wenn jemals,
jo bedürfen wir heute der Mithülfe echten Frauentums. Es müßte wie ein
Abendrot Perzensgüte ausgejchüttet werden in die graue Luft eines freudlojen
Zeitgeiftes; es müßte wie ein Abendglöckchen reines Herzenslachen diefe ſchwere
Luft wieder in Schwingung verjegen, die dann meiterbebte in alle Stände und
Berufe. Dann wäre aud) für die fchwerfte Frage, für die wirtichaftliche Frage,
eine bejjere Gejamtjtimmung gejchaffen, wir würden uns freundlicher und bereit-
williger zu verjtehen juchen.
Als in den Tagen der Königin Luife, diefer wahrhaften Edelfrau, Deutich-
land in Not war, da gab mand) eine brave Frau „Gold für Eifen“. Ich meine,
Deutihlands Kultur ift in ebenjo ſchwerer Not wie damals. Und ich meine,
heute gilt es, das Gold der Gemütskraft hinauszugeben für das Eifen dieſer
Zeit, das jid; unter euren Händen wieder in Gold verwandeln wird.
Es wäre unrecht, wenn ich hier nicht den Adelsmenſchen Kohn Ruskin und
jeinen prächtigen Auffat „von den Gärten der Königin“ erwähnen würde. Wie
ihön und rein fpricht diefer ganze Mann von den Aufgaben der Frau! Auch
ihm ift der Mann die pojitive Elektrizität, der Schöpfer und Schaffer, der Ent—
deder und Bekämpfer. Aber die Gabe der Frau ift das Ordnen und Berflären.
„Der Mann — jagt Rusfin — muß bei feiner rauhen Arbeit in der Deffentlich-
feit jeder Gefahr und Prüfung entgegentreten; ihm werden daher Fehlichläge,
Kränkungen und unvermeidlihe Irrtümer zu teil; er muß häufig verwundet,
bejiegt, irre geleitet und ftet3 abgehärtet werden. Aber er ſchützt die Frau vor
diefem allem; in fein von ihr beherrichtes Haus braucht, wenn fie e8 nicht ſelbſt
aufjucht, weder Gefahr noch Verſuchung, noch irgend eine Urſache für Irrtum
oder Kränkung zu dringen. Das ift die wahre Natur des Heims: es ift der
Ort des Friedens; die Zuflucht nicht nur vor aller Verlegung, jondern vor allem
Screden, allem Zweifel, aller Spaltung. ... Wohin ein echtes Weib aud)
fommen mag, wird dies Heim fie immer umgeben. Sie mag nur die Sterne
über ihrem Haupte haben, und der Glühwurm im taufeuchten Gras mag die
einzige Leuchte ihrer Füße fein: dennoch ift Heim, wo immer fie ſich befinde...
Und da im Menjchenherzen ſtets ein natürliches Gefühl für alle feine wahren
Pflichten lebt, wie 3. B. der tiefe Inſtinkt der Liebe, der, richtig geleitet, alle
Heiligtümer de3 Lebens erhält und, falſch geleitet, jie untergräbt, jo ift im
Menichenherzen aud) ein unauslöfchlicher Inſtinkt, die Liebe zur Macht, die, richtig
geleitet, die Majeſtät aller Geſetze und alles Lebens erhält und, falfch geleitet,
alles zeritört. Tief wurzelnd im innerjten Derzensleben des Mannes und der
%
246 Fritz Lienhard, Die Gemütsmacht der deutichen Frau.
Frau hat Gott fie gepflanzt, und Gott erhält jie auch dort. Es iſt ebenfo ver:
geblich wie faljch, den Wunſch nah Macht zu tadeln oder zu ſchelten. Wünfcht
fie Euch, ihr Frauen, fo jehr ihr könnt. Aber was für eine Macht? Das ift
die große Frage. Macht zu zeritören? Nicht fo. Die Macht zu heilen, zu er-
löfen, zu leiten und zu behüten.“ Und fo nennt Ruskin die Frauen Königinnen.
„Bemwußt oder unbewußt müßt ihr in vielen Herzen thronen. Königinnen müßt
ihr fein. Söniginnen für Gatten und Finder, Königinnen von geheimnisvollerer
Macht für die übrige Welt, die fich beugt und immer beugen wird vor der
Myrtenkrone und dem unbefledten Szepter der Weiblichkeit."
Man vergleiche diefe Adelsſprache mit dem jegt üblihen Ton unferer
Ueberbrettl- Dichter und ihrer Geiltesverwandten oder mit den bageren Zerr-
bildern gewiſſer Witblätter nad) Parifer Art! Der Zeit der Minnejänger
und des blühenden Marien-$ultus wirft man eine gewiſſe provenzaliſch beein-
flußte Sinnlichkeit vor. Ach, ich denke, damals fand unfer Walther von der
Vogelweide jo mannhaft hohe und mwürdige und zugleich fo innige Töne von der
Edelart deutfchen Frauentums und weiblicher Zucht oder fraulicher Minne, dat
man nad diefer Seite hin die unftolze Durchſchnittsdichtung, die bisher aus
dem neuen deutſchen Reiche herausgewuchert ift, mit jenem alten deutichen Reiche
auch nicht im Scerze vergleihen darf. Minnedienft und Frauenverehruug
jener ritterlihen Zeit waren nicht undeutſch: denn die franzöſiſchen oder lom—
bardiichen oder fogar fpanifchen Herrengeichledhter, die „Blaublütigen“ alle,
waren wejentlich aus germanijchen Ländern ſeit der Flut der Völkerwanderung
und fpäterer Jahre dorthin getragen worden. Frauen-Achtung ift gegenüber
Mauren- und Gemitentum germanifche und ariiche Herrentugend. „Ein edler
Menſch zieht edle Menſchen an” — in einem edlen und perfönlichkeits-ftolzen
Manne fpiegeln ſich frauen nicht in verzerrten Bildern.
(Schluß folgt.)
1%
ESESESESESESESESEISEDSESESESENS
Sedidite von Frida Schanz.*)
Mondnadt.
Sa felerlihes Silberlidit getauct Vergelitigt die geliebte kandicalt, fremd,
Die nächtge Welt, fo groß, fo ftumm und hehr, Wie ein Gelicht, von höhrem Schaun verklärt,
Die Bergesmalien zart, wie hingehaucht. Ein trauter Freund, dess Seele ungehemmt
Mein frohes Thal, ic kenne Dich nidıt mehr. Weit, weit entrückt, mit Ewigem verkehrt.
oO
Ergebung.
m tiefiten Leid hab ich des Leidens Ziel Das ganze All ilt ein gewaltger Sang
Mit einem Mal geipärt: — Doll Itarker Melodie,
Id bin die Salte nur im Saitenipiel, Und was idı leide, nur ein tiefer Klang
Von höhrer Sand berührt. In hödchiter Garmonle,
o
3ede Nadıt ein Erwahen —
J Nadıt ein Erwachen Ein Scaun In die Tiefe, till, verltohlen,
Mit dem freien Blik& über Glück und Weh, Ein Schaun in die höhen, leligweit,
Ein Sichalleinbeiinden im Naden Das ift das tiefite, tlefite Erholen !
Auf der beruhigten Lebensiee. — Das ilt die weltfernite Einiamkeit !
Ringsum die Ruhe fo zauberhaft,
So groß die Weite um deinen Machen!
3ede Naht ein Atmen in Licht und Kraft,
3ede Nadıt ein Erwacen !
oO
Daheim.
Zuses daheim und bei mir Telbit dahelm ! Ein liebes Werk, hellgoldnes kampenlicht
Im fiefiten Eigen traulich abgeſchleden, Fern, traumhaft fern, der Menichen hait'ge Menge,
Die Flamme prafielt ihren alten Reim, Wie Sonnenhaucd durchglüht es mein Gelict,
Die Seele lingt. — Glüdlelger Seimatsfrieden ! Beimfelig ralt ich in der itillen Enge!
o
Zugvögel.
U" kahlen Wald, um tote Auen, Welch mädtiges, weld ielges Leben
Spielt müde Serbitluft, klar und warm, In dieiem fliegenden Entfliehn,
Zugvögel itreidten hodı im Blauen In diefem Schwung, in dielem Schweben,
Dahin in langem, ſchlankem Schwarm. In dieiem Weiter, Weiterziehn !
Ic ieh mit wunderlichen Schmerzen
Ihm nadı, dem Wandervogelflug,
Mir ift, als flög aus meinem Berzen
Ins Weite dieier Sehniuctszug !
Aus der demnächſt ericheinenden Sammlung „Intermezzo“. Berlag von
F. A. Yattmanıın, Boslar. Buchſchmuck von Maria Stüler-Walde.
BIBIBIBIBIBIBIBIBIBIBIBIBIBI
Bankbrühe und Bankkontrollen.
Don
Adolph Wagner.
II.
Allgemeine Ergebnilje und Reformanforderungen.
gi Eigentümlichkeit der neueften Bankbrüche in Deutichland, die im erften
Artikel behandelt wurden, ift das ganz oder faft ganz Unerwartete, Plöß:
liche, wie fie ausbracdhen, und der weitere Umftand, daß nicht eigentlich all:
gemeine politische oder wirtſchaftliche Verhältnifje den Ruin verurfacht haben. Wie
die Pfandbriefe aller anderen Banken, wie aber auch die beften Staatöpapiere mit
feftem Zinsfuß, deutjche, preußifche, mittelftaatliche und die landichaftlichen Pfand-
briefe, iind unter dem Einfluß der allgemeinen Bewegung des Zinsfußes und der
Kapitalabſorption durd) die übermäßig rajche Entwicklung von Induſtrie und Handel
jeit 1897—98, ſeit den politischen Borgängen der letten Jahre in Amerika, Afrika,
Alten und bei der fteigenden Geldklemme, die damit verbunden war, die Pfandbriefe
der jegt notleidenden Hypothekenbanken und die Aftien diefer und der übrigen ver—
frachten Banken jchon vor der Ktataftrophe etwas gegen früher im Kurſe geſunken
geweien. Aber nicht mehr als die anderen verwandten Papiere. Und nod) kurz
vor der Stataftrophe ftanden die Kurſe der Papiere der gefallenen Banken nicht
eben ſchlechter als Diejenigen der übrigen gleichen Unternehmungen. Bollends
eklatant war das bei der Leipziger Bank fo. Zwar munfelte man bei den Banfen
der Spielhagengruppe, der Preußischen Hypothekenaktienbank, der Bommerichen,
der Medlenburg:Streliger mitunter etwas über gewiſſe bedenkliche Dinge, aber
auch meift nur furzfvor dem Eflat, und ohne irgend pofitive Thatjachen an-
geben zu Können. Die Direktoren diefer Banken genofien „öffentliches Vertrauen“
bis zulegt und haben augenfällige Anerfennungen erfahren, ſich an gemeinnügigen
und patriotiichen! Dingen in jignififanter Weife beteiligt. Bei öffentlichen Er-
klärungen, worin die Banken fich jelbjt und dem Publikum ihre Kreditwürdigfeit
gegenjeitig beicheinigten, haben wenigitens 1897 auch jeßt verfradhte Banken nicht
gefehlt. Ganz plötzlich brach dann die Kataftrophbe aus. Der Kursitand an
Aktien und Pfandbriefen bis dahin beweiſt am beiten, daß die Börſe, die „alles
Adolph Wagner, Bankbrüche und Bankkontrollen. 249
durchſchaut“, da die großen Banken, die „jedes Unternehmen genau kennen“, dat
die Krediterfundigungs-Unternehmungen, die Auskunfteien gerade jo überrajcht
wurden, alle nichts wußten, ebenjo wie die ſtaatlichen Aufjihtsorgane und
Inftanzen und wie die Maſſe der Aktien und Pfandbriefbejiger. Sonſt hätte
jiher fchon länger eine angemefjene „Anticipation der zufünftigen Ereigniſſe“
durch entiprechende Operationen des Kapitals und der Börje und frühere Derab-
jegung der Kurſe demgemäß ftattgefunden, wie ja die Börfe, fich ihrer guten
Borausficht rühmend, es jonft wohl thut. Bei der Reichsbank wurden die Pfand-
briefe der Preußiihen Oypothefenaftienbanf und der Pommerſchen Bank bis
zulett, jogar in Klaſſe I (bis zu %/, des Kurſes), lombardiert.
Und genau jo ging es bei den Fall der Effektenbanten zu, jpeziell bet der
Leipziger Bank. Auch da bat man zwar jeit einiger Zeit, gerade wegen der
Verbindung mit der jchmwindelhaften Trebertrodnungsgejellichaft, über die Leip—
iger Bank hie und da etwas Verdacht geäußert, 3. B. in einem ſüddeutſchen
Preßorgan. Aber wiederum zeigt am beiten die Kursitellung der Aktien, daß
doh eigentlih niemand ernſtlich Mißtrauen begte, vollends nicht in dem
Umfange, wie es fich bald als nur zu begründet ergeben jollte; daß niemand
daran dadıte, durch umfafjenderen Aktienverfauf jein Vermögen, durch Heraus—
ziehen jeiner Gelder feine Guthaben zu fichern. Bei anderen Banffradyen lag
die Urjache, zunächſt wenigitend der Zahlungseinjtellungen, in dem, was
der Engländer und Amerifaner einen run upon the bank nennen, einem
„Bankrennen“, wo aus einem allgemeinen Motiv des Mißtrauens die Banfnoten-
befiger ihre Banknoten zur Einlöfung präfentieren, die Deponenten ihre Depofiten
berausziehen, ſei es unter der Angfterregung einer allgemeinen politischen oder
großen Wirtjchaftskrife, jei es wegen fpeziellen Mißtrauens gegen eine beſtimmte
Bank. Davon war vor der Kataſtrophe feine Rede bei uns. Hinterher jind freilich,
unter der Erregung des Miftrauens gegen Banken überhaupt, aud die Kaſſen
anderer Banken, jo in Dresden, ferner einzelne Sparkaſſen von den Gläubigern
überlaufen worden. Aber vor der Sataftrophe bat aud bei den verfraditen
Efjektenbanfen im Grunde niemand etwas gewußt, kaum jemand etwas geahnt,
feiner Mißtrauen gehegt.
Das iſt eine Thatiahe von großer allgemeiner Bedeutung. Sie
zeigt die Wertlofigkeit, jedenfall3 den geringen Werth einer Reihe von Normen
und Einrichtungen, auf die man fich zu allgemein verlafjen bat, und zeigt aud),
daß es unrecht iſt, von gewöhnlichen Privaten, die für feite Kapitalanlagen Pfand:
briefe oder ſelbſt als folid geltende Bankaktien erwerben, eine Vorausſicht zu ver-
langen, die niemand, aud) die „gewiegteiten Praktiker“, auch die „großen Banken“,
die „Immer orientiert find”, aud) die Börfe, „die alles wittert”, gehabt hat.
Bei unjerem Aktienbankweſen hat man, wie bei allem Aktiengejellichaftsiveien,
feit der Befeitigung des früher jchon allein wegen der Form der Gejellichaft
250 Adolph Wagner, Bankbrüche und Bantkontrollen.
geitellten Erforderniffes der Stantsgenehmigung in der Novelle von 1870, alles
Gewicht gelegt auf die beiden Grundjäge der Deffentlichfeit in Bezug auf
die Gründungsporgänge, Gejchäftsbetrieb, VBermögensftand, Stand der Aktiva
und Paſſiva (Bilanzen, Status), Rechnungsabihluß, und der perfönlichen, civil-
rechtlichen, eventuell auch ftrafrechtlihen Verantwortlidfeit und Haftbar—
feit der Gründer und Leiter, Direktoren, Aufſichts- Verwaltungsräte. Die un:
genügenden Bejtimmungen hierüber in der Novelle von 1870 find in der Novelle
von 1884 für das gefamte Aktienweſen verändert, verbeilert, verjchärft, aber im
Ganzen nur gleihmäßig für alle Gejellichaften, nach ihrer Form — als Attien-
gejellihaft — gegeben, nicht zugleih nad Zweden der Unternehmungen
ipezialijiert worden. Beide Grundjäße in ihrer heutigen Normierung haben fid)
audy wieder in den neuejten Fällen nicht bewährt, nicht ausreichend gezeigt,
nicht präventivd genügend gewirkt. Ob der Grundjat der Verantwortlichkeit
der civil, vermögensredhtlichen wie der jtrafredhtlichen, wenigitens repreſſiv
genügend wirken wird, muß fich demnächſt, bei den Gerichtöverhandlungen und
Civilprozeſſen zeigen, iſt aber — einftweilen nicht ſehr wahrjcheinlid).
Die Beröffentlihungen der Banken, ihrer Nahresbilanzen, Rechnungs:
abichlüffe, die begleitenden allgemeinen Gefchäftsberichte haben ſich namentlich
ungenügend dafür erwiefen, um ein mwahres Bild der Lage, wenigftens dem
fundigen Sadpverftändigen, gewinnen zu laſſen. Nicht nur, daß Bilanz:
täufchungen und Berfchleierungen vorgefommen find, auch wo die Zahlen nicht
an fich falich waren, haben fie feine richtige Belehrung gegeben. Bejtenfalls
gewähren diefe Bilanz: und Rechnungszahlen einen Einblid in einige quanti=
tative Momente, auch bier aber gar nicht ausreichend, weil jie zu wenig
jpezialifiert find, ganze große Gruppen von Aktivis und Paffivis und von
Geſchäften darin in Einer Ziffer zufammengefaßt werden. Was nüßt 3. B. die
Kenntnis der Gefamtziffer „Effeftenbeftände“ oder „Debitoren“, vielleicht in
einer Höhe des Betrags, fo daß eben die Lage der Bank ganz wejentlich von
diefer einen Ziffer beftimmt wird und die vielleicht genauer jpezifizierten fonftigen
Aktiva auch im Gejamtbetrag an Bedeutung ganz zurüditehen? Durch Ver—
ichiedenheiten der Buchführung, Teilung der Conti erfolgen weitere Verſchleie—
rungen. So war e3 bei der Leipziger Bank bei den Gefchäften mit der Treber:
trodnung. In der 80 MillionensForderung der Banf an dieſes „concern*“, um
dem neueften Börlenjargon zu folgen, lag das Schidjal der Bank. Aber wenn
jelbft ein genügend fpezialifierter richtiger Status immer vorläge, damit würde
man doch erit Hilfsmittel quantitativer Art für die richtige Kontrolle haben,
für eine qualitative noc feine ausreichenden.- An leßterer Beziehung lajjen
die bisherigen Publikationen der Banken, wie freilich auc der übrigen Aktien:
geiellichaften, noc, fait alles zu wünfchen übrig, Es müßten mindeftens Die
GEffeftenbeftände nidyt nur nach einzelnen Stategorieen oder Gattungen (Staats:
Adolph Wagner, Bankbrüche und Bankkontrollen. 251
papiere, in= und ausländiiche, Pfandbriefe, Prioritätsobligationen, Aktien der und
der Art, von Bahnen, Banken u. |. w., wie jüngft in dem „zur Berubigung“ ver:
öffentlichten Halbjahritatus einer Berliner Effeftenbanf), ſondern nad) den ein-
zelnen Spezies jeder Gattung und hier zugleid; nad) dem Nennwert,
Erwerbspreis, Bilanzanjaß, Kurswert, wo dieſe letteren drei von ein=
ander abweichen, in der Jahresbilanz, womöglich aud in öfter veröffentlichten
fnapperen Rohbilanzen während des Jahres angegeben werden. Das verlangt
ein wenig mehr Mühe und ein wenig mehr Raum, macht vielleiht auch ein
wenig mehr Koften der Publikationen, was alles zujammen aber feinen Grund
bildet, diefe allein braudbare, weil allein wirklich ſicheres Urteil
ermöglichende Art der Verwirklichung des Publizitätsprinzips zu unterlafien.
Aehnliche Anforderungen find an die Zerlegung der unter den Aktivis aufgeführten
Beträge aus Konfortialbeteiligungen, Kommanditbeteiligungen u. dgl. zu stellen.
Auch bei den Lombardforderungen, Reports, ſonſtigen Darlehnsforderungen,
diverfen Debitoren find möglichft eingehende Spezialifierungen der einzelnen
Geſchäfte u. |. w. zu verlangen, 3. B. bei den Lombardforderungen binjichtlich der
einzelnen Arten der beliehenen Werte, Effekten, bei den Wechſeln wenigſtens
nach den Berfallzeiten (wie im Jahresbericht der Reichsbank). Auch die Haupt:
paffivpoften find in den öffentlichen Ausweifen zu zerlegen, jo die beliebte
Kategorie „diverje Kreditoren” nad) den einzelnen Arten derjelben, die Depofiten-
und dergl. Conten mindeitens nad) den Fälligkeits- und Kündigungsterminen.
Ich ftimme hier wieder mehrfacd den Anfichten und Forderungen Dr. Linden-
bergs in der oben genannten Schrift bei und habe ähnliche in meinen litterarifchen
Bantarbeiten auch jeit langem vertreten. Dieje Dinge find aber in den Grund-
zügen dur das Gejek, in den Einzelheiten durch das der Aufjichtsbehörde
demgemäß in umfafjendem Maße zu erteilende Verordnungsredht zu be—
ftimmen, nicht den Banfen allein zu überlafjen. Bei den Notenbanten ift das
wenigftens erreicht, wenngleid) auch hier noch nicht völlig ausreichend eingerichtet.
Bei den Hypothekenbanken hat das neue Reichsgeſetz von 1899 $ 24 für die Auf-
ftellung der Jahresbilanz die getrennt anzugebenden Poſten bezeichnet, ift
aber in der Spezialifierung doch auch noch nicht weit genug gegangen. Veröffent-
lichungen des Betrags der in Umlauf befindlichen Bfandbriefe und der Dedungs-
bypothefen dafür und einiges Weitere foll jett auch am Schluß des Kalender:
balbjahrs erfolgen ($ 23). Für die anderen Banken, daher die wichtigfte, aber
aud in mander Hinfiht banktechniſch gefährlichite moderne Banfkategorie, die
Effektenbanfen, fommen nur die allgemeinen Beitimmungen des Aktiengeſellſchafts—
und des Genojjenjchaftsrechts in Betracht, die aber nicht ausreihen. Das hat
ſich wahrlüh jetst wieder gezeigt.
Das Mindefte ift doch, daß man den Grundſatz der Deffentlichfeit ernit-
lich nimmt und jichert, wenn man felbjt von weiteren formellen und vollends
252 Adolph Wagner, Bankbrüche und Bankkontrollen.
von allen materiellen Kontrollen abſieht. Diefe Sicherung des Grundſatzes der
Deffentlichkeit fehlte aber bisher und das hat ſich gerät. Hier ſchadet aud) die
dem wirtſchaftlichen Gebenlafien jo bequeme und jo entgegenfommende lediglich
formaliftiihe Behandlung der Dinge in der Gefeßgebung unter dem Einfluß einer
formaliftiichen Jurisprudenz und die von den Gejellichaftsorganen gehegte Scheu,
wie von ihnen verfichert wird, die Unthunlichkeit „wegen der notwendigen Ge—
heimhaltung der Geſchäfte“ Beitimmungen über die Publizität zu treffen, die
wirklichen Wert für die Kontrolle haben. ch habe vergebens feiner Zeit Ichon
als Mitglied der Minifteriallommiffion, welche 1882 mit der Borbereitung der
neuen Aktiennovelle betraut war, eine viel weiter gehende Publizität, insbejondere
eine Aufftellung der Bilanzen oder Status nad) jpezifizierenden amtlidhen
Schematen vertreten. Den Juriſten ging das zu weit ind Detail, den Praftifern
war es vollends gegen den Stridy und wurde al3 unausführbar und mit dem
notwendigen Geheimhaltungsinterefje unvereinbar bezeichnet. Ach habe damals
nicht minder die allgemeine Forderung vergebens vertreten, daß ſich an ein doch
wejentlih nur Formalbeſtimmungen treffendes allgemeines Geſetz, wie das
Dandelögejeßbuch in jeinen Beitimmungen über die Aktiengejellihaften, wo die
Aktiengelellichaft wejentlih nur als Rechtsform der Unternehmungen in Bes
tracht Eommt, Spezialgejege, wirtichaftliche Verwaltungsgeſetze an:
ichliegen müßten, welche jede Dauptfategorie der in Aftiengejellidaftsform
(und eventuell auch noch in anderer) betriebenen Unternehmungen nad) deren
wirtihaftlihem Zwed aud einer Neihe gerade nad dieſem Spezial-
zwed erforderlihen Spezialbejtimmungen unterftellte. Es iſt doch Elar,
daß, je nachdem es jih 3. B. um eine Bank, ein Verficherungsgeichäft, eine
Dampfihiffahrt, ein Bergwerk, eine Fabrik, einen Gaſthof ꝛc. handelt, ferner
innerhalb diejer Sategorieen, 3. B. bei Banken um eine Noten-, Depofitenz,
Hypotheken-, Effektenbanf, verſchiedene weitere Beitinnmungen im Recht geboten
ind. Damals fand auch diefe Anregung bei Juriſten wie bei Gejchäftspraftifern
weientlich nur Ablehnung. Ach glaube, die Erfahrung, auch wieder die jüngfte,
bat mir recht gegeben. Für die Notenbanken jchon feit 1875, endlich auch für die
Hypothefenbanfen und die VBerficherungsunternehmungen ift diefe Auffafjung ja
nun zur Anerkennung gelangt. Aber die anderen Gebiete, darunter beim Bank:
wejen das Effektenbanf- und das Depofitengeichäft, harren noch einer
jolhen Spezialgeleßgebung.
Bei den Dypothefenbanten iſt wenigftens der Grundjag der Staats—
genehmigung für das einzelne Unternehmen im deutichen Partikularrecht feft-
gehalten und nunmehr auch im Reichsgeſetz von 1899, $ 1, definitiv geſetzlich
feitgelegt worden. Wo es fih um jo lang =terminliche Gefchäfte, wie Pfand-
briefausgabe, um jo wichtige allgemeine Intereſſen, wie bei dem Hypotheken—
geichäft dieſer Banken handelt, ift das völlig gerechtfertigt. Auch die laufende
Adolph Wagner, Baukbrüche und Bankkontrollen. 953
Staat3aufficht ift mit diefem Grundfaß verbunden und notwendig. Aber Mip-
jtände find geblieben, und die Staatsaufficht, joweit ſie bei den verfradhten
Dypothefenbanfen in Betracht fam, hat allerdings nur einen vollen Miterfolg
gezeigt, jedenfalls, wie fchon oben bemerkt, die fund gewordene Mißwirtſchaft
nicht vechtzeitig verhindert und fie nicht einmal zuerft aufgededt. Das iſt auch
eine Thatfache, von der aus den letzten Ereigniffen Akt zu nehmen ift. Auf dem
Gebiet des Hypothekenbankweſens hat fich ferner aud) noch in der Periode des
Deutfchen Reichs eine Ungehörigkeit erhalten, wie ehemals unter den Deutichen
Bunde bei den MNotenbanten. Als in den 1850er Jahren Preußen und
die größeren Mittelitaaten feine weiteren Notenbanfen in ihrem Gebiet Eon:
zefftonierten, fuchte das fpefulievende Kapital, gegen alle möglichen Zugeſtändniſſe,
Konzeffionen in den meisten Slleinftaaten zu erlangen, Orte, wie Meiningen,
Gera, Gotha, Weimar, Sondershaufen, Deffau, Homburg, Büdeburg fogar
erhielten ihre eigene Notenbanf, in Büdeburg 3. B. eine „Niederfächliiche Bank“
mit „unbegrenztem“ Recht der Notenausgabe, fogar in allen Hauptwährungen der
Welt, felbft in der ungeprägten Hamburger Mark Banko, die genehmigten Sta-
tuten diefer Banken mehrfach mit zu laxen Dedungsvoricriften. Dieſem Syſtem
bat die Meichsgejeßgebung ein Ende gemacht. Wenn aber jett Duvdezftaaten,
wie Medlenburg » Strelit, wieder eigene Hypothekenbanken Eonzeffionieren, mit
dem Gejchäftskreis im ganzen Reiche, wie die durch die neuejten Ereignifje jo
berüchtigt gewordene, ift das nicht im Grunde eine ganz ähnliche Kompetenz—
überjchreitung wie ehemals auf dem Gebiete des Notenbankweſens? Dat ein
folder Staat auch nur ſicher hinlänglich fachverftändige Perjönlichkeiten, die die
Staatsaufficht wirkſam ausüben künnen? Am neuen Reichsgejet jind die einmal
bejtehenden Hypothekenbanken wiederum in ſehr jchonender Weile behandelt,
unterliegen nicht oder nicht völlig oder nicht uhne weiteres jofort den neuen,
mehrfach ſelbſt noch zu wenig ftrengen Anforderungen des neuen Gejeßes, be-
halten daher eine nicht erwünfchte Musnahmeftellung. Bei Neugründungen von
Dypothefenbanfen, wenigitens in der praftiich fajt allein in Betracht kommenden
Form der Aktiengefellichaft und der Kommanditgeſellſchaft auf Aktien, muß aber
jett nad) $ 1 des Gejetes doch wenigitens, wenn fid) die hypothekariſchen Be-
leihungen einer Bank nicht fagungsmäßig auf das Gebiet des Bundesitaats be-
jchränfen, in dem die Bank ihren Sit hat, der Bundesrath die Genehmigung
erteilen, während in dem angegebenen Fall nur die Genehmigung der Gentral-
behörde des betreffenden Einzelſtaats erforderlich it. Erwünfcht, vom nationalen
und allgemein wirtfchaftlichen Standpunkte aus betrachtet, iſt lettere Kon—
zeſſion an den PBartifularismus, euphemiſtiſch „Föderativprinzip“ genannt, nicht.
Aber wenigftens wird durd die neue Vorſchrift eine eigene Hypothekenbank in
einem der deutfchen Sleinftaaten kaum mehr möglid), da das Gebiet derielben
ſelten für die erjprießliche Wirkjamfeit einer Bank ausreichen wird.
254 Adolph Wagner, Baukbrüche und Banftontrollen.
Daben jich nun auch wieder nad) den dargelegten neueiten Erfahrungen mit
„Bankbrüchen“ die Bejtimmungen des Aftiengefellihaftsrehts über Publizität
und Berantwortlichfeit, diejenigen der bisherigen Oypothefenbantitatuten über die
Einrihtung und Geichäftsführung diefer Banken und über die Staatsaufficht
darüber nicht ausreichend gezeigt, um unerhörte Mifwirtichaft zu verhüten und
ſelbſt num rechtzeitig befannt werden zu lafjen, bevor die Schäden die nunmehr
feftftehende Höhe erreicht haben; hat die Kontrolle der öffentlichen Prefje, der
Konkurrenten, der Börſe, worauf man früher fih als genügendes und der
Staatdaufficht überlegenes Kontrollmittel vielfach glaubte verlafjen zu können,
ebenfo wenig auägereicht, — auch der Verfaſſer dieſes hatte in feinen jungen
Fahren, in feinen früheften Bankſchriften noch diefe optimiftiihe Illuſion —;
haben die Nädhjitinterefjenten, Nktionäre, Pfandbriefinhaber, fonftige Gläubiger
ji völlig außer ftande gezeigt, Ti) vor großen Vermögensverluften zu hüten, —
was foll nun geſchehen? Soll man alles beim Alten laſſen? „Die Dinge nicht
noch ſchlimmer machen, indem man fie an die große Glode hängt und das Mip-
trauen immer weiter greifen läßt”, wie aus der Bankgeſchäfts- und Börjenwelt wohl
abgemahnt wird? Soll man ſich mit dem wohlfeilen, nach Lage der Dinge beinahe
höhniichen Rat begnügen: „hr müßt eben vorfichtiger fein, ſelbſt prüfen” und
im übrigen: „Die Dummen werden nicht alle”, wie immer noch gewiſſe Leute
fpotten? Während man den Intereſſenten, wie 3. B. den Pfandbriefinhabern,
bisher faft Feine, auch jelbft im neuen Reichsgeſetz noch feine ausreichenden und
zum Teil wieder nur formaliftifche Kontrollmittel und Scutmittel gewährt
bat?! Oder hat ein Schugmittel, wie das in dem genannten Geſetz in $ 30
Abjat 1 gegebene, einen größeren, einen wirklich materiellen Wert, in der That
nicht nur einen formaliftiihen, wenn e8 da 3. B. heißt: „Der Treuhänder hat
darauf zu achten, daß die vorfchriftsmäßige Dedung für die Hypothefenpfand-
briefe jeder Zeit vorhanden fei; hierbei hat er, jofern der Wert der beliehenen
Grundftüde gemäß der von den Auffichtsbehörden genehmigten Anmeifung feit-
gejett ift, nicht zu unterjucdhen, ob der feitgeiegte Wert dem wirklichen
Wert entipriht?" Gerade auf letteres füme alles an, das „nicht“ in diefem
Sate mühte fallen, wenn die Kontrolle und das Schutmittel Wert haben
jollten! Aber — das würde, meint man, eine unzulälfige und jtörende Ein-
milchung in den Gejchäftäbetrieb fein. Nun, dann täufhe man ſich doch nicht
darüber, daß auch unter dem neuen Geſetz Mißwirtichaft, wie die jett bei den
verkrachten Hypothekenbanken erlebte, auch in Zukunft nicht ſicher ausgefchlofien
ift. Jener Paragraph entfpricht doch nur wieder dem alten Sat: Wald, mir
den Pelz, aber mad’ mich nicht naß.
Meines Erachtens folgen aus den jüngiten Erfahrungen bei diefen Bank—
brüchen und aus der völlig unzureichenden, nirgends, worauf doch alles ankäme
genügend präventiv wirkenden Banffontrolle einige Forderungen, welche id)
Adolph Wagner, Bankbrüche und Bankkontrollen. 255
mich hier begnüge, nur zum Schluß kurz ohne weitere Begründung des Einzelnen
hinzuftellen. Ich habe fie teil ähnlich, teils ebenjo in meinen verjchtedenen
Banfarbeiten vertreten, oder jie folgen ald Konjequenzen aus dem, was ich dort
darüber dargelegt habe. Eine volle Beitätigung meiner Auffafiungen finde ich
in den jüngften Borfällen. Freilich find Ddiefe Forderungen, wie mir oft
genug entgegengeworfen ift und wahricheinlich jeßt wieder werden wird —
diejenigen eines „grauen Theoretikers und Stubengelehrten”, der dem
„großen modernen Wirtjchaftsgetriebe" nicht nur fern, fondern, wie man ihm
nadjjagt, auch veritändnislos und ſelbſt antipathiich gegenüber jteht, der fogar,
horribile dietu, „ein Gegner des Induſtrieſtaats“ it. Das Alles iſt mehr oder
weniger richtig. Aber Schreiber diejes ift andererjeit3 perjönlich unintereffiert und
bat feine Studien, allerdings nur theoretiiche, auf dem Gebiete gemacht und traut
jih danach doch ein Urteil zu. Von einzelnen anderen Seiten wird jett doc
auch ähnlich geurteilt. Auch hier beziehe ich mich für einige Punkte wieder auf
die Schrift von Lindenberg, auch auf praftiice Beftrebungen von — Praktikern,
die 3. B. von Frankfurt a. Main aus für die Ausbildung eines eigentlichen De-
poſitenbankweſens ausgegangen, aber ohne Erfolg geblieben find. Auch die
Arbeit Neumann=Hofer8 über Depofitenbanfen mag weiter genannt werden.
Bei den, was m. E. zu gejchehen hat, handelt es jich allerdings in eriter
Linie um den Schuß gewiſſer privater fapitaliftiiher Intereſſen, auch nament:
lich joldher von mittleren und Eleinen Kapitaliften, wie in der Brandbrieffrage,
zum Teil au im Depofitengeichäft. Aber diefe Intereſſen haben, wie oben
dargelegt, auch eine allgemeine volfswirtichaftlidde Bedeutung. Ferner ift
die bejjere Sicherung von Treu und Glauben ein hohes volfswirtichaftliches
Intereſſe allgemeinfter Art und darüber hinaus ein nationales joziales Intereſſe.
Und endlih ift in der heutigen Organifation der Volkswirtſchaft, bei der er-
reihten Entwidlung des Kredits, eine geiteigerte Sicherung der Leiſtungs—
fähigkeit der Banken aller Art, auch der, wie ich zugebe, unentbehrlidhen
Effektenbanten, eine volfswirtichaftliche und jelbft — wegen der wenigftens
indirekten Bedeutung für die Arbeiterbeichäftigung — eine joziale und wegen
der Rückwirkung aller Wirtjchaftsverhälmniffe auf den Staat, auf die Finanzen,
auch eine politiiche Angelegenheit allererften Ranges. Wegen aller dieſer viel-
feitigen Beziehungen fann man wohl Forderungen wie die folgenden aus dem
Befihtspunft nationalen Gejamtinterejjes ftellen und reditfertigen.
I. Zur Sicherung des Grundiages der Publizität, damit aus den
Ausweiſen u. ſ. w. zuverläſſige Schlüffe auf die wirkliche Lage einer Bank gezogen
werden können, was bisher nicht genügend verbürgt ift, find Beröffentlichungen
der Jahresbilanz in weitgehender Spezialifierung, ferner, wenn auch in fnapperer
Form, aber immer noch etwas mehr jpezialifiert, von mindeſtens Quartalsftatus,
womöglich von Monatzjtatus nad amtlichen, von der NReichsauffichtsbehörde auf:
256 Adolph Wagner, Bankbrüche und Banfkontrollen.
geitellten Schematen, ebenſo die jährlichen Rechnungsabihlüfle und Geſchäfts—
berichte nach joldhen Schematen zu veröffentlihen. Die Schemata find für die
großen Hauptfategorieen der Banfen, insbejondere ſür Noten-, Depofiten-, Hypo—
thefen- und aud für Effeftenbanfen in verjchiedener Weife nad) der Art der
Aktiv- und Paſſivgeſchäfte diejer KHategorieen, ſtets mit möglichit weitgehender
Spezialifierung, zu entwerfen.
I. Zur wenigftens formalen, eventuell auch materiellen Kontrolle des
gefamten, in Form von Aktien, Kommanditaftien » Gejellichaften, Genojfen-
ichaften und öffentlichen Korporationsbanfen betriebenen Bankweſens im Deutichen
Reich ift ein Reichs-Bankkontrollamt zu errichten. Diejes ift aus Sadı-
verftändigen des Bankweſens, Praktikern und Theoretifern, und aus richterlichen
und Berwaltungsbeamten zufammtenzufegen. Es hat die Aufgabe, die Banfen
der „formalen” Stontrolle bezüglich der Nichtigkeit ihrer vorgeichriebenen Publi-
fationen zu unterziehen und, joweit das Geſetz betreffende Beitimmungen ge-
troffen hat, auch der „materiellen“ Kontrolle bezüglich der Innehaltung der gejet-
lihen Vorichriften. Zu dem Behufe find alle vorgeichriebenen Publikationen der
Banfen an das Amt einzuliefern. Das Amt hat das Recht, jederzeit die Bücher,
Geihäftspapiere 2c. der Banken daraufhin zu prüfen, ob die Publikationen der
Banken damit übereinitimmen, und die Pflicht, diefe Prüfung wenigftens einmal
im Jahre unvorhergefehen vorzunehmen. Ueber den Befund ift öffentlich Bericht
zu erſtatten. Fühlt ſich eine Banf dadurch beichwert, fo fteht ihr zu, an ein zur
Prüfung folder Fälle einzurichtendes Schiedsgericht Berufung einzulegen, deſſen
Enticheidung ebenfalld veröffentlicht wird. Soweit es fih um die materielle
Kontrolle handelt, hat das Amt die Pflicht, Verftöße gegen geietliche Vorfchriften
zu rügen, Abftellung zu verlangen, die Ausführung von geſetzwidrigen Maßregeln
zu verbieten, unter Androhung von Strafen gegen die Gejellichaftsorgane. Aud)
gegen die Entjcheidung des Amts im Gebiet der materiellen Kontrolle findet eine
Berufung feitens der Bank an ein Schiedsgericht ſtatt. Die Enticheidung des
Anıtes in der materiellen Kontrolle, gegen welche Feine Berufung eingelegt ift,
ferner die Enticheidung des Schiedsgerichts wird auch hier amtlich veröffentlicht.
Findet das Amt bei feiner formalen oder materiellen Kontrolle ftatutenmwidrige,
wenngleich nicht ungeleglihe Borgänge, To hat es davon den Aufſichtsrat der
Bank zu benachrichtigen.
II An materiellen Vorſchriften über Einrichtung, Betrieb, Ge:
ihäftsführung werden für alle Banken, in welcher Rechtsform fie auch be-
jtehen, folgende im Wege der Reichsgeſetzgebung getroffen.
I. Der oder die verjchiedenen Nejervefonds einer Bank find apart, in
mündelficheren Wertpapieren anzulegen, von den übrigen Anlagen der Banf
getrennt. Die Kontrolle des Bankamts eritredt fich hierauf mit.
Adolph Wagner, Bankbrüche und Banklontrollen. 257
2. Der Penfionsfonds einer Bank für ihre Beamten ift regelmäßig mit
einer Minimalquote aus dem Jahresgewinn (Reinertrag, inkl. Hejervelegung), 3. B.
von 2—5 Prozent, doch verjchieden nad) den Umftänden, gemäß den Beftimmungen
des Banfamts, zu dotieren. Er ift einfchließlic der ihm durch freiwillige weitere
Dotierungen zufließenden Beträge apart zu verwalten, ebenfalls in mündelficheren
Werten anzulegen und gilt als nicht mehr zum Bermögen der Bank gehörig,
bleibt daher bei Konkurſen u. ſ. w. der Bank für die fonftigen Bankgläubiger
unfaßbar und für die Anſprüche der Beamten rejerviert.
3. Die Gejellihaftsorgane, insbefondere Direktorium und Auf:
ſichtsrat, unterliegen der befonderen Haftbarfeit für VBerlufte, welche die Bank
nicht nur in Fällen des Betrugs, ſondern aud) der groben Fahrläffigkeit in Gejchäfts-
führung und Kontrolle erleidet, namentlich bei einer den Grundſätzen einer guten
Eaufmännischetechnifhen Bankleitung widerfprechenden Geichäftsführung, daher
insbefondere auch bei gejeß- und ftatutenwidriger. Um den Auffichtsrats-
mitgliedern wenigftens erfüllbare Aufgaben zu ftellen, wird die Zahl der Auf-
fihtsratsämter, die eine Perſon gleichzeitig führen darf, auf ein Marimum be—
jtimmt, 3. B. 6, aber nad) näherer Beftimmung des Kontrollamts. Zur befjeren
Sicherung der zivilrechtlichen Haftbarfeit von Direktorium und Aufſichtsrat wird
die ftatutenmäßige Tantiöme nur zur Hälfte bar ausgezahlt, die andere Hälfte
zinslos 10 Jahre lang referviert, um daraus denjenigen Schaden einer Ban, für
welche die genannten Perjonen als haftbar aus der Zeit ihrer Amtsführung ber
anerfannt werden, zunächſt zu deden.!) Auch diefe Tantiömenreferve wird apart
mündelficher angelegt und verwaltet.
IV. Für die Dedung der Bankverbindlidhkeiten werden gejegliche
Beltimmungen, verfhieden nad) den einzelnen Bankfategorieen, erlafjen.
Für Noten- und für Hypothefenbanken ſei auf die bezügliche Gejetgebung
bingewiejen, die freilih, zumal für die zweite Art der Banken, no Ber-
ſchärfungen des Reichsgeſetzes bedürfen möchte, worauf hier jett nicht weiter
eingegangen wird. Yür reine Depofitenbanfen, d. 5. für jolche, welche nicht
die Spefulationsgejchäfte der Effeftenbanfen betreiben (Gründung von Aktien—
gejellihaften, Emijfion neuer Wertpapiere u. f. w.) wird eine Minimalquote
Bardedung, 3. B. "/; für ſtets fällige und binnen 8 Tagen fällige, Y/o für
länger, bi3 zu 1 Monat fällige vorgefchrieben, fonft daneben nur Dedung mit
Wechſeln, Lombards, feſt verzinslichen Effekten zugelaffen, alles nad näheren
Borfchriften des Kontrollamts. Für die Effektenbanken, welche Depofiten- und
I, Dies war bereits gejchrieben und gedrudt, als mir ähnliche Yorichläge von Profeflor
G. Schanz in Würzburg aus der Preſſe befannt murden. Wir find ganz unabhängig von
einander auf diefe Gedanken gelommen, freilich — alle beide „bloße Theoretiker“. Die „Praktiler“
haben es ja jo herrlich weit gebracht mit ihrer Fürſorge für die Bankintereſſen.
17
258 Adolph Wagner, Bankbrüche und Banffontrollen.
verwandte Gejchäfte (Eontocorrentverfehr u. j. w.) betreiben, wird für ftet3 fällige
Gelder eine Minimalquote Bardekung in höherem Betrage als bei reinen
Depofitenbanten, 3. B. von !/, für ſtets und innerhalb 8 Tagen Fündbare, von
1/, für länger, bis I Monat laufende, von !/;, für weiter bis 6 Monat fündbare,
ferner vorgefchrieben, daß der Reſt diefer Gelder zur Hälfte ebenfalls nur in
Wechjeln und Lombards und feft verzinslichen erſtklaſſigen Effekten, bloß zur
anderen Hälfte in den allgemeinen Aftivgeichäften und Werten der Effeftenbanf
mitangelegt werden darf. Als Bardedung gilt nur die in deutihem Währungs»
geld beftehende, aljo Goldmünzen und einjtweilen auch Thaler, ferner Goldbarren
und fremde Goldmünzen nad) dem Tarife der Reichsbank, Reichs- und andere
deutfche Banknoten, Reichsfafjenicheine, ſtets fällige (Giro- u. ſ. w.) Guthaben bei
der Reichsbank. Die „Effetenbankfähigkeit" der Wechjel und Lombards wird
vom Sontrollamt feftgejett, ſei es generell, jei es für die einzelne Banf, fie braucht
nicht jo ftreng wie die „Neichsbanf- und Notenbankfähigfeit” zu fein.
Bon noch weiteren Einzelheiten und von der Erläuterung, Begründung und
Rechtfertigung gegen zu erwartende Kritik und Angriffe wider dieſe Vorjchläge
jehen wir, wie bemerft, ab. Mander „Praktiker“ wird die Vorſchläge für viel
zu weitgehend halten und jie „wohl unter aller Kritik" finden, das macht mich
nicht irre. Auch die bisherige Stellung und Funktion der Neichsbanf in Ueber:
jpefulationgzeiten, wie der jüngft vergangenen, und in Kriſen, wie der jüngiten
Bankkriſe und der ſich immer mehr ankündigenden induftriellen Kriſe, verdient
einmal eine nähere Unterjuchung. ch habe auch bierbei einige Defiderata auf
dem Herzen. Doch kann darauf jetst nicht eingegangen werden.
©
Deutſche Sprüche.
ch laſſe mir die große Zeit nicht ſchelten;
Was fie uns raubt, wir werden es vericdımerzen;
Sie rüttelt mäctig an der Menicheit Herzen
Und dient der Wahrheit, — darum wird fie gelten!
o
An meinem Volke werd’ idı nie verzagen,
Denn Wahrheitsdrang bleibt feines Weiens Kern;
Es wird, wie einit Chriltophorus den Herrn,
Der Menkhheit Kleinod durdı die Zeitflut tragen.
Yulius kohmeyer,
Meine Kämpfe in Ostafrika. -
Don
Hermann von Wissmann.
II.
Beitrafung der Wawemba-Sklavenräuber.
9* Jahre 1893 näherte ich mich, vom Nyaſſa kommend, dem Tanganika-See.
Noch war mir von meiner zweiten Durchquerung her der Weg bekannt, noch
erinnerte ich mich, wie ich damals die Dörfer verlaſſen oder die Eingeborenen zur
Flucht bereit antraf, da gerade der alljährlich wiederkehrende große Raubzug
der Wamwemba an der Zeit war und die ganze Gegend bedrohte. Seit damals
waren jene Länder jchon jehr entvölfert. Der Grund lag in den bis zum Jahre
1894 fortgejetten Zügen der Wawemba, um Sklaven zu rauben und diefe an
die Araber, die am Tanganika auf engliichem Gebiete angefiedelt find, zu ver-
bandeln. Die Wawemba ſelbſt wohnen auf engliichem Gebiete.
Bon den Leuten einer mir entgegenfommenden Kleinen Karawane vernahm
ih, dat auc die am Ufer des Tanganifa gelegenen Eatholifchen Mifftonen von
dem Raubzug der Wawemba bedroht jeien und jich ſchon feit einiger Zeit in der
feft geichloffenen Boma zur Berteidigung bereit bielten.
Dieje Nahricht veranlagte mich, meinen Marſch zu beichleunigen, um bald-
möglichit nach der Gegend zu gelangen, in der das Naubgefindel jein Wejen trieb.
Bon Stunde zu Stunde gingen mir jcheinbar übertriebenere Nachrichten zu über
die Zahl der Räuber, über ihre Erfolge, über die Maſſen von Sklaven und Vieh,
die fich Ihon in ihren Händen befänden.
Eines Abends kam ich in ein ganz neues, gut gebautes, aber vollftändia
verlajjenes Dorf, und da es fchon jpät am Abend war, mußte ich mid) hier für
die Naht einrichten. Noch vor Dunkelſein erjchienen zögernd zahlreiche Leute,
die Bewohner des Dorfes, die mit ihren Familien in den umliegenden Dickungen
und Sümpfen ſich verftedt gehalten hatten, da fie jeden Augenblid den Angriff
der Wamwernba bejorgten, die auch bei ihnen für unüberwindlich galten. „Die
Wamwenba,” jo erzählten mir die Leute, „haben viele Gewehre; die wenigſten
gehören ihnen jelbit, fie haben folche in aroßer Zahl von den Arabern am Nyaſſa
zu ihrer großen Sflavenjagd geliehen erhalten."
Bis jett hatte jich nichts von den Wamwenba gezeigt, und jo marjchierte id)
denn am nächſten Morgen bis zu einem Eleinen Dorfe weiter, in dem id; mittags
17°
260 Herman von Wißmann, Beitrafung ber Wawemba-Sklavenräuber.
eintraf. Da auch dort nicht3 von den Räubern fichtbar wurde, die Gegend aber
als jehr reih an Elefanten befannt war — hatten wir doch auf denn Mariche
nad) eben jenem Eleinen Dorfe viele Fährten gefunden —, jo gedachte ich am
nächſten Morgen hier Ruhe zu machen, nähere Nadrichten über die Räuber durch
die von mir ausgefandten Eingeborenen einzuziehen und bis zum Eintreffen diefer
eine Elefantenjagd zu unternehmen.
Ich hatte nur ſechzig Soldaten bei mir, von denen fünfundzwanzig Subdanefen,
zwanzig Zulus und fünfzehn ausgefuchte Suahelileute waren; alles gute, verläß:
liche, jeit faft einem Jahre einererzierte Truppen unter dem Kommando von zwei
Offizieren, dem Dr. Bumiller, meinem Better und zwei Unteroffizieren. Aud)
ein kleines Geihüg und ein Maxim-Maſchinengewehr führte ich bei mir.
Der Sicherheit wegen hatte ich rings vor den Palliſaden Poſten aufgeftellt,
wie auch auf einem großen Termitenhügel, der inmitten des Dorfes fich erhob
und oben ca. drei Quadratmeter Flähe bot. Das Dorf war etwa zu drei
Bierteln feiner Umgebung von einem zwei Meter hoben Ballifadenring um—
ichlofjen, vor dem ein bis zu drei Mieter tiefer Spitgraben ausgehoben war,
an einer Stelle war fogar ein baftionartiger Aufbau aufgeführt. Das nicht bewehrte
Viertel des Dorfes ftieß an einen fumpfigen Urwald, der aus fo weichem Boden
aufwuchs, daß er von außen her wohl als unpaffierbar gelten konnte. Die Ein-
geborenen hatten ſich jedoch mittels zum Teil vom Sumpfboden bededten Bäumen
und Snüppeldämmen einen Weg ins Innere diefes Urmaldes angelegt. Diejer
Damm fonnte auf den erjten Augenblid von niemandem als Weg erfannt
werden, da er zum größten Teil von Wafjerlahen und Sumpf überdedt war;
nur die Eingeborenen wußten fih auf ihm zurecht zu finden. Da fie fi aljo
jicher fühlten, Hatten ſie das Dorf nicht verlafjen, fich jedoch, wie id) daran er:
kannte, daß fie alles Mitnehinbare und zum Wegſchleppen Geeignete zufammen-
geitellt, offenbar vorgenommen, einem Angriff der Wawemba nicht Widerftand zu
leiften, fondern fich bei ihrem erften Anfturm in ihre Schlupfwinfel zu retten.
Wir Europäer ſaßen bei Eintritt der Dunkelheit um unfere Kiften herum
und nahmen unſer Abendbrot ein, als wir von einer Salve aufgejchredt wurden,
deren Kugeln über uns binwegpfiffen. Ein müftes Geſchrei von draußen vor
dem Dorfe jchien einen Leberfall der Wawemba einleiten zu jollen.
Meine Poſten feuerten ihre Gemwehre fofort in jener Richtung ab, aus der
die Salve gekommen war, und der Homift blies das Signal zum Befeßen
der Ummwallung. Die Soldaten rannten an die Pallifaden, draußen jedoch blieb
nun alles ftill. Die unerwartet jchnellen Antwortihüffe und das Hornfignal
hatten wohl einen Trupp der Wawemba-Räuber, der verjuchen follte, das Dorf
zu überrafchen, darüber belehrt, daß ein joldyes Unternehmen doch fo leicht nicht
ins Werf zu fegen wäre. Ob die Wawemba von meiner Anwejenheit Nachricht
hatten, wußte ich nicht, bezweifle es jedoch.
Hermann von Wißmann, Beitrafung der Wamwenba-Sflavenräuber. Di
Natürlich wurde die für den nächſten Morgen geplante Jagd aufgegeben,
denn e3 war anzunehmen, daß am nädften Morgen die ganze Macht der
Wawemba vor dem Dorfe ericheinen und den Angriff wagen würde.
Ach ließ die Eingeborenen antreten, mufterte ihre Waffen und verteilte
die Truppen zur Beſetzung der Boma. Einige der Leute ſchickte ich in den
Sumpfwald, um möglichjt raſch einen etwaigen Verſuch des Teindes, durch den
Wald in das Dorf zu dringen, melden zu Eönnen.
Was nod an den Pallifaden und im Borterrain zu befjern war, wurde beim
eriten Morgenlicht ausgebeifert, im Beſondern ließ ich noch ſchnell einige Büſche dicht
vor dem Dorfe niederichlagen, um das Schußfeld zu erweitern.
Der Feind ließ nicht lange auf fi warten. Kaum eine Stunde nad)
Sonnenaufgang erichienen plößlich auf der in direfter Richtung wohl nur eine
halbe deutiche Meile entfernten Höhe die Spiten einer langen Karawane und
an ihrer tete eine blau-mweiß-rothe Flagge, die franzöfiiche Trifolore.
Nach allen bisher eingezogenen Meldungen, bei denen ich die afrikanische
Uebertreibung abzurechnen hatte, mußten die Wawemba-Krieger nad Taufenden
zählen, und da da3 ganze Gelände rings umher nicht geradezu ein offenes
genannt werden Eonnte, jo bejchloß ich, mit meiner Eleinen Truppe erft abzu—
warten, ob die Wawemba angreifen würden, bevor ich gegen die Näuber auszog.
Der Zug des Feindes im Indianermarſch, wie es afrikaniſche Wege gebieten, fette
jich über den gegenüberliegenden Hügelrüden ununterbrochen fort. Der Feind mußte
ſich — da wir von dem hochgelegenen Dorf die Höhen und die ganze fumpfige
Niederung überjehen Eonnten — unter unfern Augen, um den Sumpf herum,
nach dem Dorf hHinwenden, und fo Eonnten wir faft eine Stunde lang Mann
hinter Mann über die Höhen heranfommen fehen und eine ungefähre Zählung
des Feindes vornehmen. Es waren, als die vorderiten Leute des Zuges bereits auf
einer Anhöhe ca. einhundertfünfzig Meter vor dem Dorfe erichienen, jchon über
5000 Menichen von uns gezählt worden, die mit mindeftens 30 franzöfifchen
Flaggen, deren Uriprung uns erit jpäter erflärlich wurde, heranzogen. Wir
hatten alſo gegen frankreich zu fechten, eine kleine Fortſetzung von 1870/71.
In dem vorderjten Zuge marichierten offenbar Häuptlinge und hervorragende
Krieger, denn jie zeigten ſich in ſchöne bunte Stoffe gekleidet, waren kriegeriſch
geihmüdkt und führten Gewehre. Erit Später kamen zu diefen, die fid) jetzt ge-
mächlich und ohne jede Scheu um das Dorf herum poftierten, Leute mit Speeren
und Bogen. Bei den Borderiten hatten wir auch die Träger mächtiger afrika—
niicher Pauken gewahrt, die zu dem Sriegsgefchrei und den Zurufen laut ge:
ſchlagen wurden.
Diefen Maſſen des Feindes gegenüber erichien es am ausfichtsvolliten, beim
Angriff in die dicht andringenden Mengen zu feuern, überwältigende Verluſte
herbeizuführen und dann, dieſe benugend, dem zurüdprallenden Feinde nachzu—
262 Hermann von Wißmann, Beitrafung der Wamwemba-Sklavenräuber.
dringen und ihn zu werfen, jodaß auch die weiter rüdwärts Kommenden von
feiner Flucht noch mitgeriffen wurden, denn noch immer hatte die lange, über die
Höhe fi; heranmälzende Karamane nicht ihr Ende erreiht. Wir fahen unter
ihnen aber ſchon Trupps von Leuten, die fichtlich getrieben wurden, alfo erbeutete
Sklaven waren, und Rindvieh in kleinen Trupps.
Ich erftieg, um vor allen Dingen noch den Ausbrud, des Gefechtes aufzu-
halten und dem Feinde Zeit zu laſſen, ji) zu jammeln, den Termitenhaufen,
auf dem fi das Heine Gejhüß und das maxim gun befanden, die ich mit
Tüchern hatte zudeden laſſen, und rief in kisuaheli dem frei ftehenden Trupp
der Häuptlinge oder Führer die Frage zu, was ihre Anfammlung und die Salve
vom vorhergehenden Abend zu bedeuten habe?
Ein befonderd vornehm gekleideter und herausgepußter Krieger nahm das
Zwiegefpräd in gutem kisuaheli auf. Gr erklärte, wir jollten das Dorf ver:
laffen, fie, die Wamwemba, beabfichtigten nicht, Krieg mit den Weißen zu führen,
fie wollten nur das Dorf beitrafen für von den Bewohnern erfahrene Unver:
Ichämtheiten und Mangel an Gehorſam, vor allem wegen ausbleibenden Tri:
butes; fie würden uns jedoch mit unfern Leuten ruhig abziehen lafjen.
Ich hatte meinen Offizieren befohlen, fich nicht zu zeigen, ſodaß vorläufig
" der Feind nicht erkennen konnte, daß außer mir noch andere Europäer in ber
Boma anwejend waren. Auch jtanden alle meine Leute wohlgededt hinter den
Pallifaden und ſahen jchußfertig durch die, zum Teil noch an demjelben Morgen
zurecht geichlagenen Schießſcharten.
Während des Geſpräches, das ich mit Abficht in die Länge zog, fingen die
Wawemba an, jich ringsumhber auf den mit hohem Gras bewachſenen Höhen
zum Gefechte einzurichten. Sie legten ihre Gewehre in Anfchlag, jchoben die
Grasbüjchel auseinander, machten fich von aufgetürmter Erde Unterlagen für
das Auflegen ihrer Gewehre zurecht und begannen bereits Zielübungen, natürlic)
auf den einzig ſichtbaren Punkt im ganzen Dorfe, auf mich felbft, der ich mich
noch immer auf dem die Pallifaden wenig überragenden Termitenbau befand.
Die Lage als YZielicheibe für fo viele Waffen, die, wenn fie aud) nicht von her-
vorragenden Schüßen geführt wurden, doch an Zahl von Sekunde zu Sekunde
zunahmen, wurde mir unheimlich.
Der Feind hatte ſich an einigen Stellen ſchon zu dichten Maffen gelammelt,
die, in höchftem Grade erregt, mit heftigen Gebärden unter einander jprachen
und ſich für den Kampf erhißten.
Einige der frechſten Wawemba tanzten fogar vor den Pallifaden, indem jie
die Gewehre ſchwangen und dabei bis dicht an den Rand des Grabens heran
famen, wobei fie uns eine Geſte der höchſten Verachtung madten, nad) der fie
dann wieder in ihre Reihen zurüdiprangen. Dieje kühnen Krieger bielten auch
Neden vor den Ballifaden, indem fie verficherten, fie würden es audy mit den
Hermann von Wißmann, Beitrafung der Wamwenba-Sklavenräuber. 263
Weiten aufnehmen, ein weißer Kopf über ihren Pallifaden würde ſich ebenſo
ihön ausnehmen wie ein ſchwarzer, und dergleichen mehr.
Ich hatte den Häuptlingen bereits gejagt, daß wir unfere Schwarzen, bie,
wie fie jehen mußten, unter der deutjchen Flagge wohnten — mir hatten dieje
natürlich hoch über dem Dorfe gehißt — nicht verlafjen würden, daß wir mit
ihnen fechten würden, wenn fie nicht davon abftänden, das Dörf zu berennen.
Allmählih wurden die Antworten der Häuptlinge immer höhniicher, ſowie auch das
Benehmen der übrigen Wawemba immer Eriegeriicher. Dichte Gruppen des Feindes
ihoben fich Schon hin und her und die heranrüdende Mafje wurde nach und nad
jo groß, daß bei einem plößlichen Angriffe zu befürchten war, der Feind könnte
im Anlauf feine VBerlufte gar nicht bemerken und dann doch vielleicht im An:
ſturm in das Dorf gelangen. Dann aber wäre inmitten des Häuſergewühls die
Lage leicht Eritifch geworden, denn in foldem Nahefampfe wären meine wenigen
Leute von der großen Uebermacht erdrüdt worden.
Als, wie es fchien, die leßten Leute der langen Karawane über die
Höhe heranzogen — den Schluß bildete eine große Nindviehherde — glaubte
ih, daß es nun Zeit, ja die höchſte Zeit wäre, Ernft zu machen. Auch
meine Leute wurden unruhig, und ich ſah, wie fie eifrig Zielübungen madıten
und verlangten, ihr Feuer endlich zu eröffnen. Ach rief meinen Offizieren und
Begleitern zu, jie follten ihre Leute jet den Feind Icharf aufs Korn nehmen und
auf den eriten Schuß von mir das Feuer beginnen laſſen.
Es fchien bereits, als wollte von draußen ein Haufen des Fyeindes ohne
bejonderen Befehl der Häuptlinge auf die Boma zuftürmen. Die Führer Hatten
offenbar, durch mein Benehmen eingefhüchtert, nur noch gezögert, den Befehl
zum Angriff zu erteilen.
Ich hatte mich während der Verhandlungen mit ihnen auf das bededte Geſchütz
gefett, hatte mir während des Gejpräches meine fleine Pfeife angezündet und mich
öfter lachend mit meinen Genojjen, die der Feind ja nicht ſehen fonnte, unterhalten.
Jetzt rief ich den Däuptlingen, die uns erklärt hatten, da wir das Dorf nicht
verlajfen wollten, müßten wir mit den Eingeborenen fterben, die Worte zu:
„Nun gut; wenn ihr wollt, dann Krieg!“
Ich zog in diefem Augenblid das Tuch von dem kleinen Geſchütz zurüd,
richtete den mit einer Kleinen Granate geladenen Lauf in die Mitte eines Haufens,
drüdte ab und jaufte gleichzeitig mit dem ganzen Geſchütz ungefähr fünf Mieter
weit von dem Termitenhaufen herab, wahrscheinlich zu meinem großen Glüd, denn
im Moment des Losſchießens antworteten viele hundert Gewehre rings umher, und
von diefen hätten mic) einige Geichofje treffen müfjen.
Der Aufftellungsplag des Geichütes war für den Rüdlauf nicht groß genug
gewejen; es war über den Rand zurüdgerollt und hatte mich, der ich, um abzu=
feuern, auf der Lafette jigen mußte, mit hinabgenommen.
264 Hermann von Wißmann, Beitrafung der Wamemba-Sklavenräuber.
Auf das vermehrte Feuer von draußen antwortete jet Furze Zeit hindurd)
ein Schnellfeuer meiner Leute, das auf diefe geringe Entfernung furdtbar
wirken mußte. Aber noch hatten die Wawemba in eigener Gefecht3aufregung
unfere Stärke nicht erkannt. Sie fchoben, ſobald unjer Feuer ausiegte, fich in
dichterer Mafje auf die Höhe, hinter der, für uns unfichtbar, die Hauptmacht des
Feindes fich jest geſammelt hatte.
Wir gaben in drei Abteilungen — der Sudaneſenzug, der Zuluzug
und der Suahelizug — Salven durch die Palliſaden ab.
Ich war wieder zum Ausipähen auf denTermitenbau hinaufgekrodhen, jedochnur
fo weit, daß ich durch einen Spalt in jeiner Krone bindurchlehen fonnte. Auf unfere
zweite Salve entftand ein Wanfen des Feindes, auf die dritte ftürzten die Majjen
der Wawemba rückwärts. Nun rief ich Bumiller und meinem Better zu: „Hin—
aus jet, Salven und Hurrah!"
Wie die Katzen waren meine Zulu und Suaheli nad) außen gedrungen, und
hatten fih bier im Nu in Neihen aufgeftellt. Der Feind ftugte. In Marich-
marſch gingen nun meine Führer mit ihren Trupps bis an den Rand der
Höhe vor, jo daß fie jeßt die durcheinander wogenden und zum Teil auch wieder
vorwärts drängenden Wawemba-Maſſen auf nur ungefähr fünfzig Schritte vor
fih hatten. Auf Kommando gingen die beiden Züge nieder aufs nie, und
die erite Salve praffelte in den wanfenden Feindeshaufen, eine zweite folgte,
und nun wurde — das Seitengewehr war ſchon im Vorwärtslaufen aufgepflanzt
worden — von unlern Trupps mit „Hurrah!“ Hinter den fich jelbft nieder-
rennenden und Eopflos flüchtenden Wawemba hergeſetzt.
Ich Ichidte den beiden Herren Befehl, den Feind weiter zu verfolgen und
ihm möglichit viele Sklaven abzunehmen, und ging, da nun nicht nur von jenen
Stellen, wo die Wawemba am dichteften geftanden hatten, auf die der Angriff
meiner Leute erfolgt war, fondern, da ringsumber der Feind geflohen war, mit
meinen Triartern, den Sudanefen, auch hinaus, um den beiden, den Feind heftig
verfolgenden Zügen zu folgen.
Eine große Anzahl von Menichen waren, merfwürdigerweile meilt Frauen,
Ichon während des Anfangs des Gefechte mit erhobenen Händen winkend, mitten
aus den Wawemba heraus, auf das Dorf zugelaufen. Es waren gefangene
Sklaven. Leider waren einige, die den Moment für günftig bielten, den
Wawemba zu entfliehen, im Getümmel des Gefechtes von uns angeſchoſſen
worden.
Ueber die weite jumpfige Wieſe bin ſahen wir die Leute nach jeder
Richtung hin entfliehen, oder ji in dem hohen Sumpfgras veriteden.
Bevor id) weiter zur Verfolgung überging, ichidte ich eine Granate über einen
noc immer in der Senkung Jichtbaren Daufen des Feindes und bemerkte bald den
Erfolg des Niederſauſens oder Krepierens unſeres Geſchoſſes: eine jchnelle Auf—
Hermann von Wihmann, Beitrafung der Wamemba-Sflavenräuber. 265
löjung des Zuges folgte, ein Auseinanderrennen des Viehs und ein Rüdwärts
rennen der mitgeführten Sklaven,
Ich marfchierte nun langjam und geſchloſſen den verfulgenden Zügen nad)
und entließ die mir entgegen wogenden Gefangenen nad) ihrer Heimat.
Noch nicht zehn Minuten, nachdem der Angriff abgefchlagen worden war,
famen große Haufen Bewaffneter im Lauffchritt heran, von denen meine Leute
anfangs glaubten, e3 jeien Feinde, und die Wawemba hätten uns geſchickt in
einen Dinterhalt gelodt. Ich erkannte jedodh an den Gebärden des an der
Spite her laufenden Führers, daß ed Freunde waren. Es waren Leute aus
den nächiten Dörfern, die ſich bewaffnet in einem nahe gelegenen Berftede auf:
gehalten hatten und num baten, auch mitthun zu können. Sie waren mir jet
die erwünfchtefte Truppe, denn in ihrem eigenen Yande Eonnten fie am beften die
weitere Berfolgung der Wawemba aufnehmen und ihnen den Reit der Sklaven
und des Viehs abjagen.
Auch die Truppe, die ich ſchon vorher aus den Bewohnern anderer Dörfer
zufammengeftellt hatte, fette ich auf die Fährte. Meine Truppe war für die
Verfolgung unbelajteter Eingeborener in ihrem Lande wenig geeignet.
Die fliehenden Wamwenba hatten, wenigjtens zum größten Teil, nicht die
Wege innegehalten, jondern ſich in die Wälder verftreut; waren vollfommen zer:
iprengt und liefen in Eleinen Trupps ihrer Heimat zu.
Als ih nah) Monatsfriit zu derjelben Stelle zurüdtam, erfuhr ich von den
Eingeborenen und von den Engländern der Stationen am Südende des Tanga-
nifa, daß die Wawemba die Strede von dent Gefechtsorte bis nach dem Orte
ihres Häuptlings, des diden, unförmlich fetten Kiti mkurru, eine Strede von
fünf gewöhnlichen Tagemärfchen, in noch nicht 48 Stunden zurüdgelegt hätten.
Der dide Kiti mkurru joll tagsüber im dichteften Sumpf verftedt geblieben
und erjt nach vier Tagen zu Haufe eingetroffen jein. Er hatte den Seinen ſchon
als verloren gegolten.
Bon Sklaven follten die Wawemba jo gut wie nicht3 heimgebracht haben,
ebenjowenig von Vieh, auc viele Gewehre hatten fie verloren.
An der Berfolgung hatten jich bald nocd andere, in der Nähe wohnende
Gingeborene beteiligt und ſich bei diefer Gelegenheit endlich einmal für die jeit
Jahrzehnten jährlich wiederkehrenden Hebjagden der wüſten Sflavenräuber gerädht-
Diefe Abwehr der Wamwenba fand im Jahre 1893 ftatt und bis zum
heutigen Tage haben die Räuber die Lehre nicht vergejfen, haben fie noch nicht
einmal wieder die Grenze in feindlicher Abjicht überjchritten.
Die katholiſchen Miſſionen glaubten damals, die Wamwenba würden, wenn
ich wieder abmarfchiert wäre, zurüdfehren und fich für die von uns erhaltene
Belehrung rächen, und baten mic daher um Waffen. Ach war der Meinung.
daß ihre Beforgnis unbegründet wäre, lieh ihnen jedod, da id; zur „Zeit
266 Hermann von Wirmann, Beitrafung der Wamenba-Sklavenräuber.
Waffen entbehren fonnte, das Eleine Gejhüß und eine- Anzahl von Gewehren,
lo daß jie in ihren jehr gut befeftigten Stationen vollkommen ficher waren.
Es iſt nod) übrig, zu erzählen, wie es kam, daß uns die Wamwemba unter
einer Anzahl franzöfiicher Flaggen angriffen. Im Jahre 1884 war der franzö-
ſiſche Sciffsleutnant Giraut durd das Land der Wawemba gekommen und
hatte, wie man mir erzählte, dem damaligen Kiti mfurru, dem Vater des jetigen,
eine ganze Laft franzöfiicher Flaggen geſchenkt. Es war mir recht interefjant, zu
erfahren, daß Franzoſen jchon damals mit Verteilung von Flaggen in Afrika
begannen. Man weiß, daß wir erft im Jahre 1885 anfingen, Verträge in Afrika
zu jchliegen, und daß man uns damals allgemein vorwarf, daß wir es geweien
wären, die mit der Deßjagd zur Erwerbung von Kolonieen in Afrita begonnen hätten.
Wir follten aus diefer Erfahrung übrigens die Lehre ziehen, daß man, wie
es von Franzoſen, Engländern und anderen geichieht, jede Gelegenheit benuken
joll, dem Vaterlande Dienfte zu erweiſen. Es herrſcht bei uns leider immer
noch die Anficht, daß ich nicht direft von der Negierung ausgehende Unter:
nehmungen durchaus nicht in Politit zu mijchen hätten, und diefe Anficht bat
auch in Dftafrifa Veranlaſſung zu unerfreulihen Auseinanderjegungen zwiſchen
der Negierung und privaten Expeditionen gegeben. Heute ift man bei uns jchon
jo weit gefommen, daß man private Erpeditionen ohne Begleitung von Offizieren
gar nicht mehr in das Innere lajjen möchte. Diele Maßregel geht viel zu weit;
ähnliches geichieht in Feiner anderen Kolonie und dieje allzugroge Zurüdbhaltung
entipringt zum guten Teil aud) noch jenem altpreußiichen Bureaufratismus, der
für die Kolonieen am allerwenigften paßt. Man hält es beinahe für unerhört,
daß ein MNeifender zum Schutze jeiner Karawane fich ſelbſt hilft, ftatt nachträglich
die Hilfe der Regierung anzufprechen. Aber viel beſſer ift es, wenn fich der
Europäer, wenn ſich der Deutſche in feinen Kolonieen, wo er aud) fei, jo ſchnell
als möglich ſelber Hilfe Schafft. Solche energiihe Abwehr kann nur dazu bei-
tragen, den Reſpekt vor uns zu mehren. Sollte wirklich einmal bei folcher
Gelegenheit etwas zu jchnell gehandelt werden oder energijcher, als es vielleicht
durchaus zwedentiprechend war, jo ift ein folder Uebergriff im Berhältmis zu
dem Gewinn des damit erzielten Reſpekts bei den feindlichen Eingeborenen nicht
allzu hoch anzuichlagen.
Deuticland und die großen europällhen Mächte.
Don
Theodor Schiemann.
ll.
De Politik Frankreichs, ſo wie ſie uns heute entgegentritt, beruht vor allem auf dem
ruſſiſchen Bündnis. In ihrem Entſtehen gegen die Tripelallianz gerichtet, iſt ſie be—
müht, das deutſch-öſterreich-ungariſch-italieniſche Bündnis aufzulöfen, fie pflegt in weiterer
Peripeftive den Gedanken der Revandje für 1870 und fucht nad) der politischen Kombi:
nation, die ihr ohne allzu großes eigenes Rilifo den Weg dazu bahnen könnte.
Die franzöftiiche Politik, die fi) überhaupt auf der gefährliden Bahn der Refri-
minationen bewegt, hat aber noch eine andere Revanche zu nehmen, für Eghpten und
Faſchoda an England. Ahr Problem liegt daher jo, daß fie die politifche Lage finden
muß, die es ihr möglich macht, mit diefen Gegnern Ber Einbildung fo abzurechnen, daß
fie fich nicht zuſammenſchließen fünnen.
Bekanntlich hat es im Nahre 1896, nad) dem Jameſon-Einfall und dem Telegramm
Kaiſer Wilhelms an den Präfidenten Krüger, einen Augenblid gegeben, da Frankreich
jeinem Ziele nahe zu jtehen meinte. Dieſer Augenblit mußte aber ungenutzt vorüber
gehen, da der Anlaß ein zu nichtiger gewejen wäre. lm einen Glückwunſch führt man
feine Kriege. ES giebt aber zwei Momente, die diefe in der ntention gegen uns feind-
lihe Richtung weſentlich abſchwächen: Eben jenes rujfiiche Bündnis, und die auf Selbit-
erhaltung gerichteten Inſtinkte derjenigen Gruppen, welche die Regierung Frankreichs
bilden.
Das ruffifch-frangöfiihe Bündnis trägt für Rußland ohne Zweifel in Europa den
Gharafter einer Defenfivallianz und hat Franfreid in die eigentümliche Yage verjekt,
aud) jeinem Alliierten gegenüber an der Fiktion feitzuhalten, daß es wejentlich friedlid)
aefinnt jei. Die reservatio mentalis dabei ift wohl, daß in einem Frankreich günftigen
Augenblid die Schuld an dem Stonflikt fi) werde auf Deutjchland wälzen laſſen, und
daß dann der Drud der öffentlichen Meinung auf die ruſſiſche Regierung ein jo ftarfer
jein werde, daß fie, wohl oder übel, mit ganzer Macht zu Frankreichs Gunften werde
eingreifen müſſen. Wie weit diefe Redynung, man darf nicht jagen — richtig — jondern
wahrjcheinlich ijt, muß fi aus der Betrachtung der ruſſiſchen Bolitif ergeben.
In Frankreich glaubt man an die Richtigkeit der Spekulation und es iſt wohl
denkbar, daß auch in den leitenden ruflischen Streifen die Möglichkeit einer jolchen Wen
dung nicht ohne Beforgnis ins Auge gefaßt wird. Die bis heute wirkſame Aſſekuranz
gegen eine Ueberrumpelung liegt aber, wie ich ſchon hervorhob, in dem Inſtinkt der
Selbfterhaltung, der jede franzöfiiche Regierung einen deutjchen Krieg fürchten läßt.
Denn mie immer der Ausgang wäre, die Welle der erregten öffentlichen Meinung des
268 Theodor Schiemann, Deutichland und die großen europäiſchen Mächte.
Yandes, oder vielmehr der dann entjcheidenden unruhigen hauptftädtiichen Bevölkerung,
hebt unter allen Umftänden neue Männer empor, an die Stelle des Bekannten, zu Be:
rechnenden, tritt dann das Unbekannte und mwahrfcheinlic das Unerwünſchteſte: irgend
eine Form der Monarchie oder der militärischen Diktatur. Kombinieren wir dieſe für
und wider den Frieden wirkenden Grundelemente, jo ergiebt ſich ein Facit, das zur
Praris einer Friedenspolitif führt, mit der wir uns zufrieden geben fünnen. Die innere
Unmahrbeit, die dem ganzen Spftem zu Grunde liegt, kann uns dabei gleichgiltig fein, es
fommt und auf die Refultante an.
Nun läßt fich freilich nicht verkennen, daß der ftete Kompromiß mit jo divergierenden
Tendenzen auch feine beunrubigenden und läftigen Seiten hat. Das Buhlen um die
Freundſchaft der radikalen italienischen Parteien, neuerdings die Verbrüderung mit dem
bejonderen öfterreichiichen Banflavismus und mit den deutjch-feindlichen Elementen in
Ungarn, können und ebenjomwenig gleichgiltig jein, wie den dadurch bedrohten Dynajtieen
in Oefterreich-Ungarn und in Stalien. Aber die Antrigue ift zum Glüf an den Tag
getreten, bevor fie ausgereift war, und jo läßt fich hoffen, daß ihr rechtzeitig die Lebens—
adern unterbunden werden fünnen.
Zu einem jchmerzliden Verzicht ift jedoch die franzöſiſche Politik durch die ruſſiſche
Alltanz genötigt worden. Es giebt heute feine franzöfiiche Drientpolitif im alten Sinne
mehr. Frankreich muß in Syrien, Baläftina, Kleinafien dem ruffischen Freunde Plat
machen und das hat zu einem augenfälligen Rückgang des franzöfiihen und des fatho-
lichen Einfluffes auf diefem Boden geführt. Auch der jüngfte Verſuch des Botichafters
Conſtans, der Pforte eine empfindliche Demütigung beizubringen, fcheint an der Zurück—
haltung Rußlands jcheitern zu müffen. Was Rußland dagegen geboten hat: freie Hand
in Afrika und im ſüdöſtlichen Aften, ift, recht betrachtet, nur die Beftätigung eines Wirkungs—
feldes, das die Bismardische Politif den Franzoſen eröffnet hat. Die Ermutigung, die
der große Kanzler dem Minifter Jules Ferry zu teil werden ließ, führte 1883/84 zur
Eroberung von Tonkin, 1885 folgte die Unterwerfung von Anam und jeither dringt
Frankreich Stetig gegen Siam und nah China hinein vor. Parallel damit ging das
Rordringen der Franzoſen in Afrika, die Ausdehnung ſüdlich von Algier, die bis zur
Stunde fortdauert und ernitlich die Selbſtändigkeit Marokkos bedroht; jeit dem Bertrage
von Bardo (Juni 1883) folgte die faktiiche Beherrichung von Tunis, ſeit 1880 das all-
mähliche Aufſaugen des Senegalgebietes und des weltlichen Sudans, Guineas und
Dahomes, Gabuns, des jogenannten frangzöfiichen Ktongos, Ubanghis und des Bajlins des
Tſchadſees. Nehmen wir nod die Feitjegung der Franzoſen in Madagaskar hinzu, die
gleichfalls durch Aules Ferry durchgeführt wurde, und im Februar 1897 in die förmliche
Annerion der Inſel ausmiündete, jo haben wir damit den ungeheuren Umfang des
franzöſiſchen Stolonialveichs, wie es in den legten 18 Jahren mit unerhörter Schnelligkeit
jich aufgebaut hat, kennen gelernt. Sind die. erften Anfänge deuticher Ermutigung zu
danfen und hat auch jpäter Deutichland den Franzoſen fein Hindernis in den Weg
gelegt und jeden drohenden Grenzkonflikt gütli ausgeglichen, jo hat Rußland in den
Ipäteren Stadien den Franzoſen diplomatiſch beigeitanden, ohne freilich den Tag von
Faſchoda verhindern zu können. Nun liegt auf der Dand, daß diefer Kolonialbeſitz eine
Rindung der franzöſiſchen Politik bedeutet. Sie hat mit einer erponierten Yage zu rechnen
Theodor Schiemann, Deutichland und die großen europäiſchen Mächte. 269
und ift namentlich genötigt, im Mittelmeer fich in ftärfjter Aufrüftung zu halten. Sie iſt
mehr, als es früher der Fall war, die Rivalin Englands geworden und hat durch den
faktiſchen Belt von Tunis den italienischen PBatrioten eine mit befonderer Liebe gehegte
Hoffnung zu nichte gemadjt. Auch das find Momente, die für den Frieden mit Deutjd)-
land jprecdhen, jo lange die ruhig abmwägende Vernunft in Frankreich am Ruder ist.
irgend eine moralifche Garantie für die Dauer diejes Berhältniffes aber giebt es nicht,
und das dürfen weder die Nachbarn Frankreichs jenjeitö des Kanals, noch dürfen wir
es vergejlen.
Ueber die Verhältniffe in Oeſterreich-Ungarn und in Rtalien dürfen wir in dieler
orientierenden Ueberfiht rajcher hinmeggehen.
Oeſterreich-Ungarn ift feiner Natur nach ein eminent friedfertiger Staat, der weder
nad) der rufltichen, noch nach der deutfchen oder italieniichen Seite hin eine Ausdehnung
wünjchen fann. Die Zeiten, da Frankreich auf eine öjterreihifche Bundesgenofjenichaft
hoffen durfte, find feit den Tagen der alliance franco-russe dahin, weil diefe Allianz,
jobald fie fi auf europätihem Boden praftiich geltend machen jollte, den Befititand
der habsburgiihen Monarchie auf der Balfanhalbinjel, Bosnien und die Herze—
gowina, bedroht.
Ebenſo widerftrebt den öſterreichiſch-ungariſchen Intereſſen das franzöfiiche Spiel
in Italien, das gleichfall® nur den Sinn einer Bedrohung haben fann. Mehr als je ift
daher die offizielle Politik unferes öfterreichtich-ungariichen Bundesgenoffen die Erhaltung
des status quo, und Deutichland ift auf das lebhafteſte intereifiert, ihm dabei hilfreich
zur Seite zu ftehen. Die Schwierigkeiten liegen in den inneren nationalen Berhältnijien
der Monarchie, und zum Teil aud) in den konfeſſionellen: die ſich anbahnende politijche
Emanzipation des Slaventums unter tichechiich-panjlaviftiicher Führung, die Demorali-
fterung des öſterreichiſchen Parlamentarismus, die Leidenſchaftlichkeit der Raſſenkämpfe.
Die fonjervierenden Kräfte jollten dabei die Deutſchen und die Magyaren jein, deren
politisches Bündnis eine vitale Notwendigkeit ift. Cine Politik, wie fie in Ungarn Herr
Ugron, wie fie mit entgegengejetter Tendenz die öſterreichiſchen Alldeutichen vertreten,
läßt ſich kurzweg als jelbitmörderiich bezeichnen. Dem Intereſſe des Deutfchen Reiches
widerspricht die eine ebenfo jehr wie die andere: was wir wünfchen müffen, ijt die Stär-
fung der dhnaftiihen Spike auf dem Untergrunde eines ehrlihen Bündniffes der
Deutihen und Magyaren. So jehr wir die Gefinnung rejpeftieren, aus welcder die
nationale Erregung der Deutich-Deiterreicher hervorgegangen ift, und jo aufrichtig wir
in dem Ringen zwifchen Deutichen und Slaven in den Grenzgebieten der beiden Natio-
nalitäten für unjere Stammes- und Blutsgenoſſen Partei nehmen, jo entichieden lehnen
wir all jene Uebertreibungen ab, welche einen direft oder indirekt jeparatiftiichen und
antidynaftiichen Charakter tragen.
Die politiihe Stellung unjeres italienischen Bundesgenoifen haben wir jchon mehr:
fach Streifen müjjen. Italien ift durd; feine geographiiche Yage im Mittelmeer der natür—
lie Freund Englands und der notwendige Rival Franfreihs. Daß diefe Thatjadhe
ſich nicht deutlicher fühlbar gemacht bat, liegt zum Zeil an der jchwer verjtändlichen, furz-
fichtig egoiftiichen Haltung Englands während der abejinniichen Verlegenheiten Italiens
(1885—1887). Wenn tropdem ein, wir möchten jagen latentes Bündnis zwiſchen England
2370 Theodor Schiemann, Deutjchland und die großen europätichen Mächte.
und Italien befteht, jo hängt jeine Dauer von dem Stehen Italiens zur Tripelallianz ab.
Was diefe bedroht, haben wir jchon zum Teil erwähnt, es muß aber ausdrüdlich hervor-
gehoben werden, daß mit der neuen montenegrinifchen PVerichwägerung ein weiteres
Moment der Ablenkung hinzugetreten ift, das in merfwürdiger Weile durch das um
gemein ſchwierige albanefiiche Problem gefördert wird. Alle Wahrjcheinlichkeit fpricht
dafür, daß diefe Dinge die politiiche Welt noc; mehr als einmal in Anjprud nehmen
werden. Dazu kommt, daß die Italiener heute unter dem Druck ſchwerer wirtjchaftlicher
Berhältniffe zu einer Auswanderungsbewegung geführt worden find, die einerjeits zahl
reiche italieniihe Arbeiter nad Frankreich, der Schweiz und Deutſchland führt, deren
Dauptzug aber in die Vereinigten Staaten und nad Südamerika, jpeziell nach Argen:
tinien und Brafilien geht. An einer Stelle ajfimiliert ſich diejes italienijche Element
mit den Fremden, es wird auch nicht eigentlich anſäſſig, jondern ftellt eine fluftuierende
in ſich abgeichlofjene Maffe dar, die fi) in der Fremde nie heimisch zu fühlen vermag.
Nur die taliener in Tunis ftellen eine Nusnahme von dieſer Negel dar, und es il
daher wohl verjtändlich, wie ſchwer das patriotiiche Empfinden der Nation darunter
leidet, dab Frankreich auf diefem Boden den Herrn fpielen kann. Bijerta und Tunis
ſtehen fo zwiſchen Frankreich und Italien; wir jehen die Kombination nicht, die dielen
Pfahl im Fleiſch der italienischfranzöfiichen Zukunftsfreundſchaft bejeitigen fünnte.
Mit Touloner Feittagen ift es jedenfalls nicht gethban. Was Stalien heute vor allem
braucht, ift ein großer Neformer, ein Gavour jeiner Wirtichaftspolitif, und niemand wird
aufrichtiger den Tag begrüßen, da er ericheint, als Deutichland.
Wir wenden und nunmehr Rußland zu. An den deutjchrufftichen Beziehungen
hat nicht, wie die landläufige Behauptung jagt, der Berliner Kongreß, fondern das
Jahr 1870/71 den Wendepunkt zum Schlechteren herbeigeführt. Die öffentlie Meinung
Rußlands empfand Sedan und Frankfurt im Grunde ebenfo als eigene Niederlage, wie
einft die Franzoſen Königgrätz und Nikolsburg.
Bon 1870 ab wandelte ein früher ohne Zweifel vorhandenes Wohlwollen fich in
das Gegenteil um, und die nach 1878 mit elementarer Gewalt an die Oberfläche tretende
reindjeligfeit war nur der Ausdrudf eines ſchon lange vorhandenen und nur ummillig
verhaltenen Grimmes. Much heute ift das nicht anders geworden, nur die Form und
die Methode, diefe Empfindungen zu äußern, haben fi; verändert. Das Jahr 1878 bot
einen Vorwand und eine Gelegenheit, die Schuld an dem ruſſiſch-öſterreichiſchen Vertrage,
durch melden, wider alle Inſtinkte der Nation, Bosnien und die Herzegowina der
öfterreichiichen Okkupation frei gegeben wurden, auf die angebliche Perfidie der deutjchen
Politik abzumälzen. Seither hat unter merfwirdigen Schwankungen in den offiziellen
Beziehungen von Staat zu Staat das politiiche Empfinden der Rufen fi in feiner
gegen Deutichland gerichteten FFeindjeligkeit jtetig gefteinert, ohne daß darum der Friede
zwijchen beiden Mächten getrübt worden wäre. Als unter Alerander IIL, nad Boll:
endung der durch die Mikerfolge des Türfenkrieges veranlakten völligen Reorganiſation
des ruſſiſchen Heerweſens, die drohende Aufftellung der ruffischen Armeen an unjerer
Dftgrenze erfolgte, hat Fürft Bismarck 1887 und 1888 einerjeits durch die Verſtärkung
des deutjchen Heeres, andererieitS durd; eine Wandlung des bisher geltenden Völker—
rechts den drohenden militärischen Zujammenftoß zu vermeiden verftanden. Denn eine
Theodor Schiemann, Deutichland und die großen europäiſchen Mächte, 371
Wandlung der völferredtlihen Praris bedeutet e8, wenn Fürſt Bismardf in der be-
rühmten Rede vom 6. Februar 1888 ausdrücklich das Recht Rußlands anerfannte, an
der deutjchen Oftgrenze fo viel Truppen aufzuftellen, als ihm irgend beliebte, ohne für
ſich das Recht in Anſpruch zu nehmen, über die Gründe diefer Aufrüftung eine „Late
gorische Erklärung“ zu verlangen. Thatlählih hat der fortan dauernde bewaffnete
Friede beruhigend nad; Rußland hinein gewirkt und auch in Deutichland hat man ſich
nachgerade an die formidable Aufitellung an unferer Grenze gewöhnt und auf ihre
Stonjequenzen eingerichtet. Es mar das aud um fo eher möglich, als mwirfliche Konflifts-
momente nad) wie vor zwijchen beiden Reichen nicht vorlagen. Man hätte fie künſtlich
fonftruieren müffen, was weder unjeren Gepflogenheiten entipricht, noch im Intereſſe
der ruffiichen Politik liegen fonnte, die vor allem freie Hand nad) anderer Seite hin
braudjte. Seit die ruſſiſche Balkanpolitif jene Wendung genommen hat, die, unter Ber:
zicht auf eine direkte Beherrihung der Fleinen ſlaviſchen Staaten ſüdlich der Donau,
dad Erſtarken nationaler Selbftändigfeiten und ihre allmählihe Emanzipation bon der
Türkei fördert, ift für Rußland die orientalifche Frage in ein neues Stadium getreten,
das jih am beiten als eine Bolitit des Hinausichiebens bezeichnen läßt. Man hat in
Peteröburg die Ueberzeugung gewonnen, daß die Dinge noch nicht genügend gereift find,
um den Anlauf zu wiederholen, den Kaiſer Nikolaus 1. in den Jahren 1828 und 1829
zum evjten und 1854 zum zmweitenmal nahm und mit dem es dann Alerander Il. 1877
zum drittenmal verfuchte. Rußland tritt, obgleich es ohne jede weitere Förmlichkeit fich
1885 über die Beitimmung des Berliner Vertrages hinwegſetzte, welche die Armierung
von Batum verbot, auf der Balfanhalbinjel als Hüterin dieſes Vertrages auf, ſucht
aber ſowohl Serbien als Bulgarien in faktiſcher Abhängigkeit von den Direftiven des
Beterdburger Kabinett3 zu erhalten und zugleich den beiden Dynaſtieen in Montenegro
einen Ktonfurrenten heranzubilden, der im geeigneten Augenblide als unbedenfliches Werk:
zeug der ruffiihen PBolitif verwendet werden kann. Es liegt in der Natur der Dinge,
daß eine joldhe Haltung Ruklands nur den Charakter eines Stillftandes trägt, und ſchon
heute läßt ſich erfennen, daß die öffentlihe Meinung Rußlands dieje Politik nicht billigt
und auf eine Aktion hindrängt. Was fie beunruhigt, ift das militäriiche Erjtarfen der
Türkei, da8 Anwachſen des öſterreichiſchen Einfluffes, der Bosnien und die Herzegowina
immer fefter dem Reichskörper angliedert, endlich die in den Fleinen Balkanſtaaten um
ſich greifende Illuſion, daß ihre Scheinfelbjtändigfeit in wirkliche Selbitändigfeit
übergehen fünnte. Aber diefe Bedenken haben an dem Gang der rujfiihen Politik
nicht8 zu ündern vermodt. Sie hat ein weiteres Biel ind Auge gefaßt, durch deſſen
Verfolgung Englands Einfluß aus der europäifchen Türfei hinaus manövriert worden
ift, während gleichzeitig auch die afiatiiche Pofition Englands immer mehr gefährdet
ericheint.
Bis zum Jahre 1870 ſchien die aftatijche Politif Nuklands für England nur wenig
bedrohlich zu fein. Die damals erfolgte Eroberung von Buchara war aber nur ein erfter
Schritt in Gebiete hinein, in denen bislang der engliiche Einfluß überwogen hatte.
1873 folgte die Unterwerfung Chiwas, 1876 Chofands, zwiſchen 1879 und 1883 endlich die
endgiltige Eroberung von ganz Turfejtan. Rußland jtand damit in breiter Aufftellung
an den Grenzen von Perfien und Afghaniftan, berührte das Dach der Welt und ftand
272 Theodor Schtemann, Deutichland und die großen europälfchen Mächte.
in nädjter Nachbarſchaft mit den britiihen Wafallenftaaten an den Yusläufern des
Himalaya.
ALS 1885 die ruffiihe Grenze nad) der Annerion von Merw bis hart an die
Pforten Herats vorrüdte, ſchien vorübergehend ein ruſſiſch-engliſcher Krieg unvermeidlich
zu jein und ebenjo fpiste fi nad) 1891 alles auf einen Konflift wegen Bamirs zu.
Schließlich aber find hier wie dort Kompromiffe getroffen worden, deren Vorteile auf
ruffiiher Seite lagen; Rußland behielt, wie jtet3, was es einmal gefaßt hatte, jtellte
aber ein weiteres Vordringen vorläufig ein: es fann warten. Und darüber hat man ſich
in London beruhigt, wenn aud) weiter blifende Politifer, wie der jetzige Vizekönig von
Indien, Lord Gurzon, den Zeitpunft kommen jehen, da Britiſch-Indien wie eine Enflave
inmitten ruſſiſcher und frangöfiicher Beſitzungen liegen werde, eine Befürchtung, die nad)
den Beziehungen, die Rußland neuerdings zu Tibet angefnüpft hat, an innerer Wahr:
icheinlichfeit nicht verloren hat.
Das aber ift doch nur ein Teil des großen Programms der afiatiichen Politik
Rußlands geweien. Die jeit 1889 in Angriff genommene jibiriihe Bahn rüdt ihrer
Bollendung immer näher, noch 2 höchitens 3 Jahre, und fie wird perfeft fein. Nicht wie
fie urfprünglich gedadht war mit dem einzigen Endpunkt Wladimoftof, jondern mit der
Verzweigung durd die Mandjchurei nad; Port Arthur und mit Dependenzen, die nad
Peking und weiterhin bis an den Jangtſe reihen werden. Techniſch wie politifch eine der
großartigften Leiftungen, von denen die Geſchichte der Welterjchliegung weiß, eine Speku—
lation auf die Zufunft, die in wirtſchaftlicher wie in politischer Dinficht die ungeheueren
Opfer einbringen joll, welche die gegenwärtige Generation, weit über ihre Kräfte hinaus
auf fich genommen hat.
Es ift aber in höchftem Grade wahrjheinlich, daß die jegt zu einem erften Ruhe:
punkt gelangten chinefiichen Wirren der ruffiichen Politik zu früh gefommen find. Der
Daager „Friedenskongreß“ hatte die Bedeutung, einen wiederum drohenden ruſſiſch—
englijch-japanifchen Konflitt abzulenten oder mindeſtens hinauszufchieben. In diefem
BZufammenhange hat England den Krieg gegen die beiden Burenrepublifen auf ſich
genommen und die Pelinger Schredenstage find als etwas nicht in den Kreis der
politifchen Berechnungen Gezogenes jomwohl den Engländern, wie den Ruffen unbequem
und überrafjchend gefommen.
Wir fehen heute, wie auch hier die Vorteile den Ruffen zugefallen find. Die faktifch
perfeft gewordene Annektierung der Mandſchurei hat Rußlands Stellung in DOftafien
gewaltig geftärft und den SYapanern den Gedanken an eine PVerftändigung mit dem ge:
fährlihen Nachbarn jehr nahdrüdlich nahe gelegt, während Englands Preitige geſunken
ift und fein thatfächlicher Einfluß im großen Orient abgenommen hat. Es wird ihm
nichts übrig bleiben, als nachträglich den Verſuch zu machen, ob es nicht möglich ift, mit
Hilfe feiner überlegenen wirtichaftliden und pefuniären Kräfte zurüdzugewinnen, mas
die Ungunft der Verhältniffe und eine unficher geleitete Politik ihm an Einfluß entrifjen
haben. Auch hier Liegen jedoch die Verhältniffe Feinesmwegs jo, daß Rußlands Ausfichten
in dieſem wirtichaftlichen Stampfe fich alö verzweifelte oder auch nur als entjchieden un-
günftige bezeichnen liehen. Für Nußland arbeitet das ſich ihm zu Dienft ftellende franzö—
fiiche und belgische Kapital, und es ift nicht unmöglich, dat in Zufunft aud) die amerifa-
Theodor Schiemann, Deutjchland und die großen europäiſchen Mächte. 373
niſchen Großfapitaliften ihren Vorteil darin finden, die weitangelegten ruffifchen Unter:
nehmungen zu unterjtügen. Wir verweilen nicht bei dem Detail diefer jehr wichtigen
politiichen Zufunftsfrage. Das Weſentliche ift, dag Rußland wiederum gezeigt hat, dat
e3 einen großen Krieg im fernen Oſten auf ſich nehmen fann, ohne jeine militärifche
Aufftelung im Weiten erheblich zu ſchwächen.
Es läßt ſich jedoch aud) eine jo gedrängte Heberficht über die Politit Rußlands,
wie fie bier verfucht wird, nicht abjchliegen ohne einen Hinweis auf die inneren Verhält—
nifje ded Staates. Seine Kraft liegt in dem konzentrierten Abjolutismus, der es ihm
möglich macht, ohne Rüdficht auf die Strömungen der öffentlichen Meinung, jederzeit
gerade auf diejenigen Punkte die Geſamtmacht des Reiches zu richten, von welchen fich
der größte Effekt nach außen hin veriprechen läßt. Die Nüdfichtslofigkeit, mit der die
ruſſiſche Regierung fi dabei über die Wünjche und über die oft fchreienden Bedürfnifie
ganzer großer Provinzen des Reiches und über das leidenichaftliche Verlangen der
öffentlichen Meinung nad) freieren Formen des ftaatlihen Yebens hinwegſetzt, kann in
feinem anderen Kulturſtaate nachgemacht werden. Die droniichen Hungersnöte, welche
der fortichreitende Niedergang der ruſſiſchen Landwirtſchaft bringt, hätten jeden anderen
Staat genötigt, alles Uebrige zurüdzuftellen, um eine Wirtfchaftsreform durchzuführen;
ebenjo hätte auf jedem anderen Boden die liberale und zu nicht geringem Teil
radikale Gefinnung fait aller gebildeten und in einflußreichen Stellungen jtehenden
Männer eine liberale Gejeßgebung herbeiführen müfjen, ganz wie in einem Lande, das
in einzigartiger Weiſe Eonfeffionelle und rituelle Neubildungen entftehen läßt und nebenher
Anhänger aller alten chriftlichen Kirchen in ſich jchließt, Toleranz und Gewiffensfreiheit
fih als eine zwingende Notwendigkeit Anerkennung geichafft hätten. Aber nichts von
alle dem ift gefchehen. Rußland geht in feinen alten abfolutiftifchen Bahnen weiter und
vorläufig jcheint feinerlei Ausficht vorhanden, dat ih das ändert. Wohin diefe Ent:
widlung in Zukunft führen muß, läßt fich weder logijch Fonftruieren, noch definieren.
Am klügſten wird derjenige thun, der fich darauf einrichtet, mit dem jegigen Syitem als
mit einem dauernden zu rechnen, und dabei die Möglichkeit im Auge behält, daß aud)
das völlig Unerwartete und Unmwahricheinliche über Nacht zur Wirklichkeit werden ann.
Der Beſuch des Zaren in Franfreih und die Danziger Zuſammenkunft haben die all:
gemeine Lage in feiner Weiſe verändert. Sie haben die Bedeutung des rufftichen Faftors
in der Weltpolitif ſcharf hervortreten lajien, aber aud) gezeigt, wie abhängig er ift von
der Nüdficht, die ihm durch das Intereſſe der anderen großen Mächte und durch die
eigenen finanziellen und woirtjchaftlihen Bedürfniffe aufgenötigt wird. Auch die
Feſtigung der guten perfönlichen Beziehungen der beiden nahe verwandten Herricher
fann nur als ein höchſt erfreuliches Greignis bezeichnet werden. Trotzdem ift die
Tendenz der ruffifchen Bolitit eine‘ vordringende, wie fie jüngft nicht übel durch die
halb ernft, halb ironisch gedachte Aeußerung eines ruffiihen Staatsmanns gekennzeichnet
wurde: „La Russie est un &tat qui cherche ses limites, sans pouvoir jamais les
trouver.“ Es liegt im allgemeinen Intereſſe, den Rufen aus dieſer Verlegenheit
binauszubelfen!
1%
Zur Zolltarifbewegung.
Don
Wilhelm von Maffow.
W“ die Frage der deutichen Dandelspolitit nur nad) den Eindrücden beurteilt, die
ſich aus einer oberflächlichen Kenntnisnahme der deutichen Tagesprejie ergeben, der
wird zu glauben geneigt fein, daß wir feit der Veröffentlichung des Zolltarifennwurfs
noch feinen Schritt vorwärts gefommen find. Da it immer nod) diejelbe leidenjchaftliche
Grbitterung, diejelbe Neigung zu Webertreibungen, diejelbe Sucht, das Ausland zum
Nichter über unjere Antereflen zu beitellen, dasjelbe Hervorkehren von Bemweisgründen,
die längft als unrichtig, wenn nicht als bewußte Umvahrbheiten nadıgewiejen find. Kurz,
ein unerquidliches Bild, das wohl geeignet ift, die unleugbaren Schwierigkeiten der Yage
vollends als unüberwindlich ericheinen zu lalfen. Sicht man aber etwas näher zu, jo
erfennt man, daß dieſe wild durcheinander wogenden Gewäſſer doch allmählich anfangen,
einer allgemeinen Strömung zu folgen,. und es it jchon jet bei erniter Erforſchung der
Stimmung in den praftiich thätigen und bejonnenen Streifen ziemlich ficher, daß dieſe
Strömung uns ichließlich ans Ziel führen wird.
Man wird gut thun, ſich einmal von dem Yärm der Tagesmeinungen möglidjit
zurückzuziehen und auf die Zeichen zu achten, die den künftigen Kurs beſſer andeuten
als jene Stimmen wirrer Peidenichaft. Es iit vor allem notwendig, nicht die Barteien,
jondern die großen wirtſchaftlichen Intereſſengruppen, Landwirtſchaft, Induſtrie und Handel,
jelbit zu hören und danach die Yage zu beurteilen.
Zunächſt die Yandiwirtichaft. Als die Vertretung ihrer Intereſſen im politiichen
Yeben wirft dev Bund der Yandwirte. Es liegt aljo nahe, das Urteil über die Stellung-
nahme dev Yandmwirtichaft nadı den Kundgebungen des Bundes zu bemeilen. In diejen
aber fpricht fich faft ausnahmslos das heftige Berlangen nad einem Zollihut aus, wie
ihm in folcher Höhe die Negierung unmöglid, vertreten fann, wenn jte nicht die Grunde
lagen einer vernünftigen Wirtichaftspolitift aufs Spiel jeten will. Man wird dieſem
Vorgehen des Bundes vieles zu gute halten müſſen. Nur blinde Boreingenommenbheit
oder Unkenntnis fann leugnen, dag es unjerer Yandwirtichaft Ichlecht gebt. Um auch
diejen Begriff gegenüber thörichten Mißveritändniffen einigermaßen klar zu ftellen, jei
hier eingeichaltet, Daß der Gegenbeweis nicht durd) die Behauptung geliefert wird, diejer oder
jener Landwirt habe bei irgend einer Gelegenheit einmal Sekt getrunfen, fondern die Not
der Pandwirtichaft beruht darin, daß die Preiſe der landwirtichaftlihen Erzeugnifie, die
die Grundlage einer vom Nuslande möglichſt unabhängigen Bolfsernährung bilden, bei
Wilbelm von Maſſow, Zur Zolltarifbewegung. 275
normalen Produktionskoſten nicht mehr eine ausreichende und den allgemeinen Erwerbs:
verbältniffen entiprechende Berzinjung des im landwirtichaftlichen Betriebe angelegten
Kapital gewähren. Zu der durd; weltwirtichaftlihe Berhältniffe herbeigeführten Krifis,
die ihren Höhepunkt irberichritten zu haben ſchien, iſt nun neuerdings ein allgemeiner
Niedergang der Geſchäfte und allerhand ürtliches Mißgeſchick durch Ungunft der Witte
rung getreten. In diejer Eritiichen Page und der dadurch bervorgerufenen, mitunter recht
verzweifelten Stimmung erinnern die Landwirte jich der Thatiadhe, dat bei dem letzten Ab-
ſchluß von Dandelsverträgen die Yandwirtichaft für die Erportinterefien der Induſtrie die
Zeche zahlen mußte und die patriotifche Opferwilligfeit der Yandwirte damals von der
Kegierung eigentlic als etwas ganz Selbjtverjtändliches angejehen wurde. Wer wird
itch wundern fünnen, wenn unter dem Druck der Not und angeſichts der gegnerischen
Treibereien die bevoritehenden Verhandlungen bei den Yandwirten eine gewiſſe Nervofität
erzeugen, und der Gedanke, es fünnten fich die Vorgänge der Aera Gaprivi erneuern, jie
beſtimmt, zunächit ihr Antereije mit folder Schärfe zu betonen, daß fie nicht wieder als Opfer-
lamm vorgeichoben werden? Und ebenſo verjtändlich ift eine taftiiche Erwägung. Gewohnt,
von ihren Gegnern unabläjlig als Urbild unerhörter Eigenſucht und wüfter Begehrlich-
feit bingejtellt zu werden, müſſen ſich die Vertreter der Landwirtichaft jagen, daß bei
den lärmenden Auftreten der Gegenpartei gegen den Regierungsentwurf ihre glatte Zus
ſtimmung zu dem Bolltarif nicht ganz ungefährlich fei. Ohne Zweifel wäre das aus-
genußt worden, indem die Gegner dev Yandwirtichaft in die Welt hinausriefen: „Seht,
was für ein tolles Machwerk diejer Zolltarif ift; jogar die Agrarier find damit zu:
frieden!“ Endlich darf nicht unbeachtet bleiben, daß die Maffe der Yandwirte in den
modernen politiihen Bewegungen einen ſpröden Stoff daritellt. Sie erwärmen ſich für
eine Frage erit, wenn ſie ihnen auf den Yeib rücdt; um jo jchwerer wird es ihnen dann
aber auch, in dieſen Yebensfragen die Grenze des Erreihbaren zu erfennen und Zu:
geltändniffe zu machen. Alles dies wird man berücdjichtigen müſſen, wenn man
zu einem objeftiven Urteil über die heutige agrariihe Bewegung gelangen
will. Trotzdem mus man jagen, daß das gegenwärtige Auftreten der Führer des
Bundes geeignet ift, große Bedenken binfichtlic; der Zukunft der Yandwirtichaft hervor:
zurufen. Es märe Gelegenheit genug vorhanden, der Kampfluſt und der regen Be-
thätigung der eigenen Ideen einen Ausweg zu verichaffen, indem man den Entjtellungen
und Verhetungen der Gegner gegenübertritt. Indeſſen in der agrariſchen Preſſe nicht
nur, fondern auch in VBerfammlungen iſt der Fehler gemacht worden, ſich auch gegen
die Regierung zu wenden, fie zu drängen und ihre Stellung zu erjchtveren, auch perjön-
liche Angriffe gegen Staatsmänner zu richten, die, wie der preußifche Dandelsminiiter,
durch ihre vermittelnde Thätigfeit in den Kreiſen von Handel und Anduftrie der Yand-
wirtichaft mehr nüßen, als der entichiedenjte Agrarier jemals nüten könnte Auch muß
es als ein gefährlidyes Spielen mit dem Feuer bezeichnet werden, wenn bon agrariſcher
Zeite gelegentlich behauptet wurde, man wolle lieber gar feine Zölle, als fi) mit den
geringfügigen Erhöhungen begnügen, die die Negierung feitgelegt habe. Angefichts joldher
Maplofigkeiten ift die Frage von großer Bedeutung, wie weit der befonnene, unter:
richtete, politiich einflußreiche, nicht agitierende, jondern wirklich führende Teil der
Deutichen Landwirte hinter den lärmenden Wortführern des Bundes jteht. Die Frage
18*
276 Wilhelm von Maſſow, Zur Zolltarifbewegung.
it jchtwierig, weil fich für ihre Beantwortung nad) feiner Richtung genaue Beweije bei—
bringen laſſen. Forſcht man aber bei guten Sennern der, Stimmung nad, jo muß
man doch zu der Leberzeugung gelangen, daß bei den enticheidenden Verhandlungen die
mäßigenden Einflüſſe ficher zur Geltung fommen werden. Im weiteren Verlauf der
Dinge, namentlih in der parlamentariihen Behandlung, wird Gelegenheit jein, den
Unterjchied zwiſchen der heutigen Handelspolitik und der Capriviſchen deutlicher
hervortreten und eine aus dem Vertrauen zur Regierung fließende Beruhigung all—
mählich auch in die breiteren Maffen dringen zu lajien. Trog aller Ausichreitungen
und Unklugheiten, die jet von agrarischer Seite begangen werden, wird man daran
fejthalten fünnen, daß in diefem Lager die Oppofitionsjtimmung nicht jtichhaltig fein
fann, jofern nur die Regierung ernithaft daran feithält, bei dem Abjchluß neuer Handels—
verträge dem deutjchen Getreidebau einen einigermaßen ausreichenden Zollichut zu ver:
ihaffen. Dann werden die befonnenen Elemente der Yandwirtichaft nicht verfagen und
in voller Erkenntnis der Notwendigkeit der Handelsverträge ſich mit dem Erreihbaren
aufrieden geben.
Bon diefer Seite ift alfo die Gefahr, daß der BZolltarifentwurf etwa nicht Geſetz
werde, nicht jo groß als fie jcheint. Dagegen find manche Kundgebungen aus den Reiben
der Induſtrie jo gedeutet worden, als ob dieje nicht übel Yuft habe, der Yandwirtichaft die
Freundſchaft zu kündigen. Richtig ift, daß die Feitfekung von Mindeſtſätzen des Zolles
für verjchiedene Getreidearten in weiten induftriellen Streifen, die durch den Preßlärm
beeinflußt waren, unangenehm berührt hat. Die einen glaubten dadurch das Zuſtande—
fommen der Dandelsverträge in Frage geftellt, die andern hätten gern den Doppeltarif
auch auf gewerbliche Erzeugniffe ausgedehnt geſehen. Der Zentralverband deuticher
Induſtrieller, der kürzlich über jeine Stellung zum Zolltarif beraten bat, fonnte an
diejer Stimmung nicht gang vorübergehen. Er ſprach ſich grundjäglich gegen Mindeſt
tarife aus und erflärte den Bolltarif nur gutheißen zu fünnen, wenn die Unterhändler
für die Handelsverträge durch feinerlei untere Grenze ich gebunden ſähen. Für den
Fall, daß man mit diefer Anficht nicht durchdränge, behielt man fich weitere Anträge
vor. Diejer Vorbehalt fieht aus wie eine Drohung im Sinne der um die Verträge be-
jorgten Gemüter. In Wirklichkeit aber ift es wohl die Vorbereitung der Nüdzugs-
brüde. Denn die maßgebenden Bertreter der Induſtrie willen jehr wohl, daß, wenn
der Zeitpunkt für die „weiteren Anträge“ gekommen ift, das allgemeine Urteil über die
Möglichkeiten des Zuſtandekommens von Dandelöverträgen fehr viel ruhiger und ge
flärter fein wird. Die Kinduftriellen werden dann Gelegenheit gehabt haben, anjtatt
fi durd; die Deflamationen einer aufgeregten Preſſe einmwiceln zu laffen, vielmehr die
Ergebniffe einer parlamentariihen Erörterung mit den eigenen praftiichen Erfahrungen
zu vergleichen. Dieje beruhigende Ausficht ſchließt das Bedauern nicht aus, daß der
Beſchluß des Zentralverbandes geeignet geweſen iſt, in den Kreiſen der Landwirte
ftarfes Mißtrauen und Entrüftung zu erregen. Die Hauptjache ift aber doch, dat beide
Gruppen auf ihre Rechnung kommen, die Landwirtichaft die höheren Getreidezölle, die
Industrie die Sicherung ihres Erport3 durch Handelsverträge erhält. Und die Ueber—
zeugung, daß beides vereinbar, wird jedenfalls durchdringen.
Daß aud) der Handel allmählich dieſe Ueberzeugung gewinnt, zeigt die legte Ver—
Wilhelm von Maſſow, Zur Zolltarifbewequng. 277
ſammlung des Dandelstages, der faum einen unbeftimmteren Beſchluß faflen konnte, als
er bei diejer Gelegenheit ihn gefaßt hat. In der Form erjcheint diejer Beſchluß geſchickt
den vielen Kundgebungen angepaßt, ‚die vorher aus Handelsfreijen gegen den Bolltarif
gerichtet waren. Sicht man aber näher zu, jo entdeckt man, daß eigentlidy die Frage
offen gelaiien wurde. Es liegt eine gewiſſe Refignation in dem Beſchluß, die deutlic durch—
blifen läßt, dag man ſich in jede Löſung der Zollfrage finden wird, jofern nur überhaupt
Dandelsverträge abgeichlojien werden. Auch die Verwerfung der Mindeftzölle für Ge-
treide joll nur die Bejorgnis zum Ausdrud bringen, daß eine ſolche Bindung vielleicht
zum Scheitern der Berhandlungen führen fünnte.
Sonad) hat man bei jachlicher Betrachtung durdjaus feine Veranlaffung, aus dem
Wirrwarr der Meinungen, die die Tagesprefie beherrichen, peiftmiftiiche Folgerungen zu
ziehen. Dat Verhandlungen zwiichen verjchiedenen Staaten über ihre mitunter ſcharf
entgegenftehenden Intereſſen große Geichieflichkeit und Sachkenntnis erfordern und gewiß
nicht leicht zu nehmen find, iſt jelbftverftändlich, aber das ift eine Sache für fi. Wir
ftehen heute, was die Bejeßung der leitenden Stellen und bejonders ihr einheitliches
Bufammenmwirfen betrifft, erheblich günjtiger da als bei den Verhandlungen vor Abſchluß
der gegenwärtig laufenden Verträge. Aber man darf freilich auch nicht alle ungünftigen
Momente jener früheren Verhandlungen ausichlieglich den Fehlern der damaligen Staats:
männer zurechnen. Man hatte es jchon damals mit einem nicht gehörig revidierten Tarif
zu thun, der die im Namen des Reichs Verhandelnden außer ftand ſetzte, ſachgemäße,
d. h. vor allem den wirklichen handelöpolitifchen Intereſſen entiprechende Gegengebote
zu machen und dadurch Zugeltändniffe zu erlangen, ohne allzu hohe Preife dafür zu
zahlen. Es wäre handelspolitiih unverantwortlich, mit dem veralteten Tarif, der jeit-
dem durd) die Entwiclung der Industrie wieder noch um ein Ungeheueres überholt ift,
in neue Verhandlungen einzutreten. Wir brauchen aljo dringend einen neuen Bolltarif
und müſſen in diefen autonomen Tarif ſolche Säge einstellen, die eritens den wirklichen
Verhältniflen des Handelsverkehrs entiprechen und zweitens das Ausland zwingen,
unierm Erport Zugejtändniffe zu machen. Als entſprechende Säße grundjäglich nur ſolche
anzujehen, die den künftigen Vertragsiägen gleich find oder fie nur unerheblich überfteigen,
wäre eine unbegreiflic)e Thorheit, die im Grunde aud von; feinem denfenden Bolitifer
ernit genommen wird, jondern nur dazu dient, in verhüllter Form eine rein freihänd:
lerijche Ueberzeugung auszudrüden. Bedauerlich ift nur, daß fie zur Srreführung Une
fundiger benugt wird. Ginen hohen Zoll wird man im autonomen Tarif z. B. für eine
Ware fejtiegen müflen, die in großen Mengen aus einem Yande importiert wird, das
durch fein eigenes Zollſyſtem unjerm Erport große Schwierigkeiten bereitet. Würden
wir hier einen niedrigen Zoll beitimmen, jo würde für jenen andern Staat nicht der
geringste Anlaß vorliegen, unjerm Erport Zugeftändniffe zu machen. Wir müſſen eben
ein Drucfmittel haben. Dagegen wäre die gleiche Zollerhöhung nicht vorteilhaft, wenn
der Staat, mit dem wir zu verhandeln haben, jelbft nur eine mäßige Schußgzollpolitif
treibt, unferm Erport ohnehin günftig gefinnt gegenüberjteht oder jeinerjeit3 auf die
Ausfuhr der betreffenden Ware nad Deutichland nicht angewieſen ift. Wir fünnen unter
Umſtänden durch hohe Zölle einen Fabrifationszweig ohne Not Ichädigen, ohne daß wir
ihm Erjat bieten fünnen, wir fünnen aber auch unter andern Berhältniifen uns durd)
278 Wilhelm von Maſſow, Zur Zolltarifbeiwequng.
niedrige Zölle der Möglichkeit begeben, unierem Erport die Hinderniffe fremder Schutzoll:
politif aus dem Wege zu räumen. Das allein find die Gefichtspunfte, nach denen die
Höhe der Zölle im autonomen Tarif zu bemeilen it; find fie geſchickt und jachfundig
aufgeitellt, jo werden gerade die hohen Zölle Gelegenheit geben, bei den Verträgen Ver—
günftigungen zu erlangen. Sie verſchwinden dann im Bertragstarif, während ein falſch
angelegter autonomer Tarif zwar jcheinbar vielleicht zu demjelben Ergebnis führt, aber
uns zwingt, die allein Gebenden zu jein und nichts dafür einzuhandeln.
Es zeigt ſich hiernach das rreführende aller der Auseinanderjegungen, die in
einem hohen Zollaniag im autonomen Tarif ins blinde Ungefähr hinein nur einen Aus»
drud der Begehrlichkeit oder ungerechten Begünjtigung eines einzelnen Induſtriezweiges
ſehen. Wenn dergleichen Behauptungen gleichwohl in der Deffentlichfeit möglich ſind,
jo erflärt fi) das aus der Dineinziehung parteipolitischer Geſichtspunkte in die wirt
ichaftliche Debatte. In der LYandwirtichaft jehen die Gegner ihrer bejondern Intereſſen
eben nicht einen Erwerbszweig, der vermöge jeiner grundlegenden Bedeutung für das
RWirtfchaftsleben und das Gefüge des Staats und vermöge feiner jozialpolitiichen Wich—
tigkeit geichügt werden muß, fondern fie jehen darin die Stüte einer fonjervativen Bartei-
anjchauung und ſchöpfen daraus das Recht, ihre Beitrebungen grundjäglich zu befämpfen.
Sie juchen dabei das Intereſſe des kleinen Grundbeſitzers fünftlih von dein des Gros
beſitzes loszulöſen, weil der legtere aus politiichen Gründen ihnen als Tuelle der Ein—
flüffe ericheint, deren Bekämpfung ihnen die eigene Parteiüberzeugung nabe legt. Vie
Induſtrie andererjeitö gilt den Konſervativen itrenger Obſervanz als ein Tummelplag
des von ihnen verabicheuten Yiberalismus; fie glauben ihr Uebergewicht fürchten zu
müffen, und wiederum find es politiiche Gründe, die bier und da eine Kluft zwiſchen
Yandwirtichaft und Induſtrie ſchaffen, die bei jachlich-wirtichaftlicher Betrachtung wohl
ausgefüllt werden fünnte. Zugleich wenden ſich die jozialrevolutionären Kräfte genen
das in den Vertretern der Induſtrie verkörperte Unternehmertum und befämpfen in der
Induſtrie jomit die ihrer jozialen Theorie feindlich gegenüberftehende Geſellſchaftsord—
nung. Im Sandel endlich befümpft der Wegner nicht fo jehr die den jeinigen mitunter
entgegenstehenden wirtichaftlihen Bedürfniffe, al$ den internationalen, kosmopolitiſchen
Bug und das Streben, fich jeder möglichen Lebensform möglichit frei anzupaiien. Auch
der Dandel ericheint daher als Träger des politischen Liberalismus, und wiederum ſind
es politiiche Erwägungen, die in die wirtichaftlichen Intereſſen mit hineinipielen und
Yeidenichaften erregen, die vor ſachlicher Ueberlegung nicht bejtehen fünnten. Vergleichs—
weile günjtig jteht in diejen Nampfe das Zentrum da. Seine eigentlihen Ziele liegen
von wirtjchaftlichen und ſozialen Beitrebungen weit ab; um jo freier fann es dieſe jehr
wohl in ihrer Bedeutung geichägten Beitrebungen zur Hebung ſeines politischen Anjehens
und zur Befeitigung feiner ausjchlaggebenden Stellung benugen. Dieje Freiheit feiner
Icheinbar jo ganz objektiven und dementiprehend in der Dauptiache auch vegierungs-
freundlichen Stellung ift, parteipolitiich betrachtet, nicht unbedentlih. Es liegt darin für
uns unleugbar die Gefahr der Täuſchung über die wahre Bedeutung diefer Stellung.
Der praktische Politiker aber fann fidy immerhin zunächſt an die Thatiache halten: das
Zentrum wird den Bolltarif durchbringen helfen.
Heben den Nntereifenvertretungen der drei großen wirtichaftlichen Erwerbsgruppen
eilhelm von Maſſow, Zur Bolltarifbeweqgung. 279
haben wir es nun außerdem mit dem veinen Nlonfumenten-Standpunft zu thun, für den
das Schlagwort vom „Brotwucer“ fennzeichnend ift, und das führt zu der jozial-
politiihen Seite der Frage hinüber. Bei den milfenichaftlichen Erörterungen, die auf
der Tagung des Vereins für Sozialpolitif im September gepflogen wurden, wurde dieſer
Bujammenhang veridhiedentlih betont. Was namentlid) Profeſſor Zering bei dieſer
Gelegenheit gejagt hat, jcheint mir bejonders einleuchtend zu jein, und nur der eine
Einwand ließe fich vielleicht erheben, daß, was er als „Ntompenjationen“ bezeichnete,
auch dann geichehen müßte, wenn die Erhöhung dev Getreidezölle nicht durchdränge.
Eine gewaltige Lebertreibung ift es, wenn von anderer Zeite behauptet wird, die von
der Regierung angeitrebte Dandelspolitif und die Fortführung der Sozialreform ſchlöſſen
fi) gegenjeitig aus. Um das zu bemeilen, bedarf es jchon allerlei künſtlicher und
theoretiſch ausgedachter Borausjegungen, vor allem jener verbreiteten, aber darum nicht
minder unhaltbaren Betrahtungsmweife, die die Nonfumenten als eine gejonderte, den
Produzenten gegenüberitehende Klaſſe auffaßt. Es iſt hier nicht Gelegenheit und Raum,
nachzuweiſen, wie in dem verwicdelten Organismus der Bolkswirtſchaft die Anterejien
von Konjument und Produzent teilweile völlig zulammenfallen, teilweise ſich ſoweit
durchdringen und gegenfeitig bedingen, dat e8 gang unmöglich it, fie gegenüberzuitellen.
Es iſt natürlich) nichts einfacher und allgemeinveritändlicher, als die Behauptung, dat
der Konjument durch höhere Yebensmittelpreife geichädigt wird. Daß aber die über-
wältigende Mehrheit der Konſumenten zugleich als Produzenten — oder als Lohn:
empfänger im Dienite der Produktion — bei einer allgemeinen Berfchlechterung der
wirtichaftlihen Yage durch ein handelspolitiiches Lebergewicht des Muslandes oder
durch dauernden Niedergang der Yandwirtichaft weit empfindlicher und nachhaltiger
geichädigt werden, als durd) niedrigere Yebensmittelpreiie jemald ausgeglichen werden
fann, das erfordert freilich etwas mehr Nachdenken, und die politischen Agitatoren, in
deren Kram die faliche Theorie beſſer part, thun ihr Möglichites, dieſes Nachdenken
zu verhüten.
Den dankbarften Boden findet dieje Agitation begreiflicherweife im Yohnarbeiter:
itande, der fid) im Wideripruch zu der beitehenden Ztaatsordnung überhaupt fühlt und
unter der Herrichaft der marxiſtiſchen Iheorie niemals einen Gedankengang als richtig
anerkennen fann, der im engen Zuſammenhang mit dem Schuß des individuellen Eigene
tumsrechts an den Broduftionsmitteln steht. Daher konnte Bebel auf dem legten jozial-
demokratiſchen Barteitage in Lübeck in jeiner leidenichaftlihen Weiſe mir dem offenen
Geſtändnis hervortreten, daß es jeßt die Aufgabe der Partei ſei, mit Hilfe des Schlag:
worts vom Brotwucer das Volk „aufzuhegen“.
Auch die Nationaljozialen haben fich in dieſe Ridytung drängen laſſen. Das it zu
bedauern. Die Doffnung auf die Vebensfähigfeit diejev Bewegung, die in der Ihat eine
Lücke in unjern Parteigetriebe hätte ausfüllen können, berubte auf dem Gelingen einer
Verbindung zwifchen dem berechtigten Bormwärtsdrängen des Arbeiteritandes einerieits
und andererjeits jolchen Elementen, die, aufrichtig national und antirevolutionär, doch
ebenjo aufrichtig bereit waren, dem Arbeiterftand eine den modernen Berhältniiien
beſſer entiprechende Stellung im Ztaatsorganismus zuzuweiſen und ihn Dadurch zur
nationalen Mitarbeit zu erziehen. Dieſe leßteren Elemente find auch heute noch in der
280 Wilhelm von Maſſow, Zur Zolltarifbewegung.
Bewegung thätig, aber fie find völlig zurüdgetveten gegen andere, die den Staat aus:
schließlich nadı den Bedürfniffen des Yohnarbeiterjtandes zurechtichneiden wollen. Rau:
manns Stärke lag zu Anfang darin, daß er durch jeine Berjönlichkeit und den Friichen
Glauben an jeine Sadıe ‚jene ſoeben gefennzeichnete Verbindung zu erhalten verftand.
Seit aber die Bewegung über jeine Kraft hinauswuds, die Heißſporne immer mehr in
Vordergrund traten und Naumann, unter ihrer Führung immer mehr zum „Realpolitifer“
werdend, jein Daus mit allerhand ſchadhaftem demokratischen Trümmerwerf auszufliden
begann, iſt die Hoffnung auf die Wirfung der Partei als jozialpolitischer
Eauerteig Stark herabgeitimmt, wenn nicht vereitelt tworden. Auf dem jetzt
eingeſchlagenen Wege des „Aufhetzens“ kann nur noch die eine Wirkung er—
reicht werden, von der freiſinnigen Partei einiges abzuſprengen und zur
Eogialdemofratie hinüberzuführen. Denn trotz des feindſeligen Hohns, mit dem die
Sozialdemokratie das nationalſoziale Häuflein überſchüttet, trotz der Sorgfalt, mit der
die Führer der Nationalſozialen die Unterſchiede betonen und fi in Preſſe und Ver:
jammlungen in eifrigen Disputationen gegen die marriftiichen Anjchauungen verwahren,
it die Wirkung dieſer Gruppe in der praftiichen Politik lediglich die einer Hilfstruppe
für die Sozialdemokratie. Deshalb hätte der fozialdemofratiiche Rechtsanwalt Beine
in Yübef mit den Nationaljozialen immerhin etwas glimpflicher umgehen follen.
Aber Dankbarkeit ift Feine jozialiftiihe Tugend; fie ipielt jchon im Gegenwartsſtaat
faum eine Rolle.
Ueber die Beziehungen der Bolltariffrage zur Sozialpolitif bringt vielleicht die
Zukunft noch manches Intereſſante. Beute aber ift es noch nidyt möglich, die Geftal:
tungen zu überfehen, die uns die nädjfte Zeit in diefer Frage bringen wird.
©
Der Heimruf.
S geht eine Sehnſucht nach Licht durch die Welt...
In jedweder Brult
Erregt fie die Schwingen
Der SHeimatluft,
Bis liegend lie dringen
Zur Sonne, die alle Tiefen erhellt.
Es geht nad Erlöiung ein Schrei durch die Welt,
Ein Schrei, durd das leid
Des Leben geboren,
Ein Ton, in dem Streit
Des Tag’s unverloren —:
Der Seimruf, der Simmel und Erde durchgellt.
Karl Ernit Knodt.
DIEIPPDEAPEDIEIED
Weltwirtichaftlihe Umſchau.
Von
Paul Dehn.
Teutichlands Güteraustaufc mit jeinen Nacbaritaaten. — ‚internationale Berrufserklärungen.
— Der frifenartige Zujtand der induftriellen Entwidlung Deutjchlands und das Ausland, —
Schwarze und weiße Kohle — Neue Waſſerſtraßen und Eifenbabnen in Oeſterreich und ibre
Bedeutung für Deutichland. — interejienreibungen am Perſiſchen Meerbuien. — Deutiche Arbeit
in Siam. — Neues bon der fibirtfchen Bahn.
g" dem Güteraustaufch der verichiedenen Länder der Erde zeigt ſich fchon jeit Jahren
eine merkwürdige Ericheinung. Nach der Theorie ift e8 gang einleuchtend, daß, wenn
auf der Erde aud) die Agrifulturjtaaten ihre Induſtrie mehr und mehr fördern, die
Ausfuhr der Anduftrieftaanten in entjprechendem Make abnehmen und jchließlih einmal
ganz verihmwinden muß. Thatiächlich entwidelt ſich der internationale Güteraustauſch
durhaus nicht in diejer Richtung. Nächſt England haben Deutihland, Frankreich,
Tefterreich-Ungarn, Stalien, jodann Rußland, Rumänien und andere Staaten, am er-
folgreichjten die nordamerifanifhe Republif ihre heimijche Induſtrie mit Hilfe von
Schutzzöllen leiftungsfähiger gemacht und fie in den Stand gefegt, einen immer erheb-
liheren Teil der Nadıfrage des heimiſchen Marktes jelbjt zu befriedigen. Nichtsdefto-
weniger hat in allen diefen Staaten die induftrielle Einfuhr entweder garnidjt oder doch
nicht merklich abgenommen, zumeift ift fie jogar geftiegen. Wer fich der Aufgabe unter-
ziehen wollte, diefen Güteraustaufc genauer zu erforichen und zu ermitteln, in welchen
Anduftrieerzeugniffen die Einfuhr nicht abnahm oder gar zunahm, wird wahrjcheinlid)
finden, daß in gewiffen Erzeugnilfen, die die heimiſche Induſtrie liefern fonnte, die fremde
Einfuhr zurüdgegangen ift, daß dagegen in anderen Erzeugniffen die fremde Induſtrie
hervortrat und eine Nachfrage dedte oder auch erft ſchuf. Aus der Thatjache, daß der
Güteraustauſch zwiſchen denjenigen Staaten, die ihre Induſtrie mehr und mehr förderten,
durdaus nicht abgenommen, jondern vielfach jogar zugenommen hat, läßt fich mit gutem
Grund der Schluß ziehen, daß diefer Güteraustauſch auch in Zukunft noch fortdauern
wird, jelbjt wenn die Staaten ihre heimifche Induſtrie immer mehr zu entwideln fuchen.
Kur mit Hilfe von jehr hohen Zöllen könnte diefer Güteraustaufch unterbunden, aber
ſchwerlich jemals ganz unterdrüdt werden.
Aus dem befonders umfangreichen Güteraustaufch gerade zwiſchen Anduftrieftaaten
hat man jogar den Schluß ziehen wollen, daß bei fortgejett induftrieftaatlicher Entwick—
fung der internationale Giüteraustaujd; noch immer größeren Umfang annehmen wird,
weil die Induſtrie mit ihren Fortjchritten immer wieder neue Bedürfniffe entwidelt.
282 Baul Dehn, Weltwirtichaftliche Umſchau.
Nach der deutichen Reichsftatiftif ift die Vorausſetzung nicht ganz zutreffend. Die beiten
Abjagmärfte des Deutichen Reiches waren im Jahre 1900 England, wohin für
912 Mil. M. deutiche Erzeugniffe gingen, Defterreich-lingarn mit einem Bedarf von
500 Mill., die Vereinigten Staaten von Nordamerifa mit 40 Mill., die Niederlande
mit 396 Mill., Rußland mit 325 Mill, die Schweiz mit 292 Mill, Frankreich mit
278 Mill., Belgien mit 253 Mill, Schweden mit 138 Mill, Ntalien mit 127 Mill,
Dänemarf mit 125 Mill. und Norwegen mit 71 Mill. M. Danad) hatten allerdings
die wirtjchaftlich, induftriell und fommerziell am entwideltiten Staaten die größten Be-
züge aus Deutichland aufzumeiien.
Indeſſen ergiebt fich ein ganz anderes Bild, wenn man nicht den Gejamtbedart
diejer Staaten, die ja jehr verichieden groß find, in Betracht zieht, jondern ihren Gejamt-
bedarf auf den Kopf der Bevölkerung umlegt.
Danach berechnet erhielten im Sabre 1900 an deutſchen Waren die Schweiz für je
97 M., die Niederlande für je 5 M., Dänemark für je 55 M., Belgien fir je 40, M.,
Norwegen für je 35 M., Schweden für je 28 M., Großbritannien für je 24 M., Deiter:
reich:Ungarn für je 12 M., Frankreich jür je 7'/, M., die nordanterifaniiche Republif
für je 5, M., Italien für je 4 M. und Rußland für je 21, M. Meder praftiiche
Kaufmann weiß, was diefe Statiftif zu bedeuten hat. Wo er großen Abjat findet, darf
er mit Grumd hoffen, noch immer mehr zu verfaufen. VBerhältnismäßig am meisten
Abſatz fanden aber die deutihen Waren in denjenigen Nadhbarländern
Deutihlands, deren Bevölkerungen ftammperwandt jind, wie in dev Schweiz,
Holland, Dünemarf, Belgien, Norwegen und Schweden. Hieran würde fich Ticherlich
Oeſterreich reihen, wenn fein Bedarf allein abgejchätt werden fünnte, wenn e3 nicht mit
Ungarn zu einem Zollgebiet verbunden wäre. Statt deſſen ſteht Großbritannien voran,
das durch jeinen Zwiſchenhandel viele deutsche Ware bezieht, ohne fie jelbjt zu verbrauchen.
Deutichlands Nachbarländer ohne ftammverwandte Bevölkerung haben nur einen geringen
Bedarf an deutichen Waren. Das zeigt die Statiftif in Bezug auf das hochentmwicfelte
Frankreich und auf das zurücdgebliebene Rußland.
Bei Abſchluß neuer Handelsverträge wird man gut thun, fich die Handelsftatiftif
auch von diefer Seite anzufehen und diejenigen Staaten bejonders zu berückfichtigen, die
nicht nach ihrem Gejamtbedarf, jondern nad) ihrem Durchichnittsbedarf vom Hopf der
Bevölferung die Kunden Deutichlands find. Deutichland joll allerdings bemüht fein,
fi) neue Abfasgebiete zu erjchliegen. Allein man darf dabei nicht überjehen, daß es in
der Regel leichter und erfolgreicher ift, die alten bewährten Abſatzmärkte zu pflegen und
zu ermeitern.
In den ftammverwandten Nachbarjtaaten anerkennt man unbefangen oder auch
erfreut oder aber bejorgt das wirtichaftliche Uebergewicht des Deutjchen Reiches. Mitte
September 1901 hob ein Stocdholmer Blatt hervor, dab Berlin gegenwärtig den aus-
ichlaggebenden Mittelpunft für die Negelung der gejchäftlichen Beziehungen Schwedens
zum Auslande bilde. Alle wirtichaftlihen Schwankungen und Veränderungen des feſt—
ländiichen Handelsverkehrs jpiegele der Berliner Markt dank jeiner intenfiven Konzen—
tration in allen Erwerbszweigen mit der Empfindlichkeit der Magnetnadel mieder.
Berlin fei für die ſchwediſche und norwegische Handels: und nduftriewelt zur mar:
Baul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umſchau. 283
gebenden Yehrftätte geworden und gebe alle erforderlichen Aufichlüffe, Anregungen und
Dinmweife zur Führung des Kampfes gegen die internationale Konkurrenz. Wehnliche
Stimmen hat man aus der Schweiz wie aus Holland vernehmen fünnen. Sogar in
Stalien beklagte Ende September ein allerdings beutichfeindliche® Blatt, die „Voce
della Verita“, das Ueberhandnehmen der Deutjchen in talien. Genua fei faſt ganz in
deutihen Händen, ganz Oberitalien nur ein Dinterland des deutichen Handels, in der
Yombardei ftehe die Seideninduftrie unter deutichem Einfluß, wie überhaupt die Lom—
bardei und Yigurien, Florenz, Rom und Neapel längft Zmeigftellen deutſcher Industrie
und Finanz geworden feien. Ein Deutjcher ziehe den andern nad) fi, und jo habe im
Norden aud) ichon der Eleine Kaufmannsftand einen großen Prozentiak von Deutichen
aufzumeifen. Das find Uebertreibungen eines deutjchfeindlichen Blattes. Man darf jie
nicht für bare Münze nehmen. Aber jo ganz unbegründet find die Angaben nicht
und im Kerne zeigen fie die Erpanfionsfähigfeit der deutichen Unternehmungsfuft und
der deutſchen Arbeit.
Vielleicht darf man in der Entwicklung des Berfehrs zwischen dem Deutjchen Reiche
und jeinen ftammverwandten Nadbarjtaaten den Anfang zu einem mitteleuropäiichen
Bollverbande unter deutjcher Führung erbliden, der zwar vorläufig nod) in nicht abjehbarer
Ferne ſteht, aber doch eine Notwendigkeit ift und über kurz oder lang einmal zu ftande
fommen muß. Nimmt diefer Verband greifbare Formen an, jo werden fich ihm
fiherlich) au) andere Staaten und Reiche angliedern, die ſich jetzt noch von vornherein
ablehnend verhalten.
* *
*
Nationale Verrufserklärungen von Volk gegen Volk gegen Waren aus ge—
wiſſen Ländern find feine neue Erſcheinung. Schon in den dreißiger Jahren, als die
Engländer fi in die inneren Kämpfe Bortugals allzu gehäffig einmiichten, erflärten die
portugieſiſchen Kaufleute in ihrer Entrüftung darüber, alle Handelöbeziehungen mit den
GEngländern abbrechen zu wollen. Der englische Handelsmarkenſchutz vom Jahre 1885
mit feinem „made in Germany“ war aud) eine Art von Verrufserflärung, wenngleich
in verftedter Form. Angefichts der polenfeindlichen Kundgebungen im deutſchen Reichs:
tage und im preußifchen Yandtage erflärte im Jahre 1897 die polnische Kaufmannſchaft
zu Krakau in Berbindung mit derjenigen zu Yemberg und Warſchau, dahin zujammen-
wirfen zu wollen, dat alle Gejchäftsverbindungen mit deutichen Firmen gelöft würden.
Aehnliche Kundgebungen waren fchon früher von polnischer Seite erfolgt. Annähernd
um diejelbe Zeit verficherten auc griechische Kaufleute, infolge der türfenfreundlichen
Haltung Deutihlands ihre Beziehungen zu dem deutihen Handel abbrechen zu wollen.
Als im Nahre 1890 Frankreich jeine Korinthenzölle erheblich erhöhte und die Einfuhr
diefes wichtigsten griehiihen Ausfuhrerzeugniffes empfindlich zurückdrängte, eritand in
Griechenland ein faufmännischer Verband mit dem Zweck, nichts mehr von Frankreich
faufen und fortan die Handelsbeziehungen mit Deutjchland auf alle Weiſe entwiceln zu
wollen. Zuletzt verfuchten Ende 1898 nad den Ausweifungen aus Schleswig däniſche
Kaufleute, die deutjchen Waren in Acht und Bann zu thun.
Alle diefe Verrufserflärungen haben nicht den gewünichten, ja überhaupt Feinen
nachhaltigen Erjolg gehabt, obwohl fie anfangs eine gewifle Wirkung veripradyen. Bald
284 Paul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umfchau.
wurden die alten Beziehungen, wo fie vorübergehend wirflich abgebrochen waren, wieder
aufgenommen, und die Gejchäftsleute fuhren fort, ihren Bedarf da zu deden, wo er in
gewohnter Weile am preismwürdigften und pafjenditen beſchafft werden fonnte. Es ift
demnach faum anzunehmen, dat die neuejten Berrufserflärungen diefer Art erhebliche
Erfolge erzielen werden. In Frankreich wie in Holland werden öffentlich und brieflich
Aufforderungen verbreitet des Inhalts: Kauft nicht von den Engländern, helft den
Buren! Bon den Kaufleuten wird erwartet, daß fie feine einzige Ware engliihen Ur:
iprungs beziehen. Ganz ohne Wirkung dürfte diefe Verrufserflärung aber doch nidjt bleiben,
ja vielleiht aud) anderwärts auf dem Feitlande Nachahmung finden, weil die Abneigung
gegen die Engländer infolge ihres blutigen, aller Kultur Hohn fprechenden Eroberungs-
feldzuges gegen die Burenrepublifen in allen Staaten des europäiihen Feitlandes eine
fo tiefgreifende und nachhaltige ift, daß fie ſelbſt im geichäftlichen Leben fich geltend zu
machen beginnt.
* *
Hervorgerufen wurde der kriſenartige Zuſtand der induſtriellen Entwick—
lung Deutſchlands durch Zuvielerzeugung und verſchärft durch Ueberſpekulation.
Zuerſt ſahen ſich davon einzelne Zweige der Textilinduſtrie ergriffen, ſpäter auch die
Metallinduſtrie und einige andere Induſtrien. Roh: und Hülfsſtoffe, wie vorübergehend
Flachs und Wolle und andauernd Kohle und Eifen, wurden im Preiſe zu hoch getrieben
und berteuerten die Erzeugung. Die Ausfuhr ftocdte infolge friegeriiher Wirren. Die
Nachfrage lieg nad. Daneben famen in induftriellen Börfengründungen bedenkliche
Berfehlungen vor. Aus diefer wirtichaftlichen Ebbe wird und muß fich die deutjche
industrie wieder aufraffen und das Krankhafte ausscheiden, um zu gefünderen Zuftänden
zu gelangen. Der krilenhafte Zuftand wird heilfam jein, wenn man die begangenen
Fehler beachtet und fortan zu vermeiden ſucht.
Im Auslande hat diefer frifenhafte Zuſtand hie und da eine gewiffe Schadenfreude
hervorgerufen, allein die Achtung vor der wirtſchaftlichen Leiftungsfähigfeit und Größe
des Deutfchen Neiches nicht im geringsten vermindert. Mitte Juli verherrlichte ‚der
„Budapefti Dirlap“, ein feineswegs deutichfreundliches Blatt, die wirtichaftliche Be—
deutung des Deutjchen Reiches und jchrieb: „Zum Rieſen ift der Deutiche in feinem
Selbſtbewußtſein geworden und hat aud) der Welt achtunggebietende Kraft, Entichloffenheit,
fühne und unbeugiame Ausdauer gezeigt. Er ift in allen Dingen dergeftalt vorwärts
gejchritten, wie einjtens die Legionen der römifchen Gäfaren: tolltühn, hart, furdtlos,
im Herzen mit dem überzeugten Glauben an !den Erfolg und an das Glück und mit
jenem flammenden Gefühl der Selbftjuht, wonach alles Gute auf diefer Welt ihm zu—
fommt, nur muß er es mit Arbeit und all den Mitteln erwerben, die das /moderne
Veben ihm in die Hände ſpielt. . . Glücd, Kriegführen, Arbeit, Sparjamteit, jtaatliche
Fürſorge, bis zur Tollfühnheit entwidelter voirtichaftliher Wagemut haben im Reich
mächtige Hapitalien zufammengehäuft, die große Maffe der brach liegenden Arbeitskräfte
ausgenust und fruchtbar gemacht. Eine auf jeden Atemzug achtende Politik hat mit
derjelben Sorgfalt, derjelben Entjchloffenheit die wirtfchaftlichen Kräfte organifiert, wie
vorher die Waffenfraft, und mit derjelben in Fleisch und Blut übergegangenen Disziplin
die Bewegungen, die Ihatkraft der wirtichaftlichen Heereskräfte nelenft, wie fie e8 in
Vaul Dehn, Weltwirtichaftliche Umschau. 285
ihren Sriegen mit ihren Heeresjäulen gethan hatte. Die Organifierung und Leitung
des wirtichaftlichen Yebens unter jtaatlihem Banner, die auf das wirtſchaftliche Gebiet
übertragene Heereswillenichaft, das hat das Deutſche Reich zu einer Fülle der Früchte:
einheimfjung geführt, auf die wir mit Staunen blicken müffen.“
An diejes Loblied über die wirtichaftliche Größe Deutichlands Fnüpfte der „Buda—
peiti Dirlap“ die Forderung, Ungarn möge ſich mehr aus anderer Richtung eine Kapitals—
zufuhr fihern und fich langfam von der wirtichaftlihen Abhängigkeit von Deutſchland
befreien. Es iſt Elar, dab der „Budapeiti Hirlap“ von Deutfchland nit eine Schäbdi-
gung der ungarifchen Volkswirtſchaft fürchtet, jondern vielmehr den wachſenden Einfluß
des Deutihtums auf Ungarn, der ſich zunächſt auf wirtichaftlichem Gebiete bethätigt.
Wie jehr Ungarn mit Deutichland verknüpft ift, geht aus einer Aeußerung des Peſter
Blattes hervor, wonach mehr als die Hälfte der geiamten geichäftlichen Beziehungen, die
Ungarn zum Auslande hat, an das mirtichaftliche Yeben Deutihlands gebunden jei.
*
—
Seit Jahr und Tag ſteht die Induſtrie unter dem Druck hoher Kohlenpreiſe, die
im Winter auch der Privatmann empfindet. Nicht Kohlenmangel herricht, wohl aber
Kohlenteuerung. Da nun die Kohlenwerfe und Kohlenhändler in Verbänden oder Verban—
delungen feſt zufammenhalten, jo ift vorläufig eine erhebliche Preisermäßigung nicht
zu erwarten. Inwieweit der Staat die Preisftellungen der Kohlenvereinigungen beein:
fluffen kann und ſoll, ift ein Problem, das nur von einer ftarfen Hand gelöft werden
wird. Bis dahin wird man verſuchen müflen, Abhilfe von einer anderen Seite her zu
finden und zwar in Geftalt einer Konkurrenz gegen die Kohle. Ein ſolches Konkurrenz:
mittel bejiten alle Länder von großem Wafferreichtum und befonders jolche, deren Ge—
wäffer auf kurze Entfernungen große Gefällsunterfchiede aufzumweifen haben wie die
Alpenländer. In den deutfchen und öſterreichiſchen Alpenländern ftehen viele Millionen
von Pferdefräften an mechanischer Arbeit in Form von bewegten Wafjern, aljo von
Bächen und Flüffen, oder von großen Wajjerbehältern, alſo von Seen, zur Verfügung
und bilden eine unerjchöpfliche, fich ftetö erneuernde Kraftquelle. Wenn es einmal dahin
gefommen fein wird, daß die Wafferfräfte in den deutichen Bergen gefammelt und nutzbar
gemacht werden zur Erzeugung von Licht, Verkehrsmitteln und motorifcher Kraft und
wenn durch Fortichritte der Elektrizität diefe drei Dinge auf weitere Entfernung über-
mittelt werden fünnen, dann wird der Kohle ein nicht zu unterjchäßender Konkurrent
entgegengeftellt jein, der jich in jpäter Zukunft wahricheinlich Langlebiger erweilen dürfte
als die Kohle ſelbſt.
Bu den wafjerreichiten und waſſerkräftigſten Yändern Mitteleuropas gehört Tirol,
und man hofft dajelbft, wie aus einer Fleinen Schrift von E. M. Menghius über
„Tirols Wafferkräfte und deren Bermwertung“, herausgegeben von den Handels:
und Gemwerbefammern in Tirol, hervorgeht, daß mit Hilfe von deutichem Kapital und
deutfhem Unternehmungsgeift Tirol wieder jene Blüte erlangen wird, die es im Mittel:
alter bis zur Entdedung Amerifas aufzumweifen hatte, daß mit deuticher Hülfe nicht nur
die Wafferfräfte Tirols erichloffen, jondern auch Handel und Verkehr mit dev Levante
und dem ferneren Orient wieder belebt werden. In der erwähnten Schrift findet ſich
eine genaue Weberficht der vorhandenen Gewäſſer und Waflerfräfte Tirold. „Es wird
286 Baul Dehn, Weltwirtichaftliche Umfchau.
die Zeit kommen,“ heißt es da, „wo jich die Felſen Tirols in buchſtäblichem Sinne in
Hold verwandeln werden. Die Elektrocdyemie wird in Tirol einmal Wunder wirfen.“
Tirol und Bayern find wirtichaftlidy faum zu trennen. Es wäre in hohem Grade
erwünſcht, wenn fich die deutſche Eleftrotecdhnif, die doch an der Spite marjdiert, den
deutihen Bergen und ihren Wafjerkräften zumenden wollte An der Sill in Tirol
wurde in dieſem jahre die erite größere Waflerkraftanlage, die „Brennermwerfe“, eröffnet,
die über 6000 Pferdekräfte liefern jollen. Ein Anfang it aljo gemadht.
In Italien iſt man bereitS weiter vorgeichritten. Nach den amtlihen Angaben
jollen in den Provinzen Biemont, Yombardei und Venedig an Dampffraft 60000, an
angewandten Wajlerfräften 103 000 und an nod) verfügbaren Wajferfräften 996 000 Pferde:
fräfte vorhanden fein. Man wird daher zunächſt in den Alpenländern die ſchwarze
stohle durch die „weiße Kohle“ verdrängen, fid) der Stohlenteuerung entziehen und nod)
neue Kräfte in großer Anzahl dazu jchaffen fünnen.
* *
*
Neue groge Verkehrswege, Wafierftraßen und Eijenbahnen, die für das
Deutjche Reich von Bedeutung und Nugen find, wird fih Oeſterreich ſchaffen. Zu
diefem Zwecke haben dort die geießgebenden Hörperichaften mehr als 1 Milliarde Marf
bewilligt und zwar iiber 600 Millionen Mark für neue Wafferftragen und über 400 Mil
lionen Mark für neue Eijenbahnen. Die SFertigftellung diefer neuen Verkehrsmittel
fan feinem Zweifel unterliegen, indejjen wird fie geraume Zeit in Anjprudy nehmen.
Die neuen Kanäle werden nicht vor dem Jahre 1915, die neuen Eijenbahnen etwa im
Jahre 1908 vollendet jein.
Vom reihsdeutihen Standpunft aus betrachtet find die neuen öfterreichiichen
Waſſerſtraßen nur willfommen zu heigen, da fie geeignet ericheinen, den Verkehr der
deutihen Wafferftragen und insbejondere der deutfchen Häfen nod; mehr zu beleben.
Zunädjft wird die Donau mit der Oder durd) einen Stanal verbunden werden, der von
Wien nach Dderberg gebt. In Galizien joll jodann die Weichjel mit dem Dujeſtr und
beide mit der Oder durch einen Slanal verbunden werden. Ferner wird von der Donau
entweder in der Nähe Wiens oder bei Linz ein Kanal nad) der Moldau gebaut und
jomit eine Wajjerftraße zwilchen der Donau und der Elbe hergeftellt werden. Endlich
it noch eine Wafferftraße zwifchen dem Donau-Elbe: und dem Donau-Üderfanal vor:
gejehen und zwar durd; Sanalifierung der oberiten Elbe von Melnik nach Bardubit und
durch Anlage eines Kanals von Pardubis über Olmütz und Prerau nad) Oderberg.
Welchen Wert diefe Kanäle für Deutichland haben werden, geht aus einem Bericht
des Abg. Naftan hervor, in dem gejagt wird, daß die Are drs Welthandel im Atlan-
tiichen Meer Liegt, Oefterreich aber zu weit davon entfernt ſei. Durch die Entwicklung
jeines inneren Verfehrs werde es der Weltare näher rüden. Mit dem Donau-Moldau—
Elbe-Kanal werde ſich Oeſterreich die Zugehörigkeit zur gleichen wirtichaftsgeographifchen
Bone fihern wie Sachſen, Baden, Bayern und Württemberg. Erjt die Verbindung der
Donau mit der Elbe und Hamburg würde den Berkehrsinterefien Defterreihs einen
Abflug nach dem Weiten verichaffen, dem Pande neue Impulſe und jeinem wirtjchaftlichen
Leben einen neuen Schwung verleihen. Noch weiter ging der Deutichnationale Wolf,
der hervorhob, daß durch die neuen Waflerftragen die Neigung der gefamten Wirtichafte:
Paul Dehn, Weltwirtichaftliche Umfchau. 287
fläche Deutſchöſterreichs gegen die Nordſee und Oſtſee herbeigeführt würde, eine Neigung,
die allmählich zu einer feſten wirtfchaftlichen Bereinigung Deutichöfterreihs mit dem
Deutſchen Reiche in Form einer Zollunion führen müſſe. In derjelben Ridytung, wenn
auch von jeinem tichechiichen Standpunkt, machte der Abg. Kramarz Bedenken geltend und
meinte, in den internationalen Kanälen fein Glüdf für die Tjchechen erbliden zu fünnen,
ja befürchten zu müffen, daß Defterreich die Kanäle für Deutichland baue und es diejem
Reiche ermögliche, den Defterreihern am Balfan und in der Levante noch erfolgreicher
Konfurrenz zu machen.
Mit dem Bau diejer Kanäle großen Stils übernimmt Deiterreih ungeheure
finanzielle Paften, und feinen Technifern werden Aufgaben geftellt, wie jie jchwieriger
bei Stanälen nod) nirgends zu löjen waren. Aber vom reichsdeutihen Standpunft aus
fann man fid) nur befriedigt über dieſe Wafferftragen äußern, da nad) ihrer Fertig:
ftellung die Donau drei Anfchlüffe nach Norddeutichland, nach der Elbe, der Oder und
der Meichiel, erhalten wird und da die induftriereichften Gebiete Defterreichs den deutichen
Häfen Hamburg, Stettin und Danzig nody näher gerüdt werden. Dieje Nüdwirkung
des beichlofienen öjterreichiichen Nanalnekes hat man in Wien wohl dunfel empfunden.
Auch lagen Vorſchläge vor mit dem Zmede, ſolche Rüdwirkungen zu durchfreuzen und
das dfterreihiiche Waſſerſtraßennetz in Verbindung mit der öfterreihiichen Küfte, mit der
Adria, zu bringen. Bon dien aus murde ein Stanalprojeft in die Teffentlichkeit geſetzt,
wonach eine Waflerftrage von Aien über den Semmering und an Graz und Yaibadı
vorbei über den Ntarft nach Trieft gebaut werden jollte, mit zahlreichen Hebewerken,
nammerjchleufen und Qunnels. An Ungarn wird jchon jeit Jahren die Möglichkeit
erörtert, Budapeft und Fiume durch eine Wafferftrage zu verbinden, etwa unter Ein-
beziehung des gleidyzeitig geplanten Kanals Vukovar-Samatz über Kroatiſch-Brod und
unter Durchquerung des Naritgebirges mit Hilfe des Syſtems der jchiefen Ebenen —
allein man ſchreckt vor den tedhniichen Schwierigkeiten und vor den großen Koſten zurüd.
Beide Pläne werden, wenn iiberhaupt, keinesfalls in abjehbarer Zeit durchgeführt werden.
Voraussichtlich wiirde auch der Verkehr auf dieſen Waſſerſtraßen nicht erheblich fein, da
nun einmal das industrielle Nordöſterreich e8 aus verfchiedenen Gründen für vorteilhafter
findet, über die norddeutichen Häfen, namentlich über Hamburg, ınit dem Auslande zu
verkehren. Das gejchieht zuweilen auch in Fällen, die auf den erften Blick überrafchen
müſſen. So fommt nad) einem Bericht des Anduftriellen Klubs in Wien, der angefehenften
Großinduſtriellen⸗Vereinigung Oeſterreichs, Stabeijen, das in Böhmen oder in Mähren
hergeftellt worden ift und nadı Gala an der unterſten Donau geſchickt werden joll,
nicht etwa auf dem nächſten Wege, auf der Eifenbahn oder auf dem fombinierten Wege
Eifenbahn-Donau zur PVerjendung, aud nicht über den djterreichiichen Hafen Trieft,
jondern es geht über Oderberg mit der Eifenbahn unmittelbar nad) Hamburg oder aud)
unter Benutung des Elbe-Weges und dann ſeewärts um gang Europa herum bis an
ieinen Beitimmungsort. Weshalb? Die Antwort iſt jehr einfach, weil nach den Berech—
nungen des Snduftriellen Klubs 10000 kg Stabeifen von Wittkowitz über Trieit nadı
(alas 360 M., auf dem unmittelbaren Eifenbahnmwege noch etwas mehr, dagegen über
Oderberg und Hamburg nur 235 M. Frachtkojten zu zahlen haben.
So erflärt es ſich, daß ſchon jeit Jahren der ganze Mafjengüterverfehr zwiſchen
288 Paul Dehn, Weltwirtichaftlihe Umſchau.
dem Südojten und Nordmweiten Europas, ja jelbit zwifchen dem Gebiet der unteren
Donau und des Schwarzen Meeres einerjeitS und des Rheins und der Elbe anderer:
jeitö jih um Europa herum auf dem Seewege bewegt, der zwar fünfmal länger ift als
der Landweg, aber durchſchnittlich felbit für fcheinbar ungünftige Beziehungen erheblich
billiger, für die Küftengegenden jogar mehr als fünfmal billiger ift als die Eijenbahn.
Eine Verkehrskarte der Erde würde gang anders ausiehen als die herkömmliche,
wenn man fie nadı der Billigkeit der Frachten, aljo nicht nad) den Entfernungen,
jondern, was für die Praxis maßgebend ift, nach der Höhe der Frachtſätze feſtſtellen
wollte. Auf diefer Karte würde ſich zeigen, dat Süddeutſchland weiter entfernt ift von
Hamburg und jogar jehr viel weiter ald Nords oder Siüdamerifa, daß Chicago näher
an Mannheim Tiegt als eine oftpreußiiche Stadt, ja jelbit näher als Berlin. Mit den
Seefrachten können die Yandfradjten nicht konkurrieren, und jo erklärt ſich jene jeltiame,
unnatürlide und zumeilen unleidliche Berichiebung des Güterverfehrs in und nad)
Europa.
Unter diejen Umftänden kann der neuen groß angelegten und tedmifch hervor:
ragenden Alpenbahn Deiterreihs, der Tauern - Harawanfen-Bahn, die
Salzburg und Trieft unmittelbar in Verbindung bringen wird, eine bejondere und
große verfehrspolitiiche Bedeutung für das Deutiche Reich nicht zugeitanden werden.
Dieje Bahn wird von Schwarzad nächſt Yend an der Giſelabahn über Gaſtein durch
den großen Tauerntunnel nad) Möllbrüden führen, dort die bereits beitehende Südbahn-
ſtrecke bis Villach verfolgen, nah Aufnahme eines Anjchluffes von Klagenfurt bei
Apling die Karawanken durchbrechen und fih dann durd; das Wocheinerthal über Görz
auf die Höhen des Karft winden bis Optichina, einem der ſchönſten Ausfichtspunfte über
das Mittelmeer, wo fie dann jüdöftlih in einem weiten Bogen nach der Bucht von
Muggia bei Trieft niederfteigt. Die neue Bahn erfordert drei größere Tunnels von
8/,, 8 und 6 km und wird insgefamt rund 150 Mill. M. often. Defterreid baut
diefe Bahnen im Intereſſe feiner öftlichen Alpenländer, die dort eine empfindliche Ber:
fehrslücte aufzumweien haben, und bejonders zu Gunſten feines Dafens Trieft, deſſen
Berfehr feinen rechten Aufſchwung nehmen will. Durd die neue Bahn wird Trieft dem
Deutichen Reiche erheblich näher gerüdt, ja für eine ganze Reihe von Städten in Süd—
oftdentichland wird Trieft der nächſt gelegene Seehafen werden. Bisher war der Ver—
fehr Deutjchlands über Trieft nicht erheblich und beichränfte fih auf Gemüſe, Süd—
früchte, Getreide, Dele, Petroleum, Baummolle und Wolle in der Einfuhr und auf
Bier, Tertil- und Eifenwaren in der Ausfuhr. Nach Vollendung der Tauern-Kara—
wanfenbahn wird fich diefer Verkehr vorausfichtlich heben, namentlich wenn deutiche
Sroßhandlungsfirmen ſich in Trieft niederlaffen jollten. Genua wird indejlen feine
Ueberlegenheit behalten, da Weftdeutichland mit jeinem größeren Verfehr den italienischen
als den näheren Hafen bevorzugt, der überdies einen leiftungsfähigeren Kaufmannsftand
und zahlreichere Verbindungen nad) allen Richtungen hin aufzumeifen hat. In die
Sadgaffe des Adriatiihen Meeres fährt fein Schiffer gern hinein, und wenn er es thut,
fo fordert er höhere Frachten, weil er in Trieft, Venedig oder Fiume faum Gelegenheit
zu Rückfrachten, Neparaturen u. ſ. w. findet. Somit haben von der neuen Bahn, ob-
wohl fie das öftliche Mittelmeer etwas näher an Deutſchland heranrückt, die deutichen
Paul Dehn, Weltwirtfchaftlihe Umſchau. 239
Nordſeehäfen mit Hamburg an der Spitze nicht die geringſte Beeinträchtigung zu be
fürdten. Hamburg wird jeine Stellung als widtigiter Seehafen des nördlichen
Deutichlands behaupten und jeine weiterreichende Anziehungskraft nad) Vollendung des
neuen oben angedeuteten Wajleritragennekes vorausfichtlich noc) weit über das Gebiet
der oberen Elbe hinaus ausdehnen.
Gleichwohl jcheint man in Tefterreid) beforgt zu fein, daß die Tauern Karawanken—
bahn dem deutichen Verkehr, bejonders dem jüddeutichen, große Vorteile bringen fünnte.
Aus diefen! Grunde hat man beichloifen, zuerft von der Tauernbahn nur die Strede
Schwarzach-Baſtein zu bauen, dann aber die Arbeiten an der Tauernbahn ruhen zu
laffen, die Karawankenbahn in Angriff zu nehmen und fie im Jahre 1905 fertig zu
jtellen, die Tauernbahn aber erit darnach zu vollenden und jie erſt im Jahre 1908 dem
Betriebe zu übergeben, damit der öſterreichiſche Verkehr mit Trieft einen angemefjenen
Voriprung erhält. Man dürfte Tih in Deutjchland davon nicht weiter berührt fühlen,
jo lange die Kaufmannſchaft von Trieft für das effektive Gejchäft jo wenig Neigung
und Perftändnis bekundet mie bisher. Für die deutichen Handelsbeziehungen mit dem
näheren Orient hat die neue Alpenbahn, wie gejagt, einige Bedeutung, aber durchaus
feine groge Bedeutung, und es zeugt von bedenflihem Unverftändnis für die thatfäch:
lihen Berhältniffe, wenn ein Berliner Pofalblatt ji zu dem Ausipruch verftieg: „Mehr
als ſonſt von irgend einem Unternehmen in dem verbündeten Tefterreih darf man im
Deutihen Reiche von den neuen Alpenbahnen jagen: Nostra res agitur. Das ilt
meit über das Ziel hinaus geichoilen. Trieft hat vorläufig für Deutichland eine ganz
untergeordnete Bedeutung, da es in feiner Beziehung mit Genua oder Marfeille fon-
furrieren fann, und ed wird auch in Zukunft nur aushilfsweife herangezogen oder in
gerwifien Spezialitäten benutt werden. Wäre etwa die Frage aufgerworfen worden, ob
Deutihland für die Tauern - aramanfenbahı einen Zuſchuß zu geben hätte, wie einit
für die Gotthardbahn, jo hätte dieje Frage unbedingt verneint werden müflen.
* *
*
Eine entlegene, nahezu verkehrsloſe kleine Waſſerfläche ſcheint ſich zu einem Brenn—
punft europäiſcher Politik, ja der Weltpolitik zu entwickeln. Wirtſchaftlich betrachtet iſt
der Perſiſche Meerbuſen noch heute faſt ohne Bedeutung. Wenn aber einmal, was
allerdings noch viele Jahre in Anſpruch nehmen wird, die kleinaſiatiſche Ueberlandbahn
über Bagdad hinaus bis zu der arabiſchen, unter türkiſcher Hoheit ſtehenden Hafenſtadt
Koweit — im Nordmeiten des Meerbujens, jüdlic) unmeit der Mündung des Scatsel:
Arab — geführt worden fein wird, dann dürfte auch jene Gegend in den Weltverfehr
einbezogen werden und zugleich jene politiiche Bedeutung erlangen, die ihr ſchon heute
beigelegt wird. Worderhand ringen dort politische Nntereilen miteinander. Gngland
will ſich im Berfiihen Meerbuien feitieken, Rußland fann da nicht unthätig bleiben,
denn es ſucht aud) dort, was es zu feiner weltwirtichaftlichen Entmwidelung braucht, eine
Verbindung mit dem offenen Meer. Zollte 88 wegen des Berftiihen Meerbujens zu
einem ernſten Gegenjat zwiichen Gngland und Rußland fommen, jo wird indeifen die
Entſcheidung nicht in jener Gegend fallen, da es für Rußland unter den gegenwärtigen
Verhältniſſen unmöglich ift, jelbit im Ginverftändnis mit der perfiichen Regierung einc
größere Anzahl von Truppen zu Yande nad) dem Perſiſchen Meerbufen zu ſchaffen. Die
19
290 Baul Dehn, Weltwirtichaftliche Umſchau.
Cchmwierigfeiten des ganzen Geländes im jüdlichen Perfien find nahezu unüberwindlich,
fie find jo groß, dak fie auch die Anlage von Eiſenbahnbauten auf viele Jahre hinaus.
zuichieben vermögen.
Das Schickſal des Perfiihen Meerbufens ijt ein Problem der Weltpolitif. Ende
Auguſt befiirwortete Sir Rowland Plennerhaflett, der bekannte Ddeutichfeindliche
Konjunfturalpolitifer, ein endgiltiges Uebereinkommen zwiichen England und Rukland,
da jonft ein newaltiger Krieg ausbrechen müſſe. England könne dem ruſſiſchen Reiche
erlauben, jeine Gifenbahnen vom Kaukaſus und von Mittelfibirien nach dem Berfischen
Meerbufen herunter zu führen, Alten biete Naum genug für England und Rußland.
Bom Standpunkt mitteleuropäticher Intereſſen wäre darauf hinzumirfen, daß der
Ausgangshafen der Heinaftatiichen Eifenbahn neutral bliebe und mit feinem freien Verkehr
weder von einer ruffiichen noch von einer englischen Oberherrſchaft beichränft würde.
* *
*
Erfreuliche Nachrichten kommen aus dem fernen Siam. Die große Eijenbahn von
Bangkok über Mjuthia nach Korat (288 km) ijt endlicd) eröffnet worden; fie wurde mit
engliihem Kapital erbaut, weil das deutiche leider wieder einmal verjagte, aber doch
unter deuticher Yeitung, wie denn auch die Betriebsführung in den Händen deuticher
ngenieure und deuticher Beamten verbleiben wird. Deutſche Technif und Thatfraft
haben dieſen Zchienenweg durch die Urwälder und Gebirge des nordöftlichen Siams
gelegt und ein ftattliches Stüd Yand der Kultur erſchloſſen. Yeider konnte der oberite
Träger des deutjichen Einfluffes in Siam, Direktor Bethge, Mitte der achtziger Jahre
Baurat im ferbijchen Eifenbahnminifterium, jeitdem der Pionier deutjcher Antereffen in
Siam, diefen Tag nicht erlchen, da er dor fahr und Tag mit Frau und Find von einem
jühen Tode ereilt wurde. Inzwiſchen bat er in dem Baurat Behrts einen Nachfolger
gefunden, und jo iſt zu hoffen, dat der deutiche Einfluß in Siam ſich glücklich weiter
entwideln wird mit Unterftügung der deutichen Firmen in Siam, die insbejondere die
wichtige Reisausfuhr beherrſchen. Am Hofe in Bangfof wird man zweifellos die Ent:
wicklung deuticher Intereſſen immer mehr begünftigen in der Erkenntnis, daß deutſcher—
ſeits nicht nur keinerlei Bedrohung der Unabhängigkeit Siams zu befürchten ift, jondern
daß an der Aufrechterhaltung dev Selbitändigfeit Siams das Deutiche Neich das größte
Intereſſe hat. R R
p
Nad) einer Veröffentlichung aus.der Kanzlei des rufftiichen Minifterfomitees bean:
ſprucht eine Meile von Paris nach Wladiwoſtok über die fibiriiche Bahn nur etwa
3, Moden. Die Bahn ift noch nicht fertig aeitellt, aber es befteht eine ununterbrodene.
mit Dampfbetrieb unterhaltene Verbindung bis Wladiwoſtok teils durch die Eifenbahnen,
teils auf Dampfichiffen. Die Fahrt geht von Paris über Köln, Berlin, Alerandrowo,
Warſchau, Moskau, Tula, Samara, Ticheliabinsf, Srkutst mach Wladiwoſtok in einer
Sefamtlänge von 11950 km. Zu Wailer erfolgt die Heberfahrt über den Baifalfee
(64 km) auf einem befonders zur Aufnahme eines ganzen Eifenbahnzuges eingerichteten
Eisbreherdampfer und von Sretensf bis Chabarowsk auf dem Scilfafluffe und dem
Amur (2240 km) mit dem Dampfer. Indeſſen icheint es, als ob thatfächlich diefe Ver
bindung nicht jo Schnell ift, wie die wujliiche Regierung anfindigte. Im Frühjahr 1900
Paul Dehn, Weltwirtichattlihe Umſchau. 291
unternahm der Dolmetjcher der deutihen Gejandtihaft in Peking Frhr. von der Golk
die Rückreiſe von Peking nach Berlin auf diejem Wege, brauchte aber dazu 37 Tage,
anfcheinend infolge empfindlicher Verzögerungen auf dem Schilfa und Amur. Der fran-
zöftiche Journaliſt Stiegler, der eine Schnellreife um die Welt in 64 Tagen madıte,
verließ Paris am 29. Mai 1901 und traf in Wladiwoſtok am 27. uni ein, mar dem:
nach auf diefer Strefe nahezu dreigig Tage unterwegs. Für den Durchſchnittsreiſenden
dürfte die Fahrt von Paris nach Wladimoftof über die fibiriiche Eifenbahn mindeitens
5 Wochen in Anipruch nehmen. Erit nad Auswechslung der Schienen und nad) der
Verſtärkung des jehr dürftigen Oberbaues, etwa in zehn Nahren, wird die fibiriiche Bahn
jene Peiftungsfähigfeit befunden, die man ihr etwas verfrüht ſchon jest beimigt. Man
überfieht auch die großen Schwierigkeiten des Betriebes bei der eingleifigen Anlage im
Falle Starken Froftes, großer Schneewehen und plöglihen Tauwetters. Bei den djine:
fiihen Wirren verjagte die jibirtihe Bahn und Rußland war genötigt, fremde Schiffe zu
mieten, um feine Truppen nach China auf dem Seewege zu befördern.
Bon Neapel aus fährt dev Norddeutiche Lloyd bis Schanghai in 31 Tagen. Von
Queenstown geht eine Konkurrenzlinie über Amerika und das Stille Meer nad Oftaften
und befördert nad Schanghai in 39 Tagen. Im allgemeinen iſt demnach der Seeweg
nah Dftaften durd; den Suezkanal mit dem Norddeutichen Lloyd vorzuzieben. Dieje
Strede erfordert weniger Zeit und bietet mehr Abwechslung als die Fahrt über Nord-
amerifa und das Stille Meer und etwa ebenjoviel Zeit wie die Verbindung mit der
fibiriichen Eifenbahn.. Mit der fibiriichen Eifenbahn wird man freilich billiger von Paris
nah Schanghai fommen fünnen. Nach ruffiihen Angaben wird die Neife von Paris
nah Schanghai in der eriten Wagenklafje nur 690 M. koften, während der Lloyd einen
höheren Preis berechnet. Aber welche Bequemlichkeit und welche Freiheit der Bewegung
genießt man auf einem Vloydichiffe und welche Qual muß es jein, dreißig Tage in einem
Eiſenbahnwagen zuzubringen, jei er auch noch jo lururiös eingerichtet!
Im öftlichen Sibirien bekundet die Eijenbahn bereits ihren befebenden Einflup.
Raſch vermehrt fich die Bevölkerung. C'haborowsk, noch vor kurzem ein Dörfchen, der
vorläufige Endpunft der Bahn von Wladiwoſtok und ein Umjchlagepunft für den Verfehr
auf dem Amur in der Richtung nach Sretensf, der öftlichiten Station der fibirifchen
Bahn, it eine anſehnliche Stadt von 15000 Einwohnern geworden. In einem Auffak
über die Ausgeftaltung der Mandichurei rühmt ein Mitarbeiter der Londoner „Monthlh
Revier“ die Thatkraft der deutichen Kaufleute und ihre erfolgreiche Wirkſamkeit in jener
Segend und beflagt die Berdrängung der englischen Bertreter. In ganz Sibirien gäbe
e3 nur zwei englifche Firmen und nur äußerft jelten höre man die engliiche Spradıe.
Dagegen find in Wladimoftof, wie der engliſche Reijende in der „Monthly Revier“
berichtet, nicht weniger al3 400 Deutjche anfällig, unter ihnen die Inhaber der wichtigsten,
am fibirifchen Handel beteiligten Häuſer. „Deutich it die Fremdſprache im Handels-
verfehr, wie Franzöſiſch die des geſellſchaftlichen Lebens iſt. Wir follten, wie die
Deutichen, beftrebt fein, mit den Ruſſen in Handelsverbindungen zu treten, und, wie die
Deutihen mit jo glüdlichem Erfolge gethan, ebenfalls aus der für Handelsunter-
nehmungen außerordentlich nünftigen Yage Vorteile zu ziehen juchen. Aber es ift wenig
Hoffnung vorhanden, daß der engliiche Kaufmann das verlorene Terrain zurüderobert.“
19*
“m Paul Tebn, Weltwirtichaftliche Umichau:
Schon im fommenden Herbft joll die mandihuriihe Eifenbahn, die während
der chineſiſchen Wirren faft völlig zeritört wurde, jomeit fertiggeitellt werden, daß
ein borläufiger notdürftiger Berfehr eröffnet werden kann. Die amtliche Uebergabe
der ganzen Strede an das ruffiiche Verfehrsminifterium wird indeſſen erit nadı PVoll-
endung der Schuppen und Stationsgebäude wie nach Beijtellung des Fahrbedarfs, erit
nach einigen Jahren, erfolgen. immerhin wird die ruſſiſche Regierung ſchon in aller:
nächiter Zeit über eine unmittelbare Bahnverbindung mit der Mandſchurei verfügen, die
bei Kaidalowo von der fibiriichen Bahn abzweigt, die Mandſchurei durdyichneidet, Dalııy
und Port Arthur erreiht und außerdem nod) in die Nordbahn nach Peking einmündet.
Diefe Bahn bedeutet für Rußland eine weitere erhebliche Ztärfung jeiner politijchen
Stellung in Titafien gegenüber China und Japan und ermöglicht ihm die wirtichaftliche
Aufichliegung der Mandichurei mit ihren Bodenichigen an Gold, Zilber, Eiſen und
Kohle. In den fruchtbaren Streden wird Nupland auch die Baumwollkultur betreiben
und fit) allmählich vielleicht den ganzen Bedarf jeiner Induſtrie an Rohbaumwolle jelbit
bejchaffen fünnen. Bisher konnte es nur 25 p&t. dieſes Bedarfs aus Turfeftan be:
ziehen. Es wäre aud für andere Ztaaten erfreulich, wenn Rußland immer mehr Roh
baumwolle erzeugen und ſchließlich auf den Weltmarkt als Konkurrent Nordamerikas
herbortreten könnte.
Ch die politische Angliederung der Mandichurei an Rußland früher oder jpäter
erfolgen wird, ericheint unerheblih. Maßgebend iſt auch in diefem Falle, was einmal
‚sriedrich Yilt jagte, daß, wer über die Verfehrsmittel eines Landes verfügt, das Yand
jelbft in jeiner Gewalt hat.
©
Berbitwald.
Inmal noch wie im Verbluten Wieder Ichlägt die goldne Flamme
Sprüht die letzte Sommerpradt Zu des 3ahres Scheidefeit,
keuchtend auf in Purpurgluten Züngelnd fort von Stamm zu Stamme”
Eh’ fie finkt in Tod und Nacht. Durch des Hodtwalds kaubgeäft.
Ob dem iommermüden Lande
Ueber Waldgebirg und Flur
kodert auf im Opferbrande
Die hinfterbende Natur.
Fulius kohmeyer.
SISIRIRIRIRIRIPRIPRIBIPIPIRIBIPISIPIBITBISIBIBIPIPTIPTBIE
Deutihtum im Auslande.
Von
Paul Dehn.
Tentiche Kirche im Auslande. — Deutſches Schulweſen im Auslande. — Dolland. — Belgien. —
Rußland und Bolen. — Burenitaaten. — NRordamerifa. — Ehile. — PBrafilien.
Dentjche Kirche im Auslande. Auf der diesjährigen Hauptverſammlung des
Guſtav Adolf: Bereins, die Ende September in Köln abgehalten wurde, ſprach
Superintendent Klingemann-Eſſen über die Frage: Wie fann ein größeres Intereſſe
für den Verein erwedt werden? und betonte in feiner Erörterung u. a. auch die
Wichtigkeit der Diafpora für die Erhaltung des Polfstums. Der Guſtav Adolf-Verein,
jagte Superintendent Klingemann, hat mit dem Nationalitätshader nichts zu thun. Er
übt fein Liebeswerk an allen Glaubensgenoffen und will dafiir jorgen, daß unter allen
Völkern Gottes Wort in der Mutterfprache verfündet werde. Aber auf deutichem
Boden entjtanden, aus der Not der deutjchen evangelischen Chriftenheit berausgeboren,
darf er auf die Thatiache hinweiſen, daß überall an den Grenzen des heimatlichen Be-
fenntnifles unjerer Diajpora: Gemeinden auch ihr deutiches Volkstum gefährdet ift. Und
wenn denn wirflich die Bewegung in Tefterreich ihren Anfang aus nationaler Bedrängnis
genommen hat, jollte uns das nicht cin Grund mehr fein, fie mit Freudigkeit zu unter
jtügen? Iſt denn die Thatſache vergejien, daß die gejegnete Reformation doc; auch eine
That deutjchen Geiftes und mit einer nationalen Bewegung innig verbunden geweſen
it? An die Verlufte, die unjer Volkstum durch kirchlich nicht vechtzeitig verforgte Aus:
wanderung erlitten hat, an die Pflicht firchlicher Berjorgung unſerer Yandsleute in unjeren
überjeeifchen Befigungen und Anfiedelungen, in Afrika, Brafilien u. j. w. kann hier nur
frz erinnert werden. Der Guſtav Adolf-Verein darf bei jeinem Werben um hilfsbereite
Freunde es getroit betonen, daß er ein hervorragend nationales Werk betreibt, ohne
dag mir irgendwie für eine unrichtige Beurteilung des Charakters unjerer Arbeit fürchten
müßten.
Ende September tagte in Glasgow die 22. Nonferenz deutſch-evangeliſcher
Baftoren in Großbritannien. Bertreten waren jümtliche deutſch-evangeliſchen Ge—
meinden ®roßbritanniens, nämlich Bradford, Kardiff-Barın Seemannspaſtor), Edinburg,
Glasgow, Hull, Yeith (Seemannspafteri, Yiverpool "Pfarrer und Ceemannspaftor),
London (2), Middlesborougb, Newcaftle, Shields (Seemannspajtor), Sunderland. Der
rege Beſuch betätigte aufs neucdie Notwendigkeit und den Nuten diefer Yereinigung-
Auf dem Baulus-Plak vor dem Damaskus-Thor in Jeruſalem joll ein neues
katholiſches Hoſpiz erbaut werden. Bisher hat ein rheiniſch-weſtfäliſcher Ausichuy
294 Banl Dehn, Deutichrum im Auslande
für diefen Zweck 50000 Mark zufammengebradht. Zunächſt wird mit dem Bau einer
neuen deutihen Schule begonnen werden.
Deutfches Schulwefen im Auslande. Mit der Erörterung dieſes wichtigen
Gebietes beichäftigte fi) die Konferenz deutich-evangelifcher Paftoren im Orient, die
Mitte 1901 in Alerandrien abgehalten wurde. ES fehlt den deutichen Schulen im Aus—
lande der Rüdhalt an eine heimatliche Ecdulbehörde. Man erachtete die Errichtung
eines Reichsſchulamtes als dringli und wünſchte zur Vermittelung der Yehrmittel
und Lehrkräfte die Schaffung einer pädagogiichen Zentralausfunftsftelle für die Aus:
landsjchulen Deutichlands. Auch jollten die Lehrer der deutihen Schulen eines Yänder-
gebietes fidy zur Beratung gemeinfamer Intereſſen jährlich veriammeln. Für völlig un:
genügend erachtete man die vom Deutjchen Reich gewährten Mittel zur Erhaltung und
Förderung der deutichen Schulen im Auslande. Eine Erhöhung diefer Mittel jei eine
Lebensfrage der deutihen Auslandsidulen. Die Aufgaben der deutichen Auslands:
ichulen feien für die Weltmachtſtellung des Deutichen Neiches und für feine zunehmenden
Dandelöbeziehungen ftetig wachſend und jollten daher doppelt auf ein wohlwollendes
Perftändnis und auf ein thatfräftiges Eintreten bei allen mahgebenden Kreiſen des
Baterlandes rechnen dürfen. Im Frühjahr 1902 wollen in Jaffa die Pehrer an den
deutichhen Schulen im Orient eine Beiprehung abhalten.
Der „Berein deuticher Yehrer in Antwerpen“ bat die deutjchen Yehrer im
Ausland aufgefordert, jich zu einem Vereine zufammenzufchliegen, um das Gefühl der
Bujammengehörigfeit der Deutihen im Auslande auch in der Nugend zu pflegen.” Auch
diejer Berein will befonders eintreten für die Errichtung eines Reichsſchulamtes und
für gemwiffe Forderungen zu Gunften der deutſchen Auslandsichulen und ihrer Yehrer,
wie fie Dr. Johann Paul Müller, Direktor der Allgemeinen deutichen Schule zu
Antwerpen, in jeinem Werf: Deutihe Schulen und deutjcher Unterriht im Aus-
lande“ eingehend begründet hat. Als Organ des Vereins joll eine Monatsichrift unter
dem Titel: „Die deutihe Schule im Auslande“ ericheinen.
Holland. Ende September tagte in Nymmegen der Kongreß für die Ber:
breitung der niederländiichen und niederdeutihen Sprache und Litteratur.
Man erörterte, auf welchem Wege das Eindringen der frangöfiihen Sprache nicht nur
nad; Holland, jondern aud) nad) Belgien verhindert werden fünne. Der Holländer
muß, weil jeine Yandesiprache ein zu beichrünftes Verbreitungsgebiet befist, ſich eine
Weltfprache aneignen. Am Hofe König Wilhelms III. war leider der franzöfiihe Ein-
Muß beſonders mächtig, und die franzöfiihe Sprache erlangte damals eine Vorzugs—
jtellung. Gegen diefe Richtung wendete fich der Kongreß. ‚in dem Eindringen der
franzöſiſchen Sprache nad; Holland erblickten die Hauptredner die Urſachen einer Ent:
nationalifierung des Yandes und befürmorteten wärmstens die Bevorzugung der deutjchen
Sprache, die überdies die Aufgabe habe, alle Völker germanifchen Urſprungs miteinander
zu verbinden.
Engländer und Franzoſen, Italiener und Schweizer, alle Nationen, jelbjt die
kleineren, Polen und Tſchechen, bethätigen, wohin fie fommen, ihre nationale Art, leider
nur in jeltenen Fällen auch der Deutiche. Noch immer hört man laute und berechtigte
Silagen über das Berhalten vieler Deutichen im Auslande. So wird aus dem vlämiichen
Paul Dehn, Deutfchtum tm Auslande. 295
Badeort Rlanfenberghe berichtet, dat die meiften deutichen Badegäſte Belgien für ein
durchaus franzöſiſches Pand halten und mit auffallender Vorliebe und noch auffallenderer
Ausſprache fi des Franzöſiſchen bedienen, anjtatt im Berfehr mit der vlämiſchen Bes
völferung deutjch zu Sprechen. Immer noch befunden die meiſten Deutjchen eine unent-
ihuldbare Gleichgiltigkeit gegen die vlämiiche Bewegung und verlesen zugleid ihre
nationalen Pflichten.
Wennſchon diefe Deutichen nicht aus innerem nationalen Drange ſich als Deutjche
geben und bethätigen wollen, jo jollten fie doch bei genauen Zuſehen erfennen müſſen,
dag fie durch Beijeitefegung ihrer nationalen Art und durch den Gebrauch einer fremden
Spracde bei den Angehörigen der anderen Nationalitäten nicht etwa an Achtung ge:
twinnen, jondern das Gegenteil davon ernten.
Belgien. Infolge einer Schenfung des Monjuls a. D. Müjer in Höhe von
200 000 Mark kann für die Deutihe Schule in Brüſſel ein neues Gebäude mit
einer geräumigen Aula für Worleiungen, Konzerte und dergl. errichtet werden. Die
deutihe Schule in Brüffel beiteht bereit3 neun Nahre und zählt 186 Schüler, darunter
128 Deutihe und 41 Belgier. Da die Aufwendungen für den Bau mie für die laufenden
Ausgaben immer noch höher jind als die Einnahmen, jo hofft der Boritand des
Deutihen Schulvereing in feinem neuejten Bericht auf erhöhte Zuwendungen, inöbejondere
auf eine Beihülfe des Neiches zu dem Zchulneubau, wie jolche der deutschen Schule in
Konitantinopel und Salat gewährt murde.
Nußland und Polen. Bei einer Sejantbevölferung von rund 135 Millionen
zählt das ruſſiſche Neich gegenwärtig nadı neueren Schätzungen 1,8 Millionen Deutiche,
wovon 510 000 in Ruſſiſch-Polen, 377 000 im jüdlichen Nukland, 282000 im jidweitlichen
Rukland und 454000 in den Bezirfen Sſamara und Zjaratow wohnen. Verhältnis:
mäßig am dichteiten ift die deutiche Bevölkerung in Ruiftich- Polen und drängt fich dort
in der großen Fabrikſtadt Yodz und Ungegend zuſammen, wo '/, Million Deutiche ans
geitedelt jein jollen. Das Aufblühen von Lodz als Induſtrieſtadt wurde weſentlich durch
deutiche Arbeit, Intelligenz und Kapitalstraft bewirkt. Ende uni veröffentlichte das
Moskauer Blatt „Moskowskija Wjedomofti” eine Reihe von Aufſätzen u. d. T. „Eine
Million Deutſche an der Weſtgrenze“ und jucht darin die deutichen Anſiedler im Weiten
als ftaatsgefährlich Hinzuitellen. Der „Drang nadı dem Dften“ (von dem ruſſiſchen
Blatt deutich mit lateinischen Yettern gedrudt) nehme Syſtem an und wolle die weit:
lichen Grenzländer Rußlands erobern. Deutiche Großfapitaliiten Fauften große Yändereien
und wanbelten fie durch Anfiedlung von Tauienden deutiher Koloniſten und Arbeiter in
„Winkel Deutichlands“ um. Das ruiftiche Blatt behauptete, daß in den meitlichen
Yändern Rußlands bereits mehr als 1 Million Deutiche wohne, eine Avantgarde des
deutichen Volkes, das vom Scheitel bis zur Zehe bewaffnet jederzeit bereit jei, mit
Waffengewalt Anjpriche auf jene Yänder zu erheben. Schließlich verlangte das ruſſiſche
Blatt die Anwendung ftrengjter Gejege gegen dieje Deutihen, „die miteinander zu:
jammen einen ganzen deutichen Staat in Rußland bilden“. Thatſächlich ſind Die
Deutihen in Rußland nichts weniger als organifiert und hegen gegen Rußland feine
feindfeligen Empfindungen. Nach den weiteren Ausführungen des Moskauer Plattes
ollen in Ruſſiſch- Polen nahezu 14000 ländliche und ſtädtiſche Beſizungen mit einen
23 Bant Dehn, Deutſchtum im Auslande.
Wert von 400 Millionen Rubel in deutſchen Händen ſein, die beiten Güter, zaählreiche
Fabriken, Mühlen, Geichäfte und Banken. Während die ruffiiche Bevölkerung vor
Dunger fterbe oder auswandere, machten ſich die Deutichen in Polen breit, mäjteten ſich
dort umd fühlten fich al8 Herren des Yandes. Das find gehäſſige Uebertreibungen, die
aber im Grunde genommen nur bejtätigen, dat es die deutiche Antelligenz und Napitals-
fraft waren, die in Ruſſiſch-Polen ein neues wirtichaftliches Yeben erweckt und vor allem
oda zu der hervorragenden, zuv zweiten Induſtrieſtadt des ruſſiſchen Reiches gemacht haben.
Burenftanten. Auf dem 46. deutſchen Schulmänner: und Philologentag zu
Straßburg lenkte Direktor ©. Weidner, 3. 3. in Eijenad), die öffentliche Aufmerkjamfeit
auf die deutſche Schule in Johannesburg. Im Herbſt 1897 mit 31 Echülern be:
gründet, blühte diefe Schule troß der jchwierigen Verhältniffe unter Weidners Leitung
raſch auf und zählte bei Beginn des unfeligen Strieges 9 Lehrer und 300 Schüler. Bon
der Reichsregierung wie von der Transvaalregierung wurde fie unterftügt. Da fam
der Krieg, die Eltern wurden brotlos und konnten das Schulgeld nicht mehr zahlen,
der Zufchuß der Transvaalregierung fiel fort. Die deutiche Schule würde jofort aus
allen Berlegenheiten fommten, wenn fie fih unter engliichen Schuß ſtellte. Allein das
ift ausgeichloffen, fie würde als deutiche Schule aufhören, weil die deutihe Sprache
aus dem Unterricht faft ganz verjchwinden müßte Dilfsausihüffe für die Schule
haben fich bereits in Gijenach, Hamburg, Berlin und Straßburg gebildet, und jo ift zu
hoffen, daß die anſcheinend gefährdete deutihe Schule zu Johannesburg, ein nicht zu
unterjchäßender Stütpunft des Deutihtums in Südafrika, über den jchwierigen Wende-
punkt hinwegkommen werde, die der Krieg der Engländer in Südafrifa auch über fie
verhängt hat.
Nordamerifa. Anfang Oktober beſchloß der deutjch-amerifanifhe Nationalbund
in Nemw-Worf, die Bereinigung über das Gebiet der ganzen Union auszubreiten und in
Jahre 1903 in Baltimore eine große Tagung abzuhalten. Nach den Sagungen des
Bundes follen die Deutichen nordamerifanifche Bürger werden, ſich aud) am politiichen
Veben rege beteiligen und vor allem für deutichen Unterricht, deutjche SFortbildungsichulen
und deutſche Theater jorgen.
Mit Bedauern räumt Pfarrer F. W. Minkus im „Morgenjournal* die traurige
Thatſache ein, daß die alte deutiche Kirche, die anerkannte Trägerin des Deutjchtums
in den Bereinigten Staaten, ihrer idealen Aufgabe, deutiches Weſen, deutihe Sprache
und deutiche Sitten zu erhalten, ſich nicht mehr völlig bewußt zu jein jcheint. Den
Grund für den jcheinbaren Rüdgang des Deutichtums in Nordamerika findet Pfarrer
Minfus nicht in der Kirche jelbit, d. h. in ihrem ftarren FFeitbalten am Glauben der
Väter, noch in dem Mangel geeigneter deutiher Schulbildung, denn die nämliche Klage
ertönt auch aus der großen Neihe von Vereinen und Logen, die mit der Kirche nur
loſe oder feine Fühlung haben und die vielfach Privaticyulen unterhalten. Den Grund
für den Rückgang des Deutfchtums ſucht Pfarrer Minkus in dem Schwinden des
Deutihtums überhaupt, unter dem nicht nur die deutjche Kirche, jondern aud alle
Vereine zur Pflege des Deutichtums Leiden, und jagt zur Begründung feiner Auffaffung:
„Der deutiche Einwanderer hat wie fein anderer die Gabe, fi) in diefem Lande jchnell
zu affimilieren. Seine gründliche deutiche Schulbildung erleichtert ihm nebenbei unge:
Paul Dehn, Deutſchtum im Auslaude 297
mein das Erlernen der Landesſprache. Aber anſtatt nun von dieſer Gabe den rechten
Gebrauch zu machen, und zwar ſo, daß er allen Anforderungen des amerikaniſchen
Staatsbürgers gerecht wird, dabei aber ſeine deutſche Individualität nicht verleugnet
und jo das Deutſchtum in dieſem Yande zu Ehre und Anſehen bringt, liebt er es leider
nur zu jehr, den Amerikaner auf Koſten des Deutſchen herauszubeigen, zu jeinem
eigenen und zum Schaden ſeiner Familie . . . . Man hört hierzulande immer die alte
Entihuldigung, man babe bei dem Treiben und Jagen feine Zeit für ein gemütliches
deutjches FFamilienleben, und die jugend hier jei auch ganz anders ald „draußen“.
Aber Kinder find überall in allen Yanden diejelben, es fommt nur bei ihnen, wie bei
der Pflanze, auf die rechte Pilege an, und Zeit dafür kann jeder Vater und jede Mutter
finden, wenn fie nur wollen. So aber überläßt man das Sind fich jelbft. Kommt es
auf die Straße, jo it das Deutſche über dem Englifchen bald vergeflen. Bald jpricht
das Kind mehr engliich als deutſch mit jeinen Eltern. Wenn's auch die Mutter nicht
veriteht, jo duldet fie es doch, anjtatt von dem Slinde im Hauſe die Mutterfprache zu
verlangen. Nun wird das Kind jchulpflichtig, hört den größten Teil des Tages alfo
fajt nur die engliihe Sprache, und jomit tritt die deutſche Mutterſprache noch mehr
zurüf. Da joll num die Kirche Dilfe jchaffen, indem man das Kind in die Sonntags-
ichule oder aud; am Samstag für ein paar Stunden in die mit der Kirche verbundene
Schule ſchickt. Dann ift es aber in den meilten Fällen jchon zu jpät. Dann muß das
Mind fleißig lernen und der Lehrer jtreng jein. Das gefällt nicht allen Kindern, und
daraus erflärt ſich der traurige Umitand, daß die Kinder deutſcher Eltern in Scharen
zur engliihen Sonntagichule übergehen und damit dem Deutjchen verloren gehen.
Darum gilt es in unjeren Tagen, nicht über den jheinbaren Rückgang des Deutichtums
jogar in der Kirche zu Flagen, jondern die Hand mutig an die Wurzeln des Uebels zu
legen, d. h. Schon beim Kinde anzufangen, deutſche Sprache, deutiche Sitte und Gemwohn:
heit zu pflegen. Die Amerikaner laſſen es fich viel Zeit und Geld foften, um die
Ihöne, an Schäten jo reiche deutihe Sprache zu erlernen, die deutichen Eltern aber,
man könnte jagen berauben ihre Nachfommen diejes föftlihen Gutes — der Mutter-
ſprache.“
Ehile. Nach der Volkszählung von 1895 waren in Chile 7049 deutſche Reichs—
angehörige anſäſſig. Mitte 1901 jtellten die deutſchen Konſuln in Chile jtatiftiiche Er-
bebungen an und ermittelten insgefamt 6123 NeichSangehörige, wovon die Hälfte in dem
ſüdlichen Bezirt Gonceprion mit einem gemäßigteren Klima wohnt In Balparaijo
wurden 1200 und in Santiago 1000 Deutiche gezählt. Bon diejen 6132 deutichen
Reidysangehörigen find 2381 als ſolche bei den Konjuln eingetragen. Nach dem
deutichen Gejeg behalten befanntlid; die Deutichen ihre Reichsangehörigfeit noch zehn
Jahre nach den Verlaſſen des Baterlandes und verlieren fie dann, jalls fie jich nicht
bei dem zuftändigen Nonjul eintragen laffen. In Chile iit die Zahl der eingetragenen
deutihen Staatsangehörigen verhältnismäßig groß. Dennoch gehen auch dort infolge
des unzulänglichen deutichen Gejetes dem Baterlande viele jeiner Angehörigen verloren.
Brafilien. Bor einem halben Jahrhundert famen die erften deutichen Stolonijten
nah Süd-Brafilien und gründeten dort die Siedelungen Dofia Francisca, Blumenau
und Dania. Damals war jene Gegend undurchdringlicher Urwald, heute ift fie der
298 Baul Dehn, Deutfchtum im Auslande.
Kultur erichloffen worden. Dan erblickt deutihe Städte und Dörfer in blühendem Zu:
ftand und hört überall die deutiche Eprade. Die Brafilianer nennen Diele Stolonie
Nova Allemanha. Das Gelände der Kolonie war früher im Beſitz eines Prinzen von
Xoinville, der mit dem brafilianiichen Kaiſerhauſe verſchwägert war. Der Prinz er
fannte, daß zur Kultivierung diejes Gebietes tiichtige Koloniften notwendig waren, und
309, was bon jeinem jcharfen Bli zeugt, deutiche Ktolonijten heran, durch Vermittlung
des Hamburgiichen Kolonijationsvereins von 1849, der im März 1852 die eriten 192 An-
jiedler nah Santa Catharina brachte. Anfangs waren gewaltige Schwierigkeiten zu
überwinden, aber ſchließlich ſiegte die deutiche Volkskraft und fie hat ih in Santa
Gatharina einen außerordentlich wertvollen Beſitz geichaffen. Näheres über die tüchtige
Eigenart der deutichen Koloniften in Brafilien veröffentlichte Dr. Herrmann Meyer auf
Grund eigener Anſchauung u. A. in der „Kolonialen Zeitichrift“ 1900 Nr. 9. Zur Freier des
fünfzigjährigen Beitehens jener Kolonieen hat Robert Gernhard, früher Redakteur der
„Reform“ in Noinpille, eine umfangreiche Feitichrift u. d. T. „Santa Catharina, Dofia
Franecisca, Hanſa und Blumenau, drei deutſche Mufterfiedelungen im jüdbrafilianijchen
Staate Santa Gatharina* herausgegeben, die reihen Stoff für die Kenntnis des Deutidı-
tums in Santa Catharina enthält. Nach der Angabe diefes Buches befinden fi unter
den 400000 Bewohnern des Staates Santa Catharina rund 100000 Deutjche. Im
Anſchluß an diefe Kolonieen beiiedelt jegt die Hanſeatiſche Koloniſationsgeſellſchaft m. b. 9.
zu Hamburg die neue Kolonie Hanja mit einem Gelände von 650000 Hektar und will
dort zwei neue deutiche Städte Dammonia und Humboldt gründen.
In den legten vier Jahren hat diefe Geiellichaft 900 Perjonen zu neuen Heim:
jtätten verholfen. Nach der Leberzeugung ihres Direftors A. W. Sellin ift e8 nod)
nicht zu jpät, in Südamerifa ein fräftiges deutſches Volkstum zu ichaffen. In den
deutfchen Siedelungsgebieten liegen nach feiner Beobachtung die Berhältniffe gegenwärtig
fo, daß dort deutfch werden muß, wer feinen Erwerb jucht, ob nun Portugiefe oder Ita—
liener oder Neger.
Wiederholt und nachdrücklich hat in jüngfter Zeit Dr. Herrmann Meyer auf die
Vorzüge Brafiliens für die deutiche Auswanderung bingewiejen. Er nennt den ſüd—
lichſten brafilianiihen Staat Rio grande do Sul, nachdem er ihn freuz und quer audı
in feinen unbewohnten Gegenden durchzogen, ein Eldorado für germaniiche Kolonijation.
Mit beredten Worten und warmem Herzen hat er in Vorträgen und Schriften die Ent-
wicklung der deutichen Anfiedler neichildert, wie fie nad) vieler Arbeit langſam vordringen
und fich immer mehr ausbreiten. Das Yand fteigt im Wert, doch noch immer verkauft
der Staat bei Konzeſſionen 10000 ykın des jchweriten Urwaldes für 3 Mark und im
freien Verkehr ift ſolche Fläche für etwa 10 Mark zu haben. Bei der fteten Ausdehnung
der deutichen Siedelungen ift es nun aber notwendig, fie mit den Dauptplägen, vor
allem mit der DHandels- und Hafenstadt Porto Allegre, in beffere Verbindung zu bringen
um einen regeren Güteraustaufch zu ermöglichen. Unter ſolchen Berhältniffen war es
ein glüdlicher Gedanke der Regierung, Eiſenbahnkonzeſſionen in Verbindung mit großen
Landfonzejfionen zu erteilen. So fünnen größere Sapitalien herangezogen werden, da
fie bei ausreichender Sicherftellung durch Zinsbürgjchaft oder Landbeſitz auf reichen Ge—
winn zu rechnen haben. Bereits Stehen mehrere Eifenbahnen in Betrieb, find jedoch in
Paul Debhn, ‚Deutichtum in Auslande. 290
den Händen belgiſche nd engliicher Kapitaliften. Diejenige Bahn aber, die den ganzen
Rogen des Uruguay-Urmwaldes mit jeinen NReichtümern, das eigentlihe Zukunftsland des
Staates, zu erjchliegen beftimmt iſt, wurde einer deutichen Gejellichaft vorbehalten, „der
Rio grande Nordweitbahn-Gejellichaft” m. b. H. durch Erteilung einer Konzeſſion zum
Bau einer Eiſenbahn von etwa 1000 km Yänge durch den fruchtbarſten Teil Rio
grandes in Verbindung mit einer Yandüberweifung von 10 km Breite zu jeder Seite
Bahn, die die Rentabilität der Bahn jicher jtellt. Es wird eine lohnende Aufgabe jein,
dad fruchtbare Gebiet im Bereiche diejfer Eifenbahn zu folonifteren, zumal ſich dort
auc 3. T., genau betrachtet, altes Kulturland befindet, das Nahrhunderte hindurch in
eigentümliher Verfaſſung blühte. Bon den eingeteilten Stolonielojen mit je 25 Hektar
iind viele an den Ueberſchuß der Stoloniftenbevölferung von Rio grande do Sul ver-
fauft. Indeſſen wird der nationale Wert diejes Unternehmens in der Unterbringung
deutijcher Auswanderer liegen. Bereit3 hat die Gejellihaft die Hälfte der Bahnſtrecke
vermeifen und ca. 100000 ha Yändereien übernommen und mit den Solonijationg-Ar-
beiten begonnen. In jener Gegend wird ſich nicht nur ein ausfichtsreiches Feld fir
das deutiche Kapital, jondern vor allem ein günftiges Gebiet für die deutjchen Aus—
wanderer eröffnen. Yange Zeit mußte Rio grande do Sul unter dem v. d. Hehdtichen
Auswanderungsverbot leiden, das erſt vor einigen Jahren auf Grund befferer Kenntnis
der Verhältniſſe für die drei Südſtaaten aufgehoben wurde.
Hoffentlich wird es gelingen, in Deutfchland Intereſſe für das nationale Unter:
nehmen zu erweden und neue deutiche Kraft an Kapital und Menſchen dafür zu ge
winnen. Xeider ift auch in Brafilien das deutſche Großfapital noch nicht auf dem Plage,
obwohl fich ihm dort günftigere Ausfichten bieten al3 in China oder Afrita. Müſſen
denn immer von vornherein 8 bis 10 Prozent mindeftens berausipringen, fragt
Dr. Herrmann Meyer unmutig, che man fih an ein Unternehmen heranwagt? Wenn
England derartige fleinliche Wirtichaftspolitif getrieben hätte, wäre es nie eine jo große
Stolonialmadıt geworden. Verſagt das deutiche Großfapital, jo muß es ſich den Vor—
wurf gefallen laſſen, nicht nur in nationaler Dinficht, jondern auch rein finanziell be-
trachtet, als kurzſichtig und Eleinlich bezeichnet zu werden, dann beſteht die Gefahr, dar
die groß angelegten und national bedeutenden Schöpfungen, insbejondere die Eifen-
bahnen: und Siedelungsfonzejfionen in Santa Katharina und Rio grande do Zul, ver-
fallen und anderen Nationen mit weiterem Blick zu gute fommen, ja, daß mit dem
Verfümmern der deutichen Anſiedelungen Südbraſiliens auch der Abſatzmarkt dem
Deutichen Reich verloren geht. Hoffentlid; fommen die deutichen Finanzkreiſe zu einer
befferen Grfenntnis oder aber werden dazu von der Reichsregierung gebracht durch einen
entiprechenden Drud unter Hinweis auf die nordamerifanijchen, engliichen und belgiſchen
Stapitaliften, die fich ungleich mweitblictender zeigen. Die Pachtung brafilianischer Staats
bahnen durch eine englifche Gejellichaft bedeutet für England einen erheblihen Zuwachs
an Einfluß auf das brafilianische Wirtichaftsleben.
Arbeitet aber bei der Ausbeutung der Reichtüimer jenes Gebietes mit dent Fleiße
der 150000 deutjchen Anfiedler das deutiche Grogfapital Hand in Hand, jo wird Rio
grande do Zul einen bedeutenden Aufſchwung erleben und aud) das Deutjche Reich
daraus erheblid;e Norteile ziehen. Diejes zufunftsreiche Yand iſt aber für Deutichland
sun Paul Dem, Deutſchim om Anslande.
wirtschaftlich verloren, wenn das deutiche Kapital es micht wirtichaftlich zu erobern
jucht, wie es bereits der deutiche Bauer mit der Scholle gethan hat. Notwendig muß
verhindert werden, dak fremde Nationen, Nordamerifaner, Belgier, Engländer und
‚srangojen, die Früchte der Arbeit genießen, die feit einem Jahrhundert die Deutichen
dort/geleiftet haben.
In den nationalen Kreiſen Deutichlands aber jollte man ebenfo thatfräitiges In—
terejie befunden für die Aurrechterhaltung und Ausbreitung des Deutichtums in Brafilien
durch Förderung der gemeiniamen Einriditungen der Deutich-Braftlianer in Kirche,
Schule, Volfsbibliothefen u. j. w. Bier wird zunächſt eine Eundige Rermittelungsftelle
zu ſchaffen fein, die über die Bedürfniſſe der deutfchen Anfiedelungen in Südbrafilien
nad) Deutjchland berichtet und jodann zur Verteilung übernimmt, was an freundrilligen
(Haben, aud an Biichern und jonftigen Zpenden eingeht. Auch empfiehlt es sich, Die
deutiche Preffe Südbraſiliens in Deutichland durch Verbreitung in den Intereſſenten—
freifen zu fördern.
8
Auf dem @renzkamm.
(Im Böhmerwald.)
Dee Bergwald, hoch und her Hoch und herrlicı, deuticher Geilt,
Fluten über Thal und Gipfel Walte deiner Schicklalslendung,
Wie ein dunkelwogend Meer Die durdı Nacht und Nebel weiit
Weithin deine Tannenwipfel. kichtwärts, aufwärts zur Vollendung !
Ueberm Strom, der drunten zieht, Deutiche Foricung, deutſches Wort,
Seh’ ich klar die Sonne Iteigen, Keine Grenze ſoll fie hindern;
Und ein itolzes Heldenlied Treu vererben, hier wie dort,
Harft der Frühwind in den Zweigen. kaßt fie uns den Enkelkindern!
Ferner Dörfer Morgenraud, Heil’ge Lolung laßt’s uns lein,
Fluren, drauf der Sämann icreitet - Ohne Murren, ohne Klagen,
Wie ein friiher Werdehaudı Unermüdet Stein um Stein
Liegt es ob dem Land gebreitet. Zu der Grenzburg Bau zu tragen.
Seid gegrüßt, du junges Licht, Mögen lelbit wir audı im Streit
Droiielruf und Finkeniclagen! Sinken einit als wunde Fedıter,
Stille, heil'ge Zuverlicht Strahlt gewiß einit ichönre Zeit
Fühl’ ich in der Seele tagen. Hell auf kommende Seſchlediter. —
Ja, mein Volk, ob gift'ger Neid, Froh, auf hohem Bergeswall
Feindesgroli dich noch umringen, Raitend zwiichen zweien Reichen,
Siegreicd wirft du Not und keid Grüß’ ich did, o Sonnenball,
Als ein Dracdhentöter zwingen. Als der lidıten Zukunft Zeichen!
Reinhold Fuchs.
SEA aa9a98
Von deuticher Kritik und vom deuficten Roman.
Von
Garl Buife.
&‘ jind wunderbare Herbittage. Noch halten die Bäume ihr Laub, aber es ſpielt
ihon in allen Schattierungen vom Grün bis zum fräftigften Braun und Rotbraun.
Das leuchtet über die Maßen ſchön in der milden, Flaven, ruhigen Luft. Man fteht in
der Stille und Klarheit jo weit ins Yand hinein, man überjchaut Nähe und Ferne und
fann alles in feinem richtigen Map und Berhältnis bemeſſen. Die Sonne blendet nicht
mehr und bricht nidyt mehr durch flimmernde Nege der Weite, und nod haben nicht
dunfle Wolfen den Horizont verhangen und das Auge auf die Nähe bejchränft. Aber
hinter diejer Stille ftehen die Stürme, die bald in allen Regijtern durch die Gaffen
ipielen und pfeifen werden, dab einem Hören und Sehen vergeht.
Eine tröjtliche Stille herricht aud) noch in der Fitteratur. Ab und zu fliegt einem
ihon ein verfrühtes Buch auf den Tifch, ein verirrter Vorreiter der großen] Deere, die
bald folgen. Das Beite Eommmt erit jpäter. Tage wohl nur, faum noch Wochen trennen
uns davon. Mit den eriten Stürmen, die braufend die Stille zerreißen, fangen aud)
die großen und fleinen Yitteraturfanonen zu donnern an. Die großen und die Fleinen
-.. . boffen wir, daß diesmal eine große dabei ift.
Man kann, jcheint mir, jo lange nichts Bejleres thun, als noch einmal Rähe und
Ferne zu überichauen, das alte und ewig neue Schlacht- und Siegesfeld abzumeſſen und
die gefundenen Maße fich einzuprägen, daß man ſich nicht verwirrt fühlt, wenn die neue
Schlacht beginnt. Lieber die neuere deutiche Dichtung im allgemeinen habe ih im vorigen
Heft geſprochen; ein paar Bemerkungen über Art und Auffaffung der Kritik möchte ich
heute vorausichiefen und daran anichließend einen raſchen Bli auf das befondere Gebiet
werfen, dem ein großer Teil der hier zu beſprechenden Werke angehören wird.
Es giebt Yeute, die ed ald Hauptaufgabe der Kritik betrachten, ihnen zu jagen, ob
ein gerade vielgeleienes Bud) gut oder ſchlecht jei, und die den Rezenſenten rühmen, der
ihnen ein paar Schlagworte für ihre geiellichaftlichen Unterhaltungen an die Hand giebt.
Man trifft andere, die behaupten, dat die Kritik des Dichters wegen da jei, den ſie auf
jeine Fehler aufmerfjam zu machen und in feinen VBorzügen zu beftärfen habe. Wie
thöricht beide Anfichten find, brauche ich nicht erſt zu bemerfen. Selbit die höhere Mei-
nung, daß die Kritik der Kunſt dienen ſolle, umſchreibt ihre Aufgabe nicht. Die echte,
produktive Kritik hat ein letztes größeres Biel: fie dient, wie die Kunſt jelbft, ob auch
in beicheidenerer Art, der Nation. Deshalb kann ihr höchſtes Ziel nicht nur in der
Geltendmachung äfthetifcher Yehrmeinungen liegen, fondern vor allem in der fittlidhe:.
302» .-- Carl Buſſe. En deutfcher Kritik und vom deutichen Roman.
Sie Burgeli nicht nur in * Weltanſchauung, ſondern will auch die Weltauſchauumg
und kämpft für fie. Nur kämpft fie eben auf ihre Art und tritt auf „eigene Waffen“
an; das Nüftzeug des litterariichen Kritifers ift ein anderes, als das des Theologen
oder Moralphilofophen, wenn fie alle auch vielleicht diejelben fittlihen Wirkungen er:
zielen wollen.
Es wird am beften jein, die verichiedenen Arten von Kritik an einigen Beiipielen
in Kürze Far zu machen. Nehmen wir an, e3 jei ein neuer Roman von irgend einem
hervorragenden Schriftiteller erichienen, der verfchiedenen Beurteilen Veranlaſſung zu
ausführlicher Beiprechung giebt. Der eine wird die Handlung erzählen und das Werf
genau analyfieren. Er findet vielleicht, dat die Kompofition bortrefflih ift, kann aber
nachweiſen, daß ein Bruch in der pinchologiichen Entwicklung des Helden ftattfindet, dat
deshalb der zweite Teil an innerer Ummwahricheinlichfeit leidet. Er hat weiter den Stil
geprüft und ihn pointiert oder fahl gefunden. Er hat ſchließlich etwa herausgebradht,
daß die Dialogführung jehr gewandt, die Charakterifierungsfunft aber gering ift. Er hat
auch alles Gefundene mit Beifpielen belegt, und jchlieft dann, daß troß Diejer
Mängel das Bud; des befannten Schriftstellers doch zur Lektüre empfohlen werden fann.
Das ift eine litterariiche Fadıkritif, eine Kritik für den Dichter, eine Kritif,
mie fie allenfalls in ein reines Litteraturblatt gehört, dejien Leſer nicht nur den
beiprochenen Schriftfteller, jondern aud) zum Teil ſchon den beiprodyenen Roman genau
fennen. ber ift das echte, produktive Kritik? Nein und dreimal Nein! Man denke fich
3 B., daß aus Verſehen der Titel des rezenfierten Werfes jamt dem Namen des Per:
faffers fortgeblieben wäre. Dann bedeutet die ganze Kritif wenig mehr als nichts. Sic
diente nur dem Buche, mit deifen Verſchwinden fie auch verichwinden muß. Sie ift im
legten Grunde überflüſſig. Denn was in aller Welt geht es mich an, daß der befannte
Dichter N. N. im jo und jo vielten Bande jeiner Werfe einen pinchologiichen Schniker
gemacht hat! Das ift mir jo nebenfächlih, daß ich nicht vier Spalten lejen will, um
als Ergebnis nachher dieſe erjchütternde Offenbarung zu vernehmen! Kritiker dieſer
Art find glüdielig, wenn fie dem Autor etwas „nachweilen“ können, jeien es unreine
Reime, jeien es jchiefgebaute Säge. Man fieht ordentlich ihr freudeitrahlendes Geficht,
wenn fie berausgefriegt haben, dat etwa in einer neuen Litteraturgeſchichte ein falſches
Datum gegeben oder ein Dichter vergeflen oder eine irgendwo aufgefundene Goethejche
Windel nicht regiftriert ift. Das ift die häufigfte Art der Kritiker, d. h. der überhaupt
ernst zu nehmenden. Sie fitt meiſt auf dem Katheder und nicht nur auf dem des Gym—
nafiums; fie hat von Berufs wegen die Korrigiertwut, aber man darf fie nicht unter:
ichägen. Denn fo wenig dieje Spezies für die höhere Kritik und für die Allgemeinheit
bedeutet, jo wichtig ift fie für den Autor und für den, der die von ihr herangeichleppten
Steinchen zu benugen verfteht.
Den Gegenjag zu diefen litterariich-philologiihen Kritifern bilden die impreiito
niftiichen. Was jenen die Hauptjache ift, äßt dieſe gleichgültig. Die Impreſſioniſten —
wir haben in Berlin eine Eleine, aber einflußreihe Gruppe davon — verichmähen die
alte Art zu £ritifieren durchaus. Sie wollen den Dichter nicht meiftern, jondern fich in
ihn „einfühlen*, daß ſie ihn aleichlam nachdichten und den ganzen Stimmungsertraft
jeines Wertes dem Bublifum vermitteln fünnen. Sie find gleichſam Anfirumente, auf
Cart Buſſe, Bon deutſcher Kritik und vom deutjchen Ronun. 33
denen der Dichter ſpielt. Jedes Buch „stimmt“ ſie. Sie ftimmen ſich bei Sudermann
oitpreußtiich und bei Hauptmann jchlefifh; aber bei beiden ift ihnen zu viel robuste Klar—
heit, zu viel Materie. Am liebſten laffen fie jich ftimmen dur Dichter wie Huysmans,
Maeterlind, Berlaine. Dann reden fie mit umflorter Stimme, jo dar hinter jedem Sat
ein Geheimnis fteht; veden leije und ahnungsreich mit großen, jehnfüchtigen Worten —
fie jelbft verfümmerte Dichter. Dieſe Art von Kritik, die den Eindruck eines Werfes
vermitteln will, ift von Frankreich zu uns gekommen; die franzöſiſche Pitteratur iſt auch
den impreiftontitiichen Mritifern lieber als die deutihe. Die Nuance ift ihnen die Haupt-
lache; ihr Stil ift ganz weiblid), ganz ſchmiegſam und gefchmeidig, er tajtet dem Dichter
nad. So werden Ddieje Herren, die im Gegenjag zu der eriten Gruppe gewöhnlid)
Berufsfritifer und Journaliſten find, zu interejfanten Birtuojen und weiter hinaus zu
„Blendern“.
Jonglieren fie mit Stimmung, jo jongliert eine dritte Gruppe mit Geift. Für fie
ift jedes Buch nur das Sprungbrett, von dem aus fie zur geiftigen Afrobatif abjpringen.
Die Bedeutung des Dichters, den fie bejprechen, ift ihnen Nebenfahe. Schon in der
dritten Zeile fällt ihnen ein geiftreihes Wort ein, das fie auf Nebenpfade lodt. Und
num entzückt fie ihr eigener Geilt in jolchem Maß, daß fie das Bud) — den Ausgangs:
punft ihrer Ergüſſe — oft völlig vergefien. Sie ſchlagen jchwindelnde Ideenbrücken, auf
denen fie herumtanzen und geiitige Jongleurkunſtſtückchen machen, fie find außerordentlich)
geiftreich und bemweijen dem Yejer, wenn es not thut, das Unmögliche; fie korrigieren die
Weltgeihidhte, je nachdem fte gerade dies oder das belegen wollen, mit beneidenswerter
Kühnheit; fie fprudeln von glänzenden Aphorismen und begeiftern fich für einen Dichter
oder eine Idee genau jo lange, wie es noch fein anderer thut. Paradore reizen fie am
meiften. Sie jelbjt haben taujend Maßſiäbe für einen, und wenn fie ein Buch befprechen,
bligen fte im Zickzack darum ber, bald dieje, bald jene Bartie — nie aber das Ganze —
hell beleudytend. Sie find Oppofitionsgeifter, die dasjelbe Buch mit einem glänzenden
Aufwand von Geiſt in den Himmel heben und es ebeniogut zur Hölle ftoßen, je nach—
dem ein anderer es vorher gelobt oder getadelt hat. Sie ichlagen fi immer zur Mi-
norität. Sie find glänzende Ankläger oder Verteidiger und unmögliche Richter. Unreife
Menſchen verwirren fie; reife jeffeln fie. Man darf ſie lejen, jie bewundern — aber
man darf eins nicht: man darf ihren Urteilen nicht glauben.
Und wie fieht nun endlich die vierte Gruppe aus? Die der editen, produftiven
Kritiker, der Kritiker im höheren Sinne? Nun, fie werden immerhin noch am nächſten
der eritgenannten litterariich:philologiichen Art ftehen, infofern als fie deren Arbeit auch
thun oder die ſchon gethane bemugen. Nur fangen fie genau dort an, mo die erite
Sruppe aufhört. Ilm auf das angeführte Beispiel zurüczugreifen: fie prüfen die Kom:
pofition des Romans cbenjo, finden den Brud) in der pfychologischen Entwidlung auch,
fehen fi den Stil und das Gharafterilierungspermögen nicht minder an, aber damit
ind fie noch nicht fertig. Sie fragen bei den Mängeln nad dem Warum, fie vergleichen
und fpannen fie in einen größeren Rahmen, fie werden auf litterariihem Wege zur
Erkenntnis einer charafteriftiihen Schwähe des Dichters geführt und auf pſycho—
logijhem zu einer Schwäche des Menſchen. Sie wilfen, daß nichts im Dichter und
Gedicht ift, was nicht auch im Menſchen wäre. So fommen fie vom Bud) zum Autor.
"04 Carl Bunde, Bon deuticher Kritik und vom deutichen Roman
Sie fommen über die technijchen und litterarifchen Dlängel zu dem Geifte, der das
Bud) geboren hat und trägt, zu dem Geiſte, der den Schöpfer durdibrauft, und den
wägen fie. Nur der ift ein echter Richter, der einen unverlierbaren Rüdhalt hat an
jeinem Bolfe, der da weiß, wie es geworden, was es groß und was es flein gemacht
hat, was es emporführen und was es jchädigen fan. Für oder wider den Geilt, den
ein Bud), eine Epoche atmet, wird er ſich gläubig und mit aller Wucht einer in ſich jelbit
ſicheren Perſönlichkeit jegen. So prallt zulett Weltanichauung auf Weltanihauung; jo
wird aus litterariicher Enge der Kampf zulegt auf das weite Feld verlegt, auf dem die
größten und jeden einzelnen angehenden Schlachten geſchlagen werden — die Schlachten,
die über unjeres Volkes Zukunft entfcheiden.
Nur joll man das nicht falich verjtehen, nicht jo auffaffen, als ob der tritifer
mit einem vorher feitgelegten, unmeigerlic; an jede Nezenfion zu hängenden ceterum
censeo dor ein Bud) treten und in Allgemeinheiten ſchwelgen fol. Er foll wohl vor
dem Nahen, vor dem fleinen Ausjchnitt bleiben, aber er foll die Perſpektive nicht
vergefien. Was der ungeheuren Mehrzahl der litterariihen Richter fehlt, it der fichere
Blick für Größenverhältniffe. Sie jehen chief, fie beleuchten die Gegenstände jo, dat
die geworfenen Schatten hier ungeheuerlich anwachſen oder dort ſich verfürzen, jo daß
hie abjolut nicht mehr dev Größe der Gegenstände entipredhen. Da wird denn Gerhart
Hauptmann bier ein Rieje, der über Goethe hinauswächſt, und dort ein litterarijcher
Stammler, den man veradıten, gering ſchätzen zu können glaubt. Aber -jelten bleibt er
das, was er ift, nämlid) ein Dichter, deffen wundervoll plaftiicher Kraft leider nicht ein
entiprechendes großgeiftiges Vermögen zur Seite fteht. Und weshalb dieje Verichiebung
aller Berhältniffe, was führt dazu? Docd nur zweierlei: der Mangel an naivem
Gefühl für poetiihe Werte, und ferner der Mangel an biftoriiher und äfthetijcher
Durdbildung. Beides, das angeborene, injtinktive Gefühl und der geihulte Geſchmack,
ift dem litterariichen Richter von nöten. Sein Gefühl findet das Echte heraus; feine
hiftorifche Schulung erlaubt ihm, es zu meſſen und ihm den Platz anzuweiſen. Natürlich
wirft beides untrennbar zuſammen. Und wer das nicht genug zu preifende Glück
hat, fih Eins mit feinem Volke zu fühlen und ohne äjthetiiche Heuchelei das, was es
dur die Nahrhunderte ausgewählt hat, auch nad) jeinem Empfinden als das Befte und
Echtefte aniprechen zu fünnen; wer, ohne der Maſſenſuggeſtion zu unterliegen, ſich jagen
darf, daß jeine Liebe und jein Haß ſich immer und überall mit Liebe und Haß feiner
Nation det, dat gleihlam die fongentrierte Bolksjeele auch in jeiner Brust lebt — dem
hat die Gnade des Himmels einen jo fejten Rückhalt gegeben, daß er mit ficheren
Schritten auch durch das Getriebe der Gegenwart geht. Gr hat den feiten Standpunft
des Geiſtes, er hat in jeinem Gefühl einen jelten oder nie trügliden Maßftab, er hat
einen guten, fröhlichen, danfbaren Glauben, er hat Ruhe und Einheit der Berjönlichkeit.
Was ift Perfönlichkeit anderd als ftarfe Einheitlichfeit? Nur fie aber kann wirken.
Ind wirken will derjenige, der produftive Kritik jchreibt. Ein Stritifer, der nicht zum
Glauben zwingen fann, verdient den Namen nicht. Gin $tritifer, der nicht mit wuchtigem
Stüraffierhieb die Herzen fpaltet, jollte zu fchreiben aufhören. In jeder guten Kritik,
jagt Jean Paul, ift in nace eine ganze Aeſthetik enthalten und zwar die befte, die es
giebt. Ich gehe weiter und jage, dat in jeder gutem Kritik eine ganze Weltanjchauung
Garl Buſſe, Bon deuticher Kritik md vom deutfchen Roman. 303
lebt und daß ſich im jeder eine fittliche Kraft auslöſen muß, die im ftande ift, weitere
Kreiſe zu ergreifen und feftzubalten.
Es it eine alte Weisheit, daß es leichter ift, von der Hölle als vom Dimmel zu
reden, daß der Teufel einfacher zu zeichnen ift als ein Erzengel. Das möchte ich Tür
diejenigen ausjprechen, die finden jollten, daß ich Die drei erften Mritifergruppen ſchärfer
umrändert habe, als die vierte und beſte. Pichleicht kann ich den Unterſchied der ver:
ſchiedenen noch £larer machen, wenn ich fie im einzelnen furz fontraitiere. Man könnte
„Br. wenn man einen Kritiker der eviten, Litterarijch-philologiichen Art neben einen
echten Werte jchaffenden der legten Gruppe ftellt, mit Fug den Unterichied beider jo aus:
drüfen, daß man den einen eben als fachlichen Nritifer, den anderen als Hiſtoriker
anjpricht. Der eine beſorgt aleichlam die polizeilichen Ermittelungen, auf die ſich der
andere, der Richter, fügt. Die erite, litterariich:philofogiiche Art bat ihren Bertreter
etwa in dem oft mit Recht, öfter nut Unrecht verläfterten Dünker; aus der zweiten
Gruppe, der imprelltioniftiichen, den „Einfühlungs“Kritikern, fünnte bei Botenzierung
der Begabung vielleicht wieder einmal ein August Wilhelm Schlegel hervorgehen; die
dritte Gruppe hat ihren feiniten und glänzenditen Vertreter etwa in Georg Brandes,
den man immer lejen und dem man niemals glauben joll. Und fir die vierte Gruppe
fünnte man wohl Peffing nennen, obwohl er nicht das deal, jondern nur derjenige ift,
der ihm in vielem am nächiten fam. Das deal wäre vielleiht eine Miſchung Leſſing—
Herder, wodurd) zu der ſcharf-kritiſchen nocd eine ſtärkere divinatorische Gabe träte.
Wenn man fich nach diefem furzen Kapitel über fruchtbare und unfruchtbare Kritif
der Yitteraturgattung zumendet, über die wir an diefer Stelle wohl zumeift werden zu
berihten haben — dem deutichen Roman, — jo erhebt ſich eine neue Frage. Es ift für
jeden, der die Gejchichte unjerer ſchönen Yitteratur eingehender ſtudiert hat, eine un:
beitreitbare Wahrheit, da der deutiche Roman im Berbältnis zu unſeren dramatiichen,
vornehmlich aber zu unſeren Inriichen Yeiltungen einen merkwürdigen Tiefftand aufweiſt.
Wenn die bedeutenditen Dramatifer der Weltlitteratur aufmarjchieven, jo haben wir
einen Schiller und einen Kleiſt, und fünnen uns des weiteren damit tröften, daß der
größte Dramatiker aller Zeiten, wenn ſchon Fein Deuticher, jo doch ein Germane it.
Auf dem Gebiete der Lyrik kann überhaupt feine Nation ernftlich daran denken, mit uns
in Wettftreit treten zu wollen. Wicht mur, daß der erite Lyriker der Welt unfer ift, wir
haben auch neben ihm eine eritaunliche Fülle reicher und jchöner Talente gehabt, und
noch immer auillt dev Born unjerer Lyrik. Wie aber fteht eS mit dem Noman? Kalt
alle romaniichen und jlaviichen Völfer fünnen da mit Namen aufwarten, denen wir
nichts oder wenig an die Seite zu jtellen haben. Die Geichichte des deutichen Romans
iſt eigentlich eine Geſchichte der ſpaniſchen, italienischen, franzöſiſchen, zuletst auch noch ruſſiſchen
Yitteratur. Mit Uebertragungen jekt dieſe Gefchichte des deutschen Profa-Romans ein. Und
wie fteht es heut? Deutichen Chren klingt dieſe Wahrheit nidyt angenehm, aber ſie bleibt
eine Wahrheit. Was haben uns denn die ganzen Jahrhunderte gebracht, das nicht aus
fremden T.uellen geichöpft wäre? Aa, um ganz beicheiden zu fein: was haben fie ung
überhaupt gebracht? Leberhaupt gebracht, wenn wir die ausländiichen Einflüſſe ganz
überiehen wollen? Der nadı fpaniihen Muſtern gearbeitete, aber herrlich iprachkräftige
„Simplieiſſimus“ fällt jedem jofort ein. Aber dann reibt fih der Laie verlegen die
20
306 Carl Buſſe, Von deutfcher Kritik und vom deutichen Roman.
Stirn, und der Litteraturhiftorifer —? Er nennt wohl fo und jo viel Büdjer, aber
wenn er ehrlich ift, muß er zugeben, daß fie nicht viel bejagen wollen. Und wieder wird
dann ein Tujch geblafen: Der Werther! Bon hier an beginnt es allmählich in Hülle und
Fülle Romane zu regnen. Jeder hat Dutzende berühmter Romanſchriftſteller parat;
jeder glaubt, daß wir es gar herrlich weit gebracht haben; daß der deutiche Roman, des
Publifums litterariſches Schoßkind, womöglich gar reinfter Wejensausdrud der Nation
geworden ift. Und man betradjtet den als Nörgler, der die Behauptung ausipridt, dat
ein deuticher Romanitil überhaupt fehle, daß er allenfalls in den Anfängen vorhanden
jei und daß der Wert unferer gefamten Romanlitteratur im Verhältnis zum Wert unferer
lyriſchen und dramatiihen Dichtung doch nur ſehr gering ſei.
Ich bekenne mich zu diefer Meberzgeugung. Und ich befenne weiter, daß ich aud)
von der näheren Zukunft nicht allzu viel erwarte. Eine Nation, ob jie auch jo reich
jei und fo voll von inneren Sräften wie die unfere, kann nicht auf allen einzelnen Ge—
bieten führen. Wie dem Indibiduum find aud ihr gewiffe Grenzen geſteckt. Allerdings
ift ganz zweifellos, daß die nationale Zuſammenfaſſung einerjeits, die ftärfere Hinlenkung
des PVolfsgeiftes auf das reale Yeben andererjeit3 gerade dem Roman ſehr zu gute
fommen müffen. Dan fann die Frage aufwerfen, ob überhaupt dieſer allzuftarke
Andividualismus, die deutiche Uuerföpfigkeit, die uns geiftig im ganzen jo jehr genützt,
die uns gerade unjere Bhilojophen und unſere Lyriker geſchenkt hat, uns nicht wie im großen
politisch, jo auch im Fleinen, eben in vontansjchöpferischer Dinficht geichädigt hat. Der Roman
braucht mehr denn jede andere Didtungsgattung eine Geſellſchaft — nicht den Einzelnen,
der ſich abjondert. Er braucht reich verzweigtes, in ewigem Fluffe befindliches, ſich an-
einander reibendes Yeben. In den Ländern lateinifcher Zunge findet man das ungleid)
jtärfer als bei uns; das leichter bewegliche geſellſchaftliche Leben, der Begriff der Ge:
jelichaft überhaupt, ift wohl an ſich ein Attribut älterer nationaler Kulturen. So mag
diefer meinen, unjer Roman jtehe auf niederer Stufe, weil die Deutjchen nicht dafür
veranlagt jeien und das Befte in der Gattung, wie das Wort Roman jelbjt, den vomanischen
Völkern hätten entlehnen müſſen, und ein anderer mag unjere geſchichtliche Entwidlung
dafür verantwortlich machen und der Anficht jein, daß nach der feften Zujammenfaffung zu
einer Nation auch erjt ein deuticher Roman möglich jei und daf man deshalb frohen Mutes
in die Zukunft blieten fünne. In der Praxis fommt beides ziemlich auf dasjelbe hinaus.
Wir hatten am Anfang des neunzehnten Nahrhunderts Jean Paul; mir hatten
den Wilhelm Meifter, der fi in den jogenannten Pildungsromanen der Nomantifer
fortjegte und im „Grünen Heinrich“ Stellers feinen legten Ausläufer fand. Es iſt bier
nicht der Ort, zu verfolgen, wie ex ji wandelte zum Zeitroman Immermanns und der
Jungdeutſchen; wie unter Scotts Einfluß der hiftoriiche Roman Bedeutung gewann und
ihm zur Seite trat; wie das Prinzip des poetiihen Realismus — das jegensreicite
im legten litterariichen Jahrhundert — fich ftärfere Geltung verichaffte und uns zu den
beiten Früchten verhalf; wie jchlieglich der Naturalismus wieder zerftörend wirkte. Aber
vor jeder Wendung Stand fajt ein fremder Heiliger, dem dev deutiche Roman nadjzog,
ob er nun Erebillon hieß oder Richardſon, Rouſſeau oder Sterne und Fielding, Scott
oder Balzac, Cooper oder Marrhat, Zola oder Doftojewsfi. Nur Anſätze zum echt
deutfchen Roman find da; dem Prinzip des poetiihen Realismus verdanfen mir fie.
Bart Buſſe, Bon deutſcher Kritik und vom deutichen Roman. 307
Dieſe Anjäge fteden in Werken Neuters, Raabes, Freytags und Holteis. Mancher wird
fih wundern, den Namen Holtei mitgenannt zu hören; aber wer einmal den eriten Teil
des Ehriftian Lammfell gelejen hat, wird nicht darüber erftaunen. Wenn wir überhaupt
einmal zu einem, jagen wir befjer: zu dem deutichen Nationalroman fommen, jo mird
er in dieſer Yinie liegen. Vorläufig find wir über die großen Anſätze noch nicht hinaus.
Soll man an diefer Sehnſucht die Nomane meflen, die uns Herbit und Winter
neu beicheren werden? Das ift die Frage, von der ich vorhin jprach und die noch auf:
taucht. Oder joll man ſich beicheiden und das, was der Tag bringt, nur vergleichen mit
jeinen Geihmwijtern? Das eine wäre jo ungereht vie das ander. Man wird auch
bier die richtige Mitte finden müſſen. Man wird den Einäugigen fröünen, aber man wird
ihm jagen, daß e8 der Blinden wegen geichieht und day er nur jo lange Reichsvermweier
jei, bis einer füme, der mit beiden hellen Augen ins Yeben jehe und es in Höhen und
Tiefen erfafie.
16
nerbitesfroit.
R° leuchtet wie Rubin das kaub Das Eicdihorn turnt von Baum zuBaum,
Des wilden Weins im Garten, — Als ging's zum frohen Feite
Was fragt es, ob den reichen Raub Und nicht zum Schlaf im engen Raum,
Der Sturm kaum mag erwarten? Im fdıneeumhüllten Neite, —
Die Birke fteht in goldner Pradıt, DO Menichenherz, wie wagtelt du
Ob audı kein Fink mehr ichmettert ; Allein in eitlem Trauern
Sie harrt getroit der froit'gen Nadıt, Zu ftören rings die heitre Ruh
Die jählings fie entblättert. Mit bangen Sterbeidauern ?
Genieße froh, wie Baum und Tier,
Des Fahres fonnige Wende,
Und trag es läcdhelnd, dass audı dir
Der Sommer geht zu Ende!
Reinhold Fuchs.
o
SOAEe8eaaaaaaao
Mufikalifihe Rundſchau.
Don
Leopold Schmidt.
I.
It: nicht urteilen“ lautet cin Ausſpruch Goethes. Der Dichter thut ihn gelegentlid)
in jeiner „Italieniſchen Reife“, als er von der Wohltbat jpricht, die in der unbe
fangenen Aufnahme künſtleriſcher Eindrücke liegt. Niemand vermag wohl tiefer dieje
Wohlthat zu empfinden, als wer dazu berufen iit, beftändig über das Schaffen anderer
jeine Meinung zu äußern. Aus einer Autorität heraus, die im Grunde niemand recht
anerkennt, Urteile zu fornntlieren, anſtatt jelber produftio zu ſein, Fremden Leiſtungen
Cenſuren auszuſtellen: das wäre in der Ihat ein Fruchtlojes Beginnen. Zum Glück iſt
der Kritiker, für den man das jchredliche Wort „Kunftrichter“ gefunden hat, mehr und mehr
dem „Referenten“ gewichen. Die öffentliche Berichterftattung über wichtige Vorgänge in
der Kunſtwelt ift längit ein Bedürfnis geworden, ſowohl für den in Frage fommenden
Yejerkreis, als für den Künſtler, der ohne fie feine Stellung jtets von neuen erkämpfen
müßte. Und chrlich die Ihatjachen verzeichnen, verftändnisvoll den Ereigniſſen folgen
darin kann allerdings ein Verdienſt liegen. Yeider verhält ſich jedoch die Sache nicht ſo
einfacd), ift die zrorderung Goethes nicht immer leicht zu erfüllen. Das Verlangen derer,
die, unfähig fich ein eigenes Urteil zu bilden, durch Schlagworte und Zentenzen geleitet
werden wollen, künnte man allenfalls unbenchtet laſſen; aber die Daritellung ſelbſt
ſchließt gewöhnlich ſchon ein Urteil ein. Die Art allein der Berichteritattung verteilt
Licht und Schatten, und schließlich kann man über finftleriiche Dinge doc nicht veden,
ohne Kragen des Geſchmacks zu ſtreifen, ohne von hiftoriichen oder allgemein äſthetiſchen
Standpunkten Freude oder Mirfallen fundzugeben. Damit tritt aber die Perſönlichkeit
des Urteilenden umweigerlich auf den Schauplatz; in dieſer Beziehung zum mindeiten it
die Daritellung nie ganz von ihr loszulöjen, und mit der eriebnten „Objektivität“ ift cs
wiederum nichts.
Für den Tagesichriftiteller macht fid die Schwierigkeit nicht jo fühlbar. Die Fülle
des Stoffes, die Vielheit der einzelnen Erſcheinungen drängt von jelbjt die Keflerion in
den Dintergrumd und ermöglicht ein mehr berichtendes Verfahren. Iſt der Referent für
eine Fachzeitung thätig, jo kann er vollends die Analyſe zu Dülfe nehmen und die be
jprochenen Werke durch Notenbeiipiele erläutern. Je höher jedoch der Sefichtspuntt, von
dem aus Umſchau gehalten wird, je ſummariſcher dev Bericht, un jo mehr wird natur
gemäß das Raiſonnement vorwalten müſſen. Eine Monatsjchriit wie die vorliegende,
die einen weiten Kreis von dem jeweiligen Ztand des muſikaliſchen Schaffensgebietes
unterrichten möchte und mer die bedeutendften Ericheimmmgen in ihven Bereich zieht, kann
Yeopold Schmidt, Muſikaliſche Ruudſchau. 309
auf eine mehr Eritiiche Darſtellungsmethode nicht gut verzichten. Bon dem Bertrauen
zu der Perfönlicdyfeit des Referenten, von dem Maß an Uebereinſtimmung in den leitenden
Grundanſchauungen zwijchen ihm umd dem Peer wird es dabei abhängen, welchen Wert
ſolche Erörterungen gewinnen. Im Begriff, die der Muſik gewidmete Abteilung in diejen
Blättern zu übernehmen, glaube ich deshalb nichts Beſſeres thun zu können, als einige
Worte über meine Anfichten von dem Wejen und dem Ziele der Mufiffritif, von ihren
Aufgaben der Gegemwart gegenüber, vorauszuſchicken. Damit joll natürlich £einerlei
Programm gegeben jein, ſondern nur ein jchlichtes Bekenntnis; hängt doch dev Chronift
zu jehr vom Gang der Ereigniſſe ab, die in jeinem Berichte gleichlam ein Echo finden
tollen, als daß er irgend einen Weg ſich verzeichnen könnte.
Hat es jchon der Stumftichriftiteller an ſich nicht leicht, da man — um wiederum
Goethe zu citieren — don der Kunſt eigentlid) nur in ihrer Gegenwart reden joll, jo
itellen jich der Beiprechung muftfaliicher Werke und Vorgänge ganz bejondere Schwierig:
feiten entgegen. Wer über Poeſie, Malerei und bildende Künſte jchreibt, kann wenigitens
den Inhalt eines Werkes, das was es boritellen will, in zutreffenden Worten jchildern.
Das Wejentliche, das eigentlich Nünitlerijche ift zwar auch bier nicht wiederzugeben,
aber eine bejtimmte Voritellung davon ift immerhin zu erweden. Bei der Mufif entzieht
ich der geſamte Inhalt den Künſten der Schilderung: Tüne und ihre Nombinationen
ind nur durch ſich jelbit daritellbar. er davon erzählen will, kann nie das Weſen
der Dinge berühren; jeine Schilderung bewegt ſich immer um den Kern der Zacıe
herum. Dazu kommt, dat die Sprache für muſikaliſche Begriffe feinen Wortſchäatz bietet,
außer denen, die phyſikaliſche Eigenichaften des Tones bezeidmen. Alles Künſtleriſche,
alles, was die Wirkungen, Freude und Mißfallen, die inneren Beziehungen und den
äußeren Aufbau betrifft, mu Fremden Gebieten entlehnt werden. Allerdings iſt mit dev
Zeit durch Uebereinkunft eine Terminologie entitanden, die den eingeweihten Kreiſen
durchaus veritändlich it; aber es find doch inmner nur Vergleiche, mit denen wir uns
behelfen, keine zutreffenden Begriffsbeftimmmmgen. Die Empfindung dafür mag Nobert
Schumann, nachdem er ſelbſt lange Zeit hindurch mit glänzenden Grfolge ſich kritiſch
bemüht hatte, zu dem ärgerlichen Nusipruc veranlagt haben, dat alles Gerede iiber
Muſik schließlich darauf hinauslaufe: mir gefällt etwas, oder es gefällt mir nicht. Das
Beite wird deshalb noch immer, wo fie irgend augängig it, Die fachmänniſche Analyie
bleiben, die mit technifchen, dem Muſiker vertrauten Ausdrücken und womöglich mit
Rotenbeiipielen die Sache erläutert. Innerhalb einer mehr Fenilletoniitischen Darſtellung,
die Sich an das große Publikum wendet, ift fie natürlich mit Maß zu gebrauchen.
Nichtiges Taktgefühl wird bier Trockenheit zu vermeiden, die Allgemeinverftändlichfeit zu
wahren willen.
Unter den obwaltenden Umſtänden ericheint es Fiir den Mufifreferenten doppelt
geboten, überall da, wo die Darjtellung die Form eines Urteils annimmt, vorfichtig zu
jein. Da 08 ihm an der Möglichkeit, ja jogar an Worten fehlt, dem Yeler die Sache
jelbjt zu unterbreiten, muß er ihn jtets darüber im Klaren laſſen, daß es lediglich Ein:
drücke find, die er wiederzugeben vermag. Dieje Eindrüde find naturgemäk immer per-
jönficher Natur und zeitlich begrenzt, d. b. wandelbar. Man denke nur daran, wie zu:
meist Die Daraus gewonnenen Anſchauungen zuftande formen! Während 3. B. der We
310 Leopold Schmidt, Mufikaliiche Rımdicau.
zenient eines Bildes jo lange vor dasjelbe Hintreten fann, bis er es ergründet zu haben
alaubt, ift die Muſik ein einziges Mal am Ohre des Betrachters vorbeigeraujcht, wenn
er zur Feder greifen ſoll. Diejes „jofort“, zu dem fein Beruf ihn zwingt, verleitet ihn
fiher zu einem Unrecht, zum mindeiten zu einem Unrecht gegen ich ſelbſt. Man kann
deshalb jagen, daß der Journalismus der ärgite Feind der Kritit ift. Jeder gemifjen-
hajte Referent wird, wenn er ichon die Berantwortlichkeit des Urteilens auf ſich nimmt,
eine möglichit lange Bedenkzeit für ſich beanipruchen, er wird neue Ericheinungen lieber
vier- und fünfmal ftudieren, bevor er das Wort ergreift. Erſt wenn ſich allgemein die
Erkenntnis Bahn gebrochen hat, wie ſehr Publikum, Nünftler und Kritifer durch Nacht—
rezenlion und PBremierenbeiprehjungen gejchädigt werden, wird die öffentliche Stunt
fritit ihre Würde wahren und die ihr erreichbare Wirkungskraft entfalten können.
*
Ein weiterer Grund zu vorſichtiger Zurückhaltung allem Neuen gegenüber liegt in
der Wandelbarkeit der äſthetiſchen Anſchauungen, der nicht weniger als Der Yaie der
Fachmann unterworfen it. Das menſchliche Ohr iſt unglaublid) anpajlungsfähig; mit
der Art zu hören ändert ſich aber aud) das Urteil. Die Geſchichte liefert beftändig Be:
weile dafür, und niemandem ılt ein Vorwurf daraus zu machen, wenn er in fich die
Entwidlung der Tonfunit mitmacht. Es wäre nun aber durchaus unrichtig, aus dem
Gefagten etwa die Wertlofigkeit aller Tageskritik herzuleiten. Cine abjolute, unab-
änderliche Norm, deilen muß man fich bewußt bleiben, läßt fich freilich nicht aufitellen;
es genügt aber und interejitert den veritändigen Yeler, zu erfahren, wie ein Fachmuſiker,
dein er Vertrauen ſchenkt, zu einer gegebenen Zeit über diefe oder jene Erjcheinung denkt.
Was er von feinem Gewährsmann verlangen kann und muß, iſt, außer der ſelbſtver—
ftändlichen Unparteilicyteit und Ghrlichkeit, Erfahrung und die nöthige Zumme von
Stenntniffen. Wie überall it aud für die Erfenntnis fünstleriicher Werte die
Erfahrung ein unſchätzbares Hülfsmittel. Wem die Gelegenheit zur Beobachtung be:
Ständig wiederfehrt, dem vereinfachen ſich die Dinge, der wird fich im Urteil weniger
leicht durch Zufälligfeiten oder Neuperlichfeiten beeinfluffen laſſen. Was die pofitiven
Kenntniſſe betrifft, jo wird man die Grenze nicht weit genug ſtecken können. Bor allen
muß der Stritifer die Geichichte feiner Kunſt beberrichen, um allen Greigniffen gegenüber
den richtigen Standpunkt zu gewinnen. Dar er nicht alles, was er beurteilt, jelber
braucht machen zu können, it ein Semeinplag, den ſchon Leifing nicht mehr des Beweiſes
für wert erachtet hat. Immerhin ift ein gewiſſes praftiiches Nönnen auf muſikaliſchem
Gebiete mindeitens wünſchenswert. Wer die Fähigkeit Telbit zu ichaffen beſitzt, ſteht den
ES chöpfungen anderer verſtändnisvoller gegenüber. Ein unbilliges Verlangen ift es, dev
Referent folle die einzelnen Disziplinen der ausübenden Tonkunſt nicht mur kennen,
iondern auch selber zu bethätigen im ftande fein. Dergleichen haben in neuerer Zeit
namentlich Geſanglehrer aufgeitellt, die alles mur aus dem Geſichtswinkel ihrer allein-
jelinmachenden Methode betrachten möchten. Was dabei herausfommt, wenn der Geſang—
lehrer über den Zänger, dev Mlavierpädagoge über den Pianitten u. ſ. w. urteilt, davon
kann man in Faächſchriften und mindlihen Ausſprüchen genug abſchreckende Beijpiele
finden. Das Perlangen tt aber nicht nur unbillig, jondern aud unnötig, wo es ſich
nicht um einen beſtimmten Kreis von Fachgenoſſen handelt. Für die größere Oeffentlichkeit
kommt es immer und überall nur auf das Allgemein-Muſikaliſche, auf das Künſtleriſche
Leopold Schmidt, Muſikaliſche Rundichan. 314
an, und jedes Hinabiteigen in technijche Streitfragen, zumal in noch unerledigte, wäre
hier ſchlecht am Plage.
Soll ich mic) als Laie der Führung eines Kundigen in irgend einem Fade ander:
trauen, fo jcheint mir neben der Frage nad) Wilfen und Können vor allem die Frage
wichtig: wie jpiegelt jich die Gegenwart in jeinem Kopfe, wie ift jeine Vorftellung vom
Zeitbilde bejchaffen? Es ift heutzutage nicht leicht, fich zu einer Haren Anſchauung durch—
zufinden. Wir [eben in einer interefianten Zeit, aber manches eridheint wirr und zer
fahren. Auf eine Epoche unerhörten Aufſchwungs ift unleugbar ein Stillftand in der
Produktion eingetreten; nicht mehr wie von Beethoven zu Wagner und Brahms folgen
ih die bedeutenden Erjcheinungen in üppiger Dichtheit. Nicht mit derjelben Beſtimmt—
heit läßt fich dagegen jagen, dat das Niveau des technischen Könnens und der Erfindung
gejunfen jei, denn die Kunſt der Sllangmijchungen, eine freiere, bielverfchlungene
Volnphonie finden wir vielfach bis zur höchiten Meifterichaft gejteigert. Eigentümlich
ift der tiefe Zwieſpalt, der heute die mufifaliiche Welt in zwei ganz verichieden fühlende
Hälften teilt. Altes und Neues hat fi wohl immer gegenübergeitanden, indeſſen nie
jo unverjöhnlich, jo umüberbrüdbar wie jest, wo die Schule Wagner-Piszt nach ſchwerem
Kampfe zur Anerfennung gelangt ist. Vielleicht ift es nur ein Gradunterjchied gegen
früher; allein die Entwidlung bat einen jo gewaltigen Schritt und jo plötzlich vorwärts
gethan, dat die Gipfel der älteren und neueren Tonkunſt völlig verjchiedenen Welten
anzugehören jcheinen. Es ift nicht nur das Aufgeben der Form im engeren inne, der
beide von einander trennt; durch das „Programm“ ift eine ganz anders geartete
Deutungs: und Ausdrucksfähigkeit in die Muſik eingezogen. War früher der thematische
Gedanke der Stern, das Wejentliche des muftfalischen Gebildes, jo führt heute das Klang:
gewand, das „Rolorit* ein jelbitherrliches Dafein. Was mir aber an diefer Neufunft
vermiſſen, ift die Uriprünglichkeit, der lebendige Fluß, der die Werke der älteren Meifter,
Wagner nicht ausgeichloffen, durchftrömt und uns nivgend auf tote Stellen treffen läßt.
Nur zu oft iſt an die Stelle der Begeifterung die Reflexion getreten und hängt ihre
Pleigewichte an die aufftrebenden Schwingen der Phantaſie.
Intereſſant ift es zu beobachten, wie ſich der Yaie der neueſten muftkaliichen Fort:
ichritt$Spartei gegenüber verhält. Durch die Geichichte des eben beendeten Jahrhunderts
belehrt, hütet fich der mufifaliiche Gebildete, an der Entwicklungsfähigkeit der Tonkunit
zu zweifeln und das Neue um des Neuen willen abzulehnen. Aber nur in den jelteniten
Fällen gelingt es ihm, jo recht ein inneres Verhältnis zu den deflamierten Liedern umd
ſymphoniſchen Dichtungen unferer Jüngſten zu finden. Gr ift gerade erft im Zuge, ſich
jeines Wagner's recht zu freuen und hat noch genug zu thun, ihn ganz in jemen Befit
zu bringen. Die Heuchelei macht jich freilich im Konzertſaal nicht weniger breit wie im
Theater; fie erhebt ihr Haupt, jobald die Mode fich für irgend eine Richtung entichieden
hat. Nur die Ungeduldigen erflären vorläufig noch vundheraus: „das iſt gar feine
Muſik mehr!” Thatſächlich iſt unfere Tonkunſt auch längft nicht mehr die Freuden:
bringerin von ehedent; daher die ſtets erneute, elementare Wirkung der Klaſſiker, jo oft
fie auch auf dem Programm ericheinen.
Ganz anders ift die Stellung des Mufifers. Was ſich vegt und zum Schaffen
gedrängt fühlt, jchart fi um die neue Fahne. Immer ftattliher wird die Gefolgichaft
312 Leopold Schmidt, Muſikaliſche Ruidſchau
von Richard Strauß und Schillings, den Häuptern der aus der Weimarer Schule
bervorgegangenen Nomponiiten. Nur eine Gruppe älterer Meiiter, deren Entwicklung
in eine frühere Zeit fällt, Männer wie Bruch, Gernsheim, Humperdink u. a. ſtehen noch
in innigerer Berbindung mit dev Vergangenheit. Ihre Werke überragen zweifellos an
Bedeutung, was ſich im Durchſchnitt daneben hören läßt: aber es weit michts über tie
hinaus in eine Zufunft, wie fie Die \ungen träumen. Unter den Borfämpfern Tteben
faſt ausnahmslos untere großen Dirigenten, ei Umſtand, der nicht wenig dazu bei
getragen hat, Die moderne Richtung zur Weltung zu bringen. Trotzdem manches Un:
geſunde, Aufgebauſchte, das ohne innere Berechtigung mitmachen möchte, ſich darin breit
macht, fan man dem idenlen und kühnen Aufwärtsſtreben der jüngeren Generation
jeine Sympathie micht verfagen. Dan gönne ihre Licht und vuft zum Enwicklungz viel
leicht bereitet ſich in unſerer Mitte Großes vor, bevor wir es ahnen. Daß übrigens
ticht geraden Weges mehr vorwärts geſtürmt wird, dafür bürgen mancherlei Anzeichen.
Die Neigung zu Zeitenpfaden, um nicht zu jagen zur Umkehr, zeigt Sich am lehrreichſten
bei Zchillings, weil ſie bier nicht als äußere Wandlung ericheint, ſondern aus innerer
Nötigung und aus künſtleriſcher Erkenntnis heraus fich vollzogen bat.
Fine dritte Gruppe, deren Bertveter glüdlicherweiie immer jeltener werden, liche
jich den bereits genannten anreihen. Es find dies Die veripäteten Extremen der neu
Deutichen Nichtung, die, ohne neue Werte prägen zu fünnen, an überwundenen Einſeitig
feiten hartnäckig feſthalten. Ihr Gebahren fürdert Partei- und Cliquenweſen, anſtatt cs
aus der Kunſt zu bannen, und wirkt unerfreulich wie der geſchäftliche und auf Aeußer
lichkeiten gerichtete Zug, der andererſeits unſerer Zeit jo jehr eigentümlich iſt. Ueberall
herrſcht mehr der Hang, den Kunſtgenuß auf muſikaliſchem Gebiete durch Verbreiterung
zu vergröbern, als ihn wieder intimer zu geſtalten, und nicht zu unterſchätzen iſt die
Gefahr — um alle Schattenſeiten aufzuzählen — die aus dem Uebermaß an öffent
lichen Muſikaufführungen erwächſt, das ſchließlich bei allen Beteiligten zum Ueberdruß
führen muß.
Faſſen wir nun, nach dieſem Ausflug ins Polentiſche, die poſitiven Aufgaben zu
ſammen, die man der öffentlichen Muſikkritik zuweiſen darf, ſo ergeben ſich folgende
Forderungen. Der Kritiker betrachte ſich im erfter Linie als der Vermittler zwiſchen
dem Rünſtler und dem Publikum, der das Intereſſe am den Leiſtungen weckt, indem
ev Das Berſtändnis dafür Fürdert. Wo ſein Neferat ſich nicht auf Berichterſtattung
bejehräntt, jet er bemüht, für das Urteil die vorfichtigite und am wenigiten verletzende
Form zu Anden, ſtets eingedenf, day es Immer nur momentane Gindrüde find, die ev
twiedergiebt. Bei der Verprechung älterer Muſik iſt es Zache der Mritit für die Ver:
breitung pofitiven Willens und bittoriicher Anſchauungsweiſe zu ſorgen; handelt es ſich
um moderne Werke, jo Fällt ihr die Aufgabe zu, das Wollen des Nomponijten zu deuten,
zu zeigen, in welchem Zuſammenhang ev mit der allgemeinen Entwidlung ſteht, was
etiwa Kunſtgemäßes und Originelles an jenem Zchaffen zu beobachten iſt. Uhme leicht
tertigem Unfug Thor und Thür zu öffnen, halte man ſich allem Eruften, irgendivie Be:
deutjamen gegenüber zur Zurückhaltung verpflichtet. Die Zeit wird enticheiden; es ilt
kein Unglück, wenn das Urteil nicht gleich geprägt wird. Das Perſönliche der Anſchauung
iſt nie zu vermeiden, wohl aber der Einflug des perfünlichen Geſchmackes. Der Nezenfent
Leopold Schmidt, Muñſkaltiche Rundichau. 313
nur die Sabe haben, unabhängig von Vorliebe und Antipathie, wenn nicht empfinden,
doch betrachten zu können; Wiſſen und Erfahrung treten für das unmittelbare Gefühls-
verſtändnis ein und geben ihm die Mittel zur Erkenntnis jediveder Eigenart an die Dand.
In Boritchendem babe ich mich zu den Anschauungen befannt, die ſich mir als Die
wichtigiten und als unumſtößliche von meinem Berufe gebildet haben. Im einzelnen Falle
danadı zu handeln will id}, joweit es im meinen Mväften steht, mid) gern verpflichtet
wilfen. Die Muſikkritik ift ein noch junger Zweig der Aeſthetik und Munitgeichichte, Die,
jelbit die jüngsten der Wiſſenſchaften, nur zu oft eine ſchwankende und unvollftändige
Grundlage abgeben. Man muß deshalb Geduld haben und ihr die Zeit laſſen zu ev:
jtarfen, bevor man veife Früchte von ihr verlangt.
Bucherſchau.
Am Marſitplah. Roman in Kleinſtadtbildern von Hermann Beiberg. Freiburg i. Br., Berlag
von Friedrich E. Fehſenfeld.
Die treue Wiedergabe der Lebensiwirflichkeit iſt heute wie vor einem Jahrhundert ber
erite unerlägliche Schritt zur Poeſie und poetifhen Wirkung, und doch ermeiit fich immer wieder,
daß es beim eriten Schritt nicht bleiben darf. Die fcharfe Nüchternheit, die fich auf die Treue
ihrer Beobachtung und die Deutlichkeit ihrer Schilderung verläßt, kann die von ihr erfakten
Menichen und Zuftände aus der Zufälligfeit nicht zur Notwendigkeit erheben, fie bemeijt, aber
fie überzeugt nicht. Die Kluft, die die Bermunderer von Goethes „Wilhelm Meiſter“ von denen des
Engel’ihen „Herr Yorenz Stark“ trennte, ift auch nach einem Jahrhundert unausgefüllt geblieben.
Heiberg’s Roman „Am Marktplatz“ ift einer der jüngjten Nachlommen des „Lorenz Stark” und
erfüllt die Forderung verjtändiger Folgerichtigkeit und anichaulicher Detailfchilderung, läht aber
das Berlangen nad) tieferen Yebensgehalt und bedeutenderen Geitalten ebenfo unbefriedigt, als
die Forderung künſtleriſcher Form. Es ift ein Stück „Beimatkunft in dieſen Kleinſtadtbildern, aber
da der Verfaſſer dem gleichen Boden entſtammt, der den Hinter⸗- und Untergrund des größten
Teild von Theodor Storms Novellen abgiebt, jo fann der Vergleich jeiner „abfeits” jtehenden
und lebenden Menichen mit den Gejtalten des ſchleswigſchen Dichters nicht zu feinem Vorteil
ausfallen. Zelbit das Hilfsmittel, Kindererlebniſſe und Kinderfchidjale mit Erlebnifien und
Schickſalen Erwachſener zu verflechten, bat jich im Fall diefes Romans nicht bewährt. ‚Freilich
müſſen wir der Art Nüchternbeit, die den Bildern „Am Marktplaätz“ eigentümfich ift, den Vorzug vor
der weſenloſen Phantaſtik und dem Haſchiſchrauſch zahlreicher, vermeintlich dichteriicher Schöpfungen
der jüngſten Zeit geben. Aber gerade gegen die Annahme, als ob mir nur noch die Wahl zwiſchen
dem Entweder der pochelojen Niüchternheit und dem Oder der naturlojen Ueberhitzung und
Ueberkünſtelung bätten, kann nicht oft und nicht entfchieden genug Verwahrung cingelegt werden.
Was uns not tbut, it warmes, großes Yeben und lebendige, große Kunſt. Wer daneben noch
‚jerjtrenung und leichte Unterbaltung nötig bat, wird feine Rechnung bei diejen Kleinſtadtbildern
jelbjt mit einen Ueberſchuß finden. Adolf Stern.
Maria. Roman von Ernft Muellenbab, Berlin, Berlag von Emil selber. 1901.
Mit lebhaften, aber webmiütigem Anteil begrüßen wir die leute erzäblende Schöpfung des
rheiniſchen Novelliiten, der in den Furzen Jahren feiner litterariichen Thätigleit fich als liebens—
würdiges und Frifch Fabnlierendes Talent eriwielen hat. Muellenbachs Romane und Novellen
balten jich tm der Mitte des Yebens, feine Charaktere baben ihre Wurzeln jelten in elementarer
Tiefe umd jeine Stimmungen erheben fich noch feltener m die lichteſten wolkenloſen Höhen.
Muellenbach it, oder leider er war, Fein bloger Unterhaltungsichriftiteller, fondern ein phantaſie—
voller Erfinder und ehrlicher Seitalter. dev für die verborgene Bocfie und den beſſeren Kern
icheinbarer Alltagsericheimungen einen feinen Blid beſaß und jedes Stüd Yeben, das er ergriff,
warm zu bejeelen wußte. Seine Erzäblungstunit war der älterer Erzähler wie Otto Müller
und Edmund Döfer einigermaßen verwandt, aber ein jtärkerer Zug zur rbeinifchen Fröhlichkeit
und ein Hauch echten Humors gab ihr einen noch intimeren Reiz, und da ſich der Luft des
‚sabulierens der Trieb nach künſtleriſchem Gleichmaß und die ‚Fülle der Anfchauung geiellte, fo
vermochten feine Sejchichten nicht bloß flüchtig zu feileln. Gerade dieſer lebte Feine Roman
„Daria” weit alle befonderen Vorzüge des liebensmürdigen Erzüäblers auf. Ohne ein Weltbild
su fein, spiegelt der zum größeren Theil in Bonn verlaufende Roman cin gervinnendes Stüd
Bücherſchau. 315
Leben, und die Titelheldin iſt in ihrer kräftigen Unverbildetheit und ihrer unbewußten Vor—
nehmheit eine ganz prächtige Geſtalt. Es iſt viel Erlebtes und viel fein Beobachtetes in der
ſchlichten Geſchichte und die alte wehmütige Erkenntnis, daß nicht die Dauer, ſondern der Inhalt
eines Lebens deſſen Wert beitimmt, die uns angeſichts der Schickſale Maria Sommers über—
fommt, klingt mit dem Gefühl zuſammen, nit dem wir des frühgeſchiedenen Verfaſſers gedenken.
Adolf Stern.
Aus Schule, Unterricht und Erziehung. Geſammelte Aufjäge von Dr. Adolf Matthias, Geb.
Regierungsrat und vortragender Rat im Aultuäminijtertum zu Berlin. München 1901.
C. H. Beckſche Berlagsbuchhandlung.
Der Name Adolf Matthias bat überall, wo deutſche Eltern ſich tiefer mit der Frage
„Wie erziehen wir unfern Sohn Benjamin?" beihäftigen, einen guten lang. Auch die in vor-
liegendem Bande gefammelten Auffäge dürften nicht bloß bei Schulmännern und Pädagogen
von Fach, ſondern auch bei allen, die zur Erziehung berufen find, — und das iſt ja neben ber
„Schule“ auch das „Haus“ — Anklang finden. Die Reformbewegung im höheren Schulmefen,
brennende Tagesfragen und Tagesjorgen mehr jchulpolitlicher Art, wie fie in der erjten Abs
teilung diejes Buches („Allgemeine Schulfragen“) behandelt find, berühren und bewegen uns ja
alte, fie find eine Angelegenbeit der ganzen Nation. Wer fich die Gefchichte, die Ziele und Auf—
gaben diejer Bewegung vergegenmärtigen till, der findet an Matthias einen fachtundigen und
durchaus nicht trodenen Führer. Der Verfaſſer gebört zu den Perfechtern der bumantftiichen
Bildung, aber er verfennt die Schtvächen und Unzulänglichkeiten unferes beutigen Gymnaſiums
durchaus nicht; er weiß, daß uniere Zeit neben der „Eafftichen‘ vor allem auch eine moderne oder
bejjer jpezifiih deutiche Bildung verlangt, und deshalb it er ein warmer Fürſprecher dev
lateinlofen höheren Bürgerichulen und ein unbefangener Anwalt der Gleichmwertigkeit der Ober-
realfchulbildung mit der des Gymnaſiums. Dem „verzagenden und verbitternden Beifimismus,
der der Entwicklung unjerer Zchulen und dem Yebreritande in feiner Arbeit, feiner Stellung
und Wertichätung To unendlich viel geichadet hat“, tritt Mattbias überall entgegen. ‚in der
zweiten Abteilung „Aus dem deutſchen Unterricht“ finden fich naturgemäß mehr mur den Schul—
mann angehende Aurfäse, wenn auch einzelne wie „Uhland als Volksdichter“, „Deutſches
Ghrijtentum und griechliches Detdentum in Goethes Iphigenie“ jedem Gebildeten etwas zu jagen
haben. Alien Grzichern gilt, was Matthias in dritten Abjchnitt über „Minderindividualitäten
und Kinderfehler“, „Weber Anlagen und Begabung” ſagt, und allen Deutjchen kann es gejagt
fein, wenn er im lebten Abjchmitt vom „Bert politifcher Parteikämpfe“ fpricht oder jein liebes
volles Berjtändnis für deutiche Größe in Gedächtnisreden auf Wilbelm |. und Bismard kund—
giebt. „rei von bochgeftochenem, alademiſchem Ton“, wie fie find, werden die Aufjäge befonders
durch die humorvolle, jchlichtsdentfrbe Art ihres Verfaſſers jeden Yeler angenehm berühren.
Worms. Karl Berger.
Schiller und die deutfiche Gegenwart von Carl Weitbrecht. Stuttgart 1001. Ad. Bonz & Gum.
Es war nach all dem oberjlächlichen Gerede von veralteten Schiller, von feiner blutlofen
Rhetorik, von feinem überwundenen Ideglismus und einer überbolten Dramatik, einem Gerede,
das in den romantüchen Kreiſen und in den Salons der Nabel begann und neuerdings an den
mißveritandenen Otto Ludwig wieder anfnüpfte, endlich einmal an der Seit, daß Schiller der
deutihen Gegenwart in feiner dichterifchen und menschlichen Größe aufs neue aufgezeigt
wurde. Ich glaube, das deutjche Volk fängt nun evit an, jchillerreif zu werden. ebenfalls
haben wir das Recht und die Prlicht, uns unſeren Schiller nicht durch einige litterariiche Macht»
jprüche md Schlagwurte wegesfamotieren zu laſſen, — das ijt auch gar nicht jo leicht, wie
ichnellfertige fitterariiche Fünglinge anzunehmen Luſt baben. Daß Schiller, weit entfernt ver-
altet zu fein, vielmehr heute gerade wieder modern wirkt, d. b. verſchiedenen wejentlichen Bes
bürfnifien der Gegenwart entgegenkommt und vichtunggebend für die Zukunft werden kann, das
weijt der Stuttgarter Heithetiter Carl Weitbrect in vorliegendem Büchlein in überzeugender
Weiſe nach. Gr iſt ale Schwabe, Tichter und Menſch ganz der Dann dazu, die Größe des
316 Bücherſchau.
Dramatikers und Tragikers Schiller zu erfaſſen und darzuſtellen. Weitbrecht will Teine kritik—
ſcheue Bewunderung des Dichters, er ſoll kein Stilmuſter ſein, aber lernen ſollen und fünnen
wir auch heute noch von Schiller das Weſentliche aller echt dramatiſchen Knuſt. Weitbrecht
öffnet ums die Augen für die oft gelengneten Zuſammenhänge zwiſchen Schillers Yeben, Ber:
jönlichkeit und Dichtung, für die nur den Raturtiefen jeines Wejens entfpringende tragiiche
Bucht feiner Dramen. Gingebend bat Weitbrecht diefe Dinge früher ſchon in feinem Buche
„Schiller in jeinen Dramen’ (Stuttgart, Arrommann 1897) dargeftellt. In der neueiten Schrift
wird auch dargelept, warım und mie gerade unfere Gegenwart Männlichkeit, weite Dorizonte,
Sucht und Gewiſſen, Begeiſterung, einheitlich geichloiiene Weltanjchauung, aljo gerade das, tvas
ihr am meisten not ihnt, bei Schiller finden kann. Auch über Schillers Lyrik weis Weitbredi
nee Aufichlürie zu geben und die Bezichungen des jungen Schiller zum modernen Yeben und
ben Beitrebungen des modernen Dramas einleuchtend nachzumeiien. Einen bejjeren Führer zu
Schiller, wie wir diefen beute erkennen müſſen und nötig baben, als Weitbrecht, wüßte ich nicht
zu nennen. Das fejlelnde, mit hinreißendem Feuer und gediegenjtem Beritändnis gefchriebene
Büchlein fei allen Schillerfreunden und Scillerveräcdhtern, den einen zur Erbauung, den anderen
zur Einkehr, entpfoblen.
Wornis. Marl Berger.
Grundzüge der deutichen Litteraturgeichichte. ‚Für höbere Schulen und zum Selbjtunterricht.
Won Dr. Gotthold Klee, Broiejior am Gymnaſium zu Bauten. Vierte verbeilerte Auflage.,
Berlin, Georg Bondi, 1901.
Die Thatfache, daß ein bauptjächlich für die Gymnaſien beitimmtes Buch binnen ſechs
Jahren vier Auflagen erlebt und eine Verbreitung über die erjten zehntanjend Exemplare hinaus
gewinnt, vechtfertint es allein noch nicht, diefem Buche eine tiber feinen pädagogiſchen Wert meit
binansnehende Bedeutung nachzurüßmen Da es Tich indes um „Grundzüge der deutichen
Yitteratingeichichte handelt nnd wor einzelner, höchit gangbarer Yeiltungen und unzähliger An—
länfe die Zahl auch nur Gramchbarer Grundriſſe und Yeitfäden auf diefem Gebiet gering üt,
da eine gleichmäßig Für die ganze Entwidlungsgeichichte der Litteratur zuverläſſige, innerlich
veiche, äußerlich knappe Daritellung nicht nur für die Schule, fondern für die weiteſten Kreiſe
unabweisbares Bedürfnis bleibt, jo bildet der Erfolg von Klees Buche eines der wichtigſten
Zeugniſſe dafür, daß man ſich mitten im ‚Fieber der Zeit nach Gefundung und mitten in Der
Verwirrung nach feiter, charafterboller Stlarbeit zu febnen beninnt. Das kleine, aber gebattreiche
Werk Klee's iſt allfeirig um feiner geiitigen ‚grifche, um det Wärme feiner nationalen Geſinnung.
der Bejtimmtbeit und Schärfe feiner Irteitsfrait md der Blajtit feines Stils willen als cine
ungewöhnliche Erſcheinung anerfannt worden. Auch wer nur darin blättert und das feite Gbe=
füge, die Hare Erkenntnis aller Uebergänge und Zuſammenhänge nicht gewahrt, ſieht doch als
bald, dar bier eine glüdliche Beberrichung des ganzen weitichichtigen Stoffes und ein ficheres
Unterſcheldungsvermögen für das Wichtige und Umwichtine ſich in gedrängtem und jchlagendem
Ausdruck geltend macht. Für die Zwecke der Schule werden vermutlich und wenigſtens in den
meijten Fällen die Kapitel „Althochdeutſche Zeit“, „Mittelbochdentiche Seit” und die drei eriten
Dauptabjchnitte der „Neubochdeutichben Zeit” allein Berwertung finden, gleichwohl legen wir dem
vierten Dauptabichnitt, der „die moderne Dichtung bis zur Gegenwart“ bebandelt und dem
Zelbjtunterricht dienen joll, enticheidende Bedeutung Für dem Wert des Buches bei. Denn to
vortrefflicdh Klees Meberficht der mittelalterlichen deutſchen Dichtung oder feine Charakteriitif des
großen Jahrhunderts der Haffischen und romantischen Dichtung auch iſt, fo feit und überzeugend
der Verfaſſer feine Ueberzeugung bei jtreitigen ‚ragen kundgiebt, mit jo unbefangener Empfindung
er die lebendige Dichtung von der papiernen Yitterattır, die Urfprünglichleit von der Nachahmung
trennt, bier ftebt er werigitens nicht völlig alle, bier fehlt es nicht an umfafienden umd glück—
lichen Vorarbeiten, die dem Verſaſſer der „Grundzüge“ die Arbeit erleichterten. Schon in den
Parapraphen, die die Zpätromantif, die Borlänfer der realiſtiſchen Dichtung, das junge Deutſch—
land und die politiiche Vyrik bebandeln, und noch mebr in dem ganzen legten Hauptabſchnitt
mus die jelbitändige Kenntnis der neueren Poeſie, der belle Bid und gute Takt des Berfafiers
Büchericeban 417
aufrichtig bewundert und jein ‚zührertalent gerühmt werden. Gs kommt hier nicht auf Boll
jtändigfeit und nicht daranf an, ob dem genammten Namen noch einer oder der andere mit Hecht
hinzuzufügen wäre, jondern darauf, daß „der umparteitiche Führer den ernſten Willen bat,
die Wege zum Echten, wahrhaft Bedentenden zu weiſen“. Da Klee mit allem Recht das Haupt—
gereicht auf die lebendige poetische Perſönlichkeit, ihr Berbältmmis zur Natur amd ihre Fünftlerifche
Prägung legt und dem dichteriichen Gefühl fir die große Weltwirkticbkeit, der Darſtellung des
geſunden Menichentums und der Eraftvollen That den Vorzug vor der noch jo virtuojen
Zchilderumg des Zuſtändlichen und der bloßen Berſenkimg in Stimmungen giebt, jo wird der
rückſchauende Yitterarbiitorifer unwillkürlich zum Mitvorkimpfer für die Neuträftigung und den
Rengufſchwung ımierer poetifchen Yitteratur. Das Verdienſt der „Grundzüge geht alio weit
über das Perdienit eines guten Schulbuchs hinaus und gejellt den Verfaſſer den Geiftern zu,
die den feiten Zufammenbang der poetiichen Schöpferfraft mit dem Yeben unſeres Volkes erfamıt
baben und mejentlich fördern. Adolf Steru.
Wie ift unfere männliche Jugend von der Entlaffung aus der Uolksibule bis zum Eintritt in
den Beeresdienft am zwedmäßigiten für die bürgerlidhe Gefellldhaft zu erziehen? Gekrönte
‘preisichrift von Dr. Georg Kerfchenfteiner, Ztadtichuirar und Königl. Schulkommiſſar in
München. 78 2. Carl Billaret, Erfint.
Die vorliegende Schrift iſt durch ein Preisausjdweiben der Rönigl. Akademie gemeint:
nüsiger Wiflenjchaften zu Erfurt bewvorgerufen. Auf das Preisausſchreiben gingen nicht
weniger als 75 Abhandlungen ein, ein augenfcheinlicher Beweis, mie viel Anterefie das Problem
erwerte. Der Breis wurde einſtimmig der obigen Schrift zuerfannt. Die verdient ibn im der
That durch die inftematifche Art ihrer Antage, die Weite des Geſichtskreiſes, die Beſonnenheit
des Urteils, die Zweckmäßigkelt dev gemachten Vorſchläge. Der bier entiwidelte Blan der ftaate-
bürgerlichen Erziehung beiteht vornehmlich darin, „die mannigfach vorhandenen Erziebungskräfte
aller Art in entiprechender Weife zu jtärten, fie nach dem gleichen bewußten Ziele zu richten
md wo möglich zu einen feſten Kräfteſuſtem zu verbinden”. So ſehr dabei dem Verfalier die
Einrichtungen dev anderen Kulturvölker gegenwärtig jind, fo knüpfen feine Borjchläge durchaus
an die deutjchen Verbältniiie am und eritreben das bei ums Mögliche. Worin aber näber jener
Plan beitebt, dag möchten wir die Peer lieber in dem Buche ſelbſt nachzuſehen bitten. n.
Nauticus, Jahrbuch für Deutichlands Seeintereffen, 1901. Berlag von E. 2. Mittler & Sohn,
»erlin.
Die Reröffentlichungen des fachtundigen „Nautiens“ haben fchon feit Jahren die Aufmert-
janıkeit der Fachwelt und flottenfreundlichen Kreiſe auf fich gelenkt. Er evariff bei dem parlas
mentarischen Kampf um das erite Flottengeſetz im Jahre 1808 zum evitenmal das Wort, um
in Form von Zeit: Streitfrageichriften (Altes und Neues zur Flottenfrage, Neue Beiträge zur
‚slottenfrage) unjer damals noch „meerfremdes” Publikum über Deutichlands Seeintereilen imd
maritime Aufgaben aufzuklären. Seitdem bat fich die Kenntnis maritimer Angelegenheiten mit
Kiefenjchritten in unferer Nation Bahn gebrochen, und damit bat auch Nanticus in richtiger Er:
kenntnis des zeitlichen Bedürfniſſes das agitatorifche ‚yeld verlaiien und fich der Herausgabe
händiger Nahrbücher zugewandt, die wir als ein in Deutichland einzig daſtehendes
Sammelwerk für die objektive Behandlung maritimer und mit ihnen in Zulanunenbang
jtebender politifcher, geichichtlicher und mirtichaftlicher Aragen anerkennen müſſen.
Das diesjährige, vor kurzem erichienene Nabrbuc bringt in der That eine Fülle hoch—
interefianten und dabei muſterhaft behandelten Stoffes. Was gegen die früheren Berdffent-
lichungen bejonders auffällt, it das Eingehen auf friegsmaritime Fachwiſſenſchaft, das
man in früheren Jahrbüchern vermißte. Wir erfahren jetst zum erjtenmale Zuverläſſiges und
Ausführliches über die Entwidelung unſerer eigenen Marine und die ‚sortichritte der fremden
Seemächte; die gemachten Angaben find durchaus zuverläfiig und an feiner anderen Stelle
veröffentlicht. Die im Vormort ausgefprocdene Abficht des Herausgebers, auch im künftigen
Jahrbüchern ſtändig die Entwickelung unſerer Kriegsmarine, die Fortſchritte fremder Kriegs—
marinen und die Fortſchritte der dentſchen Handelsmarine einer eingehenden Daritellung zu
318 Bücherſchau.
würdigen, können mir nur mit Freuden begrüßen. Nauticus wird ſich um fo mehr Freunde er—
werben, wenn feine Berdffentlichungen von vornherein ſich auf Gebiete eritreden, über die fich
der Late meiſt nur an ber Hand unvollftändiger, ihrem Werte nach unlontroflierbarer Berichte
ber Tagespreile verjtändigen kann
Aus dem jonftigen, überaus vieljeitigen und interefjanten Inhalt bes Jahrbuchs möchten
wir noch als beionders bemerkenswert den Aufſatz „Die chineftfche Frage” hervorheben. Er
entitammt zweifellos der Feder eines unferer bedeutenditen Chinafenners und bringt höchſt be>
achtenswerte Auslaſſungen über die innere Politik Chinas, vor allem die Nefeemfrage, ferner
über die hauptiächlichiten Wirkungen der europäifchen Aktion und die Ausfichten für Schantung
und Kiautſchou. — Die chineftiche Frage wird in Zukunft fortgefeßt eine erhebliche Rolle in
unferer auswärtigen Wirtichafts« und Handelspolitik fplelen. Dort im fernen Dften liegt der
zukünftige Mittelpunkt unferer überfeeifchen Intereſſen. Wir werden Nauticus zu Dank ver-
pflichtet fein, wenn er aud in fommenden Jahrbüchern mit gleicher Sachkenntnis die ſich
anbahnende Löfung der chineftichen Frage und die weitere Entmidelung unſerer dortigen Inter—
eſſen behandelt.
Oskar Weißenfels, Die Bildungswirren der Gegenwart. Berlin 1901. Ferd. Dümmler.
An der That, über alle äußeren Wirren der Gegenwart, bie politiſch-internationalen und
die nationalewirtfchaftlichen, geben noch diejenigen, welche als die „Bildimgämwirren” im Titel
diefes Buches bezeichnet find: fie gehen darüber, jofern fie wohl noch ſchwerer zu entwirren find.
Es iſt Schon nicht wenig, fie zu erkennen, nach ihrer Entitehung, ihrer Verzweigung und Durch:
freuzung fie zu verfolgen; die Meiften finden die Sachlage und namentlich die Abhilfe einfacher,
als fie it. Offenbar iſt aber mit dem wirflihen Durchſchauen ſchon eine Art von Entwirren
gegeben. Der Berfafler, erjt unlängit mit einem wertvollen Buche über „Sternfragen des höheren
Unterrichts” (Berlin, R. Gärtner) bervorgetreten und überdies in der Welt ſeiner Fachgenoſſen
feit lange als einer ihrer feinfinmigiten und durchgebildetſten Vertreter hochgeichätt, bat ſich er—
freulichermeife diesmal an einen viel tweiteren Kreis gewandt und, um es kurz zu jagen, uns
ein Buch von hohem Werte geichentt, das vielen Suchenden Stlarheıt geben kann und deilen
Berbreitung dringend zu wünjchen ift. Es fpricht bier eine bochgebildete Perfönlichkeit, ein feiner
Geiſt, ein geflärter Sinn, es thun jich ein weiter Gefichtsfreis, vieljeitige Beobachtung und
jelbjtändiges Denken fund. Was ift Bildung? mas ift fie ihrer idee nach? was ijt fie dem
gegenwärtigen Gejichlecht geworben? was follte ſie den Beiten bleiben? tie wird jie bewahrt
und gewonnen? Kann wirklich die förperliche Ausbildung die gleiche Würde beanjpruchen tie
die des Innern? In weldhen Sinne nur ift die Harmonie der beiden noch möglich und anzu—
itreben? Wie arbeitet man dauernd an jeiner Zelbitbildung? Wie wird die rechte Art der
Borbildung für diefe gewonnen? Welche Anſprüche an unfere höheren Bildungsanftaften find
zurüdzumeijen, welche erfüllbar? Das it aus der ‚zülle des Bebandelten eine Reihe der Daupt-
fragen. Die Ausführung ſelbſt aber läßt alles viel origineller ericheinen, als dieſe zuſammen—
iaffende Formulierung andeutet. Des Verfaſſers Standpunkt liegt auf ungewöhnlicher Höhe;
er wird manchen modernen Yefern meit von den durch die Zeit gebotenen Wegen abauliegen
scheinen. Das Buch möchte in der That retardierend wirken, oder doch EForrigierend, und vor
allem vertiefend. Zur Yeltüre regt auch die edle und nicht zu jchwierige Sprache an, in der
herrliche Bilder ſich zahlreich folgen und viele Einzelftellen al8 Uphorismen berausgehoben jehr
gefallen würden. Ein gelegentliches Zurüdfommen auf den Anbalt möchten wir uns denn audı
ausdrücklich vorbehalten.
Berlin. W. Münd.
Gverhe in der Epoche feiner Vollendung von Otto Barnak. Wweite imgearbeitete Auflage.
Leipzig, J. E. Dinrichsfche Buchbandlung, 101. XI. 316 2.
Je leichter in der Behandlung Goethe's der Denker hinter dem Dichter zurüdtritt und je
öfter eine Üüberreiche Detailarbeit den Blick für das Ganze neführder, deito willlonmmener wird
eine Darjtellung fein, welche jeine geſamte Denkweiſe ımd Weltbetrahtung in anichaulicher
- Rücherfchau. 319
und feilelnder Weife vorführt. Das aber thut das Werk von Prof. Harnad. Als Epoche der
Vollendung gilt dabei die Zeit feit 1805, indem nad) dem Tode Schillers Feine erheblichen Ver—
änderungen mehr in Goethe vorgegangen find und die noch folgenden 27 Jahre einen jo eins
beitlichen Charakter, einen ſo gleihmähigen Ton befiten, daß ſich diefer Zeitraum nicht wohl
teilen läkt. Indem aber die Beichräntung auf diefe Epoche dem Verfaſſer ein einheitliches Bild
ju bringen gejtattet, hat er keineswegs die frühere Zeit außer acht gelaffen, fondern durchgängig
die inmere Entwidlung des Mannes vergegenmwärtigt. Die Anordnung des Stoffes iſt jo, daß
nach einer kurzen Orientierımg über die Grundlage Goethejcher Denkweiſe die ethiichen und
religiöfen Anjchauungen, die Naturbetrachtung, die Kunſtanſchauung, die Betrachtung der, poli-
tifchen und fozialen Verhältniſſe erörtert werden und fich fchließlich alles in einen Rüdblid zus
jammenfaßt. Möglichit fommt dabei Goethe felbit zu Worte, und zwar entjpricht es der Auf:
gabe, dabei weniger die poetischen Werte als die Sprüche und Profafchriften, ſowie Briefe und
Seiprächsaufzeichnungen zu verwerten; jo wird manches höchſt wertvolle Material beigebracht,
das weiteren reifen fait unbefannt ift. Nie aber wird die Unterfuchung eine bloße Materials
fanımlung, überall fügt der Verfafier das Mannigfache in feite Zuſammenhänge und jtellt es in
eine aufhellende Beleuchtung. Er will dabei nicht ſowohl über Goethe reflektieren, als ibn felbit
in feiner Eigenart geben und im Zufammenbange der mweltgefchichtlichen Arbeit verjtehen, er bat
diefe Aufgabe in vortrefflicher Weife gnelöjt. Die und da mag man fic zur Abweichung ge
trieben fühlen. Mit gutem Grunde hebt der Verfaſſer die mannigfachen Beziehungen Goethes
zu Sant hervor, darüber gelangt der fundamentale Gegenjas zwiichen beiden Männern nicht
voll zur Geltung. Auch möchten wir meinen, daß, mern eine Eigentümtlichkeit zeichnen zugleich
eine Grenze bezeichnen heißt, dieſe Grenze gegen andere Vebensmöglichkeiten wohl jchärfer hätte
markiert werden fünnen. Leicht entfteht fonft die Gefahr, dat Goethe wie ein allgemeingültiges
Borbild erjcheint, was er nicht fein will umd nicht fein kann. Aber derartige Abweichungen
hemmen feineswegs die lebhaftejte Anerkennung des Buches, das ebenfo durch jeinen ‚inhalt
fördert wie durch die geichmadvolle Darjtellung feiielt. n.
Deutihe Arbeit in Böhmen. Sulturbilder von F. Adler, Ad. Badımann, Kid). Batta, Joſeph
Bendel u. ſ. w. Herausgegeben von Bermann Bachmann, Perlin, Concordia Deutfche Wer:
tagsanjtalt. 1900.
Dieſes Bud führt uns in einer Reihe von Cinzel-Darjtellungen unter der Leitung
Hermann Badımanns, des Chefredakteurs der „Voſſ. Itg.“, in großen Zügen ein Bild des
gegenwärtigen Standes der deutichen Kultur in Böhmen vor: einerjeits joll damit die nationale
Widerſtandskraft der dortigen Deutſchen, andererjeits den Deutichen außerhalb Böhmens das
Peritändnis für den Erbaltungsfampf und die Teilnahme für die Geſchicke der Volksgenoſſen
gewedt und gejtärkt werden. Das gejdhlojiene deutiche Spradigebiet in Böhmen wird von
G. Laube, Die Entmwidelung und Art der deutjchen Siedelungen von Y. Schlejinger, Die
itaatörechtlichen Beziehungen Böhmens zu Defterreich und zum Deutichen Reiche von A. Badı-
mann bdargeitellt; weiter werden bebandelt: Das deutfche Rolkstunm in Böhmen (Ad. Haufien),
Die deutfche Pitteratur in Böhmen (W. Toiſcher, Alfr. Klaar, R. Fürft), Deutiche Kunſt
J. Neuwirth, F. Adler) und Deutfche Tonkunſt Batka), Bühnenkunit H. Temweles), Wiſſen—
ihaft Ph. Knoll, Das Schulmefen (N. v. Kraus), Induſtrie (J. Grunzel), Kunſtgewerbe
'Bazauref), Handwert und Dausinduftrie (KH. Koſtka), Adel, Bürgertum und Bauernitand
J. Benbel), Kurorte (9. Kiſch), Das deutiche Prag (Alfr. Klaar). Die Abhandlungen find
fachlich gehalten, fie juchen das Volk bei der Arbeit, nicht beim Streite auf. Aber „beiliger Zorn“
md „gerechte Erbitterung” über die Bedrohung des Deutichtums in Böhmen klingt doch mit
herein. Die Sache jpricht genug für fich jelbit: jeder Aufſatz bemweiit es, und H. Badımann betont
es in jeiner vortrefflihen Einleitung ausdrücklich, daß dbeutfcher Idealismus und Arbeitsfleiß es
waren, bie frühere Wildnis zu der foftbariten Perle in Habsburgs Krone gemacht haben, das
alle Kultur in Böhmen gewijlermagen die Marke „Made in Germany* trägt. B.
An vitteraturgeſchichten von allerlei Umfang und Güte iſt feın Mangel, und es ſcheint
dem Abiate nach zu ſchließen, wirklich ein Bedürfnis darnadı vorhanden zu fein. Ja, fait habe
20 Bircherichan.
ich unſer Bolf im Berdacht, dat es lieber über feine Dichter, als diefe jelbit Lieft, was nerade
fein gutes Beichen für die Gegenwart wäre, oder ein Beweis, daß wir vielleiht jchon von
Nugendunterricht an litterariichekritifch verborben worden find. Mit Borliebe über etwas ſchwatzen,
das man aus zweiter Hand kennen gelernt bat, ift feider heutzutage eine, insbejondere durch Schuld
unferer Zeitungen meitverbreitete Unart; umd jo könnte man zu dem MWumjche kommen, da
unſer liebes Publikum von den vielen Yitteraturgeichichten, deren eine vor Jahr und Tag ver«
brochen zu haben, auch ich mich ſchuldig befenne, gar feine läſe, jedenfalls nicht jolche, welche
ftatt in die Tiefe unſeres dichteriichen Schrifttums zu führen, nur das vberflächliche Geſchwät
darüber befördern. Aber wir verlangen von einer beute gejchriebenen Yitteraturgejchichte mebr;
nämlich, daß fie gefchrieben werde aus dem nationalen Peben und vebenszuſammenhang heraus.
Dar ſie dadurch den Ztols auf unfer deutfches Volkstum jtärft und das nationale Gewiſſen
ſchürft, wird fich bei einem charattervollen deutichen Verfaſſer von jelbit ergeben. Und wenn fie
nebenbei allen den überflüſſigen Ballait über Bord wirft, den andere, auch populäre, Yitteraturz
nefchichten immer noch mit fich ichleppen, und werm fie endlich lesbar iſt für den Sebildeten, der
überhaupt Sinn für unfere Yitteratur bat, fo verdient fie, in weiten Streifen gelejen zu werden,
ohne daß man fchädfiche Nebenwirkungen befürchten müßte
Und im dieſem Sinne fünnen mir aufs wärmſte empfehlen die @efchichte der Deutichen
Eitteratur von Adolf Bartels (Veipzig, W. Avenarius, 1901, von der der erite Band (von den
Anfängen bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts, vorliegt. Ein weiter und Schlußband
wird die Yitteratunmefchichte des 19. Jahrhunderts bringen. Iſt das Werk. das einen bedeut-
jamen Fortſchritt in der Pitteraturgeichichtichreibung bedeutet, einmal vollendet, ſo werden wir
eingebender auf das Buch zurückkommen, als bier möglich üt, wo es ſich uns mur darmn handelt,
auf ein wirklich nationales Werk aufmerffam zu machen.
"impfen, Dr. Richard Weitbredt.
Deutihlands Rubmestage zur See. Zwanzig Bilder aus der deutichen Seefriensgefchichte in
Kupferlichtöruden mac Originalgemälden. Bon Marinemaler Prof. Hans Peterfen. Mit
furzgem Tert von Picendmiral a. D. Reinhold Werner. Verlag von N F. Yebmam.
München.
Diefer prächtige Wandjchmued wird bei den Pejern unſerer Monatsjchrift ganz befondere
‚sreunde finden, ſoweit diefe großen und ſchönen Bilder ibnen noch wicht befannt find. Die
Blätter find auch einzeln zu beziehen (4 M. gerahmt 8 M.ı; das Ganze erjcheint in ſieben
referungen zu 5 M., fo daß die Sefamtmappe 40 M. Folter. „Der Untergang des Iltis“,
„Baul Benedes Steg über die englifche Flotte“, „Eroberung Novenbagens durc die Danfa‘,
„Kampf brandenburgifher und ſpaniſcher Schiffe bei Zt. Vincent“, „Gefecht bei Jasmund“,
„Deutſche Flotte in Kiautſchou“ u. ſ. m. — fie find von den Wänden unferer Zimmer berab ein
terichtender Beweis, wie viel Kraft zur See das Deutichland der Hanfa, das brandenburgiice
Deutfchland und endlich das neueſte Dentichland bereits entfaltet haben und von nun ab evit recht
entfalten werden. Much zu Feſtgeſchenken empfebten fich die vortrefflih ausgeführten Bilder ganz
beionders. — Aus bdemielben nationalen erlag laſſe man ſich ein Verzeichnis der dort ers
ſchienenen illuitrierten „Paterländtichen Jugendbücherei“ fenden: man wird für die veifere ‚\ugend,
gerade in unferen nationalen Streifen, viel Schönes und Wediegenes darin finden. v.
Neuerſchienene Bücher für die Bücherſchau bitten wir an die Verlagsbuchhandlung einſenden zu
wollen. Beſprechungen behält ſich die Redaktion”vor.
Yahbrud verboten. — Alle Rechte, insbefondere das ber Ucberfeung, norbehaltın,
Berlag von Ulexzander Dunder, Berlin W,5. — Trud von ©. 5. Hermann in Berlin.
Kür die Hebaftion verannwortlic: Ihr, Rulius vVohmever, Berlin: Charlotenburn.
Dem an) — der e Daxteil.
Anna 2 — ale muß
Morgen- und Abendausgabe,
Derlag des Bibliographifchen Inftituts in Berlin und £eipzig.
Bezugspreis: Bei den Poftanftalten des Deutſchen Reichs und Öfterreih-Ungarns vierteljährlich
5 Mark. — Monatliche Sonderbeftellungen fönnen zum Preife von je ı Marf 67 Pf. bewirft werden. |
Mit direfter Poftverjendung nad dem Ausland foftet die, Tägliche Rundfhan" einſchl. Porto
vierteljährlih 15 Mark — nad den deutjchen Schußgebieten 10 Marf.
In den einundzwanzig Jahren ihres Beftandes |
ift die
„Tägliche Rundichau“
das — Eichlingsblatt — der gebildeten
nationalen Kreife Deutfchlands gemworden,
und fie hat beionders in der letzten Seit nicht nur
ihren Ubonnentenftand — der faft alle Berliner
politifben Tagesblätter um ein Bedeutendes über-
fteigt — nm mehrere Cauſend neuer £efer ver-
mehrt, fondern auch eine unbeftrittene politifche
Geltung erften Ranges gewonnen.
Unabbängig nach allen Seiten, vornehm
im Ton und jachlich im Urteil, fucht die „Läg-
libe Rundſchau“ Plärend und fammelnd für die
fittlihen Jdeale des Dentfchtums fomohl als für
den Dölferberuf unferer Nation einzutreten. Sie
befürwortet eine ſelbſtbewußte und weitichauende,
aber in ihrem Dorgehen nüchterne und befonnene
Realpolitif und war der Berold unferer Kolo-
nial» wie unſerer $lottenpolitif, die jie beide
auch thatfräftia hat in die Wege leiten belfen.
In der inneren Politif betont die „Tägliche
Rundſchau“, getreu ihrem Wahlfprucde: „Dem
Daterlande, nicht der Partei, das Gefamtinter-
effe gegenüber den Fraktionsanſprüchen, ftellt ſich bei
fonfervativer Brundgefinnung jedem Anfturm auf
unfere Beiftesfreiheit wie jeder undeutichen
Strömung entgegen und vertritt bei ſcharfer
Befämpfung der Umfturzpartei den Gedanken der
ehrlihen und befonnenen 5Sozialreform.
An die gebildeten Kefer mit eigenem unbe-
fangenen Urteil wendet fi die „Läglihe Kund-
ſchau“, nicht an die führerbedürftiae Majfe. Aus
den Reihen der Gebildeten unferer Nation ift ihr
daher au in immer fteigendem Maße der Kohn
geworden, daf fie die „Tägliche Rundſchau“ als
ihr Blatt anerfennen und aus ihren Neihen das
Wort von der Rundfhaugemeinde hervorat-
gangen ift.
eben ihren fadlichen Dorzügen , die wieder:
hoit von berufenfter Seite öffentlich und in ehrend-
fter form anerfannt worden find, darf ſich die
„Tägliche Rundſchau“ ferner rühmen, eine der
reichhaltigften deutjchen Zeitungen
zu fein; ihr Bezugspreis bleibt tro der Neuerung,
nach welcher unfer Blatt nunmehr
— zwölfmal wöchentlich —
ericheint, der alte, fo daß die „Tägliche Rund-
ſchau“ nicht nur die vornehmfte, fondern aud
die billigfte aller zweimal täglich erfcheinenden
großen politifchen Tageszeitungen tit.
Probenummert werden fofort nad Beftellung umfonft und poftfrei 7 Tage hinter.
einander geſandt von der Beicäftsftelle der
„Täglichen Rundfchau” in Berlin SW. 12,
Simmerftraße 7-8.
Jahrgang 1901/2. Inhalt des Tlovemberheftes. Heft 2.
Deufide Monatsicriff
für das geiamte leben der Gegenwart.
Serausgegeben von Julius kohmeyer.
Seite
keitipruc von Rihard Wagner . . » 2 2 2. ae An |
Adolf Wilbrandt: Große Zeiten. Erzählung. (Fortiegung) a a re Te 161
Johannes Reinke: Der Menic lebt niht vom Brot allen . . 2 2 2 2 nm en 181
Carl Weitbredt: Wenn ein Volk aulwaht — » >» 2: 2: En mn ren 192
Karl von Stengel: Die Friedensbewegung und nationale Gelinnung - : : » 2 2 2... 193
Karl Ernit Knodt: Abenditimmung im Serbit. - - » 2: 2 22 2m. sah ——
Freiherr ©. von Zedlit und Neukirc: Erinnerungen an Miquel . » » 2 2 20m: 208
Julius kohmeyer: Gerbiklang : 2 200 0 nn 216
Altred Kirchhoff: Das Meer im Leben der Völker und in der Machtitellung der Staaten . . 217
Frig Lienhard: Gruß an das Meer - » 2 2 2 2 0 0 nr ren 227
Max Sering: Die deutidıe Bauernicalt und die Bandelspolitik -. - © > 2: 2 2 22 n0u 228
Karl Dove: Gebete der Buren . » 2 2 un vn nenn a A 241
fritz Hlenhard: Die Gemütsmacht der deutihen Fru. . . . . a eg . 242
Frida Schanz: Gedihte -. » : 2 2 2 2 20. A ea ea er 247
Adolph Wagner: Bankbrücde und Bankkontrollen. 1L.. rar ne ER er <E 248
“Julius Lohmeyer: Deutihe Sprüchee. 258
5. von Wißkmann: Meine Kämpfe in Oftafrika,. i. Beitrafung der Wawemba-Sklavenräuber 259
Theodor Schiemann: Deutihland und die großen europälfhen Mähte . . . ... . . 267
Wilhelm von Maifow: Zur Zolltarlibewegung : : 2: 2: nm mn nen 274
Karl Ernit Knodt: Der Beimuf . 2 2 2 2 nenn he ae ge 280
Paul Dehn: Weltwirtihaftlihe Umihau . > 2 20mm nn en 281
Jullus Lohmeyer: herbltualddd.— 292
Paul Dehn: Deutichtum Im Auslande . . . » 2: 2 22 20. a a
Reinhold Fuchs: Auf dem Grenzkamm . : : 200 nn nn 300
Carl Bulfe: Don deutlicher Kritik und vom deutihen Rman . . . 2 2 2 2 nn. 301
Reinhold fuchs: Herbliesſrot. 307
keopold Schmidt: Mufikalikhe Rundſchau. I. Bekenntnliſe des Muſſktelerenten 308
Büderichau von Adolf Stern, Ridard Weltbreht, Wilhelm Müänd, Karl Berger,
EISEN EA a ee 314
Die „Deutihe Monatsichrift“ erkheint in Seiten von 160 Seiten Umfang
zu Beginn jeden Monats. Der Abonnementspreis beträgt:
vierteljährlich im deuficten und ölterr.-ungar. Poitgebiet . . . . Mk. 5,—
pr im Weltpoitvereins-Gebiet . . » 2 2 2 2 m nm 6,85
jährlich im deutfichen und ölterr.-ungar. Poitgebiet . °. . x: 22. 8,-
„ Im Weltpoitvereins-Gebiet . . . „ 3,—
Der Preis einzelner Hefte IMIk. 2,—; im Weltpoitvereins- Gebiet „2,50
Die „Deutiche Monatsichrift” iit zu beziehen durdı die Budıhandlungen des In-
und Auslandes, die Poitanitalten (Poitzeitungsliite für 1901 No. 18464) oder die
Expedition, Alexander Dunder, Berlin W. 35, küßowitr. 43. Prospekte gratis.
a un
Deutf che Monatsichrift
für dassesamte Leben der Gegenwart
N
FERAUSGEGEBEN von
JULIUS LORMEYER
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| BERLIN
| | A) VERLAGVonALEXANDER DUNCHER
— | |
Jahrgang 19012. Inhalt des Dezemberheftes. Heft 3.
Deufidıe Monatsichrift
für das gelamte Leben der Gegenwart.
Berausgegeben von Jullus kohmeyer.
Seite
keitiprud von Beinrih von Treitihke » » : 2 0 m m rn —— 1
Adolf Wilbrandt: Große Zeiten. Erzählung. (Schluß) . a — 321
Frig blenhard: Sötlihe Fahrt‘ . © 2 0 0 2 er ea .... 343
Theodor Lindner (Salle): Die Entulckelung des deutſchen — FE 34
Julius kohmeyer: Deutſche Sprüde . . . . ; ER. - 7
frig Lienhard: Die Gemätsmadt der deutichen Frau (Schluß) ar at
frida Schanz: Großitadtabend . 2 2 20 nu m rn ee |
M. Wilhelm Meyer: Die gemeiniamen Züge Im Weltenbau. | Fe ER ——— 362
Frig Lienhard: Maric der Seekadetten . . . .». . Pa Fa a r |
Alexander von Peez: Der engliiche Zwilcenhandel als Deutichenfeind . IE NE GRFT FRE, : ..
Karl Dove: Auf füdlihem Meere . . x 2 2 2 2 0. er
Karl Dove: Die künftige wirtichaftlihe Bedeutung Südweitafrikas Hr Deutfchland u 0. Bl
Martin Srel: VKelhnachtennn. een — 1—
Adolt Bartels: Goethe und Echermain. 0 20.“ a ee nen. 392
Paul Friedrid:; Die Großitadt ſchlaittt. en. 3
3. Norden: Aus dem lieben der Bauptitadt - » © 2 2 nn m na \\'
Karl Panlelou: Sellg Und. Mo
Theodor Schlemann: Ilonatsſciau aber auswärtige Poltik - -. © 2 2 2 2 2 42411
W. von Mallow: Monatsihau über innere deutihe Pollik - . - 2 2 > 2 2220. M8
Beinrih Dierordt: Die Tauben der Denur . . . A Ta ae es er . 423
Paul Dehn: Weltwirtfhaftlihe Umihau - 2 2 mon en . 42%
Dictor Blüthgen: Berbltitimmung -» » x 2 2 2200. a de .. 434
Paul Dehn; Deutichtum im Buslande. -. - . >: 2 2 2 Er m nn 82133
Pictor Blüthgen: Kinderos . . . an Eee el ae a a ee un . MO
Garl Bulie: Kitterariiche Monatsberichte a a nen es, Eee Gen. Aut ne Ja 4
eo Bulle: Es ut in Bed . nen nr . . 451
Max Marteriteig: Vom deutihen Theater - » : 2: 2 Km m nr ne 452
Paul heude: Ueberliht über den augenbliklihen Stand der Elektrotechnik ee a ac, 459
Büdericau von Otto Siebert, Th. Sciemann, Th. Adhelis, Karl Berger, Oskar SGorn,
Julius Lohmeyer, Julius Stinde, Ridard Weltbredt, Victor Blüthgen,
5. Montanus, Paul Dehn, K. Dove, Georg Böttidher, Karl Emmerid,
Otto Conrad, ©. O. Fels, F. Freiherr von Dinklage, K. Eberhard, N. Pichler u.a. 462
Die „Deutiche Monatsichrift” erſcheint in Heften von 160 Seiten Umfang
zu Beginn jeden Monats. Der Abonnementspreis beträgt:
vierteljährlich im deutichen und öiterr.-ungar. Poftgebit . . . „. Mk. 5,—
m im Weltpoltvereins-Gebiet . . » » 2 2 2 2 00000685
jährlih im deutichen und ölterr.-ungar. Poitgebiet . . : x: 2 u &,-—
„ Im Weltpoftvereins-Gebiet . . . 2 2 nr rn 425858,—
Der Preis einzelner Sefte Mk. 2,—; im Weltpoitvereins- Gebiet „ 2,50
Die „Deutiche Monatsicrift“ iſt zu beziehen durdı die Budihandlungen des In«
und Auslandes, die Poitanitalten (Poitzeitungsliite für 1901 Tlo. 1846.) oder: die
Expedition, Alexander Dunder, Berlin W.35, küßowitr. 43. Prospekte gratis.
Unermeblich find die neuen politijchen Aufgaben:
welche lich feit wenigen lahren unferem geeinien Lande
aufdrängen. Die deutſche Nation ift ihnen allen gewachfen,
wenn fie ibr Kaijertum in Ehren bält und fich nicht ab-
bringen läht von dem Gedanken der Monarchie, den kein
Volk je jo frei und fo tief verjtanden hat wie das unjere
Beinrih von Creii[dhke:
Unfer Reich 1886,
= Große Zeiten «=
Erzählung von
Adolf Wilbrandt. (Schlaf)
S war ungefähr eine Stunde ſpäter, Helmuth noch nicht wieder im Haus.
Marie hatte ſich, nachdem Reichthal mit Franz verſchwunden war, wieder in
ihr Wohnzimmer begeben, auf jeden Laut nah und fern gelauſcht, zuweilen auch das
Pochen ihres Herzens gehört; zuweilen atmete ſie für einen Augenblick erleichtert
auf: noch bin ih allein! Dann fragte fie fi wieder: Und was wird nun? —
Und mas ift gefchehn? — „Alles gut!" mar Reichthals letztes Wort. Und mit
Franz hinunter, hinaus ... So wußte wohl Helmuth nichts von Franz. Was
wußte er denn? Warum war er doch fortgeftürzt? Was wird er jagen und
fragen, wenn er mwiederfommt? — hr war zu Mut, als ginge fie zmifchen
lauter Abgründen, vor ihr, recht3 und links. Sie drüdte die Mugen zu.
Endlich kam ein jonderbares Gefühl, das fie nicht verftand; es zog fie vom
Stuhl empor und aus ihrem Zimmer fort. Ein banges, aber weiches Gefühl,
das einen Schmerz, aber auch etwas Bitterfühes hatte; es war eine Sehnfucht
darin; fie überließ fich ihm, wie im Traum. Im Ohr rührte fich dazu der Geſang
von vorhin: „Lieb Vaterland, magjt ruhig ſein . . .“ Ihr ward zum Weinen zu
Mut. Sie weinte aber nicht; etwas Stärferes, eine Kraft oder ein Wille war
in fie gefommen; fie nahm eine Lampe vom Tiſch und ging durch die Zinumer,
bis fie in das Arbeitszimmer Helmuths fam. „Lieb Vaterland“ — die Melodie
ging mit. Gott, mein Gott, dachte fie zugleich, ſich wieder in ihr Elend vertiefend,
— der du mich fo geihaffen Haft, jo umvernünftig, fo ſchlecht — es war eine
Thorheit — — verzeih mir die Läfterung. Laß mic, lieber Gift trinken, oder
was du twillft, und fterben! — Sie fah nun aber umher und ſah, wo ſie jtand:
im Zimmer ihre8 Mannes. Sie ftellte die Lampe auf feinen Tiſch. „Meines
Mannes!“ Die beiden Worte gingen ihr durch) den Kopf. Meines Mannes!
Wie mir das Elang, dachte fie, als ich mir's zum erſten Mal voriprad, in meinen
Mädchenphantafieen: dereint das Weib eines Mannes zu fein. Des einzigen
21
322 Abolf Wilbrandt, Grohe Beiten.
Menfhen auf Erden, dem man feine ganze Seele aufzufchlagen habe wie ein
heilige Bud; des Geliebten, des Beihüters, des Freundes — alles in dem
einen Namen. Es war mein Mädchenftolz, der Welt einft zu zeigen, wie
ich das verftünde. Immer „treu, wahrhaft und geduldig” fein: das war mein
Gelübde! — Und fo fteh' ich nun da. — — Helmuth! Helmuth! — O hätt’ft
du nur den rechten Willen, die Geduld gehabt, mid, dir zu gewinnen; ich war ja
nicht fo kalt, wie ich fhien. ch martete ja auf did. Warum ift denn nun alles
verloren — o mein Gott!
Sie ſank auf Helmuths Arbeitsftuhl, jtügte die Arme auf den Tiſch, den
Kopf in die Hände; fo ſaß fie eine Weile, den Thränen nahe, in tiefer, ſchauernder
Traurigkeit. Ein aufgejchlagenes Bud, fiel ihr in die Augen, zuerft ohne daß
jie'3 wußte; als fie aufmerfte, ſah fie, daß es die Bibel war. Verwundert nahm
fie e8 in die Hand; mitten unter feinen Kriegskarten und Zeitungen diefes ſchwarze
Bud! Sie blidte auf eine der offenen Seiten, eine Stelle war angeftrichen, fie
las: „Wer fi) von feinem Weibe jcheidet, der macht, daß fie die Ehe bricht...“
Beklommen ftarrte fie hin. Warum ftric er das an? Hatte er an Scheidung
gedaht? — Sie ſchlug um, die Bergpredigt endigte auf dem nächften Blatt;
einige Verje waren mit ftarfer Schrift gedrudt. „Und die Pforte ift enge,“ ſah
fie mit dem erſten Ylid, „und der Weg ift fchmal, der zum Leben führet; und
wenig ift ihrer, die ihn finden." Es klang in ihrem träumenden Ohr, als hörte
fie diefe Worte fingen, über die Straße herüber, von denfelben Stimmen, die
„Die Wacht am Rhein" gefungen hatten; alles floß zufammen, wie in ein Gefühl.
Der Weg, der zum Leben führet! feufzte fie auf, aber nicht mehr ganz ohne
Glauben und Mut. Der zum Leben führet! Ach, wer zeigt mir den Weg?
Weiter oben ftand noch fo ein Vers mit ſtarkem Drud. Ahr Auge fiel hin,
fie las: „Bittet, fo wird eud; gegeben; juchet, jo werdet ihr finden; Elopfet an,
fo wird euch aufgethan." Ahr ſchwoll das Herz, unmäßig. Leife fing dann darin
ein Zittern an. „Suchet, fo werdet ihr finden!” wiederholte fie vor fich hin; es
ward lautes Denken. „Ad mein Gott, warum fuch’ ich nicht? Den ‚Weg, der
zum Leben führe . . . Nur Ehre iſt Leben. Entehrung ift der Tod! Feſt
ftehn und treu‘ ... ‚Treu, wahrhaft und geduldig‘... Gott, Gott, lieber ewig
ungeliebt und unfelig fein, als veradhtet von diefem edlen Mann, dem ich mein
heilige Wort gegeben. Helmuth! Helmuth! — D hätt! ich nur den Mut, vor
ihm zu befennen! Bor feinem reinen, ftrengen, pflichtftolgen Blick bin ich jo ver-
zagt, fo feig. ®ott, was ſoll ich thun?“
Ihr Muge irete über den Tifch, über die Karten und Zeitungen; ein offenes
Briefhen lag dazwiſchen, halbverdedt. „Lieber Freund!” Tas fie. Es war Elifens
Schrift. Irgend eine Eleine Bitte, fchien’3; — ja, fie erinnerte fih. Das Billet
lag mohl fchon eine Woche da. Die bekannte fühne Schrift mit den derben
Strichen, die über ihren Buchftaben wie Fahnen ſchwebten . . . Die hatte Marie
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 323
einft ebenfo gemacht, dann ſich wieder abgewöhnt. Wenn ich wollte, dachte fie,
ich könnt’ es noch ...
Ein zweiter Gedanke durchbebte ſie. Wenn ſie heute, jetzt —! Nicht vor
ſeinem Aug' bekennen — aber an ihn ſchreiben — als käm's von Eliſe! — Die
Gefühle, Erinnerungen, Entſchlüſſe jagten ſich in ihrem Hirn. Eh' Helmuth heim—
kam! Es war vielleicht die höchſte Zeit! — Sie ergriff einen Briefbogen, der
ſeitwärts lag, tauchte die Feder ein, und auf Eliſens Schrift blickend, um treu
nachzumalen, fing ſie an zu ſchreiben:
„Lieber Freund! Als ih Sie damals —“
Ihr ftürzten nun doch die Thränen in die Augen; die Hand wollte nicht.
So in fremdem Namen, an ihn, an Helmuth, als wär’ fie nicht feine Frau! —
Aber ich bin's ja auch nicht!, dachte fie dann. Will's werden — wenn ich noch
fann! — Sie fuhr fi) mit der Hand über die Augen, darauf fchrieb fie weiter:
„Als ich Sie damald warnte vor Ihrer ‚gefährlihen Frau — zwei Wochen
iſt's ber; in meinem Garten — da fragten Sie mid, wie man denn diefe Frau
behandeln müffe, um fie gefund zu machen. Marie kam dazwiſchen. Heute jag'
ich's Ihnen, denn ich fühle, e3 ift meine Pflicht. Wenn Sie Ihre Frau ſich nod
retten wollen, fo feien Sie ein Mann, geben Sie ihr die Hand, fie zu halten.
Reifen Sie mit ihr ab, fo bald Sie können! — Elije."
Sie ftedte den Bogen in einen Umfchlag, befchrieb und ſchloß ihn und legte
ihn auf die offene Bibel. Dann ging fie; nur eben zur rechten Zeit. Sie hörte
die fnarrende Thür zur Treppe, und wie jemand, offenbar Helmuth, auf den
Vorplatz trat. Ahr Herz jchlug wie toll. Sie floh in ihre Zimmer zurüd.
+ *
*
Helmuth kam langſam, mit geſenktem Kopf. Draußen war ihm nicht wohler
geworden; in der ganzen Welt, ſo ſchien es ihm, war keine reine Luft. Er ſchämte
ſich, es ekelte ihm, daß er jo davongeſtürzt war, alle Haltung und Faſſung ver-
loren hatte wie die Weichlinge, die er verachtete. Was war aber mit ihr, mit
Marie? „Nur unglüdlich” — Reihthals Worte — „nicht ein Hauch von Schuld”.
Warum dann fo, jo verftört? Nur weil Reichthal feine „Berrüdtheit” vor ihr
ausgejchüttet? Wenn ich vor fie hintreten werde, dachte er und erzitterte, und ihr
fagen: heraus mit der Wahrheit! was werd’ id dann hören? — — In der Küche,
ſah er, war noch Licht. Er trat in die Thür. Dore ſaß am Tifch, die Emfige
nähte an ihrer jhadhaften Hausjade. „Sie noch auf?” fagte er. „Und nod fu
fleißig?"
Sie deutete mit der mageren, braunen Hand auf ihre Arbeit. „Das alte
Zeug, das hält ja nicht, Herr Profejjor. — Ich Hab’ auch eben noch einen
Schlummerpunfh gemadt für die gnädige Frau, wollt’ ihn ihr jet bringen."
„Herr von Reichthal ift wohl nicht mehr hier?“
21*
324 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
„D nein, der ift gleich nad) Ihnen fort! — Es find wohl wichtige Nach—
richten vom Krieg gefommen, Herr Profeffor?" — So hatte Dore ſich's zu:
fammengereimt, all da8 Kommen und Gehn im Dans.
„Wichtig? — Nicht gar fo ſehr. Auf die großen Schladhten warten wir ja
nod. — Gehn Sie nur bald zu Bett. Gute Nacht!“
Helmuth trat in jein Arbeitszimmer. Reichthal! Der Name ging ihm
wieder durchs Hirn, wohl ſchon zum hundertiten Mal. Er drüdte fich die Hände
gegen die Schläfen; ich kann ihn nicht haſſen, dachte er, kann ihn nicht veraditen;
ich fühl’ nur das Eine: Du, du haft die Schuld, warum Eonnteft du fie nicht
glüklih machen! — O was für ein Thor ich war, als ih um fie warb; und wie
glaubt’ ich klug zu fein. Aus PVerliebtheit kam ih, und aus Scham und Stolz
verbarg id) fie; und aus ihrer Achtung, hofft’ ich,. wird fchon Liebe werben; —
alles, alles Thorheit. Berflucht war diefe Ehe, denn fie war 'ne Lüge! — Der
hat fein Weib verloren, der es nicht glücklich machen kann. Ach hab’ Marie ver-
loren! id kann's nicht!
Er ging eine Weile hin und ber; dann jette er ji am Arbeitstifch nieder,
wie er ed gewohnt war; dort ftand die brennende Lampe noch. Auf der Bibel
lag das Briefen; er erkannte Elifens Schrift. Gleichgültigemehaniih riß er
den Umſchlag auf; die Gute, dachte er, fie ahnt nicht, mit wie abgewendeter
Seele ih das lefe! — „Lieber Freund!” fing er an. „Als ich Sie damals
warnte vor Ihrer gefährlichen Frau —“
Er las in fliegender Haft zu Ende. Dann ftarrte er auf das Blatt.
„Reifen Sie mit ihr ab, fo bald Sie können . . .“ So ftand es da. Wort für
Wort. Warum jchrieb Elife das? gerade heute? „Ich fühle, es ift meine Pflicht.“
Was wußte fie? Dder was glaubte fie? Wußte fie von NReichthal? — „Wenn
Sie Ihre Frau fich noch retten wollen... .“
Wie das Eingt! dachte er. Wenn man's gefchrieben vom Bapier herunter:
fteft; wenn die befte Freundin einem das jagt!
Er zerfnitterte den Brief. Er hob die Hand, um ihn auf die Erde zu
werfen; — es kam aber ein andrer Gedanke und hielt ſie zurüd. Der deutfche
Krieg! Auch was thun! Das bewegte ihn nun fchon diefe ganze Zeit.
Ein jeder follte thun, was er kann! — „Reifen Sie mit ihr ab, fo bald Sie
fönnen .. .“
Die Hand öffnete jich wieder, er jah wieder auf das bejchriebene Kleine
Blatt. „Seien Sie ein Mann —" ihm ſchien, die vier Worte ftanden größer
als die andern da. Ein Mann! Weniger al3 ein Mann konnte doch ein Mann
nicht fein. Nur nicht verzagen an feiner Pflicht! — Fort könnt’ ich wohl! ſchoß
ihm durch den Kopf. Meine Vorlefungen kann ich übermorgen jchließen, dann
bin ih am Ende. Die großen Ferien find da... Aber „To bald Sie können“,
ichreibt fie Warum nit fofort? Noch heute Naht? Bis Um? — Dort
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 325
ließ’ ich fie morgen allein. Ich führe wieder her. Uebermorgen mit ihr weiter.
Hilf dir nur, fo hilft dir Gott! — Meine Pflicht, meine Pflicht!
Eine Art von Seligfeit fam in feine wunde Bruft: die Freudigkeit des Ent-
ſchluſſes, die Befreiung von der dumpfen, wehrlofen Dual. Er ging mit großen
Schritten durchs Zimmer hin. Er ging an die Thür, die zu Mariend Gemächern
führte; „Marie! Marie!" jagte er halblaut, als jtünde fie dort... „Ich hab’ Dir
diefe Hand am Altar gegeben, Dich damit zu ſchützen und zu halten bis an
meinen Tod. Sch verfuc es! Das End’ weiß Gott!“
Er trat wieder an jeinen Tiſch, drüdte auf die Slode. Dore kam herein.
„Iſt meine Frau noch auf?” fragte er.
„a, Herr Profefjor. Sie geht in ihrem Zimmer auf und ab, ich hab’s
eben gehört.“
„Dann laff’ ich jie bitten, auf ein paar Augenblide herzukommen. Derweil
gehn Sie Hin und paden ihre Fleine Reifetafche; nur das Notwendigſte für eine
Nacht, wie in früheren Fällen, Sie wifjen ja.“
„Ah! Die gnädige Frau verreift?"
„Bielleiht. Sie hören dann mehr!”
Dore ging. Helmuth ichloß eine Schublade im Schreibtijh auf und nahm
Geld heraus. Weber fein tief ernites Geficht zog ein verwundertes Lächeln; ja,
ja, dachte er, das ift dieje Zeit! Da kommen einem Gedanken, die man jonjt
nicht kannte; man friegt einen hohen Mut. Man will aud feinen großen
Kampf! — Was wird fie jagen? — Einerlei. Meine Pfliht! Meine Pflicht!
Marie trat ind Zimmer. Ihre Bewegung, ihre Bangigkeit befämpfend
jagte fie fanft und ruhig: „Du haft gewünjcht?*
Er jah auf ihrem Geficht feine Spur mehr von der Aufregung, die es vor-
hin verzerrt hatte; die Augen blidten Ear und gejund. „Sa, ich hab’ Dich bitten
laſſen,“ fing er langjanı an, eine Hand unbewußt mit der andern reibend; es
war eine faft feierliche Spannung in ihm, die er nicht ganz unterdrüden fonnte.
„IIch fürchte aber jehr, dat Du ftaunen wirft. Wenn Deinem — Deinem Mann
nun der Gedanke füme, Di plötzlich, ſpät am Abend zu rufen und Dir zu
jagen: wir — verreifen noch diefe Naht, Du und ich, miteinander; aber der
Grund, warum, der bleibt einftweilen unausgeſprochen, und ich bitte Dich, nicht
danach zu fragen: nicht wahr, das würd’ Dich jehr befremden, Marie.*
Zu feiner Berwunderung ftand jie noch ebenfo da, wie vorher, ruhig Aug’
in Auge. „Bielleiht im erſten Moment,” eriwiderte fie. „Aber ich würd’ denken:
er bat jeinen Grumd, e8 nicht zu jagen —“ fie lächelte ein wenig: „und die Frau
bat ja dem Mann Gehorjam verjprocdhen. Und darum würd’ ich dann antworten:
gut. Thu nur, was Du willſt!“
Helmuth ſchwieg eine Weile vor Ueberrafhung. Gehorjam! Das Wort
hörte er von ihr zum erften Mal. Was für eine gefügige Weichheit war in fie
326 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
gekommen? Datte Neichthals Geftändnis die Pflichtgefühle, das Ehebewußtſein
in ihr aufgerüttelt? — Er faßte jih: „Aber Marie — es iſt nicht nur jo 'ne
Fabel, oder Hypothefe. Wir verreifen wirflid. Und noch heute Nacht.“
„Und ich foll nicht fragen, warum?"
„sch bitte.“
„Das ift freilid — abſonderlich.“
„Und Du —“
„Und ih..." Marie erzwang wieder ein leife zitterndes Lächeln: „Und
ic) frag’ nicht, warum.” — O wär’ ich erft fort! dachte jie.
Aber das ift ja ein Traum! dachte Helmuth. So weich ſah ich fie nod)
nie! — Auch ihm ward wunderbar weich zu Mut: „Ich dank’ Dir, Marie. Ad)
dank Dir ſehr. — Um Mitternacht geht der Zug. Wir haben alfo noch eben
Zeit. Meine Tafche it in drei Minuten gepadt; Dore padt fchon deine. Was
wir dann noch brauchen, ſchickt ſie nach. — Du würſt alſo bereit?“
„Wohin geht die Reife?“ fragte Marie, nur damit er ſich nicht wunderte,
daß ſie gar nichts fragte.
„Heute Nacht nicht weit. Dann —“ Er jtodte.
„Laß nur. Ich frage nicht. Mir ift alles recht!“
„Nicht wahr, diefes lange Rätſel befremdet Did; —“
„O nein. Gar nicht. Ich find’ mich hinein!“
„Aber Du taumelft ja. Was ift Dir?“
Die verſteckte Erregung ward ihr nun doc; zu ſtark. „Nichts!” antwortete
fie; „wa3 follte mir fein?" Sie konnte aber nicht mehr jehn, ihr fchwindelte,
und das Herz that ihr weh. Sie fahte einen Stuhl und ſank auf ihn nieder,
hielt fi an der Lehne.
Er jprang hinzu und ftüßte fie. Nun fühlte er aber, daß fie zufammen:
fuhr. Sogleich zogen fid) feine Hände zurüd, wie ſich die drei Kahre lang fein
Derz zurüdgezogen hatte. Bewegungslos blieb er vor ihr ftehn. — „Du bift
feidend, fcheint mir.”
„Kein, nein." — Mit Doppeljinn murmelte fie fo hin: „Mir wird wohl!“
„Du kannſt fo nicht reifen —“
„Do, doch. — Wie — gütig Du das ſagſt. — Ach kann und will. Schon’
mich nicht. Thu nur, was Du willft!"
„Wie Du meinft,“ fagte er, heimlih erichüttert und nicht recht begreifend.
„Alfo heute Nacht!“
„Sogleih!" Sie ftand wieder auf. „Da bin ich!”
Er padte jeine Handtaſche; es war fchnell gefchehn. Dore kam mit
Mariens Tafche, auch mit ihrem Mantel, Schleier, Hut und Schirm. Sie jah
ihren Profejlor reifefertig.. „Sie fahren mit?” fragte jie.
Er nidte.
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 327
Ob das dod vom Krieg kommt? dachte fie. Verſtehen that fie's nicht;
aber jo ein Mordskrieg ftellt ja die ganze Welt auf den Kopf! .
„Dore, Sie hören morgen von uns,” fagte Helmuth nur. „Bleiben Sie
bier, wir gehn zum Bahnhof; eh’ Sie uns fo ſpät 'nen Yiafer finden, vergeht
die Zeit. Gute Nacht!”
„Gute Nacht!" jagte aud) Marie.
Dore jah die Beiden gehn, e8 ward ihr immer mehr wie ein Traum. Der
Profefjor und die Profeſſorin in die Nacht hinein — mit einander fort — die
ich in diefen Wochen kaum gelehen hatten. Ra, das war der Krieg!
* *
*
Im Auguſt begann der wirkliche Krieg. Es folgten einander, wunderbar
geſchwind, die gewaltigen Schickſalsſchläge, die das franzöſiſche Kaiſerreich nieder—
warfen und das deutſche ſchufen: Saarbrücken, Weißenburg, Wörth, die Schlachten
um Metz herum, die Kämpfe auf dem Marſch nach Sedan. Es war ein Monat,
dieſer Auguſt, wie wenige Menſchengeſchlechter ihn erleben; eine Siegesbotſchaft
hinter der andern her, und nie etwas anderes als Sieg. Nun, wer hatte recht?
dachte Neichthal, den die Freude wieder zum Jüngling machte; Helmuth der
Bejlimift oder ih? „Es wird wohl mande Siege geben, die wir beide nicht
feiern." So fagten Sie damals, mein guter Helmuth, al ich ein paar Gläjer
von Eliſens Erdbeerbowle auf den erften Sieg trinken wollte. Ich hab’ bis
jest auf jeden getrunfen. Und ich denk’, dabei bleibt's!
Nur ein großes Rätſel jtörte ihn und die andern Freunde in ihrem vater:
ländifchen Glüdsgefühl: das Verſchwinden des Dornſchen Ehepaares; es war
völlig wie aus der Welt. In der Nacht plötzlich abgereift, niemand wußte wohin;
Helmuth noch wieder in München erfchienen, aber nur von den Studenten im
Kolleg, ſonſt von feinem Menſchen gejehen; dann von neuem fort, ins Blaue
hinein. Wohin? Wo waren die beiden und was trieben fie? Es gab eine Ein-
geweihte, die alte Dore, das erkannten Reichthal und Elife bald; die hatte aber
offenbar „auf die Hoftie geſchworen“, wie Reichthal Elagte, das Geheimnis nicht
zu verraten: fie wich jeder Frage aus, jie gab feine Antwort. Es vergingen
Wochen, Met ward jchon belagert, Straßburg beichofien, Helmuth und Marie
blieben verjhollen. „Dat er fie umgebracht?" fragte Reichthal in feinem Galgen-
humor Elife, die über das Geheimthun ebenjo empört war wie er. „Oder hat
er jie den Franzoſen auögeliefert?" Zumeilen famen ihm ewnfthaft ſchwere,
düftere Gedanken: feine Selbitanflage hatte auf Helmuths ſchwarzes Blut zu
giftig gewirkt, er war mit Marie in irgend eine Einöde entflohen, hatte ſich in
eine verlaffene alte Burg hoch im Gebirg mit ihr eingefperrt. Dort jollte fie
langjam vergehn . . . . Dann lächelte er wieder bei feinem Glas Siegesbowle:
das thut vielleicht ein wilder Welfcher, aber ein deuticher Profeſſor nicht. Der
iſt eingeſchworen auf „Humanität“. Sie fommen wieder an den Tag!
328 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
Endlich hielt er's doch nicht mehr aus; er griff zu einer „Sriegslift“, wie
er's nannte, da er jetzt alles auf den Krieg bezog, oder mit ihm entichuldigte.
Er ging ind Dornihe Haus zu Dore, mit einem tragiſch ernften Geficht. Seiner
jtillen Bermutung ein faljches Mäntelchen umhängend, jagte er: „Jetzt haben
wir's, ach du lieber Gott! In der Abendzeitung fteht's. Ihre gnädige Frau,
meine Marie, in einem unjerer Feldlazarette in Frankreich ilt fie von Franzofen
überfallen und verwundet worden. Man hofft, fie wird uns ausgeliefert; aber
die Schwere Wunde, die hat fie weg!”
Dore war blaß geworden; ſie jchüttelte nım aber den Hopf. „Das fann
doch nicht jein, Herr von Reichthal.“
„Warum nicht?"
„Weil ihr Feldlazarett —“
Sie fahte ſich wieder, fie jagte nicht mehr. Aha! dachte nun Reichthal; er
ſah ich nun doch auf dem rechten Weg. Er zug im tiefiten Ernft die Brauen zu-
jammen: „Weil das ?yeldlazarett der gnädigen Frau nicht in Frankreich it?
Dann hat fie fich wohl verjegen lafjen, nach Frankreich hinein. In der Zeitung
ſteht's.“
„Das iſt doch nicht möglich!“ rief Dore, der nun bange wurde. „Geſtern
iſt noch ein Brief vom Herrn Profeſſor gekommen: ſchicken Sie mir den wärmeren
Mantel und —“
„Nach Frankreich!“
„Nein, in die Pfalz, wie bisher!" — —
Eine halbe Stunde jpäter kam Reichthal zu Elije: „Ich bin jonjt mehr für
Deldenthaten als für Kriegsliften; aber diefe war gut! Sie wirken alfo beide fürs
Baterland, wie ich dachte. In einem Tyeldlazarett in unjerer Pfalz, nicht weit von
der franzöſiſchen Grenze; den Ort will Dore nid,t jagen, fie hat mich beſchworen:
fragen Sie nicht mehr! ich darf nicht, ich darf nicht! Aber weil ich die Pfalz gut
fenne, Dore aber nicht, jo hab’ ich doch jo ziemlich herausgebracht, wu es ift.
Um zivei oder drei Städte im ſüdweſtlichen Winfel kann ſich's höchitens handeln.
Wenn's alfo noch wahr ift, was Sie immer jagen: ih muß hin —"
„Sa,“ rief Elije, „gewiß muß ich hin! muß Marie wiederjehn! muß jehn,
wie es ift!”
„Dann finden Sie fi jhon zurecht!“
„sh? Sie finden fi zuredht. Sie begleiten mid ja doch. Es ift ja
Ihre Marie!“
„Allerdings. Aber, meine Liebe, Gute — da ift ein Kleines Hindernis. Der
Dann. Mit dem — fteh’ ich jegt nicht gut. Am letten Abend haben wir uns
hart geiproden —“
„Na, das haben Sie ja oft gethan.“
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. | 329
„Diesmal ganz bejonders hart! Am Unfrieden auseinander. Eh das
nicht aus der Welt ift, möcht’ ich ihm nicht unter die Augen treten —“
„Was! Sind Sie feig?“
Reichthal richtete fih hoch auf. „Das müſſen Sie jett feinem Deutichen
jagen. Verlaſſen Sie jih auf meine Worte, bafta.“
„Worüber jind Sie denn jo auseinander gekommen?“
„Das erzähl’ ich Xhnen ein andres Mal. Marichieren wir nur erft nad) Paris!“
Wieder eine halbe Stunde jpäter hatten fie ſich geeinigt: die Reife nad dem
Lazarett in der Pfalz ward gemacht; Neichthal fuhr mit; er half aber nur juchen,
bliden ließ er fich einjtweilen nidt. Wenn Marie und Helmuth gefunden waren,
jollten fie nicht überfallen werden: Eliſe jollte jchreiben, fich melden, ihnen über:
lafjen, ob jte fie fehen wollten oder nicht. So fuhren fie, von ihrer Liebe, Neu:
gier und Sehnſucht gezogen, am nächſten Morgen in der Frühe ab; nur Elifens
Gatte war im Geheimnis, Dore wußte nichts. Inzwiſchen waren die leßten
entjcheidenden Nachrichten von Sedan gekommen: Mac Mahons ganzes Heer in
unjern Händen, „und der Kaiſer, der Kaifer gefangen“! München war im Sieges-
rauſch. Ganz Deutichland war's. Auf der Fahrt durh Bayern, Württemberg,
Baden in die Pfalz — am Morgen des vierten September — jahen die beiden
Reifenden überall die Fahnen wehen, hörten Böllerfihüfje oder Glodenläuten. Die
Menjchen zogen, da es Sonntag war, auf allen Straßen und Wegen umber,
auch SKinderfcharen, auch mit Geſang. Reichthal drüdte fich zulekt in die Ede,
jein luftige® Würzburger Herz ward ihm doc) zu groß. Er lachte zuweilen plößlich
Frau Elife an, über das Geficht floffen ihm aber lange, ftille Thränen.
Am Nachmittag erreichten fie die Stadt, die Reichthal vor allen im Verdacht
hatte, daß fie die Verſchollenen beberberge; auch bier alles im Fahnenſchmuck, in
Feſtesfreude, vom herrlichiten Sonnenlicht verflärt. Sie ftiegen aus und gingen
dem Feldlazarett zu, das draußen in der Borftadt lag, einem Wirtshaus jchräg
gegenüber; von Garten umgeben ein geräumiges, fenfterreiches Gebäude, beim
Ausbruch des Krieges für diefen Zwed hergegeben und jchnell eingerichtet. Hohe
Bäume beichatteten es, ein Eleiner Fluß zog vorbei. An den Fenſtern des Ober-
jtods waren weiße Jacken zu jehen und junge, zum Teil blafje Gefichter: die
Kranfen und Verwundeten aus dem Krieg. Eine Diakoniffin in ſchwarzem Ge-
wand und weißer Haube ging eben ins Haus. Im Garten faßen drei oder vier
Soldaten vor dihtem Gebüſch, halbverftedt, und jangen ein befanntes Lied:
Eine Schwalbe macht noch feinen Sommer,
Wenn fie gleich die erjte ift,
Und mein Mädchen madıt mir Summer,
Wenn jie einen andern Füht.
„Das werden Geheilte, Genejene fein,“ jagte Elife, die mit Andacht zuhörte;
es fam ihr bier alles heilig vor.
330 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
Reichthal nidte heiter. „Sobald das die Glieder wieder rühren kann, muß
es fingen!”
Die Soldaten fangen unterdefjen weiter:
Denn es hält ja fo ſchwer, auseinanderzugehn,
Wenn die Hoffnung nicht wär’ auf ein Wiederfehn.
Lebe wohl, lebe wohl, lebe wohl, lebe wohl,
Lebe wohl, auf Wiederſehn!
„Die ziehn wohl heut ab,“ murmelte Elie.
„Sa, und find noch gerührt obendrein. Danfbare Gemüter. Biel Vergnügen
haben ſie hier wohl nicht gehabt!"
Elife drängte jeßt mit Augen und Händen: ins Haus! Sie traten ein.
Von einem jungen Mädchen gewiefen, famen fie in einen Arbeitsraum zu ebener
Erde, der auch als Spredzimmer diente; große Schränke ftanden an der Wand,
lange und breite Tifche in der Mitte, zum Teil mit friſcher Wäſche bededt. Eine
Diafoniffin in mittleren Jahren war mit der Wäſche bejchäftigt; eine jüngere
erfhien eben aus einem Nebenraum, mit Paketen und Zeitungen. Sie ſummte
vor fi Hin:
Und mein Mädchen macht mir Summer,
Wenn fie einen andern küßt.
Auf einmal war's, al3 erwade fie. „Mein Gott,“ ſagte fie zu der andern,
„da fing’ ich ſchon wieder diejes heillofe Lied!“
Die Meltere blidte von ihrer Arbeit auf und lächelte: „Ya, ja, die Soldaten-
lieder wollen Ahnen nicht mehr aus dem Kopf. Das kommt davon, wenn man
muſikaliſch iſt.“
„Man möcht's bald verwünſchen! Seit ich hier im Feldlazarett bin, lern’
ih Melodien — und Terte — daß 's einem grauf't!”
Reichthal trat mit Elife näher; er nahm das Wort. „Diplomatiſch“: das
war jeine Sache! „Meine frommen, verehrten Damen," begann er mit einer
Ihönen Verbeugung, „ich möcht Sie ganz ergebenft um Auskunft bitten über eine
dritte Dame, die wir hier vermuten.“
„Ueber wen, mein Herr?" fragte die Diakoniffin, die gelungen hatte, mit
ihrer angenehmen, friichen Stimme.
„Es wird fünf Wochen ber jein, oder einen Monat, daß eine nod junge
Dame von — von jehr empfehlendem Aeußern in das Lazarett kam, um die Ver—
wundeten und Stranfen pflegen zu helfen; und mit ihr —“
„Ab, Sie meinen vermutlich die Miß!“ fiel ihm die ältere Diakonijfin mit
einem jcharfen Lächeln ins Wort.
Reichthal machte eine höfliche Bewegung mit dem Kopf: „Wollen Sie mir
gefälligit jagen, wer die „Miß“ ift; fo will ich Ahnen jagen, ob ich fie meine.”
„Die „Miß“, mein Herr, wie wir fie nennen, die fam vor ungefähr vier
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 331
Wochen ber; gleid; nach den eriten Schlachten; mit hohen Empfehlungsichreiben,
einer langen Jungfer und jehr viel Gepäd. Sie wollte ſich nützlich machen. a,
ja! Jeden Morgen gegen zehn Uhr — nie früher, o nein — trat fie feierlich in
den Saal der Verwundeten ein, in eleganter, weißer Morgentoilette —“
Die junge Diakoniffin warf dazwilchen: „Aufgelöftes, langwallendes Haar —“
Die ältere fuhr fort: „Ein rotes Kreuz auf der Bruft —“
„Sab einem VBerwundeten zu trinken —“
„Dielt einem andern die Waſchſchüſſel —“
„zeilte einige Traftätchen aus —“
„Und verihwand dann wieder,“ ſchloß die ältere, „bis zum nächſten Morgen
um zehn. Das ift die „Miß‘! Wenn Sie wegen diejer Dame gekommen find,
dann könnten Sie fi) mit wenig Mühe recht nützlich machen: reifen Sie mit
ihr ab.“
„Das ift nicht Marie!” flüfterte Elife.
„Nein,“ verjette Neichthal leife, „das ift jie nicht — oder id) bin ein altes
Pferd!" — „Entichuldigen Sie," fagte er zu den Pflegerinnen. „Daben Sie hier
feine andere weltliche Dame außer diefer Miß?“
„Doch, noch eine,” erwiderte die Junge. „Die jugenannte gnädige Frau.“
„Warum die ‚gnädige Frau‘?" fragte Elife.
„Wir nennen fie alle fo; wie fie heißt und was fie ift, hat man uns nicht
geſagt. D, das ift freilich eine andre Dame.”
Die Veltere nahm das Wort: „Die fam mehrere Tage oder eine Woche
vor der Miß; mit einen Herrn, ihrem Mann —"
„Sanz vecht!* fiel Reichthal ein.
„Man hatte fie unferm Feldlazarett zugewieien, beide. Er half in der
Kanzlei, im Depot und fonft, fie bei den Berwundeten und Kranken. Sie über-
nahmen alles, fie wollten alles. Zuerjt dachten wir —"
„Zuerft räfonnierten wir,“ jagte die Junge lächelnd: „ach, die verftehn wohl
beide nicht viel! Die fommen jo recht aus der Welt! Aber das haben wir
ihnen abgebeten. Das find feine Mijjes. Jetzt verftehn fie alles! Und fie
thun's aud, fie machen's auch!“
Reichthal jah Elife an, fragte mit den Augen: find fie das oder nicht?
„Und die Dame hat Ahnen nie gefagt, wer fie ift?" fragte Elife.
