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Full text of "Deutsche Monatschrift für das gesamte leben der gegenwart.."

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4 — 







HERAUSGEGEBEN VOR 
JULIUS LOHAMEYER 


BERLIN 
VERLAG VnALEXANDER DUNCHER 


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DEIIKSITBTOMEIKIG HEBEN 
gesamte leben der gegenwart... 


FPGGMV] Pound 


J423 1007 





Harvard College Librarꝑ 
FROM THE REQUEST OF 
JOHN AMORY LOWELL, 
(Olass of 1815). 


This fund is 820,000, and of its income three quarters 
shall be spent for books and one quarter 
be added to the principal. 





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Deutsce IMlonatsschrift 


für das 


gesamte keben der Gegenwart 


Herausgegeben von 


3UkluUs kKOHSMEVER 


— 


== Band I = 


Oktober 1901 bis März 1902 


© 


BERLIN 
Verlag von Alexander Duncker 
10° -.1,; 


Plru 147.7 


— \ und 


Inbalts-Verzeicbnis. 


Erzäblungen und Movellen. 


Seite 
Adolph Wilbrandt, Große Zeiten . . . + bh 16L 321 
Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stratfund, ı ein Bild * ber —— .. 81, 64 
Hermann Heiberg, Die beiden Hakess. BON 
Julius Stinde, Schweiter San . >: na Erna il 

Dichtungen. 

Carl Buſſe, Es fchlägt ein Auf. . f 2 
selir Dabn, Der Wunſch — Hort der —— 54 
Dichtergaben aus dem Raabe-Albun . — 9 
Reinhold Fuchs, Das deutſche Meer 1 
Adolf Bartels, An Wilhelm Raabe . . 138 
Ernſt von Wildbenbrud, An Wilhelm Raabe . 183 
Garmen Sylva, Die Göttin. u . 191 
Karl Weitbredt, Wenn ein Bolf auftwacht . 192 
Karl Ernit Knodt, Abendjtimmung im Derbit . . 207 
Rulins Lohmeyer, Herbſtklang 216 
Fritz Pienbard, Gruß an das Meer. ö i . 227 
Frida Schany, Gedichte Aus der Sammlung „Sttermeggo" . er. >; 
sulius Lohmeyer, Deutihe Sprühe » 2: zn m 23258 
Karl Ernft Knodt, Der Heimruf . . 280 
sulins Lohmeyer, SHerbitmald . 292 


Reinhold Fuchs, Auf den Grenzfamm 2 22m nee N 


Neinhold Fuchs, Herbfteätroft . . 307 
Frig Lienbard, Göttlihe Fahrt . 248 
Julius Lohmeyer, Deutiche Sprüde . . 357 
Frig Lienbard, Marſch der Seefadetten RE | 
Karl Dove, Auf füblihem Meere - 2: 20 nenn. RO 
Martin Gretf, Weibnadten . FE Ve GE | 
Paul Friedrich, Die Großitadt ſchläät.. 40 
Karl Vanſelow, Selig find . ; . 410 
Heinrich Bierordt, Die Tauben ber Venus . 423 
Pictor Blütdgen, Herbititimmung . 484 
Bictor Blütdgen, Kinderlos . 440 
Earl Buffe, Es raudit ein Gerd. . 461 
Garl Dove, Totenfonutag am Meere . . Düh 
Albert Klein, SKatferö Geburtstag auf See . 548 
FZobannes Trojan, Weihnachtserinnerung XR 


IV Inhalts⸗Verzeichnis. 





Seite 
G. Legerlotz, Epigramme . . . ....62 
Emil Prinz; von Schönaich— — Leber bie sone nn... 685 
Johannes Trojan, Ein Gruß an unfere Söhne auf der Ste. . .». » 22... .715 
Hans Freiherr von Wolzogen, In medio veritas . . 2 2 2 2 nn. 746 
Julius Lohmeyer, Den Deutfchen in Norbamerifa . . 830 
Felir Dahn, Drei Weihnachten . j . 862 
Garmen Sylva, Weitminfter Abbey . 861 
Johannes Trojan, Diftichen . . 888 
Johannes Trojan, Lahende Armut 894 
Litteratur. 
Carl Buffe, Ueber die neuere dentfhe Dihtung - - » 2 2 m 2 nn 44138 
Adolf Bartels, Goethe und Eckermannn 443892 
Carl Buffe, Litterarifhe Monatöberihte . . . - “2.0. 441, 618, 778, 935 
Earl Buffe, Bon beutjcher Kritif und vom beutichen — Re u | 
Adolf Stern, Ibſens Weltanfhauung SE Se re ee een a 
Ludwig Schemann, Franz Zaver fraus. . . . ... 4864 
H. von Blomberg, Wilhelm Bode, Goethe's Lebenskunſt 6 
— —— 
7 
en. BE 
Freiherr O. von Bebdlik und Reukire, Grinerungen an n Miguel . EI: |; 
Erich Mards, Neues aus Bismards Werkftatt . . . . F 738, 844 
Muſik und Kunft. 
Mar Marterijteig, Vom deutihen Theater . - > 2 2 146, 458, 626, 786 
Leopold Schmidt, Mufikaliihe Rundihau . » >» 2 2 222024308, 684, 792, 949 
Friß Lienhard, Bom deutfhen Theater . . . . . 944 
Hermann Mutbefjus, Die moderne Umbildung unferer aienthen anſchauungen 686 
Cornelius Burlitt, Zur Heidelberger Schloffrage . » - - - VF a,’ : : 
Staats und Völkerleben, 
Theodor Schiemann, Deutjchland und die großen europäifchen Mächte . . . 109, 276 
Theodor Lindner, Die un bes deutichen Nationalbemußtfeins . . . . . 34 
Alerander don Beez,, Der en li wiichenbandel ala Deutihenfeind . . . 375 





Wilhelm von Kardorfi-Wabnik, Ein Geſpräch mit — — . 731 
Theodor Schiemann, Monatsihau über die auömärtige 








‚ 115 er 424 604 763, 914 


Inhalts-Verzeichnis. V 


Seite 

Geographie und Reiſen. 
Friedrich Ratzel, Der Geiſt, der über den Waſſern ſchwebttbtb4242 
Graf Joachim von Pfeil, Betrachtungen über Maroffo . . . . .. 55 
Alfred Kirchhoff, Das Meer im Leben der Völker und in der Machtſteliung = Staaten 217 
M. Wilhelm Maper, Die gemeinfamen Züge im Weltendbau . . 2 2 2... 362, 536 

Etbik und Erziebung. 

R. Euden, Die mweltgefchichtliche Aufgabe des deutfchen Geiftes . . . RE 
Frhr. von Stengel, Die Friedensbemegung und die nationale Sefinnung en 
Johannes Reinke, Der Menfc lebt nicht vom Brot allen -. . . » 2 4181 
Friß Lienhbard, Die Gemütsmacdht der deutihen Frau 2 2 2 un nn nn. MR, 358 
Fritz Lienhard, Berfönlichkeit und Kultur.43549 
Wilhelm von Polenz, Aphoörismenn. 6390 
Dans Schliepmann, Unſer Leſeſammer.. 7716 
Wilhelm Münch, Nationale Erziehung... 3832 
Hans Schliepmann, Geſchmack und Mode889 

Deutſchtum im Auslande. 
Paul Dehn, Deutſchtum im Ausland. . - » “2. . 134, 298, 435, 613, 773, 927 
Karl Tanera, Der junge deutfhe Kaufmann in Ditafien — EEE TR EA, 
Karl Tanera, Wie müjlen wir mit den Ehinefen verlehbren ?. . » > 2 2222. 881 

Koloniales, 

Hermanndon Wißmann, Meine Kämpfe in Een 
1. Das Gefecht bei Sunda . . . ee Be A ee ee SE 
II. Beitrafung der Wawernba-Sklavenräuber . ee 
III. Das Gefecht am HiltmaMNdihare . . . » . 583 


Karl Dove, Die künftige wirtſchaftliche Bedeutung Südweit- Afritas für Deutichland . 381 
Beer und Flotte, 


Marius, Die moderne Entwidelung der Kriegöflotten . > 2 > 2 nn nenne + 708 
Volkswirtfchaft und Sozialretorm. 

Adolf Wagner, Bankbrühe und Banklontrolle . . > 2 2 2 mn nn 274, 28 

Wilhelm von Maffomw, Zur Zolltarifbewenum - : >: > 2 2 m nn nn nn. DIA 

J. Rorden, Aus dem Leben der Hauptitadtt . . . . 404 


Freiherr D.von Zedlitz und Neukirch, Bolltarif und Neichäftenerreform . ee. 554 
Beter Jeſſen, Die Knabenhandarbeit und die volföwirtichaftlichen und — Aufgaben 


unſerer Zeitttti.. eu EI 
Induftrie und Landwirtfchaft. Technik und Verkebr. 
Mar Sering, Die beutfhe Bauernfchaft und die Handelspolitif . . » > 2 2 2.20. 228 
Baul Heyd, Ueber die fünftige Entrwidelung der Eiſenbahnen. . . . ee 
Baul Hend, Ueberficht über den augenblidlichen Stand der Tlektrotechuit ee. 
Heinrich Dade, Die Probleme der deutjchen —— für Landwirtſchaft und 
Induſtrie. — 67 


Paul Heyd, Der elektriſche —— Le re a a Eee a 


VI Inhalts⸗ Verzeichnis 
Litterariſche Rundſchau. 


Seite 
Albers, Paul, Am Wartburghof . . . . . . 480 
Bachmann, Hermann, Deutfge Arbeit in 
Boͤhmen. 22319 
Bartels, Adolf, Eckermann, Geſpräche mit 
Goethe 464 
Bartels, wol, Gelchichte der deuten Bitte- 
ZANE: ae aaa .. 820 
Bartels, Adolf, Der junge Luther ... 4610 
Bellermann, Ludwig, Schiller .. . ..%7 
Herner, Ernft, Quellen und Unterjuhungen 
zur Geſchichte des Haufes Hobenyollen . . . 159 
Bettelbeim, Pr. Anton, Bricfe von Ludwig 
Ungengruber . . ... .- . 640 


Aeutner, Renata, Für frohe Viadchenhergen 480 
Boelfhe, Wilhelm, Hinter der Weltſtadi 
Frriebriähagener Gedanken zur äfthetifcen 
Rultur. . - - . 500 
Bormann, Ebwin, ‚ Die Kunft des Pfeudonvmẽ 169 
Boffe, Dr. R, Eine Dienſtreiſe nah dem Orient 473 
Brandes, Wilhelm, Balladen . . . . 476 
Sraufewetter, ©, Finnländiſche Nundſchan . 466 
Breda, Franz, Aus den Papieren eined modernen 


Theologen. tn 
Bulfe, Earl. Bagabunden tin . 468 
GChamberlain, Houſton Stewart, Ridard 

Wagner 
Dahn, Felir, Meine Romane aus ber Bölter 

wanderung. Band KIN. . . . . 168 
Dähnhardt, Oskar, Heimatklänge aus Yeut- 

fhen Gauen. 455 


Denzsinger, Rolls, Aus Tantens Plauder 


Rübhen 2 2 22 2a . 450 
Dir, Mıtbur, Deutſchland auf den deanrnhen 
des Weltwirtſchaftsverkehrss . 158 
Ebner: Efhendbad, Marie von, Aus 
Spätherbittapen - . . ... 467 
Ehrhard, Auguſt, Frang Brifiparger. + +60 
Eigenbrodt, Wolrad, Aus der ſchönen weiten 
DE ar re er ae en &0 
@ihelbad, Sans, Der Niedergang des Bolts 
gelang . - - 2. rn 02% . 200 
Guden, Rudol * "Der Babrbeitsgeal der 
MReligiem . . . . 462 
Taldenberg, Ridars, Rub. Eudens Bompf 
gegen den Naturallömuß. . . . 2 2 2 0. 300 
Falckenberg, Richard, Geſchichte der neueren 
Vhiloſephhieeeee... ⸗ 


Felſing, Otto, Bert Zanflens Ehina- Fahrten 478 
Fliedner, Frtp, Aus meinem Leben. Erinne⸗ 
rungen und Erfahrungen +» . .. . 640 
Fode, Dr. Rudolf, Chodowiedi und Licstenberg 480 
Franke, Dr phil. Sermann, Ghriflentum 


und Darwinismud . » 2. 2 vr 2 2 nn na 159 
Frommel, Dr. Otto, Das Brommelgedenfwert, 
Frommels Bebensblld . - . .» 2... 49 
Wäbderg, Karl Theodor, Aus Fritz Reuters 
jungen und alten Tagen . 2. 2220. . 478 
Grotthbuss, Jcannot Emil Frhr. von, 
ZürmerJabrbuhb IM2 ... 2.20% . 640 


daake und Cuhnert, Das Zierleben ber Erde 640 


Seite 

Hädel, Ernft, Sunftformen ber Ratur . . . 640 
Halle, von, Prof. Dr. E, Bolks⸗ und Ecewirt: 

ſchaft. Reden und Auffüte . 22.2... 