Die unge antwortete: „Nein, das hat fie nicht. Sie ſpricht ja auch nie
von fich, gnädige Frau! — Sie Spricht überhaupt nicht viel; auch mit ihrem
Mann nidt. Sie fehn jich wohl oft nad) den Augen; aber meift find fie fill, thun
nur ihre Pflicht. Ad, was red’ ich da: ihre Pflicht. Sie thun beide mehr, als
fie können. Sie gönnen ſich feine Ruhe, fie reiben fi auf. Das fagt der
Dberftabsarzt aud. Wenn eines Morgens der letzte Soldat geheilt abmarjchiert,
fagte er geftern zu mir, dann bleiben vielleicht die beiden hier liegen!”
332 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
„Großer Gott! rief Elife aus.
Reichthal blieb ruhig, als „Diplomat. „Na, und wenn die beiden bier
liegen blieben, dann würd’ man nicht wiflen, was man ihnen auf den Grabjtein
zu Schreiben hätte?‘
„DO doch," erwiederte die ältere Diakonijfin und lächelte. „Die Vorgeiegten,
die werden's wiſſen. Wir nicht. Man fragt bier nicht viel, mein Her. Man
bat auch nicht viel Zeit dazu.‘
„Und die Neugier gehört ja aud nicht zu Ihren Gelübden,“ bemerfte
Reichthal heiter.
„Belübde? Wir haben feine. Wir find nicht Eatholiih. Nur zum Ge:
borfam find wir verpflichtet.‘
„Entihuldigen Sie! — Das ift auch genug. Neugier geloben wär’ gegen
die menfchliche Natur, denn der Menſch gelobt nur, was er nicht halten kann!"
„Sie maden recht gottlofe Späße —“
„BVerzeihen Sie. Das ift der Krieg!“
Eine Hausglode läutete. „Aha! jagte die Aeltere, „das gilt mir. — Ich
fomm’ jetzt zu der ‚gnädigen rau‘, ich feh’ fie. Nun, was meinen Sie? it
das Ihre Dame?"
Elife nidte. „O gewiß, gewiß!“
„Soll ic ihr was ausrichten?"
„Wenn Sie Ihr diefes Billet übergeben wollten . . ."
Elife zog ein Briefchen aus der Taſche und reichte e8 der Diakonifjin Bin.
Die ſah e8 nun mit lebhaften Augen an; die Junge ſchaute ihr über die
Schulter. Beide machten dann unmillfürlic ein enttäufchtes Geſicht. „Obne
Auffchrift!" ſagte die Aeltere.
Reichthal ſchmunzelte: „Sie haben ja nicht gelobt, neugierig zu fein!‘
„Dan follt! meinen, daß Sie ein verwundeter Leutnant wären,” entgegnete
die Pflegerin etwas aufgebradt, indem fie ihm mit dem Briefchen drohte; „troß
Ihres — ehrwürdigen Gefichts!"
Sie ging in dad Nebenzimmer; Reichthal jah ihr nad. „Auch dieſe
ſanften Geſchöpfe,“ flüfterte er Elifen zu, „haben ihren Stadel. — Jetzt aber,
bitte, gefhmwind hinaus! Eh Marie oder gar Helmuth erjcheint; denn Sie haben
jiher recht, die find’s. In unfer Wirtshaus hinüber! Bei mir meldet jich ſchon
jo was wie Appetit."
„Bei mir aud."
„Alfo auf zur That! — Ja, da ſchwatzt und jpaßt man, und eigentlich iſt
einem verteufelt ernfthaft und verflucht beflommen zu Mut.‘
Fluchen Sie doc nicht jo viel —“
Auch das ift der Krieg!"
Sie nahmen Abjchied und gingen.
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 333
Es war eine Weile ganz ſtill im Zimmer; die Diakoniſſin räumte ihre
Päckchen in die Schränke ein, ſie vertiefte ſich dann in die Zeitungen, die ſie mit—
gebracht hatte: es ſtanden heute gar ſo wunderbare Sachen drin. Während ſie
noch las und ihr die Augen vor Freude blitzten, kam Marie herein, in dem ein—
fach dunklen Gewand, das ſie hier trug, ein braunes Täſchchen angehängt. Sie
war etwas blaß und müde; aber das Glück dieſer Siegestage, die Feiertags—
ſtimmung, und wohl auch noch andres verklärten, verſchönerten ihr Geſicht. Mit
der freundlichen Stimme, die die Pflegerin beim erſten Ton erkannte, ſagte ſie
im Nähertreten: „Nun, Schweſter Agathe? Gefallen Ihnen dieſe Zeitungen?“
„Man glaubt's nicht, gnädige Frau!“ erwiderte Schweſter Agathe. „Es
iſt wie ein Roman!“
‚za, heuer ſchreiben ſie da oben Romane ...“
Die Schweſter ſah, daß Marie das Briefchen von Eliſe in der Hand hielt,
doch noch unerbrochen. Sie deutete hin: „Sie leſen ja nicht?“
„Ach, das eilt ja nicht.“ Marie griff in ihr Täſchchen: „Hier ſind die
Rezepte, und hier die verlangte Eſſenz. Ich hab' auch wieder für meine Ver—
wundeten ein paar Briefe geſchrieben; wenn Sie die hernach mit den andern an
die Feldpoſt abliefern wollten.“
Sie gab ſie hin; Schweſter Agathe zählte ſie. „Eins, zwei, drei, vier, fünf! —
Wieder fünf auf einmal. Sie ſchreiben die Briefe bald nur noch dutzendweiſe,
gnädige Frau.“
Marie lächelte: „Es find auch nur Dutzendbriefe! Wir entwickeln nicht
viel Geiſt darin.“
„Aber Sie ſchreiben ſie, wenn Sie ausruhen ſollten.“
„Ach, meine gute Agathe, wenn ich ausruhte, dann blieben ſie ungeſchrieben!
Und jo viele Mütter, Bräute und Schweitern fümen nicht zur Ruhe. — Es find
auch jo gute, rührende Gejchöpfe, unjre verwundeten Krieger! Sie diftieren oft
ein graufames Deutſch; das ift aber das einzige Graufame an diefen Deutjchen.“
Marie fette fich, fie war doc zu müde. Von draußen, aus dem Garten,
fam wieder Gefang herein. Sie horchte. „Das find die Geheilten, nicht wahr?“
Die Schmefter nidte. „Sie warten auf ihren Zug; es geht wieder nad
Frankreich hinein, zur Truppe. — Sie wollen aber die gnädige Frau noch jehn,
eb’ fie abziehn. Wie fie alle an Ihnen hängen, gnädige Frau!“
„Ad, der Menih ift ein dankbares Geſchöpf, liebe Schweſter Agathe.
Man jagt jo viel Böjes über die menſchliche Undankbarkeit; ich find’, es ift nicht
jo ſchlimm!“ — Marie jtand wieder auf: jo im Stilljigen firfen ihr die Augen
zu. Sie madte fih an dem ihr überwiejenen Schrank zu thun.
„Webrigens, es reift ja no Einer ab“, nahm Agathe das Wort, „obgleich
er noch nicht genejen ift. Vorhin hat er mir's gefagt; ich wußt' es nicht.“
334 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
Marie ftand abgewandt; fie verbarg ihr Geſicht. „Wer denn?“ fragte fie,
wie wenn fie e8 auch nicht wüßte.
„Der feine junge Mann, der Nothelfer, der in Frankreich die Verwundeten
aus dem Granatfener trug und dabei die Splitter im Arm und in der Bruft
Friegte ; der hübſche, muſikaliſche Menſch.“
„Ach ja, der! — Wir haben ihn nun doc) fo weit.“
„Sie haben ihn jo weit gebradht, gnädige Frau! — Ja, das fagen
alle, das jagt der Herr Oberftabsarzt auch. Sie haben ihn einfad) gerettet, fagt
er! — Zuerft war's ja gar nicht fo ſchlimm mit ihm, als er hier anfam; Doktor
Elsner meinte: der kommt ficher duch! Dann aber plößlich die furchtbaren
Fieber. Und das Phantafieren Tag und Nacht. Wie haben Cie ihn da
gepflegt! Wie 'ne Mutter ihr franfes Kind! — Das jagen alle, gnädige Frau.
Der muß Ahnen danken!“
Marie zwang fi) zu einem Lächeln und zeigte num ihr Geficht: „Das thut
er dann wohl aud).“
„O ja, das thut er! Er verehrt Sie ja. Es Elingt manchmal beinah’ wie
Berje, wenn er von Ihnen ſpricht. Wie von einer Heiligen.“
Er — von mir! dachte Marie.
„Ihm wird's aud leid thun, daß er von Ihnen fort jol. Warum foll er
eigentlih von hier fort? Er ift ja doch noch nicht geſund. Da fit ihn der
Herr Oberftabsarzt ſchon weiter rückwärts in ein anderes Lazarett — "
„Das wird ja jett die Megel, hör’ id. Um an der Grenze mehr Raum zu
ichaffen, für all die Berwundeten und Kranken, die aus Frankreich) kommen.“
Gott fei gelobt! dahte Marie. Franz mußte jegt fort, oder ich!
Helmuth trat ein, vom Borplag her. Er hatte einen Gang gemadt; das
that er felten; der Oberjtabsarzt hatte ihn aber mit janfter Gewalt fortgefchidt.
„Sie werden mir im Geſicht grün und grau, fchnappen Sie gefälligft friſche
Luft!" — Er zog die neuefte Zeitung aus der Tafche, die er im Gehen gelejen
hatte. „Das mußt Du jehn, Marie!" jagte er mit ftrahlenden Augen. „Ein
Telegramm des alten Wilhelm an die Königin aus Varennes, vom vierten,
heute, über feine Begegnung mit Napoleon. ‚Welch ein ergreifender Augenblid!‘
ichreibt er. Wilhelmshöhe bei Kafjel hat er ihm zum Aufenthalt gegeben.
Dann hat der alte Herr die Armee beritten, fünf Stunden lang. ‚Den Empfang
durch die Truppen Eannft Du Dir denken‘, telegraphiert er. Unbeſchreiblich!“
Marie lächelte vor Freude und Rührung. Sie jah beftändig den vorlefenden
Helmuth an; e3 that ihr fo wohl, daß er frifchere Wangen hatte. Ihr war aud),
als hätte fie feine großen blauen Mugen wohl noch nie fo ſchön gefehen.
„Dann noch eine Depejche von heute morgen aus dem großen Haupt:
quartier,” fuhr er fort. „Er wird noch immer größer, diejer legte Sieg! Die
franzöfifche Armee, die bei Sedan Fapitulierte — hier jteht e8 — fie zählte vier-
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 335
zehn Infanterie- und fünfeinhalb Kavalleriedivifionen. Das alles in unfrer
Hand! — Und hier am Schluß: Unfre Berlufte find verhältnismäßig gering."
Marie nahın das Blatt, las dieſe legten Worte und fühte fie. „DO mie
Hingt das gut!“
Helmuth betrachtete fie, wie vorhin fie ihn; wie blaß! dachte er. Aber
dabei wie Schön! — Ihn fchmerzte, fie jo mager zu ſehen; dann entzüdte ihn aber
wieder das feine, befeelte, veredelte Geficht. „Ja,“ jagte er, Wonne und Wehmut
fühlend, „der Sieg ift unfer — und mein Herz leicht. Segen über Segen! Ad)
hab’ nicht geahnt, daß ich — noch fo glüdlich werden könnte. So glüdlich!“
Marie hörte den heimlichen Seufzer in diefem Glüd. Ach! feufzte fie auch.
und ebenfo heimlich, könnt’ ich ihn je ganz glücklich machen! ihn und feine Fran!
Sie ſah ſich mit ihm allein, Schwefter Agathe war binausgegangen. Auf
dem Tiſch neben ihr lag das noch ungeöffnete Briefchen; fie hatte es vergeijen.
Nest ward ihr erſt bewußt: ohne Auffchrift! Warım? Wer fchidte ihr ein
Billet ohne Auffchrift? — „Franz!“ durchfuhr fie plößlih. Da er abreijen fol,
hat er mir gejchrieben!
Im nächſten Augenblid bielt fie den Brief Helmuth hin. So, jo wollte
fie ihm endlich jagen, was fich bisher noch nicht auf die Lippe gewagt, noch nicht
die vechte Stunde gefunden hatte. „Da ift ein Brief an mic,” fagte fie.
„u, dann mad’ ihn auf.“
“Du!”
„Warum ich?"
„sch bitte Dich.“
Er öffnete ihn: „Wenn Du’s willft —!" — Jetzt erftaunte er jehr, aber
anders, als ſie's erwartet hatte. „Bon Elife!” rief er aus.
„Bon Elife? Sie jchreibt an mih? Sie weiß, wo id bin?“
„Sie hat der Verräterin, der Dore, unfer Geheimnis abgeliftet; abgeliftet,
ichreibt fie." Helmuth ftarrte das Blatt wie fragend an: Wozu das? Warım
drängte fie fich jett hierher? ihnen nah? Batte dod) ihr Brief von damals fie
fortgeihidt? — „Elife it bier! Sie fragt, ob Du fie jehn willſt. Sie fehnt
ih nad) Dir. Aber aufdrängen will fie ſich nicht. Am Wirtshaus gegenüber
wartet fie auf Botſchaft. Da, lies!”
Marie nahm den Brief, ſie warf einen Blie hinein; fie fchüttelte aber in
jtarfer Erregung den Kopf. „Nein, ich will fie nicht fehn! — Keinen Menfchen;
auch fie nicht. Nein!“
„Hm! — Warum willft du nicht? — Aber nein, ich frag’ nicht. — Ich will
num jagen — da Elife hier ift — es kommt ja doch einmal die Zeit —“
„Was für eine Zeit?"
„Wo wir uns nicht vor der Welt verjteden können wie bisher — wie es
uns beiden gefiel. Wo wir zurüd müſſen in unfere Welt.‘
336 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
„Noch nicht! Du bift ja noch lange frei!"
„Aber endlich) doch. Und dann — wenn id) Di fo anjchau’, Marie —
Deine farbe erjchredt mich. Deine Kraft geht bald zu Ende. Schüttle nicht den
Kopf! — Soll id ganz ehrlich fein, fo muß ich jagen: Dein Plaß wär' nun
wieder — daheim.‘
Marie zitterte; vor diefem Gedanken war fie bisher geflohen. „Wieder vor
den Augen der Menichen leben!" ſprach jie kaum hörbar vor ji) hin.
Nicht jehr viel lauter entgegnete er, was er jelber fühlte: „Sch begreife ja
— an diefe Weltabgeichiedenheit hatt’ft Du Did gewöhnt. Wir waren ver:
ſchollen —“ er lächelte mühlam — „wie in einem Märchen. Niemand als Dore
mußte —“
„Ja, ein Märchen!” murmelte fie. — „Helmuth!“
„Was?“
Sie ſah ihn nit an. ES trieb fie wieder, wie fo oft, ihm von Franz und
ihrer Berirrung zu jagen; und immer und jet verzagte jie vor feinem ſchwer—
mütig ernften Geficht. Könnt’ ich ihm nur einmal in die Arme ſinken, dachte ſie,
und ſterben!
„Was wollteft Du?" fragte er. „Was haft Du?"
Sie ſetzte fih. „Meattigkeit. Diefe empfindſamen Kniee!“
Er ſah voll Mitleid und voll Sehnſucht auf ihr blaſſes Geſicht, auf die
ganze Schlanke Geftalt. „Meine liebe Marie, jagte er weich und gut, doc; mit
noch immer jcheuer Zärtlichkeit. „Wenn Du Did nur fchonen mwollteft."
„Schonft Du Did? O Du —!“
„sh! ch bin ein Dann.‘
„sa, das bift Du!” fagte ihr ftummer Blid.
„Und daran gewöhnt, mid) | Zu plagen.‘
„Nun ja, und id — hab's vun Dir gelernt!"
„sa, das fühl’ ich, Marie. Dafür dank! ich Div. Den’ nur nicht, es
rühre mid) nicht . . . Aber Du verlernſt dabei, jung und gelund zu fein. Und
wirft gar fo ernit, jo — — könnt' ich Did nur einmal —“
„Was?
„Su recht von Herzen lächeln ſehn!“
Sie lächelte ihn recht innig an, in all ihrer ftillen Traurigkeit.
„eh! Nun thut ſie's. Gute Marie!
O Gott, dachte er, wie hold fie lächelt. — — Ich veriteh's nicht — fie
und mich und alles. — O dieje Zweifel, diefer Stolz, diefe Dual!
„Aber ja, Elife!” fing fie nun an, fich dazu überwindend. „Soll id) jie
jehn? Was meinft Du?’
„Es ift Deine Sache.“
„Aber was meinft Du?
Adolf Wildrandt, Große Zeiten. 337
„sh? Ach dächte wohl. Wenn fie diefen weiten Weg — —“
„Ach ja, Du haft recht. Ach, ich muß ja wohl!"
ir *
*
Vom Garten her traten die drei geheilten Soldaten ein, blonde, wieder
rotbäckige Burſche; man ſah ſogleich ihren Blicken und Bewegungen an, daß ſie
kamen, um von der „gnädigen Frau“ Abſchied zu nehmen. Der kleinſte von
ihnen, der aber beſonders lebendige Augen hatte, ging in dreiſter Schüchternheit
voran, mit einem Blick auf Helmuth. „Wenn wir ſtören, gnädige Frau —“
Helmuth lächelte herzlich: „Hier ſtören Sie nie. — Ich gratulier' Ihnen
zur Geneſung; und daß Sie wieder zu den Kameraden kommen. Wir hoffen
zwar jetzt, der Krieg iſt bald aus —“
„Den Bonaparte, den haben wir ja!” ſagte der Soldat vergnügt. „Napolium
fraucht nicht mehr im Buſch herum!“
„Hurra! vief der Zweite. Der Dritte ſchwenkte die Müte, die er in der
Dand hielt.
Helmuth nidte lachend. „Alſo glüdliche Reife, meine Herren! Und bald
Frieden und Heimkehr!“
Der Kleine, der das Wort führte, ſchmunzelte: „Muttern wär's fchon
recht.‘
„Uns auch,“ jegte der Dritte Hinzu, ein langer und breiter Gejell. „In—
deſſen, wenn fchon, denn ſchon!“
„Bute Verrihtung, meine Herren. Bon bier nad Paris, von Paris zu
Muttern!“ — Helmuth trat an Marie heran; „ich gebe aljo zu Elife hinüber
ins Wirtshaus," fagte er leife. „Und ich bring’ fie Dir mit.‘
Marie nidte. Er ging.
„Wir wollten Ihnen nämlich nody ganz bejonders danfen, gnädige Frau,“
nahm der Sleinfte wieder das Wort. „Bitte, machen Sie nicht gleich jo mit der
Dand, hören Sie nur drei Worte an! Ka, Ahnen ganz bejunders danken: denn
Sie haben uns fo bejonders liebreich und menjchenfreundlid; gepflegt; das fühlen
wir ja doch aud. Und Sie haben für uns die Briefe geichrieben. Und dann
thut es ja feinem Menſchen weh, wenn er bei guter Pflege und Behandlung aud)
einen feinen, ſchönen, lieblichen Anblid hat, gnädige Frau.“
Marie errötete bei diefer Huldigung wie ein junges Mädchen, zu ihrer
eignen Berwunderung. Sie mußte aber auch lächeln: ſo treuberzig heiter ftanden
die drei Krieger da. „Das müſſen Sie nämlich nicht glauben,“ fuhr der
Sprecher fort, „daß wir ohne Gefühl find; denn fo ift es nicht. Denn fo ift es
nicht ...“
Er verwirrte ſich nun doch und verlor den Faden; vielleicht durch den
feinen, lieblihen Anblid, vielleicht auch durch Mariens Lächeln. Der Zweite
ftieß ihn mit dem Ellbogen an. Er nahm fi) zufammen und machte einen
22
338 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
raſchen Schluß: „Und das wollten wir Ihnen nur .nod jagen, und nun leben
Sie wohl!"
Marie nidte berzlih: „Sie auch; Ihr auch. Ach dank Euch für Eure
freundlichen Augen, Eure guten Herzen. Nehmen Sie jeder eine Hand zum
Abſchied, und behüt' Sie Gott!"
Es waren feite Händedrüde, fie fühlte fie; zu jedem noch ein dankbarer
Blid. Der Kleinſte befam die Hand zuletzt. Er entichloß ſich geichwind und
füßte fie: „Sm Namen meiner Kameraden, gnädige Frau!‘
„Lügenlügner Du!” flüfterte der Lange, mit Neid.
Marie lächelte. „Lebt wohl! Lebt wohl!"
Die Soldaten gingen hinaus. Sie jah ihnen nad. Jetzt bemerkte jie erit,
daß jeitwärts ‚noch einer daftand, Franz; er war leije eingetreten, während fie
mit den andern ſprach. Zur Abreife bereit, in dunklem Anzug, den rechten Arm
noch in der Binde, fchaute er fie mit blaſſen Augen in verhaltener Bewegung
an. Er war eine Weile ftill; fie aud. Nachdem fie ein nervöſes Erichreden
abgejchüttelt hatte, überfam fie das Gefühl, wie wunderbar jie ſich hier gegen-
überftanden: in einem Feldlazarett, als verwundeter freiwilliger Nothelfer und
freiwillige Bflegerin.
„Ich ſoll Sie auch verlaſſen,“ begann er endlih. „Da vergönnen Sie wohl
auch mir nod ein Abſchiedswort; — in diefen Wochen haben wir ja nicht viel
mehr geiprochen, al3: wie geht es Ahnen? jo, jo; und Guten Morgen und Gute
Naht! — Muß ich Ahnen nicht wenigstens danken, Marie? Ach lebe nod,
und will nun auch wieder leben; und daran find Sie ſchuld. Ja, Sie! — Ich
kann's ja jett jagen. Ich wollt nicht mehr! Als ich bier aufwadhte, nach dem
eriten guten Schlaf, und Sie neben meinem Bett ftehn ſah — zuerit dacht’ ich:
ein Geift! — umd als ich alles begriffen hatte, da ward mir fo zum Sterben, fo
abergläubifch zu Mut: du ſollſt nicht mehr leben! Das ift nicht ein jchredlicher
Zufall, daß ihr euch ſo wiederjeht, das ift Gottes Wille! Du follft hier vor
dieſer Frau vergehn! — Und id; verlor den Lebenswillen. Ich fühlte mit einer
Art von Wolluft, daß das Fieber kam. Beinah nur noch Muſik im Kopf —
zumeift die Würzburger Mufit — ließ ich mic) vergehn. Ich kann Ihnen nicht
ichildern, wie das war... .”
Ihm verjagte die Stimme vor Schwäche und Erregung; fo viel hatte er
auch. nody nicht hintereinander geiprochen, feit ihn die Granatiplitter getroffen
hatten. „Sie jtrengen fih an,” jagte Marie mit dem Geficht und dem Ton der
Pflegerin. „Spreden Sie nicht zu viel!" — Und ih? dadıte fie. Wollt’ ich
nicht in der erften Stunde fort, als ich jah: das ift Franz! als ich noch nicht
wußte, ob ſich nichts als Mitleid rührte? — Aber „aushalten!” jagt’ ich mir
dann. „Das ift deine Prüfung!" Und nun ift alles, alles qut .. .
„Ich muß Ihnen das noch jagen, Marie!“ fing er nad) einer Weile von
Adolf Wilbrandt, Große Betten. 339
neuem an. „Dieje andern da, an denen thaten Sie Ihre Pfliht, — wenn
Sie jo wollen. Aber was Sie an mir gethan — wie Sie mit Hinopferung all’.
Ihrer Kraft, die barmhderzigite aller barmherzigen Schweitern, mich gepflegt
und gerettet haben —“
„Nun ja!" unterbrach fie ihn. „Ra! Ach hab’ das Meine für Sie gethan.
Sagten Sie mir nicht damals, in München, meme Krankheit hab’ Sie um bie
Liebe betrogen, die Ihnen gehörte? die ich Ahnen jchuldig war? Als Sie hier
jegt auf dem Wundbett lagen, da hab’ ich Ahnen meine Schuld gezahlt. Ja, id)‘
hab’ mehr für Sie gethan als die Pflicht; das befenn’ ich vor Gott und vor
Ihnen. Die alte Liebe in Würzburg, wenn Sie damit recht haben, die ſaß
an Ihrem Bett; die hat Ihnen das Leben erhalten — und num find wir quitt.“
Franz jenkte den Kopf. „Mit welcher graufamen Erhabenheit Sie mir das
jagen, Marie! — Aber ich murre nicht. ch nehm's hin. Mit reinen Schmerz
der Dankbarkeit nehm” ich’3 Hin, daß ich Sie verloren hab’; nun ganz, und für
immer. Bei Bott, ich wollt's auch nicht anders — jeit ic) wieder leben will, Ich
fühl’ etwas, das ich jo noch nie gefühlt hab’: jo ſchön wie Sie da vor mir ftehn,
ic könnt’ Sie nicht mehr begehren, Marie. Ach würd’ zittern bei den Gedanken,
diefes edle, reine Bild zu entweihen . . .*
Ihm verging wieder die Kraft. Er ſtützte ſich auf einen Tiſch. Aus dein
Sarten fam noch einmal Gejang, es ſchien ein letter Gruß an die „gnädige
Frau“ zu fein: .
„Des Morgens zwiſchen dreien und vieren,
Da müſſen wir Soldaten marjchieren,
Das Gäßlein auf und ab;
Tralali tralalei tralala
Tralali tralalei tralala
Dein Schäßel ſieht herab.
„Ach Bruder, jetzt bin ich geichoiien,
Die Kugel hat mich ſchwer netroffen,
Trag mich in mein Quartier;
Tralalt tralalei tralala
Tralali tralalei tralala
Es iſt nicht weit von hier.”
Marie Horchte; jie mochte nicht reden. Sie fah vor fi hin. Nun fegten
fie draußen noch einmal ein, offenbar jchon im Gehen:
„E83 brauft ein Ruf wie Donnerhall . . .* |
Die Wacht am Rhein! — Das Lied, das fie damals erlöfte, befreite. Marie
ihloß die Augen, tief und weich erjchüttert. Thränen floffen ihr über die
Wangen herab.
„Ein Abjchiedsgejang,” fagte Franz, dem die Stimme bebte. „Diefe ‚Wacht
am Ahein‘, die hab’ ich auch in: jener Nacht gehört, als Sie mich mit jo ſchreck—
22*
340 Adolf Wilbrandt, Große Beiten.
fihen Worten und Bliden fortgewiefen hatten — als ich dann in der Ber:
zweiflung und Zerknirſchung auf der Gafje dachte: Mitziehen! Notheljer! Zur
Sühne! — D, es war auch gut. Ein paar Wochen hab’ ich doch helfen können;
die wunderbarften meines Lebens. In fchlummerlofen Nächten im Feld — beim
furdtbaren, eintönigen Gefang der Kanonen — bei den Zerfchofjenen und Zer:
ſchlagenen . . . Aber erft hier, Marie — laffen Sie mi Ahnen das nod
jagen; dann geh’ ich — erft bier, bei Ihnen, ward ich wieder lebensftarf. Dier,
wo e3 mich erfchüttert bat Tag und Nadıt, wie fi der Menſch dem Menfchen
zum Opfer bringt; wo Sie walten wie ein Engel, Marie —“
„DO ſtill! ſtill!“
Es riß ihn fort, Rührung, Abſchiedsweh, Reue, alles, er mußte ſich ihr zu
Füßen ſtürzen. „Vergeben Sie mir, Marie! Sagen Sie mir nur das eine Wort,
daß Sie mir vergeben!“
„Sind Sie toll?* flüfterte fie mit Umwillen; ihr Blick flog durchs Zimmer,
zur Thür, „Stehn Sie auf!“
„Nur ein gutes Abjchiedswort! Geben Sie mir die Hand zur Verſöhnung
und Vergebung —"
„Franz!“ rief fie mit gedämpfter Stimme, „Exit ftehn Sie auf! Diejen
Augenblid!*
* *
63
„Franz — wiederholte eine Stimme hinter ihr. Aus dem Nebenzimmmer
war Helmuth -in die Thür getreten; durch die legten Reden, die er gehört hatte,
wie zu Stein geworden jtand er ohne Regung da. Marie, die der Schred
herumdrehte, ſah ihn fo ftehen; weiter rüdwärts fah fie Elife mit der Schweſter
Agathe. Franz jprang auf. Marien vergingen faft die Sinne. Sie erfaßte nur
noch, daß Elife, fi) von der Diakoniſſin trennend, allein näher trat, faffungslos
hereinftarrte, dann die Thür hinter fich ſchloß.
Set hörte fie auch Elifens dumpfe Stimme jagen: „Mein Gott — was
ift das?"
„Was das ift?" antwortete Helmuth. „Daß man vor meiner Frau Eniet,
un Vergebung bittet. Daß es einen Feind meines Friedens giebt, von dem ich
nichts ahnte! — Warum fehrieben Sie mir damals den Brief? Bor wem follt
er mich warnen? Bor dem?"
Er deutete auf Franz, der, nun völlig farblos, ſich an einer Stuhllehne auf-
recht hielt. „Mein Herr,“ fagte Franz fait ohne Stimme, „Ihre Frau it
ſchuldlos, jo wahr ich lebe —“
„Wollen Sie mid; erft lehren,“ fiel ihm Helmuth in's Wort, „ob meine
Frau ſchuldlos ift oder nicht?" — Sein aufzudender Stolz ging in eine
flammende Erregung über; zu Elife gewendet ſtieß er heraus: „Ach will ihn nicht
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 341
jehn! Führen Sie ihn fort! Diefer todblaffe, wunde Menſch da — ich mill
nichts von ihm. Aber fort, fort, fort!”
Elife winfte Franz mit den Augen, fie nahm ihn bei der Hand, zog ihn
zum Vorplag hinaus. Als fie ihn dort zu ſich kommen ſah, kehrte fie zurüd.
„Helmuth!“ fagte fie, die Stimme dämpfend. „Was redeten Sie von einem
Brief?* J—
Helmuth hörte nicht. Die ganze furchtbare Laſt, die ſich wochenlang in
jeinem verjchloffenen Innerſten angefammtelt hatte, ftürzte jet dem Ausgang zu;
jeine Lippen bebten. „Da fteht fie,“ erwiderte er, die brennenden Augen auf
Elife, die Hand auf Marie gerichtet. „Da fteht diefe Frau! Mit der ich in der
Angft und Not meines Herzens davonging, um fie mir zu retten! Mit der ich
bier gelebt hab’, ftumm — in Qualen, die niemand kennt — und gerungen und
gehofft und gewartet. Und nun enthüllt es fih jo! Täuſchung, Heimlichkeit,
Betrug alles um mic her! Man kann Geheimnifje Haben und fchmweigen wie
das Grab — aber man kann mich nicht lieben! Man kanm's nicht!"
Ein plötzliches, Erankhaftes Schluchzen begann ihn zu jchütteln, brad ihm
aus der Kehle. Sie erichrafen alle drei über dieje noch nie gehörten Töne; am
meiften er jelbit. Ex legte fich die Hände auf die Brujt, an den Hald. Er rang
mit fürcchterlicher Anjtrengung, um es zu erftiden.
„Helmuth! Lieber Fremd!” fagte Elife, nachdem fie diefem Kampf eine
Weile jchweigend zugejehen hatte „Was für einen Brief hätt! ich Ahnen ge:
ichrieben? Bon was für einen Brief fpradhen Sie vorhin?“
„D diefer Brief!“ zitterte Marien Stimme hervor; Marie hatte fich bisher
nicht geregt, wie betäubt. Sie warf zu Helmuth einen Blick hinüber, der voll
. Verzweiflung war und ohne Hoffnung „Willſt Du mid) noch zwei Augen:
blide anhören, Helmuth, damit ich Dir wenigftens jage, wer den Brief an Did)
ichrieb ?"
Er ftarrte fie an. „Wer ihn an mich jchrieb?"
Mariens Augen gingen zu Elife und flehten: laß uns allein! — Eliſe
bewegte fich ftumm, geräufchlos zur Thür. Sie trat auf den Vorplatz hinaus,
zu Franz.
„Wer ihn an mich schrieb?” wiederholte Helmuth. „Wenn nicht Eliſe,
wer denn?"
„IH, Deine Frau.“
„Du!"
„Es war ein Verſuch — ich wollte Dich zwingen, mich zu Dir zu retten.
Ich hoffte noch; ich dachte: laß uns nur wullen, vielleicht wird noch alles gut,
— zwifchen Dir und mir." Sie fah ihn troftlos an, dann drüdte fie die Mugen
zu. „Es war zu jpät!”
„Zu ſpät — für Dein Herz!”
342 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten.
Sie jchüttelte den Kopf. „Diefer Irrtum — ad! — Aber diejfer Irrtum,
der trennt und ja. Nie wirt Du mehr an mic glauben; jekt, in diefer Stunde
bab’ ich's ja erlebt. Und aud wenn Du mic fo lieb hätteft, wie ich Dich
liebe —“
Helmuth fuhr zufammen. Vier Worte — die hatte er nod nie gehört.
Er beftete die großen Augen auf fie, wie einer, der nicht glaubt, was vor ihm
ſteht. Er ftammelte: „Wie Du mich —!“
„Es wär’ ja nun doch zu ſpät! Ach hab’ Di argwöhnen gelehrt; was Du
gar nicht Eannteft. Und ic; hab’ Deine Achtung verloren. — Helmuth! — O
Gott! — Berfag’ mir Deine Liebe, das muß ich tragen, aber gieb mir Deine
Achtung wieder!“
„Marie!“ ftammelte er nur. Es braufte in feinem Kopf.
„sh kann jo nicht fortleben! So nit! — D wenn ich nur nicht geichwiegen
hätt’; — id fand nicht den Mut. mer hab’ ich Dir's jagen wollen — von
Franz und —
„Und Reichthal —"
„Was ſprichſt Du von Reichthal? Bon dem weiß ich nichts. Aber diefer
Franz — — ja, id war einmal Eranf! Und mir war einmal, als ob mein Herz
für ihn — — weil's nad) Liebe lechzte. Aber, ach mein Gott —“ fie jah mit
einem über jich jelber ftaunenden Lächeln in die Luft — „wo ift das alles hin!
Sch Bin eine andere Frau! Ich bab’ hier ja exit leben gelernt. Leben, durch
Dih — für Did — und für Deine Welt! Ich hab’ eingefehn — — Aber aud)
Du! 3 hat ſich hier fo wunderbar gedreht zwiſchen Dir und mir. Das Herz
ift mir aufgegangen für das Große, das Weite, ich lieb’ e8, weil Du es liebit
und wie Du es liebit; und Du, Du haft Did bier in jede diejer leidenden
Menfchenjeelen, in alles Einzelne, Kleine, Befondere fo vertieft, fo Hingegeben,
daß ich oft lächle und — — Delmuth! Aa, Du!
Der volle Ton der Liebe wagte ſich endlih aus ihrer Bruft hervor; er
börte ihn in dem „Helmuth!“, im „Du! Er fahte es nod nicht. Er begriff
nur, dat ihn Reichthal getäufcht hatte. „Marie! wußte er mur zu jagen.
„Marie!
„Helmuth!“ jeufzte fie. „Seden Morgen, wenn ich aufwache, dank’ ich Dir;
jag’ Dir im ftillen, wie ich Did verehre — liebe... Du haft mich's ja bier
erleben lajien, was das ift, wenn die Pflicht mit der Liebe eins wird, fich mit
ihr vermäblt. Ad, die Schönfte Ehe in der Menjchenjeele! Das heiligite Gefühl!
— — Nun hab’ ich Dir alles gejagt. O Gott, hätt’ ich's früher gethan! nicht
fo lang’ geichwiegen! Thu’ nun mit mir, was Du willit, was Du willft. Nur
veracht' mich nicht! Deine Verachtung wär! mein Tod!"
Helmuth lächelte; jetzt konnt' er's endlich. „Ich Did) verachten! — Ich, der
Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 343
ich nur immer nod) fürchte, ich träum’s. — Meine Frau! Mein Weib! Meine
Marie!"
Er umfaßte ihre beiden Schultern, er jchüttelte fie leile. Dann drüdte er
Marie auf einen Stuhl nieder und kniete vor ihr hin.
Sie erichraf jo ſehr, daß ihr fait das Sehen verging. Gie hatte nie
gedacht, geglaubt, daß er knieen könnte. „Helmuth!“ fagte fie. „Was
machſt Du?
„Ich Did verachten? — Laß mid nur jo; das ift mein Platz. — Zu ſpät?
Nein, Marie. D nein! Es iſt nicht zu Spät! Ich bitt! Dich auf den Knieen,
vergieb mir; denn ich hab’ die Schuld. Aber mein Gerz ift jung, es ift wieder
jung. Es weint und ladıt — vor Seligkeit — und id) liebe Dich, ich liebe Did)
von ganzem Derzen —“
„Sroßer Gott!" ftammelte nun fie. — „Steh’ auf!"
Er umfaßte ihre Kniee, er lächelte: „Ich bin ja nicht Franz, ich darf ja
fnieen. Ka, nun fann ic) Dir’s endlich jagen: ic) liebe Dih! Ach bin in Did)
verliebt! Nicht bloß in Deine Seele, Deine ftarfe Seele; aud) in Deine Augen
— Deinen Mund — Deinen Fuß. Sch lieb’ Di, weil Du meine Braut Bilt.
Weil Du meine ſchöne Marie bilt; fo ſchön wie das Leben — das uns himmliſch
lächelt. Ach bab’ einen Rauſch vor Glück. Ach kann nicht mehr reden. Marie!
Deine Marie!"
Sie zog ihn nun dod) empor; dann ſank ſie ihm an die Brnuſt. „Laß ınid)
weinen, Delmuth! — Ach in Deinen Armen!
S
Göttlicbe fabrt.
it den windaeftrafften Scaeln, ganz von Pimmelsglanz belcuchtet,
Fliegen, wie auf breiten Schwingen, raufcbend wir ins off’ne Licht!
Gleich den windgeftrafften Segeln, die ein Wlellentanz befcuchtet,
Breit’ ih meines berzens Arme — eine Welt erfüllt fie nicht!
kein Geleucht aus Purpurlüften, Reine flammenden Gewäffer
Und kein Kreuz des ſchönen Südens ftrablen wie mein Scelenglück.
So von innen laf3 mich leuchten, mach’ mich gut und mach’ mich beffer!
MBit Des berzens ftarken Schwingen, Gott, fabr’ ich zu Dir zurück!
Fritz; Lienbard.
FETSITEITEITITEITEITEHTEITEITENTEITEITEN
Die Entwikelung des deuticen Nationalbewußtieins.
Don
Theodor Lindner (Halle).
nD: Kabrhundert, das joeben zu Ende gegangen ift, wird in der geichichtlichen
Erinnerung allzeit als eines der bedeutungsvolliten fortleben. Den reichiten
Segen hat ed und Deutichen gejpendet. Wohl beftand bei feinem Anfang noch
ein Kaiſertum deutjcher Nation, deſſen Titel jogar einen weiteren Raum um:
ipannte als das heutige, denn zu ihm gehörten auch die Habsburgifchen Yande,
die, jetzt Losgelöft, einen schweren Kampf um ihr Deutfchtum führen müfjen. Allein
das liebe, heil'ge Röm'ſche Reich, wie hielt's nur noch zufammen? Lediglich durch
die Macht der hiſtoriſchen Verhbältniffe, durch jeine Borgefchichte, und weil von
außen her noch feine Angriffe gefommen waren, jtarf genug, es zu zertrümmern.
Doch damals war bereit3 einer im Gange, der in feiner Fortſetzung dahin führen
follte, daß die Deutfchen aus der Neihe der ftaatenbildenden Völker geftrichen
wurden; fchon hatte das republifaniiche Frankreich das linfe Rheinufer erobert.
Das Neid in feiner buntfchedigen Zuſammenſetzung aus Hunderten von Fürften-
tümern und noch weit mehr Keinen, fo qut wie felbftändigen Gebilden, mit einer
überlebten Berfaffung, die weder dem Ganzen Sraft, noch den Teilen Schuß
gab, war zudem in zwei große Teile geipalten, denn Preußen hatte 1795 mit
Frankreich Frieden geichlojfen umd fich von dem Kampfe zurüdgezogen, und ſomit
war das nördliche Deutichland von dem jüdlichen getrennt. Noch wenige Jahre,
dann gab Defterreich 1806 das Kaifertum auf; die deutichen Staaten, welche fich
in den Stürmen der leßten Zeit erhalten hatten, wurden ſouverän. Bald darauf
brach auc Preußen zufammen, im ZTilfiter Frieden um die Hälfte verkleinert,
und die anderen Staaten waren Vaſallen des Napoleoniihen Frankreich ge:
worden, welches das nördliche Dentichland bis nad Lübeck als Provinzen ein:
verleibte.
Wie ftand das neue Deutiche Reich am Schluffe des neunzehnten Jahr:
hunderts da! Es ift überflüffig, den Vergleich anzuftellen.
Bor hundert Kahren war Deutfchland ganz binnenländiih. Pur einige
Städte trieben eine im Verhältnis zum Ganzen geringe Schiffahrt, vom Welt:
handel floffen nur wenige Tropfen nad Deutfchland ab und an dem fchaffenden
Weltkapital hatte es feinen Anteil.
Die Deutfhen im Auslande waren wohl als Perfonen nicht ohne Schägung,
Theodor Lindner, Die Entwidelung des beutfchen Nationalbemußtieins. 345
aber pofitifch ein Nichts; Feine heimische Macht kümmerte fi um fie. Die Welt
ichien weggegeben, und die Deutfchen durften wohl die Erde mit ihren Geifte
umjpannen, aber nidjt ein Zoll Bodens war draußen vorhanden, auf den fie aus
eigenem Recht den Fuß hätten jegen können.
Zu den großartigiten Leiftungen des neunzehnten Jahrhunderts gehört, daß
es die gejamte Erde zu einem Anterejjentengebiete vereinigte, an dem alle Kultur:
völfer teil haben. Keine Berflechtung während feines Verlaufes ift merkwürdiger,
als daß zulekt auf hinefiihem Boden nicht nur fait alle europäiſchen Nationen,
jondern auch Nordamerifaner und Japaner Schulter an Schulter fochten. Die
führende Rolle hatte Deutfchland, dasjelbe Deutjchland, deifen Bürgerphilifter
ein Kahrhundert vorher vergnügt zufahen, wenn „hinten weit in der Türkei die
Völker auf einander ſchlugen“, in dem niedrigen Bewußtſein, daß folche Welt:
händel fie nicht berührten.
Schuf ſomit das verflojene Säculum eine Weltgemeinihaft, jo hat es
andererfeits die Bölfer fchärfer von einander getrennt, als fie ed vordem waren.
Ein neues großes Prinzip ift entitanden: das nationale. Mit mächtiger Gewalt
hat e3 die europäiſchen Völker ergriffen. „Nation ift das große Schlagwort,
das alles Denken und Thun beherrſcht. Jedes Volk ift ftolz auf feine Natio-
nalität und brennt vor Begierde, fie groß und herrlich zu machen, fie über die
anderen zu erheben. National ift das höchſte Lob, antinational der jchärfite
Tadel, mit dem wir eine Gefinnung oder Handlung bezeichnen. Alles Glück
iheint zu hängen an der Ausbildung de3 eigenen Volkstums, die Zukunft wird
danach bemefjen, ob der Fortichritt im nationalen Sinne erfolgt, und in ihm
erblidt man das unfehlbare Heilmittel für jederlei Gebrechen und Schäden.
Durch ganz Europa ift diefe Anfchauung verbreitet. Man begehrt die Ber:
einigung getrennter Volfsteile mit der Hauptgruppe; wo eine Nation in einem
Reiche die herrichende ift, gilt es als Pflicht, die daneben vorhandenen fremd—
artigen Beftandteile fo umzufchmelzen, daß fie mit der überwiegenden Mehrheit
Sprachgemeinſchaft annehmen und möglichit gleichmäßig fühlen. Aud) die kleinſten
Völkerbruchteile entdeden fi als Nation” und möchten am liebſten Selbftändig:
feit erreichen.
Diefer nationale Drang ift wefentlich politifch; er will Volk und Staat
gleihjegen und beide follen nad) innen und nad außen einheitlich zur größten
Mactentfaltung geichloffen fein. Er vollbringt in der That wahre Wunder,
indem er alle Sräfte aufs höchſte anjpannt, und wir Deutſchen haben am
glüdlichften feine belebende Kraft an unferem eigenen Leibe empfunden.
Diefes Streben in feiner hochentwidelten Geftalt it etwas Neues. Als
nad) den Napoleonischen Kriegen der Wiener Kongreß Europa aufteilte, dachte
niemand daran, daß in einem Staate nur eine Nationalität vorhanden fein
dürfe, daß ihr die anderen ſich unterordnen müßten.
346 Theodor Lindner, Die Entwidelung des deutichen Nationalbemurtfeins.
Erſt in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts rang ſich der rein
nationale Gedanke hervor, während die erite mit derjelben Begeifterung als deal
die Freiheit begehrte, jelbft auf Koften nationaler Zufammenhänge.
Wenn je ein Bolf es jchmerzlic an fich erfahren hat, was der Mangel an
jtaatlich-politiicher Einheit bedeute, jo find es die Deuticdhen. Ihre ganze Ge-
ſchichte ift eine Hoffentlich für die Zukunft Heilfame Lehre, wo die ftarfen
Wurzeln der Kraft zu fuchen find. Die deutjche Geſchichte zerfällt gleihjam in
zwei ganz verjchiedene und doch nebeneinander herlaufende: die eine weiß zu
berichten von größten Leiftungen im wirtichaftlihen und geiftigen Leben, die
andere von politiicher Schwäche, und fonderbar genug, mehrmals geichab es, daß
zur jelben Zeit, während die erjteren Vorzüge einen glänzenden Höhepunft
erreichten, auch jene Erniedrigung unheimlich) zunahm.
Diefe wunderbare Ericheinung muß ihren Grund haben, und diefer liegt in
der Anlage des deutichen Charakters, wie er jeit den Anfängen unferer Gejchichte
immer geweſen und immer wieder hervorgetreten ift. Der Deutiche begehrte vor
allen das Recht feiner eigenen Berjönlichkeit, er wollte denken und handeln, wie
es ihm richtig und angemeſſen erfchien, und machte ſich jelbit zum Mittelpunkt
feines Yebens.
Daher liebte er nicht die Unterordnung unter eine ftarfe Gewalt, die ihn
befchränft hätte. Der Staat war ihm nur zu dem Zwecke vorhanden, dem
Einzelnen jeinen Beftand zu fichern. Für den Wert, den ein mächtiges Staats-
wejen bat, befaß der Deutfche fein Berftändnis und war nicht geneigt, um
jeinetiwillen Opfer zu bringen. Er war der Mann der perfünlichen Freiheit;
troßgige Selbitverantwortung auf die Gefahr des Unterliegens hin war jeine
Sache. Am liebften rührte er frei feine Arme, für ſich jelber jorgend.
Daher batte der Deutſche eine Borliebe für fleine Verbände, für Genofjen-
ichaften, in denen er vollberechtigt war, die dem Einzelnen fein Recht ließen und
denen er das ihrige in aller Treue hielt. In diefen Eleinen Berbänden galt das
Wort: „Alle für Einen, Einer für Alle.” Nicht gezwungene, jondern freiwillige
Dingabe brachte der Deutiche dar. Er war gejchaffen für Selbitverwaltung,
aber auch geboren für Partifularismus; er befaß eine reiche Befähigung für
freie Thätigkeit, aber einen geringen Sinn für politiiche Einheit. Aus diefen
beiden Eigenschaften erklärt ſich die wechlelvolle deutiche Gejchichte.
Die alten Germanen hatten wohl ein Gefühl, daß fie gleicher Abkunft,
gleihmäßiger Art jeien, aber es genügte nicht, jie zufammenzubalten; ohne Be-
denken fchlugen die Stämme auf einander los, jogar im Dienfte der Könner.
So zeriplitterte die germanifche Welt und erlitt in der Völkerwanderung troß
größter Thaten der einzelnen Völker die ſchwerſten Berlufte, und nur das
Frankenreich bewahrte eine Zukunft.
Anden Karl der Große die Sachſen untenvarf, fie mit Franken, Memannen
Theodor Lindner, Die Entwidelung des deutſchen Nationalbemwußtjeins. 347
und Baiern in feinem Reich vereinigte, ermöglichte er erſt das Entitehen eines
deutſchen Volkes; bi8 auf ihn waren Nord- und Süddeutſchland völlig getrennt
und hatten jedes eine andere Richtung.
Auf der Grundlage, die der mächtige Franfenherricher geichaffen hatte,
errichtete der Sachſe Heinricd, im Anfang des zehnten Jahrhunderts ein deutfches
Reich. Ihm lag ein weites Eroberungsfeld nad dem Dften und dem Norden
vor, die Nordjee lud zur kühnen Fahrt ein, die bereit an ihr wohnende Stämme
mit glüdlihem Erfolg geübt hatten, aber Heinrichs Sohn Dtto I. wandte jich
dem Süden zu und eroberte Stalien, damit die weiteren Schickſale bejtimmend.
Die Schwierigkeit, Italien zu behaupten, und der aus der Verbindung mit ihm
entipringende Kampf zwifchen Kaiſertum und Papſttum entfremdeten raſch das
neue Reich feinen nächitliegenden Aufgaben. Auch das Meer blieb unbeachtet
und unbenußt; feiner der alten deutichen Kaiſer hat daran gedacht, es zur
Mehrung und Stärkung der Reichsmacht zu verwerten. Ein Unglüd, das erit
wir ſpäten Nachkommen in feiner ganzen Schwere empfanden.
Die erften Erfolge wurden im Fluge errungen, Deutfchland ftieg rajch zum
eriten Reiche Europas auf, während die andern Völker ſchwach waren. Gewaltiger
Stolz ergriff die Deutfchen.
Es ift natürlich, daß jedes Volk die Berjchiedenheit der anderen in Sprade
und Sitte bemerkt und den Gegenjab zu ihnen empfindet; eine hervorragende
Stellung flößt zudem leicht Seringihäßung und Berachtung der übrigen ein.
Doch das ift mur ein Bolfögefühl, noch fein Volksbewußtſein, das thätig wirft,
das die eigene Art erhalten und ausbilden will. Ein ſolches kann erſt entjtehen,
wenn die Notwendigkeit den Wunſch erwedt, übermächtig werdende Feinde abzu-
wehren. Die glorreihe Zeit des Kaiſertums hatte die Deutfchen groß in die
Welt geftellt, und als der fo ftolze Bau raſch dahinſank, wurde das von ihm er:
zeugte Volksgefühl zum Volksbewußtſein.
Walther von der Vogelweide it der erite begeilterte Berfündiger des deut-
fchen Volksſtums. Ihn Ichmerzten die Not, die über das Reich in den Kämpfen
zwifchen den Gegentönigen Bhilipp von Schwaben und dem Welfen Otto IV.
bereinbradh, und die dur die Wirren bervorgerufene Anmaßung des Papſtes
Innocenz III; das PBapfttum und feine Kardinäle erichienen ihm als Welſche,
die die „dummen“ Deutichen ausbeuten wollten. Diefe Deutfchen hatten die
lobenswerteften rauen, die trefflichiten Männer, die beiten Sitten: „Deutjche
Zucht geht vor in allem," rief Walther frohmutigen Herzens jeinen Volks—
genoſſen zu.
Noh mar die Zeit nicht reif, um das Volksbewußtſein zum politifchen
Nationalbewußtiein zu erheben. Der geringe Staatsjinn der Deutichen Löfte das
Reich in Fürftentümer auf, die dem Könige nicht mehr leifteten, al3 das eigene
Intereſſe erforderte, und auch das nicht einmal. Wohl blieb das Reich beitehen,
348 Theodor Pindner, Die Eutwickelung des deutjchen Nationalbewutjeins.
aber nach außen hin machtlos, und nie ift das alte Reich wieder zu Sräften
gefommen.
Dafür entfalteten die Deutfchen, nachdem die lange Lernzeit vorüber war,
ihre andern Eigenfchaften, die freie, ſelbſtverantwortliche That, getragen von der
Genofjenfhaft. Nun auf fich geftellt, der abenteuerlichen italieniſchen Politik ent-
hoben, wandten fie ihre erftarkte Kraft der Heimat und deren Nachbarſchaft zu.
Nicht das Reich, ſondern das Volk in allen feinen Ständen, von den meltlichen
und geiftlichen Fürſten bis zum Bauern hinab, ging daran, ſich ein neues Dafein
zu Schaffen. Inzwiſchen war aud) ein neuer Stand emporgefommen, das Bürger:
tum, dem frohe und freie Arbeit ſowie genofjenfchaftliches Zulammenhalten
Lebensgrundſätze waren. So entfalteten fih im Innern des Reiches unzählige
Städte, während der reiche Ueberihuß an Kraft hinausftrömte in die öftlichen
Länder. Die Erwerbung und Deutſchmachung des Oſtens it die größte That,
die die Deutſchen in der früheren Zeit vollbracht haben, und fie bezeugt zugleich)
ihren Beruf für freie Koloniſation.
Damit war auch die Oftfee geivonnen. Sie und die Mordjee wurden zu
einem großen Sanbdelögebiet, in defjen Bereich ſowohl England wie die Nieder:
lande, Dänemark, die beiden anderen nördlichen Königreihe und die livländi-
ihen Küſten lagen, und noch weiter führten die Wege bis nad Rußland hinein
zu der großen Handelsſtadt Nomwgorod.
Da das Neich keinerlei Stüte bot und feine Hilfe gewährte, konnte nur ver:
einte Anftrengung des deutfchen Kaufmanns eine fefte Stellung im Auslande
erwerben. Schon die Fahrt dahin bot viele Gefahren auf einer oft wilden See,
mit kleinen Schiffen und ohne die Anftrumente und Dilfsmittel, welche heute im
Nebel vder bei der Landung in den Häfen den Weg weiſen; noch verderblidher
Ichädigten den Verkehr entmenſchte Seeräuber und barbariiche Gewohnheiten der
Küftenleute, die den Strandraub als ihr gutes Recht betrachteten. Im fremden
Lande mußten erit langjam die notwendigen Gerechtſame erworben werden, um
überhaupt Handel treiben zu dürfen, Schuß für Berfon und Eigentum zu genießen.
Ein ehernes Gejchlecht fürwahr gehörte dazu, um jo Großes zu vollbringen.
Aus diefer gemeinfamen Arbeit der Kaufleute ging die deutiche Hanje hervor,
ein Bund von zahlreichen Städten von den Mündungen des Rheins bis zum
finnifchen Meerbufen bin, geichlojien zu Dandelszweden. Der Hanſe gelang es,
diefe weiten Gebiete wirtichaftlih falt ganz unter ihre Waltung zu bringen.
Verſorgte fie doch die nördlichen Länder und felbft Rußland auch mit Getreide;
deutiches Pier ging bis nad) Spanien.
Es find großartige Yeiltungen, die zu verzeichnen waren, hervorgegangen aus
der ureigenen Kraft des Volkes, ohne das Reich, das in feiner Schwäche teil-
nahmlos blieb. Die Deutjchen waren fich ihres Volkstums wohl bewußt.
Die Hanje nannte jid) „die deutiche*. Sie verbot ihren Angebörigen freund:
Theodor Yindner, Die Entwidelung des deutichen Nationalbewußtſeins. 349
ſchaftliche Beziehungen zu den Bürgern der fremden Länder; fein Kaufmann
durfte dort eine Ehe eingehen, ohne die Mitgliedichaft zu verlieren. Diefe Ab-
Ihliegung entfprang allerdingd auch der Vorficht, für fi) den Handel allein zu
behalten. Hochgeehrt war der deutiche Kaufmann in den Staaten draußen, in
Rußland, Norwegen, England und den Niederlanden.
Diefe deutiche Hanje war jedod) nur norddeutſch; den Sitddeutfchen gewährte
tie feine Rechte und hielt fie eiferfüchtig nad) Möglichkeit von ihrem Gebiete fern.
Der Bund war nur loder, lediglich durch die Eaufmännifchen Intereſſen zufammen:
gehalten, und wenn es einem Mitgliede jo bejjer dünfte, gab es auch eine Zeit-
lang die Anteilnahme auf.
Die mannigfaden Kriege gegen Dänemark, England und ſonſt führten auf
ihre eigenen Koften nur diejenigen Städte, die ſich von ihnen Borteil verſprachen!
Bor allem, mit dem Reiche und feinem Oberhaupte hatte die Hanfe nichts zu
tbun; beide fümmerten fi) wenig um einander und. der Bund hatte, fo lange er
groß daftand, gar nicht den Wunſch, daß der Kaifer fi um ihn bemühte. Auch
die Städte im Neiche ftanden troß gelegentlicher Bündnifje einzelner gefondert
neben einander; das deutfche Bürgertum kam zu feinem politiichen Zufammen-
ſchluß. Auch hier finden wir wohl Volksbewußtſein, aber fein Nationalbemwußtfein,
das dem Ganzen gedient hätte.
So trugen ſchließlich das Reich und ebenfo das Volk nur ſchweren Schaden
davon. Der erfte große Verluft war das preußifche Ordensland. Die dortigen
Städte umd der Adel, in Zwietracht mit dem Orden, riefen die Hilfe Polens an,
und als die Ritter erlagen, wurde 1466 Wejtpreußen von Polen in Befit ge:
nommen, während der Orden Oftpreußen nur losgeriffen vom Reiche als Lehen
der polnischen Krone behielt. Schon war aud die Macht der Hanfe erichüttert
und fie mußte den Gemwaltftreicd des ruffiichen Zaren, der das Kontor in Now—
gorod vernichtete, ruhig hinnehmen.
Endlich regte ſich das Bedürfnis, zu bejjeren Reichszuftänden zu gelangen.
Der Eägliche Verlauf der Huffitenkriege hatte den elenden Zuftand der Reichs—
Eriegäverfaflung in grelles Licht gerüdt und den alten Auf der Deutfchen gründ-
lich zerftört, da8 Reich war von inneren Kriegen und Fehden durdhtobt, bie
fürftlihe Gewalt mit ihrem ſchweren Drud rief bittere Klagen der niederen
Klaſſen hervor, alle Stände betradhteten fich gegenjeitig mit Haß und Feindſchaft.
Bor allem erregten der unerquidlihe Zuftand der Kirche und die Miß—
wirtihaft des Bapfttums, das Deutichland ausbeutete, den lebhafteften Zorn.
Wie einft Walther von der Bogelmweide gab jett Ulrich von Hutten dem deutjchen
Grimme gegen die Welfchen eine feurige Sprade, leidenjchaftlicher, wilder, als
jener; der Ritter und Gelehrte jchleuderte furchtbarſte Anklagen gegen Papit
und Pfaffen. E3 mußte in Deutjchland anders werden; dieje Erkenntnis ſchlug
allenthalben durch, hier aus diefen, dort aus jenen Beweggründen. Reform des
350 Theodor Lindner, Die Entwickelung des deutichen Nationalbewußtſeins.
Neiches und Reform der Kirche wurden die Lofung, der allgemeine Zug war ein
echt nationaler, kräftiger und bewußter als je zuvor.
Allein die Verbefjerung der Reichsverfajjung jcheiterte an der Unmöglichkeit,
allen Intereſſen gerecht zu werden, und weil niemand dafür Opfer bringen
wollte. Die Fürften, bei denen die Enticheidung lag, ſahen den beiten Weg zu
ihr in der Beichränfung des Königtums, aber ihre Bielköpfigkeit konnte feinen
Erjag für eine Eräftige Obergewalt geben, und Kaifer Marimilian lehnte ihre
Forderungen ab. Nichts als einige leidlich brauchbare Einrichtungen kamen aus
all den Bemühungen zu ftande, und die fürftliche Gewalt, die das Reich in
Splitter zerlegte, erhielt noch größere Kräftigung durch den Ausgang der Be-
wegung auf dem firchlichen Gebiete.
Auch jie, Scheinbar dem Siege nahe, wurde feine vollftändige, weil Deutjch-
land nicht zu einmütigem Handeln zu bringen war; die Kirchenſache entglitt dem
Bolfe und fam in die Hände der Fürften mit ihren eigenfüchtigen Anterefjen.
Das Haus Habsburg hielt unter Karl V. und deſſen Nachfolgern an der alten
Kirche und ihrer Verfaffung feit, und eine Anzahl von Reichsftänden ſchloſſen fich
ihnen an. Wohl ergriffen andere die Reformation, wie fie Luther mit deutſchem
Geiſt begründet hatte, und jeßten das Necht zu ihr durch, allein darüber kam
eine Spaltung in das Neich, fchlimmer al3 zuvor. Nicht nur bejtanden jeine
Einzelteile weiter, fie fchieden fich jegt in zwei Parteien, in SKatholifen und
Proteftanten. Bald brach zwifchen ihnen der Kampf aus, aber er brachte feine
Entſcheidung; der Augsburger Religionsfriede von 1555 gab zwar den proteftan-
tiihen Ständen da3 gleiche Recht wie den Altgläubigen, aber er ftellte die
Religionsſache den Landesfürften anheim und jicherte zugleic; den Beſtand der
fatholiichen Kirche, wie er damal3 war, indem er eine weitere Ummandlung
geiltlicher Fürftentümer, ihre Säfularifation, verbot. Der Frieden war ein fauler,
nur Anreiz zu neuen Kämpfen.
Durch ganz Europa ging damals der religiöfe Gegenſatz, der zugleich ein
politifcher wurde. An dem Wefen ihrer Konfeſſion hing der Beitand der Staaten,
und der Kampf um das Glaubensbekenntnis galt zugleih der Erhaltung und
Mehrung der äußeren Machtitellung. Das zwiefpältige Deutjchland ftand in der
Mitte diefer furchtbaren Wirren; der nationale Gedanke, der in jo ſchönem Auf-
blühen geweſen war, verwelfte unter der Glut des Eonfefjionellen Haders, und
von einer weiteren Reichsreform Eonnte nicht mehr die Rede fein. Die proteftan-
tifchen Fürſten mußten danach ftreben, die Hemmniſſe, die ihnen die Reichs—
verfafjung auferlegte, zu bejeitigen, die fatholifchen, obgleih auch jie feine
Kräftigung der Reichsobergewalt wünjchten, hielten die Rechtsvorteile feit, die fie
inne batten.
Sp brach ſchließlich der entjegliche Dreißigjährige Krieg aus, der Leiden über
die Deutichen verhängte, wie fie Fein anderes Volk erlebt hat. Die Fremden
Theodor Lindner, Die Entwickelumg des deutſchen Nationalbewußtſeins. 351
wurden die Herren des deutichen Daujes, und von ihnen hing es ab, vb das
Unglüf ins Endloje vermehrt werden ſollte. Schließlich ſahen die Parteien ein,
daß feine die andere bejiegen fünnte. Der Weftfälifche Friede brachte die heit
erjehnte Ruhe umd ordnete die religiöfen Verhältniffe, wie fie in Deutichland bis
in die neuefte Zeit geblieben find.
Deutfchland ging aus diefen Höllenjahren hervor veriwüjtet, verarmt, ent-
völfert. Die Thatkraft der Einwohner war gebrochen, die ehemaligen Fanatiker
der Selbithilfe waren zu Bedientenjeelen herabgeiunfen, die auf den gnädigen
Befehl von oben warteten, ehe jie die Finger zu rühren wagten. Allmächtig
jtieg das abfolute Fürftentum empor, freilich die einzige Hilfe, welche die nieder:
gebrochenen Länder notdürftig wieder aufrichten fonnte, und nicht überall, doc)
vielfältig, hat ed wohlthätig gewirft. Unter der Führung der Hohenzollern ge-
langte der brandenburgilch-preußiihe Staat zur fejten Einheit, die erft eine
Sammlung und Vermehrung der Bolfsträfte ermöglichte. Aber jeder Staat
arbeitete nur für Jich, und diefe Eritarkfung der einzelnen Fürſtentümer grub die
Trennimgslinien zwilchen den Deutjchen nur tiefer.
Jahre neuer Schmach folgten dem Dreifigjährigen Kriege, in denen das in
feiner Einheit unmwiderjtehliche Frankreich ein Glied nad) dem andern von dem
formlojen deutjchen Leibe abriß. Die Deutjchen zudten jchmerzlicd; zujammen,
als die ſchöne Stadt Straßburg auf dem Münfter das franzöfiiche Banner ent-
falten mußte, jo mande Schrift hielt den Deutfchen ihre helle Schande vor das
brennende Geficht, aber was jollte man thun? Das Bolfsbewußtfein wurde zum
leidenden Volksgefühl herabgedrüdt.
Die Deutihen verjanfen in ein jpießbürgerliches Stillleben. Die Mün—
dungen aller Ströme waren in fremden Bänden; die Engländer, Holländer,
Franzoſen beherrichten den Handel. Auch die Hanje war eingegangen. Ihre
ehemalige Größe beruhte auf der Schwäche der nordilchen Staaten; ſeitdem dieſe
im Innern feft geeinigt waren, bedurften fie des deutſchen Kaufmanns nicht mehr
und wiejfen ihm die Thür. Das Reich war nicht im ftande, feine Unterthanen
zu ſchützen. Während die auswärtigen Staaten ihre Kolonieen gründeten, dem
Welthandel die Bahn brachen, die Geldwirtichaft entwidelten, mußten die Deutichen
bejcheiden jich mit den Broden begnügen, die von der Herren Tiſch für fie
abfielen.
Aber fie hatten fein Recht, fich zu beſchweren: nicht die Fremden, ſondern ſich
felbit mußten fie anflagen, weil fie freventlich auf nationale Einheit verzichtet hatten!
Wohl gab es einige wenige Männer, die weiten Blides erfannten, was
Deutſchland not that, die es aus feinen engen vier Pfählen binausleiten wollten
in die Welt, un einen Anteil an ihr zu retten. Es ift ein Ruhmestitel Branden-
burg3 und feines Großen Kurfürften, daß troß der beichränkten Staatsmittel der
Verſuch gemacht wurde, nad) dem Auslande Handel zu treiben und jogar Kolo—
352 Theodor Yindner, Die Entwickelung des deutfchen Nationalbewußtſeins.
nieen zu gründen. Schon damals kam nah Berlin eine Gefandtichaft von
afrikanischen Negerftämmen, an deren Küſte Brandenburg jeine Fahne aufgeridhtet
und Forts gegründet hatte. Der norddeutfhe Aar wagte jo großen Flug,
während der Reichsadler mit gebrochenen Flügeln im dürftigen Neſt hodte, aber
die Kräfte des Hohenzollernftaates waren noch zu gering, um lange aushalten.
zu können. Wenigftens durften die Deutfchen nicht ihn mit anklagen, wenn die
Welt ohne fie meggegeben wurde.
Dod im Stillen und Berborgenen jeßte zu Haus die Arbeit der Wieder-
geburt ein. Die Reformation hatte die firchliche Autorität gefprengt und damit
der geiftigen Freiheit die Bahn gebrochen. Erſt jett, ald der Lärm des Streites
der Konfeffionen und Theologen verftummte, weil ihm die Welt fein Intereſſe
mehr widmete, war es möglich, zu Gedanken und Forſchungen überzugeben,
welche der Erkenntnis des allgemeinen Lebens und jeiner Bedürfnifje dienten,
Zugleich hatte die Reformation Nord und Sübddeutjchland, die vorher faft ganz
getrennt neben einander ftanden, geiftig näher geführt und mit der neuen
Schriftſprache, die fie verbreitete, eine allgemeine deutjche Litteratur ermöglicht.
Schon vor dem Kammer de3 großen Krieges war ein Berwußtfein von dem
Werte der deutfchen Sprache und des in ihr niedergelegten Volkstums aufge-
dänmert, und obgleic, längere Zeit verging, ehe es tiefere Wurzeln jchlug, fing
es an zu gedeihen. fern gehalten von den ftaatlihen Dingen, von dem
Fürftentum zur politiichen Unmündigkeit herabgedrüdt, juchten jet die höher
veranlagten Seelen das freie Recht der Perjon in der geiftigen Arbeit. Die
Deutſchen, die einft das erfte Kriegsvolk, dann die erfte Handelsmacht im Norden
geivejen waren, machten eine neue Wandlung durd: fie errangen jeßt den erften
Plaß als Denker und Dichter. Das große Werk der Leljing, Schiller, Goethe
war echt deutich, und fie gaben den Deutichen wieder gemeinfame Intereſſen,
deren unermeßlichen Wert erft die Zukunft darthun follte.
Denn noch war diefes neue Leben auf die Gebildeten beſchränkt, und es
litt unter dem Mangel eines brauchbaren Staatsweſens, das ihm nationale
Sefinnung hätte einflößen können. Im Gegenteil, die Ideale, denen man nad:
jtrebte, fchienen die engen Schranken, welche ihnen die Enappen Grenzen der
Einzelitaaten zogen, nicht ertragen zu können; man meinte, ſich aus dem Elein-
lihen Banne der politiſchen Eriftenz in die freien Metherhöhen des allgemeinen
Menfchentums flüchten zu müfjen, um würdig ſchaffen zu können. Ein Leifing
Ichrieb an Gleim: Das Lob eines eifrigen Patrivten fei nach feiner Denkungsart
das allerlegte, wonad er geizen würde, das eines Batrioten nämlid, der ihn
vergeſſen lehrte, daß er Weltbürger jei; die Vaterlandsliebe jei höchſtens eine
heroiſche Schwadjheit, die er gern entbehre.
Sciller dichtete die Kenie: „Zur Nation Euch zu bilden, Ihr hoffet es
Deutfche vergebens; bildet, Ihr könnt es, dafür freier zu Menfchen Euch aus!“
Theodor Lindner, Die Entwidelung des deutfchen Nationalbewußtſeins. 353
Goethe traf den Nagel auf den Kopf, wenn er meinte, die Deutjchen ſeien acht:
bar im einzelnen, mijerabel im ganzen.
Dieſes weltbürgerliche Gefühl überwand nicht völlig den Stachel der poli-
tiihen Nichtigkeit. Leifing empfand ihn, wenn er Tellheim die bitteren Worte
in ben Mund legte: „Sch bin nur ein Deutſcher“, und Schiller wußte wohl zu
ſchätzen, weld' jtarfe Wurzeln der Kraft das Vaterland biete. Klopftod erging
fih in dem Preife des uralten Deutfchtums, in der Hoffnung, es möchte in feiner
Derrlichkeit wieder aufleben.
Die Kriege des großen Friedrich von Preußen ließen aud die Schwad)-
mütigen wieder ahnen, welcher Wert in dem friegerifchen Heldentum Tiege, und
die Schlacht bei Roßbach bradite die Genugthuung, daß über die hochmütigen
Franzoſen ein gründlices Strafgeriht erging. Allein lediglich die Perjon
Friedrich8 erwedte Bewunderung, und faum jemand hatte ein Verftändnis dafür,
vor welch' furchtbarem Schickſal der preußische König Deutfchland rettete.
Der lajtende Drud des Abfolutismus erzeugte wohl in lebhaften Naturen
einen glühenden Tyrannenhaß; und da e3 zu viel Fürften und Megierungen gab,
dachte man es fich bejonders ſchön, gar feine zu haben. Doch das war unreifes
fruchtloſes Gedanfenjpiel, mit deſſen ungefährlichem Ueberſchwang fich die jonftige
fanfte Rübrjeligfeit der oberen Stände ganz gut vertrug. Obnehin folgten dem
Siebenjährigen Kriege matte Jahre, und unter Friedrich; Wilhelm II. gab aud)
Preußen fein mwohlthätiges Beifpiel mehr, während die franzöfifche Revolution
und die ihr folgenden Kriegsthaten die Phantafie in Anſpruch nahmen und die
deutfche Elendigfeit im trübften Lichte erfcheinen ließen.
Immerhin, die Deutichen fanden fich geiftig wieder und durften fich Jagen,
daß fie wenigſtens nad) einer Seite hin anderen Nationen ebenbürtig geworden
waren. Weite reife wurden hohen Idealen zugänglich, und ein neues Volks—
bewußtjein dämmerte auf, noch weich und unbeftimmt, bis es das Schidfal mit
feinem ehernen Hammer hart fchmiedete.
Der völlige Zufammenbrud; rüttelte die Gewifjen auf. Preußen und Nord-
deutfchland erhoben fih, um das fremde Koch abzufchütteln; laut erfcholl der
Kriegsruf der Sänger bis in das Volk, und es war nichts Geringes, daß jekt
auch die Bebildeten die Waffe fchwangen, die früher nur dem Söldner und dem
Niedrigen zu gebühren ſchien. Aber die da den heiligen Kampf rüfteten und die
Flamme anfadıten, die Staatömänner, die Krieger, die Gelehrten ftellten fich ſo—
gleih noch ein höheres Ziel: fie wollten Deutfchland nicht nur befreien, fondern
herrlicher wieder herftellen und zu einem PVaterlande erneuern, das für die
künftigen Gefchlechter nicht bloß der trauliche Plaß ihrer Wiege, ſondern aud
die erhabene und erhebende Stätte ruhmreicher Gefchichte werden follte, wie es Die
ältefte Kaiferzeit geweien war. Indem das Volksbewußtſein den politischen
Zufaß erhielt, wurde es zum Nationalbewußtfein.
2
354 Theodor Lindner, Die Entiwidelung des deutſchen Rationalbewußtſeins.
Damit war der große Schritt gethan, den Deutfchen eine Zukunft eröffnet.
Alles, was ſeitdem geſchehen ift, hat feinen erjten Urfprung in den Befreiungs-
friegen, und die Kränze, mit denen wir die Gräber der Helden von 1870/71
ſchmücken, gebühren zugleich den eingefunfenen Hügeln, unter denen die Streiter
von 1813—1815 ruhen. Die Großväter begannen, was die Enkel vollendeten,
und jenes Werf war das jchwerere und gemwagtere, denn wenn der Sieg
nicht errungen wurde, war ein fchmadvoller Untergang gewiß. Ueber jenen
Jahren liegt eine feiervolle Todesweihe, deren herzergreifende Tiefe nie vergeſſen
werden darf.
Der Sieg wurde erfochten, aber das erjehnte Ziel der Patrioten jchien nad)
ihm wieder in hoffnungslofe Fernen zu entweichen. ine Bergangenbeit läßt
ſich ſchwer umgeftalten, daher mag jedes Volk dafür jorgen, daß die Gegenwart
nicht der Zukunft zum Hemmnis werde. Jetzt tauchten erſt die Schwierigkeiten
auf, als das nene Deutfchland geichaffen werden ſollte. Die von Napoleon
niedergedrüdten Selbitändigkeitsgelüfte der einzelnen Staaten, namentlich der
größeren jüddeutichen, die ihm fo viel zu verdanfen hatten, richteten fich wieder
troßig auf, und vor allem: jet erft nahm das gejchichtlich längſt vorbereitete
Doppelverhältnis, der Dualismus zwilchen Oeſterreich und Preußen, eine greif-
bare Geſtalt an. Seien wir nicht ungerecht: feine Macht auf Erden wird je
freiwillig aufgeben, was fie als ihr Recht betrachtet und zu behaupten fich
getraut. Nur der Zwang der Berhältniffe vermag da einzugreifen, und nur die
erfannte Notwendigkeit kann aus der Unklarheit zum richtigen Verftehen führen,
Der deutfche Bund brachte nur die äußere Form einer Einheit, nicht ihre
wahre Geſtalt, aber es war vielleicht gut, daß feine Inhaltsloſigkeit die Zukunft
nicht band. Noch wußten auch die beften Patrivten nicht redjt, was eigentlid)
nit Deutichland werden jollte, und das Nationalbewuktjein mußte erft ausreifen,,
indem es von den Gebildeten ins Volk herabftieg.
Der Erregung folgte die naturgemäße Abipannung, und nad) den ungeheuren
Opfern, welche die legten zwei Jahrzehnte verfchlungen hatten, that dringend
not, daß Deutſchland zuerit auf einen leidlich wirtichaftlichen Stand gelangte,
um überhaupt leiitungsfähig zu werden. Einige Beſſerung der öffentlichen Ver-
hältniffe war auch wirklich erreicht worden, indem jo manche der Beſchränkungen
von Dandel und Handwerk fielen, und die Gründung des SZollvereins, der raſch
fein Gebiet ausdehnte, wirkte überall jegensreih. Die Deutſchen lernten all:
mäblic; wieder auf fi vertrauen, da8 Bürgertum nahm an Rührigkeit,
Bildung und Vermögen zu. In diefen itillen Jahren, in denen die Regierungen jede
Regung des nationalen Bewußtſeins unnachfichtig verfolgten, wuchs ein Volt
heran, das fräftig genug war, ihm wirkſamen Ausdrud zu geben. Die natio-
nalen Ideen fiderten nach unten durch, von den Univerfitäten aus verbreiteten
ſie fich weithin. Freilich, da verboten war, ein großes Vaterland auch nur zu
Theodor Yindner, Die Entmidelung des deutichen Nationalbemußtieins. 355
erträumen, ſchweiften die politiichen Fdeen wieder ins Weite, wurden weltbürger-
lih und maßlos. Daher war eine Zeit lang Gefahr vorhanden, daß die kosmo—
politifhen Schwärmer den Wert der Heimat vergeflen und den natürlichen Boden
unter den Füßen verlieren könnten.
Dennoch, als die franzöjiiche Februarrevolution überall zündete und den
Mut gab, die nationalen Forderungen mit lingeftüm zu erheben, verlief die Be-
wegung mit wenigen Ausnahmen geießlich, und aud die Regierungen, teil er-
ichredt, teilß jelber von den großen Gedanken ergriffen, boten die Hand zu den
nötigen Schritten. Die Paulstirche in Frankfurt vereinigte die Beten des Volkes
zu einer Nationalverfammlung, die, zum eritenmale die deutjche Einheit dar-
jtellend, zu den Ichönften Hoffnungen berechtigte. Wiederum, wie dreißig Jahre
früher, erwieſen ſich die entgegenitehenden Hindernijje ald unübermwindlich, aber
die Dentichen hatten, wie Moſes vom Sinai, das gelobte Land gefehen. Man
lernte, daß mit Schönen Worten nicht zu thun, der vage Traum einer Republif
undurchführbar jei, daß das neue Deutichland nur auf eine politifche Macht auf:
gebaut werden Eönne, und ſchon in der Paulskirche hatte die Wagichale für
Preußen entichieden.
Nach wenigen Jahren einer dumpfen Ernücterung brachen die nationalen
Ideen wieder kräftig hervor, und Bismard war es, der ihnen die klare Vollen-
dung gab, die nur ein großer, mit dev Wirklichkeit der Dinge rechnender Geiit,
den Blick unverrüdbar auf das zu erreichende Ziel gerichtet, Ichaffen konnte. Er
führte den fcharfen Staiferichnitt aus, der Deutichland von dem hemmenden
Deiterreich trennte, er bewies aud; den Süddeutichen, daß Frankreich der eigent-
liche Feind fei, und jubelnd folgte 1870 ganz Deutfchland feinem Rufe: „Alle
Mann an Bord!"
Das große Werk war vollendet. Die deutihen Staaten jchloffen jich unter
dem neuen Saifertum zu einer Einheit zufammten, die nicht wie das alte Reid
num ein notdürftiges Band war, jondern lebendkräftig und Leben ermedend dem
deutfchen Volke den Gegenitand eines wirklichen Nationalbemwußtfeins gab, das
auf feiten Grunde und ficherer Unterlage beruhte. |
Diefes nationale Sein qilt es, zu erhalten. Aber jedes irdiiche Ding hat
zwei Seiten, und fo fann eine Uebertreibung des Nationalbewußtſeins jchädlich
werden. Die Deutichen haben allzeit unendlich viel von den Fremden gelernt,
und es wäre thöricht, aus falichem Selbftdiinfel fi auf den eigenen Herd zu
bejcehränten. Nehmen wir weiter gern auf, was uns das Ausland zu wirklichen
Fortſchritt darbieten kann, aber nicht die bloße Nachahmung fürdert, jondern
wir müſſen die entlehnte Zuthat zum eigenen Bejig umwandeln, indem wir jte
mit unſerem Sein fo verjchmelzen, daß fie in ihm aufgeht. Alle Völker ichreiten
nur in großen Bereinen vorwärts, und jedes, das ſich ängftlich abſcheidet und
trennende Mauern errichtet, kommt in die Gefahr, zu verfümmern. init ſchloß
23”
356 Theodor Lindner, Die Entwidelung des deutjchen Nationalbewußtſeins.
uns die innere Schwäche von der Welt aus, mißbrauden wir nicht unfere
Stärke, um uns jelber auszufchließen.
Die Deutfchen, einft mit Gewalt in ihr Haus zurüdgedrängt, haben fi
wieder binausgewagt, feitdem eine Flotte entftand, die erfte Reichsflotte. Ihre
Flagge ift ſchwarzweißroth, indem fie die preußifchen Farben mit denjenigen ver-
bindet, in welchen die Wappen der drei Hanfeftädte, die allein die alte Ueber—
lieferung fortpflanzten, gehalten find. Aber weißroth war auch einft die in der
Schlacht vorangetragene Sturmfahne des alten Neiches, das weiße Georgskreuz
auf rotem Felde, und unfere Marine hat bereit3 ruhmreid unter dem neuen
Banner gefochten. Es weht ſchützend über unferen Kolonieen und die Deutichen
find daran, jenjeit3 der Ozeane nachzuholen, was einft verfäumt wurde. Go ift
unſere nationale Pflicht eine doppelte geworden: fie richtet fi) nad) innen und
nad außen, und durch die ganze Welt muß Deutichland dafür forgen, daß jeine
Söhne in fremden Ländern ſich des Vorzugs bewußt werden, Deutjche zu jein,
daß ihre Kraft der deutichen Heimat nicht verloren geht. Bisher war der
Deutihe draußen „Kulturdünger" für andere Völker, die ihm kaum dankten; jet
gilt es, dem Deutjchen felbft und dem Reiche feine Arbeit nutzbar zu machen.
Die Deutfchen fchufen fi einft eine große Zeit, indem fie die ihnen eigene
Thatkraft entfalteten, aber fie verloren das mühevoll Errungene, weil fie nicht
verftanden, mit ihr den politifhen Einheitsgedanfen zu vereinigen. So tft ber
rechte Pfad zu dauerndem Glüd, die alten Tugenden zu erneuern und die alten
Fehler abzuftoßen. Der Einzelne foll wiffen, daß er vornehmlich nur durch feine
eigene Leiftung vorwärts fommen, daß der Staat nidht alles für ihn thun kann,
aber er darf darüber nicht vergeffen, daß fein Werk nur dann zu gedeihen ver-
mag, wenn über ihm ein mächtiger Staat waltet und die Wege nad) innen und
außen erjchließt, ein Staat, der jedes ihm gebradjte Opfer wirklich lohnt. Der
Gedanke, der einft die Genofjenfchaften durhdrang: Alle für Einen, Einer für
Alle! muß zum Reichsgedanken werden. Ein echtes Nationalbewußtfein erfor:
dert, daß jeder Teil dem Ganzen, das Ganze den Teilen dient. Der Einzelne
Toll fich bewußt fein, daß er nur durd die Nation etwas bedeutet, die Nation
ſoll willen, daß nur die freudige und freie Hingabe der Volksgenoſſen das
Ganze dauernd und fihher tragen kann. Nach langen Srrfahrten ift Deutſchland
in den nationalen Hafen eingelaufen. Noch ſchwanken draußen viele hin und
her; mögen fie einfehen, wo fie am beften geborgen find, dann werden ſie ihre
Schiffe zuverfichtlich dorthin lenken.
Ein Spridwort fagt: „Hochmut kommt vor dem Fall”, und vorzeitige
Sicherheit trügt. Wir haben viel errungen, aber alles Erkämpfte muß erjt noch—
mals verteidigt werden, ehe es zum feften Befit wird. Das wird die Aufgabe
der nachfolgenden Geſchlechter fein. Unfere Zeit verfällt leicht in den Glauben, es
müffe alles jo fein und bleiben, wie es ift, ohne zu bedenken, wie ſchwer es
Theodor Lindner, Die Entwidelung des deutichen Nationalbewußtſeins. 357
geihaffen wurde. Mag unfere Jugend in deutſchem Stolze überquellen, aber fie
darf nicht vergefjen, daß die Volksgeſchichte keineswegs jo ehrenvoll ift, wie es
der glüdlichen Jetztzeit erfcheint, daß tiefe Schatten in ihr vorhanden find, daß
e3 Zeiten gab und langdauernde, in denen die Deutichen ſich ſchämten, Deutjche
zu fein! Raſch wendet fi) das Schickſal eines Volkes, wenn diefes nicht jelber
dazu thut, feine Kraft auch ftetig zu vermehren. Seinem Volke wird etwas
gefchentt, und es liegt in dem Weſen der Geſchichte, daß ſchon ein Stillitand ein
Rückſchritt iſt, daß die bloße Erhaltung nicht genügt, fondern ein Wachstum
ftattfinden muß. Wer nicht fammelt, der zerjtreuet. Daher mag die lebende
Generation, aus ber bereit3 die Männer zu fchwinden beginnen, welche an der
Gründung des Reiches mitarbeiteten, defjen gedenk fein, daß es nicht des Fühlens,
fondern de3 Handelns bedarf, daß das nationale Bemwußtjein fi) in nationale
That umfeßen muß. Meiche werden durch Srieg gegründet, aber ihr Beſtand
und Gedeihen hängen davon ab, wie fte fich im Frieden bewähren. Hierin liegt
fogar die ſchwerere Leiftung; fein Blut für das Vaterland hingeben, ijt leichter,
als ihm in unabläffiger, feldftentfagender Arbeit zu dienen. Deutichland ijt
nicht fo geftellt, daß es, froh feiner leßten großen Zeiten, die Arme in den Schoß
legen dürfte, daß es ber getreulihen Arbeit jeiner Söhne entbehren Eönnte.
Unausgefegte Arbeit ift fein Lebensbedürfnid, und nur, wenn fie auf den einen
Punkt gerichtet ift, vermag fie volle Frucht zu erzielen.
Diefe Erkenntnis zu einer allgemeinen zu machen, fie zur That zu führen,
möge dieſe neue Zeitſchrift erfolgreich helfen, damit dereinft unfere Nachkommen
aus dem jetigen Jahrhundert ebenfo ftolz jcheiden fünnen wie wir aus dem
verfloffenen, und ihre Gedanken ſich finden in einem, dem deutfchen Gedanken!
Deutfche Sprüche.
Du follft der Zeit nicht aus Dem Wiege Und ob manch’ Teures finkt und fälıt
gebn, $n diefen wirren Tagen,
Du baft Dich tapfer mit ibr abzufinden; In Gott rubt auch Die kranke Welt,
Auf ibrem Plan den Feind mit zu beftebn, mie follt’ ich um fie zagen?
Zu Gottes Ebre mit zu überwinden.
*
Ein jeder Praffer © ſchwachlich bin= und Widerfchwanken,
Wird zum Verbrecher, © fremde Götzendienerei!
Er zeugt die balfer, Seid deutſch im Fühlen und Gedanken,
Er ruft Die Rächer. Und ihr feid grof; und ftark und frei!
Aus: „Auf Pfaben des Slide”, Lebenbſprüche von Aulin® Rohmener Georg Wigand in Leipzig.
0O000000000000
Die Gemütsmadt der deutſchen Frau.
Von
Fri Iienhard. ‚Sblup.)
n»* und Scopenbauer haben jehr herb und ätzend über frauen ge—
ſprochen. Beide waren Bewunderer Goethes. Sie find hierin diefem zarten
Frauenkenner und Frauenſchilderer mit feinem jeberiihen Tiefblid nicht nach
gefolgt. Es ift mit der Stellung zu den Frauen ähnlich wie mit der Stellung
zu Pflanzen und zur Natur überhaupt. Jene beiden Denfer fanden auch zur
Natur kein unmittelbares Berhältnis; ihre Sinne waren zu jehr, wie einmal
F. A. Lange allgemein jagt, „Abitraftionsapparate". Dem mehr dentenden als
ihauenden Schiller erging es ähnlich: er hat uns in jeimen Dichtungen nur ein-
jeitig Frauen gejchildert, während der natumahe Shakeſpeare hierin Meifter
war. Aber Scillers tieflauteres ethiiches Gemüt jtellte das Gleichgewicht wieder
ber; er ſprach hoch und würdig von der Frau, jo etwa wie Goethe im gereiften
„Taſſo““, wo im zweiten Aufzug die befannte jchöne Umjchreibung des „Erlaubt
it, was ſich ziemt“ unferer herglihen Zuſtimmung allzeit ficher iſt.
„Willſt du genau erfahren, was jich ziemt,
So frage nur bei edlen ‚rauen an.
Denn ihnen iſt am meijten dran gelegen,
Daß alles wohl fich zieme, was gejchiebt.
Die Schidlichkeit umgiebt mit einer Mauer
Das zarte, leicht verlegliche Geſchlecht.
Wo Sittlichfeit regiert, regieren fie,
Und wo bie Frechheit herricht, da find jie nichts.
Und wirft du die Geſchlechter beide fragen,
Nach Freiheit jtrebt der Mann, das Weib nach Sitte.”
Ich ftehe nicht an, zu wiederholen, was ſchon andere gejagt haben: die
Stellung zur Frau it ein Gradmeffer dev Ungetrübtheit unferes Seelenjpiegels.
it feine Fläche oder Wölbung blank und glatt, jo fällt aud) das Weltbild mit
Sternen und Bergen, Blumen und rauen herrlid; darein und leuchtet herrlich
wieder zurüd. Magit du üble Erfahrungen mit mander garitigen, kränklich—
verftimmten oder unedlen Frau gemacht haben — die Gefamtheit Deines
Urteil3 darf das nicht beeinfluffen.
Dieje Betrachtung darf an einer jchönen und tiefen Szene, die der wieder
entdedte Gobineau geichrieben bat, nicht vorübergehen. Die Freundſchaft jelbit
Fritz Vienhard, Die Gemütsmacht der deutichen Frau— 3549
zwiſchen durchgeiftigtem Mann und ebenjo Huber Frau ift eine andere als Die
Freundſchaft zwiſchen gleichitrebenden Männern. Immer miſcht ſich in die eritere
eine zarte Beigabe von mütterlicher, bräutlicher, weiblicher Neigung und Fürſorge,
das liegt tief in den Geheimnijien der Geſchlechtsunterſchiede. Wie reif und keuſch
bat Graf Gobineau in der letten Szene jeines Renaifjance-Dramas dies Ver-
hältnis zweier hoher Menſchen gejchildert! Der greiſe Michel Angelo nimmt
Abſchied von feiner ebenfo betagten Freundin Vittoria Colonna, Abfchied vielleicht
für diefes Leben. „Ihr feid Michel Angelo,“ ſpricht die verwitwete Marchefa mit
leifer Klage, „ich bin nur ein begreifendes Weib, genug begreifend, um den Ab—
ſtand zu ermeflen, der mein Mitfühlen von Eurer unbezähmbaren Thätigkeit
trennt. Ihr habt viel für die Welt gethan, und während Ihr den Thon Eurer
Statuen zu fneten glaubtet, habt Ihr in der That der allgemeinen Erkenntnis
neue (Formen und Ausdrudsweijen, die fie niemals gehabt hatte, vorgejchrieben.
Ich, was babe ich getban? Ich Habe viel geliebt den, der nicht mehr ift. Ich
habe Euch jelbit viel geliebt, und das ift alles. Aber der große Künſtler und
Menſch wehrt ab: „So habt Ihr denn ebenfo viel al3 ich, genau ebenfo viel
gewirkt... So lang uns der Himmel Euren edlen Gatten gelajfen bat, habt
Ihr ihn geliebt und feid in feiner Liebe fo glorreich beglüdt gewejen, ald es
einem Weibe, vom Weibe geboren, gegeben ift, ſich beglüdt zu fühlen. Glaubt
mir: es war das ein edles Thun, und die Tugenden, die fid) durch die Wonne:
ihauer ſolcher Liebe allmählih in Euch entwidelten, wurden gewißlich zum
Meifterwerfe menjchlihen Wertes." ein und richtig wendet jie ein, daß fie
durch den dauernden Befit des Glüdes an ſich nicht ganz jo gereift wäre, daß fie
vielmehr erft durch die rüdjchauende und überjchauende Einſamkeit, bei andauernder
Liebe, durch diefe nötig gewordene Sräfte-Anfpannung der treubleibenden Witwe
zu dem geworden ift, was ein wolfenlofes Glüd niemals aus ihr gemacht hätte.
Und Meifter Michel Angelo bringt ihre beiderjeitige Yebensarbeit in den jchönen
Ausdrud: beide hätten fie ihren Mitmenfchen hohe Beilpiele hingejtellt, er, indem
er ihnen Werke ſchuf, fie, indem fie fich jelbft zum Kunſtwerk machte. „Wenn
aljo mir der Weltgeift einige Errungenschaften verdankt, jo weigert mir, Marcheia,
den Ruhm nicht, mich mit Euch zu vergleichen, und laßt mic hoffen, daß wir im
teben ber Emigfeit ebenbürtigen Fluges zu vollflommen gleichen Belohnungen
uns werden emporjchwingen können.
Poheitsvoller kann über zwei Edelmenfchen nicht geichrieben werden.
Aber, um wieder in den Alltag zurüdzufehren, wir wollen noch eins nicht
vergeffen: Der Körper der rau iſt im Entwidelungsplan der Erde ftärker in
Anſpruch genommen als der leichter Ichreitende Mann. Biel Frauenlaune gilt es
hieraus zu verjtehen und zu tragen. Wenn fich mancher Jüngling jachlich und
nüchtern Elarlegte, dab das Weib, aljo auch feine Mutter, unter Lebensgefahr
und zahllojen Schmerzen und Sorgen die Erhaltung des Menſchengeſchlechts im
360 Fri Llenhard, Die Gemütsmacht der beutfchen Frau.
Gange hält, er würde ernfter und minder pikaut über Frauen fprechen, empfinden
oder an ihnen handeln. Wenn man fagt, die Mehrzahl der „modernen Weiber‘
ſei leider entartet, jo kann man fofort, nach dem Turnvater Jahn, antworten:
der Mann jei mannlich, jo wird die rau fraulich fein! Die Ueberreizung
zahllofer Frauen, befonders folder der Litteratur, ift nur ein Seitenftüd zu der nicht
minder Erankhaften Weberreizung unferer Litteraturjugend, ich habe darüber
anderwärt® genug gefproden. Ja, wie in der Liebe felber der weitaus be-
herrihungsftärfere Mann faft immer der verantwortliche Teil ift, jo ift für die
Entartung einer Zeit in erfter Linie der Mann verantwortlicd; zu machen. Die
zarteren Organe der freilih durch Scheu und Keufchheit behüteten Frau fallen
der einmal eingeriffenen Entartung immerhin leichter zum Opfer. Der Fanatismus
der Anardiftinnen oder Pariſer Betroleufen, die Menge von PVerlorenen —
welche Entartungen! Andererſeits aber: wie viel hohes Frauentum fammelte ſich
ftet3 um alle hohen Genien der Menjchheit! Nicht nur um Dichter und Künftler,
wie Goethe, Dante oder Michel Angelo, jondern auch um Chriftus und in Indien
um Buddha Es war nidt weibliche Neugier, es war weiblich-feherijcher
Inſtinkt, daß hier Kräfte ewigen Lebens feiern. Es war meibliche Liebe und
Dingebungskraft. Hohe Manneskraft wedt hohe Frauenkraft — und um:
gekehrt auch. Ein Adelsmenſch bringt mit Wort, Weſen und Werken das Beite
in und zum Erwachen, wie durch magnetifche Berührung, indes das Gemeine zu
gleicher Zeit von felber abdorrt, ohne daß man ein Wort weiter darüber verlöre.
Es ift eine der verbderblichften Srrlehren der Gegenwart, man müfje das
Leben „jo jchildern, wie es iſt“. Ja wohl, mein freund: nur fommt es darauf
an, wer das Leben jchildert und was du dir aus der Fülle des Lebens zum
Schildern herausholft, da du nun einmal fchlechthin „alles, d. h. einige Millionen
Borgänge, in deinem Sternfchnuppendafein nicht herausholen kannft. Wenn du
mir alfo „das Weib‘ fchildern willft, „wie es iſt“, fo ift das erftens eine thörichte
Verallgemeinerung; fodann aber wird fich nur zu bald verraten, wie du felbft in
die Frauenwelt Hineingefhaut haft. Unter dem Bann einer nicht hohen Per-
Jönlichfeit werden fich, bei ihren leicht jchrwingenden Nervenfäden, der frauen beite
Kräfte nicht entfalten, nicht ang Licht wagen. Wenn irgendwo, fo iſt juft bei
gemwifjen Leuten, die fich blinzelnd für praktiſche Frauenfenner halten, jedes herab-
ſetzende Wort wider die Frauen ein vernichtendes Urteil wider fie felber. Horde
einen Unbekannten, der dich befucht, über Frauen aus, und aus der Art, wie er
feine Urteile formuliert, erfährft du bald, wie e3 mit feiner charafterlichen
Neife überhaupt fteht. Freilich gilt das nicht nur von Frauen allein; Goethe
war in diejer ftillen Kunſt feinen vielen und oft aufdringlichen Bejuchern gegen-
über ein gelaſſener Meifter.
Und wenn mid nun eine Frau fragen würde: gewiß, wir wollen ja voll
Gemütskraft mitarbeiten an deuticher SHultur, aber wo ift unfer Feld? — fo
Fritz Lienhard, Die Gemütsmacht ber deutfchen Frau. 361
jtehe ich nicht an, weitherzig zu antworten: wo immer ihr es euch ſchafft. So
lange nur euer Gemüt und eure Weiblichkeit nicht nur „nicht Not leiden“ — denn
das wäre ſchon ein Stilleftehen und alfo Rüdgang der Entwidelung — jondern ſich
recht bethätigen, ald Ergänzung des männlichen Kampfes, da gilt das tapfere
Wort: „Alles ift Euer! Jede hat irgendwie einen Kreis, den fie ausbauen
fann — jie fange mit fich jelber an, fie jei felber in wirrer Beit eine har-
moniſche Ericheinung für die drei oder vier Menfchen ihres Umkreiſes. Hier ift
freilich der Mann befjer dran; er hat mehr Einfiedlerkraft. Die Frau bedarf
des Austaujches, des Empfangens und Gebens meift mehr als der Mann. Dafür
hat jie um jo mehr Kräfte der Geduld, wenn fie zuleßt entjagen muß. Freilich
find auch bier große Wertunterfcdiede zwifchen den einzelnen frauen. Wie
mande bejte Weiblichkeit muß auf fümmerlihem Erdreich vorzeitig verblühen —
wie eine Pflanze in der Natur um uns ber, in deven Geſetze wir erbarmungslos
nach unüberjehbarem Weltplan eingebaut find.
Das aber iſt das Wefentliche: daß wir alle wieder Ideale bekommen, wieder
die deutichen und menfchlichen Sdeale in neuer Tonart. Das wird ſich wie eine
Atmosphäre auf alles und alle durchdringend verbreiten, das wird unfere Zus
ftände beleben und durchleuchten wie nach langem, drüdendem Regen die Morgen:
luft eine3 klaren Sommertags, dejjen Reinheit man ſchon in der Frühe beim
Aufitehen fpürt.
1%
Broßltadtabend.
Letzte Blut der Zulifonne, — Mũde Räder, arme Pferde,
Draufzen, in der Flutenwonne, Schwüle Glut aus beifzen Steinen.
Feierruf jetzt, tief und labend, Ungebört verklingt ein Weinen.
Durch das Drängen, Durch Das Jagen
Raft ein leerer Leichbenwagen
Unter fchwarzem Stadtbabnbogen.
bier der heiſze Grofsftadtabend,.
Staub und Dunft und wirres Treiben,
Bbendglanz in grellen Scheiben,
Bbungerndes Bachbaufebaften, Draufzen: ftilles Gräferwogen.
Lieb und Leid und Luft und Laften, Leifer, weiber Abendfriede
Grelles, farbiges Bepränge, Wlebt mit feinem Beimcbenliede,
Robes Elend im Gedränge, Stebt mit feinem Silberborne,
bier verfcbämte Bittgebärde, Weber reitem aoldnen Korne.
Aus Frida Shang: Antermesso.
7. 9. Lattmann, Berlin, Goslar, Veipsig.
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Die gemeiniamen Züge im Weltenbau.
Von
M. Wilhelm Meyer.*)
U“ Planet iſt ein mittelgroßes Mitglied einer größeren Familie, deren Ober:
haupt, deren Mutter, wie wir wiljen, die Sunne iſt. Nur nod) zwei Ge-
ichwifter der Exde, Benus und Merkur, jtehen diefer ſegenſpendenden Allmutter
näher, empfangen noch direkter ihre Wohlthaten. Venus, der uns nächſte eben-
bürtige Weltkörper, ift fait genau ebenjv groß wie die Erde und vollendet, ent-
iprechend feiner größeren Sonnennähe. feinen Kreislauf um das allgemeine
Centrum des Syftems jchon in etwa drei PVierteljahren. Bon der alles Leben
bei und wedenden und unterhaltenden Sonnenitrahlung, der Sonnemwärme und
ihrem Licht, fließt unſerm nachbarlichen Gejtirne etwa noch einmal jo viel zu
wie uns. Fehlten jonjt ihm feine bezüglichen Eigenfchaften, jo wären die Lebens
bedingungen auf ihm günjtiger wie ‚bei uns.
Uber man kann aucd des Guten zu viel empfangen und von Ueberfluß
erdrüdt werden. Solche Verhältniſſe mögen auf dem ſonnennächſten Planeten
Merkur herrſchen, der nur etiwa vier Zehntel unjerer Sunnenentfernung von dem
Centralgeſtirn abjteht und etwa fiebenmal mehr Licht und Wärme empfängt.
Bei ihn jcheint ein Kompromiß zwischen feinen beiden Hemiſphären geichlofien zu
fein, um wenigſtens einer derjelben ähnliche Yebensbedingungen zu ſchaffen, wie
fie bei und das Leben fordert. Merkur wendet der Sonne beitändig diejelbe
Seite zu, jo wie eö der Mond mit der Erde madt. Dadurh muß auf der
Sonnenjeite eine fo verjengende Glut entitehen, daß nach unjern Begriffen an
ein Borhandenfein von Organismen dort nicht gedacht werden fann. Dagegen
fann auf der abgewandten Seite wohl eine ewig laue Dämmernacht berrichen,
die für eigenartig bejchaffene Wejen die nötigen Lebensbedingungen zu bieten
vermag. Merkur ift im Durchmefjer etwa dreimal Kleiner wie die Erde. Gr
jowohl wie Benus bejigen feine Monde.
Die Erde hat bekanntlich nur einen Mond (troß der gewaltigen Anitren-
*, Der gegemvärtige Artikel bildet einen Teil eines demnächſt im Verlage des „Allgemeinen
Bereins für deutjche vitteratur“ ericheinenden Wertes des Verfallers, „Der Untergang der Erde
und des Irdiſchen“.
M. Wilhelm Mever, Die gememſamen Züge im Weltenbau. 303
gung, die in den legten Jahren ein altronomticher Dilettant gemacht hat, um ihr
noch einen zweiten oder gar deren noch mehrere anzudichten), während alle übrigen
jonnenferneren Planeten wirklich mehrere bejigen, wenn man den allerferniten
Neptun ausnimmt, bei dem man zwar nur einen Mond fehen kann, der aber
aller Wahricheinlichfeit nad) doch noch andere beißt, die man nur wegen
der ſehr großen Entfernung, welche uns von ihnen trennt, nicht mehr jehen kann.
Der Mond der Erde iſt ein gar wunderlicher Geſelle. Seine Oberfläche,
die jedenfalld nur noch Spuren von Leben beherbergen wird, zeigt ſich nach allen
Richtungen Hin durchlöchert, als mwäre ein Bombardement von Kugeln aller
Größen, von Weltkörperausdehnung bis zu folchen, deren Spuren, von uns ge-
ſehen, wie feine Nadeljtiche erjcheinen, auf ihn niedergehagelt. Die Zahl dieſer
Löcher, ſoweit wir fie jehen können, ichäßt man auf 100000. rüber hatte man
gemeint, der Mond bejäte überhaupt feine Atmoſphäre, heute aber hält man
das Borhandenfein einer jehr dünnen Lufthülle für wahricheinlich, die ſich
namentlich in den Vertiefungen jener Löcher, jener Mondkrater, wie man fie nad)
einer alten Anfchauung über ihre Entſtehung genannt hat, vielleicht ſoweit ver-
dichtet, daß fie ein dürftiges Leben wohl noch unterftügen fann. Der größejte
Teil der Mondoberfläche ift wahricheinlich von Eis überdedt, das unter der Ein-
wirkung der Sonnenbeitrablung während eines vierzehn unferer Tage andauernden
bellen Sonnentages, dem eine ebenio lange Nacht folgt, zum Teil ſchmilzt und
dadurch Schon eine Atmoſphäre von Wafjerdampf bilden muß. In die Krater:
vertiefungen läuft dann das freie Wafler, und bier jieht man auch oft nach dem
Sonnenaufgange eine leichte grünliche Färbung, die wohl von einer fchnell auf:
wuchernden Begetation herrühren fönnte, welche aber unter der beftändigen
Sonnenglut des langen Tages bald wieder abitirbt. Wir haben bein Monde das
Bild einer im normalen Entwidlungsgange fait völlig hingeichiedenen Welt vor
uns, die nur noch ganz ſchwache Lebenszeichen giebt.
Der jenjeitige Nachbar der Erde itt Mars, halb jo groß im Durchmefjer
wie jie. Er tft der populärite von allen Dimmelskörpern, über den bereits Ro—
mane und Theaterſtücke gefchrieben worden find. E& giebt kaum noch ein Schul-
Eind, das nicht weiß, daß auf dem Mars fi Kanäle befinden, und vielleicht wird
er in der nächſten Reichstagsieilion als leuchtendes Beilpiel dafür herangezogen,
daß die vernünftigeren Weſen dort oben von jeher für die Kanalvorlage - waren.
Kaum weniger als über dieje lettere it über die Kanäle des Mars herum-
geitritten worden. Wir können uns hier nur ſoweit damit bejchäftigen, ald es
uns für die Frage des vermutlichen zukünftigen Entwidelungsganges der Erde
intereffiert, dev mit dem der anderen Himmelskörper in einem gewiſſen Sinne
parallel gehen muß. Wegen weiterer Details auc über die anderen aftronomifchen
Segenftände, die wir hier ftreifen müſſen, verweiſe ich auf meine populäre Nitro:
nomie „Das Weltgebäude“ (Leipzig, 1898, Bibliographifches Anititut).
364 M. Wilhelm Meyer, Die gemeiniamen Züge im Weltenbau.
Wir wiſſen nicht, was die Kanäle des Mars eigentlich find. Kanäle find
es jedenfall nicht, denn fie haben meift eine Breite von vielen Kilometern, die
für Waflerftraßen, mag der Verkehr auf ihnen auch noch fo gewaltig fein, finnlos
wäre. Aber ebenjo gewiß wie fie feine Wafferftraßen fein können, find fie auch
feine von der Natur allein gefhaffenen topographifchen Gebilde. Es find Ein-
richtungen intelligenter Wefen, die und unbelannten Zwecken dienen. Die Dis-
pofition diefer ganz geradlinig oder in genauen Kreisbögen auf der Mars:
oberfläche verlaufenden „Kanäle“, wie wir fie ja ebenjogut noch weiter nennen
können, wie wir die ganz ficher völlig trodenen Ebenen auf dem Monde als
Meere bezeichnen, ift derart, wie fie die Natur bei feinem ihrer: Gebilde jemals
hervorgebracht hat, fie zeigt eine offenbar zweddienliche Anordnung, zmeddienlich
nur für Wefen, melde den ganzen Weltkörper beherrſchen und zur Erfüllung
ihrer Aufgaben auf möglichft geradem Wege Berbindungen zwiſchen den ver-
ſchiedenen Teilen ihrer Welt herftelen mußten. Dabei brauchen diefe breiten
Streifen ſelbſt feinesmegs als bloße Verkehrswege angefprochen zu werden,
Mars hat wenig Gebirge, man müßte fie an ihren Schatten fonft erfennen. Er
muß vielmehr im großen und ganzen aus Flachebenen beftehen, die fi uns ala
gelbbraune Flede darftellen und in den verjchiedenen Jahreszeiten, deren Wir-
fungen auf dem Mars man nad verjchiedenen Richtungen bin deutlich verfolgen
kann, ihre Farbe nicht ändern. Man ftellt filh vor, daß es Sandwüſten find, in
welchen dieje Kanäle als breite Landftriche vertieft liegen, damit ſich bier die Feuchtig-
feit anfammeln kann, welche zur Entfaltung einer Vegetation und alfo zur Unter-
haltung des Lebens unbedingt nötig iſt. Man fieht deshalb im Gegenfate zu
den gelben Fleden, den fogenannten Randgebieten, diefe Kanäle ihre Farbe mit
den Yahreszeiten oft wechſeln, ja es ereignet fich regelmäßig im Frühjahr, daß
Kanäle allmählich erfcheinen, wo früher nur gelbes Landgebiet fihtbar war.
Diefe Kanäle waren alfo während der ungünftigen Saifon gänzlich ausgetrodnet,
und überzogen ſich num erft nad der deutlich erkennbaren Schneefchmelze an dem
betreffenden Pol des Planeten mit einer dunkel fchattenden Vegetation.
Die Kanäle verbinden die fugenannten Meere des Mars miteinander.
Aud) bei diefen verläßt man mehr und mehr die Meinung, daß es wirkliche, mit
Waſſer erfüllte Beden feien. Man erkennt in ihnen nod; Details, die Kanäle
jegen jich noch zuweilen bis tief in diefe dunfleren Gebiete hinein fort; aud fie
wechjeln ihre Farbe, und man will jogar grüne Färbungen auf ihnen wahr:
genommen haben. Bielleiht waren es ehemals Meere, die jegt im Austrodnen
begriffen find, alſo gleichfall3 tiefliegende Gebiete, in welche das Waſſer fidert
und wo das Schmelzwafjer fi) jammelt, der Lebensentfaltung eine günftige
Unterlage bietend. Diefe „Meere breiten fi) zum größten Teil auf beiden
gemäßigten Zonen aus, find alſo durch einen breiten äquatorialen Gürtel nad)
unferer Anfiht umfruchtbaren gelben Wüftengebiete® von einander getrennt.
M. Wilhelm Meyer, Die gemeinjamen Züge im Weltenbau. 365
Durch diefen Aequatorialgürtel nun zieht fich das wunderbare Syftem der Kanäle,
alle die fruchtbaren Tiefebenen mit einander verbindend durch gleichfalls Frucht-
bare breite Thäler. Alles dies ift zu augenfällig angelegt, um als Naturproduft
gelten zu können.
Nehmen wir alle unfere Erfahrungen über den Mars zufammen, jo ergiebt
ſich mit einer fo hohen Wahrfcheinlichkeit, wie fie bei fernliegenden Dingen nur
immer zu erreichen ift, daß auf diefem Nachbarplaneten die Gaben der Natur
anfangen, farg zu werben. Luft und Waffer beginnen zu mangeln, Sonnenlicht
und Wärme find kaum Halb fo intenfiv wie bei und. Mars ift eine alternde
Welt, die im übrigen der unfrigen jehr ähnlich ift, wo fich deshalb eine Natur-
entfaltung wie bie unſere einſtmals ficher hatte ausbreiten und bis zur Erzeugung
intelligenter Wefen emporwachſen können. Iſt dies der Fall, jo muß die Sintelli-
genz auf dem Mars um Yahrhunderttaufende älter fein wie bei und. Gie hat
die Natur gezwungen, unter ihrer Leitung fo riefenhafte Arbeiten zweckdienlich
auszuführen, wie diefe VBerbindungsthäler, in welche fih das Leben inzwijchen
zurüdziehen mußte.
Zwiſchen Mars und Jupiter, dem nächften großen Planeten, bewegt fic) die
Schar der jogenannten Planetoiden, Kleinen Planeten, um die Sonne, von
denen einer, Ero8, fi fogar zum größten Teile noch diesfeit der Marsbahn
bewegt und uns deshalb fo nahe kommen kann wie fonft fein anderer Planet.
Eros ift erft 1898 von Witt auf der Urania-Gternwarte zu Berlin entbedt
worden. Schon bald nad feiner Entdedung beobachtete man an ihm eine Eigen-
tümlichkeit, die man jonft an feinem Himmelskörper wahrgenommen hatte. Er
wecdhjelte in ganz kurzen Zwiſchenräumen von wenigen Stunden regelmäßig fein
Licht. Dies konnte nur daher rühren, daß das winzige Weltkörperhen in ebenfo
kurzer Zeit um ſich felbft lief und uns dabei abwechielnd fehr verjchiedene
Dberflächenteile zufehrte. Ya, die Bejonderheiten des Lichtwechfeld maden es
fogar wahrfceinlih, daß Eros eine beträchtlich von einer Kugel abweichende
Geſtalt befigt. Inzwiſchen hat man an einigen anderen Heinen Planeten ähnliche
Ericheinungen bemerkt. Als man zu Anfang des neungzehnten Jahrhunderts die
erften vier dieſer Eleinen Himmelsweſen aufgefunden hatte, diskutierte man eifrig
die Anficht, fie möchten Splitter eines einzigen größeren Planeten fein, den man
längft in jener Rüde vermutet hatte, dem aljo durch eine plößlich eintretende
Kataftrophe der Untergang bereitet worden wäre. Es war um diefelbe Zeit, da
man im allgemeinen der Kataftrophentheorie, dem fprungmweifen Bor: oder Zurück—
gehen der Natur in ihrer Entwidelung, zu Leibe ging und nur noch an volllommen
unmerfliche Uebergänge glauben wollte, welche zum Beifpiel aus einem in das
andere geologische Zeitalter oder aus einer in die andere Tier- und Pflanzen:
gattung binüberführten, während man ja früher geglaubt hatte, daß zwiſchen
jedem Zeitalter irgend eine Satajtrophe, wie vor dem legten die Sintflut, und
300 M. Wilhelm Meyer, Die gemeiniamen Züge im Weltenbau.
für jede organische Form ein bejonderer Schöpfungsaft ftattgefunden hätte. Wie
ſalſch nun zwar dieje Kataftrophenlehre war, jo mußte man ganz beionders in
neuerer Zeit immer mehr und mehr einräumen, daß ſolche Katajtrophen jeden-
fallö eintreten, wo man auch die Naturentwidelung verfolgt. So hat es beijpiels-
weiſe wirklich eine Sintflut gegeben, ımd was die Entftehung der Arten betrifft,
jo weiß man, daß jeit Darwin gar weidlic; darüber herumgeftritten worden iſt,
und daß man von ftreng wijjenfchaftlider Seite, man erinnere nur an einen
Virchow, triftige Gründe gegen die Anficht von einer ganz unmerflichen Ber-
änderung der Arten im Kampfe ums Dafein anführen fonnte. Es war namentlich
die Thatfache der ungemeinen Stabilität der Arten vor unjfern Augen nicht weg»
zuleugnen. Heute neigt man zu der lleberzeugung bin, daß nicht der ftetige
Kampf ums Dafein, jondern immer nur bejondere Ereigniffe die Arten ſchufen,
die dann, ſobald diefe bejunderen Einwirkungen aufhörten, in ſich abgefchloffen
und unveränderlich blieben. Statajtrophen, die über große Überflächenteile der
Erde einjchneidende Immälzungen veranlaßten, und die die verichiedenften Ur—
jadhen haben Eonnten, mußten deshalb aud eine weſentliche Beränderung des
Gejamtbildes der organischen Welt hervorrufen und fünnen nur jo die ftrenge
Trennung der geologiichen Horizonte erklären, für die man Uebergänge vergebens
jucht. Als man jeinerzeit die Weltkataftrophen ein für allemal aus dem Bereiche
dev Möglichkeit verwies, machte die Reaktion eben wie gewöhnlich einen Schritt
zu weit nach der anderen Seite; wir müfjen heute anerkennen, daß auf der Erde
ſowohl wie am Dimmel gewaltige Kataftrophen in der That eingetreten find,
und daß folglich auch diefe Keinen Planeten Trümmer eines Zuſammenſtoßes
fein Eönnen, ter eine Welt von der Größenklaſſe der Erde in Staub zermalmte.
Man ent heute weit über vierhundert Eleine Planeten, und ihre Zahl vermehrt
ſich noch beitändig. Die Eleineren jtehen längft an der Grenze der Sichtbarkeit
für unfere beſten Fernrohre. Es iſt deshalb anzunehmen, daß noch eine große
Zahl noch viel Eleinerer eriftiert, die wir niemals wahrnehmen werden. Zwar
glaubt man auf Grund einer Wahrjcheinlichfeitsrechnung, die fich auf das Zu-
nahmeverhältnis der Entdefungen zu den abnehmenden Größenklafien der Plane:
toiden ftüßt, erfannt zu haben, daß die Zahl diefer Körper mit zunehmender
Kleinheit nicht To bedeutend wächlt, ald man wohl früher vermutete. Der Zer:
Heinerung der Materie, die für jenen größeren Planeten bejtimmt geweſen war,
jcheint eine Grenze geießt worden zu jein. Wäre der ganze Umkreis mit jtaub-
artiger Materie erfüllt, fo müßte man ihn wohl am Himmel als Wing, ähnlich
wie den des Saturn oder der Mildhftraße, wenn auch noch jo ſchwach, leuchten
iehen. Der Ring des Saturn beiteht ja zweifellos aus ſolchen Weltftäubchen,
die jedes jelbftändig den Planeten umfreifen. Vielleicht haben ſolche Staub-
maffen neben den größeren in dem Planetoidenraume einjtmals erijtiert, aber
die größeren haben ihn durch ihre Anziehung von dieſem Staube allmählid) befreit.
M. Wilhelm Mener, Die gemeinſamen Züge im Weltenbant. 367
Der ganze Weltenraum ift ja von ſolchem Staub erfüllt. Jede Sternfchnuppe,
deren Millionen in jeder Nacht rings um die Erde herum fallen, ift Weltftaub,
und häufig fallen auch befanntlich größere Stüde, die Meteoriten, donnernd aus
den Himmeldräumen zu uns herab, ein plößlicher und völliger Weltuntergang
für diefe, denn fie gehen meift, durch die Reibung an der atmosphärischen Luft
auf das äußerfte erhikt, im Laufe von wenigen Sekunden in den gasförmigen
Zujtand über, ſodaß ihre auseinander jtürmenden Atome fi) rings über unjern
Planeten veritreuen, fich den Aufgaben diejes größeren Weltkörpers anfchliegend.
Nach der Anficht Seeligers ift das Zodiakallicht nichts Anderes als der
Widerjhein von Myriaden allerkleinfter Körper, die die Sonne in einem linjen-
förmig in der Richtung der Planetenbahnen ausgebreiteten Raume bis teilmweife
über die Erdbahn hinweg umgeben. Auch ſonſt fieht man am Himmel ähnliche
Sonnen, die jogenannten Nebelfterne, die in der Mitte einer ganz ſchwach—
leuchtenden Scheibe jtehen. Andere weite Gebiete am Himmelsgewölbe : ein:
nehmende Nebel können als ähnliche kosmiſche Staubwolken von allergrößten
Dimenfionen angejehen werden, und wir müfjen noch aus vielen anderen Gründen
annehmen, daß der Weltitaub eine jehr wichtige Rolle im Weltgebäude fpielt.
Jenſeits jenes Ringes der Eleinen Planeten bewegt ſich Jupiter, der
größte aller Planeten, um die Sonne. Im Durchmeifer ift er nur etiwa elfmal
kleiner als die lettere, und wenn man alle die von diefer Welt bekannt gewordenen
Charafterzüge zufammenfaßt, jo muß man ihn als eine alternde Sonne bezeichnen,
die vielleiht mit dem Gentralgeftimm zu ungefähr gleicher Zeit geboren, doc
wegen ihrer geringeren Größe von fürzerer Yebensdauer jein mußte. Wir willen,
dat die Sonnen ein jehr frühes Entwidelungsitadium der Weltkörper bilden.
Jupiter fteht demnach in der Entmwicdelungsreihe zwiichen der Sonne und den
Blaneten, diefen näher wie jener. Der gewaltige Körper ijt beftändig von einer
dichten Atmofphäre umgeben, die ed niemals geftattet, einen Blick auf feine
eigentliche Oberfläche zu werfen. Die beitändig, doch bei weiten nicht fo jchnell
mie auf der Sonne, ihre Geftalt wechjelnden Wolfengebilde fcheinen auch beim
Jupiter noch eigene Wärme und eigenes Licht auszuftrahlen. Cine Stelle diefer
Wolkenoberfläche hat feit den legten Jahrzehnten die beſondere Aufmerkſamkeit
der Aitronomen feitgehalten, der jogenannte rote Fleck. Ziemlich ſchnell, doch
nicht mit Eataftrophenartiger Plößlichkeit, erichien diefe rotbraun leuchtende Stelle
von etwa der Größe Europas und wanderte nun, abgefehen von der gemwühn-
lichen lImdrehungsdauer des Planeten, die ſehr kurz, ca. zehn Stunden, ift,
im Laufe der Jahre langſam erblafiend, vings um den Planeten herum. Man
hatte gemeint, diefen roten Fleck als den Widerjchein von einem Vorgang auf
der eigentlihen Oberfläche zu erklären, den die Wolfen auffingen. Man konnte
fich beiſpielsweiſe vorftellen, diefe Oberfläche ſei ſchon von einer leidlich feiten,
doch noch dünnen Krufte umgeben, die an jener Stelle wieder aufbrad),
368 M. Wilhelm Meyer, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau.
jodaß das glühend flüſſige Innere daraus Hervorgequollen fei. Aber die beob-
achtete Wanderung des Flecks läßt diefe Erklärung nicht mehr zu. Es müſſen
duch unbekannte Borgänge Maffen aus dem Innern des Planeten ausgefchleudert
worden jein, die in den oberen Atmofphärenfcichten eine eigene Geſchwindigkeit
durch die ausftoßende Kraft erhalten haben und mit diefer ihren Weg um den
Planeten fortjegen. Aehnliches haben wir auch in unferer irdifchen Atmofphäre
wahrgenommen, als durch den Ausbruch des Vulkanes Krakatoa in den Sunda—
Inſeln im Fahre 1883 ungeheuere Mengen Staub in die höchſten Luftregionen
emporgejchleudert waren, die dann Jahrzehnte lang und noch bis heute die Erde
umfreifen, ung als „leuchtende Nachtwolken“ gelegentlich fichtbar werdend. Aller-
dings können auf dem Supiter wohl kaum ſchon Vulkane thätig fein, da felbft
eine feſte Oberfläche fich dort wahrjcheinlich nod nicht gebildet hat. Troßdem
fönnen heftige Reaktionen des Innern gegen die Oberflächenſchichten ftattfinden,
wie man dies aud) bei unferer Sonne wahrnimmt, die ganz gewiß noch Feine
fefte Oberfläche befitt. Die Sonnenflede find in mehrfacher Hinficht mit diefem
roten led auf dem Jupiter zu vergleichen. Auch fie treten meift ziemlich fchnell
auf, um dann viel langſamer, allerdings duch ſchon nach Tagen, Wochen oder
höchſtens Monaten, wieder zu verſchwinden. Auch fie bleiben nicht an derfelben
Stelle der Sonnenoberfläce ftehen, und e3 ift bei ihnen gar fein Zweifel dar-
über, daß die Urſache ihrer Entftehung in tieferen Regionen der Sonne zu fuchen
ift. ebenfalls jehen wir es deutlid vor Augen, daß auf der Oberfläche des
Jupiter noch verhältnismäßig große Unruhe herrſcht, da deren Anblid jelbft aus
der ſchon recht großen Entfernung, die uns von ihm trennt, beftändigem Wechfel
unterworfen ift, während wir beijpieläweife auf dem Mars bei jeder feiner
Wiederfünfte in die günftige Lage für unfere Beobadhtung immer wieder die
felben Flecken an genau derfelben Stelle feiner Oberfläche bemerken. Auf dem
jugendlichen Jupiter haben fich die elementaren Naturgewalten noch nicht aus-
geglihen. Sie kämpfen noch mit wilden Ungeftüm um den Plab, der ihnen im
einer fünftigen Weltordnung diefes werdenden Himmelsförpers zu ruhigerer Mit-
wirkung an feinen Entwidelungsfreisläufen zuerteilt werden wird.
Auch injofern gleicht Yupiter der Sonne, ald er eine größere Anzahl von
anderen Weltförpern in feften Bahnen, die feine Anziehungskraft diktiert, um fich
Freijen läßt. Jupiter hat fünf Monde, von denen vier ganz anfehnliche Welt-
förper von der Größenordnung des Merkur, alfo größer wie unſer Mond, oder
dod in einem Falle ihm gleich find, während der fünfte, dem Planeten nächite,
wieder nur ein ganz kleiner Weltkörper ift, der erit 1892 durch das damals
größte Fernrohr der Welt zu entdeden war. Zwei ähnlich kleine Monde befitt
bekanntlich auch der Mars, aber feinen größeren daneben, die Erde nur ihren
einen verhältnismäßig großen Trabanten und die fonnennäheren beiden Planeten,
wie jchon oben erwähnt, feinen Mond überhaupt. Jupiter ift die erfte Welt mit
M, Wilhelm Meyer, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau. 369
einer zahlreicheren Familie von Nebenkörpern, die ein Syſtem für ſich bilden.
Aus unferer Entfernung gejehen, erjcheinen indes aud) jene größeren Monde nur
al3 ganz Eleine Scheiben, auf denen nur mit Mühe zumeilen einiges Detail zu
erfennen ift. Wir wiſſen aljo von ihrer Weltorganifation faſt garnichts. Aus
geringen Schwankungen des Lichtwechjel3 ift zu entnehmen, daß fie eine Eigen:
tümlichfeit unfere8 Mondes teilen, indem fie ihrem Planeten beftändig diefelbe
Seite zufehren. Diefe Seite ift wegen der noch vorhandenen Strahlung des
Jupiter aljo die bevorzugte. Es ift nicht ausgejchlofjen, daß hier noch die Be-
dingungen für eine Lebensentfaltung vorhanden find, auch wenn fonft dieſe
Monde ebenjo jchnelllebig gewejen wären wie der unfrige. Jupiter ift mehr als
fünfmal weiter von der Sonne entfernt wie wir, und die ftrahlenden Wirkungen
der Sonne auf ihn und feine Monde find deshalb etwa 27 mal geringer als
bei und. Dafür aber fonnte eine lange Zeit hindurch der gewaltige Planet,
der feine innere Glut nicht fo fchnell verlieren konnte wie etwa die Kleinere Erde,
feinen Monden bie nötige Yebenswärme |penden, einer zweiten Sonne in feinem
Syſtem vergleichbar, wenn auch fein Licht früher erlöfchen mußte wie das der
Sonne. Hier befindet ſich alfo, wie es jcheint, wirklich ein Eleineres Planeten:
ſyſtem in dem größeren, und wenn wir dad Schickſal des unfrigen, das
unfere Erde zu teilen hat, verfolgen wollen, jo fönnen wir in diefem jchneller
lebenden Eleineren Syfteme ein Zufunftsbild des unfrigen vermuten.
Auf Jupiter folgt Saturn in der Reihenfolge der Sonnenabftände, und
auch im Weſen ift er ihm am nächſten ftehend. Saturn ijt der zweitgrößte
Planet des Syſtems; aud) auf jeiner Oberfläche gärt e8 noch unruhig, wenn:
gleich man in diefer Hinficht wegen der großen Entfernung, die die der Erde vun
der Sonne um das Neunfache übertrifft, nur felten bezügliche Einzelheiten zu
erfennen vermag; auch er hat einen großen Hofjtaat von Trabanten um fid)
verjammelt, deren Zahl ſich ſogar auf acht beläuft; wir haben in ihm eine ganz
merkwürdig genaue Kopie des Sunnenfyftems vor und. Das Geltfamfte aber
an ihm find feine Ringe, die ihn näher al3 der nächſte feiner Monde umtreijen
und, wie ſchon gejagt, aus Myriaden von jelbftändig, wie allerkleinfte Monde,
von der Größe eines Sonnenjtäubchens vielleicht, fich bewegenden Weltkörpern
beftehen. Sie entjprehen in gemifjem Sinne der Anſammlung kosmiſchen
Staubes, welche nad; der vorhin ausgeſprochenen Anficht das Zodiafallicht her—
vorrufen. Allerdings erjcheinen die Ringe gegen den Saturn hin jcharf ab-
gegrenzt, während das Zodiakallicht, wie es jcheint, gegen die Sonne hin ſolche
Abgrenzung nicht befigt. Aber einerfeits ift es jehr ſchwer, wegen der Nähe ber
blendenden Sonne folde Unterfuhungen am XTierkreislichte zu machen, und
andererfeit3 zeigt es fich, daß au der Raum zwifchen der inneren Grenze der
Ringe und der Saturnoberfläche nicht ganz frei von der Ringmaterie if. Man
bat dort den fogenannten Schleierring entdedt, der wie ein leichter Hauch, ganz
24
370 M. Wilhelm Meyer, Die gemeinjamen Züge im Weltenbau.
und gar dem Zodiafallicht vergleichbar, hier den Himmelsgrund bededt. Die im
übrigen fcharfen Abgrenzungen der Saturnringe gegeneinander find, wie ich
feinerzeit theoretiich nachweilen konnte, die notwendige Folge der beionderen An-
ziehungen der größeren Trabanten auf dieje Eleineren, die den Ring ala Staub-
wolten zufammenfeßen: Die Monde des Saturn halten feinen Ring in feiner
gegenwärtigen Gejtalt zufammen.
Ich habe diefes Ringſyſtem mit dem Tierkreislichte und nicht etwa mit
dem Ring der kleinen Planeten zwifchen Mars und Jupiter verglichen, weil der
eritere auf Eeinen Fall infolge einer Zujammenjtoß- oder anderen Kataſtrophe
entftanden jein fann. Für diefe Annahme bei den Kleinen Planeten konnte auch
der Umftand fprechen, daß jie meift jehr ercentrifche Bahnen befchreiben, die außerdem
abjeit3 der allgemeinen Ebene liegen, um die fich die übrigen Planeten gruppieren.
Es ift, als ob fie alle durch den vermuteten Zufammenftoß aus der urjprüng-
lichen regelmäßigeren Bahn jenes angenommenen größeren Planeten hinaus—
gejchleudert worden wären, deſſen Splitter fie nad) diefer Anficht find. Die
Saturnringe aber zeigen folche Unregelmäßigkeiten nicht. Man bat feine um:
fyummetrifhe Lage derielben zum Saturncentrum mit Sicherheit fonftatieren
fönnen, und jie find in einer Ebene vergleichöweife jo dünn wie eine Papier—
ſchicht ausgebreitet, in der ſich weiter außerhalb auch die übrigen Satelliten be
wegen. Die Saturnringe müffen das Produft einer langfamen Entiwidelung oder
Gruppierung der urfprünglichen Materie fein, aus der fi das ganze Syſtem
gebildet bat, und ſehr wahrjcheinlich find fie gewiffermaßen embryonale Satelliten,
die fich durch ganz langfanıen Zufammenfchluß der einzelnen Staubteilhen all-
mählich aufbauen.
Die Monde des Saturn find jehr verichieden groß. Der Eleinfte von
ihnen fteht an der Grenze der Sichtbarkeit für uns; der größte aber erreicht
nicht ganz die Größe des unfrigen. Jener Eleinfte befindet ſich in einer Lücke,
die der der Heinen Planeten im Sonnenfvuften etwa entſpricht. Es ift möglich, daß
man bier noch eine Anzahl anderer Monde entdeden würde, wenn die Kräfte
unjerer Fernrohre dazu ausreichten. Der entferntefte Mond des Saturn,
Japetus, ändert fein Licht in ganz auffälliger Weife mit feinem Umlauf um den
Planeten. Befindet er fich mweftlih vom Hauptförper, ſo ift er in mittleren
Fernrohren ganz gut zu jehen. Sein Licht nimmt aber nun mehr und mehr ab,
je weiter ex fich dem öftlichen Teile feiner Bahn nähert, und ift jchließlih nur
noch mit den beiten Sehwerkzeugen als verfchwindendes Lichtpünktchen zu er-
fennen; von bier ab nimmt er dann wieder regelmäßig zu. Wir Haben ſchon
früher erwähnt, daß man diefe Erfcheinung nur dadurch erklären kann, daß der
Mond jehr verichiedene Oberflächenhälften befitt, die er während eines Umlaufes
um den Planeten je einmal ung zuwendet. Much er kann alfo ebenjo wie unfer
Mond feine eigene Umſchwungsbewegung bejißen. Bei feinem anderen Welt-
M. Wilhelm Mever, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau. 371
förper tritt dies im jo deutlicher Weije hervor wie bei diefem. Die übrigen
Monde des Saturn zeigen indes gleichfalls Andeutungen, die auf diefelbe Be—
wegungseigentümlichkeit fchließen lafjen, die das bejondere Attribut der Monde zu
fein fcheint und dadurch dem ſonnennächſten und zugleich Eleinften Planeten
Merkur eine Sonderftellung gewiffermaßen als Mond der Sonne einräumt.-
Jenſeits des Saturn umfreifen die Sonne nod Uranus und Neptun,
die wieder Fleiner find wie Jupiter und Saturn, jedoch größer wie die, eine
bejondere Gruppe in jeder Dinficht bildenden, fogenannten inneren Planeten
Merkur, Benus, Erde und Mars. Bon jenen fonnenfernften beiden Planeten
willen wir nur fehr wenig. Man kann keine Detail3 mehr auf ihnen unter-
icheiden. Uramus bejigt vier, Neptun, joviel wir wifjen, nur einen Mond. Die
Satelliten des Uranus zeigen eine Eigentümlichkeit, die fie von allen andern
Körpern des Sonnenſyſtems wejentlich unterfcheidet: Die Ebenen, in denen fie
ih um ihren Hauptkörper bewegen, ftehen nahezu ſenkrecht auf jener allgemeinen
Ebene, in der ſonſt alle Körper des Syſtems angeordnet jind. Entweder hat
bier, an den Grenzen des Sonnenreiches, von außen her ein unbekannter
jtörender Eingriff ftattgefunden, der, könnte er auch einmal der Erde paifieren,
das ganze Getriebe der Naturwirkfungen auf ihr von Grund aus ändern
und aljo einen Untergang der beftehenden Ordnung bedeuten müßte, oder es
müffen bei der Bildung diefer Monde noch wejentlich andere Verhältniffe geherricht
haben al3 in den inneren Regionen de Sonnenreiches. Hierfür fpricht auch der
Umstand, daß der Mund des Neptun zwar in der Vlanetenebene, aber in ent-
gegengejegter Richtung umläuft wie fonft alle permanenten Körper des Syſtems,
die vierhundert Eleinen Planeten inbegriffen. Aber aucd hier kann ein und
derjelbe von außen wirkende Eingriff die Bahnebene des der Urſache näheren
Neptunmondes um volle 180°, die der Uranusmonde gleichzeitig nur um die
Hälfte diefes Winkel gedreht haben. Je weiter wir uns von der Erdbahn ent
fernen, je geheimnisvoller und fremdartiger treten uns die Weltkörper entgegen,
welche dennoch zweifellos alle ein und denfelben Urſprung entweder aus oder
gleichzeitig mit dem Gentralgejtirn gehabt haben.
Diefe Sonne im Mittelpunfte überwiegt alle anderen Körper ihres
Syftem3 bei weiten an Mafje, das heißt an Kraft, mit der fie nicht nur diefe
Körper regiert, ſondern auch unausgefett mit den Wohlthaten ihres Lichtes und
ihrer Wärme überjchüttet, ohne welche das Leben nicht möglich wäre. Eine ganz
unermeßliche Lebenskraft erfüllt ihren ungeheueren Körper, der im Durchmeſſer
108 mal, in feinem Förperinhalt 1'/, Millionen mal größer ift als unfer irdiicher
Planet, der ja beinahe jchon uns Menjchen zu Elein zu werden begimit.
Freilich ift die Maſſe weniger dicht in diefer ftrahlenden Kugel verteilt, aber man
würde doch immerhin mehr als dreihundert Erdfugeln aus dem Stoffe der
Sonne formen fünnen.
24°
372 M. Wilhelm Meder, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau.
Auf der Sonne herricht ohne Zweifel eine ungehenere Hitze, die wir auf der
Erde auch nidt in kleinem Umfange annähernd hervorbringen fönnen. Denn
das Speftrojfop lehrt uns, daß dort die Metalle als glühende Dämpfe eine
Atmoſphäre bilden wie bei und der Waflerdampf, der Sauerjtoff und der Stid-
ftoff, welche beiden letzteren Gaje jchon bei einer Temperatur um — 200°
berum flüchtig werden, während beijpieläweile Eijen, das in ungeheueren Mengen
in Woltenform die Sonne umſchwebt, bei + 3000° noch gar feine Miene mad,
in Dampfform übergehen zu wollen. Nur in der gewaltigen Energie des elef-
triſchen Flammenbogens werden minimale Mengen der Metalle mit losgerijjen
und dabei offenbar größeren Temperaturen ausgefett, ald wir fie noch meſſen
fönnen. Hier zeigen dann im unendlich feinfühligen Spektroffope diefe Metalle
die Speftrallinien, welche fie nur im dampfförmigen Zuftande befiten, und die
Uebereinjtimmung diefer Linien mit denen im Sonnenfpettrum bemeift uns ihr
Borhandenjein auf dem Centralkörper, der in chemifcher Dinficht eine ganz ähn-
liche Zufammenfegung verrät wie die Erde. Sie find beide aus demjelben Stoffe
gemadt. Man hat deshalb die Sonne für die Mutter der Erde und der übrigen
Blaneten angejehen.
Die wahre Temperatur der Sonne zu bejtimmen, begegnet großen Schwierig:
keiten. Man hatte früher jelbit für ihre Oberfläche, die ja jedenfall ganz be-
deutend Eälter jein muß wie ihr Inneres, ganz enorme Temperaturen gefunden,
die fi nad; Hunderttaujenden von Graden bezifferten. Die neueren, von ganz
verfchiedenen Gefichtspunften aus geführten Unterfuhungen laufen alle auf
wejentlich geringere Temperaturen, etwa zwijchen ſechs und achttaufend Centi-
gerade hinaus. Wegen des Drudes der überliegenden Schichten muß indes ganz
ebenjo, wie wir es beim Cindringen in die Erdkruſte wahrnehmen, fich die
Sonnenwärme in hohem Make jteigern. Nach neueren theoretijchen Unter:
ſuchungen von Efholm ergiebt fich die mittlere Temperatur der gefamten Sonnen:
mafje zwiichen 4 und 200 Millionen Graden.
Aufgejpeicherte Wärme oder Arbeitsvorrat iſt dasjelbe. Wie wir in den
Dampfmaſchinen die Wärme zur Arbeit verwenden, jo thut es die Natur in
ihren lebendigen und Ieblofen Mafchinen in noch viel volllommmerem Maße.
Außer der allgemeinen Anziehungskraft der Mafjen, welche die großen Bewegungen
der Weltförper regieren, wird alle Arbeit in der Welt von derjenigen geheimnis-
vollen Wirkung zwifchen den Eleinften Teilen der Materie ausgeführt, die wir im
weitelten Sinne als Wärme bezeichnen können, da alle diefe fogenannten moleku—
laren Bewegungen, mögen fie nun als Licht, Elektrizität oder in irgend einer
anderen Form für und in die Erjcheinung treten, jih in Wärme verwandeln
laſſen. Ausführliches über dieje Beziehungen fann man in meinem demnädjit im
Berlage des Bibliographiihen Inſtituts in Leipzig ericheinenden umfangreicheren
Werke „Die Naturkräfte“ nadlejen. Der ungeheuere Wärmegrad der Sonne
M. Wilhelm Meyer, Die gemeinjamen Züge im Weltenbau. 373
beziffert alfo ihre Arbeitskraft, die fie noch in das Weltall hinauszuftrahlen vermag.
Ya, theoretifche Betrachtungen haben es ziemlich fiher gemacht, daß die Sonne,
trotzdem jte beftändig enorme Mengen von Wärme in einen Weltenraum hinaus
ftrömen läßt, deſſen Temperatur nicht viel über dem fogenannten abfoluten Null»
punkt, — 273, liegt, noch beftändig heißer wird.
Bon diefer Sonnenftrahlung empfangen die Planeten nur einen ganz mini-
malen Teil. Nur foviel können fie ja offenbar davon auffangen, als die Planeten,
von der Sonne aus gefehen, von der ganzen Oberfläche des jcheinbaren Firma—
mentes bededen, und das ift im mefentlichen nicht mehr, als die Planetenjterne
auch von unjerm Himmelsgewölbe wegnehmen. Es iſt leicht auszurechnen, daß
died nur den 229 millionjten Teil der ganzen Sonnenfraft ausmacht; die Erde
aber empfängt hiervon wiederum noch nidyt den zehnten Teil. Und doch mird
von dieſem verichwindenden Bruchteil der Sonnenkraft unfere ganze atmo-
Iphärifche Mafchine in Bewegung erhalten, werden in jeder Sekunde Millionen
von Kubikmetern Wafler zu den Wolfen emporgehoben und zwilchen den Zonen
fort transportiert, und alle Flüffe ftrömen nur durd fie. Welche Aufgaben jener
Hauptteil der Sunnentraft, der fich Scheinbar im leeren Weltraum verliert, bier
zu erfüllen bat, das wiſſen wir nicht; jener Tropfen aber aus einem Meere von
Kraft, der uns feit Jahrmillionen in ununterbrodenem Strome zufließt, hat all
das Leben gefchaffen und erhalten, das die Erde durch den Wechjel der geologischen
Zeitalter trug, und wird all das zukünftige Leben jchaffen.
Infolge der ganz ungeheueren Temperaturdifferenz zwilchen der Oberfläche
der Sonne und ihrem Innern finden in ihrem Körper beftändige Strönnngen
ftatt, die den Ausgleich hervorzubringen ftreben. Diefe Strömungen find Die
Urfache der großartigen Borgänge, die mir täglich” aus einer Entfernung von
zwanzig Millionen Meilen wahrnehmen, oft ſogar mit unbewaffnetem Auge:
Sonnenflede entitehen zuweilen in wenigen Tagen in ganzen Gruppen, die einen be-
trächtlichen Teil des Sonnenumfangs ſcharenweiſe überdeden und die betreffenden
Atmofphärenichichten in wirbelnde Bewegung verjegen. Mehr und mehr zeigt
ed ſich, daß dieje Sonnenflede im Wefen volllommen mit unfern irdifchen
Eyflonen zu vergleichen find, die ja auch ihre Entftehung Temperaturdifferenzen
verdanken. Wir fehen oft fehr deutlich die Wirbel- und Trichterform der Sonnen-
Hefe und Eonftatieren, daß fie mit beträchtlichen Geichwindigkeiten über. die
Sonnenoberflähe dahinrafen. Sie zeigen eine deutliche Periode von elf Jahren,
in denen fie häufiger auftreten. Wir haben in der Vergleichbarkeit der Bewe—
gungen in der Sonnen= und der Erdatmofphäre eine der jo ungemein merkwür—
digen Parallelen der Naturthätigkeit vor ung, die uns zeigen, daß alles Natur-
geschehen aus einheitlichen Uriachen, ein und derjelben aroßen Geſetzlichkeit ent-
ipringt, die fih in allen Stufen der Naturentjaltung durch wefentlich gleiche
Erjcheinungen offenbart, mögen fie nun in molekularen Dimenfionen oder auf
374 M. Wilhelm Mener, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau.
Weltförpern auftreten. Dort auf der Sonne haben ſich ertreme Temperaturen
auszugleihen. Die Natur nimmt dazu Wolfen aus Eifen: und Silberdampf,
die fie in unvorftellbar gewaltigen Stürmen durceinanderpeiticht; bier unten
genügt ihr zu demjelben Zwecke das Wafjer, welches ſchon bei 100 ° verdampft.
Dennod; würde zum Betjpiel ein Beobachter auf dem Mars gelegentlich ſpiralige
Gebilde über Erdftriche binziehen fehen, die ein ganz ähnliches Ausfehen wie die
Sonnenflede zeigen. Schluß folgt.)
&
Marſch der Seekadetten.
AD"®: AMarfch! Adarfch! Adarfch!
Und kommen zu Land Die
Kadetten,
So gebt ein Gekicber am Rain:
Die Blumen, die ſchlanken und netten,
Die Ranken, Lianen und Kletten,
Als wenn fle Röckchen bätten,
Rundum, waldaus, waldein,
beben und beugen fi fein,
Marſch!
Und ſeht Ihr nicht, und ſeht Ihr nicht,
Und febt Ihr am Bitter Das
Blumengeficht
Und febt in der Laube Das zweite?
Marſch! Marſch! Marſch! Marſch!
Unglaublich, wie der Mat verfchönt,
Wenn man, ans graue Weer gewöbnt
Und von dem Salzwind braun gewebt,
Durch Mädels und Durch Blumen gebt,
Als gaing’s zu Ball und Freite!
Marfch! Marſch! Adarfch! Adarfch!
Voraus, was geb’n uns Blumen an?
Wir find des Kaifers, Adann für dann,
Wir brauchen kein Geleite!
Marſch!
Doc balt, Doch halt, eins tbät’ mir leid:
Weifz auch die Kleine am Gitter
Bon deutfcher Flotte lebendig Beſcheid
Und träumt nicht von Drachen und
Ritter?
Tot find die Ritter, die Drachen befiegt!
Doch unfer eiferner Drace fliegt
Mit jungen Rittern in Flammengetos
Buf andere Drachen lebendig los!
Das foll fie wiffen, Das Blumenkind,
Und morgen, wie balt die Mädels find,
Dlaudert fie weiter und wiſpert's
umber —
Achtung fchafft fie dem deutfchen Adeer!
Marſch!
Und wenn Freund Hans der Zweitc
wär’,
So könnt’ er der Zweiten dDabinten
Den Elmsblit3 und dergleichen Bär’
Aufg reizende Mäschen binden.
Freund — lafz die and’ren zum
Trunke geb’'n!
Marſch! Marſch! Marſch! Marſch!
Uns zwei laſz ſtramm auf Poſten fteb’'n;
Wir müffen in Gitter und Geisblatt
fein,
Der Flotte zu nutz, zu Gafte fein!
Adarfch! Marſch! Marſch! Marſch!
Und kommen zwei junge Kadetten,
50 gebt ein Gekichber am Rain —
Marſch — —
fritz Lienbarb.
FSIESIESIESIESIESIESIESIESIEDIESIFDIESIEDIESIESIESIESIE SIE DIE SIESITDIE DIT DIDI 3173)
Der engliihe Zwilchenhandel als Deuticdtenfeind.
Von
Alexander von Peez.
D: feftländifche Reifende, der nad England fommt, macht gern ben Ausflug
durch die London Dods; er blidt verblüfft in die jchier unabfehbar langen
Keller und ftaunt über die Zahl und Höhe der Speicher und die Stärke und
Bequemlichkeit dev Ladeporrichtungen. Dies Bild des Welthandeld ift ftets
anziehend für den Beſchauer, aber in den jeltenjten Fällen ahnt letterer, daß ein
gut Teil des vor ihm entfalteten Getriebes vom Safte der eigenen Heimat des
Reifenden genährt und mur duch eine Fluge Politit an die Geftade Groß—
britanniens verfekt jei.
„England ift als eine große Niederlage für Europa zu betrachten,“ jchrieb
vor fünfzig Jahren ber engliiche Statitifer Porter. England war, damals noch
weit mehr wie heute, der in die See vorgefchobene Bolten Europas, welchem aus
Amerika, Afien, Afrifa und Auftralien die Waren zuftrömten, hier auf Land
famen und in den englifchen Borratshäufern abgelagert wurden, um dann ent-
weder in den eigenen Verbraud; Großbritanniens zu gelangen oder aber zur
Weiterverjchiffung und zum Verkaufe an die europäifchen Länder hergerichtet,
verteilt und verjendet zu werden. An die Berforgung des großen eigenen Marktes
lehnte ſich jolchergeftalt ein mächtiger Zwifchenhandel. Der lektere mar eine be-
deutende Quelle des englifchen Wohlftandes. Er nährte Schiffahrt, Seeverficherung,
Dafenanlagen, Warenjpeicher, Transportwejen, Kreditgeſchäfte und zahllofe damit
verbundene Arbeitäleiftungen. Die meilenweit an Themje und Merfey u. a. fi
eritredenden Yagerpläße warfen den Grundeignern, meiſt Mitgliedern des hoben
Adels, bedeutende Gewinne ab. Der Zwiſchenhandel, jtetig wachjend, verwohl—
feilte den Bezug der überſeeiſchen Rohftoffe für den engliichen Induftriellen. Wenn
der leßtere noch in manchen Zweigen bejonders gute Waren liefert, jo verdankt
er das zu nicht geringem Zeile dem reich ausgeftatteten, mit allen Qualitäten
und Spezialitäten verfehenen Markte. In der Megel behielt die englifche In—
duftrie das Neuefte und Beite für fih. Der andere Teil ging auf den Kontinent,
wobei der engliihe Verkäufer durch Kreditgebung, oft auch durch Mifchung, kurz
durch die jogenannte „Warenmanipulation” und, wie zu vermuten ift, durch früh
376 Ulerander von Peez, Der engliſche Zwiſchenhandel als Deutfchenfeind.
ichon auftretende Truſts und geheime Berabredungen über Preife vom Feitlande
hohe und fehr fichere Gewinne nahm. Nun, mehr oder weniger liegt das alles
in der Natur des Handels und zumal des Zwijchenhandels.
Nicht in der Natur des Handels aber lag die Notwendigkeit, daß dies Ver—
hältnis zwiſchen England und dem Stontinente ewig dauern müſſe. Es war ja
doh im Grunde ein Fünftliches. Es Hatte ſich vorzugsmeife entwidelt in einer
Zeit, da das Feitland durch die napoleonischen Kriege zerrüttet war, während die
meerbeherrfchende Inſel Albion in ftolzer Sicherheit ihre pruduftiven Kräfte aus-
bildete und wie ein Eiland des Friedens den Welthandel bei ſich fammelte, jedoch
nicht ohne vorfichtig genährten Krieg nach Deutfchland, Defterreich, Italien,
Rußland und Spanien zu tragen. Diefer Zuftand war in die Friedenszeiten
nad) 1815 hinein geblieben, da die Völker des Kontinents ſich mühfam von den
Folgen zwanzigjähriger Kämpfe erholten, und ihre Leiter, unfundig des Welt-
bandels, in Eleinlichen Dingen jich erichöpften. Aber mit dem Jahre 1848
begann die Nenderung. Die Bölfer fingen an, größeren Einfluß auf ihre
eigenen Angelegenheiten zu gewinnen. Die Induſtrie des europäiichen Feſt—
landes bob fid), der Bedarf an fremden Waren ftieg, an der Auswanderung
rankte ſich ſchon die einheimische Schiffahrt empor. Und damit war die Zeit ge-
fommen, wo man fich in Deutichland und namentlich den Hanfeftädten fragte,
warum denn die überjeeiichen Waren, wie erichöpft einfallende Zugvögel, erft auf
einer fremden Inſel abfteigen und ſich rupfen laffen müßten, während fie doch in
kürzerer Zeit und mit geringeren Spefen belaftet in die Häfen der Verbrauchs—
länder gelangen könnten? Jeder Blid auf die Karte zeigt, daß nicht London oder
Liverpool, fondern die belgischen, holländiſchen und hanſiſchen Häfen die größere
Eignung zur Verforgung Mitteleuropas mit Waren des Weltmarktes befigen.
Antwerpen, Rotterdam, Amfterdam, Emden, Bremen, Hamburg — das find die
natürlihen Stapelpläte für unferen Zwiſchenhandel. Bon ihnen ftüßen fich die
belgifhen und holländiſchen Häfen auf eiu dichtbevölfertes, induftriereiches Hinter-
land, welches durch die vorzügliche Wafjerftraße des Rheinſtromes fich bis Mann-
heim erftredt; fie find jedocd durch politifche und Zollichranten vom eigentlichen
Mitteleuropa getrennt. Emden erwacht durd; den Dortmund-Emskanal zu neuem
Leben. Bremen ift Wejerhafen und pflegt mit erfolgreiher Sorgfalt den Ber-
jonenverfehr und gewiſſe Spezialitäten des Welthandels. Bon allen diefen Häfen
jedoch der mächtigfte und zukunftsreichfte ift Hamburg, welches aus diefem Grunde
auch von England mit wenigit günftigen Bliden angejehen wird.
Je tiefer eingefchnitten die Bucht, an welcher ein Hafen liegt, in den Kon—
tinent ift, je gewerbreicher fein Hinterland und je bejjere Verkehrswege feinen
Einfluß in das PBinnenland hinein erweitern und erftreden, um jo mehr Aus-
lichten des Gedeihens! Bei Hamburg treffen alle diefe Umftände zufammen. Bier,
an dem Miündimgsgebiete der Elbe, ift der Endpunkt der wohlfeilen direften Fahrt
Alexander von Peez, Der englifhe Zwijchenbandel ala Deutjchenfeind. 377
der großen, von Weberjee fommenden Dampfer, da die cimbrifche Halbinfel die
Weiterfahrt der durch das deutfche Meer herankommenden Schiffe verwehrt. Ohne
die cimbrifche Halbinjel würden die Dftjeehäfen, würden Lübed, Stettin, Danzig,
Riga einen größeren Anteil am atlantiſchen Welthandel haben, den jet Hamburg
für fie ausübt. Der Kaifer Wilhelm-Kanal Eonute nur zu einem Eleinen Teile
die Konkurrenzbedingungen ausgleichen. So ift Hamburg ber vorherrichende
Stapelplat für die deutichen Oftfeeländer, für das nördliche Rußland und große
Teile der ſkandinaviſchen Halbinjel. Außerdem aber und vor allem ift es der
Hafen der deutfchen Mittelländer und erftredt feine Verbindungen vermittelt der
guten Wafferftraße der Elbe durch das gemwerbereiche Sachſen (ſowohl Provinz
wie Königreich) nad) Böhmen, Mähren bis Wien, ja darüber hinaus. So wurden
Hamburg und Bremen die Site der großen deutſchen Dampfergefellichaften; die
beiden Hanfeftädte der Nordſee bilden die bdiesfeitigen Pfeiler der Brüde über
den Ozean, deren jenjeitiger Pfeiler in New York fteht.
Sobald daher Deutihland nah Erringung feiner Einigung feine (haffenden
Kräfte auszubilden begann und aufhörte, da3 Schlachtfeld Europas und ber
Tummelplatz für alle möglichen diplomatiſchen Machenſchaften zu fein, entftand
ein natürliher Zug des Zwiſchenhandels von den englifchen Küften direft nad)
den Geftaden Mitteleuropas. Hamburg und Bremen erkannten die Konjunktur.
Noch rechtzeitig gaben fie das Freihafenfyftem auf und wurden aus Brüdenköpfen
Englands zu Vorburgen des Deutjchen Reiches, aus Einfuhrfaufleuten auch zu
Ausfuhrkaufleuten, aus Kleinverjchleißern mit Waren aus England zu Groß:
bändlern direft mit Ueberſee. Inmitten diefer Entwidlung befinden mir uns
noch jet.
Daß England alles verloren hätte, was die Hanjeftädte gewannen, das ift
nicht der Fall. Vieles von der Zunahme bes hanfiichen Handels ift auf Rechnung
der allgemeinen Verkehrszunahme zu ſetzen. Den Engländern bleibt vor allem
dauernd die Berforgung des eigenen ungeheueren Marktes. Dann aber zeigt auch
ihr Zwiſchenhandel nach dem Feſtlande faum eine Abnahme. Er ift jedoch, nad):
dem er ein Jahrhundert lang gewachſen, zum Gtillftande gefommen. Das
gewaltige englische Kapital mit feinem billigen Zins, die alte Gewohnheit, die
den Preis verbilligende, an den Landesverbrauch angelehnte mächtige Beſchickung
des Marktes und der große Umſatz halten — gegen die Geographie — noch einen
Teil des Zwiſchenhandels in den englifhen Häfen feft. Allein die Engländer
wiſſen recht gut, daß ihr Kampf wenig Ausfiht auf dauernden Erfolg hat und,
wenn nicht wieder dad europäilche Feitland in die beliebte Selbſtzerfleiſchung
durch Kriege verfällt, der Kontinent feine Sade in die eigene Hand nehmen und
den Handel mit Ueberſee felbft bejorgen wird.
Mit dem Zwifchenhandel geht Hand in Hand der Perfonenverkehr und die
Dampfichiffahrt, fomweit fie dem Berfonenverfehre dient. Beide haben fich von
378 Alerander von Peez, Der engliſche Zwiſchenhandel als Deutſchenfeind.
England frei gemadt. Der Aufihwung der mächtigen Dampfergejellichaiten
von Bremen und Hamburg findet in diefer Thatfache ihren Ausdrud.
Day ınan in England dieje ganze Entwidlung jehr mit Mißfallen gejehen
bat, darf und nicht befremden. Wer verzichtete denn gern auf eine faft mono:
poliftifche Stellung im Handel? Die „in der See thronende Königin“ bemerfte
den Abfall ganzer Länder, die jeit unvordenflicher Zeit ihr gehuldigt und Tribut
geleiftet, und fie beichloß, ınit allen Kräften zu kämpfen, um weiteren Abfall zu
verhindern und wo möglicd die jchun begonnene Rebellion niederzumerfen.
Seit den Tagen ber Phönifer war gerade der Zwiichenhandel in der Wahl
feiner Mittel am mwenigften mwähleriih. Die Gefchichte von Sidon, Tyrus und
Karthago ift mit Blut und Gewaltthat erfüllt, und auch die Hanſen wie die
Holländer waren in der Zeit ihrer Herrichaft ı14.—17. Jahrhundert) nicht durch
aus den Lehren de3 praftijchen Ehriftentums zugethban. Als daher die englifchen
Kaufleute zu Ende des 20. Jahrhunderts die Zügel der Derrichaft ihren Händen
entgleiten ſahen, erinnerten fie ſich, daß ihre frühere Ueberlegenheit keineswegs
das ausfchließliche Ergebnis ihrer Thatkraft und Weisheit, fondern zu gutem
Zeile auch ein Find von ſtrieg, Seeraub und politischen Künſten aller Art geweſen
fei. Hatten fie doch eben jenen Zwiſchenhandel dereinft den Hanſen und
Holländern abgerungen, und zwar abgerungen nicht in der Schreibftube, mit dem
Rechenbrett und der Tinte, jondern mit Waffen und Blut im zahlreichen
Schlachten zu Land und zu Waller! Da lag nun der Gedanke nicht allzu fern,
e3 jei das durch Gewalt Erworbene auch durch Gewalt feitzubalten. Zu jener
Zeit, es war das lette Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts, erfchienen in Eng-
land jene wohlvorbereiteten und zielbewußten Angriffe auf Deutichland und die
Deutichen, wie jie namentlich in der im Jahre 1896 herausgegebenen Schrift von
Williams „Made in Germany“ enthalten find. Was die Schrift nicht geradezu
berausiagte, ergänzte die Tagespreſſe. Die Stimmung fand ihren bezeichnendjten
Ausdrud in dem befannten Worte eines verbreiteten engliichen Blattes: „Kein
Engländer lebt, für den nicht der Niedergang des Deutſchen Reiches einen Zur
wachs an Vermögen bringen würde.“ In jener Zeit war es, daß in ſehr ernit
zu nehmenden deutichen Marinefreiien ein Angriffsfrieg und zwar ein lleberfall
von ſeiten Englands für. durchaus möglid; erachtet wurde. Wie immer ein
jolcher Krieg ausgefallen wäre, ficher ift, daß er unermeßlihen Schaden ange:
richtet, aber doch feinen Zweck verfehlt hätte. Einen jungen Riejen bringt man
nicht durch Fauftichläge um. Deutichland ſaß jchon zu feſt im Sattel, und ein
ungerecht aufgedrungener Krieg hätte nur zu einer ftärferen moraliſchen und
phyſiſchen Zuſammenfaſſung der Kräfte geführt, und eine Reihe jugendlicher
Mikgriffe und zänkiſcher Schrullen, wie fie eben bei jungen Rieſen vorkommen,
wäre dem deutichen Wolfe eripart geblieben. Glücklich jedoch für beide Teile,
daß es nicht zu einem jolchen Kriege fam! Das Wideritreben der Königin und
Alerander von Peez, Der engliiche Zwiſchenhandel als Deutjchenfeind. 379
ihres erfahrenften Ratgebers, ſowie die rechtliche Gefinnung des Kernes des
englifhen Volkes verhüteten den Ausbrud, und fpäter nahın der lange geplante
Kampf gegen die Holländer in Afrika das Intereſſe Englands völlig in Anfprud.
Aber ſehr nachteilig wirkten jene Pamphlete doh. Sie verbitterten Die
Stimmung. In Deutfchland hatten viele an ben FFreihandel als dauernde
ideale Einrichtung, ja ald an eine zukünftige Weltpolitit geglaubt. Man
ſchwärmte für Baſtiats „Harmonie der Intereſſen“. Und jekt mußte man jehen,
wie die Verfündiger und Lehrer des Freihandels die erfte ernftliche Prüfung
nicht beftanden und abſchwenkten. Die Lämmer, die, der Theorie nad, den
mühſam nadjftrebenden Genofjen ermutigend umblöfen follten, verwanbelten ſich
in der Praris in reißende Wölfe, welche über die armen Lämmer herfielen, die
fih den weitgefpannten Weidegründen des erbgejejlenen Freihandelspropheten
näherten. Das gab im grübelnden Deutichland viel zu denken. Man wurde an
Lehre umd Lehrern irre und erividerte Mißgunft mit Ungunft. Manche Keime zu
der während des Burenfrieges zum Ausbruch gelangten tiefen Verftimmung
gegen England wurden auf handelspolitiichem Felde ausgejät und durd die mehr-
jah erwähnten Pamphlete gefräftigt. Ein Volk, wie der Einzelne, muß eben
jeine Erfahrungen machen, und Großbritannien war, durch die Schidjale ver-
mwöhnt, zu weit voraus und Deutichland ſeit dem Dreißigjährigen Kriege zu weit
zurüdgeblieben, als daß nicht der Ausgleich ein ſchwieriger wäre und ſich anders
als unter Gemitterericheinungen vollziehen könnte.
Man hat zumeilt die Duelle der englifhen Angriffe auf Deutichland in der
Induſtrie gefucht. Ach glaube, daß man fi darin geirrt hat. Gewiß, aud die
englifhe Anduftrie war durch das Ericheinen deutfcher Gewerbswaren auf den
Märkten Großbritanniens unangenehm überrafht. Beſonders für Sheffield, den
Sit der englifchen Kleineiſeninduſtrie war das Bordringen der Solinger und
Remſcheider Konkurrenten jehr empfindlich, und Sir Pincent, der Bertreter
Sheffields im Parlamente, gilt als Urheber des Gejetes, welches zur Angabe des
Deutfchen Reiches als Uriprungsland auf Fabrikaten verpflichtete. Aber die
Industrie hat ſich doc einigermaßen mit dem deutichen Wettbewerb abgefunden.
Als ihre Werkftätten troß alledem in vollem Betriebe blieben, und die Schorn-
fteine nicht weniger Rauchmwolfen als früher aus ihren Eſſen ſpieen, zog man
mildere Saiten auf. Auch haben die engliihen Stapelartifel bis jett noch nicht
gelitten. Ihr Preis mag bier und da gedrüdt worden fein, weniger ihr Abſatz,
und der induftrielle Aufſchwung Deutichlands brachte doch auch beträchtliche
Beitellungen (Mafchinen, Dampfer, SKriegsichiffe, Konfektionswaren) nad) Eng:
land. Im Wefen der Ynduftrie, folange fie nicht vertruftet ift, liegt lange Feind
ihaft nit. So kamen die fchärfften Angriffe gegen Deutjchland nicht aus
Mancefter oder Glasgow oder Hudderäfield, fondern aus London und zwar
befonders aus den Freifen der Londoner Handelöfammer, welcher auch Herr
380 Ulerander von Peez, Der englifche Zwiſchenhandel als Deutjchenfeind.
Williams, der Verfaſſer des „Made in Germany“ nahe fteht. In London
fonzentrieren ſich aber die Intereſſen des Handels mehr, als die Antereffen der
Induſtrie. ES ift daher durchaus wahrjcheinlich, daß der engliſche Handel,
bejonderd der Zmijchenhandel und die damit verbundenen Schiffahrtsinterejien,
die eigentliche Triebkraft für die wirtfchaftliche Feindichaft Großbritanniens gegen
das Deutiche Reich gebildet haben. Auf diefe Quelle ift man bisher nicht auf:
merfjam geworden, da der Zwifchenhandel, jeine Unvolfstümlichkeit wohl kennend,
fih gerne maskiert. Man wird wohlthun, diejen Gegner genau im Auge zu
behalten, der um fo unerbittlicher fein dürfte, als es für ihn feinen Ausgleich
giebt. Hält die friedliche Entwidlung Mitteleuropas an, fo wird der Zwiſchen—
handel der Station England durch den unmittelbaren Verkehr der Nordjeehäfen
mit Ueberjee mehr und mehr den Boden verlieren und allmählich verſiechen,
während allerdings ein Krieg oder, beſſer noch, eine Periode von Kriegen, wie fie
unjere Großpäter zu Napoleons Zeit erlebt haben, den englischen Zwifchenhandel
neu beleben und die monopoliftiiche Cage Englands als der „glüdlichen Inſel
des Friedens“ wieder heritellen würde.
Die Gefahr, daß Englands Diplomatie, wie jie oft gethan, einen ſolchen
Krieg entzünde, ift indefjen in neuefter Zeit etwas geringer geworden durd) das
Auftreten einer dritten Macht auf dem Plane des Welthandels, — der Ber-
einigten Staaten von Nordamerika! Diefe find es, welche beiden, Engländern
wie Deutjchen, jo viel zu denken und zu fchaffen machen werden, daß ihre Gegner-
Schaft ımtereinander über der größeren amerikaniſchen Gefahr zurüdtreten mag.
16
Auf füdlichbem Meere.
ilbern des Abondes Leuchten Leichte Wiälkchen nur flieben
Liegt auf Dem weiten Weer, Ueber den bimmel gefhbwind,
Ueber die alitzernden, feuchten MBenfcbengedanken, fie zieben
Tiefen ſchimmert cs ber, Schneller als Wolken und Wind.
Wie von taufend und taufend Eb’ noch die Schatten entſchweben
Lichtern ein glänzender Steg Ueber der feurigen Glut,
Unter dem kiele, der braufend Sch ich ſichs regen und beben
Teilt den flüffigen "Weg. Aus der nächtlichen Flut.
Geifter der Tiefe entfteigen Dieder zur Tiefe gezogen,
Rings der funkelnden See, Gleiten fie näber beran;
Spielend in wonnigem Reigen, Selige Geifter der Mogen,
Auf zur fchäumenden böb, Eilet uns fcbirmend voran.
Karl Dovrc.
MHHHEHEHEHEH HEHE NS
Die künftige wirtichaftlihe Bedeutung Südwestafrikas für Deutſchland.
Von
Karl Dove.
er erjte Abjchnitt der deutſchen Kolonialgefchichte nähert ſich feinem Ende.
Wie drüben über dem Meere der Zeit äußerer Madıtentfaltung friedlichere
Tage folgten, jo ift aud in der Heimat der Begeifterung der achtziger Jahre
reifliches Ueberlegen und eine ruhige Abſchätzung wirtihaftlicher Ausfichten gefolgt.
Gleichwohl giebt es neben den rein faufmännifchen Gefichtspunften, die in erfter
Linie bei der Beurteilung der Schußgebiete beachtet werden jollten, auch ſolche
idealer Natur, Ideale, deren Verwirflihung wir von mehreren unjerer Kolonieen
erwarten; die Aufgabe dieſes Auffates wird es fein, auch einiger von diejen zu
gedenken. Wenn jie anders ausjchauen als die Träume von billigen Sieges—
lorbeeren und von gligernden Sternden, dic jelbjt jett noch das Hirn mandjes
angehenden Afrikaners bejchäftigen, fo liegt dies daran, daß, dem Himmel jei
Dank, überall in unferem Vaterlande ein gemwifjer ſachlicher Ernit in der Be-
handlung Eolonialer Fragen den ehedem übermäßig fich breit machenden, bisweilen
ans Kindische ftreifenden Dilettantismus zu verdrängen beginnt, der zu den
Sugendkrankheiten aller wirtſchaftlichen Neuarbeit zu gehören ſcheint. Immerhin
ift es aber nod immer nötig, den jchwärmerifchen Anfchauungen entgegenzu—
treten, nach denen wir in Südweltafrifa ein Land befigen jollten, geeignet zur
Aufnahme all jener Maſſen, welche alljährlich das Vaterland verlafjen, um ſich
jenfeit3 des Ozeans eine neue Heimat zu juchen. Solden und ähnlichen Vor:
jtellungen mit Nachdruck entgegenzutreten ift Pflicht eines jeden, der die Steppen
diefer Länder aus eigener Erfahrung kennen lernte.
Anderthalbmal größer ald das Deutſche Reich breitet ſich das ſüdweſt—
afrikanische Hochland zu beiden Seiten des Wendekreijes aus, infolge feiner durch—
ſchnittlich unfern höchſten Mittelgebirgsgipfeln gleichfommenden Erhebung über
den Meeresipiegel in der That zum größten Teile ein für dauernden Aufenthalt
des Europäers geeignetes Gebiet. Die Krankheiten, welche in den legten Jahren
auch unter den Weißen in der Kolonie eine Anzahl Todesfälle zur Folge hatten,
dürfen uns feine allzu große Bejorgnis einflößen. Handelte es fich doch nicht
nur um eine Ausnahmeerjcheinung, fondern aud um eine Einwirkung dieſer
382 Dove, Die künftige wirtichaftliche Bedeutung Südweſtafrikas für Deutichland.
wahrjcheinlich mit den Folgen der Ninderpeft zufammenhängenden Epidemie auf
unter ungünftigen hygieniſchen Berhältnifjen lebende Menjchen. Die gefürchtete
Geißel der Tropenländer, die Malaria, kommt zwar ebenjv wie die Dysenterie
in den verjchiedenften Gegenden vor, allein das Wechjelfieber tritt außer im
äußerjten Norden des Landes nicht in den gefährlichen Formen auf, in welchen
es das Leben unjerer Rafje in den äquatorialen Breiten jo häufig bedroht. Mit
der fortjchreitenden Verbefjerung der Wohnungen, mit der Beihaffung guten
Trinkwaſſers und überhaupt günftiger Lebensbedingungen werden die beiden
genannten Srankheiten mehr und mehr eingeſchränkt, ja ftellenweife wohl ganz
ausgerottet werden können. In einer Unterfuchung, die ihr Augenmerk auf die
wirtfchaftliche Zukunft diefes überfeeifchen Gebietes richtet, brauchen fie jedenfalls
nicht des weiteren berüdjichtigt zu werden.
Ein hervorragender deutſcher Forſcher, der allerdings bei feinem Ausſpruche
die Steppen des Maſſailandes im Auge hatte, hat einmal gejagt: „Wo Afttfa
fruchtbar ift, da iſt es ungelund, und wo es gejund it, da ift es unfruchtbar."
Zum Glüd gilt diefer Sag für die füdafrifanischen Länder nur in beſchränktem
Maße, denn ihre Meereshöhe würde aud; bei viel größerer und gleichmäßigerer
Feuchtigkeit als der thatfächlich vorhandenen den Charakter des Klimas mildern
und die entnervenden Einflüffe tropiicher Wärme fernhalten. Sinfichtlic dev
Gartenkulturen und der Bemwäfjerungsanlagen, die hier möglich find, braucht man
alfo feinerlei Beforgniffen wegen etwaiger ungünftiger Wirkungen auf die Ge
jundheit der Anfiedler Raum zu geben. Aber leider gilt das böfe Wort von der
Unfruchtbarkeit der gefunden afritanifchen Gebiete aud) hier wenigſtens inſoweit,
als eben ohne fünftliche Wafferzufuhr an einen Landbau in unferem Sinne nicht
zu denken ift. Die Niederichläge in den Landichaften, in denen der Europäer jid)
thatfächlich anfiedeln kann, find an und für fid) zu gering, um bei der im Ver—
gleic) zu der unjern doch noch ziemlich hohen Mitteltemperatur die Notwendigkeit
einer Beriefelung auszuſchließen. Darauf muß bingewiefen werden, denn leider
finden fich in Deutfchland immer noch Leute, die die Regenhöhe diefer Gegenden
mit der in unſerm VBaterlande vergleichen, ohne fich zu überlegen, daß bei dem
Wachstum befonders der Kulturpflanzen die fteigende Wärme eine Erhöhung des
zu ihrem Gedeihen erforderlichen natürlichen Waflervorrates zur Folge hat. Und
das ift feineswegs ber einzige Grund, der gegen die Anlage von Feldern und
Aeckern in europäiiher Art ſpricht. Abgejehen davon, daß fi an Regenmenge
doch nur ein jehr Eleiner Teil des Landes mit Deutichland vergleichen läßt, ift
die Ergiebigkeit der Niederjchläge felbit in diefen Gegenden und viel mehr noch
in den anderen in den verjchiedenen Fahren jo großen und fo häufigen Schwan—
tungen unterworfen, daß ſchon deshalb eine Beftellung größerer Flächen mit
Ackerfrüchten ausgeichlofjen ift. Erneuert ſich doc in manden Jahren nicht ein-
nal die Dede von Steppengräfern und Stauden, melde den natiirlichen Reich—
Dove, Die künftige wirtfchaftliche Bedeutimg ZSüdmeitafritas für Deutfchland. 38:
tunı des Hochlandes bildet, und deren richtige Ausnutzung für alle abjehbare
Zukunft die Grundlage der wirtichaftlichen Entwidelung der Stolonie bilden wird.
Nach dem Gefagten wird der Leer begreiflich finden, wenn id) jo weit gehe,
auszusprechen, daß die Beliedelung Südweltafritas ficher nicht in jchnellerer
Entwidelung vor ſich gehen wird als. in den alten, vor diefem Lande vielfad)
begünftigten SKolonialftaaten der englifchen und holländifchen Nachbargebiete. Da
hilft kein Reden von unverbeflerlihem Peſſimismus; es ift und bleibt eine That-
jache, daß die ländlichen Gebiete der Kapkolonie und der Burenftaaten troß der
Diamanten: und Goldentdedungen in derjelben ruhigen und langſamen Weife
ihre weiße Bevölferung anwachſen jahen wie. vor dem Auffinden jener wertvollen
Mineralien; und anders als in jenen, den unferen ſo ähnlichen Siedelungsland-
ihaften wird fic die allmähliche Verdichtung der Bevölkerung auch im deutfchen
Schußgebiet nicht vollziehen. Auch in feinen Grenzen wird die Aufnahmefähigkeit
de3 Landes für Weiße fi) nur jehr allmählich vergrößern und damit eine leife
Bermehrung der. Auswandererzahl geftatten. Wohl find es mehr wirtfchaftliche,
in Breisverhältniffen aller Art, in der Höhe der Arbeitslöhne und in vielen an—
dern Dingen beruhende Gründe, als folche, die lediglich den geographiichen Be-
dingungen des Kulturlebens entftanımen, welche man gegen die Möglichkeit einer
plöglich ftarf fich vermehrenden Zuwanderung anführen kann. Aber jie find ein-
mal vorhanden, man muß mit ihnen rechnen, und das Bild, das begeifterte
Schwärmer ji) von diefer unferer „Ausmwanderungsfolonie" immer noch machen,
könnte höchſtens ein gänzlich fozialiftiich gearteter Staat in Wirklichkeit zu ver:
wandeln fich vermejjen. Allerdings würde dann nicht genügen, daß er allen Zu-
ftänden, die fic) im Laufe der Zeit in Südweſt- und überhaupt in Südafrika
entwidelt haben, mit einem fFederftriche feiner Leiter ein Ende madte, fondern
er müßte viele hunderte von Millionen zur Verfügung ftellen, um die Grund:
lagen für eine Maffenbefiedelung*) überhaupt erjt zu Ichaffen. Unter den be-
ftehenden VBerhältniffen wird eine nicht einmal befonders große Bermehrung der
Einwandererzahl nur dann, und aud dann nur für einige Zeit, ftattfinden, wenn
abbaumürdige Lagerftätten wertvoller Mineralien gefunden werden, über deren
‚Borhandenjein wir etwas Sicheres nod; nicht willen. Die Veränderungen, die ſich
dann in der Befiedelung des Landes zeigen würden, haben wir uns ähnlich vor-
zuftellen, wie fie in den alten Kolonieen Südafrikas zu beobachten waren. Die
erfte "Verdichtung der Bevölkerung findet dann naturgemäß in den mit den Minen
unmittelbar in Beziehung tretenden Verkehrsmittelpunkten ftatt. Es find die mehr
oder. weniger ftadtartigen Niederlaffungen, die Handeld- und die Landungspläße,
*) Eine jolhe wäre natürlich auc in diefem Falle nur in beſchränktem Umfange möglich,
da jchliehlich die Natur jelbjt eine im nordeuropälfhem Sinne gehandhabte Ausnutzung des
Bodens nicht geitattet.
384 Dove, die künftige mirtfchaftlihe Bedeutung Sübmeftafrifas für Deutfchland.
die eine rafchere Zunahme erfahren; der wichtigfte Teil der Bevölkerung, die
landjäfjigen Kreiſe derfelben, erleiden fogar unter Umftänden zunädjft eine Ab-
nahme. Erſt ganz allmählich wächſt auch die Aufnahmefähigkeit der reinen Farm—
und Gartengebiete, indem die Vergrößerung der Ortichaften bejjere Abjagbedin-
gungen ſchafft und damit jene Verkleinerung der Farmen geftattet, die von vorn-
herein anzuempfehlen ein Fehler ift, den nur echte und rechte Theoretifer begehen
konnten. Daß fie auch jet noch fo häufig vorgefchlagen wird, beweift am beften,
wie jehr man noch immer bei und Deutfchen dazu neigt, die Erfahrungen der
älteren Kolonialvölker gering zu achten.
Man wird mir entgegenhalten: Wenn in der That Südmweftafrita fo wenig
geeignet ift, den Ueberſchuß unferer Bevölkerung aufzunehmen, dann wäre es ja
befjer, wir hätten diejes Gebiet niemals erworben oder wir gäben ed, da wir
es einmal beiten, gegen irgend welche Vorteile in einem anderen Teile der Erde
in Kauf.
Diefen Standpunkt, von dem aus man gegen Dinge, deren wahren Wert
man nicht fennt, zwar irgend eine Kleinigkeit einzutaufchen, jedoch niemals wirf-
liche, d. 5. über das Nächte hinausſchauende Kolonialpolitit zu treiben vermag,
follen die folgenden Auseinanderjegungen in feiner Berfehrtheit beleuchten. Zu
diefem Zwecke brauche ich nur daran zu erinnern, daß die falſchen Vorftellungen
von dem Werte überjeeifcher Gebiete ihren Grund faft immer darin haben, daß
man von ihnen verlangte, fie follten diefe oder jene beftimmte Aufgabe unjerem
Neiche gegenüber erfüllen, anſtatt daß man ſich fragte: welche Aufgaben können
fie gemäß ihrer natürlihen Beichaffenheit dem deutfchen Volke gegenüber über-
nehmen? Südweltafrifa galt mit Recht als ein Land, in dem der Europäer ohne
Gefahr für feine Gefundheit leben könne, alfo mußte e8 das neue, erfehnte Aus-
wanderungsgebiet der Zukunft fein, während man umgekehrt hätte fragen follen:
was können wir unter Berüdfichtigung der ganz eigenartigen Natur diefer
Kolonie aus derjelben mahen? Anjtatt aber jett, wo die Thatfachen auch für den
ihwärmerifchiten Theoretifer immer verftändlicher zu reden beginnen, die Flinte
ins Korn zu werfen, weil das Land die erträumte Entwidelung nun einmal nicht
durchmachen will, follte man auch ihm gegenüber jene beiden Eigenjchaften wirken
laffen, die in Afrika alles Erreihbare durdjegen, Geduld und ruhige Thatkraft.
Dann wird es fid) erweijen, daß Südweſtafrika ein höchft wertvoller Teil unferer
überfeeifchen Befigungen ift, wenn aud das Sulturbild, das heute noch kaum in
feinen Grundlinien erkennbar, dort in Jahrzehnten Elar und deutlich hervortreten
wird, ganz anders ausſchaut ald jene luftigen Gebilde, die jo mander Nidht-
berufene dem bdeutfchen Volke vorgaufelt.
Dürfen wir nun aber nit mit größeren Mengen von Anſiedlern in
unferen Schußgebiet rechnen, jo hat die Verwertung des Bodend für unſer
Baterland doch eine fehr hohe Bedeutung. Zwar die Biehherden, die ftet3 den
Dove, Die künftige mirtfhaftliche Bedeutung Südweſtafrikas für Deutichland. 2385
größten Reichtum diefes Randes bilden werden, vermögen ben Handel und die
Induſtrie Deutichlands nur in geringem Maße zu beeinfluffen, obwohl darauf
aufmerffam zu machen ift, daß große Landichaften, vor allem der Süden der
Kolonie, ſich vortrefflih für die Haltung von Wollfchafen eignen. Sie können
indeffen nur einen Kleinen Teil des Bedarfs unferer Fabriken deden, weshalb ich
fie in diefer Skizze, welche die eigenartige Bedeutung Südweſtafrikas für una
hervorheben foll, füglich vernadhläffigen kann. Anders der Gartenbau, der in
Südafrifa unter PVerhältniffen arbeitet, wie wir ihnen etwa im Gebiete des
Mittelländifhen Meeres begegnen. Wie fih auf Grund allgemeiner Studien
erwarten ließ und bereit durch die Erfahrung betätigt worden ift, find es
namentlih die Südfrüchte und der Wein, deren Anpflanzung Ausſicht auf eine
vorzügliche Entwidelung bieten. Befonders der Weinftod darf ald eines der
wichtigften Kulturgewächſe der Zukunft gelten. Zwar wird jeinem Anbau in
Südafrifa überall dur die Grenze des Sommerregengebiete8 eine Schranfe
gejeßt, und fo dürfte er aud im Innern unferes Schußgebietes höchſtens zu
dem Zweck gepflegt werden, um einige leichtere Weinforten für den Gebraud im
Lande felber herzuftellen. Aber wir befiten eine Landichaft, die auch für die
Ausfuhr und gerade für diefe in hervorragendem Maße in Betracht fommt. Am
Weften, da mo bie immer ſchwächer werdenden Niederihläge zur Entftehung
jener Wüftenfteppen geführt haben, die, unter einem tiefblauen Himmel ausge-
breitet, eines andauernden kräftigen Sonnenjdeines teilhaftig werden,’ bilden die
tief in da3 Hochland eingefchnittenen Thäler der Flüffe wahre Dafenzüge. Dort
ift zwar ein wahrhaft befruchtender Regen eine feltene Erjcheinung, aber die
während des Sommers im Innern niedergegangenen Waſſermaſſen, die fi im
Grundeder Beröllichichten und des Schwemmlandes gefammelt haben, dringen, gleich-
jam ein unterirdifcher Strom, unaufhaltfam nad) der Küfte vor. Ahnen vermag man
reihe Mengen de3 unentbehrlihen Elements zu entnehmen, und e8 hieße die
Taufende von Heftaren guten Bodens, die fi) an den Seiten der weißglängenden
Sanbdbetten ausdehnen, mißachten, wollte man fie nicht in Zukunft vorwiegend
zum Anbau hochwertiger Gewächſe benugen. Sonne, Waſſer und trodene Luft,
diefe drei großen Förderer jubtropiichen Pflanzenlebens, find aber gerade daß,
was der Weinftod verlangt, wenn er jenes feurige Getränk liefern joll, das die
Weinberge unjerer Heimat nicht mehr zu erzeugen vermögen. Es iſt keineswegs
übertrieben, wenn man behauptet, daß die erwähnten Gegenden im ftande feien,
den gefamten Bedarf Deutjchlands an jogenannten Südweinen zu deden. a,
mehr no, fie vermögen auch die ganze Gewichtämenge Rofinen zu liefern, bie
bei uns in den Handel gelangt, und daß ſolche in fehr guter Beichaffenheit dort
thatfächlich gewonnen werden können, dafür liefern nicht nur der Vergleich mit
dem ap, fondern auch ein recht lehrreicher, in ? dem deutichen Schußgebiet ſelbſt
angeſtellter Verſuch den Beweis.
35
38h Dove, Die fünftige wirtfchaftlihe Bedeutung Südweſtafrikas für Deutichland.
Diefe Ausführung, der ſich noch manche ähnliche anſchließen ließen, joll nur
als Beifpiel dafür dienen, daß mit dem Anwadfen des in Südweſtafrika
arbeitenden Kapitals manch lohnender Berufszweig von den dajelbft thätigen
Landwirten ausgeübt werden fann, der ihnen wie dem Lande zum Gegen ge:
reiht. Bedeutiamer aber ift der Nachweis, daß aud die verhältnismäßig
wenigen Menjchen, die in den nächſten Jahrzehnten dort eine neue Heimat finden
werden, eine viel höhere Wichtigkeit für unſer Baterland beſitzen, als der lediglich
mit bloßen Bevölferungsmengen rechnende Politiker vermutet. Der erjte der
bier zu berüdjichtigenden Werte läßt fich übrigens nod in jo deutlichen Zahlen
ausdrüden, daß er aud) dem Volkswirt willlommen fein wird; die übrigen ge-
hören mehr oder weniger zu jenen Dingen, die ſich zwar in Ziffern nicht aus:
drüden und mit Worten oft nur umfchreiben lafjen, die aber doch im Leben der
Völker bisweilen eine größere und wichtigere Nolle ipielen al3 die rohen Ge:
walten, die das rein äußerliche Yeben des Menichen beherrichen und in vielen
jungen Staatengebilden einen eher ungünftigen, als jegensreihen Einfluß aus-
üben. Man bat ficdy jeit Jahrzehnten bemüht, Berechnungen darüber anzuiftellen,
wie groß das Anwachſen der Koloniftenzahl in verichiedenen Rändern der Erbe
jei und wie lange Zeit es dauern werde, bis diefes Gebiet jo viel, ein andres
etwa jo viel Einwohner bejigen möge. Uns intereffiert eine derartige, für Süd—
weftafrifa nebenbei faum durcchführbare Unterſuchung bier indejjen weit weniger
al3 das wirtichaftliche Gewicht einer ſolchen Siedelung für unſer Deutfches Reich.
Die Entwidelung aller füdafritaniichen Länder lehrt, daß eine eigentliche Klein:
jiedelung überall in den Gteppen, und zu diefen gehört ja unſer gejamtes
Siedelungsgebiet, nur in jehr beſchränktem Maße möglich ift. Die weitaus über:
wiegende Mehrzahl der Auswanderer wird in der Stellung von Farmern, Kauf:
leuten und Handwerfern, jowie von Gartenbauern ihren Lebensunterhalt ſuchen
und finden. Die Thätigkeit von Arbeitern und ganz kleinen Grundbeſitzern, die
weiter nicht3 find als dies, wird nur von verhältnismäßig ſehr wenigen Leuten
ausgeübt werden können. Darin aber liegt ein jehr mwejentlicher Unterſchied in
dem rein wirtichaftlihen Wert, weldyen eine Durdfchnittsfamilie in Südweſt—
afrifa im Vergleich mit einer ſolchen in Deutjchland befigt. Einkommen und
Verbrauch geftalten ſich drüben bei einer jolchen etwa wie bei einer verhältnis-
mäßig gut geitellten Bürgerfamilie bei und. Das ift auch notwendig, denn bei
unvorteilhafteren Yebensbedingungen liegt in einer joldhen Kolonie die Gefahr nur
zu nahe, daß die Leute „verafrifanern”, d. h. daß fie uns mwirtichaftlih und
kulturell verloren gehen. Somit hat eine Familie für den Handel und Die
Induſtrie unſres Vaterlandes, die ftet3 enge Beziehungen mit der Kolonie unter-
halten werden, denfelben Wert wie eine Anzahl von ſolchen im alten Baterlande,
Ra, man kann, wenn diefe Rechnung natürlih auch nidt mit ganz genauen
Zahlen arbeiten fann, jogar den ungefähren Geldwert ausdrüden, den fie für
Dove, Die fünftige wirtschaftliche Bedeutung Südweſtafrikas für Deutfchland. 287
und bejißt, wenn man berüdjichtigt, daß vor etwa acht Jahren der Bedarf eines
Haushaltes an Waren europäifcher Herkunft von einer Reihe von Händlern auf
mindejtens 4000 #6 veranjchlagt wurde. Wenn auch mande Ausgaben ſich
damals auf Gegenftände, wie Konſerven und Getränke europäiicher Herkunft, be-
zogen, die das Land in Zukunft ſelbſt zu liefern im ftande fein wird, ſo
werden die eigentlichen, mit der unjerem Volke eignenden Kultur ver:
bundenen Ausgaben ſich eher fteigern, als verringern, und jene Summe wird
ih in Zukunft wahrjcheinlih eher erhöhen als erniedrigen. Um nur ein
einziged Beilpiel anzuführen: was bedeuten zehntaufend Familien — und hoffent-
{id} werden die meiften von uns die Anweſenheit einer folhen Zahl in Südweſt—
afrika noch erleben — bei ung für den deutjchen Buchhandel? Wie viel mehr aber will
e3 bedeuten, wenn einige Zehntaufende von Deutfchen mit einen in einem jolchen
Yande jehr erflärlichen Yejebedürfnifje vorhanden jind, das zu befriedigen der
Belig einer Anzahl von guten Büchern von ihnen jelbft für notwendig gehalten
wird. Wem dies Beijpiel zu nidhtöjagend vorkommt, der gehe jelber einmal
hinaus und überzeuge fi, wie in Südweitafrifa bei faft allen Deutjchen truß
harter und foftfpieliger Zeiten das Bedürfnis nad) guten Büchern und nad) ge-
wijjen höheren Genüfjen ein viel vegeres ift als bei zahlreichen Angehörigen der
jogenannten gebildeten Klaſſen bei und. Je weiter der Deutjche fid) von der Heimat
entfernt, um jo mehr hat er daS Beitreben, fein Heim und fein häugliches Leben
möglichjt den Verhältniſſen der Heimat entfprechend zu geftalten; leicht wird er
nicht auf die Stufe eines Halbeingeborenen hinabjinfen, und fomit bleibt er auch
wirtichaftlich durch taufend Eleine Beziehungen mit dem Vaterlande verbunden.
Denn eine Induftrie, ein Kunfthandwerf, ja auch nur ein Handwerk, wie es zur
Lieferung aller Gebrauchsgegenftände des täglichen Lebens im jtande ift, wird
ih niemald in diefem Lande entwideln. Und wenn jchon in der Befriedigung
diefer immerhin äußerlichen Bedürfniſſe Südmeltafrifa an Deutfchland gebunden
jein wird, jo wird es in Kunſt und Wiffenichaft noch mehr von ihm abhängen, viel-
leiht aber auch in einigen Punkten auf dieje verichiedenen Zweige menſchlichen
Lebens befruchtend einwirken. Rein kaufmänniſch gejprodhen würde es, wenn
es auch erjt die Einwohnerzahl einer größeren Mittelftadt befittt, in Handel und
Verkehr die Rolle einer Eleinen Provinz zu jpielen vermögen. Daß mir aber
eine ſolche nicht al3 einen bloßen Tauſchgegenſtand betrachten dürfen, weil
fie durch das Meer von und getrennt ijt, wird wohl jedem einleuchten, der
berüdfichtigt, daß fie in abjehbarer Zeit dem Reiche durchaus feine Ant
mebr bereiten wird.
Eine GSiedelung, die infolge der wirtihaftlichen Lage ihrer Angehörigen
ein in fich geichlojjenes Kulturgebiet bildet, bat aber gerade in diefen Gegenden
nicht nur an und für fi; Anjprud auf Beachtung. Bielmehr fällt ihr bier nod)
eine Aufgabe bejonderer Art zu, aus deren Löjung Vorteile kaufmänniſcher Natur
25*
388 Dove, Die künftige wirtfchaftlihe Bedeutung Südmeitafrifas für Deutichland.
mit ſolchen rein geiftigen Inhalts fich ergeben werden. Ach habe fchon öfters,
namentlich in öffentlichen Erörterungen über die Bedeutung Südmeftafrifas, auf
diefen Punkt aufmerkſam gemadt. Die Erfahrung, daß er bisher felbft in
unfern Eolonialen Kreiſen noch kaum berüdfichtigt wurde, nötigt mich, ihm aud)
an biefer Stelle eine kurze Museinanderfegung zu widmen.
" Eine Erfcheinung, die man in verfchiedenen Ländergebieten unferer Erde
beobachten Eann, ift, daß überall da, wo europäifch kultivierte Gegenden unmittelbar
an ſolche mit tropifhem Klima grenzen, fehr lebhafte gegenfeitige Beziehungen
entftehen, und daß bie Pflanzungen der wärmeren Landichaft fich viel rafcher
und in viel geordneterer Weife entwideln als in fern von größeren Europäer-
Eolonieen gelegenen Tropenländern. Am beften vermag man dies in der Kleinen
Matalkolonie zu beobachten. Die großen Fortfchritte, die gewiſſe tropifche Kulturen
in dem Küftenlande nördlich und füdlich von Port Durban gemadt haben, wären
undenkbar gewejen, wenn nicht gleichzeitig in den benachbarten Hodländern eine
Niederlafjung europäifher Koloniften ftattgefunden und wenn nicht die engften
Beziehungen zu den germanifchen Nachbargebieten beitanden hätten. Nun ift es
eine in den Erhebungsverhältniffen des Landes beruhende Eigentümlichfeit Süd-
afrika, daß fi) hier im Großen mwiederholt, was wir in Natal im Kleinen und
doch als äußerſt wirffam in dem Wirtichaftsleben des Landes vor fich gehen
fehen. Auch dies ganze große Hochmaſſiv mit feinem für Nordeuropäer fo zu:
teäglihen” Klima”grenzt unmittelbar an die rein tropifhen Landſchaften Zentral:
afrifas, ohne daß zwifchen diefen beiden gänzlich verfchiedenen Wirtſchaftsgebieten
etwa eine trennende Zone ſich erjtredte, wie wir ihr zwifchen dem Aulturlande
von Nordafrita und dem Sudan begegnen. &8 darf für jeden, der längere Zeit
in Südafrika felbft aufmerkſam die wirtfchaftliche Entwidelung verfolgt bat, feft-
ftehen, daß von dieſem Europäergebiet und nicht von den fernen Ländern der
Nordhalbkugel aus die ftärffte Beeinfluffung und fchlieglich die gänzliche Leitung
der Nutzbarmachung der reichen Tropenlandidhaften von Innerafrika erfolgen wird.
Ich habe ſchon bei früheren Gelegenheiten darauf hingemwiefen und ich mwiederhule
es für die Lefer diefer Zeitjchrift, daß der bei uns jo oft beipöättelte Gedanke
eines Cecil Rhodes, Zentralafrifa durch eine Riefenbahn gerade mit dem Süden
des Weltteild in engere Berbindung zu bringen, alles andere eher verdient als
das Achſelzucken, das ihm vielfach bei ung zu teil wurde. Cecil Rhodes ift das
in Wirklichkeit, was unfere heimifchen Diplomaten leider oft nur fcheinbar find,
ein Bolitifer allererften Ranges. Er kennt fehr genau die unumſtößliche Wahr:
beit des Sates, daß, wer Südafrika beſitzt, dereinft Herr von ganz
Bentralafrifa fein wird, fei es nicht politiich, Fo doch ficherlich in Bezug auf
Handel und Verkehr.
Braude ich nad dem Gejagten noch auszuführen, worin die wirtichaftliche
Bedeutung unferes erſten deutichen Schußgebietes für uns gipfelt?- Seine Norb-
Dove, Die fünftige mwirtichaftliche Bedeutung Südweſtafrikas fir Deutichland. 389
grenze durchzieht bereits tropiiche Gegenden; fie macht uns zu Nachbarn der
wichtigen Gebiete, durch die der Weg hinüberführt in das wunderbare Land
tiefiger ſchiffbarer Ströme, dem eine große Zukunft unter allen Umftänden vor-
ausgejagt werden kann. Bon politiſchen Dingen will ich nicht fprechen, allein
das fei betont, daß bereit in den nächſten Jahrzehnten die Sfnangriffnahme der
wirtfchaftlihen Erſchließung Innerafrikas von hier aus beginnen wird. Daß
fie demjenigen am meiften zu gute kommen muß, der von jeiner eignen Grenze
aus die gegenjeitigen Beziehungen zu regeln vermag, ift Ear. Wäre nicht jchon
an und für fih Südweftafrifa eine Kolonie, die wir auch um ihrer jelbit willen
fefthalten müſſen, diefer Ausblid in die Zukunft ganz Afrikas mühte uns allein
dazu zwingen, rüftig fortzufchreiten in der Arbeit für die Schaffung eines wenn
auch nicht durch die Zahl feiner Angehörigen, fo doch durch Kraft und innere
Geſchloſſenheit hervorragenden Deutſchtums an diefem Südende der alten Welt.
Zwar handelt diefer Auffag eigentlich von wirtjchaftlihen Dingen. Aber
vielleicht ift e3 gejitattet, au$ der Reihe rein idealer Einflüſſe, die der Beſitz eines
ſolchen Koloniallandes mit der Zeit entwideln wird, wenigftens auf einen jolchen
von Bedeutung hinzumeifen, der meines Wiſſens noch nicht in irgend einer unjerer
tolonialen Zeitihriften behandelt worden ift. Vorher aber möchte ich mid gegen
einen Gedanken wenden, der ſich ebenfalls eine foziale Rüdwirfung von Gübd-
weitafrifa auf unjere Heimat veripridt. ch meine die Deportation von Sträf-
lingen nad) dort, der man nicht fcharf genug entgegentreten kann, ſowohl im
Intereſſe des Landes wie in dem der Gefangenen jelbft. Nach dem, was bereits
vorhin betont wurde, ift jelbftverftändlich, daß ein Land mit geringer Aufnahme:
fähigkeit für Weiße auch nur eine verhältnismäßig geringe Anzahl von Straf:
gefangenen aufnehmen fann. Man hat nun davon gefprocen, dieje in einer für
das Ganze nußbringenden Weile an öffentlichen Werken zu befchäftigen. Dann
aber fteigern fi) die Unkoften des Unterhalt und vor allem der Bewachung der-
maßen, daß die Leute dem Staat mehrfach jo teuer zu Stehen fommen wie in
unferen Gefängniſſen. Man redet ferner bisweilen gar einer Anfiedelung von
Deportierten das Wort. Abgefehen davon, daß ein folder Rat von bedauerlicher
Untenntnis aller ſüdweſtafrikaniſchen DVerhältniffe zeugt, würde der Staat mit
feiner Befolgung gerade das Gegenteil von dem erreichen, was die ſchwärmeriſchen
Bertreter jener Anfhauung bezweden. Nicht eine Beſſerung und eine fittliche
und wirtſchaftliche Hebung der Entlafjenen, jondern das Entgegengejegte würde
fi) als unbeilvolle Folge folder Maßnahmen jehr bald bemerkbar machen. Ab-
gejehen davon, daß ich und mit mir alle wahren Freunde unſeres Schußgebietes
nicht recht einzufehen vermögen, warum wir die Opfer, die das Deutſche Reich
ihm bereit3 gebradjt hat und aud in Zufunft noch bringen wird, nicht lieber an-
ftändigen Menſchen als Verbredern zu gute fommen laſſen ſollen, ift eine jitt-
liche Aenderung nad der befferen Seite hier noch mehr erfchwert als bei uns.
390 Dove, Die künftige roirtichaftliche Bedeutung Sübmeitafritas für Deutfchland.
Es ift eine Erfahrung, die feinen Widerſpruch von feiten oberfläd:-
liher Beurteiler duldet, daß die Beten gerade gut genug find zur Löſung
der Aufgaben, die jedes einzelnen in Afrifa harren, und daß der Verſuchungen
und Gelegenheiten zu neuen Strafthaten für einen fittlich Herabgefommenen da:
jelbft jo viele, die Möglichkeit des Entrinnens eine fo große ift, daß darin
allein jchon die ſchwerſte Gefährdung der Anfiedler in einer etwaigen Deportation
zu ſehen ift.
Es ift ein bei weitem freumbficheres Bild, das ich dem Lefer vor Augen
führen möchte. Es ſei mir erlaubt, zwei Erlebnifje zu fehildern, die ihm zeigen
mögen, wie jich drüben überm Meere ein neues Deutfchtum bildet, dem zu feinem
Segen viel von der Heuchelei und Lüge, die unferer heutigen Geſellſchaft an-
haftet, verloren gegangen iſt.
Es war am Geburtstage der Kaiſerin. In der großen Halle der Landes—
hauptmannſchaft fand ein Feſteſſen ſtatt, und an dieſer angeregten Tafelrunde
nahmen neben den Offizieren und Beamten, von denen einige mit ihren Damen
erſchienen waren, dieſelben Anſiedler teil, die bei Tage etwa eigenhändig den
mit Lehm beladenen Ochſenkarren einem Neubau zugetrieben hatten. An einem
Tiſch mit den Führern der Truppe Neuangeſtellte der Behörde, die daheim als
Gefreite der Armee angehört hatten! Welch ſchrecklicher Anblick für einen Hüter
der guten, geſellſchaftlichen Sitte und Ordnung! — Ein Vierteljahr ſpäter befand
ih mich am Kap der Guten Hoffnung. Am Haufe eines der angeſehenſten
Deutihen in ganz Südafrika, in einem der erjten Gejellichaft von Kapftadt an-
gehörenden Kreife wurde unter fröhlichen Gfläferklingen der Anbruch des neuen
Jahres gefeiert. Da begann einer der jüngeren Herren, und es war der Ange-
jehenften einer, ung Neuangefommenen zu erzählen, wie er feine Thätigfeit in
Sübdafrifa vor einer Anzahl von Jahren als Gefelle eines Schlachter und
Fleiſchhändlers begonnen, ehe er fich zu feiner heutigen Stellung als wohl:
habender Kaufmann emporgearbeitet hatte. Und feine der älteren und jüngeren
Damen janf in Ohnmacht, feiner der Herren faßte diefe humorvolle Schilderung
früherer Erlebnifje al3 etwas Unerhörtes oder überhaupt als etwas Anderes auf,
als was fie war, ein Zeugnis für die Tüchtigfeit des Betreffenden.
Um es kurz zu Sagen, es ilt die Wertichäßung der ehrlichen Arbeit, die
Achtung vor jeder Art, in der ſich Fleiß und gefundes Streben geltend machen,
die in Südafrika die Schranken nicht erftehen läßt, die bei ung nım einmal vielen
Berufsklaffen in geiellichaftlicher Dinficht gezogen find. Daß es aber die Er-
fenntniS Ddiefer Hemmungen auf dem Lebenswege ift, die zahlreiche Leute und
unter den gebildeten Anhängern der Sozialdemokratie wohl die meiften dem
Radikalismus in die Arme treibt oder jie wenigftens ftarf verbittert, ift ziemlich
ſicher für jeden, der beiſpielsweiſe einmal den Urſachen fozialiftiicher Anfchauungen
unter Studenten auf den Grund geht. Die Arbeit, gleichviel welcher Art,
Dove, Die künftige moirtichaftlihe Bedeutung Süsmeitafritas für Deutfchlan d. 391
genießt bei weitem nicht die ihr zufommende Achtung, die fie ſich in den jungen
Ländern Südafrifad ganz von ſelbſt erzwingt. Auf der andern Seite giebt ein
gejundes Gelbitbewußtfein, wie es aus dem Leben drüben von felber ſich ent-
widelt, ein ganz naturgemäß freierer Blid, vor dem zum Beifpiel die Eleinen
Streitigkeiten politifher Natur gegenüber den großen Zügen der Anfichten und
der Ereignijje verblafjen, giebt endlich da8 Bemwußtfein der Zufammengehörigkeit
gegenüber den farbigen Rafjen den Angehörigen eines weißen Volkes ein Gefühl,
das man als ein allen gemeinfames ariftofratijches, ald eine Art von Herren:
gefühl bezeichnen kann, wie es unferen Landsleuten und befonders den in unteren
Stellungen befindlichen leider nicht eignet. Sollte da nicht zu hoffen fein, daß
dem mehr und mehr erſtarkenden Deutjhtum in unferem Schußgebiet auf Grund
diefer Charaktereigenſchaft und vor allem diefer einzig richtigen Würdigung der
gejellfchaftlihen Anjprüche auch der Arbeit eine Umgeftaltung der herrichenden
Anfihten auch bei uns gelingen mödhte? Man überlege nur einmal, welchen
belebenden Einfluß die ftudierende Jugend eines foldhen Landes, die ſich natur-
gemäß immer nad) Europa wenden wird, auf ihre in Deutfchland aufgewachſenen
Kommilitonen in folhen Dingen gewinnen kann.
Es iſt ein Zufunftsbild, das aud in diefer legten Ausführung uns entgegen-
tritt. Aber ift es deshalb meniger wertvoll, weil e8 uns auch auf geiftigem
Gebiet die Möglichkeit jegensreicher Rückwirkungen unferer Kolonie auf unſer
Baterland zeigt? ch glaube, wir follten uns hüten, verächtlich von einen folchen
Lande zu denfen, weil es feine Fabrifjchlote tragen und niemals Großftädte
erzeugen wird. Nicht die Menge der Menfchen, die eine Kolonie innerhalb ihrer
Grenzen ernährt, giebt den Maßſtab für ihren Wert ab, fondern die Kraft, mit
der dieje fich felbft einzufegen vermögen für die Größe des eignen und für die
des Stammlandes über dem Meere.
Ö
Wleitbnachten.
in Bäumlein gränt im tiefen Tann, Da, mitten in des Winters Graus,
Daskaumein Hug’cerfpäben kann. Erglänzt es tromm im Elternbaus.
Dort wobnt es in der Wildnis Schofs Wler bat es bin mit einem Abal
Und wird gar beimlich ſchmuck und groſz. Getragen über Berg und Tbal?
Der Jäger achtet nicht Darauf, Das bat der beil’ge Geift getban,
Das Reb fpringt ibm vorbei im Lauf, Sich’ Dir nur recht Das Bäumlein an:
Die Sterne nur, die alles febn, Der unfichtbar zurückgekebrt,
Erfchauen auch Das Bäumlein fchön. bat manches Licbe Dir befchert.
MartinGrecif.
Goethe und Eckermann.
Von
Adolf Bartels.*)
dermanns „Geſpräche mit Goethe" halte ich für das Hauptbuch der ganzen
Goethe-Litteratur und jchließe da nicht einmal den Briefwechſel des Dichters
felber aus. Wer „Wahrheit und Dihtung“, die „Stalienifche Reife” (jamt dem
Eleineren ausgeführten Autobiographifchen) und den Edermann gründlich gelejen
bat, der hat Goethe den Menſchen als Yüngling, Mann und Greis fo gut wie
der, der die Iyriichen Gedidte und „Hermann und Dorothea“, den „Götz“ und
ben „Werther“, „Egmont” und „Zauft“, „Iphigenie“ und „Taſſo“, „Wilhelm
Meifterd Lehrjahre und die „Wahlverwandtichaften" in jich aufgenommen,
Goethe den Didyter hat. Multum, non multa! Man muß fi beſchränken
Eönnen in unſerer Zeit, nur das erwerben, was wirklich not thut, aber in dem
fiher Erworbenen um jo feiter wurzeln. Stein Zweifel, der deutjche Dichter des
äwanzigften Jahrhunderts heit Goethe jo gut wie der des neungzehnten, die
Hoffnung, daß wir, ehe das zweite Yahrtaufend chriftlicher Zeitrechnung voll
wird, feinesgleihen wieder jehen werden, ijt vergeblich, aber das Leben will
immer fein Recht, und mir können unfere geiftige und fünftlerifche Kultur wohl
auf Goethe gründen, aber er füllt fie nicht mehr aus. Will jemand ſich ganz
und ausichließlih an Goethe bingeben, in Gotted Namen, er wird aud) dabei
etwas werden, wenn er etwas iſt; wir haben nicht einmal etwas gegen die
Goethe-Philologie, denn fie beſchäftigt viele Yeute, die fich ſonſt womöglich ſchlechter
beihäftigen würden — jedoch die Goethe-Bildung des tüchtigen Durchſchnitts—
deutfchen, zu dem ich auch alle Leute von Genie und Talent ftelle, die Beſſeres
zu thun haben als Bücher zu lefen, muß fich jchon jett und wird ſich in Zukunft
erjt recht innerhalb de3 von mir gezogenen Rahmens halten, was natürlich nicht
ausfchließt, daß bier und da aud ein bedeutendes Werk über Goethe, etwa
Viktor Hehns „Gedanken genofjen wird. Edermanns „Geſpräche“ allein ftelle
ich zu Goethes eigenen Werfen, fie find ja auch fein Werf, der unbeftreitbare
*, Einleitung zu einer neuen Ausgabe der „Geſpräche mit Goethe, die demnächſt bei
Eugen Diederichs in Leipzig ericheint.
Adolf Barteld, Goethe und Edermann. 393
Grundfag, daß man den Dichter immer aus erfter Hand nehmen fol, trifft bei
ihnen zu. Leben, unmittelbare Leben foll uns die Litteratur geben, nicht Rai-
fonnement. Das ift freilich richtig, daß der große produktive Geift ebenbürtiger
receptiver Geilter bedarf, um voll erfannt zu werden, aber wir Eönnen alle nur
genießen, d. 5. mitleben nad) dem Maße bejjen, was wir find, Ejelsbrüden giebt
e3 da nid.
Ein Lebensbud, ein Buch des Mitlebend möchte ich die berühmten „Ge-
ſpräche“ denn auch zunächſt nennen, darin befteht ihr jofort in die Augen fallen-
der Wert. Wir haben nichts, was uns fo unmittelbar in das klaſſiſche Weimar
zurüdverjegte. Ja gewiß, wer die Briefwechſel aus den Tagen, wo Wieland,
Herder und Schiller noch lebten, richtig lefen, wer fi) aus all den Eleinen ver:
ftreuten Zügen ein Bild zufammenjegen Eann, dem wird etwas Größeres und
Bewegteres erftehen, als es Edermanns Darftellung jenes Weimard, in dem
Goethe allein und alt war, bietet. Aber wiederum finden wir und aus dem
heutigen Weimar auch leichter in das Goethe-Eckermannſche, das auch nod das
Hajlifche, aber auch ſchon das des neunzehnten Kahrhunderts ift, zurüd, und dem
Bilde, das wir empfangen, fehlt fein Zug, e3 it felten vollitändig, wunderbar
treu. Faft Woche für Woche, oft Tag für Tag können wir mit Edermann in
das gelbe Haus am Frauenplan wandern, dort mit ihm die breite Treppe hin:
auffteigen, und immer tritt uns in einem der Zimmer, die noch heute genau in
ihrem alten Zuftande erhalten find, die mächtige, ftraffaufgerichtete Geftalt mit
dem S$upiterfopfe entgegen, die für den Sohn ber Lüneburger Heide der Mittel-
punkt feines Lebens war und der Mittelpunkt der deutfchen Litteratur noch immer
ft. Wir jehen Goethe im SKreife feiner Familie oder mit hervorragenden
Männern Weimard und von auswärts bei Tiſche, wir jehen ihn in glänzender
Abendgejellichaft, wir jehen ihn nıit Edermann allein in feinem einfachen Studier-
zimmer, jelbft auf dem Srankenlager: feine ganze Hauserijtenz wird uns voll:
fommen beutlih. Auch in der Natur jehen wir ihn, jei e8, daß er die Steige
feines Hausgartens munter redend auf und ab fchreitet, jei es, daß er zu feinem
Bartenhäuschen am Horn hinübergefahren ift und nun, alter jchöner Tage
gedenfend, das Erwachen des Frühlings beobadtet. Manchmal geht es aud
aus dem Weichbild Weimars hinaus, die Erfurter Ehaufjee entlang oder ums
Webicht herum, in dem Edermann feine Vögel fängt, dann nad; Belvedere, auf
die Höhe des Etteröberges oder nad Berka, einmal aud nad Dornburg und
endlich nad) Jena ins ſchöne Saalthal. Wundervolle Frühlings:, Sommer: und
Herbittage leben für uns in diefen Umgebungen wieder auf, aber auch das
Vinterleben der Kleinſtadt mit Theaterbeſuchen, Hoffeftlichkeiten, Schlitten-
partieen, an denen der Dichter zwar nicht mehr in Perfon, aber doch in Gedanken
teilnimmt, erfteht für unfere Anſchauung. Wer Weimar fennt, der gewinnt die
tieffte Vertrautheit mit der äußeren Eriftenz des greifen Dichters, aber auch wer
394 Abolf Bartels, Boethe und Edermann.
es nicht kennt, kann ſich Hineinfinden, und die Sehnjudht, einmal mit eigenen
Augen zu ſchauen, wird ihn nicht mehr verlafjen.
Doch giebt Edermann viel mehr als das Milieu des alten Goethe, er
giebt die ganze Perfönlichkeit, äußerlich und innerlich, fein Stehen und Gehen,
jeinen Blick und feine Rede und das gefamte, immer rege Geijtesleben des
„Fürſten der Geiſter“ dazu. Es war die Zeit, wo unſer Dichter ald Haupt
nicht bloß der beutichen, fondern der europäiſchen Litteratur anerkannt war, wo
man aus England und Frankreich, aus Italien und felbit den Ländern des
Nordens und Dftens nicht bloß nah Weimar blidte, fondern auch nad) Weimar
wallte, um dem Dichter de3 „Werther“ und des „Fauſt“ feine Berehrung zu
Füßen zu legen, es war aber aud; die Zeit, wo man die Karikatur des großen
Mannes zu fchaffen begann, die, obwohl ein lächerliches Spiegelbild ganz be-
ſchränkter Geifter, ſich doch bis auf diefen Tag fortgeerbt hat. Die Börne umd
Menzel begannen ihre verabjcheuenswürdige Thätigkeit, der eine im Banne des
politifchen Radikalismus, auch wohl inftinktiv die Abneigung Goethe gegen feine
Raſſe empfindend und vielleicht noch örtlich durch die Größe feines Landsmannes
bedrüdt, der andere durch ein perfönliches Erlebnis beftimmt und unfähig, feine
chriftlich-gerntanischen Ideale ſoweit zu erweitern und zu erhöhen, daß fie auch
Raum für einen Goethe geboten hätten. Und diefen beiden ſchloß fih um die
Zeit von Goethes Tod noch Heinrich Heine an, indem er von Goethes Indiffe—
rentismus und Wefthetizismus fafelte: feine Werfe zierten unfer Baterland, wie
ihöne Statuen einen Garten zierten, man könne ſich in fie verlieben, aber fie
jeien unfruchtbar. Ad, gar zu gern hätte ſich der eitle Poet, der die Stirn ge-
habt hatte, dem Olympier zu jagen, er fchreibe einen Fauft, und infolgedeflen,
wie es jcheint, ftarf abgefallen war, gar zu gern hätte er ſich an Goethes
Seite geftellt, er war ja aud, wie er zu wiederholen nicht müde wurde, ein
Hellene und fein Nazarener. Eckermann ftand ihm, noch ehe die „‚Geſpräche“ er-
ſchienen waren, auf der Grenze des Lächerlichen, aber diefer Eleine Edermann,
der dann noch im „Zannhäufer“ fein Teil abbefam, war ftärfer al3 alle die
Börne und Menzel und Heine und wie alle die Feinde Goethes noch fonft
heißen mochten, wie Liebe und Treue immer ftärker find als Haß und Neid und
Hochmut. Seine „Geſpräche“, die er mit unermüdlicher Hingabe und wunder:
barer Objektivität bei Goethes Lebzeiten aufgezeichnet, und die dann 1835 er:
Ichienen, ſchlugen fie alle nieder, die großmächtigen Herren, die da glaubten, den
Weimarer Jupiter abſetzen oder in die Ede fchieben zu können, und zwar durch
weiter nichts als die fchlichte Wahrheit. Hier ift der wahre alte Goethe, ſagte
Edermannd Bud, und die Zerrbilder lagen bleich und tot, mochten fie die, die
nicht alle werden, auch in Zukunft noch oft genug wieder zum Reben zu erwecken
juchen. Das ift die große hiftorische Bedeutung von Edermanns „Geiprähen“:
Sie haben für alle Zeiten dargethban, daß Goethe „un et indivisible“ ift,
Adolf Bartels, Goethe und Edermann 395
der Alte des ungen würdig, jung geblieben, jomweit es überhaupt menſchen—
möglich.
Hier iſt der wahre alte Goethe, jede Seite des Eckermann-Buches offenbart
die große Perſönlichkeit um ſo deutlicher, als auch die Schwächen des Großen
keineswegs verſteckt ſind. Der am meiſten wiederholte Vorwurf gegen Goethe,
daß er ein Hofmann und Fürſtenknecht geweſen ſei, ſich vor den Mächtigen der
Erde gebückt und im übrigen ein ſteifes, kaltes Weſen zur Schau getragen habe,
fällt vor dem lebendigen Zeugnis Eckermanns in ein weſenloſes Nichts zuſammen.
O ja, Goethe kannte die Großen und beachtete die Regel, daß man ſich ihnen
gegenüber „nicht durchaus menſchlich geben, vielmehr ſich durchaus innerhalb
einer gewiſſen Konvenienz halten müſſe“, er hat jelbit dem einfadhen Edelmann
dad Maß von Berbeugungen gewährt, das nad dem Höflichkeitsfoder unver:
meidlich ift, aber wann hat er je feinem Verhältnis zu den Großen einen Einfluß
auf fein inneres Wejen und feinen von ihm erkannten hohen Beruf, das deutfche
Volk geiftig freizumachen, geftattet, wie will man auch nur den Schatten eines
Bemeiles liefern, daß er Rang und Titel höher eingefchäßt habe als nad ihrem
wirflihen Wert? Ganz ausdrüdlich erklärt er doch, daß ihm feine Standes-
erhöhung innerlid; nichts bedeutet habe, und daß er fi) gar nicht gewundert
haben würde, wenn man ihn zum Fürften gemadt hätte. Dabei verfannte er
freilich, die Vorzüge ariftofratifcher Herkunft, deſſen, was wir jet das Raffige
nennen, nicht und war weit davon entfernt, ſich ald Gleichheitäpriefter aufzu-
Ipielen, vor der bloßen Fürftlichkeit als folcher, wenn nicht zugleich eine tüchtige
Menihennatur und ein tüchtiger Menfchenwert dahinterſteckte, hatte er jedoch
nad) eigenem Ausdrud „nie viel Reſpekt“. Es ift ſchlimm, daß man foldhe Dinge
nod in unjeren Tagen wiederholen muß, aber die Krankheit unferes Zeitalters
ift ja nicht der Servilismus, obſchon auch diefer hier und da nod in Reinkultur
gezüchtet wird, fondern die demokratische Proßerei, die Ueberhebung des Plebejer-
tums, das nicht bloß der hohen Geburt, jondern auch getitiger Größe die ge-
bührende Rüdficht verjagt, dagegen vor der Macht des Geldes jämmerlich Eriedht.
— Bon der „fteifen” Grellenz merkt man bei Edermann faum etwas. Selbft:
verftändlich, Goethe ift öfter fteif und zurückweiſend gewefen, ob aber am un:
rechten Plage, ift doc) noch ſehr fraglich, man weiß ja doc, welche Gefellen fi
an die großen Männer heranzudrängen pflegen. Sollte er aber auch einmal je-
manden, der es nicht verdiente, fchlecht behandelt haben, jo wird ſich das menſch—
lich jederzeit leicht erklären lafjen: die Künftlernatur ift von Stimmungen ab:
hängig, und wenn Goethe auch gewiß diefer Stimmungen mehr Herr war als
jeder andere, hin und wieder machten fie jid) natürlich; auch bei ihm geltend. In
der Hauptſache ericheint er bei Edermann durchaus menfclich-liebenswürdig,
freundlich, ja gütig. Welche Nüdficht nimmt er auf die Eigenheiten feines
Schüglings, die Gefellihaftsfurdt, die Theaterliebe, wie Eindlich-zutraulid er-
396 Adolf Bartels, Goethe und Edermann.
icheint er vft! Wie iſt es geradezu rührend, wenn er, der alte große Mann, den
jungen, der ihm ja zwar in mander Beziehung nützlich war, väterlich ala „liebes
Kind" anredet ımd feine Zuneigung wohl gar durch allerlei Liebfojungen, wie
Dändedrud und Streicheln, zu erkennen giebt. Es ftedte in dent Genius Goethes,
wie in jedem echten, die Kindesnatur bis zu allerlett: Nicht nur, daß er gelegent-
lich noch auögelafjen wie ein Kind fein und Sinderfpiele, wie das Bogenſchießen,
treiben kann, er hat aud die ftärfite Sympathie für die Jugend und weiß ſich
jehr wohl in die Sinderjeele bineinzuverießen, wie er denn z. B. die Störung
aller Sinderjpiele durch die Polizei, die in unferem demokratischen Zeitalter erſt
recht an der Tagesordnung ift, aufs höchite tadelt. Jawohl, Goethe wußte, mie
man freie Menjchen erzieht, daß es gamicht darauf ankomme, ob die Erwadjjenen
ein größere8 oder geringered® Maß von politifcher freiheit (die ja nebenbei be-
merkt, immer darauf hinausläuft, jo oder jo vielmal das Blindekubjpiel des
Wählens treiben zu dürfen) befigen, jondern darauf, ob der öffentliche Geift,
hinter dem wieder der Nationaldarakter fteht, wahrhaft frei ſei — nun, wir
fangen an, uns in diefer Richtung zu entwideln, aber im Gegenjaß zur Demo-
Eratie. Doch es ift bier zunächft noch von Goethes Berjönlichkeit, noch nicht von
jeinen Anjhauungen die Nede. Wahre Güte und grandioje Natürlichkeit, das iſt
meiner Ueberzeugung nad, wenn man die bier und da das Gold verbergenden
Schlacken wie billig ignoriert, ihr Charafteriftitum. Goethe war fein Egoift oder
doch nicht mehr Egotit, als es ein großer Mann, der feine Aufgaben auf Erden
erfüllen will, fein muß. Gewiß, er benugt Edermann, er fchneidet ihm jogar die
Möglichkeit auf fich ſelbſt geftellter Entwidelung ab, aber er thut das doch wohl
aus der Erkenntnis heraus, daß der freie Schriftiteller Eckermann nicht viel mehr
als ein Berufskritifer geworden wäre, und entſchädigt ihn aufs reichlichſte. Zu
einem jchwärmerifchen Sdealijten, der ſich, wie er wenigſtens glaubt, immer für
andere aufopfert, hatte Goethe allerdings nicht die geringfte Anlage, er war
Realift duch und durch, aber jein Realismus hat nichts von der brutalen Härte
des eigentlichen Thatmenjchen, er entjpringt einer durchaus gütigen, hochgebildeten,
dabei allerdings auch jehr verjtandesklaren Natur. Und jo ergiebt er dauerhafte
menſchliche Verhältniſſe.
Eben dieſen verſtandesklaren, aber keineswegs rein verſtandesmäßigen, viel—
mehr auf tiefſter Erkenntnis menſchlicher Natur und wärmſter Anteilnahme an
allem Menſchlichen beruhenden Realismus erkennen wir in Goethes Verhältnis
zu allen menſchlichen Dingen und Inſtitutionen, und es iſt ein ungeheures Ver—
dienſt des Eckermannſchen Buches, daß es dies Verhältnis faſt jederzeit unendlich
klar und prägnant hervortreten läßt. Daß Goethe kein Hofmann war, haben
wir bereits geſehen, er war auch kein politiſcher Reaktionär oder, wie man es
auch vielfach hinſtellt, ein völlig unpolitiſcher Menſch, ſondern er hatte ſehr ver—
nünftige Anſchauungen über Staat und Politik, die man der Mehrzahl der
Adolf Bartels, Goethe und Edermann. 397
heutigen Deutfchen nur wünſchen könnte. Auch hier ein entjchiedener Realismus:
Lange vor Bismard hat Goethe die Politik für ein fehr großes Metier, das den
ganzen Menfchen erfordere, alfo für eine Kunſt erklärt und feinen Abjcheu gegen
die Pfufcherei in Staat3angelegenheiten, woraus für Taufende und Millionen
nicht3 als Unheil hervorgehe, ausgefprochen. Aber einfeitig Freund des Be—
ftehenden wollte er auch nicht heißen, fondern nahm ganz entichieden den Ehren-
titel eines Freundes des Volkes für fi in Anſpruch. Zwar er hafte den ge:
waltfamen Umfturz, wie er den Defpotismus eine Ludwigs XV. verurteilte,
alles Gewaltfame, Sprunghafte war ihm in der Seele zumider, weil es nicht
naturgemäß fei, aber gegen den vernünftigen Fortichritt hatte er nicht daS Geringfte
einzumenden, ja, er, der Sohn des angeblich unpolitifchen achtzehnten Jahrhunderts,
war feinen mit dem englifhen und namentlic) dem franzöfiichen Liberalismus
fofettierenden Zeitgenoſſen injofern unendlid, weit voraus, als er klar erkannte,
daß jeder Fortichritt dem Nationaldyarakter eines Volkes entfprechen müſſe. Es
find auch noch für ung goldene Worte, die er am 4. Kanuar 1824 zu Edermann
jagte: „Wiederum ift für eine Nation nur das gut, was aus ihrem eigenen
Kern und ihrem eigenen allgemeinen Bedürfnis hervorgegangen, ohne Nadhäffung
einer anderen. Denn was dem einen Volk auf einer gewiſſen Altersftufe eine
mwohlthätige Nahrung fein kann, erweift fich vielleicht für ein anderes als Gift.
Alle Verſuche, irgend eine ausländiiche Neuerung einzuführen, wozu das Bedürf-
ni3 nicht im tiefen Kern der eigenen Nation wurzelt, find daher thöricht und alle
beabfichtigten Revolutionen ſolcher Art ohne Erfolg; denn fie find ohne Gott, der
ſich von ſolchen Pfufchereien zurüdhält. Iſt aber ein wirkliches Bedürfnis zu
einer großen Reform in einem Volke vorhanden, fo tft Gott mit ihm, und jie
gelingt.” Daraus folgt, daß tiefe Kenntnis des Nationalcharakters die Bor:
bedingung alles politiichen Wirfens ift, und daß Goethe diefe beſaß, beweiſt die
ebenfalld im Edermann zu findende fchöne Rede über den deutichen Andividualis-
mus, wie jeine Prophezeiung der deutfchen Einheit, die nicht viel anders gekommen
ift, alö er vorausjah. Wundervoll iſt dann auch hier wieder Goethes Zug zur
Jugend: „Wäre ich ein Fürft, fo würde ich zu meinen erften Stellen nie Leute
nehmen, die bloß durch Geburt und Anciennetät nach und nad) beraufgefommen
find und nun in ihrem Alter in gewohntem Gleife langſam gemächlich fortgehen,
wobei dann freilic) nicht viel Geicheites zu Tage kommt. Junge Männer wollte
ich haben — aber es müßten Kapazitäten fein, mit Klarheit und Energie aus—
gerüftet, und dabei vom beiten Wollen und edelftem Charakter. Da wäre es
eine Luft zu herrſchen und fein Volk vorwärts zu bringen.“ Diejer Preis der
Jugend galt freilich nicht den grünen Jungen, über deren Anmaßlichkeit Goethe
vielmehr öfter Elagte, er war nur die Proklamierung des Satzes: „dem Talente
offene Bahn!“, der denn volllommen zu Goethes Flarem und warmem Realismus
fimmt. - —
398 Adolf Bartels, Goethe und Eckermann.
Er hat ihn aud der deutfchen Litteratur feiner Zeit gegenüber zur Richt:
ſchnur genommen, was auc gegenteilige3 behauptet worden ift. Es ift 3. 8.
eine offenbare Lüge, wenn Heinrich Heine behauptet, Goethe habe Angft vor
jedem jelbftändigen Driginaljchriftfteller gehabt und alle unbedeutenden Klein—
geifter gepriefen, ja, er habe es jo weit getrieben, daß es endlich für ein Brevet
der Mittelmäßigfeit gegolten habe, von Goethe gelobt worden zu jein. Ueber
Goethes Verhältnis zu Kleiſt will ich hier nicht reden, das fallt in eine frühere
Zeit — hat der Dichter aber nicht jelbit diefem Unglüdlichen, von dem er ſich
abgeitoßen fühlte, die Bahn zu öffnen verſucht? Edermanns „Geſpräche“ jpiegeln
die Yitteratur des Nejtaurationszeitalters wieder, das von Goethe mit Recht als
eine etwas dumpfe Zeit des Auslebens empfunden wurde, es erhält aber jeder,
der in ihm bedeutender hervortrat, von Goethe eine im ganzen zutreffende
Charakteriſtik. Grillparzer, der bedeutendſte, kommt im Gdermann leider nicht
vor, wir willen aber aus deſſen eigener Biographie, daß Goethe ihn äußerſt
freundlich aufnahm, und daß er es Sich ſelber durd) ungeſchicktes Wejen bei dem
Alten verdarb. Uhland geichieht nur jcheinbar unrecht — Goethe hat zufällig
jeine etwas weichliche Jugendlyrik gelefen und ift dadurch abgeſtoßen worden,
erkennt dann aber den Balladendichter an. Und wenn er jpäter unter noch
wärmerer Anerkennung der Gejamterjcheinung Uhlands dejjen politiiche Richtung
tadelt, hatte er da nicht recht? Sind nicht etwa die politiichen Gedichte des
tüchtigen Schwaben troß einiger glänzenden rhetorifchen Stellen im ganzen
poetiſch ſchwach? Ueber Rüdert hat Goethe freundliches gejagt, Platen hat er
als Talent jogar überjchägt, freilich aud) feine negative polemiſche Richtung ge=
tadelt und das harte, wenn auch bis zu einem gewiljen Grade treffende Wort
über ihn geiprocdhen, daß ihm die Liebe fehle. AJmmermanns Bedeutung erkannte
er auch gleich, obſchon das damals noch keineswegs fo leiht war. Das find
denn doch jchon beinahe alle vorragenden Talente der Zeit. Daß hier und da
auch einmal eine Mittelmäßigfeit gelobt wird, ſoll nicht bejtritten werden, aber
die Egon Ebert, Auguft Hagen und Wilhelm Meinhold jind noch keineswegs
ſolche. Es fiel dann allerdings das Wort über die forcierten Talente, aber wer
möchte leugnen, dab es jchon für die zwanziger Jahre berechtigt (Grabbe, auch
Deine) und für die dreißiger Fahre, die Zeit des jungen Deutichlands, geradezu
prophetiih war? Sehr viel bedeutender find dann freilich im Edermann die
Auslaffungen über die Älteren Zeitgenofjen Goethes, unſere klaſſiſche Dichtung,
und die über die ausländifche Litteratur. Für die erjtere, für Leſſing, Wieland,
Herder, vor allem aber Schiller find die Ausiprüde Goethes zum Teil von
geradezu grundlegender Bedeutung, ich würde mich beijpieläweife anheiſchig
machen, aus ihnen eine Charakteriftit Schiller3 in feinen Borzügen und Schwächen
zu entwideln, die man noch heute, nach Hebbel und Ludwig, als maßgebend an-
zuerfennen haben würde. Auch Nichtdichter, die während des Sturmes und
Adolf Barteld, Goethe und Edermann. 399
Dranges und in der klaſſiſchen Zeit, zumal in Goethes Leben eine große Rolle
geipielt, Merk und Karl Auguft 3. B., treten aus den Geſprächen außerordentlich
plajtiich hervor; fie find nicht bloß ein Lebens-, fie find auch ein Geſchichtsbuch
von nicht unbeträdtlihem Wert. — Ganz hervorragend iſt der Edermann als
Wiederjpiegelung der ausländischen litterariihen Einflüffe, die damals, nachdem
ſie zuerit von Deutfchland, von Goethe im bejonderen ausgegangen, gleichſam
rüdjchwellend nad; Deutſchland zurüdkehrten. In gewiſſer Hinſicht fteht Lord
Byron im litterariihen Mittelpunkt des ganzen Buches, jein menjchlicher und
dichteriiher Charakter und auch feine Poeſie finden eine fait erjchöpfende Dar:
ftellung. Wir Deutihen von heute haben im allgemeinen feinen Zug mehr zu
Byron, er it und zu ſehr im fich gebunden, feine unzweifelhaft äußerit jtarfe
Subjeftivität ift uns nicht objeftiv-poetiich ausgiebig genug; immerhin aber be:
greifen wir, wie er auf Goethe, der jeit Schiller8 Tode einjam daftand, wie ein
Phänomen wirkten mußte, und wir folgen dem Alten gern, wenn er uns feines
Lieblings Größe auseinanderjegt. Dauerhafter erjcheint uns Heute jein Lob
Walter Scotts, und auch die Begeilterung für Manzonis „Verlobten" können
wir wohl nod) teilen, umſomehr, da wir fie außerordentlich friſch und unmittelbar,
in den Pauſen der Lektüre überliefert befommen. Daneben dann die Größen der
franzöfiihen romantischen Schule, Beranger, der freilich als echter Gallier nur
halb zu ihr gehört, Viktor Hugo, beffen „Notre dame de Paris“ freilich ver-
worfen wird, Prosper Mérimée u. j. w. Auch die Männer der franzöfijchen
Wiſſenſchaft, die Guizot, Couſin, Billemain, die ganze junge Generation des
„Globe“ jchreiten ſehr refpeftabel einher, und wir empfinden das Erjtaunen
Goethes, daß die leichtjinnigen Franzofen unter dem Einfluß deutſcher Wifjen-
Ihaft und Kunſt plöglich jo ernithaft und gründlich geworden find, mit ganzer
Seele nad). Mehr als alle dieje Männer des Friedens fejjelt freilich der Kriegs:
gott Napoleon, vor dem er felber einft in Erfurt geftanden hatte, die Aufmerk:
ſamkeit Goethes, er iſt, könnte man faft jagen, neben Byron der zweite Mittel-
punft der „Geſpräche“, und das Genie Goethe madht aus feiner Bewunderung
des Genies Napoleon Eein Hehl. Wer wollte fich darüber entrüften? So lächer—
fi, ein eigentlicher Napoleonkultus in Deutjchland ift, wie er dann bald bei uns
eingeführt wurde, jo leicht verftändlich iit ein gewaltiges pſychologiſches Intereſſe
an dem Erben der Eäjaren, wie es die damals allmählich hervortretende Memviren:
fitteratur über ihn denn aud; bei Goethe wachrief. Edermann als Geſchichtsbuch
durfte nicht ohne die Geftalt des Korſen jein.
So rei nun aber aud die „Geſpräche“ an Material zur Zeiterfenntnis
find, jo ficher Byron und Napoleon höchſt bedeutfam gejpiegelt werden, immer
kehrt doc) die Aufmerkjamkeit zu Goethe jelbit zurüd, feine Perfönlichkeit, fein
Leben und Schaffen geben, wie felbitverftändlich, den Gehalt des Buches, erſt in
Bezug auf ihn eriheint und alles von höherer und tieferer Bedeutung. Speziell
400 Adolf Barteld, Goethe und Edermann.
für Goethes Schaffen ift der Edermann ein äußerſt wichtiges Quellenwerk: Nicht
nur, daß uns gezeigt wird, wie der alte Meifter zu den meilten feiner früheren
Werke ſtand — beiſpielsweiſe über den „Werther” fagt er ſelbſt das Beſte, was
je darüber gejagt worden ift —, mir fehen auch noch eine Reihe von Werfen,
„Die Wanderjahre”, Teile von „Wahrheit und Dichtung”, die „Novelle“, vor allem
den zweiten Zeil des „Fauſt“ vor unferen Augen entftehen und können unfchäß-
bare Blide in die Dichterwerfftatt Goethes thun. E38 ift richtig, feine Geftaltungs-
funft war nicht mehr auf der Höhe, wir bemerfen ein Hebergewicht der Reflerion,
ja, bier und da eine gewifje mechanische Weife, die den mangelnden „Strom“
durch allerlei äußerliche Mittelhen erjegen will. Aber die ganze ungeheuere
äfthetifche Erfahrung eines unendlich reichen Künftlerlebens beſaß doc auch noch
der Goethe Eckermanns, und alles in allem find die „Geſpräche“ doch aud ala
äfthetijches Lebensbuch in der deutfchen Litteratur einzig, nur etwa die „Tage—
bücher“ Hebbeld möchte ich ihnen an die Seite ftellen. Natürlich, ich weiß, was
auch in Goethes Werfen felber ftedt, aber die Form, in der wir e8 bei Eder-
mann erhalten, ift vielfach glüdlicher, wir fünnen hier öfter den Gedankengängen
nachgeben, und nichts ift fruchtbarer. Auf die Einzelheiten kann ich bier felbft-
verftändlich nicht eingehen, aber beifpielsweife iind Goethes Auslaffungen über
die Produktivität, über das Schöne als Urphänomen, über die Abhängigkeit der
jüngeren Dichter von älteren von geradezu monumentaler Bedeutung, und nod)
viele8 andere würde in einer Piychologie des künſtleriſchen Schaffens eine ganz
hervorragende Stelle finden. Am Notfall ift die äfthetifche Bildung, die man fich
aus Edermann holen kann, fogar noch für unfere jeßigen Eomplizierten Verhält—
nifje ausreichend. Auch für die bildende Kunſt läßt fich ſehr viel lernen, mag
Goethe immerhin zu fehr in jeinem Haffiziftifchen deal befangen gemwejen fein.
Cum grano salis muß man freilich lejen Eönnen, wenn man den reiten Nutzen
haben fol; es ift gewiß nur ſehr bedingt richtig, wenn Goethe den jungen
Talenten das Abfaſſen größerer Werke widerrät oder die äußerfte Rüdfichtnahme
auf das Theater empfiehlt, der Nealift Goethe lobt unter Umftänden auch ein-
mal eine Praris, die mit der Kunſt nicht recht bejtehen kann. Aber dem Ganzen
gegenüber bejagt das garnichts, nicht mehr, als feine Abneigung, in Sachen der
Farbenlehre Widerſpruch zu erfahren, für feine ganze Perjünlichkeit bedeutet.
Fa, die Farbenlehre! Da wären wir denn bei der Materie, die in den
Geſprächen uns heute wohl gelegentlich einige Langeweile verurfadht. Ach kann
nicht leugnen, ich würde mich Eöniglich freuen, wenn Goethe auch bier noch recht
befüme und die geniale Intuition abermals einen Sieg über die gelehrte Forihung
davontrüge. Aber ic; traue dem Frieden nicht recht, und am Ende war auch
Newton ein Genie. Immerhin werden bei Gelegenheit der Farbenlehre von
Goethe tiefe Wahrheiten genug ausgefprodhen, und vor allem, man kann den
Geiſt erkennen, in’ welchem Goethe forfhte. Die modernen Naturforfiher haben
Adolf Barteld, Goethe und Edermanın. 401
ja zu einem großen Teil Gvethe als den Ihrigen reflamiert, aber ich fürchte, er
würde keineswegs mit ihnen durd did und dünn gehen und manchen der Herren
ſehr energiich ablehnen. Eine ähnliche Anſchauung hat Fürzlich Fri Lienhard
ausgefprodyen: „Goethes, dieſes Künftler voll ficheren und feinen Inſtinktes,
Grundftimmung in all feiner feufchen und intuitiven Forſchung war und mußte
fein: eine zarte Zurüdhaltung vor den letten, nicht zu löfenden Weiten... . .“
Goethe vergleicht die Natur bald mit einem „nedifchen jungen Mädchen", das
durch taufend Reize anlodt und immer wieder entjchlüpft, bald nennt er ihre
„Geheimniſſe von einer unergründlichen Tiefe" und betont, daß fie, wenn wir
auch immer weitere Blide hinein thun dürfen, „doch am letten Ende unergründ:
lich bleibt". An einem Aphorismus jagt er ſcharf und nadt: „der Begriff vom
Entftehen ift ung ganz und gar verſagt.“ Goethe, der die vielfagende Homunkulus—
fcene gejchrieben hat, jchrieb aud) die Worte: „Wenn man fie (die bloß mathe:
matiſchen Naturen, die Goethe nicht liebte) auf ehrfurchtsvolle Weife in Raum
und Zeit gewähren läßt, jo werden fie erkennen, daß wir etwas gewahr werden,
was weit darüber hinausgeht, welches allen angehört und ohne welches jie jelbft
weder etwas thun noch wirken künnten: Idee und Liebe.“ Goethe, der jogar
zu einem poetifchen Myſticismus leife Neigungen verriet (Seelenwanderung,
Dämonismus des Genies), der über die Unfterblichkeit ebenjo fein zurüdhaltend
wie ehrfürdtig jpradh, fahte das, was er als höchſtes Glück des denfenden
Menfchen empfand, in die Weisheitäworte zufammen: „Das Erforichliche erforicht
zu haben und das Unerforfchliche ruhig zu verehrten.“ So wurde er beiden
Standorten gerecht: dem objektiven, der eraft die Materie bis zu gewiſſen Grenzen
beihaut, aber auch dem fubjektiven, der ſich ahnend als Teil des unendlichen
Weltgeiſtes fühlt —
. » iſt doch der Kern der Natur
Menſchen im Herzen.“
Ganz gewiß, das ift die richtige Anſchauung über Goethe als Naturforfcher.
Ich gehe vielleicht noch weiter ald Lienhard und fage: Goethe hatte nicht bloß
leife Neigungen zum poetiſchen Myſticismus, er war eine pojitiv religiöfe Natur,
weit entfernt von dem religiöfen Indifferentismus, den man ihm vorgeworfen
bat. Der Edermann, der nicht bloß Lebens: und Geſchichtsbuch, der auch Welt:
anſchauungsbuch ift, beweilt e8 an hundert Stellen. Ich führe nur die eine an,
wo Goethe, ald ihm Gdermann von der, ſelbſt freigelaffen, zu ihren in der Ge—
fangenfchaft befindlichen Jungen zurüdfehrenden Grasmüde berichtet, in die Worte
ausbricht: „Närrifcher Menſch, wenn Ihr an Gott glaubtet, jo würdet Ihr Euch)
nicht verwundern." Ganz unbedingt ift in Goethe ein tiefer Gottesglaube, den
man feineswegs als eine pantheiftiiche Allgemeinheit aufzufaffen hat, fondern als
tiefſtes Bedürfnis einer wahrhaft frommen Natur, die freilich zu einem VBernunft-
opfer nicht geneigt war und das Anthropomorphiiche in allen Religionsvorftellungen
26
402 Adolf Bartels, Goethe und Edermann.
nur zu gut erkannte. Wäre nur der Glaube all unferer Frommen ſo innig, feit
und demütig wie bei Goethe! Und es war ein echt protejtantifcher Glaube, noch
in feinem legten Gefpräd mit Edermann fpricht Goethe das ganze Verdienit
Luthers fo klar wie möglich aus: „Wir haben wieder den Mut, mit feften Füßen
auf Gottes Erde zu jtehen und uns in unſerer gottbegabten Menjchennatur zu
fühlen." Gottbegabte Menjchennatur! Als folde empfand er vor allen das-
Genie, deflen, Schöpfungen ihm durch bloß menſchliches Wollen und menjchlice
Kräfte einfach nicht erreichbar ſchienen, und ftellte e3 ſogar als Gottes Abjicht
bin, auf der materiellen Unterlage der Welt eine Pflanzfchule für eine Welt von
Geiſtern zu gründen: „So ift ev nun fortwährend in höheren Naturen wirkſam,
um die geringeren heranzuziehen.“ Es iſt Kar, daß man zu einer jolchen An-
ihauung mit dem dumpfen pantheiftiichen Gott, dejien Kerker die Welt ift, nicht
gelangt, wenn andrerjeitS auch der außerweltliche perjönliche Gott Hier ebenjv-
wenig in Betracht kommt. Goethes Gott ift aus den tiefiten Gründen nicht be-
grifflich norimiert, aber er ift ebenſowenig ein hlafjer Schemen, ein Verlegenheits—
produkt, wie bei jo vielen Religiös-Freifinnigen, er ift fejt geglaubt und tief gefühlt —
und Gefühl ift alles! Suweit ſich überhaupt ein Glaube anders als dichteriich aus:
iprechen läßt, hat Goethe ihn bei Edermann ausgefprodyen, und fo fehlt auch das
Letzte nicht, was wir zur Erkenntnis einer großen Perfönlichkeit braudyen: Bon der
äußeren Miene bis zum tiefiten Bekenntnis, alles birgt diefes wunderbare Bud).
Es ſteckt ja aber nicht bloß der ganze Kohann Wolfgang Goethe, es ſteckt
auch der ganze Johann Peter Edermann darin, und diefen genauer fennen zu
(fernen ift doch ebenfalls dev Mühe wert. Goethe fpiegelt die Welt, und Eder:
mann ſpiegelt Goethe, könnte man das Berhältnis ausdrüden, aber Goethe ift
auch eine Welt, während Edermann als Perjönlichkeit freilich nur ein bejcheidenes
Winkelchen bedeutet. Immerhin joll man die rein receptiven Naturen nicht unter:
ihäßen, fie vermitteln zwijchen Genius und Welt und find um fo fhäßbarer, je
treuer fie aufnehmen. Ein wenig Produktivität gehört auch dazu oder doch Re—
produftivität, und die hat Edermann ja au durch jeine „Gedichte" und durch
feine „Beiträge zur Poeſie mit bejonderer Hinweiſung auf Goethe" erwieſen.
Als „Spiegel” aber ift er unvergleihlich, und es ift mehr als bloße Schmieg-
jamfeit, was ihn befähigte, Goethes Wejen und Art bis zur Gebärde der Rede
treu wiederzugeben, es ijt eine angeborene minutiöfe Beobadhtungsgabe und eine
Frische der Sinne, wie wir ſie an den Naturfindern bewundern, und wie jie
diefer Sohn der Lüneburger Heide als Erbteil feines Stammes und aus einer
unter dem niederen Volke nahe der Natur verbrachten Jugend mit befam, es iſt
endlich die Liebe, die das Beite gab. Ueber jeinen Bildungsgang hat Edermann
jelber in der Einleitung zu feinen „Geſprächen“ berichtet: Er ift merkwürdig
genug, es will etwas heißen, vom Subjungen zum vertrauten Genofjen eines
Goethe emporzutommen. Noch merkwürdiger ift, daß Edermann nicht durch die
Adolf Bartelö, Goethe und Edermann. 403
ihm widerfahrene Auszeichnung „verdreht” wurde, daß er der einfache, bejcheidene,
fiebensmwürdige Menjc blieb, der er gewejen war. Aber er fam nicht allzufrüh,
erft nad) jeinem bdreißigften Lebensjahre (1823) an Goethe heran, und es war
nicht bloß tüchtiges Bildungsftreben, ſondern auch ethischer Fonds in ihm, und
der erſetzt menjchlidy jehr wohl die Genialität. Alles in allem war er eine durch—
aus gefunde Natur und bei aller Sorglofigkeit und Beitimmbarkeit, was fein
üußeres Geſchick anlangte, doc im Kerne feit. Es jpricht doch jehr für ihn, daß
er Goethe jelbft auf dem Gebiet der Farbenlehre mit Einwürfen zu kommen
wagte. Goethe aber hat nicht bloß feine Brauchbarkeit bei der Redaktion der
Werke, jondern ſicher auch feine innere Tüchtigfeit wahrhaft gefchäßt, und es ift
zwifchen dem alten und dem jungen Manne ein wahrhaft jchönes Verhältnis
entftanden. Geiftig unbedeutend war Edermann aud) feineswegs, er war ein
Zuhörer und „Zwiſchenredner“, wie ji ihn der große Mann nicht beſſer wünſchen
fann, zwar durchaus „Släubiger”, aber darum noch nicht unbedingter Jaſager
und Nachbeter. Es find nicht die jchlechteften Partien der Geſpräche, wo Eder:
mann mehr hervortritt, jelbit die, wo er das Wort führt und feine Erfahrungen
über Vögelzucht und -mauferung und über feine Bogenherftellungsverfuche meit-
läufig darftellt, lefen wir mit großem Vergnügen: erftens, weil fie jo „ſachlich“
find und dann, weil fie angenehme Unterbrechungen bedeuten. Ueberhaupt ftammt
von Edermann weſentlich das idyllische Element der Geſpräche, das wir zwiſchen
all dem Hohen nicht miffen möchten, er war nicht umſonſt ein Landsmann oder
doch Stammesgenofje von Johann Heinrich Voß. Daß er aber auch großer
Empfindungen fähig und ein Stüd Dichter war, zeigt fih an manden Orten,
vor allem bei der Schilderung bed Beſuches bei Goethes Leiche. Die hätte der
größte Dichter nicht ergreifender geftalten können und fie wiegt hundert lobens—
werte Gedichte auf.
Bie Brokltadt Tdhläft.
Die Mondnacht webt aus ABoll und Dur
oh Üüberm toten bäufermecre
Uralte Lieder der Matur,
Gewebt aus Licht und Erdenfchwerc.
Der Machtwind barft fie leis und facht,
Solange bis die Stadt erwacht...
Ein Lied der Mot, ein Lied der Liebe...
Paul Fricdric.
26*
OGOGCOGOGGOGGGOGGCGCC
Aus dem Leben der Hauptstadt.
Von
9. Norden.
L
pät abends, wenn Du auf Deinen Balkon hinaustrittſt, oder zum Fenſter
hinauslehnſt, um vor dem Schlafengehen noch ein paar Züge friſcher Luft
einzuatmen, oder Dich in den Anblick des ſternblinkenden Himmels über Dir zu
verſenken, was Dich immer von ſo viel Ballaſt befreit, den Du tagsüber in Kopf
und Herz mit Dir herumſchleppſt, Niederſchläge einer Menge häßlicher Eindrücke,
die Du zwiſchen Morgen und Abend in Dir aufgenommen — dann tönt durch
die faſt feierliche Stille des Vororts, in dem Du lebſt, ein dumpfes Rauſchen,
ein leiſes Klingen und Singen, das nur jezuweilen der langgezogene oder kurz
aufjauchzende-Pfiff einer irgendwo vorüberraſenden Lokomotive unterbricht ....
Es erinnert Dich an goldene Sommertage, dieſes dumpfe Rauſchen, dieſes
leiſe Klingen und Singen... Du wähnſt Did) wieder an der Meeresküſte, an
einem friedlihen Abend, der einem Tage voll Sturmesheulen und Wogenbraufen
gefolgt ift. Nafch haben die Stürme ausgetobt, und bald ſchon bejänftigte fich
da8 Meer an Deiner Küfte. Und fo kann ſelbſt einem fturmreichen Tage ein
ſtiller Abend folgen, und leife nur noch raufht und fingt und Elingt hinter der
Düne das Meer. Seine Atemzüge nennit Du diefes regelmäßige Kommen und
Gehen dumpfraufchender, Tanggeitredter Wellen... .
Und Atemzüge auch find es, die Du jetzt vernimmft, in nädhtlicher Stille,
auf Deinem Balkon, an Deinem Fenfter — die Mtemzüge einer Millionenftadt.
Wie das Meer gewaltig in feinen Yebensäußerungen, wie das Meer unergründ-
lich in feinen Tiefen, wie das Meer in hundert und aberhundert QTönen und
Farben fchillernd, Leben zeugend und Leben vernichtend, voll tüdijcher Klippen
und Riffe unter trügerifch gleißender Dede, furdtbar im Aufruhr, berüdend im
Zufammenwirken zahllofer Kräfte, der Tummelplat und das Grab fühner Hoff-
nungen, Wiünfche, Träume — wie das Meer...
Du lauſcheſt dem Rauschen, Singen, Klingen . . . Eine zauberifche Weife.
In ihrer Einförmigkeit erhaben und groß wie der helle Schein, der drüben hinter
den Gärten, wie ein Nordlicht am Horizont leife fladernd und flimmernd, gegen
den Nachthimmel fteht. Ein Glorienſchein des Schaffens und Wirfens und
J. Norden, Aus dem Yeben der Dauptjtadt. 405
Könnens menſchlicher Geifteskraft über der Riefenftätte, wo fie fich bethätigt im
Treiben und Drängen und Ringen und Kämpfen von Hundert: und Hundert—
taufenden einzelner Lebewefen, von denen jedes die Gejamtheit fo oder jo
wiederjpiegelt.
Man fpricht fo viel von der Poeſie der Kleinſtadt. Selbft da noch, wo ihr
die Natur und Gefchichte mit allerlei malerischen Effekten nicht einmal zu Hülfe
fommen. Es ift die Poeſie des Kleinen und Beichränkten, die Poefie des Idylls,
des Liedchens. Sie löft in ung nur eine Empfindung aus. in gewaltiges
Heldenepo3 ift die Poefie der Millionenftadt, und fein Held ift das Menfchen-
tum in allen Bethätigungen feines moralifchen, intellektuellen und geiftigen
Lebens: Duelle und Ausfluß diefer Thätigkeit auf allen Gebieten und zwiſchen
beiden ein erbitterter Kampf, ein raftlofes Ringen.
Es hat etwas Beraufchendes, wenn man ſich hineinverjenkt in die ungeheure
Summe von geiftiger und förperlicher Arbeit, die in folcher Mietropole in jedem
Augenblid geleiftet wird, und wenn ınan bedenkt, wie nie, auch in feiner Stunde
der Nacht, diefe Arbeit ganz aufhört und ruht und wie viele Millionen von
Menfchen im weiten Neid) und auf dem ganzen Erdball zu diefer Summe von
Arbeit in enger Beziehung ftehen, diene fie der Staatsverwaltung, der Unter:
haltung von Heer und Seemadt, dem Handel und Gewerbe, der Kunft und
Wiffenichaft, der Technik und dem Werfehrsleben, dem Kultus und dem Unter:
richtsweſen, der Wohlthätigkeit und der Gejundheitspflege oder was ſonſt es fei.
Nie vielleicht fühlft Du Dich fo eins mit der Menfchheit, al8 in dieſer
nädtlichen Stunde, wenn das ferne dumpfe Raufchen und das leife Singen und
Klingen an Dein Ohr Ichlagen und Du der leuchtenden Aureole am Horizont
nadhfinnft. Nie auch kommen Dir die Gegenſätze des Lebens fo zum Bemußtfein,
wie dann: die Gegenjäte von Lurus und Wohlleben und von Hunger und Elend,
von größter geiltiger Anfpannung und vom Schmarugertum, von mweitausfchauen-
dem oder im jtillen, in engerem Kreiſe geübten MWohlthun und Dienft zum
Segen bedürftiger Mitmenfchen und von furdtbaren Verbrechen und Ichranfen-
loſeſter Nichtachtung des Nächiten, von dem heißeften Ringen nad, bejjerer Er-
fenntnis und von fatanischer Leugnung all’ deilen, was menjchlichem Gemein-
wejen und menjchlichem Gemeinwirken das Dafein und die Früchte der Arbeit
gewährleütet.
Tagsüber, wenn Du felbjt untertauchit in diefem Meer von Beftrebungen,
von Arbeit, von Lebensbethätigung jeglider Art — dann ſpürſt Du, im Gemühl
des Straßenlebens, in der Hetze des Berufälebens, im Drange Deines Strebens
immer nur das Allernäcdhfte — überſchauen fannit Du das Ganze nur in jtiller
Stunde bed Sinnens. Und dann auch mur erfchließt ſich Dir die ganze Poeſie,
die das Wort und den Begriff einer „Millionenftadt” umfaßt.
*
*
*
406 J Norden, Aus dem Leben der Hauptitadt.
Welch’ eine Unſumme von fchon Geleiftetem auf all! diefen Gebieten
ichließen die Worte „Aus dem Leben der Hauptftadt” in fih. Hat der Gedanke,
wie viel verjchiedenartige Arbeit in einer Millionenftadt in der kurzen Spanne nur
einer Biertelftunde geleifter wird, jchon etwas Padendes — überwältigend ift
der Eindrud, wenn man fid die gefamten Früchte diefer nimmerraftenden Arbeit
vergegenmwärtigt.
Man hat e8 — und mit Recht — als einen Borzug Deutſchlands z. B. vor
Frankreich bezeichnet, daß hier feine jo ausjchließliche Zentralifierung des geiftigen
Lebens jtattfindet wie bei unſern weſtlichen Nachbarn, wo „Paris“ der Inbegriff
fast ſämtlicher geiftiger Arbeit des Volkes und des Landes ijt, wo alles, was nicht
mit der Marke der Entjtehung oder des Erfolges in der Geineftadt abgejtempelt
it, auf dem Markte des öffentlichen Lebens Frankreichs keinen Kurs hat. So
weit find wir in Deutjchland — gottlob! — noch nicht. Dazu bejitt das
Deutfche Neich viel zu viele bedeutfame Kulturftätten, von denen zudem ja nicht
wenige noch weit älter in ihrer Kultur find als Berlin. Aber dennoch übt diejes
je länger defto mehr eine unmiderftehliche, elementare Anziehungskraft aus auf
die bedeutenditen Träger geiltiger Lebensäußerungen, und das bdrüdt jeinem
öffentlichen Leben den Stempel des Großartigen auf.
Davon wird an diejer Stelle oft die Rede fein müſſen. Auch davon, daB
nicht immer und in allem diefe wachjende Bedeutung der Reichshauptſtadt zu
ihren Gunjten ausfällt. Sie leitet vor allem dem Streben nad) rein äußerlicher
Anerkennung häufig allzuvielen Vorſchub. Sie fördert die Jagd nad) dem Glüd.
Sie bedingt für den einzelnen oft eine Verfladhung, behindert feine Bertiefung. . .
Aber davon heute nichts. Heute nur von dem Stempel des Großartigen.
Und nur von dem Großartigen, das jedem jofort in die Mugen jpringt, das jeder
genießen kann und genießt ohne Nadjfinnen und Nachſpüren, wie es wohl das Er-
faſſen der Bedeutung der wachlenden geiftigen Borberrichaft Berlins vorausjett.
Was ſich dem die Reihshauptitadt in beftimmten Zeiträumen durdflutenden
Zuge der Fremden vor allem aufdrängt, das iſt das gewaltige Anwadjen des
Berfehrslebend und der Bauthätigkeit. Mit berechtigtem Staunen und begreif-
licher Bewunderung erfüllen fie dieje, als die wohl großartigiten Seiten des
großartigen Lebens der Hauptitadt.
Es giebt zwei Bücher, in die ich mich gern vertiefe im Zuge der Gedanten,
die das Nachſinnen über die Bedeutung einer „Millionenftadt” wacruft: das
„Statiftiihe Jahrbuch der Stadt Berlin‘, das bereit3 im 25. Jahrgang vorliegt,
und der „Bericht über die Gemeinde-Verwaltung der Stadt Berlin‘, der fich
immer auf ein halbes Jahrzehnt bezieht. Der lebte, die Jahre 1889— 1895 um-
fafjende, Bericht in drei jtarfen Bänden erjchien 18%... Man lächelt vielleicht
darüber: endloſe Zahlenreihen, Tabellen, Diagramme und der Tert dazu troden,
nüchtern, langweilig. Aber wie aus dem vohen Marmorblod unter des Künftlers
J. Norden, Aus dem Leben dir Dauptitadt. 407
bejeelter Hand ein wunderherrliches Kunſtwerk entfteht, fo erjchließt ſich aus diefem
„trodenen, nüchternen, langweiligen” Material eine bezwingende Poefie dem, der
es nicht mit den Augen und den Gedanken eines Nechenmeifters lieft — die Poefie
jener Summe menjchlicher Arbeitskraft und Arbeitsleiftung als die Frucht poten-
zierter Geijtesthätigkeit Taufender und Abertaufender, von der ein Teil in Hand»
arbeit umgejett fortlebt auch in dem Hammerſchlag des Bahnarbeiters, ber
nacht3 bei Napbthafadellicdyt Sleife auf dem Straßendamm vernietet, und in dem
Schwung der Stelle des Maurers, der am helllichten Tage Baditein zu Badftein
fügt und mit Mörtel verbindet. Das ift der Anhalt jenes Heldenepos, mit dem _
ich erft die Poefie der Millionenftadt verglich — das Hohelied der Arbeit.
Und darum fönnen ftatiltifche Angaben nicht bloß für den Volkswirtſchafter
und Sittenlehrer von großer Bedeutung und großem Reiz fein, fondern für jeden,
der empfänglichen Sinn für die Neußerungen des Menjchenlebens befigt. Jede
einzelne Zahl erjchließt ganze Gedankenreihen, eröffnet Ausblide, bildet- jozufagen
einen eigenen Gejang in jenem Epos. — —
Man vergegenmwärtige fi, daß bis 1873 die einzige Bferdebahuftrede
Kupfergraben— Eharlottenburg—Weftend beitand, daß 7 Jahre fpäter bereits,
außer der fat zwei Meilen langen Ringbahn, 28 Pferdebahnlinien in Betrieb
waren und daß heute ein Riefenneg von mehr ald 70 Yinien mit einer Gefamt-
länge von mehr als 453 km die Hauptitadt und die mit ihr verwachjenen Nach—
baritädte und Vororte bededt. Auf diefen Streden wurden im vorigen Jahre
56 636 558 km abgefahren und über 280 Millionen Baflagiere befördert. Die ge:
ſamte Perjonenbeförderung aber in dem genannten Jahre mit Omnibufjen, Straßen:
bahnen, Stadt: und Ringbahn be;iffert ſich auf ca. 458!/, Millionen! Im Jahre
1898 belief ſich diefe Ziffer auf ca. 3621/, Millionen und wieder drei Jahre zurüd
auf ca. 270 Millionen; feit 10 Jahren zurüd aber hat fie jich mehr als verdoppelt.
Und gegenüber diefem Wachstum des Verkehrs erweiſen fih aud die
453 km Straßenbahnen, die Stadt: und Ringbahn und die 187 km Ommibus-
(inien al8 ungenügend. Die Siemensihe Hochbahn, die wie die Stadtbahn den
äußerften Often mit dem fernen Weſten verbindet und die jchon demnächſt dem
Betriebe übergeben wird, kommt jenen Berfehrsmitteln zu Hilfe, und in nicht zu
ferner Zeit wohl folgt die nbetriebfeßung von Untergrundbahnen. Schon jegt aber
giebt es Punkte in der Stadt, wo der Verkehr in vier Straßen übereinander ſich
vollzieht — fo Hinter dem Potsdamer Bahnhof, wo die Waflerftraße des Kanals
von gewöhnlichen Straßenzügen umſäumt wird, über die hin der Eifenbahnverfehr
ſich vollzieht, während der Bahnkörper felbft in fühnem Schwunge von der Hoch—
bahn überquert wird. So werden die IIntergrundbahnen bereits zu einem unab-
weislichen Bedürfnis, und nahe liegt der Gedanke, daß endlich einmal aud) Teile
der Spree und der Kanäle dem ſtädtiſchen Perſonenverkehr erichloffen werben,
was dem gejamten Stadtbilde nur zur Zier gereichen würde . . .
408 3. Norden, Aus dem eben der Hauptitadt.
Wie ein gewaltiger Refrain Elingt3 durd dad dumpfe nächtliche Rauſchen
immer wieder: welche Unjumme von Arbeitskraft und Arbeitsleiftung allein ſchon
in diefen Ziffern aus dem Berfehrsleben der Millionenftadt!
Wo mir das Heldenepos von der Arbeit auch aufichlagen — überall werden
die Zahlenreihen, die und entgegenftarren, in der gleichen Weije zu lebendigen
Zeugen der Lebensthätigfeit der Riefenftadt ... .
Wie diefes Verkehrsleben, jo erfüllt auch die Bauthätigkeit Berlins und
jeiner Vororte den Fremden mit Staunen und Bewunderung. Aber auch in
diefem Fall kommt er um den Neiz des Miterlebens, wie alles ward und wird.
Er fieht fi) nur immer wieder auf neue Höhen und Gipfelpunfte verjegt, aber
die Wanderung aufwärts macht er nicht mit.
Es ijt aber unjagbar reizvoll, diefes Wachstum der Stadt, namentlich nad)
den weſtlichen Himmelsrichtungen bin zu verfolgen. Nicht bloß das Wachſen an
ſich, ſondern aud), und nody mehr, wie fich mit dem Wachſen allmählic immer
mehr und mehr das Ausſehen der Stadt in feinen neuen Zeilen verändert.
Es iſt noch gar nicht lange her, daß die Lübomftraße die weſt—
lihe Grenze des Häufermeeres bildete. An einem Kahrzehnt flutete dieſes
bis zur Kurfüritenftraße; auch Ddiefer Damm wurde raſch überſchritten:
Tauenzien- und Sleift: und Bülomftraße fchoben ſich hinein. Vor etwa
fünf Jahren ſchien dann das Wachsſtum bei der Augsburger Straße
Dalt machen zu wollen. Aber längft ift aud) diefe nur eine VBerfehrsader inmitten
großer Wohnviertel geworden, die ſich ftellenweife bereits bi8 zur Berliner Straße
zwiſchen Schöneberg und Wilmersdorf binziehen. Aehnlich wächſt das Straßen-
neß nach vielen anderen Richtungen hin.
Das alles jieht auch der Auswärtige, der von Zeit zu Zeit die Reichshaupt—
ftadt beſucht. Der Einheimifche ſieht mehr, fieht das, was aud der fremde ſehen
£önnte, wenn er fich die Zeit dazu nähme, oder auch nur, wenn er darauf auf-
merffam gemadt würde. Dann bemerkte auch er, daß fih die Wachstums:
ihichten der Miefenftadt ganz deutlich unterfcheiden lafjen wie die Jahresringe
am Holz de8 Baumes: der Bauftil und die Ausſtattung geben die Kenn—
zeichen ab.
Je jünger der Stadtteil, die Straße, defto größer der Luxus oder aud)
Sceinlurus. Dabei in jeder einzelnen Schidht von Wohnvierteln und Straßen
zügen der gleiche Stil oder Typus für die Mietsfafernen. Eine oft erbarmungs-
loſe Schablone, wie ſie der Spefulationggeift in den von ihm gefchaffenen Häujer-
zeilen eingebürgert bat. Da tobte förmlich zuerft die Renaiſſanceſucht, Ende der
70er Jahre bis Ende der 80er etwa, tobte jih aus in — Stud-Fajjaden
zumeift; allmählich wurde fie dann durch den baroden Zopfftil und das heitere
Rokoko abgelöft, die ihrerſeits fichtlich jett feit ein paar Jahren dem eng—
lichen MWohnhausstil Pla machen müjjen, dort, wo genügend künſtleriſches
3. Norden, Aus dem Leben der Hauptijtadt. 409
Empfinden vorhanden ift, in erfreulicher Ummertung und unter Anlehnung an leider
nur zu lange vergejlen gemwefene Ausdrudsformen deutichnationaler Baumeife.
Aber Eines muß hervorgehoben werden: mit dem Lurus oder richtiger
Sceinlurus der Anlage und Musjtattung der Häufer wächſt, je weiter, je mehr
in erfreuliher Weife auch die Beachtung gefundheitlicher Forderungen, wird ber
Befriedigung der Licht und Luftbedürfniffe Rechnung getragen, nit bloß im
Borderhaufe, fondern auch im „Dinterhaufe”. An „Berlin W.”, im neuen und
neuejten „Berlin W.“, das oft Schon Charlottenburg, Schöneberg, Wilmersdorf
ift, ift auch diefes Hinterhaus durchaus wohnlich, hat ebenfo gut, ja öfter noch
al3 das Vorderhaus, einen Garten, in den man vom Balkon, Erfer, aus der
Loggia Hinabblidt. Neben den den breiten Bürgerfteig begleitenden Baum:
reihen und den Borgärten find diefe drei für Neu-Berlin befonders bezeichnend
und gerade fie bilden die Hauptmerkmale jener Entwidelungsichichten.
Die ältefte Schicht „diefes Neu-Berlins“, die etwa vor 25—30 Jahren ent-
jtand, weilt Balfons und Erker nur erft fpärlih auf. Die Seitenftraßen der
Potsdamer: und der Lützowſtraße, zum Teil auch noch diefe felbft, zeigen noch die
glatten, fchmudfofen Flächen, dunfel getüncht meiftens, troftlos öde und lang:
weilig. Giebt es einmal bier und da einen Erker, fo gliedert er ſich nicht archi⸗—
tektoniſch aus der ganzen Faſſade heraus, fondern erfcheint wie angeflebt, wie
wir wohl einen Schrank an die glatte Wand stellen. Meift vieredig, felten ein ge—
fälligeres halbes Sechseck bildend, find fie zudem nur der Borzug eines oder zweier
Stodwerfe. In der nächſten Schicht wird das ſchon anders. Kaum ein Haus, kaum
eine Wohnung ohne Erfer. Und da man hier beim Bauen jchon zu „Opfern“ bereit
war und die Hausfläche mit anfpruchsvollen, aber in der Regel wertlofen Stud:
ornamenten auäftattete, oft in geradezu überladener Weife, fo find die Erfer bier
auch fchon feine vieredigen Kaften oder glattjeitige Halb-Sechsecke mehr, fondern
haben ihren Anteil an dem Fafjadenauspug. Bier und da tritt auch jchon der
Balkon hinzu: zwiſchen zwei Erferreihen zieht er ſich über die Mittelfafiade des
Hauſes hin, oder er lebt rechts umd links, wie ein Schwalbenneft am Erfer.
Endlich gefellt fich zu diefen beiden Licht: und Luftipendern die Loggia; bisweilen
zufammenhängend mit dem Balkon al3 tiefe Nifche hinter ihm. Dankenswert
it e8, daß wir den bedeutiamen drei Luft- und Pichtipendern nicht mehr nur in den
Mietshäufern für den mwohlhabenderen Mättelftand begegnen, fondern auch
bei jenen Kaſernen, die von oben bis unten für Arbeiterwohnungen hergerichtet
find. Schön ſehen diefe Luftipender freilich nicht aus, dieje vieredigen Köcher in der
Dausfläche und die Balkons, die wie freifchwebende, niedrige Vogelkäfige ohne Dad)
an ber Mauer Eleben, einer über dem anderen — aber der Gejundheit dienen fie.
Ja — ſchön im gemeinverftändlichen Sinn ift in Berlin Vieles nicht. Und
unerreihbar ifts, daß Berlin einft die „Ichönfte Stadt würde. Dazu fehlt es
an bügeliger Lage, Waflerreichtum, Farbenglanz; fehlt es an einer reichen,
410 J. Norden, Aus dem Leben der Smuptitadt.
glänzenden gejchichtlichen Bergangenbheit, deren Spuren überall in ber allmählich
gewordenen Stadt zu Tage träten; fehlt e8 an einer Jahrhunderte alten Schule
des Geſchmacks, des Reichtums, der Pracht, und einer Jahrhunderte alten, über:
aus fruchtreichen Berfchmelzung geläuterter Sunftpflege und fchöner Natur:
elemente, unter deren Einfluß dann die Gefchlecdhter fic folgen mit immer feiter
wurzelndem Hunftbedürfnis und immer reifer werdendem Kunſtverſtändnis, einem
Bedürfnis und einem Verjtändnis, die dem einzelnen gar nicht mehr fo recht zum
Bemwußtfein, jondern ganz naiv und ungeziwungen zum Ausdrud kämen, weil fie
ihm eben angeboren wären.
Aber doc mehren fich fchon die einheitlich angelegten Pläße und Schmuck—
gärten, die interefjanteren, abwechslungsreicheren Profilierungen der Häuferzeilen.
Und dann — das Großartige der Bauthätigkeit und des Verkehrslebens in allen
Teilen der Stadt, es übt ja auch an ſich ſchon eine Art Schönheitswirkung aus,
die fogar berüdend werden kann . . . Und Eöftlich ifts, ihr nachzuſinnen und den
Elementen, aus denen fie ſich zufammenfeßt, wenn man in nädtlicher Stille dent
dumpfen Raufchen, dem leifen Klingen und Singen laujcht, das herübertönt von
der „Millionenftadt‘‘, über der in ewiger, erhabener Ruhe der unendliche Sternen:
himmel ſich ausdehnt, der die Bolksjtädte und Menichengeichlechter fommen und
wachſen und ſchwinden ſieht . .. .
16
Selig [ind....
Eis find, die reines berzens find,
$bren Blick verzebrt nicht Macht
noch Ferne,
WMunſchlos gebn fie, wunfchlos wie Die
Sterne,
Abit den Augen, Die wie Märchen find.
Und fie baben eine beilge ABacht,
Un fie ber find Schöne, fromme Träume.
Wo fie weilen, lichten ſich Die Räume,
Und die Stürme werden keuſch und
facht,
WIo fie wandeln giebts kein Dornenweb,
Und die Blumen neigen ſich und
grüfsen,
Und der Weg wird weich vor ibren
Fülzen,
Dal; fie hingehn wie auf Blütenfchnee.
Wleffen Fufz auf ibren Spuren gebt,
Wleffen Auge ibrem Grufz begegnet,
Der erkennt, wie reich ibn Gott
gefegnet,
Und er fucht nach einem Dankgebet.
Und als ob ein neuer Tag beginnt,
Ueberkommt ibn eine feltne Klarbeit,
Und er füblt in fich Die ewige Wabrbelt:
Selig find, die reines Perzens find.
Aus: Karl Raniclow, „Eon Weib end Wei" Vertim Tempelhef. Erhnlbrus Verlan 1901.
LHHHHHHEIHHEIHIHLIEHIEILIEIEIEIEIOILIEIEIEIG
Monatsichau über auswärtige Polifik.
Von
Theodor Schlemann.
Dftober bis 10. November 1901: W. September: Rüdreife der Sühnegefandtfchaft des Bringen
Tihun nad China. — 3. Oktober: Tod bes Emird von Aighanijtan Abdur-Rahman Khan ;
Thronbejteigung feines Sohnes Habibsllllah Khan. — 9. Oktober: Vorläufige Verftändigung Eng—
lands und der Bereinigten Staaten von Nordamerita über den mittelamerifanijchen Stanal. —
10. Oktober: Proflamierung des Kriegsrechts im Kaplande. — 33. Oftober: Eröffnung des pan—
amerifanifchen Stongrejjes in Mexiko. Abſetzung General Bullers von feiner Stellung als Befehle-
baber des 1. englifchen Armeeforps zu Alderfhot. — 31. Oftober: Das franzöfifche Geſchwader
unter Gaillard bampft nad) Lesbos ab. — 5. November: Wahl des Senators Lom zum Bürger-
meijter von New⸗York. Okkupation von Mytilene durch die Franzojen. — 7. November: Tod
von Li⸗Hung-⸗Tſchang. — 9. November: Die Pforte bewilligt die Forderungen Frankreichs. —
10. November: Das franzöfifche Geſchwader verläßt Muytilene.
A außerordentlich ereignisreiche Zeit liegt hinter und. Sie fteht unter der Nach—
wirfung einerjeits des Zarenbeſuchs in Deutichland und frankreich, andererjeit3 der
in China gefallenen Entjcheidung und des Bräfidentenmwechjels in den Vereinigten Staaten
von Nordamerifa. Endlich machen fih immer deutlicher die Nachwirkungen der Lähmung
fühlbar, an der das britiiche Reich infolge des füdafrifanifchen Krieges krankt. Alle
diefe politiſchen Ereigniffe ftehen zudem in einem gewiſſen Zujammenhange, wie denn die
Entwidelung unjeres Kulturlebens immer mehr dahinführt, den Gejamtbegriff einer
Weltpolitik zu jhaffen. Es giebt faum eine Erjcheinung im politischen Leben der anderen
Nationen, der wir als Unbeteiligte gleichgültig zufchauen fünnten. Was gefchieht, wirkt
weiter, und die jo entftehenden Kreiſe jchneiden und kreuzen ſich mit anderen fo vielfad),
daß jchlieklich dem Beobachter das Urteil über den Punkt, von dem fie ausgegangen
find, fi) verwirrt. Suchen wir uns zu orientieren.
Als Zar Nikolaus II. feine Nuslandreife antrat, war ſich die Welt über
die Motive diejer Reife Feinesmegs Far. Und doch liegt es nahe, darin den
natürlichen Ausdruf der bejonderen Beziehungen zu erkennen, die nun einmal
zwiihen Rußland und Frankreich beitehen. Die wenig anftändige Vermutung, daß die
BZarenreife den Zweck habe, Stimmung für eine neue ruffiice Anleihe zu machen, ift in:
zwiichen durch die Ereigniffe widerlegt worden, und ebenio mußte der Beſuch, den der
Bar unferem Kaiſer in Danzig madıte, der Vorftellung den Boden rauben, daß eine ein-
jeitige Bindung der ruſſiſchen Politik an die franzöftiche erfolgt ſei. Es ift allgemein
bemerkt worden, wie herzlich der Berfehr zwiſchen beiden Kaiſern gewejen ift, und der
nachträgliche Aufenthalt des Bringen Heinrih in Spala hat die fordialen Beziehungen,
die zwiſchen den nahverwandten Derricherhäufern beftehen, noch weiter veritärft. Daß
freilich zwilchen Rußland und Frankreich auch politifche Vereinbarungen ftattgefunden
haben, hat der weitere Verlauf der Ereigniffe mit Evidenz erwieſen. Die franzöfifche
Erpedition nach Mytilene konnte ohne ausdrüdliche Billigung Rußlands nicht ftattfinden;
aber gerade jene moralijche Unterftügung, zu welcher die ruſſiſche Politik ſich bereit ge:
412 Theodor Schiemann, Monatsjchau über auswärtige Bolitif.
funden hat, mußte uns als Bürgihaft dafür dienen, daß bon einem Aufrollen der
orientalijchen Frage nicht die Rede fein konnte. Das Programm der ruffiihen Politik,
die ihre Stirn dem fernen Oſten zuwendet, jchließt jede VBerwidelung aus, welche gegen:
wärtig die orientalifche Frage in Europa lebendig machen fünnte; ganz wie e8 als aus:
geichloffen betrachtet werden muß, daß Rußland, aus weldhem Grunde immer, ſich für
die nächſt abjehbare Zukunft mit einem europäischen Kriege belaften follte. Es war daher
von ber frangöfifchen Erpedition nichts Anderes zu erwarten, als die erziwungene De-
mütigung der Pforte und eine Stärkung des franzöſiſchen Einfluffes in den Gemäflern
des öftlichen Mittelmeeres, in Syrien und an den Küſten der Levante. Dies, jo mußten
wir vorausjegen, war das Piel der franzöſiſchen Bolitif, und im großen und ganzen
dürfte dies Biel auch erreicht fein. Daß die franzöfiichen Anfprüche, ſoweit e8 fid um
Geldforderungen handelt, ftarf übertrieben waren, madıt allerdings umjomehr einen
peinlihen Eindrud, als es fi) um eine „Qumperei“ handelte, aber da nicht freiwillig von
frangöfticher Seite, wie bereit8 einzelne Stimmen es verlangten, über diefe Punfte eine
ſchiedsrichterliche Entfcheidung herangezogen wurde, blieb der Pforte nichts übrig, als zu
zahlen. Weit bedenklicher in feinen Folgen konnte das an ſich nur zu billigende Eintreten
für die Armenier werden, weil dieſe armeniſche Frage eine der böfeften Schwären am
türfifchen Leibe darftellt und auf das Engfte mit vuffiihen Intereſſen verknüpft ift.
Da war es jehr Flug, wenn Frankreich ſich jchließlich beichied, die eigentlich wunden
Punkte nicht zu berühren und mit dem Echein eines Erfolges vorlieb zu nehmen.
Endlih war es nicht unbedenflih, daß durch das Fräftige Auftreten Frankreichs
das Gelbjtbewußtfein und die Begehrlichfeit der Lateiner auf dem vielumftrittenen
Felde der heiligen Stätten den Griehen und den zahlreihen Sekten gegenüber ich
gefteigert hat. Hier liegt ein Punkt, an welchem die rujliihen und die franzöſiſchen
Intereſſen ſich ſcharf hon einander ſcheiden, und es ift immer fraglich, wie lange das
bisher erfolgreid; geübte Syſtem des Vertuſchens fich wird behaupten laffen. Endlich
ließ ſich nicht verfennen, daß auch jetzt ſchon Rivalitäten hervortraten, die in der orienta-
lichen Frage nun einmal nicht zu befeitigen find. Somwohl in England wie in Ntalien
waren deutliche Anzeichen einer auffeimenden Verftimmung zu erkennen. Die Pforte hatte
fih nad London mit einer Berufung auf den berühmten Disraelichen Vertrag von 1878
gewandt; die engliiche Abweiſung aber ſchloß zugleich eine Drohung gegen Frankreich
für den Fall in fi, daß die frangöfiichen Anſprüche über den Kreis der ald berechtigt
anerkannten Forderungen hinausgehen jollten. Italien aber dachte ernitlich daran, für
alle Fälle feine Flotte in die öſtlichen Gewäſſer zu entjenden. Man konnte alledem
gegenüber nur lebhaft wünjchen, daß die franzöſiſch-türkiſche Differenz ſchnell und end-
gültig beigelegt werde; ift es doch allezeit gefährlich, jich dem orientaliichen Exploſions—
herd mit bewaffneter Hand zu nähern. Schon mehr als einmal find auf diefem Boden
die Kanonen von felbjt losgegangen. Mit um fo größerer Genugthuung begrüßen wir
den jchließlichen Ausgang. Er hat, ohne die Pforte in ihrem Lebensnerv zu treffen, im
mejentlichen den Forderungen Frankreichs genug gethan, und nicht, wie anfänglid, ge=
fürchtet werden mußte, die Grenzen überjchritten, die für die hohe Pforte und die Mittel=
meermäd)te zwiichen dem Erträglihen und dem nicht zu Duldenden liegen. Was an
Veränderungen eingetreten iſt, trifft vor allem das Verhältnis der griechiſch-katholiſchen
Theodor Schlemann Monatsihau über auswärtige Politik. 413
zur römiſchen Kirche auf orientaliihem Boden, geht aljo vornehmlich die ruſſiſch—
frangöfiihen Beziehungen an; das aber ift ein Thema, welches den intimen Charakter
von Konzeſſionen trägt, wie fie in ehelichen Beziehungen ftattzufinden pflegen. Sie find
oft notwendig, tragen aber nicht immer zur Steigerung des häuslichen Glüdes bei. Das
wejentliche am Ausgange diefer jo plötzlich aufgetaudhten und jo überrajchend jchnell
erledigten orientalifchen Krifis ift daher, daß ſich in der Gejamtlage des europäijchen
Drients nichts geändert hat. Die Madtverhältniffe find genau diejelben geblieben, die
vor der Erpedition Eaillard beitanden, aber die Folgen, die jid) aus diefem merfwürdigen
Intermezzo für die franzöfticheruffifchen Beziehungen ergeben müſſen, laſſen ſich noch
nicht überfehen.
Daß die ruffiiche Politik den fernen, nicht den europäiſchen Orient ins Auge faßt,
muß troß des Lärms, mit dem die ruſſiſche Preſſe die türkischen Angelegenheiten traftiert,
als Thatſache betrachtet werden. Die fieberhafte Eile, mit welcher der endlie Ausbau
der großen fibiriichen Bahn und ihre Verbindung mit der mandſchuriſchen Eifenbahn
betrieben wird, mußte, auch wenn wir nit das Programm des Fürften Yobanom
Roſtowski und den Ehrgeiz des Kaiſer Nikolaus IL, diejen Plan thatjächlich durchzuführen,
fennten, an ſich auf eine derartige Vermutung führen. Es ift ganz richtig, daß eine
gefunde ruſſiſche Bolitit darauf ausgehen muß, fih an den Küſten des orientaliichen
Sturmminteld, vom Golf von Liao-Tung bis nach Port Arthur bin und an den
Wurzeln der foreanifhen Halbinjel jo mächtig aufzuftellen, da fie einer japanifch-eng-
liichen Koalition, wenn nötig, die Spike bieten kann. Schon jetzt liegt faft die gejamte
ruſſiſche Kriegsflotte in jenen Gewäflen und in Rußland ift die Borftellung allgemein,
daß Japan, dur die faktifhe Einziehung der Mandſchurei von feiten Rußlands in
höchſtem Grade verjtimmt, unter feinen Umftänden ein Vordringen Rußlands auf forea-
niſchem Boden dulden werde. Auch hat Japan thatſächlich heute eine weit jtärfere
Stellung auf Korea als noch vor Jahresfriſt; Japan beherricht Korea finanziell; e8 hat
die Ruffen aus Maſampo hinausmandvriert und eben jekt jein Flottenprogramm voll
durchgeführt. Kein Zweifel, daß ihm eine Bindung Rußlands an anderer Stelle höchſt
erwünjcht wäre, und Rußland hat gewiß gefchieft operiert, wenn es unter Ddiefen Ber:
hältniffen jedem Stonflift mit Japan vorfichtig aus dem Wege gegangen ift. Auch erklärt
ſich aus diefen Verhältniſſen, daß Rußland lebhafter als jede andere Macht an der
Fortdauer des füdafritanichen Krieges interejfiert ift; es ift garnicht daran zu denken,
daß es troß der rauſchenden Sympathiebezeugungen, die jehr aufrihtig in Preſſe und
Geiellichaft zu Tage treten, auch nur einen Finger rühren wird, um durd eine jchnellere
Löſung des Konflifts den Engländern die Hände frei zu madıen.
Der Tod des Emird von Afghaniftan Hat die finfende Stellung Englands in
Aſien noch weiter gefährdet, und es ift wiederum außerordentlich Flug, wenn Rußland,
wie es wohl konnte, den Thronwechſel nicht benugt hat, um gewaltjam in die afghanischen
Berhältniffe einzugreifen und dadurd auch England zu einer Aktion zu nötigen. Biel
vorteilhafter ift e8 für Rußland, das Damoklesſchwert feiner impojanten militärischen
Aufftellung in Turfeftan drohend über dem Haupte Englands jchweben zu laffen und
e3 dadurd in Dftafien zu einer Politik ängftlichen Kleinmuts zu nötigen.
Wenn einst ein englifcher Gejchichtjchreiber über die Politit Chamberlain-Salisburh
414 Theodor Schiemanmm, Monatsfchau über auswärtige Politik.
rückſchauend fein Urteil abgeben wird, werden gerade dieſe Dinge ſchwer in die Wag—
ichale fallen. Trotz des glänzenden Berlaufs, den die englifchen SFlottenmanöver im
Kanal genommen haben, und troß der Lopalitätsverficherungen, die der Herzog von
Cornwall oder, wie wir ihn fortan nennen müffen, der Prinz von Wales, von feiner
Weltreife durch die englifchen Solonieen heimgebradjt hat, geht ein Gefühl tiefer Be—
unruhigung durd die Nation. Es wird durch die hodytünenden Worte der minijteriellen
Redner und durdy die thörichte Herausforderung der fittlihen Empfindung und des
Stolzes anderer Nationen nur ſchlecht verhüllt, daß man auf englifchem Boden allerdings
um die Zukunft des Reichs zu forgen beginnt. Sogar der alte fundamentale Satz: dat
es in England in fragen „of imperial moment“ feine Meinungsverjchiedenheit gebe,
hält nicht mehr ftand; fteht auch die ungeheure Majorität des Landes in dieſen jorgen-
vollen Tagen zu den offiziellen Vertretern der Regierung, fo ift doch das Gewiſſen der
Nation unficher geworden, und es find nicht die ſchlechteſten Männer des Landes, die
heute der Regierung in den Arm zu fallen juchen. Ahr Ziel aber werden fie nicht er-
reihen; das Verhängnis reißt die Politit des Staates zu den äußerſten Konſequenzen
fort. Mr. Chamberlain hat noch jüngjt erflärt, es fünne von Frieden feine Rede fein,
ehe die engliiche Fahne als die einzige zwiſchen Zambeft und dem Kap der Guten Hoff:
mung wehe; ev jcheint dabei freilich vergeffen zu haben, daß es in Sid-Weftafrifa eine
deutjche Fahne giebt.
Die Verkündigung des Sriegszuftandes im Staplande, die damit verbundene
Siftierung der Verfaffung in der Kapkolonie, die leidige Notwendigkeit, mit friegsgericht-
lihen Sprüchen gegen eine Bevölkerung vorzugehen, der ihre Loyalität dem britischen
Reich gegenüber, man darf wohl jagen, gemwaltiam ausgetrieben worden ift, die durch
Benjons Niederlage bei Berfenlaagte zur Evidenz bewiefene Thatſache, daß noch immer
friegstüchtige Burenbeere im Felde ftehen, der Niedergang des engliſchen Geſchäftslebens,
vor allem aber der bis ind Herz vermundete Stolz der Nation — das giebt in jeiner
Summe ein Bild, von dem wir wohl verjtehen, wenn engliihe Patrioten fih von ihm
forgenvoll abwenden. Dier ſpielt eine Nemefis, deren weiteres Wirken ſich wohl ahnen,
aber nicht vorher ausmalen läßt.
In den Gebirgshöhen am Himalaya muß Lord Curzon, der Vicekönig von Indien,
wieder einmal mit den Wagiris kämpfen, einem Volksſtamm, der, wenn man die Unter:
ichiede von Raſſe und Religion in Abrechnung bringt, den Buren nicht unähnlich zu
jein jcheint. In Dindoftan und im Delta droht eine neue Hungersnot. Auch dieje
Wunde am engliichen Leibe beginnt wieder aufzubrechen. Man mag darüber lachen, dat
die italienische Bevölkerung Maltas, erbittert durch die thörichten Mafregeln jprachlichen
Zwanges, die Chamberlain ihr aufgedrängt hat, den Engländern ihren Haß offen ins
Geſicht ichleudert; jo Tange England feine Garniſon in Malta bat, fann es fich über
derartige Dinge hinwegſetzen; aber es ift ein Symptom zu vielen anderen, und wer die
Diagnofe über die Gejundheit des engliichen Staates abzugeben hat, wird auch dieſe
Symptome mit zu Rate ziehen. —
Kürzlich ift von einem frangöfiichen Statiftifer der zahlenmäßige Beweis erbradıt
worden, daß der amerikanische Handel den englifchen aus den weſtindiſchen Inſeln und
aus Ranada beinahe völlig verdrängt hat und aus Auftralien, zum Teil fogar aus den
Theodor Schiemann, Monatsjchan über auswärtige Politik. 415
indiichen Hafenjtädten zu verdrängen beginnt. Ebenſo weiſt der Berfafler diefer Studie,
Herr Jacques Bardour, nad), daß das amerikanische Kapital jogar in England jelbft die
heimische Amduftrie in Abhängigkeit zu bringen beginnt. Damit tritt aber die intereffante
Thatjache zu Tage, daß nicht Deutichland, jondern Amerika der eigentliche Konkurrent Eng-
lands ift, eine Thatfache, die in einer anderen Weltlage als der gegenwärtigen das politifche
Verhältnis beider Staaten beeinflußt hätte; heute ift die Wirfung nur die geweſen, daß
England den Forderungen ded amerikanischen Betters gegenüber nur noch nachgiebiger
geworden ift. Das zeigte ſich zumal in den Verhandlungen, die jüngjt über den mittel-
ameritanifhen Kanal gepflogen worden find und zu einer vorläufigen Vereinbarung
führten, laut welder England die beanjpruchte Mitbeauffihtigung über die Neutralität
des Kanals aus Händen gab. Wie der jchließliche Ausgang fein wird, hängt an den
Beichlüffen des Eenats in Wafhington, der eben jett mit großem Eifer, in wenig entgegen-
fommender Stimmung, über dieje außerordentlid; bedeutjame Zukunftsfrage verhandelt.
Mit Spannung folgt alle Welt den Spuren der Thätigfeit des neuen Präfidenten
Roojevelt, der mit frifhem Mut und gewohnter Thatkraft bemüht ift, den Augiasſtall
der Mikbräuche zu jäubern, an denen die Verwaltung der Vereinigten Staaten, vor
allem aber die der größten Stadt der Nepublit, New Yorks, krankt. Beherricht auch
New-York nicht in gleihem Maße die öffentliche Meinung der großen Republik wie etiwa
Paris die franzöfiiche und neuerdings die Yondoner Preſſe die englifche, fo läßt fich doch
nicht verfennen, daß auch auf amerikaniſchem Boden ähnliche Berhältniffe fich auszubilden
begonnen hatten. Die Tyrannis der von Richard Erofer geführten Tammany:Bartei,
einer ihrem Urfprunge nad) irischen Korruptions- und Ausbeutungsgefellihaft, machte
fih in ihren Wirkungen bis in den ferniten Welten hinein fühlbar und hat mehr, als
bekannt geworden iſt, auch die große PBolitif der Vereinigten Staaten beeinflußt. Nicht
nur die demokratische Prejie erhielt aus diefem herrichenden Ring ihre Inſpirationen, und
die ſtarke BZentralifation in der Leitung von Tammanh ließ einen Widerftand genen ihre
Direftiven faſt ausſichtslos ericheinen.
Präfident Roojevelt hat nun die moraliiche Kraft gezeigt, den Bann zu brechen,
ſich außerhalb der engen Schranken des Barteitreibens zu ftellen und eine Politik der
reinen Hände zu inaugurieren, die er feither fonfequent behauptet hat. Inter dem
Streitruf „Du follft nicht ftehlen!* ift bei der Bürgermeijterwahl in New York am
5, November der Kamp” mit Tammanı) fiegreich durchgefocdhten worden. Der Sandidat
Crokers, Shepard, höchit charakteriftiichermweije ein von Tammany germonnener früherer
Gegner, ift von dem Kandidaten der Gegenpartei, Senator Low, aufs Haupt geſchlagen
worden, und das bedeutet allerdings eine neue Aera im politifchen Leben nicht nur der
Dauptftadt, jondern der Bereinigten Staaten überhaupt. Nicht etiva, als hätte die Welt
fortan mit einer plöglihen Schwenfung in der auswärtigen Bolitif der Vereinigten
Staaten zu rechnen, daran ift nicht zu denken, wohl aber dürfen wir erwarten, daß die
bisher an die Wand gedrücten ruhigeren Elemente gleihfalls zu Wort kommen, und das
kann nur wohlthätig wirken.
ALS politisches Erbe Mac Kinleys bat Präfident Rooſevelt einerfeits die Agitation
für eine jehr mejentlihe Berftärfung der amerifaniichen Striegsflotte übernommen,
andererfeits die Reftrebungen, die in dem panamerifanischen Kongreß zu Merifo ihren
416 Theodor Schiemann Monatsjchan über auswärtige Bolitif.
Ausdrud finden. In betreff der Flottenverſtärkung find Demokraten und NRepublifaner
ganz eines Sinnes. Sie wird zweifellos erfolgen und zwar innerhalb der Grenzen des
techniſch Möglichen, mit außerordentlicher Schnelligkeit und in großem Umfange, womit
dann ein ſchon heute, namentlich) in den Gewäſſern des Stillen Ozeans, jehr bedeutiamer
Faktor noch an Geltung gewinnen muß. Alle Mächte, audı wir, werden damit zu
rechnen haben.
Vom panamerifaniihen Kongreß verlautet nur wenig. Das Programm ijt im
mwejentlichen dasijelbe, mit dem einft der Staatsjefretär Blaine auftrat, wenn aud) das
Beitreben, die politiſche Vormundſchaft Mittel- und Südamerikas zu übernehmen, weniger
deutlich hervortritt ald vor 11 Jahren. Die obligatorischen Schiedsgerichte, unter
Ausschluß europäifcher Mächte ald Schiedsrichter, find Heute nicht mehr als Kern der
Berhandlungsgegenftände zu betrachten, und dad fann nad dem Verlauf, den die
fubanishen Angelegenheiten genommen haben, nicht wunder nehmen. Auch gegen eine
engere wirtſchaftliche Verbindung der lateinischen Amerifaner mit den mächtigen angel»
jähfiihen Nachbarn fträubt fich das befondere Sntereffe und das Mißtrauen des Südens.
Wie 18% in Waihington, fuchen auch heute in Meriko, als Protagoniften der lateinischen
Raffe, Chile und Argentinien dem Einfluß der Vereinigten Staaten entgegen zu wirfen,
und beide jind feine veräcdhtlihen Gegner. Die Vorausjegung ift dabei freilich, daß fie
nicht untereinander raufen und die ftet3 vorliegenden ftrittigen Grenzfragen endlid)
einmal völlig durch einen bindenden Vertrag aus der Welt jchaffen. Schen wir redt,
fo bereitet ſich eben jeßt eine joldhe Verjtändigung vor, wenigjtens jcheint der gute Wille
dazu auf der einen wie auf der anderen Seite vorhanden zu jein.
Auch in den venezolaniſch-kolumbiſchen Krieg verſucht Chile vermittelnd einzugreifen,
jodaß man immer mehr den Eindrudf gewinnt, daß fi) hier ein Gegengewicht gegen die
Uebermacht der Vereinigten Staaten geltend zu machen beginnt. —
Am 17. Oktober ift der öfterreichiiche Neichsrat wieder zufammengetreten und am
28. fand die Eröffnung des ungarischen Neichstages ftatt.
Bon den großen Erwartungen, mit denen man den Verhandlungen beider Körper:
ſchaften entgegenjah, ift biöher nur wenig in Erfüllung gegangen. Der Schwerpunkt
fällt auf die Haltung der öfterreihifchen Deutichen, namentlid) auf die Frage, ob es
den „Deutſch-Nationalen“ gelingen wird, die übrigen deutjchen Parteien um ſich zu
fharen und damit dem deutjchen Clement die von der weiland deutjchen Verfaſſungs—
partei veripielte führende Stellung des deutichen Elementes in Oeſterreich wieder zurück
zugewinnen. In einer jehr lejenswerten Brojchüre: „Dentichrift iiber Oeſterreichs
innere Zuftände“*) wird ganz richtig hervorgehoben, daß „in dem Reiche Oeſterreich—
Ungarn fih in der Politit (wie bei der Staiferreife in Böhmen im Juni 1901 fid) Far
zeigte) der Streit der Völker um die Perſon ded Monarchen als der weit überwiegenden
Quelle der Macht“ drehe. Das hätten am früheften die Ungarn begriffen, ihnen
jeien Tſchechen und Polen gefolgt, und das Bündnis diefer drei habe die Deutichen aus
ihrer Stellung verdrängt und Ungarn in die ungewohnte Stellung des „eritgeborenen
Sohnes der Habsburger Monarchie” geführt. Die VBorbedingung jeder Bellerung in der
*, Sonberabdrud aus der „Allgemeinen Zeitung“ vom 15. 17. 18. und 19. Sep
tember 1901.
Theodor Schiemann, Monatsichau über ausmärtige Politik. 417
Stellung der Deutſchen jei daher, daß fie fid) wieder feit um die Krone ſcharen, etwa in
der Weiſe, daß die „Deutich-Nationalen“ das Zentrum bilden und in nationalen Fragen
mit den Deutich-Radifalen als linfem, mit den liberalen und deutſchen Großgrund
befigern als rechtem Flügel geichloffen zufammenmwirfen. Der vor allem notwendige
innere Frieden aber jei nicht zu gewinnen ohne eine gewijfe Scheidung der disparaten
Teile. Durcd Abgrenzung und gefonderte Organifation fünne man zum Frieden ge:
langen und eine allmähliche Vereinigung herbeiführen. Das Entjcheidende dabei werde
der Schub der Minderheiten fein, eine Aufgabe, die das Kurienſyſtem erfüllen könne.
Dann aber müffe die Involljtändigfeit und Undeutlichfeit der Gefeke von 1867, melde
das Berhältnis der beiden Neihshälften regeln, gründlich bejeitigt werden. Der
Shader um den Ausgleich mit Ungarn jei ftet3 auf Koften der Deutfhen zum Vorteil
der Tichehen geführt worden. Diefer Handel aljo müſſe aufhören und daraus folge,
daß die Deutfchen zwar den Ausgleih von 1901 maden und beiwilligen müßten, daß
aber diefer Nusgleih auch der lekte jein müſſe, der auf jolde Weiſe abgeichloifen
werde, dann aber jofort an die Reform der Gejeke von 1867 zu jchreiten jei.
Der Verfaſſer übergiebt danady die folgenden Thejen der Öffentlichen Be:
jprechung:
Als für das Gejamtreich erforderlid:
I. Reform der AusgleichSgejege, event. Trennung von Ungarn.
2. Ernennung eines Reichsfanglers, der von 5 zu 5 fahren alternierend aus Defter:
rei und aus Ungarn zu nehmen ift.
Für Oeſterreich:
1. Durchführung des Schuges der Minderheit, Uebergebung der Selbftverwaltung
an die zufammengehörigen nationalen Gruppen in Land, Bezirk und Gemeinde
Kurienſyſtem).
2. Erlaß eines Nationalitätengeſetzes, wodurch das friedliche Zuſammenleben der
Nationalitäten unter den Schuß ſtrenger Geſetze geftellt wird.*) Verantwortlich—
feit der Gemeinden.
3. Schaffung eines Zwiſchenzuſtandes zwijchen verfaflungsmäßigem Zuftand und
Belagerungszuftand mit vorübergehender Einftellung von Rechten und mit
Geldftrafen.
4. Trennung des religiöfen und Unterrichtsdienftes von der Tagespolitif im
höchſten Intereſſe des Unterrichts und der Religion.
5. Bejeitigung der von Taaffe getroffenen Aenderungen des Wahlgejeges. Die
allgemeine (5.) Kurie bleibt unberührt.
6. Beichränfung der Diätenleiftung durch den Staat für den Reichsrat auf drei
Monate jährlich, für die Pandtage auf einen Monat.
Das ift gewiß ftaatSmännifch gedacht, wenn auch mehr als eine Einwendung jid)
und aufdrängt. Die Hauptſache aber bleibt der Dann, der diejes Programm oder ein
ähnliches durchführt, und die frage ift, ob in Defterreich diejer führende Kopf zu finden ilt.
*, Weshalb nicht auch in Ungarn?
ai
Monatsichau über innere deufiche Politik.
Von
W. v. Mallow.
III.
Deutihe Verfehrspolitif.
Ww" haben aud) in der inneren Politif einen verhältnismäßig bewegten Sommer ge
habt, weil fi) jchon zu diefer Zeit die großen Streitfragen des nächſten parla-
mentarifchen Winterfeldzuges vorbereiteten. Und jo ift es jetzt faft jedes Jahr. Aber
es fommt dann doch noch eine jtille Zeit. Wenn der Hochjommer vorbei ift, gehen die
Wogen eher noch höher als fonft. Es ift die Zeit der Parteifongreffe, der Borbe-
fprechungen, der Minifterinterbiervs und ähnlicher Vorbereitungen. Aber dann giebt es
gemeinhin einen Nugenblit der Sammlung und des Atemholend. Das öffentliche
Leben Iteht unter dem Gefühl, daß in den großen Tagesfragen bis auf weiteres alles
gejagt ift, was vernünftigerweife oder auch unvernünftigerweife gefagt werden fann, und
nun heißt es: bald ijt ja der Reichstag da; dann kommen die Dinge in Fluß.
Geit langer Zeit hat unfere innere Politik nicht jo unter dem Bann einer großen
Frage gejtanden, wie jetzt vor den Zolltarifverhandlungen. Selbit das Flottengeſetz hat
nicht mit folder Ausichließlichkeit die üffentlihe Meinung beherriht. Aber ganz fehlt
es auch jett nicht an anderen Fragen, die von großer Bedeutung find und an Denen
man den Bulsichlag des nationalen Yebens wohl meifen fann. Und wenn ihre Er-
Örterung gerade in die ftille Zeit der Erwartung vor der Wiederaufnahme der Parla—
mentöverhandlungen fällt, joll man erft recht nicht daran vorbeigehen.
Bor einiger Zeit hat es in Süddeutſchland eine gerwilie Aufregung gegeben. Man
fonnte fi beim Leſen der Zeitungen beinahe in die Zeiten der Anfänge des Zollvereins
verjeßt glauben; jo viel befamen wir zu hören von preußiichen Machtgelüften, Auf:
opferung der mirtfchaftlihen Selbſtändigkeit der Mittelftaaten und dergleichen mehr.
Was war geichehen? Die mwürttembergiichen Staatseifenbahnen waren in ungünitige
Finanzverhältniffe geraten, und unter den Abhilfemitteln war auch der Gedanke erörtert
worden, in eine Eifenbahngemeinihaft mit Breußen nad) heifiihem Muſter einzutreten.
Darin glaubte die ſüddeutſche Volkspartei die willkommene Gelegenheit zu finden, um
durch leidenschaftliche Abwehr dieſer Vorſchläge den volkstiimlichen Sondergeift des
Landes wach zu rufen und fich als Netter aus einer vermeintlichen Gefahr zu gebärden.
Am Grunde war das doc alles blinder Lärm, denn Preußen übernimmt garnicht
die Rolle, die ihm dabei zugedadht ift. Das Merkwürdige der Lage bejteht aljo darin,
W. v. Maſſow, Monatsichau über innere deutfche Bolitik. 419
dag eine ftarfe Strömung in Siüddeutfchland die deutjche Eilenbahnpolitit unter den-
jelben Gefihtspunften zu betrachten anfängt wie einft die Politik des Zollvereing,
während der preußiihe Staat, der im Zollverein feiner Zeit die Smitiative zur Ent:
widelung einer deutjchen Wirtichaftspolitif ergriff, diesmal eben nicht von der Partie ift.
Um ſich die Eigenheit diefes Verhältniffes und feine Folgen Elar zu machen, wolle
man fich der Gejchichte der deutjchen Eifenbahnpolitif erinnern. Der Uebergang von der
Privatbahn zur Staatsbahn ift zwar gerade in Deutichland verhältnismäßig früh erfolat.
Bereits die vierte unter allen Bahnftreden, die in Deutichland gebaut worden find,
nämlich die Linie Braunfhmweig— Wolfenbüttel, war eine Staatsbahn, und wir haben
ihon aus den Anfangsjahren des deutichen Eiſenbahnweſens bemerfenswerte Zeugnifie
dafür, wie jchnell die Notwendigkeit nicht nur der ftaatlihen Aufjicht, jondern auch der
ſtaatlichen mitiative und des jtaatlidyen Betriebes bei uns erkannt worden ift. In
Bayern 3. B., wo die erfte deutihe Eijenbahnlinie erbaut worden iſt, Nümbere—
Fürth, wurde jhon 10 Jahre jpäter grundfäglid die Staatsbahnpolitit ange
nommen. Allerdings ijt man dort jpäter (1855) wieder von diefem Grundjag zurück
gefommen und erft nad) wiederum zwanzig Jahren aufs neue dazu übergegangen.
Wie Hätte aber auch bei der einftigen politifchen Geſtaltung Deutſchlands eine all
gemeine deutiche Eilenbahnpolitif Geftalt gewinnen können! Als der Norddeutiche Bund
gegriindet wurde, befand man fich einem bunten Gemiſch von Staats: und Privatbahn-
verwaltungen gegenüber, zu dem man bei Vereinbarung der Berfaffung zunächſt nur
nad) zwei Richtungen Stellung nehmen konnte. Es handelte ſich erftens um die all-
gemeine Anerfennung, daß das Eiſenbahnweſen Reichsſache fei, und zweitens die Seit:
jtellung derjenigen Punkte, in denen ein Berfügungs- und Auffichtsrecht des Reichs ſchon
jest ein für allemal anzuerkennen und zu ſichern jei.
Der Ausbau diejer Grundfäge hätte nun unter normalen Berhältniffen eigentlid)
dahin führen müſſen, daß fid) aus der Aufficht des Neiches über die Eifenbahnen eine
Berwaltung durch das Neid) entwidelte. Es ift befanntlich anders gefommen. Der
von Preußen im Jahre 1876 gemachte Verjud), durch das Anerbieten der Abtretung der
preußifchen Staatöbahnen an das Reid) die Frage in Fluß zu bringen, ſcheiterte. Es
blieb deshalb Preußen nur übrig, innerhalb feines Staatsgebietes das Staatöbahn:
ſyſtem durch Ankauf der meiften PBrivatbahnen zum herrichenden zu machen, fo wie es in
Württemberg von Anfang an, in Bayern und Sachſen feit 1875 durchgeführt war. Da:
mit wurde dem deutichen Eijenbahnmejen eine ganz andere Entwidelung vorgezeichnet.
Die Eifenbahnen als einzelftaatlihhe Unternehmungen wurden dementiprehend Wirtichafts:
objefte für die eingzelftaatliche Verwaltung.
Das ift nicht ohne jchwermwiegende Folgen geblieben. Wäre damals die Bermwaltung
der Eiſenbahnen und die techniiche Seite der Sache in diefelben Hände gelegt worden,
die das verfaffungsmäßige Auffihtsrecht und die Intereſſen der Yandesverteidigung wahr:
zunehmen haben, jo hätte das gejamte deutſche Eifenbahnmwejen unter die großen Gefichts-
puntte des modernen Verkehrs geftellt werden fünnen. Dat dabei die finanzielle Seite
der Sache keineswegs hätte zu kurz fommen müffen, zeigt das Beilpiel der Reichspoſt—
verwaltung.
Das Spitem der eingeljtaatlihen Bahnverwaltungen hat nun aber dem Stante
277
420 W. v. Maſſow, Monatsſchau über innere beutfche Politik.
die Rolle eines großen Unternehmers zugewieſen. Die Bahnen ſind im Grunde nichts
anderes als Privatbahnen geblieben; fie find nur zu einem großen" Betriebe vereinigt
und haben als neuen Befiger einen jehr großen Herrn erhalten, den reipeftloje Leute
ngch dem Vorgang eines gefrönten Hauptes mitunter wohl „den Rader von Staat“
nennen. Gewiß ift dadurch alles vornehmer geworden; Grzellenzen, Präfidenten und
Geheimräte regieren mit dem vollen Bewußtſein der Staatsbeamtenwürde und einer ent:
Iprechenden Autorität, wo im PBrivatunternehmen dergleichen Attribute des Wirkens ganz
zurüdtreten, aber das Weſen der Unternehmung ift unberührt geblieben.
Der Staat ift ein fehr reeller, gewiffenhafter und tüchtiger Gejchäftsmann; er hat
fein Haus vortrefflih und nad) den ſtrengſten Grundſätzen geordnet, vielleicht hier und
da etwas zopfig, wie das bei alten ehrenfeften Firmen nicht jelten vorfommen joll. Mit
Unrecht werden oft die notwendigen Kritiken der öffentlichen Meinung als Angriffe gegen
die Gemilfenhaftigkeit und QTüchtigkeit der Beamten aufgefaßt, während niemand in
Wahrheit an dem VBorhandenjein diefer Eigenjchaften zweifelt. Alfo nochmals, der
Unternehmer ift folide und tüchtig und er jucht in feinem Geſchäft den Kunden nad)
Kräften gerecht zu werden. Aber er iſt eben Unternehmer, d. h. die Befriedigung der
Kunden interejfiert ihn immer nur foweit, als e8 die Fortführung des Unternehmens
gebietet und als er damit Geſchäfte macht, d. h. Geld verdient. So tritt die Fürforge
der die Gefamtheit repräientierenden Macht für die Entwidelung des Verkehrs und
die Befriedigung aller auf diefem Gebiete herbortretenden Bedürfniffe ſtark zurüdf hinter
die fisfaliichen Anjchauungen, die fid) aus der leider durd die Verhältniffe gegebenen
Unternehmerrolle des Staates entwideln.
Aus diefem Verhältnis ergeben ſich auch die Beziehungen der berfchiedenen deut:
ſchen Staatsbahnfhfteme zu einander. Der ungeheure Umfang des Betriebes der preußi-
ihen Staatsbahnverwaltung drüdt durch feine wirtichaftliche Uebermacht in derfelben
Weiſe auf die fleineren Nachbarn, wie jedes große Unternehmen Eleinere Betriebe gleicher
Art in Mitleidenschaft zieht. Während die preußiſchen Staatöbahnen eine glänzende
Einnahmequelle für den Staat bilden, wird es den Fleineren Staatsbahnderbänden
immer fchmwieriger, mit einem leidlichen Gewinn oder auch nur ohne Berluft herauszu-
fommen, wenn fie den beftändig gefteigerten Anforderungen des modernen Verkehrs
gerecht werden wollen. Damit ift dem Gedanken der Boden bereitet, durch vertrags:
mäßigen Anſchluß dieſer Fleineren Verbände an die preußifche Staatsbahndermwaltung
einen Ausgleich zu fchaffen.
Man muß fich wohl flar maden, daß diefer Gedanke zunächſt das Ergebnis einer
rein wirtichaftlichen Leberlegung war, die von politischen Nebenabfichten völlig frei war.
In ſolchem Sinne ift denn auch die preußifch-heffiiche Eifenbahngemeinfchaft zu ftande
gefommen. Es fonnte aber nicht außbleiben, daß die Frage jehr bald eine politische
Beimiſchung erhielt. Die Gegner des Gemeinjchaftsgedanfens fanden in der politifchen
Seite der Sache willkommene Gründe zur Oppofition, und in nationalgefinnten $reijen
jah man in einem begreiflihen Mißverftändnis die Eifenbahngemeinichaften als etwas
Hehnliches an, wie den Zollverein oder die Militärfonventionen. Man überfieht dabei,
daß der Vergleich nicht pakt. Als Preußen den Zollverein gründete, geichah e8 in der
bewußten Abficht, zur Derjtellung eines einheitlihen Wirtfchaftögebietes in Deutichland
MW. dv. Maſſow, Monatsfchan über inmere deutſche Politik. 421
die Initiative zu ergreifen; die preußiiche Eifenbahnvermwaltung aber beruht geradezu auf
dem Grundgedanken, die Verkehrsintereffen jo weit als irgend möglich in den Dienft der
bejonderen Bebürfniffe des preußiſchen Staatsweſens zu ftellen. Die Militärfonventionen
dienten dem Reichsgedanken, weil die preußiſche Militärorganifation vorbildlich, die An:
gliederung der kleineren Heeresfontingente aljo ein Schritt auf dem Wege zu einem wirf:
lihen Reichsheer war; die preußifche Eifenbahnverwaltung aber ift nad) ihren map:
gebenden Grundfägen durchaus nicht vorbildlich für das, was eine von Reichs wegen zu
ihaftende Regelung des Eiſenbahnverkehrs fid) ald Aufgabe vorzeichnen müßte. Es lag
jeinerzeit Preußen daran, einen deutichen Staat nad) dem andern an jeinen Zollverein
anzuſchließen; es lag ihm ebenjo daran, die in der Reihsverfaffung vorgejehenen Grund-
lagen eines einheitlicdyen Kriegsmwejens durch die Konventionen weiter auszubauen, weil
dadurch; Direkt die Wehrkraft des Reiches, um bderentwillen doch alle diefe deutjchen
Deerestontingente da waren, geftärft wurde. Aber es liegt Preußen garnichts daran,
in weitere Eifenbahngemeinihaften mit anderen Staaten zu treten, denn es hat bereits
von jeinem Eiſenbahnſyſtem, mas es haben mill.
Auf Grund diefer Betrachtungen kann man fich überzeugen, daß die Frage ber
Eijenbahngemeinfchaften vom nationalen Standpunft aus feinesmegs ſo leicht zu ent-
icheiden ift, wie vielleicht mancher auf den erften Bli glauben könnte. Berurteilen wird
man vom nationalen Standpuntt aus die Gehäffigkeit, mit der die ſüddeutſche Volks—
partei und ihre Organe, jo wie es in diefen Wochen in Württemberg gejchehen ift, den
Anſchluß an Preußen befämpfen, nicht etwa aus fachlichen Gründen, jondern lediglid),
weil in unflaren Köpfen dev Popanz der „Verpreußung“ ſpukt. Daher muß man fid
freuen über die ftarfe Strömung, die trogdem teil aus nationalen, teil aus wirtichaft:
lihen Gründen auf einen ſolchen Anſchluß an Preußen hindrängt. Andererjeits zwingt
ehrliche, fachlihe Prüfung doch zu dem Bekenntnis, daß jenes gutgemeinte Hinarbeiten
auf eine allgemeine Reichseifenbahngemeinihaft durch den Anſchluß an Preußen ſicherlich
eine Enttäufchung erfahren würde, daß die Gefahr vorliege, auf diefem Wege das Prinzip
des Fisfalismus im Eiſenbahnweſen unrettbar zu verewigen.. Was wir im Neid
brauchen, ift nicht die unumichränfte Herrichaft der Herren Finanzminifter über unjere
Scienenftränge, jondern die mweitherzige Würdigung der vielfeitigen NRüdfichten und
Intereſſen aller Art, die mit dem Verkehrsweſen zufammenhängen, mit anderen Worten
eine weitblickende deutiche Berkehrspolitif.
Ich Höre hier von konfervativer Seite einen Einwand, der oft genug auch jeinen
Ausdrud von der Rednertribüne des Reichstags gefunden hat. Iſt denn diefe Art von
Vergötterung des Begriffs „Verkehr“ überhaupt berechtigt? Konſervative Kreiſe pflegen
unruhig zu werden, wenn auf das Kaiferwort Bezug genommen wird, daß die Welt im
Zeichen des Verkehrs ftehe. Es joll bier nicht die Frage erörtert werden, ob nad) rein
theoretijcher Betradhtung eine Steigerung bes Verkehrs wünſchenswert ift oder nicht.
Diefe Doktorfrage lafjen wir einmal auf fi) beruhen. Im Zufammenhang der vor-
liegenden Betrachtung kommt es nur auf den Hinweis an, daß, was man etwa an un:
günftigen Wirkungen der Verfehrsentmwidelung verzeihnen fünnte, durch die fisfaliiche
Auffafjung der Sache nur gefteigert wird. Denn die fisfaliiche Verwaltung verfährt
eben nad) dem Grundſatz des guten Geihäftsmannes, der vor allem fragt, wo ein
422 W. dv. Maſſow, Monatsichau über innere deutſche Politik.
Geichäft zu machen ift. Der umfichtige Kaufmann ſteckt fein Kapital nicht an einen
Pla, wo nichts zu holen ift. Und fo lange unſere Eifenbahnvermwaltung in erfter Linie
Unternehmerin ift, macht fie es ebenſo. Darum haben unjere Eifenbahnen allerdings
die Wirkung, daß fie die Bevölkerung und das geichäftliche Leben in die ohnehin von der
Natur bevorzugten Gegenden und Plätze lenken, und das ift ja eben der Umſtand, der
unferen Sonjervativen ihre durchaus nicht unberechtigten Klagen entlodt. Auch wir
wünjchen von unjerer Gifenbahnvermwaltung, daß fie nicht nur Unternehmerin, fondern
auch Bolitiferin ift.
Es liege fih da noch mandes jagen über Verwendung der Ueberichüfle, um
gewiffe Einwirkungen auf den Verkehr und dementiprechend auf das mwirtichaftliche Leben
zu gewinnen; es ließe fich namentlich ein Kapitel fchreiben mit der Ueberſchrift „Unter:
laffungsfünden“, das uns auf das Gebiet der Sozial: und Agrarpolitit hinüberleiten
würde und u. a. aud ein grelles Licht auf die Polenfrage jallen laſſen könnte. Aber
das würde jebt hier zu weit führen.
„Wenn bier gejagt wird, die Eifenbahnvermwaltung jolle mehr politische Geſichts—
punfte berüdfichtigen, jo ift Damit keineswegs verfannt, daß in Preußen innerhalb der
(Hrenzen, die der Eifenbahnvermwaltung nun einmal durch ihre finangpolitiichen Aufgaben
gejteckt find, auch auf anderem Gebiet vortreffliche Anläufe genommen find. Daß fozial-
politiihe Ermägungen durchaus nicht beifeite geichoben werden, hat fich erit neuerdings
wieder gezeigt, ald das Minifterium darauf bedacht war, in jeinem Reffort den Arbeits-
ftodungen, welche die jegige Wirtichaftsfrifis mit fi) bringt, nach Kräften entgegen zu
wirken. Freilich Scheint die Ausführung des Erlaffes nicht überall in vollem Berftändnis
für die Bedeutung der Sache und die Abfichten der Zentralitelle erfolgt zu fein. So viel
dürfte troß der mancherlei Berichtigungen, die gemwijfe Llebertreibungen und Entjtellungen
gefunden haben, dod aus den Zeitungsberichten zu entnehmen fein: Für die Abhilfe
fommt nicht die zweifellofe Tüchtigkeit der Beamten und die wohlmeinende Gefiinung
des Minifters allein in Frage; es hängt da zu vieles mit dem Prinzip zujammen, von
dem das ganze Verwaltungsſyſtem gewiſſermaßen durchtränkt ift und auf das auch bie
ganze Organifation zugeichnitten ift. Die Eifenbahnvermaltung ift eben in eriter Linie
ein Unternehmen zur Aufbeſſerung der Staatsfinanzen.
Daraus folgt, daß die Ausfichten auf eine Aenderung der Yage nicht gerade be-
deutend find. Es müßte erſt die Erſchließung neuer Einnahmequellen für den Staat
und auch die dringend erwartete FFinanzreform im Reich vorangehen; das aber ift nicht
eine Sache, die von heute zu morgen zu erledigen ift, am allerwenigften am Borabend
der handelspolitiichen Entjcheidungen, die demnächft bevorjtehen. Deshalb wird man
die Beitrebungen zur Herftellung einer Reichseifenbahn-Einheit noch auf ein langes, ge—
duldiges Abwarten verweilen müſſen.
Vielleicht aber treten doch noch eher, als fich jett vorausfegen läßt, Verhältnifie
ein, die die preußiiche Eifenbahnpolitif auf einen andern Weg leiten, der ſchließlich auch
zu der großzügigen deutjchen Verfehrspolitif führt, die wir als lektes Ziel wünjchen
müffen. Wir werden dann umjomehr leiften können, als wir aud) jet noch in unfern
Verfehrseinrichtungen den meiften andern Ländern im allgemeinen voraus find, Mit
vollem Bedacht jage ich: „auch jett noch“, nicht etwa „ſchon jetzt“. Denn wir haben
W. v. Maſſow, Monatöfchau über innere deutfche Politik. 423
von Anfang an vortrefflihe Einrichtungen gehabt und haben, abfolut genommen,
dieſen Borrang bis jett behauptet. Aber der relative Fortichritt der Verkehrsein:
richtungen im Verhältnis zu den fich fteigernden Verfehrsbedürfniffen ift in mandjen
andern Yändern in letter Zeit größer gewejen als bei uns; wir haben die hinter uns
Burücgebliebenen näher heranfommen laſſen.
Wenn erit der Grundiag einer wirklichen Berkehrspolitit an Stelle des fiskaliſchen
Unternehmerftandpunfts die Derrichaft in der preußiichen Eijenbahnverwaltung ange:
treten haben wird, werden wir aud) bezüglid; der werbenden Kraft diejer Einrichtungen
jehr viel angenehmere Erfahrungen machen als jest. Wie in einem ſolchen Falle die
Widerftände ganz von jelbjt jchwinden, zeigt wiederum der neuelte Erfolg der Reichs—
pojtverwaltung, jo geringfügig das Erreichte auch manchem erjcheinen mag. Auch die
Reichspoſt befindet fi ja in einer Rejervatftellung den beiden füddeutichen Königreichen
gegenüber, und doc; hat fic das Streben, den praftifchen Bedürfniſſen unbefangen gerecht
zu werden, mit einer gewiljen Notwendigkeit durchgeſetzt. Trotz der Beibehaltung des
württembergifchen Boftrefervats werden jett wirklich gemeinfame Bojtiwertzeichen mit dem
Gebiet der Neichöpoftverwaltung eingeführt. Noch vor wenigen fahren ſchien das
unmöglich: es ſah wie ein Aufgeben des Nejervats aus. Aber die ruhige praftifche
Erwägung hat zulegt die Bedenken bejeitigt. Wenn auch Bahern noch zähe an jeiner
Sondermarfe feithält, wir find doch in einer wichtigen VBerfehrsfrage einen bedeutenden
Schritt weiter gefommen und das eben nur deshalb, weil das ruhige, jachliche Be:
jtreben, die Forderungen der Zeit und des allgemeinen Berkehrsbedürfniffes ohne
Nebenabfihten zu erfüllen, über alle Regungen des Mißtrauens fieghaft hinmwegging.
Hoffentlich gelangen wir auch auf anderen Berfehrögebieten einmal zu einer Braris,
die in gleicher Weiſe überzeugende Kraft bethätigt.
Die Tauben der Venus.
Dr Des Erpiberges Zinnen, Eine flaumigelichte Wolke,
Wenn es Frübling ward im 3abr, Öffenbarte fie der Welt,
Lielzen Benuspriefterinnen Daſz die Böttin allem Volke
Flattern eine Taubenfchar. Ewig ibre Gunft erbält.
Aus erbabner böbe nieder Keiner Taubenfhbwinge Schimmer
Strich der Wanderzug einber, Löft mebr priefterlibe band,
Auf weifzleuchtendem Gettieder Doc die Licbe lebt noch immer,
Webers ftille, blaue Weer. Wandelt über Beer und Land.
Aus: Heinrih Bierorbt, Gemmen und Ballen“, Heidelberg 192. Karl Winters Univerfitätsbuchbandlung,
DEINEN
Weltwirtichaftliie Umſchau.
Von
Paul Dehn.
Nordamerifas Handeläbeziehungen ‚zu Europa und Deutichland. — Der deutſche Rhein und
Holland. — Die Ausfichten der Bagdadbahn. — Eine afritaniiche Ueberlandbahn. — Die Ab-
wickelung des chinefischen Kriegsentſchädigungsgeſchäftes.
g" den handelspolitischen Erörterungen der Tagesprefje wird überfehen oder ablichtlid)
übergangen, was bei der Aufftellung des deutichen Zolltarifentwurfs maßgebend war
und für die Neuregelung der Handelsverträge nad) ihrem Ablauf enticheidend jein wird,
das Berhältnis zu Nordamerifa. Nad den Ergebniffen ihres Giteraustaufches
mit Nordamerifa müflen mehr oder minder alle europäiſchen Staaten erkennen, daß fie
dabei immer bedenfliher den kürzeren ziehen. Diejer Güteraustaufc erfolgt nit auf
der borausgejegten Grundlage der Gegenieitigkeit. Die ntereffen der europäifchen
Staaten werden dabei nicht genügend gewahrt. Bei Neuregelung der Handels—
bezichungen wird entweder die nordamerifanifche Republif Zollermäßigungen bewilligen
oder die europäiichen Staaten werden Zollerhöhungen vornehmen müffen.
Der Güteraustaufh zwiihen Europa und Nordamerika jchloß in den legten drei
Nahren zu Gunften Nordamertlas mit einem Ueberjhuß von durchſchnittlich
2'/, Milliarden Markt ab, d. h. Europa mußte, um diefen Betrag zu deden, entweder
jeine Gegenforderungen als Gläubiger auf Grund veranlagter Kapitalien einrechnen
oder in jonftigen Werten zahlen, etwa durd) Verkauf nordamerikaniſcher Bapiere, oder
jeine Ausfuhr nach anderen Ländern zu erhöhen juchen. In Wirklichkeit hat man jchon
jetst zu allen diejen Ausmwegen gegriffen, da die Notwendigkeit dazu zwang. Der nord
amerifanijche Ueberſchuß verteilt fih nun allerdings auf die einzelnen europäiichen
Staaten in jehr verichiedenem Maße. England allein hat im Verkehr mit Nordamerika
etwa 1!/, Milliarde Mark Mehreinfuhr zu verzeichnen und dedt diefen Betrag zu einem
großen Zeil dur die BZinfen und Unternehmergewinne, die es aus jeinen jehr betrücht-
lichen, in Nordamerika angelegten Kapitalien zu fordern hat.
Deutfhlands Mehreinfuhr aus Nordamerika belief fih im Jahre 1900 auf
580 Millionen Mark. Auch deutiches Kapital arbeitet in Nordamerifa, aber nit an-
nähernd in ſolchen Mengen wie das engliiche. Deutjchland hat größere Schwierigkeiten
bei der Dedung diefer Mehreinfuhr zu überwinden als England. Die Einfuhr Deutfch:
lands aus Nordamerika befteht nun zwar zu einem exheblihen Teil aus Rohſtoffen
(Baummolle und Petroleum), die es nicht entbehren fann, aus Nahrungsmitteln, die
Paul Debn, Weltwirtfhaftliche Umfchau. 425
zu verbrauchen es fih gewöhnt hat, aber auch aus einer ganzen Reihe von Erzeug-
niffen, die e8 jelbft berzuftellen vermag. So war es eine gang ſelbſtverſtändliche Sache,
daß bei der Aufftellung des neuen deutichen Bolltarifentwurfs darauf Rüdficht ge
nommen wurde. Deutfchland folgte dem Vorgehen Nordamerifas, als es für gewiſſe
Erzeugniffe, die es jelbft herftellen fann oder will, namentlih für ſolche nordameri-
fanifcher Herkunft, höhere Zolljäge in Ausficht zu nehmen fich entjchloß, beiläufig be-
merft noch nicht einmal jo hohe, wie fie im Dinglehtarif überwiegen. Es war geradezu
eine Pflicht der deutichen Handelspolitifer, bei der Aufftellung des Zolltarifentwurfs die
nordamerifaniihen Waren zu treffen und die nordamerifaniiche Einfuhr zurüdzudrängen,
um den Giteraustaufch wieder ind Gleichgewicht zu bringen. Werden auf Grund
des deutſchen Zolltarifentwurfs mit Nordamerifa neue Verhandlungen eingeleitet, jo
haben die nordamerifanifhen Bolititer in Ermägung zu ziehen, ob fie an ihrer Zoll-
politif fefthalten und ſich den deutſchen Markt verjchliegen laffen wollen oder aber, ob
fie e8 vorziehen, mit dem Deutfchen Reiche in ein Hanbdelsvertragsverhältnis zu treten,
das eine annähernde Gleichwertigfeit des Güteraustaufches verbürgt.
Wer fih vor der jüngften mweltwirtfchaftlichen Entwidelung nicht die Augen ver:
ichließt, wird zugejtehen müſſen, daß auf den Ablauf der beftehenden Handelsverträge
die Reichsregierung ſich gar nicht anders vorbereiten konnte, als fie e8 durch die Auf-
ftellung des neuen Tarifentwurfs gethan hat. Was fie dabei als oberften Geſichts—
punkt ins Auge faffen mußte, war die nordamerifanische Gefahr. Als Graf Eaprivi
die mitteleuropäiichen Handelsverträge abſchloß, hat man dieje Gefahr überfehen oder
unterſchätzt. Es erjcheint heute nicht recht verjtändlich, da ein deuticher Staatsmann
bon weiten Blid Handelöverträge mit europäiſchen Staaten abſchließen und darin
Getreibezölle bewilligen fonnte, ohne an die nordamerifanifhe Gefahr zu denken. Zu
jpät zeigte fich dann die Stlemme, in die man geraten war. Graf Caprivi hätte damals
auf Grund des alten preußiichen Vertrages mit Nordamerika die Meiftbegünftigung
verweigern fünnen, wie es jpäter mit Berufung auf denjelben Vertrag Nordamerika
gethan hat. Ob man daran überhaupt dachte? Und wenn man wirklich daran dachte,
hätte man es gewagt, den Nordamerilanern die Meiftbegünitinung zu verweigern und
fie in die Lage zu verjeken, negen Deutichland den Zollkrieg zu erflären? Man hat
damals an Nordamerifa das große Zugeftändnis der Meiftbegünftigung ohne Gegen:
augeitändnifje bewilligt. Das war eine Notwendigkeit, eine Konjequenz der Gaprivijchen
Dandelöverträge und ihrer eilfertigen Vereinbarung, aber ein Berkennen der nord»
amerifanifchen Gefahr. Das große Augeftändnis hatte nicht nur eine empfindliche Be-
einträchtigung deutſcher Anterefien zur Folge, jondern auch eine Berfchlechterung der
bandelspolitiihen Stellung des Deutichen Neiches zu der Nordamerifaniihen Republif,
mindeftend für die Dauer der Verträge. Man mag mit dem Grundgedanfen diefer
Berträge einverftanden fein, man mag dieje Verträge an ſich für notiwendig halten, die
Uebereilung aber, mit der fie abgeſchloſſen wurden, wird durch die jpätere koſtenloſe
Gewährung eines großen Zugeftändniffes an Nordamerika doch in ein jehr bedenfliches
Licht geiekt.
Ein ausgezeichneter öfterreihifcher Volkswirt von Erfahrung und eilt, Dr.
Alerander von Peez, beiläufig ein geborener Reichsdeuticher, ein gänzlich” unabhängiger
426 Baul Debn, Weltwirtfchaftliche Umſchau.
Dann, hat kürzlich die nordamerifaniihe Gefahr nad ihrer Entftehung und Größe
behandelt und dabei neue Gefichtspunfte entwidelt, die in der deutichen Tagespreſſe
nicht die genügende Würdigung gefunden haben. Ende der fiebziger Nahre war es,
ald die nordamerifaniihe Konkurrenz auf den europäifchen Märkten zuerjt in land-
wirtichaftlichen Erzeugnifjen in Ericdyeinung trat. Im großen und ganzen erzeugten da:
mals die Yänder des europäiichen FFeftlandes, bis zu einem gewiſſen Grade aud Eng:
land, an Nahrungsmitteln, was fie verbraudten. Der internationale Handel in
Nahrungsmitteln war verhältnismäßig wenig entiwidelt, er beitand eigentlidy nur zwijchen
Nachbarvölkern einfchließlih Englands. Bon einer überjeeiihen Konkurrenz wußte man
nichts, man hielt e8 für ausgeichloffen, daß landwirtichaftlihe Erzeugnifje, die im Ver—
hältnis zu ihrem Gewicht nicht zu den hochwertigen Gütern gehören, auf weite über-
jeeische Entfernungen hin befördert werden fünnten. Und die Praris bejtätigte lange
Beit diefe Annahme. Die Frachten waren viel zu hoch, als daß Getreide oder Vieh
weiter als über eine gewiſſe, verhältnismäßig kurze Strede hinaus auf fremde Märkte
gebradht werden und dort lohnenden Abſatz finden konnte. Man war der Meinung,
daß auf weite überſeeiſche Entfernungen hin nur hochwertige Güter verfradhtet werden
witrden, und jo gab man ſich auch einer ftarfen Täufchung bin über den Berfehr des
Suezfanals, den man durch diefe Annahme weit unterſchätzte. Inzwiſchen find die See-
fradıten von Jahr zu Jahr zurüdgegangen und haben gegenwärtig einen ſolchen Tief:
ſtand erreicht, daß unter gemwijjen Umftänden zwiſchen Amerifa und Europa Getreide
und Kohle in Ballaft oder doc) zu Spottpreijen gefahren werden.
Induftriös waren die Nordamerikaner jchon damals und fie befundeten ihren In
duftrialismus, indem fie es verftanden, durch eine zweckentſprechende Organifation des
Dandels und durd eine außerordentliche VBerbefferung des Verkehrs landwirtſchaftliche
Erzeugniffe zu einem Gegenftande des Weltverfehrs zu machen, das heißt auf weite Ent-
fernungen bin zu verfenden und fie auf die europäiſchen Märkte zu einem Preiſe zu
ichaffen, der niedriger war als der Preis für das heimifche Erzeugnis. Zunächſt be-
ichieften fie den englischen Markt mit Getreide, namentlich) mit Weizen und Mais, dann
mit Vieh, Fleiſch, Schmalz, Speck, Schinken u. |. w. Auf engliihem Boden, jagt Peez,
wurde der große Kampf zwilchen der nordamerifaniichen und der europäiſchen Yandwirt-
ichaft ausgefodhten und endete mit dem Siege der neuen ®elt. England war damals
ein wichtiges Abjaßgebiet für die Yandwirtichaft des europäiichen Feftlandes, auch für
die deutiche Landwirtihaft. Dieien Abſatzmarkt eroberte Nordamerika. Die Ausfuhr
der feſtländiſchen Yandwirtichaft nach England geriet ind Stoden und verfiel. Schon
daraus entitanden Berlegenheiten für die europäiſche Landwirtſchaft. Wohin mit ihrem
Ueberſchuß, den England ablehnte? Diejer Ueberichuß verblieb auf dem Feitland und
drücdte hier die Preife. Dazu kamen weitere Zufuhren aus Rußland und den Balfan-
ländern. Bis dahin waren die Landwirte des europäilchen Feſtlandes als Intereſſenten
der Ausfuhr Freihändler gewejen und verhielten fich gegen den Schuk der nationalen
Arbeit ablehnend. Um jene Zeit entitand die ſchutzzöllneriſche Wandlung auch unter
den Landwirten des europäilchen Feltlandes, und fie wurde mit der Zunahme der nord:
amerifanifchen Ausfuhr nad) Europa und mit ihrem Vordringen auch auf dem euro-
päiſchen Feſtlande ftärfer und ftärfer, bis fie in Verbindung mit der ſchutzzollbedürftigen
Baul Dehn, Weltwirtichaftliche Umſchau. 427
Induſtrie zum Durhbrudy fam und von den Regierungen der meiften Staaten als
leitender Gedanke übernommen wurde.
Erſtaunlich war in den lesten Jahren das Anwacjen der nordamerifanifchen
Konkurrenz mit der Zunahme der nordamerifaniihen Ausfuhr auch in FFabrifaten.
Gerade in den wichtigften Erzeugniffen des Weltmarftes, in Eiſen, Stahl und Majchinen,
in Kohle, zum Teil ſogar in Luxuswaren wie in Geweben und fonfeftionierten Erzeugniffen,
entwidelte Nordamerifa eine Ausfuhrfähigfeit, die um jo mehr überrajchen mußte, als
fie nur Verſuche und Anfänge daritellte. An Stahl erzeugt Nordamerika bald jo viel
wie ganz Europa. Nordamerifaniihe Mafchinen aller Art, Yofomotiven, Eifenbahn-
tagen u. ſ. to. finden nicht nur in Europa Abſatz, jondern auch in anderen überjeeijchen
Yändern, wo bisher die europäische Induſtrie wichtige Märkte fand. Nach Rukland
lieferte Nordamerika im ‚fahre 1900 mehr ala 1 Million Tonnen Eifenbahnbedarf. In
Südafrifa und Dftaften ift die nordamerifanifche Konkurrenz merklich hervorgetreten.
Nach Deutichland kamen Nähmaſchinen, Fahrräder, Schuhe, Eifen: und Stahlwaren in
anjehnlichen Mengen, und dazu gejellen ſich immer neue nordamerifanijche Erzeugnifje.
Nod vor wenigen Kahren hat es niemand für möglidy gehalten, daß nordamerikaniſche
Kohle in Europa Abjak finden würde und heute erjcheint fie nicht nur im füdlichen
Europa, jondern aud) neuerdings im Norden, tro& der englifchen Konkurrenz. Die jo-
genannte Expanſionskraft Nordamerikas jcheint feine Grenze mehr zu fennen, jeitdem
fie von den großen Truftgejellichaften mit Hapitalien, wie fie in Europa unbefannt und
unerhört find, geitüßt wird. Auf dem heimiichen Markt können dieje Truftgefellichaften,
geihügt durch hohe Zollichranten, zu guten Preifen verfaufen, und was fie über den
heimiſchen Bedarf hinaus herjtellen, ihre ganze Llebererzeugung, werfen fie auf die fremden,
insbejondere auf die europäifhen Märkte nicht jelten zu Schleuderpreiien, vielleicht
unter den Selbftfoften, was für ihre Art des Betriebes in der Regel feinen Berluft
bedeutet. Kaiſer Wilhelm jollte darüber jein Befremden geäußert haben, welche Mit:
theilung jedod) ohne Beftätigung geblieben ift, und zwar in einem Tiſchgeſpräch mit
franzöſiſchen Reiſenden, die er an der normwegiichen Küſte auf jein Schiff zur Tafel lud.
Man ſprach von der Möglichkeit, daß die nordamerifanifhen Trufts eine ganze Induſtrie,
einen internationalen Handıl in wenige Hände oder in die Dand eines einzigen Mannes
bringen könnten, daß der große Truftfönig Morgan interogeanische Schiffahrtslinien ankaufen
und vereinigen fünnte, was noch jett keineswegs ausgeichloffen ift. Kaifer Wilhelm erblicte
darin eine Drohung für die Zukunft. Vereinige ein ſolcher Truftfönig, meinte er, unter
jeiner Flagge mehrere Schiffahrtslinien, fo fönne ihm ein fremder Staat, falls ein Zwiſchen—
fall eintreten jollte, nicht beitommten, da die Nordamerikaniſche Republik die Berantwortlichkeit
ablehnen würde. Nun muß freilich jede Seejhiffahrtsgeiellichaft die Flagge ihres Staates
führen. Wie aber, wenn Morgan die Aktien einer großen deutichen Seeſchiffahrtsgeſellſchaft
erwirbt, fie äußerlich als deutiche Gejellichaft beftehen läßt und fie zwingt, unter deutjcher
Flagge nordamerifanifchen Äntereffen zu dienen? Dder wenn er fie abfichtlich zu
Grunde ‚richtet, um ein unentbehrliches Hilfsmittel des deutichen Handels lahmzulegen?
Schon jollen von ihm Aktien und von anderer nordamerifanijcher Seite Obli-
gationen der großen deutſchen Schiffahrtsgefellihaften in nicht unerheblidyen Beträgen
erworben worden jein. Gegen ihre Amerifanifierung wollen ſich nun die deutichen
428 Paul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umſchau—
Schiffahrtsgeſellſchaften jchügen, indem fie ihre Sapungen dahin ändern, da nur
Deutjhe und nur im Deutfhen Reich Wohnende in den Auffihtsrat und Vorſtand
gewählt werden fünnen. Diefe Abänderung genügt nicht, da fie ſich mit Hilfe von
Strohmännern, die ſich immer und überall finden, umgehen läßt, wie denn auch das
nordamerikaniſche Petroleummonopol in Deutihland durch eine äußerlich deutiche Ge—
jellichaft gehandhabt wird. Um zu verhindern, da auch eine fremde Mehrheit Beichlüfie
faſſen fann, die auf den Gharafter, die Nationalität oder die Gejhäftsgebarung der
deutihen Schiffahrtsgefellihaften einen im nationalen Sinne ungünftigen Einfluß aus-
üben, werden wirfjamere Vorkehrungen gefhaffen werden müſſen, wenn nicht nad)
Analogie der Reichäbant, jo doch mindeftens durch Gewährung eines Auffichts- oder
Beſtätigungsrechts an das Reid).
Kaijer Wilhelm joll auch, was inzwijchen übrigens aud) dementiert wurde, von der
Notwendigkeit eines europätfchen Zollvereins gefprodhen haben, einer Zollliga gegen die
Vereinigten Staaten mit oder ohne England. Und ficherlich wird und muß diefer Gedanke
in irgend einer Form verwirklicht werden, wenn die nordamerifanijche Konkurrenz weiter
vorjchreitet, wenn fie mit Dilfe der nordamerifanifchen Truftgejellihaften bie europätfchen
Zollſchranken durchbricht, wenn die nordbamerifanifche Gefahr immer drohender herbor:
tritt und die heimijche Arbeit in Landwirtichaft und Induſtrie gefährdet.
Leider find vorläufig die Antereffengegenjäße unter den europäiſchen Staaten, wenn
auch nicht fo groß, doch noch fo Lebhaft, daß allem Anſcheine nach man noch nicht darüber
hinweg und zu der Erkenntnis der größeren Intereſſengemeinſamkeit kommen wird. Bis
dahin muß jeder europäiſche Staat jich jelbft und derart helfen, dat er aus eigener Kraft der
nordamerifanifchen Gefahr wirkſam begegnen kann. Alle übrigen Rüdfichten im Verkehr
der europäijchen Staaten untereinander müffen vorläufig zurüdtreten. Nicht zum zweiten
Mal darf fi) das Deutiche Reich in die Zwangslage verjegen laffen, den europäiſchen
Staaten Zugeftändnifje zu machen und dann an Nordamerika dieje Zugeftändniffe zu
verichenfen oder aber von dort her einen Zollfrieg zu provozieren.
Was fchon früher an diefer Stelle angedeutet worden ift, darf jekt mit größerer
Beitimmtheit gejagt werden, daß das Deutjche Reich, nachdem es feinen neuen Bolltarif:
entwurf fertig gejtellt und fich Leidlich gerüftet hat, bei Ablauf der Verträge zuerft fein
Verhältnis mit Nordamerika neu regeln muß. Macht Nordamerika Zugeftändniffe, fo
wird das Deutſche Neih es an Gegenzugeftändniffen nicht fehlen laffen. Andernfalls
bleibt nicht8 Anderes übrig, als Nordamerifa an einer autonomen Bolltarifpolitif feſtzu—
halten, die den nationalen Sintereffen entipriht. In diefem Sinne hat fi auf der
Sahresverfammlung des Vereins für Sozialpolitif im September in München auch
Profeſſor Dr. Schumader-Köln ausgefprodhen und empfohlen, die neuen Vertrags—
verhandlungen unter allen Umftänden mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika
zu beginnen. Im Berkehr mit ihnen müſſe volle Gegenfeitigfeit geichaffen werden unter
Bejeitigung aller Willfürlichkeiten und Härten. Nach der Regelung des Verhältniſſes
zu den Bereinigten Staaten fann das Deutjche Reich mit den europäifhen Staaten
leichter und erfolgreicher verhandeln.