HSamel.Rihbard, Bauber der &k .....19 
Sarnad, U, Die Aufgabe ber theologifden 
Fakultäten und die allgemeine Religionsger 


fdihte. . . . 640 
Harnack, Otto, Goethe in der Boos: [einer 
Bollendbung . » 2 2 2 2 2. 2.0.9318 
Saudrath, Ab, Zur @rinnerung . an deinris 
von Treitſchfee a) 
Sciberg, Sermann, Am Marktplag. .. .84 
Selmolt, Sans F. on . 464 
Hofmann, Elfe, Eli .... FR; 
Jahrbuch bes beutfchen dplottenvereins . 6 
RAatfenberg, Moritz von, Laigle et luig 
lon, Napoleon L und fein Sohn . . . . I 


Kaltbof, A, Die veligidfen Probleme in Goethes 
Fauſt. Ernfte Antworten auf ernſte ungen #10 

Katzenhofer, Guſtav, Bolitive Ethik. Die 
Berwirklichung des Sittlich Seinfollenden , . on 

Keridgenfteiner, Dr. Georg, Wie ift unfere 
männliche Jugend von der Entlaffung aus der 
Bolksihule biß zum Gintritt in ben Heeres— 
dienſt am zweckmäßlgſten für die bürgerlide 


Geſellſchaft zu ernichen? . . . . .817 
Rlec, Dr. Gotthohd, Grundpige der deutſchen 
Litteraturgeſchichte 2316 


ſtobelte, Dr. W. Die Berbreitung der Tierwelt 610 
Rönig, Karl, Im Sampf um Gott und um bas 


eine Ih... ... 800 
Kurlanb, Bortbard, Alltagsneigichten . 0 
Lamprecht, Karl, Deutſche Geſchichte . 58 
Lechner, Kornelia, Goldene Heime . 480 


Leirner, Otto von, Aecſtheriſche Studien für 
die Frauenwelt. — Plauderbriefe an eine junge 


Frau, — Ueberflüſſige Herzensergießungen 
eines Ungläubigen. — Ausgewählte poetiſche 
Werktke . 610 
Lienhard, Friv, Gefaumelte Gedichte. 
asgaufahrten i . 472 
Lienhard, Friß, Brüne defte für Kun und 
Boldätum. - 2 2 ren 157 
Lienbard, Friß, Neue Ideale ——467 
LinzeWodtn, U, Dora Hıwal . . 4478 
Lohmeyer, Julius, Auf weiter Fahrt ,„ . 490 
Lohmeyer, Julius, Sumoresten . ....18 


Lohmeyer, Aulins, Unter bem Dreisat . . 479 

Lohmeyer, Aulius, Wir leben noch und anderes 158 

gülmann, Lie Dr. &, Das Bild des Ehriften: 
tums bei den großen beutichen Fbraliften . . 800 


Mach. Franz, Das Religion® und Weltproblem 474 


Malet, Edward, Diplomatenleben . . .. .465 
Marks, Erich, Wilhelm I .. . Bon 
Matthias, Dr. Xdolf, Aus Säule, unterrich 
und Erziehung 4315 
Meyers Hiſtoriſch geographiſcher Kalender 2. .d74 
Mohl, Robert von, Lebenderinnerungen . , 640 
Moulin:s@dart, Prof. Dr. &raf Du, Eng— 
lands Politik und die Mähte. . . ....40 


Muff, Chr, Nrealisnuß . . 2 2 2 2a. 


Anhaltö-Verzeichnis. 


Seite 

Muellenbab, Ernf, Maria... .... 
DRummenboff, Ernf. Monographien zur 
dentiben ſulturgeſchichte Bd. 8, Der Hand⸗ 


werker in der beutihen Bergangenbeit . . . 470 
NRaudés, WB, Die Getreidehandeläpolitit  umd 
Kriegdmagayin = Berwaltung Brandenburgs 
Preußens bis 170 - » 2» 2... . 800 
Nauticue, Jahrbuch für Deutfchlands Zeeinter: 
effen, 20 2.2: 2er en 817 
Ompteba, Georg Freiberrvon, Wicilie 
von Sarrynnn. as 640 
Fannwig, Mar, Große Krienshelden. „ . . 190 
Peterien, Hand, Deutiblands Ruhmestage 
zur Ser a er era tee Zi 320 
Blordten, Otto von der, Werden und 
Weſen des biftorifihen Dramad . . . .. . 0 
PBrabl, R. H, Hoffmann von Fallersteben. Untere 
voltstimlihen Sieber . . 2 2 2 22.0. 476 
Kappel, Friedrid, Die Erde und das Veben . 640 
Renner, Gnuftav, Abatverr . . . . 2. . 477 
Schaible, G, Geiſtige Waffen. Ein Uphorisimene 
KEEITON 2.20% 0 re er . uw 
Shanz, Frida, Feuerlilie. . .. . 450 
Schanz, Frida, Internes. . 2. 22 2.2. 473 


Shäuffelin, Hand, Leiden, Sterben und 
Auferfichung unſeres Heilandes Jeſu Ehrifti im 
Schmid, Ehriftoph von, Solbenes Märchen. 
buch :Dftereier) . . . . . 40 
Steiff, Dr. Karl, Weſchichtliche Lieder und 
Sprüde Bürttembergs : 
Steinbaufen, Dr. Georg, 
jur Deutiden Kulturgeſchichte 


. .4471 
Monographien 
. + 16 





Seite 
Stern, Adolf, Ausgewählte Novellen. . . . 800 
Stern, Adolf, Margarete Stern. . 472 
Stern, Adolf, Bier Novellen . . 2.2... 300 
Ztiller, Richard, Adolf Etem . . ....%00 
Straßburger, Egon Hugo, Lieber für 
Sinderhergen . . > 2: 2 Een 480 
Straßburg, Gottfried von, Triitan und 
SEHE N te Sen Sa A an are 412 


Sybel, Heinrid von, Die Begründung des 
Deutihen Reiches durch Wilhelm 1, . . 408 


Barjelow, Karl, Bon Weib und Welt . . . 47% 
Bierordt, Heinrih, Gemmen und Baften . 476 


Wachler, Ernft, Schlefiihe Brautfahrt . . . 478 
Wade, Otto, Malta, jeine Eriegähiftoriihe Ber: 
rein und — — —— — 


(ER a vr Bu | 


den Bade . . . 
Weichardt, E, Das Schloß bed Tiberius und 

andere Römerbauten auf Gapri . . . 
Weißenfels, Oskar, Die Bildungäwirren 

ber Gegenwart. - » 2 2 2 m nn en en 
Weitbrecht, Earl, Deuiſche Litte raturgeſchichte 


640 


des 19, Jehrhunderte — ee 166 
Weitbrecht, Carl, Schiller und bie deutſche 
aha mr 315 


Weyer, B, Taichentuch der deutſchen und der 
fremden Kriegeflotten. —E— 

Windelband, Wilhelm, Platon er 

Wirth, Albredt, Bolletum und Weltmacht in 


. 475 
. 464 


ber Geſchichte. nen 470 
Wittich, M, Bineta. . 2 > 2 ren 640 
Wolzogen, Hans von, Haabenweisheit. 471 


j 
ZN v TI 


| IDeutche Monatsfchrif 


|für dassesamteLeben der Gegenwart 





HERAUSGEGEBEN Von 
JULIUS LORMEYER 








anß-AMERIK4 


ge np 





Hamburg-Newyork Hamburg-Boston Hamburg-Mexiko Stettin-Newyork 
Hamburg-Frankreich Hamburg-Philadelphia Hamburg-Canada Newyork-Mittelmeer 
Hamburg-Belgien Hamburg-Galveston Hamburg-Ostasien Newyork-Ostasien 
Hamburg-England Hamburg-New-Orleans Hamburg-Brasilien Newyork-Westindien 
Hamburg-Portiand Hamburg-Venezuela Hamburg-La Plata Orientfahrten 
Hamburg-Baltimore Hamburg-Westindien Genua-La Plata Nordiandfahrten 


ferner mit den Dampfern der Deutschen Ost-Afrika-Linie: Hamburg-Ostafrika. 


Hamburg . Newyork via Southampton und Cherbourg 
Schnelldampferdienst. 
Nähere Auskunft erteilt die 


HAMBURG - AMERIKA LINIE, Abteilung Personenverkehr 


Hamburg, Dovenfleth 18—21 
sowie deren Vertreter. 


u. 





Es Ist doch der höchite Genuß auf Erden, deutich 
zu veritehen, zumal wenn man unter dem Pfingit- 
geläut das große Buch von Wahrheit und Dichtung, 
das große deutihe Buch meniclicher Erfahrung und 
Weisheit in Berz und Sirn trägt. 

Wilhelm Raabe. 


»— Große Zeiten «= 


Erzählung von 


Adolf Wilbrandt. 


D: Krieg ift ein Uebel, ein fchredliches! Ich beftreit' e3 nicht. Wer kann es 
beitreiten? — Daß er auch etwas wunderbar Herrliches fein kann, das hab’ 
ih erlebt; das haben alle die Deutichen erlebt, die im Jahr 1870 reife Menfchen 
waren. Mein Dafein ift nicht arm an jchönen Tagen, noch an großen Stunden; 
aber am geiwaltigften fühlte ich doch wohl des Lebens Wert, alö wie ein gott: 
gelandt befreiendes Gewitter der große Krieg von 1870 heranzog, jich wölfte und 
ih entlud. Es mußte die jauchzende Seele ergreifen, in jo vielen Taufenden die 
gleihe Erhöhung des Dafeins zu jehn; zu jehn, wie alle die ungeheuren Kräfte, 
die während der Friedensjahre eines. großen Volks gleihjam im Morgentraum 
daltegen, beim Kriegsgeſchrei des galliihen Hahns jich redten, fi bäumten, wie 
das aus Millionen Quellen und Quellen zufammenrinnende Nationalgefühl jich 
wie ein jtürzender Strom ergoß. Nicht allein die beleidigte Ehre, nicht nur die 
Empörung gegen den franzöfifhen Uebermut und der alte Haß auf den „böfen 
Nachbar” wedte die germaniiche, Eriegsfreudige Tapferkeit; e& war auch, wie wenn 
Ale in dem Kriegslärm von Welten ber die eherne Glodenftimme der Gejchichte 
hörten: jest vollendet jich das Deutiche Reich! Und es kam etwas über ung, das 
und größer, jünger, bejjer machte; ich hab’ e& oft mit Staunen erlebt. Wie 
manchem Menjchen, den ich vorher wohl geringgeichägt, hab’ ich in diefen Sommer: 
tagen heimlidy abgebeten: er wuchs gleihlam aus fich heraus, es famen Töne 
aus feiner Bruft, die er vielleicht felber nie in fich gekannt oder längft verlernt 
batte, in denen die große Glodenftimme wiederflang. Hohe Ehrgefühle, feuriger 
Gemeinſinn, fröhliche Opferluft verichönerten jo manches verweltlichte Herz, ſo 
manches verfümmerte Leben. Wie viel Blut dann auch fliegen mußte und wie 
viele Thränen, e8 war eine heilige Feierzeit. 

Bon einer merkwürdigen Wirkung diefer Zeit in zwei vom Scidjal ver- 
wirrten Menfchen möcht’ ich hier erzählen; ich hab’ fte nicht felber miterlebt, aber 

1 


3 Adolf Wilbrandt, Große Yeiten. 


ihon damals von ihr gehört. In Münden, wo ich jeit Jahren wohnte, war 
Anfang 1867 eine junge Dame aufgetaucht, die durch ihre Schönheit und auch 
durch ihr Schickſal, ihre Eigenart einiges Auffehen machte, obwohl fie nicht viel 
in der Welt erichten. Sie war von Würzburg gefommen, wohin jie als Kind 
aus Norddeutichland gezogen war und die ganze Werdezeit zugebracht hatte; zu- 
erjt mit den Eltern, dann, als junge Waife, bei Herm von Reichthal, ihrem 
Bormund, einem gemüthlich heiteren Mainfranfen und Würzburger Kind. Marie 
Stephan war nicht gewöhnlich begabt, zumal für die Muſik; ihr warmblütiges, 
feuriges Temperament gewann ibr die Derzen. Ihr ganzes Kinderherz batte fie 
an einen Menfchen gehängt, eine Mitſchülerin, Eliſe von Lengfurt, die um ein 
‚Jahr älter war. Martens Liebesſinn war jo leidenichaftlich, dat fie auch in der 
Schrift mit Elije wie eins fein wollte, daß fie mit zwölf oder dreizehn Jahren 
noch umlernte und die damals noch neuen, kühnen, ſtark ausladenden Budftaben 
ihrer Freundin annahm. Sie ruhte nicht, bis fie zum Verwechſeln ähnlidy ſchrieben; 
dann erit erfand fie ſich einige Bejonderbeiten, damit man doc, ihr Gefchriebenes 
untericheiden könnte. 

AS fie neunzehn Jahre alt war, trat in dieles freudig friſche Leben eine 
unheimliche, vielleicht ererbte Störung ein, die zu ihrem Schieial ward. Es be: 
gann eine nervöfe eberreizung, die langſam, aber unaufhaltiam wuchs; die nod) 
eine Weile als geniale Steigerung ihres Geiſtes- und Seelenlebens erichien, fie 
zur Schwärmerin, zur Komponiftin, zur Dichterin machte, auch ihr bis dahin 
iprödes Herz erwedte — bis fie ſich in einer ſchweren Erkrankung entlarvte. Es 
ging dabei jonderbar zu, jo ward wenigitens erzählt: fie machte mit einem jungen 
Freund des Daufes Mufik, der, früher eine Art Wunderkind, fait alle Inſtrumente 
jpielte und ſich Marien mit auffallender Wärme angeichloffen hatte; am Klavier 
ſitzend fiel fie plößlid; um, auf feine Dilferufe fand man fie ohnmächtig in feinen 
Armen. Es folgte bald Schüttelfvoft, beftiges Fieber, eine Gehimhautentzündung 
brach aus, die zwar mit Geneſung endete, aber auf rätſelhafte Weile — viel- 
leicht damals rätjelhafter als jett — zu einer vorübergehenden Geiftesftörung 
führte. Als fich auch diefe verlor, blieb eine Gedächtnisſchwäche zurüd, die fich 
nad; und nach begrenzte; die früheren Erinnerungen wurden wieder klar und 
fräftig, aber die ganze nervöfe Zeit vor dem Zufammenbrud, etwa ein halbes 
‚jahr, war ihr wie ausgelöfdht. Es tauchten bei aller Anftrengung nur unbe: 
ftimmte, unfihere Gefühle auf, Traumgebilden ähnlich; es war, wie wenn fie 
dieſes halbe Jahr verfchlafen hätte. 

Welche Marter es für ein fo junges und fo ftarkfühlendes Weſen war, jich 
gleihlam verſtümmelt und vom Scidfal gezeichnet zu jehn, brauch’ ich nicht zu 
fagen. Als fie jich an die Yüde in ihrem Leben leidlich gewöhnt hatte, war fie 
doch tief verändert; ihre jugendliche, oft Eindliche Heiterkeit hatte fich mit nervöjer 
Unrube, mit Schärfe und Herbheit vermiicht, fie grübelte und träumte viel, ver- 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 3 


ianf leicht in Schwermmth. Miptrauen und Zurüdhaltung, die fie früher nicht 
gekannt hatte, legten jich oft wie Mauern um fie. Es verichönerte jie anderer: 
ſeits ein tiefer Ernft, etwas eigen Geheimnisvolles, das noch allerlei Rätſel 
einzuichließen und eine höhere Entwicklung zu verſprechen jchien. Sie ergab jid) 
auch ernten Studien, wie um ſich von dem unfruchtbaren Grübeln abzulenken. 
Dabei war ihre jchlanfe Geftalt fo jung wie möglich; faft zu mager, aber von 
ariitofratiichem Ebenmaß. ihre braunen Augen lagen tief und wirkten oft 
eritaunlih. Ahr Lächeln konnte bezaubernd fein. 

Sp fam ſie 1867 mit Reichthal nah München, noch nicht einundzwanzig 
Jahre alt. Sie fand dort ihre Freundin Elife wieder, die fehon vor Mariens 
Erkrankung Würzburg verlaffen hatte: mit dem Negierungsrath von Plauen 
vermählt, war fie ihrem Gatten nach München gefolgt. In Elifens Haus, das 
durch die lebensluſtige und liebenswürdige Frau ſehr bald zu gefelliger Blüte 
fam, lernte Marie Herrn von Plauens beiten Freund, den Profeſſor der Juris: 
prudenz Helmuth von Dorn kennen; einen Mittelfvanfen aus der Nürnberger 
Gegend, wohl jechzehn Jahre älter als fie. Sein Charafterkopf war nicht jchön 
zu nennen, ein tief eingeprägter Ernft machte ihn zuweilen übermäßig alt; große 
blaue Mugen erleuchteten ihn aber und Eonnten zu guter Stunde mit unwiderſteh— 
licher Freudigkeit und Slarheit glänzen. Den feit Jahren frauenjcheuen, in 
Wiſſenſchaft und Politit vergrabenen Mann feflelte Marie jofort. Ahr für ſolche 
Jugend ungewöhnlicher Ernft entjprad), wie ev meinte, feinem Sinn und Weſen; 
Ihr Geift, ihre Kenntniſſe imponierten ihm. Die, dachte er, wird mein Ideal einer 
grau erfüllen! — Nur zu willig half ihm die Hausfrau, Elife. Sie hatte ihn 
wie ihr Mann jchägen und lieben gelernt; fie war in ihrer Ehe glüdlich; fie 
konnte das Kuppeln nicht laffen. Marie, von Helmuths blauen Mugen ummorben, 
von der Freundin laut umd leife angefeuert, in fich lebensmatt, nach ihren Gefühl 
um die Jugend betrogen, fich nad) Frieden jehnend, nach einem Zweck, nad) Ber- 
nunft, grübelte jich in die Ehe hinein, wie fie fich aus der verftiimmelten Jugend 
herausgegrübelt hatte. Sie erwärmte fich fir Helmuth, ohne ihn zu lieben, für 
diefen innerlichft vornehmen, tiefen, edlen, für alles Große begeifterten Mann. 
„Lieben?“ fagte fie eines Tages zu Elife, alö diefe wieder das Geſpräch, wie der 
Wind die Wetterfahne, auf Helmuth gerichtet hatte. „Nein, ich lieb’ ihn nicht. 
Ad), laß doch diefes dumme Wort! ch hab's einmal verſucht — mir ift wenigftens 
jo — in der Zeit, von der ich eigentlich nichts mehr weiß — aber ich hab’ offen 
bar zum Lieben kein Talent. Ich könnt‘ darum auch feinen nehmen, der in mid) 
verliebt wär’; dann taugten wir gar nicht zuſammen. Achtung, Hochſchätzung! 
Seelenfreundichaft! Gute Kameradichaft! Wenn Dein Herr von Dorn e8 aud) fo 
meint — und damit zufrieden iſt — und weiter nicht verliebt ift — dann könnt' 
ich in dies Wafjer fpringen, weißt Du. Aber anders nicht!” 

Helmuth, auf diefen Punkt gedrängt und von feinen wachſenden Gefühlen 


1* 


4 Adolf Wilbrandt, rohe Zeiten. 


fortgerifjen, that, was wohl vor allem der Stolz ihm eingab: er entihloß ſich, 
eben diele feine Gefühle vor ihr zu verbergen, ihr nicht zu zeigen, daß der reife 
Mann ſie wie ein Jüngling liebte, nur ahtungsvoll und ehrerbietig zu 
werben, um ihr noch fränfelndes Gemüt ja nicht zu erjchreden. ft fie nur erſt 
mein, dachte er, wenn ihm vor diefer „Vernunft“ felber bange ward, jo wird jich 
alles finden. Sie wird ganz gefunden, und ohne Werliebtheit wird die Liebe 
fommen; nur männlid; ruhig warten! nur Geduld! — „Eine edle Ehe!" „Gute 
Stameradichaft guter Menfchen!“ wurde fein und ihr Loſungswort. So traten 
ſie in die Ehe, noch im Sommer defjelben Nabres 1867. 

Es war einer der Fülle, aus denen man lernen konnte, wie unvernünftig 
oft die Vernunft it, wenn es fid um die tiefften Bedürfniife des Gemüthes 
handelt. Die laſſen ſich wohl eine Weile wegtäufchen, aber nicht erftiden; jie 
bleiben das Mächtigfte. Bon umterdrüdter, aber heißer Sehnfucht nach Liebe 
waren auch diefe beiden erniten Menfchen erfüllt; fie erlebten- bald, daß ihre 
Reftgnation eine Lüge war. Sie fühlten mehr und mehr den Stachel im Herzen, 
nicht geliebt zu werden; fie warteten jeder Stolz auf des andern Yiebe. Nichts ift 
leichter —- jo wunderbar es klingt — als daß ſich zwei Menſchen verfennen, die 
alle Tage beifammen find. Jede Stunde hilft der andern; ein zufammengeichmie- 
detes Paar kann ſich gründlicher auseinanderleben als eines, das der Ozean 
trennt. Helmuth und Marie, fcheinbar fo vom Verſtand regiert, erwieſen ſich 
doch als ebenio unverftändig wie alle, in denen die lebendig beqrabene Liebes- 
jehnfucht ihre vulkanische Arbeit thut. Ihr, der noch jo leicht Erregten und 
Sereizten, mißfiel faft von Tag zu Tage mehr, was fie vorher mit der „Vernunft“ 
an Delmuth geichäßt hatte: feine ruhige Würde und Feſtigkeit, ſein zuverläſſiges 
Gleichmaß, das Ehrenfefte, Regelrechte, unverbrüchlich Pünktliche, das er ſich in 
langer, ftrenger Selbfterziehung erfämpft hatte; es erfchten ihr bald „ſpartaniſch“, 
langweilig, kalt. Ihn, den ein volles Liebesglück geichmolzen, verjüngt und ge- 
Ichmeidigt hätte, verhärtete diefe fühle Eheluft; ihn verdroß nun Mariens nervöfe 
Ruhe- und Negellofigkeit, ihre Geiftesiprünge, ihre Derbigfeiten, all das Zudende, 
Daltlofe, das ihm erit das Zuſammenleben offenbarte, da es darin feine wuchernde 
Nahrung fand. Kurz, ed begann ein Nuseinanderleben, das die Freunde mit 
Schreden ſahen, das den ehemaligen Bormund Reichthal mit überfließender Er: 
bitterung, die Freundin mit Stiller, banger Neue erfüllte, und das bi8 zu fremden 
und kaltem Nebeneinandergeben gedieben war, als die Sturmmolfen des Sommers 
von 1870 jich zufammenzogen. 

Wer jene Zeit erlebt bat, der erinnert fih, wie auf einmal in der eriten 
Juliwoche das Kriegsgeſpenſt wegen Spanien beraufftieg. Der Entſchluß des 
Marichalls Prim, dem Erbprinzen von Hohenzollern die fpantiche Krone anzu- 
bieten, und des Prinzen Zuftimmung erregten fogleich das franzöfifche Blut, und 
in fo auffallender Art, daß man fich fragen mußte: fucht denn Frankreich den 


Adolf Wilbrandt, Groge Zeiten. 5 


Krieg? Das Gemwittergrollen von Paris her wuchs, das galliiche Kriegsfieber 
jtieg; dann kam noch eine Stille vor dem Sturm: der Erbprinz von Hohenzollern 
verzichtete um des europäifchen Friedens willen auf den ihm angebotenen Thron. 
Helmuth von Dorn, ein eifriger Politifer und glühender Patriot, ward jofort von 
der Stimmung der Zeit ergriffen ımd von einer tiefen Ahnung des Stommenden 
erfüllt; er fühlte die große Wetterwolte, wie ein ſtark empfindlicher Körper ein 
heranziehende3 Gewitter fühlt. In der Verdüfterung feines Gemüts, dem zu 
Haus nicht wohl war, ſah er aber graue und ſchwarze Tage kommen; ein ent- 
jegliches Völkerringen mit furchtbaren Schickſalswechſeln ſchien bevorzuftehen; 
ſiegen werde wohl die deutjche Kraft, aber nad) wie viel Todesnot? Es wurmte 
ihn in feinem wunden Derzen, daß nicht auch die andern fo dachten, daß nicht 
num der leichtblütige Reichthal, die glücksfrohe Elife, ſondern aud) fein „Schickſal“, 
Marie, wie aus Troß und Entfremdung Ddiefen jchwarzen Gedanfen aus dem 
Wege ging. In ihm ward’s um jo finfterer. Er jah nur Oberflächlichkeit, mufi: 
kaliihes Träumen, Unterhaltungswut um jich ber, ohne Sinn für die Zeichen 
der Zeit. Ihm wurde fat zu Mut wie einem von langer Schwüle zerquälten 
Menichen, der begierig auf die ſchwarzen Wolfen Schaut: möchten fie nur herunter: 
wettern und fi in blindem Wüten entladen! 

In diefer Stimmung kam er am Abend des dreizehnten Juli — am Morgen 
war der Verzicht des Hohenzollernprinzen befannt geworden — in das Plauenſche 
Haus, das fich das junge, mit zwei Kindern gejfegnete Baar nicht weit von den 
Bropyläen erbaut hatte. Ein hübſcher Garten umgab das Haus; in den trat er 
ein, da er aus dem Gartenzimmer, in dem eine Eleine Gefellfchaft verfammelt 
war, eine Art von weicher Mufif hörte, die er jet nicht hören mochte, und ſich 
lieber nod; eine Weile einfam mit feinen Gedanken erging. Er fam jpät, und 
wie er hoffte, gegen das Ende des „Feites"; er wäre ganz fortgeblieben, wenn er 
nicht der Hausfrau auf ihr Verlangen fein Wort gegeben hätte, diesmal zu er: 
„deinen. Als er nun aber auf den Kieswegen hin und herging und an einer 
haldgeichloffenen Laube vorbeifam, jah er Herrn von Reichthals große, behaglich 
wohlbeleibte Geftalt, in einem Seſſel am Laubentiſch fchlafend und leiſe Schnarchend. 
Ein Laut der Heberrajchung, den Helmuth ausftieß, wedte den Schläfer auf. Er 
rieb fid) die Augen und wunderte ſich. 

„Wohl geruht, Reichthal?* fragte Helmuth mit dem finfter fatirifchen Lächeln, 
das ſich ihm jeßt jo leicht auf die Lippen legte. „Wie kommen Sie hierher, ftatt 
bei der Gefellichaft und bei der Muſik zu fein?“ 

„sa, eben diefe Muſik!“ antwortete Reichthal. „Ihre Frau ſpielt da drinnen, 
und gewiß jehr jchön wie immer; und es ift eigentlich mein Lieblingsftüd; aber 
wie e3 jo geht mit den Lieblingsftüden, wenn man fie zehn, zwanzig Jahre lang 
hört! — Das ift nun grade zehn Jahre her, als Marie als meine Eleine vierzehn: 
Jährige Mündel zu uns ins Haus kam und ich fie nach einigen Reden fragte: 


6 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


Du follit ja fo Ichön Klavier Ipielen, ich hab Did) aber noch nie gehört; was halt 
Du denn befonderd gem? Da ging fie ftill, ohne ein Wort, an den Flügel, und 
während ihre legten Thränen ſo ganz allmählidı ungeftört wegtrodneten, ſpielte 
jie mir dieſes Stüd. Die fleine, ernitbafte Perſon jpielte es überrafchend ſchön! 
Ich war weg! — Kind, jagt ich dann und gab ihr einen Kuß, Du bift ja ein 
Wınderkind. Das vergiß nicht wieder, ich hör's jo gern, das ſpiel mir noch oft!“ 
Reichthal lächelte: „Unvorlichtiger Bormund! Seitdem bekam ich dies Deffert zu 
jeder mufifalifchen Mahlzeit. Es bat Winterabende gegeben, wo ich dies mein 
Leibſtück haßte!“ Er lächelte wieder, und diesmal mit all jeiner frohſinnigen 
Gutherzigkeit: „Ich hab's ihr aber nie gejagt!” 

„Sie haben Sie nichtäwürdig verzogen,“ eriwiderte Helmuth freundlich; er 
unterdrüdte, was er dabei dadıte. 

„sa, man fagt mir das nad! — Warum verfiel denn auch ihre gute Mutter 
darauf, fie gerade mir zu vermachen; ich bin weder ein geborener Vormund, 
noc ein gelernter. War aud eigentlich noch zu jung: achtunddreigig Jahre. 
Und ein zu fideles Daus. Der Vormund bätt' ja faſt noch felber einen Vormund 
gebraucht!” 

Helmuth, der in jeiner inneren Unruhe auf und abging, blieb Stehen: „Na, 
den hatten Sie ja wohl an Ihrer Frau.” 