* *
Baul Dehn, Weltwirtſchaftliche Umfchau. 429
Verkehrspolitiſch und auch wirtichaftlich der wichtigfte Teil eines Stromes ift der
ichiffbare Linterlauf mit der Ausmündung in die Weltverfehrsftrake, in das Meer. Ein
großer Strom bildet ein zujammenhängendes ®ebiet, ein untrennbares Ganze. Alle
feine Thäler find mit ihrer Bevölkerung auf einander angemwiefen. Die Staatenbildung
hat dieje Zufammengehörigfeit anerkannt, bis zu einem gewiſſen Grade auch in Bezug auf
den Rhein, der Deutichlands Strom und nicht Deutjchlands Grenze geworden ift. Bon
zwei großen deutfchen Flüffen, vom Rhein und von der Donau, flagte einmal ein
deuticher FFürft, dak fie Gefangene in den Händen des Auslandes jeien. Der Vergleich
ift nicht ungutreffend. Wer an der Mündung eines Stromes herricht, kann den gejamten
Verkehr überwachen und umter Umftänden auch erihweren. An der Donau ift Deutſch—
land nod wenig intereffiert. Die Donau war vielleiht vor Nahrzehnten die Yebensader
des deutjch-orientaliichen Verkehrs. Heute verkehrt Deutſchland jelbft mit den unteren
Donauländern ganz überwiegend auf dem vorteilhafteren Seemwege. Für den großen
Berfehr kommt überdies die Donau erjt von Gran oberhalb Belt in Betraht und als
Strom endet fie bereit3 bei der rumäniichen Grenze. Unterhalb des Eifernen Thores
eriheint der Strom wie eine tief in das Land einfchneidende Ausbuchtung des Meeres.
Diefer Teil des Stromes ift für mittlere Seejhiffe fahrbar und fteht überdies unter
internationaler Ueberwachung, jo dak eine Beeinträchtigung der Sciffahrtsfreiheit nicht
au bejorgen ift. Ernſthaft in Mitleidenichaft gezogen wird dagegen bie wirtichaftliche
Entwidelung Deutihlands durch das unnatürliche Verhältnis, da die Mündung bes
Rheins ji in fremden Händen befindet. Diejes Verhältnis ſteht einzig in feiner Art
da. So neigt das ganze weſtliche Deutjichland mit feinem hochentwidelten Verkehr
fremden Häfen zu, und es zeigt fich da ein Zmwiefpalt der nationalen Intereſſen, der auch
durch die geplanten großen Stanalbauten nicht ausgeglihen werden wird. Auf Grund
ihres reichen deutſchen Dinterlandes haben die fremden Rheinhäfen, namentlih Rotterdam
und Antwerpen, einen noch größeren Aufſchwung genommen als die deutichen Nordjee-
häfen Hamburg und Bremen, und man befürchtet von dem Bau des Mittellandfanals in
Hamburg eine weitere Hindrängung der deutfchen Rheinlande zu den fremden Häfen, in dem
man einen neuen Zubringer für die Erweiterung des Nheinverfehrs erblidt. Rotterdam,
Amfterdam und Antwerpen erfreuen ſich ſchon jett im überjeeifchen Mafjenverkehr
billigerer Frachten ald Hamburg, und es ift daher nicht ausgejchloffen, daß die fremden
Häfen den Maffenverfehr mit Weft- und Mitteldeutfchland immer mehr von den Nord-
jeehäfen abziehen, da fie billiger verfrachten fünnen. Wenn die Entwidelung ſich auf
den bisherigen Bahnen weiter beivegt, werden in Fürzefter Zeit Rotterdam und fpäter
auch Antwerpen den Verkehr des deutihen Hamburg überflügelt haben und die erften
Häfen des europäifchen Feitlandes geworden fein. Deutſchland würde dann in nod
höherem Grade als bisher wirtichaftlich von Holland und jeinen Märkten und auch von
Belgien abhängig werden.
Zunächſt wird man in Deutihland darnach tradhten müſſen, dieſer Gefahr au
begegnen durch vermehrte und aud erhöhte Cifenbahnvorzugstarife zu Gunften
der deutfchen Häfen, äußerftenfall® durch Flaggenzölle für den Rheinſchiffahrtsverkehr.
Derartige Maßnahmen follten aber nicht den Zweck haben, das Verhältnis bes Reiches
zu Holland zu verichlechtern, fondern vielmehr die holländiſchen Antereffenten zu drängen,
430 Paul Dehn, Weltwirtſchaftliche Umſchau.
auf eine engere Verbindung ihres Landes mit dem Deutſchen Reiche hinzuwirken, und
zwar auf ein engeres wirtſchaftliches Verhältnis, auf die Schaffung einer Intereſſen
gemeinſamkeit, die es ermöglicht, daß deutſcherſeits in den holländiſchen Häfen nicht mehr
fremde und konkurrierende, ſondern verbundene und zuſammenwirkende Häfen zu erblicken
ſind. Holland hätte unzweifelhaft dabei manches Opfer zu bringen wie Hamburg, als
es ſeine Freihafenſtellung verlor, aber doch noch größere Vorteile zu erhoffen. Holland
würde ſich eine fefte Grundlage für fein weiteres wirtſchaftliches Gedeihen ſchaffen und
vielleicht Bürgſchaft für feine politiſche Unabhängigkeit wie für ſeinen kolonialen Beſitzſtand,
um deſſen Erhaltung ihm angeſichts der Expanſionskraft der modernen Weltmächte bange
werden könnte. in einer handelsſtatiſtiſchen Studie „Holland und ſein deutſches Hinter—
land in ihrem gegenſeitigen Verkehr“ kommt auch Dr. Peter Stubmann zu dem
Schluſſe, daß eine deutſch-holländiſche Zollunion nicht nur für beide Teile gewiſſe wirt:
ſchaftliche Vorteile aufweiſt, ſondern auch kulturell die Vorbedingung iſt für eine ganze
Reihe von tief einſchneidenden notwendigen Verkehrsplänen, insbeſondere auch für die
ausreichende Vertiefung des unteren Rheines zur Herſtellung einer Rhein-Seeſchiffahrt
zwiſchen den deutſchen Rheinhäfen und überſeeiſchen Plätzen. Auch Stubmann erblickt
in einer Zolleinigung mit Holland das einzige Mittel zur Befreiung des weſtlichen
Deutſchlands von den heute wirtſchaftlich unbequemen Ergebniſſen der politiſchen
Entwickelung.
Dazu kommt noch ein Umſtand, der von der Reichsregierung bei der Neuregelung
des Dandelövertragsverhältniffes zu Dolland zur Erörterung gejtellt werden muß. Als
in den fiebziger Nahren Sumatra, das zum Teil aud; mit deutfchem Blute von Holland
gewonnen wurde, mit Hilfe deutfcher Unternehmer und Ktapitaliften aufblühte, als deutjche
Pflanzungen, namentlich Tabakpflanzungen, angelegt worden waren und reiche Erträge
abwarfen, hielt es die holländifche Regierung für zuläffig, ein Gejeß zu erlaffen, wonach
Fremde in Niederländiſch-Indien nicht mehr das Recht haben jollten, Grund und Boden zu
erwerben. Diejes Gejet richtete fich ganz iiberwiegend gegen deutjche Anterefjen, da eng:
fiiche Unternehmer in den niederländiichen Stolonieen nur vereinzelt zu finden waren.
Nur wenn die deutjchen Unternehmer ausſchließlich mit holländiichen Banfen arbeiteten
und fich holländifieren liegen, fonnten fie dem neuen Gejeg entgehen oder aber ſich durch
ein zweifelhaftes Mittel, durch die Vorjchiebung holländiiher Strohmänner, jeinen
Wirfungen entziehen. Holländische Intereſſenten haben infolge dieſes Geſetzes manche
Gewinne gemacht, aber in der Entwidelung der holländischen Kolonieen ift ein Stillftand
eingetreten. Die deutichen linternehmer und Kapitaliften ſuchten andere Gebiete ihrer
Thätigkeit und find erſt in neuefter Zeit wieder auf die niederländifchen Kolonieen auf-
merfiam geworden, insbefondere auf die Inſel Puluway, nördlich von Sumatra, mo
eine nichtengliiche Kohlen: und Dafengejellichaft mit deutfchem Kapital in Thätigkeit
treten joll. Am Intereſſe Hollands läge hier eine Begünftigung deutichen Kapitals oder
mindeftens ein Zujammenmirfen mit deutfchen Kapital, und es it zu hoffen, daß man
in Holland ſich diejer Einficht nicht verichliegt und jenes Geſetz beieitigt, das dem
deutichen Unternehmungsgeift und dem deutichen Kapital in den holländiichen Kolonieen
die Wege verlegte. In einem Feithalten Hollands an jenem deutichfeindlihen Geſetz
müßte bie Neichsregierung eine Unfreundlichkeit erbliden und an Vergeltungsmäßregeln
Baul Debn, Weltwirtfchaftliche Umſchau. 431
denken, denen vechtzeitig vorzubeugen Holland im Intereſſe der Aufrechterhaltung eines
guten Einvernehmens mit Deutichland beftrebt fein follte.
* *
*
Trotzdem Sultan Abdul Hamid lebhaft wünſcht, daß der Weiterbau der klein—
aſiatiſchen Eiſenbahn über Konia hinaus zunächſt nach Biredjek in Angriff genommen
wird, iſt es noch nicht gelungen, eine Verſtändigung darüber zu erzielen. Möglich, daß
ſich in Konſtantinopel, angeſtachelt durch engliſche Ränke, ruſſiſche Einflüſſe gegen den
Bahnbau geltend gemacht haben, weil er geeignet zu ſein ſcheint, das türkiſche Reich
feſter zuſammen zu ſchmieden und ſeine militäriſche Widerſtandsfähigkeit zu ſtärken.
Maßgebend ſind zunächſt aber wohl finanzielle Schwierigkeiten. Die Eiſenbahngeſellſchaft
verlangt eine Bürgſchaft von etwa 14000 Fr. für den Kilometer. Bor dieſer hohen Be—
laftung fcheut man in Stonitantinopel zurück, wird aber wahrjcheinlich zugreifen, wenn
die Gefellichaft der türkischen Regierung mit Vorſchüſſen aus ihrer gegenmärtigen be:
jonders großen Berlegenheit hilft. Unter allen Umftänden wird der Bau der Bahn bis
Bagdad nur langjam von ftatten gehen. Was die Gefellihaft fich ſonſt noch aus-
bedingen will, insbejondere ein Vorredht auf den Bergbau innerhalb einer Zone von je
20 km auf beiden Seiten der Bahn, ferner ein Vorrecht für die Einrichtung von
Dampferverbindungen auf den jhiffbaren Streden des Euphrats und Tigris und für
die Anlage von Binnenhäfen dajelbft ift vorläufig Zufunftsmufif. Von Wert wäre nad)
Vollendung der Bahn, vielleicht jchon vorher, für Deutichland die Ermöglichung einer
unmittelbaren Dampferverbindung zwiichen den deutichen Häfen und den Küftenplägen
des Perfilchen Meerbufens. Bisher vollzog ſich der Verkehr jener Gegenden mit Deutſch—
land über London oder Marfeille mit Umladung in Port Said oder Bombay. Nach
dem Ausbau der Bagdadbahn wird der Verfiiche Meerbufen an Bedeutung gewinnen.
Aus gewiſſen deutjchfeindlichen Streifen Englands heraus machte die „National
Review“ Vorſchläge über eine engliich-ruffifche Verftändigung in Aſien. Rußland und
England jollten darnach gemeinichaftlid; Eifenbahnen in der Richtung vom Kaſpiſchen
Meere zum Berjiihen Golf bauen und fich zugleich verpflichten, am Perſiſchen Meere
feine politiichen Veränderungen vorzunehmen. Was die Engländer mit dieſem Bor:
ſchlag beabfichtigen, haben einige ruffische Blätter zutreffend gekennzeichnet, nämlich die
Bedeutung der deutihen Bagdadbahn zu untergraben, indem fie Kapital zum Pau fon:
furrierender Linien zur Verfügung ftellen. Für die Engländer jei es ein verführerifcher
Gedanke, die Deutichen mit ruſſiſcher Dilfe zurüdzudrängen. Allein für Rußland ſei es
wichtiger, eine Vorzugsftellung am türkiichen Küftengebiet des Schwarzen Meeres zu er-
langen. Sonjt würden die Deutichen auch nad) dorthin ihre Hände ausftreden. Der
Gedanke eines ruffifchengliihen Zufammengehens gegen die Deutſchen rückt weniger die
Klugheit al8 den Deutjchenhaß gewiſſer engliicher Kreiſe ins Licht.
* *
*
Ein Blick auf die Karte Afrikas zeigt, daß die Erſchließung des dunklen Weltteils
dur Eifenbahnen mit Hilfe europäifcher Unternehmer, Techniker und Kapitalien bereits
beträchtliche Fortfchritte gemacht hat. Ende 1896 zählte Afrika nahezu 15 000 km Eiſen—
bahnen und Ende 1%00 rund 18000 km. Berhältnismäßig die meiften Gijenbahnen,
432 Paul Dehn, Weltwirtſchaftliche Umfchau.
rund 8200 km, befigt Südafrika, wo nad) der Entdeckung der Diamant- und Goldfelder
ein großer wirtichaftliher Aufijhwung eintrat. In Algier und Qunefien haben die
Franzoſen bereits 4500 km Gifenbahnen gebaut und im Oftober den erſten Abjchnitt der
fünftigen Saharabahn bis Zubia eröffnet. Die eghptiiche Nilbahn mit ihren Zweig—
treffen im Nildelta umfaßt 3400 km. Daneben find nod; andere Eifenbahnen zu er:
wähnen, die meift, wie die Ugandabahn, von der Hüfte aus ins Innere gehen, vielfad
zu einem Ichiffbaren Fluß oder See, wodurd ihr Verfehrögebiet erweitert wird. Leider
haben die begonnenen deutichen Bahnbauten entiveder, wie in Weitafrifa, auf folchen An-
ſchluß nicht zu rechnen oder aber, wie in Oſtafrika, weite Streden zurüdzulegen, bevor
fie ihn erreichen.
Weitaus am günftigften liegen in diefer Hinficht die Berhältniffe der Kongobahn.
Als König Leopold von Belgien Ende 1878 die Anlage diefer Bahn plante, wurde er
von der Hodfinanz im ftillen verhöhnt, und der Baron Hirſch, der mit den Türfen-
looſen ein glattes und glänzendes Geſchäft gemacht hatte, meinte jpöttiih, man möge
immerhin am unteren Kongo Gleiſe legen, aber die Wagen nicht durch Lokomotiven,
jondern „Durch die Herren Neger ziehen lajien*. Unter großen finanziellen und tech—
niſchen Schtwierigfeiten wurde die Kongobahn gebaut. Als fie aber fertiggeftellt war,
zeigte ſich jogleich ihre verfehrspolitifche Wichtigkeit. Die Kongobahn verbindet das
Meer mit dem Slongogebiet, d. h. mit einem weiten Dinterlande, das von jchiffbaren
Waſſerſtraßen in einer Gejamtlänge von über 10000 km durchzogen wird und nunmehr
aufgeichloffen dalag. Bor Eröffnung der Kongobahn hatte ſich der Verkehr mit dem
Ktongogebiet nicht entmwiceln fünnen, da der Strom bon der Mündung bis zu Stanley:
pool in einer Fänge von 400 km nicht ſchiffbar war, fo daf der gejamte Verkehr durch
Träger bewirkt werden mußte, was durchfchnittlich drei Wochen erforderte. Nach der
Eröffnung der Kongobahn vollzog fich ein gewaltiger Umſchwung. Der Stongoftaat
wurde mit einem Schlage eine überaus wertvolle Befitung und bot für die belgifche
Unternehmungsluft ein weites Feld, jo daß die Brüffeler Börienfpefulation ſich in
Kongo-Gründungen überftürzte.
Was die Gründer des Kongoftaates außerdem ſchon von Anfang an ins Auge
gefaßt hatten, was damals phantaftifch zu fein fchien, ſoll nunmehr hergeftellt werden,
nämlid eine Verbindung von einem Ozean zum andern durch Bahnanjchlüffe vom
oberen Kongo zunächſt nad) dem Albert-Nyanza-See und dem oberen Nil und jodann
unter weiterer Benugung von Wafferftraßen nad; dem Tanganpifa-See. Auch nad) Voll-
endung diefer Zufunftsbahnen wird eine afrifanifche Ueberlandverbindung von Ozean zu
Ozean noch nicht vorhanden fein. Am Tanganyika-See fehlt ein Verkehrsweg zum
Niaffa-See. Dagegen wird die engliihe Ugandabahn (936 km lang, Gejamtfojten
rund 100 Mill. Mark) vorausfichtlid Mitte 1902 eröffnet werden und ihre Fortjegung
nad) dem Albert-Nyanza (260 km) bereit3 geplant. Somit ericheint die Weiterführung
der eberlandverbindung nicht fern zu fein. Wäre es nicht im hohen Grade erwünjcht, wenn
ſie durch Deutſch-Oſtafrika geführt werden könnte, wo man jchon jet die Ableitung des
früheren Verkehrs nad) dem Biktoria-Nyanza merklic; empfindet? Die Bedenken gegen den
foftjpieligen Bau einer deutſch⸗oſtafrikaniſchen Hauptbahn an die beiden Seen find vielfach
begründet und durchaus nicht zu unterjchägen, aber fie treten doch einigermaßen zurüd, wenn
Baul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umschau. 433
man fi vor Augen hält, daß die deutſch-oſtafrikaniſche Bahn feine Sackbahn werden,
ſondern Anſchluß erhalten wird an ein weites Gebiet, das Spielraum für unüberfehbare
Unternehmungen gewährt. Grfüllen die Leiter des SKongoftaates ihre Pläne, woran
faum zu zweifeln ijt, dann fann das Deutiche Reid) faum noch zurücdbleiben, dann
wird ed mit Notwendigkeit dazu gedrängt, auch die deutjch-oftafrifanifche Hauptbahn zu
bauen, will es nicht allen Binnenverfehr von feinem Schupgebiet abziehen und Deutic-
Oftafrifa veröden laſſen. Dagegen würde fih mit Hilfe des Bahnanjdjluffes der
deutiche Unternehmungsgeift von Deutid-Oftafrifa aus mit beſſerer Ausficht auf Erfolg
auh an der Erſchließung des Kongo-Hinterlandes beteiligen fünnen. Angefichts der
großen Eongoftaatlihen Berfehrsunternehmungen gemwinnt der deutich:oftafrifanifche Eiſen⸗
bahnplan doch ein ganz anderes Geſicht und erheiſcht nochmalige Erörterung auch von
einem höheren Standpunkt aus. Gerade gegenüber Verkehrsunternehmungen haben die
Berechnungen im kleinen oft zu ganz falſchen Anſchauungen geführt, wie vor zwanzig
Jahren den Baron Hirich, als er über die geplante Kongo-Eiſenbahn jpottete.
Im Intereſſe des Deutfchen Reiches und feines oftafrifanifchen Schußgebietes
liegt ein Zufammenmwirfen mit dem Stongoftaat bei den geplanten Eijenbahnbauten. Es
handelt fi auf beiden Seiten des Tanganyifa um die Anlage von Eijenbahnftreiten
von annähernd gleicher Yänge, von je 1200 km. Was der Kongoſtaat will, jollte aud)
das Deutjche Reich fünnen. Dagegen wäre eine Anlehnung an den Rhodesihen Eifen-
bahnplan Hap— Kairo bedauerlic; und nachteilig geweien. Diefe Bahn, die nunmehr in
abjehbarer Zeit wohl nicht gebaut werden wird, hätte niemals eine Dafeinsberechtigung
gehabt, da fie von der überlegenen Konkurrenz des Seeweges erdrüdt worden wäre.
Und hätten die Engländer wirklich aus politiichen Gründen durchgeführt, was wirt-
ſchaftlich nicht gerechtfertigt gewefen wäre, jo wilrden fie das neue Verkehrsmittel nur
benugt haben, um das kecke Rhodesſche Wort „Afrika enaliih vom Kap bis zum
Nil!“ durchgufeßen und die Deutichen aus ihrem oftafrifanifshen Schutgebiet zu
verdrängen.
* *
*
Eine weltwirtichaftlihe Neuheit ift die Abwicklung des chinefiihen Kriegsent-
ihädigungsgefchäftes. China hat ſich in Artikel 6 des SFriedensprotofolls verpflichtet,
an die Mächte eine Entjchädigung von 450 Mill. Taels (rund 1350 Mill. Mark) zu
zahlen innerhalb 39 Jahren, in halbjährlihen Raten mit 4 pCt. verzinslid. Um dieje
Zahlungen zu ermöglichen, willigten die Mächte ein, daß China feine Zölle auf 5 pCt.
des Wertes der Waren erhöhte, auch die zollfreien Grzeugniffe mit einem fünf:
progentigen Wertzoll belegte und endlich einzelne Eleine Binnengolleinnahmen abtrat.
Wenn fein Zmifchenfall eintritt, wird vorausfidhtli das Geihäft glatt abgemidelt
werden, denn die überwieſenen Einnahmen werden von der chineſiſchen Seegollverwaltung
erhoben, die eine ziemlich jelbjtändige europäifche Behörde ift, allerdings überwiegend
unter engliſchem Einfluß fteht. Diefe Behörde erhebt, was fie jchon bisher gethan hat,
die chineſiſchen Seezölle, vereinnahmt auch die übrigen ihr überwiefenen Steuern und
führt die eingehenden Beträge an die berechtigten Staaten nah Maßgabe ihres An-
teils an der chinefifchen Sriegsentfchädigung ab. Auf Deutichland entfallen etwa
20 Mill. Mart.
28
434 Baul Debn, Weltrirtfchaftliche Umſchau.
Die geldbedürftige franzöfiiche Regierung will den franzöfiichen Anteil in Höhe
von 267 Mill. Francs benugen, um auf Grund der chinefiichen Annuitäten eine neue
dreiprozentige Rente in Höhe von 210 Mill. Francs auszugeben. Wahricheinlich wird die
Volksvertretung diefen Vorſchlägen zuftimmen, denn es wird dadurd die Ziffer der
öffentlihen Schuld nicht erhöht und der Steuerzahler nicht belaftet. Stoden die
chineſiſchen Zahlungen, dann allerdings ändert ſich die Sache, und die franzöſiſche Kaffe
muß für die Berziniung aud; der neuen Renten einftehen. Dieje eigentümlidhe
Operation ift ein Zeugnis für die Höhe der Finanzkunft, nicht für die Höhe der
Finanzpolitik der republifanischen Regierung. Das Deutjche Reich wird diefen Weg
nicht betreten. Dagegen verlautet von Rukland, dat es feinen Anteil an der hinefiichen
Kriegdentfchädigung auf dem Barijer Markt flüffig madjen möchte.
Bei genauerem Zuſehen ergiebt fich übrigens, daß es die Europäer in den
hinefiihen PVertragshäfen find, die den mwejentlichen Teil der chinefiichen Kriegsent—
ihädigung aufzubringen haben werden. Denn gerade die europälfhen Waren, die fie
mit Vorliebe bezogen und verbrauchten, waren bisher zollfrei, wie Mehl, Biskuits,
präjerviertes leifh und Gemüſe, Käſe, Butter, Zuckerwaren, Kleider, Juwelierwaren,
Parfümerien, Seife, Kerzen, Tabak und Zigarren, Wein, Bier und Spirituoſen, Haus—
geräte, Papier, Tapiſſerie, Meſſerſchmiede- Glas- und Kriſtallwaren und endlich
Arzneien. Die genannten Waren gingen bisher zollfrei nach China, weil fie gar nicht
in das Land famen, fondern von den Europäern in den Bertragshäfen verbraudt
wurden. Dieje Annehmlichkeit hört nun auf. Auch die Europäer in den Bertragshäfen
müjfen 5 p&t. Zoll zahlen und hierdurd einen fehr erheblihen Beitrag leiften zur
Abzahlung der chineſiſchen Kriegsentihädigung an die europäifhen Mächte einfchließlich
der Nordamerifanifhen Republif.
herbſtſtimmung.
PHerbſttriſch die Lutt; im kahl gewordnen Wald
Mit bleichem Glaſt gebäufte Blätter glänzen,
Ein bauch ftreift drüber wie von Totenkränzen,
Dies bimmelblau wie matt, wie Aimmernd halt!
Verfchüchtert fpielt Kanincbenbrut am Pfad:
Die Welt im Sterben zeigt fo fremde Züge!
Sie merkt verwirrt: Die Sommerluft war Lüge,
Und weıifz3 noch nicht, daſz einmal Frübling nabt.
Aus „Bedichre* von Biktor Blüthgen. Neue vermehrte Ausgabe.
(Berlin, G Grote'fche Verlagebuchhandlung 1901 )
DIdIaiedi
SSIESILSIL SIT SIT SIE DIE >17 21721727)
Deutictum im Auslande.
Von
Paul Dehn.
Deutjche Schulen im Auslande. — Sparlaffen für Deutiche im Auslande — Nationale In—
duſtrie⸗ und Handelsſchulen in Amertfa und fonft im Auslande. — Vom Deutichtum in
Rordamerifa.
Deutſche Schulen im Auslande. Der Reichszuſchuß für die Erhaltung deutſcher
Schulen im Muslande betrug vor einigen Jahren nur 60000 M. jährlih und wurde
dann auf Antrag des Abg. Hafle wiederholt erhöht, zuerſt auf 100000 M., 1898 auf
150000 M. und beläuft ſich gegenwärtig auf 300000 M. Das ift verhältnismäßig
wenig, wenn man in Betradht zieht, dah Italien für diefen Zweck jährlic) 800 000 M.
und Frankreich 640 000 M. verwendet. Dabei find unzweifelhaft im Auslande weit mehr
Deutiche als Italiener und Frangojen anzutreffen.
Die Berwendung des gedachten Zufchuffes hängt von dem Ermeſſen der Reid)s-
regierung ab. Doc wird hoffentlich bald die Notwendigkeit erkannt werden, daß die
Reichöregierung die Oberaufficht über die deutjchen Schulen im Auslande übernimmt,
Fachmänner zur Inſpektion diefer Schulen entjendet und einen Beirat geeigneter Sad):
verftändigen beruft, um das Bedürfnis nad) Unterftügung deutſcher Schulen im Aus:
lande im allgemeinen und jodann von Fall zu Fall einer Prüfung zu unterziehen,
Spitem in die Sache zu bringen, eine Zeriplitterung der Kräfte zu vermeiden und nötigen:
falls auch eine weitere Erhöhung des Zuſchuſſes in Vorjchlag zu bringen. Die Grund»
lage der Erhaltung des Deutichtums im Auslande befteht in der Schaffung und För—
derung deutjicher Schulen. Auch der Verein für deutiche Auswandererwohlfahrt hat eine
ausgiebigere dauernde Unterſtützung folder Schulen durch das Reich befürwortet. Das
deutihe Schulweſen im Auslande iſt von jolcher Bedeutung, daß es nicht nur vom Neid),
jondern aud) von den Ginzelftaaten und nicht zuletzt aud) durd) freie Opfermilligfeit der
Deutichen im Reiche wie im Auslande unterftübt werden jollte.
Wie unterftügungsbedürftig jelbjt verhältnismäßig günftig gelegene Schulen find,
zeigt das Budget der deutihen Schule in Brüffel. Im Jahre 1900 betrugen die Ein-
nahmen diejer Schule an Schulgeldern 22984 Fr., an freiwilligen Spenden 17311 Fr.
an Beiträgen der 287 Schulvereinsmitglieder 11149 Fr. und an Reichszuſchuß
12340 Fr. Dagegen belaufen fih die Ausgaben einichlieklich 47000 Fr. für Lehrer:
gehälter insgeiamt auf 73118 Fr., jo daß troß all der Unterftügungen noch immer ein
Fehlbetrag von mehr als 8000 Fr. verblich.
8*
436 Paul Debn, Dentichtum im Auslande.
Auf ähnlicher Grundlage wurde 1898 Die deutſche Schule in Athen errichtet.
Freiwillige Spenden erbrachten 45 000 M. und der dortige Schulverein mit 108 Mit-
gliedern fteuerte 1800 M. dazu bei. Das Deutiche Reich giebt einen Zuſchuß von an-
nähernd 3000 M., der aber jedes Jahr neu erbeten werden muß und wie ein Almojen
ericheint. Iſt es nicht geradezu eine Pflicht des Neiches, derartige Anftalten mit aus:
reihenden Mitteln zu verjehen?
Anfang September wurde in Schanghai das Gebäude der deutichen, 1894 be-
gründeten Schule eingeweiht, die gegenwärtig iiber 40 Schüler zählt. Die Eröffnungs-
rede hielt der Vorſitzende des Schulvorftandes, der Generalfonjul Dr. Knappe. Für
diefe Schule hat das Dffizierforps der deutichen Beſatzungstruppen eine jährliche Bei-
hilfe von 1200 M. bewilligt.
Es kann nur eine frage der Zeit fein, dak für die wachjende deutiche Bevölkerung
aud in Tientfin, Singapore, Penang, Nagaſaki, Tokio, Kobe u. |. w. deutiche Schulen,
und zwar aud) höhere, Schulen errichtet werden, da es für die betreffenden Eltern doch
zu unerwünfcht und fojtipielig werden würde, ihre Kinder zur Ausbildung nach Deutich-
land zu jenden.
Nach einer Mitteilung aus Buenos Aires hat fich daſelbſt ein Allgemeiner
deutſcher Schulverband für Argentinien gebildet mit der Aufgabe, das Deutichtum da-
durch zu erhalten, daß er die deutjche Sprache pflegt, deutſchen Geift und deutihe Er-
aiehung fürdert. Außerdem will er jämtliche Tonfeffionslofe und paritätifche deutjche
Sculvereine Argentiniens wie der übrigen Länder Südamerikas zuſammenſchließen und
einen Lehrerpenfionsfonds gründen, damit diejenigen Erzieher, die an den deutſchen
Schulen in Südamerifa mitgewirkt haben, für den Berluft ihrer Penſionsanſprüche in
der Heimat entfhädigt werden fünnen.
Da in der Regel die deutichen Lehrer im Auslande nicht genügend fichergeftellt
find und nad) wenigen Jahren in die Heimat zurüdfehren, jo verdient die Anregung
von Heinrich Lemde in Merifo Beachtung, den deutſchen Schulen im Auslande die Er-
laubnis zu erteilen, daß deutjche Lehrer Stellungen an den Schulen deuticher Kolonieen
im Auslande annehmen dürfen, ohne ihre Penſionsrechte im Deutjchen Reich zu verlieren.
Hierdurdy würde der leidige Lehrerwechſel an den deutfhen Schulen im Auslande ver-
mieden und ihnen in einem wichtigen Punkte Förderung zu teil werden.
Inzwiſchen hat der preußijche Kultusminifter angeordnet, daß im Intereſſe der Er:
richtung und Erhaltung deutjcher Schulen im Auslande Anträgen auf Uebermweifung von
Yehrern dahin thunlichft entgegenzufommen jei. Doch ſollen nur tüchtige und zuverläffige
Vehrfräfte ausgewählt werden. Wird der betreffende Lehrer nur beurlaubt, fo ift ihm
die Zeit bei feinem Rücktritt in den heimifchen Ecyuldienft anzuredinen. Erſcheint die
Beurlaubung nicht angängig, fo kann dem betreffenden Lehrer die Wiederzulaffung zum
preußiichen Schuldienft nach der Rückkehr aus dem Auslande in Ausficht geftellt werden.
Doc gilt diefe Verordnung nur für die öffentlihen Schulen in den deutjchen Kolonieen
jowie für die vom Reiche unterftüsten Schulen im Auslande, während die übrigen
deutichen Schulen im Muslande als Privatichulen anzujehen find. Infolge diefer Ver—
ordnung werden naturgemäß alle deutichen Schulen im Auslande beftrebt fein, vom
Reiche eine Unterjtügung zu erlangen, ſchon um tüchtige Lehrkräfte aus dem Reiche
Baul Debn, Deurfchtum im Auslande. 437
heranziehen zu können. Das mag die Verordnung des preußifchen Kultusminiſters nicht
beabjichtigt haben, wird fie aber bewirken.
Notwendig ift aud die Errichtung einer Auskunftsftelle für die deutichen Schulen
im Auslande, etwa im Anſchluß an den angeregten Beirat in Berlin. Wenn irgendimo
im Yuslande, namentlih in überjeeiihen Gegenden, die Deutfchen fih zufammenthun
und eine Schule gründen, dann ift e8 in der Regel für die betreffenden Herren feine
leihte Sache, die erforderlichen Lehrmittel und Schulbücher zu beihaffen. An gejchäft-
lihen Anpreijungen fehlt es zwar niit. Aber man wünjcht doch überall und gerade in
joldhen deutjchen Schulen das Zweckmäßigſte und Praktifchfte zu haben, man möchte in
diefer Hinficht Fragen ftellen und von einer vertrauenswürdigen und befugten Seite
‚Auskunft erhalten. Iſt eine ſolche Auskunftsftelle eingerichtet, jo wird ſich bald heraus:
ftellen, wie vieljeitig und erſprießlich fie wirfen kann.
Im italieniihen Minifterium des Auswärtigen beiteht ein Generalinfpektorat
der italienischen Schulen im YAuslande, das ſummariſche Berichte iiber die Verwendung
des Zujchuffes erftattet. Darnach wurden im Jahre 1900 aus dem Zuſchuß 79 italienijche
Schulen im Auslande ganz erhalten und unterjtehen der genannten nipeftion, außer:
dem wurden 320 unterſtützt. Die meiften diefer Schulen befinden ſich in der Levante, in
der europäiichen und aſiatiſchen Türkei, in Eghpten, Tripoli8 und Griedjenland, einige
auch in Amerika.
Sparfafien für Deutfhe im Auslande. Die Verwaltung der franzöfifchen
Poſtſparkaſſe bejitt Zweigstellen auch bei den franzöſiſchen Poftämtern im Nuslande,
insbejondere in Alerandria, Bort Said, Smyrna, Beirut, Konftantinopel, Salonifi und
Tanger. Ende 1899 betrugen die Einlagen in Port Said 435 000 Fres. und in Alerandria
254 000 Fred. Selbitverjtändlich bejtchen auch ſolche Zweigſtellen bei den Boftämtern
in den franzöfiihen Kolonieen. Unter Hinweis darauf hat Dr. Schachner in der
„Sozialen Praxis“ angeregt, ähnliche Einrichtungen aud für die Deutfchen im Auslande
zu jchaffen. Das Deutjche Reich hat nun zwar ebenfalls Boftämter in jeinen Stolonieen,
auf türfiichem Gebiet und in Oftaften, farın aber dieje nicht ohne weiteres zu Annahme-
jtellen für Spareinlagen maden, da es befanntlih zur Schaffung von Reidhspoftipar:
kaſſen in Deutichland noch nicht gekommen ift. Zu erwägen wäre vielleicht die Ein-
richtung von Annahmeitellen für Spareinlagen bei deutichen Konfulaten in geeigneten
Bezirken des Auslandes etwa, wie Schachner vorjchlägt, unter Mitwirkung der anſäſſigen
Deutjchen im Auslande nad dem Syſtem der deutichen Gemeindeiparfafien. Jedenfalls
ift die Schaffung von Sparfaffen für die Deutichen im Auslande mwünfchenswert und
würde geeignet fein, die Beziehungen zwiſchen dem Deutjchen Reiche und jeinen Ange:
hörigen im Wuslande feiter zu fnüpfen. Nachahmenswert it ferner die franzöſiſche
Einrichtung von Zweigſparkaſſen an Bord der franzöfiichen Kriegsſchiffe. Die Ange:
hörigen der franzöfiichen Flotte fünnen ihren Zold diejen Kaſſen übergeben, die nad
Auftrag gewiffe Beträge in die Heimat übermitteln. Die Einzahlungen bei den franzö-
ſiſchen Marineſparkaſſen beliefen ji) ım jahre 1899 auf 887 000 res.
Nationale Induſtrie- und Handelsſchulen in Amerika und jonft im
Auslande. Beachtensmwert ericheint der Plan des franzöſiſchen Handelsminifters
Millerand, in einer geeigneten Stadt der Nordamerifanischen Republif eine franzöftiche
438 Paul Dehn, Deutfhtum im Auslande.
Induſtrie⸗Akademie zu ſchaffen ähnlich denjenigen, die in Rom für frangöfiiche Künftler
und in Athen für franzöfifche Gelehrte beftehen. Es follen nicht mehr einzelne Send:
linge nad} den Vereinigten Staaten zur Ausbildung geſchickt werden, jondern Zöglinge
der verfchiedenen techniichen Hochſchulen FFranfreichs in größerer Zahl und gemeinjam
in die geplante Induſtrie-Akademie. Nach ihrer Ausbildung würden dann dieje Zöglinge
in ihrem Vaterlande verwerten fünnen, was fie in Nordamerika gelernt und beobachtet
haben. Der frangöfiiche Handelsminifter fol jogar die Einrichtung franzöſiſcher
Handelskurſe in den veridhiedenen Dauptjtädten des Auslandes erwägen, damit Die
jungen frangöfiichen Kaufleute Gelegenheit haben, die Fortichritte des Handels und der
Anduftrie in den betreffenden Staaten und Städten eingehend zu jtudieren. Dieje
Gelegenheit jelbft zu fuchen und ſich über die Dandelsverhältniffe des Auslandes zu
unterrichten, find die deutichen Kaufleute erfreulichermeife im allgemeinen aus eigenem
Antrieb beflifien.
Vom Deutſchtum in Nordamerifa. Schon jeit Nahren zeigt fid) unter den
Deutichen Nordamerikas das Beftreben, alle Stammesgenofjen in der Republif zu einer
aroßen, Achtung gebietenden Vereinigung zufammen zu faffen. Im Frühjahr 1899 hielten
Vertreter und Mitglieder von mehr als 300 deutjchen Vereinen und Gejellihaften zu
Chicago eine Berfammlung ab und beauftragten den Organifationsausihuß, eine fefte
Vereinigung aller Deutjch-Amerifaner zu jchaffen. Damals war in Nordamerifa eine
bedenkliche Deutichenhete zu beobachten, angeftachelt von englifher Seite und betrieben
von den nordamerifanifchen Smperialiften und Chauviniſten. Diefe Kreife juchten Un—
frieden und Feindſchaft zwiſchen Deutschland und Nordamerika hervorzurufen. In Chi—
cago wendete man fich zunächit gegen diefe Feinde und Neider der Deutfhen. Wilhelm
Bode wies darauf hin, daß Preußen und fpäter das Deutjche Reid) ftet3 treu zu Amerika
hielten, während England geradezu als der Erbfeind der Union zu betrachten jei, Wil:
helm Rapp erhob Einſpruch gegen den Verſuch, das amerifaniiche Volk zu einem angel:
jächfifchen zu ftempeln und zu einem Helfer Englands zu machen. Nicht England,
fondern ganz Europa, jagte man, ift dad Mutterland aller weißen Bewohner der Ber-
einigten Staaten. „Wir wollen deshalb nicht nur mit Deutichland, das ſeit 120 Jahren
unfer Freund war, gute Beziehungen unterhalten, jondern mit allen Bölfern Wir
wollen weder mit England noch mit irgend einem anderen Staate ein Bündnis fließen.“
Mitte 1900 wurden auf einer Beiprehung in Bhiladelphia die Grundfäte des „Deutſch—
amerifanifhen Nationalbundes der Vereinigten Staaten“ aufgeftellt, und nadı
längeren Verhandlungen fchritt man am 6. und 7. Oftober 1901, an dem deutichen
Tage, dem Jubeltage der Gründung der erjten deutichen Niederlaffung in der neuen
Melt zu Germantomwn, zur Bildung des Deutich-amerifanischen Nationalbundes. Nach
den bereit früher vereinbarten Grundfägen will der Bund das Einheitögefühl in der
Bevölkerung deutichen Urfprungs weden und fürdern, die Deutjchen zentralifieren und
organifieren, jo daß fie ihre Macht ausüben können zum Schuge ſolcher berechtigter
Wünſche und Intereffen, die dem Gemeinwohl der Republif und den Rechten und
Pflichten guter Bürger nicht zuwider find. Der Bund will die nativijtiichen Uebergriffe
abmwehren und die Pflege und Sicherung guter und freundichaftlicher Beziehungen Amerikas
zu dem alten deutichen Vaterlande anftreben. Im Wdoptivvaterlande will der neue
Paul Dehn, Deutfchtum im Auslanbde. 439
Bund feinen Staat im Staate gründen, jondern er erblidt in der Zentralifierung der
deutichen Bevölkerung die beite Gewähr für die Erreichung feiner Ziele. Der Bund
forderte zugleich alle deutſchen Vereinigungen, dieje organifierten Vertreter des Deutfch-
tums, zur Mitwirkung auf und befürmwortete die Neubildung von Vereinigungen zur
Wahrung der Intereſſen der Deutich-Amerifaner in allen Staaten der Union und zu
ihrer ſchließlichen Zentraliftierung in einem großen deutjch-amerifaniichen Bunde. Allen
deutichen Bereinigungen wurde die Ehrenpflicht auferlegt, der Organijation in ihrem
Staate beizutreten.
Unter den bejonderen Beitrebungen des Bundes find hervorzuheben die Einführung
des deutjchen Unterrichts in allen öffentlichen Schulen, die Erwerbung des amerifanifchen
Bürgerrechts ſeitens aller Deutjchen, damit fie ſich möglichit rege am öffentlichen Leben
beteiligen können, die Gründung deutjcher Fortbildungsvereine und Veranftaltung deuticher
Vorträge. Außerdem mill der Bund mit Hilfe deuticher Theatervereine in den Haupt:
ſtädten des Yandes eine deutſche Schaubühne fihern. Die nächſte Verſammlung foll 1903
in Baltimore abgehalten werden.
Bon großer Wichtigkeit ift die Forderung nad) Einführung des deutjchen Unterrichts
in allen dffentliden Schulen. Nah der Statiftit des „Deutich-amerifanifchen Lehrer
bundes“ ift der deutjche Unterricht in den nordamerifanifchen Schulen durchaus un-
genügend. Dazu tritt nod) die beflagenswerte Gleichgiltigfeit der eingewanderten Deut:
ſchen gegen ihre Mutterſprache. In Chicago meldeten ſich 1899 40000 Schüler zum
deutichen Unterricht, darunter 15000 Finder von deutichen Eltern, 12200 Slinder von
anglo-amerifanifhen Eltern und 12800 Kinder anderer Nationalitäten. Dagegen bilden
die Deutichen rund 37 pCt. alfo mehr als ein Drittel der Gejamtbevölferung GChicagos.
Unter den 304000 Schulkindern Chicagos mußten daher mehr als 100000 deuticher
Herfunft fein. Und dennod) meldete ſich nur ein Siebentel diefer Zahl zu den deutſchen
Vehrjtunden, jo daß annähernd ſechs Siebentel der deutſch-amerikaniſchen Kinder in Chi:
cago ohne deutichen Unterricht aufwachien! In anderen Gegenden dürfte dies Ber:
hältnis noch trauriger fein. Im Nerv York-Brooklyn nahmen 1898 unter 186 000 Schul:
findern nur 8100 am deutichen Unterricht teil!
Es ift ſehr verdienftlich, dat fich in Nordamerika endlich ein deuticher National:
verein zur Urganijation und Vereinigung der zeriplitterten deutichen Kräfte gebildet hat.
Man darf annehmen, dat 8 Millionen Bewohner der Republif deutjcher Geburt find
und etwa doppelt jo viel deuticher Herkunft. Hoffentlich gelingt e8 dem neuen Bunde,
zunächft die führenden Geiſter umfich zu fammeln und jodann das nationale Bewußtſein in den
Deutichen Nordamerifad wieder mehr zu erweden. Welhe Wege der Bund zu be:
ichreiten hat, um dieſes höchſte Ziel zu erreichen, werden feine Leiter jelbit am beften
wiffen. Nur in einem Punkte jei eine Mahnung von reihsdeuticher Seite geftattet. Die
Einführung des deutjchen Unterrichts in allen öffentlichen Schulen ift gewiß als Ziel
auf innigfte zu wünſchen, aber ein fernes Ziel, in abjehbarer Zeit vielleicht unerreic-
bar. Aus diefem Grunde möchten wir den Yeitern des neuen Bundes anempfehlen, fich
nicht mit einer bloßen politiihen Agitation zu begnügen, jondern diefer Agitation
vorzuarbeiten durh Schöpfungen aus eigener Kraft, durch Gründung und Unterftüsung
von deutichen Schulen überall da, wo eine ausreichende deutiche Bevölkerung vorhanden
440 Baul Dehn, Deutjhtum im Auslande.
ift, durch die Bopularifierung diefer Schulen bei den Bewohnern deuticher Herkunft, alles
in allem durch die Organiſation deutjch-amerifanijcher Schulvereine, die fich diefer
überaus wertvollen leinarbeit unterziehen.
An der Wiege des Deutfchtums in Nordamerika, in Philadelphia, wo eine Piertel-
million Deutiche wohnen, wurde am 1. Dftober das Deutiche Theater mit „Egmont“
eröffnet. Es fteht unter dem Schuß des Deutichen Theatervereind, der Abonnements
im Gefamtbetrage von 14000 M. monatlich und einen Grundftod von 24000.M. zu:
jammenbradite. Unter den 1225 Abonnenten befinden ſich 40 deutiche Vereine. An der
Spite des Deutſchen Theatervereins fteht Dr. Heramer, der Borfigende der Deutjchen
Geſellſchaft von Pennſylvanien.
R
Kinderlos.
lein Almet ist ein füfses Ping,
Ein fcböner Kind gabs nie.
So flattrig ift Rein Schmetterling
Und fo ſchwebend zterlich wie fie,
Sie fpringt durch die Zimmer im
weifzen Rock,
keine Schneeflocke tanzt fo bold;
Im Macken wufcelt ibr Blondgelock,
Und die Sonne beftäubt es mit Gold.
Sie bat ein Geſichtchen wie MWilch und
Blut
Und lächelt fo lieb und fo fchlau,
Und das Räschen zuckt ibr vor Ueber=
mut;
Ihre Augen find kornblumblau.
Sie bat eine Stimme wie beimchben im
Gras,
Wie der Wach über Kieſel rinnt.
Und fagt fie dies, und frägt fie das —
Drauf käme kein ander Kind.
Wir wandeln die Straſzen auf und ab;
Klein Almet braucht vielerlei,
Das Biedlichite, was es zu kaufen gab,
Wir fuchtens ibr aus, wir zwei.
Zu Weihnacht bekommtfiederkleidchen
zwölf —
Und Zäckcben! — und Pütchen! — und
Schub!
Und Spielzeug giebts für die kleine EI —
Drei Wagen braucht cs Dazu.
Und kommt uns ſolch blondes Wunder
kind,
Dafz alles ficb umdrebt und lacht,
Danntreffenfich unfere Augen gefb wind
Und wir baben an Almet gedacht ...
klein Almet ift unfer Glück und Sram;
Kein Auge fonft wird fie febn,
Ihr Stimmilein kein andrer Wenſch ver⸗
nabm,
Es kann kein Wunder gefcbebn.
Mur wenn das Zimmer im Zwielicht liegt,
Und die Stille atmet im Raum,
Und eins fi ſchweigend ans andere fchmiesgt,
Dann fpielt fie Durch unfern Traum.
Aus: Viktor Blütbgen. Gedichte. G. Brote'fhe Sammlung von Werken zeitgenöſſiſcher Schriftfteller. Band LXXIV.
Litterariihe Monatsbericte.
Von
Carl Bufie,
Ei" ftarfes Talent muß jeder Mann haben, der zum Volke jpriht — das Talent
„ an Gott und Menjchen zu glauben und den Sieg der Gerechtigkeit und Freude zu
erhoffen. Hätte jemand alle Talente, aber dieſes nicht, dann müßte er jchmeigend ſich
zurückziehen in eine dunkle Höhle, um zu grollen und zu verzagen. Die irdiihe Wahr-
heit ift ernft genug, aber fie verträgt es recht gut, von dem Sonnenſchein der Poefie
beleuchtet zu werden, ohne daß fie unmahr wird. Die Welt iſt rei an Niedertradht
und fie ift reih an Größe und Schönheit. Nur darauf kommt es an, was wir Poeten
liegen laffen oder auflefen.“
Beter Rofegger, der alte Waldbauernbub, jpricht fi) aljo in feinem neueften Buche
aus. ALS er anno 1900 ftatt Waldſonnenſchein und der üblichen „fteierifchen, bahrifchen
Diandl juchheiraffa“ feinen Freunden religiöfe Belenntniffe und Geftändniffe be-
icherte, gab es, wie er erzählt, einiges Kopfichütteln, dat der mweltfrohe Waldgejchichten:
mann ein Schwärmer und Stopfhänger geworden fei. Da fühlt er gleichjam die Ver-
pflihtung, ſich zu rechtfertigen. Und er verſpricht: „So lange Gott mir mein Himmel-
reich bewahrt, joll es in meinen Büchern feine Kopfhängerei geben, fondern möglichit
viel Freude und Sonnenſchein.“
In alledem ſteckt ein matürliches und gejundes Empfinden, das litterariich noch
nicht verfränfelt ift. Wir haben jo fehr wenig Dichter, die Freudenbringer find, mas
zuletzt doch eigentlich alle Poeten jein follten; es ift jo jelten, daß eine große Begabung
auch eine glücdliche ift. An den Kleinen lebt das fichere Gefühl dafür, daß echte Kunſt
das Lebensgefühl nicht vermindern, jondern fräftig erhöhen müſſe. Es lebt im Volke.
Es ift nur em Ausflug diefes Gefühle, wenn jo und jo viele, gerade der im Bolfe ver:
breiteten Zeitjchriften und Zeitungen „gute, befriedigende Schlüffe“ der Erzählungen zur
Bedingung mahen. Man wird gewiß vom litterarifchen Standpuntt darüber jpotten
können. Aber auch diefe Medaille hat eine gute Kehrſeite. Sie lehrt und erzählt, daß
in unfern Volksſchichten noch ein jo — ich möchte jagen: moralifch ficheres naives Gefühl,
nod jo viel Kraft und Glauben lebt. Und das ift doch jchliehlich mehr wert als alles
andere. Man muß diefes Gefühl im Wolke ftärken, und jeder Volksbildungsapoftel, der
nicht in erfter Linie darauf ausgeht, hat von vornherein verjpielt und jchadet mehr, als
er nüßt. Es giebt furiofe Leute darunter, die das Volk durhaus zu Hebbel erziehen
wollen oder ihm — das ift Thatfadhe! — an „Bolksbildungsabenden“ Dehmel, Mombert
442 Carl Buſſe, Litterariſche Monatsberichte.
und moderne Symboliften vorfegen. Aber ich hatte ſtets den fegeriichen Gedanken, dak -
etwa der alte Hadländer für die vom Tagewerk Müden nicht nur viel unterhaltender,
jondern auch viel wichtiger, nüßlicher und beffer zu lejen fei als der dunfle, ftetö auf der Jagd
vor ſich jelbit begriffene Hebbel. Je kleiner und dürftiger die Hütte, um jo mehr Eonne
muß hinein! Der geringite Strahl iſt beffer als der gewaltigfte Schatten. Das wird
gerade jetzt, wo taufende bei der Arbeit find, die Kunſt ins Volk zu tragen, viel zu jehr
überfehen. Wir haben nur wenig, was den Hütten ebenjoviel Freude macht wie uns.
Zu dem Wenigen gehören die Bücher des Krieglacher Poeten.
Schon deshalb mühte man dem Himmel für Rofegger dankbar jein, ob man auch
jonft dies und jenes wider ihn auf dem Herzen hat. Was der Wald ihm zugeraufcht,
das hat wie der Wald felbit etwas Freies und Befreiendes, etwas Friſches und Herz:
fröhliches. Tannengerucd und Waldjonnenichein ift immer nod) was Belferes als die feinjte
Seelenanalyje, und dafür macht die FFenfter der Armen auf! Licht und Gejumdheit
fommt mit den beiden in die Stuben, ein ferniger Frohſinn, der jtählt und das Yebens-
gefühl erhöht. „Nur mit ein bischen Freude,“ fingt Conrad Ferdinand Meyer, „heilt
man ein zerrifines Herz.“
„Sonnenſchein“ jchlehthin nennt der fteieriihe Volksdichter fein neueftes Bud).
(Leipzig, Staadmann 1901.) Eine Geichichtenjammlung, wie Rojegger deren viele her:
ausgegeben — nicht die befte, aber erfreulich wie jede. Man fennt feine Art, man
fennt ungefähr die Geftalten, die er am liebften hat, aber wenn er ein paar dieſer
Prachtkerle von neuem herausholt, erftaunt man immer wieder. Die kräftige Art, wie
er zupadt, die gemütvolle Treuberzigkeit und Eigenheit, mit der er plaudert, der goldne
Humor, der plöglich dagwiihen aus einem Sabe wie rechter Himmelsſonnenſchein her-
ausichaut — — es ift fchwer, den Waldbauernbuben da nicht lieb zu haben. Wenn
man dieje Geſchichten lieft und das Bud zuflappt, weiß man faum, was man da
eigentlich gelejen hat, aber man weiß, daß es jchön war und daß im Herzen eine
Wärme zurücdblieb. Grad’ wie man durd den Wald geht und froh wird, ohne zu
wiſſen warum. Es ift auffallend, dat die Rojeggerichen Skizzen immer jchöner werden,
je weniger Dandlung drin ift. „Die Komödie des Todes“, ftofflich vielleicht die reichfte
des Bandes, ift gleichzeitig dichteriich die ſchwächſte. Ganz herrlich aber ift im „Wald—
jonnenjchein“ der Holzfnecht Riedel mit jeiner „Lebensjühigfeit“, der einäugigen Slellnerin
im Interthal. Und lange hält das Herz die Geſchichte von den drei Kreuzhütten—
Buben“ feit, die ihre alte Mutter pflegen — das Hohelied der Kindesliebe, das getränft
voll ift von ſchlichteſter Schönheit und Poeſie. Was thuts, wenn daneben auch mal ein
Pflänzchen Unkraut gedeiht? Ich jagte jchon, die ftofflich ärmften Erzählungen feien
die beiten; Roſegger muß nit eine oft wenig glaubwürdige Fabel vorwärtstreiben
wollen, er muß „plaujchen“ fünnen. Manchmal giebt® dann wohl eine Verlegenheits:
ifigze, jo als ob er nicht recht gewußt hat, was er eigentlich jchreiben fol. Aber dann
erfreut eine artige Wendung mitten drin oder eine feine Bointe am Schluffe. Ob man
hintereinander gerade viel jolcher Rojeggerihen Waldbücher leſen kann, iſt eine andere
Frage. Und eine zweite: ob der alte Waldbauernbub nicht manchmal ein ganz, ganz
Hein bischen gar zu ſehr „Waldbauernbub” jein will gegenüber den „Hölljafra, den
Herriſchen“ und leife übertreibt und unterftreicht, wie der Tiroler, der vorm Publikum
Carl Buſſe, Yitterarifche Monatöberichte. 443
fteht, der der bewußte Tiroler wird und immer zu jagen jcheint: Bin ich nicht ein gang
prächtig treuherziger Bub, holdrio? Aber die Worte find für die leile Empfindung
ihon zu fchmer; fie jollen aud; niemandem die Freude verfümmern an diefem „Sonnen
ihein“ und an dem fteierifchen Dichter, der weltfreudig die Höhen liebt und die Tiefen
fennt, der heiter ift, ohne feicht zu fein, der in Schönheit und Harmonie ſchafft, aber
auch Kraft und Knorren hat.
Die Knorren hat Adolf Wilbrandt nicht; er hat nichts Bäuerifches; er ift dem
Waldbuben -gegenüber der Kulturmenſch; er ift mehr Bildungs- als Volksdichter. Ein
feiner, ftiller, einfamer ®oet, den man ungerechtermweile immer an Paul Heyſes Rod:
ihöße hing, ob jeine ganze Art in vielem auch der Heyſeſchen entgegengefekt ift. Um
ihn als Romanfchriftiteller fennen zu lernen, muß man ben „finger“, mehr noch „Die
Ofterinjel“ und „Die Rothenburger* gelejen haben. Darin zwingt er zur liebe. Es
geht ein Zug durch die „Rothenburger“, dem fein warmes Herz widerfteht, ein jugend»
liher Schwung, der mitreißt. Es fcheint immer, als babe Wilbrandt, bevor er ih an
den Schreibtifch fette, einen feuerblütigen Wein getrunfen, der ihm das Blut noch rollen
madt. Seine Helden haben meift „furchtbar viel Glanzlicht in den braunen Augen,
einen tönenden Hammer in der ſchönen Stimme“; es find NAusnahmenaturen, Schwärmer,
Genies, Renaiffancemenjchen, ein bischen ſchwankend und verbummelt zuerft, dann aber
vom Schmerz (Berluft der Geliebten!) zum Ritter geichlagen. Und gern läßt man ſich
mit ihnen vom Dichter in die Höhen reißen aus der ftaubigen Niederung.
Ih weiß nicht, ob es ſchon jemandem auffiel, wie wenig Medlenburger der
Medlenburger Wilbrandt eigentlih if. Das Obotritenländchen hat aus allen Jahr—
hunderten immer einen ganz beitimmten Schlag von Dichtern gezüchtet. In die große
deutijche Yitteratur find ein paar davon eingezogen, die ald gleiche Brüder immer die
gleiche Kappe tragen. Bon Herrn Peter Kalfs Redentiner Ofterjpiel (15. Jahrhundert) zu
Johann Paurembergs vier Scherzgedichten, von Liscows Satiren zu Vojjens Quije, von
Fritz Reuter zu Heinrich Seidel — es ift immer dasjelbe. Ueberall ein nüchterner
Wirklichkeitsiinn, ein derber Humor, ein fräftiger niederdeuticher Realismus. Die
Magenfrage ift vielfach die Hauptſache. Es it etwas ganz Prächtiges um diejen
Medlenburger Schlag, ob in allen Dichtern des Landes auch eine gewiſſe topfgucderijche
Gutbürgerlichfeit alias Philiftrofität lebte. Wilbrandt hat nichts von alledem. Er hat
weder den nüchternen Wirklichfeitsfinn, noch den derben Humor. Er ift ein Schönheits—
ihmärmer, er hat Feinheit, Grazie, Form, er hat Höhenjehnjucht — kurz, er hat alles,
was ihn in direkten Gegenjat zu den Medlenburgern und ihren Dichtern ftellt.
Wenn man fich das vorhält, jo wird man feinen neuen Roman etwas erjtaunt in
die Hand nehmen, denn er heit „Ein Medlenburger* (Gotta, Stuttgart 1901).
Entweder, jagt man ji, iſt Wilbrandt unter Berziht auf jein Temperament nur
Schilderer, oder er bringt einen wunderlichen Mecklenburger zu ftande. Mag's mir der
Dichter nicht verübeln: der Medlenburger ift wirklich wunderlich, und ich bezweifle, daß
ed einen Menjdyen im ganzen Obotritenländchen geben wird, der in diefem Ewald Haider
einen Stammesgenofjen erfennt. Es ift zwar von feinem Humor die Rede, aber er hat
ja gar feinen. Er ift ein Schmärmer, ein Bhantaft ohne einen Funken des Bäuerlichen,
das den Obotriten auszeichnet. Melancholiſches Feuer, jeeliich-ernites Träumen, arijto-
444 Carl Buffe, Litterariiche Monatöberichte.
fratijch-cdle8 Ausſehen wird ihm zugeſprochen; im Mondſchein ſchwärmt er von Schön:
heit; als er die Schönheit fteht, Laufen ihm die dicken Thränen runter; er will ein Märchen
leben, fich dann totſchießen — — — „nu hür up“, fagte ein echter „Medelnbörger“
Junge zu mir, als ich ihm diefen Landsmann gejchildert hatte. Der Roman jelbit iſt
eigentlich ein Theaterftück in fünf Alten und ganz als foldhes komponiert. Es fcheint
als hätte der Dichter ſchon das Schaufpiel im Kopfe fertig gehabt, e8 aber im letzten
NAugenblide al8 Roman geichrieben. Eine Inhaltsangabe läßt ſich nicht gut machen.
Genug, dab Perjonen, die im erjten Akt bei Kroll auf dem Maskenball tanzen, ſich im
dritten in der Sierra Nevada zum Goldgraben treffen. „Er griff ſich mit beiden Händen
an den Kopf: er verjtand es nicht”, heißt es im dritten Bud. Und jelbft Wilbrandts
große Kunft hat die Fülle von Unglaublichkeiten, die im Stoffe felbft liegen, nicht mweg-
ichaffen und glaublich machen fünnen. Er felbft hat das audy empfunden. Braud id)
zu jagen, daß tro& alledem in dem Buche, ob Homer darin auch geichlafen hat, viel
Schönes, echt Wilbrandtiches ftedt? Daß man ganze Abſätze wieder mit Freuden lieft
und ſich bereitwillig der lebendigen, ſchwungvollen Art des Erzählers hingiebtt? Wenn
‚er wortreich fchreibt, jo fchreibt er doch auch mwortfein. Sein Stil blitzt und funtelt
manchmal, und jedes feiner Bücher ift ein Dichterbuch, fo verjchieden man die einzelnen
werten mag und muß.
Eine bittere Enttäufchung hat mir, und waährſcheinlich vielen im Lande, die neue
Romandichtung von J. E. Heer, Felir Notveft, gebradt (Kotta, Stuttgart). Beter
Rojegger hat in heller Begeifterung feiner Zeit den erften Roman des jungen Schweigers,
„An heiligen Waſſern“, neben die beften Werke Jeremias Gotthelfs geftellt. „Der König
der Bernina“ mochte auch noch gefallen. in J. C. Heer war wieder einmal ein ur:
echter Erzähler erftanden, dem man in atemlofer Spannung folgte und der doch auch
hohen dichteriichen Anforderungen genügte. Bejonders hatte er ſtets grandisje Stoffe.
Wer nur die erften Kapitel von „An beiligen Waflern“ gelejen hat, fommt nicht mehr
los von dem Bude. Daneben gab es in diefem Werke jedocdy an manchen Stellen eine
gewiſſe Marlitterei und teilweife wohl auch eine Stoffanhäufung, die zu groß war, als
daß fie im Rahmen eines Bandes ganz durchgearbeitet werden konnte. Aber nur dem
nachprüfenden Sritifer fielen diefe Bedenken ein, der Leſer ward einfach mitgeriffen. Und
nun bat X. E. Heer in „Felir Notveft” ein Werf gejchaffen, das feinem jungen Ruhm
fait den Todesſtoß verjeken fann. Auch bier ift die Anlage zwar grandios; der gebotene
Stoff hätte qut und gern für einen Fünfbänder gereicht, und drei Bände gehörten
wenigitens dazu, den Roman aus dem Rohſtofflichen heraus zu arbeiten, die jeeliichen
Wandlungen vorzubereiten und durchzuführen. Der Schweizer Dichter hat das nicht
gethan. Er mwirft uns einfach eine Unmenge rein äußerlicher Geſchehniſſe an den Kopf,
läßt alles, was pſychologiſche Entwidelung heißt, zwiſchen den Kapiteln liegen und haftet,
ftoffhungrig wie ein Senfationsichriftiteller, drauf los. Es ift nicht möglid, aud nur
anzudeuten, was in diefem Roman alles paifiert. Die Ereigniſſe überftürzen fi, von
einem wird man zum andern gehett, man begreift jchließlich garnicht? mehr, meil alles
umgefehrt auch geichehen konnte, und fommt atemlos und evihöpft and Ende. Nicht
nur im Tempo der Erzählung, auch in der Charafteriftif der Perfonen und im Stil
zeigt fi) das Ueberhaftete. Keine Gejtalt fommt plaftiich heraus — dazu ift nicht Zeit
Carl Buffe, Litterariihe Monatsberichte. 445
genug — flach wie Zeichnungen liegen fie da. Die Intriguantin, der Schuft, der edle
Volksmann, der Haustyrann, der keuſche Backfiſch, der geniale Künftler — e8 find wohl:
befannte Typen, durch feinen eigenen Stridy gehoben und verlebendigt. Mit vollen
Segeln fteuert J. E. Heer ins Fahrwafier der Marlitt. Auch feine Sprache wird
blumig. Er entihuldigt ſich ſchon, wenn er — in einer Bauerngeſchichte — das Wort
„Dung“ ausipridt. Blumig und fonventionell werden jeine Vergleiche. Sigunde Fürft
ift immer „ichön wie ein Märchen“; Chriftli ift immer wie „unberührter Frühling“, it
immer „Maililie”. Er fchildert fie Seite 138 folgendermaßen: „Dunkle Yugen unter
jeidenen Wimpern, janftgerötete Wängelchen, ein feingebogenes Näschen, ein herbes
Mündchen, über dem ſchmalen Geficht ein Hauch wie unberührter Frühling“. Seite 271
wiederholt er divie Schilderung wörtlid. Mir will darnad und nach anderen Beob-
achtungen fcheinen, ald ob der Roman aud) jehr flüchtig geichrieben ift. Charakteriftiich
ift e8 auch, daß das Präfens wie in den eriten Romanen der Oſſip Schubin vorherrſcht.
Daß ferner viele Perjonen gleihjam matte und fleinere Abzüge von großen Geitalten
der Weltlitteratur und Geſchichte find, dak fie Heer wenigftens an das mädjtige Vorbild
heran erhöhen will. So wird der „Kommandant“ zu König Lear, das greije Elternpaar
Felix Notveſts zu Philemon und Baucis, Sigunde Fürft zu Königin Agnes von Ungarn
in Parallele gejegt. Aber um fo kraſſer tritt das Mikverhältnis hervor. Man glaubt
auch nicht an den Helden, der fi in allen enticheidenden Augenbliden wie ein fentimen-
taler Schwädling benimmt; man glaubt nicht an die Yeidenfchaft, in deren Ausdrud fich
der Dichter ſtets vergreift, in der die Leute gleich immer wie Betrunfene taumeln,
ſchwanken, rafen, ftöhnen, weinen, knirſchen. Das alles ift nur aufgepeitichte Phantafır,
der das Maß fehlt.
Emanuel Geibel, der Vielverfannte, hat von einem noch lebenden Poeten gejagt,
ein Uebermaß an nicht genug gezügelter Phantafie verhindere ihn, die Schönheitslinie
inme zu halten. Das ift ganz der Fall Heer. Wenn er fich nicht fehr mäßigt, werden
fih die Hoffnungen, die ſich an ihn fnüpften, nicht erfüllen. Er fteht jetzt am Sceide-
wege, ob er ein beliebter Autor der Gartenlaube ohne litterariihe Prätenfionen oder
ein Künftler werden will. Der eine mißlungene Roman will ja noch garnichts bejagen.
Erft die nächſten Bücher werden enticheiden. Gerade dieſer nächſten Bücher wegen ift
der Felix Notveft hier jo jcharf angefaßt worden. Talent verpflichtet. Hoffen wir, daß
der Dichter ſich jelbft wieder findet, und er feine gar zu ertenfive Phantafie zu Gunſten
einer mehr intenfiven zügeln lernt.
Bon Gabriele Reuter liegt ein neuer Novellenband unter dem Titel „Frauen:
jeelen“ vor (S. Fiſcher, Berlin 1902). hr berühmter Erftling „Aus guter Familie“
hat es inzwiſchen jchon zur zehnten Auflage gebracht. Die Novellen find delifat — man
fann es nicht anders nennen. Sie find jehr fein, manchmal jogar mit einem Stich ins
Hyſteriſch⸗ Ueberfeine; jeder Sat behauptet ſich mit einer gewiffen Eigenheit; jeder Ber-
gleich ift Gabriele Reuters eigenfte8 Eigentum. Sie greift nie zu einer gangbaren,
vielleicht gar ſchon abgenutten Münze; fie würde ein gejchmadlofes neues Bild unbe-
dingt einem trivial gewordenen vorziehen. Ihre Stoffe find dürftig; was an Stofflichent
vorhanden ijt, fommt faum in Betracht. Die Stimmung, das feine Detail find durchaus
die Hauptſache. Die flüchtigften, ſeltſamſten Empfindungen, die kaum die Bewußtſeins—
446 Carl Buſſe, Pitterarifche Monatöberichte.
ſchwelle überjchreiten, fängt ſie am liebften ein. Sie vingt darnach, Unjagbares, für das
alle Worte jchon zu ſchwer find, zu jagen, geheimftes Sehnen jo auszudrüden, dab es
troß der Worte nod fern und geheim bleibt. Feinheit und Ueberfeinheit hat fie von
Jens Peter Yacobjen gelernt, dem zarten Dänen. Aber fie hat nicht jeine leuchtende
Farbenglut, fie malt am liebften in Grau. „Graue Stunden“ heikt ein Stimmungsbild
in den „Frauenſeelen“, das meifterhaft gemadt if. Ueberhaupt muß man vom
litterariihen Standpunft aus das Buch rühmen. Der artiftifche Feinſchmecker wird
eine jeltene freude daran haben. Es hat etwas jo Apartes.
Und doch — in diejem Buche der Feinheit lieft man mit Vergnügen eine Fleine
Geſchichte, die weniger apart ift, aber mehr Körper hat: das Opernglad. Ein jchnurriger
Einfall — mehr nicht; gewiß hält Gabriele Reuter diefe Skizze, die fie ans Ende geitellt
bat, für die billigfte des ganzen Buches. Das ift fie aud. Aber man behält fie,
während man die andere nicht behält; man iſt mehr in unferer aller Welt, man kann
die Dinge anfaflen, ohne daß fie gleich zerbrehen oder wie ein Hauch verjchiweben. Und
von hier fann man weitergehen. Was Gabriele Reuter fehlt, das ift ein wenig Robuft-
heit, ein wenig bichteriihe Uriprünglichfeit, ein wenig natürliche Kraft. Was fie der
Heldin ihrer Novelle „Treue“ zuſpricht: ein nerbös-fenfibles Temperament und damit
vereint das Kalt-Grüblerifche, die lauernde Beobachtungsgabe — das dharafterifiert fie
jelbjt. Sie zerfajert alles und jedes. Es reicht nie zu einem Bollgefühl, zu ganzer
Freude, zu ganzem Schmerz. Es ift nie Tag oder Nadıt bei ihr — immer Dänmmerung.
Sie ift nie harmlos unbefangen, immer apart. Und die jchönfte Seelenanalyje wiegt
die kräftige Urfprünglichkeit einer ungebrodhenen Natur nit auf. Freudenbringer joll
nad) Rofegger der Dichter fein. Gabriele Reuter ift fein FFreudenbringer. Und das ijt
traurig, weil ihre Bücher bei alledem jo voll feiner Kunft und ftiller Schönheit fteden.
Was ihr fehlt, Hat Clara Viebig im UWeberfluß, und fie entbehrt gerade etwas von
Sabriele Reuters FFeingeiftigfeit. Es würde eine wundervolle Mifhung jein, wenn
man dieſe beiden Dichterinnen harmoniſch verbinden Fünnte. Aber da diejes Kunſtſtück
nicht zu ermöglichen ift, muß man halt jede für fi nehmen und fie gelten laſſen.
Gleichzeitig mit der zweiten Auflage jeines etwas matten Romans „Liebe ift ewig“
hat Wilhelm von Polenz ein Bändchen Dorfgefhichten, „Quginsland“ bei Fontane
und Go. in Berlin ericheinen laffen. Die Steine, die ſchwer ins Rollen kommen, werfen
meift jeden Widerftand, den fie auf ihrem Wege finden, am wudhtigften nieder. Ich habe
vor Polenz ftet3 das Gefühl einer Schwerfälligkeit, die manchmal nichts mit ſich anzu—
fangen weiß, aber, einmal auf dem richtigen Wege, mit unbeirrbarer ruhiger Sicherheit
zum Biele geht. Auf dem richtigen Wege war er mit feinen großen Bauernromanen.
Scheint er mandjmal zu jchwanfen, jo fann man ihn nur immer wieder auf das Land
weijen, darin er mwurzelt. Wenn er zähe und unbefümmert von jeiner Scholle aus jafft,
werden ihm Kränze blühen, ob er aud) für den Augenblick von leichtfüßigeren Gefährten
überholt wird. Das Beite in ihm ift das Zähe, Bäuerifche, recht eigentlih Germaniſche.
Es giebt im ganzen Umkreis der jegigen Dichtung faum jemanden, der in der Fürnigen
Geſtaltung bäuerifcher Art mit ihm wetteifern fünnte. Somie er das enge — und doch
wie weite! — Gebiet verläßt, ift es mit jeiner ruhigen Sicherheit, die felbft ſicher macht,
aus. Er bleibt dann immer noch ein guter Schriftiteller, aber nicht der Polenz, den
Carl Buſſe Litterarifche Monatsberichte. 447
wir lieben. Seine Dorfgeihichten, jo Flein und anſpruchslos fie ericheinen, zeigen ihn
von der guten Seite. „Mutter Mauffchens Liebfter“ ift ein ganz prächtiges Stüd,
derbfräftig, ohne grob und Flobig zu fein, ſparſam mit Gefühlsausdrüden, aber um jo
padender. Die Geſchichte ift nicht leicht erzählt, aber das Schwere, faſt Schmwerfällige
wirft bei diefem Stoff ald das Notwendige und Natürliche. Der deutſche Bauer, den
die Litteratur bald zu einer komischen Figur madte, bald jentimental verbrämte, ift
hier mit einem gejunden Realismus in feinem innerften Weſenkern gepadt, in allem
Guten und Böfen auf die Beine geftellt. ch meine: wer das kann, wer Kraft genug
dazu hat, der fann viel.
Die „Lehrervereinigung zur Pflege der Fünftlerischen Bildung in Hamburg“ hat
Liliencerons Gedidte in einer Auswahl für die Jugend bei Schufter und Loeffler
in Berlin herausgegeben. Mit wenigen Ausnahmen ftammen die beiten Gedichte dod)
aus den „Adjutantenritten“, jo die Perle des ganzen Bandes: „Wer weiß wo" (Schlacht
bei Kolin, 18. Juni 1757). Das ift ein großes, herrliches und jo unſagbar ſchlichtes
Gedicht, wie ed nur wenigen Dichtern gelang. Und „Mit Trommeln und Pfeifen“,
Kleine Ballade, die Schladht: und Bimalgedichte, die Heidebilder — adj, wenn man
die allbefannten wieder Lieft, paden und jchütteln fie, man vergißt gern alles, was Die
Liebe zu Pilieneron trübte, man hält nur fein Reinjtes und Beſtes feft und fagt danadı
in alter Freudigkeit und Begeifterung, ein wie föftlicher, kräftiger, deutfcher Poet diejer
holfteinifche Baron doch iſt. Das Leben hat ihn zerzauft, die allerfüngfte Jugend ift
viel zu nervös und jenfitiv, um das Kraftvolle an ihm zu fcdhäten, die älteren ftehen
ihm zum Zeil noch fern, jogar aufs Ueberbrettl hat man ihn gezerrt — aber bei alle
dem ift etwas Unverwüſtliches in ihm. Er bleibt mohl in feinem Beften der bedeutendite
lebende Lyriker. Die enge Auswahl zu dem beftimmten Zmed, gegen die ſich mandjes
jagen ließe, bringt daS naturgemäß nicht ganz heraus. Doc verfteht man, wie gerade
Pilieneron der Sugend vorgeführt wird, der ihr mit feinem Eräftigen Nationalbewußtfein
und feiner allem Abſtrakten abholden friichen Gegenftändlichfeit entgegentommt. Leber
den ganzen Lilienceron vielleicht ein anderes Mal... hier wollt’ ich nur die Eleine Uus-
wahl ftreifen. Und es fehien mir daneben Pflicht, wo fo viel Anderes, Kurzlebiges ge:
nannt wird, auf einen Poeten hinzumeifen, von dem die8 und das all uniere meit-
berühmten Romane überleben wird.
Noch an einem anderen Iyrifchen Poeten, einem vielgeliebten und vielgejungenen,
möchte ich nicht vorübergehen, ohne ihn zu grüßen und ihm die verdiente Ehre zu geben.
Viktor Blüthgen hat eine neue, vermehrte Ausgabe feiner „Gedichte“, die lange
ihon ſchmerzlich vermißt wurde, herausgegeben; fie bildet den 74. Band der Groteſchen
Sammlung von Werfen zeitgenöffifher Schriftfteller. Mit erlefenem Geſchmack ift das
Bud) ausgeftattet; Robert Engels, der Bierleiften dafür gezeichnet, war nicht immer jo
disfret und glüdlih. Mit noch größerer Freude darf ich von den Gedichten jelbjt reden.
Sie ftrahlen eine herzliche Wärme aus, fie geben fi jo gläubig vertrauend, jo offen
und ehrlich, daß man ‘bald von dieſer Offenheit der Seele gewärmt und entzüdt iſt.
Was der Dichter aus der Fülle des Herzens geftammelt, dad nahm der Künftler in
ftrenge Zucht, bis es Form erhielt und jene feine Iyrifche Melodie, in der es fich nun
vor una liegt. Piele Töne werben angefchlagen, und dem fräftigen Anfchlag folgt eine
448 Carl Buffe, Yitterariihe Monatsberichte.
gleidy kräftige Durchführung, wie fie nur der jeiner jelbjt fichere Poet hat. Und wunder:
lich verichlingen fi) Nugend und Alter in dem Buche: Jugend, die feft zupadt, friſch und
freudig loslegt, begeifterungsfräftig ſich aufſchwingt; das Alter, das diefem Poeten über
jede mwohlfeile Liebensmwürdigfeit hinaus eine jchönmenjcliche Güte, eine Güte des
Herzens gab, die nun wärmt und wohlthut.
Viktor Blüthgen ift eine feine, anjcdjmiegiame Poetennatur. Es kommt vor, daß
man andere Dichter leife hier und da heraushört, aber immer drüdt er doch jelbit dieſen
Yiedern jeinen eigenen Stempel auf. Das hat ihn auch vor Einfeitigfeit bewahrt und
ihn die verichiedenften Töne finden lajjen. Da find prächtige Liebesgedichte, gefühlsftarf,
aus überftrömendem Herzen geboren; da find ganz außerordentlid) feine Naturftimmungen,
wie 3. B. in dem auch formell jehr aparten Gedicht „Auf Schwarzwild“, das die un-
beitimmten Geräufche der Sommernadt, das Yeben und Weben in Wald und Feld fein
wiedergiebt; da find zierliche poetische Nippfachen, etwas ſüß oft, aber voll reigender
Scjelmerei und Grazie; da find Phantafieftüde und Rhapfodien voller Verve und
lebendiger Kraft der Darftellung. Die entzückenden, weitberühmten $inderlieder fehlen;
fie werden wohl einen Band für ſich allein bilden. Leider fehlen auch — außer einem
Gruß an Bismard — die nationalen und oft jehr wuchtigen Klänge und Wedkrufe, die
der Dichter in glüdlider Stunde fand. Das energijche Flottengediht: „Zu Hamburg
ſprach der Kaiſer“ wird mancher ungern vermiffen. Mögen fi) viele Hände nad) dem
ſchönen Buche ausftreden, das feinen Blat behaupten wird.
Ich komme nun zu einem Roman, der ſich von allen eben beiprochenen jehr unter:
icheidet. Nicht nur äußerlich, durd) die Größe feines Umfangs — er ift 825 Seiten
ftart —, fondern aud) durch die Größe des Ziels. Ein Roman, der unjere Gegenwart
mit allen ihren Problemen, ihrem Suchen und Streben, ihren Kämpfen und Zielen in
einen gewaltigen Rahmen fpannen, der eines der „großen epifchen Bücher unferer
Yitteratur”, ein Zeit: und Erziehungsroman großen Stils jein will. Gewiß heißt das,
Gewaltiges wollen. Und die ‚Voſſiſche Zeitung“, die Zeitung von Staats: und gelehrten
Saden, hat diefes Werk aus allen herausgehoben und es neben, ja faft über den
„grünen Heinrich“ von Gottfried Keller geftell. Der Mann, der jo Großes gewollt
und nad) mander Meinung erreiht hat, heißt Felir Holländer, jein Bud „Der
Weg des Thomas Truck“ (S. Fiſcher, Berlin 1901).
Felix Holländers frühere Romane hatten bei vielen Vorzügen immer etwas
Stnalliges, fie waren immer mit Rattengift verjegt und auf Senjation zugefchnitten. Der
feinere Geſchmack wandte ſich oft traurig von ihnen ab — traurig, weil ausgezeichnete
Eigenjchaften und Fähigkeiten fih darin ausprägten, aber durch das Arbeiten mit
ichreienden Anilinfarben und durd) eine unfünftlerifche Effetthajcherei wieder aufgehoben
wurden. Offenbar hat Felir Holländer nun in „Ihomas Truck“ alles Gute, was in
ihm war, zufammenfafjfen wollen. Er griff glei nad der ſchwerſten Aufgabe. Und
man fol einem fo großen Wollen und einer Energie, die ein jo umfangreiches, nad)
fünftlerifchen Zielen ftrebendes Werk durchführt, feine Anerkennung nicht verjagen. Das
erzwingt Achtung. Man wird ferner gern zugeben, daß der Roman im ganzen mit
glängender Technik geichrieben ift, daß viel ehrliches Ringen darin ftedt, dab ein paar
gut gefehene und treffend mwiedergegebene Figuren daraus herbortreten. Es wäre Fleinlich,
Carl Buſſe, Fitterarifche Monat&berichte. 449
ih dadurd; an diefem Werk zu reiben, daß man ein paar fchledhtgebaute Säge, ein
paar Unmahrjcheinlichkeiten oder dergleicden daraus hervorſuchte. Diejes Vergnügen
mag anderen überlaffen bleiben.
Uber was man joll, wozu dieſes Bud geradezu nötigt: man joll den Geift wägen,
der daraus jpridt; man ſoll ſich fragen, ob hier ein Dichter, indem er ein großes Zeit—
bild einfängt, die Zeit auch dichteriich durchdringt und von uns entfernt, ob er den
Irrenden ein Licht anzündet und die Wege meift, ob er die Erlöftjeinmollenden erlöft,
ob er die Gegenwart und ihre Berriffenheit bezwingt und fich und andere damit zugleich
frei madt. Wir wollen jchauernd erkennen, dat die Perfünlichkert, die im Mittelpunft
fteht, Fleiſch iſt von unjerem Fleiſch und Geift von unferem Geift; wir wollen mit ihr
an alle Pforten Elopfen, mit ihr wandern und irren, fuchen und finden, wachſen und
werden, und mit ihr endlich reif und frei fein.
Ans Leben und Ringen der Zeit werden wir auch wirflicd ausgiebig geführt. Es
läßt ſich nicht aufzählen, was der Roman alles ausſchüttet. Sozialismus und Indivi—
dualismus, Zionismus und Antifemitismus, Heildarmee und Egidyſche Verföhnung,
Ehriftentum und Buddhismus, Stirner, Marr, Niegiche, Chriſtus — es pufft von allen
Seiten. Und an alledem zerbeißt fid ein Streis feltiamer Menjdyen im Schweiße des
Angefichts die Zähne — voran Thomas Trud, der Held, den wir auf feinem Wege von
frühefter Kindheit an bis zum reifen Mannesalter verfolgen, in dem wir uns jelbjt
wiedererfennen follen.
Ich möchte mit feinem Worte jagen, weshalb diejes letztere nicht gefchieht, weshalb
diefes ganze Werf und nie und nimmer etwas werden fann: weil nämlich Thomas Trudf
fein deutſcher Typus, fondern ein jüdifcher ift, wie der Roman, der von ihm handelt,
überhaupt. Gerade meil das Bud ernſt und ehrlich gedacht ift, ſei das hier auch ruhig
und ehrlich ausgeſprochen. Felix Holländer, jelbjt von jüdischer Herkunft, hat in
dem Weg des Thomas Truck ganz natürlich feinen Weg nad) beitem Gewiſſen geftaltet,
nach beitem Wiſſen hat der Referent der ‚Voſſiſchen Zeitung“ dieſes Werk gepriefen und
als den Zeitroman anerfannt, denn aud er ift Nude und hat jeine Freuden und
Schmerzen, feine Kämpfe und Wandlungen in diefem Werk poetifch verflärt wieder:
gefunden. Nun fei aber mir erlaubt zu jagen — e8 foll feine Wertung, fondern eine
bloße Konftatierung fein, — daß mir andern in diefem Thomas Trud jo gut wie nichts
bon uns erfennen, daß unier Weg, jelbft wenn er diefelben Stationen berührt, ein fo
weſentlich verichiedener ift, daß wir dem Denken, Fühlen, Handeln diefes Thomas Trud
manchmal Eopfichüttelnd, manchmal adjfelzudend, manchmal ohne jedes Verſtändnis
gegemüberftehen, daß wir uns niemals mit ihm identifizieren und deshalb nie im tiefften
Innern ergriffen und bereichert werden fünnen. Es mag fein, daß diefer Roman ein
„Grüner Heinrich“ ift, aber er ift ein jüdijcher „Grüner Heinrich“, wie Jakob Wailer-
manns bielgepriejene „Renate Fuchs“ eine jüdiiche „Marie Grubbe“ ift. Und weil Felir
Holländer gerade verjchleiert hat, was er hätte hervorheben müffen, jo klafft ein Riß
durd) das ganze Gebäude. Wir wären dankbar geweſen, wenn er ung die Entwidelungs-
geichichte eines modernen Juden gegeben hätte; wir würden, wenn er unter diefem Ge:
ſichtspunkte die Stindheit des Thomas Trud geſchildert hätte, Vieles begreifen, was wir
29
450 Earl Buffe, Yitterarifche Monatsberichte
jegt nicht begreifen, und Vieles, was jett in der Luft ſchwebt, hätte jeine natürliche
Bafıs gehabt.
Ich habe das anſchneiden müfjen, weil es das entjcheidende Urteil über das ganze
Werk erſt ermögliht. Es ift ein ganz fpezififch ungermaniihes Bud. Die Menfchen
darin find alle auf einer rajenden Jagd nad ſich jelbft, nad Begriffen und Welt-
anſchauungen, fie drehen fi fortwährend im Kreiſe, bis fie jelbft und alle, die fie an-
jehen, ſchwindlig werden, fie entwideln fi alle fortwährend feuchend, als lägen jie in
Geburtswehen, fie juchen gleichjam fportämäßig nah einer Weltanihauung, und wenn
fie eine haben, fchleppen fie fie, jedem fichtbar, mit fich herum, wie Atlas die Weltkugel,
bis fie plötzlich ihre Kugel fortwerfen und ächzend eine neue aufladen. Das alles gejchieht
mit einer wahren Wut und Freude, geſchieht im Schweiße des Angefihts. Sie find alle
fo hohe Sbealiften, daß fie fid) durd; den ganzen Kuchenberg der Probleme durchejien,
fie fauen immerzu daran, fie thun immer das Entgegengeiekte, was ein normaler Menjd)
thun mürde, fie übertreiben alles maßlos, zerfafern fich ewig jelbjt, läuten ſchwitzend
große Gloden” und benehmen fi) jo, daß man manchmal unter lauter Arrfinnigen zu
fein ſcheint. Eigentlid) muß man laden, wenn man ihnen zuſieht. Andererjeits habe
ich mir bei der Lektüre immer wieder gejagt, mie feicht, philifterhaft und bejchränft
meines Vaters Eohn doc eigentlich fein müffe. Denn ich befenne beihämt, daß ich in
ſolchen erſchrecklichen Weltanſchauungs-Geburtswehen niemals lag, daß ich auch meine
Freunde nie wie rotgeheigte Lokomotiven dampfen ſah, daß ich mir ſtets einbildete, eine
Entwidelung gehe meift im ftillen vor fi, eine Weltanfhauung blühe auf und mache
wie Blume und Schmetterling, die fein Gejchrei machen, wenn fie die Kelche erjchliegen
reip. die Puppe brechen. Aber dieje bedeutenden modernen Perjönlichkeiten hier befördern
ſo vft Weltanfhauungen zu Tage, wie das Huhn ein Ei, und gadern nicht minder bei
jeder glüdlichen Legung.
Man wird danach verftehen, wie fern und fremd uns das Bud it; man wird
verjtehen, daß man es für ernft und ehrlih — vom Autor aus — halten und es dod;
bon uns aus als oft verlogen und unnatürlid; empfinden kann. Was heilige Herzens:
gloden für Felix Holländer jein mögen, das fühlen wir als Phrajenglödlein, die bimmeln,
bimmeln, bimmeln und fi am eigenen Klang beraufhen. Wer fann dafür? So glaube
ich, daß dieſer Roman, ob er aud) einen nod jo lauten Tageserfolg haben mag, nod)
viel jchneller verjchwinden wird als die Zeitromane des jungen Deutſchlands. Dodı
aber war es nötig, ſich mit ihm auseinandergujegen, nicht nur, weil da8 Bud; viel von
fich reden macht — es hat in wenigen Wochen mehrere Auflagen erlebt —, jondern aud),
weil es großen Zielen zuftrebt und bejtechend geichrieben ijt. Es jei daneben noch einmal
anerfannt, daß es auch eine Reihe jehr feiner Nebenfiguren zeigt, etwa Fründel, den
Volksſchullehrer Heinfius und vor allem den ruffifchen Juden Liffauer, in dem ein präch—
tiger Typus mit jicherer Kunſt geichaffen ift.
Thomas Truds Mutter heist mit Bormamen Tamara. Bon einer Tamara it
jeltjamermweife auch in einem etwas früher erjchienenen Buche des Cottaſchen Verlages
die Rede: in Lou Andreas: Salomes „Ma“. Es mag daS legte jein, wovon id)
heute rede. Es ift auch ‚das beſte. Es ift ein Bud) fo voll inneren Reichtums, von
iolcher Feinheit und Innigkeit, daß ich es jelbitändigen, Lejern nicht genug empfehlen
Carl Bulle, Pitterarifche Monatsberichte. 451
fann. Stoffhungrige Hyänen kommen bei diefer pfychologifchen Studie allerdings nicht
auf ihre Koften. Allen anderen aber jei e3 ans Herz gelegt. Ma, die Mutter, die
langjam ihre Slinder verliert, die dieſen lindern alles opfert, ijt mit einer verjchwenderiichen
Fülle intimfter Züge ausgeftattet, die alle von feiner Künftlerhand geordnet find. Mit
behutiamen und vorfichtigen Fingern ift alles angefaßt, dad Bud wächſt gleichjam mit
und vor einem, bis das Ganze in wundervoll feiner Schönheit dafteht. Wie die handelnden
Perfonen auseinander gehalten find, wie über der ganzen Erzählung die goldenen Kuppeln
des heiligen Kreml leuchten, wie fich Anfang und Ende ſymboliſch verichlingen, die Iberiſche
Gottesmutter und jene andere Mutter, die aud) heilig iſt — das ijt ganz einzig. Es
wollte mir manchmal vorkommen, als jei das Geſicht der Dichterin gar zu flug, als
wären die feinften Züge den Berfonen manchmal nur aufgelegt — aber ic) geitehe, dat
ih am Schluffe ganz bezwungen war. Lou Andreas:Salom& hat fi eine Zeitlang
etwas erzentrifch gegeben. Doc ein Bud) wie es „Ruth“ war, ein Bud, wie es jest
„Ma“ ift, joll ihr nimmer unvergeffen bleiben. Sie ift heute fchon die tieffte und feinste
der modernen Erzählerinnen. Wenn fie der Broblem:Gefahr entgeht und ſich zu immter
fräftigerer Gegenftänblichkeit durcharbeitet, wird fie bald auch unbeftritten die erfte jein.
So wollen wir das biesmalige Kapitel Ichliegen mit einer Hoffnung.
®
Es raucht ein berd....
Es raucht ein berd nach Often zu, Und wenn’s im baufe Mittag Tchlug
Das beimcen fingt im ftillen Baus, Und raffelnd fiel das Ubrgewicht,
Dort ging ein’ fcböne ftille Frau Bach unfrem Vater fabn wir aus
Zn alten $abren ein und aus. Und wichen nicht und wankten nicht.
Kein Bettler kam den Wleg entlang, Mir iſt, ich bing die ganze Zeit
Er 309 denn fort mit Gruſz und Dank. Wlie eine Klett’ an ibrem Kleid. —
Die Diele war fo weils gefegt, Ich weifz nicht, ob der berd noch raucht
So gaftlicb war der Tifch beftellt, Und noch am berd das beimcben fingt,
Aus Ddiefen blanken Fenstern fab ©b beut noch jeder Bettler gern
3b einft das erfte Stückchen Welt. Wie fonft an unfer Tbürlein klinkt.
Da lag ich lang auf Adutters Tuch Bur Sonntags mein’ ich Dann und wann,
Und fprach mit meinem Bilderbuc, Ich träf’ fo alles wieder an.
Die Adutter ftünde vor der Tbür,
Die Augen fchattend mit der band, —
Wlie wenn ich von der Reife käm’,
Und alles bätt’ den alten Stand.
Ich bör' das Zirpen durch den Raum —
Seid still, — es iſt mein Sommntagstraum,
Aus „Bagabunden“ Reue Dieber und Gebihte von Garl Buffe (Stuttgart, Gotta 11.)
20*
ERETREZREFTIEZREZRIERERER
Vom deutiden Theater.
Don
Max Marteriteig.
1.
Antike Dramen. — Björnftierne Biörnfon. — Ueber unjere Kraft. — Yaboremus. —
Paul Lange und Tora Parsberg. — Heyermanns' Die Hoffnung.
De Klage über ungehobene Schätze der dramatiſchen Dichtung iſt nicht ohne Berechtigung,
und einem ſtrebſamen Bühnenleiter hängen an kaum mehr betretenen Pfaden noch
Kränze, die nur herunter zu langen ſind. Sollen jedoch Wert und Glück auf einige
Dauer ſich vermählen, ſoll namentlich einem Theater der Großſtadt klingender Gewinn
aus ſolchen Verſuchen erwachſen, jo müſſen dieſen Wiederbelebungsverſuchen gewiſſe
Bedingungen entgegenkommen: es muß etwas in dem „ausgegrabenen“ Werk der
Maſſenſtimmung der Zeit entſprechen. Ein geſchickter Dramaturg wird darum ebenſo
achtſam zurück wie vorwärts blicken, denn er erkennt, daß es am Theater faſt mehr noch
als in der Induſtrie Konjunkturen“ giebt. Die Berliner Theaterleiter waren in den
legten Jahren, von der Not ums tägliche Theaterbrot getrieben, nicht ohne glücklichen
Spürjinn und verdantten diefem einige überrajchende Erfolge.
Während bis vor etwa fünf Jahren die Rolle der Tragödie gänzlich ausgejpielt
eridien, und man uns bejonders vom Drama der Griehen im Bruftton ftärkiter lieber:
zeugung berficherte, daß ed dem modernen Empfinden unerträglid) jei und keine lebendige
Kraft mehr habe, zeitigte die während derfelben Jahre jo bemerkbar gefräftigte Sehn:
ſucht: den naturwiſſenſchaftlichen und ſoziologiſchen GErfenntniffen, die ald Erzeugnis
eined halbhundertjährigen geiftigen Entwickelungsganges ernfthaft nicht mehr wegzu—
bemweifen waren, wieder eine befriedigende ethiiche Spite zu ſuchen, eine neue Bereitichaft
in den Geiftern. Die neuerfannten Gejege unter ein oberftes, alle und alles umfaffen-
des, zu ordnen, vermöge einer dem modernen Willen angepakten Weltanſchauung wieder
zum Begriff einer Weltidee zu fommen, rief man die ernfte, die hohe Kunſt wieder zu
Hilfe. Die tragiichen Probleme der Weltdichtungen in ihrem Ewigkeitswert famen neu
zu Ehren, und felbft von der neugeitlichen tragischen Dichtung verlangte man wieder mehr
als nur einen trodenen, zur ironiſchen Selbftaufhebung hinneigenden Beilimismus.
Dieje „Konjunktur“ brachte dem deutichen Theater im vorigen Winter die nicht geringe
Merkwürdigkeit der Oreftie-Aufführungen in Berlin, in Wien und in verjchiedenen anderen
deutſchen Städten; aud) die Wiederbelebungen altgriehiicher Dramen in Frankreich hängen
mit ihr zuſammen.
Man wird kaum behaupten fünnen, daß eine in unferen Tagen befonders hervor:
gefehrte Neigung zu der jchönen Form der hellenifchen Tragifer diefe Welle des Geſchmacks
veranlaßt hätte. So dantenswert und der fajt unbejchränften Bewunderung würdig Die
Mar Marteriteig, Bom beutichen Theater. 453
Aeſchylos- und Sophoflesübertragungen, die Ulrich von Willamowig-Moellendorif uns
darbot, und die den Berliner Aufführungen zu Grunde lagen, auch fein mögen, fie allein
würden nicht zu ftande gebradjt haben, was in früheren und hellenischer Kultur enger
verwachſenen Tagen jo oft geicheitert war.
In den vierziger fahren mutete Ludwig Tied, der Yeib-Dramaturg des romantifchen
Preußenkönigs, den Berlinern zu, an Sophofles und Euripides auf der modernen Bühne
fih zu ergögen. Der heilige Zorn des vormärzlichen Liberalismus beftrafte eine ſolche
„Rüdmwärtserei" — zu der Mendelsjohn die Mufif gefchrieben hatte! — in den heftigften
Ausdrüden. Der fnatterige Heinrih Laube hat dann dieſes PVerdammungsurteil in
feinem „Norddeutichen Theater“ verewigt. Die antike Tragödie ift tot — ganz tot, jchrieb,
Laubes Geifte fich gefellend, ein hochangefehener Berliner Kritiker, als vor etwa fünf
Jahren die Antigone bier wieder gefpielt wurde. Und nun erleben wir das Wunder,
wir die gejcholtenen Defadenten, denen die Kraft, eine Zeit Schillers, ja ſelbſt nur die
eines Laube zu leben, jo häufig abgeiprochen worden ift, daß der „ſüße“ Sophofles, wie
die Griehen ihn nannten, und der eherne Aeſchylos taufend und abertaufend von Hörern
in tieffte Bewegung jeten! Ich glaube mich nicht zu irren, wenn id) darin ein Zeugnis
jehe für die behauptete Sehnſucht, das Leben wieder unter eine höhere Ethik zu rüden,
als fie und der mehr oder minder nur Nützlichkeitsidealen nachſtrebende radikale
Liberalismus in feinem Daß gegen alle metaphhfifchen Werte zu bieten vermochte.
Aber hüten wir uns, der vor kurzem hier dargelegten Gründe eingedenf, deshalb
von einem „Wendepunkt“ zu fprechen. Bezeichnend ift jchon, daß nicht dem öffentlichen
Theater das Berdienft jener Aufführungen zufiel: die frische Nugend der Berliner
Studentenihaft hat e8 fi erworben, und nur durch eine außergewöhnliche Anfpannung
der Kräfte, deren unfere Gejchäftstheater gar nicht fähig find, wurde das Greignis
ermöglicht. Dier hatten wir wirflid; einmal ein Stüd Feiertagskunſt an der „Feſtſtraße
des Lebens“ ... einen Ausnahmefall. Als folcher wäre er auch abgethan gewejen,
wenn jchneller Eifer nicht die hier entftandene Wirkung bedeutfjam zu verfnüpfen verjucht
hätte mit dem raujchenden Erfolg, der gleichzeitig einer durchaus modernen Tragödie zu
teil wurde, nämlich Björnftjerne Björnfons Doppeldrama „Leber unfere Kraft”, das —
gleichfalls ein jhon vorhandener Schag — von dem Berliner Theater aus dem ans Bud)
gefeifelten Dajein ins Leben des Bühnenlichtes gehoben wurde.
Nicht wenigen dünkte der Mut, den Baul Lindau, der zur Rettung dieſes der
fünftlerifhen und geichäftlichen Agonie beinahe jchon ganz verfallenen Theaters herbei:
gerufene Leiter, dadurd; beiwies, ganz außerordentlich. Denn ehedem war das Berliner
Theater die ausgeiprocdhene Yieblingsftätte des bürgerlichen Mittelftandes, und auch unter
der neuen Yeitung jollte e8 den Hausfreunden einen von jeglichem Bacillus ſozialer
oder politifcher Natur forgfältig fauber gehaltenen Aufenthalt bieten. Wie ftimmte zu
diefer Abficht nun gerade dieje Tragödie Björnſons? War fie nicht die ausgejprochene
Revolution? Iſt Björnſon, der Mann mit dem Stiernaden und den bufchigstrogigen
Brauen, nicht der moderne Danton des norwegiihen Stortbings, der unermüdlide und
wirffamfte Rufer in jeglihem Streit, wo es radifalen Fortichritt gilt?
Weil es fo jcheint, ſchien auch der tiefe Eindrud, den „Ueber unfere Kraft” hervor-
brachte, auf einer Linie zu ftehen mit der gewaltig erjchütternden Wirfung des griechiſchen
454 Mar Marteriteig, Pom beutfchen Theater.
Tragifers, die uns Die Tod verachtende Tapferkeit im SNampje up des Yebens höchſte
Werte und unerihütterlihe Standhaftigkeit im Ertragen tieffter Schmerzen lehrt. Die
Probleme jelbft fcheinen die gleichen: könnte die Aeſchyleiſche Triologie, die Oreſtes,
des unfeligen Muttermörders, Schickſal Ichildert, nicht treffend aud) „Ueber uniere Kraft“
heigen? Ueber unjere Kraft ift ein dem Menjchenfinne miderftrebendes, unfaßbares
Prlichtgebot, das der Seele fih mit der Madıt des Schickſals auferlegt und zu der
That fie zwingt, der unentrinnbare Perdammmis mit eherner Notwendigfeit folgt.
Selbit die Löſungen fcheinen nicht merflich verichieden. Üreftes wird vor dem Areopag
frei ‚gefprohen — mit fnapper Majorität würden wir heute jagen —, und die den
Ausichlag gebende Motivierung beruft fid) darauf, daß nur aus ungeheuerer Schuld ein
fiheres, von ehrfurditspoller Scheu mit Heiligkeit umkleidetes Geſetz der Sitte ſich ent-
wirkt. Rache wird zur Gerechtigkeit: die fluchdürſtenden Erinnyen wandeln ſich zu den
ernften, da3 Heiligtum neu gegründeten Rechtes hittenden Eumeniden — und mildes
Berzeihen der allwaltenden Götter entfühnt mit jegnender-Dand die gebrandmarfte Stirn.
Unjelige Thaten auszulöfchen durch werfthätige Yiebe — iſt das nicht der Sinn aud) der
Björnſonſchen Didtung? Der in furchtbaren Anterefiengegenjägen wurzelnde Haß joll
entwurzelt werden durd das erichütternder Tragik ſich entwirfende VBerftändnis für die
in unjerem Lebenskampſe zu Tage tretenden und in maßloſen Peidenfchaften fich ent-
ftellenden Sträfte. Gin Alford reinfter, auch aus furchtbarem Yeid geborener Menſchlich—
feit zittert dem gräßlichen Todesſchrei nad, der die Luft Ddurchgellte, als die ver:
zweifelnden Streifenden, zum Verbrechen des Wahnfinns getrieben, das Schloß durd)
Dynamit vernichteten, worin die Arbeitgeber in höhniicher Verftoctheit tagten. Und
diefe Stimmung verflärt der Dichter zur tragiihen Erhebung. Dennod) aber Elafft ein
nicht zu überbrüdender Unterſchied zwiſchen diefen beiden Dichtungsarten, dennoch ift es
im Grunde ganz etwas Anderes, was der grichiiche Tragifer aus goldenen Wolfen uns
ertönen läßt und was Björnftjerne Björnjon lehrhaft uns lehrt. Der Grieche würde
zu dein Borjchlag lächeln, feiner Oreftie den Untertitel der Björnſonſchen Dichtung zu
geben. Mit trüber, jchmerzlicher Berwunderung würde er den Banaujen, der ihn etwa
machte, betrachten: Ueber unjere Kraft? — Aber verjteht Ahr denn nicht mehr, — fo
würde er fagen — daß es im meiteren Ring des Menſchlichen nichts giebt über unjere
Kraft und dat das Linterliegen der unerhört Wollenden und darum unerhört auch
Veidenden der Menichheit Gmigfeitsberuf uns borempfinden läßt, . . . hört hr in den
Stlagen des an den Felſen im Kaukaſus geichmiedeten Feuerbringerd nicht das die
Weltenſtürme überbraujende ewige Siegeslied der heldenhaften Seele? Den unfterblichen
Menfchen, jeht Ahr ihn nicht in Prometheus, in Dreftes, in Oedipos — und fühlt Ahr
nicht mit beiligem Schaudern die Hände, die viel verbradjen, jegnend heute noch auf
Eueren Scheiteln, Ihr Ur-Urenkel der Unbefiegbaren, der Götterüberdauerer . . .?
„Wenn etwas iſt, gewalt'ger ald das Schickſal
So tits der Menfch, der's umerichüttert trägt” . . .
Bon joldrem Menfchenwert Zeugnis abzulegen, ift aller Tragödie Ziel und Zweck.
Iſt das auch Björnfons Meinung, auf den durch den bedeutendften Erfolg der vorigen
Spielzeit und durch die Anfänge der diesjährigen alle Hoffnungen, als auf den ftärfjten
modernen tragiichen Dichter fich vereinigen? —
Mar Marterjteig, Bom deutfchen Theater. 455
Björufijerne Björnjon, einer der jcharjjichtigjten, eifrigiten Verwalter der vom
vergangenen Jahrhundert uns vererbten fortfchrittlichen Gedanken, wird auch — tie
wir alle — gelernt haben und feft davon überzeugt fein, daß wir über den rohen Be-
griff des Schickſals der Griechen weit hinaus gewachſen find. Das ift ein Fundamental:
jat moderner Moral und moderner Xejthetil. Der Stolz auf die großen Errungen-
ichaften des neuzeitlihen Menjchentums läßt es nicht mehr zu, das in uns wirkende
Geſetzmäßige in einem außer uns mwahrmehmbaren oder geahnten Unbegreiflicen zu
iymbolifieren; er verlangt auch bei der poetijchen Behandlung feelifher Vorgänge, daß
wir den „Dämon“ in uns, der unſer Schidjal ausmadt, über den übrigens ſchon
Dedipus jo beweglich fich beflagte, Elarlegen als die Wirkſamkeit gang beftimmter Ber-
anlagung. Das Seeliſche betrachten wir auch nur als eine chemiſche Formel, die
unter den und den Umftänden die durdjaus beitimmbare Wirkung herborbringen oder
erleiden muß. Und auch die Umftände jelbjt haben wir heute an der Schnur als be»
ftimmt abgemwertete Größen, als welche Staatswiſſenſchaft, Volkswirtſchaft, Soziologie
und andere Disziplinen fie uns fennen lehrten. Des Stolzes über foldhen Beſitz darf
vor vielen Bijörnjon froh fein. Denn ganz gewiß hat er an diefe Fragen ein viel-
bemwegtes, ftrebensrelches Leben hingegeben. Was ihm da Erkenntnis wurde, dem hat
ein ftarfes, impulfives Temperament, ein nicht geringes Genie der Sprache jederzeit
eine glückliche Formel gefunden. Wann und mo diejer jtarffnochige und heikblütige
Normandjohn zu uns jpricht, hören wir ihn gem, oft bingeriffen und immer mit jenem
Intereſſe, das ſonſt nur Bollnaturen uns abgewinnen fünnen. Er mwägt gerecht, fieht
alle Seiten der Dinge mit ungewöhnlidder Schärfe; und wo das Gewebe der Gharaftere
ohne Schwierigkeit fi) entwirren läßt, die Konflikte durchfichtig find, zeichnet er und
baut er auf mit fait immer einwandfreier Sicherheit. Das deutiche Theater auf feinem
Wege zu neuen Formen iſt auch ihm zu Dank verpflichtet: „Das Falliſſement“ und „Die
Neuvermählten“ waren Bereicherungen unjeres „nützlichen Vorrats“, um mit Gottjched zu
reden. Die Nachbarſchaft aber, in die ihn fein großer Erfolg der letten Spielzeit
brachte, verträgt er nidt. Die Dämmerung nod der jeit zwei Jahrtaujenden ver-
glühten wirklichen tragifchen Größe läht das Kanal, das feine tragische Problemdihtung °
entzündete, nur in blaſſen Flammen leuchten. Er darf nicht neben Aeſchylos zu ftehen
fommen; und ſelbſt neben jedem wirklichen Seher der Dichtung ſchrumpft er zufammen.
Dan merkt dann, daß der Eindrud eines ungemein durchgeiftigten Auges vielleicht nur
auf Rechnung der jcharfen Brille zu ſetzen ift, die er trägt — phhfiognomifch und
pſychologiſch. Die geiftige Brille nämlich jest ihm der politifche Doftrinär auf, der er
im innerften Weſen und vorwiegend iſt. Ihn beherricht, wenn man Fechners Unter:
iheidung anmenden will, doc die „Nactanficht“ der Welt, wenn er fie auch durd)
fünftlihe Flammen zu illuminieren weiß, — und nidt die „Tagesanficht“ des an-
ichauenden Genies, das ſich ſelbſt Lichtquelle ift. Dinter dem Neden aus Norrland
aber jtedt dennoh — ein Philifter. Nicht im übelen Sinne des Wortes natürlih; nur
in dem, der den meiften, aud) der großen Söhne de3 vorigen Jahrhunderts diefe Signatur
aufprägt, weil fie die Idee der Welt wiſſenſchaftlich erichöpfen zu können meinten.
Das verrät eigentlich ſchon mit aller Ehrlichkeit, die bei Biörnfon überhaupt nie
in Zmeifel zu ziehen ift, der Name feiner tragiichen Dichtung: Ueber unfere Kraft.
456 Mar Marieriteig, Rom deutichen Theater.
So dürfte eben feine tragijche Dichtung heigen! Das Zugeftändnis: das ift über unjere
Kraft, bricht jedem Problem die Spike ab, die in die tragiiche Sphäre ragen könnte.
Wollte man hier mit dem Ginwand „Damlet“ fommen und auf Goethe fich berufen, fo
müßte id) jo unbotmäßig fein, in diejem Falle Goethe eines Mikverjtändniffes zu zeihen.
Fragen wir die Dichtung Björnjons jelbft: — es ift gar nicht das mit der Skepſis in
Seelenqualen vingende religiöfe Genie, das uns hier das Wunder als über unjere
Kraft tragisch erfennen läßt, — es ift der Rationalift, der treue Sohn des neungehnten
Jahrhunderts, der bei aller großen Klugheit jo thöricht ift, den Glauben an das Wunder
an die Handlung zu fnüpfen — ftatt an das Sein überhaupt. An dem Wunder, das
den Tod felbjt überwindet, ift der echte Fromme, wie der echte Philoſoph nie irre ge
worden. Weil es für ihn feinen Tod giebt, braucht der Gotrfchauende gegen ihn fein
Wunder. Das Wunder aber, das Sang erbetet, tritt ja ein! Und wenn er, nachdem
es fich ihm erfüllt, um des Todes willen an der Kraft jeines Glaubens irre wird, jo
war diefer Glaube ein überheizter Wahn, — ohne jede fittliche Bedeutjamkeit für das
Problem, alfo auch fein tragifches Motiv. Der Rationaliſt Björnjon ftreift bier, wo
er ganz poetifcher Weisheit voll zu fein wähnt, jehr nahe an eine große Trivialität.
Ebenfo ift es nidht der mit Ewigkeitsmaßen wägende Ethifer, der das foziale
Problem, — den Inhalt des zweiten Teils der Dichtung, — im Sinne einer modernen
Weltidee zu löjen ſich anjchiekt, jondern der Politiker, der die „Kunft des Möglichen“ —
jein Metier — von jeinem Standpunftte aus in Dichtung umſetzt. Auch hier freilich
überrafcht er durdy den Reichtum an ganz objektiv fcheinenden Beobachtungen und ſcharf—
fuhtigen Schlüffen und wie er die Einzelheiten zu plaftiihen Gedanfenbildern formt.
Wir begegnen wahren Menfchen in diefem großzügigen Werk; die einzelnen Gedanken
darin find faft immer von jchlagender Wahrheit, aber der Gedanke der Dichtung jelbit,
ihre Idee, ift chief; die poetiich-fonjequente Schlußfolgerung zu ziehen, dazu fehlt es
Björnfon zu ſichtlich am echten tragifchen Geiſt. So hat denn der blaffe, verſöhnende
Zchimmer, den er aus dem dunfelen, von blutigen Bliten wild durchzückten Gewölk der
Nataftrophe wie eine janfte, zur Verjöhnung ftimmende Abendröte heraufführt, auch
feine erlöfende, feine tragische Kraft. Björnſon meint, die heute jo bedrohlich zugeſpitzten
Gegenſätze in geiftigen, religiöjen und jozialen Fragen würden von überfpannten Phan—
tafieen, von überſpannten ®illen ergriffen, in denen jtets etwas „über unfere Kraft“ jei:
das iſt mohl im wejentlichen nie anders gemwejen, — und die Tragödie des fozialen
Problems ift wahrlich nicht die neuejte, ift vielmehr die allerältejte Form des Dramas.
Nur ift ed gerade diefer Kunſt höchftes Biel nicht, das an fich Yöbliche zu bewirken; und
ihre tragifchen Gebilde bezweden nicht, Mitgefühl für die Yehre des Martyriums zu
werden oder zu mahnen, daß „einer den Anfang machen muß mit dem Vergeben“. Das
iſt qute, tugendhafte VBernunftweisheit, aber nicht tragiiche Gefinnung, die, nach dem
immer noch zuverläffigen Ariftoteles, Furcht und Mitled in uns reinigen, — das heißt
etwas freier überjekt, ur Tapferkeit umſchweißen joll. Nach politiicher Opportunität
hat der Dichter nicht zu fragen, und befonders nicht der Tragifer. Er fieht, was ift
und war und auf welchen Wegen die Menjchheit zu neuen fittlihen Werten fam. Da
trifft er aber immer gerade Menſchen von ungewöhnlich gehäufter Willenskraft am
Werke: den ungeheuerlichen Unmenfchen jo gut wie den in ftrablender Reine dur die
Mar Marterfteig, Bom beutfchen Theater. 457
Niederungen jchreitenden Dradjentöter, den Hagens Speer von rückwärts niederftredt, —
fie find alle „über die Kraft“ hinausragend und nur dadurch erft äfthetiich intereffant.
Der Dichter betrügt fi ja um jeinen hödjften Triumph: das Notwendige zu zeigen,
das immer auch das Geiftbemwältigende ift, — wenn er feinen Helden ſelbſt fritifiert und
aus den vom Sturme des Schickſals umjchütterten Höhen in die Niederung der Hojpital-
luft und nad; Ausgleichung juchender Sentimentalität herunterleitet. Dieſen Mangel
enthüllte gerade die Bühnenwirfung des Dramas, und für — Augen war Björnjons
großer Sieg eine Niederlage und eine Enttäufhung.
Die auch im Reiche hoher Kunſt finfter waltenden Vergelterinnen forderten Sühnung
für den den echten Tragifern fe entriffenen Kranz. In der unberechenbaren Wandelbar:
feit der Theatermenge, die den Lorbeer von geftern heute mit dem Nutenbündel ver:
taufcht, leben die Erinnhen weiter. Unter dem Stern Björnſons war die vorige Spiel-
zeit zu Ende gegangen, jollte auch die neue beginnen; aber ftatt eines neuen Sieges
wurde dem nordiſchen Dichter diesmal eine nun allen erfennbare glatte Niederlage.
Zwei Stüde fielen unter dem jchaudervollen Hohngelädhter der Immerwachen: „Labo—
remus” und „Paul Yange und Tora Parsberg“. Fielen, — das erjtgenannte Drama
gleichzeitig in München, Stuttgart und Berlin; das Tettgenannte kürzlich am deutſchen
Schaufpielhaus in Hamburg.
Waren fie jo unendlich viel jchlechter al3 das mit Aeihylos um den Preis ringende?
Hatte den Dichter plöglich die Kraft verlaffen? — Gewiß nicht: auch in ihnen famen
alle feine Vorzüge, aber auch alle jeine Fehler zur Geltung. Nur daß die Fehler hier,
wo die Hypnoſe durch den großen Gegenftand ausblieb, augenfälliger zu Tage traten.
„Laboremus“ fiel, weil die tugendhafte Lehrmoral bier unverhüllt zu Tage trat und ihr
jo gar fein entjprechender Reiz des Glementaren, des Yeidenjchaftlichen, des Chaotifchen
des Lebens das Gegengewicht bot. Man modjte an die männlihe Hauptfigur, den Zu—
funftsfomponiften einer recht unflar ſtizzierten Oper „Undine* nicht vecht glauben und
hielt e8 am Ende nicht für fo gar mefentlich, wenn das angefangene Werk ein Jahr
länger im Schreibpult liegen würde, weil der junge Mann mit fichtlihem Gefallen in den
Netzen einer leiten Dame ſich berauſchte. Diefe Dame freilich ift nicht nur leicht, —
fie ift auch eine Hochſtaplerin der Kunſt, eine Mörderin jogar und foll, nad) des Dichters
eben leider nicht ganz gelungener Abficht, ein berüdender Dämon jein. Sie muß den
Furien anheimfallen, fie hat es taujendfältig verdient; und bis hierher ift der Dichter in
jeinem Rechte. Aber wenn der fomponierende Antonius, wie alle dem Weibe gegenüber
nur erleidenden Männer, wenig Anteil gewinnt, hätte die Kleopatra einem wirklichen
Dichter doch ein reigvolliter Vorwurf fein fünnen. Das aber leidet der eifervolle Moralift
in Björnfon nicht: ihm liegt vor allem daran, daß das Yafter beitraft, das Scheufal
in die Wolfsichlucht geworfen werde, die Tugend aber an dem nicht mehr ganz unbe-
fannten Tiſch der Pflicht fich mit dem jalbungsvollen Ausruf niederjege: „Yaboremus!“
„Arbeiten wir weiter!” jagte Goethe, als ihm feines Sohnes Tod gemeldet wurde,
nad) einem langen Schweigen verwundenen Schmerzes. An anderen Orten aber, da,
wo nicht der Pflichtmenjch, der zur Kälte ſich zwingende Bemeifterer des Lebens fpricht,
läßt der „Dichter“ den Herzen feiner Menichen frei entftrömen, was jie leiden. Und das
ift, troß der Achtung, die wir alle vor dem „Laboremus“ haben — mehr!
458 Mar Marterjteig, Bom deutfchen Theater.
Dagegen jcheinen mir die Hamburger etwas ungerecht gegen den Dichter geiwejen
zu fein. Sein Drama mit dem doppelten Syamiliennamen fünnte fürzer „Das politifche
Gewiſſen“ heißen: denn um diefes und um den ungemein fubtilen Begriff der politischen
Ehre handelt es fih in ihm. Das tragiihe Maß, deſſen Biörnjon ſich hier bedient, ift
ihm zuftändiger und zutreffender, als dies bei den vorher beſprochenen Stüden gefunden
werden fonnte Sein Held muß fterben, ſowie er mit jeinem ſchwachen Gemiffen, das
einzig bon der politischen Wahrhaftigkeit feine Stärfe leiht, in Widerjprud) geräth; und
gut ift ihm, dem blutlojen Zögling des parteipolitiichen Zeitgeiftes, die auf die Stärfe
des individuellen Menſchen pochende Frau mit ihrem Anipruch auf Leben gegenüber:
gejtellt. Aber auch hier verlegt uns im poetischen Sinne die Schwäche des nur Unter—
liegenden, der uns taujendmal näher rüden würde, wenn feine Tugend wirklich die
Kraft hätte, jelbit auf Koften des Verbredhens die Tyrannei der Meinung zu brechen.
Wir willen, daß „feiner lebet, der aus diefem Kampf die Seele rein zurückgezogen hätte”;
und es fjcheint uns als neuer fittlicher Wert bedenflid), wenn die mimojenhafte Empfind-
lichkeit des Gewiſſens fich dem leidigen Doktrinarismus bvermählen jollte. Das Bedenken
teilt erfichtlich auch der Dichter; nur jchade, daß aud hier wieder jeine Schwingen zu
ſchwach find, einen Aufſchwung zu innerer Freiheit aus der Niederung des mehr traurigen
als tragiihen Verzichtes nehmen zu können. In diefem Werke neigt der Dichter aller:
dings erfichtlich dahin, von Heilmitteln gegen den tragiichen Charakter des Lebens ab-
aufehen; und das fann als Vorzug gelten. Nur foll und kann darin nun nicht das ge:
fehen werden, was wir von einer modernen Tragödie verlangen. Das wäre die An:
ihauung des Peſſimismus. Und Schopenhauer allerdings erflärt die Tragödie als den
in allen Zeiten erbrachten fünftleriichen Beweis vom Unwert, von der Ungeheuerlichkeit
des Lebens. Ihm waren darum die meilten griehiihen Dramen „widerlich“, — weil
er den in ihnen troß aller Härte der Scidjalsentiheidungen waltenden tapferen
Optimismus in feiner Lehre nicht brauchen konnte.
Ein Dihter nah) Schopenhauerd Herzen wäre der Holländer Hermann Heher—
manns gemwejen, defjen „Seeſtück“, Die Hoffnung, nachdem es im Frühjahr jchon im
Neuen’ Theater erfchien, nun auf der Bühne des Deutjchen Theaters vortrefflich gefpielt
wird. Zwei Beitftrömungen finden hier einen vollendet zu nennenden künſtleriſchen Aus—
druck: der philofophiichen Einfiht in „dem finnlo8 graujamen Charakter des Lebens“
gefellt fich der trübfte Skeptizismus in der Auffajiung der fozialen Frage; und daneben
ift die Wirflichkeitsjchilderung der naturaliftiihen Schule wohl faum je in einem Drama
jo ohne Abweichung, ohne Zugeftändnis an irgend welche Eonventionelle Forderung der
Bühne durchgeführt worden wie hier. So ſcheint es wenigftens; fieht man aber genauer
au, jo findet man gerade einen in unferer Zeit jehr jeltenen Aufwand von fünftleriicher
Form, der den Naturalismus äfthetiicy adelt. Und jo ijt das Drama tro& der ber:
hängnisvollen irrtümlihen Weltanihauung als die Frucht eines feinften Künſtlergeiſtes
zu begrüßen. Eine Dichtung, bei der die Freude an dem Wie die von dem Was
ſchmerzlich verlette Seele aufrichtet.
Ö
WBEWEEWEEWEELELELE Tedınik. 151515 1515 1814 1615 1516
Ueberlicdıt über den augenbliklidten Stand der Elektrotechnik.
Von
Paul Hey.
D“ wiſſenſchaftliche Erforihung und technifche Ausnugung der Elektrizität hat im Laufe
der legten drei Jahrzehnte eine jo hervorragende Rolle in Wifjenihaft und Induſtrie
aller Kulturländer gejpielt, die Anwendung derjelben im täglichen Leben ift eine fo
umfangreiche geworden, daß fie fi in das Intereſſe der ganzen gebildeten Welt hinein-
gedrängt hat. Die Kraft, mit der am Anfang des vorigen Jahrhunderts die gebildete.
Welt fpielte, ift ſchnell herangewachſen, und aus dem Epielzeug ift ein Werfzeug geworden,
das faft auf allen Gebieten des Ermerbes und Verkehrs fi) jo bedeutungsvoll bewährt,
daß von der Weiterentwidlung der Elektrotechnif für das gejamte wirtichaftliche und
joziale eben ungemein viel abhängen wird.
Dieje Weiterentmwidlung kann nad) zwei Seiten hin betradhtet werden.
Der Fortgang der Entwidlung nad) innen hin mwird ſich neben dem ftetigen wiſſen—
Ihaftlihen Fortichritt auf die immer größere Ausarbeitung und PVervolllommmung des
ganzen Syſtems, fomit aljo der Erzeugung der Elektrizität, ihrer Fortleitung und An—
wendung erjtreden. Dierher gehört die oft angeregte Frage: Wird es möglich fein, die
Elektrizität und deren Erzeugung unabhängig von der Dampffraft zu machen? Es fünnte
einmal an einen Erfah der Dampfkraft dur Waſſer- oder Windkraft gedacht werden,
aber dieje Möglichkeit wird natürlich zu fehr durd) die Abhängigkeit vom guten Willen
der Natur eingejchränft, als daß fie die ftet3 dienftbereite und von der Dertlichfeit un:
abhängige Dampfkraft erjegen könnte. Es bliebe daher faum ein anderes Mittel, als
daß man die Eleftrizität direft durch chemische Vorgänge gewönne oder, anders aus:
gedrückt, daß man chemiiche Energie direkt in eleftriiche Energie ummwandelte. In kleinem
Umfange fann man das befanntermaßen; ift doch der Prozek in allen jogenannten
galvaniihen Elementen, die für Telegraphie und Telephonie lange benugt werden, nichts
Anderes, als eine Umjekung chemiſcher Energie in Elektrizität. Der Grund, weshalb
man diejes Verfahren nicht in großem Maßſtabe zur Erzeugung von Elektrizität benugt,
liegt in der Unwirtſchaftlichkeit dieſes Verfahrens gegenüber der durch rotierende
Maſchinen erzeugten Elektrizität. Erſt mit der Erfindung des eleftro-dynamifchen Prinzips
durh Werner v. Siemens beginnt der Aufſchwung der Elektrotechnik, nicht mit der
Erfindung des galvaniichen Glementes. Die Entdeckung eines Verfahrens, das dem
jegigen Syſtem der Eleftrizitätserzeugung überlegen wäre, ift auch heute nicht zu er:
warten. So ift denn bislang und waährſcheinlich aud) jernerhin die Elektrizität mit der
rotierenden Maichine (der Dynamo oder dem Generator) an eine Kraftquelle gebunden,
460 Paul Hend, Ueberficht über ben augenblidlichen Stand der Elektrotechnik.
jei 8 eine Wärmefrafımajdine, wie Dampfmaſchine oder Gasınotor, oder eine durd)
Waſſer bezw. Wind betriebene Kraftmaſchine.
Die Rentabilität diefer Umfegung der Kraft liegt in der Möglichkeit, diefelbe in
der Form der Elektrizität leicht und billig fortzuleiten, und in der meitgehenden und
vielfeitigen Verwendbarkeit derjelben. Mit diejen beiden Eigenfchaften ift die Möglichkeit
zur Gentralifation gegeben, und hierin liegt der auszeichnende Vorteil der Elektrizität
vor anderen Energieformen. Das ift denn auch der Weg, auf dem die innere Entwid:
fung fortgefchritten ift, zu immer größeren Mafchinen und Mafchinenfägen geführt hat,
zu räumlich immer umfafjenderen Abjatgebieten, aljo größerer Entfernung der Ueber-
tragung, damit zu höheren Spannungen und anderen Formen der Elektrizität. Die bei
Gleichſtrom verwendeten Spannungen find nad) und nad) von 65 auf 110 Bolt, 2> 110
und neuerdings auf 2 > 220 und 500 Volt geftiegen; neben dem Gleichftrom ift der
Bechfelftrom, befonders in der Form des Dreiphajen- oder Drehftroms, eingeführt worden,
der weit höhere Spannungen und leichtere Transformierung derjelben zuläßt und ſich
darum befonderd zur MWebertragung auf weite Entfernungen eignet. Damit ift die
wichtige Möglichkeit gegeben, die Elektrizitätswerke größerer Städte an den Rand
derjelben zu legen, wo Baugrund billig zu haben ift und auch fonft durd; Kanäle oder
Schienenftränge günftige Lage fich bietet, fowie ferner aud) die fogenannten Ueberland—
Gentralen anzulegen, die von einem befonders geeigneten Orte aus einen größeren
Bezirk von Ortichaften mit Kraft und Licht verforgen.
Dieje weitgehende Gentralifierung der eleftrifchen Energie ift ferner möglich und
augleih mwirtjchaftlich wichtig wegen der ungemein vieljeitigen Verwendbarkeit derfelben.
In der eleftrifchen Beleuchtung ift neben der wachjenden Verbreitung auch größere
Bervolllommnung und damit größere Wirtfchaftlichkeit zu erwarten. Auf dem Gebiete
der Bogenlampentechnif find neben Doppelbogenlampen und Dauerbrandlampen, die fid)
durch Vereinfachung der Bedienung auszeichnen, neue Konftruftionen geſchaffen, wie 3. B.
die Bremer Lampe, die eine mwejentliche Berbilligung des eleftrifchen Lichtes verſprechen.
In der Glühlampentechnik ift ed vor allem die Nernſt-Lampe, bei der ein neues Prinzip
mit. Erfolg durchgeführt ift, das fich befonders durch größere Dekonomie auszuzeichnen
fcheint. Darauf aber wird man bei der elektriihen Beleuchtung ein Hauptaugenmerf
richten müffen, auf noch beffere Lichtausnutzung der Energie, größere Defonomie und fomit
größere Billigfeit, jo fie neben der Gasbeleuchtung beftehen fünnen.
Anders bei der eleftriichen Kraftübertragung. Hier wird in nächſter Zukunft eine
Berbilligung der direkten often faum zu erwarten fein, denn die Syſteme der eleftrifchen
Majchinen und Motoren jowie Transformatoren find in kurzer Zeit der höchftmöglichen
Bervolllommnung in Bezug auf rationelle Ausnutzung der Kraft jo nahe gekommen, wie
auch die letzte Pariſer Ausftellung dargethan hat, dat eine größere Wirtichaftlichkeit
faum zu erreichen jein wird. Dabei hat die elektriiche Kraftübertragung viel weniger
Konkurrenz als die eleftrijche Beleuchtung. Cine Uebertragung mitteld Dampf oder
Drudluft bezw. Druckwaſſer auf große Entfernungen ift überhaupt ausgeſchloſſen, und
auf furze Entfernungen ift die Straftübertragung auf elektriihem Wege mindeftens ebenjo
billig wie irgend eine andere Art und weiſt in vielen Fällen große Vorteile auf. Hier
liegt der Fortichritt in der Erichliegung neuer VBerwendungsgebiete.
Paul Heyd, Ueberficht über ben augenblidlichen Stand der Elektrotechnif. 461
Die Großinduftrie hat fi ſchon heute in großem Umfange der Elektrizität be
mädtigt und damit, neben dem Vorteile, durch Fortfall der vielen Transmiffionsriemen
helle, überjichtlichere Fabrifationsräume zu haben, durch fogenannten Gruppenantrieb
größere Betriebsficherheit bei geringeren Betriebsfoften erlangt. Der Kleininduftrie ift
durch den Elektromotor, der überall ohne bejondere Schwierigkeiten und Koften auf:
geftellt werden fann, ein unſchätzbares Betriebsmittel gegeben. Auch die Landwirtichaft
wird ſich vorausfichtlich der Elektrizität in größerem Maße bedienen, die gemachten Er:
fahrungen berechtigen durhaus zu diejer Annahme und die verhältnismäßig geringe
Verwendung zur Zeit hat ihren Grund nicht in der Ummirtichaftlichfeit des Syſtems,
fondern im Mangel an Straftquellen, an Ueberland-Gentralen, denn die eigene Einzel—
anlage rentiert oft nicht oder wird nicht gewagt, wo ein Anſchluß an ein beftehendes
Leitungsnetz ohne weiteres erfolgen würde. Bergbau und Marine find neue aufblühende
Berwendungsgebiete der Elektrizität, bei denen befonders die ungemelne Anpaſſungs—
fähigkeit bei geringftem Raumbedarf wichtige und auszeichnende Eigenſchaften bes
Syſtems find. Auf Kriegsfchiffen ganz bejonders hat neben der Beleuchtung und Ver—
forgung mit Kraft zu Zwecken der Dunitionshebung und Gejhügbedienung vor allem
das Signalifierungsmwejen dur Einführung der Elektrizität eine Vervolllommnung er-
fahren, die auf feinem anderen Wege zu erreichen gewejen wäre. Cine der wichtigſten
und wmweitgehendften Aufgaben aber ber Elektrizität liegt im Bahnmefen. Die umfaffende
Einführung der elektriihen Straßenbahnen hat die abjolute Ueberlegenheit diejes
Traktions-Syſtems ſchon vollauf bewiefen, und die fünftige unabweisbare Entwidlung
der Eijenbahnen zu Schnellbahnen wird höchſt wahrſcheinlich der Elektrizität ein großes
neues Feld erjchliegen.
Während fo die Starkftromtehnik dur Verbolllommnung ihrer Mittel und Er-
meiterung ihres Gebietes auf der ganzen Linie vorwärts drängt, bleibt die Schwach—
ſtromtechnik nicht zurück. Hier find es die VBerbefferung der vorhandenen Spfteme und
Entdeckung neuer Erjcheinungen, die auf dem Gebiete der Telegraphie und Xelephonie
in neuefter Zeit zu fo wejentlichen Fortichritten geführt haben durch Erfindung der Schnell-
telegraphen, der Telegraphone, der drahtlojen Telegraphie, daß hier bedeutende praftifche
Neuerungen zu erwarten find, die mit dem wachjenden Bedürfnis des Sicherheitsdienftes
und Verkehrs überhaupt Schritt halten und der Elektrizität im täglichen Leben eine
immer größere Rolle zumeijen.
So find denn überall die techniichen VBorbedingungen für eine gefunde Weiter:
entwicklung der Elektrotechnif im neuen Jahrhundert gegeben, und bleibt zu hoffen, daß
die Geſamtentwicklung des mwirtichaftlichen Lebens eine ſolche fei, daß fie die zahlreichen
Hilfsmittel, die durch die Elektrizität gegeben find, ausnusen fann.
©
Bũucherſchau.
Rudolf Eudien, Der Wahrheitsgehalt der Religion. Leipzig, Veit & Comp. 1901. 48 ©.
Die Zeit der fait ausjchliehlichen Herrichaft des Materialismus ift vorüber. Wenn je
dann wird die Menfchheit gerade unferer Tage von einem immer ftärferen Bedürfnis nad
höheren Idealen, nach einer Neubelebung der ethiichen und religiöfen Mächte durchzogen. Die
Religion ift, wie Euden in obigem Buche ©. 43 ff. auseinanderfegt, unter uns nicht wie ein
mattes Licht erlofchen, fondern im 19. Rahrhundert mit frifcher Kraft emporgeftiegen. Das
zeigt ſowohl die Machtentfaltung der Kirchen als auch das Wachstum der religiöfen Mächte
außerhalb derjelben. Wie ift diefe Wendung zu veritehen, zumal die Gegenbewegung gegen bie
Religion nicht aufgehört hat? Zunächſt hat die Religion neue Vermögen gezeigt, indem fie nach
Erjehütterung ihrer alten Grundlagen neue fuchte durd) eine Aufmweifung ungerftörbarer Wurzeln
im tiefiten Wejen des Menjchen; fie hat fich ferner inmitten des modernen Lebens durch große
praftifche Yeiftungen bewährt, befonders durch eine großartige Hilfsthätigkeit gegenüber
wachfenden moralifhen und fozialen Schäden. Aber der Hauptgrund ihres Erſtarkens tit
indirefter Art. er liegt in ſchweren inneren Verwidlungen derjenigen geiftigen Macht, deren
Bordringen die Religion am härtejten bedrohte, er liegt in der Erfchütterung bes Glaubens an
die Allgenugfamkeit der modernen meltfroben und ſelbſtbewußten Kultur. Wir beginnen zu
empfinden, daß die Welt nur fo lange als ein Shitem der Vernunft erjchten, als noch die Idee
einer Uebermelt ihren Glanz auf fie warf. Wir fühlen die innere Verarmung in aller äußeren
Bereicherung, den Mangel eines feiten Haltes gegenüber der ſtürmiſchen Lebensflut, das Fehlen
eines großen, ben ganzen Umkrels des Lebens beherrichenden, die Menfchheit zuſammenhaltenden,
jeden einzelnen über feine Heine Natur erhebenden BZieles. Und zugleich beginnen die uralten
Nätfel des menſchlichen Dajeins mit frifcher Kraft twieder aufzufteigen: das tiefe Dunkel über
unfer Roher und Wohin, unfere Abhängigkeit von undurchſichtigen Mächten, die Gegenfäre in
unferem eigenen Innern, bie Schranten unſeres geiſtigen Vermögens, der Mangel an Liebe und
Gerechtigkeit, Furz der jchroffe Widerfpruch der geijtigen Anlage und der wirklichen Yage des
Menſchen. Diefe Rätfel können zur Verzweiflung führen, aber jie treiben zugleich am Punkte
äußerjter Verzweiflung eine Gegenwirkung hervor. Mögen alle Begriffe verfagen, alle Aus—
fichten auf Rettung zu entſchwinden fcheinen, — im tiefiten Grunde beharrt ein unzerſtörbarer
Lebensaffelt und giebt dem Menichen die umerfchütterliche Ueberzeugung, daß Tieferes in ihm
wirkt, daß binter feiner Feſthaltung am Sein mehr jtedt als ein ſelbſtiſches Glüdöverlangen,
daß es jich bei bem Lebenskampf nicht um das bloße Erreichen des Punktes, jondern um unab—
weisbare Aufgaben handelt, die das Ganze angehen und über alle fichtbare Ordnung hinaus—
weiſen, auf welche dev Menfic daher weder verzichten kann noch darf, Damit aber verwandelt
ich auch mit einem Schlage die Stellung der Religion: es wird uns Har, daß bei dem Kampf
um die Religion unfer ganzes Glück auf dem Spiele fteht. Bei Empfindung deſſen fommt über
die Menfchheit wieder eine große Sehnſucht nach Religion, ein Verlangen nad ewigen Wahr:
heiten, nach inneren Zufammenbängen, nad) Rettung eines geiltigen Weſens, nach Verjekung
aus kleinmenſchlicher Enge in ein übermenfchliches Leben. Deutlich genug fehen wir inmitten
aller Verwirrung der Zeit eine neue Woge bes Lebens ſich anfündigen, die andere Kräfte mit
fi Bringt und nad) ganz anderer Richtung zieht als die ben Beginn der Neuzeit bezeichnende
Gebensflut. Diefe Bewegung muß auch die Vhilofophie ergreifen, fie muß einen wiſſenſchaft⸗
lihen Ausdrud für die inneren geiftigen Bewegungen juchen, melde ſich in ber Menſchheit neu
Bücherfchau. 463
aufringen. Da iſt benn nun unjere Freude eine fehr große, dat Euden als der Berufeniten
einer der allgemeinen Zeitlage entgegengefommen ift und eine neue wiſſenſchaftliche Fundamen-
tierung des religidfen Problems verfucht hat. Sein Bud iſt feine Religionsphilofophie; eine
folche zu fchreiben tft, wie er richtig bemerkt, die Lage der Gegenwart zu verworren. Aber um
fo eindringlicher hat er jich bemüht, ausgehend vom gefamten Lebensprozeſſe, unter Aufweis ber
Thatfache eines allumfafjenden Geiſteslebens die Wahrheit der Religion zu ermeifen und fie
zumal in ihrer Ausprägung durch das Chriftentum, über alle Angriffe zu erheben. Wir geben
bier feine Inhaltsangabe des hochbebeutenden Buches, das weit über die neuejte philofophifche
und nichtphilofophifche Litteratur hinausragt. Wir wollen nur die Leſer unferer „Monatsſchrift“
auf eine Arbeit aufmerkſam machen, von der wir überzeugt jind, daß fie Bewegungen wachrufen
wird, welche jo bald nicht wieder verlaufen werben.
Fermersleben. Otto Siebert.
Heinrich von $ybel, Die Begründung des Deutſchen Reiches durch Wilhelm I. Vornehmlich nach
ben preußifchen Staatsakten. Neue billige Ausgabe in 7 Ganzleinenbänden. Berlag von
N. Oldenbourg, München und Berlin.
Das Urteil über Heinrich von Sybels „Begründung des Deutjchen Reiches“ jteht längſt
feſt. Am beiten formuliert hat es wohl Schmoller in der „Sedächtnisrede auf Sybel umd
Treitjchte”, die er 1896 in der Berliner Akademie der Wifjenichaften bielt. Er nennt Sybel den
„feinften und klarſten politiſchen Erzähler” und urteilt, daß „viele Teile des Werles, mie die
Schilderung des Feldzuges von 1866 und der Bismardichen Staatöfunft von 1863—1866, für
alle Zeiten zu den Perlen der bijtorifchen Yitteratur zählen“ werben. Dabei verhehlt Schmoller
freilich nicht, daß, feit im Jahre 1894 Sybel den fiebenten Band feiner Geſchichte abſchloß, unfere
Kenntnis der von ihm gejchilderten Zeit (1855—1870) nach allen Seiten bin an Umfang und
Vertiefung gewonnen hat. Er bat auch die Schranken der Begabung Sybels hervorgehoben.
Trotzdem können wir fein anderes Buch nennen, das uns den Subel erjegen fann. Nach wie
vor wird, wer einen lebendigen Einbrud jener großen Jahre gewinnen will, auf ihn zurüdgreifen
müſſen.
Es iſt bekannt, daß Bismarck an der Sybelſchen „Begründung des Reiches“ in gewiſſem
Sinn als ein Mitarbeiter beteiligt if. Er bat ihm den Zugang zu den Aktenmaterialien des
Auswärtigen Amtes eröffnet, mündliche Erläuterungen gegeben, bie und da wohl auch am
Manufkript geitrihen und zugefügt. Auch der Titel des Werkes „Begründung des Deutfchen
Reiches durch Wilhelm J.“ dürfte nicht ohne fein Zuthun entitanden fein. Er wußte, daß er
ohne feinen edlen König und Kaifer fein Werk nimmermehr hätte vollführen Fönnen. Dennoch
gehört die „Begründung des Reiches“ als hiſtoriſche Telftung ganz dem Genius Sybels. Die
Richtung feines Talentes, feine Weltanfchauung, fein polittfches Denken und Empfinden fommen
überall zu voller Geltung. Nicht Bismard, jondern er redet und urteilt. Es ift nun aber hödhit
merkwürdig, wie Bismard in feinen „Bedanten und Erinnerungen” ſich die Sybelſche Darftellung
zu eigen gemacht hat. Wo er nicht Belanntes wiederholen will, vermweiit er auf ihn, er bat
gleichſam Spbels Erzählung in einen dauernden Zufammenbang mit dem großartigen Rückblick
geſetzt, den er auf fein politifches Yeben wirft. Beide Bücher lafjen ich nicht von einander
trennen, und gerade der ungehenere Unterjchied der Naturen des großen Staatsmanns und des
Hiftoriters, der die heroiſche Periode jeines Lebens jchildert, bietet dem Bergleichenden immer
neue Anregung und Belehrung.
Die neue, für weite Kreiſe berednete billige Ausgabe des Sybel giebt uns einen unver:
änderten Abdrud der letzten, von Sybel felbit durchgejehenen Edition. Nur ein Namens und
Sachregiſter ijt neu hinzugefommen, und das bedeutet einen Vorzug. Daß feine Beränderungen
des Tertes vorgenommen wurden, können wir nur billigen. Das Bud, fo wie es iſt, hat fich
feinen Platz nicht nur in unferer hiſtoriſchen Litteratur, ſondern aud im weiten Streifen ber
Nation gefichert, weil es genau die Auffafjung mwiedergiebt, welche in der Generation lebendig
war, bie bad Werk ber „Begründung des Reiches" erlebte und es erſt mwiberitrebend, dann in
thatfräftiger Mitarbeit, zu dem Ausgang führen half, ben wir kennen: Die Erziehung bes
464 Bücherfchau.
deutfchen Volkes zu nationaler Einheit: das mar das Lebenswert Bismards und des Königs,
es ift zugleich der Grundgedanke, der durch Sybels „Begründung bes Deutfchen Reiches” geht.
Theodor Schiemann.
Ediermann, Geſprache mit &oerbe. Neue Ausgabe in zwei Bänden von Adolf Bartels. Eugen
Diederichs Verlag, Leipzig.
Eckermanns Geſpräche mit Goethe ſind in den letzten Jahren ſeines Lebens erſchienen,
wie erwähnt, zuerſt im Jahre 1835, und zwar in zwei Bänden. Ein dritter Band mit Nach—
trägen folgte im Jahre 1848. Hier waren auch Aufzeihnungen des Schweizer Soret, ber
ebenfall8 Erzieher des Erbprinzen Karl Alerander geweſen war, benußt. Die Original-Ausgabe
ber Geſpräche bat dann, zuletst von Heinrich Dünzer herausgegeben, ſechs Auflagen erlebt.
Seit 1884 find billige Ausgaben entitanden. Die Bartels-Diederichiche will vor allem auc eine
äußerlich mwürdige fein; ein Lebend- und Bildungsbuch mie den Edermann will man in einer
Geftalt befiten, die lieb und vertraut werden fann. Der Drud geht jelbftverftändlich auf Die
OriginalsAusgabe zurüd, und es tt dem Herausgeber gelungen, eine ganze Reihe von Fehlern,
bie fich nach und nach in den Tert eingeichlichen batten, wieder zu entfernen.
Die Einteilung des Werkes erfolgt im ziwei Bänden ftatt der üblichen drei. Möge das
teure Werk, dieſes „Dauptbuch der ganzen GoethesPitteratur”, eins der berrlichften und
bedeutendften Bücher bes ganzen deutjchen Yitteraturfchates, noch viel breitere Kreiſe in Deutich-
land erobern und „ein geliebtes Hausbuch werden, mo es irgend möglich iſt!“ 3. 8.
Platon von Wilhelm Windelband. (Mit Bildnis.) Dritte, durchgeſehene Auflage. 191 Seiten.
Stuttgart, Fr. Frrommanns Verlag (E. Hauff) 1901.
Unter ben Dentern ber Vergangenheit iſt fein zweiter, ber jo fortwährend die Gemüter
bewegt und über die gelehrten reife hinaus Intereſſe erweckt wie Platon. Aber ein richtiges
und anfchauliches Bild von ihm zu geben, ift überaus fchwer; feine zahlreichen Schriften und
feine lange Entwidelung enthalten eine folche Fülle von Problemen, daß die gelehrte Arbeit oft
gänzlich dadurch feitgebalten wird. In der öffentlichen Meinung überwiegt aber, nicht ohne
Schuld ber hoöchſt einfeitigen Schilderung Platons in Goethes Frarbenlehre, ein arg berzerrtes
Bild bed großen Philoſophen, indem er als eine befonders ruhige, geflärte, fanfte Perfönlichkeit
erſcheint. Gegenüber folchen Gefahren und folchen Irrungen tft es befonders dankenswert,
wenn ein hochgefchäßter Denker und Forſcher wie Profefior Windelband in großen und marfigen
Zügen, ſowie in gelitvoller, allgemeinverftändlicher Daritellung uns ben großen, von allen
menjchlichen Problemen aufs tiefite erregten und mit Aufbletung böchiter Sraft neue Bahnen
brechenden Bhllofophen nabebringt. Er thut das, indem er in fnappen, aber ſehr inhaltreichen
Abfchnitten ben Mann, den Lehrer, den Schriftiteller, den Philoſophen, den Theologen, den
Soztalpolitifer, den Propheten jchildert. Weber verichtedenes Einzelne wird ſich jtreiten Laffen,
wie überhaupt alle Berichtigung der Begriffe nicht wird verhindern können, daß von einem fo
perfönlichen Denker, wie Platon es tft, fich jeder fein eigenes Bild macht, daß jeder feinen eigenen
Platon hat. Aber der Platon Windelbands follte allen Freunden bes großen Mannes gegen-
märtig fein; daß er vielen etwas zu fein vermag, das zeigt ſchon die rafche Folge der Auflagen,
ficher wird diefe dritte Auflage nicht die letste fein. n.
Weltgeichichte, herausgegeben von Bans F. Helmolt. Leipzig und Wien. Bibliograph. Anftitut
189 ff. Erichienen find bislang Bb. 1, 8, 4 und 7.
Wieder eine neue Weltgeichichte, fo wird mancher jfeptiich ausrufen, wozu die ewigen
Wiederholungen und neuen Anläufe, uns den gefamten Berlauf der menſchlichen Entmwidelung
in einem anfcheinend fortlaufenden und doc; thatſächlich durch vielfache Lücken unterbrochenen
Bufammenbang zu jchildern? Hier liegt aber wirklich Neues vor, Neues ſowohl binfichtlich der
Peripektive als auch bezüglich ded Materiald. Selbtverjtändlich können wir Bier nicht
ausführlich den Standpunkt und die Methode des ganzen Werkes begründen, es muß
Bücherſchau. 465
genügen, wenn wir uns auf einige Andeutungen beſchränken. Maßgebend iſt zunächſt der un—
verbrüdjliche Zujammenbang der Geographie und Ethnographie mit der Geſchichte etwa In dem
Sinne, wie der geniale Karl Ritter denfelben (menn auch etwas phantaſtiſch) aufgefaßt bat.
Dadurch verfteht es fich von felbit, daß auch die Naturvölker, die Vertreter der niederen Ge—
fittungsitufen, mit in den Bereich der Darftellung gezogen find, felbjtredend fomeit bei ihnen
von einem gefhichtlichen Leben die Rede fein kann. Dies ift in pfuchologifcher Beziehung eine
nicht zu unterfchäßende Bereicherung; im übrigen jtedt ſelbſt in Bentralafrifa mehr fortlaufende
fozial = polttifche Entwidelung (mie das fchon Baftian fagte), als man auf ben eriten Blick
meinen follte. Auf jeden Fall tft mit diefer Erweiterung ber früher fo unvollitändige Rahmen
der Weltgefchichte einigermaßen überfichtlich und einheitlich geordnet. ine wirkliche, induftiv
aufgebaute Kulturlehre läßt fich erit auf diefem umfaffenden Material errichten, und fo gelangen
wir zu einem erichöpfenden Berjtändnis der Menſchheit. Ja die Meiiterhand eines Joh. Nante
läßt uns noch einen abnungsvollen Blid in die Vorgefchichte, In den Dämmerungsmorgen der
eigentlich; fozialen Differenzierung deö Genus homo sapiens thun. Sodann ift ftreng der
ernfte. empirifche Charakter in der Unterfuchung gewahrt; fo verfübrerifch fich der Betrachtung
die Teleologie nahen mag, jo fanı doc) die nüchterne Wiffenfchaft fich nicht mit der vorgeblichen
Erkenntnis in einen verborgenen Weltplan brüften und darnach ihre Beurteilung des Details
bemejjen. Hier herrfcht lediglich die Kaufalität und für unfere Reproduktion jomit die forgfältige
Aufjuchung dieſes logifchen Leitfadens, ber uns durch alle Wirren und Dunkelheiten fiegreich
zum Licht führt, Wir wiſſen noch nichts von der Zukunft, und gleichfalls in diefer Beziehung
jollten wir und Beicheidenheit und Zurüdhaltung auferlegen. Die bisherige Darftellung ums
faßt den folgenden Stoff: Band I: Allgemeines (Grundlegung). Vorgeſchichte. Amerifa. Der
Stille Ocean. Band TI: Weftafien. Afrita. Band IV: Die Mittelmeervölfer. Band VII:
Weiteuropa bis 1800. Eine fait unüberfehbare Fülle des Materiald thut jich vor unjeren
Bliden auf; auch hier mögen einige Hinmelfe auöreichen. Daß dem Stillen Ocean eine felbit-
ftändige, geographifchekulturgefchichtliche Studie gewidmet it. darf al8 ein befonderer Vorzug
bezeichnet werben. Die Bedeutung ber mweitafiatiichen Kultur für die Entwidelung Europas ift
forgfältig nachgewieſen, die geijtige Einheit, weldhe die Mittelmeervblker in Sitte und Weltans
jchauung und in der gegenjeitigen Wechfeltwirfung mit einander darjtellen, vortrefflich gefchildert
und endlich ber Eroberungszug unferer weſteuropäiſchen Zivilifation über den Erdball bin, der
ſich unter unferen Augen jebt vollzieht, im VII. Band nach den verfchiebenen dabei in Betracht
fommenden Faktoren erklärt. Einzelne, befonders wichtige Gricheinungen find babei einer
fpeziellen Unterfuchung unterzogen, fo die Entjtehung des Ehrijtentums, feine Ausbreitung durch
die Miſſion, die große ſoziale Frage, die Kolonialpolitik u. f. w., und zwar alles bis hinab auf
die legten Ereigniſſe. So erleben wir noch den Burenfrieg oder die llebergabe Kubas an bie
Vereinigten Staaten. Ein jchöner und auch zum Berjtändnis des Textes dfter nicht uns
weſentlicher Schmud ift die fait verichwenderiiche Fülle vortrefflicher Alluftrationen, mit denen
das Werk ausgejtattet iſt. Troß aller mwiflenjchaftlichen Gediegenheit, wofür außer dem Heraus:
geber auch die Namen der Weitarbeiter bürgen, ift die Daritellung für jeden Gebildeten ohne
weiteres verjtändlich und ansprechend, jo daß mir die erfreuliche Thatjache wohl begreifen, daß
das Unternehmen, das übrigens auch ins Englifche übertragen wird, bei uns eine weitgehende
Beltebtheit genteft.
Bremen. Th. Adhelis.
Diplomatenleben. Bunte Bilder aus meiner Thätigfeit in vier Weitteilen. Von Sir Edward
Malet, früherem Britifchen Botichafter am Berliner Hof. Einzig autorifierte Ueberſetzung
von Heinrich Conrad. Frankfurt a. Main. 1901. Neuer Frankfurter Verlag, ®. m. b. 9.
3 6 ©.
Sir Edward Malets „Diplomatenleben” in der mujterhaften Leberfegung von Heinrich
Conrad iſt ein in jeder Hinficht zu empfehlendes Bud. Es tft ihm umfomehr Perbreitung zu
wünfchen, als unferer öffentlichen Meinung das gerechte und vubige Urteil über englifche
Dinge verloren zu gehen droht. In Str Edward Maletö anipruchslofen Erzählungen finden
30
466 Bücherfchau.
wir aber gerade die durch ein langes, ehrenhaftes und ehrenvolles Leben praktiſch bethätigten
Eigentümlichteiten ‚der englifhen Natur, die mir hochſchätzen und lieben. Mannhaft, Far im
Urteil, von edler, Menfchlichkeit und ſicherem Plichtgefühl erfüllt, fo tft er durchs Peben ge
gangen, von feinem 16. Jahre an, da er als Attachs in Frankfurt a. M. feine Laufbahn begann,
bis zum Abſchluß feiner Thätigkeit als Botſchafter in Berlin, ohne jede Unterbrechung im
Dienite feines Landes thätig, fait immer an demjenigen Punkt des Erdballs, wo ſich gerade die
interefianteiten und wichtigften Dinge abjpielen. Während des Sezeſſionskrieges finden wir ihn
in Wafbington, 1870 und 1871 in Paris, wo er mit dem jetigen englifchen Botjchafter in Berlin
Sir Frank Lascelles die bbſen Tage der Kommune durchmacht, 1878 in Konjtantinopel, während
der kritiſchen Aahre 1879 bis 1882 in Egypten, dann 11 Jahre lang in Berlin. Er it 1840 in
Paris, alß die Ugberreite des erſten Napoleon in den Döme des Invalides übergeführt werden,
und hat teilgenommen an der Beerdigung von Wellington und von Moltte; er bat gefeben, wie
Bismard um den Kaifer Friedrich weinte, er hat Yincolm und drei deutfche Kaiſer gekannt.
Das alles erzählt er uns in der bumeriftiichen Umkleidung eines Trauminterviews, im Tone
liebenswürdigſter Plauderei, durchwoben von farbenreichen, perjönlihen Grinnerungen, Cha—
rakterzeichnungen, Aneföoten, gelegentlich auch von wirklich neuen hiftorifch bedeutfamen That:
fachen. Wie Lord Lyons nad dem Sezeifionsfriege einen Bruch zwifchen England und den
Rereinigten Staaten verhinderte, wie in Wirklichkeit ſich die engliſche Offupation Eguptens
vollzogen hat, wie Evelyn Baring beinahe türkifcher Finanzminiſter geworden wäre und ber:
gleichen mehr. Es find nicht wichtige diplomatifche Geheimniſſe, die und aufgededt werden, und
doch wird gerade derjenige, welcher die Befchichte der jüngiten Vergangenheit verjtehen will, aus
dem Buch Sir Edw. Malets die reichite Belehrung ſchöpfen, weil dieje leicht hingeworfenen
Erinnerungen, die, wie wir einmal beiläufig erfahren, in ihrem Fundament auf gleichzeitige
Aufzeichnungen zurüdgehen, die Zeitgefchichte mit ſouveräner Sicherheit beherrichen.
Endlich fet noch erwähnt, dat Malet dem Deutſchen Reid) und unferen großen Männern
eine freundfchaftliche Gejinnung entgegenbringt, die in dem Satze gipfelt, „daß die Entwidelung
des Deutfchen Reiches für England fehr wohlthätig geweſen jei“. Aber das Buch will geleien,
nicht ercerptert fein. Es wirkt als Ganzes und foll deshalb ald Ganzes genojjen werben.
Theodor Schiemann.
Finländifche Runaſchau. Bierteljahrsſchrift für das geiftige, foziale und politifche Leben Fin-
fonds. Herausgegeben von €, Braufeweiter. Verlag von Dunder & Humblot in Leipzig.
Preis des Jahrgangs 6 Mare.
Die bekannten politifchen Wendungen in Finland, melde die nationale Selbftändigfeit
eines tüchtigen und eigenartigen Volkes ſchwer bedrohen, haben aud in Deutichland die Aufr
merkfamfeit und das Intereſſe für jenes Land ehr gefteigert. So wird es vielen willkommen
fein, aus beiter Hand eine fortlaufende Orientierung über finländifches Leben und finländifche
Schidjale zu erhalten Die Finländifhe Rundichau berichtet ſowohl alles Wefentlihe aus den
aktuellen Vorgängen als fie die bleibende Art jenes Volkes und feine Leiſtungen auf den vers
ichiedenen Yebensgebieten in anfchaufichen Bildern vorzuführen fucht. Jenes gefchteht in voller,
männlicher Offenheit, aber in durchaus ruhiger und mürdiger Weife, bei diefem tft fehr aner-
dennenswert das Gefchid, mit dem die verſchiedenen Seiten der Arbeit gleihmäßig zur Ent-
faltung gebracht, werben. So enthält 3. B. das kürzlich erjchienene dritte Heft Artikel über
finntjche Tertilornamentit (mit Zlluftrationen fehr wertvoller Art), über Studentenleben in
Finland, über den Dichter Lars Stenbäd, ber in der refigiöfen Bewegung jenes Landes eine
große Rolle fpielte, es bringt ferner eine Erzählung des bekannten Schriftjtellers Juhani Abo,
u. f. w. Dabei bejchränkt fich die Finländifche Rundſchau nicht ausfchliegli auf Finland, fie
erörtert aud) allgemeinere Fragen, welche mit den Schidfalen und den Idealen bes finländifchen
Volkes in irgendwelchem Bufammenbange ftehen. In diefer Hinficht find befonders die Beiträge
des ausgezeichneten holländiſchen Staatörechtälehrers Prof. W. van der Blugt beachtenswert,
das dritte Heft enthält einen Artikel von ihm über „Expanſionsethik“. Nach dem allen Tann
die Finländiſche Rundſchau dem deutſchen Publikum marm empfohlen werden. n.
*
Bicherfchau. 467
Aus $pätherbittagen. Erzählungen von Marie von Ebner-Eichenbah. 2 Bbe. Berlin 1901.
Gebr. Baetel.
Köjtliche Früchte eines Haren, fonnenwarmen Spätherbfte8 Bat und Marie von Ebner:
Eihenbad mit ben neun Erzählungen bdiefer neueften zwei Bände gefchentt. Sie fügen nicht
mwefentlich neue Züge bem Bilde der greifen Dichterin binzu, aber zeigen die Kunſt der Siebzig—
jährigen in ihrer vollen Reif: und in ungefchwächter Kraft. Das Herz der Dichterin, diefes
reiche Herz voll Mitleid und Licbe zu allem Lebendigen, ift noch immer ber tiefiten Eindrücke
fäblg und ftrömt feine erwärmenden, befebenden Fluten auf Bilder und Geftalten, Erichautes
und Erbachtes aus. Marie Ebner befist durchdringende Welt: und Menjchentenntnis, von treuer
Beobachtung der Wirklichkeit geht ihre Kunſt aus, aber fie bleibt nicht dabei jtehen; jie hat mehr
zu geben als die gemeine Wahrheit und grobe Deutlichkeit der Dinge: fie gebt dem Kern und
Weſen der Erfcheinungen nah und giebt in ihrer Daritellung zugleich die Beftaltung ıhrer
eigenen Anichauung, mit einem Wort fie bringt künjtlerifcheorganifhen Zufammenhang in bie
bunte Mannigfaltigfeit und Wirrnifje des Vebend. Der Genius ihres gütigen Herzens erjchaut
mit dem Blid der Liebe im Dunkel und im trüben Wahn aud; das Licht, die Sterne ber Hoffe
nung, die aus der Finſternis hinausleuchten. Die alte Forderung, dat die Novelle einen Wende-
punkt haben müjfe, entfpricht demnach dem innerjten Wefen diefer Dichterin: mögen ihre Menſchen
noch fo ſehr in Schuld und Leiden fich verjtriden, einmal ſehen fie doch dev Wahrheit und dem
Sinn ihres Lebens auf den Grund, mit anderen Worten; alle Menfchen und alle Dinge haben,
wie Raabe dies einmal ausbrüdt, in diefer Welt einen Augenblid, in welchen ihnen das letzte
Recht gegeben wird. Die Menfchen der Ebner machen darum eine Entwidelung durch, aus
Schuld und Schidfal wächſt ihnen eine Erkenntnis zu. Aber jedes Leben bat feine eigene Lehre;
Sache der Künftlerin ift es, bdiefe „Moral” mit innerer Notwendigkeit aus dem individuell be—
ſtimmten Menihenichidjal heraus zu begründen, werden und wachſen zu lajjen. „in diejer Ber-
ihmelzung von fittlihem Idealismus und poetifchem Realismus liegt das Eigentümliche ber
Ebnerſchen Kunst. Jede der neun Erzählungen hat ihren eigenen Ton, ihre eigene „Moral”,
alle fpielen auf deutſchem und ſlaviſchem Boden und behandeln Fragen, Menjchen und Dinge der
unmittelbaren Gegenwart. Die einzelnen Erzählungen zu dharakterijieren, verbietet mir ber
Raum. Am höcdjten jtelle ich „Maslans Frau“, eine bäuerliche Ehetragödie, und die an das
„Gemeindelind“ und „Srambambuli” erinnernde, gemürvolle Hundes und Menjchengefchichte
„Die Spigin“, dann die das Thema „alter Mann — junge Frau“ behandelnde Novelle „In
legter Stunde” und vor allem die nad) Form und Anhalt ebenjo kunſt- wie Icbensvolle
Problennovelle und Rahmenerzählung „Die Reifegefährten”. Giebt es für befondere
Menjchen in befonderen Fällen ein „Drüberjtehen“ über der „ganz orbinären, deutlich vorge—
zeichneten Pflicht?“ das iſt hier die Frage. Die Dichterin läßt einen alten, in harter Lebens»
ichule gereiften Arzt einem jungen, harmloſen Ruffen, den jener kaum kennen gelernt hat, er—
zählen, wie und warım er in einem beftimmten Falle die „orbinäre” Pflicht aus höherem
Pflichtgefühl verlegt und einen Mord auf fein Gewijjen geladen habe. Mit vollendeter Kunſt
it Bier alleö vorbereitet und motiviert: daß der Doktor fein Geheimnis gerade diefer barmlofen
Reiſebekanntſchaft auf einer nächtlichen Fahrt anvertraut, wie beide SKontraitgeitalten ſich in
Rede und Gegenrede jpiegeln, Stellung zu der Trage nehmen und gegenjäßlich aufeinander
wirken, wie aus ber vollen Gejtaltung eines ganz bejonderen Stüdes Menjchenlebens zugleich
die Löſung einer fozialsethifchen Frage ſich ergiebt, ohne dat die Beantwortung den Anſpruch
allgemeiner Gültigkeit macht, aber doch den Einzelfall wahr und überzeugend bdarftellt, — das
alle8 und einiges mehr ijt mit einer Kunſt entiwidelt und geitaltet, die an Feinheit und Uns
mittelbarfeit nicht übertroffen werden fann. Un den übrigen Erzählungen mit tragifchem Aus—
gang („Der Borzugsichüler‘, „Uneröffnet zu verbrennen“, „Ein Original”) ließe ſich das eine
ober andere ausjegen, doch im ganzen find auch fie Zeugen einer abgellärten Erzähler und
Darſtellungskunſt. Bol köſtlichen Humors find „zräulein Sujannes Weihnachtsabend“
und „Die Bifite*, diefe mit fatirifhen Spotte auf bildungsbeuchelnde Blauftrümpfelei gewürzt.
Worms. Karl Berger.
30*
468 Bücerjchau.
Kleine Romane aus der Völkerwanderung. Band XIU: Der Bater und die Söhne.
Hiſtoriſcher Roman aus der Völkerwanderung von Fellx Dahn. Leipzig. Drud und Berlag
von Breitfopf & Härtel. 1901-
Diefer Roman iſt eine Gefchichte aus der zweiten Hälfte bes ſechſten Nabrhunderts n. Chr.
in beren Mittelpunft der Gotenlönig Zeovigild jteht und feine beiden unähnlichen Söhne,
Hermenigild der ſchwache, der ſich von den römifchekatholifchen Prieftern umgarnen läßt, und
Relared, ber jüngere, ein tapferer Krieger und echter Gote, der nach dem Tobe des Bruders fich
die Srone aufs Haupt ſetzt und freiwillig das Fatholifche Belenntnis annimmt, um den ewigen
Religionskämpfen ein Ende und Sueben, Franken, Byzantiner aus Feinden zu Glaubens-
genoflen zu machen. So jichert er jein Reid. Starke Konflikte, eine große Stofffülle find in
das ſchmale Bändchen zufammengedbrängt, das denjenigen Streifen, die nicht nur ben Meifter der
Ballade, fondern auch dem Erzähler Dahn gern laufchen, gewiß willtommen fein wird.
Earl Bufie.
Uagabunden. Neue Lieber und Gedichte von Garl Buſſe. Stuttgart 1901. 9. G. Cotta'ſche
Buchhandlung Nachfolger.
Es ift die dritte Inrifche Sammlung fchon, die ber eben Wjährige Dichter erfcheinen läßt.
Seine erften „Gedichte“ Tiegen zur Zeit in vierter, feine „Neuen Gedichte” in zweiter Auflage
vor. Die „Bagabunden“, die den Ertrag von ſechs Jahren des Schaffens zufammenfafien,
werben gewiß Hinter diefen Erfolgen nicht zurüdbleiben.
Da ſchilt man unfere Zeit noch ald materiell gefinnt und allem Poetiſchen abhold. Frei⸗
(ih muß man es verjtehen, an alles das zu rühren, was ihr zu tiefft im Herzen ruft. So war
es früher und fo wird es auch bei diefem Buche fein, don dem ich vermeine, daß es fir Buſſe
einen guten Schritt vorwärts bedeutet: Sah aus feinen früheren Büchern noch manchmal das
große Vorbild Storms, an dem er emporgemwachlen iſt, hervor — bier tft auch diefer Einfluß
mehr und mehr überwunden, hier hat Buſſe feine ureigene Handfchrift gefunden, die er mit
kräftigen Zügen fchreibt. Mit unendlicher Liebe hängt er vor allem an der herben Schönheit
feiner märkifchen Landſchaft, und ihr Erdgeruch jteigt würzig aus manchen Abfchnitten des
Buches empor.
Ob der Kritiker Buſſe fi auch nie auf das Programm „Heimatkunſt“ feitgelegt bat — ein
Heimatödichter ift er felber durch und durch. Durch die Luft Schießen die Belaffinen, der Kiebik
ftelat im Graſe, die Graugans fchreit, ber Nebel zieht überm Fluſſe, die Kiefern knarren — bas
Landichaftöbild ift ſpezifiſch norddeutſch. Und norbdeutich die Menichen darin. „Es raudjt ein
Herb nadı Dften zu.” Das find Strophen von ergreifender Schönheit, die unfere Leſer als
Probe in diefem Hefte finden.
Daneben ftehen ernfte Zeitflänge, fteht jene Stubdentenfahrt nach Friedrichsruh, das be—
fannte Flottenlied und vor allem das Gedicht auf Bismards Tod. Unwillkürlich fühlt man
bier dem Dichter nach: Diefe Bere durften nicht in Reimen enden! Aber auch die übermütigften
Töne werben angeſchlagen, und glüdlicher als in „Sieben Wochen fagt die Alte”, als in „Das
Mädchen fingt” u. a. kann der Vollston nicht leicht getroffen werben. „Schöne Nacht“, „Emige
Liebe" find daneben Perlen beutfcher Lori.
„Bagabunden” heißt das Bud. Warum? Nicht jo, weil der Dudelfad einmal durch die
Seiten bläjt, nicht nur, weil Iuftige Zechbrüber barin bie Becher läuten laſſen. Hier find Paga-
bunden im höheren Sinne gemeint: AU’ Boll, das da wandert, Pilger zur irdifchen und mehr
beinahe noch zur ewigen Helmat. Bon emwiger Heimat redet die letzte Abteilung bes Buches, bie
„Sterne”. Da werben tiefe religidfe Sehnſuchtsklänge angefhlagen vom großen Sabbat, beiten
Kerzen fo wunderbar leuchten... .
Noc eine ganze Reihe des Schönen und Schönften ließe ſich anführen, und mag man
auch bier und dort an Bers und Strophe etwas auszufeken haben: wer den Sinn für reine
Schönheit nicht verloren hat, ber wird das Buch mit jtiller Freude lefen und immer wieder und
wieder zu Ihm zurüdfommen.
Berlin. Oskar Horn.
Bůcherſchau. 469
Das Frommelgedenkwerk. Frommels Lebensbild. I. Band: Auf dem Heimatboden. TI. Band:
Vom Wupperthal zur Ratferftabt. Bon Dr. Otto Frommel, Pfarrer. Verlag von €. S.
Mittler & Sohn, Kgl. Hofbuchhandlung, Berlin. |
Ein köſtliches Buch, eine fprubdelnde Lebensquelle. Wir empfangen bier das Bild eines
großen, reichgefegneten Dafeins, das mie eine Sonne lebendig vLebenswirkung ausftrahlt; das
Bild eines Menſchen, deifen Elemente Picht und Wärme, Menfchenliebe und Ewigkeitsbegeiſterung,
Milde und Güte waren; eine Perfönlichkeit tritt und entgegen von dem Zauber herzeranidender
Yiebenswürdigfeit, die, wo fie erjcheint, unmittelbar ſieghaft wirkt, die uns in ihrer Lebensweis—
beit und Yiebeswirkung oft an Männer mie Gellert und Yavater erinnert. Ein ganzer Mann
und ein ganzer Chriſt jteht vor uns, der, die Hand im Himmel, der ganzen Welt unverzagt Troß
bieten konnte und in feiner friichen DGerzenstapferkeit, feinem zomiprübenden Dazmwifchenfahren,
der Derbheit und Schlagkraft feines Humors, auch als ternhafter Volkdfähriftiteller, geradezu
an Züge in Luthers Eharafterbilde erinnert. Emil Frommel, der, wie Karl von Hafe fagte, „ein
jeltener Dann von zugleich fünjtlerifcher und religidjer Naturanlage” war, fonnte jeiner ganzen,
poetifchfünjtlerifchen Eigenart fein eigentlicher Kirchenmann im engbegrenzten Sinne dieſes
Begriffes jein, aber ein Prieſter war er, ein Prieſter voll Liebeshoheit, der uns mit feiner Dichter-
fraft in großen Stunden oft wie auf Wdlerflügeln zu Gott und Emigfeit emportrug, der bei
aller ehrlichen Strenggläubigkeit doch voll in feiner Zeit ftand und aus ber Gegenwart heraus
das Emige verfündete. Jener „Notanter”, von dem er uns erzählt, erfcheint er uns jelbft zu fein,
ber Taufenden und Wbertaufenden aller Stände in jeiner umerfchöpflichen Fülle, oft bis zu
eigener Vebenserfhöpfung, Halt und Stüße, Yabe und Erauidung wurde. Alles, was er erlebie,
ſah und erfuhr, wurde ihm babet zum höchſten Symbol. Sein Humor quoll aus einer tief-
harmonischen Seelenjtimmung voll Mitleid und Menfchenliebe, aus allverfühnender Weisheit.
Dabei gab ihm dieſe Liebeskraft die jeltene Fähigkeit, ben im Leben am höchſten Stehenden und
in gleicher Weiſe den Mermiten und Bedrüdteften, ja auch dem dem kirchlichen Leben völlig
Fernſtehenden ein allveritändlicher Weg- und Himmelsweiſer zu werden. Man muß in breifig-
jähriger freundichaftlicher Verbindung diefes gejegnete Leben verfolgt haben, um das Maß vor»
nehmer Zurüdhaltung, zarten Taktes, das der Verfaſſer diefes Vebensbildes, der Sohn Frommels.
in feiner Darftellung walten läßt, voll würdigen zu können. Set biejes echte Yebens- und
Hausbuch, ſowie der immerdar frifch-fprudelnde Gefundguell von Emil Frommels Volks—
ichriften jedem chriftlich empfindenden deutſchen Haufe auf das Wärmite empfohlen.
Julius Yohmener.
Die Kunft des Pfeudonyms von Edwin Bormann. Mit 83 autbentifchen Illuſtrationen. Leipzig
1901. Edwin Bormann’d Selbitverlag.
Bur weiteren Beweisführung für die Anſchauung, daß als Berfafier der Shafefpeare-
Dichtungen Francis Bacon, der ebenjo gelehrte wie geiitvolle Lordkanzler anzufehen fei, tritt
Bormann mit dieſem Werke, das fich feinem ‚Shafefpeare-Geheimnis‘, ‚Bacon-Shakefpeare's
Benus und Abonis‘, der hiitorifche Beweis der ‚Bacon-Shafefpeare-Theorie‘ auf das engite an«
fchließt, wiederum vor die Schranken. So vielerlei auch die Gegner der Bacon-Theorie vor:
braditen: fie aus der Welt zu fchaffen maren fie nicht im jtande. Im Gegenteil. Ihre Ein-
wendungen bienten nur zur Belebung der Forſchung auf diefem @ebiete, deffen Quellen um ſo
mehr Scharfſinn erfordern, je unzulänglicher fie erſchemen. In der Kunſt des Pſeudonyms“
kommt Bormann auf die auch von Preyer und Werckmeiſter verfochtene Anſicht, daß Bacon
feine Autorſchaft in den Titeln und Widmungen der Shakeſpeare zugeſchriebenen Werke geheim—
ſchriftlich niedergelegt habe, zurück und zeigt an klaſſiſchen Beiſpielen, wie der Brauch des
Pſeudonyms und Anonyms von jeher gang und gäbe war, zumal aber zur Zeit Bacons.
Zwiſchen ben Tagen eines Hutten, Luther, Melanchthon, Calvin und der Zeit Goethes gab es
Scharen von beutfchen, franzdfifchen, italifchen, englifchen Gelehrten und Dichtern, die ihren
Namen verftedten. Selbft wer fich der Bacon-Theorie gegenüber gleichgiltig verhält, wird großes
Vergnügen an diefer litterarhijtoriichen Abhandlung über das Pfeudbonym finden, deren zabl-
reiche Fakſimiles direkt in die Masferade ber Dichter und Gelehrten führen und das Studium
470 Bůcherſchau.
ber Originale unnötig machen. Schon allein hierin liegt anerkennenswertes Berbienft. In
vielen Fällen überläht es Bormann bem Lefer, nabeliegende Schlüffe felbft zu ziehen, und das
mit Recht, denn er wendet fich nicht an bie breite Maffe, fondern an Leer, deren Selbſtdenken
eine Notwendigkeit ihres Lebens tft, und denen die frage nicht überjlüffig vorfommt: ob bie
meiſterhafte Bereinigung von poetifher Schaffensfreiheit mit Treue gegen ben bermeiligen Stand
der Wiſſenſchaft, wie fie fih in den Dramen des großen Briten offenbart, einem Manne eigen
geweſen ift, der wie Goethe Poet, Forſcher und Staatdmann mar, oder ob ein Schaufpieler
jene gewaltigen Monumente menfchlichen Geiſtes verfaßte, um Stüde für das Publitum zu
haben und ſich und feinen Kollegen Brot zu fchaffen. Sulius Stinde.
Monoaraphien zur deutihen Kulturgeihichte. Bd. 8. Der Handwerker in der deutichen UVer-
gangenheit. Mit 151 Abbildungen und Beilagen nad) den Originalen aus dem 15. bis 18.
Jahrhundert. Bon Ernſt Mummenhoff. Leipzig, 191. ug. Diederiche.
Den bereits im erjten Heft erwähnten Monographieen reiht fich würdig die Daritellung
bes „Handwerkers in der deutfchen Vergangenheit“ von Ernſt Mummenhoff an. Zeitlid)
zerfällt die Gefchichte des Handwerts in drei Abfchnitte: Das Handwerk in der vorftäbtifchen
Beit, in der jräbtifchen Zeit und dann bie Berfalläperiobe des Handwerksweſens. Wachstum,
Blüte und Verfall des Handwerks find innig verknüpft mit der Entwidelung des Zunftweſens.
Deshalb werben dem Werben und Wefen diefes Organismus und der Luft und Umgebung,
worin die Zunft gebieh, aber viel mehr noch verfümmerte. bier eingehende Betrachtungen gewidmet.
Die DOrganifation ber Handwerker im Lehrlings-, Gefellen- und Meiſterweſen wird nach allen
Seiten bin behandelt,-wab der materiellen Lage und dem Bildungsitand bes Handwerkers ein
eigener Abjchnitt gewidmet. in reicher Bilderfchmud ift auch diefen Bande beigegeben; man
braucht nur Künftlernamen, wie Hans Schäuflein, N. Ummann, Jacob v. d. Heiden, Abraham
Boſſe, Le Cloud, J. Eollaert, Jan Yoris von Bliet, Hans Brofamer, Chodomiedi, FF. Halm zu
nennen, um bem Stenner einen Begriff von bem Sunftreichtum diefes Bandes zu geben. Wer
aber fein Kenner ift, der fann auf die einfachfte und glüdlichite Weife durch die Abbildungen
biefer Monographieen auch eine Anſchauung von ber alten Steh: und Schneidefunft erhalten.
Worms. Karl Berger.
Volkstum und Weltmacht in der Geſchichte. Von Albrecht Wirth. München, 1901. F. Brud-
mann WU.-ß.
Der befannte Weltreijende und Gefchichtöichreiber Albrecht Wirth fucht hier von der
Seite weltgeſchichtlicher Betrachtung und Vergleihung die Bedeutung von „Volkstum und
Weltmacht in ber Gefchichte” zu ergründen. Mit Gobineau, Ehamberlain, Ammon u. a. tjt der
BVerfaffer von der ungeheuren Bedeutung der Rafle für die Entwidelung der Menſchheit
und ber Einzelvölfer überzeugt, mit ihnen teilt er die Erkenntnis von unvergleichlihem Werte
bes Ariers und Germanentums. Bon Raſſe verjchieden iſt Vollsſtum! Volksbünde laffen fich
nur auf gemeinfames Bollstum begründen, nicht auf gemeinfame Raſſe; Allromanentum, All
germanentum, Panflavismus find undurchführbare Ideen, während ein Alldeutfchtum, Allbriten-
tum und ähnliche Bünde ausfichtsvoll find. Aber Wirth läßt eine Hare Begründung und
Durchführung der Begriffe „Raffe” und „Volkstum“ vermiffen, und fo fehlt e8 dem geiftreichen
und gedbanfenvollen Buch an einem feiten Fundament und Gerüft; es bat feine rechte Einheit
und zeitigt feine Haren, überfichtlihen Ergebniſſe. Wirth durchzieht die Weltgefchichte wie ein
Reifender in flottem, fedem Tempo. Die Daritellung ift beweglich, ſprunghaft, voll geiftreicher
Beziehungen und Parallelen, Beifpiele und Folgerungen. Für den heutigen Deutfchen am
wertvolliten find die Schlufabichnitte, in denen die Beziehungen des Pollstums zur Entvolfs
lihung, zum Boden, zum Staat und Ermwerb, feine Bedeutung für die Weltmacht und Bolls-
bünde behandelt werden. Neuland und Bauernanfiedelungen, nicht bloß neue Abjatgebiete für
Dandel und Induſtrie brauchen wir, eine neue überfeeiihe Heimat für unferen Volksüber—
ſchuß, fagt Wirth mit Recht: denn „Weltmacht joll in Wahrheit eine Förderung, Bertiefung und
Verklärung deutichen Bollstums fein“.
Worms. Karl Berger.
Bücherſchau. 471
Geldhichtliche Lieder und Sprüche Württembergs. Im Auftrage der württembergiſchen Kommiſſion
für Landesgefchichte gefammelt und herausgegeben von Profeſſor Dr, Karl Steiff, Bibliothefar
an der kgl. ff. Bibliothek in Stuttgart. Stuttgart. Drud und Verlag von W. Kohlhammer.
1899/1901.
Ein koſtbarer, geichichtlich, fultur= und litteraturgefchichtlich fat gleich wertvoller Schatz wird
durd) diefes Buch aus dem Württemberger Boden gehoben. Was irgendwie an volkstümlichen
Yiedern und Sprüchen, die auf geichichtliche Borgänge innerhalb der Grenzen des jetigen
Württemberg Bezug baben, in Bibliotheken und Archiven vorhanden ijt, joll bier geiammelt
werden, und zwar von den älteiten Zeiten bis in die neuere Zeit herein. Dieje Fortführung in
die neuere Zeit iſt ebenjo verdienjtlich tie die Ausgrabung der Lieder aus älterer Zeit. Bis
jetst jind zwei Lieferungen erjchienen mit 66 Nummern. Das erjte Lied, aus dem Unfang des
fünfzehnten Jahrhunderts, behandelt die ‚Fehde zwiſchen der Stadt Rottweil md Graf Friedrich
von BZollern und die Zeritörung der Burg Hohenzollern; weitaus die Mehrzahl befchäftigt fich
mit dem württembergiſchen Fürſten, der von allen am tiefiten in den Herzen der Schwaben lebt,
mit Herzog Ulrich. Noch hängen in vielen Dorfwirtöhäufern und Bauernhäufern als ein von
den Bätern ererbter Schaß jene Fleinen verräucherten Bilder, auf welchen Herzog Ulrichs Leben
und Thaten veretwigt find, oft ein halbes Dutend aneinander gereiht; noch fingen unfere Kinder
ben inderreim von 1584: Bide, bide, pomp! — Der Herzog Ulrich kommt — Er Ttegt nicht
weit im Feld, — Er bringt en Sad voll Geld. — Tedenfalls haben wir ihn mit der gefamten
Dorfiugend noch in den jechziger Jahren des vorigen Yahrbunderts gefungen. Nach ber
Bemerkung des Herausgebers, Seite 355, ſcheint er indeſſen wenigſtens in der Hauptjtadt ver—
flungen zu jein. Damit fommen wir auf die Thätigfeit des Herausgeberd. Er Hat jedes
Gedicht mit ſprachlichen und geichichtlichen Fußnoten verjehen und genaue Erläuterungen bei»
gegeben über den gefchichtlichen und poetifhen Wert, den Anlaß, den Verfaſſer, die Quelle
u. ſ. w. Welch eine Summe von Fleiß und Forfhung in diefen Anmerkungen ftedt, das wird
felbft der Laie auf diefem Gebiete beim eriten Blid in das Buch erfennen.
‚sch weiß nicht, ob andere Länder jchon mit einer derartigen Sammlung vorausgegangen
find; wenn nicht, werben fie vielleicht dem württembergiſchen Beifpiele nachfolgen. Solche Ver-
öffentlichungen find in ihrer Art auch Beiträge zu der Heimatkunſt und trefflich geeignet, die
Anhänglichleit an den Mutterboden, bem einer entfproffen it, zu pflegen und zu fördern. Wenn
man fich in ein foldhes Buch vertieft, jcheint man in einer ganz anderen Welt zu leben, und
wird doch auf Schritt und Tritt daran gemahnt: es ift deine Welt, und die Fäden fpinnen fich
ganz von jelbjt von der deutichen Vergangenheit in bie deutiche Gegenwart.
Richard Weitbredt.
Raabenweisheit. Zum 70. Seburtstage des Dichters aus den Werfen Wilhelm Raabes ausge—
wählt, zufammengeitellt ımd herausgegeben von Hans von Wolzogen. Berlin 1901. Perlan
von Dtto Janke.
Eine Geburtstagshuldigung für dem Lüngitgefeierten, mit feiner Zujtimmung vorbereitet.
„Eine Feſtgabe, die des Gefeierten würdig ift”, jagt der Gerausgeber felber in der Borrede,
„denn ſie trägt ja durchaus den Stempel jeines Getites; und die zugleich feinem Volke, hoffent:
lih recht vielen feines Nolfes, ihn noch im 70. Pebensjabre in einem neuen, bellen Licht zeigt,
oder doch einen alten Zauber, den er ausgeübt, den perfönlichen Zauber feiney- geijtigen Macht,
feiner Weltanfchauung ihnen zu vollen, klarem Bewußtſem bringt”. Dans von Wolzogen bat
eine Reibe von Gedanfen-Erfurjen und gelegentlichen infällen aus Naabefchen Nomanen
berausgegriffen und in die Gruppen: Menfchenfeben und Schidjal, der Menſch, der Menſch
unter Menfchen, Idealismus und Kunſt, deutiche Art geordnet. ine geichlofiene Welt-
anſchauung kann uns aus diejen Cinzelitellen nicht wohl entgegentreten, aber die Sammlung
gewährt einen Einblid in die Art, wie der geiitvolle und liebensmürdige Humorlit eine Reihe
wichtiger Lebensiragen höchſt perfönlich ftreift, und fo bat das Werkchen al® Beitrag zur
Charalteriſtik Raabes jeinen ganz befonderen Wert. PRictor Blütdgen.
472 Bücerjchau.
Triftan und TIolde von Gottfried von Straßburg. Neu bearbeitet von Wilhelm Herb. Dritte
Auflage. Stuttgart und Berlin 1901, 3. G. Eotta’fche Buchhandlung Nachfolger.
Die Haffifche Triftan-Ausgabe von Hertz liegt bier in dritter Auflage vor. Nicht bie
Originaldichtung Gottfrieds von Straßburg, fondern eine neuhochdeutſche Bearbeitung von ber
Hand eines unferer ausgezeichnetiten Dichter, der fich bemüht, eine der ſchönſten mittelalterlichen
Litteraturfhöpfungen für die Gegenwart voll geniegbar zu machen und mit peinlicdy jorgfältiger
willenfchaftliher Quellenforſchung in das rechte Licht zu rüden. Zu dem Zweck tft mandıe
ftörende Länge im Tert bejeitigt; jtatt des fehlenden Schluffes in der Dichtung Gottfrieds von
Straßburg der Schluß jenes Werles angefügt, aus dem Gottfried feinen Stoff geſchöpft, der
Dichtung des Troudere Thomas; endlich eine Fülle kritifchen Materials beigegeben, ein Mufter
fitterargefchichtlicher, erfchöpfend gründlicher FForfcherarbeit. Kür den bloß genießenden Leſer
wird mohl die‘ Bearbeitung von Herb zufammen mit deilen wahrhaft fongenialer Weiter-
dichtung immer im erjter Linte Wert behalten. Die Ausftattung des Buches iſt muftergiltig,
modern und vornehm zugleich. Victor Blüthgen.
Margarete Stern. Gin Sünftlerinnenleben. Von Adolf Stern. Mit 2 Photogravüren. Dresden
und Leipzig. G. A. Koch's Verlagsbuchhandlung (9. Ehlers). 1901.
Ein ganz eigenartiged Buch, ein Denkmal zarteſter Pietät, das uns „bie Erfahrungen,
Beglüdungen und Yeiden eines deutfchen Künitlerinmenlebens in der zweiten Hälfte des 19ten
Jahrhunderts“ fchildern foll und „mit dem Namen aud; das Gedächtnis eines reinen und uns
ermübdlichen Strebens” zu bewahren beftimmt ift.
Margarete Stern, geb. Herr, die früh dabingegangene Gattin des Verfaſſers, des hochan—
gejehenen Litterarhiftorifers, war bekanntlich eine der ausgezeichnetjten Pianiftinnen aus der Schule
vLiszts. Wir erleben bier den Werdegang einer überaus fumpathifchen, poctifch feinveran-
lagten, befcheiden-vornehrhen, reinen Stünftlernatur und verfolgen ihr fehnfuchtsvolles, raftlojes
Aufwärtöringen auf einem Dornenmwege von Enttäuſchungen und Triumphen, von Glüd und
Leid, auf einer reichen Künftlerlaufbahn, die fie in unbeirrtem Drange durchmißt, um jich endlich
zu höchſter Freihelt und Metjterfchaft emporzuarbeiten. Und mir bfiden dabei zugleich in ein
entzüdendes Eheverhältnis zmeier echter Künftlerfeelen, die in rührenditer Zuneigumg und Vers
ehrung fich ergeben, gegenfeitig in bingebender Sorglichkeit fich den Lebenspfad zu ebnen und
zu erhellen fuchen, und verfolgen dieſen ergreifenden Lebensroman bis zu dem allzu frühen
Bingang ber ammutsvollslauteren Künſtlerin, bis zu dem erjchütternden Posreifen aus einem
Dafein voll Liebe und reinftem Glück und endlich errungener Meiſterſchaft. Das Buch hinterläßt
jeder finnigen Natur unvergehliche Eindrüde und hebt fie zu edleren Yebensentichliefungen.
Sulius Lohmeyer.
rin Lienbard: Gelammelte Gedichte. Verlag von Georg Heinrich Mener, Berlin SW. 46.
— Wasgaufahrten. Gbenba.
Erit in lekter Stunde wird uns die erfreuende Mitteilung von dem demnädjitigen Er:
fcheinen ber geſammelten Gedichte von Fritz Lienhard, melhe Sammlung aud die „Lieder
eines Elſäſſers“, „Nordlandölieder”, „Burenlieder” umd viel Ungedrudtes zufammenfaflen wird.
Fritz Lienhards „Wasgaufahrten”, dieſes herrliche Wanderbud), das zugleich ein
modernes Weltanſchauungsbuch iſt und „Jung Elſaß und Jung Deutſchland“ gewidmet wurde, den
Verehrern des Dichters längſt ein herzerquicklicher Schatz, erſcheint gleichfalls in neuer Auflage.
Wir freuen uns, der großen Gemeinde des Dichters dieſe Nachricht geben zu fünnen, und be—
halten uns vor, eingehender auf die Sammlungen zurüdzulommen. J. L.
Schlaglihter auf Oftafien und den Pacific von Otto Wachs, Major a. D. Berlin 1901. Richard
Schröder, Verlagshandlung.
Die vorliegende PBrojchüre verdient ihres intereflanten und zeitgemäßen Inhalts
wegen eine weitgehende Würdigung, fie ift eine ſehr geſchickt, Scharfiinnig und gut gefchriebene
militärsgeographifhe Studie. Sie lehnt ih an Helmolts Weltgefchichte Bd. 1 Kap. 6, die
neichichtliche Bedeutung des Ztillen Meeres, an und zeigt uns, dab der fogenannte Stille Ocean
durch die neue Weltpolitit feine „Stille” völlig verloren hat. —r.
Bücherſchau. 473
Intermezzo. Gedichte von Frida 3chanx. Mit Buchſchmuck von M. Stüler-Walde. Verlag
% U. Lattmann, Berlin, Goslar, Leipzig.
Wer ben Werdegang biejer innig empfindenden Dichterin mit unbefangener Anteil
nahme verfolgt bat, fieht fie von Jahr zu Jahr, von Sammlung zu Sammlung zu Immer
größerer Sicherheit des künſtleriſchen Könnens und zu einer Höhe der Lebensanſchauung
gelangen, die nur die Ergebniffe eines fehr ernten Fünftlerifchen und feelifchen Ringens
jein können. In ihrem vor einigen Jahren erfchienenen Buch „Unter dem Efchenbaum‘ über»
raſchten uns bereits eine hohe Gehaltenheit der Empfindung, eine Macht realiftifchen Ausdrucks,
eine Energie der Daritellung, die uns ganz neue Züge in dieſem früher beinahe allzuzarten
Dichterbilde offenbarten. In diefer neueiten Sammlung „Intermezzo“ ringt aber eine Glut
und Kraft bes Gefühls zum Ausdrud, gewinnen bie Bilder eine leuchtende Plaftit, bie Form
eine Prägnanz und Vollendung, die uns Har erfennen laffen, daß Hier in ber That eine echte
Meifterin ausreift Frida Schanz darf in Wahrheit von fid) fanen, was Meijter Geibel von
ber gebanfenlos dahbintrottenden Kritik feiner Tage jagen konnte:
„Ste Hopft noch ftet3 bie abgetrag’nen Kleiber,
Die ich vor zwanzig Jahren trug.”
Aber eine einfichtsvolle Kritif beginnt ber Dichterin von Jahr zu Jahr gerechter zu erben.
— Der Buchſchmuck von M. Stüler-Walde und die Ausjtattung des neuen Werkchens find fehr
reizvoll und eigenartig. Jullus Lohmeyer.
Eine Dienftreife nach dem Orient. Erinnerungen von Staatsminiſter Dr. R. Boſſe. Leipzig,
F. W. Grunom.
Am Gefolge der Kalſerreiſe nach Paläſtina im Spätjahr 1898 find eine ganze Reihe von
itattlichen Prachtwerken und leichteren Schriften erſchienen. Wuch ber inzwifchen verftorbene
preußifche Kultusmintiter Bofje hat jeine zuerſt, wenn ich nicht irre, in den „Grenzboten” ver»
öffentlichten Berichte in Buchform herausgegeben. Der Hauptreiz des Büchleins befteht in
feinen anſchaulichen Schilderungen des Lebens an Borb und im Morgenland, von Land und
Leuten in Nord-Afrifa und im heiligen Lande, der Reifegefellichaft u. j. w. Boſſe giebt ſich
immer ſchlicht, liebensmürdig, mild — chriſtlich; wo er jein Volk voranfchreiten fieht, hat er feine
echte Freude. Es ift eine Dienftreije, aber reich an menfchlichen Eindrüden, Stimmungen und
Erlebniffen, an Beziehungen zu mancherlei Menfhen und an bunten Erfahrungen. Wer das
Büchlein Tieft, wird fi) angezogen und erwärmt fühlen von der fenntnisreichen, edlen und vor:
nehmen Berfönlichkeit feines Verfaſſers. 9. Montanus.
Aus Frig Reuters jungen und alten Tagen. Neues über des Dichter Leben und Werben auf
Grund ungebrudter Briefe und Dichtungen mitgeteilt von Karl Theodor Gäders. Mit zahl:
reihen Abbildungen nad Originalen von Theodor Schlöpfe und Fritz Reuter. Dritter
(Schluß) Band. Wismar, Hinftorffiche Hofbuchhandlung. 1901. ;
Wo man Neuters Werke kennt und liebt, und wo man über biefes fernigen Humoriften
Leben und Schaffen mehr erfahren will, ald die befannten Lebensbdaritellungen geben, wird
man in biefem Werf, das nun vollftändig vorliegt, eine reizvolle Gabe auch für den Weihnadhts-
tifch finden. Meift wird bei ſolchen Nachlahfchriften der Stoff von Band zu Band magerer und
bleibt faum vollwertig. Bier bat indeſſen das außerordentliche Finbdertalent von Gfädertz immer
neuen anziehenden Stoff zu entdeden gewußt, und wahrlich, feine Spürfraft ift zu bemunbern.
Sefchmadvoll weiß er feine Funde von bisher unveröffentlichten Dichtungen, Briefen und Er-
innerungen aneinander zu reihen. Der erite Band erregte vor einigen Jahren bei allen Reuter-
Freunden ein freudiges Auffehen durch die Darbietungen mancher reizvollen Dichtungen und
Epiiteln aus jener NReuter-Trube, die die Witwe Reuter ber Schillerftiftung vermacht hatte,
beſonders durch den zurüdgehaltenen Teil feines Schwanengefanges „DE 'ne lütte Gaw för
Dütſchland“ 1870/71. Am zweiten Bande feilelten vorzüglich die fehr originellen Enthüllungen
über den Sommandanten Oberjt von Bülow und feine Familie auf ber Feſtung Dömltz, uns
ſchätzbare Beiträge zu Reuters „Feſtungstid“. Der Schlußband Frönt die Sammlung durch bie
474 Bücherſchau.
eigenartigen, auch kulturgeſchichtlich hochintereſſanten Aufklärungen über den alten Amtshaupt:
mann Weber, feine rau „Neiting“, über des Dichters Eltern, über Onfel und Tante Herſe,
Mamjell Weftphalen, Fritz Sahlmann und andere und vertraute Perfönlichkeiten aus der Fran—
zoſenzeit. Dazu fommt eine Fülle durchaus mitteilenswerter, meiſt fehr Luftiger Epijteln,
Gedichte, Erlebniſſe und Gharakterzüge umferes teuren Humoriſten und feiner Geftalten, bar:
unter auch Onfel Bräfigs. Die zahlreichen Originals lluftrationen, die 3. T. von Reuter ſelbſt
herrühren und ein gewiſſes eichentalent beweiien, betrachtet gewiß jeder wieder mit Ver—
gnügen. Der Preis für diejes allen Reuter-Freunden werte Werf iſt ein verhältnismäßig niedriger,
und wurde wohl nur durch eine befonder& ftarfe Auflage ermöglicht, die im Hinblick auf die
jedenfalls große Verbreitung, welche auch bei diefem neuejten Bande vorauszufehen tft, nadı-
dem der erite jchon drei Auflagen erlebt bat, veranftaltet twerben fonnte. Gädertz bat in dieſer
Sanımlung ein deutſches Volksbuch im beiten Sinne des Wortes geſchaffen und damit unferem
Fritz Reuter ein neues Ehrendenfmal geſetzt. Paul Debn.
franz Mad, Das Religions- und Weltproblem. Dresden. 1902. E. Plerfon. 2 Bde.
Der Verfaſſer biefes jehr zeitgemähen Werkes ift ein aus der römifchen Kirche zum Alt
fatholizismus übergetretener Theologe. Er iſt ſchon vielfach auf Fatholifch « apologetifchem
&ebiete litterarifch thätig gewefen, hat aber ſchließlich in der bloßen Berteidigung blinden Kirchen—
und Dogmenglaubens feine Befriedigung mehr gefunden und fi zu einer geläuterten Welt-
anfhauung durchgerungen. Wir heben aus dem reichen Inhalt des Buches folgende Kapitel
heraus: Mas iſt Glauben und mas ift Riffen? Wie gelangt der Menjchengetit zur Wahrheit?
väßt ih das Dafein einer perfönlichen, vor: und übermeltlichen Gottheit bemeifen? Welcher
willenfchaftliche Wert fommt dem von den pofitiven Religionen aufgeitellten Gottesbegriffe zu?
Welches iſt das Weſen der Religion? Läßt fich der meſſianiſche und göttliche Charakter Jeſu und
die Göttfichleit jeines Werkes erweifen? Wie verbält fich die biblifchetheologifche Lehre von ber
Erichaffung, dem Alter des Menjchen ſowie der Einheit des Menfchengefchlehts zu Bernunft,
Erfahrung, Wiffenfchaft? Läßt fih die Subjtanzialttät und Unsterblichkeit der Menſchenſeele
bemeijen? it die menfchliche Willensfreiheit Thatſache oder Fiktion? u. f. mw. Alle dieſe und
ähnliche Fragen behandelt Mac; mit eindringlicher Schärfe und Klarheit. Seine große Belejen-
beit tritt in jedem Kapitel deutlich hervor. Wenn man von jeder größeren litterarifchen Arbeit
fagen fann, fie biete in gewiſſer Hinficht einen Teil des inneriten Ichs des Verfaſſers, fo gilt
das auch von diefem Werke; es repräfentiert nah M.’S eigenem Geftändnis die Summe feines
Denkens und FForfchens, feines geiitigen Vebens, Strebens und Ningens und trägt jo recht den
Charakter eines ſeeliſch-geiſtigen Permächtniffes an fih. Auch diefes Buch iſt ein beredtes
Zeugnis dafür, daß die jittlichereligiöfen Mächte in unferer Zeit im Steigen begriffen find. Da
eö in unferer kirchlich-konfeſſionell jo zerriffenen Beit dem hoben deal einer religiöfen Einigung
der Menfchbeit rejp. unferes deutichen Bolfes zuftrebt, muß es unſererſeits trotz vielfacher prin-
zipieller Ablehnung in Einzelfragen den Gebildeten unſeres Volles warm empfohlen werden;
die das ganze Buch durchziebende Aufrichtigkeit und Gewiſſenhaftigkeit leiten zu ernitem Nadh-
denfen über bie tiefften ragen an. Eine genaue inbaltsangabe der einzelnen Kapitel ſowie
ein alphabetifches Regiſter erleichtern das Studium des Buches. Dem Werk ift eine eingebende
Biographie feines Verfaſſers vorangefett.
Fermersleben. Otto Siebert.
Meyer’s Hiſtoriſch · ßeographiſcher Kalender, Sechſter Jahrgang (1902).
Gediegen wie alle Veröffentlichungen des Bibliographifchen Inſtituts bietet auch dieſer
Jahrgang des hiſtoriſch-geographiſchen Kalenders eine Fülle von bildlichen Darſtellungen — es
ſind deren mehr als fünfhundert. Das Intereſſe der weiten Kreiſe, für deren Gebrauch ber
Kalender bejtimmt iſt, dürften vorwiegend bie geographrichen Abbildungen in Anſpruch nehmen,
zu deren Serjtellung der Meyerſchen Berlagähandlung ja jo reichhaltige Sammlungen von
Vorlagen zur Verfügung jichen wie wohl keiner andern curopäifchen Anjtalt ihrer Art. Dabei
zeichnet fich die Ausführung der Bilder vor vielen ähnlichen vorteilhaft aus, und dies Lob gilt
Bücher ſchau. 475
nicht allein von den unmittelbar nach Photographieen, ſondern auch von ben nad älteren Dar—
jtellungen gefertigten Anſichten. Bielleiht gerade durch die anfpruchslofe und einfache Art,
auf welche die einzelnen Bilder hier dem Beichauer allmählich vorgeführt werden follen, haften
fie beſſer als beim Durchblättern eined Buches. Jedenfalls werden fie bei fehr vielen einen
höheren Zweck alö den der bloßen Unterhaltung erfüllen, denn bie lebendige Anfchauung tit
namentlich in allem, was mit der Erdkunde irgendwie zufammenhängt, wirkſamer als ausführ-
liche Schilderungen. Selbſtverſtändlich iſt den einzelnen Blättern eine das Verſtändnis erleich-
ternde, ganz furz und allgemeinveritändlid, gehaltene Erläuterung beigefügt. K. Dove,
Talchenbuch der deutichen und der tremden Krieasflotten. Mit teilmeifer Benutzung amtlichen
Materiald. III. Jahrgang 1902. Herausgegeben von B. Weyer, SKapitänleutnant a. D.
München, 3. F. Lehmanns Verlag.
Das Taſchenbuch bat infolge feines reichhaltigen praftifchen Inhalts, feiner handlichen
Form und feines billigen Preifes die mweltefte Verbreitung gefunden. In der deutfchen Marine
wird es ganz allgemein benutt und es jteht nach dem Urteil der deutichen, engliichen und
franzöſiſchen Fachpreſſe an erfter Stelle unter ben feemännifchen Handbüchern. Neben ben aus—
führlichen Schiffsliften aller Kriegäflotten der Welt und den Bildern aller wichtigen Schiffstypen
enthält der Kalender alles Wiſſenswerte über die Organifation der Seeftreitfräfte, die Flaggen,
die Kommandobehörben, bad DOffiziersforps, den Eintritt als Seefabett und die Offizierslauf-
bahn, Deutichlands Seeintereifen und Seegefahren zc. zc. Für Fachleute von größtem Antereife
find die ganz neuen Bergleichstabellen der Geſchoßwirkungen aller Seegefchüte der Welt, woraus
die Ueberlegenheit der Kruppſchen Geſchütze glänzend hervorgeht. Won allgemeinem Intereſſe
find einige hervorragende Abhandlungen wie „Kann Großbritannien feine Uebermacht zur See
dauernd behaupten?“ „Die Marinebudgets der Seeftaaten”, „Die allgemeinen Tendenzen für
die Armierung, Panzerung und Konftruftion der Linienfhiffe und großen Kreuzer”. Eine große
Zahl von Tabellen über Schiffbau, Stärke der Flotten, Leiftungen der Werften ꝛc. x. machen
das Bud, für jeden, der fich für die Flotte intereffiert, zu einem unentbehrlihen Vademecum.
Beimatklänge aus deutichen Gauen, ausgewählt von Oskar Dähnhardt. I. Bd. Aus Marſch
und Haide II Bd. Aus Hochland und Schneegebirg Mit Buchſchmuck von
Robert Engels. Leipzig, 1901. Zeubner. '
Die einzelnen deutſchen Stämme fünnen durch nichts, glaube ich, fich gegenfeitig näher
gebracht werden al& durch wechfelmeifes Vertrautwerden mit ihren Eigentümlichkeiten und Be—
jonberheiten, tie fie am beutlichiten in ber munbartlihen Stammeslitteratur ſich ſpiegeln.
Fri Reuter und Klaus Groth haben fo viel zur Annäherung ber Oberbeutfchen an nieder:
deutjches Wefen beigetragen, und den umgekehrten Dienst haben gewiß auch fchon Dichter mie
Rofegger, Anzengruber u. a. dem Norden geleiftet. Ohne es direkt zu erjtreben, baut bie
Dichtung auf dieſe Weiſe auch heute noch Brüden zwiſchen den Stämmen, fie verrichtet nationals
politifche Arbeit. Aus doppelten Gründen tft daher eine Sammlung mie die Dähnbarbtfche
zu begrüßen. Bis jet liegen die Bände für den nieberbeutfchen und ben oberbeutfchen Sprach—
bezirf vor. Die Sichtung und Sammlung der mundartlichen Scherzgedichte und Schnurren,
der beiteren und finnigen Gejchichten und Humoresken ift nach vollstümlichen Geſichtspunkten
unter Berüdfichtigung ibrer nationalen, Fulturellen, fozialen, ſprachlichen und litterarifchen Be-
deutung vorgenommen; ber Herauögeber hat bamit für Schule und Haus, zur Belehrung und
Unterhaltung ein gleichverdienitliches Wert gefchaffen. Der dritte Band wird das mitteldeutfche
Spradjgebiet behandeln.
Worms. Karl Berger.
Das „Jahrbuch des Deutichen Flotten-DVereins“‘, herausgegeben vom „Präfidium des
Flotten⸗Bereins“ iſt foeben in feinem dritten Nahrgange — für das Jahr 1902 — erjchienen.
Der zweite Jahrgang des Flotten-Jahrbuches fcheint bahnbrechend für die lange vermißte
internationale Finanzſtatiſtik gewirkt zu haben; als Vorzug des neuen Jahrganges darf die
außerordentliche Neichhaltigkeit in der Beibringung von neuem Material gelten. Auf die
476 Bücherſchau.
folgenden neuen Aufjäge ſei beſonders hingewieſen: „Die Marineausgaben im Staatshaushalt
der Großmächte“, „Niefenumternebmungen ber Seeſchiffahrt und des Schiffbaues“, „Strikes im
Handel und in der Schiffahrt“, ſowie auf den Auffat über „Die Kriegsflotten der Welt”,
welcher dadurch an Wert gewinnt, daß er durch Beifügung von Gefchüttabellen bereichert iſt.
Neu find 15 Skizzen von Kriegsſchiffen aller Nationen. Weber „Welthandelsländer und Welt:
handelsartikel“, „Deutichlands Handelöverfehr mit den Freihäfen und mit Helgoland“, „Zollfreie
Schiffbaumaterialien”, „Seeverfehr in beutfchen Häfen’, „Deutichlands große Rhederelen“,
„Deutichlands Werften”, „Rentabilität der großen Schtffahrtögefellfchaften und Werften Deutjch-
lands", „Die Sciffbautechnifche Geſellſchaft“, „Schiffsklaffififationsinftitute”, „Seeverficherung“,
„Die biologifhe Station auf Helgoland“, „Unfallverfiherung der Seeleute”, „Die überfeeifche
Auswanderung” ift reiches Material beigebracht. Vieles Material mird dur das FFlottens
Jahrbuch in der beutfchen Yitteratur wohl überhaupt zum eriten Male dargeboten, jo bie
zuſammenfaſſende Veröffentlichung über die „KRoblenjtationen in der ganzen Welt, die
Preije, Bedingungen für Koblenübernahme zc.”, ferner die „Zujammenftellung der
Marinesfitteratur der Neuzeit”, die eingehende Beſprechung der „Weltichiffahrtslinien in
Gegenwart und Zukunft“. Das „Flotten-Jahrbuch 1902 bildet einen ftarfen Band von 490
Seiten und ift vorzüglich geeignet, das deutſche Volk über Wejen, Ziele, Zukunft ꝛc. von Flotte,
Danbel und Verkehr aufzuklären.
An empfeblenämerter Lyrik und Epik bieten fich u. a. drei Bändchen dar:
Von Weib und Welt. Gedichte von Karl Vanfelow. Berlin-Tempelhof, Sculhaus-Perlag
1901.
Gemmen und Palten. Tagebuchblätter aus Italien von Heinrid Vierordt. Heidelberg 1902,
Earl Winters Univerfitätsbuchbandlung.
Balladen von Wilhelm Brandes. Zweite vermehrte Auflage. Wolfenbüttel, Verlag von Zulius
Bmißler 1896.
Karl Banfelom gehört mit feiner ganzen Art der jungen Generation an. Er führt die
vollmundige, blumen= und farben- und Fangreiche Sprache, melde die jüngite Technif als Er-
rungenfchaft der Modernen fordert. Es ift nicht ſchwer, fich diefe Sprache anzueignen, die leider
fo bequem über den wahren [yrifchen Gehalt täufcht, mie eine pifante Sauce über das eigent-
liche Gericht. Zu feinem Glück ift Vanſelow auferdem ein Dichter, der recht hübfche Inrifche
Werte findet, ein Ich⸗Poet, weich, weiblich, jugendlich, aber von bemerfenäwertem nitinft für das,
was ein gutes Gedicht macht.
Auh Heinrich Pierordt iſt ein gefchnadvoller Boet, friſch und farbig, aber mehr ein
finniger Beobachter der Außenmelt, ber er eine Fülle gefälliger Eindrüde abgeminnt, Bier fpeziell
italienifcher, die wie gute Momentaufnabmen eines mit feiner Camera bewaffneten Bergnügungs-
reifenden ausfehen und die er gern mit einer Gloſſe retouchiert; manchmal etwas troden und
nüchtern, nie wertlos.
Wilbelm Brandes, der fein Buch feinem „Freunde Raabe gewidmet bat, Liefert
Balladen, die zwar Ublandfche und Fontaneſche Wege geben, aber in diefer Art ausgezeichnet
jind, fo kraftvoll und jo glänzend pointiert, vorwiegend ältere hiſtoriſche Balladenitoffe behandeln,
dat Liebhaber von Balladen ſich das Buch nicht entgehen laffen follten. Unter den neueren
Balladendichtern wüßte ich außer dem größeren Börries von Münchhauſen feinen, der es
bejier fünnte. Victor Blüthgen.
Hoffmann von Fallersieben. Unſere volkstümlichen Lieder. Vierte Auflage. Bon K. 9. Prahl.
Leipzig. Verlag von Wilhelm Engelmann. 1900.
Wer die Schwierigkeiten fennt, die das Forschen nad Autor und Komponiſt fogenannter
„Bolfslieder” mit ſich bringt, der erſt wird die vorliegende Arbeit, die Erneuerung, Ummandlung
und Bervollitändigung des Hoffmannfchen Werkes durd; den Dr. K. H. Prahl voll zu mürbdigen
wiſſen. Hunderte von diefen Volksliedern bat er auf ihren Urſprung und im ihren Wandlungen
verfolgt, und nicht nur ihren Perfaffer und Bertoner ermittelt, fondern auch, menigiten® in den
Büherfhau. 477
meiſten Fällen, Entjtehungs: und Kompoſitions-Jahr nachgewiejen, mobei der überrafchende
Umftand zu Tage tritt, daß die Wer, 80er und 40er Jahre bes 19. Jahrhunderts ganz aufer-
ordentlich fruchtbar an vollstümlichen Liedern geweſen. Erſt mit den 50er Jahren läßt ber
Segen, und zwar gleich jehr bedeutend nad), um meiterbin, bis in unfere Tage, fait ganz zu
verfiegen. Dies giebt zu denen und läßt recht Har erkennen, wie jehr dad Naive in der
dichterifchen Produktion gefchtwunden. Denn dieſes allein, das behaupten wir, giebt dem Liebe
die Bürgichaft auf Volkstümlichkelt. Aber auch aus den früheren Jahrhunderten bat der fleikige
überaus belefene und ımermüdlich forfchende Verfaſſer manche Liebes-Autorfchaft, manchen
Komponiiten vielgefungener Verſe aufgefpürt und manches, was frühere Forſchung verrüdt hatte,
richtig geftellt, wenn auch, wie natürlich, die Quellen für diefe älteren Geſänge weit fpärlicher
fließen und deshalb eine Aufllärung in manchen Fällen, trog aller Bemühungen, nicht erzielt
werben konnte. Aber des Ermittelten iſt fo viel, daß fein Kommers- oder Lieberbuch-Deraus-
geber fortan das Prahliche Buch übergehen fann: er wird ihm eine Fülle von FFeititellungen und
Notizen zu verdanken haben, wenn er anders feiner Publikation die relativ höchſte Vollſtändigkeit
geben will. Die Geſchichte diefer Lieder, ihrer Scidfale, Wandlungen, Verballhornung und
Wiedergeburt, wie fie uns Prahl in feinen Anmerkungen erzählt, ift ſehr amüfant, intereflant
und lehrreich, und macht allein jchon das hübfche, von der Verlagshandlung vornehm ausge»
jtattete Buch zu einem höchſt lefenöwerten. Ein gutes Stüd Kulturgefchichte entrollt ſich dabei
unferen Bliden. Und nicht ohne Staunen wird ber Laie vernehmen, tote biefes und jene an=
geblich neue Liedchen fchon uralt, mie hier fich zwei, ja drei Perfönlichkeiten um die Autorfchaft
eines Liedes jtreiten, wie ein alter ehrwürdiger Herr ſich als Verfaſſer eines vielgefungenen
Kantus proflamiert, aber von der wumerbittlihen Forſchung mit feinem Anfpruche abgewleſen
‚und ad absurdum geführt wird, wie andere wieder ihre Verfaſſerſchaft verſchämt verfteden ober
gar abzuleugnen verfuchen und mie erbitterte Kämpfe um die Vaterfchaft einer Melodie ent-
brennen. Auf 1350 Lieder und ihre Weifen erjtredt fich die Unterfuchung des Verfafjers, und es
ift als merkwürdig hervorzuheben, daß, wie das Berzeichnis der Wort- und Tondichter biefer
Lieder erweiſt, bier, wo es fich lediglich um Volkstümlichkeit handelt, unfere Poeten und
Komponiften ganz anders rangieren wie ſonſt in den Litteratur- und Kunſtgeſchichtsbüchern.
Manch einer, der fonit nur nebenbei mitläuft, hat bier eine erjte ober doch zweite Stelle und
umgefehrt. Zwar jteht der große Wolfgang auch bier an der Spige (mit 51 Liedern); aber nicht
ganz gerechterweife, mie wir glauben. Wenigitens jcheint eö uns zweifelhaft, ob Lieder, mie
„Burgen mit hoben Mauern und Binnen‘, „Zwiſchen dem Alten, zwiſchen dem Neuen“ u. a.
wirklich je vom Volk gefungen worden find, unzweifelhaft aber, dat fie heutzutage nicht mehr
gejumgen werden. Hier bat wohl ein zwar begreiflicher, aber doch allzu hoher Reſpekt des Guten
zu viel getban. Auch an den 52 Liedern (noch eines mehr dern Goethe!) Hoffmanns von
Fallersleben ließe ſich mäfeln, obwohl dieſer unbejtreitbar zu ben im Bolfe meift gefungenen
Dihtern zählt. Eine neue Auflage Fünnte wohl noch manches in der Sammlung vergefjene Lieb
berüdfichtigen: „Es blinkt der Tau”, „eins Liebchen unter dem Rebendach“, „Wer hat das erfte
Lied erdacht“, „Nähe nicht, lieb Mütterlein“ (der rote Sarafan), „Fiſcherin, du Heine”, „Herr
Dietrich, der Ritter vom durftigen Stein” u. a. Georg Bötticher.
Guftav Renner, Ahasver. Eine Dichtung. Verlag von Julius Werner, Leipzig.
Eine jtarle Ausnahme⸗Erſcheinung in unferer heutigen Litteratur! Da iſt jeder Sat
inneres Erlebnis, da find auf jeder Seite Gedanken und Bilder von Fräftigem und perfönlichen:
Gepräge, da iſt Herzblut und Fünftlerifches ſowie fprachliches Können zugleich! Nenner hat ſich
bereit3 durch feine „Gedichte“ und „Neuen Gedichte" (Selbftverlag: Wilmersdorf bei Berlin,
Preußiſche Straße 8) einen geachteten Namen geihaffen. Er bat fi aus ſchweren Berhältniffen
emporgearbeitet; viel bitter-ernfter Unterton klingt immer in feinem Weſen durch; aber alles in
allem herrſcht vor ein männlicher und unfentimentaler Geift mit einem Zug ind Große. Die
vorliegende Dichtung, teils lyriſch⸗epiſch, teils Iprifchedramatifch, faßt Ahasver als jenen trogigen
und bewußten Diesfeitsmenfchen, der fih und die Menfchheit aus irdiſchem ſozialen Leid erlöfen
will zu einer jelbitbewußten, erdbewußten Gemeinde. Ausgehend von Perufalem umfaßt bie
478 Bücherfchau.
Dichtung in gut gewählten Bildern und in bedeutjamer Gefamtlompofition den Entmwidelungs:
kampf dieſes unjteten Ahasver, und mit ihm eines wefentlichen Stüdes Kultur, getaucht in eine
oft büftersphantaftifche Stimmung, endigend in einem neuen Bethlehem. — Dem Bud) ift das
vortrefflic; ausgeführte Bild des Berfaſſers beigegeben. Wir wmünſchen ſehr, daß folche ernften
und einfamen Talente von Renners Art endlich wieder zu Worte kommen. —).
Erait Wachler, Schiefiihe Brautfahrt. Schaufpiel in 5 Akten. Berlin, Verlag von G. H. Meyer.
Friſch und edel, von ſchönen und weiten Geſichtspunkten fpricht bier deutſcher Geiſt ein
poeſievolles Einigungsmwort zu den öfterreichifchen Deutichen hinüber. Das Stüd ift in Jamben
geichrieben von einer wohltbuenden Natürlichkeit, die es jtreng vermeidet, fi vom Vers tragen
zu laffen und in bloßer Schönreberei zu gleiten. Ein Sohn des fchlefifchepreußifchen Geſchlechtes
der Donun kommt unbetannt in das feindliche Haus der, öfterreichtich und katholiſch geitimmten,
böhmifchen Donyns; es iſt da ein günftiger alter Freiherr, es iſt da ein Tüchterlein Giſela, es
ift da auch ein werbender Tſcheche — kurz, zu menſchlich und volktspfuchologiich bebeutfamen
Berwidelungen ift Anlaß genug. Aber alles verläuft behaglich: der fchlefiiche Donyn gewinnt
Herz und Hand der Dejterreicherin. Das fit in ungefährer Andentung der Inhalt. Wie man
fieht, ein überaus zeitgemäßer Stoff, Heimatkunſt im edlen Sinne des Wortes. —d.
A. Einz-Godin, „Dora Reval.“ Erzählung für junge Mädchen. Berlag von Guſtav Weiſe,
Stuttgart.
Die vortrefflihe Märchenerzählerin und Freundin der Zugend giebt in diefem meuen
Werke für junge Mädchen eine umfangreiche Novelle, die auch der Erwachſene mit Luſt und
Forderung lefen wird. Im Grunde eine einfache Geſchichte, aber fo glüdlich komponiert und _
fo vortrefflich erzählt, jo voll warmen und reichen Lebens, die verfchiedenartigen Perjönlichkeiten
in ihrer gegenfeitigen Einwirkung auf einander fo plaftiich und lebendig dargeftellt, dat fich ber
Lefer faum der Einfachheit der Handlung bewußt wird. Eine reiche Lebenserfahrung, ein edler
hoher Sinn fprechen aus dem lieben Buche, deifen Lektüre für feine jugendlichen Leſerinnen
gewiß nicht ohne tieferen Nuten für ihr Gemütsleben bleiben wird. Karl Emmrid.
Otto Felfing, „Gert Tanlien’s China - Fahrten.‘ Reiſe⸗ und Sriegserlebnifie eines jungen
Deutihen. München, Verlag von J. F. Lehmanır.
Diefem 14. Bande von Julius Lohmeyers,Vaterländiſcher Jugendbbücheret” hat ber
BVerfafler eine bemerkens⸗ und befolgenswerte Borrede vorangeftellt. Er verlangt darin kurz—
weg für bie reifere Jugend eine ganz andere Art von Büchern, als die übergroße Mehrzahl der
bisher für fie gefchriebenen ift, nämlich Werke, welche die Erwachſenen ebenfo intereffieren jollen
wie die reifere Nugend. Bücher, die vom gereiften Menſchen nicht mit berechtigter Mißachtung
bei feite gefchoben werden follen. Es märe in der That vom litterarifchen wie pädagogifchen
Standpunkte aus „ein Ziel, aufs Innigſte zu münfchen“, wenn ber Haffende Riß zwifchen der
„Litteratur” für die reifere (Jugend und der für das Publitum im allgemeinen endlich auöges
füllt würde durch Werke, an denen die ‚jungen wie die Alten ihr Genüge haben könnten, durch
„wirkliche Litteratur”, alfo auch für die Jugend. Was an diefen Werdenden unſeres Volks
gefündigt wird durch eine „nur für die Jugend“ zurechtgemachte unlitterarifche Pitteratur — —
wir willen es alle! Daher iſt e8 an ſich jchon ein Verdienſt, da der Verfaſſer diefer „Ehina-
Fahrten“ jo Hipp und Har auf eine neue Bahn hinweiit, ein neues Ziel vor all denen aufs
richtet, die Bücher für die reifere Jugend fchreiben, mie all denen, die welche kaufen mollen!
Denn was hüffen felbjt die beiten Bücher, wenn fie nicht gekauft werden! Das Publikum
muß dad Ziel erkennen; an ihm iſt es, allmählich das unter der Flagge „Jugendlitteratur“
gebende, oft mittelmäßige, noch dfter jammerbafte Zeug zu erſetzen durd) Bücher, die ihren
Wert auch dann behalten, ja gefteigert zeigen, wenn der jugendliche Befiger ein Yabrzehnt älter
geivorben ift. Wenn fich nur die Käufer dafür finden, bie Schriftjteller dafür haben ſich ſchon vielfach
gefunden, u. a. in Lohmeyers „Batertändifher Bücherei”! — Was mın im befonderen
Felfings „Chinas Fahrten” anbelangt, vie erfichtlich von einem Manne gefchrieben find, der bieje
Bücherſchau—. 479
Fahrten zu Waſſer wie zu Lande ſelber unternommen bat, jo iſt das ein außerordentlich inter—
eſſantes Buch; ſogar für den, der „China ſchon über hat“. Es gipfelt natürlich in der Dar—
ſtellung des letzten Chinakrieges, giebt aber nicht nur einen für jung und alt höchſt anziehen—
den, gerabezu dramatiſch lebendigen zeitgenöſſiſchen Roman („ohne Liebe”) auf dieſem Kriegs—
untergrunde, fondern auch, was viel mehr iſt, eine mit erjtaunlicher Detailfülle ausgeitattete,
aus ber „Handlung“ herborquellende Darjtellung von Land und Leuten in Ebina, Eingeborenen
und Fremden. Wer diejes Bud; lieft, erfennt — oft in atemlofer Spannung — mie die große
Gewitterwolke dräuender und bräuender beranzieht umd wie fie fich endlich über der Ebene von
Berichili mit der Notwendigkeit eines gemaltigen Narurereignifjes entladen mußte. Der Vejer
macht dabei die Bekanntſchaft einer Menge fcharfgezeichneter PBerfonen, darüber hinaus aber die
des eigentlichen chinejifchen Volkes im Thun und Denken, Arbeiten und Handeln. Und
das iſt es, was den bleibenden und jich jteigernden Wert des Felſingſchen „Jugendbuches“ aus
macht: denn erjt jebt eigentlich beginnt unjere „Beziehung zu China”; die junge Generation
der alten Kulturwelt wird weit mehr und twichtigeres mit China zu fchaffer haben als wir, —
und aus diefem Buche kann fic in der That, wie da8 Vorwort jagt, „Ehina kennen lernen,
wie es iſt, zu einer Zeit, wo Deutjchland und die ihm verbünbdeten Nationen mit dem
Schwerte das erfte Thor brachen in die geiftige Grohe Mauer des Altchinefentums. Es ift
ein Buch, das die Jugend entflammen und belehren, die gereiften Leſer von der erjten bis zur
legten Beile interejjieren muß. — Daß biefes 30 Drudbogen ſtarke Werk trefflich ausgejtattet ift
— es enthält außer vielen Pollbildern und Zeichnungen des fenntnisreichen und talentvollen
Malers U. Hoffmann in Münden eine große Anzahl von Reproduktionen nach Originale
photographieen — bedarf bei einem Buche des trefflichen Verlages %. 5. Vehmann in München
faum einer befonderen Hervorhebung. Dr. Otto Conrad.
Unter dem Dreizack. Neues Marine und Kolonialbuch für Jung und Alt. Herausgegeben von
Julius Lohmeyer. Berlag von Velhagen & Klaſing, Bielefeld u. Leipzig.
Wenn ein deutfchgefinnter Mann einem Buche wünfchen möchte, daß es unter jedem
Welhnachtsbaume liegen ſollte, fo gälte diefer Wunfc gewiß dem „Dreizad"! Es wäre
das ein Feſtgeſchenk für die ganze Familie, derm es handelt ſich hier in Wahrheit um ein
Marine und Kolonialbuch „Für jung und alt’; jeder Leſer, auch die Leferin findet in diejem
höchſt ftattlichen, mit einer Menge Zeichnungen, farbigen Bildern und Frarbentafeln ausge:
ftatteten, nahezu 500 Seiten umfaflenden Werfe eine Fülle des Intereſſanten, Unterhaltung
und Belehrung. Aber nicht das ft es, was den eigentlichen Wert diefes Buches ausmacht;
der liegt vielmehr darin, daß es den Leſer fürmlich umſchlingt mit der Liebe zum Meere, die in
dem Buche lebt und webt, daß es uns vertraut macht mit dem Waſſer, auf dem in Wahrheit
„unfere Zukunft liegt“, uns zeigt, mit welch’ entſchloſſenem Willen fchon die jegige Generation
daran arbeitet, uns das Meer untertban zu machen, uns verdeutlicht, was jchon geichaffen und
erworben, und ſehen läßt, um mie viel uns bie anderen großen Bölfer darin ſchon zuvorge—
fommen find! Und das wird nicht etwa im bdozierenden Tone vorgetragen; nein, in leichter,
aber darum doch fehr gehaltvoller Plaubderei belehren die einen unter den Mitarbeitern, in
Form ber Rüderinnerung an vergangene Tage jchildern die andern, die nämlich, die felber
mit haben fchaffen und erwerben helfen, was wir auf dem Meere an Schiffen, jenfeitö bes
Meeres an Belitungen haben! Wie auf den „beutichen Schiffswerften“ gearbeitet wird, be=
richtet Lehmann⸗Felskowski, vom „Hochieepanzer und feinem Gefolge" Ernſt Förfter, wie und
mit Hilfe welcher Inftrumente der Seemann über den pfadlofen Ozean findet, ſchildert
Dr. Schulze-Lübeck — der ſelbſt einſt Seemann war und nun Seeleute ausbildet ald Direktor
der Lübecker Navigationsfhule —, und wie die Schiffe unter fich auf See oder nach dem Lande
zu „reden“ mittels der Flaggenſprache, das erzählt unter Heranziehung vieler eigener Erlebniſſe
aus ihren Fahrten um den Erdball die frühere Hapıtänsgattin Helene Pichler-Felſing, deren
Darlegung des Syſtems wie der Geſchichte der Flaggenſprache die PVerlagshandlung eine
farbige Flaggentafel, ſowie 24 Illuſtrationen in Farbendruck beigegeben hat. Eine bildlich ver-
anfhaulichte Statiftif giebt das Verhältnis von Deutichlands Sriegsflotie, Schiffahrt und See
480 Bücerfchau.
handel im Vergleich zu den der anderen Staaten. Wie fi Leben und Treiben an Bord ab»
ſpielt, das ſchildert flott und friſch John Wilmers; die Laufbahn des Seeoffizierd und die des
„Marine⸗ Ingenieurs“ wird dargeftellt, das fegensreiche Wirken ber „Deutfchen Gefellfchaft zur
Rettung Schiffbrüchiger“ kommt in Form einer Babeplauberei von Otto Felfing unter dem
Titel „2717, Menjchen gerettet” zur Darjtellung; furzum, wenn man noch binzufügt, da unfere
Lyriker, wie 3. B. Julius Wolff, Felix Dahn, Graf Bernitorff und Prinz Emil Schönaidh-
Garolatb, Reinhold Fuchs und Karl Bulle, Julius Lohmeyer, dad Meer und das Leben auf
bem Meere bejingen, dat; Eugenie Rofenberger mit einer Novelle „Jens Tillers“ und Helene
Pichler zelfing mit einer Schiffsjungengefchichte „Der Tugendipiegel” uns das Leben an Bord
ber Kauffahrer lebendig vor Augen jtellen, Baul Dehn das Reifen zur See in unferen großen
Dzennpafjagierdbampfern behandelt und auch ber Segelfport jeine Daritellung findet — — je
muß man zugeben, daß das Yeben auf dem Meere kaum eingehender zur Beranſchaulichung
fommen fonnte! Wber aud das Leben des Meeres felber findet feine Würdigung: ein reich
illuftrierter Artikel jchildert das Meeresleben „an ber Schwelle des Nordpols”, und das rätfel-
baftefte Meergefchöpf wird in einem ebenfalls iluftrierten Artikel „biftorifch” behandelt, wenn⸗
gleih ... . feine Exiſtenz noch nicht einmal zweifellos erwieſen ift: die „große Seeſchlange“!
&o iſt denn dem Leſer das Meer nach allen Richtungen bin im „Dreizad” nahe gebracht, und
nicht minder anziehend, ja oft mit glänzenden Farben mird vom Yeben jenfeits des Ozeans, in
den jungen deutichen SKolonieen erzählt, wo immer Deutichland feinen „Bla an der Sonne“
endlich einzunehmen trachtet. So bat P. F. Norbenfel® die Thaten umferer twaderen blauen
Jungen unb bes ojtafiatiichen Erpeditionstorps bei der Eroberung Tientfins wie die Befreiung
ber Pelinger Eingeichloffenen in einer lebendig gehaltenen Erzählung „Nur ein Ehinefenjunge”
behandelt, jo erzählt 9. v. Wilimann aus oftafrilantichen Kampfestagen den Tob des Stabö-
arztes Schmelzkopf, U. Leue die „Safari” (oftafrilanliche Karamanenreife) und die ehrenvolle
„Niederlage“ einer Erpebition gegen die Mafiti: Graf Pfeil fchildert einen Reifetag im ſüdweſt⸗
afrilanifhen Ochfenwagen, Seidel die „Sötterlaunen” (und das Prieftergefindel!) im Togolande,
während Reinhold Werner eine Jagd auf Sklavenfahrer, Dr. Finſch, dem Deutjchland einen
zufunftsreichen Befig in der Südfee verdankt, von feinem nach Europa gebraditen Schüßling
Tapinowanne Torondoluan erzählt und uns Julius Stinde in einer Humoreste das Strand«
volf fchildert. Füge ich, um die Liite nicht gar zu lang zu machen, nur noch hinzu, daß das
Bud; auch eine mit fehr Haren Karten verfehene Ueberficht der deutichen Kolonieen am Beginn
bed 2. Jahrhunderts enthält und daß es tlluftrativ geradezu glänzend ausgeftattet iſt, fo kann
das Endurteil nur lauten: Der „Dreizad” ijt ein Buch, wie wir noch feines hatten, es lit „das“
uns bislang fehlende Flotten⸗ und Kolonialbuch für unfere Jugend. Dr. € ©. Fels.
Chodowicki und Lichtenberg. Daniel Chodowieckis Monatskupfer zum „Göttinger Tafchen-
Kalender” nebft Georg Chriftoph Lichtenbergs Erklärungen. Mit einer kunſt- und litterar-
gefchichtlichen Einleitung, herausgegeben von Dr. Rudolt Foke, Oberbibliothelar an der
föniglichen Univerfitätsbibliothet zu Greifswald. 1778—1788. Leipzig. Dieterichiche Berlags-
buchhandlung (Theodor Weiher).
Höchit intereffantes Denkmal aus dem Gebiete ber deutfchen Kunſt und ber deutſchen
Litteratur des achtzehnten Jahrhunderts. Sie bilder eine wejentliche Ergänzung jomohl zu den
bisherigen Vervielfältigungen Chodowieckiſcher Werke, ald auch zu den Ausgaben der Schriften
Lichtenbergs.
Deuerichienene Bucher für die Bücderichau bitten wir an die Derlagsbuchhandiung einienden zu
wollen. Beiprehungen behält ih die Redaktion vor.
Uahdrud verboten. — Alle Rechte, insbefondere das der Heberfegung, vorbehalten.
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Berlag von Alexander Duncker, Berlin W.35. — Druck von 9. S. Hermann in Berlin.
frär bie Redaktion verantwertfid: Dr. Julius Bobmener, Berlin» Gharlottenburg.
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Einzelheft ME 6, 7 0 Abonnement:
30 Pige. LIEBE N. 3 IM. 25 Pig.
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Aufgabe der Zeitidırift iit die Verbreitung
der Kenntniffe über uniere und fremde
- Armeen - » » Marinen » » » Kolonieen »
Länderkunde und überieeildıe Intereſſen,
ferner Waller-, Reif- und Jagdiport usw.
Reidı * Probehefte % Skizzen,
illuftrierte Auffätze koftenfrei Nlovellen, Romane
Boll & Picardt, Verlagsbuchhandlung, Berlin NW. 7, Georgenstr. 23.
Weltberühmte deutsche Kunstblätter.
W. von Kaulbachs Wandgemälde
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In Kaulbachs Wandgemälden ist die ge- in Religion, Staatsleben, Wissenschaft, Kunst
waltige Idee verwirklicht: die Entwicklung und Industrie geht hier in mächtig leben-
des Menschengeschlechts, in welthistorischen — dem Auge des Beschauers
Perioden aufgefasst, zur Darstellung zu Ein Gesamtbild der Kulturgeschichte
Yeiasens der Menschheit, wie es der Buchstabe dar-
ngen. zustellen nie lebendiger vermocht hat!
Ueber die anderen Teile der Wandgemälde
16 Blatt Zwischenbilder und 6 Blatt Fries
steht auf Wunsch genauer Prospekt zur Verfügung.
Alexander Dunder, Verlag, Berlin W.35, Lükowsir. a3.
—
Deutfche Monatsichrift
für dassesamteLeben der Gegenwart
HERAUSGEGEBEN Vor
JULIUS LORMEYER
BERLIN
| VERLAG VnALEXANDER DUNCKER
Jahrgang 1901/2. Inhalt des Fanuarheftes. Heft A.
Deutſche Monatsichrift
für das geiamte keben der Gegenwart.
Berausgegeben von YJullus kLohmeyer.
Seite
keitiprud von Gerzog Johann Albredtvon Mecklenburg: Mahnrufan Jung-Deutihland 481
Wilhelm Jensen: Der Tag von Stralsund. Ein Bild aus der Bansezelt . » . : 481
Ausiprühe aus dem „Goldenen Bud“ . . : 2: 2 2 nee ren 510, 575 und 582
Friedrih Birth: China Im Zeichen des Forischrittes - » + + 2 nn ne nenne 511
Karl Dove; Totensonntag am Meere. . © 2 2 20 m Er rn 535
M. Wilhelm Meyer: Die gemeiniamen Züge Im Weltenbau (Schluhhß. 536
Ribert Klein: Kaisers Geburtstag auf Fheeee.. 548
Frig kienhard: Perlönlickelt und Kultur. © 2 20 0 0 m m nenn 549
9. Trojan: Weihnactserinnerung- - > = 200 m m m rn 553
Freiherr ©. von Zedlitz und Neukirdi: Zolltarif und Reichssteuerreform . » x»... 554
Auipruche Blemachs ı - 0 00000000 568
Karl Peters: Die Weltitellung Englands - » > » 2 2 un 2 nn en een 569
W. von Maliow: Deutikhes Land und polniihe Flut — — 376
5. von Wißmann: Meine Kämpfe In Ostafrika. III. Das Gefecht gegen Sunda . . . . 583
Aphorismen von Wilhelm von Polenz . . 2 2 2 20 m nn nn 5%
Theodor Schiemann: Die auswärtige Politik Im Jahre WI . x» 2» 2 2 an nenn 591
W. von Maliow: Monatsichau über Innere deutihe Poliik. » © 2 2 2 2 en nn ana 5%
Pay! Dehn: Weltwirtihaftlihe Umkhau - - 2 2 2 2 2 nun nn 604
Paul Dehn: Deutichtum Im Huslande.. — 613
Carl Bulle: Istterarikhe Monatberictte. IV. . . . . a ee ee een ee en ———— 618
Epigramme von S. Kagerloß - » - 2 2 2 0 0 0 u 1 e a ı I E 0 a 625
Max Marteriteig: Dom deutihen Theater. II. » 2» 2 0 0 u mr en nen 626
Leopold Schmidt: Mulikalikhe Rundihau. II, 2 2200 m nn — 634
Büdericau von Friedrih Raßel, Karl Berger, F, klenhard, H. Schurß, Eduard Geyk,
Sermann von Blomberg, Oskar Weißenfels, Martinus, Sans Schliepmann,
Victor Blüthgen,
Die „Deutſche Monatsichrift” erkheint in Heften von 160 Seiten Umfang
zu Beginn jeden Monats. Der Abonnementspreis beträgt:
vierteljährlict im deutichen und Öölterr.-ungar. Poitgebiet . . . . Mk. 5,—
er im Weltpoitvereins-Gebit . . 2: v2 2 2 0 20 635
jährlicdı im deutichen und öfterr.-ungar. Poftgebiet . » 2 2 22 u 9, -
„ Im Weltpoitvereins-Gebiet . » : 2: 2 2 2 nr ar 25—
Der Preis einzelner Seite Mk. 2,—; im Weltpoitvereins-Gebiet „ 2,50
Die „Deutiche Monatsichrift” iit zu beziehen durdı die Budihandlungen des In«
und Auslandes, die Poitanitalten (Poltzeitungsliite für 1901 Ilo. 18464) oder die
Expedition, Alexander Dunder, Berlin W. 35, Lüßowitr. 43. Prospekte gratis.
Mahbnrufan Jung-Deutjchland,
Wil du deinem Vaterlande wahrbaft treu und nunbringend dienen,
ſo achte und liebe vor allem deines Volkes Sitte und Eigenart; lerne feine
groben Eigenjchaften und Vorzüge verfieben.
Auf diefer Grundlage betrachte nüchtern und unbelangen die Uölker
der Erde in dem, was fie für fich geleitet haben und was [ie für uns
leiten können, verachte fie michi, aber erniedrige dich auch nicht vor ihnen
und dir felbft, indem du ihnen nmachäffft. Lerne von ihren guten und
fchlechten Erlabrungen zum Nuten der eigenen Heimat. Im ihr, In deinem
eigenen Volkstum gründe fejt dein innerltes Sein und gewinne dir [teis
neue Lebenskralt, um an deinem Celle zur Erhaltung und Entwicelung
deiner geiftigen Schäne deines befonderen Stammes beizutragen, aber fteis
im Binblik aut die gejegnete Entfaltung aller Kräfte des gemeinfamen
deutfchen Vaterlandes.
Schwerin, im Januar 1899.
Johann Albrecht, Aerzog zu Mecklenburg.
Aus dem „Goldenen Buch“.
Der Tag von Stralfund.
Ein Bild aus der Banlezeit* von
Wilhelm 3ensen.
$: den letten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts fieht die ſkandinaviſche Welt
eine Frau von überragenden Geift und ungewöhnlicher weiblicher Thatkraft.
Waldemar Atterdag hat zwei Töchter, Ingeborg und Margarete hinterlafjen, die
erfte, ältere ift mit dem Herzog Heinrich von Medlenburg, die zweite mit dem
König Hakon von Norivegen vermählt. So fällt rechtgemäß dem Sohne Inge—
borg3 die Thronfolge in Dänemark zu, doc) ihre jüngere Schwefter handelt mit
rüdjichtslofer fchneller Energie und gewinnt für ihr fünfjähriges Söhnlein Olaf
die dänifche Krone. Dies Ziel erreicht fie durch die mächtige Unterftügung der
Danfa, die, von den ihr gemachten vorteilhaften Verſprechungen vorbedadtlos
verblendet, ihr Beihülfe leiſtet. Nach dem Tode jeines Baters ift Dlaf König
von Norwegen und Dänemarf, für den unmündigen Snaben führt feine Mutter
* Die Weltgefchichte iſt ein ſeltſames Buch, zugleich von unerfchöpflidhem und von einfachem
Inhalt. Wuf jeder feiner zahllofen Seiten bringt c8 Neues, zuvor noch nicht Geweſenes, und
bod) wiederholt es auch immer nur Altes, jchon früher Geſchehenes. Seine Berichte find mehr
trübe als freudig, dienen dem Leſenden feltener zu einer Emporhebung, als zu einer Bebrüdung
bes Gemüts. Nicht Häufig erfüllen fie ihn mit einem Stolzgefühl, der Menfchbeit anzugebören,
von deren Trachten und Thun das Buch Zeugnis ablegt. Denn kaum findet fich ein Blatt darin,
das nicht mit Blutfleden bebedt wäre. So meit Ueberlieferungen zurüdreichen, verfünden fie
nleihmäßig bei allen Völlern der Erde, den geiſtig vorgefchrittenen, wie den niebrigititebenben,
wenig von einem goldenen Beitalter des Friedens, der Eintracht und Freundſchaft, genügfamer,
geredhter und menfchlicher Sinnesart. Faſt überall vernehmen wir nur von eiferner Zeit unter-
laßloſer Kämpfe und Kriege, der Gemwaltthat, Herrſchſucht und Willfür, des Haſſes, der Habgier
und Grauſamkelt. In ftille Verborgenheit bes Einzelbafeins zieht das Edlere, dad Milde und
Schöne ſich zurüd; auf der weiten Schaubühne des Lebens toben mit feltener Unterbrechung bie
Amtetracht, der Streit, von ber Eigenfucht erzeugt und die Rohheit nährend.
31
442 Wilhelm Kenfen, Der Tag von Stralfund.
die Herrichaft. Noch kaum jechzehnjährig aber jtirbt er, und unmittelbar danach
wird die bisherige ftellvertretende Negentin nicht nur zur Königin von Nortvegen,
auch zur „Fürftin des Neiches Dänemark” erwählt.
Eine mit dem König Albrecht von Schweden zerfallene ftarfe Mdelspartei
ruft fie gegen diefen zum Beiſtand über den Sund und jagt ihr auch die ſchwe—
diiche Krone zu. Nafch folgt fie der Aufforderung, das Kriegsglüd ift ihr günftig,
und im Jahre 1389 vereinigt fie in ihrer Hand die Herrichaft über ſämtliche
drei ſkandinaviſchen Reiche. Ahr mannhaft fühnes Wejen damit bezeichnend,
giebt man ihr dort den Beinamen „Margarete Sprengeheit”, im übrigen Europa
benennt man fie die „Semiramis des Nordens". Die deutihe Hanſa hat einen
gewaltigen, nicht wieder wett zu machenden Fehlgriff begangen, daß fie in den
Pündern ihrer Hauptgegner die Vereinigung der drei Kronen auf einem Haupt
nicht nur geduldet, ſondern ſelbſt dazu behülflich gewejen ift.
Um diefe Zeit fpielt, ummeit von der Hanſeſtadt Rügenwalde im üftlichen
Pommerlande, mandjmal am einiamen Oſtſeeſtrand ein jiebenjähriger Knabe mit
farbigen Steinen und Mufcheln, die ihm die Wellen vor die Füße jpülen. Er
wandert dorthin von einer nah der Hüfte belegenen Burg, die, obwohl von Wall
und Graben umgeben, mehr nur einer großen ländlichen Hofftätte gleicht als
einem fürſtlichen Schloß, obwohl der Herzog Wratislam von Pommern:Wolgaft
drin hauft, der Pater des Eleinen Snaben.
Dieſem bläft der Seewind dunfelbraunes Daargelod um die Schläfen, zu-
weilen läßt er von feinem Spieltreiben ab und ſieht eine Zeitlang unbeweglich
aus großaufgeweiteten, hell und jcharfgeiternten Augen über die uferlofe Waſſer—
fläche bin; in feinen Zügen liegt dann ein horchender Ausdrud, als laufche er
auf eiwas durch die Luft über die See Herfommended. Doch gemeinigli nur
immer das Gleiche iſt's: Summen des Windes und ein leis fingender Ton der
Wellen. Nur wenn der Sturm von Norden her brauft, wirft er zornig vaujchende
Lernen wir etwas aus ber Betrachtung diejer Weltgefchichte, oder führt jie ums mur
millionenfache Auftritte eines ſinnlos vertvorrenen Pärmftüdes vorüber? Faſt will's fo ericheinen,
daß die Nachfolger äußerſt geringen Erfahrungsnugen aus der Dinterlafienfchaft ihrer Vorgänger
siehen. Bei allen Wandlungen der Seiten bleiben die Bedingungen des Menfchheitlebend die
nänlichen, und aus ihnen ermachfen die gleichen Triebe und Thaten. Einen Bejferungsvorfchritt
haben die letten Jahrhunderte wenigitens in der Mehrzahl der Yänder Europas, die ſich
„Rulturländer” benennen, gebracht, innerhalb beöfelben Volles den mittelalterlidhen Kämpfen
aller gegen alle ein Ende geſetzt. Daß es möglich fei, dem Drängen dev felbftändigen Völker
wider einander jemals durch Schiedsfprüche ein gleiches Ende zu bereiten, ijt eine Thorbeit, die
nur in einfichtslofen Köpfen ihr Eindliches Wefen treiben Fan.
Tenn Eines lernen wir doch ald unabänderlich aus der Weltgefchichte, die Wahrheit des
Ausſpruchs Spinozas: „Unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valet“. Dem
verlieh der große Friedrich mit anderem Wort Musdrud, als ev feinen Kanonen die Inſchrift
eingraben ließ: „Ultima ratio regis*; in unferen Tagen würden wir fie in „Ultima ratio
nasionis“ umwandeln. Die Gefchichte lehrt, daß es ſtets fo mar, als eine Naturnotwendigfeit,
die man beffagen, doch nicht ändern lann, jo iſt amd in alfer Zukunft fo bleiben wird. Prägen
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 483
und fnatternde Wogen ans Ufer; das ſind Stimmen des Aufruhrs, die den
Horchenden wie in einem Bann zu felleln fcheinen. Er mag fühlen, daß der
mwütende Nord ihm wie mit Dorngerten ins Geficht peitfcht, daß die Eochende
See Gicht und Schaum bis über feine Kniee herauffchleudert, doch er achtet nicht
darauf, es thut ihm wohl, und ein Funkeln fprüht zwilchen jeinen Lidern, als
höre er jett das, wonad) fein Ohr ſich geipannt.
Ein ungewöhnlich ſchöner Knabe iſt's, mit eigenartigem, kühnem Schnitt des
Antliges, drin die Mugen ſich unter eine ftark vorgewölbte Stirn zurüdziehen,
bei dem Sinde jchon von einem jchweren Bogen dichter, Schwarzer Brauen über:
ſchattet. Bald um ein Kahrhundert zuvor hat drüben jenfeits der Dftiee der
Strand ber Inſel Seeland das nämliche Knabenbild gewahrt, gleich und doch
verjchieden. E3 hat auch fo mit Mufcheln und Steinen gefpielt, auch mit folchen
Augen und Zügen aufs Meer binausgeblidt, doch nicht mit dunfel umrahmten,
denn König Waldemar Atterdag hatte däniſch blondes Haar. Sonſt aber gleicht
ihm auffällig fein Nachkomme, der Enkel feiner älteften Tochter, der fchönen
Ingeborg, Eric von Pommern. Nur hat bei diejem fid) das „wendiſche“ Blut
der alten pommerſchen Fürften binzugefellt, fein anderer Ahnherr Swantibor, der
beidnifche wilde Todfeind des Chriftentums, ihm das dunkle Sceitelgelod über:
madt. Das erhöht die Snabenichönheit Erich von Bommern noch über die
weitberufene, alle Frauenaugen bezwingende feines däniſchen Urältervaters hinaus.
Er ift ein Fürſtenſohn, doch nicht von fürſtlichem Prunk und Reichtum um—
geben, die jchmudlofe Burg bei Rügenwalde bezeugt'3. Trotz einen ausgedehnten
Landgebiet find die Herzöge von Pommern-Wolgaft, unter brandenburgijcher
Lehnshoheit ftehend, nur karg geftellt, durch unglüdliche Fehden mit ftreitbaren
Nachbarn herabgefommen; im Annern troßt ihnen auffäffiger Adel hinter feftem
Gemäuer, und noch mehr thun's die faſt ausnahmslos dem Hanfabund beigetre-
auch die Kulturvöller ihrem Staatsgebäude die goldene Inſchrift auf: Jus fandamentum eivi-
tatis, die Gefchichte aller Zeiten, und nicht am twenigften die der meneiten lehrt, daß zwiſchen
Bölkern einzig die Kraft das Recht behauptet.
*
—
So ſahen auch die erſten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts faſt alle Länder Europas von
Stürmen und Ungewittern übertobt, in manchem noch wilderer Art, als das vergangene fie
nefannt. Im Weiten marf der König Heinrich V. von England feine Heermaſſen über den
anal, dem jchwadhfinnigen König Karl VI. von Frankreich Krone und Reich zu entreißen;
jahrelang durchwütete und verwüſtete der Krieg die franzöfiichen Yande. In Heinerem Maße
vollbrachte gleiches der Herzog von Burgund, „Philipp der Gute” benannt, bemächtigte ſich
gewaltfam der Bejittümer Jacobäas von Bolland, trennte dies, den Hennegau und Luremburg,
alte deutiche Lande, vom deutichen Reich ab, das bald danach auch das Herzogtum Lothringei
an einen Verwandten des franzöfifchen Königshauſes verlor. Eroberungsſucht und Beutegier
ſchwangen von den Thronen herab die Brandfadel über Städte und Erntefelder; neben dem im
Tageslicht fich rotfärbenden Schwert des Soldfnechts fchlic im Dunkel dev Dolch des Mteuchel-
mörderg, von Fürſten genen Fürſten abgefandt. Die Blutthaten der Hochſtehenden verzeichnete
317
484 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Straltund.
Greifswald gehören. Sid) das reichsfreie Kübel zum Vorbild nehmend, erhöhen
fie in immer wachſendem Maße ihre Selbftändigfeit, verfagen dem Landesherrn
die Steuern, verfchließen ihm nad Gutdünfen ihre Thore. Dieſe Unbotmäßigkeit
muß er ſchweigend dulden, zu einem Kampf mit der Macht der Hanfa reichen
feine Kräfte weitaus nicht bin. Der Herzog von Pommern:Wolgaft führt in
feinem Lande nur eine Scheinherrichaft, feine wirkliche.
Das weiß oder fühlt der am Strand fpielende Knabe. Auch auf die Rede—
führung in feiner Väterburg bat er mit frühreifem Verſtändnis gehorcht, weiß,
daß er ein Nachkomme des großen Waldemar Atterdag ift und daß nad) feiner
Abkunft rechtmäßig die Königskrone von Dänemark ihm gehört hätte, nicht feinem
Better Dlaf von Norwegen. Aber die dudefche Hanfa hat diefem zu ihr verholfen.
Nicht nur das Äußere Bild des Königs Waldemar bat die Blutserbichaft
in dem Knaben Erich von Pommern wiederholt, aud das innere Weſen desjelben
hat fie ihm mitgegeben. Seine pommerſchen Vätervorfahren lafjen ihn gleich—
gültig, er fühlt ſich als ein Sproß feines mütterlihen Ahnherrn, deſſen Bild
immer bor der Borftellung feiner Augen und Gedanken fteht. Begehrlid) Taufcht
er, wenn von diefem gejprochen wird, von dem unfchredbaren Mut, der Tapfer:
feit und verfchlagenen Klugheit, dem hochfahrenden Königsftolz Waldemars; von
feiner beherrichenden Macht im ganzen Norden, feinem Sturz und Untergang,
jeiner Berjagung von Thron und Neid. Das hat die dudeſche Hanſa gethan.
In der Bruft feines Urenkels lodert, von Jahr zu Jahr ftärfer genährt, ein
ohnmädhtiger tiefer Grimm gegen die dudeſche Hanſa. Bor allem ein wilder Haß
gegen feines Vaters Stadt Stralfund. Sie hat mit Lübeck zufammen am meiften
die Erniedrigung des großen Dänenfönigs ind Werk gefett, und fie ift’3, bon der
er täglich hört, daß fie, auf ihre Mauern und Wehrbürger, ihre Stellung im
Städtebund und ihren Reichtum pochend, am trogigiten, faft mit unbemänteltem
Hohn die Gebote ihres Oberherrn mißachtet. Die Welt hat fich verwandelt jeit
die Gefchichte, den Untergang und Jammer der Niedrigen begrub fie mie immer unter dem
Bahrtuch des Schweigens und der Vergeſſenheit.
Eine Zeit der tiefiten Schwäche des „Seiligen römifchen Reichs deutſcher Nation“ iſt's, von
den Namen ber drei Kaiſer Wenzel, Ruprecht von der Pfalz und Sigismund gekennzeichnet.
Die Ffatferlihe Macht bat fich zur Ohnmacht, zum Spott und Spielzeug ihrer Gegner vers
wandelt, ber Eleinen, wie der großen. Im Innern des Reiches fpracdhen ihr Hunderte von un—
botfamen Kurfürften, Herzögen, Grafen, Bifchöfen und Herren aller Arten Hohn, ſich bald fo,
bald jo untereinander und gegeneinander verbündend. in rajtlofen Kämpfen unterliegt ber
Schwächere, erbeutet der Stärfere Gewinn; als felbjtwerftändlich fiebt die Zeit es an. Denn
ber „Yandfrieden” ſteht als Satung nur auf dem Blatt, überall fehlt die Kraft, ihm Geltung
zu erzwingen. Sowohl dem Großen gegenüber, wie dem Heinen Fauſtritter, dem gemeinen
Buſchklepper. Wie auf den Schlachtfeldern entfcheiden auch auf den Straßen und Wegen nur
die bejieren Waffen, behüten ben einzelnen vor Ueberfall und Raub. Das Recht hängt allein
von ber Kraft ab; Hilf dir felbit! ift der Wahlfpruch aller.
Bon außen ber drohen die Türfen, freien unterlaßlos am ſiechen Körper des Neichs,
beilen Heerfräfte angleich mehrfach in der lombarbifchen Ebene ihr Grab finden. Doch das
Wilhelm Aenfen, Der Tag von Straliund. 485
den Tagen, in denen Waldemar mit ftolzer Beratung auf die „Peberſwende“
berabgeblidt, jest zuden die Pfeffergefellen geringihäßig über die Fürſten ihre
Schultern. Sn dem Knaben Erid; von Pommern jchwillt und kocht das Blut
feine Urältervaters gegen den „gemeinen Kaufmann“ auf bei der einbildnerischen
Borftellung, an den Städtebürgern, der dudeſchen Hanfa, der Stadt Stralfund
Rache üben zu können.
König Waldemar hat feinen Beinamen nad einem oft von ihm im Munde
geführten Wort erhalten: „Morgen ift wieder — atter — ein Tag"; ein Tag,
deffen Kluge Benutung zu ftande bringen wird, was heute fehlgeichlagen, und
in der Handhabung diefes „morgen" ift er ein Meifter geweſen. Sein Urenfel
baut am Strand aus Tang und Steinen eine Mauerrundung auf — das iſt die
verhaßte Stadt Stralfund — und er gräbt von ihr eine breite Rinne im Sand
bis zum Waſſer. Dann ruft er dies an und befiehlt den Wellen — das find
feine Heertruppen — vorzurüden, die Wälle von Stralfund zu erftürmen und
niederzureißen. Dod; fie folgen dem Gebot nicht, plätjchern nur leis |pielend in
den Graben hinein; es wird Abend, er muß zur Burg zurüd, feine Hand droht
der Stadt noch einmal zum Abjchied — und er fagt dazu: „Morgen ift wieder
ein Tag“. Aber er ift nicht Waldemar Atterdag und fein Herrſcher über die Gee.
Das „morgen und die nachfolgenden Tage beweifen es ihm in gleicher Weije.
Er kann feine Ungeduld, die das Warten nicht länger verträgt, nicht zügeln, und
weil er Stralfund vernichtet fehen will, zerftört er e8 wieder. Doc) feine eigene
Hand muß es thun; jemand ift Zeuge des finderhaften Treibens oder vernimmt
davon, und in der Hanfeftadt Rügenwalde dient den Bürgern der Sohn ihres
Herzogs zu ſpöttiſcher Beluftigung.
Wie die Jahre weitergegangen, fieht die Oftiee Erich von Pommern feine
Snabenfpiele mehr am Strand anftellen, doch gewahrt ihn dafür eines Tages,
ungeführ fünfzehnjährig, auf einem Eleinen Fahrzeug weſtwärts der pommerſchen
furchtbarſte Brandgeſchwür an — gelbe bildet Bbohmen, vom Huſſitenaufſtand durchtobt,
den die Verbrennung des Reformators Johannes Huß, trotz Fatferlicher Geleitszuſicherung, ins
Ungeheure entzügelt. Ein Krieg, jo voll an Greueln, mit ſolchem Lodern des Haſſes, des In—
grimms, der Todesverachtung und tieriſcher Wut geführt, wie's die Welt noch ſelten geſehen.
Die rächenden Vergelter des Treubruches Kaiſer Sigismunds begnügen ſich nicht mit ſeiner
Demütigung, ſondern tragen in verheerenden Kriegszügen den Schrecken ringshin weit in die
deutſchen Lande hinein. Mit beſonderer Gewandtheit bedienen ſie ſich des ſchon ſeit mehr als
einem Jahrhundert bekannten, doch bisher noch wenig zu erfolgreicher Anwendung gelangten
Schießpulvers, und ihr grobes Gefchüt erböht überall das Entfeten ihrer wilden Anſtürme.
* *
Ei
Aus diefer Zeit der Zerfpaltung, Ohnmacht und Erniedrigung des Reiches, der ſcheu—
(ofen Gemwaltthat, Recht» und Treulofigfeit hebt fich eine neue, feltfame und doch menfchlich wohl
begreifbare Ericheinung auf. Schon feit zwei Jahrhunderten fit fie in ihren Anfängen hervor:
getreten; die bebeutenditen Städte des Reiches find Hinter feiter Ummanerung durch dad An—
wachſen ihrer Bevölkerung und ihres Wohlftandes eritarkt, fühlen fich gleicherweiſe von der
Unfiherheit aller Zuſtände, der Willkür fürftliher und abdliger Herren bedroht und bie Not—
486 Wilhelm Nenjen, Der Tag von Stralfimd
Küfte entlang jegeln; heimlich hat er die Schloßburg verlaffen, als ein gewöhn-
licher Bauernjunge verkleidet, die Neigung dazu fcheint ihn auch als ein Erbteil
von Waldemar Atterdag überfommen zu jein, wie nicht minder ein anderes. Hoch—
aufgewachſen hat er ſich früh zum Jüngling entwidelt, nad) dem die Augen der
Mädchen gehen; ebenjo aber richten die feinigen ſich nad) ihnen, finden mit raſchem
Blick aus einer größeren Anzahl die am meilten mit Neizen Begabte heraus.
Die Phantafie ift mächtig in jeinem Kopf, fie treibt ihn heut’ übers Waſſer fort;
ihm ift zu Gehör gekommen, am Rand der Anfel Wollin in der Dderausmündung
jei in grauer Vorzeit eine große Stadt Julin, eine urbs Venetorum, der Wenden,
danadı auch Bineta benannt, von der Eee verſchlungen worden, doch bei heller
Luft Eönne man ihre Trümmer noch drunten unter den Wellen gewahren. Das
hat in jeinem Kopf gezündet, ev verwendet feinen geringfügigen Geldbeſitz dazu,
einen Schiffer zu dingen, der ihn in feiner Schute dorthin bringt und noch anderes
zu erzählen weil. Auf dem Dünenhang neben der veriunfenen Stadt haben noch
vor diefer die Komsvifinger die Jomsburg erbaut gehabt und der däniſche See-
fünig Palnatofe drin gehauft, der Schreden aller Yänder und Völker ringsum an
der ganzen Dftjee. Als der nach unzählbaren Heldenthaten gefühlt, dat der Tod
die Hand nad ihn jtrede, ijt er im Bollmondichein zur höchſten Dünenfuppe auf:
geftiegen, hat eine weiße Yode von feinem Sceitel gefchnitten und in die See
drunten hinabgeworfen. Da raufchen wie fturmgepeiticht die Wogen auf, Schiffe
mit blutroten Segeln fteigen aus der Tiefe, ihre goldenen Schnäbel flammen,
auf den Kaftellen Elirren und rafjeln taujend Schwerter, Speere und Schilde,
und von taufend Lippen hallt's: „Du haft uns gerufen, Derr, aus unfrer Meer-
rast!" Die Kriegsfahrtgenoſſen Palnatofes ſind's, die vor ihm von Sturm und
Flut verjchlungen worden; nun grüßt er fie, und jeine Hand winkt. Da birft
der Waſſerſchlund auseinander, das Bilingichiff des Seekönigs hebt ſich aus ihm
empor, er tritt hinein, und die Segel umbaufchen ihn wie ein Purpurmantel. Mit
wendigfeit eines Schutzes dagegen aus eigener Kraft. So haben jie, befonders am Rhein und
in Oberbdeutfchland, ji) in mannigfacher Richtung von ihren Oberherren unabhängig zu machen
gefucht, zur Erreichung diefes Ziels Bündniſſe untereinander geichlofien. Fraglos find dieſe
jtädtiichen Gemeinschaften die hervorragenditen, wenn zu der Zeit nicht die einzigen Bertreter
des Nechtöfinnes und vorjchreitender Bildung; aus dem Bürgertum bebt fih der Beginn einer
langjam aufdämmernden neuen Weltanfchauumg empor. Doch verfolgen fie bei ihrem Zufammen=
ſchluß nicht ideale Zwecke, fondern Lediglich praktifche, vor allem die Sicherung und Förderung
ihres Handels, des Fundaments ihres Wohljtandes und ihrer Kraft. Unbewußt aber bahnen
fie damit auch einen getftigen Fortfchritt an, werden zu Hufbellern der mittelalterlichen Finſternis,
gleichwie der Genuefer Colon wejtwärts den Scemweg nad) Indien fuchte und eine neue Welt
entdedte.
Diefe Beitrebungen der größeren Städte rechen mit ibren Anfängen fchon bis ins
12. Jahrhundert zurüd, jedoch erſt die zweite Hälfte des 13. gewahrt die Entjtehung eines Bundes
an den nordifchen Deerufern Deutichlands, der, mählich fi ausdehnend, ungefähr mit dem
Beginn des 15. Jahrhunderts zur böchiten Stufe feiner Entwidelung aufiteigt. Eine Bereinigung
der ſeehandeltreibenden Ztädte an der Nord» und Oſtfee it's, die nad) der gleichen Sicherung
Wilhelm Nenfen, Der Tag von Stralfumbd. 487
Waffenklang und Jubelgeſang feine Heldenthaten und feinen Ruhm preifend, um—
ringen ihn jeine Bafallen und geben dem alten Reden da8 Totengeleit zum
Meeresgrund hinunter.
Auch eine Mondnacht iſt's, in welcher der Schiffer während der Fahıt an
der pommerſchen Küfte entlang feinem jungen Begleitgmann davon erzählt, und
am andern Tag gegen Sonnenuntergang landen fie am einjamen ®ejtade der
Inſel Wollin. Der phantajtiihe Sinn Erich von Pommern hat reiche Nahrung
eingejogen; unter dev ruhigen Waſſerfläche ftellen die abendlichen Goldftrahlen
ihm Elar die Trümmterrefte von Bineta vor Augen. In Wirklichkeit ſind's nicht
jolche, fondern ein abſonderlich geformtes Steingerippe aus alten Findlings-
blöden am Seegrund, doch die Einbildungsfraft geftaltet dein jungen Bejchauer
daraus Weberbleibfel von verjunfenen Mauern, Türmen und Paläften. Dann
jteigt er im Dämmern allein zu der „Silberberg” benannten Diünenhöhe hin:
auf, wo die Jomsburg des Seekönigs PBalnatofe geftanden. Nur wenig Geitein-
rejte geben noch Kunde davon, daß hier einmal ein Bau geweſen; er fett ſich
und hängt Boritellungen nad, die ihm aus dent einfallenden Nachtdunkel herauf:
fommen. Drüben im Wejten, wo den Himmelsrand noch ein rotbrauner Saum
färbt, liegt die verhafte Stadt Stralſund — wäre er der Seekönig Palnatofr,
jo zöge er mit feinen Bilingichiffen zu ihr hinüber, fie zu erftürmen und in
Trümmer zu legen, wie dort unten Julin. Bon DOften her fteht der Nadıtwind
auf, und unter den Dünen beginnen Wellen murrend auf den Vorſtrand zu
raufchen, doch dabei auch zu blinken und hellere Schaumkämme zu zeigen, denn
die Bollmondfheibe redt fih aus der See empor. Eine Zeitlang wie ein
glühender Feuerball, dann wird fie filbern, übergießt die jtille Ferne der Sand-
Euppe mit weißem Licht. Eric, jteht auf, vom langen Sißen iſt's ihm fühl ge:
worden und überfröftelt ihn, jo geht er, am nbgeredeten Pla den Schiffer
iwieder zu finden. Aber wie er an den Rand der Düne fommt, hebt ſich vor
auf dem Waſſer trachten wie auf den Yandiwegen. Die Schiffe jeder einzelnen find hülflos der
Uebermacht fremdländifcher Fürſten und hobnlachender, wilder Sceeräuber preisgegeben; fo haben
fie beſchloſſen, mit vereinten Kräften fich Recht und Schuß zu erzwingen. Zuerjt nur wenige
der größeren, zu einem taitenden Berſuch, doch raſch verdoppelt, verzehnfacht fi die Zahl.
Auch die kleineren erfennen ibr Seil in dem Anfchluß, erböben durch zahlreichen Beitritt dic
Stärke der Geſamtheit; nicht nur am Meere belegene, ebenjo die handeltreibenden Städte im
niederbeutichen Binnenland, dte nicht durch gewappnete Schiffe und Waffenträger, doch durch
Seldbeiftener die Macıt des Bundes vermehren und dafür ſich unter jeiner Obhut bergen.
Jetzt erjtredt er ſich von der eſthländiſchen Küfte bis zur niederländiichen au der Grenze Frank—
reichs, mehrfach fogar bis gegen Oberdbeutichland hinauf.
Es ijt ein ftolzkflingendes Wort, das zu jener Zeit die ganze Nordwelt Europas durchs
hallt: „De dudefche Hanſe“ — die deutiche Hanfa. Der Urfprung des Namens liegt im Dunlel;
„Hans“ oder „Danfa” bezeichnet jchon im Gotifchen und Althochdeutfchen eine Genoſſenſchaft,
eine Kaufmannsgilde Und als foldhe tritt die deutiche Danja ins Leben, al8 ein Bund bes
„gemeinen Kaufmanns”, wie die Zeit ihn nennt, das heißt, der vereinigten Allgemeinheit der
Staujleute.
488 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund.
ihm ein dunflerer Schatten vom gelblihen Grund ab, dort fit etwas am
Boden, ein Menfch, eine weibliche Geftalt mit lang auf Rüden und Schulter
niederfallenden, tief dunklem Haar. Raſch überhellt fie das Mondlicht fo deutlich,
daß aud ihr Geficht erkennbar wird, mit Schönen Zügen und von einer weißen
Farbe, die im Strahlenauffall ein eigenartiger perlender Glanz überriejelt. Sie
bat dadurh etwas von einem aus dem Waſſer heraufgeftiegenen Meermeib;
offenbar ift’3 eine Wendin, ein noch bfutjunges Mädchen, an Jahren wohl unge-
fähr dem auf fie Zutretenden gleih. Verwundert fragt er: „Wer bift Du?
Kommiſt Du von Julin hier herauf?" Sie fieht ihn aus auch dunfelglimmenden
Augenfternen antwortlo8 an, nur ein fonderbar halblahender Ton, an einen
Waffervogelruf erinnernd, fommt ihr vom Mund, dabei bliden zwifchen den
Lippen ihre Zahnreihen noch weißer perlend als die Gefichtöfarbe hervor. Er
wiederholt: „Wer bift Du? Wie heißt Du?" Mit feiner bäuerifchen Kleidung
nicht übereinftimmend, Elingt etwas Befehlendes aus den Worten, und nun er:
widert fie: „Geſa“. Er weiß nicht, warum ihm dabei ein anderer Gedanke
duch den Kopf fährt, dem er Ausdrudf mit der Frage giebt: „So ftammft Du
vom König Palnatofe ab?" Dazu lacht fie abermals, doch begleitet dies mit
einem Niden. Jetzt faßt er nach ihrer, im Mondliht auf dem Gewand über
den Knieen wie eine Eleine Schaumwelle gliternden Hand und fagt: „Komm mit
mir zurüd in feine Burg, dort erzähl’ mir von ihm!" Cie leiftet keinen Wider:
ftand; beim Aufrichten fteht fie ſchlankwüchſig höher da, als ihre Geftalt in der
figenden Haltung erfchienen. So gehen beide miteinander dem Plat der ehe-
maligen Jomsburg zu, laffen fi zufammen dort auf dem Dünenfand nieder.
Unter ihren Füßen murren die Wellen, der Wind, ftärfer anfchwellend, ftiebt
ihnen das Haar an den Schläfen auf, und fühl liegt der weiße Nachtglanz um
fie. Doch Erich fröftelt’3 nicht mehr, feine Blutwellen drängen fih raſch; mit
mancherlei Fragen dringt er jprunghaft ungeftüm auf Gefa ein, und ihre fonder:
Eine jeltfame, nur aus den wirr⸗ſchwankenden Zuftänden jener Jahrhunderte erflärbare
Genoſſenſchaft. Mit wenig Ausnahmen feine Verbündung freifelbftändiger Städte, die große
Mehrzahl kit Landesherren unterthan, jede einzelne, diefer Angebörigfeit gemäß, dem ibrigen
verpflichtet, jeinem Geheiß unterworfen. Und doch jtehen in der Gefamtheit ber „Hanfe” alle
unabhängig, jeldjt ihr Wollen und Thun bejtimmenb, ba; es entipringt ber Sraft des Zufammen-
ichluffes, den die Herrſchſucht und Habgier der unter ſich zerfpaltenen Fürften nicht anzutaften
wagt. Sie haben es bei dem Berjuch einer Gemwaltthat nicht mit „ihrer Stadt zu thun,
iondern mit den Bündnis bes „gemeinen Kaufmanns” im ganzen dbeutjchen Norden. Mit den
webhrhaften Bürgern, der Geldmacht und Mauerfeftigkeit, den mit Feuergeſchützen ausgerüfteten
Kriegskoggen aller zu Schub und Truß vereinigten Städte.
Es fit ein hochtönendes, viel Schreden wachrufendes, viel heimlichen Ingrimm zum Lodern
ihürendes Wort: de dudiſche Hanfe. Mit niederdeutſchem Namen nennen fie fi, denn platt-
deutfch iſt ihre Sprache.
Gewaltiges umfchließt das Wort an Hugem Natfchlag, Kraft und zielbewuhter That, an
Ausdauer und Vergangenheit, doch, der Unbeftändigkeit aller tröifchen Dinge unteriworfen, bleibt
die Hanfa auch während ihres höchſten Glanzes von inneren Zwiſtigkeiten, Berwürfnifien, Neid,
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 489
bare Stimme, aus der helltönig etwas Elingt, wie wenn das Waſſer mit Eleinen,
Eirrenden Strandfiefeln fpielt, antwortet nun drauf.
Wie der junge, flüchtige Befuher Julins und der Jomsburg, der den
Fahren nad) nod) ein Knabe, doch in Wirklichkeit ſchon weiter vorgeichritten ift,
um zwei Tage fpäter wieder bei Rügenwalde anlandet, hat fi) ganz ein Ge-
danfe feines Kopfes bemädtigt. Er will ein Seefönig werden, obgleich man ihm
heute nur den Namen eines Seeräubers beilegen wird, jobald er's vermag, ein
Vikingſchiff ausrüſten und damit gegen Kauffahrer der dudefhen Hanſa, vor
allem gegen die von Stralfund ausziehen. Die will er überfallen, entern, ihrer
Waren und Reihtümer berauben, zu Orlogskoggen umwandeln, um fi) aus
ihnen eine Flotte zum offenen Kampf wider die Hanſa zu”ichaffen. Sein Schiff
foll nicht gleich denen der „Pfefferfnechte" einen Erzengel: oder Heiligennamen
führen, fondern das Bildnis eines jungen Meerweibes am Bugfprit tragen und
„Geſa“ heißen. Ein Einderhafter Plan ift’3, eines ohnmächtigen Wunfches; zur
Ausführungsmöglichkeit gebricht ihm alles, nicht am wmenigften der Geld—
befit. Es fpielt damit nur eine Einbildung, die ſich noch als die eines Sinaben
kundthut.
Da erwacht mit fünfzehn Jahren eines Morgens Erich von Pommern als
der König von Dänemark, Norwegen und Schweden.
Die Semiramis des Nordens beſitzt keinen Erben ihrer drei Kronen mehr,
alternd hat ſie ſich erinnert, daß noch ein letzter Abkomme ihres Vaters unter
den Lebendigen iſt, und mit plötzlicher Entſcheidung erwählt ſie den Enkel ihrer
Schweſter zu ihrem Nachfolger. Mit der männlichen Kraft ihres Willens ſetzt
ſie ſofort den gefaßten Entſchluß ins Werk und um ein paar Wochen nachher
wird auf dem alten Schloß Kalmarhus an der Südküſte Schwedens der Sohn
des kleinen Pommernfürſten mit gewaltigem Feiergepränge zum König der drei
nordiſchen Reiche gekrönt; eine Untrennbarkeit derſelben ſetzt zugleich der Ab—
Wankelmut und Abfall nicht frei. Oft durchtobt auch die Straßen der Städte lauter Aufruhr,
Parteien, Geſchlechter und Zünfte bekämpfen ſich in ihnen auf Leben und Tod; hier und dort
wird das beſtehende Regiment der Burgemeiſter und Ratsherren geſtürzt, ein neues aufgerichtet.
Das Blut ber Unterliegenden färbt ben Richtpla&, oder nod) rechtzeitig entkommen, vufen fie fich
Beihelfer von auswärts, um ihre Derrfchaft zurüdzugerwinnen; Beſtechung, Verrat und Ver—
fhwörung drängen ſich ein, lähmen nicht felten von ben erfranften Bliedern aus die Kraft des
Geſamtkörpers zu fchwerer Schädigung für ıhn auch nach augen. Und dem bewußten Unrecht,
mit dem bie fürftlichen Machthaber überall die Zwecke ihrer Eigenfucht verfolgen, ihrer Härte,
Wildheit und graufamen Unmenfchlichkeit fegen die trogigen Bürger der Hanfejtädte mannigfach
ebenfo bewußt das Gleiche entgegen. Denn die mweichmütige Schwäche büht Recht und Beſitz
ein, einzig bie eiſerne Fauſt verbürgt Sicherung und Gewinn.
Aber trot folcher Wechfelfälle fteht im Beginn des 15. Jahrhunderts die deutſche Hanſa
als beherrſchende Macıt auf der Dit: und Nordjee von der ruſſiſchen Küſte bis zur englifchen
da, Bat ihr Hauptziel, fi) die drei ftandinaviichen Reiche. Dänemark, Norwegen und Schweden,
botmäßtg zu machen, erreiht. Sie bat nach langem Kampf ihren größten Gegner, ben Dänen
fönig Waldemar Utterbag, zu Boden gebrochen, von Thron und Neid) verjagt, daß der ehebem
490 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Straliund.
ichluß der „Kalmariſchen Union“ feit. In Wirklichkeit jedoch führt der Gekrönte,
auch nachdem er ins Männlichkeitsalter gelangt, nicht die Herrichaft, Margarete
Sprengeheft ift nicht die Frau, fo lange fie lebt, das Szepter in andere Hand
zu legen; wie die aſſyriſche Semiramis einftmals für ihren Sohn Ninyos bis zu
ihren Tode fortregiert hat, thut ſie's für ihren Großneffen, der gleich jenem nur
den Schein der Majeftät vor der Welt trägt. Erſt um fünfzehn Jahre fpäter,
als das zweite Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts Icon ein Weilchen begonnen,
icheidet die merkwürdige Frau aus dem Leben, und Erich von Pommern it
wirklich der König der von ihr vereinigten, aus früherer vielfacher Gegenſätzlich—
feit zur Eraftuollen Eintracht emporgeförderten nordiihen Welt.
Auf ihrem Thron fitt ein dem Blut Waldemars Atterdag entiprofjener
Herricher. Wie er diefem im beftridenden Menferen ähnelt, ift er von hod)-
fahrendem Selbftbewußtfein, leidenfchaftlich, wild-verwegen, treulos und faljch wie
Waldemar Atterdag, noch mehr als diefer ein haferfüllter Todfeind der dudeſchen
Danfa. Nur mangelt feinem heißgblütigen Ungeftüm, nicht die Verſchlagenheit,
do die überlegene Klugheit, der kühl rechnende Verſtand und das Gemaltige,
der im Edlen und Unedlen bezwingende Zug, mit dem fein Urältervater feine
Ziele ind Auge gefaßt und Jahrzehnte lang als Obſieger erreicht hat.
Laut und lärmend nad) älteftem Herfommen ging's auch im Weitervorjchritt
de3 15. Jahrhunderts in den Länderfüften un die Dftjee, wie an der von Nor:
ivegen zu. Zwiſchen mandjerlei alten Widerfachern tobte der offene Kampf, dod)
nicht minder lohten die Flammen des inneren Haders bald hier, bald dort in den
Hanfaftädten auf, zehrten an der Gejundheit und Kraft ihres Gemeinweſens. Als
ichlimmftes Uebel aber war, gleihjam zu einem Widerfpiel der Hanfa, das See:
räuber-Unweſen der „VBitalienbrüder" aufgediehen, das feinen Anfang während
der Belagerung Stodholms durch Margarete Sprengeheit genommen. Damals
verſah eine Anzahl kuhner Schiffer von der wendiſchen Ktüfte die bebrängte Stadt
auf feine Allmacht Ueberſtolze landflüchtig, fruchtlos um Beihilfe bettelnd, in die Fremde —
Sie ſchreibt den ſtandinaviſchen Ländern Geſetze vor, fett dort Könige ab und ein. Denn die
beutiche Hanſa, nur aus Handeltreibenden, den verjchiedenften Oberherren angebörigen Städten
zufammengefügt, der „gemeine Kaufmann“ iſt die gebietende Großmacht des Nordens geworden,
weil er die See beherrict.
An der Spite des Bundes als alljeitig anerlanntes Haupt ſteht Yübed, neben ihm treten
von Anfang ber vier feiner Nachbarn an der Oſtſee hervor, Wismar, Roitgd, Greifswald und
Stralfund, das letztere nach Lübeck die zweite Nangjtelte einnehmend. Dieje fünf tragen den
Namen der „wendiichen Städte‘; mit allen übrigen zum Ojftfeegebiet gehörigen bilden fie die
„Dfterlinge“, auf denen die Hauptkraft der Danfa beruht. Doc ftehen ihnen im Weſten, als
die wichtigiten Bımdesglieder an der Nordfee, die „Weiterlinge” Hamburg, Bremen und Emden
nicht nad), vor allem das niederländifche Brügge, das an Schiffzahl und Reichtum hervorragt;
die „Brüggelinge” gelten al3 die feinften unter den „Hanſen“, geben lange Zeit hindurch in
der Mleidung und im Benchmen den „guten Ton“ an. Im ganzen haben jchon an den Sriegen
gegen Waldemar Atterdag weit über hundert Städte direkt oder indireft Anteil genommen.
Das äußere Bıld der Hauptbedeutenden unter ihnen zeigt ſich, troß den weiten räumlichen
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 491
vom Meer aus mit Lebensmitteln, danach erhielten fie den Namen Pitalien-
das hieß BViktualienbrüder. Zugleic jedoch rüfteten die Städte Roftod und Wis-
mar fie ohne Borwiljen der „gemeinen" Hanja mit „Stehlbriefen" aus, bänifche
und norwegiihe Kauffahrzeuge aufzugreifen und als Beute wegzufchleppen; in
einen ficheren Hafen verteilten fie ihren Raub gleihmäßig nad) der Kopfzahl
unter ſich, benannten ſich felbit danach „Lifedeeler”. Daraus war im Weiter:
gang Bitterböfes großgewachſen, denn ungezählt ftrömte den wildvermegenen
Abenteurern waghaljig:gieriges Volk zu, das nichts zu verlieren, nur zu gewinnen
hatte, Unedle und Edle, vorm Rad und Galgen davongelaufene Schelme. So
Ihwollen fie zu einer Macht an, die jich fredd an der Hanfa felbft vergriff, das
Comptoir derjelben in Bergen, die „deutjche Brüde”, überfiel, plünderte, beraubte,
verwüſtete, die alte Danfeftadt Wisby auf Gotland völlig in ihre Gewalt bradite,
darin ihr Hauptquartier aufichlug und auf der Oft: und Nordfee gleichen Schreden
unter den deutfchen Schiffen ausbreitete wie unter den ſkandinaviſchen. Ihre
Dauptanführer, die geraubte Heiligengebeine zum Feſtmachen auf der Bruft bargen,
waren zwei hünenhafte Gejellen, Godeke Michelsfon, der eine Eifenfette wie Bind-
faden zerriß, und Claus Störtebefer, der an Stelle feines abgelegten Adels—
namens diefen davon trug, daß ihm kein Humpen zu mächtig war, ihn nicht auf
einen Zug binunterftürzen zu können. Die beiden zwar hatte ſchließlich eine
gegen fie ausgerüftete Hamburger Flotte, vor allem „die mit jtarfen Hörnern
durch die See braufende „Bunte Kuh“, das Drlogihiff des Flottenhauptmanns
Simon von Utrecht, auf der Nordjee erjagt, und tagelang hatte auf dem Gras:
broof in Hamburg der „Meifter" Rojenfeld mit feinen „Schobanden” in ge-
fhnürten Schuhen bis an die Knöchel im Blut von anderthalb Hunderten ge:
£öpfter, gevierteilter und aufs Rad geflochtener Lifedeeler gewatet. Als er jeine
„Arbeit* zu Ende gebradt, trat ein Ratsherr zu ihm heran mit den Worten,
er müfje wohl zu Tod müde von der Anftrengung fein. Doch mit einem
Entfernungen, der Verfchiedenartigkeit der Himmelsjtrihe merkwürdig übereinftimmend; bie
nämliche Bauart, bie „hanſiſche“, hat es geitaltet. Dorpat und Riga an der livländiſchen Küſte,
Wisby auf der fchmwedifchen Anfel Gotland, Amſterdam, Brügge, Köln, Soeſt und Münjter
bieten im allgemeinen dtejelbe Erfcheinung dar wie Bremen, Hamburg, Lübed, Stralfund und
Danzig. Ueber ihre troßige, von breiten Gräben oder Waſſerläufen umgürtete Mauerumwallung
ragen, weithin jichtbar, hohe, nadelförmige Spitztürme der Kirchen empor, bliden auf ein Gewirr
zumeiſt ſchmaler Gaſſen nieder, deren Häufer ſämtlich hoch aufgetreppte, ſich nur wenig unters
icheidende Giebel in die Luft ftreden; vielfach juchen überfragende Stodwerfe nad) oben bie
Wohn: und MWarenräume zu erweitern. Mächtige Rathausgebäubde jtechen daraus hervor, ges
waltige Kirchen, jtolzblidende Batrizierhöfe und Gildehäufer. Alle Städte erfüllt dasjelbe
hanſiſche“ Leben, das Gleiche an Brauch und Tagesgemohnbeit, Handels- und Gewerkbetrieb;
überall, in Ejthland wie in Holland, herrfcht im Verkehr die nieberdeutfche, die hanſiſche Sprache
bor. Der große Verband befitt vier Hauptniederlaffungen, „Kontore”, zur Wahrung und Bes
treibung feiner gemeinfamen Handelsinterefien, zu Nomgorod, Bergen in Norwegen, Brügge und
London. Doch noch an vielen anderen Orten jpricht ein „beuticher Kaufhof”, felbit im fernen
Venedig im Fondaco dei Tedeschi, von der jtolzen Macht der „dudeſchen Hanfe”.
492 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralſund
grimmigen Laden verjegte der Befragte: Ihm ſei's nie wohler gewejen und er
babe noch Kraft genug, um den ganzen wohlwürdigen und ehrfamen Rat ebenfo
abzuthun. Für einen Spaß folder Art jedoch war diefer nicht empfänglic,
fondern gab ſchleunig Auftrag, den Kopf des zu wißigen Meifterd denen der
Likedeeler auf dem Boden nadjrollen zu lafjen. Mit ihnen aber war die ſchlimme
Saat nicht ausgerodet worden, der Wellenboden der See trieb ihr Gewucher
immer neu herauf, und in den erſten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts flößte
der Name Bartholomas Voet nicht minder Entjegen im ganzen Norden ein,
als vordem Claus Störtebefer und Godefe Michelsfon. Seine feitgegliederten
Raubbanden hüteten jich vor offenem Kampf mit den großen, gewappneten Or-
logsfoggen der Seeftädte, aber fie bargen ſich noch überall da umd dort in un:
zugänglichen Schlupfwinfeln und Klippenlöchern, brachen bei Nacht und Nebel
mit ihren jchnellfegelnden Schniggen daraus hervor. Und nicht nur an manden
Fürſten und Herren befaßen fie einen verſchwiegenen Rüdhalt, der Berdadjt ging
um, daß heimlich aud) die Urheber der Vitalienbrüderjchaft, Wismar und Roftod,
ja gelegentlich noch andere hochftehende Hanjejtädte den Seeräubern zur Er-
reihung von Sonderzweden und Vorteilen durd die Finger fähen.
Eine blutige Fülle an Parteifämpfen durchwogte um diefe Zeit die Bundes-
bauptftadt Lübeck, doch kaum minder wilde Gejchehniffe folgten fich in dem von
jeher leicht zu Aufftand und Gemwaltthätigkeiten entflammten Straljund. Mehr:
fach wurden die Burgemeifter geftürzt und nad) dem Brauch der Tage von den
Siegern fofort auf den Richtplatz gebradit; das Geſchlecht der Wulflam ragte
am mächtigiten duch Anjehen und Reichtum hervor, eine Mordverfhwörung fällte
das Haupt desjelben, und feine Wittib jaß als die „arme reiche Frau“ vor ben
Kirchentüren, Almojen in einer filbernen Schüffel erbettelnd. Am glühendften
aber loderte da Blut der Bürger Stralfunds gegen prieiterliche Herrſchſucht und
Habgier auf. Ihr kirchlicher Oberherr Hurt von Bonow wies geringmwertige neue
Pfennige als Opfergeld zurüd, verließ vor der darüber ausgebrochenen all:
gemeinen Empörung die Stadt, überfiel diefe mit einer großen Schar adliger
- Genofjen und verheerte, da er fie nicht zu erftürmen vermochte, aufs graufamite
die ihr angehörigen Dörfer und das Land um die Mauern. Da ftand, zu blindefter
Wut geftachelt, im Innern das Volk auf, drang in die Kirchen und Pfarrhäufer
ein, fchleppte die drin zurüdgebliebenen jechzehn „Pfaffen“ heraus auf den Neuen
Markt, wo e8 die drei oberften von ihnen „zu weißer Aſche verbrannte*. Huffiti-
cher Geiſt lag jchon in der Luft, und der Rachedurft forderte „Aug’ um Auge,
Zahn um Zahn”. Bon Rom her traf aus dem Munde des Biſchofs von Schwerin
der Bannflud; Stralfund, in feiner Bevölkerung berrichte durch die weltlichen und
kirchlichen Gegenſätze tiefe Entzweiung; von außen her lauerten Feinde darauf, die
Stadt zu überfallen, deren Wehrkraft völliger Zerrüttung entgegen zu gehen jchien.
Der König Erih von Dänemark, Norwegen und Schweden aber glaubte
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Straliunb. 493
die Zeit zur Stillung auch jeines von Knabentagen her angejammelten Rade-
durftes gefommen und brad; mit einem ftarfen Kriegsheere in die Lande feines
BVetterd, des Grafen von Holitein, ein. Nicht dem galt’8 im eigentlichen Grunde,
jondern dem Hanſabund, und diefer fühlte es, rüftete fich, dem Angegriffenen
Beiftand zu leiften. Auch Stralfund follte, feiner Hanfapfliht gemäß, daran
teilnehmen, doc; erjchienen in ihn feine Randesfürften, die drei Herzöge Wratislam,
Barnim und Kafimir von Pommern: Wolgaft und Stettin, die auf dem Rathaus
eine Anjprade an Burgemeijter und Rat richteten, mit der Mahnung, ‚nicht
ohne Urſach einen mutwilligen Krieg gegen König Erich, füglich einen mitgehul-
digten Herzog von Pommern zu beginnen. Nacddrüdlihen Wort3 redete der
weißköpfige Altburgemeiiter Nicolaus von der Lippe mit feiner mächtig über die
weit vorgejchobene Unterlippe hallenden Stimme wider dies fürftlihe Anfinnen,
ftellte al3 oberfte Aufgabe Straljunds dar, daß es feine Bundespflicht erfülle,
wie's feine eigene Wohlfahrt ald Notwendigkeit fordere. Doch die Parteien-
zerjpaltung der Stadt hatte auch den Mat in zwei gegnerische Hälften geteilt,
verhinderte da8 zu Standefommen eines einmütigen Willens. Zwar erhob
niemand laute Einjprache gegen die Nede des Burgemeifters, doch ohne Beſchluß—
fafjung nahm die Tagung im Ratsjaal ihr Ende.
* *
*
Einem ungeheuren Seekraken ähnelnd, ſchwamm der pommerſchen Küſte bei
Stralſund gegenüber, von ihr nur durch einen ſchmalen Meeresarm abgetrennt,
die Inſel Rügen, nach allen Richtungen polypenartige Arme ausreckend. Ihr
ſüdlicher Teil enthielt Adelsburgen und Ackerbau treibende Dorfſchaften, faſt alles
übrige lag, nur äußerſt ſchwach beſiedelt, zumeiſt unfruchtbar; die öden, von
Sandriffen umgürteten Dünenufer waren, als der Schiffahrt gefährlich, verrufen
und gemieden: bejonder3 die Halbinjel Jasmund im Norden, deren Hüfte an
mehreren Stellen mit langhingeftredten, ſchwindelnd hohen Kreidefelswänden zum
Geeftrand Hinunterfhoß. Die ftanden im übeljten Ruf; ihre weißen Abftürze
idimmerten im Abendlicht weit, wie in einem geifterhaften Gewande auf die
See hinaus und wohlbegründet, denn arge Geifter gingen dort von jeher in der
einfamen Wildnis um. Wenig Leute nur gab's, die von Sturmdrängnis hin-
verjchlagen, die unheimliche Welt in der Nähe geiehen, kaum folche, deren Fuß
ein Stüf in fie eingedrungen, mit Ausnahme der vor Gott und Teufel, Kobolden
und Gefpenitern nicht zurüdichredenden Seeräuber, denen ſich hier zu aller Zeit
bei Verfolgungen die jicherfte Unterkunft geboten. Als die Königin Margarete
einmal im Verein mit der Hanſa eine große Waflerjagd auf fie angeftellt, hatte
ih auch Claus Störtebefer mit einer Anzahl feiner Genofjen in den Klüften
und Schluchten der ‚Stubbenfammer‘, der mächtigſten Kreidewand auf Jasmund,
geborgen, deren ſlaviſcher Name den geftuften Fels bedeutet. Hierher in ihre
Schlupflöcer war ihnen niemand nachgefeßt, und von ihrem Aufenthalt rebeten
494 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfunbd.
da und dort noch in den weichen Kreidefels eingegrabene Zeichen, die gleichen,
die fie zum Hohn auf ihren Kleidern getragen, Rad und Galgen. Im Volk lief
nod ein von ihnen im Mund geführter Reimſpruch um, durch den fie ſich mit
nicht minderem Hohn gekennzeichnet hatten, als
‚Der Dänen Berheerer,
Der Bremer Berteerer,
Der Holländer Krüz und Belenger,
Der Damborger Bedrenger‘.
Nun aber mußte an einem Sommerabend dod ein Schiff an der Sasmunder
Nordfüfte Zuflucht juchen, eine fchnelllaufende Snigge, die aus dem großen Belt
berfommend durch den Strelafund nad) Stralfund gewollt, doch von heftig
aufgejtandenem Weit ojtwärts verichlagen worden. Ein Dandelsfahrzeug ohne
Borderfaftell wars, mit leihtem Bau jeinem Namen ‚Schwalbe‘ entiprechend,
allein wie foldhe fonnte e8 gegen den zum Sturm angefchwollenen Wind bie
Flügel nicht behaupten, und der Schiffer ließ mit kurzem Entſchluß den Mann
am Ruder geradbaus unter die Dedung der Stubbenfanmer zuhbalten. Seine
Mannſchaft that'3 nicht gern, die übel berufene weiße Hochwand glimmerte ihnen
durchs einfallende Zwitterliht wenig verlodend vor den Augen, und wie die
Seeleute aller Zeiten und Länder waren fie böfer Geiftergeidichten voll. Putte
Kod, der ‚Bubsenmaler‘, der Pofjenreißer an Bord, meinte: „Herr Jürgen, glöwt
Ki, wi bruft unfe Knaken noch günt an de Steenfant, fünft kunn id min gliks
bier vör de Döſch laten“. Doch der angeſprochene Schiffer ermwiderte mit troden
ernithaften Ton: „Nee, Putte, dat geit nich, wovun fchulln wi denn Haſen—
poten to Nach kaken?“ Darüber grinfte den andern ein breitmäuliges Lachen
um die weißen Gebißreihen, die Zunge ihres Sciffsführerd Eriegte die des
Putzenmakers doch noch unter, oder eigentlich feine ein bischen vorgejchobene
Lippe. Die Anrede an ihn mit vorgejegtem ‚Herr‘ hatte, zumal da er erit in der
Mitte der Zwanziger ftand, Ungewöhnliches, zumeift pflegte die Mannjchaft auch
mit dem Schiffer in der Sprache auf gleihem Fuß zu verkehren. Doc ließ ſich
diefem anmerfen, er ſei nicht von allgemeinem Seemannsſchlag; über dem hohen
Wuchs und fraftvoll gewölbter Bruft ſaß der Kopf mit einem feineren Gejicht#-
Ichnitt, al3 ihn die See bei der großen Mehrzahl der auf ihr Umtreibenden
wahrnahm. Wer einmal den Stralfunder Altburgemeiiter Nicolaus von der Pippe
gejehen, Eonnte deifen Züge bei dem Schiffer wieder herausfinden, nur jugendlicher,
und die ftarfe Unterlippe, die mutmaßlich von einem Vorahn her dem Gefchlecht
den Namen eingetragen, trat bei dem Sohn nicht jo augenfällig vor wie beim
Alten. Doch einen kühn-trogigen Willensausdrud und die großen, blaue Strahlen
werfenden Augen an den Seiten der Hakennaſe hatte Jürgen oder Jörg von der
Lippe ohne Abihwächung vom Vater zum Erbteil befommen.
Augenſcheinlich ebenſo auch die fichere Entfchlofjenheit bei der Ausführung
eined Vorſatzes, denn vom niedrigen Dinterfaftell aus griff er jett ſelbſt nad)
Wilhelm Nenfen, Der Tag von Stralſund. 495
den Steuerruder, hielt die Snigge grad auf die unheimliche Kreidewand Los,
Wie aber in Stralfund niemand fid) eine offene Widerrede gegen das Wellen-
gedonner der Worte des Burgemeifterd getraute, fo verhielt aud die Sciffs-
mannichaft fich fchweigend bei dem Thun des ungen; fie wußte, an feinem
Willen war nicht3 zu biegen, und fein Anfehen hatte er ſich durch unfchredbaren
Mut, Tüchtigkeit und Klugheit bei allen gleicherweife erzwungen wie der Alte,
Die Eigenfhaften bewährte er voll auch hier, durchdrang mit der Schärfe von
Mövenaugen das Dämmerlicht, fand eine Schmale Zugangrinne zum drohenden
Felsufer auf; fein Geheiß lieg im richtigen Augenblik die Segel fallen, und
fturmgeborgen jchmiegte das leichte Fahrzeug fid) wie ein die Flügel zufammen-
flappender Bogel ins Geklipp und Geflüft hinein. Daß er's fo fertig bringen
würde, hatte eigentlich feiner anders erwartet und nahm feine Leute im Grund
garnicht wunder, denn dafür war er Yörg vun de Lipp, der befte und Eedite
Schiffer an der Wendlandfüfte; nur daß fie die Nacht unter dem üblen Geifter-
treiben um die Stubbenfammer verbringen jollten, überlief ihnen mit einem
Grufeln die Haut. Aber es aus dem Mund herauszulafien, verging jedem; ihr
junger Schiffsführer hatte zu oft feinen Unglauben an Nachtgeſpenſter ohne Kopf
Leichenlichter, Erbmänner und Meermweiber, Kobolde und Heren bezeugt, und
dem Spottklitichen feiner Zunge wollte ſich Feiner bloßlegen.
So braditen jie auf einem pafjenden Borjtrandplag ein euer zum
Brennen, ſich Nadtkoft daran warm zu machen; eine Kleine Tonne mit Eräftigem,
in allen Ländern de3 Nordens hochgeſchätztem Hamburger Bier war noch übrig
geblieben, die gab Herr Jürgen zum beiten. Es beluftigte ihn, bei dem
Scmaufen in den Geſichtern der Kerle, die der grimmigften See, dem wildeſten
Sturmgeheul und Brandungsgekrach Tachende Zähne wieſen, die verhohlene
Beilterfurcht zu lefen und daneben die Anftrengung, nichts von ihr merfen zu
lafjen; aus ihrem Gerede Eonnte er berausfühlen, daß fie einen gemeinjamen
Troſt in fi) hegten. Der abnehmende, doch nocd ziemlich; gutgerundete Mond
mußte Eommen, der „fra die Wolken“, und dann ließ ſich wenigſtens mit
Augen fehen, was auf unhörbaren Geifterfüßen beranichlid. Der Mond mar
überhaupt etwas viel Nütlicheres al83 die Sonne, denn er machte die Nacht:
finfternis hell, während fie bei Tag am Himmel ftand, wenn Fein Licht nötig
hl. So hielten die Blide fih nah) Often gerichtet, und dort ſchob ſich auch
pünftlid die rote Kugel aus der Waſſerfläche am Horizont herauf. Daraus goß
ji einige Beruhigung aus, die das gute Hamburger Bier weiter unterftüßte.
Der und jener legten den Kopf auf den weichen Sreidefand zurüd und die
Augdedel fielen ihnen zu; der Sturmtag hatte Fäufte und Füße tüchtig im
Tauwerk gerüttelt und gefchüttelt, und Seeleute waren von jeher begnadet,
wenns nichts zu thun gab, in jedem Nugenblid auf der Holzdiele feit wie
Hamſterratten einschlafen zu können. Ginige bielten noch das Mundwerk im
496 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund.
Gang, riefen ab und zu nad) den am Ded gebliebenen Wachen hinüber, fich zu
vergemwijjern, daß dort offene Augen jeien. Erfreulich kam jedesmal die Antwort
zurüd, das ließ am Land die noch auseinander gehaltenen Wimpern allmählich
auch zublinzeln. Das teuer loſch aus und die Kohlen verglühten; dafür ftand
der Mond, der in der That nach feiner Pflicht die Wolken gefreſſen hatte, jett
als Silberfceibe da, jtrahlte beinahe blendend von der weißen Stubbenfammer:
wand wieder, und ein vielfältiges Schnarden überjpann heute den fonft tonlofen
Strand mit unbefanntem Geräufh. Das fette an ihn alteingefeffene Anwohner
in Berwunderung, jo daß jie hier und da ſich aus dem Waller am Klippengeftein
als dunkle Schatten in die Höhe redten. Wie aufhordende und umlugende
Menjchenköpfe nahmen fie ſich aus, doch hurtig wieder untertauchend, wo etwas
ſich Bewegendes zu nahe an ihnen vorbeifam.
Dies war die am Strand entlang wandernde Geftalt Jörgs von der Lippe,
der noch feinen Schlaf zwifchen den Lidern hatte, jondern einen Trieb in fid,
zur Höhe des Steilufers hinanzufteigen, um von dort in der hellen Nadt auf
die See niederjcdjauen zu können. Ein abjonderes Gelüſt war's, das nicht viele
mit ihm geteilt hätten, doch ihn überfam’s jo, die Natur mußte ihm eine Anlage
dazu mitgegeben haben. So ſcheuchte jein Schritt die hufchenden Schatten, die
feine ruhloſen Geifter hier im Gang der Zeiten ertrunfen ausgeworfener See:
fahrer, vielmehr nur neugierige Seehunde waren, von dem Geflipp ins Waſſer
zurüd, und ihm geriet’S feinen Augenblid in den Sinn, fie für etwas Anderes,
Uebernatürliches zu halten, denn dazu trug er feinerlei Anlage in fih. Mit dem
Aufwärtskommen aber wollte e3 eine ziemliche Strede weit nicht gelingen, die
weite Wand verblieb dabei, gleichmäßig, faſt jcheitelredht abzufallen; dann indes
zerjpaltete ji) die Felsmaſſe einmal, ein Einfchnitt Eaffte in fie hinein, und der
junge Schiffer bejann ſich nicht lange, drin aufzußlettern. Recht fteil zwar
ging's aud) hier noch in die Höh, doch für rüftige Kräfte field möglich, bis
beinah plößlich der leuchtende Nachtglanz um den Aufgeftiegenen ausloſch, daß
er nichts mehr vor fi) ſah, nur noch halb erfannte, hohe Laubbäume jchlugen
ihre Schatten über ihm zufammen. Aber von feinem Borhaben ließ er fich nicht
leicht durch ein Hindernis abbringen, jondern jeßte den Fuß weiter bormwärts,
obwohl er unverkennbar in völlig lichtlos dichten Wald geriet. In einer Hin-
ficht freilich machte ſich's jett leichter ald vorher, weil der Boden eben geworden;
merktbar war er auf die Höhe der Stubbenkamer hinaufgefommen, ob aud)
nutzlos, denn ein freier Ausblid ließ ſich bier nicht erwarten oder wenigftens
nicht finden. Da er gleichfall3 eine gefunde Mitgift von Bernunft im Kopf
herbergte, wollte er von weiterem abjtehen und zum Strand zurüd umfehren;
das erwies ſich jedoch als nicht jo leicht ausgeführt, wie beabfichtigt: ihm Eonnte
bald nicht viel Zweifel bleiben, er habe aud) die Richtung, aus der er herge—
raten, nicht wieder gefunden. Hier oben war's nicht ftill, wie drunten unterm
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 497
Windfang, oder mindejtens nicht in der Höhe; ein Saufen durchfuhr die Luft,
al3 jage das Heer des wilden Jägers droben, oder ald donnere eine Brandungs-
welle um die andere durch die Wipfel der mächtigen Bäume; der noch andauernde
Weftfturm jchleuderte fie frachend in einander. Endlich, nad) geraumer Zeit
glaubte der im Dunkel Umpertaftende doc an den Ausgang zurüdgefommen zu
jein, ein Schimmer fiel ihm entgegen, auf den er zwiichen alten Buchenftänmen
hindurch zufchritt. Wie er in der That fo ins Freie hinausgelangte, lag aber
völlig anderes vor feinem Blick, ald das Erwartete, nur eine Eleine, nicht mehr
al3 einige hundert Schritt lange, rundum von Baumriefen umgebene Lichtung,
die nur eben unterjcheidbar ein Schwarzer Waſſerſpiegel ausfüllte. Diefen zu er-
hellen, ftand der Mond noch nicht hoch genug, erjt am weftlihen Rand begann
er über die Wipfel her einen ſchmalen Flimmerftrih entlang zu ziehen, das
übrige bedte tiefer Schatten. Hier herunter vermochte der Wind nicht zu ftußen,
die Fläche des winzigen Waldgewäſſers dehnte ſich reglos und lautlos im Dunkel
bin. Nur ein leicht plätjchernder Ton ſcholl von ihr her, drüben mußte fid) ein
Fiſch aufſchnellen, und aud ein ungemwifjes Geflimmer wie von filbernen Schuppen
deutete die Stelle.
Aber da überlief'3 doch auch Jörg von der Lippe einmal ähnlich den Rüden,
wie feinen vor Nachtunholden grauelnden Leuten drunten am Strand. Der
Mond verbreiterte raſch feine Bahn auf dem Kleinen See, und in ihr nahm der
jest deutlicher wiederum auftauchende Filch etwas Menfchenartiges an. Beim
eriten Draufblid zwar hielt der Hinüberjchauende es nur für ein Täufchungs-
bild in feinen Augen, doch fchnell kounte fein Zweifel bleiben, e3 jeien weiße
Sdultern und Arme, die blinkernde Wellenkreife um ſich erregten, fich daraus
bervorhoben und niederjenften. Dann auch ein Gefidht wie der offene Kelch
einer großen Wafjerrofe, über die fi ihre Blätter dunfel zufammenzufalten
ſchienen; indes die Helligkeit nahın fo zu, daß fie ſich als dunkles, ausgebreitet
und langfließendes Haar erfennen ließen. Alles umgab wie mit leichtem Schleier-
gewebe ein Gerinnfel gligernder Tropfen, als ob Silberfunfen die Luft durch—
ſprühten; fo hielt ſich's in der anwachſenden Glanzgarbe des Gewäſſers, trieb
gleihfam mit diefer näher der Seite zu, wo der junge Beobachter nicht wahr:
nehmbar im tiefen Schattenfall ftand. Körperlich bewegte er fich nicht, aber im
Innern durchging ihn eine fremdartige, ftarfe Erregung, halb jchredhaft und
halb mit einem reizvoll überfließenden Schauer. Das Gerede des Volksmundes
hatte aljo doch recht, es gab in Wirklichkeit Weſen von äußerer menſchlicher Er-
ſcheinung, doch nicht menſchlicher Natur, die nädhtlih an einfamen Orten aus
Erdgründen und Wafjertiefen herauffamen, bis zum Morgengrau beim Mond:
oder Sternenlicht Luft in fich einzuatmen. Mitternacht mußte ungefähr über
dem See liegen, und die aus ihm herauf Gekommene Eonnte nichts Anderes
jein al3 ein Meerweib, dejien Fiſchſchwanz ſich unfichtbar unter dem Wellen:
32
498 Wilhelm Denfen, Der Tag von Stralfund.
glimmern barg. Erkennbar war nur, an Öejtaltung und Antlıg ſei's feine Un-
holdin, jondern eine noch ganz junge Seejungfer mit mädchenbaft gebildeten
Geſichtszügen.
Da that Jörg von der Lippe unwillkürlich etwas, was er gleich nachher
bereute. Doc) ihn überfiel'8 mit einem Schred, fie fumme mit der Mondbahn
bis dicht vor feine Fühe ans Ufer heran, und ihm flog ein Ausruf vom Mund,
fie davon abzuhalten, unbedadht, er wußte nicht warum, denn er hätte fie
eigentlich gern noch näher und deutlicher gejehen. Bei dem Ton aber jchlug ein
Rauschen des Waflers auf, unter das, bligfchnell verſchwindend, das weiße Gebild
niederihoß. Ein glimmerndes Wallen an der Oberfläche zeigte, daß es ein Stüd
weit eilig unter diejer fi ſcwwimmend fortbewegte; danach tauchte noch ein paar:
mal nur augenblidkurz ein ungewiß blinfender Schein auf, entfernte ſich hurtig
weiter und lofch, wie in den Grund verfinkend, unter ſchwarzem Schatten am
Nordrand des Sees aus. Dorthin fuchte der Veranlaffer diefes raſchen Vor—
gangs mit einiger Schwierigkeit ſich num auch durch jperrendes Unterholz einen
Durchweg, doch, als er an das Wafjerende gelangte, lag alles ohne Regung und
Laut, und fjonderbar war auch jein Mund, der einen Ruf ausftoßen wollte,
außer ftande, diefen laut hervorzubringen. Nur der Sturm rohrte über feinem
Kopf in den Baummipfeln; ihm kam's vor, als träume er nur davon, daß er
umblidend und aufhorhend bier in der nächtigen Einjamfeit ftehe. Dann jedod)
bejann er fih auf die Wirklichkeit; der Mond war inzwifchen hoc) genug aufge
ftiegen, auch den Waldgrund mit einem Dämmerjchein zu durchſetzen, und £undig,
jih nach den Himmelsrichtungen zurecht zu finden, fehrte er ziemlich geraden:
wegs an die Felskluft, durch die er emporgeklettert, zurüd, fam zum Strand
hinunter und ftredte fich, von der Nachtwanderung jchlaffüchtig geworden, neben
feinen ſchnarchenden Sciffsleuten auf den Sand. Beim Aufwachen mußte er
jich erit etwas beſinnen; die Sonne fiel ihm ins Geficht, doch er meinte, es fei
der Mond, und zwijchen feinen aufgeichlagenen Lidern lag ein eigentümlicyer
Ausdrud, daß einer von der Mannſchaft dem bei ihm Stehenden ins Ohr
raunte: „Kiek fin Oogen, he bett vun Nach wat ſehn.“ Im übrigen waren alle
jet im Tageslicht ihrer Geijterfurdht ledig und warteten auf das Geheiß, die
Segel der Snigge wieder loszumadhen; der Sturm hatte fi) augenſcheinlich
draußen auf der See joweit gelegt, daß Fein Bedenken mehr vom Auslaufen
abhalten konnte. Zur allgemeinen Berwunderung aber zeigte der junge
Sciffer fich heut’ morgen überbehutfam; er ftand eine Zeitlang nachdenklich
über das ruhige Wafjer ausblidend, jagte dann Kurz, draußen ftehe die See noch
body mit widrigem Wind, es ſei nötig, noch bis zum Mittag zu warten, und
nach dieſer Aeußerung ging er davon, am Strand entlang, anfänglih ab
und zu anhaltend, als ob er ſich an dem Treiben der Seehunde beluftige. Aus
den Augen der Nachichauenden gelangt, beichleunigte er indes den Schritt und
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 499
ftieg wieder durch den Felseinichnitt, den das Mondlicht ihm gedeutet, aufwärts.
In feinem Kopf lagen zwei Dinge miteinander im Widerftreit, die gejunde Ber:
nunft, mit der er immer über den Glauben feiner Schiffsgenofjen an Wafferalben
und Meerweiber geipottet hatte, und die Erinnerung an das, was ihm in der
Nacht droben vor Augen geftanden. Daran mußte, wenns im wachen Zuftand
auch aus jeinem Gedächtnis weggeſchwunden war, vermutlich während des Schlafs
ein Traum noch fortgejponnen haben, denn feiner hielt jich eine unbefannte Ge-
walt bemächtigt, über die er zum erftenmal im Leben mit vernünftiger Ueber:
legung und Willenskraft nicht auffommen konnte. Gin wunderliches Gefühl
ließ ihn nicht 108, in dem Wald über der Stubbenfammer fei gar fein See vor:
handen, jondern jeine Einbildung habe ihm den mur vorgejpiegelt und etwas
Weißes hineingefest, dad er von der mondbeichienenen Sreidewand in feinen
Augen mit hinaufgebradt.
Darüber ins Klare zu geraten, trieb’3 ihn nochmals durch die Kluft in
die Höh’, und jetzt im Morgenlicht fiel's ihm leicht, die Richtung, die er gejtern
genommen, wieder zu finden. Unerwartet fchnell lichteten ſich die alten, wohl
mandhundertjährigen Buchen, und da lag wirklich das dunffe, ringsum dicht von
hohem Laubgürtel umſchloſſene Wafjerbeden vor ihm, bei Tage noch meniger
umfangreich ericheinend als in der Unficherheit des Mondlichts. Den Hinzu:
tretenden rührte es wie mit einer befreienden Empfindung an, daß er ſich nicht
thöricht von einem Gaufelipiel in feinem eigenen Kopf habe betrügen laffen, und
er fah durch die Eleinen Lichtungswände umher. Böllig lautlos war’3 überall,
und ganz unbewegt breitete das Gewäſſer fi wie ein großes, nachtſchwarzes
Auge aus, nur an den Rändern jpiegelten die alten Baumfronen aus ber Tiefe
zurüd. Drüben am Weftrand hob die Ufereinfafjung fich beträchtlich höher auf,
doh wie's erichien, nicht von der Natur jo geichaffen, Menfchenhände mußten
dran thätig gewefen fein. Aber vor langen Zeiten, denn auf einem fi) im Halb-
kreis rundenden, mauerartigen Erdwall jtanden die Buchenſtämme zu gleicher
Mächtigkeit emporgewachſen wie un den übrigen Seiten; zerftreut lagen einige
große Steinblöde, halb übermooft und grasummuchert, da und dort, wie einmal
von der Wallhöhe niedergerollt.
Nun jedoch faßte den Umberblidenden ein entgegengejettes Gefühl an; un-
gefähr inmitten des Sees nahm er etwas Weißes gewahr, das fich zweifellos
als etwa ein halbes Dugend nahe zuſammen gedrängter blühender Waſſerroſen
ergab. Daraus befiel's ihn mit einem Unmut, denn ihm ging Erkenntnis auf,
er habe fich doc) felbit einbildnerifch bethört. Der Sturm war von oben herunter:
gefahren, Wellen erregend, von denen die weißen Blumen bin und wider ge-
jhaufelt worden, und jeine, vom erhigenden Aufitieg mit Blut überfüllten Augen
hatten im Mondliht aus den auf und nieder bewegten Blüten ein Geficht,
Schultern und Arme erihaffen. Diefe einfache Erhellung feines Selbftbetrugs
32*
son Wilhelm Nenfen, Der Tag von Stralſund.
verdroß ihn zwar, lieh ihm indes doch auch ein Lachen vom Mund Elingen, auf
das aber jeltfam ein anderes erwiderte. Stutzend horchte er; jett verftummte
es, und unmillfürlich rief er laut: „Wer lacht da?" — ‚Lacht da,“ fam eine Ant:
wort zurüd. Da ging's ihm auf, daß er fi abermals einer Täufhung nicht
erwehrt habe; nur ein Eco feiner eignen Stimme von der Laubwand drüben
überm See war's geweſen. Doch trogdem konnte feine Vernunft nidt Herrin
über die Vorftellung ıwerden, der Nüdklang jei aus dem Waſſer heraufgefommen,
von dorther, two in der Nadıt die Geftalt feiner Einbildung zum Grund hinunter:
getaucht war. Er begriff ſich nicht, die einfame Waldftelle trug verfchwiegen
SGeheimnisvolles in fi, das ihm fein felbftficheres Weſen fremd verwandelte.
Von einer Furcht vor etwas Unjichtbarem durchlaufen, ftand er, vermochte am
lichten Tag nicht Herrichaft über das Trugfpiel feiner Sinne zu behaupten.
Dann fuchte Jörg von der Lippe mit einem gewaltfamen Rud dieje Fremd—
berrichaft abzumwerfen und fegte den Fuß weiter. Doc nicht oftwärts zurüd,
er fagte fi, wenn er die Richtung nad Norden einihlage, müſſe er, die Wand
der Stubbenfammer umbiegend, ebenfall3 an den Strand hinunter und diefem
entlang zu feinem Schiff fommen. Das bewährte ſich, eine Strede weit dauerte
der Wald noch an, danach gab Freidiger Steingrund feinen Wurzeln mehr Nab-
rung, und vor freiem Ausfchau dehnte fi drunten die See. Nicht fteil ging's
bier abwärts, fondern mählich, nur bin und wieder einmal jprang eine Felsrippe
vor, in die augenscheinlich zur Herjtellung eines Pfades von Menſchenhand Stufen
eingeferbt worden, wohl in ſchon ferner Vergangenheit, denn fie waren ausge—
Ihürft und vom Regen verwafhen. Damals mußten alfo menfchliche Bewohner
hier gehauft haben, nicht nur Alben und Meermweiber; wider feine Verſtandes—
einficht blieb der Hinunterfteigende von diefer Vorftellung der letteren umjponnen.
Nun jedoch gewahrte er Unenwartetes; nicht allein in Borzeiten hatten Menſchen
hier gelebt, fondern thaten’3 noch. Linkshin zog ſich, die offene See von einem
Binnenhaff, einem „Bodden“ abjcheidend, eine lange, ganz ſchmale Sandnehrung,
und an ihrem Beginn hoben fich aus der weiten Dede ein paar niedrige Hütten
vom Boden auf; offenbar trachteten dort Fiſcher auf diefem nie befuchten Erd—
fled€ ihrer Nahrung nad. Beträchtlich weit noch war's zu ihnen hinüber, und der
niederfallende Pfad bug jegt von ihrer Richtung zur Rechten ab an den Strand
hinunter, wo fchon der nördliche Abfturz der Stubbenfammer dicht herzutrat. Da
hielt der Schiffer überrafht vor einem unerwarteten Anblif den Fuß an.
Auch bier, in völliger Einjamfeit lag ein Haus, erſt ganz in der Nähe zu
gewahren, zur See hinaus durd einen Dünenmwall gededt, an den Geiten von
zerklüftetem Felsgeſtein umfaßt und überragt, wie zu diefem gehörig erjcheinend.
Mit feiner Farbe hob ſich's in nichts davon ab, denn ed war aus losgebrochenen,
nur roh behauenen Stüden der weißen Kreidewände aufgebaut, nur das Dad
war von breitübergelegten, dien, mit Seetang ausgefugten Baumftämmen ge:
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Straljund. 501
bildet, und die Zugangsthür war aus Holzbohlen gezimmert. So lag's abſonder—
(ich da, breitgeftredt, Feiner Filcherhütte gleichend, wie eine für die Anfammlung
von vielen hergerichtete, zum Schuß gegen Unwetter überdedte Halle; noch ver:
wunderfamer aber ftellte fi ein Bierat an den Wänden dar. Wo bis zu
Manneshöhe aufwärt3 ein Stück ebener Fläche e3 möglich gemadjt, waren in
das weiche Geſtein Bildumrijfe von Rad und Galgen eingeritt, neben der Thür
einer, der einen Mann in Scarfrichtertradht mit hoch aufgehobenem Schmert
wiedergab. Der jeltfjame Bau jchien leblos verlaffen zu fein, nur eine große
Möwe mit breitklafterndem Flügelichlag zug drüber hin. Doch wie fie beim
Anblid des von der Waldhöhe Herabgefommenen einen jchrillen Ruf ausftieh,
ging die breite Thürbohle auf, und ein Weib trat in die Deffnung. Sichtlich eine
Wendin, das dunffe Haar fiel ihr, leicht graudurdjiprenfelt, lang bis über die
Hüften herunter und darunter ein wunderliches Gewand vom Hals zu den Füßen
nieder, denn fein baummrindengrauer Stoff war ebenjv wie das Haus mit Fleinen
Abbildern von Galgen und Rädern bejteppt. Sie heftete die ſchwarzen Augen-
fterne mit einem fcharf eindringenden Blik auf den unweit vor ihr Stehenden,
betrachtete ihn kurz und fragte dann in der Sprache des niederdeutſchen Nordens:
„Bon wo kommſt Du hierher?" Auch ein paar fchattenhafte Furchen auf ihrer
Stim thaten kund, daß fie für eine Frau nicht mehr jung jei, doch in ihrer
Stimme lag noch etwas Helltöniges, an den Klang von Eleinen Strandgeftein
erinnernd, wenn die Uferwellen dazwijchen bineinjpielten.
Berwundert hielt auch der Befragte den Blid in ihr Geficht gerichtet und
antwortete: „Wohnft Du in dieſem Streidehaus? Du trägit ein fonderbares
Kleid.“
Nun 309 fie die Oberlippe zu leichtem Lachausdruck über die weißen Zähne
herauf und gab zurüd: „Solces Kleid webt der Wind hier. Kennſt Du’s nicht?
Da kommſt Du nicht mit rotem Segeltuch.“
Es regte den Eindrud, daß er ihrer Augenprüfung nicht mißfalle, denn fie
jegte hinzu: „Haft Du Hunger? Das Haus fteht offen. Iß und trink!"
Sich umfehrend, trat fie ins Innere zurüd, das ungeteilt nur einen einzigen
großen Raum enthielt. Er ſah aus, als diene er einer beträdtlihen Anzahl von
Männern zum Aufenthalt, doch befand fidh niemand drin. Auf Gefimjen ftanden
erzene Beher und Humpen, Schilde und mandjerlei Gewaffen hingen an den
Wänden, die von Bänfen umlaufen waren; ein riefiger Tiſch aus Cichenholz mit
dien Kolbenbeinen nahm fait eine der Uuerfeiten ein. Gegenüber lag Die
gleihfall3 aus geſchwärztem Sreidegeftein aufgerichtete Herbftatt, zwei Lager-
ftätten erhoben fich kaum fußhoch über dem Boden, doch zeigten fie ji) auffällig mit
prädtigften ‚Buntwerf‘ aus Nowgorod überdedt, wie die Pelzichauben der vor:
nehmften Ratsherren in den großen Danjeftädten es nicht Eoftbarer aufweiſen
fonnten. An mehreren Stellen waren in die Wandungen runde Fenſteröffnungen
502 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund.
bineingebrochen, durch die Licht in den eigentümlichen Raum des Baues fiel, der
wohl kaum irgendwo an der Dftiee feinesgleichen haben modte; Jörg von der
Lippe wußte ihn fich nicht zu deuten. Er ſaß an dem Tifch, wo die Bewohnerin
de3 weißen Haufes auf einer Erzichüffel einen Ealten gebratenen Buttfiſch vor
ihn Hinfegte und Brot daneben legte; da er in der That von Hunger befallen
worden war, griff er unmillfürlich zu und af. Nun holte fie einen Krug, nahm
einen gewaltigen Humpen vom Sims, den fie mit goldgelbem Met anfüllte und
dazu jagte: „Kannft Du den mit einem Zug zwingen?" Das Riejengefäß an-
jehend, jchüttelte er den Kopf: „Das fann ein Menſch nicht.“ Sie flug ein
Laden auf: „Einer war, der hat’3 gefonnt. Aber Du haft nicht von jeinem Blut
in Dir. Was hat Dich hergebracht? Sag, wer Du bift?"
Eie jette fich neben ihn, und er gab ihr Auskunft; während er jprad),
juchte jein Sopf vergebens umber, was er aus ihr und ihrer Behaufung machen
follte. Wer hatte die jo gebaut, jo ausgerüftet und lebte mit ihr drin? Steine
Fiſcherhütte war's und fie fein Filcherweib; in ihrem Behaben und Geficht lag
ganz Andres, nicht Benennbares, fie mußte jchön geweſen fein, wars noch jett.
Aber auf Fragen, die er vorbradte, antwortete jie nicht, jondern lachte. Nur
wie er von dem Eleinen See droben im Wald redete, erwiderte fie: „Willft Du
jung bleiben, ſchwimme drin. Herthas Wafler giebt Jugend und Kraft.” Ihre
Art erregte ihm den Eindrud, als ob fie nicht ganz rediten Sinnes jei; das
mußte jie ihm aus dem Blid lejen, ihr fam vom Mund: „Du denkſt, was war;
aber was war, ijt gewejen. Im Herbſt werden die Früchte reif und die Menſchen
flug. Das thut die Sonne, die ift ftärfer al3 der Mond. Nur über junges
Blut hat er mehr Gewalt als fie. Wareft Du im Mondlicht an Herthas Wafjer?
In Deinen Augen fteht's. Der Mond hebt die Wellen aus dem Grund, daß fie
ichwellen und reifen. Ach bin nicht mehr thöricht, aber Du bift noch zu jung
und mußt in die Sonne.“
War das Irrſinn oder was? Der Hörer vermodhte ſich's nicht zu erflären,
doch fühlte er, jein Kopf ſei Heute in einem fonderbaren Zuftand, der ihm längeres
Verbleiben in dem wunderlichen Raum nicht rätlich made. Aus den Reden des
Weibes kam etwas ihn wie mit einem Schwindel Anfajjendes; er Stand auf,
dankte für die Bewirtung und zog ein Geldftüd hervor, um es auf den Tiſch zu
legen. Doc die Frau jagte mit einer geringichätig abmweilenden Handbewegung:
„Behalt’3, das haft Du nötig, nicht wir.” Den Sinn ſchien's zu haben, dat
Geld Hier in der Einöde wertlos fei, da ſich nichts dafür kaufen laſſe. Aber wie
fie hinterdrein fagte: „Wir haben genug an der Ehre, die ein Burgemeiſterſohn
von Stralfund uns angethan,“ nahm fein vermwirrter Blid zum erjtenmal gewahr,
die Schwere Schüfjel, aus der er gegejien, jei von getriebenem Silber. Lachend
feste fie nochmals Hinzu: „Vielleicht kommt aud einmal ein König zu uns zu
Saft, dem müſſen wir auf goldnem Gerät aufwarten." Zugleich jedoch regte
Wilhelm Jenſen, Dev Tag von Stralſund. 303
fi etwas unter der offen gebliebenen Thürmwölbung, die Augen Jörgs von der
Lippe gingen ummillfürlich dortbin, und plößlich ftieß er befinnungslos hervor:
„Du warft e8 — Du biſt's —“
Ein Mädchen trat herein, auf den erjten Blid als die Tochter des MWeibes
erfennbar. Die Antlitzüge waren die gleichen, und das gleiche jeltiame Gewand
umgab ihren fchlanfen Wuchs; nur jahen zwei grauperlend helle Augenfterne aus
dem Geficht, und fie trug das lange, Schwarze Haar zu einem lojen Knoten ver:
ichlungen über dem mweißleuchtenden Naden. Ihre Hand hielt in einem Rohr:
gefleht am Strand gefammelte Mömeneier, die bloßen Füße fetten ſich jchmal,
doch zu vollfommener Schönheit ausgebildet unter dem Kleidſaum vor. Höchſtens
jiebzehnjährig mochte fie fein, blickte erjtaunt den unerwarteten Fremdling an.
In feinem Gedächtnis war aus den Worten der Mutter undeutlich etwas
einmal Bernommenes aufgewacht, ein Name, den er als Sind von einem Schiffer
aus Olde Behr, dem Dorf auf Rügen Stralfund gegenüber, nennen gehört. Das
ließ ihm ungemwiß jett die frage vom Mund kommen: „Bilt Du Hertha — und
gehört Dir der See dort oben im Wald?*
Die Frau fah ihn kurz, wie nad) einem Verſtändnis fuchend, an, dann gab
fie, wieder lachenden Tons, Antwort: „Sa, Hertha gehört er, meiner Tochter. An
feinem Grund fteht ihr Schloß, und alles Hier ift ihr zu eigen, Waffer und Land.
Ich bin ihre Dienerin nur und darf über ihrem Schlaf waden, wenn die Nacht
kommt. Willſt Du fchon fort von uns, Jörg von der Lippe? Setze Did nod)
wieder, ich jehe, Hertha erlaubt Dir's, noch zu bleiben.“
Die Sprecherin holte ein Eoftbares Zobelfell herbei, das ſie über eine Banf
zum Sit für ihre Tochter dedte; darauf ließ diefe ſich nieder, und ſinnverworren
jeßte auch der junge Schiffer ſich zurück. Er wußte nicht, was ihm feinen erjten
jähen Ausruf entriffen habe; zu unficher hatte das Mondlicht der Nacht den See
überfponnen, um die Geſichtszüge der weißen Erfcheinung zwiſchen den glimmernden
Wellen untericheiden zu laffen. Aber trotzdem erfüllte ihm gleichjam Leib und
Seele eine Ueberzeugung, die dort vor ihm Sitende ſei's geweſen, durchfloß ihn
mit einem unbekannten, zugleich jchredhaften und Eöftlihen Graujen. War's ein
Menſchengeſchöpf oder eine Seejungfer? Ahr Schloß, Hatte das Weib geredet,
jtehe drunten am Wajfergrund, und alles umher gehöre ihr zu eigen; jo ſprach
das Wolf von der Hertha, die droben auf der Inſel bei der Kreidewand hauje.
Wortlos fitend, richtete er den Bli unter niedergefchlagenen Lidern auf ihre
Füße hinab. Die erichienen al8 ungewöhnlich Schöne Füße eines jungen Mädchens,
faft noch wie die eines erit halbwüchſigen Kindes. Doc er traute feinen Sinnen
nicht, fie ungaufelten ihm feit gejtern Muge und Ohr mit Täufchung. Freilich
auf einem Fiſchſchwanz hätte fie nicht durch die Thür hereingehen fünnen, aber
wie die Hüter von etwas Geheimnisvollem umichlofien die Wände des weißen
Steinhaufes den Raum, und feine Luft atınete ſich ein, als jei Betänbendes im ihm.
504 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Ztraliund.
Mit einem Ausdrud von Verwunderung hafteten die hellen Augen der Hertha
auf dem Gefiht des jungen Gaftes, wie wenn fie bis heute noch nichts feiner
Urt geſehen habe. Doch mehr noch ftaunte er bei ihrem Anblid; war fie ein
Menichenkind, fo gab's fein ihr ähnliches, das ihm irgendwo begegnet. Das
Gewand mit den abftoßenden Bildzeihen fiel an ihr nieder, als ſei's ein Fürften-
mantel, und fie faß auf der Holzbanf wie auf einem Thron. Oder lag eine Be-
rüdfung über feinen Augen, die ihm nur ein folches Bild vorjpiegelte? Er hatte
noch feinen Ton aus ihrem Munde gehört und Eonnte ſich ihre Stimme nicht
vorftellen; endlich gelang's ihm, Mut und Sprache zu finden, die Frage von den
Lippen zu bringen: „Bift Du heut Nacht droben in dem See geihwommen ?“
Nun antwortete fie: „Sa. Ich thu's immer, wenn der Mond body am
Dimmel it." Die Stimme Elang hell gleich ihrem Blid, dem Hörer war's, als
ihimmere auch aus ihr ein Glanz. Doch ganz einfach hatte ſie's erwidert und
fügte nad: „Woher weißt Du's?“
„sh ſah Di) und rief Dir zu. Bift Du ein Mädchen?"
Bedachtlos und unbewußt flog'3 ihm hervor, er erichraf, wie er's in feinem
Ohr gehört, und widerrief'3 haftig: „Nein, nur etwas im Wafler ſich bewegen
ſah ich, doch konnt’ es nicht erkennen, ich glaubte, ein Fiſch ſei's.“
Seinem Gefühl war auf einmal doc zweifellos aufgegangen, ein Menjchen-
find jige vor ihm, cin Mädchen, dem jeine Augen Unziemliches angethan, das er
unverhohlen fundgegeben. Furcht hatte ihn befallen, ſie werde fich beleidigt von
ihm abfehren und davongehen, doch ihr Geficht zeigte nichts von Unmillen, fie
blidte ihn an wie zuvor und verjegte: „Ward Deine Stimme, die id hörte?
Alfo redeft Du mit Fiſchen bei Nacht?“
Dazu lachte fie fröhlich, und ihm ward's, als ſei zugleich Mondlicht und
Sonnenglanz um ihn. Vom blintenden Wellenfpiegel gewiegt ſah er fie, und fie
faß da in dem rätfelhaften Kleid; nicht Begreifbares ummob fie mit einem
Schleier, doch ein junges Menichenbild, wie er noch feines gelehen. Nicht an dem
Map anderer Mädchen in Städten und Dörfern war fie zu mefjen, denn ihr
Gleichendes gab's nicht zum andernmal; wie ein lebendiges Abbild des weißen
Kreibdefeljend mit dem dunflen Waldfranz auf jeinem Scheitel erjchien fie, aus
ihm zum Licht unter Sonne und Mond heraufgefommen. Auch der junge Schiffer
mußte jest lachen, über ſich felbjt, daß er zur Nacht mit einem Fiſch gefprochen
haben follte. Ihm war's nicht mehr unheimlich in dem Kreidehaus mit der felt-
jamen Ausftellung von Waffen und Scilden, Eoftbarem Pelzwerk und filbernem
Gerät; für fein Empfinden gebührte das alles der Hertha, deren Dienerin fi
ihre Mutter benannt, und er ſann nicht darüber nach, wie es in diefe Strandöbde
bergeraten jei. In feinem Kopf war für fein Denfen Plaß, er jah und hörte
nur die hellen Augen und die helle Stimme vor fi. Denn fie redeten jet weiter
mit einander; die Frau ging am den Herd, Mittagskoft zuzurüften, und die beiden
Wilhelm Jenfen, Der Tag von Stralſund. 505
blieben, hin und ber fprechend, jcherzend und lachend, als wären fie ſich altbefannt,
an dem großen Eichentiſch fiten. Der mußte manderlei befahren und
gefehen haben; runde Krüge hatten ſich vielfach in feine Platte eingedrüdt, wie
vom Niederftoßen fchwerer Erzhumpen, und quer drüberhin lief ein Schnitt, ala
ob einmal ein Schwerthieb auf ihn heruntergefahren fei.
Als Jörg von der Lippe unter dem Steilhang der Stubbenkamer weiter
am Strand entlang fchritt, war die Sonne aus ihrer Himmelshöhe jchon wieder
ein Stüd abwärts geitiegen, und ihm lag’3 um die Ginne, er habe die Tages-
bälfte in einem Traum verbradt, aus dem er noch nicht zum Wachwerden ge-
fommen. An dem Ankerplag jeiner Snigge zurüdgelangt, ſprach er faum, gab
nur Eurz Befehl zur Abfahrt; Putte Kod, der Pugenmafer, zerrte mit einer
Grimaffe feine Mütze vom ftruppigen Kopf und blies mit aufgepumpten Baden
hinein. „Wat heit to puften?" fragte einer, und er antwortete: „Güſtern to
veel, hüt to münner; id verjöf, dat wine Mütz vull Wind kriegt." Doc Herr
Jörgen fchürzte die Lippe nicht zu einer Abfertigung der anzüglichen Rede, ließ
fie ganz unbeadhtet, fchaute nur mit abwejendem Blid vor fi hin. So feinem
Wejen zumider, daß die Mannjchaftsleute ſich ins Ohr tufchelten: „De löppt
nid; wedder an de Hriedfant an, de hett wat ſehn.“ Am übrigen verhielt ſich's
draußen mit der Windlofigkeit nicht allzu ſchlimm, aus der Stille unter der
Stubbenfamerwand herausgebracht, blähte die „Schwalbe ihre Linnenflügel
doch genügend auf, um, füdwärt® davonziehend, nach ein panr Stunden die
menſchenlos öde, vielzerriffene und zerflüftete Halbinfel Möndgut zu umkreiſen.
Der Sommertag erhielt lange feine Helligkeit, geleitete die Snigge durch den
Greifswalder Bodden bis in den fehmalen, den Südrand Rügens vom Feitlande
abtrennenden Strelafund, und als fie an der Fleinen Inſel Strela vorüberlief,
hoben ſich unmweit hinter diefer in erſt beginnendem Dämmerlicht noch deutlich
unterfcheidbar die hohen gotifchen Türme der Jakobi- und Nikolaikirche jenfeits
der mächtigen Ummallungsmauer Stralfunds in die Luft; die gewaltige Marien:
Eirche, die vordem alles überragt gehabt, befand jic, gegen den Ausgang des
letten Jahrhunderts mit ihrem Hauptteil zufammengeftürzt, noch erft im Wieder:
aufbau. Ueberaus feftgefichert lag die Stadt, ringsum vom Wafjer des Sundes
und drei Feiner Yandjeen oder großer Teihe umfdlofjen, auf einer Inſel, nur
über drei ſchmale Dämme durch ftarfe Thore vom Land her Zugänge verftattend.
Das Schiff legte neben dem außerhalb der Mauer belegenen Kloſter und
Siehenhaus „Sankt Jürgen am Strande" an und der heimgefehrte Schiffer
erhielt, dem Wächter aus Snabenzeit her befannt, durch das bereit nächtlich mit
niedergelaffener Zugbrüde wohl verwahrte, ſchon manches Jahrhundert alte
„Knieper Thor” Einlaß. Eine Straße mit bochgegiebelten Häufern durch—
fchreitend, trat er bald auf den „Alten Markt‘ hinaus, über den fich als dunkle
Scattenmafje die Nifolaifiche emporhob, daneben breit hingelagert das viel:
506 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Straljund.
betürmte Rathaus. Dem gegenüber ragte ein befonbders ftolger Giebelbau auf,
ehemals der Wohnfig des Burgemeifters und Flottenhauptmanns Wulf Wulflam,
der „der reichite Mann an der ganzen Oſtſee“ gemwefen, vor der Königin Marge:
rete felbit wie ein Fürſt geitanden hatte, und als er feine Braut zum Altar in
der Nikolaikirche geführt, mit ihr über den Alten Markt ganz auf Eoftbarften,
lündiſchem Tuch dorthin gefchritten war; nun aber lag fein Haus lange verwailt,
da er während der blutigen Wirrfale im Innern der Stadt vertrieben worden
und in der Fremde geftorben. Nah vor der Thür war bald danad der Kopf
feines Hauptgegners, des Burgemeifters Karſten Sarnow auf dem Marktplat
unterm Richtichwert gefallen. Heute jedoch lag alles ftill und friedlich im ein-
fallenden Nachtdunkel, die Angehörigen der „Geſchlechter“ ſaßen bei den Wein—
fannen in der Trinkſtube des Rats, die Zünfte beim Hamburger Bier in den
Gildeituben verfammelt, und unter einem alten, den Markt begrenzenden, pfeiler:
getragenen Yaubengang mit gotiihem Gewölbe hindurch trat der junge Führer
der Snigge in einen weitgeräumigen Dausflur und, die breite Treppe ans
ſchwediſchen Granitfteinen hinanfteigend, in ein großes, von Bechpfannen erheliies
Gemach. Doch auf einem Tisch brannten zwei dide Wachskerzen, davor ſaß, ein
Schriftftüf überlejend, en Mann von madtvollen Wuchs mit vollem, faft weiß
den Kopf bededendem Haar. Das war der jegige Altburgemeifter Stralfunds,
Herr Nikolaus von der Lippe; von dem Pergamentblatt weg richtete er jeine
fcharf eindringenden Augen auf den Ankömmling, erhob fi) und fagte, diefem
die wuchtige rechte Hand binftredend: „Bilt Du zurüd? Steht's zurecht auf der
Schufterbrüde in Bergen?"
So hieß das wichtige Hanfakontor droben in der norwegiſchen Stadt, deren
deutiche Kaufleute und Gewerbtreibende unter dem Sammelnamen „Scuiter”
zufammengefaßt wurden. Es zeugte von jtarfem Bertrauen in die Tüchtigkeit
und Einfichtigkeit des jungen Mannes, daß er nach Bergen gejchidt worden war,
die dortigen, vielfach unliebfam zerfahrenen und vermwilderten Zuftände zu begut-
achten und Bericht davon abzulegen. Das that er jett und offenbar mit Elugent
Einblid zur Befriedigung des Hörerd. Doc ſeltſam ftach fein Berhalten von
dem ab, das er auf dem Schiff gegen die Mannichaft gezeigt. Nichts Kühnes
und Selbſtbewußtes lag darin, gefchweige denn Troßiges; unficher, beinahe ſcheu
ftand er, die Augenlider halb niederfenfend. Man ſah, bier fühlte er fich nicht
al3 den Herrn, nur al3 der Junge vor dem Alten, war der Sohn des Haufes
noch wie in Knabenzeit ohne eigenen Willen; ihn jchredte fein Sturm und feine
Gefahr, aber vor dem auf ihm haftenden Blid des Vaters ſtrich er die Segel
feines Muts und feiner Zuverfiht. So bradte er den Bericht zum Ende, und
Herr Nikolaus nidte: „Gut, id bin mit Dir zufrieden. Du haft die Augen offen
gehabt. Das Salzwaſſer macht Hunger und Durft; ſetz Dich an den Tiich"-
Weiter, nad) der langen Fahrt, ob fie an den nordifchen Schären oder fonit in
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Straljund. 507
den dänischen Waſſern bedrohlich geweſen fei, fragte er nicht; felbftveritändlich
war's, daß fein Sohn über jeden Widerftand Herr geworden. Dann ſaßen fie
zujammen beim Nacdtmahl, daran aud) Adelheid und Landhill, die Hausfrau und
Tochter, mit teilnahmen, und, aus gefülltem Pokal dem Heimgekehrten den Will-
fomm zutrinkend, ſprach Nikolaus von der Lippe danach: „Richlint Wulflam
wird morgen warten, daß Du ihr von Deiner Bergenfahrt erzählit“. Eine Nach—
fommin des großen Geſchlecht war's, und ſchon feit einiger Zeit war in der Stadt
Rede gegangen, um langjährigen Zwijt zur Ruh zu bringen, trage der Burge—
meijter eine Berbindung zwiichen ihrer Sippe und der feinigen tm Sinn. Das
fiel dem Angefprochenen nicht ein und gleichgültig, mit hellem Lachen gab er Ant-
wort: „Da wird Ridhlint Wulflam umfonft warten, denn ich weiß zu thun, was
mir lieber if.” Doch fein Vater verjegte drauf: „Ach denke, dem Werber kann
nicht$ lieber fein, al3 Rede mit der Jungfrau zu pflegen, die er fich zur Braut
füren will" Nun nahm Jörg gewahr, daß die buſchigen Brauen des Alten ſich
etwas auf die Augenhöhlen herabzogen; ablentend erwiderte er: „Meßt Ihr mir
jolcherlei Vorhaben zu? Dafür halt’ ich mid) zu jung noch und gedenfe Eurem
Borbild nachzufolgen, exit reifer an Einfiht Euch eine Schwäherin in’3 Haus zu
führen.” — „Defjen bedarfit Du nicht, da meine reife Einficht Dir beihilft. Mit
der habe id) die Wahl für Dich getroffen; Richlint Wulflam bringt Deiner Zukunft
das Anſeh'n ihres Gefchlecht3 zu und reichere Brautgift, ald eine zweite Tochter
unjerer Stadt." — Bedadhtlos flog dem Jüngeren heraus: „Um Geld brauch’ ich
nicht zu freien, defjen hab ich jelbit genug“. Sekt aber ſchob Herr Nikolaus die
breite Unterlippe vor und entgegnete fcharftönig: „Du haft Geld, weil Dein
Bater es jeinem Sohn giebt. Wäre meine Lade Div zugeichloifen, hätteft Du
feines". Ein jchredhafter Ausdrud befiel die Gefichter der Dlutter und Schweſter
Jörgs, ängſtlich fahen ihre Augen auf ihn Hin, denn er jtand vom Sit auf, und
über feiner Stim jchien mit einer roten Flamme als fein väterliches Erbteil
auch der Willenstrog emporzufchlagen. Doch vor dem ftählernen Blid des Alten
verſtummte der Junge, die Antwort, die fic ihm aufgedrängt, ftodte auf feiner
Zunge, und er entgegnete nur: „ch habe in letter Zeit nicht Schlaf gefunden
und bin müde; verargt mir nicht, Herr Vater, daß ich Euch für heute jchon
verlaffe und in meine Sammer gebe." Das Blut derer von der Lippe
fennzeichnete fi in feinem Geficht, aber aus feiner Stimme wagte es fidh
nicht hervor.