Neichthal antwortete ernfthaft, während Helmuth gelächelt hatte: „DO ja — 
bis fie ftarb! — Da fing ich denn an, Marie zu erziehen — ganz auf meine 
Weiſe. — Nichtswürdig verzogen, jagen Sie. Aa, mein lieber Helmuth, Sie 
haben fie in diefen drei Jahren wohl auch nicht muſterhafter, noch —“ 

„Südlicher gemacht!” wollte er jagen; es lan ihm auf der Zunge, die ihm 
gar jo loder faß. Er veritummte aber; wenn aud) nicht mehr ganz zur rechten 
Zeit. Helmuth dachte den Sag von jelber zu Ende. Seine jcharfen Brauen 
gingen tief hinunter; er wandte ſich ab, als hurchte er nach dem Haufe hin, wo 
die Muſik eben endete und etwas Beifallklatfchen folgte. Dann Enirfchte wieder 
der Nies unter feinen Schritten. 

„sa, und was ich Jagen wollte,“ jeßte Neichthal hinzu, um dem unbehag— 
lichen Schweigen ein Ende zu machen: „gewilfermaßen auf der Flucht vor diefem 
Leibſtück, das nun aus ift, bin ich in die warme Nacht berausgeichlichen — und 
bier eingelchlafen.“ 

Helmuth erwiderte nichts, er ging bin und ber. 

„Lieber freund!“ ſagte Neichthal nach einer neuen Stille, vedte ſich und 
ftand auf. „Wir müſſen wohl bineingehen, zu den Mitmenfchen. Frau Eliſe 
ſchilt ſonſt.“ 

Helmuth ſchüttelte den Kopf. „Zur Geſellſchaft? — Ich nicht.“ 

„Warum nicht? — Hören Sie, wie fie lachen; beſonders dieſe Frau von 
Werth mit der hoben Stimme.“ 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 7 


„Eben darum. Diefe Quftigkeit — in fo furchtbar erniten, unberechenbar 
verhängnisvollen Stunden! In diefem Augenblid fliegt vielleicht die Kriegs: 
erflärung über den Rhein herüber, und die ſchwatzen da noch von Hinz und 
Kunz, von Anekdötchen und Toiletten!“ 

„Erlauben Sie!" entgegnete Reichthal. „Wir haben doc heut in allen 
Zeitungen gelejen, daß der Dohenzoller auf Spanien verzichtet hat. Die Sadıe 
it zu Ende." 

Helmuth lächelte; wie ein Novembertag! dachte Reichthal, der diejes Lächeln 
nicht mehr fehen Eonnte. „Glauben Sie? Dabei wird Frankreich fi) beruhigen, 
meinen Sie? Frankreich will ja den Krieg!" 

„a, das behaupten Sie alle Tage. Daß Sie das aber aud jegt nod) 
jagen, wo die Geſchichte abgethan ift. . . Unverbefjerlicher Beifimift, der Sie find!“ 

„Unverbeflerliher Sanguinifer, der Sie waren und fein werden!" — Hel— 
muths ſchlanke, faft hagere Geſtalt trat hart vor Reichthal hin: „Willen Sie, 
woher ich Eomme? Aus dem Minijterium des Neußern; ich wollte hören, ob Freund 
Richard etwas Neues wüßte. Er war nod da; eben war eine Depeſche aus 
Berlin gefommen, die noch niemand fannte als der Miniſter ımd er. Ein Extra— 
blatt der Norddeutichen Allgemeinen Zeitung von heut Mbend meldet: der fran- 
zöfiiche Botfchafter hat in Ems vom König von Preußen verlangt, daß er — 
hören Sie! — daß er fih für alle Zukunft verpflichten folle, nie wieder feine 
Zuftimmung zu geben, wenn die Hohenzollern auf ihre ſpaniſche Kandidatur 
zurückkommen jollten. Auf diefe unverfchämte Forderung —“ 

„Zum Teufel hinein!” rief nun Meichthal aus. „Das hat der Franzos 
verlangt?" 

„Wie ich Ahnen fage! — König Wilhelm bat darauf abgelehnt, den Herrn 
Benedetti nochmals zu empfangen, und hat ihm durch den Adjutanten von Dienſt 
jagen lafjen, Seine Majeftät habe ihm nicht3 weiter mitzuteilen.“ 

„Bravo! Das hat der Preuß’ gut gemacht!” rief Reichthal der Baier aus. 
„So 'ne Frechheit! Pfui Teufel! Wie wenn der alte Herr ein Bub wär’, der was 
Dummes gemacht hat und — — Aber alle Wetter, ja! Nun wird's ernſt.“ 

8 P,Sehn Sie's endlich, Neichthal! Sie wollen in Paris den Krieg. Wie ich 
immer jagte und Sie nicht glaubten, und die rauen auch nicht. In vierumd: 
zwanzig Stunden vielleicht haben wir den Krieg!“ 

E P,Wirflih? Meinen Sie?” Reichthals eben noch grimmiges Geficht fing ſchon 
wieder an zu leuchten; feine grauen Augen lachten. Er nahnı Helmuth Arm: 
Na, dann kommen Sie! Dann trinken wir ein Glas von Frau Elifens Erdbeer: 
bowle auf den erſten Sieg!" 

Helmuths Arm zudte; ev konnte fich nicht enthalten, zwiichen den Zähnen 
zu murmeln: „Frevelhafter Uebermuth!” Etwas lauter und ruhiger jagte er dann: 
„Sie vergejien wohl, lieber Freund, daß Frankreih anfängt, alfo gewiß im 


8 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


Stillen gerüftet hat — und der Norddeutfhe Bund und wir Siüdbeutfchen nicht. 
Und ob Bayern mitthut, wo es noch jo viel Schwarze und bajuvarifche und füd- 
deutfche Feindfchaft gegen Preußen giebt —“ 

„Bah! Die werden wir fchon niederbügeln, wenn's erſt heißt: entweder mit 
Preußen oder mit Napoleon! Ihre Schwarzieheraugen follen mich nicht anfteden. 
Wenn Sie nicht wollen, dann trin® ich allein zwei Gläfer auf den erften Sieg! 

Helmuth verzog das Geficht. „ES wird wohl mande Siege geben, die wir 
beide nicht feiern!" 

Neichtbal, der Schon ind Haus wollte, blieb ftehn. Ihn reizte an Helmuth, 
den er ſonſt jehr lieb hatte, jedes Wort jet und jeder Ton. „Meinen Sie?" 
fuhr aus ihm heraus. „Mit einem ähnlichen Geficht, mein Lieber, wie Sie heut 
in unfre Zukunft Schauen, ja, grad’ mit diefem Geficht kamen Sie aud) an Ihrem 
Hochzeitstag auf mid; zu — wo jeder andere wie en Maitag gelacht hätte. 
Ah was! Ach muß Ihnen doch einmal fagen —“ 

Er hielt nun dod inne. 

„Nur zu!” fagte Helmuth mit einem erziwungenen, ftolzen Lächeln. „Se: 
nieren Sie ſich nicht!“ 

„sch genier’ mid; auch nicht“, eriwiderte Neichthal; die angeborene Gemüth— 
lichkeit erichien aber fchon wieder auf feinem hübfchen, frifchen Gefiht. „Sch muß 
Ihnen jagen: Sie find während eines Hagelfhauers ausgedacht worden ımd an 
einem dunklen Novembermorgen and Licht gekommen; und um Sie zu ärgern, 
trin® ich drei Gläfer Erdbeerbomwle auf den erften Sieg!" 


* * 
* 


Eliſe von Plauen kam Arm in Arm mit Marie, beide ſommerlich hell ge— 
kleidet, aus dem Gartenzimmer; die kleinere Eliſe jchon etwas frauenhaft voll 
und rundlich, Marie noch ſchlank wie ein junges Mädchen. „Es ſcheint, der 
Krieg fängt ſchon an!“ ſagte Eliſe, als ſie in den halbdunklen Garten trat; „aber 
der Bürgerkrieg!“ 

Guten Abend, beſte Elife”, gab Helmuth nur zur Antwort, ging auf ſie 
zu und gab ihr die Hand. Er begrüßte Marie mit einem Niden; Marie 
erwiderte es. 

„Die Hausfrau erwartet Dich ſchon lange”, warf fie hin. Dann ſah fie 
mit einem ihrer träumenden Blide in die Luft. 

„Ja,“ ſagte Elife, „Sie fehlten mir heut ſehr: ich hab’ mich ſo nach dem 
widerwilligen, vorwurfsvollen Lächeln gejehnt, mit dem Sie meine fchlechten 
Salembourgs zu affompagnieren pflegen. Heut wären Sie in eine wahre Hölle 
von ſchnöden Wortfpielen gekommen; ftatt deſſen find’ ich Sie jet hier in 
meinem Elifium. — Sehn Sie, da ift fchon eins! — — Aber heut Abenu 
lächeln Sie nicht." 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 9 


Helmuth dachte an die Berliner Depeche; und doch mochte er vor diejer 
wortwigelnden, luftigen Elife und vor der verträumten Marie nicht davon reden, 
es widerte ihm. „Berzeihen Sie," entgegnete er und blieb ernft. „Ach hol’ es 
nad. Heut übers Jahr — wenn wir dann wieder Zeit haben, an nichts 
zu denken.“ 

Elife zug ſich fcherzhaft zufammen: „OD weh! Das ift vernichtend. — Ich 
hab's Ahnen ſchon angelehn! Wenn Ahre Stirn einmal fo zum — ja, zum 
Ader geworden ift, Furche neben Furche — — Über bitte, fommen Sie, meine 
Herren! Wir wollten Sie holen, ins Gartenzimmer." 

„sa, ja," murmelte Helmuth. „Nur ein Wort mit Marie. — Nicht wahr, 
diefer — verichleppte Brief, der ift nun beſorgt?“ 

Marie fuhr aus ihren Gedanken auf. „Was für ein Brief? — Ja fo. — 
Wieder vergefien. In den Tod vergeſſen!“ 

Helmuth biß fich auf die Unterlippe; fo eine Antwort hatte er ſchon zu oft 
gehört. „Wirklich," fagte er mit halber Stimme, „diefe Schwäche nimmt bei 
Dir überhand.“ 

Sie wollte etwas erwidern, mit einem gereizt aufflammenden Blid; doch jie 
faßte ih. Den Kopf etwas jenkend, halb abgewandt, warf fie erft nach einer 
Weile hin: „Ach ja, du haft Recht. Es wird eher Schlimmer. Diefe Gedächtnis: 
ihwäde... Meinetwegen gründlich, ganz; aber fo halb, das ift zu dumm! — 
Und als Sind, da hatt’ ich das beite Gedädhtnis von der Welt.“ 

Reichthal, der pfeifend umherging, blieb ftehn: „Bis Du's bei mir verlorft, 
in diefer niederträchtigen Krankheit ohne Ende!” 

„Mit etwas mehr Selbiterziehung,“ murmelte Helmuth, „fand man's mohl 
auch wieder... " 

Marie wallte auf: „Du meint?" — Sie gab ſich alle Mühe, fich wieder 
zu bezwingen; duch ihr mattes Lächeln ſchien aber doc die innen nagende 
Bitterfeit Hindurd. „O gewiß, gewiß," fuhr fie fort. „Die Schuld liegt an 
mir. Ich bin halt eine charakterlofe Frauenfeele, verzogen, undiscipliniert. Das 
Gegenteil eines Muftermenjchen.“ Ihr Auge flog über Helmuth Bin: „Der 
Anblid eines Muſtermenſchen drüdt mich nieder, ftatt mich zu erheben! — 
Komm, Onkel Reichthal; — noch ein bishen Mufi. Du biſt kein normaler, 
fein volllommener Mann — wenn Du auch mein Herr Vormund warft — 
neben Dir fann ich mich vor den Menichen jehen laffen. Komm, komm, machen 
wir Mufik!“ 

Sie nahm Reichthals Arm und zog ihn ins Haus hinein, durd die offene 
Gartenthür. Elife ſah ihr nah. Sie feufzte leife. Helmuth, der ſtumm mit 
den Achſeln gezudt hatte, nahm feinen Hut vom Tiſch in der Laube, er hatte 
ihn dort abgelegt. Dann trat er auf Elife zu, wie zum Abfchiedsgruß. 

„Was wollen Sie?" fragte fie. „Wo wollen Sie hin?" 


10 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


„Bitte, entfchuldigen Ste mich," antwortete er, mit feiner noch fichtbaren 
Berftörtheit fümpfend. „Ich — paſſe heut wirklich nicht ber. Sie hören, meine 
Frau intereiftert fic leidenschaftlich für Mufit — und ich ebenfo leidenichaftlich 
für den bevorjtehenden Krieg. Die Mufit wird da drinnen gemacht, und der 
Krieg draußen; alle — lafjen Sie mid) lieber gehn!“ 

Er mwollte Eliſens Hand nehmen; fie zog fie aber zurüd. „Delmuth!” fagte 
jte mit fo viel Schmerz und Vorwurf, daß es ihm durch die Seele ging. „Daß 
doch fo oft die beiten Menschen auch die ungerechteiten find! und Unvollfommen- 
heiten für ftrafbare Fehler oder Laſter halten! — Warum reden Sie fich denn 
ein, Marie hab’ fein Herz für Ihren Krieg, für die deutiche Sache?“ 

„Kein Herz?" fragte Helmuth zurüd. „Wenn Herz haben fu viel heißt, wie: 
immer bei was anderm fein, zerjtreut fein, muftzieren, träumen, laden — — 
Aber ich vergefle, Sie laden ja aud).“ 

„Wenn es nun einmal Fo eingerichtet ift, daß jeder Tag vierundzwanzig 
Stunden und jede Stunde Sechzig Minuten hat, fo haben diefe vielen Minuten 
doc) auch verichiedene Beltunmungen; einige find fürd Sorgen, andere fürs Lachen. 
Helmuth! Lieber Freund! Warum nehmen Sie jeit einiger Zeit alles jo ſchwer?“ 

„Seit einiger Zeit? Ach dächte, ich bin, wie id) war. Ein Menſch, dem 
das Große höher fteht als das Kleine — die großen Ideen höher als die Kleinen 
Menichen —” 

Elise fiel ihm ins Wort: „Aber das Glück, 'ne Idee zu fein, haben fo menige; 
die meiften von uns fommen als Menſchen auf die Welt! — Und aud Sie jind 
ein Menſch, wenn Sie mir gefälligft erlauben, das zu jagen. Und Sie waren 
ein fo angenehmer, liebensmwürdiger Menich, eh Sie — —" Eh Sie hei- 
ratheten, dachte ſie; fie fprang aber darüber wen. „Wenn Sie uns Ihre Muſter— 
bowle machten; oder wenn Sie uns vorlafen, mit Ihrem geicheiten, herzlichen 
HIN: 

Sie jah ein gutes Lächeln auf feinem finfteren, aber edlen Geficht; plötzlich 
faın ihr ein Rieſenmuth. Etwas Schweres, Laſtendes wollte ſchon lange aus 


ihr heraus . . „Delmmth! Ganz, ganz ernithaft. Es bringt mich jonft um. 
Wollen Sie mir einreden, es fei jeßt bloß der Krieg, der Sie jo verftört? Sie 
fühlen, daß Sie Marie nicht glücklich machen ... Sp, nun hab’ ich's von der 
Brust!“ 

„Elite!“ 


„Berzeihen Sie. Wir haben ums einmal das Wort gegeben — mein Dann 
war dabei, Sie wiſſen's noch — uns in jeder ernften Yebenslage die volle Wahrheit 
zu Sagen! ch halt’ heut mein Wort und faq’ fie Ihnen. Helmuth, mein halbes 
Herz iſt krank: denn Marie ift franf — und jie ift mein halbes Herz.“ 

Helmuths große blaue Augen fahen fie faft feindlich an. „Geh'n Sie lieber 
zu Ihren Gäſten zurüd, und laffen Sie mich gehn!” 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. u 


Eliſe Schüttelte tapfer den Kopf: „Sie finden mid) indiskret; das thut nichts. 
Was ich Ahnen gelobt hab’, das hab’ ich gelobt! — Ka, ich warne Sie, Helmuth, 
ih muß Sie warnen. ch, das thörichte Weib, den weilen Mann! Ad) weil; 
einen Menfchen, dev Marie kennt — ihre gefährliche Benabtbeit, Ueberlegenheit, 
ihre leidenfchaftliche, bedürftige, unausgefüllte Seele — dieſer Menſch bin id). 
Ich weis Einen, der fie nicht fennt, dem fie ein Rätſel iſt — und der find Sie.“ 

Helmuth juchte ironisch zu lächeln: „Und doch ift fie meine Frau!” 

„Ad Gott, ich geb’ meinem lieben Mann zuweilen auch nod ein Rätiel 
auf; das verlernt man nie! — Aber Ihr Fall fteht in einem andern Bud. Sie 
haben eine franfe Frau und willen nicht, was ihr fehlt. Sie haben — id) muß 
Ihnen einmal alles jagen, verzeihen Sie — da Mariens ewige Mufizieren Sie 
kränkt — Sie haben zu wenig Mufif in der Seele — und die Frau zu viel. 
Sie find ein Freund, wie man feinen bejjeren twiinichen fann; aber was — was 
Liebe ift, das haben Sie wohl nie erlebt!" 

„Meinen Sie?" stieß Helmuth zwiichen den Zähnen hervor. Er lächelte 
einen Augenblid. Er ſah jo wenig wie Elife, daß Marie eben in die Gartenthür 
trat, wo jie, durch Elifens legte Worte überraſcht, unwillkürlich ftehen blieb. 

„Und ich fage Ihnen,“ ſprach Elife weiter, „wenn Sie diefe gefährliche Fran 
nicht behandeln lernen —“ 

Sie hielt einen Augenbli inne. Helmuth lachte kurz auf, innerlich er: 
ihüttert. „Und wie müßte man fie nach Ihrer Meinung behandeln?“ 

„Das will ich Ihnen jagen —“ 

Weiter Fam Elife nicht. Neben der Gartenthir ftanden am Haus Stühle 
und ein kleiner Tiich, auf dem ein paar Bücher lagen; mit einer unwilligen, 
heftigen Bewegung, um diefem Geſpräch ein Ende zu machen, ſtieß Marie eins 
der Bücher vom Tiih. Es fiel mit Geräusch auf die Erde. Helmuth wandte 
den Kopf herum, Eliſe auch. 

„Marie! Du biit da!" rief Elife, überraſcht und etwas verlegen. Dat fie 
gehorcht? dachte fie. 

„Ja, ich,” antwortete Marie jo unbefangen wie möglich. „ch kam, um Did) 
was zu fragen; und in meiner gewohnten Ungeſchicklichkeit ftieß ich an den Tiſch.“ 

„Was wollt Du mich fragen?“ 

„Iſt es wahr, was fich die Damen erzählen, daß wir heut noch einen neuen 
Orpheus am Klavier bewundern jollten, den großen Neifenden, unfern Ingend— 
freund Franz ?* 

Elife nidte: „Ja, er wollte kommen. Er hatte ich brieflich für morgen 
angemeldet; auf der Durchreife, Tchreibt er. Da telegraphierte ich ihm nad) 
Stragburg: kommen Sie doc gleich am Abend, nach Ihrer Ankunft, zu ung! 
‚Mit Vergnügen‘ telegraphierte er zurüd. Da er ſich das Vergnügen noch nicht 


12 Adolf Wilbrandt, Grohe Zeiten. 


macht, jo hat ſich vielleicht jein Zug verfpätet. Na, dann fommt er noch — oder 
auch nicht!“ 

Marie lachte über diefe Auskunft. „Und wenn er noch fommt, dann jpielt 
er, meinſt Du?" 

„Wenn Du recht artig bift, jpielt er Dir was vor!“ 

„Das wär’ alſo für mic das Zeichen, mich zu empfehlen,“ jagte Helmuth 
mit gemachter Deiterfeit; „denn ich bin heut nicht fehr für Muſik. Entichuldigen 
Sie mid, liebe Elife. Vielleicht giebt's auch noch wichtige Depejchen —* 

„Ueber Deine Gejchäfte?” fragte Marie zeritreut. 

„Meine Geichäfte! Was jind meine Geichäfte! Jetzt, wo wir Keinen Atome 
nichts mehr bedeuten; wo wir alle nur nocd wie Nervenfäden eines großen 
Organismus find, die das empfinden, was er thut und leidet. Diejer Krieg — 
denn jeßt ijt er und gemiß, diejer neue Krieg um den Rhein —" 

„Gewiß!“ vief Elife. „Ich dachte, umgekehrt!“ 

„Rein, er ift gewiß. Und glauben Sie mir, er wird nicht bloß für uns, 
unfere Macht und Ehre, er wird für die Menichheit gekämpft!“ 

Marie ſchlug die jchönen braunen Augen jchmerzlich zum Himmel auf: 
„Arme Menfchheit, die man durd; Menfchenopfer beglüdt!" 

„Ohne Opfer wird nun einmal nichts auf diefer Welt!" — Helmuth jah 
vor ſich nieder; aber nicht ohne Beziehung auf Marie fuhr er fort: „Ich finne 
auch diefe Tage fo oft, was ic) thun könnte, um mein Eleines Ich doch auch 
ein wenig zu opfern. Wenn’s mit dem Soldatenrod für mich vorbei ift, jo 
möcht ich doch fonft, auf irgend eine Weile — — id) weiß; nid)t, was. Sfmmer 
fo müßig dazufigen, wenn man doch aucd ein Mann ift — die Depefchen zu lejen 
oder auf die Landkarte zu ftarren . . ." 

Er blidte auf und ſah, daß er mit Marie allein war; Elife war leije ins 
Haus gegangen, während er ſprach. Mit gepreßter Stimme jeßte er hinzu: Ich 
wollte, ich könnte fort.’ 

„Wohin?" fragte Marie, der ſich jett das Herz beklemmte. 

Ich weiß nicht.“ 

„Du Haft Deinen Beruf — Dein Haus.“ 

Helmuth war eine Weile ftil. Einen Seufzer unterdrüdend, erwidertefer 
dann: „Wohl uns, daß uns jeßt das Allgemeine fordert, au unferm Cinzel- 
dajein herauszieht! Wenn die Erde um mich her bebt, fo fühl’ ich nicht mehr, 
daß der Zahn da weh, thut. Wenn ein ganzes Volk um feine Zukunft vingt, fo 
vergeſſ' ic) die meine.“ 

Mit welchem heimlichen Summer er das jagt! dachte Marie, von Mitweb 
ergriffen. Ach, warum können wir zwei uns nicht alüdlich machen! — „Helmuth!“ 
fagte fie, ohne ihn anzufehn, aber weich und gut. 

„Was?“ fragte er. 


Adolf Wilbrandt, Große Leiten. 13 


„Es war immer Deine Art — Deine vornehme, edle Art — aber doch ein 
Fehler, glaub’ ich — daß Du zu wenig an Dich dachteſt und an — an Dein 
Haus.” Sie bemühte ſich, zu lächeln: „Wenn man zufällig Deine Frau ift, darf 
man das ja wohl jagen.” 

„Hm!“ gab er in tiefem Ernſt zurüd. „Meine Frau... Es war halt 
mein Wunſch, diefe meine Frau aus ihrer — Kleinen weiblichen Welt etwas mehr 
ins Große, ins Allgemeine zu ziehn. Ahr Franenfeelen feid wohl jehr geichidt, wie 
durchs Mikroſkop das Kleinſte, Nächite, Zartefte zu jehn umd zu faſſen; aber mit 
dem Fernrohr, das die Welt durcdhdringt, wißt Ihr nicht umzugehn. Meine 
rau, dacht’ ich, die kann's, die lernt's! Meine Frau, bildete ich mir ein, ift 
darin größer ala ihr Geſchlecht! Es wär’ mein höchſter Stolz geweſen — da 
wir einmal fo ernithaft miteinander reden — Did) für meine Welt, für menfchen- 
würdigere Ideale zu gewinnen. Auf diefe eine Karte fette ich viel — zu viel... 
Es follte nicht jein. Es — wollte oder fonnte nicht. Laſſen wir's jet; und 
gute Nacht!“ 

Er wollte gehn; eine lebhafte Bewegung Mariens hielt ihn nod) zurüd. 
„Warum ſollt's auch jein?" erwiderte fie. „Wenn uns die Natur jo ge: 
haften bat, warum willſt Du's ändern? Wenn fie uns diefe mikroſkopiſchen 
Augen gegeben hat, daß wir alles Nächſte um ung ber liebevoller, inniger auf: 
taffen ala ihr, warum wollt ihr uns zwingen, zu eurem Fernrohr zu greifen ? 
Bir follen ja Mann und Frau jein, nicht Mann und Mann.“ 

Helmuth z0g die Brauen hoch: „Wenn Mann und Frau fi) nur darum 
zufammenfinden, um ein jedes eigenfinnig zu bleiben, was es ift, dann war's 
der Mühe nicht wert!" 

„Aber wer bleibt denn eigenfinniger, was er it, Du oder ih? Wozu 
Deine fonderbare Verachtung für unfre weibliche Welt?“ | 

„Eure Welt!" Helmuth erregte ſich, ebenio wie jie. „Träumen wie 'ne 
Blume! An unbeitimmten Gefühlen dahinleben, mit fich ſelbſt beichäftigt; un- 
Hare Anjprüche an ein unbefanntes Glüd: Das iſt Eure Welt! Die Welt der 
lenfitiven Frauen —“ 

„Wie ich eine bin!“ 

„Es ift eineKrankheit in Euch: Ahr verlangt eine Welt von Glüd für 
Euer Jh — nie wollt Ahr Euer Ich bingeben für das Glüd der Welt. Und 
nur was Ihr mit Augen feht und mit Händen greift, gebt Euch ans Herz; für 
unfihtbare Ziele, für ideale Zwede der Menschheit feid Ihr fait ebenfo Ealt wie 
die gefühllofe Natur! — Von diefer geiftigen Armuth hoffte ich wenigitens Dich, 
meine Frau, zu befreien — “ 

„Du verſtehſt uns nicht!” unterbrad ihn Marie, die noch gegen ihre Ge: 
teiztheit kämpfte. „Der Weg aus der Welt zu unferm Ich geht nicht durch 
unfern Kopf, Sondern durch unfer Herz. Unfer Verftand hat fein Herz für Eure 


14 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


Ideale; aber unjer Herz bat Berftand! Wenn Ihr diejen Berltand zu 
weden wißt — * 

„sc bin wohl ungefchiet. Ach hab’ den Weg nicht gefunden.“ 

„Suchet, fo werdet Ahr finden!“ 

„sah bab’ den Muth nicht mehr,“ warf Helmuth mit gedämpfter Stimme 
bin, faſt, als jpräch’ er mit ſich. „Das Irregehn, das — Eoftet zu viel — Nefig: 
nation! — Adieu!“ 

„Depeichen zu erwarten —“ 

Ich laſſ' Dir ja Neichthal bier, der mit Div Mufif madt. Der glüdliche 
Menich! Der befitt das Mezept, Dich zu unterhalten, Div etwas zu jein. 
Während mich diefe kriegsſchwüle Zeit ungenießbar macht, ift er jo liebens- 
würdig, ich in Dein Idyll mit Div einzufpinnen . . .“ 

Er warf einen Blid nad) dem Gartenzimmer, den Marie in ihrer Erregung 
falich verftand. „Das alles ſoll doc nicht etwa ſagen“, verjeßte fie haſtig, „daß 
Du eiferfüchtig bit?" 

Helmuth fuhr ftolz auf. „Wer fagt das?" 

„sch frage nur.” 

„Eiferfuht? Dazu bin ich denn doch zu Stolz. Steh’ ich Schon fo tief in 
Deiner Schäßung ?" 

„Wie Du gleich aufbegehrit. Ach dachte nur — “ 

„Berdadht auf meine Frau? — Zu der Frau, die meinen Namen und 
meine Ehre trägt, hab’ ich Vertrauen — oder ich hab’ nichts. Wenn ich je 
argwöhnen lernte, dann wär ja mein Leben aus: mein Glaube, mein Boden, 
der Grund, auf dem ich ftehe, wär’ bin!“ 

Delmuth wollte noch weiterreden, er jah Elife wieder in die Thür treten 
und brach ab. Er ftieß ein nicht ganz freies Lachen aus: „Sa, da ſteh' ich noch! 
Liebe Freundin, Sie werden Ihre Wiße machen über diefen eiligen Mann, der 
nicht vom Fleck kommt. Leben Sie wohl! — Gute Nacht!“ 

Er grüßte beide mit dev Dand und ging mit feinem raſchen, jugendlichen 
Bang der Straßenthür zu. 