In das Haus Richlint Wulflams jedod, ging Jörg von der Lippe am andern
Tag nicht, dagegen fuchte er eines auf, das an der Papengajje in einem Hinter:
winfel der Jakobikirche belegen war und jtieg darin, zuleßt mehr auf einer Reiter
als einer Treppe, hoch bis zum vierten Stodwerf hinan. In enger, dürftiger
Biebelfammer haufte hier ein Mann mit langem, afchengrauem Haupthaar, der
von der Mehrzahl der Bevölkerung Stralſunds gemieden wurde. in gelehrter
308 Wilhelm Fenfen, Der Tag von Stralſund.
Magifter war's, des Namens Bertram Wigbold, er jtand im Auf, der Geijter-
funde und ſchwarzer Künfte mächtig zu fein; hauptfächlich aber flößte er Scheu
ein als ein noch lebender Bruder Cord Wigbolds. Der war an der neuen Hoch—
ſchule der Nachbarſtadt Roftod gleichfalls Magifter der Weltweisheit gemejen,
doch Hatte er eines Tags fein Lehrkatheder mit dem Schiffskaſtell vertaufcht, um
als Genoſſe Elaus Störtebefers und Godefe Michels einer der wildvermegeniten
und am meiften gefürditeten Lifedeeler zu werden, bis jchließlich der Meifter
Rofenfeld auch ihm auf dem Grasbroof im Hamburg den Kopf vom Rumpf
abgeichlagen und jeine Gliedmaßen aufs Rad geflochten. Das beſonders umgab
Wigbold mit Unheimlichkeit, doch nicht für den Burgemeifterfohn, der fi) vor
nichts auf der Welt fürchtete al3 vor feinem Vater. Außerdem fannte er den
Magifter feit langem ber, denn er hatte ala Knabe Unterricht in der lateinischen
Sprade von ihm befummen; fo fette ben Alten der Beſuch heute nicht in Ver:
wunderung. Nur kam's ihm bald zum Gefühl, daß feinen ehmaligen Schüler
eine Abficht hergebracdht habe, mit der er unfchlüffig zurüdhalte, nicht recht wiſſe,
wie er fie ausführen ſolle. Dann indes jagte Jörg von der Lippe, wie er geitern
an den hoben Sreidefelfen von Rügen vorlibergejegelt, fei ihm dunkel in der
Erinnerung aufgewacht, daß der Magifter einmal davon geſprochen, der römifche
Geſchichtsſchreiber Tacitus rede in einer feiner erhalten gebliebenen Schriften von
der Inſel; da habe ihn danach verlangt, zu erfahren, was dies fein möge. Den
Wunfd konnte Wigbold ihm befriedigen, denn er hatte als koſtbaren Schatz eine
Abſchrift der „Bermania” des Tacitus in feinem Befit, aus der er jene Kunde
geihöpft, und legte die hervorgeſuchte mit der aufgeichlagenen Stelle vor Jörg
von der Lippe hin. Go weit aber reichte defjen Kenntnis der alten Sprache doch
nidht, er mußte nad) einem fruchtlofen Berfud den Magifter um eine Berdeutfchung
bitten, und diefer übertrug ihm den kleinen Abfchnitt:
„Sonft ift nicht3 bei diejen Völkerftämmen anzumerken, als daß fie gemein-
fanı die Göttin Nerthus, das heißt die Mutter der Erde verehren, die nad; ihrer
Ausfage hier erfcheint. Auf einer Anfel des Ozeans ift ein heiliger Wald und
in ihm, mit einem Gewand bededt, ein geweihter Wagen, den nur der Priefter
berühren darf; er erfennt die Anmwefenheit der Göttin in ihrem Heiligtum und
begleitet in tiefer Andacht ihren von weiblichen Nindern gezogenen Wagen.
Dann find frohe Tage und Feſte an den Stätten, die fie ihres Kommens und
Aufenthalt würdigt; feine Kriege finden ftatt und Feine Waffen werden ergriffen,
alles Eiſen liegt verjchloffen; danı allein ift Frieden und Ruhe befannt und nur
dann geliebt, bis derjelbe Priejter die ihres Umgangs mit den Sterblihen fatt
gewordene Göttin in ihren Tempel zurüdführt. Alsbald werden dann der
Wagen, das Gewand und — wenn man dem Glauben fchenken darf — die Gott—
heit felbft in einem geheimen See gebadet; Sklaven find dabei behülflich, die
gleich danadı dieſer Eee verſchlingt. Deshalb umgiebt ein verfchiwiegener
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralſund. 509
Schauer und heilige Unkundigkeit jenes Wejen, das nur foldhe, die dem Tode
anheimzufallen beftimmt find, erbliden.“
Bertram Wigbold fügte dem Borlefen nah: „Es fteht wohl in Zweifel,
ob damit wirklich die Inſel Rügen gemeint ift. Doch habe ich vernommen, daf
von Leuten, die dort am Nordrande leben, ein Waldgemwäfjer heutigen Tags der
See der Hertha benannt werden ſoll.“ Unbewußt flog Jörg hervor: „Sa,
Hertha — und Geheimnisvolles liegt um ihren See — aber fie ift eine Jung—
frau von Menfchenart, nicht die Göttin, von der Tacitus berichtet." FForfchend
bielt der Magifter jeine Elugen, mit grünlihem Schimmer flimmernden Augen-
fterne auf den Sprecher gerichtet, bevor er entgegnend jagte: „So waret Ahr
am Lande bei dem Kreidefelfen der Stubbenfamer und habt jelbft das mit
Augen gejehn, wovon hr redet." Nun erft geriet dem jungen Mann zum
Bewuhtwerden, dat ihm diefe Kundgabe vom Mund gefommen fei; er zauderte
kurz, doch ftand dann auf und ſprach: „Ahr Habt mir die lateinifhe Schrift
überfetst, weil mein Berjtändnıs dafür nicht ausreichte. Aber es mangelt mir
noch für anderes, vielleicht finde ich auch zu deſſen Aufhellung an Eud einen
Beirat. Gelobt mir mit Eurer Hand, Ihr wollet vor jedem Ohr verfchtwiegen
halten, was ich Euch Eundthue.“
Der Magiiter gewährleiftete die Anforderung mit feiner Hand, und Jörg
von der Lippe berichtete ihm ausführlich von dem rätjelhaft Unbegriffenen, das
er auf Jasmund angetroffen. Wortlos gab der Zuhörende auf die Erzählung
acht, erwiderte nad} ihrer Beendigung: „Was Ihr zu wiſſen begehrt, kann ich
Euch fogleich zur Stelle nicht fagen, doc; Ahr feid mit Eurem Wunfd zu mir
nicht fehlgegangen. Mein Gedächtnis bedarf der Unterftügung, die ich in einigen
Schriftftüden nachſuchen will. Wollet Ihr, der Sohn des Burgemeifterd dem
noch am Leben verbliebenen Bruder des ehemaligen Seeräubers die Ehre an-
thun, heute gegen den Abend wieder bier vorzufehren, fo hoffe ih, Euch
wenigftens in einigem die Auskunft, nad der Ihr Verlangen tragt, geben zu
können.”
Als die Abenddämmerung herankam, trat Jörg von der Lippe zum andern-
mal an biefem Tag aus der Behaufung des Magifters hervor; fein Geficht
überzog eine ftarf rote, von innerer Erregung zeugende Färbung, ein Ausdrud
jelbftändigen, entichloffenen Willens füllte ipm die Augen. Er begab fi nicht
zum Alten Markt in fein Vaterhaus zurüd, fondern vors Thor an die lange
Ladebrüde der Stadt hinaus, rüftete dort eine Fleine, ihm gehörige einmaftige
Schute für eine Fahrt zu. Mit der jegelte er ein Stüd weit nordwärtd am
Hafenrand entlang, landete an und nahm eine hier wartende Gejtalt auf. Raſch
ftieß das Fahrzeug wieder vom Ufer ab, lief bei günftigem Wind Hurtig dem
„Bellen“, der nörblihen Fortſetzung des Strelafundes, zu; über Rügen ber
ftieg der Mond in die Höhe und machte dem am Steuer figenden jungen Schiffer
510 Wilhelm Nenfen, Der Tag don Stralfimbd.
gegenüber die Züge des Magiſters Bertram Wigbold erkennbar. Unter der
langen Inſel Hiddensö hin durchzog die Schute den Gellen in die offne Oſtſee
hinaus, umbog im anbrechenden Morgenlicht das öde, nur von zahllofen Ufer:
Ihwalben überfhwärnte Vorgebirge Arcona an der Nordfpite Rügens, von der
wendijchen Urbevölferung jo ald „am Ende der Welt“ benannt; ragend fahen
von dem fteilen Hang die Trümmer des zerftörten Tempels herüber, in dem die
Slaven vordem das ungeheure Standbild ihres oberjten Gottes Swantewit
verehrt hatten. Nun legte Jörg voh der Lippe das Ruder herum, und das
vollgebaufchte Segel flog durd die breite Bucht der „Tromper Wiek“ ſüdwärts
der im Frühſonnenſtrahl weiß aufichimmernden Sreidefeljenfüfte von Jasmund
entgegen. (Schluß folgt.)
16
Ausiprücde aus dem „Boldenen Buch“.“
Ichles Biel der Politik if, den Einzelnen dahin zu bringen, daß er [einen Egoismus
mit Bewußtlein unter die für die Mllgemeinheit als nüklicdh erkannten Zwecke beugt.
Bernbard von Bülow, Reichskanzler.
Je Härker die Wogen des Materialismus branden, je ärker [oll aud das Bemwußt-
fein des Peuffchen werden, daß feine Beimat das Baterland des Idealismus if.
Pbilipp Braf zu Eulenburg«-berteteld, Kaiferl, Botſchatter.
o
Deutſche Rulfur und deutſche Willenfchaft find dev Sauerteig ruropäilcher Bivilifation.
Theodor von bolleben, Kaiferl. BSotſchalter.
o
Das kommende Yahrhunderi wird weniger unler dem Zeichen innereuropäilcher
Kämpfe als unfer dem Zeichen überſeeiſcher Weltwirtichaftspolitik ſtehen, und Deutſchland
if unter allen Kontinenfalmählen Europas an rrfier Stelle befähigt und berufen, dank
feiner Bevölkerungszunahme, feiner militärifchen und geifligen Begabung, dank feiner
nationalen Energie, in diefem Bonkurrenzkampfe um Erfchliefung neuer Ablahgebiefr,
um das Erbe altersfchwacer aftatifher Staatengebilde und um den Hebergang von Rolonieen
aus ſchwachen in Närkere, kulfurfähigere Bände ſich durch Sicherung der Sregewalt die
ihm gebührende Weltmadhtllelung zu erwerben und zu erhalten. Hnd der jugendliche Recke
wird diefe Aufgabe löfen, went er nur der Leidenfchaflen im Innern Bert zu werden weiß.
Grat bDermann von Arnim, Wuskau.
o
*, „Boldenes Bud bes dbeutihen Bolles an ber Jahrhundertwende” Bb.]. Heraus—
gegeben von Julius Lohmeyer. Berlag von 3.3. Weber, Leipzig.
TNHTENTNTNTENTNTNTHTHTNTNTNTNTL
China im Zeichen des Fortschrittes.
Von
Friedrih Hirth.
r stina lente, das ijt jegt die Lofung des von einem janguinifchen Kaiſer
und jeiner weltklugen Erzieherin gehaltenen Drachenbanners. Die vor drei
Jahren durd den Staatöftreich derjelben Kaiſerin-Witwe, von der jet die Fühnften
Pläne Kuang-ſüs gut geheigen werden, fo jäh unterbrochene Wera der Reformen
bat nun wirklich eingejegt, diesmal unter Mitwirkung vieler- Elemente, die damals
noch fich recht fühl verhielten, wenn nicht offenen oder verjtedten Widerftand
leifteten.. Die Gründe, weshalb die Aufpizien, unter denen fi) die neuefte Reform—
bewegung vollzieht, weit günftigere find als diejenigen des Jahres 1898, treten
Har zu Tage, wenn wir und die Umftände vergegenmwärtigen, unter denen fie ſich
damals entfaltete, gegenüber der heute jo gänzlich veränderten Lage.
Neformanläufe waren ja in einzelnen Zweigen des dhinefiiden Stants-
lebens ſchon feit Jahrzehnten gemacht worden, zum Teil mit Erfolg. Man denke
nur an den GSeszolldienft und an die Ausbildung einzelner Truppenteile nad)
europäifchem Mufter. Aber der Gedanke an diefen Umſchwung in den Grund»
lagen des gejamten Negierungsfyitems, der den Reformplänen des Kaiſers zu
Grunde lag, war erit die Folge der gänzlichen Niederlage der Chineſen im japa-
nifchen Kriege. Nur die Eraffefte Berblendung, wie fie leider bei den chineſiſchen
Konjervativen alten Schlages noch oft zu finden ift, fonnte ſich der Einficht ver-
ichließen, daß Japan, das ja früher ähnlich wie Ehina ſich vor dem Eindringen
weftlicher Kultur ängftlich abgeſchloſſen hatte, erft dur; die gänzliche Umkehr von
feinen alten Vorurteilen groß und ftark geworden war. Die nächſte Folge war,
daß einige dentende Politiker alles Heil für China in der Nahahmung des von
Japan gegebenen Beiſpiels ſuchten. Diefer Gedanfe beherrjchte nicht nur den
Kaifer Kuang-fü und feine unmittelbaren Berater, den gelehrten Reformtheoretifer
Rang Yu⸗wel und feine Freunde; aud die Kaiferin-Witwe, die ja nad allem,
was fie bis dahin gethan Hatte, gegenüber den Stod-Stonjervativen faft liberal
genannt werden durfte, war von der Notwendigkeit gewiſſer Reformen überzeugt.
Ein feitenlanges Eaiferliches Editt vom 17. Januar 18%, das — wie man
zwijchen den Zeilen lefen fann — unter ihrem Einfluß entftanden ift, legte ſchon
512 Friedrich Hirtb, China im Zeichen bes Fortſchrittes.
damals Zeugnis davon ab. Endzweck diefer Reformen war freilich nicht der
freundliche Verkehr mit anderen Völkern, jondern dad, was er zweifellos aud
jegt noch ift, die Erhöhung der Leiftungsfähigkeit des Reiches in militäriicher
Beziehung, um nötigenfall® einem nationalen Unglüd, wie es der japanijche
Krieg geweſen war, vorzubeugen. Der Kaijer, in deſſen Namen das Edift aus:
gefertigt ift, befchwert ich darin, daß infolge des Krieges mit Japan zwar zahl:
reihe Vorſchläge zur Wiederherftellung und Aufrechterhaltung der chinefiichen
Macht aus Mandarinenkreifen eingelaufen jeien, daß jedoch, jo oft wirkliche
Schwierigkeiten mit den fremden Mächten in Ausficht ftänden, gerade die Urheber
jolher Vorfchläge fi als unfähig in Nat und That erweijen, da das Land
militärifch den von allen Seiten drohenden Gefahren nicht gewachſen jei. Deshalb
jei die Reform der VBerteidigungsmittel in eriter Linie geboten. Als Haupthindernis
dabei ſei die jchlechte Finanzwirtſchaft zu betrachten, hervorgerufen dur die
Unterjchleife der Lifinbeamten, die heimlich ihre Tafchen mit Staatögeldern an-
füllen, und die Unterhaltung zwedlofer Truppen in den Provinzen. Trotz des
Eaijerlihen Befehls, in diefer Richtung Abhilfe zu fchaffen, jeien gerade dieſe
beiden Punkte von den Gouverneuren in ihren Denkfchriften nicht berührt worden.
Nur der Yuftizminifter Kang J (berüchtigten Angedenfens) habe die Reform des
Heerweſens und der zu diefem Zwede nötigen Finanzwirtichaft empfohlen. In
feinen Vorſchlägen hatte Hang J vor allen Dingen die Abftellung gewiffer Un-
fitten befürmortet, namentlid; die Anmwerbung minderwertiger Mannſchaften für
die Armee, der Unterfchleife in den Lifinämtern, gewiffer Eoftipieliger Einrichtungen
in der Salzjteuereinnahne, der Sinefuren für Günftlinge, überflüffiger Ausgaben
bei den an fremden Höfen beglaubigten Gejandtichaften, bei den Arfenalen und
Schiffäwerften und verfchiedenen vom Staat ernannten Körperichaften.
Es Elingt wie Sronie, doch geht es aus dem ſoeben genannten Edikt
Har hervor, daß Kang J, der Erzfeind aller Fremden, einer der erften geweſen
ift, die den Kaifer oder in diefem Falle wohl die Kaiferin-Witwe von der Re—
formbedürftigkeit des chinefiichen Staatöwefend zu überzeugen ſuchte. Zwar
“handelte es ſich damals nicht um fo weitgehende, alles Herkommen umftürzende
Pläne, wie fie der Kaifer im Sommer desjelben Jahres zur Ausführung bringen
wollte; aber man würde doch zu weit gehen, wollte man den als ultrasfonfervativ
bekannten Staatdmännern lediglih auf Grund ihrer perjönlichen Abneigung
gegen die fremden jedes Berjtändnis für ſolche Reformen abſprechen, die ſich in
der Abftellung fchreiender Mißftände äußern. Dasjelbe darf man von der Kaiferin:
Witwe fagen. Wenn fie, die während eined Menſchenalters die Laſt der höchſten
Verantwortung getragen hatte, ed nur ungern ſah, daß der Kaiſer, ihr Zögling,
fih ganz in die Hände von zwar gelehrten, aber erfahrungslojen Theoretikern
begab, fo ift dies mindeftens erflärlih. Ihre augenblidlihe Ohnmacht, daran
etwas zu ändern, mag ihre Leidenjchaft angefacht und aufs äußerſte getrichen
Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortſchrittes. 13
haben. Bielleiht hätten die fortichrittsfreundlichen Beftrebungen des Kaiſers bei
ihr größeres Entgegentommen gefunden, wären fie von altbewährten, buchgeitellten
Staat3männern ausgegangen und in gemäßigterem Tempo betrieben worden.
Die Abenteurer jedoch, die, wie fie glaubte, ihren wohlerzugenen Pflegejohn ver-
führt hatten, wurden für fie Gegenftand glühenden Hafjes; eine Zeit der Ver-
folgungen ſetzte ein; die Reaktion der Reformfeinde gewann die Oberhand, und
fie, die es verftanden hatte, fich bei den Aufgeklärten ihres Volkes wie bei
Fremden in den Ruf der Piberalität zu ſetzen, fchloß fi) den Führern der Gegen:
partei an.
Die Erinnerung an das nad unjeren wie nach allgemein menſchlichen Be-
griffen ungejegliche Eingreifen der Kaijerin-Witwe durch die befannte Palaft-
intrigue im September 1898 und ihre fpätere Begünftigung der mit verbrecherifchen
Mitteln arbeitenden Partei des Prinzen Tuan läßt uns jelbft jetzt noch überfehen,
daß fie bei allem Hafje gegen die vermeintlichen Urheber der rüdfichtslojen Leber:
ftürgung der £aiferlihen Neformpolitif doc augenjheinlid aus eigenem Antrieb
mancherlei Reformmaßregeln begünftigt hat. Lieft man heutzutage, wo die Leiden-
Schaft des Parteiintereffes einer ruhigeren, mehr geihichtlihen Auffaffung Platz
macht, wiederholt die dem Staatäftreid folgenden Edikte der nunmehr wieder
allein regierenden Kaiferin durch, jo erhält man den Eindrud, daß fie durchaus
nicht gefonnen war, den Wünfchen der Ultra-Konfervativen nachgebend, die Re:
formbewegung gänzlich zu unterdrüden. Wie im Reiche die höchſten Memter
zwijchen Fortjchrittlern und Rüdjchrittlern, Freunden und Feinden der Fremden
und ihrer Intereſſen nad) wie vor geteilt blieben, fo verraten auch die in ihren
Edikten ausgeſprochenen Anfichten durchaus nicht den einfeitig konſervativen
Standpunkt, den mir von der erbitterten Feindin der Reformtheoretifer K'ang
Yu⸗wel und Genofjen erwarten follten. Zwar ift der Zwed vieler unter der
Rubrik „Reformen“ zu verzeichnender Maßregeln ein ziemlich durchſichtiger, da
alles, was 3. B. für die Verftärkung der Armee, die Ausbefjerung der Stadt-
mauern von Peling u. f. mw. gethan wird, dem wohl ſchon jetzt ins Auge gefaßten
Plane zu einem großen Kampfe gegen die Fremden dienftbar war. Aber es
finden fich doch auch Zeichen eines tieferen Reforminterefjes auf anderen Gebieten.
Während einesteild viele von den durchgreifenden Aenderungen des Kaijers, wie
die Abſchaffung der als Wön-tihang bekannten Eramenarbeit, des „Lateinischen
Auffates der Chineſen“, rüdgängig gemacht werden und namentlid; das Er-
ziehungsſyſtem auf feine urfprünglihen Grundlagen zurüdgeführt wird, weiſt die
Kaiferin mit Entfchiedenheit den Antrag des Minifteriums der Geremonien auf
Abschaffung der von dem Kaiſer ins Leben gerufenen Schulen für europätiche
Wiffenszweige zurüd. Das genannte Minifterium, das ja ber Natur der Sade
entjprechend in der Aufredhterhaltung des Beftehenden gewiſſermaßen eine Eriftenz-
frage erbliden muß, hatte befürwortet, daß in diefen Schulen, wie ehedem, aus-
38
514 Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortichrittes.
ichließlid; die Yehren des Eonfucius vorzuiragen fjeien. Die Haiferin war jedoch
der Meinung, dad Ajtronomie, Geographie, Militärwiſſenſchaften, Mathematik u ſ. w.
für den modernen Chineſen unentbehrlich find.
So laſſen fi) aus den in der chinefiihen Staats-Zeitung veröffentlichten
Aktenftüden nicht wenige Beweife dafür beibringen, daß die Kaiſerin troß ihrer
zeitweiligen gänzlichen Unterordnung unter die tenflifchen Pläne des Prinzen -
Tuan, fo lange fie einigermaßen jelbjtändig enticheiden fonnte, der Neformidee
nicht ganz abgeneigt war. Daß die Univerfität felbjt während der Zeit, als die
Neforumot am größten war, wenn auch nicht unterftüßt, jo doch twenigftend am
Leben erbalten wurde, darf ihrem Einfluß zugeichrieben werden. Ebenfo kann
e3 nur ihre über den Parteien ſtehende Macht geweſen jein, durch die troß aller
Anfeindungen eines Yü Hien oder Kang J die liberalen Satrapen der mittleren
Provinzen, Liu Kunz, Tſchang Tichr:tung und K'ui-tſün feit im Sattel blieben.
Sie hatte zweifellos gute Gründe dazu und mochte aus der innerften Seele des
reformbedürftigen und nad; Reform düritenden Volkes mehr herausleſen als ihre
fonfervativen Berater. Pielleicht jah fie den unvermeidlichen Umſchwung vor-
aus, in der Stille hoffend, dat die Eonjervative Bartei doch noch die Oberhand
behalten würde. Für den Fall, daß e3 anders kommen follte, mochte fie es für
geboten halten, fich zwei Wege offen zu halten. Wie die meiften ihrer Yeute ift
die Kaiſerin Opportuniftin. Ihre Sympatbien wenden ſich nach einer Zeit des
Schwanfens nicht auf einmal, aber langſam und ſicher der Partei zu, die den
Sieg errungen hat, und dies ift, dank der Intervention der fremden Mächte, die
Reforinpartei. Sonnte fie doch dem Drängen eines großen und mächtigen Teiles
des Volkes nicht widerftehen und musste fie doch zu der Erkenntnis fommen, daß
die Waffenerfolge der Japaner lediglich die Folge des auch im Nahbarvolfe er-
kämpften Sieges einer Reformpartei geweſen find.
Kurz nad) der Flucht des Hofes lauteten die Nachrichten aus der neuen
Dauptitadt Siran-fu noch wenig günftig. China jagt nicht gern „peccavi“; das
beweifen die verjchiedenen, als Friedensbedingung auf Beranlafjung der fremden
Mächte erlajjenen Edikte. Was die Kaiſerin tm Intereſſe des Friedens that,
joll den Anjchein des jpontanen Entichlufjes tragen. Auch die neueften Reform-
edikte, in deren Nusfertigung fie mit dem Kaiſer wetteifert, find der Form nad)
der Ausfluß ihrer innerjten Ueberzeugung. Und jest kommt es ihr zu ftatten,
daß fie Ichon lange vor Ausbruch der Wirren, kurz nach dem Staatsjtreich, ſich
bier und da als liberale Landesmutter gezeigt hat, die mit der linken Hand den
Lehren des Weſtens Schulen gründet, während die Nechte jchütend über den
Tempeln des Confucius ruht.
Noch ift das Reformwerk nicht vollendet, und im Intereſſe des Friedens iſt
ein langjames Tempo mit möglichfter Schonung althergebradhter Vorurteile jehr
zu wünſchen. Aber wir befiten für das Vorhandenſein des Fräftigen Einſetzens
Friebrich Hirth, China im Zeichen des Fortſchrittes. 515
diejer Das Kuliurwerk mehrerer Jahrtauſende umftürzenden Bewegung ſchon jeßt
unzählige greifbare Beweiſe.
Die durch den japanifchen Krieg 1895 gemachten Erfahrungen, die ja den
Anftoß zur Neformidee großen Stil8 gegeben haben, find durch die Ereignifje
des Jahres 1900 felbftredend doppelt und dreifach beftätigt worden. Das Gefühl
der Ohnmacht und das verzweifelte Suchen nah Mitteln zur Hebung der
politiichen und militärischen Leiftungsfähigfeit, das fchon bald nad dem Frieden
von Schimonvfefi bei den Aufgeflärten des Volkes an die Nahahmung des von
Japan gegebenen Beifpield denfen ließ, bat fi) nad; der Straferpedition der
verbündeten Truppen nun auch bei der großen Maſſe des Volkes geltend gemadıt.
Die Leichtigkeit, mit der die für uneinnehmbar gehaltenen Bälle an der
großen Mauer beim eriten Anfturm Eleiner fremder Truppenabteilungen ge-
nommen wurden, hat dazu viel beigetragen. Man glaube nicht, daß die lügneriſche
Straßenlitteratur mit ihren fingierten chinefischen Siegen und den blutigen Borer-
Bilderbogen ihren Zwed, die Täufchung des Volkes über den wahren Sad):
verhalt, erreichen wird. Worauf es in erfter Linie ankommt, ift die Aufklärung
der Gebildeten, und diefen fteht die durchaus nicht jchlecht bediente chineſiſche
Preffe zur Verfügung. Die Prefje aber ift zum großen Teil in den Händen von
Anhängern der Reformpartei. Dasijelbe läßt fid) von dem über das ganze Reid
verbreiteten Xelegraphendienft jagen, deſſen Beamte meiſt etwas engliich ver:
ftehen und aus halbeuropäifchen Schulen hervorgegangen find. Wer in hinefischen
Städten tief im Anmern des Neiches gelebt hat, wird die Erfahrung gemadıt
haben, daß wichtige politiiche Nachrichten zunächft durch die Andiskretionen der
Zelegraphenbeamten in die Kreiſe der Mandarinen, Litteraten und Notabeln
dringen, und daß bald darauf die Peitartifel der chinefiihen Zeitungen aus
Schanghai, Hongkong oder Tientfin in den Comptoiren der wegen des Handels
mit den Küſtenplätzen felten fremdenfeindlichen Kaufleute und Bantiers befprochen
werden. Auch durd; die Mifftionare und ihre Anhänger werden Nachrichten ver:
breitet, die dem verderblichen Wirken der Heplitteratur entgegenwirken. Daß dieje
viel Schaden anrichten kann, foll hier nicht bejtritten werden, allein es jcheint,
daß das fchlieklihe Bekanntwerden des wahren Sachverhalts in den Sreijen der
Gebildeten, auf die es ja hauptſächlich ankommt, dadurd nicht verhindert werden
fann. Mehr als Preije und Telegraph wird jedoch auf das Bulf das Ver:
halten der Spiten des Staates einwirken, obenan der Kaiſer und die Kaiferin-
Witwe.
Die Teilnahme der leßteren an den Regierungsaften des Kaiſers ift uns
Europäern an und für ſich nicht ſympathiſch. Lieft man die feit der Flucht des
Hofes als Ausflug der höchſten Machtvollkommenheit veröffentlichten Edikte, fo
weiß man nicht, wer eigentlich in China regiert. Ein folder Dualismus jelbft
in der äußeren Form bürfte in der Gefchichte Europas feinesgleichen nicht
gae
516 Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortſchrittes.
finden. Man darf unter den in der letzten Zeit erſchienenen Edikten drei Arten
unterſcheiden: ſolche, in denen der Kaiſer allein in ſeinem Namen ſpricht; ferner
ſolche, in denen er feine Befehle als nach Einholung des mütterlichen Rates er—
laſſen mitteilt, und endlich Edikte, die ausſchließlich im Namen der Kaiſerin-Witwe.,
bisweilen mit ihrem vollen, aus 19 Schriftzeichen beſtehenden Ehrentitel ausge—
fertigt find. Sie ſchließen ſämtlich mit den Worten K'in-tz', d. h. „mit der
dem Kaiſer ſchuldigen Ehrfurcht (erhielten wir) dies“, die von dem Kollegium
des Staatsrats als Beweis der Authenticität hinzugefügt werden; es wird alſo
vorausgefetzt, daß die von der Kaiſerin-Witwe emanierenden Kundgebungen denen
des Kaiſers gleich find. Die Kämpfe in Tſchleli haben alſo gegenüber der ihnen
vorausgehenden Zeit in diefer Beziehung feinen Wandel geichaffen.
Und doc ijt das Verhältnis zwiſchen Kaiſer und Kaiſerin-Witwe ein gänz:
lid) verfchiedenes geworden. Bon einer Abdanfung Suang-füs oder feiner durch
Krankheit verurſachten Regierungsunfähigkeit iſt ſchon lange nicht mehr die Nede.
Der laut Edift vom 24. Januar 1900 von dem invalid erklärten, angeblich
regierungsmüden Kaiſer zum Thronfolger erklärte Sohn des Prinzen Tuan
namens B’ustfün, der fid} von allen in Frage kommenden Prinzen von Geblüt
durch bejondere „Tugend und Nüchternheit“ auszeichnen jollte, rechtfertigte diefen
ihm angedichteten Ruf in feiner Weile. Seine in Si-an-fu Aufſehen erregende
Liederlichfeit wurde nur nod) von der Frechheit übertroffen, mit der er niemand
in feiner Umgebung verjchonte; namentlich joll er e3 dem Kaiſer Kuang-fü
gegenüber durchaus an dem nötigen Reſpekt haben fehlen lafjen. Bier zeigt ſich
nun ein großer Wechſel in den Anſchauungen der Kaiferin. Daß der junge
Pustfün feiner Anmwartichaft auf den Thron für verluftig erklärt, zum Herzog
degradiert und enterbt wurde, ſpricht deutlich dafür, daß der in der Berbannung
bei Verwandten in der Mongolei lebende Prinz Tuan thatſächlich feinen Einfluß
mehr am Hofe befigt.
Veberhaupt icheint ji in der Politik der Kaiſerin-Witwe infolge des gänz-
lichen Scheiterns aller fremdenfeindlichen Anſchläge allmählih ein volltommener
Umſchwung vollzogen zu haben. Die in Tientfin ericheinende chineſiſche Zeitung
JII-jn-ſin-wön berief fi im Auguſt auf eine einem Freunde gegenüber ge-
machte Mitteilung des zum Arbeitsminilter ernannten Tſchang Po-bi,*) wonach
diefer bei feinem Abichied vom Doflager in Siſan-fu den Eindrud gewonnen
*) Dies tft derfelbe Beamte, der im Februar d. J. zum Spezial-Geſandten in England
ernannt werben follte, von der englifchen Regierung jedoch laut Telegramm der „Times vom
11. Februar als eine ihr gänzlich unbefannte Berjönlichkeit abgelehnt wurde Tſchang Po-bi
wird fchon, wie ich feiner Zeit den „Münchener Neueiten Nachrichten” mitteilte, im chineftichen
Staatähandbud vom März 1900 als Ardiv-Direftor im Groß-Sekretariat (neistoshio=-fhi)
angeführt und batte als folder den Rang eines Unteritaatsfefretärs im Minifterium der
Geremonien. Zein ummittelbarer Mollene, deſſen ame im Ztaatähandbuch neben dem feinigen
‚rriedrich Hirth, China im Deichen des Fortſchrittes. 517
habe, daß Kaiſer und Kaiferin-Witwe feit einiger Zeit in friedlicher Eintracht
leben, wie man es früher nicht gefannt habe, und daß man dort allgemein an-
nehme, dies hänge mit der gefamten Lage der Dinge zufammen; die Ungnade,
in der ſich Prinz Tuan befinde, äußere fi in unüberwindlichem Haß gegen den
Thronfolger, der fich öfter Vergehen gegen die Hofetifette zu jchulden kommen
laſſe und von der Saiferin ftreng gemaßregelt werde, jo oft der Sailer fich über
ihn beſchwere. Der Kaiſer fei gegenüber feiner früheren ſchweigſamen Art feit
einiger Zeit geradezu gejprädig geworden. **)
Su wenig Glauben derartige Berichte in vielen Fällen verdienen, jo darf
man doc diejen Mitteilungen deshalb ein gewiſſes Bertrauen jchenfen, weil ſich
jeitdem die Folgen der veränderten Geſinnung der Saiferin bereit8 gezeigt
haben: der Thronfolger ift abgejett und zu feinem Water in die Berbannung
geichidt worden, und die neueften Edikte, von denen fchwerlih ein vernünftiger
Menjc behaupten wird, daß fie nur auf die Täufchung der Fremden berednet
find, beweilen, daß das chineſiſche Staatsjchiff nunmehr nad) dem vom Kaiſer
beliebten Kurſe gefteuert wird.
Sähen wir auch lieber den Sailer ſelbſt als Steuermann, jo ift es doch
immerhin ein großer Erfolg des Eingreifend der fremden Mächte, daß die un—
förmige Barfe nun endlich im richtigen Fahrwaſſer fegelt, ein Erfolg, deſſen
Tragweite erit durch die Zukunft in das rechte Licht getellt werden wird. Denn
niemand kann daran zweifeln, daß die Reformfrage für Ehina auf den Schladt-
feldern in Tichi-li entfchieden worden ift. Von der Löfung der Neformfrage im
Sinne der europäiſchen Kultur hängen alle übrigen Defiderata ab, die den in
manden Kreiſen ganz mit Unrecht als abenteuerlid; verichrieenen Feldzug rvecht-
fertigen, namentlich die Bürgichaft für die Sicherheit der fremden Gefandten, die
für die Entfaltung des Handels erforderlichen geordneten Zuftände im Lande, der
Schuß der Miffionen, die programmmähige Amortijation der Entſchädigungsſchuld.
Diefe und viele andere Fragen gehen gewiffermaßen in der Reformfrage auf,
deren Yölung zweifellos das vornehmfte und alle anderen Fragen in den inter:
grund ftellende Ergebnis der jüngften Anftrengungen der verbündeten Mächte
bildet. Daß an einzelnen Schuldigen ein Erempel ftatuiert worden ift, war ficher
nicht überflüffig; ob jedoch unter den ehemaligen Fremdenfeinden wirflid er:
ihöpfend aufgeräumt wird, ob jeder der vor Jahr und Tag infolge confucianifcher
itand, war der zum Spezial-Gefandten in Japan ernannte und dort anftandslos empfangene
Na Yung. Da feine notorifche Reformfreundlichkeit nicht erit mit dem neuen Kurs entitanden
ift, verdient er alles Vertrauen. Er batte vor dem Staatsftreich den nunmehr,verfemten Hang
Yusmwer zu einem Gefandtfchaftspoften empfohlen und wurde dafür durch Edikt vom 8. Oftober
1898 dem Minifterium des Berfönlichen zur Beitrafung übergeben. Bor feiner am 3. Juli 1901
erfolgten Ernennung zum Arbeitäömimiter war er Präſident des Genforenamtes.
*) Nach dem in Shanghat erfcheinenden Tihungswaisjispau vom 31. Juli 1901.
518 Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortfchrittes.
Befangenheit an dein verbrecheriichen Treiben Beteiligten jett noch dafür zur
Rechenſchaft gezugen wird, Scheint mir weit weniger wichtig zu fein, ald das end—
gültige Eindringen von Anschauungen in die Mafje des Volkes, die geeignet find,
die ehemaligen Borerfreunde zur Bernunft zu bringen. Es hat zu allen Zeiten
Nenegaten gegeben, und wenn ehemalige Gegner der Reformidee jet, vb aus
innerer Ueberzeugung oder aus Klugheit, bereit find, Arbeitskraft und perfünlichen
Einfluß der herrichenden Strömung unterzuordnen, jo iſt die Amneſtie, die wir
als ferne, jedoch durch Tebhaftes Intereſſe beteiligte Zujchauer ihnen im Geijte
gewähren, wohl am Plate. Es wird, wie mir jcheint, mit dem in vielen Fällen
nicht einmal begründeten Wort „Borerfreund” in der anglo—chineſiſchen Preſſe
bei Gelegenheit von Ernennungen zu hohen Memtern gern Mißbraud) getrieben.
Bedenken wir, daß Ueberläufer doc; recht oft zur Stüße einer früher geimiedenen
Bartei geworden find. Wenn es in der nächſten Zeit recht viele folcher Leber:
läufer geben wird, jo liegt dies zum großen Teil an dem von der Kaiferin: Witwe
gegebenen Beilpiel.
Ein Blick auf die in den legten Monaten erlajienen Eaiferlichen Edikte genügt,
um felbjt dem Mißtrauifchiten zu beweilen, daß an dem Exnfte, mit dem von
oben herab der große Kulturichub gefördert wird, nicht zu zweifeln ift. Den
Anfang einer bereits anfehnlichen, wenn aud noch lange nicht beendeten Reihe
von faiferlichen Willensäußerungen zu Gunſten der großen Umwälzung bildete
die im April d. Is. von Si-an-fu aus befohlene Gründung eines bejonderen
Amtes, einer Art „Gejetsgebenden Körpers", dein jämtliche von den Staats:
männern des Neiches gemachten Vorſchläge zur Begutachtung vorgelegt werden
follten.*)
Die neue Körperſchaft ift aus Slonfervativen und Reformfreunden zufammen-
gejeßt. Dies ift für chinefiiche Berhältnifje, wie jie nun einmal find, eine Not-
wendigfeit. Wie die Kaiſerin-Witwe genießen auch gewifje hohe Beamte Eonjer:
vativer Richtung im Reiche großes Anſehen; und da die Eonfervativen Elemente
für die von ihnen verabjcheuten Umwälzungen viel leichter günftig gejtimmt
werden, wenn ſie von Gefinnungsgenofjen geprüft worden jind, als wenn jie
ausjchlieglich von ihren Gegnern vorgeichlagen und gutgeheißen werden, jo kann
ein aus Vertretern verjchiedener Richtungen beitehendes Kollegium der Sache nur
fürderlich fein. Die chinefiiche Reformpreſſe war freilich mit der Zuſammenſetzung
des SKollegiums wegen einzelner Namen wie Yung Lu umd Lu Tſch'uan-lin nicht
ſonderlich zufrieden; es ſoll auch hier nicht in Abrede geftellt werden, daß das
ihnen entgegengebracdhte Mißtrauen durch ihr früheres Auftreten nicht ungeredt-
*) Der Verfaffer verweiſt bier auf die von „Nauticus“ im „Jahrbuch für Deutfchlands
Seeintereſſen für 1901” in dem Artikel „Die chinefiiche Frage” ausgeiprochenen, fich mit den
feinigen deckenden Anfichten. Der „Geſetzgebende Körper” und feine Zufammenfetung findet fich
dort auf ©. 141 ff. bejprochen.
Friedrich Hirtb, China im Zeichen des Fortſchrittes. 519
fertigt ift. Dennoch darf jet darauf Hingewiefen werden, daß jene vor ſechs
Monaten von „Nauticus" ausgeiprodene Anficht*) ſich infofern bewährt bat,
als verjchiedene höchſt wichtige, im Sinne des Kaiſers vorgejchlagene Ummälzungen
zum Geſetz geworden find, ohne daß die Gegenwart Eonjervativer Mitglieder im
gefeßgebenden Körper daran etwas geändert hätte. Der fich aus Klugheit, der
fo gänzlich veränderten politifchen Lage Rechnung tragend, den Beftrebungen des
Kaiſers anbequemende Wille der Mitregentin fcheint hier allein maßgebend zu jein.
Nächſt der Konftituirung eines „Bejeßgebenden Körpers" mit der befonderen
Befugnis die neu zu Ichaffenden Staatseinrichtungen in Vorſchlag zu bringen,
ift für den Verkehr mit den fremden Regierungen von befonderer Wichtigkeit die
Abſchaffung des Tſung-li Yamen, an deſſen Stelle laut Edikt vom 24. Juli ein
beſonderes Minifterium unter dem Namen Wai-wu-pu, d. h. Minifterium der
äußeren Angelegenheiten, getreten it. Das alte Tjung-li Yamen hatte befannt-
lich nidyt den Rang eines Minifteriums. Da die bis dahin vorhandenen „ſechs
Minifterien" (Liu-pu) eine uralte Ginrichtung bildeten und die ihnen ent-
Iprechende Sechs-Teilung der Staatsgefchäfte (Perfönliches, Finanzen, Ceremonien,
Militär, Juſtiz und öffentliche Arbeiten) auc die Grundlage aller Verwaltungs
ämter in den Provinzen bildete, jo läßt es ſich erflären, weshalb man troß der
zunehmenden fremden Beziehungen bisher jo wenig geneigt war, den durch alte
Ueberlieferung Janktionierten jechs Kategorien, in welche die Staatsgeichäfte jeder
Art gezwängt zu werden pflegten, noch eine jiebente hinzuzufügen. Das im
Jahre 1885 eingerichtete Hai-pu oder Marineamt, dem feiner Zeit Prinz Tſchun,
der Vater des Kaiſers, vorjtand, kann bei jeiner ephemeren Bedeutung kaum als
Minifterium im Sinne der dinefiichen Ueberlieferung angejehen werden. China
wird fich num aber dody daran gewöhnen müfjen, fich in unzähligen Fragen des
öffentlichen Lebens von der bisher heilig gehaltenen Tradition zu trennen. Im
übrigen würde eine bloße Veränderung des Namens nicht viel bedeuten, wenn
nicht im Edikte des Kaiſers der Grundfaß ausgeſprochen wäre, daß im Gegen-
lag zum alten Tſung-li Yamen, einer Kommiſſion von Mitgliedern anderer
Minifterien, die ſich mit feinen Gefchäften nur int Nebenamt befaßten, das
Wai-wu-pu aus Miniftern ad hoc zu beftehen babe. Wird Schon dadurd)
dem Amte ein erniterer, die prompte Erledigung feiner Obliegenheiten mehr als
bisher fürdernder Charakter gegeben, fo ift vor allen Dingen die moraliiche
Wirkung nicht zu unterfchägen, die in der ferneren Beftimmung liegt, daß das
*) In dem angeführten Werfe ©. 147: „Sollen die fonfervativen Elemente in der
Beamtenwelt wie im Volke einigermaßen verföhnt, follen fie für die Reformidee allmählich ge—
wonnen werben, jo ift es nicht nur Fein Nachteil, fondern fogar in hohem Grade mwünjchens-
wert, daß im geietgebenden Körper auch konſervative Elemente vertreten find. Ein lediglich
aus umſtürzleriſchen Reformleuten bejtehendes Kollegium Hätte von vornherein bei Eunjervativen
ſowohl mie bei ben gemäßigt fortfchrittlichen Parteien Mißtrauen erregt.“
520 Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortichrittes.
Wai-wu-pu allen übrigen Minifterien an Rang voranftehen ſoll. Nad
dem chineſiſchen Staatshandbud; folgten ſich die „ſechs Minifterien“ bisher in der
oben mitgeteilten Reihenfolge, d. 5. an der Spite ftand das aus begreiflichen
Gründen in den Mugen der Mandarinen wie des Volkes höchſt angefehene
Minifteriun des Perjönlichen (lispu), dem die Ernennung der Beamten des
Meiches obliegt. Das mit den gleichen Funktionen betraute Amt behauptete
ſchon zur Zeit der Dynaftie Tſchoöu (1122 bis 255 vor Chr.) den höchften Rang
unter den „ſechs Minifterien“, deren Reihenfolge die nämlihe war mie die
heutige. Nacd dem Tſchéöu-li, einem Werke, das (ob mit Recht, thut Hier
nicht8 zur Sache) von den meiften Gebildeten in China feiner Entitehung nad)
in das 12. Jahrhundert vor Chr. verlegt wird, ftand als Chef des damaligen
Minifteriums des Berfönlihen der T’ien-fuan, d. b. „ber Mandarin des
Dimmel3 oder des Kaiſers“, über allen anderen Beamten des Reiches, und daß
der erſte Minifter des Perfönlichen nod) heute jo heißt, zeugt von dem
hohen Einfluß, der diefem Amte zuerfannt wird. Wenn aud die Emennungen
zu den höheren Beamtenitellen vom Kaiſer oder von der Saijerin-Witwe aus-
gehen, fo liegt e8 doch auf der Hand, daß ein Beamter wie der moderne
„Mandarin des Himmels“, wenn aud nur auf Grund feines Rechtes, über die
Beamten des Reiches Beriht zu erftatten, auf die Zufammenfetung des
Mandarinen-Perfonals den größten Einfluß ausüben kann. Die in vielen Fällen
auf feinen Vorſchlag erfolgende Berjegung fremdenfeindlicher Gebietsverwalter
in Gegenden, deren Bevölferung zu Gewaltthätigfeiten gegen fremde Mifftonare,
Ingenieure oder Kaufleute geneigt ift, kann beifpieläweife ungemein viel Schaden
anrichten; umgefehrt kann der Minifter des Berfönlichen fehr viel zur Aufredht-
erhaltung guter Beziehungen mit den Fremden beitragen. Es iſt daher für
Europa durchaus nicht gleichgültig, wer hier am Ruder figt. Daß im Früh—
jahr 1900 ein Mann wie der berüchtigte Starrfopf Sü Tung, neben ſich die
nicht minder fanatifhen Minifter zweiter Klaſſe Hi King und Sü Fu, an der
Spite gerade dieſes Minifteriums ftehen mußte, hat der fremdenfeindlichen
Strömung im Reiche großen Vorſchub geleiftet. Sie haben es alle drei, jeder
auf feine Art, mit dem Leben büßen müſſen.
Es bedeutet alfo einen nicht zu unterfhäßenden Yortichritt im Sinne
Europas, wenn den fremden Beziehungen im Gegenſatz zu der früheren Gering-
ihäßung nunmehr die erfte Stelle im Staatdleben zugewielen wird. Es iſt
vielleicht als ein Zeichen der Zeit anzujehen, wenn der Staatsanzeiger furz nad)
der Gründung des neuen „höchſten“ Minifteriums eine Reihe für die Reform-
intereffen durchaus günftiger Ernennungen bringt: Tſchang Bo-hi, ein mwohlbe-
fannter Anhänger der Reformpartei,*) wird zum Arbeitäminifter, der bisherige
2) Sr wurde nad; bem Staatsitreich durch Ebift vom 8. Dftober 1898 dem Miniftertum
des Verfönlichen zur Bejtrafung übergeben, weil er e8 gewagt hatte, ben Reform-Pbilofophen
Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortichrittes. 521
Gejandte in Berlin Lü Hai-huan zum Bräfidenten des Zenjorenamtes, ber
militäriſch ehrgeizige ehemalige Generaliffimus Yung Lu, zulett Kriegsminiſter,
wird zum Chef des Finanz-Minifteriums, der bisher mehr in Zivilämtern er-
fahrene K'un Kang ftatt feiner zum Sriegäminifter ernannt, die Minifter des
alten Tſung⸗li Yamen Tihung Li, Kui Tſch'un, Na T’ung und P'u-hing werden
von der Mitwirktung im neuen Auswärtigen Amt ausgeichlojfen. Ueberhaupt
darf man neuerdings ſchon aus der Bejegung Hoher Beamtenjtellen mit notoriſch
reformfreundlihen Männern jchließen, daß in China ein anderer Wind weht.
Der Bufenfreund des berüchtigten Kang J, ein gewilfer Ho Naisying, wurde im
Auguft als Vize-Präfident des Zenforenamtes abgeſetzt. Man wird mehr und
mehr zu der Erkenntnis fommen, daß ſolche Leute in hohen Stellungen fidy mit
der herrichenden Richtung nicht mehr vertragen. Europa ſoll nur Geduld haben,
wenn ſich die erwünfchten Veränderungen in der Stellenbefetgung nicht fo plöß:
lich vollziehen, al3 ob es ſich um einen Präfidentenwechfel in den Bereinigten
Staaten handelte; auch müfjen wir bedenken, daß unter den ehemaligen Reform:
feinden ſich viele Renegaten befinden, die fich bei dem großen Geilziehen der
Parteien neuerdings bereitwilligft auf die Seite ftellen, die am kräftigiten zu
ziehen im ftande ift; dies ift augenblidlich, wie hoffentlich für alle Zukunft, die
Partei des verftändigen, gemäßigten Fortichrittes, die fich hüten wird, zum
zweiten Male den Zorn der als ftarf und einig erfannten fremden Welt auf
da8 fchwergeprüfte China heraufzubefhmwören. Es ift daher recht oft übel
angebracht, wenn europäilche Zeitungen nad dem Vorgang der dinefifchen
Reform-Preffe wegen der Ernennung eines ehemaligen Fremdenfeindes zu einem
hohen Amte Lärm ſchlagen. Es wird noch mandes Sündenregifter verbrannt
werden müfjen, wenn die Reformbewegung nicht vieler wertvoller Stüßen be—
raubt werden ſoll. Unter diefen werden die von der Macht der Ereignijje zu
anderen Anfichten befehrten Renegaten nicht zu entbehren fein.
Der Umfhwung in ber Politit des Hofes von Si⸗an⸗-fu, der in jenem
erften wichtigen Schritt, der Organijation des neuen Waistwuspu, zum Ausdrud
fommt, fällt in die Zeit, in welcher die von den Mächten genehmigten Friedens—
bedingungen zur Enticheidung vorlagen. Am 25. Mai 1901 wurde dem Staats:
rat der vom Prinzen King und Li Hung-tſchang befürwortete Plan der Um—
wandlung des Tſung-li Namen in ein neues Minifterium mit dem Befehle
vorgelegt, daß der für die Begutachtung aller Reformvorſchläge im April er-
nannte „Geſetzgebende Körper" (tihöng-wurtich’u) gemeinſchaftlich mit dem
Fang Yusmwei zu einem Gejandtichaftspoften zu empfehlen. Trotz feiner hoben Stellung als
Arhiv-Direltor im Groß⸗Sekretariat mit dem Range eıned Unterſtaats-Sekretärs und jeiner
durchaus günftigen Antezedentien, wurde er tm Februar 1901 von der englifchen Negierung als
Spezialgefandter abgelehnt, da er gänzlich unbelannt jei. Seitdem ift er wieder in hoher Gunſt
beim Kaifer und ber Satjerin- Witwe.
522 Friedrich Dirtb, China im Zeichen de& Fortſchrittes.
Miniſterium des Perjönlichen ein Regulativ für das neue Minifterium auszu—
arbeiten und zur Beftätigung vorzulegen habe. Der Wortlaut dieſes Regulativs
it durch die chineſiſchen Zeitungen im September v. J. befannt geworden.
Danad) beiteht das neue Amt aus vier Abtheilungen, nämlid)
1. der politifhen Abtheilung (ho-hui-ſſiy) für alles, was mit den
fremden Gejandten zuſammenhängt; dazu gehören die Audienzen beim Sailer,
Borihläge für Ordensauszeichnungen, die Berfonalverbältnifie des diplomatischen
Dienftes (Gefandtichaften und Stonfulate im Auslande), Zivil- und Militärichulen,
jowie Beförderungen, Verſetzungen und Belohnungen innerhalb des Minifteriums;
2. der Abteilung für öffentlidhe Arbeiten k'au-kung-ſſ, insbe
jondere für Eifenbahnen, Bergwerfe, Telegraphenanlagen, Arjenale, Engagement
von fremden Generälen und Offizieren, die Kuli-Auswanderung und Entfendung
Studierender ind Ausland;
3. der Finanz: Abteilung (küesfuan:fir) für das Seezollweſen,
Handel und Schiffahrt, Staatsanleihen, Münzweſen, Boftverwaltung, die
Minifterial: und Geſandtſchaftskaſſe, und
4. der Mbteilung für diverfe Angelegenheiten (ſchu-wu—ſſH,
inöbefondere Grenzregulierung, Küftenvertheidigung, Miſſionsweſen, Reijepäjle,
Fremdenſchutz, Entfhädigungen, Verbote und Warnungen, Anflagen.
Nicht aufgeführte Fälle follen der Abteilung zufallen, in die fie gehören.
Die perfönlichen Verhältniffe find denen der Minifterien des Auswärtigen in
europäiſchen Staaten nachgebildet, ein regelrechter diplomatifcher Dienft ift ein-
gerichtet mit feften Normen für Rang, Gehalt und Beförderung der Beamten.
Was jedoch befondere Beachtung verdient, ift die vollftändige Unabhängigkeit
dieſes Dienftes von den übrigen Minifterien, insbejondere dem des Perfönlichen:
das neue Auswärtige Amt veguliert jein Perſonal unabhängig vom letteren,
bat jein eigenes Budget, obgleich wegen der Verwendung der mit den fremden
Seezöllen erhobenen Tonnengebühren, von denen früher ein Teil dem Tſung-li
Yamen zufloß, neuerdings Schwierigkeiten zu bejtehen jcheinen, und iſt hödjite
Inſtanz für eine Neihe wichtiger Bermwaltungszweige. Es unterliegt wohl
feinem Zweifel, daß ſchon damit ein Teil des Erfolges aller Reformanftrengungen
gefichert it. Das ganze Programm, ein Vermächtnis Li Hungstichangs, ift
durchaus nüchtern, und da es ſich in allen Hauptpunften an bereit3 Borhandenes,
aus der Praxis des Staatslebens Herausgewachlenes anlehnt, vorausfichtlid,
feinen Schwierigkeiten in der Ausführung ausgefegt, folange die Leiter von dem
Geifte ihres Kaiſerlichen Herrn durchdrungen find.
Auch mit der Auswahl der leitenden Miniſter darf Europa zufrieden fein.
Zum Präfidenten wurde Prinz Ming* ernannt, zum Bize-Präfidenten der
*) Ming beißt er in newöhnlichem Cbinefifch, da das bdiefem Namen zu Grunde liegende
Schriftzeichen dem Ping in den Städtenamen Tſchung-k'ing und Ngans-Fing unferer Yandfarten
Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortſchrittes. 523
Groß-Sefretär Wang Wönsfhau, zu Mitgliedern der bisherige Arbeit3-Minifter
K'ü Dung-fi, vor dem Staatsſtreich ein eifriger Förderer der Reformbewegung,
ferner der ehemalige Gejandte in Korea Sü Schöu-p'öng und der zu dieſem
hohen Amte befürderte Hofamts-Direktor Lien Fang. Laut neuerdings einge:
troffenen Meldungen ift Sü Schöu=p’öng veritorben und die dadurch eintretende
Vakanz durch den joeben frei werdenden bisherigen Gefandten in Berlin
Fü Daishuan befegt worden. Man darf bei einem derartig zufammengefetten
Stollegium immerhin tieferes Verſtändnis für europäifche, beſonders auch die
deutjche Politit vorausfegen als bei dem ehemaligen Tſung-li Namen, das zur
Zeit der Wirren von reformfeindlichen Bolititern wie dem Prinzen Tuan und
Tſchau Schu-k'iau terrorifiert wurde.
Infolge der Grrichtung diefes neuen Amtes wurden die überlebenden
Minifter des alten Tſung-li Damen, ſämtlich Mandſchuren und zum Zeil von
zweifelhafter Vergangenheit, ihrer Funktionen enthoben; ebenfo wurde eine
frühere Verordnung aufgehoben, wonad die Provinzial-Chef3 und ZTartaren-
generäle ex officio Mitglieder des genannten Inſtituts waren. Es wurde jedod)
diefen Beamten ausdrüdlich anbefohlen, den Beziehungen zu den Fremden be-
jondere Sorgfalt zuzumenden.
Das Giegel des Tiung:li Yamen, mwodurd jo mande Staatsfiinde
janftionirt tworden ift, wurde vor kurzen auf Antrag des Prinzen K'ing feierlich
eingejichmolzen, und ein neues Petſchaft aus Silber, nad) Form und Material
gleichwertig dem der übrigen ſechs Minifterien, mit der Legende „wai-wu-pu“
bat die Eaiferliche Bejtätigung erhalten.
Da die Umwandlung des Tfung-li Yamen in ein Minifterium erften
Ranges als eine der Friedensbedingungen erit auf fremde Anregung bin erfolgt
it, kann man darin an und für fi) faum ein Symptom freiwilligen Reform:
eifers erkennen. Es ift zwar anzunehmen, daß die chinefifchen Staatsmänner
das Nützliche diefer Neuorganilation volllommen einfehen; allein das Zuge:
ftändnis, daß der Gedanke dazu fein ganz fpontaner gewefen ift, wird in einer.
dem gejamten Volke vorzulegenden Kundgebung jv wenig Plaß finden, wie die
wahren Gründe für die Aufhebung der Staatsprüfungen an beſtimmten Pläßen,
entipricht. Tſching iſt die Aussprache derielben Silbe im Dialekt von Peking, der allerdings
als Gefchäftsiprache unter Beamten meit verbreitet fit, aber von der in Europa nun einmal
anerkannten traditionellen Art der Umfchreibung chinefifcher Namen in gewijien Punkten jo bes
trächtlich abweicht, daß er jidy nicht als Grundlage zur Wiedergabe folder Namen eignet.
Wollte man nach Analogie der Schreibart Tſching ftatt Ping, Tſchihſiu jtatt Ki Stu oder
Hfütichingticheng statt Hü Kiing⸗tſch'öng verfahren, jo müßte man Fonfeguenterweile auch
Futſchlen für Fuskien, Rantiching für Nanling, tihiang für Kiang (Fluß) fchreiben. So ſehr
ſich daher die Umfchreibung im Pelinger Dialekt für dienftliche Zwecke in China jelbit, z. B. im
chineſiſchen Zolldienft, im diplomatifchen Dienft der verfchiedenen Bertragsmächte oder Im
Schukgebiet von Kiautfchou, bewähren mag, fo ungeeignet iſt fie für die Bmede ber China—
Litteratur in Europa, namentlich auf Yandfarten und in wiſſenſchaftlichen Werten.
524 Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortichrittes.
die der Hof am liebften in ein allgemeines Prüfungsverbot verwandelt hätte,
um der Sade den bitteren Beigeſchmack des politifhen Zwanges zu nehmen.
Dazu ift es zwar nicht gefommen, doch dürften ähnliche Gedanken fih an die
Gründung der Wai-wu-pu knüpfen. Jetzt, wo die bisher geheiligte Sechszahl
der Minifterien doch einmal überfchritten ift, wird man nicht anftehen, um der
Minifteriengründung den Anschein des freimilligen Entichluffes zu geben, nod
mancherlei Beränderungen diefer Art vorzunehmen. Die chineſiſchen Zeitungen,
insbejondere das in Tientjin ericheinende Sejl-finewön, brachten bereit3 im
Dftober die Nachricht von einer geplanten Ausdehnung der jet beitchenden
fieben auf zehn Minifterien, darunter ein Minifterium des Innern (nel:
wu-pu) und im Anfchluß an die Akademie der Wiſſenſchaften ein bejonderes
Minifterium der Litteratur-Gelehrfamfeit (wön-hiau-pu). Die verichiedenen
jetzt nod außerhalb der Minifterien ftehenden fleineren Metropolitan:
änter würden in Geftalt von Abteilungen jener oberjten Behörden in denjelben
aufgehen. Als Eritifierendes Gegengewicht, gemwiljermaßen die Stelle eines
Barlamentes vertretend, ftand bisher der gejamten Regierung das Anftitut der
Zenforen gegenüber, dem neuerdings ebenfalls eine Nenorganifation zugedacht
fein foll. Da weitere Nachrichten abzuwarten find, gehe ich auf das Nähere
hier nicht ein. Jedenfalls darf man jchon jest darauf rechnen, daß die Gründung
eines Auswärtigen Amtes den Ausgangspunkt zu einer Reihe hochwichtiger
Reformen in der gefamten Staatsverwaltung in nächſter Zukunft bilden wird.
Bon diefen Hoffnungen abgejehen, hat die Reformberwegung zuerit deutlich
greifbare Geftalt angenommen in zwei Edikten vom 29, Auguft, von denen das
erſte eine völlige Umgeftaltung der für die Ausbildung der Zivilbeamten hoch—
wichtigen Eramina, das zweite eine nicht minder durchgreifende Aenderung in
den Militärprüfungen anordnet.
Die Umgeftaltung der Staat3-Eramina war fchon im Sommer 1898 einer
der hauptfächlichften Reformpunfte des Kaiſers geweſen. Am 11. uni jenes
denfwürdigen Jahres erichien unter feinem Namen ein langes Edikt, worin er
in großen Umrifjen feine Gedanken über die Reform des chineſiſchen Er-
ziehungs:-Syftem3 im allgemeinen niederlegt. Man darf jagen, daß Die
Weltgefchichte kaum einen Fall kennt, in dem der Wille eines fo patriotifchen und
weit in die Zukunft blidenden Monarchen einem für feine Gedanken fo wenig
empfänglichen Volke gegenüber ftand. Welcher Mut mußte dazu gehören für
ihn, der feine Leute wohl kannte, mit joldhen Plänen vor das dinefiiche, das
£onjervativfte, Eulturftolzefte aller Völker zu treten! Und wie jehr fteht diejer
Mut im Widerfprucd zu jener Unterwürfigkeit, zu der ihm übertriebene kindliche
Liebe drängte, die Frucht derjelben althergebracdhten Erziehungsmethode im
Familienleben, die er, der Vater des Volkes, im Staatsleben bekämpfen wollte!
Ein pfychologifches Nätfel, wie es der Welt nur jelten aufgegeben worden ift.
Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortſchrittes. 525
Der Kaifer argumentierte in jenem Edikte etwa folgendermaßen: „Männer,
die in der Sorge um das PVaterland alt geworden find, halten dafür, daß das
alte Syitem als Mufter aufrecht zu erhalten, der Neformgedanfe zu verwerfen
jei, worauf hin eitle Schwäßer gern viel Worte maden, ohne daß man Thaten
ſieht. Da fühlt ınan fich verſucht zu fragen: wenn wir bei der heutigen Welt:
lage und bei der Berfafjung, in der unfer Baterland fich befindet, fortfahren,
unfere Truppen nicht zu drillen, um Unkoften zu jparen, wenn wir unjere Be—
amten ohne folides Willen, unjere Arbeiter ohne Lehrer laffen, während dod)
unjere Stärfe zu unferem Reichtum in jo ungleihem Verhältnis fteht, werden
wir dann wirklich im ftande fein, mit Knüppeln gegen harte Panzer und fcharfe
Waffen vorzugehen?*) Wenn id al3 Kaiſer das Neich nicht in Ordnung Halte
und infolgedejien meine Befehle nicht zur Ausführung gelangen, fo
müjfen jchreiende Webelftände diefer Art zu einem Streit der verjchiedenen
Meinungen führen, die fi) miteinander vertragen wie Waller und Feuer.
Da die Gepflogenbeiten der Dynaftieen Sung (%60—1278 n. Chr.) und
Ding (1368—1644 n. Chr.) gegenüber den NRegierungsgrundfäßen unferer Zeit
auch nicht den geringften Fortſchritt bezeichnen, fo befinden wir uns, da doch die
Staatsphilofophie Chinas nicht von den Kaifern der Urzeit übernommen fein
kann, gewiljermaßen in der Lage eines Menfchen, der, angejicht3 der Thatjache,
daß man im Winter Pelzwerf, im Sommer leichte Stoffe benötigt, nicht mit
beiden verfehen it. Wir geben e3 daher allgemein Eund und zu wijlen, daß in
Zufunft die Staatsbeanten aller Rangklaſſen vom Prinzen und Herzog bis
herab zum Eleinen Mann mit Anfpannung aller Kräfte und mit hochitrebendem
Eifer ihr Möglichites thun follen, um zur Erwerbung vollkommener Staats:
weisheit einen feiten Grund zu legen; fie follen ſich umfafjende Kenntniſſe in
allen Zeitfragen aus dem Wifjensichage des Weftens aneignen, und zwar durch
fleigiges Studium, um ſich gegen die Gefahren hohler Falſchwiſſerei zu ſchützen;
fie follen mit ganzem Herzen und mit feften Willen bei der Sade fein, dann
wird der Geift immer wieder nad; mehr Geiſt verlangen, man wird nicht äußeren
Dingen nachgehen, noch den Schall der Worte nacplappern. Um es Eurz zu
lagen, jie follen Nutlofes in Braucdhbares umwandeln, um fich zu Beamten aus:
*, Der Kaiſer entlehnt bier ein Bild vom Philofophen Mencius, der einem im Kampfe
genen feine Feinde unglüdlichen König folgenden Rat erteilte: „Wenn Euere Majejtät dem
Rolle ein wohlwollendes Regiment bejcheren, mit Geld» und Yeibesjtrafen fparfam umgeben,
mäßig Steuern erheben, wenn der Bürger nad) gründlichem Pflügen und Jäten in freien
Stunden die Tugend der kindlichen Liebe, die dem jüngeren Bruder zukommende Ehrfurdt und
Treu und Blauben übt, indem er im Daufe dem Pater und älteren Bruder, außer dem Haufe
den Volksführern und Vorgeſetzten dient, dann werden wir gegen die harten Banzer und
die jharfen Waffen unjerer Feinde mit Knüppeln angeben fünnen” Die Edikte
des Kaiſers find voll von Anfpielungen auf die Pitteratur und Gefchichte des chinefifchen Alter:
tums, ein ftiliftifches Reizmittel, deſſen gefchidte Verwendung zur Eroberung ber in philologifchen
Lieb habereien aufgehenden Litteratenherzen von befonderer Wichtigkeit fit.
526 Friedrich Hirth, China im Reichen des Fortfchrittes.
zubilden, die wohl ihren Confucius auswendig können, dabei aber auch am
Reformwerk mitzuarbeiten befähigt jind.”* Mit dem Tage, an dem dieſes
Edikt erichien, dem 11. Juni 1898, ſtürzte eine viertaufendjährige Kultur, brach
für China eine neue Nera an, fo fagt der Reformtheoretifer Liang K'i⸗tſch'au.
In der That wird China nod) in fernen Kahrhunderten Grund haben, diejen
Aubiläumstag in Ehren zu halten. Wenige Tage fpäter, am 23. Juni, begann
die eigentliche Neformarbeit. Der Eaiferliche Pionier legt die Art glei) an die
Wurzel des morſchen Baumes, den er fällen will, indem er allen anderen Re-
formen die Ummwandlung der Staatderamina vorausfchidt, die den Beamten des
Neiches bis dahin eine beitimmte Erziehung vorgejchrieben und damit den mit
dem Geifte der Neuzeit unverträglichen altchineſiſchen Stempel aufgedrüdt hatten.
„Zur Zeit der Dynaftieen Sung und Ming”, jagt der Kaiſer, „wurde bie
Auswahl der Beamten auf Grund eines Nuflates über ein Thema aus den
Schriften des Confucius vorgenommen. Unter dem Kaiſer K'ang-hi (1662 bis
1723) wurden die Prüfungen in diefem Aufiag (den fogenannten pa-ku, d. h. den
‚acht Beinen‘ oder ‚Artikeln‘, aus denen jeder Aufſatz beftehen mußte, der auch
unter dem Namen Wön-tſchang befannt war) abgeschafft, und durch Ichriftliche
Fragen und Antworten erjeßt. Dies dauerte jedoch nicht lange, denn es wurde
bald darauf zu dem alten Syitem zurüdgefehrt." Der Kaifer ſchildert num, wie
gerade in jener Zeit unter feinem Vorfahren K'ang-hi die beiten Beamten aus-
gebildet und wie infolge der Rüdkehr zu dem alten Schlendrian die Beamten—
wirtichaft das geworden fei, ald was wir fie heute kennen, ein Dindernis für jede
gefunde Entwidelung des Staatsweſens. Er befieblt deshalb, daß der Wön-
tichang abzufchaffen und, wie unter K'ang-hi, durch die Beantwortung gewiſſer
ragen zu erſetzen ift. Zwar jollen die alten chineſiſchen Klaſſiker als Grunb-
lage der Pitteratur nicht vernadhläffigt werden, aber die Themata follen den
Graminanden Gelegenheit zur Entfaltung zeitgemäßen Wiffens geben.
Einen Monat fpäter, am 19. Juli, erichien ichlieglih ein Edikt, worin die
Regelung der Staatderamina endgiltig bejchloffen wird, und zwar nad) einen
vom PVizefönig Tihang Tichi-tung gemeinfam mit dem Gouverneur von Human
Tſch'ön Pau-tichön**) dem Sailer vorgelegten Plane, bejtehend in einem ge-
*) Nach dem Wu-ſü⸗-tſchöng-piéèn-ki, d. h. „Sefchichte der Neformfrage im jahre 1898,
des Reformtbeoretiters Liang Firtich'au, wo die Originalterte der auf die Reform bezüglichen
Edikte abgedrudt find.
++), (Fine der treuejten Stüßen deö Kaiſers in feinen Neformbejtrebungen, der ihn in einem
feiner Reformedifte, worin die verrottete Beamtenwirtichaft als die Wurzel alles Uebels in China
nebrandmarkt wird, aller Mandarinen als Muster binftellt. Nach dem Staatöftreich, als ber
Reformtheoretiter Hang Yuswer ald der Schuldigfte aller Schuldigen in der Berführung des
Kaiſers dazu verurteilt wurde, lebendig in Stüde geichnitten zu werden, welchem Scidfal er
ſich mit feinem Freunde Liang K'i-tſch'au durch die Flucht entzjog, wurde Tſch'ön Pau—tſchön
dafiir berantivortlich gemacht, daß er dem Staifer die ibm mit ihren Irrlehren umftridenden
Friedrich Hirth, China im Zeichen bes Fortſchrittes. 597
miſchten Syſtem, wobei neben den alten chinejijhen Fächern namentlid) aud)
Kenntnifje in der Gefchichte, Geographie und Verwaltung fremder Ränder ver:
langt werden. Die nad unferen Begriffen rein mechaniſche Kunſt des Schön-
ichreibens, die jeit 1500 Jahren unter den dinefiichen Geiſteswiſſenſchaften eine
geradezu herrichende, mancherlei wichtigere Dinge in den Hintergrund fchiebende
Stellung eingenommen hatte, wird ihrem wahren Werte nach gewürdigt, d. h. nicht
mehr zu den obligatorischen Erfordernijjen gezählt.
Die Reform der Staatsprüfungen jollte zunähft nur ein kurzer jchöner
Traum bleiben. Nac dem Staatsſtreich wurde jelbjtredend das Gegenteil der
meiften Beränderungen des Kaiferd in Szene gejett. Das Edikt betreffend
die Abjchaffung des Wön-tſchang mit dem damit verbundenen Befehl, der
Regierung in den Zeitfragen erfahrene Kandidaten zu empfehlen, wurde am
9. Oktober 1898 förmlich widerrufen.
Dabei wäre es geblieben, zweifellos auf lange Zeit hinaus, Hätte nicht die
Leidenfchaft der Parteien nad einer Entjcheidung in dem jeit Jahren ent-
brannten Kampfe gedrängt. Die Neformfrage war infolge einer gänzlich unbe-
gründeten Panik, die einen Teil des chineſiſchen Volkes glauben ließ, Europa
gehe darauf aus, China allmählich zu zeritüdeln,*) in den Vordergrund getreten
und in hohem Grade aktuell geworden. Dies hatte die Energie ihrer Gegner
zu verdoppelten Anftrengungen gereizt. Die beiden Ertreme, die Partei K'ang
Yu-mweis und feiner Freunde, die das Ohr des Kaiſers für ſich gewonnen hatten,
md die fogenannte Mandſchu-Partei unter der Führung des Prinzen Tuan,
Hang 33 und anderer Obftruftioniften, denen es gelungen war, die Saiferin-
Witwe auf ihre Seite zu bringen, ftanden ſich immer feindlicher gegenüber. War
Staatsphiloſophen zugeführt habe, und nebjt feinem Sohne auf ewige Zeiten aus dem Staats»
dienft entlaifen. Die Ungnade ber Kaiferin- Witwe ging fo meit, daß ſelbſt ihr eigener Neffe
Yung Pu, der jpätere Generalifiimus, dafür in Strafe genommen wurde, daß er feiner Zeit
Tih’ön Paustfchön, den Neformfreund, für den Gouverneurpojten in Hunan empfohlen hatte.
Eine ausführlihe Würdigung feiner Reformthätigkeit ijt in einem Nefrolog dev chinefiichen
Zeitung Tſchung-wai-jr-pau vom 8 bis 18. Oktober 1901 enthalten.
*) Lang Kicetſch'au betrachtet dieje Zerftüdelungsfurcht neradezu als cine der baupttäch-
lichiten Triebfedern zur Reformbewegung Nach dem großen Siege ber Japaner mußte es
fheinen, als ob dem ohmmächtigen Reiche ein Zugeftändnis nach dem anderen ohne großen
Widerjtand abgerungen werde, da fich die Abtretungen von Kiautſchou, Port Arthur, Tasliens
war, Weihaitvei, Kuangstichöuswan und Kaulung, verichiedene Eiſenbahn- und Bergwerks-Kon—
zefftonen, die den Engländern gegebene Zuficherung, daß das Wangtie-Thal an Feine andere
Nation „vergeben“ werden dürfe, ſowie ähnliche Verſprechungen bezüglich anderer ‘Provinzen,
die als „Einflußfphären” gewiſſermaßen zwangsweife vergeben wurden, in auffallend kurzen
Zwiſchenräumen folgten. Der bei den Patrioten aller Richtungen erwachende Wunfd, das
Reich in feiner Integrität zu erhalten, erzeugte bei den liberalen Parteien den Gedanken an die
Reform nach japanifchem Muſter als den einzigen Doffnungsanfer, bei den ultrasfonfervativen
den wahniinnigen Blan der Fremdenaustreibung.
528 Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortſchrittes.
auch der Endzweck beider Ertreme der gleiche, nämlich die Emanzipation Chinas
von den angeblichen Zerftüdelungsgelüften der Fremden, fo verhielten ſich doch
die Mittel, mit denen fie diefen Zweck zu erreichen fuchten, um das vom Kaijer
gebrauchte Bild anzumenden, zu einander wie Feuer und Waſſer. Die Reform-
bewegung war ihrer Natur nad) auf die Fremden, ihre Lehrer, angewielen; ehe
man dieſe mit ihren eigenen Mitteln bekämpfen Eonnte, mußte man ihnen die
Geheimnifje ihrer Ueberlegenheit in Güte abzugewinnen fuchen. Die Gegen:
partei des Prinzen Tuan wollte e8 mit der Gewalt probieren. So prafjelten
Waſſer und Feuer nad) dem Staatsſtreich auf einander los. Tuan rief die
Borer, den Reformleuten kamen die Fremden zu Hilfe. Der Ausgang ift befannt.
Die Kämpfe der verbündeten Truppen in Tichl-li bedeuten den endgültigen
Sieg der Reformbewegung in China. Die Kaiferin-Witwe, immer nod die
mächtigſte Perfönlichkeit im Reiche, ift durch den Zwang der politiihen Lage zu
einem Kompromiß gedrängt worden. Wie fie früher, folange man noch nidt
recht wiſſen konnte, welche der beiden feindlichen Richtungen fchließlih das Feld
räumen müfje, hin und her ſchwankte, indem fie fi) den Bizefönigen und
Gouverneuren beider Richtungen ald Gönnerin erwies und gelegentlich auch ge-
willen Reformen gegenüber als Beſchützerin auftrat, jo ift fie jeit dem gänzlichen
Fiasko des Tuanjchen Anfchlages allmählich auf die Seite des Kaiſers getreten
und unterftügt nun nad Kräften alle jeine Lieblingsideen, jedoch, wie es ſcheint,
. unter der einen Bedingung, daß er ſich von dem ehemaligen Spiritus rector
der Reformvorfchläge, dem in Singapore in der Berbannung lebenden K’ang
Yuswer, vollftändig losfagt. Daß der Stein jet thatfählich ins Rollen gekommen
ift, dafür find die fchon jet vorliegenden, mit Unterftüßung der SKaijerin- Witwe
veröffentlichten Edifte der beite Beweis; an der Spite die am 29. Augujt 1901
aufs neue erfolgte Abſchaffung des Wön-tichang.
An die Reform der Staatöprüfungen für den Zivildienft Schloß fi un—
mittelbar die der militärifden Eramina an. Der Gedanke dazu lag ja
bereit nach den handgreiflichen Mißerfolgen im japaniichen Kriege nahe, und
jelbft Eonfervative Berater der Krone, wie der ehemalige Generaliffimus Yung Lu,
hatten lange vor dem großen Reformanlauf des Jahres 1898 darauf bezügliche
Borjchläge gemadt. Daß die Nefourmleute nicht zurüdjtanden, beweiſen die
bereits im Februar auf die Militärprüfungen gerichteten Vorſchläge Hu Yü-füng,
des um die Entwidelung des Eiſenbahnweſens hHochverdienten damaligen
Gouverneurs von Peking, und der von Tſchang Yinshuan, dem fpäter in der Ber-
bannung bingerichteten ehemaligen Gefandten, im September gemadte Vorſchlag,
die bis dahin geplante Ausbildung einzelner Truppenteile nach europäiichem
Mufter auf die gefamte Armee auszudehnen. Zweifellos hatte der Kaifer fchon
damals die Abjchaffung jener unnützen Akrobatenkünſte ind Auge gefaßt, mit
denen fich die zukünftigen Offiziere der Armee bis in die neuefte Zeit quälen
Friedrich Hirtb, China im Zeichen des Fortſchrittes. 599
mupßlen.*) Trotzdem war bei allem Neformeifer in jenem denfwürdigen Sommer
nod feine Enticheidung getroffen worden; der Kaiſer hatte, wie ein Edikt vom
12. September andeutet, die bis dahin eingelaufenen VBorjchläge für ungenügend
befunden. Wa3 er im Sinne hatte, war vielleiht auf die für Ende Oftober
befohlene große Truppen-Revue aufgefpart worden, bei welder Gelegenheit er
ſich perſönlich von der Gefchidlichkeit jeiner Dffiziere zu Pferde und zu Fuß, wie
auch im Schießen mit Pfeil und Bogen überzeugen wollte. Der 21. September
1898 machte befanntlich allen Reformplänen vorläufig ein Ende.
Anzwilchen haben die den Ehinefen aufs neue beigebradhten Beweiſe für
ihre militäriſche Ohnmacht ihre Wirkung ausgeübt. Es ift daher nicht zu ver-
wundern, daß man diesmal, anftatt fic mit der Anſchaffung Eoftipieliger Waffen
für einzelne Truppenteile zu begnügen, dem Uebel in feinen primären Urſachen
auf den Leib geht. Dies ift in erfter Linie die ganze frühefte Ausbildung des
hinefiihen Offizier und aller, die den Ehrgeiz haben, es werden zu wollen.
Gleich in der Einleitung dieſes erften neuerdings auf die militärische Erziehung
gerichteten EdiktS werden die Prüfungen im „Bogenipannen, Schwertichwingen,
Steinheben und Pfeilfchiegen zu Fuß wie zu Pferde" als „von der
Ming: Dynaftie überfommene alte Mißbräuche“ Hingeftellt, deren Uebung mit
den ntereffen der Armee nichts gemein habe, und deren Beibehaltung
heutigen Tags nicht den geringften Nuten mit fi bringe. Alle Militärprüfungen
diefer Art ſeien deshalb ein für allemal abzuftellen; die nach dem alten Syitem
geprüften Kandidaten der verjchiedenen Grade jeien in ihre Regimenter einzu-
jtellen, um fic) an den Beruf des Soldaten zu gewöhnen, desgleichen joll es
tüchtigen jungen Leuten, die bereitS ftudiert haben, erlaubt fein, bis zur Ber-
einbarung von Regulativen für die Afpiranten-Prüfungen der demnächſt in allen
Provinzen einzurichtenden Milttärjchulen einftweilen in das Heer einzutreten.
Diefe beiden an einem Tage ausgegebenen Edikte bedeuten für China und
feine ganze Kultur eine Ummälzung, wie man fie fid) in Europa nur ſchwer vor-
ftellen fan. Hätten wir vor dreißig Jahren dem erjten beiten wohlerzogenen
Bürger des Mittelreiches prophezeien wollen, daß er die Abſchaffung des altehr-
würdigen Wön-tihang zu Gunften folder Schnurrpfeifereien, wie Mathematik,
Aftronomie, Länderfunde Europas u. j. w., erleben könne, er hätte uns ins
*) Mährend meines Aufenthalts in Tſchungking im äußerften Weiten hatte ich Ge—
fegenheit, auf dem meiner Wohnung nahe gelegenen Paradepla täglich di: kindiſchſten mili—
tärifchen Uebungen mit anzufehen. Die jungen Offiziere übten ſich alles Ernſtes im Schießen
mit Pfeil und Bogen, im Heben großer Gewichte A la Monfieur Herkules und mandvrierten
mit einer Art Donnerbüchfe, die an die Zeit des Dreigigjährigen Kriegs erinnerte und von vier
oder ſechs Soldaten auf den Schultern getragen wurde; und dies alles zu einer Zeit, ald im
Dften des Reiches Kruppſche Kanonen und Panzerſchiffe den Japanern gegenüberjtanden (es
war im Jahre 1894) und gut die Truppen bes Weſtens als Erſatz für verlorene Regimenter
nerechnet wurde!
34
sn Friedrich Hirth, China im Zeichen des FFortfchrittes.
Geſicht gelacht. Die Aufregung, die ſich unſerer gebildeten Kreiſe jun dann
bemächtigt, wenn von verhältnismäßig geringen Veränderungen in der Er:
ziehung unſerer Jugend die Rede ift, mag als Maßſtab für das dienen, was
augenblidlich ein Teil des chineſiſchen Volkes empfindet. Wäre die Loſung bei
und plößlich: alle bumaniftiihen Gymnafien find innerhalb eines Jahres zu
ichließen, um als Handels- und Gewerbefchulen wieder eröffnet zu werden, fü
würde die dadurch hervorgerufene Erregung nur einen ſchwachen Begriff von den
Gefühlen geben, die augenblidlich unzählige Chineſen von altem Schrot und
Korn bewegen. Wäre das dhinefische Volk nicht To leicht von feinen Führern,
den Mandarinen, zu leiten, und wäre für diefe nicht das Beifpiel der höchſten
Spigen des Staates maßgebend, ſo dürfte man den nach jenen Umwälzungen
im Erziehungsfyften ſicher nicht ausbleibenden Unruhen mit Beforgnis entgegen-
fehen. Um den leßteren entgegenzuiwirken, wird bei dem Uebergang zu den
neuen Zuftänden mit der größten Vorſicht zu Werke gegangen werden müfjen.
Zaufende von jugendlichen Braufeköpfen, die feit Jahren nach dem alten Syſtem
ftudiert und darin Hervorragendes zu leilten verfprechen Fonnten, werden fich in
ihren Hoffnungen getäufcht jehen, da Konkurrenten ganz anderer Art, auf die fie
mit dünkelhafter Verachtung herabzuſehen gewohnt waren, ftatt ihrer in den
Vordergrund treten werden. Soll die Arınee nur annähernd die ihr vom Kaiſer
gefteten Ziele erreichen, jo müfjen jelbjtredend unzählige in ihrer Art und von
alten Standpunkt betrachtet nicht untüchtige Offiziere „abgefägt” werden. Ein
ganzes Heer von Mißvergnügten wird bemüht jein, dem guten Willen der mit
ſo großen Opfern für die Reformidee gewonnenen Regierung Schwierigkeiten in
den Weg zu legen. Schon jet äußert fi) die Reaktion in Bittfchriften und
Proteften, mit denen die Bizefönige und Gouverneure der Provinzen bejtürmt
werden. Man bittet um Aufſchub. Man müſſe den nad dem alten Syſtem
ausgebildeten Kandidaten Zeit zur Borbereitung geben. Mander, dem der neue
Kurs ein Dorn im Auge ift, mag nad) echt chinejifcher Art erwarten, daß Zeit
gewonnen, alles gewonnen jei. Aber die Kaijerin-Witwe, deren Autorität das
früher Unmögliche jet durchgeſetzt hat, da die mächtigen Satrapen in den
Provinzen, Männer wie Liu K'un⸗i, Tihang Tichrstung, Hui Tfün und Tau
Din, die früher ohne fie den Plänen des Staifers einen ſchlecht verhohlenen
paffiven Widerftand entgegenjegten, nunmehr mit ihr Feuer und Flamme für
die fchleunige Umgeftaltung Chinas nah japanifhem Mufter find, hat bereits
ihre Antwort auf alle Einwände zu Protokoll gegeben.
Am 2. Oktober erjhien ein im Namen der Sailerin mit ihrem vollen
Titel und allen Formalitäten der Eaiferlihen Autorität erlaffenes Edikt folgenden
Inhalts:
„Wir Tz’iehi, u. f. w., thun kund und zu willen: Seit Jahr und Tag,
vom Ausbruch der Unruhen bis jet haben Wir, dem guten Geift Unferes Haus:
Friedrich Hirth, China im Zeichen des FFortichrittes. s31
altares vertrauend, dem Tag Unſerer Rückkehr nad Peking entgegengejehen.
Die Zeit, da Wir auf Neifig fchliefen und Uns von Galle nährten,*) wird Uns
ewig unvergeßlich jein. Die unferer nationalen Schwäche zu Grunde liegenden
Urſachen maden e3 nicht leicht, die glüdlichen Zeiten von ehedem zurüdzurufen.
Bor einiger Zeit ift zu Ddiefem Zwecke ein „gefeßgebender Körper" gefchaffen
worden, um Ideen ſammelnd und eriweiternd unter der Menge ber einlaufenden
Vorſchläge diejenigen auszumählen, die jpäter allmählich in Kraft zu fegen find.
Indem Wir das Gute unter den Methoden des Weſtens auswählen, wird es
Uns nicht jchwer, mit Hintanfegung der eigenen Berfon der Gefamtheit
zu dienen, und indem Wir den Mängeln der Methoden Chinas zu Hülfe
kommen, thun Wir im Grunde weiter nichts, als das Nichtige anftreben dadurd,
daß Wir den Imftänden gerecht werden. Seit einigen Monaten find Edikte er-
laſſen worden, nach denen die Gründung neuer Einrichtungen, fowie die Ab-
ihaffung früher beftehender in Kraft treten fol. Darımter find jedoch einige,
die wegen der Zahl der daran zu knüpfenden Einzelbeftimmungen weiterer
Prüfung bedürfen, bei anderen hinwiederum wird man ſich ſchwer über die
Art der Ausführung einigen können. Es wird ſich daher empfehlen, nach der
Rückkehr Unjeres Hofes je nach Dringlichkeit das Geplante zu Ende zu führen.
Die Minifter des geſetzgebenden Körpers Yung Lu und Genoſſen haben in einem
Uns gehaltenen Vortrag in Anbetracht der großen Verantwortung, die mit der
Reform Unferes Regierungsiyftens verfnüpft jei, beantragt, daß eine nachdrück—
lihe Ermahnung in Geftalt eines Manifeftes an das gefamte Volk erlafjen
werde, worin angejichts des vom Saiferlihen Hofe getroffenen unabänderlidhen
Entſchluſſes und der Ernennung eines gejeßgebenden Körpers Unferen Organen
in und außerhalb der Hauptitadt dringend anheimzugeben fei, einmütig und mit
ganzer Kraft Uns in der Ausführung des Werkes beizuftehen.
„Wir erlafien daher hiermit diefes außerordentliche Edikt,**) indem wir eud),
den Miniftern und Beamten ***) in und außerhalb der Hauptftadt die ftrenge
Berpflichtung auferlegen, davon Kenntnis zu nehmen, daß der unglüdlichen
Lage, in die unfer Vaterland geraten ift, nun und nimmermehr durd
*, Ein dem Dichter Su Tungspo (11. Jahrh.) entlehntes Bild für ſchwere Entbehrungen
und tiefen Kummer.
*) i=tjcht, ein „Saiferinnen»Ebilt,” zum Unterfchiedb von den vom Saifer ſelbſt erlaflenen
Edikten.
**) Es iſt kaum möglich, die in jedem Satze aller dieſer von höchſter Stelle ausgehenden
Dokumente eingeſtreuten Anſpielungen auf die ältere Litteratur in der Ueberſetzung wiederzu—
geben. Der hier gebrauchte Ausdruck für „Miniſter und Beamte,“ tſch'ön-kung, bildet den
Anfang einer allen Gebildeten in China wohlbekannten Strophe in dem nralten „Buch der
Lieder,” bei Biltor von Strauß (Schi-king, S. 477): „Auf, auf, Minijter und Beitallte,
nehmt wahr, was eured Amtes iſt!“ Beſſer als durch jedes andere Mittel wird durch diefen
ſtillſchweigenden Hinweis auf die patriarchalifchen Berhältniffe bes grauen Altertums die loyale
Sefinnung der Beamten angerufen.
34*
539 Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortſchrittes.
nadläjjiges Flidwerk abgeholfen werden fann. Das einzige Mittel
zu Wohlfahrt und Gedeihen liegt für Uns in der Reform Unferer
Negierung. Der Lebenspuls, der die Negierung in den Stand ſetzt, ber
Gefahr mit Ruhe entgegenzufehen,*) beſteht in der eigenen Gtärfe,
mit ihr wird fi ein Wendepunkt im Leben des chinefischen Volkes einjtellen.
Tür Mid) und den Kaifer find die Intereſſen Unieres Haufes identifch mit denen
des Volkes, ohne diejes Verhältnis giebt es kein Heil für und. An euch, den
Miniftern des Reiches, die ihr fo ſchwerwiegende Gnadenbeweife von Uns er:
halten habt, ift ed nummehr, mit der Reform Neues ind Leben zu rufen und
Altes abzulegen, Eräftig die daraus erwachſenden Schwierigkeiten zu ertragen und
nit alten Gewohnheiten zu brechen, denn nur dadurd ift der Not der Zeiten
abzubelfen.
Bor einiger Zeit erhielten Wir von Liu K'un-i und Tchang Tchr-tung
eine gemeinfchaftlihe Denkichrift**) „über die Neuordnung des dhinefiichen
Regierungsiyftens nad dem Borbild des weftlichen.“ Wir haben diejelbe Punkt
für Punkt forgfältig in Betracht gezogen und das Wichtigfte, für den praftijchen
Gebrauch Geeignete, daraus Uns angeeignet. Ich habe mit dem Slaifer früh und
jpät raftlo8 gearbeitet, doch nun find Mutter und Sohn eines Herzens in dem
brennenden Wunfche für die Wiederfehr glüdlicher Zeiten. Damit diefe Unſere
Gedanken bei Minijtern und Beamten aller Rangklafjen thatkräftige Aufnahme
finden, haben Wir dieſes Manifeft zur allgemeinen Kenntnisnahme erlaffen.
Kin=g'r."
Ich habe verjucht, eine möglichjt ſinnentſprechende Ueberſetzung diefes mir
in dinefiichen Urtert vorliegenden Ediktes herzuftellen, weil unter allen öffent-
lichen Kundgebungen der Kaijerin-Witwe feine fo geeignet ift, die augenblidliche
Lage der Dinge in China zu beleuchten. Die zahlreichen Privatmitteilungen, die
meift durch die Korrefpondenten reformfreundlicher chinefiicher Zeitungen in die
anglo:-hinefiihen Blätter und von da durch oft nur dem Senfationsbedürfnis
des Publitums dienende Telegramme in die europäifche Prejje gelangen, leiden
*) Wieder ein Gedanke des Philoſophen Mencius. Derfelbe fagt von einem Füriten,
dem nicht zu raten und zu Helfen ift: „in der Gefahr erblidt er volllommene Sicherheit, im
Unglüd einen Borteil.”
*) AS Antwort auf einen vom Kaifer am 29. Januar 1901 an die hohen Mandarinen
bes Reichs gerichteten Befehl, jich über die bevorftehenden Aenderungen im Regierungsfyiten
gutachtlich zu äußern. Diefe Gutachten find in einer befonderen Publikation in vier Heften
erfhienen, von denen die oben erwähnte Denkfchrift der Vizeköntge von Nanking und Wuetichang
in drei Abſchnitten etwa die Hälfte bildet. Es finden fi) fonft noch darin die Borfchläge von
Tan Mu und Hü Yingsfui, den Vizelönigen von Canton und Foochow, von Yüan Sci-Fai,
Gouverneur von Schantung, fowie feinen Kollegen in Anbut und Tichöfiang. Dat fo viele
unter den Satrapen auf die Aufforderung des Kaiſers nicht reagiert haben (vgl. „Nauticus” für
1901, ©. 143) wird der Sache nicht fchaden, da die meiften wohl ſchwerlich viel zu fagen gehabt
baben würden.
Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortichrittes. 533
oft an der Einſeitigkeit des Barteiinterejjes, dem fie entipringen. Dagegen
handelt es fich bei den Aftenftüden der Staatszeitung um Thatſachen, die nicht
jo bald dementiert werden können, die zwar aud) bisweilen cum grano salis
zu lejen find, aber immerhin das beſte Material zur Beurteilung der Berhält-
nifje abgeben, wenn man zwifchen den Zeilen zu lefen verfteht. Was nun die
vorliegende Kundgebung betrifft, fo kann ich die Beforgnis des Pekinger Kor—
refpondenten des „North China Herald“ vom 30. Oktober nicht teilen, der die
Aufrichtigkeit der darin ausgefprochenen Reformfreundlichfeit anzmweifelt, wenn er
jagt: „we need not suppose that the Dowager is sincere in her noble
and correct utterance.“ Im Gegenteil jcheint es mir, daß der Gedanfengang
des Manifejtes den Stempel der Echtheit in fich trägt. Wird e8 doc offen an—
gedeutet, daß ein perjönliches Opfer im Aufgeben alter Borurteile zum Beſten
des Gemeimvohls nötig war, um den nunmehr als einzige Rettung ertannten
Plänen des Kaiſers beizuftimmen. Mag die fo gänzlich veränderte politifche
Lage das Ihrige gerhan haben, um dieſen Wechfel in den Anfchauungen der
Kaiſerin hervorzubringen; Hauptiache bleibt immer, daß die Reformbewegung
in ihr eine mächtige Gönnerin erhalten bat, ohne deren Mitwirkung fie möglicher:
weife zum zweitenmal Schiffbrud gelitten hätte Wir müſſen das chinefische
Volk nehmen wie es ift, nicht wie wir ed ums wünſchen. Die Geſchichte des
Staatsftreihes hat gelehrt, daß die Gnadenbeweife, auf die fich neuerdings die
ehemalige ®ebieterin, nunmehr die Egeria des Numa Kuang-ſü, den Miniftern
gegenüber beruft, thatſächlich ſchwerwiegende geweſen fein müſſen. Den fchönen
Plänen des Kaiſers wurde von Anfang an jelbit bei den fortfchrittlich gefinnten
Bizefönigen höchftens akademische Würdigung zu teil; an die Ausführung wagte
niemand zu denfen, jo lange die Slaijerin nicht Beifall nidte, der fo ziemlid)
jeder ältere Beamte im Neiche feine Karriere verdankte. Dies ift felbftredend
auch heute noch der Fall. Man darf e8 daher mit Freuden begrüßen, daß die
Erzieherin des Kaiſers, gleichviel, ob aus Klugheit oder aus Neigung, ihm jetzt
wieder eine Stüße umd Freundin geworden ift. Mit der Enterbung bed Thron-
folgers P’ustfün ift ein großer Strid) durch ein dunkles Blatt im Buch der
hinefiihen Gejcdichte gemacht worden: wenden wir uns zu einem neuen Blatte,
da8 den Ruhm patriotischer Entjagung verfündet! Ob die Reformen des Kaiſers
zu ftande kommen oder nicht, ift für China jest Lebensfrage; den Chinefen felbft
muß daher jedes Mittel willtommen fein, das dazu beiträgt, einen Schiffbrud)
zu vermeiden, um wieviel mehr ung, den wohlwollend Zufchauenden! Hoc über
dem Parteihader jteht jet die Lebensfrage; wer bereit ijt zur Mitarbeit, follte
nicht durch Mißtrauen abgejchredt werden, mag er auch einft zu den Berführten
des großen Staatöverbrechens gehört haben, das Prinz Tuan und feine Leute
durch die zweifellos dauernde Ungnade des Hofes büßen, denn aufrichtige Rene:
gaten find oft die eifrigften Verfechter einer guten Sache.
534 Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortſchrittes.
Mit der Reform der Staatsprüfungen und dem unumwundenen Glaubens—
bekenntnis der Kaiſerin-Witwe iſt der Würfel gefallen, der über Chinas Zukunft
entſcheidet. Es giebt kein „Zurück“ mehr, alles übrige mag kommen, wie es
will und wann es will, aber es muß kommen. So ſehen wir denn heute, nach
wenigen Monaten, alles in fieberhafter Thätigkeit. Den erſten, das Signal zur
Arbeit gebenden Edikten find in unglaublich kurzer Zeit die Befehle zum weiteren
Ausbau des neuen Gebäudes gefolgt: amı 11. September werden die liberalen
Satrapen Li Hungstichang, Liu Punsi, Tihang Tihl:tung und Yüan Sci-Fai,
die Dauptftügen der Bewegung, mit der Niederichrift von Regulativen für die in
ihren Provinzen bereits bejtehenden Militär-Mfademieen beauftragt. Diefelben
follen als Mufter für die zahlreichen, auch in anderen Teilen des Reiches zu
gründenden Inſtitute diefer Art dienen. An demjelben Tage verbietet der Kaijer
auf Antrag der Kaiferin-Witwe den bisher, je nad; den Erforderniſſen des
Budgets, bald erlaubten, bald wieder abgejchafften Berfauf von Beamtenftellen
ein für allemal. Am 13. September folgen die erften Auftruftionen für die
Einrihtung von Reformſchulen. Jede Provinz foll ihre nad) dem Mufter ber
Pelinger Univerjität eingerichtete Hochſchule Haben, während in den Bezirks: und
Diftriftshauptftädten allerorten Mittel» und niedere Schulen int modernen Sinne
einzurichten find. Setzt ift felbitredend große Nachfrage nach ſolchen Chineſen,
die im ftande find, in den neuen Schulen zu lehren; wer weiß, wie lange es
dauern wird, daß die Nachfrage durd; das Angebot gededt wird. Schon jett
werden viele unter den weiland verjtoßenen Neform:Agitatoren willlommen ge:
heißen. Neuige Schafe werden mit offenen Armen aufgenommen, wenn fie
verjprechen, ruhig und befcheiden ihre Pflicht zu thun, darunter hervorragende
„alte Sünder”, wie der bisher in der Berbannung lebende Redakteur der
chinefifchen Reform: Zeitung „Lat-pau“ namens K'iu Schu:yüan. Derjelbe war
mit den immer noch als Hochverräter behandelten Hauptführern der Refornibe—
mwegung vor dem Stantöftreih K'ang Yuswel und Liang K'itſch'au eng be-
freundet und daher verbannt, und niemand hat in der Verfolgung jener angeb-
lihen Verführer des Kaifers größeren Eifer gezeigt als der Vizekönig Tſchang
Zichi-tung, der, jelbjt eine der mächtigften Stüßen des neuen Kurſes, damit
blinde Ergebenheit gegen jeine Wohlthäterin, die Kaiſerin-Witwe, verbindet. Der
ehemalige Redakteur hat nun feierlich widerrufen und feine Loyalität durd ein
zur Unterjtügung der Hungersnot in China beftimmtes Geſchenk von 10 000 Taels
bekräftigt. Tſchang Tihr-tung felbft beantragt infolgedejlen feine Begnadigung,
die zugleich mit feiner Ernennung zum Minifterial-Sefretär unter Verleihung
von Knopf und Rang erfolgte. Nachdem die Vizekönige von Nanking, Wu⸗tſchang
und Tſch'öng-tu auf eigene Snitiative junge Leute ind Ausland, namentlich nad
Japan, zum Studium fremder Einrichtungen entfandt hatten, erließ der Kaijer
anı 17. September ein Edikt, worin diefes Beilpiel zur allgemeinen Nachahmung
Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortichrittes. 535
empfohlen wird. Wie feit Jahren ſich Japaner in Europa und Amerika überall
einfanden, wo es etwas Nützliches zu lernen giebt, jo werden wir bald jungen
Chineſen in unferen Hörſälen, unferen Werkftätten, unjeren Regimentern be-
gegnen, die, auf Regierungskoften ausgebildet, fremde Givilifation in die Heimat
zurüdbringen. Da fie gleichzeitig hohen Anforderungen in der Kenntnis ihrer
eigenen Litteratur entfprechen müfjen, wenn ihnen höhere Beamtenftellen in China
zufallen jollen, jo fteht ihnen eine leichte Aufgabe bevor. Schon während bes
Sommers wurden dur die Kaijerin-Witiwe die Gejandten im Muslande aufge-
fordert, ihr Augenmerk auf die im Auslande ftudierenden jungen Ehinefen zu
fenfen und befunders begabte Kandidaten, wenn fie Zeugnifje, Diplome u. f. w.
aufzumweifen haben, auf Staatsfoften in die Heimat zurüdzufchiden, wo fie nad
weiterer Prüfung zu verwenden jeien.
Es ift Schon jet kaum möglich, ohne weitläufige Auseinanderjegungen die
aus allen Kundgebungen der Regierung hervorgehenden Beweile für den Ernft,
mit dem jeit Monaten vorgegangen wird, aufzuzählen. Europa darf mit diefem
Erfolg feiner Waffen zufrieden fein. Ohne den Zwang ber Ereigniffe wäre es
nie dahin gekommen, und der Berfajfer eines mir vor furzem zu Geficht ge—
fonmmenen Leitartikel einer chineſiſchen Zeitung ſtellt nicht mit Unrecht die
paradure Behauptung auf, daß niemand zu diefer glüdlihen Wendung im
chineſiſchen Staatsleben mehr beigetragen hat als Prinz Tuan uud feine Borer.
Ein hoher, blutiger Preis für eine Errungenfhaft, von der man eines Tages
jagen wird: fie Eonnte nie zu teuer erfauft werben.
—
Totenſonntag am leere.
Wenn fich die Mebel fenken ” Schlaft wobl au ibr und träumet
Buf Gräber im Blumenkleid, In ftolzer Mogen But,
Dann will ich eurer gedenken, ESs fteigt empor und fcbAumet
Der Toten im Weere weit; Poch über euch die Flut.
Giebt auch kein Bügel die Kunde, Auch euch wie euren Brüdern
Mennt auc kein Denkſtein das Ziel, Tönt beut ein beiliger Klang,
Doc fchlummern tief unten im Grunde Euch fingt gleich Kindbeitliedern
Der Eichenberzen fo viel. Zur Rub des Sturmes Befang.
Rarl Dove.
5
OO O9OO
Die gemeinfamen Züge im Weltenbau.
Von
M. Wilhelm Meyer. Schluß)
Ww das Tagesgeftivn bei Gelegenheit einer totalen PVerfinfterung vom
Monde joweit für unfer Auge verdedt wird, daß fein Glanz feine nächſte
Dimmeldumgebung nicht mehr überftrahlt, jo bemerkt man häufig ungeheure rote
Flammen über den Sonnenrand fich erheben. Man hat diefe jogenannten Protu—
beranzen inzwifchen mit Hilfe des Spektroſkops auch zu allen Zeiten außerhalb
einer Sonnenfinfternis wiederfehen fünnen. Mit Staunen und geheimem
Schauder bemerkte man, daß dieje Flammen oft in wenigen Minuten bis über
einen Raum emporzüngelten, der den unjerer ganzen Erdenwelt um ein Mehr:
faches übertrifft. Am September 1893 zum Beifpiel ſah man eine Protuberangz,
die in einer PViertelftunde bis zu einer Höhe von 500000 km emporjclug.
Solche Gejchmwindigfeiten von 350 km in der Sekunde zeigt nur unter gemwifjen
ertremen Berhältnijjen ein materieller Körper, und nur die Fortpflanzung von
Wirkungen der Naturfräfte, wie die des Lichtes und der Elektrizität, übertrifft fie.
Troß der ja zweifellos ganz unvorjtellbar gewaltigen Vorgänge auf dem Sonnen:
balle konnte man es doch faum für möglich halten, daß materielle Teile des
Sonneninnern wirklich mit folder Kraft ausgeſchleudert werden könnten, ganz
befonders, da man den Sunnenball als eine große Nebelmafje aufzufafjen bat,
in der wohl die Materie im Innern ftarf verdichtet fein muß, aber doch nicht
ſolche furchtbaren Spannungen bervorbringen fönne, wie ie derartigen Erplofionen
vorangehen müßten. Man hat denn auch gefunden, daß man die Protuberanzen
als rein optiihe Ericheinungen anzujehen hat, als abnorme NRefrattionen,
Strahlenbredungen in vorher dort fchon vorhandenen Gajen, deren brechende
Kraft fi) nur durch Vorgänge, die allerdings aud im Sonneninnern entfpringen
müffen, fo fchnell ändert. Die lichtbrechende Kraft eines Gaſes ſchwankt
namentlich) mit feiner Temperatur. Diefe muß alfo hier fo enormen Aenderungen
unterworfen fein, und wir ſehen hieraus, wie mächtig die Wärmekraft hier im
Gentralherde des Planetenreiches arbeitet.
Ungemwöhnlihe Strahlenbredungen müflen auch fonft noch auf der Sonne
eine eigentümliche Rolle fpielen und uns wahrjcheinlic ein ganz faljches Bild von
M. Wilhelm Meyer, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau. 537
ihrer äußeren Umgrenzung vorjpiegeln. In je dichtere Gaje die Lichtftrahlen ein-
dringen, je mehr werden fie von ihrem geraden Wege abgelenkt. Deshalb be-
Schreibt ein Sonnenftrahl auf feinem Wege von den äußerften Grenzen unjerer
Atmofphäre bis zu unferm Auge eine Erumme Linie, weil ja die Luft immer
dichter wird, je näher fie fich der Erdoberfläche befindet. Das Bild der Sonne
wird dadurch jo viel gehoben, daß fie für unfer Auge bereits etwa fünf Minuten
früher aufgeht, ald e3 nad den rein geometrifchen Geleßen geichehen müßte.
Ganz Mehnliches muß auch auf der Sonne jelbft mit ihren eigenen Strahlen
gefchehen; fie werden gekrümmt, und da ift num ausgerechnet, daß in einer ganz
beftimmten Entfernung von ihrem Mittelpunfte die Größe diefer Krümmung
gerade derjenigen gleihfommt, die die Oberfläche der Sonne an derfelben Stelle
befiten müßte. Die Strahlen müjjen alſo bier immer in demfelben Abftande von
der Sonnenoberflähe bleiben, wenn ſich dort etwa eine folche befände, und nun
immer um diejelbe herumlaufen, ohne fich jemals von ihr zu entfernen. Dieſes
Gebiet, in welchen: ſich eine große Anzahl von Sonnenftrahlen fangen, wird dem—
nad) beſonders hell erjcheinen, wenn es ſich auch phylifalifch garnicht von unter
oder über ihm liegenden unterſcheidet. Dies bedeutet aber nichts
Anderes, als dat bier eine ftrahlende Oberfläche zu fein fcheint, wo in Wirklich:
keit gar feine bejondere materielle Abgrenzung vorhanden ift. Es iſt deshalb
jehr wohl möglich, ja ſogar höchſt wahrjcheinlic), daß die Sonne feine irgendwie
feft umgrenzte Kugel, jondern eine ſich ganz allmählid in den Weltraum ver:
lierende, nad) ihrem Mittelpunfte bin verdichtete Gasmaſſe it. Wir fennen der-
artige Gas: und Nebelmafjen in allen Abjtufungen der Verdichtung, die das
Weltgebäude überall in großer Zahl bevöltern, und uns noch befchäftigen
werden.
Wir haben jedenfalld die Sonne als einen Gasball Fennen gelernt, bei dem
man keinerlei Anzeichen dafür bemerkt, daß er etwa unter den Atmojphären:
ſchichten, die wir direkt fehen künnen, eine flüffige oder gar feite Hülle bejäße.
Troßdem muß durch den Drud der überliegenden Maſſen die Materie der
Sonne in ihrem Innern viel dichter zufammengedrängt fein als bei und in den
dichteften und feiteften Stoffen, die wir kennen. Die enorme Temperatur der
Sonne hält jedoch ihre Materie in einem Zuftande, den wir immer noch als ein
Gas im phyſikaliſchen Sinne bezeichnen müſſen, denn es giebt, ſoweit wir
wenigftens auf der Erbe fehen, für alle Stoffe eine beftimmte fogenannte kritiſche
Temperatur, von der ab fie fich erſt in einen anderen Nggregatzuftand über:
führen lafjen, gleichgiltig, unter weldhem Drud dies geihieht. Su kann man
beijpielöweije Luft fo ftark zufammendrüden, wie man will, fie wird bei gewöhn—
fiher Temperatur fi) doch niemals in den flüffigen Zuftand zwingen lafjen,
während dies bei 200 Grad unter Null ganz leicht ift, felbft bei dem gewöhn—
lihen Drud unjerer Atmofphäre.
5338 M. Wilhelm Meyer, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau.
So jehen wir aljo in unferem Sonnenfyftem alle Abftufungen von Aggregat-
zuftänden der Weltförper. Die Sunne felbit ift noch ein Gasball, in welchem
fi die Materie in denjenigen Regionen, die wir feine Oberfläche nennen, ivgend-
wie vorübergehend zu fondenfieren beginnt, dadurch die Erjcheinungen der Sonnen-
flede2c. erzeugend. Es grenzt ſich hier etwas wie eine erjte Atmofphäre von den
übrigen Schichten des Gasballes ab. Aupiter ift jedenfall von einer fehr hohen
Atmoſphäre umhüllt, unter der ſich wohl eine glühend flüffige Oberfläche befinden
kann. Indes gejtattet die ftetS mit ſchweren Wolfen behangene Dunfthülle des
Planeten nicht, einen Blid in diefe tieferen Negionen zu werfen. Mehnliche Ber:
hältnifje herrſchen audy auf Saturn. Unfere Erde hat eine fejte Oberfläche und
eine Atmofphäre darüber, die abwechſelnd mit Wolfen verhüllt oder durchfichtia
ift, um unfern Blick zu jenen anderen Welten ſchweifen zu laſſen, mit denen wir
unfern Wohnfig nun vergleichen fönnen. Auch im Innern der Erde wird fi
durch den Drud der überlagernden Gejteinsmafjen die Teinperatur in genügender
Tiefe ſoweit jteigern, daß wir ihre dicht zufammengepregten Maffen doch gas:
förmig nennen müſſen. Auf dem Mars it der Wandel der Aggregatzuitände
noch mehr nad) der feiten Seite hin vorgejchritten. Sein Yuftmantel ift bereits
fehr dünn und zeigt nur äußerſt jelten etwas wie einen leichten Nebeldimft, der
uns feine feſte Oberfläche zuweilen teilweije verjchleiert. Wenn das, was wir
die Meere des Mars nennen, wirkliche Waſſerbecken find, jo müſſen fie jedenfalls
ſehr flach fein und bejißen eine relativ viel geringere Ausdehnung gegenüber den
Pandmaffen, ald es auf der Erde der Fall ift. Unſer Mond endlich beit über-
haupt feine merflihe Atmojphäre und ficher feine Meere; er ift, abgejehen
von feinem unbekannten Innern, ein völlig fejter Körper geworden. Es ift ſehr
auffällig und bedeutfam, dat diefe Abftufungen in den Aggregatzuftänden, die
wir bier verfolgten, parallel laufen mit den Größenverhältniffen der bezüglichen
Weltkörper. Die Sonne, als der größte, ift noch ganz gasförnig, Jupiter, der
nächitgrößte, ift jchon weit mehr verdichtet, die Erde, abermals weſentlich Fleiner,
hat es längſt zu einer feften Oberfläche gebracht, auf dem noch Eleineren Mars
jehen wir die Atmofphäre fich noch deutlicher flären und verdünnen, wie auch der
Wafjergehalt feiner Oberfläche jelbit relafiv zu feiner Größe ein viel geringerer
geworden ift. Auf dem Monde endlich find Luft und Waſſer jo qut wie ver-
ſchwunden. Dieſer Parallelismus ift nicht zufällig, und ınan hat die vermutliche
Urſache bald gefunden. Der Uebergang der Aggregatzuftände ineinander ift in
eriter Linie von der Temperatur abhängig. Ein kleinerer Körper verliert aber
feine Wärme leichter al3 ein größerer. Wir können alſo aus den gegenwärtigen
Zuftänden der Slörper unferes Syſtems ſchließen, daß fie zu einer gewiſſen Zeit
einmal alle ungefähr die gleiche Temperatur beſaßen und ſich inzwifchen wejent:
lich abfühlten, jeder nah) Maßgabe feiner Größe mit verfchiedener Geſchwindig—
fett. Nur bei der Sonne ſelbſt fcheint hier ein bedenfliches Fragezeihen gemacht
M. Wilhelm Meyer, Die gemeinjfamen Züge im Weltenbau. 539
werden zu müffen, deren ganz enorme Temperatur kaum die Annahme einer
jeit Millionen Jahren ftattgehabten Abkühlung zuläßt.
Außer den Planeten umkreift die Sonne nod eine Schar von Myriaden
anderer Dimmmelskörper, die Kometen, die Meteoriten ımd die Gtern-
Ichnuppen. Die Bewegungen all diefer Körper haben ihren gemeinfamen Brenn-
punft in dem gewaltigen Gentralgejtirn, das fie noch bis in die unbefanntejten
Weiten jenjeit3 der Bahn des legten Planeten beherrjct.
Bon diejen Himmelsweſen nehmen die Kometen die hervorragendite Stelle
ein. Sie waren jeinerzeit jehr gefürdtet, al$ man ihre kosmiſche Natur nod)
nicht erkannt hatte, fondern fie für Erfheinungen in den höheren Luftichichten der
Erde hielt, die allerlei Einflüffe in materieller wie auch feeliicher Hinficht als
„Zuchtruten Gottes" zu üben im ftande wären. Dieje Kometenfurdt ſchwand
aber keineswegs fugleid, als man erfuhr, daß dieje Himmelsweſen weit außer:
halb des irdiſchen Dunſtkreiſes, meift viele Millionen Meilen von ung entfernt,
ihre feft vorgefchriebenen Straßen ziehen. Sa, während man früher ihnen
höchſtens den Ausbruch einer Peſt oder eines Krieges zuzufchieben trachtete,
fürdtete man nun von ihnen nichts weniger als den Untergang der
Welt jelbft. Man hatte ja erfahren, daß folch eine Kometenbahn gelegentlich die
der Erde freuzen könne, man hatte ſelbſt beftiunmte Kometen entdedt, die diefe
Durchkreuzung der Erdbahn in der That bei jedem ihrer Umläufe um die Sonne
an einer beftimmt anzugebenden Stelle ausführten. Wenn alſo beide Körper
bier einmal zufammenträfen, müßte es doch zu einem Zufammenftoß Eommen,
der zum mindeften unfere menschliche Weltordnkng völlig über den Haufen werfen
könnte. Die Weltuntergangspropheten haben ſich deshalb immer mit Vorliebe
an dieje fürchterlichen Kometen gehalten, die ihren fchredlichen Leib vft int Laufe
weniger Tage über das halbe Himmelsgewölbe gejpenfterhaft ausbreiteten, und
die unerwartet famen wie Sendboten einer jenfeitigen Welt, und wieder fo
geheimmisvoll verſchwanden, wie fie gefommen waren.
Wir willen, daß die Kometen aus einem verhältnismäßig kleinen und hellen
Kopf beftehen, der allein niemals ein auffälliges Objekt am Himmel fein würde,
an ben fi) aber, wenigftens bei den mit freiem Auge ſichtbaren Geitirnen, der
oft ungeheuer lange Schweif hängt. Diefer ift das eigentlich Geheimnisvolle an
der Erjcheinung. Er dehnt fich oft jo weit in den leeren Raum hinaus, daß er
den Weg von einem zum andern Planeten vder ſelbſt zwijchen uns und der
Sonne überbrüden fünnte. Wir fehen danı den Raum an diefen Stellen auf:
leuchten und doch it der Anhalt der Kometenſchweife für alle unſere feinften
Beubadhtungsmethoden ein vollkommenes Nichts, das außer auf das Auge Feinerlei
Wirkung ausübt, die wir doch ſonſt von jeder Materie ausgehen fehen. Das
volllommenfte Vakuum, das wir in unfern phyſikaliſchen Yaboratorien noch er:
zeugen können, ift eine die Luft gegen den Anhalt der Kometenſchweife. Denn
40 M. Wilhelm Meyer, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau.
wären die ungeheuren Räume derfelben itberall auch nur mit fo viel Materie an-
gefüllt, wie fie beifpielsweife in unfern Röntgenröhren zurüdbleibt, fo müßte dies
im ganzen immerhin fo viel ausmachen, daß die Anziehungskraft diefer Maſſe
auf die anderen Weltkörper bemerflich würde, was dennoch bei den genaueften Beob-
achtungen niemal3 wahrgenommen wurde. Man neigt deshalb in neuerer Zeit
immer mehr zu der Ueberzeugung hin, daß die Kometenſchweife überhaupt nichts
Reelles, Sondern nur ein optifch-elektriiches Phänomen feien, wie wir fie ja auch
in den möglichft von jeder Materie entleerten Groofefchen oder Hittorfichen
Nöhren zu erzeugen vermögen. Hierfür fpricht ja auch namentlich der befannte
Umftand, daß die Kometenſchweife fich von der Sonne beftändig abwenden, gleich:
viel wie fi) der Kometenkopf, von dem der Schweif ausgeht, beiwegen mag.
Die Sonne entwidelt zweifellos jehr große elektriiche Kräfte, die ſolche Fern—
wirfungen wohl hervorzubringen im ftande find. Freilich Eönnten ſolche Ent-
ladungen im völlig Iuftleeren Raume doch nicht vor fi) gehen. Entweder jtrömt
alfv doch eine zwar ganz auferordentlid geringe Menge von Materie vom Kopfe
in den Schweif, oder der überall im Weltraum vorhandene Staub fpielt die ver-
mittelnde Rolle; auch beides fann zugleich wirken, was wohl das Wahrſchein—
lichfte ift.
Der Kometenkopf aber ift ganz fiher etwas Materielles; er könnte ja ſonſt
nicht von der Sonne angezogen werden, das heißt, gegen die Sonne eine Yall-
geſchwindigkeit befigen, die fich von genau derjelben Größe erweift, wie die, durch
welche alle Blaneten ihre Bahnen um die Sonne befchreiben. Außerden fehen wir
bei Annäherung der Kometen an die Sonne leuchtende Stoffe ihrem Innern
entftrömen, deren dyemifche Natur wir durch das Spektroſkop mit aller Sicher:
heit beftimmen Können. Wir wiffen deshalb, daß die Kometenkerne namentlich
die vier überall in den Mafjenanfammlungen des Weltall anzutreffenden
Elemente Waflerftoff, Kohlenftoff, Eifen, Natrium enthalten, fo daß wir annehmen
fönnen, die Materie der Kometen fei im imefentlichen von der der übrigen
Dimmelsförper nicht verichieden.
Die meiften Kometen fommen aus unbekannten Fernen des Weltgebäudes
und fallen fait geradlinig gegen die Sonne hin. Nur eine kleine jeitliche Be-
mwegung, die fie mitbringen, verhindert bei den meilten den Sturz in die Sonne;
fie rafen dann oft mit Geſchwindigkeiten, die man an feinen andern Dimmels-
förpern wahrgenommen bat, an dem mächtigen Geftirn vorüber, daß fie zum
Umfehren zwingt, und eilen num mit beftändig abnehmender Geſchwindigkeit
wieder in den unbefannten Weltraum zurüd. Alle diefe Bewegungen entfprechen
völlig genan den Fallgeſetzen, durch welche ſich auch die in unfern Händen be-
findliche Materie dem Erdmittelpunfte entgegen bewegt. Während fid) aber die
Planeten in nahezu kreisförmigen Bahnen bewegen, fo daß ihr Abftand von der
Sonne ſich nım wenig ändert, kommen dagegen die Kometen aus dem falten
M. Wilhelm Mever, Die gemeinfamen Züge im Weltenban. 541
Weltraum, in weldem fie fi) meist Sahrtaufende lang träge bewegten, wie ſchon
gefagt, in faft gerader Linie auf die gewaltige Wärmequelle zu, und ftreifen fie
oft fo nahe, daß fie jedenfalls im ihre oberften Atmofphärenidichten eindringen.
Diefe ungeheueren QToemperaturdifferenzen, denen die merkwürdigen Himmels—
förper oft innerhalb weniger Wochen ausgefett find, geben fich bei ihrem Anblide
im Fernrohr durch offenbar jehr vehemente Vorgänge zu erkennen, die die Materie
des Kernes zum Teil zur VBerdunftung bringen. Dampfitrahlen brechen aus der
der Sonne zugewandten Seite hervor und ſcheinen zunächſt gegen dieſe hinftürzen
zu wollen. Aber nad) einiger Zeit wenden diefe leuchtenden Fontänen von Welt:
förpergröße in großem Bogen unı; fie werden offenbar von der Sonne abgeſtoßen
und gehen nun in den Schweif über. Auch in unfern Laboratorien ſehen wir
heftig austretende Dampfitrahlen eleftrifch werden. Auch plößliche Lichtſchwan—
ungen verraten die gewaltigen Revolutionen, welche in den Kometen während
ihrer Annäherung zur Sonne ftattfinden müſſen. Erſt dann entwidelt ſich
ihr Schweif zu fo ungemeiner Länge, während das Geltim früher überhaupt
feinen gehabt hatte und ihn fpäter auf dem Rückwege in den Weltraum jtet3
wieder allmählich verliert.
Während wir aljo offenbar von den Kometenjchweifen nichts zu fürdten
haben, find doch die Stometenferne ficher materielle Körper, deren Zuſammen—
treffen mit der Erde doch vielleicht bedenkliche Folgen haben könnte. Es hat ſich
gezeigt, daß die Kometen ji unter Umftänden in Sternfchnuppenwolfen auf:
löſen, die fich längs der früheren Kometenbahn ausbreiten, einen jogenannten
Sternfhnuppenring bildend, den die Erde durchfliegen muß, wenn er ihre Bahn
freuzt. Dadurch entjtehen dann die jtet3 an bejtimmten Jahrestagen wieder:
£ehrenden periodiihen Sternihnuppenfälle, weil ja die Erde alljährlih zum
jelben Datum fi) auch an derjelben Stelle ihrer Bahn um die Sonne befindet.
Die Sternfhnuppen find alſo Stüde von Kometen, die bis in unfere Atmo-
iphäre gelangen und dort durch die Reibung an der Luft plößlich in fo große
Hitze verjeßt werden, daß fie augenblicklich verpuffen, das heißt in Gasform über-
gehen. Waren fie vorher als größere Weltftäubchen immerhin felbftändige Körper,
jo werden fie num in ihre Atome aufgelöft und hören auf, als Himmelsförper zu
eritieren. Rings um die Erde herum fallen in jeder Nacht Millionen von Stern:
Ihnuppen, und Millionen von Weltuntergängen finden aljo damit ftatt in unferer
nädjten Nähe. Wir haben uns zu fragen, ob außer diefem Weltftaub nicht auch
größere Körper, deren Dimenfionen etwa zwijchen denen der Sternfchnuppen und
der Eleinjten befannten permanenten Himmelskörper liegen, den Weltraum durch—
eilen und mit und zufammenftoßend eine Sataftrophe herbeiführen fönnten.
Solde Körper find zweifellos vorhanden. Wir fehen häufig genug mit
furdtbarem Donnerkrachen Feuerkugeln aufleuchten und über unjern Häuptern
in Stüde zerjpringen, die dann auf die Erdoberfläche herabfallen als Meteor:
542 M. Wilhelm Diener, Die gemeinfamen Rüge im Weltenbau.
Steine. Seit Menjchengedenten find deven Hunderte vor unferen Augen gefallen,
wenngleich feiner derjelben fo groß war, daß er erheblidhen Schaden anrichten
fonnte. Das Größere ift immer feltener wie das Sleine, im Weltgebäude ſowohl
wie auf der Erde. Deshalb fehen wir in jeder Nacht fo viele Sternfchnuppen
fallen, aber nur wenige Meteorfteine im Jahre. Da es feinen Grund giebt,
weshalb in der Stufenfolge der Größe der Himmeläförper ein Sprung vorhanden
wäre, es aljo deren innerhalb beitimmter Dimenfionen überhaupt nicht geben
follte, jo ift eine Wahrfcheinlichkeitsrechnung darüber aufzuftellen, innerhalb
welcher Zeitläufte von Hunderttaufenden oder vielleicht Millionen Jahren einmal
ein Himmelskörper mit uns zufammentreffen müffe, der der irdiſchen Weltordnnung
gefährlich werden könnte.
Die Meteoriten werden immer erft fihhtbar, wenn fie in unfere Atmofphäre
eingedrungen und dadurch weißglühend geworden find. Die Bahnen, melde fie
dort über unſern Häuptern befchreiben, beweifen, daß diefe Körper in den bei
weitem meiften Fällen aus den fernften Räumen des Univerfums zu uns gelangen,
wo das Reich der Sonne und ihre anziehende Kraft längft aufgehört haben.
Dies fann man von den Kometen nicht mit gleicher Sicherheit jagen, die wahr:
Icheinlich doc; Teile des Sonnenſyſtems jind, welche nur bis an defjen lekte
Grenzen hinauseilen, um dort umwendend mit einer Anfangsgeſchwindigkeit gleich
Null wieder gegen die Sonne zurüdzufallen. Die Meteoriten dagegen dringen
mit einer relativ großen Anfangsgefchwindigfeit, die fie irgend wo anders, aljo
nicht durch die Anziehungskraft der Sonne, erworben haben, in ihr Gebiet ein
und vergrößern diefe Geſchwindigkeit noch durch jene Anziehungskraft. Diefer
Unterjchied ift für uns jehr wichtig.
Diefe vielleiht von anderen Sonnenfyitemen zu uns herüberfliegenden
Materieproben beitehen aus feinen anderen chemifchen Elementen wie die Gefteine
unferer Erde, nur daß die Mifchungsverhältniffe andere find. Man kann Die
Meteorfteine in zwei Klaſſen teilen, die Steinmeteorite und die Meteoreifen.
Die eriteren haben Nehnlichkeit mit den Eryftallinifchen Gefteinen unjerer tiefften
Erdfchichten, doch find fie in ihrer Zuſammenſetzung deutlich” von ihnen unter-
fchieden. Die Meteoreifen dagegen haben auf der Erde gar feine Repräfentanten,
denn es giebt bei und fein gediegened Eiſen, aus dem diefe Himmelskörper be-
ftehen; das Eifen ift vielmehr auf der Erde bereitö überall mit dem Sauerftoff
und anderen Elementen in Berbindung getreten. Diejes Metall ift ja bekanntlich
dem Einfluß des Sauerſtoffs fehr zugänglich; es voftet leicht. Das himmliſche
Eifen kann aljo mit jenem auf der Erde faſt allgegenwärtigen Sauerſtoff noch
nicht in dauernde Berührung gefommen fein; e3 hat unter wejentlid anderen
Bedingungen eriftiert wie die Materie der Erdoberfläde. Freilich in den tieferen
Schichten der Erdfrufte, die uns bisher nit zugänglich geworden find, Fönnte
jeher wohl gediegened Eifen vorkommen, und auch die Eigenart der Gtein-
M. Rilhelm Mener, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau. 543
mieteoriten fpricht dafür, daß fie einft den tieferen Schichten eines Welttörpers
angehört haben könnten, der von unferer Erde nicht ſehr verſchieden auf:
gebaut war.
Die Metevriten leiten uns in die Regionen außerhalb des Sonnenſyſtems
hinüber, aus denen fie Eommen. Sie jagen uns, daß aud in diefen unendlichen
Fernen Weltförper eriftieren, deren Materie eine überrafchende Nehnlichfeit mit
der unferes heimatlichen Planeten hat. Alle anderen bezüglichen Thatfachen der
Beobachtung befeftigen Ddiefe Heberzeugung. Richten wir das Spektroſkop auf
einen jener Firfterne, die da8 Himmelsgewölbe zu Millionen bevöltern, und von
denen der nächſte fo weit von uns abjteht, daß das Licht, in einer einzigen
Sekunde dreihunderttaujend Kilometer zurüdlegend, mehrere Jahre gebraudt,
um von dort zu uns herüberzuflimmern, jo jehen wir diefelben Linien wie im
Spektrum der Sonne in derjelben Anordnung und Stärke, daß man ein
ſchwächeres Sonnenſpektrum vor ſich zu haben meint. Dieje Linien beweijen,
daß die gleichen Stoffe unter nahezu der gleihen Temperatur und überhaupt den
gleichen phyſiſchen Bedingungen dort vorhanden find wie auf unferm
Gentralgeftirn.
Freilich zeigen wohl die meiſten, aber doc nicht alle Sterne diejes Spektrum.
Wie es in der Planetenwelt verichiedenartige Himmelsweſen giebt, fo auch unter
den Firſternen. Aber es handelt fich dabei ebenfo wie bei den Planeten immer
nur um Abftufungen einer im weſentlichen gleichen Beichaffenheit. Es giebt
Sterne, die offenbar viel heißer, und andere, die erheblicd; kälter find als unfere
Sonne. Erftere geben ſich auch meift jchon dem bloßen Auge dur ihre mehr
ins bläuliche fpielende Farbe zu erkennen, während die kälteren Sterne rot find,
ganz entiprechend der Rotglut erhigter Körper. Unfere Sonne ift in einem
Mittelftadium, das ja überall die zahlreichjten Vertreter hat; man muß fie einen
gelblicdyen Stern nennen.
Zroß ihrer unvorjtellbar großen Entfernungen, die nur in den wenigiten
Fällen noch für und ausmeßbar find, hat man die Größen einiger weniger Fir:
jterne beftimmen können, und fand fie ftetS größer als die unferer Sonne, wenn
auc nicht um ein jehr Bedeutendes. Unſere Sonne gehört alfo zu den Eleineren
Geſtirnen ihrer Art.
Die Sterne find jehr ungleich über das Himmelsgewölbe verteilt, wie fchon
der bloße Anblid desjelben zeigt. Bei näherer Unterfuhung ergiebt ſich troß
aller jcheinbaren Regelloſigkeit, mit welcher die Sterne verftreut find, daß ihre
Zahl nad) der Milchftraße in beſtimmtem Berhältnis zunimmt, und in der Milch:
ftraße jelbft drängen fie ſich bekanntlich fo dicht zufammen, daß fie dadurch für
das bloße Auge jenen myfteriöfen Schein erzeugen, der al3 ein ungeheuerer
Ring die ganze Welt von Sonnen zufammenfaßt, in welcher unfere Sonne als
eine unter Millionen gänzlich) verjhwinden würde, wenn wir uns außerhalb
544 M. Wilhelm Meyer, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau.
diejes Sonnenſchwarmes ftellen könnten. Dieje, wenn auch nur ungefähre regel-
mäßige Verteilung zeigt auf jeden Fall, daß die Materie aller diefer Sonnen
einmal in gemeinfamen Beziehungen zu einander ftand oder nod) fteht, daß ein
Milchſtraßenſyſtem exiftiert, wie wir ein Sonnenſyſtem fennen. Auch die
Sonnen diefer größeren Gemeinfamkeit führen Bewegungen aus, die eine all-
gemeine Gejeglichkeit vermuten lafjen, wenngleid; erafte Unterjuchungen hierüber
vielleicht erit nad) Jahrhunderten ausgeführt werden fünnen, bi die wegen ihrer
Entfernung jehr klein erjcheinenden Eigenbewegungen der Sterne genauer zu
überbliden find. Man kennt indes fchon heute einige Sterne, die fo große Eigen:
bewegungen befigen, daß die Anziehungskraft aller anderen Sterne des Mild;-
ftraßenfyftems auf dieſe nicht genügen würde, um die rafende Gejchwindigkeit,
mit der fie durch den Raum eilen, zu erklären. Arkturus, jener befannte vötliche
Stern im Bootes, bewegt fi; um mindeftens 3—400 km in der Sekunde durch
den Raum. Wir müſſen deshalb annehmen, daß die Fixſterne ſich wohl im all:
gemeinen unter dem Einfluß der Gejamtichwerkraft, die ſich im Mittelpunfte des
Syſtems vereinigt, bewegen, daß fie aber außerdem wirkliche Eigenbewegungen
beſitzen, die fie diefer Schwerkraft nicht verdanfen, und die fie von Syſtem zu
Spften treiben müſſen, ebenfo wie wir die Meteoriten im Gegenfat zu den
Kometen und den Planeten mit Eigenbewegungen in unfer Sonnenfyitem ein-
dringen jahen. Auch diefe müffen ja den Bereich der Sonne wieder verlaffen,
wenn fie nicht zufällig mit einem Planeten zufammenftoßen und von diefem
feitgehalten werden, wie bei einem Sturze auf die Erde. Dieſe Meteoriten find
irrende Sterne wie jene großen Sonnen; fie gehören feiner Bereinigung dauernd
an, wie fonft der größte Teil der Weltmaterie, der ſich ſtets zur Schöpfung
größerer und jchönerer Weltorganifationen durch die Gemeinfamkeit gejeglicher
Berbindungen zufammenschließt. Wir dürfen aus diefem Vergleich jener irrenden
Sonnen mit den Meteoriten von vornherein vermuten, daß die erfteren ebenjo
wie diefe gelegentlich mit anderen Weltkörpern zufammenftoßen können, da ihre
Bewegungen nicht durd) feſte Bahnen an ein beitimmtes Syſtem gebunden find,
wenngleich die3 wohl in Anbetracht der ungeheueren leeren Räume, welche zwiſchen
den Firfternen bejtehen, jehr jelten ftattfinden wird.
In der That beobadjtet man am Dimmel gelegentlid; Ereigniffe, die man
gar nicht anders al3 duch einen Zuſammenſtoß von Weltförpern erklären kann,
ich meine das Aufleuchten fogenannter neuer Sterne. Erſt im Februar 1901
ift befanntlich ein foldher im Perſeus erichienen, der das hellite derartige Objekt
jeit dem berühmten tychonifchen Sterne von 1572 war. Diefe Sterne leuchten
plöglih auf; man hat noch niemals einen wirklich erjcheinen jehen; fie find immer
nur ald vorhanden entdedt worden. In einigen Fällen zwar konnte man noch
während kurzer Zeit nad) ihrem Aufleuchten ein geringes Hellerwerden beobachten,
aber jedenfalls ſchon nad) wenigen Tagen begannen fie ftet3 wieder ſehr allmäh—
M. Wilhelm Meyer, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau. 545
ih zu erblafjen, viel langjamer als fie an Glanz zunahmen. Gelegentlid) be-
merkte man wohl aud ein Schwanken der Helligkeit, ein geringes Auf- und
Niederfladern; aber immer find diefe Sterne wieder nad Wochen oder Monaten
verfchwunden.
Es ift fein Zweifel, daß fi) auf diefen Sternen gewaltige Kataftrophen
ereigneten, und alle Ergebnifje der Beobachtung deuten darauf hin, daß es fich
hier in der That um Zufammenftöße handelt, durch welche ungeheuere Mengen
von Wärme in jehr kurzer Zeit freigemadht werden. Ein Teil der betreffenden
Weltkörper wird dadurch in glühende Gafe verwandelt, von denen man fie dann
nad) einiger Zeit deutlich umgeben fieht. Aber in den bisher beobadjteten Fällen
fann e3 fich doch nicht etwa um Zufammenftöße von Sonnen miteinander handeln.
Es find alles verhältnismäßig fleine Ereignifje gewefen, da ſchon nad) wenigen
Monaten ein fo großer Teil der entwidelten Wärme wieder auögeftrahlt war,
daß die Sterne und entfchwanden. Für den neuen Stern, der 1892 im Fuhr—⸗
mann erjchien, ift ed ſehr wahrjcheinlich gemacht, daß er dur einen Schwarm
von Sternfhnuppen oder Meteoriten flog, die beftändig auf ihn niebderftürzten,
zuweilen in größerer umd dann wieder geringerer Menge und dadurch feine Glüh—
bige mit Schwankungen lange anhalten ließ, bis er den Schwarm verließ und
dann ziemlich jchnell erblaßte. An der Meteoritenmwolfe hatten fich dabei glühende
Safe angejammelt, wodurd; diefelbe als eine leuchtende Nebelmafje fichtbar
wurde. Aehnliches beobachtet man augenblidlichh wieder an dem neuen Stern
von 1901, der noch immer in den Fernrohren fichtbar if. Es wurde ſchon
oben gejagt, daß Zufammenftöße von Körpern im Weltraume um fo feltener
fein müffen, je größer diefelben find. Deshalb haben wir bis jegt nur ſolche
Eleineren Ereigniffe zwijchen Sonnen und den häufiger vorkommenden Meteoriten
glüdlicherweife aus jener großen Entfernung erlebt. Aber wir müſſen doch aus
dem Vorangegangenen fliegen, daß der Zufammenfturz zweier Körper von
Sonnengröße nur eine Frage der Zeit fein kann, und Zeit fteht ja der Ent-
widelung der Weltförper in auf und abfteigender Linie in unendlicher Menge
zur Verfügung.
Es ift ſehr auffällig, daß alle neuen Sterne in der Mildftraßengegend
aufleuchteten, alfo dort, wo die Materie jened großen Syſtems von Sonnen
augenſcheinlich am dichteften ausgeftreut ift, Zufammenftöße alfo auch am
leichteften ftattfinden fünnen. Ein folches Ereignis fand fogar einmal mitten im
Sternhaufen der Andromeda ftatt, wo die Sterne fi wie eine Saat von
Diamanten zufammendrängen. Unfer Sonnenfyftem befindet ſich dagegen in dem
inneren, vom Ringe umfchlofienen Teile de8 Sonnenfhmwarmes, wo die Zahl der
figtbaren Sonnen fich wieder wefentlich vermindert. Die Wahrfcheinlichkeit eines
weltzerftörenden Zufammenftoßes wird alfo hier geringer wie in jenen äußeren
Partieen des eigentlichen Milchſtraßenringes.
36
545 M. Wilhelm Miever, Die gemeiniamen Züge im Weltenbau.
Dieſe Milchſtraße beiteht indes, wie auch jchon der bloße Anblid zeigt, nicht
aus ciner gleihmäßig zufammenhängenden Anfammlung von Sternen; fie zeigt
bellere und dunflere Schattierungen, wird in ihrem Zuge breiter und jchmaler
und verziveigt. ſich fogar an einer Stelle, fo daß die beiden Züge eine dunkle
Inſel zwiſchen ſich laſſen. ingehendere Unterfuchungen ftellen uns die Mild-
ſtraße als eine Gruppierung einzelner Sternenwolfen dar, die einen etwa linfen-
fürnigen Raum ziemlich unregelmäßig erfüllen. Die Materiezentren jcheinen
aljo auch in diefen größeren Syſtem einitmals in ganz ähnlicher Weife ange-
ordnet geweſen zu fein wie in unferm Sonnenreiche, wo fich ja die Planeten
auch innerhalb eines linjenförmigen Raumes bewegen. Später aber ſcheinen die
Sonnen fi) in befondere Gruppen geordnet zu haben, die gemeinfame Eigen-
bewegungen befiten und dadurch den Ring allmählich auflöfen. Es fcheint ferner,
daß die eigentliche Figur dieſes ungeheuern Weltgebildes gar nicht die eines
Ringes, jondern vielmehr einer Spirale fei, deren einzelne Windungen ſich nur
für unfern Standpunkt im Innern derjfelben perjpeftiviich zu einem Ringe ver-
einigen. Die vorerwähnte PVerzweigung der Milchitraße deutet namentlich
hierauf hin.
Soldye fpiraligen Gebilde kommen am Himmel noch jehr vielfad vor.
Einige unter ihnen zerfallen im Fernrohr in einzelne Sterne, wie die Milch—
ftraße, andere dagegen erteilen ſich als gasfürmige Körper; man nennt die
leßteren Nebel, die eriteren find Sternhaufen. Die meilten dieſer Körper
icheinen flach, linfenförmig, zu fein. Sie würden entitehen, wenn eine vorher
fugelige Maſſe von einem fie durchdringenden zweiten Körper getroffen wird;
diefer reißt dann die Materie des erfteren mit ſich fort, und es entiteht eine
Wirbelbewegung darin, durch welche ihre Materie längs der Ebene, in der der
Stoß ftattfand, jich fpiralig anordnen muß. Much hier fehen wir alfo überall
am Himmel Spuren, die auf Zufammenftöße zwiichen Weltförpern hindeuten.
Die Nebel find, wie Schon erwähnt, gasförmig. Man findet in ihnen den
allgegemwärtigen Wafferitoff, dann Stidftoff und ein unbefanntes Gas. Oft
jind mitten in ſolche Nebel wirkliche Sterne verjtreut, und es giebt alle denkbaren
Uebergänge von diejen zu jenen. Man hat deshalb angenonmen, daß die Nebel
die Bildungsftätten für die Sterne jeien, inden dieſe durch die Verdichtung der
Nebelinajie allmählich entitanden. In neuerer Zeit hat man durch die Bhoto-
graphie Nebelmafjen von ungeheuerer Ausdehnung entdedt, die ganze Sternbilder
mit einem allerdings außerordentlich mattleuchtenden Schleier überziehen. Durch
das Spektroſkop hat man die Natur diefer Gebilde nicht unterfuchen können; es
ift indes wahrfcheinlid, daß wir es bier mit ungeheueren Wolfen Eosmijchen
Staubes zu thun haben, der jonjt leere Weltenräume erfüllt. Damit find wir
an den äußerften Grenzen ſowohl des Weltenraumes wie der feinften Verteilung
der Materie in demjelben angelangt.
M. Wilhelm Mever, Die gemeinfamen Züne im Weltenbau. 547
Bir haben in der Auordnung wie der Bejcyaffenheit diejer weltbildenden
Materie überall einheitliche Züge entdeckt. In den fernften Nebeln, in denen
noch fein Sleim zu einer werdenden Welt zu erfennen ijt, begegnen wir dem
Waſſerſtoff, dem Leichteften aller Gaje, das überall auch am Aufbau unferer Erde
beteiligt ift. Wo fich diefe Nebel zu Sonnen verdichten, zeigen diefe auch im
wejentlihen die Zufammenfeßung der unferigen. Wir jehen, wie alle die mäd)-
tigen, ftrahlenden Wirkungen, mit denen die Sonne über ihr Reich herricht, auch
von jenen fernen Leuchten des Univerfums ausgehen. Denn auch die ftrahlende
Wirkung der Anziehungskraft regiert dort die Maſſen wie bier. Wir fennen
Doppel: und mehrfahe Sonnen, die ſich nad; genau denfelben Gefegen um
ihren Mafjenmittelpuntt bewegen wie die Planeten um die Sonne, nur daß
jene Körper in der Regel beide jelbftleuchten, dev bewegte wie der beivegende.
Solch ein Doppeljternigften bildete auch einftmals die Sonne mit Jupiter und
wohl auch mit den anderen Planeten, ala diefe nod eine glühende Oberfläche
beiaßen. Dunkle Begleiter diefer fernen Sonnen, alfo wirklide Planeten, find
ohne weiteres von unferm Standpunkt nicht mehr zu erkennen, dagegen haben
jich folche dadurch verraten, daß fie fich gelegentlich, wie unfer Mond bei einer
Sonnenfinfternis, vor ihre Sonne ftellten, und dadurch das Licht jenes Sternes
periodijch teilweife von ung abhielten. Es giebt aljo zweifellos dunkele Himmels-
förper, welche die Sonnen jenſeits der unfrigen begleiten, und auf denen wir
eine Lebensentwidlung ähnlich der unfrigen wohl als vorhanden vermuten dürfen.
Auch Lichtſchwankungen von der Art hat man wahrgenommen, wie fie
unfere Sonne durch die Periodizität ihrer Fledenericheinungen beſitzen muß, nur
find diefe Schwankungen bei diefen fogenannten veränderlichen Sternen viel
intenfiver, weil wir fie fonft ja auch überhaupt nicht mehr erfennen könnten.
Dasfelbe Spiel der Naturkräfte, welches die Sonnenflede hervorbringt, findet alfo
auch auf jenen Sternen ftatt. Dasielbe helle Aufleuchten unferer Atmoſphäre,
welches eine plötzlich eindringende Feuerkugel hervorbringt, ift in entiprechend
verjtärktem Maße die Urjache des Erjcheinend der „neuen Sterne". Es giebt
auch in jenen fernen des Weltgebäudes Meteoritenwolfen und Weltftaub wie
bei und. Und wie viele verwandtichaftlihe Züge befiten die Planeten unter ein-
ander! Wir haben vorhin nur die interejjantejten derjelben aufgezählt. Sie
beftehen wie die fernften Sterne aus denfelben Stoffen, die unfern Erdkörper
bildeten; fie drehen fi alle um eine Achſe und ordnen ihre Bahnen um das
Gentralgeftirn in einem flach linjenförmigen Raume an, wie die Milchftraße ihre
Sonnen und Nebelmajjen ihre Spiralen. Alle Materie, die wir darauffin prüfen
fonnten, bewegt ſich um fich jelbjt und fortichreitend, entweder um ein gemein-
james Majlencentrum oder geraden Weges von Syſtem zu Syftem irrend.
Durch die Drehung um fich ſelbſt wird auf den Planeten der Wechjel von Tag
und Nacht erzeugt, der in der irdiichen Weltordnung eine jo bedeutende Rolle
35*
548 M. Wilhelm Mever, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau.
jpielt. Die meijten Planeten befigen ficher Atmojphären, zwar wohl in fehr ver»
ichiedenen phyſikaliſchen Zuftänden, denn es zeigt jich überall bei der wunderbaren
Mebereinftimmung allgemeiner Züge eine unerſchöpfliche Mannigfaltigfeit, ganz
ebenio, wie wir es an unferer irdifchen Natur wahrnehmen.
Es iſt nicht daran zu zweifeln, daß dieſe gemeinjamen Züge aus gemein:
jamen Urſachen entipringen, die den Entwidlungsgang aller Weltkörper leiteten,
wie verjchiedene Wege fie auch jpäter gehen modten. Beobadhtungen, die wir in
diefer Hinfiht an anderen Weltförpern maden, können uns deshalb auch über
das Schidjal unferer Erde unter gewiſſen Einſchränkungen Auskunft geben.
Und diefe gemeinfamen Züge, diefe große Einheit der Weltordnung erfüllt
uns mit geheimnisvollem Ahnen eines Weltgeiites, der, wie unfer Geiſt über
unjeren Slörper, über die Materie aller Weltgebäude erhaben ift und dieje
Ordnung denkend ſchuf.
S
Railers Geburtstag auf Ber.
‚Still ziebt mein Schift auf blauer Flut £s beult der Sturm, es brüllt die See,
Fern meinem trauten Vaterland, Auffchwanker Rab’ in Racht und Graus
Am Bimmel Abendfonnenglut — Auf meinem Poften bier ich fteb
Dein Auge beimatwärts gewandt: Umtobt von Sturm= und Wogenbraus,
Gott gruͤſz Dich, liebe Abutter fern, Schwer iſt der Dienft an Schiffes Bord,
Wie wär’ ich jetzt bei Dir fo gern! Der Tod, er lauert bier und dort!
Doch meinem Kaifer ſchwur ih ja — Doch meinem Kaifer dien ich ja —
Burra mein Kalffer, mein Raiſer burra! burra mein Kkalfer, mein Kaifer burra!
Und fteigt die Flagge einft blutrot
Am Maſt empor, beifst’s: an den Feind!
Ziebt mich die Woge in den Tod —
Sterb' fern ich einfam, unbeweint —
Süfz ift Das Leben jungem Blut,
Schwer ift Das Sterben frobem Mut,
Doch meinem Kaifer fterb’ ich ja —
burra mein Kaiffer, mein Kkalfer burra!
Albert klein.
Geſprochen bei dev Staiferaeburtstandicier an Pord S. M. ©, „Moltte” 11.
ESENSESESESESESESESESESESESSONS
Periönlichkeit und Kultur.
Von
Fritz kienhard.
Ww man ſich in die gefteigerte Aufregung und folglich jeelifche Unruhe und
geiftige Unfeftigfeit der Mehrzahl unferer Zeitgenofjen im Kleinkram des
Tages gelegentlich verliert, fo kann man Stunden jchwerfter Verzagtheit erleben.
Die Preſſe trägt uns jeden Tag eine Fülle von Trivialitäten in Haus. Dede
Ueberbrettl-Gründung — die neuejte Heißt „die zudende Seele" — jedes
Interview wird ebenjo wie jeder Mord und Unfall befprochen. Als neuefte That
des Geiltesbundes, der ald „Goethebund“ ins Leben trat, wird ein Rundſchreiben
an die Einzelverbände mitgeteilt, man möge — gegen das Duell Stellung nehmen.
Sleichzeitig wird, in offenbarem Gegenjaß zum Eatferlichen Schillerpreis, ein
Bolf3:Scillerpreis von derjelben Stelle aus vorgefchlagen. Das find Kleinig—
feiten, aber Kleinigkeiten, wie fie faft jeder Tag bringt, Kleinigkeiten, die und
das eine Wefentliche bezeugen, daß ein Mangel an großer und Elarer Führung
unjerer jetigen Geiftesfultur das Gepräge giebt.
Gerüchtweiſe vernimmt man demgegenüber, daß in etlichen Sreifen ein
Lieblingsgedanfe Herman Grimms, ein Gedanke, den auch Freytag und Treitichke
gelegentlich erwogen haben, wieder in Erwägung gezogen werde. Und ich glaube
in der That: die Gründung einer deutichen Akademie, die für unfer Litteratur-
und Theatertvefen ebenfo wie für unfere Sprache einen würdigen, anregenden
fürdernden Hof bedeutender Männer daritellte, die endlich, endlich den Unfug des
Theater-Spefulantentums zu Gunften einer groß und bedeutfam eingegliederten
Nationalbühne aufhöbe, die durch Preisverteilungen, Unterftügungen, Aufgaben,
Anregung eine lebendige Macht würde — ich glaube, daß gerade in dieſen zer-
fahrenen Tagen eine ſolche Gründung ein außerordentlicher Appell an die Männer
von der Litteratur wäre, ſich als Glieder eines Bollsganzen zu fühlen und dem
geiftigen Zigeunertum, das unſere Dichtung nur mit ziellofen Einfällen bereichert,
endgiltig zu entjagen.
Dazu wären aber allerlei Vorbedingungen nötig. Wir müßten vor allen
Dingen erft wieder wiljen und in Mark und Seele aufgenommen haben, was
eigentlich Kultur ift.
550 Arie Lienhard, Perſönlichteit und Kultur,
Wir ſtehen, von außen betrachtet, auf ungewöhnlicher Kulturhöhe. In Handel
und Induſtrie, in Naturwiſſenſchaft, Kriegswiſſenſchaft, Heilwiſſenſchaft, in der
Raſchheit und Bequemlichkeit des Verkehrs, im Zeitungs- und Zeitſchriftenweſen,
in tauſenderlei kleinen Luxusdingen des täglichen Lebens — überall rund um
uns her ſehen wir eine ſtarke, eine faſt glänzende Produktivität in Entfaltung.
Und Deutſchland ſteht darin nicht zurück und ſoll auch nicht zurückſtehen. Das
„made in Germany“ hat auf allen Gebieten einen guten Klang, und wir haben,
denke ich, auch hier wieder bewieſen, daß wir nicht nur das Volk der Dichter und
Denker ſind, ſondern ebenſo das Volk der That.
Dies iſt das Gepräge des Bismarckiſchen Zeitalters. Und etliche ganz feine
Köpfe haben ſogar gemeint, der Gegenſatz der Tage Caprivis gegen den Alten
vom Sachſenwald ſei auf ein Bemühen zurückzuführen, den feineren ſeeliſchen
Stimmungen des öffentlichen Lebens, gegenüber ſo viel That und Temperament,
wieder zu beſſerer Geltung zu verhelfen, eine Meinung, die nur den Wert einer
geiſtreichen Spielerei beanſpruchen darf. Denn jene Entwickelung zu einem
„Deutſchland der That“ iſt eine geſamteuropäiſche Entwickelung, die wir mitmachen
mußten. Für immer dahin find die Tage des gemütlichen Partikularismus.
Es fragt ſich jeßt, ob nicht auf fo breiter und großer Grundlage eine neue,
größere, tiefere Gemütskraft num erft recht fiegreich durchbrechen und das Eroberte
nun auch verflären und wahrhaft beherrichen könne. Es fragt fich ferner, ob
nicht gerade wir Deutihe vor allen anderen Völkern Europas berufen ſeien,
ſolche größere Seelenkraft im größeren Deutfchland weltüberleuchtend zu ent-
falten. Zum militärifhen Führerberuf, den wir durchaus nicht fahren zu laſſen
gewillt find, nunmehr aud) den ſeeliſchen Führerberuf! Neben das Schwert den
Balmzmweig hoher Gemütskraft, neben den Blitz den leuchtenden und mwärmenden
Sonnenihein und den erquidenden Regen!
Das ift es, was ich kürzlich in die Forderung zujammenfaßte: dem großen
Reiche die große Seele! Mit dem Deutjchland der That gilt e8 zu vermählen
das Deutfchland des alten, nunmehr auf breiter Grundlage frifcher und ftärfer
wieder zu entfaltenden Idealismus.
Gelingt uns dies, jo find wir wahrhaft, und dann erft ganz, das Führer:
volk der Welt. Nichts haben wir dann poetischen Träumereien geopfert, wohl
aber haben wir eine neue und wahrhafte Durdjleuchtungsfraft echt deutfcher Art
gewonnen.
Und wie denn das? Ich will auf die gefamt-europätichen Sorgen, die ich
uns in der Sozialdemokratie entgegenftellen, auf die Unbehaglichkeit des Ultras
montanismus, auf die noch nicht feit und modern-national geregelten Erziehungs:
fragen nicht eingehen. Darüber werden in jedem Jahre Bücher gefchrieben. Der
Fachmann lieft und beurteilt fie, das Volksganze fauft daran vorüber. Wir
fönnen zunächſt nur jeder in feinem Bezirke eine neue Kultur leben. Bon diejem
Fritz Pienbard, Berföntichkeit und Kultur. 351
geſammelten Punkt aus ſtrahlt das dann weiter. Und jo werden durch dieje
anftedenden Nusjtrahlungen von Menſch zu Menſch neue Lebensitimmungen
übertragen, bis ein ganzes Netzwerk friſcheren In-die-Welt-Sehens allmählich
hergeſtellt iſt. Füge man alſo den allgemeinen Theorieen, deren Notwendigkeit
freilich nicht beſtritten werden ſoll, eine noch notwendigere Ergänzung bei durch
Selbſtbeſinnung auf die eigene Perſönlichkeit und deren machtvolle Durch—
wãrmungsbkraft.
Mit anderen Worten: vergeſſe man neben fo viel Kopf-Theorieen nicht den
noch michtigeven Madtfaktor: das Herz! Ach meine nicht das fentimentale
Derz, das in Couplets und Liebesgejchichten eine Nolle fpielt: nein, jene Kern—
fraft des Menjchen, die mit der zeugenden, jchaffenden, raftlo8 werbenden Liebe
vor allen Dingen den geflärten Willen verbindet. Diefe Art Liebe, von der das
Neue Teftament ſpricht, deren Weſen in jedem großherzigen Menfchen die
treibende Kraft ift, die in Sinderaugen ebenfo blüht wie im Genie: fie it die Macht,
die Heere beflügelt, die den Denker rajtlos ringen läht um jein Ideal, die dem
religiöfen Menſchen Kräfte ewigen Lebens giebt. Diele Art Liebe ijt der Kern—
punkt einer wahrhaft lebendigen Perjünlichfeit. Sie müßte auch das jeelen-
bildende Element in einem Volksganzen fein. Sie müßte leuchten aus unferer
Kunft und Dichtung, fie müßte unfere Kirche nach) wie vor als Sauerteig wirken
laffen, fie müßte unfere Wiſſenſchaft verflären und uns alle vor Materialismus
und Vernüchterung bewahren.
Dieje weltumfpannende und weltverflärende Gemütsfraft, größten Auf:
ihwungs fähig und doch gütig im Eleinen — ſie müßte gerade von und Deut:
chen, im Gegenjag zum „Sahrhundert-Niedergang“ (fin de siecle), nunmehr im
Jahrhundert-Aufgang der ganzen Welt gepredigt, geftaltet und vorgelebt werden.
Kt das etwas Neues? Nur für die neuefte Zeit, die den Menſchen ſelbſt
und jeinen beiten Herzendfern verjchütten ließ unter Hulturballaft. Für alle guten
und Starken Zeiten der Weltgeſchichte iit das aber nichts Neues. Noch am Anfang
des verfloffenen Jahrhunderts wuchſen in unferem geiftigen Deutichland, wie zwei
Edelbäume, Männer von echten und großen Kulturidealen: Goethe und Schiller.
Ihnen war das Wefentliche aller Kultur die Perſönlichkeit. Site ift das Weite,
fagt Schiller, was ein Dichter geben fann, fie muß es alfo auch wert fein, vor
der Deffentlichkeit ausgeftellt zu werden. Und Goethe nennt fie fchlehthin
„höchſtes Glüd der Erdenfinder" und hat demgemäß Telber gelebt, ohne Raft,
aber auch ohne Haſt, Ring an Ringe ſetzend mie der gefund wachſende Baum,
an dem der himmlische Gärtner feine Freude hat.
Nehmen wir dazu noch einige gefchloffene Eharakterfüpfe wie Stein, Treitichke,
Lagarde, in England Earlyle und in jpäterer Beit den herrlichen Rustin, nehmen
wir hinzu Bismards Vollkraft, Wagners Schaffen, auch fonft allerlei einzelne
philofophiihe Schriftiteller und Hochfchullehrer, fogar den ſcheinbar jo negativen
552 Fri Lienhard, Perfönlichkeit und Kultur.
Niegiche: — jo bemerfen wir zwar, baß jener Kerngedanke vom Mittelpunktswert
der Perfönlichkeit auch in diefem erregten Jahrhundert nicht erloſchen, daß er aber
auch nicht der fchlechthin führende, national:erzieheriihe Machtfaktor geworden ift.
Und nun meinen mit Necht die Beften von und, jene andern und in ihrer
Wichtigkeit nicht zu unterfchägenden Organe unferes Volkskörpers, ſoweit es fi
um technifche und wiſſenſchaftliche Errungenschaften unferer Kultur handelt, hätten
fich bisher genügend mit einfeitiger Kraft bethätigt: wir meinen, daß unfer Gejamt-
Organismus nunmehr einfach aus dem Gleichgewicht gerät, wenn das fo einieitig
fortgeht. Gegen die vielen Pofaunen und Blehinftrumente kommen die feineren
Gaiteninftrumente einfach nicht mehr auf. Das Orcefter hat folglich feine Har-
monie mehr oder vielmehr, zukunftsfreudiger geiprochen: es bat nod feine Har-
monie. Wir müfjen fie ihm erft wieder fhaffen.
Und fo fei es denn wieder in aller Schärfe betont: das A und 3 aller
Kultur ift der Menſch felbit. Der Menſch ala Berfönlichkeit. Sei es ein
Schulmeifterlein Wuz, fei ed eine Chamifjoihe Wafchfrau, jei e8 Bismard oder
Goethe — nicht die Begabungsftärkfe und Wirkungsweite ift an ſich das Wejent-
liche. Das Wejentliche von hier aus ift, daß ein Menſch in fid felber, im Gött-
lichen, das in und allen lebt und uns führen will, den Sammelpunft gefunden
babe, jo daß er num eine Welt für fich bildet, nicht zwar troßig abgefondert, wohl
aber in fi geichloffen und freiwillig fich eingliedernd ins Ganze, in die Nation,
in die Menfchheit.
Es ift etwas Köftliches um folchen echten Menſchen! Es giebt keinen höheren
Gewinn als eine echte Perjönlichkeit, und fei fie fchließlich nur ein Steinklopfer-
hans in geflidtem Aelplerkleid. Nicht „Rückkehr zur Natur” fordern wir mit
Rouffeau, nein, „Heimkehr zum Menfhentum!" — das ift heute unfer Lodruf.
Perfönlichkeit hat der Menſch, der gewiffermaßen durhdrungen ift von arditel:
tonifhem Gefühl, weil er alles ſchön in fich und feine Welt einfügt oder energiſch
ausfcheidet, je nachdem geläuterter Inſtinkt und geflärte Kopf- und Herzensbildung
ihn leiten. Ein Gärtner ift die Perfönlichkeit: er fucht die Edelpflanze Menſch
möglichft reich zum Wachſen und Blühen zu bringen auf natürlichem Boden, mit
liebevoller Benutzung natürliher Begünftigungsumftände. Wenige haben die
Gottesgabe, Kunſtwerke zu ſchaffen: alle aber haben wir die gleichiwertige Mög:
lichkeit, Kunſtwerke zu fein.
Wahre Kultur hat jomit nur ein Bolt — mit Austin zu ſprechen —, das
möglichft viele Berjönlichkeiten hat. Der Menſch ift das Centrum der Kultur.
Und das Göttliche im Menfchen ift das Centrum des Menjchen. Die freien
Schmeizerbauern der Zeiten von Sempach, Murten oder St. Jakob hatten nichts
von der fogenannten Kultur, die man eher Barbarei oder mindeftens Hyperkultur
nennen follte, des Neronifchen Roms; aber fie hatten kraftvolles und würdiges
Menfhentum, und darum erft blüten ihre Kantone. Nicht anders in Athen,
Fritz Lienhard, Berfönlichkeit und Kultur. 553
Süämtlidye Kulturgaben und noch mehr als früher waren auch im jpäteren Griechen-
fand reichlich vorhanden, aber die innere Kraft der Menjchen war nicht mehr
diefelbe. Diefe innere Kraft, die jeden von uns zu einer gejchlofjenen Welt mit
eigener Atmofphäre und umleuchtender Wärme machen kann, droht und verloren
zu gehen. Darum immer wieder: wo find denn bie Dichter, die wahren Welt-
verklärer, in deren Schaffenscentrum dieſer Gefichtspunft mächtig ift, Geftalten
Schafft, Worte prägt? Wo ift dies inftinktive Gefühl für Menfchenwert, durch
alle Formen bindurd, zu einer fondierenden und Rang anweifenden Macht ge:
worden? Sind wir ein „Volt von Genies" oder find wir ein innerlich freudlofes
Volk von eiferfüchtigen oder verdroffen in Sachlichem erjtidenden Ständen, Kaften
und Sonkurrenten?
Wer einmal von hier aus in unfere Kultur jchaut, der wird ordentlich er-
ihreden. Er wird bei Seite treten, um den Strom zunädjft an ſich vorbeitreiben
zu laſſen und feine Zeitgenofjen, wie bereit3 von hiftoriichem Standort aus, zu
überfchauen. Dann wird er das ewig Bleibende in dem allem und hinter dem
allen ſuchen und darin Anker werfen für Zeit und Ewigkeit. Nun beginnt er, an
jih jelber und feiner Welt zu arbeiten, von Hohen, bleibenden, göttlichen
Gefihtspunften aus, mit unerjchütterlicher Gelafjenheit und Erfolgs-&leichgiltig-
feit, in fih und Gott beruhigt, feiner Mode mehr unterworfen, immer mehr
bineinwachfend in Freudigkeit. Andere gefellen fich zu ihm, fie werden allmählid)
und faft ungewollt eine wärmende und erhellende Macht, durch einfaches Aus—
ftrahlen ihres Weſens in Wort und Werfen.
Das find dann die „Beiten einer Zeit”, das find die wahren $Sulturträger.
1%
MHeihpnadjtserinnerung.
Das war Doch eine gute Zeit,
Als manchmal fich zu mir verirrt
Ins Zimmer eine Kleinigkeit,
Wie fle geſchenkt den Kindern wird.
iDerkwürdig war es wirklich Doch
Und Iuftig, was fich bei mir fand,
His zwiſchen meinen Büchern noch
Manchmal ein bölzern Schäfcben ftand,
Als, wenn ich beimkam, dann und wann
Gemäütlicb eine Puppe fal3
Huf meinem Sopba - denkt nur an!—
Und mich mit grofzen Augen maſz;
Als noch auf meinem Tifch fogar
Mitunter — wie nur ging das zu? —
Ein kleiner Strumpf zu finden war,
MBitunter au ein kleiner Schub.
Beim Schreiben ward ich oft geftört
Durch kleiner Weſen WUebermut,
Wlenn ich ibr bell Befchrei gebötrt,
Und dennoch, mein’ ich, klang cs aut.
Wlas klein war, ift emporgedicbn,
Und jene Tage liegen weit.
Als noch die kleinen Stimmen fchrien,
Das war doch eine gute Zeit!
3. Trofaln.
MCHHEHCHENCHEH HEHE N:
Zolltarif und Reidsiteuerreform.
Von
Freiherr ©. von Zedliß und Neukird.
W: immer die Ordnung der Finanzen des Reiches und ihres Verhält-
nijjes zu den Finanzen der Bundesitaaten ſich nah der formellredhtlichen
Seite gejtalten mag, jo kann jedenfalls von einem dauernd befriedigenden Zu:
ſtande nur dann die Nede fein, wenn einerjeitS das Reich in der Hauptſache
als Regel jelbit für die Dedung feines Ausgabebedarfs forgt, und wenn ander:
jeit3 dem lawinenartigen Anfchwellen der Reichsſchuld wenigftens für die Zukunft
vorgebeugt wird.
Die Finanzen aller Bundesftaaten find in ihrer feiten Ordnung bedroht,
wenn fie nicht vor im Betrage ſchwankender, in ihrer Höhe im voraus nicht
überjehbarer Inanſpruchnahme für den Aufwand des Reiches bewahrt werden.
Die finanziell minder Leittungsfähigen Bundesftaaten können aber auch einen
einigermaßen feften Beitrag von einiger Erheblichfeit zu den Stoften des Reiches
nicht ohne ſchweren Druck aufbringen, weil fie die Steuerfraft ihrer Angehörigen
zur Dedung des Landesbedarfs ohnehin ftark in Anſpruch nehmen müffen. Daß
es im Intereſſe des Reiches liegt, e3 nicht zu einer drüdenden Laſt für den
Ihwäderen Zeil feiner Glieder werden zu lajjen, liegt auf der Dand. Die
Berpflihtung gegenüber dem nationalen Gemeinweſen und das nobile officium
des Stärferen gegenüber dem Schwächeren weiſen ſonach gleihmäßig die finanz-
kräftigen Bundesftaaten darauf bin, einer Ueberlaftung der Landesfinanzen durch
das Reich vorzubeugen. Dasſelbe gilt in noch; höherem Maße von dem Reiche,
der Reichsregierung, wie dem Reichstage.
Die Reichsſchuld erreicht troß ihres ſtarken Anwachſens im legten Jahrzehnt
and annähernd nicht die Höhe der preußiichen Staatsfchuld. Während aber
diefe ganz überwiegend zur Vermehrung des werbenden Staatövermögeng,
namentlid) des StaatSbahnbejiges aufgenommen ift und der Bedarf zur Ber-
zinfung und Tilgung derjelben aus den Neinerträgen des mittelft Anleihen er:
worbenen oder erweiterten Staatseigentums voll gededt wird, ja ein erheblicher
Ueberihuß für allgemeine Staatsausgaben übrig bleibt, find von den Reichs—
ihulden nur wenig über 10%, zur Vermehrung des erwerbenden Vermögens auf:
Freiherr O. von Zedlitz und Neukirch, Zolltarif und Reichsſteuerreform. 555
genommen. Davon entfallen nod 109 Millionen auf den Kaiſer-Wilhelms—
Kanal, welcher wenigſtens bis jet Feine entiprechende Rente abwirft. Der Reft
der Reichsſchuld ift ganz Überwiegend für Landesverteidigungszwede erwadjien.
Der Aufwand für die Neihsichuld, welcher für das laufende Jahr auf über
88 Millionen veranfchlagt ift, findet daher nur zu einem verſchwindenden Bruch—
teile einen Ausgleich; in dem Reinertrage mit Anleihen erivorbener oder ver-
bejjerter Bermögensitüde, muß in der Hauptſache vielmehr aus anderen
Einnahmen beftritten werden. Wenn es daher ganz unbedenklich erjcheint, daß -
in Preußen alljährlich Eiſenbahnkredite bewilligt werden, weil in normalen
Beiten der Reinertrag der Bahnen ftärfer fteigt als der Aufwand für die
Eifenbahnfchuld, ift die Steigerung des Bedarfs für die Reihsichuld im legten
Jahrzehnt von über 55 auf über 88 Millionen Mark finanziell ſehr bedenklich.
Wenn das Anwachſen der Reichsſchuld in deinfelben Tempo fortginge, wäre nad)
10 Jahren mit einem Bedarf von über 140, nad) 20 Yahren mit einem folchen
von über 220 und nad einem Menfchenalter mit einem folchen von über
350 Millionen Mark zu vechnen. Das jtarke Anfchwellen der Reichsichuld rührt,
abgejehen davon, daß man anfänglich jehr viele einmalige Ausgaben für Heer
und Flotte, welche nach den Regeln jolider Finanzwirtichaft aus ordentlichen
Einnahmen zu beftreiten geweſen wären und feit einer Reihe von Jahren in der
Dauptjache auch aus ſolchen beitritten werden, auf Anleihen übernommen hat,
vornehmlich davon her, daß auc für die rechtzeitige Tilgung derjenigen Anleihen,
* welche zur Beftreitung von perivdifch wiederfehrenden Ausgaben dienen, wie die
mit der von Jahrfünft zu Jahrfünft eintretenden und der durch die Fortſchritte
der Waffentechnik bedingten einmaligen Ausgaben, nicht geforgt worden ift. Es
entfpricht zwar durchaus der Billigfeit, daß ſolche einmalige Ausgaben nicht
ausschließlich demjenigen Redinungsjahre, in dem fie zu leiten find, zur Laft
bleiben, Sondern unter Mithilfe des Reichskredits auf längere Zeit verteilt
werden. Aber der Zeitraum, auf den die Verteilung ohne unfolide Belaftung
der Zukunft erfolgen darf, dedt fich mit demjenigen bis zur regelmäßigen Wieder:
fehr einer Ausgabe bderjelben Art. Die einmaligen Ausgaben infolge eines
Quinquennatsgeſetzes müſſen alfo von dem Kahrfünft bis zu deifen Ablauf, die
Koften eines neuen Gemwehrs von den Jahren, in dem es im Gebraud ift, ab-
getragen werden. Wenn bis in die letzte Zeit nur zu häufig aud) bei Ausgaben
diefer Art der Gegenwart nur der Bedarf zur Verzinfung der Anleihen auferlegt,
damit aber auch die Zukunft voll belaftet worden ijt, obwohl diejer doch in ab—
fehbarer Zeit diefelben Ausgaben blühen, jo ift das eine völlig unzuläffige Ent-
faftung der Gegenwart auf Koften der Zukunft.
Andere Ausgaben, welche nicht fo mwiederfehren wie die Koſten der erften
Erbauung unferer Flotte nebft den dazu gehörigen Anlagen und Einrichtungen,
fönnen aud) nad) ftrengen Finanzgrundſätzen auf eine lange Reihe von Jahren
56 Freiherr O. von Zeblig und Neukirch, Zolltarif und Reichsiteuerreform.
*
verteilt werden, allein man wird, um die Zukunft für die ihr zweifellos bevor-
ftehenden weiteren Aufgaben leiftungsfähig zu erhalten, diefer nicht dauernd die
volle Zinslaft aufbürden dürfen, fondern für eine angemeffene Tilgung der Anleihen
ſorgen müſſen. In den letten Kahren ift durch Heranziehung von Mehrerträgen
der Ueberweifungsfteuern über den Etatsanſatz zur Schuldentilgung zwar etiwas
in der vorbezeichneten Richtung gefchehen, und die Beſchränkung des Zufchufes
aus Anleihen zu den Koften des Baues und der Ausrüftung der Sriegsiciffe
. auf den 69, des jeweiligen Kapitalwerts der Flotte überjteigenden Teil der
Schiffsneubaufoften im Etat für 1901 erjcheint fogar als ein bedeutungsvoller
erfter Schritt auf dem Wege zur richtigen Behandlung der Reichsſchuld. Allein
beide Maßnahmen reichen zur Verhütung eines ungefunden Anwachſens berjelben
nicht aus, haben auch die Probe jchledhter Jahre noch nicht beftanden, jcheinen
nad) dem Entwurf des Reichsetats für 1902 diefe Probe vielmehr nicht beftehen
zu follen.
Die BVBorbedingung für eine Behandlung der Reichsſchuld, wie fie not—
wendig ift, um die Zukunft nicht ungebührlic; zu belaften, ift eine ſolche Ent-
widelung der ordentlichen Einnahmen des Reiches, daß die Reichsanleihen in dem
ihrer Zwedbeftimmung ent|prechenden Tempo getilgt werden können.
Wenn alſo eine den Intereſſen des Reiches wie der Bundesftaaten gleich—
mäßig entiprechende Ordnung ihres beibderfeitigen finanziellen Verhältnijjes an
die Vorausjegung geknüpft erfcheint, daß die ordentlichen Einnahınen des Reiches
ausreichen, um der Regel nad) die dauernden und die ihrer Natur auf fie anzu:
weifenden einmaligen Ausgaben zu beftreiten, jo werden fie darüber auch noch jo
viel liefern müffen, um die vechtzeitige Tilgung der Reichsſchulden zu
gewährleiſten.
Daß die jetzigen Einnahmequellen des Reichs nicht reich genug fließen, um
die Erfüllung dieſer Vorausſetzung einer befriedigenden und ſicheren Ordnung
der Reichsfinanzen auch in mageren Jahren ſicher zu ſtellen, iſt leider kaum zu
bezweifeln.
Der Etat des laufenden Jahres macht allerdings einen entgegengeſetzten
Eindruck. Denn die ordentlichen Einnahmen reichen zur Dotierung des Extra—
ordinariums mit der bisher nie dageweſenen hohen Summe von 213,5 Millionen
Mark aus; eine jo hohe Bemeſſung der für einmalige Ausgaben aus ordentlichen
Einnahmen verfügbaren Mittel dürfte für jet zur Erfüllung der Vorausfegung
nad; allen Richtungen befriedigender Ordnung des Finanzweſens des Neiches
genügen. Aber die Dauer eines fo günftigen Verhältniſſes zwiſchen ordentlichen
Einnahmen und Ausgaben ift nichts weniger als geſichert. Es war ſchon für
das laufende Jahr nur dadurd möglich geworden, daß die Einnahmen desjelben
durch den veichen Ueberſchuß des Rechnungsjahres 1899 im Betrage von mehr
als 32 Millionen ergänzt wurden. Aber auch abgejehen davon, dürften, wenn
Freiherr O. von Zedlitz und Neukirch, Zolltartf und Reichöjteuerreform. 557
das legte Drittel des Etatsjahres nicht eine ungleich günjtigere Entwidlung ber
Einnahmen aufweift als die erften zwei Drittel desfelben, das Iſtergebnis der
fteuerlihen Einnahmen ſchwerlich das Etatöfoll erreichen. Bei den Reichöftempeln
ift ein ſehr beträchtlicher Ausfall jo gut wie fiher, und ein Ausgleich durch Mehr-
erträge anderer Steuern troß des Steigend der Getreideeinfuhr nach den bis—
herigen Ergebnifjen wenig wahrſcheinlich. In Wirklichkeit reichen daher auch die
ordentlichen Einnahmen des laufenden Jahres weitaus nicht hin, um fo viel an
einmaligen Ausgaben zu beftreiten, als der ordentliche Etat aufweift. Der Etat
für 1902 liefert aber ein ungleich ungünftigeres Bild: die ordentlichen Einnahmen
bleiben fo weit hinter dem Bedarf zurüd, daß man vor der Wahl fteht, entweder
die Bundesitaaten mit Matritularumlagen zu überbürben oder nad) dem Bor-
ichlage des Bundesrats Schulden zu maden, um bie ordentlichen Ausgaben
zu bejtreiten.
Man wird fi, auch wenn man voll in Betracht zieht, was an vorüber:
gehenden Urfachen zu der augenbliklichen fchlechten Finanzlage beiträgt, und
aud fonft fi vor unberechtigtem Peſſimismus hütet, daher doc zu der Ueber:
zeugung bequemen müſſen, daß man mit fo hohen und fo raſch fteigenden Er-
trägen der Reichseinnahmen, wie im lebten Kahrfünft, nicht auf die Dauer
rechnen kann. Aladann aber ift auch die Schlußfolgerung nicht abzumeifen, daß,
wenn es notwendig ift, aus den eigenen ordentlichen Einnahmen des Reiches
mehr als 200 Millionen Mark im Jahre zur Beftreitung einmaliger Ausgaben
verfügbar machen zu können, eine beträchtliche Vermehrung der eigenen Ein-
nahmen des Reiches unabweisbar ift.
Eine ſolche Vermehrung der ordentlihen Dedungsmittel jteht dem Reiche
mit dem Inkrafttreten des dem Reichstage vorliegenden neuen Zolltarif3, be—
ziehungsweife der auf Grund desfelben abgejchlofjenen Handelsverträge in Aus—
fiht. Wie hoch die zu erwartende Mehreinnahme zu veranfchlagen fein wird,
läßt fich natürlich audy) nicht annähernd überjehen, bevor nicht Tarif: und Ber:
tragszollfäße und ihre Geltungsbereiche feitftehen. Soviel aber fteht ſchon jet
feft, daß dabei die Erhöhung der landwirtfchaftlihen Zölle eine Hauptrolle fpielen
und von deren Höhe, namentlich von den Zollfäten für Getreide, der Betrag der
Mehreinnahme aus den Zöllen abhängen wird. Die Getreidezölle ſtehen ſchon
jet weitaus an der Spite der Zolleinfünfte; fie brachten felbft in den Jahren
reicher Sinlandsernten 1899 und 1900 über 25%/, des gejamten Zollertrages auf,
im Durchſchnitt des vorangehenden Jahrvierts aber 28—29 %/,, und durchſchnittlich
etwa das Doppelte des an zweiter Stelle ftehenden Petroleumzolles. Die im
Bollgefegentwurfe vorgefehenen Minimalzollfäte bedeuten für Weizen eine Zoll-
erhöhung von rund 57, für Noggen eine joldhe von rund 43%,. Daß die Getreide:
einfuhr infolge der Erhöhung der Zollfäge erheblich zurüdgeht, ift kaum zu er-
warten. Nach dem jekigen Stande der Iandwirtichaftlihen Technik ift zwar eine
558 ‚Freiherr ©. von Zedlis und Neufirch, Zolltarif und NeichKiteuerreform.
erhebliche Steigerung unferer Getreideproduftion jehr wohl möglich, und ebenio
ift eine Vermehrung der Anbaufläche infolge von Einſchränkung des jegt über:
mäßig ausgedehnten Anbaues von Hadfrüchten denkbar. Beides aber nur unter
der Borausfetung, daß der Getreidebau wieder rentabel genug wird, um den
Mebergang vom Anbau von Hadfrüchten und Eoftipielige Meliorationen oder
Kulturarten wirtichaftlich zu rechtfertigen. Eine jo günftige Wirkung ift aber von
den geplanten Mindeftzolljägen im allgemeinen ficher nicht zu erwarten. Man
wird daher auch nur mit einer jehr mäßigen Hebung des heimijchen Getreide:
baues rechnen dürfen. Dagegen fteht in den zwölf Jahren der nächſten Handels-
vertragsperiode eine Bermehrung der Bevölkerung um mehr als 15%, in ziemlich
jiherer Aussicht, jodak, wenn die Inlandsproduktion von Getreide ſich nicht ver:
mebrte, mehr als Verdoppelung der Getreideeinfuhr eintreten müßte. Die
Setreidezölle dürften daher nad) 1903 an Bedeutung unter den Einnahmen des
Reiches noch erheblich gewinnen; ihre Erhöhung bildet jedenfall ein beſonders
harakteriftiiches Merkmal der in Ausficht ftehenden Vermehrung der Boll
einnahmen des Reiches.
Die Tandwirtichaftlihen Zölle find reine Schutzölle; für ihre Einführung
jind wirtichafts- und nicht ftenerpolitifche Gefichtspuntte entjcheidend. Gleichwohl
darf ihre Geringwertigfeit als Steuerquelle nicht unbeachtet bleiben, wenn es fid)
um die jachgemäße Beichaffung der notwendigen Einnahmen für das Reich
handelt. Insbeſondere die Brotkornzölle entbehren, weil fie ein notmwendiges
Lebensmittel treffen, de3 Hauptvorzuges richtig gewählter indirefter Steuern:
der Anpafjungsfähigkeit an die finanzielle Leiftungsfähigfeit. Der Getreidezoll
fann nicht oder wenigitens nicht annähernd fo, wie 3. B. Tabak: und Getränke—
fteuer, durch Einichränfung des Verbrauchs ausgeglichen werden. Er beſchwert
den Haushalt auch der breiten, minder wohlhabenden Klaſſen wenigitens an-
nähernd mit dem vollen Betrage der dur ihn bewirkten Preiserhöhung der
Brotfrudt. Käme, was nur bei fnappen Welternten eintreten wird, die geplante
Zollerhöhung im Preife derjelben voll zum Ausdrud, jo würde fi) die Mehr:
belaftung auf ziemlich genau 3 Mark auf den Kopf der Bevölkerung belaufen.
Bei befieren Welternten wird fie niedriger fein, namentlich wenn damit eine gute
Inlandsernte zufammentrifft. Immerhin bedeutet fie eine vom Standpunkt jteuer-
licher Gerechtigkeit, wie im Intereſſe der Lebenshaltung der großen Majjen gleich
bedauerliche Mehrbelaitung aud der ſchwächeren Schultern, und es ift daher nur
zu erflärlich, daß von wohlmeinenden Spzialpolitifern nach einem Ausgleich
gefucht wird. An Centrumskreiſen denft man daran, den Mehrertrag der Getreide:
zölle für neue foziale Aufgaben, namentlich für die VBerjorgung der Witwen und
Waifen der Arbeiter mit Beſchlag zu belegen. Profeſſor Sering ſchlägt in dem
trefflichen Aufſatze „Die deutſche Bauernichaft und die Handelspolitik“ im No—
vemberheft dieſer Zeitichrift die Aufhebung des Kaffeezolles und der Salziteuer
Freiherr ©. von Zedlitz und Neufirch, Zolltarif und Reichsitenerreform. 559
vor, wodurch eine Erleichterung um mehr als 2 Mark für den Kopf der Be:
völferung und fomit ein ausreichender Ausgleich für die Erhöhung des Zolles auf
Brotfrucht gewährt werden würde.
Beiden Vorſchlägen fteht entgegen, daß fie die von dem Zolltarif erhoffte
Beſſerung der Finanzlage vereiteln würden. Der Gentrumsplan würde den
größten Teil de3 Mehrertrages aufzehren, Profeſſor Serings Vorſchlag ſogar die
Einnahmen erheblich ftärfer vermindern, als fie durch den Zolltarif erhöht werden
würden. Ohne eine weitere beträchtliche Vermehrung der Einnahmen des Reiches
wäre daher feiner von beiden ausführbar, am wenigften der Seringiche. Gleich—
wohl beruht der lettere auf einem richtigen Grundgedanken, während dem Gen-
trumsplane, auch abgejehen von der finanziellen Seite der Sache, die erheblichiten
Bedenken entgegenftehen. Ach lege dabei das Hauptgewicht nicht auf den mehr
formellen Einwand, daß es mit dem Grundſatze der Einheit des Reichshaushalts
unvereinbar jein würde, eine beftimmte Einnahme für einen bejonderen Ver—
wendungszwed fejtzulegen. Der Grundjag der Einheit der Yinanzen ift ſchon
öfter durchbrochen worden, und zwar bei der lex Huene und in den llebergangs-
beftimmungen des Einkommenſteuergeſetzes jehr zum Nuten der preußijchen Steuer:
reform. Allerdings handelte es ſich dabei in der Kegel um Maßnahmen vor-
übergehender Natur behufs Erleichterung ipäterer organifcher Neformen, während
es ſich bei den jett in Rede ftehenden fozialpolitiihen Maßnahmen um dauernde
Einrihtungen, und zwar um ſolche handelt, deren Wiederbejeitigung einfach un—
denfbar ift. Mit diefer Natur der mit den Mehrerträgen der Getreidezölle zu
finanzierenden fozialpolitiichen Maßnahmen berührt man den ſchwerwiegendſten
Einwand gegen den Gentrumsvorichlag: den unlösbaren Widerfprudy zwiſchen
der unbedingt dauernden Natur des Verwendungszwedes und dem Charakter des
Dedungsmitteld als vorübergehender Notbehelf zur Ueberwindnng eines zeit:
weiligen wirtichaftlihen Notitandes. Nur als ein ſolcher Notbehelf find die Ge:
treidezölle gedacht, und wenn Profeſſor Dr. Julius Wolff in Breslau mit der
Auffafjung recht hat, daß im zweiten Viertel des Jahrhunderts der Weltmarkt:
preis des Getreides wieder eine Höhe erreichen wird, bei der in Deutichland der
Setreidebau ſich ausreichend lohnt, erjcheint ſogar die Zeit nicht mehr allzu fern,
wo auf diefen Notbehelf ganz oder zum Teil wieder verzichtet werden kann. Für
die Witwen- und Wailenverforgung der Arbeiter bildet daher der Mehrertrag der
Getreidezölle feine ausreichend fichere und deshalb auch Feine geeignete finanzielle
Grundlage. Umgekehrt aber enthielte die Gründung jener hochwichtigen jozialen
Einrichtung auf die Getreidezölle die Gefahr, daß dieje aus finanziellen Gründen
aufrecht erhalten werden müßten, aud wenn ſie zur Erhaltung des heimischen
Setreidebaues nicht mehr notwendig jind.
Schliefli denkt man doch auch nicht daran, die Koften der Witwen: und
Raifenveriorgung dem Reiche ganz aufzuerlegen. Ohne erhebliche neue Belaftung
560 Freiherr O. von Zedlitz und Neufich, Zolltarif und Reichsſteuerreform.
der Arbeitgeber und Arbeitnehmer würde e8 dabei nicht abgehen Fönnen; eine
folhe aber erjcheint bei der gegenwärtigen wirtichaftlihen Lage ausgefchlofjen.
Auch wer die Verforgung der Witwen und Waifen der Arbeiter als eine ebenjo
wichtige wie dringliche fozialpolitifche Aufgabe anfieht wie ich, wird ſich mit der
Verſchiebung ihrer Löſung bis zu einem günftigeren Beitpunfte befcheiden müfjen.
Wird man daher dem Centrumsplane bei einer ſachlichen Beurteilung nicht
zuftimmen Eönnen, jo erkennt man andererfeit3 unſchwer, daß dem Seringſchen
Vorſchlage der richtige Gedanfe zu Grunde liegt, es fei die Aufgabe richtiger, auf
das Leitmotiv der Gerechtigkeit geftimmter Steuerpolitik, für die Schattenfeiten
der Getreidezölle ald Steuerquelle in der Ordnung der Befteuerung felbft einen
Ausgleich zu gewähren. Thatfählih ift auch niemals bei uns anders verfahren
worden. In urfählihem Zufammenhange mit dem Bolltarif von 1879, durch
welhen eritmalig ein Zoll von 1 Mark für den Doppelzentner Getreide ein:
geführt wurde, ftand die Befreiung der Einkommen bis 900 Mark von Klafjen-
fteuer und die Steuerermäßigung für die Eintommen bis 3600 Mark durd die
preußiichen Steuergefege von 1881 bis 1883. Hand in Hand mit der Erhöhung
der Getreidezölle im Jahre 1885 ging dann die beträchtliche Erleichterung der
Kommunallaften durch die lex Huene, und auf die lette Erhöhung jener Zölle im
Fahre 1887 folgte die Erleichterung der Volksfchullaften, insbefondere die Auf:
hebung des Kopfichulgeldes. Letteres betrug zumeift rund 5 Mark für das Schul»
find; feine Aufhebung entlaftete daher den Haushalt kinderreicher Arbeiterfamilien
allein fchon ftärfer, als ihn die Zollerhöhung ſchlimmſtenfalls belaftet hätte.
Den Abſchluß diefer fteuerpolitiihen Ausgleihsmaßregeln bildete die Miquelfche
Steuerreform mit ihrer ftarfen Entlaftung der ſchwächeren Schultern von Staats-
und namentlid; von Kommunalfteuern.
Allerdings ift diefer Ausgleich nicht im Reiche, nicht durch dejjen Geſetz—
gebung und nicht auf dem Gebiete der Reichsſteuern, ſondern durch die Geſetzgebung
Preußens und auf dem Gebiete der Landes: und Kommunalſteuern erfolgt. Das
ift aber für die fteuer- und fozialpolitiihe Wirkung belanglos; auch wird man,
wenn man eine möglichjt gerechte Verteilung der gefamten Steuerlaft erreichen
will, neben dem Reiche auch Staat und Gemeinde und ihre Befteuerung zu be
rücdfihtigen haben. Diefe Vorgänge weijen daher mit beinahe zwingender Ge-
mwalt darauf hin, bei weiterer Erhöhung der Getreidezölle ſich nicht bei dem
finanziellen Erfolge für die Reichskaſſe zu beruhigen, jondern in eine Nach—
prüfung der ganzen Beftenerung in Reid, Staat und Gemeinde einzutreten, um
die Durchführung des Grundfaßes der Befteuerung nad) der Leiftungsfähigkeit
gegenüber der entgegengefegten Wirkung jener Zölle ficher zu ftellen. Dabei
wird neben der in eriter Linie zu erörternden Frage, wie zweckmäßig einer
Ueberlaftung der ſchwächeren Schultern vorzubeugen fein wird, die andere
menigiten® zu ftreifen fein, ob die ftärferen Schultern an der Geſamtlaſt nad
Freiherr O. von Beblik und Neukirch, Zolltarif und Reichsiteuerreform. 561
dem Maße ihrer Leiſtungsfähigkeit mittragen helfen, und was gegebenenfalls nach
dieſer Richtung noch erforderlich iſt.
Betrachtet man das Zoll- und Steuerſyſtem des Reiches unter dem Ge—
ſichtspunkte, wo zweckmäßig zu einer wirkſamen Entlaſtung des Haushaltes der
breiten Maſſen die Hand angelegt werden kann, ſo hat man von vornherein
eine Reihe wichtiger Zweige desſelben von der Erörterung auszuſchließen. Die
Stempelſteuern müſſen außer Betracht bleiben, weil ſie für die große Maſſe der
Bevölkerung ohne Bedeutung, vielmehr gerade zu einer angemeſſenen Belaſtung
der ſtärkeren Schultern beſtimmt ſind. Dasſelbe gilt von den Luxuszöllen.
Ferner ſcheiden aus ſämtliche Schutzzölle, weil bei ihrer Bemeſſung nicht finan—
zielle, ſondern wirtſchaftliche Geſichtspunkte und zwar ausſchließlich die Intereſſen
der Produktion und nicht die des Konſums maßgebend ſind. Endlich auch
Tabak- und Getränkeſteuern, weil dieſe Abgaben wegen ihrer Ertragfähigkeit
und wegen ihrer leichten Anpaßbarfeit an die Leiltungsfähigfeit zu den weitaus
beiten indirekten Steuern zählen.
Bon den Zöllen bleibt, da aud) der Petroleumzoll feiner handelspolitifchen
Bedeutung wegen nicht in Frage kommt, fomit, wenn man von Nebenjädhlichem
abfieht, in der That nur der von Profeſſor Sering in Ausfiht genommene
Kaffeezoll übrig. Mir ſcheint e8 aber mehr als zweifelhaft, ob der Nutzen einer
Bejeitiguug desfelben in richtigem Berhältnis zu dem Einnahmeausfall von etiwa
64 Millionen Mark brutto ftehen würde. Der Kaffee gehört nicht zu den not-
wendigen Lebensbedürfnifien, der Kaffeezoll entbehrt daher nicht der Anpaſſungs—
fähigkeit an den Beutel des Verbrauchers. Der Kaffee hat feinen Nährwert,
fein Genuß erfolgt öfter auf Koften Eräftigerer Nahrung. Auch ift der Groß—
handel3preis des unverzollten Kaffees im legten Jahrzehnt auf nahezu die Hälfte
gefunfen.
Ungleich mehr eignen ſich Zuder- und Salziteuer zum Ausgleich für die
Mehrbelaftung des Haushalts der breiten Mafjen durch die Getreidezölle. Der
Zuder ift ein Nahrungsmittel von großem Nährwert und hat, wie die ftarfe
Zunahme des Zuderverbrauds zeigt, längit aufgehört, für die großen Mafien
bloßes Genußmittel zu fein. Es wird vielfach Schon jett unter die notwendigen
Nahrungsmittel gezählt. Die Berbilligung des Zuderverbrauds erfcheint daher
al3 ein bejonders geeignetes Ausgleihungsmittel gegenüber der Belaftung des
Konjums mit Getreidezöllen. Die davon zu erwartende Hebung des Inlands—
verbrauchs würde der Zuderinduftrie jehr nüglich fein und die Unficherheit ihrer
Lage in erwünfchter Weiſe vermindern. Die vertraggmäßige Aufhebung der
Ausfuhrprämien, welche doch wohl nur noch eine frage Eurzer Zeit ift, würde
die Ermäßigung der Berbrauchsabgabe um rund 35 Millionen Markt oder 0,63
Mark auf den Kopf der Bevölkerung aud) finanziell möglich machen. Eine ſolche
Ermäßigung der Verbrauchsabgabe vom Zuder würde wirffamer und auch ſonſt
36
562 Freiherr DO. von Zedlit und Neukirch, Zolltarif und Reichsiteuerreform.
zweckmäßiger fein als die Aufhebung des Kaffeezolls, und ijt daher jedenfalls in
ernite Erwägung zu ziehen.
Mit vollem Recht weilt Profejior Sering fodann auf die Yufhebung der
Salzabgabe als geeignetes Musgleichmittel gegenüber den Getreidezöllen hin.
Die Salgfteuer trifft ein notiwendiges Nahrungsmittel und wirft Eopfiteuerartig,
wenn nicht gar progreifiv nach unten. Sie beträgt ungefähr 1 Mark brutto
auf den Kopf; ihre Befeitigung würde daher eine merkliche Entlaftung gerade
des Haushalts der ärmeren Bevölkerung bedeuten, zumal bei ihrer Höhe im
Bergleich zu dem Preije des Salzes jelbft anzımehmen ift, daß die preisermäßi-
gende Wirkung nicht vom Zwiſchenhandel aufgezehrt, jondern ſich bis zum Konfu-
menten geltend machen wird.
Aufhebung der Salz: und Erleichterung der Zuderjteuer bedeuten zuſammen
eine Entlajtung von etwa 1,63 Mark; die Belaftung der hauptſächlich Roggen
verbrauchenden ärmeren Bevölkerung durch die erhöhten Zölle auf Brotfrucht
fteflt fi in Mißerntejahren auf höchſtens 2,7 Mark auf den Kopf, bei bejjeren
Ernten auf weniger. Ein großer Teil der Mehrbelaftung würde daher durch
jene Steuerermäßigungen und Aufhebungen ſchon feinen Ausgleid finden. Etivas
kann, wie jpäter dargelegt werden wird, wenigſtens in Preußen auf dem Ge—
biete der Landesfteuern nachgeholfen werden. Erwägt man fchlieklidh nod, ein
wie großes Intereſſe alle Teile der Bevölferung an der Erhaltung einer leiſtungs—
fühigen Landwirtichaft, namentlich des Bauernftandes haben, jo wird man den
Schluß nicht unberechtigt finden, daß mit jenen Steuerleiftungen gefchehen wäre,
was billigerweile vom Standpunkte fteuerlicher und jozialer Gerechtigkeit zu ver:
langen und demzufolge von weifer Staatdkunft im Sinne wahrhaft jtaatser-
haltender Politif auch zu gewähren ift.
Die Frage ift freilich, ob dem Neiche der Verzicht auf die Salziteuer ohne
Erjat finanziell möglid ift. Sie wird zu verneinen fein. Die Mehreinnahme
aus den Zöllen infolge der Neuregelung unjerer Zull- und Handelsverhältnifje
entzieht fich zur Zeit zwar nody der Schäßung. Allein daß fie nicht ausreichen
wird, zugleich dem Reiche die nötigen Mehreinnahmen und vollen Erjag für den
Ausfall von etwa 50 Millionen Mark bei der Salziteuer zu liefern, läßt ſich
ſchon jett mit Sicherheit überjehen. Ohne Bermehrung der Reichseinnahmen
wird es daher bei Bejeitigung der Salzfteuer feinesfalls abgehen; nur der Um:
fang des Vermehrungsbedürfniſſes, nicht diefes felbft, ift noch zweifelhaft.
Der Gedanke liegt nahe, zur Erzielung der notwendigen Einnahmever—
mehrung einen Weg zu wählen, bei dem auch ein Ausgleich gegenüber der Be-
laftung der großen Mafje der Bevölkerung durch die Agrarzölle vermittelft
jtärferer Beiteuerung der wohlhabenden Minderheit ftattfindet. Was nad) dieſer
Richtung auf dem jegigen Gebiete der Reichsbeſteuerung gejchehen kann, ift aber
ſo ziemlich bereit3 bei Gelegenheit des Flottengeſetzes verwirklicht. Cine mweitere
Freiherr DO. von Fedlis und Neukirch, Zolltarif und Reichsiteuerreform. 563
Erhöhung der Yuruszölle verjpricht feinen Mehrertrag, und bei den Stempel:
jteuern jcheint die vom finanziellen Standpunkt zuläffige Höchſtgrenze ſelbſt be-
reits überjchritten zu fein. Es bleibt faum noch etwas übrig, al3 eine Steuer
auf die inländischen ſtillen Luxusweine. ine folhe iſt allerdings fchon geboten,
wenn auch die billigen Schaumweine bejteuert werden. Aber der Ertrag würde
nur gering jein.
Bon den anderen, zur Ergänzung der Reichseinnahmen vorgeichlagenen
Steuern kommt eine Reichseinfommenfteuer nicht ernftlih in Betracht. Cine
joldhe ift ohne eine Ausdehnung der Einrichtungen und YZuftändigkeiten des
Reiches, wie fie mit der verfafjungsmäßigen Souveränität der Bundesjtaaten und
dem föderalen Charakter des Reiches völlig unvereinbar fein würde, nicht durch—
führbar. Der entihiedene Widerſpruch der verbündeten Regierungen gegen einen
folhen Vorſchlag iſt ſomit nicht nur geradezu jelbitverftändlich, ſondern auch voll-
beredhtigt und daher unüberwindlid).
Damit ift zugleich) der Gedanfe einer Neichsvermögensfteuer gerichtet; denn
eine Steuer nach dem Vermögen ift in einem nad dem Grundjage der Geredh:
tigkeit eingerichteten Steuerfufteme nur deshalb am Plage, weil fie die beite
Art der Deranziehung der befonderen Steuerfraft des fundierten Einkommens
iſt. Sie bildet daher ihrer Natur nad lediglich eine Ergänzung der allgemeinen
Einkommenfteuer; die Gejeßgebung Preußens bezeichnet die Vermögensſteuer
auch ausdrücklich als Ergänzungsfteuer und bringt fie in untrennbare Verbin-
dung mit der Einkommenſteuer durch die Beſtimmung, daß beide nur zugleicd)
und in gleihen Maße ermäßigt oder erhöht werden dürfen. Die Vermögensfteuer
muß daher fo gut Landesſteuer bleiben wie die Einkommtenfteuer.
Auch der Gedanke einer Wehrfteuer ijt fchon deshalb ausſichtslos, meil
eine ſolche, da ſie doch unmöglich als Kopfiteuer gedacht werden kann, nad Art
der Einfommenfteuer veranlagt, verwaltet und erhoben werden müßte und des-
halb denjelben ausjchlaggebenden, grundjäßlichen und praktifchen Bedenken unter:
liegt wie eine Reichseintommenfteuer,
Eine Reichserbichaftsfteuer würde allerdings dieſen durchſchlagenden Einwen-
dungen nicht begegnen. Sie ift der Form nad) eine Berkehröfteuer, wurde in Preußen
früher zu den Stempeliteuern und wird auch jet noch zu den indirekten Steuern
gezählt. Kamphaufen wollte die Erbichaftsfteuer dem Reiche überweifen, und eine
folche Ueberweiſung würde aud) technisch unſchwer durchführbar fein. Die Gegen:
gründe liegen auf anderem Gebiete. Die Umwandlung der Erbichaftäfteuer in
eine Reichsiteuer würde tief in die Finanzen einiger Bundesftaaten eingreifen.
Preußen könnte die 8-9 Millionen Markt Einnahme aus diefer Steuer freilich
leicht entbehren und dürfte gern bereit fein, mit einem folcdhen Opfer ein im
übrigen befriedigende finanzielles Verhältnis zum Reiche zu erfaufen. Aber
bei einigen Staaten, Hamburg, Bremen, dem Reichslande u. a., bildet der Ertrag
36*
564 Freiherr O. von Zedlitz und Neukirch, Zolltarif und Reichsſteuerreform.
derſelben einen weſentlichen Teil der Staatseinnahmen, und der Verluſt dieſer
Einnahmequelle müßte das Gleichgewicht in ihrem Haushalte empfindlich ſtören
und fie zu einem ftarken Anziehen der Steuerfchraube nötigen. Bor allem aber
fällt dagegen ind Gewicht, daß die Erbichaftäftener, wenn aucd der Form nad)
Berkehrsabgabe, ihren Wefen nad nichts Anderes ift ald eine Form der Steuer
nad dem Vermögen. Sie unterfcheidet fi) von der Vermögensfteuer nur durd
die abweichende Art der Erhebung und fpielt in einem rationellen Steuerſyſteme,
wie diefe, auch nur die Rolle einer Ergänzung der allgemeinen Einfommenftener
behufs Erfaffung der größeren Steuerfähigkeit des fundierten Einfommens. Die
Erbichaftsfteuer wird daher auch aus grundfäglicen und praftiichen Gründen
ftet3 der Einfommenfteuer folgen, d. h. Zandesiteuer bleiben müſſen. Zu dielen
fachlichen Öegengründen kommt noch der grundſätzliche Widerſpruch, auf den im Reichs:
tage, wie im Landtage die Belteuerung der Erbanfälle an Defcendenten und
Alcendenten ſtößt. Mit dem Plane einer Neichserbichaftöfteuer ift daher auch
praftifch nicht3 anzufangen, und man wird fich wohl dazu bequemen müfjen, der
Landesbefteuerung nad) wie vor die Aufgabe zu überlafjfen, für die angemeſſene
Deranziehung der wohlhabenden Minderheit zu forgen. Der Landesgeſetzgebung
erwächſt damit die Ehrenpflicht, diefer Nufgabe gerecht zu werden. Die Erfüllung
diefer Ehrenpflicht ift zugleich ein Gebot politifcher Klugheit; namentlich da, wo
das Wahlreht nad) der Steuerleiftung abgeftuft ift wie in Preußen. Bier ift
man aud in der That bei der Neuordnung des Staatöfteuerfyftems unter Miquel
fi diefer Ehrenpflicht voll bewußt gewejen; man ift ihr namentlich durch die ftarf
nad unten abfallende, nad) oben progreifive Steuerjfala der Einfommenfteuer
gerecht geworden. Man wird fich, wenn das, was bisher nad diefer Richtung
geichehen ift, als genügend angefehen werden kann, auch jet der Prüfung nicht
entziehen können oder wollen, was zweckmäßig zum Ausgleiche der Mehrbelaftung
der breiten Maſſen durch die Agrarzölle weiter nad} diefer Richtung zu unter-
nehmen wäre. Bei diefer Prüfung ſtößt man auf den erften Blid auf zwei
Punkte, in denen die Gefeggebung in Bezug auf die Befteuerung nad) der
Leiftungsfähigfeit gerade betreff$ der Fräftigften Schultern auf halbem Wege ftehen
geblieben ift. Die Progreffion der Steuerfäße hört bei 100 000 Mark Eintommen
mit 4 Prozent auf; alle größeren Einfommen, felbft die Millionen-Eintommen,
find gleihmäßig mit 4 Prozent bejteuert. Das ift formell unfyftematifch, fachlich
unlogifh und ungeredt. Der Antrag der Sonfervativen, die Progreffion über
100 000 Mark Einkommen bis zu dem Satze von 5 Prozent fortzufegen, ift 1891
aud nur aus dem taftiihen Grunde abgelehnt worden, um den ohnehin ftarfen
Widerſpruch gegen die Progreijion über 3 Prozent hinaus nicht noch zu verſtärken.
Diejed Verfahren war angefichts der Thatfache, da das Herrenhaus diefe Pro-
greffton zunächſt abgelehnt hatte und erft unter dem Drude einer Wiederholung
des bezüglihen Beſchluſſes des Abgeordnetenhaufes mit fehr ftarfer Mehrheit
Freiherr D. von Zedlig und Neulich, Bolltarif und Reichsitenerreform. 565
nachgab, damals durchaus berechtigt. Nett hat fich die Progrefjion über 3 Prozent
völlig eingelebt; Sachſen ift mit dem Beifpiel des Hinaufgehens bis zu 5 Prozent
bereit3 vorangegangen. Der Zeitpunkt, mit jener Unebenheit in der Steuerffala
aufzuräumen und die Steuerjäge der Einfommen von über 100000 Mark fyite-
matifch bis zu 5 Prozent auffteigen zu laffen, ift daher gekommen.
Daß die Bermögenzfteuer nad) dem gleichen Safe von 1/, auf das Taujend
erhoben wird, ijt nicht minder ungerecht und unlogiſch, denn die Steuerfraft der
großen Vermögen ift relativ jehr viel ftärfer al3 die der Eleinen. Der Thaler:
millionär fann in der Regel 1500 Mark jehr viel leichter entbehren als der
Kleinkapitalift von 10-20 000 Mark Vermögen feine 5 oder 10 Marf Ergän-
zungsiteuer. Man hat 1893 von einer Abftufung der Vermögensſteuer aud nur
deshalb abgejehen, um die Schwierigkeiten nicht noch zu vermehren, welden das
Zuftandefommen des Ergänzungsfteuergefeges ohnehin in beiden Häufern des
Landtages begegnete. Auch dieſes Gejet hat fich inzwiichen ausreichend eingelebt,
um ohne Gefahr die bejjernde Hand anlegen zu fünnen. Bei der Niedrigfeit des
Steuerjages wird man von der Einführung einer vollftändigen, ſtufenweiſe auf-
fteigenden Steuerffala abjehen und fich mit der Feſtſetzung eines zweiten höheren
Einheitsjates für die großen Bermögen begnügen können. Den Uebergang von
dem niedrigeren zu dem höheren Einheitsjage würden einige wenige Steuerftufen
zu vermitteln haben. Ohne Zweifel wird diefer Plan auf fcharfen Widerſpruch
ftoßen. Wie ein im Herrenhaufe eingebradter Antrag beweilt, wird in manden
Kreifen mit Rüdfiht auf die niedrige Rente der meiften großen ländlichen Be-
figungen ſchon der jetige Betrag der Vermögensfteuer ſchwer empfunden, ihre
Erhöhung würde daher jicher chart befämpft werden. Allein es ift in Anbetracht
der Bortheile, welche dem Großgrundbejig aus den Getreidezöllen erwachſen, ein
nobile officium und ein Gebot politiiher Klugheit zugleich, diefen Widerfprud)
gegen eine Maßnahme aufzugeben, welde nicht nur an ſich einer Forderung
fteuerlicher Gerechtigkeit entipricht, jondern auch mit dazu beitragen joll, einen
weiteren Ausgleich für die Belaftung der minder wohlhabenden Schichten der
Bevölkerung durch die Getreidezölle auf dem Gebiete der Randesfteuern zu er-
möglidien. Denn die Mehreinnahme aus der höheren Befteuerung der großen
Eintommen und Vermögen wird zwedmäßig zu einer weiteren Entlajtung der
ſchwächeren Schultern zu verwerten fein. Man wird zwar ſchwerlich die Be-
freiungsgrenze noch weiter hinaufrüden oder die Degreifion der Steuerfäge fteigern
können. Wohl aber läßt fich, was übrigens auch Miquel empfahl, der Gedanke
der Berüdfichtigung bejunderer, die Steuerfähigfeit bejchränfender Verhältniſſe
bei der Veranlagung noch weiter ausgejtalten, al3 dies in dem Einfommenfteuer-
gejege vom 24. Juni 1891 gefchehen ift. Insbeſondere wird dabei darauf Bedacht
zu nehmen fein, daß die Zahl der Kinder bei den minder Wohlhabenden in ungleich
höherem Maße, als zur Zeit der Fall ift, zu einer Erinäßigung des Steuerſatzes
566 Freiherr O. von Zedlitz und Neukirch, Zolltarif und Reichsſteuerreſorm.
führt. Und zwar natürlich auch des fingierten Steuerſatzes für die Einkommen
unter WO Mark, damit dieſe ärmſten Schichten der Bevölkerung wenigſtens einer
Ermäßigung der Kommunalſteuer bei größerer Familie teilhaftig werden. Unter
dem Gefichtspunfte des Ausgleiches gegenüber der Belaftung des Haushalts durch
Getreidezoll ift eine mit der Zahl der Brotefjer im Hausftande wachiende Er-
mäßigung von Staats: und &emeindeftener von bejonderem Wert. Diefer
Entlaftung der ärmeren Steuerzahler mit zahlreicher Familie wäre in Berbindung
mit der höheren Belteuerung der großen Einfommen und Bermögen, durch weld)e
namentlich auch die an den Getreidezöllen am ftärfiten interefjierten Latifundien-
befiter betroffen werden, eine wichtige Ergänzung des im Neichsfteueriyiteme zu
gewährenden Ausgleichs gegenüber den Getreidezöllen; die preußiſche Landes:
gefeßgebung würde damit ihrer Aufgabe nad) deren beiden Richtungen gerecht
geworden fein. In Preußen würde alsdann von einer ernftlihen Mebrbelaftung
der wirklich bedürftigen Haushaltimgen durch die erhöhten Getreidezölle nicht
mehr die Rede und einem ungünftigen Einfluffe derielben auf die Lebenshaltung
und damit auf die Gejundheit und Kraft der Bevölkerung wirkſam vorgebeugt fein.
Folgten die anderen Bundesstaaten dem Beilpiele Preußens nad) Maßgabe
ihrer Steuerverfaffung, fo würde dasfelbe für ganz Deutjchland erreicht fein.
Läßt fi jo auf dem Gebiete der Yandesbeiteuerung den Forderungen aus:
gleichender Gerechtigkeit genügen, jo verſchafft man doch auf diefem Wege dem
Reiche nicht die zur Durdführung der in feiner Befteuerung zu gemährenden
Kompenfationen notwendige Vermehrung der Einnahmen. Dafür wird aljo im
Reiche felbft gejorgt werden müſſen. Kann dabei weder eine Erhöhung der Reichs
ftempelabgaben und Luruszölle noch die Einführung einer Reichs-Einkommens-,
Vermögens-, Erbichafts: und Wehrſteuer eruftlich in Frage kommen, fo beſchränkt
fi) der Umfang der diskutablen Eteuerquellen auf Verfehrsabgaben anderer Art
und auf Getränke: und Tabaffteuern.
Abgeſehen von der 1887 erſt neugeordneten Branntmweinfteuer ift eine ftärfere
Ausnußung aller diefer Steuerquellen von den verbündeten Regierungen im Zus
fammenhange mit dem Heeresgeſetze von 1893 vorgefchlagen worden. Duittungs-,
Frachtſchein- und Checkſtempel jollten 15— 16 Millionen Mark einbringen. Daneben
war eine Erhöhung der Braufteuer und nach dem Fallenlaſſen diefes Planes
durch Graf Eaprivi bei den Verhandlungen über das Heeresgeſetz von 1893 eine
Tabakfabrifatfteuer in Ausfiht genommen Sie follte einen Mehrertrag von
45 Millionen Mark, nah Ermäßigung der Steuerſätze in der zweiten Vorlage
von 1894 immer noch einen ſolchen von 33 Millionen Mark bringen. Die Brau-
fteuer wird in Bayern, Württemberg, Baden und dem Reichslande nicht erhoben,
dieſe Länder beiteuern das Bier für eigene Rechnung und zahlen dafür nad) dem
Matrikularfuße Ausgleihungsbeträge an das Neid. Durch Verdoppelung des
Ertrages der Brauftener würde einſchließlich dieſer Ausgleichungsbeträge dem
Freiherr O. von Zedlitz und Neukirch, Zolltarif und Reichsitenerreform. 547
Reiche eine Mehreinnahme von rund 40 Millionen Mark zugeführt werden, aljv
nahezu ebenfoviel, wie ihm durch den Verzicht auf die Salzfteuer an Reinein-
nahme verloren ginge. Die Bierfteuer ift in den füddeutichen Staaten durchweg
ehr viel höher als bei uns, und zwar nidyt bloß auf den Kopf, jondern aud) auf
das Hektoliter. Das Reich erhebt auf diejes 0,75, Bayern dagegen 2,44, Wirt:
temberg 2,17 und Baden fogar 2,61 Marf. Dabei fpielt der Bierverbraud in
Süddeutſchland eine ungleich größere Nolle ald bei und. Er ift namentlich in
Bayern nahezu 21/,;mal fo groß als in der Brauftenergemeinfchaft. Tabakſteuer
und Tabafzoll betragen jet ungefähr 1,17 Mark auf den Kopf und bleiben
weit binter den zurüd, was die andern großen Hulturftaaten aus dem Tabak
herausſchlagen.
In Süddeutſchland ſieht man die Tabakfabrikatſteuer, auf welche kürzlich
ja auch der bayeriſche Finanzminiſter bei der Finanzdebatte in der Kammer der
Abgeordneten hingewieſen bat, als das kleinere Uebel an. Das iſt ſehr erklärlich.
Eine Erhöhung der Brauſteuer würde für die ſüddeutſchen Staaten nur die ent—
ſprechende Steigerung der ihnen ſo ſchon ſehr unangenehmen Ausgleichungsbeträge
bedeuten, dazu wahrſcheinlich eine Erſchwerung des Mitbewerbs der bayeriſchen
Biere in Nord- und Mitteldeutſchland. Der Druck der Tabakfabrikatſteuer würde
dagegen in ungleich größeren Maße den Verbrauch, die Fabrikation und den
Dandel Norddeutichlands treffen. In Norddeutichland ift die Beurteilung natür-
fi eine wmwefentlich andere. Befonders ſcharfem Widerfpruche find die Tabaf-
jteuervorlagen von 1893 und 1894 in den Hauptſitzen der Cigarrenfabrifation
und der Tabakeinfuhr begegnet. Ihre Verwerfung ift indejjen feineswens allein
oder auch nur hauptjächlic aus fachlichen Bedenken, fondern in erfter Linie des
halb erfolgt, weil die Mehrheit, und zwar mit Necht, angelichts des raſchen
Steigend aller Eiynahmen ohne neue Steuern auszufommen glaubte. Der
Führer des Gentrums hat ausdrüdlich die Ablehnung als nicht präjudiziell für
die Zukunft bezeichnet. In der That würde die Sachlage doch jett eine weſent—
lic) andere fein, wenn es fi) darum handelte, durch höhere Belaftung eines reinen,
bauptjächlich allein von den Männern verbrauchten Genußmittel die Abſchaffung
der Steuer auf ein notwendiges Nahrungsmittel, von der die Finderreichen
Familien am ſchwerſten betroffen werden, zu ermöglichen.
Es kann nicht die Aufgabe diefer Zeilen fein, pofitive VBorfchläge zur Deckung
des Einnahmebedarfs des Reiches zu machen. Das würde erſt möglich fein, wenn
ji überleben ließe, wie had) die Mehreinnahme ift, welche außer dein Mehrertrage
aus dem Zolltarife noch bejchafft werden muß. Für jett genügt es, darzulegen,
daß das Reich noch; Reſerven in feinen Einnahmequellen in ausreihendem Maße
belitt, um bei der Neuordnung feines Steuerſyſtems nach Abſchluß der Zoll:
fampagne neben dem Gefichtspuntte der Einnahmevermehrung auch den einer
fteuerlichen Kompenfation für die Agrarzölle voll zu berüdjichtigen. Das zu thun
568 Freiherr O. von Zedlit und Neulich, Zolltarif und Reichsiteuerreform.
aber ijt die foziale Brlicht der gejetsgebenden Faktoren des Neiches, welche um
des höheren Gefidhtspunftes des Wohles des Ganzen willen einer Erhöhung des
BZolles auf Brotfrudht zugeftimmt haben. Es ift zugleich eine Forderung jtaats-
erhaltender Bolitif. Daß mit der Gewährung von Kompenfationen für die Erhö—
bung der Agrarzölle den Agitationen aus Anlaß diefer Erhöhung gefteuert wer:
den würde, ift zwar nicht zu erhoffen; denn dieje Agitationen find zum Zeil
Selbſtzweck und Sampfnittel in dem Ringen um politiihe Macht. Aber bie
vergiftende Wirkung diefer Agitationen wird zu einem guten Teile jchwinden,
wenn einer Benachteiligung des Haushalt und der Lebenshaltung der großen
Maſſe der Bevölkerung durd die Zölle auf Brotgetreide in der Hauptjache vor-
gebeugt ift. Diefes Moment praftifcher Politik verftärkt daher noch das Schwer-
gewicht der Gründe, welche unter dem Gefichtspunfte des Gemeinwohls und der
Staatöraifon ohnehin für die Verhütung jeder nicht völlig unabweislichen Ver—
ſchlechterung der Lebenshaltung der großen Mafje des Volkes ins Gewicht fallen.
16
Ausſprüche Bismardis.
Zwiſchen befreundeten großen Staaten, die keine ſtreitigen Intereffen mit einander
haben, giebt es unzählige Fälle, wo fie nafurgemäß miteinander gehen, weil ihre Intereflen
diefelben find, ohne dafi man deshalb den Verſuch zu machen braucht, die Beziehungen da-
durch zu Hören und zu verbilfern, dah man dem einen die Rolle der Mnferordnung, dem
andern die der Leifung zumenbet. (9. Dezember 1867.)
Pie Politik zweier Großflaaten neben einander kann man vergleihen mit der Tage
zweier Reifenden, die einander nicht kenmen, in einem wüflen Walde, von denen keiner dem
andern frauf: wenn der eine die Band in die Tafıhe ſteckt, dann [panni der andere Icon
feinen Revolver, und wenn er den Bahn des erfien knacken hört, feuert er ſchon. So if
es bei Mächten, von denen jede Einfluß auf die Entfcheidungen der andern hat; da muß
man Mißfrauen und die erſte Berflimmung der andern ſehr Jorgfälfig vermeiden, wenn
man die Freundfchaft bewahren will. (11. Januar 1887.)
Die Grengen zwiſchen Slaat und Rirce lallen ſich nicht fefllegen, weil beide Teile
von Baule aus von verfchiedenen Ueberzeugungen dabei ausgehen. Die Grenze. die der
Staat für eine geredite hält, if nofwendig, und immer nicht nur im Chriflentum, fondern
auch in heidniſchen Yändern, auch in jüdifchen Staalen — wo immer Priefler und König
mileinander gekämpft haben — Mreitig geweſen und geblieben, und wird es auch immer in
der Cheorie bleiben. &s handelt ſich nur darum, ob es ums gelingen wird, das Gefühl,
dah wir alle Peutfche und Jandsleute find, höher und flärker in uns lebendig zu machen
als das Gefühl, daß wir verichiedenen Konfeflionen angehören. (4. Mai 1886.)
S
Die Weltitellung Englands.
Von
Karl Peters.
Ww: berrlih jah sich diefe jchöne Erde vor einem halben Rahrhundert von
den Sreidefelfen Albiond aus an. Damal3 war England noch im wahren
Sinne des Wortes ein Inſelreich und die Herrin der Meere. Es gab feine
Flotte in der Welt, welche neben der britifchen auch nur genannt zu werden ver:
diente, und in ihr war der Nimbus der Nelfonfchen Heldenthaten noch wirkſam. In
der Mitte von Europa zankten ſich Preußen und Oeſterreich um den Vorrang
in Deutjchland und neutralifierten dadurch die gewaltige Waffenkraft der germa-
niihen Welt. An Stalien rang die Einheitsbewegung gegen die reichlich jo
ftarfen reaftionären Mächte, und auch diefes Land fiel für den Wettbewerb um
die Reichtümer unferes Planeten einfach aus. In Frankreich aber etablierte ſich
gerade da3 englandfreundliche zweite Empire Napoleons IIl., der eben von
King Street, St. James Street nad Paris übergefiedelt war und feine
Schulden im Café Royal, Regent Street, noch nicht bezahlt hatte. Das zweite
Empire richtete feine Spike gegen Rußland. Der Welten und Often des Kon—
tinent3 neutralifierten ſich aljo ebenfalld. Inzwiſchen ſahen die StaatSmänner
von Albion wie die Geier über die Erde Hin, und ungeftört von Eontinentaler
Konkurrenz griffen fie fi an Beute, wonad) ihnen gelüftete. Das „Goldene“
Zeitalter der Königin Viktoria 309g herauf. Noch ftand die engliiche Induſtrie
unbeftritten an der Spie der Nationen, England vermittelte den Schiffsverkehr
auf den Weltmeeren, die Bank von England war das große Kreditinſtitut der
Erde. Throgmorton und Lombard Street fommandierten die internationalen
Kurſe; Birmingham und Mandefter verjorgten die Menfchheit mit ihren Be:
darfsartifeln! Truhen und Kaften füllten fih. Ya, e8 mar eine herrliche Zeit.
Wir finden ihren Refler in Thaderayd und auch in Dickens' Romanen. Ad,
wenn es doch immer fo bliebe!
Wenn wir billig urteilen, müfjen wir zugeben, daß diefe Vorherrſchaft des
Angeliachfentums um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ihre fittliche Beredhti-
gung hatte. In England, und allein in England, hatte ſich der Gedanke der
bürgerlichen Freiheit durch die Krifen der drei Kahrhunderte von der Reformation
570 Karl Peters, Die Weltitellung Englands.
bis auf die franzöfifche Revolution gerettet. In England war die Habeas—
Corpusakte immer in Geltung geblieben, bier hatte fid) die power of the purse
der Commons in der Crommell:Revolution behauptet und war zur Grundlage
für die parlamentarische Verfaffung des Anfelftaates geworden. Die Entwide:
lung der freien, vornehmen Männlichkeit hatte nirgendwo auf unferem Planeten
bejjere Vorausfegungen. Bis in die entfernteften Teile der Erde trug die eng:
liche Eroberung bürgerliche Freiheit, und der Union ad war das Symbol der
Selbitbeftimmung der neu entjtehenden Gemeinweſen. Auch die Revolutionen
in den Staaten des Kontinents fnüpften immer wieder an engliiche Inſtitutio—
nen und Grundanſchauungen an, Der germanifche Gemeindefinn, germaniiches
Recht, ſelbſt germanifches Familienleben mit feinem „my house is my castle“
fanden ihre reinfte Entwidelung auf den nebelumbüllten Inſeln Großbritanniens,
während die germaniiche Welt im Herzen von Europa römisches Recht und
römische Staatäformen annahm.
Damals herricdte in England nod das „Little England“Weſen vor, wie
es jo reizend in einzelnen Erzählungen von Didend aufbewahrt geblieben ift.
Noch war die Landwirtichaft nicht völlig durd; Cobdens Freihandelspolitik zer:
ftört, und die Werte jchaffende Induſtrie begann gerade ihr Monopol auf der
Erde auszuüben. England war damals noch nicht auf die Wirtjchaftsftufe des
reinen Kapitalismus herabgejunfen. Die Börje von London war noch nicht der
weientlichfte Ausdruck der Erwerbsthätigfeit diefes Landes.
Nun trat die Umformung des Kontinents von Europa ein. In Deutfch-
fand ſchuf Bismard mit feiner Politit von „Blut und Eifen” die ſtärkſte Mili-
tärmonarchie, welche die Gefchichte der Menfchheit gejehen hat. Schlimmer —
für England — den Gegenfag gegen das ebenfalls f£riegeriiche Defterreich
wandelte er in ein feftes Bündnis zu Schutz und Truß um. Dadurch wurde
die vielenhafte latente wirtichaftliche Kraft des Deutichtums aktuell. Schnell
entridelte fich die deutiche Induſtrie, der deutiche Handel, die deutfche Reederei.
Aus dem ehemaligen bequemen „armen Vetter" wurde ein höchſt unbequemer,
ja geradezu gefährlicher Konkurrent. Eine ähnliche Entwidelung fette in Frank:
reich ein. Much hier begann eine ungeahnte Entwidelung des Anduftrialismus,
und ber Gegenjat gegen Rußland ſchlug ebenfalls in eine begeifterte Allianz um.
Dazu Fam, dat auch die „angelfähjischen Vettern“ in den Bereinigten Staaten
mit in die Schranfen traten und ihren europäifchen Bettern einen Handelsmarkt
nad) dem anderen wegnahmen. Die alten jchönen Zeiten des ungeftörten
Monopolismus auf der Erde verfanfen unter dem Horizont geihichtlicher Erinne—
rungen.
Indes, gegen allen diefen Auffchwung von rechts und links hält Groß—
britannien bis auf den heutigen Tag noch feine vwirtfchaftliche Vorherrſchaft
feft. Zwar iſt jein Aderbau ruiniert, zwar verliert fein Handel einen Markt
Karl Beters, Die Weltitellung Englands. 571
nad) dem anderen. Aber nah immer beherricht feine Meederei mehr als die
Dälfte des gefamten Verkehrs auf den Ogeanen und, wo die britijche Anduftrie
nicht mehr fonfurrenzfähig ift, kauft britiiches Kapital fremde Betriebe auf der
ganzen Erde auf und zieht in Form von Dividenden den eigentlihen Profit in
feine Tajchen. Dem engliihen Kapitaliften ift es am Ende gleichgiltig, ob er
feine Einnahmen aus Eifenfabrifen in Birmingham und Quchfabrifen in
Mancheſter, oder aus Spinnereien in Sachſen, Brauereien in Münden, Eifen-
bahnen in Chicago, Goldminen am Rand, Weinhäufern in Oporto bezieht.
Durch Dividendenzahlungen find alle Länder unferes Planeten tributpflichtig
nad) London. Dies wird bei der Behandlung diefer Frage in der Negel ganz
überjehen. Der engliihe Kapitalismus, wie er in der Eity von London fid)
äußert, produziert feine Werte heute da, wo er fie am billigften fjchaffen kann,
fo lange er nur die Gewinne daraus für fich fichert. Er geht nad) Rußland,
Ehina oder Brafilien ebenfo gern, wie er fi) in London, Birmingham oder
Glasgow engagiert. Englands Reichtum fteht und fällt heute mit dem Syſtem
des internationalen Sapitalismus, ift aber völlig unabhängig von feiner
nationalen Landwirtſchaft und Induſtrie.
Dies nun ift alles jo lange ſchön und gut, als es fih um friedlichen
Lebensgenuß und Lurus handelt. Aber e3 wird zu einer furdtbaren Gefahr für
einen Staat, wenn es zu Krifen auf Leben und Tod kommt. Ein Volk, welches
den Schwerpunkt jeines gefamten Wirtfchaftslebens in die Fremde verlegt, wird
damit abhängig von allen Schwankungen dieſer Fremde. Es ijt berechnet
worden, daß Großbritannien, wenn es nur ſechs Wochen lang von einer anderen
Macht blodiert werden könnte, durch Hungersnot zur Ergebung gezwungen werden
müßte. Wenn das Ausland ſich vereinigte, Dividendenzahlungen nad) England
zu verhindern, würden alle Jahreseinnahmen bier bis in die Eleinften Familien
hinein einen ruinierenden Ausfall erleiden.
Auch das antite Rom war in feinen Bebürfniffen abhängig von den
übrigen Ländern des Mittelmeerbedens. Es war direkt für feine Tagesmahl-
zeiten angewiejen auf überfeeiiche Zufuhren. Aber es hielt die Welt, welche es
ausplünderte, umklammert mit dem ehernen Wall feiner Pegionen; niederge-
ftampft waren die Nationen, welche ihm dienen mußten. Dies ift nicht der Fall
mit Großbritannien, welches zwar immer noch über die mädhtigite Flotte unferes
Planeten verfügt, aber ſchon nicht mehr im ftande fein würde, einer Koalition
von drei Großmächten auf der See ftand zu halten, militärisch dagegen die
ſchwächſte der europäifchen Großmächte iſt. Man erkennt den Unterfchied zum
Weltreich des alten Rom und die drohende Gefahr, in welder England fich
fortdauernd befindet. Einmal im Kriege gründlich niedergeworfen, würde Groß—
britannien die Grundlagen für fein Wirtichaftsleben überhaupt verlieren. Von
den 42 Millionen Menfchen, welche heute auf den britiichen Inſeln leben, würd‘
73 Karl Peters, Die Weltſtellung Englands.
en
mindeftens die Hälfte auswandern müfjen; denn dieje Inſeln jelbjt, auch wenn
England die Rüdwandlung vom Kapitalismus zum Anduftrialigmus und Ader:
bau durchführen könnte, würden aus fich felbft höchſtens 20 Millionen Menfchen
ernähren können.
Indes trifft diefe Bemerkung auf Großbritannien nur zu, wenn man das
europätfche Mutterland für ſich betrachte. Auf „Greater Britain“ paßt fie
niht, da das MWeltreih, als ein Ganzes angefehen, volle wirtjchaftliche
GSelbftändigfeit hat. England mit jeinen Kolonieen und Befigungen ift im
ftande, alle jeine Bedarfsartifel jelbjt zu produzieren, und hat das Ausland
überhaupt nicht nötig. Ein Biertel der Erdoberfläche ift unter britifchem Scepter.
Bon den Bolen bis zu den Tropen ift jedes Klima der Erde vertreten, und
im britiſchen Weltreih ift jeden Augenblidt Morgen und Abend, Mittag und
Mitternadt. Bon der Großartigkeit diefer impofanteften Macdtbildung der
Weltgefhichte macht fich der Eontinentale Europäer niemals eine ganz Klare Vor-
ftellung. Unendlich weit bleibt die Römerwelt an Ausdehnung und Vielgeftaltig-
feit hinter dem „Größeren Britannien" zurüd.
Aber es ift doc außerordentlich fraglich, ob es der britiichen Staatskunft
jemals gelingen wird, dieje gewaltigen Ländermafjen in ein einheitliches Wirt-
ſchaftsſyſtem zufammen zu ſchweißen. 1897 ließ es fich gar fehr an, als ob die
Kolonieen fid) als entfernte Provinzen ein und desfelben Staates fühlen lernten;
und daß fie eventuell auch die erforderlichen zollpolitiichen Opfer bringen würden.
Der ſüdafrikaniſche Krieg hat möglicherweife auch diefen Zuſammenwachſungs—
prozeß geitört. Die Schwädhe der britiihen Landarmee hat fi) zu deutlich
offenbart, als daß fie nicht auch den Jingos in Kanada, Auftralien und Neu—
Seeland zu denken geben ſollte. Es wirft direft lächerlich, wenn man die That-
fache, daß Großbritannien mit Aufwand aller feiner Kräfte den Burenkrieg nicht
beendigen fann, neben die Brahlereien ftellt, weldhe hier vorher gang und gäbe
waren und in dem Ausruf gipfelten: „let them all come“. Ende der neunziger
Fahre machte in England ein Roman Auffehen: „The final war“, in weldem
Großbritannien gleichzeitig Deutichland, Frankreich und Rußland fchlägt, Stral-
jund und Paris befegt. Heute gehört e8 bier nicht zum guten Ton, an folde
Rodomontaden zu erinnern. Auch ift das übliche Prahllied au den music halls,
welches früher ſyſtematiſch die Verachtung alles Ausländifchen in die breiten
engliichen Volksmaſſen trug, heute völlig verfchmwunden. Ich vermute, daß eine
ähnliche Abkühlung in den Köpfen der Kolonialen eingetreten ift, und dab man
weder in Auftralien nod in Kanada 1902 fo begierig fein wird, nur Provinzen
von „Greater Britain“ zu jein, wie man dies 1897 war. Es ift nun ein-
mal auf allen Gebieten jo: e3 wird in diefem Erdendafein niemandem etwas
geſchenkt, und ein Volk, welches ein Weltreich feithalten will, muß aus ſich her-
aus aud) die lebendigen Machtmittel Schaffen, um die Mitbewerber jeden Augen-
Karl Peters, Die MWeltftellung Englands. 573
blid niederichlagen zu fünnen. Die britiiche Bolitit aber hat im 19. Jahrhundert
im wefentlihen mit „bluff‘ (Preftige) gearbeitet. England könnte in diefer
Richtung fehr vieles aus Carlyle lernen.
Ich bin leider fein Prophet und demnach nicht in der Lage, den Schleier
der Zukunft zu lüften. Aber es erfcheint mir heute immerhin zweifelhaft, ob die
Menfchheit jemal3 den Ausbau des britifchen Weltreiches erleben wird. Wenn
dies nicht gelingt, dann befindet fi England in der oben gekennzeichneten
großen Gefahr, welche jede unnatürlihe Berlegung des wirtjchaftlihen Schwer:
punftes außerhalb der Grenzen des eigenen Landes mit ſich bringt. Cine große
politiihe Kataftrophe muß die Eriftenz von vielen Millionen Staatsbürgern in
unmittelbare Gefahr der Vernichtung bringen. Meine Lejer werden einjehen,
welch vitales Intereſſe aus diefem Grunde Großbritannien bat, daß der Kon—
tinent von Europa in ſich gefpalten, die fogenannte „europäifche Balance“ er-
halten bleibt; und wie unbedingt erforderlid die Ueberlegenheit der britifchen
Flotte, womöglich über alle anderen vorhandenen, für die Aufrechterhaltung diefes
Syftems ift. Denn wir dürfen nicht vergefien, daß auf der Vorherrfchaft in
der überjeeifchen Welt recht eigentlich die Rebensbedingungen für bie meiſten
Bewohner Großbritanniens und Srlands Tiegen. Deutihlands Zukunft wird
ftet3 nur aucd über See fein; Großbritanniens liegt dort ausſchließlich. Ich
möchte bemerfen, daß mich Erwägungen wie die ausgeführten, für Deutſchland,
in die Reihen der Agrarier geführt haben. Ach halte es für eine Lebensbedin-
gung des Deutſchen Reiches, feinen wirtfchaftlichen Schwerpunkt möglichſt inner-
halb der Neichögrenzen zu ſuchen und hierzu vornehmlich eine blühende Land:
wirtihaft, daneben eine kräftige Induſtrie fich zu fihern. Die zentraleuropäifche
Militärmonardie, mit den Ruſſen zur Nechten, den Franzoſen zur Linken (vom
Standpunkt der Landkarte aus) könnte fi waghalfige wirtichaftlihe Experi—
mente wie das ftolze, unnahbare Inſelreich in der That nicht geftatten. Bon
folcher feften Grundlage aus ift freilih eine möglichſt energifche Entwidelung
unferer überfeeifchen Sntereffen, von denen etwa 10 Millionen Deutjcher direkt
oder indirekt leben, eine weitere Aufgabe der deutfchen Bolitik.
An der Verfolgung feiner überfeeischen Bolitit kann Deutfchland mit den
Intereſſen Großbritanniens in Eriegerifchen Konflift geraten. Cine derartige
feindliche Politit hat Sinn und BVerftand, wenn es feinerfeit3 glauben darf, im
ftande zu fein, fich felbft an die Stelle Englands zu fegen. Nun wird fein
deutjcher Staatdmann im Ernft annehmen, daß das Deutfhe Reich jemals
Auftralien oder Indien oder Kanada annektieren könnte. Sollte Großbritannien
zujammenbrechen, fo würde Kanada den Bereinigten Staaten von Amerika zu-
fallen, Auftralien und Indien aber würden vermutlich unabhängig werden, wobei
das lettere dem Chaos zutaumeln würde. Auch wird die deutiche Politit kaum
jemals direkt nad) Südafrika oder Aegypten greifen wollen. Aus diefem Grunde
574 Karl Peters, Die Weltitellung Englands.
iſt nicht recht erjichtlich, welchen Borteil das Deuiſche Neid) aus der Zertrümme—
politif beibehält, welche dem deutichen Handel volle Gleihberechtigung mit dem
englifchen in den weiten Ländern unter dem Union Jack garantiert. Wenn denn
doc einmal Aegypten oder Kanada einer fremden Großmacht gehört, ift es für
den deutjchen Dandel immerhin bejjer, daß England fie beherricht als das ſchutz—
zöllneuifche Frankreich oder Nordamerika.
Ein Krieg gegen England kann nur den einen Sinn haben, einen gefähr:
lichen Mitbewerber, der fortdauemd einen großen Teil der deutſchen Auswande—
rung ſich aneignet, zu befeitigen. Non diefem Standpunft aus fann ich es ver:
ftehen, wenn die pangermaniſtiſche Bewegung ſyſtematiſch auf foldhen Krieg hin—
arbeitet. Aber ich nehme nicht an, daß die Führer diefer Bewegung diejen
Krieg Schon im Jahre 1902 wollen. Wenn dies jo ift, bafte ich es für falfch,
ja für geradezu gefährlich, die Anglophobie heute in Bahnen zu treiben, welche
jeden Augenblid zu einem Konflikt führen können. So lange die deutjche Politik
England in Afrika freie Hand läßt, ja ihm den Nüden deckt, ijt mir die Eng—
länderhege im deutichen Volke unverſtändlich. Denn eine folde Bewegung muß
ſich doch ein praftiiches Ziel ftellen; bloße Kundgebungen ohne einen reellen
Endplan find niemal® nad meinem Geſchmack gemwejen. Oder hofft man bei
und, die Regierung zwingen zu Eönnen, für die Unabhängigkeit der Buren-
republiken im letzten Augenblid doc nocd das Schwert zu ziehen? Und ift man
bereit, ein ſolches Opfer an Gut und Blut für ein fremdes Volkstum zu bringen?
An dem Fall — A la bonheur, Das ift ein Ziel, über welches ſich reden ließe.
Wenn aber all der Yärm um nicht? gemacht wird, dann halte ich es für min-
deſtens unklug, die Empfindungen des englijchen Volkes in jo maßlofer Weile
zu reizen und die Beziehungen zwifchen den beiden Nationen endgültig zu ver:
giften.
Großbritannien it heute fein bloßes Inſelreich mehr. Es ift eine euro-
päifche, eine amerifanijche, eine afrifanijche, eine auftralifche, vor allem aber eine
afiatifche Großmadt. Es ift demnach nicht mehr unangreifbar für. kontinentale
Militäritaaten. Selbft das Deutiche Reich, im Bunde mit Defterreich und der
Türkei, könnte es unter Umftänden in Aegypten, vielleicht jogar in Indien an:
greifen. Aber ich glaube nicht, daß der Staatsmann jchon geboren ift, welcher
unfer Volk in eine jo phantaftiiche, ja geradezu abenteuerliche Politik hinein-
führen möchte. ch nehme aud an, dat England im Berlauf eines jolchen
Krieges unter allen Umftänden Bundesgenoffen auf dem Stontinent finden
würde; vielleiht auch in den Bereinigten Staaten von Amerika. ‚Wie der
nächſte Seekrieg ausfallen wird, das ift vollftändig unberechenbar. Ein $rieg
mit England ift für Deutfchland in jedem Fall ein äußerſt gefährliches Rifiko;
zunächit würde das überfeeifche deutjche Geichäft dabei in die Brüche gehen. Che
Karl Beters, Die Weltſtellung Enylande. 575
ein Volk in eine ſolche neue Bahn einlenkt, muß es ſich ganz klar ſein über das
Maß ſeiner Kraft und alle möglichen Folgen. Wenn unſere Staatsmänner
aber einen Krieg mit Großbritannien nicht wollen, werden ſie weiſe daran thun,
den Strom der Verbitterung und Verhetzung zur Zeit zurückzudämmen.
Eines läßt ſich mit Beſtimmtheit heute behaupten, daß, auch wenn das
britiſche Weltreich in Trümmer ginge, die gemäßigten Zonen der überſeeiſchen
Welt dennoch im weſentlichen engliſch bleiben würden. Nordamerika und Auſtralien
wenigſtens können nicht wieder entnationaliſiert werden. Nur würde die leitende
Macht der angelſächſiſchen Menſchheit nicht mehr in Europa, ſondern in Nord—
amerika ſitzen. Was hiermit für Deutſchland gewonnen wäre, iſt kaum erſicht—
lich. Das iſt der großartigſte Zug in der Weltſtellung Englands, daß es über—
all da, wo es aufgetreten iſt, tief und unauslöſchbar den Ländern den Stempel
feiner nationalen Eigenart aufgeprägt hat. Was immer jein Ende fein mag, in
diefer Beziehung fteht es unbeftritten an der Spite der großen weltgeichichtlichen
Nationen. Auch ift e8 heute noch nicht in Entartung begriffen, jondern es birgt
in den Tiefen feines Volkstums genug lebendige Kraft, un die Krifis, in welcher
es ſich gegenwärtig befindet, fiegreich zu überwinden.
—
Aussprüche aus dem „Goldenen Buch“.“)
Wie ernfi war doch das Streben jener deulſchen Männer, die vor Beginn deuffcher
Rolonialgefdhichte, ohne das erhebende Gefühl der Arbeit für ein großes und geeintes
Baterland empfinden zu können, der afrikanilchen Welt ihre Geheimnille entrilfen! Möchten
wir, das jüngere Gefchledt, ihren Spuren folgen, und möchte die Bafion fich bewußt fein,
dafi jeder Buadratfuß Erde, dem deutſches Welen aufgeprägf wird, einen Forffchritt in der
Gefittung der Menſchheit bedeutet! _
Bdolf Grafvon Götsen
o
Das vaterländilce Machtbewuhlſein, welches Aelig Meigender Bolkswohlfland und
nationales Anfehen bis zur nächlten Jahrhunderfmwende in uns wacgerufen haben werden,
wird es kaum begreiflich finden lalſen, dal gegen Ende diefes Jahrhunderts das Inter-
elfe für den ethiſchen und Berlländnis für den wirtfchaftlihen Wert unferer Rolonieen
nicht Icon ein allgemein vegerer war; und mißbilligendem Erflaunen werden die Aurj-
ſichtigen überliefert werden, die heute öffentlich und mit Bachdruck ſich ala Gegner unferer
überſeeiſchen Politik bekennen.
O
*) Boldenes Buch des deutfchen Bolfes an dev Jahrhundertwende.“ Bd. I. Herausgegeben von Julius Poßincver,
Berlag von J. J. Weber, Leipzig.
3oabim Graf von Pfeil.
AIDINIBIBIDIBIBIBIBIBIBIBIBI
Deutichhes Land und polniihe Flut.
Von
W. v. Maiflow.
S: ihaffen in der Provinz Poſen ein preußifches Irland! — fo rief in der
Polendebatte im deutſchen NReichätage am 10. Dezember ein Mitglied der
Polenfrattion, der Poſener Rechtsanwalt Dr. v. Djiembowsti-Pomian, in das
Daus hinein. Er hatte mit diefer Parallele ſchon darin unrecht, daß er außer
acht ließ, wieviel die preußifche Negierung in den Hundert Jahren ihrer Herr:
Ichaft für die Provinz Poſen gethan hat. Wenn England in mehr als fieben-
hundert Jahren für Irland aud) nur annähernd jo viel gethan hätte, jo gäbe es
heute Eeine irifche Frage. Eine Polenfrage aber würde es für und aud dann
geben, wenn die preußifche Regierung das Doppelte und Dreifache für die Polen
gethan hätte; ja ed würde uns dann aus dem Polentum die doppelte und drei-
fache Gefahr erwadjen.
Die Erkenntnis diefer Gefahr arbeitet fi in nationalgefinnten Kreiſen
langfam durch, aber ihre Verbreitung entipridt noch nicht entfernt der Größe
der Gefahr. Unkenntnis der wahren Berhältnifje, ein mißleitetes, unklares Ge-
rechtigkeitägefühl, allerhand Nebenrüdfichten und Parteidoftrinen lafjen die volle
Würdigung der Lage des Deutfchtums in den Oftmarfen nicht auftommen. So
fann fi) immer noch die Borftellung erhalten, als ob die Mehrheit der Deutfchen
in den Oftmarfen aus bloßen Haß gegen das Polentum und aus brutalem
Nationaldünkel die fremdartige Minderheit unterdrüden und ihrer Mutterfprade
berauben wolle. Die Polen dagegen werden dargeftellt als Leute, die weiter
nichts wollen, als an ihrer Mutterfprache und ihren nationalen Erinnerungen
fefthalten, und die nur durch den deutfchen „Ehauvinismus“ zum Widerftande
und zur Feindſchaft gegen das Deutjchtum gereizt werden. Und jelbft wenn bier
und da zugegeben werden muß, daß die Polen ihre nationalen Wünfche lebhafter
betonen, al3 fi) mit dem Intereſſe des preußifchen Staats verträgt, fo finden
ſich unter uns Verteidiger diefes Standpunfts, die fich vollftändig bei dem Ge:
danken beruhigen, den Polen könne man doch die Anhänglichkeit an ihre Natio-
nalität nicht verübeln, und ſomit ſei es eine Forderung der Gerechtigkeit, die
Polen wegen eines ſolchen Borgehens nicht zu tadeln.
WR dv. Mafjom, Deutfches Land und polnische Flut. 577
Merkwürdige Verirrung, die einen Mangel an nationalem Pflichtgefühl als
einen Ausfluß des Gerechtigkeitsſinns hinzuſtellen ſucht!
Es iſt aber auch völlig falſch, von den Verfechtern einer entſchiedenen
Kampfpolitik gegen das Polentum anzunehmen, daß ſie den Polen nicht Gerech—
tigkeit widerfahren liegen. Sie wiſſen fie in Wahrheit beſſer zu verſtehen und
zu würdigen al3 jene anderen, die jo fchnell mit dem Urteil bei der Hand find,
daß die Polen recht und die Deutfchen unrecht haben. Denn die Meinung
diefer ſcheinbaren Polenfreunde ift doch im Grunde die, daß die Polen, wenn fie
nur einigermaßen anftändig von den Deutſchen behandelt werden, fih gern in
die Berhältniffe fchiden und gegen das Zugeftändnis der Pflege ihrer Mkutter-
ſprache und Nationalität ebenfo treu ihre Staatsbürgerpflichten erfüllen werden
wie die Deutfchen. Und damit — fo meint man — können wir zufrieden fein,
wenn ſich aud) die Liebe zum deutfchen Vaterland bei den Polen garnicht oder
erit ganz allmählich einftellt. Mit andern Worten: gerade in den Augen biefer
angeblichen Freunde find die Polen eigentlich recht jämmerliche Gefellen, An-
gehörige eines in Wahrheit abgeftorbenen, aus dem Buche der Gefchichte aus-
geftrichenen Volks.
Es ift eine feineswegs zu Scharfe Behauptung, wenn man feftjtellt, daß ſich
in diefer Meinung nicht nur eine große Unkenntnis der Berhältniffe, fondern
aud eine arge hiftorifche Unbildung ausfpricht. Gerade wer die Polen Eennt,
wer vor allen Dingen neben ihrer jetigen Art und Entwidelung aud ihre Ge—
Ihichte kennt, läßt ihnen Gerechtigkeit widerfahren, und diefe Gerechtigkeit zwingt
zu der Erkenntnis, daß das polnifche Volt troß des Verluſtes feiner ftaatlichen
Eriftenz do alle Merkzeichen einer lebenden Nation trägt.
Denn fo wertvoll für eine Nation aud die ftaatliche Selbftändigkeit ift,
das allein Entjcheidende für den Begriff der Nation fann fie nicht fein. Eine
durch Sprade, Sitte, Gejhichte und Glauben verbundene Gemeinihaft ift dann
eine Nation, wenn alle diefe Güter 'als lebendiges, geiftiges Befigtum und als
jelbftändig wirkende Kraft mit Bewußtjein von Generation zu Generation über-
liefert werden. Es kommt dabei nicht darauf an, wie groß die geiftige Wirkung
ift, die von einer foldhen Nation auf andere und auf die ganze Menjchheit aus-
geht; es genügt, daß jene gemeinfamen Güter innerhalb der Gemeinfchaft eine
ftarke Wirkung ausüben. Gegenüber manchen oberflählichen Urteilen erfordert
es die Wahrheit, feftzuftellen, daß die als barbarifch verfchrieene polnische Sprache
reich, bildungsfähig und wohlklingend ift, daß fie als heiliges Gut jorgfältig ge-
pflegt wird, daß fie eine Litteratur erzeugt hat, die fich als Ganzes freilich nicht
mit den geiftigen Leiftungen der großen Kulturvölker meſſen kann, die aber
innerhalb ihres Volkes ein mächtiges Bildungsmoment und ein achtungswerter
Hebel de3 Nationalgefühl® geworden ift. Und ebenfo ift zwar das polnische
Bolt in Kunft und Wiſſenſchaft bei Fremden in die Schule gegangen, aber es
37
578 W. v. Maſſow, Deutfches Land und polntiche Flut.
bat dem Gelernten ein nationales Gewand angezogen und es zu einem Gegen-
ſtand gemeinjamer Begeifterung und eifrigen Strebens gemadjt, das wir nur zu
unſerm Schaden unterichägen können. Die polnische Geſchichte ift dem Polen
ein heilige Vermächtnis, und man würde fich ſchwer täufchen, wenn man an—
nehmen wollte, daß die Erinnerung an die Demütigungen, die diefes Volk durd
eigene ſchwere Schuld erlitten, auf daS Gemüt eines Polen eine andere Wirkung
haben fönnte, als die eines jtarfen Anfporns, in der Zukunft erfüllen zu helfen,
was die Vergangenheit verfagt hat. Wir wollen nicht Vogel Strauß-Politif
treiben, jondern wollen uns bemühen, dieſes Volk, jo wenig ſympathiſch es
manchem von ung fein mag, in feiner Eigenart ehrlich zu ftudieren und es zu
verjtehen. Dann aber können wir zu feinem anderen Ergebnis kommen, als zu
der fiheren Erkenntnis: das polnische Volk ift troß Teines politiichen Zuſammen—
bruchs, den es vor hundert Jahren erlebt hat, eine wirkliche Nation.
Man könnte ja nun der Anficht fein, daß eine Nation, wie dieje, am beften
thäte, ji) an ihrem idealen Befit genügen zu lafjen und ſich nicht in politiiche
Abenteuer zu ftürzen. Um zu erkennen, wie ſich die Polen zu diejer Frage
ftellen, ift e8 nicht nötig, den theoretifchen Streit um die Bedeutung des foge:
nannten Nationalitätsprinzips zu erneuern. Wir fünnen uns auch jo überzeugen,
daß es für die Polen nur eine Antwort auf diefe Frage giebt. Denn das
polnische Volk ift nicht einer jener Volfsiplitter, der nur in der Anlehnung an
ein anderes Volkstum oder in Verbindung mit einem ſolchen zur Geltung ge-
langt ift und plößlich auf den Einfall fommt, auf der einzigen Grundlage der
Iprachlichen Verhältniſſe eine politifche Berüdfichtigung zu fordern, die in ſchroffem
Gegeniat zu feiner Bedeutung fteht. Nein! Die Polen haben eine wirkliche
nationale Geſchichte und wenn im Verlauf derfelben ſogar die furdhtbarite
Kataftrophe, die ein Volk treffen kann, die Kraft des felbitändigen
nationalen Lebens nicht zu brechen vermodt hat, fo folgt daraus mit umerbitt-
licher Notwendigkeit, daß die Polen die Wiedererlangung ihrer ftaatlichen Selbit-
jtändigkeit alö eine notwendige Ergänzung ihres nationalen Daſeins anfehen.
Wer diefe unbequeme Wahrheit bejtreiten will, wird fic) vergebens nad) einem
Beweis umfehen. Einen ſolchen Beweis giebt es eben nicht, weder in der Ge:
finnung der Polen, — fofern man fi) nur die Mühe giebt, unter der Schale
gewohnheitSmäßiger Dinterhaltigkeit den Kern zu erkennen, — noch in irgend-
welchen gefchichtlichen Erfahrungen, fei e8 an den Polen jelbjt, oder an einer
anderen Nation. Es ift eine ungemein Eindliche Auffaffung, die ſich die einzelnen
Polen daraufhin anſieht, ob fie heute oder morgen Nevolution machen wollen.
Darüber allerdings find die führenden Kreiſe des polniſchen Bolfs hinaus, daß
jie in vollftändiger Berfennung der internationalen Lage und der Machtver—
hältnifje zur Unzeit die Thorheiten wiederholen wollen, die ihnen 1830, 1848
und 1863 teuer genug zu ftehen gefommen find. Sie haben gelernt, daß —
W. v. Maſſow, Deutiches Land und polnische Fylut. 579
in für fie günftigiten Falle — eine Erfüllung ihrer nationalen Hoffnungen erft
von einer vorausfichtlich noch fernen Zukunft erwartet werden kann, daß fie
aber aud dann nur möglich ift, wenn das polnische Volk in einem Gebiet von
ausreichender Größe eine herrfchende Stellung erlangt hat, nicht nur in Bezug
auf die Stärke der nationalen Gefinnung, ſondern auch durd ein foziales
und wirtichaftliches Lebergewicht, das nur die Frucht einer langen vorbereitenden
Arbeit jein fann, beftehend in der Unterwerfung aller erdenklichen Berufs:
interefjen unter die Intereſſen des PBolentums.
Diefe Arbeit ift es, die jet von den Polen gethan wird. Unter dem
Schuß der Staatsgeſetze, die fie äußerlich erfüllen, benugen jie jedes Mittel zur
Ausbreitung des Polentums innerhalb des preußifchen Gebiets, und zugleich er-
füllen fie jedermann, der ihnen durd; Geburt oder Propaganda angehört, mit
der Begeifterung für polnifches Volkstum, ebenjo aber auch mit dem Geift rück—
fichtslofen fanatiihen Deutſchenhaſſes. Wenn jene Begeifterung vielleicht aus
den allgemeinen Beitrebungen zur Erhaltung der Nationalität zu erklären ift,
diefer Hat erklärt ji) nur aus dem Hinblid auf die fünftige Stunde der Befreiung.
Dazu Hat unfer nationale® Gemwilfen Stellung zu nehmen. Aber das
fann nicht geichehen, indem wir fragen, ob wir das Thun der Polen für recht
oder unrecht halten, oder wie wir an ihrer Stelle handeln würden. Wir haben
nur zu fragen: Welde Folgen hat diejes Treiben der Bolen für unfer
Baterland? Sind es Ichädliche Folgen, jo haben wir das Unſrige zu thun,
um dieſen Schaden abzuwenden. Das Ziel der polnischen Nationalbeitrebungen
aber richtet fi gegen Beftand und Anterefjen des preußifchen Staates, gegen
deutfches Gebiet und gegen die Sicherheit der Reichsarenze. Unfere Pflicht
fteht aljo feft, und daran kann nichts dadurch geändert werden, daß wir das
Berhalten der Polen von ihrem Standpunkt aus begreiflic finden. Niemand,
der ein Befittum zu verwalten hat, wird einem andern gejtatten, Teile dieſes
Beſitztums für fi in Anſpruch zu nehmen. Er wird ein ſolches Borgehen aud
dann abwehren, wenn er von dem guten Glauben des andern überzeugt ift. So
wird er verfahren, jelbjt wenn er großmiütige Neigungen und freie Verfügung
über feinen Bejit hat, wievielmehr nicht bei Gütern, für die er andern verant
wortlih ift. Für unfer Baterland aber tragen wir eine folde Ber:
antwortung im bödften Maße; wir tragen fie vor Gott, vor der
Geihichte, vor unfern Volksgenoſſen, vor unſern Sindern umd
Kindesfindern. Wir haben bier fein Recht, großmütig und weid-
herzig zu fein.
Hätten wir ein Richteramt zwiſchen unjerm eigenen Volt und dem fremden,
felbft dann würde es feine Gerechtigkeit fein, die nur das Recht der Bolen
kennt. „Gerechtigkeit“ bedeutet, daß jedem das Recht werde, das er ohne
Beeinträchtigung gleichwertiger Rechte anderer genießen kann; fie bedeutet aber
37*
580 W. v. Maſſow, Deutſches Land und polniſche Flut.
nicht die Verſchleuderung wohlerworbener Rechte an die Anſprüche anderer.
Wenn wir überhaupt den polniſchen Rechtsſtandpunkt bei der Beſtimmung
unferes Verhaltens mitfprecjen lafjen wollen, dann muß es in ganz anderem
Sinne gefhehen. Dann müfjen wir uns jagen: Je mehr die Polenfrage ein
Konflikt berechtigter Intereſſen ift, je ſtärker unſer Gegner infolgedejlen ift, defto
energifcher, zäher, pflichtbewußter und unerbittlicher müfjen wir den Kampf zum
Shut unferer nationalen Stellung und unſeres Staatögebiet3 führen. Gerade
deshalb dürfen wir uns nicht von Mitleid und allerhand ſchwächlichen und ver:
zagten Erwägungen leiten laffen.
So jteht die Sache, wenn wirklich einige unter uns glauben, daß die Bolen
ein gutes Recht haben, fo zu handeln, wie fie es thun. Aber wir müſſen vor
allem Eins betonen: Wir ſelbſt haben ein unbeftreitbares Recht auf dieſe
Bebietöteile, die uns die Polen entfremden wollen. Es wird immer nod von
dem „Unrecht“ der Teilungen Polens geſprochen. Gewiß können wir ruhig zu:
geben, daß die überlieferte, noch in vielen Unterrichtsbüdjhern enthaltene Be:
gründung dieſes geſchichtlichen Vorgangs anfehtbar it. Wan hört da ſehr
häufig die Theorie eines Interventionsrechts vertreten, das in veralteten Vor:
jtellungen aus der Zeit der Kabinettspolitit und des beichränften Unterthanen-
verjtandes wurzelt und unſern weiter entwidelten, gefchichtlihen und politifchen
Grundjägen nicht mehr zufagt. Lafjen wir aber überhaupt jede faliche Frage—
ftellung nad) Recht oder Unrecht und ſuchen wir die politifche Motwendigkeit aus
den gejchichtlich feſtſtehenden Umſtänden zu begründen, fo wird uns Elar werden,
daß Friedrich der Große nicht anders handeln durfte. Nicht um der inneren
Unruhen in Polen, jondern um der Bolitif Rußlands willen durfte er die gegebene
Gelegenheit nicht verpafjen, um feine Hand auf Weftpreußen zu legen. Es war
altes deutjches Land; die Polen felbft hatten es erft dem deutfchen Orden ab»
genommen, deflen Rechtönacdhfolger der König von Preußen war. Friedrich
gefährdete Dftpreußen, einen wertvollen Teil feiner Monarchie, an dem der
Nechtstitel feiner fouveränen Königskrone haftete, wenn er der ruffifchen Politik
freien Lauf lie und nicht dafür jorgte, daß an der unteren Weichjel ein Zus
ſammenhang zwilchen den getrennten Teilen des Staatsgebiets hergeftellt wurde.
Die Politik feines Nachfolgerd bei der zweiten und dritten Teilung Polens
entſprang weniger Elaren und unanfechtbaren Gefihtspuntten. Sie war formell
eine Nahahmung und Fortfegung der Politik Friedrich des Großen und dod
etwas Andered. Sie war erflärlic, bei den Anfchauungen der Zeit über Volks—
rechte und Nationalität und bei der damaligen Ueberihägung des Wert? von
Gebietserweiterungen, aber es gereichte jedenfalls zum Heil Preußens und
Deutichlands, daß diefed Gebiet in den Stürmen der napoleonifchen Zeit wieder
verloren ging — bis auf die heutige Provinz Poſen. Wenn diefer Befig von
Preußen fetgehalten wurde, fo lagen dafür befondere Gründe vor. Die ſchon
W. v. Maſſow, Deutiches Land und polnische Flut. 581
zu Zeiten der polnischen Könige vorhandene jtarfe Durchſetzung dieſes Landes»
teil8 mit deutſchen Bevölferungselementen lie feinen Beſitz unbedenklich erjcheinen,
feine Lage zwiſchen Weftpreußen und Scleften, die Entwidelung der wirtſchaft—
lihen Beziehungen, die Sicherheit der preußifchen Oftgrenze forderten ihn. Nicht
auf Grund feines alten BefigrechtS von der zweiten Teilung Polens her, fondern
auf Grund befonderer neuer Berftändigung mit Rußland hat Preußen im
Wiener Kongreß 1815 diefe Provinz wiedererlangt. Weftpreußen aber war ihm
fogar von Napoleon gelaffen worden. Unter ſolchen Umftänden war es ein
Fehler der preußijchen Diplomatie, daß fie fi bei den Verhandlungen des
Wiener Kongreſſes über die polniſche Frage al3 Grundlage den status quo von
1772 und demzufolge die Rolle al3 eine der fogenannten „Teilungsmächte“ auf-
drängen ließ. Aus diefem Fehler, deſſen Vermeidung durchaus im Bereich der
Möglichkeit lag, — darauf einzugehen, würde natürlich hier zu weit führen, —
find alle Unklarheiten über das Verhältnis des preußifchen Staates zu feiner
polniſchen Bevölkerung entjtanden, die den Wiener Verträgen von 1815 vorzumwerfen
find und den Polen Anlaß geben, ich noch heute auf fie zu berufen. Eines ift aber
aud nad) dem Wortlaut der Abmachungen von 1815 Klar, daß die Provinzen Weft-
preußen und Poſen ein untrennbarer Beftandteil des preußifchen Staates find, dem
feinerlei Sonderredhte zugeftanden find. Diejenigen Rechte, die die Polen inner:
halb des preußifchen Staates auf Grund der Zufiherungen des Königs wirklich
zu fordern haben, find ihnen, obgleich fie durch Aufftandsverfuhe und offene
Teindjeligfeit gegen den Staat eigentlich verwirft waren, dennoch dadurd) gewähr-
feiftet worden, daß die Polen mit vollftändig gleihem Recht Bürger des
preußiſchen Berfajjungsftaates geworden find. Die Pflicht, die ihnen dadurd
gegen den preußiihen Staat auferlegt wird, war auch bereit3 die VBorausjegung
der Zufiherungen von 1815, und es ift bei leßteren niemals beabfichtigt gewefen,
den Polen Sonderrechte oder ein größeres Maß von Rechten zuzumeifen als
andern Staat3bürgern.
Wenn es fu ftaatsrechtlich und verfaffungsrechtlich feftfteht, daß es inner:
halb des preußiihen Staates niemals ein polnifhes Sondergebiet irgendwelcher
Art oder eine andere Rechtsgrundlage als die preußifche Verfaffung geben kann,
fo muß auch darauf bingewiefen werden, daß das Deutſchtum ein moralifdhes
Recht auf diefes Land hat. Alles, was an Kultur dort vorhanden ift, ift deutfchen
Ursprungs; aud die Polen wandeln in den Fußftapfen der Deutfchen. Deutjcher
Fleiß hat das Land zur Blüte gebracht, ift der Lehrmeilter der Polen geweſen;
deutiches Kapital von höchſtem Wert ftedt darin; das Land it zur Sicherheit
des Reichs notwendig, und deutfches Blut ift dafür gefloſſen. Iſt es nicht
ehrlos, diefes Land im Stich zu laffen und zuzufehen, wie fich Fremde
in argliftiger Abfiht darin ausbreiten und unfer Volkstum an die
Wand drüden?
582 W. v. Maſſow, Deutiches Yand und polntiche Flut
Es ift nicht Aufgabe dieſes Auffages, die Mittel zu erörtern, mit denen
wir uns gegen das Polentum zu verteidigen haben. Nur ein verbreiteter Irrtum
mag bier noch mit kurzen Worten erörtert werden. Ich meine den Irrtum, als
ob es einzelne beftimmte Maßregeln geben könnte, die uns in verhältnismäßig
furzer Zeit an das Biel unferer Wünfche bringen würden. Mindeftens die
Hälfte von allem, was über die Polenfrage von Deutichen gejchrieben, gedrudt
und geredet wird, ift Sritif an dem, was andere Deutjche oder die Regierung
gegen die Ueberhandnahme der polnischen Gefahr thun oder vorfchlagen. Der
Anhalt diefer Reden und Auffäte läuft immer darauf hinaus, daß es Heißt:
„Made es nicht jo, ſondern anders, und zwar jo, wie ich fage!" Ueber gewiſſe
Maßregeln allerdings, namentlich ſolche, die durch einen Akt der Gejetgebung
feftzulegen find, ift ein Meinungsaustaufch nötig, aber es ift tief bedauerlich,
wenn unfere deutjchen Volksgenoſſen weiter nichts thun können, als jich
gegenfeitig nadıweifen, daß fie in diefer oder jener Einzelheit Fehler begehen und
Mißerfolge gehabt haben. Das wahre Rezept zur Löſung der Polenfrage ift
viel allgemeiner und einfacher als die meiften denfen. Es lautet: Jeder denke
in feinem Wirkungskreiſe daran, daß er ein Deutfcher ift und den Be—
ftrebungen des Polentums Widerftand zu leiten hat! Er mag jelbit über die
Mittel nachdenken, mit denen er das thun kann; er joll aber aud jedes Be—
jtreben achten und unterftügen, das in feiner Sphäre nad dem gleichen Ziel
tradtet. So lange das nicht oberfte Richtſchnur aller Deutihen im Kampfe
gegen das BPolentum ijt, werden uns weder Anſiedlungskommiſſion, noch
Spradjenverordnungen, noch fulturelle Hebungsverſuche erheblich vorwärts
bringen. Aber alle diefe Mittel können uns mit der Zeit ans Ziel bringen,
wenn neben ihrer beharrlichen und ftetigen Anwendung zugleich auch in den
kleinen und Eleinften Beziehungen des Alltagslebens jeder Deutiche nad feiner
Art auf dem Poſten ift.
Aus dem „Goldenen Budy‘“.*)
Gelehrte und Schrififteller bilden keine Gegenſähe. Sie ergänzen ſich gegenlritig,
auch wenn ihre Funktionen nicht in einer Perſon vereinigt find. Pie Wahrheit erforfchen
und fie der Menfchheit kundthun find gleidı notwendige und heillame Leiſtungen fir den
Fortfchritt der Rulkur. Die Einwirkung ernlter Schriftfieller auf die Gefiftung, auf die
Erweckung geifigen Interefles, auf das Gemülsleben des Polkes verdient wohl eine
größere Würdigung, als ie ihr bisher in Peuffchland vielfach zu teil geworden if.
Miguel.
*”, „Bolbenc& Bud bes deutſchen Bolkes an ber Jahrhunbertwende“. 9.I Herne
negeben von Julius Lohmeyer. Berlag von 3.3. Weber, Leipzig.
SEE eae9aaeaaaaoO
Meine Kämpfe in Ostafrika.
Don
Bermann von Wissmann.
III. Das Gefecht gegen Sunda.
I: als 8000 Trägerlaften, darunter Teile des Dampfers für den Nyaſſa—
See, waren vermittelft aller nır denkbaren Transportmittel von der
Küfte am Südende des Sees angelangt.
Ach Hatte, nachdem ich den Transport gejichert jah, eine geeignete Werft
eingerichtet, übergab einem Teil meiner Erpedition den Aufbau des Dampfers,
begab mid) nad dem Nordoftufer des Nyafja, ſuchte und fand einen für die
Station Langenburg geeigneten Küftenplaß mit Hafen, befeitigte denjelben und
teilte aberınal3 mein Expeditionskorps, indem ich zur Befeßung und für den Muf-
bau der Station einen Teil zurüdließ, fo daß ich für die weiteren Aufgaben der
Erpedition nur noch fünf Europäer und adıtzig Soldaten übrig behielt.
Der ganze Süden Deutſch-Oſtafrikas hatte von unſerer Befigergreifung
noch nicht3 veripürt. Die Häuptlinge der zahlreichen dort befindlichen Stämme
waren mit uns nod nicht in Verbindung getreten; vor allen aber war hier im
Süden des Tanganyfa:- und im Norden des Nyaſſa-Sees noch lebhafter
Sklavenhandel im Gange. Diefen hier zu vernichten und die Eingeborenen mit
unferer Oberhoheit befannt zu machen, ich möchte jagen, politifch Ordnung zu
Ichaffen, war nun meine Aufgabe während der Zeit, die der Bau des Dampfers
und der Station in Anjprucd nehmen würde.
In Etappen marfchierte ich vom Nordende des Nyaſſa längs der Grenze
des Schußgebietes nad Welten, indem ich während meiner verjchiedenen Auf:
enthalte mit den Eingeborenen verhandelte.
Zwei Tagemärfche nördlih von meiner Straße, unweit der ſüdöſtlichen
Ede des Rikwa-Sees, herrihte ein Häuptling Sunda über eine Anzahl gut be:
mwohnter und wohl befeftigter Dörfer. Auch ihm hatte ic) wegen vieler Klagen,
die mir zuıgingen, eine Warnung und Einladung zukommen lafjen und ihm, da
ih hoffte, friedlich mit ihm auszukommen, unfere” Flagge zugejandt. Meine
Boten hatten aber vor dem übermütigen Häuptling, der die ihm überreichte Flagge
in den Kot trat, nur fnapp ihr Leben gerettet.
Sp beſchloß ih, Sunda in feinem eigenen Lande unjere Macht zu zeigen,
584 Hermann von Wißmann, Meine Kämpfe in Oſtafrika.
bielt für diefe Aufgabe jedoch einen Teil meiner Truppe fchon für genügend und
fandte, da id; überdies zur Zeit mit einigen größeren Häuptlingen in Unter:
handlung ftand, einen meiner Offiziere mit vierzig Mann ab, um Sunda mit
Güte oder Gewalt zu holen.
Merere, der bekannte große Häuptling der Warori, der früher aud die
Wahehe beherricht hatte, und der gleichfall3 unter den Näubereien des ihm be-
nachbarten Sunda gelitten, veritärfte meine Truppe durch dreihundert, nur mit
Gemwehren bewaffnete Krieger, jämtlic) in rote Turbane und Mäntel gefleidete
ruga-ruga, unter der Führung feines älteften Sohnes, des heutigen Merere, fo
daß die Kleine Straferpedition doch ein ganz eindrudsvolles, Friegerifches Aus:
fehen gewann.
Dr. Bumiller, der Führer diefer Straftruppe, wurde ſchon bei feinem An—
marſch in unüberfichtlihem Gelände bier und da befchoffen. Alle Dörfer, die
am Wege lagen, zeigten fich gejchlofien und zum Kampfe fertig beſetzt. Bor
Sundas Hauptdorf angekommen, wurde der Verſuch, mit den Cingeborenen
Berhandlungen anzufnüpfen, mit Schüflen beantwortet. Dr. Bumiller bezog,
fünfhundert Schritt vom Dorfe und etwas höher gelegen, ein Lager, das er noch
am eriten Tage mit einem dichten Aftverhau umgab.
Da der Weg der Verhandlungen durchaus abgefchnitten war, jo verfuchte
Bumiller gleih am nädften Tage, das Dorf im Sturm zu nehmen. Er leitete
den Angriff durch ein kurzes Gemwehrfeuer ein, das natürlich, da der Feind hinter
dichten Pallifaden ftand, wirfungslos blieb, und ging dann mit Hurra auf die
Pallifaden los. Der Angriff wurde jedoch hart abgeſchlagen.
Die Truppe gelangte bi3 an einen vier Meter tiefen Graben, deſſen
Böſchung fteil und deifen Sohle weich und ſumpfig war. Auf der anderen Geite
zwifchen den Ballifaden und dem Grabenrand war nit Fuß zu faflen; die
Ballifaden waren neu und feit gefügt. SYedenfalld befanden fih im Dorfe
einige gute Schüßen, denn jchon beim Anlauf wurden einige Leute von Merere
zu Boden geftredt. Troß diefer Erfahrungen aber machte Bumiller mit feinen
Sudaneſen den Berjuch, fi mit der Art einen Weg zu bahnen. Mein ahnen:
träger, ein Sudanneger, eine Hüne von mehr ala ſechs Fuß Höhe, eine herfu-
liſch gebaute, Eriegerifche Erfcheinung und ein Mann von unbeftreitbarem Mute,
ja von Tollkühnheit, der allerdings auch leicht zum Meutern neigte, im Gefecht
aber unübertrefflid war, wurde durch die Stim geſchoſſen. Ein ſchwarzer Offi-
zter, ein vermegener und gewandter Sudanele, erhielt einen Schuß in den Mund;
die Kugel mußte ſich jedoch ſchon beim Durchgang durd die Pallifaden matt ge-
ſchlagen haben, fie durchſchlug nur die rechte Wange, jchlug zwei Zähne des
Unterkiefer mit einem Stüd des Kiefers heraus und ward nicht mehr gejehen.
Der Mann behauptete fpäter, er habe die Kugel verfchludt; jedenfalls fehlte der
Ausſchuß.
Hermann von Wißmann, Meine Kämpfe in Oftafrika. 585
Noch einer meiner Leute fiel; zwei wurden verwundet; auch einige Leute
von Merere blieben liegen. Die Ballifaden gaben nicht nad), die Leute konnten
fih an dem glatten Hang nicht halten, mußten in den Graben zurüdjpringen
und wurden, als Mereres Leute fich zur vollen Flucht wandten, mitgerifjen.
Im Lager ſammelten fi) die Leute wieder. Aus dem Dorf Sundas er-
tönte Hohngefchrei, Spottgefänge und das Rühren der großen Sriegstrommel,
dad von allen Seiten her von anderen Dörfern beantwortet wurde.
Es mußten jest, um die Sunda-Leute abzuhalten, das Lager Bumillers
von allen Seiten anzugreifen, ftärfere Patrouillen ausgehen, welche mehrfach
auf Trupps des Feindes ftießen, die fich bereit3 auf dem Wege nad) dem Lager
befanden. Dieje wurden überall geworfen und bis zu ihren Dörfern verfolgt,
jo daß eine Beunruhigung des Lagers bei Tage wenigstens nicht mehr ftattfand.
Jetzt erhielt ich, der ich an der Tanganyfa-Straße lag, von Bumiller
Meldung, das Dorf ſei ohne Geſchütz nicht zu nehmen, er erbäte dementfprechende
Unterftügung. Ich fandte einen Offizier mit dem Eleinen Geſchütz (6 cm
italienifche8 Berggefhüt) ſowie dem maxim gun und einigen Dann Be-
defung ab. Nad Eintreffen diefer Verftärkung verfuchte Bumiller, der moralischen
Wirkung der Geſchütze vertrauend, gegen bie fcheinbar ſchwächſte Stelle der
Befeftigung abermals einen Sturm, der ausgiebig von Granaten und von dem
Feuer des maxim gun eingeleitet wurde. Auch diefer Angriff wurde aber ab-
geichlagen, wieder mit Berluft von einigen Soldaten und Merere-Leuten, welche
letzteren ſich dieſes Mal jchon ſchlechter fchlugen, bereit8 vor dem Befeftigungs-
graben ftußten und zurüdprallten.
Die Granaten waren zu Elein, um die noch frifchen Pallifaden aus Palmen»
ftämmen zerftören zu können. Der Feind hatte überdies, wie wir ſpäter fahen,
böhlenartige Erddedungen ausgehoben. Dffenbar mußte ein Führer im Dorfe
fein, der fchon an der Hüfte gegen mid; gefochten Hatte, und es verftand, den
Mut der Eingeborenen aufrecht zu erhalten, denn die Verteidiger benahmen ſich
auffallend gejchiet und fchneidig.. Zu den Schwierigkeiten der Lage kam noch,
daß die Merere-Leute jich zu „verfrümeln“ begannen, teilweije dejertierten, teils
fih von gefährlicher Arbeit drüdten, und daß der Feind durch feine Erfolge fo
dreift geworden war, daß er num begann, Bumillers Lager nachts zu beunruhigen.
Bumiller ließ Patrouillen aus je zwei feiner beiten Leute mit 1020
Merere ruga-ruga die ganze Nacht hindurch die in der Nähe gelegenen Dörfer
umſchwärmen. Trupps der Eingeborenen wurden mehrfach überrafcht und mit
Verluſt zerftreut. Aber Bumiller machte fi) doch Elar, daß, um Erfolg zu er-
zielen, vor allem gegen das Hauptdorf Sundas eine bedeutend ftärfere Truppe
oder längere Zeit nötig wäre, um ein völliges Einfchliegen zu ermöglichen
und fi) an die Befeftigung heranzuarbeiten, und fo bat er mid, daß ich ſelbſt
586 Hermann von Wirmann, Meine Kämpfe in Oſtafrika.
kommen und mich von der Lage überzeugen möchte. Sch brach jofort auf und
marfchierte mit dem Reſt meiner Leute nah) Sundas Dorfe ab.
Als ich mich Bumillers Lager näherte, riefen uns die Sunda-Leute aus
dem Dorfe höhnend zu: „Jetzt kommt nun endlich der bwana mkubwa, nun
wollen wir jehen, ob er es bejler kann. Verſuche nur deine Kunſt, kitschoa
tanu!" (Fünfkopf!“ einer der mir von den Eingeborenen beigelegten Namen.)
Schon dieſe Zurufe bewiejen, daß die Berteidiger mit der Außenwelt in Ber:
bindung ftanden und wußten, was bei uns vorging. Später fanden wir Beweiſe
dafür, daß die Sunda-Leute von den uns begleitenden Merere-Leuten genaue
Nachrichten über unfere Abfichten erhielten.
Das Dorf ftieß mit etwa den dritten Teile feiner Umfaſſung an einen un—
durchdringlich dichten, grundlos jumpfigen Galerie-Urwald, deſſen Boden unter
Waſſer ftand, und der ſich längs des Baches ftellenmweife in ziemlicher Breite
ausdehnte und auch anderen feindlichen Dörfern oberhalb unferer Stellung An-
lehnung bot. Der Vorteil, den ein folder Wald, der bis auf wenige Schritte
an die Ballifaden des Dorfes heranreicht, dem Angreifer, wie man meinen follte,
bieten müßte, geht durd) feine abjolute Unpaffierbarfeit für Fremde verloren.
Die Eingeborenen legen in ſolchen Sümpfen ſchmale Snüppeldämme an, meiſt
von zwei neben einander liegenden Baumjtämmen gebildet, die im Zidzad ſich
an einander reihen und fußhoch mit Moraft oder Wafjer bededt nicht zu er:
fennen find. Die Eingeborenen finden jedoch vermöge nur ihnen erfennbarer
Zeihen an den Bäumen und Lianen den bededten Weg.
Eine Unterbrechung der Verbindung des Verteidigers mit außerhalb wäre
nur mittelft eines breiten Durchhaues durd) den Urwald und eines viele Arbeit
erfordernden Knüppeldammes zu erreichen geweſen. So beſchloß ich, um meiner
Eleinen Truppe dieſe unberechenbar langwierige und fchwierige Arbeit in dem
unüberfichtlihen Gelände, mit einem an Zahl meit überlegenen Feinde, zu er-
iparen, zunächft andere Mittel zu verfuhen. Auf eine Wiederholung der Ber-
juche, durch einen gewaltjamen Angriff an das Ziel zu gelangen, verzichtete id);
denn die bereits erlittenen Berlufte waren für meine ſchwache Truppe jchon
recht fühlbare geiwefen. Es blieben mir nur noch ungefähr ſechzig Mann, unter
der Führung von zwei Offizieren und zwei Unteroffizieren, und Merered Sohn
mit noch annähernd zweihundert ruga-ruga, die jedoch in ihrem kriegeriſchen
euer jo herabgeftimmt waren, daß auf fie nur mehr als Statiften zu
rechnen war.
Die Sunda-Leute hatten Elugermweife die größte Zahl ihrer mit Stroh be
dedten Häufer abgededt und nur in der Mitte des Dorfes einige Hütten unter
Dad) gelajjen. Immerhin mußte bei etwas Wind das Aufflammen diefer Hütten
ihnen den Aufenthalt in einem Teile des Dorfes unmöglich machen und ſomit
für den Angriff Chancen bieten.
Hermann von Wihmann, Meine Kämpfe in Ojtafrifa. 587
Alle in der Umgegend liegenden Dörfer ließ ich Tag und Nacht beunrudigen,
auf allen Plägen ringsum Hinterhalte legen, ja durch Scheingefechte größerer
Patronillen den Glauben erweden, als wollte id) demnächſt andere Dörfer an:
greifen. Einen Teil des eigenen Lagers lieh ich al3 Neduit befonders befejtigen,
um mit dem größten Teil der Truppe frei vperieren zu können, und auf einer
dicht beim Yager gelegenen Höhe, von der aus man Sundas Hauptdorf fait ein-
fehen Eonnte, einen befejtigten Poften einrichten und mit 20 Mann bejegen.
Bon bier aus fonnte man über den Urwald hinweg das ganze Gelände weit
umber beobachten.
In der nädjiten Nacht wollte ich, da jchlechtes Wetter und Wind eingetreten
waren, verſuchen, die vorhin erwähnten Häufer im Dorf anzuzünden, um in der
durch das Feuer entftehenden Unordnung die Pallifaden zu überfteigen.
Es wurden alle nur denkbaren Arten von Brandern hergerichtet. Fauſt—
große Steine wurden mit Baft und Zunder umwickelt und diefe Umhüllung mit
an beiden Seiten angelpisten Hölzern durchſtochen, ſo daß das Ganze einen
Igel ähnlich ſah. Der Zunder wurde mit Petroleum, das ich von der englijchen
Station an der Tanganyfa-Straße erhalten hatte, geträntt. An einer Eurzen Schleife
jollte dann diejer Brandigel gejchleudert werden. Die Spitzhölzer follten fi) in dem
Stroh der Däder feitbohren. Die beiten Speeriwerfer der wenigen Somali,
die ich bei mir hatte,*) erhielten Speere, deren Spiten hinter den Widerhafen
mit getränftem Zunder umwidelt waren. Auf diejelbe Weije ließ ich jonjt von Bogen
abzufchießende Brandpfeile und Brandftöde berftellen, die aus den großen glatt:
läufigen Gemwehren der Merere-Leute — mit geringer Pulververladung — ab—
gefeuert werden follten. Die Träger der Brander jullten von Schüßen begleitet
werden, um die Löſchverſuche der Belagerten zu ſtören. Da dies alles bei vor:
ausfichtlich jehr dunkler Nacht vor fich gehen würde, denn der Himmel blieb
bededt, verteilte ich an die Schüßen mit Schrot geladene Borderlader, wie fie ſtets
die Laftträger auf meinen Zügen als Waffe trugen.
Noch vor Eintreten der Dunkelheit wurde das Geſchütz und dag maxim
gun nad dem Dorfe eingerichtet. Um Mitternacht Eamen die Branderabteilungen
unbenerft bis an den Graben heran. Troßdem man das Anzünden der Brander
durch vorgehaltene Deden abblendete, war der Verteidiger doch aufmerfjam
geworden. Ohne Berlufte gelang jedoch das Anzünden der Brander und das
Schleudern derjelben, aber... die Brife jegte in diefem Augenblid aus, und, obwohl
die Schügen nad; den gededten Hütten zu ein lebhaftes Feuer unterhielten, blieb
dort alles dunfel. Der Feind Hatte jchnell die Pallifaden bejegt und beant-
wortete den mißglüdten Brandverſuch mit Hohngefchrei. Später nad) der Ein-
*) Diefe Leute find faft alle wunderbare Speerwerfer, Ein Wettwerfen, das ich zwiſchen
ihnen und PBantu-Negern meiner Erpebttion abhalten ter, zeigte deutlich, wieviel höher bie
Somali aud) ın diefer Kunſt jrehen als jene.
ABB Hermann von Wißmann, Meine Kämpfe in Oſtafrika.
nahme de3 Dorfes fahen wir, daß der Feind uffenbar von dem ganzen Borhaben
Kenntnis gehabt haben mußte. Ueberall zeigten fi Waſſerkübel aufgeftellt, und
der größte Teil der noch unter Dach geweſenen Hütten fchien gleich nad Ein-
bruch der Dunkelheit abgededt worden zu fein. Beſchämt, wie das NRaubtier
nad) verfehltem Sprunge auf fein Opfer, zog ſich meine Truppe in das Lager
zurüd. — Ich ließ nun die Befagung Tag und Nacht beunruhigen. Mit Ablöfung
lag ftet3 ein Europäer mit dem Gewehr fertig, um auf alles, was fich im Dorfe
zeigte, zu feuern. Während früher einzelne Leute des Tyeindes fich im Innern
bliden ließen, um uns Spottworte zuzurufen, lag nun das Dorf wie verlafjen.
Ich mußte in erfter Linie die Verbindung de Dorfes mit der Außenwelt
abichneiden. In der Nacht ließ ich, nur 150 Schritt vom Dorfe, diht am Rande
des Waldes, einen Schütenftand für fünfzehn Mann ausheben, um am nächſten
Tage, denn bei Nacht war diefe Arbeit unausführbar, von da aus durch den Sumpf
einen Damm zu legen, deſſen entgegengefegtes Ende am Rande des Waldes ebenfalls
befeftigt werden follte. Vom Damm aus beabfichtigte ich, möglichft während der
Dunkelheit und zulett hinter beiveglihen Dedungen fo dicht als thunlich an das
Dorf heran und zulegt in das Dorf felbft zu gelangen. An dem erwähnten
Shütenftand lag ftet3 ein Europäer fehußbereit, jo daß auf diefe nahe Ent-
fernung auf das Eleinfte Ziel gejchoffen werden Eonnte. Zweimal ſchien es, daß
Leute des Feindes, die auf Leute meiner Truppe gefhoffen und fid dabei gezeigt
hatten, getroffen worden waren.
Das Benehmen unfere3 Gegners änderte fi) von jetzt an in auffallender
Weiſe. Höhnifche Anrufe, ja Spottlieder, die bisher ein Zeichen feines Gelbft:
vertraueng gewejen waren, verftummten ganz.
Am nächſten Morgen begann die Arbeit im Sumpfwald. Nur ein Schuß
war von dem bereit liegenden Offizier gefallen, und fofort waren Klagerufe und
große Unruhe im Dorfe vernehmbar. Als eben wieder mit der Arbeit begonnen
worden war, fanı die Beſatzung meines Beobadhtungspoftens von der Höhe
hinter meinem Lager in fliegendem Lauf herabgerannt und rief uns fchon von
weiten zu, das Dorf würde vom Feinde verlaffen. Man habe fchon jenjeits
des Waldftreifens Krieger in voller Flucht gefehen.
Ach ließ nun fofort zum Angriff blafen, und in Trupps, wie gerade die
Leute zufammen zu raffen waren, liefen wir an das Dorf heran, halfen uns
gegenfeitig Über den Graben und über die Ballifaden und fanden in der That
das Dorf verlaffen. Eilig fandte ich Trupps von Merere-Leuten, von je fünf
Mann meiner Truppe geführt, zur Verfolgung aus, ſowie zur Beobachtung der
anderen Dörfer. Nad einigen Stunden famen die Batrouillen zurüd; fie hatten
nur noch den flüchtenden Feind verfolgen können und alle Dörfer verlaffen ge:
funden. Alle brachten Herden von Groß- und Kleinvieh mit.
Es beftätigte fich jpäter, daß der am frühen Morgen von meinem Offizier
Hermann von Wihmann, Meine Kämpfe in Ojitafrika. 589
erfchofjene Mann der Führer einer Wanderobofchar*), gewejen war, der offen-
bar den zähen Widerftand geleitet hatte, der mit feinem Tode aufhörte.
Große Mafjen von Getreide, im Dorfe angebundenes Vieh und aufge-
ftapeltes Viehfutter zeigten, daß fich die Sunda-Leute auf eine zähe Verteidigung
gefaßt gemacht hatten. Das Dorf war in einer für Neger bewunderungs—
würdigen Art befeftigt. Die ftarfen Pallifaden waren tief eingegraben und ge:
ftüßt. An der Krone derjelben waren fpiße Hölzer und Dornenbündel ange:
bradt. Der Graben jchloß ſich auf beiden Seiten an Sumpfland an und war,
da er tiefer ald das Niveau des Sumpfes lag, auf feiner Sohle tief moraftig,
außerdem aber nod in den letten Tagen überall, wo man hätte Fuß faffen
fönnen, mit eingegrabenen Dornenbüfchen dicht befetzt. Ueberall ftanden Löſch—
vorridhtungen bereit und waren Erddedungen aufgeworfen, ja fogar ſolche, bie
von oben her Dedung boten. Der Bulverraum war ein fefter Keller. Rückwärts
im Urwald fanden wir hoc in einem Baume eine Kanzel, von der aus man
unfer Rager einfehen Eonnte.
Die Beute an Vieh war reihlih. Ich gab ein Drittel der Beute an
Mereres Sohn und nahın die übrige fpäter mit nad) Langenburg, al3 einen
guten Anfangs-Viehbeitand für die junge Station.
Unfer endliher Erfolg wurde durch reiche Fleifch- und Kornverteilungen
und ftundenlange Kriegstänze der Merere-Leute gefeiert. Dieſe erhigten ſich im
Tanze jo ehr, daß fie fich zulegt für die Haupthelden des Tages hielten und
nicht müde wurden, ihre Thaten zu preifen. Mit etwas fpöttifchem Selbitbe-
wußtfein ſahen ſich meine Soldaten die nadhträglichen Heldenthaten der Tanzenden
niit an.
Als fih einen Monat fpäter Sunda unterwarf und um die Flagge bat, wurde
ihm ausdrüdlich mitgeteilt, daß wir auf weitere ihm in Ausficht geftellte Straf:
zahlungen verzichteten, weil fi feine Leute fo gut gejchlagen hätten, und daß
wir hofften, aus fo tüchtigen Feinden verläßliche Freunde werden zu fehen.
Sunda erhielt fogar einige Gefchenfe, die in Afrika ſtets eine eindringliche
Sprade reden.
Sundas Macht, fein Reichtum war befonders in der geographiichen Lage
feiner Dörfer begründet. Viele Elefantenfadaver wurden alljährlich beim Ab-
brennen der Schilf-Didungeln des Ritwa-Sumpfes (denn einen See kann man
diefen kaum nennen) gefunden und lieferten jährlich eine gute Elfenbein-Ausbeute.
Es ſcheint, daß von den Eingeborenen Frank gejchoffene oder überhaupt
kranke Elefanten von weit im Umkreis her fich in diefe durchaus unwegſamen
Schilfwildniſſe zurüdziehen, um dort ungeftört einzugehen.
*) Wanderobogefellichaften durchziehen als Elefantenjäger Oſtafrika und jtehen im Rufe
guter Schüßen.
590 Hermann von Wißmann, Meine Kämpfe in Oſtafrika.
Infolge der den Eingeborenen durch diefes Gefecht erteilten Lehre und der
bald darauf folgenden Beitrafung der Sklaven jagenden Wawemba, ſowie durch
die gut gelegene und ſtark befeftigte Station Langenburg und nicht zum wenigſten
durd; den den Nyaſſa-See beherrihenden Dampfer war unjer Anfehen im
Süden Deutih:Oftafrifas in kurzer Zeit derart begründet, daß dem Gouverne-
ment fortan und bis heute hier keinerlei ernite Schwierigfeiten mehr erwuchſen.
Leider wurde meinem Wunfche, die Erpedition des damaligen Gouverneurs
gegen die Wahehe, zur Strafe für die Vernichtung der Zelewskiſchen Erpedition
vom Nyaſſa aus, mit vielen Tauſenden mir bier zur Berfügung ftehender
Krieger zu unterftügen, nicht entiprochen. Sind auch Hülfstruppen, wie fie mir
von den dortigen großen Stämmen in großer Anzahl zu Gebote ftanden, zum
eigentlich entjcheidenden Angriff nicht viel wert, jo find fie gerade für den Teil
des Gefechtes, der den Gegner am meiften fchädigt, zur Verfolgung, weit beſſer
verwendbar als unfere regulären Truppen, und abgejehen von Ddiefem Borteil
bringt uns die Eingeborenen nichts näher als Waffenbrüderfchaft gegen einen
gemeinfamen Feind. Die Erfüllung meines Wuniches hätte, davon bin ich über-
zeugt, nicht allein die Wahehe viel nachhaltiger niedergeworfen, fondern aud)
mit den drei größten Stämmen der Eingeborenen im Süden des Schußgebietes,
den Warori, Wakwangwara und Wakonde, ſchneller ein vertrauliches Verhältnis
angebahnt.
ng
Aphorismen.
Die Menſchheilskultur aus der Ferne gelehen, gleicht einem mädtigen Gebirgsfioch
mit einzelnen einfam ragenden Baden, Schroffen und Grafen. Einmal il alles das ein
Bochplateau gewelen, dellen Biveau das der jehigen hödften Spiken war. Pas, was das
Gerippe des Gebirges ein! umgab, bedechfe und verhüllte, ift weggeſchwemmt — wohin ?
Als Pünger in die Chäler, oder audı als unfrudtbarer Sand in das Welfmeer. Ber
leichte Boden und das lockere Geröll find abgerutfcht, wurden unreltbar mr Giefe
geriflen, während der edle Fels aus dem Urgrund aller Binge emporpuwachſen [cheint
und die Jahrtauſende üiberdanerf.
Milbelm von Polen;
o
Ad fah neulich einen gefällten Eichbaum auf einer Kichfung im Walde liegen. Ich
betrachtele mir die Schnitifläche, um zu taxieren, wie alf der Riefe wohl gewelen fein
könne Pa ergriff mid; wirkliche Bewunderung für die freue Arbeit, die der Baum im
Laufe der Jahrhumderfe geleitet halle. In aller Stille, Jahr um Jahr, einen Ring nadı
dem anderen angeleht! Bun er gefchlagen dalag erlt offenbarte er fein Geheimnis, mie
er hatte fo groß und Aol; und alles überragend werden können.
So follte der Menſch, der Rünftler, ſich ſelbſt aufbauen! Alle guten Eigenfchaften,
alles Talent, muß lo im Rerborgenen pllangenhaft fill und zäh am Werke fein, um Früchte
zu reifigen.
mWilbelm von Polen;
KOLILILILILILILILILILILILILILILOLILILITILILILITILILI 92
Die auswärtige Politik im Jahre 1901.
Von
Theodor Schiemann.
we" dieje Zeilen dem Leſer vor Augen treten, liegt das erfte Jahr des neuen Jahr:
hunderts ald Vergangenheit hinter und. Wir bliden zurüf und fragen wohl, was
es uns gebracht hat, welche Wünſche und Hoffnungen es erfüllt, welche anderen es ſich
verjagt hat, welche Aufgaben es uns für die Zukunft feßt, die verhüllt vor uns liegt?
Wie weit endlid; wir vorbereitet find, fie zu löſen?
Es ift nicht gar fo lange her, daß der politische Gedankenkreis, in dem wir uns
heute zu beivegen gewohnt find, als ein Neues, faſt Verpöntes, nur das Achjelzuden
„beionnener“ Männer hervorrief. Wer wollte von Weltpolitif für Deutichland hören”
Die Aera des Minifteriumsd Caprivi bewegte fich in politiichen Anſchauungen, wie fie
etwa das Minifterium Gladftone zu Anfang der 70er Jahre für England vertrat. Die
Kolonieen galten ihm als ein Uebel, da8 man hinnehmen mußte, weil es eben da war,
von dem fich vielleicht die Hand langſam zurücdziehen ließ, das man aber zu eriveitern
keineswegs gefonnen war. Für Deutichland fam hinzu, daß alle Ueberlieferungen unjerer
Bergangenheit vor allem auf Behauptung unferer Stellung als eriter Militärmacht des
Kontinents hinzuweiſen fchienen. Zugleich zu Yande und zur See eine Rolle fpielen zu
wollen, erjchien faft wie ein SFrevel. Wer durfte der Nation, die ohnehin durch ihre
ſchwere Sriegsrüftung genug belajtet war, zumuten, noch weitere Opfer über ihre Kräfte
hinaus zu bringen?
Es gehörte außerordentliher Mut dazu, dem gegenüber das fühne Wort zu finden
und auszusprechen: unfere Zufunft liegt auf dem Meere!
Aber noch das alte Kahrhundert brach den Bann. Danf der Initiative des Kaiſers
und dank dem richtigen politifchen Inſtinkt des deutichen Volkes thaten wir in raſcher
Folge die entjcheidenden Schritte. Die deutſche Kriegsflotte als ein Drgan der
wachſenden Volkskraft wurde Wirklichkeit, und heute dürfen wir mit aller Zuverſicht
jagen, fie bleibt Wirklichkeit, denn es giebt feine politiſche Kombination, die ung ver:
anlaffen könnte, auf dem eingejchlagenen Wege ftehen zu bleiben.
Stillftand ift Rüdjchritt, und der Maßſtab des VBorwärtsichreitens, der dadurch
geboten wird, bedingt fid; aus der Kombination unjerer Yeiltungsfähigfeit mit dem Ber:
hältnis, in welchem wir uns zu den Leiftungen der anderen jeßen.
Wir find, darüber kann kein Zweifel fein, in ein neues Stadium unjerer natio—
nalen Entwicklung getreten, das zunächſt noch den Charakter einer Vorbereitung trägt,
und eben deshalb uns nötigt, jehr genau in jedem einzelnen Fall mit uns zu Rate zu
gehen, wenn Zeitumftände oder eine jener leidenjchaftlichen Empfindungen, wie fie die
Volksſeele oft ergreifen, zu fühnem Wagnis drängen. Erft mägen, dann wagen! ift in
592 Theodor Schtemann, Die auswärtige Politit im Jahre 1901.
Perioden des Ueberganges eine bejonders ernite Pflicht, und, wenn wir recht fehen, it
hierin der Schlüffel zu der Politik zu finden, die wir im Jahre des Herrn 1901 ver-
folgt haben.
Zwei große politische Fragen haben im Laufe des Jahres die ganze Welt in
Spannung gehalten. Der Konflikt in Oftafien und die Tragödie in Sübdafrifa.
In beiden Fällen ift die Politif unferer Regierung nicht die geweſen, die den
Winfchen der meiften entjprad. Die Erpedition nad) China war zunächſt höchſt un-
populär, und wenn das heute, nach dem ehrenvollen Ausgange des Krieges, fo gut wie
vergeffen ift, jehen wir darin nur einen Beweis mehr für die alte Wahrheit, daß nichts
uns leichter aus dem Bewußtjein ſchwindet ald der Wechſel der Stimmungen, der id
in uns felber vollzieht.
Wir dürfen aber jekt ohne jeden Rückhalt jagen, dab, wenn Mikgriffe in der
äußeren Inſzenierung der chineſiſchen Erpedition ftattgefunden haben, ihre Notwendigkeit
doch nicht mehr beftritten werden fann und die Rolle, die uns dabei zugefallen iſt, in
jeder Hinfiht als eine ehrenvolle bezeichnet werden muß. Wir haben auf deutichen
Schiffen, ohne jeden Unfall, ein Heer von Freiwilligen übers Meer geſchickt und, von
Erfolg zu Erfolg jchreitend, ſiegreich das vorher geſteckte Ziel erreichen jehen. Wir haben
unter der bewunderungswürdigen Leitung des General-Feldmarſchalls Grafen Balderjee
militärijch die Führung einer Koalition behauptet, wie fie fo vielföpfig noch niemals an
einem Werk zufammen gewirkt hat, und troß der nationalen Rivalitäten und Intereſſen—
gegenjäge die Eintracht zwiſchen all diefen englifchen, ruffiichen, frangzöfifchen, amerifa-
nischen u. ſ. w. Kontingenten aufrecht erhalten. Als infolge der Streitigkeiten über die
Beſetzung der Eifenbahn von Tientfin Engländer und Ruſſen einander fo erregt gegen-
über jtanden, daß ein Konflıft fajt unvermeidlich ſchien, hat deutiche VBermittelung den
Ausgleich gefunden, mit dem fich beide Teile zufrieden gaben, und Deutſchland ift es
gewejen, das im März durch jein Mangtje-Abfommen mit England die handelspolitiiche
Erſchließung Chinas, jo wie fie heute zu recht befteht, erjt möglich gemacht hat. Und
doc) hatte England ziemlich genau zwei Jahre vorher das Thal des Yangtjefiang für fein
ausichliegliches Handelsgebiet erklärt (April 1899).
Wir find aus dem dinefischen Konflikt wejentlich geftärkt hervorgegangen, im Orient
angejehener, in Kiautſchou weiter gefeftigt und doch jo geitellt, daß wir bei fünftigen Kon—
fliften nicht genötigt werden können, einzugreifen, two nicht direkt deutſche Intereſſen ge
ichädigt find. Das Wejentlihe aber bleibt, daß wir die erfte Probe auf die Leiſtungs—
fähigkeit unſerer improvijierten Transportflotte und unferer impropifierten Kolonialarmee
gemadt haben. Unjere Kriegsmarine aber hat unter höchſt jchwierigen Verhältniſſen
gezeigt, daß fie an Kraft der nitiative, an zähem Mut und kühler Geiftesgegenmwart
ebenbürtig der Armee zur Seite fteht. Endlich joll auch nicht vergeffen werden, daß die
Abſetzung des defignierten chinefischen Thronfolgers Pu-Tſchun einen Bruch des offiziellen
China mit der fogenannten Borerbemegung bedeutet. Pu-Tichun ift der Sohn jenes
Prinzen Tuan, der als der eigentliche Urheber der Frevel zu betradjten ift, die das
Einjchreiten der Mächte zur unerläßlichen Notwendigkeit machten.
Das alles hat denn aud) eine Wandlung in der öffentlichen Meinung Deutjchlands
zur Folge gehabt, vor der die Verleumdungen der fogenannten Hunnenbriefe madtlos
Theodor Schiemann, Die auswärtige Politif im Jahre 1901. 593
abgeprallt find. Die verhegenden Führer unferer Sozialdemokratie mußten ihr Rückzugs—
gefecht antreten, um die moralifche Niederlage zu deden, die fie erlitten haben.
Es ift nicht zu hoffen, daß unfere öffentliche Meinung gleich raſch ihr Urteil über
die Politik der deutfchen Regierung in der jüdafrifaniichen Frage ändert. Wir wundern
uns darüber nicht und fünnen es nicht einmal beflagen, obgleich wir der Meinung find,
daß eine andere Politik in diefem außerordentlich ſchwierigen Problem nicht möglich war.
Eine Regierung muß auch Unpopularität und Tadel ertragen können, wo fie ſich bewußt
ift, im Intereſſe des Reiches gehandelt zu haben, für deffen Politik fie die Verantwortung
auf ihren Schultern trägt.
Uber das Mitgefühl für die Buren hat unjer Volk bis in feine Tiefen erregt. Das
nod) lebendige Bemwußtjein der Blutsverwandtſchaft, die VBorftellung, daß hier ein bitteres
Unredjt gewaltfam durchgeführt wird, die natürliche Neigung, dem Schwächeren beizu-
Ipringen, endlich das rein menſchliche Mitempfinden mit all den Unglüdlichen, die in den
Konzentrationslagern Südafrikas oder in den Imfelgefängniffen Englands, auf St. Helena,
den Bermudas, Ceylon, fich in Sehnſucht nad) den Ihrigen verzehren, die Greuel einer
Kriegführung, die immer mehr den Charakter rahedürjtigen Raffentampfes annimmt. das
alles hat eine Stimmung großgezogen, die das Mitgefühl fat bis zu phyfiichem Mit-
empfinden gefteigert hat. Wir alle wollten helfen, und das eiskalte „Nein“, das unjere
Regierung den leidenſchaftlichen Wünſchen nad) einer Intervention zu Gunften der Buren
entgegenjegte, rief erbitterten Widerfprudh und rüdjichtslofe Kritik hervor.
Nun zeigt jede Prüfung der Frage, daß die beiden Wege, die ſich für eine inter:
bention zu bieten fchienen, verlegt waren. Ein moralijher Druck hätte fih ausüben
fafjen, wenn ein Zujammenwirfen der großen Mächte zu diefem Zwecke erreicht wurde.
Aber Rufland, das durch jeine bejondere Lage am eheften die Führung hätte übernehmen
fünnen, hatte ſich im voraus verpflichtet, keinerlei Schritte zu thun, Frankreich folgte
wie immer der in Petersburg gegebenen Parole, die Vereinigten Staaten von Nord—
amerifa, deren moralijche Autorität in England aus naheliegenden Gründen das meifte
Gewicht hat, lehnte beharrlich alle Verſuche ab, die nad) diefer Richtung gemacht wurden,
und von den Mächten des Dreibundes waren Oeſterreich-Ungarn und Stalien nicht in
der Lage, mit Nachdrucd über eine Frage zu reden, die völlig außerhalb des Kreiſes ihrer
Antereffen lag, und die nicht annähernd in gleicher Weife die öffentliche Meinung diejer
Reiche erregt hatte. Wenn Deutſchland troßdem fid; zum Wortführer unjerer Em—
pfindungen England gegenüber gemacht hätte, zog es fich mit Sicherheit eine hochfahrende
Abweiſung zu, die entweder einzuftreichen oder damit zu beantworten war, daß Deutich-
land jenen anderen Weg einichlug, aus feiner neutralen Stellung hinaustrat und den
Burenfrieg als eigene Sache auf die Schultern der deutſchen Nation ablud.
Wir glauben nun, aus Gründen, die im Detail darzulegen überflüffig find, daß ein
folder Schritt nichts Anderes gewejen wäre als eine zwar großmütige, aber höchſt ver-
derbliche Thorheit, deren Ergebnis ein Weltkrieg fein mußte, deſſen Ausgang zweifelhaft
erjcheint, defjen Rückwirkung auf unjere foloniale Stellung aber unter allen Umftänden
höchſt verderblicd; werden und uns in unferer nationalen Entwidlung um Generationen
zurüctwerfen konnte. Ein Volk darf feine Eriftenzg nur da einjegen, wo jeine eigenen
Lebensbedingungen in Frage geftellt werden, und Deutſchland hatte in diefer Kriſis vor
594 Theodor Schiemann, Die ausmärtige Politif im Jahre 1901.
allem die Bilicht, dafür Sorge zu tragen, daß es die Spanne Zeit, weldye diefe Bindung
Englands ihm bot, ausnußte, um tweiterzuarbeiten in jener borbereitenden Thätigfeit,
die beftimmt ift, für die Zufunft uns eine Stellung zu fidyern, in welcher es leichter
möglich fein wird, berechtigte Empfindungen der Nation in Einflang zu jegen mit den
Notwendigkeiten der großen Politik.
Wie ſehr eine befonnene Erwägung des Möglicden geboten war, haben die kom—
binierten Angriffe gezeigt, welche von englischen, franzöfiichen, ruſſiſchen, ungarijchen und
tſchechiſchen Publiziften durch das ganze Hinter uns liegende Jahr hindurch in Büchern
und Kournalartifeln gegen uns gerichtet waren und nichts Minderes bezwedten, als einen
Weltbund gegen das Deutiche Reich zu Schmieden, um es zurückzuwerfen auf die Etuje,
die wir vor 1866 einnahnten. Die in ihren Bielen noch weiter zurüdgreifende polnische
Ngitation hat diefen Chor durch ihre geräufchvollen und vom giftigften Deutſchenhaß
getragenen Stundgebungen noch verjtärft. Auch heute find diefe Anſchläge nicht ad acta
gelegt, und wenn fie nicht Wirflichfeit geworden find, lag das an den politiichen Berhält—
niffen des Augenblid8, die mehr oder minder auch die Politif der anderen Mächte banden,
nicht an dem böjen Willen, dem Neid und der Eiferjucht, mit denen wir als mit einer
wirfjamen Realität zu rechnen haben.
Deutichland hat in dieſer latenten Kriſis jeine politischen Beziehungen zu allen
Mächten in offizieller Freundihaft mit Freftigfeit behauptet. Zu Rukland hat die
Danziger Zuſammenkunft eine immer erwünſchte Erneuerung der perſönlichen Be
ziehungen zwifchen beiden Monarchen zur Folge gehabt. Der wirtſchaftliche Kampf,
der nebenher geht, ift nur ein Zeil der jchwierigen Neuregelung, die nadı allen
Richtungen Hin ſich eben jegt vorbereitet und einen Ausgleich zwiſchen den bereditigten
ntereffen der überall dem eigenen Borteil nachgehenden Völker anitrebt. Je Elarer
dabei die Grenzen gezogen werden, um jo befjer werden alle mitwirfenden Faktoren dabei
gedeihen. In betrefi Rußlands, das als größter Nadjbarftaat für uns von hervor:
ragenditer Bedeutung ift, gilt diefer Sap ganz bejonderd. Die Formel, nad) welcher der
Ausgleich zu finden ift, mag nod) jo jehr umjtritten werden, es ift eine Notwendigkeit,
dab fie gefunden wird, und fie wird deshalb auch gefunden werden. Rußland hat im
verfloffenen Jahr fein ungeheures Gebiet durch die faftiiche Annektion der Mandjchurei
noch weiter vergrößert, feine Stellung am Stillen Ozean militäriich und politijch gejtärkt
und fo unzweifelhaft aus den chinefifchen Wirren den größten Vorteil gezogen. Ihm zumal ift
aud die Bindung der engliihen Macht durd) den jüdafrifanischen Krieg zu gute gekommen.
An Perſien dominiert fein Einfluß, der Tod des Emird von Aighaniftan hat auf dem
Boden diejes Pufferftaates die Lage zum Vorteil Rußlands geändert, Tibet wird immer
mehr in die ruffiiche Einflußiphäre hineingezogen; in Turfeftan fteht ein allezeit marich-
bereites Heer und auf der Balfanhalbinel find heute Serbien, Bulgarien und Monte:
negro und mit gewilfen Vorbehalten auch Griechenland näher an Rußland herangerüdt.
Es Liegt thatfächlich jo, daß ein Signal Rußlands die orientalische Frage jofort wieder
lebendig machen fönnte.
Daß Rußland heute eine ſolche Politif nicht verfolgt, hat es durch feine maßvolle
Haltung in dem jüngſten türkifch-frangöfiichen Konflikt gezeigt. Die franzöſiſche Erpedition
nach Lesbos, die türkischen Zugeftändniffe, der raſche Abichluß der ganzen Angelegen—
Theodor Schiemann, Die auswärtige Politik Im Jahre 1901. 595
heit, die jegt durch die Audienz des franzöſiſchen Botjchafters Conftans beim Sultan
endgültig erledigt ift, das alles ift gleihfam unter ruffiiher Stontrole geichehen.
Nur in einem Punkte hat die frangöfifche PVolitif die von Rußland beliebten Grenzen
überfchritten, indem fie nämlih für die fatholijch-frangöfiihen Schulen und Miffionen
weſentliche Vorteile ausbedang, und das ift in Petersburg fehr unangenehm empfunden
worden. Die Wahricheinlichfeit fpricht jedoch dafür, daß Frankreich mit Rüdfiht auf
die nation amie et allice einen jehr mäßigen Gebrauch von feinen neuerivorbenen
Vorrechten machen wird. Es ift mehr eine Maßregel zur Stärkung des Minifteriums,
das einen Erfolg braudite, um fi) zu behaupten, als ein ernft gemeinter politifcher
Schadzug gegen die ruffiichgriehifhe Kirche im Drient. Aber in Zukunft einmal,
wenn neue politifche Kombinationen aufgefommen find, kann dieſe Beſtimmung aller:
dings von höchſter Wichtigfeit werden.
Frankreich ift, abgefehen von diefem coup de theätre, nur an einer Stelle aftiv
vorgegangen. Es hat, unter Benutzung der engliijhen Schwierigkeiten, feine Grenzen
gegen Marokko weſentlich ausgedehnt und fteht im Begriff, eine jener periodifch
wiederkehrenden Grenzregulierungen zu vereinbaren, die erfahrungsmäßig ſehr bald
den Anlaß bieten, neue Forderungen geltend zu machen. Die maroffaniiche Frage
fommt aber nicht zur Ruhe und muß in Zukunft einmal eine ähnliche: Bedeutung
gewinnen, wie fie fich die orientalifche durch den Lauf der Jahrhunderte bewahrt hat.
Die eigentlihe Sorge Frankreichs aber war während des letzten Jahres die Wendung,
die fi) in den inneren Angelegenheiten zu vollziehen beginnt. Das Minifterium Waldeck—
Rouffeau » Delcafje » Millerand hat fich gegen alle Wahrfcheinlichfeit behauptet, obgleich
die Zahl jeiner Gegner täglich wächſt. Die Sogialiften beginnen fi der Führung
Millerands immer mehr zu entziehen, und nicht ihm gebührt das Verdienft, daß
der geplante Mafjenausftand der Grubenarbeiter nicht erfolgt ift. Der franzöfifche
Sozialismus in all feinen zu Kommunismus und Anardhismus hinüberleitenden
Schattierungen hat aber während des Regiments der Waldeck-Rouſſeau und Genojjen
ftetig an Macht und Begehrlichkeit zugenommen, ganz wie auch die unter dem Namen
Nationaliften zufammengefaßten Gegner des Minifteriums ftärfer geworden find. Daß
e8 ſich trotzdem behauptet hat, Liegt an der Unmöglichkeit, beide Gruppen zu alliieren, und
an der Furt vor den Erichütterungen, die das Greifen ins Unbekannte immer nad) ſich
ziehen kann. In fich folgerichtig ift eigentlich nur die auswärtige Politif Frankreichs
gemwejen, fo meit fie mit der zähen Politit Rußlands verbunden ift, aber an einzelnen
Mißgriffen und Inkonſequenzen, wie fie der Mangel an Disziplin herbeiführte, hat es
auch auf diejem Felde nicht gefehlt. Das Merkwürdigite ift wohl, daß es fo völlig un—
möglich ift, fich eine klare Borftellung von den durch die Armee gehenden Strömungen
zu machen. Einer einheitlichen Gefinnung ftehen wir jedenfall® nicht gegenüber, und es
erjcheint nicht undenkbar, daß einmal auch von diejer Seite her Ueberraſchungen fommen.
England verlor zu Anfang des Jahres jeine greile Königin, und es ift nod in
frifcher Erinnerung, wie Kaifer Wilhelm zur Beitattung nad) London fuhr, und melde
wechjelnden Stimmungen fi hüben und drüben an diefen Bejucd geknüpft haben. Es
liegt in dem Weſen der englifchen Berfaffung, daß mit dem Thronwechſel ein Wechiel
der Politik nicht verbunden war. Der neue König muß die Wege der regierenden
38*
596 Theodor Schtemann, Die auswärtige Politik im Jahre 1901.
Bartei gehen, und jo kam es, dat feinerlei Wandlung in der inneren oder in der äußeren
Politik die beginnende Aera König Eduards VII. bezeichnet hat.
Bon mwejentliher Bedeutung war die noch zu Lebzeiten der alten Königin erfolgte
Konftituierung des common wealth von Auftralien. Die autonomen Kolonieen
Auftraliend haben fich zu- einer gemeinjamen Bertretung in einem Parlament mit einem
gemeinfamen Minifterpräfidenten zufammengethban. In Anweſenheit des künftigen
Herrſchers des Greater Britain hat die feierliche Smaugurierung diefer auftralifchen
„Republik“ — denn das heißt common wealth — mit dem überfeeijchen Könige als
Oberhaupt ſich vollzogen: ein politifches Rätjel für die Zukunft, deſſen Schlüffel gefunden
zu haben wir uns nicht vermeifen. In England veripridt man fi von der konzen—
trierten Macht Australiens eine weitere Stärfung des imperialiftifchen Gedanfens, wie
er im Haupte Chamberlains fi) zu einem Traum von Macht und Reihtum und alles
beherrichendem Einfluß geftaltet hat. Ein Widerfprud ift dagegen ebenjo wenig an-
gebradjt wie etwa die Behauptung, daß alle jene Herrlichkeiten nun wirklich in die Er-
icheinung getreten find, und die goldenen Tage der angelſächſiſchen Raſſe auffteigen.
Wenn Belfimiften und Optimiften mit einander ftreiten, geht die hiſtoriſche Entwicelung
ihre bejonderen Wege, und nur zu häufig führt fie zu einem Ausgang, den niemand er-
wartet hat. - Die Entwidelung des engliichen Ktolonialfyftems trägt aber unverkennbar
die Keime zu einer centrifugalen Tendenz in fich, die bisher freilich nur in den Vereinigten
Staaten von Nordamerifa ihre legten Konjequenzen gezogen hat, deren Anzeichen wir
aber ebenfo jehr in Nuftralien, wie im Dominion of Canada, und wie in Südafrika
deutlich zu erkennen meinen.
Was nun die große Republik zwiſchen den beiden Dceanen und dem Merikanijchen
Golf betrifft, jo hat fie die beijpielloje Gunft ihrer Lage gerade im Verlauf des letzten
Jahres mit all der Rüdfichtslofigkeit geltend gemacht, die zu einer faft ſprichwörtlichen
Eigentüntlichfeit der Wanfee-PBolitit geworden ift. Das Auftreten Amerifas auf den
Bhilippinen, die bejondere Rolle, die es mährend des chinefiihen Konflikts jpielte, die
Bereinigung der MilliardentruftsS zur wirtfchaftlichen Beherrfhung der Welt, die Un-
befangenheit, mit der der Kongreß in Wafhington ſich iiber Verträge hinmwegzujegen pflegt,
und die Naivität, mit der die jog. Monroe-Doktrin gleichjam zu einem oberiten Grund:
jag der Weltpolitif erhoben worden ift, alle dieje Ericheinungen haben mit Recht in der
nichtamerifanischen Welt Beunruhigung und Befremden hervorgerufen. Der durch Ver:
brederhand gefallene Präfident Mac Kinley galt für den Hauptvertreter diefer Richtung,
und nod) unter feiner Megide ift der panamerifaniiche Kongreß in Mexiko zufammen-
getreten; was der neue Präfident Roofevelt an bejonderen, aus jeiner fraftvollen und
lauteren Perjönlichkeit entipringenden Elementen hinzubringen wird, läßt ſich noch nicht
abjehen. Seine Botichaft rechnet offenbar mit den Machtfaktoren der Nepublif und bat
die Schlagworte, die jeder Amerikaner zu hören verlangt, in ftattlicher Folge vorgebradt.
Daraus auf die Praris der Politit zu fchließen, die er vertreten wird, erfcheint uns
verfrüht. Grundfäte, namentlidy aber politifche, treten niemals jo in die Erjcheinung,
wie fie fi theoretifch formulieren. Die Wirklichkeit fordert ihr Necht, und die Wirk:
lichkeit der politischen Sintereffen der gejamten Welt jest ſich der Theje entgegen, die
deutlich erkennbar im Dintergrunde der Botichaft liegt; weder Europa noch Afıen darf
Theodor Schiemann, Die auswärtige Politit im Jahre 1901 597
ein großes GErploitationsfeld für amerifaniihe Milliardäre oder zum Verjuhsboden für
die Erperimente des rüdjihtslojen Egoismus der Trufts werden.
Ueber die Bolitif der anderen Mächte fünnen wir rajcher hinweggehen. Sie ift,
abgejehen von den ſchon erwähnten gemeinfamen Aktionen, überall durch die Bedürfniffe
beftimmt worden, melde das Leben im engeren Streije der eigenen Grenzpfähle brachte.
Das Jahr 1901 ift überall ein ſchweres und forgenvolles Kahr geweien. In Rußland
Mikernte und Hunger, Studentenfrawalle und anarchiftiiche Attentate. Die durd den
Nachfolger Bogolepows, des ermordeten Minifterd der Volksaufklärung, den alten
General Wannowski, verfuchte Reform des Erziehungs- und Unterrichtsweſens in Schule
und Univerfität jcheint die erwünſchten Früchte nicht tragen zu wollen. Als höchſt be-
denkliche Ericheinung ift da8 Zuſammenwirken der Arbeiter mit den Studenten hinzu:
gekommen, es gährt überall, und die autoritative Nichtung, welche die Regierung zu
behaupten bemüht ift, ftößt auf den zwar verhaltenen, aber um fo leidenjchaftlicheren
Widerſpruch der liberalen Intelligenz. Auch der nationale Chaupinismus beginnt fich
wieder ſehr fühlbar zu regen. Finland Fällt ihm zum Opfer, ganz wie früher die drei
baltiſchen Provinzen, gewiß nicht zum Heile des Neichs, ihm geopfert worden find. Was
wird geichehen, wenn es nichts mehr zu verderben und zu vernichten giebt?
In Oeſterreich-Ungarn verichlingen fic) die vergifteten nationalen Gegenſätze, ohne
dak bis zur Stunde eine Ausficht auf eine Wendung zum Beſſeren ſich erkennen ließe.
alien, unjer zweiter VBerbündeter, hat nad) den ſchweren Reinigungsarbeiten im Süden
unter dem Minifterium Zanardelli-Giolitti-Prinetti eine jehr erfreuliche Wendung zur
Geſundung feines Staatshaushalt3 gemadht; in Spanien hat am 11. Juni König
Alfons XIH. nad) erreihter Mündigfeit feine erften Cortez ſelbſt eröffnen fünnen. Gewiß
zu hoher Genugthuung feiner vortrefflichen Mutter, die ihn in forgenreihen Jahren
erzogen und für feinen fchweren Beruf herangebildet hat. Aber noch fteht Spanien in den
alten Kämpfen zwiſchen Klerikalen, Radikalen, Sogialijten, und es wird viel Entichloffen-
heit, Zähigfeit und Weisheit dazu gehören, die Nation allmählich in die Bahnen einer
gejunderen Entwidelung zurüdzuführen.
Die Bermählung der jugendfhönen Königin Wilhelmina von Holland mit dem
Prinzen Deinrih von Medlenburg ift in Deutichland mit teilnehmender Freude begrüßt
worden. Das holländische Volk, das, wie begreiflich ift, noch mehr als unjer Bolf von
dem jüdafrifaniichen Kriege erregt ift, wird hoffentlich in der Gemeinſamkeit der nationalen
Empfindungen und in der neubegründeten dynaftiichen Verbindung Deilung finden von
dem thörichten Miktrauen, das es bisher dem Deutjchen Reiche entgegentrug. Wir
wünſchen eine wirtichaftlihe und politifche Verftändigung mit Holland, wie fie beiden
Teilen niüglich fein muß, wiffen aber genau, daß fie nur aus holländiicher Initiative
hervorgehen Fann, und haben Geduld und alle Möglichkeit zu warten.
Die Kriftlihen Staaten der Balfanhalbinfel beginnen allmählich fi; von dem
politiihen SFieber zu erholen, an dem fie alle litten. Das mafedoniiche Komitee in Sofia
ift glücklich geiprengt; nad) dem Tode König Milans und nad) der Vermählung des
Königs Alerander mit Frau Draga und nad den damit verbundenen fonderbaren Irrungen
ift e8 auch in Serbien ftill geworden. Griechenland ift politifch näher an Rumänien heran:
gerückt und hat zugleich jein Berhältnis zur Türkei wefentlich gebeffert. Der alte
598 Theodor Schtemann, Die ausmärtige Politik im Jahre 1901.
Wunſch der griehiichen Nation, Kreta mit dem Mutterlande vereinigt zu jehen, iſt troß
mehrfadher Bemühungen nicht erfüllt worden, wohl aber ijt das Proviforium, das die
Stellung des Prinzen Georg ald Gouverneur der Inſel bedeutet, auch für die nächiten
drei Jahre gefihert. Damit haben die Griechen fich zufrieden zu geben, da ohne große
Erihütterungen, die wahrjcheinlih in Makedonien anheben würden, eine Wandlung nicht
eintreten kann. Alle großen Mächte find aber darin einig, gerade das zu verhindern.
Bon den türfifchen Provinzen der Halbinjel macht das unruhige Albanien am meiften
Not. Seine Grenzftreitigfeiten mit Montenegro, das immer mehr eine Entwidelung
nimmt, die in ihm das fünftige Savoyen des Balkan vorahnen läßt, die halbe Unab—
hängigfeit, die der Stamm der Albanejen behauptet, die politiichen Kombinationen, die ſich
an jeine italienischen Beziehungen fnüpfen, geben diefer Landſchaft einen bejonders un-
ruhigen Charakter. Es ift das am menigften europäifche Gebiet der Halbinfel, zugleich
aber das friegerifchfte und dasjenige, daS am treueften zur hohen Pforte fteht.
Bosnien und die Herzegowina leben fich immer mehr in die öfterreichiiche Ober:
herrlichfeit ein, danf der energiihen und klugen Verwaltung des Barons Kalay. Es
kann wohl für fiher gelten, daß diefe Provinzen für immer öſterreichiſch bleiben.
In der islamijchen Welt, die im Sultan ihr Haupt verehrt, hat es fih im Laufe
des verflofjenen Jahres vielfad) geregt. Die engliſch-ruſſiſche Herrichaftsfonfurrenz hält
Border: und Mittelafien in Atem, während gleichzeitig auf afrifaniih:mohammedanijchem
Boden England und Frankreich einander als Rivalen gegenüberitehen. An der wirt:
Ihaftlihen Erichliegung Vorderafiens hat aud) Deutichland fich zu beteiligen begonnen,
aber mit dem linterfdjiede, dat es gleichzeitig bemüht ift, auf diefem Boden die Autorität
des Sultans aufrecht zu erhalten. Es hat fich daraus für uns eine feite Grundlage
quter Beziehungen zur Pforte entwicelt, deren Dauer wir lebhaft wünſchen. Die Duelle
aller Uebel in der Türkei ift nad) wie vor die jchlechte Finangwirtihaft und die lin:
zuverläffigfeit gerade der höchſten Finanzbeamten; beides die Urſache fteter Verlegen-
heiten, die jelbft durch die jehr hervorragende diplomatische Begabung des Zultans nur
jchwer ausgeglichen werden können. Somohl der Roftftreit, als die ſchon ermähnte
franzöſiſch-türkiſche Vermidelung haben diefen Urſprung gehabt. Weit bedenkflicher it es
aber, daß durd) den gejamten Islam, von Marokko über die Oaſen der Sahara nad)
Eghnpten und darüber hinaus bis in den Bundichab und bis China hinein, eine religiöfe
Bärung geht, die als panislamitifche Bewegung ohne Zmeifel eine Gefahr daritellt.
Der Islam kennt feine nationalen Ehranfen, darin liegt die Möglichkeit, daß er ſich
plöglicd; zu einem Ganzen zujammenballt und allen denen die höchſten Verlegenheiten
bereitet, die für fi die Vormundſchaft über diefe Völfer und Stämme beanipruden.
Doch aud) das ift ein Problem der Zukunft, und uns liegt fern, den Propheten
zu jpielen. Vielleicht giebt das Nahr 1902 ſchon die Antwort auf dieje Frage wie auf
andere, deren Löſung noch ferner zu liegen jcheint, vielleicht gehen Generationen darüber
hin, ehe diefe Antwort fommt.
Aber, um mit einem Wort Bismards zu jchliegen, „wie Gott will, es iſt ja alles
doch nur eine Zeitfvage, Völker und Menſchen, Thorheit und Weisheit, Krieg und Frieden,
fie kommen und gehen wie Waffermogen, und das Meer bleibt“.
@
SIBIBISIBIBIBIBIBIRLNIRIBIRIRIPIRIPIRIPIPIPIPI
Monatsichau über innere deutiche Politik.
Don
W. v. Mallow.
IV. Der Fall Spahn.
[8 „ausichlaggebende* Partei läßt fid) das Zentrum gern bezeichnen, und in der
That deuten viele Ericheinungen in unſerm öffentlichen Leben darauf hin, daß
unjere Regierungsfreife mehr als wünſchenswert zu einer gefährlichen Nadjgiebigkeit
gegen dieſe Bartei geneigt find. Die zahlenmäßige Stärke ihrer Vertretung im Parla-
ment fann nicht als einzige Erflärung dieſes unerwünſchten VBerhältniffes gelten. Es
fommt auch eine große Unkenntnis der fatholifchen Kirche in evangelifchen Kreiſen hinzu,
wo man immer noch zu glauben jcheint, e8 handle ſich bei Beurteilung diejer Frage um
eine perjönlihe Stellungnahme zu dem katholischen Bekenntnis. Daß eine ſolche
Stellungnahme auch auf evangeliiher Seite übertwiegend im Geifte der Verſöhnlichkeit
und Duldung gefchieht, könnte als eine Thatfache, die unſerm deutfchen Volk zur Ehre
gereicht, mit Stolz und Befriedigung verzeichnet werden, wenn fich nicht hinter diefer
Verjöhnlichkeit zugleich ein gut Teil Gleichgiltigkeit und nod; mehr lnfenntnis der
politischen Bedeutung der frage verbergen würde. Jeder verftändige Deutjche muß wünschen,
daß fih die verichiedenen chriftlichen Bekenntniſſe in unjerer Nation in Frieden und in
gemeinjamer Piebe zum Baterlande vertragen, und das kann auch geichehen, foweit cin
folches Berhältnis auf gegenfeitige Achtung der lleberzeugungen in Glaubensfragen
gegründet ift. Aber es iſt offenbar, daß, wenn die Befenner eines beftimmten Glaubens
fi; zu einer politiichen Bartei zufammenthun, allermindeitens ſchon eine aufmerkſame
Prüfung notwendig ift, welche Tragweite dieſe Hineinbeziehung eines Glaubensitandpunfts
in politifche Beftrebungen haben mul. Dieje Prüfung wird leider von vielen evange—
liſchen Bürgern des Reichs unterlafjen, und jo fann es kommen, daß häufig ein politisches
Bufammengehen mit dem Zentrum unter den Gefichtspunft eines Kampfes des Glaubens
gegen den Unglauben geftellt wird. Damit gejchieht genau das Gegenteil von dem, mas
geſchehen müßte: aus dem Geift der religiöfen Umduldjamfeit heraus einigt man ſich auf
politifchem Gebiet gerade da, wo die Geifter im nationalen Intereſſe ich ſcheiden follten,
während man lieber umgefehrt auf religiöjem Gebiet fid) vertragen, aber in der Politik
niemand paffteren lafjen follte, der nicht Loſung und FFeldgefchrei giebt. Die Exiſtenz
einer Partei wie das Zentrum fönnte auch den, der es aus der Geſchichte noch nicht
weiß, darauf hinlenfen, daß die Fatholifche Kirche nicht nur eine Glaubensgemeinidaft,
fondern auch eine weltumjpannende politische Organifation ift, die als folche der äußern
Machtfülle bedarf und Schon um deswillen es garnicht vermeiden fann, zu den Lebens—
intereffen der einzelnen Nationen vorübergehend oder dauernd in Gegenfaß zu treten.
600 W. v. Maſſow, Monatsſchau über innere deutfche Politik.
So entiteht jenes furdtbare Syſtem, das feine Macht über die Gemwifjen zu einer abjo-
futen Herrihaft über das gejamte Geiftesleben crmweitern, die Glaubenstreue der
Glieder der Kirche zu Machtzwecken ausbeuten und mit den Schlüffeln des Himmelreichs
auch die Thüren zu den irdiihen Behaufungen der Völker aufichließen will. Diejen
Bmeden des Ultramontanismus, der eine der ſchwerſten Gefahren, wenn nicht überhaupt
die Schwerfte Gefahr für unjer Deutiches Reich bedeutet, muß natürlich jede Organijation
dienen, die im Namen des Katholizismus politisch thätig ift, aljo auch unjere Zentrumspartei.
Dennod) würde es nicht richtig fein, die gefamte Anhängerichaft des Zentrums für
bewuhte VBorfämpfer des Ultramontanismus im ftrengften Wortfinne zu halten. Unter
den Angehörigen des Zentrums gieht e8 viele gläubige Katholiken, die ihrem religiöjen
Standpunft entfprehend überzeugt find, daß die Kirche in jeder Beziehung nur das
wahre Wohl ihrer Belenner zu fördern vermöge, und die daher auch in der geijtigen
Unterwerfung Deutſchlands unter den Ultramontanismus feinen Schaden jehen. Da-
neben aber find fie doch ſoweit gute Deutiche, daß fie der vatifanifchen Politik die
Pflicht zuerfennen, die gleihberechtigte Eriftenz der Völker, alſo auch das nationale
Recht des deutichen Volkes zu achten. Diefen Vorbehalt erkennt der echte Ultramonta=
nismus nicht an. Er ift bereit, der Machtpolitik der römischen Kurie aud) die Eriftenz
der Völker zu opfern, und da dad Deutihtum mit feinem religiöfen Ernft und mit
jeiner Vertiefung in alle großen Lebensfragen einer mit dem Anſpruch göttlicher Autorität
auftretenden irdifhen Machtpolitik vorzugsweife unbequem ift, fo findet es grundſätzlich
nirgends die Unterſtützung der Kirche, wo es in feiner Eriftenz bedroht iſt. So arbeitet
die römische Kirche im Often für das Polentum, in den Reichslanden für die franzöſiſchen
Intereſſen. Das Zentrum folgt auf diefem Wege zwar ein guted Stüd, aber nicht ganz.
Am Often entziehen ſich die deutfchen Katholiken, obwohl aud) fie politiicy dem Zentrum
anhängen, mehr und mehr der ultramontanen Führung. Auch die Haltung des
führenden rheinischen Zentrumsblattes, der „Kölnischen Volkszeitung“, in der Polenfrage
darf uns nicht irreführen. GErftens beruht diefe Haltung wenigftens zum Teil auf
Unkenntnis der Verhältniffe, und zweitens findet die fchroff ultramontane Behandlung
der Polenfrage, wie fie Dr. Bachem in diefem feinem Blatte übt, durchaus fein Echo in
zahlreichen gutfatholiichen Streifen, die nur deshalb dieje Behandlung nicht öffentlich miß—
billigen, weil fie teils die Verhältniffe nicht genügend kennen, teils andere Nachteile für
die Sache des Katholizismus und des Zentrums fürdten. Thatſache ift, daß es doch
noch einen Unterfchied giebt zwiſchen vatifanischer Politik und deutſcher Zentrumspolitif.
Man kann einwenden, daß diejer Unterjchied injofern wenig Bedeutung hat, als
die ultramontanen Ziele durch das eine jo gut gefördert werden als dur das andere.
Hat erit der ultramontane Geift die Herrſchaft erlangt, jo ift auch das äußere Schickſal
unjeres Volkstums in Frage geftellt, und es bleibt dabei gleichgiltig, ob einzelne Ver—
treter des Klerikalismus heute noch nationale Anmwandlungen haben und dem Batifan
gegenüber ihre Vorbehalte machen. Der einmal zur Herrihaft gelangte Ultramontanismus
wird auch über diefe Schranfe leicht hinmwegfchreiten.
Diejer Einwand iſt gewiß richtig, ſoweit er die Notwendigkeit darthun joll, das
evangeliihe Gewiſſen gegen die ultramontanen Einflüffe aufzurütteln. Ohne den fatho=
liſchen Glauben anzutaften, jollte doch jeder Evangelifche zunächft einmal einen offnen
W. v. Maſſow, Monatsſchau über innere deutfche Politik. 601
Blif gewinnen für die politiihen Konjequenzen, die in der Oryanijation und dem Lehr:
gebäude der katholiſchen Kirche enthalten find, und fodann auch bereit fein, in die
Schranken zu treten, wenn Glaubens: und Gemiffensfreiheit bedroht find. Organijationen,
die in dieſem Geifte wirfen, wie der Evangelifche Bund, find daher eine Notwendigkeit.
Die Regierungen aber ftehen diefer Frage dod) etwas anders gegenüber. Sie haben nicht
Stimmungen zu pflegen und nicht unmittelbar und direkt die Gefinnungen zu beeinflufien,
iondern fie haben pofitive gejeßgeberifche und adminiftrative Arbeit zu leiften. Sie müffen
daher auch den vorhin gekennzeichneten Unterfchied beachten und es verftehen, auch die
ſchwachen nationalen Anſätze des deutjchen Stlerifalismus für ihre Zwecke auszunutzen.
In den Reichslanden ftügen fid; die Elemente, denen die Pflege franzöſiſcher Inter—
eflen und Sympathieen vorzugsweife am Herzen liegt, vornehmlich auf die Kirche. Wenn
ed jchon im allgemeinen der ultramontanen Politik entfpricht, das Franzoſentum gegen
das Deutſchtum zu unterftügen, jo kommt hier noch im bejonderen dazu, daß die Welt:
politif des Vatikans hauptſächlich Anlehnung an Frankreich fucht. Der gegenwärtige
Kardinal-Staatsfefretär Rampolla ift ein überzeugter Anhänger diefer Politik, die durch
die Berufung des franzöſiſchen Erzbiſchofs Mathieu nad; Rom nod) verftärkt worden iſt.
Bon der Kurie ift aljo nichts zu eriwarten, was dem franzöfiichen Einfluß in den Reichs»
landen irgendwie entgegenwirfen könnte. Was joll nun die deutfche Negierung thun?
Sih im Antereffe des Deutſchtums auf den Proteftantismus ftüten fann fie nicht in
einem Lande, deſſen deutiche Bevölkerung fait zu vier Fünfteln fatholifch ift. Sie muß
alfo die Hilfe des Katholizismus annehmen, ſoweit er deutſch fein will und den deutjchen
Einfluß zu ftärfen bereit ift, jelbjt auf die Gefahr hin, dak auch ultramontanen Be-
ftrebungen bi8 zu einem gewiflen Grade die Thür geöffnet wird. Das geht nun einmal
nicht anders. Wer auf diefem Boden und unter diejen Berhältniffen eine beſſere
Politik weiß, der mag es jagen; nur möge er ſich bewußt bleiben, daß bloßes Scelten
auf die Nachniebigfeit gegen den Ultramontanismus uns nicht um ein Daarbreit näher
an das Biel bringt, das uns in den Neichslanden zunächft geitedt ift, nämlich die Be—
feftigung des Deutichtums. Da das Zentrum bereit war, die Regierung hier auch gegen die
Beitrebungen der vatikaniſchen Bolitif zu unterſtützen, jo war es unter den gegebenen
Berhältniffen Pflicht der Regierung, die gebotene Hand anzunehmen. Aus diefer Sad:
lage entitand der Plan, an der Straßburger Univerfität eine Fatholifch-theologiiche Fakul—
tät zu errichten. Uber befanntlich jcheiterten bisher alle Bemühungen in diefer Richtung
an der Zähigkeit Rampollas und der anderen Franzoſenfreunde im Batifan. Der deutiche
Klerikalismus empfand über dieſes negative Ergebnis ein ftarfes Mißvergnügen, das
notwendig zu dem Beitreben führen mußte, in anderer Weife einen geiftigen Stütpunft
für den deutjchen Katholizismus in den Neichslanden zu ſchaffen. Dieje Wünjche ver:
Dichteten fich zu dem Vorfchlage, in Straßburg „katholische Profeſſuren für Geſchichte
“ und Bhilofophie zu ſchaffen.
Dhne Zweifel barg diejer Vorichlag in ſich einen ſchweren Konflikt. Die Regierung
hatte das dringende politische Intereſſe, darauf einzugehen; andererjeitö verhehlte fie fich
nicht, daß die Erfüllung der Elerifalen Wünſche in wiſſenſchaftlichen Kreifen einen über:
aus ſchlechten Eindruf machen müſſe. Denn wenn auch an manden alten Univerfitäten
einzelne oder auch ſogar alle Profefjuren fonfejfionell gebunden waren, fo fonnte doc
02 W. v. Maſſow, Monatsichau Über innere deutſche Politik.
die Neueinführung des konfeſſionellen Prinzips an einer modernen Hochſchule nicht nach
diefem Mapftabe gemeſſen werden. Wie in einem Konflikt zwiichen den Bedürfniffen der
Wilfenihaft und den Forderungen der praktischen Politit zu enticheiden ift, darüber
werden natürlich die Meinungen auseinandergehen. Es jollte aber anerfannt werden,
daß die Regierung doch den beftmöglichen Ausweg aus dem Sonflift gewählt hat, indem
fie ich zwar pflichtgemäß dafür entichied, den Forderungen der praktischen Bolitif gerecht
zu werden, ſich aber auch zugleich ihrer Pflicht gegen die Wiſſenſchaft bewußt blieb. Das
zeigte die Wahl des Profeſſors Spahn, der einerfeit3 ein anerfannt glaubenstreuer
Katholif und als Eohn eines einflußreichen Zentrumspolitifer8 auch bei dem polititchen
Katholizismus qut akkreditiert war, andererjeits ein tüchtiger, ernithafter Gelehrter und
fern von ultramontanen Neigungen war. Daß nad der von Kaiſer und Statthalter
getroffenen grundjäglichen Entfcheidung über die Errichtung katholischer Profeifuren in
Straßburg die Perfonenfrage fo, wie geichehen, gelöft wurde, legt nur Zeugnis ab von
der Geſchicklichkeit und Einficht der preußiichen Unterrichtsverwaltung, die dabei zu Rate
gezogen wurde. Ihr kann es nicht zur Laſt gelegt werden, wenn nachher durch un—
geſchickte „Enthüllungen“ von evangelischer Seite Profeſſor Spahn bei feiner Kirche die-
freditiert und fo in eine jchiefe Stellung gebracht wurde — natürlich auf Koften des
nationalen Gewinns, der jonft dabei herausgeiprungen wäre.
Die gerehte Würdigung des Standpunftes der Regierung und der Art, mie fte
den Schwierigfeiten der Page zu begegnen wußte, ſchließt nicht aus, dak auch die Berechtigung
einer ftarfen Beunruhigung in den Kreiſen der Wiſſenſchaft volllommen anerkannt wird.
Auch bei voller Einſicht in die politische Notwendigkeit, den Elerifalen Wünjchen an dieier
Stelle und in diefer Art entgegenzufommen, bleibt doc immer die Erwägung zurüd,
daß damit ein nicht unbedenklicher politiicher Bräcedenzfall geichaffen worden ift, auf den
man fic vielleicht dereinft anderwärts berufen kann, two feine befondere Notwendigkeit,
jondern wirflih nur Shwächliche Nachgiebigkeit gegen ultramontane Anſprüche vorliegt.
Eine einmütige Kundgebung der Vertreter deuticher Wiſſenſchaft über ihre allgemeine
Auffaffung der aus dem Straßburger Fall ſich ergebenden Prinzipienfrage war nicht nur
vollbereshtigt, jondern Ffonnte auch den Regierungen im Grunde nur erwünſcht fein.