E & # 

Marie jab ibn nad; als er verichwunden war, Schloß fie die Mugen. 
„Gute Nacht, aute Nacht,“ wiederholte fie, jo leife, daß Elite es nidjt veritand, 
„Und jo noch taufendmal bis zum Tod: qute Nadıt!“ 

„Was haft Du gejagt?" fragte Elife. 

„ch, nur fo einen Monolog — über ihn; über meinen Mann. — Er ging 
jo untadelhaft hinaus. Alles an ihm ift untadelhaft. Findeft Du nicht auch? 
Gott gedachte einen Normalmenſchen zu machen, und das Werf gelang!” 

Elife kannte diefe „Schnödigfeiten” an der ſeeliſch kranken Marie; fie ge: 


Adolf Wilbrandt, Grohe Zeiten. 15 


fielen ihr nicht, aber fie ertrug fie mit gefundem Phlegma. „Daft heut wieder 
Deine Eritifche Yaume, mein Kind,“ erwiderte ſie mır. 

Marie erihrat vor ſich ſelbſt; fie jchüttelte den Kopf. „Sch bin eine elende, 
nichtstwürdige Perion! Diefer Mann — fo ehremwert, fo gut... DO pfui!“ 

Sie ftarrte in die Luft, auf den Boden; fie war blak getvorden. 

Eliie berührte fie am Arm; fie fuhr zuſammen. „Was ich Di fragen 
wollte, Marie: haft Du vorhin gehorcht ?" 

„sh? Sch horche nie. — Was für ein Buch hab’ ich denn da vom Tiſch 
geworfen?“ Marie trat hin und hob es auf. „Ah, das Neueſte aus Paris! — 
Diejes vielbejprochene Buch, das lieſ'ſt Du auch? — Ach hab's jchon gelejen. 
Es ift ein erbärmliches Buch!" Sie warf es auf den Tiich. 

„Heut muß es wohl erbärmlich fein: weil Du erbarmungslos bift.“ 

Marie ftarrte wieder vor fi) bin. „ch, was wiſſen dieje Parifer — die 
uns alſo wirklich den Krieg machen wollen, diefen wahnfinnigen Krieg — was 
willen fie von den Herzensleiden einer wirklichen Frau? Da bejchreiben fie nun 
zum taujend und eriten Mal, was fie vom Unglüd einer Ehe verftehn: der 
Herr Gemahl liebt die Abenteuer — oder die Pferde und Hunde — oder das 
Börjenipiel — oder fich jelbft. Und die Frau? DO Gott, diefe Nomanfrauen, 
die würden ganz dasjelbe thun, wenn fie Männer wären: fie find ja aus dem 
nämlihen Dolz gejchnigt! Fabrikware, Zindhölzhen aus QTannenholz; wenn 
man fte da reibt, wo ihnen das Herz fißt: im Kopf, jo flammten fie einmal auf 
— grade lang’ genug, um die dürre Phantafie des fogenannten Dichters dran zu 
erhigen — umd dann find fie bin! — — Wenn ich jchreiben könnte — " 

Marie verſank in fich und Sprach nicht weiter. 

„a, was würd'ſt Du dann thun?“ fragte Elife endlich. 

Mit ihren tiefliegenden, tiefblidenden Mugen Ichaute Marie jie lange an: 
„sch — ich fuchte mir ein Menfchenpaar aus edlerem Holz! Ein paar Menfchen, 
weißt Du, daß es ein — Sammer wär um ibr verlorenes Glück; Menjchen, 
um die es Fi der Mühe verlohnte zu weinen... Sch meine natürlich einen 
erfundenen Mann und eine erfundene Frau. Zwei Menichen, beide zu edel, 
um fi zu mißacdhten, zu ftolz, um zu fündigen; aber zu ungleich oder was, um 
ſich zu lieben; fie lächelte fo, daß es Elife ergriff: „und ihr fehlt's an Vernunft! 
Sie achtet ihn; fie weiß feine Tugenden auswendig; wegen feiner Tugenden hat 
fie ihn genommen; aber halbe Nächte liegt fie da und fehnt fich nach einem Becher 
voll Glück. Glücklich machen, weißt Du — wahrhaft glücklich machen — und es 
dann Selber fein! Sie hat eine unielige Phantafie: wie der Verhungernde von 
den lederiten, ſchönſten Speilen träumt, fo träumt ihre verdurftende Seele von 
den zauberijcheiten Glüdsgefühlen — kurz oder lang, das ift ihr gleich. Leben 
müſſen! denkt fie. Mit allen Zähnen, wie ein Gefolterter in jein Tafchentud), 
beißt fie in diefen Gedanken hinein: leben müſſen, und nur einmal leben, und 


16 Adolf Wildrandt, Große Zeiten. 


nicht glüdlich jein! Abgefunden mit einem elenden Pflichttheil der Natur — ſo 
eine von taufend Blafen, die in der Schöpfung auffteigen und zerplagen — und 
fo viel Talent zum Glüf — ach mein Gott, jo viel Talent!” 

Elife ging unruhig zum Haus zurüd, Sie wollte diefem troftlojen Geſpräch 
ein Ende machen, fie wollte zu ihren Gäften gehn; und doch mochte jie auch Marie 
nicht in diefer Stimmung verlajjen. „Du bift krank, Marie,“ jagte fie kummervoll. 

„Krant? Ganz und gar nicht. Nur den Kopf ein bischen erfriichen . . ." 
Marie nahm ein mwinziges Fläſchchen mit Kölniſchem Waſſer, das ſie an der Bruft 
trug — fie hatte ſich's angewöhnt — und benette ſich die Stimm. Dabei roch fie 
nit etwas Erankhafter Gier: „O diefer göttliche Duft! — Wie ein Frühlingstraum. 
— Duft! Duft!! Sie nahm Elifen ihr Sträufchen aus roten und gelben 
Rofen von der Bruft: „Laß mich daran riechen! Wie gut. Das ift Wein für 
meine Phantaſie. Da wird mir zu Muth wie — wie der Frau in meinem Roman. 
Glück! Einen Beer voll Glüf! Und thät man and Scierling hinein, fie 
jtürzt' ihn hinunter!" 

„Daft Du Fieber, Marie?“ 

„Keine Spur. Fühl ber: mein Puls it fo normal — jo normal wie mein 
Dann. Ich betrin® mich nur ein wenig in dem Blumenduft; ic) laſſ' mir von 
ihm Märchen erzählen; mir wird dabei wohl — ganz wohl. — Was ift denn da 
in Deinem Salon? Wer it noch gekommen?“ 

Sie hordte. Elife warf einen Blid durd die Thür hinein. „a, da jteht 
er! Franz, unfer Würzburger. Doc nod Wort gehalten!” 

„Wahrhaftig?“" ſagte Marie wie im Traum. „Der fogenannte Jugendfreund ? 
Mit dem ich jo viel Klavier gefpielt haben jall, wie die Leute fagen? In deffen 
Armen fie mich gefunden haben, als ich mein bischen Verstand verlor? — Das ift 
doch ein komiſches Wiederfehn . . ." 

„Räfonnier’ nicht mehr; fomm, komm!“ 

„Wohin?“ 

„Wunderbare Frage. Hinein! ihn zu begrüßen! Wir jchwagen bier ohnehin 
ſchon 'ne Ewigkeit." 

Marie hielt Elife am Arm: „Nein, nein! Bleib nod hier. Noch nicht zu 
den Menfchen! Wir fehn uns den Franz von bier aus an, durch die Thür.“ 

„Aber heut bit Du doc ganz verrüdt! Ach, die Hausfrau —“ 

„Dein Mann madt ja die Honneurs. Schau hin. Hör doc, wie jie laden! 
— Nein, nein, ich laſſ' Dich nicht fort. Bleib bier, oder ich zerrauf' Dir Deine 
Friſur!“ 

„Aber jo ein Kind!" 

Marie ftellte ſich hinter Elife, die Eleinere, und legte ihr beide Arme um 
die vollen Schultern: „Ad, ad, ah! Guck ihn Dir an, diefen Yugendfreund, wie 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 17 


er fi) verneigt! Sein Rüden Erümmt ſich fo eitel, jo ſelbſtbewußt; findeft Du 
nicht auch ?* 

„Richt einmal einen Jugendfreund zu verichonen!" 

„Jugendfreund! Großer Gott, das iſt alfo von meiner Jugend noch übrig. 
Ein eleganter, jiegreich lächelnder Damenheld; jchau, wie er ſich jegt um jeine 
Achſe dreht. Und als wir uns fannten — das heißt, jo weit ich mitdenfen kann 
— da war er ein bejcheidener, jchüchterner Menſch.“ 

‚Die Damen in der alten und neuen Welt haben ihn verwöhnt —" 

Marie ftieß ein faft zu lautes „Ah!“ hervor. „Bud emal, fie nötigen ihn 
ans Klavier! Frau von Werth mit ihrem großartigen Lächeln — — Wahrhaftig, 
er geht an den ‚Flügel, er läßt fich nicht lang’ bitten. Rrr! Der erfte Lauf über 
die Taſten. Wie groß jeine Hände find!” 

„Aber ein edles, vornehmes Geſicht.“ 

„Beh! Diefe kalten Augen. Diefer dämonifh fein jollende Blid. Adı, 
wie ihm jeßt die Fleinen Noten aus den Fingerſpitzen tröpfeln. Wie er Muſik 
fäet, um Applaus zu ernten.“ 

„Du Läfterzunge!” flüfterte Elife. „Er ſpielt mit Feuer. — Mein Lieb: 
lingsſtück.“ 

„Mein Gott, er nimmt ja jedes Tempo zu raſch! Er ſpielt ‚genial‘; wie 
ein Mieje, der einen Rohrſtock balanciert. Gott fei Dank, daß ich nicht fein 
Klavier bin!“ 

„sc wollt’, daß ich es aud) fo betaſten könnte... .“ 

Elife jpigte mit drolligem Erjchreden ihre vollen Lippen: „Kalauer Numero 
fünfundvierzig! — Und ich kann noch ſchlechte Wortwige machen, während der 
Mann fo ergreifend fpielt. Hoch! Hör doch zu!” 

Marie jchüttelte den Kopf: „Sch hab’ genug. Seine Birtuofität macht mid) 
müde.“ Sie fette fi auf einen der Stühle vor der Gartenthür. 

„Du bift heut unerträglich, mein Herz. — Na, dann geh’ ich allein!" 

Elife trat leiſe ins Haus. 

Unerträglich! dachte Marie, in das Dunkel unter den Bäumen jtarrend. 
Ü ja; vor allem mir felbft! — — Glücklich machen! Gott, gieb mir einen 
Menihen, den ich glüdlich mache; ſonſt ift die Welt des Lebens nicht wert! 

Das Klavierſtück ging zu Ende; lebhaftes Klatſchen folgte. Ad, die Ernte 
dachte fie und lächelte. Jetzt überbieten fie fi in Entzüden. — Gott, ich wollte 
dad unbeadtetite Gejchöpf unter dem Mond fein, wenn id; wüßte, mas Zu— 
riedenheit ift! — — 

Die Luft in den Zimmern war jchwül geworden, und ein zweites Stüd 
wollte Franz nicht fpielen; die Gefellihaft kam noch für ein Weilhen in den 
Garten hinaus. Elife ging mit Franz und Reichthal voran; zulegt brachten 

2 


18 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


Diener und Mädchen die Bowle mit den Gläfern und ftellten jie auf den Tiſch 
vor der Thür. Marie war aufgeftanden, al& Franz erichien; fie Jah jekt, dak 
er etwas größer war, als vorhin ihr ſatiriſcher Blid ihn aufgenommen hatte. 
Sie wunderte fi widermillig, mit welcher ficheren und vornehmen Anmut, ohne 
Eitelkeit oder Selbitbewußtiein, er num näher trat. Ihre wilde, ſpöttiſche Laune 
verflog auf einmal. Sie fah den alten Belannten wieder, das gute Würzburger 
Geſicht, nur reifer und wohl auch bedeutender geworden. Es zog fie, ihm ent: 
gegenzugehen; in plößlicher Befangenheit ftand fie aber ftill. 

„Liebe, gute Marie!” jagte feine weiche Tenorſtimme, bei der ſogleich allerlei 
Erinnerungen erwacten; er lächelte fie in fihtbarer Bewegung an. „Ich begrüß' 
alle Welt, nur nicht —“ Ihr allein verftändlih fuhr er fort: „Nur nicht den 
einzigen Menichen, den ich wirklich ſuche. Seh’ ih Sie endlicd; wieder, Marie!“ 

„Guten Abend, lieber Freund," ermwiderte fie. 

„Und Sie geben mir nicht die Hand?" 

Sie hielt ihm die rechte Hand bin; er nahm fie und führte jie an jeine 
Lippen; unwillkürlich 309 fie fie zurüd. Franz ſah ihr verwundert ins Geſicht; 
er fagte aber nichts. Nachdem er eine Weile umhergeblickt, auch nod ein freund: 
liches Lächeln mit Elife getaucht hatte, ſchritt er tiefer in den Garten hinein: 
jein jonderbarer, etwas ſchwermütiger Blick — den Marie vorhin „dämoniſch 
jein follend“ genannt hatte — zog fie mit fort, ſie wußte nicht wie. Erſt als fie 
hinter der Laube gingen, von den andern wirklich abgetrennt — nur noch ein 
Vichtichein fiel aus dein Haus auf den Weg — , trat ihm das Herz auf die 
Zunge: „Was haben Sie, liebe Marie? Ich eitler Menſch hatte auf einen 
wärmeren, berzliheren Empfang gehofft. Wenn man die — Freundin feiner 
Jugend wiederfieht — " 

„Was hilft uns das?" jagte Marie herber, als jie wollte. „Die Jugend 
iſt ja dahin.“ 

Franz lächelte, zugleich über den Ton verwundert. Seine Augen flogen 
über ihre fchlanfe und fo vollfommen junge Geftalt. „Die Jugend tft dahin? 
Das fagen Sie?" 

„sedenfalls jene Jugend — von damals.“ 

„Die Märzveilchentage des Lebens, nun ja! Die erften Gährungsd- und 
Gewitterzeiten, wo man lacht und weint, ohne eigentlich zu willen, warum. 
Diefe füß verrüdten — — Was iſt Ahnen?" 

Marie hatte eine abwehrende Bewegung mit dem linfen Arm gemadt. hr 
war ducch den Kopf gegangen: dieſe feligen Zeiten hatte fie entweder nie erlebt, 
oder vergejjen, unmiederbringlich vergejjen! — „Bitte, lafjen wir die," murmelte fie. 

„Wie Sie wollen. Was Sie wollen. — Nur weil Sie fie mir vorhin 
duch Ihren Anblid ins Gedächtnis riefen — " 

„Sch? 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 19 


„Ja; als ich am Flügel ſaß und ſpielte, da entdedte ich Sie auf einmal in 
dev offenen Thür — " 

„Sie haben mich geiehn ?" 

„Gewiß. Neben Elife. Oder hinter ihr. Sie jtanden jo merkwürdig da 
— wie ein Geift aus der Jugendzeit — nein, nein, lächeln Sie nit. Wie ein 
Geiſt — aber ernft, fait finfter; überrafchend finfter — und darum jo wehmütig 
ergreifend. Sch wär’ beinah aufgeftanden. Ich hätt’ fait nicht zu Ende geipielt!" 

Marie ihämte fich, fie fühlte ihr Erröten. Wehmütig ergreifend, dachte fie; 
und da läfterte ich über ihn! — Sie wendete ihr Geficht eine Weile ab; dann 
ſah jte ihn aber, wie um abzubitten, vecht herzlich an und gab ihm die Hand. 
„Sie jind ein guter Menſch,“ fagte fie, um etwas zu fagen. 

„Sie irren ſich; id) war einmal einer; das iſt längft vorbei! Die Welt — 
und die Jahre! — — Wie aber auch Ihr Yeben fich verwandelt hat. Ein Herr 
Gemahl — den ich noch nicht kenne — " 

„Sie werden ihn alſo kennen lernen.“ 

„Bielleicht audy ein Kind —" 

Sie jchüttelte den Kopf. „O nein!” 

„Sie jagen das mit jo verjchleierter Traurigkeit, Marie — " 

„Stehn Sie da, um meine Rätjel zu rathen?“ fiel fie ihm ins Wort. 

„Berzeihen Sie! — Da hör! ich wieder Ihre andere Stimme: das mi: 
trauifche, ftolze, herbe Mädchen von damald — das heißt, nach der großen 
Krankheit. Nach dieſer gräulichen Krankheit, die ich taufendmal verflucht habe; 
die Sie bei einem Saar umgebracht hätte; die Sie dann fo grüblerifch, To 
lebend und menfchenfeindlich, fo — ablehnend machte. Na, verflucht hab’ ich fie — 
und über fie geweint! — Borher waren Sie das alles nicht. Da waren Sie fo 
weih und gut — fo lieblich — * 

„Was?“ ſagte Marie und fuchte zu lächeln. „Das wär’ ich einmal ge- 
weien und wüßt' es nicht?" 

„sa, weiß man das, wenn man’s it? — Aber wenn Sie ji nur er- 
innern wollten — " 

„Mich erinnern? Das kann ich nicht.“ 

„DO ja, wollen Sie nur; dann geht's! — Marie! An dem einen Abend, 
über dem Main — einer der letten Abende, eh’ die Krankheit ausbrah — " 

„Was weiß ich davon?" 

„Wir kamen vom Nifolausberg, wir beide, am „Käpelle“ vorbei. Die röt— 
lichen Wolfen hingen fo fchwer über uns; der ſchwüle Atem der eben beran- 
ziehenden Nacht wehte über die Hügel; — Sie klagten auch einmal über Ihren 
Kopf. Aber dann fagten Sie wieder: ad), mir ift doc) fo gut, jo gut! Und die 
Luft war jo voll Muſik. E3 war, al3 wenn alles tönte vor meinen Ohren; und 
in mir nichts als Muſik; und Sie fo felig aufgelöft — fo Tieblich erregt... . “ 

* 


20 Adolf Wilbrandt, Großze Zeiten. 


Er ſchaute jie an, als fähe er fie fo wie damald. Dann verwirrte ihn 
aber ihr ftarrer Blid, Die großen, tiefen Mugen gingen wie durch ihn hindurch; 
darauf in die Nacht hinaus. Es war, wie wenn fie mit Anftrengung, mit Dual 
das Derlorene ſuchten. Ihre Lippen öffneten ſich. Endlich murmelte fie: 
„Selig aufgelöſt . . . “ 

„Sie entfinnen Sich nicht?” 

„Rötliche Wolken,“ ſprach fie juchend und träumend weiter, „hingen über 
und... Ach ja, es kann wohl fein. Wie ein blafjer, blafjer Schatten zog es 
eben vorüber... Aber nun iſt's vorbei." Sie lächelte jo traurig, daß das Herz 
ihm weh that: „Und was außer den Wolfen noch war, davon weiß ich nichts!“ 

„Nichts, Marie? Nichts?" 

Sie Ichüttelte den Kopf. 

„Nichts! Ach kann's nicht glauben! Es u ja unmöglich!" 

„Es iſt doch jo." 

„Die Erinnerung an damals wär alfo nie mehr aufgewaht? Und Sie 
wüßten noch immer nicht, was man für Sie fühlte — noch was Sie jelber 
gefühlt haben?” 

„Was ih —? Was ich — ?" — Sie Stand, ſah ihn an und Schüttelte den Kopf. 

„Mich erinnert alles — Ihre Roſen da — die fchmwülen Düfte aus dem 
Garten — alles erinnert mid; an jenen duftfchweren Würzburger Abend; und 
an die Nacht darauf. Ich hatte Sie nach Haus geführt, ſaß in meinem Zimmer 
allein. Die Fenſter waren offen. Der Frühfommer, die Jugend, die — Gefühle 
floffen mir wie feuriger Wein im Blut. Ach warf mich auf die Erde, ich fing 
an zu fingen, mich durch den eigenen Gejang zu Thränen zu rühren; Wonne- 
thränen. Ich fang finnlofe Worte — ich hoffte auf — auf irgendivas. Auf ein 
unausiprechliches, unausdenktbares, unermeßliches Glück!“ 

Mariens Augen hingen an jeinen Lippen, an feinen jchmärmerifchen, 
dunklen Augen. Borhin hatte fie fie kalt genannt; jet wedten fie gleichſam das 
Leben in ihr. „OD Jugendzeit!“ fagte fie mit einem träumeriichen, warmen 
Lächeln. „Sprechen Ste weiter. Sie machen mich wieder jung.“ 

„Ich ftand endlich auf, um mich als „Künftler” zu fallen; denn Sie wiſſen 
ja, ich lebte in der Mufik, wenn auch nur als Dilettant — “ 

„As Künſtler!“ unterbrady fie ihn. 

Er lädhelte: „Und ich war ein Sturmwind auf dem Klavier — * 

Sie lächelte auch: „Na, das weiß ich nod; ein Orkan!” 

„Und fo ftürmt' ich denn auf den Taften umher, fuchte eine muſikaliſche 
‚Form für meine feierliche Seligkeit ... Daben Sie vorhin das Stüd gehört, 
das ich jpielte? den Schubert?" Etwas verlegen nidte Marie. 

„Aber meine Bhantafie über das Hauptthema darin fennen Sie nod) 
nicht. Die Schrieb ich in jener Naht. Wie ein Betrunfener, wie ein glüdjelig 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 21 


— 


Wahnſinniger ſaß ich da; — und ſeit dieſer Nacht lieb' ic dieſen Schubert wie 
ein Stück von meiner Jugend. Ich weiß, ich ſpiel' ihn ſchlecht: ich ſpiel' ihn 
noch heut wie ein Orkan!“ 

„Dann wünſch' ich von Herzen,“ erwiderte ſie lächelnd, ſo anders war ihr 
jetzt zu Muth, „ſpielen Sie ihn bis an Ihr Ende ſo ſchlecht!“ 

Er erwiderte nichts. Er betrachtete ſie nur. „Was machen Sie jetzt für 
ein ernſtes, erſtauntes Geſicht?“ fragte fie. 

„sch wundere mich nur, wie mädchenhaft jung und — ſchön Sie find. Sa, 
wie mädchenhaft! Wie an jenem Abend! Als wär dann nicht die Krankheit 
gefommen — und die Veränderung. Die Entfremdung. a, ja, ja, Sie wurden 
dann jo fremd, To kalt! Und ich war jo heiß, jo — — Sie haben mid ja in 
die Welt getrieben, Marie. Bier in Würzburg fterb’ ich! dacht! ich. — Nun, dann 
ging mir's ja draußen gut, recht gut. Hab’ gefehn, gelernt, hab’ aus mir 'nen 
Mann gemadt — und nen Künſtler auch — das kann ich wohl jagen. Und 
das Leben hat mir auch wieder gelacht . . . Sie ſehn, ich Eofettier’ nicht mit meinem 
Würzburger Elend. Aber wenn ich Sie nun fo wiederjeh’ — To anders und fo 
wunderbar unverändert —" 

„Marie!" rief jett Reichthals gemütliche Stimme vom Haufe her. „Bert 
Weltumfenler! Die Derrichaften wollen fort!" 

Es war, ald erwadhte Marie. „Die Herrichaften wollen fort,“ wiederholte 
fte, noch wie im Traum. „a, dann geb’ ich auch.“ 

Ste warf noch einen Blid auf Franz, ging dann ftumm zurüd. Ex folgte 
ihr. Er jab jede ihrer Bewegungen in dem balbdurchleuchteten Dunkel, den 
ſtolzen, elaftiichen Gang, den Schönen Umriß der ſchlanken Geſtalt. An der Garten: 
thür und drinnen ftanden die Säfte, die von Elite und dem Hausherren Abichied 
nahmen. „Irinft denn niemand mehr ein Glas von meiner guten Bowle?“ 
fragte die Dausfran. 

„Sie haben zwei Wiegen oder Wagen,“ antiwortete Neichtbal, „Sie brauchen 
Ihr bischen Schlaf. Wir gehn!” 

Philifter! dachte Franz, dem es —— hart erſchien, ſich ſo ſchnell von 
Marie zu trennen, der eine Art von Rauſch im Herzen fühlte. „Gute Nacht,“ 
ſagte er mit Widerftreben zu ihr, als an ihn die Neihe kam. „Morgen darf id) 
Sie ſehn?“ 

„Schon zum Frühſtück, wenn Sie wollen; jedenfalls kommen Site wicht viel 
ipäter!“ erwiderte Marie mit jonniger Deiterfeit. „Ihre Bhantafien, die orfaniichen, 
die bringen Sie mit!“ 

Eliſe begleitete einen Zeil ihrer Gäſte durchs Daus; andere gingen durch den 
arten fort, der Hausherr mit ihnen. Als Eliſe zurückkam, hörte fie Klavierſpiel; 
zu ihrem Erſtaunen ſah fie dann Marie am Flügel fiten. Sie jpielte dasselbe 
Schubertiche Stüd, das ihr unter Franz Piebenaus Händen fo mißfallen hatte. 


22 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


„Marie!" rief Elife nad einer Weile. „Du noch hier?“ 

Marie jpielte weiter; faft in demfelben Tempo, wie vorhin der „geniale Rieſe“. 

„sch dadıte, Du gingft mit Reichthal fort?“ 

„Meine Dore wartet ja," warf Marie hin; dann fpielte fie zu Ende. Sie 
blieb aber jiten, mit träumenden Augen. 

„Willſt Du über Nacht hier bleiben, Kind?" fragte Elije fcherzend und legte 
ihr eine Hand auf die Schulter. Marie ftand auf. 

„ein, nein, nein. Ich gehe. Leb wohl!“ 

Sie ging aber nicht. Ihre Hände blieben auf den Taften liegen, der Blid 
träumte meiter. 

Elife kannte fie jo; wenn ihr and) heut der Sonnenschein auffiel, der Martens 
Seficht verklärte. Sie lächelte übermütig: „Na, dann will id) Dich erleuchten, 
mein ind, indem ich uns verdunkle!“ Sie blied die vier Kerzen auf dem 
Flügel aus. „Wirft Du nun gehn?“ 

„ta, ja! — Ich gehe.“ 

„Aber davon merk ich nichts. — Und ſiehe, das Licht erlofch und es ward 
Finſternis!“ life löfchte auch die Lampen aus. 

Jetzt kam Marie ganz zu fi. „Ja fo! — Aha! — Du bift doc immer 
die Alte!“ 

„a, Gott jei Dank!" — „Gute Nacht, Madame!“ — „Gute Nacht, Mylady!“ 

Fortſetzung folgt.) 
—2 


Es ſchlägt ein Ruf. 


Es khlägt ein Ruf, ein klingend Vecken Volldampf voraus! Wie Adlerzungen 


Die Grenzen jedes deutfchen Gaus, Wirkt ic im Wind der Wimpelitand, 

O ieht, zu neuen Zielen ſtrecken fliegt zum Burra der blauen Fungen 

Im Flug fich unire Wimpel aus! Das goldgeitikte Mutzenband. 

Empor aus Sdumnis und aus Sorgen, Mandı fremde Flagge fank ichon nieder, 

Deutichland, erwah! Sei groß wie eh’: Seit ihr den Plan der Meere meßt, 

Die junge Flotte grüßt den Morgen Und längit verlor'ne deutiche Brüder 

Und grüßt das Reidı und grüßt die See! Hält neu die Macht des Reiches feit. 

Du, junger Kailer, wirlt uns führen, Einit kommt ein Tag, ein Tag der Ehre, 

Du biit der Zukunft Herr und Sirt, Es jauchzt der Sturm um kuv und liee, 

O laß nicht ab, die Glut zu fchüren, Wir find die Freunde aller Meere, 

Daß lie zur reinen, Flamme wird! Wir find die Könige der See! 