Verſucht hatte das jchon die philofophiiche Fakultät von Straßburg im ummittel-
baren Anſchluß an die Berufung Spahns durd; eine Art von Protefteingabe. Der
Schritt war injofern verfehlt, als er erftens in formalrechtlicher Beziehung anfechtbar
war, — denn die Beſetzung der Profeffuren ift geieglich nicht an die Vorichläge der
Frafultäten gebunden — und als er zweitens in Bezug auf die Auffaffung des Falles
verichiedene Mikverftändniffe enthielt. Dagegen fand man nun eine andere Form, um
die grundiägliche Stellung der deutichen Wiffenichaft zum Ausdruf zu bringen. Bro:
feffor Mommien veröffentlichte jeinen bekannten offenen Brief gegen die konfeſſionelle
Bindung des Yehramts an deutichen Hochſchulen, und nun war für die Pehrkörper ber
deutichen Univerſitäten die Gelegenheit gegeben, durch Zuftimmungsadreffen an Mommien
ihre grundjätliche Stellung zu der wichtigen Frage der freien Forichung und Lehre zu
befunden. Die große bedeutungspolle Bewegung ift nicht ganz fo verlaufen, wie fie geplant
war und erhofft wurde. Ron den preußiichen Univerfitäten folgte nur ein Teil, und
auch diefer jpät und zögernd. Die Urfachen davon find hauptfächlich in drei Umftänden
W. dv. Mafjow, Monatsſchau Über innere deutfche Politilk. 60,
zu juchen. Erjtens nahm eine beträchtliche Anzahl von fehr bedeutenden Gelehrten Anſtoß
an der viele Angriffspunfte bietenden Ausdrucksweiſe Mommfens, der, wie fpätere Er:
klärungen zeigten, jelbjt zu fühlen ſchien, daß er fich in einzelnen Wendungen vergriffen hatte.
Zweitens wurde der Sade eine politiſche Spite gegeben, die von den in den
Dergang näher eingemweihten Profefforen, namentlich der Berliner Univerfität, nicht gut:
geheigen wurde. Sehr deutlich fam das in Münden zum Ausdrud, wo auf die
Forderung des Profeflors Brentano hin die dortige „Allgemeine Zeitung” von der Ver:
öffentlichung der Profefforen:Adreife ausgejchloffen wurde mit der befonderen Be
gründung, daß die „Behandlung des Falles Spahn“ in dem genannten Blatte die Ver:
anlaffung diefer Bonfottierung fei. Die „Allgemeine Zeitung“ hatte nun in diefem Falle
genau ebenijo im Kampfe gegen die Ultramontanen geftanden wie die anderen fübd-
deutſchen Blätter, aber fie hatte allerdings noch ein Zweites gethan, nämlich) — den
Kaijer verteidigt gegen die thörichten Nörgeleien und Mißverftändniffe, die an fein Tele:
gramm an den Statthalter von Elſaß-Lothringen anläklih der Ernennung Spahns
gefnüpft worden waren. An München wollte man aljo der Bewegung der Profefforen
ausdrüdlid eine Spite gegen den Saifer und die Regierung geben. In Berlin kannte
und wirdigte man aber den Zujammenhang beffer und wußte daher aud), daß es ein
Fehler fein würde, der Stellungnahme für die freie Wiflenichaft eine politische Epite
gegen eine Negierung zu geben, die in einer politifhen Zwangslage immer nod) das Befte
für die Wiffenichaft gethan Hatte und überdies noch formell im Rechte war. So verging
zahlreihen Mitgliedern der Berliner Fafultäten die Luft, ſich an der Sache zu beteiligen.
Und nun fam nod ein dritter ftörender Umftand Hinzu. In einer Wochenſchrift
erichien ein maßlojer Ausfall des Straßburger Profeſſors Michaelis gegen die preußifche
Unterrihtsvermwaltung und ihren spiritus rector, den Minifterialdireftor Dr. Althoff.
Diejer von ftarfen Vebertreibungen wimmelnde Ausbruch verletzter perjönlicher Eitelfeit
mußte einen fehr iiblen Eindruck bei allen denen machen, die, wie fie auch ſonſt über
diefe und jene Maßnahme der preußifchen Unterrichtsverwaltung denfen mochten, doc)
das Unberechtigte eines ſolchen Angriffs voll erfannten. Diefe wußten ja überdies auch
ganz genau, daß gerade in diefem Falle Dr. Althoff alles nur Mögliche gethan hatte,
um neben den ihm auferlegten politiichen Rückſichten die Würde der Wiffenjchaft zu
wahren, und daß aus Gründen des allgemeinen und politiihen Taktes gerade der Fall
Spahn fo ungeeignet wie nur möglich jei, um jubjeftiven Empfindlichfeiten über die
Wirkſamkeit des preußifchen KNultusminifteriums Raum zu geben. Es war ein voll-
ftändig verfehlter Gedanke, die Wucht einer allgemeinen Kundgebung von grundfäglicher
Bedeutung mit dem Kleinkram perfönlich gefärbter Beichwerden zu verquidfen.
So hat die deutiche Profefforenbeiwegung für die Freiheit dee Wiſſenſchaft nicht
ganz das gewirkt, was bei allfeitiger Klarheit über die wirkliche Bedeutung der Kund—
gebungen zu erreichen gemwejen wäre. Darum bleibt fie aber doch ein bedeutiames
Wetterzeichen in der deutfchen Geiftesgeichichte und enthält die gewichtige Mahnung, dat
die deutiche Wiffenihaft ihr Wächteramt hodyhält und eine Gewähr dafür fordert, daß
fie nicht zur Magd der Politif wird. Dieje Feititellung ift das Ergebnis, mit dem man
immerhin zufrieden jein kann.
1)
Weltwirtichaftlihe Umſchau.
Don
Paul Dehn.
Kommende Handelsvertragspolitif. — Der Rüdgang der Seefrachten. — Deutſche Kohlennieder-
lagen in Ueberfee. — Die Freiheit der Meeresſtraße. — Nationale Kapitalien im Auslande. —
Der mittelamertfanifhhe Seekanal.
D“ Buftandefommen neuer Handelsverträge nad Ablauf der beftehenden ift
faum zu bezweifeln. Alle Völker find dabei in gleihem Maße intereifiert. Alle
Staatsregierungen mollen Dandelsverträge. Somit liegt fein Grund vor, ein „handels—
politiiche8 Chaos“ zu befürchten. Zu einer nicht unfreundlihen Auffaffung der handels-
politischen Page fommt man auch, wenn man die Frage erörtert, welcher Zuftand nad
Ablauf der beitehenden Handelsverträge eintreten würde, falls neue Tarifverträge nicht
zu ftande fommen follten. Werden die Verträge nicht gekündigt, fondern laufen fie
vorläufig ungefündigt weiter, jo bleibt allerdings der alte Bertragszuftand beftehen,
fann aber jeden Tag gekündigt werden und ericheint alsdann fo unficher, daß er
allerieitö beanstandet werden dürfte.
Denkbar ift ſodann eine vertragsmäßige Verlängerung der beftehenden Verträge, fei
es nun auf ein Nahr oder auf längere Zeit. Diefe Löfung würde das Deutiche Reich
in eine jehr ungünstige Page gegenüber Nordamerifa verfegen, das feine fo raſch ange
wachſene Ausfuhr nach Deutfchland unbehindert weiter entwickeln, dagegen in feiner
Gemwaltpolitit gegen die europäiſche Einfuhr fortfahren könnte, ohne ernftere Gegen-
mahregeln befürchten zu müſſen.
Nicht ausgeichloffen, aber in hohem Grade unmahricheinlich ift ferner ein allge
meiner Zollkriegszuftand, wie ihn phantaftiihe Handelspolitifer als unvermeidlich ver-
kündigen, ein Kampf unter den wicdhtigften der in Betracht fommenden Staaten durd
Bollzufchläge gegen die fremde Ginfuhr. Da nun ein derartiger Zollfrieg alle Be
teiligten fchädigt, jo werden alle Staaten bemüht fein, daß Aeußerſte zu vermeiden, um
den gewohnten Güteraustauſch nicht fperren zu müſſen.
Möglich und wahrjcheinlich ift endlich ein Zuftand, mie ihn Graf Kanik in feiner
Mohrunger Nede über die Dandelöverträge angedeutet hat, ein Zuftand bewaffneten
Bollfriedens. in jeder Staat wirde feinen autonomen Bolltarif in Kraft jegen und
die übrigen Staaten fo behandeln, wie fie ihn behandeln, entweder nad) dem Grundjas
der Meiftbegünftigung, ftillichtweigend oder vertragsmäßig, oder aber durch Anmendung
des Hödjittarifs, je nadı Umftänden auch durch Zollzuſchläge. Diefer Zuftand würde
Baul Dehn, Weltwirtfhaftlihe Umſchau. 605
aber nur ein Brovijorium jein und über furz oder fang wieder zu inhaltvolleren Ver:
trägen führen, jobald die Staaten erfennen, daß fie Dabei beſſer fahren.
In jenen Freifen, die neue Dandeldverträge jozujagen um jeden Preis abjchliegen
wollen, denft man zunädjft immer an Berhandlungen mit denjenigen Staaten, die bei
Abſchluß der mitteleuropäiichen Verträge von 1891 in Betracht gezogen wurden, alfo an
Berhandlungen mit Dejterreich = Ungarn, Stalien, Schweiz, Belgien, Rußland und
Rumänien. Mit diefen Staaten ſchloß das Deutſche Reid; damals Tarifverträge ab,
und mit diefen Staaten joll es wiederum zuerit verhandeln. Wer diejer Meinung ift,
überſieht, was auch damals überjehen wurde, daß mindeftens gleichzeitig die nordameris
kaniſche Republit berücdfichtigt werden muß, will man nicht wiederum in die Zwangslage
fommen, ihr ohne Gegenzugeftändniffe gewähren zu müfjen, was man den genannten
mitteleuropäifchen Ländern einräumt. Das Deutſche Reich hat damals empfindlich
darunter gelitten, aber auch die mitteleuropäiichen Bertragsftaaten, vor allem Dejterreich-
Ungarn. Damals war man in Oeſterreich-Ungarn der Meinung, daß die erwirfkten
Getreidezollermäßigungen deuticherfeit8 der öſterreichiſch- ungariichen Ausfuhr haupt-
fählich oder allein zugeftanden wurden und nicht aud) der nordamerifanifchen Konkurrenz.
Man konnte nachträglich gegen die Gewährung der Meijtbegünftigung deutjcherieit3 an
Nordamerika feinen Einſpruch erheben, aber man wurde von der Einbeziehung Nord»
amerifas in das VBertragsverhältnis unangenehm berührt und man mußte bald erfennen,
daß die Vorteile der deutichen Getreidezollermäßigungen nur in verjchwindendem Make
und ſchließlich gar nicht der öſterreichiſch-ungariſchen Ausfuhr zu gute famen, jondern
ganz Überwiegend der nordamerikaniſchen Konkurrenz. Wollte man in Berlin wiederum
zuerft mit Wien in Dandelövertragsverhandlungen treten und in Wien gewifle Boll:
ermäßigungen anbieten, fo würde man in Wien nicht wie damals dieje Zollermäßigungen
als vollgiltig und wertvoll ohne weiteres annehmen, ſondern zunächit die Frage ftellen,
ob diefe Zollermäßigungen aud dem überlegenen überjeeiichen Konkurrenten eingeräumt
werden würden und erft darnach ihren Wert für Defterreich: Ungarn bemejfen. Damals
erwirfte Defterreidh-IIngarn Zollermäßigungen nicht nur auf Getreide, jondern aud auf
Holz, Sohlleder, Baraffın, Baummolljamenöf u. |. w., und alle diefe Bollermäßigungen
find nad) der Berficherung des Generalfekretärs des nduftriellen Klub in Wien
A. G. Raunig, nur in verjchwindendem Maße für Defterreih-Ungarn, in der Hauptſache
für Nordamerika von Nutzen geweſen, obwohl diejes keinerlei Gegenzugeftändniffe gewährte.
Dadurd wurden dieje Zollermäßigungen für Oeſterreich-Ungarn nahezu wertlos, und,
wenn man fie von Berlin aus aufs neue anbieten jollte und nicht hinzufügen könnte,
dab Nordamerifa davon ausgeſchloſſen bleibe, jo würden fie in Wien als nahezu wertlos
erachtet werden und feinesfalld als hinreichend für die Gewährung entjpredjender
Gegenzugejtändnifie.
Aus diefer Erwägung heraus find in Wien neuartige Borjchläge laut geworden.
Darnach jollen fid) Defterreihellngarn und Deutichland bei Vereinbarung eines neuen
Dandelövertrages verpflichten, die Vereinigten Staaten von der Meiltbegünftigung aus-
zufchließen, auf melde Bedingung das Deutiche Reid; feinesfalld eingehen fann. Ein
anderer Vorſchlag will, daß beide Reiche ich verpflichten, wenn fie durch handelspolitiiche
Maknahmen eines Dritten (Nordamerifas) gemeinfchaftlich bedroht ericheinen, gemeinjam
606 Baul Dehn, Weltwirtfchaftlihe Umſchau.
gegenüber diejem Dritten vorzugehen. Selbſt wenn eine joldhe Beſtimmung in etwaige
neue Verträge mit den mitteleuropäifchen Staaten aufgenommen werden jollte, würde
das Deutiche Reich dabei den kürzeren ziehen (mindeftens, jo lange England ſich davon
ausſchließt und England wird ſich davon ausſchließen), denn der Güteraustauſch des
Deutſchen Neiches mit den Pereinigten Staaten ift unverhältnismäßig größer als der
Güteraustauſch der mitteleuropäifhen Bertragsjtaaten. Nach der nordamerifaniichen
Statiftit bezugen die Vereinigten Staaten im Jahre 1899/1900 aus Deutichland für 185,
aus Holland für 89, aus Frankreich für 82, aus Italien für 33, aus Spanien für 13,
aus Rußland und Defterreih-Ungarn für je 7, aus Portugal für 6 und aus der
Schweiz für ’/, Mill. Dollars Waren.
Wenn die Neichsregierung nicht aus eigenem Antriebe zu der Erfenntnis fommt,
daß fie zuerft mit Nordamerika verhandeln muß, jo wird fie durd) das Verhalten
Defterreich-Ungarns dazu gedrängt werden. E8 läßt fid) num freilid) einmenden, daß
der Abſchluß neuer Dandelsverträge noch mehr erfchwert wird, wenn gleichzeitig die
Vereinigten Staaten in die Verhandlungen einbezogen werden jollten, daß infolge der
erhöhten Schwierigfeiten der Abjchluß neuer Verträge jcheitern könnte. Diejes Bedenken
mag zutreffen. Aber wichtiger für das Deutſche Reich als der Abſchluß von Handels:
berträgen um jeden Preis ift die Notwendigkeit, gegenüber Nordamerifa nicht in eine
BZwangslage zu fommen, wie nah dem Abſchluß der Verträge von 1891, nicht Zu-
geitändniffe machen zu müſſen ohne Gegengugeftändniffe und nicht eine weitere unabjeh:
bare Schädigung jeiner Intereſſen im Verkehr mit Nordamerifa zu erdulden. Gelingt
es jchließlich nicht, neue Handelsverträge unter Einbeziehung von Nordamerifa zu ver:
einbaren, fo wäre der vertragslofe Zuſtand für die deutichen Intereſſen noch immer viel
weniger jchädlich als eine Amangslage mit dem Dilemma, entweder der nordamerifanifcyen
Republif die Meiftbegünftigung zu gewähren oder mit ihr in Zollfrieg zu geraten.
ES *
*
Nachhaltig wurde die weltwirtſchaftliche Entwickelung begünſtigt durch den ſteten
Rückgang der Frachtſätze auf dem Seewege im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts.
Bemerkenswerte Tabellen darüber veröffentlichte die Hamburger Handelskammer in einem
Gutachten über die Koſten der Beförderung von Getreide im jahre 18%. Darnad)
ftellten ſich die durchichnittlichen Frachtſätze für Weizen und Mais von New-York nad
Liverpool im Jahre 1873 auf 33 Mark für die Tonne und janfen von Jahr zu Jahr
bis auf 6 Marf für die Tonne im fahre 1894. Nach einem Bericht der „Nem-Vorter
Dandelsfommijfion“ über den relativen Rüdgang des New-Yorker Ausfuhrhandels fielen
die Frahtiäte auf dem Hauptverfehrswege zwifchen Nordamerifa und Europa für den
Dentner Getreide von 1,52 Markt in 1870 auf 0,32 Mark in 1895, für Waren nad)
Kubikfuß in der gleichen Zeit um die Hälfte Getreide von der unteren Donau wurde
nah Hamburg im Jahre 1870 um 37 Mark für die Tonne verfrachtet und hatte im
Jahre 1895 nur noch 11 Mark zu zahlen. Die Koſten für die Berfrahtung einer Tonne
Neis von Rangoon nad Hamburg beliefen fich im Jahre 1872 auf 73 bi8 80 Mark, im
Nahre 1895 aber nur noch auf 25 bi8 26 Marf. Inzwiſchen find unter ftarfen
Schmwanfungen nad Eintritt des wirtichaftlihen Nüdganges die Frachten noch weiter
gefunfen und haben einen erjtaunlihen Tiefftand erreicht. Im Herbft 1901 wurde die
Paul Dein, Weltwirtfchaftliche Umſchau. 607
Tonne Getreide von New-York nad) Hamburg für 5 Mark gefahren. Und das ift nod)
der gezahlte Durchſchnittspreis. Je nad) Angebot und Nachfrage ermäßigen ich diefe
Sätze noch jehr bedeutend. Als im Mai 1899 die offiziellen Säbe New: Nort— Hamburg
awiichen 15 und 17 Mark ſchwankten, zahlten Berliner Getreidehäufer für die Tonne
Mais von Bofton nad) Hamburg 4,40 und von Portland noh Hamburg 2,48 Marf.
Um nicht ganz leer zu fahren oder eine genügende Ballaftichwere zu erlangen, nehmen
die großen Perfonendampfer Getreide von New-York zu den billigjten Preiſen, ja zu:
weilen foftenlos mit. Auf diefe Weife Eonnten die Händler Weizen von New-VYork nad)
Yiverpool in diefem fahre zeitweitig um 0,75 Mark für die Tonne abfertigen. Im laufenden
Jahre find die Frachtſätze von Amerika deshalb jo billig, weil die nordamerifaniicheMaisernte
ichleht ausgefallen und auch Roggen, Hafer, Gerjte und Baummwolle in geringeren
Mengen verfügbar find. Wenn einmal der Rhein-Mejer-Elbefanal erbaut fein wird, ſoll
nad den angeitellten Berechnungen die Fracht für die Tonne Getreide von Bromberg
bis Herne i. W. nur 13,70 Mark betragen. Gegenwärtig zahlt eine Tonne deutjchen Ge—
treided, um bon Oftpreußen nad) Mannheim befördert zu werden, auf der Eifenbahn
48 Mark, von Anfterburg nad) Berlin 32 Mark. Nach Anlage des neuen Kanalnetzes
würde fic) diefer Sag auf 15 Marf ermäßigen. Wie unverhältnismäßig hoch find dieje
Frachtſätze, die das deutjche Getreide auf dem heimischen Markt zu überwinden hati
gegenüber den niedrigen Seefradhtiägen und gegenüber den ebenfalls niedrigen Rhein,
Weſer- und Elbefradhtiägen! Ehedem bejaß die deutjche Yandwirtichaft einen natür-
lihen Schu auf dem heimiſchen Markt gegen die fremde Nonfurrenz, deren Erzeugnis
größere Entfernungen zu durchlaufen hatte und dadurch verteuert wurde. Infolge des
Nüdganges der Seefradhtjäge ift diefer Schuk verloren gegangen, ja, es ift geradezu das
umgefehrte Verhältnis eingetreten. Mit Hilfe des billigen Seeweges und der deutichen
Stromjtraßen überjpringt das fremde Getreide die aufgerichteten Zollichranfen und macht
der deutſchen Landwirtſchaft eine Konkurrenz, die vernichtend werden müßte, wenn die
Seefradhtfäge andauernd auf ihrem niedrigen Stande bleiben und feine anderen Maß—
regeln dagegen ergriffen werden jollten.
* 4 *
Einen wichtigen Schritt nach vorwärts auf dem Gebiete des Weltverkehrs bedeutet
die Errichtung einer deutſchen Kohlenniederlage in Port Said zur Verſorgung der
deutihen Handels- und Kriegsſchiffe mit Bunferfohlen. Port Said ift ein vorzüglich
geeigneter Plag, weil alle Schiffe, die den Suezkanal benugen, dort Bunkerkohlen ein-
nehmen. Im Jahre 1900 fuhren 462 deutiche Schiffe durch den Suezkanal. Die deutiche
Schiffahrt macht ſich unabhängig von den englischen Kohlenniederlagen und fürdert dabei
auch ihre finanziellen Intereſſen, da fich wiederholt die deutichen Schiffe am Suezfanal
bedenkliche Uebervorteilungen von Seite der engliihen Händler gefallen laſſen mußten.
Die Errichtung deutfcher Stohlenlager empfiehlt fi) auch an geeigneten Punkten der
ftrategifch wichtigen Beſitzungen Deutjchlands im Stillen Meer, zunächſt im Bismarck—
Ardipel, auf den Karolinen, auf den Marſchall-Inſeln und in Samoa. Anfang 1902
wird die deutihe Schantungbahn die Kohlenlager bei Weihfien erreicht haben, Kiautſchou—
Steinfohlen ausführen und die geplanten Stohlenlager im Stillen Meer mit deutichen
608 Raul Dehn, Weltwirtfhaftliche Umfchau.
Schantung-Kohlen verjorgen können. Allmählid dürften dieje Kohlenlager zu Kohlen:
ſtationen mit fejten Stügpunften für die Flotte entwicelt werden.
* *
*
Inmitten einer politiſchen Erörterung Hat ein engliſches Blatt, die „National
Review“, eine wichtige Weltverfehrsfrage angeichnitten, die in Zukunft noch zu großen
Reibungen Anlaß geben wird, nämlich die Freiheit der Meeresitraße. Gewiſſe
engliihe Bolitifer wollen den Glauben erweden, als ob durch die deutjchen FFlottenver:
ftärfungen Frankreich, Rußland und andere Länder auf dem Meere bedroht würden.
Deutjchland bedroht niemanden, am alleriwenigften auf dem Meere. Nach bdeuticher
Auffaffung joll das Meer eine freie Straße für den Weltverfehr fein und bleiben.
Dagegen kann nad engliſcher Auffaffung der Ozean nur einen einzigen Herm haben
und diefer Herr muß England fein und bleiben. Begründen läßt ſich eine fo jeltiame
Theorie nicht im mindejten, aber fie befteht gegenwärtig nod) in der Praris. Das hat
der Feldzug der Engländer gegen die Buren aufs neue gezeigt. Ungehindert fonnten
fie ein Heer von nahezu 300 000 Dann nebjt 225000 Pferden und 100000 Mtaultieren
10 000 km weit auf dem Seewege entjenden ohne Bedeckung, ohne Bejorgnis, ernſtlich
dabei gefährdet zu werden. Steine zweite Macht würde ſolches Wagnis gegenwärtig
unternehmen können. Die Oberherrihaft Englands auf dem Meere ift vorläufig nod)
unbeftritten, aber die Theorie, daß es fo fein und bleiben müſſe, wird von feiner anderen
Macht anerkannt, fie fteht im jchroffften Gegenfag zu den Beſtrebungen der Großmädte,
ihre SFlotten derart zu verftärfen, daß der Ozean thatfächlich zu einer freien Welt:
verfehrsftraße wird, daß nicht mehr eine einzige Macht in der Yage ift, wenn fie es in
ihrem Intereſſe findet, die notwendige Freiheit des Seeverfehrs zu beeinträdtigen oder
gar zu bejeitigen.
Für alle Yänder, auch für die Eleineren Staaten, hat das Meer als Weltverkehrs-
ftraße an Bedeutung zugenommen und nachdrücklicher als je müfjen alle Staaten darauf
bedacht fein, die Freiheit derfelben zu fichern.
* *
*
Unter dem Einfluß des modernen Weltverfehrd und der vielfachen Berbindungs-
fäden, die er von Land zu Land fpannt, find in großem, noch nicht überjehbarem Umfange
aus den höher entwidelten Staaten neben Menichen (Unternehmern und Arbeitern),
neben Waren und Gütern aller Art auch Kapitalien in andere Yänder gegangen, um
dort gewinnbringendere Anlage zu juchen, als fie im Inlande zu finden war. Dieie
Wanderungen nationaler Kapitalien nach anderen Ländern waren zeitweilig
jo bedeutend, daß fie in einzelnen der empfangenden Länder eine Gegenbewegung gegen
die Einfuhr fremder Kapitalien hervorriefen, zunächſt da, wo die fremden Kapitalien
allaugroßen Einfluß ausübten oder wenigftend auszuüben ſchienen. Dieſe SKapital-
wanderungen find bisher noch nicht genügend unterjucht worden, erheilchen aber wegen
ihrer zunehmenden Wichtigkeit für die nationale Volkswirtſchaft die größte Aufmerkſamkeit
der aftiven wie der paffiven Intereſſenten.
Großbritannien, Franfreih und Deutihland, Holland und Belgien, feit einigen
Jahren aber aud; mit an allereriter Stelle die nordamerifanifsche Republik find
Baul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umſchau. 609
Släubigerjtaaten, fie führen die Ueberſchüſſe ihres SKapitalreichtums aus und laſſen
diefe Ueberjchüffe in anderen Ländern arbeiten, indem fie entweder Schuldverjchreibungen
geldbedürftiger Staaten anfaufen oder Privatunternehmungen begründen, Verkehrs—
anlagen, Bergwerfe, Fabriken und dergl.
Nach einer Schäkung von R. Giffen befanden ſich 1885 fremde Effekten im Werte
von 42,3 Milliarden M. in engliihem Befit. Percy Rudolf Broemel bat in feiner
„Geſchichte des englifchen Handels" (London 1899) das im Auslande angelegte englische
Kapital auf 40 Milliarden M. veranſchlagt und die jährlichen Zinfen daraus mit 41/, 9%,
auf 1800 Mill. M. An der Londoner Börſe berechnete man" Mitte 1896 den englifchen
Beſitz an fremden Anleihen auf 60 Milliarden M., an fremden Eifenbahnpapieren auf
12,3 Milliarden M., an fremden Bergmwerfspapieren auf 0,8 Milliarden M. Diefe
Schätzungen dürften eher zu niedrig als zu hoc) gegriffen fein. Schon feit Nahrzehnten
haben die Engländer mit Wagemut und Unternehmungsgeift nach diejer Richtung Hin
eine umfaffende Thätigfeit ausgeübt, im Laufe des 19. Jahrhunderts auch in Deutſchland
durch Gründung der Eifenbahn:, Kanal: und Bergmwerksunternehmungen, von Gasan:
ftalten u. |. w. Ebenſo in Defterreih-Ungarn, vor allem auch in Nordamerifa, mo
nad) englifchen Berechnungen am Ende des vorigen Jahrhunderts mindeitens 2,8 bis
3,2 Milliarden M. engliiches Kapital arbeiteten.
Rad) der Wiederaufrichtung des Neiches wurde auch Deutſchland fapitalfräftig
genug, um ſich im Auslande bethätigen zu fünnen. Doch iſt ed troß vorübergehender
Ueberſtürzung freilich noch weit hinter England zurüdgeblieben. Nach den Schägungen
Schmollers und GChriftians in der Börjenenquete von 1892 waren damals etwa
10 Milliarden M. deutichen Kapitals in fremden Werten angelegt, zu einem nicht ge-
ringen Teil allerdings in zweifelhaften Werten wie in Argentiniern, Griechen, Portu-
giefen, Northern Pacific, Serben u. j. w., bei denen die beutjchen Beteiligten jehr
empfindliche Verlufte erleiden mußten. Ende der neunziger Jahre, bei Erörterung der
Flottenvorlage, wurde der Gejamtbetrag der in deutichen Händen befindlichen aus—
ländifchen Wertpapiere auf mehr als 12!/, Milliarden M. geihätt. Damals waren die
deutichen Konfuln über die deutichen Kapitalanlagen im überjeeifhen Ländern bei
induftriellen und kommerziellen Unternehmungen einjchlieglic; der Eifenbahnen befragt
worden. Nach den Eonfulariihen Zujammenftellungen jollen damals 6'/, bis 7 Mil-
liarden M. deutfchen Kapitals in folchen Unternehmungen angelegt geweſen jein, und
zwar 2 Milliarden M. in Südamerika, je 1 Milliarde M. in Nordamerifa und Afrika,
3/, Milliarden M. in Auftralien, 2/; Milliarden M. in Mittelamerika, 1/, Milliarde M.
in der Türkei 0,3 Milliarde M. in Dftafien und 0,1 Milliarde M. in Indien. Das
geſamte im Auslande arbeitende deutiche Kapital hätte demnach rund 20 Milliarden M.
betragen.
Sm Frankreich finden fi) Anhaltepuntte über die Anlage nationalen Kapitals
im Auslande in der Steuerftatiftil. Fremde Wertpapiere unterliegen dort einer Eins
tragungsgebühr. In der Zeit von 1884 bis 1900 wurden in Frankreich mit diejer
Gebühr fremde Wertpapiere in Höhe von 16,7 Milliarden Fr. belegt. Davon entfielen
6,5 Milliarden Fr. auf ruffifche Werte, 1'/, Milliarden Fr. auf türkische, 1 Milliarde Fr.
auf portugiefifche und je 0,8 Milliarden Fr. auf öſterreichiſch-ungariſche, italienische und
39
610 Baul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umfchau.
jpanische Werte. Der Bejamtbefig Frankreichs an fremden Werten ift thatfädhlich er
heblich höher als 16,7 Milliarden Fr., weil in diefer Zahl nur die Eintragungen von
1884 bis 1900 berücfichtigt find und nicht auch die Erwerbungen fremder Werte vor
dem fahre 1884.
Vielfach hat franzöſiſches Kapital im Auslande mit großem finanziellen und poli-
tiihen Erfolge gearbeitet, vor allem in Nordafrifa und im Gebiet des türkischen Reiches.
Bon Tunis konnte Frankreich leichter Beſitz erareifen, nachdem diefer Staat ſelbſt mit
jeinen leitenden Streifen in franzöfiiche Schuldfnechtfchaft geraten war. In Marofto
verrichtet franzöſiſches Kapital ähnliche Pionierdienſte. Moraliſch betrachtet waren die
franzöſiſchen Geldgeichäfte mit dem Bey von Tunis wie mit dem Vicekönig Ismail von
Egypten ebenjo wie mit dem früheren Sultan Aldul Mziz in hohem Grade anftögig,
Wuchergeichäfte im jchlimmften inne des Wortes, aber jehr einträglicd für die Inter—
ejfenten und für Frankreich von politiihem Wert. Mit den Bau des Guezfanals er-
zielte dagegen Frankreich aud einen moralifchen Erfolg und jchuf fich mit Hilfe weiterer
großer franzöfifcher Unternehmungen in Egypten eine einflußreiche Stellung, die es aller:
dings infolge feiner unſchlüſſigen Politik an die Engländer abtreten mußte. In der
Türfei haben die Franzoſen mehr Eijenbahnen gebaut als irgend eine andere Nation,
insgefamt 1778 km mit einem Slapital von 366,4 Mill. Fr. Die Dafenanlagen der
wichtigften türkiſchen Plätze Nonftantinopel, Salonifi, Smyrna und Beirut find in
franzöſiſchen Händen. Glänzend fteht die franzöfifche Leuchtturmgefellihait in Son
Itantinopel da, die an den türkischen Küften den Yeuchtturmdienit vorzüglid organifiert
bat. Die erfte und wichtigfte Banf in der Türfei, die Ottomanbanf in Ronftantinopel,
wirft überwiegend unter franzöſiſchem Einfluß. Erheblich iſt die Zahl der franzöfiichen
Dandelöhäufer in den türfiihen Städten. Mit Dilfe des frangöfiichen Kapital wurde
der Ntorinthfanal gebaut, allerdings mit großen Berluften für die Aktionäre und ohne
Bedeutung für den Mittelmeerverfehr. Frankreichs andauernder Einfluß in Defterreich:
Ungarn und Italien beruht nicht zulett auf den franzöfiichen Kapitalanlagen in Eijen-
bahnen, Banken und zum Teil in Zeitungen. Und das Bündnis mit Rußland wurde
unzweifelhaft feſter gefittet durd) das franzöftiche Kapital. Noch ift es freilich nicht
ganz ficher, ob die franzöſiſchen Kapitalien auf die Dauer ihre Nechnung dabei finden werden.
Rußland hat zwar bisher ſtets mit größter Pünktlichkeit feine Zinjen gezahlt, aber jeine
Finanzlage iſt gegenwärtig nichts weniger als günftig. Immerhin zwingt fie zum
rrieden. Dagegen haben die fremden Kapitalien, joweit fie in neuefter Zeit in rufftichen
Anduftrieunternehmungen angelegt wurden, zu einem beträchtlichen Teil die erhofften
Gewinne nicht gebracht. Nach einem Bericht der franzöfiihen Botjchaft in Petersburg
jollen in rujfifchen Anduftrieunternehmungen 734 Mill. Fr. belgifches (darunter viel fran-
zöftiches), 702 Mill. Fr. franzöfiiches, 261 Mill. M. deutjches und 236 Mill. M. engliiches
Kapital angelegt jein. Die beteiligten deutichen Napitaliften fcheinen verhältnismäßig am vor—
fichtigften vorgegangen zu jein und dürften beträchtliche Gewinme gemacht haben. Won 148
belgijchen Unternehmungen mit einem Gejamtfapital von 495 Mill. Fr. die Ende 1899 be-
Standen, haben nur 73 Rechnung abgelegt und davon nur 56 mit einem Reingewinn von durd)-
ſchnittlich 5 9%, abgejchloffen, der durchaus nicht genügt. Die Baummoll- und Kohlen:
Frifis in Süd-Rußland, zahlreiche Arbeiterausftände, das Aufhören der großen Be:
Paul Dehn, Weltwirtſchaftliche Umſchau. 611
jtellungen durdy den Staat und andere Urſachen haben das Gedeihen vieler fremder
Unternehmungen in Rußland empfindlich geftört und gezeigt, daß die Anlage nationaler
Kapitalien im Auslande, wenn fie übereilt und übertrieben erfolgt, auch ihre Schatten-
jeiten hat und von Fall zu Fall jorgiam bedacht werden muß.
* *
Seiner Verwirklichung nahe gerückt iſt ein lang geplantes Verkehrsunternehmen
von weltwirtſchaftlicher Bedeutung, der Bau des mittelamerikaniſchen See—
fanals zur Verbindung des Stillen und des Atlantiſchen Meeres. Nach Erwerbung
der Hamaii-Änjeln, nad) Beendigung des Krieges gegen Spanien, nad) Angliederung der
Antillen und Philippinen erkennt man in Nordamerifa zwingender als zuvor die Not-
wendigfeit des Sanalbaues, um der Republik eine breitere Grundlage für ihre neue
Weltmadtitellung im Stillen Meer und in der Richtung nady Oftajien jchaffen, zunächſt
um die Kriegsflotte nötigenfalls vajcher zuiammenfajlen zu fünnen. Europa erjtrebte
einen mittelamerifanifchen Nanal jchon lange zur Erleichterung feines Verkehrs, zunächſt
mit der Weſtküſte Südamerikas. Bisher fehlte es an den erforderlichen Mitteln, deren
Beihaffung in Nordamerifa nunmehr feinen bejonderen Scmierigfeiten unterliegen
faın. Fraglich iſt es, ob ein Banamafanal oder ein Nicaraguafanal angelegt werden
wird. Die Entjcheidung darüber dürfte bei dem „Sina Dollar” liegen, der wenigſtens
im Senat zu Waihington allmächtig ift, d. h. bei der „großen Stapitalsaffociation“, die
nad) einem Ausſpruch des verjtorbenen Bankdireftors und Abg. Dr. Georg von Siemens
in den künftigen Kämpfen an Stelle der Diplomatie und Generalität die Führung
übernehmen wird.
Bon Anfang an neigte man in Nordamerifa dem Bau eines Nicaraguafanals zu
und es verftärfte fid) noch diefe Neigung, als der Bau des Panamafanals mit Dilfe
von europäiichem, insbefondere bon franzöfiichem Kapital begonnen wurde. Der
Nicaraguafanal (301 km, Koftenaufmand 760 bis 800 Mill. M.) ift länger und teurer
als der Panamafanal (70 km, Stojtenaufwand 570 Mill. M., dazu angeblich 440 Mil. M.
Stonzejlionsfoften) und bereitet der Durdfahrt (Nicaragualanal 33 Stunden, Banama=
fanal 12 Stunden) größere Schwierigkeiten. Aber er liegt den nordamerifanifchen
Häfen günftiger, er verkürzt die Entfernung zwifchen New-York und San Franzisko
um 680 km mehr ald der Banamafanal, er iſt für die nordamerifanischen Kriegsſchiffe
leichter erreichbar und eröffnet der nordamerifaniichen Republik die Möglichkeit, ihre
unmittelbare Intereſſenſphäre bis zu diefem Kanal auszudehnen. Bereits hat die nord»
amerifaniiche Republik von Nicaraqua für alle Zeiten einen Streifen von 10 km Breite
zu Kanalzwecken gepachtet.
Als das Nicaragualanalprojeft zum eritenmale in den Vordergrund trat, er:
zwang ſich England durch den jogen. Bulmwer-Clayton:Bertrag von 1850 eine Mit-
wirfung an dem Bau und der Verwaltung des Kanals, der außerdem einen neutralen
Charakter erhalten jollte.e Darüber verjtimmt, liegen die Nordamerifaner den ganzen
Plan in den Hintergrund treten. In dem Hay Pauncefote-Bertrag von 1899 verzichtete
England auf feine Mitrechte und trat fie an Nordamerika ab, fette indeſſen die Be:
jtimmung durch, daß im Kriegsfall der Kanal völlig neutral bleiben und eine dauernde
39*
612 Baul Dehn, Weltivtrtfchaftliche Umſchau.
Belegung ausgeichloflen jein jollte. Diefem Abfonımen erteilte der nordamerifaniidhe
Senat jeine Zuftimmung nicht, er verlangte für die Nepublit das Recht, den Kanal zu
befeitigen, zu beiegen und im Striegsfalle nach Bedarf zu jchliegen oder zu blodieren.
In Erkenntnis feiner Schwäche und zugleich in dem Beftreben, mit Nordamerifa ein
gutes Ginvernehmen zu erhalten, gab England jchlieglich nad, verzichtete durch das
Abkommen vom November 1901 auf alle Nedte und begnügte fich mit der Meift-
begünftigung, die Nordamerifa gern bewilligte, da eine möglichjt umfangreiche Benutzung
des Kanals durch Schiffe aller Völker im eigenften Intereſſe der Kanalverwaltung liegt.
Nordamerifa hat nunmehr freie Hand, den Nicaragualanal zu bauen oder nad Er:
meſſen auch den Panamakanal. Der Nicaraguafanal fol unter dem Schuße der Neu-
tralität ftehen wie der Zuezfanal. Solches vereinbarten England und Nordamerifa,
ohne die europäifchen Mächte heranzuziehen. Thatſächlich kann Nordamerifa Troden:
docks, Neparaturmwerfftätten und Slohlenniederlagen am Nicaraguafanal errichten und
auch ohne eigentlichen Kriegshafen und ohne Yandbefeftigungen fich dort für den Kriegsfall
jo vorbereiten, daß bei Ausbruch erniter Zerwürfniffe mit England Nordamerifa am
Nicaraguafanal fi) alsbald eine ftarfe und nahezu unangreifbare Stellung zu jchaffen
vermag, während England fid) Darauf beichränfen muß, den Kanal zu blodieren. Nord»
amerifa hat eine große Errungenjchaft zu verzeichnen, zunächſt auf Stoften Englands, aber
aud) der übrigen, an dem Kanalverkehr beteiligten Völker. Es hat, wie man jagt, dieje Er-
rungenschaft durchgeſetzt als Entgelt für feine Neutralität in dem Burenkriege. Wenn
man die langwierigen Verhandlungen zwifchen den beiden Weltreichen über den Nicaragua:
fanal überblidt, jo muß man erftaunt fein über das jchlieglihe gänzliche Zurückweichen
Englands, das vor dem Ausbruch des Burenkrieges nicht denkbar gewejen wäre. Aller:
dings haben fi) aud die VBerhältniffe geändert. Das Nordamerika von 1850 ijt eine
Weltmacht geworden und behauptet zunächſt in Mittelamerifa Vorredhte, die England
nicht mehr zu beftreiten wagt. Thatſächlich hat in den amerikanischen Gemwäflern England
jeine bis dahin behauptete VBormadhtitellung auf dem Meere aufgegeben.
Wie verfihert worden ift, joll die engliihe Regierung verſucht haben, andere
europäiiche Mächte, zunächſt Deutichland und Frankreich, zu einem Proteſt gegen die
monopolifierenden Nanalpläne der nordamerifanijchen Republik zu veranlaffen, doch ohne
Erfolg. Europa ift eben gegenüber Amerifa noch nicht einig und wird es nicht werden,
fo lange eine jo unguverläjlige Regierung wie die englijche die Führung beanſprucht.
Stände Europa einig und ftarf da, fo würde es den Ausbau des Panamakanals be:
wirken ohne Rüdfiht auf die nordamerifaniihen Klagen, daß die „Baggermaſchinen“
auf der Pandenge von Panama „die Monroedoktrin durchlöchern“. Aber an ein ſolches
Vorgehen Europas ift unter den obwaltenden Berhältniffen nicht zu denken. Uebrigens
fommt für den Verkehr Europas mit Oftafien der Nicaraguafanal faum in Betradt,
da der Weg von London nad Yokohama über den Nicaraguafanal 1450 km und nad)
Hongkong 7200 km länger ift al$ durch den Suezfanal.
©
ERETIETRETIETRTETRERIERE
Deutidtum im Auslande.
Von
Paul Dehn.
Das Erwachen des Nationalbemwußtfeins unter den Deutichen in China. — Zur Förderung der
deutihen Austandsichulen. — Deutfche Lehrervereine im Auslande. — Berein beutfcher Lehrerinnen
in England. — Fortſchritte der beutichen Sprache in England. — Ungarn. — Rumänien. —
Ruſſiſch⸗Aſien. — Nordamerifa. — Zur Nacjeiferung.
Das Erwachen des nationalen Bewuhtjeins unter den Dentjchen in China.
In Schanghai ift die erſte deutſche Gemeindefirche Chinas fertiggeftellt und am 27. Oktober
feftlich eingeweiht worden, im Beifein der deutichen Kolonie, von Abordnungen der deutichen
Belagungstruppen und der deutſchen Kriegsichiffe. Bei der Feier ſagte Generalkonſul
Dr. Stnappe: „Es ift noch garnicht fo lange her, und ich erinnere mich noch jelbft, obwohl
ich erft im erjten Jahre hier draußen bin, der Tage ganz gut, in denen die Mehrzahl
unjerer Yandsleute dem Nationalbewußtjein erft dann eine Berechtigung einräumte, wenn
es mit anderen Intereſſen nicht follidierte. Man gab Sitten und Epradje auf, nur um
in dem großen internationalen Chaos aufzugehen, ja fogar in manchen Fällen fonnte
man beobadten, daß man nicht umgern jah, wenn man für einen Angehörigen eines
anderen Staates gehalten wurde. Die Erziehung der Familie entſprach der der wäjlrigen
Lebensauffaffung. Baterlandsgefühl fonnte fich nicht bilden, zumal häufig die deutſche
Sprache garnicht einmal gelehrt wurde, und dieje ift doch die notwendige Vorausſetzung
des eriteren. Das ift Gott jei Dank hier in China und bejonders in Shanghai anders
geworden. Die Gründung der deutjchen Kirchen- und Schulgemeinde war das erfte äußere
Zeichen des auffeimenden Batriotismus und mit ihrer Hilfe find dann im Paufe weniger
Jahre rapide Fortichritte gemacht. Andere weitere Kreiſe einjchliegende Korporationen
mit Speziell deutichenationaler Tendenz folgten; ich nenne die Deutjche Vereinigung und
den Flottenverein, und im täglichen Leben fann man beobadjten, wie jeder Einzelne ſich
als Deuticher fühlt und mit Stolz jeine Nationalität bekennt. Ich darf bei diefem Anlaß
unsere deutiche Zeitung nicht unerwähnt laflen, die jeit wenigen fahren einen ganz anderen
Charakter angenommen hat und uns in unferem Streben nadı Bethätigung nationaler
Gefinnung eine fefte Stüge iſt. Die Einweihung unferer Kirche hat einen ſchönen Abſchluß
gebildet, und die Beteiligung bei derjelben legte ein beredtes Zeugnis dafür ab, daß das
geſamte Deutihtum Schanghais fi) einig und als ein zufammengehöriges Ganzes fühlt.
Die Teilnahme, die wir bei den übrigen deutjchen Gemeinden Dftafiens gefunden haben,
läßt hoffen, daß wir einer Konzentration aud) diejer- weiten reife entgegengehen.“
614 Paul Dehn, Deutfchtum im Austande
Zur Förderung der deutſchen Auslandsjchulen. Bisher hatte nur die deutiche
Schule in Konstantinopel die Berechtigung, Zeugnifle für den einjährigsfreiwilligen Dienft
auszustellen. Dieje Berechtigung iſt nunmehr auch der deutihen Schule in Brüjfel erteilt
worden, nahdem Provinzialiculrat Nelfon aus Koblenz die Schule wiederholt eingehend
befichtigt hatte. Die Brüffeler Schule wurde Mitte 1901 von 186 Kindern bejucht, wovon
68 auf das Realprogymnaſium entfallen. Die Reifezeugnijfe diefes Realprogymnaſiums
berechtigen zum einjährig-freiwilligen Dienft. In dem Bericht über das lette i9.) Vereins:
jahr bittet der Borfitende des Deutichen Schulvereins in Brüffel, Th. Momm, um Beihilfe
zum Neubau der deutichen Schule durch Hebernahme einer Anzahl „Baublöde*. Dringend
ift zu wünſchen, dat nod) viele andere deutiche Schulen im Auslande die gleiche Berechtigung
erhalten, entweder nad) genauer Würdigung ihrer Yeiftungsfähigfeit oder nad) ihrer Hebung
mit Hilfe des Deutichen Reiches. Dann werden die deutjchen Schulen im Auslande nicht
nur größeres Anfehen genießen als bisher, jondern auch nod) größere Anziehungsfraft
ausüben und zugleich wird der junge Nachwuchs der Deutichen im Auslande feiter an
das Reich gefittet werden.
Deutſche Zehrervereine im Auslande. Inter den Lehrern an den deutichen
Schulen im Auslande wird das Gefühl der Zujammengehörigfeit lebendig, und ver:
ichiedene Tehrervereine find in Bildung begriffen. Schon feit geraumer Zeit wirft in
England der Berein deutfcher Lehrer jehr erjprieklih. Ende 1900 wurde in Ant»
werpen der Berein begründet und im Frühjahr 1901 ein folder in Argentinien. Am
18. Dftober erlieg Direktor von Haſſel in Genua einen Aufruf zur Begründung
eines Yandesvereins der deutichen Lehrer in Stalien. Anfcheinend werden allmählich
in allen Ländern Bereine deuticher Lehrer entitehen und ſich jchlieglich zu einem Geſamt⸗
verband vereinigen, wie er jchon lange angeftrebt wird. Bereit8 hat Hans Amrhein in
Antwerpen-Hobofen (nicht der dortige Verein deutſcher Lehrer) an die deutichen Yehrer
im Auslande einen Aufruf erlaffen, um fie zu einem geichlofienen Ganzen zu organi:
fieren im Intereſſe des deutihen Schulweiens wie der deutichen Yehrerichaft des Aus:
landes. Nach der Angabe des Aufrufs beftehen im Auslande 1000 deutihe Schulen.
Als Vorort für die Geihäftsführung eines ſolchen Gejamtverbandes wird Antwerpen
vorgeichlagen.
An Verbindung mit dem Aufruf ift das erite Heft einer neuen Monatsſchrift
„Die deutihe Schule im Auslande“, herausgegeben von Hans AUmrhein in
Untwerpen:Hobofen erſchienen mit der Aufgabe, die Gejamtintereffen der deutichen
Schulen und Lehrer im Auslande zufammenzufafien, an der Erhaltung deutjchen Lebens
durch die Förderung der deutichen Schulen im Auslande und ihrer Yehrer mitzumirfen
und Erfahrungen über die bejondere Art des Unterrichts unter den eigentümlichen Ber:
hältnijfen der verfchiedenen Yänder zum Austauſch zu bringen. Dieje Bejtrebungen
erheifchen die mwerfthätige Unterftübung aller nationalen Kreiſe, insbejondere auch der
deutichen Lehrer im Neiche felbit.
In dem eriten Heft der neuen Monatsjchrift werden einige taftloje Angriffe der
Hamburger „Pädagogischen Reform“ von hervorragenden Vertretern deuticher Schulen
im Auslande zurückgewieſen, insbejondere von Dr. X. P. Müller, dem Direftor der
Allgemeinen deutihen Schule in Antwerpen, von A. Kaufmann, Paſtor und Rektor
Paul Dehn, Deutfchtum im Auslande. 615
der deutichen Schule in Alerandrien, von Pfarrer P. Eichler, Borfigenden der Diakonie:
Schulkommiſſion in Antwerpen, von Dr. Richard Jahnke, Direktor der Deutichen Schule
in Brüffel, von Dr. Franz Schmidt, Direktor der Deutichen Schule in Bufareft, von
Baltor E. Wedemann von der Deutihen Schule in Kairo, von Friedrich Kleber,
Direktor der Deutihen Schule in Neapel, von A. Sigmund, Direktor der Deutjchen
Schule in Salonif u. a.
Verein Dentjcher Lehrerinnen in England. Am 6. November feierte dieſer
Verein in Yondon jein 25. Stiftungsfeft. Er iſt der erjte Verein feiner Art und aus
einem pädagogiichen Vejezirkel hervorgegangen, den Frl. Adelmanı, die noch heute an
der Spike des Vereins fteht, ſchon im Jahre 1869 begründet hatte. Deute zählt der
Verein 700 Mitglieder, beiitt drei Häujer und anjehnliche Mittel. „Mit Genugthuung
fönnen Sie“, jo jchrieb die Frau Großherzogin von Baden an Frl. Adelntann, „auf die
vielen Schußbefohlenen blicken, die Rat und Unterftüßung und ein Hein bei Ahnen
aefunden und dadurch; eine Erleichterung für den vft mühevollen Beruf, den Ddiejelben
ſich erwählt.“ Zu der Feier waren Vertreter verwandter Vereine aus der Ferne
erihienen, jo Frl. Schultze von Allgemeinen deutichen Yehrerinnenverein, Frl. Raabe
für den Berein deuticher Lehrerinnen in Italien, Frl. Böttcher für den Verein deuticher
Vehrerinnen in Frankreich, Frl. Diel für den Verein zu New-York, Frl. Keuck für den
Verein in Buenos Aires, Fri. Rother für den Berein in Sonftantinopel. Pon der
Gründung des Vereins erzählte Frl. Adelmann jelbjt: „Es hieß mit Menjchen (Agenten)
brechen, die im Bemwußtjein ihrer unbeftrittenen Macht die Yehrerin, beſonders die aus:
ländiiche, fnechteten, weil fie vereinzelt ftand im fremden Yand. Manch bange Scele
wollte uns von unferm Vorhaben abhalten, — ja, aus unſerm Leſezirkel jchloffen ſich
damald nur 5 dem Berein an. Seine Behörde, nicht einmal ein deuticher Geiſtlicher
wollte etwas von uns willen; überall ftarrten uns die Worte: „Unsinn!“ „Vächerlichfeit!“
„Unmöglichkeit!” entgegen. Ja, eine Anzahl jogenannter deutjcher „Pehrerinnen“ ver:
band ſich mit gewiſſen mächtigen Agenten, um uns zu erdrüden; feine von uns jollte
je wieder zu einer Stelle gelangen! Es waren harte Zeiten, harte Kämpfe, von denen
die heutige Generation feine Ahnung bat.“ Schließlich mahnte Frl. Adelmann die
deutichen Yehrerinnen, aud) in Zukunft treu bei der Fahne zu bleiben, ſich jolidariich ver:
bunden zu fühlen, feinen Stein des Baues gering zu erachten, der Deutichlands wan—
dernden Töchtern Schuß und Halt verleiht, „weil Ihnen die bitteren Erfahrungen und
Kämpfe der Alten eripart geblieben, weil Zie fi) vom erften Augenblif im fremden
Yand geborgen fühlen dürfen. Wer nie gedarbt hat, fennt den Hunger nicht. Ich jage
Ihnen, wenn heute der Verein auseinander geht, dann toben die Gefahren und die alten
Feinde, die wir niedergegiwungen haben, aufs neue und eben jo ftarf. Nehmen Sie fidh
ein warnendes Beiſpiel am Yehrerverein, der bald nad) dem unjrigen gegründet und
nad 10 Jahren wieder aufgelöft wurde. Für die Herren Tiegt jebt alles mie zubor.
Erhalten Sie das, wofür wir gekämpft, gearbeitet haben, feien Sie einig, einig, einig!”
Fortichritte der deutſchen Sprache in England. In der Erkenntnis, daß die
deutihe Konkurrenz auf dem Weltmarkt erfolgreicher befämpft werden fann, wenn auf
britifcher Seite das Studium der deutichen Sprade gründlicher betrieben wird, hat ſich
616 Paul Debn, Deutfchtum im Auslande.
in den legten zehn Jahren auf den engliichen Hauptichulen, wo Deutich und Franzöſiſch,
beides aber nicht obligatorisch, gelehrt wird, die Zahl derjenigen Schüler, die freiwillig
deutfch lernen, mehr als verdreifacht. Und in demfelben Maße ift die Zahl der deutjchen
Spradjlehrer an den engliihen Schulen gejtiegen. Auf den wichtigften Univerfitäten
giebt e3 bereits ebenfoviel Studenten für die deutfche wie für die franzdfiiche Sprade
Diefer Umſchwung zu Gunften des deutichen SpracdunterrichtS bedeutet zwar nicht ein
Anwachſen der englifchen Sympathieen für das Deutiche Neich, wohl aber eine bemer:
fenswerte Steigerung des Anfehens des deutichen Volkes und feiner wirtichaftlichen
Entwidelung. Bei der Eigenart der Engländer ift dieje Ericheinung in hohem Grade
erfreulid. Beruhen die Beziehungen der beiden Völker auf Achtung, jo ift Aussicht
vorhanden, daß die bejtehende Abneigung, die nun einmal vorhanden it, fih in den
Schranken einer nicht immer maßgebenden Gefühlspolitif erhält und die Möglichkeit
eines Zufammengehens in großen weltpolitiichen Fragen nicht ftört.
Inzwiſchen haben verichiedene deutiche Vereine in England dringende Warnungen
vor Zuwanderung ergehen laffen. Der füdafrifanifhe Feldzug hat in England eine fo
große Geſchäftsnot hervorgerufen, daß viele Leute aus anscheinend ſicheren und guten
Stellen entlaffen werden. Niemand ahnt in Deutſchland, jchreibt der deutiche chrift-
lihe Verein junger Männer in London, welche Scharen von gebildeten Yeuten hier
(arbeitslos) umhergehen, die gern jede Handarbeit verrichten würden und die, von
Dunger getrieben, betteln müſſen! Häufig ftehen nach 10 Uhr abends harrende
YandSleute vor unferer Thür, die nicht einmal ein Nachtlager haben! Befonders feien
Kaufleute gewarnt, die fchlecht bezahlt werden und felbft bei bejcheidenen Anſprüchen
oft nod) zuſetzen müſſen.
Ungarn. Nach einem VBortrage des höchſt verdienftvollen Schulrats Dr. Ro hmeder
in der Münchener Ortsgruppe des „Bereins zur Erhaltung des Deutihtums im Aus:
lande* zählt UIngarn unter feinen 16 Millionen Einwohnern 7Y/, Mill. Magyaren, 3 Mill.
Rumänen, 21/, Mill. Slaven und 21/, Mill. Deutiche. Die Deutſchen figen hauptſächlich:
im Weiten an der öfterreichiich-ungariichen Grenze (300 000 bayerischen Uriprungs), im
Nordmweiten in der Zips (80 000 mitteldeutichen Urfprungs), im Südojten in Siebenbürgen
(225 000 rheinfränfifhen Urjprungs), im Süden im Banat (500000 ſchwäbiſchen Ur—
jprungs), in der Bacska (250000) und in der „Ichwäbifchen Türkei“ (250 000), ferner in
und um Ofen und zeritreut in ganz Ungarn. National und politiih am geichlofjenften
ftehen die Siebenbürger Sachſen da. Im Banat beginnen neuerdings die Deutjchen
ih ihrer nationalen Art bewußt zu werden; in Ddiefem Sinne wirken einige Organe,
wie das „Deutiche Tageblatt für Ungarn“ (Temesvar), die „Groß-Kikindaer Zeitung“,
das „Ungariſch-Weißkirchner Bolfsblatt” und die „Torontaler Zeitung”. Trotzdem die
Deutſchen in Ungarn, insbeiondere in Siebenbürgen, nichts Anderes anjtreben als die
Erhaltung ihrer nationalen Eigenart, vor allem ihrer Eprade, wie fie durch das
Wationalitätengejeg von 1868 verbürgt worden ift; trogdem im ungariichen Abgeordneten:
haufe der fiebenbürgifche Abgeordnete Melzer Ende November erklärte, als er gegenüber
unhaltbaren Anſchuldigungen das Wirken des Gujtad Adolf-Vereins in Ungarn ver:
teidigte, daß die Bande, die das fiebenbürgifhe Sachſenvolk kraft feiner Sprache und
feines Glaubens mit Deutjchland verknüpfen, lediglich dem Gebiete des geiftigen und
Paul Dehn, Deutichtum im Auslande. 617
veligiöjen Yebens angehören; trogdem er aufs neue verficherte, was durd die Thatjachen
längft erhärtet worden ift, daß das Dafein der Siebenbürger Sachſen als Volksſtamm
mit dem einheitlihen Beitand des ungariihen Staates untrennbar verbunden fei; er:
heben fi in Ungarn immer wieder neue Befürdtungen über angeblich pangermaniftifche
Beftrebungen und wenn aud; die ungariiche Regierung diefe Befürchtungen nicht zu
begen icheint, jo zeigt fie ſich dennoch beitrebt, die deutiche Sprade nad Möglichkeit
zurüdzudrängen, zunädit in der Schule, neuerdings auch durch die Unterdrüdung
deutſcher Schaufpielunternehmungen in der Hauptſtadt wie in der Provinz. Die Be-
jeitigung der deutichen Spradhe aus den Volksihulen von Peſt u. j. w. fteht mit dem
mitteleuropäiichen Bündnis, an dem die ungarische Regierung ungmeifelhaft feithält,
formell nit in Widerjpruch, wohl aber mit dem ®eilte, aus dem heraus dieſes
Bündnis gejchaffen wurde, und die deutichfreundlichen VBerfiherungen der ungarischen
Regierung beziehen fi nur auf das Deutiche Reid) und werden faltblütig verleugnet,
wo es ſich um die Intereſſen, ja jelbft um die Rechte der Deutihen in Ungarn handelt.
Aumänien. Wertvolle Beiträge zu der auffteigenden Entwidelung der deutſch—
evangelifchen Gemeinden in Rumänien, aber auch in Serbien und Bulgarien finden ſich
in zwei angiehenden, kürzlich erichienenen Büchern. Pfarrer H. Meyer war fieben
Jahre in Rumänien thätig und giebt in jeinem Werte „Die Diajpora in Rumänien,
Serbien und Bulgarien“ (Potsdam 1901), einen Ueberblick über die Gejchichte der
dortigen deutich-evangelifhen Gemeinden auf Grund genauer Kenntnis ihrer Verhältniffe.
Eine willlommene Ergänzung dazu bildet das Buch „Erinnerungen eines Dia:
ipora-Geiftlihen* von R. Neumeifter (Botsdam 1901), der 21 Yahre Pfarrer in
Bulareft war. Man erjieht daraus, welche großen Erfolge mweitblidende und opfer—
freudige Deutſche im Auslande erzielen fünnen, wie fie der frühere Generalkonful
Karl Freiherr von Meuſebach, der Rentner Friedrid Hötſch und Pfarrer Neumeifter in
Bukareft felbft, aber aud) in anderen rumänijchen Gemeinden gehabt haben. Friedrich
Hötſch ift dad Vorbild eines edlen und freigebigen deutichen Mannes im Auslande, fein
Andenken wird nod) lange beftehen und hoffentlid) anderwärts zur Nachfolge anregen.
Niederlande. Nach der Volkszählung vom Dezember 1899 wohnen in den Nieder:
landen 31 865 deutſche ReichSangehörige, davon rund 10000 in den bier Grofftädten
und rund 18000 in den Grenzprovinzen.
Auffiich:Oftafien. In dev Fremdenkolonie von Wladiwoſtok übt das deutiche
Element einen von Jahr zu Jahr mwachjenden Einfluß aus. Im auswärtigen Handel
ftand der deutiche weit voran, faft ein Drittel der Einfuhr fam aus Deutichland. An
der Spite der deutichen Kolonie fteht der Inhaber des erften Handelshaufes von Wladi-
woſtok Kunft & Albers. Näheres über Wladiwoftot und die militärgeographifche und
handelspolitiihe Bedeutung ſeines Hinterlandes veröffentlichte Generalmajor a. D.
von Bepelin in der „Marine-Rundihau“, Jahrgang 1901.
Ö
EEOOEEEEOEEREEOEOO
kitterariihe Monatsbericte.
Don
Carl Buiie.
IV.
E. v. Wildenbruch, Unter der Geißel; Lachendes Land. — Zohannes Schlaf, Die Suchenden.
— Mar Kretzer, Die Madonng im Grunewald. — Wilhelmine von Hillern, Der Gemaltigite. —
Riecarda Huch, Aus der Triumphgaſſe. — Hermine Billinger, Aus dem Kleinleben; Binden
Bimber.
Es ijt eine alte Klage unjerer Univerjitätslehrer, daß unjere Doftorarbeiten feine
Nejultate mehr ergeben. Es werden auch die jeltiamften und merfwürdigiten Themata
aus purer Berlegenheit dafür geitellt. Da ift es doppelt verwunderlid), daß noch nie:
mals eine der interellanteiten und aud; dem bloßen Fleiß zugänglichen Aufgaben ergriffen
ward, die nämlich, an der Dand der Geichichte etwas über die Pinchologie des Erfolges
zu jagen. Es jollte an den Dichtern eines Jahrhunderts unterfucht werden, in welchem
Alter, mit weldem d. h. dem mievielten Buche fie ihren größten Erfolg errangen,
welche Gründe, Zeitverhältniffe und dergl. dabei mitjpielten, wie fih der Rückſchlag,
die Reaktion dagegen zeigte u. ſ. w. Das alles ließe fih ja faft ziffernmäßig belegen
und fönnte uns wertvolle Aufjchlüffe geben. Wir willen ja faum mehr, daß Goethe
niemals auch nur annähernd wieder den Erfolg des Werther und Götz erreichte; wir
jehen an allen Lyrifern, dat immer das erjte Buch das mahgebende und erfolgreichite
ift, daß Heine und Geibel, um nur zwei zu nennen, vergeblich durch Beileres und
Tieferes ihre Eritlinge in der allgemeinen Schätung zu bejiegen tradhteten; daß mohl über:
haupt jedem Lyriker zu mißtrauen iſt, der die Welt nicht mit jeinem erften Buche befiegt ; dat
fein Aquis submersus den dauernden Erfolg des Immenſee beeinträchtigen Eonnte, jo ſehr
Storm darunter litt; daß ganze Dichtertragddien — ich denfe an Roquette — fid
daran fnüpften. Es fcheint faft, wie auch Jens Beter Jacobſen bemerft, ein Geſetz zu
fein, daß nad einem erjten erfolgreichen Werfe das zweite, ob es tiefer, beſſer, reicher
und feiner jei, abfalle. Den verichiedenen Gründen nachzuforfchen, ift hier nicht der Ort.
ch wollte nur auf das Thema aufmerfjam machen, das der Fleiß einmal möglichit aften-
und ziffernmäßig darftellen follte. Und es ift charakfteriftiich, da&, wenn ich fragte, von
welchem modernen Poeten aus ich auf diefe Einleitung und dieſe Gedankenkette ge-
fommen bin, nicht eine, fondern zehn, zwölf verichiedene Antworten bereit mären.
Der befte Beweis, daß nicht Zufälle, ſondern Gejeke hier verborgen wirfen.
Es ift in diefem Falle Ernft von Wildenbrud, der mid; auf dieje allgemeinen
Auslaffungen führte Man hat ihn unter die Heiligen erjter Ordnung in den Himmel
verfest und ihn hohnladyend zur Hölle geriffen; man hat ihn mit Shafefpeare ver:
Earl Buſſe, Litterariſche Monatsberichte. 619
glichen und boshaft über ihn aus der Sceffelihen Dichtung citiert: „Er iſt nur
ein Trompeter, und doc; bin ich ihm gut!“ Er hat gewiß zuerit des Danfes zu viel ge-
erntet, aber es war nicht nötig, daß der Musgleid; durd) jo viel Hohn und Undant
herbeigeführt werden ſollte. Geradezu empörend iſt diefer Dichter oft behandelt worden,
und jeder journaliftiiche Zeilenichinder glaubte fich al große moderne Perfünlichfeit zu
ermweifen, wenn er einen jchlechten Wit über ihn rip. Man hat jeinen lautern Patriotismus
verdächtigt, man hat ihn den Stabstrompeter der Hohenzollen genannt, ihn als
Tendenzpoeten verklagt, aber diejelbe Ktritift erhebt den „Stabstrompeter von Waldeck
und Manaffe“ in den Himmel, einen um 50 Jahre in der Beitentwidelung zurücgebliebenen
Hamburger Scyulmeifter, der grob zuredtgehauene Tendenzjtüde zimmert und deffen
dichteriiche Qualitäten, wenn fie überhaupt vorhanden find, zu denen Wildenbruchs ftehen
wie dad Mäuslein zum Elefanten. Ich halte ed mehr nod) für Dichter» als für Kritiker:
pflicht, das auszusprechen. Der Kritiker, befonders der moderne, veriteht eine Ericheinung wie
Wildenbruch leichtlich nicht; er ift auf jo beitimmte Poeten und eine jo beftimmte Poeſie
dreiliert, da er alles anders Geartete gern ablehnt und in feiner Einjeitigfeit über
einzelne Sünden garnicht zum Ganzen vordringt. Der Dichter aber muß Wildenbrud)
lieben und ehren. Denn feine Fehler find ganz ſpeziell Dichterfehler, das heikt:
Fehler, die mit dem Beſten zufammenhängen, was der Dichter hat: mit feinem
Temperament. Wir aber find fo überſchwemmt mit Kniffligem und Ausgetifteltem, „Bincho-
logiichem* und Gifeliertem, daß wir Gott danfen jollten, wenn mal einer in Sturm und
Feuer fommt Statt in zarten Windchen, wenn einer mal nicht jchulreitet, jondern ventre ä
terre dabinfegt, ob er auch wirflid) dabei hin und wieder aus dem Sattel fliegt und
ihm der Atem ausgeht. Ein Dichter ift doc nicht dazu da, die flugen Köpfe mit
Problemen zu verjorgen — er ſoll die Herzen füllen und hinreißen! Das hat Wilden:
bruch gethan, er hat uns oft herrlich begeiftert, er ift der Kugend, der guten deutfchen
Jugend, die noch helle Augen und den Drang nad dem Schwert und frischer Kraft—
bethätigung hat, entgegengefommen. Die Herren allerdings, die am liebften das Welt-
friedensfeft unter Bertha von Suttnerjchen Unterröcken feiern möchten, werden die
Achſeln zucken und lächeln. Aber ich glaube nicht, daß fie jemand um diejes Lächeln
und ihre fühle Nuhe beneiden wird.
Doc find e8 nicht Wildenbruchs Dramen, die mid) hier angehen. Wie der wilde
Trompeter der Revolution, Georg Herwegh, neben feinen voten, tyrannenmordleczenden
Sturmrufen jeine faft weichlicherührieligen Strophen aus der Fremde dichtete, jo hat auch
Wildenbruch neben feinen lauten, wohl gar lärmenden Dramen ganz jchlichte, ftille und
feine Gejchichten gejchrieben, die mit ficherer Hand ans Herz fallen und es tief ergreifen.
Seine Kindergeichichten, die „Sinderthränen* und „das edle Blut“, jind ganz einzig
ihön; jeine Novellen und Romane Stets bedeutend angelegt, ob auch ungleih. Er ver-
greift ſich auch bier oft, aber ich kenne fein Bud) von ihm, das nicht mit glänzenden
Zug gejchrieben wäre, jo daß man folgt, wie jeltfame Wege das Phantaſieroß auch ein=
Ichlägt. Aber — e8 galoppiert diefe Wege wenigftend und fjchleppt fic nicht mühjam
als Karrengaul dahin.
Das Galopptempo ift auch in Wildenbruchs neuejter Erzählung „Unter der
Geißel“ (Berlin, G. Grote), Doch um es gleich zu jagen: es ift diesmal wirklich nur
620 Carl Buſſe, Litterariſche Monatsberichte.
ein Galopp „unter der Geißel“. Die Phantafie ſchwingt die Peitſche und hetzt. Wir
jagen dahin und werden gejagt auf romantifch-abenteuerlicdher Fahrt, auf der es am
beiten ift, fich nicht weiter zu befinnen. Wenn der Ausdrudf erlaubt ift: eine falte Hitze
jtet in dem Buche, das ich bei aller Energie der Darftellung doch zu den ſchwächeren
Leiftungen Wildenbruchs zähle Ein reiner tragifcher Eindrud will nicht auffommen.
Die Menschen bleiben uns jamt und fonders fern; die beiden, auf die das vollite
Licht fällt, Vater und Tochter, find uns von Anfang an unheimlich, find vom Bahnfinn
belauert. Das Herz fommt nicht auf jeine Rechnung, tiefere Hergenstöne werden faum
angeichlagen, alles fteht von vornherein gleihfam unter einem Drud und Zwang, der
ein freies Aufridhten garnicht mehr erlaubt, und das Ende hat nichts Erlöjendes, der
Drud bleibt. Man fieht einem ſeltſamen Schauspiel zu, das man im Tiefften nicht ganz
veriteht, fatalen und beinahe fataliftiich genommenen Geſchehniſſen, denen alles Typiſche
fehlt und damit zugleidh auch alles wirklich Tragiiche. Es wird einem unbehaglic zu
Mute, ja, diefe Unbehaglichfeit fteigert fi) manchmal aud bis zu leifem Grauen, aber
weiter geht es nicht. Man legt das Bud) mit dem Bewußtſein zur Seite, dat man es
nicht fefthalten wird und daß man fich nicht des Ganzen freuen fann, jondern nur
einiger Scenen, die groß und wirkungsvoll geichildert find, mie etwa der Abend von
Königaräg, wie vor allem der Tanz der Johanna Margarethe... .
Ganz anders wirft desjelben Dichters „Lachendes Yand“, eine dierzehnte ver:
mehrte Auflage der „Humoresken“ mit Hirzelicher Titelzeichnung. Hier wird mit derb-
fräftigen Mitteln gearbeitet, der prächtige „Onfel aus Pommern“ bringt einen dazu,
dak man Thränen ladjt, und auch das übrige ift fo liebenswürdig, daß man gern eine
freie Stunde daran wenden mag. Daß diejes „Lachende Land“ eigentliche litterarifche
Prätenfionen nicht erhebt, beweift auch der neu hinzugefommene Anhang: „Julius Roden-
berg als Berlin-Bummler“, in dem — mertwürdig genug — Wildenbrud eine Lanze
für Berlin einlegt, faft hätte id; gejagt: Für Berlin als Heimatsftadt. Ob er mwirflich
jemanden befehren wird?
Ernft von Wildenbrud) und die „Modernen“ ftanden einst, in den achtziger Jahren,
dicht beiiammen. In dem Buche, das heute als erites Dokument Nüngftdeutichlands in
den Pitteraturgeihichten aufgeführt wird, in Arents „Modernen Dichtercharakteren“, itt
als einzigfter Aelterer neben Arent, Hendell, Conradi, Hart, Holz u. j. w. der Dichter der
„Karolinger“ vertreten, den die Jugend für ſich reflamierte. Heute liegt zwiſchen Wilden
bruch und den Modernen eine ungeheure luft. Allerdings: die heutigen Modernen
find auch jchon wieder andere als die von 1884. Dieſe lekteren find teils tot, oder
lang: und Flanglos verichollen, oder in den Hintergrund gedrängt. Wildenbruch
jpielt aber immer noch mit leidlih vollem Orcheſter. Wie dünn und piepfig Flingt
daneben, was Arno Holz’ einitiger Freund, Johannes Schlaf, vorzutragen hat! Es
war ein merfwürdiges Paar, die beiden! Arno Holz männlicher, wuchtiger, der Fuge
Oftpreuße mit einem Schuß Berlinertum, immer etwas überlegen, etwas fatiriih. Und
neben ihm, jeine „beflere Hälfte“, der faft weiblich-weihe Schlaf, Stimmungsmenfch mit
etwas jentimentalem Anhauch, Eraftlos jedem Eindrud nachgebend, ein Nitancenpoet.
Seit fich die beiden getrennt haben, erperimentiert jeder erfolglos. Holz will eine neue
Lyrik und Dramatik erfinden, wie er ſ. Zt. die laufende Maus erfand, vertrödelt ſich
Garl Buſſe, Litterariiche Monatsberichte. 621
dabei gang, wird verbittert und jchweigt. Schlaf jhreibt Romane, Dramen und Ge
dichte, die alle von peinlicher Kraftlofigkeit find und — was jchlimmer ſcheint — eine
gewilfe innere Haltlofigkeit zeigen.
„Die Sudenden“ heißt Johannes Schlafs neuefter Roman (F. Fontane u. Eo.,
Berlin). Es ift ein fatales Bud — fatal, weil es fih als etwas Bejonderes und
Eigenes aufipielen möchte, und weil es doch an feiner Stelle verbergen kann, daß es
ein Buch dichterifcher Impotenz ift. Ich mähle diejes harte Wort, weil der Roman
täujchen will und Ddiefen und jenen wohl aud täujchen wird. Die beſte Kritik
Darüber war die Parodie, die im „Ulf ftand. Das Thema ift abgedrojchen: der
Mann zwilchen zwei rauen. Doc giebt es eine neue Nüance in diefem dreiedigen
Berhältnis: Der „Mann“ (der üblihe Wafchlappen aller modernen Romane) eritrebt
ein... jagen wir: mormonifches Ideal. Er möchte jeine Frau behalten, die er aus
Gewohnheit, alter Liebe und ald Mutter feiner Kinder braucht, und möchte doch auch jeine
neue Geliebte in fein Daus nehmen. Den zwei Frauen möchte er klar machen, daß er
jie beide nötig hat, und fie follen fi) hineinfinden und fi in ihn teilen als gleich:
berechtigte. Da dieje bitter ernſt behandelte Lächerlichkeit nur halb zur Ausführung
gelangt, und da es mit der neuen Form der Ehe nichts wird, jo läßt „der Held“ feine
Frau figen und lebt irgendwo in der Welt mit „Slona*, der freien Berjönlichkeit,
aujammen, die feine Mannheit endlich dadurd; erfannt hat, daß er wütend fie einft
prügelte. Diefe beiden treiben nun, wie der Schlußſatz des Romans lautet, „ferneren
Bollendungen entgegen“. Der unfreimwillige Humor diejes Schluffes iit föftlich; der ganze
Roman läherlid. Man braudte fein Wort mehr daran zu verjchwenden, wenn nicht
auch hier eine bittersernfte Seite vorhanden wäre.
Johannes Schlaf hat ih mit dem Papa Hamlet, der auf Hauptmann den ent-
iheidenden Einflug ausgeübt, und mit der „Familie Selicke“ eine litterarifche Pofition
geihaffen. Er hat jpäter bewiejen, daß er eigentlid) eine ſchöne Seele ift und daß er
ausgezeichnet ein paar feine Fleine Naturftimmungen geben fann. Sein „Frühling“ (irre
ih ridt: im Mufenalmanad) von Bierbaum) war wirklich föftlih. Dann jchüttete er
ſolche Naturnippesfachen gleich bandweiſe aus, und da wirkten fie — vide „in Dingsda“
— jchon langweilig. Zuletzt trug er Geftalten und Probleme in diefelben Naturftudien
und -ftunmungen hinein und nannte fie Romane Wär der Laubfrojch ein Laubfroſch
geblieben, hätt! man fich jeiner gefreut. Nun wollt er fi) aufpuften, daß er groß
würde mie ein Dchje, aber da plagt er, wenn man ihn anfaßt.
Der Roman „Die Sudenden“ hat 321 Seiten. Ach glaube mit qutem Gewiſſen
jagen zu können, daß davon 200 Seiten völlig überflüfige Naturjcdilderungen und
Neflerionen enthalten. Wenn man billig Bogen füllen will, madt man dergleichen
immer. Gleich das erite Kapitel zeigt, wa8 man zu erwarten hat. Und dann quält
fih Schlaf mühjelig weiter. Es wirft zulegt nur noch humoriſtiſch, wenn er jedes
nebenjädhliche Kiffen, auf dem irgend einer ruht, des Langen und Breiten befchreibt;
wenn er ein ganzes Kapitel von 9 Drudfjeiten dazu braucht, um zu erzählen, wie der zu
einer Kranken gerufene Arzt zu ihr hingeht. Humoriſtiſch wirkt es, weil man es als Tric
empfindet, als eine Schwäche jondergleichen, die Angit hat vor der Handlung, die trotzdem
wohl noch als Stärfe genommen fein möchte. Es wäre ein Leichtes, diefe große gallert-
622 Gar! Buſſe, Pitterariiche Monatöberichte.
artige Maffe, die einen Roman vorftellen joll, zuſammenzuquetſchen, dat nur ein Kleiner
Heft übrig bleibt. Aber ſelbſt dazu gehört ein bischen Straft. Won den Perionen, die
in diefem Brei ſchwimmen, ift dasjelbe verftärft zu jagen, was Julian Schmidt den
Tieckſchen Helden nachgeſagt hat: es fehlt ihnen die fittlihe Schwere. Deshalb glaube
id weder an „Die Suchenden“ noch an Johannes Schlaf, den Suchenden, überhaupt.
Er ſucht, aber er ift zu fteuerlos, ala da man glauben fünnte, er würde jemals finden.
Segen dieſe Shwächlichfert wirft Mar Kretzer wie ein Athlet, troßdem er gerade
in feinem Neueiten faft zu viel von Nervenzufällen und phyſiſcher und pinchiicher Schwäche
redet. Ich ſchätze die großen jozialen Romane von Kretzer jehr; man joll ihm „Die
Verkommenen“ erjt nachſchreiben. Er iſt mandmal nüchtern, aber von unerbittlicher
Sadjlichkeit und Stonjequenz. Er mengte weiter wohl Nattengift fir Dienftmädden:
geſchmack in jeine erften Romane, aber er hatte auch grandioje Partieen darin, die von
großer realiftiicher Geſtaltungskraft und Phantaſiemacht zeugten. Seitdem hat fich fein
Geſchmack wohl mehr geläutert, doch leider find auch die grandiojen Partieen zugleid; mit
dem Wattengift mehr und mehr gefhwunden. Gr hat fich zum Bourgeois entwidelt,
zum guten Erzähler für die weiteften Volkskreiſe. Das joll fein Vorwurf fein, jo vor-
wurfspoll es klingt. Gin Dichter ift fein Automat, der immer die gleiche Ware liefert.
Und es ift ganz verftändlich, daß man als Pierziger anders ſchreibt, wie ald Zwanziger
und Dreißiger. „Die Madonna im Grunewald“ (Baul viſt, Yeipzig) ift ein Bud)
des jchon behäbiger gewordenen Kretzers. Statt der repolutionierenden Arbeiter giebt
es Darin Erzellenzen und Yandgerichtsräte, Direktoren und Hofphotographen; ftatt des
Sturmmwindes des Sozialismus Gejprähe über Kunſt und Nerven; und aus dem
Dunfel des Rieſenneſtes wird man immer wieder in den grünen freundlichen Grunewald
geführt, in dem ſich ein Pärlein findet. Zögernd und unfräftig fett die Geichichte diejes
Paares ein; man fürdhtet bereits, Kretzer wäre ganz farblos geworden und hätte feinen
Wein bis zur Untenntlichkeit verdünnt. Aber allmählich hebt ſich die Erzählung, man
lieft aufmertjam und Elappt das Bud befriedigt zu. Der bekannte Name dedt zwar
nur Unterhaltungslettüre, doc immerhin eine, die ihm nicht Unehre madt. Es ift im
Guten und im Böſen nicht mehr darüber zu jagen.
Drei Feminina mögen den Reigen diesmal beichliegen: Wilhelmine von Dillern,
Riecarda Huch und Hermine Billinger. Das typiſche Frauenbuh hat davon Wilhel-
mine von Dillern, geb. Bird, in ihrem Roman „Der Gemwaltigfte* (Gotta, Stutt-
gart) geichrieben. Sie hat ſeit der jeligen Geier-Wally nichts gelernt und nichts ver-
geilen. Es ift wieder eine gewaltige Gonliffenichieberei mit großen Stnalleffeften und
alpinem Hintergrund. Man meint, die Erzählerin müßte in letter Zeit X. E. Heer
gelejen haben, denn genau wie der Schweizer Dichter, von dem der vorige Yitteratur-
bericht iprach, in jeinem beiten Buch „An heiligen Waflern“, fchildert fie den kühnen
Zohn der Berge im Kampf mit den Elementen, mit der Natur, die er als ingenieur
ichließlich beftegt und bändigt. Auch ſonſt kann ich vieles, was über X. E. Heer gejagt
ward, bier wiederholen. Cine bewunderungswiürdig ausgiebige, nur nicht gezügelte
Phantaſie erfindet eine jich überftürgende Handlung. Der Theaterinftinkt, der weibliche
Inſtinkt für das, was padt und feilelt, feiert Triumphe. Mit atemlojer Spannung
lieft man, das Intereſſe am Noh-Stofflichen ift jo aroß, daß ein anderes garnicht auf:
Carl Buſſe, Pitterarifche Monatöberichte. 623
fommt. Auch aus diejen Roman liegen fic) bequem drei Bände maden. Als vetar:
dierende8 Moment in diejer Flucht der Ereigniffe wirken Naturicilderungen und Be-
tradhtungen, die reichlich eingeftreut find. E8 genügt Wilhelmine von Hillern nicht,
irgend einen feinen Zug ausgeftaltet zu haben. Sie muß immer, damit er nur ja nicht
überjehen wird, einen Trumpf draufiegen. So erhält Veit Kollander, der ingenieur,
einen Brief von feiner Geliebten, während jeine Braut zugegen ift. Soll er ihn öffnen?
Da jhlüpft die Braut aus dem Zimmer. Und Wilhelmine von Hillern fügt tieffinnig
hinzu: „D Bildung — und Herzenstaft, welch eine wundervolle Sache!“ Was an fid
fein gewirkt hätte, wird dadurd) grob und komiſch. Eine ganze Blütenleje ähnlicher Be:
trachtungen, die von merfwürdiger Trivialität find, fünnte ich hier zum Kranze winden.
Braude ich hinzuzufügen, daß die 400 Seiten des Romans durchweg im Präjens ge-
chrieben find? Die Unraft und Erwartung, die durd) das fortwährende Niederpraffeln
der Ereigniſſe jchon ermedt ift, wird dadurch; noch weiter genährt. Man jcheidet von
dem Roman mit halber Trauer. Man muß ihn ablehnen, und doch muß man fid)
jagen, da& hinter dem vielen Theaterdonner aud) ein Teilchen echter Donner jtedt, um
den es ſchade ift, daß eine unruhige und fahrige Kraft fich bier im ganzen ergebnislos
vergeudet, die, wenn jie zu gelaſſener Ruhe käme, viele erfreuen fönnte.
Ungleich bedeutender, überhaupt eine der eigenartigiten Erjcheinungen der modernen
Frauenlitteratur, ift Riccarda Hud. Bor vielen Jahren bekam ich ein Bändchen
Lyrik in die Dand von Nihard Hugo. ES gab darin ein paar ganz wundervolle
Gedichte, beionders eins aus dem 3Ojährigen Kriege, das an marfiger Schönheit mir
noch heute fast unübertrefflich jcheint. Aus dem „Richard Hugo“ ward eine Riccarda
Huch. Die merkwürdige Frau wandte fi vom Vers ab und jchrieb ihren erften und
bisher einzigen Proſaroman, die „Erinnerungen von Yudolf Ursleu dem Nüngeren“ —
ein Buch, deiien erjte Hälfte befonders von erftaunlicher Kunſt if. Es dauerte nicht
lange, fo brachte die „Deutiche Rundſchau“ Litterarhiftorifche Arbeiten der Dichterin —
Charatteriftifen einiger frühromantifcher Dichter. Die erfte Romantik ift mein jpezielles
Arbeitsgebiet, ich darf aljo ein Urteil darüber fällen, und diefes Urteil kann nur lauten,
daß faum ein anderer vor ihr die Männer und Frauen jener Zeit in ihrer Fülle und
Wejenheit fo tief erfaßt und gekennzeichnet hat. Der Yitterarhiitorifer zog die Umriſſe,
der Dichter trug Leben und Farbe hinein. Nun ift — mit Buchausſtattung von Mediz-
Pelikan — ein neues poetisches Werk von Riccarda Huch da: „Aus der Triumph:
gafie*. Lebensſtizzen. (Eugen Diederichs, Leipzig 1902.) Wiederum ein Bud) von
ſeltſamer Eigenart, ein Ich-Buch wie die Erinnerungen von Ludolf Ursleu. Auch iſt
diejes erzählende Ich wieder ein Mann, aber es entiteht dadurd fein Widerjpruch, weil
die Art und Vortragsweiſe Niccarda Huchs eher als männlich, denn als weiblid)
empfunden wird. Wie in ihren Verſen, fo ift fie auch in ihrer Proſa durch die Schule
Conrad Ferdinand Meyers gegangen, an deifen Seite Gottfried Keller tritt. Sie hat
mit den beiden die große fünftlerifche Ruhe des Erzählens gemein, aber es fehlt ihr
die reine goldne Herzlichkeit Kellers. Es ift weit mehr etwas Dunfles und Schweres
in ihr, das fogar manchmal zur Schwerfälligfeit werden kann; daneben etwas jeltjam
Fremdes. Man hat den Eindrud, als fchreibe diefe Riccarda Huch auch ſchwer und
langiam, jorgfältig jedes Wort drehend und mendend, immerdar bemüht, jedem Tape
624 Earl Buſſe, Litterariſche Monatäberichte.
Fülle und Eigenheit zu geben. Deshalb liegt ihr auch der Dialog gamidt. Sie faht
ihn lieber nacherzäblend zufammen. Und wenn fie die Leute reden läßt, ſeien es nun
Dirnen und Mörder oder Söhne vornehmer Familien, fo läßt fie jeden einzelnen
dod) in ihrer gewählten Sprache jprechen. Nur leife Niiancen und das, was er fagt,
harakterifieren ihn. An der Rch- Erzählung wirkt das auch weniger befremdend, als
fonft wohl.
Bom Leben und Sterben erzählt diefe Chronik der Triumphgaffe, wie davon einft die
Ehronif der Eperlingsgaffe erzählt hat. Schickſale werden ausgebreitet, aber fie find
nicht die Hauptjache, jondern die Perjonen find es, die fie fich Zimmern und fie tragen.
Es werden Fäden geſponnen und abgerifjen, Menſchen gehen und vergehen, die Gaſſe
bleibt, die abſchüſſige dunkle, in der dies alles fich ereignet. Das Bud hat feinen Anfang
und fein Ende. Die liebevolle NAusmalung der Charaktere ift die Hauptiache, und äußere
Begebniffe jelbit der ungewöhnlichften Art werden wie etwas Nebenjädliches und Gewöhn—
liches abgethan. So pajfieren ſeltſam viel Morde und Totſchläge — Riccarda Hud
erzählt davon immer beiläufig, wie etwa, daß ein Knabe in der Triumphgafle einen
Milchtopf ausgeichüttet Hat. Es find auch nicht eigentlich die Handlungen, durd) die fich
die Menſchen uns darftellen und aus denen uns fcharf und jicher ihr Bild erwächſt;
fondern jede Perſon befommt eigentlid; ihr Täflein, auf dem in wundervoller Feinheit
ihr Wefen und ihre Art notiert iſt.
Wir fommen hier auf den fpringenden Punkt. Nämlich, es fcheint manchmal, als
jeien diefe Menichen nicht aus dem Vollen geſchaffen, fondern nur nachgeſchaffen. Um
es in ſcharfer Deutlichfeit zu jagen, die allerdings etwas Ungeredhtes hat: als wäre das
ganze Bud) die außerordentlich feinfühlige Nacherzählung eines großen herrlichen Romans,
als hätte ein dem Dichter fongenialer nterpret die einzelnen Figuren herausgeholt,
fie bis in das Innere ihres Weſens verfolgt und vieles, was ſich als Handlung dort
gab, hier als Neflerion aufgenommen. Es ift fein großer Unterfchied zwiſchen der Art,
wie Riccarda Huch das Porträt von Friedrih Schlegel und wie fie etwa das eines von
ihr jelbjt erfundenen Romanhelden ſchafft. Leberall ein gewiſſes verftändiges Rai—
jonnement, eine bewunderungsmwürdige Abhandlung über einen Menſchen, die ihm ganz
gerecht wird und eine runde fertige Geftalt vor uns hinftellt. Aber ein letzter Neft geht
nicht rein auf. ch hoffe, mich Far genug ausgedrückt zu haben, daß verftändlich wird,
was id; meine. Im Grunde geht doch wohl Riccarda Huch die äußerjte Urſprünglichkeit
ab, ift jehr viel bei ihr bewußte und vielleicht gar gewollte Kunſt. Sie wird uns nie
binreißen, aber zur Bewunderung wird fie uns zwingen. Bejonders im fiebenten Kapitel
find hier Partieen, die man immer wieder lejen fann (S. 126 ff.). Die Künftlerin in ihr
ift viel ftärfer als die Dichterin. Darin liegt ſchon, daß fie niemals auf breitere Schichten
einwirken, aber einem Kreiſe litterarifcher Feinichmeder ftetS zu Dante ſchaffen wird. Ich
muß befennen, daß mic noch jedes Bud der merhwürdigen Frau begierig gemacht hat
auf das folgende.
Muß man bei Riccarda Huch von einer dunklen Klarheit reden, fo bei Hermine
Billinger von einer hellen, goldenen. Jene macht nachdenklich), diefe fröhlich. Es giebt
noch fo viel Leute in Deutjchland, denen die Eöftliche Schulmädelgefhichte „Anöpfche“
unbefannt ift. Sie willen nicht, was fie damit verlieren. Daß daneben jedoch ein großer
Carl Buffe, Fitterarifche Monatsberichte. 625
Kreis die Dichterin nad) Gebühr ſchätzt, das beweift die ſoeben ausgegebene vierte Auf—
lage der Geihichten „Aus dem Kleinleben“. (Morig Schauenburg, Lahr.) Zwanzig
Skizzen, eine Anzahl prächtigſter Volkstypen, alle jo überaus ficher gegriffen, daß fie gar nicht
anders fein und daftehen fünnen. Wer Wärme braucht — dieje Dichterin, die Die Liebe
der armen Vieh-Marie zum Beſen-Jean foverflärt hat, fann allen Frierenden davon mitteilen.
Die eigentliche Neuheit des Jahres ift aber „Binden Bimber“. (Bonz, Stutt-
gart 1902.) Eine gräßlich illuftrierte Geihichte, aber das Bud), daS mir von allen am
meisten geeignet und wert erjcheint, unter deutichen Weihnachtsbäumen zu liegen, das
jelber ein fröhlich und felig Licht in deutichen Herzen entzünden fann. Reinſte Herzens—
güte, die ſich auch zu den verlorenſten Pflänzchen in der Schattenecke hinabbeugt, über—
ſtrahlt es; ein echter körniger Humor macht uns das Herz weit — kurz, ein ſo liebes
gutes reines Buch, daß die böſe Kritik gern und ganz davor kapituliert. Prachtgeſtalten
wie der Packer Simſon und die Näherin Sätchen gehen da durch die Seiten — dieſes
Sätchen, das von fabelhafter Natürlichkeit iſt, das mit ficherer Kraft bis an jeine Sterbe-
ftunde durchgeführt ift. Die Sterbejcene ift — gerade weil jede Spur von Sentimentalität
fehlt — tief ergreifend, ift der Höhepunkt der Darftellung. Biel andere Herzensfreuden
und «Leiden find außerdem noch erzählt, das Heidelberger Schloß blickt von Anfang bis
Ende auf diefe „P'älzer Leut'“ hinab, die Studenten fingen durd) die Gaſſen:
„Nun werde geſprochen das legte Wort.
Balet, Gefelle, Balet!
Was bier vermelfet, das blühet dort,
Und einmal wird alles wett.”
Mer will hingehen und dieſes herzerquidende Bud) lieben lernen?
1%
Menlſchenmacht.
Menſch, dein Schitt auf dem Strome vermagſt du beliebig zu lenken,
Aber die Stromflut felbft meifterft du nimmer nach Wunfc.
Pflanzenleben.
Wohlig gebettet auf fchwellendem 28008, fo hab’ ich gar manchmal
Träumend ins Blättergewirr ragender Buchen geſtarrt.
Als ureigenftes Rei fdpllifchben Fricdens erfbien mir’s;
Amſel und Buchfink auch zollten ibm jubelnden Dank.
Nichbtiger Traum! Ihr Kronen, in jeglichem Zweiglein und Blättchen
Fübrt Lichtbunger zumal ſchweigend den beifzeften Kampf.
Alles ja drängt zur Sonne; den Schwächeren mordet der Schatten,
Doc fein zeitiger Tod tördert des Ganzen Gedeihn.
Fin die Qugenderzieher.
Von des Achilleus Lanze berichtet beilenifcher Tieffinn,
Wunden, die felbige ſchlug, babe fie wieder gebeilt.
Yünger der beiligen Kunft wabrbaftiger ABenfcbenerziebung,
Wäblt fie zu eurem Symbol! Alfo beglückt ibr die Welt.
Salzwedel im Dezember 1901, G. Legerlot;.
40
Vom deuticten Theater.
Don
Max Marteriteig.
III.
Die rote Robe. — Hedwig Niemann-Raabe. — Madame Rejane. — Unſere Schauſpieltunſt. —
Die Japaner.
D“ draußen jo unfrudtbare und von allen Monaten des ahres jchier unange:
nehmfte, der November, pflegt jeinen üblen Ruf fonft in der bunten Welt
der Theaterlampen wenigitens etwas aufzubeflern; gewöhnlich bringt er die ſtärkſten
Neuheiten regſamen Dichterfleiges zur entjcheidenden Probe und höchſtens noch in der
ersten Dezemberwoche empfangen wir weitere Gewißheit, was wir für die Spielzeit in
das Gewinnfonto der dramatiihen Buchführung eintragen dürfen. So war es auch
heuer: im November gab es die von Frankreich herübergeholte „Rote Robe* und der
Dezemberanfang bradıte uns den lange borausverfündigten „Roten Dahn“ unjeres
Gerhart Hauptmann. Vom „Roten Hahn“ und jeinem wieder allen Heilsglauben an
die Entwickelung des naturaliftiihen Dramas verleugnenden Krähen joll erſt im nächſten
Monat hier berichtet werden, obſchon von der „Roten Robe“ an ſich nur wenig zu
jagen iſt. Immerhin hat das mit ftarfen Theatermitteln gebaute Stüd des Herrn
Eugen Brieur, das fi) ja ganz ehrlich als ein Senſations- und Tendenzdrama giebt,
weit weniger hohnvolle und hochmütige Abfertigung verdient, als ihm zuteil geworden
und wenn man fi) Schon an feinen aller Welt fihtbaren poetiihen Schwächen jchadlos
halten wollte, jo hätte dodh am Ende in einem Yand, in dem große Kreiſe über feine
Nechtöpflege in jo tiefe Beunruhigung verjett worden find, wie es in den lekten Jahren
der Fall bei uns war, gerade der tendenziöfe Anhalt des franzöfiichen Stüdes etwas
Nachdenken verdient. Es ift ja überhaupt von unjerer dramaturgiichen Weisheit noch
lange fein feites Gejeg über das im Drama zuläffige und ihm vielleicht durchaus not-
wendige Tendenzidje gefunden worden. Herr Brieur war aud) feineswegs jo geihmadflos
wie zum Beijpiel Herr Felir Bhilippi, der der Reihe nad alle berühmten Fälle unjerer
heimiſchen jüngſten Geichichte dramatiſch ausichladhtet, jonft hätte er es fich ebenjo Leicht
machen und friichtweg die Dreyfusaffaire auf die Bühne bringen fünnen. Wer weiß, ob
ihm das bei uns nicht mit noch jtärkerem Safjenerfolg gelohnt worden wäre. So
hat er ſich die allerdings nicht ganz geglücdte Mühe gegeben, für feinen ſtark empfundenen
jozialfritiichen Vorwurf eine Handlung fünftlich zufammenzubauen. Wir aber fchreien
num über grobe Tendenz. Uns dünft das, was er von der Schwäche und Erbärmlichkeit
franzöfiicher Nechtspflege meiner Anficht nad) in durchaus redlich pſychologiſch begründeter
Weile jchildert, als kraſſe Uebertreibung. Herr Brieur hat den bei ums leider faft
Mar Marterjteig, Yon deutichen Theater. 627
garz aus der Lebung gefommenen Mut, den Balken, den er jeinen Yandsleuten im
Fleiſche firen fieht, einen Balfen zu nennen, wofür er, was wieder bei uns undenkbar
wäre, aud) wenn wir ein folches Inſtitut — vielleicht an Stelle unſerer Schillerftiftung —
hätten, von der Acad&mie francaise mit einem Preis bedacht murde. Ich kann aud
nicht finden, daß er auf dem gejpannten Drabtjeil der entrüfteten Bhraje rhetorijche Seil-
tängzerei vollführte, wozu der Stoff reizen mochte; ich meine vielmehr, daß er als tief:
bliefender Kenner geiellichaftliher Krankheitszuftände mit jehr viel würdigem Ernft und
jehr viel objektiver Kunſt die Urjachen jucht, in die Seelen der Bonzen und der Streber
hinableuchtet und die halb oder ganz Unglüdlichen, die ausübend oder erleidend in Die
Käder der modernen Rechtsmaſchine geraten find, mit viel Herz begreift und jchildert.
Das ift immer fein geringes Verdienit. Es war daher ſicher ungerecht, den Franzoſen
Brieux totzufchlagen, wenn man mit mildlächelnder Nachſicht ſich mit den Thatjachen
abzufinden bereit war, daß an der der Nanglifte nach oberften deutichen Bühne Herr
Felix Philippi fein „Großes Licht“ Leuchten laſſen durfte und daß im Berliner Theater die
alferältefte Gartenlaubenjentimentalität in Gejtalt des Meyer-Förfterichen „Alt:Deidelberg“
wieder zu hohen Ehren gebradjt wurde.
Die „Rote Robe“ war vor etwa Kahresfrift jchon, unter Ausfchluß der breiteren
Oeffentlichfeit, in der Berliner Freien Volksbühne geipielt worden; die Aufnahme in den
Epielplan des Berliner Theaters aber gewann den Charakter eines großen Ereigniffes,
da fie dem Wiedererjcheinen einer unſerer ftärkften Schauſpielerinnen auf der Bühne
Gelegenheit bieten follte, der faft nur der Erinnerung noch angehörigen Hedwig Nie:
mann-Raabe. Ich würde in der Vorfreude, die diefe Ausficht mir erwedt hatte, auch
feinen Anftand genommen haben, zu jagen: eine unferer größten Künftlerinnen! Denn
immer dürfte Dediwig Raabe als eine jolche in unjerem Gedächtnis leben, wenn — ja,
wenn wir jeit nicht mehr zu gewahrenden oder vielleicht auch wirklich nie dageweſenen
Zeiten von großer Kunſt auf der deutichen Bühne überhaupt reden dürften. Wie gern
möchte man das. Und faft nie lieber, al$ wenn man der Tage fid) erinnert, da Hedwig
Raabe mit hinreißender Gewalt und allem Liebreiz einer Bollnatur die Marianne Goethes
uns vor Augen ftellte, als fie dann in der Folge das zunächit fremdartig, krankhaft und
verworren jcheinende fomplizierte Gebilde einer Nora mit der urwüchſigen Kraft ihres
Temperamentes und flar legte, — und jelbjt ipäter noch, als fie endlid) einmal die
unjere Seelen im Ziefften bewegende tragiiche Gewalt und Bedeutung, das moderne
joziale Heilandserleben der wundervollen Tiichlerstodhter, der Klara in Hebbeld Maria
Magdalena, mit tieffter Empfindung erſchöpfte. Wie vielen deutjchen Dichtern, hat fie
auch Hebbel und jeinem über all unjer dramatiſches Schaffen des nadjklaffiichen Deutſch—
lands fo hoc) ragenden Gebilde die volle Gewalt der Gegenwartswirfung verliehen. —
Aber war es die unit, der Hedwig Raabe ſolche Siege verdantte, war es ihre
Kunſt, die jo tief in unfere Herzen griff? der nicht vielmehr ihre Stärke, ihr Naturell,
ihr unerhört leicht beiwegliches Temperament, das jett ein Feuerwerk von Sonnenfunfen
um uns jprühen ließ, jett in einen Strudel fchmerzlichiter Empfindung und wirklicher
Thränen uns hinabriß, ihre föhtliche Uriprünglichkeit? Ahr anſteckendes Koboldlachen,
die immer loder hinter den Wimpern haftende Thräne, die, gehorfam jeder leiſen Regung,
jo leicht dem jeelenvollen, blauen Auge entperlte, — ficher, das vergigt man nie! Und
40*
628 Mar Marterfteig, Bom deutichen Thenter.
Hedwig Naabe hat ſich der Jugend, die ihr jolche Kraft verlieh, lange erfreut; bis in
reifite Jahre hinein blieb ihr die Stärke jugendlichen Frauenempfindens eigen; durch fie
wußte fie zu gewinnen und zu behaupten. Aber wie jehr fie dabei von dem großen
Glückskapital ihres Talentes lebte und wie wenig fie je zu fünftleriiher Bollendung
der Form, zur Meifterichaft des Handswerfs aus Eigenem gethan hat, — das offen-
barte zu aufrichtigem, tiefem Schmerz der fie body Schägenden und faft mehr nodı
Liebenden ihr Auftreten als Yanetta im Stüd des Herrn Brieur. Daran ändert das
fauftdide und für einen Franzoſen faft plumpe Kompliment nichts, das der Dichter ihr
fir den großen äußerlichen Erfolg feines Stüdes zu machen ſich gemüßigt fühlte!
Was hierzu nun gejagt werden joll, gejagt werden muß, jelbft wenn es dem
nationalen Empfinden weh thut, das geht nicht Frau Hedwig Raabe perjünlich an; das
trifft die Schul- und Stilfrage unferes deutjchen Theaters überhaupt, von der einmal
wieder geredet werden mu. Nicht nur bei Frau Naabe fonnten wir e8 ſtets beobachten,
es fpringt fait bei jeder ftärferen jchaufpieleriihen Wirkung auf der deutichen Bühne
in die Augen, daß unſere Schaufpielerei fait ganz auf den Auftand der Perſönlich—
feiten, der Begabungen und jo betrübend wenig auf die unit des Berufs geftellt it.
Mit wenigen Ausnahmen finden wir überall jene FFormlofigfeit in Haltung, Gang,
Spiel und Sprade, die man aud) bei der jungen Frau Hedwig zu tadeln und zu be
dauern ſchon reihlih Anlaß hatte Daß fie aber, auf ihre naturaliitiihen Macht—
mittel pocyend, mit dieſen Mängeln jo leicht ſich abgefunden bat, das rächt fih nun an
der von feinem Jugendreiz mehr unterftüsten Daritellerin, wie es ſich früher oder jpäter
bei allen nur impulfiven Talenten rächt. Dieje Sleichgültigkeit gegen die Form, dieje grenzen:
(oje Verwahrlojung alles Techniichen hat unjere Schaufpielfunft auf ein Niveau herab:
gedrückt, wie es kunſtloſer kaum bei einer anderen Kulturnation anzutreffen iſt. Auch
bei den engliichen und amerikaniſchen Vettern nicht: jo Ichlimm deren Bühnenzuftände im
Hinblid auf die Dichtung find, — der Dandwerfschrgeiz ihrer Spieler ift größer,
gediegener, ihr Fleiß ausdauernder und ihre Regiſſeure find Bühnentechnifer eriten
Ranges. Hätten wir eine feſte Ueberlieferung in diefer Kunft, jo dürfte es eben nicht
erlebt werden, daß eine gefeierte Daritellerin, jelbft wenn fie eine ihren Jahren nicht
mehr zuftändige Rolle jpielt, durdy automatenhafte Fechterbewegungen der Arme und
Hände, durch den auffälligen Mangel an Beherrichung des Körpers in Haltung und
Gang fat den Eindrudf einer noch vor allen Anfängen der Nunftausbildung ftehenden
Dilettantin madt. Wir dürften auf einer deutichen Bühne nicht die ärgfte der Qiualen
erleiden müſſen, eine über alle Möglichkeit des Ausdrucks gefteigerte, in häßliches Schreien
ausartende Sprade, die die Kraft der inneren Bewegung geradezu parodiert, bon
einer „Meifterin“ diefer Kunſt zu hören. Wenn das ein Beftes oder auch nur ein Gutes
deuticher Schaufpielkunft ift, jo fteht e$ in der Ihat übel um fie!
Hedwig Raabes Entwidelung und noc ein Teil ihres reifen Wirkens fiel in die
Zeit, die der Gefchichtsichreiber unjerer Schauipieltunft, Eduard Devrient, die des
Birtuojentums nennt, die nach jeiner Meinung eben daran krankte, daß an den deutjchen
Bühnen fein Werkftattgefeß mehr galt, daß feine fachgemäße Entwidelung des einzelnen,
feine Pflege des Zuſammenſpiels ftattfand, dafür aber ein Dutend Sterne, die gaftierend
umberzogen, die alle Wirkung auf fich zu fonzentrieren, von fid) ausgehen zu machen
Dear Drarteriteig, Bom deutfchen Theater. 29
verftanden, die ohnehin erſt in den Anfängen jtehende Stilentwidelung zu nidjte
machte. Diefe lehrhafte Warnung ftüßte ſich freilich auf den Grundirrtum, daß am
modernen Theater ein Stilgefet aus dem Willen und der Einficht einzelner Meifter und
Berater der Kunſt ſich jchaffen ließe: Derrient rief das Gewiſſen des Staates wach, dat
er helfe, er appellierte an die Ehre des Standes, an die Dichter, — aber er madıte die
Augen zu vor der furdtbaren Grundurſache dieſes Verfalls der Bühne, über den, wenn
man genau binfieht, in Deutichland zu allen Zeiten geklagt worden ift. Der irrt aud)
als geiftvollfter Meifter der Bühne, der da glaubt, unfer Theater jei aus dem Geſetz einer
Kunſterkenntnis herausgewachſen, es ließe an folche Geſetze fich binden. In unferen modernen
Staaten, wo da3 Volk, das doch eine Kultureinheit fein müßte, wenn man eine Volks—
funft ihm bereiten wollte, aus bier, fünf, ſechs oder mehr riefigen Geſellſchaftsklaſſen fich
zufammenfekt, die eine geradezu troftloje Verjchiedenheit der Kultur und des Bedürfniffes'
nach Kultur aufweiſen, wird das Theater niemals mehr das Ergebnis einer fünftleriichen
Erkenntnis, eines fünftleriichen Willens fein. Saum die individuellften und nur von
einzelnen für einzelne geübten Künfte können ſich noch einer ſolchen Entwidelungsfreiheit
rühmen. Das Theater aber ift eine Gefellfchaftskunft: es kann, feinen Zweck erfüllend,
nur gedeihen, wenn es die großen fittlichen Fragen der ganzen Volkheit zum tief bervegenden
Gegenſtand feines Schaffens und Bildens nimmt. Davon fann bei uns auf unabjehbare
Zeit nicht die Nede fein. Will man für unfere modernen, in Nationen zufammengefchloffenen
Geſellſchaften und für ihre politischen, wirtschaftlichen, wiſſenſchaftlichen und künſtleriſchen
Strebungen das Bild einer ftetig in hohen Wogen gehenden See geftatten, jo ift die
theatraliiche Kultur diefer Geſellſchaft dem allerlegten Anbranden der hohen und ſtürmiſch
betvegten Wellen an den öden Strand der fpielerischen Refignation, des nach Täufchungen
lüfternen Ruhebedürfniffes, der Genußgier zu vergleihen. Mit breiten ſchäumenden, ein
lärmendes Schauspiel vorjpiegelnden Wellenkronen ſpülen die Wogen an diefen Strand,
was der Sturm draußen im ernfthaften Kampf der Elemente aus den Tiefen wurzellos
gemacht und aufgewühlt hat. Das Reſultat chaotiſcher Vorgänge mit künſtleriſch
icheinendem Aufpug, — faum mehr! Es ijt heute über die Kraft aud) eines dramatiſchen
oder nur theatraliihen Herakles, Ordnung und Spitem in diefes Werk des Zufalls zu
bringen. Aber da das Scaujpiel trogdem noch Millionen immerwieder anzicht,
auch immer noch ein Heerbann foftbarer Kräfte diefem Siſyphosmühen ſich weiht,
jo fann gar nicht oft und eindringli genug darauf hingewieſen werden, daß
nur die jorgfältigfte und konſequenteſte Arbeit wenigftens Negel und Harmonie in diejes
chaotiſche Treiben bringen könnte. Dieſem modernen Theater fanıı fein zu dreifacher
Shafejpearifcher Kraft gefteigerter Genius der Dichtung helfen, wenn es fich ſelbſt nicht
zuvor die Kultur einer handwerksmäßigen Schulung erwirbt. Daher war e8 nur das
Urteil der immer gerecht waltenden Notwendigkeit, das auch über die köſtliche Hedwig
Raabe feinen furchtbaren Spruch fällte: Vae victis.
Es giebt faum noch Eiferer, die nicht einräumen, daß der legte Anfturm des Na—
turalismus den europäijchen Künften allen eine heilſame Strifis bedeutete; die hohl ge-
mwordene Form des Epigonentums mußte zerichlagen, das dürre Laub durch einen
Sturmwind von den Bäumen gefchüttelt werden, damit die von lange angefammelter
Kraft geichwellten neuen Triebe zu Blatt und Blüte ſich entfalten fonnten. Auch div
630 Dar Marteriteig, Vom deutfchen Theater.
Scaufpielfunjt waren Zöpfe von beträchtlicher Länge gewachſen; fie mußten abgejchnitten
werden. Aber, dak man hier bei diefem löblichen Beginnen nad) Art der Sansculotten ver:
fuhr, jtatt umgumandeln, zu veformieren, die abjolute Regellofigkeit auf den Thron erhob,
das war die jchlimme Folge der vorher jchon herrſchenden Etillofigfeit, des Mangels an
feften Handwerksgeſetzen. Noch jcheint mir freilich die Einficht nicht reif zu fein, daß
die Kunſt, die uns die jüngere, unter den Einflüffen des Naturalismus herangewadjiene
Schaujpielergeneration jekt auftiicht, ſchon einfach unerträglih ift! Noch immer gilt es
als etwas ganz Außerordentlicyes, wenn uns die Derren und Damen auf der Bühne
ihre innerlich und äußerlic) nıchtöfagenden „Individualitäten“ mit möglichiter Treue, das
heit eben, mit dem möglichſten Verzicht auf alle künſtleriſche Arbeit an fi, entfalten.
Um durd) jeine Individualität zu wirken oder gar zu entzüden, muß man erjt eine jolche
jein: eine Perfönlichkeit! Die freilih fann nach Goethe höchſtes Glück der Erdenfinder
ausmaden und auch Glüc verbreiten. Das war der Fall bei Hedwig Raabe! Von
den neunundneunzig Prozent aber der wenig oder gar nicht Beglücten jollten wir uns
das endlich enjthaft verbitten. Wir jollten immer mit aller Deutlichfeit betonen, dab
es uns ganz und gar nicht intereſſiert, den Herrn X. 9), der weder gehen, jtehen noch
ſprechen gelernt hat, dafür aber feine fchlechten, unerzogenen Manieren als Kunſt uns
zumutet, fennen zu lernen. Wir wollen die Gejtalt des Dichterd und wollen vom Schau—
fpieler ein irgendwie fihtbares Beltreben, dieſe Geftalt zu fein, fie unter möglidhftem
Abftreifen der Zivilperjönlichfeit jo Forreft und jo charafteriftiich wie möglich darzu:
ftellen. Nur das fann doch überhaupt der Schaufpielfunit Sinn jein.
Es war für die Darfteller des Berliner Theaters, für den Regiſſeur der „Noten
Nobe* und für den lleberjeger des Stüdes ein vernichtendes Verhängnis, daß gleich:
zeitig das nämliche Drama von Madame Nejane und ihrer Truppe im Leſſingtheater geſpielt
wurde. Sch weiß nicht, ob Frau Niemann:-Raabe, ob einer ihrer Kollegen, mit denen
ſie jpielt, die frangöfiichen Stunftgenofien fich angejehen hat. Wäre es der Fall, jo würde
ich es für geboten gehalten haben, daß fie freimütig zu Dr. Baul Yindau gegangen
wären und ihn gebeten hätten, ihnen aus Gründen nationalen Stolzes — oder nationaler
Scham — weiterhin zu eriparen, einen Vergleich ſich ausfegen zu müſſen, der die deutiche
Kunſt nur verächtlich zu machen geeignet war. Aber ich fühle nicht den Beruf, die Moral
des Schaufpieleritandes zu verbejlern; id; halte mic; nur an das bei dem Vergleich der
franzöfifchen und der deutſchen Borftellung desielben Etüdes in die Augen jpringende
fünftleriihe Ergebnis: und das darf, das muß für den Etand unferes Könnens be-
ihämend genannt werden. An jeder Stelle, in jeder Rolle, ftand der Ordnung, der
Harmonie, der jtrengen Schulung dort, bier die Pälfigkeit, die Karikatur, die übertreibende
Willfür gegenüber. Dort überall fichtbar die Zucht einer als innere Verpflichtung em:
pfundenen und mit moraliicher Anfpannung dargelegten Tradition, bei jedem die äußerfte
Anftrengung, den bejonderen Charafter bedeutjam für fih und das Ganze in der größt—
möglichen Storreftheit darzuftellen, — und hier — nun ungefähr das platte Gegenteil
von dem allen!
Yohnt es nun, an diefem Falle wieder einmal, vielleidyt zum taufendftenmal, die
grundjägliche Verichiedenheit zu entwideln, um die der Streit der Anhalt unferer ge:
ſamten theatraliihen Gntwidelung feit mehr als hundert Jahren gemwejen it? Im
Mar Marterjteig, Bom deutjchen Theater. 631
Grunde ift es ja immer wieder nur diejelbe Erfahrung, die Schon um 1780 herum gemacht
wurde, ald das von der Sturm: und Drangdiditung angeregte junge Scaufpieler:
neichledjt, beionders das der „Mannheimer Schule“, den franzöfiihen Darftellungsftil,
den bis dahin das deutſche Theater einzig kultiviert hatte, über den Haufen rannte, —
den dann Goethe, nach lang abgemwarteter Erfahrung, jorgiam und der triftigiten Gründe
dazu ſich wohl bewußt, als Heil- und Hilfsmittel wieder aufrichtete. Wohin der Na:
turalismus dieſe noch fo undisziplinierte Kunst führe, das hatte er als Theaterdireftor
am eigenen Leibe erfahren: wie es ihm ganz unmöglid) war, auf diefem Wege der Bühne
etwas von jeinem Wejen einzuflößen. Der immer wieder hevvorbrechenden Verwilderung
mußten Dämme gezogen werden; und da fich fein national eigenes Geſetz entmwidelt
hatte, entwideln wollte, griff er zu dem der Tranzöfiichen Bühnenüberlieferung. Diefer
Borgang Hat ſich in größeren BZeitwellen jeitdem dreimal mit merfbarer Wirfung wieder:
holt; und lokal beſchränkt, von raicher wechjelnden, flüchtigeren Richtungen veranlaßt,
hält er die Oberfläche unjerer Theaterkunſt eigentlid) immer in Bewegung. Früher
nannte man die Gegenftände des Streites „Idealismus“ und „Realismus“. Aber viel
früher ſchon hätte man anfangen jollen, diejfer hochtrabenden Namen fich zu entwöhnen
und gute deutiche, jedermann verftändlihe an ihre Stelle zu jegen. Denn allmählid)
und nun namentlich, nachdem zwanzig Nahre hindurd; fee, mit dreier Semeſter Gelehr:
jamfeit beladene Dilettanten, die in die Bühnenleitungen und auf die Regieftühle fich
drängten, die vorerwähnte legte und mächtigfte naturaliftifche Epoche deuticher Schaufpiel-
kunſt eingeflüngelt und heraufgeführt haben, wird es immer flarer, daß es fich nicht um
Idealismus und Realismus, fondern einfah um „Können und Nichtkönnen“ handelt.
Um Yernen und Nichtlernen! Um Sunftbegriffe oder Dilettantismus! Cinftweilen, wie
gejagt, behaupten das Nichtfönnen, das Nichtgelernthaben, der Dilettantismus das Feld.
Und fo war es nur natürlich, daß eine franzöfiiche Schaujpielerin, mit einer raſch zu—
ſammengeworbenen Truppe, wie fie mitten in der Winterjpielzeit cben zu haben iſt, —
alfo feineswegs, von der großen Miinftlerin, Frau Rejane, abgejehen, mit Sternen der
franzöfiichen Bühne, die im Winter aud in Paris Beichäftigung finden, und [ohnendere,
als fie ein Gaftipiel in Berlin verjpricht, — mit guter Mittelmare wollen wir aljo jagen,
eine doch auch zu vornehmer Echaufpielkunft verpflichtete deutjche Bühne in Grund und
Boden fpielte.
Ein andermal mag davon gejprochen werden, wie Mangel an Sac)fenntnis, Ueber:
hebung, Gemifienlofigfeit und Frivolität im Weſen unjerer mit dem Theater ſich be:
faffenden Bubliziftif viel gelündigt haben, foldhe traurigen Nejultate zu zeitigen. Man
prüfe nur die allgemeine und dann gar die Kachbildung nad), die gemeinhin der junge
Mann, der an deutjchen Zeitungen „das Theater hat“, aufweilt. Es läuft eben aud)
da darauf hinaus, daß man zwiichen Können und Nichtfönnen feinen Unterichied zu
machen verfteht; daß bei den Wertungen immer ganz falſche Forderungen unterjchoben
werden; dat das Wejen der Sache nit erfannt wird. Mit diefer Art äußerlicher Maß—
ftäbe wurde von einem jehr großen Teil der Berliner Preſſe auch das merkwürdige Er
eignis behandelt, das dur das Gaſtſpiel der Japanerin Sada Yacco der Reidyshaupt:
ftadt, zulett in Wolzogens Buntem Theater, geboten wurde.
Bor einigen vierzig Nahren überwanden zuerit franzöſiſche Künstler umd Kunſt
632 Mar Marterfteig, Bom deutichen Theater.
freunde den natürlich aud) unſeren Nachbarn hinter den Vogeſen im Blute figenden
europäiichen Kulturdünkel fo weit, daß fie in Werfen der bildenden Kunſt den entzüdenden
Reiz eines Stiles empfinden lernten, den wir heute ganz allgemein als Japonismus kennen
und ſchätzen. Was bis dahin als Kurioſität angejehen worden war, erfannte man
num als das Ergebnis einer fast taujendjährigen, immer von der feinften Empfindung
geleiteten Eünftleriichen Begabung und Schulung. Wir begriffen endlidy die geradezu
eritaunliche Naturbeobahtung und den aus ihr abgeleiteten Nealismus, der doch
wieder in Formen von intimfter Stilifierung ſich auflöſt. Der ganze Zauber
lebendiger Beweglichkeit, — und dod) wieder ſymboliſierende Kunſt in ſchier unerjchöpf:
licher Mannigfaltigfeit. Diejes liebevoll zärtliche Verſenken in die Natur hatten wir
in diefem Mare ſelbſt nicht gefannt und darum auch nicht empfunden. Und an unjerer
ftaunenden Bewunderung lernten wir dann weiter zu jehen: diefem genialen Ergreifen
der bewegten Geſtalt gejellte fich eine wie Willkür erjcheinende Farbenharmonie, die bei
näherem Aujehen doch wieder nur von dent liebevollen Erfaffen empfangener Eindrücde
und deren innerlicher Verarbeitung zu künſtleriſcher Sprache, zu einer Art gemalter
Poefie, Zeugnis gab. Aber wir lernten nod) mehr: es offenbarte diefe Kunft uns ein
Geſetz der Technik don weittragender Bedeutung für alle Bildwirfung. Diejes Neben-
einanderjtellen farbiger Flächen, das uns ehedem jo naiv erichien, erinnerte und nun
daran, daß einige der größten Maler auch unjerer Kultur eigentlich nur dadurch ſchon
ihre gewaltigen, aber zeitweile in Mißkredit geratenen Wirkungen erzielt hatten. Diejer
endlich in jeinem ganzen Werte empfundene Japonismus wurde der Anftoß zu der
erfreulichen Gntwicelung, die unfere Malerei im legten Drittel des vorigen Jahr—
hundertS durchlaufen hat.
In Paris eriverfte deshalb bei der vorjährigen Weltausstellung das Auftreten der
Kapanerin Eada Pacco ein für die Theaterkunſt fait nicht minder hoch bewertetes
Intereſſe, ald dies vierzig Jahre früher die japanischen Bilder und Drucke vermodt hatten.
Und wirklich, wen einmal der Sinn aufgeichloffen ift für diefen Stil der Innigkeit, der
Schönheit, der Grazie und der jo unendlich fein begriffenen Wahrhaftigkeit im Naponis:
mus, der wird die nämlichen Vorzüge an den Schaufpielern des gelben Zwergenvolkes
faum verfennen. Vielleicht findet er fie nicht in derfelben Neife, nicht in der nämlichen
fünftleriichen Abgeklärtheit wieder; und das wäre nur natürlich. Es ift da der Abbruch
einzuichägen und abzuziehen, um den eine von vielen gemeinfam geübte Kunſt immer
zuriücjtehen wird gegen das Werf einer einzelnen, ihre eigene Darmonie dem Scaffen
aufprägenden Berjönlichkeit. Auc jagen Stenner Japans, daß die Truppe, mit der Sada
Nacco reift, noch nicht entfernt erften Aniprüchen ihrer Yandsleute genügen wirde und
zu genügen brauche; daß nur der Stern der Gejellihaft von japanischer Schaufpielfunft
einen mahgebenden Begriff gebe, daß jchon Sadas Gatte, Kawakami, der uns doch recht
bedeutend ericheinen will, in Japan von Auliffenreißerei nicht ganz freigeiprocdhen werde.
Trotzdem empfing id) von der ganzen Darftellung, mit Einfchluß der grotesfen, alſo
vielleicht nicht einmal funftreifen Elemente, einen außerordentlihen Eindrud. Der
Reihtum an Ausdrudsfähigfeit und wieder, wie bei der bildenden Kunſt, die unerſchöpf—
lihe Mannigfaltigfeit in den zu Tage gebraditen inneren Vorgängen, Stimmungen,
Motiven ift jo groß, daß man getroft von einer bei uns unerreihten Meiſterſchaft reden
Mar Maxterjteig, Vom deutſchen Theater. 033
darf, wenn man nämlich diejes technische Können europäischer Kunſtauffaſſung vermählt
fi) denkt. In diefer uns faſt wie die Naivität reizender kleiner Tiere anmutender Ge-
ſchicklichkeit — welche Hunftfertigfeit und wirklich welche Kunſt. Welche Innerlichkeit und
auf welden Ausdruck gebradt. Und mit welchen feinen, feine Grenze des Natürlicjen
überichreitenden, aber immer mit haaricharfer Genauigkeit bis an die äußerften Pinien
des Ausdruds gehenden Mitteln. Weit, weit mehr als früher ſchon Ruſſen, Italiener
und im lekten Grade erjt die Franzojen bringen die Japaner zur ehrenvollen und über:
zeugenditen Geltung, da& dieſe Kunft, die auch wir mit ihnen gemeinjam üben, doch aud)
im Deutſchen Schauipielfunft heißt — und nicht Schaufprechfunft!
In der ganzen Natur, bei allen Organismen jind die Glieder zu wichtigen
Funktionen beftimmt; und je höher wir die Neihe der Lebendigen hinauffteigen, ſehen
wir immer mehr dieje Funktionen auf die Formgebung, das heißt, darauf gerichtet, daß
innere AZuftände in Gricheinung treten. Am Menfchen endlich will feine Seele im
Körper ſich ausſprechen. Wie fonnte es nun fommen, fragt man ſich angejichtS ſolcher Schau—
jpielfunft, daß unjer Körper, unjere Organe — bis auf die Sprache — fast nur nod) ſtümper—
hafte, plumpe und meift ungejchiete Außerungen über unfere inneren Zustände ausjagen?
Iſt e8 nicht eben dieje Ungeichieflichkeit, Ddiefe aus Mangel an Uebung eingetretene Ver:
ftummung des Störperlichen, woran unfere Schaujpielfunft leidet? Beim Anfänger diejer
Kunſt fällt uns das am meiften auf. Aber wie unfere ganze Nafje und namentlich die
modernen Generationen leiden auch unjere Meifter der Bühne an diefem Mangel
an Formbegabung, an dieſer Unfreiheit des körperlichen Daſeins. Es ift fein Vorzug
des Europäertums, daß wir diefe fürperliche Beredſamkeit hintangejtellt haben; ihre
freie Entfaltung würde zurüchvirfen, wie alles in Wechſelwirkung fteht, auf unfere auch
verbogenen Temperamente und wirde das eingeborene Gefühl für Schönheit, das durch
tauſend doch eigentlich lächerliche Uebereinfünfte unterbunden wird, zur Entfaltung
bringen. Ob die Chinefin ihre Füße in Bandagen legt, um ihnen eine unnatürlic
fleine, uns verfrüppelt anmutende Form zu geben, oder ob wir unjeren Körper, diejes
berrlide von der Natur uns verliehene Anftrument, unter konventionellen Vorſchriften
guten Guropäertums abjichtlid verfümmern und verfümmern laſſen, ift im Grunde
doh ein und dasſelbe. Wer aber gar Meilter werden will der Schaufpielfunft, der
hat — das eben lehren die Japaner — diejes Inſtrument feines Körpers als Pirtuos
au beherrichen.
Bon der leifen, immer nur brodenmweife in Dialogjtüccen hingeworfenen Epradje
berftehen wir hierzulande nichts; aber dieſer geiprochene Text jcheint mir an fich auch
das Nebenſächliche zu fein. Die durch eine eintönige, aber doch ganz eigen rhythmiſch
bewegte Mufif begleitete Haupthandlung, das Reichſte und Ausdrudsvollite der inneren
Vorgänge ift dem plaftiihen Spiele zugewiefen. Und hier wird man nicht müde, ſich
an dem wunderbaren harmonijchen Ineinander von üußerftem Realismus und graziöfer
Form zu entzüfen. „Auch anderswo giebt3 eine Welt“; — und jelbjt von dem der
europäilchen Kultur erft aufzujchliegenden Often dürfen wir in Dingen, denen wir leider
jo wie jo feinen allaugroßen Lebensernſt zumeſſen, doc; vielleicht auch etwas lernen.
BES
DIIIDIDIIDIIDIDIIDIDIIDIDIDIDIDIDIDIDIDIDIDIEIVA
Mufikaliihe Rundſchau.
Von
. Leopold Schmidt.
1.
De erſten drei Monate der muſikaliſchen Saiſon liegen nun hinter uns. Vünktlich
mit dem Beginn des Dftober hat fie eingejett und der fritiichen Betrachtung ein
reichere8 Material denn je geliefert. Dabei ift feitzuftellen, daß im allgemeinen beſſer
mufiziert wurde als in den legten ‚Nahren. Die unreifen Anfünger und Anfängerinnen
nehmen die Slonzertjäle nicht mehr jo häufig in Anspruch, wie es ſonſt der Fall ge—
wejen, wenn ſie auch noch nicht ganz aus ihnen verſchwunden find. Vielleicht fommt
doch die Zeit, wo jelbit in der Provinz mit der bloßen Thatſache, daß jemand in Berlin
aufgetreten, fein Gejchäft mehr zu machen ift, und dann wird das öffentliche Kunſtleben von
einer feiner unerfreulichiten Erjcheinungen befreit werden. Einftweilen madt die Berliner
Mufikkritit ziemlich geichlofien Front gegen die Zumutung, als ob alles, was fidh hier
an die Oberfläche drängt, auch bejprochen werden müßte. Derrjchte num auch im all-
gemeinen das Gute in der Fülle der Darbietungen vor, jo hat uns doch bisher der Winter
noch fein Ereignis von ungewöhnlicher Bedeutung gebradjt; wir müffen unſern Blick nadı
Dresden wenden, um bon einem jolchen zu berichten. Dort wurde am 21. November
eine Oper zum erjtenmale gegeben, die verdient, daß wir ihr größeres Intereſſe ſchenken.
Bis vor furzem war die Schar der deutjchen Komponiſten ohne eigentliches Ober—
haupt. Nach dem Tode von Johannes Brahms ſah man fich vergeblid) nad) einer
Beriönlichkeit um, der man die Führung hätte zuerfennen können; ftets waren es nur
begrenzte reife, die fi) um dieſen oder jenen jcharten. Das beginnt jet anders zu
werden. Seit etwa zwei oder drei Nahren taucht immer erfennbarer in Richard Strauß
die eriehnte Perjönlichkeit auf, der die Maſſen ſich zuwenden, deren Name in aller
Munde ift, für die man fich wieder einmal begeijtern fann. Der im beiten Mannesalter
ftehende Komponiſt ift zwar noch keineswegs losgelöft von der Partei, aus der er hervor:
gegangen; in ihr hat er noch feine überzeugteften und lauteften Anhänger, mie es ihm
andererjeits nicht an erbitterter Gegnerichaft fehlt. Aber ſchon iſt jeine Anerkennung
cine jo allgemeine, daß das große Publikum ihn zu feinen Pieblingen zählt, und auch die
ibm nicht Bedeutung und Gigenart abſprechen, die in mander Dinfiht von dem von
ihm vertretenen Standpunft abweichen. Am Rhein wird er geradezu vergättert; in
Berlin hat er in der furzen Zeit feines Wirkens feiten Boden gewonnen, und im
Auslande ift vor allen deutichen Namen der feine mit Bewunderung genannt. Nur
jeine Vaterftadt München verhält fich, wie es fcheint, jfeptifch, nachdem hier ſchon das
Emporfonmen des jungen Meifters nicht gerade durd; liebevolles Berftändnis gefördert
worden ift. Dieſer Umstand hat den ftetS zu allerhand Eulenipiegeleien aufgelegten
Mufifer auf einen boshaften Gedanken gebracht. Münden, das einft einen Richard
Wagner aus jeinen Mauern ziehen ließ, das durd die Erfahrung unbelehrt, aud in
Leopold Schmidt, Muſikaliſche Rundicau. 635
dem fühnen Neuerer Rihard Strauß nicht den fommenden Mann gemittert hat, München,
und mit ihm der weite Kreis aller ähnlich empfindenden und handelnden Kunſtphiliſter,
jollte einmal tüchtig verfpottet werden, und zwar in einem dramatiſchen Scherzipiel.
Für die Ausführung feiner dee konnte Strauß feinen geſchickteren Poeten finden
als den launigen, jprachgewandten Ernſt von Wolgogen. Den Stern der Handlung gab
die Sage vom Liebhaber im Korbe her, wie fie fich in einer niederländiichen Leber:
lieferung aus Dudenarde borfindet. Die Perfafler verlegen die Gedichte auch ins
Mittelalter, aber laffen jie in München fpielen, zur Beit der Sonnenwende, wo das
junge Volk einer alten Sıtte gemäß durchs Feuer fpringt. Kinder jammeln Scheite von
Haus zu Daus und fommen jo aud vor die Wohnung des Kunrad, deifen einfames
und jonderbares Treiben den Bürgern unverftändlih und unheimlid if. Der an
irdiichem Beſitz Arme zögert nicht, alles hinzugeben, was dazu dienen kann, Licht und
Wärme zu verbreiten. Wir erfahren, daß ein alter Zauberer (mir erkennen ihn an den
Nibelungen: Motiven im Orcheiter), der einſt aus der Stadt vertrieben worden, ihm
Haus und geheime Rünfte zum Erbe vermadht hat. Die Liebesgeihichte Kunrads
mit der jchönen Bürgermeifterstocdhter entwidelt fi dann ganz nad dem Vorbild
der Sage. Das Mädchen kann fi) dem Eindruck von Kunrads Auftreten nicht
entziehen, aber Stolz und Kränkung über feine ftürmifhe Werbung ftadheln fie an,
ein mutmwilliges Spiel mit ihm zu treiben. Scheinbar auf jeine Wünſche eingehend,
zieht fie ihn in einem Korbe nachts zu ihrem Fenſter herauf — doch nur big zu halber
Höhe. Dort bleibt er dem Hohn der Hinzufommenden Freundinnen und Nachbarn aus:
geſetzt. Im Märchen löſcht ein gewaltiger Zauberer alle Yichter der Stadt, die nur an
dem entblößten Rüden des Mädchens wieder entzündet werden fünnen, um den Ge:
foppten zu rächen; in der Oper übt der Licbhaber jelbft diefe Rache. Der alte Zauberer
verleiht ihm die Kraft dazu, das Feuer verlöfchen zu laffen. Und nun erfolgt aus dem
Korbe heraus die Strafpredigt, in der den Bürgern ihre Sünden wider den heiligen
Geiſt der Kunſt vorgehalten werden. Zerknirſcht erfennt die Menge, wen fie verlacht
hat; das Mädchen aber zieht inzwifchen reuevoll den Verſchmähten zu fich empor. Ein
ausdrudsvolles Orcheſterſpiel jchildert das Eichfinden der Yiebenden während das
Volk unten in der dunfelen Gaffe verharrt. immer bewegter, immer leidenjchaft:
licher jchwellen die Tonwogen an, bis mit einem Schlage die hell erleuchtete Bühne
Kunde von der erfolgten Sühne giebt. Während auf dem Balkon oben die in Yicbe
Bereinten ihr Glück befingen, freut fich alles des wiedergegebenen Elenentes. So klingt
die Satire in eine Inrifche, echt muſikaliſche Stimmung aus:
„All Wärme quillt vom Weibe,
„All Licht von Liebe ſtammt —“
Dies iſt der Inhalt der neuen Oper, die unter dem Titel „Feuersnot“ in Dresden ihre
erite Aufführung erlebte. Der Eindrud war ein ftarfer, obgleich das Publifum durch den
jonderbaren Anhalt des Stückes, nicht minder durch die teilweile ganz neue Sprache der
Muſik einigermaßen verblüfft war. Der Eindrud wurde durd) eine geradezu glänzende
Wiedergabe noch gehoben; im bejonderen feierten Schuchs Direktionskunſt und Sceide-
mantel Gejang und Darftellung Triumphe. Trotz mancher Bedenken hatte man fofort
das Gefühl, einem feinen und bedeutjamen Kunſtwerke gegenäberzuftchen. Die Fabel
036 Leopold Schmidt, Muſikaliſche Rundichau.
des Stüdes ift unterhaltend, bon eigenem Humor; die hineingedicdhtete Polemik verleiht
ihr nod) im Moment einen jchärferen Reiz. Ob diefe Berquidung, diejes Dineinziehen
des Berjönlichen dem Werke zum Vorteil gejchab, darf freilich fraglich ericheinen. Dentt
man an die Zufunft, jo muß man es beflagen, daß die Perjon des Schöpfers (auf Die
im Orchefter in nicht mißzudeutender Weife angefpielt wird) nicht völlig von feinem
Werke losgelöft ift; denn wer möchte ſolchen Scherz verewigt wiſſen? Wie flug vermied
dergleihen Wagner, der doc) in den Meifterfingern einen ähnlichen Zweck verfolgte,
aber wohlmweislich für Allgemeingiltiges eintrat. Indeſſen, da die Polemik nun einmal
der Ausgangspunkt des Ganzen war, müffen wir und wohl damit abfinden und den
Wert der Oper mehr in ihren muſikaliſchen Schönheiten juhen. Strauß, der ſchon in
feinen legten Orcheſterwerken das Beftreben befundet, leicht, graziös, durchſichtig zu fein
und dem Humor in der Mufif ein weiteres FFeld zu erobern, hat in der „zreueränot“
mit Bemußtfein von dem jchweren Wagnertum ſich abgewendet. Ohne die Einflüjfe des
Bayreutherd zu verleugnen, ohne die ja fein moderner Dramatiker mehr denkbar it,
geht er in Wahl und Behandlung des Stoffes neue Wege. Am auffälligiten tritt dies
in der Anftrumentation der erſten Szenen hervor, aber auch im Aufbau der Enjembles,
in vielen reizvollen melodiſchen Gebilden, forwie in der Verwendung der Tanzrhythmen
und volfstümlicher Münchener Weifen. In einzelnen Szenen liegt eine Anmut und Be
weglichfeit, daß man faſt an franzöſiſches Weſen erinnert wird. Manches dagegen Elinat
recht bizarr, und andererjeits finden ſich Stellen, die faft das Triviale ftreifen. Je weiter
jedody die Handlung fchreitet, zu defto grüßerem Pathos erhebt jich auch die Muſik. Das
Liebesduett und der folgende Gejamtchor reißt Durch die Wärme und die blendenden Klang—
wirfungen fort, iiber die der Melodiker, im bejonderen der Lyrifer Strauß gebietet.
Der Erfolg der „Feuersnot“, die inzwilchen auch in Franffurt a. M. gegeben
worden ift, wird vorausfichtlic Richard Strauß enger mit der Bühne verfnüpfen, als
es feine erfte Oper „Guntram“ gethan hat. An der Hauptjache aber ift doch die reine
Sfnftrumentalmufif und das einftimmige Lied feine eigenfte Domäne Seine großen
Orcheſterwerke kommen in allen Symphoniefonzerten zu Gehör, und ganz bejonders jeine
Lieder erobern ihm die Herzen immer meiterer Kreiſe. Nicht nur die Gattin des Kom—
poniften und jeiner Richtung naheftehende Gejangsfünftler geben ganze Strauß-Abende;
faum nocd eine der zahlreihen vofalen Veranjtaltungen verjäumt es, das eine ober
andere jeiner Pieder auf das Programm zu jeßen. Dieje allgemeine Teilnahme iſt erflärlid),
denn in den Liedern zeigt fi) Strauß von jeiner liebenswürdigften Seite. Celtener als
in den reinen Snftrumentalformen bricht bier ein burlesfer Humor hervor, meift find
jie von tiefftem Ernſt und weihevoller Stimmung erfüllt; daneben macht ſich, namentlich
neuerdings, ein anmutiges, zumeilen tändelndes Weſen bemerkbar. Seine jtärfiten
Wirkungen aber erreicht der Tondichter, wo er Ueberfinnliches, Efftatifches oder Wild:
feidenschaftliches zu jchildern hat. Dem Fadımann ftellt die Harmonif feiner Lieder, der
oft eine vollfommen neue Art, mufifaliich zu denken, zu Grunde liegt, die interejlanteften
Brobleme. Für die Ausführenden bietet die in ungewöhnlichen Intervallen ſich bewegende
Stimmführung wie der fomplizierte Klavierjag der Begleitung oft enorme Schwierigkeiten,
die wohl der Verbreitung mancher Geſänge dauernd im Wege ftehen werden.
Ein Nücdblif auf die vergangenen Wochen zeigt und, daß Richard Strauß nidıt
Leopold Schmidt, Muſikaliſche Rıundihan. 637
nur als Komponift, jondern auch als Dirigent von wadjjendem Einfluß it. Nicht das
Alltagstreiben an der Oper, in dem feine Kapellmeifterrolle oft mehr eine pajlive als
eine aktive ift, kommt dabei in Betracht, obgleich Vorftellungen, die ihm, wie beiſpielsweiſe
„Zriftan“, am Herzen liegen, meift den Stempel jeines Geiftes tragen. Viel wichtiger find die
Anregungen, die von ihm im Stonzertjaal ausgehen, feitdem er durd) die Begründung von
befonderen Abonnementsabenden des Berliner Tonfünjtlerordefters fi) ein neues Ar:
beitsfeld geichaften hat. Dieſe Abende, deren für den Winter zehn geplant find, finden
im Saale des ehemals Krollichen, jet Königlichen Theaters ftatt; das Orcheſter iſt an
ihnen mejentlich verftärft und leiftet an ficherem, forgfältig vorbereitetem Zujammenfpiel
Ueberrajchendes. Zweck diefer Unternehmung, die ſich bald in die vorderjte Reihe ftellen
wird, ift die Vorführung moderner Werke, joldher, die zu unrecht vernadjläffigt find, und
aller neuen, die eines Verſuches würdig fcheinen. An diejer Berhätigung kommt die
propaganditische Seite von Strauß’ Natur zum Vorſchein, die ihn für alles Neue ein-
treten läßt, und um fo lieber, je fühner es ſich gebärdet.
So verichieden die zum eritenmale in Berlin aufgeführten Kompoſitionen auch waren,
eins ift den Orchefterwerken unter ihnen gemeinfam: die Zugehörigkeit zur programmatijchen
Mufif. Wir können hier gleich die beiden anderen Serien von Abonnementskongerten
anfügen, die durd; ihre künstlerische Bedeutung im VBordergrunde des öffentlichen Intereſſes
jtehen, die Symphonie-Abende der Königlichen Kapelle unter Felir Weingartner und die
von Nikiſch dirigierten Philharmoniſchen Konzerte. Was fie neues brachten, war gleichfalls
vorwiegend Programmmufif. Während die Form des Konzertes, jei es für Klavier, Violine
oder ein anderes Inſtrument, noch immer im älteren Stile gepflegt wird, war auf dem Ge:
biete der Symphonie die abjolute Tonkunſt lediglicd durch Variationen des Engländers
Elgar vertreten. Auf der anderen Seite ftanden die ſymphoniſchen Dichtungen „Elaine und
Lancelot* von Anton Averkamp, „Es waren zwei Königsfinder* von Fritz Vollbad), „La
for&t enchautde“ von Bincent d'andy, „Der Woywode“ von Tſchaikowsky, die Barbaroſſa—
Symphonie uud Dionyſiſche Fantafie von Hausegger, zum Teil aud) die E-moll-Symphonie
bon Dans Huber, die wenigjtens in ihrem Schlußſatz durd) den Hinweis auf beftimmte
Böcklinſche Bilder fih zu außermufifaliihen Anregungen befennt. An anderer Stelle
führte ein gajtierender Kapellmeifter die Arbeit eines böhmiſchen Komponiſten, Eduard
Naprämnif, vor, die eine Wiedergabe in Tönen des Yermontoffihen Gedichtes „Der
Dämon“ in feiner ganzen Ausdehnung verjucht.
Es fteht mithin außer Frage, daß die lebenden Komponiiten die freie Form der
ſymphoniſchen Dichtung gegenüber dem durch die Alaffifer feftgeießten Tonſpiel der mehr:
jägigen Symphonie bevorzugen, daß fie glauben, ihre Empfindungen beiler an der Hand
eines poetiichen Vorwurfs, als nad) rein muſikaliſchen Gefegen übermitteln zu können.
Obgleich das BVerftändnis für den daraus erblühenden neuen Orcheſterſtil fi) ſchon
größeren Streifen mitgeteilt hat, fan man die Wahrnehmung machen, dab das Publitum
vorläufig jeine Anhänglichkeit an die ältere Symphonieform keineswegs verloren hat.
Die bedeutendften Flaffiichen und romantischen Schöpfungen find nod) lange nicht ver:
braucht, ja ihre Wirkungskraft überitrahlt meist ftegreich alle Reize der modernen Runit,
und jo erklärt es fich, daß die Dirigenten, die doch ſelbſt zu den KFortjchrittsmännern
gehören, gern immer wieder auf die Vergangenheit zurückgreifen. Die im legten Trimefter
borgeführten neuen Werfe waren allefamt nicht dazu angethan, der Programmmuſik
638 Leopold Schmidt, Muilaliiche Rundichau.
Freunde zu erwerben; es fehlte ihnen das jtarfe, perjönliche Element, die überzeugende
Erfindungskraft. Aber wenn fte auch vrigineller und mufifaliich bedeutender wären,
würden fie die Entartung eines an ſich richtigen Brinzips darſtellen. Die von Yiszt und
Berlioz begründete freie iymphoniiche Form hat gewiß ihre Berechtigung, jobald fie in
allgemeiner Weile an ein poetiiches Programın ſich anlehnt, im übrigen aber aus fich
heraus mufifaliich erflärbar bleibt. Sie fommt dem heutigen Geihmadf entgegen und
bedeutet in gewifler Beziehung ein Dinausgehen über die bis dahin erreichte Ausdruds-
täbigfeit der Muſik. Richard Strauß hat gezeigt, wie weit man in der Darftellung von
Einzelheiten und in äußerlichen Tonmalereien gehen fann, wenn man ein wirklich er-
finderiicher Geift und ein jtarfes, innerlides Temperament iſt. Aber auch er verliert
über der Zymbolif nicht die mufifaliiche Geftaltung und die muſikaliſche Logik aus
dem Auge. Die ſymphoniſche Dichtung muß, auch wenn ihr Programm verloren ginge
ein in fich begründetes, geniegbares Tonſtück jein, jonjt würden wir den Verluſt der
ſchönſten Früchte zu beklagen haben, die ein jahrhundertlanges Ringen dem jelbitändigen
\nftrumentalftil abgewonnen hat. Das vergeiien unfere Jüngſten, wenn fie die natür-
lihen Bedingungen diejes Stiles außer adıt lafjen und ihre Anregungen lediglich aus
der Dichtung ichöpfen, die fie Schritt für Schritt, oft dazu noch in recht äußerlicher
Weile, in Töne umzuſetzen ſuchen. Die Zuhörer aber meijen, bewußt oder unbemuft,
die Zumutung von fich, fortgeiett ihre Phantafie mit Dingen zu beichäftigen, die, anftatt
etwas zu jein, immer nur etwas voritellen jollen. Gin Riüdgang der ganzen Bewegung
jcheint unausbleiblich, und daß er nicht zu fern ift, dafür bürgen jhon mandye Anzeichen.
Bei den erwähnten Beranftaltungen, in denen hauptſächlich Orcheſtermuſik genofien
wird, interejlieren fi) unjere Mufiffreunde oft nicht weniger für die Dirigenten, als für
die aufgeführten Werte. Auch diefer Kapellmeifterfultus wird vorübergehben, und
man wird fid) wieder mehr an die Sache halten. Das Auftreten Bülows hatte
jeinerzeit das Gute, da die Hörer mehr, als es bis dahin der Fall war,
nach dem Wie fragten; mun iſt es nötig geworden, die Frage nad dem Was als
dem Endzweck alles Mufizierens wieder energiih in den Vordergrund zu rücken.
Wir haben das Glück, drei ndipidualitäten an den Direftionspulten unferer
Stonzertjäle walten zu jehen. Richard Strauß ijt bei allem Temperamente die größte
Objektivität zu eigen; fo fehr in der Zufammenftellung des Programms jeine Perjönlich-
feit hervortritt, in der Darjtellung läßt er nur das Werk felbjt wirfen, das er in
großen Zügen zu geben liebt. Im Gegenjat zu ihm erwächſt dem Yeiter der Bhil-
harmonischen Slonzerte, Arthur Nikiich, aus feiner technischen Meifterichaft nicht jelten
eine Gefahr. Wie kaum ein anderer beherricht er die Mittel der Dirigierfunft, und es
ift ihm ein Bedürfnis, stets fein perjönlichites Empfinden zum Ausdruck zu bringen.
Das fteigert den Eindrud, wo, wie bei Tſchaikowsky oder Schumann, feine ndividualität
fich völlig mit der des Komponisten dedt; es jtört und regt zum Wideripruc an bei Beethoven
und anderen Meiftern, bei denen es ohne einen leifen Zwang nicht abgeht. Auch Wein:
gartner ift viel zu ſehr Birtuoje, um nicht ungleich zu jein. Er befigt von allen die
größte Anmut, und die natürliche Art jeines mufifaliihen Empfindens hat für den
Hörer viel Ueberzeugendes. Wo es ſich nicht um die tiefiten und ernfteften Dinge
handelt oder um eime ihm weniger inmpathifche Richtung, folgt man ihm unbedingt,
Leopold Schmidt, Mufitaltiche Rundſchau. 639
zumal rine enthuſiaſtiſche Sugendlichkeit allem, was er darjtellt, einen eigenen Glanz
verleiht. Zwei andere Kapellmeiiter von Ruf find mit ihren Kapellen in diefem Herbſt
als Gäfte zu und gefommen. Der Meininger Generalmufitdireftor Frig Steinbach ift
den Berlinern ſchon eine vertraute Erjcheinung; man ſchätzt die außergewöhnlich tüchtigen
Bläjer jeines Orcheſters und freut fich der ehrlichen Begeifterung und FFriiche feines
Weſens, die freilich mandmal in Derbheit ausartet. Steinbach giebt unjerm Muſikleben
injofern eine bejondere Nuance, als er ausichlieglid das klaſſiſchromantiſche Programm
von Bad) bis Brahms unter Einjchluß weniger, mit diejer Richtung verwandter neuerer
Komponiften pflegt. Der andere Gajt war ein Franzoſe. Bon der Orcheſterkunſt
jeiner YandSleute hat Edouard Golonne nicht die rechte Vorftellung gegeben, weil
die Stapelle, die ihm gefolgt war, nur zum Teil aus Mitgliedern des berühmten Pariſer
Ehätelet-Orchefters beitand; immerhin führte er fich in dem im Opernhauſe gegebenen
Konzerte als tüchtiger und gewiffenhafter Dirigent ein und machte uns mit einigen
bier noch nicht gehdrten franzöſiſchen Werfen befannt. ine Enttäufchung bereiteten die
„Impressions d’Italie“ von Charpentier allen denen, die in dem Komponijten der er:
folgreihen Oper „Louiſe“ einen erniten, wahrhaft bedeutenden Mufifer vermutet hatten.
Die Arbeit erwies ſich als erfindungsleer und nur auf den frajfen Effekt zugeſpitzt;
originell war zuweilen die äußerliche Kombination der Klänge.
Daß ganze Orcheſter auf Reifen gehen, ift längjt nichts Neues mehr; auch bei
Ehorvereinigungen zeigt ſich, wenn auch feltener, eine Neigung dazu. Der Kattowitzer
Singverein hatte e8 nicht zu bereuen, daß er eine Fahrt nach Berlin unternommen.
Man erkannte freudig die Reinheit und Präziſion feiner Vorträge an und feierte feinen
Dirigenten Oskar Meifter als einen ausgezeichneten Pfleger de3 A cappella-Gefanges.
Bon uniern einheimischen großen Chorvereinen hat bisher nur die Singafademie neues
gebradit. Georg Schumann, der Nachfolger des Fürzlich verjtorbenen und von den
mufifalifchen Streifen aller Barteifchattierungen ehrlich betrauerten Martin Blumner, er-
fennt es, mie es jcheint, als jeine Aufgabe, das ihm anvertraute Inſtitut in engere
Fühlung mit der lebendigen, modernen Kunſt zu jeßen. Vielleicht hat er diejen Weg
etwas zu heftig befchritten, als er jchon jegt an die Einftudierung eines Werkes wie die
B£atitudes von Céſar Frand mit einem Chor ging, der bisher nur in den Traditionen
der Stlaffiter erzogen war. Die wenig gelungene Aufführung wiegt indeſſen nicht ſchwer,
da Herr Schumann fih jchon bei andern Gelegenheiten nicht nur als gejchmadvoller
und vielgewandter Mufifer, jondern aud als jehr befähigter Dirigent erwiejen hat.
Der Philharmoniſche Chor unter Siegfried Ochs und der Sternjche Berein unter Friedrid)
Gernsheims Leitung veranftalteten Wiederholungen der Bachſchen H-moll:Mejje bezw.
des „Elias" von Mendelsiohn, die ſich den beiten früheren Wufführungen dieſer
Werke ebenbürtig anreihten.
Während der in Mede ftehenden Zeit hat die Opernbühne in Berlin durch nichts
die Aufmerkiamfeit in höherem Grade auf ſich gelenkt. Der November bradıte die hundert:
jährige Wiederkehr von Albert Yorkings Geburtstag; man ehrte das Gedächtnis des
volfstümlichften Opernfomponiften durd eine eykliſche Aufführung jeiner beiten Werke.
Ein anderer Meifter, Bellini (geb. 3. November 1801), wurde übergangen, wohl weniger aus
Mangel an Pietät, als aus Mangel an geeigneten Sängern, die des genialen Italieners
Dpern auszuführen vermöchten. Eine neue Oper brachte nur das Theater des Weftens. Hein:
640 Leopold Schmidt, Muſikaliſche Rundſchau.
rich Zöllners Zweiakter „Der Ueberfall“ iſt eine Dramatifierung der Wildenbruchſchen
Novelle „Die Danaide"; die im franzöfiichen Feldzuge ipielende Handlung hat bei der
Uebertragung auf die Bühne faft alle ihre Reize eingebüßt, und Zöllners Mufif fonnte
ihr aud) zu feinem Erfolge verhelfen. Günftiger geftaltete fich für die Charlottenburger
Opernbühne das Gaſtſpiel d'Andrades, der feine intereffante Andividualität noch immer
mit ungeichwächter Kraft einguiegen vermag, und die Aufnahme des „Figaro“ in der
nad); dem Münchener Borbilde inizenierten Rococo:-Einrihtung. Die Bearbeitungen der
Mozartichen Opern von Poſſart und Yeni, die vor einigen Jahren in Münden Aufjehen
erregten, beginnen überhaupt jegt Schule zu machen. So hat das Opernhaus neuerdings
den „Don Juan“ einftudiert und fich dabei die Münchener Auffaffung, in der vor allem
das „dramma giocoso“ betont ift, zu eigen gemacht. In diefer Geftalt, mit den Ne
citativen und dem Originalichluß, gewann aud) das Werf bei uns wieder an Friſche
des Eindruds, obwohl der Mangel einer Drehbühne und eines kleinen, intimeren Raumes
die beiten Abfichten zu jchanden machte. Im Intereſſe der älteren Pitteratur ift es fehr
zu beflagen, daß nicht wie früher das Schaufpielhaus zuweilen für Opernvorjtellungen
benutt wird, denn für vieles ift das Opernhaus zu weit und anjprudjsvoll.
Werfen wir noch einen kurzen Rückblick über die allabendlich jtattfindenden Soliſten—
fonzerte, jo drängt fich die Wahrnehmung auf, daß der Sinn für Kammermuſik ſich gegen
früher erheblid; entwidelt bat. Was jonjt nur ausnahmsweile geboten werden durfte,
daran finden jegt immer weitere Kreiſe Geihmad, und in jedem Winter wächſt die Zahl
ber ftändigen Trio: und Quartettverbände An der Spike fteht nad mie vor das
Joachimquartett, unerreicht in der Wiedergabe der Klaſſiker, in der Reinheit des Stils
und der intimen Vornehmheit feiner Darbietungen. Einen ganz individuellen Zug bat
das Quartett der Böhmen; Temperament und Streben nad Entfaltung möglichſter
Klangfülle beherrichen ihr Spiel und geben ihm da, wo es zur Erihöpfung der fünft-
leriichen Aufgabe feiner anderen Mittel bedarf, eine hinreigende Wirkung. Zu einer viel-
verheigenden Vereinigung bat fic) das neue Trio: Schumann, Halir, Dechert zujammen-
gethan. An ihrem erjten Abend führten die Herren ein jehr interejlantes Quintett von
Thuille vor; die Novität des zweiten Abends war ein Stlavierquartett don Georg
Schumann, ein ernftes und ausgereiftes Werf des Stomponiften, der übrigens ein ebenjo
ausgezeichneter Bianift wie Dirigent ift. Endlich jei noch das Henri Marteau-Uuartett
aus Bajel erwähnt; es leitete an Klangſchönheit und fein abgetöntem Zujammenipiel
ganz augerordentliches. Auch eine Bläjervereinigung für Kammermuſik hat fich gebildet,
die einmal unfere Konzerte um eine wertvolle Spezies bereichern fann.
Wie Schon eingangs erwähnt, haben die zahllojen Yieder- und Klavierabende dies:
mal überraihend viel Gutes geboten. Nun ruhen die Waffen. Das Weihnadhtsfeit
bringt eine furze Bauje; dann hebt das Treiben von neuem um jo reger wieder an
und veripricht noch vieles, das uns aud) hier zu weiteren Betrachtungen anregen joll.
Neuerfienene — für die Bücerfhau bitten wir an die Verlagsbuchbandiung einfenden zu
ien. Beiprehungen bebält fih die Redaktion vor.
Naddrud — — Alle Rechte, Insbefondere das ber Ucberfeung, vorbehalten.
Berlag von Alesonder Dunder, "Berlin W.35. — Drud von O. ©. Hermann in Berlin.
fyür die Hebattion verantwortlih: Dr. Aulius Bohmener, Berlin: Charlottenburg.
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2
Abonnement:
3 Mk. 25 Pig.
Einzelheft
=. ———
1%
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—
Aufgabe der Zeltſchrift ift die Verbreitung
der Kenntnilfe über unſere und fremde
- Armeen » - - Marinen » » + Kolonleen +»
känderkunde und überleeilde Ynterelien,
ferner Waller-, Reit- und Jagdiporf usw.
Reich Br Probehefte Skizzen,
illuftrierte Auflätze koitenfrel Novellen, Romane
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De
Boll & Pidtardt, Verlagsbuchhandlung, Berlin NW. 7, Georgenstr. 23.
Diefericiche Verlagsbuchandlung, Theodor Weidter, Leipzig
Auf weiter fabrt.
Selbsterlebnisse zur See und zu Lande.
MitOriginalbeiträgen deuticher Seeottiziere, Kolonialtruppenführer u. Weltreifender.
Herausgegeben von Julius Lohmepyer.
20 Bogen ftarf mit 12 Vollbildern.
Titelzeihnung von Marinemaler hans Bohrdt.
Geheftet WIE. 3,80, gebunden Mk. 4,50,
In der „Täglichen Rundſchau‘““ vom 13. Dezember beipricht Dr. Otto Conrad
das Buch wie folgt:
Yohmener hat aus feinem tieiglügenden Batriotismms hberans, der mit freiem Blide die
Weite umfanßt umd doch fo feft bäft am Engeren, wieder einmal den Ruf ergeben laſſen: „Hierher
zu mir, Woniere des Größer-Deutſchlands! Hierher, durch das Tiduht eine Ausſicht geichlagen
in die ferne zutunft, damit wir tie Leichter erreichen!” Wahrlich, es thitt not, ſolche Belſpiele
den vi-len zaalınr beileite Stehenden vorzuführen, ihnen die Erkenntnis deſſen beizubringen,
was unserer Seit in der Arbeit am Naterlande zu them obliegt, nachdem das abgelaufene
Jahrhundert in dieſer Arbeit das feinige gethan! Tre beiten Namen finden fich unter den
Mitarbeitern, manche Namen. die der ganzen Kulturwelt vertraut ſind und dem Neger Afrikas
nicht minder. Ich venne von ihnen Wiimanı, der eine gefahrvolle Nyaſſa-Tour erzäblt,
Graf Pfeil, der Jagderlebniſſe aus der Zeit berichtet, wo die Dratensberge noch jungfräuliches
Gebiet waren. Zu Unrecht Vergeſſenes führt Nontveandmiral Kühne der heutigen Generation
wieder vor! die erite Ruhmesthat der jungen preußtjchen Marine, nämlich das Gefecht ihrer
braven Yandıenrstruppen gegen die nordmarokkaniſchen Piraten. In das jüngite Nolontalgebiet
führen Heſſe-Wartegg md Yindenberg hinein, der erſtere mit einer ſehr auſchaulichen und
wohl nor lange Jeit richtig bleibenden Schilderung von Weg und Steg, Reijes und „Hotel”
Berhältwiiien in Schantung. Südſee-Erinnerungen erzählt von Gjenbed, oſtafrikaniſche
Konrad Weidmann, und mit Dumor berichtet Nanigationsihul- Direttor Dr. Schulze
über die des Humors ganz md gar ermangelude ct, ats er, noch newöhnlicher Matrofe, an
der Eidameritnfüite Guano laden mußte. — Aus allen Weltteilen wird berichtet, wo beutfche
Hände ſich regen, von allen Meeren, die ein deuticher Miel durchfurcht, und alle, die hier von
„weiter Fahrt“ erzählen, wiſſen die ‚Feder fo gut zu führen, ats ob dieſe zeitlebens das aus—
ſchließliche Haudwerkszeug der Erzähler geweſen jet! Auch zwet Frauen finden twir unter den
Mitarbeitern, die als Mapitänsgattimmen jahrelang an Bord anf tweiter Fahrt geweſen jind und
das Pordleben wie das Leben an fremden Küſten künſtleriſch zu geftalten willen. Helene
Pichler-Felſing, die in plaſtiſcher Darſtellung das Enttommen aus einer Doppelkataſtrophe
in der Erzählung „Gerettet ans Eis und Feier” erzählt, und Fugente Rofenberger, die in
ihrem „Falſchen Nadja” einige flott gezeichnete Tupen aus der Dandelsmwelt des birmaniichen
Rangun ſchildert. — Ziehen wir die Summe: es iit das nicht mur em qutes Buch, es iſt ein
notwendines: unfer Publikum muß fehen, wo überall in der Welt gearbeitet wird für
Deutichlands Zukunft, bis der Drang, felber mitzuarbeiten daran, unwiderſtehllch geworden.
Und dazu wird „Huf weiter Fahre“ ganz gewiß mithelfen:
Base vom Een wann Krim
Airzer
I VLS<
Deutfche Monatsichrift
für dasgesamteLeben der Gegenwart
\\
HERAUSGEGEBEN Vor
JULIUS LORMEYER
RLIA
BE
| VERLAG WnALEXANDER DUNCKER |
— —— —
Jahrgang 1%1/2. Inhalt des Februarheftes. | Beit 5.
Deutihe Monatsicrift
für das geiamte Leben der Gegenwart.
Herausgegeben von Zullus kohmeyer.
mn
Seite
keitiprud. Aus einer Rede von Erih Marks . . . —
Wilhelm Zensen: Der Tag von Stralsund. Ein Bild aus der Banfezelt (Schluß) Er 641
Ausiprüce aus „Geiltige Wollen“ . . . — 671. 688, 702
Oito Bine: Weltgefhithte und ARE Ein hlitorlicher Beitrag zum Deritändnis der gegen-
wärtigen lage. . . . : 672
Emil Prinz von Shönald-» Earolath: "leber die Msore a . 685
Hermonn Muthellus (London): Die moderne Umbildung unierer dithetifhen Anfhanusgen .. 686
Marius: Die moderne Entwickelung der Kriegsflotten. nn en. 705
3. Trojan: Ein Grub an uniere Söhne auf der ee . 2» 2 2 2 nn nenn. 115
Hans Sctliepmann:, Unier keiefjammer. Eine Zeitpredit . -» > 2 22 nun neun. 116
Rudolph Sohm: Das größere Deutfhland und die innere Politik . . . 123
Aus dem „Anhang zu den Gedanken und Erinnerungen von Otto Fürit von ı Bismardı“ 130, 337, 172
Wilhelm von Kardorii#Wabnit: Ein Geipräd mit einem Nordamerikaner . . ». ... 0.31
Erih Marcs: Neues aus Bismarks Werkstatt. Ein Beriht . . . . ee rn:
Cornelius Gurlitt: Zur Heidelberger Schlohfrage -» >» = > 2 2 on rennen 703
Bans von Wolzogen: In medio veritus . . .- 746
Peter Jeiien: Die Knabenhandarbeit u. die volkswirikhafilicen u u. —— — unierer Zeit 747
Theodor Shlemann: Monatsidhau über auswärtige Politik . © » » 2 2 2 2 m anne. 7%
Bismarde-Aphorismen. . . Da Bez. Des —
W von Mallow: Monatsichau über Innere deutiche Politik . a ea A a
Paul Dehn: Weltwirtihaftlihe Umihau . . . ne Decke ee ce a
Paul Dehn: Deutihtum im Auslan de.2773
Earl Buife: kitterariicher Monatsbericht. ..773
Max Marteritelg: Vom deuticen Theater. IV. . 2 2 2 2 m nen 2736
keopold Schmidt: Mufikallihe Rundihau. Ill... 2» 2 2 m m nn nn 2792
Paul Geyk: Die neuen elektrlihen Schnellbahnwaogen -. - » » > 2 u nennen. 79
Bücderlicdau von Earl Weitbredit, Richard Weitbredt, Otto Siebert, W. Golther,
Garl Vorepich, DO. ötzich, Oskar Weihentels, £d. Bey, ©. Finke, Martinus.
Die „Deutikhe Monatsicırift“ erſcheint in Heften von 160 Seiten Umfang
zu Beginn jeden Monats, Der Abonnementspreis beträgt:
vierteljährlich im deutichen und öfterr.-ungar. Poitgebiet . . . . Mk. 5,—
= im Weltpoftvereins-Gebiet . . » 2 2 2 2 een 6,25
jährlich im deutichen und ölterr-ungar. Poitgebiet . . x 2» 2.200. 9,-
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Der Preis einzelner Befte ITMIk. 2,—; im Weltpoitvereins-Gebiet „ 2,50
Die „Deutiche Monatsichrift“ ift zu beziehen durdı die Bucdıhandlungen des In-
und Auslandes, die Poftanitalten (Poitzeitungsliite für 1902 lo. 1895) oder die
Expedition, Alexander Duncker, Berlin W. 35, Lütowitr. 43. Prospekte gratis.
„Wirfpüren beuie dankbar und frob den ganzen Flügeljchlag des nationalen
$tolzes, der unfere Seele Ireier und weiter und größer macht, die unend«»
liche Debnung und Adelung unferer deutſchen Welt, unferer Weliftellung,
unferes MWeltgetühls; wir preifen in unferem nationalen $taate die unaus-
Iprechlich fegensreiche Vorausfenung aller inneren Kraft und aller inneren
@efundbeit, wir fpüren es, ein jeglicher in [ich felbit, daß wir nicht mehr
zu leben vermöchten, daß wir nicht mehr atmen könnten obne diefes Reich
und jein Kaljertum.‘‘
Erihb Mars (in feiner Rede über „Wilhelm 1, bei der
Enthüllung des Kaiferdenkmals zu Beldelberg am 5. Dezember 1901.)
Der Tag von Straliund.
Ein Bild aus der Saniezeit von
Wilhelm Fensen. (Schluf.)
Il“: ſah die nordiihe Welt und doc Altbefanntes; als ob die Toten aus
ihren Gräbern aufgeftanden jeien, erjchienen die Tage der Großväter bei den
Enkeln und ihren Söhnen wiedergefehrt. Einft hatte der Dänenkönig Waldemar
Atterdag fih dort zur höchſten Macht aufgefhtwungen, die Herrichaft rings um
die Dftjee behauptet, bis fiebenundfiebzig Städte der düdeſchen Hanfe ſich ver-
bunden, ihm Abjage gethan umd ihn nad) langen, blutigen Kämpfen aus jeiner
ftolzen Höhe zu Boden geworfen. Jetzt faß auf dem Thron der vereinigten
ſtandinaviſchen Reiche fein Urenfel Erich; von Pommern, gegen ihn lag die Hanſe
unter der Führung ihrer Oberhäupter Lübeck, Hamburg, Stralfund, Roitod und
Wismar im Krieg, und ähnliche Ereignijje wie ehemals, Glückswechſel, Fehlichläge
und Mißgefchide, erneuten jih. Um die Lande Schleswig und Holftein, in die
der König eingebrochen, ſchien fich’3 zu handeln, doch die Städte erfannten, auf
jte ſei's abgeſehen, und leifteten den Angegriffenen Beijtand. Eine mädtig von
ihnen ausgerüftete Flotte verbreitete wilden Schreden in allen deutichen Gewäjlern
bis zum Sattegat hinauf, viel Unbegreifbares aber folgte danad). Bei einem
näcdtigen Anſturm gegen die Mauern der Stadt Flensburg verlor der junge,
ſchon weit als Striegsheld berufene holſteiniſche Graf Heinrich fein Leben; die
Schuld daran trug Trunfenheit des Hamburger Flottenführers Johannes Kletze,
der nad diefem Unheil mit feinen Schiffen heimſegelte. Doch in Hamburg em:
pfing ihn die wild aufgebradhte Stadt, wie Lübeck einft feinen Flottenhauptinann
Johann Wittenborg, als er bei Helfingör der Liſt König Waldemars und jeiner
Ihönen Tochter Ingeborg unterlegen war. Taujendfältig tobte die Volkswut,
ein Verräter gleich jenem ſei er gemwefen, und, wie einjt der Kopf Johann Witten:
borgs fiel der Johannes Kletzes unter dem Henkerſchwert. Auch in Wismar traf
gleiches Geſchick den Burgemeifter Yohann Bankskow, der des Anteils an dem
Berrat befchuldigt ward; die Burgemeifter von Roftod retteten ihr Leben nur
durch fchleunige Flucht. Und Schlimmeres noch, dazu faft Rätfelhaftes, begab
A
642 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund.
fi) nicht lange nachher. Eine neue Hanfemadt, aus gewaltigen, mit vielen
Feuergeſchützen befegten Orlogſchiffen beitehend, lief unter dem „gemeinen Haupt:
mann“ Tiedemann Steen, einem Burgemeifter Lübeds, in den Sund aus, um
einer von Hilpanien her heimfehrenden, reichbeladenen Handelsflotte ficheres Ge:
leit zu geben. Doch der Ortöverhältniffe unfundig, wurden die Hamburger
Scdiffe unter ihrem Führer Heinrich Höper von ſchwächeren dänischen in feichtes
Wafler verlodt, dort überwältigt, vernidjtet oder erobert, während Tiedemann
Steen jchwediiche Gegner ſiegreich in die Flucht trieb. Trotzdem verließ er danadı
unerklärlicherweife den Sund, fehrte zur Trave zurüd, und die vertrauens:
voll anfegelnde Handelsflotte fiel beinahe gänzlid) in die Hände der Feinde. Weil
er Sieger in der Seefchlacht geblieben, entging er in Lübeck dem Richtichwert,
ward nur zu lebenslanger Haft in einen Turm gejegt; über die reiche Beute
froblodend aber weidete fi) König Erich am Schimpf, der Ohnmadt und dem
Niedergang der Hanfe. Sie mußte dafür büßen, daß fie die Bereinigung der
drei Reiche in einer Hand zugelaflen; doch der innerfte Grund des jchweren
Uebels entſtammte daher, daß ihre eigene Kraft nicht in einer Hand vereinigt lag.
Viele Städte und viele Köpfe führten die Leitung der „gemeinen" Sache; Mißgunſt
und Zwielpalt, Eigenwille und Unbotmäßigfeit ſchwächten und lähmten ihren Erfolg.
In Straljund hatte Herr Nikolaus von der Lippe mit feiner Herrſchaft über
die Gemüter die Vermahnung der pommerſchen Landesfürften niedergerungen
und die Beteiligung der Stadt an dem Hanfafrieg gegen den König burchgeiegt.
Doch wenn er allein in feinem Gemach ſaß, brannte zumeilen ein düfterer Glanz
zwifchen feinen Augenlidern; das Mißgeſchick der hanfischen Flotten fraß in feinem
Innern, und mehr als genugfam war ihm befannt, daß heimlich im Rat und
unter den Bürgern gar mande auf einen Anlaß lauerten, ihn zu Fall zu bringen.
Dann aber wußte er, fiel auch fein Kopf auf dem Alten Markt gleich dem feines
Borgängers Karften Sarnow und wie die Johannes Kletes in Hamburg, Johann
Bankskows in Wismar. Dem fah er für ſich zwar unfchredbar furdtlos ent-
gegen, aber mit ihm brach jein Haus in Nichtigkeit und Elend zufammen, Weib
und Tochter, vor allem jein Sohn, für deſſen Zukunft als bereinftigem Burge-
meifter von Stralfund er ſchuf und baute. Noch zwar hielt er den Jungen unter
unbeugjamer Hand; das Ehebündnis mit Richlint Wulflam konnte er ihn gegen
jeine Weigerung nicht aufzwingen, doch Jörg wußte, der Alte werde niemals be-
willigen, daß er fich nad) eignem Gefallen eine Frau wähle, die jein Vater des
Gefchlechtes von der Lippe nicht würdig adjte. Einmal hatte er taftend daran
zu rühren gewagt, aber Herr Nikolaus darauf erwidert: „Bring' mir den König
Erih mit gebundenen Armen vor mich hierher, dann magft Du mir eine
Schwäherin ins Haus führen, die Du willft." Daß fein Sohn derartiges im
Sinn tragen könne, hielt er merklich überhaupt nicht für denkbar, jo wenig ala
die Erfüllung ener Borbedingung, mit der er nur der Unbezwinglichkeit feines
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 643
Willens ftärkften Ausdrud gegeben. Das ließ Jörg feinen Verſuch nicht zum
andernmal wiederholen; jelten auch nur war er zu Haus anmwefend, führte mit
feiner hurtigen Snigge ihm aufgetragene Handelsfahrten nad) Danzig und bis
Reval hinauf aus. Doch wenn er auf dem Hin- und Herweg zum Geſchäfts—
betrieb Greifswald anlief, verſchwand er dort ftet8 im Abenddunfel und ſchoß
allein in einem Segelboot pfeilfchnell nordwärts, durch den Greifswalder Bodden
der Rügenſchen Halbinfel Mönchgut und weiter den weißen Streidefelfen von
Jasmund entgegen, um erft in der folgenden Nacht zu feinem Schiff zurückzukehren.
* *
*
Nicht gar weit von Stralſund gegen Nordweſt über die Oſtſee erhob ſich
am Guldborgſund, der ſchmalen Meerenge zwiſchen den däniſchen Inſeln Falfter
und Laaland, auf der erſteren eine der ſtolzeſten und feſteſten Schloßburgen
ganz Dänemarks, das Städtchen Nykjöbing überragend, „Nykjöbingſchloß“, Schon
im zwölften Jahrhundert erbaut. Hier hatten von je die Könige, auch Waldemar
Atterdag, mit Vorliebe zu Sommerzeiten Hoflager gehalten, und fo that's jekt
Erich, dev Beherricher der drei jfandinavifchen Reiche. Unbezwinglich troßte das
Schloß ſicher jedem Angriff, doch wenige Schladtidiffe genügten außerdem, die
Zugänge des engen Sundes aller feindlichen Annäherung zu fperren; Orlogs-
Eoggen benannte die Zeit fie nach dem niederländiichen Wort „Dorlog“, indes hatte
auch jchon das angelſächſiſche ‚orlege‘ ebenjo „Krieg“ bedeutet. Sehr Klein
zufammengerüdt aber war hier die Schaubühne, auf der feit Jahrhunderten
unabläjlig die wellengefchaufelten Kämpfer von hüben und drüben gegen einander
auftraten; bei heller Luft reichte der Blid von der Südſpitze Falfters bis an die
Küfte von Roſtock und Wismar hinüber.
Laut und lärmend ging's nun an einem Hochſommerabend beim noch ſpäten
Tageslicht in einer der großen Hallen von Nykjöbingfchloß zu. Dort ſaß König
Erich an langem Tiſch mit feinen Hof- und Hauptmännern beim Bankett; Wein,
Met und Hamburger Bier, an dem bie gut kaufmänniſch rechnende Hanfeftadt
auc den ſchlimmſten Gegner nicht darben ließ, troff über die Ränder der großen,
flirvenden Erzhumpen: feit geraumer Zeit ſchon hatte die ſchöne Königin Philippa,
des englifchen König Heinrichs des Vierten Tochter und Erich8 noch jugendliches
Gemahl, das wildwerdende Gelage mit den mählich in der Trunfenheit ſcheulos und
zuchtlos berausfahrenden Zungen verlafjen. Auf erhöhten Armfig thronte der
König, von purpurnem Mantel umfleidet, mit einem fteinfunfelnden Goldreif am
Stirmrand des dunklen Haares; vor den Bliden anderer ftellte er ſich ftet3 in den
Abzeichen feiner Macht und Hoheit zur Schau. Nicht mehr der Knabe von der
färglihen Bäterburg bei Rügenwalde war's, ein hoc und breitbrüftig gewachſener
Mann; nad) nordifhem Brauch umgab ein voller Bart, doch Eurz an den Seiten,
nur unter dem Sinn fich verlängernd, fein Geſicht. Aus dem fprühten nad)
Genuß und Befriedigung der Sinne begierige Mugen, trugen etwas von fladernd
4ıt
944 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund.
nad einem Nährftoff umzüngelnden Flammen in fih. Sie Hatten auch }o
zwijchen den Lidern Waldemars lodern gekonnt, im Rachdurſt, beim Trunk, vor
allem, wenn ein jchönes Weib fremd zum eritenmal vor jeinen Blid geraten;
doch er war Herr über ſich gewejen, wo wichtigeres in Rechnung ftand, die aus
jeinem Innern hervorfpringenden Funken zurüdzubändigen. Das vermochte fein
Urenfel nicht, unverhohlen und unköniglich offenbarte er fein Gelüft, überließ fich
ihm beherrſchungslos; feiner jungen, jhönen Gemahlin indes war fein heißer
Blick feiner Augen nachgefolgt, als fie aus der Halle davongegangen; er liebte
blondes Gelock nicht, und fie teilte jchon feit zwei Jahren den Thron mit ihm.
Doc befand er ſich heute in beiter Laune, eine große Anzahl gleichlautender Briefe
war ihm aus Deutichland her zugegangen, Abfageichreiben der „oberheidilchen“
Danfejtädte im Binnenland zwiſchen Elbe und Rhein, und, ein herbeigebrachtes
Pergamentblatt aufrollend, las er die Schrift drauf lautftimmig vor. Die
richteten „Burgemeifter, Nat und gemeine Bürger” der Städte an den „body:
geborenen Fürften, Herrn Erich, der Reiche Dänemark, Schweden und Norwegen,
der Wenden und Goten König und Herzog von Pommern”, und in den Fehde—
briefen erklärten ſämtliche fid) als Feinde feiner Reiche und aller Unterjajfen um
ihrer Freunde, der ſechs führenden Städte willen, daß aud) fie ald Glieder der
deutichen Hanſe ihn mit Krieg überziehen würden und „fid) ihrer Ehren ver:
wahrten“. Ungezählte Schriftftüde waren’3 von Bundesangehörigen, die nicht
an der See belegen, feine Schiffe beſaßen, mit ihnen an dent Kampf teilzunehmen,
doch Geldbeiträge zu diefem leiften wollten, damit fie nicht „ſchwerlich beſchädigt
würden"; die Abjage erinnerte faft genau an diejenige, welche vor drei Ge-
Iihlehhtern Waldemar Atterdag von den fiebenundjiebzig Hanfeftädten behändiat
worden war. Deſſen gedachte aud König Erich, der mit einem Ton höchſter
Beluftigung die Kundgabe verlejen, und fpöttiich lachend fügte er für die Zuhörer
um den Tiſch hinterdrein: „Wiſſet ihr no), mas mein Ahnvater den Pfefferfrämern
zur Antwort gab? Er ließ ihnen erwidern:
„Söben und föbentig Henuſen
Hefft ſoben un ſöbentig Genfen,
Wenn mi de Genſen blot nich biten,
Na de Henfen frag’ ich nich em ſchiten.“
Ein wieherndes Gelächter Scholl aus allen Kehlen der mehr oder minder
Trunkenen zurüd, in das der König auf plattdeutfh — denn der däniſchen
Sprade war er nie ausreichend mächtig geworden — Hineinrief:
„De füben un föbentig Genfen maft wedder Gefnater,
Denn dudt wi fe mal wedder in't Water.”
Unter laut ballendem Beifalldgejaudjz ftand er auf, wandte den Blid
zweien Mitgliedern der Runde zu, die erft feit dem Morgen im Schloß zu Gait
waren, und ſprach fie an: „Junker Henning und Junker Hanns, ihr wolltet mir
Milhelm Penfen, Der Tag von Stralfund. 6453
al3 guten Schlaftrunf eine Iuftige Ausricht machen; begleitet mich noch in mein
Gemach dazu." Die Angeredeten erhoben ſich gleichfalls, dem Heren zu folgen;
er brach heute früher als fonft von Bankett auf, etwas Bebeutfames mußte ihm
im Sinn liegen oder eine junge Schöne auf fein Kommen warten. Dem ging
zwar zumider, daß er die Begleiter mit ſich nahm; die Zurüdbleibenden fprachen,
ſoweit der Rauſch es zuließ mit gedämpften Stimmen, ihre Meinungen darüber
durcheinander. Man Fannte die Namen der beiden von auswärts her in Nykjö—
bing Eingetroffenen, Deutiche waren es, Abkommen alter Gefchlechter, der eine
Henning Manteuffel aus Pommern, der das lange Haar an der rechten Schläfe
eigentümlid; zufammengefrauft trug, jo daß nichts dort von der Obrmufcel
drunter hervorſtach; der zweite hieß Hanns Moltke, feine Väterburg Stridfeld
ſtand in Medlenburg. Ihre Züge boten auch ein adliges, doch vermwildertes Aus:
fehen, und heimlich ging ein Zuraunen um, fie führten anderswo andere Namen,
auf der See, am Schiffäbord, ald zwei der tollfühnften und beutelüfternften
Lifedeeler des jetzigen Vitalienhauptmanns Bartholomäus Voet, der noch im
Vorjahr wieder einen verwegenen Raubanfall auf Bergen ins Werk gefett hatte.
Im gegenwärtigen Srieg hielt er zwar Bundesgenofjenfchaft mit den holfteinifchen
Grafen und der Hanfa, aber unter den Seeräubern jagten von jeher mande
auf eigene Hand ihrem Gewinn nad), und der Sinnesart des Königs lief's nicht
zuwider, mit ſolchen für einen wichtigen Zweck in Berbindung zu treten; ein
Gerücht befagte von ihm, ehe er der Beherricher der drei Reiche geworden, fei er
jelbft mit dem Gedanken umgegangen, ein Seeräuber zu werden. Dazu ftanden
Henning Manteuffel und Hanns Moltke als deutfche Landsleute, der erftere
obendrein als pommerſcher Unterthan, feinem Zutrauen befonders nahe; Sicheres
wußte freilich niemand von ihnen, nody um was ſich's handeln möge. Dod auf:
fällig war's, daß er fie derartig zu fich befchieden hatte, und ward's noch mehr
dadurch, daß die halbe Nacht verging, bevor die beiden wieder aus feinem Schlaf:
gemach heraustraten.
Und feltfam wiederholte ſich Nehnlihes am folgenden Tage. Abermals
war ein deutſcher Fremdling, diesmal ſchon grauhaarig, vorgerüdten Alters, im
Schloß eingetroffen, hatte auf fein Anſuchen Vorlaß beim König gefunden und
jaß am Abend als Gaft mit beim Trinfgelage. Bon den um den Tifch An-
gefammelten Eannte ihn niemand, auch die beiden deutfchen Junker nicht; er be-
nannte fih auf Anfrage Marten Wollweber aus Danzig, war auc) ficherlich nicht
vom Model, fondern ein Stadtbürger und madte den Eindrud, ein feinerer
Gewerfsmann zu jein, vielleicht ein Eumftfertiger Goldfchmied, der bier bei dem
prunffüchtigen Fürften Abſatz für einen befonderd wertvollen Schmud erhoffte.
Nur wenig fih am Trunk beteiligend und felten einmal mitredend, jaß er ftill
da, im Gefühl ſchien's, daß er nicht unter die ritterbürtige Tafelrunde paßte,
hörte nur den Geſprächen zu und ließ dann und wann furz die Mugen auf einem
646 Wilhelm Renfen, Der Tag von Stralfund.
Gejicht verweilen. Doc als König Eric) jid) ebenjo wie geftern ungewohnt früh:
zeitig erhob, jagte er wiederum: „eleitet mich, Herr Wollweber, und thut mir
noch den Preis für Euren £oftbaren Schat fund." Offenbar hatte die Mut-
maßung fich nicht getäufcht, ein Schhmudhändler war's, der die Begier des Königs
zu reizen veritanden, und er fchritt Hinter den fadeltragenden, reichgewandeten
Hoffnappen drein. Es ergab ſich alsbald, daß zwiſchen beiden dasjenige, um
was e3 jich handelte, bereitS ausführlicher zur Rede gelangt fei, fowie daß Erich
bejjer al3 fein Hof über Herkunft und Stand des Fremden unterrichtet war,
denn unter vier Augen mit diefem fagte er: „Setzet Euch nieder, Magijter, und
feiet ohne Sorgnis, ich könne Euch minder an Wert achten, weil die Schwert:
Ichneide des Hamburger Meiſters Roſenfeld Eures Bruderd Kopf auf die Erde
gelegt hat. Bielmehr jchäte ich Euch bejonders, des gleichen Blutes wegen, das
er in ſich getragen, fowie al3 grimmigen Feind der Pfefferfnechte, und bin Eud)
gut dafür zu Dank, da Ahr hierhergefommen feid, mir von dem Enkelkind des
tüchtigen Mannes Bericht zu geben, der wohl verdient, daß unter dem Bolt
Ruhmlieder von feinen großen Thaten auf der Oft: und Nordjee umgeben.
Sein Angedenfen zu ehren in dem, was er hinterlafjen, bin auch ich gern mill:
fährig; faſſet mir noch einmal zufammen, in welcherlei Weife es jo gejcheben iſt.
Berhält fi) die jondere Art des Mägdleins nad) Eurer Ausfage, da wäre id
bereit, fie bierherbringen zu lafjen, in den Dienft meiner Gemahlin aufzunehmen
und nad) dem Verdienſt ihres Aeltervaters für fie Sorge zu tragen.“
Eine glimmernde, von thätiger Einbildungskraft zeugende Erwartung redete
aus den Mugen König Erichs, und der Magilter Bertram Wigbold gab Antwort:
„Wie ich e8 Eurer hochgeborenen Durdjlauchtigkeit heute Morgen geiprocdhen, ift
mir Hunde davon aus Scriftftüden meines vom Hamburger Rat mit Schimpf
gerichteten Bruders zu teil worden. Drin fteht angemerkt, daß Claus Störte-
befer einmal durch den Liebesverband mit einer ſchönen Filcherstochter an unferem
Seeftrand zum Urheber des Lebens eines Mädchens geworden ſei, das, in die
Jahre der Neife gekommen, wiederum eine Tochter empfangen, von welchem
Vater vermag ich nicht zu jagen. Doch als zu fpäterer Zeit der große Seeheld
fi) oftmalig mit feinen Schiffen auf der Anfel Rügen im Hinterhalt geborgen
und dort zu guter Weile am Land unter der Stubbentammer aus Kreideftein
einen Bau aufrichten laffen, den fein Nuge von der See her wahrnehmen gefonnt,
da bat er feine Tochter ausfindig gemacht, fie mit ihrem Kinde zu fich in das
weiße Haus genommen und, als er wieder auf die Nordfee davon gezogen, ihrer
Dbhut alles übergeben, was er auf feinen Umfahrten in der Oſtſee während
jener Zeit erbeutet und in. den Kreidefelfen vergraben gehabt. Sie hat aber
vergebens auf jeine Wiederfunft geharrt, weil die „Bunte Kuh” ihn beim Hilligen
Land mit ihren Hörnern niedergerannt; fo ift fie mit ihrer Tochter in dem
Klippenhaus verblieben und hat Nahrung von einigen wendiſchen Fildern
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 647
empfangen, die dort in der Wildnis an einer Nehrung haufen; von den ver—
borgenen Schäßen, die ihr al3 Erbteil zugefallen, vermodte fie alles überreich
zu entgelten. Davon ftand nicht mehr in meines Bruders Bericht, jondern ich
hab's erjt mit meinen eignen Augen gefehen und aus ihrem Munde vernommen,
al3 mich's vor kurzem einmal angetrieben, dorthin zu fegeln; es Elopft, wie's
Eure hochgeborene Durcjlauchtigkeit gefprochen, das Blut meines Bruders auch
in mir auf3 Salzwafjer hinaus. So habe ich die Aungfrau gewahrt, die jetzt
fiebzehn Jahre zählen mag, und mich bedünkt, ihre Schönheit wäre einer fürft-
lihen Krone würdig, denn fo lang mein Leben gedauert, fam nichts ihr Gleiches
an wunderbarem Liebreiz mir zu Geſicht. Es jammerte mich, daß ſolche junge
Herrlichkeit eines Weibes in der Verlaffenheit hinaltern und vergehen follte, des—
halb fuhr ich hierher, einen Beiftand, der fie daraus befreie, für fie zu werben.
Denn ich befand mich fonder Zweifel, der hochgemute Sinn Eurer Durchlauchtig—
keit nähme Anteil an Claus Störtebefer, dem vormaligen Todfeind der deutjchen
Hanſe, und werde, fo hoffte ich, fi auch zu einem Mitgefühl für fein hülfloſes
Enkelkind bewegen laffen. Dod will id; mich nicht ruhmredig als jelbftjuchtlos
emporheben; mein altgewordenes Leben verfümmert unter Dürftigfeit und Mangel,
da um meine Namens willen die Bürger Stralfunds ſich feindjelig von mir
abfehren. Drum fnüpfte ich auch für mid die Hoffnung daran, Eure königliche
Durdjlauchtigkeit werde hochgefinnt meiner Objorge für da3 ſchöne Tochterkind
des großen Seehelden gleihfall3 mit einem Kleinen Lohne gedenken.“
Unter den wohlgefügten Worten Ichimmerte aus dem letsten doch der eigent-
lihe Zwed der Reife Bertram Wigbolds, die Geldgier des verhohlenen alten
Kupplers hervor. In des Hörerd Augen hatte während der Erzählung ich der
brennende Glanz noch mehr verftärkt, er verſetzte jett: „Dörtet Ihr je, daß
König Erichs Hand fi karg wies, eine edle That zu entgelten? Bringt mir
die Enkeltochter Störtebeferd hierher, und wenn ich erkenne, daß die Wirklichkeit
Eurem Bericht gleichtommt, feid des verdienten Lohnes gewiß.“
Dazu jedoch jchüttelte der Magifter den Kopf und antwortete: „Das würde
mir nicht gelingen, ihre Mutter bewacht fie mit den Mugen, die dem Argus der
alten Mythe zugemefjen werden, und ohne deren Zumilligung vermöchte ich fie
nicht fortzubringen, denn auf ihr Geheiß würden die Fiſcher fich ihr zum Beiftand
gefellen. Doc es ift nicht weit bis an die öde Nordküfte von Rügen hinüber,
binnen wenigem will der Mond jich füllen, und in einer hellen Naht könnte
Eure königliche Durchlauchtigkeit leichtlich ficy mit eignen Mugen überzeugen, ob
ih von foldem Wunder der Schönheit mit zu hohen Worten geredet habe. Es
erſchiene das fürwahr gleich einer Wiederkunft des oberften der alten olympifchen
Götter, daran gemahnend, wie unerkannt, in vermwandelter Geſtalt der höchſte
Jupiter feinen gnadenreihen Blick auf der ſchönen So, des Inachos Tochter,
verweilen ließ, und meinem Bemühen gelänge es wohl, die Wachſamkeit des
648 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Straliund.
weiblihen Argus durch Einjchläferung unſchädlich zu machen. Der Täuſchung
unterliegen zwar die Augen gewöhnlicher Menſchen, darum könnte es auch meine
betroffen haben; dagegen würde ſicherlich für den Blick Eurer königlichen Durch—
lauchtigkeit eine Stunde der Nacht zur Erkenntnis genügen, ob die Jungfrau
würdig ſei, hierher in den Dienſt Eurer Gemahlin überführt zu werden.“
Bekannt war's, daß König Erich oftmal3 ein Bergnügen daran fand,
nächtlich in Verkleidungen ihn anreizenden Abenteuern nachzugehen — aud) das
hatte er von feinem Urältervater überfommen, der einft fo durd die Liebjchaft
mit einer Bürgerstocdhter von Wisby die feite Stadt liftig in feine Hand gebracht —
und in feinem Gelicht ftand zu leſen, daß ihm's nicht mißfallen habe, mit dem
oberiten der Götter des Altertums verglichen zu fein. Mancherlei jchmeichelhafter
Bewunderung hatte die Rede Wigbolds Ausdrud verliehen und zum Schluß eine
Hindeutung angefügt, die von höchſt verftändiger Auffafjung der Angelegenheit
zeugte. Beipflihtung ließ fi) der Miene des Königs entnehmen, und ein Zug
begehrlicher Borjtellung umfpielte feinen Mund, wie ev entgegnete: „Euer Rat
mag das Richtige getroffen haben, es wird wohlgethan fein, daß ich mich zuvor
felbft darüber vergewillere, ob das Enkelkind Claus Störtebeferd mir für den
Dienft bei meiner Gemahlin geeignet erjcheint. Mondnächte, jagt Ihr, itehen
bevor, mir iſt's noch im Gedächtnis, die machen fi hübſch drüben am Seeftrand,
und ich hätte wohl Luft, auch einmal die Kreidemwände von Jasmund beim Mond:
Ichein zu fehen. Ihr feid ein gelehrter Mann, Magifter — drei Königreiche
machen viel zu jchaffen und aus meinem Kopf iſt's etwas weggeraten — weckt's
auf und erzählt mir noch einmal, wie ſich's mit Yupiter und Jo zutrug. Cine
luftige Gefchichte war's, mir ift’S dunkel, eine Kuh kommt drin vor — nicht die
bunte Kuh, die Euch den Haß auf die Pfefferfnechte ins Blut geftoßen — aber bie
Gemahlin Jupiters war von Daß gegen fie entbrannt. Das war fie vermutlich
nicht ohne Grund, denn ein häßliches Geſchöpf haflen die Ehefrauen nicht —
laßt mich die Gejchichte wieder hören, Magifter, vielleicht träumt ſich's gut in der
Nacht darauf."
König Erich ſprach's lachend, Iehnte den Kopf zurück und ließ die Lider auf
die Augen fallen. Doc unter ihnen überblinzelte er dur die Wimpern un:
merkbar das Gejicht Bertram Wigbolds, wie man einft von Waldemar Atterdag
gejagt hatte, „at han blinkede med Oiene“, wenn er jemand vor ſich ſprechen
ließ, um ihm zubörend in feinem Innern zu lefen.
* +
*
Schon jeit einem Kahrhundert war durch die Hanfe auf dem Gebiet der
Seefahrt eine Umänderung bewirkt, die bis dahin allgemein in Europa bräuchlich
gewejene, noch von Altertum übernommene fpanifche „Galeere“ durd) die nieder:
ländiſch-hanſiſche „Kogge“ verdrängt worden; Telbft die Venetianer und Genueier
hatten diefe Schiffsbauart, als zweckmäßiger fowohl für den Handel wie für die
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 649
Kriegführung, angenommen. Die „Kogge” ftellte das größte Fahrzeug der Zeit
dar; breitgebaucht und hochgebordet, trug ſie an der Border- und Nüdjeite auf:
getürmte „Kaftelle*, die im Kampf den hohen Standplat der Waffenträger bildeten
und mit Bliden und Mangen, Schleudergeräten zum Werfen großer Steine,
fowie mit Brennftoffen angefüllter Fäffer ausgerüftet waren; dieſe Wurfmafchinen
hatten fich vielfah auch nad; dem Aufkommen der Feuergeſchütze, der „eld-
ichlangen“ und „Bombarden“ noch forterhalten. Zumeift führte die „Kogge“ einen
Großmaft und einen Befan- oder Hintermaft, bei den mächtigſten trat noch ein
Fockmaſt Hinzu. Der erftere enthielt auf dem „Mars“, dem Maftkorb um feine
Mitte, von der fich feine „Stenge“ weiter aufhob, ein „Topkaſtell“, deſſen runder,
von einer Brüftung umgebener Ausbau den Schügen zum Aufenthalt diente, vor-
dem den „Armbruftern”, nunmehr den Handhabern der nad) und nach zur An—
wendung gelangten „Knallbüchſen“, „Haken“ und „Arkebufen“, Eleinerer, nur jehr
umftändlih noch benußbarer Dandfeuerwaffen. Ueberaus ftolz aber zug bei
günftigem Wind folche hanfische Vollkogge mit ihrer gebaufchten Segelfülle, dem
tiefigen lateinifchen Großjegel, den Fock- und Befan:, Mars-, Klüver- und Spriet-
fegeln über die Wellen dahin; unter dem langen Bugipriet blidte gemeiniglich,
aus Holz geichnigt oder in Erz gegoflen, das Bruftbildnis des Erzengels vder
Heiligen auf, deſſen Namen das Schiff trug. Für den Krieg vollbemannt, führte
dies bis zu anderthalbhundert „Wappner”, ein halbes Dutend „Bombarden” mit
den dazu gehörigen „Kraut“-Tonnen, den Bulverfäflern, und daneben noch eine
Anzahl der alten Bliden an Bord.
Um ein paar Tage nad) der Zwieſprache des König Erichs und Bertram
Wigbolds lief in noch dämmeriger Morgenfrühe eine derartige „Kogge“, doch nur
mittlerer Größe, von der Nykjöbinger Ladebrüde ab und nahm ihren Weg durch
den Guldborgfund nad) Süden. Als fie zur freien See hinausfam, war der Tag
voll angebrochen, guter Wind füllte bier ihre Segel, denn er ließ am Dünenrand
von Gjedferodde, der einfamen Südſpitze Falfters, an einer dort im Sand auf:
gepflanzten Fichtenftange ein Stüd Flaggentuch luftig gen Often flattern; ein
Deutungszeichen der Untiefe vor der Inſel jchien’3 zu fein. Sichtlih war das
Schiff ein Handelsfahrzeug, wenn auch breitbaudig, doch für leichtere Beweglich-
feit gebaut, als die ſchwerfälligen Vollfoggen. Zwar mit einer ſchmalbrüſtigen
Snigge, die fchon etwas Vorſprung vor ihr hatte, vermochte es nicht zu wetten;
fie erweiterte, ſich gleichfalls oftwärts haltend, bald den Abftand noch mehr, ver:
Ihwand vor Mittag völlig aus dem Geficht. Merkbar indes lag der Kogge aud)
nicht dran, ihr durch größere Schnelligkeit den Borrang abzulaufen, fie hielt nur
die Hälfte der Segel beigelett und trieb gemächlich dahin; an ihrem Hintermaft
mwehte eine Flagge, von der zu mutmaßen ftand, daß fie ihr zu Recht nicht zu—
fomme. Dod war von feinem Auge geliehen worden, dat fie die Flagge der
Stadt Danzig erjt nad) ihrer Ausfahrt aus dem Guldborgfund gehißt hatte; Die
650 Wilhelm Jenfen, Der Tag von Stralfund.
dänifche zu zeigen, wäre bier im Bereich der hanſiſchen Dfterlinge für einen wehr—
lofen Sauffahrer bei den Kriegsläuften nicht ratfam gewefen. So aber verbürgte
der trügerifche Anfchein der Kogge ziemliche Sicherung, zumal da fie ſich längere
Zeit in der Nähe von Faliter hielt und im Notfall an diefem Schub fuchen
konnte. Doch im Beginn des Nachmittags änderte fie plögli den Kurs, lief
aus der Höhe der Kreidefelfen von Möen quer über die See gegen die pommeridhe
Küfte zu, jeßt unter Vollfegeln, mit denen fie rafch einigen ihr begegnenden,
mühjam wider den Wind Ereuzenden Eleineren Hanfejdhiffen vorbeigelangte. Dann
ftieg vor ihr der ödverlaſſene Uferkamm vor Arkona mit feinem dunklen Trümmer:
reft auf; an der Brüftung des Borderkaftelld jtand neben dem Magifter Wigbold
ein Mann, der mit lang ihn umhüllender Schaube aus lündishem Tuch das Aus:
jehen eines reifenden Kaufmanns but. Seine Hand deutete nad) dem Worgebira
hinüber und er fprad dazu: „Ein Eric bat die Burg niedergelegt und ein
Waldemar den Tempel Smwantewits zu Aſche gemadt. Heute find beide in Einem
beiſammen, der das Hanje-Gößenbild in Stüde fchlagen wird, und Eud zu Dant,
Magifter, gedenk' ich einen Kohlenhaufen rauchen laſſen, wo Eure Stadt Stral-
fund fteht. Ich babe ihr eine lange Rechnung aufgekreidet, an der Zeit ift's, fie
einzutreiben. Glimmert da drüben fon die Kreide von Jasmund? Zur Nadt
liegt mir noch andere Dankſchuld auf für Claus Störtebefers Hinterlafjenihaft,
und Ihr jeht, ich habe Bertrauen in Euch gefett, Magifter, daß mir in feinem
weißen Fuchsftollen keine Täufchung vor Augen gerät." König Grich fchlug
über dem Kaufmannsrod ein luftiges Lachen zu den Worten auf, bereits erfennbar
ſchimmerte die helle Wand der Stubbenfamer aus Süden her über der Waſſer—
fläche, und die nur mit der gewöhnlichen Mannſchaft eines Handelsjchiffes befette
Kogge nahm jegt geraden Lauf gegen die verrufene Küfte hin. Das Abend:
dunkel fiel ein, doc; ehe fie in zu bedrohliche Nähe des Ufers kam, ftieg der in
Nehnung gezogene Mond herauf und gab Helligkeit genug, um eine Zufahrt und
geficherten Landungsplag ausfinden zu laſſen. Die Abenteuerluft des Beherr-
ſchers der nordiichen Reiche hatte ihn zu einem nicht unbedenkflichen Unterfangen
verlodt; wie einft Waldemar Atterdag als Bürger verkleidet an der Hüfte von
Gotland gelandet war, durch Liebesbethörung einer Tochter der reihen Stadt
Wisby ſich diefer zu bemächtigen, jo ftieg bei nächtlicher Weile fein Urenkel an
dem einfamen Nordftrand Nügens aus. Doch nicht von der Sucht bergetrieben,
eine Stadt an ſich zu bringen, jondern nur um fich mit eigenen Mugen zu ver:
gewifjern, ob ein junges Mädchending würdig fei, von ihm für den Dienft feiner
Gemahlin mit nad) Nykjöbingſchloß geführt zu werden.
Nur ein mäßiger Wind ging, doch im Verein mit dem Anraufchen der Wellen
an den Strand jchuf er ein rohrend die Luft durchſpinnendes Geräuſch, das den
Schall von Fußtritten im Elirrenden Geftein nur kurzhin vernehmen ließ. Wie
diejes murrende Gejumme das Ohr, umgab ein ungewifjer Schein die Augen,
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 651
denn der Mond war noch nicht über die Stubbenkamer heraufgerüdt, ihr
Schatten reichte noch bis dahin, wo die nächtlichen Ankömmlinge ans Land ge-
treten, jo daß der Blid kaum auf einige Schritte in der Runde das umher Be-
findliche unterfchied. Bertram Wigbold drehte einmal, ohne recht zu willen,
weshalb, mechaniſch den Kopf zurüd, doch gleichzeitig faßte der König ihn unterm
Arm und jagte: „Führt mich, Magifter, Ihr feid bier die Kate, die im Dunkeln
ſieht. Wo ift das Maufeloch mit der weißen Maus drin? ch ſehe nichts vor
mir als Nabengefieder." Der Befragte erwiderte: „Eurer Eönigliden Durd)-
lauchtigkeit wird fih das Dunkel bald aufhellen, hier Eommen wir gleich an’s
Ziel." Seinen Begleiter führend, umbog er eine vorjpringende Gefteinmafle, und
hinter diefer fiel ihnen ſchon von nahe her ein roter Lichtftrahl ins Geſicht.
Wandfadeln warfen ihn aus dem Innern des weißen Kreidehaufes hervor, deſſen
Thür offen ftand, als ob es die Ankunft von Gäften erwarte, und ein paar
Augenblide fpäter fetten die Weitergefchrittenen den Fuß in die ſeltſame große
Halle hinein. Sie war leer wie damals, al3 Jörg von der Lippe auf feiner Wanderung
zu ihr geraten, nur am Herd ftand eine weibliche Gejtalt in dem wunderlichen, mit Rad
und Galgen anblidenden Gewand, unerfennbaren Gefichts, denn ein ſchwarzes
Scjleiergewebe hielt es überdedt. Wigbold ſprach gedämpft: „Die Frau iſt's,
von der ih Eurer Durchlauchtigkeit kundgethan,“ und der König fragte, fie an—
redend: „Biſt Du Claus Störtebeferd Tochter? Wo ift Deine Tochter?" Nun
Elang antwortend ihre Stimme: „Sa, Du fennft mid. Ach habe lange auf
Deinen Bejucd gewartet, Eric von Pommern. Sete Did) an den Tifh. Das
Nachtmahl ſteht Dir bereitet, fo gut ich’S vermodht, und meines Vaters Humpen
für Dich gefüllt." Beim legten zog fie den Schleier ab und ſprach hinterdrein:
„Wieder Mondnacht iſt's. Kommſt Du, Deine Tochter auf Dein Schloß zu holen
und ihr eine Krone aufs Haar zu jeßen? Ach will fie rufen.“
Ein helltöniges Gelächter brad) dazu aus ihrem Mumd, den Augen König
Erich entgegen, der ungewiß auf ihre enthüllten Züge gejtarrt und jeßt hervor-
stieß: „Sch kenne Did; — wir fahen uns ſchon — Du hießt Gefa —“
Sie ging der Thüröffnung zu, und nun lachte auch der König jchallend auf,
ſprach danad), feinem verftändnislos dreinfchauenden Führer mit der Hand auf
die Schulter fchlagend: „Das habt Ahr Iuftig angeftellt, Magifter! Ach fagte
Euch guten Lohn zu —"
Etwas Drohendes lauerte aus dem Klang der Worte herauf, ein fchriller
Mövenruf durchſchnitt fie, mit dem die zur Thür Getretene ein Zeichen nad)
außen gab. Dem antwortete ein Ruf von dorther: „Dinunter, und bindet
ihm Arm und Bein!“ Die Stimme Jörgs von der Lippe war’, aus einem
Felſenverſteck erſcholl das hurtige Niederdröhnen eines Dußend von Fußtritten.
Dod gleich danady ftürmten andere Töne durcheinander, Getöfe, Waffengeklirre,
wilde deutjche Seemannsflühe und Hohngeſchrei in dänischer Zunge. Dann
652 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund.
abermals ein Befehlsruf Jörgs: „Umfonft! Zurüd!" Der Mond ſchoß die
erite Silberzinfe über die Stubbenfamer, und fein Licht zeigte den weißen Bau
rundhin von einem halben Hundert ſtark Gewaffneter umringt, die der breite
Bauch der Kogge nicht wahrnehmbar verborgen gehalten; ungejehen und ungebört
waren jie ihrem Gebieter nachgefolgt. Der trug die Begier Waldemar Atter:
dags in fich, doch auch feine Berjchlagenheit und hatte mit den blinzelnden Augen
Unrat gewittert. Der Fuchs war nicht nach dem Köder in die Falle gegangen,
ohne fi) den Rückweg ficher offen zu halten. Die lange Schaube abwerfend
aber ſtand König Eric in gligerndem Settenpanzer mit gezogenen Schwert,
ichlug dem verdugten Magifter nochmals mächtig auf die Schulter und fagte
unter einem grimmigen Laden: „Du ſollſt es bei mir befjer haben, als Dein
Bruder beim Meifter Rofenfeld, und morgen früh zuerſt am Maft die Sonne
aufgehn jehen.“
Faſt gedankenfchnell war das Ueberraſchende geihehen, doc blikgeichwind
auch Hatte Gefa den Borgang begriffen, riß eine Fackel von der Wand, mit
der andern Hand Bertram Wigbold binter fi, wies ihm: „Da hinunter!“ und
ftand mit dem brennenden Kienholz vor dem König. Ihre dunfelglimmernden
Augenſterne blidten ihn furchtlos an und lachend ſprach fie dazu: „Du wollteft
mein Geficht deutlicher als im Mondichein jehen, Erih von Pommern. Gefällt
Deine Braut Dir jo? Du braucht Dich ihrer nicht zu ſchämen, fie ift nicht
mehr ſchwach von Sinnen und eines Seefönigs Tochter, wie Du's gemeint.
Deine Tochter hält Hertha in Hut, denn Du fannft fie nicht zu Dir nehmen,
wie Du's gedacht. Aber mir gefällft Du, mein Liebfter, Du bift kein Bauern-
junge mehr, jondern ein fhöner Mann geworden, und ich will mit Div nad
Deinem Schloß gehen und Dir helfen, Deine Kronen zu tragen. Mir gehören
fie zu Recht, nicht der Engländerin, denn die it nur Dein Kebsweib. Aber id
bin von Deiner Wahl die Königin in Deinen Reichen. Bis heute hat's mur
der Mond gewußt, jett jol’3 aud) die Sonne jehn! Komm, mein Gemahll“
Dörbar zu Spott und Hohn war's gemeint, doch aus der Stimme der
Tochter Claus Störtebeferd fam nod einmal ein Nahhall des halbirren Tons
herauf, mit dem fie in der Mondnadht auf Wollin zwifchen den Trümmerreiten
der alten Balnatofe-Burg auf die Fragen des verfleideten Fürftenfohns geant-
wortet hatte. König Erich aber fiel da8 Blut aus dem Geficht, als ob ein aus
dem Boden aufgewadlenes Geſpenſt vor ihm ftehe und die Hand nah ihm
ftrede. Faſſungslos übermannte ihn die Einbildung mit einem Hirngeſpinſt, fie
habe die Macht, auszuführen, was fie drohe, könne ihn zu Schimpf und Schande
zwingen, fie mit ſich vor aller Augen ins Königsfchloß zu führen. Verworrenen
Sinns, Ichredbetäubt wich er vor ihrer Hand zurück; fie folgte ihm nach, drängte
ihn mit der Tadel, dem vorgejtredten Arm, mit Eofenden Liebesworten Schritt
um Schritt weiter zur Thür, feinen draußen harrenden Kriegsmännern entgegen.
Wilhelm Jenfen, Der Tag von Stralfund. 653
Nun bis über die Schwelle, daß fie die Bohlenthür zufchlagen und den Riegel:
balfen vorftoßen Eonnte. Hindurh Ichlug ihm noch einmal ein geifterhaftes
Laden ihres Mundes wie ferne Kindheitserinnerung and Ohr, dann warf Geſa
die Fackel auf den Herd und tauchte an der Stelle noch in den Boden hinunter,
wo Bertram Wigbold aus der Halle verfhwunden war. Die Seeräuber hatten
durch den weichen Sreidegrund Stollen nad) Höhlungen gegraben, in denen fie
ihre Beute verborgen gehalten, und ein heimliches Schlupflod führte weiter
auch ins Freie hinaus. Das wußte Erih von Pommern nicht, mußte glauben,
er halte die beiden im umſchloſſenen Haus in feiner Gewalt. Doch er dachte
nicht mehr davam, ſich des Magifters zu bemäcdhtigen, Furt vor dem Mond:
nachtsgeſpenſt von Wollin rüttelte und fchüttelte ihm noch die Glieder. Wie dort
lag die weiße Nacht unheimlich hier um ihn, er gab, haftig davoneilend, Befehl,
wieder mit dev Kogge in See zu ftechen, und als die aufgehende Sonne das
Schiff Ihon im Angefiht der Südſpitze Falſters begrüßte, jah fie Bertram
Wigbold nicht vom Maſt herabhängen. Doc flatterte auf der Düne von
Gjedferalde an der Fichtenftange noch die Linnenflagge, die der Snigge Jörgs
von der Lippe das Zeichen gegeben, daß der König gewillt fei, in der Morgen-
frühe die Abenteuerfahrt nach Rügen zu unternehmen.
Anders als erhofft aber hatte der Tag geendet, den Anfchlag Jörgs, feinem
Vater König Erich mit gebundenen Armen ins Haus zu bringen, zericheitern
laffen. Den Grund, der ihn zum Entwurf diefes mißglüdten Planes getrieben,
gab die Mondnadht in der Fleinen Waldlihtung an dem dunklen Wafjer-
jpiegel de3 Hertha-Sees zu erkennen. Dort, wo nur noch der alte Erdwall von
einem Bauwerk verichollener Vorzeit Kunde forterhielt,, hatten alle, die drunten
der Uebermadht weichen gemußt, fich zufammengefunden, und auf einem der be=
mooften Trümmerfteine jaß Yörg von der Lippe, die junge Geja, die nicht Hertha
hieß, fondern den gleihen Namen ihrer Mutter trug, auf feinen Knieen haltend.
Nicht zum erjtenmal that er’3 fo, und fein Arın lag um ihren Naden gefchlungen,
denn er wußte jchon feit mancher Wiederkehr ficher, dat fie Feine Seejungfer,
vielmehr ein gar wunderfam ſchönes Menjchenkind fei, und in diefer Naht nun
war ihm dazu fund geworden, fie ſei eine Tochter des Beherrfchers der ffandi:
navifchen Reiche. Aber er wußte auch, das nütze ihm nicht gegen den Wider:
ftand feines Vaters, deſſen Einwilligung zu gewinnen, daß er fich ein Weib feiner
eigenen Wahl heimführe, wenn der Alte dies des Gejchlechtes derer von der Lippe
nicht gleihbürtig achte. Wohl einverftanden zwar war Geſa, die Mutter, den
Burgemeifterfohn von Stralfund zum Eidam zu erhalten, doch nur unter der
Sicherung, er bringe ihre Tochter als anvermählte Ehefrau in jein Haus, und
in Wirklichkeit wie mit den Augen des Argus wachte fie darüber, daß ſich die
Mondnadht von Wollin nicht auf Rügen zum andernmal wiederholen fünne. Ihr
Kind trug als Erbteil das Blut Claus Störtebefers und Waldemar Atterdags
654 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund.
in fi, fie wußte, von einem ungeftümen Wellenjchlag ſei's, und felbft haltlos
auf wilder See des Lebens umgeworfen, wollte fie die Tochter in ruhigem
Hafenſchutz bergen. Eine Beihülfe Eonnte fie dazu leiften, und die Nadıt hörte
anı Hertha-See Ratichlagung, an der auch der Magifter Wigbold fich beteiligte,
Hin- und Hergehen, wie vielleicht anderes ſich an die Stelle des mißlungenen
Verſuchs jeten lafje. Denn Jörg entftammte nicht minder dem Blut derer
von der Lippe, als Herr Nicolaus, und wenn er nicht als unge vor dem
Alten daftand, kam feine Willensbeharrlichkeit der des Altburgemeifterd ebenbürtig
gleich. Biel an Zuverficht zwar gab ihm nicht Geleit, als er im Morgengrau
von feiner Auserkorenen Abjchied nahm und enttäufcht feine Snigge vom Ge:
Elipp der Stubbenfamer wieder in die See auslaufen ließ. Mit einer Föniglichen
Ladung hatte er fie nach Straljund zu bringen gedacht; nun ftand er vorderhand
von zwedlojer Rückkehr dorthin ab, ſchlug entgegengejegte Richtung gen Oſten
ein und landete um einige Tage fpäter, vom Magifter Wigbold begleitet, an der
Lndebrüde von Danzig.
* *
*
Hin und her ſchwankend nahm der nordiſche Krieg zu Land und zu Waſſer
Fortgang. Den holſteiniſchen Grafen gelang's, erfolgreich gegen die Uebermacht
des Königs Widerftand zu leiften, der Hanſe dagegen fiel nur wenig an Ruhm
und Gewinn zu. Wohl rüftete fie eine an Zahl gewaltigere Flotte, denn je
zuvor, über drittehalb Hundert große und Feine Schiffe mit zmwölftaufend Ge-
waffneten, die in die Meerenge zwifchen Seeland und Schweden, von den Sfan-
dinaven „Eyrarfund*, von den Deutfchen „Noreſund“ benannt, einliefen, um die
dänische Schiffsmacht zu vernichten und Kopenhagen zu erobern. Dod) der Sund,
der ſchon mehr als eine jchwere hanfische Niederlage gefehen, nahm auch diesmal
wieder einen kläglichen Mißerfolg gewahr. König Eric hielt das Fahrwajler
mit ftarfen Bollwerfen verfperrt, Hinter denen jeine Flotte fih in Sicherung
barg; vergeblich ftrengten die Hanfen fi an, in das „Ravenhol”, den Ravelin,
einzubrechen, fuchten umfonft, aus zu weiter Entfernung mit ihren auf Flöße
gefeßten zahlreihen Bombarden die feindlichen Fahrzeuge zu zerftören. Nach
mancher Woche Eehrten fie im Frühlingsanfang unverrichteter Sache an die
deutiche Küſte zurüd, zertvennten fich, und jeder Gefchwaderteil fegelte jeiner
Heimatftadt zu. Der Mangel einheitlicher Leitung, eines ftraff zufanımenfafjenden,
gebietenden Oberbefehls machte fich, wie fchon gar mandmal, geltend; geheime
Unterftrömungen in dem großen Städtebund traten jhädigend hinzu. Während
des ganzen Krieges bereit3 hatte die Beteiligung Lübecks, des Oberhauptes, ſich
als eine fchwächliche gezeigt, es ftand im Verdacht, mehr zu hemmen als zu
fördern, im Holftenland kam die Nede auf, die von Lübeck führten ftatt des
Schwertes einen Badequalt. Ob der Grund dafür in dänifchem Gold oder
Sonderzufagen des Königs zu ſuchen war, mochte diejer allein wiſſen, aber un—
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfumbd. 655
verfennbar kam er feinem Ziel, das Angedenten Waldemars an der düdefchen
Hanſe zu rächen, feinen eigenen Haß an ihr zu befriedigen, näher. Triumphierend
laß Erich von Pommern auf der Schloßburg feiner nun zur königlichen Refidenz
erwählten Stadt Kjöbenhavun, die allmählih aus einem Fiicherdorf zum „Kauf:
mannshafen“, dem Dauptort des däniſchen Reiches emporgewachſen war. Hier
verbrachte er feine Zeit unter dem eifrigen Entwurf von Plänen, dem Empfang
geheimer Botichaften und dem kaum oberflächlich bemäntelten jchöner Frauen, an
deren abendliden Beluchen im Schloß feine Gemahlin nicht Anteil nahın. Doc
er übte eine bezwingende Gewalt auf weibliche Sinne, der fih auch Philippa
von England, trogdem fie feinen Zutritt zu jenen Empfängen erhielt, nicht ent-
ziehen Eonnte. Die ihr zugefügte Schmach außer Acht lafjend, fann fie beftändig
nad Mitteln zur Gewinnung der Gunft ihres hohen Gemahls einher, die fie
freilich dur ihre eigene Naturmitgift an Schönheit und einnehmendem Behaben
jo wenig wie dur Eöniglihde Schmüdung ihrer ſchlanken Geftalt bei dem neue-
rungsfüchtigen Nachkommen Waldemars Atterdag zu erringen vermodte. Aber
als Tochter des Königs von England bejah fie noch eine andere Mlitgift, reich:
baltiges engliſches Gold, und wie Erich jet von einem längeren Aufenthalt
in Stodholm zurüdfehrte, empfing Philippa ihn mit einer eigentümlichen, für
ihre Nebenbuhlerinnen nicht herftellbaren Ueberraſchung. Denn während jeiner
Abweſenheit hatte fie eine mächtige, mit zwölfhundert Kriegsleuten befekte Flotte
ausgerüftet und die Zahl der Schiffe genau nad) derjenigen, den fiebenundfiebzig,
bemefjen, mit denen die Hanſe einftmals feinen UWrältervater überzogen und zu
Boden geftürzt Hatte. Mit welchem Dank er ihr dieje deutungsvoll finnige
Gabe gelohnt habe, entzog ſich der Mitteilung durch Augenzeugen, doch fein un:
gewohntes Verhalten gegen fie wenigftens in den nädjitfolgenden Tagen bewies
zweifellos, daß fie diesmal auf ein wirkſames Mittel geraten und einem in ihm
brennenden Verlangen entgegengefommen fei.
An den mannigfachen Wechlelfällen des nun bereit3 zwei Jahre andauernden
Krieges nahm Jörg von der Lippe Eeinerlei Anteil, betrieb jcheinbar in gleich:
mütiger und gleichgültiger Weife nur den Seehandel jeines Vaters als Schiffs:
führer weiter. Ihn drängte nicht Ehrgeiz, jih in Kämpfen hervorzuthun, die
ihm feine Ausficht boten, den an der Küfte von Jasmund mißratenen nächtlichen
Anſchlag beſſer zum Gelingen zu bringen, und aud nad) dem Sreidehaus unter
der Stubbenfamer fpannte er nicht mehr bei heimlicher Nachtfahrt die Segel.
Dod in ihm ſah's anders aus, als ſich's in feinem Thun und ruhigen Gefichts-
ausdrud Eundgab. Er hatte vordem nicht nur über den Glauben feiner Mann-
Ihaft an Seeweiber geladjt, auch die Macht verjpottet, die ein menfchliches Wefen
des andern Gejcjleht3 über einen Mann gewinnen fünne; nur Schwädhlinge
vermöge ein Weib mit Liebesthorheit zu berüden. Aber wie feine fichere Ver—
nunft in der Mondnacht am Hertha-See doch eine Weile lang zum Schwanken
656 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralſund.
gekommen, war in noch jtärferen Maß feine andere Selbitzuverficht zu voll-
ftändigem Zufammenbrud geraten. Ob ihm der Sinn durch Zauberfünfte oder
vom Klopfen des Blut3 in feinem eigenen Innern behert worden, er jah nichts
mehr vor Augen, ala das Antlit‘ Gejas, der jungen, hörte nur noch den Klang
ihrer Stimme im Ohr, fie war das Denken feine Tages und das Traumbild
jeiner Nächte. Bertram Wigbold8 Schilderung von ihr auf Nykjöbingichlog war
zutreffend gewefen, etwas Wundervolles, dem nichts Anderes gleichfam, hatte die
Vereinigung ihrer Abkunft vom Blut der jchönen Ingeborg und dem Claus
Störtebeferd vollbracht; fie regte den Eindrud, als ob Sonne und Mond an ihr
geichaffen Habe, da glanzperlende Meer und der geheimnisvolle Laubwald um den
dunklen Herthba-See. Und ob fie fraglos nichts von der mythiſchen Germanen:
göttin an diefem an ſich trug, von der Tacitus berichtete, hatte der römilche Ge:
Ichichtsjchreiber fie doch in Einem für Jörg von der Lippe richtig gekennzeichnet:
Wer fie mit Augen erblide, fei dem Tode verfallen, dem Hinfterben an ver-
zehrender Sehnjudjt, wenn ihm nicht gelinge, fie al3 die Seinige in fein Haus
zu führen. Daß fie dies nur als anvermählte Ehefrau betrete, hielt aber ihre
Mutter untrügbare Wadıt, und Herrn Nicolaus’ Augen waren wider weiblichen
Zauber mit Diamanthärte gepanzert; ihm galt die Schönheit jo wenig, als die
königliche Abftammung, für den Burgemeifterjohn bedünften beide ihn gewichtlos
gegen eine Tochter aus ftralfundifchem Batriziergefchleht. Das wußte der Junge
genau, daran war nicht3 zu rütteln; nur der gebundene ffandinaviiche König
hätte ihm als Brautwerber bei dem Alten dienen gekonnt, oder etwas Ungeheures
mußte vom Himmel fallen, defjen Starrjinn zu übermeiftern. Etwas Derartiges
von oben herunterzureißen, war aber Jörg troß feinen zwei kräftigen Armen und
dem feiten Willen außer ftande, vermochte nicht weiter zu thun, als den Winter
hindurch auf der Danziger Helling einen Schiffsbau zu betreiben, nicht vom
Gelde feines Vaters, fondern aus dem Erlös für die in der Kreide der Stubben-
famer verborgene Binterlaffenihaft Claus Störtebeferde. Die ſah Geſa, die
Mutter, al3 einen Brautichaß ihrer Tochter an, für dieje aufgejpart, daß fie,
nicht mit leerer Hand kommend, ihn einem Freier zubringe, und die nächtliche
Ratichlagung am Hertha-See war zum Schluß gelangt, das Vorhaben des jungen
Schiffers damit zu ermöglihen. Sonderliche Zuverficht trug zwar die Hoffnung,
die er auf feinen SKoggenbau feßte, nicht in fi; im Oſten gab's ein Sprud-
wort: „Wer kann gegen Gott und Groß-Nowgorod?" und wider dies leßtere
hätt’ er’s, wäre damit zu helfen gewejen, mutig auf einen Verfuh ankommen
laſſen. Doch in feinem Innern Fang das Wort in einer anderen Faſſung: „Wer
fann gegen den Alten?" wenn er den Mugen, der vorgefchobenen Unterlippe und
der Stimme desjelben gegemüberftand. Bei der Vorftellung kroch aller Willens-
troß des Jungen zu Kreuz, war fein Wolf oder Bär, ſondern dudte ſich ſcheu
wie ein Dafe beim Rüdengebell mit niedergebogenen Ohren in eine Bodenrille
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 657
zujammen. Und jo wußte Jörg von ber Lippe feinen Rat, als ſich, jo viel ſich's
machen ließ, vor den gefürchteten Augen des Altburgemeifters geborgen zu halten
und heimlich feine Beranftaltung auf der Helling von Danzig weiter zu betreiben.
Der Magifter Bertram Wigbold war nad) Stralfund zurüdgefehrt, wo er,
ohne guten Gejhmad daran zu finden, an der Erinnerungsfoft zehrte, daß Erich
von Pommern ihn an verhohlener Klugheit überboten hatte. Auf ein Haar wär's
ihm obendrein dabei oben am Maft um den Hals gegangen; das bejchwerte ihn
indes in der Vorftellung nur wenig, es hätte ihm zu Recht drauf geftanden, und
wenn er aud fein Seeräuber geworden, wie fein Bruder, trieb ſich dejjen
furdhtloS verwegenes Blut dod auch in feinen Adern um. Wahrheit aber war
ihm auf Nykjöbingichloß vom Mund gekommen, daß er bei feiner Bemühung um
Claus Störtebefers Enkelkind Hoffnung auf einen kleinen Lohn auch für ſich ſetze,
freilich nicht aus der Hand König Erichs, doch aus der Jörgs von der Lippe.
Denn er friftete in der That jein Dafein unter kärglichſten Umftänden, und das
über ihn heraufgerüdte Alter ließ ihm etwas Verbeſſerung und Sicherung vor
dem jchlimmften Darben als recht wünſchenswert ericheinen. Dafür hatte der
Fehlichlag am Jasmunder Strand zwar die Ausficht verdorben, doch fein Kopf
drüben auf Falſter etwas in fi) aufgenommen und mit herübergebradt, das er
eigentümlich eingehaft drin bewahrte. Zwei Gefichter aus der Bankettrunde
im Schloß waren's, die der zwei Sımker Hanns Moltke und Henning Manteuffel,
befonders da3 des lekteren mit dem an der rechten Scläfe wunderlich über's
Ohr niedergefrauften Haar, und ihn hielt fih daran gefnüpft, in dem Aufenthalt
der beiden am Hoflager des Königs habe etwas Berborgenes, der deutjchen
Danfe Geltendes geftedt. Was dies fein möge, wußte der Magifter ſich aller:
dings nicht zu fagen, doc) trug er ein Gefühl in fid, er werde ihnen noch einmal
wieder begegnen, und im Gang des Winters zeigte fid), daß diefe Mutmaßung
ihn in der That nicht getäufcht hatte. Jm Dämmern eines mit dichtem Schnee-
geftöber über Stralfund einfallenden Märzabends führte der Zufall ihm nahe
einen Mann vorüber, deſſen Neußeres durchaus feine Aehnlichkeit mit einem
jener beiden darbot, die lange Bärte und im Gejicht Fredy funfelnde Augen ge—
tragen hatten. Diefer war glatt gejchoren, dabei lag ein halb blöder Ausdrud
in feinem Blid, ein fi) kümmerlich nährender Kleiner Gewerbtreiber jchien’3
zu fein. Nur fein ungewöhnlid, al3 halte es etwas verborgen, tief über die
rechte Schläfe niederhängendes Kopfhaar lieg Wigbolds Augen ftugen, jo daß er
unvermerft dem in der engen Waflergafje in die Metichanfjtube zum Slannen-
hals Eintretenden nacfolgte. Hier brachte er vom Wirt unauffällig in Er:
fahrung, ein „Paternoftermacher”, ein Bernfteinfucher und =Dreher ſei's, der
ſchon jeit dem Winterbeginn in der Stadt dem Abſatz feiner Waren nachgehe,
Karſten Jeſup heiße und abends gemeiniglich zu einem Trunk in der Schenke
vorfehre. Das nutte der Magifter zu weiterer Elug angeftellter Beobadtung,
42
658 Milhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund.
aus der fich ihm bald als zweifellos ergab, er habe in dem Karſten Jeſup den
Junker Henning Manteuffel wieder angetroffen, und diefer trage fein Daar jo
abfonders, weil ihm an der Seite dad Ohr fehle, das ihm mutmaßlih einmal
irgendwo am „Kaak“, dem Schandpranger, vom Büttel abgefchnitten worden fei.
Als Bertram Wigbold diefe Erkenntnis aufgegangen, entwidelte er eine
außerordentliche Befähigung zum Kundſchaftern, heftete jich, ebenfalls jeine äußere
Erſcheinung zur Unerkennbarfeit verändernd, an die Ferſen des verdächtigen Gaſtes
und Landsmanns Erichs von Pommern und entdedte, daß jener feinen Bernſtein—
handel nad) Einbruch der Dunkelheit bei den wenigen, in der vom päpftlichen
Bannfluch betroffenen Stadt noch verbliebenen Pfaffen betrieb. Nicht minder
jedoch in den Häufern der Ratsherren, die heimlich den früheren Regiment und
dem aus Gtralfund vertriebenen kirchlichen Oberhaupt Hurt von Bonow an-
Dingen, und daneben bejuchte der Paternoftermacher allnädtlich die Gildeftuben
mehrerer Zünfte, befonder3 die der Brauer, unter denen verhohlene Erbitterung
über den Krieg herrſchte, weil diefer ihnen die höchſt einträglide Bierausfuhr
nad) den ffandinavischen Ländern aufgehoben. Durch eine Reihe von Wochen,
bis zum Frühlingsanfang, feßte der Magifter behutſam und ſchweigſam feine
Ausipürung fort, aber dann im Maibeginn erbat ev plöglich einmal noch ſpät
abends dringlid” Vorlaß bei dem Altburgemeifter Nicolaus von der Lippe, und
das ihm verftattete Gehör zog jählings Überrajchende Folge nad) fih. Denn um
faum eine Stunde nachher durchhellte vielfaches Fackelgeloder die nachtdunklen
Straßen der Stadt, Hunderte von jchwer gewaffneten Bürgern drangen da und
dort in die Gildeſtuben ein, erbrachen die verichlojjenen Thüren vieler, aud
mancher vornehmer Häufer und nahmen über hundert Ratsherren, Bfaffen und
Zunfthäupter aus ihren Betten in Berhaft, um fie fonder Rüdficht auf Stand
und Namen ohne Seid und Schuh in den „Turm“ zu werfen. Befunde ftellten
klar heraus, daß für die nächſtfolgende Nacht ein Aufruhr geplant worden, bei
welchem dem draußen mit feinem medlenburgijchen Nittergefolge harrenden Kurt
von Bonow die Thore geöffnet und das Stadtregiment niedergemadht werden
follte. Doch durd) die noch rechtzeitige Auskundung Bertram Wigbolds und die
blitichnelle Entjchlofjenheit des Herin Nicolaus war dies Borhaben zum Gegen-
teil, dem Berderben der Aufrührer ausgefchlagen; nun fuchte, wer von dieſen
nod) zeitig eriwachte, über die Stadtmauer davon zu kommen, aber nur wenigen
gelang's, vder die ins Freie hinaus Geflüchteten ertranfen draußen in den großen,
überall Stralfund umgürtenden Teichwaſſern. Giner derer, die fi) zu retten
vermochten, war der Seeräuber Henning Manteuffel; ev ſchwamm wie eine Ratte
und entfam, bloß und nadt, ans andre Ufer, um feinem Genoſſen Hanns Moltke
im Lager der Medlenburger die unmwillfonmene Botichaft zu bringen, daß der
Anſchlag König Erich gegen die Pfefferfrämer mißraten und fein reichlich aus—
geitreutes Gold nutzlos vergeudet worden jei. Der Magiiter Wigbold Hatte fid
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 659
an ihm eine Genugthuung für das auf Rügen verlorene Spiel verihafft und
diesmal fich felbft einen wohlverdient nicht karg bemejjenen, für jeinen Yebensrejt
voll ausveichenden Lohn eingefcheuert. Anderer Lohn ward dagegen jchon am
nächſten Tag einem halben Dußend der Hauptverichwörer zu teil, denen die
breite Schwertflinge des „Meifterd Hans“ Hurtig die Köpfe vom Rumpf ab-
trennte. Nicolaus von der Lippe hielt ein langwieriges Nechtsverfahren durchaus
überflüffig, eracdhtete vielmehr eine derartige jchleunige Vollſtreckung als äußerſt
förderlich, ſowohl für das allgemeine Beite, wie auch für eine nüßliche Einwirkung auf
eine mehr oder minder große Anzahl von Köpfen, die noch in der Stille ähnlichen
Umpfturzgedanten nachhängen modten, und er machte jid) nichts draus, daß bei der
Dinrichtung der Boden des Alten Marfts fi vor feinem Haufe einmal wieder jehr
(ebhaft rot färbte. Sein Gemüt litt fo wenig an empfindfamer Schwäche, wie
das feiner Zeit überhaupt, der die von überwältigten Gegnern herrührende Blut:
farbe nur eine erfreuliche Augenweide bereitete.
Das hatte ſich am dritten Maitage zugetragen und infolge davon Stral-
funds Bevölkerung ſich erft jpät über Mitternacht hinaus zur Ruhe gelegt. Doch
in der Erwartung eines jet friedfertigen und ausgiebigen Schlafs ſah fie ſich
übel enttäufcht, ward vielmehr bereits nad) furzen Stunden im erften Morgengrau
durch ein dumpf-verworrenes Getöfe, dann lautes Mlarıngefchrei, Hörnerrufe und
das Krachen von Donnerbüchjen wieder aufgefchredt. Bon der Hafenmauer her
icholl da3 wilde Gelärm, und als die haftig mit Waffen hinzuftürzenden Bürger
dorthin gelangten, trafen fie noch gerade rechtzeitig ein, um der £leinen Schar von
Mauerwächtern Hülfe zu leijten, einen auf Leitern anftürmenden dichten Feindes—
ſchwarm von den oberjten Sproijen in die Tiefe zurüdzumerfen. An der großen
Ladebrüde entlang aber drängte ſich Maft an Maft, Kaftell an- Kaſtell der fieben-
undfiebzig Schiffe, mit denen das Liebesverlangen der Königin Philippa um die
Gunſt ihres Gemahls geworben hatte; bei Nacht und Nebel war die Flotte un-
bemerft durch den Bellen herangekommen, um endlich den Lieblingswunic Erichs
von Pommern aus Sinabenzeit der zur Ausführung zu bringen. Heute trug er
die fihere Zuverfiht in ſich, Stralfund zu einem Kohlenhaufen zu machen, aber
er hatte mit dem für die Nacht feſtgeſetzten Aufitand in der Stadt, dem gleich:
zeitigen Angriff Kurt von Bonows von der Landfeite her gerechnet und von dem
in letter Stunde hereingebrochenen Mißgeſchick der Anftiftung Henning Manteuffels
auf der See feine Kunde erhalten. So drohte die Gefahr der Leberrumpelung
nur während der kurzen Zwijchenzeit, bis die mannhaften Stadtbürger zahlreich)
genug zur Abwehr herbeigeeilt waren; dann blieb bald außer Zweifel, daß die
Angreifer troß ihrer großen Ueberzahl gegen die gewaltige Mauerftärte nichts
auszurichten vermöchten. Zwar jchleuderten von den Schiffskaſtellen die Bliden
und Mangen einen Hagel von jchiweren Steinen, Füſſern mit Brennftoffen und
Tonnen mit dänifchem Stinfpulver herüber, dat die Verteidiger ſich die Naſen
42*
660 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralſund.
mit Tiihern verbinden mußten, doc im Erfolg ähnelte aller Kraftaufwand nur
dem Sinderjpiel, da8 Eric) von Bommern einftmals am Strand bei Hügenmwalde
gegen die von ihm aus Tang aufgebaute Stadt Stralfund betrieben hatte.
Barhaupt, vom mwehenden weißen Haar umflattert, befeuerte der Altburgemeifter
mit Donnerftimme feine Leute, und den dänischen Wappnern blieb nichts, als von
dem ausficht3lofen Anfturm ablafjend, in ohnmächtiger Wut alles, was ihre Hände
an der Ladebrüde erreihen Eonnten, zu zerhauen und zerftüdeln, das Sankt
Jürgen-Kloſter und die fonftigen Bauwerke draußen vor der Mauer auszuplündern
und in Brand zu feßen. Dazu fchrieen fie den Bürgern ein ſchon uraltes
Schimpfwort ins Gefiht hinauf: „Tydſke Garper!" nicht gerade finnvoll und zu-
treffend, denn das zweite Wort bedeutete „Läufe“, und mit ſolchen war das
dänische Volk von jeher ausnehmend viel reichlicher begabt als das deutſche.
So tobten die Abgewiefenen in machtlofem Grimm, wie einft die griechiichen
Helden um die Mauern Troja, mit berausfordernden Maulwerf und Hohn:
geichrei bis gegen Mittag umher, dann ging ihnen allmählicd) die Zwedlofigkeit
ihres Treibens auf, daß fie eigentlich fich felbft veripotteten, fie jegten Segel bei
und verſchwanden, da der Wind fie nicht in den Gellen zurüdfieß, bald durch den
Strela-Sund nad) Süden. Ein ungeheures Gelärme im Grund um nichts war's
gewejen; die rauchenden Trümmer am Hafen entlang bezeugten wohl die That-
fächlichkeit des vergeblichen, wie ein Nachtſpuk abgeſunkenen Ueberfalls, indes der
zugefügte Schaden hatte für die reiche Stadt Stralfund fraglo8 nur geringe
Bedeutung. Doch Nicolaus von der Lippe jtand noch auf der hohen Mauer,
ſtarrte mit weitaufgerifjenen Augen Hinter den davonziehenden Segeln drein umd
ballte ihnen eine Fauſt nad. An feine Seite war durch Zufall der Magiſter
Wigbold geraten, dem von Mund kam: „Die find gut nad) Haus geſchickt umd
fönnen fih am Norefund die Köpfe bepflaftern laſſen.“ Abbrechend aber jekte
er verwundert hinzu: „Was habet Ihr, Herr Burgemeifter?"
Deſſen breitmäcdhtiges, ſonſt jederzeit eine wie fteinerne Unbeweglichkeit
wahrendes Geficht zeigte einen fremdabjonderlihen Ausdrud, und wunderlid
laut mit fich ſelbſt redend, ftieß er jeßt iiber die vorgefhobene Unterlippe: „Dalt
ie! Wer hält fie feit? Sie haben mich einen Laufeferl genannt — mit Eijen
will ich ihnen das Maul zuftopfen! Schid mir den Teufel aus der Hölle ber
dazu und er joll dafür verlangen, was er will—"
Augenscheinlih hatte bei den wilden Vorgängen der beiden legten Nächte
und Tage die eiferne Kraft im Kopf des Herrn Nicolaus doch nicht ftandgehalten.
Leiblih ſtand er hod) aufrecht da, aber fein Gehirn war von Erſchöpfung über:
wältigt, und fein Mund ſprach wirre Dinge vor ſich hinaus.
* +
Ein glanzvoller Maitag war's, Eühl nach feiner norddeutichen Art, unter
wolfenlofem Himmel blies kräftig der Nordwind, der die Dänenflotte durch den
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 661
Gellen hereingebracht hatte, für Schifferaugen indes lag etwas in der Luft, als
babe er vor, nad) Oſten umzufpringen. Nun war der Burgemeifter mit den
Ratsherren und vielföpfigem anderen Geleit zur Ladebrüde hinuntergeftiegen,
dort den Schaden zu befichtigen, doch nur mit einem fchweifend fladfernden Blid
gingen feine Augen über die Verwüftung hin; ungefähr feit einer Stunde mochte
die Sonne ihren Mittagsftand durdfchritten haben. Da fuhr plötzlich von einem
Mund der Ruf: „Nu fmiet de Düwel fin Grotmoder vun de Trepp dal! Hefft
fe dat med de ſwatte Kunſt nu famt do günt wedder t'rügg?“
So ſah's aus, jeder Blick ging in die Richtung, weiß im Lichtglang bligend,
flog vom Gellen her wie ein Schwarm von Riefenmöven eine Anzahl mächtig
gebaufchter Segel gegen die Brüde zw. Schnell drauf aber rief eine andere
Stimme: „Nee, dat ſünd Hanfen, de vörfte bett de Danziger Flagg.“
Und binnen kurzem litt's nicht mehr Zweifel, ſechs hanſiſche Handelskoggen
von der größten Art waren’3, die ſich draußen auf der See angetroffen und,
wie's Brauch, zufammengehalten, da alle nah Straljund wollten. Sie famen
aus Dften her, doch für die Fahrt durch den Strela-Sund ftand der Wind ihnen
entgegen, fo hatten fie den Kurs nordwärt3 von Rügen genommen, liefen jet
unter vollften Segeln fluggefhwind aus dem Gellen hervor, ohne eine Ahnung,
was ſich jeit dem Morgenbeginn vor der Stadt zugetragen. Als vorderfte ſchnitt
die Kogge mit der Danziger Flagge durch's Wafferblau; fie zeigte am Bug
unterm Vorderkaſtell fein Erzengel- oder Heiligenbildnis, jondern das Bruftbild
eines jungen Weibes, eine Seejungfrau ſchien's darzuftellen. Mit lebensvollem
Antligausdrud war es fidhtlich von der Hand eines guten Künftler8 aus ver-
ichiedenen Holzarten angefertigt, da3 lang auf die Schultern niederfließende Haar
aus morgenländiihem Ebenholz, während das des Gefichtes ein Farbe wie
Elfenbein darbot; die Augen unter den dunkeln Brauen warfen einen fternartig
filbernen Glanz, über dem Scheitel ſah von einem Halbrundbogen mit weithin
erfennbaren weißen Buchſtaben der Name „Gefa" herab. Ungewohnt und auf:
fällig waren Bildnis und Name, doc die an der Ladebrüde angefammelten
Stralfunder hatten gegenwärtig feinen Blick noch Verwunderung dafür übrig;
eher weitete es ihnen etwas die Lider auseinander, daß auf dein Borderfaftell
des ſtadtfremden, augenfcheinlihh nagelneu gebauten Schiffes der Sohn ihres
Altburgemeifter ftand und hart neben ihm eine blutjunge Magd von unver:
fennbarer Aehnlichkeit mitt dem gefchnigten Bild unterm Bugfpriet. Nur hatte
ihr der jcharfe Wind, oder was fonft, Stirn und Wangen mit friſchblühendem
Not gefärbt, ein langes feeblaues Gewand aus Eoftbarftem Brüggener Samt
umfloß wie weiches Wellenfpiel die hochichlanfe Geftalt drunter, und über ihrer
Bruft leuchtete, dem Krönungsihmud einer Königin gleich, ein goldenes,
funfelnde Gejteine umfaffendes Halsgejchmeide.
Das nahm aud, vornan ftehend, Nicolaus von der Lippe gewahr, doch nur
662 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund.
mit dem abwejend halbirren Blid, der ſeit ein paar Stunden in jeine Augen
gefahren. Jörg dagegen fiel das Blut aus dem Geficht; fo ſchnell, hier beim
Anlanden fchon, hatte er nicht vor feinem Vater dazuftehen erwartet; mühlam
nad) Luft fchöpfend, ftieg er von Kaſtell zur Ladebrüde herunter. Ihn über:
ſchwoll's jählings mit der Wollerfenntnis, daß feine VBeranftaltung und feine
draufgeftellte Hoffnung nichts als eitel Blendwerf fei, mit dem er ſich felbit die
Sinne betrogen; ohne daß ihm die feltfame Anhäufung der erregten Bürger:
gelichter am Hafenrand zum Bewußtwerden kam, trat er, kaum ein Schlottern
feiner Kniee beherrfchend, auf den Alten zu und ftotterte, den breitfrämpigen Süd:
weiter vom Kopf abziehend, ſcheu niedergeichlagenen Blids hervor: „Nehmt's
nicht mit Unwillen an, Here Bater — id habe die Stogge in Danzig bauen
lafjen — fie gehört meiner — der Name dran ift der von meiner — ſie Iteht
dort oben — wenn Ihr einen Blick nad) ihr richten mögt — für die ich Eure
Zuftimmung erbitten wollte, Herr Vater — daß id) fie mir zur Braut erwähle."
Erit nad) zwei vergeblichen, jchredhaft abgebrochenen Anläufen hatte der
Sprecher das geicheute Wort über die Lippen geftammelt, und zu Tode beftürzt,
unfähig, weiteres beizufügen, wid) er einen Schritt zurüd, ftand wie glieder:
gelähmt. Denn nun Schoß ihm aus den Mugen des Alten der gefürdhtete Blitz
entgegen, und Herr Nicolaus ftieß dazu aus: „Du? Wer bit Du? Heikt Du
Jörg von der Lippe? Sieh mich an! Hab’ ich Läufe im Bart? Das läßt Du
mir ins Geficht werfen? Bift Du mein Sohn oder bift Du der Teufel, den ich
gerufen? Heißt Du Jörg von der Lippe, da zeig's und hol fie mir! Bringit
Du fie ber, da wähl' Dir des Teufel Tochter zur Braut, wenn Du willft! Da
hinunter find fie!”
Er redte den Arm ſüdwärts nad) dem Strela-Sund. Der Junge begriff's
nicht, Jah wortlos verdußt in die wirrfladernden Augen des Alten. Einiger Zeit
bedurft' es, ch’ ihm auf fein ragen aus den durdjeinander redenden Antworten
der Umhergedrängten zu deutlichem Verftändnis geriet, was bier erſt eben gefchehen
jei; abfonderlid; nahm ſich's aus, als wachfe dabei die bisher haltlos vorgebüdte
Geſtalt des jungen Schiffer Zoll um Zoll aufwärts. Seine Bruft weitete fi
zu befreitem Atemzug, feine Schultern dehnten fich breit; in die Augen kam's
ihm, als ſchnaube eine weiße Brechſee vor ihnen auf und feine Fauſt pade nad)
dem Ruder, reiße ed herum, um Kopf und Kragen mitten durch fie hindurch.
Nun fpannte er die Nüftern und witterte in die Luft; zwiſchen feinen Zähnen
flog's hervor: „Der Nord greift um — fie fommen nicht hinaus —“
Da Stand er, voll verwandelt vom Kopf bis zum Fuß, hoch aufrecht, umd
ebenfv Klang jetzt auch feine Stimme auf, furdhtlos, feft, wie aus einer Stahl:
fehle: „Herr Bater, iſt's Euer Wort?"
„Was Wort? Was Wort?" wiederholte der kopfwirre Alte.
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Straliund. 663
„Wenn ih Euch den Schinpf wett mache — daß ich Euch als Tochter die
Braut ins Haus führen darf, die ich will?"
Wie zwei Wellen, die vom Wirbelfturm gepeiticht, fi mit den Schaum:
mähnen wider einander aufbäumen, ftanden die Beiden ſich gegenüber. Aud)
Herrn Nicolaus’ Nüftern ſchnoben, er ftieß heraus: „Brahlhans! Schlägt Du
nit der Zunge drein? Einer von der Lippe zeigt'S mit der Fauſt!“
„Bier, Bater! Handſchlag auf Euer Wort!”
Der Junge trete ihın die jehnige Hand entgegen, und um einen Augen:
blick jpäter überhallte es, fonderbar täufchend, die Ladebrücke. Die Donner:
ftimme des Altburgemeifter war's, aber fie kam nicht aus feinem Mund, fondern
aus dem Jörgs von der Lippe: „Wer fteht mit mir? Mein Schiff holt die
Dänen, oder mid fieht Feiner mehr! Düdefche Hanfje! Seid ihr Lübecker in
Straljund und klopft mit dem Badequaft? Da wartet unfere Flotte! Drauf!
Macht fie flott!"
Ein ungeheure Stimmengetöfe aus taufend Kehlen braufte gegen feinen
Ruf zurüd, wälzte ſich weiter, in die Stadt hinein, durch alle Gaſſen: „Auf die
Dänen!" Er hatte das Wort ausgeftoßen, und e3 zündete wie ein Blitfunfen
in einem Strohdach; die von den lebten Tagen wilderregten Gemüter der Bürger
Ichlugen zu feuerlodernder Flamme empor. Ringsum tobte es gleid; donnernder
Brandung: „Aufs Deck! Alle Mann! Schüten heraus! Bombarden! Kraut!“
ein Ameifengerwwimmel, vennend und fchleppend, ergoß fih aus den Hafenthoren.
Die Hanfeftädte waren daran gewöhnt, in bdringlichen Fällen Kauffahrzeuge zu
Kriegsichiffen umzumandeln, doc mit fo unglaublicher Gefchwindigfeit hatte dies
nod feine ins Werk gefeßt. Saum drei Stunden vergingen nah dem Einlauf
der ſechs Koggen, da fpannten diefe, al3 Orlogſchiffe gerüftet, wieder die Segel.
Hundert gewaffnete Bürger drängten ſich auf jedem zufammen, von den Sajtellen
vedten fich die Rohrſchlünde der Feldfchlangen und Bombarden vor, dicht ftanden
die Topfaftelle am Mars mit Sinallbüchfen- und Hakenſchützen, von Armbruftern
unternengt, gefüllt. Steinem kam die mehr als zehnfache Ueberzahl der Dänen—
Ichiffe in den Sinn, die außerdem ftundenlangen Borfprung durch den Strela—
Sund hatten, doc verftärkten die Anzeichen fich, dat draußen vor jeinem Ausgang
der Wind ungünftig für fie umlaufe. Die Stralfunder aber hielt's wie mit einem
Rauſch gepadt, fait jeder von ihnen nahm mehr oder minder an der Kopf—
betäubung teil, die ihren Altburgemeifter zum erftenmal in feinen Leben über-
fallen. Nur Jörg von der Lippe zwang feine Trunfenheit in3 Herz zurüd, hielt
den Kopf wanklos feit und Elar, die Augen Scharf wie die eines Sturmvogels.
So ftand er ald Führer feiner Kogge auf dem Vorderkaſtell der voranziehenden
„Geſa“ und neben ihm das lebende junge Menschenbild, deſſen Antlit der Schiffs:
Ihmud am Bug nachahmte. Er hatte fie am Land zurüdlaffen wollen, doc
hatte fie fid) mit unbeirrbarer Willensfraft dagegen geweigert. Seeräuberblut
664 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund.
war in ihr, das feine Furcht kannte; um fie für fich zu erringen, zog er in den
Kampf, und beim Sieg oder Untergang wollte fie nicht von feiner Seite. Einer
Silbermöve, die aud; Blaumantel benannt ward, ähnelud, ftand fie neben ihm;
wie das weiße Bruftgefieder derjelben ftrahlte ihr Angeficht Glanz aus, und gleich
blauen Flügelichwingen umfchlang ihren Leib das Gewand. Sekt hafteten
ftaunend und bewundernd mande Augen auf ihr, wie das Schiff ji vom Ufer
Löfte und fie dicht an der Brüde entlang forttrug, denn auch die Frauen und
Mädchen der Stadt waren auf die Mauer hinausgeftrömt, den fahrtgerüfteten
Koggen nachzublicken, und eine von ihnen konnte fich den Mund nicht verhalten,
ſondern rief laut aus: „Is dat en Königin, oder fümmt je vun Hewen dal, de
Hanſen to helpen?"
* *
*
Da hatten die jähen Ueberraſchungen der beiden letzten Tage noch nicht ihr
Ende genonmmen, noch eine neue gejellte fich Hinzu. Nur um ein weniges jübd-
wärts von Stralfund lag im Sund die Eleine Inſel Strela, die ihm den Namen
gegeben, und wie die hanſiſchen Koggen eben auf dieje zuzulaufen begonnen,
umzog ihren Borderrand eine dichte Segelmenge. Die dänische Flotte war's, ſie
fam zurüd; als fie and Ende des Strela-Sunds gelangt, hatten der heftig nadı
Dften umgeſchlagene Wind und grobe See ihr wie mit Riegeln den Ausweg in
den Greifswalder Bodden verjperrt, und fie war umgekehrt, ihren Rüdlauf wieder
an der Stadt vorüber dur den Gellen zu nehmen. Wie man im Morgengrau
in Stralfund nichts von ihrem Herannahen bemerkt gehabt, fo zog fie jet obne
Ahnung von dem inzwifchen Geſchehenen in langer Reihe achtlos daher, und fait
urplößlich, beinahe unvorgefehen erſt ward's ihrem vorderiten Teil offenbar.
Eigen war der Borgang in der Luft wie auf dem Waſſer, audy der Wind
fämpfte wider den Wind. Vom Gellen her kam nod; der Nord und füllte die
banfifchen Segel, doch gleicherweife that3 den dänischen fchon der Oſt. So über-
flogen beide wie im Nu die zwiſchen ihnen Eaffende Lücke. Mande ftattliche
Schiffe hatte die Königin Philippa ausgerüftet, und nur ein halbes Dutzend
hanſiſcher Koggen lief gegen die fiebenundfiebzig an. Aber Berichte von Augen:
zeugen fprechen, fie hätten neben den Fahrzeugen der Feinde ausgefehen „wie
Kirchen neben Kapellen“.
Denn Augenzeugen waren zu Tauſenden da, Kopf an Kopf drängten ſich
auf der Stadtmauer Greije, Weiber und Kinder. Solches Schauſpiel, wie heute
Straljund, hatten die Jahrhunderte noch nicht gewahrt. Im Hafen, faum auf
eine Biertelmeile weit, entbrannte an der Inſel Strela vor den Zufchauern eine
Seeſchlacht. Doch kurz nur blieb ihnen der deutliche Anblid, nach wenigen
Minuten lag alles von wogendem Pulverrauh umballt, aus dem nur da umd
dort geifterhaft weiße Linnen hervortaucdhten und zurüdichwanden. Und fo aud
Ichlugen Flammen auf, lofchen, von fchwarzem Qualm überjchnoben, aus,
Wilhelm Nenfen, Der Tag von Straljund. 665
Geradaus war die „Geſa“ als erfte auf das vorderfte Dänenjchiff losgerannt,
hatte dies, wie ein wütender Stier feinen Gegner mit geſenkten Hörnern anfällt,
mit dem eijernen Schnabel niedergerannt, ohne daß es eine Gegenwehr zu leiften
vermodt. Bon ihren Kaftellen krachten die Feuergefchüge, vom Mars herunter
die Haken und Arkebufen zwifchen die nächften Feindesfahrzeuge hinein; Enter:
haken, fünfarmige Anker an leiten Stetten, flogen nad ihnen aus, hielten fie
gepadt, und die Stralfunder ftürzten über die Brüftungen, bieben und ftießen
die noch wie betäubt dreinftarrenden Dänen nieder. Ehe deren nachfolgende
Schiffe begriffen, was vorn geſchah, war faft ein Dutzend an der Spike zum
Sinken gebradt, übermannt oder in Brand gejett. Dann erkannten fie nur die
eine „Geſa“ als die VBerberbenbringerin vor fi), drangen mit kochendem Grimm
auf fie ein. Doc nun brauften die fünf anderen Soggen heran, fielen ihnen in
die Flanken; das Waffengeklirr und Donnern der Bombarden noch überhallend,
Ichrie'3 von allen Kaftellen: „Düdeiche Hanfe!" An dichten Gedränge und Hand:
gemenge entftand unter den eng zufammengefeilten dänifhen Schiffen eine un—
geheure Verwirrung; unfähig, die Zahl der Gegner zu bemejjen, von den Enter:
haken gefaßt, von den hanfifchen Koggen überragt, wie ſchwimmende Häufer von
Türmen, ſuchten fie fi zur Flucht zu drehen, verfingen fi) mit den vom Wind
hinter ihnen dreingetriebenen. Ihre Holzleiber Erachten mit zerberjtenden
Planken, in das hülflos verftridte Rieſenknäuel ftießen ringsum wildjauchzend
die fchonungslos erbitterten Hanjen hinein, jchleuderten brennende Pechkränze
auf die verflochtene Maffe, die Hurtig wie zu einer einzigen Flamme empor:
loderte. „Dat weer'n Mandel,” ſchrie der Putzenmaker Putte Kod mit ſchorn—
jteinfegerfhwarzem Rauchgeſicht, „nu lat us dat Schod vullmaken! Da krupt
noch to veel vun de Garpers up't Water, fünft aifft dat Niſſe.“ Wilde Späße
waren’3, die da und dort aus einem Mund die blutige Abrechnung des gemeinen
Kaufmanns mit feinen nordifhen Widerfahern begleiteten; auch manch einer
unter den zu Kriegern umgewandelten Stadtbürgern griff, von Spieß, Bolz und
Kugel tödlich getroffen, umjchlagend noch einmal mit den Händen in die Luft,
taumelte, das Wafjer drunten rot färbend, über Bord. Aber für jeden von ihnen
verjanfen zehn Dänen in den Wellen oder dedten ald Leichen die Wradtrümmer
ihrer vielfältig zerichellend auf die Sandbänfe der Inſel Strela geworfenen
Schiffe. Bei dem Ringkampf in der jchmalen Meerenge war der anjtürmende
banfifche Nord dem dänischen Oft über und, noch ehe eine Stunde verfloffen, der
Ausgang nicht mehr zweifelhaft. Was fi von dem großen, zur Erftidung zu—
fammengepreßten ſkandinaviſchen Geſchwader nod zu rühren vermochte, ließ jede
Hoffnung auf den Sieg fahren, tradhtete einzig noch nad} Rettung aus demllntergang.
An diefem unermeßlichen Getümmel war’3 Yörg von der Lippe gelungen,
fi) mit der „Geſa“ eine freie Bahn zu brechen; als die Schlacht begonnen, hatte
er für zwei Wugenblide das Kaſtell verlaffen, plötlich bligjchnell und wortlos die
666 Wilhelm Renfen, Der Tag von Stralfund.
Arme um feine Braut gefchlagen, fie wie eine eingefangene Taube zur Najüte
hinuntergetragen und dort in fiiherndem Käfig verwahrt. Nun fah er, aus der
Einengung frei geworden, auf furze Strede weit das größte der feindlichen
Schiffe vor fich, eine Kogge, fajt der jeinigen gleichfommend; an ihrem Haupt:
maft flatterte ein mächtiges "laggenbanner mit dem Wappen der drei jfandi:
naviſchen Reiche, und zwilchen ihnen in der Mitte fpreizte der pommerjche Greif
feine Fänge. Augenicheinlich war's das Admiralſchiff der däniihen Flotte, und
jett ward auf dem Borderfaftell aud) fein Befehlshaber erfennbar. In gold:
blinfender PBanzerrüftung ſtand er hochaufgerichtet, ein nad) rückwärts ſchwer—
befederter Goldhelm dedte ihm den Kopf, auch als Kleinod den Greif tragend.
Jörg war in der Mondnacht nicht bis in's Innere des Streidehaufes am Jas—
munder Strande gelangt, hatte den vom Magifter Wigbold dorthin geführten
Haft nicht mit Mugen wahrgenommen, doch im Nu ward's ihm bei dem Anblid
zur Gewißheit, der drüben mußte König Erich ſelbſt fein, und mit weithallender
Stimme ſchrie er diefem entgegen: „Düt heff id Di beter, Eridy vun Pommern,
un min Tiweerns tövt up din Arms!“ Mit der Linken zu Boden greifend, bob
er deutend einen dien Ankerftrid in die Luft; fein Befehlsruf ließ das Steuer
gerad’ auf das Admiralſchiff zuhalten.
Biel Unmwürdiges, bejjerem Menfchenfein Verächtliches lag in der Bruſt
König Erich3 zulammengehäuft, aber Feigheit war nicht in ihr. Ihm kam's
nicht in den Sinn, dem drohenden Anprall auszumweichen, von Dutenden feiner
gepanzerten Ritter umgeben, ließ er tollfühn den Zufammenftoß aufnehmen. Der
mußte auch die „Geſa“ led Schlagen und kampfunfähig machen; mit klugem Gefchid
vermied Jörg ihn im letzten Augenhlid, ließ feine Kogge leewärts an die Geite
der feindlichen gleiten. Trotzdem krachten und fnatterten die Wandungen beider
bei dem Gegendrud, die Ketten der bereitgehaltenen Enterhafen raffelten;
„Düdeſche Hanfe!” und „Iydife Garper!" tobte Gefchrei hinüber und herüber.
Da nahmen Jörg von der Lippe und Eric von Pommern gleichzeitig etwas
plöglich Auftauchendes gewahr. Bei den hallenden Ruf des erfteren hatte Geia,
die junge, fich nicht von ihrem Käfig halten lajfen, war wieder heraufgeflogen,
ftand auf dem Kaftell da, und wie feitgebannt blieb des Königs Blick auf der
wunderfamen Erfcheinung des jungen Weibes haften; in feinen Augen glimmerte
eine brennend aufglühende Begier. Doc ein dänischer Schüge mochte fie für ein
Seeweib anfehen, das mit Wind machender Zauberfunft den Hanſen zum Bei:
ftand gefommen; er fpannte feine Armbruft, und von der Sehne jchwirrte fein
Gijenbolzen gerad’ gegen ihre Bruft. Zu Tod getroffen, hätte fie niederichlagen
müffen, allein Jörg hatte im letzten Augenblid die ihr drohende Gefahr auf:
gehaicht und eben noch Zeit gehabt, dedend vor fie binzuftürzen. So traf Ibn
der Pfeil unter dem rechten Schulterblatt und durchbohrte jein Lederkoller: er
taumelte von der Wucht des Anfchlags, ſchwarz zog's ihm über die Mugen, und
Milhelm Jenſen, Der Tag von Stralſund. 667
gelähmt fiel fein Arm fchlaff herunter. Beftürzung überfam feine Leute um ihn,
drüben brach ein Freudengeheul aus den Wappnerfehlen.
Mit dem Mädchen zugleich aber war nod) ein Weib von drunten herauf:
gekommen, der Wind jtob ihr langdunfles, graugemengtes Haar um Schläfen und
Schultern, und eine jchallende Lache aufichlagend, rief fie jetzt: „Kommſt Du heut’
mit Deiner ganzen Flotte, mich in Dein Schloß heimzuführen, Eric) von Pommern?
Dier iſt Dein Schiff „Geſa“, das Du bauen wollteft, mich zu holen, und hier fteht
Geſa, Deine Braut. Sie givrt nad ihrem Tauber — Deine Taube fliegt zu
Dir. Die Sonne geht herunter, und die Mondnacht kommt. Yang’ mich) auf
mit Deinen Armen!”
Die Gefa aus den Trümmern der Bilingburg über Julin breitete ihre Arme
wie zwei Flügel weit auseinander und eilte der Brüftung des Kaſtells zu, als wolle
te über diefe nad) dem Admiralſchiff Hinüberfliegen. Aus ihrem Laden, den
Worten und dem Klang der Stimme war das Sunderbare hervorgefommen, das
Claus Störtebefer jeiner Tochter mit jeinen vergrabenen Schäten als Erbteil
übermacht; nicht Geiftesichwäche, denn für ihr Kind war fie mit kluger Vernunft
bedacht, und was fie ſprach, zeugte auch nicht von Sinnverrüdung. Doch etwas
rrtönendes lag drin, wie vom Munde einer in halbem Traumzuſtand Redenden;
jo als eine mondjüchtig auf der verlaffenen Diine Umgehende hatte Erich von
Pommern einft das blutjunge Ding in der Nacht angetroffen und, ſelbſt auch
faft ein Knabe noch, lüſtern mit liftiger Bethörung umftridt, daß fie ihm nicht
Widerſtand geleiftet. Und fo war's bei feinem Anblid in dem Kreidehaus wieder
über fie geraten und geriet es jeßt in gleicher Art. Jahre um Sahre hatte fie
auf jeine Rückkehr, die er ihr beim Fortgang zugejchtvoren, gewartet, bis jeder
Blutstropfen in ihr fich mit glühendem Haß gegen ihn angefüllt. Der jchleuderte
ihm ihr ierflingendes Lachen, die mit bitterem Spott getränften Worte in's Geficht, .
und dennoch zitterte durch den grimmigen Hohn noch etwas Wahres, feit jener
Mondnadt mit unaustilgbarer Sehnſucht in ihrer Bruft Zurüdgebliebenes hervor.
Totes und doch noch Fortlebendes mifchten fi in ihrem Hohnruf zufammen,
das vor allem gab ihm den jeltiamen, geifterhaft wahnwißigen Klang.
Denn fo lange diefer ericholl, übte er auf alle Hörer eine wunderhafte, wie
feftbannende Wirkung, daß mitten in der Schladht ein paar Augenblide jede zum
Kampf auf Tod und Leben emporgeredte Hand ihre Waffe unbeweglich anhielt.
Erih von Pommern aber war jchredvoll erblaßten Gefidyt3 zurüdgefahren; wie
Jörg von der Pippe nichts mit Furcht überwältigte, als die Mugen jeines Vaters,
jo entfiel dem Herrn der drei nordiſchen Reihe Blut und Mut vor der jähen
Wiederericheinung des ihn mit Koſeworten höhnenden und wie mit Stetten
umjchlingenden Weibes vom Jasmunder Strand. Ungezählte ihres Geichlechts,
in jeinem Gedächtnis ausgelöfcht, hatte er in den Armen gehalten, aber fie war
die erite jeines Lebens gewejen, und ob er aud) nie etwas von einer Gewiſſens—
668 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund.
icheu gekannt, padte es ihn aus ihrem Anblid mit einer knabenhaften Angft an.
Als ein Mondnachtögefpenft redte fie fich heute am lichten Tag vor ihm auf,
ftredte die Arme aus, fic) feiner zu bemächtigen. An den Ehriftengott und deijen
Erzengel glaubte er fo wenig, als es feine Ahnherren Smwantibor und Waldemar
Atterdag gethan, doc; vor Dämonen und aus Gräbern rüdfehrenden Getitern
fchüttelte e3 ihm wie dem niedrigften Sciffsfneht das Blut, und als eine Rache:
furie hatte der Höllenfchlund die Gefa von Wollin wider ihn ausgefhidt. Wahn
durdhkreifte feinen Kopf, fie fliege dur die Luft zu ihm berüber, und jie fam
auf dem Schiff, das er als Knabe bauen gewollt, um Geeräuber zu werden, der
Name Gefa flammte dran über ihrem Bild. Nicht aus Holz und Leinwand, ein
Geifterfchiff war's, gegen das fein MWiderftand möglich fiel.
König Erid; von Dänemark, Norwegen und Schweden jchrie plötzlich, von
Graufen übermannt, auf: „Macht los! Der Teufel! Los!"
Ein Innehalten des Kampfes auf beiden Seiten war's geiwefen, wohl kaum
von der Dauer einer Biertelminute, denn aud auf der „Seja* hatte Beftürzung
über das Zurückſchwanken des vom Geſchoß getroffenen jungen Führer unwill—
fürli dem Hinüberdringen feiner Mannſchaft nad) dem Admiralſchiff fo lange
Einhalt gethan. Indes nur während drei oder vier ſchwerer Atemzüge bielt die
Betäubung Yörg von der Lippe gefaßt, dann ftredte er ftatt des rechten den
linfen Arm auf und rief: „Dat's blot Sinnerfpeel — los up den Garpenvagel!”
Dod die Enterhafen hatten unter dem pommerjchen Greifen noch nicht feit gepadt,
auf das Gebot des Königs war es blitfchnell gelungen, jie mit Arthieben zu
fappen und mit Klüverſtangen die däniiche Kogge von der „Geſa“ abzudrängen.
Eine Waſſerlücke Eaffte zwifchen beiden auf, und jett kam der Wind, der Dit,
der den Nord niedergerungen, der eriteren zur Hülfe, entriß fie aus der tödlichen
Umarmung. hre geichwellten Segel retteten fie davon, während ihre Gegnerin
ſich befchwerlich gegen den Widerwind drehen mußte, um ihr nachfolgen zu können.
Als fies ins Werk geſetzt und aud) ihre Segel ſich wieder baujdhten, zog der
pommerjce Greif haftig an Stralfund vorüber. Nun lief die „Geſa“ Hinter ihm
drein; wie ein gehettes Wild floh Eric von Bommern über die ſchäumenden
Wellen, jein eignes Blut machte Jagd auf ihn. So ging’s nordwärts durch den
Strela-Sund in den Kubitzer Bodden hinaus, dod) der Greif hatte zu weiten
Borfprung geivonnen, ließ fich nicht zum andernmal fajjen. Das Admiralſchiff
allein entkam durch den Gellen in die See, die ſechsundſiebzig andern der dänischen
Flotte waren von ſechs hanfischen Koggen niedergerannt, verbrannt, geentert, als
Beute weggeichleppt. Das war der größte Tag, den Stralfund je gefehen; an
ihm verlor die Inſel Strela ihren alten Namen und erhielt den neuen „Dänholm“.
Sonnenuntergang nahte heran, als die „Geſa“, nachdem fie von der vergeb-
lichen Jagd abgelaffen, mit vielen Sreuzfchlägen nur mühfam und langſam gegen
den Dft zur Ladebrüde heranfam. Doc auf diefer ftand nod die ganze Stadt:
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 669
bevölferung wartend zufammengedrängt, empfing das anlegende Schiff mit uner-
meßlihem Aubelgejchrei; unter den vorderiten leuchtete des Altburgemeifters
weißer Kopf, von dem er den Hut abgezogen. Jörg von der Lippe ftieg vom
Kaftell herab, diesmal begleitete ihn die junge Gefa, ihre Mutter blieb am Ded
zurüd. Wie die beiden ang Land traten, fielen die Frauen und Mädchen umher
auf die Kniee und riefen: „Se is vun'n Heven dalfamen un bett u3 bolpen!“
Aus Herren Nicolaus’ Augen war das irre Geflader vom Mittag weg—
geihmwunden; die Menge um Kopflänge überragend, ftand er mit ftolzem Geficht3-
ausdrud. Als der Junge an ihn herangeſchritten, ftredte er ihm ohne Wort die
Dand entgegen, doc) Jörg fagte: „Mit de geiht dat hüt bi mi nich, Herr Vadder,
Ji möt mit de Luchterhand vörleef nehm. Awers de Garpers bett fe Jüm bröcht.“
Er faßte mit der Linken die Rechte des Vaters, der nichts erwiderte, als:
„Du büft min Söhn." Nun drehte der Alte die Augen nad Gefa, jah fie an
und fette hinzu: „Is dat min Dochter?“
„Wenn up dat Wort vım Niclas vunne Lipp to ftahn i8, denn ward fe dat.”
Ohne Troß, doch auch ohne Scheu, von fihrem Augenaufichlag begleitet,
kam's dem jungen Sieger vom Mund. Sein Bater hielt den Blid noch auf das
Mädchen gerichtet und fragte: „Wat is Din Nam?"
Ihn gleichfalls furchtlos anfehend, antwortete fie: „Geſa“. Schmweigend
holte der Alte noch einmal Atem, dann fagte er: „Jörg vunne Lipp mutt dat
weeten. Kumm in min Hus, Gefa.“
* *
*
Ein Junitag ſah feſtlichen Aufzug auf dem Alten Markt, von deſſen Boden
die Blutfarbe weggeſcheuert worden; die ganze Stadt drängte ſich Kopf an Kopf
auf dem Platz und in den anſtoßenden Gaſſen zuſammen, um dem Hochzeitsgang
de3 Siegerd vom Dänholm beizuwohnen, Glodengeläut wogte von allen Türmen.
Herr Nicolaus war ein ſparſam beflifjener Hausvater, doch er hatte für feinen
Sohn und defjen Braut bis zur Sankt Nicvlaificche lündifches Tuch legen laſſen;
darauf führte er feine neue Tochter hinüber, und ihr Vergleichbares hatte Stral-
fund niemals gefehen. Nicht Aehnliches an fönigliher Pracht, in der das Enfel-
find Claus Störtebekers dahinfchritt, doch noch weniger an zauberifcher Schönheit
einer Braut. Menfchenalterlang neideten Bolf3lieder auf den Gaflen Jörg von
der Rippe um fein junges Weib.
Anders ſah's um die gleiche Zeit drüben am Noreſund aus, dort bewegte
ſich durch die Straßen Kopenhagens ein fpärliches Totengeleit, das die Königin
Philippa zur Gruftftatt brachte. Ihre Hoffnung, ſich die Gunft ihres Gemahls
zu gewinnen, war von der düdefchen Hanſe zerichlagen worden; in Grimm und
Wut als Flüchtling heimgefehrt, Hatte er ihr den Dank für die fiebenundfiebzig
Schiffe mit wilder Mißhandlung entrichtet, und zehrender Gram legte die nod)
jugendliche Plantagenettochter früh in den Sarg. So erlebte ſie's nicht mehr,
670 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfimd.
daß Schweden ſich gegen den Unionskönig auflehnte, raſch danadı Norwegen das
Gleiche that und dann auc Dänemark ihn durch einen Abjagebrief feiner Reichs—
räte vom Thron hinabftieß, den fie feinem Scmejterfohn, dem Bfalzgrafen
Ehriftoph von Baiern, darboten. Der Tag von Stralfund war's, der jein Geſchick
entfchieden und die Hanfe zum alten Glanz, zu feitem Zuſammenſchluß wieder
emporgehoben hatte; auch das lau gewordene Lübeck trachtete jett danach, ich
jeines Ruhms und Ranges als Bundeshauptitadt aufs neue würdig zu erweiſen,
um nicht, von der mächtig an Anfehn aufgeftiegenen Nachbarftadt am Strela-
Sund überflügelt, Borrang und Führung der Hanſe einzubüßen.
Erich von Pommern aber führte jetzt aus, was er als Knabe abenteuerlid
im Sinn getragen. Bei Nacht und Nebel verließ er mit den Sirongejteinen feiner
verlorenen Reiche und den von ihm angejfammelten Neichtümern feine Kopen-
bagener Schloßburg und fuhr nach der Inſel Gotland hinüber. Dort jette er
fich in der verfallenen, einft von feinem Urältervater Waldemar Atterdag durch
Trugliſt eroberten und zerftörten Stadt Wisby feft, rüftete Schiffe, für die er
tollverwegenes Bolt anwarb, und ward zum Seeräuber; Henning Manteuffel und
Hanns Moltfe jcheinen ihn mit ihrer reichen Erfahrung dabei als Hauptleute
unterftügt zu haben. Seine Hand war gegen alle, mit gleichem Rachedurſt über-
fiel er jeden hanſiſchen und ſtkandinaviſchen Stauffahrer, den er übermwältigen Eonnte,
Ichleppte ihn als Beute in feine Felsfchlupflöcher an der verrufenen Inſelküſte heim.
Eine Anzahl von Fahren verbrachte Geſa, die Mutter, im Stralfunder Haufe
Jörgs von der Lippe, jchaufelte, anjcheinend rubig-befriedigt, fi) mehrende Enkel
auf ihren Knieen, jpielte mit ihnen und lachte dazu mit dem eigenartig hellen
lang. Doch eines Morgens war fie über Nacht verichwunden, hatte binter-
lajjen, fie wolle das Kreidehaus auf Jasmund nod) einmal auffuchen, Eomme von
dort zurüd. Sie fehrte aber nicht wieder, blieb verſchollen, und erſt nad) Jahren
ward durch Zufall Eund, daß jemand fie auf Gotland gejehen habe. Von unbe:
zwinglihem Drang getrieben, war die Seeräubertocdhter zu dem Seeräuber
gegangen, der fie einft in der Mondnacht auf Wollin zwiichen den Trümmerreiten
der Palnatofeburg angetroffen. Das Alter mochte die Erinnerung daran wie
ichwellende Flut in ihr wieder aufgewedt und den Haß aus ihrem Blut weg:
geichwemmt haben; jo hatte ſie's zu dem früh gealterten und verwitterten Nadı:
fahren der alten Bilinger hinübergedrängt, im Gefühl, daß fie unlösbar zu ihm
gehöre, das Mißgefchid feines Ausgangs teilen müffe. Denn übel erging's ihm
mehr und mehr; auf dem „Hanſetag“ war ſchon öfter gefordert worden, man
jolle zurüften, mit Gewalt das NRaubneft auf Wisby auszunehmen, doch Kübel
hatte halb jpöttiich, Halb aus einem Mitleid mit der gefallenen Größe gegen-
gehalten: der arme König müfje doch etwas haben, wovon er ſich nähre; jeltfame
Widerſprüche vereinigte die Zeit in fi. Dann aber handelte Karl Knudſon, der
neue König von Schweden, mit weniger Schonung, verjagte den Seeräuber aus
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Straliund. 6A
feinem gotlandijchen Felſenhorſt, und über das baltiihe Meer floh Erich von
Pommern in die ärmliche Bäterburg bei Rügenwalde zurüd, von wo einſt Mar-
garete Sprengebeft ihn vor einem halben Jahrhundert auf den Thron der nordiichen
Reiche berufen. Dorthin foll ihn ein weißhanriges Weib mit nod) jchön erhaltenen
Antlißzügen begleitet und am Strande, der feine Knabenſpiele geliehen, ihn
mandmal ala ſchwach auf den Füßen einherihwantenden Greis mit ihrem Arın
geftüßt haben. Die legte Hıumde aber von Eric von Bommern berichtet, daß er,
auch darin feinem Ahnherrn Waldemar nadjgeartet, am Schluß feiner Tage mit
dem Gleihmut eines Weifen auf fein vielberwegted Leben zurüd und auf die
Eitelkeit alles vergänglichen irdiſchen Hoheitsglanzes niedergefehen. — — —
Die Macht der düdejchen Dane ift feit langem von den nordifchen Meeren
weggeihwunden, die jie nicht mehr mit ihren Orlogskoggen beherriht. Jahr—
hunderte hindurch ging der reiche Handel der Seeftädte und mit ihm ihre Blüte
zurüd, abhängig von der Ueberfraft und Willfür Derer geworden, denen fie ebe-
mal3 ihre Gebote vorgefchrieben. Vom zerriffenen römischen eich deuticher
Nation im Stich gelaffen, wurden die DOfterlinge und Wefterlinge zum Spielball
und Spott der Holländer und Engländer, jelbft des Eleinen Völkchens der Dänen.
Lernen wir etwas aus der Betrachtung der Vergangenheit, der Geſchichte
des Hanjebundes? Eines gewiß, die unumftößliche Wahrheit des Wortes von
Spinoza, daß jeder nur fo viel Recht beſitzt, als er Kraft hat, es zu behaupten.
Und die Hanje lehrt, daß dazu nicht allein die Herrihaft auf der See gehört,
fondern zu ihrer Forterhaltung aud) die feite Zuſammenfaſſung der Kraft unter
einen Willen, eine gebietende Führung.
Die hanſiſchen Koggen wären heute troß ihrer ftolzen Kaftelle ohnmächtige
stinderjpielzeuge. Unſere Tage fordern zu dem eijernen Willen auch eijern ge—
panzerte Schiffe. Die zu Schaffen, jedem Widerfacher an Zahl und Kraft eben-
bürtig, ift die oberjte, die dDrangvollite Pflicht des neuen deutſchen Neiches, und
dann: „Pier wieder düdeſche Danje rund um den Erdball!*
u
Ausſprüche aus „Geiltige Uaffen.‘*)
Dir Pellimiften find durdyweg elwas zu klein geratene Seelen, unfähig die höchflen
Güler des Lebens mit Mut zu erfireben und mit Kraft und Ausdauer zu erreichen,
welche dazu erhört. bilty.
Wer die ungeljeure Bedeufung der Religion unterfchäkt, arbeitet Iroß aller Auf-
klärung mur dem Aberglauben in die Bände. Leibniz.
Pie Zeichen der Zeit find deutlich genug, mit den Problemen des innerſten Welens
des Menſchen frefen audı die der Religion immer mächtiger hervor, fie werden im kom-
menden Jahrhundert nodı mehr die Gemüler erfüllen. Und in diefen Wandlungen wird
ſich — vielleicht durch ſchwere Rataſtrophen hindurdd — erweilen, daß das Chriflenlum
nicht nur eine große Bergangenheit, fondern auch eine große Zukunft hal. R. Euken.
®) Geiftige Waften. Gin Aphorismen:Lerrton. Zuſammengeſtellt von E. Schaible, Oberft a. D. Freibwigi ®.
und Yeipyig. Berlag von Paul Waehhel.
ERSTIEZREZTIEZRETREZFELER
Weltgeiciidte und Weltpolitik.
Ein hiltorlicher Beitrag zum Verltändnis der gegenwärtigen lage,
Ton
Otto Hintze.
D: Wort und der Begriff „Weltpolitik” ift nicht neu. Wer Nantes Werte
fennt, wird ſich erinnern, dieſem Ausdrud für die Vorftellung einer univerfalen
politifchen Tendenz oft begegnet zu fein, und zwar in allen Jahrhunderten.
Wenn wir dennoch heute beim Gebrauc des Wortes die Empfindung haben, daß
es fih um etwas Neues, noch nie Dagewejenes handelt, jo liegt das in dem allge:
meinen Fortichritt der Weltgefchüchte begründet,in der jede Epoche ein anderes Geficht
zeigt, und infonderheit in der Veränderung und Erweiterung ihres Schauplaßes.
Weltgefhichte und Weltpolitik find Begriffe von relativer Bedeutung. Für
jedes Zeitalter ift das Gebiet, das fein politifcher und Kulturhorizont umfpannt,
feine Welt. Es ift eine der bemerkenswerteſten Erfcheinungen in der allgemeinen
Geſchichte, daß diejer Horizont fih für unferen Kulturkreis im großen und ganzen
ftetig erweitert hat; wo immer vom „Fortſchritt in der Geſchichte“ die Rede ift,
fullte diefe fundamentale Thatſache nicht überfehen werden. Auf ihr beruht die
ganze Idee einer „Weltgejchichte” überhaupt in dem Sinne, in dem wir gewohnt
find, das Wort zu brauchen. Weltgefchichte ift der Prozeß der Fortpflanzung und
Ausbreitung einer eigentümlichen, ſich innerlich fteigernden und äußerlich fiegreich
fortichreitenden Kultur, deren Träger im Anfang einige hochentwickelte Stämme
der weißen Raſſe in Weftafien und Nordafrita gewejen find, die ſich dann über
alle europätichen Völker verbreitet hat, die heute faſt die gefamte weiße Raſſe
umfaßt und im Begriff ift, fi) aud die übrige Menſchheit, ſoweit fie dazu fähig
ift, zu affimilieren. Ursprünglich getrennte Kulturkreife fließen ineinander; mannig-
fache Einflüffe von außen verändern und bereichern die fortichreitende Kultur;
aber der bleibende, unzerftörliche innere Zuſammenhang durd alle Völker und
Zeiten hindurch verleiht diefem Kulturprozeß im ganzen doch den Charakter einer
großen Einheit. Neben dem oft bezweifelten inneren Fortſchritt der Kultur jtebt die
ganz unzweifelhafte Thatfache ihrer äußeren, geographiſch-ethnologiſchen Ausbreitung.
Dtto Hinke, Weltgeichichte und Weltpolitik. 673
Für die ägyptiſche und babyloniſche Kultur waren die großen Oaſen des
Nil- und Euphratthales inmitten von ausgedehnten Wüſten oder Steppen eine
in ſich abgeſchloſſene Welt, bis in der Perſerzeit der Horizont ſich auf das
geſamte vorderaſiatiſche Gebiet erweiterte. Für das griechiſch-römiſche Altertum
bildeten die Randländer des Mittelmeeres den orbis terrarum; für das romaniſch—
germaniſche Mittelalter waren Weft- und Mitteleuropa der abgegrenzte Schauplaß;
für die neueren Jahrhunderte wurde es das Beden des Atlantifhen Ozeans; in
der Gegenwart treten die Inſeln und Küftengebiete des Großen Ozeans unter
jih und mit der übrigen Kulturwelt in immer nähere Berührung, und wir ftehen
ſchon an der Schwelle einer Zeit, für die das eine allgemeine Weltmeer als die
Hochſtraße des Völkerverkehrs ericheint: Dampferlinien und Telegraphentfabel
umjpannen in immer dichterem Net die ganze Oberfläche unferes Planeten, und
die Zeit ift nicht mehr fern, wo der alljeitige Kontakt mannigfaltiger Kultur:
zuſammenhänge unter den Bölfern der Erde hergeftellt ift und die „Welt” als
Schauplatz der wirtichaftlihen und politifchen Beziehungen unter den Gliedern
der Menjchheit ein innerlich verbundenes Ganzes darftellt, daS Feiner weiteren
Ausdehnung mehr fähig ift.
In diefem Zuftand der Weltverhältniffe liegt das Eigentümliche und
Bejondere der gegenwärtigen politifhen Lage. Es ijt ein Weltverfehr und eine
Weltwirtichaft entftanden, deren Einwirkungen für alle zivilifierten Völker und
Staaten immer ftärfer und empfindlicher werden; der Politiker muß heute feinen
Blick gleichzeitig nach Oftafien, nad) Süd-Afrika, nad; Amerika, nad allen Teilen
der Welt richten. In unjerer Weltpolitit kommt es auf Handel und Kolonieen,
auf Lloyddampfer und Panzerfreuzer, auf überfeeiiche Kabel und Kohlenftationen
an. England ift heute das allgemeine Mufter der großen Politik, wie es früher
Frankreich und noch früher Spanien gewejen ift.
In allen den Epochen der Weltgeichichte, wie ich jie eben Eurz angedeutet
habe, hat es auch Weltpolitif gegeben; ich verftehe darunter eine Politik, die den
ganzen Kreis der jeweiligen zivilifierten Welt in den Bereich ihrer Wirkſamkeit
und ihrer Berechnungen zieht. Aber der Stil der Bolitif in den einzelnen Welt-
altern ift allerdings ein jehr verschiedener. In den alten Zeiten erichöpfte fich die
Weltpolitit meift in der Tendenz zur Begründung großer Weltreidye, die das
ganze Gebiet, über das der Kultur: und Berkehröhorizont der Zeit ſich ausdehnte,
auch unter einer einheitlichen politifchen Herrichergewalt zuſammenfaſſen wollten;
die weltpolitifchen Höhepunkte find da die Momente, wo die geeinte Kraft einer
BZivilifation gegen eine fremde angeht, wie in den Perjerkriegen und den Drient-
zügen Aleranderd oder in den Kämpfen des Islam gegen das Frankenreich
Karl Martell3 und in den Kreuzzügen der abendländiichen Chriftenheit. Dieier
univerſal⸗monarchiſche Stil der Weltpolitif hat fich erft im Musgang des Mittel-
alters der romanifch-germanifchen Völker verwandelt; und zwar infolge des langen,
43
074 Dtto Dinge, Weltgeichichte und Weltpoluit.
unentjchiedenen, aber beide Teile erihöpfenden Kampfes zwiſchen Kaiſer- und
Papfttum — zwiſchen den beiden großen Mächten alſo, in denen weltliche und
geiftliche Gewalt, die früher nicht deutlich getrennt gewejen waren, ſich ihre befonde-
ren, untereinander rivalifierenden Organijationen gegeben haben. Es entjteht num,
etwa jeit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts, etwas Neues: das europätiche
Stantenfyitem: ein Syſtem mehrerer Eoordinierter Mächte, die ſich gegenjeitig als
gleichberechtigt anerkennen, anitatt jener früher vorherrfchenden univerjaliftifchen
Tendenz, die nur den Gedanken der Einheit und der Ilnterordnung gekannt Hatte.
Ein Weltreich mit exkluſiven Herrihaftsanfprüchen im Stile des römischen Reiches,
deſſen dee ja das ganze Mittelalter hindurch feitgehalten wurde, war im Rahmen
diefer neuen Staatenordnung nicht mehr möglid. Die alte Borftellung von
der politifchen Einheit der abendländiichen Chriftenheit, die nod) Dante in feinem
Buch über die Monarchie als etwas Selbjtverftändliches zu Grunde gelegt Hatte,
jeßte fi) nun allmählich um in die moderne Anſchauung von der Eriftenz eines
natürlihen WVölterrechts, das auf dem Grunde einer gemeinſamen chriſtlichen
Gefittung und einer gemeinfamen taufendjährigen Geſchichte beruht. Die Welt:
politif der großen Kaifer und der großen Päpſte des Mittelalterd hatte nad) der
einheitlichen Leitung aller chriſtlichen Nationen geftrebt; jet traten die Nationen
durch den großen Prozeß der modernen Staatenbildung auseinander, und die
Weltpolitif wurde im Rahmen des europäiichen Staatenfyftems zu einem fort
währenden Kampf zwiſchen den mächtigſten Staaten um den voriwiegenden Einfluß,
um die Führerrolle in Europa und zugleid; auch um die Beherrfchung und Aus:
beutung der neuentdedten außereuropäiichen Welten. Das Eigentümliche ift da-
bei, daß diefer Kampf ſtets ein unentjchiedener blieb, daß kein Staat auf die
Dauer eine übermäcdhtige Stellung zu behaupten vermochte, daß jeder Anmaßung
einer ſolchen alsbald eine verftärfte Kraftanjtrengung von anderer Seite erfolg:
reich gegenübertrat, furz, daß ji) der Zuftand ausbildete, den man als das
Gleichgewicht der Mächte bezeichnet hat. In der unaufhörlic; abwechjelnden
Störung und Wiederherftellung des europäifchen Gleichgewichts bewegt ſich Die
Weltpolitit der neueren Fahrhunderte.
Die Form des europäifchen Gleichgewichts ift Dabei feinestwegs immer ein
und diefelbe geblieben. Sie veränderte fich mit der Zahl der großen Mächte, mit
dem fortichreitenden Prozeß der Ausbildung und Bergeiellihaftung der Staaten.
Zu Anfang, im 16. und 17. Jahrhundert, beobachten wir die einfachite
Form: das Gleichgewicht zweier großer Mächte, an die alle übrigen, joweit jie
an der Weltpolitik teilnehmen, fich angliedern. Es beruht auf dem Gegenjak
zwiſchen dem nationalsgeichlofjenen Frankreich und der über halb Europa ver:
breiteten jpaniich-burgundiihen Macht des Hauſes Defterreih. Bon Karl V. bis
zum Dreitigjährigen Kriege ift diefer Gegeniaß der Grumdzug der europätichen
Politik, das beherrichende weltpolitiſche Moment.
Dtto Dinge, Weltgeichichte und Weltpolitik. 675
In diefem ſäkularen Kampf, der mit der Zurüddrängung des habsburgiichen
Uebergewichts, mit der beginnenden Gefahr eines franzöfischen Prinzipats endigt,
it England als eine dritte Macht von Bedeutung emporgefommen. Verglich
man im 16. Jahrhundert gern die Häufer Frankreich und Habsburg mit den
Gewichten in den beiden Schalen der europäiſchen Wage, fo hat fchon der
Geichichtichreiber der Königin Elifabeth im 17. Jahrhundert England das
Zünglein an der Wage genannt, das den Ausichlag gebe. Andem nun unter
Yudwig XIV. das Uebergewicht Frankreichs zum empfindlichen Schaden jeiner
Rivalen ſich immer ftärfer geltend madjte, hat es England unternommen, mit dem
Dranier Wilhelm III. an der Spige, eine europäifche Koalition gegen Frankreich
zu bilden, von der die franzöftfche Uebermacht in dem Spanifchen Erbfolgekriege
gebrochen worden iſt. Der Friedensſchluß zu Utrecht (1713) Eonftruierte das
europäiſche Gleichgewicht auf die vorwaltende Stellung der drei großen Mächte:
Frankreich, Oeſterreich, England.
Es iſt die fortgeſchrittene, ſüdweſtliche Hälfte Europas, die ſich bis dahin
vornehmlich in der Weltpolitik bethätigt hatte. Die nordöſtliche Hälfte hatte ſich
bisher meift in Kämpfen bewegt, die keinen inneren Zufammenhang mit jenen
weltpolitifhen ntereffengegenfägen hatten. Noch im Anfang des 18. Jahr—
bunderts hatte es der englifchen Diplomatie gelingen künnen, das Ineinander—
greifen der beiden großen Kriege, die damals im Weften und im Diten Europas
geführt wurden, des Spaniichen Erbfolgefrieges und des Nordifchen Krieges gegen
Karl XII, zu verhindern. Erſt in dem Feuer des Siebenjährigen Krieges find
diefe beiden Hälften zu einem Ganzen verſchmolzen. Das Bindeglied wurde die
neue Großmacht, die Friedrich) d. Gr. im Herzen Europas begründet hatte:
Preußen; im Gegenfat zu ihr hat die Schöpfung Peters d. Gr., Rußland,
das feit dem Nordiichen Kriege als eine Militärmacht erften Ranges hervortritt,
den näheren Anfchluß an die alten europäifchen Mächte gefunden.
Der Siebenjährige Krieg hat eine neue Form des europäifchen Gleichgewichts
feftgeftellt: das Syſtem der fünf Großmächte, die jid nun gruppenweife in
Allianzen gegenüberitehen: Frankreich jetzt mit Oeſterreich verbündet, Preußen
zunächit mit Rußland, England lange in unfreiwilliger, aber dod; im Grunde feinen
Intereſſen entiprechender Iſolierung.
Zugleich aber iſt durch den Siebenjährigen Krieg ein anderes großes Welt—
verhältnis begründet worden, deſſen Wirkungen ſchon über Europa hinausreichen: das
Uebergewicdht Englands als See- und Kolonialmadıt. Das führt uns auf den
eigentlihen Inhalt der Kämpfe, deren formale Reſultate wir uns fveben ver:
gegenwärtigt haben.
In allen diefen Kämpfen handelt es fi ja im Grunde um die Frage der
Macht; aber die weltpolitiichen Tendenzen, die in diefem Streben nad) der Ueber:
madt Sich offenbaren, find doch nach Zeiten und Völkern Sehr verichieden
13%
576 Otto Hinte, Weltgeichichte und Weltpolitik.
geweien. Anfangs wirkt noch die theokratiſch-univerſaliſtiſche dee des Mittelalters
nad): Karl V. hat jie wieder aufgenommen und gegenüber der kirchlichen Spaltung,
die die Reformation brachte, zu behaupten verjucht; Philipp II. als das inter:
nationale Haupt der Gegenreformation, hat fie in feiner fchweren und düſteren Art
vertreten: es ift fatholifche Weltpolitik, die das Haus Habsburg in feiner großen
Zeit getrieben hat. hr tritt eine evangelifche gegenüber, deren glänzendfter
Vertreter Guſtav Adolf gewejen ift. Aber in diefen Gegenjat der Konfeſſionen
erihöpft fich die Tendenz der ſpaniſch-habsburgiſchen Politit nicht. Will man
ihre Bedeutung für die Welt recht veritehen, jo muß man jich erinnem, daß ſie
es geweſen ift, der das Abendland die Abwehr und die allmählide Zurüd-
drängung der lange jo furditbaren osmanishen Macht verdankt. An den andert-
halb Sahrhunderten, die zwilchen den Schlachten von Lepanto und von Belgrad
liegen, ift diefe große weltpolitifche Arbeit geleiftet worden, in der die religiöjen
Impulſe des Mittelalter8 nod) lange zu ſpüren jind.
Bon diefer religiöfen {dee ift auch die Gewinnung und Beherrſchung des
ungeheuren Kolonialreih8 beeinflußt tworden, das Spanien, namentlich) zur Zeit
der Bereinigung mit Portugal, befaß. Es ift ja befannt, daß ſchon die großen
Entdeckungen, oder wenigſtens ihre Unterftügßung durch Spanien, mit der Idee
zufammenhingen, die ‘Feinde der Chriftenheit, die Osmanen, die Damals aud) den
Levantehandel verjperrten, von Indien aus im Rüden zu faffen: eine dee im
Stile mittelalterlicher Weltpolitik, erfüllt noch von dem Geift der Kreuzzüge, der
in den fpanifchen Maurentriegen lebendig geblieben war. Der Bapit war es
gewefen, der dann die nene Welt der Entdefungen zwiichen Bortugal und
Spanien geteilt hatte; das jpanifche Kolonialmonopol hing fo mit den alten
weltpolitiichen Anfprüchen der Kurie zufammen. Anquifition und Sefuiten haben
in den ſpaniſchen Kolonieen inımer eine große Rolle geipielt; die wirtichaftlichen
Gefichtspunfte traten hinter denen einer fisfalifchen Ausbeutung für die Zwecke
der katholiſchen Weltpolitif durchaus zurüd; und vor allem bat fi Spanien
jelbft — mit feiner ungefunden Ueberfülle an Mönchen und Rittern, mit feinem
Fanatismus gegen Mauren und Juden, mit feiner Verachtung gewerblicher
Arbeit — niemals zu einer veritändigen und erſprießlichen Wirtichafts- und
Sozialpolitif zu erheben vermodt, die ihm zu fteigender Bevölkerung und zur
Entwidelung einer erportierenden Induſtrie verholfen und damit exit die vechte
Ausnugung feiner Kolonieen ermöglicht hätte.
Ganz im Gegenfag dazu haben die proteftantifchen Mächte England und
Holland und bald aud im Wetteifer mit ihnen Frankreich, nachdem das anfäng-
lihe Goldfieber, die Kinderkrankheit aller Kolonialmächte, überwunden war, eine
verjtändige, planmäßige, wirtichaftlihe Ausnugung ihrer im Kampf mit Spanien
begründeten Kolonieen begonnen, und der Kolonialbefiß bat bei ihnen meiit an-
regend und fördernd auf die wirtichaftlihe Entwidelung der Mutterlande zurüd:
Otto Hintze, Weltgeichichte und Meltpotitif. 677
gewirkt. In dem Maße, wie ſie Spanien überflügeln und zurückdrängen, ver—
blaßt auch mehr und mehr die düſtere Pracht jener alten, katholiſch-imperia—
liſtiſchen Weltpolitik. Seit dem Ende des Dreißigjährigen und des damit verbundenen
ſpaniſch-franzöſiſchen Krieges gewinnen die weltlichen, die wirtichaftlichen Anter-
ejjen die Oberhand. Die Kriege des 17. und 18. Jahrhunderts find fait alle
als Handelskriege zu betrachten. Am Kampf um die Ktolonieen, um die großen
Borteile des beginnenden Welthandels, un die Herrihaft zur See maßen vor
allen die beiden wejteuropäiichen Großmächte ihre Sträfte, deren Gegenfab im
18. Jahrhundert die Weltpolitif beherricht: Frankreich) und England. Innerlich
£onfolidiert, benußen fie ihre finanzielle und £riegerifche Macht, um fie zu Gunsten
ihrer Handelgpolitik in die Wagfchale zu werfen. Eben deshalb hat Holland ſich
zwiichen ihnen troß jeiner anfänglichen heroiſchen Anftrengungen nicht zu bes
haupten vermocht, weil es doch am Ende zu Klein war, um einer ftarfen und
nachhaltigen Machtentwidelung fähig zu fein. Die innere Wirtichaftspolitit mit
ihrer Tendenz zur Beförderung der Anduftrie, zur Begünftigung der Volks—
vermehrung, zur Belebung des Verkehrs, zur Befreiung des inneren Marktes,
kurz zur Erwedung und Steigerung aller produftiven Kräfte, verbindet ſich mit
einem jchroffen Abſchluß nach außen, mit den Streben nad) einer günftigen
Dandelsbilanz, mit einer rückſichtslos brutalen internationalen Konkurrenz, die
ebenjo mit Kanonen wie mit Zolltarifen das Ziel der wirtfchaftlichen Ueber—
legenheit verfolgt; die möglichfte Schädigung des Rivalen gilt al3 VBorbedingung
für die möglichfte Profperität der eigenen Flagge. Die Weltpolitif tritt fo in
das Zeichen des Merfantilismus, der in der Epoche des Giebenjährigen Krieges
einen feiner Höhepunfte erreicht.
Der internationale Konkurrenzkampf zwifchen Frankreich und England iſt
damals ſchon vorläufig zu Englands Gunjten entjchieden worden. Der Ring der
franzöſiſchen Kolonieen, der die Neu-Englandftaaten Amerikas von der Mündung
des St. Lorenzftroms bis zu der des Mififfippi umgab und fie vom Binnen-
lande abzufchneiden drohte, war geiprengt; Kanada und Rouifiana gingen für
Frankreich verloren; und auch in Oftindien behauptete England das Uebergewicht.
Damals bat fi entichieden, daß der angelfählischen, nicht der romaniſchen Rafje
die Zukunft in Nordamerika und in Indien gehöre. Und wenn dann England
aud die nordamerifanifchen Kolonieen nicht feftzuhalten vermocht hat, fein Handel
und feine Seemadt blieben im Steigen; und in der großen, gewaltigen Kriſis der
napoleonifchen Kriege ift der alte Rivalitätstanıpf zwiichen ihm und Frankreich
ausgefämpft, ift die unbedingte Meberlegenheit Englands als Handels-, See- und
Kolonialmadht für mehr als ein Jahrhundert Feftgeftellt worden.
Es ift ein bemerfensiwerter Unterfchied in der Bofition, die die beiden großen
Gegner in diefem Weltfampfe, der das Jahrhundert von 1713—1815 erfüllte,
678 Dtto Hintze, Weltgeichichte und Weltpolitik.
eingenommen haben. England ijt jeit den Zeiten Eliſabeths und vollends ſeit
der Mitte des 18. Jahrhunderts zur reinen Seemadht geworden; es bildet
gewiffermaßen nur ein Außenglied des europäiſchen Staatenſyſtems; es treibt
feine eigentliche Kontinentalpolitif, oder vielmehr, es betrachtet die Eontinentalen
Verwidelungen lediglich vom Standpunkt der engliichen Handels: und Seemacht—
politik, wie das ſchon bei der Begründung der großen Allianz gegen Ludwig XIV.,
wo England das Schlagwort des europäiſchen Gleichgewichts ausgiebt, deutlich
bhervortritt. Frankreich dagegen führt ein fozufagen amphibiſches Dajein in der
Weltpolitit: es kämpft mit doppelter Front: einmal gegen England um die See:
berrichaft; auf der anderen Seite gegen die europäifhen Mächte um die Vor:
berrichaft auf dem Kontinent. Bon der Mitte des 18. Jahrhunderts ab und bis
zur Revolution bin fcheint es, ald ob es feine traditionelle Kontinentalpolitif, die
Bolitit Heinrichs IV., Richelieus, Ludwigs XIV., aufgeben oder abſchwächen wolle
zu Gunften feiner überjeeifchen Bolitit gegen England. Bei der Teilung Polens,
bei den Anfängen der orientalischen Frage hat es Feine maßgebende Rolle geipielt.
Aber in der Revolution treten dann die alten, dem franzöfifchen Staat und Bolt
zu tief eingeimpften Tendenzen auf die Beherrichung des Kontinents wieder ber:
vor, und fie finden in Napoleon einen gigantifchen Vorkämpfer. Der große Korfe
war doch mehr als eine „Eroberungsbeftie”, die aus unbezähmbarem Madt:
inftinkt alles zu unterwerfen juchte, was irgend Wideritand leiftete; feiner Bolitik
Ichwebten Ziele vor, die heute, in der Perſpektive moderner Weltpolitif, wieder
aufzutauchen beginnen: fein Verſuch, den Stontinent handelspolitiich zufammen-
zufafien gegenüber dem feegewaltigen England, beruht auf einer dee, die in
allgemeinerer Faſſung unter veränderten Weltverhältniffen ficherli nod eine
Zufunft bat. Ach möchte allerdings nicht behaupten, daß der Gegenſatz gegen
England einzig und allein das beherrfchende Prinzip der napoleonifchen Bolitit
gewefen fei; das Streben nad) der Unterwerfung des Kontinents hat daneben
eine jelbftändige Bedeutung: auch Napoleon kämpft, wie die franzöfiiche Politif
feit Ludwig XIV. mit zwei Fronten: gegen die englische Seeherrihaft und für
die franzöfifche Kontinentalherrichaft; alte und neue Ideen verbinden fich in feiner
Politik zu einem komplizierten Syftem, das erit aus einer gemifjen hiftorifchen
Entfernung richtig gewürdigt werden fann. Die Engländer haben immer baupt-
fädhlich den Rivalen um die See- und Handelsherrichaft in ihm gefehen; auf dem
Stontinent bat die nationale Geichichtichreibung, namentlich in Deutichland, vor
allem das Streben nad) der Univerialmonarchie, die alte Gefahr im europäischen
Staatenfyften, hervorgehoben.
Es ift merkwürdig, welchen bejchränft-funtinentalen Horizont namentlid) bei
uns in Deutjchland, aber auch bei unfern Nachbarn, die hiltoriich-politifche Tages-
anichauung jeit 1815 gewonnen bat. Die fommerzielle und Eoloniale Erpanfion
Englands war während der napolevniichen Kriege eine fo gewaltige gemejen,
Otto Hinke, Weltgefchichte und Meltpotitik. 679
jeine Seemacht ftand fo imponierend und überlegen da, daß auf lange hinaus
feine europäifhe Macht daran denken Eonnte, mit diefer unbeltritten erften See—
und Handelsmacht der Welt zu Eonkurrieren. Dazu kam, daß die Politik der
Kontinentalftaaten auf Rahrzehnte hinaus durch innere Fragen vollauf beichäftigt
war. Es handelte fid) um den Kampf für oder wider die Ideen der franzöfiichen
Revolution, die ja mit ihren Wurzeln tief in das gemeinjchaftliche Leben der
europäifchen Staatengejellichaft binabreichten,; vor allem um die großen Fragen
der nationalen Staatenbildung und der Eonftitutionellen Berfaffung. Napoleon,
der Erbe der Revolution, hatte das europäifche Staatenfyitem, als es gerade zu
einem relativen Abichluß in feiner Entwidelung gelangt war, vollftändig umge:
ftürzt; die Meftauration erfolgte num im bewußten Gegenjfaß zu den verjchwifterten
Prinzipien der Revolution und der Aufklärung. An der Weltpolitif fand wieder
eine Stilmandlung ftatt, die freilich nicht ganz allgemein und aud; nur von kurzer
Dauer und epifodenhafter Bedeutung geweien ift. Die heilige Allianz, in der fie
ihren Ausdrud findet, war gleichſam eine Rüdbildung zu den geiftlihen Ten—
denzen, wie fie in der europäiichen Politit bis zum 30jährigen Kriege geherricht
hatten, nur daß die Färbung der neuen Politik, zu der jegt eine Fatholifche, eine
evangeliiche und eine griechiich-orthodore Macht ji verbanden, nicht mehr wie
früher eine £onfejfionelle, fondern eine allgemein chriftliche fein ſollte. Die Pentarchie
der fünf Großmächte, wie fie fi dann auf dem Kongreß von Aachen (1818)
Eonftituierte, faßte vor allem die Bekämpfung der revolutionären been ins
Auge. Sie war etwas ganz Anderes ald das alte Gleichgewicht3-Syitem
der fünf Mächte. Sie wollte eine Dligardjie der Großmächte begründen, die
die Autonomie der Eleineren Staaten vernichtet hätte. Aber von vornherein
war eine große Kluft vorhanden zwiſchen den Kontinentalmächten und England.
England hat das Prinzip der ntervention der Mächte bei den inneren
Berhältniffen anderer Staaten nie anerfannt; es hat vor allem einer Ein-
miſchung Europas in die Angelegenheiten der abgefallenen ſpaniſchen Kolonieen
in Mittel- und Süd-Amerika wirkſam entgegengearbeitet. Aber auch unter
den Kontinentalftaaten war das realpolitifhe Eigeninterejje der einzelnen doc
ftärfer als das antirevolutionäre Intereſſe der Gefamtheit. Schon bei der
Frage der Unterſtützung des griechiſchen Aufftandes ging die Harmonie verloren;
die Aulirevolution von 1830 ftellte Frankreich in erklärten Gegenfat zu dem Syſtem
von 1818, und in den Stürmen des Jahres 1848 ging dies Syftem vollends zu
Grunde. Der Sirimkrieg teilte Europa in ein liberales weſtmächtliches und ein
reaktionäres ruffiiches Pager; nad) feiner Beendigung fand auf dem Pariſer
Kongreß von 1856 eine Rekonſtruktion des europäiichen Staatenfyftems auf der
Baſis der Bleichberechtigung und Autonomie aller Staaten und unter Ausſchluß
des Prinzips der Intervention ftatt. Das ift der Anfang defjen, was man heute
als das Konzert der europätichen Mächte bezeichnet. Die dee einer exkluſiv⸗
680 Otto Hintze, Weltgeichichte und Weltpolitif.
chriſtlichen Gemeinihaft war völlig aufgegeben: die Türfei iſt damals in den
völferrechtlihen Verband der europäischen Mächte in aller Form rezipiert worden.
War mit der Kriſis von 1848 der Schwerpunft der Eontinentalen Bolitif
von Wien nad Et. Petersburg verlegt worden, ſo rüdte er nun feit 1856 für
ein Jahrzehnt nach Paris hinüber; auf Metternicy und Nicolai folgte Napoleon IIL.,
der Berfünder des Nationalitätsprinzips. Dies Schlagwort follte für Frankreich
das Mittel werden, dur gönnerhafte Einmiichung in die Beftrebungen der
Mächte, die nach einer nationalen Staatenbildung tradhteten, fein Uebergewicht auf
dem Kontinent dauernd zu begründen. Aber wenn das bei Stalien einigermaßen
gelang, jo ift es bei Deutichland völlig mißlungen: die überlegene Staatskunft
Bismard3 hat die Einigung Deutfchlands im Gegenfag zu Frankreich vollendet
und an Stelle des franzöfiichen Uebergewichtes auf dem Stontinent für ein
Menfchenalter das deutſche gefett.
An diefen inneren Kämpfen des Kontinents hat England nur ein unter:
neordnetes nterefje genommen. Es benußte diefe Jahrzehnte, in denen es fait
ohne Konkurrenz auf dem Weltmarkt daftand, um feinen Handel, feine Induſtrie,
jeine Schiffahrt auf eine Höhe zu bringen, die aud) für die Zukunft jeden Wett:
bewerb auszuschließen fchien. Im Bemwußtfein feiner Ueberlegenheit ging es zu
dem Syitem eines vollftändigen Freihandels über und bemühte fich mit jteigendem
Erfolg, die Kontinentalftaaten auf diefer Bahn nad; fich zu ziehen. Seit 1860
begannen die freihändlerifchen Prinzipien auf dem Kontinent durchzudringen; der
Merkantilismus galt als ein überwundener Standpunkt; die Manchefterichule und
nit ihr die engliiche Intereſſenpolitik triumpbierten: man glaubte an die Harmonie
der Intereſſen aud im Verkehr der Nationen untereinander.
Nur einen Punkt gab es in den europäiſchen Streitigkeiten, der Englands
Intereſſen empfindlich berührte: das war die orientalifche Frage, die ſchon zum Krim:
Erieg geführt hatte, die Frage, welche Macht der Haupterbe des fichtlicy abſter—
benden türkifhen Reiches werden follte. Hier jtießen die Intereſſen Englands
mit denen Rußlands zufammen, und diefer Intereſſenkonflikt gewann alsbald nod
eine viel weiter greifende Bedeutung.
Seit den Tagen der großen Kaiferin Katharina bat die rufjische Politik ihre
begehrlichen Blicke nicht bloß auf Ktonftantinopel, jondern auch auf Indien ge-
richtet. An den Jahren 1838—1840 war es in Afghaniftan fchon zu blutigen
Kämpfen gefommen; feitdem hat fi ein immer fchärferer und umfafjenderer
Gegenfat zwifhen England und Rußland herausgebildet, der allınählich zu einen
die ganze Weltpolitik beherrichenden Berhältnis herangewacdjen ift.
Zweimal ift e8 im Paufe des 19. Jahrhunderts der englifchen Bolitif ge
lungen, das fiegreihe Vordringen Rußlands gegen die Türkei zu hemmen: das
eine Mal im Krimkrieg, mit Hülfe Napoleons III. das andere Mal auf den Ber:
liner Songreß 1878, mit Hülfe Bismards. Ungefähr um diejelbe Zeit, wo
Dtto Hintze, Weltgefchichte und Weltpolitik. 681
Disraeli in Berlin die Revifion des Friedens von ©. Stefano durchjeste, iſt es
in Ajien den Engländern gelungen, gegenüber dem erneuten Vordringen der
Ruſſen ihren Einfluß in Afghaniftan zu begründen und ihn weiterhin in fchweren
Kämpfen von 1879—83 zu befeftigen; damit war ein wichtiges Bollwerk für Indien
geihaffen. Das hat indejjen Rußland nicht abgehalten, in zäher, unermüdlicher
Kolonifationsarbeit feine Pofitionen in Zentralafien immer weiter vorzufchieben,
feine transfaspiichen Bahnen bis an die Grenzen von Mfghaniftan auszubauen.
In wenigen Wochen kann e3 dort eine große Armee verfammeln. it vielleicht auch
nicht Indien ſelbſt heute das direkte Ziel feiner Politik, fo würde doch die rufjiiche
Beſetzung von Afghaniftan und Beludichiitan und eine ruffische Pofition am In—
difchen Ozean die englische Herrfchaft in Indien zu einer Schattengemwalt herabfeßen.
Aber auf Indien beichränft ſich der Gegenjaß der beiden Mächte in Aſien
Ichon längft nicht mehr. Auch in China ftehen vor allem ruffiihe und englifche
Intereſſen fich gegenüber. Schon während des engliſch-franzöſiſchen Krieges gegen
Ehina 1857—60 hat e3 Rußland verjtanden, auf diplomatifchem Wege das Amur:
gebiet und wichtige Zugeftändnifje im Handelsverkehr für ji) zu gewinnen. Der
Bau der fibiriichen Bahn, die damit verbundene Stolonifation Sibiriend, das
Streben nad) völlig eisfreien Häfen anı Großen Ozean drängte dann fpäter zu
weiteren Abmachungen mit China, wobei der hinejisch-japanifche Krieg den Ruſſen
ebenjo zu ftatten kam wie die neuefte allgemeine Erpedition; es gewann die
Däfen, die e8 brauchte, es legte jeine Hand auf die Mandſchurei, es befeftigte
feinen Einfluß in dem ganzen Küftengebiet und wird heute von China als die
Schutzmacht gegenüber den anderen fremden Mächten angejehen. Bon den
europäiſchen Mächten iſt feine jo empfindlich durch diefe ruſſiſchen Fortſchritte
berührt worden wie England.
Dazu fommt das handelspolitiihe Moment. Seit dem Krimfriege hat
Rußland, in dem Beftreben, feine wirtfchaftlichen Hülfsquellen zu entwideln, eine
zufunftreiche Induſtrie geichaffen und ein planmäßiges prohibitives Schußzoll-
ſyſtem eingeführt. Im 18. Kahrhundert war Rußland in handelspolitiicher Be-
ziehung für England nod) fo gut wie eine Kolonie geweſen: ein billiger Einfaufs-
markt für viele Rohſtoffe und ein ſicherer Abſatzmarkt für die englifhen Manu:
fafturwaren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat Rußland begonnen,
fih abzuſchließen mit dem Plane, jich wirtjchaftlich möglichit jelbft zu genügen.
Ganz ähnlich ift es mit Amerika gegangen. Die Bereinigten Staaten hatten
nad ihrer Befreiung zunächft fortgefahren, in alter Weife mit England zu ver:
ehren; der britiiche D,andel nach Amerika hatte ſogar nod) bedeutend zugenommen.
Aber der unerhörte wirtichaftlihe Aufihwung der Union, der im Laufe des
19. Jahrhunderts eingetreten ift, das Anwachſen feiner Bevölkerung und feiner
Anduftrie, da8 Streben nad) politischer Macht und nach abjoluter Selbitändigfeit
auf allen Gebieten des Lebens hat auch hier, nachdem im Sezeſſionskriege der
682 Otto Hintze, Weltgeihichte und Weltpolitik.
induftrielle Norden über die Sklavenbarone des Südens gejiegt hatte, zu einer
fteigenden Schußzollpolitit geführt, die den Europäern und infonderheit den Eng-
ändern den amerikanischen Markt mehr und mehr verdorben hat.
Der Borgang Amerikas und Rußlands hat in demfelben Sinne auf Europa
zurüdgewirkt, zuerjt auf Frankreich, dann, feit 1878, auch auf Deutichland. Das
englifche Freihandelsideal verlor feinen magiichen Reiz. Man begann wieder die
heimische Induſtrie zu ſchützen, ſoweit e8 irgend thunlich ſchien; man faßte jetst den
Gedanken, mit England ſelbſt auf dem Weltmarkt zu konkurrieren; man fuchte mit dem
Handel zugleich die Edhiffahrt in großem Maßſtabe zu heben und begann an eine
ftärfere Seemadt und an Ktolonieen zu denfen. Frankreich hat ſeit 1871 ein aniehn-
liches Kolonialreich in Oftafien und namentlich in Nordweft-Afrifa erworben und hat
eine ftarfe Kriegsflotte geichaffen; Deutfchland ift langfam, und, was die Solo-
nieen anbetrifft, bisher mit minderem Glück nachgefolgt. Um fo bedeutender haben
fi fein überjeeifcher Handel und feine Anduftrie entwidelt; und die fortfchreitende
Berftärkung der Flotte ift ein nationales Ziel geworden, das nid)t wieder aus
dem Geſichtskreis unſerer Politik verfchwinden wird.
England ift heute nicht mehr ohne Konkurrenz auf dem Gebiete des Handels,
der Schiffahrt, der Stolonieen. Es iſt aus der kosmopolitiſchen, friedensfeligen
Stimmung des Eonkurrenzlofen Profperierens aufgefchredt worden; es hat gewaltige
Anitrengungen gemacht, feine Madtftellung auszunuten und zu verftärfen, jo
lange es noch an erjter Stelle fteht.
Es hat feinen Kolonialbefiß feit 1866 in allen Weltgegenden jtarf vermehrt
und deſſen einzelne Teile in fich fortichreitend Eonfolidiert; es hat ſeit 1889 feine
Kriegäflotte gewaltig verftärkt; es hat den Plan in Angriff genommen, Afrika von
der Nilmündung bis zum Kap der guten Hoffnung feinem Einfluß zu unterwerfen.
An dem auffteigenden Bemwußtfein, daß es mit feiner Monopolftellung zu
Ende gehe, hat es mit großer Energie jene Summe von politiihen Maßregeln
und Tendenzen entwidelt, die man mit dem Schlagwort des britiſchen
Imperialismus zulammenfaßt. Die Idee des Greater Britain ift entftanden
und die Imperial Federation League bemüht ſich feit einem Menichenalter,
das oder zufammenhängende Konglomerat der Kolonieen zu einem feitgefügten,
wohlorganijierten Kriegs- und Dandelsbunde zufammenzufchliegen, mit dem aud
wohl das immer noch feitgehaltene engliiche Freihandelsprinzip erheblichen Modi-
fifationen entgegengehen würde.
Eine neue Mera des Merkantilismus ift jo in unfjeren Tagen über die
Welt gekommen. Wiederum gehen Handels- und Staatsmadht Hand in Hand.
War der alte Merfantilismus des 17. und 18. Jahrhunderts die wirtichaftliche
Begleitericheinung jenes großen Prozeſſes der Staatenbildung, aus dem das
europäiſche Staatenfyftem mit den fünf großen Mächten hervorgegangen ift, To
jehen mwir in dev Gegenwart eine ähnliche große Umbildung der politifchen Welt-
Otto Hintze, Weltgeſchichte und Weltpolitik. 683
verhältniſſe ſich vollziehen. Das europäiſche Staatenſyſtem iſt heute nicht mehr
wie ehemals, die politiſche Welt. Seine peripheriſchen Glieder, England und
Rußland, find weit über die europäiſche Baſis hinausgewachſen und finden den
Schwerpunkt ihrer Intereſſen heute faft mehr in Ajien und Afrika als in Europa.
Die Berührung mit den oftafiatifhen Reichen ift eine intenfivere geworden al3
je vorher; Japan hat ſich bereit3 den europäifhen Mächten ebenbürtig an die
Seite geftellt; vor allem aber ift Amerika hinzugetreten.
Die nordamerifanifche Union hat fait das ganze 19. Jahrhundert hindurch
die Politik verfolgt, fi) abjeitS von dem europäiſchen Staatenfyften zu einer
auf den amerifanijchen Kontinent zugleich ausgedehnten und befchränften politischen
Welt zu entiwideln. Die Monroedoktrin, die urfprünglid” nur den Sinn hatte,
die Einmifhung Europas in die Angelegenheiten der abgefallenen ſpaniſchen
Kolonieen in Mittel- und Siidamerifa auszufchliegen, hat fih zu dem Grundſatz
umgewandelt, daß niemand al3 die Union ein Recht auf politiichen Einfluß im
Bereich des amerikanischen Kontinents habe. Bon den ehemal3 ſpaniſchen Be-
figungen find Teras und Kalifornien längjt annektiert, in Merico ift die Ein-
milhung Napoleons III. mit Erfolg befämpft worden, und der neuefte Krieg
von 1898 hat Cuba und das ſpaniſche Weftindien überhaupt dem Gebiete der
Union hinzugefügt. Weitere Erwerbungen werden folgen. Die panamerikanifche
ee, die zunächſt einen großen Zollbund unter der Leitung der Union im Auge
bat, — dem die politifche Föderation wohl bald folgen würde, — ift allerdings
bei dem Gegenſatz der angelfähfiihen und der lateiniſchen Rafje noch nicht zu
greifbaren Erfolgen gelangt; aber jie ift rüftig an der Arbeit und macht in der
Stille ihren Weg. Haft in allen Staaten des amerikanifhen Kontinents hat die
Union heute ihre Partei; aud) in Kanada befteht in einflußreichen Sreifen eine
unverhohlene Dinneigung zu der amerifaniihen Vormadt. Aber die Union ijt
heute nicht mehr willens, fich auf den amerifanischen Kontinent zu bejchränfen;
die Erwerbung Hawaiis, der Anfprud auf Samoa, vor allem die Eroberung der
Philippinen beweilt, daß die amerifanijche Politik auch den Großen Ozean mit
feinen Inſeln und Küften zum Schauplaß ihrer Thätigkeit zu machen gedentt;
an der chineſiſchen Erpedition haben die Amerikaner an der Seite der euro:
päilchen Nationen und der Japaner teilgenommen.
Das europäiſche Staatenfyftem iſt im Begriff, fi) zu einem Weltftaaten-
joftem umzubilden, deſſen Glieder über die ganze Erdoberflähe verteilt find.
Die maßgebende Rolle darin beginnen Schon jett jene Niefenreiche zu fpielen, die
ih um den zufammengedrängten Stern de3 alten Europa herum ausgebildet
haben: England, Rußland, Amerika. Diefe modernen „Weltreihe” find nicht
mehr, wie die alten vrientalifhen oder wie das römifche, Univerjalftaatsbildungen,
die für ſich in abgefonderter Kulturſphäre eriitieren, jondern es find die neuen
Großmädte, Großmädte von dem Typus, wie ihn das werdende Weltitaaten-
684 Otto Hinte, Weltgefchichte und Weltpolitik.
ſyſtem erzeugt und fordert. Unter diefen Mächten ſich zu behaupten und die
eigenen Intereſſen zu fördern, das ift es, was wir heute unter Weltpolitif ver:
ftehen. Weltpolitit ift nichts Anderes als Großmadtpolitif auf der breiteren
Bafis der neuen Weltverhältnifie. Darum ift moderne Weltpolitit unmöglid)
ohne eine ftarfe Seemadt; die politifchen Reibungsfläcdhen beichränfen ſich nicht
mehr auf die Landgrenzen, fondern fie liegen vor allem heute auf den Meeren. Das
Weltmeer it das große Verbindungsmittel unter den Völkern der Erde; es ift aud
der Schaupla&, auf dem in Zukunft die Intereſſenkonflikte der Großmächte ausge—
fampft werden müflen. Jede Großmacht muß in Zukunft auch Seemadt jein.
Großmachtpolitik zu treiben aber ift eine Notwendigkeit für alle Staaten,
die nicht der wirtichaftlihen Musbeutung und der politiichen Abhängigkeit ver:
fallen und damit auf die Dauer verfümmern wollen. Es ift eine ungeheuere
Aufgabe für die Staaten des alten Europa, die Schon ſchwer an ihrer
Kriegsrüſtung tragen und bei der Stleinheit ihres Gebietes, bei der Beichränftheit
ihrer Urproduftion den wirtfchaftlichen Kampf mit ſolchen Riefenreichen wie Amerika
und Rußland ſchwerlich mit Ausficht auf Erfolg unternehmen, die merfantiliftifche
Abſchließung ihnen nicht nachmachen können. Aber jo ſchwer die Aufgabe fein
mag, fie ift notwendig für diefe Staaten, wenn fie ihre Geltung in der Welt
behalten wollen. Ob fie fie vereinzelt oder nur im Zufammenjchluß werden
löfen können, das muß die Zukunft lehren. Bon ihnen allen hat jedenfalls
Deutjchland die günftigjten Ausfichten, infolge feiner fteigenden Bevölkerung,
feiner industriellen Erpanfion, feiner militärifchen Erziehung, feiner ftarfen mon—
archiſchen Führung. An eine europäifche Union ift für eine abfehbare Zukunft
nicht zu denken. Sollte ſie einmal zu ftande fommen, fo wird ihr Schwerpunft
da liegen, wo das ſtärkſte Machtcentrum und die größte politiſch-moraliſche Kraft vor-
handen ijt. Für die Gegenwart und für die nächſte Zukunft Eommt es darauf
an, alle Kräfte zu entwideln, deren die Nation fühig ift. Nicht mit Jubel und
eitlen Hoffnungen ziemt es ung, der anbrechenden neuen Weltepoche entgegen
zu gehen, aber mit unverzagtem Mut, mit gefammelter Kraft und mit dem fejten
Entihluß der Selbitbehauptung. Fortes fortuna adjuvat!
16
Indem wir durch die Anſchauung mannigfacer Perhältniffe die Erfahrungen ver-
gangener Beilen uns aneignen, fremde Gedanken und Anlichten zu verftehen, zu prüfen,
zu behalten oder zu verwerfen, die eigenen Anſichken zu bilden und zu befefligen fireben,
wird die Geſchichte unfere Kehrmeifferin.
von Clauſewitz.
Aus: Beiftige Raffen Gin Aphoriſsmen-Lexikon zuſammengeſtellt
von C. Schaible, Berlag von Paul Waehel, Freiberg i. Br.
XXXXXEXEEEVVEIVV
Gerber die Moore.
Ein beidemoor fabl wie der Tod.
Riedgras auf dürft’gem Schollenfod,
Ein ftockendes Wagengeleife,
So jäb in Glut und Staub verwebt,
Als fpräch’ es: Wlandrer, wobin gebt
Zinft Deine letzte Reife?
Die Reife gebt fo weit fie mag,
Sie fübrt in den Himmernden bochmittag.
Es ftanden am borlzonte
Zwei Birkenftämmchen fchwach und weifs,
Darüber die Sonne, fo jac, fo beifsz
Sie brennen konnte.
Verfunken ift Das letzte Dort,
Poch über einer Stapel Torf
Kreift, goldig, ein Schwarm von Immen.
Vom bügelfaum, dürr beftockt
Der [hwefelgelbe Ginfter flockt,
Fernber verfchollene Stimmen.
Ein kiebitzrut die Luft Durchfchrilit,
Weit binterm Knick ein Bauer fcbilt
Auf feine trägen Pferde;
Er beffert Zaum und Sattelgurt,
Dann ſchaͤlt fein Pflug zu Meugeburt
Den Scorf der Erde.
Aus einer Furce fpäbte klar
Von Reinckes Stamm ein Ebepaar,
Dach Mücken fchnappten fie beide,
Die Füchfin trug ein rotes Kleid,
Das leuchtete Durch die Einfamkelt
Der beide.
Die Sonne fank verglübend, fern.
Sacht ftieg Der groſze Venusftern,
Vom Dorf begann zu klingen
Der Ton der Ziebbarmonika,
Ein zitternd Dünnes Gloria,
Die Freude der Geringen.
Der Dächerraucd fpann feinen Flor,
Gutnactruf ſcholl von Tbor zu Thor,
Der Vollmond fchlug die Brücke
Vom Lebenskampf zur Feierzeit,
Den Weg, der ftrablend propbeseit
Von ew’gem Ernteglücke.
Emil Prinz von Shönaihb=-Carolathb.
S
Die moderne Umbildung unlerer älthetildıen Anfchauungen.
Von
Hermann Mutheilus (London).
D: Wort, daß auf der Welt nichts dauernd fei als der Wedel, findet jeine
Anwendung aud) auf unjere äftbetiichen Anſchauungen — wobei diefer Begriff
micht nur in feiner Beziehung zur „Kunft“ gebraucht werden foll, fondern in
Beziehung zum menſchlichen Seftalten überhaupt. An der Beurteilung desjelben und
in der Art dieſes Geſtaltens jelbit findet ſeit Menfchengedenfen eine ununter—
brochene Umbildung jtatt, und zwar find die Beränderungen teils ſolche, die den
Bewegungen eines Pendels ähneln, das aus feiner Ruhelage abwechſelnd links
und rechts herausſchwingt, teils joldhe, die ſich als Weiterentwidelung nad) einem
bejtimmten Ziele hin zu erkennen geben. Die erjte Art von Bewegung ift jedermann
ohne weiteres aus dem fteten Wechjel der Mode geläufig. Die Mode liebt es
befanntlich, aus einem Ertrem ins andre zu fallen und man Eönnte die pſycho—
logiſchen Urſachen für diefen Wechſel vielleicht daraus erklären, daß gewiſſe
Organe, welche bei der Bewunderung der einen Form in Thätigkeit geſetzt werden,
auf die Dauer ermüden und dann der Bethätigung andrer Platz maden, welche
auf andre Formen eingeftellt find. Die Mode ift nicht auf Kleider befchräntt,
ed giebt auch Kunſtmoden. Auf Perioden einer monumentalen Sunft:
gefinnung folgen naturaliftifche Strömungen (mie in der Malerei des neunzehnten
Jahrhunderts), auf das Kumplizierte und Verfeinerte pflegt das Einfahe und
Primitive zu folgen (auf das Rokoko der Klaſſizismus, beginnend mit doriſchen, ja
ägyptiichen Architefturformen). Ja, ſogar unjre Beurteilung der hiftorifchen Kunſt
ſchwankt bin und her; die eine Generation berauſcht ſich an Raffael und findet zu
Michelangelo kein Verhältnis, die folgende hebt das Michelangeloſche auf den Schild.
Die andre Bewegung, die nach einem beftinnmten Ziele hin, liegt nicht
fo offen zutage. Da, betrachtet man lediglich die jogenannten reinen oder freien
darftellenden Künfte, nämlich Bildhauerfunft und Malerei, jo ift fie aus dem
geichichtlichen Verlauf derjelben vielleicht überhaupt nicht Elar zu entziffern. Dieſe
Künfte mit ihrer beftändigen Grundlage der Natur, von deren Boden fie ſich
Hermamı Mutheſius, Moderne Umbildung unſerer äfthetifchen Anichauungen. 687
garnicht Toslöfen fünnen, find von dieſem bejtimmten Geſichtswinkel aus durchaus
unfrei, d. 5. an die Natur gebunden. Wir jehen daher in ihrer Geſchichte wohl
eine Art einheitlicher Bewegung, die fich in gewiffen Sinne als ein fortlaufend
Ichärferes Erkennen der Natur betrachten läßt (jo brachte erjt das neunzehnte
Jahrhundert das Erkennen der atmoiphäriichen Werte in die Malerei), aber diefe
Bewegung ift mehr äußerlicher als innerlicher Art.
Anders mit den nicht von der Natur abhängigen, ganz bejonderd den
teftonifchen Künſten. Die Formen, um die es ſich hier handelt, find fchöpferifche
des menschlichen Anftinktes, fie find an nichts Gegebenes gebunden. Es ijt wahr,
jie werden einerſeits durch die Rückſicht auf die Gebraudjsfähigkeit diktiert. Aber
nur bis zu einen gewiſſen Grade, der Gebrauch lehrt uns nicht, ein Zimmer in
die Form eines geometrifchen Körpers zu bringen, es fünnte dafür unregelmäßig
jein wie eine Höhle. Eine zu ftüßende Dede verlangt eine Säule, aber die Form
diefer Säule ift durchaus ein Erzeugnis des menjchlichen Geiftes. Er kann fie
fo oder jo bilden, und warum fie hier fo und dort fo gebildet wurde, diefe Frage
ift zunädjft als ganz offen zu betrachten. Das Geheimnisvolle, was dieſe menjd)-
lihe Bildungsthätigfeit an ſich Hat, ift fo verlodend, daß es den Denker in be:
fonderm Maße anziehen muß. Die auftaudenden Fragen führen auf
die tiefften Gründe der pſychologiſchen und phyſiologiſchen Forſchung. Sie
in abstracto zu beantworten, dürfte jo bald noch nicht möglich fein. Die Ant-
worten, die gegeben worden jind — wir haben ein ganzes Zeitalter der abjtraften
Aeſthetik hinter uns — find zumeist unbefriedigend geweſen, nicht felten haben fie
geradezu ins Abjurde geführt.
Nicht die Fäden folder Spekulationen jollen hier weitergefponnen werden.
Hielte ſich die Aeſthetik mehr an die Beobachtung als an die philofophiiche
Spekulation, jo würde fie einen fruchtbareren Ader bearbeiten. Und es iſt ange»
ſichts des riefigen Aufwandes, der bisher an die ſpekulative Aefthetik gejetst worden
ift, vielleicht am Plage, die Aeithetif einmal ganz und gar auf die Erfahrung
hinzuweiſen, derart, daß fie zunächſt verlucht, eine Art Statiftit des bisher von
Menſchen Geſchaffenen zu liefern, und allein aus den fo aufgeitellten Thatfachen
ihre Schlüffe zieht. Die Anfänge ſind gemacht; und namentlich die Erforſchung
der Bildungen der Naturvölfer und der frühen Kulturen bat hier bereits viel
Licht ausgebreitet. Und es fteht zu hoffen, daß auf diefem Wege endlich wirklich
brauchbare Ergebnifje erlangt werden, daß die ficheren, wenn auch engen Wege
der Empirif dazu führen werden, den geheimnisvollen Geſetzen, nad denen wir
Menſchen bilden und menſchliche Bildungen beurteilen, auf den Grund zu kommen.
Jedenfalls werden fi) dann mit der Entwidelung auch die Wandlungen unfrer
äfthetifchen Anfchauungen Ear überjehen laſſen.
Daß ſolche Wandlungen auf dem teftonijchen Gebiete der menſchlichen
Thätigfeit vor fi) gehen, lehrt uns ein Blick nicht nur auf den Verlauf der
688 Hermann Mutheſius, Moderne Umbildumg unferer äfthetiichen Anſchauungen.
Geſchichte, ſondern felbft auf die allerlekte Vergangenheit derjelben. Ja, was
dieſe legte Epoche anbetrifft, jo find die Veränderungen hier jo hedeutend, daß
es den Anjchein hat, als gingen wir geradezu grundlegenden Umwälzungen in
unferm Gejchmadsurteil entgegen, Ummvälzungen, die die kommende Zeit in
einen ausgefprochenen Gegenjag zur alten Zeit ftellen werden. Dabei wird hier
garnicht an die gegenwärtige Revolution im Kunftgewerbe gedacht, von der fid
noch nicht jagen läßt, was an ihr Mode und was dauernder Entwidelungsanteil
it. Es handelt fid um einen weit größeren Zeitabjchnitt, denjenigen, von dem
aus das moderne Leben überhaupt feine Entwidelung genommen bat: die Zeit
jeit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts.
Wer ſich des enormen Umſchwunges bewußt werden will, den unfre
äſthetiſchen Anſchauungen im Verlaufe diefer Zeit durchgemacht haben, der be-
trachte die Männerfleidung des achtzehnten und die des neunzehnten Jahrhunderts.
Damals der jeidene, mit Eoftbarer Stiderei befeßte Rod, die Puderperüde und
das Krauſenhemd, heute jelbft als Staatskleid der einfache ſchwarze Fradanzug
mit der jchlichten weißen Sramwatte über dem jchmudlofen, weiß gebügelten Hemd.
Welher Mann wirde ſich heute in dem Anzug des achtzehnten Jahrhunderts
wohlfühlen? Und betradjten wir die uns umgebenden Gebrauchsgegenftände, fo
finden wir diefelben Wandlungen. Ein Gang durd) das Zeughaus zeigt uns die
Schußmwaffen des fiebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts mit köſtlicher Zier-
arbeit verfehen; die heutige Yagdflinte, der heutige Revolver find ganz ſchmucklos
und verkörpern nur die nadte Gebrauchsfähigkeit. Am jchlagendften tritt uns
vielleicht der Gegenjat zwiſchen einft und jetzt an jenen alten Kanonenrohren
entgegen, die über und über mit prächtig modelliertem Akanthusblattwerk verjehen
in unſern Mufeen aufbewahrt werden, während der Gedanke, unfre heutigen
Kanonenrohre mit Ornamenten zu ſchmücken, geradezu etwas Kindliches Haben würde.
Schon die angeführten Thatjahen genügen, um den Grundfag abzuleiten,
daß die Zeitentwidelung auf Mblegung des Schmudes hindrängt. Freilich ift
diefer Grumdfaß noch nicht überall und bisher jelten ganz rein durdgeführt zu
beobachten. Unſre Damen pflegen noch heute den Schmud in der Kleidung in
ausgedehntejtem Maße. Man denke an den vom Standpunkte der Nützlichkeit
ganz überflüfjigen phbantaftiichen Aufwand auf ihren Hüten, an den Bejat ihrer
Kleider, die von ihnen fo jehr geliebten Schmudjahen in Gold und Silber. Hier
waltet noch ganz die Phantaſie und der Wunſch, durch Schmuck zu gefallen, vor,
denen wir in früheren Kahrhunderten auf allen Gebieten menschlichen Bildens
und Geftaltens begegnen.
Und do find auch hier bereit3 merflihe Wandlungen eingetreten. Gie
begegnen uns am auffallendften in England, dem Lande des tailor-made-Frauen-
anzuges. Die Engländerin, auch die vornehmfte, trägt diefen Anzug immer und
überall, außer bei Geiellichaften und feierlichen Gelegenheiten, und dieje Sitte
Hermann Mutbefius, Moderne Umbildung unſerer äjtbetifhen Anichauungen. 689
findet auch auf dem Kontinent überall Anklang. Diefer Anzug ift genau fo
ſchmucklos wie unjer gegemwärtiger Männeranzug, er verkörpert genau das»
felbe Prinzip. Das Gebiet des weiblichen Anzuges ift aljo von der modernen
Auffaſſung bereit8 betreten, wenn aud noch nicht erobert. Selbit der Damenhut
mit all feiner Phantaftit weicht dem auf das ganz Schmudlofe abftrahierten
fogenannten Matroſenhute, der in England die Alltagskopfbedekung für alle
Stände und alle Lebensalter geworden ift. Die Frau tritt mit alledem langſam
in das Stadium ein, in dem wir Männer uns jchon jeit lange befinden: das der
im wejentlihen ſchmuckloſen Kleidung.
Bedenft man, ein wie wichtiges Gebiet die Kleidung für jeden Menichen ift,
jo nimmt es wunder, daß den an ihr beobadıteten Entwidelungsvorgängen nicht
größere Beachtung geichenkt zu werden pflegt. Die Kleidung ift nicht nur das
erite Objekt aller menſchlichen Kunſt geweſen, jondern fie ift noch heute die täg-
liche Sorge jedes einzelnen menjchlichen Wefens. Sie jpielt in unferm Denken
und Fühlen die allergrößte Rolle, wir machen in Bezug auf Kleidung die aller:
feinften Unterfchiede. Alt umd jung, hoch und niedrig, arm und reich betrachtet
fie nächft dem täglichen Brot als den wicdhtigften Umftand des äußern Lebens.
Selbſt der Zerlumpte hat noch Eitelfeitspunfte in Bezug auf feine Erfcheinung.
Das, was fi alfo in unfrer Kleidung entwidelt hat, muß gewiß ein Niederſchlag
dejien fein, was fi) überhaupt in Bezug auf die Geſchmacksbildung entwidelt.
Und man ann eigentlich hier am ficheriten fein, daß man über alle Schwankungen
und Täuſchungen hinaus — deren wir im Verlauf diefer Betrahtung mande an-
treffen werden — bier wenigitens ein untrügliches Zeichen der Zeit vor ſich hat.
Diefes Zeichen der Zeit ift, wie bereit3 erwähnt, die Ablegung des Schmudes,
eine ganz ausgeſprochene Bewegung auf die ſchmuckloſe Form hin mit entichiedener
Hervorhebung des rein Zmwedmähigen. Wir finden es in anderen Gebilden in
faft ebenfo umverfennbarer Geftalt ausgeprägt al3 in unſrer Kleidung: in unfern
Wagen, unfern Schiffen, unſern Maſchinen. Ya, die legteren erzählen am deut-
lihften von dem Zuge unſrer Zeit, denn fie jind traditionslos in ihr entftanden,
während die heutige Form der jchon früher gebrauchten Dinge, etwa eines
Landauers oder eines Segelbootes, nur durd) eine Art Häutung aus der früheren
Form umgebildet worden ift. Nun kann man aber einwenden, daß es fraglich
fei, ob eine frühere Zeit Dinge wie Maſchinen geſchmückt haben würde. Es gab
früher die heutige Mafchinenwelt nicht, aber es gab doch Werkzeuge, aftronomifche
Inſtrumente, Fahrzeuge jeder Art, und alle diefe Dinge zeigten Schmudformen,
zum Teil traten fie in reicher Ausbildung auf. Sein Scloffer bildete ein Schloß
ohne einigen ornamentalen Aufwand, kein Tifchler einen Tiſch ohne irgend einen
Zribut an die Phantafie.
Alle diefe Dinge waren, nah unfrer heutigen Auffafjung, „Eünftlerijch“
gebildet. Nach der damaligen Auffafjung dachte bei ihnen aber gewiß
4
6% Hermann Mutheſius, Moderne Umbildung unſerer äſthetiſchen Unihammgen.
fein Menſch an „Kunſt“, man bildete eben fo, wie der naive innere Trieb es
diftierte. And dies führt fogleih auf eine jehr widtige Bemerkung.
Seit der Zeit, da ſich die moderne Welt plöglich in den neuen ſchmuckloſen
Zuftand getrieben?jah, wo ſich die neuen Kinder der Zeit, bar alles zeremoniöfen
Auftretens, in größerer Menge um den noch halb in romantifhen Träumen
ſchwebenden Menjchen anfammelten, jeit jener Zeit erhob ſich der Aufichrei nad
Kunſt, der für die legten fünfzig Jahre jo bezeichnend geworden ift. In Eeiner
Zeit der menfchlichen Entwidelung ift wohl das Wort Kunſt jo oft im Munde
geführt worden, als von jener Zeit bis heute. Ein Heißhunger nach Kunſt
durhwühlt gerade heute wieder die Menjchheit, und man experimentiert gerade
jet wieder mit dem Begriffe Kunft hin und ber.
Diefer Schrei nach Kunſt hat zweifellos feine Berehtigung am Ende eines
Sahrhunderts, das in Wiffenfchaftlichfeit förmlich erftarrt war, und er ijt nichts
Anderes al3 die natürlihe Reaktion gegen ein Syftem der Einſchränkung umd
Einjchnürung, die diefe Zeit gegen diejenigen höheren Geiftesgüter ausgeübt hatte,
die mehr auf dem Gefühl ald dem Berftand der Menfchen fih aufbauen. So:
weit man aber diefe „Verkunſtung“ auf dasjenige menfhliche Bilden, das die
Bedürfnifie des täglichen Lebens dedt, ausgedehnt hat, ſoweit fie unfere teftonifche
Thätigkeit beeinflußt hat, ift fie durchaus nicht glüdlich gemweien. In diejem
Jahrhundert, das al3 das Geburtsjahrhundert der neuen jchmudlofen Formen
bezeichnet werden kann, jind gleichzeitig die bedenklichſten Aufpfropfungen auf die
neuen Gebilde im Sinne einer vergangenen Kunſtauffaſſung vorgenommen
worden. Sie jchufen eine Art Zwittergebilde, eine Art Afterkunit, die uns nun
erit vecht in den Abgrund der Kunftlofigkeit hinabreigen mußte Man verfah
nämlid) die jest zumeiſt majchinenmäßig hergeftellten Dinge mit ſolchem Schmud,
den man von den früheren, handwerklich erzeugten Dingen ber kannte. Denn es
war nichts leichter, als alle die Herrlichkeiten auch ihrerfeit3 majchinenmäßig ber:
zuftellen. So entftanden unfere geitanzten Blechornamente in Nahahmung der
früheren Treibarbeit, unfere ganze Goldarbeiterkunjt ging an diefem Maſchinen—
werk zu Grunde. Das Gebiet des Edelmetall-Schmuds wurde jo total ruiniert,
wie wir es vor einigen Jahren antrafen. So entjtanden alle die den Tifchlern
für Spottpreiie gelieferten, maſchinenmäßig hergeftellten Holzornamente, die fait
unſer gefamtes, feit 1870 entitandenes Mobiliar zum Schund jtempeln, jo entftanden
alle jenen omamentalen Phantafieen in Gußeiſen und Papiermaché, die als Zeugen
des fünftlerifchen Verfalles unferer Zeit der Nachwelt beredt berichten werden.
63 lag bier der fundamentale Irrtum vor, Ornament mit Kunſt zu
verwechſeln. In Wahrheit haben beide fo wenig mit einander zu thun,
wie das Mehgewand mit der Religion. Und da diefer Bergleih einmal an-
gefchnitten ift: genau fo wie das Ritualweſen in der Religion, genau jo ſteht
das eigentlich Formale und Ornamentale in der Kunſt da. Genau jo, wie ſich
Hermann Muthefius, Moderne Umbildung unferer äjthetifchen Anfchauungen. 691
eine Religion ganz in diefes Ritualwejen verlieren fann, fo daß man vergeblid)
nach Geift und Leben ſucht, genau jo kann ſich die Kunit in das Formale ver:
irren und dadurd) zur Mumie werden.
Diefe Mumifizierung it im Berlaufe der legten hundert Jahre unter der
Flache der Kunft mit einem großen Bruchteil unjerer teftonifchen Künfte vor ſich
gegangen, ganz bejonder3 mit der Arditeftur. Die Architektur, von ftroßender
Lebenskraft im griechifchen, römischen und gotiihen Zeitalter, wo fie mehr oder
weniger der nbegriff der gejamten bildenden Kunſt war, ließ jchon zur Zeit
der Renaifjance Zeichen organischer Störung erkennen. Denn man über:
nahm jeßt „Formen“ und machte dieje fortan zum Wefentlichen in ihr. Mit dem
Klaſſizismus, der es fertig befam, dorifche Tempelfronten vor Bedürfnishäuschen
zu bauen und — mie ed am Wiener Parlamentshaus geichehen ift — den
Schornftein einer Gentralheizung in die Form eimer rauchausfpeienden ioniſchen
Säule zu verkleiden, mit diefem Klaffizismus begann die große Narretei der
Architektur des 19. Jahrhunderts. Im Verlauf des tollen Treiben gelangte
man fchlieglih Bis zu der befannten Durchrafung aller Stile der VBergangen-
heit, wobei man das Bewußtſein des eigenen Lebens ganz verlor und mit derjenigen
Kunft, die eigentlich die Führerin aller andern Künſte jein follte, Fangball jpielte.
Dabei handelte es ſich nicht um die Architektur allein, fondern um das
ganze Handwerk, das jetzt der Hiftorifch gebildete Architekt in Pacht nahm. Auch
das Handwerk wurde der QTummelplat formaler Phantaftereien, auch an das
Kleingerät wurde der ganze Masferadenaufwand angeflebt, den ſich die Werke
der Arditektur gefallen laffen mußten. Die Kunſt des Architekten endete aud
hier im Berfleiden in einen beftimmten „Stil”, wobei Ornament und Formen:
wejen die Hauptrolle jpielten. Und wenn er es auch nicht jelbft war, der bie
oben gejchilderte fabritmäßige Herftellung von Ornamenten beforgte, fo fchuf er
doc; die Vorbedingungen dazu, indem er das geiftige Band zwifchen alten
Drnamenten und neuen Dingen knüpfte Die Derftellung diefer Masteraden-
ausftattung nad) der neuen Methode, d. h. durch die Mafchine, war dann nur
ein vorauszufehender, jehr natürlicher Schritt.
Durch diefes Dazwifchentreten des gebildeten Architekten ift in die natürliche
Weiterentwidelung der menſchlichen Gejtaltungsart eine eigentümlicdhe Verwirrung
gekommen. Will man diejer Weiterentwidelung auf den Grund fommen, fo bleibt
daher nichts übrig, als fein Wirken auszuſchalten. Das iſt aber deshalb ſehr
ſchwer, weil er thatjächlich den allergrößten Einfluß ausgeübt hat. Denn gerade
er fchien der berufene Kunſtwart zu fein, der die Fahne der Fkünftlerifchen
Beitrebungen mitten in einer vollkommen funftlofen Zeit bochhielt, gerade
er wurde al der Helfer in jener Zeit erblidt. Was er als Heilmittel verzapfte,
nämlich den Aufguß der geweſenen Stile, konnte feinem Menfchen helfen. „Bier
war die Arzenei, die Patienten jtarben” kann man heute mit Fauſt jagen, der
4*
692 Hermann Mutheſins, Moderne Umbildung unſerer äftbetiichen Anschauungen.
gegen die Peſt mit Latwergen und Schwarzfunit ankämpfen wollte. Dieie
gewollte, ji) in Meußerlichkeiten erichöpfende Kunſt, die jeit fünfzig Jahren in
das teftonische Bilden getragen worden ift, war ein Schwimmen gegen den Strom
der Zeit, da8 den Schwimmer nidht vorwärts brachte und die Thorheit ver-
förperte, die Richtung der eigenen Zeit negieren zu wollen.
Nun bat fi die Einwirkung diefer gewollten Kunſt aber troßdem nicht auf
alle Gebiete menjchlichen Geftaltend erftredt, einige abgelegene Provinzen find
unbeadjtet liegen geblieben und in diefen Eonnte ſich die Weiterentwidelung naiver
Kunſtanſchauungen vollziehen. Dahin gehört die Kleidung mit den ſchon vben
betrachteten Entwidelungsergebniffen. Dahin gehören ferner die Erzeugniſſe des
Maſchineningenieurs und des Bauingenieur, joweit in die legteren nicht „Kumit‘
zu tragen verjudht worden ift. Und fchließlich gehören dahin diejenigen örtlichen
Induſtrieen, wie Töpferei, Weberei, ländliche Baukunft, deren alte Tradition ſich in
direkter Fortpflanzung des einft Gemwefenen und ohne welcde höhere Einmifchung
bis in unjere Tage herüber gerettet hat. Die Zahl der letteren ift gering. Und
da ſie mehr Nefte eines alten Zuftandes darjtellen, als Kinder einer neuen Zeit
jind, jo fallen fie gegenüber den anderen Zeichen des naiven Gejtaltens unjerer
Zeit, der Kleidung, den Mafchinen, den Angenieurbauten, nicht jehr ins Gewidit.
Man wird einmwenden, daß es ſich bei diefen Dingen nidt um unit
handele, die Aeſthetik alfo nicht in Betracht fomme. Ein großer Irrtum. Wo
fängt im Leben die Kunſt an und wo hört jie auf? Wo will man das „reine
Gefallen”, das wir Menichen bei taufend Gelegenheiten empfinden, nach der
Eünftlerifchen oder nicht Fünftleriihen Seite hin begrenzen? Man kann ja nichts
dagegen haben, wenn man den Begriff Kunft auf Poeſie, Malerei, Skulptur,
Mufit und Tanz befchräntt, diejenigen Künste, in denen ſich der Menjch im freien
Spiel feiner Phantaſie ergeht, die mit einem Nußzwede in feiner Weije ver:
bunden find. Sobald man aber die Baufunft einfchliegt — und wer wollte es
unternehmen, ihr den Zutritt zu verfagen — giebt es eigentlich überhaupt Keine
Grenze für den Begriff Kunft mehr, denn diefe Kunft dient zunächſt und im
Grunde ihres Weſens Nüslichkeitäzweden. Bereit3 ijt es denn auch alltäglid
geworden, auch das fogenannte Kunftgewerbe in die Kunſt einzufchliegen. Was
ist nun aber Kunſtgewerbe und was gewöhnliches Gewerbe? Wollte man einen
Zaun zwifchen beiden aufrichten, jo wäre gerade dem Sunftgewerbe am aller:
wenigften gedient, denn die Definition desjelben würde dann wahricheinlidh — wie
ed wirklich häufig gefchieht — darauf hinauslaufen, daß das zum Kunſtgewerbe
Gehörende irgend etwas nicht unbedingt Notwendiges enthalten mühe, irgend
einen „künſtleriſchen“ Zufaß, wodurd wieder eine ganz gefährliche Tendenz, die
des unfachlichen Anklebens von Nebendingen, unterjchrieben wäre. Thatſächlich
ift das fogenannte Kunſtgewerbe eine fange Zeit nichts Anderes geweien als das
fachliche Gewerbe mit unſachlicher Kunftanflebung. Der Zulammenleimung der
Hermann Mutheſius, Moderne Umbildung unſerer äſthetiſchen Anſchauungen. 693
Begriffe Kunſt und Gewerbe zu einem Worte entſprach die Zuſammenleimung
von Sachform und Drnament, die man in Gewerbe der zweiten Hälfte
des neunzehnten Kahrhunderts jehr zum Unheil der Sache vorgenommen hat.
Unfer äfthetifches Gefallen erſtreckt fich im Leben auf viel weitere Gebiete,
al3 die der eigentlichen Kunftwerke. Abgejehen von der Natur, die und immer
das größtmögliche äfthetifhe Gefallen abnötigt, gefällt uns in unferer von
Menſchen geichaffenen Umgebung alles Mögliche, eine Eijenbahnbrüde, ein
Zweirad, eine Hutform, eine Krawatte. Und der geftaltende Menſch bildet
anderjeit3 immer nad) gewiſſen Gejegen, einfach infolge feiner ihm eingepflanzten
piychologiichen Bedingungen, mag er ‚künſtleriſch“ bilden oder nit. Der Schufter
beim Anfertigen eine Stiefeld, der Tifchler beim Fügen eines Schranfes, der
Arditeft beim Bau eines Haufes, der Wagenbauer beim SKonftruieren eines
Wagens, der Maſchinenbauer beim Entwurf einer Mafchine, fie alle handeln
nach den uns von der Natur eingegebenen Geftaltungsgefegen, deren wir Menjchen
uns gar nicht entäußern können. Wir haben alfo, wenn wir von äjthetiichen
Anſchaunngen reden, durhaus ein Recht, das menſchliche Bilden in feiner Ge—
jamtheit zu betrachten. Und wir können Veränderungen in der Art diejes
Bildens ebenfogut an Brüden, an Maſchinen, an der Kleidung, an Fahrzeugen,
wie an den unter „Kunft” rangierenden Werfen menſchlicher Thätigfeit ftudieren.
Am übrigen ift die Abficht des modernen Geftalters keineswegs immer lediglid)
die, dem bloßen Gebrauchszwed zu genügen, in fein Geftalten mifcht ſich zumeiſt
unbewußt der Trieb ein, auch gefällig zu geftalten. Beim Entwurf einer Brüde
jpielen in der Wahl der Form aud äfthetiiche Nüdjichten eine Rolle. An
Mafchinen polieren wir gewiffe Teile blanf, um die Mafchine ſchmuck erjcheinen
zu laffen, in unferem jonft ganz fchmudlofen Herrenanzuge jprechen doch der
Gylinder, die Srawatte, das gebügelte Hemd noch den Wunſch aus, mehr als das
unbedingt Notwendige zu thun. Und ſchließlich kommt in allen Fällen noch etwas
jehr Wichtiges, die Wahl der Farbe, in Betradht, in der ein breiter Raum zur
freien äfthetiichen Bethätigung von ſelbſt gegeben ift.
An Bezug darauf, wieweit fi die Möglichkeit der Umbildung unferes
äfthetifchen Empfindens erftredt, muß bier noch ein Hauptumftand hervorgehoben
werden: die Macht der Gewohnheit. Selbit wo reine Nugformen bervorgebradt
werden, gewöhnen wir ung in kurzer Zeit an fie, ja finden fie mit der Zeit gefällig,
auch dann, wenn ſich unfer Empfinden zunächft dagegen jträubte. Wer erinnert ſich
nicht der zuerit häßlich erfcheinenden diden Luftreifen an unfern Zmweirädern? Heute
nimmt niemand an ihnen Anftoß, unjer Empfinden bat jich angepaßt. Und
fanden wir nicht einige englifhe Neuerungen im Anzug, wie den weiten lleber-
zieher, die Qederbeinfchienen, die vorn am Schienbein zugefnöpft werden, unjchön?
Kaum find fie eine Reihe von Jahren in Gebraud, und der Widerſpruch hat ſich
nicht nur gelegt, jondern fie werden auch überall nachgeahmt. Die Gewohnheit
694 Hermann Mutheſius, Moderne Umbildung unſerer äfthetiichen Anfchanungen.
beeinflußt alle unfere äfthetifchen Urteile in allerbreiteiter Ausdehnung. Wie
fönnten fonjt jene phantaftifhen Bauten Indiens dort als Gipfel der Hunt
gelten, zu denen wir Europäer doc) nicht das geringfte Verhältnis finden können!
Es find eben Generationen in den dort üblichen Kunſtformen erzogen worden
und die heutige nimmt fie als etwas durchaus Natürliches, ihrem deal Ent:
ſprechendes von felbft hin. Die Gewohnheit kann umd wird aud den in unfern
modernen Bildungen vor ſich gegangenen Wandel mit der Zeit äſthetiſch billigen.
* =
*
Wie iſt es gekommen, daß ein ſolcher Wandel im Verlaufe von hundert
Jahren Platz greifen konnte? Welches find die Bedingungen und Urſachen
dieſes Wechſels? Man kommt diefer Frage, wie fo vielen menſchlichen Kultur:
fragen näher, wenn man den fozialen und wirtfchaftlichen Untergrund der Zeit:
entwidelung betrachtet. In dieſer Beziehung liegt für die europätfche Welt ein
großer Wendepunkt am Ende des 18. Jahrhunderts vor. Es handelte ſich um den
Auftrieb des dritten Standes, der damals ftattfand, um den Sieg des Bürgertums
über die Ariftofratie. Mit diefem Siege, der eine vollftändig neue Schihtung der
Geſellſchaft einleitete, fiegte aud; eine neue Kunftanfhauung über eine alte: die
bürgerliche über die ariftofratifche. Es ift erfichtlich, daß der ganze Sunftapparat,
den wir vom Zeitalter der Renaiffance an bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts
in den führenden Ländern herrfchend finden, der einer recht eigentlich ariftokra-
tiſchen Kunft ift. Die Stile der Ludwige in ihrer glänzenden Entwidelung find
die reinſte Verkörperung derjelben. Dieje Kunft gab fo fehr den Grundton für die
ganze Zeit an, daß die damalige bürgerliche Kunft als eine Abjtraktion der ariſto—
Eratifchen aufgefaßt werden muß. Erit als die Säulen diefer ariftofratifchen Kultur
zu wanfen begannen, konnte fich diefe bürgerlich reduzierte Kunſt felbftändig zu
entwideln beginnen.
In England und in Holland hatte fih das Bürgertum weit früher entfaltet
als in allen übrigen Ländern, hier fteht auch die Wiege einer felbjtändigen bürger-
lihen Kultur. In England ift die Stimme des Volkes jeit dem Mittelalter her
ftet3 durch einen geregelten Anteil an der gejeßgeberifchen Gewalt zur Geltung
gefommen, und die Grundfeften eines mächtigen und einflußreidyen Bürgertums
wurden bier bereit3 unter der Regierung der Königin Elifabeth gelegt. Deshalb
ift von der ganzen höfifchen und ariftofratifchen Kultur, mit der Frankreich durch
Jahrhunderte für das Feſtland führend wurde, nur ein ſehr ſchwacher Abglanz nad)
England gedrungen, hier blieb z. B. die ganze Barod- und Rokoko-Kunſt fern.
Auf die jehr lange anhaltenden mittelalterlihen Traditionen wurden zwar durd)
einen direkten Uebertragungsprozeß die wuchtigen aber fchlichten Formen Palladios
aufgepflangzt und etwa 150 Jahre geübt; um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts
Hermann Mutheſius, Moderne Umbildung unferer äfthetifchen Anichauungen. 695
ſproſſen aber bier bereit3 die erften Blüten der Romantik empor, die Geſänge
Oſſians begeifterten bald darauf ganz Europa. Damit begann der große Um:
Ihmwung der Stimmung, der eine neue Zeit einleitete.
Ein Sehnen nah Natur, Reinheit und Einfachheit erfüllte damals die
Welt. E3 war die Gegenluft gegen die Hofatmojphäre, die drüdend auf der
Mehrheit der Menfchen gelaftet hatte. Das Unberecdtigte der dazu vielfach
mißbraudgten Borrechte der oberen Stände drang zum Bewußtſein des Volkes
durch; in tyrannos feßte Schiller al3 Motto auf fein erites Litteraturwerf. In
diefem Ringen nad) dem neuen Zeitalter vereinigten ſich die gefamten @eiftes-
fräfte der europäilhen Kultur, die franzöſiſche Revolution war nur eine Teil:
erplofion der überall herrichenden Spannung. Auch künftleriih trat damals eine
vollfommene Aenderung ein, die aber in der hohen Kunſt zunärhft eine eigen-
tümlide Richtung einfchlug. Als Gipfel des Einfah-Schönen und der höchften
fünftlerifchen Reinheit wurde die eben neu entdedte griechiſche Antike erkannt.
Da die neue gegen-ariftofratiihe Zeitbewegung rein negativer Natur war, fo
war für die Kunſt, die nur mit pofitiven Werten arbeiten kann, zunächit Eein
Ergebnis aus dem neuen Zeitgeift zu verzeichnen. Sie umklammerte dafür die
Antike mit Inbrunſt als den Inbegriff alles dejien, was man erjehnte. Und fo
fladerte denn jenes Feuer der antiken Begeifterung empor, das in allen Künſten
einen jo eigentümlichen Wiederfchein hervorrief, am dauernditen aber die Baukunſt
beeinflußte. Hier führte fie in der Form des Hlaffizismus zu jenen Sinnwidrigfeiten,
die jchon weiter vorn berührt find, fie brachte Erzeugniffe hervor, die nur aus einer
völligen Verblendung, aus einer Art hypnotiſcher Beeinflufjung zu erklären find.
Und troßdem Eryitallifierten fih auc unter der Dede diejer Verirrungen
die dem Geifte der Zeit wirklich entfprechenden Beftandteile einer geſchmack—
lichen Weiterentwidelung ab. Die bürgerlihde Schicht der Gefellichaft, die
jett an das Oberwaſſer gelangte, bildete z.B. ihre Möbelformen in einem Sinne
aus, daß fie grundlegend für die ganze folgende Zeit wurden. England mit
feiner breiten, jelbjtbewußten und geldkräftigen Bürgerfchicht verrichtete hier
Pionierdienfte für die ganze europäifche Welt. Es entwidelte fhon am Ende
des 18. Jahrhunderts in feinen Chippendale-, Hepplewhite- und Sheraton-
Möbeln das moderne Möbel überhaupt. Bier wurden echt bürgerliche Formen
geſchaffen, einfach, faft ohne Schmud, gediegen, eine verfeinerte Behaglichkeit atınend,
die fern von jeder ariftofratifhen Repräfentation ihr Genügen im häuslichen
Leben findet. Thatſächlich Hat England mehr oder weniger durch das ganze
neungzehnte Jahrhundert an diefen Möbeln, bejonders denen der Sheraton-Form
feftgehalten. Um die Mitte desfelben, ald die Architekten auch hier „ſtilvolle“
Möbel zu zeichnen begannen, tauchten fogenannte gotijche Möbel auf, die aber
ihren Beruf, die Welt zu beglüden, völlig verfehlten. Heute jtehen fie als voll-
Eonımene Sarifaturen da. An der Herrichaft des Sheraton-Möbels hat felbit die
696 Hermann Muthefius, Moderne Umbildung unjerer äſthetiſchen Anichauungen.
neue Kunſtbewegung nicht ändern fünnen, deren neu eingeführte Möbelfurmen
fih nicht Haben behaupten Eönnen. In Deutjchland, das freilich unter
wirtfchaftlih ganz andern Bedingungen arbeitete, entwidelte fih in der
erften Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts das, mas wir heute Biederrmeierftil
nennen: ebenfal® der Niederichlag ſchlichter Bürgerlichkeit. Aber bier
wurden die gefunden Anfänge bald durch die Stilmut der zweiten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts weit gründlicher hinmweggefegt als in England, es
blieb faft nichts von der jchlichten Biedermeierkfunft übrig. Die deutfche Rengaiſſance
der fiebziger Jahre füllte dafür unfere Zimmer mit jenem übel überladenen
ſchweren Hausrat, der ung bereitö nach zwanzig Jahren unerträglich werden mußte.
In der Biedermeierzeit entitand auch der moderne Anzug, die volllommene
bürgerliche Schlichtheit verförpernd. Von ihm läßt fi wohl mehr als von
irgend einem andern SHulturerzeugnis unferer Zeit jagen, daß er nicht wieder im
Sinne einer Ormament- oder Stilkunſt „verfchönert" werden fann. Die
Gründung von Bereinen zur Fünftlerifchen Umgeftaltung der Männcrkleidung
fann hieran nichts ändern. Der heute herrjchende Anzug zeigt aber zugleich aud,
wie in unjerer Zeit das bürgerliche Lebensideal ganz und gar zum berrichenden
geworden ift: auch Fürften find, wenn fie ihre Militäruniformen ablegen, ge
nötigt, ihn zu tragen, e8 giebt jeldft für fie feinen anderen Anzug als den bürgerlichen.
Dabei ijt es amüſant zu beobadjten, wie nod) einige foſſile Reſte der alten arijto-
Eratiichen Tracht in die Gegenwart gefchleppt worden find, 3.3. in unfrer Gebeim-
ratsuniform. Sie zeigt in ihrer Goldftiderei und ihrem Zufchnitt nody den ganzen
Apparat der alten Shmüdenden Kunſt, wirkt aber gerade dadurd heute ſeltſam,
faft komiſch. Sie wird auch nur bei ganz feltenen Gelegenheiten hervorgeholt und
faum öfter angezogen al3 ein Masfenanzug, mit dem fie vom Standpunkt des
modernen Menjchen große Aehnlichkeit hat. Als noch mit Elementen der alten
Kultur durchſetzt muß auch unfere heutige Militäruniform betrachtet werden, die
nod viel von der alten gefhmücdten Form behalten hat. Aber es läßt ſich
Schon heute behaupten, daß aucd ihre Tage gezählt fein werden. Bereits
fteigt die praftiiche Felduniform am Horizont empor, die abfolut ſchmucklos fein
wird. Eine englifhe Erfindung, bat fie in der englifchen Kolonialarmee zuerit
volle8 Bürgerredt erlangt und wird heute im füdafrifanifchen Kriege fchon von
Hunderttaufenden von Soldaten getragen. England ift in der Entwidelung
derartiger rein praftifcher Sonderanzüge führend vorgegangen. Die mannig-
fahen Sportanzüge, die von England aus ihren Weg durd die ganze Welt
nehmen, jind ein englifche® SKulturerzeugnis. Sie zeigen zugleich die über:
mwältigende Beweiskraft, die das rein Praftifche heute hat: einmal in die Welt
gelett, wird e3 nicht nur allgemein angenommen, jondern — wie das z. B.
bei der Felduniform der Fall ift — mit der Zeit fogar Schön gefunden.
Aber die bürgerlihe Schichtung der Gejellihaft war es nicht allein, die in
Hermann Mutheſius, Moderne Umbildung unjerer äfthetifchen Anschauungen. 697
unfern äfthetiihen Anſchauungen umgeftaltend wirkte. Es fam noch ein wirt:
ſchaftliches Ereignis hinzu: der Anbruch des Mafchinenzeitalters. Es fällt mit
der Oberichichtung des Bürgertums ungefähr zufammen. Die Mafchine, früher
nur in geringem Umfange und in unvolllommtener technifcher Ausbildung dem
Menſchen bekannt, wurde vun jeßt an einer der wichtigften Begleiter der Menfchheit.
Eifenbahnen und Dampfichiffe verdrängten bald die Poftkutfche und das Segel—
boot. Fabriken entitanden, in denen Taufende von Spindeln jehnurrten und
Triebräder jauften, und Maſſen von neuen Waren wurden auf den Markt ge:
worfen. Unſere gefamten äußern Lebensverhältnifje änderten ſich innerhalb eines
halben Jahrhunderts in einer geradezu revolutionären Weiſe. Ungeheure Eijen-
maſſen wurden der Erde entzogen und der menſchlichen Geftaltung dienftbar
gemadt. Es entiwidelte fi) ein neuer Stand, der fie geftaltete: der Ingenieur.
Der Ingenieur hat den Erdball mit Verkehrswegen überzogen, die Ver:
fehrsfahrz euge geihaffen, Flüffe und Thäler überbrüdt, gewaltige Eifen- und
Glashallen gebaut, er hat Mafchinen Eonftruiert und mit diejen die Mehrzahl
ımjerer Gebrauchsgeräte in Millionen von gleichen Eremplaren fabritmäßig her:
geftellt. Lohnt es da nicht, die und auf Schritt und Tritt umgebende über-
wältigende Anzahl von Schöpfungen des Ingenieurs einmal auf ihre äußere Er-
ſcheinung zu betrachten? Wir entdeden die reine, ſchmuckloſe Gebrauchsform, ohne Or:
nament, ohne irgend eine Spur der Bethätigung der alten ſchmückenden Aeſthetik. Und
wieder finden wir, daß wir uns bereit3 an diefe Formen gewöhnt haben, ja fie
zum Zeil jchön finden. Iſt nicht ein fchmuder Ogeandampfer ein Werk, das
fih Eünftlerifch betrachten läßt? Berdient nicht die mweitgefpannte Bahnhofshalle
aus Eilen und Glas mit denjelben Augen betrachtet zu werden, wie im alten
Rom das Kolofjeum betrachtet wurde? Wer kann fich dem Reize einer in fühner
Schwingung gelpannten, aus zierlichen Eijenftäben gebildeten modernen Brüde ent-
ziehen? Und hat nicht felbft der Einblid in eine moderne eleftriiche Kraftitation mit
den reihenmäßig aufgeftellten elektriſchen Rieſenmaſchinen einen eigenartigen Reiz?
Vielleicht giebt es viele, die hier noch nicht ganz mitfühlen fünnen. Es
ift un3 in ben legten fünfzig Jahren zu oft vorgepredigt worden, daß alle dieſe
modernen Erzeugnifje häßlich feien, und. daß die Mafchine ein Fünftlerifches Unheil
für die Menfchheit bedeute. Alle diefe Urteile wurden vom Standpunkte der alten
Schuläſthetik gefällt. Sie aufrecht zu erhalten widerjpricht ebenfo den Geſetzen
des vernünftigen Dentens, wie es trojtlos iſt. Es giebt nichts abſolut
Schönes, die Begriffe ſchön und häßlich drüden nur die Wirkung aus, die
irgend eine Erjcheinung auf uns ausübt, Es bliebe aljo höchſtens abzu—
warten, ob eine ungewohnte Erjcheinung nicht mit der Zeit doch noch eine ge-
fallende Wirkung auf uns ausüben wird. Diefes Stadium ift bei vielen der
neuzeitlichen Werfe, mit denen der Ingenieur uns bejchenkt hat, bereit erreicht.
Berhielten wir und gegen die Werke des Ingenieurs ſtets ablehnend, jo wäre es
698 Hermann Mutheſius, Moderne Umbildung unferer äſthetiſchen Anſchauungen.
Ihlimm um uns beſtellt. Denn der Ingenieur wird nicht aufhören zu bauen,
wie feine Mafchinen nicht aufhören werden zu produzieren. Es bleibt uns
angejicht3 der fich täglich mehrenden Maſſe diefer Werke gar nichts Anderes
übrig, als ſie äſthetiſch einzureihen, nicht aber fie ald außerhalb der Aeſthetik
itehend rundweg abzulehnen.
Freilich eins folgt aus dem bisherigen Gang der Entwidelung mit voller
Klarheit: diefe neuen menſchlichen Bildungen wollen nit nur vom Standpuntte
einer neuen Aefthetif gewürdigt werden, ſondern verlangen auch eine von einem
neuen äfthetiichen Empfinden diktierte Geſtaltung. Auf das Fruchtloſe der Ber-
juche, mit dem Nüftzeug der alten Ornamentik an fie heranzutreten, ift ſchon bin-
gewiejen worden: das Leberipinnen mit majchinenmäßig hergeftellten Ornamenten
hat nur zu Ergebnijjen der Eläglichiten Art geführt. Ein wichtiges negatives
Nefultat, das für die Zukunft nicht außer acht gelaffen werden darf, jcheint aber
bier dennoch bereit3 gewonnen zu fein: eine fabrizierte Schmudfurm wirft ab:
ftoßend. Der Schmud ift eine Art Weihe, die man über das Alltägliche gieft,
und es ſcheint durchaus erforderlich, daß man die weihevolle Stimmung aus ihm
heraus erfennt, mit der er hervorgebracht iſt. Bei Betradhtung eines getriebenen
Silbergefäßes empfinden wir das Wirken des Treiberd nad, wir erleben feinen
Eifer, jeine Freude an der Arbeit gewiffermaßen noch einmal mit, wir ſehen, wie
er bier glüdfich bildete, da fehlte, kurz es fpricht aus dem Werfe „ein Geift zum
andern Geift“. Dasjelbe Ornament mit der Blechſtanze ausgejchlagen wirt:
trivial und vermag nur dem äfthetifch rohen Gemüt Eindrud zu maden. Es
wirkt wie eine auswendig gelernte Riebesbeteuerung und iſt im Grunde wie dieir
nicht nur platt, ſondern unmoraliih. Daher vielleiht der Widerwille gegen
DOrnament überhaupt, der fich heute bei äfthetiich fein empfindenden Maturen
geltend macht. Jedenfalls iſt Maſchinenornament ein Irrtum. Die glatte, auf
dag Nützliche reduzierte Form ift das, was wir von dem Mafchinenerzeugnis
erwarten.
Im übrigen find die Formen, die fih aus den neuen Bedingungen ent:
iwideln müflen, weder heute jchon al3 feititehend zu betrachten, noch können fie
ihrem Wefen nad) auf ein beſtimmtes Endziel bejchränft fein. Für einige neue
Bedingungen, wie 3.B. für die raumüberdedenden Materialien Eifen und Glas,
iſt ein Typus bereits entwidelt, der jich in dem Pflanzenhaus und der Bahnhofe
halle ausſpricht. Für den Eifenbau iſt das Eiſenfachwerk der natürlich gegebene
Grundbejtandteil; man hat wohl alle Verfuche, die alte Ornamentik auf die Eiſen—
ftäbe zu übertragen, heute aufgegeben. Die Geftaltung des eifernen Bauwerks felber
ift dagegen zum großen Teil ein Produkt der freien Wahl des Ingenieurs, bei
der ihn die Berechnung in den Einzelheiten leitet, aber in der Gefamtanordnung
nur unterftügt. Much in der Gejamtanordnung find zwar gewiſſe mathematiſche
Grundanſchauungen maßgebend, allein e8 wäre falfch, anzunehmen, daß diefe für
Hermann Mutbeiins, Moderne Umbildung unferer äſthetiſchen Anſchauungen. 69
jeden Einzelfall nur auf eine einzige Löſung führen fünnten. Die Formenwelt
der neu entftandenen Geftaltungen ift in den bis jet hervorgebrachten Reiftungen
nur angedeutet, denn wir haben das neue Gebiet kaum betreten. Alle Formen
find noch in einer heftigen Umbildung begriffen, ein allgemeines Gären und
Brodeln macht ſich geltend. Eine neue definitive Geftaltungsform für neue Ge-
ftaltungsbedingungen zu finden, kann nicht das Werk eines Einzelnen fein, bier
müſſen Generationen in ununterbrochenem Eifer in die Schranken treten. Der
bisherige Gang der Entwidelung ift zumeift der geweſen, daß die erften Verſuche
der Neugejtaltung an Bekannte anfnüpften. So zeigten die erjten eifernen
Brüden (fie waren aus Gußeifen) eine Nahbildung der Wölbfteine, die erjten
Eifenbahnwagen eine Nachbildung der Boitkutichen, die erſten Gas- und felbft die
eriten elektriichen Beleuchtungsförper eine Nachbildung der Wachskerzenform, die
eriten Motorwagen eine Nachbildung der Droſchken. Das Taftende diefer Ver—
ſuche zeigt die Schwierigfeit des Problems am deutlichjten. Die heutigen eifernen
Brüden, Eifenbahmwagen und elektrischen Lichter haben eine einigermaßen
äſthetiſch klare Form bereit angenommen, beim Motorwagen können wir das
Ringen mit der form nod deutlich beobachten, wahrfjcheinlic; wird feine end:
gültige Geftalt noch ganz anders als jeine jeßige werden. In allen Fällen dieſer
Wandlungen aber geht die Entwidelung ftet3 mit Entichiedenheit vom Kom—
plizierten zum Einfachen, eine Abſtoßung alles nicht direkt zur Sache Gehörenden
ift der Wandlungsprozeß, eine Läuterung der Form bis zur reinen fachlichen Ver:
geiftigung das Endziel.
In diefer ſozuſagen wiſſenſchaftlichen Vereinfachung der aus den wirtichaft-
lihen Gegenwartöbedingungen entfprofjenen Neugeftaltungen und der bürgerlid)-
ſachlichen Vereinfachung aller Lebensformen, die die Neufhichtung der Gefellichaft
mit fi) gebracht hat, find die zwei parallel verlaufenden Strömungen zu er-
kennen, die unſere teftonifchen Bildungsgefege ſowohl als unfern Geſchmack nad)
der Richtung des Einfahen und Schmudlofen feit dem Ende des 18. Jahrhun—
dert3 umzugeftalten begonnen haben.
* *
*
Dieſe Betrachtung kann nicht geſchloſſen werden, ohne einen Blick auf das—
jenige tektoniſche Gebiet zu werfen, das wir recht eigentlich als zur „Kunſt“ ge—
hörend zu betrachten gewohnt find und auf das man vielleicht gewohnheitsgemäß
eine äfthetiiche Deduftion zuerit oder jogar allein ausdehnen würde: das der
Arditeftur und des Hunftgewerbes. Weshalb fie zunächſt hier ausgelafjen worden
jind, ift weiter vorn hervorgehoben: hier hat ein verblendetes Streben ver:
wirrend gewirkt, zum Zeil das Oberſte zu unterjt verfehrt, ſodaß das
Kulturbild des neunzehnten Jahrhunderts mehr einer Verwickelung als einer
Entwidelung gleiht. Es kommt Hinzu, daß es fich hier zumeiit um Gegen:
700 Hermann Mutheſius, Moderne Umbildung unserer äſthetiſchen Anſchauungen.
ſtände handelt, bei denen die heutigen Bedingungen nicht ſo weſentlich
verſchieden von den früheren ſind, als daß draſtiſche Ergebniſſe erſichtlich ſein
könnten. Eine Kirche iſt eine Kirche wie früher, ein Wohnhaus in ſeinen Erforder—
niſſen gegen früher zwar etwas, doch nicht grundſätzlich verändert, ein aus Stein
errichtetes Gebäude unterliegt heute noch denſelben ſtatiſchen Geſetzen wie früher.
Hier konnten allzugroße Umbildungen nicht erwartet werden.
Nun Hat ſich aber neuerdings gerade in diefen Gebieten, vor allen im
Kumftgewerbe, eine mächtige Bewegung geltend gemacht, fo ftarf, daß unjere
ganze augenblidliche Kunftlage von ihr aus aufgefaßt werden muß. Was mill
fie, wie ift fie zu erklären, wieweit begründet? Die Notwendigkeit eines Neu:
anfanges ergab fich aus der gänzlichen Hoffnungslofigfeit der Lage, in die ums
das arditektonifche Stiltreiben gebradt hatte. Die entitehende Bewegung war
eine Fortfeßung des Wellenfchlages, der in England durch die an den Prä-
raffaelismus anfnüpfende neue Kunftbewegung aufgerührt worden war. Diele
Bewegung hatte dort bereits dreißig Jahre früher begonnen und war gerade
auf ihrem Höhepunkte angelangt, als der Stontinent einfeßte. England war aljo
führend auc hier. Die Bewegung begann und verlief in England jedod grund:
verichieden von dem Stontinent. Dort ftand nichts von einem Umſturz der be-
ftehenden Yormen auf dem Programm, auf dem Ktontinent wurden die „neuen
Formen” zum Leitfage erhoben. Troßdem kam jedoch die Entwidelung in Eng:
land von felbjt auf einen neuen Ornamentftil, der ſich hauptſächlich in einer neuen
eigentümlichen Art der Pflanzenftilifierung zu erkennen gab. Abgejehen davon
bildete fi eine neue Auffaſſung des Haufes und befonders von deſſen Innenräumen
aus, die mit Eintichiedenheit auf das Schlicht-Gemütliche, Einfache und Saubere
hindrängte und jo durchaus moderne Grundſätze in dem weiter vorn erwähnten
Sinne verkörperte. Die Bewegung hat ſich aud) im allgemeinen einen Charakter
bewahrt, in welchem man diefe modernen Grundfäße Ear ausgeprägt findet.
Auf dem Kontinent löſten fi aus dem anfänglichen Tumult bald zwei von ein-
ander verjchiedene Hauptrichtungen ab: die belgische und die Wiener, die erftere
in Verſchmähung jeder Naturform in einem eigentümlichen Linienſchwung jchwel-
gend, die andere mehr in heiter fpielender Art die engliichen Motive weiter jpinnend.
In Deutichland ift das heftige Ringen nod nicht zu einer Einheit geklärt, worin
übrigens fein Nachteil zu jehen ift.
Betrachtet man die treibenden Kräfte diefer plötzlich ausgebrochenen Bewe—
gung, fo find diefe zweifacher Art: ein phantaftifches und ein realiftifches Element
ift bemerkbar. In dem legteren jehen wir die Fortjegung oder vielleicht die
Parallelbewegung zu der modern-fahlihen Richtung, die den Gegenjtand diefes
Auffages bildet, in dem andern aber eine diefer Richtung fremde, anfcheinend
fogar entgegengejegte Bewegung. Woher kommt das phantaftiihe Element?
Bei näherer Prüfung wird man finden, daß es mit der in der Malerei ſich Elar
Hermann Mutheſius, Moderne Umbildung unſerer äftbetifchen Anjchauungen. 701
zeigenden Bewegung des Neu-dealismus zujfammenhängt. (Unter diefem Namen
find diejenigen Strömungen zufanımengefaßt, die fich als Reaktion gegen die neueren
naturaliftiichen Strömungen unter verjchiedenen Namen, wie Symbolismus,
Myftizismus, Primitivismus u. f. w., zu erkennen gegeben haben und ihren Aus:
gang von den engliichen Präraffaeliten, im bejonderen von Rofjetti nahmen.)
In dem bisherigen Verlauf der Eontinentalen neuen Bewegung überwog nun
bei weitem das phantaftiiche Element. Es überwog jo fehr, daß es anfangs
das Sächliche faft noch mehr überwucherte, als dies die hiftorifhen Stile gethan
hatten. Ganz bejunders war dies der Fall bei derjenigen Gruppe, die jeltjamer-
weije am meiften auf ihre fachlichen Beitrebungen pochte: der belgifchen unter der
Führung von van de Velde. Ka, die Werke diejes letteren Meifterd find ganz
befonders charakteriftiich für den eigentümlichen Widerftreit, den die Bewegung
in fich Ichließt. In feinen Beröffentlihungen erkennt er aufs Elarfte die modernen
Bildungsgefege an: fachliche Geftaltung, wifjenjchaftlich begründete Entwidelung
jedes einzelnen Teiles des zu bildenden Dinges, ja er verfteigt ſich im Eifer des
Verfolges diejer Grundſätze bis zu dem ganz unhaltbaren Leitfage: Ausſchließung
der Phantaſie bei der Bildung. Blidt man dann auf das, was er in Erfüllung
der felbft gegebenen Vorſchriften Schafft, To erkennt man ein Ueberſchäumen nad)
der phantaftifchen Seite hin, das in ſchroffem Gegenfaße zu diefen Vorichriften
fteht. Linienfhwung und wieder Linienſchwung, dem fich alles opfern muß, der
vor feinem Material Halt macht, der weder die Holzfafer kennt, noch die werk:
mäßige Fügung. — In den Wiener Leiftungen macht fich im Gegenfat dazu viel-
mehr ein gemwilfer Primitivismus der Form geltend. Von den deutichen Künftlern
verfolgen einige das fachliche Programm anı Elarften, und im allgemeinen kann
man wohl von bier aus das Befte erwarten. Es iſt jogar eine Abklärung nad)
der ſachlichen Seite bereit3 im Gange.
Das bisherige Ueberſchäumen der Eontinentalen Bewegung nad) der phan-
taſtiſchen Seite hin wäre nun — aud) in Betracht gezogen, daß es nicht dem Zuge
der Zeit entipricht — noch nicht jo Ichlimm, wenn die Führer der Bewegung die
Zügel auf der ganzen Linie in der Hand behalten hätten. Ihr Beiſpiel hat aber
in der Unterfchicht der Induſtrie eine mißveritandene Nachahmung der „neuen
Formen“ hervorgerufen, die geradezu verhängnisvoll geworden iſt. Eine ganze
induftrielle Kunftproduftion ift plößlich üppig ins Kraut gefchojjen, die man im
Publitum mit „Jugendſtil“ oder „Sezeſſionsſtil“ bezeichnet. Sie fennt von Sach—
lichfeit3grundfägen überhaupt nichts, fieht das Wejentliche der neuen Mode nur
in den phantaftiichen Mätchen, die fie den Großen abgegudt hat, und überſchwemmt
unfern Markt wieder mit einem Wuft von Albernheiten, die unfere Situation gegen
früher keineswegs verbefjern. Ja vergleicht man den Durchſchnitt diefer Leiftungen mit
denen, die etwa die Flutwelle der deutſchen Renaiffance vor ziwanzig Jahren auf
den Markt warf, fo iſt er fogar entichieden Ichlechter al3 damals. Vor fünf
702 Hermann Muthefius, Moderne Umbildung unferer äfthetifchen Anſchauungen.
Jahren glaubte man allgemein, zunächſt die Nachahmung der Etile überwinden
zu müfjen, und heute ftehen wir vor der betrübenden Thatſache, daß wir nun
zunächſt wieder diefen „Jugend- und Sezefltonsftil" überwinden müſſen, um in
gerader Richtung weiterzufommen.
Diefe gerade Richtung kann nur im PVerfolg einer gejunden Sachlidkeit
liegen, die der Schmud, wenn er als Hauptjache aufgefaßt wird (und das pflegt
leicht zu gejchehen), zunächft nur beeinträchtigen kann. Je mehr ſich unfere Führer in
der neuen Bewegung zu diefer Sadlichkeit befehren, umfomehr werden jie wirklich
modern jein, d. b. dem allgemeinen Zuge unferer Zeit entſprechen, aus dem Geijte
diefer Zeit heraus ſchaffen. Unſere Sadlichkeitäbeftrebungen, die jih in den
Geftaltungswandlungen der leßten 100 bis 150 Jahre jo deutlich beobadıten
laſſen, werden fich durch feine Stimmungswelle wieder dauernd aus der Welt
verbannen lafjen. Unfere Mafchinen und Fahrzeuge, unſere Brüden und Bahn-
hofshallen werden der Sacdhlichkeit treu bleiben, ebenfo wie fie jih in untere
Kleidung nur nod; mehr Geltung verjchaffen wird. Soll der Unterjchied zwiſchen
diefen, bisher als „unfünftlerifch”" verjchrieenen Bildungen und den als
„tünftleriich" gelobten im Kunſtgewerbe und der Architektur fortdauernd aufredt
erhalten werden? Wollen wir nicht vielmehr eine einheitliche Betrachtung aller
unſerer menjchlihen Bildungen erftreben, wie ſie thatfählih in allen früheren
Kulturen vorhanden gewefen it? — Dann fann die Zukunft nur auf der Seite
der Sadlichkeit liegen, der unjere ausgereifte Kultur, unfere wirtichaftlichen und
jozialen Bedingungen und der allgemeine nüchtern-wiljenfchaftliche Zeitgeift das
Wort reden. Für die Pflege des Phantaftischen verbleibt in den fogenannten freien
Künften noch Raum genug. In dem teftonijchen Gebiet gilt es heute zunädhit,
die Arbeit des Augiasftallfäuberers zu verrichten, es gilt, alle überflüjiigen Or-
nament- und Stilmätschen, mögen fie dem gotijchen, dem Nenaifjance-, dem
Rokoko: oder dem „neuen Stil" angehören, auszumerzen, um dann auf den
einzig gegebenen und modernem Gmpfinden entjprecdhenden Bedingungen, den
fachlichen, den Ausbau der neuen Formenwelt zu vollenden.
em
Es ilt eine rohe und barbariſche Anfchauung, wenn man die Kumfpfiege des Staates
als Tuxus auffaßt. Die Runſt iſt dem Menſchen fo nötig wie das kägliche Brof, und Der
Staat if da, um der Runſt monumentale Aufgaben zu ſehen.
von Trcitfichke.
Aus: Geiſtige Waifen, Gin ApborismenLerilon von E. Schaible. Verlag von Paul Wactel, freiburg i. Pr.
Die moderne Entwikelung der Kriegsflotten.
Von
Marius.
II: hört in unferen Tagen wenig von Anftrengungen der Großjftaaten, die
auf erhebliche Berftärfungen ihrer Landheere gerichtet wären. Die Zeiten
find vorüber, als mit fieberhafter, von kriegeriihem Ddem durchwehter Spannung
die Entjcheidung in der Septennatsvorlage erwartet wurde, als hüben und drüben,
jenjeit3 der Vogeſen und der Weichjel, gewaltige Sadres von Neuformationen
aus dem Boden wuchſen. Die Großmädte des Kontinents befinden fich ſeit
Mitte der neunziger Jahre Hinfichtlich der Stärke ihrer aktiven Feldarmeen ge:
wiflermaßen im Stadium der Sättigung. Nicht als ob deshalb bei uns und
unjeren Nachbarn ein abfoluter Stillftand in der Vermehrung und Bervoll-
fommnung des Landheeres eingetreten wäre. Aber die VBermehrungen in ber
Zahl und die Vervolllommnungen der Bewaffnung vollziehen ſich allmählich, faſt
geräufchlos und ala etwas Selbftverftändliches, bei uns in Deutihland in einem
unferer jährlihen Volksvermehrung angepaßten, von den gejeßgebenden Faktoren
wohl erwogenen Tempo. Die einzigen Großmächte, welche fich gegenwärtig mit
ftarfen Deeresverftärfungen befaljen oder in naher Zukunft befafjen werden, liegen
außerhalb de3 europäilchen Kontinents: Nordamerifa und England, die damit
frühere Verfäumnifje auszugleichen gedenken.
In einer anderen Richtung bewegen ſich jegt die militäriichen Rüftungen
der Bölfer. Es gilt für fie, den zweiten Arm ihrer Landesverteidigung zu
wappnen, in fchimmernder Wehr hinauszutreten auf das Element, über das zu
gebieten jeit Beginn des vergangenen Jahrhunderts faſt als das Privilegium
eines Bolfes, des angeljähjischen, galt. Es ift für die jegige Zeitepoche geradezu
charakteriſtiſch, dieſes allerorts, bei jämtlichen Kulturvölkern mächtig hervor:
quellende, jtürmifche Begehren nad Seegeltung, das in einem fürmlichen Wett:
lauf in der Vermehrung des Flottenmaterials jeinen Ausdrud findet.
Welcher Art die inneren Urfadhen diefer eigenartigen Bewegung unjeres
Kulturlebens jind, wie fie fich Lediglich als die logische Stonjequenz des Leber:
gangs von Freftlandftaat zur Kolonialmacht, von der Europapolitik zur Welt-
704 Marius, Die moderne Entwidelung der Sriegsflotten.
politif, von heimifchen Markt zur Weltwirtichaft darjtellt, fol bier nicht näher
erörtert werden. Zweck diejer Skizze ift, die moderne Entwidelung der Kriegs—
flotten ſelbſt in ihrer materiellen Beeinfluffung durch die Marinepolitif der Staaten
und durch die Tendenzen des Striegsichiffbaues einer kurzen Betrachtung zu
unterziehen.
Aus dem langjährigen Ringen der napoleonifchen Kriege ging England al
unbeftrittener Sieger zur See hervor. Die franzöfifche Kriegsflotte war vom
Meer verfhmwunden, ebenfo aber aud) die Marinen aller anderen Feftlanditaaten,
mit Ausnahme Rußlands, defjen Flotte indeffen auf die Ditfee befchränft blieb.
Ohne Rivalen daftehend vermochte das Inſelreich die Früchte feiner blutig er:
ftrittenen Seegeltung zu ernten, in langen friedlichen Jahrzehnten ein über:
ſeeiſches Weltreich zu begründen und den ganzen Erdball den Intereſſen feines
Handels und feiner bis in die Mitte de3 Jahrhunderts allmächtigen Induſtrie
dienftbar zu machen. Niemand trat England hierbei hindernd in den Weg. Die
Feſtlandſtaaten bluteten unter den Wunden der langen Kriegäzeit, und als dieſe
zu vernarben begannen, erhoben ſich Berfaffungstämpfe, traten nationale Ein-
heitöbeftrebungen hervor, welche den Gedanken an eine überfeeifhen Intereſſen
dienende Marinepolitif nicht aufkommen ließen.
Erft zur Regierungszeit Napoleons III. trat Englands alter Nebenbubler,
Frankreich, mit einer adhtungswerten Kriegsmarine auf den Plan, die wunder:
barerweije zunächſt al3 treuer Verbündeter Englands im Krimkriege Bedeutendes
leiftete und dabei an Stärke nur wenig der englifchen nadjftand. Frankreich ver-
wendete damals, gelegentlich der Beichießung von Kinburn, als erſte Seemadit
gepanzerte Batterieen und baute bald darauf das erfte Banzerjciff „Sloire*. In
England, dejjen Kriegsmarine auf die Hälfte ihrer früheren Stärfe herabgejunten
war, erfannte man die Gefahr der neuerftandenen feemächtigen Gegnerſchaft, und
von diefem Zeitpunfte ab datiert die zielbewußte, durd; Miniftermechfel nur zeit-
weilig beeinflußte Marinepolitit des Inſelreichs, welche die Feithaltung der un-
umfchräntten Seeherrichaft als ihre Aufgabe betrachtete. Schwer wurde ihr die
Erfüllung diefer Aufgabe zunächſt nicht, da Frankreich nad feiner Niederwerfung
im deutſch-franzöſiſchen Kriege lange Jahre hindurch nicht an energiiche An-
ftrengungen zur See denken fonnte, außer Frankreich aber feine nennenswerte
Marine eriftierte, die England hätte gefährlid; werden können.
Ein entichiedener Umſchwung in diefer für England günftigen Lage trat
Mitte der achtziger Jahre ein, als Frankreichs Kriegsmarine aufs neue erftarkt
war, Rußland bedeutende Seeftreitkräfte im Schwarzen Meer wie in der Oſtſee
zu entwideln begann und die Haltung beider Mächte gegen England einen be-
drohlichen Charakter annahm. ALS weitere ftarfe Seemacht war Stalien auf den
Plan getreten. Man kann wohl jagen, daß Englands GSeegewalt damals am
ftärkiten bedroht war, zumal die ſchwöchliche Staatsleitung Gladftones fih aud
Marius, Die moderne Entwidelung der Mriegäflotten. 705
auf die Marinepolitit ausdehnte und den weiteren Ausbau der Hriegsflotte be—
denklich ind Stoden bradte. Hätte Frankreich auch zu jener Zeit nicht ängſtlich
auf das Vogeſenloch geftarrt, jo wäre der Handſtreich Englands auf Megypten nicht
möglich gewefen, der Suezkanal vielleicht heute noch ein neutraler Kanal.“) Allein
nicht Tange dauerte die Schlaffheit der engliichen Marinepolitil. Im Jahre 1889
erfolgte unter dem Drud der öffentlichen Meinung die Annahme der Naval de-
fence act, welche der englifchen Admiralität die ſofortige Inbaulegung von
10 Linienfdiffen, 42 Kreuzern und 18 Torpedobootzerftörern ermöglichte. Da—
mals tauchte aud) die Forderung des Two Power Standard auf. England follte
nicht nur die abfolut ftärffte Seemadht bleiben, jondern auch jederzeit der Koalition
zweier beliebiger Semächte (Frankreich und Rußland) gewachfen fein. Zu jener
Zeit nur im Munde einiger Fachleute, ift diefe Forderung jeßt jeit einem Jahr—
zehnt gewiffermaßen das Flottengeſetz der engliſchen NAdmiralität, das den Umfang
der jährlichen Bauprogramme beftimmt. — Seit der Naval defence act im
Sabre 1889 bis auf den heutigen Tag ift die engliihe Marinepolitik, getragen
von der Öffentlihen Meinung und einem geradezu fieberhaften Bewilligungseifer
des Parlaments, in wahrhaft erftaunlicher Konfequenz und unermüdlicher That:
kraft ihrem großen Ziele treu geblieben.
Die gewaltigen Rüftungen Englands im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahr—
hundertS wurden von dem Zweibunde, Frankreich und Rußland, zunächſt nicht
in gleicher Energie erwidert. Während im Jahrzehnt 1881—18% die Schiffbau-
feiftung Englands von der des Zweibundes um ein Beträchtliches — 233 144
Tonnen gegen 196440 Tonnen — übertroffen wurde, zeigt das letzte Jahrzehnt
1891 —19%00 eine Sciffbauleiftung Englands von 715 150 Tonnen gegen 495 611
Tonnen des Zweibundes. Die Folge war eine ungemeine Stärkung der Madıt:
ftellung Englands zur See, die im Sahre 1898 gelegentlich der Faſchoda-Kriſis
grell in die Erjcheinung trat. Die britifche Kriegsmarine hatte Ende der Wer
Jahre den Two Power Standard nicht nur erreicht, fondern erheblich überfchritten.
Sie war damal3 ihrer erbitterten Nebenbuhlerin jenſeits des Kanals um das
Doppelte, Rußland gut dreifach, jeder anderen größeren Seemacht mindeftens
vierfach überlegen.
Seit dieſer, nur wenige Jahre zurüdliegenden Zeit, welche unbeftreitbar den
Höhepunkt der englischen Macht zur See darftellt, beginnt ſich ein allmählicher
Wandel in der Gruppierung der Geeftreitfräfte vorzubereiten. Im Jahre 1898
beſchloſſen fast gleichzeitig Rußland, Deutichland und die Vereinigten Staaten
die Ausführung umfafjender, zum Teil langfriltiger Flottenbauprogramme, Fran:
reich folgte im Jahre 1900. Der ruffifche Flottenbauplan des Jahres 1898 nahm
*) Der Stanal iſt thatfächlich feit der Offupation Aegyptens nicht mehr neutral. Im
Jahre 1898 wurde gelegentlid) des fpanifchenmerifaniichen Krieges dem Geſchwader Kamarras
von Lord Cromer die Paſſage durch den Suezkanal formell verweigert.
45
706 Marius, Die moderne Entwidelung der Sriegsflotten.
in Ausſicht, den Schiffsbeftand der ruffiihen Flotte durch den Neubau von
8 Linienfhiffen, 6 großen Kreuzern, 10 Kleinen Sreuzern und 30 Torpedoboot-
zerftörern mit einem Softenaufwande von 3% Millionen Mark zu verftärfen.
Bon den Linienſchiffen befinden ſich fämtliche, zum Teil auf ausländifchen Werften,
im Bau, einige nähern fid) ihrer Fertigſtellung. Diefe gewaltige maritime An-
ftrengung des Zarenreichs gefchieht hauptſächlich im Hinblid auf feine oftafiatiiche
Bolitif, die in Japan einen zur See ftreitbaren Widerpart findet. Thatfächlic
wird der neue Flottenzuwachs nicht zur Verſtärkung der baltiichen Flotte ver:
wendet, jondern ſeit Jahren geht jedes neuerbaute Linienshiff und jeder neue
Kreuzer nad) Oftafien ab, um in das dortige Geſchwader eingereiht zu werden.
— Die Vereinigten Staaten begannen jofort im Anſchluß an den Krieg gegen
Spanien mit beträchtlichen Flottenrüftungen. Der entfcheidende Schritt vorwärts
erfolgte jedoch erft im Jahre 1900, als der Kongreß die fofortige Inbaulegung
von 5 großen Linienſchiffen und 6 großen Panzerfreuzern genehmigte. Für das
kommende Jahr fteht die Neubewilligung von 3 weiteren Linienjdiffen und
2 Banzerkreuzern in Ausficht. Thatſächlich wird die öffentliche Meinung in den
Bereinigten Staaten von dem Wunfche beherrfcht, in Bälde eine Seemadt zu
ihaffen, die jeder anderen, mit Ausnahme der englifchen, gewachſen oder über:
legen je. Das ift auch der Plan des neuen Bräfidenten Roofevelt. —
Deutfihland begann im Jahre 1898 mit dem damaligen Flottengefet den
ſyſtematiſchen Ausbau feiner Flotte, der durch das jet gültige Flottengefet von
190 in der Weiſe erweitert wurde, daß für eine Reihe von Jahren jühr-
lich 3 Linienfchiffe oder 2 Linienfchiffe und 1 Panzerkreuzer neben dem fonftigen
Beiwert vun Kleinen Kreuzern und Torpedobooten auf Stapel zu legen find. —
In Frankreich endlid) gelangte 1900 ein Tylottengefeg zur Annahme, das
den Golldeftand der Flotte bis zum Jahre 1906 um 5 Linienfhiffe, 6 Panzer:
Ereuzer, 25 Torpedobootzerftörer und eine große Zahl von Torpedo- und Unter:
feeboten vermehren joll.
Wenn wir an der Dand der vorftehend ſkizzierten Flottenbauprogranmıme,*) deren
twirkliche Ausführung außer allem Zweifel fteht, einen Blid in die Zukunft thun und
nur Pinienichiffe von 10 000 Tonnen und darüber, Panzerfreuzer von 8000 Tunnen
und darüber, beide nicht früher als 1890 vom Stapel gelaufen, berüdfichtigen,
jo ergiebt ich für das Jahr 1906 das Bild folgender moderner Flottenftärken:
Frankreich . » -» . 18 Linienfchiffe, 17 Panzerkreuzer
Bereinigte Staaten. . 20 5 10 R
Deutfhland . . . . 18 * 5 <
Rußland . . .. . 16 B 3 z
* Wir haben die Flottenrüftungen Italiens und Japans nicht in ben Kreis unferer Be
trachtung gezogen, weil Italiens Meachtftellumg zur See vorwiegend auf das Mittelmeer be:
ichräntt bleiben wird, Japan mur für Oftafien ald Großmacht in Betracht kommt.
Marius, Die moderne Entwidelung der Kriegsflotten. 707
Naturgemäß ermöglicht die obige Tabelle keine abjolut richtige Abwägung
der vier Kriegsmarinen gegeneinander. Sie giebt indefjen das Ylottenmaterial
wieder, das man im Jahre 1906 noch als modern und für die erfte Schlad)t-
linie geeignet wird bezeichnen fünnen. Daneben verfügen namentlich Frankreich
und Rußland über erhebliche Reſerven großer Linienfchiffe, die auch noch im
Fahre 1906 einen gewiſſen Gefechtöwert befiten werden, 3. B. frankreich die
Linienichiffe „Neptune”, „Marceau”, „Hoche“, „Formidable“, „Admiral Baudin“,
Rußland die Linienfchiffe „Sinope”, „Tſchesme“, „Sekaterina IL." u.a. Gegen
diefe kommen die in der deutfchen Marine als Referveformationen noch ver-
mwendbaren Schiffe der „Sachſen“⸗ und „Siegfried"-Hlaffe wegen ihrer geringen
Größe und Gefechtäftärke kaum in Betracht. Andefjen hält es ſchwer, das ältere,
an Größe und Gefechtswert fehr vartierende Linienfhiffsmaterial der Seemächte
fachgemäß in Vergleich zu ftellen, es ift daher in der Tabelle nicht berüdfichtigt
worden. Immerhin fällt für die Bewertung der Kriegsmarine der Vereinigten
Staaten mindernd ind Gewicht, daß fie, außer der „Teras”, über Reſerve—
formationen überhaupt nicht verfügen wird.
Bei weiterer Betrachtung der Tabelle füllt das Zurüdbleiben Frankreichs
auf, das bisher wohl doppelt jo ſtark war als jede der drei anderen Seemächte,
im Sabre 1906 indejjen Feine ausfchlaggebende Ueberlegenheit mehr behaupten
wird. E83 zeigen fich bier fo recht die Folgen einer in ihren Zielen ſchwankenden
Sdiffbaupolitif, welche eine Reihe von Fahren den Linienfchiffbau gänzlich ver:
nadläffigte und erft jeit dem Jahre 1900 wieder fich zu energifchen Anftrengungen
nad) diefer Richtung aufrafft. Die Bereinigten Staaten werden im Jahre 1906
ein MUebergewiht an modernen großen Linienfhiffen und Panzerkreuzern
gegen Deutichland und Rußland befigen, vorausgefekt, daß ed der Marine-
leitung gelingt, in jo kurzer Zeit das zur Beſetzung der neuen Flotte
erforderliche Perſonal bereitzuftellen und Erieggmäßig auszubilden.*) Im all:
gemeinen ift die Borausficht berechtigt, daß im Jahre 1906 die vier Seemädhte
Frankreich, Nordamerika, Deutichland und Rußland in wirklicher Gefechtökraft
nicht erheblich verfchieden fein werden. Die weiteren Chancen Deutjchlands
in diefem Wettftreit der Seerüftungen erjcheinen nicht ungünftig, wenn wir, ohne
in tadelnswerte Erfchlaffung zu verfallen, mit ſyſtematiſcher Zähigkeit und eiferner
Energie den organischen Ausbau unferer Kriegsflotte fortjeßen.
Es bleibt noch die Frage zu beantworten, ob und in weldem Grade Eng-
land gegenüber den Rüſtungen der vier oben behandelten Großmächte im Jahre
* Gegenwärtig iſt gerade in der amerifaniichen Marine die Perjunalfrage ſchwierig und
brennend. Es fehlt ſowohl an Offizieren, Ingenieuren und Unterperfonal, wie auch an Aus—
bildungsmitteln, um die zahlreichen, namentlich aus der Pandbevölferung angeworbenen Rekruten
kriegsſchiffmäßig zu ſchulen. Der foeben veröffentlichte Jahresbericht des Marineminifters
Vong ſchätzt die Anzahl der im Jahre 1904 dvorausfichtlich fehlenden Offiziere auf 600.
45"
708 Marius, Die moderne Entwidelung der Sriegsflotten.
1906 feine Vormachtſtellung zur See behaupten wird, Unter der Vorausſetzung,
daß die in Bau befindlichen und neu bewilligten Schiffe progranımmäßig fertig:
geftellt werden, wird England im Jahre 1906 über 43 moderne Linienidiffe
und 26 Banzerfreuzer verfügen, alfo immer noc weitaus an eriter Stelle
fein und den Two Power Standard behaupten. Indeſſen ift doc; die Geſamt—
fituation im Jahre 1906 für England nicht mehr jo günftig wie bisher. Zur
Zeit giebt e8 neben England immer erit eine ftarfe Seemadt, nämlich Frankreich,
im Kahre 1906 werden es, wie wir gezeigt haben, vier fein, die zufammen ein un:
gleich Ichwereres Gewicht in die Wagfchale der Seebeherrſchung werfen werden. —
Nachdem vorftehend eine kurze Ueberſicht über die Marinepolitif und die
fi) aus ihre ergebenden Flottenrüftungen der Hauptjeemächte gegeben ift, geben
wir dazu über, die gegenwärtige Zuſammenſetzung des Kriegsſchiff—
materials, wie fie durch militärische Grundfäße bedingt umd durch eine höoch—
entwidelte Technik ermöglicht ift, einer vergleichenden Betrachtung zu unterziehen.
Den Kern der modernen Flotte bilden die Linienſchiffe. Sie find redt
eigentlich die Träger der Seegewalt, denn in ihnen vereinigen fich alle Faktoren,
welche die Entwidelung höchſter Kampfkraft im Angriff und der Berteidigung
ermöglichen. Namme und Torpedo, mächtige Artillerie und ein ausgedehnter
Panzerihug, Gefchwindigfeit und gute Manövrierfähigfeit machen fie für alle
Aufgaben der Seefriegführung vortrefflich geeignet. — Gerade die vielleitige Ver—
wendungsfähigfeit ift das Charakteriftifun des modernen Linienfhiffs. Sem
Vorgänger, das Segellinienſchiff zu Zeiten Nelfons, ftellte eine unbehilflihe Maſſe
dar, die ſich mit geringer Gefchwindigkeit durchs Waſſer bewegte, mangelhaft
manövrierte und in der Seeſchlacht ihren Zweck erfüllte, wenn ſie ſich auf
BViftolenfhußweite dem Gegner näherte und das Artillerieduell aus ihren
fanonengeipidten Batterieen eröffnete. Damals repräfentierte das Linienſchiff
lediglich die rohe Kraft, die nur ſchwer zur Geltung gebracht werden konnte und,
einmal in Thätigkeit gefeßt, ihren Gegner weder wechſeln, noch ſich überlegener
Kraft entziehen fonnte. Das moderne Linienjchiff trägt alle Mittel, um feine
Waffen fchnell und erfolgreich zur Geltung zu bringen, in ih. Mit hoher Ge—
ſchwindigkeit fucht es feinen Gegner auf, kann ihn umfreifen oder das Paſſier—
gefecht wählen, ihn im Fernkampf oder Nahgefecht erfchüttern, dem überlegenen
Gegner rechtzeitig ausweichen oder den flüchtenden Feind bis zur Vernichtung
verfolgen. Aber nod in einer anderen Richtung ift die Entwidelung des modernen
Linienichiffes bemerkenswert. Während noch vor wenigen Jahrzehnten das Linien:
Schiff vermöge feines geringen KohlenvorratS und mangelnder Seefähigkeit an
die heimischen Küſten gefejjelt war, hat ihm die Technik jett einen großen Kohlen—
vorrat und ein hohes Maß von Seefähigkeit gegeben, jodaß es nunmehr die
Dzeane mit Leichtigkeit durchkreuzen kann und beveit3 vielfach in überjeeiichen
Gewäſſern ausgedehnte Verwendung findet.
Marius, Die moderne Entiwidelung der Nriegstlotten. 709
Mit der Erkenntnis der ausfchlangebenden Wichtigkeit des Yinienjchiffs für
die Seefriegführung zeigt ſich bei allen großen Seemädten in den lebten Jahren
das Beitreben, das Linienichiff nad; Größe, Bauart, Panzerung und Armierung
einheitlich zu entwideln. Die frühere Mufterkarte der Linienſchiffe, Batteriefchiffe,
Kafemattichiffe, Turmſchiffe, ift geſchwunden, an ihre Stelle tritt ein Einheitätyp,
deſſen Grundprinzipien bei faft allen Nationen die gleihen find und nur duch
die raſtlos fortichreitende Technik in ſich modifiziert werden.
Was nun zunädft die Schiffsgröße anbetrifft, fo hat man die Kleinen
Deplacements unter 10000 Tonnen endgiltig verlaffen, weil ſich mit ihnen nicht
mehr dasjenige Maß von Stampfeskraft und SKampfesausdauer erreichen läßt,
dejjen das Linienfchiff bedarf. Unſere Kriegsmarine ift in allmählicher Steigerung
von 11000 Tonnen der „Kaiſer“Klaſſe und 12000 Tonnen der „Wittelsbad)":
Klaſſe mit den neuelten Linienichiffen H und I zu einem Deplacement von
13000 Tonnen übergegangen. Etwa den gleichen Weg ift Rußland gegangen,
während Frankreich ſprungweiſe von 12500 Tonnen auf 15000 Tonnen gelangt
it. Stalien, das Mitte der 80er Jahre die Welt mit den Riefenidiffen „Italia“
und „Lepanto“ überrafchte, ift bei feinen neuen Linienfdiffen auf 13000 Tonnen
herabgegangen. Die engliihe Marine, welche bereit3 vor einem Jahrzehnt mit
der „Royal Sovereign":Klajfe ein Deplacement von 15000 Tonnen annahm,
ift hierbei mit geringfügigen Schwankungen bis jet geblieben, wird jedoch mit der
Anbaulegung der neu bewilligten Linienfchiffe „King Edward", „Dominion“ und
„Commonwealth“ auf 16500 Tonnen gehen. Auch die Marine der Vereinigten
Staaten fcheint mit ihren neuejten Projekten das Deplacement von 15 000 Tonnen
überjchreiten zu wollen.
Angefihts dieſes erneut hervortretenden Strebens nad; Deplacementsver:
größerung liegt die Frage nahe, ob eine ſolche Vergrößerung berechtigt und
damit auch für unfere Marine notwendig iſt. Wir möchten das verneinen. Als
Nachteile eines übermäßigen Deplacement3 kommen in Betracht: weſentlich
höhere Koften, ſchwerfälligere Manövriereigenichaften, Schwierigfeiten der Navi-
gierung in der Nähe flacher Küften, Mangel an Dodgelegenheiten im Auslande.
Demgegenüber erjcheint die Erhöhung des Gefechtswerts nicht jonderlich be—
deutend. Sie beſchränkt ſich auf eine Verſtärkung der Panzerung um wenige
Gentimeter (3), Bermehrung der Artillerie um einige Geſchütze, Vergrößerung
des SKohlenvorrat3 um einige hundert Tons. Hierduch wird indejlen das
17 000 t-Schiff dem modernen 13000 t:-Schiff noch nicht fo überlegen, daß ihm
der Sieg in der Seeſchlacht fiher wäre. Vielmehr gewähren die außerordent-
lihen Fortichritte in der Waffen: und Panzertechnif heutzutage viel eher wie
früher die Möglichkeit, einem Schiff von mäßigem Deplacement große Gefechts-
Eraft zu verleihen. Ehe weitere Erfahrungen vorliegen, wird man jedenfalls
einen Linienſchiffstyp, der nicht unter 12000 t bleibt, als vollwertig aneriennen
710 Maris, Die moderne Entwidelung der Kriegsflotten.
müſſen. Nicht Schiffe, fondern Menfchen fechten, und befjere Ausbildung des
Perſonals wird im Seefriege noch weit größere Iinterfchiede des Materials
wettzumachen willen, als zwifchen dem 17000 t:Schiff und dem 13000 t:Sciff
beftehen.
Die Hauptwaffe des Linienfhiffs bildet nad) wie vor die Artillerie. Die
Entwidelung diefer Waffe in ihrer Verwendung an Bord hat in wenigen De-
zennien ganz ungeheure Fortſchritte gemacht. Schnellladefanonen von 5 bis
28 cm, automatifc feuernde Maſchinenkanonen und Maſchinengewehre (0,8 bis
3,7 cm Kaliber), Brifanzgranaten, großfalibrige Schrapnels, Hydraulifche Lade:
einrichtungen, elektriich bewegte Türme und Mumnitionsförderwerte, — wer hätte
nod) vor 15 Jahren an derartige Wunderwerfe des menfchlidhen Erfindungs:
geiftes gedacht, weldye gegenwärtig das Gemeingut faft aller Marinen geworden
find! Ungeachtet ſolcher Bielfeitigkeit herrichen im allgemeinen einheitliche Grund:
füge in der Aufftellungsart der Gefchüge und in der Wahl der Kaliber. Die
ichwere Artillerie, aus vier ſchweren Gefhüten von 28 bis 30,5 cm Kaliber be-
jtehend, wird paarweile in Türmen im Vorſchiff und Hinterfchiff untergebradht,
die Mittelartillerie, für deren Kaliber 15 cm ald Mindeftmaß gelten, findet zum
Teil in zentraler Batterie-$lafematte, zum Zeil in Einzelfafematten oder in
Türmen auf dem Oberded Aufftellung. In der Verwendung zahlreicher, ſchnell—
feuernder Mittelartillerie ift gerade unjere Marine bejonderd energiich vorge:
gangen. Die Schiffe der „Kaiſer“ und „Wittelsbach“Klaſſe verfügen über 18
15 cem-Schnellladefanonen in getrennter Aufftellung, während die 4000 t größeren
engliſchen Linienfchiffe vom alten „Royal Sovereign" bis zu dem neuelten Top
„Duncan“ nur 12Geſchütze desfelben Kalibers ins Feuer zu bringen vermögen. Dieſe
zweifelloje artilleriftifche Ueberlegenheit unferer Schiffe entipringt dem Geift ber
Dffenfive, zu dem ſich unfere Marine rüdhaltlos bekennt. Allerdings haben wir
dafür auf der „Kaiſer“Klaſſe einen nur wenig genügenden Schuß der Unterbauten
der Mittelartillerie in den Kauf nehmen müflen, während die „Wittelsbach“Klaſſe
dank ihrem größeren Deplacement auch in diefer Hinficht günftigere Bedin-
gungen aufweilt. — Bei den neueften Linienfchiffsentwürfen macht fich durch—
gängig ein Streben nad) Erhöhung des Kaliber der Mittelartillerie geltend,
weil die 15 cm-Slanone gegen moderne Nideljtahlpanzerung auf weitere Ent:
fernungen madtlos ift. Frankreich wählt neuerdings ein Kaliber von 16,4 cm,
die Vereinigten Staaten und Ftalien 20 cm, England fogar 23 cm, doch dürfte das
letere Kaliber eher eine Verniehrung der ſchweren Artillerie ald eine Bergröße-
rung der Mittelartillerie bedeuten. Aud) das 20 cm Kaliber fcheint den Anfor-
derungen, welde man vor allen Dingen an die Mittelartillerie ftellt, — Be:
mwegung mit der Hand, hohe Feuergefchtwindigkeit und großer Munitionsporrat,
— nicht mehr zu entipreden.
Für die Panzerung findet durchweg Nidelftahl, in Deutfchland, England,
Marius, Die moderne Entwidelung der Hriegsflotten 71
Nordamerika und Rußland nad) dem Kruppſchen Verfahren gehärtet, Verwen—
dung. Abgejehen von einzelnen Abweichungen erjtredt ſich im allgemeinen die
Panzerung auf einen ftarfen Gürtel (200 bis 250 mm) in der Waſſerlinie,
darüber ein zentrales Reduit von mittlerer Panzerftärke (140 bis 150 mm), das
die Mittelartillerie famt Unterbauten jchütt, und ftarfe Panzerung (250 bis
300 mm) ber ſchweren Artillerie und der Kommandoelemente.
Die Torpedboarmierung ift mit Ausnahme des Dedrohres auf allen
neueren Linienjchiffen unter Wafler aufgeftellt und auf diefe Weife dem feind-
lichen Artilleriefeuer entzogen. Site hat durch Einführung des neuen Geradlauf:
apparates an Furdhtbarfeit gewonnen und wird in der zukünftigen Seeſchlacht
das Nabgefecht unter 1000 m auf Ausnahmefälle beſchränken.
Die Gefhwindigfeit ift bei allen neueren Linienichiffen auf 18 bis 19
Knoten normiert.* Zu einer weiteren Geſchwindigkeitsſteigerung ift feine Neigung
vorhanden, vielmehr mehren fi) die Stimmen in der Fachwelt, welche die
Kampffraft des Linienfchiffes nicht zu Gunften der Gefchwindigfeit gejchmälert
willen wollen. —
Neben den Linienjchiffen bilden Kreuzer das unentbehrliche Beiwerk jeder
Flotte. Sie leiften im Frieden wichtige Dienfte in Vertretung der überjeeifchen
Intereſſen der Nation und verfehen im Kriege den Aufllärungs: und VBorpoften:
dienst bei der Schlachtflotte. Außerdem ift ihnen die Aufgabe zugemwiejen, im
Seefriege den eigenen Handel zu ſchützen und den des Feindes zu jchädigen.
Werden die beiden erftgenannten Dajeinsziwede der Kreuzer allgemein als be:
rechtigt anerkannt, fo wird die Lösbarkeit der letteren Aufgabe vielfad) ange—
zweifelt und, wie ums fcheinen will, mit Redt. Ein Staat, der über bedeuten-
den GSeehandel verfügt, wird diefen, foweit er fich in überozeaniſchen Gewäſſern
vollzieht, nur jchügen fönnen, wenn er die an Ort und Stelle vorhandenen
feindlichen Kreuzer niederfämpft oder verjagt. Hält er hierzu feine Kreuzerflotte
nicht für ftarf genug, jo thut er befier, fie in die heimischen Gewäſſer zurüdzu-
ziehen zur Berftärtung der Scladtflotte. In den meiften Fällen wird der
Feind jedoc weniger verfuchen, den Seehandel in fernen Gewäſſern zu fchädigen,
fondern an der Stelle, wo er in dichten Maffen zufammenftrömt, vor den
Häfen des Gegners. Hier wird er ihn mittelft enger Blodade zu unterbinden
und damit der Volkswirtſchaft des Gegners empfindliche Schläge beizubringen
verſuchen. Und zur Verhinderung einer ſolchen Blodade braucht der angegriffene
Staat nicht Kreuzer, Sondern in erfter Linie eine Schladtflotte. Wir können
daher auch im Intereſſe unferes Seehandel3 nur wünfchen, daß unfere Marine:
) Eine Ausnahme macht ‚italien mit feinen neuejten Projekten „Regina Elena” und
„Vittorio Emanuele”, für die 22 Snoten Geſchwindigkeit vorgefehen find. Man wird indeifen
dieſe Schiffe eher der Klaſſe der Panzerkreuzer zuzählen müſſen.
71: Marius, Die moderne Entwickelung der Kriegsflotten.
verwaltung ihrem Grundfage, den Dauptteil der jährlihen Schiffbauguote zum
Bau aefechtöftarfer Linienfchiffe zu verwenden, auch in Zukunft getreu bleibt.
Der Sreuzerkrieg ift und bleibt ein viel umftrittenes Problem. Frankreich
hat ſich feiner aud in den letten Kahrzehnten mit Vorliebe angenommen, troß:
dem e3 die Erfahrungen der napoleonifchen Kriege eines Befleren belehrt haben
follten. In der heutigen Zeit der Kohlen und Kabel, wo ein Kreuzer nicht länger
als 4 bis 6 Wochen die See halten kann, ohne der Auffrifchung feines Lebens:
nervs, der jchwarzen Diamanten, zu bedürfen, wo Bewegungen von Kriegsſchiffen
faum länger als 14 Tage verborgen bleiben können, ift ein Kreuzerkrieg unendlich
viel ſchwieriger als in den verflofjenen Jahrhunderten der Segelſchiffszeit.
Thatſächlich iſt England, das mit befeftigten Fylottenftüßpunften, Kabeln und Kohlen-
ftationen den Erdball umgürtet bat, heute die einzige Macht, die überhaupt einen
thatkräftigen Kreuzerkrieg zu führen in der Lage ift, wie es andererſeits jeder
Bedrohung feines Seehandels, jedem Berfuc eines „guerre de course“ auf das
nahdrüdlichfte entgegentreten fann.
Indeſſen find, wie gefagt, Kreuzer für jede Kriegsflotte nötig. Im Gegen:
lag zum Linienſchiff hat jedoch die Entwidelung des modernen Kreuzers bei
den Hauptſeemächten noch nicht zu einheitlihen Grundfäten geführt. Nach wie
vor herrſcht bier große Unficherheit in der Wahl des Deplacementö und der Be:
waffnung. Nur in einem Punkte dürfte ziemliche Uebereinftimmung herrichen:
große Kreuzer über 5000 t werden meilt als Panzerkreuzer gebaut, d. h. mit
Panzerung der Waflerlinie, eines Teild der darüber liegenden Breitjeite, ber
Geihüsftände und Kommandoelemente. Man giebt hiermit das Prinzip, daß
Geſchwindigkeit und Nktionsradius die Haupteigenfhaften des Kreuzers feien,
teilweife auf zu Gunften der Gefechtäftärfe. Eine Berechtigung kann diefen Bor-
gehen nicht abgeiprodhen werden, weil der große Kreuzer nicht nur ſpähen, jeben
und weglaufen, ſondern häufig auch Fechten foll. Hierzu muß er durd) eine an-
gemefjene Geichütarmierung und eine Seitenpanzerung, die ihn vor allem gegen
die verheerende Wirkung der Brifanzgranaten ſchützt, befähigt werden. Anderer—
jeits führt das Beftreben, höchſte Geſchwindigkeit, großen Kohlenvorrat, ftarfe
Panzerung und kräftige Armierung in einem Schiff zu vereinigen, in jeiner
logiſchen Konfequenz zu Monftrefreuzern, wie fie England in der „Drake“-Klaſſe
(14000 t), Nordamerika in der ‚California“-Klaſſe (14000 t), Frankreich in der „Leon
Gambetta“-Klaſſe (12500 t) gegenwärtig auf Stapel haben. Demgegenüber be-
Ichränfen ſich Deutichland, Stalien und Japan auf ein Deplacement von 9000 t
für Panzerfreuzer und fcheinen hiermit das Richtige zu treffen.*)
Wir ftimmen in diefer Frage durchaus Nauticus zu, welcher in feinem Fahr:
buch 1901 jagt:
*) Auch England baut nur 4 Schiffe des „Drake“⸗Typs und 6 Schiffe des „Ereifu"- Typs
‘12000 t), während die neueiten 10 Streuzer des ‚Kent“Typs unter 10600 t bleiben.
Marius, Die moderne Entwidelung der Kriegsflotten. 713
„Das Deplacement des großen Kreuzers darf ſich dem des Linienſchiffes
nicht jo weit nähern, daß man vor die Frage geftellt wird: baue ich zweckmäßiger
ein vollwertiges Linienfhiff oder ein Schiff von geringerem Gefechtswert aber
größerer Geſchwindigkeit? Sobald dieſe Frage akut werden würde, würde bie
Entſcheidung zweifellos zu Gunften des Linienſchiffes ausfallen müffen, da man
bei zu großem Deplacement des’ großen Sreuzers, d. h. bei der Notwendigfeit,
erhebliche Mittel zu Gunften der Kreuzerflotte auf Koften der Linienjchiffflutte
zu veriwenden, den Geſamtgefechtswert der Flotte zu jehr herabjegen würde."
Treten ſchon in Ausbildung des großen Sreuzertyps grundfäßliche Ver—
Ichiedenheiten bei den einzelnen Seemädten zu Tage, fo find bezüglich des kleinen
Kreuzertyps die Anfchauungen gänzlich ungeklärte. England und Frankreich haben
in den leßten Jahren überhaupt Feine Eleinen Kreuzer auf Stapel gelegt, ver-
mutlich, weil ihre Marinen zur Zeit noch über eine genügende Zahl leiftungs-
fähiger Schiffe diefer Klaſſe verfügen. Die Vereinigten Staaten bauen nur
Stationsfreuzer von geringer Geſchwindigkeit, wollen alſo ſcheinbar die Auf:
Härung der Schladtflotte lediglich Panzerfreuzern und armierten Schnelldampfern
überlaffen. Die einzigen großen Seemädhte, die den Bau Eleiner Kreuzer gegen-
wärtig eifrig betreiben, find Nußland und Deutjchland, und mit Recht, denn diefe
Schiffe find die leichte Kavallerie des Meeres, deren feine Schladtflotte zur
eigenen Sicherung und zur Eripähung des Feindes entraten kann. Bei dem
kleinen Kreuzer, defjen Deplacentent zwedmäßig 3000 nicht überfchreitet, tritt die Ge—
ſchwindigkeit voll in ihre Rechte, der Panzerſchutz beichränft ſich auf ein leichtes
Panzerded, gepanzerten Kommandoſtand und Schugichilde für die Geſchütze, die
Armierung auf leichte, aber zahlreiche Schnellladeartillerie. Daneben wird ein
möglichft großes SKtohlenfaffungsvermögen vorgefehen. Unfere neueften Eleinen
Kreuzer („Niobe“-Klaſſe) erreihen faft 22 Knoten Gefchtwindigkeit, bei weiteren
Neubauten wird die Geſchwindigkeit noch mehr gefteigert, jo daß die Schiffe für
Erfundungszwede vortreffliche Dienste leiften und imftande fein werden, ich der
Verfolgung duch feindliche Panzerkreuzer zu entziehen. Auch die Verwendung
diefer Schiffe auf außerheimifchen Stationen dürfte Schwierigkeiten nicht begegnen,
da fie vollauf feefähig und wohnlich eingerichtet find.
Der Ausbau der Zorpedoflotte vollzieht fich bei den verjchiedenen Marinen
ziemlich gleihmäßig. England baut Torpedobootzerftörer von 300 t, da=
neben Zorpedoboote von 175 t, Frankreich, Rußland und die Bereinigten
Staaten haben gleichfalls fich zur Annahme zweier Typen entichloffen, während
Deutfchland bereits feit einigen Jahren nur noch große Torpedoboote baut, welche
bei einem Deplacement von ca. 300t den XTorpedobootzerftörern der anderen
Marinen gleichwertig find, fie an Feſtigkeit des Rumpfes und Seefähigkeit wahr-
fcheinlich übertreffen. England hat mit feinen neueften Torpedobootzeritörern
in Bezug auf Seefähigkeit derartig Schlechte Erfahrungen gemacht, — wir erinnern
714 Marius, Die moderne Entwickelung der Kriegsflotten.
an das Auseinanderbrechen der „Eobra® —, daß man den wirklichen Gefechtswert
feiner 110 Fahrzeuge zählenden Flottille nicht allzuhoch anfchlagen darf.
Es erübrigt noch, einer Seekriegswaffe, die in jüngfter Zeit die öffentliche
Meinung vielfach befchäftigt hat, einige Worte zu widmen, den Unterfeebooten.
Die Unterjeebote find ein befonderes Stedenpferd der franzöfifhen Marine. Erft
nachdem diefe Dußende von Booten in Bau gegeben hatte, gingen auch andere
Marinen, namentlih England und Nordamerika, zu einer energifchen Erprobung
diefer an fich keineswegs neuen Waffe über, während fich unſere Marinever-
waltung nach wie vor abwartend verhält. Bisher haben die Unterjeeboote nur
eine gewijle Kriegsbrauchbarkeit für Zwecke der lokalen Küftenverteidigung erwieſen.
Ihre Hauptnadteile find: Sehr geringe Geſchwindigkeit (8 Knoten), Mangel an
Stabilität, geringes Gefichtsfeld und daher große Unficherheit des Schuffes. Wohl
faum einer unferer Geeoffiziere würde eins der jegigen Unterjeeboote einem modernen
Torpedobonte von 25 Knoten Geſchwindigkeit vorziehen. Einen offenfiven
Wert fann man den Unterfeebooten bisher nicht beimeffen troß aller optimiftifchen
Nachrichten, welche franzöfiiche Fachblätter über die Verwendung der Boote auf
hoher See bringen. Jedenfalls bietet der Angriff des gegenwärtigen Unterjee-
bootes gegen ein in Fahrt befindliches Schiff feine Ausfiht auf Erfolg; Chancen
hat es nur gegen einen zu Anker liegenden Gegner, der ihm außerdem den Ge—
fallen thut, jein Standquartier in unmittelbarer Nähe der feindlichen Küfte und
ohne jedwede Vorficdhtsmaßregel aufzufchlagen. — Borausfihtlic wird die Er-
probung der neuen englifchen Unterfeebote zu eingehenderen Schlüffen über die
Kriegsbrauchbarkeit der Waffe führen, da man dem nüchtern denfenden, praftifchen
Briten ein gefunderes Urteil zutrauen darf als feinem etwas phantaftifd) veran-
lagten Vetter jenjeit3 de3 Kanals. —
Wir haben uns in Vorftehendem auf eine kurze Schilderung der modernen
Flottenentwidlung bejchränft, foweit fie im Rahmen einer derartigen Skizze
überhaupt zur Anſchauung gebradit werden fann. Dabei ift die perfonelle
Entwidelung der Kriegsmarinen nicht zu ihrem Rechte gefommen, troßdem gerade
fie für die Leiftungen der Flotten im Ernftfall von ausfchlaggebender Wirkung
ift. Allein, man kann wohl Flottenprogramme, Schiffstypen, Kanonen 2c. mit
einander vergleichen, aber es ijt außerordentlich jeher, über die Leiftungen eines
fremden Marineperfonals Urteile abzugeben, ohne fich damit in das Gebiet der
Hypothefe zu verlieren.*) Auf dem Papier war die ſpaniſche Flotte der ameri-
kaniſchen faft gleich, aber daß fie fo unglüdlich fechten würde wie bei Manila
und Santiago, hatte wohl auch derjenige nicht erwartet, dem die Mängel der
ſpaniſchen Marine bekannt waren. — Für uns erwächſt aus dieſen Kriegsereig—
Bei derartigen Betrachtungen gelangt man nur zu leicht zu einer verkehrten Ein—
fhätung anderer Nationen, mie 3. B. die deutſche Tagespreſſe in jüngjter Zeit fich in
abfälligen, aber direkt falihen Beurteilungen des englifhen Marineperfonals gefiel.
Marius, Die moderne Entwickelung dev Nriegstlottent. 715
niffen die ernfte Lehre, daß auch die beiten Schiffe in der Hand unfähiger Be-
faßungen nußlos find, daß andererjeitd die Sompliziertheit der Waffen und die
Fülle mafchineller Einrichtungen an Bord moderner Schiffe noch in viel höherem
Grade eine auf organiſatoriſchen Grundſätzen beruhende, jurgfältigfte Schulung
des Perjonald notwendig machen als zu früheren Zeiten. Nur eine Marine, die
nad; diejer Richtung energisch und ſyſtematiſch fortarbeitet, wird ihr Eoftbares
Ihmwimmendes Material im Ernftfalle erfolgreich) verwerten und aucd gegen
Uebermadt mit Ehren fid) behaupten können. Das dürfen wir von unferer
noch jungen, aber mächtig emporftrebenden Kriegsmarine in voller
Zuverfidt erhoffen.
16
Ein Gruß an unfere Söhne auf der Bee.
Euc, brave Jungen, folg’ Das Glück Lafzt AMButterauge bei euch fein
Bit lieber beimat Grüfzen! Auch draufzen in der Ferne,
Von deutfbem Boden auch ein Stück Erbaltet euch die Berzen rein
It unter euren Fülzen, Huch da, wo andre Sterne,
Und, wo ibr feid, mit Lieb' umfpannt Als über eurer beimat ftebn,
Eucd überall das Vaterland. Von oben auf euch niederfebn,
Die ibr befabrt die graue Flut Dem lieben dDeutfcben Vaterland
Huf deutfeben Schiffes Planken, Bleibt treu auf weitem Meere!
Bewabret euch den feften ABut, Wo ibr betretet fremden Strand,
Wie auch Das Schiff mag fchwanken. KBebütet Deutfchlands Ebre,
Was auch aus böb’ und Tiefe drobt, Und als ein Kleinod wobl bewabrt
Bleibt unverzagt in Sturm und Mot! von euch fei echte deutfche Art.
Eud, Deutfchlands Kindern auf der See,
Erflebn wir Gottes Segen:
Er fchaff’, Daf3 es cuch wohl ergeb’
Auf allen euren Wegen,
Als unfern Stolz und unfer Glück
Fübr’ er zur beimat euch zurück.
3. Trojan.
O
DITDIEDIEDIEDIEDIEDIEDIE DI DIT DIE DIT DIFDIEDITDI ED >17 31
Unier keiejammer.
Eine Zeitpredigt von
Hans Schliepmann.
8 ift kurz vorm Ghriftfeft, und meine neunjährige Tochter fit mit heißen
Bäckchen über einem Weihnachts-Katalog. „Bater,” ruft fie begeiftert, „Die
Bernfteinhere muß ein feines Buch fein! — Ah und hier: Der Teufel in Sala-
manca!" — Und jo gehts weiter. In ihrem Kinderköpfchen ftehen hinter den
grufeligen Titeln alle Geſchichten auf, die fie gern verichlänge, und wie Sean
Pauls Schulmeifterlein Wuz möchte fie fich felbjt die Bücher zu den Ueber—
ſchriften Hinzudichten!
Ich lächle und denke mich in die gleichen Jahre zurüd. O, was war mir
das Bud! Endlofer ſüßer Schauder, endlojer Hunger, endloſes Weiterträumen,
unendliche Befruchtung! — Und für wen hätte es nicht ein Alter gegeben, da er
den Zauber des Buches mit ähnlicher Kraft empfand? —
Gewiß, es giebt Thatlachenmenfchen, die in der „unfrucdhtbaren Schmöferei“
eine weſentliche Urfache unjerer deutſchen Berträumtheit und Unpraktifchkeit er-
bliden, die niemals eigentlichen Leſehunger bejeffen haben; und es jcheint, daß
unjere gegenwärtige Allgemeinentwidelung diefen Naturen recht gäbe. Die Zeit,
da Gedanken auch Thaten waren, als Thaten bewertet wurden, jcheint vor:
über; Maſſen ummwälzen, feien es joziale vder phyſikaliſche oder aud nur
Warenmaſſen: das wird bewundert und — verdient auch feine Schätung, wohl
abgewogene freilich. Wir find aber gar jo weit, daß die That, die fchnelle That
A tout prix, ohne lange Gedanken, unter dem neuen Begriffsmäntelden „Schneidig:
keit" bereit3 eine verhängnispolle Rolle in unjerem öffentlihen Reben zu fpielen
beginnt. Den Schneidigen beirrt feine Buchmeinung; er greift zu, denn er hat recht,
natürlich, unzweifelhaft vecht. Fühlt ers doch wie eine Armee in feiner Fauft!
Pradtvoll ift das, unſchätzbar für uns einft verträumte Deutfchen, dies
Gefühl der GSelbftficherheit; denn es giebt fein Wirken auf die Welt um uns
herum ohne fie, ohne ein ehernes: Hier fteh ich, ich kann nicht anders!
Aber der Herrliche, eine höchſte Blüte deutfchen Wefens, der diejes Wort
geprägt, er fügte Hinzu: Gott helfe mir, Amen!
Er ſah etwas über fi, nicht nur jich, und das erſt gab ihm das Red,
fi zu fühlen. Er maß fih am Göttlichen, glaubte nicht ohne innere Selbft-
prüfung an fi und fein Wollen. Und da fehlt e8 uns oft genug empfindlich!
Der Rückſchlag der Entwidelung, die ja jo vielfach zwiſchen Gegenfägen pendelt,
aus der Berträumtheit in das Draufgängertum muß durch neue Kräfte, oder neue
Stärke urewiger Kräfte wenigftens, aufgehalten werden.
Dans Scliepmann, Unſer Pefejammer. 717
Die Selbjtüberzeugtheit aus kritikloſer Selbftliebe kann äußere Macht werden,
fann Länder oder Millionen erraffen; beide zu halten bedürfte es aber innerer
Mächte, der Kraft, das Erlangte aud ſich „anzueignen”, d. h. ins eigene Leben
binüberzuführen, es fich zu affimilieren und nit nur als toten Befit zu wahren.
Das Alfimilieren aber vermag nur, wer fi) mit taufend Elammernden
Organen an die Welt anzufchließen gelernt hat, wer durd inneres Erleben,
Nacdleben anderer und Prüfen feine Perfönlichkeit erweitert hat. Das ifts,
was not thut, wie ja kürzlich erſt an gleicher Stelle Fritz Lienhard überzeugend
und warmherzig dargethan hat.
Nichts aber vermag uns gleich ficher aus der Enge ins Weitere, aus der
Selbitjicherheit der Befchränktheit zur Reife der Weltüberficht zu leiten als das
Bud. Ach fage „Jicherer". Große Scidjale bewirken Größeres als ein großes
Bud. Aber wir find doc eben nicht immer vorm Unterliegen unter folchen
Schidjalen fiher. Ein Bud; aber, das Erlebnis wird, ein Buch mit Lebens:
inhalt — und nur von fulchen rede ich hier und in der Folge, — ein Werk alfo,
das an fi) eine zufammengeraffte, verdichtete Perfönlichkeit ift, geht in ung über
und wird ein Teil unſeres Selbft; es kann ums erſchüttern, aber nicht zerftören,
denn der Gejunde nimmt nur jo viel von ihm auf, al3 er zu affimilieren vermag;
diefe Erfahrung dürfte jeder aus feiner Entwidelungszeit beftätigen Eönnen; und
es bleibt uns Zeit, jelbjt mit Erjchütterungen und auseinanderzufeßen.
Gelbft das minderwertige Buch giebt ung nod) ein Stüd Leben und ftärft
daneben unfere reifende Kraft in Abftogung des Gewöhnlichen; auch bleibt ein
farger Gewinn immerhin noch im Kennenlernen banaufiisher Auffaffung: Wir
lernen richtig bewerten, was uns allen immer wieder — jo nahe liegt! —
Es ift eigentlicy arg, daß man verſucht ift, unjerer Generation den Wert
des Schrifttums erjt noch zu bemweifen. Aber wer die thatfächlihen VBerhältniffe
überfieht, muß entiweder glauben, daß diefe Wertung überwunden ift — was
weiß ich, durch welch Neues? — oder daß wir überhaupt Lebenswerte nicht mehr
zu erkennen vermögen. Und letzteres ſcheint mir in der That der Fall. Iſt es
jo arg übertrieben, wenn ein Spottvogel fagt, die meiften Männer hielten ihre
Kenntnis der gedrudten Buchftaben nur noch durd) die Lektüre ihres Leiborgans
und etwa nocd irgend eines Verordnungsblattes aufreht? a, man muß weiter:
gehen und fagen, daß gerade in den fogenannten gebildeten Streifen das eigentliche
Leſen fo ziemlich aufgehört hat. Ich rede nicht von unbejchäftigten Damen; aber
ich darf aus meinem nicht engen Befanntenfreife auf zahllofe, im Berufsleben
ftehende Männer fchließen.
„Ja, können Sie denn noch zum Lefen kommen?“ fragt man mich mit
naivem Erftaunen. Ach, die Frage ift verftändlih! Es giebt Zeiten, da aud
mich der Beruf bis auf die Neige aller Kräfte beanfprucdjt, wo der abgehekte,
718 Hans Schliepmann, Unfer Lejejammer.
abgeipannte Geift nicht einmal mehr — überbrettlveif ift, fondern geradezu eine
ftumpffinnige Musfpannung nötig hat. Und es giebt Taufende, die in der Frone
des Lebens nicht einen Mugenblid aufrecht ftehen, aufatmen und den Himmel
droben betradjten fünnen. Das moderne Leben ift ein Moloch — wenn man
an Molod glaubt!
Das aber unterfcheidet die Spiten der Menjchheit — um die es fi für die
Weiterentiwidelung immer nur handeln kann — von der Menge der Froner, der
Bielzuvielen und der „guten Leute“, daß fie nicht an Molod glauben, Sondern ſich
nicht „unterkriegen“ lafjen, daß ſie nicht nur den leiblichen Hunger kennen, fondern
auch den geiftigen, daß fie fi) zulett immer wieder eınporraffen und jagen: ih muß
täglich einmal in einer gebenden Geſellſchaft fein, eine halbe Stunde haben, die
mich binaushebt über mich, damit ich auch einmal wieder gleihfam von außen
her mich felbft und meine Tagesgejchäfte überjehe, in jte von neuem Geilt hin—
eintrage oder doch mich für fie ftärfe durch neue Lebenskraft anderer. Das
bin ich im letzten Grunde mir, den Meinen und der Menſchheit mehr fchuldig, als
die Daß nad dem Groſchen und das Rädchen-fein im fozialen Uhrwerk.
Das wenigftend müfjen wir erringen, daß wir uns [hämen, wenn wir
nicht täglich einmal ein gutes Buch) zur Hand nehmen, daß wir uns fcheuen,
ganz unter die Philifter zu geraten, die bei Eſſen, Trinken und Fronen mit
dem Bollbewußtfein ihrer „Gebildetheit" und drum ihres Urteildrechtes durchs
Leben fommen. Als eine nationale Schmah müßte es uns erjcheinen, wenn
unser Volt dahin käme, die einzige geiftige Nahrung aus der — Zeitung zu ziehen.
Sind wir noch weit von diefem AZuftande entfernt? Wie viele „Gebildete“
fühlten fih nicht beleidigt, wenn man behauptete: wer nichts als die Zeitung
lieſt, ift, bleibt oder wird ungebildet?
Die Zeitung! Notwendigftes Uebel, übelfte Notwendigkeit. Weld ein Kultur:
bild entrollt unfer Zeitungsweſen! — Aber ftill, übertreiben wir nit! Es ift
fein Kulturbild. Denn die Kultur lebt immer nur in den Gipfeln der Nation;
die Niederungen ergaben von je nur den „Kulturdünger". Nicht die Heloten
haben Griechenlands Größe gemadht oder vernichtet! Die Zeitungen aber —
von rühmlichen Ausnahmen abgefehen — jpiegeln nichts als die Macht ber platten
Majoritäten. Der dummfte Menſch noch gewinnt im modernen Leben eine
gewilje öffentliche Macht; er wird — Abonnent! Dadurch ſchwillt das Blatt, es
fängt Anferenten, ſchwillt noch mehr und wird eine Madt, eine Macht,
die meift nichts als — Geſchäft ift, Gefhäft in dem modernen Sinne, daß
eine Sache unbedingt zwanzigmal bejjer ift als eine andere, wenn jene zwanzig:
mal mehr einbringt al3 diefe bei redlihem Verdienſt, ganz gleich, welche und
weſſen Zwecke fie fördert. — Bier Abonnenten und Inſerate, dort Partei, die
oft genug auch nicht viel mehr als Geſchäft ift: Das diftiert für die Menge der
Nation die öffentlidye Meinung und beftärkt immer mehr die Anficht, daß alles
Hans Schliepmann, Unjer Leſejammer. 719
im Leben Gefchäft ift, eine Anjicht, die — fie faft ganz ausschließlich, — die Entjitt-
lichung unferes öffentlichen Lebens herbeigeführt hat.
Aber ic) will an diefer Stelle nicht von der „Preſſe“ reden; jte erforderte allein
ein Buch — das natürlich tot bleiben würde. Ach mußte nur wenigftens kurz auf fie
hinweifen, wenn ich unferen „Lefejammer” uns ganz zum Bewußtfein bringen will.
Wie nämlich die Berhältniffe einmal liegen, kann auch die aufrecht gebliebene
Zeitung unter der Laft der Konkurrenz nur bejtehen, wenn fie einer Partei dient,
ſei e3 der einfichtsvollften, idealften. So ideal find wir aber leider noch nicht,
daß wir verftänden, vor den Werfen der großen Einjamen, der Befruchter der
Zukunft, den Parteiftandpunft zu vergejfen. Ach, greifen wir an unfere Bruft:
fennen wir nicht alle irgend welche Namen, die wie eine Beleidigung auf uns
wirken, ohne daß wir die Werke der Gehaßten kannten? Haben wir uns nicht faft
alle längft gewöhnt, nur über Bücher zu leſen, ftatt Bücher jelbft? Wer aber
bat Zeit, diefe Buchbeſprechungen aus fieben Zeitungen verfchiedener Richtung
zu lefen; und wer fie hätte: follte der nicht lieber das Werk ſelbſt leſen?
So kommt e3 aber, daß ſelbſt der Wohlgelonnene, der ein Inſeratenfang—
blatt zu lefen unter feiner Würde Halten würde, doc allmählich über alle Fragen
auf einen Barteiftandpunft eingeftellt wird. Der muß aber allem Neuen gegen-
über faljch, allem wahrhaft Lebendigen, allem Menfchheit-Angehenden gegen-
über zu kurzſichtig fein!
Aber zugegeben, daß es Hervorragende Blätter giebt, die außerhalb des
politifchen Teils ſehr weitblidend und unpartetiic find: Sind wir nit alle ſchon
jo verwöhnt durch die Parteizeitung, daß wir den Widerfpruh nicht mehr zu
ertragen vermögen und mindeftens auf den Redakteur fchelten, wenn ein wirklich
Freier und Aufrechter einmal eine jelbftändige, aber ungewöhnliche Meinung
äußert, anftatt diefe Meinung nadzuprüfen? Und dann andererjeit3 wieder:
Wer braut uns oft die Meinung, die uns fertig geliefert werden muß? O, wenn
Ihr die Leute ſtets perfönlich Eenntet! Iſt e3 nicht an der Tagesordnung, das
Ungeheuerlihe, daß der junge Schriftjteller aldö Nezenjent jeine Spuren zu
erwerben fucht, daß ſomit günftigjtenfalls eine werdende Intelligenz das Urteil
über Neuerjcheinungen prägt?
Man blide da nur einmal auf unfere Kunſtkritik, wo die Sache noch mehr
im Argen liegt, weil gerade der gewiflenhafte Redakteur ſich Hier nicht für ſach—
verftändig hält und demnach für feinen Berichterftatter kaum einen anderen
Befähigungsnahweis kennt, ald den einer interejlanten Schreibweife und Des
Beifall3 jener wenigen Abonnenten, die das Bedürfnis haben, ihrem Aerger oder
ihrer Billigung fchriftlich Musdrud zu geben. Soll id) erft nod daran erinnern,
wie Wagner, Bödlin, Klinger dem Publikum durch die Zeitungen gefchildert und
bewertet worden find?
Das find notwendige Uebel, müſſen wir zugeben; das Zeitungsiwejen trägt
720 Dans Schliepmann, Unſer Pefejammer.
daran feineswegd die Hauptihuld; man wird es nicht ändern können, daß
Zeitungen Geichäftsunternehmungen, daß Hritifieren ein Broterwerb ift, und zwar
einer, den nur die Jugend noch mit der Selbftficherheit ihrer Unerfabrenheit ohne
innere Zweifel ausüben kann. Das Volk hat die Zeitungen, die es verdient;
es ift ja — Abonnent.
Nur ein prinzipielles Mißtrauen gegen die Kritik, oder bejjer eine Nach—
fritif, die aus des Kritikers Anfichten feine Perfönlichkeit zurüdkonftruiert und
danad) abwägt, wo fein Urteil Beachtung verdient und wann es, wie jedes Urteil
irgendwo, verjagt: nur Selbftändigfeit der Lefer alfo könnte diefe Zuftände in
etwas bejjern. Die Folge wäre: weniger Zeitungen, mehr Bücher leſen!
Aber eine neue Schwierigkeit thut fir) auf: Wo ift die Spur, die aus der
Menge der litterariichen Erzeugnifje und zu den wenigen wertvollen Büchern
weilt? Steht doch auch die Bucherzeugung durchaus unter dem Zeichen des
modernen „Geſchäfts“-Begriffes, wozu noch eine lleberproduftion feitend der
Schriftiteller fommt, die es felbjt dem ideal gefonnenen Berleger ganz unmöglich
macht, ohne Ware für die breiten Maffen, ohne Reklame bis zu der litterarifchen
Brunnenvergiftung der „Waſchzettel“, d. 5. der Irreführung des Publikums durch
ſcheinbar unbeteiligte, doc vom Verleger gelieferte Kritiken im Nedaftionsteil der
Beitungen, durchzufommen! —
Wie denn aber: ich behaupte, daß erftens nicht genug gelefen wird, daß
zweitens alle Welt nur nocd auf das Geſchäftmachen abzielt: und dann follte es
doch eine Ueberproduftion geben, eine Leberproduftion in Maffen? Wenn fein
Bedarf ift, wird doch Fein Geihäftsmann etwas hervorbringen! Das ift dod)
ein Widerſpruch!
Es ſcheint leider nur fo; wir kommen hier zur zweiten Seite unjeres Leſe—
jammers, vielleicht der weniger beflagenswerten. Wenn bei ernfteren Menfchen,
voriviegend Männern, das Lefebedürfnis unter Tageslaft, Abſpannung, Parteigeift,
Einjeitigfeit, Zeitungsvormundichaft immer mehr zurüdgeht, fo ift doch andererjeits
ein Trieb zum Lejen in außerordentlich weiten, und zwar nun hauptſächlich in
weiblichen, reifen vorhanden. Aber dies Bedürfnis ift faft nichts ala ein
Berftreuungsbedürfnis, nicht ein Bildungs-, ein Erhebungstrieb.
Wie unfer Theater unter der Herrichaft des Gefchäfts und der Forderung
nad „Amiüfement” (mehr als ein welches Wort ift der Begriff nicht wert) von
den Wohlhabenden = „Gebildeten" zu einer Vergnügungsanftalt, ins Barieteartige
hinabgedrüdt wird, jo rüdt die Fitteratur, bis in ernfter ftrebende Kreiſe hinein, mehr
und mehr nad) der Seite des Spannenden, des „Hübſchen“, des oberflächlich Lujtigen.
„Ich will mich freuen," heißt es da immer im Tone äfthetiicher Weber:
zeugung, „wenn mich das Leben den Tag über hin- und bergeworfen bat. Ich
will das Schöne. Gegrübelt hab’ id) genug." Das heißt aber auf gut Deutid)
eigentlich: ich will feine ‚Freude mehr am Nachichaffen haben (das jedes echte
Hans Schliepmann, Unfer Lejejammer. 71
Kunftwerk verlangt), ich will feine neuen Gedanken; man foll mir nur etwas
„vormacen“, wobei ich bleiben kann, was ih bin, oder was mid; angenehm
erregt. Nur feine Erjchütterungen meines Innerſten! Dies Eennen zu lernen,
wäre am Ende ziemlich fatal für meine Selbftzufriedenheit!
Wie diefe Leute aber vornehmlich Theaterbillets kaufen, jo kaufen fie auch
am eheften Bücher — wenigftens, wenn fie fie durchaus nicht von guten Freunden
oder ſchnell aus der Leihbibliothet geliehen oder vom Autor gefchenft befommen
fönnen, was allerdings ein deutſcher Nationaltrieb zu fein fcheint! — ebenfalls
„gehen" nur ſolche Bücher, die den gejchilderten Bedürfniffen dienen.
Dean könnte das achjelzudfend mit anfehen und ſich tröften, daß ja aud) das
Konfitürengefchäft ein ehrliches Gewerbe ift, daS feinen Mann nährt, ohne anderen
fonderlih den Magen zu verderben. AU’ dieſes „Bücherfutter” ift nur Zuder-
zeug für Unbejchäftigte und fpricht für die Höhenkultur ja doch nicht mit. Aber
aus der Amdifferenz der Männer gegen die Litteratur und dem ungemeinen Leſe—
bedürfnis der frauen, gerade der „mondainen", unbejchäftigten, tändelnden, ernft:
lofen, in Modebegriffen aufgehenden — auch foldhen männlichen Gejchlechts
übrigend — aus diefen beiden Urſachen entwidelt ſich doch eine fehr bedenkliche
Folge: eine allmählihe Berweiblihung unferer Litteratur. Unſer neueftes
Schrifttum zeigt das auch da, wo es ernſt genommen zu werden verdient, ganz
abgejehen von der Flutwelle fchriftftellernder Frauen, deren natürliche Gabe des
leihten Fabulierens, „geihmadvollen” Darftellens, „aktuellen“ Zufchauens fie zur
Beliebtheit beim Bublitum im voraus geeignet machen. Iſt nicht unfere ganze
Decadence mit ihrem Wichtigthun um äfthetifche Fragen und „differenziertefte”
Empfindungen beim Mangel eigentlihen Lebensinhalts eine effeminierte Kunft?
Es foll nicht beftritten werden, daß in äfthetifcher Beziehung auch neue Werte
durch fie hervorgehoben wurden; für die Allgemeinentwidelung der Kunft war fie
immerhin von einer gewiffen Notwendigkeit; aber dem reifen deutjhen Manne,
der immer wieder den Anhalt über die Form ftellt und auch nur gerubig ftellen foll, hat
die Decadence nicht3 geboten, ja fie hat ihn erſt recht der Litteratur entfrenidet.
Nur eine männlide Kunft — wozu übrigen auch 3. B. die der Ebner:
Eſchenbach zu rechnen ift, damit Fein Mißverftändnis obwaltet! — fann uns
wieder ein männliches Lefepublitum zuführen, nur ein männliches Leſepublikum
eine Stüße neuer, wahrhafter Nationallitteratur werden; nur eine nationalen
Idealismus erzeugende Litteratur aber endlich fann ein Gegengewicht abgeben
gegen die abwärts ziehenden Kräfte der Geldjagd und Streberei, der Vergötte—
rung des „Geſchäftes“.
Es giebt aber nun doch noch breite Schichten, die wirklichen Lejehunger
haben, die ſich ernftlich aus ihrem Tagesgefchäfte hinauffehnen an das Licht.
Die Volks- und Arbeiterbibliothelen ſprechen davon, die Bolksunterhaltungs-
abende, der Erfolg aller billigen Bücher. Und damit tritt noch ein neuer Janımer
46
722 Dans Schliepmann, Unfer Yejejammer.
vor uns: die Gejchäftsverhältuiffe im Buchhandel. Die Unficherheit des Kunſt—
geihmades, das geringe Kaufbedürfnis des Publikums, der jeit langem hödjit
reformbedürftige Gejchäftsbetrieb zwiſchen Verlag und Sortimenter bedingen ganz
unverhältnismäßige Kaufpreiſe für unfere Bücher, jo daß dadurd wieder der
Leihunfug und die Lejeunluft gefteigert wird, ohne daß doch der Schriftiteller, er
jei denn ein Tagesgöße, vom Ertrage feiner Feder angemeſſen leben könnte, wen
er nicht nebenbei noch für Zeitungen jchreibt, was dann wieder eine Produktion
unter äußerem SZwange bedeutet.
Daß eine allgemeine wejentliche Berbilligung unferer Bücherpreife mit einer
wejentlihen Hebung unjerer Kultur gleichbedeutend wäre, ift ganz offenbar.
Unfere Klaſſiker leben nod, Gottlob, dank der billigen Ausgaben. Nur ein
Sammer, daß unjere edelften Nationalgüter, die Gedanken unferer Bejten, exit
bis dreißig Jahre nach deren Tode nichts als Eoftbare Ware find, deren Erfolg
nur im feltenften Falle dem Berfaffer zu gute kommt, da der wahrhaft Große
erit nad) Jahrzehnten zur Anerkennung zu kommen pflegt, bis die billigen Aus-
gaben dieje Gedanken ins Volk tragen! Womit natürlich nicht3 gegen den Urheber—
vehtsfhuß, jondern nur etwas gegen die ungefunde Stalfulation im geſamten Buch—
verlag nefagt werden joll. — Der Dann, der zum erftenmale wagemutig den
Maffenumjag guter neuerer Schriftwerfe zu billigem Preife ins Auge faht,
wird eine Umwälzung unferes ganzen Buchwejens herbeiführen!
Allerdings, eine gründliche Befjerung aller angedeuteten Trübjeligfeiten wird
damit aud) nicht erreiht. Es ergäbe nur eine gewilje Gefundung von unten ber,
und von der ift freilich no am eheiten etwas zu hoffen. Denn von oben her
kommen noch die weiteren Schädlinge, überreizter Gefhmad und Mode, dazu,
von denen vielleicht ein anderes Mal gefpruchen werden joll; hier würde dies
Thema einen zu breiten Raum einnehmen müfjen.
Aber was Eönnte ſonſt geichehen, um unferem Lejejammer abzuhelfen, der
dem „Volke der Dichter und Denker" jo ganz bejonders gut zu Gefichte jteht?
Ich fürchte, verzweifelt wenig!
„Sein Schiejal ſchafft fich jelbjt der Mann!” und
„Wollen Sie nur, und Sie haben eine unit.“
In diefen beiden Süßen liegt die einzige volle Hilfe: Einficht in die
Schäden und fefter Wille bei jedem Einzelnen, wahrhaft geiftige Intereſſen zu
pflegen, troß aller Abſpannung und Zerftreuung, ſich verantwortlich fühlen als
Glied unferes Volkes, nicht völlig im Philiftertum zu verfinken.
8
Das größere Deutſchland und die innere Politik.
Don
Rudolph Sohm.
Ui« Zeit „steht unter dem Zeichen des Berfehrs", des Weltverkehrs. Die
Weltwirtfchaft, die uns in ihre reife gezwungen, bat uns zugleich mit
Naturgewalt auf die Bahnen der Weltpolitif geführt. Gerade nod in leßter
Stunde ift das Deutfche Reid) gegründet worden, die Kraft des deutſchen Volkes
zufammenfafjend, damit es den Anforderungen einer neuen Zeit gewachfen jei.
Seit erft drei Jahrzehnten hat die große Ummälzung fich vollzogen. Die Thore
des alten Europa haben fid) geöffnet. Das Meer erglänzt im Morgenjonnen-
ſchein. Thalatta! Thalatta! Das Meer ift die Bölferftraße, die zu dem Welt-
markt führt. Auf dem Meere wohnt die Herrjchaft über die irdiichen Güter.
Unfere Teilnahme am Weltverfehre fordert Teilnahme an der Herrſchaft über die
wogende See. „Unfere Zukunft liegt auf dem Waſſer“.
Das größere Deutfchland beruht auf unjeren Schiffen. Der Bau der
Flotte ift Ausbau des Reichs. Eine neue Reichsgründung müffen wir unter:
nehmen: die Erftredung der Reichsgewalt auf den Ozean. Was nidjt wädhlt,
geht unter. Das blühende Reich muß ein wachjendes Reich fein. Wir werden
nicht gefragt, ob wir wollen. Wir müfjen, — bei Strafe de3 Niedergangs!
Das Deutſche Reid muß größer fein.
Nicht fo, als ob wir die Welt erobern müßten. Die Menfchheitsgefchichte
will Gemeinjchaft der Völker, nicht Alleinherrichaft eines einzigen. Aber wir
müffen uns ſelbſt behaupten inmitten einer größer gewordenen Welt. In der
Selbftbehauptung durch Steigerung unjerer Kräfte dienen wir nicht nadter
Machtpolitik, Sondern der Idee der Gerechtigkeit, weld)e uns einen Anteil an der
Weltherrihaft der Kulturvölfer zuſpricht.
Die äußere Bolitik ift um der Machtinterefien des Volkes willen da. Sie
hat dem eigenen Volke die weltgefhichtlih gerechte Machtftellung zu erobern:
Die Madhtftellung, welche ung gebührt (suum cuique), welche dem Dienft ent-
fpricht, den wir der Menfchheit leiſten können. Soweit unfere Politik fich dies
Ziel jegt, wird fie fiegen. Weiter nicht. In welchen Grenzen Macdtforderungen
der Nation zugleich Gerechtigfeitäforderungen find, darüber enticheidet eine höhere
46*
724 Rudolph Sohm, Das größere Deutfhland und die innere Bolitit.
Dand. Sie wägt die Völker je nad) ihren Leiitungen für die Emporentiwidelung
der Menfchenwelt. Die Weltgefchichte ift das Weltgeridt.
Mit der äußeren ift die innere Politik unzertrennbar verbunden. Auch die
innere Politik ift um des Staates, des Volkes, der Macht des Volkes willen
da. Damit das Volk nad) außen jtark fei, muß es nad) innen richtig gegliedert
fein. Die richtige Gliederung aber ift die gerechte Gliederung.
Auch die Entwidelung der inneren Politik vollzieht fi) durch Machtkämpfe
Den berrichenden Klaſſen treten neue Schichten gegenüber, Anteil an der Herr:
Ichaft begehrend. Der Kampf um die innere Politik ift der Kampf um die Madır
im Staate. Im Kampf der Klaſſen entjcheidet das gleiche Gejeg, wie in dem
Kampf der Völker. Den Staat beherricht nur, wer dem Staate dient. „Ach
diene” ift die Devije, mit welcher aud) diefer Kampf gewonnen wird. Nicht das
Machtintereſſe einer Partei, fondern die Leiftung, die jie für die Emporentiwide:
lung des Staates, des ganzen Volkes zu vollbringen im ftande ift, wird über
den Erfolg enticheiden. Der Sieg einer Partei foll niemals der Sieg bloß einer
Klaſſe, ſondern der Sieg des Gefamtinterejfes über blinde Selbftiucht fein.
Auf weſſen Seite die FFeldzeichen des Volkes, des Neiches wehen, da ift der Sieg.
Weshalb find die auffteigenden Arbeitermaffen troß ihrer Millionenzab!
dennoch heute noch ohne entſcheidenden Einfluß auf den Staat? Weil ihre Fahne
die rote Fahne ift. Weil fie den Machtintereffen und damit den Dafeinsinterefien
des Reiches fich verfagen. Weil fie gegen Heer und Flotte find. So lange fie
den nationalen Intereſſen ſich entziehen, jo lange entzieht fich ihnen die Nation.
Weshalb übt umgekehrt die Landwirtfchaft jo mächtigen Einfluß auf das
Reich? Obgleich die wirtjchaftlihe Leiftungsfähigkeit der Landwirtichaft zurüd:
geht, obgleich das Lebensinterefje unferes Volkes täglich mehr an daS Gedeihen
von Handel und Induſtrie geknüpft ift, dennoch diefe Wucht, mit welcher die
Macht des Landmanns einhergeht! Weshalb? Weil innerhalb der agrariichen
Kreije der nationale Gedanke lebendig wirkſam ift. Die deutſche Landwirtſchaft
geht mit dem Neiche. So geht das Reich mit ihr.
Und das Centrum? Zwiſchen den Gedanken des Gentrums und den Ge:
danken, in denen Macht und Kraft des Reichs beruht, ift eine tiefe Kluft
befeftigt.. Der Katholizismus will im Grundfaß das Staatskirchenrecht des
Mittelalters: die Verfügung des Papfttums über die Machtmittel des Staates
zum Zweck der Alleinherrichaft der „allein jeligmachenden” Kirche. Das Reid
aber mwurzelt in dem liberalen Staatäreht der Gegenwart, welches die Souve—
ränetät de3 nationalen Staates und feine Freiheit von jeder Kirche fordert.
Zroßdem ift das Centrum feit dem Abgange des Fürſten Bismard zur aus—
ichlaggebenden Partei im Reiche geworden. Warum? Weil es für Lebens:
interefjen des Meiches, für das Bürgerliche Gefegbuch, für Heer und Flotte
eingetreten ift. Much in den Männern des Gentrums ift die Liebe zum deutichen
Rudolph Sohm, Das gröhere Deutfchland und die innere Politik. 725
Baterlande von führender Gewalt. Darum hat die katholifhe Partei in den
entfcheidendften Fragen dem Deutjchen Reiche den Dienft geleiftet, den die Arbeiter-
partei verweigert hat. In diefem Dienfte ruht ihre Macht.
Troß alledem ift Elar, daß der gegenwärtige Stand unferer innerpolitiichen
Machtverhältniſſe den thatfächlihen Kräfteverhältniffen innerhalb des Deutfchen
Neiches nicht entipridt. Am deutſchen Volksleben überwiegt die protejtantijche
‘ee. Desungeadhtet fitt eine Eatholifche Partei am Steuerruder des Neiches
und beftimmt nicht bloß über die Gefeßgebung, fondern in mweitgehendem Maße
auch über die Verwaltung, das letztere insbefondere im preußifchen Staate.
Ebenſo unnatürlich ift, daß der Stand der Großgrundbefiter, der den Bund der
Landwirte beherrfcht, feine Intereſſen mit Hochdruck zu vertreten vermag, während
Handel und Induſtrie nur mit Mühe zu Worte fommen. Der Fall der
preußijchen Kanalvorlage hat erit foeben die Uebermacht des agrarischen Deutjch-
lands über das industrielle dargethan. Und doch ift das agrariiche Deutjchland
außer ftande, auf die Dauer die Lajt des wachjenden Reiches zu tragen. All
jährlich fteigt unfere VBolfämenge um mehr denn eine halbe Million. Im Ader-
bau finden die neuen Antömmlinge feinen Platz. Der wachſenden Volkszahl
wird nur ein nad außen durch unfere Schiffe wachlendes Reid; gereht. Das
Wahstum des Reiches hängt nicht an den großen Gütern, jondern umgekehrt
an Handel und Induſtrie.
Dem Reiche dienen nicht die Kräfte, die ihm an eriter Stelle dienen follten.
Die auffteigenden Mächte, auf denen die Zukunft unſeres Volkes ruht, fommen in
der beitehenden innerpolitiihen Mactverteilung nicht zu naturgemäßer Entwidelung.
Es ift etwas krank in unferem Volkskörper. Die Krankheit ift die Sozial—
demokratie. Durd) die Sozialdemokratie fteht die Arbeiterpartei, die Partei mit
der größten Wählermaffe, in Gegenfat zum Neid. Sie hat zwar mitgewirkt, die
Handelsvertragspolitit des Grafen Eaprivi zum Siege zu führen. Sonft aber
fett fie allen Lebensforderungen des Reiches ein jchroffes Nein entgegen. Darum
muß das Reich bei der katholiſchen Partei Zuflucht juhen. Darum führen die
Intereſſen des Großgrundbefiges jo überlaut das Wort. In dem Dafein der
Sozialdemokratie wurzelt der Mißſtand unjerer politiihen Verhältnifje: die Ueber—
macht des Centrums und des Bundes der Landwirte. Eine große Bolf3partei
ift den Intereſſen des deutfchen Volkes feindlih! Das iſt es, was ung Frank madıt.
In den beftehenden politifchen Mactverhältniffen waltet die Gerechtigkeit,
aber die Gerechtigkeit, welche Strafe für begangene Schuld bedeutet. Gewiß
liegt ein Teil der Schuld bei der Arbeitermenge, die dafür mit politiicher Einfluß-
lofigfeit büßen muß. Ebenſo gewiß aber liegt ein großer Teil dev Schuld bei
der herrjchenden Klaſſe. Bon oben, aus den herrichenden Kreifen, kommt alles:
fommt Segen und Unfegen für das Bolf. Die Verantwortung für die Ent:
widelung der Nation fällt immer an erfter Stelle auf die Gebildeten, die
726 Rudolph Sohm, Das grökere Deutfchland und die innere Bolitif.
Herrichenden. Die Herrichenden haben ihre Pfliht gegen die Niederen nicht
gethan. Insbeſondere gilt das von den herrſchenden Kreiſen des Protejtantismus.
Ihre Strafe ift zugleich das Webergewicht der Fatholiihen Partei und die Ent-
ftehung der Sozialdemofratie.
Der wirtfchaftliche Lebenskampf der niederen Menge ift ein Kampf um die
Bedingungen des Arbeitsvertrages, um Gteigerung des Arbeitälohnes, um
Kürzung der Arbeitäzeit. Das Mittel des Kampfes mußte die gewerfichaftliche
Drganifation des Arbeiterftandes fein, eine Organifation, welche die Arbeiter in
den Stand fette, bei Abſchluß des Arbeitövertrages als freier Vertragsteil ein
enticheidendes Wort mitzufprehen. Zum Arbeitävertrage gehören zwei Teile,
der eine, der die Arbeit anbietet, der andere, der die Arbeit nimmt. Der ver:
einzelte Arbeiter muß die Arbeit fo nehmen, wie fie ihm angeboten wird, bei
Strafe des Hungerns für fi) und feine Familie. Der organifierte Arbeiter will
die Arbeit nur jo nehmen, wie fie mit feinen Lebensinterefjen vereinbar ift. Er
will die Mitherrfchaft über den Arbeitsvertrag. Das ift von geltenden Gejekes
wegen fein Recht. Denn er ift von Rechts wegen ein freier Arbeiter. Die Mit:
herrſchaft über den Arbeitsvertrag jchließt aber in ihren Folgen eine gewiſſe Mit-
berrichaft über den Arbeitsbetrieb in fich, über den Betrieb des Unternehmens,
welches der Unternehmer geichaffen hat.
Es war Elar, daß die Intereſſen des Unternehmers dadurch auf das em-
pfindlichfte betroffen wurden. Die ſo lange allein geübte „Herrſchaft im Haufe”
follte der Unternehmer genötigt werden, mit dem aufiteigenden Arbeiterftande in
gewiſſem Maße zu teilen. Daraus entbrannte der Kampf. Das war naturnotwendig.
Ya, es war naturnotwendig, daß der Unternehmerftand ebenfo wie der Arbeiter-
ftand mit rüdfichtslofer Einfeitigkeit und mit allen Mitteln ausjchlieglid das auf
‚feiner Seite liegende Intereſſe verteidigte. Das Berhängnis aber war, daß die
gefamte herrfchende Klaſſe und mit ihr der Staat fi) auf die Seite des Unter—
nehmerftandes gegen den Arbeiter ftellte. Das einfeitige Unternehmerinterefie
ward als mit dem öffentlichen Intereſſe zufammtenfallend geachtet. Das Intereſſe
der Unternehmerklaffe galt für das Intereſſe der herrichenden Klaſſen überhaupt,
ja für das Staatsinterefje. Die ganze beftehende Ordnung der Gejellihaft ward
für bedroht angefehen, wenn der freie Mrbeitövertrag des bereits geltenden Rechts
fich verwirklichte. Es bildete ſich der Begriff der vereinigten „Ordnungsparteien”,
deren Aufgabe fei, dem Unternehmerftande gegen die „Auflehnung‘ des Arbeiter
ftandes beizuftehen. Der Beftand der ganzen Staatsordnung ward für bedroht
ausgegeben, wenn die Forderungen der Arbeiterichaft in Bezug auf den Arbeits-
vertrag, in Bezug auf Arbeitslohn, auf Arbeitszeit, auf Mitbeftimmung der Ar:
beitSbedingungen fich verwirklichten. Die praftiihe Durchführung des bereits
geltenden Rechtes vom freien Arbeitsvertrage erſchien als „Umſturz“ der ganzen
bejtehenden Rechtsordnung und ward demgemäß behandelt.
Rudolph Sohm, Das grörere Deutichland und die innere Potitif. 727
Die Arbeiterfchaft that allerdings alles Mögliche, um diefe Art der Ber-
teidigung der beftehenden „Ordnung“, ber Ablehnung aller Arbeiterforderungen
als gerechtfertigt erfcheinen zu laffen. Die Arbeitermenge ward von ihren Führen
dahin belehrt, daß es in der Natur des beftehenden Staates liege, das einfeitige
Intereſſe der herrichenden Klaſſe zu verteidigen, daß von diefem Staate daher
niemal3 Rettung zu erwarten fei, daß diefem Staate, auch dem Deutichen
Reiche, ald einem bloßen SKlafjenftaate, Lediglich der Haß der Arbeiterklaſſe
gebühre, daß Heer und Flotte nur ein Mittel zur Unterdrüdung der niederen
Menge, zur Befeftigung der Herrſchaft der „Ausbeuter“, daß der nationale
Gedanke nur ein Borwand ſei für die Unterdrüdung der Arbeiterichaft, daß
darım dem nationalen Staate jedes Mittel feiner Machtentfaltung verweigert
werden müſſe. So ftellte die deutſche Arbeiterfchaft unter fozialdemokratiicher
Führung fih in Schlahtordnung gegen das Reich auf.
Der Wahn, daß Erfüllung der Arbeiterintereffen nur von einem durch das
Proletariat zu ſchaffenden Zufunftsftaate, nicht aber vom beftehenden nationalen
Stante zu erwarten fei, machte allerdings die Arbeiterpartei zu einem grundfäß-
lichen Feinde, nicht bloß der beftehenden Gejellichaftsordnung, fondern des
beftehenden Staates. Die Berquidung der wirtfchaftlichen, in dem geltenden
Nechte wurzelnden Arbeiterforderungen mit ganz irre gehenden politijchen Forde—
rungen mußte notivendig das größte Hindernis für die praftiiche Durchlegung
der Arbeiterbewegung fein. Die der Freiheit des Wrbeitävertrages dienenden
Gewerkſchaften wurden infolge ihres politifchen Charakters zugleich das Mittel
für die Ausbreitung einer politifchen, der fozialdemokratifchen Partei, welche mit
aller Macht dem Reichsintereſſe widerftrebte. Die Berbindung bes Arbeiter:
programms mit dem politiihen Programm der Sozialdeınofratie mußte notwendig
den Anfchein erweden, daß die ganze Arbeiterbewegung als folche ſtaatsfeindlich
jet. Sie mußte den Staat auf die Seite des IInternehmertums drängen. Gie
mußte den herrichenden Klaſſen die Unternehmerintereffen als die gemeinfamen
Intereſſen aller erfcheinen lafjen. Wer die Arbeiterinterefjen vertrat, war not»
wendig ein „Suzialdemofrat".
Bon beiden Seiten ward der gleiche Fehler gemadt. Sowohl die herrichen-
den Kreiſe wie der Arbeiterftand gehen grundjäglid von dem Zufanmenfallen
der NArbeiterforderungen mit den jozialdemokratifchen Forderungen aus. Die
Arbeiterbewegung foll unterdrüdt werden, damit die Sozialdemokratie vernichtet
werde. Das iſt der Standpunkt der herrſchenden Parteien noch heute, ins:
beiondere der Parteien, die überwiegend aus proteftantiichen Kreiſen hervorgehen:
der konfervativen und der nationalliberalen Partei. Der Proteftantisiınus ift in
feiner großen Mehrheit ohne volles Beritändnis für die foziale Frage, d. h. ohne
volles Berftändnis für die berechtigte Arbeiterbewegung, die hinter der Sozial:
demofratie fich verbirgt. Darum hat den deutſchen Proteftantismus die Strafe
728 Rudolph Sohm, Das größere Deutfchland und die innere Politik.
getroffen, daß gegenwärtig der Katholizismus in der Vorherrſchaft ift. Alles
Eifern der Eonjervativen und der nationalliberalen Organe gegen den Ultra—
montanismus und feine Gefahren ift ganz umfonjt und bloße Qufterfhütterung,
fo lange jene Parteien den Preis nicht zahlen wollen, um den allein die Ueber:
windung der Macht des Centrums zu haben ift: die Anerkennung des Rechtes
der Arbeitnehmer, den freien Arbeitsvertrag zu begehren. Die politiihde Macht
des Proteftantismus wird erft in dem Augenblid wieder hergeftellt jein, in
welchem die Sozialdemokratie verfchwindet, um einer nationalen Arbeiterpartei
Plag zu madhen. In dem Mugenblid, in welchem eine national gefinnte Arbeiter:
ſchaft die Pläße der ſozialdemokratiſchen Reichstagsabgeordneten bejeßt, wird Die
Macht des Centrums gebrochen jein. Centrum und Sozialdemokratie find gleich-
zeitig gefommen und werden gleichzeitig gehen. Der Weg zur Bekämpfung der
Uebermacht des Katholizismus führt mitten durch die ſoziale Frage.
Aber nicht bloß das Lebensinterefje des Proteftantismus, ſondern ebenio
das Lebensinterefje des Reiches fordern gebieteriih die Trennung der Arbeiter-
bewegung von der Sozialdemokratie. In der Arbeiterbewegung vollzieht ſich die
Erhebung eines Mittelftandes neuer Art. Die gelernten, die beſſer geftellten
Arbeiter find es, bie ihn bilden. In diefen höheren Arbeiterkreifen aber berricht
gerade die Sozialdemofratie. Um diefe Sreife Handelt es ſich. Sie müſſen
dem Reiche gewonnen werden. Sie müfjen mit nationaler Gefinnung
ſich erfüllen. Der einzige Weg, der zu diefem Biele führt, iſt die
Erweckung des Gefühle, daß das Reich und fein Recht nicht bloß den
Intereſſen der herrichenden Klafjen, fondern gerade jo den Intereſſen der auf:
fteigenden Arbeiterkflaffen dient. Es handelt fih um ein ganz Einfaches und
zugleich um ein ſehr Großes und Mächtiges, — um Geredtigfeit. Die auf:
fteigenden Arbeiterkreife find bis jet von unbedingtem Mibtrauen gegen den
Staat und alles, was von oben fommt, erfüllt. Dies Mißtrauen ift unier
Feind. Dies Mißtrauen ift die Krankheit unferes Volkskörpers. Dies Mih-
trauen muß überwunden werden. Das wird der innere Sieg fein, der allein
auch äußere Siege ermögliht. Das Mißtrauen der Arbeiterkreife wurzelt in der
vom Staate und von den herrichenden Klaſſen geübten Ungerechtigkeit. Es
wurzelt darin, daß der Arbeiterbewegung, weil fie mit ſozialdemokratiſchen Ideen
verfnüpft war, überall der entjchiedenfte Widerftand ſeitens der Staatsgewalt
entgegengefegt wurde. Großes ift vom deutfchen Staate auf dem Gebiete der
Arbeiterverficherung, überhaupt des Arbeiterfchuges im Intereſſe des einzelnen
Arbeiterd gejhehen. Der auf Freiheit, auf Macht über den Arbeitävertrag
gerichteten Bewegung der Arbeiterflaffe aber ward, weil fie im fozialdemo-
kratiſchen Gewande auftrat, der Krieg erklärt. Die Staatögewalt wollte die
Gedanken der Sozialdemokratie durch ihre äußeren Mittel binden. Sie er
veichte natürlich das Gegenteil. Noch mehr, fie verbitterte die ganze Arbeiter:
Rudolph Sohm, Das größere Deutichland und die innere Politik. 729
bewegung, weil der ftaatliche Widerftand gegen die Ausbreitung der jozialdemo-
kratifchen Lehre im Erfolge zugleich Widerftand gegen die Geltendmahung der
praftifchen Arbeiterforderungen war. In dem Kampf um ihre wirtfchaftlichen
Dafeinsbedingungen wurden die Arbeiter von der Staatögewalt gehemmt, weil
in den Köpfen der Kämpfenden ſozialdemokratiſche Arrlehren lebendig waren.
Die Arbeiterihaft fühlte jich nicht ohne Grund der gleihen Bürgerrechte mit den
übrigen Staatsgenofjen beraubt. Sonne und Wind der Staatögewalt waren
auf feiten ihrer wirtfchaftlihen Gegner. Notivendig mußte der Staat der
Gegenwart ihnen als bloßer Klaſſenſtaat erfcheinen.
Das Heilmittel liegt auf der Hand. Die fozialdemokratifche Theorie muß,
jo lange fie bloße Lehre ift, — und das ift fie — von Staats wegen gerade fo
frei fein wie jede andere Lehre. Gedanfenfreiheit! Wenn der Staat in dieſen
Kampf eingreift, macht er das Uebel nur um fo fchlimmer. Die Wahrheit fiegt.
Die fozialdemokratifche Irrlehre wird ſich von ſelber auflöfen. Sie ift ſchon auf
dem beiten Wege dazu. Um fozialdemokratiicher Anfichten willen darf niemand
in feinen Bürgerredhten zurüdgefegt werden. Um der jozialdemofratifchen Lehre
willen darf niemals der Arbeiterftand in feinen Verfammlungen, in feinem Ber:
einöwefen, in jeiner Organijation, in der Geltendmachung feiner Intereſſen
gehemmt werden. Nur wenn die fozialdemofratifche Theorie volle Freiheit hat,
fi felber auszuleben und ſich felber zu widerlegen, wird fie eine „vorüber-
gehende Erſcheinung“ fein, wird fie verjchwinden wie ein Raud. Die Gleich—
behandlung aber des Arbeiterd, auch des ſozialdemokratiſch geſinnten Arbeiters
niit allen anderen Bürgern unjeres Reichs wird das innerfte Begehren der
Arbeiterbewegung erfüllen. Denn darum handelt es fih. Der auffteigende
Arbeiterftand will nicht Liebeserweifungen, jundern das gleihe Recht. Das iſt
es, um was er fümpft. Wenn ihm das gewährt wird, jchwindet der Stadel
aus feinem Herzen. Sobald das Reich feine Rechte ſchützt gleid wie die der
übrigen, wird er das Reichsintereſſe, wie wir alle, zugleich als fein perjönliches
Intereſſe begreifen lernen, wird er allmählih aus einem Sozialdemokraten in
einen nationalgefinnten Bürger unferes Reiches ſich verwandeln.
Eine nationale Arbeiterpartei ift die Löfung aller unferer inneren Schwierig:
feiten. Eine folche Arbeiterpartei fteht naturnotwendig auf der Seite des Handels
und des Gewerbes. Sie muß für unfere Schiffe, für unfere Flotte fein. Sie
ift die Volksmaſſe, die mit dem Reiche hinausgeht auf das Meer. Sie giebt
unferer Weltverkehrspolitif den notwendigen Riefendrud einer nationalen Gejamt-
bewegung. Sie wird wie den Proteftantismus von der politijchen Uebermacht
des Katholizismus, fo Handel und Anduftrie von der politifchen Uebermacht des
Großgrundbefites befreien. Nod mehr. Sie giebt dem Neiche innere Macht,
auf welcher allein dauernde äußere Macht beruht.
Das aufiteigende Deutfche Reich fordert ein auffteigendes deutjches Volk.
730 Rudolph Sohm, Das größere Deutſchland und die Innere Politik.
Das Volk, welches die Kraft des Neiches darftellt, ift immer nur die Zahl der-
jenigen, die bewußt und aus allen ihren Kräften zum Reiche ftehen, um an der
Emporentwidelung unjeres Volkes mitzuarbeiten. Die übrigen find nur Maffe,
nicht Voll. Das Volk aber, das wahrhaft lebendige, mitarbeitende, mit-
wirkende Bolt muß wachſen, damit das Reich wachſe. In alten Zeiten war
das Volk in diefem Sinne nur der hohe Adel: die führenden Herrengeſchlechter.
Dem trat dann im Mittelalter der niedere Adel zur Seite. Seit dem 16. Jahr—
hundert ift auch das Bürgertum in die Reihen des Volkes, des lebendigen Volkes
eingetreten. Die ganze neuere Geſchichte beruht in diefer Thatſache. Heute will
und muß das deutiche Volk aufs neue wachſen. Aus den Reihen des Arbeiter:
ftandes fteigen neue Schichten empor, verlangend, auch bewußten, mitwirfenden Anteil
an dem Gang der deutjchen Bolksgeichichte zu nehmen. Um die Erfüllung diefes Be-
gehrens handelt es ſich. Das ift der politifche Inhalt der fozialen Frage. Es fommt
darauf an, die neu zuwachſenden Glieder mit dem nationalen Geifte zu erfüllen,
der allein dem Ganzen Lebenskraft verleiht. Es kommt darauf an, den Arbeiter:
ftand dem deutfchen Volke zu gewinnen. Das deutihe Bolt muß größer fein.
Das größere Deutfchland verlangt gebieteriich ein größeres deutfches Volk.
Die ganze gefammelte deutiche Volkskraft muß hinter dem Reiche ftehen in dem
Augenblid, da das Reich auf den Ozean hinausfchreitet. Die äußere Politik des
größeren Deutichlands fordert die innere Politif des größeren Volkes. Die Macht
nach außen kann nur duch Freiheit im Innern gewonnen werden. Aus der
reiheit der Arbeiterbewegung, aus der Handhabung voller Gerechtigkeit wird die
Stärkung der Monarchie und die Gefundung des Neiches, wird die innere Eini-
gung hervorgehen, die allein gegen alle Feinde ftarf macht. Gerechtigkeit erhöht
ein Bolf. Gerechtigkeit giebt Macht.
127
Aus dem ‚Anhang zu den Gedanken und Erinnerungen
von Btto fürſt von Bismarck“.
„Mit der heutigen Eröffnung des erlten deuffchen Reichslags nadı Wirderherfiellung
eines Peutfchen Reiches beginnt die erfe öffentlide Thätigkeit desfelben. Preußens
Gefchichte und Gelchichke wieſen leit längerer Beil auf ein Ereignis hin, wie es ſich jeht,
durch deſſen Berufung an die Spike des neugegründelen Reiches, vollgogen haft. Preußen
verdankt dies weniger feiner Ländergröße und Mac, wenngleich Beides ſich mehrte, als
feiner geilligen Entmwirkelung und feiner Beeres-Proanilation. In unerwartet [chneller
Folge haben fidh im Xaufe von ſechs Jahren die Geſchickhe meines Tandes zu dem Glanr-
punkte entwickelt, auf dem es heute ſtehet. In diefe fällt die Chätigkeit, zu welcher ich Sir
vor zehn Jahren zu mir berief. In welhem Maße Sie das Bertrauen gerechtfertigt haben,
aus welchem idı damals den Ruf an Sie ergehen lieh, liegf offen vor der Weit, Ihrem
Rat, Ihrer Umlicht, Ihrer unermüdlichen Thätinkeit verdankt Preußen und Peulfchland
das weligefcichllicde Ereignis, welches ſich heute in meiner Relidenz verkörpert.“
Aus: Anhang au den Gedanken und Erinnerungen von Dtto Fürſt von Bismard, Bd, I. Kaiſer Wilhelm I.
und Bismard, Aus dem Briefe Er, Majenät de Kaiſers an Otto von Bismard vom 21. März 1871.
ESESESESESESESESBSESESESDSES
Ein Geiprädı mit einem Tlordamerikaner.
Von
Wilhelm von Kardorff-Wabnitz.
9 den Tagen, an welchen die Nachricht von dem tragiſchen Ende des Präſi—
denten Mectinley hierher gelangte, erhielt ich den Beſuch eines mir aus-
der bimetalliſtiſchen Bewegung bekannten Herrn, der ſeit länger als einem
Dezennium, geſchäftlicher Unternehmungen halber, regelmäßig die Hälfte des Jahres
im Weſten der Vereinigten Staaten zuzubringen pflegt.
Mr. M. zögerte nicht, unſer Geſpräch auf das uns geläufige Thema der
Währungsfrage zu bringen, entwidelte dabei aber Anfchauungen über den Zu—
fammenhang der Währungsfrage mit den Vorgängen in der internationalen
Weltpolitik, die mir eine Wiedergabe zu verdienen fchienen, welche ich mit feiner
Genehmigung hierdurch verfuche.
„Mit der eriten Niederlage Bryans bei der Präfidentenwahl,“
fo beduzierte Mr. M., „war der Sieg der Goldwährung auf der ganzen
Linie entjchieden. Ich Hatte niht Mr. Bryans Theorieen über die Zweck—
mäßigkeit eines felbjtändigen Vorgehens der Bereinigten Staaten mit Aufrich—
tung der Doppelwährung geteilt. Am Gegenfaße zu ihm und feinen Anhängern
hielt ich, wie Sie, die Wiederheritellung des Silberd zum Münzmetall, unter
Feſtlegung der Wertrelation zwiſchen Gold und Silber, nur möglich auf Grund
umfafjender internationaler Vereinbarungen. Aber auch unjere währungspoliti-
chen Freunde haben großenteil3 tapfer für Bryan agitiert und geſtimmt. Sie
fagten fid), daß, wenn ein &emeinmwefen von der Macht und Bedeutung der Ver—
einigten Staaten einen jo energifchen Borftoß zu Gunften des Silberd made,
wie er in dev Wahl Bryans zum Präfidenten gelegen hätte, die ganze Währungs:
frage damit ind Rollen gebracht werden würde. Die Steigerung des Silber:
wertes, welche eine jolche Politit nad) fich gezogen hätte, die hierdurd hervor—
gerufene Veränderung in dem Preisniveau aller Produfte, hätte — fo fagte man
ſich — aud) die anderen großen Kulturftaaten darauf binführen müffen, die
kulturelle, die wirtfchaftliche, die finanzielle Bedeutung der Währungsfrage Elarer
zu erkennen, als fie es bisher vermocht haben.“
Ego: €3 war vielleicht von vornherein ein Kardinalfehler, die Währungs:
frage in Gemeinfchaft mit England regeln zu wollen, ftatt in derfelben das einzige
Mittel zu erbliden, um die finanzielle, durd; Berallgemeinerung der Goldwährung
verdoppelte Uebermacht Englands zu brecden.
732 Wilhelm von Kardorff-Wabnitz, Ein Gefpräch mit einem Nordamerifaner.
Mr. M.: „Der trügeriiche Anſchein, als ob England felbft, wegen jeiner
indiihen Valutafchwierigfeiten, oder im Intereſſe feiner gewaltigen Induſtrieen,
für eine bimetalliftiiche Regelung der Währungsfrage gewonnen werden könne,
wurde verftärft durch die bekannte, von der Majorität des Unterhaufes angenom:
mene Nejolution, welde die Wiederherftellung de3 Silber zum Münzmetall
befürwortete. Aber heute regiert nicht mehr Lancajhire in England, ſondern die
Chamberlain und Cecil Rhodes, d. h. die Intereſſen der Londoner Börfe, des
großen internationalen Geldverleiherd. In diefen Intereſſen liegt e3 Tediglich, die
Schuldnerländer durch die Goldwährung zu nötigen, zur Begleihung ihrer Gold:
zinfen das doppelte Quantum an Produkten zu liefern, wie die dauernde Steige:
rung der Kaufkraft des Goldes dies mit fich führt.“
Ego: Wie die Dinge heute liegen, ift es überflüffig, darüber noch ex post
zu pbilofophieren. Die Goldwährung hat, wie Sie felbft fagen, heute auf ab-
ſehbare Zeit auf der ganzen Yinie gefiegt, und die Welt muß ſich mit diefer That-
fache abfinden und die Konſequenzen tragen. — Aber wie ed mir fcheinen will,
war jeit feinem erſten Wahljiege die Popularität MeKinleys in demfelben Mae
gewwachlen, wie die Bryans ſich vermindert hatte? Und das, obſchon MeSkinlen,
wie man behauptete, mit Hilfe englischen Goldes gewählt war.
Mr. M.: „Diefe Behauptung halte ich für unbegründet und unmwahrjcein-
ih. Engliſche Kapitaliften mögen bin und wieder mit der Zurüdziehung und
Kündigung ihrer in Amerika angelegten bezw. arbeitenden Stapitalien gedroht haben,
fall3 Bryan den Sieg davontrüge — eine Drohung, die man Goldwährungs:-
anhängern nicht verübeln kann —: im übrigen verfügten aber die Parteigenofjen
Mesinleys im Verein mit den Goldwährungsdemofraten über fo reiche Mittel,
dab fie auswärtiger Unterftügung nicht bedurften. Ich kann nur wiederholen,
die Londoner Börfe gab natürlich der Wahl eines prohibitiven Schutzzöllners wie
Mestinley vor der Wahl eines Silbermannes wie Bryan den Vorzug. Sie war
fiher, daß das quod non, weldes fie dem loyalen Berfuhe MeKinleys ent-
gegenfeßte, die internationalen Verhandlungen über Regelung der Währungsfrage
fortzufeßen, eben den definitiven Sieg der Goldwährung in fich ſchließen würde.
Vergeſſen Sie auch nicht, daß in jene Wahlzeit der Beginn des kubaniſch-ſpani—
ſchen Konflikts fiel. Auch Bryan, fall er gewählt wäre, würde zum Kriege, zur
Annerion Kubas und der Philippinen gedrängt worden fein. Ob aber feiner
Präfidentfchaft gegenüber England diefen Annerionen jo ruhig zugejehen haben
würde, wie e3 fie zuließ, nachdem MeKinley vor der Goldwährung fapituliert
hatte, ift mir ſehr zweifelhaft.“
Ego: Sie fcheinen mir anzudeuten, daß die Pafjivität Englands in dem
ſpaniſchen Konflikte gewiſſermaßen der Preis war, den es ben Vereinigten Staaten
für die Ueberwindung der Bryanichen Silberpolitif zu zahlen genötigt war?
Mr. M.: „Ungefähr ja! Und die Popularität, die wachlende Popularität
Wilhelm von Kardorff-Wabnitz, Ein Gefpräcd mit einem Norbamerifaner. 733
Meinleys verdankte er zum guten Teil der imperialiftiichen panamerifanifchen
Politik, die er verfolgte, einer Politik, die fo unmittelbar auf dem ſich von Tag
zu Tag fteigernden Selbſtändigkeits- und Machtgefühle der gefamten Bevölfe-
rung ber Vereinigten Staaten beruht, daß eben auch Bryan feine andere Politik
hätte treiben können. Garlyle führt bei Beiprehung der Teilung Polens, um
die innere Notwendigkeit jener Kataftrophe nachzuweiſen, gelegentlich) aus, daß
eine Nachbarſchaft unerträglich fei, in deren Behaufung ununterbroden Feuer
ausbreche. Eine folhe Nahbarichaft war Kuba für die Bereinigten Staaten, an-
gejicht3 der durch die ſpaniſche Mißregierung unaufhörlid, hervorgerufenen Aufftände."
Ego: Und die Philippinen?
Mr. M.: „Singen dann fo mit — ein fo verrotteter Staat, wie Spanien,
kann feine Stolonieen beherrſchen.“
„Aber Meslinleygg wachſende Volkstümlichkeit beruhte auch nicht zum
geringften auf dem gewaltigen Aufſchwunge, den unter feiner Präſidentſchaft die
Vereinigten Staaten politiſch, wirtichaftlih und finanziell genommen haben.
Prüfen Sie einmal die Statiftit des auswärtigen Handels Nordamerifad während
der leisten zehn Jahre, und Sie werden über das geradezu phänomenale Steigen
diefer Ziffern erftaunen. Das gleiche gilt von der Entwidelung der Gejamt-
induftrie: Eifen- und Textil-Induſtrie, Bergbau in allen ſeinen Zweigen, bejon-
der3 die Kohlenproduftion, Schiffbau und Landwirtichaft zeigen ein Wachstum,
das nahezu unglaublich ift. Wir haben in der Weltgefchichte kaum ein Beifpiel
eines ähnlich fchnellen Aufblühens in jo verhältnismäßig kurzer Zeit."
„Mefinley zog dann rüdjichtslos die von Wolowski, Seyd, Laveleye vor:
bergejagten Konſequenzen der Verallgemeinerung der Goldiwährung, indem er die
Ihußzöllnerifchen Theorieen der Careyſchen Schule durch Aufftellung nahezu pro-
hibitiver Zolltarife verwirklichte, mit dem Erfolge, daß heute die Vereinigten
Staaten eine kräftige, aktive Handelsbilanz befigen, daß ihr Barſchatz an Gold
beträchtlich ftärfer ijt als jelbft der franzöfifche, daß gleichwohl eine ftarfe Tilgung
der Staat3fchulden hat ermöglicht werden fünnen. Liegt hierin nicht eine prak—
tiiche Widerlegung der Manchefterfchule mit ihren Freihandelstheorieen, wie fie
beweisfräftiger faum gedacht werden kann? Die Vereinigten Staaten weiſen
während diefer Periode ein rapides Steigen der Bevölferungsziffer auf, fie haben
bei einem beijpiellofen induftriellen Aufſchwunge eine finanzielle Machtſtellung
errungen, die fie zum Konkurrenten Englands auf dem großen Geldmarkte der
Welt gemacht hat, und ihre Stimme tünt in dem Konzerte der Großmächte heute
weit vernehmlicher als je zuvor."
Ego: Nur verdirbt leider böſes Beijpiel gute Sitten: Die ohne jeden Ein:
ipruch anderer Mächte vollzogene Einverleibung Kubas und der Philippinen hat
vielleicht dazu beigetragen, die Gewaltspolitit Englands Transpaal gegenüber
mit bervorzurufen!
734 Wilhelm von Kardorff-Wabnis, Ein Gefpräch mit einem Nordamerifaner.
Mr. M.: „Selbft wenn man dies zugeben wollte, müßte man anerkennen,
daß die Vereinigten Staaten den Beitpunft der Löſung der Hubaner Frage rid):
tiger wahrnahmen. Diefe Frucht war reif, fie mußte bei energifhem Scütteln
des Baumes den Amerikanern in den Schoß fallen. Aber die Transvaalaftion
war meines Erachtens eine voreilige. Bei der ftarfen engliihen Einwanderung
nad Südafrika, der Macht des dort arbeitenden englifchen Kapital wäre Trans-
vaal — jelbft bei formeller äußerer Unabhängigkeit — in nicht allzulanger Zeit
völlig von engliichen Intereſſen beherrfcht worden. Die Frucht wäre von felbit
England in den Scho gefallen. Aber Cecil Rhodes und Genoffen konnten die
Zeit nicht erwarten, und fo wurden dem engliichen Volke die Gefahren des Afri—
fanderbundes und die Notwendigkeit der Sicherung bes Seeweges nad) Djftindien
vorgefchwindelt, um die Einverleibung Transvaals ald eine notwendige, hoch—
politifche Aktion rechtfertigen zu können, während Kapſtadt fi, auch bei etwaiger
Verwirklichung der Afrifanderpläne, für die völlige Unabhängigkeit Südafrikas, zu
einem zweiten Bibraltar hätte herftellen lafjen, das den Engländern die Sicherung
des indiichen Seeweges fo gut verbürgt haben würde, wie das ſpaniſche Gibraltar
ihnen den freien Zugang zum Mittelländifhen Meere fichert.“
Ego: Bei allen Sympathieen für die Boeren, die ich mit der ganzen deutfchen
Bevölkerung teile, kann ich doch nicht umhin, das ftarfe englifche Nationalgefühl
zu bewundern, welches, nachdem der Krieg einmal begonnen, das ganze englifche
Volk ohne Murren die Opfer tragen läßt, welche diefer ihm auferlegt. Ach
wünfchte, wir wären in Deutichland erjt fo weit!
Mr. M.: „Ich ſtehe diefer Ericheinung doc etwas ffeptifcher gegenüber.
Wir haben in Preußen eine für ein zivilifiertes Yand etwas rüdftändige Inſtitution
in der Staatälotterie. England befitt eine ſolche nicht, dafür fpielt man dort in
ſüdafrikaniſchen Goldfhares, die in Eleineren Beträgen bis zu 1 Pfund herunter
unter der Bevölkerung vertrieben werden. Dieſe Shares befizen alle Volks-.
fhichten von den upper ten thousands, den Lords und Herzögen herunter bis
zum Haushälter und der Köchin. Und dieſer Beſitz ift deshalb ein Hazardipiel,
weil die Shares außerordentlich verfchieden in ihrem reellen Werte find. Sie
haben Shares von den guten Goldminen, die bis zu 70 oder 80 Prozent pro Jahr
gebracht haben und noch weitere hohe Dividenden in Ausficht ftellen, aber es giebt
aud) eine Anzahl Shares ſehr zweifelhafter Natur, Shares von Minen, die noch
längft nicht in Betrieb gejeßt find oder bei denen die Wahrfcheinlichkeit dafür
befteht, daß fie wegen Armut der Erze oder befonderer Betriebsfchwierigkeiten
niemals Dividenden geben können. Solche minderwertige, von Schwindelfirmen
in Kurs gefette Shares laufen in großer Anzahl um, und der Krieg bietet den
unlauteren Gmittenten die willfommene Entjchuldigung, daß von Dividenden
natürlich feine Rede fein könne, bis die damned boers endgültig zu Boden ge-
worfen fein würden. Die große Menge der Inhaber ift thöricht genug, dies zu
Wilhelm von Kardorfi-:Wabnik, Ein Geipräh mit einem Nordamerifaner. 735
glauben, oder optimiftilch genug, um anzunehmen, daß gerade die Shares, die in
ihrem Befige find, noch auf eine glänzende Zukunft rechnen künnten. Diefe alle
glauben alfo, ein großes Intereſſe an der fiegreichen Durchführung des Krieges
zu bejigen. Ohne die durch die Aechtung des Silber hervorgerufene ftetige
Steigerung der Kaufkraft des Goldes würde meiner Meinung nad) die gute Hälfte
der ſüdafrikaniſchen Minen überhaupt feine Dividenden geben.“
Ego: Aber gerade diefe unfere alte Theorie von der durch Verallgemeine-
rung der Goldwährung ftetig fteigenden Kauffraft des Goldes, id est eines an-
baltenden auf alle Rohprodufte und Stapelartifel ſich erftredenden Preisdrudes,
war, wie Gie wiljen, die angefochtenfte aller unferer Behauptungen, mochten wir
ung auf die Autorität von Goldwährungsanhängern wie Giffen oder auf die Un-
fehlbarfeit der Sauerbedihen Preisftatiftit berufen. Und fchließlich ift der Gold-
reihtum Südafrikas ein jo großer, daß er die Gier ber Cecil Rhodes und Kom—
plizen gereizt haben würde, auch wenn durch die Konkurrenz des Silberö als
Münzmetall der jpezifiiche Wert des Goldes in den alten Grenzen geblieben wäre.
Mr. M.: „Vielleicht ja; — ic) beabfichtigte nur, Ihrer zu idealen Auffaffung
von der nationalen Opferwilligkeit des englifchen Volkes einen Kleinen Dämpfer
zu geben. Wäre diefe jo groß, jo könnte es nicht mit fo großen Schwierigkeiten
verbunden fein, Refruten für den Krieg anzuwerben.“
Ego: Troß diefer Schwierigkeiten fürchte ich, werden die Boeren ſchließlich
der Uebermacht unterliegen.
Mr. M.: „Weshalb? Die Lage der Amerikaner im Unabhängigkeitskriege war
jahrelang aud eine jehr ſchlechte; und Yriedrih der Große hatte nach dem
ihlinmen Jahre der Schladht von Hunersdorf eine größere Uebermacht gegen
fi, wie fie heute den Boeren gegemüberfteht! Ach bin noch fo altfräntifch, an gewiſſe
Imponderabilien in der Weltgefchichte — unter anderen an eine göttliche Welt:
regierung — zu glauben, deren Abfichten und Ziele ung ja verborgen bleiben, deren
Beftehen aber menfchlihe Wahrfcheinlichkeitsberechnungen ziemlich wertlos macht.“
„Jedenfalls hat das Preftige Englands einen ftarfen Stoß erhalten, es muß
heute mit gebundenen Händen zufehen, was Rußland in Afien, die Bereinigten
Staaten in Amerika und dem Stillen Ozean ins Werk ſetzen, um ihre Macht—
ftellung zu befeftigen. Mag der Transvaalkrieg auslaufen, wie er wolle: nad)
feiner Beendigung wird England ſchon in den Vereinigten Staaten in finanziellen
und wirtfhaftlichen Fragen einen Rivalen vorfinden, deſſen Bedeutung täglich
wächſt — ganz abgejehen davon, daß die Amerikaner, die Yranzofen, die Ruffen,
die Japaner und nicht an leßter Stelle unfer deutfches Vaterland inzwifchen in
den Belit von Kriegsflotten gelangt fein werden, die auc für England dann um
fo weniger eine quantite nögligeable fein dürfen, als doch eine Koalition ein-
zelner diefer Mächte nicht zu den Unmöglichkeiten gehört!”
Ego: Darf ich mit einer Zwifchenfrage kommen? Nach den amerikanischen
736 Wilhelm von Kardorff-Wabnitz, Ein Geſpräch mit einem Nordamerifaner.
Zeitungen ſcheint in den Vereinigten Staaten eine mir nicht recht verftändliche
Animofität gegen Deutichland zu beftehen. Wodurch ift diefe hervorgerufen?
Mr. M.: „Nur duch Preßpiraten, welde in engliſchem Intereſſe Deutjch-
land und die Vereinigten Staaten an einander zu hetzen ſuchen. Man fucht den
Glauben hervorzurufen, daß Deutſchland darauf verjejjen fei, in Südamerika
Kolonieen zu erwerben, um den Strom deuticher Auswanderer dorthin zu kon—
zentrieren, und nad) der heute etwas erweiterten, ganz Amerifa umfpannenden
Monroödoftrin leitet man daraus Eünftige Konflikte zwiichen Deutfchland und den
Bereinigten Staaten ab!“
Ego: Beftrebungen, deutiche Auswanderer nad) den dort fchon beitehenden
deutjchen Anfiedelungen in Südbrafilien zu dirigieren, beftehen unzweifelhaft, von
einem Wunſche, dort deutfche Stolonieen wie in Oft: und Weftafrifa zu erobern,
ift mir bis heute noch nichts befannt geworden. Wenn irgend melde deutjche
Kolonialſchwärmer vielleicht einmal ſolche Ideen haben laut werden laffen, fo
fann man diefe doch unmöglich fofort ernfthaft nehmen. Daß die deutjche Reichs:
regierung und der deutjche Reichstag fehr geneigt jein follten, zu unferen Eolo-
nialen Engagements in Oft: und Weftafrifa, China und dem Sunda-Ardipel
noch folde in Südamerika hinzuzufügen, ift fo außerordentlih unmwahrjcheinlich,
daß es mir doc kaum erflärlich ift, wie man ſolchen Konjekturen und Phantafieen
in den Vereinigten Staaten irgend eine Beadhtung ſchenken kann.
Mr. M.: „Sie ziehen nicht in Betradht, daß nad meinen Wahrnehmungen
die Amerikaner das leichtgläubigfte Wolf der Erde find, ſtets bereit, auf alle
möglichen Flunkereien einer gewiſſenloſen, fenfationsfüchtigen Preſſe hineinzufallen.
Es befteht für die amerikaniſchen Staatdmänner eine Hauptfchwierigkeit darin,
daß fie fortwährend mit populären Strömungen rechnen müſſen, deren Unver-
nunft ihnen nicht entgeht, deren fie aber gleichwohl nicht Herr zu werden ver-
mögen, denn der Einfluß der Brefie ift in den Vereinigten Staaten doch ein weit
größerer als in den europäiſchen Ländern. Glüdlicherweife befteht aber auch das
Gegengewicht gegen antideutfche Agitationen in der zahlreihen und einflußreichen
deutfchen Bevölkerung Amerikas, die noch mit taufend Banden am alten Heimat:
lande hängt! Aber meine Zeit drängt. Auf Wiederfehen im nächften Jahre!“
Ego: Hoffen wir zum mindeften, daß die grundlofe Animofität gegen
Deutſchland fid) bis zum Beginne der Berhandlungen über einen neuen Handels-
vertrag gelegt haben wird, die ohnehin Schwierigkeiten genug bieten werden.
Mr. M.: „Für diefe Verhandlungen ift es für Deutfchland von Vorteil, daß
bei den gegenwärtigen Handelsbilanzen, welche fehr zu unferen Ungunften und
zu Gunſten der Vereinigten Staaten ſtehen, die letteren fi) nicht wundern dürfen,
wenn wir ihr eigenes Syftem felbjtändiger ſehr hoher Schußzölle adoptieren, um
einen billigen Ausgleich der Ein- und Ausfuhrwerte zu finden. Ob die Ver:
bandlungen aber überhaupt ein Ergebnis haben werden, ift mir zweifelhaft. Die
Wilhelm von Kardorff-Wabnitz, Ein Gefpräch mit einem Norbamerifaner. 737
Yereinigten Staaten bedürfen einer Einfuhr vom Auslande kaum, denn fie können
alle notwendigen Konſumartikel jelbft produzieren und machen in der Fabrikation
aller Waren riefenhafte Fortfchritte. Bei der in Deutfchland vorherrfchenden
agrariichen Strömung ift e8 mir andererfeits nicht wahrfcheinlich, daß in Getreide-
und Fleifchzöllen nennenswerte Konzeffionen an die Vereinigten Staaten gemadıt
werden fünnen."
Ego: Der deutjche Reichätag wird für ſolche allerdings kaum zu haben fein
und wird fich jedenfalls durch die lächerliche Bedrohung mit einem Baummoll:
ausfuhrzoll nicht einjchüchtern lafjen. Andererfeit3 aber ftehe ich perjönlich noch
heute zu dem Bismardihen Grundfage, die Verquidung wirtfchaftlicher und
politiiher Fragen nit für zuläffig zu halten und das Erfaufen politischer
Bundesgenofjen durch wirtfchaftlihe Konzeffionen für einen groben Unfug und
eine große Thorheit zu erachten.
Mr. M.: „Sie denfen an die Handelspolitit des Grafen Caprivi und ihre
Motivierung, und ich bin geneigt, Ihnen im ganzen in Ihrer Auffaffung über die
Notwendigkeit des Auseinanderhaltens wirtfchaftliher und politischer Intereſſen
in der hohen Politik zuzuftinmen, und ganz in&befondere bezüglich unferer Politik
den Bereinigten Staaten gegenüber. So wenig diefe fih in ihren wirtfchaftlichen
Intereſſen durch irgend welche Nüdfichten auf das Ausland beeinfluffen laſſen,
jo wenig braudyen wir in unferer Wirtfchaftspolitik ihnen gegenüber ängftlich zu fein.”
„sn der übrigen Politik eriftieren zwifchen Deutfchland und den Vereinigten
Staaten gar feine Reibungsflächen, es wäre daher wunderbar, wenn die Bezie-
bungen zwiichen den beiden großen Kulturländern ich nicht dauernd zu immer
näheren und freundichaftlicheren gejtalten follten.“
Ego: Möchten Sie recht behalten!
9.
Aus dem „Anhang zu den Gedanken und Erinnerungen
von Btto Fürft von Bismard“.
„Ic danke Gott, da er mein Ber; lo geflimmt haf, denn Eurer Majeflät Buirieben-
heit habe idı eriwerben können, den Beifall der Andern aber Jelten und vorübergehend.
Id danke aber aucd Eurer Majefläf für die UHnmwandelbarkeit, mit welcher Allerhöchſt-
diefelben mir in dem langen Beilraum von mehr als pwanzig Jahren, unbeirrt durch die
Angriffe meiner Gegner und durch meine eigenen mir mohlbehannien Fehler, in den
ſchwieriglſen und in den ruhigen Zeiten Mets Ihr Bertrauen bewahrt und mir ein huld-
reicher Berr geblieben find. Weiler bedarf ich auf diefer Welf, neben dem Frieden mit
dem eigenen Gewiſſen vor Gott, nicht mehr. Gofles Segen ift mit Eurer Majellät
Regimen! gewefen und haft Eurer Majellät, vor anderen Wonardıen, die Großen ausge-
führt haben, den Borzug gegeben, dak Allerhöhftdern Piener mit Pankbarkeif gegen Eure
Majefläf auf ihre Pienflleiflungen zurückblicken. Pie Treue des Berrſchers erzeugt und
erhält die Treue feiner Piener.“
Aus: Unhang zu den „Gedanken und Erinnerungen’ von Otto Fürft von Bismard. Bd. l. Kaiſer Wilhelm 1.
und Pismard, Mus cineın Briefe Bibmarcks an Kaiſer Wilhelm ]. vom 25. Dezember 1889.
47
Telieiie
@ilelleileitelleilelleilciteiteiteileiiciieilciichieilcjichicjisiicäicjie,
Nleues aus Bismarks Werkitatt.
Ein Beridıt
von Eridı Mardks.
1. Anhang zu den „Bedanfen und Erinmerungen” von Otto Fürſt von Bismard.
I. Ratjer Wilhelm I. und Bismard. 360 ©. TI. Aus Bismards Briefmechfel. 567 ©. Stutt-
gart u. Berlin, Gotta.
2. Robert von Keudell, Fürft und Fürſtin Bismard. Erinnerungen aus den Jahren
1846 -1872. Berlin u. Stuttgart, Spemann. 497 ©.
D* der Genius auc über das Grab hinaus fein Volk immer von neuem beichentt,
das lient im feinem Wefen begriffen; es gilt vom großen Staatsmann ebenjo wie
etwa vom großen Dichter; es wird von Otto von Bismard gelten, wenn jemals von
einem Früheren: feine Thaten und jeine Art bleiben lebendig und fchaffen und wirken
unabläffig fort. In diefen erften Zeiten nad) jeinem Tode hat er uns überdies noch in
befonderem Sinne, fat alljährlid), mit ganz greifbaren Gaben feiner Hand überrajdt.
1898 find die „Gedanken und Erinnerungen“ herausgetommen, als fein unmittelbares
biftorifch-politiiches Vermächtnis; zwei Jahre darauf hat fein ältefter Sohn die uner-
ſchöpflich ſchönen Briefe an die Braut und Gattin veröffentlicht, die in Bismarcks perſön—
lichites Leben und Fühlen hineinblicen liegen wie nichts fonft; jekt bietet er aus dem
Nachlaſſe des Vaters über 700 Stüde von deffen Briefwechſel als „Beläge und Er:
gänzungen* der „Gedanken und Erinnerungen” dar, Stüde, deren Derausgabe der alte
Fürft noch jelber angeordnet hatte. Wir dürfen dem Fürften Herbert Bismard herzlich
dankbar fein, daß er jene Anordnung fo reich und jo bald verwirklicht hat. Er hat die
technifche Arbeit des Herausgebers diesmal, wie einjt bei den Denkwürdigfeiten jelbit,
in die zuverläffigen Hände Horit Kohls gelegt. Die Berdienfte all diefer Aus-
gaben, wie der früheren Kohlichen Publikationen, find oft und mit gutem Rechte
gerühmt worden; man braudt, um ihre Vorzüge, ihre ganze Bornehmheit angudeuten,
nur auf die bedauerliche Maffenproduftion hinzuweijen, an die der Name des Herren
von Poſchinger erinnert. Kohl hat Verweifungen und Erläuterungen beigefügt, die den
meiften Lefern nur etwas gar zu fparfam und gar zu fnapp erfcheinen werden; er hat
jedem Bande ein dankenswertes Negifter angehängt. Die Verlagshandlung*) hat dieje
*) Sie bat jett auch die 6 Bände des (feit 1899 erlofhenen) Bismard » Jahrbuches in
ihren Berlag übernommen. it es wohl erlaubt, ihr da den lebhaften Wunſch zu unterbreiten,
fie möge auch für die ‚Fülle der dort zerjtreuten Aftenftüde ein gemeinfames Regifterheft druden
laffen, das bie koftbare Sammlung erit in bandlicher Weife vermwertbar machen und das ihr
jeder Benutzer hoch anrechnen würde? Kohl, der ja den „Gedanken umd Erinnerungen‘ 1900
ein gleiches bat folgen laifen, wäre jicherlich bereit, auch fein Jahrbuch auf diefe Weile erit
völlig aufzufchliegen !
Erich Mards, Neues aus Bismards Werkitatt. 739
neuen Bände, wie den vorjährigen, ganz vortrefflich ausgeftattet; an die Klagen, zu denen
das Aeußere der Memoiren i. J. 1898 Anlaß gegeben hatte, gemahnt bei diefem „Anhange“
nichtö mehr als der Einband, den man nun freilich wohl gezwungen war, dem Mufter
des einmal vorhandenen Einbandes der „Gedanken und Erinnerungen“ anzupaffen.
Der Wert des neuen Geſchenks ift außerordentlid) groß. Es wird nicht aus-
bleiben fünnen, daß diefes oder jenes Stüd, diefes oder jenes Urteil hier oder dort
Mipfallen erregt; dafür ift Bismarck nun einmal Bismard. Der Hiftorifer nimmt
Alles, was ihm Hier geboten ift, mit ungemifchtem Wohlgefallen als einen reinen Gewinn
entgegen — aber das, jo meine ich, darf auch der Patriot.
Als „Beläge und Ergängungen der jelbjtbiographiichen Darftellung” bezeichnet das
Vorwort die neuen Aktenſtücke. Einen in ſich gefchloffenen Charakter trägt mit feinen
359 Nummern des Briefmechjeld zwiſchen Kaiſer Wilhelm I. und feinem Kanzler der erſte
Band; der zweite enthält in zeitliher Neihenfolge ein buntes Allerlei; in engeren Be—
iehungen zum Texte der Denfwürdigfeiten ftehen fie beide nicht. Man weiß ja, wie
zwanglos und teilweije zufällig die Kapitel der „Gedanken und Erinnerungen” entjtanden
find; zwanglos fügen ſich auch diefe Briefe, fei es in die Erzählungen, fei es in die Lücken
des älteren Werkes ein. Vieles Hauptjählihe natürlidy fehrt hier wieder. Im
Einzelnen erhält die Forjchung, die fih der Geſchichte Bismards ja früher, reichlicher
und ernfthafter hat bemächtigen dürfen, als wohl jemals der Gejchichte eines noch
Lebenden oder eben erſt Verftorbenen, eine Fülle von Stoff und zugleich von Aufgaben.
Sie wird dazu eingeladen, die Dokumente mit der Darftellung zu vergleichen, fie, bis
in die feinen Züge hinein, mit allem Befannten kritiſch zuſammenzuhalten und in Ber-
bindung zu ſetzen. An diefer Stelle handelt e8 fid) um ſolche Verarbeitung nicht; Streit-
fragen habe id; nur dann und wann im Vorübergehen zu berühren; ich wünſche hier
lediglich auf den allgemeinen Sfnhalt der Bände hinzumeifen.
Am unmittelbarjten erinnert der erjte an bejtimmte Abfchnitte der „Gedanken und
Erinnerungen”, zumal an das berühmte Kapitel 32: Kaiſer Wilhelm I. Fürft
Bismard hat gewollt, daß „das einzigartige Verhältnis, in dem er zu feinem Aller:
höchften Herrn ftand“, jo greifbar wie nur möglich veranschaulicht würde; es ift ja für
beide Männer das politifch entjcheidende und eines der perſönlich wichtigsten ihres ganzen
Lebens. Wir haben diefem Bewußtſein Bismard3 bereits früher, zu Kaiſer Wilhelms
100. Geburtstage, eine reiche Auswahl feiner Klorrefpondenz mit dem Kaiſer zu danfen
gehabt; auf Grund ihrer habe u. a. auch ich feit 1897, feit der erften Ausgabe meines
„SKaifer Wilhelm J.“, mid; immer von neuem bemüht, dieſes Verhältnis in feinem
Weſen und feinen Wandlungen zu erfaflen Jetzt haben wir an Einer Stelle den ge-
famten Briefwechſel — vollftändig oder doc faft vollftändig, wird man vermuten dürfen
— bor ung, wenigſtens joweit er in Bismards Händen geblieben ift, foweit er etiwa
nod) als ein „perfünlicher” Briefwechjel bezeichnet werden fann; das Bild, das wir und
bisher machen fonnten, wird bereichert, aber es wird beftätigt.
Ein ausgezeichnetes Bildnis des alten Herrſchers von 1863 — wenn ich nicht irre,
nad) einer Photographie aus Bismards Arbeitszimmer zu Friedrichsruh — ift dem Bud)
vorgejest, etwa 20 feiner Briefe, von 1852 bis 1887, und 3 von Bismard, find ihm, in
autographiicher Wiedergabe, eingeheftet worden: Blätter, die man glücklich ift, fo zu
47*
740 Erich Mards, Neues aus Bismards Werkitatt.
befigen. Man erftaunt, zu beobadıten, wie ungewöhnlich lange ſich Kaifer Wilhelms
Handſchrift ihre flüffigen und kühnen Züge faft ungeſchwächt bewahrt hat, bis tief in
die 80er SYahre hinein; noch der erite Brief des Mers fällt auf durd verhältnismäßig
große Friſche, und erft der leite, vom Dezember 1887, jpiegelt unmittelbar das jähe
Sinfen der Sträfte: der Schwung der älteren Zeiten dringt da nur noch eben hindurd).
Die meiften der Briefe find offenbar raſch hingeichrieben; man jpürt ed an Wieder:
bolungen und Fleinen Entgleifungen, zumal nad) dem Seitenwechſel: ein Zeugnis des
lebhaften innerlihen Auges, der dieje Feder leitete, und dem der Kanzler jelber
(G. u. €. II. 290) jo treffende Worte gewidmet hat. Das geiftige Bild des Monarden
vollend8 gewinnt durd) die neuen Briefe, wie es jeit langem durd jede Bereidherung
unjeres Willens immer nur gewonnen hat. Wieder tritt es auch hier in einer Menge
lebendiger, Eleiner Züge voll Menjchlichkeit, Liebenswürdigfeit und Heiterkeit vor den
Leſer hin; zumal aber jeine perſönliche Größe und die Stärfe und der Umfang feiner
politiichen Intereſſen zeichnen fich, manchmal überraihend, ab. Der König erfaßt
Inneres und Aeußeres mit jelbjtändigem und eindringendem Anteil: das gilt für alle Zeit:
räume, in die wir hineinbliden, beinahe gleihmäßig; und die Grundzüge feines politijhen
Fühlens und Urteilens find fräftig und pofitiv. Wie lebendig jpriht er in dem
Schreiben vom 21. März 1871, das den Stanzler in den Fürftenftand erhebt, in jeiner
ganz perjönlichen, altfräntifc umftändlichen und doch, wie Bismard gejagt hat, „ge
winnenden, ja begeifternden“ Art feinen Glauben an die Berufung feines Preußens und
an deſſen leitende Kräfte, „geiltige Entwidelung und Heeres-Organifation“, aus! Wie
ftark betont er feine proteftantifche und (im Gegenſatz zum Polentume) feine ſtaatlich
preußiſche Anjchauung! Und wie lehrreich und padend ift der Anblic von grundlegender
Uebereinftimmung und dod) immer neuer Abweichung, Nuseinanderfegung, von Zuſammen—
ftoß und Zuſammenwirken, in jeinen Beziehungen zu feinem gewaltigen Minifter!
Bismard ift und bleibt da überall der „Herbeiführer der mächtigen Ereigniffe“, wie ihn
der Saifer in einem Einzelfalle nennt: aber auch deffen Rolle ift, perfünlicd und ſachlich,
recht groß.
Ich zähle die Stadien der Yaufbahn nur auf, die hier beſonders erhellt werden:
in den 50er Jahren Gemeinfamfeit der Richtung gegen Defterreich, bald freilich ein
weites NAuseinandergehen in den Zeiten des Krimkrieges; doch hilft Bismard zwiſchen
König Friedrich Wilhelm IV. und dem Prinzen von Preußen, nad) ihrem heftigen
Konflikte im Frühjahr 1854, die Berfühnung vermitteln. Dann die Anfänge des großen
Minifteriums, 1863 und 1864 zumal, die Blütetage des Verfaſſungskampfes und die
Borbereitung und Durhführung des dänischen Krieges. In Alles greift König Wilhelm
da ein, Sleines und Großes, Formfragen und Lebensfragen; jeine Aufträge, Erkundi—
gungen, Bedenken, Mahnungen find ebenfo zahlreid; und fpeziell, wie lebhaft, ja erregt;
der Ton im erjten Jahre oft kurz und befehlend, faft militärisch; der Gegenſatz der
Tendenzen und Perſonen in der jchleswig-holfteinifchen Angelegenheit ift jchneidend: der
König deutich und auguftenburgiich, voller Sorge und Nergernis; der Minifter preußiſch—
anneftioniftiih. Und ebenfo im Frühjahr 1866 ein dramatifches Ringen, ein Drängen
und Wibderftreben, heftiges Aufbraufen und banges Ueberlegen; großartig hebt ſich in-
mitten diefer Kämpfe die Klarheit heraus, mit der der Minifter, dicht vor der Ent-
Erid; Mards, Neues aus Bismards Werfitatt. 741
icheidungsftunde, (2. Mai), die Yage Europas, die Menge der Gefahren und der Möglich-
feiten ütberichaut und darlegt. Schon 1864 ift der Abſchluß ein voller und großherziger
Dank an Bismard gewefen; feit dem dänischen Kriege hat fi überhaupt der Ton in
König Wilhelms Aeußerungen verändert. Amt 16. Juni 1866 folgt, nadı allen Schwan:
fungen, auf den Kriegsausbruch ein tiefes Aufatmen, ein raſch und frei auf das Papier
gerworfener Ausruf: „Jo find denn die Würfel geworfen! Gott allein fennt den Ausgang
diefes Anfangs! Entweder wir fiegen oder werden mit (Ehren ertragen, was der
Himmel über Preußen bejchliegt!!“ Und den einfach tapferen Worten, die in diefem
Munde einen lebendigen Sinn befigen, entfprady die That. — Aus den Jahren nad)
1866 hebe ich die Meinungsverfchiedenheiten über die Behandlung der neuen Provinzen
(1867) und über die Art der Bekämpfung des Defizits (1868) hervor. Die langen Briefe,
die der König dieſer zweiten Frage widmet, gehen in unerwartetem Make in das
politische, faft in das technifche Detail ein und bemühen ſich mit rührender Beicheiden-
heit, den Minifterpräfidenten fachlich) zu überzeugen. Als Bismard dann nachgiebt,
dankt ihm der König in überftrömenden Wendungen, die man (S. 183) nadjlejen und
auf fich wirken laffen muß, jo gang königlich und doch fo ganz herzlich und freundichaft-
lih: man begreift an ſolchen Stellen erft jo recht von innen heraus die Piebe des großen
Dieners zu diefem Herrn und weshalb er (1869) „die Kämpfe gegen den König gemütlich
nicht aushalten konnte“. Den Schriftenwecjel, in dem die Kämpfe diefer Jahre gipfeln,
der an Ujedoms Entlaffung anfnüpft und Bismards eigenen Rüdtritt diskutiert (S. 189 bis
19), haben wir bereit3 früher gefannt: beide Männer erjcheinen in ihm in ihrer, vollen
Eigenart. Die Briefe aus den 70er und 80er Jahren enthalten manderlei Neues für
die Weife, wie innerhalb des immer zarter und perjönlicher gewordenen Verhältniffes zum
Reichskanzler der Kaijer fi doch auch jett noch ftet3 wieder zur Geltung bradite in
Fragen der forgfältig verfolgten parlamentarifhen und der großen europäiſchen Politik
und auch des jpeziellen diplomatifchen Dienstes; wie Bismard ihm die Dinge vortrug und
flug nahebrachte und feinen eigenen Stand mwahrte, aber auch wie der König jelber in
fie hineinſprach. Da wird, neben bezeichnenden Korreſpondenzen über Falk und die evange-
liche Kirche, jenes „ungewöhnlich ungnädige* Schreiben vom Ende Dezember 1877 ab—
gedrudt, das fo fchroff in die Verhandlungen über Bennigjens Eintritt in das Minifte-
rium bineinfuhr; da aber auch ein eindringliches Mahnmort des Kaiſers gegen die Auf:
hebung des Eiſenzolls (Juli 1876), das zu den überrafchenditen und wichtigften Stüden
des Werkes gehört. Aus den ſchon anderwärts (bei Buſch, Diary III) vollftändiger,
aber in Ueberſetzung gedrudten Akten über die ruffiihe Kriſe und das öſterreichiſche
Bündnis von 1879 erhalten wir im 2. Bande einige der bedeutfamften im urfprünglichen
Wortlaute; es ift alfo von dem, was Saifer und Kanzler auch in diefer Zeit nod)
gegeneinander trieb, nichts unterdrüdt. Dennoch überwiegt in immer jteigendem Maße
der Eindrud der Einigkeit und Einheit; und man lieft, in diefer vervollftändigten
Sammlung, mit erhöhten Genuffe, ja ih darf jagen mit Erbauung und fajt mit
Andacht, die wundervollen Briefe, in denen fich ung, feit jener erften Publikation im
Fahre 1897, das innerliche Zufammenleben der beiden hohen Männer im letzten Jahr—
aehnt ihres gemeinfamen Dafeins jo reich und jo ergreifend enthüllt hat, Zeugniffe wahr:
haftiger Größe im Ausdrudfe des Dankes, der Liebe, der freien und ftolzen Hingabe,
742 Erich Mards, Neues aus Bismards Werfitatt.
der durchaus gegenjeitigen Treue, Zeugniffe eines reinen und heroiſchen Verhältniſſes,
das in den Yubiläumsbriefen vom Herbſt 1887 eine lekte große Weihe und in dem
rührenden Schreiben des bereit8 hinfterbenden Greifes über Sohn und Enkel vom
23. Dezember feinen wehmütigen Ausklang erhält. Ich kann nur glauben, daß, ganz
abgejehen von aller Einzelbelehrung, diejer erjte Band durch feinen fittlich-perjünlichen
Sefamtinhalt, bei voller hiftorischer Wahrheit, harmonisch und erhebend wirkten muß:
man darf fich feiner, in jeglichem Sinne und ohne irgend eine Trübung des Gefühles,
freuen. —
Berhältnismäßig wenig und kaum etwas wirklich Neues erfahren wir von Bis:
mards Stellung zur Kaijerin; ftark in den Vordergrund tritt dagegen, ganz im Sinne
der „Gedanken und Erinnerungen‘, aber mit mehr Details als dort, diejenige zum ron:
prinzen, Friedrih Wilhelm.
Wir jehen die fühle, immerhin noc höflich abwartende Haltung des Prinzen aus
der erſten Minifterzeit bereits 1863 in eine jcharfe Oppofition übergehen, die in den
Auseinanderjegungen nad Friedrich Wilhelms Danziger Proteftrede die Grenzen der
Höflichkeit ſchon beinahe überjpringt; 1864 folgt die Abweichung über das Scidjal
Schleswig-Holjteins; nach dem glänzenden Siege der Bismarckſchen Politik ſchreibt ihm
der Kronprinz am 18. November den vielfagenden Sag: „mit unjerem Könige freue ich
mich über feine und feines tapferen Heeres Erfolge, und mache Ihnen mein Kompliment
über das Glück, welches Sie in der Herzogtümer- wie in der Zollvereinsfrage auf Ihrer Seite
hatten“! Der fo ironifh Gelobte hat darum nicht aufgehört, dem Thronerben mit
vielfältiger Rüdficht zu begegnen; der Krieg von 1866 führte fie dann einander näher,
und nad) dem Friedensichluffe fanden fie ji (Anfang 1867) in dem gemeinfamen Hin—
ftreben auf die deutiche Einheit. Bon da ab drlüden die Briefe Friedrich Wilhelms
zwar nicht immer unbedingte Zuftimmung, wohl aber Vertrauen und Freundlichkeit aus;
nad) 1871 ein paar Empfehlungen perjünlihen Inhalts; die eine davon hat jüngst den
Proteſt der Söhne des von Bismard in feiner Antwort an Friedrid Wilhelm jcharf
beurteilten Geffdten im Gefolge gehabt. Im übrigen berichtet der Bring von Eindrüden,
die er im In- und Auslande in fi) aufgenommen hat, deutet jeinen Wunſch an, Statt-
halter des Reichslandes zu werden, tritt 1885, als der Kaiſer ſchwer erkrankt, unmittelbar
und durch General von Albedyll mit dem leife zurüdhaltenden Kanzler in nähere Be—
ziehungen, in Beiprehungen über ein Zuſammenwirken in der Zufunft ein. Das Bild,
das diefe Briefe von dem Fürſten erkennen laffen, der abberufen wurde, ehe er jein
eigentliches Peben beginnen durfte, ift nicht jo farbig und fo plaftifch, wie das feines
Vaters in den Alten des 1. Bandes. Seine Sprade ift meiftend furz, felbft da, wo er
freundlicher redet; es ift nicht die ganze Perjönlichkeit, die ſich enthüllt, es find nur die
Beziehungen zu Bismard, und auch diefe nur eben, foweit er fie in feinen Briefen an
jenen zum Ausdruck kommen läßt. Selbſt über diefe Beziehungen aljo geftattet das uns
bier vorliegende Material wohl ein jo volles und Flares Urteil wie über die Kaiſer
Wilhelms 1; aber das ift wohl wahr, daß eine nicht nur Äußerlie Annäherung, und
zwar von beiden Seiten, im Laufe diefer Beziehungen ftattgefunden und daß ſich auch
der Kronprinz in jo mandhem zu Bismard hin entwicelt hat.
Schlufartifel folgt.)
SO EOO9O9OS
Zur Heidelberger Schloßfrage.
Don
Cornelius Gurlitt.
D: Frage, ob der Dtto Heinrichs:Bau des Heidelberger Schloffes, wie die badifche
Negierung beabfichtigt, mit einem Dad) verfehen und reftauriert werden oder ob
er als Ruine ftehen bleiben foll, beihäftigt viele Kreife unjeres Volkes. Die Anfichten der
Techniker ftehen fich gegenüber. Für beide Richtungen find Fachleute eriten Ranges
eingetreten. Zunächſt ein paar Worte über die technische Frage:
Seit 350 Jahren fteht die Faſſade des Otto Heinrichs-Baues, feit 200 Jahren als
Ruine — und troßdem wird ihr Zuitand noch für jo gut befunden, daß man auf fie
14 Meter hohe Giebel zu bauen beabfidhtigt. Die Freunde der Reftaurierung machen
die Welt damit bange, daß der Wind die Faſſade umwerfen werde, daß fie fich nad) vorn
ausbiege. Sie hat fi) infolge des letten Brandes ausgebogen, jeit 200 Jahren aber
den Winden Troß geboten, ohne jid) zu rühren. Der Friedrichs-Bau im felbigen Heidel—
berger Schloß, obgleich er jünger ift und ſtets bedacht war, ift eben erſt reitauriert
worden! Ihm hat das Dad aljo nicht viel genükt.
Was ift denn an einer Faffade überhaupt zu ſchützen? Einesteils die Mauermajfe,
andererjeit3 deren Außenanficht, die Haut der Mauer. An der Maife jelbft liegt nichts,
nur die Art der fünftlerifhen Behandlung der Außenjeite giebt dem Ganzen Wert. Der
Reiz diefer Behandlung liegt in den Feinheiten des Meikeljchlages, in der individuellen
Behandlung des Steined. Die Fafjade des Dtto Heinrichs-Baues ift genau aufgemeffen,
fo daß man fie, wenn fie verfchwindet, wieder neu aufbauen könnte und zwar derartig,
daß ihre neue Geftalt ſich vollftändig zwar nicht mit dem urjprünglichen Buftand, wohl
aber mit dem Bilde deden würde, das die reftaurierte Faſſade bieten wird. An diejer
— der Friedrichs-Bau beweiſt es deutlich — wird man nicht mehr erfennen können, was
alt und was neu ift; die Faſſade hat ihren Wert als arditektonische Urkunde ebenfo
jehr eingebüßt wie den Reiz des Alters. Wieviel alte Steine noch in dem Gefüge
der Mauer belaffen find, ift ebenjo gleichgültig, al8 ob fid) unter einem ganz übermalten
Bilde noch einige Mefte des alten befinden: Das Werk ift Kopie — fo oder jo!
Das ift eben die ungeheure Verfündigung der Reftauratoren, daß fie einen Bau
„erneuern, fo lange er im alten Zuftand noch zu halten ift, daß fie es jo erichredlich
eilig haben, das Alte in ihrer Weije zu idealiiieren. Man halte den verfallenden Bau
feit, jo lange als möglich, bereite die Möglichkeit vor, ihn durch eine Nachbildung zu
erjegen, aber bilde ihn nicht nach, jo lange er nicht wirflih völlig verfallen if. Zur
744 Gornelius Gurlitt, Zur Heidelberger Schloffrage.
Erhaltung des Ganzen dede man die Mauerfrone mit Platten ab, bejeitige man ſolche
Steine, die dur; ihren Zerfall den Beftand des Baues gefährden, und jege an ihre Stelle
gefunde, in den urjprünglichen Formen nadjgebildete, aber nur dort, wo der Verfall in
die Mauerförper eingedrungen ift, nicht dort, wo bloß das Aeußere beſchädigt iſt. Ab—
brödelungen einzelner Ornamente und Gefimsteile find nicht zu erjegen; dem alten Bau
find feine Runzeln zu laſſen.
Ach kenne zahlreiche, von Männern der Praxis und der Kunſt an Behörden erftattete
Gutachten über die Mittel, wie der Stein öffentliher Bauten und Denkmäler gegen
Witterungseinfluß zu ſchützen jei, aber von einer abichliegenden Beantwortung der Stein-
fonfervierungsfrage find wir noch weit entfernt. Der zum Ausbeflern empfohlene Gement
greift die Nachbarſchaft an, das Anftreichen mit Delfarbe, Waflerglas u. j. mw. hat fait
immer den Nachteil, daß der Bau in feinen Formen ftumpf ericheint, daß man den
Schlag bes Steinmeken nicht mehr erfennt. Man fieht den Bauftoff nicht mehr, das
Werk fieht aus wie ein Abguß feiner ſelbſt. Damit geht ein wejentlicher Teil feiner
Wirkung verloren. Dies geihieht auch durd) das beliebte Mittel der Reitauratoren,
das „Abjcharrieren“, das heift das Mbarbeiten des morſch gewordenen Eteines
bis auf feinen noch gejunden Kern. Dan ermwedt den Anjchein der Gejundung des
Steins, zerftört aber die feineren Reize der uriprünglichen Bearbeitung, erjett fie durch
moderne Arbeit.
Bei diefer Bedenklichkeit der Reftaurierungsmittel ift e8 vor allem nötig, fich darüber
flar zu werden, was benn eigentlid an einem alten Bau des Erhaltens wert ift, der
einen geiftigen Wert, aber feinen Zweckmäßigkeitswert mehr hat. Diefer Wert kann
entweder ein Fünftleriicher oder ein Funftgefchichtlicher oder ein fulturgefchichtlicher fein,
auch oft in allen drei Richtungen gefunden werben.
Hat das Werk noch einen derartigen Zweckmäßigkeitswert, daß zwingende
Gründe dazu führen, ihm eine neue Beftimmung zu geben, jo ift die neue Zeit im Recht,
wenn fie den Bau nad) ihren Bedürfniffen umgeftaltet, das alte Baumefen zwar foviel
als möglich erhält, aber mit dem gejunden Beitfinn vergangener Nahrhunderte ſich nadı
ihrem Geſchmack darin einrichte. Dem Künſtler ftellt fi) die Aufgabe, die Härte der
Gegenſätze zu jchönheitlicher Wirfung aufzuldien. Der Reiz der meiften alten Bauten
befteht ja in der Mifchung verjdjiedener Stile, in dem klaren Bekennen des geichicht:
lihen Werdeganges. Nie ift es einem alten Meiiter eingefallen, im Stil eines ver-
gangenen Jahrhunderts zu fchaffen. Und fie veritanden doch auch etwas bon Kunſi!
Und ihre Werke find doch fo übel nicht!
Um jo mehr foll man endlich mit den „Itilvollen” Anbauten und Ausbauten bei
Baumonumenten aufhören, die lediglich einen geiftigen Wert befiten. Man belügt mit
ihnen die Zukunft, verleugnet die Gegenwart und fälfcht die Vergangenheit. Man
verfündigt fi) am Geift der alten Meifter, die eine folche Selbfthingabe einfach verhöhnt
hätten. Man mendet dagegen ein, daß unjere Zeit eigenen Stil nit habe. Diejer
Einwand kommt aber ftet3 zuerft von jenen, die Zetermordio jchreien, wenn irgendivo
eine moderne Kunftbewegung den Kopf zu erheben verſucht. Wären dieſe ftarren
Stiliften nicht, vielleicht hätten wir jchon einen eigenen Stil, der keineswegs in grund-
jäglicher Ablehnung alter Stilformen zu bejtehen braucht.
Eornelius Gurlitt, Zur Heidelberger Schlohfraye. 745
Unſere Stiliften bauen ihre Kirchen und Schlöffer fo „echt", daß fie von einem
reftaurierten alten Bau ſelbſt von Kennern oft nicht zu unterjcheiden find. Und fie find
nod) jtola darauf, wenn man auf ihre arditektonifchen Unmahrheiten bineinfällt, ftatt
fich in tieffter Seele zu ſchämen, wie dies etwa ein Fälfcher eines Murillo oder Tizian
thun würde Ein Künſtler follte do ein Mann fein, der der Welt etwas Fünftlerifch
Eigenes zu jagen hat. Nun fpridht er aber nur die Weisheit eines anderen, längft Ver—
ftorbenen nad und freut fich, mit deſſen Geift und Sprache zu reden. Ich möchte das
Gelächter eined ins Leben zurüdgerufenen alten Steinmegen mit anhören, wenn ber
moderne gelehrte Herr Geheime Baurat ihm erklärte: Herr Kollege, glauben Sie nicht,
daß ich mit meinem Geift fchaffe, jondern ic) arbeite mit dem Ihrigen.
Dieje Kunſt aus der vierten Dimenfion fängt nachgerade an herzlich langweilig
zu werden. Alle Kinjtler der Welt haben fie abgelegt, nur die ftilvollen Architekten
boden noch auf ihren altertümelnden Grundjägen.
Das Heidelberger Schloß hat feine Geſchichte. Dieje brachte es zu Fall. Die
Geſchichte ift nicht rühmlich — nicht für Deutichland und nicht für Frankreich. Aber in
zwei Jahrhunderten ift die Ruine als furdhtbare Anklage gegen Deutſchlands Zerriffenheit
zur Urkunde geworden, die laut und eindringlich zur Welt ſpricht. Baut man das
Schloß aus, jo wird es zu einem Denkmal Eurpfälziiher Fürften, deren Staat nicht .
mehr bejteht, und zum Denkmal der rüdftändigen Kunſtanſchauungen von 1902. Mit
vielen Koften wird ein fchlechtes Tauſchgeſchäft gemacht, große ernſte, weltgeichichtliche
Erinnerungen werden gegen zweifelhafte Werte umgeſetzt.
Inzwiſchen find die Pläne für den Umbau veröffentlicht worden, die auch Die
umbaubegeiitertften Arditeften ernüchtern müffen. Die Faſſade des Otto Heinrichs:
Baues hat in ihren zwei Obergeſchoſſen 20 etwa gleichwertige Feniter. Nun jollen durch
die beiden Geſchoſſe der neuen Giebel die Zahl jolcher Fenfter auf 32 vermehrt werden.
Dede Langeweile gähnt uns aus dem Entwurfe an, die Stilgerechtigfeit offenbart ſich
in einfahem Nahahmen der Motive der Untergeſchoſſe. Die Faffade wird mit den
Giebeln etwa 35 Meter hoc), hat aljo Abmeffungen, die zur Hofbreite fich fo verhalten,
daß die Baupolizei fie mit Recht beanftanden müßte, wo für Luft und Licht reichlich
Sorge zu tragen ift. In einer veröffentlichten Perjpeftive, in der der Hof nad) den
neuen Entwürfen dargeftellt wird, find wohlweislich diefe Giebel etwa 31, Meter
niedriger eingezeichnet als in dem zur Ausführung empfohlenen Plan, der alle übrigen
Bauteile rings um den Bau künſtleriſch maufetot ſchlagen würde!
Nun ſtützen ſich die Reftauratoren darauf, daß ſolche Doppelgiebel auf Ab—
bildungen vorhanden find, die 50 Nahre nad) Fertigftellung der gegenwärtigen Faſſade
entitanden. Aber felbjt wenn fie vom eriten Architekten geichaffen worden wären, —
was mir jehr unwahrſcheinlich ericheint — To lag eben die Sade für ihn ganz
anderd. Damals, um 1550, bejtand der Friedrichs-Bau noch nicht, war das Verhältnis
der einzelnen Hofflügel zum Otto Heinrich3:Bau ein anderes als heute. Ein jpäterer
Architekt, der im 17. Jahrhundert unter ähnlichen PVerhältniffen wie heute den Dtto
Heinrihs-Bau geftaltete, brach daher die jett wieder beabfichtigten hohen Doppelgiebel
ab und jeßte zwei beicheidene, zum Ganzen pajjende Giebel an deren Stelle, von denen
746 Cornelius Gurlitt, Zur Heidelberger Schlohfrage.
ſich noch Reſte erhielten. Das war höchſt verftändig und echt fünjtleriich von dem
Manne, und id; rate, wennſchon ein Dad) mit itilvollen Giebeln auf den Bau gebradjt
werden joll, „im Geiſte“ diefes Meiſters zu jchaffen.
Das Richtigſte ift, jo wenig als irgend möglich Neues hinzuguthun, was geeignet
fein könnte, den Gejamteindrud des Beltehenden zu verändern. Sobald ein Bau fertig
geitellt ift, beginnt jein Verfall. Mit diefer Thatſache müßten wir uns, wie mit unferer
eigenen Vergänglichkeit, abfinden, womöglich mit einiger Würde. Iſt e8 nun verftändig,
das vorhandene köſtliche Kleinod, wie es Hunft, Geſchichte und Natur geftaltet haben,
durd; Zmeifelhaftes zu erjeßen, da dieſer Erjag vielleicht noch ein, zwei Jahrhunderte
hinausgeijhoben werden fann? Nur die fichere Erkenntnis würde gewonnen werden,
dak der Eingriff voreilig war, der uns Nahahmung für das Echte gab.
©
In medio veritas.
Ausgang. Zielpunkt.
Wenn Wlabrbeit in der Mitte läge, Im Aittelpunkte brennt das Welten«
gingt ibr nach rechts nur oder links, teuer:
und jedem läge fie am Wege Wer's in ficb bat, dem glückt das
als eine Schenke, nicht als Sphynx. Abenteuer.
Ulegweiler.
Die Welt ift Reine Mache Schnitte:
„Die Welt ift rund und mufs fich dDreb’n‘‘;
fucht ibr die Wabrbeit in der Bitte,
müfzt ihr zum Adittelpunkte geb’n.
Irrung.
Wo ift der ABittelpunkt der Welt?
gedwer dafür fich felber bält:
er drebt fich ber, er drebt ficb bin
und meint, die Welt dreht fich um ibn,
$bn brennt es nicht, was ibm zur
Leucte frommt,
wenn folcher einmal zu ſich felber
kommt.
Beimkehr.
Wobin ibr nach der Wlabrbeit gafft,
das Wort des beilands bleibt in Kraft:
„Es Ift nicht dort, nit da, nicht bier,
Das bimmelteich, es ift in Dir.“
Nachwink.
Doc nicht im Adeinen und im Scheinen,
im Zeitlich=Vielen, Selbftig- Kleinen:
nur im Unendlichben der Bruft,
das Bott ergreift in Glaubensluft.
hans Freiberr von Wolz3ogen.
GAEEOEAEEODO
Die Knabenhandarbeit und die volkswirtichaftlihen und fozialen
Aufgaben unierer Zeit.
Von
Peter 3essen.
Ww heute den deutfchen Knaben zum Manne erziehen will, der muB auf die Stimme
der Beit laufchen. Denn es gilt, die Jugend nicht nur für die Gegenwart zu be:
reiten, jondern auc für die Zukunft, für Aufgaben, die wir noch nicht im einzelnen
fennen, Die wir aber im ganzen doch ahnen und vorausjehen mülfen. Der Erzieher
muß fich fragen: wohin wird fich die Arbeit unferes Volkes richten, welde Gefahren
werden und drohen, und wie werden fie in das Leben des Einzelnen einjchneiden?
Bon dem politiihen Werk der Nation ift das erite, jchwerfte Stück gethan. Heute
ringen wir unter und und mit unferen Nachbarn um wirtjchaftliche und joziale Güter.
Was wir erleben, find nur Borpoftengefechte; wir fühlen, daß die großen Schladten
fid) vorbereiten, in denen das Wohl und Wehe des deutihen Volkes auf dem Spiele
ftehen wird. Die Zeichen mehren fid) mit unheimliher Schnelle. Noch eben jubeln mir
über den ungeahnten Auffhtwung unſeres Wohlitandes; da reckt ſich drohend die junge
Rieſenmacht jenjeits des Ozeans und leuchtet im fernen Djten die „gelbe Gefahr” auf, die
fürdhterliche Konkurrenz der Hunderte von Millionen, deren Handgeſchick und Kunſtfertig—
feit wir von je bewundert haben. Für uns giebt es fein Ausweichen mehr; wir müſſen
fümpfen, um unferem Volke Wohljtand und Macht, unferen Arbeitern Brot zu jchaffen.
Es liegt auf der Hand, wie ſchwer bei diefem Wettbewerb die technifchen Fähig—
feiten, das manuelle Geſchick der Völker ins Gewicht fallen werden. Die Intelligenz
allein kann den Sieg nicht erzwingen. Der findige, gelenfe, flinfe Arbeiter bildet die
Truppe, auf die e8 anfommt. Wir brauchen um unferer Zukunft willen ein handfertiges
Bolf, und um eines ſolchen Volkes willen eine handfertig geübte Jugend. In den
Händen, die bis zum Beginn der Werkftattarbeit, bis zum 14. Lebensjahre, brad)
liegen, ftumpfen ſich die feinjten Organe ab, — das weiß ein jeder von der Mufif her.
Und zudem mwerden der jugendlihe Arbeiter und der Handwerkslehrling heute meift jo
einfeitig bejchäftigt oder gedrillt, daß ihre Hand und ihr Auge für die vielfeitigen An-
jprüche ihrer Lebensarbeit faum vorbereitet werden. Da iſt es Pflicht, bei den Stnaben
einzujeßen, ihnen, den Willigen, Arbeitsfrohen, Gelegenheit zu ernſthafter praktischer
Bethätigung zu ſchaffen, ihre angeborenen Werkzeuge zu üben, von denen im harten
Leben und im erbitterten Wettlampf ihre Zukunft abhängen wird.
748 Peter Zeilen, Die Knabenhandarbeit und die Aufgaben unferer Zeit.
Aber wir brauchen noch mehr. Entſcheiden wird für den Einzelnen nicht nur jeine
Geſchicklichkeit, ſondern aud) fein Schaffendmut, die Kraft und Luft zur That. Die Luft
zur That, fie tet ja in jedem Knaben. Der Erzieher fieht mit Wehmut, wie dieje
köſtlichſte Mitgift der Jugend heute — vor allem in unjerem unfeligen Stadtleben — er:
tötet oder mißleitet wird. Diefe Luft zu erhalten und zu ftärfen, fie zu leiten zur
nüglichen, erfrifchenden Arbeit, das ift ein innerfter Berveggrund für die Freunde der
Dandarbeit. Dieje Luft leuchtet uns entgegen aus den Augen aller Knaben, denen wir
in den Schülerwerfftätten und Unterrichtsftuben ein Werkzeug in die Hand gegeben
haben. Die Jugend bringt uns einen gewaltigen Schatz von Thatkraft zu. Dielen
Schatz müſſen wir heben und pflegen, ehe e3 zu ſpät wird.
Daran ift nit nur die Nation als Ganges beteiligt, jondern ein ungeheurer
Brudteil unjered Volkes auch mit feinem perſönlichſten Weſen. Am deutichen Volke
leben 86 Brozent in produftiven Berufen, von ihrer Hände Arbeit. Und 40 Prozent
der Gejamtheit gehören der Anduftrie oder dem Handwerf an. Alle diefe Millionen
verdienen ihr tägliches Brot mittelft der Organe, die die heutige Erziehung noch unent-
widelt läßt, und die der Arbeitsunterricht in ihr Recht einzuſetzen tradjtet. Hand und
Auge find die Inſtrumente für alle diefe Millionen, für alle Schichten und Grade dieſes
gewaltigen, ſchaffenden Heeres. Die Führer, die Peiter der Betriebe, die Ingenieure, die
für die Wohlfahrt der Taufende verantwortlich find, follen die Arbeit des Einzelnen nicht
nur beauffihtigen, fondern auch vormachen und praftiich beherrichen können. Jeder
einzelne Soldat oder Rekrut der großen Armee fteht mit Auge und Hand für fi ein.
Die Mafchine hat diefe Anfprüche nicht herabgedrüdt, jondern erheblich gefteigert. Wer
mit der Hand den Hobel führt, kann ſich gemächlicyer gehen laffen, als wer das rajtlofe,
gefahrvolle Meſſerwerk bedient. Ihnen allen ift die frühe Uebung gleich fegensreih und
nötig. Das haben einfichtige Großinduftrielle längſt erkannt, indem fie für ihre Betriebe
eigene Schülermwerfftätten errichtet haben.
Nocd mehr muß fid) der jelbftändige DHandwerfer auf jeine Hand und jein Auge
verlaſſen fünnen. Will er nicht zum Flickarbeiter herabfinfen, fo muß ihm alles daran
liegen, feine praftiihen Anlagen frühe geübt zu haben. Heute behauptet fi) nur der
tüchtige Meifter, der durch feine befonderen Fähigkeiten, durch hervorragende Peiftungen
in der Einzelarbeit oder im Künſtleriſchen es mit der Maffenware aufnehmen ann.
Aufgeflärte Handwerker jehen deshalb in dem Arbeitsunterricht eine ftarfe Stütze für
fih und ihren Nachwuchs. Sie wiffen lange, daß dieſer Unterricht ihnen feine Kon—
furrenz macht, da er nirgends für den Berfauf arbeitet, und daß er ihnen nicht etwa
Pfuſcher erzieht, da er nie für ein beftimmtes Gewerbe fchulen till, jondern die fachliche
Ausbildung des Lehrlings mit ihren ganz anderen Anſprüchen durhaus der Werfitatt
und dem Meifter überläßt.
Aber das Handwerk zieht noch einen tieferen Gewinn. In den Schülerwerfftätten,
vor feiner Schnit« oder Hobelbanf und feinem Schraubftod, wird der künftige Käufer
und Beiteller, der Konfument, mit den Schwierigkeiten und dem Wert der Sandarbeit
vertraut, lernt die Stoffe und Techniken kennen und gute Arbeit fchägen und von
Pfuſcherei untericheiden. Das fogenannte Bublitum gilt heute als der Feind der ehr-
lichen Arbeit ; dieſes Publikum zu beſſern ift eines der fefteften Ziele des Dandarbeits-
Peter Feilen, Die Knabenhandarbeit und die Aufgaben unjerer Zeit. 749
unterrichts. Wie jehr dies vor allem dem Kunftgewerbe zu gute fommt, wird jpäter im
Zuſammenhang mit der Kunſt beiprocdhen werden.
Aber nicht allein im Gewerbe find die praftiichen Anſprüche an den Einzelnen jo
mächtig gewachſen. Auch der Kaufmann muß heute nit nur feine Ziffern oder die
Rohftoffe kennen, jondern aud) die oft jo Fünftlichen Fabrifate, die er zu Gunſten unferer
nduftrie vertreibt. Im Verkehrsweſen tritt überall die mechanische Kraft, von kundiger
Hand geleitet, an die Stelle der alten, behaglichen Betriebsmittel; man braucht nicht zu
fragen, wer feiner Sinne ficherer fein muß, der Lofomotivführer oder der Laftfuhrmann.
Selbft in der Landwirtichaft find mit dem intenfiven Betrieb, den Maſchinen und der ge-
werblidhen Nebenarbeit die mechanijchen Anfprüche von Tag zu Tag gewachſen; der ein:
fichtigfte Landwirt ift ohnmächtig ohne technifch fähige und geſchickte Helfer.
Wer dieſe wirtfchaftlihen Mahnungen unferer Zeit verfteht, wird nicht ohne Be—
denfen hören, mit welcher Energie und mit welchen Mitteln gerade unjere Konkurrenten,
die Frangofen, die Engländer, die Amerikaner, den Arbeitsunterricht aufgegriffen und
gefördert haben mit dem ausgejprocdhenen Zweck, die Ermwerbsfähigkeit ihrer Nation zu
jteigern. Wollen wir unfere Niederlage abwarten, ehe auch wir uns rüften?
Zu dem wirtfchaftliden Gewinn aber gejellt fid) ein weiterer, der fi) nicht nur
in den Biffern der Handelsbilang ausdrücden wird. Es handelt fid um ein noch köſt—
liheres Gut, um den Frieden in unferem Bolfsleben. Wir jehen es täglih: es klafft
ein Abgrund zwiſchen denen, die mit ihrer Hände Arbeit ſich ernähren, und den geiftigen
Arbeitern. Die in der Schreibftube ſitzen, haben faft die Sprache derer verlernt, Die
in der Werkſtatt ſchaffen; der Arbeiter ballt feine Fauft gegen den feinen Mann, den er
für einen Faulenzer hält. Einen Teil diefer Mikverftändniffe wird die gemeinjame,
fröhliche Werfkthätigfeit der Sinaben zu heben vermögen. Der Sopfarbeiter lernt dort
frühe die Handarbeit üben und ehren; der Handarbeiter wird es willen und empfinden,
wie man aud in den geiftig leitenden Streifen feinem Berufe die Ehre giebt und die
Schreibſtube nicht für den einzig würdigen Arbeitsraum hält. Aus den Beſuchern der
Schülerwerkftätten werden dem Handwerk und der Induſtrie Kräfte zuwachſen, die bis-
ber nur von gelehrten oder jchreibenden Berufen mußten.
Aber der eigentlihe Fluch unjerer Tage ift doch der, daß die Arbeit nur als
Ware bewertet und als Bein empfunden wird, fie, die für jeden Glücklichen die Quelle
höchſten Glückes und Genuffes bilden, die für jeden Schaffenden zum mindejten ein Stolz
und eine Freude fein follte Wenn wir in der weidhen Seele des Knaben, diejes In—
begriff fröhlicher Thatenluft, der Freude am praftiihen Schaffen Raum gewinnen, jo
wird ein Hauch dieſes Frohmuts, eine Erinnerung an den Segen der Urbeit aud) in die
Manneszeit hinüberwehen. Und es mag dann wohl hie und da die Luſt an freier
Werfthätigkeit, wie einft in unferer Vorzeit, aud) in dad Haus und die Familie ein-
ziehen, eine weitere Frucht der Knabenhandarbeit, deren wir für unſere Volkswirtſchaft
wie für unfere jozialen Aufgaben fo dringlich bedürfen.
S
LOLILILILILILILILILILILILILILILILILILILILILILILILILITIT9
Monatsichau über auswärtige Politik.
Von
Theodor Scdiiemann.
30. November. Demonitration polnifher Studenten vor bem beutfchen Konſulat in Lemberg.
— 1. Dezember. Abſetzung des chinefiihen Thronfolgers Putſchun. — 2 Botichaft des
Präfidenten Roojevelt an den Kongreß in Wafbington. — 5. Angriff polniiher Studenten auf
das bdeutiche Konfulat in Warfchau. — 9. Miniiter v. Körber deutet im öfterreichiichen Abgeord-
netenhaufe an, daß die Ausichreitungen und die Arbeitsunfähigkeit des Öfterreichiichen Barla-
mentarismus ben Bejtand der Verfaſſung gefährden. — 10. Reichsfanzler Graf v. Bülow weiſt
im Reichstage die Ausichreitungen ber polnifchen Agitation zurüd. — 13. Mobilmadung in
Chile und Argentinien. — 14. Der chineſiſche Hof tritt die Rüdreife nach Beling an. — 16. Rede
Yord Roſeberys über die Politik des englifchen Kabinett. — 17. Rüdtritt des bulgarischen
Minifteriums. — M. Enthüllung des Baudindenktmals in Paris. — M. Sieg Dewets bei Twee—
fontein. — 3. Berftändigung zwifchen Chile und Argentinien. — 27. Eintreffen der deutſchen
Kreuzers „Binela’ in Ya Guayara. — 27. Die am panameritanifchen Kongreß in Merifo teil-
nehmenden Staaten treten der Haager Konvention bei. — 30. Rußland lehnt jede Veränderung
des Bertrages über die Mandfchurei ab. — 30. Deklaration des Fürften Czartoryski im galizifchen
Yandtage, Zurückweiſung derjelben durd bie „N. U. 3." — 1. Januar 102. Rede des
franzöfifhen Botichafters am Quirinal Barröre über die Verjtändigung zwijchen Frankreich
und Ftalien. — 3. Revolutionäre Arbeiterunruben in Barcelona. — 3. Enthüllungen der „Times“
zur Vorgeichichte des Gefandtenmordes in Peking. — 7. Rückkehr des chinefifchen Hofes nach
Beling. — 8. u 10. Reben des Grafen v. Bülow im Reichstage. — 11. Rede Chamberlains in
Birmingham. — 12. Abfahrt der „Gazelle“ nach Venezuela. — 13. Rede Graf v. Büloms über die
Polenfrage im preußifchen Abgeordnetenbaufe.
D“ Uebergang vom alten Jahre ind neue ift unter den zwiſchen den Souveränen
Europas üblihen Höflichkeitd: und Frreundichaftsbezeugungen vollzogen worden
Eine weite Deffentlichkeit haben dabei nur die zwijchen dem Zaren und dem Präfidenten
der franzöfifchen Republit, ſowie zwiſchen den Sriegäminiftern beider Staaten aus—
getaufchten Telegramme gefunden. Gewiß Tiegt darin ein Zugeſtändnis, das dem
politiſchen Bedürfnis der öffentlihen Meinung Frankreichs gemacht wird, die durch die
fühle Haltung, welche Rußland in dem Konflikt Frankreichs und der Türkei zeigte, unan—
genehm berührt war. Aber jene orientaliſche Kriſis en miniature ift, nachdem der
unternehmende franzöfiihe Botſchafter Conſtans offiziell in Jildiz-Kiosk empfangen
worden ijt, endgiltig beigelegt, und es läßt fih mit Sicherheit annehmen, daß die
politifc; überaus wichtigen BZugeftändniffe, welche Frankreich für feine katholiſchen
Schützlinge zu nicht geringem Aerger der Anhänger der orientalifchen Kirche ſich hat
machen lajjen, für abjehbare Zeit ungenütt ruhen werden. Sind diefe konfeſſionellen
Eiferfudhtsfragen doch der eine wunde Punkt in der alliance Franco-Russe, über den
Theodor Schtemann, Monatsichau über ausmärtige Politik, 751
ein Kompromiß nicht möglich ift. Die fortbeftehenden Differenzen müffen durch gegen»
feitige Dienftleiftungen auf anderem Felde verdeckt merden und laute Freundſchafts—
verfiherungen find in ſolchen Verlegenheiten immer noch das billigfte Ausfunftsmittel.
Wir fchäken übrigens an fich jene Pflege guter perfünlicher Beziehungen zwiſchen den
regierenden Häuptern keineswegs gering. Die Zeiten haben ſich darin merkwürdig geändert.
Eine Kabinettspolitif, in welcher der Ehrgeiz des Staatsoberhauptes dieNationzufriegeriichen
Aktionen fortreißt, fann es heute nicht mehr geben. Die zu feindfeligen Aktionen
treibenden Kräfte tauchen aus den Leidenjchaften der Maffe auf und die Herricher find
überall das zügelnde und den Frieden erhaltende Element. Durd) die Völker, und in weiterer
Faſſung durd die Raffen, geht ein unruhiger und feindjeliger Geift, wie er kaum je vorher
jo jchroff zum Ausdrud gekommen ift. Der angeljächfifche Imperialismus, der von
Frankreich gefahte Gedanke der zu erftrebenden Einigung der Romanen, die unermüdliche
jlavifche Propaganda, die aus den politischen Zielen des Panflavismus fein Hehl madıt,
das find Thatfachen, mit denen das geeinte Deutſchland zu rechnen hat und denen
unjere Gegner einen politijch nicht eriftierenden Pangermanismus als Gegenſtück an die
Seite ftellen. Daß diefer Bangermanismus nicht als politischer Faktor fonftruiert werden
fann, ergiebt fi) aus dem eigentümlichen Gang unjerer Hiftorifchen Entwidelung,
welche die Einigung des Neiches nur auf Berzichten und Kompromiffen aufbauen Eonnte,
die fchmerzlich genug von denen empfunden wurden, die dadurch betroffen worden find,
in die wir als Staat uns aber ehrlich gefunden haben. Schon das Errungene zu be:
haupten und in den Grenzen des Möglichen zu entwideln, nimmt unjere volle Kraft in
Anspruch, e8 wäre thöricht, darüber hinauszugehen.
Wir ſchicken dieje allgemeinen Bemerkungen voraus, um zu der frage überzugehen,
die in den legten Monaten bei uns und darüber hinaus eine, wenn man genauer zu:
ſchaut, künſtlich gefteigerte, aber dod) unverkennbar tiefgehende Erregung hervorgerufen
hat. Der Wreichener Prozeß iſt durd) die von Galizien aus geleitete polniiche Agitations—
um nicht zu jagen Nevolutionspartei zu einer Mobilifierung gegen die Polenpolitif
Preußens benußt worden, die zu feindjeligen Demonstrationen vor den deutſchen Konſu—
laten in Lemberg und Warfchau, zu einer Kundgebung im galiziihen Yandtage, einer
Voleninterpellation in unjerem Reichstage und allerlei geringeren Aeußerungen ent:
ichloffenen Haſſes gegen die Deutſchen geführt hat. Wenn nun aud infolge der Er—
flärung des Reichskanzlers im Reichstage und einer jehr energiſchen Abweiſung, die durch
das Medium der „Norddeutichen Allgemeinen Zeitung“ an die Adreſſe des Fürſten Czar—
torpsfi und über ihn hinaus ging, neuerdings in Galizien jcheinbar abgemwiegelt wird,
liegt doch feinerlei Anlaß vor, anzunehmen, daß damit etwas Anderes als ein Manöver
von zweifelhafter Gejchieflichkeit vorliegt. Die Herren Polen haben ihrem Herzen Luft
gemadjt und meinen, nun jolle alles wieder in Ordnung fein. Daß dem nicht jo it,
zeigt das Verhalten der polnifchen Preſſe, die herausfordernder iſt als je, und das
ſchließt, bevor eine wirkliche Aenderung nicht nur in der Haltung, fondern in der Ges
finnung der Polen eintritt, jede Berftändigung aus,
Das führende Organ für den Gejamtpolonismus hat jic darüber Schon ım November
des vorigen Jahres folgendermaßen formuliert. (Przeglad wszechpolski Wr. 11):
„Der Kampf zwiichen den Deutjchen und uns ift ein Kampf, der jede Möglichkeit
752 Theodor Schiemann, Monatsihau über ausmärtige Politik.
gegenjeitiger Annäherung ausjchliegt, ein Kampf auf Leben und Tod. Wenn wir
denjelben aus einer bejtimmten Entfernung betrachten, jo iſt leicht zu erfennen, daß es
fidy hier nicht um gewöhnliche Eroberungen, um irgend eine kleine Landitrede, jondern
um eine Million von Menſchen handelt, die entweder Polen oder Deutiche werden
jollen. Das ift ein Kampf um die Herrſchaft über eine riefige Fläche, um die deutjchen
Ausfihten auf dem baltiihen Meere, endlich darum, ob Berlin die Hauptſtadt
Deutjhlands bleiben, ob Preußen die Hegemonie des Reiches gewahrt werden
jol. Wenn wir aus diefem Kampfe fiegreich hervorgehen werden, jo werden die
Deutihen nit nur das Großherzogtum Bojen, jondern auch das ganze polniich
iprehende Schlejien und das baltiihe Pommern, mithin eine Fläche verlieren, auf
welcher heute 7 Millionen Menſchen leben; gleichzeitig werden fie ihre ganze
Macht auf der Oſtſee und alle Ausfichten auf die jemalige Befikergreifung der
beltiichen Provinzen Rußlands (das letztere eine liebenswürdige Verbädtigung nad) der
ruffiihen Seite hin!) verlieren. Dann wird das Uebergewicht Preußens im Reiche
ſehr fallen und Berlin, nad) feiner geographiichen Yage an der Grenze des Staates
liegend, wird ald Hauptftadt unmöglidy werden.”
Der Paſſus ift lehrreich, denn er zeigt deutlich, dak das polnische Programm dahin
geht, die Hiftorische Entwidelung der letzten 800 Jahre rüdgängig zu machen; Anfang
des 12. Jahrhunderts wurde Pommern deutih, Sclefien hat fi 1278 endgiltig von
Polen getrennt, Preußen endlid, auf das jener Artikel an anderer Stelle gleichfalls
Anſpruch erhebt, iſt im 14. Jahrhundert germanifiert worden. Poſen ift nunmehr
hundert Jahre unfer, und da die Polen es als ihre hiftoriihe Miffion betrachten, die
7 Millionen Deutſche diefer Gebiete uns zu nehmen und dann zu polonifieren, wird
uns nicht8 übrig bleiben, als die Alternative anzuerkennen, die fie ftellen, d. h. entweder
die Million Deutſcher, die in Polen lebt, von ihnen polonifieren zu laffen, oder unjerer:
feits die Million Polen des Landes zu germanifieren. Der Prz. Wszechp. verfichert
uns, daran hänge die Zufunft des Deutichen Reiches.
Nun wohl, wir wollen es ihm glauben und danad; handeln! Nur werden fte
dann weiter fein Recht haben, ſich darüber zu beflagen.
E83 ift nun außerordentlich intereffant, daß im Zufammenhang mit diefer Diskuſſion
über die polnischen Zufunftsphantaftereien und offenbar nicht ohne Beeinfluffung von
polnischer Seite das Gerücht in die Welt gefett worden ift, daß der Dreibund ins
Schmwanfen geraten ſei. Eine Rede des italienischen Minifters der ausmärtigen Ange:
fegenheiten und eine andere Rede des franzöfiichen Botjchafters in Rom Barrere, die
von frangöfiich-italienifcher Freundichaft und von der Befeitigung aller Gegenſätze ſprach,
die bisher beide Mächte im Mittelmeer getrennt hätten, endlid ein Interview durd)
den Berichterftatter einer italienischen Zeitung, dem der ſonſt wenig zugängliche franzöfifche
Minister der Auswärtigen Angelegenheiten Delcafje, fich unterziehen ließ, das alles fteigerte
das Miktrauen, und bald waren inländifche und ausländische Blätter voller Kommentare
über die große, für Deutjchland unheilvolle Wandlung, die unmittelbar bevorftehe. Ein wenig
ruhige Ueberlegung zeigt nun fofort, daß eine Auflöfung des Dreibundes als eine gegen
Deutichland gerichtete Mapregel das Gegenteil ihres Zweckes erreichen und nicht Deutſch—
land, fondern unfere beiden Alliierten, denen man diefe Thorheit zumutet, treffen würde.
Theodor Schiemann, Monatsichau über auswärtige Politik. 753
Die deutſch-öſterreichiſche Allianz, aus welcher der Dreibund hervorwuchs, iſt be-
fanntlich gejchloffen worden, um einen rujfisch=öfterreihifchen Krieg zu verhindern und
Deutihland nicht den gegen Defterreih-Ungarn gerichteten ruffiihen Balkanintereſſen
dienftbar zu maden. Die in dem Anhang zu den „Gedanken und Erinnerungen“ ver:
öffentlichten Briefe Bismards an Andrafjy geben ja darüber die merfwürdigften Auf:
ſchlüſſe. Will Oeſterreich-Ungarn fih vom Dreibunde löſen, fo ift die Berftändigung
Deutichlands mit Rußland leicht gefunden, da mir jederzeit ſchon durch unjer Still
ftehen den ruffiichen Triumph auf der Balfanhalbinjel und die Feitlegung feines über:
wiegenden Einflufles auf die flavifchen WVölferichaften der habsburgiſchen Monardie
fihern fünnen. Freilich wäre damit aud) die Stellung der Ungarn in der Monarchie
endgiltig gebrochen, und das bedeutet für uns einen Nachteil, der eine andere politische
Orientierung notwendig machen müßte.
Die damals von Bismard angeftellten Erwägungen, die, wie er jelbjt in den „Ges
danfen und Erinnerungen“ erzählt, ihn veranlaßten, in der Wahl zwiſchen rufltiher und
öfterreihifcher Allianz für Defterreich zu optieren, fünnen unter veränderten politijchen
Verhältniffen genau zu dem entgegengejegten Rejultat führen, was eine Gefamtlage
ergiebt, welche Defterreich-Ungarn in eine unhaltbare Stellung verjegen müßte. Das
dann zunächft getroffene Ungarn zumal kann eine ſolche Wandlung nicht ertragen,
ed müßte jehr bald politifch und national abdanfen. Wie fann daran gedadjt werden,
daß ein öſterreichiſcher Staatsmann ſich freiwillig in eine fo bedrohliche Yage verjegt ?
Ganz analog aber liegen die Verhältniſſe für Italien. Für diefen Staat bietet
die Zugehörigkeit zum Dreibunde eine doppelte Aſſekuranz. Einmal bedeutet fie eine
Sicherung der Dynaſtie gegen die bon Franfreih her anrücdenden republifaniichen
Tendenzen, dann aber hängt von ihr die politische Selbftändigfeit Italiens, das unter
dem Schutz des Dreibundes feinen Antereffen nachgehen fann, ſoweit fie nicht in
Widerſpruch treten mit den Lebensbedingungen der beiden anderen Alliierten. Italiens
Stellung ift heute gleich feiner eigenen Macht plus dem Schub feiner Bundesgenofjen
gegen einen immerhin denkbaren franzöfiichen Angriff und der abfoluten Sicherheit vor
einem öfterreichifchen Kriege. Bringen wir diejes Plus in Abzug, jo bleibt bei der for-
midablen Machtentwicdelung der größten Mächte außerordentli” wenig nad), und es
läßt ſich mit faft apodiktifcher Sicherheit vorherjagen, daß das Endergebnis ein Bajallen-
verhältnis zu Frankreich und in weiterer Berfpeftive die romanische Republik fein muß.
Wer dieſe ſchwer zu mwiderlegenden Eäte durchdenkt, wird fid) fagen, daß damit
die Gerüchte von dem Zufammenbrud des Dreibundes in fid) zerfallen. Auch wir
glauben nicht an die Ewigkeit der Kombination, daß fie aber gerade jegt fich löſen
jollte, ericheint uns allerdings im Lichte eines politifchen Nonfend. Was Graf Bülow
jeither in feinen glänzenden Reden am 8. und 10. im Reichstage über den Dreibund und
am 13. Januar im preußifchen Abgeordnetenhaufe über die polnijche Agitation in Bofen gejagt
hat, kann uns zur Rechtfertigung unjerer Auffaffung dienen. Ganz bejonders angenchm
fiel die Kordialität auf, mit der er nähere Beziehungen zu Italien anfaßte und Die
Eicherheit, mit der er von der Öfterreichifch-deutichen Intereſſengemeinſchaft redete. Die
Bolenrede, die längite, die Graf Bülow unferes Willens je gehalten hat, bedeutcte ein
klares Programm, mit dem wir uns bis in die geringften Einzelheiten hinein identifizieren
48
754 Theodor Schiemann, Monatsichau über auswärtige Politik.
möchten. Er ſchloß mit der Berfiherung „daß unjere Oftmarfenpolitit verharren wird
in den nationalen Gleiſen, weldye ihr der größte deutiche Mann, welche ihr Fürft Bis-
mard vorgezeichnet hat. In Schwankungen, in Nachgiebigfeit werden wir nicht ver:
fallen“ und Mmüpft daran den warmen Ruf an die Deutjchen im Dften, daß es für fie
nur eine einzige Parole geben dürfe und das jei die nationale! Damit ift nach den
beiden enticheidenden Seiten hin die Richtung angegeben, und wir find der guten Zuver—
ficht, daß es dabei auch in Zukunft bleiben wird.
Zu Ende des Jahres hat es ein Wetterleuchten in Südamerifa gegeben. Chile
und Argentinien jtanden fich bewaffnet gegenüber, und jeder Tag jchien einen Zuſammen
ftoß bringen zu fünnen. Schließlich aber haben fich die drohenden Wolfen verteilt, und
es jcheint wieder hell zu werden, was freilich nicht ausichließt, daß über Nacht das
Gewitter wieder aufziehen kann. Much zwiſchen Deutichland und Venezuela haben die
Beziehungen fich jo zugeſpitzt, daß wir einige Schiffe nad) Ya Guayara haben jenden
müffen. Es handelt fich dabei um die folgenden Differenzen: Vor etwa einem Jahre
ftellte der Präfibent de Gaftro (d. h. der von den Liberalen anerkannte Bräfident) den
Grundſatz auf, daß alle infolge der politiihen Wirren und Revolutionen von Ein-
heimischen oder Ausländern zu erhebenden oder bereits erhobenen Anſprüche auf Ent—
Ihädigung von einem bvenezolaniichen Regierungskommiſſar geprüft und feftgeftellt werden
jollten. Gegen diefe keinerlei Sicherheit bietende Beltimmung proteftierten jofort alle
Gropmächte, deren Unterthanen zu den Geichädigten gehörten, d.h. Frankreich, England,
Stalien, die Vereinigten Staaten und Deutihland. Sie alle teilten der venezolanijchen
Regierung mit, daß fie die Forderungen ihrer Unterthanen diefer Regierung jelbft vor-
legen und ihr gegenüber vertreten würden.
Bräfident de Gaftro hat darauf im vorigen Frühjahr mit einer in der Form
unpajienden Proteftnote geantwortet. Nun jammelte unfere Regierung alle Forderungen
deutiher Etaatdangehöriger, prüfte fie, ftellte den Betrag feft.und präfentierte fie dem
BPräfidenten. Da er auf feinem Standpunkte beharrte, blieb jchlieglich nichts Anderes
übrig als die Entjendung von Kriegsihiffen, und dies ift das Stadium, in dem wir
uns gegenwärtig befinden.
Schon dieſe rajche Ueberſicht zeigt, daß in dieſer Angelegenheit jeder Konflikt mit
einer anderen Macht ald Venezuela ausgeichloffen ift. Deutſchland vertritt im Grunde
das Intereſſe aller Beteiligten und ift vorgegangen, weil die Forderungen der anderen
im Vergleich zu den deutichen minimal find. Damit erledigt ſich auch das von der
gelben Breffe New-⸗Yorks aufgebradhte Gerücht von dem mwahricheinlihen Einſchreiten
der Vereinigten Staaten gegen unfere Schiffe. Daran ift nicht zu denken, vielmehr
handelt Deutſchland im Einverftändnis mit Amerifa, und auch die bevorftehende Be-
feßung einiger Bollhäfen bis zur Erledigung unjerer Forderungen geſchieht im Einver—
nehmen mit den StaatSmännern in Wajhington. Gerade jett find unfere Beziehungen
zu der großen überfeeijchen Republit befonders freundliche, und es Liegt nicht der geringfte
Anlaß vor, eine Wandlung zu erwarten.
Das große Ereignis in England ift trog aller Verſuche der minifteriellen Preſſe,
ed in feiner Bedeutung herabzudrüden, die Mede geweſen, in welder Lord Rojebery
am 16. Dezember feinen politifhen Standpunkt dargelegt hat. Das Wefentlihe läßt
Theodor Schiemann, Monatsſchau über auswärtige Politik. 755
fi) dahin zufammenfaffen, daß er fich mit voller Beftimmtheit vom Home-Rule-Brogramm
losjagte, das auch er einft vertreten hatte, daß er fi) zum Amperialismus befannte und
endlich, daß er zwar die Unterwerfung der Burenftaaten unter die Oberhoheit Eng-
lands als Biel des füdafrifanifchen Krieges billigte, aber diefe Unterwerfung auf Grund
von Verhandlungen mit den Buren, d. h. mit dem Präfidenten Krüger erreichen will.
Wir hätten noch vor kurzem auch dieſes Roſeberyſche Programm für eine
Utopie gehalten, da die Widerftandskraft der Buren noch feineswegs gebrochen ift, und
ihr Berluft an Menjchenmaterial dur den Zuzug aus der Kapkolonie mehr als aus-
geglichen wird, wenn wir nicht aus dem Munde eines einwandfreien Gewährsmannes
müßten, daß die große Maffe der Buren für die Fortſetzung des Kampfes in das Un-
beftimmte hinein nicht zu haben ift, ſobald England bereit ift, beftimmte Zugeſtändniſſe
zu machen. Die Dinge, für melde die Buren weiter zu fümpfen entichloffen find, aber
find: die Herjtelung ihrer Verfaffung (menngleid) unter engliicher Oberhoheit), die Ge
währung einer billigen Entihädigung für die ihnen von den Engländern zerftörten
Farmen und Derftellung des früheren Grundbefites der einzelnen Farmer, Amneſtie
für die zu ihnen übergegangenen Afrifander, und endlih Entwaffnung der von den
Engländern bewaffneten Kaffern und Berzicht Englands auf bürgerlide Gleichſtellung
der Kaffern mit den Weißen.
Das alles find Forderungen, die Kitchener in feinen Verhandlungen mit Botha
bereit zugeitanden hatte und die dann an dem Widerſpruch Chamberlains jcheiterten.
Zur Beit ift aber nod) feine Ausficht, daß das gegenwärtige englifche Kabinett feine
Haltung ändert. ES hat ſich auf den Gedanken der bedingungslofen Unterwerfung
verbiffen und kann, ohne fi) jelbft zu desavouieren, von ihm nicht frei fommen. So
wird denn der unheilvolle Krieg noch weitergehen, und jeit Dewet am Weihnachtsabend
feinen Sieg bei Tweefontein errungen hat, haben die Ausfidhten der Buren fich merklich
gebejlert. In England erwartet man eine Wendung von den neuen Verſtärkungen, die
eben jest nach Afrika unterwegs find, und Chamberlains jüngfte Reden haben in Eng:
land die Hoffnungen auf einen nahen fiegreihen Abſchluß des Krieges wieder hoch auf:
flammen laffen. Aber wie oft jchon find ſolche Hoffnungen zu Schanden geworden.
In Oftafien beginnen allmählich die äußeren Spuren des legten Krieges ſich zu
verwiſchen. Der chineſiſche Hof ift am 7. Januar in Peking eingetroffen, und vorläufig
hat es den Anſchein, als jollte wirklich eine den Fremden günftige politische Richtung
behauptet werden. Nur die Verhandlungen mit Rußland über die Formulierung des
Bertrages, der die Mandichurei dem Zaren ausliefert, wollen nicht zum Abſchluß ge-
langen und fpigen fich faſt zu einer fritiichen Wendung zu. Unter dieſen Umſtänden
erregen die Enthüllungen um fo größeres Aufjehen, die der Parijer Korrejpondent der
„Times“, der befannte Herr von Blowit, in die Deffentlichfeit geworfen hat. Sie find
erftaunlid genug, Gin aus der Mandichurei nad) Paris heimgefehrter Reiſender
Namens Ular, alias Uhleman, hat Dokumente mitgebradht, die, wenn fie fi) als echt er-
weiſen jollten, Rußland mit der ungeheueren Berantwortung belaften würden, die Borer-
erhebung veranlaßt zu haben. Sie fei zunächſt gegen die Kaijerin-Witwe und die Mandſchu—
Dynaſtie gerichtet gemwejen, um dieje einzufchüchtern. Dann habe Rußland ſich erboten,
mit Hilfe des Dalai Lama die Bewegung gegen die fremden Nationen abzulenten und
48*
756 Theodor Schiemann, Monatsfchau über auswärtige Politik.
darüber jeien zwiichen Lihungtſchang und dem befannten Fürſten Uchtomski, als Agenten
der ruffiihen Regierung, Vereinbarungen getroffen worden. Der Aufſtand in Pefing,
die Ermordung des Freiherrn von Setteler und alles, was fid) daran ſchloß, wären die
Folge diejer Politik geweſen. Es ift wohl die ungeheuerlichite Beichuldigung, die je
gegen eine Großmacht erhoben worden ift, und Herr von Blowig wie Herr Ular
werden die Echtheit ihrer Dokumente über allen Zweifel ficheritellen müſſen, wenn fie
Glauben finden wollen.
Aber was ift nicht alles in jenem fernften Often möglich?
Wir bemerken zum Schluß, daß der jcheinbar beigelegte Konflikt zwijchen England
und der hohen Pforte über Koweit leicht in anderer Gejtalt wieder lebendig werden
fann. An jedem Streitpuntt, der das Gebiet des Perſiſchen Golfes umfaßt, hängt der
Begenjat der engliſch-ruſſiſchen Intereſſen, der trog aller Berjuche, die in dem lebten
Halbjahr von engliihen Publiziften gemacht worden find, fi nicht in gegenleitiges
Wohlwollen auflöfen läßt. Beide Mächte wollen dasjelbe, nämlid die ausichließliche
Herrichaft in diefen Gewäſſern, und England hat bereit eine recht aniehnliche Flotte
beijammen, um hier zu behaupten, mas es jeinen legitimen Einfluß nennt. Die von der
Gruppe der Sfournaliften der „National-Revue“ mit großer Zähigfeit, wenn auch etwas
plump aufgenommene Agitation fir ein ruffiich-engliihes Bündnis läßt fich heute wohl
als endgiltig gejcheitert bezeichnen. Die Berhältniffe find ftärfer als die auf gemiffe
nationale Gegenſätze aufgebauten SKonftruftionen für eine Zukunftspofitif, die, recht
betrachtet, den Intereſſen beider Mächte in gleichem Grade widerfpridt.
2}
Bismark-Flphorismen.
Ye mächtiger die parlamenfarifchen Einflüe auf das Staalsleben einwirken, defto
notwendiger ilt eine firaffe Pisjiplin dem Beamtenflande. (28. Wär; 1867.)
o
Es giebt viele Pinge, die ein Staat dulden kann; er kann Nie ignorieren, aber etwas
Anderes if es, fie gelehlich zu Janklionieren. (29. März 1867.)
o
Eine fefle Grenze der römilden Anfprühe an die parifätifchen Sfaaten mit
evangelifcher Pynaftie läßt fich nicht herflellen. Licht einmal in rein katholifchen Staaten.
Der uralfe Kampf wilden Prieflern und Rönigen wird nicht heute zum Abſchluß gelangen,
namentlich nicht in Peutfchland. („Gedanken und Erinnerungen“. II 135.)
oO
Die Entfchlüfe und Abhängigkeiten, die das praktiſche Leben der Wenſchen mit ſich
bringf, find goffgegebene Realitäten, die man nicht ignorieren kann und fol. Wenn man
ea ablehnt, fie auf das politifche Ieben zu überfragen, und im Ießfern den Glauben an die
geheime Einfiht aller um Grunde legt, Jo gerät man in einen Widerſpruch des Staals
rechts mit den Realitäten des menſchlichen Xebens, der prakfilch zu Mehenden Zrikfionen
und Ichließlic; zu Explolionen führt und theorefifch nur auf dem Wege forialdemohrafifcher
Berrücktheiten lösbar if, deren Auklang auf der Chakſache beruht, daß die Einficht großer
Ballen hinreichend fumpf und unentwickelt if, um ſich von der Rhetorik gefchichter und
ehrgeisiger Führer unter Beihilfe eigener Begehrlichkeit Neis einfangen zu lallen.
(„Gedanken und Erinnerungen“. II. 59.)
OOGOGOGGGGGGCGCCC
Monatsichau über innere deutſche Politik.
Von
W. v. Maliow.
V,
Die parlamentarijhe Rage um die Jahreswende.
D: deutjche Reichstag hat in der Zeit vor Weihnachten 15 Situngen abgehalten.
Davon waren 4 der zweiten Beratung der Seemannsordnung gewidmet; zwei beicdhäf-
tigten fi) mit der Beſprechung von Sfnterpellationen (Duellfrage und Bolenfrage), und
neun waren durd) die erfte Beratung des Bolltarifentwurfs ausgefüllt. Das ift die
trodene, kurze Ueberficht über die Arbeit, die der Reichstag vor Beginn des Jahres 1902
noch geleiftet hat. Dabei mußte die zweite Beratung der Seemannsordnung noch dor
ihrem Abſchluß abgebrochen werden; auch die Volendebatte wurde nicht zu Ende geführt;
die Duell:$nterpellation aus Anlaß des unglüdlihen Snfterburger Falles bradıte
mwenigitens das eine Ergebnis, daß die Auffaffung des Kaiſers von diefer Sadje be
fannt und die Sicherjtellung einer zutreffenderen Auslegung der kaiſerlichen Drdre vom
1. Januar 1897 angekündigt wurde. Die Prinzipienfrage jedoch, der die Ynterpellation
gewidmet war, wurde in diefer Belprehung aus fehr natürliden Gründen um nichts
gefördert. So ift es denn allein die Bolltariffrage geweſen, die in dem erwähnten
parlamentarishen Tagungsabſchnitt um ein Stück gefördert worden ift.
Was ift nun mit diejer Arbeit bis jet erreiht und wie hat fich die politiiche
Lage in Bezug auf diefe Hauptfrage bisher geitaltet? Die Frage ift recht ſchwer zu
beantworten; denn gerade die allgemeine Klärung, die man von der erſten Lejung einer
parlamentarifchen Vorlage erwartet, ift nicht ganz in dem erwünſchten Make gebradjt
worden. Die Meinungen der gemwiegteften Bolitifer find gang und gar perſönlich ge:
färbt und bewegen fich zwiichen den beiden Polen eines jehr gedämpften Optimismus
und des ſchwärzeſten Beifimismus.
Um zu einiger Klarheit über die Yage zu gelangen, wird es vor allem nötig fein,
den Gejamteindrudf diefer allgemeinen Ausſprache der Parteien über die Zolltariffrage
einigermaßen feitzuftellen. Wer aber zu diefem Zmede nad) den Berichten der Tages:
zeitungen griffe, der würde bald zu feinem Schreden gewahr werden, daß er in ein
wirbelndes Chaos geraten ift, in dem es feinen Drientierungspunft für objektive Feſt—
ftellungen zu geben ſcheint. Schon die Thatjache, daß ein Parlamentsredner irgend eine
Meinung äußert, genügt der ihm gefinnungsverwandten Preſſe in der Regel, um zu ver:
fündigen, daß die Leute entgegengejegter Meinung „glänzend abgeführt“ jeien. Wie ſich
der Vorgang wirklich abgefpielt hat, davon erfährt der geduldige Beitungslefer jehr
häufig nichts. Bei dem redlichen Bemühen, als Augen: und Obrenzeuge der parlamen-
tarifhen Verhandlungen fih möglichft unbefangen zu vergewiffern, wie es denn nun
wirklich mit dem Erfolg oder Mißerfolg ausfieht, kann man oft die merfwürdigften Er-
758 W. v. Mafiow, Monatsſchau über innere deutiche Bolitif.
fahrungen maden. Es hat ja einen eigenen Reiz, unabhängig von jeder politiichen
Meinung lediglich die rednerifche Wirkung, die ein Parlamentarier erzielt, zu beobachten.
Als ſehr bald nach Beginn der Zolltarifdebatten die fozialdemofratiihe Fraktion ihren
Genoſſen Molkenbuhr als Redner vorjchidte, mußte man annehmen, daß der Stand-
punkt der Oppofition hier jehr wirfungsvoll zur Geltung fommen werde. Ein Rebner,
der vor allem zum Fenster hinausspricht und ſich an die Maffen wendet, hat ja gerade
in dieſer bejonders verwidelten volkswirtſchaftlichen Frage, in der von ber breiten
Deffentlichfeit doc nur die allergemöhnlichften Schlagwörter und einige handgreifliche
Behauptungen verftanden werden, feinen fo bejonders ſchweren Stand. Troßdem war
die Rede Moltenbuhrs, rein oratoriich genommen, volljtändig verfehlt. Sie war un—
Mar disponiert und taftete unficher an dem Gegenftande herum, als ob das Gefühl,
nur mit Phrafen und Entjtellungen operieren zu fünnen, den Redner jelbft erdrüde.
Auch Gegner der Regierungsvorlage ftanden nad) der Nede jelbft unter dem deutlichen
Eindrud, die Sozialdemokratie ſei diesmal recht unglücdlich vertreten gewejen. Am
folgenden Tage aber las man im „Vorwärts“:
„Erft mit der großen Rede unjeres Genofjen Molkenbuhr befam die Verhandlung
Würde und Ernft. In ruhigem Ton, aber mit vernichtender Logik zerzaufte er das
ganze agrariiche Gewebe. Ihm gelang ſogar die nicht ganz leichte Aufgabe, nad all
den monatelangen Diskuffionen noch neue Gedanken zu finden, originell zugeipiste Ar-
gumente voll jchlagfräftiger Anjchaulichkeit in die Debatte zu merfen.“
Es wird vorausfichtlih ewig Geheimnis des „Vorwärts“ bleiben, welches die
neuen Gedanken des Herm Molfenbuhr waren. Uns intereijiert bier auch nur die
Feititellung, wie unbefümmert das Barteiintereffe über die thatſächlichen Ergebniſſe der
Debatte hinweggeht. Bier fann man aljo direkt feinen geeigneten Maßſtab gemwinnen;
es lohnt fi aber vielleicht, Erjcheinungen diefer Art noch weiter zu verfolgen. Daß
Bebels von Leidenschaft jprühende Rede, die ja im Reichstage auch einen jtürmijchen
Tag berbeiführte, in dem Zentralorgan der Partei außerordentlich beifällig beſprochen
wurde, verjteht fich von jelbft, und derjelbe Lohn wurde aud der Rede Singers zu
Teil, die aber in Wahrheit das Haus mehr ermüdete, als zur Aufmerkjamfeit zwang.
Einger gab fich die erdenflichjte Mühe, nad) dem Borgang Bebels die Rechte heraus:
aufordern, aber es glüdte ihm nicht, außer wenigen BZurufen, den Widerſpruch feiner
Gegner hervorzuloden. Man hörte ihm ruhig, ja beinahe gleichgiltig zu. Wiederum
nahm fi der Berlauf der Sache im Bericht des „Vorwärts“ diametral entgegengejekt
aus, aber zwei Tage jpäter fam es zu Tage, dab der Eindrud der Debatten doch ganz
anders empfunden war, als ihn die Tagesberichte wiedergaben. In dem Schlußwort,
das dem in die Weihnachtsferien gegangenen Neidystag am 14. Dezember nachgeſchickt
wurde, ließ das jozialdemofratiihe Organ die Masfe fallen. Am fichtliher Wut fchrieb
e3 „dem Parlament der Beute” fein Zeugnis. Grimmig wurde da die Frage auf-
getvorfen: „Was ift nun das Ergebnis des neuntägigen Kampfes? War e8 denn über:
haupt ein Kampf? Oder haben Regierung und Zollwucherfreunde eigentlich nicht darin
ihre Tapferfeit bewieſen, daß fie mit himmliſcher Geduld alle die-Hiebe binnahmen, die
neun Tage lang hageldicht auf fie niederfauften?“ Dann ergeht ſich das Blatt in
bitterer Kritit an den Reden der Regierungsvertreter, um zu der Behauptung überzu-
RW. dv. Maſſow, Monatsfchan über innere deitfche Politik, 759
gehen, die Freunde der Vorlage wollten nicht kämpfen, da fie fürdhteten, ſich um ben
Beuteanteil zu entziweien. Und weiter tönt das wütige Echelten: „Das Niveau des
Reichstags ift wirklich gefunfen; das Parlament ift fein Kampfplatz mehr, in dem Geiftes-
richtungen, Weltanfhauungen um die Borherrichaft kämpfen; es ift nur noch der Tröbel-
markt der Intereſſen. ... . . An diefem Eumpf der Intereffenvertretung ift natürlich
der helle, friiche, fröhlihe Kampf verpönt ...... Dod dürften die Herren ſich
täufchen, die Herren auf den Seffeln des Bundesrats und die auf den Klappfiken im
Saal. Sie mögen nod) jo fehr dem Kampf aus dem Wege gehen wollen — fie werden
dem Kampfe nicht entrinnen ..... Aus dem Parlamente werden wir den Kampf und
die Agitation wieder hinaustragen in die Mafien.“
&o haben wir denn aljo dod) aus Gegnermund, und darum um jo unanfechtbarer,
das Zeugnis, daß die Oppofition ſich als unterliegender Teil fühlte. Daß die Vorlage
an eine Kommiffion verwieſen werden würde, ſtand längft feft, und die Sozialdemokraten
haben jelbft dafür geftimmt. Die einzige Partei, die dagegen ſtimmte, die freifinnige
Volkspartei, that dies auch nur, um ihre grundjägliche Stellung zu einer Frage be-
züglich der Art der Kommiffionsberatung zu wahren. Alfo nicht die Abftimmung er:
regte den Zorn der Sozialdemokratie, fondern die Berhandlung jelbft. Nachdem zu
Anfang der erfte Fraktionsredner das Zeugnis erhalten hatte, daß er Würde und
Ernſt in die Berfammlung gebracht habe, lautet zum Schluß die Klage an derjelben
Stelle ganz anders: die Sozialdemokratie hatte ſich um friichen, fröhlichen Kampf be:
müht; die Regierung und die Mehrheit — nad) fozialdemokratiicher Arithmetik wird fie
„Minderheit” genannt — hat diefen Kampf nicht aufgenommen. Wozu foll denn num aber
durchaus gekämpft werden, wenn es um die Sache fo traurig fteht, wie die jozialdemofratijche
Preſſe fortgefegt behauptet hat? Dieje Frage liegt Doch eigentlich recht nahe, und man follte
von den „Genoſſen“, die nach den Berichten ihrer eigenen Blätter ihre Gegner völlig
mundtot gemacht haben, eher frohlodenden Triumph als zornigen Unwillen erwarten.
Aber die Sache Tiegt eben in Wahrheit nicht fo; die Sozialdemokratie fühlt jehr genau
und gefteht es in der erwähnten Form aud) ein, daß jenes Nichttämpfen ihrer Gegner
ein Zeichen der Stärfe if. Man ift vergeblich und erfolglos gegen ein feſtes Bollwerk
angerannt; man hat mit untauglihen Mitteln gekämpft und ift nun auf das hödhfte
entrüftet, daß der Gegner fich nicht auch zum Gebrauch diefer untauglichen Waffen be:
quemt hat. Das ift der wirflide Sinn der Klage, daß die Freunde der Regierungs—
vorlage den Kampf fcheuen. Dem phrajenreichen Gezeter der Oppofition hat namentlid)
die Regierung die Wucht der leidenichaftslojen, dabei aber zufolge der innewohnenden
Klarheit und Sicherheit keineswegs wirfungslojen fachlichen Erörterung entgegengeiert,
und das hat der Dppofition das Konzept gründlich verdorben.
Die Regierung batte bei der Verteidigung der Vorlage über ihre Kräfte fehr ge:
chieft verfügt. Im Gegenjat zu mancher andern gejekgeberiihen Borlage der ver:
bündeten Regierungen handelt es fi hier nicht um eine politiiche Frage, die nad) den
Erfahrungen und Anjchauungen einer Zentralitelle, alſo nach einheitlihen Grundjägen
ausgearbeitet werden fonnte, um dann in den gejebgebenden Faktoren des Reichs die
nötigen weiteren Stadien zu durchlaufen; hier mußte vielmehr von vornherein die Arbeit
darauf angelegt werden, daß die mittlere Yinie zwischen den verjdhiedenen, zum Xeil wire
760 W. v. Maſſow, Monatsfchau über innere deutſche Politik.
durcheinanderlaufenden Intereſſen der deutſchen Länder und Erwerbsgruppen möglichſt
ſicher feſtgeſtellt wurde, bevor die parlamentariſchen Parteien ſich damit befaßten.
Die Verteidigung des Zolltarifentwurfs durch die Regierung brachte das klar zum
Ausdruck. Es ſollte eben hervortreten, daß in dieſen Fragen der Norddeutſche anders
urteilen mußte als der Süddeutſche, der Oſten anders als der Weſten, daß für Preußen
andere Geſichtspunkte galten als für Bayern, Sachſen, Württemberg, daß aber alle
dieſe verſchiedenen Intereſſen ihr Gemeinſames, ihren Einigungspunkt fänden in den
Sätzen des Zolltarifentwurfs, wie er aus dem Bundesrat hervorgegangen war. Darum
begnügte ſich der Reichskanzler ſelbſt mit einer fnapp gehaltenen Einführung der Vor—
lage, in der nur ihre allgemeine politiiche Bedeutung hervorgehoben und zugleich ange-
deutet wurde, daß es ſich hier eben um ein mühfames, forgfältig vorbereitetes Kompromiß-
werk handle. Die eingehendere Begründung der Eigentümlichfeiten der Vorlage über-
lic er dann demjenigen Staatsmann, in deifen Hand die legten Jahre hindurd der
Dauptteil der vorbereitenden Arbeit gelegen hatte, dem Grafen Poſadowsky. Der
Kanzler felbft griff nur noch einmal in die Debatte ein, um in fehr geſchickter und
glücklicher Form die Angriffe desjenigen Redners der Oppofition abzuwehren, der —
wenn auch nicht mehr mit dem früheren Temperament — doch unftreitig am bebeut-
jamjten jeine Sadje vertreten hatte, de Herrn Eugen Richter. Graf Poſadowsky
bewies in den beiden Neden, in denen er das große Zolltarifiwerf verteidigte, wiederum
die außerordentliche Kenntnis und Beherrihung jeines Stoffs, die ihm ftet3 von
fundigen Bolitifern nachgerühmt worden ift, und es darf wohl faum bezweifelt werden,
dat, falls es gelingt, die agrarische Oppofition gegen die Vorlage zur Nachgiebigfeit zu be—
wegen, dieö auf den ſtarken und überzeugenden Eindrud der Gründe zurüdzuführen fein wird,
die von dem Staatsjekretär des Innern ins Feld geführt wurden. Neben diefer aus:
gezeichneten Vertretung der Bentralleitung famen die zum Teil jo jehr verſchiedenen
Sintereffen der einzelnen Bundesregierungen zum Wort. Die territorialen Intereſſen
traten bei den Vertretern des größten deutjchen Bundesftaats, des Königreichs Preupen,
naturgemäß mehr zurüd. Man fünnte aber vielleiht jagen, dat Herr v. Podbielski
als Landwirtichaftsminifter mehr vom Standpunkt der öftlihen Provinzen, Herr Möller
als Handeldminifter, der jelbft aus der mweftlihen Großinduftrie hervorgegangen ift,
mehr vom Standpunkt der mweftlihen Provinzen geiprochen, Herr dv. Rheinbaben als
Finanzminister hauptjächlich das finanzielle Intereſſe des Gefamtjtaates vertreten hat.
Beionders bemerkenswert aber war das Auftreten der Minifter der größeren außer:
preußiihen Bundesftaaten. Hier zeigte fich deutlich die große Berichiedenheit in der
wirtichaftlihen Eigenart der deutjchen Bundesitaaten, aber gerade für den Kenner
deutichen Weſens wirkte e3 ungemein anregend und zugleich erfreuend und erwärmend,
zu jehen, wie dieſe bunte Mannigfaltigfeit doch zulekt immer in den einen Gedanken
ausmündete, daß die Zolltarifarbeit gewiffenhaft die Summe aller mit einander verein-
baren nterejjen gezogen und genau das Maß von Opfern erwogen habe, das von
ben einzelnen Snterefjenfreifen der Gejamtheit gebradt werden müſſe. So fprad
Frhr. dv. Riedel für Bayern, Herr v. Piſchek für Württemberg, Herr v. Metzſch für
Sadjen, Herr v. Schrait für Elfah-Lothringen, und gerade diefer Symphonie der
deutichen Wirtihaftsintereflen, wie fie von idenler Vaterlandsliebe und Opferwilligkeit
W. v. Maſſow, Monatöfchau über innere deutfche Politik. 761
getragen wurde, erzeugte in der gegenwärtigen, veriworrenen und von Sonderintereflen
beherrichten Lage eine größere Wirkung, als fie die Beredfamkeit eines leitenden Staats-
mannes in feiner Eigenihaft als Träger einer beftimmten Wirtjchaftspolitif auszuüben
vermocht hätte. Das weiß und fühlt auch die jozialdemokratifche Preffe jehr wohl, und
darum zitiert fogar der „Vorwärts“ die Schatten Bismards und Caprivis, um auszu—
führen, daß früher die Vertretung der Bollpolitit der Regierung groß und gedanfen-
reich, jet aber jämmerlih und zeriplittert gemwejen fei. In Wahrheit ift damit bewieſen,
wie jehr fi die Oppofition mit ihren Gründen in die Enge getrieben fühlt.
Diefer Eindrud wird noch verftärkt, wenn man die Haltung der Reichstagsmehr-
heit der Minderheit gegenüber beobachtet hat. Von der rechten Seite des Hauſes bis
zu den Nationalliberalen überwog die Stimmung, in der die Eozialdemofratie Kampf—
ſcheu“ fieht, in der wir aber das Gefühl der ficheren Ueberlegenheit, die auf redneriiche
Fechterfunftftüde verzichten kann, erfennen. Man könnte es vielleicht als eine gewiſſe
Bequemlichkeit deuten, die, ihrer Abſtimmung fiher, den Kampf der Regierung überließ;
diefe Deutung würde aber nur dann anzunehmen jein, wenn alle diefe Parteien mit der
Regierung volllommen einverftanden wären. Das iſt aber durchaus nicht der Fall,
fondern e8 find überall noch recht erheblihe Schwierigkeiten und Sonderwünſche zu
überwinden. Nein, es ift eben ganz und gar nicht zu leugnen, daß die Ruhe und Sad):
Tichkeit in den Reden der Mehrheitsparteien zu einem Teil auf der Sicherheit und
GEntjchiedenheit der verbündeten Regierungen, zum andern Teil aber auf dem offenbaren
Fiasko der Oppofition beruhten.
Wie erklärt fi) nun aber der auffallende Peſſimismus, der fi) in den Neujahrs-
betrachtungen über die Ausfichten des Bolltarifs jo ftarf bemerkbar madte? Man
würde ſich allerdings einer leichtfertigen Täuſchung hingeben, wenn man nur aus dem
günftigen Eindrud, den der erjte Akt Hinterließ, überfchnell auf das gute Ende der
ganzen Handlung ichlöffe Der den Ereignifjen gewijlenhaft folgende Politiker mwird
im Gegenteil aud) darauf achten müfjen, daß im Verlauf der erften Leſung des Zoll»
tarifs zugleich die erite Gelegenheit gegeben war, alle Verſchiedenheiten in den Auf:
fajfungen der parlamentariihen Fraktionen recht deutlich zu machen und zu zeigen, tie
weit entfernt auch die der Vorlage im Ganzen freundlich gegenüberftehenden Parteien
nod von einer einigermaßen glatten Annahme des Entwurfs find. Und dann hat die Paufe in
den Verhandlungen allerlei kritiſchen nadhträglidyen Betrachtungen Raum geſchafft, die in der
Debatte jelbft ſich aus äußerlichen Gründen nicht recht hervorwagen konnten.
Da find zunädft die Wünſche und Forderungen der ertremen Agrarier, die darauf
beftehen, die Höhe der Getreidezölle auf ein für den Abſchluß von Handelsverträgen ges
fahrdrohendes Maß hinaufzufhrauben oder den Minimaltarif auf die Viehzölle auszu—
dehnen. Ob die Regierung jemals darauf eingehen fönnte, dafür liegt noch feine wirk—
lich offizielle Meinungsäußerung vor; aber aud) ohne eine befondere amtliche Aeußerung
wird jeder, der die Heden der Herren Graf Poſadowsky, Frhr. v. Riedel und v. Piſchek
aufmerfjam ftudiert hat, erfennen, daß die Negierungen die Verantwortung für folche
Umgeftaltung des Tarifs nicht übernehmen fünnen. Es würde übrigens gleichgiltig
fein, ob die Regierung die agrariiche Drohung, den Tarif in ſolchem Falle abzulehnen,
berüdfichtigen wollte oder nicht. Schon die Aufrechterhaltung der agrarischen Forderungen
762 W. v. Maſſow, Monatsfhau Über innere beutfche Politif.
allein mwirde die Sprengung der Mehrheit für den Tarif bedeuten und das Scheitern
der Vorlage unfehlbar zur Folge haben. Dies haben inzwischen aud die Parteien er-
wogen, die von Haufe aus geneigt waren, der Regierung Deeresfolge zu leiften, und es
ift nur ganz natürlich, dat die Nachwirkung der Eonjervativen Erklärungen in ber erften
Leſung — denn die fonfervativen Fraktionen haben fich menigitend im Prinzip die
agrariichen Forderungen zu eigen gemadt — allmählih aud; im Zentrum und bei den
Nationalliberalen diejenigen Parteielemente gefräftigt hat, die jchon der Regierungs—
borlage nur widerwillig und nicht ohne Bedenken und Vorbehalte gefolgt waren. Inner—
halb der nationalliberalen Partei gab es fchon längft eine ftarfe Strömung gegen die
Minimalzölle für Getreide. Ye mehr mit einer Niederlage der verbündeten Regierungen
infolge der agrariſchen Forderungen zu rechnen ift, deſto ſchwerer wird es fein, die
Nationalliberalen auf dem Boden einer gerechten Berüdfichtigung der Intereſſen der
Landwirtichaft zuſammenzuhalten. Und ähnlich geht es mit dem Zentrum. Das Maß
der von der Regierung geforderten Bugeftändniffe können auch die Merifalen verant-
worten und fie heimfen dafür wiederum den Vorteil ein, als Regierungs: und ausichlag:
gebende Partei zu glänzen. Was aber darüber hinausgeht, würde auf often der Volks:
tiimlicheit des Zentrums gehen; e8 würde die radifaleren Elemente innerhalb der Partei
bor den: Kopf ftoßen, e8 würde die jozialpolitiiche Stellung der Partei erſchweren und
gefährden. Ein folches Opfer bringt das Zentrum nicht ohne weiteres der Regierung.
Und weil nun die Gefahr beiteht, daß von Fonjerbativer Seite ein Drud auf die Re-
gierung im Sinne weiterer Erhöhung der Getreidezölle ausgeübt wird, weil ferner
dadurch die allgemeinen Ausfichten der Vorlage wejentlich verjchlechtert find, jo jehen
wir nun während der Weihnachtsferien auch das Zentrum plöglich vorfichtiger werden.
Man hört, die Partei fei noch feineswegs einig; man wolle fi) die Sache nody einmal
überlegen u. dergl.
So erflärt es fid), dak wir wieder einmal in einem Wellenthal der politijchen Be-
wegung angelangt find, und daher die pejlimiftiiche Richtung der Preſſe. Trotzdem be:
fteht noch fein Grund, an ein Scheitern des Zolltarifentwurfs zu glauben. Es beftätigt
fih nur einftweilen, daß dem Tarif die eigentlihe Gefahr von der rechten Seite her
droht. Aber vielleicht kann man eben daraus die Hoffnung jchöpfen, daß die Gefahren
glüdlich überwunden werden. Denn jo fanatisch auch einzelne ertreme Agrarier jein
mögen, die entfcheidenden Elemente auf diefer Seite find doch ausnahmslos ftaatätreue
Männer, vor allem Männer von Staatsgefühl und Bewußtſein politiiher Verant—
wortung. Wenn die Lage foweit geklärt iſt — und dahin muß e8 unbedingt fommen —,
daß deutlich zu erjehen ift, wie die Wahl gegeben ift zwifchen den maßvollen Vorteilen,
welche die Regierung bieten fann, und dem bisherigen Zuſtand, verihärft durch eine
offenbare Bloßftellung des eigenen Yandes vor dem Auslande, wie fie ein Scheitern des
Tarifs mit fich bringen würde, — wenn das alles in voller Schärfe und Nadtheit ſich
dem politiſchen Gewiſſen der Konferbativen darjtellt, dann wird ficher ihr heutiges Wort
nicht ihr legtes Wort fein. Man braudt alfo troß aller Schwierigkeiten noch nicht das
Vertrauen zu verlieren, daß die Sadje doc noch zu gutem Ende gelangt.
1%
Weltwirtichaftlihhe Umſchau.
Von
Paul Dehn.
Maßnahmen gegen zahlungsunfähige oder zahlungsunmillige Staaten. — Rückwirkungen des
fübafrifanifchen Krieges auf Europa und England. — Der Rüdgang Konftantinopels. — Die
allamerifanifche Eifenbahn. — Japans wirtſchaftliche Lage. — Das unterfeeifche Kabelnetz.
u einer wichtigen, in den letzten Jahren wiederholt erörterten internationalen Frage
ſoll Präfident Roofevelt eine bemerkenswerte Aeußerung gethan haben. Im Hin-
bli auf die Abficht der Reichsregierung, den Staat Venezuela zur Erfüllung feiner
geldlihen Verpflidtungen gegenüber deutjhen Reichsangehörigen nötigen-
falls durch eine militärische Erefution zu zwingen, äußerte Präfident Rooſevelt nad)
Angabe englifcher Blätter, daß er die Verwendung von Flotten und Heeren zum Ein:
treiben von Privatichulden gegenüber Fleinen Staaten nicht bewundere. Diejes Schwingen
des gnejchliffenen Schmwertes über Feldmäufe fei ein wenig unwürdig. Präfident Roofevelt
hat hier eine FFeinfühligfeit verraten, wie fie die nordamerifanijchen StaatSmänner der
Neuzeit bisher vermiffen liegen. Am Grunde genommen empfand Roofevelt richtig. Seine
Auffaffung läßt ſich auch formal rechtlich begründen. Wenn ein Kaufmann oder ein
Unternehmer oder eine Bank im Auslande Kredit gewährt oder Kapitalien anlegt,
jo geichieht e3 auf eigene Rechnung, und vom formal-vechtlichen Standpunkt aus ift nicht
abzujehen, weshalb die Gejamtheit die Gefahr, die aus ſolchen Geſchäften im Auslande
entjpringen fann, auf ſich nehmen fol. Aus welden Gründen werden im Auslande
Geichäfte unternommen oder Kredite gegeben? Einzig und allein deshalb, weil daraus
höhere Gewinne und Binjen zu erwarten find. Mit höherem Gewinn ift jelbftverftändlich
ein höheres Wagnis verbunden. Kann wirklich die Gejamtheit diefes Mehr-Wagnis
übernehmen, das der ausländiihen Zuftändigfeit des Unternehmens entfpringt?
Bon der praktischen Politik ift diefe Frage bisher faft immer bejaht worden. Nur
über die Mittel und Wege zur Beitreibung der Forderungen ihrer Angehörigen an aus:
ländifche Staaten beftanden Unterſchiede, und aud) diefe Unterjchiede vührten nicht von
grumdjäglihen Meinungsverjchiedenheiten her, jondern waren Ergebniffe der politischen
Stonftellation wie der Eigenart des Schuldnerftaates.
Welche Mahregeln kann ein Staat ergreifen, wenn er rechtögültige Forderung feiner
Angehörigen an einen anderen zahlungsummilligen oder zahlungsunfähigen Staat fo wirkſam
unterftügen will, daß fie erfüllt werden müffen? Haben diplomatische Verhandlungen,
Vorftellungen und Brotefte nichts gefruchtet, jo müſſen jchärfere Maßregeln ergriffen
oder zunächſt wenigftend angedroht werden. Als im Herbft 1895 die Inhaber griechiicher
764 Paul Dein, Weltwirtfchaftliche Umſchan.
Staatsſchuldverſchreibungen nicht in Deutfchland allein um Schub baten gegen die
BWillkürlichkeiten der griehiichen Regierung, verficherte ein halbamtliches Berliner Blatt,
es jei die Annahme durchaus unzutreffend, daß dem Deutihen Reiche wie den übrigen
beteiligten Staaten gegenüber dem banferotten Griechenland fein anderes Einwirkungs—
mittel zu Gebote ftehe als BVorftellungen und Protefte. Zwiſchen papiernen Proteften
und der Anwendung von Gerwalt beftehe ein fehr breiter Raum für wirkſames Handeln.
Vorftellungen und Protefte find in der Regel nur dann erfolgverheißend, wenn ihnen
durch ernitere Maßnahmen der erforderliche Nahdrud gegeben werden kann. Welche
Maßnahmen liegen nun zwifchen den papiernen Proteften und der Anwendung von Waffen:
gewalt? Zunächſt kann der Gläubigerjtaat den böswilligen Schuldnerftaat mit dem Ab-
bruch aller diplomatischen Beziehungen drohen, ferner mit der Aufhebung des Handels—
vertraged, mit der Ausweiſung der Angehörigen des Schuldnerftaates, ohne indeflen
deren Vermögen antaften zu dürfen. Ferner mit einer Bohkottierung des Schuldner:
ftaates im Schiffahrtsverfehr. Allein alle diefe Mapregeln find zweiſchneidig, fie
jhädigen ebenfo jehr die Intereſſen des Gläubigerjtaates wie des fremden Schuldner:
Staates, fie veriprechen überdies wenig Wirkung, wenigjtens jo lange fie nur von einem
einzigen Staate ausgehen. Soll ihr Erfolg gefichert fein, jo müßten fie von mehreren
Großmächten vereinbart und durchgeführt werden, jo daß der betreffende Schuldnerfiaat
von dem internationalen Berfehr ausgeichloffen und in eine Art friedlicher Blofade ver:
jeßt werden würde, die er auf die Dauer nicht ertragen kann. Bisher ift es zu einer ſolchen
Gemeinſamkeit des Handelns unter den Mächten nicht gefommen, weil die finanziellen, vor
allem aber die politischen Intereſſen vielfach zumiderliefen und weil diefe Gegenjäte von dem
Schuldnerftaat nad) Kräften verfchärft wurden. An der Regel bildeten die Intereſſen—
gegenjäte der Mächte den wirkſamſten Schuß der banferottierenden Staaten.
Am zweckmäßigſten hat ſich bisher das Borgehen gegen bösmwillige oder zahlungs-
unfähige Schuldnerftaaten ermwiejen, wenn es planmäßig und im Einvernehmen der
Mächte erfolgte, wie im Berliner Friedensvertrage von 1879 gegenüber der Türkei und
den neuen Balfanftaaten und im Jahre 1897 im türfifch-griehifchen FFriedensvertrage.
Im Berliner Frieden befundeten die Mächte allerdings feine glüdliche Hand; fie fchufen
bejondere Beitimmungen zu Gunſten unberedhtigter und unmoralifher Anſprüche, fie
wollten die neuen Balfanftaaten zwingen, die Wucherforderungen des Barons Hirſch und
der englifch-frangöfiichen Geldmänner mit zu übernehmen, fie verpflichteten aber gleich:
zeitig die Pforte, fi) mit ihren Gläubigern auszugleichen, was diefe denn auch im
Jahre 1880 durch die Einſetzung des europäiſchen Verwaltungsrates für die türfifche Staats
ihuld, annähernd nad) ägyptiſchem Vorbilde, that. In dem türkiſch-griechiſchen Frieden
bon 1897 wurde die Organifation eines internationalen Ausichuffes in Athen, wiederum
nad) äghptiichem Borbilde, vereinbart. Diefem Ausihuß werden von der griedhiichen
Regierung ausreihende Einnahmen für den griehiihen Staatsjchuldendienft überwieſen,
er verwendet fie zmedentiprechend und hat jeine Aufgabe bisher zur vollen Zufriedenheit
aller Beteiligten gelöft.
Alle weiteren Maßnahmen gegen zahlungsunfähige oder zahlungsunmillige Staaten
ieben die Androhung oder die Anwendung von Waffengewalt voraus, zunächft eine
bloße Flottendemonftration, jodann die Beſetzung einzelner Häfen, Zollftellen oder Ge—
Baul Dehn, Weltwirtichaftliche Umfchau. 765
bietsteile behufs Gintreibung der Zölle und Etenern zur Befriedigung der Gläubiger,
nad Umftänden nnter gleichzeitiger Beichlagnahme der Zollfafien. Nod) jchärfere Maß—
regeln wären eine Blodade der Häfen und Hüften, eine Beichlagnahme der Handels-
flotte und vielleicht auch der Striegsflotte des Schuldnerftaateds. Manche Staaten find
gelegentlich allerdings unter mehr oder minder geſchickter Verdunflung des Thatbeitandes
noch weiter gegangen. Mexiko und Aegypten, jagte Moltke, find von europäifchen
Heeren heimgejucht worden, um die Forderungen der hohen Finanz zu liquidieren.
An Staaten, die ihre Verpflichtungen nicht erfüllen konnten oder nicht erfüllen
wollten, hat es in der Neuzeit nicht gefehlt. Portugal, Argentinien und Griechenland
fürzten ihre Schuldverpfliddtungen empfindlid. Im Jahre 1895 jehte Serbien die ver—
tragsmäßigen Zinfen um 20 Proz. herab. An allen diefen Fällen war deutſches Kapital
fehr erheblich beteiligt. In jedem einzelnen Falle bemühte ſich die Reichsregierung, die
geihädigten deutichen Gläubiger nad) Möglichkeit zu ſchützen, ohne jedoch zu jchärferen
Maßregeln zu greifen. Als der Reichsregierung von intereffierter Seite zum Vorwurf
gemacht wurde, daß fie gegenüber der portugiefiichen Regierung nicht thatkräftig genug
aufgetreten jei, ließ fie halbamtlidh auf das Berhalten Englands hinweifen, wo im all-
gemeinen der Gelichtspunft feftgehalten werde, daß, wer fein Geld in fremden Anleihen
anlegt, auch das Wagnis für den höheren Zinsjag zu tragen habe. In erfter Reihe jei
es Sache des nterefjenten, zu einem Abfommen mit der fremden Regierung zu gelangen.
Ein Blick auf Aegypten zeigt, daß man in England den Grundjag der Nichteinmiſchung
in ſolche Angelegenheiten ohne wmeiteres aufgiebt, wenn höhere Intereſſen in frage
ftehen. Auch das Vorgehen der Neichsregierung gegen Venezuela deutet darauf hin.
Vermutlich haben die deutjchen Intereſſenten, bevor fie fid auf das erotifche Geichäft,
auf den Bau der Venezuelabahn gegen entjprechende Binsbürgichaft, einliegen, bei der
Reichsregierung angefragt, ob fie nötigenfall® auf ihren Schub rechnen könnten, und
dabei beruhigende Zuficherungen erhalten. Unter diefen Umftänden hätte allerdings die
Reichsregierung eine moralifhe Berpflidtung, fih für die Forderungen ihrer Staats-
angehörigen an Venezuela mit ganzer Kraft einzufeßen und auch äußerte Maßnahmen
nicht zu fcheuen. In derjelben Lage würde Frankreich waährſcheinlich ebenjo
handeln, mie jein Vorgehen gegen die Türkei beweiſt: feine Belegung Mütilenes
im Intereſſe zweifelhafter Forderungen levantinifcher Spekulanten franzöfiiher Staats:
angehörigfeit. Nach Argentinien, Portugal und Griechenland wurden deutjche Kriegsschiffe
nit entjendet, obwohl dort weit höhere Forderungen deutiher Angehöriger in Frage
ftanden und jchlieglih verloren gingen. Eine Flottenexekution gegen einen diefer drei
Staaten hätte allerdings jchärfere politiiche Neibungen hervorrufen können, als fie
von einer Erefution gegen Benezuela zu befürdten waren. Bei Mahnahmen gegen
zahlungsunfähige oder zahlungsunmillige Staaten laffen fid) beftimmte Grundjäge nicht
aufſtellen. Ausichlaggebend find dabei von Fall zu Fall neben politiihen Rüdfichten
der Hulturzuftand, die Größe und jelbjt die Lage des Schuldnerftaates.
In jedem Fall find die Forderungen, die Deutjchland gegenüber Venezuela ver:
tritt, ehrlich erworben und nicht annähernd jo zweifelhaft als die Entichädigungs-
anjprüche, die Nordamerika zu Gunften der während der armenischen Unruhen zerftörten
Miffionsanftalten jeiner Staatsangehörigfeit erhob und mit der Androhung einer
766 Baul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umichau.
GErefution durch nordamerifaniiche Kriegsschiffe unterftügte. Daran wird fi Präfident
Roojevelt erinnern laſſen müffen, wenn er jeyt die Verwendung von FFlotten und
Heeren zum Gintreiben von Privatichulden gegenüber Eleineren Staaten bemängelt.
Uebrigens giebt er jelbjt zu, dab die nordamerifaniiche Republik diefes Mittel von Zeit
zu Beit in beiden Erdhälften zur Anwendung gebracht hat, und fie wird gegebenenfalls
aud in Zukunft ficherlich davor nicht zurückſcheuen.
4
=
*
Wo immer auf der Erde heutzutage ein Kanonenſchuß fällt, allerwärts erregt er
Alarm, alle Kulturjtaaten werden davon berührt. Ein Krieg jelbft in entlegener Gegend
wirft jofort audy auf Europa zurüd. Mehr oder minder madjt er das Geſchäft un:
jiher, dämpft die Internehmungsluft, verichlechtert den Gelditand und bringt den Ber:
fehr ins Stoden. Inter den jüdafrifanifhen Kriegswirren leidet aud Europa.
Diejer Krieg hat die rüdgängige Konjunktur hervorgerufen oder doch mindeftens be-
jchleunigt und verjchärft. Der ſüdafrikaniſche Abſatzmarkt ift verjchlojfen. Am Jahre 1898
nahm er für Y/, Milliarde M. fremde Waren auf. Die Epannfraft des englijchen
Marktes läßt nad. Bisher hat in England die Tagespreffe im Dienfte der Gold- und
Diamanteninterefjenten die Öffentlihe Meinung in Bezug auf Südafrika gemadt. Viel—
leicht bricht aber der vielgerüihmte gelunde Menjchenverftand der Engländer durch, wenn
fie die Koftenrechnung ihres Kriegszuges aufftellen. Bis Mitte 1901 hatte die englijche
Deeresverwaltung bereit3 über 3 Milliarden M. verausgabt. Selbſt im Falle eines
baldigen Friedens wird der Strieg den Engländern 5 Milliarden M. Eoften und ihnen
noch weitere empfindliche Opfer auferlegen bei der Deckung der Kriegsſchäden und für
das künftige Bejagungsheer in der Kapkolonie. Englands Ausfuhr nimmt ab; fie war
bis 1900 auf 5,8 Milliarden M. geitiegen und ging in 1901 auf 5,6 Milliarden M.
zurüd, fie wird übertroffen von der nordamerifanijihen mit 5,8 und faft erreicht
von der deutfchen mit 5,1 Milliarden M. An der Londoner Börſe find die Kurſe der
wichtigſten Papiere empfindlich zurüdigegangen, fo die Kurfe der 2°/,progentigen englijchen
Konfols feit Beginn des Krieges von 111%/, auf 93°%,.. Der Kurswert der Staats: und
Eifenbahnpapiere ift in diefer Zeit von etwa 24 auf 20 Milliarden M. geſunken. In
325 wichtigen Papieren belief fich jeit 19. Dezember 1899 der Kursverluft auf nahezu
3 Milliarden M. Bon diejer Entwertung wurden hauptjächlich britiiche und indische Staats:
papiere, ferner britiiche Eifenbahnpapiere betroffen, während die Spekulanten in ſüd—
afrikaniſchen Anteilfcheinen die Kurje hochhielten, zum Teil mit Hilfe falfcher Nachrichten,
Gewiſſe Meldungen aus Südafrika, jo 3. B. über das Wiederaufblühen der Minen:
induftrie, wie des Handels, ferner die Gerüchte über Verwundung und Tod der Generale
Botha, Dewet und dergl. waren zweifellos ausgeftreute Grfindungen beteiligter
Londoner Börjenkreife.
Bei der Aufbringung der neu erforderlichen Mittel wird ſich zeigen, ob die eng:
Liihen Staatsmänner wirklich entichloffen find, von dem Freihandelsprinzip nidyt weiter
als bisher abzugehen. Neue Einnahmequellen müffen erjchloffen, die beftehenden Steuern
erhöht oder neue gejchaffen werden. Da eine weitere Anziehung der direkten Steuern
nicht8 weniger als volkstümlich ift und einem Minifterium wenig zweckmäßig erjcheinen
fann, das jeine einzige Stüge in der wanfenden Bolfsgunft findet, jo ift zu verinuten
Paul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umfchau. 767
dab man die erforderlichen Mehreinnahmen aus BZollerhöhungen oder neuen Zöllen zu
beihaffen ſuchen wird, vielleicht durch eine Erhöhung des Zucerzolles oder des Kohlen—
ausfuhrgolles oder gar durd) die Einführung niedriger Getreidezölle. Anfang Dezember
1%1 beflagte der engliiche Aderbauminifter Hanbury den unbefriedigenden Stand der
engliſchen Landwirtſchaft. Der Getreideanbau und ſelbſt die Viehzucht feien im Rück
gange. Großbritannien müſſe der Yandwirtichaft ein ftärferes Antereffe zuwenden umjo-
mehr, als die britifche Induſtrie jett, da fich ihr die Weltmärkte verichliegen, zu erfennen
haben werde, daß fie in Zukunft in den ländlichen Bezirken der Heimat Abjak für ihre
Erzeugniffe ſuchen müſſe. Wenn Schugzölle dem Staate neue Einnahmen jhaffen, der
Landwirtſchaft helfen und der Anduftrie nügen können, weshalb foll man da an dem
freihändlerifhen Brinzip noch weiter fejthalten? Cobden hat einft gejagt: „Schafft die
Kormgölle ab, in einem Jahrzehnt folgt die ganze Welt nad) und der Freihandel herricht
allmächtig.“ Cobden hat falſch prophezeit. Die ganze Welt ift jchutzöllneriich, jelbit
der neue auftraliiche Einheitsſtaat troß feines englifchen Gepräges. Der Freihandel,
Tagen viele Engländer, hat bereits die befte unferer Induftrieen, die Landwirtichaft
zu Grunde gerichtet. Unfere Ausfuhr finkt, unfere Induſtrie fieht fich mehr und mehr
durch die fremde Konkurrenz bedroht. Wir find nicht mehr die Banfiers der Welt, jeit-
dem wir unfer Kapital verfchleudern, um die unnötigen Einfuhren zu bezahlen, die
unfere eigene Induſtrie verdrängen. Wenn wir zu der. welterobernden Schutzzoll
politif zurücffehren, dann werden wir auch durchjegen fünnen, was dem erjchütterten
Reiche gerade jekt von höchſtem Wert wäre, die Schaffung eines größerbritiichen Zoll-
verbandes, wie fie nur auf jchußzöllneriiher Grundlage möglih iſt. Werden Die
leitenden Staatdmänner Großbritanniens diefen PVerlodungen folgen und ſchutz—
zöllneriſche Bahnen einjchlagen zur Hebung eines Neiches, das durch jeine Freihandels-
politif in der Weltwirtichaft lange Zeit die erfte Stelle behauptet hat?
* *
Zwiſchen zwei Meeren und zwijchen zwei Erdteilen liegt Konftantinopel. Jahr—
hunderte hindurch war diefe von der Natur fo begünftigte Stadt der Mittelpunft der
MWeltgefchichte und des Kulturlebens. Seine frühere Bedeutung hat Konftantinopel
längjt verloren. In allerneufter Zeit ift es auch mwirtjchaftlih immer mehr zurück—
gegangen. Eijenbahnen und Dampfichiffe haben eine ganze Reihe erfolgreich aufftrebender
Konkurrenzhäfen emporgebradt, u. a. Odeſſa, Galat, Piräus, Smyrna, Beirut, ferner
Saloniti, Dedeagadſch, Barna, Burgas u. ſ. w. Auch Binnenhandelspläte find entjtanden
und haben Stonftantinopel wirtfchaftlic; beeinträchtigt. Für die Entwidelung des Berfehrs
lagen in all diefen Städten die Verhältniffe günftiger als gerade in Sonftantinopel.
Noc bis vor wenigen Jahren war die türfiihe Hauptitadt fo gut wie ohne Hafen-
anlagen, und der Verkehr zmwijchen den großen Dampfern und dem Lande mußte durch
fleine Fahrzeuge vermittelt werden. Im Jahre 1895 vollendete eine franzöſiſche Gefell-
Schaft mit großem Kapitalsaufwande die Hafenanlagen am goldenen Horn. Indeſſen
hatte fie nicht mit dem wirtichaftlichen Rüdgang Konftantinopel3 gerechnet, den ich ſchon
in einer feinen Schrift vom Jahre 1886 „Land und Leute der Balfanhalbinjel“ be-
rührte. So entipraden die Ergebnijfe nicht annähernd den Erwartungen, und als
Sultan Abdul Hamid der Anatoliihen Eilenbahngejellihaft die Erlaubnis erteilte,
768 Baul Dehn, Weltmirtfchaftliche Umfchau.
große Hafenanlagen gegenüber von Stonftantinopel in Haidar-Paſcha zu bauen, erhob
die franzöfiiche Gejellihait Proteft und verlangte eine Minderung ihrer Berpflihtungen.
Bereits ift in Haidar-Paſcha ein proviforisher Dafendamm durd Erdaufſchüttungen
hergeftellt worden. Im Sommer joll der neue Hafen teilmweife und Anfang 1903 ganz
dem Betriebe übergeben werden. In dem Konkurrenzkampf zwiichen den Dafenanlagen
zu beiden Seiten des Bosporus wird borausfichtlid) die afiatifche Seite fiegen und
Konitantinopel im engeren Sinne zwiſchen Stambul und Pera weitere Berkehrseinbußen
erleiden. Die wirtichaftlihe Entwidelung der türkiſchen Hauptftadt mit ihren afiatifchen
Vierteln läßt ſich nicht vorherfehen, da fie weſentlich von den politiihen Berhältnifien
abhängig ift.
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*
Schon auf dem erſten allamerikaniſchen Kongreß wurde von nordamerikaniſcher
Seite der Bau einer großen allamerikaniſchen Eiſenbahn angeregt, um eine Ber:
bindung zu Lande zwiſchen Nordamerifa und den mittel- und ſüdamerikaniſchen Etaaten
zu Schaffen und hiermit die amerifaniihen Staaten einander näherzubringen. Nunmehr
hat der zweite allamerifanijche Kongreß einen Ausſchuß eingejegt, um den Bau diejer
großen Bahn vorzubereiten. Man eradjtet ihre Rentabilität bei fortfchreitender Ent:
widelung der Hilfsquellen Mittel- und Siüdamerifas nicht für zweifelhaft. Cine
allamerifaniihe Eiſenbahn würde ein michtiger Fortichritt fein für die Verwirklichung
des allamerifanifchen Gedankens und der nordamerifaniichen Republik eine greifbare
Stütze bieten, um ihre Vorherrichaft zu entwiceln.
Theoretiſch betrachtet ericheint der Blan ſehr verlodend. Allein vom praktiſchen
Geſichtspunkt aus ift joldhe Bahn, ganz abgejehen von ihrer gewaltigen Länge (Alaska:
Südchile etwa 15000 km), von der Höhe der erforderlihen Kapitalien, von den
techniihen Schwierigfeiten des Baues etc., durchaus überflüffig und unrentabel, jo daf fie
vorausfichtlih niemals gebaut werden wird. Cine nord-mittel-füdamerifanifche Ver:
bindungsbahn würde von vornherein gegenüber der Konkurrenz des Seeweged nicht
auffommen fönnen. An den meilten Beziehungen ift der Seeweg fürzer, für den
Perſonenverkehr bequemer und nad allen Richtungen hin für den Güterverkehr jehr
erheblich billiger, jo daß die geplante Bahn auf irgend welchen nennenswerten Durch—
gangsverfehr nicht zu rechnen hätte. Selbft im örtlichen Verkehr würde fie auf lange
Streden von dem überlegenen Seeweg konkurrenziert werden.
Es ift ja nun richtig, daß mehr oder minder alle internationalen Eijenbahnen
bom Geewege konkurrenziert werden. Diefe Konkurrenz wird von den Eijenbahnen
Südoft: und Mitteleuropas empfindlich veripürt, fie macht ſich ſchon jett geltend gegen:
über der fibiriichen Eifenbahn, deren Gedeihen fie erheblicy beeinträchtigen dürfte, und
fie wird befürchtet von den nordamerifaniichen Weberlandbahnen, die den Bau eines
mittelamerifanifchen Kanals nadydrüdlid und zähe befämpfen, um die Konkurrenz des
Seeweges fernzuhalten. Allein nirgends würde diefe Konkurrenz eine jo unmittelbare
und überlegene jein, als gegenüber einer allamerifanijchen Eifenbahn, ausgenommen
etwa für die geplante Eifenbahn Kap— Kairo, die der überlegenen Konkurrenz des See
weges am empfindlichiten ausgeſetzt jein würde.
Allem Anfcheine nad ift der Plan einer allamerifanifshen Eijenbahn dem Kopfe
Baul Dehn, Weltwirtſchaftliche Umschau. 769
eines ſchlauen Realpolitifers entiprofjfen, der angefichts3 der zahlreihen Meinungsver-
ichiedenheiten und Gegenſätze auf dem allamerifaniichen Kongrei einen Vorſchlag in den
Vordergrund rüden ‚wollte, über den fi die Vertreter aller amerikanischen Staaten
ohne Bedenken einigen fonnten. Bon diefem Standpunft aus erjheint der Plan
einer allamerifaniihen Eifenbahn wohl ausgefonnen. Weiter hat er wohl feinen Zweck.
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All zu raſch europäiſiert hat ſich der jüngſte in die Kulturwelt eingetretene
japaniſche Staat, der China beſiegte und die militäriſche Ohnmacht dieſes Reiches
zuerſt enthüllte. Die Japaner haben Erſtaunliches geleiſtet und von allen Nationen,
was ihnen zweckmäßig erſchien, übernommen, von den Deutſchen die Grundzüge der
Geſetzgebung und Verwaltung, wie des Heerweſens, von den Engländern die Schiff—
baufunft, von den Holländern die Wafferbautechnif, endlich von allen Snduftrieftaaten
die technifche Praris. Nichts war für die Japaner verlodender, ald die Vermehrung
des beweglichen Kapitals durch Schaffung von Bapierwerten, wie fie von den europäifchen
Börfen aus noch immer, je nad) der Konjunktur ftärfer oder ſchwächer, betrieben wird.
An diefer Dinfiht ift Japan feinen Vorbildern am nächſten gekommen. Nah dem
Finanzjahrbud von Japan, das der Sefretär Minobe vom japanischen Finanzminiſterium
in Tofio ericheinen läßt, waren Ende 1895 bereit$ 2107 Brivat-Aktiengejellfchaften mit
einem Sapital von rund 540 Mill. M. eingetragen worden. Ende 1899 zählte man
nicht weniger als 5543 Gejellichaften mit 2730 Mill. M. Nenntapital, wovon 1756 Mill.
Mark eingezahlt. Darunter befinden fih 58 Gijenbahngejellihaften mit 342 Dill. M.
eingezahltem Kapital, 2031 Banken mit 576 Mill. M., ferner 2518 Handelsgejellihaften
mit 590 Mill. M. und 873 induftrielle Gejellichaften mit 248 Mill. M. eingezahltem
Kapital. Diefe Zahlen find erftaunlic; hoch und befunden zur Genüge die Ueberſpeku—
lation. Wie weit die japanifchen Geldverhältniffe hinter denen der europäifchen Länder
noch zurückſtehen, zeigten die Zinsſätze. Im Jahre 1900 ſchwankten in Japan die monat:
lihen Durchſchnittsſätze für Darlehen zwischen 14,10 und 11,50 Proz., für feite Depofiten
zwiſchen 7,50 und 6,80, für Disfontierung zwiſchen 14,60 und 12,23. Im Jahre 1899
waren diefe Säke nur unerheblich niedriger. Unter jolhen Umftänden werden die Be
mühungen der Japaner um Aufnahme einer Anleihe in Europa faum Erfolg haben,
felbft in England nicht, wo man aus politiihen Gründen jonft geneigt wäre, den
Japanern entgegenzuflommen.
* *
*
Zu Anfang und Ende der neunziger Jahre wurden die unterſeeiſchen Tele—
graphenverbindungen erheblich erweitert und hatten Anfang 1901 eine Länge von etwa
355 000 km aufaumeifen, wovon etiwa *, in englischen Händen waren. Auch Deutſch⸗
land hat begonnen Berfäumtes nachzuholen, und die Yegung eines eigenen Kabels nad)
Nordamerika (7612 km), durchgeführt. Indeſſen zeigt das internationale Ne nod) eine
erhebliche Yüce, zu deren Ausfüllung nunmehr gefchritten wird. Noch durdhquert fein
Kabel das Stille Meer. England bereitet die Legung eines allbritiihen Kabels vor,
das von Vancouver an der Weftfüfte Nordamerikas ausgeht, die Inſel Fanning (6766 km),
Fidichiinfeln (4039 km), die Inſel Norfolt (1887 km) berührt, und bon da einerfeits
nad Queensland (1678 km) und andererfeitS nad) Neu-Seeland (950 km) mweiter ge:
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770 Paul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umfchau.
führt wird. Diejes Kabel wird insgefjamt 15320 km lang fein, aus ftaatlihen Mitteln
gebaut werden und 40 Mill. M. foften. Ein zweites Kabel dur das Stille Meer will
die nordamerifanische Republik von San Franzisko über Honolulu nad Manila führen.
Das engliihe Kabelmonopol bringt den Engländern unberechenbare Vorteile, e8 be-
deutet ein Monopol der überſeeiſchen Nachrichtenvermittelung in Krieg und Frieden und
jegt die englijche Negierung wie den engliihen Handel in den Stand, ſich rafcher und
zuverläjfiger ald andere Regierungen und utereffenten über die Vorkommniſſe an
irgend einem Punkt der Erde unterrihten zu können. Schon um fi von dieſer Ab:
hängigfeit im Nacdhrichtenverfehr zu befreien, follten die europäifhen Mächte, eine jede
für fi) oder noch beſſer gemeinſam, dazu jchreiten, ein fonfurrierendes Kabelneg anzu—
legen, zunächſt nach Südamerika und Südafrifa und jodann nad dem fernen Diten.
Mit der Fertigitellung jeines Kabels von Borkum über die Azoren nad; New-York hat
fi) Deutſchland im Verkehr mit Nordamerika eine eigene Berbindung geſchaffen, bei:
läufig als vierzehnte zu den beftehenden 13 Kabellinien. Das englihe Kabelmonopol
ift alfo befeitigt worden, joweit e8 ſich um den Verkehr zwifchen dem feftländifchen
Europa und Nordamerifa handelt, und es wird im Stillen Meer von den Nordameri-
fanern durdhfreugt werden.
Mitte 1901 vereinbarten Deutichland und Holland ein Kabelabkommen mit der
Beitimmung, daß bei anzulegenden Stabellinien zwiſchen holländiſchen und deutfchen
Ktolonien einerjeitS und Europa andererjeitd engliſche Linien umgangen werden jollen.
Bu dieſem Zweck werden die geplanten beutjch-holländischen Kabellinien von Manila
nad) den deutſchen Befigungen in der Südjee, nad Niederländiich-ndien und nad)
Shanghai an das nordamerifanifche Kabel anfchließen, jo daß ſchon in abjehbarer Zeit
das engliſche Kabelmonopol im Verkehr mit jenen Gegenden durchbrochen werden wird.
Das iſt ein großer Fortichritt, wenn aud) nicht ſehr erwünfcht für die Intereſſen Englands,
wo man den Slabellinien einen jo hohen Wert beimißt, daß Charles Dilfe jagen fonnte,
fie feien wichtiger al8 Befeftigungen. In einem großen Seefrieg würde England, wenn
fein Kabelmonopol noch nicht befeitigt wäre, ſich unberechenbare Vorteile fihern fünnen.
* *
*
Neu in ihrer Art iſt eine Monatsſchrift, die ſeit dem 1. Auguſt zu Berlin in
deutſcher Sprache erſcheint und nach ihrer eigenen Angabe ganz überwiegend nordameri—
kaniſche Intereſſen zu vertreten bezweckt. „Columbia“ heißt dieſe „Monatsſchrift
zur Förderung des amerikaniſchen Ausfuhrhandels und zur Pflege freund—
ſchaftlicher Beziehungen zwiſchen Deutſchland und den Vereinigten Staaten
von Nordamerika“, und ihr Herausgeber iſt Joſef Brucker, ein Deutſch-Amerikaner,
zuletzt Redakteur der „Illinois Staatszeitung“ in Chicago. Das Blatt erſcheint nur
äußerlich in deutſcher Sprache und im Deutſchen Reihe und ift nahezu ausſchließlich
ein Organ fiir die Intereſſen des nordamerifanifchen Ausfuhrhandels. Nah der Ber-
fiherung der neuen Monatsihrift braudt Deutfchland nordamerikaniſche Maſchinen und
Rohftoffe, dagegen wird Nordamerikas Bedarf an deutjchen Amduftrieerzeugniffen auf
Kunſt- und Yurusartifel, Chemikalien und feinere Erzeugniffe beihränft. Die „Columbia“
will die Einfuhr von gefunden und billigen Nahrungsmitteln für das arbeitende Bolt,
für Städte und Amduftriebezirke in Deutichland fördern, ferner die Einfuhr von ver:
Baul Debn, Weltwirtſchaftliche Umſchau. 7
befferten nordamerifanishen Maſchinen, Werkzeugen und Gerätihaften zum Nuten der
deutſchen Induſtrie und Landwirtichaft, endlih die Einfuhr von billigen Rohjtoffen
für die deutſche Amduftrie im Intereſſe Deutjchlands, dagegen nur die Ausfuhr folcher
deutihen Erzeugnifje nad) Nordamerika, die dort bisher noch nicht hergeftellt oder über:
haupt niemals hergeftellt werden können!
Die Grundtendenz des nordamerifanishen Organs tritt in folgenden Säßen
(Kr. 5 Seite 3) am unverhüllteften hervor: „Die Weltgefhichte bleibt nirgends hängen,
nit in Rom, nicht im Reihe Karl V., nicht im Frankreich Ludwig XIV.; fie jchritt
weiter nad) England und nad; Deutfchland und jchließlich hat fie den Sprung über den
Ozean gemacht; der aufgehende Stern des zwanzigften Jahrhunderts, das find
die Bereinigten Staaten von Amerifa. Man thut nicht gut, fich mit demjenigen zu
verfeinden, den das Schickſal zur Macht beftimmt hat. Das gilt für Perjonen
und für ganze Völfer.“
„Es giebt auf beiden Seiten Heßer, die gern einen unausgleihbaren Konflikt her-
aufbeſchwören möchten“, jagt diefed Organ, und mill ein freundfchaftliches Berhältnis
zwiſchen Deutichland und den Vereinigten Staaten pflegen. Dieje Aufgabe ift aner:
fennenswert. Aber mit welcher Cinfeitigfeit wird fie von dem deutſch-a merifanischen
Organ angefagt! Nicht auf beiden Seiten giebt es Hetzer, wie e8 verlichert, jondern
lediglich in Nordamerika, wo die fog. gelbe Preſſe, aber auch andere deutichfeindliche
Kreiſe in ſchroffem Widerſpruch mit den Thatjachen fortfahren, gehäffige und grundloje
Berdädtigungen und Berleumdungen gegen das Deutiche Reich zu fchleudern. Nad) der
Auffaffung des deutſch-amerikaniſchen Organs ift in Deutſchland jchon ein Heßer, wer
den Dingleytarif bemängelt und die BZolljcherereien bei der Einfuhr deutfher Waren in
New-York beklagt, wer auf die nordamerifanische Gefahr hinweiſt und fie ſachlich er-
örtert. Dabei läßt fid) das deutich-amerifanifche Blatt jelbft eine Illoyalität gegen
Deutichland zu Schulden fommen, wenn es meint, die Engländer hätten viel mehr Ur-
ſache, von einer deutichen Gefahr zu iprechen, als die Deutſchen von einer nordameri-
fanijchen. Sin Deutihland lächelt man über die Phantaftereien der nordamerifaniichen
tmperialiften, die ihrer Republik eine „göttliche Miffion” zujchreiben und ſich als „Meifter:
organifatoren der Welt“ gebärden, „um allerwärt3 Drdnung zu jchaffen und in der
Wiedergeburt der Welt die Führung zu übernehmen“. Allein Heter gegen Nordamerika find
in Deutjchland nicht vorhanden. Deutichland hat gewichtige Intereſſen in den mittel und
ſüdamerikaniſchen Staaten und würde mit feinem Außenhandel bi zur Unerträglichkeit
geihädigt werden, wenn die nordamerifaniichen Bolitiker ihre allamerifanifchen Beitrebungen
bethjätigten, um die mittel- und ſüdamerikaniſchen Staaten zunächſt in ein politifches Un—
abhängigfeitsverhältnis zu bringen und fie dann zum Abſchluß von Gegenjeitigfeitöver-
trägen zu drängen, die den europäichen und bejonders den deutfhen Handel in Mittel:
und Südamerika erjchweren oder ganz unmöglich machen jollen. Die engere wirtichaft-
liche Angliederung von Mittel: und Südamerifa an den Norden ift das Biel der all-
amerikaniſchen Beftrebungen, und die Erreihung dieſes Zieles rückt allmählich in greif-
bare Nähe. Als größtes Hindernis erjcheint hier den nordamerifaniihen Chauviniſten
das Deutiche Reich, dem fie, um die öffentliche Meinung aufzuhesen, immer wieder
unterftelien, es wolle deutjche Kolonien in Brafilien oder ſich mindeſtens deutſche Stütz—
498
772 Paul Debn, Weltwirtfchaftliche Umſchau.
punkte oder Flottenftationen in Südamerika jchaffen. Außerdem erbliden induftrielle
Kreife Nordamerikas in dem auffteigenden Deutfchen Reich mit feiner induftriellen
Leiftungsfähigkeit einen gefährlichen Konkurrenten auf dem Weltmarkt, insbefondere in
DOftafien, den fie mit allen Mitteln zu befämpfen fuchen.
Unter diefen Umftänden wäre es jehr zeitgemäß, wenn ein amerikanisches Organ
fi) die Aufgabe ftellte, das freundichaftliche Verhältnis zwifhen Deutfchland und den
Vereinigten Staaten zu pflegen. Aber diefes Organ jollte zweckmäßiger in Norbamerifa
ericheinen und nicht in Deutfchland. So wie die „Kolumbia“ ihre Aufgabe auffaßt, gewinnt
man beinahe den Eindrud, als wollten nordamerifanische Intereſſenten mit Hülfe des
neuen Organs auf deutfchem Boden gegen deutjche Intereſſen antämpfen.
Mit ſchlecht verhehltem Unbehagen räumt die „Columbia“ ein, daß die Berfafler
des deutſchen Bolltarifentwurfs bei Nordamerifa in die Schule gegangen find. Was
im übrigen die „Columbia“ behauptet, daß man in Nordamerifa eine Milderung
der Bollfüke vorbereite und eine auf Gegenfeitigfeit beruhende Handelspolitif in
Ausficht nehme, ift von der Botichaft des Präfidenten Roofevelt und von fpäteren amt-
lihen Rundgebungen nicht im mindejten beftätigt worden. Nicht ein grober Fehler, wie
die deutich-amerifanische Monatsichrift behauptet, würde es fein, fondern es ijt geradezu
eine Notwendigkeit, daß im deutichen Reichstage die Anficht die Oberhand gewinnt, es
wollen die Vereinigten Staaten auf der Höhe ihrer Tarifjäße verharren und ſich auf
feine Gegenſeitigkeitspolitik einlaffen.
Die Fahrt des Prinzen Heinrid; von Preußen nad Nordamerika wird ſicherlich
die deutichfeindlichen Treibereien der dortigen Chauviniſten und ihrer Organe eine
Beit lang in den Hintergrund drängen, fie wird vorausfichtlidy die überlieferte Freund-
Schaft zwiichen dem Deutichen Reiche und der nordamerikaniſchen Republif, die in den
national bewußten Deutſch-Amerikanern eine feſte Stüte findet, ftärfen und auf die
beiderjeitigen Beziehungen einen nadhaltig günftigen Einfluß ausüben.
%
„Auch ohne diefe neuen Gnadenbeweiſe war das Gefühl, mit welchem ich den
25. Yahresiag meiner Ernennung zum Minifler begrüßte, das Geſühl dee herzlichfien
und ehrfurdisvolllen Pankes gegen Eure Wajefläf. Minifier ernenni jeder Tandesherr,
aber es ifl in neuerer Breit kaum vorgekommen, daß ein Monarch einen Winiflerpräfi-
denfen 25 Jahre hindurch in bewegten Zeilen, wo nicht alles gelingf, grgen alle Feind-
Ichaften und Intriguen hält und det. Ach habe in diefer Brit manden früheren Freund
m Genner werden fehen, Eurer Majelät Gnade und Berfrauen find für mid aber
unmwandelbar gleich geblieben. In dem Gedanken daran liegt fir mich reicher Tohn für jede
Arbeit und Erofi in Krankheit und Einſamkeit. Ich liebe mein Paterland, das Deutſche wie
das Preußilche, aber ich hätte ihm nicht mif Freuden gedient, wenn es mir nicht vergönnt
geweſen wäre, es jur Bufriedenheif meines Rönigs zu ihun. Pie hohe Stellung, welche
ich der Gnade Eurer Majefläf verdanke, haf zur Mnterlage und um umerförbaren Bern
den Brandenburgifchen Lehnamann und Preußifchen Pffigier Eurer Wajeflät, und deshalb
beglückt mid; Eurer Majeflät Bufriedenheil, und wäre jede Popularität ohne Diefelbe für
mich wertlos . . .“
Aus: Anhang zu den „Gedanken und Erinnerungen” von Otto Fürſt von Bismard Pb. 1, Kaiſer Wilhelm 1.
und Bismard, Aus einem Briefe Pismardd an Kalſer Wilhelm ], vom 26. September 1887.
Deutictum im Buslande.
Don
Paul Dehn.
Eine deutjchsevangelifche Kirche in Florenz. — Zur Ausbildung deutfcher Mädchen im Auslande.
— Deutfhe und franzöfifhe Schulthätigkeit in Rumänien. — Levante. — Havana... Nor:
wegen. — Samoa. — Auſtralien — Nordamerika. — Zur Nacjeiferung.
ine dentichsenangelifche Kirche in Florenz. Am 1. Dezember konnte die deutſch⸗
evangeliiche Gemeinde in Florenz, die erft vor zwei Jahren entftand, ihre Kirche
einweihen. In der reformierten Kirche der franzöfifchen Schweizer wurde nur gelegentlich
deuticher Gottesdienft abgehalten. Die Kirche zeigt eine ſtattliche Faſſade im romanijchen
Stil mit einem Säulenvorbau und über dem Bortal die Inſchrift: „Ein feite Burg ift
unfer Gott!”
Zur Ausbildung der dentjchen Mädchen im Auslaude. In nationalen
Dingen hat das weibliche Geichleht fich bei allen Völkern einen bedeutenden Einfluß
gewahrt. Zumeiſt bejtimmt in national gemiſchten Ehen die Frau die Nationalität der
Familie Wo die Frau eine Engländerin oder eine Franzöſin ift, wird die ganze Familie
meift englifch oder franzöfifch fein; und der jchönen Augen der PBolinnen, Ruffinnen und
Kreolinnen wegen giebt es heute viele Feinde der Deutſchen mit echt deutſchen Namen!
Diefen Erfahrungen gegenüber iſt es betrübend, daß eine ähnliche Beeinfluffung
durch deutjche Frauen nur in jeltenen Fällen ftattfindet. Mit ftaunensmwerter Ge-
wandtheit werden viele an fremde Volksgenoſſen Verheiratete zu Engländerinnen, Fran—
aöfinnen, Amerifanerinnen und Rumäninnen, und ihre Kinder lernen gewöhnlich nicht
die deutihe Mutter:, jondern die fremde Vaterſprache. In feinem inhaltvollen und an-
regenden Bud) „Die Erziehung der deutfchen Sfugend im Auslande* (Leipzig 1900 bei
Raimund Gerhard) weift Erdmann A. Schaefer, Leiter der deutichen Schule in Gala,
auf die bisher allaufehr vernadläffigte Ausbildung der deutſchen Mädchen im Auslande
hin und beflagt, daß infolge der ungureichenden Organifation der meiften deutjchen Aus:
landsichulen diefe nationale Schwäche bisher nod in feiner Weife befämpft werden
fonnte. Biele deutiche Mädchen werden noch immer zum Teil aus Mangel an weiter
gehender Unterrichtsgelegenheit in den franzöfiihen Penſionaten und Miffionsidyulen er:
zogen, wo fie in der Regel deutiches Weſen verlieren. Schaefer hat e8 nur zu oft erlebt,
daß dort erzogene deutfhe Mädchen die Naje über ihre Erzeuger rümpfen, weil dieſe
nicht einmal frangöfiich verftanden! Und viele verblendete Väter bildeten ſich auf joldhe
Ergebniffe noch etwas ein und opfern gern die jehr hohen Schulgelder auf dem Altar
fremdländiicher Propaganda. In bdiefer Hinſicht Abhülfe zu fchaffen, gehört zu ben
oberjten Aufgaben der Deutſchen Schulvereine im In- und Auslande.
774 : Paul Dehn, Deutfchtum im Auslande.
Deutſche und franzöfifche Schulthätigfeit in Numänien. In Galatz zählt
die deutjchredende Bevölkerung nad) vielen Hunderten; fie beſteht aus Neichsdeutichen,
Deutſch-Oeſterreichern und Schweizern. Alljährlich müffen von der dortigen deutjchen
Schule viele deutiche Kinder zurücdgemwiefen werden, weil ed noch immer nicht gelungen
it, die Koften für die Errichtung eines Schulhaufes aufzubringen. Mehr als 9% Kinder
fönnen nicht aufgenommen werden. In derjelben Stadt befteht aber, wie Erdmann
A. Schaefer, der Leiter der deutichen Schule zu Galak, in dem oben genannten Buche her-
vorhebt, eine franzöſiſch-katholiſche Mifftonsichule, fie befikt ein ganzes Stadtviertel mit neuen
palaftähnlichen Gebäuden und bietet für 800 Kinder Raum. Und dabei leben in Galatz
faum ein Dugend Franzofen! Aus diefem draftiichen Beifpiel, das nahezu typiſch für
den ganzen näheren Orient ift, läßt fi eriehen, was franzöſiſcherſeits angeſtrebt
und deuticherfeit8 verfäumt wird.
Levante. In eriter Neihe dienen die deutfchen Schulen im Auslande den Inter:
eilen deutfcher Familien im Auslande und fünnen für die Verbreitung des Deutfchen
in der Yandesbevölferung wenig ausrichten. Häufig werden die deutihen Schulen auch
von türkiſchen, griechifchen und anderen fremden lindern beſucht, aber ihre Zahl ift ver:
hältnismäßig gering. Neben diefen deutſchen Schulen finden fich vielfach in der Levante
deutſche Miffionsichulen mit der Aufgabe, der einheimifchen Bevölferung zu dienen, jo in
Nlerandrien, Jeruſalem, Beirut und Smyrna die mohlbefannten Mäddhenichulen des
Kaiſerswerther Diakoniffenhaufes. In Nerufalem ift das ſyriſche Waifenhaus bei weiten
die einflußreichfte Erziehungsanitalt des heiligen Pandes. Daneben find in Bethlehem, Bebef,
Urfa, Diarbefir, Amalia, Bruffa und anderwärts deutſch-evangeliſche Waiſen- und Er-
siehungshäufer entitanden. Dieje Anftalten kommen, wie gefagt, für die Erhaltung des
Deutihtums im Auslande nicht in Betracht, aber fie leiften eine nationalpolitijche
Arbeit von nicht zu unterihäßender Wichtigkeit und wenn fie, was zu hoffen ift, gedeihen
und zunehmen, jo werden fie gegenüber der weit umfaflenderen Miffionsthätigkeit der
fatholifchen Kirche unter franzöfiicher Flagge wie gegenüber der englifchen, amerifanijchen
und ruffiihen Miffionsarbeit ein wertvolles Gegengewicht bilden können.
In fünf Jahren kann die deutſche Stolonie von Nlerandrien das 5Ojährige
Nubiläum der evangelifchen Kirche feiern und zugleid; den Jahrestag ihres engeren
Zuſammenſchluſſes. An die Kirche, die deutfche, ſchweizeriſche und franzöfiihe Pro:
teftanten vereinigt, hat fid; jeit 1883 die deutſch-evangeliſche Schule angejchloffen, die
vorzüglich geleitet und auch von anderen Nationen geihägt wird. Man darf, jagt
Rudolf Hermes in jeinen intereflanten Bildern aus dem Nildelta („Täglihe Rundſchau“,
Beilage 1902 Nr. 1 u. ff.), ohne zu übertreiben, behaupten, dab kaum eine andere Schule
in Alerandrien der deutjchen an gutem Auf gleich kommt. Piele Verdienfte, namentlich
um die Eingeborenen, hat ſich das deutiche Diakoniffenipital erworben, das 1857 von
Kaiferswerth aus gegründet wurde. Außer einigen Beamten wohnen zerftreut im Nil:
delta noch Deutiche als Mechaniker und Schloffer, die die großen Baummollreinigungs:
majchinen überwachen, ferner an den beiden Eijenbahnen nad) Kairo und Ismailia als
kaufmännifche Gehülfen bei der äghptiichen Baummwollausfuhr.
Havanna. {m Jahre 1897 wurde eine deutfche Schule gegründet, die gegenwärtig
7 Pehrer und in fünf Klaffen 67 Kinder zählt. Ein Ausſchuß von 36 Herren unter dem
Paul Dehn, Deutfchtum im Auslande. 775
Borfig des Konſuls von Brück forgt für den weiteren Ausbau diejer Schule, der aud)
ein Zufhuß aus der Reichskaſſe gefihert worden ift.
Norwegen. Als Prinz Heinrid) von Preußen Anfang Dezember an der Spike
eines Geſchwaders Chriftiania bejuchte, veranftaltete die dortige „Deutſche Gejellichaft“
einen feftlihen Empfangsabend. Auf die Begrüßung des Borfitenden der Gefellichaft,
Großfaufmanns Scheller, antwortete Prinz Heinrich und fprad) feine freudige Genug—
thuung darüber aus, auch in Norwegen eine große Niederlaffung jeiner Yandsleute vor:
zufinden. Prinz Heinrich rechnete es zu einer wichtigen Aufgabe der Flotte in Friedens:
zeiten, vege Verbindungen zwiichen der Heimat und den Deutichen im Auslande aufrecht
zu erhalten.
Samoa. Seit vergangenem Frühjahr ericheint in Samoa eine deutſche Halb-
monatsjchrift unter dem Titel „Samoaniſche Zeitung“, mit Rückſicht auf die eng:
liche Bevölkerung teilweife aud) in englifher Sprade. Eine derartige Rückſichtnahme
würden die Engländer jelbjtverjtändlich niemals genommen haben. Nach einem Rund»
ichreiben des Gouverneurs foll fortan in den Schulen von fremden Spraden zuerſt die
deutiche gelehrt werden.
Anftralien. Auf einer Rundreiſe durch Queensland unterrichtete ſich der deutiche
Generalfonjul Buri über die zahlreichen deutſchen Niederlaffungen aus eigener An—
Ihauung und fjprad feine Anerkennung darüber aus, daß die Finder der dortigen
Deutichen jede Anfrage in gutem Deutſch beantworten konnten. In Queensland leben
etwa 20000 Deutjche. Leider hat jic bisher nur eine fehr geringe Zahl durch Eintragung
bei den Konſulaten die deutſche Reichsangehörigkeit gefichert.
Nordamerika. lm die deutſche Sprache ift e8 auch in den deutſch-katholiſchen
Pfarrichulen Nordamerikas übel beftellt. Bon Zeit zu Zeit tauchen darüber Klagen
in den nordamerifanifchen Zeitungen auf. Einzelne fatholifche Pfarrer erklären, wie
fich die „Kölnische Volkszeitung“ berichten läßt, daß fie das Deutfche deshalb immer
ftiefmütterlicher behandeln, weil die beutfchen Leute (größtenteild hier geborene Nad)-
fommen deutjcher Eltern) felber darauf beftänden und der Wunſch der Eltern in der
Schule maßgebend fei. Neben diefen Pfarrern giebt e8, wie der Pfarrer Enzlberger im
Herold des Glaubens behauptet, aber auch andere, jogar in Deutjchland geborene, die
den deutfchen Unterricht in ihren Schulen gegen den Willen der Eltern auf den Aus-
jterbeetat gefett haben. Thatſache ift und bleibt, daß viele von unferen deutjch-fatho-
liſchen Pfarrſchulen gar keine deutſchen Schulen mehr find und von Yahr zu Jahr
mehr verengliihen. Der ganze Elementarunterricht ift engliſch. BPfarrgeiftliche und
Schulſchweſtern find durchweg geborene Deutfche, aber die Verhältniffe liegen fo, daß fie
das Deutſche in die Ede jchieben und auf die höheren Klaſſen befchränfen müffen, wenn
fie ihre Zöglinge behalten wollen. So liegen die Dinge faft in allen größeren Städten.
Auf dem Lande giebt es dagegen noch viele Gemeinden, in denen faft ausschließlich
deutſch geiprochen wird und die Schulen fo deutich find, wie man nur irgend erwarten
fann. Hier Abhülfe zu fchaffen ift die vornehmfte Aufgabe der deutfchen Vereine in
Rordamerifa.
Die Entwidelung der deutſch-amerikaniſchen Preſſe in den letzten Jahrzehnten läßt
auf einen bedenflihen Rüdgang des Deutſchtums in Nordamerika fchliegen. Nicht
776 Paul Dehn, Deutjchtum im Auslande.
nur die Zahl der deutſchen Beitungen hat empfindlid abgenommen, fondern ihr
Niedergang ift auch in qualitativer Hinficht zu Tage getreten. Nur wenige Zeitungen,
wie die „Newyorker Staatözeitung“, der „Philadelphiaer Demokrat“, bie
„Weftlihe Poſt“ in St. Louis und andere haben fi auf der alten Höhe gehalten.
Zahlreiche, früher viel gelejene Blätter, vor allem kleine Wochenzeitungen, find ver-
ſchwunden. Selbſt in den großen Städten des Weftens, die man ald Hocburgen des
Deutihtums anfieht, hat die deutiche Prefje feine Zunahme aufzumweifen. Sn dem Aus:
jterben des alten eingewanderten Gejchlechtes erblickt man die gewichtige Urfache diefes
Nüdganges. Die Nachkommen diejes Gejchlechtes haben für die deutfche Sprache und
für deutſche Zeitungen nur ein geringes Intereſſe, englifh ift den jüngeren Leuten
geläufiger als deutſch, und nicht zuletzt verfteht die engliſche Senfationspreffe mehr
zu reizen als die deutichen Tageszeitungen, die vergleichsweiſe nüchtern gehalten jind.
Die die „Leipziger Neuefte Nachrichten“ mitteilen, haben William Steinway
und Oswald Dttendorfer, lekterer befannt als Gründer der „Newyorker
Staatdzeitung”, wiederholt jchon vor Jahren den Rückgang der deutſchen
Preſſe und des Deutfhtums in Nordamerika erörtert und erwogen, mit welchen
Mitteln dieſem Rückgang gefteuert werden könne. Dod jeien fie der betrübenden
Erfcheinung rat- und hilflos gegenüber geftanden. Die deutihe Einwanderung hat
quantitativ und qualitativ nmachgelaffen. Viele deutfche Einwanderer kehren überdies
nad) der Heimat zurüd. So erführt das Deutfchtum in Nordamerika im Ganzen kaum
eine weitere Stärkung. Nach dem erfreulihen Wiedererwachen des Gefühle der natio-
nalen Zufammengehörigfeit unter den Deutſchen Nordamerifas darf man indejien an-
nehmen, daß der Rückgang der deutich-amerifaniihen Preffe doch aud noch anderen
Gründen entjpringt, vor Allem der Konkurrenz durch die engliſch-amerikaniſche Senjations-
preſſe. Sicherlich wäre es voreilig, wollte man aus dem Rückgang der deutſch-amerika
niichen Preſſe folgern, daß nun auch die deutfch-amerifanifche Bevölkerung zuſammen⸗
ſchmelzen und vielleicht Schon in wenigen Jahrzehnten verſchwunden fein müßte.
In einem Öffentlihen Park zu St. Franzisfo wurde eine getreue Nachbildung
des Goethe⸗-Schiller-Denkmals zu Weimar aufgeftellt und feierlich enthüllt. In einer
Anſprache an die vieltaufendköpfige Volksmenge fagte nad dem „Kalifornia Demokrat“
Herr Bundſchu zu den Vertretern der deutfchen Vereinigungen und der deutſchen Preſſe
gewendet: „Zeitgenoffen und fommende Geſchlechter unſeres Gemeinweſens werden
danfbar anerkennen, daß Ahr das hohe ideale Streben — dem deutſchen Geift, in
alter, treuer Erinnerung an unfere Abftammung, an den Geftaden des Stillen Ozeans
ein Denkmal zu errichten — mit freudiger Genugthuung einmütig gefördert habt. — —
— Und jo möge es ftehen in diefer freien, friedlichen Gottesnatur als eine herrliche
Traumerjcheinung der alten Welt, al8 eine Erinnerung an eine gemweihte Stelle in-
mitten der deutichen Yande — als ein Gedächtnis an eine bedeutungsvolle Zeit, in der
Deutichland im verflärenden Licht feiner großen Dichter und Denker ftrahlte — als
eine Mahnung an Biele, die den Geift und die Sprade ihres Mutterftammes in ihren
Kindern verfiechen laſſen, und dann zulekt als eine würdevolle Zierde und kunftgeweihte
Zugabe zu diefer herrlihen Umgebung.“
Zur Nadheiferung. Noch viel lebhafter als im Inlande bethätigen im Auslande
Paul Dehn, Deutſchtum in Auslande. 777
die Angehörigen aller Nationen, aud) derjenigen, die in der Kultur noch zurüditehen,
ihre nationale Bufammengehörigfeit. Sie finden, fördern und unterftügen fich im freien
Berkehr oder durch Vereinigung. Jedermann weiß, mie die Schweizer im Auslande zu-
fammenhalten, dasjelbe gilt in noch höherem Grade von den Engländern, Franzoſen,
Spaniern, Stalienern u. f. w, wenn aud die Formen des Zuſammenhaltens verfchieden
find. In neuefter Zeit bethätigen aud) die Nordamerifaner diefe nationale Zufammen-
gehörigkeit, fie haben fi) in Berlin verbunden und einen Führer für die herüber-
fommenden Landsleute herausgegeben, der ihnen in englifcher Ueberſetzung bietet, was
zu willen von befonderer Wichtigkeit hier für ihre Landsleute fein fünnte, jo die Be-
ftimmungen über das Berhältnis zwiſchen Mieter und Vermieter, die Borjchriften über
polizeilihe Anmeldung, die Bedingungen über den Eintritt in die Lehranftalten u. f. w.
Bei den nordamerifanifhen Vertretungen foll jedem Nordamerifaner, der fi dort
meldet, der neue Führer ausgehändigt werden. Diefes Vorgehen hat lediglich praftijche
Zwecke, zeigt aber auch die Rührigfeit, mit der die Nordamerifaner im Yuslande ihre
gemeinfamen Intereſſen erkennen und wahrnehmen. Sie können infolge diefes ihnen
gebotenen Rüdhalts gegenüber den Angehörigen anderer Nationen mit größerer Sicherheit
und mit einem Selbftbewußtfein auftreten, das der Deutjche im Auslande zumeift nicht beſitzt
und nicht befigen kann, weil es ihm an dem erforderlichen Rüdhalt, an entfprechenden
kräftigen Organifationen, an einem nationalen Zufammenhang nod) immer fehlt. Anders
ift die Stellung der Deutihen im Auslande geworden feit der Wiederaufrichtung bes
Neiches, aber diejer erhöhte Aniprud auf die Achtung in der Fremde fcheint manchen
Deutihen noch nicht recht zum Bewußtſein gefommen, und noch vielfadh gilt,
wenngleich; Gott fei Dank, ſchon in erheblich abgeſchwächter Weife, mas einft in tiefem
Unmut über die unmwürdige Stellung feiner Landsleute im Auslande Karl Julius Weber
in feinem „Demofrit” fchrieb: „Wenn mir im Ausland ein Mann aufftößt, zu uns
behilflich für einen Franzoſen, zu zeremonidös für einen Briten, zu treuherzig für einen
Italiener, zu biegfam für einen Spanier, zu lebhaft für einen Niederländer, zu beicheiden
für einen Ruſſen — ein Mann, der mit fchiefen Büdlingen fich andrängt und mit un:
beichreibliher Entjagung allen Huldigt, die er für vornehmer hält als ſich, fo fagt mir
mein Herz und mein Blut im Geficht: Das ift dein Landsmann!“
Wer etwa behaupten wollte, daß diefe Süße heute ganz und gar ungutreffend ge
worden mären, wird fih daran erinnern laffen müflen, daß Ende November in der
Londoner „Times“ ein Geheimer Kommerzienrat Tuchmann ein Schreiben veröffentlichte,
in bem er die Beichuldigungen einer inhumanen Sriegführung, wie fie von der deutfchen
Preſſe gegen das engliiche Heer erhoben waren, als „nichtswürdige Angriffe“ - bezeichnet
und die jeltiame Meinung äußerte, man könne den britifchen Generalen eher zu große
Milde als zu große Härte zum Borwurf machen. Diefer Deutſche beabfichtigte fogar,
eine Proteftverfammlung der in London lebenden Deutichen gegen die Angriffe der
deutfchen Preffe einzuberufen. Beftätigt er nicht noch heute jene Beobachtungen, denen Weber
in feinem „Demofrit“ empörten Ausdrud gab?
EDS
HH HEHE HIEH NUN;
Litterarliche Monatsberichte.
Von
Carl Bulle.
V.
Paul Heyſe, Ninon und andere Novellen. — Wilhelm Jenſen, Die fränkiſche Leuchte. — Henrik
Sienkiewiez, Ums liebe Brot — Gabriele d'Annunzio, Die Jungfrauen vom Felſen. —
Guſtav Frenſſen, Jörn Uhl.
r ſechs, ſieben Jahren durfte ich einmal des längeren mit Herman Grimm plaudern.
Der alte Herr war damals gerade in der „Deutichen Rundichau“ für Johanna
Ambrofius, die jentimentale und heut faft jchon vergeffene Bäuerin, eingetreten und
hatte fie unfern erften Lyrikern angereiht, während ich mit vielleicht gar zu großem Un—
geftüm gegen fie Sturm lief. Vergeblich bemühte ich mid, Herman Grimm zu über-
zeugen, daß diefe Naturdichterin durchaus Feine originelle Dichternatur fei, jondern eine
bloße Epigonin der jelber ſchon epigonenhaften Gartenlaubenpoeten. Ach führte Lilien—
eron an — aber der alte Herr jagte lächelnd: „Den fenn ich nicht. Ach fenne nur,
was in der „Deutihen Rundſchau“ und in der „National»Zeitung“ ſteht!“ Darauf war
nichtS mehr zu antworten, und das Geſpräch kam auf ältere Poeten, darunter auch auf
Paul Heyſe. „Er ift mein Freund, und ich liebe mandes von ihm“, jagte Herman
Grimm, „aber viel, ſehr viel von ihm läuft auch wie mohlriehendes Waſſer an mir ab,
geht zu diefem Ohr hinein und zu jenem hinaus. Das brauchen Sie aber, jo lange ich
febe, nicht zu jagen.“
&o oft mir jeitdem Neues von Paul Heyſe in die Hände fiel, mußte ich diejer
Worte denken. Sie find jehr fcharf — wohl viel zu jcharf, wenn fie nit in einer
ehrlihen Hochſchätzung des Dichters, zu der ich mich gern befenne, die notwendige Er:
gänzung und Abſchwächung finden. Aber unter diefer lekteren Vorausſetzung enthalten
fie eine Wahrheit. Daß Herman Grimm gerade jo urteilte, mag für den Pitteraturfenner
beionders pifant jein. Denn er unterftrid eigene Schwächen, als er Baul Hehfe Fritijierte.
Sie ftammen beide aus einem Geheimratsmilieu, der Wind ift ihnen niemals bitterſcharf
um die Obren gefahren, Form und Geſchmack erfuhren feinjte Ausbildung, aber etwas
Wurzelechtheit und ftärke, die wohl nur in Kampf und Wetter fich erprobt und ent:
wickelt, geht ihnen ab. Im Grunde find fie feinfte Yurusichriftfteller, Dichter für bie
gebildete und befigende Klaffe, jehr aparte und vornehme Menfchen, die e8 nur ſchwer
begreifen, dat man auch in der Kunſt nad) Brot fchreit und das feine Schaumgebäd
manchmal unwirſch bei Seite jchiebt.
Carl Buſſe, Litterarifche Monatäberichte. 779
Dabei joll gewiß nicht verfannt werden, wie viel hervorragend Schönes wir Heyſe
verdanfen. Er hat ein gutes Recht darauf, von uns allen geehrt zu werden. Cine
Handvoll entzückender Lieder — feine, graziöfe, ſich melodifch wiegende Klänge — hat er
geihaffen, und ob er aud; garnicht damit in die Entwicelung der Lyrik eingriff, hat er
dadurch unfern poetiſchen Hausſchatz doc) vielfach, bereihert. Wir könnten feinen Namen
aus der Bejchichte der deutfchen Lyrik wegdenken, ohne daß irgendwo eine Lücke Elaffte —
was wir bei Geibel, Storm, Yilieneron nicht könnten —, aber feiner von und möchte
darum feine ſchönſten Lieder mijfen. Noch nachhaltiger hat er litterarifch durch feine
Novellen gewirkt. Es finden fich herrliche Kleine Kunſtwerke darunter, die in ihrer
ſtrengen Gefchloffenheit Zierden unferer Novelliftif bleiben werden. Und wenn vieles
andere nicht meifterhaft it, jo ift e8 doch in den meiften Fällen mufterhaft, d. h.
two die dichterifche Fülle und Tiefe fehlt, waltet noch immer die fichere Künftlerhand.
Sechs Erzählungen aus den Jahren 1898—1900 vereinigte Baul Heyſe zu einem
neuen Bande „Ninon und andere Novellen“ (%. G. Cottafhe Buchh., Zmeigniederl.
Berlin 1902.) Sie haben manches Gemeinfame. Sie enden alle tragiih. Ein gewalt-
jamer Tod jteht fat am Scluffe jeder einzelnen. Aud in der äußerlichen Anlage
gleichen fich die meisten. Es ift jelbjtverjtändlich, daß fie denjenigen, der Heyſes frühere
Novellen kennt, nicht überrafhen. Aber es joll daneben herzlich anerfannt fein, daß
bon einem Sinfen der jchöpferifchen Kraft nicht das Geringfte zu merfen ift. Diejenige
Erzählung, die den ftärfften Eindruf auf mich machte, ftammt aus dem Jahre 1900.
Mit Vorliebe find aud hier piychologifch-Enifflige Probleme behandelt. Es werden
ein paar jeltfame, brüdige Frauencharaktere dargeftellt, frauen mit zwei Seelen, Die
zwiſchen Sinnenluft und Seelenfrieden etwas haltlos hin und her pendeln. Man
begreift danad) wohl den Borwurf, den Moraliften gerade gegen diefen Dichter jo oft
erheben, daß er das fittliche Gefühl vermwirre und dem innerlich Ungefaulten noch ein
fünftlerifches und pinchologiiches Mäntelhen umhänge Ein Kom Wahrheit findet ſich
auch in diefen Worten — allerdings eben nur ein Korn. Der feine, den interefjanteften
Problemen nachſinnende Geift und der geichmadvolle Künftler werden mandmal vom
Herzen nicht korrigirt — das ift alles. Die Kunſt hat über Hehe zu viel Macht ge
wonnen, er lebt zu jehr nur in ihr, er fühlt gar zu äſthetiſch und fieht alles zu ſehr
vom äfthetischen Standpunft an. So pajfiert es, daß ein gefund-fittliches Empfinden
ſich manchmal gegen die rein äfthetifche Betrachtungsweiſe auflehnt. Hehe identifiziert
ihön und gut und häßlich und fchlecht. Das ift die Gefahr jedes Poeten, die feine
befondersd. Deshalb iſt er auch fein jozialer Dichter, deshalb hat man ihn einen
Bourgeois- und Lurusfchriftfteller genannt. Deshalb auch wirft er niemals aufwühlend.
Man weint nicht bei ihm, man wird nidht im Tiefften erichüttert, jondern man läßt ihn
erzählen und bewundert ihn darin. Und es fommt vor, daß man, wenn man dem Bann
feiner Runft entflohen ift, ihm nicht glaubt, daß man über fo viel fniffliges und überreiztes
Feingefühl den Kopf jchüttel. So geht es mir hier mit der erften Novelle, fo geht es
mir auch halb und halb mit der beften des Buches, mit „Fräulein Johanna.“
Es erübrigt ſich zu jagen, daß alle ſechs Novellen virtuos erzählt find. Man
langweilt fi bei Henfe nit. Die Ich-Form wird bevorzugt, doch hab’ ich mich ge
wundert, daß mehrmals eine verhältnismäßig lange und faum nötige Einführung den
180 Earl Buſſe, Litterarifche Monatsberichte.
Geſchichten voraufgeht. Turgenjeff machte das in wenigen Säßen ab. Der Stil ift flüſſig,
aber von der „marmornen Formſchönheit“, von der die Tageskritifer in einer rührenden
Uebereinftimmung reden, wenn fie Heyſe beiprechen, ift nicht viel zu merfen. Ya, er
ipinnt manchmal recht ſchwerverdauliche Perioden und jchreibt — Seite 11, 25 — hin und
wieder jogar den „papiernen Stil“. Doch verleugnet er niemals ein hohes d. h. rein
fünftlerifches Streben und bleibt in der Energie, mit der er ein Thema durchführt, der
alte Meifter. Er felbft erzählt in feinen Erinnerungen, daß er jede begonnene Arbeit,
felbft eine ſchwache und mißlungene, zu Ende führe Ein guter Grundſatz, aber einer,
der zeigt, wie ſehr der arbeitende Künftler in Heyfe dem Dichter überlegen ift. „Der
Blinde von Dauſenau“ mag eine jo vom bloßen Willen diftierte Erzählung fein.
Im Grunde wiederholt fich bei den Großen jo gut wie bei den Kleineren biejelbe
Gedichte. Das berufsmäkige Echriftjtellem und „Dichten“ verführt jeden dazu, auch
des öfteren invita Minerva zu ſchreiben. Man jchreibt, weil man einen guten Stoff
hat oder weil man doch einmal Schriftjteller ift oder weil man mit Theodor Fontane
empfindet, daß Honorar auch Poefie fei. Im günftigften Falle entjtehen dann äußerlid)
tadelloje Werke, aus denen erworbene Künſtlerſchaft redet. Das ift der Fall bei Heyſe.
Was der Beift, der finnende, Fünftleriich geichulte Geift ergriff, weil ihn das Problem
reizte, fpricht aber wieder nur zum Geiſt. Es entiprang feiner Hergensnotwendigfeit;
es ift eine Kombination. Deshalb möcht ich jeden preifen, der in einem Amt oder
praftiihen Beruf ein Gegengewicht gegen die ewige Yitteratur befigt, der auf das lieber:
Itrömen des Herzens und die gejegnete Stunde warten kann. Wohl ift fraglos, daß
aud die mit Gewalt eroberte Mufe fich oft gnädig erweift und von eines Dichters ſtarkem
Scöpferwillen bezwungen wird. Aber nicht oft geichieht das, und nur wenige Herzen
find fo reich, daß fie in einem fort fpenden können.
Wenn das für Paul Heyſe gilt, jo gilt es nicht minder für Wilhelm Jenſen. Sie
willen es beide, fie miffen, daß fie zu viel fchreiben, wie ja fchliehlich wir alle, ob wir
nun viel oder wenig bedeuten. Es ftünde mir deshalb ſchlecht an, den Stein diejerhalb
aufzuheben. Doc joll die Elare Erkenntnis auch nicht verfchlucdt oder vertufcht werben.
Gerade Wilhelm Jenſen ift ſich über alle dieje Zufammenhänge Ear. Bor Jahren
hatte ich die undanfbare Aufgabe, einen ſchwachen Roman von ihm zu beipreden.
Ich mußte böfe Worte jagen. Und wieder Jahre nachher hatte ich den Dichter um
etwas zu bitten, hielt es aber für meine Pflicht, mid) ihm vorher als den Berfaffer
jener Kritik vorzuftellen. Er erfüllte meine Bitte und machte daneben die Bemerkung,
daß er den angeregten Roman eben jo wenig ſchätze wie ih. Das ehrt den Menfchen,
und darin ehrt fich in gleicher Weiſe der Dichter: denn eine ſolche Kritik wird nur derjenige
Poet über ſich fällen, der da weiß, daß er Andres und Befleres geben kann, geben wird
und gegeben hat.
Wilhelm Henjens neuer Roman „Die fräntifhe Leuchte“ (Dresden,
C. Reißner 1901) erzählt eine Geſchichte aus dem Dreißigjährigen Kriege. Aber Teile
bon großer Schönheit retten das Ganze nicht. Dichten heißt doch dicht machen, feftigen
durch Ausscheidung alles Nebenjächlichen, das Wejentliche der Dinge erkennen und heraus:
heben. Das ift in der „Fränfifchen Leuchte“ nicht in erhofften Maße der Fall. Eine
breite Umftändlichkeit erlaubt den großen Grundlinien nicht, eindrudsvoll hervorgujpringen.
Carl Buffe, Fitterarifche Monatsberichte. 781
Und gar zu Üppiges Geranf ift vom Uebel. Trotdem liegt gerade in dem Beimerf, das
über Gebühr aufhält, das Schönfte des Buches. Denn darin entfaltet Jenſen wieder
die alte Kunft der Stimmung. Da ift Stoffel, der Schäfer, der wunderliche Gefichte hat,
bon den alten Göttern noch raunt, und meift in jo ſeltſam dämmriger Beleuchtung gehalten
wird, daß aud) die merfwürdigften Worte, die er fpricht, nur an fi) befremden — nicht
als von ihm geſprochen. Und da läuft weiter eine ergögliche Figur von Hungerpaftor
herum. Auch von Hexenprozeſſen, den englifchen Komödianten, der fruchtbringenden
Gejellihaft und der Acad&mie des vrais amants ift die Rede, und der Herzog Bernhard
von Weimar wird redend und handelnd eingeführt. So hat an vielen Stellen der Roman
die Tendenz, fich zu einem großen Zeitbild zu entwideln. Wäre das gelungen, fo hätte
man die Breite auch gern mit in den Kauf genommen. Doch immer wieder jcheint der
Dichter zu erjchreden, jagt fi), daß er einen Roman fchreibe und daß Hans Hardung
alias Conz Hoffmann doc feine Trudberga Schmid befommen müfje. Mit Hilfe der Frau
von Gleihberg und des Herzogs Bernhard, der einen richtigen Theaterfoup ausführt,
gelingt das auch.
Mir mill immer fcheinen, als ob Jenſen ſich jelbft die vollſte Ader unterband,
als er die nordiihe Heide verlief. Es fließt mir noch immer wie eine jtarfe herbjühe
Duftwolfe an, wenn id an feine „braune Erika“ denke. Wohl möglich, daß fie, wie jo
vieles, mich heut nicht mehr ſonderlich berühren würde. ch mar ein halber Knabe,
als ich mich dafür begeifterte, al8 id von Eddyſtone und Karin von Schweden mid)
nicht trennen fonnte. Hat Wilhelm Jenſen damals mit mehr Licbe gefchrieben? Iſt es
der Heimatsboden, der Norden, der ihn fo ſtark madte? Hat er die Rückkehr ver-
jäumt? Ich fand kürzlich) ein Gedidt von ihm, „Die Thürme von Lübeck“, in deffen
ſchönen Strophen ein ſeltſames Weh raunte, eine dunfle Trauer, daß er fi fo meit
von den fieben Thürmen entfernt hatte. Oder legt’ ich jelber das nur in die melandho-
lichen Berje hinein? Wie dem auch jei: wenn Traum und Sehnfucht einmal überftarf
find nad) der Jugend, nad der Heide, dann möcht ich diefen Dichter wieder einmal
lefen. Wir warten noch auf diefes Buch aus Traum und Sehnfudt .. .
Der große hiftorifche Roman hat feinen befannteften und erfolgreidhften Vertreter
unzweifelhaft jet in Henrpf Sienfiewicz gefunden. Aus dem polnischen Erzähler ward
iiber Nacht eine Weltberühmtheit. In faft alle europäiichen Sprachen ift „Quo vadis **, find
feine übrigen großen Romane überjegt. Auch der deutfche Markt ward von Uebertragungen
feiner Werke förmlich überſchwemmt, und nur die neueste ruffiiche Berlihmtheit, Marim Gorfi,
wetteiferte darin mit ihm. Es fei flipp und klar hier ausgefprochen, daß beider Welt-
ruhm wohl dod; in feinem Berhältnis zu ihren Peiftungen fteht. Man muß fid) nur nicht
verblüffen lafjen. Gewiß, für nicht® und wieder nichts ift auch Henryk Sienkierwicz
nicht zu dem gefeierten Autor gervorden. Er hat am Anfang feiner Laufbahn ein paar
prädtige Keine Gejchichten gejchrieben, realiſtiſche Skizzen, unter denen „Janko, der
Mufitant” obenan fteht. Und zweifellos find feine großen hiftoriihen Romane jehr
lebendig, jehr kräftig, jehr farbenreich. Flott charakterifierte Geftalten, einen guten
Humor, vor allem eine zwar breite, aber nie langweilige Erzählungskunft findet ınan
darin. Dazu, was die Begeifterung feiner Landsleute fo erflärlich macht, einen glühenden
Patriotismus, ein ewig waches nationales Bewußtſein. Aber die rechte Tiefe fehlt, jo
182 Carl Buſſe, Litterarifche Monatsberichte.
daß dieje weltberühmten Werke doch eben nur wie Dumas „Drei Musketiere“ inter:
haltungsleftüre find, ob auch eine ſolche der vortrefflichiten Art. Das haben jelbit Ver—
ehrer des Dichters eingejehen und haben die großen Romane till bei Seite gelegt, um
dod) wieder zu den Keinen Skizzen des jugendlichen Poeten zu greifen.
Da bat jett fold; ein Berehrer des Dichters, Jonas Fränfel, eine noch aus den
fiebziger Sahren ftammende Erzählung von Henryk Sienkiewiez: „Ums liebe
Brot“ überjegt (Bern, A. Benteli 1902). Ach glaube allerdings nicht, daß er dem
polnischen Dichter damit genügt hat, obwohl auch ic für Schöpfungen der erften
Periode, für „Hania“ und „Janko“, die meiften jpäteren Arbeiten hingebe. Diejes
„Ums liebe Brot“ ift nämlich durhaus fein Meiſterwerk. Es erzählt die Schidjale
eines nad) Amerifa auswandernden polniihen Bauern und jeiner Toter; es erzählt,
wie die beiden jenſeits des großen Waffers fterben und verderben. Aber das alles
ift zwar ſehr traurig, doch nicht tragisch, denn wir jehen von vornherein, daß diejer
Untergang unvermeidlich ift. Es iſt, als wenn man ein Kätzlein in einen Teich wirft.
Es paddelt wohl eine Zeitlang, aber dann ertrinft ed. Das erfhüttert nicht, fondern
drückt bloß. Die Waffen find nicht gleich und gerecht. Die beiden Menjchen können fid)
garnicht wehren und wehren fi) nidt. Das tiefere Intereſſe mangelt deshalb, und die
ganze Erzählung erhält etwas Kraffes und gleichzeitig etwas Sentimentales. Sie hat
feine Höhe und feine Tiefe. Sienkiewiez bleibt immer der Oberfläche gar zu nahe.
Aber Eins kann diefer Dichter, und das foll ihm nicht beitritten werden: er kann
ihildern. Wo er da aud) anfekt, zeigt er den Poeten. Sturm und Waffernot find
glänzend gegeben, und noch jchöner und reiner, erfüllt von heißer Liebe zum vater:
ländifhen Boden, find die Naturftimmungen aus der polniihen Deimat. Die Worte
icheinen zu zittern vor der Leberfülle des Gefühls, das in fie gebannt ift, wenn
Sienkiewicz vom polnischen Yand ſpricht, von den Kreuzen, die am Wege ftehen, von den
Bäumen und Störhen und fchwarzen Wäldern, von den weißen Herrenhöfen und den
ichimmernden Strohdächern der Bauern. Dieje VBaterlandsliebe ift immer rührend und
herrlich, fie hat auch die überſchwängliche Begeifterung der Polen gewedt, die in allen
Ländern für ihren Henryk Sienkiewiez Bropaganda machten und die, wie wir es ja bei
den Wrefchener Vorfällen jahen, lungenkräftig genug find, alle Welt für oder gegen
etivas aufzuregen. Stein Wunder, daß ſich Sienkiewiez auch immer und überall an die
Spitze der national-polniihen Propaganda ſtellt. Wir follten deswegen nicht jchelten,
londern nur für uns jelbjt daraus lernen und aud uns bon Baterlandsliebe und
nationaler Begeifterung gang durdhglühen laffen. Und wenn Sienfiewicz, der die
Deutjchen nicht liebt und den uns unfere Ueberjeger ewig von neuem faft aufdrängen,
uns den Fehdehandſchuh hinwirft — man fagt, er benüte feine Einnahmen aus Deutſch—
land zur Unterftügung der antideutichen polnischen Beitrebungen — — gut! Außer den
Polen wird es niemanden geben, der da glaubt, dat wir mit Henryk Sienfierwicz irgend
welche bedeutjamen Kulturwerte verlieren würden.
Die Ueberjegung erhebt große Anfprüche, ohne fie recht zu erfüllen. „Ganz jo
wie fie im Original ausfieht”, nicht gekürzt und nicht geändert, mag ja die Erzählung
in deutiher Sprache wiedergegeben fein. Aber es ift fraglos, daß Sienkiewiez ein
Earl Buſſe, Litterarifche Monatöberichte. 783
gutes Polnifch fchreibt, während ich dem Ueberjeger ein gutes Deutjch nicht nachrühmen
fan. Auf den Seiten 58, 114, 158 erſchreckt einen der Stil fürmlid).
It Sienfiewicz der National-Bole, jo Gabriele d'Annunzio der National:
Staliener. Er iſt fo durch und durch Romane, daß germanifche Völker niemals in ein
Verhältnis zu ihm kommen können. Unſere Tageskritik natürlich bat fi) vor Hurrahs
und vor Ehrfurdt und vor Begeilterung bei feinen Werfen überfugelt. Wer fi) aber
aud vor Weltberühmtheiten das gelaffene Urteil wahrt, wird, ſofern er Deutſcher it,
zugeben, daß diefer blumige Bombaſt uns allenfalls krank maden kann, aber die
Wirkungen, die wir Deutiche von der Kunſt verlangen, nit ausübt. Der Italiener
beraujcht fih an d’Annunzios Sprache, die wundervoll klangreich fein fol. Das fällt
in der deutichen Ueberjegung naturgemäß fort. Was übrig bleibt, ift ein großer Wort-
reichtum, ein überſchwängliches Pathos, dem gerade das geraubt it, was es ſchön und
genießbar machte: der Klang. So fteht es da und friert und ift hohl. Nur manchmal
laſſen lyriſche Stellen eigentümlicher Art uns erraten, weshalb und warum d’Annungio
nicht ein, fondern der moderne Poet Italiens ward.
Es fommt bei ihm dasjelbe Motiv Hinzu, wie bei Sienfiewicz: auch fein Herz ift
durchglüht von feines Vaterlandes großer Vergangenheit und träumt von der größeren
Zukunft. D’Annunzio glaubt an die Zukunft der Romanen, wie wir an die Zukunft
der Germanen glauben. Und wenn unjere StaatsSmänner fich einmal mit ihm, dem
gelejenften, berüihmteften und gefeiertiten Romandichter Italiens befchäftigten, fo erhielten
fie vielleicht in Manchem über die Stimmungen auf der Stiefelhalbinjel beffer Beicheid als
durch die Berichte ihrer Diplomaten.
Es wäre vermefjen, wenn ein Deutſcher über d'Annunzio's Bedeutung jchlehthin
aburteilte. Wir können nur jagen, was er für uns bedeutet. Er mag den Stalienern
ein Klaffifer jein, das verftehen wir nicht. Aber was wir verftehen ift: daß er für uns
nichts, aber auch garnidhts ift. Wir ftehen vor feinen Büchern, wie unjre braven
Pommern einft vor der Proflamation Bitter Hugo's. Dafür fehlt uns völlig das
Organ. „Die Jungfrauen vom Felſen“, das neuejte überjepte Werk des göttlichen
Gabriele (Berlin, S. Fiicher, 1902), hinterlaffen uns beiten Falles die Ahnung, daß der
Italiener ein echter Dichter von fpezifiich-Iyrifch-pathetifcher Art ift und daß wir, wenn
wir dieſelbe Mutterfprache redeten, ihn vielleicht als einen Großen erfännten, ihn in jeinem
Weſen erfaßten. Wie in der reinen Lyrik fcheint auch bei ihm das Befte jo jehr im
Worte zu ſchweben, daß eine Ueberjegung allen Neig des Driginal® vernichtet. Wenn
ein deutjcher Dichter diefen Yungfrauenroman fo geichrieben hätte, ſpräche die gefamte
Kritik fiherlicd; von einem aufgeblajenen und verftiegenen Pathos. Handlung, Anhalt
— das fcheint hier völlig Nebenſache. Hauptjache ift da8 weite Prunkgewand der Form,
ift die unerhört pretiöſe Spradje, die jede Kontur, jeden charakteriſtiſchen Zug verwiſcht.
Das erſcheint uns und muß nad) unferer ganzen geidichtlihen Entwidelung uns als
Schwäche erjcheinen. Wir beraufhen uns nicht an der bloßen Form, wir wollen mehr.
D’Annunzio, jo hat ein Kritiker einmal gejchrieben, ift „in feinem ganzen Leibe mit
Kunst infiziert, welche die Stelle des Blutes vertritt”. Der Mann hatte recht, aber
er empfand wohl nicht ganz das Schredliche, was in jeiner Eharafteriftif liegt. Geradezu
funftverjeucht find aud) die „Jungfrauen vom Feljen“, die wie die übrigen Werfe des
784 Carl Buffe, Litterarifche Monatöberichte.
Italieners die Bezeichnung „Roman“ tragen, aber eine Inriichspathetiihe Rhapjodie
find, eine große blumige Eunftverjegte Suppe, in der ab und zu ein magerer Bilfen
Fleisch jchwimmt. Es beginnen damit die „Romane der Lilie“; die vorangehenden Ar:
beiten: „Luft“, „Der Unfchuldige* und der „Triumph des Todes“ find als „Romane der
Roſe“ zufammengefaßt. Und inzwiſchen hat fchon ein neuer Nomanchklus vom „Granat:
apfel“ eingefeßt. Lange werden fich diefe Blumen und Früchte in unferem harten und herben
Klima nicht halten. Sie vertragen ſchon die Reife nicht, und jo wollen wir uns doch
lieber zu unjeren heimiſchen Gewächſen niederbeugen!
Bu unferen heimiſchen Gewächſen —! Das Glüd will es, daß ich da grade eines
gefunden hab’, wie es fräftiger, förniger, fruchtreifer nur ſelten unſerem Boden entiprof.
Ueber viele Bücher hab ich in den Monatsberichten ſchon geredet, faft alles Bücher
unſerer beften Autoren. Aber Hand aufs Herz: wenn diefe Bücher nit da mären,
jo würden wir zwar mandjes feine Kunſtwerk weniger haben, doch e8 braudte fi
feiner darum fonderlid zu grämen und zu ſchämen. Nun aber will ich denen, bie
mir zuhören, von einem Buche reden, das nicht für heut und morgen nur geichrieben
ift, fondern das auch ein kommendes Geichleht noch erquicken und ftärfen wird. Und
wer Buch und Dichter ſich Heute nicht merfen will, der wird fich beide bald merken
müſſen. Es giebt Werfe, die jeden Widerftand der Gleichgültigfeit oder VBoreingenommenheit
breden. Sol ein Werk ift der Roman „Jörn Uhl” von einem bislang unbefannten
Dichter Guſtav Frenjjen. Der Grote'ſche Verlag in Berlin verjendet dad Bud).
Es ift ein Meifterwerf, für das fein Wort des Lobes mir zu ftarf wäre, wenn
ic; aud) die lauen Herzen dadurch einfangen fünnte. Ich ſegne den Zufall, der es mid
leſen ließ; ich jegne den Zufall, der es fügt, daß ih Guſtav Frenſſen gerade neben
Sienkiewicz und d’Annungzio nennen kann. Der Deutſche verträgt die Nähe diefer Welt-
berühmtheiten nicht nur, fondern er ift für uns, die wir mit ihm Kinder des gleichen
Bodens find, hundert Mal mehr als fie. Er ift jo ganz Deutjcher, wie die beiden Polen
reip. Italiener. Er ftellt fi) dur den Jörn Uhl mit einem Schlage neben uniere
beiten Erzähler. Dies eine Buch genügt, um ihm langen Ruhm zu verjchaffen.
Nur mit Einem der Lebenden läßt er fid; vergleichen: mit Wilhelm Raabe. Wie
ein Schüler von Wilhelm Raabe beginnt er jein Bud. Das ift ganz der Stil, den wir
fennen. Aber Leonardo da Vinci jagt: ein ſchlechter Schüler, der den Meifter nicht
übertrifft! Und wenn man den Jörn Uhl weiter und bis zu Ende lieft, dann weiß man,
daß diefer Guſtav Frenſſen fein fchlechter Schüler ift. Ich brauche den Leſern der
Monatsſchrift nicht zu jagen, wie jehr id; Wilhelm Raabe liebe und ehre. Er ftand
gleihjfam am Anfang diefer Berichte; er hat uns allen ja das Herz erfüllt. Aber nun
fommt da einer, ein Unbefannter, der es mit ihm aufnimmt. Nur die großen drei
Romane: der Hungerpaftor, Abu Telfan und vor allem der „Schüdderump”“ können fich
gegen das Bud Frenſſens behaupten. Das Jahr 1901 ſei uns diejerhalb gefegnet. Es
fing dod) nod) eine große Kanone zu donnern an...
Bis vor wenigen Tagen hatte ich den Namen Guſtav Frenſſen noch nicht gehört.
Stein homo literatus wußte etwas von ihm. Er ſoll als Pfarrer, ein echter Frieſe, in
einem holfteiniichen Dorfe leben. Er bringt gleihfam alle Kraft, Fruchtbarkeit und
Fülle der Mari mit. Er fann zu einem unferer größten Humoriften werden, da er den
Earl Buſſe, Litterarifche Monatsberichte. 785
tiefen Ernſt, die gewaltige Tragif hat. Und man muß unmillfürlid an das Wort Yean
Paul's denken: dat an Völkern und Individuen der Ernft fi) immer als Bedingung
des Scherzes erweift, daß die ernften Britten und die gravitätiſchen Spanier den höchiten
und innigften Sinn für das Komifche hatten, daß der ernſte geiftliche Stand die größten
Humoriften hervorbradite: Rabelais, Swift, Sterne, Abraham a Santa Clara, Sean
Paul felbit. Daß weiter ein Hungerpaftor unferem Wilhelm Raabe den Stoff zu
feinem großen Werk gab, und der geborene Erbe des Raabe'ſchen Geiſtes wieder auf einer
Pfarre figt. Aber nicht diefen Zufammenhängen will ich hier nachforſchen, fondern mic
wieder zu Jörn Uhl wenden und ihn preifen.
Seine Spradie? O, fie ift noch kräftig, noch nicht abgegriffen; fie hat aus dialeft-
reicher Volksſprache ihre gefunde Stärke gewonnen. Sie erzählt Märchen und raunt
wie die Frau Viehmännin der Grimm’s, wenn fie auf dem Felde oder beim Herdfeuer
die halbvergeffenen Sagen vorholte. Aber fie ift nicht nur zart für junge Mädchen und
deutiche Märchen, für erfte Liebe und anderes Süße — fie ift auch ſtark für Männer,
trogig und wild für den Daß, graufam und gewaltig für die Schladjt. Alles Leichte
und Schwere fann fie ausdrüden; alles Leichte und Schwere ift in dem Bude. Es er-
zählt von Geburt und Tod, von zäher deuticher Treue und feigem Berlaffen, vom Frieden
der Felder und vom Brüllen der Schladht, vom Säen und Ernten, von Glück und
Not. Trunfenbolde und nachdenkliche Menfchen, Bauern und Händler, Weihföpfe und
helle Jugend ftellt e8 neben einander. Und wunderbare Mädchengeftalten ftehen dazwiſchen,
herrlich lebensecht, voll gefundheiger Sinnlichkeit — eine immer lebendiger, Eräftiger, plaftifcher
wie die andere. Ich kann hier nicht ausführen, wie man oft gerade aus einem Zuge, der
ſcheinbar nicht zu der Geftalt paßt, den großen Meifter erfennt. Aber die, welche das
Bud leſen — left es alle! — möcht ich darauf aufmerffam machen, wie durch die Er-
zählung des Striegöfameraden (S. 473) von jeinem Kußerlebnis mit der jpröden
Lisbeth Junker die Geftalt des Mädchens, das „Tipp“ (ipröde) ift und nicht fipp ift, be:
jtrahlt und blutvoll wird. Und Lena Tarn — Herrgott, man möchte diefe Dirne aus dem
Roman heraus an feine Bruft reißen, den Rotkopf, der dann jterben muß, der ftirbt in
einer Szene, wie Wilhelm Raabe faum eine größere geichrieben hat.
Es ift genug: einem Buche von foldyer Fülle und Schönheit gegenüber fühlt man,
wie ohnmädhtig die Worte dem Eindruck nadtaften. Ich weiß, daß id) den Jörn Uhl
nicht vergeffen werde, jo lange meine Zeit mir geftedt ift. Und hat diejes kraftſtrotzende,
gemütstiefe, wunderbare, finnenfräftige Bud) wirklich ein Paftor geichrieben?
Dann joll man Viktoria jchiegen bis an fein holjteiniich Pfarrhaus!
1%
Vom deutichen Theater.
Don
Max Marterfteig.
IV.
Die Komödie innerhalb der riftlichen Kultur. — Der Biberpelz und der rote Hahn. — Lebendige
Stunden von Arthur Schnitler.
H" Wurft, der Stammvater und spiritus rector aller deutjchen Komödie, wer
immer auf Seiten der Schelme, Gauner, Betrüger und Diebe, wenn es galt, die Büttel
der Obrigkeit, der weltlichen und der geiftlichen, zu nasführen. Viele hundert Jahr
war das jo, wo liebe Einfalt des alten Thespis jchediges Gewerbe betrieb. Später
haben die geiftlihen Herren den Unband zwar etwas erzogen; in den Balffionen,
Weihnachtsſpielen und Müfterien mußte er fein ehrbar tun. Nur konnte er auf die
Dauer von jeiner Art nicht laffen; und wenn fich jonft im Gange der Dandlung feine
Gelegenheit zu glänzen bot, bändelte der Unhold ſogar, Zoten reigend, mit den heilige
Frauen an, wenn fie den Weg nahmen gen Golgatha. ..
Eine unendlich verichlungene Bahn der Entwidelung ift e8, auf der, jehr langiam
und immer wieder verwirrt und entjtellt, ein Sunftbegriff des Dramas, des Theaters,
bei den germaniſchen, von der antiken Bildung übertündten und zu chriſtlicher Kultur
erzogenen Bölfern fi) herausbildete. Das darf jchlieglih nit Wunder nehmen
die Ideale, die über das Leben der Griehen geftellt waren, die das Wunder:
werk der fozialen Ordnung im alten Indien inmerlich befeelten, und die darım eingiz
bei diejen beiden Völkern der älteren Kultur eine eigengewachſene dDramatiiche Kımt
ermöglichten, taugten den ſpäteren mittelalterlihen Bölfern nit. ihnen wurd
ein neues deal errichtet, leider aber eines, das nicht ihren eigenen Anlagen fi entwirt:
hatte, fondern ein fremdes, aus der Fremde herbeigcholtes, ein feiner heiligenden Wahr:
haftigfeit, feiner bejeeligenden Innigkeit bereits vielfach ſchon entfleidetes: das dei
firchenväterlichen, des Elerifalen Ghriftengeiftes. Mit diefem vermählte jich die Phile
fophie in der Scholaftif, von diefem entlieh ſich die Aefthetit ihre Leitjäge; und an:
diefer derart verquicdten neuen Auffafiung der Weltidee, der Lebens: und Bildungszielr
heraus wurden für viele Jahrhunderte aud das Fünftlerifche Bedürfnis und die fünir
lerifhen Anlagen der Völker befriedigt oder unterdrücdt, gefördert oder gehemmt, jeder
falls aber zu beftimmen verfudht. Die bildenden Künſte zogen daraus den denkber
größten Vorteil und gaben ihren Anregern mehr und Köftliheres zurüd, al —
empfingen: in die lebendigere Ericheinung des menſchlich Rührenden, Innigen, de
leiblihen Schönheit zurückverwandelt dargeboten, erichien der hrijtliche Geift, das neue Aber.
Mar Marterjteig, Bonr deutſchen Theater. 787
frei von jedem logischen Widerſpruch, in ungetrübter Wahrhaftigkeit und immer fiegreich in
dem Ausdruck der weltüberwindenden Verzückung, der gotterfüllten Begeifterung und
Dingabe. In taufend Jahren wird man noch die Schönheit und Innigkeit einer
Holbeinfhen Madonna empfinden.
Weit ungünftiger beeinflußte der neue Weltgeift die Dichtumg und bejonders die
dramatiihen Anläufe Hier ftand das Weſen der Kunftform und das Ziel, dad von
der geltenwollenden Weltanſchauung ihr geſteckt wurde, nur zu oft in einem unheilbaren
Gegenjag. Der meite fittlihe Horizont des griehiichen Tragikers und des griechiſchen
Komiferd war verbaut durch die Leidensbilder der chriftlichen Legende. Und wie die
neuzeitliche Tragödie von vornherein ftatt auf den heroiſchen auf den leidenden Charakter
gejtellt wurde, mußte auch die Komödie, ftatt in lichte, Tachende Höhen der Phantafie,
der Laune emporzuflattern, am Gängelband der Moral glatte Philifterfteige entlang-
wandeln. Diejer beftimmende Gingriff in die noch jugendlichen und unentwicelten
Kunſttriebe der neugeitlihen Völker hat das Theater der riftlichen Kultur in feine relative
Unreife feftgebannt. Und bis in die allerneuefte Zeit, in der Gegenwart noch, leidet es
an dem Mangel einer fünftleriih brauchbaren und das Drama allein ermöglichenden
Weltanfchauung, eines Bildes vom Leben über dem Leben, das nicht asketiſche Tugenden
fordert, und nicht den Menfchen als einen willenloſen Spielball in der Hand eines
fühllofen Schikjals zeigt. Nicht der Mangel an Anftrengung oder an Begabung hat
verurjacht, daß wir feine deutiche Komödie Haben, ſondern der nun ein Jahrtauſend fühlbare
Mangel einer einheitlicd und ftarf empfundenen Idee vom Leben, die dad Leben freudig
betont, bejaht, rechtfertigt und e8 in die Sphäre einer erhabenen Heiterkeit zu rüden erlaubte.
Die fittlihe Grundlage der europäifchen Chriftenkultur ift im Grunde dod über eine
erhabene Refignation — troß des lebendigen Beiſpiels ihres Begründers, der die Er-
füllung des göttlichen Reiches in uns lehrte und forderte, — nicht hinausgefommen.
Diefe aber ift fein Boden, aus dem gerade die Blume der Komödie wachjen könnte.
Wie jedoch falfche Erziehung einmal vorhandene Anlagen nie ausrottet, jondern
immer nur verfümmert, entftellt und ſchließlich böſe macht, jo hat aucd auf diefem
Gebiet der Drud der Bildung, der vielfach) in ſich unwahren und künstlich gezüchteten Kultur,
von Zeit zu Beit immer wieder Ausbrüche der Unreife und der Roheit veranlaßt. Die
Einengung ber fünftlerifchstheatralifchen Bedürfniffe auf der einen Seite, wie fie ſich —
wenige Ausnahmefälle, wie einige geniale Würfe Molieres, wie Shafejpeares und einige
ipanische Komödien abgerechnet — in der neuzeitlichen Komödienlitteratur darftellt, und die—
mangel3 anderer Lebensziele, in unverſchämter Rüpelhaftigfeit fi außernde Luft, der
Wirklichkeit Laftenden Druck abzufhütteln, auf der anderen Seite, das find die
eigentlihen Grundurſachen für die unverföhnlich neben einander laufenden Entwicelungs:
linien: die des europäiichen Kunſttheaters und die der Volkstheater, der Straßen: und
Bretteltunft. Der Brettelfunft nebenbeibemerkt, al3 fie noch urwüchſig und nidht
befadent=perver8 war.
Dieſe ziemlich troftlofe Lage unferes komischen Theaters follte, jo hieß es, Gerhart
Hauptmann überwunden haben. Manchen mag zwar — um ein berühmtes Wort auf ein
anderes Gebiet angumenden — der Beruf unferer BZeitgenofjen, Litteraturgefchichte zu
jchreiben, zweifelhaft ericheinen, — nicht zu bezweifeln aber ift die Thatſache, daß
bu*
788 Mar Marterfteig, Vom deutſchen Theater.
Gerhart Hauptmann’s „Biberpelz“ von ſolchen unberufenen Berufenen leichten Herzen:
Stleiftens „Zerbrochenem Krug“ an die Seite geftellt wurde. Ein Wert, dem Diele
Ehre zu Teil ward, darf Anſpruch auf gründliches Hineinleben maden. Wie nun gar,
wenn dieſem jelben Werke fein Dichter einen zweiten Teil nachzubichten ſich verpflichtet
fühlt! "Das Borurteil gegen „zweite Teile“, das feit Goethe'8 Fauft immer jchnell bei
der Hand ift, darf uns nicht abhalten, der weittragenden Bedeutung dieſer That
Dauptmanns nachzuſpüren. Wie es Unverftand der Banaufen war, bon Goethes
altem Fauſt verächtlich zu reden, wie wir längſt wiffen, daß nur beide Teile der Welt—
dichtung zufammen ein dichteriiche® Ganzes ausmachen, fo werden wir auch den „Biber
pela“ und den „Roten Hahn“ als ein äſthetiſches Ganzes zu begreifen lernen müſſen.
Nietzſche macht briefli einmal zu jeinen Anti:Wagnerjchriften die geiftvolle Be:
merfung, daß es zu gejchmadlos gewejen wäre, Wagner etwa an Beethoven abzu
meilen, daß er darum Bizet, den Komponiſten der Carmen, herangezogen habe. Ich möchte
dem guten Geſchmack Nietzſche's nadeifern und davon abjehen, ernſtlicherweiſe das
Doppeldrama Fauft gegen die Doppel-Diebs-ftomödie Gerhart Hauptmann zu ftellen.
Zumal fie wirffih nah Dugenden herzuzählen find, alle die Spaßmacher, die in
taujenden von jchlecht und recht gezimmerten Theaterjtücden Gerhart Hauptmann die
Mufter gegeben haben zu den ganz unleugbar gelungenen Momenten ironiicher Stomik.
Unfere Großmütter ſchon haben ſich immer entzüct, wenn bei dem jett jo jehr verachteten
Scribe im „Damenkrieg“ der Präfekt Montrihard den als Diener verfleideten und
von ihm gejuchten Verſchwörer Flavigneul bejticht, ihm die Geheimniſſe des Hauſes zu
verraten und ihm beim Ergreifen des Verräters behilflich zu fein. Bei Gerhart Hauptmann
ift aber diefer Effekt zu einer Kühnheit jonder Beijpiel ins „Sozial-Ethifche” geiteigert:
— der Amtsdiener — man denfe! ein Füniglicd) preußifcher Amtsdiener vom Müggelſee
oder „irgendwo um Berlin“, wo der Biberpelz jpielen joll, hält der fauberen Familie
Wolff das Licht, als fie zu nächtlicher Diebesfahrt den Karren rüftet. Und dieſer das
Weltweſen bis in jeine myftifchen Tiefen hinab gründlich beleuchtende Witz, der in den
verjchiedenjten Variationen immer woiederfehrt, ift e8 eben, der Hauptmann neben
Deinrih Kleiſt den Pla anweiſen joll. Der fümmerlihe Scribe freilih hatte nur
gerade Geift genug, diefen Wig einmal zu machen. Immerhin erträgt man im Biberpel
die Hermlichkeit der dee und das Unvermögen, fie an irgend einem Punkte zu vertiefen,
um des, twie früher immer bei Hauptmann, forgfältig geichilderten Milieus, um der paar
Menſchen willen, die er mit jeiner liebevollen Objektivität auch für das Unſympathiſche,
Freche, Banale und jonjtwie eigentlich Unausſtehliche jchildert oder richtiger abjchreibt.
Und damit ift das Beſte gelagt, was von Hauptmann überhaupt zu fagen ift: er iit im
Einzelnen, ijt in der Zeichnung von Charakteren anſchaulich in jo hohem Grade, daß allein
diefer Vorzug die fonft überall zu Tage tretende Unzulänglichkeit für alle die Leute zu
beritecfen vermag, die vom Theater nicht mehr als angenehme finnlihe Unterhaltung
verlangen. Angenehm zwar ift vielen die Art diejer Unterhaltung deshalb nicht, weil fie
fi in diefen Stücken um eine Klaffe unferer lieben Menſchengemeinſchaft dreht, — bei der
die Annehmlichkeit gemeinhin ihr Ende erreicht, um Leute, denen man im Leben lieber
zehn Schritte vom Leibe bleibt. Dem Dichter daraus jedoch einen äfthetiichen Vorwurf
zu machen, mag denen überlafjfen bleiben, die verächtlid von aller Armeleutekunft denken
Mar Marteriteig, Bom deutſchen Theater. 789
und ſprechen. Hauptmann wäre trotdem in der That ein ftarfer dramatijcher Dichter,
wenn er nur überhaupt den Kernpunkt des dramatiichen Schaffens je erfannt hätte. Noch
nicht die weſentlichſte, aber eine wichtige Seite diefer Kunftthätigfeit ift der Sinn für Diftanz
und die Fähigkeit, das Andividuelle jo zum Typiſchen zu erheben, daß es dennoch nichts
von feinem Realismus einbüßt. Dazu muß man fich beim Schaffen von jeinen Geftalten
löſen fönnen; und Hauptmann Elebt an ihnen feſt. Er fann fich nicht von ihnen fort
auf eine weitere Entfernung ftellen, fonft müßte er gewwahren, wie er Gefahr läuft,
felbft den guten Willen feiner Zuhörer zu ermüden. Im „SFriedensfeit“, im „Biberpelz“,
in „Fuhrmann Henſchel“ fchüst davor die fnappe Form; im „Roten Hahn“ gerät er
unerträglich in’3 Breite. In jenen Stücken fteht jede Perſon wenigftens auf ihrem
Platz, ift jede doc notwendig: e8 ftet in diefen früheren Dramen, jedem erfennbar, cin
Stüd ehrlicher Arbeit. Und da früher Hauptmann auch nod) flug und beicheiden genug
war, fich immer an die erprobten Stüde ftarfer, wirklicher Dramatifer bei der Linien:
führung angulehnen, mochte e8 gehen und gelten, jelbft bi8 zum Ausrufen Hauptmanns
als einen neuen Kleiſt. Hier aber im „Roten Hahn“, bleibt nur noch ein Zweifel
darüber beftehen: ob e8 das Produft der Angjt, der Not und der Erſchöpfung, — oder
das de3 Größenwahns ift. Wenn man jo gar nichts mehr zu jagen hat, jollte man
fchmeigen. Das bekommt jelbft ftarten Dichtern zumeilen vortrefflih. Schiller ſchwieg
acht Jahre, — dann gab er uns den Wallenftein und damit einen neuen Stil.
Stleift zürnte dem großen Goethe fein Lebenlang und warf ihm mit vollem Rechte
die gewiß irrige Dramaturgenthat vor, feinen Zerbrochenen Krug, der auf die einheitliche, in
einem Atem, möchte man fagen, fi) vollziehende Abwickelung der Handlung geftellt ift,
in drei Akte und damit den Lebensnerv der Dichtung zerichnitten zu haben. Hauptmann
aber mutet und zur Auseinanderſetzung eine® auf den erften Blick durchlichtigen
Charakters, der in einem kurzen Einafter völlig zu erichöpfen geweſen wäre, acht lange Akte
zu! „Dan langt... man langt nad) was“, find Mutter Wolff-Fieligens legte Worte: fie
jcheinen mir ein Bekenntnis des Dichterd. Man langt... man langt nach was. Und
jchreibt da3 Leben ab und wieder ab: das giebt immer diefere Bücher, giebt in jedem
Jahre eine Aufführung — mit oder ohne Durchfall, aber es giebt im Peben fein Drama
und feinen Dramatiker.
War es nicht genug, Frau Wolff und ihre edele Kumpanei als Lüger, Trüger,
Hehler, Diebe, und fie die wackere Stütze des Ganzen als „ein Weib wie auserlefen zum
Kuppler: und Zigeunerweſen“ kennen gelernt zu haben? Welchen neuen Strid bringt
nun im „Roten Hahn“ das bischen Brandftifterei zu dem ſchon überjatten Gemälde
wohl noch Hinzu? Wenn wir einen nur halbwegs dem Guten überhaupt noch zugäng-
lihen Menſchen in dem inneren Stampfe fähen: den Anblic des armen, blödfinnigen
Knaben, auf den klüglich aber auch durch täppiichen Zufall ber Verdacht des Verbrechens
abgelenft werden konnte, und den feines rohen aber von diefem Jammer doch gebrochenen
Baters zu ertragen, — oder über den Fluch menschlich = Eurzfichtigen Vergeltungswahns
in fich zu gehen: — es wäre mwenigftens ein äfthetifcher Inhalt gegeben. Davon ift aber gar
feine Rede; e8 ift im Gegenteil, und namentlich; im zweiten und dritten Aft ganz erfichtlich,
daß der Dichter durch das Herbeigerren von Motiven, die ganz bedeutungslos find, von Per:
foren, die gar nichts mit der inneren oder äußeren Handlung zu thun haben, einen Gedanken
7% Mar Marterfteig, Vom deutſchen Thenter.
ausdehnte, bis er, jo gut und jo ſchlecht ed gehen mochte, die vier vorſchriftsmäßigen
Akte ausfüllte. Hauptmann nimmt meined Erachtens aud) gar feinen Anlauf zur Dar:
fegung irgend eines zwingenden Zufammenhangs der zeitlihen Erjcheinung mit irgend
einer dee vom Yeben. Er jchreibt ab; aber aus der Abichrift der Mutter Wolffen
vom Müggeljee würde auch ein genialerer Dichter nicht entwiceln fünnen, was eine
moderne deutjche Komödie innerlich beleben müßte: das Ziel eines Lebens über dem Leben.
Diejes Ziel, von den Religionen uns gewiejen oder offenbart, oder von der Philo—
ſophie ald GErfenntnis des Weltweſens uns gelehrt, kann in der Kunſt einen Ausdrud
finden, mächtiger als jene beiden ihn geben fünnen; denn was beim religiöjen Empfinden
den Glauben vorausfegt und in der Wiflenfchaft der Erkenntnis die Abftraftion, das
jeßt die Kunſt in den vollen farbigen Schein de3 Lebens wieder um. Mber nicht
das Yeben, wie es an und für fich ift, bietet die Kunft: nicht die Blume, den Duft der
Blume giebt fie, der in der nachſchaffenden Bhantafie die Blume förperlicd und doch
unförperlih nocd einmal ins Leben ruft. Und diefe Schöpferfreude fteigert fih in den
Schaffenden, wie ein Abglanz von ihr noch den ärmlichiten Kunftempfangenden
beglücdt, bi8 zu dem Gefühl, daß die Welt etwas ift, was von uns dichteriich neu ge-
ichaften werden fann, wenn wir die Kraft aufbringen, uns inmitten ihrer Seele zu ver—
fegen. Den Weg dazu zu mweijen, ift die hohe Aufgabe namentlich de Dramas.
Und aud die Kunſt zu leben, die glüclicherweife zwar nicht von einem bejonderen
Talent abhängig, in unferer verichobenen und jo durd; und durch unwahrhaftigen Kultur
aber äußerst jchwer zu üben ift, fennt ſolche Stunden des Lebens über dem Leben.
Helljehende find wir dann, elyſiſch Geniegende oder von Dämonen Befejfene — aber
immer find fie bedeutiam, außerordentlich, diefe Stunden, und wir fühlen in ihnen, dat
wir einmal mit unferen menſchlichen Organen an das Ewige reichen und mit ihm
uns berühren. Eo etwa dürfte man den Gefamttitel erläutern, den Arthur Schnitler
über feine vier im Deutichen Theater zur Aufführung gebrachten Einakter fegt:
„Lebendige Stunden“. Stunden, in denen wir fühlen, daß wir jelbit unſer Schidjal
find: die gezwungen-freiwilligen Geftalter unferes Erlebens. Der Anlauf Schniglers,
jelbft dieje Fleinen Gebilde, an denen er mit liebevoller Sorgjamkeit und fein
ftimmender Kunſt gearbeitet hat, unter eine dee zu ftellen, die ihnen nicht wie ein
Stempel aufgedrüdt, oder wie ein Etiquette angeflebt wird, die fie vielmehr hervor:
getrieben hat, wie alles eigentlich Schöne in der Kunft, das nad) Hebbels Wort „inneres
Yeben and Licht getreten” ift, muß erfreuen; und beffer, taufendmal beifer thut er, dieje
feine und aufrichtige Kunft feinem Können gemäß auf beicheidene Einafter zu beichränten,
feinem Talent die Zeit zu gönnen, bis aud) ihm die „Lebendige Stunde“ zu einer größeren
That Schlägt, ftatt wie Hauptmann entweder ein zufammengetragenes buntes Märchen:
gewirre mit allenthalben entliehenen, halb empfundenen Weltanfchauungsfragmenten zu
galvanifieren, oder aber ein Stück Natur wie einen Eierfuchenteich in die Breite und
die Länge zu dehnen. Möglich aber ift auch, daß dieje lebendige Stunde ihn ausbleibt
und daß es dabei jein Bewenden hat, wenn er uns von Zeit zu Zeit geihmadvoll
unterhält und die grellen Diffonanzen des wirklich gelebten Lebens zu feingeftimmten
fleinen Walzern, Scherzos und Nokturnos künſtleriſch umkomponiert. Sein Wiener Stück
„Liebelei“, obſchon es gewiß nichts Neues der dee nach bradte, nachdem das „Alles
Mar Marterfteig, BYom beutfchen Theater. 79
verftehen ift alles verzeihen“ nachgerade ein äfthetiicher Gemeinplag geworden ift, durfte
ihon Hoch eingeihätt werden, weil eine jeltene Kunſt hier nicht das Gefehene ängitlich
abgeſchrieben hatte, fondern das der Empfindung entftammende, dichterifch erfonnene
Gebilde mit fo viel reigvoller und in den beicheidenften Linien und Farben gehaltener
Natur umkleidet war. Schnitler kann uns wieder einmal auf das neidiich machen,
was Defterreih, was Wien jchon einmal in einer bei und recht toten Zeit in feinem
Grillparzer vor den anderen Volksſtämmen voraus hatte: das finnliche Element in den dar:
jtellenden Künften, das Vermögen, auch über die fünftlihen Früchte den Reif zu breiten,
als wären fie eben vom Stamme gegriffen. Cine joldje, im Volksweſen beichloffene Kraft
hätte in Defterreich, unter den Kriſen feines nationalen, wirtfchaftlihen und £ulturellen
Lebens ficher nicht jo Tange lebendig ſich erhalten, wenn nicht trog alledem die Ueber—
lieferung gerade der fünftlerifchen und beionders der theatraliihen Kultur in Wien eine
fo reihe und durch mehr als ein Jahrhundert ununterbrocdhene Pflege erfahren hätte.
Nach dem Fiasko des neureihsdeutichen Naturalismus, trotz des Sturmläutens und
Klügelns jo vieler halb oder gar nicht talentierten Qeute, bewährt ſich auch hier der
Eonjervativere Zug der Wiener Schule, die auf Schnikler ftolz fein darf, wie Schnigler
auf fie ftolz fein fann. Ihre ‚Früchte haben den Reif der friihen Natürlichkeit —
aber fie. haben auch meijt ein Merkmal der Ueberreife, der beginnenden böfen Fäulnis
an fih. Man muß fie jo legen. daß man das nicht fieht. Und das trifft ein wenig aud)
auf Schnigler zu. Einen nur bis jegt, den man von allen Seiten betradten kann, und
der an allen Stellen gejund ift, haben die Deiterreicher gehabt: Anzengruber. Anzen—
grubers fittlihe Robuftheit zu Scniglers feinem Talent und wir befämen vielleicht den
modernen deutſchen Dramatiker, den wir jo ſehnlich erhoffen.
Den Handlungsinhalt der Schnigler'ichen Einafter joll man nicht erzählen wollen.
das Was ift da faft gar nichts; das Wie ift alles. Es find eigentlih nur Situationen.
Im eriten (und ſchwächſten) Stüd ift es der Augenblick, wo der Sohn erfährt, daß feine
Mutter freiwillig aus dem Leben gegangen ift, um ihm, dem nach Freiheit durftenden
Künftler die Bahn frei zu machen. Im zweiten Stüd ift es der durch ein Bild blik-
artig juggerirte Traum eines großen, leidenihaftlichen und tragiihen Erlebens, der ſich
ſchickſalbeſtimmend für eine unverftandene Frau erweiſt, die nun aud die Tragödie mit
der heißen Leidenſchaft einem frierenden Leben vorzuziehen fich vafch entichliekt. Im
dritten Stüd find ed die wie von höherer Macht herangerüdten ftarten, Eonzentrierten
Empfindungen, die das Yeben bejtimmt, beglüdt oder entjtellt haben, die nun vor der
Todesſtunde noch einmal in ganzer Kraft lebendig werden. Es find hier die Sole, die
falichen, die unjeligen Hänge, nad; denen der Menſch als nad) den „legten Masten“
(fo heißt das Stück) nochmals mit erjterbender Hand greift. Und im vierten lujtigen
Satyripiel ift es die unfreimillige Komik, die das Leben als mwitiger Künftler oft dann
zur Verfügung hat, wenn leichtjinnige, recht Fehlerhafte, aber im Grunde doc moraliſch
gar nicht zu belangende Menſchen — aus der Bohöme-Welt jenfeits von Gut und
Böſe — eine übelfte Suppe fid) eingebrodt haben. Yujtiger und mit leichterem be-
freienden Humor ift die Zigeunerei der Allerneueiten, ift ihr der Moral fich entwindendes
Flägliches Uebermenſchentum noch nicht verjpottet worden.
$
AREA e88898
Mufikaliihe Rundſchau.
Von
Leopold Schmidt.
II.
DD: heurige Stonzertfaifon hat uns in ihrem weiteren PBerlaufe nichts eigentlich
Neues, Ueberraihendes gebracht. Es waren mwohlbefannte Künftler, die ſich hören
ließen, wenigſtens ſoweit fie als von Bedeutung hier in Frage fommen, und erft die
zweite Hälfte de3 Januar verfpricht wieder einige bemerfenswerte Novitäten. Und
dennoch find gerade die legtvergangenen Wochen in einer Beziehung jehr anregend ge
wejen, weil in ihnen die klaſſiſche und die moderne Richtung ſich ſcharf gefreuzt und zum
Nachdenken herausgefordert haben. Die Spannung zwilchen den reaftionären und den
fortfchrittlich gefinnten Elementen unjerer mufiftreibenden Kreiſe wird immer fühlbarer,
die Klärung der Anſchauungen über gemwiffe Grundprinzipien immer unerläßlicher, und
die Auseinanderiekung darüber wird, wie es fcheint, bald wieder in den Bordergrund
des öffentlichen nterefjes treten. Schon heut fann man wahrnehmen, daß im Publikum
das Mißbehagen wächſt. Wer viel Gelegenheit hat, Konzertbefucher zu beobadjten und
zu fprechen, fommt zu einer Sammlung von Urteilen, die oft in jchroffem Gegenjat zu
dem äußeren Erfolg der Aufführungen ftehen. Die Sehnſucht nad den nerven—
berubigenden Genüſſen, die der alten Meifter Mufif gewährt, wird immer bewußter mad,
und gar mancher, der eine Zeitlang ehrlih „mitgemacht“ hat, jchüttelt das Verlangen,
fi) in die neuefte Tonkunſt zu vertiefen, wie einen läftigen Zwang ab und atmet befreit
auf, wenn es ihm gelungen ift, fich zu entjchloffener Stellungnahme durdjguringen. Das
find trübe Anzeihen! Wir müffen uns geftehen, daß wir in einer wenig erquidlichen
Reit leben, und ſchwer hat es die Kritik, die ja die fommende Entwidelung fördern,
allem Neugearteten Yiht und Raum erfämpfen joll, deren Stolz es wäre, in auf:
richtiger Begeifterung für eine große That, eine große Perfönlichkeit eintreten zu fönnen!
Die Furt vor der Blamage, vor dem Urteil einer jpäteren Zeit und die Erinnerung
an die zur Vorfiht mahnenden Irrtümer voraufgegangener Epochen dürfen nidjt jeder
neuen Erſcheinung zu gute kommen; fie verlieren fchließlich auch ihre Macht, wo
wiederkehrende Eindrüde und Thatſachen ſich geltend machen, die wir uns glauben
erflären zu fünnen, und jo wird aud; der Wandlungsfähigfte unter Umständen, wenn:
gleich widerwillig genug, zum laudator temporis acti.
Wohin die Tendenzen führen, die fich für das Schaffen der jüngeren Symphoniker
als maßgebend erweilen, zeigte der dritte Strauß:Abend im Neuen Königlichen Opern:
theater, an dem Guſtav Mahler feine vierte Symphonie dirigierte. Mahler ift zweifellos
Leopold Schmidt, Muſikaliſche Rundichau. 793
ernjt zu nehmen; ex ilt einer von den großen Könnern, an denen unfere Zeit jo merk—
würdig reich ift. Mit Begriffen wie Routine, Technik und dergleihen kommt man ihm
gegenüber nicht aus; es liegt in feiner Art, ſich mufitalifch zu äußern, eine geniale Be-
gabung. Was für ein hervorragender Mufifer er ift, hat ja Mahler auch in feiner
Kapellmeifterthätigkeit zu Hamburg und Leipzig bewiejen, und feine Leitung der Wiener
Hofoper zeugt von einem organijatoriihen Talente, das mehr als Achtung abnötigt.
Seine Bearbeitung der von Weber unvollendet hinterlaffenen Oper „Die drei Pintos“
ließ erkennen, ein wie entwidelter Sinn für Intimität ihm innewohnt. Diejer feine und
fluge Kopf verliert fi) nun in feinen ſymphoniſchen Wrbeiten in ein abjtrujes Ton—
geipinft, deifen Fäden abfichtlid) verworren erjcheinen, das vor lauter interefjanten
Einzelheiten es zu feiner großen, einheitlichen Wirkung bringt. Man fünnte annehmen,
wir feien noch nicht reif, diefe Sprache zu verftehen, wenn fie nicht überall da, wo fie
etwas geradeheraus jagt, zu trivialen Gemeinplägen herabjänfe. Und hier haben wir
den wunden Punkt, an dem all jene Mufif Eranft, für die Mahlerd Symphonie,
wenn fie auch ihr Ertrem darftellt, typiſch ift: der Gedanfengehalt fteht in feinem Ver—
hältnis zu den aufgewendeten Mitteln. Nicht das Neue, Komplizierte an ſich ftört uns;
wir würden uns daran gewöhnen, uns hineinleben, wenn die Herren uns wirklich Eigen:
artiges, Hörenswertes zu fagen hätten, wenn ſich aus dem krauſen Wellenmeer der
Töne ein Harer, großer Gedanke Loslöfte! Dann würde auc der Bergleid; mit der
Bergangenheit ftimmen, dann künnten fi die Neuerer auf Wagner und Beethoven be—
rufen, deren neue Epradje ja auch nicht von allen gleich verftanden wurde. Was aber
gleich verſtanden oder doc) geahnt wurde, war die majeftätiiche Pracht ihrer Gedanken—
welt, der zu Liebe fich die Art de8 Empfinden und der PVorftellung einer ganzen
Generation allmählich umgemodelt hat. In wie einfachen, faft Elaffiihen Linien zeichnen
jih die Wagnerjchen Gebilde ab, vergleicht man fie mit den krauſen Federzeichnungen
unferer Modernen! Bei den wirklich großen Meiftern findet fi) nie Abfonderliches:
exit der unerhörte, formiprengende Gedanke jchuf fich neue Ausdrucdsmittel, die durch
ihn gerechtfertigt find. Yautete doc; ein Ausſpruch des Bayreuthers: man folle fo lange
in einer Tonart bleiben, bis ein zwingender Grund vorläge, fie zu verlaffen. Sieht man
dem gegenüber, wie mancher moderne Komponift fein Heil lediglich in dem Wechjel von
Ton, Takt und Farbe fucht, wie nichts übrig bliebe, entkleidete man jeine Gebilde diejer
äußerlicyen Reize, jo fann man nicht mehr an eine glückliche, oder auch nur konſequente
SFortentwidelung glauben. Worauf wir unter feinen Umftänden verzichten, ift und bleibt
die Erfindung. Ich fage abſichtlich: „Erfindung und nicht „Melodie. Frühere Zeiten
fahen den Erfindungsmwert eines mufifaliihen Kunftwerfes allerdings vorwiegend in
feiner melodifhen Linie; das hat ſich injofern geändert, al3 wir aud für die Wir-
fungen der Harmoniefolgen, der Polyphonie und der thematischen Verarbeitung empfäng—
licher geworden find. Immerhin muß es etwas Gedankliches fein, das die Phantafie,
je prägnanter deſto unmiderftehlicher, gefangen nimmt. Man hat gejagt, um den Gehalt
einer Orcheiterfompofition zu erkennen, müffe man fie auf dem Klaviere jpielen ; alle
großen Meiſterwerke vertrügen diefe Uebertragung, wie ein inhaltreihes Gemälde noch
als Photographie wirft. Nun made man die Probe mit der neueften Orcheftermufif,
und es wird fich zeigen, daß wir fie — wenige Werfe vielleiht ausgenommen — in
794 Leopold Schmidt, Muſikallſche Rundſchau
Bezug auf ihren Erfindungsgehalt nit allzuhoch einzuihäten haben. Schwerer jedoch
wiegt noch der Umftand, daß mir bei den Nachfolgern Liszts wie bei diefem jelbit jo
häufig auf eine fühliche, im Grunde wenig originelle Melodif oder, wie bei Mahler, auf
eine durch billige Mittel zu erreichende Volkstümelei ftoßen. Die fonjequente Ber:
brödelung des mufifalifhen Gedanfens in Fleine, phnfiognomieloje Motive Fönnte
immerhin noch als die letzte Folgerung des berrichenden Prinzips gelten, wenngleich fie,
wie auch das übertriebene Spiel mit Orchefterfarben und die Ausnutung der äußerften,
dem Ohre faum noch erträglichen Klangfülle einem Hauptariom aller Aefthetif wider:
ftreitet, nach dem das Maßvolle ein notwendiges Attribut des Schönen ift.
Am gleihen Abend führte Rihard Strauß drei neue Gefänge von Friedrich Röſch
vor, die Fräulein Plaichinger, die neue Vertreterin des dramatifchen Faches an unjerer
Dofoper, mit volltönender, aber nicht gerade zu beträchtlicher Feinkunſt erzogener Stimme
fang. Die Lieder find, ohne fonderlicd originell zu fein, hübſch inftrumentierte, wirkungs—
volle Tonſtücke. Und doch mußten fie Bedenken erregen, weil das ganze Genre eine
wenig glüdlihe Bereicherung der Geſangsmuſik darftell. Das mit Orcheſter begleitete
Lied droht fich einzubürgern wie alles, was der Sucht nad Neuem entgegenfommt,
aber hoffentlid nicht auf lange. Wenigstens dürfte fich nur felten ein Tert finden, der
einen jo reichen Begleitungsapparat aus innerer Notwendigkeit verlangt. Die meiften
Gedichte verlieren dabei ihr Beſtes und werden Fünftlich zu etwas aufgebaufcht, das fie
doch nicht vorstellen können. Unwillkürlich wird der Komponift beeinflußt und arbeitet
auf den Effekt, der Sänger aber fieht fich genötigt, feinem Vortrag ftarfe Lichter auf:
äufegen, und beides ift, zumal bei einfachen Inrifchen Ergüffen, vom Uebel. Bier zeigt
fi offenbar der Fluch der böfen That, dag man überhaupt angefangen hat, Lieder in
die Programme großer Orcefterfongerte aufzunehmen. Die Sänger bemerften gar bald,
daß es eine undanfbare Sache ift, zwiichen einer modernen Tondihtung und einer
Beethovenihen Symphonie Einzelgefänge am Klavier vorzutragen, und griffen natürlich
gern nach der effeftvolleren Neuerung.
Wir jehen aus diefen und ähnlichen Borgängen, daß es um das Stilgefühl nicht
nur des Bublifums, ſondern aud der Künſtler eigentlih ſchwach beftellt ift. Sonſt
wäre auch eine andere Neuerung nicht zu erklären, die fait ſchon an äſthetiſche Ber:
wilderung grenzt. Ich meine die fogenannten „Lebenden Lieder“, die erft unlängft in
dem neu eröffneten Trianon-Theater Otto Bierbaums wieder auftaudhten und vermutlich
das Furzlebige Unternehmen überdauern werden. FFranzöfiiche Komddianten (gelegentlich
des Baftipiels der Pariſer „Roulotte*) haben die dee nach Deutichland getragen. E3
fiel ihnen zwar nicht ein, Gounod'ſche oder Mafjenet’iche Lieder „lebendig“ machen zu
wollen, aber nicht ohne einen gewiſſen charme ftellten fie Feine lyriſche Szenen dar,
deren Sentimitalität gewöhnlich jo unwahr, wie die Art der Wiedergabe war. Man
hätte ihnen das gelegentlid) ohne Schaden nachmachen fünnen, vorausgefett, daß ſich
ebenjo paſſende Sachen dafür vorgefunden hätten oder gedichtet wurden. Leider ent:
widelte fi) aber aus diejer Anregung in unklaren Köpfen die Theorie, daß überhaupt
das Lied ſzeniſch dargeitellt werden könne und dadurch an Eindrudf gewänne. Cine neue
Kunftgattung jchien gewonnen und wurde denn auch fofort geichäftsmäßig ausgenukt.
Unvergeklich ift mir die erfte Probe, die ich davon zu jehen befam. Belannt ift das
Leopold Schmidt, Mufitalifche Rundſchau. 795
Bungert'ſche Lied nad) einem Terte der Carmen Splva, in dem uns der Schmerz eines
einfam in der Nacht vergeblich ihres Gatten harrenden Weibes geichildert wird. Nun
denfe man ſich auf der Bühne eine Dame in Schwarz, die auf einer Bank fitend mit
allerhand Körperbewegungen dieſes Lied fingt! Giebt es etwas Lächerlicheres? ein
größeres DVerfennen der intimften, eigenften Reize einer Sunftgattung? Mas
uns der Vortrag des Sängers ergreifend vor die Seele führen könnte, ericheint förmlich
parodiert, und das, worin die geheimnisvolle Kraft aller Lyrik ruht, die Mitthätigkeit
der Phantafie, wird lahmgelegt. Verwunderlich ift es nur, daß in einer geijtigen Metro:
pole, in einer Stadt, in der doch fo reichlich) und doch auch fo ernithaft der Kunſt ge-
opfert wird, dergleichen möglich ift, ja daß fogar ein gewiſſes Intereſſe für folche
Darbietungen fich regen Fonnte.
Man braudıt übrigens nicht fo weit herabzufteigen, um den Mangel deſſen zu em:
pfinden, was wir unter „Stilgefühl” zu begreifen pflegen. Er zeigt fi) jchon häufig
genug im vornehmen Konzertfaal. Und auch hier wieder ift e8 das Lied, das am meiften
darunter zu leiden hat, das Lied, das eigentlic) garnicht in den Konzertſaal gehört, das
jeinen Heimatboden in der Familie, im Haufe hat. Um es in die Deffentlichfeit verpflangzen
zu können, bedarf es eines feinen Empfindens für die Grenzen, in denen ſich der poetifche,
Ausdruck zu bewegen hat. Das Lied, im Befonderen das Lied der deutſchen Meifter
verträgt feine Schauftellung, weder auf der Bühne, noch als Paradeftüdk des Vortragenden
im Konzerte. Wie wenige aber der unzähligen Liederfänger befiten fo viel dichteriiche
Kraft, fo ficheres Geftaltungsvermögen, um reine Wirfungen zu erzielen. Die üblichen
„Liederabende*, in denen irgend eine unintereflante Perjönlichkeit von Zeit zu Zeit aufs
Bodium tritt, um fi) in mehreren, von einander unabhängigen Stimmungen, womöglich
in zwei oder drei verfchiedenen Spraden zu produzieren, find ein fünftleriiches Unding,
find wohl der ſchlimmſte Auswuchs unjeres Konzertlebens. Wir find freilih fo daran
gewöhnt, daß wir das kaum noc empfinden. Meift ift es ein Zuwenig an Darftellungs-
fraft, das eine öde Langeweile im Saale verbreitet; in einzelnen Fällen wirft wiederum
ein Zuviel abftogend auf den feinfühlenden Hörer. Früher waren in diefer Beziehung
mit Recht die Bühnenfänger im Konzertjaal gefürchtet, jett haben wir auch Liederſänger
von Beruf, die die Grenzen ihrer Sonderfunft nicht einhalten wollen oder fünnen und
jo den Geſchmack ungünftig beeinfluffen. Bei aller Berehrung, die man dem ewnften
Streben und der ehrlichen Künftlerfchaft Ludwig Wüllners ſchuldet, kann man gerade
ihm nicht von dem Vorwurf freifprechen, ein irreleitendes Beifpiel zu geben. Sein letztes
Konzert, in dem er vom Slomponiften begleitet ausjchlieglich Lieder von Richard Straufz
jang (mie er in dem vorhergehenden joldhe von Brahms gewählt hatte), berechtigte aufs
neue zu diefem Ausſpruch. Wüllner will meift zu viel geben. Bei ihm ift es, obgleich
aud) er von der Bühne gekommen, nicht die Sucht, drantatifch zu wirken, was ihn
zur llebertreibung des Ausdrudes verleitet; es ift vielmehr ein Uebermaß an Leiden:
Ichaftlichkeit, das ihn beherricht, das Verlangen, das im Yiede Schlummernde reſtlos zu
enthüllen, und nicht zum wenigſten fein ftimmliches Unvermögen. In dem vergeblichen
Ringen mit feinem Organ, dem er das Möglichite abzutrogen fucht, fieht er fich genötigt,
zu den Ausdrudsmitteln der Deflamation und des Minenfpieles zu greifen. Im Liede
aber ift es doch immer nur der innerlid; belebte, bei aller Charakterifti frei und ſchön
79% Leopold Schmidt, Mufikalifche Rundſchau.
gebildete Ton, der dem Hörer den vollen, ungetrübten Genuß erſchließt. Selbft die
bedeutende Suggeftionskraft, die Wüllner unleugbar ausübt, vermag nur zuweilen dar—
über hinwegzutäufchen. Geradezu unleidlich aber wirfen diejenigen, die es ihm nachmachen
möchten, ohne die gleiche nnerlichkeit, das gleiche tiefpoetiihe Empfinden zu befiten.
Unter den Sängern, die in diefem Winter an uns vorbeigogen, waren es bisher
wiederum Lilli Lehmann und Raimund von zur Mühlen, denen man die Palme zu—
ſprechen muß, die, troßdem fie ftimmlich fich nicht mehr auf der Höhe befinden, die
echtefte Liederkunft vertreten. Eine junge Sängerin ift auf dem beftem Wege, fich ihnen
als Lyriferin im großen Stile an die Seite zu feten. Therefe Behr hat an zwei
Abenden, die fie im Beethovenfaal gab, gezeigt, daß fie jomwohl an Bertiefung des Aus—
druds wie an Selbftändigfeit des Geftaltens noch bedeutend gewonnen hat. hr edler,
weicher, freilich in Umfang und Fülle des Tones etwas beſchränkter Alt ift ein gefügiges
Drgan, dem es nur bei Sraftftellen an dem wünfchenswerten Glanz gebridt. Ahr
Bortrag ift bis ins Einzelne durddadt; aber die Antelligenz, mit der fie ihre Mittel
verwendet, würde nicht halb den Eindrudf machen, wenn ihr Gejang nicht zugleich auch
die mufifalijch-poetiche Seite fo lebendig hervortreten ließe. Die Wiedergabe der Schu:
mannſchen „Dichterliebe* war in diefer Beziehung meijterhaft. Ausdrucksvoll bis zum
Ergreifenden und dabei doch maßvoll, jo geftaltete Thereje Behr den Bortrag und wahrte
dem Liede das, wodurd; ed am tiefiten auf uns wirft. Cine andere Altiftin, Lulu
meiner, darf in demjelben Sinne gerühmt werden. Aus ihrem Gejange, der fich einer
wacjenden Beliebtheit erfreut, jpricht ein lebhaftes Temperament; ob fie Ernftes oder
Deitered, Stlaffiihes oder Modernes giebt, es ift alles von einem geläuterten
mufifaliihen Geſchmack geleitet. Starke, aber verhaltene Empfindung, die zu
dem jeltfam verjchleierten Klang feines ungefügen Baſſes paßt, die aber gelegentlich um
jo gewaltiger hervorbricht, verleiht dem Liedgejange Hermann Guras jeine Wirfungsfraft.
Aud er gab einen Ridard Strauß: Abend und machte und mit einigen der felten
gejungenen Lieder diejes Stomponiften befannt. Als Vertreterin des Ziergefanges feierte
in einem Nikiſch-Konzerte die Dresdener Primadonna Erifa Wedekind Triumpbe. Ihre
phänomenale Höhe und Koloraturgewandtheit, vor allem der tadelloje Triller erregten
die Bewunderung und den Neid der Berliner.
Unter den Inſtrumentiſten waren die hervorragenden Geiger diesmal nicht jo
zahlreich wie im vergangenen Winter. Zwei Franzoſen, der elegante Henri Marteau
und Joſeph Debrour find als die Bedeutendften zu nennen, abgejfehen davon, daß man
die Freude hatte, Joachim außer an feinen Uuartettabenden auch mehrmals joliftiich
in Konzerten zu hören. Debrour interejfierte hauptfächlicy durch feine Programme, in
denen er eine Reihe jonft nie gehörter Biolinfonaten des 17. und 18. Jahrhunderts von
franzöfifchen und italienischen Meiftern zu Gehör bradıte.
Um fo reiher waren die Darbietungen auf flavieriftiichem Gebiete. Unter den
Pianiften diejer Saiſon finden wir die glängenditen Namen, wie Eugen d’Albert, Emil
Sauer, Terefa Carreño u. A. Leopold Gödomwsty, der ſich gleich bei feinem eriten Auf:
treten in die vorderite Reihe geftellt hat, befeftigte feinen Ruf ſowohl als Solift eines
der großen Philharmonifchen Konzerte, wie in zwei eigenen Klavierabenden. Godowski
ift jo zu jagen eine Spezialität. Das enorme techniſche Können, in dem er wohl feinen
Leopold Schmidt, Muſikaliſche Rundichau. 797
lebenden Rivalen befigt, ift bei ihm von allem Sraftmeiertum befreit. Die zierlichen
fleinen Hände gleiten über die Taften und überwinden die raffinierteften Schwierigfeiten
mit unfehlbarer Sicherheit und dabei ganz unauffällig. Diejer wahrhaften Eleganz
des Spieles entipricht ein feinfühliges mufifalifches Naturell, das alle frafjen Wirkungen
ängftli” vermeidet. Godowsky ift feiner von den genialen Interpreten, die durd)
Temperament und kraftvolle Darftellung hinreißen; aber jein Klavierſpiel feſſelt durch
Vollendung und Geihmad. Cine rege Phantafie befundet fi) in den ganz originellen
Kombinationen Chopinſcher Etüden. Iſt dies mehr Spielerei als eigentliche Kunft, jo
find Bearbeitungen wie die der Weberfchen „Aufforderung“ als geradezu unfünftlerifch
aus dem Sonzertfaal zu weilen. Man darf nidyt daran denfen, wenn man des fonft jo
geſchmackvollen Mannes froh werden will.
Einen vortreffliden Eindrud binterliegen die Konzerte, mit denen fi der in
Frankreich und Belgien hochgefchätte Arthur de Greef bei uns einführte. Seine Stärke
liegt in der Darftellung moderner, im bejonderen frangöfiiher Werke. Saint Sa&ns
G-moll-Konzert von ihm zu hören, war eine wirfliche Freude, jo ſauber und glänzend
war die techniiche Ausführung, fo geiftreidh und ſchwungvoll zugleid; der Vortrag. Aus
der Schar der übrigen feien ſchließlich noch zwei Anbdividualitäten herausgegriffen, die
den denkbar größten Gegenjag zu einander bilden. Die Münchener Pianiftin Frau
Langenhan-Hirzl kann ihr Temperament nicht bändigen, jobald fie den Flügel berührt;
mit einer Leidenjchaftlichkeit, die nie ihren Reiz verfehlt, ſtürmt fie dahin und darf ſich
dabei auf ihr ficheres Können verlajjen. Arthur Schnabel im Gegenteil wei ſich troß
feiner jungen Jahre jo völlig zu beherrichen, daß ihn ſelbſt die Deffentlichkeit nicht in
jeinem Hang zur Grübelei ftört. Mit einer föftlihen Zurüdhaltung führt er feine Ab-
fihten am Flügel aus, bereitet er alle Effekte vor und ſchwelgt in dem Zauber jeines
Jammetweichen Anfchlages. Sein Können, das muſilaliſche wie das technifche, ift ſchon
jet ein ungewöhnliches. Man hegt nur den Wunfch, daß er mehr aus fich heraus:
treten, fich mehr gehen laffen möchte. Gelingt ihm dies, fo wird Arthur Schnabel nod)
bon fich reden machen. Es ſteckt Schöpferfraft und finniges Poetengemüth hinter diefer
Berichloffenheit, das fühlt man aus jedem Ton heraus und aus dem Ernst, mit dem der
junge Künſtler fi in feine Aufgaben vertieft.
Während die Berliner Hofoper von den angekündigten Novitäten bisher nur Alfred
Sormanns ſchwächliche „Sibylle von Tivoli” herausgebradt hat, im Friedrih Wilhelm:
ftädtiichen Theater dagegen eine luftige Operette von Bictor Holländer („Der rote
Koſak“) fich eines freundlichen und, wie es jcheint, nachhaltigen Erfolges erfreut, hat
inzwiſchen in Hamburg die vielbeiprochene Oper „Louife“ von Charpentier ihren Einzug
gehalten. Bielleiht haben mir ſchon bald Gelegenheit, und mit dem Werfe, das jeiner
Zeit in Paris fo viel Auffehen herborrief, näher zu beichäftigen.
®
Der elektrildie Schnellbahnwagen.
Von
Paul Beyck.
De Studien-Geſellſchaft für elektriſche Bahnen hatte den Firmen Siemens & Halske
und der Allgemeinen Elektricitäts-Geſellſchaft die Aufgabe geftellt, je einen eleftrijchen
Schnellbahnwagen zu bauen, um damit die erften grundlegenden Verſuche auf der König:
lichen Militärbahn Marienfelde—Zoffen bei Berlin zu maden.
Bereitd im Jahre 1899 hatte die Firma Siemens & Halske auf ihrer Probeſtrecke
an der Teltowerjtraße die für die Entwidlung der eleftriidhen Fernbahnen ungemein
wichtige Erfahrung gemacht, daß es möglid) jei, hochgeſpannten Wechſelſtrom durd
Schleifbügel direkt dem fahrenden Wagen zuzuführen. In Deutſchland war man bislang
zu dieſer Frage noch nicht gedrängt worden, denn die üblichen Straßenbahnen mit ihren
kleinen Entfernungen fommen mit Gleichſtrom von 500 Bolt Spannung aus, und wo
ein foldhes Straßenbahnnek weiter ausgebaut ift und bon mehreren Sraft-Gentralen
aus gefpeift wird — wie z. B. in Hannover — benugt man zwar hochgeipannten Wedel:
ftrom in Form von Drehftrom zur Fortleitung der eleftrijchen Energie längs der weiten
Außenftreden, formt diefe aber in paflend gelegenen Unterjtationen mitteld laufender
Maſchinen in Gleichſtrom von 500 Volt um und führt fie in diefer Form durd) den Fahr:
draht und Scleifbüigel den Wagenmotoren zu. Bei langen Bahnjtreden, wie dieje für
die Schnellbahnen in Betracht fommen, würde diefe Ummandlung in Gleichſtrom zu
umſtändlich und Eoftjpielig werden, und jo waren denn die erfolgreichen Verſuche mit
direkt zugeführtem hochgeipannten Drehſtrom ungemein wertvoll und bewirften, daß
diefe Form der elektriichen Energie von der Studien:Gejellihaft dem Betriebe der neuen
Probewagen zu Grunde gelegt wurbe.
Drehftrom (dreiphafigen Wechfelftrom) wählte man, weil die Drehftrommotoren
große Vorzüge vor den mit ein- oder zweiphafigem Wechſelſtrom gejpeiften Elektromotoren
haben. Ferner war leitender Grundjag, einzelne jelbftändig fahrende Wagen zu bauen,
alfo nicht Lokomotiven mit Anhängern, jondern Wagen, die nad) Art der Straßenbahn:
wagen neben den Motoren und Apparaten die Räume für die Pafjagiere enthalten.
Die von der Studien-Gefellihaft geftellte Aufgabe lautete etwa: Verlangt wird
ein Wagen, der bei einem Faſſungsraum von etwa 50 Perſonen und einem Höchſtgewicht
von 96 t eine Fahrgeichtwindigkeit von 200 bis 220 km in der Stunde erreicht; die
eleftriiche Straft wird in den Fahrleitungen als dreiphafiger Wechielftrom mit einer
Spannung von 10000 Volt zwiſchen je zwei Leitungen zugeführt. Der Wagen erhält
zwei dreiachfige Drehgeftelle und muß von jedem Ende aus bedient werden fünnen.
Beide Firmen haben diefe Aufgabe unabhängig don einander gelöft und haben, wo
die Unterlagen und Erfahrungen für eine Stonftruftion fehlten — und wo fehlten dieſe
Paul Heyd, Der elektrifche Schnellbahntwagen. 7%
bei dem durchaus neuen Projekt etwa nicht — umfangreiche Verſuche und Studien
gemacht, um zuverläffige Unterlagen für die Berechnung und Konftruftion zu erhalten.
Da ift zunächſt der Kraftbedarf des Wagens. Nach den im Eifenbahnbetriebe
geiammelten Erfahrungen war von vornherein anzunehmen, daß der Luftwiderftand, den
das Fahrzeug bei voller Fahrt zu überwinden hat, den Hauptteil des gejamten Be-
wegungswiderftandes ausmachen würde. Die im Eifenbahnmwefen dafür benugten Formeln
fonnte man für diefe hohe Gejhwindigkeit nicht mehr anwenden. Es wurden darum
Berjuche über die bei ſolcher Geſchwindigkeit auftretenden Luftwiderftände gemacht mit
im Kreiſe bewegten Flächen und Körpern und daraus ein Hraftbedarf von etwa 1000 PS
berechnet. Dieje Leiftung wurde der Beredinung der Motoren zu Grunde gelegt und
dabei gefordert, daß diefelbe bis auf 3000 PS vorübergehend gefteigert werden kann.
Zum Vergleich ſei erwähnt, daß eine Schnellauglofomotive der Staatsbahn bei
einer Gejchwindigfeit von 90 km in der Stunde etwa 600 bis 700 PS entwidelt.
Durch die gejtellte Aufgabe und das technifch Gegebene ſowohl als auch durch die
Rückſicht auf abjolute Sicherheit der Paſſagiere, ſowie die Notwendigkeit, bei geringftem
Materialgewicht und Raunbedarf große Kräfte zu entfalten und zu regeln, haben beide Aug
führungen des Wagens eine gemeiniame Grundidee erhalten, die etwa die folgende iſt:
Der hochgeipannte Drehitrom, der in drei übereinander angeordneten, etwa 11 mm
jtarfen Kupferdrähten an der Strecke jeitlih entlang geführt ift, wird dem Wagen
mitteld Schleifbügeln vom Dache aus zugeführt. Diejer hochgeipannte Strom ift zur
Arbeitsleiftung diveft nicht geeignet, jondern wird durd Transformatoren — ruhende
(nicht rotierende) Apparate aus Eifenblechen mit zwei Kupferdrahtwidlungen — in Dreh
ftrom von niedriger Spannung umgeformt und in diefer Form den vier Motoren zu:
geführt. Diefe find direft auf die vier äußeren Achfen der beiden dreiachfigen Dreh:
geftelle aufgejegt und treiben jomit ohne jede Uebertragung die Laufräder des Wagens
an. Entſprechend der geforderten Gejamtleiftung bon 1000 bis 3000 PS hat jeder Motor
250 bis 750 PS zu leiften. Die Gejchwindigfeitsregelung der Motoren und damit aljo
die der Fahrgeſchwindigkeit erfolgt durch Widerftands-Regulatoren, jog. Anlaffer, die von
jedem Ende des Wagens aus bedient werden fünnen. Alle Teile find möglichjt leicht
ausmechjelbar und jedes Drebgeftell ift unabhängig vom anderen zu bethätigen, ſodaß
beim Schadhaftwerden eine Teiles der Ausrüftung der andere noch betriebsfähig bleibt,
aljo zwei Süße von Apparaten, mithin zwei Stromabnehmer (Scleifbügelfyfteme), zwei
Transformatoren, zweimal zwei Motoren mit je einem Anlafier. Alle Apparate find
gegen das Berühren von feiten des Publikums gefichert, find mithin entweder in einem
bejonderen Upparatenraum und unter dem Wagen angebracht oder fämtlih unter dem
Wagenboden und hinter den Siten in den Längswänden des Wagens angeordnet mit
möglichft gleihmähßiger Verteilung der Gewichte. Da die Transformatoren, Motoren
und Anlaffer mit Rückſicht auf geringes Gewicht jo klein wie möglich gemacht wurden,
jo erwärmen fie ſich ftarf und müfjen gefühlt werden. Es lag nahe, hierzu die durch
die Fahrt entitchende Zugluft zu benugen, und dies ift auch in ergiebiger Weife durd)
Anbringung von Kühlſchlitzen und Windfängen geichehen.
Auch die Äußere Form und Größe der ganzen Wagen, deren mechanischer Teil
von der Firma van der Zypen und Eharlier in Cöln geliefert wurde, und die im ganzen
800 Paul Heyck, Der elektrifhe Schnellbahnwagen.
einem D-⸗Zug Wagen gleichen, iſt einander ziemlich ähnlich; der Wagenkaſten iſt etwa
22 m lang und 2,6 bezw. 2,8 m breit und hat für 50 Perſonen Sitzplätze. Er hat ver—
ichiedene Abteilungen, die durch einen Längsgang mit einander verbunden find. Für gute
Ventilation ſowie für reichlihe Erhellung durd viele Fenſter an den Seiten und
Stimmänbden und elektriſche Beleuchtung ift gejorgt.
In allen Konftruftionseinzelheiten, vom Stromabnehmer an bis zur Federung der
Uintergeftelle hinab find die beiden Wagen durchaus verichieden. Wejentliche Unterjchiede
liegen in der Höhe der den Motoren zugeführten elektriihen Spannung, die bei dem
einen Wagen 435 Bolt, bei dem anderen je nad) der Schaltungsart 1150 bezw. 1850 Bolt
beträgt, und in der Art der Regelung der Motoren. Während die eine Firma leicht
bewegliche Anlaffer mit umlaufender Flüffigfeit benust, die vom Wagenführer durch ein
Dandrad eingeftellt werden, benußt die andere Firma eine eiwaß ſchwerere Konftruftion,
Anlaffer mit Widerftandsbleden und Schaltwalzen, deren Bethätigung von Hand für
den Führer auf die Dauer eine zu große Anftrengung fein würde. Da nun für die
Bremjung der Wagen neben der mechaniſchen und elektrischen Bremſe eine Yuftdrud-
bremfe (wie bei den Staatsbahnen) vorgejchrieben ift, jo wird bier dieje Luftdrudanlage
zugleih zur Schaltung der Anlaffer benugt mit Hülfe von Preßlufteylindern und
Bahnftange.
Bei beiden Ausführungen find alle zur Steuerung des Wagens erforderlichen
Apparate am FFührerftande am jeweild vorderen Wagenende vereinigt.
Für die Erfahrungen, die man an dieien beiden, unter gleihen Bedingungen und
für die gleihen Anforderungen mit fonftruftiv gänzlich verfchiedenen Mitteln erbauten
Wagen wird machen fönnen, ift diefe VBerjchiedenheit und die Möglichkeit des Vergleichs
von hohem Werte.
Die Fahrverfuche felbft find laut Mitteilung der Studien-Geiellihaft an die
Elektrotechniſche Zeitichrift feit Anfang September auf der obengenannten 23 km langen
Probeſtrecke Marienfelde—Zoffen im Gange. Yängs der Strede find die drei Hoch—
fpannungsleitungen in einer Höhe von 5,5 bis 7,5 m über dem Boden gezogen, durd)
hölzerne Maften geftügt. Die elektriihe Energie wird ihnen vom Elektricitätswerk Ober:
Schöneweide zugeführt. Die Verſuche fanden zunächſt unter Vorſpann einer Yofomotive
ftatt, um die Wagen einzufahren. Dann wurde mit dem eleftriichen Fahren begonnen
und, anfangend mit 60 km pro Stunde, nad und nad) eine Geſchwindigkeit von 160 km
pro Stunde erreicht. Die Verſuche find bislang durchaus günftig verlaufen, und alle
elektriſchen Apparate ſowie die Wagen jelbft haben ſich vorzüglich bewährt, ſodaß in
diefer Beziehung die Anwendung noch höherer Geſchwindigkeit ganz unbedenklich ericheint.
Dagegen wird ber übrigens gute Oberbau der Probeſtrecke für eine ſtärkere Inanſpruch—
nahme nicht für genügend widerftandsfähig erachtet und eine Verſtärkung des Gleijes
und Berbefferung der Bettung ift erforderlich, bevor die Fahrverſuche mit höherer Ge
ſchwindigleit fortgeſetzt werden können.
Neuerfcienene Büer für ai Büceridbau bitten wir an die Verla agsbudbandiung einfenden zu
Beiprehungen behält ſich die Reda
Aachdruck vert u. _ ade Redite, in insbefondere bas ber Ueberſenung, vorbehaltın.
Berlag von Alerauder "Dunder, Berlin W.35. — Drud von vn d. ©. ©. Hermann in Berlin.
Für die Rebaktion verantwertlih: Dr. Aulius Lohmener, Berlin: Charlottenburg.
Eine gute Zeitschrift dürfte nicht an«
steben auch entgegengefetzte heinungen
patriotischer fBänner verschiedener Partei-
richtung einem gebildeten Leser zu bieten.
Paul Pfitzer, 1851.
Inbalt des Märzbeftes.
(Motgcdrungene Benderungen vorbcbalten,)
Julius Lohmeyer: Den Deutschen in Nordamcrika.
Dermann Beiberg: Die beiden Hakes. Novelle.
Julius Stinde: Schwester Rain. Pumoreske.
Wilhelm Münc: Nationale Erziehung.
Adolf Stern: Ibsens Weltanschauung.
felix Dabn: Drei Weihnachten.
Karl Tanera: Wie müssen wir mit den Chinesen verkehren?
Erich Mards: Neues aus Bismarck’s Werkstatt.
Karl Scheffler: Bildende Kunst der Gegenwart.
Carmen Sylva: Dichtung.
€. von der Brüggen: finanzielle Nöthe in Russland,
Wilhelm Bode „Öoethe’s Lebenskunst“, besprochen von Herm. von Blomberg.
Dans Schliepmann: Deutscher Geschmack und die Mode. Eine Zeitpredigt.
R. H. Ziese: Betrachtungen über die Entwicklung der Industrie und über Ingenieur-
Erziehung.
Theodor Schiemann: Monatsbericht über auswärtige Politik.
Xlilhelm von Massow: Monatsbericht über innere Politik.
Paul Debn: Wleltwirtschaftliche Umschau. Monatsbericht,
" Deutschtum im Auslande. Monatsbericht.
Max Martersteig: Die deutsche Bühne. Monatsbericht.
Karl Busse: Neuere deutsche Dichtung. Monatsbericht.
Leopold Schmidt: Musikalische Rundschau. ’
Bücherschau: Besprechungen von Oscar Wleissenfels, Bauaf. Delmolt, Otto
Siebert, Carl Berger u. a.
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JULIUS LOAMEYER
BERLIN
VERLAG ALEXANDER DUNCHER
I. Jahrgang. März 1902, Heft
Jahrgang 1901/2. Inhalt des Märzheftes. Beit 6.
Deutſche Monatsichrift
für das geiamte Leben der Gegenwart.
Berausgegeben von Jullus kohmeyer.
keitiprucd von Friedrich, Großherzog von Baden . » 2 2 2 m nenn nen. BI
Bermann Belberg: Die beiden Bakes » - : 2 m m nn ne rennen.
Zulius Stinde: Scweiter Kain .. . en a ge —— san; 27808
Zulius kohmeyer: Den Deuticen in Nordamerika a ee u re ne, I
Wilhelm Monch: Nationale Erziehung . . N a a ee are we wen ——
Ausiprüde aus „Gelitige Walfen“ . . . rn 333, 863
Erlch Marcdes: Neues aus Bismarcks Werkstatt. Em Bericht Gchiuh DEE BE . 84
Bismark-Ausiprühe . . . » : en nn. 849, 880, 948
Adolf Stern: Iblens Weltankhauung. erh De Ra ET at
Carmen Sylva: Weltminiter Ubbe. .. 86
fellx Dahn: Drei Weihnehlen. - - » > ce 2 a sa aan er 3882
kudwig Shemann: Franz Xaver Kraus . . . 864
Beinrih Dade: Die Probleme der deutichen Wirtihaftspolttik für "Landwirtichaft und Induftrie 871
Karl Tanera: Wie müllen wir mit den Chineien verkehren?! . . .. » er BE
Iohannes Trojan: Dütichen. . . En re ee ee ee van es, ee are re
Hans Schliepmann: Seſchmack und Mode ig a ee 6
3ohannes Trojan: kadende Armut. . . ae a re ee rare OR
Wilhelm Bode, Goethes Lebenskunit. Beiprodien von Bermann von Blomberg . . . . . 895
Theodor Schiemann: Monatsihau über auswärtige Politik -» » 2 nr nn nn MR
W. von Maflow: Monatsikhau über innere deutiche Politik. - > = 2 2 m en nun. 8
Paul Dehn: Weltwirtichaftlidie Umihau . . . RE ||
Paul Dehn: Deutihtum Im Huslande... 27
Earl Buife: kitterariiche Monatsberihte. VL. . a ee ee
Georg kang: Sprüche aus „Tand für Künltterhand“ TE EEE 669
fritz blenhatd: Dom deutſchen Theater. © > 2 2 2 m m nenn
keopold Schmidt: Mulikaliihe Rundihau. IV. . . a 99
Rudolph Sohm: Ein Wort der Abwehr. Der „Kreuzzeltung" und der "„Kölnlichen Volkszeitung“
gewidmet . . 220.0. 955
Büdierihau von ono Siebert, Karl Berger, 8 . Selmolt, Ernit Franke ud... 97
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tubt, und Diefe beift; Erbaltung Des
Reihbs, Unterftützung des Kaifers,
Einbeitlibkeitdes bDeeresunddamit
Erbaltung der Kraftder Bation.
Friedric, Grofsberzog von Baden.
Die beiden DHakes.
Don
Hermann Beiberg.
con dadurch unterjchieden jich die Zwillingsbrüder, die beiden Herren Amts»
gerichtsrat Karl von Hake und der Regierungsrat Wilhelm von Hafe in
der Provinzialregierung3-Hauptitadt Wisborg von anderen Yunggejellen, daß
fie nicht gerade dann etwas Anderes, jehr Wichtiges vorzuhaben erklärten, wenn
man ihre Mitwirkung bei irgend einer Gelegenheit erbat.
Es jei nämlich, hatte einjt die unverheiratete Baronejje Ernejtine von Euler
erflärt, eine bei unverehelichten, über die gewohnte Heiratszeit hinausgetretenen
Herren allgemein zutreffende Erjcheinung, daß fie eine ganz außerordentliche
Scheu davor bejäßen, ſich irgendwie zu binden oder ſich die einmal von ihnen
vorgenommenen Pläne ftören zu lafjen. Es bilde ſich bei den Junggeſellen all-
mählih nicht nur eine gewaltige Scheu vor einem Zwange heraus, fondern fie
übertrügen jie in einer Weile in die Praris, daß man an ihrer Bekanntichaft
mit guter Lebensart wirklid; bisweilen zweifeln könne.
Alfo, wie gejagt: Die beiden Herren von Hakes machten eine rühmliche
Ausnahme, und jo war e3 aud; verjtändlich, daß bei den Weberlegungen von
feiten der Familien, wer eingeladen werden folle, der Sat faft ein geflügeltes
Wort geworden war: „Natürlich die beiden Hakes!“
Auf fie rechnete man ficher, und man Eonnte ihrer Zufage gewiß fein. Und
„die beiden Hakes“ hießen fie nun ſchon feit der Zeit, wo Mütter von jungen
Töchtern noch auf einen Antrag der beiden liebenswürdigen, feingebildeten, alle-
zeit eine angenehme Atmoiphäre um fich verbreitenden Herren gewartet hatten.
Auch diefe Bemerkung über Hafes ftammte von der den Perfonen und
Dingen ftet3 den richtigen Namen gebenden Baronefje von Euler.
Auch Ermneftine, Baroneffe von Euler hatte die übliche rechte Zeit zum
Heiraten verpaßt. Doch gehörte fie, ebenjo wie die beiden Hafes, nicht zu denen,
51
802 Hermann Heiberg, Die beiden Dates.
die ſich infolgedeilen allerlei unliebjame Eigenjchaften aneignen. Sie ſchaute mit
Elarem Auge in die Welt, war gütig und nachfichtigen Sinnes und äußerte jcherzend,
daß ihre Füße zu Klein geraten feien, um in die Ehepantoffeln zu jchlüpfen.
Es war allerdings garnicht verjtändlich, daß die Männer fie gerade über:
jehen hatten. Sie war die Tochter des verftorbenen Hofchefs des Herzogs von D.,
bejaß ein jehr anfehnliches Bermögen, ein reizendes, eigenes Haus an der Ede des
Schloßgartens, und war, wie alle Welt beobachtete und auch ihre Dienftboten
bervorhoben, niemals übler Yaune. Das deutete außerdem auf eine vortreffliche
Sefundheit hin, denn Menichen, die Launen hatten, — fo hatte fie ebenfalld ge:
äußert — ſäße der Magen im Gehirn, ftatt am rechten Plat.
Die beiden Hakes waren die Söhne des in Wisborg verftorbenen Klofter-
ſyndikus von Hake. Der alte Herr war nicht nur äußerlich ein vollendeter Kavalier
geweſen, fondern auch ein Mann mit einer ungemein vornehmen Gefinnung.
Die beiden Söhne gliden ihm, und glichen in ihrer äußeren Ericheinung
Mitgliedern der Diplomatie. Ihre glatten Gefichter zeigten Antelligenz und
Bonhomie. Sie trugen tadellos fiende Anzüge und blendend weise Wäſche; nie
jah man fie ohne jogenannte Beinfleiderftege. So wurden die jchmalen Leder:
oder Stoffriemen genannt, die zu der Zeit Mode waren, in der fich dieſe Ge-
ichichte zutrug.
Karl von Hake war ein Meifter auf dem Klavier. Er jpielte wie ein
Künftler, während Wilhelm, wie Fräulein von Euler einmal gejagt hatte, un-
mufifalifcher fei als ein alter Teichfroſch. Aber in der feinen Art ihrer Lebens-
führung, in ihren Grundfägen, fich niemals unberufen in die Angelegenheiten
ihrer Nebenmenschen zu mifchen, in ihrem ſtets gleichbleibenden Maß und ihrer
ausgefuchten, aus dem Herzen kommenden Höflichkeit waren fie fid) völlige Eben-
bilder. Nur in einer einzigen Hinficht unterjchieden fie fih von einander. Der
Amtsgerihtsrat Karl von Hake war ein vorzüglider Daushalter, während
Wilhelm nichts weniger ald auf den Grofchen adhtete.
Er würde es, wie es ihm noch kürzlich die Baronefje von Euler ins Geficht
gejagt hatte, ſtets wie der einſtige König von Dänemarf machen. Als diejer
nach einem enormen Spielgewinn in einem fremden Fürftenhof aufitand, um
nunmehr zum Souper zu jchreiten, geriet der Tijch durch Anftoßen eines der Mit-
glieder derartig in Schwanken, daß die von dem König noch nicht eingeftedten
Haufen goldbligender Kouisdors ſämmtlich auf die Erde vollten.
Aber jtatt deren Aufheben zu befehlen, jchritt der König ohne Aufenthalt
weiter, und fchnitt alle Erörterungen über den Borfall durch die nachläſſig bin-
geworfenen Worte: Pour le gargon! ab.
Auch Wilhelm von Hafe würde es bei feiner erhabenen Veranlagung unter
feiner Würde halten, ſich nad ſolchem hinabgefallenen Gelde zu büden, es viel:
mebr dem Diener überweijen.
Hermann Deiberg, Die beiden Hates. 803
Bei der Baronefje von Euler in der Schloßftraße in dem jpitgegiebelten,
von grünem Epheu und rotblühenden Roſen umzingelten Patrizierhaus verkehrte
die Geiellihaft ganz wie bei den Familien.
Sie [ud zu Thees, Mittag und Abendejjen ein und veranftaltete im Sommer
Landpartieen, bei denen man ich ſtets wundervoll amüjierte. Aber fie empfing
auch Herren abends, mehrere oder einen einzelnen aus dem Kreiſe ihrer Freund—
ſchaft und Bekanntichaft. Zu folchen gehörten insbejondere die beiden Hakes.
Karl phantafierte oft bis in die jpäte Nacht hinein. Im heißen Sommer gejchahs
nicht jelten bei offenem Fenſter, und die aus Gefellichaften vorüberfommenden
Perjonen hörten es und madten wenigſtens injofern ihre Bemerkungen, als fie
äußerten: es fei merkwürdig, daß die beiden Leute noch immer fein Paar ge
worden jeien,
Sie paßten jo vortrefflih zujammen, fie bejonders, weil die Baronefje
gleichfall3 Mufik liebte und übte und mit einer äußerit ſympathiſchen Stimme
Lieder vortrug.
Aber der Amtsgerihtärat trat jo wenig als Bewerber auf wie Wilhelm,
der, beiläufig bemerkt, niemals bier mit feinem Bruder zufammen traf, während
fi) die Brüder fonft überall gleichzeitig begegneten. Mit Wilhelm plauderte die
Baronefje Erneftine ftundenlang, und beiden verflog die Zeit. Sie befaßen fehr
viel Sinn für Humor und hatten nicht nur die gleiche Auffaffungsrichtung, fondern
auch ihre eigene Art, fi über die komiſchen Seiten der Menfchen zu äußern.
Wilhelm warf zum Beifpiel zur Charafterijierung einer Berfönlichkeit hin:
„Der Sanitätsrat Hamerling fieht aus wie ein Wafchbär, der jich feines
Standes ſchämt.“
Wenn man dann den Genannten auf der Straße einherjchreiten jah und
ihn auf diefe Bemerkung prüfte, fand man fie ungemein zutreffend. Und wiederum
äußerte fich die Baronefje über einen vielbejprochenen, etwas zweifelhaften, jehr
verichuldeten Lebemann, den Kammerjunfer von Wahrenftedt, mit den Worten:
„Wahrenftedt wäre eine Ausnahme unter den Menfchen, wenn nicht jede
feiner Tugenden ein Zoch beſäße und er überdies die Schneider zum Ausfliden
derjelben bezahlen könnte.“ —
Als die beiden Brüder eines Abends, aus einer Gefellichaft zurüdfehrend,
zufammen nad) Haufe gingen, warf der Regierungsrat Wilhelm in feiner leichten,
über den Dingen ftehenden Art hin:
„Sch kann immer weniger auskommen. Ich babe Schulden, und wenns fo
weiter geht, werde ich einen Eleinen fröhlichen Konfurs erklären müfjen.“
„Heirate doch, Wilhelm!” fiel Karl ein. „Es find bier ja fo viele begehrens-
werte Weiblein, die auch Vermögen befißen.”
„Ums Dimmelswillen auch das noch! Nein, Karl! Diejes Wagnis will ic)
nicht auch noch beginnen. Jetzt habe ich eine jilberne Laft, die ich doch irgendiie
51*
804 Hermann Beiberg, Die beiden Hakes.
mal wieder abjichütteln kann, dann entiteht eine eiferne, für deren Entfernung es
feine Mittel giebt. ch werde niemals heiraten!”
Und er fang aufgeräumt, mit luftig gedämpfter Stimme: „Freiheit, die ich
meine, die mein Herz erfüllt —“
Aber er kam nicht weiter, weil ihm fein Bruder in die Rede fiel und
ſeufzend erklärte:
„sreilih! Wenn Du ſelbſt eine jo bekannte Melodie ſo falſch fingit,
Wilhelm, werde ih Dir wenigftens nicht raten, eine muſikaliſche Dame zu
heiraten! Sie läßt ſich nad) adıt Tagen wieder von Dir ſcheiden!“ —
Als Karl nad) PVerabiciedung von feinem Bruder an diefem Abend in
feine Wohnung gelangte, rüftete er ſich nicht zum Schlafengehen, jondern
wanderte noch eine Stunde nachdenklich auf und ab.
Er hatte ſoeben etwas gehört, das ihn ganz außerordentlich befchäftigte.
Wilhelm hatte ihm erklärt, daß er nie heiraten werde. Daraus war der
Schluß zu ziehen, daß er auch nicht daran dachte, Erneftine von Euler einen
Antrag zu madıen. |
Und wiederum ging Karl feit zwei Jahren und bejonders in den legten
ichs Monaten der Gedanke nicht aus dem Kopf, die Baronefje zu bitten, ihr
Leben mit dem feinigen zu vereinigen.
Wenn er aber zu einem wirklichen Entſchluß und zur Musführung hatte
gelangen wollen, dann war ihm Wilhelm eingefallen. Er würde, wie er ſich vor:
ftellte, Wilhelm ganz ficher ind Gehege kommen, denn Wilhelm hatte für die
Baronefje immer nur die beiten Worte.
„Sie ift eine fuperbe, unvergleichlihe PBerfon!" „Die Euler hat mehr Ber:
ſtand als zehn Unteritaatsjekretäre!" „Die Euler bat ein Herz wie ein Gott!"
„Die Euler ift heute noch jünger an Körper und Geift als alle einunddreigig
Konfirmandinnen bei der letten Einfegnung zuſammen.“ —
Solche und andere Neußerungen hatte er gemadt, und dann war Karl mit
feiner Selbitlofigfeit innmer wieder von feinen Liebesplänen zurüdgetreten.
Bisweilen hatte er den Anlauf nehmen wollen, einmal offen mit Wilhelm
über diefen Gegenitand zu reden. Aber gerade, weil er die Baronefje Erneftine
liebte, und weil tiefe Liebe ſich allezeit zu verjteden pflegt, hatte er feine Abficht
nicht zur Ausführung gebradt.
Eine förmliche Furcht hatte ihn beherricht, jemals daran zu rühren. Wenn,
fo hatte er fich gejagt, doch noch Hoffnung für ihn vorhanden fein Eonnte, fo
wollte er Wilhelm doch nicht gerade auf Baronefje von Euler aufmerkſam madıen.
Wie es denn jo gebt!
In feiner Angelegenheit hätten die Menjchen, wie von Erneftine auch einmal
bemerkt worden war, fo ſehr den Inſtinkt zum Berfehrten, wie in Liebesfachen.
Hermann Heiberg, Die beiden Dates. 805
Ein nicht gefanntes, gehobenes Gefühl erfüllte den Amtsgerichtsrat in dieſen
Abendftunden. Faſt ftürmifch ergriff er die Lampe und Lichte, ftellte fie vor den
Spiegel und betrachtete ſich.
Konnte er e8 mit einem ſolchen Aeußern wagen, um ein Wejen zu werben,
das immer nod als eine Schönheit gelten Eonnte! Ahr Kopf beſaß den edlen
Schnitt bevorzugter Perfonen. Die Züge waren von einer Eafjiichen Regel:
mäßigfeit, ihre Augen blidten je nachdem ernft und finnend, gütig und ſchelmiſch.
Ihr Lächeln hatte etwas Bezauberndes, und ihr Wuchs war von einen vollendeten
Ebenmaß.
Und würde fie nicht dod, Wilhelm bevorzugen? Wilhelm mit feiner teten,
Aufgeräumtheit, feinem Ejprit und feinem erhabenen Sinn?
Er, Karl, Elebte zu fehr am Stoff. Wo Wilhelm mit Siebennteilenftiefeln
über die Dinge hinwegſchritt, maß er jeden Schritt ab. Er war bedädhtiger,
mwägender, jchon etwas pedantifch gar, obſchon er es zu verbergen fuchte, deshalb,
weil er es jelbit tadelte.
Jedenfalls mußte er, das war das Ergebnis feiner Ueberlegungen, die
Baronefje vorher noch genau ausforfchen. Die Vorftellung, er könne ſich ein Nein
holen und jomit auch die Gelegenheit verlieren, bei ihr Efünftig die überaus an-
regenden Abende zuzubringen, bewirkte, daß es ihm förmlich durch die Glieder
fuhr, daß ihn jett wieder ein Gefühl völliger Hoffnungslofigkeit befiel. Auch der
Gedanke an Wilhelm erfaßte ihn von neuem, Unſchlüſſigkeit und Zweifel ftellten
fih abermals ein, und erft, als er fich feines Bruders Worte nochmals ind Ge-
dächtnis zurüdrief, Eehrte die heute gewonnene Hoffnungsfreudigfeit zurüd und
befeftigte fich der Entihluß in ihm, nunmehr mit jeinen Plänen Ernft zu machen.
Der Zufall fügte es, dat Karl der Baronefje am nächiten Mittag gerade
in dem Augenblide begegnete, als fie aus ihrem jchönen, ſonnenbeſchienenen
Haufe trat und er, der vom Amtsgericht den Weg durch den Schloßgarten ge:
nommen, ſich nad) Haufe zu begeben im Begriff ftand.
Gleich fchritt fie, warmherzig grüßend, auf ihn zu, ftredte ihm ihre be-
handſchuhte, einen reizvollen Duft verbreitende Hand entgegen und ſagte:
„Das iſt ja ein herrlicher Zufall, lieber Herr von Hafe! Eben habe id)
einen Boten an Sie gefandt und Gie gebeten, heute Abend eine Leſerolle bei
mir zu übernehmen. Ihr Bruder hat mir heute morgen abgefagt. Er foll bei
Graboms auf Hoffhagen dinieren, hatte das bei neulicher Zufage vergeſſen. Ich
hätte Sie natürlich” auch aufgefordert, aber ich weiß ja, daß Sie nicht gern
beide zugleich bei mir erfcheinen. Wollen Sie jo freundlich fein? Ich will gleich
bemerfen, daß Sie nicht zu fehr gequält werden. Wir lefen Donna Diana von
Moretvo. Das Drama nimmt faum eine Stunde in Anſpruch. Nad dem
Abendefjen mufizieren wir noch etwas! Sie erfreuen uns, wie immer, durch Ihr
Spiel! Nicht wahr?"
806 Hermann Heiberg, Die beiden Hakes.
Nichts Eonnte Karl willfommener jein als dieſe Einladung. Er verbeugte
jich, führte der Baronefje Rechte an feine Lippen, als ob er ſie berühren wollte,
und verſprach, ſich präziſe jieben ein halb Uhr — wegen des Vorlefens etwas
früher als ſonſt — einzufinden.
Unterwegs malte er ſich aus, daß ſich vielleicht an diefem Abend alles nad)
jeinen Wiünfchen vollziehen könne. Wenn ſich die übrigen Gäfte entfernt haben
würden, wollte er noch bleiben, Baronefje Erneftine nod einmal ausforſchen
und dann reden.
Und wenn es ihm dann gelang, war der 3. Juni des Jahres 1850 der
ichönfte Tag feines Dafeins, und wenn Erneſtine denken würde wie er, dann
ſchoſſen ſie nach Jahr und Tag zufammen und bezahlten Wilhelms Schulden.
Was war Geld? Geld-Hergabe war für vomehme Naturen nichts Anderes als
auch nur eine, wennſchon eine größere Selbftverleugnung erfordernde Ausdrucks—
form der Freundſchaft.
Das bequeme Wort der Selbitlinge: In Geldfahen höre die Gemütlichkeit
auf, veracdhtete eine Natur wie Karl von Hake.
Zu Haufe angelangt, durchichritt er feine Gemächer mit prüfendem Blid.
Gr überlegte, was fünftig in den gemeinfamen Dausjtand mit hinübergenommten
werden fonnte, und was des Trödlers Händen zu übergeben jein werde.
Und auf dem Wertvolleren ruhte fein Auge mit befonderem Wohlgefallen.
Es würde auch ihr, Erneftine, die jo viel Gefhmad und feinen Kunſtſinn bejah,
hoffentlich gefallen, fie würde Freude daran empfinden.
Die Teppiche, die die Fußböden noch bededten, pahten ficherlih in das
Daus am Schloßgarten.
Schon überdachte er auch, wo er ſich künftig feine Gemächer drüben ein:
richten, wo er mit ihr täglich an einem Tiſche fien werde. Schon fah er jidh,
wie er mit ihr am Arm jpazieren ging, und wie er aller Menfchen Neid über
jein großes Glüd erregen würde!
So glücklich, fo gehoben fühlte er fich, und fo vielfach wanderten feine Ge—
danken hin und ber. Sa, es gab nod etwas, was im Dafein herrlich war, das
nicht nur infolge gehobener Vorjtellungen einen Inhalt beſaß. Es waren die
Augenblide, wo das Gemüt Nahrung empfing, wo fi das Ich in Einklang
befand mit der Umgebung, mit der Außenwelt, wo die Seele nicht nur feine
Sorge drüdte, jondern alles ein lichtes Angeficht beſaß.
Bei jeinen lleberlegungen trat hinzu, dat Wilhelms Abjage bei der Baronejje
als ein neuer Beweis angelehen werden Eonnte, daß er an eine Verbindung mit
ihr nicht dachte. Menjchen, die lieben, bejeitigen alle Hinderniffe, um mit dem
Segenitand ihrer Neigung in Berührung zu gelangen. Weil er jelbft vom
Liebesfieber erfaßt war, machte er diefe Auffaſſung zu feiner eigenen.
Am Abend murde oben im Eulerſchen Haufe gefpeift und bei der
Hermann Deiberg, Die beiden Hakes. 807
Gelegenheit fam Karl ein Bild von Erneftine aus ihrer Mädchenzeit wieder vor
Augen, das er bisher niemals jo recht betrachtet hatte. Es zog ihn dermaßen
an, daß er gegen feine Tiſchdame äußerte: „Das Gemälde ift wahrhaft vollendet!
Sch muß geftehen, ich würde es als einen Schat anjehen, wenn ed mein
Eigentum wäre. Man fchöpft aus dem Anfchauen guter Gemälde, jeien es
Porträts oder Landichaften, etwas, das einen feelifch zu heben vermag!
„Diejes atmet einen jolchen jtillen Schönheitsfrieden, daß alle reinen Sinne
angefacdht werden, daß man jich davon nicht zu trennen vermag!“
„Herr von Hafe! Herr von Hake! Wie Sie aber ſchwärmen!“ ließ ſich
gleih darauf die Stimme eines Herrn vernehmen. Sie fam aus dem Munde
des Oberftleutnants von Mayen, der als älterer und vornehmfter Herr des
Kreiles Erneftine führte.
Karl ſchaute empor, und unmillfürlich trat ein Zug von Berlegenheit in
jeine Züge.
Und als ſich dann auch feine Blide mit denen Erneftinens trafen, jchüttelte
fie ladyend den Kopf und jagte halb zu ihrem Heren, halb zu Karl gewendet:
„sa, ja, unfer lieber Herr von Hake hat bisweilen kleine fentimentale An—
wandlungen. Zum Glüd findet er immer bald wieder den Boden der Realität."
Diefe Aeußerung gefiel Karl durchaus nicht. Was er zu feiner Nadjbarin
gejprochen hatte, war auf feine Zuhörerfchaft berechnet, und es war lediglich der
Ausdrud der Freude über das gelungene Kunftwerf gewejen. Erneſtine faßte
aber jeine Worte als perjünliche auf und fnüpfte daran Bemerkungen, die ihn
gewifjermaßen herabjegten.
Als ſich nad; Leſen, Speifen, Spiel und Gefang die Gäfte entfernt hatten,
als Karl, zurüdgelehnt in einen Stuhl des nad dein Park belegenen Garten:
ſalons, Ernejtine gegenüberjaß, jagte er:
„Aus welchem Grunde, verehrteite Baronefje, äußerten Sie heute bei Tijch,
daß es ein Glüd für mich fei, daß ich mit meinen fentimentalen Anwandlungen
immer bald wieder auf den Boden der Realität gelange?"
Erft ſchwieg fie auf feine Frage. Dann, nachdem jie dem Diener, der noch
beim Aufräumen der Gemächer beichäftigt war, mit einem: „Nachher, Alfred!”
abgewinft hatte, erwiderte fie:
„sch äußerte mich nur 'ſo, weil ich; von jeher eine unüberwindliche Ab:
neigung gegen Somplimente gehabt habe. Sie jagten von dem Bilde jo viel
Rühmendes, daß es mich nicht erfreute, jondern — verzeihen Sie, lieber Freund —
abitieß. Ich mag feine Lebertreibungen und, wie erwähnt, feine jolche
Reden. Bielleicht bin ich deshalb auch ledig geblieben.”
„Es thut mir aufrichtig leid, daß ich Ihnen unangenehme Empfindungen be—
reitet Habe, Baronefje," entgegnete Karl, geichlojjen in jeinem Wejen. Er war
betroffen, da er ihre Worte nicht anders deuten konnte, als daß fie ihm ein für
808 Hermann Heiberg, Die beiden Hafes.
allemal zu veritehen geben wollte, daß fie für Kiebeserklärungen nicht zu haben fei.
Weshalb ſonſt folche Kritik feiner Perſon bei Tiſch, weshalb jonit jetzt
diefe Erörterungen?
Mit einem Nud hatte fie in ihm alle Hoffnungen und Erwartungen, mit
denen er heute ind Haus getreten war, niedergeichlagen.
Und ein folder Eindrud blieb in ihm zurüd, daß er, wennjchon er nod) eine
Weile weiterplauderte und aud) das artige Benehmen beobachtete, das von
feinem Naturell unzertrennlid; war, doch die fonftige Wärme abjtreifte und
in der Folge mehr zubörte, ald daß er bemüht war, dem Gefpräd den ge-
wohnten freien und belebenden Fluß zu verleihen.
„Ste find heute garnicht der Alte, verehrter Freund!“ ſtieß Erneftine heraus,
als fie, im Begriff von einander Abfchied zu nehmen, einander gegenüberjtanden.
„Sie find offenbar empfindlich wegen meiner Meußerungen bei Tiich und
vorhin, während ich Sie doc ‚nicht verlegen, vielmehr nur ehrlid; ausdrüden
wollte, wie es in mir ausfiebt. Ach ſprach vornehmlich aud) jo der Umgebung
und insbefondere Ihrer Tiihdame halber. Sie wiſſen, wie medifant Fräulein
von Galen ift! Sie bringt die Menjchen allzu gern ins Gerede, und wozu dazu
unnötig Anlaß geben?"
Diefe Sätze beftärften Karl noch mehr in jeiner ſchmerzvollen Annahme,
daß Erneſtine ſich mit irgend etwas Anderem beichäftige als mit Eheplänen,
und daß ſie ed auch verhindern wollte, daß er fich mit „ſolchen Thorbeiten” ihr
gegenüber befaſſe. Es unterlag feinem Zweifel, daß er ſich nicht irre; zumal
fie ihm, als der leßte Händedrud zwifchen ihnen ausgetauscht wurde, mit durd-
aus unbefangenem Blid ins Auge ſchaute und nur ftarf betonend um die alte
gute Kameradſchaft bat!
* *
%
Und dann wanderten die Tage wie fonft. Sie wechjelten ab mit prangendem
Sonnenſchein und befruchtendem Regen, aber auch mit dunflen Wolfen und
ftürmenden Winden, mit frohem Herzen beim Aufſtehen und mit nicht jeltenem
Rückſchlag auf das Gemüt beim Niederlegen, mit Hoffnungen und zügernden
Erfüllungen, mit Sorgen und Warten auf bejjere Zeiten wie immer und allezeit.
Und während dieſes Abſchnitts hatte Karl von Hake nicht einmal wieder
das Batrizierhaus am Schloßgarten betreten. ‘Er ließ verbreiten, daß er leidend
fet und nicht in Gefellichaften gehe, und wenn man ihn troßdem einlud, ent-
fchuldigte er fich in der verbindlichen Art, die feiner Natur eigen war.
Und fobald er, was oft geichah, von der Baronefje gewohnter Lebhaftigkeit,
Liebenswürdigfeit und Gaftlichkeit hörte, von ihren vielen Vorhaben, bei denen
ihr reger Sinn für alles Cigenartige und Wertvolle zum Ausdrud gelangte,
wenn er vernahm, welche angejehenen, auch auswärtigen Perſönlichkeiten fie be-
fuchten, ihr Aufmerkfamteiten ermwiejen und wie ſie dieſe mit ihrer ftetS zum
Hermann Heiberg, Die beiden Hakes. 809
Geben bereiten Hand erwiderte, dann ergriff ihn nad) ihr eine förmlich krank—
bafte Sehnſucht. Und indem er in feinen Vorftellungen ihren Wert noch erhöhte,
fchrumpfte jein eigenes GSelbftgefühl völlig zufammen. Hoffnungslofe Schwer:
mut nahm in nod ftärferem Maße von ihm Bejit, und was er dagegen anzu—
wenden beftrebt war, verfing nicht. Nur, wenn Wilhelm ihn befuchte, wenn der
mit feinem ſouveränen Gleichmut plauderte, Geſchichten und neuefte Erlebnifje
erzählte, luftige Bemerkungen über Bekannte und ferner Stehende machte, jedoch
gleichfalls teilnahmsvoll auf ihn einfprad, fragte, wie e8 mit dem rebellifchen
Magen gehe, den Karl auch ihm gegenüber ald Grund feiner Einhäufigfeit vor-
ſchob, und baldige Befferung verhieß, ftreifte er die Berdüfterung zeitweilig ab
und nahm fich fogar vor, die Dinge, wie einft, leichter und freier zu nehmen.
Aber dann geihah etwas, das doch wieder einen ftarfen Aufruhr in ihm
bervorrief.
Mit Beginn des Herbftes erichien eines Tages Wilhelm bei ihm abends.
Er war offenbar durch irgend etwas innerlich jehr bejchäftigt und jchritt, — gegen
feine Gewohnheit einfilbig, — im Zimmer auf und ab. Auch ſchenkte er ſich
wiederholt fräftigen Liqueur in ein Glas ein und fenfte wiederholt die Finger in
feine goldene Dofe, aus der er jonft nur „zur Stärkung des Gehirns", wie er
ſich ausdrüdte, hin und wieder einmal eine Brife zu nehmen pflegte. Zulekt
ließ er jid) neben Karl nieder und jagte:
„Höre einmal, Menjchenkind, und gieb mir Deinen Rat und jage mir un—
ummunden Deine Meinung. Sch habe in den letten Tagen ernitlich überlegt,
ob ich nicht doch noch heiraten foll.
„sch bin in der neueften Zeit fo gut wie täglicher Gaft im Haufe am Schloß—
garten geweſen und finde alle die Borausjeßungen, daß die Euler ein wahrhaft
vollendetes Geſchöpf ift, jo ſehr beftätigt, daß ich entichlofien bin, ihr einen
Antrag zu machen! Notabene! Wenn Du fie nicht willft, wenn ich Dir, befter
unge, nicht in den Weg trete.“
„Mir? Wie Eommft Du darauf, Wilhelm?” fiel Starl, dem zwar das Herz
ftoden wollte, mit äußerlich ruhiger Miene ein.
„sa, das will ih Dir erklären, es ift ganz zweifellos, daß ſich die Euler
für Dich intereffiert!
„Bor acht Tagen äußerte jie: ‚Ach, ich bin ganz traurig, daß ich Ihren
Herrn Bruder garnicht mehr ſehel Und daß es ihm immer nocd nicht gut gebt,
thut mir fo weh. ft er denn noch nicht bejier und ift er denn fo leidend, daß
er feine alten freunde nicht einmal mehr beſuchen fann? Bitte, erinnern Sie
ihn, daß ed noch ein Haus in der Schloßſtraße giebt, wo eine wohnt, die ihn zu
ihren beften Freunden zählt —‘
„Ich denfe, deutlicher vermag man fein Intereſſe nicht an den Tag zu legen.
Und da babe ich mir, obichon id) das liebe Frauenzimmerchen für mein Leben
810 Hermann Heiberg, Die beiden Hafes.
gern heimführte, denn vorgenommen, Dir das vffen mitzuteilen und Dich um
Dein ehrliches Wort zu bitten, ob Du irgend welche Enttäufchung erleideft, wenn
ih um fie anhalte. Natürlich — ob fie mich nimmt, weiß ich nicht ſicher. Ich
hoffe es aber!”
Karl wurde durd) die Meußerungen, die Ernejtine über ihn gemadt batte,
derartig gehoben, daß er jich zunächſt nur einem Gefühl höchſter Befriedigung
hingab. Erit jpäter kam ihm der Gedanke, daß er troß diefer Mitteilungen auf
Erneſtine verzichten jollte!
Er mußte doch verzichten, wenn fein Bruder fie zu feinem Weibe maden
wollte. Ein ungeheurer Kampf entjtand in feinem Innern. Das zum Entſagen
gedrängte und das von endloſer Sehnſucht nach Beſitz erfüllte Ich ftritten gegen
einander, bis dann doc der felbitlofe Menſch in ihm fiegte.
Er jagte:
„sch Freue mic jehr, Wilhelm, da Du nun zu dem Entichluß gelangt biſt,
zu heiraten, und daß Du folche Wahl getroffen haft. Wenn Du mir Freund-
lihe3 von der Baronejje Euler über mich berichteit, jo kann ich nur jagen,
daß ich ihr mit denjelben Gefühlen gegenüberftehe.
„Du kommſt durch diefe Partie dann aud) aus den Sorgen heraus! Das
Wenige, was ich für den Fall ungünftiger Zwiichenfälle und mit Rüdjicht auf
mein Alter mir eripart habe, wird wohl kaum ausreichen, Deine Berpflichtungen
zu begleichen. Wie hoch belaufen ſich eigentlih Deine Schulden, wenn ic
fragen darf?"
Wilhelm nannte eine Summe und fügte dann gleich, jorglos im Ton, Hinzu:
„Keiner kommt zu kurz, da ich mein Leben doppelt jo hoch auf eine be
ftimmte Zeit verfichert habe. Und von Dir das Geringfte zu nehmen, beiter
Karl, würde mir nicht beifallen fönnen. Das fpricht weniger für meinen Ent-
ichluß! Geldheiraten: ſchlechte Heiraten!
„Es giebt kaum etwas Unglüdlicheres, als mit dem Teufelsſchmutz von
jeiner Frau abhängig zu fein! — Nun aber wieder zur eigentlihen Sache! Du
haft mir auf meine Trage feine Antwort gegeben.
„Störe ich alfo nicht Deine Pläne, liebiter Menih? Wir können uns dud
ganz frei und unumwunden ausſprechen. In unferem Alter — bei mir trifft es
wenigitens durchaus zu — find die Gefühle nicht mehr jo flammender Natur,
daß wir zu Sterben glauben, wenn uns nicht gerade ein Gretchen oder eine
Erneitine ihre Huld ſchenkt. Mädchen wachlen wirklich oleih Brombeeren auf
den Bäumen.“
Wilhelm hielt einen Augenblick inne, und der arıne Karl, deſſen Hoffnungen
wieder emporgeichnellt waren, weil Wilhelm weder wegen feiner Geldforgen, noch
wegen eines überheftigen Liebesdranges einen jo bedeutiamen Entſchluß zur Aus:
führung bringen wollte, wollte ſchon die Wahrheit wenigitens halbwegs bekennen.
Hermann Deiberg, Die beiden Hafes. 811
Aber dann fügte Wilhelm noch einige Sätze hinzu, und dieje gaben doc)
den alten Ausfchlag.
Wilhelm fagte rajch und enthuſiaſtiſch:
„Alfo ſprich! Liebſt Du fie nicht, jo bin ich natürlich jehr glücklich. Ich
erftrebe ja nichts zufolge einer augenblidfichen Yaune, jondern infolge reif:
(icher Heberlegungen.
„Möchteft Du fie aber zu Deiner Lebenstameradin machen, dann jchnupfe
ic) einige Priien Robillard, Eneife die Lippen zufammen und jage: ‚Wohlan, To
erhalte ich wenigftens eine Schwägerin, wie ic; mir feine beſſere wünjchen Eann.‘“
Wilhelm ſah feinen Bruder forichend, aber zugleich mit einem Ausdrud
von Bonhomie an, der bewies, daß er garnicht daran zweifele, dat Karls
Antwort zu feinen Gunjten ausfallen werde.
Und dem edelmütigen Karl, dem die Worte: ‚Dann bin id) natürlich
ehr glücklich!“ noch in den Ohren Elangen, entgegnete, alle inneren Kräfte zu—
jammenraffend:
„Du ſollſt glüdlich werden, lieber Wilhelm! Sch erhebe feinen Anſpruch
auf die Hand der Baronefje von Euler. Ach thue es ſchon deshalb nicht, weil
ih den beftimmten Eindrud habe, daß fie nicht entfernt daran denft, meine Frau
zu werden. Was ſie von mir gejagt bat, thut mir jehr wohl, aber eben, es iſt
doch nur der Ausflug jogenannter freundichaftlicher Gefühle.” —
„fo es glühen doch allerlei Eleine Lämpchen für fie in Deinem Amts:
gerihtsbufen, Du Böſewicht?“ — fiel Wilhelm mit hochgezugener Stirn ein und
jah jeinem Bruder ind Angeſicht.
„Hu, Hm! — Das thut mir recht leid, ich meine um Deinetwillen! Und
deshalb — und deshalb — made Du erit den Verſuch. Oder nein, da das
nicht geht, — laſſe uns fie fondieren, und wen fie dann den Vorzug giebt, —
wenn fie uns überhaupt die Hand reichen will, — dein joll fie eben werden!
Bilt Du damit einverjtanden, Karl? — Ich ſpreche aufrichtig, ich made
feine Worte. Denn Schon der bloße Gedanke, daß ich Dir trefflichem Menfchen Dein
Lebensglüd jtören könnte, jagt mic Summer und Unruhe in die Bruft.“
Aber Karl jchüttelte den Kopf. Er thats ſchon deshalb, weil die bloße
Borftellung, Erneitine könne ihm auf feinen Antrag einen Korb erteilen, bereits
die denkbar unangenehmite Empfindung in ihm hervorrief.
Dem wollte er ſich nicht ausfeßen, — nicht abermals ausjegen! — — Die
Erinnerung erfaßte ihn, da er nad) jeiner Schäßung ja ſchon eine Abfage von
ihr erhalten hatte.
Er ſprach rafch und beitimmt:
„Rein, nein! Es bleibt dabei! Du führft jie heim! Es wird Dir hoffent-
lich gelingen. Sch verjichere Dich nochmals, daß ich einen allerdings einmal
früher gefaßten Gedanken in diefer Richtung gründlich von mir abgeitreift habe.”
812 Hermann Heiberg, Die beiden Hafer.
„Alſo alles in Ordnung!” fchloß Karl, jtredte feinem Bruder die Hand mit
liebevoller Gebärde entgegen und ſah ihm jo frei und gleichmütig ins Angeſicht,
daß fih Wilhelm volllommen täufchen lieg. — —
Ein paar Tage waren feit diefer Unterredung verftrihen. Der Herbit
hatte den Sommer rückſichtslos vertrieben. Wohin man ſah, funfelte entweder
gelbes Laub, cder es fpreizten ſchon entblätterte Bäume ihre ſchwarzen Zweige
in die ftahlgraue Luft. Aftern, Dalien und Gladiolen hatten ſich ihrer Herrſchaft
lange begeben. Am wilden Wein zitterten nur noch wenige, vom Herbſtwind
verſchonte jcharfrote Blätter, und fiel das Auge auf die Wälder, jo rubten fıe
entweder ſchwarz und ſchweigſam, gleichfam in Agonie verjunfen, oder über ihren
erjtorbenen Leibern wallten düftere Nebel, die ihre Bernichtung befchleunigten.
Auch aus dem Erdreich drang ein Ealter Hauch, und der jcharfe Duft ver:
modernder Pflanzen vermählte ſich mit dem dumpfen Atem der Pilze.
Und in den Wohnhäufern büdte ſich in der Frühe fchon das Gejinde zu den
Defen hinab, um erwärmende Feuer anzufadhen. Das graufalte Angeficht der
Natur verdüfterte die Gemüter, und auch Karl von Hafe, ohnehin in alter Be
drüdung, hodte in feinen Räumen und fuchte durch Arbeiten in den Aften, die
er fih von feinem Gefchäftszimmer aus dem Amtsgericht hatte nach Hauie
bringen lafjen, der Dede feines Sinnern und dem Gefühl der Spannung befler
Herr zu werden.
Denn von Wilhelm hatte er nichts wieder gehört. Aber jeden Tag war er
gewärtig, die Nachricht zu erhalten, daß deſſen Werben gelungen jei, dat für
ihn, Karl, die verloren jei, die er jo heiß liebte!
Am vierten Tage, in der Dämmerftunde, als er abermals in jeinem einfamen
Gemach hodte, und nun eben müde und langjam die Lampe entzündete, trat feine
Wirtichafterin ind Zimmer und übergab ihm ein ſoeben für ihn abgelieferte:
Schreiben. Es war von Wilhelm und es lautete:
‚Liebiter Karl!
Heute Abend acht Uhr möchte ich gern bei Dir jpeifen, jogar vortrefflid
fpeifen! Bitte, laſſe junge Rebhühner nad unjerm Geſchmack braten und late
den Geft gut temperieren. Alles weitere dann von Deinem
alten Wilhelm.‘
Zu derjelben Zeit, während Karl diefes Schreiben empfing, öffnete Wilhelm
die Thür in dem Haufe an der Ede des Schloßgartend. Er fragte den jogleid
erfcheinenden Diener, ob die Baronefje zu Haufe und fpredhbar fei, und betrat,
nachdem dieſer bejaht und fortgeeilt war, um feine oben im Haufe bejchäftigte
Gebieterin zu benachrichtigen, einftweilen allein die von dem Wiederichein der
Ofenfeuer ſchier myſtiſch erhellten, aber von einer unendlich wohligen Wärme
durchſtrömten Vorgemächer. Sie reihten fi mit offenen Thüren aneinander,
waren mit weichen Teppichen belegt und fuchten an Bequemlichkeit und geſchmack
Hermann Heiberg, Die beiden Hakes. 813
voll gediegener Einrichtung ihresgleihen. Nur im leßten Zimmer, das die
Baronefje vorzugsweiſe bewohnte, brannte eine auf dem Tiſch ftehende, mit einem
mattgrünen Schirm verjehene und eine janfte, eine gleichſam träumerifche Helle
verbreitende niedrige Lampe. Faſt wie ein Fremder fchritt Wilhelm heute bis
and Ende der Stuben, ſſchaute jih um und betrachtete die Gegenftände mit
Augen, als ob er Umriffe und Farben bisher nie habe auf fich wirken Lafjen.
Ein Haud von Erneftinens Wejen glaubte Wilhelm zu fpüren. Ein Etwas
drang auf ihn ein, das ein Teil war von ihr und ſich vermählt hatte mit der
Atmoſphäre des Zimmers. Alles heimelte ihn an, worauf fein Blid fiel. Ueberall
gelangte ihr DOrdnungs- und Schönheits-Sinn zum Ausdrud, überall ihre Pietät
für das, woran ihr feiner Sinn hing.
Schon jah ih Wilhelm in ſehnſuchtsvollem Hoffen hier ſitzen, ſah zu, wie
ſich Erneftinend nie müßige Hände rührten, beraujchte ſich an dem Aufblid
ihre3 Auges, in dejjen Ausdrud ſich allezeit Güte mit Klugheit mifchte, in denen
eben das zum Vorſchein gelangte, was ihn jo widerjtandslos zu ihr hinzog.
Endlih ließ er ſich, da Erneftine immer noch nicht erjchien, nieder, prüfte
die auf dem Sophatiich liegende Lektüre, nahm ein kleines Etui in Form eines
Fiſches mit filberglatten Schuppen und beweglichen Schwanz in die Hand und
betrachtete, abgemwendet, das Eleine Kunſtwerk. Die ganze Wohnung war voll
von alten jchönen Sachen, deren Fülle man erjt allmählich; gewahr wurde.
Eben drang, durd; die Ofenwärme ftärfer gefördert, aus einer alten
Potpourri:Bafe der Duft von getrodneten Roſen und Lavendel hervor. Durch
ihn gewedt, gingen Wilhelms Gedanken wieder drängender zu ihr, der Befiterin
des Hauſes.
Eine heftige Sehnjucht ergriff ihn jeßt nad) ihr, eine ftarfe Unruhe, ein
Drängen nad) Entiheidung, das er faum mehr zu bemeiftern vermochte, kam
über ihn.
Er jprang empor und jchritt auf und ab, fette fich wieder nieder und
erhob ſich abermals. Plötzlich bedrüdte ihn die’ Atmofphäre des Gemadjes un-
erträglich, und ſchon wollte er im Nebenzimmer ein Fenfter öffnen, um durch
Einatmen frifcher Luft Bruft und Sinne frei zu machen, als drüben ein Geräufch
vernehmbar wurde, und Exrneftine, von dem Flurlicht reizvoll jcharf beleuchtet,
drüben in der Thür des Eingangszimmers fihtbar wurde.
„Wie? Was? Bier im Halbdunfel figen Sie, lieber Freund!” rief fie,
ihm mit gewohnter, vertraulicher Liebenswürdigfeit die Hand hinftredend.
„smmer nacläffiger wird mein Diener Alfred! Ich hatte ihm gejagt, in
° allen Zimmern Licht zu entzünden, und doch hat er es nicht gethan!
„Und verzeihen Sie, lieber Herr Regierungsrat, daß ich Sie fo lange warten
ließ. Ich Hatte unſerm früheren Mädchen, einer braven Perfon, die feit acht
Jahren verheiratet ift und es Sehr ſchwer hat, veriprochen, allerlei Kleider und
814 Dermann Heiberg, Die beiden Dates.
andere Nüblichkeiten berauszufuchen. Dabei war ich gerade beichäftigt, und
wollte die Paderei gern hinter mir haben." —
„So habe ich eigentlic; geftört, Baronefie! Das ift mir aufrichtig leid!“
fiel Wilhelm ein.
„Nein, nein! Durdaus nicht! Alles ift jet beiorgt und morgen it ja
auch nod ein Tag. Bitte, ſetzen Sie fih!" — Sie Elingelte nad) dem Diener,
während fie ſprach. — „Sie bleiben doc den Abend? Nein? Sie haben eine
Abrede? Ad, wie Schade! Ach eriwarte die Familie Leſſör und den Aſſeſſor von
Mehden um adıt. Sie wollen einen Fiſch bei mir fpeiien.”
Wilhelm geriet in Schwanfen, ob er bei foldyen Umftänden ſprechen follte.
Die Stunde, die Umstände fchienen ihm nicht qut gewählt.
Aber als ſich Erneftine, nachdem fie dem eingetretenen Diener Anmweifungen
erteilt, ihm mit einer Stiderei und mit der Miene eines Menfchen, der ſich ſo
recht anſchickt, eine gemütliche Plauderei zu beginnen, gegenüberfette, fchlug er
alle Bedenken nieder und fagte, einen leichten Ton annehmend, troß des Ernites
des Gegenitandes:
„Willen Sie, teuerite Baronefie, weshalb ich heute in der Dämmerjtunde
bei Ihnen erichienen bin?"
„Nein“ — gab Erneftine aufgeräumt zurüd. „Aber da Sie immer nur
Gutes mir bringen, jo bin ich ſchon im voraus über Ihre Mitteilungen erfreut!“
Und rezitierend fuhr fie fort:
„Alfo, bitte, redet, Don Fernando! Deffnet gütigft Euren weifen Mund.“
Und dann ſagte Wilhelm ohne Einleitung, gleich gerade aufs Ziel gehend:
„sch Eomme als Heiratswerber, Baroneſſe. Es ift jemand da, der Ahnen
gut ift, der Sie gern zu feiner Frau machen möchte.“ —
Während Erneftine ſich noch eben mit gleihmütig wohlgelauntem Geſichts—
ausdrudf über ihre Stiderei — ein Rofenbouguet, das fie auf Stramin ftidte —
gebüdt hatte, fchnellte fie nun den Kopf empor, zog ein wenig die Stim und
fagte, als fie doch einer gewiſſen Freierlichkeit in Wilhelms Angeficht begegnete,
in fichtlicher ftarfer Spannung:
„Run? Was ift das? Sprechen Sie im Ernjt? Wer hat Sie gejandt?*
„Raten Sie, ich bitte —“ entgegnete Wilhelm, nedijch im Ton.
Sie fchüttelte fait ein wenig geitört das Haupt, dann aber fagte jie, offenbar
das Geſpräch in feinem tieferen Anhalt nicht ſchätzend:
„sch wüßte nur einen, der jich mit folchen Gedanken tragen könnte, Ihren
Bruder, und der, der zeigt ja deutlich, daß ich ihm überhaupt nicht mehr bin.”
Wilhelm erichraf bei diefen Worten fo fehr, daß er ſich unwillkürlich verfärbte.
Was fie ſprach, ſah ihr jo wenig ähnlich! Ahr feiner Sinn vermied fonft
Aeußerungen folder Art in folhem Zufanmenhange ftets!
Dermann SDeiberg, Die beiden Dafes. 815
Ihre Worte konnten alfo nur in dem Sinne gedeutet werden, daß, wenn
fie ji mit Heiratsplänen trug, ſich ſolche nur auf Karl richteten.
Wilhelm bedurfte feiner ganzen Faſſung, nicht merken zu laſſen, wie jehr
er ſich enttäufcht fühlte, einer wie ftarfen Mufbietung feines Willens es bedurfte,
um von Sich ſelbſt abzujehen.
Aber er ſah nad diefem Vorgang jchon im voraus, welche faft fichere
Rolle er fpielen würde, wenn er ſelbſt als Bewerber auftreten würde. Nichts war
ihm jo entſetzlich, als ſich lächerlich zu machen, insbejondere in den Augen einer Frau.
Es gab nur zweierlei: Er mußte nachträglich die Sache ins Leichte ziehen,
fid) geben, als ob er fie bloß habe nediich prüfen wollen, oder Karl, der fie,
obihon er es leugnete, nur zu gem zu feiner Frau machen wollte, mit allen
Mitteln die Wege zu bahnen.
Und richtige Divination und Bruderliebe jchlugen alle Einwände, die jich
noch melden wollten, nieder.
„Und wenn es nun wirklich ein Hake wäre? Wenn —“ ſetzte Wilhelm, ab-
fichtlich ſich ſo fallend, an, weil ſich doch noch ein Fünkchen Hoffnung in ihm
regte, deshalb regte, weil ihm der Berzicht fo unendlich ſchwer ward. — „Würden
Sie ihn erhören, liebe, teure Baronefje?“
„Jal“ ermwiderte fie feft. Und jehr weich fprecdhend, ergänzte fie: „Ach würde
ihm meine Hand reichen, weil er in meinen Augen die Summe eines redjt-
ſchaffenen, lieben, edlen Menfchen ift! Sch kenne feinen Zweiten!“
„Darf ich ihm denn das jagen?“
Sie jah ihn erft raſch und prüfend an, dann ftieß fie in deutlicher, jehr
ftarfer Erregung heraus:
„gaben Sie denn in der That den Auftrag, für ihn zu werben?“
„sch glaube bis zur Gemißheit, daß mein Bruder die Erde in einen Himmel
verwandelt jehen wird, wenn Sie feine Lebensgefährtin werden wollen, Baronefje
Erneftine. Die beiden Hakes leiden ja unglüdlicherweife beide an der Liebes-
franfheit für Sie! Und der Eine konnte es nicht mehr ertragen und wollte es
Ihnen heute jagen: Es ift der Negierungsrat Wilhelm. Aber er fieht ein, daß
jein Bruder Karl weit größere Anrechte befitt, und da Ahr Mund verriet, was
in Shrem Herzen ruht — haben Sie Dank, taufend Dank dafür, daß Sie
meinen lieben Karl glüdlih machen wollen, liebe, verehrte Baronefje — fo
trete ich zurüd!
„Er wird Sie bitten, ihm, wie bisher, eine gütige freundin zu bleiben, und
aud in der Ferne freundlich feiner zu gedenken. Der Regierungsrat Wilhelm
Hake will fi) nämlich verjegen laſſen!“ ergänzte Wilhelm, dem fich vordem,
troßdem er fi) mannhaft dagegen aufgelehnt hatte, die Augen gefeuchtet hatten,
nun wieder mit völliger Beherrſchung jeiner jelbit, nun wieder jich gebend in der
gleichhmütigen, überlegenen Art, die ihm eigen.
816 Hermann Heiberg, Die beiden Hakes.
„Ah — Sie jelbitlofer, guter Menſch“ — drangs aus der Bruft des
Mädchens, während jie mit einem unvergleichlihen Ausdrud von Warmherzig—
feit nach jeiner Rechten griff.
Wilhelm aber berührte ihre Hand mit feinen Lippen und jugte:
„Yaflen Sie mid; jett, ich bitte, zu Karl eilen! Ich jchrieb ihm, er möge
ein Abendejjen berrichten und guten Wein bereit ftellen. Ich hätte ihm etwas
mitzuteilen! Und nun babe ich ihm ja auch etwas zu jagen, das ihn im Nu
wieder gejund maden, das ihn morgen zu Ihnen führen wird als einen Glüd-
beraufchten auf diefer armjeligen Welt!”
„Und Sie — Sie — lieber Wilhelm?“ ſtieß das Weib heraus, bolte tief
Atem in ihrer Bedrüdung um ihn und fuchte fein Auge. „Babe ich Ahnen jehr
weh gethan?”
„Nein, Baronejje, da ed mein Bruder ift, den Sie vorziehen! Ich fage
mit Ihnen, er it ein vollendeter Menſch, nur vielleicht zu gut für dieje Welt.
Seinem wünſche ich nicht nur ein jo großes Glüd wie ihm, ich weiß auch, daß
er Sie — die Sie das Allerbeite verdienen — nicht enttäufchen wird!
„Kümmern, jorgen Sie ſich garnicht um mid. Sch bin ja von anderer
Art, mich ichlägts nicht zu Boden, wie es ihn vernichtet hätte.
„Alles ift mir in diefer Stunde offenbar geworden; jetzt erit weiß ich, mas
Karl wirklich fehlte!
„sch erfülle nur die rechte Bruderpflicht, wenn ich ihm half, zu erringen,
was ihm jchon gehörte!
„Leben Sie wohl! — Ad! Ich ſehe ſchon im Geifte die Sonnen, die über
Karls Angeficht ziehen, wie überjelig er jein wird!
„Und noch eines, ich bitte! Wann darf er morgen kommen?“
„Zu jeder Stunde! Er wird die rechte Zeit wählen!" Sie jprad; weich,
mit warın belebtem Auge.
„So leben Sie denn wohl, teure Baronejje, teure Erneftine!“
„sa, fo iftS recht, Danf, mein lieber Freund, mein lieber Wilhelm!” ſprach
das ergriffene Weib, erhob ſich und lehnte unmwillfürlich für Sekunden ihr Haupt
an Wilhelms Schulter. Und dann jah fie ihm, während er, ſanft nidend, das
Gemach verließ, mit ftillen, von dem Wiederichein ihrer Bewegung erfüllten
Augen nad).
Als fih aber draußen die Thür ſchloß, ald er das Haus verlaffen, wuhte
fie die Gedanken an ihn, den Abgewiefenen und Enttäufchten, von ſich abzu-
Ichütteln, trat vor den Spiegel, betrachtete ihr Bild und rief mit ftrahlenden
Augen und glüdfelig belebten Mienen:
„lo doch Du — Du wirft mein, Du vielerfehnter Mann!“
Und dann fchritt fie im Zimmer auf und ab und warf das Haupt zurüd
Hermann Heiberg, Die beiden Hafes. 817
und breitete die Arme aus wie ein Menjch, der nur jo der Fülle feiner über:
mächtigen Gefühle Herr zu werden vermag.
* *
*
In Karls gemütlichem Speiſegemach, an dem mit Silber und Kryſtallgeſchirr
und mit Speiſenreſten und geleerten Flaſchen beſetzten Tiſch ſaßen die Brüder.
Im Kamin knatterte und kniſterte ein eben noch wieder von der Wirt—
Ihafterin angefachtes Holzfeuer, das jeinen fcharfen Duft in den Raum fandte,
während das Aroma der von den Brüdern entzündeten Eigarren ſich nicht minder
bemerkbar machte.
An den ſeitwärts zurüdgefchobenen Stühlen lehnten fie fi) bequem zurüd,
und ein Ausdrud ruhiger, innerer Harmonie lag auf ihren glatten, intelligenten
Gefichtern.
Und dann fagte Karl:
„Sp, nun erzähle aber aud, weshalb Du von einer Werbung um die
Baronefje definitiv abgejehen haft. Du begreifft, daß ich nach Deiner neulichen
Erklärung überaus neugierig bin. Haft Du fie etwa fundiert?"
Wilhelm nidte und entgegnete mit luftig pathetifchem Ernft:
„Sa, ich habe fie fondiert und da fagte fie:
„Wenn ich überhaupt einen Mann beirate, fo heirate ich nur den Amts-
gerihtsrat Karl von Hafe, obſchon er ein ungewöhnlich ſchlechter Kerl ift, deshalb,
weil er mich behandelt hat, al3 ob ich gar nicht mehr auf der Welt wäre!
„Und wenn er morgen zwilchen elf und zwölf um mid; anhält, dann gebe
ih ihm erſt, darauf kann er ſich ficher verlafjen, einige Straftüffe, dann aber
einen fo herzhaften Verlobungskuß, wie in der Welt nod) nie einer ausgeteilt
ift. Und weiter habe ich dann aud) nichts zu fagen, er aber hat fi männiglich
danach zu richten!”
„Wilhelm! Wilhelm!" rief der Mann, der diefe Worte gehört hatte, und
fchnellte von feinem Eit empor, al3 ob hundert Liebesgötter ihm einen Freuden—
rud gegeben hätten. —
„Zreibft Du einen umverzeihlichen Scherz mit mir, oder —"
„Rein, nein, teurer Karl!" fiel Wilhelm ihm in die Rede. „Sch ſprach im
Ernft, und ein taufendfältiges Glüf bleibt ja auch mir, da ich Baronefje Erneftine
von Euler Bruder werde. Der Weife nimmt vom Guten die Hälfte, wenn er
den ganzen Teil nicht erhalten kann!“
Und nad) diefen Worten folgte in zartfühlender Weije alles ausführlich, was
zu hören Karl verlangte, und was er aufjog wie eine nad) Honig ſpähende Biene.
Als aber Wilhelm nad) dem Abjchied von feinem Bruder in fpäter Mitter-
nacht ernft, nachdenklich und finnend durch die menfchenleeren Gafjen nad) Haufe
fchritt, flüfterte jein Mund:
52
818 Hermann Heiberg, Die beiden Hakes.
„Es ift ja nun alles gut jo, und wenn ich mir vorftelle, wie überfelig ich
meinen alten, guten Karl gemacht habe, jo ſchmelzen Schmerz und Enttäufhung
raſch dahin, und es erfüllt mich lediglich die Befriedigung, daß er zufrieden ift!
„Aber morgen ift ein anderer Tag, und dieſer andere Tag hat faſt immer
nah den Abendfreuden des vorigen die jehr üble Eigenſchaft, außerordentlich
nüchtern, Eahl, grau, ſchwer und ernft zu fein, bejonderd für verwöhnte Lebe-
männer, die des Gilber8 und Goldes bedürftig find, und die von ungeduldigen
Släubigern gedrängt werden.
„Was ſoll ich nun Iſidor Meyer, dem Sicherhoffenden jagen? — Ach werde
ihm jagen: ‚Lieber Meyer, der Sie aus einem der edelften und älteften Stämme
der Vorzeit ftammen! Ich babe mich dod) wieder befonnen! Ich fann eine weit
vorteilhaftere Partie machen! Sorgen Sie fih nit! Sie erhalten Ihr Geld,
und weil Sie noch länger warten müffen, ſchenke id; Ihnen meine Photographie
in Slabinettform!‘
Ein ironiſch überlegenes Lächeln trat in Wilhelms Züge bei diefer Be-
trahtung. Dann aber ein jehr ernfter und ein trübe verjchlofjener gar, als er
nun an der Schwelle feines Haufes anlangte.
Er gedachte des Weibes, das er liebte, des einzigen, für das er unter den
vielen frauen, mit denen er im Leben gefcherzt und gelacht, eine wahrhaft tiefe
Zuneigung befaß, mit nagender Sehnſucht, und er ftand lange, ein Zerftreuter,
Bedrüdter, unbeweglich auf der Gafje.
Erit al3 des Nachtwächters Schritte drüben vom Ende der Gaſſe herüber-
tönten, als defjen Geftalt in dem fchweren, langen Mantel unter dem Laternen-
licht fihtbar wurde, raffte er ſich auf, ſtrich mit der Hand feſt und energiſch
über fein Angefiht und ſetzte den unabänderlichen Willen ein: zu vergeſſen, ſich
alle Gedanken an fie aus dem Gehirn zu jagen!
Und als er bereit3 auf feinem Lager rubte, fi) feine Erinnerungen noch
einmal auf die Gefchehniffe des Tages lenkten, als er noch einmal feines, von
ihm warm geliebten Bruders gedachte, und er fi) defjen glüdjelige Mienen vor:
ftellte, da gings ihm, dem jonft fühlen Lebemann, durch die Bruft, daß die Ent-
äußerung feiner ſelbſt nicht zu den jchlechteften Lebensbefriedigungen eines
Menichen gehöre!
S
Scdweiter Kain.
Don
Julius Stinde.
S: war die Sorgfalt ſelbſt, die Heine runde behäbige Dame: fo pflichttreu, jo
umfichtig, fo zartfühlend, jo ängftli in allem, was das Wohl und Wehe
ihrer Mitmenfchen betraf, und für ihre nächſten Anverwandten die Aufopferung
in eigener PBerfon, ein menjchgewordener Schußengel. Und nun ſaß fie da, in
ftummer Anklage und nagender Reue. Das Gewiſſen jprad. Es fprah und
ſprach und ließ fich nicht zum Schweigen bringen.
„Mörderin“ fagte ed. „Kain erjchlug feinen Bruder, und du ... du bift
Kains Schweiter — Mörderin auch du, deines Bruderd. Kains Schwefter!" Go
zifchelte das Gewiſſen. Sie jpähte durch das Fyenfter auf die Straße. Nach
dem Sanitätsrat fpähte fie aus. Der war ihr Mitichuldiger. Er kam nidt.
Wie ihre Augen ihn auch unter den Daherwandelnden fuchten: fie fanden ihn
nicht. Und fie hätten ihn aus der weitejten Ferne unter Hunderten erfannt,
ihn, den Sanitätsrat.
Wie beim Durchblättern eines Albums Handſchrift und Bild geliebter
Weſen gar raſch und ficher angehalten werden, ſo bedarf es zum Erkennen der
in dad Buch unjerer Seele Eingetragenen nur geringer Zeichen, um fie deutlich
zu erfchauen. So erfennt die Mutter ihr Kind am leifeften Ton, der Liebende
die Geliebte an Schritt und Gang, und Fräulein Henriette Müller hätte den
Hetrn Sanitätärat ganz ſicher fchon von weiten erfannt, wenn er gefommen wäre:
ſei e8 an dem nicht ganz modernen Eylinderhut oder an dem dunklen VBollbart,
in den fich leider ſchon einige graue Fäden mijchten. Schade um den Bart;
Ichade um die Jahre. Aber die Zeit vergeht und mit ihr die ungebleichte Jugend.
Als Student trug er einen Schnurrbart; mit der wachjenden Praris ließ
er auch jeinen Bart wachſen. Wie harmlos hatten fie in der Frühlingszeit des
Lebens mit einander verkehrt, als weder an Praris noch an Bart gedacht wurde,
fondern höchſtens an den nächſten Tag, nicht einmal an die kommende Wode,
viel weniger an die ferne Zukunft! Die Jugend ift zufrieden mit der Stunde,
und die forglos zu genießen, ift ihr Recht. Nun aber erdrüdten die Sorgen alle
Gedanken der Wartenden bis auf den einen: Mörderin.
32*
820 Julius Stinde, Schweſter Kain.
Und der Sanitätsrat kam immer noch nicht.
Sie ſtand von ihrem Fenſterſitze auf, ging leiſen, unhörbaren Schrittes an
die zum Nebenzimmer führende Thür und horchte. Alles ſtill.
„Ob er ſchon tot iſt?“ fragte fie fi bang. — „Warum hat er mic weggeſchickt
von feinem Sterbelager? Mit fehr heftigen Ausdrüden fogar. Die Krankheit
macht ihn reizbar. Sonft iſt er fo gut, das reine Gold. Er thut Gutes, viel
Gutes, doch leider nicht mit dem rechten Sinn. In feinem Herzen ift er ein
Heide. Schlimmer als ein Heide. Er ift ein Freidenfer geworden. Ein Glüd,
daß die Mutter das nicht mehr erlebte. — Ob ich Hineingehe? Er wollte Elingeln,
wenn er etwas bedinfe. Wie kann er aber Flingeln, wenn er hinüber-
Ihlummert, ohne wieder zu erwahen. Wenn doch nur der Sanitätsrat käme!
Der geht zu ihm, der ift jo mutig; der fagt fogar, der berühmte Profejjor rede
Blaak — Wie mag er das mır wagen? Gin Profeſſor, der für jeden Kranken—
beſuch dreißig Mark anfchreibt, kann doch unmöglich Blaaf reden? Und wenn
der Profeffor recht bat, ift mein armer Bruder unrettbar verloren. Aber ich
überleb’ ihn nicht lange; jelbft wenn ich nur da8 gehorjame Werkzeug war. Die
Schuld bleibt und ich werde vergehen wie ein Schatten.”
Vorläufig war von einem Scattenhaftwerden nichts zu merken. Das
rundlihe Antlig der Eleinen behäbigen Dame erſchien troß des obmwaltenden
Kummers jo mädchenhaft friich wie das Leben felber. Sie war bis dahin aud)
glüdlich gewejen, glüflih in der Entfagung.
ALS die Mutter geftorben war, blieb fie dem Vater eine treue Stüße des
Alters, den zu verlajjen ihr unfaßbar gewejen wäre, hätte man fie genötigt, fich
mit dem Gedanken daran zu befchäftigen. Der Einzige, der verjucht haben könnte,
ihr die Frage vorzulegen, ob fie fich nicht einmal mit Trennungsgedanfen ver:
traut machen möchte, war der Dr. Wimm, aber der fannte fie zu gut, um ohne
Ausfiht auf Erfolg ihr Gemüt in Unruhe zu verjegen. Der wußte von vorn:
herein, daß fie jagen würde: „Mein Plaß ift bei meinem Bater, ich bin feine von
Gott beftimmte Hülfe. Berlangen Sie nidjt, daß ich twider das vierte Gebot
ſündige.“ Und die Tochter heiraten und mit dem Alten zufammen eine fogenannte
glückliche Familie bilden ... das ging nicht. Der alte Müller war ein Quer:
£opf, jo im gefchäftlichen Leben wie im häuslichen. Der Sohn hatte es nicht
aushalten können — der Doktor verjtand das Warum — und war auf und davon
gegangen, dahin, wo meift die verlorenen Söhne hingehen, nach Amerika. Der
Bater fagte nämlich, er jei ein verlorener Sohn. Der Doktor war anderer
Meinung und äußerte etwas von verftudten Bätern. Das aber gefiel dem Alten
durchaus nicht, und die Gaftfreundichaft hatte ein Ende.
Ob der alte Müller gelegentlid; fein Unrecht einfah, muß dahingeſtellt
bleiben, aber er betrug ſich ſo wie einer, dem klar wurde, daß er ſich ſelbſt zum
Eſel machte, und der nun erſt recht auf ſeinem Nück beſteht, denn er ergrimmte nicht
Julius Stinde, Schweiter Kain. 821
nur gegen den Doktor Wimm perfönlich, jondern warf feinen ganzen Haß auf alles,
was Medizin und Wiſſenſchaft hieß, und ließ fich in Krankheitsfällen ausschließlich
mit Naturheilfundigen ein. Der töchterlichen Pflege gelang es allerdings oft,
wieder wett zu machen, was Unfunde dem alten Herrn zufügte, aber ſchließlich
mußte auch er der Natur feinen Tribut zahlen, und die Tochter ftand allein.
Eine Kleine Rente jegte fie in den Stand, bei vorfichtiger Einteilung ihre geringen
Anſprüche zu befriedigen und auch nod für andere zu forgen. Sie mußte
wohlthun und helfen, und fie dankte Gott, daß fie es konnte in ihrer Art.
Sie Fleidete ſich mit reizlofer Genügfamkeit, thörichte Vergnügungen mied
fie. Arme und Kranke waren ihre Welt, und da fie nad) und nad anfing, ihr
Geelenheil eingehender in Betracht zu ziehen, Eapfelte jie ſich immer mehr ein.
Mas ſich draußen begab, war ihr eher ſchrecklich als wiſſenswert, und wenn fie
in der Beitung die Unglüdsfälle gelefen Hatte und was fih an Gräßlichem er:
eignet, legte fie das Blatt mit dem Bemwußtfein weg, daß, wenn foldhe Greuel
das jüngfte Gericht demnächſt notwendig machten, fie den Ausgang mit Ruhe
abwarten könne, denn wenn auch nicht ohne Fehl, — welcher Menſch dürfe fich
wähnen, frei von Günde zu fein — habe fie doch mit jenen VBerbrechern und
Berworfenen keinerlei Gemeinfchaft, deren Thaten ihr Gutenbergs Kunft als
traurige Botſchaft vom Berfall der Menfchheit allmorgendlih zum Kaffee
auftifchte.
Wo aber war heute der Stolz auf ihre Gegenfäglichkeit zu den Kindern
des Abgrundes? Gelbft ihre guten Werke konnten fie nicht retten, obgleich fie
ftet3 in Demut, ohne Hintergedanfen auf jenfeitige Belohnung gewirkt hatte.
Mord blieb Mord.
Er jchlief immer noch. Sein Zeichen des Erwachens. Das war der
Todesſchlaf.
„Hätte ich ihm das Mus doch nur nicht gegeben!“ klagte ſie reuevoll. „Mein
armer, unglücklicher Bruder.“ Der im Nebenzimmer ſo unheimlich Schlafende
war in der That der Bruder, der einſtige Familientaugenichts, der aus Amerika
mit einem großen Vermögen zurückgekehrt war, das er ohne den Segen und
allerdings auch ohne die Anleitung des alten Müllers erkämpft hatte. Es war
ihm hart ergangen, aber, nachdem er ſelbſt hart geworden und vollauf gelernt
hatte, ſeinen Mann zu ſtehen, griff er thätig mit in das Ringen um den all—
mächtigen Dollar ein und ſchlug ein hübſches Kapital zuſammen. Von der alten
Heimat wollte er nichts wiſſen. Die neue Welt war ſeine Welt geworden. Er
ſchrieb ſich Miller, redete nur engliſch, kleidete ſich mit amerikaniſcher Eleganz,
aß amerikaniſch, trank amerikaniſch und ſchwur auf alles, was einen Stich ins
Amerikaniſche hatte.
Da aber kam die Stunde, in der ſein Gemüt erwachte.
822 Julius Stinde, Schweiter Kain.
An den Romanen und Rührſtücken wird das Gemüt des PVaterlandäver:
geffenden gewöhnlich durch ein Lied erwedt, von dem ein liebliches Kind fo viel
Strophen fingt, bis die Thräne quillt; oder eine Photographie, eine Haarlode,
ein vergilbte8s Buch find die Talismane, die den Seelenjchrein öffnen, worin
der patriotische Kern feſt verfchlojfen ruhte. Hier in der Wirklichkeit, bei Mr. Miller
war es jedoch der Magen, der feinen Befiger zu der Einficht bradite, daß er
eigentlid) Müller heiße und in Deutfchland daheim fei. Die ſcharfen Würztunfen
drüben, die ftrengen Getränke, das ewige Eiswaſſer hatten jeine Verdauung ae
Ichädigt, und als der Arzt ihm Karlsbad zur Kur anriet, als er fi) mit dem
Gedanken beichäftigen mußte, daß fein Heil nur in Europa zu finden jei, da
tauchte die Heimat mit dem Zauber der Erinnerung auf, der fchöner malt als
alle Maler zufammen. So ſchön waren die Bilder, die fie ihm in jchlaflofen
Nächten zeigte, daß ihm Amerika plötzlich greulic vorfam, und als er jein Gut
geordnet hatte und endlich jo weit war, einen Plaß auf dem Dampfer zu belegen,
da ſchrieb er ſich als Müller in die Paſſagierliſte ein.
Der Zurüdfehrende kannte Deutjchland kaum wieder. E3 war alles größer,
volfommener und fchöner geworden; freilih war er amerikaniſches Städte-
wachstum gewohnt, aber was ihn Hier überrafchte, war die Menderung des
Alten. Er trug die Bilder der Vergangenheit in fich, und die dedte ſich nicht
mehr mit dem, was die Nugen jahen. Es war die Heimat, und doch war jie
es nicht. „Berlin ift nicht mehr Berlin” fagte er, „aber es gefällt mir.“ Dem
Andenken der Eltern trug er Rechnung in jeiner Art. „ES war mein Glüd, dat
der Alte und ich nicht hHarmonierten“, fagte er, „bier hätte ich es zu nichts gebradıt.
Und doc hätte ich den alten Herrn gern wieder geſehen.“ Bon der Mutter
ſprach er nicht, aber er beorderte einen Grabftein für die Doppelgruft draußen
mit reichitem Schmud. Groß und golden. So wollte er ihn haben. Darauf
follte eingegraben werden mit großen goldenen Lettern: „Die Liebe ftirbt nimmer.”
„Und wir wollen leben," ſprach er zu der Schwefter. „Von Deiner puri-
tanischen Einfachheit will ich nichts wiſſen. Wir haben es, und das Teuerfte,
was es an Samt und Seide giebt, ſuchſt Du Dir aus.
Die Schweiter wehrte ab.
sh will,” fagte der Bruder. „Und Diamanten follit Du haben, große.“
„sch nicht. Ich halte.es für Hoffart, jo vielen Prunk zu machen.“
„Wenn wir ins Theater gehen, will ih Staat mit Dir machen.“
„Theater halte ich für Sünde.‘
Ich nicht, mit Ausnahme fchlechter Komödie. Ich habe drüben zu viel
entbehren müfjen, das erfenne ic) jeit der kurzen Zeit meiner Rüdfehr. Es giebt
eine Majje Sünde, von der ich erſt wenig genießen Eonnte."
„Aber Dein Seelenheil?"
„Laſſe das!"
Julius Stinde, Schweiter Kain. 823
„Du weißt doch, daß Hoffart und Weltlichkeit die Schlingen find, mit
denen der Teufel den Menſchen nachſtellt.“
„Mein Kind, ich bin fo viel älter als Du und babe mehr Teufelei gefehen,
als Du Dir träumen fannft. Die Menjchen find die Teufel; an den ſchwarzen
Belzonfel mit Hörnern und Klauen glaube id nicht."
„Slaubft Du an Engel?“
„In Menjchengeitalt? Ya. Ich brauche nur Dih anzufehen, dann habe
ich einen.”
„Du läfterft. Glaubft Du?"
„Rein!“
„Wie traurig. Du mwarft zu lange unter den Wilden.“
„Oh, ich habe Wilde getroffen, die ſich rühmten, ebenfo trinken zu können
wie die Weißen, die ihnen die Kultur brachten.”
„Das war fündhaft."
„Bon den Wilden oder von den Weißen? Thu’ mir den Gefallen und laß ab
von Befehrungsverjuhen. Ich habe an fo frommen Orten gelebt, daß es
Sonntags nichts Anderes gab als Ealtes Fleiſch und die hölliſchen Pfefferfaucen,
mit denen ich meinen Magen gerade ruiniert hab’. Ad kenne die Frömmigkeit
nad) dem Buchſtaben zur Genüge und bin viel zu ug, als daß ich menjcliche
Beſchränktheit für göttliches Geſetz hielte.“
„Glaubſt Du denn ...“
„Borläufig nur an Karlsbad. Aerzte können auch irren. Wenn mir der
Brunnen geholfen bat, will ich gern an feine Heilkraft glauben. Wir reifen
fobald als möglich dahin, und wenn wir gefund und munter zurüdfehren, wird
die Wohnung eingerichtet und das Berfäumte nachgeholt. Du ſowohl wie id),
wir haben noch viel Gutes vor und. Und ich bin noch lange fein Invalide des
irdiſchen Vergnügens.“
Es war aber mit der Geſundheit des Bruders nicht auf das Beſte beſtellt.
Er begann zu kranken und die Schweſter wurde beſorgt. Sie ſchlug ihm einen
ihr bekannten Arzt vor.
Da fagte der Bruder: „Wie ift es mit meinem ehemaligen Freunde, dem
Dr. Wimm? Er nahm dem alten Herrn gegenüber meine Partei und ich rechne,
daß er als Arzt und Freund mich doppelt in Obacht nimmt, obgleich Freunde
in ihrer Pflicht oft faumfeliger find als Fremde, weil fie ſich auf die Nachſichtigkeit
des Freundes ftüßen. Ich habe da jo meine Erfahrungen.”
„Dr. Wimm ift nicht nur praftifcher Arzt. . .*
„Das finde ich vernünftig. Ein praftifcher Arzt ift in meinen Augen ein
Doktor, der eine reiche Yrau nimmt. Und er war immer praftijch.“
„Sp viel ich weiß, iſt er noch ledig. Aber er ift auch Sanitätsrat.“
824 Jullus Stinde, Schweiter Kain.
„Das beweift, fo viel mir erinnerlid, daß er fich nichts Hat zu ſchulden
kommen laffen. Alfo her mit ihm; ich kann aud) Sanitätsräte bezahlen. Die
Hauptſache ift, gefund werden.“
Der Herr Sanitätsrat fam. Die Freude des Wiederjehens war gegen-
feitig. Nach genauer Prüfung ftedte der Arzt feinen Patienten ins Bett, verjchrieb
eine Mirtur und gab Verordnungen, die Henriette auf das gewifjenhaftefte zu
erfüllen, gerade die rechte war. „Berhehlen wir uns nicht, daß Ahr Herr Bruder
nicht unbedenklich erkrankt ift,“ jagte er. „Verlangt er nad Nahrung, jo geben
Cie ihm Tegierte Suppe mit Eleinen Spargelföpfen und nur leichte Speifen.
Der Wechſel der Verhältniffe, vielleicht auch etwas Unmäßigfeit bei angegriffenen
Berdauungsorganen fcheinen mir die ſchädigende Urfache.“
„Es fchmedte ihm fo gut. Ach mußte ihm die Gerichte kochen, wie die
Mutter fie bereitete, namentlid; Eisbein mit Erbfen und Gauerfraut. Und
Batenhofer dazu.“
„Für meinen Sarlöbader Kandidaten wohl etwas zu fchwer.
„Hat unſer Patient wieder ähnliche Gelüfte, verweigern Gie ihm das
Berlangte. Die Diät ift bei jeder Behandlung wichtig, bier aber muß fie ganz
befonder8 berüdjichtigt werden. Am übrigen Hoffe ih auf baldige Wendung
zum Beſſeren.“
Ob nun der Kranke eigenfinnig war oder die Krankheit, das muß dahin-
geftellt bleiben; die Anzeichen der Geneſung meldeten fich nicht. Im Gegenteil,
die Berichlimmerung wurde merklicher und merkficher, und der Schlaf, der wohl-
thuende und Heilung fördernde, blieb aus.
„Auf dem Grabftein ift noch Pla für meinen Namen,” fagte der Kranke,
„der Steinmeg kann ihn gleich mit einhauen.“
Solche Rede befümmerte die Schwefter fehr. Noch mehr aber betrübte fie,
daß er heftig wurde, als fie die Gelegenheit wahrnahm, ihn bei den Grabgedanfen
auf fein Seelenheil aufmerffam zu machen.
Sie Flagte dem Sanitätsrat ihr Leid. Diefer war der Vertraute ihrer
Not geworden. Die lange Zeit der Trennung war rein ausgelöfht. Dr. Wimm
war twieder der Jugendfreund. Er beruhigte fie und fagte: „Die Aufwallung hängt
mit feiner Leber zufammen. Schonen Sie ihn, geben Sie nah; Widerjprud
ift gefährlid. Er bedarf ſowohl der körperlichen wie der geiftigen Nuhe. Und
dann ... . legierte Suppe.“
Der Kranke aber ward wild über die legierte Suppe, jo wild, daß er nod
eine Schattierung gelber wurde, al3 er bereits war. Unb in feinem Zorn begehrte
er einen anderen Arzt. „Bolt mir den größten Mebdizinmann, der aufzutreiben
tft," — ‚rief er, „ich kann ihn bezahlen.”
„Was meinft Du zum Profefjor Traber,“ fagte die Schwefter in ihrer
Angft, „er ift jehr berühmt und nimmt dreißig Mark für die Viſite.“
Julius Stinde, Schweiter Kain. 825
„Ob Zraber oder Rennpferd ift mir einerlei,“ antiwortete der Bruder jpit-
giftig, „Habt Ihr nicht noch einen teureren? Auf den Preis kommt e3 mir nicht
an. Ich will das Beite haben.”
Die Schmweiter geftand dem Hausdoktor unter peinlihem Zagen, daß ein
Zu-Arzt gewünſcht twerde, aber da der Sanitätsrat ein weiler Mann war,
billigte er die Dinzuziehung einer berühmten Spezialität, erlaubte fic jedoch zu
bemerfen, daß das Rizinusöl, das er bei einem Dreimark-Beſuch verordne, nicht
eine Spur anders wirkte ald das bei einem Dreißigmark-Beſuch verſchriebene.
„sch vermochte nicht, ihm zu widerſprechen,“ Elagte Henxiette „und Gie
hatten mich ja auch vor jedem Widerjpruch gewarnt."
Profejjor Traber kam. Er fand die bisherige Behandlung durchaus richtig,
fagte jedoch, daß unter den obwaltenden Berhältnijjen ein Erfolg ſchwer zu
erlangen fei. „Das Haus liegt gegen Norden," erflärte er, „ich halte einen
Wohnungswechſel für unbedingt geboten.“
„Der Mann gefällt mir," jagte der Kranke, „verfchreibt gleich eine ganze
Wohnung Der würde in Amerika fabelhaftes Glüf machen. Aber ich ziehe
niit um, ich habe in meinem Zimmer bier gerade Sonne genug.“
Db es nun das Anfehen des großen Mannes machte, oder ob des Sanitäts-
rat3 Träne allmählich anjchlugen, das zu entfcheiden iſt ſchwierig. Thatfache
aber war, daß die bedrohlichen Erfcheinungen abnahmen und auch der Patient
wieder Mut faßte wie feine Umgebung.
Die Schweiter lobte die Aerzte und ihre Mühemwaltung.
„Du haft noch Eeinen Medizinmann der Indianer gejehen,“ jagte der Bruder.
„So ein Kerl madıt ſich zu einem Maskenteufel, daß der Kranke entweder vor Schred
ftirbt oder aus Angft gefund wird. Und dabei jchreit und tanzt und trommelt er.“
„Das thun unfere Aerzte aber nicht."
„Sie trommeln dod) zuweilen,“
„Das babe id) nie bemerft.”
„Es giebt verfchiedene Arten zu trommeln; mit der Wiſſenſchaft läßt ſich
gehörig raſſeln.“ — „Du läſterſt.“
„Halt mie nicht ein. Für mich iſt Medizinmann Medizinmann, ob rot
oder weiß . . . einerlei.”
„Warum willft Du mid kränken?“
„Komm, Kind, fei gut. Ich Did kränken? Nicht wahr, wir begraben das
Kriegsbeil und Du mußt mir ein Labſal bereiten. Weißt Du, die Mutter Eochte
fo ein delifates Apfelmus . . .“
„Bon grauen Reinetten ...“
„Banz recht. Daran habe ich immer denken müfjen während der letzten
fchlaflofen Nacht und das möchte ich eſſen. Kannſt Du es ebenfo bereiten?“
826 JZulius Stinde, Schwefter Kain.
„Gewiß. Aber .. ."
„Was für ein Aber ift dabei? Und wenn jede Reinette einen Dollar Eoftet,
ich will es haben." — „Erjt muß ich die Aerzte fragen.“
„Belorge mir das Mus. Die Aerzte werden nicht3 dagegen einmenden.
Soldes Mus kann ein Säugling vertragen. Es ift jo fanft und erfrijchen).
Ich wollte, ich hätte es gleich, fo gelüftet mid) danach.“
Froh, dem geliebten Bruder einen Wunfc erfüllen zu Eönnen, eilte die
Schweſter in die Küche und kochte eigenhändig das Mus, und als es fertig war,
fam gerade der Profejjor. So konnte der ohne Zeitverluft gefragt werden.
Wenn auch der Profefjor ftet3 ein Geficht machte, als könnte er nur eriter
Klafje fahren, jo nahm er jeßt den Ausdruck an, als hätte ein Göttlicher ſich
zu den Gterblichen niedergelajjen, wie er ji über die Zulafjung des Apfelmuſes
zu entjcheiden hatte.
„Unter feinen Umſtänden,“ jagte er. „Sch übernehme die Verantwortung
für das Apfelmus nicht. Hat der Patient jedoch unmiderftehliche® Verlangen
nad; Wpfelartigem, jo dürfen Sie ihm einen Bratapfel geben.“
Henriette blidte den Profeſſor fragend an. Sie hatte ihn fichtlich nicht begriffen.
„sh bin Ihnen die Erklärung meines Verbotes ſchuldig,“ fuhr er fort.
„Das Apfelmus als folches ftellt nämlich eine breite Fläche dar, auf die fich ım-
zählige Keime niederlaffen, die in eben diefem Apfelmus einen Nährboden zu
üppigfter Entwidelung finden, und diefe Keime vermögen derartig zu intervenieren,
daß Komplikationen eintreten, für deren Ausgang zu bürgen, außer umferer
Macht ftände. Der Bratapfel als folder jtellt dagegen eine von einer Cutis
eingejchloffene Maſſe dar, in welcher etwa vorhandene Keime durch die erhöhte
Teınperatur des Bratens abgetötet, alfo unjchädlich gemacht werden, voran:
gefett, daß der Apfel nicht platt. Bratäpfel, die einen Riß zeigen, find ebento
verwerflich wie das Apfelmus, das ich unter obwaltenden limftänden geradezu
für Gift anzufprechen mich durchaus berechtigt Halte.“
„sch fürchte, mein Bruder wird ſich damit nicht zufrieden geben.“
„Er wird doch nicht an den Ergebnifjen der Wiflenfchaft zweifeln ?*
„Ad, Herr Profejjor, er it ein Freidenker geworden da drüben in dem
Amerika. Er will Apfelmus haben.“ J
„Leider find bakteriologiſche Kenntniſſe noch zu wenig verbreitet, als daß
der Laie wüßte, von welchen Gefahren er täglich, ſtündlich, nicht nur an Seuchen:
pläten, jondern ſelbſt im gewöhnlichen Hausftande umgeben ift. ch habe eine
Kleine Schrift bei mir, die ich Ahnen zum Studium gebe, damit Sie erfeben, zu
welchen wunderbaren Refultaten die Wiffenfchaft gelangte. Sie werden erfabren,
daß in dem Waſchwaſſer einer gewöhnlichen Wäſche in einem Kubikzentimeter, alio
noch nicht einmal einen Fingerhut voll, fünfzehn Millionen Keime gefunden wurden;
das Gramm Wäſche enthielt im Mittel dreiundfechzig Millionen Keime.“
Julius Stinde, Schmweiter Kain. 827
„Das ift ja gräßlich,“ rief Henriette.
„Und doch nicht übertrieben, denn Manfredi wies in einem Gramm frifchen
Straßenihmutes von Neapel Sechstaufendfehshundertahtundjechzig Millionen
Keime nad.”
„Leben denn überhaupt nody Menjchen in Neapel.“
Der Profeffor überhörte den Einwurf und belehrte weiter: „Auf jedem
Duadratzentimeter Bodenflähe eines Schlafzimmers wies die Wiſſenſchaft durch—
fchnittlich fünfzigtaufend Keime nad.”
„Die Wiſſenſchaft?“ fragte Fräulein Henriette zuftimmend „Die Wiffen-
ſchaft ift doch folch mefjingenes Rohr, durd das man fieht?”
„Sie meinen das Mikroſkop; allerdings ein durchaus unentbehrlicher Apparat der
Forſchung. Aber auch das Waſſer der Morgenwafchung wurde unterfucht. Denken
Sie fi: ein Kubikzentimeter enthielt zwei Millionen viermaldunderttaufend Keime.
Genaue Meffungen haben ergeben, daß Geficht, Hals, Naden, obere Bruft, Arme
und Hände annähernd eine Fläche von einem halben Quadratmeter darftellen.
Somit wären von jedem Duadratzentimeter Hautfläche eine Million dreimal»
hunderttaufend Keime beruntergewafdhen worden. Der jchlimmite Bafterien-
fänger aber ift der Bollbart. Sie künnen die geradezu grauenerregenden Zahlen
in dem Schriftchen felber nachlefen. Ich halte daher das Tragen eines Boll-
bartes von einem Arzte zum mindeften für — unwiſſenſchaftlich.“
Der Sanitätörat Dr. Wimm trug einen Vollbart. Henriette errötete über
die Unmiffenschaftlichfeit des befreundeten Arztes. Sie war jo beftürzt über
diefen unmiderlegbaren Vorwurf, daß fie ſchwieg.
„sch hoffe, Ihnen wird jett die Gefährlichkeit des Apfelmufes hinreichend
klar fein!“ Schloß der Profeffor den Vortrag und gab ihr die Schrift, von der er
geſagt hatte. Dann ging er zu dem Patienten. Nach einer Weile erichien er wieder.
„Hat er fi in das Apfelmusverbot gefunden?" fragte Henriette.
„Er fprad) nicht davon,“ entgegnete der Arzt, „und da jede unnötige Auf—
regung zu vermeiden ift, berührte ich den Punkt nicht weiter. Im übrigen find
Sie, mein Fräulein, zumal, wenn fie die Schrift eingehend ftudieren, völlig unter»
richtet, Ihrem Herrn Bruder die Gründe darzulegen, weshalb ihm nur der Brat-
apfel geftattet iſt. — Und damit empfahl fich der gelehrte Mann.
Der Bruder aber verlangte fein Mus. „Wo ift es?“ fragte er. „Wo
bleibt e8? In Amerika hätte ich nicht fo lange zu warten gehabt.“
„Lieber Bruder," begann die Schweſter milde und noch fanfter als fonft,
„glaubft Du an feinen... .“
„Berfchone mich mit religiöfen Fragen,“ begehrte er auf. „Ach will mein
Mus haben." — „Du meinft wohl Bratäpfel?"
„Dummes Zeug. Wie kommſt Du darauf? Die Tante Minna gab uns
Kindern immer Bratäpfel, die fie in ihrem Bett aufbewahrte. Bett und Brat-
828 Zulius Stinde, Schweiter Rain.
äpfel hielten jich gegenjeitig warm. Seitdem ich das entdedte, find mir Brat-
äpfel ein Greuel. Wo bleibt mein Mus?“
„Es kocht noch," ftotterte fie, „und dann muß es erft abkühlen.”
„Setz' es auf Eis. In Amerika wird alles mit Eis gefühlt. Wundervoll
dies Amerika.”
„Du fagteft aber doch, daf das viele Eiswafler Deine Verdauung geltört hätte."
„hu mir den Gefallen und verwechjele nicht Eiswaſſer mit Apfelmus. Ihr
Frauenzimmer habt eben feine Logik.”
Zum Glüd fam der Sanitätsrat. — Der erlaubte dem Patienten Apfelmus.
„Um Gotteswillen, wie konnten Sie meinem Bruder das Mus geitatten,“
jammerte Fräulein Henriette, al8 fie mit dem Arzte allein war. „Das ift ja
Gift.“ Und nun erzählte fie, was fie wußte.
„Wer hat Ahnen denn den Blaak aufgebunden?“ fragte der Sanitätsrat.
Da gab fie ihm die Schrift. Er blätterte prüfend darin. „Die Unter:
ſuchungen find mit großem Fleiß angeftellt,“ fagte er, „und mit den Keimzahlen
wird es feine Richtigkeit haben, aber ob die Keime giftige Krankheitäfeime find,
darüber fteht nichtS in der Arbeit. Wären alle die Keime todbringende, würde
da überhaupt noch ein Menfd) eriftieren?" — „Aber die Wiſſenſchaft ...“
„Es ift ihr Necht, ſich mit vielen Dingen zu beichäftigen. Aber trog aller
Keimzählungen würde ich meinen Bart do nicht abrafieren lafjen. Oder
wünſchten Sie es vielleicht auf Grund der bakteriologijchen Forſchungen?“
„DO nein, nein... . wenn er Ihnen nicht jchadet."
„Sie fürdten noch am Ende, er könnte mich vergiften?“
„Das wäre jchredlich!"
„Sie nehmen wirklich Anteil an meinem Wohlergehen?
Henriette antiwortete nicht, ward aber jehr verlegen.
Der Sanitätörat lächelte vergnügt. „Geben Sie unferın Patienten fein
Apfelmus,“ fagte er. „Am Nachmittag jpreche ich wieder vor.“
Nun hatte der Amerifabruder fein Mus mit großem Behagen gefpeift. „Die
Mutter Eochte es nicht befjer,” lobte er die Schweſter, die mit wachiender Be-
jorgnis zufah, wie das Mus aus dem Napfe ſchwand. „Wenn e8 doch Gift
wäre?" Mußte fie nicht glauben, was ein jo berühmter Mann gejagt hatte?
Und die wiſſenſchaftliche Schrift? Wie, wenn der Sanitätsrat die Keime nur
fo leiht nahm, um jeinen Bollbart zu retten? Mit innerer Angjt beobachtete
fie den Patienten und wartete auf den Ausbruch beunrubigender Symptome, bis
ber Bruder fie wegjchicte, weil er zu) Schlafen gedachte. Als fie zögerte, fich zu
entfernen, ward er heftig. Sie ging und las das Balteriendeft, und je mehr fie
fi) darin vertiefte, um jo gewiſſer ward ihr die Einficht, daß fie ihrem Bruder
Gift gereicht hätte. Allerdings unter der Anleitung des Ganitätsrats.
Diefer Schlaf war ein unnatürliher. Vergebens hatte der Bruder Schlaf
Julius Stinde, Schweiter Kain. 829
erfehnt. Nun war er gefommen nad) dem Apfelmus mit den unzöhligen Sleimen.
Das war Todesſchlaf. — „Mörderin!" raunte ihr Gewiſſen. Und gelogen hatte fie aud).
Wenn nur der Ganitätsrat käme. Bielleiht daß rechtzeitig angewandte
Gegenmittel da8 Unvermeidlihe abwendeten? Ob fie zu dem Profeſſor jchidte?
Was würde der große Mann fagen, deifen Berbot fie übertreten? Er künnte nur
wiederholen, was fie jich felbit fagte: „Mörderin. Kains Schwefter." — Da endlid).
„Sie kommen vielleicht ſchon zu fpät,“ rief fie den Sanitätsrat entgegen.
„Zu jpät?" fragte der Rat erichroden, „wie wäre das möglich?“
„Das Mus! DO, hätten wir es ihm nicht gegeben. Mein armer Bruder.
Er regt ſich nid;t mehr.” — Der Sanitätsrat ging in das Sranfenzimmer. Henriette
folgte ihm. „Wie geht es?“ flüfterte fie angiterfüllt. — „Er ſchnarcht,“ fagte der
Sanität3rat und taftete vorfichtig den Puls des Schlummernden. Der erwadite.
„sh glaube, ich habe einen vernünftigen Nick gemacht," fagte der Kranke.
„Wie das erquidt, ſich einmal ordentlich wieder auszufchlafen. Ich fage Dir,
Henriette, Dein Apfelmus ift gut. Mehr davon.“
„Nicht fo viel auf einmal,“ warnte der Sanitätsrat. — „Aber ich Habe Appetit.“
„Borzügliches Zeichen. Wie wäre es mit etwas Hühnchen?" „Mit Apfelmus? Ya.“
Henriette war wie erlöft, ald der Sanitätsrat ihr verficherte, daß eine er-
freulihe Wendung zum Beſſeren eingetreten fei, und doc) brad) fie in Thränen
aus, als fei das größte Unglüd gefchehen. Sie war aus ihrem feelifchen Gleich:
gewicht geraten. Sie hatte bis jett alles feit geglaubt, was ihr mit Ueber-
zeugung gejagt worden war, und nun hatte der Zweifel fich ihrer bemächtigt.
Wus follte fie glauben, wen follte fie glauben? Einer aber hatte recht gehabt,
und das war der Ganitätsrat; der ftand wie ein Feld in tobender Brandung.
Er ſprach ihr Troft zu und fie gab ihm nach und nad) Gehör. Und dann
plauderten fie von alten Zeiten und von der Zukunft und wie es ratfam wäre,
daß der Bruder ſtets einen Arzt zur Seite hätte, und wie herrlich ji ein Heim
einrichten ließe, in dem ſie alle drei bei einander wären, der Patient, der Arzt
und die Pflegerin. Dieſe als die Gattin des Arztes. — Und fo fam es, daß fie
dem Sanitätsrate troß jeines Bazillenbartes den Verlobungskuß gab.
Der Profejjor hat nie erfahren, daß fein Apfelmusverbot nicht innegehalten
worden war, ja, Henriette ließ ihn bei der Meinung, daß diefes den Bruder vor
jähem Ende bewahrt hätte. Sole offenbare Berfcjleierung der Thatfachen lief
fie fi auf Betreiben des Sanitätsrats zu jchulden kommen, deffen Anſchauung,
‚man muß nie zu viel glauben‘, auch bei ihr allgemad) zur Geltung gelangte.
Herner ift fie der Auficht, daß felbft Freidenfer, wie ihr Bruder, doch wohl nicht
ganz verworfen fein fünnen, da doch an ihm ein fichtliches Wunder gefchehen. Sie
fängt an, ſowohl über den Teufel wie über Keime ihre eigenen Gedanken zu haben.
©
Ben Beutichen in Alordamerika.
Dur allen Kampflärm und Bader der Zeit,
Durc der Parteien und Völker Streit
Tönt eine köftlihe Freudenkunde,
Wlebt eine feftlibe Wleibeftunde,
Die hoch über den ftürmenden Wlogen
Strablt wie ein leuchtender Friedensbogen,
Weber die See grüfzt fich Deutfches Blut,
Ueber die weltweite Abceresflut,
Vom Stromesriefen am Urwaldsrand,
Von Salzfcee und Steppe, vom Wleideland,
Bus der Riefenftädte Gewübl und Gebraus,
Aus Brbeitsballe und Farmerbaus,
Wo deutfcber Fleiſz nur wirkt und ſchattt
Bit Dem Beil, mit dem Pflug, mit des Geiftes Kraft:
Wo deutſch nur ein Herz fchlägt, beut feiert die band,
Denn ein Grüfsen fchwingt ſich vom Vaterland!
Schon ſchwillt es berüber wie Glockenfturm, |
Von des Rbeinftroms Borden, vom Abdünfterturm,
Vom Beckar, vom ZBain, von des Schwarzwalds Böb’n,
Von Beimatsglocken cin ſchwingend Getön,
Bus Franken und Schwaben, aus Sachfen und Abark,
50 febnfuchtberückend, fo wonnig und ftark,
| Wie Eichwaldraufchen, Zabrtaufende weit,
| Ertönts, wie Gedanken der Welt-Ewigkeit,
Daſz fchauernd Das berz in der Bruſt fich befinnt:
Die uralte Mutter grüfzt wieder ihr Kind.
— En
Aus dem Lande der Väter, der Jugend, erfchallts,
Aus dem Lande der Wartburg, des Sachfenwalds,
Bus dem einigen Reich, aus dem BDeutfchland der Tbat,
Dem Bbüter des Friedens im Völkerrat,
Ueber Beer, über Zand, über Bergwald und Fluß —
Und der Kaifer fendet den Friedensaruf:.
Der Kaifer! Der Kaifer auf Deutfchlands Thron,
Er fendet den Bruder, den Katferfobn;
Des Siegers von Wiörtb, Des Tilgers der Schmach,
Der dem Reich, der der Einbeit die Gaffe einft brach;
Moc glänzt uns fein Auge fo kübn und fo mild:
Doch grüfzt euch im Sobne fein Beldenbild!
Und grüfst Euch des Kaifers Abajeftät,
Alldeutfchland an feiner Seite ftebt,
Alldeutfchland grüfzt feine Söhne aufs Meu,
Unterm Sternenbanner der beimat getreu.
Euc alle, die Ihr uns deutfcbe Art,
Den Schatz unfrer Sprache in Treuen uns wabrt,
Die der Lüge Ihr webrt, und ein Schild für Das Recht
Von Lande zu Land, von Geflecht zu Geflecht.
Der beimat, der neuen, zu Rubm und zu Wlebr;
Für Deutfchlands Ebre: die Wacht am Abcer.
Gefegnet Das Land, Das Euch Scholle und Brot,
Das beimat und Arbeit und Freibeit Euch bot,
Deif "Wildnis dereinft Euer Blutſchweiſz getränkt,
Def’ Schlachtfeld dereinft Euer Berzblut befprengt —
Das Wleltreich, das MWacht Euch und Gröfze nun ſchenkt!
Und ein Braufen fcbwillt an, und ein Klingen wird wach,
Und Millionen von berzen entringt fibs gemach!
Und zurück über’s Adeer wogt das Fricdensgeläut:
Allewig ein Volk und ein berz fo wie beut!
Berlin, den 22. Februar 1902, Zulius Lobmever
MCHEHEH TH HHEHELEH HN NT
Nationale Erziehung.
Don
Wilhelm Münch.
D* fann man ſich feiner Täuſchung bingeben: einen jo fchönen Klang, wie
für und vor einigen Jahrzehnten, hat das Wort „national“ für das heutige
Geſchlecht ſchon nit mehr. Schuld daran iſt einmal die rollende Zeit, die
immer wieder abwärts gleiten läßt, was auf der Höhe der Kraft und Wirkung
war; dann aber doch auch menſchliches Ungejdid, das in dem Wunfche der mög»
lichiten Pflege des Nationalgefübls jih in den Mitteln vielfach vergriffen bat.
So ift eine gewijje Ermüdung weithin eingetreten, in verhältnismäßig kurzer
Zeit, oder doc) eine jehr merkbare Wandlung in der Beichaffenheit diefes Gefühle.
Starke Gefühle gleihmäßig zu bewahren, wird einer Gemeinfhaft von vielen
vielleicht noch fchwerer als dem einzelnen: es wirft da zu viel natürliches Schwer-
gewicht leife verjchiebend. Am Blute liegt ja und Deutfchen ein leidenfchaftliches
Nationalgefühl nicht; es finkt leicht tief in den Boden des Gemüts ein, es muß
durch Erfahrungen belebt, durch Einficht gehalten, durch Berhältniffe aufgerüttelt
werden; und jo gewinnt es auch unter wechjelnden Verhältniſſen ein verfchiedenes
Gepräge; in einer Periode der Hebergänge unterliegt es eigentümlidyer Schwan:
tung. Zwar ift uns die ideal-heroiiche Form des Nationalgefühls nicht verloren
gegangen: daß man das Vaterland als eins der höchſten Güter im Herzen trägt
und ſich wohl bewußt ift, wie viel man ihm zu opfern jchuldig fei, daS Bewußtfein hat
unter uns ja nicht aufgehört. Aber mehr in den Vordergrund tritt eine andere Aus—
prägung, mit der Richtung auf nüchtern aktive Sicherung des nationalen Wohl:
ergehens, des wirtjchaftlidhen Beitandes, des Raumes zur Entfaltung, des Er-
folges im Wettbewerb der Nationen. Scelten wird man diefe Erſcheinung nicht
dürfen, denn die Zeit erfordert fie wirflid. Dod wie nahe die Gefahr Liegt,
daß hier das Edle überhaupt aufgehe im Unedlen, follte niemanden entgehen.
Die Gefahr der Bergröberung fteht eben neben derjenigen der Ermattung, wie
die der Verirrung nahe bei derjenigen der Neberreizung.
Es bedurfte nicht erit folcher Unficherheit, um den Begriff nationaler Er—
ziehung zu einem ſchwankenden zu machen; aber umjoweniger ift man zur Zeit
darüber eines Sinnes. Daß fich zwiſchen Nationalität und Erziehung ein enges
Wilhelm Münch, Nationale Erziehung. 833
Berhältnis von ſelbſt einjtellen müjje, das anzunehmen liegt nahe, und die An-
nahme trügt auch nicht ſchlechthin. Indeſſen, wie ungleich ift die Beziehung in
Wirklichkeit von jeher geweien! Wie jtarf haben äußere und innere Einflüfje
gewirkt, lodernd, zerteilend, ummmandelnd und auch verfehrend! Bildungsideale
haben fich übertragen von Nation auf Nationen, Ueberlieferung wirkt weithin in
Raum und Zeit; daß man ji) recht auf ſich ſelbſt bejinnt, ift Schon nicht allzu
häufig; daß man auf fich jelber ftehen will, noch feltener. Auch iſt's mit dem
Wollen jchlechthin nicht gethan: natürliche Bedingungen müſſen entgegentommen,
natürliches Werden ift am ſtärkſten. Die Griechen bejagen nationale Erziehung
in einem vollen Sinne, Sparta noch mehr al Athen. Es war Erziehung für
die Nation durch die Nation, für die nationalen Lebensziele durd) den nationalen
Seift, in Formen, die diefem Geift und diejen Zielen entſprachen. Dennoch ftellte
Plato für diefe Erziehung ein noch viel jtrengeres deal auf und verlangte defjen
Verwirklichung. Das jpätere Hellenentum gab jeine Normen mindeftens für die
intellektuelle Erziehung allen den Bölfern, die in die Reihen der Kulturnationen
hineinftrebten, doch ohne daß nationale Unterichiede ſchlechthin jich verwiſcht hätten.
Das fo entitandene jpätere römische Erziehungsideal — wenn es ein Seal genannt
zu werden verdient — ward dann weithin maßgebend für die Ummelt, und in-
zwifchen folgte dem Hellenismus das Ehriftentum mit feinem mädjtigen, feinem
fait unbedingten Einfluß auf die Erziehung in allen ihm geöffneten Ländern, all:
mäblic in der klerikal-ſcholaſtiſchen Form des Mittelalters, um jpäter abgelöft
zu werden von dem ganz ähnlich allerwärt3 normgebenden Humanismus, zunächſt
in feiner lebendig flüfjigen Gejtalt und dann in der erftarrenden.
Was unter der ftraffgewordenen, gemeinjamen Dede der Erziehung von
nationaler Eigenart verblieb, war nicht geradezu verichwindend, aber doch weit
weniger nod) entjcheidend. Sicherlich ift der Geilt der Familienerziehung niemals
gleich gewejen, in deutihem Land zum Beiipiel und in wälſchem, abgejehen etwa
von der höfiſch gerichteten, oberſten Schicht; ficherlich ift eine englifche Jugend
unter anderen Hausregeln gehalten worden als eine franzöfifche oder ſpaniſche;
aber man darf doch nicht altbefannte Unterfchiede von heute beliebig weit zurüd-
datieren. Den tiefjten Unterjchted auch für den Geift der Erziehung mußten die
ſich allmählich) feſt und endgültig von einander löfenden Konfeffionen hervorbringen,
natürlich auch ihrerjeits nicht ohne Wechſelwirkung mit dem nationalen Blute.
Dazu kamen aber, und wiederum nicht ohne diejelbe Wechfelwirkfung, die befondere
Kulturrihtung des einen und ded anderen Bolfes, u. a. die künſtleriſche der
Staliener, die joziale der Franzoſen, die politifche der Engländer, und — wenn
auch nicht gleichzeitig, fondern mehr einander folgend und beinahe ablöjend — die
nationalen Litteraturen! Bielleicht befitt nichts jo viel Bedeutung für die Bes
wahrung oder Herausbildung nationaler Eigenart in der Erziehung und durd) die—
jelbe, als die Elafliihe — das heißt hier die beite und typiiche — Litteratur
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834 Wilhelm Münd, Nationale Erziehung.
eines Volkes, die ja aber bei unjern Kulturvölkern nur duch ein Zujanımen-
wirken der von auswärts aufgenommenen Bildungselemente mit dem eigenen
Volksgeiſt entftanden ift und darum nicht jchlechthin national im Sinne des
Ausſchluſſes und Abſchluſſes fein kann. Ueberſchätzen freilih fann man dod
auch diejen Einfluß; auch feine Kraft fcheint periodenweije zu verjagen, wie jte
periodenweife fich beſonders voll bewährt.
Aeußere und innere Verhältniſſe haben bewirkt, daß ſich im neunzehnten
Kahrhundert die Nationen mehr als vordem auf ſich ſelbſt beſannen. Wenn jte
damit innerlid) mehr als vordem aud; auseinander traten, jo wirkten dod) wiederum
innere Antriebe zufammen mit äußeren Wandlungen, um fie gleichwohl ftet3 neu
einander zu nähern. Ueber das mwünfchenswerte Maß von Abſchluß und An-
gleichung, über erlaubte oder verwerfliche Nahahmung, flüffige oder unmandel-
bare Erziehungsideale können die Anfichten Schwerlich zufammenfallen: hier wird
immer das Gefühl enticheiden, und die ſich mannigfach wandelnden Berhältnijje werden
fprechen. Ueber bejondere Ausartungen als ſolche verjtändigt man ſich ziemlich
leicht; aber damit ift die rechte Linie, die gefunde Norm noch keineswegs gegeben.
War es gejunde Norm, was im eriten Jahrzehnt des Jahrhunderts Fichte
aufftellte, als er in feinen Reden an die deutjche Nation eine Nationalerziehung
forderte, die die männliche Jugend ganz früh den fyamilien entzöge, um jie in
gemeinjamem Leben ausdrüdlicd für ihre nationale Beſtimmung vorzubilden?
So rüdjichtslos Erhabenes hatte ſeit Plato niemand zu fordern gewagt, wenn
auch das Verlangen, durch eine nationale Erziehung eine ſolche zu erjeßen, die
diefen Charakter allzu fehr entbehre, bald in deutſcher, bald in franzöſiſcher
Zunge wiederholt vorgetragen worden war (3. B. von Nouffeaus nicht unver:
ächtlichem Zeitgenofjen de la Chalotais). Für Fichte galt es nicht bloß Er:
ziehung in nationalen Anftalten, nad ftaatlic; beftimmten Normen, aud nicht
bloß Tühtigmahung für die äußeren nationalen Zwede und Bedürfniffe, für die
Selbjtbehauptung mit Schuß und Truß, für ein gedeihliches Yunktionieren des
gemeinfamen Lebens vermittelt gejunder und ftrenger Organijation; jondern es
galt Aufgehen des einzelnen in den höheren Intereſſen der Gemeinjchaft, Er-
füllung mit dem Geift der Dingebung und Aufopferung gegenüber dem Ganzen,
Erhebung des Ich über alles natürlihd Schwächende und Einengende zu einem
jelbftlos idealen Wollen. Und jo bat man unferm Philofophen auch niemals
das Ungeheuerliche feiner Forderung übel genommen: man fühlte mit Recht mur
den Aufflug des idealiftiichen Geiltes. Indes ift Verwirklichung doch auch nicht
gänzlich ausgeblieben. Wenigſtens brachte und das neunzehnte Yahrhundert
nationale Schulen mit fefter Organifation nach einheitlichen und ftaatlichen Ge—
fichtspunften, mit einem Bildungsinhalt, in dem das nationale Element allmählich
breiten Raum gewann, und aud) eine gewijje Berbindung der Schulerziehung mit
dem nationalen Deeresdienit, der feinerfeit3 an der Volfserziehung mitzuarbeiten
Wilhelm Münch, Nationale Erziehung. 835
immer deutlicher beftimmt wurde. Im höheren Schulwejen bradite die Herrfchaft
des Neuhumanismus, wenn auch nicht glei von Anfang an, allmählich dod)
ausdrüdlich die Verbindung zwifchen antiker und chriftlichedeutjcher Gedanfenmwelt,
eine ebenmäßige Würdigung diejer beiden, ehedem gegen einander fo gleichgültigen
Welten, eine Aufrichtung der einheimifchen edlen Dichtung zur Seite der hellenifchen;
und allmählid errang auch die vaterländiihe Geſchichte ſich den anfehnlichiten
Raum im Lehrplan, wo ſie lange vor der Breite der antiken oder der Fülle der fremd:
Jändifchen nicht zu ihrem Recht gelangt war. Alles dies nicht ohne Zufammenhang
mit den Erlebnifjen, mit der Entwidelung der Geſchichte: mit dem jehnfuchtsvollen
Zurüdbliden nad) vergangener Herrlichkeit zuerit, dann mit dem fich vertiefenden
Bewußtſein des wahren nationalen Bedürfnifjes, und ſchließlich mit der im großen
Kampf erwiejenen Ueberlegenheit, mit der erworbenen neuen Madtitellung im
Kreiſe der Nationen.
Dennod, wie vieles jteht dem Glauben entgegen, daß die rechte Organilation
der nationalen Erziehung für uns gefunden ſeil Ja, wird fie jemals gefunden
werden können, zu allgemeiner Befriedigung und al3 dauernde Norm? Dieje
Frage liegt nahe genug im Hinblid auf die innerhalb des nationalen Geſamtlebens
verbleibenden tiefen Unterjchiede der Weltanfchauungen und Ueberzeugungen, neben
den immer fortwirfenden Gegenfäßen der Stammesart und neben fo manchem andern,
was unfere von aller Einfachheit jo weit entfernte Kultur hier Erſchwerendes mit fich
bringt, im Hinblid aud) auf den jteten leifen Wandel der inneren wie der äußeren
Verhältniffe. Und die Frage fo aufwerfen und begründen, heißt ſchon fie beant-
mworten. Aber daß immer wieder VBorfchläge dargeboten und Formulierungen
verfucht werden, ift ebenſowohl begreiflih. Sie gehen zum Teil ins Aeußerliche,
oder ins Willfürliche, Eigenfinnige, Einfeitige und mitunter aud) ind Krankhafte;
man fann ihrer manche auf jid) beruhen lafjen. Halten wir uns auf fchlichten
Linien.
Zu den vollen Gedanken Fichtes ftrebt wohl niemand unter uns wieder
zurüd. Eine praktiſche Berwirklihung hätte immer weit unter dem bleiben
müfjen, was Fichte erhoffte. Durch erzieheriiche Einrichtung nicht bloß die innerfte
Gelinnung einer Nation überhaupt wandeln, fondern ihr eine allgemeine und zu—
verläffige Richtung auf das Ideale geben, den Egoismus austilgen wollen, das
heißt für alle Zeiten Unmögliches finnen. Wir bejcheiden ung jegt im allgemeinen
mit viel Einfacherem. Zum Teil bejcheiden wir uns offenbar allzu fehr. Es
giebt gute Baterlandsfreunde, die doch meinen, daß unfere nationalen Erziehungs:
einrichtungen nun einmal als ſolche bewährt feien, daß fie, jo wie fie find, fich aus
den vorhandenen Bedingungen entwidelt hätten und die normale Ausprägung
nationaler Erziehung darftellten, daß namentlich auch unfere großen Erfolge und
Fortſchritte Zeugnis ablegten für die Güte der erzieheriichen Unterlagen. Man
hört diefe Anfchauung zumeilt von befonderen Freunden der humaniſtiſchen
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836 Wilhelm Münch, Nationale Erziehung.
Studien, etwa des Gymnafiums in derjenigen Geftalt, wie fie um die Mitte des
abgelaufenen Jahrhunderts vorhanden war. Jene ſchon erwähnte Verbindimg
der deutſchen mit der altklaffiichen Geiftesmwelt, die ftete Nährumg des deutjchen
Geiſtes ausdrücklich durch den antiken, ift den Vertretern diefes Standpunfts die
ideale und unablösbare Verwirklichung des echt Nationalen. Und ficher ift es
ganz verkehrt, mit dem oberflächlihen Spott modernen Selbjtbewußtfeins darüber
abzuurteilen; aber halten läßt ſich gleichiwohl der Standpunkt nit: wie viel wir
ihm für die Vergangenheit verdanken, fo ift feine Kraft eben nicht auf der alten
Höhe geblieben, nach Geſetzen alles menschlichen Lebens oder doch Gemeintchafts-
(lebens und unter dem Einfluß nicht zu mißachtender äußerer Verhältniſſe. Nicht
bloß die äußeren Formen und Einrichtungen des Lebens erfordern, foweit fie ſich
nicht von ſelbſt fortbilden und umbilden, immer wieder in gewiſſen Zeitabitänden
Prüfung und Anpafjung, fondern aud) die inneren Wege Eönnen nicht dauemd
ganz die gleichen bleiben; die Söhne fühlen nicht genau wie ihre Väter oder
Großväter, ihr Inneres empfängt nicht die gleichen Reize und erwidert darauf
nicht in gleicher Art. Auch bleibt zweifelhaft, wie eng der Zujammenbang
zwifchen den äußeren nationalen Erfolgen und den Grundjäßen oder Gepflogen-
heiten der AJugendbildung der höheren Stände angenommen werden muß, und
fiherlid; fann man diefen Zuſammenhang jehr überſchätzen.
So wenig nun, wie das einfache Beharren bei dem „Bewährten“ (was oft
doch nicht viel mehr ift ald das Gemwohnte), jo wenig kann es befriedigen, wenn
andere erklären, die nationale Erziehung vollziebe fi als ſolche immer von felbit
und mit Notmwendigfeit, fofern wejentlich durdy) Sprache und Litteratur die Denk:
weile beftimmt fei, durch Boden und Abftammung die Sinnes- oder Gefühlsart,
durch Sitten und Einrichtungen die Form des Lebens und Sichdarftellens aud
für den einzelnen. Das alles reicht in der That weit, aber doch nicht weit
genug; es bildet die unentbehrliche Grundlage, aber wie wenig hat dieſe jich
gerade bei uns in der Vergangenheit als ausreichend erwiefen! Wir find damit
vor einer Ausländerei nicht bewahrt geblieben, die für ein Volk von oberflädhlicher
Begabung und beicheidener Entwidelung nicht beſchämend geweſen wäre, aber für
ung gerade um dejjen willen, was wir fein Eonnten und follten, um jo mehr.
Und hat man gegenwärtig etwa wirflid aufgehört, fi über Gebühr nachahmend
und huldigend zu bezeigen? Man denke 3. B. an die Rolle, welche das fran:
zöfiiche Sittendrama bei uns doch wieder jpielt, um von der fouveränen Herrichaft
englischer Lebensformen zu Schweigen. Der Unterichied von ſonſt und jett ift weſentlich
der, daß wir, ehemals fchlehthin uns unterordnend und uns mißachtend, jett eber
zwifchen den Ertremen hin und her ſchwanken, den Ertremen der Unterichäßung
und der Ueberſchätzung unjeres Wertes, unjerer Kraft. Mit dem bloßen Gehen:
laffen der natürlichen Bewegung ift es alfo doch wohl nicht gethan.
Diefem ganzen Standpunkt tritt man mit Beltimmtheit gegenüber, wenn
Wilhelm Münd, Nationale Erziehung. 837
man zu bewußt nationalem Leben durd) die Erziehung binführen will, zu be-
mwußter und gewollter Bermirklihung deutichen Wefend und Fühlens. In der
That kann eine planvolle Erziehung nicht darauf verzichten, diefes Ziel als folches
mit aufzunehmen. Gerade die höher geführte Erziehung, diejenige, welche den Nach—
wuchs von „Bebildeten“ liefern fol, muß ein in vollerem Maße bewuhtes Leben auch
nach diefer Seite pflegen und fichern: „unbewußt“ und „ungebildet“ berühren ſich doch
eine ganze Strede weit. Doch freilich, ein jehr verſchiedenes Gewicht kann man
dieſem Ziel neben andern Zielen der Bildung geben, man fann es fi in
mannigfach abweichender Ausprägung denfen, und kann mit ebenfo mannigfad
verichiedenen Mitteln es zu erreichen ſuchen. So hat jid) im Gegenfaß gegen
jenen humaniftifchen Standpunkt bei manchen die Ueberzeugung gebildet, daß nur
eine möglichjt breite, andauernde und alljeitig eindringende Bejchäftigung mit
deuticher Sprache und Litteratur, unter Dintanfeßung oder Ausſchluß anderer
und namentlich der alten Spraden, das rechte Deutjchtum der Zöglinge fichern
werde. So joll aud) der möglichft vollftändigen und präzifen Kenntnis der vater:
ländiſchen Gejchichte diejenige anderer Nationen oder Zeitgenofjen mehr und mehr
aufgeopfert werden. So glaubt man ferner, durch ftet3 wiederholte Erinnerung
an alle vaterländifch wichtigen Ereigniſſe, Handlungen, Erfolge, Namen und
Daten das Intereſſe am ficherften lebendig zu erhalten, und namentlich durd)
rühmende Erinnerung das nationale Selbjtbewußtjein und durch unermüdliche
Empfehlung der Vorbilder die Nahahmung und Nachfolge. Und jo gewiß gute
Wirkung von all diefen Mitteln ausgehen kann, jo wenig tft jie doch zuverläflig
und fo viel Gefahr heftet fih aucd daran, Gefahr der Ermüdung und Ab:
ftumpfung, Gefahr der Enge und Befangenheit, Gefahr der inneren Reaktion,
des jpäteren Umſchlags, wie das alles ſich bereitS oft genug wirklich eingeftellt
hat. Wie man von größerer Höhe aus einen weiteren Umblick bat, fo jtellt ein
weiterer Umblick uns auch auf größere Höhe, und es darf dod wohl im beften
Sinne nationale Eigentümlichkeit für uns bleiben, zu folder Höhe des Stand:
punkts nebſt dev Weite des Umblicks zu ftreben.
Mehr als einmal haben wir num auch jchon die Forderung zu vernehmen
gehabt, es müſſe das nationale oder patriotiiche Element für das deal und das
Programm der Erziehung von nun an geradezu diejenige Stellung erhalten,
welche dem religiöien Lebensprinzip jo lange angehört habe. Das lettere jei
nun einmal in unjerev Generation nicht mehr wie ehedem lebensfräftig, und das
Nationalgefühl ſei zum Erſatz berufen. Das Baterland, das irdiiche, das ums
ja ein heiliges in der That heißt und heiten darf, könne und jolle das Heilige
für uns werden, die Gefinnung der Mufopferung und Dingebung an dasfelbe die
höchſte ethische Konzentration bedeuten. Man Scheint zum Teil fogar zu meinen,
daß man damit obfiegen fünne über die trennende Wirkung der veligiöfen Konfeſſionen.
Alle diefe Erwartungen könnnen fo wenig einfichtsvoll heißen, wie fie an ſich
838 Wilhelm Münch, Nationale Erziehung.
ſelbſt wenig erfreulich find. Berzweiflung an einer fortdauernden Macht wirklichen
religiöjen Empfindens foll uns nicht überfommen: man müßte damit an vielem
verzweifeln, was zu dem Beſten des Lebens gehört. Nichts Diesjeitiges, Greif:
bares, Wandelbares fann in den Rang des Höchften eintreten, kann zum Heiligen
im unbedingten Sinne werden. Nur nähern fann es fich diefem, und eine ähnlich
volle Herrichaft über die Seele erlangt es mit Necht namentlich in den großen
Zeiten der Not und Gefahr. Aber darum fteigt das Patriotiſche nicht wirklich
auf in den Rang des Religiöfen. Das eine und das andere au nur allzu eng
und allzu dauernd verbinden zu wollen, ijt vom Uebel: es fommt dabei auf eine
fünftlije Ueberfteigerung der nationalen Gefühle hinaus, oder auf ein Derab-
ziehen des Neligiöfen. Schon das gleichzeitige Gebet der ftreitenden Nationen zu
dem einen Lenker der Schladten um Sieg über den Gegner wird dem nicht
mehr ganz naiv Fühlenden faft peinlich. Aber jedes Vaterlandsgerfühl, das nicht
ohne Geringichäßung oder Abſcheu oder Haß gegen das fremde lebendig bleibt,
ift in Wahrheit ein ziemlich unheiliges Ding. Es ijt in diefer Mifchung oder
Legierung doc; nur eine Art von Surrogat für die jchöne freudige Liebe, ein
Surrogat zum Gebrauch der Eleinen Seelen, die wie „die Kleinen Börſen“ echte
Werte nicht erichwingen fünnen.
Eine andere, und jehr wohlbefannte Verbindung ift das Baterlandsgerühl
da eingegangen, wo e3, jo zu jagen, zu viel Erdcharafter trägt, wo die heimiſche
Erde in einem allzu Eonfreten und engen Sinne ſich geltend macht. Durften
wir Deutichen vor einiger Zeit glauben, davon, nachdem wir fo lange darunter
gelitten hatten, nun befreit zu fein, uns im ganzen und endgültig über den
Partikularismus erhoben zu haben, jo iſt daS leider eine große Täuſchung ge:
wejen, denn die Anzeichen des Gegenteil find gegenwärtig überreihlid. Das zu
fehen fchmerzt doch nicht nur um der praftiichen Seite willen, wegen der Ge—
fahren, die unjerer Zukunft damit drohen, fondern auch aus idealen Geſichts—
punft: weil es zeigt, wie viele unferer Landsleute ftärfer von dem ihnen ge-
wiljermaßen phyſiſch Zugehörigen, dem durch Gleichartigkeit Bequemen beherricht
werden, als von Tdeenhaften Mit Eigeniinn und Mißtrauen bat der Parti—
Eularismus doch viel zu thun, und alfo mit innerer Enge; er ift eine Form des—
jenigen Egoismus, der nicht gerade dem einzelperfönlichen Ach gilt, der aber
darum doch Egoismus ift. Für die planvolle Erziehung ift es eine ebenfo vor:
nehme wie felbftverftändliche Aufgabe, auch über diefe Art von Gebundenheit
hinüber zur Freiheit zu führen, aus der Enge des Fühlens in die Weite. Und
doch wird eine gefunde Erziehungsweile nimmermehr zur Gleichgültigfeit oder Ge—
ringihätung gegen die eigene Heimat binführen wollen. Ganz das Gegenteil!
Es läßt ſich aber das eine Ziel mit dem andern fehr wohl verbinden, nicht
bloß in mwortmäßiger Formulierung, jondern dadurd, daß man — ebenſo, wie
auch dem Ausland gegenüber, und noch mehr und voller — den andern Stämmen
Wilhelm Münch, Nationale Erziehung. 839
und Landichaften das Ihrige zuerfennt, überall die eigentümlichen Vorzüge willig
anerkennt, um ſich derjenigen der eigenen engeren Gemeinſchaft defto unbefangener zu
erfreuen. Es gilt wiederum, die Herzen frei zu halten von all den negativen
Gefühlen, fie vor allem zu erfüllen mit Freudigkeit und Liebe, welche beiden ja
näher mit einander verwandt find, als jedermann bewußt ift. Das ift ein zu—
gleich schlicht natürliches wie vornehmes Ziel, und wer dazu mitarbeitet, treibt
ein edles Werf,
Was kann überhaupt jchöner fein auch unter dem Gefichtspunft der nationalen
Erziehungsaufgabe, ald Werte fühlbar zu machen, die im nationalen Leben vor-
banden find, und dann: was wäre würdiger und wichtiger, al3 die vorhandenen
Werte zu erhalten und zu fichern! Aber eins darf diejes Beftreben doch nicht
ausfchliegen: nämlich die gleichzeitige Sorge um die wünjchenswerte Ergänzung
oder Läuterung. Schon deshalb, weil alles Menſchlich-Edle dazu neigt, fich all—
mählich zu vergröbern oder zu verengern, abgejehen davon, daß es immer feine
Schranken trägt, die zu überwinden der Wille nicht fehlen darf. Uebrigens kann
bier ja das Erhalten auch nur gefchehen durd ein ftetes Neu-Erzeugen, denn in
dem erwachſenden Geſchlechte muß es erft wieder entftehen und fich befeitigen.
Jene „nationalen Werte“ als ſolche fäuberlicdh geordnet aufzuzählen, wird
nicht angehen; es wäre wohl immer etwas Willkür dabei und wahricheinlich auch
etwas Beräußerlichung. Jedenfalls darf damit nicht ſchon gefagt fein follen, daß
jene Werte nun unfer bejtimmter Befit feien, una etwa von andern Nationen
ihieden. An diefen Punkte ift nicht wenig Selbittäufhung und naiver Hoch—
mut unter uns zu Haufe gewejen und auch noch feineswegs ganz überwunden.
Aber eine eigentümliche Färbung und Erjcheinungsform werden ja jelbjt gleich:
artige Güter oder Vorzüge immerhin bei den einzelnen Nationen gewinnen. Wir
find gewohnt, uns der Gründlichkeit in geiftiger Arbeit zu rühmen, und der Ge—
fühlstiefe, und einer allgemeinen Richtung von dem Aeußeren hinweg auf das
Innerliche, und auch der Stetigkeit und VBerläßlichkeit, der Biederfeit und Treue,
des Fleißes auch und des Ernites, der Gemifjenhaftigkeit, ja der rechten Art der
Frömmigkeit, und dazu der Gerechtigkeit gegenüber dem Fremden und Anders
artigen. Nichts von alledem kann grundlofe Behauptung heißen, aber wie weit
ift’8 davon entfernt, daß dieſe edlen Eigenjchaften etwa wirklicher Befit deſſen
wären, der den deutjchen Namen trägt! Es find Vorzüge, die fich bei den Guten
oder Beiten unter uns oft bewährt und bewiefen haben; oder die in einer be-
ftimmten, aber nicht etwa idealen, Ausprägung unter ung verbreitet find, während
fie in etiva8 anderer Ausprägung fic draußen bei den andern finden; oder auch
Vorzüge, denen in der Wirklichkeit die damit verwandten Fehler fid) fo eng an
heften, daß fie vielfach als Mängel fajt eben jo gut aufgefaßt werden können
wie ald Vorzüge. Dder es find Reale, die uns freilich ins Herz leuchten, zu
denen e3 uns immer in unſern beften Stunden emporzieht, zu denen aber unfer
840 Wilhelm Münch, Nationale Erziehung.
Sein und Thun ſich verhält, wie eben menſchliche Wirklichkeit zu Sdealen! Aber
freilich, da gilt es denn vor allem: diefe ethischen Ideale, die unſer Volk nd
immer wieder vorgehalten bat und die ihm immer wieder geleuchtet haben, als
ſolche lebendig zu erhalten, jie in ihrem Adel fühlbar zu machen, ihnen immer
neue Wirkungskraft zu jihern. Das im Sinn zu halten it namentlich wichtig in
Zeiten tiefgehender Gärung, ungewiffer Uebergänge, weitreichender Auflöfung,
trüglichen neuen Straftbewußtfeins, in Zeiten eben wie die unirigen. Als Ber-
pflichtung der Perfonen, als Ehrenpflicht des deutichen Namens viel mehr denn
al3 Erbbefig des Blutes muß das der Jugend entgegengebradit werden, und
aller Hochmut auf vermeintlich angeborene Vorzüge ift Fräftig fernzuhalten. Das
jene Neigung zur Gründlichkeit mit Schwerfälligfeit ſich leicht verbindet, mit
Mangel an Bereglichkeit, die Richtung auf das Innerliche mit fehlendem
Formenfinn, darf nicht überjehen werden, und dal die andersartigen Werte der
Menjchen draußen eben doch auch Werte find, daß z. B. nicht bloß nachhaltiges
Gefühl, jondern auch leicht belebtes, fortreigendes Gefühl etwas echt Menic
liches und Schätzbares ift: das und ähnliches anzuerkennen gehört ja eben zu
der Gerechtigkeit des Urteils, zu der Fähigkeit, allerlei Werte zu würdigen, deren
wir und gern rühmen.
Neben der ſtets neuen Aufrichtung aber unferer ethiichen Ideale in den
Herzen handelt es fi) doch auch immer wieder um das Hineingewöhnen in wert-
volle nationale Wejensart und um das Berfchmelzen mit dem nationalen Ge
famtleben: nur fo wird die im nationalen Sinne wünjchenswerte Richtung redit
gelichert. Alfo Hineingewöhnung in die wirklich ewnfte, treue Arbeit, um der
Arbeit willen und der Treue willen, nicht bloß als ein Ringen um perlönlichen
Erfolg, Gewöhnung an die Gemwijjenhaftigfeit im Kleinen, aus der allein die
jenige im Großen folgen wird, Pflege der Frömmigkeit in jenem ſchlichten und
tiefen Sinn, nämlich als Gegenjaß zu allem Frivolen, als legte Grundlage für
allen Ernft der Gefinnung und Lebensführung, und auch als Hülfe gegen den
thörichten Hochmut. Neben ſolcher Eingewöhnung dann das Dineintauden in die
vaterländifche Lebensſphäre: in Kenntnis des Landes, nicht bloß als Gedächtnis—
bejig von Namen, Maßen und Zahlen, oder auch von Sriegserfolgen umd
Regentenleiftungen, nicht bloß als Wiffen um ſtaatliche Organifation und wichtige
öffentliche Einrichtungen (worauf man jett mit Recht doch aud Wert legt),
fonden als anſchauliche Kenntnis, als eine gewiſſe Bertrautheit des Gemütes,
Wijfen um Stammesart und Volksnatur, un Kulturleiftungen und Strebungen,
Ehren und Niederlagen, Schickſale der einzelnen beiten und Los der vielen
und geringen um Möte und Leiden, aud um Fehler und Sünden und Ver—
fuchungen, die in unferm Blute liegen oder in der nationalen Lebenslage. Und
neben diefer Art des Dineintauchens dann die andere: das Eindringen in die
reiche Welt der beften Gedanken, der edlen Dichtungen, der wohlgepflegten
Wilhelm Münch, Nationale Erziehung. 841
Sprade — ein Gejamtgebiet, über das bei wenig Worten ftehen zu bleiben
ſchwer fällt, daS aber aucd einer bejonderen Betonung und Empfehlung ficher
am wenigſten bedarf. Daß nur nicht über dem augenblicklich Neizenden in
Litteratur und Dichtung das Große verblajfe oder fremd werde, das beftimmt
it, über die Jahrhunderte hinweg zu leuchten und dem unfer Volk doch wejentlic)
jeinen inneren Adel verdankt, wenn es jich eines jolhen rühmen darf!
Damit ift natürlich nichts angedeutet, was nicht längſt als der gute Weg
gegolten hätte. Aber an die bewährten Wege uns zu halten, joll ja eben unſer
Grundfaß fein. Daß übrigens das Bewährte ſich nicht immer wieder von felbft
bewähre, darf man nicht vergejfen, und auch nicht, daß es mit dem bloßen
Schreiten im vertrauten Gleiſe nicht gethan jei. Es gehört das volle Herz des
Erziehers dazu, nebit einem weiten Gefichtsfreis, um zu wirfen. Und aud) der
Wunſch, der Trieb, die Sehnfuht darf ihm nicht fehlen, es immer beijer zu
machen, nicht bloß joweit feine Kunſt und Sicherheit in Betracht kommen, fondern
auch in Beziehung auf die Zielſetzung. Es heißt eben keineswegs, dem nationalen
Geifte untreu werden, wenn man auch deſſen Schranken ins Auge faßt, um
fie wo möglich zu erweitern, zu überwinden. Die Erziehung darf ſich das alljeitig
Bute zum Biel ſetzen; ergiebt fie fi) von vorn herein in beſtimmte Einfeitigkeit,
jo ift Gefahr, daß man einen Zerrbild entgegentreibe. Zudem fordern die
immer neu jid) auferlegenden Lebensfämpfe auch bei den Nationen die Entfaltung
neuer Seiten der Kraft, eine Art von fteter Selbjtkorrektur, die im großen das
ift, was im einzelnen die unentbehrliche Selbiterziehung der Erzogenen. Beftimmter
nod kann man jagen: neben dem Erhalten der nationalen Werte gilt es doch,
für die nationalen Aufgaben immer wieder tüchtig zu machen. Worauf es da in
unjerm Falle wohl befonders ankommt ? Biclleicht wird man darüber nicht leicht
einig werden, ob nicht unfere Richtung auf eine möglichjt breite und alſo weit
binaufgeführte gleihmäßig allgemeine Bildung eine gewijfe Abwandlung nahe
lege, ob man fich nicht zu jehr fürchte vor dem Charakter des fogenannten
Utilitarifchen, das doh im Sinn des nationalen Bedürfniffes mehr und mehr
unabweisbar wird. Aber das fett jid) ja, wie jehr auc, die Meinungen darüber
ſich nod) befämpfen, jchon von jelbjt durch, und unfere Aufgabe wird nun fein,
die utilitarifchen Beftandteile des Bildungsstoffes doch durch die Behandlung
zugleih zu wirklich bildenden zu machen, was in Wirklichkeit faſt immer
möglich ift. Cine andere Frage wäre, ob nicht der allzu vorwiegende intellektuelle
Charakter unferer Bildung eine Verſchiebung verlange nad) der Seite der Willens»
bildung ; und auch auf diefe Frage giebt eine thatſächlich erftarfende Strömung
bereits bejahende Antwort. Nur dürfen wir darum nicht jtreben, einfad) die
bisherige engliſche Erziehung zu Eopieren, die doc, gerade ihrerjeits ſich nun nad)
der andern, nach unferer Seite hin zu ergänzen trachtet. Damit berührt ſich die
Frage nad) dem PVerhältnis Eörperlicher Musbildung zur geiftigen ; in der Herbei-
842 Wilhelm Münch, Nationale Erziehung.
führung eines bejjeren Gleichgewichts der beiden ift man ja feit einigen Jahr—
zehnten ſchon begriffen, freilid; ohne daß man das Gefühl des erreichten Bieles
haben Eönnte. Nur ftellen ſich die meilten die Herbeiführung des erfehnten
Sleichgewichts viel zu leicht vor, und ob es unter unferen Kulturverhältniſſen
und in unferen Kulturnöten noch eine rechte Möglichkeit dafür giebt, das bleibt
wohl eine wirkliche Frage.
Aber auch von ganz anderer Seite her ergeben ſich Wünſche für eine gemiite
Umbildung der uns gewohnten, ja der uns natürlichen Ziele. Jene uns gewiſſer—
maßen angeborene Gleichgültigkeit gegen die Form ift nicht etwas jo Berechtigtes,
wie die Selbftzufriedenen meinen ; unfere Gründlichfeit ift (um darauf zurüdzu-
fommen) wirklich mit Schwerfälligkeit viel verbunden, unfere Tiefe mit mangelnder
Klarheit. Die Fähigkeit zu guter Darftellung, der leichte geiftige Napport mit
andern find in feinem alle geringwertige Vorzüge, und das Leben erfordert
mehr und mehr von jedem einzelnen gewandtes Können. Freilich ift das die
befte Gemwandtheit, die ſich auf feit gelegter Grundlage des Berftändnifjes ent:
widelt, und nach dergleichen haben wir ja immer gejtrebt ; doch wir find vielfach
in dem tiefen Untergrund fteden geblieben. Nicht um diefen Punkt, aber doch
um etwas einigermaßen VBerwandtes handelt es fich, wenn gegenwärtig vielfach
in einer weit ftärferen Betonung und Pflege des Aeſthetiſchen die zeitgemäße
Ergänzung oder Korrektur unferer Erziehungsweife erblidt wird, unter der Klage,
daß diefes Gebiet bis jet über alle Gebühr vernachläſſigt worden ſei. Vielen fällt
gegenwärtig das Leben im Aeſthetiſchen mit Idealismus ſchlechthin zuſammen;
äfthetiiche Erziehung oder Erziehung zur Kunſt Scheint ihnen die wahre Seele
der Erziehung überhaupt, und die Zukunft deuticher Kultur ſoll an diefer Wand-
fung hängen. Gewiß kann auf diefer Linie Freundliches erjtrebt und Erfreuliches
geleiftet werden. Aber e3 bleibt doch über alles der ethiiche Idealismus, den
es der Jugend einzuflößen gilt, und dieſer hat mit dem äjthetiichen, obwohl beide
nicht ohne Berührung find, feinen irgend notwendigen oder feiten Zufammenhang;
fie fallen unter Umständen weit auseinander. Zumal in einer Zeit, wo für die
Kunft der Inhalt eigentlich nichts mehr gelten foll, jondern für fie „als Hunt“,
al3 Gebiet für das Spiel perfönlicher Kräfte, unbedingte Berechtigung und Würde
beansprucht wird. Keinesfalls alfo darf es fich bier um etwas wie eine Ablöjung
handeln follen, fundern eben nur um eine Bereicherung.
Doch e3 bleiben uns bedeutungsvollere Aufgaben. Von dem alten deutichen
Individualismus das Wertvolle zu bewahren und dennod) eine Fräftige innere
Strömung zum Gemeinfchaftsleben hin zu erzeugen, das wäre das Mötigite für
Gegenwart und Zukunft. Es wäre freilich etwas fehr Großes, aber follen wir
es uns deshalb nicht zum Ziel fegen? Nicht darin ſchon beiteht die gute nationale
Gefinnung, dag man ſich nad) außen Hin als zufammengehöriges Ganze fühlt,
ald Ganzes mit ftarfen Dafeinsrechten, abgegrenzter Eigenart und empfindlicher
Wilhelm Münd, Nationale Erziehung. 843
Ehre, auch ſelbſt noch nicht darin, daß man bereit ift, für diefes Ganze und
jeine Lebensrechte volle Opfer darzubringen: fondern es gehört dazu die andere
Seite, da man mit den verfchiedenen Arten der Volksgenoſſen wirklich innerlich
verbunden fein will, an ihrem Leben innerlich teilnehmen, aud ihre Gigenart
gelten Lafjen, alle Werte fühlen und zu der immer volleren Organifation des
nationalen Zufammenlebens beitragen. Und wenn das nicht bloß dem Unterjchied
der Bolfsftämme gilt, jondern auch dem der Stände und Scidten, fo fällt
dann freilich; da Nationale zufammen mit dem Sozialen, fo ſehr die beiden
in den Augen mancher auseinander zu ftreben jcheinen. Das iſt aber — darauf
fönnen wir nun zurückkommen — juft die Art, wie der edle Patriot Fichte feiner
Zeit die „nationale Erziehung“ verftand. Wird nicht in der Zukunft diejenige
Nation ſich als die widerftandsfähigfte und erfolgreichite erweifen, die nicht bloß
für Kampf und Abwehr nad) augen am bejten gerüftet ift, fondern deren Ge—
meinfchaftsleben am beften organifiert ift, am wenigften auseinanderfallende Kreiſe
einjchließt? Zwar werden, wo Leben ift, und zwar ein breites, reiches, mannigfaltiges
Leben, überall auch Gegenjat, Reibung, Kampf nicht fehlen; aber es ift ein
Unterjchied, mit welchem Ernjte man dem Walten der natürlichen Antriebe gegen-
über zu organifcher Geftaltung des Gejamtlebens* hinftrebt. Und zum Glüd
nimmt die auf diefes Ziel hingehende Strömung unter uns doch fichtlich zu, auf
wie verichiedenen Linien ſie fi) aud) bewegt. Sie wird ſich auch nicht etwa in
einen fchmalen Kanal einfaffen lajfen, ebenfo wie alle hier berührten Gefichtspunfte
ganz und gar fein Nezept bedeuten können, duch deſſen Gebrauch die nationale
Erziehung von aller Unvollfommenheit genejfen müſſe. Daß die zum Erziehen
Berufenen jich von folhen Gefichtspunften durchdringen laſſen, das ift das Erfte
und Wichtigſte. Man vergißt aber zu gern, daß zum Erziehen 'nod) ‘viele andere
berufen find als die berufsmäßigen „Erzieher". Gerade damit eine nationale
Erziehung erfolge, muß die Nation felbit ihre Erzieherpflicht fühlen, und möglichft
viele einzelne in ihr müljen fich gern emporziehen lajjen, um andere mit
emporzugziehen.
Ö
Ausſprüche aus „Beiltige Maffen‘.*)
Pıs bloße Willen erhebf den Menfchen noch nicht auf den Standpunkt, wo er bereit
ift, das Neben einjuſehen für eine Idee, für Pflicterfülung, für Ehre und Paterland:
dazu gehört die ganze Erziehung des Menden.
Grat D. von Moltke.
Der eigentliche Bwerk unlerer Wilfensarbeit fol danady fragen, was wohl die welf-
ordnenden Gedanken der göftlihen Bernunft in der menfchlichen Gefchichle gemelen find.
v. Treitfichke.
*) Geiſtige Waffen. Ein Aphorisinen Beriton. Zufammengeftellt von C. Schaible, Oberſt a. D. freiburg . B.
und Leipzig. Berlag von Paul Wargel.
SIBIBIRIBIBIBIPRIPIRBIBIRIRIBIDIPIPRIRIPIPIPIPIPIPIPIPIPIP)
Nleues aus Bismarks Werkitatt.
Ein Bericht
von Erich Mards. (Sching.)
m Februarheft (Z. 738 ff.) ift von den Bereicherungen gehandelt worden, die unſer Willen
bon Fürft Bismards Verhältnis zu feinem Kaiſer und deſſen Sohne aus den neuen
BVeröffentlihungen gewinnt. Die Ktorreipondenz mit dem Kronprinzen gehört bereits
dem I. Bande des „Anhangs zu den Gedanken und Erinnerungen“ an. Diefer Band
faßt im übrigen, nad Art des früheren Bismardjahrbuches, aber doch einheitlicher als
jenes, das Entlegenfte in fich zulammen: Hunderte don Briefen, vom April 1848 an
bis in den März 1888, Briefe der verjchiedeniten VYeute, befannter und une
befannter; und über fie alle ragt, in wuchtigen Schriftftücen, die freilich bier nur eine
fleine Minderzahl bilden fonnfen, die Sejtalt des großen Führers und Kämpfers empor,
macdhtvoll und beherridhend wie jtet$, mag er nun jprechen als Gejandter, als Minifter,
als Kanzler. Echneidende Einfiht und geichlojfener Wille, höchſter ſtaatsmänniſcher
Ehrgeiz und fichere ftaatsmänniiche Kraft, fiegreiche Kritik und ichöpferiicher Zorn: das
alles ift, jejt und Stark, über allen anderen, Freunden und Gegnern, in genialer Aus
geitaltung doch immer nur ihm zu eigen. Und doch ift aud) jeine Umgebung intereffant und
erheblich genug. Cinige find darunter, denen der lobfarge Mund des Gewaltigen jogar
offenes Lob gejpendet hat: Fürſt Chlodwig Hohenlohe, Prinz Reuß der Botichafter, und
in getwiffem Einn zudem der Miniſter Falk. Am übrigen evicheinen, um nur die
Gewichtigſten zu nennen, Otto von Manteuffel und Friedrich Wilhelm IV., Schleinis, Gort-
ſchakoff, Andrafin, Albrecht von Noon und Prinz Friedrich Karl, die Könige Ludwig von
Bapern, Albert von Sachſen, Karl von Rumänien und einige ihrer Minister, Dolnftein und
Mittnacht, Rudolf Delbrüd, Graf Otto Stolberg und Bernhard von Bülow der Staats:
jefretär, Dendel von Donnersmard und, im Gefolge und engiten Vertrauen des Vaters,
Graf Herbert Bismarck — jo mander von ihnen mit bedeutenden, mancher doc wenigſtens
mit charafteriftiichen Briefen. Dieſer Reibe ift auch Robert von Keudell anzuſchließen. ch
füge gleich hier ein Wort ein über Keudells Bud.!) Es fommt mir (und wohl aud)
ihm) nicht in den Sinn, es den beiden Bismardichen Bänden vergleihen zu wollen;
aber ich) geitehe, daß ich auch Ddiejes Werk nur mit Freuden willkommen beigen ann.
Vielleicht nicht fo jehr als Bud. Es ift eine ziemlich ſonderbare Miſchung von Brief:
und Mftenveröffentlihung, Tagebuchnotizen und memoirenartigen Erinnerungen und
von Seichichtserzählung geworden; es bietet hiſtoriſche Darlegungen, deren Breite, bei
1) Ich miederhole den Titel: Fürſt und Fürſtin Bismard. Grinnerungen aus den
Jahren 1846 bis 1872, 1901.
Erich Mards, Neues aus Bismards Werkitatt. 84
[1
allem maßvoll veritändigen Urteile und mancher Tehrreihen Beobachtung, doch in
feinem Berhältnijje zu ihrem jelbjtändigen Werte fteht: man lernt nur wenig aus ihnen,
und gar nichts Weberrajchendes. Auch ſtößt man an mander Einzelheit an; einige
Einwendungen find, offenbar auf Grund intimer Kenntnis, in den „Hamburger Rad):
richten“ vom 17. Dezember 1901 (Nr. 296) erhoben worden. Ich habe das Gefühl, als
wenn der Verfaffer überdies der Gefahr einer etwas zu hohen Selbfteinihätung nicht
immer entgangen wäre. Indeſſen, er hat etwas mitzuteilen, und es iſt allen Danfes
wert, daß er es mitgeteilt hat. Er iſt von früher Zeit ber mit Frl. Johanna von
Puttfamer befannt gewejen und hat, mit ihr und durch fie, aud) Herren von Bismard, noch
vor ihrer Verlobung, fennen gelernt; er hat dann das jungverheiratete Baar in Berlin
gejehen, hat fie in Frankfurt und Petersburg beſucht und vor ihnen mufiziert; 1863 trat
er als Hilfsarbeiter in den unmittelbaren Dienft des Minifters, und blieb bis 1872 (bald als
Rat des Ausmärtigen Amtes) in feiner Nähe. Aus der Zeit feiner Thätigfeit als Gefandter
und Botichafter (1872—1887) erzählt er leider nichts; jpäter hat er mohl die Fühlung
mit dem Bismardichen Hauſe verloren. Er ermweilt nit nur unjerm Wiſſen, jondern
dem Gedächtniffe des Bismardichen Paares einen wirklichen Dienst, indem er eine ganze
Anzahl von Briefen der Fürftin (1853—1872) abdrudt; er hat auch das Fakſimile ihrer
lebhaften und charaftervollen Handjchrift beigefügt. Die Briefe find nicht im mindeften
für die Deffentlichfeit geichrieben, und doch vertragen fie die Deffentlichfeit jehr wohl und
fönnen ihr etwas leiften. Cine der dringendften unter den Fragen, die ſich an den Reichtum
der Bräutigams: und Gattenbriefe Bismarcks gejchloffen haben (und dieje Briefe haben
ja deren faft ebenfo viele angeregt als beantwortet!), ift die gewejen: wie war denn
eigentlich die Lebensgefährtin beichaffen, der der Größte unferes 19. Nahrhunderts jo
unendlich viel zu jagen und, wie er bezeugt hat, jo unendlich viel zu danken gehabt hat?
Ich habe auf diefe Frage die jonderbariten Antworten gehört; viele Leſer oder Leſerinnen
des Briefbuches haben fih darin gefallen, aus den mandherlei Mahnungen, die Bismard
feiner Korreſpondentin hie und da zuvuft, die pſychologiſch unzuläffigsten Schlüffe auf den
Charakter der Angeredeten zu ziehen und fie jede leife Verftimmung und jedes augen:
bliliche Mikverjtändnis des Bräutigams oder des jungen Ehemanns nod) nachträglich
recht gründlich entgelten zu laflen. Wer lejen konnte, wußte immer, wie falfch das war; und
wir haben immer bereitö Zeugniffe von dem wahren Wejen der Fürftin Johanna befejlen.
Hier aber mögen nun aud) diejenigen Leſer ihre Vorftellung berichtigen, die den unmittelbaren
Eindruck nötig haben; und jeder Yejer überhaupt wird die Briefe der Fürftin an Steudell
mit Freuden und Belchrung auf fich wirken laſſen, in ihrer lebhaften Augenblicksſtimmung,
ihrer frauenhaft, gefühlsmäßig rajchen Art, ihrer ungezwungenen Frömmigteit und ihrer
alles beherrichenden, unmittelbaren, in Mann und Kindern völlig aufgehenden Liebe,
ihrem Grolle auf alles, was dem geliebten Manne ſchädlich und im Wege jcheint, ihren
ſehr beftimmten PAuneigungen und Abneigungen, ihrer, man möchte jagen, eigentümlich
naiven Verachtung aller Bolitik, ſoweit diefe nicht im allerperjünlichiten Zufammenhange
mit „Bismard“ fteht. Cingeweiht war fie freilich) und wußte ihrem Gemahl jelbjt als
Sekretärin zu dienen, und ihr Berftändnis folgte ihm überall hin, wohin jein Leben
führte; aber Politikerin war fie offenbar gar nicht — nur durch die Vermittelung des
Berjönlichen, feiner Berjönlichkeit hindurch intereffterte das Sachliche fie. Was fie in ihrem
846 Eric; Mards, Neues aus Bismarcks Wertitatt.
ganzen Sein, in dem was fie pflegte und was fie von fich wies, dem Gewaltigen be-
deutete, den zu behüten ihre Yebensaufgabe war, das ahnt, wer fehen und fühlen kann
und will, bei diefen Briefen gewiß: obwohl es ebenjo gewiß ift, daß es noch weit ſchönere
und intimere geben muß, und daß wir, die wir ihren Gatten und ihre Welt mit Liebe
und Ehrfurcht betrachten und in diefe Welt einzudringen ftreben, wohl wünſchen müffen,
noch recht viele mehr von ihr fennen zu lernen.
Außer dieien Briefen aber giebt uns Steudell, offenbar gerade in den mwejentlichiten
Stücken nad) gleichzeitigen Aufzeichnungen, vielerlei Intereſſantes und Charafteriftiiches
von dem Kanzler jelbft: Beobachtungen über jein Verhältnis zur Mufif, wenigſtens bis
1872; Geiprähe Bismards über jeine Kindheit, und Gindrüde Dritter aus feiner
Jugend; Worte über ihn — darunter bezeichnende — und vor allem, Worte von ihm
felber, wie das von der ganzen Menge von Eeelen in jeiner Bruft ©. 220, und von der
Nürlichkeit feines Dienftärgers für das ganze Räderwerk der Regierung ©. 364: das
giebt ftärferen Dampf in die Maſchine! So mandjes Hübjche, wen aud) nicht eigentlich
Neue wird von der Arbeitsweile und Urteilsweiſe Bismard3 gejagt, mande Thatfache
aus Haus und Politik für 1863—1872 verzeichnet; wir erhalten ein paar foftbare
Bismarckſche Briefe; das allgemein-hiftoriih Wertvollfte jchlieglich find die Diftate aus
Putbus 1866 über die Bundesverfaflung und das über die jpaniiche Kandidatur 1870
beides Attenftüde von ungewöhnlicher Bedeutung. —
Ich faſſe noch zufammen, was ſich aus den Briefen des 2. Bandes des „Anhangs”
und aus Keudell an hervorſtechenden Thatjachen zur Geſchichte Bismards ergiebt. Noch
einmal zieht da die ganze Reihe feiner Geſchicke und Yeiftungen von 1850 bis 1888, oder
doc; zumal bis 1880, an dem Betradhtenden vorüber, wie jchon in der Korreſpondenz mit
Wilhelm I; nur das Wichtigste ſei hier genannt.
Räumlich am beiten jind die 50er fahre davon gekommen, die Frankfurter Zeiten,
über die Bismard wohl am meiften Material bejaß, auf die er ſtets gern zurüd-
gefommen ift und deren Wert für feine ſtaatsmänniſche Entwidelung und Zukunft, deren
biographifches Intereſſe ja außerordentlich groß ift. Perſonen und Gegenjäge in Berlin,
deutihe und europäifche Fragen und in allem die Ueberlegenheit des auffteigenden
Genius treten auch in diefen Ergänzungsakten höchſt anjchaulich zu Tage.
Für den Nichthiftorifer wächſt das Anterejje mit der Petersburger und vollends
der Berliner Zeit. Für Petersburg haben wir hauptjächlich den Briefwechſel mit dem
auswärtigen Minifter der neuen Aera, Herrn von Scleinig, aus dem wir bisher nur
das bedeutjamfte Stüd, Bismards Denkichrift über die Page mährend des 1859er
italienischen Krieges und über Preußens FFeffelung im deutichen Bunde, beſeſſen hatten:
all dieſe Jahre hindurch ift er voll Ungeduld nad ftärkeren preußiichen Thaten; es ift
reizvoll, wie fich died und das wachſende Gewicht feiner Perfönlichkeit auch in diejen
Bruchſtücken, wenngleich immer nur halbverhüllt, wideripiegelt. Wäre es doc) möglich,
was der erjte Neichöfanzler dem PVernehmen nad) nod) jelber geplant hatte, daß die
ganze Reihe feiner Petersburger Gefandtihaftsberichte gedruct würde! Cine der ſchmerz—
lichſten Lücken unferer hiftoriihen und biographiſchen Kenntnis würde damit ausgefüllt
werden und auch die praftiich-politiiche Ausbeute wäre ficherlich reich genug.
Erich Mards, Neues aus Bismards Werfitatt. 847
Ich darf hier über die mannigfachen Einzelheiten hinmweggehen, die dem preußifchen
Konflitt wie der ſchwierigen europäifchen Bolitif in den Jahren 1863 bis 66, den Jahren
bon Bismards politiicher Meifterleiftung angehören: zumal innerhalb dieſer Bolitik zeigen
fie ihn am Werke. Am auffälligften find Keudells, aus einem fpäteren Gejpräd) mit
Graf Eulenburg geichöpfte Angaben (S. 196) über einen Verſuch des Minijteriums,
im Jahre 1865 in Preußen nicht nur, unter gewiſſen Bedingungen, die 2jährige Dienft-
zeit, fondern überdies, nad) franzöfiichem Mufter, die Stellvertretungsgelder für die nicht
dienenden wohlhabenden Dienftpflichtigen einzuführen: ein Verfucd, der nur an König
Wilhelms heilfamem Widerſpruch gejcheitert wäre. Es find ſchon anderwärts (in der
„Sreuzzeitung“ und bejonders den „Hamburger Nachrichten”) Zweifel an der Richtigkeit
diejer jonderbaren Mitteilung geäußert worden, an der Annahme eines jo unpreußijchen
Vorſchlages, wie es die franzöfiihen Stellvertretungsgelder geweſen wären, durd) das
gejamte Staatsminifterium. Auch ich halte ein Mifverftändnis Keudells mindeftens in
der Auffafjung diefer Gelder für mehr als wahrjcheinlich: daß man damals an Ver—
jöhnungsvorfchlägen gearbeitet hat, ift allerdings befannt, und daß fie am Könige
fcheiterten, ebenfalls. Ich verweiſe hier Tediglich auf die „Militäriichen Schriften Kaiſer
Wilhelms des Großen“ II. 481, und auf Th. v. Bernhardis Tagebücher, VI., 152 ff. —
Auch das hat man Keudell, wohl mit Recht, nicht glauben wollen, daß Bismard beim
Ausbruche des deutichen Krieges (14. Juni 1866) noch in fich jelber „Momente ſchweren
Zweifel“ zu überwinden gehabt habe. Am übrigen hören wir Neues über jeinen guten
Willen zur innerpolitiihen Verjöhnung nod) vor dem Striegsbeginn; Neues und Inter—
ejlantes, auf das ich bereits hinmwies, dann zumal über die Vorgeſchichte der Verfaſſung
für den Norddeutichen Bund. Die Diktate aus Putbus (Dftober—November 1866) be-
rühren, inmitten glänzender Diskujfion einer Fülle von fchwebenden Fragen, vor allem
die Grundzüge diejes wichtigften Werkes. Sie zeigen Bismard bereit in Elarer Richtung
auf die deutjche Einheit, nidht nur die norddeuriche; und die maßgebenden Gedanken für
den neuen Bau legt er hier, vom Krankenzimmer aus, bereits völlig feſt. Er will einen
weitgehenden Anſchluß an die alten Formen, die Berüdfihtigung — im voraus! — der
Süddeutſchen, die Vermeidung des Zentralismus; er umfaßt alle Möglidjfeiten mit feinem
Adlerblide, und mählt mit genialer Sicherheit und Mäßigung, in der nun zur
Entiheidung drängenden Lage, faft auf den erften Wurf, feinen eigenen zufunftspollen
Weg. Wem das Werden unjerer Reichsinſtitutionen in ihrer Bejonderheit (des Bundes»
rated zumal, auch des Reichstages) wichtig ift, der muß diefe, ganz Bismardjchen
Weilungen lejen; überrafcht wird man durch das Spiel, das Bismards Gedanken
(30. Dftober, ©. 327) mit dem Wahlrechte treiben. Er erwägt da eine fonderbare
Miſchung des Neichstages aus Abgeordneten der wenigen Höchjtbeiteuerten und aus
jolchen des allgemeinen Stimmrechts. Das lektere aljo war ihm damals nicht die einzige
und ungmeifelhafte Yöfung, an die er fi) etwa grundſätzlich gebunden gehalten hätte;
die Spite gegen die Mittelftände, die ihn im preußijchen Konflikte befämpft hatten, ift ganz
deutlich; der Blik in die Werkjtatt des großen Staatsmannes überaus reizvoll. In—
tereffant find auch Keudells Sybel beftätigende Angaben (343) über die jchließliche
fchnelle Aufftellung des Verfaffungsentwurfs durch Bismard und Lothar Bucher am
13./14. Dezember.
848 Erich Mards, Neues aus Bismards Werkſtatt.
Für die folgenden Jahre steht, neben und vor den Aergerniffen der inneren Bolitif,
die äußere im Bordergrunde unferer Nachrichten, und im VBordergrunde der äußeren
die franzöfiihe Gefahr. Wir verfolgen, wie Bismarf fie fommen fieht, fie würdigt,
nit vor ihr zurücichredt, aber faltblütig und Eritifch bleibt, wie er — dafür ergeben
fi verjchiedene neue Bemweisftellen — den Krieg nicht wünſcht und nicht ſucht und
immer wieder darauf hofft, ihn doc) vielleicht vermeiden zu können. Die jpanijche
Kandidatur ergreift er dann freilich mit voller Wucht, und zwar unter politijchen Ge:
fichtSpunften, im Dinbli auf den franzöjiichen Gegner. Allerdings, den Krieg erwartet
jeine Dentichrift vom Ende Februar 1870 Keudell 430) durchaus nicht von ihr, und
Keudell, der im Juli in Barzin bei ihm war, verfihert von neuem, daß ihn der Kriegs—
lärm der Barijer überrafcht habe. Keudell hat ihn dann ja nad) Berjailles begleitet;
die friedfertige Art, wie er die vielbeflagte militäriiche Niolierung des Bundeskanzlers
aus der langen Ausdehnung von Bismards Morgenichlaf erklärt (454), iſt vielleicht nicht
ganz wertlos, aber fie ift — er ſelber läßt Albedyll auf die Abneigung der Generale hin-
deuten! — doch offenbar ein wenig allzu harmlos. intereffant find dagegen einzelne
Ausblide auf das Verhältnis zu Rußland während des Krieges, die wir aus Keudell
und aus dem 2. Bande des „Anhangs“ gewinnen.
Für die beiden Jahrzehnte nad) dem Friedensſchluſſe find wir auf die Brief—
jammlung allein angewiejen. ie gewährt in das Syſtem der auswärtigen wie der
inneren Thätigfeit des nunmehrigen Reichskanzlers lebensvolle Einblide. Wie klar fart
die vielbeiprochene Korreſpondenz mit Graf Hendel, in deren Mittelpunft Gambetta ſteht,
die Grundgedanken Bismards für das Verhältnis zu Frankreich) zuſammen, jeine Ab-
neigung wie gegen einen Präventivfrieg jo gegen ein ultramontanes Regiment in Baris;
wie Far läßt fie feine vorfichtige Zurückhaltung und zugleich feine kluge Ausnugung
ganz perjönlicher Verbindungen hervortreten! Die europäiichen Kriſen von 1875—79 be:
gleiten wir wenigjtens in einigen dharafteriftiichen Scyreiben; 1875 der befannte Kriegs—
lärm, deifen Schuld Bismard lebhaft von fich weit; 1876 die engliichruffiihe Spannung,
innerhalb deren der Fürft in einem zugleich von perjönlicher Ironie und dienftliher Zu:
rechtweiſung höchſt eigentümlid; gefärbten Schreiben an Graf Münjter feine Stellung
nimmt: er mahnt England zur Ruhe. Dann wird die Sorge vor Rukland, die Sorge
zunächſt für Oeſterreich zur berrichenden; den Abſchluß zeigen die Aften über das
Bündnis von 1879, von denen ich fchon ſprach.
Im Innern iſt — neben manchem firchenpolitiichen Ausblid — die Behandlung
der Ginzeljtaaten das Tintereffantefte. Die Sammlung ftellt, von 1864 ab, mit deut:
licher Abfichtlichkeit Zeugniffe der Art und Wetje zujammtn, in welder Bismarck
Regierungen und Fürften dort begegnet und in welcher fie reagieren. So feine warmen
Ktorreipondenzen mit dem Stronprinzen und König Albert von Sadjen; jo den Briefwechſel
bon 1875 über die Belebung des in der Neichsverfaffung vorgejehenen, aber nicht
praftiic) gewordenen diplomatiihen Ausſchuſſes im Bundesrate. Es ift jehr lehrreid)
wie Bismard auf die Wünſche der größeren Bundesstaaten nad Teilnahme an der aus:
wärtigen Politik eingeht, aber die Zulänglichkeit jenes Ausſchuſſes beftreitet, neue, per:
ſönlich fichrere Formen für jene Teilnahme notwendig hält und ein Pochen der bayerischen
Regierung auf das ihr verfagte, verfaſſungsmäßige Necht mit höfliher Beitimmtheit
Erich) Mards, Neues aus Bismards Werfitatt. 849
zurücmweiit. Er jelber wünſcht die auswärtige Reichspolitif nur allein mit den leitenden
Miniftern jener Staaten zu beſprechen und findet die Frage ſchwierig und zart. Wie er
jeinerjeitS pofitiv vorging, das zeigt der Briefwechiel mit König Ludwig II.: den Künig
perjönlich jucht er von den Verſchiebungen und Bedürfnifjen der großen Politik zu unterrichten
und mählt dazu den unmittelbaren Weg der Korrefpondenz oder den mittelbaren durch
den Grafen Holnftein; durch diefen bringt er ihm auch Fragen der inneren Reichs-
politit nahe und betont dabei auf das denkbar Stärkfte jein FFefthalten an dem
„tüderativen Bande des Reichsvertrages“. Sehr charafteriftifch ift das Echo, das ihm
von dem Könige (S. 532, während der perjönlichen Kriſe vom Mai 1880, die Hamburg,
aber aud) Bayern berührte), in einem offenbar ftarf diplomatischen Briefe voll majeftätiicher
Faſſung des Ausdrudes, zurüdhallt: der König verfichert ihn feiner wärmften Ergeben-
heit und wünfcht fein Verbleiben an der Spike der Geſchäfte auf das Lebhaftefte, indem
er dod nicht minder lebhaft den ſelbſtbewußt föderaliftiichen Ton anjchlägt. Daß Bismard
dennoch der Geneigtheit des Herrihers und der übrigen Bundesfürften ftets die reichiten
thatſächlichen Erfolge verdankt und feine Methode fich ihm bewährt hat, ift befannt.
Genug des Berichtes. An hundert Stellen eröffnen auch diefe Bände wieder
die Ausfiht auf untere große Zeit und auf den Reichtum ihrer Gegenftände wie ihrer
leitenden Menſchen. Es entſpricht nicht nur der Bejonderheit diefer Veröffentlichungen,
fondern der Wirklichkeit der Dinge ſelbſt, wenn alle Fäden dabei immer wieder aus-
gehen von dem Einen und wieder zufammenlaufen bei dem Einen, der der Genius diejer
Zeit war. Ueber alle die Vielen, die auch hier neben ihm ſprechen — das bleibt der
Endeindrud — hallen feine großen und flaren Worte hinweg. Und jeder Zuwachs
an hiftorifhem Anſchauen und Begreifen — das zu vermitteln ja das einzige Amt des
Hiſtorikers als Hiftorifer ift — wird zugleich ganz von felber zu einer Bereicherung der
praftijcdpolitiichen Lehre, die au) in neuer Zeit und in ſich umbildenden Berhältniffen,
niemals in jElavifcher Uebertragung, aber in lebendiger Erfaffung des ewig Lebendigen
an ihm, immer von neuem bon dem großen Erzieher unjerer Nation ausgehen muß.
©
Bismark-fluslprüde.
Daf jedes Individuum, jeder engere Kreis das Mah der Freiheit befikfl, welches
überhaupt mit der Pronung des Gelamiflaatswelens verfräglid if: das u erreichen,
diefem Zweck möglichſt nahe zu kommen, halte id; für die Mufgabe jeder vernünftigen
Staatskunſt.
°
Ein großer Staal regiert ſich nicht nach Parteianfichten, man muß die Gefamtheif
der Parfeien, die im Sfaate find, in Abwägung bringen und aus dem Refulfate diefer ſich
eine Kinie ziehen, der eine Regierung als ſolche folgen kann. (15. Januar 1867.)
Ö
Ibsens Weltanidauung.
Von
Adolf Stern.
[3 vor einer Reihe von Jahren — es mag inzwiichen ſchon ein Jahrzehnt
geworden fein — unbefangene Hörer, Lejer und Beurteiler der ſpäteren
Dramen Henrik Ibſens den Eindrud empfingen und ausjpradyen, daß der nor:
wegiiche Dichter mit einem Teil feiner Lebensfpiegelung und Geftaltenbildung
heimlich feiner felbft und all der übereifrigen Bewunderer fpotte, die fich wider:
ftandslos von Problem zu Problem, von einer rätfelvollen und nordiſch ftarren
Menſchenfigur zur anderen führen ließen, erhoben die Eritifchen Apoftel des Meiſters
entrüfteten Proteft. Seit letsterer jedocd in dem als dramatijcher Epilog — man
fieht nicht, ob Epilog zum Schaffen des Dichters, zum letten Afte des aus-
Elingenden neunzehnten Jahrhunderts, zum Sceiden der dahinfterbenden Kunſt
oder gar zur Tragödie und Komödie des ganzen Menfchenlebens! — bezeichneten
Schaufpiel „Wenn wir Toten erwachen“ den Bildhauer Arnold Rubef auf die
Bühne geftellt hat, den Klünftler, der fich berühmt, „binterliftige Kunſtwerke“ ge-
Ihaffen zu haben, anfcheinende Menfchenbilder, die „in ihrem tiefften Grunde
ehrenwerte rechtichaffene Pferdefragen und ftörriihe Eſelsſchnuten, hängohrige,
niedrigftirnige Hundejchädel und gemäftete Schweinsköpfe, auch brutale Ochſen—
Eonterfeis find‘, ift es felbft den Unbedingten ein wenig zweifelhaft geworden, ob
ihr gepriefener Dichter nicht ein ähnliches Weberlegenheitsgefühl veripürt
habe wie der Bildner. Auf alle Fälle räumt jelbft Paul Schlenther, der ent:
Ichlofjenfte Vertreter von Ibſens Kunft, ein, daß die Ironie, nach der die einzige
Geftalt des oben genannten Dramas, hinter deren reinen Zügen feine Tierfratze
ſteckt, irrfinnig ift, hier graufamer, fürdhterlicher fei als überall dort, wo der
Dichter die Welt verhöhnt hat und verhaßt gemacht. Und es ift angefichts diejes
wunderfamen, wahrjcheinlich immer erſt vorläufigen Abfchluffes der Ibſenſchen
Weltdarftellung nicht nur möglich und erlaubt, fondern nahezu geboten, wieder
einmal nad der Grundanſchauung des von Hunderttaufenden gepriefenen, und für
Tauſende vorbildlichen Dichters zu fragen, und den troftlofen Epilog mit der ganzen
Folge der modernen Schaufpiele Ibſens zu vergleihen. Mag ein fo geiltvoller
Adolf Stern, Ibſens Weltanfchauung. 851
Kenner des Altertums wie Wilamowig-Möllendorf im Recht fein, wenn er Ibſen
einen Geiſtesverwandten des Tragiferd Euripides nennt, weil jener mie diefer
über den Urfprung des Elends und Leids der Welt tief geſonnen babe, der Zweifel
an der emportragenden und lebenjpendenden Kraft des Dichter ift nicht minder
berechtigt. Geht die Sehnſucht der Beften immer unmiderftehlicher, immer ftärfer
nad; einer Dichtung, in der die innerlich gefeftigte, die überzeugende Anſchauung
des Dichters den Leib feiner Schöpfungen mit warmem Blut durchſtrömt, in der
hoch über aller Zweifel Macht eine allmächtige Liebe wirkt, fo kann der gewaltige
jkeptiiche Nordländer nicht da8 maßgebende Vorbild, nicht der Führer der künftigen
deutſchen Litteratur fein. Wir brauchen Ibſen die Ehre, daß er troß feiner
grübelnden Skepſis ein Künftler, ein Geftalter geblieben ift und Kunſtwerke er:
Ihaffen hat, niht um ein Gran zu mindern, wir dürfen nicht nur feine hoch-
gefteigerte, zur äußerften Schärfe der Linien und zur höchſten Feinheit in der
Verteilung von Licht und Schatten durchgebildete „Technik rühmen, fondern auch
einen guten Teil ihres Gehalts unbefangen auf uns wirken lajjen. Wir fünnen
jelbft biS auf einen gewifjen Punkt die Virtuofität bewundern, mit der dem er-
grübelten Unmöglichen nicht Leben, aber der Schein des Möglichen, des Lebens
geliehen ift. Doch fteht die Frage fo, ob Ibſen über die litterarifhe Würdigung
hinaus einen tiefen und fortwirfenden Einfluß auf geiftige Entwidelung und
Geſamtkultur des deutjchen Volkes gewinnen foll, wird gar verfucht, ihm eine
Wirkung auf unjer Leben zuzufprehen, wie fie durch die homeriſchen epijchen
Geſänge, durch die Schöpfungen Shafejpeares, Noufjeaus oder Byrons in der
That herbeigeführt worden ift, jo muß die Antwort lauten, daß Henrik bien,
was immer er jeinem Volke, vielleicht dem ganzen jfandinaviichen Norden gebe,
weder der deutichen Dichtung, noch dem deutjchen Leben ein Führer und Pfad:
zeiger fein kann.
Wunderlich ift e8 und zu den taufend Widerſprüchen unjerer Tage zählt es,
daß, jo oft ſichs um eine panegyriihe Würdigung Ibſens handelt, die rätfel-
volle Berknüpfung feines unerfchütterlichen Idealismus mit der erbarmungslofeften,
realiftifch-peffimiftifchen Weltfchilderung und Weltkritik, des gemwaltigften ethiſchen
Pathos mit dem nagendften Zweifel an der fittlihen Kraft menjchlider Natur,
des ftärfiten Wahrheitödranges mit völligem Verzagen an erfennbarer Wahrheit,
die feltfjame Milhung von Feuer und Froſt in und bei ihn, als Frucht feiner
nordiichen Abftammung gerühmt, doch eben diefer Abjtammung jede Bedeutung
abgefprochen wird, wenn fie gegen Ibſens Beruf zum Haupt und Herricher aller
germanischen Litteraturen geltend gemadjt werden foll. Der zuftändliche Hinter:
grund und Untergrund von Ibſens Darftellung modernen Lebens: die einfam
liegenden Kleinen norwegischen Städte am Meere, mit der jeltjamen Wechſel—
wirkung von Heimatenge und Weltweite, wird genau fo lange um jeiner ur-
fprünglichen Eigenart willen gepriefen, ald niemand aus der Fremdartigkeit diejer
54*
852 Adolf Stern, Ibſens Weltanſchauung.
Zuftände den Schluß zieht, daß eben dieje Eigenart der Anihauung des Dichters,
der Wirkungstraft feiner Schöpfungen erſichtliche Schranken feße. Geſchieht
jedoch dies lettere, jo find mit einem Mal der echte nordifche Boden und die ge-
treue Spiegelung der norwegischen Gefellihaft von heute in Ibſens Schaufpielen
ohne wefentlihe Bedeutung, und die Leute vom Hardangerfjord und Sognefjord
oder aus den Kauf: und Küftenftädten werden Typen der allgemeinen Menjchbeit.
Wenn fich ein Verfechter des Dichters wie Roman Woerner auf den Sat be-
ſchränkt: „als Berfafjer der „Nordiichen Heerfahrt‘' und der „Kronprätendenten”,
der Dichtungen „Brand“, „Beer Gynt“ und „SKaifer und Galiläer" wäre uns
Ibſen immer nur ein hervorragender ſkandinaviſcher Dramatiker geblieben, „durch
die modernen Dramen ift er unleugbar ein Autor von europäifcher Bedeutung
und europäiſchem Einfluß geworden‘, fo wird er faum einem Widerjpruch gegen
die ſchwer errungene gejchichtliche Stellung Ibſens begegnen. Wird aber die
„europäilche Bedeutung”, zu der Ibſen immerhin auf dem Wege natürlicher,
wenn auch höchſt fubjektiver Entwidelung gediehen ift, dahin ausgedeutet, daß
unfere deutſchen Dichter ihm zu folgen und ſich das Doppelgeficht des Norwegers
famt den nervöfen Uebergängen von eiskalter Ironie zur wärmften Gemütser-
regung anzueignen haben, jo tritt der Widerftand in fein Recht, der nichtS gering
Ichäßt, was Ibſen ſchuf und geitaltete, allein gewaltig Vieles und viel Ge-
waltiges vermißt, was der Dichter "haben müßte, der Goethe oder auch nur
Heinrich von Kleiſt oder Friedrich Hebbel unter ung „ablöfen‘ fol.
Kein Zweifel ift erlaubt, daß Ibſen troß all feiner naturaliftiihen Studien
und Bilder ein Idealiſt im Sinne feines Volkes und im tiefften Kern jeines
Wefens geblieben ift. Die mundergläubige Phantafie der nordiihen Sage, die
die Natur hinter ich läßt und eine neue Natur fchafft, die die Einherier tag-
täglih aus Walhall ausziehen, fih im Blachfeld zerjtüden und Todeswunden
Schlagen und fie abends an Odins goldnem Tijche frifch und heil beiſammen figen
jieht, die träumt, daß die Helden im Götterfaal in den Armen der jchwanen-
bufigen Schildjungfrauen ruhen, und daß dennoch diefe Geliebten der Helden ewig
blühend und jungfräulich bleiben, tft mitten in der Schärfe der Beobachtung, der
rüdjichtslofen Wahrhaftigkeit Ibſenſcher Gegenwartsfchilderung Eeineswegs er:
lofhen, Mit einer Art ftillen Ingrimms hält fie Ibſen feft und läßt fie in
einzelnen Gejtalten und Situationen der modernen Welt ſich ausleben, rüdt eine
berbe Askeſe hart neben die Verförperung natürlicher leidenichaftlicher Regungen,
verleiht abjeit3 ftehenden Naturen geheimnisvolle Kräfte, Todesentichloffenheit in
der Zuverficht auf ein Leben in Schönheit und Sonnenfhein. Zwiſchen den
Ichneidenden oder unheimlichen Lauten, mit denen der Dichter das klägliche Elend,
die Lüge und die jeelifche Niedrigkeit der Alltagsmenihen zu Tage bringt, er:
klingen fehnlüchtige Rufe nad) oben, „zu den Sternen hinauf”, zu „der großen
Stille" und verraten, daß Ibſen jeit feinem „Brand“ nicht ein fo gar anderer
Wolf Stern, Ibſens Weltanichauung. 853
geworden ift, als e8 oberflächlicher Betrachtung jcheinen wollte. Der Idealiſt, der
ih auf Tod und Leben in den Zweifel geworfen, dem die Wirklichkeit alle ihre
ichnödeften Geheimnifje erichloffen hat, fißt von Zeit zu Zeit doc; wieder, wie fein
Bildhauer Rubek, „an einer Quelle, ein fehuldbeladener Mann, der von der Erd—
rinde nicht ganz loszukommen vermag; taucht und taucht feine Finger in das
riefelnde Waſſer, um fie rein zu fpülen, und krümmt fi) und leidet bei dem Ge-
danfen, daß es ihm nie, nie gelingen wird". Es lebt immer etwas von dem
Skaldentum feiner Heimat in ihm, und wie die fünftlichen Umfchreibungen in den
Drapas fahrender isländifcher Sänger etwas ganz Anderes bedeuteten, als der
Hörer zunächſt vernahm, jo birgt fich hinter der höhniſchen Deutlichkeit, mit der
„Menfchliches, Allzumenſchliches“ in Ibſens Dramen von der „Komödie der
Liebe" an dargeftellt fcheint, das leidenfchaftlihe Verlangen nad) einem reinen,
- hellen, unjfagbar jeligen Etwas, das außer der Natur und über der Natur ift.
Und juft diefer dunkle Idealismus ift es, der und den Dichter Ibſen ferner rüdt;
unjere Alpenhöhen fteigen nicht fchroff aus dem Meer auf wie die norwegischen,
und unjer „drittes Reich” iſt ein anderes, als ſich in den Träumen nordifcher
Seher malt.
Es gab eine Zeit, in der es leicht jchien, den innerften Drang, der bien
zu feiner bejonderen Darftellung der modernen Welt geführt, feine „revolutionäre”
Thätigkeit bejeelt hatte, zu deuten. Klar genug hatte ja Ibſen ald den Grund»
fern feiner Weltanfchauung die „Revolutionierung des Menjchengeiftes", die
Löfung des Individuums vom Drud der Allgemeinheit, die Ueberwindung der zu
„Leichen” gewordenen alten Ideale hingeftellt; die Nede, die er einmal in Stod-
holm auf das Kommende, das Werdende, auf „die neue Lebensmacht, zu der
Poeſie, Philofophie und Religion verfchmolzen werden" hielt, eine „Yebensmadht, von
der wir Sebtlebenden übrigens feine Elarere Borftellung haben können“, hatte
fein Publitum zur Genüge belehrt, daß er Peljimift fei, der „nicht an die Ewig—
feit der menfchlichen Kdeale glaube”, daß er fein Mittel für die Leiden der
Gegenwart babe, daß er „meift frage und antworten fein Amt nicht jei’. Ber:
glich man alle diefe Schlagworte mit einander und mit den Menfchen und Hand-
lungen der Ibſenſchen Gefellihaftsdramen, fo ſchien es vollfommen fachgemäß
und auch erichöpfend, daß may in Henrik Ibſen den erbarmungslofen Analytifer
einer ſchlechten Wirklichkeit jab, der mit fadenfcheinig gewordenen Idealen wie
mit den Phrafenlappen, die ihre Löcher und Rifje fliden follen, zugleich aufräumt,
den Geftalter, der im Namen unbedingter Wahrheit, innerer Freiheit, der
lebendigen GEinzelperjönlichkeit, des Adels: oder Herrenmenfchen, der jein Gejek
in fich trägt, die morſchen Schranken verlogener Sittlichfeit und hemmender
Ueberlieferung niederwirft. Wohl war das Wort „Wollen — heißt mollen
müſſen“ auch fchon damals geſprochen, und hätte bei einiger billigen Erwägung
auch den Sklaven des Herkömmlichen zu gute kommen follen. Indes folgte
854 Adolf Stern, Ibſens Weltanfchauung.
man der Anſchauung des Dichters, ſoweit man fie zu verjtehen meinte, in großen
(bei weitem nicht in allen) Yebenskreifen, einerlei, ob willig oder unwillig. Biele
der Willigen erfchrafen jchon, uns dünft mit Unrecht, als Ibſen in den
„Sefpenitern” das Gefpenft der erblihen Belaftung beraufbeihwor und Die
£onjervativen nicht ſowohl UWeberzeugungen, als gedanfenlofen herkömmlichen
Redensarten des Paftord Mander an dem furchbaren Verhängnis ad absurdum
führte, das über den unjeligen Oskar Alving hereinbricht. Was aber wurde aus
der Wahrheit, die um jeden Preis die Lebenslüge hinwegfegen follte, ſeit der
Wahrheitsapoftel Gregor Werle in der „Wildente” mit der „idealen Forderung“
das Jammerglück der Ekdals zerbrodhen, die einzig liebenswerte Perſon des
Stüdes, die kleine Hedwig, in den Tod gejagt, fich felbit aber als Beitimmung
zugefprochen hat, der Dreizehnte bei Tifch zu jein? Stand nicht klärlich zwiſchen
den Zeilen zu lefen, daß es taufendmal beſſer wäre, den Menichen, die fich den troit-
(ofen Oberboden zum freien „Wald“ geftalten, ihr bischen Lebenslüge zu laffen ?
Was wurde aus der Freiheit, die in der „yrau vom Meere" Ellida Wangel
errungen und mit dem Bemwußtjein der Verantwortung ausgeübt, wenn ihre
Stieftochter Hilde, der free Badfifch der „Frau vom Meere”, zehn Fahre jpäter
ihre Freiheit dazu mißbraucht, den bewunderten Baumeifter Solneß auf die Thurm-
[pie und in den Tod zu ſchicken, wenn Hedda Gabler im gleihnamigen Schauspiel
den armen Eilert Lövborg, den fie „in Schönheit und mit Weinlaub im Haar”
fterben fehen will, zum Tode treibt und plötzlich jo unfrei ift, daß ein „Ekel“ wie
Gerichtsrat Brad Ichnödes „Hand und Halsrecht“ über fie gewinnt und ihr
gleichfall3 nur die Piſtole bleibt? Wie nahm jich die befreite Individualität, der
einzelne und auserwählte Menfch, der ſich ſelbſt Freifpricht und von den arm—
jeligen Durchſchnittsmenſchen nicht verftanden werden fann, in der Geſtalt des
Banfräubers Kohn Gabriel Borkman aus, der jeine Zuchthausjahre verbüßt
bat, jeitdem als alter franfer Wolf auf die Genugthuung wartet, die ihm niemals
werden kann, der der Anfchuldigung der geopferten Kugendgeliebten, daß er die
unverzeihbare Todfünde begangen bat, das Liebesleben in ihr zu töten, ruhig
jeine „unbezwingliche Machtbegierde" entgegenjegt? ine fchneidendere Parodie
auf das fubjektive Herventum, auf den „Napoleon, der in der eriten Schladt
zum Krüppel geichojjen worden iſt“, hätte ja fein noch jo entichiedener Gegner
des Dichters erjinnen können, als er jelbit im Gegenbild zum Kohn Gabriel, im
jungen Erhard Borkman erſchuf, der aud fein eigenes Leben leben will, bloß
leben, leben, leben und im Schlitten, zwijchen einer jchönen, üppigen Frau und
einem vielverheißenden jungen Mädchen, in die freie Welt hinausklingelt. Alle
diefe Ueberrafchungen, die Ibſens Mufe jeinen Bewunderern und Erläuterern
bereitete, erwiejen mindeſtens, daß die Dinge nicht jo Eindlich einfach lagen, als
die wähnten, die ihn die Miffion zuſprachen, der Heuchelei einer jterbenden
Kultur die Maske vom Geſicht geriffen zu haben.
Adolf Stern, Ibſens Weltanichauung. 855
Wahr ift, daß die Sittenbilder au dev modernen Welt mit ihrer Pebens-
lüge, die lange Weihe der unerfreulichen, aber jcharf gefehenen, voll belebten Ge-
ftalten von der „Komödie der Liebe“ und den „Stüßen der Geſellſchaft“ an, die
ofen hingeftellt hat, eine jtarfe Ueberzeugungskraft in fich tragen. Wer wußte
es nicht vor Ibſen, daß Tauſende, die ſich als Träger überfuommener und uns
wandelbarer jittliher Ideale gebärden, im Innerſten umwahre, Ealte Selbftlinge,
ohne Hauch eines Glaubens an die Dinge, die fie im Munde führen, find? Wer
bat je auf die jegnende Kraft der Heuchelei vertraut, al3 wer feinen Vorteil bei
ihr fuchte? Kam jedoch ein Dichter, der nach eigener Anſchauung, mit ent-
jchiedener Abficht die Kehrſeite unzähliger feierlicher Lebensgrundfäge, geſellſchaft—
fiher Lügen, hohler Predigten und hohler Reden entfchloffen zufammenrüdte, fo
ließ fich gegen die Wahrheit aller Hauptſachen der Eharafteriftif, wie der Gejell-
ihaftsichilderung, in der „Komödie der Liebe’, im „Bund der Jugend“, in den
„Stüten der Gejellihaft‘, im „Volksfeind' im Grunde nur zweierlei erinnern.
Erftens, daß die Zufammendrängung ganzer Reihen von bewußten Heuchlern
und Lügnern, von armfelig Beſchränkten und egoiftifch fich jelbft Täufchenden,
ohne daß ihnen das entiprechende Gegengewicht von beſſer angelegten, beſſer be—
währten Naturen gegeben wird, immerhin etwas Gewaltjames, der Mannig:
faltigfeit des Lebens Fremdes behält, zweitens, daß Dichter vom Gepräge Ibſens
unabläffig in Gefahr ftehen, der vergiftenden, den Cinzelnen wie die Gefellichaft
zerjegenden Lüge den unbewußten inneren Widerſpruch des Menjchenlebens
hinzuzugejellen. Es ift thatjächlic ein wunderlicher Widerſpruch, wenn ein braver
Schlächtermeifter, der noch) am Morgen des Ehrijtabends feines Amtes gemwaltet
und Schweine und Kälber halbdußendmweife abgeitochen hat, am Abend bei
den Lichtern des Weihnachtsbaumes fein Töchterchen auf den Arm hebt und bei
der jauchzenden Freude des Kindes einen thränenfeuchten Schimmer in die Augen
befommt. Und es ift ein nod) grellerer Widerjprudh, wenn uns Seume bei
Schilderung des Sturm der Ruſſen auf Praga einen ruffischen Grenadier vor:
führt, der beherzt am Blutbad teilgenommen hat und einen geretteten Knaben
trägt: „Seht nur, was er für ein herrlicher, ſchöner unge ift, wer wollte ihn nicht
gerettet haben!" Derlei Widerſprüche, die zu taujenden durch die Welt und die
Menfchennatur gehen, können jehr leicht, aber jollten niemals in der poetiſchen Wieder:
gabe des Lebens als Lüge aufgefaßt werden. Prüft man die Lebensbilder und
Einzelgeftalten Ibſens unter diefem Gefichtspunft, jo zeigt fich, daß ihn der Zug
zur Berftörung, zur Bekämpfung der Ideale, die er für hohl und wurmftichig er-
achtet, nicht nur die Milde und das Mitleid genommen hat, deren Mangel er in
jeinem „Brand dem Helden noch zur Schuld rechnet, fondern daß er auch die
unvermeidlichen inneren Widerjprüche des menjchlichen Daſeins wiederhult al3 Lüge
erachtet. Die mächtige, ernfte, aber herbe Natur Ibſens ſchließt die Berzichtleiftung
ein, aber die Nachficht, wie die verſöhnliche Ergründung der Pflichtkonflikte meift
856 Abolf Stern, Ibſens Weltanſchauung.
aus. Die Härte, der „Froſtweg, der zum Gejeg führt, brechen immer wieder
bervor und hängen wohl mit dem umſonſt geleugneten nordiſchen Weſen des
Dichter zufammen.
Am Mittelpuntt der Weltanihauung Ibſens jteht das Verhältnis des
Einzelnen zur Allgemeinheit, der Wideritand gegen den Drud und Zwang, den
die Allgemeinheit, heiße fie Gejet, Bekenntnis, Weberlieferung, Sitte, öffentliche
Meinung, pädagogifche oder äfthetiiche Doktrin, gegen die freie Entwidlung des
Individuums ausübt. Wir haben eben gejehen, daß der Dichter die Zweifelameigenen
Real: die Anwendung der naturwiſſenſchaftlichen Lehre von der Evolution aud auf
die geiftigen Lebensfaktoren, feineswegs völlig überwindet. Wie bei ihm vieles ver:
ſteckt auftritt, jo aud) die erften Neuerungen des Zweifels. Otto Harnad hat
in feiner Studie „Ueber Ibſens ſoziale Dramen’ und in der Beiprechung des Schau:
fpiel3 „Rosmersholm“ die Gegenfäte der Lebensanſchauungen Rosmers und
Rebekkas, die in ſchauerlicher Schroffheit gezeichnet find, mit den Worten charak—
terifiert: „Die Lebensanſchauung der Rosmers abelt, aber fie tötet das Glüd, die
Lebenanfhauung Rebekkas gewährt die Lebensfreude, aber fie führt zum Ber-
brechen. Beiden gegenüber hat der Dichter eine dritte aufgeftellt, die eine volle
Harmonie von Fähigkeit, Willen und That verlangt. Als ihren Vertreter hätte
er einen eifenfeften, feiner Kraft wie feiner Schranfen bewußten Mann hin:
ftellen follen. Statt deſſen läßt er dies deal vor uns durch einen verlotterten
genialen Charlatan entwideln und will gar als Verkörperung desjelben einen
ffandalfüchtigen und verlogenen Zeitungsfchreiber ums glaublich machen. Das ift
nit mehr künftleriihe Objektivität; hierin offenbart fich ein pathologifcher Zug,
der Zweifel an dein eigenen Gedanken, fchon im Augenblid, da er erit dargeftellt
werden ſoll“. (Dtto Harnad, Eſſais und Studien zur Litteraturgeſchichte ©. 351.)
Die Beobachtung ift fein, und fie Eönnte über mehr als eine Scene und Geftalt
der jpäteren Dramen hinweg erjtredt werden. Die fröhliche Siegesgewißbeit,
mit der unjere Anardiiten an die Duadratur des Zirkels, den „opferfreudigen
Egoismus“ glauben, ift Ibſen nicht zu eigen, und auch das ift beachtenswert, daß
er im Zweifelsfalle immer lieber zu der großen Anſchauung, die das Glüd tötet,
aber den Menſchen adelt, zurüdgreift. Im Ganzen indeß zieht er mit jeinen
Marimos in „Kaifer und Galiläer“ aus dem Vorderſatz: „die alte Schönheit it
nicht länger ſchön und die neue Wahrheit ift nicht länger wahr” doch den hoff:
nungsvollen Schluß, daß ein Neues, Künftiges kommen müſſe, nur daß wir eben
nicht wiffen, nicht einmal ahnen können, wie dies Werdende, Kommende ausjeben
wird. Für die beraufchten Prophetieen revolutionärer Ehiliaften ift der Dichter zu
fritiich, zu epigrammatifch; daß auf dem Grunde feiner Seele ein Zug auch dazu
lebt, ward jchon hervorgehoben, er hält ihn in gewiſſem Sinne gewaltfan nieder
und feine Menſchen bewähren ihn vor allem in der Todestrunfenbeit.
Die vielumftrittenften Werke Ibſens wie „Die Komödie der Liebe‘, wie
Adolf Stern, Ibſens Weltanichauung. 857
„Nora und „Klein Eyolf“ können jo gedeutet werden, als ob der Dichter auch
die Familie zu dem „Sozialen Begriff‘ rechne, der in den gegenwärtigen Formen
zu eriftieren aufhören wird. Der Accent fliegt natürlich bier auf den „gegen:
wärtigen Formen”. Daß es eine volllommene Thorheit iſt, bien, der
vom Sinnenglüd unendlich geringfchäßiger denft als vom Geelenfrieden, und ber
ih an diefem einen Punkt dem Ruſſen Tolftoi weiter nähert, als irgendwo
fonft, als einen Vorkämpfer der freien Liebe anzuflagen, braucht faum erft hervor:
gehoben zu werden. Im Gegenteil war die asfetiiche Neigung Ibſens, die Blüte
der Liebe nur in der Entjagung und Erinnerung, nicht in der Bereinigung von
Mann und Weib zu erbliden, jchon in der Geftalt der Hjördis in der „Nordiichen
Heerfahrt” verkörpert und überrajchte und erbitterte in der „Komödie der Liebe“
nur, weil fie fi) bier unmittelbar einesteil3 gegen das geſellſchaftlich Herkömm—
[iche, andererjeit3 gegen den Dichtertraum dauernden Glückes wandte. Die
Scheu Falks und Schwanhilds vor dem Untergang der Liebe in der gemeinen
Gewohnheit des Alltags fteigert jih aus der Anſchauung des Dichters heraus
zum Efel vor der Che und, im vollen Gegenjaß zu den anderen norwegifchen
Dichtern, die der erften noch fo thörichten, noch fo dürftigen Jugendregung allein ein
Lebensrecht zufprechen, zu einer Art Preis der Vernunftheirat. Da dem Dichter
die legte Tiefe der Liebe verſchloſſen blieb, in der die innerlicd, zufammengehörigen
Menichen, über die Gefahren des Leidenichaftsglüds und die größere
der platten Gemwöhnung Hinaus, zum reinſten Verſtändnis, zur Be—
feligung der Gemeinſamkeit in Leben und Tod gelangen, fo war er in feinem
Recht, die jtumpfe Gleichgiltigkeit und den ſchmiegſamen Selbftbetrug, die ſich
hinter dem Schild einer fozialen Pflicht verfteden, zu Earifieren. Nur daß damit
gegen den höheren lauteren Pflichtbegriff gar nichts beiviefen wurde. Bei Ibſens
Ueberzeugung, daß die große Mehrzahl der Ehen auf einer mühſam verftedten
Lüge berube, Eoftete es den Dichter wenig, im „Puppenheim“ die verzeihende Liebe
ganz auszuschließen, und Nora auf.den Weg einer einfamen Gelbfterziehung
zu jchiden, bei dem Konflikt in „Klein Eyolf“ die ſympathiſche Geftalt der Alta
einer Bernunftehe aufzuopfern, der leidenjchaftlichen Liebe Ritas zu Allmers
jede Berechtigung abzufpreden, ja das Zufammenleben der beiden Eheleute nad
der Geburt des eriten Kindes als eine fittliche Verſchuldung hinzuftellen, die mit dem
Tode des armen Jungen geahndet wird und mit ſchwerer Lebensarbeit und ge-
legentliher Sonntagsruhe vielleicht gefühnt werden mag. In allen Fällen aber
ſucht Ibſens Muſe ein ganz anderes Berantwortlichfeitsgefühl in das Familien-
leben hineinzutragen, indem er das „Herkömmliche“ fchneidig befämpft, ohne immer
Elar jagen zu fünnen, was an dejjen Stelle treten foll. Doc der Dichter „Fragt
nur, überläßt das Antworten Anderen". Gerade bier aber ift3, wo wir ber
grübelnden Stepfis Ibſens und feiner Nahahmer eine unverbrüchliche Forderung
des deutjchen Gefühle entgegenzuiegen haben. Wir wollen jede, auch die jchärfite
858 Adolf Stern, Ibſens Weltanfchauung.
und herbite Kritik unſeres ererbten Familienbegriffs ertragen und jede ethiſche
Steigerung der Borausjegungen, aus denen fi die Familie aufbaut, berechtigt
finden. Aber wir werden ung nie überzeugen lafjen, dat die Familie nicht die
„ſtärkſte Individualität” jei, und daß jemals aus ihrer Auflöfung und Zerſetzung
eine jtärfere hervorgehen könne.
In all diefen Dramen handelt es fih um piychologiihe Erperimente,
die troß ihrer fünftlichen und zum Zeil hart an der Grenze der jeeliichen Ueber—
reizung und des Wahnfinns bingehenden jagen wir nicht Unmöglichkeiten, aber
äußerjten Möglichkeiten, troß ihrer das Gefühl verwirrenden Zufpitungen, ſich
innerhalb jehr einfacher äußerer Vorgänge abipielen. Danf der eigentümlichen
Technik Ibſens jcheinen die Dinge naturgemäß und logisch ſich zu entwideln, und
mit dem Dichter wird der Zujchauer meift die fomifche Wirkung, die jo künstlicher
Tragit wie der in der „rau vom Meere”, in „Rosmersholm“, in „Dedda
Gabler”, „Baumeiiter Solneß" und „Wenn wir Toten erwachen“ innewohnt,
meiſt überjehen. Doch jobald fie ihm in die Augen jpringt, ift es um die jeeliiche
Erjhütterung, die diefe Erfindungen und Geftalten hervorrufen jollen, geicheben.
Spürt man einmal, daß es nicht tragische Mächte und Notwendigkeiten find,
die ſich hier gegenüberitehen, daß die grübelnde Willkür einen ftärferen Anteil
an ihnen hat, als der Eindrud des Lebens auf den Dichter, fo regt ſich auch im
Lefer und Hörer der grimmige Zweifel oder die Ironie, mit denen der Dichter
jelbjt einem Teil diejer Bilder gegenüber geitanden hat, ehe er fie in die letste
unheimliche Beleuchtung rüdte, die der modernen Auffafjung alle Mängel der
Zeichnung verbergen jol. Das „neugeborene Auge, das die alte That wandelt“,
ift dem Dichter ſelbſt nicht überall zu eigen, wie kann er es von denen fordern,
die durch ihn und mit ihm jehen jollen?
Es ift vollkommene Thorheit, gegenüber einem Dichter jchwerer und dunkler
Probleme an Poeten zu mahnen, die das Leben leichter nehmen. Erfreulich mag
eö jein, zu diefen Leichtnehmern zu gehören, aber nur die behagliche Oberfläd-
lichkeit und die felbitzufriedene Eitelkeit konnten einer Natur wie der Ibſens
anfınnen, ihre Auffaſſung des Lebens und ihre leichtherzige Wiederholung von
Borftellungen und großen Worten, zu denen ſie längjt fein inneres Verhältnis
mehr hatten, zu teilen. „Die düftere und herbe Weltanihauung Ibſens war zur
Beit, als er fie poetifch zuerit ausfprach, nichts weniger al$ Mode. Und dieſer
Thatſache gegenüber wird die Berufung darauf, daß beinahe alle größeren und
vom Kern aus gefunden Dichter die Welt anders und lichter gefehen haben, hin:
fällig... So lange es nicht Laune und Großmannsjuht find, die das einzelne
Talent treiben, wird man feinen Poeten von vornherein jchelten dürfen, dem
Naturanlage oder perfönliches Geſchick nur die Nachtfeiten von Welt und Leber
offenbarten. Gegenüber Ibſens Dichtungen „Brand“, „Peer Gynt“, „Kailer
und Galiläer* it es ungzmeifelhaft, daß Ibſen von einem inneren Muß, dem
Adolf Stern, Ibſens Weltanſchauung. 859
nicht zu entrinnen war, getrieben wurde. — Wohl aber fällt die Frage ſchwer ins
Gewicht: „ob der Dichter einen Weg, den er zuerjt mit heiliger Scheu und dem
rüdhaltenden Ernſt betrat, den der Wahrheitdarfteller mit dem Wahrheitjucher
gemein haben muß, nicht Schließlich mit ironiſchem Weberlegenheitsgefühl, mit der
Ueberredungstunft des Sophiften, mit der Bravour des Birtuojfen weiterge—
gangen it? Da die Berechtigung für die Darftellung der Welt und des
Menſchenlebens nad deren dunklen Seiten nur in der innerften Ueberzeugung
de3 Dichter von der Wahrheit feiner Gefihte und Geftalten liegt, jo fteht die
Gerechtigkeit des großen jchöpferifchen Talents von Schöpfung zu Schöpfung vor
der frage, ob jene Wahrheit in ihm felbjt noch lebendig, feimkräftig und uner-
ſchütterlich ſei“ (Adolf Stern, Studien zur Litteratur der Gegenwart. ©. 429.)
Dieje Frage ift in der That die entjcheidende und wichtige für die Gejamt-
beurteilung des fpäteren bdichteriihen Schaffen Ibſens. Seine Bemwunderer be-
jahen fie rüdhaltlos für jede Dichtung, die jchrofferen Gegner verneinen fie für
die ganze Reihe der Werke, von den „Geſpenſtern“ an bis zum dramatifchen
Epilog. Die Unbefangenen werben mit uns der Meinung fein, daß fie jedem
Werke gegenüber neu an den Dichter geftellt werden muß, und fich nicht ver—
behlen, daß das ja in mehr als einem Falle nur ein Bedingtes fein fann. Doch
wenn e3 auch ein Unbedingtes wäre, würde daraus noch nicht folgen, daß wir
uns dem, was für den Dichter zwingende Wahrheit gewejen, auf jede Gefahr hin
vertrauen müßten. Auch wenn wir meinen follten, daß Ibſens Gejellichafts-
dramen feine über den einzelnen Fall hinausgehende Löfungen einjchlöjfen, was
bei ihrer Natur und dem verftärkten Gewicht, das der Dichter feinen Ent—
ſcheidungen giebt, fchwer zu meinen und was Eeinesfalls Ibſens Meinung ift, jo
erweijt die Zmwiejpältigfeit des Gefühls, in die uns bald die Handlungen, bald
die Geftalten der Dramen feßen, daß ihnen die fiegende Kraft, die [uns in die
Anschauung eines Dichterd widerftandslos hineinzwingt, wenigftens teilweiſe ge-
bridt. Nicht an Geift und Stärke, aber an Liebe und Wärme fehlt es dem
Dichter, der fih an die Zerjeßung und Bernichtung der alten Ydeale wagt, ohne
von den neuen vollftommen überzeugt "zu fein. Soweit Ibſen die Geftalten, die
er zu Trägern des „Kommenden“ macht, nicht in die Nacht des Todes jcidt,
entläßt er fie in die Nebel eines höchſt ungewiſſen Schickſals — der Weg ift
fhlimm, da3 dritte Reich weit, wer faßt ein rechtes Vertrauen, daß Falk und
Schwanhild, daß Nora und Doktor Stodmann, dat Ellida Wangel, dat Allmers
und Rita dort anlangen werden? Derer zu geſchweigen, die wie Paſtor Manders
in den „Geſpenſtern“, wie Hjalmar Ekdal in der „Wildente", wie Erhard Bork—
man in „Kohn Gabriel Borkman“, wie Frau Maja in „Wenn wir Toten
erwachen" halbeswegs umkehren und im Sumpf der Gewöhnlichkeit verlinken.
Wie viel Anteil an diefer jeptifchen Bejonderheit des Dichters die Erſchei—
nungen des normwegijchen Lebens, wie viel die elementare Zweifeljucht feiner
860 Adolf Stern, Ibſens Weltanfchauung,
Natur haben, mag ftreitig bleiben. Gewiß aber it, daß die dichteriſche Ge
jtaltung unferes eigenen Lebens nicht damit belaftet werden darf, die Typen
Ibſens in unfere Welt hineinzutragen, für die wir jchlechterdings feine Vergleichs:
punkte haben. Das Recht des analytifchen oder piychologiihen Dramas mird
damit nicht beeinträchtigt, doch der irregehenden Nahahmung muß die fchärfere
Prüfung von Ibſens Weltanfhauung einen Damm jegen.
Niemand leugnet, daß Ibſens Gejellichaftsdramen, namentlich die älteren,
auch Gegenfäße, Konflitte und eine Folge von Menfchengeftalten einjchließen, zu
denen wir die Vergleiche, die verwandten Ericheinungen aus unferem eigenen
Leben unmittelbar bei der Hand haben. Unzweifelhaft ertöten Lügen, die ſich
al3 ideale Forderungen gebärden, fchlechte Ueberlieferungen, die man fälſchlich
Pflichten tauft, und jelbftiiche Regungen, die zu notwendigen Bedingungen des
altgeheiligten Beſtandes der Gefellichaft aufgebaufcht werden, auch bei uns einen
guten Teil Lebens: und Thatkraft, viel Lebensfreude. Hierin liegt die gebeime
Macht, mit der Ibſens Dramen, troß ihrer fonderartigen und rätſelhaft
fubjeftiven Beimifchungen auf die unbefangen Aufnehmenden und Geniegenden
wirken. Immer wieder aber gilt e8, die einfachen und unmwandelbaren Lebens-
güter und idealen Forderungen, zu denen jelbitvergefiene Liebe, Mitleid und
opferfreudige Hingebung gehören, die einfachen, unmandelbaren Pflichten, die das
Maß der einzelnen Kraft nie überiteigen, wenn fte richtig erfaßt find, und das
unentbehrliche Einverftändnis des Einzelnen mit einer Allgemeinheit gegen die
Vorftellung zu wahren, daß der jchranfenlofe, gewiljenlofe Andividualismus als
Weltprinzip das dritte Neid; höherer Gerechtigkeit und freudiger Kraft bringen
fönne. Der norwegische Dichter fucht das Grauen vor einer Zeit umd Kultur
zu weden, wo die Perfon im wüſten Haufen hinjchwindet, die Menjchen namenlos
und als bloße Nummern finnen, bauen, fämpfen, laufen, Pyramiden aufricten,
in die ägyptifch jeder feinen Eleinen Stein fügt, um das Ganze zu erhöhen, er
ſieht Zwang überall, jieht durch die bloße Forderung der Pfliht und die frei
willige Mitwirkung an Aufgaben, die fein Einzelner zu löjen vermag, das höhere
Necht des Einzelnen gefährdet. Wir zweifeln nicht, daß fich in düfterer Stunde
gewille Erjcheinungen und Gntwidelungen unjeres modernen Lebens mit jeinen
Augen anfehen lafjen. Die Frage ift nur die, ob es finnlofer Pyramidenbau
jei, dem alle Kräfte eines Volkes zuftreben, ob der Einzelne verjflavt jei, dem aus
der willigen Hebernahme von neuen Pflichten neue Rechte erwachſen. Ibſen bat
und mit der fkeptiichen Prüfung der Fundamente unjeres Lebens, der jopbiitiichen
Kritik ſittlicher Grundbegriffe, mit feiner Charakteriftit der Schwäde umd
DHaltlofigkeit moderner Menſchen in der That vor die Aufgabe geitellt, Schein
und Sein, Phrafe und Weſen ſchärfer al3 je zu unterfcheiden, dem üußerlichen
Schwung, dem fein innerer entjpricht, dem jittlihen Pathos, hinter dem die
jelbftfüchtige Rüge fteht, kein Gewicht beizulegen. Aber die „ideale Forderung“ bat
Adolf Stern, Ibſens Weltanſchauung.
861
er darum mit nichten aus unjerem Bolfsdafein und unferer Litteratur ver:
bannt, wir fühlen angefihts feiner Weltanjchauung, daß jene geläutert, ge:
fteigert werden mag, aber unentbehrlicher denn je alle Adern unferes Lebens
durchdringen muß.
%
Weltminſter-Abbey.
Es wurde Bacht im gewaltigen Dom,
Doch weifzer die Statuen, bebrer,
Durch Riefenfcbeiben kam weich und bleich
Die Dämm’rung berein, wie ein ftiller
Strom
Der lang verfcholl'nen Gefchichte gleich;
Der Schatten ward gröfzer und leerer.
Ich wandeltenoc von Beftalt zu Beftalt
Die gefpenftifch wurden,verfchwommen,
Da kam aus der Wöbe ein mächtiger
klang,
Die Orgel dDurchbraufte den Dom mit
Gewalt,
Dann ift ein filberner Pfeifen Drang,
Ein einzig Lichtlein erglommen.
Wollt ibr die Orgel verfucben? ſprach
Der Kanonikus.— 3ch?— © wiegerne! —
Die Hände in fünf Klaviaturen, rief
Ich bimmelsftimmen, Pofaunen wach,
Die ganze kirche, die ſchwelgend fchliet,
Das Dämmerlicht in der Ferne.
Und in den Wöälbungen bat’s gebebt,
Sch ſaſz, von Tönen umflutet,
Die Grüfte tbaten ficb feufzend auf,
Was längft vergangen, Da bat es gelebt,
Eskam aus Jabrbunderter Tiefen berauf,
Was bier verklungen, verblutet.
Der Sünder unter dem Baldacbin,
Der Genius, von Licht umfloffen,
©
Der hunger erlitten, Derkennung, Bein,
Derbänderingend nach Recht gefchrie’n,
Sie traten bervor aus Demfchweigenden
Stein,
Und baben Tbränen vergoffen.
Der alte Paſz und der alte Groll
Bat unverföbnt noch die Bände
Verzweifelndgeballt, und die Bölle ftand
Vorden bDimmelsftimmen, dDietrauervoll,
Wie Tau, binftrömten auf Wöüftenbrand:
Es bebten die Adauern, die Wände.
Es bebte die Orgel wie Pulsfchlag laut,
Wie braufende MBeereswellen,
Und fchluchzte leife, wie tiefer Gram,
Es bat den alten Säulen gegraut,
Wie Martyr und Denker da wiederkam,
Bindeutend auf blutige Stellen,
Und Arme umfchlangen die Säulen, wie
Von bilflofer Qual gewunden,
Daran gefeffelt vom eigenen Paar.
Die Orgel klirrte und beulte, ſchrie
Zum Erdenleid, zu der Jammerfchar,
Die nächtens einander gefunden.
Dann ward es wieder fo Still und grofz;
Das Tönen, das Schludhzen verballte,
Sie büllten in Borgengewandung fich,
Sie bargen ſchweigend im Erdenfchofs,
Was fie erduldet, daſßz feierlich
Ihr Füblen im Rubm erkalte.
Carmen splva.
Brei Heiynadten
von felir Dabn.
I. a. 1230 an der Nogat.
Der Oftnordoft ingrimmig fchnaubt,
Der Sturmbelm fror mir feft ans baupt:
Es zittert unter mir der Rappe:
Ringsum kein Ritter fonft, kein knappe:
Ich fteb allein auf böfer Wacht!
Das Eis der Mogat knirfcht und kracht,
Die Wölfe beulen durch die Macht.
Bus finftrem Föbrenwald zuweilen
Zifcht’s um mich ber von Polenpfeilen;
Bis tief ins Abdark dringt mir ein
Grauen!
Auf, Berz! Mach oben mufst du ſchauen:
II. 1240 am
Rings WäftensBlutbaucd um mich ber!
Tot fiel mein Röfzlein — lang ift's ber.
Wie ftapft es durch den Sand fich
ſchwer!
Ich glaube faft, ich kann nicht mebr.
Wenn ich nur noch die Palme dort
Erreiche und den Schattenort. — —
Die beilge Kirche ebr ih febr: —
Wlenn die nur nicht fo beillg wär’!
Warum foll das nun Sünde fein,
Sein Bäslein wunderbold zu frei’n?
Doch Wlürzburgs Bifchof, unfer Obm,
Scickt mich bis an den Jordanftrom!
Den Zug des Kreuzbeers foll ich teilen
Und trotzen Sarazencenpfeilen,
Siebft du der Sterne fromme Pracht?
Auf den Bberrn Cbriftus mufzt Du
bauen,
Er bält mit dir getreulih Wacht,
Zumal in diefer beilgen Macht,
In der er Wenſch geworden ift.
Wäbnft du, dafs Dein er je vergilzt?
Mein, fällft du bier auf deinen Schild,
bebt er Dich mit der Rechten mild
Und fpricht: „Tür mich bift Du ge=
ftorben: —
Das bimmeclreich baft du erworben!“
Jordan.
Dann,kann ich beil den Rückwegfinden,
WII des Verbots er uns entbinden.
Die andern find fchon weit voran,
Ob ich fie noch erreichen kann?
© bolde Perrin Irmingard,
Das Frein um Dich ift beifz3 und bart.
Ich zweifle febr, ob ich Dich je,
Dich und Alte Würzburg wieder fcb:
Weibnachten beut! Bun deckt der
Schnee
Abit feierlicbem Glanz Dich zu.
Mein barrt im Sand die Todesrub
Und doc, o treu Gelichbte Du,
Ic fegne dich noch im Verderben:
Denn felig ift’s, für Dich zu fterben.
Felix Dahn, Drei Weihnachten, 363
III. an der Loire 1870.
don Orleans der grofze Wald,
wie liegt er finfter, feindlich, kalt!
Gebt nicht die Macht zu Ende bald?
Da horch! Ein Schuſz! Mab bat's ge=
knallt:
Ich weiſz wobl, wem die Kugel galt.
berr Franktireur, Das ging Daneben:
Laf3 mich ein wenig noch am Leben.
Zwar ift’s ein bartes Leben jetzt,
Drei Wochen lang umbergebetst,
Den Rock verwetst, Die Schub zertetzt,
Die Füſze wund zu guterletszt,
Drei Wochen lang ftets angefcboffen, —
beut Macht bätt’s beinab mich ver—
droffen,
beut in der beilgen Weibnachtsnacdt
Ganz einfam ftebn vor'm Walde Wacht!
$etzt ſchmückt dDabeim am Zfarftrand
Den Chriftbaum meines Weibes band:
Dort Tannenduft und Lichterbrand:
Die blonden Buben jubeln laut — —
©b fie mein Auge noch mal fchaut,
Ob mich ein Grab im fremden Land...?
Bab, einmal muf3 Doch jeder fterben!
Iſt Schöner Los denn zu erwerben
Als Tod im Sieg für's Vaterland?
Bin nur ein fchlichter Landwebrmann,
Doch Das begreift aub mein Ver=
ftand:
Wenn unfer Beer den Sieg gewann,
Dann wird dabeim ein Reich erftebn,
Wie keins noch bat die Welt gefebn
Und trifft mich bier der Todesftreich,
50 fterb ich für Dies deutſche Reich!
Ausiprüde aus „Beiltige Maften“.
Wo immer der MWenſch die überkommenen Bröonungen nicht mehr als innerlid
bindend empfand und zum Maß aller Pinge fein eigenes Meinen und Behagen machte,
da enlmwirkelte ſich eine Sophiflik und verwarf alles an fih Gute, alle Bormen als einen
leeren Wahn und eine Ichädliche Beſchwerung des Lebens.
Rudolf Eucken.
Es ill eine eigene Sache im Leben, daß, wenn man gar nid an Glück oder Hnglüd
denkt, Sondern nur an firenge, ſich nicht ſchvnende Pflichterfüllung, das Glück fih von
ſelbſt, aud; bei enibehrender, mühevoller Iebensweile einfellt.
wu. von Pumboldt.
Das hodhgefleigerie Gefühl der Brirgerehre und DPienfpflicht, die Airenge, unab-
läffige, ſich ſelblt vergeffende, in keiner Gefahr und Bof ermüdende Sorge um die Anter-
gebenen; fie find die ausgegeichnefen und unüberiroffenen Cugenden unleres Plfizierkorps.
©. Frertag.
Während Monardifien und Liberale ihrem Welen nadı auf nationalem Boden firhen,
ift es zu allen Beifen die Balur der klerikalen und der radikalen Parlei, welibürgerlid
zu fein, kein Balerland als ihre Parlei zu kennen, für dieſe die Weltbeherrſchung zu
fordern. ». von Spbel.
63)
SA 99909
Franz Xaver Kraus.
Von
kudwig Schemann.
RB: 28. Dezember vergangenen Jahres verftarb zu Sarı Remo Franz Faver
Kraus, jäh und unverhofft jelbit für feine nächſten Freunde und Schüler
die, nachdem fie öfter zuvor fchon ihn dem Tode verfallen geglaubt, diejen nm
doch gerade in den allerlegten Tagen, da ihr Meiſter auf Italiens Boden not
einmal aufzuleben fchien, wieder ferner gerüdt glaubten. Bon einem treuelten
Freunde geleitet, der e8 nicht ohne Bangen ſehen konnte, wie er „vom Arbeiten
nicht laſſen wollte”, war er der Stätte genaht, wo er die legten Blide ind Bud
der Natur, in feinen Dante und in die „Nachfolge Ehrifti" werfen follte, meld
letzterem Buche anjcheinend fein Abjchiedsblid, fein letztes Sinnen und Sehnen
gegolten hat. In der ihm heimisch trauten Freiburger Erde iſt er dann am
Dreifönigstage beftattet worden. Sein Leichenbegängnis war von der Art, wie
es fonft einem auch hervorragenden Gelehrten nicht fo leicht gewidmet zu werden
pflegt. Höchſte Vertreter des badiſchen Fürftenhaufes, der geiſtlichen
bürgerlichen und militärifchen Behörden, die Univerfität in corpore, Deputiet:
Während bed Drudes des vorliegenden Artikels iſt die offizielle Erinnerungsſchrift da
Freiburger theologifchen Fakultät „Zur Erinnerung an franz Xaver raus. Im Namen vr
theologischen Fakultät an der Univerfität Freiburg i. Br. von Dr. Starl Braig, Profeſſor an der
ſelben Fakultät.” Freiburg i. Br., Herder, 1902, erfchienen, welche unter der Flut von Rat
rufen in mancher Beziehung immer einen authentifch eriten Rang wird beanfprucen lönnen
Aus einer Reihe neuer eigener Ausſprüche Krauſens in Briefen, Schriften und fonftigen Aut
zeichnungen fett fich fein Gefamtbild nochmals unvergleichlich ſympathiſch dem Leter zufammen.
und auch der Zug echter, ja warmer Würdigung und Verehrung, der tro& fo offenbar vielied
abweichender Anfchauungen des Verfaſſers und jeiner Kollegen das Ganze durchzieht, muß auf
jeden mohlthuend wirken und jede Sleinlichkeit der Beurteilung auch auf der andern Seite au“
fliegen. Um fo mehr aber erfcheint es mir Pflicht, einer f. 3. f. programmatifchen Yeukenm
eine andere, ebenfolche, raus’ felbit gegenüberzuftellen. Es Handelt fich um die Spektater
Briefe, jene firchenpolitifche Zeititinnme, welche neuerdings als hervorragendſtes Spezimen dat
Kraus’ freierer Anfhauung und Stellung innerhalb feiner Kirche in den Worbdergrund 9°
treten ijt. An zwei Stellen jeines Buches nun fagt Braig (©. 44 und ©, 49), daß er bieft
Briefe und verwandte Kundgebungen „nicht zu Kraus’ Lebenswerk rechne“. Dagegen bei
Kraus einmal, als er in feiner ftolzbefcheidenen Weife fein wunderbar reiches Schaffen vor mt
entrollt hatte, mit folgenden Schlußworten ſelbſt feinen ſehr entgegengefegten Standpunkt ge
fennzeichnet: „und dann noc die Speltator-Briefe, die find ſchon für ſich allein
ein Lebenswerk!“
Ludwig Schemann, Franz Xaver Kraus. 865
auswärtiger Städte und Körperſchaften, zahlreihe Angehörige aller übrigen
Stände bildeten den Trauerzug, der den edlen Toten von der Leichenhalle
zum Grabe geleitete. Draußen aber auf dem Friedhofe legten in weiten Umkreiſe
viele Taufende Zeugnis dafür ab, daß in dem allen nichts Gemwohntes, nichts
Landläufiges, nichts Zeremonielles und Formelles war. Jeder hatte den Eindrud
eines durchaus ungewöhnlichen Ereigniffes, einer fpontanen Huldigung, welche dem
geiftigen Haupte der Liniverjität, einem der reichiten und vornehmften Geifter
Badens, einem der Erjten und Beſten der deutjchen Gelehrtenrepublif darzubringen
war, der insbejondere auch, wie die Trauerfeiern in Florenz und Rom bewiejen haben,
in feltenem Maße den Ruhm und Glanz der deutjchen Wiſſenſchaft im Auslande
hatte leuchten laffen. Aus den Anſprachen biefiger und auswärtiger Bertreter
der verjchiedenften Pflegeitätten der Kunſt und der Wiſſenſchaft Elang e8 warm
und groß heraus, welch’ ein überragender Geilt und Charakter hier, unerjetlich
auf mehr als einem Gebiete unſeres heutigen Lebens, bat bergegeben werden
müffen. Und doc waren diefe Klänge wiederum nur ein Schwacher Wiederhall
der Empfindungen der Taufende und Abertaufende, denen Kraus als Lehrer
und Schriftfteller, als Führer und geiftliher Berater, ald Menſch und Freund
unvergängliche Wohlthaten erwiefen hatte. Auf lange hinaus noch wird das
alles in der Deffentlichkeit weiterhallen, aus nichts aber Kraus’ geiftige Größe
und Bedeutung gerade auch Flarer zu Tage treten als aus dein Gedämpften und
Berhaltenen und doch mit widerwilliger Anerkennung Stets reichlich Gemiſchten
im Zone der ihn Befehdenden. Nicht leicht wohl auch wird wieder eine Geftalt von
ſolcher Univerjalität, von jolcher Größe und Weite des Blickes unter den Vertretern der
Wiffenfchaft zu finden fein. Daher die ungezählten Freunde dieſes wohl an Be-
ziehungen reichten aller deutichen Gelehrten unter Fürſten, Staatömännern,
Ariftofraten, Prieftern und Gelehrten aller Art. Er ſelbſt hatte und war eben
von diefem allen etwas, und die Hoheit und Würde feines Wejens verichaffte
ihm ebenfoviel Verehrung, als ihm feine Dingebung, fein tiefes Wohlwollen
Freundſchaft und Dankbarkeit eintrugen. Nächſt Deutichland galt dies ganz
befonders von feiner zweiten Deimat Stalien, wo er neben Jakob Burdhardt
der meiftgenannte und beftbefannte deutiche Gelehrte war; aber aud in Frankreich,
wo unter anderem feine SKirchengeichichte in über vierzigtaufend Eremplaren
verbreitet war, hatte er namentlich mit der Priefterichaft, bei welcher ja be-
fanntlich die freiere Richtung ſtark vertreten ift, eine Fülle innerlich bedeutjamer
Berbindungen.
Es ift nicht diefe8 Ortes, von Kraus’ engeren Fachwerken, feiner Real-
encyklopädie der chriftlichen Altertümer, feiner Sammlung der Kunſtdenkmäler
Badens, der der chriftlichen Anfchriften der Rheinlande und anderen eingehender
zu reden. Um jo mehr aber haben wir denjenigen wiſſenſchaftlichen Haupt—
leiftungen einige Worte zu widmen, die feinen Namen in die weiteſten Kreiſe
55
866 Ludwig Schemann, Franz Xaver Kraus.
binausgetragen haben: jeiner Kirchengeſchichte, feiner Gefchichte der chriftlichen
Kunft und feinem Dante. Gemeinfam ift ihnen allen der riefenhafte Fleiß, die
ftaunenswerte Fülle der Materialien, die doch nie in toter Aufhäufung, jondern
ftet3 in lebendiger Durchgeiftigung dein Leſer entgegentreten, gemeinfam die echte
Gediegenheit, und vor allem eine fchlichte und überzeugende Beredfamfeit im
Dienfte des jedesmaligen Gegenftandes. Untrennbar vereinigt war bei ihm die
allgemeine Gejchichte mit der Kirchengeſchichte, die Kirchengefchichte mit der Kunit-
wie mit der Geijtesgefchichte. Alle dieſe Disziplinen hat er angebaut, um den
ganzen Gehalt der geiftigsjeeliichen Welt des Chriftentums, wie es jih hiſtoriſch
in unjerer Welt entwidelt und abgejpielt bat, zu erihöpfen, um alle Schäte
feiner Religion und Kirche als das Höchfte, was dem heutigen Menfchen zu bieten,
in der Spiegelung der Wiſſenſchaft darzulegen. Leider iſt das leßte diefer Werte,
die Kunftgeichichte, nicht vollendet worden. Zwar, die Darftellung der Renatjjance
ift, wie e3 heißt, im Manuſkript vorhanden und foll noch in diefem Jahre der
Deffentlichfeit übergeben werden. Auf die neueren Jahrhunderte aber werden
wir endgültig verzichten müſſen. Vielleicht ift dies infofern weniger zu beflagen,
al8 bei der Betrachtung beifpieläweife der niederländiichen Kunſt vermutlich die
Einfeitigfeiten von Kraus’ Natur mehr zu Tage getreten jein würden. Aber
Ihon allein, daß wir um den Hymnus auf Cornelius gefommen find, mit dem
er da8 Ganze abzuichliegen gedachte, bleibt tief zu beflagen.
Die lebte, wenige Tage vor jeinem Tode erichienene Schrift ift die über
Cavour, welche einen Zeil der „Weltgejhichte in Charakterbildern“ bildet. Sie itt
jo zu feinem wifjenichaftliden Teftamente geworden und als ſolches vollgültig
und fprechend, wenn auch die beiden andern Monographieen, die er für die gleiche
Sammlung noch geplant, die über Franz von Aſſiſi und über Erasmus von
Rotterdam, feinem Herzensdrange noch mehr entiproden und uns ſomit von dem
innerften Menjchen noch befjere Kunde gegeben haben würden.
Eines legten, alle anderen überragenden Hauptplanes aber muß ich bier
vor allem noch gedenfen, von dem er mir wieder und wieder gefprochen, für den
er ein gewaltiges Material teild ſchon gefammelt, teil ins Auge gefaßt, und der
jeit Jahren fein höchjftes Sinnen und Sorgen auf fich gezogen hat: des großen
Werkes über die innerfirhlihen Reformbewegungen vor der Refor:
mation. Er dachte darin zu zeigen, daß, während im früheren Mittelalter eine
Berquidung des chriftlich-Eirchlichen Elemente® mit dem weltlichen durch alle
Konitellationen geboten war, im fpäteren, aus dem Sinne und Geilte aller inner-
fichlihen Reformbeftrebungen feit dem dreizehnten Jahrhundert, die Kirche ſich
ganz auf die Herrſchaft über die Seelen hätte beichränfen, allen politiichen Ge—
lüften entjagen, den Völkerraſſen gegenüberimehr individualifieren und vor allen
die nordiihen Völker bei Zeiten geiftig freigeben müfjen. Er bat es nie ver:
winden fönnen, daß der Verlauf der Neformation diefen Gedanken zu nichte ge:
Ludwig Schemann, Franz Xaver raus. 867
macht, der Jeſuitismus ihn endgültig begraben hat. „Was hätte werden können,“
jagte er einmal zu mir, „wenn die drei größten Geifter der damaligen Zeit, die
einander 1511 in der camera della segnatura begegneten, Erasmus, Luther
und Julius IL, ſich verſtändigt hätten!“
Es ift leider zu fürchten, daß ein ſolches Werk, nachdem er es mit binab-
genommen, nun überhaupt To leicht von feinem anderen mehr gefchrieben werden
wird. Die BProteftanten können zumeift jo mandes Große und Tiefe der
katholiſchen Urkirche nicht mehr recht miterleben und mitfühlen, und die Katholiten
wollen zumeift nicht jehen, wie weit die hiftorifche fatholiiche Kirche von der
Idealkirche Chriſti abgefommen ift. In diefem einen Manne aber lebte alles,
dejjen es zum Ausdenken eines folchen Gedankens und zu feinem adäquaten Aus-
drud bedarf. Er zeigt einerjeit3 eine Vereinigung des echten großen Katholizismus
und echt reformatoriichen Sinnes wie andererfeit3 ein in unferer Zeit faum mehr
veritandenes Beilpiel dafür, daß ein großer und reicher Gelehrter zugleich ein
inbrünftig frommes Gemüt bergen fann; er bedeutet einen lebendigen Proteft
gegen die Afterlehre, daß freie, unbefangene Forihung nur in der Weife und auf
den Wegen eines Hädel oder Nietzſche zu erreichen jei.
Mit Recht ift Schon in der Grabrede und anderwärts darauf hingemwiejen worden,
daß mir im Kraus einen wahrhaft priefterlihen Mann, einen felten reinen, edlen
und weihevollen Geiſt gleich jenen auserlejenen Gejtalten aus den ſchönſten Zeiten
der Kirche und des Möndtums verloren haben. Freilich mußte ev es erfahren,
daß, je tiefer und echter einer das Chriftentum faßt, defto näher er zu allen
Zeiten dem Martyrium gefommen tft, wenn aud; die Märtyrer der legten Jahr—
hunderte des zweiten Jahrtauſends in anderen Formen leiden als die der eriten des
eriten Jahrtauſends. Dder war ed etwa Fein Martyrium, wenn diefer Mann,
der in den guten Zeiten der Kirche als ihrer Leuchten eine anerkannt und ge—
priefen worden wäre, von ihren jüngften Leitern als fchledht Eatholifch beijeite
geihoben, in ftillen Bann gethban wurde, was dann zur Folge hatte, daß die
große Meute dejien, was heute fatholifh heißt, ihn nod Bis ins
Grab hinein verunglimpft bat, und doch aud wiederum den meilten An—
gehörigen der anderen Kirchen immer nur unter der jammervollen Tagesrubrizierung
des „liberalen Katholiken denkbar und als folcher allerlei falſchen Beurteilungen,
ja, am Ende gar der Berwechslung mit charafterlofen Achfelträgern ausgeſetzt blieb,
während er jein eigentliches Lebensideal, eines über aller Politik wie über aller
Kirchenfpaltung thronenden Chriftentums, bier wie dort oft genug verfannt
jehen mußte?
Immerhin war dafür geiorgt, daß ein Kraus fih nit dauernd als
Märtyrer zu fühlen braudte. Schon das Gegengewicht feiner Lehrthätigkeit und
die Üüberreiche Anerkennung, die fein ganzes Wirken bei einer Fülle der Beften
fand, war geeignet, vielmehr eine Grundftimmung tieffter Befriedigung in ihm
55*
368 Ludwig Schemann, Franz Xaver Kraus.
zu erzeugen. Aber auch dem Kampfe ſelbſt — jo groß umd ernit bat er ihn
alle Zeit erfaßt — wuhte er Beglüdung und Erhebung abzugewinnen. Veritas
liberabit vos, das war fein Wahriprudh; mochte er dann auch zeitweilig feine
Vergewaltigungen durch die Kurie wie blutende Wunden tragen, mochte dieſe
gelegentlih) mit der brutalen Gewalt ihrer Genforen Franz Xaver Kraus in
Feſſeln ichlagen, Spectator oder Zevo;, fein befreiter Geift, flog immer von
friihem auf, um fi hoch über jeine Unterdrüder emporzuheben. An der Hand
Dantes, der nicht nur als größter Dichter und Denker, fondern vor allem auch
als der größte aller Katholiken fein eigentlicher Leititern war, hatte er ſich mit
jeltener Geifteskraft aus den von frühefter Jugend an wirkſamen Eindrüden und
Einwirkungen der heutigen fatholifchen Kirche das große Ideal der echten alten
zurüdgewonnen; und um diefes deals willen hielt er aus im geiltigen Heim
feiner Väter, weil er die Hoffnung nicht aufgab, daß es einft anders darin werden
fönne. Sein tiefer Kummer war es, dab es feine germanifchen Päpfte mehr
gäbe: einzig ein folcher hätte nad) feiner Meinung den ungeheuren Heldenfampf
für die geſamte Chriftenheit glüdlich zu Ende führen fünnen. Inzwiſchen hat er
jelbft alle Liebe, Begeifterung und Herzenswärme, aber auch allen Unabhängigkeits-
drang ded Germanen gegen das herzlofe, kaltberechnende Spiel des Romanismus
und Jeſuitismus ins Feld geführt und den Kommenden als Ziel die Bifion feiner
glüdlichften Stunden aufgewiejen, die einer neugermanifchen Religion, welche „den
erleuchteten Katholiten und den erleuchteten Proteftanten von heute als das
Gleiche vorſchwebe und ſich, vielleiht nad) Jahrhunderten, finden werde, wenn
die Ueberſchätzung der materiellen Werte einmal nachgelafjen“.
Noch ein ernftes Wort zu diejer Frage. Kraus hat Schule gemadt;
es ift ihm gelungen, feinen reinen großen Wiffensdrang, fein hohes Pflichtgefübl,
feine organische Verbindung warmer Begeifterung für alles Große in der chriſt—
lichen Kirche — aud) für das, was bei den verfchiedenen Neformationen zu kurz
gefommen war — mie für germanifchen Geift und deutiches Vaterland einer
ganzen Schar junger Deuticher, die fo zum beiten Material unjeres
Bolfes geredhnet werden müſſen, mitzuteilen und zu vererben. Hüten wir
ung, durch politiiche, Eonfeifionelle oder rationaliftiiche Engherzigfeit diejen unferen
Brüdern ihren ohnehin dornenvollen Weg nod; mehr zu erfchweren. Es hieße
ins eigene Fleiſch wüten! ine der legten Arbeiten, über denen Kraus zufanımen:
gebrochen ift, war eine Artifelreihe über die Tagesfrage „Mommfen-Spahn“.
Dürfen wir das Wort aufgreifen, das dem Sterbenden entfunfen, jo ließe ſichs
furz etwa dahin zufammenfaflen: Haltet ein mit dem Lärmen! Die Wiſſenſchaft
wird ſchon für fich ſelber forgen, fie ift noch nie wirklich unterdrüdt worden.
Wohl aber ſchickt fie fich heute an, den Glauben zu unterdrüden, auch den
Glauben, dem ich jelber gelebt habe, der ich doch von mir jagen darf, daß ich ein
echter Sohn der Wiſſenſchaft wie wenige gewejen bin! Und wahrlid, er würde
Ludwig Schemann, Franz Xaver Kraus. 869
recht haben: der Mann hat wie nur Einer dent germanischen Gedanken vor:
gearbeitet, der dem religiöfen, im Gegenfaß zum politifchen Katholizismus (Kavour,
©. 94) mit begeiftertem Abjchiedsworte die Zukunft zugewiefen und ihn, d. h. im
Grunde doc den echten alten Ehriitenglauben, in der Lehre wie im eigenen Reben
ausdrüdlih auf die Gewifjensfreiheit begründet hat. So erſcheint e8 als eine
Lebensfrage für das Deutſchtum jelber, daß die Minorität germanifcher Katholiken,
in denen Kraus’ Geift fortlebt, uns erhalten bleibe. Die dee einer germanifchen
Nationalkirche, an die ein Treitichke gleichermaßen wie ein Kraus feine höchſten
germanifchen Hoffnungen anzufnüpfen wagte, wäre wohl für immer zu begraben,
wenn Rom im £atholiichen Deutfchland alleinherrichend würde.
Es erjcheint mir wertvoll, die Wahlverwandtfhaft Kraus’ mit unferen
germanijchen Geiftern par excellence, die ſich mir in intimften Befprechungen
mit ihm gegen Ende feines Lebens immer mehr erfchloffen hat, aud) weiteren
Kreifen noch durch einige befonders fprechende Beifpiele nahe zu führen. Dieje
Wahlverwandtihaft war eine durchaus trandzendente, fie wurzelte in den innerften
Tiefen des deutichen Wejens; denn Kraus’ ganzer Bildungs: und Entwidelungs-
gang ift feiner materiellen Ausfüllung, feinen empirischen Thatlachen nad) ein dem der
großen Hauptgeftalten unferer neueften germanifchen Geiftesentwidelung denkbar ab-
gefehrter gewejen. Nur verhältnismäßig wenig hat er Wagner kennen lernen können,
und doch hat dies Wenige genügt, ihm die Ueberzeugung beizubringen, der er in den
Schlußbetrachtungen jeines leider ungejchrieben gebliebenen letten Bandes der
Kunftgefchichte die Worte zu verleihen beabfichtigte: „daß jenes tiefe Sehnen
nad einer höheren Befriedung, das die Seele der modernen Menfchheit durch-
zittert, feit Cornelius in den bildenden Künften feinen adäquaten Musdrud mehr
zu finden vermoct, jondern nur noch in Wagners Tönen und Worten fort:
geklungen babe." Gobineau hat er erit Eurz vor feinem Tode gelejen, aber in einer
der fetten Stunden, die mich mit ihm vereinte, hat er mir mit einer mich faft er-
ichredenden Seherflarheit in der Weife von unferer Zukunft geiproden, daß id)
fagen muß: fein Lebender vielleicht bat wieder jo mit den Augen des großen
Normannen auf den tiefiten Grund unferer Völkergeſchicke gefhaut. Und endlich
nod ein Dritter: Baul de Lagarde. Welch' ein himmelmeiter Abftand zunädjit
zwilchen dem frommen Freidenker von Göttingen, dem „Erzkeger" und Bernichter
aller lebenden Kirchen, und dem Trierer Priefter und Freiburger Kirchengeichicht-
fchreiber! Und doch verband eine innige perjönlicde Sympathie die beiden Männer,
und Kraus bat noch in diefem Sommer Lagarde ein litterariiches Denkmal
gejeßt, mweil fie beide germanijche Ehriften waren und fich in der Faſſung des
religiöfen deals ihres Volkes darin begegneten, daß die wahre Kirche aus
germanifchem Geiſte heraus neugeboren zu werden habe.
Vielleicht könnte ich ſchon bier dieje kurze Erinnerungsſkizze beſchließen; doc
jchiene es mir unnatürlich, wollte ich nicht wenigitens einzelnen Seiten des
870 Ludwig Schemann, Franz Xaver ſtraus.
Menſchen noch einige kurze Worte widmen. Zwar liegt es in der Natur der
Sache, daß gerade jeine allerichönften Züge, jene innere Weihe, die den Befucher
feines Heims aus feiner Hausfapelle, feinen Studien und Wohnräumen jelbit
nad feinem Tode noch fo ergreifend anmutet; feine tiefe Wahrhaftigkeit, jeine
echt chriftliche Demut und Beicheidenheit den Fernerftehenden immer nur injoweit
jich erichliegen werden, als fie eben auch in feinen Schriftwerfen ſich ausprägen;
um fo mehr aber muß ein Anderes hier noch ganz bejonders betont werden, weil
es in feinen Werfen nicht im leifeften zu Tage tritt und doch für deren wie für
des ganzen Mannes Beurteilung jo ungemein ins Gewicht fällt: Kraus war jeit
Jahren ein körperlich ſchwer leidender, ein gebrochener Dann. In unjeren Tagen,
wo leider bei nur allzu vielen Gelehrten der leibliche Organismus ihren geiftigen
Aufgaben gegenüber nicht Schritt hält, hat er uns ein herviſcheſtes Beiſpiel ge-
geben, wie die Geelenftärfe den verfagenden Kräften des Körpers nachzuhelfen
vermag. Mit jeiner fontraften Hand, die oft faum die Feder halten Eonnte, hat
er noh Bud um Bud) niedergeichrieben. Er war die Bewunderung ſeiner
Aerzte, denen es wohl nicht fo leicht wieder begegnet jein mochte, daß ein Kranker
noch im Fieber des Gelenfrheumatismus ſich an feinen Geijteshelden aufrecht
bielt und von ihnen nicht ablafjen wollte Seinem Motto der heroiichen Geduld
„patiens quia aeternus“ entnahm er jene Deiterfeit und Ergebung, die es ihn
dem Himmel anheimftellen ließ, wieviel er ihn noch wolle jhaffen lajien, jene
Bewahrung vor jegliher Umdüfterung im Erleben und im Preiſen alles Großen
und Edlen der Vergangenheit, in der Pflege aller guten Keime der Gegenwart.
Nun ift er dahin, und auch feine Biographie wird uns Lebenden nicht mebr
zu teil werden. Er jelbft hat die Beftimmung getroffen, daß die wichtigjten
Papiere feines Nachlaſſes erft fünfzig Jahre nad feinem Tode entfiegelt werden
fjollen. Er hat redt daran gethan, jeinen Namen einer befangenen Zeit-
genofjenichaft als Stichblatt die Religion entehrender Zänkereien vorzuentbalten.
Inzwiſchen ift durch feine eigenen Werke dafür geforgt, daß das Andenten
diefes großen Gelehrten, dieſes Prieſters echten Chriftentums und Belenners
echten Deutſchtums, dieſes Bannerträgers der Gemifiensfreiheit hei ums nicht
erlöfchen wird.
©
Die Probleme der deuticten Wirtichaftspolitik
für die kandwirtichaft und YInduftrie.
Don
Heinrich Dade.
s wird eine der jchwierigiten Aufgaben fein, aus der Kette der volföwirtichaftlichen
Vorgänge in der Vergangenheit und vom legten Glied diefer Kette, dem Standort
der Gegenwart aus, die fünftige Entwidelung wirtfhaftliher Verhältniffe feſtſtellen zu
wollen. In der Regel wird man ſich damit begnügen müffen, den Zufammenhang der
wirtichaftlihen Ericheinungen aus der gejdhichtlihen Entwidelung zu finden und aus
dem Berhältnis, in welchem der ermittelte Zustand der Wirtfchaft zu dem zu erftreben-
den oder idealen Zuftande fteht, diejenigen Forderungen abauleiten, welche geeignet
find, die Menjchheit dem wirtichaftlichen Ideale näher zu bringen. In der beicheidenen
Erkenntnis, daß es fich ftetS nur um ein Näherbringen, aber wohl niemal® um ein
Erreihen des Ideals jelbjt handeln wird, liegt der ewige Trieb der Menjchen begründet,
immer wieder von neuem die nie rajtende Forſchung in dem fteten Fluß der wirt:
ichaftlichen Berhältniffe zu beginnen.
Würden die volkswirtichaftlihen Veränderungen, wie in der Natur, nach phyſikaliſchen
und chemiſchen Gejegen ftattfinden und demgemäß mit mathematiiher Genauigkeit
ermittelt werden können, jo würde der Blick für die Gegenwart und in die fünftige
Entmwidelung nicht jo leicht getrübt jein.
Aber die Bolfswirtichaft bildet in ihrer Gejamtheit nicht ein anorganiiches, jondern
ein organisches Gefüge, deſſen einzelnes Glied der Menich ſelbſt mit feinem Fühlen und
Denken und feinen wirtichaftlihen Trieben und Bedürfniffen ift. Auf der einen Seite
iſt es die fortichreitende Technik, mwelche die Ergebniſſe der Naturwiſſenſchaften den
Menſchen dienftbar macht und das jahrhundertelang nur wenig bewegte Wirtichaftsleben
der Menſchen bis in die tiefiten Tiefen aufrüttelt. Auf der anderen Seite ift e8 Der
Staat mit feiner politischen Verfaſſung, feiner Gejetgebung und Verwaltung, der die
wirtichaftliche Entwidelung feiner Bevölkerung und feines Yandes auf Grund der ihm
eigentümlichen geographiichen und ethnographiihen Verhältniſſe, nach jeiner Kultur—
geihichte und dem politiihen Einfluß der verichiedenen Berufsklaſſen auf die Gejet:
gebung und Verwaltung regelt, fürdert oder aud hemmt. Die wirtfchaftliche Ent—
widelung eines Landes ijt deshalb nicht das Produft eines freien Schalten® und
Waltens der einzelnen Menjchen, fondern das Erzeugnis verichiedener, ſowohl techniicher
als auch gejeglicher und politiicher Faktoren. So jehr auch ein Yand in die Weltwirt-
872 Heinrich Dade, Die Brobleme der deutichen Wirtjchaftspolitif.
ſchaft verflochten ift, und jo jehr auch die FFortichritte der Technik einer internationalen
Nivellierung der wirtſchaftlichen Verhältniſſe zuftreben, jo jehr bilden die geſetzlichen
politiihen und natürlichen Unterjchiede der einzelnen Staaten gegen einen jolchen inter:
nationalen Ausgleich Schranken, die bis jett noch fein Land auf die Dauer ungeitrait
hat preisgeben oder nicht beachten dürfen.
Um jo jchmwieriger wird es jein, bei der Fülle der in Betracht kommenden
Faktoren die Entwidelungstendenzen der deutihen Volkswirtſchaft und insbeionder:
ihrer beiden woichtigften Exwerbsgruppen, der Yandwirtichaft und Induſtrie, beftimmen
zu wollen.
Es fünnte auffällig ericheinen, daß dem in der Negel als dritten Bundesgenoiien
von Landwirtichaft und Anduftrie bezeichneten Handel hier diefe Ehre nicht ermieien
wird und damit angedeutet ift, daß die Yandwirtichaft und Induſtrie die beiden grund
legenden Erwerbsgruppen eines Volkes bilden, von denen wiederum die Yandwirticait
als die elementare Bafis der Volkswirtichaft zu bezeichnen ift. Das Charakteriſtiſche
des Handels gegenüber der Landwirtichaft und Induſtrie befteht darin, daß er dir
Maren mit produziert, jondern vermittelt und jomit unabhängig von de
Produftionskoften der Waren am Ürzeugungsort und dadurd auch mehr ode
weniger unabhängig von der inländischen Produftion jelbft it. Die hohe und vielfad
notwendige Funktion des Handels foll damit feineswegs verfannt werden, fie it
aber nicht in gleiche Yinie mit der Thätigkeit der Yandwirtihaft und Induſtrie zu
ftellen, die allein die Koſten der inländifchen Produktion beftreiten und deshalb in ihrer
Erifteng bedroht find, jobald die Preife auf längere Zeit die Produktionskoſten nid
defen. So widtig auch der Handel für die Landwirtihafit und Amduftrie und für die
geſamte Volfswirtichaft ericheinen mag, fo jollte jeine Stellung im ftaatlich organifierten
Wirtihaftsleben eine jefundäre fein, und hat er fih nad Umfang und Organiſation den
Bedürfniffen, der Entwidelung und der Eriftenzfähigfeit der beiden primären Emverb*
gruppen, der Yandwirtichaft und Induſtrie, unterzuordnen.
Welches find nun die Entwidelungstendenzen von Landwirtſchaft und Amduftrie?
Ueberblidt man die Geſamtentwickelung beider Erwerbögruppen im Laufeder legten 50.Yabre,
jo fällt vor allem auf, daß die deutſche Yandwirtichaft im großen und ganzen ſowohl nah
Bevölkerungszahl als nad) Befitverteilung, aljo in jozialer Hinficht, fich faſt unverändert
erhalten hat, daß ihre Entwidelung fait ausschließlich auf betriebstechnijchem Gebiete
liegt, daß dieje technifche Entwicelung erjt langfam, dann immer jchneller fortgeihritten
ift, und daß die deutſche Landwirtſchaft im Begriffe fteht, wenn die Konjunktur mur
einigermaßen günftig fich geitaltet, in eine Aera der technischen Entwidelung zu treten,
welche fie der Induſtrie hinfichtlich der technischen Ausbildung faft ebenbürtig an die
Seite ftellt.
Die Anduftrie dagegen hat nicht nur gewaltige Ummälzungen auf techniſchem Gebiet
erfahren und fteht gegenwärtig in ihrer Geſamtheit auf der höchſten Stufe der techniſchen
Yeiftungsfäbigkeit, jondern fie hat auch dem im engeren Sinne gewerblichen Yeben in
der Produktions: und Befigverteilung, in jozialer Hinſicht, ein völlig neues Geprüst
gegeben und dem deutichen Wirtichaftsförper ein Faſſungsvermögen für die Beſchäftigung
einer Bevölkerungszahl verliehen, wie e8 vor 50 Jahren nicht für möglich gehalten wurde
Heinrih Dade, Die Probleme der deutschen Wirtichaftspolitif. 873
Der Grund für dieje verichiedene Entwidelung der Landwirtſchaft und Induſtrie
liegt darin, dag der Induſtrie die techniſchen FFortichritte viel früher zu gute
gefommen find als der Yandwirtichaft, und daß dieje ſowohl nad) der Eigenart ihres
Betriebes, bei dem der unbemegliche Boden die Grundlage bildet, und nach der Eigenart
der ländlichen Bevölkerung ſich die techniichen Fortichritte nicht jo fchnell aneignen kann,
als der bemweglidyere induftrielle Betrieb. Der Unterichied in der fozialen Entwidelung
it darin begründet, daß der Hulturboden nicht vermehrt werden fann, und daß überdies
die Agrarverfaffung und die Gejeggebung für einen großen Teil des deutſchen Sultur-
bodens den geichlojfenen Befiß beftimmt haben, ſodaß für den jährlichen Zuwachs der
deutihen Bevölkerung in der Landwirtichaft, abgefehen von der Ktolonijation des Oſtens,
wenig Arbeitsfeld übrig bleibt, während die Anduftrie durch Vervielfältigung der Pro-
duftion einer wachienden Bevölkerung Arbeit geben kann.
Mit diefer abweichenden Entwidelung in Landwirtichaft und Anduftrie hängt aud)
ein weiterer bemerfenswerter Unterſchied zwiſchen beiden zufammen, es ijt dies die
wunderbare Ericheinung, daß mit Rüdjiht auf die Produftionsfähigfeit in der Induſtrie
der Sleinbetrieb dem Groß- und Mittelbetrieb hat weichen müjjen, während in der Pand-
wirtichaft der Kleinbetrieb, jomeit er die volle Ausnugung der Arbeitskraft einer Familie
geitattet, dem Mittel- und Großbetrieb in der Produktivität gewachien ift.
Hierbei wird vorausgejett, dat die Inhaber des Klein, Mittel- und Groß—
betriebes diejelbe Ausbildung für die landwirtichaftliche Praris bejiten. Dies ift bisher
leider in der Wirklichkeit nicht immer der Fall, doch kann die verjchiedene Ausbildung feine
prinzipielle Bedeutung für die Beurteilung der Konkurrenzfähigkeit der einzelnen Betriebs-
grögen beanjprucdhen, bejonders nicht zu Ungunften des Kleinbetriebes, da die intenfiveite
landwirtichaftlihe Produktion, der Gartenbau, in der Regel Kleinbetrieb und trotzdem
mit der höchiten Berufsbildung verbunden if. Wenn unjer bäuerlicher Beſitz vielfad)
noch nicht die erforderliche betriebstechniiche Bildung erlangt hat, jo liegt dies weniger
an der Kleinheit des Betriebes und noch weniger an einem geiftigen Unvermögen der Bauern,
jondern einzig und allein darin, daß man dem bäuerlichen Befiß bis in die neuefte Zeit Feine
Gelegenheit zur betriebstechnifchen Schulung gegeben hat. Es ift dies einer der
wundejten Bunfte der deutihen Agrarpolitif, und es iſt eine viel zu
wenig beachtete Thatjache, dat faft ein Drittel des deutfhen Bauernftandes
und Bauernlandes fih in Oftelbien befindet. Grit jeit etwa 10 Jahren
hat man in größerem Umfange begonnen, den Bauernitand durd Acderbaufchulen,
BWinterichulen, Fortbildungsichulen, Haushaltungsichulen, Wanderlcehrer, Prämien, Aus:
jtellungen zc. auf eine höhere Stufe beruflicher Bildung zu heben. Die hohe Bedeutung
des größeren Betriebes für die Erfindung und erfte Einführung neuer betriebstechnijcher
Einrihtungen und für die Saatgut: und Tierzüchtung fol durch dieſe Ausführung in
feiner Weiſe gejchmälert werden.
Aber auch abgejehen von der Berufsbildung und der undermindert zu Gunften des
Stleinbetriebes beitehenden räumlichen Konzentration des Betriebes, jomeit derjelbe nidıt,
mie leider noch vielfach, in vielen Barzellen über die Gemarkung verteilt wird, ijt in der
Landwirtſchaft die Konfurrenzfähigfeit des Sleinbetriebes mit dem Mittel- und Großbetrieb
in den einzelnen Pandesteilen eine verichiedene und vor allen von der Entwickelung zweier
874 Heinrich Dabde, Die Probleme der deutichen Wirtichaftspolitif.
Faktoren abhängig jein, von der weiteren Gejtaltung der technifchen Fortichritte und
der Höhe der Arbeitslöhne.
Die technifhen Fortſchritte der Yandwirtichaft beftehen in der Anwendung
landwirtichaftliher Maſchinen und Geräte, welche teils eine Erjparnis an menjchlicher und
tieriſcher Arbeit, teil$ eine Steigerung der Produktion, teils beides zugleich bewirfen, wie
der Dampfpflüge, Drillmafchinen, Mähmaidinen, Hadmajdinen, Dampfdreſchmaſchinen,
Feldbahnen, und in neuefter Zeit in der Benugung der eleftrifchen Kraft, welche für die
landwirtichaftliche Broduftion vielleicht nod; von epochemadjender Bedeutung werden wird.
Die ökonomische Ausnugung diefer Majchinen jest zum Teil einen größeren Betrieb
voraus und fann vom leinbetrieb überhaupt nicht oder nur teilmeiie auf genofien:
ihaftlihem Wege durchgeführt werden.
Der weitere techniſche Fortichritt der Yandwirtichaft befteht in der Anichaffung von
Hilfsmitteln und Rohftoffen zur Vermehrung der Produftion, wie der fünftlichen Dünge
mittel, jder Kraftfuttermittel und des Saatgutes, welde der Großbetrieb in größeren
Mengen und deshalb relativ billiger beziehen fann als der Stleinbetrieb, der dieſen
Vorteil zum Teil erſt durch genoſſenſchaftlichen Zuſammenſchluß mird erwerben können.
Der größte FFortichritt der Yandwirtichaft liegt aber wohl auf betriebstechniichen
Gebiet: in der Viehzudt und im Aderbau. Er beiteht in der durch die Natur:
wiſſenſchaften, wie durd) die Agrifulturchemie, Bakteriologie, Phyſiologie und Veterinär:
funde geförderten höheren Einficht in die Yebensbedingungen der tieriihen und pflanzlichen
Produktion und in der Anwendung diefer Mittel ift der Kleinbetrieb, bei zweckmäßiger
Anleitung, dem Großbetrieb mindeftens gewachſen oder gar überlegen, da es hierbei
vielfach auf die perjünliche Mitarbeit und Umficht des Betriebsleiters jelbit ankommt.
Alle diefe Fortichritte der Yandwirtichaft find indes von zwei völlig verichiedenen
Geſichtspunkten zu beurteilen. So jehr bon privatwirtichaftlihem Standpunft, mit
Rüdfiht auf die Rentabilität des Betriebes, jede landwirtihaftlihe Majchine, melde an
menjchliher Arbeit jpart, begrükt werden muß, jo jehr wäre im allgemein volkswir
ihaftlihen und jozialen Intereſſe zu wünſchen, daß die Arbeitskraft, welche die bi
herige und weiter fteigende Produktion in der Landwirtichaft erfordert, durch eme
größere Zahl von Yandarbeitern geleiftet würde, und daß die Majchine nur dort eintritt,
wo ohne diejelbe die Produktion nicht gefteigert werden fann. Jeder Yandarbeiter, jeder
Bauersjohn und jeder andere Bewohner der Yandgemeinde, der zur Induſtrie oder in die
Stadt wandert, trogdem er auf dem Lande ausreichenden Unterhalt und genügende Be
Ihäftigung hatte oder finden konnte, bedeutet für den Staat einen unmiederbringlichen Ber:
luft, da hierdurd; der Grundſtock des Volkes jelbft, den die tote Majchine nicht eriegen kann.
angegriffen oder jeine Vermehrung verhindert wird. Umgekehrt muß im ftaatlichen inter:
eſſe gewünjcht werden, daß die Steigerung der induftriellen Produktion in eriter
Linie durch den technijchen oder maſchinellen Fortichritt erfolgt, und daß dieielbe die
Yandbewohner nur jomweit beanfprudjt, als dies der natürliche Bevölferungsabflug vom
Yande geitattet.
Während ſomit auf techniihem Gebiete der landmwirtichaftliche Kleinbetrieb dem
Sroßbetrieb teils unterlegen, teil$ gewachſen, teils aber auch überlegen ift, hat der
Ktleinbetrieb mit Rückſicht auf den zweiten, für feine Konfurrenzfäbigfeit enticheidender
Heinrich; Dade, Die Probleme der deutihen Wirtichaftspolitik. 875
Faktor, in der Arbeiterfrage, einen bedeutenden Vorſprung vor dem Großbetrieb, ſoweit
ed dieſem nicht gelingt, durch erhöhte technifche Mittel oder durch den Bezug billiger
Arbeiter aus dem Auslande die teuren Arbeitöfräfte des induftriellen Inlandes ent
behren zu können. Dies führt auf ein bedenkliches ſoziales Symptom in der Ents
wickelung der deutichen Yandwirtichaft, auf welches noch fürzlih Sering nachdrück—
lich hingewieſen hat.
Durch die rapide Entwidelung der Anduftrie und der Großjtädte hat die land:
wirtjchaftlihe Bevölkerung in Deutjchland nicht nur im Verhältnis zur Gefamt-
bevölferung, jondern, wenn man den über diejen Punkt nicht ganz zuverläifigen Angaben
der Berufszählung glauben darf, auch abjolut etwas abgenommen. Der Berluft entfällt
auf die Arbeitskräfte Da die Landwirtichaft ſelbſt durch höhere Geldlöhne die bis:
herigen Arbeitskräfte nicht immer fefthalten fann, und fie bei fteigender Antenfität des
Betriebes, namentlich bei vermehrtem Anbau von Hadfrüchten, wie Zuderrüben, Futter:
rüben und Startoffeln, trog jtärkerer Verwendung von Majchinen, nicht nur eben
jo viele, jondern zum Zeil noch mehr Arbeitskräfte als bisher, bejonders zur Zeit der
Beitellung und Ernte, nötig hat, ift fie gezwungen, neben dem Stamm ftändiger
Arbeitskräfte die nur zeitweiſe erforderlichen Dilfsarbeiter von Jahr zu Jahr aus immer
öftlicher gelegenen Bezirken zu beziehen, und fie hat hierbei bereits jeit vielen Jahren die
öftliche Grenze überichritten und die Arbeiter aus Ruſſiſch-Polen und Galizien kommen
laffen. Die industriellen Bezirke und die Gegenden mit Zuderrübenbau jowie die Haus:
haltungen der Städte in der Mitte Deutichlands und im Weften entziehen der öftlichen
Yandwirtichaft immer mehr Arbeitskräfte, jo dat dieje zum Teil auf die ausländifchen
Arbeiter zurüdgreifen muß. Es wird ſchwer jein, feftzuftellen, inwieweit bei diejer Ent-
wicdelung die Page der Landarbeiter im Dften und die Höhe der Löhne ausſchlaggebend
find, und inwieweit die Arbeiterfludht im Oſten auf die rapide Sfnduftrieentwidelung,
auf die Ausdehnung des Zucerrübenbaues, auf den Anreiz der induftriellen Beſchäftigung
und des jtädtijcdhen Yebens, auf die Verlegung und Konzentration der Kaſernen in die
größeren Städte und auf die vielfach unlauteren Mittel der gewerbsmäßigen Arbeiter:
und Gefindevermittler zuriüdzuführen ift. Es bleibt die bedauerlihe Thatjache beftehen,
daß ein Teil der öftlichen Großgrundbefiger nidyt mehr ohne den Zuzug ausländijcher
Arbeitskräfte eriftieren zu fönnen jeheint, und damit feine hiſtoriſche und politische
Aufgabe im Dften, ein Bollwerk gegen die herandrängende ſlaviſche und polnische Flut
zu jein, allein nicht mehr erfüllen kann. Diefe Aufgabe wird unter den modernen
MWirtichaftsverhältniffen nur ein fräftiger und gejchloffener, neben den lebensfähigen
Zeilen des Großgrundbeſitzes bejtehender Bauernitand aus rein deutichen Elementen
übernehmen fünnen, und es ift deshalb dringend zu wünjchen, dat die Kolonijation des
Dftens vom Staate jelbjt in noch größerem Umfange als bisher durchgeführt werde.
Die bäuerlihe Befiedelung des Oftens ift nicht nur eine preußiiche Angelegenheit, ſie
ift vielmehr im weiteften Sinne eine berechtigte Forderung des gejamten wirtichaftlich
und politisch geeinten deutichen Volkes. Auch liegt die Kolonijation, im eigenften
Intereſſe des lebensfähigen Großgrundbefiges jelbjt, der jeit Jahren im Begriff ift, mit
der fteigenden Erſetzung inländiicher Arbeiter durch ausländische den Aft abzufägen, auf
dem er fitt, und der die Grundlage jeiner wirtichaftlihen und politischen Eriftenz bildet.
876 Heinrich Dade, Die Probleme der deutſchen Wirtjchaftspolitif.
Allerdings wird eine plögliche Abjperrung der ausländiichen Arbeiter nicht zu
empfehlen fein, diejelbe wird nur mit fortichreitender Kolonifation nnd beijerer Ge
ftaltung der allgemeinen Lage der Landwirtichaft, vielleicht durch die Zulaffung einer
von Jahr zu Jahr geringer bemeſſenen Zahl von Arbeitern erfolgen können. Die
Befürchtungen, welde ſich an die BZulaffung fremder Arbeiter fnüpfen, fünnen zum
Teil durch eine jchärfere Kontrole über den regelmäßigen Abzug der Arbeiter zur Ber:
hiitung einer Seßhaftmachung befeitigt werden. Auch müßte im Falle der Abiperrung
der ruffiihe und galiziich-polnischen Arbeiter folgerichtig auch der Induſtrie verbotm
werden, die bisher rein deutichen Bezirke des Weſtens durd) polnijche Arbeiter aus dan
Dften in nationaler Hinficht zu gefährden.
Soll aber die Bauernanfiedelung ſowie der bereit3 im großen Umfange vorhanden:
bäuerliche Befig und der ihnen zur Seite ftehende Großgrundbeſitz, der aus politiihen
und technijchen Gründen in gewiſſem Umfange nicht entbehrt werden fann, "in dem
weiten, induftrie- und volfsarmen Diten dauernd lebens- und eriftenzfähig fein, fo iſt em
ftärferer Anſchluß des Dftens an die fonjumkräftigen Gebiete der Mitte und des Welten!
unbedingt erforderlich, die8 wird aber nur durch ‚eine mweitfichtige Eijenbahn-, Binnen
Ihiffahrts- und vor allem Tarifpolitif erreicht werden fünnen. Auch die Beltrebunaen.
im Oſten durch Förderung der Induſtrie ein Abjatgebiet für die Landwirtſchaft zu
ihaffen, müffen von diejem Standpunft aus befürwortet werden, joweit die Induſtrie ſich
den natürlichen Verhältniffen des Oſtens anpaßt und ſich in erjter Linie auf der land
wirtihaftlichen Produktion, ähnlich wie in Dänemarf, aufbaut. Endlich kann die wett
Perjpeftive, welche der Spiritus-Induſtrie für Beleuchtung an Stelle von Petrolam
und Gas und für Strafterzeugung an Stelle der Steinkohle eröffnet iſt, dem
Diten wie überhaupt der geiamten nationalen Produktion eine neue, noch ungeahnte
Zukunft bringen, wenn eine energiiche Wirtichaftspolitif dieſe Entwicdelung nod mehr
als bisher fürdern wollte.
Aber nicht nur in politiicher, fondern auch in fozialer Hinficht ift die Kolontjatior
des Oſtens freudig zu begrüßen, da fie eine Vermehrung der jelbftändigen Landwirte auf
deuticher Scholle zur Folge hat, deren joziales, politiihes und militäriiches Gemidt
bei der weiter zunehmenden nduftrieentwidelung mehr denn je in die Wagſchele
fällt. Und hierin liegt die große Bedeutung der landwirtichaftlihen Entwidelung für
die moderne Volkswirtſchaft, daß fie im Gegenjag zur Anduftrie durch Erhaltung und
Dermehrung des bäuerlichen Betriebes, welcher zugleich infolge der Eigenart der Landwirt
Ichaftlichen, mehr organiſch und weniger mechanifch und arbeitsteilig geitalteten Produktion“
weije, relativ ebenfo Meiftungsfähig it wie der Großbetrieb, einen wichtigen Stand dr
wirtſchaftlich jelbitändigen Männer und Familien in Deutichland nicht nur bemabt,
jondern auch, ohne technische Bedenken mit Rückſicht auf die Broduftion, den ſtaatlichen
Eingriff zur Förderung diejer Entwidelung geftattet.
Dies führt zu dem fchwermwiegendften Punkt in der Entwidelung der deutiher
Induſtrie, zu der Abnahme der wirtſchaftlich jelbftändigen Exiſtenzen und der abjoluten
und relativen Zunahme, ſowie der räumlichen Stonzentration der abhängigen Elemente
der Arbeitermaffen, was jomwohl in jozialer als politiicher Hinficht von der gröfte
Heinrich Dade, Die Probleme der deutichen Wirtfchaftspotitif. 877
Tragmeite ift. Soweit dies in der rein technijchen Entwidelung, aljo in der Möglichkeit
der vermehrten und zugleid) billigeren Produktion begründet ift, wird die Entwidelung
trog ihrer bedenklichen Schattenjeiten in dem tragijchen und erbarmungslojen Untergang
weiter Bolksicdhichten nicht oder nur wenig geändert, wohl aber für diefe in fozialer
Dinficht gemildert werden können. Klingt doch die Vernichtung des Kleinbetriebes durch
die Technif wie ein Hohn auf die Lehre von den ideellen und ethiichen Aufgaben
des Staates, und grenzt der Gleichmut, mit welchem fid) die Generation der neuen Technik
über den Untergang der mit der veralteten Technif oder der gewerblichen Handarbeit
verfnüpften Menjchen hinmwegfest, fait an Eynismus! Iſt es nicht leicht möglich, dak in
nicht ferner Zeit ein neuer Umjchwung auf techniichem ®ebiete die heute triumphierende
Arbeiterflaffe verjchiedener Induſtriezweige zu demjelben Schickſal verdammt, zu dem
Taufende und Abertaujende Eriftenzen des Kleingewerbes bereits verurteilt find und, wie
jest das Schuhmadjergewerbe, weiter verurteilt werden? Und ift es vom ethifchen
Standpunkt nicht beſchämend, wenn als einziger Troſt für den Untergang des alten
joliden Handwerks: und Mittelitandes die größere Beweglichkeit und Anpafjung des
neuen Fabrifarbeiters hingeftellt werden muß, der bei niedergehender Konjunftur eines
Induſtriezweiges mit Frau und Stindern heimat: und mwohnungslos wie ein Waggon
Steinfohlen von einer Grenze des Reiches bis zur anderen befördert werden kann?
Aber auch diefer Troſt verjagt, wenn bei allgemeiner Kriſis der Arbeiter nirgends im
Neiche Arbeit findet.
Etwas anders ift es aber, fomweit die Entwidelung zum Großbetrieb durch die
Macht des in einer Hand konzentrierten Kapitals hervorgerufen ift, das weniger durd)
techniſche Fortichritte und Perbilligung der Produktion als durd rückſichtsloſe Aus—
nutzung und Beherrichung des Marktes und durch andere oft zweifelhafte Mittel den
Klein: und Mittelbetrieb zu verdrängen ſucht. Es kann wohl jchmwerlid der künſt—
lihen Erhaltung eines Kleinbetriebes das Wort geredet werden, der jelbit durd)
genofjenichaftliche Hilfe technifch nicht mehr leiftungstähig ift. Wohl aber fteht in Frage,
die Mittelbetriebe in jeder Weile zu ftärfen. Muc mit Rüdficht auf die Ueberwindung
von Abjagfrijen ift ein zahlreicher Mittelbetrieb in der Induſtrie von großer Bedeutung,
da derjelbe eine Kriſis beffer aushalten fann und auch dem Arbeiter im allgemeinen
eine ficherere Erifteng bietet als die Großinduftrie, deren einfeitiges fapitaliftiiches Intereſſe
und deren immer engere Berbindung mit den Banken und Börjen zur Ueberihätung des
Bedarfs, zur Ueberproduktion, zur Ueberfpannung des Kredits und des Grportes
und damit zu faft regelmäßig wiederkehrenden Krifen führt, die bei der wachſenden
Berwendung des Nftienkapitals für immer weitere Kreiſe der Gejamtbevölferung ver:
hängnisvoll werden. „Die ganze Frage dev NRegelmäßigkeit und Unregelmäßigkeit der
Arbeit ift,“ wie Schmoller in feinem Grundrig jagt „in ihrem legten Sterne nit von
der Technik, fondern von der jozgialen Ordnung der Volkswirtſchaft zu löfen.“
Allerdings muß man offen befennen, niemand hat bisher den Stein der Weijen
für die Löſung die ſer fozialen Frage gefunden. Auch der deutichen Dichtung joll nod)
der Genius erftehen, der unjerem Volke das eigentlihe foziale Drama oder Schaufpiel
der Gegenwart mit einem glücverheigenden Seherblick jchenkt. Sowohl der zweite Teil
von Björnſons „Ueber unjere Kraft" wie noch mehr Gerhart Hauptmanns
878 Heinrich Dade, Die Probleme der deutichen Wirtichaftöpolitif.
„Weber“ verfagen völlig, wenn der jehnjüchtig wartende Zuſchauer am Schluffe fraat:
„Was nun?“
Als eine gemeinſame Entwickelung der Landwirtſchaft und Induſtrie iſt noch der
Zuſammenſchluß vieler Betriebe zur Regelung der Produktion und des Abſatzes hervor:
zuheben. Hierher gehören die induftriellen SKartelle, Syndifate und Truſts und die
großen genoſſenſchaftlichen Berbände der Pandwirtichaft, insbejondere auf dem
Gebiet der Zucker- und Epiritusinduftrie und der Getreide, Vieh-, Butter, Milch—
und Giervermertung.
Diejem Zuſammenſchluß der Produzenten in Yandwirtichaft und Induſtrie Liegt
neben der Megelung der Produktion die Abficht zu Grunde, die Macht des Handels auf
dem Gebiet der Preisbildung zu brechen und durch den direkten Berfehr mit den Kon—
fumenten und Lieferanten, die ihrerjeitS gleichfalls durch Zuſammenſchluß, wie durd
Stonfunvereine, einen Teil des Handels auszujcalten juchen, den PBreiszuichlag des
Bmiichenhandels für ſich oder zu gleichen Teilen mit den Konſumenten und Lieferanten
zu geminnen.
Für die Landwirtichaft mit ihrem vorherrichenden Klein: und Mittelbetrieb liegt ir
diefem Zuſammenſchluß zweifellos das einzige Mittel, ein größeres Kapital zuſammen
zubringen, das der Macht des Großfapitald im Handel und in der Induſtrie ein Paroli
bieten fann. Die Erkenntnis bridt fih in der landwirtichaftlichen Bevölferung immer
mehr Bahn, dat die Yandwirtichaft von der modernen Zeit, d. b. von dem Kapital des
Handels und der Induſtrie und einer auf die Intereſſen diejes Kapitals zugeichnittenen
Geſetzgebung verichlungen werden wird, wenn fie nicht mit der nun einmal glücklicher—
oder unglücklicherweiſe beitehenden fapitaliftiichen Betriebsweile vorwärts geben will und
die Gefeßgebung für ihre Intereſſen zu geitalten jucht.
Dieſe Thatjache ift von meittragender Bedeutung. Man kann im Zweifel jein.
ob für die Beurteilung der Erhaltung und Stärkung des Bauernftandes das rein wirt:
ichaftliche oder Produftionsintereffe für die Ernährung der Bevölkerung oder der joziale
Geſichtspunkt mit Rückſicht auf die Volkskraft enticheidend if. Daß die fapitalistiiche
Betriebsweiſe, welche eine erhöhte geiltige Anſpannung erfordert und den Beſitzwechſel
fördert, die jeeliihe und phyſiſche Quelle, welche das deutſche Bolt noch in jeinem
Bauernitande befitt, nicht jo bewahrt wie die früher überwiegende Naturalmirtichait.
it nach dem Unterjudiungen von Hanjen und Ammon wohl nicht zu leugnen.
Immerhin wird im Beitalter der Eijenbahnen und der Freizügigkeit und angefichts der
itarfen Bevölkerung der joziale Standpunft, der früher faſt ausichlieglich für die Pflege
des Bauernftandes geltend gemacht wurde, allein ſchwerlich aufrecht erhalten werden
fünnen. Es wird deshalb verjudt, beide wichtigen Intereſſen zu verſchmelzen und der
obigen Gefahr durch eine Agrargeiekgebung und Hreditorganiiation
vorzubeugen, welche der mobililierenden und auflöjenden Tendenz des Kapitals entgegen
wirken und die Erhaltung des Befiges in der Familie und des gejamten Bauern landei
im Bauern ftande amt beiten fichern.
Alſo der Kampf des unbeweglichen Kapitals oder des deutichen Bauemitande:
gegen das bewegliche Kapital und der politiiche Einfluß des einen Kapitals gegen den
des anderen, ſowie der wirtichaftliche und politische Kampf der Arbeitermaflen gegen du’
Heinrich Dade, Die Probleme der deutichen Wirtfchaftspolitif. 879
gejamte Kapital jcheinen die Devije der Zukunft und mehr ausschlaggebend zu fein, als
die nummeriche Stärfe der Bevölkerung in Landwirtichaft, Ynduftrie und Handel. Und
dieje Devife wird und muß, jo parodor es flingen mag, und wenn die mehr als taufend-
jährige Kultur des deutjchen Volkes nicht zu Grunde gehen joll, zur Verſöhnung und
Einigung der wirtichaftlicden und fozialen Gegenfäte auf einer mittleren Linie führen,
welche in der Erkenntnis der jolidarifhen Intereſſengemeinſchaft aller in-
ländiſchen Produftionszweige, jowohl der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, und in einer
Wirtichaftspolitif qipfelt, die diefem Gedanken Rechnung trägt.
Allerdings muß man fich bei jolcher Auffaffung der deutichen Wirtichaftspolitif
die Frage vorlegen, ob Deutichland in abjehbarer Zeit noch den jährlihen Zuwachs der
Bevölkerung im Inlande wird beichäftigen können, und ob es für das Geſamtwohl des
Reiches nicht vorteilhafter ijt, einen Teil des Ueberſchuſſes durd eine weitfichtige Kolonial:
. politif ins Ausland zu lenken, ftatt für den gejamten Bevölkerungszuwachs in einer auf
unficherem Erport beruhenden Induſtrie eine entiprechend unfichere Eriftenz zu jchaffen.
Für die Beantwortung diejer Frage wird in Betracht fommen, daß für den dauernden
Beitand des Reiches nicht die nummeriiche Stärfe feiner Bevölkerung, jondern in erfter
Linie die gejunde und fräftige Entwidelung feiner einzelnen Glieder maßgebend ift.
Und jollte gar die Unterbringung des jährlichen Zumachies der Bevölkerung in Zukunft
nur dur die Opferung der bäuerlichen Bevölkerung möglich fein, jo ift die Frage, um
es draſtiſch auszudrüden, ob Deutichland durch 1000 neue Anduftrie » Arbeiterfamilien,
welche die fapitaliftiiche Großinduitrie jeden Augenblic arbeits: und brotlos auf die
Ztraße werfen kann, glüdlicher wird, oder durh die Erhaltung von etwa
1000 Bauernfamilien, die ganz oder zum Zeil für die Gewinnung der 1000 Arbeiter:
familien geopfert werden müßten.
Dder mit anderen Worten, die deutiche Wirtichaftspolitit darf nicht im englifchen
Kielwaſſer jegeln. Die großen englischen Nationalöfonomen, die man auch die klaſſiſchen
nennt, wie Adam Smith, Robert Malthus, Kohn Stuart Mill,
jelbftt David Ricardo und mie fie alle heiten, die fämtlih vo x dem großen und
raditalen Umichwunge der englischen Wirtichaftspolitif geboren find und gelehrt haben,
würden fi) noch im Grabe umdrehen, wenn fie jähen, was aus dem hoch gelitteten und
geachteten engliihen Volk, einem früheren Volk der Dichter und Denker, trog aller
Pracht fchlieglich geworden ift, und was gewiſſe Volkäbeglüder in Deutichland unter
angeblicher Berufung auf ihre Lehren fich aus den Fingern gefogen haben.
Nach allem diejen wird für Deutichland eine mittlere, aber zielbewußte Bolitit
geboten jein, welche die Landwirtichaft und nduftrie in gleihem Mate und nicht die
eine auf Koften der anderen zu fördern jucht, daneben aber durd) eine fürjorgliche
Auswanderungspolitif ein Bentil offen hält, durd das erforderlichenfalld ein Teil
des Volksüberſchuſſes abfließen kann, ſoweit nicht bei fteigendem Wohlftand und wirtichaft-
liher Einficht der Arbeiterfamilien eine geringere Zunahme der Bevölkerung eintreten
wird. Auch in politiiher Hinficht ift eine möglichit hohe Volkszahl nicht mehr ein jo
maßgebender Faktor wie früher, da das Deutfche Reich den europäiichen Kulturjtaaten
an Volkszahl bereit3 weit überlegen ift und den übrigen Rieſenſtaaten der Erde, wie
Rußland, den Vereinigten Staaten, China 2c. niemals in der Quantität, jondern
880 Heinrich Dade, Die Probleme der deutſchen Wirtichaftspolitif.
nur in der Qualität feiner Bevölkerung und in der Tüchtigfeit jeines Heeres und jeiner
Marine wird gewachſen und überlegen jein fünnen, wie dies Adolf Wagner in
jeiner „Srundlegung” und in feinem „Agrar: und Induſtrieſtaat“ treffend dargelegt hat.
Die Dualität des Volkes und des Heeres wächſt nicht im Verhältnis zur
Ktopfzahl, fondern hängt davon ab, welcher Schak von unverdorbener phyſiſcher und
geiltiger Kraft, von fittliher und geiftiger Schulung, von Heimat: und Fyamilien-
finn, Pflichtgefühl und Religiofität im Volke und in der Volksſeele lebendig geblieben
und mit in die neue Wirtſchaftsära hinüber gerettet ift und in derjelben erhalten werden kann.
Dieje Amponderabilien eines Volkes, deren treueite Hüterin von jeher ein fräftiger
Bauernftand, eine gebildete, feit angeſeſſene und traditionelle Grundariftofratie, ein
itarfer gewerblicher Mittelftand in Stadt und Land und ein folider Beamten- und
Gelehrtenitand gemwejen find, fann keine Bevölferungs:, Berufs: und Betriebsftatiitif
und feine Steuer » Beranlagung erfaffen, fie werden aber ausichlaggebend jein für den
Beitand des Staated, wenn derſelbe einmal durch große politiihe Ereigniſſe in
jeinen Grundfeiten erfchüttert werden follte, und glücklich die Nation, die dann die fott:
bariten Güter eines Volkes nicht verjcherzt hat.
1%
Bismarch-Ausſprüche.
Im vVerfall der Landwirktſchaft ſehe ich eine der größten Gefahren für unſeren
Raatlichen Berband. =
Id; lerne vom Xeben, ich lerne, [o lange ich lebe, ich lerne noch heufe.
— (14. Februar 1885.)
Die Popularitäf einer Sache macht mich oft zweifelhaft und nötigt mich, mein Ge—
willen nod; einmal zu fragen: if fie aud wirklich vernünftig? Denn ich habe zu häufig
gefunden, dah man auf MAkklamation ſtöht, wenn man auf unrichtigem Wege if.
(1882.)
o°
Der Staatsmann gleicht einem Wanderer im Walde, der die Rihfung eines Marſches
kennt, aber nicht den Punkf, aus dem er aus dem Walde heraustreten wird. Ebenſo wie
er muß der Staatsmann die gangbaren Wege einſchlagen, wenn er ich nicht verirren fol.
(1890.)
Aus „Geiftige Waffen“, Ein Aphorismenleriton, zuſammengeſtellt von E. Shaibie.
1%
OGOGOOGGGGOGGGG
Wie mülſen wir mit den Chinelen verkehren? *)
Von
Karl Tanera.
8 beiteht ein großer Unterjchied zwiſchen dem Verkehr der Regierungen verjchiedener
Staaten unter einander und den einzelnen Angehörigen diefer Staaten mit
einander. Für den diplomatischen Verkehr laſſen fich allgemeine Regeln kaum aufftellen;
diefer unterliegt für alle Regierungen, jeien es Oſt- oder Weitländer, allaujehr den
jeweiligen Berhältnijfen, und dieſe können ſich durch mandherlei Umftände, vor allem
Wechſel der Perjönlichkeiten, über Nacht ändern. Wir felbft haben es ja erlebt, daß ſich
mit dem Auftreten Bismards eine völlig veränderte Art des diplomatischen Verkehrs
zwischen den Regierungen ſozuſagen im Handumdrehen geltend madte. Die alte Schule
mit ihren Kniffen, Heimlichthuereien, ihrer Unehrlichfeit und Hinterlift ward von ihm
aus dem Sattel gehoben, und ein neuer, mweit offenerer und Elarerer Verkehr eingeführt.
Die hinefiihen Diplomaten aber ſtehen zur Zeit noch auf dem Standpunkt jener
mackhiavelliftiichen politischen Denkweiſe, welche auf nichts Rüdficht nimmt als auf das,
was ihnen im gegebenen Augenblik flug und vorteilhaft ericheint.
So muß man auch dem hineftichen Diplomaten dauernd mit größter VBorficht begegnen.
Der Berfehr der Angehörigen verihiedener Völker unter einander jedody unter-
liegt weniger jenen Schwankungen, welche durch Zeit: und Perjonenfragen hervor:
gerufen werden. Die Art desjelben ift mehr in den langjährigen Sitten und Gebräuchen
der einzelnen Bölfer begründet, und diejenigen Vertreter von Staaten werden aus dem
Berfehr ſtets den größten Vorteil ziehen, welche es beifer wie die anderen verjtehen, mit eben
jenen Eigenheiten der Bölfer, mit denen fie verkehren, zu rechnen und deren Gewohnheiten
zu berücfichtigen.. Es bedarf daher für folchen Verfehr eines eingehenden vorbereitenden
Studiums der Zebensgemohnheiten, Denkweiſe und Vorurteile der Völker, mit denen man
in erfolgreichen Verkehr treten wil. Den Ehinejen gegenüber find aber wir die weſentlich
Berlangenden. Ahnen wäre es jedenfalls am liebiten, wenn ſich alle Europäer auf den
Mond oder auf den Mars zurücdziehen wollten. Sie brauchen uns nicht; fie haben uns
nicht gerufen und dulden unferen Verkehr mit ihnen nur, weil fie es müſſen. Wir
aber wollen mit ihnen verkehren, weil wir neue Abjatgebiete für unjere Ueberproduftion
*) Wir geben den intereilfanten Darlegungen des verehrten Weltreifenden gern Raum und
glauben dem jcharfen Beobachter fremdländifcher Verhältniffe, der felt längerer Zeit alljährlich
Ehina befucht, getroit die Verantwortung für feine Beurteilungen und Hinweiſe, in befonderem
in Bezug auf die Wirkſamkeit der Miffionare der verfchiedenen Religionsgefellfchaften und deren
Einwirkung auf die Chinefen, überlafien zu können. D. Ned.
56
882 Karl Tanera, Wie müſſen wir mit den Chineſen verfehren
gebrauchen, damit wir nicht in unjerem Fett erjtiden; weil wir neue Erwerböquellen für
einen Teil des Ueberichuffes unjeres Bevölkerungszuwachſes juchen, kurz weil wir uns
ausdehnen müfjen.
Unjere Aufgabe ift es alfo, uns um die dhinefiihden Eigentümlichfeiten des
Näheren zu fümmern, ihre Sitten und Gebräuche zu ftudieren, und uns, ſoweit es an-
gänglich, an dieſe anzupaffen, um uns dadurch den Verkehr mit ihnen möglichſt er-
fprießlih zu geftalten. Mit Hilfe der bloßen Macht allein fann man wohl einem Bolf
einen Berfehr aufzwingen, aber ihn nicht auf die Dauer jo befeitigen, daß er anhaltend
thatſächlich Nupen gewährt.
Bei der europäiichen Stonfurrenz in China erfahren die Engländer immer deut:
licher, wie fehr fie gegen uns Deutiche im Nachteil find, mweil fie in Beziehung auf dieje
Anpaffung im Verkehr jo viele Unterlaffungsiünden begangen haben und nod) begehen.
Der erjte Grundjag für einen gedeihlichen, gegenfeitigen Berfehr im Oſten
müßte lauten: „Achte die Anjchauungen des anderen, insbejondere in politijher und
religidjer Beziehung!* Diefe muß man daher zunächſt kennen zu lernen fuchen.
Seit Kahrtaufenden hat ſich in China die autofratiihe Monarchie unangetaftet
erhalten. Die Ueberzeugung, daß der Kaiſer volljtändig uneingejhränfter Selbſtherrſcher
fein und bleiben muß, it den Chineſen jo in Fleiſch und Blut übergegangen, daß es
nicht denkbar wäre, dort je eine Revolution im republifanishen Sinne zu erleben. Die
chineſiſche Denkweiſe kann wohl einen Kampf gegen die Perjon eines Kaiſers oder noch
eher einen ſolchen gegen eine Dynaftie, welche fremd ift wie Die jegige, verſtehen und
verjuchen, nie aber wird fie jich gegen das Syſtem jelbjt wenden, denn diejes ift durch
uralte Ueberlieferung geheiligt. Dieſes Syſtem beruht im wejentlihen auf der Art und
Weile der Unantajtbarfeit ‘ihres Familienlebensd. In der Familie ift der Hausherr
das wahre Familienoberhaupt mit beinahe uneingeſchränkter Machtvolltommenpeit.
Dafür übernimmt er aud) eine große Verantwortung nicht nur gegen ſich jelbit, fondern
ebenfo gegenüber feinen Familienangehörigen. Ein Vater wird mit und durd feinen Sohn
geehrt, hochgeftellt, ja jogar geadelt, wenn 3. B. der Sohn das „große Eramen“ be
ftanden hat. Der Bater joll dafür belohnt werden, daß er einen jo vorzüglichen Sohn
erzeugt und erzogen hat. Umgekehrt wird er mitbeitraft, wenn ein Familienmitglied
ein Verbrechen begeht. Die ganze Familie nimmt aljo am Gedeihen oder Mikraten
ihrer einzelnen Glieder Anteil. Dagegen erlangen dieje nie eine volle Selbftändigfeit,
fo lange der Vater lebt. Durch dieſe Unterordnung unter das Yamilienhaupt wird das
Ashängigkeitsgefühl dem Chinejen jchon in der Slinderjtube anerzogen und in der öffent:
lihen Erziehung immer mehr, auch in Bezug auf fein politiiches Denken, ausgebildet.
Ein weiteres Geſetz vermehrt und vertieft diefes Abhängigfeitsgefühl noch, nämlich
der Umstand, daß fein Chinejfe Eigentümer von Grund und Boden werden kann. Das
ganze Land gehört dem Mailer und wird durd ihn, d. h. durd die Landesbehörden
als jeinen Vertretern, an die, welche Yand bebauen wollen, nur verpaditet. Dabei herricht
noch die beiondere Beichränkung, daß niemand mehr als etwa 380 Ar nad) unjerem
Maß pachten darf. Wenn man dieje Verhältniffe jtetS gekannt und gehörig beachtet
hätte, wären manche der entitandenen Schwierigkeiten vermieden und mande unberedhtigte
Klage über chineſiſche Unzuverläffigkeit, chineſiſche Betrügerei und die aus diejen entjtehende
Karl Tanera, Wie müſſen wir mit ben Ehinefen verkehren? 883
Mikftimmung vermieden worden. Denken wir an befondere Fälle! Ein Europäer jchließt
mit einem Chineſen irgend einen Vertrag ab, 3. B. zur Lieferung von Transportmaterial
zur Fortjekung feiner Reife. Der betrefjende Chineſe aber ift noch nicht felbftändig, weil
fein Bater nod) lebt. Lebterer aber hat über die Transportmittel jchon anders verfügt,
oder will fie dem Europäer nicht gewähren, jo bleibt der Führer mit jeinen Tieren
troß aller Abmachung am nächſten Morgen aus; der Europäer kann nicht weiter reifen.
Es erhebt ſich natürlich ein heftiger Unmut über wortbrüchige Chinefen u. |. w. Hätte
der Europäer den Chineſen gefragt: „Daft Du nod einen Vater oder bift Du ſelbſt
Chef?” jo wäre der bejtimmte Bejcheid erfolgt: „Ach habe noch einen Vater.“ Darauf
gehört fi) dann das Geheiß: „Gut, jo jende mir Deinen Bater, damit ic) mit dieſem
verhandle.“ Bei ſolchem Verfahren wäre wahrſcheinlich alles glatt gegangen.
Man macht zum Zwecke eines Eijenbahnbaues die Abtretung von Land mit
dem nächſten Ortsvorftceher ab. Der Mann jagt zu und kann mit diejer Zuſage im
Grunde nur meinen, daß von feiner Seite fein Hindernis vorliege. Man beginnt nun
Bermeffungen. Der Taotai des Kreiſes aber tritt mit feinem Verbot dazwiſchen. Alle
Mühe war umſonſt.
Warum hat fid) der Europäer nicht an den Taotai oder ſchließlich an den Vize
könig gewendet! Man muß dod wifjen, daß alles Land Faijerliches Eigentum ift, alſo
jede höhere Behörde bei folden Landpachtungen mitzureden hat.
Wir können aber daran nicht3 ändern, und wer meint, erwürdeineinfachen geichäftlichen
Dingen mit europätjcher Firigfeit und Schneidigfeit allein durcdydringen und Jahrtaufende
alte Gebräuche ändern künnen, erfährt zu feinem Nachteil, dat er dies nicht kann.
Wenn wir die Herren würden, 3. B. nad) friegeriihen Erfolgen, dann fönnten
wir befehlen und einem Volk unjer Syſtem aufzwingen. Wo dies nicht der Fall ift,
müffen wir ung verftändig in die Yage fügen. Iſt es nicht überall jo? Wer da glaubt, im
Innern Rußlands ohne jede Beitchung etwas erreichen zu fünnen, oder wer da meint,
in manchen Ländern Amerifas nod) einen Elaren Broze dann zu gewinnen, wenn er ſich
nur auf fein gutes Recht verläßt und diejem nicht mit Geldgeſchenken nachhilft, der wird
feine trüben Erfahrungen machen. Wenn ein Chineje gegen einen Engländer bei englijchen
Gerichten progeffiert, jo kann er ebenfalls getroft feine Anſprüche auf feine Urenkel ver:
erben, denn er erlebt wahrfcheinlicd den Ausgang des Prozeſſes nicht.
Alſo man nehme zuerft auf die einmal beftehenden Verhältniffe des betreffenden
Landes Nücdficht, ſonſt erleidet man unnadjfidhtlicd nur Nachteile.
Wie viel aud) wurde und wird damit verdorben, daß manche Derren, befonders
Engländer, mit unglaublichem Dünkel den chineſiſchen Beamten gegenübertreten. Ob die
chineſiſche oder die europäiſche Kultur, höher ftehe, ob jeder europäiſch gebildete Menſch
über einem chinefischen Gebildeten ſteht oder nicht fteht; ob das englifche Syftem in
Indien, jeden Europäer dem Eingeborenen gegenüber als höheres Wefen hinzuftellen und
3 B. alle Militärpoften der Eingeborenen zum Caluticren vor Europäern in Civil, aud)
wenn ſie nicht ffiziere find, zu zwingen, ob das das Nichtige ift, darüber läßt fid) gewiß ftreiten.
Hohmütig gegen dinefiiche Beamte aufzutreten, wie es oft genug geichieht, ift
fiher thöricht, denn der hinefishe Beamte gilt in feinem Land als Verkörperung des
56*
884 Karl Tanera, Wie müflen wir mit den Chinefen verkehren?
höchſten Wiffens, der feinften Bildung und des Faijerlichen Anfehens. Er erreicht ja
ſeine Stelle auch nur, wenn er eine Menge von Beweiſen einer gewiſſen Befähigung
gegeben hat. Vererbte Rechte, vererbten Adel, mit Ausnahme der kaiſerlichen Prinzen,
giebt es in China nicht. Stellung, Anſehen, Würde und Macht werden nur durch ſehr
ſchwierige und ſtrenge Prüfungen erlangt. Dieſe Prüfungen wiederholen ſich in langer
Reihe. Keine Beförderung findet ohne Prüfung ſtatt. Die Beamten ſind alſo in ihrem
Amt immerhin Männer von beſonderem Verdienſt. Ariſtokraten ſind nur die Beamten
und Gelehrten; ſogar ein kaiſerlicher Prinz hat, wenn er nicht ſelbſt ein öffentliches Amt
bekleidet, kaum Anſehen, gegenüber einem dieſer ſo vielfach geprüften Beamten oder Ge—
lehrten. Es iſt gewiß weder würdig noch angemeſſen, devot gegen hohe chineſiſche Beamte
ſich zu benehmen, wie es die Chineſen ſelbſt thun, aber die Formen, welche uns von der Heimat
her vertraut ſind, z. B. ein freundlicher Gruß, ein höfliches Wort, achtungsvolles
Betragen, das wir im Verkehr mit älteren Männern verlangen, müſſen wir auch für die
Vertreter von Bildung, Gelehrſamkeit und kaiſerlichem Anſehen iu China wahren, wie wir
dies bei uns thun.
Wenn aber ein Amerikaner oder ein Europäer vor einen Mandarin tritt, ihn mit
dem Anſpruch fjogenannter „vepublifanischer Gleichberehtigung“, in Wahrheit aber oft
in der formloien Sordialität der Halbbildung, behandelt und doch zugleich etwas von
dem hohen Beamten erreidhen will, fo darf es nicht wunder nehmen und man es dem
Ehinefen gewiß nicht verübeln, wenn er fid fühl ablehnend verhält. Dann wird über
die chineſiſche Widerwilligfeit geichimpft, während die Urfache diefer das Betragen des
Europäerd® war. Man muß es verjtchen, diefen Leuten, ohne ſich dabei jedoch
das Geringfte zu vergeben, höflich, würdevoll und ehrlich entgegen zu treten, dann zeigen
fie auch das gleiche Wefen, und man fommt gut mit ihnen aus.
Ich habe bei meinen vielen Bejuchen Chinas aus eigener Beobahtung es kennen
gelernt, wie ungebildet und grob ſich viele Europäer, bejonderd Engländer, gegen die
Chineſen betragen. Man fann übrigens auch als Europäer engliicdhe Ungezogenheit und
Nüdfichtslofigkeit dort draußen überall reichlich erfahren. Daß die Chinefen in uns
vielfach nur halbgebildete, rohe Barbaren jehen, verdanfen wir zumeift dem Auftreten
unferer Bettern jenjeits des Kanals.
Freilich darf man fi) auch den Chinefen gegenüber nie etwas vergeben. Der
Ehineje ift hochmütig, ſehr hochmütig, denn er hält jein Bolf für das ältejte und erfte
Kulturvolk der Erde. Er erfennt an uns nur die überlegene techniihe Kultur an,
keineswegs aber eine höhere moraliſche und ethiiche. Diefe Auffaffung beruht in feinem
Mejen, jeiner ganzen Lebens- und Rulturauffaffung. Es fehlt dem Chinejen jede Art
bon aggreifivem, ftrammerem Wejen, das ſich bei uns in der Erziehung für unjere Streit:
macht und Kampfmittel unmillfürlich ausbildet. „Je gebildeter ein Volk, deito weniger
hat es Sinn für friegeriihen Ruhm und Eriegeriiche Erfolge“ iſt chineſiſche Meinung.
Daher jehlt ihnen jede Wertichäßung foldatischer Eigenihaft und Leiftung. Die Krieger
ericheinen ihnen weniger als Helden, denn als Rauhbeine und ungebildete Händeljucer.
Da bei ihnen als ein Höchites, Erftrebenswerteftes eine gewiſſe geiftige Arbeit gilt,
Offiziere aber bisher keinerlei Wiffenichaften trieben, jo geniegen fie auch keinerlei Aniehen.
Im Gegenteil! Sie galten und gelten als Faulenzer, als Barafiten. Nun müſſen die
Karl Tanera, Wie müjjen wir mit den Chineſen verfehren? 885
Ehinejen gezwungenerweife unfere militärijche Ueberlegenheit anerkennen, aber gerade in
diefem Borzuge ſehen fie eine Unterlegenheit unſerer Kultur.
Auch ihre Rechtsanſchauung ift eine andere als die unfrige. Sie urteilen etwa:
der Staat und der menſchliche Körper find ähnlihe Wejen. Den Körper erhält der
Magen, den Etaat der Kaifer. Am Körper und am Staat giebt e8 kranke Glieder. Es
find dies im Staatsleben die Verbrecher, Man muß gegen diefe in verjchiedener Weije
vorgehen, ebenjo wie man Krankheiten des Körpers verfchieden behandelt. Geringe
Körperleiden heilt man durch leichte Mittel, etwa nur durch Maffieren. Geringe Krank—
heiten im Staatskörper, aljo leichtere Verbrecher, durd; leichte Strafen. Wer am ganzen
Etaatsleben ſich verfündigt, muß eben fo aus diefem ausgejchnitten oder vernichtet werden,
mie ein jhwärender Körperteil, der den ganzen Körper durch Vergiftung des Blutes
zerftören könnte. Als ſolche Geſchwüre am Staatskörper betradıten fie 3. B. die Aufrührer,
Empörer, und diefewerden demgemäß ausgefchnitten, vernichtet. Die Chineſen gehen in ihrem
Streben, die Staatsautorität zu ſchützen, jogar jo weit, daß fie felbft oft diejenigen
vernichten, d. h. hinrichten, welche im bloßen Verdacht ftehen, ſich gegen die beftehenden
Einrichtungen auflehnen zu wollen, Sie ſahen bisher jeden Neuerer als eine Art Aufiwiegler
und Empörer an. Man lajje jie daher mit europäijchen politiichen Neuerungen von unferer
Eeite aus in Ruhe. Warum ihnen unjere Einrihtungen aufzwingen wollen, fie müfjen
fich ſelbſt zurechtfinden. Mögen fie ihre ftaatlihen Einrichtungen treffen wie fie wollen,
bei ihrem Verkehr mit uns müffen wir ung ihrer Anſchauung nun einmal fügen, wenn
wir etwas von ihnen erreichen wollen, andererjeit8 aber von Staats wegen rückſichtslos
und nad) unferer Art gegen fie vorgehen, wenn wir im Recht find, ihnen etwas be
fehlen, oder von ihnen etwas verlangen zu dürfen.
Noc wichtiger ift es, fie in Bezug auf ihre religiöjfe Auffaffung zu Shonen. Was
geht es uns an, was ein in feiner Weite immerhin gebildetes Volk mit feiner viertaufend-
jährigen Kultur wie diejes glaubt?!
An China beitehen befanntlid) vier verfchiedene Neligionsgemeinjchaften außer
dem vielfach eingeführten Islam. Die Beamten, Gelehrten und Gebildeten hängen tie
befannt, der Morallehre des Bhilojophen Konfustfe an. Diefe will nichts von trans:
cendentalen Dingen willen, weil, wie fie jagt, „man doch nicht genau wiffen könne, wie
es jenjeit3 ausfieht, und was wahr ift.“ Ihre ganze Morallehre gipfelt in dem Sag:
„Thue Das, was Du willit, das andere Dir gegenüber und im allgemeinen thun follen.“
Eine jolche Lehre ift fo verftändig, daß wir gewiß Feinerlei Urſache haben, gegen
diefelbe vorzugehen und an ihrer Stelle den Leuten eine uns noch fo heilige Lehre
aufzuzwingen, deren idealen Geiftund Weſen ſie nicht verftehen, weil ihre ganze Denkweiſe
ihnen für diefe durchaus feinen Boden bietet.
Das Volk, das mehr des Sinnlichen und Myſtiſchen für fein religidjes Empfinden
bedarf, nahm die Lehre des Gelehrten Lao, den jogenannten Taoismus auf. In diejer
Lehre gab es zuerst nur Vergöttlichungen von idealen und abftraften Begriffen. Es
wurden Götter der Freude, des Leides, des Friedens, des Strieges u. f. mw. angenommen,
Bald bildeten ſich Götter realerer Auffaffung heraus, ſchließlich erfüllte fih dic Volks—
phantafie mit einem Heer von Geiftern und Genien. Der Buddhismus, der jpäter in
das Land fam, eroberte mit feiner weicheren Art, feiner Nächitenliebe und jeiner Auf-
886 Karl Tanera, Wie müſſen wir mit den Ehinefen verfehren?
klärung, aber aud) jeiner Berdammung alles Kaſtenweſens, bald den ganzen Dften. Der
echte Buddhismus kennt keinen perjonifizierten Gott, nicht, weil er nichts von einem Gott
weiß, fondern weil es ihm ald Anmaßung gilt, wenn ein Geſchöpf fih von dem Schöpfer
ein Bild nad) feiner eigenen Art macht. „Eine Maus fann nicht fagen, der Gott, der fie
geſchaffen, ſähe aus wie eine große Maus. Alſo kann auch fein Menſch wagen, zu
behaupten, jein Schöpfer fei menjdjenähnlid.“ ,
Die reinen Lehren Buddhas waren der gedankenloſen Maſſe zu hoch, die buddhi-
ftifchen Prieſter fchufen ihr nad) und nad) rituclle Formen, die denen anderer eritarıter
Religionen ähneln. Die Buddhifien fennen Himmel, Hölle und SFegefeuer, fie beten knieend
mit gefaltenen Händen, fie zünden Kerzen zu Gunften der armen Eeelen im Fegfeuer
an, fie opfern Weihraud), jprengen geweihtes Waffer aus, Elingeln mit dreiteiligen
Glöckchen, haben Wechjelgebete, die den Litaneien ähneln, ihre Prieſter find Cölibatäre,
wohnen in Alöftern, betteln um Almojen und tragen bei ihren Amtshandlungen präditige
Gewänder; fie glauben an die unbefledfte Empfängnis der Mutter Bubdhas, ihre Engel
werden mit Flügeln, ihre Heiligen mit Heiligenicheinen dargeftellt u. % f.
Zwiſchen den drei Religionsgemeinfchaften hat immer Friede geherriht. Endlich
entſtand eine vierte Religion, die eigentlihe Volfsreligion, welche fid) aus den drei
genannten zufammenjegt und eine Miſchung von Götterglauben, höheren philoſophiſchen
Lehren und dunklem Aberglauben darftellt. Kaum je haben dinefische Priefter oder Yaien
eine Propaganda verjudt und ihren Glauben anderen Menſchen beizubringen unter:
nommen. Sie find dazu zu tolerant, fie halten ein ſolches Aufdrängen für nicht ge
bildet. Die chriſtliche Miffion aber hat vielfad) Unfricden und Haß in Familien und Ge
meinden getragen. Die Chinefen wollen vom Chriftentum überhaupt nichts wiſſen, meil
fie in ihm eine Religion der Unmwahrbeit und des Haſſes ſehen. Eie jagen: „Euere
Religion Ichrt Berzeihung, rächt aber jeden Widerftand gegen Miffionäre, die wir nie
gerufen haben, mit Gewehr: und Stanonenjchüffen, mit Mord und Todſchlag. Euere
Religion [ehrt Sanftmut, und dod) habt hr die barbariihe Sitte des Duells erfunden,
die wir gamicht fennen. Euere Religion rief von jeher die blutigften Religionskriege
unter ihren Befennern hervor. Ahr habt die Kämpfe zwiichen Arianern und Neftorianern,
zwiſchen Katholiken und Proteftanten erlebt, und fein Krieg war jo blutig und jchreflid
in jeinen Folgen als der dreißigjährige Neligionskrieg in Deutſchland. Wo wir
mit dem Chriftentum in engere Berührung famen, jo im Zaiping-Aufftand,*) fojtete uns
der Kampf über zwei Millionen Menjchen und bradıte ricjigen Schaden über unier
Neih. Wir wollen daher an Stelle unjerer alten Religionen, welche uns Nahrtaujende
hindurdy den religiöfen Frieden erhalten haben, feine neue Religion einführen, welche
uns Haß und Krieg bringt.“
Dat die Chinefen darin recht zu haben jcheinen, beweiſt ihnen das Auftreten vieler
Miffionare. Leider giebt es ja im ganzen Dften feine einheitliche chrijtliche Kirche,
fondern nur fich gegenfeitig befämpfende fonfeffionelle Mijltonen. An Kanton, in
*, Der Führer der ZTaiping, Namens Sintfuen, hatte durch den Miſſionar Gütlaff da
Ehriftentum kennen gelernt, lich Taufende von alten und neuen Tejtamenten druden, unterftügte
überall die Ausbreitung das Chriftentums, erklärte fich für den jüngeren Bruder Chriſti, rief
das Himmelsfönigreich aus und bewirkte den blutigen Taipingfrieg.
Karl Tanera, Wie müfjen wir mit den Chinefen verfehren? 887
Ehanghai ꝛc. zc. jtehen prunfhafte katholiſche Dome. In diefen lehrt der Fatholifche
Miffionar die Verehrung der Heiligen, die fieben Sakramente u. ſ. f. Daneben ftehen
die englifchen Kirchen, und in diefen lehren Reverends, das alles fei nicht wahr, es gäbe
feine Heiligen, e8 gäbe nur zwei Saframente u. ſ. f.
Dominikaner, Jeſuiten, Methodiften, Bafeler, Leipziger, mormonifche, evangelijche,
reformierte, Tutherijche, baptiftiiche und andere Miffionare walten in den verichiedenften
Drten, und jeder lehrt etwas Anderes und verfucht den Chineſen Elar zu machen, fein Kollege
irre. Endlich ziehen durdy die Mandfchurei die ruffiihen Popen einher mit ihren Prunk—
germändern, Heiligenbildern 2c. und behaupten, fie allein verfündeten das echte Ehriftentum,
alle anderen feien überhaupt feine wahren Chriften. Was follen die armen Ghinejen
nun glauben?
Die fortwährenden Streitigkeiten und Eiferjüchteleien der Miffionare find in China
ebenſo beichämend für das Chriftentum, wie zu Jeruſalem das ftreitfüchtige Verhalten
riftlicher Priefter in der Grabeskirche; doc jteht der Chinefe an Bildung noch weit
über dem Araber und Türken. Am Dften ſchadet der Ausbreitung des chriſtlichen Ges
danfens die Uneinigfeit der Priefter chriſtlicher Konfeſſionen noch weit mehr als dort.
Es erſcheint daher richtig, vorläufig die Chinefen mit unferem Konfeifionshader in Ruhe
su laſſen, ebenfo wie wir nicht wünjchen, von buddhiftiichen Miffionaren oder Konfuzius—
prieftern behelligt zu werden. Es darf uns nichts angehen, wie die Chinefen über das
Jenſeits denken, wir wollen ja nur einen irdischen Verkehr mit ihnen pflegen; wir wollen
vor allem mit ihnen Handelögejhäfte treiben und bei ihnen Abjak für unjere über-
fhüffigen Imduftrieartifel, Maſchinen u. j. w. finden
Am Handelsverkehr muß man die Chineſen jo nehmen, wie fie find, nämlich als
vollwertige, durhaus ehrliche und verläjfige Gefchäftsleute. Es giebt faum einen fo
verläffigen Kaufmann auf der Erde mie den dhinefifhen. Das Urteil Elingt hart, ift
aber wahr. Dieje Zuverläfligfeit hat vor allem ihren Grund in der FFamilienzufammens
gehörigfeit der Chinefen. Unter dem dhinefiichen Geſetz kann eigentlic, fein Kaufmann
Bankerott machen. Nicht er allein, jondern feine ganze Familie muß mit all ihrem Hab
und Gut für die Berlufte auffommen, die der Kaufmann Gläubigern zufügt. Im letzten
Fall werden ſogar fämtliche Berwandten herangezogen. Außerdem arbeiten die Chinejen
geihäftlich faft nur in Ringen zufammen, unterftügen einander und find für einander
haftbar, Im Hinblick auf ihre Zuverläjfigfeit find auch die Kaffierer aller europäijchen
Banken und größeren Geichäfte im Dften Chinejen. Der chinefische Kaufmann hält es
für ehrlos, in das neue Jahr mit Schulden zu treten. Daher löjt er vor dem Jahres—
wechſel jeine Verpflichtungen ein. In Europa find Kaufleute mit derartigen Anfichten
doc nicht die durchichnittlichen. Am Verkehr mit dhinefischen Kaufleuten muß der Fremde
ebenfalls ehrlich, vertrauensvoll und pünktlich fein. Die Chineſen halten als Kaufleute
ihr Verſprechen, daher müſſen die mit ihnen verfehrenden Kaufleute ſich ebenjo ver-
läffig zeigen. Bor der Abmachung des Gefchäftes vorfichtig, halten fie fich, wenn es
abgeichloffen, genau an die VBerabredungen. Dem Japaner gegenüber, der im allgemeinen als
Kaufmann durhausnicht zuverläjjig ift, müffen dagegen ganz andere Maßregeln eingeichlagen
werden. Diefe Erfahrung lehrt wiederum, daß man in erjter Linie die Verhältniffe
der Bölfer ftudieren muß, ehe man in näheren Verkehr, befonders mit den Oftländern, tritt.
888 Karl Tanera, Wie müfjen wir mit den Ehinejen verkehren?
Die Beobachtung chineſiſchen Weſens ergiebt aljo für den Verkehr mit den Söhnen
bes Reiches der Mitte etwa die folgenden Erfahrungen und Lehren: „Man möge ihnen mit
dem Ausdrud der Achtung und Freundlichkeit, aber mit Würde entgegentreten. Man lafie
fie in Ruhe mit Berfuchen, fie in politifcher und religiöjer Beziehung zu europäifieren;
man jchäße fie als verläffige Kaufleute, die fie find, man treibe ehrlich mit ihnen Handel
und lafje fie jonft ihre eigenen Wege gehen, bis fie fich felbft zu einer höheren Kultur
zurecht finden. Dagegen trete man jedem Ausbruch dinefiihen Hochmutes mit Emit
und Nachdruck entgegen.“
Wenn die europäifchen Völker diefe Erfahrungen nicht benugen und dieſe Lehren
nicht befolgen und fortfahren, gegen die Starrheit hinefiiher Religionen und Einrichtungen
vorzugehen, dann öffnen fie nur der gelben Nafje die Augen über das, was fie leiften
fann, wenn fie einig ift, dann erdrückt jchlieglich ihre Zahl alles, dann beſchwören mir
felbft die gelbe Gefahr herauf.
©
Biltiden.
Die fchlimmfte Partei.
Schlimm it mandıe Parfei, doch erfcheint von allen als ſchlimmſte
Die der Phililter; ihr ſei ewige Fehde gelobt!
Freiheit hat fie gepachtel und Recht, ale Feinde der Freiheit
Gelten ihr alle, die nicht ducken fi ihrem Geheih.
Gewilfe Volksmänner.
Rehnlich wie vor Beiten einmal ein Beherricher der Franken
Bagle: „Der Sfaal bin ich!“, achten fie fi für das Polk!
An den deutfchen Sprachverein.
Immer nach reinlicher Form vergeblich werden wir fireben,
Wenn fie nicht reinlidher Sinn bildef von innen heraus.
Hohe Verantwortlichkeit.
Wer da waltet der Sprache, bedenk’ Tide wohl, dak ein Teil ihm
Bun dem Permögen des Bolks if in die Bände gelegl.
Dem Verftändigen zur Ermunterung.
Ruhig wandele hin durd alles Gelümmel! Athene
IA dir zur Seite und führt dic; auf den richtigen Pfad.
3obannes Troisn
eeaeeaaeeaeeaa9eae9eee9a9o9098
Seſchmack und Mode.
Don
Dans Schliepmann.
RB: Baris fommt die Nachricht: Das Problem der Straßenichleppe ift endlich
gelöft! Rund um den Rod laufen 8—10 dekorativ wirkende, goldene oder
feidene Schnüre vom Rockſaum bis zu einzelnen Ringen am Gurt, über denen
fie fich zu einer Zugfchnur vereinigen. Ein Anziehen diefer Schnur fippt ben
Rod nad außen und oben auf, ſodaß das farbige Seidenfutter in breitem Bauſch
ſichtbar wird.
Stände diefe Offenbarung nicht in einer ernften Zeitſchrift, fondern in
einem Modejoumal: wie läge die Sache alddann? In Paris hätte irgend eine,
fagen wir milde, „Mondaine“ die Idee ausgehedt. Der „tFarbenfchrei" des
Futters, die „neue Linie" des Baufches hätte ein Kleines Delirium erzeugt. Mit
der übliden reservatio mentalis hätte die Modeberichterftatterin für Deutſch—
land die neue Senfation „leider berichten müfjen“; unfere Damen außerhalb der
Gefellichaft hätten fie aufgegriffen; jehs Monate hätte fih die gute Gefellichaft
entrüftet, dann hätte der fortgefchrittene Flügel unferer edlen Weiblichkeit die
Idee nicht fo übel gefunden, und in anderthalb Jahren würde jede Ladnerin ſich
das Geld zu einem fichtbaren farbigen Seidenfutter nebjt Schürzgarnitur ab-
bungern müfjen, denn die Sache ift eben — Mode geworden! — —
Man fürdte nicht, daß ich an diefe trübjelige, aber leichte und wahrhafte
Prophezeiung eine neue Yeremiade über die Narrheit der Mode zu den vielen
anderen anftimmen werde. Sie bliebe nublos gleich allen früheren, wenigitens,
fo lange fie wie jene, jelbft die noch unvergeßliche Friedrich Viſchers, lediglich die
Thorheit der Nahahmung und die „Häßlichkeit“ der Modeerfindungen geißelte.
Denn „Ihön ift häßlich, häßlich ſchön“ ift das eigentliche Prinzip der Mode,
unter dem fie von einem Ertrem in das andere ftürzt; und gegen die Maſſen—
fuggeftion nügt die Erklärung eines einzelnen Geſchmacksurteils gar nichts. Der
Wandel im Modegeſchmack ift eine innere Notwendigkeit, denn alle Reize ftuntpfen
zulegt in Uebermüdung ab und verlangen eine Auslöfung durch entgegengejeßte
Erregungen. So ift die Mode das Ergebnis eines piychologifchen Grundgejetes.
Aber doc nicht ganz! Dies anzudeuten, wählte ich mein einleitendes
Beilpiel. Wir müfjen — und das wird gemeinhin in allen Betrachtungen zus
fammengeworfen — noch jehr ſcharf zwiichen Wandel im Geſchmack und Mode
890 Hand Scliepmann, Gefchmad und Mode.
unterfcheiden. Letztere ift eben nicht allein Ausdrud des Gefhmades, ſondern
weit mehr noch blinder Nahahmungstrieb und Sudt zu fcheinen, al3 vornehm
und modern zu gelten. Und wenn auch der Nahahmungstrieb in der menid-
lihen Entmwidelung eine gewaltige Rolle Spielt — aber nur in der frühen! — fo
ift die Sucht zu fcheinen dod ein Trieb der Ohnmacht und des — menſchlichen
Ausichuffes; von irgendwelhem Wert für die allgemeine Weiterentwidelung der
Menjchheit kann daher diefe Seite der Mode ficherlich nicht fein.
Wohl aber bedeutet für jene Entwidelung der Geſchmack jehr viel; es wird
daher eine fehr mwefentliche Aufgabe fein, die Mode zum Geſchmack hinauf-
zuläutern. Und was bier zu thun bleibt, möchte ich einmal der Betrachtung
unterziehen.
Aber, wird man mir einwerfen, was nütt und der Geihmad, dieſe
unfaßbare Lurusempfindung, die nicht einmal bei zwei Perſonen diejelbe ift und
die fchließlicy nur zu phäakiſchem Genießen führt? Unfere Zeit hat wichtigere
Aufgaben zu löfen, al3 uns zu weichlichen Mefthetifern zu machen! —
Ad, fie hat feine größere zu löjen, als uns zu Perfönlichfeiten zu machen,
zu Menſchen, die in ſich *felbft Genüge finden, Befriedigung und Freude!
Darnad; würde fo gar vieles Andere ganz von felbit Eommen!
Noch giebt es feine höhere Lebensweisheit ald Goethes
Wirte! Nur in feinen Werfen
Kann der Menſch fich felbit bemerken!
Unter wie viel mißleitetem Wirkungsbedürfnis aber feufzen wir! In Geld-
machen, in Gründungen, in Unterjocdhungsdrang, in Frauenbethören, in Ruhmſucht
bethätigt jich der ftarfe Wille, dem ein wahrhaftes Biel fehlt, oft genug, und im
Genuß verſchmachtet er vor Begierde. Nur der religiös und der äſthetiſch
fühlende Menfch aber gelangt zu ftetiger Freudigkeit, die alles Edlen Wiege, die
all fein übriges Handeln durchdringt. Beide aber geftalten, jener in ſich die
Ahnung des Göttlihen aus der Welt der Erſcheinungen, diefer eine Welt im
eigenen Innern, ein Teilbild der großen; in ihren Gipfelungen fließen fie in
eins zufammen; aber auch der Neger, der feinen Fetiſch mit grellen Farben
bemalt und mit bunten Glasperlen jchmüdt. hat das gefteigerte Gefühl feines
Selbftes in jenem Wirken, das, ohne anderer zu bedürfen, glüdlih macht
Darin aber liegt der Wert äjthetifcher Bethätigung, jobald fie von Eitelkeit
rein ift: fie bedarf nicht der anderen! Sie ftellt die Perjönlichkeit auf ſich felbit,
giebt Freiheit ihr jelbit und läßt fie den Mitmenſchen. Die brutalite Gejellichaft
noch müßte daher die äjfthetiichen Menfchen bejonders jchägen: fie find die
ruhigiten, zufriedenften Bürger; — ftört ihnen nur ihre Kreife nit! — Weichlich
aber, weibifch wären ſolche Menjchen dann notwendigerweife? —
Waren fie weibifch, die herrlichiten aller „älthetifchen Menſchen“, die Michel
Angelo, Dürer, Bach, Shafefpeare, Beethoven? — Es liegt aljo nicht am Schönheits—
Hans Schliepmann, Gefhmad und Mobe. 891
kult, daß feine Anhänger oft „weiblich” erjcheinen ; dies ift vielmehr darauf zurüd-
zuführen, daß in diefen Kult jo viele Unberufene eindringen, die nicht die
Schönheit, fondern fich felbft und ihre Eitelkeit fuchen. Nicht Erweiterung ihrer
Perfönlichkeit, fondern einerfeit3 Genußfitel, andererjeit3 Befpiegelung ihres Ichs
erftreben fie. Wenn wir nur lebhafter empfänden, daß Schönheitsdienft ein
Wirken, ja, eine Arbeit ift, ein Aufgehen im Höheren, nicht ein Abwägen, wie
das liebe Ich fi nun zu dem Neuen in fo herrlicher Poſe zu ftellen weiß, fo
würde der Premierenfer und der Defadent, der Ruhmjäger und der „Senner“
bald genug recht tief in der Staffel äfthetifcher Entwidelung ftehend erjcheinen.
Gerade der männliche Geift aber würde, vom Schönheit3empfinden erfüllt, überall
fein Harmoniebedürfnis in feinem Thun zur Geltung bringen, eine wahre, von
allem Gemwaltiamen und Rohen abgewandte Kultur herbeiführen helfen.
Ein folder Menſch — ich nannte ihn, den weiteften Sinn umfpannend, den
äfthetifchen — gelangt zu einem ganz perjönlichen Verhältnis zur Kunft und
Natur; es fpricht fih aus in feinem Geſchmack, der ja nichts iſt als die
perjönliche Stellungnahme zu den Dingen in Luft und Unluft. Dabei ift ed gar
nicht erforderlich, daß der äfthetifche Menſch jelber künſtleriſch ſchafft. Ein volles
Genießen iſt Nachſchaffen, unbewußt aus dem eigenen Ich heraus. In jedem
wahrhaft äfthetifchen Menfchen entiteht das Kunſtwerk vollftändig neu, oft genug
bimmelweit von dem Urbild verjchieden, immer aber die Perfönlichkeit bis zum
Selbftvergefien erfüllend. Jeder hat aljo feinen eigenen Geſchmack — er müßte
ihn vielmehr haben! Und fo kann diefer fich nur wandeln, wenn die Perfönlichkeit
felbft ſich wandelt.
Solch Wandel erfolgt ja nun beftändig; aber er kann doch niemals fo groß
fein, daß der Geſchmack fich in jeder „Saijon? vollitändig „umkrempelt“, weil die
Leutchen um uns herum auch eben Luft am Umfrempeln haben.
Hier nun liegt das Enticheidende. Weil der Geſchmack ein umfajjendfter
BPerfönlichkeitsausdrud ift, fo muß jeder einzelne, dem fein eigenes Ich Bedürfnis
und nicht nur Eitelkeit und Spiel ift, zum mindeften an feinen Gejchmad
glauben und nur ihm gemäß urteilen und wirken.
Er muß? — Sagen wir lieber: er müßte! Denn erzwingen läßt fich hier
nichts; e3 handelt fich nicht um ein jchlechterding3 Erziehbares, jondern um etwas
frei Gewadjjeneds. Der anerzogene Geichmad ift eben feiner, fo lange ihn nicht
Berfönlichfeit durchdringt, er ift ein Urteilen nad) Vorbildern, nicht nad) inneren
Bedürfniffen. Nur weil wir uns diefes Unterjchiedes nicht bewußt find, andererſeits
aber doch inftinktiv fühlen, daß wir ein eigenes Gefchinadsurteil haben müßten,
um al3 etwas gelten zu können, begnügen wir uns mit dem Gefhmadsjurrogat,
der Mode, die und unter der Schugmarfe „Vornehmheit“ die leerften Erfindungen
platter Allerweltsgeifter aufdringt. Nicht nur in der Kleidung, ſondern aud) in aller
Kunſt. Die Seele aber fehlt, und das merken wir nicht einmal! Dieſer Pfeudo-
892 Hans Schliepmann, Geſchmack und Mode.
geihmad bedarf der anderen, ift num der anderen wegen da. Für dieje ſchmücken
wir uns alddann, ſei es, um ihnen zu gefallen oder um fie neidifch zu maden
oder um als ihresgleichen oder womöglih, um mehr als fie zu gelten, oder
mindeftens, um uns jelbjt über alles andere zu gefallen. Das Sind aber, das
ftil feine Puppe ebenfo gem mit bunten Lappen putt wie ſich felbft, hat mehr
gefunden Gefhmad, mehr fpezifiich äfthetiiche Empfindung und eigentliche Kunft-
freude, als jene anderen, die nicht glauben fünnen, daß Putzfreude ganz ohne
eigentliche Eitelfeit und ohne Rüdficht auf das Geſehenwerden zu beftehen vermag,
als ein erites Aufdämmern fpezifiich äfthetiicher Schaffensluft.
Diefe nun durch Erziehung bervorzurufen, fcheint mir nicht möglich; aber
fie ift fat allen Menfchen angeboren al Scaffenstrieb in Verbindung mit Em—
pfindlichfeit gegen Sinnenteize. Die Erziehung kann diefe Anlage hödhitens
Ihügen und nähren, und leßteres auch nur mit Vorficht, wie denn alle Erziehung
viel mehr auf unverfälfchte Erhaltung des Angeborenen als auf Einimpfung von
Fremdem ausgehen follte. Dindernifje der Entfaltung hinwegräumen, Nährboden
zur Verfügung jtellen, nicht ihn oetroyieren: weiter follten wir dem Herrgott nicht
ins Handwerk pfuſchen; wir bringen doch anders feine Menfchen, fondern nur
Automaten hervor, Gerade die8 Gebiet der Mode, mein Eingangsbeifpiel,
beweift e3 ja!
Nur zweierlei bedürfen wir, um zu wirflihem Gefhmad zu Kommen:
Wahrnehmenlernen und innere Ehrlichkeit. Das ift freilich viel mehr verlangt,
al3 man gemeinhin glaubt!
Nichts ift bei unferer gejegneten Erziehung verwahrlofter geblieben als die
Schulung unferer Sinne. Man fpähe nur einmal herum, felbjt bei unjeren
„gebildeten Bekannten: wer unterjcheidet denn feine von groben Farbenaccorden,
elegante von groben Umrißlinien, harmoniſche von unharmoniſchen Berhältnijfen?
wer weiß die Seele eines Klavierſtückes wiederzugeben, wer fühlt den ganzen Gehalt
Soethefher Rhythmen? Wie unter Halbblinden fühlt fi) der Sehende fait
überall. Ginfältig wie der Fiſch nach der Kunſtfliege ſchnappt die Menge nad
dem plumpften Surrogat, weil fie die Unterfchiede nidyt wahrnimmt. Das ift,
nebenbei bemerkt, nicht etwa nur ein Kulturmangel, fondern ein geradezu furdt:
barfter, wirtichaftlicher Notftand ; denn wenn das Volk ſehen gelemt hätte,
dann würden die Plunderbazare nicht mehr florieren und dem gejunden Handwerf
die Kundſchaft entziehen.
Aber dies nicht jehen und unterjcheiden fönnen, greift in viel höhere Kreiſe
über; es geht bis zu den Stunfttreibenden jelbft hinauf. In unferem aufreibenden
Großftadttreiben, das ja die Kleinftadtkultur unterdrüdt hat — und wegen deren
BPHilifterei auch nicht ohne Verfhuldung — haben wir immer nur einen haftigen
Blick für jedes Ding; raftlos treibt e8 und weiter. Warum brauchten die Stil-
wandelungen bei den Vorfahren jo weite Zeiträume, während wir fie in wenigen
Hans Scliepmann, Gefchmad und Mode. 893
Jahrzehnten nachgehafpelt haben? Weil jene eindrangen, wir an der Oberfläche
blieben. Jedem Schnörfel mwidmeten jene noch liebevolles Cingehen; wir
müffen gleich eine grundftürzende Umänderung de3 ganzen Aufbaues vorgejeßt
befommen, damit unfere Oberflächenbetradhtung nicht meint, es jei ja alles ſchon
dageweſen, alfo langweilig; und ein zweiter Blick giebt uns nicht mehr als der
erjte, weil wir über aller Unraft und Oberflächlichkeit die Sache ja eben längjt
„erledigt“ haben, nichts in anderer Weile erledigen können. Die Folge diejes
Hunger nad) immer neuen, grob in die Augen fallenden Unterjchieden, nad
hautes nouveautes und latest novelties auf allen Gebieten, it dann wieder
eine Ueberreizung der Newen und damit eine Gier nad noch jchärfer gewürzter
Koft; das verlogenfte Surrogat für Kunftgenuß tritt auf: die Senfation. Das
Kunſtintereſſe“ ift dann nur noch das Mäntelchen; gälte es nicht als nötig für
die Bildung, man würde einen Stierfampf oder eine einfache Hinrichtung einer
Premierenvorftellung, der gebildeten Form für diefe, jeden Cancan einer Symphonie,
jeden Riefenfederhut einem Michel Angelo ohne Blödigkeit vorziehen!
Ja, wären diefe Senfationslüfternen nur ehrlich! Möglich, daß es den
Künftlern dabei jchlecht ginge, denn deren meijte Werke werden, ſeien wir ehrlich),
der Genjation, des Brahlens und Scheinens wegen gefauft; der Kunſt aber ginge
e3 beſſer, denn es fchiede fich ehrlich Geihmad von Ungeihmad, und mein Ge-
ſchmack bliebe neben deinem in guter Ruh! Man würde endlich ehrlihen Geſchmack
als ehrlichen Ausdruf einer feiten Berjönlichkeit achten lernen. Nur der Uns
geihmad wagt e3, den einzelnen Zifcher im Theater mit dem Haß feines Maffen-
injtinftes zu verfolgen; ihm iſt's ja nicht um Kunft, fondern um die Eitelfeit auf
fein „Kunfturteil“ zu thun. Steht der Mann nicht unendlich höher, der Wagner
haßt, aber Mozart voll durchdringt, weil eben feine Perfönlichkeit nur für diejen
Raum hat, als der Biedermann, der für beide fo jehr zu ſchwärmen vorgiebt,
daß er fie — verwechſelt? Diefen aber belächelt die Geſellſchaft höchftens; jenen
würde fie mit Empörung als Störenfried behandeln; er wagt ja eine Sonder—
meinung zu haben. Geſchmack ift eben nur Sondermeinung. Darum ſchon von
alter her: de gustibus non est disputandum. Darum ift er aber aud) Be—
fenntnis. Und die Befenner find jchon jeit älteften Zeiten ungeheuer rar ge-
weſen. Aber die wenigen confessores haben dem Chriftentum zum Siege
geholfen, nicht die Millionen Nebenläufer, und fo kann ein Mutiger taujend
Zaghaften das Rüdgrat ftählen. Darauf aber kommt e3 zulegt einzig an. Wir
jehen e3 ja wieder augenblidlih. Denn, es ift nicht zu überfehen: glüdlicher-
weije find die Anfänge einer freieren, individuellen Gefhmadsbildung, namentlich
in der Frauenkleidung unverkennbar. Noch ſpielt die Senfation eine große Rolle
dabei, die Sucht nad) dem „Aparten” löſt die Nacjäfferei ab; aber zwifchendurd
ift doch ſchon viele wirkliche Ueberzeugung vorhanden, die z. B. im Kampf gegen
die Schnürbruft auf trefflichem Wege ift.
894 Hans Schliepmann, Geihmad und Mode.
Die Frau aber, die zu felbftändigem Urteil auch nod) individuellen Schönheits-
finn befigt und fo ihre Ueberzeugung reizvoll zu verkörpern verfteht, macht
hundert ſchwächere feft und fehend. Bald genug bleibt diefer Gewinn an eigent-
liher „Bildung” dann nicht mehr auf das Gebiet der Kleidung beſchränkt. Er
muß unjerer ganzen Kultur, ja, unferem wirtjchaftlichen Leben zum Segen ge
deihen, infofern der verfeinerte Geihmad fi} von der Fabrifware wieder der
Dandarbeit zuwenden und jo die Macht der proletarifierenden Maſchine zu Gunften
des zum Kunſthandwerker entwidelten Meifterd beichränfen wird.
Die wejentlichite Frucht ſolcher Entwidelung zu perſönlich jelbjtftändigem
Geſchmack aber wird der nationale Geihmad fein, der allein ung aud) im
Ausland Achtung und — Käufer verihafft. Denn nationale Tradt, nationaler
Stil werden nicht durch Dekrete, nicht durch Deutichtümelei erreiht. Die Seelen:
ſchwingungen jedes felbftändigen Volksgliedes treten zufammen zu einem großen
Accord, ganz von jelbjt; denn was in vielen gleichmäßig tönt, wird mächtiger
Klang, der den abweichenden Einzelton verfchlingt; find die Einzeltöne zeriplittert,
verivorren, fo giebt es nur ein Geräufch, den internationalen Miſchmaſch, der
unjerer geihmadlofen Zeit eigentliher „Stil“ ift; je Harer der Einzelne ſich zur
Gelbftändigfeit herauslöft, defto heller tönt der Gefamtaccord, das nationale
Fühlen. Wir find Deutfche ganz von felbft. Suchen wir nur, wir jelbft zu
fein: bald genug wären wir deutich in Tradıt und Kunſt und Leben!
4
Cachende Armut.
Es iſt auf Erden nichts fo bold Das iſt ein Lachen, Das nie entweicht
Und nichts fo fein gemacht, Aus alter Erinnerung,
Beſtund' es auch aus reinftem Gold, Wie wenig Drückend, wie gar fo leicht
Als Aımut, wenn fie lacht. ft arm fein, aber jung!
So lieblich ift nichts auf der Welt, Doch webe, wenn im Alter dir
So reizend anzufebn; Entfhbwunden Stern und Glück,
Bit Thau bedeckt eine Blum’ im Feld Wlienn dann es pocht an deine Tbür,
Iſt einzig vielleicht fo ſchön. Und die Armut kebrt zurück.
Sie blieb zwar fonft die alte noch,
Seit fle von dir entfernt,
Es teblt ibr aber Das Beſte doch:
Zu lachen bat fie verlernt.
3obannes Trojan.
Wilhelm Bode, Soethes Lebenskunit.*)
Beiprochen von
Bermann von Blomberg.
n'® Werk ift entftanden an der Stätte, da Goethe bei Yebzeiten wandelte — in Weimar.
Der Berfaffer, der ſich die Aufgabe geftellt hat, uns den ganzen Menſchen
Goethe Tebendig in die Eecle zu pflanzen, ift liebevoll den Spuren des großen Lebens-
fünftler8 nachgegangen. Allenthalben fpüren wir jene ®Pietät, die aud, wo uns
Goethe der Menſch auf den Piaden alltäglicher Gewohnheit begegnet, eindringlid an
des Dichters eigene Worte mahnt: „Ueberall lernt man von dem, den man lieb hat.“
Wir werden in den von der 'plätjchernden Alm umjäumten Garten Goethes ge
leitet, wo „Alles fo ftill ift rings umher.“ Dort hat Goethes innigfte8 Bedürfnis, mit
fih in der Natur allein zu fein, ein tiefites Genügen erfahren. Wir fennen den friede-
erfüllten Ort ſchon aus der wunderbar anjchaulichen Schilderung Eckermanns, des Biel-
getreuen, der dort mit jeinem greifen Meifter luftwandelte.
Was das moderne Lurusbedürfnis nur zu gem überfieht, das ift die für Sammlung
des Geiftes jo notwendige hödjite Einfachheit der Umgebung. Ein Zeugnis hiervon giebt
diejes ſchmuckloſe Parfhäuschen, das fieben Jahre hindurd) des Dichters einziges Heim
war, wo er tagsüber Beſuche des Hofes und der Gejellihaft empfing und an jdylummer:
loſen Nächten auf jeine Art Zwieſprache hielt mit dem Geift der Ewigkeit, der jeine
ſtürmiſche Seele in andadıtspolle Ruhe verjenfte.
Hier im grünen Winfel vergaß er der zahlreichen Aergerniſſe und Irrungen, die
ihm von Unverjtand und Neid bereitet wurden. Er badete in den murmelnden Wellen
der Ilm „die Ekelverhältniſſe“ der Fleinlichen Menichenwelt ab.
Auch das von ihm in Weimar felbjt innegehabte „Stadthaus“ zeugt ja von diefer
genügjamen Anſpruchsloſigkeit "in den täglich bewohnten Räumen; aber auch in dem
klaſſiſch ftilifierten vornehmen Teile diefes Heims — obſchon alles geräumig und von
untrüglicdhfter Gediegenheit jein mußte, was ihn umgab — von einem jtilvollen Meublement,
bis zu den reichen Kunftichägen, die jein vornehmer Sunftjinn erworben, durfte fich
um ihn nicht jener Luxus ausbreiten, der, wie Goethe meinte, „faul und unthätig“ mache.
„Unordentlidysordentlich ift für mid) das Rechte; es läßt meiner Natur volle Freiheit,
thätig zu fein und aus mir jelber zu fchaffen.“ Hier vermochte es Gocthe „jenen reis
um fid zu zichen, in welden außer Piebe und Freundfchaft, Kunſt und Wilfenfchaft
nicht8 hereinfam.“
*) 2, Auflage. 367 ©. Verlag von E. S. Mittler & Sohn, Berlin. Geh. M.250, gbd. M. 3.50.
896 Hermann von Blomberg, Goethes Lebenskunſt.
Im Vorbeigehen läßt der Autor einige nicht unintereflante Aeußerungen über
Goethes Vermögenslage fallen, ſowie einige Angaben über von Berlegern an ihn gezahlte
Honorare. .
Manderlei wertvolle Aeußerungen über des Dichters Perſönlichkeit und den
Empfang, den er fremden angedeihen lieh, gewähren uns Einblide in die Verfchiedenheit
der Eindrücde, die jein Weſen bei jeinen Befuchern hervorrief, jo bei Platen, Carus, Grill-
parzer, Felix Mendelsjohn und anderen. Alles in allem — Goethe konnte gleich anderen
Sterbliden höchſt wandelbar ſich geben, wobei für Zu: und Abneigung wohl mehr innere
als äußere Gründe in jedem Falle fein Verhalten beftimmt haben werden. Während er
die ihm irgendwie Unbequemen mit „tummen Audienzen zur Verzweiflung brachte“ und
jeine großen „in die Tiefe gerichteten Augen“ den ungebetenen Gaft zu vernichten drohten,
hatte er dod für die große Mehrzahl ihm vwoilltommener Menſchen — und Goethes
„Salve“ galt aud) der fimpelften Redlichkeit — jene bezaubernd liebenswürdige Herzens—
güte, die auch dem Einfachiten im Geifte das pochende Herz bald berubigte und ihm
hohes Vertrauen zu dem liebevollen Meijter einflöhte, dem „nichts Menſchliches fremd
mar“; der es wie fein Zweiter verjtanden hat, mit feiner Perſon hinter jolder edlen
Hilfsbereitihaft zurüdgutreten.
Weiter betrachtet das Buch Goethes Verhältnis ſowohl zu den Höherftehenden als auch
au Untergebenen. Die liberale Kritik hat es für nötig befunden, immer wieder auf
der Dichter-Erzellenz „Devotion“ gegenüber Fürften und Herren als einer Goethe eigenen
Schwäche hinzumeijen, während doch feine gerechte Natur nur beftrebt war, jedem das zu
geben, worauf feine Stellung Anfprud; machen durfte. Wie er im Herzen dachte, deuten
uns feine jelbjtgewilfen Worte an: „ch hatte vor einer bloßen Fürſtlichkeit als ſolcher, wo
nicht zugleich ein tüchtiger Menfchenverftand dahinter ſteckte, nie viel Reſpekt. Ja, es
war mir jo wohl in meiner Haut und ich fühlte mich felber jo vornehm, daß, wenn man
mich zum Fürften gemacht hätte, ich es nicht fonderlich merkwürdig gefunden haben würde.“
Sein Berhältnis zu Karl Auguſt giebt diefen Worten den fchönften Wahrheitsgehalt.
Und was anderjeitS Goethes Verhältnis zu feinen Untergebenen betrifft, jo zeichnet es
fih am charafteriftischften in jeinen Worten: „Ich habe jeden Untergebenen frei in ge
mejlenem Kreis fich bewegen lafjen, damit er aud) fühle, daß er ein Menfch fei; es kommt
alles auf den Geift an, den man einem öffentlichen Wejen einhaucht.“ Das find goldene
Worte, nicht nur für die damalige, jondern für alle Zeiten beherzigenswert.
Wie er jelber ein Vorbild des Fleißes und eiferner unentwegter Pflichttreue war,
jo fand man ihn auch immer bereit, da felber energijch eine Sache anzupaden, wo andere
mit trogiger oder jchüchterner Schwerfälligfeit das Sfhre nicht prompt erfüllten. Er
wollte mit jeinem Beilpiel zünden. Gewiß — er hat nie Unbilliges von jeinen Mit:
helfern verlangt, das bezeugt am beiten die langjährige Treue feiner Diener und
dad ideale Verhältnis des in pietätvoller Dankbarkeit zu ihm haltenden tüchtigen
oh. Peter Eckermann. Ein menſchlicher Menſch, ein männlicher Mann war Goethe aud
in dem Einne.
Goethe, obwohl er auf eine gute wohlbeſetzte Tafel etwas hielt, war für feine
Perjon der mäßigften einer. Auch mußte eine „allgemeine, lebendige, nie ftodende Unter-
Hermann von Blomberg, Goethes Lebenskunſt. 897
haltung“ oder eine „anmutige Tafelmufif” wie mehrftimmige Gejänge die ‚Freuden
eines opulenten Mahles vergeiftigen.
„Nicht wenige feiner beiten Beitgenoifen fühlten ſich von der perfönlichen Bekanntſchaft
mit ihm emporgehoben und gefördert; einigen half er, drei, vier, ja fünf Jahrzehnte und
darüber hinaus als ihr guter Genofje das Yeben leichter zu tragen. Wäre er ein
Egoift geweſen, als den ihn jeine grundjäglichen Gegner jo gern verichreien, jo hätten
ihn nicht jo viele tüchtige Männer mit danfbarer Yiebe geliebt.“ Auch wo Goethes Liebe
allmählich erfalten mußte, hat es feine objektive, den inneren Wert einer Perjönlichkeit
ruhig abwägende Natur nie über fi) vermocdt, lieblos zu verurteilen.
Wir fünnen nur ahnen, wie weh ihm ums Herz gemwejen fein muß, als Herder,
der Mann, mit dem ihn feit jeiner Straßburger Studienzeit jo vielfache Fäden ver:
fnüpften, nicht in feiner Liebe beharrte. Diejes Verhältnis war eines jener Konflikte, jener
nagenden Kümmerniſſe, an denen Goethes Leben jo reich war. Es lag nicht in des
tapferen Mannes Art, mit lauten Klagen jein Innerſtes bloß zu legen, denn er trug „ein
Herz in der Bruft, ausdauernden Mutes“.
„Bir verjtehen, daß Goethe eine dämoniſche Gewalt über viele Frauen ausübte,
als Jüngling bezauberte er fie durch feinen Geift, feine Liebensmwürdigfeit und feine
Schönheit, und bald fchien aud fein Dichterruhm jedem weiblichen =. ein Recht zu
geben, ihn anzufchwärmen.“
Goethe, deilen Gejtalt wir uns faum anders als in jteter Fülle blühendjter
Geſundheit zu denfen vermögen, war doc) keineswegs von bejonders robuster Konftitution.
Schon aus feinen Mitteilungen in „Wahrheit und Dichtung“ wilfen wir von Wochen und
Monaten jchwerften förperlichen Leidens und Duldens. Wir erfahren, daß Goethe
feinen zu allerhand Befchwerden neigenden Körper zu „erjtarfen” ſuchte durch natur:
und vernunftgemäße Gejundheitspflege und eine entiprecdhende Lebensweiſe; wie er eine
„bejtändige geiftige und leibliche überfeine Empfindlichkeit“ Fräftig in die Zucht nahm.
Seine unerjchöpflihe Perſönlichkeit machte ihn zum glänzenditen Gejellichafter,
„über den man die ganze übrige Gejellichaft vergeifen konnte”. Wer hätte auch den
„begeiiterten Goethe” übertönen wollen oder fünnen, wenn er jeinen einzigen Reichtum in
klangvoller Rede jpendete oder „Die Schöpfungen verwandter Geifter bortragend mit
Goetheſchem Leben erfüllte”. „Es drückte fi in feinen Zügen bei aller Majeſtät jo viel
Güte und Wohlwollen aus“, jchreibt der jein Leben ganz mit Goethe ausfüllende junge
Heinrich) Voß, und wir verftehen es, warum auch der geicheite Eckermann fich jo wider-
ftandslos von Goethe etwas ausreden ließ oder mit ftummer Bewunderung zuhörte,
wenn der große Lehrer in einer jener „wunderbar janften Stimmungen“ ihm aus der
Fülle feiner Seele fpendete.
Viel liebte er, darum hat er aud) viel gelitten, und viele haben um ihn gelitten.
Sein feinfinniger Geift aber duldete wie an anderen, jo auch an fich fein Unrechtthun.
Sein Peben jollte augen und innen von Klarheit erfüllt und von Wahrheit getragen jein,
das war ihm von früheiter Jugend natürliches Derzensbedürfnis. Darum ftrebte er,
wieder gut zu machen, wo er glaubte, anderen wehe gethan zu haben. Wohl wird er
fih in den meiften Fällen bewußt geworden jein, dat er nicht anders hätte handeln
fünnen, aber auch die, jo jeinetwegen litten, jollten unverbittert jeines guten Wejens
57
898 Hermann von Blomberg, Goethes Lebenskumit.
wieder froh gedenfen fünnen. Nirgends offenbart fi) dieje Föftlihe Einfachheit in
Goethes Charakter jprechender und menſchlich jchöner, als in der lautlofen Art, wie er
noch einmal wieder die ehemaligen Geliebten aufjuchte, nur in der Abjicht, ihnen mit
fi) den ausgleihenden Frieden zu bringen. Dann erjt war er jelber zufrieden.
Die Zeit war ihm das foftbarfte Element, wie er wußte fie wohl feiner zu nußen.
wahrhaft auszubeuten. Jede, auch die Eleinjte Thätigkeit, wurde planvoll in peinlichiter
Ordnung geregelt; jo nur wurde es dem Vielbelafteten möglich, die Fülle übermältigender
Arbeit gleihmähig abzumideln und dennoch fein Leben zu umgeben mit allem, mas gut
und ſchön genannt zu werden verdient. Sein Lebenlang ftrebte Goethe nach Belehrung
und Ermeiterung feines Wiflens. „Oft munderten fid) jeine Gäjte, daß ihm nichts lang-
mweilig ſchiene.“ Es war ihm Bedürfnis, im belehrenden Sichgeben ſich jelbft über die
eigene Klarheit zu dieſer oder jener Materie Rechenſchaft abzulegen. „Es giebt nichts
Unbedeutendes in der Welt!“ war jein grundjäglicher Glaube, der ihm auf der ſchönen
Sottederde auch das Sleinfte und Geringfügigfte mit eifriger Liebe umfaſſen lien.
Rührend ift e8, wie noch der alte Herr auf „die Gaſſen acht giebt und zu den Sternen ftehr.“
An diefem jeelenvollen Allerfaſſen wurzeln im letten Grunde auch Goethes natur-
miflenichaftliche Entdeckungen. Der Reſpekt vor der Natur war e8, der Goethes ganzes
Weſen bis ins Innerſte durchtränkte.
Goethes Natur war von Herzen demütig und tief von dem unwandelbaren Glauben
durchdrungen, daß eine Löſung jener ewigen Daſeins-Rätſel nicht unſerer irdiſchen
Lebensarbeit als Aufgabe eingeflochten iſt. „Ein tüchtiger Menſch aber, der ſchon hier
etwas Ordentliches zu ſein gedenkt, der täglich zu ſtreben, zu kämpfen und zu wirken
hat, läßt die künftige Welt auf ſich beruhen und iſt thätig und nützlich in diefer.“
Auf die energifche Ausbildung deffen, was entwidelungsfähig im einzelnen Menicer
ift, fam es ihm vor allem an; unter Hingabe an die erkannten Pflichten um die per:
ſönliche Fortbildung ftrebend bemüht bleiben, das ſchien ihm der Erdenkinder höchſtes
Glück in fich zu begreifen, das däuchte ihn Lohnes genug und — aud als Zweck gedadır
— des Lebens wert.
Die geheime Sehnjucht des Menſchenkindes nad einer überirdifhen Dauer dei
Lebens jenjeit3 vom Erdenmwallen erfüllte auch wohl Goethe, denn fie ift bewußt oder
unbewußt in allen Menjchen der „vuhende Bol“ in der Flucht der ſich jagenden Er-
iheinungen. Jeder edle Gedanke, jedes erhabene Hoffen fand ein tönendes Echo in
der Bruft dieſes gejunden Menfchen, den ein Geiſt der Billigfeit auch dieſen Fragen
gegenüber erfüllte, und der jo viele Wohnungen in feines Allvater8 Haufe mußte. Aber
wenig jchien ihm diejer heilige Glaube geeignet, Gegenjtand lauter Erörterung zu jein.
und ſcharf wies er einit Eckermann gegenüber die anmaßenden Prätenfionen jener
Frömmler von jich, bei deren „Gottjeligkeit“ ihm, dem einfach SFrommen, „bange“ wurde
Ergebung in das Unerforfchliche des ewigen Allwillens, eine ftete Arbeitsfreudigkeit,
als ob fie fein Tod zu enden vermöchte, und dennoch die immerwährende harmoniſche
Bereitung aller Seelenträfte, bis zu einer Rüdfehr in den „Aether“, darauf him zielte
feine innere Arbeit. Aber weder für fih noch für andere hat Goethe mühtge Be
trachtungen als heilfräftig geprieſen.
Hermann von Bloniberg, Goethes Lebenskunſt. 8%
Goethe wuhte, wie wandelbar die Gejchehniffe von diefer Welt find; allem Starren,
unbeweglich Berharrenden in dem, was Menſchen verehren, Eonnte feine bewegliche Natur
feine Andacht zollen. Nichtsdeſtoweniger — für die Ethik des Lebendigen Chriftenglaubens
und ihren humanen Schöpfer hat er herrliche Worte tiefen VBerftehens gefunden, und von
fi) durfte er jagen, was jedes wahrhaft Frommen aufrichtiges Bekenntnis werden
follte: „Redlich habe ich es mein Leben lang mit mir und anderen gemeint, und bei
allem irdiſchen Treiben jtetS auf das Höchſte geblickt.“
Können wir uns aber nod; wundern, daß er, der — Leſſing gleich — „die ganze
Ewigkeit“ fein eigen nannte, vielleicht nicht immer jenen richtigen Bli hatte für die
wachſende Bedeutung defjen, was ſich draußen in der von Waffenklirren erfüllten Welt
allmählich vorbereitete?
Er 309 fic in jeine gemweihte Stille zurücd, gerade, meil er ein Künftler war,
„deren wir auch in der höchſten Not nimmer entbehren können.“
Seine geiftige Univerjalität führte diefen großen Menjchen immer fidjer zu dem,
was feiner leiderfüllten Seele zum Labſal wurde Er vermochte ganz in den Werfen
£ongenialer Geifter aufzugehen und vergaß über dem andädjtigen Genießen eines Moliöre,
Byron, Shafeipeare oder bejonders feiner Yieblingsleftüre — der Alten — den temporären
Schmerz. Troit im erhöhten Maße brachten ihm für jedes Leid auch feine naturwiſſenſchaft—
lihen Studien; „ihnen dankte er es, dar er mehr als über Jahrhunderte ſich zu
blicken gewöhnte.“
Dft kommt Goethe in diefem Buche jelbft zu Wort, und der Autor fnüpft nur leife
ein geiftige® Band zwiſchen die jeelenvollen Belfenntniffe; jo webt fi alles zum
Ganzen und aus allem fieht ung ein Menſch an, der Goethe gleich ift und den wir
lieb haben, denn „wir lemen bon ihm.”
DBIS
Monatsichau über auswärtige Politik.
Von
Theodor Sciemann.
14. Januar. Eröffnung der franzöfifchen Sammer. — 15. Wiederwahl des Abgeordneten
Wolff in den Heichörat. — 17. Gröffnung des fchmwebifchen Reichstages. — Konzeſſionierung der
Anatolifchen Eifenbahngejellihaft zum Bau der Bagdadbahn. — 18. Aufhebung des Kriegs—
zuftandes im Amurgebiet. — Erſchießung Scheepers in Graafreinet. — 90. Erfolge der Auf-
jtändifchen in Panama. — 20. Dementierung der Nachricht von der bevoritehenden Ernennung
eines Ihronfolgers in Serbien. — Demonitrationen der Polen vor dem ruſſiſchen Konfulat in
Lemberg. — 24. Unterzeichnung des Vertrages über den Berfauf ber dänifch-mweitindifchen Inſeln
an die Vereinigten Staaten. — Abreife des Brinzen von Wales von Berlin. — 3. Yuantichifai
wird mit der Reorganifation der chinefifchen Armee betraut. — 3. Gintreffen einer nad) Rabat
(Marocco) bejtimmten öjterreichifchen Miffion in Tanger. —27. Kaifer Wilhelm jchenft der Stadt
Kon eine Soetbeitatue. — 28. Eintreffen des franzöfifchen Befandten in Tanger zur Weiterreife nach
Rabat. — 20. Rückreiſe des Prinzen von Wales nach England. — 30. Anträge der engliſchen
Regierung auf Veränderung der parlamentariihen Gefchäftsordnung. — 31. Rückkehr des
italienifchen Geſchwaders aus China. — Ende Januar. Verfuch einer niederländifchen Vermittlung
zwischen England und den Buren. — 1. Februar. Empfang der Damen des diplomatijchen Korps
durch die Haiferin- Witwe von China. — 4. Angebliche Verhandlungen über Tripolis ztwifchen
Frankreich, italien und der Türkei. — 5. Die franzöfifche Kammer nimmt für die Gruben:
arbeiter den achtftündigen Arbeitstag an. — Abreiſe des Erzberzogs Franz Ferdinand nad
Petersburg. — 6. Schluß der Seſſion des italienischen Parlaments. — Grmordung des
bulgarifchen Unterrichtsmintiter8 Kantſchew. — 7. Nachricht von Aufſtänden im mittleren
Arabien. 10. England erflärt, dag es Weihaiwei zu einem offenen Plate bejtimmt babe. —
12. Beröffentlihung des „Neichsanzeigers” in Anlaß des fpanifch = amerikanischen Konflikts
von 1898. — Beröffentlichung des englifch-japanifchen Offenfiv- und Defenfivbündnifies zur
Aufrechterhaltung der Integrität Chinas.
ie Einheitlichfeit in der formalen Ausbildung unjeres politiichen Yebens, mie fie in dem
Schematismus der parlamentarishen Ordnungen zum Ausdrud kommt, die heute von
allen Nationen Europas, mit Ausnahme der Ruſſen und der Türfen, jo gut oder jo
ſchlecht es eben gehen will, gehandhabt werden, läßt die Thatſache noch augenſcheinlicher
hervortreten, daß es, recht betrachtet, überall diefelben Probleme find, die im Vordergrunde
des Intereſſes ftehen. Alle Parlamente haben um die Mitte Januar ihre Arbeiten
wieder aufgenommen und werden um die Zeit der Oftern mit mehr oder minder gutem
Gewiſſen auseinandergehen, je nachdem fie ihre Aufgaben gefördert haben. Die Vor—
bereitung zu möglichft günitigen Abjchlüffen, wenn der Augenblid der Erneuerung der
handelspolitiichen Verträge heranfommt, die Sorgen der Yandwirticyaft wie der Anduftrie
und das Beltreben, beiden gerecht zu werden, nationale Eiferſuchtsfragen die hier mehr,
dort weniger aktuell ericheinen, aber überall vorhanden find, die ſtürmiſchen Forderungen
Theodor Schiemamm, Monatsſchau über ausivärtige Volitif. 901
und die gehäjlige Kritik der nad Einfluß und Macht ringenden jozialiftiihen Parteien,
das alles giebt den Rahmen für die das Gejamtintereffe der Staaten, wie die bejonderen
Intereſſen der politiichen Parteien umfaifenden Verhandlungen. In den großen, national
geichloffenen Staaten, die zu eigenem Recht und aus eigener Kraft bejtehen, werden
dabei Form und Würde noch am beften gewahrt, jchon weil eine ftarfe, über den
Parlamenten ftehende Zentralgewalt für beides eintritt und e8 mo nötig auch verteidigen
fann. Wo aber dieje Vorausfegung eines gedeihlichen parlamentariichen Lebens fehlt,
oder nur unvollkommen wirft, und das ift heute in den meiften Eleineren Staaten der
Fall, jchreitet die VBerwilderung des Parlamentarismus zur Zügelloſigkeit ftetig fort,
und geht da8 Bewußtſein der fittlihen Verantwortlichkeit jedes Einzelnen und des
Parlamentes als ein Ganzes immer mehr verloren. Bei Ausfchreitungen, wie fie am
30. Januar in der belgifchen Kammer jtattfanden, bleibt von der Würde des Barlamen-
tarismus nichts mehr übrig, und genau jo möchten wir auch das Treiben beurteilen, das
jeit Jahr und Tag in den Parlamenten der Eleinen Balkanſtaaten fich abjpielt.
Faſt in noch jchlimmerem Lichte ericheint uns der am 25. Januar von der Kammer
in Ehriftiania geftellte, zum Glück ausfichtsloje Antrag auf eine Neutralifierung Schwedens
und Norwegens. Neutralifierung bedeutet einen Berzicht auf politifche Geltung, der hart
an einen Verzicht auf politifche Ehre streift, und nur zu leicht zu einem ſolchen führen
fann. Schon daß man fih in Schweden bei Einführung der allgemeinen Wehrpflicht
auf eine Dienftzeit von 8 Monaten bejchränfte, erfchien uns im hohen Grade bedenklich,
und hat die Bindnisfähigkeit diejes Staates, der doch auf eine ftolze Vergangenheit
zurüdbliden kann, nicht gefteigert, fondern gemindert. Mit der Neutralifierung wäre
Schweden:Norwegen als politiicher Faktor aus der Welt zu ftreichen, und e8 ließe fid)
dann mit Sicherheit ein Zeitpunft vorherjehen, an welchem die auf eine trügliche Birgichaft
der Neutralität bauende Nation in banaufiihem Materialismus und zügelloiem Sozia—
lismus zu Grunde gehen müßte. Wir denfen aber von den politischen und idealen
Anlagen der ſchwediſch⸗norwegiſchen Raſſe jehr hoch und hoffen immer noch, daß der Tag
kommt, an dem fie den von Norwegen ausgehenden Krankheitsprozeß glücklich überwinden
wird. Aber verfennen läßt fich nicht, daß in den großen nationalen Staaten, troß der
jehr ernften Pflichten, welche ihnen die Behauptung ihrer Stellung auferlegt, verwandte
Ericheinungen eines zerjeßenden Geiſtes fich geltend machen. In Oeſterreich-Ungarn läßt
nach wie vor der Dader der Nationalitäten eine ruhige, den Traditionen Oeſterreichs
entiprechende Entwidfelung nicht auffommen. Die Zuchtlofigfeit der ſlaviſchen Führer,
der unduldfame Ehrgeiz der Ungarn, der ſich gegen das unerläßliche Bündnis mit den
Deutichen auf der Grundlage der Gleichberehtigung jträubt, endlich der Fehler, den
die Deutjch-Defterreicher dadurch begehen, daß fie fich nicht zu einer dynaftiichen Partei
fonjtituieren und damit auch die ihnen gebührende leitende Stellung in der öfterreichifchen
Neichshälfte zurücgewinnen, das alles bedingt die gegenwärtigen, ganz unleidlichen Ber:
hältniffe und jchließt für die Zukunft die größten Gefahren in ſich. Wir jehen einen der
bedenflichften Fehler der Deutich-Dejterreicher ſchon in dem Nuffommen des Partei:
namens „alldeutiche“; dem entweder bejagt er nidjts, oder er jagt mehr, als ein loyaler
Defterreiher jagen darf; indem einen Fall wirft er aufreizend und herausfordernd der
Dynaſtie gegenüber, in dem andern giebt jeine Unflarheit den andern Nationalitäten
902 Theodor Schiemann, Monatsfchau Über auswärtige Politik.
den erwünjchten Borwand zu haltlojen Verdächtigungen. Pebt, da durch die Wiederwahl
von Wolff zudem nod ein Zwieipalt in die Partei hineingetragen ift, droht die Verwirrung
und damit aud) die faktiiche Macht der Partei nicht nur, fondern aud) die des Deutſch—
tums in Dejterreich immer mehr zufammen zu brechen. Wie fann unter diejen Umftänden
ein Öfterreichifcher Staatsmann mit den Deutjchen erfolgreich Politik machen?
In Frankreich, wo die Sammer am 14. Januar wieder zufammentrat, um im April
ihrer unbefannten Nachfolgerin Raum zu geben, gebietet die Negierung doch über eine
fihere Majorität von etwa 100 Stimmen, und in allen augenfälligen Fragen des nationalen
Intereſſes nach außen hin pflegt regelmäßig diefe Majorität ftarf anzujchtwellen. Die merf-
mwiürdige Zufammenjegung des Minifteriums und der Slammermajorität mit überwiegend
radikalen und fozialiftiichen Elementen hat aber unverkennbar dem gejamten Staats:
(eben eine jtarfe Wendung nad links gegeben und die fonfervativen Elemente in die
DOppofition gedrängt. Wir denfen dabei neben der weiteren Durchführung des gegen
die Klongregationen gerichteten Gejetes, das in einem ald Hort des Katholizismus auf-
tretenden Staate doch eine ganz andere Bedeutung befommt ald etwa in Deutichland,
vornehmlich an das Bemühen des Kriegsminifters Andre, die Armee, jpeziell das Dffizier-
korps zu demofratilieren, und an die unverfennbare Begünftigung der jozialiftiichen Arbeiter:
organifationen. Die zu Anfang Februar erfolgte Annahme des vorläufig neunftündigen, nach
4 Jahren achtftündigen Arbeitstages für die Grubenarbeiter ift einer der bedenflichiten
Schritte nach diefer Richtung hin, wenn man weiß, daß damit die Feſtſetzung eines
Tagelohns verbunden ift, der die Grubeninduftrie zu einem nicht mehr lohnenden Geſchäft
machen muß. Das alles ift in der franzöfiichen Kammer von Aynard in überzeugender
Weiſe nachgewieſen worden und hätte wohl auch jeine Wirkung nicht verfehlt, wenn
man nicht unmittelbar vor den Wahlen ftände Es fommt der regierenden Gruppe
darauf an, fich große Verdienſte um die Maſſe der fozialiftiihen Wähler zu erwerben,
die nun einmal im heutigen Frankreich unter dem Bann der radikalen und fozialiftiichen
Schlagworte fteht, und wenn nicht ganz unerwartete Wandlungen eintreten, wird diejes
Manöver gewiß nicht ohne Erfolg bleiben, Jedenfalls hat das Minifterium Walde:
Rouffeau-Millerand der Welt das lehrreihe Beifpiel eines jozialiftiichen Miniſters
in Funktion geboten und wieder einmal die alte Wahrheit beitätigt, daß Kompromifie, die
in der Praris des politiichen Lebens zwiſchen velativ gemäßigten und ertremen Elementen
geichlofjen fwerden, zum Vorteil der legteren ausfallen. Herr Millerand ift immer
derjenige Minifter geweſen, mit deſſen bejonderem Parteiftandpunfte alle übrigen
gerechnet haben, und ganz Frankreich wird an den Folgen noch lange zu tragen haben.
Eine verwandte Entwidelung hat fi) auch auf engliichem Boden vollzogen, wenn
auch im inneren leben des Staates die Folgen weniger fühlbar find. Die Kombination
Salisbury-Chamberlain ift ſogar vielleiht no unnatürliher ald die Verbindung
Rouffeau-Millerand. Aber der weſentliche Unterfchied liegt darin, daß der radikale
Ehrgeiz Chamberlains nad augen hin abgelenft worden ift, und daß infolgedeilen
die Gejepgebungsarbeit nach innen hinein überhaupt ins Stoden geraten it; wo fie aber
ſporadiſch jich trogdem geltend macht, wird fie rüclichtlo8 in den Dienft des auf die
Wirkung nad) außen berechneten Imperialismus gejtellt. Man darf nie vergeiien, das
Chamberlain feine Yaufbahn als jpefulierender FFabrifherr begonnen hat, und wird jeine
Theodor Schiemann, Monatsſchau über auswärtige Politik, 903
auswärtige Bolitit vielleicht am beiten beurteilen, wenn man in ihr eine tollfühne
Spekulation im größten Stile erfennt. Es läßt fi in dieſer Dinficht eine gewiſſe
AHehnlichkeit zwiſchen ihm und dem ruffischen Finanzminister Witte nicht verfennen, dem
jein va banque-Spiel bisher immer nod) geglüdt ift. Denkbar ift es ja, daß dem einen
wie dem anderen das Glück auch weiter treu bleibt, und daß fie das Spiel im ent-
icheidenden Augenblid, der die Wendung gebracht hätte, abzubrechen wilfen. Gewiß, das
ift möglih, aber möglich und auch wahrſcheinlicher iſt das Gegenteil. Jedenfalls
bedeutet die von der englifchen Regierung vorgeichlagene Aenderung der Gejhäftsordnung,
die in Zukunft jede Objtruftion unmöglich madjen joll, für Chamberlain eine Berleugnung
feiner politifchen Vergangenheit. Aber wir zweifeln nicht daran, daß die Vorlage an—
genommen wird und fünnen nur wünjchen, das auch auf dem Kontinent den Präfidenten
der Barlamente gleihe Machtbefugniffe übertragen werden wie in Cngland.
Dort richtet fich die neue Geihäftsordnung des Parlaments heute gegen die ſyſtematiſchen
Obſtruktionsverſuche der Iren, wie denn die iriſche Frage aufs neue lebendig zu werden
beginnt und jchon jet Formen angenommen hat, die eine direkte Gefahr für England
bedeuten, wenn wir der legten Rede Salisburys im Piccadilly Club glauben dürfen.
Gr hat das irische Domerule jogar die größte Gefahr genannt, die England bedrohen
fönne, und wenn Domerule zu einem politifch ganz jelbjtändigen Irland führen follte,
hat er beftimmt recht. Darin aber liegt vielleicht die Uebertreibung, fo daß man aud)
den Eindruck gewinnen fann, als [handele es fich darum, einem höchſt unbequemen
Gegner, der mehr als alle übrigen die jüdafrifaniihe Politif des Minifteriums blofftellt,
einen empfindlichen Schlag zu verfegen, der als Einleitung zu härteren Mafregeln,
wahrſcheinlich zu einem Ausnahmegejeg gegen Irland dienen joll.
Was fonft an Debatten über innere Fragen in England vorgemejen ift, madıt,
wie die jo oft wiederholte Berhandlung über die Freigebung der Ehe mit der Schweiter
Der verftorbenen Frau, durchweg den Eindrud des nebenſächlichen und gleichgiltigen.
Alles Intereſſe wird durch den ſüdafrikaniſchen Krieg abjorbiert und neuerdings durch)
Die große Frage, ob es nicht endlich Frieden werden wolle.
Es ift wohl nicht genügend beachtet worden, daß die erfte Nammer im Daag den
Anſtoß zum Vorgehen der niederländiihen Regierung gegeben hat. Am 17. Januar
jprad die Kammer ihr Bedauern darüber aus, daß die Regierung Ihrer Majeftät der
stönigin feine Schritte gethan habe, um den Krieg in Südafrika feinem Ende näher zu
führen. Da nun zudem allbefannt ift, wie lebhaften Anteil die Königin Wilhelmina am
Schickſal der Buren nimmt, jo ift es wohl verjtändlid, wenn der Minifterpräfident
Kuyper nad) einem äußeren Anlaß zu einer borfichtigen PVermittelung ausjchaute.
Vielleiht fand er ihn in der vielbemerkten Rede Lord Roſeberys, die zwar die Not»
wendigkeit einer Unterwerfung der Buren unter die englijche Oberhoheit nachdrücklich
betonte, aber ebenjo entichieden hervorhob, daß Verhandlungen mit den Führern der
Buren angefnüpft werden müßten. Rojebery hatte gemeint, man werde dem Berlangen
der Buren nach lofaler Autonomie weitgehende Zugeftändnifje machen fünnen. Nun
war die öffentliche Meinung gerade um jene Zeit durch die Hinrichtung Scheepers hoch—
gradig erregt, und das hatte aud) im engliichen Parlament lauten Ausdrud gefunden.
Auch gingen Gerüchte von neuen Mißerfolgen der Engländer un. Es hieß jener General
904 Theodor Schiemann, Monatsichau über auswärtige Politik.
Garrington, der wider alles Bölferrecht durch das neutrale portugiefiicdye Gebiet marjdiert
war, um den Buren in den Rüden zu fallen, jei gefangen genommen worden, furz, der
Augenblik ſchien günſtig. Möglicherweife hat Kuyper zudem von England aus dur
Mitglieder der Oppofition Aufmunterung gefunden. Wie dem aud) fei, in der letzten Januat
woche fuhr er nah England, und am 29. teilte Balfour dem Parlament mit, dat eine nieder:
Ländijche Friedensnote eingelaufen fei. Sie ift mit der höflich ablehnenden Entgegnung des
engliichen Kabinetts am 5. Februar veröffentlicht worden. Der Eindrud, den wir aus dieien
Aktenſtücken gewinnen, ift nit der voller Hoffnungslofigfeit. Das Weſentliche liegt
darin, daß die engliiche Regierung unter allen Umftänden auf Anerkennung der engliihen
Flagge beiteht, es aber nicht ablehnt, in Afrika mit den Führern der Buren über die
Bedingungen ihrer Unterwerfung in Verhandlung zu treten. Es wird num alles daraui
anfommen, ob die Buren nod) Vertrauen zu engliichen Unterhändlern faſſen fünnen.
Mit Ford Milner zu verhandeln werden fie jchwerlich bereit fein. Dann käme bie
Trage nad) den Grenzen der Autonomie, die England ihnen zu laffen hätte, die Frage
des Kaffernſtimmrechts und der Amnejtie für die Mitlämpfer aus den Neihen der Kap
folonie. Daß, jobald der König von England als der Yandesherr anerkannt wird, bon Kirieg*
foften, welche die Buren auf fich zu nehmen hätten, feine Rede jein fann, liegt auf der Hand,
vielmehr werden die Buren in foldem Fall nicht nur die Nüdgabe ihres Brivat:
eigentums an Grund und Boden erwarten, ſondern auch Hilfe, um fi in dem gänzlich
ruinierten Yande wieder wirtihaftlich einrichten zu fünnen. Endli muß als conditio
sine qua non die jofortige Freigebung der in engliicher Gefangenjchaft Lebenden Buren
frieger gewährt werden. Daß die Buren in diefen Forderungen ein Minimum erbliden.
ift aber wohl verftändlich, da fie gewiß im ftande find, ihren Widerftand noch Jahr und
Tag fortzufeten, und das fünnte für die jehr Erieggmüden englifchen Steuerzahler zu den
»bereit3 aufgebrauchten Milliarden leicht eine neue bedeuten. Die auferordentlide
Schärfe der engliſchen Etatsdebatte wird dem Minifterium nad) diefer Richtung bin ge
zeigt haben, daß es auf neue Nachtragskredite doch nicht ind Endlofe rechnen kann
Obgleich nun bisher feine offiziellen Mitteilungen an die Deffentlichfeit gedrungen
find, jcheint der Auftrag, mit den Führern der Buren in Verhandlung zu treten, doch
bereit3 an Lord Kitchener abgegangen zu fein. Wir glauben aber nicht, daß de Wet
und Botha ohne Steiin und Schalt Burger bindende Verpflichtungen auf fich nehmen
werden. Scalf Burger aber ift wieder an Krüger gebunden, und das giebt einen
eirculus vitiosus, der von Afrika zu dem in Europa weilenden PBräfidenten Krüger
zurüdführt.
Der einzig fidhere Weg fir England wäre, wenn es dent Beilpiel folgen wollte,
das Deutjchland gab, als es zur Feitftellung des Friedens jene Nationalverjanmmluns
nad) Bordeaur berief, welche als gejegliche Vertretung des frangöfifchen Volkes die Ber
antwortung für Annahme der deutichen Bedingungen zu tragen ftarf genug war! Aber
nichts fpricht dafür, daß das Minifterium Salisbury:Chamberlain Neigung hätte, joldt
Wege zu gehen.
Militärifch Liegen jewt (Mitte Februar) die Dinge fo, dat Burenjtreitfräfte in
größerer Zahl im Nordweſten der Kapkolonie ftehen; daß Delaren ſüdlich von Mafeking
mit mehreren taufend Mann nad) Weiten durchgubrechen jucht, während Smuts, der
Theodor Schiemann, Monatsichau über auswärtige Politik. 905
feineöwegs jein Kommando verloren hat, wie ein fürzlid) veröffentlichter Brief wahricheinlic)
machte, mit 2—3000 Dann von Clan William und Calvinia aus nad; Norden vordringt.
Der ganze Nordweſten ift, mit Ausnahme der Garnijonen in den fleinen Ort-
Ichaften, in Händen der Buren, und noch fürzlich ift ihnen, wie wir aus zuverläffiger privater
Duelle wiffen, gelungen, ein Nemontedepot mit 3000 Pferden in Griquatown zu nehmen.
Das klingt freilid; anders als die offiziellen Berichte, die das englifche Kriegsminifterium
publiziert, und mir werden troß\der zahlreichen Kleinen Erfolge Kitcheners dadurd in
der Vorſtellung beftärft, daß England alle Urjache hat, nicht durch intranfigentes Ber:
halten den Bogen zu überjpannen. Nehmen wir hinzu, daß der von Kitchener im großen
Stil angelegte Plan, de Wet zu umzingeln, abermals geicheitert ift, jo fann nicht daran
gezweifelt werden, daß die Widerjtandskraft der Buren nod) lange nicht gebrochen ift.
Das jollte in Yondon doc) zur Mäßigung führen. Wir ftehen gerade jet vor der Zeit,
da die Natur zur Beftellung der Felder in Südafrika ruft. Für ein Volk von Aderbauern,
tie die Buren es ſind, bedeutet das eine Mahnung zum Frieden. Sie werden jet zugänglicher
jein, als wenn dieſe Wochen ungenutt bingegangen find; an England ift e8 darum, das
erlöjende Wort zu ſprechen, das all dem Sammer diejes ungerechten Krieges ein Ende
machen kann.
Dan jollte aber meinen, daß auch andere Gründe die Yeiter der englischen Politik
zu joldyen Erwägungen führen müßten. Seit dem Dezember des vorigen Jahres fpielt
fih ein blutiger Kampf zwijchen Britiſch Indien und den Baziri im Himalaya ab. Bis
zu Anfang Februar betrugen die engliihen Berlufte jchon gegen 1000 Mann, das heißt
mehr als in allen früheren Striegen, die gegen dieſes tapfere Bergvolk geführt wurden.
Dazu fommen Nadjrichten von aufftändiichen Bewegungen aus Kabul und Kalkutta.
Der Hadda Mullah tritt wieder mit feinen aufreizgenden Predigten in den Vordergrund,
und es kann heute faum mehr zweifelhaft fein, daß in dem Wetteifer um den bormwiegenden
Einfluß in Afghaniftan Rußland das Spiel gewonnen hat. In Petersburg wird eine
außerordentliche afghaniſche Gefandtichaft erwartet, und in der Mandſchurei hat Rußland,
auch ohne daß der vielumftrittene Vertrag vom Chinejen unterzeichnet worden wäre, fid)
jo fejt eingerichtet, daß ein Zurüctweichen fo qut wie ausgeichloflen ift. Nun haben zwar
England und Japan gegen die weitere Ausdehnung der Privilegien der Ruſſiſch-Chineſiſchen
Bank proteftiert, und auch die Vereinigten Staaten haben ſich diefem Proteſt angeſchloſſen,
was zu einem weiteren Aufichub der endgiltigen Regelung der PVertragsangelegenheit
geführt hatte. An der Thatjache, daß Nukland in der Stellung des beatus possidens
ift, ändert da3 aber ;garnichts. England ift in Siüdafrifa gebunden, Japan, deſſen
Parlament ziemlich geräufchvoll auf Räumung der Mandſchurei und auf eine Ber:
ftändigung in der foreanifchen Frage drang, kann wegen arger finanzieller Schwierig:
feiten nicht an gefährliche Unternehmungen denken, jo lange England in feiner bisherigen
Haltung verharrt, und endlich die Hand der Vereinigten Staaten reicht nicht über die
Tragweite der Geſchütze ihrer VBanzerichiffe hinaus. Der ruffiihe Handel nad China
hinein aber ift Yandhandel und kann Blockaden feiner Häfen am Stillen Ocean mit aller
Ruhe tragen.
In Ehina ift inzwiichen allerlei Bedeutfames gejchehen, feit am 16. Januar der
Kaiſer im Tempel des Himmels feine Dankopfer für die glücliche Rückkehr nach Peking
906 Theodor Schiemann, Monatsjchau über ausmärtige Politik.
gebracht hat. Mantſchikai ift mit der Reorganifation der chineſiſchen Armee (vorläufig
100000 Dann) betraut worden und hat, was alle Beachtung verdient, japaniſche Offiziere
zu Inſtruktoren berufen. In Tſchifu wird eine hinefishe Marineſchule eröffnet, für
welche Lord Charles Beresford fi zum Inſtruktor herbeigelajfen hat. Am 1. Februar
bat die Kaiſerin-Witwe, nachdem die Audienz der Gejandten vorausgegangen war, auch
die Damen des diplomatischen Korps mit ihren lindern empfangen und, wohl traftiert
und beichenft, huldvoll entlaffen, endlidy wird in Beling ein rujfiiches Bistum gegründer
und ein rujfiiches Mönchskloſter eröffnet werden. Kurz, die europäiſche Kultur hält in
den berwunderlichiten Formen ihren Einzug in das Reich der Mitte. Auch für Border:
aften wird bald eine neue Zeit beginnen. Ein Srade des Sultans hat endlich der langen
Unficherheit über die Zukunft der geplanten Bagdadbahn ein Ende gemadt. Sie wird
von der Anatolischen Gejellihaft gebaut werden, und troß der entichiedenen Feind:
jeligfeit, mit der eine offizielle Kundgebung des rufftiihen Finanzminifters Witte dem
Unternehmen entgegentrat, mit deutſchem und franzöſiſchem Kapital; der Bau
ſelbſt und die techniiche Leitung aber bleiben der Deutichen Banf. Bekanntlich
hat Rußland fich gleihjam als Gegengewicht ſchon vorher Privilegien zum Eifenbahnbau
im nördlichen Kleinaſien gefichert, aber man darf wohl annehmen, dat es mit Der Aus—
führung diefer Pläne nod) gute Weile hat, da gerade jett die finanziellen Bedrängnirie
Rußlands troß feines fcheinbar glänzenden Budgets ſich nur als jehr ernite bezeichnen
laſſen. Das weſentliche bleibt, daß wir unfererjeit$ die Zeit nützen, jobald von der
Türkei die unerläßlichen petuniären Bürgichaften geboten find. Damit aber jcheint es,
tvog des lebhaften Änterefjes, das der Sultan aus militärischen wie aus wirtichaftliden
Gründen dem Unternehmen entgegenbringt, nod) recht übel zu ftehen.
Die von der „Times“ veröffentlichten Ularſchen Enthüllungen über die Uchtomskiſchen
ntriguen vor Ausbruc des Aufftandes in Peking haben jih als Fälſchung ermieien.
Fürſt Uchtomski ift zu der Zeit, aus der die veröffentlichten Briefe ſtammen, gamidt in
Peking gewejen. So bleibt die ganze Affäre nur als grotesfes Beilpiel dafür beiteben,
bis zu welder Schamlofigkeit ſich ein gewiflenlojes Bolitifaftern fteigern fann.
Schr merkwürdig ift die von England aufgebracdhte Kampagne über die von den
Mächten vor Ausbruch des fubaniihen Krieges eingehaltene Politi. Der Ausgang iſt ein
für England ungemein beichämender, durch den nicht nur die politiihe Daltung des
Kabinett Salisbury im Jahre 1898, jondern auch der engliiche Unterjtaatsiefretär Yord
Granborne in empfindlichiter Weile bloßgeftellt worden tft.
Unzmweideutige Ausführungen der engliſch-amerikaniſchen Breile und zum mindeiten
vieldeutige Erklärungen Lord Granbornes, die in die Deffentlichfeit geworfen wurden,
als die Reife des Prinzen Heinrich nad) New York befannt ward, mußten in Amerife
die Borftellung ermweden, als habe Deutichland ſich um eine Intervention der Mächte
in dem fpaniich-amerifanischen Konflift bemüht, und erft die den Vereinigten Staaten
freundliche Haltung Englands dieje gefährlihen Abfichten lahm gelegt. In Wirklichkeit
haben nun die Dinge fich genau umgekehrt verhalten, und die Bublifation der Depeiden,
im ‚Reichsanzeiger“, die damals gewechjelt worden find, hat klärlich gezeigt, daß es der
direkte Widerſpruch Kaiſer Wilhelms gemweien ift, der die vom engliſchen Botſchafter
PBauncefoote beantragte ntervention der europäiſchen Mächte unmöglich gemadt hat.
Theodor Schiemann, Monatsfchau über auswärtige Politik. 907
Vielleicht jteht es mit der peinlichen Berlegenheit in Zujammenhang, welche dieje
Dinge in London erregten, daß ein am 30. Januar abgejchloffener Offenfiv- und
Defenfiv-Traftat zwifchen England und Japan ſchon am 12. Februar veröffentlicht
worden ift. Er hat durd) jeine ungewöhnliche aktuelle Bedeutung die Aufmerkſamkeit
von diejen Refriminationen jofort abgelenkt. Auch ift e8 in der That ein Ereignis von
größter Tragweite. Das engliſch-japaniſche Bündnis ift geichloffen zur Aufrechterhaltung
der territorialen Antegrität Chinad auf der Bafis der „offenen Thür“ und des
status quo, d. h., da die Mandjchurei von China nicht an Rußland abgetreten und der
vielbeiprochene Mandichureivertrag nicht rechtskräftig geworden ift, auch zur Erhaltung
der Mandichurei bei China. Der casus foederis tritt ein, jobald eine beider Mächte
mit mehr als einer Macht wegen Chinas oder Koreas in Krieg gerät, und der Vertrag
joll eine vorläufige Dauer von fünf Jahren haben.
Nun liegt auf der Hand, daß dieje Vereinbarungen ihre Spige gegen Rußland
richten, das entweder jeinen Abfichten auf die Mandſchurei zu entjagen hat, oder eines
Krieges mit Japan gemwärtig jein muß. Sollte, was nicht wahrfcheinlic it, die
Alliance Franco-Russe aud auf Dftafien Bezug haben, und Franfreih in einen
ruffiichschinefiichen Krieg eingreifen wollen, jo ift England verpflichtet, an der Seite
Japans zu kämpfen, während andererjeits fi) annehmen läßt, daß, wenn England am
Perſiſchen Golf, oder mo jonft feine Intereſſen mit den ruffiihen auseinandergehen, in
einen Krieg geraten follte, Japan die Gelegenheit nutzen wird, um jeinen Einfluß im
Drient dort herzuftellen, wo er von Rußland verdrängt worden ift.
Im engliihen Parlament hat die Oppofition darauf hingewieſen, daß durch diejes
Bündnis England in Abhängigkeit von der Politik Japans geraten fei, und in der That
ift nichts unmahrjcheinlicher, als daß Japan jene 5 Jahre, die ihm das Bündnis der
ſtärkſten Seemacht der Welt fihern, ungenutzt vorüber ziehen laſſen ſollte. Wir haben
oben die große Stellung gezeichnet, die Rußland im nordöftlihen Aſien einnimmt.
Damit ift aber die Lage gegeben, wie fie vor Abſchluß des engliich-japaniidhen Bünd-
niffes beitand. Heute liegt bereit3 alles anders. Rußland ift verwundbarer geworden
und wird mit äußeriter Sorgfalt jeden Schritt vermeiden müffen, der einem der beiden
neuen Alliierten die Möglichkeit giebt, das Programm vom 30. Januar zur Ausführung
zu bringen.
Fragt man nad) dem Wert, den der engliich-japanifche Bertrag für uns hat, jo
bedeutet er nad allen Seiten hin eine politiiche Entlaftung für Deutjchland, wie für
den Dreibund ald Ganzes. Sowohl die engliich-japanische wie die rufftiche Kombination
find für einen längeren Zeitraum an das oftafiatifhe Problem gebunden. Deutichlands
Antereffen und jeine politiiche Stellung in China aber liegen nicht nur außerhalb des
Konflittsfeldes, jondern gehören zu denjenigen Fragen der oftaftatiichen Politik, welche
von beiden Teilen als zu Recht beftehend anerkannt worden.
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LOLILILILILILILILILILILILILILILILILILILILILILILILILIL 29
Monatsichau über innere deutiche Politik.
Von
W. v. Mafiow.
VI.
Die Zolltariffrage im Januar.
w"" bereits zu Beginn des neuen Jahres das Bormwalten eines ftarfen Peſſimismus feit-
geftellt werden mußte, jo ilt das im Yaufe des Januar eher ichlimmer als beſſer
geworden. Wenn diefe Zeilen in die Hände der Pejer fommen, wird vielleicht ſchon eine
wichtige Enticheidung gefallen jein; der Rückblick auf den Januar aber kann nur die
Thatſache verzeichnen, daß die weiteſten Streife, die am politiſchen Leben intereijiert find.
von der Ueberzeugung, die Zollvorlage fünne nun und nimmer zu jtande fommen, tief
durchdrungen find. Diefe Erfahrung kann man überall machen, gleichviel welche Em—
pfindungen diefe Ueberzeugung an ihrem Träger auslöft, jei es Niedergeichlagenheit, ſei
ed Iriumphgefühl. Dennoch) wird man der horaziihen Mahnung eingedenf bleiben
müffen, day man in ſolchen ſchwierigen Sachen das Gleichgewicht des Geiftes bewahren
foll. Es ift allerdings diefe Zolltarifvorlage eine res ardua, aber noch berechtigt nichts
dazu, Ste verloren zu geben.
Der Dergang der Verhandlungen im lebten Monat läht ſich mit kurzen Worten
zuſammenfaſſen. Die Zolltariffommiffton des Neichstages nahm alsbald nach dem Wiederzu-
jammentritt des hohen Daujes ihre Arbeiten auf, aber fie fam in den erſten Situngen nicht
weit, da die Tarifgegner jofort mit energifchen Obftruftionsverfuchen einjegten. Mehrere
Tage hindurch wurde von jozialdemokratiicher Seite Antrag auf Antrag gehäuft, um das
Frortichreiten der Beratungen zu hindern. Da änderte ſich plögli das Bild. Es
wurden wirklich die erften Paragraphen des Zolltarifgefeges erledigt, und man fam an
die Beitimmungen des Gejetes, in denen die Negierungsvorlage die agrariihen Wünjche
nach Anſicht der Mehrheit nicht genügend berüdfichtigt hatte. Und nun folgte ein
Abänderungsantrag auf den andern, aber — von der redten Seite! Die Linke fonnte
hohnlachend die Hände in die Tafchen fteefen und zufehen, wie die Regierung ſich gegen
die Mechte wehrte; fie braudıte nicht einen Finger zu rühren, da die Gegner viel beſſer
ihre Geſchäfte bejorgten, als fie es ſelbſt jemals hätte thun fünnen. Denn was von
der agrariichen Oppofition jett betrieben wurde, war nichts Anderes als die Unbraud-
barmachung der Vorlage für ihren Zweck; hatten dieſe Beſtrebungen Erfolg, jo blieb
der Regierung nichts Anderes übrig, als die künftige Zoll- und Handelspolitit nad den
Winjchen der Yinfen einzurichten,
Die Frage liegt ſehr nahe, wie es nur möglich iſt, dat eine ſolche Taktik von den
Veehrheitsparteien, d. b. von den der Vorlage in ihren allgemeinen Grundzügen umd
M. v. Maſſow, Monatsichau über innere deutſche Politik. 909
Bielen zuftimmenden Parteien befolgt werden konnte. Es giebt mandjerlei Gründe
dafür. Zunächſt jprad wohl dabei eine Weberzeugung mit, die fich leider auf Grund
mannigfacher politiiher Erfahrungen herausgebildet hat, nämlich die Ueberzeugung von
der jelbjtverjtändlichen Nachgiebigfeit der Regierung gegenüber einem feit befundeten
parlamentarischen Willen. Man Hat fi) vollftändig daran gewöhnt, wirtſchaftliche
Vorlagen aus der Hand der Regierung in dem Sinne entgegenzunehmen, daß die par:
lamentarijche Arbeit daran auf dem Grundjag des gegenfeitigen Aufichlagens und Ab-
handelns beruht. Es gilt als völlig jelbftverftändlich, dak, wenn die Regierung 5 M. jagt,
das Parlament 7 M. jagen muß, weil beide Teile 6M. meinen. Oder auch umgekehrt.
DieMehrheitsparteien glauben, auch beider Zolltarifvorlage unbedenklich dengemäß handeln
zu fönnen, weil fie unter dem Eindrud ftehen, daß ihnen feine bejondere Verantwortung
daraus erwächſt. Sie jagen fich: wenn wir die Vorlage nicht nad) unſern Wünſchen
geftalten, jo ift die Objtruftion da; früher zu ftande kommt die Vorlage darum doch
nicht. Ferner aber glauben fie aud) nicht daran, daß die Regierung Ernſt machen und
ji der Yinfen in die Arme werfen könnte; die Regierung hat ja doch verjprochen, der
Yandwirtichaft zu helfen.
Allen diefen Erwägungen liegt überdies eine falſche Auffaſſung der Negierungs-
vorlage zu Grunde Der Bolltarif wird beinahe wie eines der Mittel aufgefakt, mit
denen der Not der Yandwirtichaft gefteuert werden joll. Daraus wird denn auch das
Recht der Bertreter der Landwirtichaft abgeleitet, den Entwurf jo zu geftalten, dat
diefer Zweck in der Hauptſache — und zwar durch die Einwirkung auf die Getreide-
preife — erreicht wird. Der Zolltarif ift aber in Wirklichkeit nicht das, fondern ein
Werkzeug der Dandelspolitif, mit dejien Hilfe der Ein: und Ausfuhrhandel im Sinne
der mwirtfchaftlihen Gelamtintereffen des Deutichen Reiches beeinflußt werden joll. Die
frühere deutjche Handelspolitif in der Aera Caprivi hatte den Fehler begangen, vorweg
anzunehmen, daß das Intereſſe des gefamten Handels in der Hauptſache durch die
Lage der Anduftrie allein bedingt fei, und da das Intereſſe der Ausfuhr von Induſtrie—
Erzeugniffen fi) damals hauptſächlich auf Länder eritredte, die ihrerſeits auf die Ge—
treideausfuhr nad; Deutichland den Hauptwert legten, jo ftellte ji) die deutiche Handels—
politik unbedenklih auf den Boden diefer Auffaifungen und erflärte rund heraus, daß
die deutiche Landmwirtichaft das Opfer bringen müfje, um der Ausfuhrinduftrie die
Handelsverträge zu verichaffen, deren fie bedürfe.. Das Fehlerhafte diefer Politik hat
die jegige Regierung vollfommen eingejehen. Sie erfennt an, daß Induſtrie und Handel
ihre Sintereffen nicht auf Koſten der Landwirtſchaft verfolgen dürfen, dat vielmehr die
Yandwirtihaft einen jo hohen Zollihus braucht, wie er irgend mit den Gejamtinter:
eilen des Landes und mit der Fortführung einer auf Berträgen beruhenden Handels
politit vereinbar ift. Aber der Zweck des Abſchluſſes vorteilhafter Dandelöverträge
fteht doch immer im VBordergrunde, und mur innerhalb diefes Zweckes fann für Die
Landwirtichaft gethan werden, was zur Anerkennung ihrer gleichberechtigt neben Induſtrie
und Handel ftehenden Intereſſen geichehen fann. Die Regierung fann unter diefen Um—
ftänden nicht zugeben, dab die Einleitung einer ſolchen Politik — dieje Einleitung ijt
eben die Aufftellung eines autonomen Zolltarifs — ganz ausichlieklid; unter dem Gefichts-
punft betrachtet wird, als ob das alles nur geichehe, um die Schäden der Landwirt:
910 W. dv. Maſſow, Monatsfchau über innere deutiche Politik.
ichaft zu heilen, und nicht um Dandelöverträge zu ichliegen. Dieſem Vorhalt gegenüber
pflegen ſich die Agrarier in die Bruft zu werfen und es der Regierung als ein Beichen
der Schwäche auszulegen, daß fie Dandelöverträge A tout prix abichliegen wolle. „Wir
wollen den Zolltrieg nicht, aber wir fürchten ihn auch nicht,“ — ſchrieb diefer Tage die
„Kreuz⸗Zeitung“. Auch diefer Vorwurf trifft an dem Ziel vorbei. Die Regierung will
nicht Dandelöverträge & tout prix; fie wird feine foldhen Verträge abichliegen, falls das
Ausland auf Bedingungen beiteht, die mit den wirtichaftlidhen Gejamtintereifen Deutſch—
lands nicht verträglich find. Sie muß aber denjenigen Beftrebungen im eigenen Yande
entgegentreten, die durch ungenügende Rüdfichtnahme auf den Zweck eines autonomen
Tarifs einem einzelnen, wenn auch noch jo wichtigen, Erwerbszweige eine einjeitige Be-
rüclichtigung verichaffen wollen. Das ift doch ein Unterſchied.
Wie jehr von landwirtichaftliher Seite der Zolltarif als ein für fich beftehendes
Schugmittel für die heimische Produktion angejehen wird, ift jchon früher einmal an dieier
Stelle angedeutet worden, als darauf hingewiejen wurde, daß die agrariihen Wort:
führer über unparitätiihe Behandlung von Induſtrie und Yandwirtichaft im Bolltarif
Hagten. Betrachtet man den Zarif als Unterlage für eine zweckmäßige Vertrags
politik, fo ergiebt ich ganz von jelbit, daß die hohen Anduftriezölle als ein weile gewähltes
Mittel zur Entlaftung der Yandwirtichaft anzujehen find. Man fann Dandelöverträge
nicht Schließen, ohne die Zugeftändniffe des anderen Teils entipredjend zu bezahlen. Auch
die Anduftrie wird die zu erlangenden Borteile bezahlen müſſen; der neue Tarif jest fie
in den Stand, diefe Vorteile mit Derabjegung der eigenen Zölle zu bezahlen, und nidıt,
wie bei den Gapriviihen Handelsverträgen, auß der Taſche der Landwirtichaft. Be—
trachtet man aber freilich den Zolltarif als ein fir und fertig hinzuftellendes Abiperrmittel
für die unbequeme ausländiihe Einfuhr, jo muß allerdings die Yandwirtichaft der
Induſtrie gegenüber auf den Standpunft des Fleinen ungen geraten, der fi ärgert,
daß der große Bruder das größere Stück Kuchen befommen foll.
Angefichts ſolcher falihen Auffaffungen, die, wenn fie feitgehalten werden, mit
Notwendigkeit zu einem vollitändigen Fiasco der ganzen neuen Dandelspolitit führen
müffen, ift e8 nun ſchon von der Weihnachtszeit an in vielen politifchen Kreiſen tief
beflagt worden, daß die Regierung nicht ſofort eine Erflärung abgab, die den agrari-
ichen Hoffnungen von vornherein jede Unterlage nahm und haaricharf den Charafter
der Vorlage feititellte. Wielleidt wäre ſchon damals eine Mahnung in diefem Sinne
ganz am Plate gemweien; der Reichskanzler hielt es aber für richtiger, wenigitens erit
den Beginn der Kommiflionsverhandlungen abzuwarten. Inzwiſchen begann ein ftarfes
Drängen nad; einer joldyen Erklärung gerade aus reifen heraus, deren grundjäglid
antiagrariiche Tendenzen die Regierung fi) doch nicht zu eigen machen fonnte, ohne fid
Mipverftändniffen auszujegen. Diefes Drängen ſündigte nad) der entgegengeiekten
Eeite hin wider die Agrarier: die Negierung follte ji) durchaus in dem Sinne feitlegen,
da fie unter feinen Umſtänden gewillt jei, über die im PBolltarifgefek enthaltenen
Mindeitzollläge für Getreide hinaus zu gehen.
Nun fann man ja überhaupt beftreiten, daß es zwedmäßig war, Minimalzölle
für die Dauptgetreidearten geſetzlich feitzulegen. Eine folche öffentliche Bindung der
Regierung, die im Begriffe fteht, mit fremden Staaten in Verhandlung zu treten, fann
TB. v. Maſſow, Monatsſchau über innere deutfche Politik, 911
nur als Notmittel gutgeheigen werden. Yeider aber lagen bei der Aufitellung des Zoll:
tarifs die Verhältnifie jo, daß, wenn die verbündeten Negierungen nicht zu den beftehenden
gewaltigen Schwierigkeiten noch turmhohe andere häufen wollten, fie fid) entichliegen
mußten, einerjeitS den Mgrariern eine gewiſſe Gewähr für Erfüllung bereditigter
Wünſche, andererfeitS den Gegnern einen beftimmten Maßitab dafür, wie weit man
agrariich fein wolle, zu geben. Nachdem nun aber die Minimalzölle einmal ihren Plaß
im Bolltarifgejeg erhalten haben, hat eine Erklärung der Negierung, unter feinen Um—
jtänden darüber hinausgehen zu wollen, doch jehr ihre Bedenken. Das Ausland würde
fich jagen: „Wenn die deutjche Handelspolitif in jo apodiftiicher Form fich weigert, die untere
Grenze der Getreidezolliäße aud) nur um ein Stleines hinaufrüden zu laffen, fo folgt
daraus, daß fie es bon vornherein aufgiebt, bei den Handelsvertragsverhandlungen unter
Umftänden mehr zu erreihen. Sie muß davon durchdrungen jein, daß fie zu höheren
Sätzen feine Dandelsverträge abſchließen fann; wir haben aljo von vornherein gewonnen
Spiel, wenn wir feitbleiben.” Es würde aljo der Nachteil, der ohnehin in der Bindung
der Minimalzölle liegt, noch verichärit werden. Parteien können wohl eine ſolche
Stellung einnehmen; fie bringen damit die Wünſche beftimmter Intereſſenkreiſe zu
Gehör, und die Sache hat weiter feine Bedeutung. Die Regierung aber hat feine
Beranlaffung, fi) die verantwortungsvolle Pflicht, mit dem Ausland zu unterhandeln,
durch Wünſche der Parteien erſchweren zu laffen und ihr Gebundenjein bei joldhen Ber:
handlungen irgendwie weiter zu treiben, als es parlamentarische Notwendigfeiten fordern.
Sie durfte das namentlich jo lange nicht thun, als die Ausfichten auf eine Verftändigung
der Mehrheitsparteien im Sinne der Vorlage noch nicht ganz gefchwunden waren. Es
mußte doch mindeftens erjt der Verfuc gemacht werden, wie weit politische Einficht und
das Gefühl der Verantwortung im ftande fein mürden, den Parteien die Lage zum
Bemwuhtjein zu bringen und fie im eigenen Intereſſe zur Unterjtüßung der Vorlage zu
bewegen. Dazu bedurfte es freilich einer gewiſſen Zeit, denn die wilde Agitation, die in
der Zeit zwifchen der erjten Veröffentlichung des Entwurfes und dem Beginn der
parlamentarischen Beratungen getrieben worden war, hatte die Stellung der Abgeordneten
ihren Wählern gegenüber zu einem großen Teil erſchwert, und außerdem vertraten viele
Parlamentarier den Standpunftt, daß fie ihre Stellung erft dann endgiltig wählen
fönnten, wenn die entjcheidende Frage der Getreidezölle in der Kommiſſion jelbit
genügend geflärt worden jei.
Aus allen diefen Momenten erklärt fi) die Zurücdhaltung, die von der Regierung
während des ganzen Januars beobachtet worden ift. Die Erwartungen, die dabei in
Bezug auf die Haltung der Mehrheitöparteien gehegt wurden, find nun freilich arg ge-
täufcht worden. Die Konjervativen und Freikonſervativen hatten ſich in dieſer ganzen
Frage jo jehr vor den agrarifchen Karren jpannen lafjen, daß fte fich dem Terrorismus
der Bundesführer, die fortgejett die Peitiche ihrer ertremen Forderungen ſchwangen, nicht
entziehen fonnten. Und da die agrariihe Kampfitimmung auch in nationalliberale
Wählerfreije eingedrungen war, auch ein Teil der nationalliberalen Abgeordneten mit
einer Heinen „Berbeiferung“ der Borlage im agrariihen Sinne fympathifierte, jo gab es
aud in den Reihen diejer Bartei Schwanfungen und Meinungsverjchiedenheiten, die eine
geichloffene Unterſtützung der Regierung unmöglich machten. Am merkwürdigſten aber
912 W. v. Maſſow, Monatsfchau über innere deutfche Politik.
zeigte ich die Gigentümlichkeit der Yage in der Daltung des Zentrums. Für die
Zentrumspartei, die die verichiedenften politischen Befenntniffe vom Eonjervativen Agrarier-
tum bis zur radifalen Demokratie in fich birgt und die dabei ftetö die Stellung einer
ausſchlaggebenden Partei wahren mill, ift in allen ragen, die nichts mit der Konfelfion
zu thun haben, die Taktik geboten, dak man fich jo lange als möglich abwartend ver-
hält — möglichſt jogar unter Hervorkehrung starker Bedenken und oppofitioneller
Neigungen —, um dann zuletst unter Durddrüdung einiger Abſchwächungen auf die Seite
der Regierung zu treten. Dieje bewährte Taftif muß aber in einem jo verzwidten Falle,
wie er beim Zolltarif vorliegt, vollftändig verjagen. Jede auch nur vorläufige Stellung:
nahme nad einer Seite hin bedeutet eine Bindung der Partei, die jehr leicht zum
ſchnellen Scheitern der ganzen Vorlage führen fünnte, und — was für die Zentrums:
taftifer noch viel jchlimmer ift — die Verantwortung dafür würde auf die Partei fallen.
Das Zentrum befindet ſich daher in der peinlichiten Lage und vermag einjtweilen nichts
Anderes zu thun, als zwar eine allgemeine Geneigtheit zu befunden, die Vorlage durch:
bringen zu helfen und eine Berftändigung im Sinne einer mäßigen Verbeſſerung des
Landwirtſchaftsſchutzes herbeizuführen, im übrigen aber möglichit unklar zu lajien, wie
weit man darin zu gehen gedenft.
So find in den eriten Wochen nadı dem Zujammentritt des Neihstages im neuen
Nahre die Parteien und die Regierung um einander herumgegangen, indem jeder
wartete, daß der andere den eriten Schritt thue. Sie jchienen, wie ihnen Herrn Richters
„rreifinnige Zeitung“ höhnend vorhielt, nad) der alten Scherzredensart zu handeln:
„Hannemann, geh Du voran!“
Bei diefjem Spiel der Parteien mußten fich die Dinge allgemad jo entwideln, dag
die Vorlage in der Kommiſſion auf das ernitefte gefährdet wurde. Die Negierung mußte
fi) nun doch entichliegen, aus ihrer Zurückhaltung mehr herauszutreten, da jedes Fort:
ichreiten auf dem bis dahin eingefchlagenen Wege die zur Berfjtändigung geneigten
Elemente nicht ftärfen, jondern ichwächen mußte. Der notwendige Entſchluß der
Regierung ift dann in erfreulicher Steigerung ausgeführt worden. Zuerſt emite
Warnungen des Staatsjefretärs Grafen Poſadowsky in der Kommiflion, dann das fchon
etwas ſchwerere Geſchütz einer offiziöſen Note in der „Norddeutichen Allgemeinen Zeitung”
und endlid eine jedes Mikverftändnis bejeitigende, klärende Nede des Reichskanzlers
jelbit beim Feſtmahl des Deutfchen Yandmwirtichaftsrates am 7. Februar.
Die Aufgabe aller diejer Kundgebungen war, die jogenannten Mehrheitsparteien
nicht in Zweifel darüber zu laſſen, daß die jorgfältig abgewogenen Feititellungen der
Regierungsvorlage nicht geeignet jeien, willfürlichen Aenderungen in agrariicher Richtung
unterzogen zu werden; zugleich aber mußten die Negierungsorgane aud) bei Abgabe joldher
Erklärungen jede Wendung vermeiden, die fie über das ın der Megierungsporlage ſchon
enthaltene Maß hinaus binden fonntee Man muß anerkennen, daß dieje ſchwierige Auf:
gabe gelöjt worden ift. Ueberlegt man ſich das genau, jo braucht man ſich nicht weiter
den Kopf zu zerbredjen, ob die von einem Teil der Zentrumsprefie erhobene Forderung,
die Negierung folle fih noch genauer und bündiger ausdrüdfen, auf Argliit oder Ber:
legenbeit zurückzuführen iſt. Das letztere ift das wahriceinlichere. Denn nichts fann die
„ausichlangebende* Partei in den Zuftand größerer Dilflofigfeit verſetzen, als wenn die
W. v. Maſſow, Monatsfchau über innere deutſche Politik. 913
Regierung ſelbſt zwiſchen der Oppofition von rechts und links hindurch, im Vertrauen
auf die patriotiiche Einfiht der gemäkigten Klonjervativen und Nationalliberalen, mit
feftem Schritte die Führung nimmt.
Nun darf man freilid) den Gewinn aus jolcher Yage vorerjt nicht überjchägen.
Man darf nicht vergefien, wie viele Klippen troß alledem noch zu überwinden find, und
man fann hier nicht mit genügender Sicherheit auf den Erfolg einer ultima ratio
rechnen, wie fie unter Umſtänden der Appell an den Volkswillen darstellen würde. Denn
wir wollen uns doch nicht täufchen: unpopulär ift der Zolltarif, Das beweiſt nichts
gegen die Vorlage, denn das Verſtändige und Notwendige ift jehr häufig unpopulär.
Unpopulär war auch die preußiiche Heeresorganijation in der Konfliktszeit, bis die
Thaten, die daraus entiprangen, auch dem Berftande der Maſſen einleuchtend machten,
was damit gewonnen mar. Sn der Bollfrage findet gleichfall3 doftrinäre Verhetzung
einen danfbaren Nährboden in dem plumpen Alltagöverjtande der Maſſen, der die an-
geitellten Rechnungen über „Brotverteuerung“ um fo begieriger aufnimmt, je dummer
und gewilfenlojer fie verfertigt find. Falls aber eine vernünftige Zoll: und Handels:
politif uns wirtjchaftlichen Vorteil bringt, wird niemand von den jekigen Schreiern zu—
geben, daß dieſe Vorteile im Zufammenhang mit den zweckmäßigen Tarifaufitellungen
ftehen; wir haben eben feine Ereigniffe zu erwarten, die, wie die Thaten von 1866 und
1870, einft dem König Wilhelm und jeinem großen Staatsmann vor aller Welt un-
beitritten recht gaben. Die komplizierten Vorgänge unjeres Wirtfchaftslebens eignen fich
dazu nit. Dem Konjumenten wird beijpielämeije eingeredet, daß er ein Quantum
Yebensmittel, das er jetzt mit 25 Pf. bezahlt, Fünftig mit 30 Pfg. werde bezahlen müffen.
Diejen Nachteil verjteht jeder zu würdigen. Aber bei der fünftlichen Verjchleierung der
Verhältniffe macht ihm niemand Elar, daß nur durch dieje VBerteuerung — angenommen,
daß fie einträte! — die Möglichkeit gegeben ift, feine Einnahmeverhältniffe auf derjelben
Höhe zu halten oder aud) zu verbeffern. Wenn die Yöhne gedrückt werden, wenn anftatt
jeder Mark nur 75 Pf. gezahlt werden, jo bedeutet die Beibehaltung der niedrigen
Yebensmittelpreiie für die wirtichaftliche Lage des einzelnen bereits einen Nachteil.
Wir würden es als einen ſchweren Schaden anjehen müffen, wenn die Dinge fich
jo geftalten jollten, daß der Bolltarif nocd vor der Zeit zum Angelpunft einer Wahl-
bewegung würde. Jedenfalls muß jeder einfichtige Politiker, der in der Lage dazu ift,
das Seinige thun, um die baldige Erledigung der Bolltarifvorlage durchzufegen. Ob
die neueiten Kompromißverfuche, die zu der Zeit, mo dieſe Zeilen gejchrieben werden, jo-
eben an die Deffentlicheit getreten find, zu dem gewünſchten Ziel führen werden, muß
einer jpäteren Betrachtung vorbehalten bleiben.
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EREZREREREZREZRERTEZRETR
, Weltwirtichaftlihe Umſchau.
Von
Paul Dehn.
Das Werden des größerbritifchen Zollbundes. — Deutiches Kapital im Auslande. — Die
Bagdadbahn. — Zur Ameriktafahrt des Prinzen Heinrich.
chon vor zwanzig Jahren erhoben ſich in England einzelne Stimmen zu Guniter
eines größerbritiihen Zollbundes zwiichen Großbritannien und allen feinen Be
figungen. „Wir follten unjer Getreide,“ jo äußerte im Nahre 1881 Stavely Hill, „unjere
Brotfrüdte und alles, was in den verjchiedenen Stolonialflimaten gedeiht, nur von
unferen Stolonieen beziehen und fie jollten ausichließlich von England, ihrem Mutterlande,
ihren ganzen Bedarf an Induſtriewaren deden.* Diejer Gedanke fand Anklang, als die
nordamerifaniiche Republif und mit ihr die meiften Sulturftaaten fih immer mehr von
Ihußzöllneriichen Grundſätzen leiten und wiederholt Zollerhöhungen in Kraft treten liegen.
Auf der Londoner Kolonialfonferenz von 1887 vegte der Premierminifter von Queensland
die Bildung eines größerbritiichen Zollverbandes an. Alle Teile des britiichen Reiches
follten ſich gegenfeitig durch Vorzugszölle begünftigen. Damals machte auch der Sñd—
afrifaner Hofmeyr den Vorſchlag, von der geſamten ausländiichen Einfuhr in Groß
britannien wie in den Kolonieen einen Zufchlagszoll zu erheben. Beide Vorichläge waren
nur zu vertwirflichen, wenn England jeine freihändlerifche Politif aufgab. Ende 18%
traten die größerbritijchen Zollvereinsbeftrebungen aufs neue hervor. An Beantwortung
einer Umfrage des Yondoner Kolonialamtes verlangten die Kolonialregierungen zumädit
das Recht jelbjtändiger Zollpolitif, da fie nicht an Verträge gebunden fein wollten, denen
fie nicht ausdrüdlich zugejtimmt hatten. Vor allem follten die Meiftbegünftigungsperträge
Englands mit Belgien und Deutjchland gefündigt werden, weil auf Grund diefer Verträge
die Kolonieen verhindert wurden, die Einfuhr der fremden Staaten ungünftiger zu be
handeln als die engliiche Einfuhr. In England fanden diefe Beitrebungen, obwohl fie
mit den freihändleriichen Ueberlieferungen in ſchroffem Widerfprudy ftanden, vielfade
Buftimmung, auch in freihändleriichen Kreiſen. Eine fleine Abweichung von der Linie
des FFreihandels zu Gunften eines großen engliihen Zollbundes erachtete die „Times“
für zuläffig. Der Freihandel bleibe zwar für den Verbrauder ohne Frage das Beite,
doc könne das Intereſſe des Verbrauchers nicht immer allein berücdfichtigt werden.
Mitte 1894 vereinigten fi) die Vertreter der englischen Kolonieen in Ottawa (Kanada
zu einer interfontinentalen Stonferenz und befürmworteten Zollermäßigungen zwiſchen Grof-
britannien und feinen Kolonieen zur Schaffung vorteilhafter Bedingungen im gegenieitiger:
Verkehr.
Paul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umſchau. 915
Ernithaft zu nehmen war der größerbritijche Zollbundsgedante, als Joſeph Chamberlain
Kolonialminifter wurde und fich vorfekte, diefen Gedanken mit Hülfe des Ymperialismus
zu verwirklichen. Bei jeinem Amtsantritt hatte er den Gouverneuren der Kolonieen mit-
geteilt, e3 fei das Ziel der Regierung, dem Mutterlande mehr als bisher den ihm zu—
fommenden Handelsverkehr mit den Stolonieen zu fihern. Chamberlain machte 1896 jelbit
eine Reiſe nad) Kanada, wo die hochſchutzzöllneriſche Politif der nordamerifanijchen
Republif zu Abwehrmaßregeli drängte, und verkündete jodann auf einem Feſteſſen des
Yondoner Kanadaflubs als das Endziel jeines handelspolitiihen Programms die Her-
jtellung eines zollgeeinten britiichen Dandelsgebietes, die handelspolitiſche Verſchmelzung
Großbritanniens mit feinen Kolonieen in allen Weltteilen nad) dem Beijpiel des zoll-
geeinten Deutichlands. Wie Chamberlain Mitte 1896 bei Eröffnung des Handelsfammer:
fongreffes andeutete, hoffte er zu diejem Ziele zu gelangen durch Freihandel innerhalb
des Reiches, durch Zölle gegen das Ausland, die jede Kolonie nad ihrem Ermeſſen auf-
erlegen könne, mogegen Großbritannien die Maffenerzeugniffe der Kolonieen (Korn, Fleiſch,
Zuder, Wolle) bei der Einfuhr aus dem Auslande mit Zöllen zu belegen habe. Cham:
berlain machte fein Hehl daraus, da fein Ziel ohne Abweichung von den „erhabenen
Grundjägen des Freihandels“ nicht zu erreichen jei. Bald wurde der erfte Schritt gethan.
Nahdem Kanada im Frühjahr 1897 einen neuen Zolltarif fertig neftellt hatte mit Zoll:
ermäßigungen für jolche Länder, die kanadiſche Erzeugniffe frei einlaffen, aljo allein für
engliiche Erzeugnijje, fündigte England die Handelsverträge mit Deutidhland und Belgien
und befreite dadurch die Kolonieen von ihrer Meiftbegünftigungspfliht. Kanada und
jpäter Barbados ließen dann Vorzugszölle zu Gunften englifcher Waren in Kraft treten
und wurden in das jeit 1898 wiederholt verlängerte HandelSvertragspropiforium Englands
mit Deutſchland u. ſ. w. nicht mehr aufgenommen.
Yängere Zeit blieb diejer erite Schritt zum größerbritiihen Zollbund der einzige.
Auf dem Feitlande meinten die Optimiften, Chamberlain habe fein Ziel aufgegeben.
Noch im Oktober 1900 glaubten freihändlerifche Blätter wie die „Nat.-Ztg.", die Pläne
Chamberlains als freie Kombinationen „der deutichen Handelspolitiker agrarfonfervativen
Schlages“, als „handelspolitiiche Angftmeierei* abthun und behaupten zu fünnen, dab
mit joldhen Bejtrebungen fich deutiche Blätter ungleich mehr bejchäftigten, „als jämtliche
Unterthanen ihrer britiihen Majeftät zufammen“. Auch Brofeffor Diepel-Bonn erflärte
in feiner Schrift „Die Theorie von den drei Weltreichen“ im Frühjahr 1900 die Chamber:
lainichen Pläne für ausfichtslos. Sn der Hauptiadhe wurde die öffentliche Aufmerkſamkeit
davon abgelenft durch den jüdafrifaniischen Krieg, der in feinem Verlauf zunächſt die
Madtitellung Großbritanniens erjchütterte. Pielleiht wäre diefer Krieg vermieden,
ficherlich aber aufgejchoben worden, wenn Ehamberlain in feiner früheren Zeit nit Waffen:
und Munitionsfabritant, fondern etwa Baummollinduftrieller gemwejen wäre und das
überwiegende Bedürfnis friedlicher Zuftände für das englifche Erwerbsleben unmittel-
barer hätte würdigen fünnen. Aber jelbjt inmitten diejes Krieges behielt Chamberlain
jein älteres und höheres Ziel im Auge. Die Einigung Auftraliens begünftigte er als eine
Etappe zu dem größerbritifchen Zolbund, und in ftetem Hinbli auf diefen betrieb er
die Neuregelung der jüdafrifaniihen Verhältniſſe.
Die Einigung Auftraliens war eine Vorbedingung des größerbritiichen Zollbundes,
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916 Paul Dehn, Weltmirtfchaftlihe Umſchau.
fie bejteht jeit 1. Januar 1901. Schon im Frühjahr 1900 erklärte der auftraliihe Dele
gierte Fyſh, Kanada habe dem Mutterlande einen Vorzugstarif bewilligt und dasielbe
werde das vereinigte Auftralien thun. Anfang 1901 meinte Barton, der Bremierminifter
des geeinigten Australiens, die Frage eines Vorzugstarifs für britiihe Waren jet wert,
gegebenen Falles ermogen zu werden. Er würde fich freuen, wenn es möglid) jei, Gegen-
jeitigfeit eintreten zu laffen. Von vornherein war man in Auftralien bereit, der engliichen
Einfuhr Vorzugszölle zu gewähren im Falle 'entiprechender Gegenzugejtändniffe. Mitte
April 1901 äußerte Bundes-Finanzminifter Turner die Anfiht, daß ein Differentialtarıf
zu Gunften des Mutterlandes recht und billig jei und ohne Schaden für die heimiſche
Induſtrie zum Gedeihen Englands beitragen und jchließlid; zur Vereinigung des Reiches
führen werde. Indeſſen haben die leitenden Kreiſe Auftraliens dod Anjtand genommen,
dem Borbilde Kanadas zu folgen und Vorzugszölle für die engliiche Einfuhr zu bewilligen.
Nur ein Drittel der auftraliichen Ausfuhr geht nach England, zwei Drittel finden außer:
halb Englands Abſatz, vor allem auch in Deutichland, das nächſt England Auftraliens
beiter Abnehmer ift. Deutichland würde, falls Auftralien der engliichen Einfuhr Vor:
zugszölle eingeräumt hätte, die auftraliichen Erzeugniffe, die es in Mafjen bezieht, nament-
fi Wolle, Hartholz, Borke, Sohlleder, Häute, Getreide u. ſ. w., alsbald mit Kampfzöllen
belegt und feinen Bedarf anderweit gedeft haben. Man will nunmehr in Auftralien
auf einem Umwege zu dem gewünschten Biele gelangen und zwar nicht Borzugszölle für
engliihe Waren einführen, wohl aber Borzugszölle für alle Waren ohne Unterichied der
Herfunft, die auf britiichen Schiffen eintreffen. Der Gedanfe ift nicht ganz neu. Mitte
1901 jollte in der Kolonie Straits Settlements die Einfuhr chineſiſcher Deckpaſſagiere
auf nichtengliichen Schiffen verboten werden. Schon Mitte 1900 plante man in Auftralien
ein Berbot der Küftenichiffahrt für alle nichtbritiihen Schiffe, Nach dem auftraliichen
Bollgejeß vom 1. Oktober 1901 follen alle nichtauftralifchen Schiffe, die in den auſtraliſchen
Gewäſſern verfehren, den Schiffsproviant, den fie dort verbrauchen, verzollen. Cinige,
auch deutihe Schiffe find daraufhin bereits beanftandet worden. Eo lange da3 Handels—
bertragspropiforium zwiſchen dem Deutihen Reih und Großbritannien nebſt Ktolonieen
mit der Meiftbegünftigung befteht, kann Auftralien keinesfalls daran denfen, fremde
Waren, wenn fie auf nichtbritiihen Schiffen anfommen, mit höheren Zöllen zu belegen,
da nach dem deutſch-engliſchen Handelsvertrage wie nad allen Meiftbegünftigungs:
verträgen, falls nicht bejondere Vorbehalte gemacht worden find, die Schiffe der Vertrags:
jtaaten in jeder Hinficht auf demjelben Fuß wie die einheimifchen Schiffe und die Waren
die diefe Schiffe bringen, nad dem Meiftbegünftigungsredj;t behandelt werden müſſen.
Am 31. Dezember 1903 läuft das deutjch-engliiche Dandelsprovijorium ab, und Nuftralien
wäre dann in der Lage, die geplanten VBorzugszölle zu Gunsten von Waren, ohne Rückſicht
auf ihre Herkunft, wenn fie auf britiſchen Schiffen eintreffen, einzuführen. Diefe Vor—
zugszölle richten fich nicht gegen fremde Waren, mwohl aber gegen die fremde Schiffahrt,
und find geeignet, die nichtengliiche Schiffahrt, vor allem auch die deutfche, die fich im Berkehr
mit Nuftralien erfreulich entwidelt hat, auf das Empfindlichfte zu ſchädigen. Ein derartiges
Borgehen Auftraliens ift zwar nicht gleichbedeutend mit einem neuen Schritt geradewegẽ
zum größerbritiichen Zollbund, wäre aber immerhin ein Fleiner Fortſchritt in der Richtung
zu diefem Biel. Bei der Wichtigkeit, die alle Mächte der nationalen Schiffahrt beimefien,
Baul Dehn, Weltwirtſchaftliche Umſchau. 917
und mit Rückſicht auf die Opfer, die ſie zu ihrer Hebung bringen, kann es indeſſen nicht
zweifelhaft ſein, daß das geplante Vorgehen Auſtraliens zu Gunſten der britiſchen und
zum Schaden aller nichtbritiſchen Schiffahrt entſprechende Gegenmaßregeln der betreffenden
beteiligten Staaten hervorrufen wird und zwar vorausſichtlich die nämlichen Gegenmaß—
regeln, die ergriffen worden wären, wenn Yuftralien Vorzugszölle zu Gunften der
engliichen Einfuhr beichlofjen hätte.
Schwieriger jchien es, die jüdafrifaniichen Kolonieen für den Anjchluß an den größer:
britiihen Zollbund zu gewinnen. Indeſſen hatte Chamberlain auch hier ſchon lange vor:
gearbeitet. Rhodeſia, die Gründung des Cecil Rhodes, erhielt von Anfang an das Red,
eine jelbjtändige Zollpolitif zu treiben mit der Bedingung, daß britiichen Waren unter
feinen denkbaren Umftänden Schußzölle auferlegt werden dürfen. Ob Rhodeſia Schug-
zölle gegen andere ausländische Waren einführen jolle, wurde der Zukunft überlaſſen.
Als Chamberlain im englifchen Unterhauje am 6. Mai 1898 diefe Abmacdjung verteidigte,
hob er die Notwendigkeit hervor, einen freundjchaftlichen Verkehr zwiichen den Gliedern
des britiichen Reiches Herzuftellen, ohne daß fremde Nationen fi daran beteiligten.
Zwijchen den verjchiedenen Teilen des britiichen Reiches jolle vollkommene Freiheit herrichen.
Ghamberlain jah die Zeit gefommen, da es für die Kolonieen Englands Anlaß geben
fönnte, dem Mutterlande als Entgelt für alle empfangenen Borteile einen Vorzug zu
gewähren. ‘m Derbit 1900 begann die Agitation von Cecil Rhodes und Genofjen aud)
in der Kapfolonie. Mitte Dftober liegen fie in der Südafrifa-Liga die Berdienſte Englands
um die Kapfolonie und zugleich die Vorteile hervorheben, die die Kolonie durch An—
gliederung der Burenrepublifen erfahren werde. Dagegen eradteten e3 dieſe Agitatoren
als billig und gerecht, wenn Südafrika zum Schu der engliichen Einfuhr die Erzeugniffe
anderer Länder mit Zöllen belege. Als Lojung wurde ausgegeben „Zoll auf alle Waren
mit Ausnahme englischer“. , Kurz vorher hatten englifche Blätter berichtet, daß Kolonial—
miniſter Chamberlain beabjichtige, die englische Einfuhr in Britiſch-Südafrika durd Ein:
führung eines „mäßigen“ Differentialzolles auf Waren nichtbritiihen Urfprungs zu be:
günftigen. Man gedachte demnach, die nichtbritiiche Einfuhr durch befondere Zollzufchläge
zurüdzudrängen. Südafrika iſt für Deutichland ein wichtiges Ausfuhrgebiet, es bezog
im Jahre 1898 für mindeltens 35 Mill. ME. deutiche Waren. Der Zentralverband
Deutſcher nduftrieller lenkte die Aufmerkſamkeit des Reichskanzlers auf die Abjicht der
engliichen Regierung, bei der Berzollung der Waren in Südafrifa das Ausland ungünftiger
zu jtellen als das Mutterland, und der Berein lothringiich-luremburgiicher Stahl‘
induftrieller bat den Reichskanzler, die Einverleibung der Burenrepublifen nur dann ans
zuerfennen, wenn England Bürgichaften dafür gebe, dar in Südafrika eine differentielle
Behandlung der eingehenden Waren weder bei der VBerzollung noch bei der Verfrachtung
jtattfinden würde. Wenn England die Annerion der Burenrepublifen aufrecht erhält, jo
fann es ihre Meiitbegünftigungsverträge mit Deutjichland und den anderen Ländern für
hinfällig erklären und die ſüdafrikaniſche Zollunion in die Wege leiten.
Im Herbſt 1901 verhandelte auf Veranlaifung EChamberlains Gouverneur Milner
in Kapjtadt mit dem Miniiterium von Natal über die Grundbedingungen einer ſüd—
afrifanishen Zollunion. Der Premierminiiter von Natal ſprach jih dabei zu Gunſten
von Borzugszöllen für engliihe Waren aus, allerdings unter der Porausfegung, dag
YiB Baul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umfchau.
England Gegenjeitigfeit bewillige. Nach jeiner Anficht ermutigt der gegenwärtige Frei—
handel in Südafrifa lediglich die auswärtige Konkurrenz. Inzwiſchen waren englüche
Blätter bemüht, für die Chamberlainichen Beftrebungen gegenüber Südafrifa Stimmung
zu machen. So ließ ſich Ende SFebruar 1902 der Londoner „Daily Erpreß“ aus Berlin
berichten, daß man in deutichen Handelskreiſen jehnjüchtig den Abſchluß des Friedens in
Südafrita erwarte, um die füdafrifanischen Kolonieen für den deutichen Handel zu ge
winnen. leichzeitig wurden die engliiden Kaufleute ermahnt, die deutiche Konkurrenz
ſcharf zu überwachen. Die Deutſchen würden nichts unverjucht laffen, jo verficherte der
Berichterftatter, den Engländern die Früchte des Krieges zu entreigen. Den Engländern
mögen die Goldminen bleiben, Deutichland wolle jedenfalls den Handel bejigen. Ganz
Südafrita werde mit deutichen Erzeugniffen überſchwemmt werden. Deutſche Finanzleute
jolften geneigt fein, Geldmittel herzugeben, damit die Burenfarmen und die Kaufläden
twieder eingerichtet werden könnten, und in Südafrika werde eine Handelsvendetta eritehen die
alles unter deutichen Einfluß bringe. Das Yondoner Blatt behauptete ſchließlich, dat; fait
jeder ausmwanderungsluftige Deutiche feine Augen auf Südafrika gerichtet habe und dort:
hin auswandern wolle, Die deutihe Einwanderung nad Südafrifa werde noch größer
werden als die deutiche Einwanderung nad Amerifa um die Mitte des vorigen Jahr—
hunderts u. ſ. w. Thatſächlich ift nicht® von dem, was das engliche Blatt verjichert,
richtig. Deutichland mwill durchaus nicht den ganzen Handel Südafrifas an fich reißen.
deutiche Finanzleute denfen vorläufig nicht daran, den Buren zu helfen, die angebliche
Dandelsvendetta gegen die Engländer it eine Bhantafie, und ohne jede thatjächliche
Unterlage it die Behauptung, daß eine deutiche Maffenauswanderung nad Südafrifa
bevorftehe. Vielmehr macht fid) eine Abwanderung der Deutſchen aus Südafrifa bemerf-
bar. Die Beziehungen zwifchen den Deutſchen und Engländern in Südafrika find außer—
ordentlich kühl, die Engländer gebärden fic als die Herren, und die deutichen Firmen
jehen fich zurüdgedrängt oder verichtwinden ganz. Die Ausfichten für das deutjche Geſchäft
nad) Beendigung des Krieges find alio nicht annähernd jo günftig, wie man in deutichen
ntereffententreifen annahm, und nicht unmöglich ift es, daß diefe Ausfichten gänzlich
durchfreugt werden, wenn Chamberlain in die Yage kommt, bei der Pagifizierung Süd—
afrifas unter Berufung auf Englands Anſprüche als paramount power auf ſüdafri—
faniihem Boden jeine größerbritiichen Zollverbandspläne aufzunehmen und wieder einen
Schritt vorwärts zu bringen. Angeblich führen die Engländer den Krieg um „gleiches
Recht für alle weißen Raffen in Südafrika“. In Wirklichkeit benugen fie ihn, um alle
ausländiichen Kaufleute und Waren aus Südafrika zu verdrängen und allen Nicht:
engländern jede Ermwerbsthätigfeit jo gut wie unmöglich zu maden. Als die Engländer
diejen graujamen Krieg begannen, gab e8 auch in Deutichland überkluge Gejchäftsleute,
die mit größtem Nachdruck verficherten, daß gerade im Intereſſe der deutichen Aus:
fuhr die Annerion der Burenrepublifen durd; die Engländer zu wünjchen je. England
werde auch dort wie überall und immer die Grenzen feiner Kolonieen dem Handel
aller Nationen offen halten. Seither find dieſe Verehrer des engliihen Freihandels
allerdings verftummt.
Anfangs hegte man in den Kolonieen die naheliegende Meinung, da Englands
Gegenleiſtung für die Vorzugszölle zu Gunsten der engliihen Einfuhr ebenfalls in Bor:
Paul Debn, Weltwirtfhaftliche Umfchau. 919
zugszöllen beitehen müßten und zwar in Borzugszöllen Englands zu Gunjten der Ein-
fuhr aus den britiichen Kolonieen. England hätte in der Hauptſache auf Lebensmittel
und Rohſtoffe Zölle erft einführen müffen, wenn aud; nur gegenüber der nichtbritischen
Einfuhr. Dafür wäre eine parlamentarische Mehrheit aber do faum zu erlangen ge
weſen. Man jcheut in England davor zurüd, das ganze Zolligftem zu ändern und ins—
bejondere Eingangszölle auf Lebensmittel und Rohſtoffe zu legen, wenn aud nur für
jolche nichtbritiicher Herkunft. Die englifchen Freihändler würden fich dagegen auflehnen,
auch jozialpolitifche Bedenken laſſen fich fgeltend machen. Bor allem aber möchte man
einen Zollfrieg mit Nordamerifa vermeiden, der unbedingt ausbrechen müßte, falls
England Erzeugnifie der Bereinigten Staaten von Nordamerifa mit Differentialgöllen
belegt. Der engliſche Markt ift der wicdhtigfte für die Vereinigten Staaten. Sollte er
ihnen verjchloffen werden, jo würde man in Wafhington feinen Augenblid zögern, Ber:
geltungsmaßregeln zu ergreifen und einen Zollfrieg zu eröffnen, den man in England,
ganz abgejehen von politifchen Bedenken, auch aus wirtichaftlichen Gründen nicht wird
hervorrufen wollen. Ein Zolltrieg mit Nordamerifa würde dem britiichen Reiche
größeren Schaden zu fügen, als der Nuten wäre, den es von einem größerbritifchen Zoll-
bund zu erwarten hat.
So war man in England bemüht, den Kolonieen Gegenzugeftändnijfe auf anderen
Gebieten zu gewähren. Kanada erhielt eine neue Reichstelegraphenlinie zugefichert, Die
quer durch das Stille Meer nad) Auftralien hin verlängert werden joll. Sodann ftellte
man den Kolonieen auf dem [reichen Londoner Geldmarkt Anlehen zu günftigeren Be-
dingungen in Ausficht, auch für ftädtiihe und induftrielle Zmede, ferner Zufchüffe für
Scdiffahrtsverbindungen und Eifenbahnbauten. Von großem Wert für die britiichen
Kolonieen nad) verjchiedenen Richtungen hin ift jelbitverftändlich die englifche Kriegsflotte.
Ehedem, ala England noch allein Welt: und Kolonialpolitif trieb, empfanden die britijchen
Stolonieen fein Bedürfnis nad) Schuß und Hilfe durd die englifche Flotte. Anders jest,
da faft alle Mächte fih an der Welt- und Stolonialpolitif beteiligen und die Intereſſen
oder Ajpirationen britiicher Kolonieen zumeilen kreuzen. Da ift auch den .britifchen
Kolonieen der Wert der engliihen Flotte zum Bewußtſein gefommen und fie erbliden
darin ein gewichtiged Gegenzugeftändnis für die VBergünftigungen, die fie der englifchen
Einfuhr gemährt haben oder gemähren wollen.
Noch ftehen dem größerbritiichen Zollbund große Schwierigkeiten entgegen, aber
jie ericheinen nicht mehr unüberwindlid, und in greifbare Nähe ift unzweifelhaft ein
Biel gerüdt worden, da8 man nod vor einem Kahrzehnt für unerreichbar hielt.
Ghamberlain allein hätte das nicht zu ftande bringen können, wenn nicht wirtichaftliche
und politische Konjunkturen jeinen Beitrebungen fehr zu jtatten gefommen wären: im all»
gemeinen die ſchutzzöllneriſche Bolitif der meiften Kulturftaaten, die ſich den englifchen
Erzeugnifjen mehr und mehr verichloffen, insbefondere die ſchutzzöllneriſchen Vorſtöße Nord-
amerifas, die nebenbei Kanada näher an England drängten, jodann der induftrielle Auf:
ſchwung Deutichlands im Schuge einer nationalen Handelspolitif, ferner die imperialiftiiche
Bewegung in England, die einen politiichen und militäriichen Zuſammenſchluß Groß—
britanniens mit feinen Kolonieen jchaffen will und einzelnen Kolonieen, wie Auftralien,
große Vorteile dafür verheißt, nicht zulett der jüdafrifanijche Serieg, der trog aller Oppo—
20 Paul Dehn, Weltwirtichaftliche Umſchau.
fition in den Kolonieen doc al3 eine gemeiniame Sache betradjtet wird und den gröger-
britiichen Reichsgedanken in politiiher wie in wirtichaftlicher Hinficht gefräftigt hat, So
bewegt ſich die Entwidelung des Verhältniſſes zwiichen England und feinen Kolonieen
mehr und mehr in der Richtung zu den wirtichaftlichen Zielen der Chamberlainichen
Rolitif, für die man zur Beſchwichtigung der engliichen Freihändler eine neue blendende
Etikette gefunden hat. Unbedingter Freihandel zwiihen allen Teilen des britijchen
Reiches! Man verichliegt fi die Augen vor der jchuszöllneriichen Konſequenz dieies
Satzes, vor dem jhutzöllneriihen Charakter des angeftrebten größerbritiihen Zollbundes
und man will fich nicht geftehen, daß diejer größerbritiiche Zollbund der eigenen Schwäche
Großbritanniens entipringt, das ſich auf dem Geldmarkt zurüdgedrängt fieht und mit
Hilfe des Schußzolles ſich ſtärken und jeine Stellung behaupten will.
Bei der Beratung des Dandelsvertragsproviioriums mit England am 16. Juni
189 im Neichötage hatte Graf Poſadowsky die größerbritiihen Zollbeitrebungen noch
jehr fühl behandelt und ihre Durchführbarkeit bezweifelt. Die britiichen Kolonieen, jagte
er, würden es ſich überlegen, die deutiche Einfuhr ungünftiger zu behandeln, da jie mehr
nad) Deutichland jenden, als von dort beziehen. Sollten fie dennoch dem Deutichen Reich
die Meiftbegünftigung nehmen, jo würde der Schaden ungmweifelhaft auf ſeiten der
britiihen SKtolonieen liegen, da Deutichland die meiften britiichen Stolonialerzeugnifie fich
auch andermweit beichaffen fünne Das ift ganz richtig. Allen man muß dod die
größerbritiihen Zollverbandsbeftrebungen ernfthaft ins Auge faffen, nachdem fie in
Kanada feite Geftalt angenommen haben und in Südafrifa wie in Auftralien greifbar
hervortreten. Chamberlain weiß, was England notthut, diefem Hauptintereſſenten der
größerbritifchen Zollbundsbeftrebungen, diefem Induſtrieſtaat, nad) Peez einem gewaltigen
Kompler von Fabriken vergleichbar, der genötigt ift, bei Strafe des Hunger immer:
während fortzuarbeiten, in Gang zu bleiben und jeine Ausfuhr zu vergrößern. Auf-
gabe britischer Staatskunſt ift e8, für diefe unverhältnismäßig herangewachſene Riejen-
anlage Abjag zu jchaffen. Für ihren ungeheuren Ueberfluß an Tertilftoffen, Metall:
waren u. ſ. w. müſſen die Engländer Abnehmer finden, ftoßen aber in allen Staaten
auf immer höhere Zollichranfen und wollen fih nun einen ausreichenden Markt fichern
innerhalb eines größerbritiichen Zollgebietes, indem fie die fremde Konkurrenz verdrängen.
Ob diefe Politik vorteilhaft auch für die, britiichen Kolonieen jein wird, ift eine Frage,
die von den anderen Mächten nicht hervorgefehrt werden kann. Das zu entjcheiden, it
Sache der Kolonieen felbft. Für die anderen Mächte ergiebt ſich zunächſt die Notwendigkeit,
gegenüber der größerbritiihen Zollbundsgefahr Borbeiprechungen einzuleiten, um ihr
gemeinfam und wirfiam zu begegnen. Alle Mächte werden durch die größerbritiiche Zoll:
bundspolitif mehr oder weniger in Mitleidenichaft gezogen, und zwar in erjter Neihe nicht
etwa Deutſchland, das die engliihen Dandelspolitifer vor allem im Auge haben, jondern
die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die nächſt England nicht nur im Handel mit
Kanada, fondern auch mit Auftralien und Südafrifa meiftbeteiligt find, in Kanada mit
450 Millionen Mark Einfuhr, in Auftralien mit 88 Millionen Mark und in Südafrika
mit 40 Millionen Mark. Deutjchlands Ausfuhrnad dieſen Ländern ift ebenfalld erheblid),
nah Kanada 34 Millionen Mark, nad Auftralien 40 Millionen Mark und nah Süd—
afrifa 35 Millionen Marf. Nennenswert ift ferner der Ausfuhrhandel Franfreihs nad)
Baul Dehn, Weltwirtichaftlihe Umfchau. 921
Kanada und Auſtralien, und beteiligt find außerdem Belgien, die Schweiz, Italien,
Holland u. j. w. Gelingt e3 den engliihen Bolitifern, ihrer Einfuhr aud in Auftralien
und Südafrika irgend welchen Borjprung zu ſichern, jet es nun durch differentielle Bor-
zugszölle für die Waren oder durch differentielle Flaggenzölle, jo liegt es nahe, daß alle
Staaten, die ſich dadurd betroffen fühlen, eine Berftändigung anzubahnen fuchen über
die zweckmäßigſten Gegenmaßregeln, die dann, wenn fie gemeinjam ergriffen werden,
nit ohne Wirfung bleiben können. Bon ausichlaggebender Bedeutung wird hier das
Berhalten der nordamerikaniſchen Republif jein. Nicht ausgeichlofien ift die Möglichkeit,
daß die englilchen Bolitifer noch in letzter Stunde ihre größerbritiichen Zollbunds:
beitrebungen zurüditellen, jobald fie jehen, da unter den Mächten, auf die fie Rückſicht
nehmen müjfen, ein Einvernehmen beiteht, diejen Beitrebungen nachdrücdlich entgegen-
zutreten und äußerſten Falles die Abwehrmahregeln auf England jelbjt auszudehnen.
Am 5. März wird der Ausſchuß der Bereinigten Reichshandelsliga in London eine
öffentliche Beiprehung über die größerbritischen Zollbundsbeftrebungen veranitalten, um
jeine Bejtrebungen nach einer Entwickung des Handels zwiichen allen Teilen des britiichen
Reiches auf Grundlage einer Bevorzugung iu den Vordergrund zu rüden.
* Es
*
Als den „ſchlimmſten Feind unſerer wirtſchaftlichen Produktion“ hat der Abg.
Pingen von der Zentrumspartei Anfang Januar das deutſche Kapital bezeichnet,
ſoweit es im Auslande produktiv angelegt iſt. Deutſches Geld und deutſche Ingenieure
errichten, ſagte er, im Auslande Fabriken und Anlagen aller Art. Deutſche Unter—
nehmer erwerben unüberſehbare Strecken fruchtbarſten Bodens im Auslande und werfen
ihre Erträgniſſe auf unſere Märkte. In ſolcher Allgemeinheit und Beſtimmtheit iſt dieſe
Auffaſſung nicht zutreffend. Will man zu einem richtigen Urteil gelangen, ſo muß man
zunächſt unterſcheiden zwiſchen deutſchen Kapitalien, die im Auslande angelegt werden,
den Eigentümern Zinſen und Gewinn bringen und ihnen nicht verloren gehen, und
zwiſchen deutſchen Kapitalien, die mit ihren Eigentümern ausgewandert find und im
Auslande bleiben. Sodann find für die Nüslichkeit und Schädlichkeit der betreffenden
deutſchen Kapitalien von Einfluß die PVerhältniffe der betreffenden Auslandsitaaten.
Vorteilhaft für das Heimatland find, vorausgejegt, daß ein hinreichender Kapital—
überflug vorhanden it, Anlagen in guten fremden Werten, in Schuldverjchreibungen
fremder Staaten, in GEijenbahnen und anderen Aktiengeſellſchaften. Solche Anlage
erfolgt nur, wenn Zinjen und Gewinn höher find als bei gleichen inländijchen Werten.
Veider haben die deutſchen Banken bei derartigen Anlagen in vielen Fällen mehr Ge:
winnſucht als Vorſicht bekundet. Durch die maijenhafte Einfuhr argentiniicher, portu—
giefticher, griechiicher, jerbifcher und anderer Werte find die deutichen Sparer, iſt das
deutſche Volksvermögen in bedenklihen Grade gejhädigt worden. Und noch eine andere
Unterlafjungsfünde haben jich die deutichen Banken faſt ohne Ausnahme zu jchulden
fommen laffen. Fait niemals haben fie fih um die Bermendung der deutjchen Stapitalien,
deren Ausfuhr fie vermittelten, gefümmert, während die Engländer und Franzoſen ftets
darauf hielten, daß die betreffenden anleihebedürftigen Staaten fich verpflichteten, bei der
Berwendung der Anleihen zu Eifenbahnbauten oder fonjtigen Unternehmungen die An
gehörigen des betreffenden Gläubigerftaates zu bevorzugen. So fonnte das Unbegreifliche
922 Paul Dehn, Weltwirtichaftliche Umſchau.
geichehen, daß in Serbien franzöfifhe Unternehmer Eijenbahnen bauten mit Kapitalien,
die auf dem deutichen Geldmarft beicdyafft worden waren. In Zukunft müffen die deutjchen
Banken, falls die Anlage deutichen Kapitals in fremden Staatsſchuldverſchreibungen
nicht ernitlich beanftandet werden joll, größere Borfiht befunden und einen weiteren
Blick bei der Wahrnehmung nationaler ntereffen.
Dazu fommen dann Sapitaldanlagen, Berfehröunternehmungen und öffentliche
Anftalten in Grund und Boden, jomweit die Eigentümer in Deutichland wohnen geblieben
find. Auch dieje Kapitaldanlagen erweiſen fich in der Regel vorteilhaft für das Heimat-
land, Thatfächlich find im Auslande beträchtliche Kapitalien in Verfehrsunternehmungen
und öffentlichen Anftalten angelegt worden, zum fleineren Teil auch in Landbeſitz. Aber
mit ihren Erzeugniffen machen diefe Unternehmungen durchaus nicht immer der deutichen
Arbeit Konkurrenz. Wenn deutiche Unternehmer im Auslande mit deutichem Kapital,
womöglich auch mit deutichen Kräften, mit deutſchen Maſchinen und jonftigem Bedarf
Eilenbahnen oder Straßenbahnen bauen, Sasanftalten oder Eleftrizitätswerfe errichten,
wenn fie in tropiichen Gegenden Grund und Boden anfaufen, um Baumwolle oder
Kaffee oder Südfrüchte zu erzeugen, jo konkurrieren fie feineswegs gegen die deutiche Arbeit,
befruchten fie vielmehr durch Bezug von deutihen Mafchinen und anderen Erzeugnifien,
wie durch Beichäftigung von deutichen Kräften meift unter günftigeren Berhältniffen und
vermehren aud; das deutiche Volksvermögen um den Gründungsgewinn und, bon un—
günftigen Unternehmungen abgejehen, auch um die höheren Slapitalszinien, die fie in der
Heimat verbrauchen. Außerdem heben ſolche Unternehmungen auch das Anfehen und
der Einfluß der Deutichen im Auslande und jchaffen dem Deutichen Reiche Stützpunkte,
die unter Umftänden von politiihem Wert fein fünnen. Auf derartige Unternehmungen
trifft unbedingt nicht zu, was der Abg. Bingen allgemein von deutichen Kapitaldanlagen
im Auslande behauptete.
Nun giebt es allerdings im Auslande noch andere Unternehmungen deutſcher
Nlapitaliften, in der Hauptſache Fabriken verjhiedener Art, und diefe mag der Abg. Bingen
im Auge gehabt haben, als er die deutichen Kapitaldanlagen im Ausland für „den
Ihlimmiten Feind unferer wirtichaftlihen Produktion“ erklärte. Indeſſen trifft dieſer
Ausſpruch nicht immer auf das in ausländiihen Fabriken angelegte deutſche Kapital
zu. Wenn die Wollwarenfabrifanten in Gera oder die Seidenmweber in Strefeld oder
andere Anduftrielle wahrnehmen, daß ihre Ausfuhr nad) Nordamerika oder nad) Rukland
zurücgeht und jchliegli ganz ins Stoden gerät, mweil die Einfuhrzölle von nordamerifa-
niicher oder ruffiicher Seite iibermäßig erhöht wurden, wenn ihnen jede Möglichkeit der
Ausfuhr durch die hohen Zollihranfen der ausländifhen Märkte genommen wird, follen
fie da unthätig bleiben und fi) das ganze Geichäft aus der Hand gehen lafjen? In der
Regel begnügen fie fi damit, ihren Abſatz im Inlande zu erweitern oder fremde Märkte
heranzuziehen. Aber zumeilen ericheint es ihnen lohnend, Zmweigfabrifen in den betreffenden
fremden Staaten anzulegen, um von dem Geſchäft zu retten, was zu retten iſt. Solche
Zweigfabrifen find im allgemeinen nicht vorteilhaft für das Mutterland, fie ſtärken die
‚induftrie des fremden Staates, fie machen fie leiftungs- und konkurrenzfähig, auch wenn
einmal die Zölle wieder ermäßigt werden jollten, fie locken nicht jelten tüchtige heimische
Arbeitskräfte hinaus, die nicht mehr ins Mutterland zurüdfehren. Allein es bleibt ihnen
Paul Dehn, Weltwirtfchaitliche Umſchau. 923
immerhin ein Unternehmergewinn, den fie im Inlande verzehren, und diejer Unternehmer:
gewinn ift immerhin beffer als nichts. Derartige Fälle find feit Jahrzehnten in großer
Zahl vorgefommen. Als Deutichland feine Eijenzölle erhöhte, Liegen fich engliiche In—
duftrielle in Deutichland nieder und trugen nicht nur zur Hebung der deutjchen Eifen-
induftrie erheblich bei, jondern fie wiejen auf die Wege, wie man durd) Schußgzölle die
engliſche Konkurrenz abhalten konnte. Einer diefer Engländer Namens Mulvanh ift der
eigentliche Provofator der deutichen Schutzollbewegung am Niederrhein genannt worden
und er hat ein Seitenftücdf in dem Engländer Skene, der in Oeſterreich den ſchutzzöllne—
riihen Gedanken lebendig machte. Auch die Deutichen befunden gelegentlich diefes ubi
bene ibi patria. In den achtziger Nahren hörte ich im Niederöfterreihijchen Gewerbe:
verein zu Wien, wie ein öfterreichifcher Großinduftrieller reihsdeuticher Herkunft Namens
Hardt in breiter wejtfälifcher Mundart vor dem Bau der Tauernbahn warnte, weil fie
nur dem deutfchen Handel zu gute fommen werde, der dem öfterreichiichen Gefchäft
aefährlih und überlegen jei! In Oeſterreich haben viele deutiche Fabrifanten Zweig—
geichäfte gegründet, als ihre Ausfuhr dorthin durch Zollerhöhungen erſchwert wurde.
Bor allem ift der Aufſchwung der Lodzer Anduftrie weſentlich auf deutiche Kräfte und
Deutiche Kapitalien zurüdzuführen. Auch in Nordamerifa haben deutjche Unternehmer
zum ‚Aufblühen einzelner Induſtriezweige erheblidy beigetragen. Diefe Unternehmer
befanden fich zumeift in einer Zmwangslage und fie wählten, vom deutſchen Standpunft
aus betrachtet, das Fleinere Uebel, fie gründeten im Auslande Zweigfabrifen, fie machten
der heimifchen Arbeit Konfurrenz, genau betrachtet ihrer eigenen Arbeit, weil fie im
Auslande feinen Abjag mehr fanden, fie bereicherten aber doc jchlieklih das Ddeutiche
Volksvermögen, foweit fie in Deutfchland wohnen blieben oder nad Deutichland
aurüdfehrten. Mit diefen Thatjachen muß man fich abfinden, fie waren und find nad
Lage der Dinge nicht zu ändern. Wenn deutiche Unternehmer nicht nad) Yodz oder nad)
Nordamerika gegangen wären, hätten Engländer das Geſchäft gemadt. Schaden erleidet
Das deutiche Volksvermögen in jolhen Fällen nur dann, wenn der betreffende Unter:
nehmer im Auslande verbleibt, was ja häufig genug vorgefommen fein mag. Geſchädigt
werden heimischen Sintereffen unzweifelhaft da, wenn auch oft nur in geringem Maße,
wo deutiches Kapital ohne Not im Auslande Fabriken errichtet, die gegen deutjche
Erzeugniffe auf dem Weltmarkt fonfurrieren. Das ift wiederholt geichehen. Deutſche
Kapitaliſten haben Zucderfabrifen in Ungarn und Rumänien gegründet, deutiche Tertil-
induftrielle Webereien in Italien u. j. w. Bon diefen Unternehmungen gilt fo ziemlid),
mas der Abg. Bingen zu allgemein geäußert hat.
Vielleicht läßt fi) ein Fachmann herbei, die Frage nach dem Nuten und Schaden
nationaler Kapitaldanlagen im Nuslande eingehend und unbefangen zu unterjuden
unter Anführung der vorliegenden Thatiachen und Erfahrungen. Wie ſchon angedeutet,
find auch die Verhältniffe der betreffenden Auslandsftaaten dabei von Bedeutung. Als
Deutichland Kiautfchou beſetzte, äußerte Freiherr von Richthofen, der ausgezeichnete
GShinafenner, bemerfenswerte Bedenfen über die zunehmende Mitwirkung Europas an
der Erichliegung Chinas. Wenn Chinas Kräfte entwicelt werden durd Anlage von
Eifenbahnen und anderen Berfehrsmitteln, durch die Förderung der Bodenfchäge, durch
die Einführung der Anduftrie, durch die Heranbildung der Arbeiter, durch die Hebung
924 Baul Dehn, Weltwirtihaftlihe Umſchau.
des Ausfuhrhandels, dann erachtete es Richthofen für fraglid, ob nicht China die
größeren Vorteile davon habe, ob Europa nicht geichädigt, ob e3 nicht durd das Erjtehen
ded neuen gewaltigen Stonfurrenten gefährdet werde. Bon Europa drängt man den
Chineſen die europäiſchen Errungenſchaften durch Telegraph und Gifenbahn auf, man
ruht nicht, bis die ſchlummernden Riejenihäge an natürliden Hilfsquellen und menſch—
liher Arbeitöfraft entwicelt worden find. Aber man ift unbefümmert darum, ob nid):
dadurch Europas hohe materielle Macht herabgeiegt wird, ob nicht der Kolok, dem man
das durch weſtliches Genie jinnreich erdachte Spielzeug in die Hand drüdt, es jo zu
gebrauchen lernt, daß den Erfindern jelbit ſchwerſte Schädigung droht. Der indujtrielle
Fortſchritt Chinas fei nicht mehr zu hindern, jei unabweisbares Berhängnis für Europa.
Jede Kohlengrube, die geöffnet wird, jede Fabrik, die daraufhin für die Chinejen angelegt
wird, jede Eijenbahn, die man ihnen aufzwängt, iſt ein Teil diejes Selbitmordprogejies.
Er wird gefördert, wenn man bejtrebt ift, die Wehrfähigfeit von China zu erhöhen.
Indeſſen fügt Freiherr von Richthofen mit Betonung hinzu: „So lange die fremden
Mächte hiervon abjtehen und e8 jelbjt übernehmen, von ihren feiten Pläsen an den
Küſten aus das Land zu ſchützen, werden fie die Fäden der Eritarfung des Reiches der
Mitte in ihrer Hand behalten.“
Abgejehen von einzelnen Ausnahmefällen find die Borteile nationaler Kapitals:
anlagen im Auslande weitaus größer als die Nachteile. Darnach wird bereits in der
Praxis jeit geraumer Zeit verfahren: Bon den unmittelbaren \ntereijenten durd; Ein-
leitung neuer Stapitalsanlagen der verichiedeniten Art im Auslande und durch die Re—
gierungen, die dieje Beitrebungen fürdern und gerade aud die daraus entitehenden
nationalen Sntereffenpunfte im Auslande bereitwillig ſchützen. Nach diefer Richtung hin
werden fich die Dinge auch weiter entwideln und erjt im fozialdemofratiichen Zufunfts-
ftaat dürfte man dazu fommen, mit dem Sapital überhaupt auch die ausländiichen
Stapitalsanlagen zu beieitigen, wenn nicht etwa die Zufunftsftaatspolitifer rechtzeitig ver-
ftändig werden und anftatt theoretische Konſequenzen praftiihe Zweckmäßigkeit
walten laſſen. —
Nach langwierigen Verhandlungen, bei denen wie üblich waäahrſcheinlich die Höhe
des an die türkiſchen Beamten zu zahlenden Backſchiſchs eine große Rolle geſpielt haben
mag, hat der Sultan durch Iraden die Konzeſſion der Bagdadbahn an die unter
deutjcher Führung ftehende Geſellſchaft mit dem frangöfiichen Namen „Societe des che-
mins de fer d’Anatolie“ Mitte Januar auf 99 Nahre endgiltig erteilt. Die Bahn wird
nicht von Angora aus, wie urjprünglich geplant, jondern von der anderen Enditation
der anatoliihen Bahn, von Sonia aus, weiter geführt werden, zunächſt nad) Adena, wo
bereit3 eine Bahn nad) Meriina am Mittelmeer abzweigt, jodann an den Euphrat bei
Niſib und Biredjif, weiter über Wardin nah Moſſul, der Stadt des Mujlelins, am
Tigris und von da entlang dem rechten Ufer über den Grengort Danefin, Zmweigitation
für den Wallfahrtsort Serbela, nad) Bagdad-Basra und KHadhina am Ditende des
Golfs von Komeit. Die Bahn wird von Konia bis Kadhina 2400 km lang werden, ein-
ichlieglich der bereits fertigen Strede von Konitantinopel nad) Konia 3000 km. Es
handelt ji alio um ein Berfehrsunternehmen großen Stils, deſſen Geſamtkoſten aur
Paul Dehn, Weltwirtichaftliche Umſchau. 925
600 Millionen FFr., alio 300000 Fr. für den Kilometer, geichägt werden. Freiherr von
der Golg, diefer hervorragende Stenner des Landes, zweifelt zwar nicht daran, daß es
dem Geſchick und der Zähigfeit der deutichen Konzeſſionäre gelingen wird, die obwaltenden
techniſchen, wirtichaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten glüctlich zu überwinden, findet
aber doch, daß der Wen bis dahin noch fteil und lang ift, und meint, man werde troß
des Naturreichtums jener Gegenden feine allzu ſanguiniſchen Hoffmungen auf ihr jchnelles
Aufblühen jeken dürfen.
Das größte Hemmnis für den Baubeginn liegt in der Zinsbürgichaft, die die
türfiiche Regierung zu gewähren bat. Vereinbart wurde nun allerdings eine ftaatliche
Bürgihaft von jährlid; 16500 Fr. für den Kilometer, jo daß die Eifenbahngejellidaft
fein Wagnis auf ſich nimmt. Indeſſen wird die türfiihe Negierung dadurch mit einer
jährlichen Bürgichaftsleiftung von 40 Millionen Fr. belaftet. Wenn aber auch diefer
Betrag nur allmählich fällig wird und annähernd zur Hälfte durd die Betriebseinnahmen
gededt werden dürfte, jo entiteht doch die Frage: Wer bürgt für die Bürgichaft?
Welche Unterpfänder fann die türkische Negierung geben als ausreichende Sicherheit für
die pünftliche Zahlung ihrer Verpflichtungen? Bereits find die regelmäßigen Nahreseinfünfte
der Türfei, wie Freiherr von der Golt hervorhebt, fo vollftändig in Anſpruch genommen,
dat ihnen feine neue Yaft mehr aufgebürdet werden fann. Es handelt ſich alſo
darum, Cinnahmequellen zu ermitteln, die bis jett verfchlofien geblieben find. Frei—
herr von der Golg irrt indeflen, wenn er glaubt, daß neue Einnahmequellen aus
dem Abſchluß neuer Sandelöverträge mit der Türkei durch Anwachſen der
Bolleinnahmen flüffig gemacht werden fünnten. Wohl würde die Türkei ihre Einnahmen
beträchtlich vermehren, wenn e8 ihr endlich gelingen jollte, ihren alten Zolltarif mit einem
Wertzoll von 8 Prozent entiprechend zu erhöhen. Aber feit Sfahrzehnten zögern die Mächte
mit ihrer Zuftimmung, die notwendig ift, weil der Zolltarif auf den alten Stapitulationen
beruht, die nicht einjeitig von der Türkei bejeitigt werden fünnen. Kommen gleichwohl
die Verhandlungen endlich zu einem glüclichen Abſchluß, und ift es der Türfei möglid,
ihre Zölle zu erhöhen, dann tritt Artikel 8 des Ausgleiches der türkischen Regierung mit
ihren Gläubigern vom Jahre 1881 in Kraft, wonach der Mehrertrag aus den türkiſchen
Böllen infolge einer Nenderung der Zollfäge durch Revifion der Handelsverträge den
älteren Gläubigern zu übermweijen ift. Ueber dieje Beitimmung müßte hinmweggegangen
roerden, und das fünnte jehr wohl geichehen, denn die Anleihen, die mit dem leichtfinnigen
Abdul Aziz unter mwucherifchen Bedingungen abgeichloffen wurden, werden bereits aus
anderen Einnahmequellen ausreichend verzinft. So lange diefe Schwierigkeit nicht bejeitigt
ift, fann mit den Bahnbauten nicht begonnen werden.
Nadı ‚Vollendung der Bahn werden auch die Engländer unmittelbare Vorteile
daraus ziehen. Das „indiiche Felleiſen“, das möchentlich in jeder Richtung zwiſchen
England und Indien verkehrt und angeblicdy acht Eijenbahnmwagen füllen joll, wie der
engliſch-indiſche Perſonenverkehr, der in den achtziger Jahren auf 35 000 Reilende jährlid)
geichäßt wurde, werden nicht mehr ihren Weg über Brindifi und den Suezfanal nehmen,
der nahezu über 15 Tage beanfprudt, jondern die Bagdadbahn benugen, die es ermöglicht,
die weite Fahrt in 10 bis 11 Tagen zurückzulegen, aljo 4 bi 5 Tage zu eriparen.
* *
*
926 Paul Dehn, Weltwirtichaftliche Umjchau.
Die Amerifafahrt ded Prinzen Heinrich übt auch in wirtichaftspolitiicher
Dinficht ihre Rückwirkungen. Hüben und drüben erweckt fie freundlichere Stimmungen.
Der BZollkrieg, der unvermeidlich zu fein ichien, rückt in die Ferne, und vielleicht kommt
es zu einer Verftändigung. Dazu drängen nicht nur die unmittelbaren Intereſſen der
beiden Reiche, jondern auch andere Umſtände, vor allem die näherrücdende Verwirklichung
der größerbritiihen Zollbundbeftrebungen, die von dem Deutichen Reihe wie von der
nordamerifaniichen Nepublif, peinlih empfunden werden müjjen. Die nordamerifanijche
Gefahr befteht allerdings nad) wie vor für das europäifche Feitland, fie wird, durch die
erftaunliche Entwicelung der nordamerifaniichen Trufts in unberechenbarer Weiſe verichärft,
und ihre Abwehr bleibt nad) wie vor ein wichtiges und jchwieriges Problem. Allein
dieſes Problem wird ein wenig zurüdgeftellt. In der That follte man vorläufig alles
unterlaffen, was geeignet wäre, das geniale Vorgehen des Kailerd gegenüber den Ber:
einigten Staaten zu jtören, und in Bezug auf Amerika große Zurücdhaltung üben. Von
dem Geichäftsführer eines Berliner Nnduftriellen-Bereind waren Beiprehungen mit
öfterreichiichen Anduftriellen über die nordamerifaniiche Gefahr in Anregung gebradt
worden. Sollten dieie Beiprechungen wirklich zu ftande fommen, was aus verjchiedenen
Gründen noch zweifelhaft ericheint, jo würde ihre Dinausichiebung einem richtigen Gefühl
entiprechen.
S
GES OOOO
Deutictum im HAuslande.
Von
Paul Dehn.
Deutfche Arbeit im Auslande. — Deutfchsevangeliihe Miffionen. — Deutſches Schulmejen im
Auslande. — Ungarn. — England. — alien. — Griechenland. — Nordamerika. —
Deutihe Schubgebiere. — Burrenitaaten.
entfche Arbeit im Auslande. Nachgerade wird es Zeit, daß eine Vereinigung
deutich:nationalgefinnter Männer zufammenftellt, was deutjche Arbeit, deutiche Gelehrte
und Zechnifer, deutiche Beamte und Offiziere im Nuslande geleiftet haben. Deutiche
Beicheidenheit und deutiche Zerfahrenheit haben es bisher noch nicht zu einem Werf
gebradht, das hervorragend geeignet wäre, das Anjehen der Deutichen im Auslande zu
heben und das Nationalgefühl aller Deutichen zu Eräftigen. Es ift im hohen Grade
bezeichnend, dat ein Schweiger den eriten Verſuch gemacht hat, auf einem beftimmten
Gebiet diefe Lücke auszufüllen. In einer Abhandlung über die Fulturfördernde Arbeit
des deutichen Heerweſens im Auslande tadelt der eidgenöffiihe Hauptmann R. Günther
die deutihe Gewohnheit, die Kulturarbeit des eigenen Deeres zu verfennen. Alle
folonifierenden Staaten, ob groß oder Elein, ebenjo die feitländiichen Mächte haben, wie
Günther heroorhebt, ſchon im 18. Jahrhundert eifrig darnach getradhtet, deutjche Kräfte,
namentlich deutiche Offiziere, zu gewinnen. Venedig und Portugal machten den Anfang. Seit
1726 wirkten preußiiche Neformatoren mit dem Ererzierreglement diesjeit8 und jenfeits
des Weltmeeres, in Portugal Wilhelm von Schaumburg, der jpätere Lehrer Scharn-
horfts, in Spanien Alvensleben, in Neapel Salis, in Rußland Münnich, Schomburg,
Manftein, Bruce u.a. In der Schweiz ftand das preußifche Vorbild in höchitem Anjehen.
Bern übertrug dem General Lentulus die Neorganijation jeines Heeres, ein anderer
friderigianischer Offizier, Nittmeifter von Orelli, reformierte das Heerweſen in Zürich
und in Neapel. Der Schöpfer der berühmten jchweizeriichen Scharfihügen Fannte, jagt
Dauptmann Günther, nur ein Beilpiel, das preußifche. Die Vereinigten Staaten von
Nordamerika verdanken dem General von Steuben die erfte Organijation ihres Heeres,
fein Reglement von 1778 galt über 80 Jahre als amtliche Anftruftion. Der Franzoſe
Gribauval, der von 1764 bis 1789 das frangdfiiche Geſchützweſen reorganifierte, hatte
vorher 12 Nahre feine Wiffenichaft in Berlin erlernt. Im Soalitionskriege erhielten die
Dffigiere des franzöfiichen Revolutionsheeres eine Anleitung, die der franzöfiiche Kriegs
minifter ehrlich als geiftiges Eigentum Friedrichs des Großen bezeichnete. Was der
Fähnrich Pirich von Potsdam nach Verjailles brachte und dort ald Major lehrte, behielt
von 1791 bis 1830 amtliche Geltung, ward auch in Fleinen deutschen Staaten als hödhite
928 Paul Dehn, Deutichtum im Auslande.
militäriihe Weisheit franzöſiſcher Herkunft gepriefen, war aber in Wirflichfeit, mi
Günther feitftellt, bis auf den lebten Wuchftaben geiftiges Cigentum Ffriedrid:
des Großen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts waren deutihe I ffiziere fin
der Türfei thätig, vor allem Moltfe, dann Grad, Malinomsfy, Wendt, Bluhm, Etreder.
Drygalski, Grunewald, Rüſtow, Samphövener, von Dobe u. a. und nicht zuleßt
Colmar von der Golk, der Schöpfer des militäriichen Unterrichtsweſens in
der Türfei. In Rumänien war es fein Geringerer als König Karl jelbit, der jern
Heer nad) deutihem Mufter reorganifierte, zum Teil unter Mitwirkung deutjcher Offiziere.
In dem Buche „Aus dem Leben König Karls von Rumänien“ (4. Band, Seite 414
wird erzählt, wie König Karl ein befonderes Intereſſe für das neue Befeitigungsipftem
des preußiichen Majord Schumann gewann, als dejlen Vorjchläge in Deutichland noch
geringe Beachtung fanden. Während eines Beſuches in Berlin wurde König Karl, als
er gerade mit dem Major Schumann arbeitete, von dem damaligen Prinzen Wilbelr
überrafht. Dadurch erhielt Prinz Wilhelm Kenntnis von dem Syſtem Schumann un)
führte e8 nach jeiner Thronbefteigung in Deutichland ein. Yeider ftarb Ecdyumann ſchen
Ende 1889. In Rumänien wurden die befeftigten Linien Focihani-Namaloaja-Galar
nach dem Syſtem Schumann ausgeführt. Hervorragende Berdienfte um die Organifation
des dhilenifchen Heeres erwarb fich befanntlid; Oberit Hörner. In Japan hat man dir
Grundzüge des Heerweſens von den Deutichen übernommen.
Deutſch⸗evangeliſche Miffionen. Im Dienfte von 23 Miffionsgefellicaiten
ſtehen 884 Milfionare und 103 Miffionsichweftern, davon gehören 200 Miſſionare der
Brüdergemeinde an und mehr als je 100 der Basler Gefellichaft, der Rheiniſchen und
Berlin I. Nur im SKongobedfen und den afrifaniihen Gebieten nördlich vom Sudan,
ferner in Arabien, Birma, Siam und Korea ift die Miffion nicht vertreten. m den
übrigen Gebieten der Erde beftehen 565 Dauptitationen mit 384000 getauften Heiden
chriften. Dem Schulmwejen wird befondere Aufmerkſamkeit gewidmet. An 1819 deuticen
Miſſionsſchulen erhielten iiber 90000 Schüler Unterriht. Der Aufwand belief fih auf
7 Mil. M. (P. Döhler im Jahrbuch der ſächſiſchen Miffionstonferenz.)
Dentiches Schulwejen im Auslande. Als Yehrziel der deutichen Auslands
ichulen jtellt Baftor Kaufmann in Alerandrien im Januarheft der neuen Zeitidhrit
„Deutih-Evangeliih“ (Marburg bei Elwert) ein Doppeltes auf, einerjeits die Schüler
zur Grgreifung eines Lebensberufes am Orte zu befähigen, andererjeits fie für den
Uebergang in die höheren Yehranitalten der Heimat vorzubereiten. In diejer zweifachen
Aufgabe erblidt Kaufmann das Eigenartige jeder deutihen Auslandsichule, das fie von
den Heimatichulen mit ihren einfacheren Berhältniffen unterjcheidet. In jeinem Vehr
beachtenswerten Auffat verlangt auch er einen behördlichen Rüdhalt für die deuticer
Auslandsichulen in Geſtalt eines Reichsſchulamtes. Zu diefem Zweck fönnten dem
Auswärtigen Amt ein oder zwei im Auslandsdienfte bewährte Schulmänner als Beamte
beigegeben werden. Aufgabe diejer Behörde märe die Prüfung und Genehmigung der
Vehrpläne, die Vermittlung bei Anstellung der Lehrer, die bis jet reine Privat
fache ift, die zeitweiſe Beſichtigung der Auslandsichulen und, was ebenfalls
ſehr wünſchenswert wäre, die Perteilung der Reichszuſchüſſe nad folgerichtigen
Grundſätzen. Dieſe PVerteilung ift gegenwärtig auch beim beiten Willen der
Baul Dehn, Deutfchtum im Auslande. 929
mahßgebenden Faktoren ſchwer durchführbar. Mit diefer Frage hängt nad) Kaufmanns
Auffaffung das Verlangen nad) Beredhtigung zum Einjährigen- Zeugnis für die Auslands»
ichulen eng zuſammen. Bisher haben nur die beiden deutſchen Schulen in Konſtanti—
nopel und Brüffel dieje Berechtigung erlangt. Dieje Berechtigung liegt im Intereſſe der
Eltern, die ſich aus begreiflihen Gründen nicht gern von ihren lindern jo früh trennen,
aber aud) im Intereſſe des Reiches, da die Ausficht, als Genteiner dienen zu müffen,
manden jungen Deutihen im Auslande verleitet, fich überhaupt nicht zum Heeresdienft
zu ftellen und feine Staatsangehörigfeit aufzugeben. Da die jungen Deutichen im
Auslande zumeift in ſprachlicher Hinficht eine beffere Ausbildung erhalten, jo empfichlt
fich für geeignete Schulen der Ausweg, den Paſtor Kaufmann vorichlägt, die Prüfungen
diefer Schulen durch einen Speziallommiffar, oder durch den Konſul, unter Beachtung
der geltenden Vorſchriften abhalten zu lafjen, und ihre Ergebniffe dem Reichskanzler zur
Entſcheidung einzufenden. Diejen Weg hat bereits die deutihe Schule in Antwerpen
mit Erfolg betreten. In Stonftantinopel hofft man die hochangeſehene deutiche Schule
in eine Ober-Realjchule umwandeln zu fünnen. An der Hebung der deutſchen Auslands—
ſchulen muß unausgejegt gearbeitet werden und ihr Streben nad) einem höheren Lehrziel
ift wohlwollend und nahdrüdlich zu unterjtügen.
Die deutſche Schule in Tfingtau hat ein neues Schulhaus erhalten und ihre
Schülerzahl auf 29 (17 Knaben und 12 Mädchen) in drei Klaffen vergrößert.
Der Lehrplan entipricht ungefähr dem einer Mittelfchule. Angeftrebt wird zunächſt die
Erteilung des Berehtigungsiheined zum einjährig-freimilligen Dienft und jodann die
Umgeftaltung der Schule zu einem Realgymnafium oder gleichberechtigten höheren Anftalt,
im Intereſſe der Kolonie wie aud) aus nationalen Rüdfichten zur Förderung deutſchen
Weſens und deutjcher Bildung in Djtafien. — Apia. Die deutihe Schule wird mit
5000 M. jährlich unterftügt. Außerdem follen nody 5500 M. aufgewendet werden, um
intelligente Mifchlinge zur Erteilung des bdeutichen SprachunterrichtS heranzubilden. —
Genua. Unter Leitung des Herrn von Haſſel hat die deutihe Schule innerhalb
Jahresfriſt ihre Kinderzahl verdoppelt, zählt jetzt 60 Schüler in vier Klaſſen bei einem
Etat von 18000 Lire und hat die fonkurrierende „Schmweizerichule“ eingeholt. — Venedig.
Die deutihe Schule zählt 35 Kinder, darunter 22 deutſche, 13 italienische, 3 normwegifche,
2 franzöfifche, und 1 armeniſches. Die Schule erhält vom Reich 1300 M. Zuſchuß. —
Brafilien. Die deutiche Schule des Hilfsvereins in Porto Alegre entwickelt ſich
unter der Leitung des Direktors Chr. Kleikamp vortrefflicd und zählt bereitS mehr als
200 Slinder in fieben Slaffen. — In Rio Grande do Sul hat fich ein deuticher Lehrer-
verein gebildet. — Mexiko. Nach fiebenjährigem Bejtehen erhält die deutiche Schule
in Meriko, die unter Leitung von Profeffor He fteht, einen Zufhuß aus der Reichskaſſe
von 4000 M. jährlich. — Korea. An Soul wurde 1899 eine deutiche Schule gegründet,
die unter Leitung des Deren Bolljahn fteht, aber anjcheinend hauptjädhlicd von Koreanern
bejucht wird. Herr Edert, der vom König zur Ausbildung einer Militärkapelle nad)
europäifchem Mufter berufen wurde, hat zu diefem Zweck für etwa 30 Koreaner eine
Mufitfchule eingerichtet. — Japan. Anfang Dezember 1901 brannte in Tokio die
Schule für deutſche Sprade nieder, die unter japanijcher Leitung ftand und annähernd
1300 Schüler zählte. Diefe Schule wurde im Jahre 1883 als Privatanftalt gegründet
59
930 Paul Dehn, Deutſchtum im Auslande.
und erhielt von deuticher Seite viele Zumendungen, namentlih Bücher. Direktor it
gegenwärtig Profejlor Kato, der frühere Direktor der Univerfität zu Tokio. Man würde
in Japan erfreut fein, für den Wiederaufbau der Schule neue Zuwendungen von Deutſch
land in Büchern oder aud) in Geld zu erhalten.
Ungarn. Im Finanzausſchuß des ungarifhen Abgeordnetenhaujes wurde am
2. Februar die obligatorische Einführung der deutſchen Sprade als Unterrichtsgegen
ftand in den Bolksichulen erörtert. Unterrichtäminifter Dr. Wlaffics hob hervor, daß in
Ungarn fremde Sprachen gelernt werden müſſen, vor allem die deutiche Spradke.
Darüber war die chauviniftiiche Vreffe nicht wenig aufgebracht. Andeffen trat auch der
flerifale „Magyar Alam“ entjchieden für die Erlernung der deutfchen Sprache ein, die
er als eine unbedingte Notwendigkeit erklärte, nicht nur megen des ftaatsrechtlichen
Berhältniffes zu Dejterreich, Jondern auch weil Ungarn der deutichen Kultur bedarf. Es
fei unfinnig von den Chaupiniften, frankomaniſche Allüren zur Schau zu tragen und au
verlangen, Ungarn jolle fi über deutjche Kultur und Wiſſenſchaft hinwegſetzen. Am
Hinblif auf die Erklärung des Unterrichtsminiſters erjcheint e8 in hohem Grade be
fremdlidh, daß noch immer von übereifrigen Staatsanwälten Preßprozeſſe gegen ſtaats
treue deutjchrungariihe Blätter angeftrengt werden. So ftand Mitte Februar Arthur
Korn, der wadere Schriftleiter der „Groß-Sifindaer Zeitung“ unter der Anklage, „gegen
die magyariiche Nationalität zum Haß angereizt” zu haben, weil er gegen die gemalt:
jame Magparifierungspolitit in den Schulen Stellung genommen hatte. Dieje Bolitif
ſchädigt nur die deutjche Bildung, bedeutet feinen Gewinn für das Magharentum und
erregt unter den ftaatötreuen Deutihen in Ungarn PVerbitterung. Arthur Korn wurde
von den Gejchworenen freigeiprocdhen. Ausführliche Berichte über diefen Prozeß bradte
das „Deutſche Tageblatt für Ungarn“ in Temesvar, das flug und taftvoll geleitet wird,
unter den Schwaben im Banat heilfam wirft und auch in Deutichland Beachtung ver:
dient. Dagegen wurde der Advofatursfandidat Franz Ließ in Kronſtadt zu 2 Monaten
Gefängnis und 100 Kr. Geldftrafe verurteilt, weil er die Anmahung eines Boftamtes,
das unbefugterweije auf einer Poftkarte die Ortöbezeihnung „Kronftadt“ durchſtrichen
und jtatt deifen den magharijchen Namen „Braſſo“ geſetzt hatte, in der „Kronftädter
Zeitung“ als eine „poftaliiche Gemeinheit” bezeichnete. Das Vorgehen der ungariicen
Berwaltung gegen die durhaus ftaatstreuen Deutjchen läßt fich nicht in Einklang bringen
mit den deutichfreundlichen Verſicherungen des Unterrichtsminifters.
Im „Archiv des Bereins für fiebenbürgiihe Landeskunde“ (30. Band 1. Heft)
findet fich eine Danfrede über den verftorbenen Profeffor von Wattenbadh von D. fr.
Teutich unter Benutzung des Briefwechſels zwiſchen Wattenbad) und dem Biſchof Teutic.
In nationaler Treue wird Wattenbad) als derjenige gepriefen, der als einer der Eriten
feine Schritte nach Siebenbürgen lenfte und die Siebenbürger Sachſen für das deutice
Volk wie für die deutſche Gelehrtenwelt gleihjam neu entdeckte.
England. Das Nationalgefühl der Deutichen hat eine ernfte Belaftungsprobe
beitanden. Einige „Anglo-Germans“, d. h. naturalifierte Engländer deutjcher Herkunft,
hatten die Abficht, in der City eine große Maffenverfammlung deutfcher Landsleute zu
veranftalten, um gegen die in Deutichland angeblich folportierten Schmähungen de
englifchen Heeres zu proteftieren, dem engliichen Könige Treue zu ſchwören und den
Paul Dehn, Deutichtum im Auslande. 931
Deutichen Kaifer „aufzufordern“, mit aller Macht der Englandfrejjerei in Deutichland
Einhalt zu gebieten. Dieje naturalifierten Engländer deutſcher Herkunft befundeten echte
Nenegatenart, da fie gegen ihr früheres Vaterland eine gehäffige und illoyale Agitation
einzuleiten gedachten. Wie aus der Entlarbung einiger Leute, die fih an die Spite
geftellt hatten, zu erjehen war, ftanden die Deutſchen der ganzen Agitation fern. Bon
vornherein hatten diefe naturalifierten Engländer gar fein Redt, eine VBerfammlung von
Deutſchen einzuberufen und gegen die öffentliche Meinung in Deutſchland auszufpielen.
Thatſächlich fam die Verfammlung nicht zu ftande, und im Sande verlief der Uebereifer
von Leuten, die früher einmal in Deutichland gelebt hatten, aber nun einmal die Ge-
ſchmeidigkeit befigen, ihre Nationalität nad) Maßgabe ihrer Intereſſen zu wechieln. Im
großen und ganzen billigen die Deutichen in England die Haltung der öffentlichen
Meinung in Deutichland gegenüber dem englijhen Raubzug gegen die Burenrepublifen.
Wäre e3 gelungen, eine große deutſche Volksverfammlung in London einzuberufen im
Sinne der erwähnten Anglo-Germans und Beſchlüſſe gegen die öffentliche Meinung in
Deutihland und zu Gunſten der englifchen Sriegspolitif zu erwirfen, fo würde die
deutiche Kolonie in England auf lange Zeit die Achtung aller ehrenwerten Engländer
verloren haben aus dem einfachen Grunde, weil ein Engländer es für entwirdigend
und verächtlic; hält, wenn irgendwo auf der Erde eine größere englifche Kolonie
proteftieren wollte gegen die Politik der englifchen Regierung oder gegen die öffentliche
Meinung Englands, fei es ſelbſt mit Recht. Treu der eigenen Nation fein und unter
‚allen Umftänden zu ihr halten, das ift einer der oberften Grundfäge der Engländer und
fie verlangen defjen Anerkennung von jedem politiſch reifen Volk.
In Kapftadt haben 76 „deutfche Einwohner“ eine Erklärung beicjloffen und darin
die in Europa gegen das britijche Heer, namentlich aud) wegen der Behandlung der
Burenfrauen, erhobenen Vorwürfe als unbegründet zurücdgeriejen. Unter den früheren
deutichen Konjuln in Kapftadt follen 2000 Deutſche als NeichSangehörige eingetragen
gemwejen fein. Die Zahl der Deutſchen in Kapftadt ift ſehr erheblich größer. Vermutlich
haben fich die 76 deutſchen Verehrer des englijchen Heeres in Kapftadt längft naturalifieren
laſſen oder aber fie ftehen in dem Dienft der Goldmineninterefjenten und laſſen fich nod)
naturalifieren. Derartige Leute fünnen nicht als Deutſche angefehen werden, auch wenn
fie ſich als folche gelegentlich noch ausgeben.
Italien. Erfreulich ift das Lebendigwerden des nationalen Bewuhtfeins unter
den Deutichen im Auslande. Das bezeugt eine öffentlihe Erklärung der deutichen
Kolonie in Florenz gegen die Behauptung polnifcher Frauen, daß polnische Kinder in
preußiichen Schulen auf das Aergſte mighandelt worden feien. Die deutſche Kolonie
erklärt diefe Behauptung für ein Lügengewebe und für eine dreifte Spekulation auf das
Mitleid der Staliener. Die Erklärung der deutichen Kolonie wird in Florenz mie in
ganz Italien auch auf jene Kreiſe wirken, die geneigt waren, den polniſchen Behauptungen
Glauben zu jchenfen, und die Meinung zerftören, ald ob die Deutjchen noch immer nicht
dazu gekommen jeien, mögen fie nun im Paterlande wohnen oder im Auslande, wo es
fi; um nationale Fragen handelt, feſt zufammen zu halten.
Griechenland. Lange Zeit galt Patras im ganzen Orient als derjenige Platz,
wo Solidität, Pünktlichkeit und richtiges kaufmännifches Gebaren am meijten zu finden
59*
932 Paul Dehn, Deutſchtum im Auslande,
waren. Nicht zulegt haben deutſche Slaufleute, überwiegend Damburger und Bremer,
dazu verholfen. In Handel und Induſtrie gingen fie bahnbrechend voran. An der
Ausfuhr von Patras in Wein und Korinthen find überwiegend deutſche Häujer beteiligt.
Anläßlich eines Feſteſſens zu Kaiſers Geburtstag hielt der deutiche Konſul in PBatras
eine Rede und wies auf die Entwicdelung der deutjchen Kolonie in Patras und auf die
Berdienfte der deutihen Kaufleute hin. Die deutfche Kolonie war in den vergangenen
Jahren ziemlich zuiammengeichmolzen, beginnt aber nun tieder zu wachſen. Deutiche
und Schweizer zeichnen fih in Patras durd gutes Einvernehmen und friedliches Zus
fammenleben aus.
Nordamerifa. Schon in der Frühzeit des nordamerifaniihen Buritaner- und
Duäfertums, im 17. Jahrhundert, begann deutiches Weſen in Nordamerika feiten Fuß
zu fallen. Zu Ende des 18, und zu Anfang des 19, Jahrhunderts, während des Kajfijchen
Beitalters der deutichen Litteratur, wurden fruchtbare Anregungen binübergetragen und
zwar durch junge Amerikaner. Im Jahre 1819 jah fich auch Goethe veranlagt, der Bibliothef
der Harvard-Univerfität einige dreißig Bände jeiner Schriften zu überjenden „in Ans
erfennung der Verdienste, die fich diefe Univerfität jeit einer langen Reihe von Jahren
um die Pflege gründliher und anmutiger Bildung in Neus-England erworben hat“.
Weitaus am ftärfiten waren die Rüdwirfungen deutſcher Kultur in Nordamerika dur
die Einwanderung der fog. Achtundvierziger. Unter ihnen befanden ſich auch Gebildete in
großer Zahl, Aerzte, Juriften, Theologen, Schriftiteller, Gelehrte, Leute von Talent und
Charafter, die auf das nordamerifaniiche Staatsweien einen tiefgehenden Einflug aus:
üben mußten, die befonders bei der Ausbreitung wiſſenſchaftlicher und fünjtleriiher Be
ftrebungen, und bei der Verfeinerung des gelellihaftlihen Tones mitwirkten. Anderer—
feit8 haben die Millionen Deuticher, die jpäter hinübergingen, dazu beigetragen, dem
amerikanischen Volk neue Yebensfraft zuzuführen. Sn der Münchener Ortsgruppe des
Bereins zur Erhaltung des Deutichtums im Auslande hielt Ende 1901 Profeſſor Kuno
Frande von der Harvard-Univerfität einen Vortrag über deutjche Kulturarbeit in den Ber:
einigten Staaten. Bon den Deutſch-Amerikanern jagte er, daß fie fich in der großen Mehrzahl
ihrer Doppelaufgabe, gute Amerifaner und gute Deutiche zu fein, wohl bewußt find, doch
müßten fie mit der Zeit immer beffere Amerikaner und immer bejfere Deutjche werden. Leider
beichränften fie fich vielfach auf deutfchen Verkehr und fonderten fid) in viele Eleine lands:
mannjchaftliche Vereine von dem großen Strome amerifanijchen Lebens ab. So nährten fie
manche Vorurteile über ihre amerifaniihen Mitbürger. Am grundlojeften jei das Gerede
von dem Mangel an Idealismus im amerifanifchen Leben. Schuld daran fei hauptſächlich
die vernunftwidrige Temperenzlerei. Im großen und ganzen wirfe die nordamerifaniiche
Kirche nidyt im Sinne eines fogenannten Mudertums, Die Müpigfeitsbewegung jei in
ihrem Kern beredtigt und habe insbejondere dem nordamerifaniihen Studenten eine
geiftige und Eörperliche Gefundheit, eine Friſche und Unichuld der Lebensauffaſſung, eine
Empfänglichkeit für ideale Beltrebungen und eine Feinheit der gejellichaftlihen Form
gebracht, die ihn vielfacd, vorteilhaft von dem deutichen Studenten unterjcheide. Aber
auch noch beſſere Deutiche jollen die Deutichamerifaner werden, und zur Stärkung ihres
nationalen Bemwußtjeins will da8 Germaniihe Mujeum an der Harvard-Uni—
verjität beitragen. Zunächſt ift es berufen, ein Symbol germanijcher Größe zu werden.
Paul Dehn, Deutfchtum im Auslande. 933
Gleichzeitig wird es an der Bereicherung de3 amerifanijchen Yebens mitarbeiten. Durch
feine Verbindung mit einer großen Univerfität (1901: 5000 Studenten) wird es feine
Wirkungen weithin erjtreden, den Gejchmad, den geihichtliden Sinn und das VBerftändnis
für geijtige Errungenſchaften fürdern und anderwärts. zu Ähnlichen Unternehmungen
anregen. Einige deutiche Profefloren von der Harvard:llniverfität gaben die Anregung
zu diefem Plan, und fie gingen dabei von der Ueberzeugung aus, daß die Stellung des
Deutſchtums in den Vereinigten Staaten wie die nordamerifanifche Bildung überhaupt
die Erridtung eines ſolchen weithin leuchtenden Denkmals germaniicher Geſchichte er-
fordern. Aud) der deutiche Botjchafter von Holleben in Wafhington wies auf die Be-
deutung des Unternehmens hin und ſprach ihm die Sympathieen der Neichsregierung aus.
In eriter Reihe find e8 die Deutichamerifaner, die ſich dafür einjeten, aber fie finden
in Nordamerifa auch andermweite Unterftügung. In den Borftand des Mujeums find
auch Präfident Roojevelt, Botichafter White u. a. eingetreten. Außerdem hoffen fie aud),
in der alten Heimat Mitarbeit fir das Unternehmen zu finden, das cin neues Band
zwiſchen den Bölfern germanijcher Naffe diesfeits und jenfeit$ des Meeres bilden foll.
Das Mufeum wird in einem Landesteil don vorwiegend angloamerifaniicher Bildung
errichtet werben, weil es nur dort jeine Beitimmung, ein Bindeglied zwifchen deuticher
und amerifanijcher Kultur zu fein, in ihrem ganzen Umfange erfüllen fann. Die Harvard:
Univerfität iſt jeit ihren Gründungstagen die eigentliche Führerin im geiftigen und
wiſſenſchaftlichen Leben Nordamerifas gemwejen und wefentlid” nach deutjchem Borbild
organifiert worden. Dort fann das Muſeum dazu beitragen, den Sinn des nord»
amerikaniſchen Volfes wie der europäiſchen Nationen auf die gemeinfamen Aufgaben des
Kulturlebens zu richten.
Mancherlei Anzeichen deuten leider darauf hin, daß das Deutfchtum in Nord—
amerifa infolge der nationalen Gleichgiltigfeit der deutfchen Auswanderer und ihrer Ab-
fümmlinge zurüdgeht. Ob die nationalen Beftrebungen der deutſchen Bereine dieje Ent-
nationalifierung des Deutſchtums werden aufhalten können, iſt abzumwarten, bleibt aber
immerhin zu hoffen. Eine gewijfe Ermutigung finden die Bemühungen diejer Vereine
um die Erhaltung der deutjchen Art und Sprache in der Erkenntnis nordamerifanifcher
Kreiſe, die deutiche Spradje zu erlernen. Bei den Bejuhern der Abendichule in Ein-
cinnati veranftaltete der dortige Schulrat eine Umfrage über das Bedürfnis nad) Kenntnis
der deutſchen Sprache. Aus der Antwort ergab ſich, daß nicht weniger als 80 Prozent
diefer Abendichulen, die überwiegend von Angehörigen der niederen Bolfsklaffen nord»
amerifanifher Herkunft bejucht werden, das Deutjche zu erlemen mwünjchten. Auch
Aerzte, Anwälte, Ingenieure und andere Angehörigen der gebildeten Klaffen juchen ſich
mit der bdeutichen Sprache vertrauter zu machen. Vielleicht werden durd) diefe Wert:
fchätung der deutſchen Sprache von nordamerifanischer Seite jene Eltern ftugig gemacht
und eines Befleren belehrt, die ihre Kinder in nordamerifaniihe Schulen ſchicken und
ihnen den Unterricht in der Mutterfprache geradezu entziehen, auch da, wo wie in New
Vörk, Chicago u. f. m. deutiche Schulen vorhanden find.
Der Mufifverein von Milwaukee, 1850 gegründet, hat durd Oskar Burkhardt
einen Rückblick auf feine halbjahrhundertjährige Thätigfeit veröffentlicht. Als diefer
Berein im Jahre 1900 feine Sfubelfeier beging, hob Karl Schurz feine Verdienite um die
Erhaltung des Deutichtums hervor, das er als eine unumgänglicde Notwendigkeit für
934 Paul Debn, Deutichtum im Auslaude,
die nordamerifaniiche Kultur bezeichnete. Aus der Beibehaltung und Pflege der deutſchen
Mutterſprache, jagte Karl Schurz, blühen die anregenden Ünipirationen, die das Deutidh-
tum in Rordamerifa zu jeiner eigenartigen Miſſion befähigt.
Deutſche Schuggebiete. Seit Neujahr ericheint unter dem Titel „Die deutichen
Kolonien“ in Gütersloh eine Monatsichrift für die fittlihe und foziale Hebung der
Eingeborenen in den Schußgebieten, herausgegeben vom Baitor Guftav Müller in
Sroppendorf bei Magdeburg. Die neue Zeitichrift trägt das Motto: „Kolonialpolitik iſt
in der Hauptſache Eingeborenenpolitif* und will fortlaufend darüber berichten, was in
den deutichen Schuggebieten wie überhaupt in den überjeeijchen Gebieten der Kultur—
ftaaten zur fittlihen und fozialen Hebung der Eingeborenen geſchieht. In einem ein-
leitenden Aufiak wirſt der Herausgeber einige wichtige Fragen auf: Wie gelangen wir
dazu, daß die Eingeborenen der Schutgebiete unjere Herrichaft bereitwillig anerkennen,
daß fie volles Vertrauen zu unſerem Regiment gewinnen? Wie werden die Stolonieen
am eheften und im meiteiten Umfange für uns nugbringend, fo daß fie uns nicht nur
nicht3 mehr koſten, jondern uns vielmehr einen Gewinn abmwerfen? Und wenn der
größte Reichtum Deutſch-Oſtafrikas in der unerihöpflichen Arbeitskraft feiner Bewohner
befteht — wie heben wir diejen größten Reichtum unjerer Beſitzungen? Wie gelangen
wir dazu, daß die Eingeborenen ihre, Arbeitskraft in den Dienft der europäiſchen Unter:
nehmungen und ıhrer Anlagen ftellen? Baftor Müller verlangt vor allem, da die
Menjchenrechte der Eingeborenen geadhtet und beobachtet werden, da erziele die Kolonial-
politif die erfreulichiten Erfolge. Als nächſte Forderung ftellt er die Aufhebung der
SHlaverei und die Beſchränkung des Spirituojenhandels auf. Dagegen wendet er ſich
gegen den Borichlag von Dr. Karl Peters, für die Neger einen Arbeitszmwang einzu:
führen, ähnlicd) wie in Europa jeder Mann zur Ableiftung der Heerespflicht angehalten
wird, melden Vorſchlag bereit8 Major Boshart Ende 18% gemadıt hat. Inzwiſchen
ift von dem Kolonialrat die Einführung eines Arbeitszwanges als undurdführbar be-
zeichnet worden.
Burenftaaten. An dieſer Stelle (1901, Heft 2, Seite 296) wurde bereits auf die
deutihe Schule in Johannesburg hingemwiefen, die bei Beginn des unjeligen Krieges
300 Schüler zählte, von der Reichsregierung wie von der Transpaalregierung unterftügt
wurde und nun durch den Krieg in ihrem Beſtande gefährdet erjcheint. Direktor
G. Weidner befindet ſich fchon feit geraumer Zeit in Deutichland, um Intereſſe für dieſe
deutſche Schule zu erweden, und es haben ſich Hilfſsausſchüſſe in Eiſenach, Gotha, Erfurt,
Hannover, Straßburg, Münden, Breslau, Dresden, Yeipzig und Bremen gebildet, um
freiwillige Beiträge zur Erhaltung diejes wichtigen Stüßpunftes für das Deutfchtum in
Südafrifa aufzubringen. Niemand, der deutjch empfindet, kann darüber im Zweifel
fein, was die deutiche Schule in Johannesburg bedeutet. Ginge es nad) den Wünschen
der Engländer, fo bliebe fie geiperrt und würde niemals wieder eröffnet werden. Gerade
unter den gegenwärtigen Berhältniffen ift die Erhaltung der deutichen Schule in
Johannesburg eine nationale Pflicht, die jeder gute Deutiche mit bethätigen muß. Die
Wiederaufrichtung der deutichen Schule in Rohannesburg hat neben ihrem nationalen
Wert auch politiiche Bedeutung. Der Vorſitzende des Deutihen Schulvereind Profeſſor
Dr. Alois Brand, Berlin, Haiferin NAuguftaftraße 73, nimmt Zumendungen entgegen.
EIEN
LOLILILILILILILITILILILILILILILILITILSLILILILSTILI LI LIH
kitterariihhe Monatsbericte.
Von
Garl Bulſſe.
v1.
Noch einmal: Guſtav Frenſſen. — Offip Schubin, Marsla. — Thomas Mann, Buddenbrooks.
Berfall einer Familie. — Iſolde Kurz, Unfere Carlotta. — 8. von Strauß-Torney, Bauernftolz.
— Hermann Bang, Das weiße Haus.
RB dem Lejerkreife der „Deutichen Monatsjchrift” find mir einige anonyme und nicht»
anonyme Zufchriften zugegangen, die fi alle mit meinem legten fritiichen Artikel
und insbejondere mit Guſtav Frenſſen beichäftigen. Sie berichtigen und fie fragen.
Zu beidem möcht ich hier Stellung nehmen. Nicht nur deshalb, weil der dithmarfische
Poet auf lange Fahre hinaus die Herzen des deutichen Volkes erfüllen wird; auch nicht
deshalb, mweil ich mich des Wiederhalles freue und weil ich glaube, daß viele im ftillen
denfen und fragen, was wenige in Briefen ausfprahen. Sondern vor allem: weil ein
aanz jeltiames Problem dabei berührt wird.
Ah Hatte in meinem letten Berichte von einem „gang unbefannten” Dichter
geredet, der plöglich als Stern 'eriter Ordnung am litterarifchen Himmel erſchienen jei.
Ich durfte das thun, denn ich glaube nicht nur felbit alles Bejondere, was in der deutjchen
Dichtung kreucht und fleucht, zu fennen, jondern ich fragte auch bei vielen litterariſchen
Freunden herum, ohne daß ein einziger den Namen Guſtav Frenſſen je gehört hätte.
Da fünden mir Zufchriften aus dem Publikum, daß dieſer Guſtav Frenſſen „längſt“
vielen ein vertrauter Freund jei, daß er bereits zwei Romane vor dem „Jörn Uhl“
gejchrieben habe, daß befonders fein Bud; „Die drei Getreuen“ fi) einen Ehrenplag
in zahlreihen Häufern errungen hätte. Das ift unzweifelhaft auch richtig. Die drei
Bücher des Dichters find in jekt wohl über zehntaujend Eremplaren verbreitet, ohne
daß die „mahgebende” Kritik eine Hand gerührt, ohne daß fie von dem Dafein diejer
Bücher überhaupt gewußt hätte.
Hier liegt das Seltiame, was zu denken giebt. Die außerordentlich geringe
Meinung, die Eduard Hanslick, das kritiſche Drafel jo vieler Taufende, über die
Wirkſamkeit von Kritiken heat, ſcheint hier eine Beftätigung zu finden. In hunderten
von Blättern, in glänzenden Artifeln werden moderne Romane angepriefen — niemand
fauft fie. Seine Hand rührt fich für ein anderes Buch, das den Namen eined homo
novus trägt — und zehntaufend Menichen legen ihr gutes Geld dafür auf den Tiſch.
Es ift garnicht anders denkbar, ald daß diejenigen, die durch Zufall, aus der Leih—
bibliothek vielleicht, diefes gute, nirgends genannte Werk nelefen haben, in herzlicher
936 Garl Buſſe, Litterarifche Monatsberichte.
Freude es weiter empfehlen. Und jo trägt fich eine Weisheit von Mund zu Mund, von
der die Fachleute noch garnichts wiſſen. Wan hat mir gejagt, für Frenſſen ſpeziell
hätten fich ein paar Hamburger Buchhändler eingejegt, während in der Neichshauptftadt
alles till blieb. Ehre den Wadern, die fich fo in des Dichters Dienst ftellen und durch
eine jo ideelle Auffaffung ihres Berufes Jan Dichtungs- und Volksgeſundung treu mit-
arbeiten! Klar ergiebt fich jedenfalls das Eine: alles Große und Lebendige fett ſich
auch ohne die Beihilfe der Kritik, ja gegen jede Sritif durh. Das Rublitum zwar kann
man wohl nicht gering genug ſchätzen, aber nicht hoch genug jchägen fann man das Bolt,
d. h.: die überall verjtreuten Individuen, die unfere hiftoriich gewachſene Art, unjere
Sträfte, Fähigkeiten, die Eumme der in Rahrbunderten entwidelten ſpezifiſch deutichen
Eigenichaften ftärfer oder ſchwächer in fich verfürpern‘, die immer, feien fie hoch oder
niedrig geftellt, den Bolfskern, oder im Gegenjag zum „Publikum“ ſchlechthin das „Bolt“
repräjentieren.
Es ift ferner die frage gethan worden, wie das Schweigen der zünftigen Kritik
im Falle Frenſſen zu erklären fei. Denn wenn aud) der „Jörn Uhl“ nod) nicht lange
erjchienen wäre, jo gäbe es doch feit Jahren „Die drei Getreuen“. Nun, jo dankbar ich
dem Zufall bin, daß gerade ich den eriten kräftigen Trompetenftoß für den dithmarſiſchen
Meifter ins Land ſchicken konnte — es war eben dod Zufall, nicht Verdienft. Diejenigen
Kritifer, die ettvas weiter gehört werden, find gewöhnlich jo überlaftet, daß fie garnicht
zur Lektüre von Werken unbefannter Autoren fommen. Gin Zufall war es, da ich eine
Seite des „Jörn Uhl” aufſchlug und, von der grandiojen Kraft der Sprache gepadt, weiter:
las. Stein Zweifel, daß es nur eine frage von Stunden, Tagen, Wochen war, daß ein
anderer hinter den Roman fam, denn der „Jörn Uhl* bricht jeden Widerftand.
Ganz anders ſteht es mit den „Drei Getreuen“. Zwar jchrieb mir eine
„Abonnentin der Deutfchen Monatsichriit”, daß dieſes Werk ſich mit dem „Jörn Uhl“
wohl mefien könne. Aber — und dies fei die Antwort auf bezügliche Anfragen — dem
ift doch nicht jo. Die „Drei Getreuen” find ein Schöner Roman, der „Jörn Uhl“ ift ein
Lebensbuh. Den „Drei Getreuen” fehlt in der erften Hälfte die Helligfeit, die den
„Jörn Uhl“ von Anfang auszeichnet. Die „Drei Getreuen" haben noch manches Roman«
hafte, find lange nicht jo ſchwer, jo wuchtig, jo tief wie der „Jörn Uhl”. Mean foll fie
lejen, denn fie verdienen es wahrlich, aber man joll fie leſen gleidyjam als Vorbereitung
auf das nachfolgende Meifterwerf. Nimmt man fie nach diefem vor, jo wird man troß
herrlicher Szenen, bei denen man tief atmet, doch leije enttäufdht fein. Nach des
Dichters eigenen Worten find feine drei Bücher — das erite „Die Landgräfin", kommt
weniger in Betracht — drei gleich große Schritte aus Wolfenhöhen zu den Wohnungen der
Menjchen. Der „Jörn Uhl" ift alfo um ſolch einen Riefenfchritt den „Drei Getreuen“ voraus.
In Düffeldorf ericheint eine nur einem fleinen Kreiſe zugängliche Kunſt—
zeitichrift, der Guſtav Frenſſen eine kurze Selbftbiographie geſchickt hat. Man wird mir
Dank wiſſen, wenn ich fie hier mitteile. Cie lautet: „Gern erzähle ich Ahnen, daß ich
in Barlt in Dithmarschen, jüdlid) von Meldorf, ald Eohn eines Tiſchlers geboren bin.
Bater und Mutter find beide aus alt eingefefjenen Dithmarjchengefchlehtern. Unter
den Vorfahren find Arbeiter, Dorfbandwerker, Paftoren und Landvögte geweſen, aber
feine Bauern. Es fit alfo eine jahrhundertlange Sehnſucht in uns nad) ‚Bauer fpielen‘;
Carl Buſſe, Litterarifche Monatsberichte. 937
und e8 ift nicht unmöglich, daß ich aus diejer Sehnfucht heraus erzähle. Denn alle
Poeſie fommt aus Not und Sehnfuht. — Meine Kindheit hat 13 Jahre gedauert und
ift frei und lujtig gewefen, von wadern Eltern behütet. Mutter war immer in Sorgen,
Bater war immer voll Hoffnung. — Nachher habe ic 13 Jahre lang um das Pfarramt
freien müffen, mir nicht zur Freude, denn ich bin ein harmlofer, ummiffenfchaftlider
Menih. Ich bin immer voll Berwunderung, wie weiland Adam auch geweien ift.
Endlich habe ich es erreicht. — Nun bin ich ſchon 13 Jahre im Pfarramt. In Hemme,
in Norderdithmarichen, wohne ic) unter einem uralten Strohdach. Und in diefen 13 jahren
habe ich wieder freien müffen, zuerft um ein Weib, — das ift raſch und wohl gelungen;
aber Kinder haben wir niit; — dann um Löjung von den vielen Studienjdulden —
das ift ein fchweres Stück Arbeit geweſen; — dann endlih um eine Weltanſchauung,
davon ift in „Jörn Uhl” zu lefen. — Nun bin id) 39 Jahre alt.“
Auch in diefer kurzen Selbitbiographie lebt etwas von der großzligigen förnigen
Art des Dichters. Vielleicht nimmt diefer oder jener ihretwegen das Bud; zur Hand.
Und für denjenigen, der noch immer zweifelt, will ich hier nod; etwas herjegen. Aus
dem nächſten Freundeskreiſe des Braunſchweiger Alten ward mir gejchrieben, daß
Wilhelm Raabe den „Jörn Uhl" gelefen und ihn immer von neuem als „ganz bortreff-
liche8 Buch“ feinen Freunden empfohlen habe. Es freut, aus ſolchem Munde fein
eigenes Urteil beftätigt zu hören.
Alle andern Bücher, die man nach und neben einer jo unvergleichlichen Dichtung
durchfieht, haben einen jchweren Stand. Der Alltag, der auf große Feſte folgt, ſchmeckt
feinem. Und gerade das ift ja das Kriterium eines Meiſterwerkes, daß man fich nicht
porjtellen kann, wie es, ſelbſt vom eignen Schöpfer, jemals übertroffen werden könnte.
Bujftav Frenſſen wird Über den, Jörn Uhl“ nicht binausfommen, weil das Bud) in feiner
Art nicht mehr zu überfliegen ift. Ich will verjuchen, die Erinnerung daran vollftändig
zu bverbannen, ehe ich von anderen Erzählern rede. Und ich möchte mit einem in feiner
Richtung völlig entgegengejeßten Werke, das jeden Gedanken an den „Jörn Uhl“ ausjchließt,
beginnen.
Diefes Werk ift „Marska”, eine Erzählung von Oſſip Schubin (Etuttgart,
J. Engelhorn 1902). Man kann unmöglich mehr an Sandlung, oder jagen wir beffer:
an Begebenheiten verlangen, als was auf diefen 156 Seiten zufammengepreßt ift. Dan
bergegenwärtige fich Folgendes: der fleinen Marsfa it die Mutter geftorben, auf Ge-
meindefojten wird die Waiſe erzogen, dient dann in einem Bauernhaufe als Gänfemagd
und wird eine große Schönheit. Um auf eine Hochzeit gehen zu können, wo fie einen
jungen Bauern wiederjehen will, giebt fie jich, ein halbes Kind, dem „schwarzen Fuhrmann“
für ein neues leid hin. Natürlich ftört diefer) ſchwarze Fuhrmann ein ſich entiwidelndes
Liebesidyll. Da läuft Marsfa in die Welt, irrt herum, bis fie ein verlaffenes Hüttlein
findet, und flüchtet vor einem furdjtbaren Gerwitter dort hinein. Plötzlich rollt ein Wagen
heran, ein greller Blig — und als Marsfa die Hiitte verläßt, liegt der ſchwarze Fuhr—
mann tot neben feinen toten Pferden. E8 giebt feinen Zeugen ihrer Schmad) mehr. Doch
fie jubelt zu früh. In dem neuen Dienft, den fie antritt, erfennt fie bald, daß ihr
Vergehen nicht ohne Folgen geblichen ift. Sie läuft wicder fort. Unter einer alten
Weide gebärt fie ein Kind. Sie erdroffelt e8 und wirft e8 in den Sumpf. Drei Jahre
938 Earl Buſſe, Pitterarifche Monatöberichte
vergehen. Sie ijt ein ernites, braves, jchönes Mädchen geworden. Da führt ihr der
Bufall den jungen Bauern in den Weg, der fie liebte und der ihr treu blieb. Die
Hochzeit wird vorbereitet; Marsfa leidet furdtbar unter ihrer Schuld. Am Tag vor
der Hochzeit wird fie von einer irrfinnigen Slindesmörderin, die alles ahnt oder alles
weiß, dazu gezwungen, am Sumpf mit ihr Blumen zu pflüden. Sie kommen zu der
Stelle, wo die Eleine Leiche ruht. Mit einem Schrei wirft fi Marsfa hin. „Lang=
jam .. . langjam ſchloß fi das Moor über ihr.“
Ich habe dabei noch nicht erwähnt, daß fich ein Sinecht Marskas wegen aufhängt.
Wie gejagt, mehr fann man für jein Geld nicht verlangen. Kraß, effeftvoll und ſpannend
find diefe Morithaten auch erzählt. Es ift eine Art grujeliger Freude für Oſſip Schubin,
wenn fie die Frage des vom Blitz erichlagenen ſchwarzen Fuhrmanns, die Erdroffelung
und Berjenfung des Kindes, das Geſicht des erhängten Knechtes, dem die Zunge blau
zum Munde herausitarrt, jchildern fann. ch wette zehn gegen eins, daß fie jelbft und
alles, was weiblich ift, das Gefühl einer realiftifchen Kraft davor hat. Aber das iit
nichts als eine gräßliche Blenderei.
Im übrigen iſt das Bud) zwar oberflächlich, aber äußerlich glänzend geichrieben,
jo glänzend, daß man den Wunjc nicht los wird, der Offip Schubin vom erften Wert
ihrer Feder an begleitet hat: fie möchte einmal alles zufammenfaffen, was an wirklichen
Können in ihr ift, der angeborenen Effekthafcherei, dem Kraß-Theatraliſchen entjagen und
in höchſter künftleriicher Ehrlichkeit arbeiten. Aber fie „arbeitet“ immer auf Bhantafie-
roffen bei Zirkusmuſik und fcheint zufrieden, wenn die Maſſe klatſcht. Dder fürchtet
fie, daß, wenn fie auf das rafende Tempo und das ganze Brimborium verzichtet, vielleicht
nichts bejondres mehr übrig bleibt?
Man kommt von unſolidem FFlitterglanz in die jolidefte Yürgerlichkeit, wenn man
zu Thomas Manns meitihichtigem Roman „Buddenbroofs, Verfall einer
Familie“ übergeht. Vor der Raumverſchwendung, mit der alte Häufer gebaut find,
ihüttelt man heutzutage ftaunend den Kopf; ähnliche Verwunderung erregt diejes Bud),
das auf über elfhundert Seiten, in zwei gewichtigen Bänden, von dem Glanz; und
dem Untergang der alten Lübeckſchen Patrizierfamilie der Buddenbroof3 erzählt. Bier
Generationen erleben wir und jehen wir fterben; nichts Außergewöhnliches begiebt ſich;
wir empfinden das langjame Seruntergleiten der Familie, ohne doc recht jagen zu
können, worin es beiteht. Und eine zahllofe Menge fi abwechſelnder Nebenfiguren
tritt hervor, breitet fich vor uns aus und verſchwindet, wenn ihre Zeit gefommen iſt.
Faſt eine jede ift dabei in ihren Eden und Kanten, ihren Schidjalen und Eigentümlic-
feiten glänzend erfaßt; ſie zog an einem fcharfen Auge vorüber, dem nichts entgeht, das
jede gute und jede lächerliche Sonderart jofort aufnimmt. Und alles gruppiert fi um
einen Mittelpunft, der es loje zwar, aber jicher aufammenhält. Die Generationen
wechſeln: es bleibt die Firma, e8 bleibt der Name, für den fie ringen und fämpfen, zus
fammenhalten und erwerben: der Name Buddenbroof, der doch fchließlid; mit immer
ſchwächerem Glanze leuchtet und mit einem jcheuen, ſchwächlichen Knaben endlich erliict.
Es giebt jo außerordentlich Vieles, was man an diefem Romane rühmen muR.
Manches ift ſchon gefagt; anderes will nod) gejagt werden. Er ift folide und voll von
fünftlerischer Ehrlichkeit vom eriten bis zum legten Wort. Er verſchmäht alle Mittel
Carl Buife, Litterariſche Monatsberichte. 939
gewöhnlicher Spannung, er geht ſtarken äußeren Konflikten eher aus dem Wege, als
daß er fie auffucht. Er iit fein, ohne blaß; fräftig, ohne plump zu fein. Er iſt troß
jeines großen Umfanges, troß feines Verzichtes auf alle außergewöhnlichen Geichehniffe
faft niemals langmweilig — ein Beweis jeltener Kraft. An diefer Art fünnte ich fortfahren,
von dem Roman zu reden, könnte die Objektivität der Anſchauung rühmen, fünnte die
bewundernswerte Energie hervorheben, mit der ein Dichter ein jo umfangreiches Werf
gleichmäßig durchhält, und könnte der vielen Feinheiten gedenfen, die faſt auf jeder
zweiten Seite den aufmerfjamen Leſer erfreuen.
Steine Frage alio, daß die „Buddenbroofs* zu denjenigen Büchern zählen, die fich
weit über die übliche Romanlitteratur erheben. Und faft noch jtärfer denn als Dichtung
wirfen fie als glänzendes Kulturbild voll überzeugender Kraft. Ach wüßte fein Werf
zu nennen, das die Kreiſe der hanjeatiichen Kaufmannſchaft, der ſelbſtbewußten Patrizier-
familien, der reihen Handelsherren und Senatoren fo getreu wiederjpiegelt, ihr Wollen
und Wirken, ihr äußeres und inneres Weſen jo prächtig auffängt — auffängt beinahe
ohne Haß und ohne Liebe.
Dhne Hat und ohne Liebe — vielleicht jtugt diefer und jener bei diefen Worten.
Sie verlangen wohl eine gewiſſe Einichränfung, denn Thomas Mann ift halt dody ein
Menjchenkind und fein photographiicher Apparat. Schon in der Wahl des Stoffes,
der Perſonen, der Schreibmweife bethätigt ſich ja jelbitverftändlidh daS Temperament.
Doch man veriteht es vielleicht, wenn ich jage, daß ich in diefem gut und glänzend er-
zählten Buche in ewiger Sehnſucht auf ein Wort, eine Stelle, ein Kapitel gemartet
habe, durch die fich der Dichter mir menschlich näherte, wo jein heißes Herz oder jein
Born einmal über die ganze „Objektivität“ fiegte, wo der Poet, der Menjch einmal mit
dem Künſtler durchginge. Detlev von Pilieneron hat einmal jo jchön davon geiprochen,
daß er in jedem großen Dichtwerk Stellen finde, in denen die ganz perjönliche Liebe
oder der ganz perjünlihe Haß des Schöpfers hervorbreche, und daß er dieje Stellen
befonders lieb habe. Da iſt dann eben das allbezwingende Temperament da. Man
werje nicht ein, daß die berühmte Objektivität dabei zum Teufel ginge. Die rein
äußerliche, von Spielhagen geforderte Objektivität allerdings; nicht aber die höchite innere
Objektivität, die Wilhelm Raabe trog aller Querjprünge und Nandbemerfungen befigt,
die im Jörn Uhl lebt, troßdem hier Liebe und Zorn gar herrlich und hinreißend reden
und gejtalten. Wie fteht oben in Guftav Frenſſens Selbftbiographie? „Alle Poefte
fommt aus Not und Sehnſucht.“ Aber das Bud Thomas Manns iſt nicht aus Not
und Sehnjucht geboren, oder die Not und die Sehnfucht war zu Elein.
Deshalb kann diefer Roman nicht hinreigen, deshalb läßt er im legten Grunde
kalt, deshalb ſinkt er, auf den fo viel bedeutende geitaltende Kraft gewandt iſt, daß er
einen eriten Plag einnehmen fünnte, doch vor andern Büchern zurück. Wir lieben nicht
in dieſem Buche und wir halfen nicht. Man jage mir eine einzige Figur, bei der fid)
Thomas Manns Herz gemeitet hat, als müſſe er Ste, die ſein Reinſtes und Beites trägt,
fegnen! Man juche mir eine, vor der jein Zorn ich aufredt, in der er züdjtigt, was
ihn jelbft gequält hat! Hunderte von Perſonen find da, alle gleich ſachlich, mit einer be=
mwunderungswürdigen, ungeheuren Sadlichkeit behandelt. Nur bier und da fcheint für
einen Augenblick ein menjchlich wärmeres Antereffe mit dem fünftleriichen Hand in Hand
940 Garl Buſſe, Pitterariiche Monatsberichte.
zu gehen. Etwa gerade, wie mich bedünfen will, in der Zeichnung des jungen Grafen
Kai Mölln. Das berührt eigenartig in diefem Kaufmanns- und Bürgerroman, aber
man erinnert fi, daß in Freytags Kaufmannsromann „Eoll und Haben“ uns die
adligen Gegenfpieler zum Teil aud) lieber find. Uebrigens bleibt Graf Mölln eine gar-
nicht hervortretende Nebenfigur. Und wieder ſcheint es, als ob fid) hier und da etwas
aufbäumt in Thomas Mann gegen die zahlungsfähige Moral und die fteife Wohlan—
ftändigfeit der Kreiſe, die er jchildert. Doch nicht ein großer Haß wird daraus, jondern
ein Kleiner Aerger, der faum ausreicht, einen Nebenjat zu färben. Ein herrlicher Dichter:
zorn würde diefen oder jenen Typus in feiner ganzen würdigen Menjchlichfeit bhinftellen,
und das Stonterfei fünnte zum Strafgericht werden. Thomas Manns Aerger farifiert
dann höchitens leiſe oder äußert fich in einem Wort ironifcher Ueberlegenheit. Alles in
allem: zu der großen Anſchauungs- und Geftaltungsfraft, die den Roman ausgezeidnet,
tritt leider nicht eine entipredyend große Gefühlsfraft, die alles durdjdringt und die das
Bud und uns mit hebt. Und das iſt ein Mangel, den nichts einbringen, ein
Mangel, der aud) allein nur erflären kann, wie ein Dichter ein jo umfangreiches Werk
ohne zwingende Not nur aus künſtleriſchem Bethätigungsdrang zu fchaffen vermag.
Tropdem jei denfenden Leſern der Roman, den ©. Fiſcher in Berlin verlegt hat,
empfohlen. Etrömt die Wärme hohen Menſchentumes nicht auf uns über, jo erzwingt
fiheres Künſtlertum in Anlage und Durdführung unfere bewundernde Achtung. Wie
das Beitmilieu befonders am Anfang gegeben ift, wie die Generationen auseinanderge-
halten find, wie die verichiedenen Eterbeizenen, denen wir beimohnen, immer eigentümlich
geichildert werden, wie der materielle Grundzug diefer Lübecker Patrizier, die Freude am
„deftigen“ Gfien, die Beeffteaffreude, durchgehalten ift — wir jpeijen Eeiten, ja Kapitel
lang alle Gerichte mit —, mie jorgfältig jede Figur bis zur geringsten ausgemalt wird
und wie fchließlich, nidyt etwa aus Schuld, jondern teils durch midrige Aufälle, teils
gleichfam nach dem ehernen Geſetze des Auf: und Abftiegs die Buddenbrooks hinabgleiten
— — das wird jeden feineren Leſer interejfieren und er wird ein verſtändiges, etwas
nüchternes, aber folides und doch feines Bud) aus der Hand legen. Allerdings vielleicht,
um es nicmals wieder aufzunehmen.
Ein andere Welt thut in ihren jparfamen Schöpfungen Iſolde Kurz auf. Ein
fühner Vergleich will in Yübed ein nordiiches Florenz jehn; Iſolde Kurz hält ſich lieber
an das richtige Florenz. Gegenüber den ſchweren Niederdeutichen mit ihrer Verſchloſſenheit
des Weſens, der Verhaltenheit der Gefühle, die ſich äußerlich nicht frei ausdrücken, bevor:
zugt fie die einfachen Naturen des Südens, bei denen jede Erregung mit ftarfer Unmittel-
barfeit den Weg zur Gebärde findet. Doc, auch fie erzählt mit großer fünftleriicher
Ruhe; wie ein plaftiiches Bildwerk muß fich die Heldin vor ung erheben; ja, id) hatte
den Gindrud, als wäre fie von Anfang an nad antifen Statuen geichaffen oder mit
allen Mitteln ficherer Kunſt ihnen genähert. Es liegt nicht in der Art von Iſolde Kurz,
ftärfer aus fid) herauszugehen. Wie fie ſich vor der Welt und allem Fremden verichließt,
fo verjchließt fie fich gleichſam auch in ihrer Dichtung. Sie verjchtwindet völlig hinter
dem Werk ihrer Kunſt. Es ift immer ein voller, ficherer, untadelhafter Anſchlag da, ein
vornehmes, ftarfes und jelbftbewuhtes Weiterführen und Bollenden, aber jelbit in ihren
Schönen Gedichten fehlt jeder Schrei aus Not und Sehnſucht, jedes ungeftüme Ausſich—
Earl Buffe, Yitterarijche Monatöberichte. 941
herausgeben. Es iſt, als ob die Ummittelbarkeit des Empfindens, gleichjam aus jeelischer
Scham heraus, vorher gedämpft und abgeſchwächt, jedes Gefühl objektiviert ift. Nur
einmal Klang ein tieferer Ton, ein zitternder, verhaltener Schrei, da fchuf fie ihr beftes
Gedicht, das bleiben wird: „Die erſte Nacht“, die erite Nacht im Grab mit der herrlichen |
Schlußſtrophe: \
„Die Stunden fchleichen — ſchläfſt Du bis zum Tag?
Horchſt Du mie ich auf jeden Glodenfchlag?
„Wie kann ich ruhn und fchlummern kurze Friſt,
Wenn Du, mein Lieb, fo fchlecht gebettet biſt?“
Die neuefte Erzählung von Iſolde Kurz „Unſere Carlotta“ (Leipzig, Hermann
Seemann Nachfolger) zeigt die vertrauten, oben vermerften Züge. Ein „menjchgewordener
Urtrieb“, ein herrliches „Bronzeweib“ ſteigt wie eine „antife Koloffalftatue” vor uns
auf. „‚stalien“, jagt eine Berjon des Buches und mit ihr wohl Iſolde Kurz, „it und
bleibt das Land der großen Menjchheitstypen, die ewigen Urbilder wachſen hier immer
wieder nach . . . Was ſonſt des Dichters Aufgabe ift, das thut hier die Natur felber:
fie vereinfacht die Geſtalten. Zum Beiſpiel: Verliebte, Eiferfüchtige, Nachgierige giebt es
in jedem Land; aber die Liebe, die Rache, oder nehmen Sie weldyen Inſtinkt Sie wollen,
ganz in einer Perſon verkörpert wie in der antifen Tragödie, das finden Sie heute nur
noch in Stalien.*
Nun fennt man zwar dieje italienifchen Geichichten zur Genüge, und „Unijere
Garlotta“ hat rein ftofflic) auch nichts Außergewöhnliches an ſich. Das bäurijche Dienjt-
mädchen, der ſchöne Koloß, liebt einen Don Juan, aber hält fid) rechtlich, denn fie weiß,
Daß er fie nie heiraten wird. Sie hat eine tiefe ungeftüme Sehnſucht nad) einem Sind;
deshalb verlobt fie fi mit einem Krämer, und, um fich jelbft den Rückzug abzujchneiden,
giebt fie fi) dem Ungeliebten ſchon vor der Hochzeit hin. Aber nun zieht der
Ehrenmann ſich ſacht von ihr zurüd. Als fie erkennt, daß fie betrogen ift, ſtößt
fie dem nie Geliebten das Meifer ins Herz. Dieſe Gejchichte läßt Iſolde Kurz von einer
Dritten Perſon erzählen. Das fteigert die Wirkung gewiß nicht, aber es giebt erwünſchte
Gelegenheit, auch von Leidenfchaften mit Nuhe zu reden und das Grelle zu dämpfen.
Ammer und überall fieht man das Beitreben, mit Ausfchaltung alles Nebenfächlichen auf
die großen Grundzüge zurüdzugehen und das Andividuum zum Typus umzuſchaffen und
zu erhöhen. Faſt zu oft und faft zu ablichtlih wird an die antifen Tragödien und
Statuen erinnert, das Stolofjale, Einfache, Mächtige, Unbemwegliche betont. Alle Bergleiche
bervegen fih in diefer Linie. „Wie das Verhängnis“ fährt Carlotta zur Beitrafung des
Unmwürdigen aus, und noch in der legten Zeile wird fie ala eine Geftalt angefprochen
„wie aus den Blättern des Alten Teftaments herausgeftiegen“.
Neben dem Büchlein der überall mit Hochachtung genannten Dichterin, von der
man bei ihrer geringen Broduftion jehr wohl alles leſen kann und ſoll, fordert ein
Bindhen Dorfgeihihten Gehör, das Yuluvon Strauß und Torney, die Enkelin
bes befannten Liederdidjters, im gleichen Verlage herausgab. Sie hat fid) in litterarifchen
Kreiſen durd einige Schöne Gedichte Freunde erworben; fie bethätigt fi) nun als Fräftige
Erzählerin, die jentimentale Klippen meift mit Glück vermeidet und der herben Schönheit
vor der ſanftſüßen jchon jet gern den Vorzug giebt. Aber man merft es Diejen
942 Carl Buſſe, Pitterariiche Monatsberichte.
"„Bauernftolz“ betitelten Dorjgeihicdhten aus dem Weierlande doch ar, dat Lulu von
Strauß mit Verſen anfıng. An der Erfindung der Fabel hat fie — im Gegenjag zum
geborenen Erzähler — nicht viel Glüd, dagegen iſt alles ausgezeichnet, was Zuftands-
ſchilderung iſt. So gefallen mir am beiten die ganz Kleinen Skizzen; am wenigſten etwa
Erzählungen wie „Dinter Schloß und Riegel" und „Wafler“. Es ift überraichend und
doch auch wieder ganz verjtändlich, daß dieſe Dichterin, jo lange fie ganz auf Heimats
boden jteht und ihre Bauern reden läßt, einen kräftigen Realismus, eine gejunde Herbheit
und ſelbſt Anjäge zu eigentümlicher Art befigt umd daß fie fofort in unglüdliche Halb-
heit und jchlecht verdeckte Sentimentalität verfällt, wenn fie vom Acker läht, um uns
etwa ins Zuchthaus zu führen. Die drei erſten Erzählungen wird man mit Vergnügen
leien. Lulu von Strauß liebt ihre Bauern, ihre harte Art, ihren Etolz, ihre Bräuche.
Der jo ganz unromantishe Schluß von „Um den Hof“ ift jchr fein, und auch in der
Titelnovelle wird man durd) die Art, wie die Erzählerin den konventionellen Bahnen
ausweicht, angenehm berührt. Man wird fih allerdings fragen müfjen, inwieweit das
„Platt* zu dem Eindrud erdfräftiger Art beiträgt.
Wir wollen das Bud als ein Verſprechen nehmen. Der Schlag, der da im
Weferlande fit, entmwidelt ſich ſchwer und langjam, aber geht ruckweiſe vorwärts. Und
fo befteht die Hoffnung, daß diejen eriten kräftigen Anfägen noch volle Akkorde folgen.
Den Deutſchen jei zum Schluſſe ein Däne angereiht, bei dem man in guter Ge
fellihaft ift. Diefer Düne, Hermann Bang, hat allerdings feinem neuen Bude ein
Motto von Georg Dirichfeld vorangeftellt, dem janften jentimentalen Schwächling; es it
ferner nicht angegeben, wer dies Buch überjett hat, fo daß man zweifelhaft werden kann,
ob Bang es nicht jelbft etwa im deutjcher Sprache fchrieb. Aber dieſes Deutſch ift
andrerjeits wieder jo bvortrefflich, dat ein Ausländer e8 niemals jo bei der Hand hätte.
Wie dem auch jei: der fleine Roman „Das weiße Haus“, ift aus einer Dichterſehnſucht
geboren, und in Dichterworte gekleidet. Es iſt gar fein Roman, es ift ein feines
fchönes Gedicht, in dem die Tage der Kindheit zurüdfehren, in dem durch helle Stuben
die leichten Schritte der Mutter Elingen, in dem vergefjene alte Lieder wieder aufleben.
Aber man muß dabei nicht an die fogenannten „Sedichte in Proſa“ denfen, denn damit
thäte man dem Buche unredht. Diefer übliche poetiiche Miſchmaſch, diefe Stilverwirrung
ift ja immer ein Zeichen der Schwäche. Wenn die Kraft zur feiten Versbindung nicht
ausreicht, läßt man das Formloſe als lyriſche Proja laufen. Das thut Bang nicht.
Aus aller feinen Inriichen Stimmung heben ſich die Perſonen in fiherer Begrenzung
hervor, ob fie auch heimlich und leiſe wandeln wie in einem fchönen Gedicht. Eine
traurig ſüße Melodie klingt durd; das ganze Buch, fie löſt fih am Schluſſe nicht, fie
bricht Still ab und könnte ebeniogut noch eine Weile weiterflingen. Man fieht ſchon
daraus, wie wenig diefer Roman eben ein Roman ift. An der dämmernden Beleuchtung
der Erinnerung fteht das weiße Haus, es ift uns allen befannt und es bleibt dod) ein
Nätjel. Es ift alles ſchon zu lange her, als daß man es genau willen könnte .
Wie fein ift die Mutter gezeichnet! Und doch müffen wir das Xieffte in ihr erraten.
Iſt fie nicht glücklich, weil ihr Herz an einem hängt, der ihr für immer verloren ift?
Auch das wird nicht geſagt. Man kann fich dies oder das jelber dazu träumen. Und
der Vater fcheint eine Laſt zu tragen und jcheint die Mutter ſehr Lieb zu haben und
Carl Buſſe, Litterarifche Monatsberichte. 943
betrübt zu jein, als hätte fie ein reicheres Glück durd) ihn verjäumt, aber aud) das liegt in
Dämmerung Es iſt alles gleichſam mıt Slinderaugen gejehen und aufgenommen, und
alle Kombinationen, die der Erwachſene in der Erinnerung an dies oder das Fnüpft, find
fortaelaffien. So meint man am Schluſſe, ed müßte immer nod) etwas kommen, eine
Löſung, ein Erklären, aber wie gefagt: die Melodie bricht furz ab, und mit gejchloffenen
Augen finnt man dem Ganzen nad).
Eine Empfindung, die mid) beichlich, will id) nicht verhehlen. Ach fühlte einmal
einen ganz leilen Widerſpruch zwiichen der Kindheits- und Mutterjehnfucht, und der Art,
wie die Mutter bier gejchildert ift. Gleichſam als ob man fo über feine Mutter
nicht jchreibe. Aber ſchon diefe Worte find wohl zu laut und zu gewichtig für Die
Teife Empfindung.
Es wird SonntagNahmittage geben, wo man gern diefe Seiten umſchlägt.
Etwa wenn draußen lautlos der Schnee fällt, oder wenn im ftillen Garten die Stodrofen
blühen. Es muß SFriede ringsum fein, und man muß voll Sehnjucht nad; dem weißen
Haus der Kindheit Schauen. Das Buch, das man hält, wird dann bald finfen. Aber
es hat uns etwas von feinem Beſten abgegeben: man dichtet uud träumt dann jelber...
1%
Bem deutlichen Künftler.
Sei, was Du bift, ein Deutfcber Abann,
Und lafz Dir deinen Wert nicht fchmälern;
Und wer nicht anders deutſch fein kann,
Der fei es felbft mit Deutfchen Feblern.
o
Erhalt’s! Blühendes Alter.
Was andre einft errungen baben, Rote Wangen, weifzes baar,
ZBimms willig bin als ibre Gaben. Wler fo kommt, er fei willkommen!
ZErbalts der Welt und forge du, Bat er Doch ein Rofenpaar:
Daf; noch was Befftes kommt binzu. $n den Winter mitgenommen.
oO o
Erbau’ dich! Eine moderne Bieta.
Zergliedre, wer zergliedern will, Wleich’ ein Bild! ABich Lafzt ein Grauen;
Ein feines Recbenerempel — Balb verweft das Angeficht!
Vor wabrer Kunft erbau’ Dich Still, Blaue Hugen möcht’ ich fchauen,
Sie trägt der GBottbeit Stempel. Aber blaue Lippen nicht.
o o
Die wahrhaft Jungen.
3a, lerntet ibr die „Alten“ beffer kennen,
$br würdet fie, — nicht eu, — die „Jungen“ nennen.
Aus: Tand für Künftlerhand Gin» und Ausfälle von Georg Bang.
Frankfurt a. Main. Berlog von Heinrich Seller. 1902.
— Date ut — — —
ERSTE GB IEBHT HIT,
VENEN
2323232233223 3%
Vom deuticen Theater.
Don
Fri bienhard.
Vernüchterung deö modernen dramatifchen Schaffens. — Subermanns „Es lebe das Leben —
Yucians Satiren. — Henry Bierfon +.
&" Ueberblif über den deutjchen Bühnenipielplan des verflofienen Jahres regt zu
bedeutjamen Erwägungen an. An der Epite der Aufführungsziffern fteht Otto Emmi
mit feinem „Flachsmann“ (951 Vorſtellungen). Dann folgt Sudermanns Johanni—
feuer* (727), Hartlebens „Rojenmontag“ (715), die „Dame von Marim“ (400), ber erft
Teil von „Ueber unfere Kraft“ (400), Blumenthals Luftipiel „Die jtrengen Herren“ (388,
Damit fünnen wir bereits aufhören. Denn auch die nädjitfolgenden Stüde im diejer
ftatiftiichen Reihe beftätigen nur das, was wir mit diefer Aufzählung jagen wollen.
Wir wollen mit diefer Aufzählung jagen, daß das deutihe Drama hohen Stils
weggefegt ift von unjerer Schaubühne. Wir wollen jagen, daß ftatt jeiner überall und
unbeſchränkt das bürgerliche Theaterſtück herrſcht. Ich fage nit Drama, jondemn
Theaterftüd; und ich benute den überlieferten Ausdrudf bürgerlid, der einen Gegeniaz
bildet zum biftoriichen Drama, zum poetiihen Drama. Man hat jenes bürgerlide
Theaterſtück aud) gekennzeichnet als Stubendrama, als Vierwändedrama (im Gegenfat
zur Farbenfreude der Landſchaft und ihrer bunten Gejchehniffe, ihres mannigfaltigen
Szenenwedjjels), als Problemdrama, als vernünftelndes Drama. Als PBater dicjes
bürgerlichen Rührftüdes oder Tendenzjtüdes kann man bereit3 einen franzöfiihen Ench
lopädiften des vorigen Sahrhunderts, Diderot, namhaft machen, einen Mann
von Perdienjten, was Berjtand und Aufklärung betrifft, einen Mann von Be |
ichränftheit, was höhere und echte Poefie anbelangt, von poetiſcher Bejchränttheit, jage
ich, wie fein ganzes Zeitalter, das zwar einen Voltaire zeitigen und das überhaupt |
fcharf „umwerten“ und Eritifch zerfeßen Eonnte, das aber zur Leuchtkraft plaftifcher Dichtung
nicht genug Sammlung der Gemütsträfte beſaß. Bei uns in Deutihland hat der
tüchtige ffland, bedeutend als Theatermann, mittelmäßig als Dichtersmann, dieſe Art
von behaglichem Plauderſtück, das nicht mehr den Aufſchwung entfeflelter Dichterkraft
fennt, mit Erfolg gepflegt; jodann, nad) trivialerer Seite hin, der bühnengewandte Kotzebut |
Bon Einfluß auf die Technik diefes Gegenmwartftüdfes wurde der fleitige Franzofe Seribe
der für die Slompofitionsart der Dumas, Augier, Sardou bereit3 bezeichnend if. Auch
die erfolgreiche Charlotte Birch: Pfeiffer Liegt in diefer Entmwidelungslinie. Und nun —
ja, nun fomme ic) zu einem Bunft, in dem ich von den meiften zeitgenöffiichen Beurteilen
abweiche. Ich erkenne Ibſens Gejamt-Bedeutung, ic unterſchätze nicht feinen Einfluk
Fritz Lienhard, Bom deutſchen Thenter. 945
auf die moderne deutiche Dramatik. Aber jelbft beim neueſten Erforfcher der hier
roirfenden Zufammenhänge, bei Yamprecht in jeinem Ergänzungsband zur Deutjchen Ge-
fchichte, worin er dem Gewebe der jesigen litterariichen Strömungen methodiſch nachgeht,
vermiſſe ich eine Aufdeckung der Verbindungslinie zwijchen Ibſen und jenem bürgerlichen
Drama, das vom moralifierenden Aufflürungsbürger Diderot ausging, juft in der Zeit
ausging, als das Königtum des Abjolutismus jeinem Untergang entgegentrieb, als eine
Epoche verhängnisvoll abgeichloffen wurde und das Bürgertum der Neuzeit zu ent-
Tcheidendem Worte fam. Ibſens Technik, jage ich, mit dem Schwerpunft auf dem Dialog,
Ibſens langſam-kluges Entwideln der Handlung, Ibſens PBroblem-Stellung: — ift dem
eigentlihen Kern und Weſen nad) nur ein Höhepunft des bürgerlichen Dramas, vertieft
durch modernen Gehalt.
Wenn wir aber das bürgerliche Drama jelber mit der großen Poeſie aller
Zeiten und Bölfer vergleichen — mie müffen wir jchliegen? Wir müſſen jchließen: Hier
Liegt eine folgerichtige und bewußte Bernüchterung der dramatiſchen Poeſie vor.
Eine Vernücterung, bei der unjer Drama zwar an plaftiicher Deutlichkeit, modernem
Erörterungsgehalt und forgfältig mathematifchem Dialog gewonnen hat, bei der aber in
gleihem Maße die Leidenschaft, die Flugkraft, die wundervollen Horizonte ſprach—
gewaltiger und fremdichöner Poefie verdufteten und entwichen.
So ftellt fih mir dieje Entwidlung dar. Seine Aufmwärtsentwidlung, mas die
Hauptſache anbelangt, die feelifche und poetiſche Schwungfraft! Unſere beiden Klaſſiker,
dann noch Kleiſt und Grillparzer, Hebbel und Ludwig ftehen vereinzelt in diefer unauf:
haltſamen Entwidelungsreihe. Wenn wir nicht — wie viele wollen — Richard Wagner
als einen Höhepunft des Dramas hohen Stils annehmen, jo it niemand zu verzeichnen,
niemand, der die Traditionen de8 Dramas großer Form in Europa weitgeführt
und fortentwidelt hat. Sch unterfchäge nicht die feine Ausbildung des bürgerlichen
Dramas. Aber daß wir, wie id oben nachzuweiſen fuchte, derart überwuchert find
mit dieſen einjeitigen Problemen, mit dem faſt ausichlieglichen Tendenz: und Problem:
ſtück: das ift einer Nation der Dichter und Denker nicht würdig.
Bon bier aus treten wir nun bei Sudermann ein. Ueber die Wurzeln feines
Schaffens ift mit Obigem bereit3 unjer Urteil ausgeſprocheu. Mit jeinem hervorragenden
theatraliihen Talent fteht er etwa in der Mitte zwiichen dem herberen und tieferen
Geſellſchaftskritiker Ibſen und den glätteren und amüfanteren Franzoſen. Die ganz jpegielle
Technik Ibſens, deffen eigenartiges und hierin meifterhaftes rückſchauendes Entwideln
der Handlung auf einem jchmalen Plätchen unmittelbar vor der Kataſtrophe, macht er
nicht in diefer ftrengebedächtigen Geichloffenheit mit; dazu hat er zuviel Theater-Unruhe.
Hierin neigt er mehr zu dem breiteren Plauderton der Franzoſen, die ja im übrigen,
dem Prinzip nad, gleichfalls möglichit knapp auf den einen Ort und in möglichft fnappe
Zeit die Handlung zufammendrängen, um eine nahe, intimere, lebenswahricheinliche
Wirkung zu erzielen, um ihre Theaterfiguren vernünftig und glaubhaft zu machen. Auch
inhaltlich neigt Sudermann zu den höflichen Boulevard-Dramatifern: von der „Ehre“
an bis zum „Sohannisfeuer* zieht ev einen gewiſſen Kompromiß der fonjequenten
Kataftrophe vor. Das liegt wiederum tiefer. Seine gejamte Behandlungsmweije hat
den rauhen Naturalismus und den rauhen Ernſt fittlicher Forderung gleicherweife
60
946 Fritz Lienhard, Bom deutſchen Theater.
vermieden zu Gunſten eines Salontones, der die Tragif abichleift, aber Bifantener
nicht verijhmäht. Er verlegt nicht durd) Unbarmherzigkeit, er reißt nidht bin in lade
ichaftlihem Schwung des tragijchen Genies, der durch eine Welt voll Seelen mandel:
er verjöhnt nicht durdy wahrhaft reine Herzensheiterfeit: er verlegt vielmehr durd ar:
unbeftimmte Berlogenheit, durd; da8 Darüber-hinweg-plaudern, die dem Gejellidatt:
mann eigen find. Es liegt wie ein feiner Batdhouliduft über Sudermanns Geftalter
Er lebt, alles in allem, in der Welt der poetiſch verbrämten Vernunft.
Wenn nun Sudermann über ein neues Stüd die ftolgen Worte der Kraft jchret:
„Es lebe das Leben!“ — mer giebt fih Erwartungen hin? Der poefledurftige um)
lebensduritige Kenner jeiner Dramen von vornherein nicht. Wie herausfordemd dieie
Auf! Wenn uns heute ein genialer Yebensfünder quer durd alle Geiellichaftsfloste:
hindurch, mit der Geiſterſprache der Poeſie und gleihrwohl in feiterem Erdgewand, hinein
und hinanrifje in die flutende Lichtkraft wahren Lebens! Wie wäre das ein Aufatmen'
Und was für ein Dinausjubeln! Willen wir denn, wir im Alltag, wir in den volle
Städten mit den vielen Staatsbürgern, Vorgejekten, Kollegen und NRüdfichtnahmen: —
wilfen wir denn nod), was volles und großes „Leben“ ift?! Wo fönnen wir denn ie
„leben“?! An der Gejellihaft nicht, im Staate nicht, im Raume nicht: aber in umferem
Seelenbereic vermögen wir jo zu leben! Und mit der Sprade der Seele zu dan
Tiefften und Stärfften in uns zu ſprechen und in unferem Willen und Gemüt em:
jubelnde Antivort zu weden: das nenne id) Dichterpflicht! So giebt uns der Dichter ir
jeinen Gejtalten und Worten Yeben von jeinem Leben, jo giebt er uns Yicht, jo befördert
er unfer Wadhstum! ...
Sudermann, — wir find wieder bei Hermann Sudermann — erzählt uns in fünf
jorgjam gearbeiteten Akten, die dem Theatertalent des Verfaſſers wieder alle Ehre machen
als Gejellihaftsmenid das Schickſal von Gejellihaftsmenichen, in der Sprechweiſe und
im Bezirt der Gejellihaft. Die Gattin eines fonjervativen Adeligen hat fich vor
15 Jahren mit dem Freunde des Haufes fträflich vergeſſen; inzwijchen ift die jündige Yiebe
der Beiden bei ihm zur Freundichaft abgetönt worden, der auch fie jich fügt, obwohl ihr
Herz dauernd nur dem Einen, dem Freunde, gehört. Und nun, unter allerhand Ber:
wiclungen gejellfhaftliher und politiiher Natur, droht jenes Bergehen jpät an die
Deffentlichkeit zu fommen; auch der Gatte erfährt davon. Und damit ift die Frage
ftellung und die Erörterung in vollem Gange: mas thut jet der Gatte? wie benimmt ſich
der Freund? wie löſt fich der Sinoten? Kurz, man fieht ordentlich die Herren auf der
Bühne beifammen ftehen und den Zeigefinger der Rechten bald nachdenklich an die Stirn,
bald räjonnierend an den linken Daumen legen. Sudermann, der Broblemdramatiter,
vertieft fi) hier. Ein gemöhnliches Duell wird verworfen, ein amerifanijches gleich—
falls; der Sohn des Uebelthäters fällt ahnungslos feinem Vater jelbit das Urteil,
als ihm der Fall, jcheinbar abjtrakt, vorgetragen wird: der Verbrecher muß ſich anftand®
halber erjchiegen. Aber die Frau erfährt davon, fie fommt diefer That zuvor, fie ver:
giftet fich ſelbſt. Und plöglih nun — muß er, der Freund, leben bleiben! Wie,
wiejo, warım? Iſt er denn entjühnt? Hätte fein Selbitmord etwas gefühnt? Sühm
überhaupt Selbftmord? Er muß nun leben, jagt der Berfajfer. Der Vorbang fällt;
wir find aus dem dramatiihen Räfonnement entlafjen, deſſen lebenswahre und geſchick
Fritz Lienhard, Vom deutfhen Theater. 947
ineinandergearbeitete Einzelheiten hier weiter nicht dargelegt werden können. Bemerkt
ſei nur der höchſt Sudermannſche Zug: der Sozialdemokrat, der die einzig fompromit:
tierenden Briefe befitt, giebt fie in einer Regung von Edelmut dem Miffethäter zurück,
fo daß ein öffentliher Efandal, Gott jei Danf, nicht weiter zu befürchten ift. Nur die
Privattragödie zwijchen den Dreien fpielt noch weiter; aber auch dieſe wird durch den
Selbftmord der Gattin, Die, wieder um die Welt zu täufchen, während eines Mahles Gift
nimmt, erledigt. Die beiden Männer leben weiter zu Nuten der konſervativen Partei.
Niemand weiß von der Berfehlung. Mag es nun bewußte ſatiriſche Abficht des Liberalen
Dichters jein, dab er das Vertuſchen vor der Welt eine jo entjcheidende Rolle in diejen
als defadent gezeichneten, aber gleichtwohl vielfach mwillenszähen, von der bedeutenden Frau
überragten Kreiſen jpielen läßt: wo ift hier jenes fieghafte, befreiende Reben, dem wir
aufatmend zujubeln möchten?
Wir wollen indes nicht die Räſonneure diejes Sittenftücdes durch eigenes Erörtern
nachträglid; vermehren. Die fejjelnde Darftellung, die Führung des Dialogs, der intime
Meiz des Salon: und Parteilebens erklufiver Adelskreife wird das Publitum eine gute
Beitipanne hindurch feſſeln. Aber freimachende Porfie?,...
Im Berliner Theater hat Lindau, nicht als erfter freilich, mit Erfolg den Verſuch
unternommen, die jatiriichen Dialoge des ſpäten Griechen (Afiaten) Lucian jzeniich
Darzuftellen. Man konnte, in umftändlicher Szenerie, gelegentlich von ftimmungfördernder
Mufit begleitet, „Zimon, den Menſchenfeind,“ „Die Fahrt über den Styr,“ und den „Hahn,“
alle drei leiſe modernifiert, mit Behagen anhören. Es ijt ein anmutiges Experiment von
freilich nicht mehr als jpieleriichem Wert. Lucian, der Epätgrieche, (F 200 n. Chr.) ift
Sohn einer Verfalläzeit. Die hehren Götter waren aus den Herzen entihront und
mußten zu Späßen herhalten; ein neuer Glaube war nod) nicht fieghaft in das Gefühl
eingedrungen. So gediehen Spott und Satire, gedämpft durch eine allgemeine Moral,
die nicht viel bejagen wollte. Gelegentlich wird nun bier, 3. B. in der Unterwelt, durch
den Gegenjag der ftimmungsvoll düfteren Szenerie — Totenſchiff, deffen weißer Bug
als ein riefiges Gerippe nebft Rieſen-Totenſchädel in das Düjter ragt, blaudunfles
Geklüft, Ankunft der ſpinnwebgrauen Echatten — und der faulen Späße der Sprechenden
eine groteske Luſtigkeit erzielt, die aber, genau betrachtet, doch nur Offenbachſcher Art
ift. Ein Dichter von plaftiiher Kraft und Phantafie, vor allem aber von fittlicher
Hoheit, könnte freilich in diefer Schauweiſe grauenhaft:humoriftiihe Nachtbilder großen
Stils ſchaffen. Lukianos ift oft geiftreich, aud) wohl wigig und von ſouveräner Meberlegen-
heit: aber, vor der Bühne betrachtet, bleibt das doch nur modern drapierter Dialog, ohne
Tiefe, ohne Poeſie. Einen „Unüberwindbaren“ nennt ihn ein Tageskritifer, weil fein Wit
weder vor Göttern noch Unterwelt Halt macht? Ad ja, ſolche Defadenz-Ericheinungen
eines blafierten Zeitalter, deren Organe der Erfurdt vor Göttlihem und Ewigem
abgenutzt und aufgebraudt find, find in der That unüberwindbar. Aber wir beneiden
fie nigt darum... — — — — — — — — — — — - -— - - — — — —
Nod etwas! Diejer Tage wurde der ntendanturdireftor der Königlichen Bühne,
Geheimrat Pierjon, durd einen Herzſchlag jählings jeiner Thätigkeit entriffen. Das
bedeutet mehr als den blogen Abſchluß eines Menſchenlebens. Wir erleben das nicht
ganz reine Schauſpiel, daß ſich die Tagesprefie bei dieſer Gelegenheit, verſteckt oder offen
60*
948 Frig Lienbard, Vom deutſchen Theater.
über das „Syſtem Pierſon“ abſprechend äußert, jogufagen an der offenen Bahre des
Beritorbenen. Dies Syſtem beitand darin, daß unter Pierſons geſchäftskundiger Leitung
zunächſt das frühere Defizit gedeckt wurde, daß aber dann der Kaſſenſtandpunkt allerdings
mehr in den Vordergrund trat und einen Zwieſpalt erzeugte zwiichen den kaiſerlichen
Forderungen eines ftolgen Idealismus (vgl. des Kaiſers Rede vom 11. Juni 1898!) und
dem thatfählihen Spielplan bejonders des Schaufpielhaujes, wo leichte Luftipielware
in nicht erfreulicher Weiſe die Bretter beherrichte. Wieweit hierbei mangelnde Einficht
einzelner Berjönlichfeiten, Rüdficht auf die Kaffe, auf den Hof und Sonftiges mitiprechen
modten, geht uns hier nichts an. Nur Eins möchten wir ausfprechen, und zwar in
Anknüpfung an die oben bedauerte Vorherrichaft des bürgerlichen und jozialen Dramas.
Wenn wirklich, wie zu hoffen fteht, nad) und nad) eine nationalere und frifchere Dichtung
die Zeiten des „fin du siecle* ablöft, jo mühte gerade die Königlihe Bühne bier
hilfreich) und anregend mitwirken. Denn wir haben, feit nun aud) Barnay das „Berliner
Theater“ verlafien bat, für das nationale, hiftoriihe und Hiftorisch-poetiihe Drama in
Berlin feine bedeutjame Stätte mehr. Gine Theaterleitung fann zwar feine Talente
aus dem Boden ftampfen; wohl aber fann manches unentwidelte Talent jelbft durch
eine nicht ganz erfolgreihe Aufführung neuen Schaffensmut und Klärung finden. Und
die Entwidelungslinie Kleiſt-Hebbel-Ludwig oder Schiller-Örillparzer wird doc; wenigstens
verjuchsweife wachaehalten durch Anregung und Ermunterung jüngerer Talente.
16
Diktat Bismarcks über die Bundesverfaffung.
„An dem vor dem Kriege verkündelen Programm, daß Bundesgefeke durch Heber-
einſtimmung der Majorität des Bundestages mit der Volksvertretung entfliehen, halten
wir fell.
Ie mehr man an bie früheren Formen anknüpft, defto leichter wird ſich die Sadır
madıen, während das Beflreben, eine vollendefe Minerva aus dem Kopfe des Präfidiums
entſpringen zu lalfen, die Sadıe in den Sand der Profellorenfireitigkeifen führen würde.“
(Aus Fürſt und Fürſtin Bismarck“. Bon Robert von Keudell
Hus einem Brief an den Grafen Ufedom.
„Es gehört nadı meiner Auffallung zu den vornehmflen Rufgaben der Piplomatie,
künftige polififche Bedürfnilfe des eigenen Tandes niemals aus den Mugen zu verlieren,
künftige Bünbnille nidt als Unmöglichkeiten zu behandeln oder eigenmädtig zu ſolchen
zu machen.“ (10. Dezember 1868.)
(Uus ‚Fürſt und Fürſtin Bismar*, Bon Robert von Keubell
Bismarc zu Keudell und Hbeken.
„Wenn ich es noch erlebe, daß in Biel ein preußifcher Pberpräfident fit, will ich
mich aud) nie mehr über den Pienfl ärgern.“
„Fauf klagt über zwei Seelen in feiner Brufl. Ich beherberge aber eine ganze
Menge, die ſich zanken; es gehl da zu wie in einer Republik... Pas meiſte, was ſie Tagen,
teile ich mit; es ſind da aber audı ganze Provinzen, in die ich nie werde einen anderen
Menſchen hineinfehen laſſen . . . (Gallein, 16. Mugufl 1864.)
(Aus „Fürf und Fürſtin Bismard*, Bon Robert von Keubdell, }
C0OOGOGOOGGOGGOGG
ITlullkaliſcie Rundſchau.
Von
keopold Schmidt.
IV.
gJ* der zweiten Hälfte des Januar lenkte neben den Beranftaltungen des Honzertjanles
auch wieder einmal das Theater das Antereffe der mufifalifchen Kreiſe auf fih. Die
Königlihe Oper, die bis dahin in befchaulicher Ruhe das alte Repertoire gepflegt hatte,
entwidelte eine ungewohnte Thätigfeit: zwei neue Werfe erlebten kurz hintereinander
ihre Eritaufführung, und eine ältere Oper erichien in neuer Befegung und Ausftattung.
Die eine der Novitäten, Alfred Sormanns „Sibylle von Tivoli“, ift bier ſchon kurz
erwähnt worden. Die Partitur hat viele Jahre lang im Archiv des Opernhaufes geruht,
und man that unrecht, fie jegt ans Licht zu ziehen, wo der Geſchmack, wohl auch der
des Komponisten, fi) geändert hat, wo niemand mehr an den Effekten, denen Mascagnis
„Gavalleria“ einft ihre Erfolge verdanfte, rechte Freude empfindet. Der Stoff, einer befannten
Novelle von Richard Voß entnommen, ift ohne Geſchick auf die Bühne gebracht, und
Schon die Wahl des Tertbuches beweiſt, daß der Komponist fein geborener Dramatiker
iſt. Sormann hat mancdherlei gelernt, er ift ein begabter umd tüchtiger Mufifer; aber
auf dem Theater wird er ſich ſchwerlich durchſetzen fünnen.
Die zweite Novität war Wilhelm Kienzls „Heilmar“. Auch dieſe Oper ift nicht
neu; fie ift bereitS vor zehn Jahren in Graz aufgeführt, aber der Komponift, der zugleid)
der Berfajfer jeiner Terte ift, hat fie inzwiichen mehrmals umgearbeitet und wollte
nun noch einmal fein Glück an entjcheidender Stelle verfuchen.
Man muß es Sienzl lafien, daß er feine Stoffe geſchickt zu wählen verfteht.
Schon das der Entjtehung nad) jpätere Werk, das wir aber zuerft kennen lernten —
fein „Evangelimann* — wirkte durd die dem Leben abgelaufchte, teilweile padende
Dandlung. Auch in „Heilmar“ haben wir e8 mit einer Erlöjungsidee zu thun; Kienzl
jteht, wie alle Modernen, in diefem Punkte unter dem underfennbaren Einfluß Wagners
und deſſen PBarfifal. Aber während im „Evangelimann“ der Held befümmerten Ge:
mütern prieiterliche Tröftung bringt, bemüht fich Heilmar um das leibliche Wohl feiner
Mitmenjhen. Ihn drängt es, den Leiden unverjchuldeter Krankheit entgegenzutreten;
im innigen Umgang mit der Natur erftarkt, und von vifionären Eindrüden beherricht,
gewinnt er den Glauben an jeine Heilkraft und zieht aus, Elende zu retten, Siehe und
Sterbende wieder aufzurichten. Mit der Darftellung feiner Heilthaten, die Heilmar
bald in den Auf eines Wohlthäters der Menjchheit jegen, berührt der Dichter ein hoch—
modernes Problem, und ficherlich hat der Gedanke, die Theorie der Hypnoſe und Sug—
geition auf die Bühne zu bringen, dem Stüde jeine ſtärkſte Anziehungskrait verliehen.
950 Leopold Schmidt, Muſikaliſche Rundichau.
Der Träumer, der an fich glaubt und diefen Glauben auf andere zu übertragen vermag,
der arme Schäfer, der halb Narr, halb Uebermenic wie ein Prophet, wie ein Chriftus
auf Erden wandelt, ift in der Zeichnung wohl gelungen, wenn folche Geitalten auf der
Bühne auch immer ihr Bedenkliches haben. Ein hübſcher Zug ift au die Einführung
der Gegenfigur des marktſchreieriſchen Charlatans, des echten „Medizinmannes". Wie
jede Wunderfraft ift auch die jegenbringende Fähigkeit Heilmars an eine Bedingung
gebunden: er muß dem irdiichen Glücke, dem Wohlleben und der Liebe entjagen. Damit
it der tragische Stonflitt gegeben. Ein Mädchen, das durch ihn Heilung von ſchwerem
Leiden erfahren, jchenft ihrem Retter ihr Herz, und Heilmar unterliegt der VBerjuchung.
In feſſelnder Weile fchildert der zweite Aktſchluß, wie den Arzt feine Macht verläßt
gerade in dem Augenblid, wo er an das Sterbelager der Mutter feiner Geliebten
gerufen wird. Hier könnte die Dper zu Ende fein, Kienzl hat einen verjöhnlicheren
Abſchluß vorgezogen. Er läßt feinen Helden nod einmal die verlorene Macht wieder—
gewinnen, und zwar durch das Mädchen jelbit, dem er fie geopfert, und die fih nun
für ihn opfert und fie ihm fterbend zurüdgiebt. Auch hierin liegt ein feiner poetijcher
Gedanke, aber diejes Nehmen und Geben, dies Aufheben der tragiihen Schuld Hat
wenig Ueberzeugendes, und wenn wir Heilmar mit neuer Heilkraft ausgerüftet übers
Meer zu fernen Inſeln fahren fehen, ift unfere innere Teilnahme an feinen Schickſalen
merklich erlahmt. Nächit diefer Abſchwächung ift der Dichtung noch ein anderer Vor—
mwurf zumachen. In der Figur der Maja tritt dem Helden feine ebenbürtig ausgeprägte
Perfönlichkeit entgegen. Es ift eine verſchwommene Mädchengeftalt, mit der wir nicht
mitrühlen, und da die pſhchologiſche Entwidlung volllommen überjprungen wird, ver:
ftehen wir auch nicht recht die Wandlung in Heilmars Denken und Handeln.
Die Muſik, die Kienzl zu diefer Handlung geichrieben, bringt nichts Ueber—
raihendes. Sie beftätigt nur aufs neue, daß Kienzl ein jehr geſchickter und geſchmack—
voller Tonjeger ift, der die Wirkung aller Mittel fennt und fie mit fiherem Inſtinkte
ausnugt. Wie er diefe Mittel von den Modernen, namentlicd; was den Orcheſterſatz
betrifft, übernommen hat, jo ift aud) feine Melodie feine ureigene, wurzelt vielmehr in
wohlbefannten Meiſterwerken, vor allem in denen Wagners. Etwas Perſönliches tritt
am eheiten dort hervor, two Slienzl einen barmlossgemütlichen Ton anſchlägt, bei der
Schilderung des Bolfslebens, oder mo eine weiche, innige Stimmung zum Ausdruck
gelangt. In ſolchen Fällen wird allerdings die Grenze des Banalen, andererfeits des
Sentimentalen nicht immer forglam genug vermieden, und es zeigt fich, daß die eigent:
fihe Natur des Mufifers erbeblicd [hinter der jpefulativen Veranlagung des Denkers
zurückbleibt. Sehr wohlthuend berührt die Fähigkeit Kienzls, gut aufgebaute und wohl»
Elingende Enfembles zu jchreiben. Seine Mufif jteigt ziwar nirgends in die Tiefe (mie es
das Sujet wohl geboten hätte), aber fie iſt ſympathiſch, ftütst wirkungsvoll die an ſich
intereffante Handlung und wird allen Bedingungen der Bühne gereht. So machte das
Werk einen günftigen Eindrud, um jo mehr, als die von Dr. Mud vorbereitete
Aufführung bis in alle Einzelheiten vortrefflich ging und bon dem neuen Regiſſeur des
Dpernhauies, Herrn Dröfcher, ftimmungsvoll injzeniert war. Bon den DHauptdarftellern
find die Damen Hiedler (Maja) und Goetze (Mutter), befonders aber Herr Hoffmann,
der den Heilmar aufs Liebevollite ausgearbeitet hatte, hervorzuheben.
Leopold Schmidt, Muſikaliſche Rundichau. 951
Neben diejen neuen Werfen brachte die Hofoper Bizets undergängliches „Karmen“
in neuem Gewande. „mei Hauptrollen waren neu bejegt: Don Joſé und Micaela.
Den oje jang zum erjtenmale Ernſt raus. Unſer Heldenfänger ging in Geſtalt
und Stimmflang in etwas über den Rahmen der Iyrifchen Partie hinaus; andererjeits
gab er der Figur mehr glaubhafte Männlichkeit, als ihr ſonſt von Tenoriſten verliehen
wird. Das interejfierte wohl, entſpricht aber doch nicht ganz der in der Dichtung mo—
tivierten Anlage des Charakters, jo wenig wie die weichen, elegischen Accente des
Fräulein Deftinn dem Bilde der Carmen zu größerer Echtheit verhalfen. Ganz am Plate
war Frau Herzog als Micaela. Sie erhob durch ihren meifterhaften Gefang die Nolle
erjt zu ihrer wahren muftkaliichen, und dramatiichen Bedeutung, Die Neuftudierung
hatte Herrn Dr. Mud, dem feinfinnigen, gewiflenhaften und in allen Eätteln feiten
Stapellmeifter, Gelegenheit gegeben, alle Nachläſſigkeiten zu bejeitigen, die ſich im Laufe
der Zeit eingeichlichen, und ein tadelloſes Enjemble herauftellen. Für den äußeren
Erfolg beim Publikum jorgte auch nicht wenig die glänzende Ausstattung der Dekorationen
und Softüme, die man an die Renovierung des Werfes gewendet hatte. Eine ganze
Neihe älterer Repertoirejtücde jollten in ähnlicher Weife vorgenomntn werden. Das
wäre für cine erite Opernbühne zu einer Zeit, in der wirklich wertvolle neue Schöpfungen
jo dünn geſät jind, eine danfbare und rlihmenswerte Aufgabe, zumal wenn dabei be=
jonders die Regie, mehr als es bisher geichehen, ſich ihrer Pflichten erinnern und mit
unbaltbaren Traditionen entichlojfen brechen wollte.
Uns vom Theater zu den Ereigniffen der Konzertſäle wendend, finden wir wiederum
in den Strauß-Konzerten bei Kroll den ergiebigiten Stoff zur Beſprechung. Tieje Abende,
die der kühne mufifalifche Neuerer und unerjchrodene Idealiſt mit dem Berliner Ton
fünftlerorchefter veranftaltet, find gewiß nicht die Gipfelpunfte, weder was die Ausführung,
noch was die Natur der vorgeführten Werke betrifft; aber fie interejfieren doch durd) das
viele Neue, das fie bieten, jett unleugbar am meilten. Bollendetere Orcheſterleiſtungen
treffen wir wohl wo anders, und bis jeßt ift bei dem Unternehmen noch nichts zu Tage
aefürdert, das eine dauernde Bereicherung der Litteratur bedeutete. Indeſſen man hofit
und verfucht fein Glück ftets aufs neue.
Ne ausichlieglicher die Programme Richard Strauß’ der Eammelplag von Novi—
täten find, je entichloffener jcheinen Nikiich und Weingartner, im weſentlichen an den bes
währten Schägen unjerer Großmeifter feftzuhalten. Bon modernen Werfen bradten in
ihren legten Konzerten Nififh nur Strauß! vielbeiprochene fymphoniiche Dichtung „Alfo
ſprach Zarathuſtra“ und die Suite op. 55 von Tſchaikowsky zur Aufführung, Wein:
gartner Berlioz' dramatiiche Symphonie „Romeo und Julia“, die jonft nur jelten in
ihrem ganzen Umfange zu Gehör fommt. Die jüngften beiden Strauß-Abende machten
uns dagegen mit einer ganzen Reihe von Neuericheinungen befannt.
Als die wichtigſte von ihnen möchte ich eine Szene aus Ludwig Thuilles Oper
„Bugeline* voranftellen. Sie füllt den dritten Akt des Werkes und ftellt ſich als ein
großes, weitausgeiponnenes Liebesduett dar. Soweit man nad einem Bruchſtück urteilen
fann, fcheint der dramatiiche Gehalt der Oper fein beträchtlicher zu fein; das Lyriſche
waltet einfeitig vor, und das prägt auch dev Muſik den Charakter auf. Sie ift zart und
finnig, meijterlicd in der Form und von jenen hellen, leuchtenden Farben, die wir vom
952 Leopold Schmidt, Mufikaliiche Rundichau,
„Lobetanz“ her bei Thuille fennen. Mit jeinen Tönen gelingt es dem Mufiker, ſelbſt die
Dichtung Bierbaums zu vertiefen, die durchaus nicht immer den Eindrud des Echten,
Ungefünftelten macht. Das jett von den Neuen jo bevorzugte Lied mit Orcheiter war
durch den Dresdner Walter Rabl vertreten, deſſen „Sturmlieder“, von Emmy Deftinn
ſchwungvoll vorgetragen, nicht ohne Wirkung blieben. Konnte die Konzertouverture
„Cockaigne“ des Engländers Edward Elgar noch Intereſſe erweden durd; fließende Arbeit
und geſchickte Inſtrumentation, ſowie durch die Verwendung englischer Volksthemen, jo
gehört dagegen die Ode Mascagnis „Yeopardiano” zu jenen Werfen, die beſſer fortgeblieben
wären. Es ift nicht erfreulich zu fehen, wie wenig der Komponist der „Gavalleria“ die
einst auf ihn gelegten Hoffnungen zu erfüllen vermag. Mangel an Erfindung und Mangel
an techniichem Können halten fich in dieier das Pokale und Inſtrumentale ftillos ver:
mijchenden Arbeit das Gleichgewicht.
Am legten diejer Abende dirigierte Georg Schumann, der unlängst mit jeinem Chore
der Eingafadentie eine lebendige Aufführung von Händels „Aeis und Galatea“ bewerk—
ftelligt hatte, eine Orcheſter-Humoreske jeiner Kompofition, die die beabfichtigte herzhafte
Wirkung nicht verfehlte Mit viel Kunft und behaglihem Wie it hier in einer Reihe
Variationen und einer Doppel-zuge ein „Luftiges Thema“ hin- und hergewendet, das in
feiner burichifojen, fommersbucartigen Fröhlichfeit den Komponiſten zu allerhand
witigen, zum Teil recht feinen Einfällen verleitet hat. Der Eindruf war ein um jo
lebhafterer, als die voraufgehenden Novitäten an die Aufmerkſamkeit der Hörer unge
wöhnliche Anforderungen geitellt hatten. Paul Ertls „Liebesizene”, aus einer „Darald-
Symphonie“ (im Anfchlug an die Uhlandiche Ballade) zeichnet ſich hauptſächlich durd)
wohlflingende und eigenartige nftrumentierung aus; im Zufammenhang mit den anderen
Sätzen würde man wohl mehr Verſtändnis und damit mehr Antereffe für die motiviiche
Arbeit und die ntentionen des Verfaffers gewonnen haben. Ein etwas bizarres,
aber nicht ’reizlojes Stimmungsbild bietet Leo Blech in feiner Barcarole „Troſt in der
Natur“. Am jprödeiten giebt ſich das neue Stlavierfonzert von Otto Neigel, das der
Komponist mit glängender Bravour jelber vortrug. In jeinem Solopart feiert die virtuote
Technik wahre Orgien, doch in einer von allem Herkommen abweichenden Weiſe. Dies
fich überiprudelnde Figurenwerk, dieje frauje und wirre Harmonik ift nicht leicht zu verfolgen;
man fühlt fich davon beim eriten Dören wenig angezogen, wenn man aud das Walten
eines regen und eigenartigen Geiſtes ſpürt. Der Beifall galt denn auch mehr dem Bianiiten
als jeinem Werte.
Während jo die Ausbeute auf ſymphoniſchem und initrumentalem Gebiete zwar feine
bedeutende, aber doch eine ziemlic; große war, erjichien die vofale Muſik durch ein einziges
neues Chormwerf von Anton Uripruch bereichert. Profeffor Siegfried Ochs erwarb ſich in
einer mit jeinem Bhilharmonifchen Ehore veranitalteten, im Hinblick auf die Schwierigfeiten
wahrhaft glänzenden Aufführung das Verdienit, des Frankfurter Komponiſten „Frühlings
feier” zu unjerer Kenntnis gebracht zu haben. Auch Urſpruch ift feiner von den Pfad—
findern, feine genial veranlagte Eigennatur; was aber fünftleriicher Ernjt und technifche
Kenntniſſe aus einer Begabung zu machen vermögen, das zeigen jeine reiferen Arbeiten,
und deshalb gehört die „Frühlingsfeier“ jedenfalls zu den bemerkenswerten Neu:
ericheinungen. Die tertlich zu Grunde liegende Ode Klopitods hat es mit ihrer bilder-
Leopod Schmidt, Mufitaliihe Rundichan. 953
reihen Sprache verjchuldet, da der Komponiſt fich fait nur illuftrierend verhalten und
vorwiegend zu tonmalerischen Wirkungen greifen mußte. Wie in diefer Dinficht der
Chor verwendet wird, ijt wohl das Intereſſanteſte an dem ganzen Werke, das vielleicht
einmal einer der Ausgangspunfte für eine neue Behandlung des Chorjates werden fann.
Urſpruch ftellt an die Technik Anforderungen, die bisher nur auf das Gebiet des Solo-
gelanges verwieſen worden find.
Soll id aus der ſtets noch wachſenden Zahl der Soliftenfonzerte hier einiges
Wichtige herausgreifen, jo möchte ich diesmal bejonders auf die Franzoſen hinweifen, die
gerade in den lettvergangenen Wochen jo erfolgreich das Podium betraten. Edouard
Nisler fpielte mit und ohne Orcheiter, Hit er auch als Mufifer etwas fühl, mitunter
etwas weichlich in der Auffaſſung, furz nicht gerade der Intereflanteiten einer, als fundiger
Behandler jeines Anftruments, dem er einen wundervoll fingenden Ton und die feinften
dynamiſchen Abjchattierungen entlodt, ſteht er fait unerreiht da. An einem feiner
Abende verband er fich mit dem trefflihen Geiger Henri Marteau zu einem Sonatens
Vortrag; ein anderes Mal unteritügte er die berühmte Pariſer Soeiete de Musique de
chambre pour Instruments à vent, Man hatte in den Konzerten dieſer von Taffanel
gegründeten Kiünftlergenofienichaft, die den Zweck hat, die einst jo hoch entwidelte, jett
aber vernadjläjligte Kammermuſik für Blasinitrumente (mit und ohne Klavier) zu
pflegen, Gelegenheit, fi) von den guten Traditionen der franzöfiichen Bläſerſchule und
der fortgeichrittenen Anitrumentenbaufunit unferes Nachbarlandes zu überzeugen. Ein
zweiter glängender Vertreter der franzöſiſchen Klavierkunſt iſt Raoul Pugno. Sein
erites Auftreten im vergangenen Winter war ein Greignis. Noch vielmehr als bei
Nisler, der fi) von deutſchem Wejen nicht wenig beeinflußt zeigt, finden wir bei Bugno
fpezifiich galliiche Eigenjchaften ausgeprägt. Von außerordentliher Schönheit iſt der
Ton diejes Pianiften, und jeine Technik, die jo fiher und elegant und dabei von
ftaunenswerter Geläufigfeit ift, wird, von einem hinreißenden Temperamente beherrict,
jelbit zu einem Fünftleriichen Ausdrudsmittel. Man kann über die Auffaffung Bugnos zu:
weilen ftreiten und wird doc) geneigt jein, ihm im Momente recht zu geben, jo ſympathiſch,
jo lebendig empfunden ift die Art jeines Mufizierens. Auch) unter den Geigern waren
die bedeutenditen franzöfiicher Herkunft: der elegante Jacques Thibaud, ein feiner und
Eluger Kopf, der Jnnerlichkeit und Zurückhaltung wohl zu vereinigen weiß, und Meifter
Sauret, den wir längere Zeit in deutichen Ktonzertiälen vermiſſen mußten.
Die freundlicheren Beziehungen beider Nationen, die anderwärts vielleidht nur
offiziell gepflegt werden, gejtalten fich, wie es jcheint, in der Muſik zu recht natürlichen.
Um vollitändig zu fein, dürfen wir aud) die Sänger des Montmartre-Viertels nicht
übergehen, die uns im Gefolge der Wette Guilbert ihren Beſuch abgeftattet haben. Als
Muftfanten haben fie, wie übrigens Mette jelber, jamt und jonders nichts zu bejagen;
aber ihre eigentümliche Vortragskunſt hat doch der volfstümlichen mufifaliihen Lyrik
eine ganz bejtimmte Nüance gegeben. Die bejferen der Chanjons, die in den Pariſer
Gabaret3 gefungen werden, weilen eine eigene, ungemein grazieufe Miihung von Ernit
und FFrivolität und oft recht witige fompofitoriihe Einfälle auf. Das ift eine viel
echtere und behaglichere Kunſt als die entweder jentimentalen oder zotigen Lieder der
deutjchen Singipielballen.
654 Leopold Schmidt, Mufitalifche Rundichau.
Bon heimischen Künstlern müffen wir uns begnügen, diesmal die Elangvolliten Namen
zu nennen, zumal Neues über feinen von ihnen zu jagen iſt. Ferruccio Buſoni erntete
die größte Anerkennung mit jeinem Chopin = Abend; aber auch in zwei anderen Kor
zerten riß er, namentlich mit Alkan und Liszt, die Dörer durch feine ans Märchenhatt
grenzende PVirtuofität zu begeiiterten Beifallsfundgebungen hin. Gabriele Wietronz
fefielt jtets durch ihre markige Perjönlichkeit, die fih in Ton und Bogenführung aus:
fpricht und ihrem Spiel einen gewiſſen herben Reiz verleiht. Sie zeigte auch in ihren
diesjährigen Konzerte, daß weit über der Birtuofin in ihr noch die ernfte, tiefempfindend:
Mufikerin fteht, zu der fie ſich unter Joachims Leitung ausgebildet hat. Erfolgrad
verliefen ferner die Konzerte des geiftvollen Pianiſten oje Vianna da Motta, dei
Violinvirtuoſen Bronislaw Hubernann, die Liederabende Reimunds von Zur: Mühlen
und der Mezzojopraniftin Lula Gmeiner. Wenn fich zwei Sndividualitäten wie Wilma
Normann:Neruda und Friedrich Gernsheim zuiammenthun, dann verliert jelbit em
„Sonaten-Abend“ jein Schrefhaftes und Fann zur Quelle des Genufjes werden. Sim allge
meinen aber wird mit der einft aus dem Sonzertfaal verpönten Sonate jegt ein an Mi;
brauch grenzender Kultus getrieben, ein Zeichen mehr, wie gefliffentlih unjere Zeit nd
von allem harmlofen Mufizieren mehr und mehr abmwendet. Wie ein Nachklang aus
längit vergangenen Tagen berührte dagegen das Konzert des Darfenvirtuojen Holy. ir
fennen die Harfe fait nur noch als Orcheiterinftrument; einft war fie aber viel in dr
Familie und im Slonzertjaal verbreitet und vertrat dort die Stelle des Mlaviers. Gin
Meifter wie Spohr hat wertvolle Kammermufif gefchrieben, in der nod) die Harte
Verwendung findet.
1%
Aus Bismarcks Rede vom 28. Mai 1869 im Norddeutfchen Reichstage.
„Wir haben unverrückt unfer nationales Biel im Muge behalten. Wir haben nidt
rechts noch links gelehen, ob wir jemandem mwehe Ihalen in feiner innerflen Heberzeugung.
Meine Berren, aus dieſem Geifte haben wir unlere Kraft, unfern Mut, unfere Mad gr-
Ihöpft, zu handeln, wie wir gethan. —
„Im Begriff, Dielen Reichstag feinem Schlulfe entgegenpuführen, möchte ich Sie bitten:
durchdringen Sie ſich volllländig mif dem Geifle, der die Bundesverfallung arfchaffen hat,
hinterlaffen Sie ihn ungeſchwächt Ihren Badıfolgern, geben Sie durch ihr Iektes wichtiges
Votum dem deuflden Polke ein verheifungsvolles Pfand [einer Zukunft, beweiſen fie ihm
durch Ihre Abflimmung, daß da, wo 28 auf die geheiligfe Sache unlerer nationalen Einhrü
ankommf, der Peuflche leinen alten Bationalfehlern zu entfagen weiß, beweiſen Sie es,
indem Sie den Plak vergellen, den Sie in der Hihe des Rampfes als Partei, als Eingelner,
eingenommen haben, indem Sie über Ihre augenblichlichen Gegner hinweg Ihren Blick
auf das Große und Game erheben und diefem großen Ganjen einen Dienſt erweilen,
weldyer für die deuffche Zukunft das Pfand bilden wird, dah die Beubildung umferer Ber-
fallung frei [ein werde von einem großen Teil der Schlacken, welde den alten Guß [pröbe,
brüdig gemacht und gerrilfen haben.“
DIIIDIIDIIDIIDIIDIDIDIDIDIDIDIDIDIDID)
Ein Wort der Abwehr.
Der „Kreuz-Zeitung“ und der „Kölniicten Volkszeitung“ gewidmet von
Rudolph Sohm,
Im Februarheft diefer Zeitſchrift habe ich einen Nuffat veröffentlicht, in welchem
ich das Uebergemwicht des Zentrums und die unverhältnismäßige Uebermacht der agrariichen
Intereſſen durch das Dajein der Sozialdemokratie erkläre. Ich führe aus, daß die
Trennung der Arbeiterbewegung von der Sozialdemokratie das Mittel iſt, um die Derrichaft
des Zentrums und die politiiche Vormachtſtellung des Großgrundbefiges zu brechen.
Dieje meine Darlegung hat die „Kölnische Volkszeitung“ (vom 19. Februar) zu
einem Schmähartifel veranlaßt, und die „Kreuz-Zeitung“ (vom 20. Februar) hat fid die
Ausführungen des fatholifhen Blattes angeeignet.
Die „Kölnische Volkszeitung” redet jo, und die „Kreuz-Zeitung“ fchließt ſich ihr an,
als ob fie glaubte, daß die Hauptfache in der fozialdemofratiihen Bewegung der
republifanische und der atheiftiiche Gedanke ſei. Jedermann weiß aber, da bon den
Millionen fozialdemofratiiher Wähler nur wenige überzeugte Nepublifaner und noch
weniger überzeugte Atheiiten find. Hätte die Sozialdemofratie dieje beiden Gedanken
wirklich zu ihrem SHauptinhalte, jo wiirde fie garnichts für unfer deutiches Volf be
deuten. Jedermann weiß, daß die Kraft der Sozialdemokratie ganz allein in
dem Streben der niederen Menge nad einer bejleren Lebenshaltung, an eriter Stelle in
dem Aufftreben der Arbeiterichaft beruht. Die Arbeiterintereffen haben aber in Wahrheit
nicht den geringsten inneren Zufammenhang mit den eigentümlich jozialdemofratifchen
Ideen. Im Gegenteil! Nicht die Nepublif, fondern das Königtum ift der geborene
Bundesgenofie der Niederen. Und nicht der Atheismus, fondern gerade das Chriftentum ift die
gemaltige Großmadht, die unmiderftehlich dem fozialen Gedanken immer weitere Bahn jchafft.
Das liegt jo Klar vor jedermanns Auge, daß auch der Blödefte e8 begreifen muß. Das
Bündnis zwifchen Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie iſt ein naturiwidriges. Darım
ift gang zweifellos, daß diejes Bündnis eines Tages aufhören wird. Denn die Wahrheit
fiegt. Das iſt das allergemwiffeite in der Weltgeihicdhte. Ych habe in meinem Aufiak
ausgeführt, dat das Bündnis von Sozialdemofratie und Arbeiterbewegung eine Folge
der Ungerechtigkeit ei, welche die herrichenden Klaſſen (nicht ohne Mitjchuld der
Arbeiter) gegen die Arbeiterbewegung geübt haben. Das Mittel, welches ich für die
Trennung der Arbeiterbewegung von der Sozialdemokratie vorjchlage, it: Geredtig-
feit. Ich fage: Den Arbeitern muß in ihrem Kampf für ihre wirtichaftlichen Intereſſen
Sonne und Wind ganz ebenjo zugeteilt fein wie ihren Gegnern. Dazu gehört aud),
daß man die jozialdemofratijche Theorie, jo lange fie bloße Lehre iſt — und das iſt fie —
von Staats wegen gerade fo freiläßt wie jede andere Lehre. Die „Kölnische Volkszeitung“ und
956 Rudolf Sohm, Ein Wort zur Abwehr.
mit ihr die „Kreuz-Zeitung“ meint, den jozialdemofratiichen Führern fomme es nicht auf
die Lehre, jondern auf die Macht an. Aber worin ruht ihre Macht, wenn nicht in der
Lehre, d. h. in den Weberzeugungen der Volksmaſſen?! Die jozialdemofratiiche Yehre
wird aber nur vergehen, wenn man fie frei läßt.
(53 kommt darauf an, daß die jozialdemofratiichh beeinflugte Volksmenge den
nationalen Staat nicht als ihren Gegner, jondern als die Grundlage ihres Dajeins
und Gedeihens begreifen lernt. Das iſt augenblidlih eine Lebensfrage für ums, die
Frage, von deren Löſung unfere ganze innere und zum Schluß auch unjere augen:
politiihe Entmicdelung abhängt. Ein folches Umdenken der Menge, aus dem eine
nationale Arbeiterpartei (an Stelle der Sozialdemokratie) fich langjam, aber mit Natur:
gewalt entwideln wird, kann nur durd gerehte Handhabung der Staatsgemalt,
fann nur dann erreicht werden, wenn die Menge praftiih wahrnimmt, daß die Gewalt
des nationalen Staates ihr gerade jo dient wie jedem andern.
„Kreuz⸗Zeitung“ und „Kölnische Bolkszeitung” jbotten über das bon mir vor:
geichlagene Heilmittel. Meine Ueberzeugung ift, Daß Geredtigfeit ein Reid
erhöht. Diejen Glauben werde ich nur mit meinem Leben aufgeben. „Kreuz- Zeitung”
und „Kölnische Volkszeitung“ erklären das für „Phantafterei*. Das ift jedenfalls ein
nicht unerheblicher Beitrag zur Charakteriftit der beiden Blätter.
1%
Fitate aus neuen Büchern:
Ich weiß, irgendwie und irgendwo find wir alle Schablonen. Pas ift gam unner-
meidbar im EWallenleben. Wir können eben nicht überall ſelbſt urteilsfähig fein. IE
unfer fittlicher Bern dabei gelund, fo Jagen wir das aud ruhig und ihun nie, als ob
wir alles begriffen und alles von uns felber hälten. Wo aber jenes eigentümliche Per-
wilchen und Verſchwimmen in den Seelen beginnt, jenes Purcheinanderfliehen von Eigenem
und Fremdem, jener eigenfümliche Selbfibefvug, der uns, was mir dreimal nachgelagt,
beim vierten Male als eigenes Erlebnis empfinden läßt, jene Hnmwahrhaftigkeit, die mit
halbverflandenen Schlagworten und vierfelsverfiandenen Grundfäken hantiert und dies
Ragout mit Tagesredensarfen garniert und dabei fhuf, als [ei das alles der glaffe ARus-
druck eigenſten Penkens und Empfindens — kurz wenn die Schablonilierung jene fiefe
Unfittlichkeit des Geifles erzeugt, die Eigenes und Fremdes nicht mehr mm ſondern ver—
mag, Schein für Wirklichkeit ausgiebt, Gefelllhaftsregel für perſönliches Teben nimmt
und Guf und Böle aus dem Munde der Irufe Haft aus der eigenen Seele Schöpft, dann if
es endgiltig um Perfönlichkeit, Charakter, Eigenart gefchehen. Da wurde die Malle die
Möıderin der Individualität.
(Hus „Im Kampf um Gott und um das eigene Ich.” Eruſthafte PBlaubereien vr
Karl König. 2. Aufl. Freiburg 1. B. amd Leipzig. Paul Warkel, Berlagstushgendlune;
—2
957
Bucherſchau.
Richard Faldtenberg, Geſchichte der neueren Philoſophie. 4. Aufl. 1902. Leipzig, Veit
u. Co. XII, 582 S. Geh. M. 7.50, gbo. M. 8.50.
Für feine Wiſſenſchaft bat die gründliche Kenntnis ihrer Gefchichte eine jo große Be-
deutung tie für bie Philofophie. Nirgends giebt es fo lehrreiche Irrtümer, nirgends ift das
Neue, mag e8 fich auch felbft als das Ganze erfcheinen und ſich feindlich gegen das Beitehende
gebärden, fo jehr nur eine Ergänzung und Fortbildung des Alten wie auf bem Gebiete ber
Philofophie. Dabei find Beitjtimmung, Bolksgeiſt und Individualität des Denkers, Gemüt,
Wille und Phantafie von weit ftärferem Einflug auf die Geftaltung der Philofopbie als auf
die irgend einer anderen Wifjenfchaft. Werm ein Syitem den geiftigen Gehalt einer Epodhe,
einer Nation, einer großen Perfönlichkeit zu Haffifchem Ausdruck bringt, wenn es durch bes
deutende und originelle Konzeptionen, verfeinernde oder vereinfachende Auffafjung, weite Aus—
blide, tiefe Einblide der Löfung des Welträtfeld näher führt oder ihm von einer neuen Seite
aus beizufommen fucht, jo hat es mehr geleiftet, als durch Aufitellung einer Anzahl unbeftreitbar
richtiger Säte. Die Gefchichte der BVhilofophie iſt die Philofophie der Menjchheit, und der
Dijtorifer der Philofophie fieht in jedem neuen Syſtem einen neuen Stein, ber die Pyramide
des Wiſſens in die Höhe führen hilft. Muß es darum nicht interefjant fein, diefe Baufteine
nad) Form und Qualität näber kennen zu lernen? Faldenbergs Gefchichte der Philofophie,
in ihrer 3. und 4. Auflage den Profeſſoren Euden =» Jena und Bolfelt » Leipzig gewidmet, führt
uns in 16 Sapiteln das geiftige Ringen der Menſchheit von Nicolaus Cuſanus bi8 zur Gegens
wart vor Augen. Das 1. Kapitel entiwidelt die philofopbiichen Beitrebungen von Nicolaus
Eufanus bis Gartefius. Bako, Hobbes, Herbert von Cherbury u. a. finden bier ihre Würdigung.
Das 2. und 3. Kapitel bringen die Philofopbie des Cartefius und ihre Umbildung in den
Niederlanden und in Frankreich (Geulinz, Spinoza, Bastal, Malebranche, Banle). Das
4. Kapitel handelt über Yode, das 5. über die englifche Philofophie des 18. Jahrhunderts
mit befonderer Berüdfihtigung Berkeleys und Humes. Im 6., 7. und 8. Abjchnitt hören mir
von ber franzöfifchen und deutichen Aufklärung mit befonderer Darftellung der Philofophie
Leibniz’. Das 9., 10. und 11. Kapitel machen uns eingehend mit Kant, Fichte und Schelling
befannt. Das 12. Sapitel bringt Scellings Mitarbeiter, befonders Krauſe, Baader und
Schleiermader. Das 13. Kapitel entwidelt die Hegeliche Vhilofophie, das 14. die Shiteme
Fries', Herbarts und Schopenhauers, das 15. die außerdeutichen Beitrebungen und das 16. in
gedrängter Zuſammenfaſſung die deutſche Philoſophie feit Hegelö Tode. Trendelenburg, Fechner,
Loge, Hartmann u. a. finden bier ihre Behandlung. Eine Erflärung der wichtigften philofophifchen
Kunſtausdrücke bildet den Schluß ded Werkes. Faldendbergs Geſchichte der Philofophie, die
innerhalb 15 Sahren in 4 Auflagen erfchienen it, bedarf feiner Empfehlung; fie gehört zu den
Hafftfhen Werfen unjerer Vitteratur. Wenn mir auch manchmal, zumal in der nenejten Zeit,
noch etwas Genaueres über einzelne Philoſophen, 3. B. R. Euden, erfahren möchten, fo bleibt
doch Fraldendergs Buch ein Buch don eminentem Werte. ES ijt ebenjo unentbehrlich für
Lernende wie für Lehrende, gleichfam ein standard—work auf gefchichtsphilofophiichem Gebiet.
Fermersleben. Otto Siebert.
Schiller von Ludwig Bellermann. (Dichter und Darſteller. Band VII. Herausgegeben von
Dr. Rudolf Lothar.) Mit 115 Abbildungen. Leipzig, Berlin und Wien. E. A. Seemann und
Geſellſchaft für graphifche Induſtrie, 1901. VII, 259 ©. Geh. M. 4.—, gbd. M. 5.—
Der von der Moderne „überwundene” Schiller findet immer neue Biographen, doch wohl
ein Zeichen, daß es mit feiner Zeit noch nicht jo ganz vorbei ift, mie die „Fortgeſchrittenen“
glauben machen möchten. Wychgram, Harnad, dv. Gottfchall (bei Reclam) haben in neuejter Zeit
das Leben des Dichters neu darzuftellen verfucht, drei große Biographieen harren noch der Voll—
endung (Minor, Brahm, Weltrich), und nun kommt der um Schiller auch fonft verdiente Ludwig
Bellermann als neuejter Biograph hinzu. Das vorliegende Schillerbuch reiht fi) den übrigen
8 Bücerihau.
Bänden biefer Sammlung würdig an. Auf beichränkten Raum (372 Zeiten, die noch mit 115
größeren und Feineren Bildern bededt find, wird das eigentlich Biographiſche ziemlich ausführlich
geboten, die treibenden Kräfte in Schillers Leben und Dichten, fein positiver Idealismus, die
Kühnheit feines Weiftes und Willens, werben kräftig bervorgeboben und auch die einzelnen Werte
im BZufammenbang mit jeiner GEmtwidelung betrachte. Das Buch it mit Wärme und ber
Friſche perfönlicer Teilnahme geichrieben. Mit Recht hebt Bellermann den Wert ber
Schillerſchen Briefe hervor und belebt die Taritellung durch zahlreiche Anführungen aus zeit-
aenöfiifhen Berichten, Tagebüchrern, Briefen u. f. w. Nächſt dem veralteten und doch immer
noch jugendlichen Pallesfe und Wychgrams umfangreicherer, aber auch teurerer Schillerbiograpbie
wird Bellermanns Buch das für die weiteiten Kreife empfehlenswerteſte ſein. Aber eins! Es
giebt beut in der That eine „Schillerfrage”, und kein Freund des Dichters follte ihr ausweichen:
denn gerade das tiefere Eingehen auf die angezweifelten Werte in Schillers Dichtung muß zu
einer vertieften Auffaſſung feiner Berfönlichkeit, feiner menfchlichen Entwidelung und jeines
dichteriichen Schaffens führen und es ins hellſte Yicht ſetzen, was Schiller für unfere Zeit, was er
für das neue Deutichtum bedeutet und an anregenden Lebenskräften beiitt. Die Schäge jeiner
ethifchen und äfthetiichen Anihauungen find noch zu heben und in Umlauf zu feten, der umver-
wüſtliche Kern feiner dramatiſchen und tragiichen Größe müßte gerade dem heutigen Geſchlechte
aus jeinem Leben und Wefen neu aufgededt werden.
Die Scillerbiograpbie, die zugleich fchillerwürdig, volfstümlich und modern im beiten
Zinne wäre, ein Werk für die Jugend unſeres Volkes und für die Erwachienen, nicht bloß für
die Yitteraturmenichen, diefes für unfere Zeit und nach den Bebürfntijen unſerer Zeit und
unferes Volkes von beute berechnete Buch foll erjt noch geichrieben werben.
Worms, Karl Berger.
Deutihe Geſchichte von Karl Lamprecht. Griter Ergänzungsband. (Zur jüngjten deutichen
Vergangenheit. 1. Band: Tonlunjt — Bildende Kunſt — Dichtung — Weltanschauung.)
Berlin 1902, R. Gaertner Hermann Heyfelder). 8% XXIII, 471 ©. Preis 6 M. —
Vom vorchriftlihen Handel mit dem Zinne der Briten und dem Bernftein der Frieſen
bis zum Weftfälifchen Frieden batte uns Starl Lamprecht die Entwidlung der deutichen Ge—
ihichte in fechs Bänden (die 2. Hälfte des V. Bandes ward im Juli 1895 abgeſchloſſen) vor
Augen geführt; nun lefen wir in einem fiebenten Band auf einmal von Richard Wagner, Mar
Liebermann, Detlev vd. Lilieneron und Friedrich Nietzſche — wie reimt ſich das zuſammen?
‚sch glaube nicht fehlzugehen, wenn ich annehme, Yamprecht dürfte eö tm Laufe ber Jahre
ähnlich ergangen fein, wie meinem ehemaligen Geſchichtslehrer Horſt Kohl, der fich von
Amalafuntha und Athalarich mit einem fühnen Sprunge zu Bismard gewandt hat. Nicht das
ich damit etwa fagen wollte, Camprecht wolle ſich ganz und gar von dem meijterhaft beherrichten
Mittelalter und feinen Stoffen ablehren: daran würde ihn fchon fein Lehrauftrag hindern; aber
die größere Liebe in ihm neigt fich wohl bereits der Neuzeit und ihren Fragen zu. Es wäre ja
auch jammerfchade, wenn fich ein Gelehrter don feinem Weitblid, feiner Bedeutung ganz umd
gar der Mitarbeit an der Löfung der Rätſel verfchließen wollte, die uns die Gegenmwart tag:
täglich aufgtebt; vielmehr iſt unfer Wolf den Profefforen nur von Herzen dankbar, wenn fie zu
fchwierigen Problemen (‚zlottenvorlage, Mittellandlanal, Zolltarif) in ihrer Weiſe und von
ihrem Standpunkt aus Stellung nehmen. Deshalb hält Lamprecht ſchon feit mehreren ‚jahren
ſehr lebhaft befuchte Borlefungen, die den fulturgefchichtlichen Verſtehen der neuejten Zeit ge
widmet jind; deshalb hat er jett lieber die lekten 50 ober 30 „jahre vorgenommen und zer
aliedert, als daß er fich mit der noch gähnenden Yüde von zwei Jahrhunderten abgeplagt hätte.
Es reizte ihn, das Zeitalter der „Reizfamfeit“ — fo nennt Lamprecht unfere gegenmaärtige
Nervofität in Musik, bildender Kunſt, Dichtung und Philoſophie, Wiffenfchaft und Geſellſchaft —
bis ins feinſte Fäſerchen bloszulegen; und von den Ergebniffen diefer eingehenden Unterſuchung
beut der vorliegende 1. Ergänzungsband die im obenftehenden Untertitel nambaft gemachte ent
Hälfte dar. Aber auch ſonſt hat fich die urſprünglich auf 7 Bände zugefchnittene Einteilung
etwas verjchoben, Nach der nunmehr giltigen Anordnung bedeuten die fertigen 6 Bände ent
Bücherſchau. 959
die Hälfte des Ganzen: Band 1—4 (=I. Abteilung) enthalten die deutſche Urzeit und das
Mittelalter, d. h. die Zeitalter des jumbolifchen, tupifchen und fonventionellen Seelenlebens;
Band 5—8 (=II. Abteilung) umfaſſen die neuere Zeit oder das Zeitalter des individuellen
Seelenlebens; Band 9—12 endlich (= III. Abteilung) werden die neneite Zeit, d. h. das Zeit-
alter des jubjeftiven Seelenlebens bringen, während der Gegenwart die beiden Ergänzungsbände
vorbehalten find. Das alles mag auf den eriten Blid ziemlich bedeutungslos erjcheinen oder
mandem recht äußerlich vorfommen; doch der Verfafjer legt befonderen Wert auf die Feititellung
diejer Gliederung. Weshalb? Gr ift der Zuverficht, daß fi die von ihm aus der deutichen
Geſchichte gefchöpfte Stufenfolge eines fumbolifchen, tupifchen, konventionellen, individuellen und
jubjeftiviftifchen Seelenlebens auch für alle andern, ſelbſt für die oftafiatifchen und altamerifa-
niſchen Kulturen als maßgebend und richtig berausitellen werde; damit wäre über die geichicht-
lichen Gejegmäßigfeiten Kurt Brenfigs („Zukunft” vom 18. und &. Januar 1902) hinaus das
erite wirkliche bijtorifhe Gefet gefunden. Doc das iſt vorderhand nur ein perfönlicher
Glaubensſatz, den man fic nicht ohne weiteres anzueignen braucht — vielleicht entfchlieit
fih der verehrte Meifter, auf Grund der in meiner „Weltgefchichte” mühfam zufammen-
getragenen Stoffmaſſen ein Univerfalgemälde zu enttverfen, das feine Theorie in die Praris
überjeßt? — Daß der jett ausgegebene Band „in vieler Hinficht ein Wagnis bedeutet”, hat der
Berfafier zwar ſelbſt deutlich gefühlt; aber wer Lamprecht nur einigermaßen fennt, weiß auch,
daß er fich nicht, wie jo mancher fürfichtigere Fachgenoſſe, fcheut, die jchwierigiten und jchlüpf-
rigiten Gegenjtände zu paden, fall8 er ſich von einer ernfthaften Befchäftigung mit ihnen eine
Förderung der Allgemeinheit verſpricht. Wer fonjt unter den lebenden Hiſtorikern, namentlich
aus der herrichenden „politifchen” Richtung würde es, Hand auf's Herz, nur der Mühe für wert
erachten, fih über den Entwidlungsgang der deutfchen Muſik auch nad) der techntichen Seite
bin Har zu werden? Dabei ift L. nicht einmal das, was man im ftrengen Wortfinne „mufitalifch”
nennt. Dder: jeden gefchlagnen Sonntag im Stäbdtifchen Mufeum den Idealismus und Impreſſio—
nismus unfrer modernen Malerei und Bildnerei kennen zu lernen? Das der Bücherei geſetzte
Budget durch Ankäufe der „Werke von Dtto Julius Bierbaum, Stephan George und Hugo
von Hofmannsthal (vgl. die köſtliche Zeichnung diefer „Ueberdichter”, ©. 24) zu beichweren?
Mögen ſich aud) gerade in diefen den Künften und der fünftlerifchen Weltanfchauung (vulgo Philos
fophie, der damit der Charakter einer Wifjenichaft fozufagen abgeſprochen wird) gewidmeten
Erörterungen, die ihrer ganzen Natur nach fubjektiv fein müſſen, einzelne jchiefe Urteile, ja Ent:
gleifungen finden — bewundernswert bleibt auf alle Fälle diefer allererite Verfuch einer auf der
vertrauenerwedenden Grundlage biftorifcher Erkenntnis aufgebauten und in den feiten Rahmen
bijtorifcher Anihauung geſpannten Meifterung aller Schwingungen, Saiten und Regungen im
Seelenleben der jüngjten deutfchen Vergangenheit und Gegenwart.
Leipzig. s 9. 5. Helmolt.
UVolks- und Seewirtihaft. Reden und Auffäke von Prof. Dr. €. von Balle. 2 Bände
550 M., geb. 7 M. Berlin 1902. Ernſt Stegfr. Mittler u. Sohn, Kgl. Hofbuchhandlung.
Die Sammlung von Reden und Aufjägen, die, entitanden in den Jahren 1877 bis 1900,
zum Teil ſchon an die Deffentlichkeit gedrungen find, zum andern aber bier zum eriten Mal
publiziert werden, zerfällt in zwei Abteilungen. Die erite, die den Untertitel „Die deutjche
Bellswirtihaft an der Jahrhundertwende” führt, bringt Abhandlungen über den Stand ber
beutjchen Bolkswirtjchaftölehre an der Scheide zweier Kahrhunderte, über die Seeinterefjen
unſeres Vaterlandes, über Deutjchlands wirtichaftliche Entridelung, wie fie in fremder und
heimifcher Beleuchtung erfcheint, und einen alle Gebiete unjeres öffentlichen Lebens umjpannenden
Ueberblid über die mwirtichaftlihen Verhältniſſe Deutjchlands. „Weltwirtfchaftliche Aufgaben
und meltpolitifche Ziele” ijt die zweite Abteilung genannt. Sie enthält als befonders wertvolle
Gaben drei Aufſätze über die volks- und jeerwirtichaftlichen Beziehungen zwiſchen Deutfchland
und Holland, dem als Seitenitüd der Artikel „England als Beichüter Hollands“ dienen kann,
bann die mirtichaftlicdye Entfaltung Merifos und der Weltmarkt, endlich den gedanfenreichen
Eſſah „Weltmachtspolitif und Sozialreform”, Kleinere Aufſätze behandeln die deutichen
960 Bůcherſchau.
Kapitalintereſſen in der oſtaſiatiſchen Inſelwelt und die politiſche Lage, Englands Weltmacht⸗
ftellung auf dem Meere, bie Bedeutung des nordamerikaniſchen Imperialismus und die Ber
teilung ber Induſtrie auf die Mimatifchen Zonen. Man fieht, es ift ein fehr reichhaltiger und
vielfeitiger Inhalt, den die beiden Bände bergen. Aber bie einzelnen Teile werben nicht mur
zufammengebalten durch das Band einer gemeinjamen Grundanfchauung, fondern fie ergeben
in ihrer Gejamtheit auch ein treues Bild von den Aufgaben und Zielen, die das zu mwirtidhaft-
licher Blüte und innerer eitigfeit gelangte Deutjche Reich num, Dank der Erpanfionsfraft, die
jedem gefunden und ſtarken Volke innewohnt, auf dem Weltmarkt und in der Weltpolitit zu
verfolgen bat, wenn es in der vorberiten Reihe der Mächte bleiben will. Den leitenden Geſichts—
punft des Verfaſſers drüdt folgende Stelle des NRorworts aus: „Das Deutiche Reich muß eine
große, innerlich ftarke, wohl ausgeglichene Nation mit rubig gegründetem Kraftbewußtſein
bleiben; es muß fich feines eigenen Weſens, feines Lelftungsvermögens bewußt fein und abyus
meſſen lernen, wie es fich in der Gejamtbetbätigung feines materiellen und geiitigen Dafeins,
feiner natürlichen, gefellichaftlichen, wirtfchaftlihen und politifchen Kräfte gegenüber den andern
großen, aufiteigenden Mitbewerbern um die Erbbeherrichung in der Zukunft zu verhalten bat.“
Hierüber unterrichten uns die Neben und Auffäte Ernit von Halles in ebenfo gründlich
willenfchaftlicher Weile mie anmutigsedler Form. Wir begegnen überall reichitem Wiſſen und
umfafiender Erfahrung, einem meiten, auf das Wefentliche gerichteten Blid und einer wohl
thuenden Kraft nationaler Empfindung. Das Wert ift dem Staatöfefretär des Reichsmarine
amts, Admiral von Tirpit, gewidmet, dem Manne, der die Bedeutung unferer Seemadt für
unsere weltwirtichaftlihen und mweltpolitiichen Aufgaben fo kraftvoll und erfolgreich vertritt.
Ernit Francke
Alltagsaeihichten, Skizzen von Gotthard Kurland. Berlag von Earl Schlinemann, Bremen.
Eine feine Feder und eine feine Poetennatur offenbaren fich in diefen „Alltagsgeſchichten“,
die meijt in den höheren Beamten: und Offizierkreifen fpielen. An Handlung enthalten dieſe
Skizzen fo gut wie nichts; man merkt, irgend eine Frage, eine Beobachtung in unferem fozialen
oder gejelligen Leben hat den Berfaffer nicht losgelaſſen, er hat ihr nachgegrübelt und bat fie
Schließlich in das Gewand eines Fleinen Gefchichtchens gefleidet, wobei freilich zumeilen das
lehrhafte Element ſtark durchichimmert.
Fragen mie jene in „Begnadigt”: warum verfchließt die Gefellfchaft dem Verbrecher,
befjen That durch Strafe gefühnt fit, dennoch ihre Pforten, ſodaß ihm nichts als die Auswanderung
in einen fremden Erbteil übrig bleibt? find nicht neu, folche wie in „Seheimratstochter”: warum
muß ein alter müder Pater fich totarbeiten, um eine Exiſtenz für jeine Tochter zu fchaffen, bie,
jung und thatfräftig, ſelbſt ſchwer unter dem aufgezwungenen Müßiggang leidet? haben ihre
Löfung vielfach durch die Frauenbewegung gefunden. Dort, wo der PVerfaffer eine fatiriiche
Behandlung anjtrebt, vgl. „Im Dienit der Menjchheit" — die Wohlthätigleitsbeitrebungen unbe
ichäftigter und gutfituierter Damen — wird die Schilderung fait zur Karifatur. Immerhin
bleibt viel, jehr viel zurüd, woran man feine helle Freude haben kann: eine graziöfe und
individuell gefärbte Art der Schilderung, ein Zufanmentragen Kleiner, Stimmung gebender
Elemente, eine fhöne Wärme des Gemüt und zuweilen ein glüdlicher Spürfinn für ein Motiv,
das bei aller Einfachheit feine Wirkung in fich trägt. Skizzen wie „Ausrangiert”, „Ein Hindernis“
und vor allem das ergreifende „Auf Abbruch” find Kunſtwerke, die einen guten Pla in der
Sabreslitteratur beanfpruchen dürfen. C. E—M.
Nneuerſchlenene Bücher für die Bücherſchau bitten wir an die Verlagsbuchhandlung einfenden zu
wollen. Beſprechungen behält fi die Redaktion vor.
Nachdruck verboten, — Alle Rechte, insbefondere das ber Ueberfekung, vorbehalten.
Berlag von Alexander Dunder, Berlin W.S. — Drud von 9, 8, Hermann in Berlin.
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