Die Kailerkrone hing am Griffe Ob Woge fidı auf Woge fürme, 

Der Schwerter, die Dein Ahn gelenkt — kaßt fie nur droh’'n — wir lind dabei 

Nun fieh, ob nicht am Kiel der Schiffe D Gott der Stille, Gott der Stürme, 

Noc leuchtend eine zweite hängt. Gieb uns das Meer und mad’ uns frei! 
Karl Buiie. 


EHTNTNHTNTNTHTNTENTNTHTENENTEINTI 


Die weltgeiciichtlihe Aufgabe des deutſchen Gelltes. 


Von 


Rudolf Eucen. 


N: nationale Hochflut unjerer Zeit läßt die meilten Völker ihre Kraft auf- 
bieten und ihr Dajein behaupten ohne viel Sorge darum, was ihre Eigen: 
tümlichfeit dem Ganzen der Menfchheit und der Bewegung der Weltgeichichte be- 
deute; es ift die wilde Yeidenichaft eines Naturtriebes, mit der fie ſich ausdehnen 
md durchſetzen. Ein Hulturvolf, ein Volk, das bejtimmend eingriff in die Welt- 
geihichte und deſſen Wirken alle Gebiete des menjclichen Lebens umfpannt, 
würde zu Elein von fich denken, wollte es ſich eine jolche bloß inſtinktive Selbſt— 
erhaltung genügen laſſen; ein ſolches Bolt muß fi) von jeinem Weſen Rechen- 
haft geben und nad jeiner Bedeutung für das Ganze der Menjchheit fragen ; 
es muß To fragen, um die innerfte Seele für jein Werk zu gewinnen, fragen 
au, um das Bemwußtjein eines Wertes, ja einer Unentbehrlichfeit für jenes 
Ganze allen etwaigen Zweifeln entgegenbalten zu Eönnen. Solche Zweifel 
können heute den Deutichen bei allem Vordringen und Gelingen gar wohl be- 
ihleihen. Mehr und mehr hat der Verlauf des 19. Jahrhunderts den Schau: 
vlat des Lebens und den Kampfplat der Arbeit ausgedehnt. Nichts auf dem 
ganzen Erdball gilt jest als fern und freind, überall muß zu Haufe fein, überall 
am Wettbewerb der Waren nicht nur, jondern aud der Gedanken teilnehmen, 
wer in dem Ganzen mitzählen will; auch die Kraft jeines Wollens jcheint überall 
einlegen zu müſſen, wem nicht die dumpfe Enge eines abgeſonderten provinziellen 
Dajeins genügt. ft nun das deutiche Volk ftark genug, einen ſolchen Wettitreit 
aufzunehmen und in den Ganzen einer Weltkultur feine bejondere Art zur 
Geltung zu bringen? Meußerlich angejehen ift dafür jeine Lage höchſt ungünitig; 
wie kann es hoffen, mit feinen engen Grenzen, einer Umklammerung von 
fremden und feindlichen Völkern, jeiner verjpäteten Mitbewerbung um die Welt 
draußen eine Weltftellung gegenüber Bölfern zu erringen, die ſich über ganze 
CErdteile ausdehnen und denen Yand über Yand in den Schoß fällt? Den Kampf 
für das jcheinbar Unmögliche kann es nur aufnehmen bei einem feften Glauben 
an die Größe feiner geiftigen Art und an eine Unentbehrlichkeit dieſer Art für 
das Ganze der Menjchheit; die Kraft jelbft wird wachſen, wenn dieje Ueber— 
zeugung ihre Entwidlung trägt und bejeelt. 


24 Rudolf Euden, Die mweltgefchtchtliche Aufgabe des deutfchen Geiſtes. 


Worin alſo beiteht das Eigentümliche und Auszeichnende der deutichen Art? 
Wir find darüber heute unficherer als man es vor hundert Kahren war. Damals 
erichienen die Deutichen den Anderen wie ſich felbit als ein Volk der Dichter 
und Denker, als ein Volk, das, durd; feine Natur wie duch feine Scidjale 
an einem thatkräftigen Wirken und Walten in der fichtbaren Welt behindert, ſich 
durch geiftige Arbeit, namentlid; durch litterarifche Produktion, eine neue Welt 
ichaffe und in fie den Schwerpunft feines Dafeins verlege. Als Bürger diefer Welt 
glaubte man fich durch die Arbeit für die Güter der Wahrheit und Schönheit hoch 
über alle äußeren Angelegenheiten, hoch auch über das politiiche und nationale 
Leben hinausgehoben; es ift nicht die Meinung eines Einzelnen, es ift die Ueber— 
zeugung eines großen Kreiſes, wenn Fr. Scjlegel fagt: „Nicht in die politiiche 
Welt verjchleudere du Glauben und Liebe, aber in der göttlihen Welt der 
Wiſſenſchaft und der Kunſt opfere dein Annerftes in den heiligen Feuerſtrom 
ewiger Bildung.” 

Den anderen Bölfern konnte ein jo williger Verzicht auf die fihtbare Welt 
nur willflommen Sein; jo wurde denn der Deutiche der damaligen Zeit von 
draußen ber mit Lobſprüchen überhäuft. Bulwer widmete feinen „Erneft Maltra: 
vers" „dem großen deutjchen Volke, einer Nation von Denfern und Kunftrichtern“ 
(the great German people, a nation of thinkers and of critics). 

Das 19. Rahrhundert hat diefes Bild vom Deutfchen zerjtört, zerftört durch 
das wirkſamſte Mittel der That. Die Deutfchen haben gezeigt, daß fie auch 
innerhalb der Welt etwas zu leiften vermögen; die Triumphe ihrer Waffen, die 
Fortichritte ihrer Technik, die Erfolge ihres Handels und ihrer Anduftrie ftehen 
viel zu deutlich vor Augen ald daß fie nun nody ein weltfremdes Volk heißen 
und etiva, wie früher, als die „Inder Europas” gelten könnten. 

Wie aber ift diefe höchſt auffallende Wendung von einem Reiche dichteriicher 
Phantafie und philofophifcher Gedanfenarbeit zur fihhtbaren Welt zu beurteilen? 
Iſt fie ein ſchnöder Abfall des Deutichen von feiner echten Natur, haben ihn 
dieſer überwältigende äußere Eindrüde entfremdet? Oder bat er umgekehrt mit 
jener etwas wieder aufgenomnten, was in feinem eigenen Weſen jtedt und was 
nur widrige Schickſale zeitweile zurüdgedrängt hatten? 

Ein Blid auf die Gefchichte des deutfchen Volkes zwingt das Letztere zu 
bejahen. Denn nicht als ein Volk der Pitteratur, nicht als ein Volk des Dichtens 
und Grübelns haben die Deutichen ihren Namen zuerit in die Weltgeihichte ein- 
getragen, fie haben es gethan als ein Eräftiges, ein untiderftehliches Volk der 
Waffen Mäctig braufte ihr Zug durch die Welt, zunächft niederwerfend und 
zeritörend, dann aber erhaltend und weiterführend; im Mittelalter entwickelte ſich 
die deutiche Arbeit zu böchfter Tüchtigkeit; dak es zu aller Sorgfamkeit im Ein- 
zelnen nicht an organifatoriicher Kraft fehlte, das zeigen die Leiftungen der Hanfa 
mit ihrer Derrichaft über die Meere und die des deutſchen Ritterordens mit 


Rudolf Euden, Die meltgefchichtliche Aufgabe des beutfchen Geiſtes. 25 


jeinem Aufbau eines höchft eigentümlichen Staatsweſens im Nordoften; daß biefe 
Arbeit auch gefchidt genug war neue Wege zu erfinnen, das erweiſen die zahl- 
reihen technifchen Erfindungen, in denen Deutfchland namentlich um die Wende 
vom Mittelalter zur Neuzeit an der Spite aller Völker ftand. Denken wir nur 
an die Buchdruderkunft, die Taſchenuhr, das Spinnrad! Go tft das Er: 
findungsvermögen der Deutichen auch zur Zeit ihre äußeren Niederganges von 
anderen Völkern, namentlich den Franzoſen, bereitwillig anerfannt. Sowohl der 
große Kritiker Pierre Bayle (1647-1706) al3 die geiftvolle Frau von Stael in 
ihrem berühmten Buche über Deutfchland haben folcher Anerkennung lebhaften 
Ausdrud verliehen. 

So gehört jenes Praftifche, Tehnifche, Weltgeftaltende zweifellos zu unſerem 
Wefen ; im Bilde der älteren Deutfchen ift es jogar der beherrichende Hauptzug. 
Erft feit der Reformation ift darin eine Wandlung eingetreten; zunächft wurden 
nun die religiöfen Fragen zur Hauptſache, dann trat das Problem der Fünftle- 
riſchen und litterariihen Bildung in den Vordergrund, wie es die Haffifche Zeit 
unjerer Dichtung beherricht und unvergänglide Schöpfungen hervorgebracht hat. 
Was an Innerlichkeit durch ſolche religiöfe und künſtleriſche Bethätigung entwidelt 
it, da3 können wir nicht aufgeben, das würde uns feithalten, auch wenn wir es 
aufgeben wollten. 

Aber wie jollen wir nun uns felbft verftehen? Unſere eigene Natur fcheint 
geipalten, gejpalten zwijchen einem fräftigen Erfaſſen der fichtbaren Welt und 
der Entwidlung einer weltüberlegenen Innerlichkeit; treibt das nicht zu einer 
entgegengefegten Schätung der Güter, müfjen wir nicht hier verwerfen, was mir 
dort verehren? Vorausſichtlich würden wir bei joldher inneren Spaltung in zwei 
Dauptlager zerfallen; die Praktiker und die Antellektuellen (wenn diefe Bezeich— 
nung geftattet ift) würden nicht mit einander, fondern gegen einander arbeiten. 
Könnten wir bei ſolcher Gegenfäßlichkeit hoffen eine Weltftellung zu behaupten? 

Gefahren find hier unbeftreitbar vorhanden, das deutſche Weſen enthält in 
der That einen Antrieb nad entgegengefegter Richtung. Aber das braucht uns 
nicht zu erichreden. Es gab feine große Perjönlichkeit, die nicht Gegenfäte in fich 
trug; eben in ihrer Ueberwindung hat fie die eigene Höhe erflommen. Sollte 
es mit den Nationen ähnlich ftehen? Sollte nicht jedes große Kulturvolk Gegen- 
fäge enthalten und in ihnen vornehmlich den Antrieb zur Umwandlung der 
eriten Lage, zur Bertiefung des eigenen Seins, zu bleibenden Schöpfungen für 
die Menfchheit finden? Die verfhiedenen Ströme dürften dann freilich nicht 
gleichgültig neben einander hergehen, fie müßten ſich innerhalb eines gemein: 
famen Lebensraumes begegnen und gegenfeitig verftärten. Sehen wir, ob das 
bei den Deutſchen zutrifft. 

Nur dem flüchtigen Blid können der ftarfe Zug zur fihtbaren Welt und 
das Streben nad; mweltüberlegener Innerlichkeit als unverjöhnliche Gegner er- 


26 Rudolf Euden, Die mweltgeihichtliche Aufgabe des deutſchen Geiites. 


fcheinen; eine nähere Betrachtung erkennt bald, daß das eine auf das andere an: 
gewiefen ift, daß fein die eigne Aufgabe groß fallen kann ohne ſich durch das 
andere zu ergänzen. Es giebt Feine tüchtige und glüdliche Arbeit an der Welt 
ohne eine Kraft des Geiftes und eine Annerlichkeit der Seele, aber e3 giebt auch 
feinen Aufbau eines Neiches der Innerlichkeit ohne eine ftete Beziehung auf die 
jichtbare Welt und ein männliches Ningen mit diefer Welt. Einen vollen Ein: 
Elang erreicht freilich nicht der Durchfchnitt des Alltages, denn bier wird immer 
die eine oder die andere Seite überwiegen; es Handelt ſich um ein deal, nicht 
um eine fertige Thatiache. Aber wenn fich zeigen jollte, daß jenes nicht nur an 
einzelnen Höhepuntten zu glänzender Entfaltung kam, jondern daß es von Haus 
aus in der Art des Volkes ftedt und durch die Kahrtaufende der Geſchichte hin- 
durch erziehend und erhöhend wirkte, fo ift das ſelbſt eine große Thatſache. 
Solches aber läßt fih in Wahrheit zeigen. 

Die Deutichen waren von Alters ber in der Arbeit tüchtig vor allen des» 
wegen, weil ihnen die Arbeit nicht ein bloßes Mittel für den Erfolg oder Genuß 
war, fondern weil fie freude an ihr hatten, fie als einen Selbftzwed behandelten, 
innerlich mit dem Gegenitande verwuchlen, den ihre Arbeit ergriff. Nur fo 
fonnten die Forderungen der Sade zu Antrieben für das eigne Streben 
werden, nur jo Eonnte fich der Menſch jo in die Arbeit verſenken, mit ihr identi- 
fizieren, daß alle ihre Not und Mühe, ja ihre Schmerzen und Opfer vergefjen 
wurden um des Gelingens der Sache willen. Solche Befeelung der Arbeit iſt 
aber nur möglich, wo eine reiche feelifche Annerlichkeit vorhanden ift, die an dem 
Segenjtande der Arbeit ſich Telbit erlebt, die in der Arbeit nicht eine einzelne 
Yeiltung ſieht, ſondern aus ihr einen Beruf des ganzen Menfchen madt. Das 
aber begleitet überall die Entwidlung des deutichen Lebens. In den Künften des 
Friedens wie im Werk des Krieges wurde die erwählte Arbeit den Deutjchen zu 
einen fejten Yebensberuf, diefer Beruf erzeugte einen eigentümlichen Dafeinskreis, 
ja eine eigentümliche Gedanfenwelt; dev Betrieb der Arbeit umgab ſich — denken 
wir mir an die Ordnungen der mittelalterlichen Zünfte — mit eigentümlichen 
Formeln und Sitten, die in allev wunderlichen Verſchnörkelung ehrwürdig find, 
weil in ihnen die Ehre und Würde der Arbeit, auch der äußerlich noch fo ge: 
ringen, zum Ausdruck kommt Das Wort Luthers, daß die Magd, welche die 
Straße fehrt, wenn fie es im rechten Sinne thue, Gottesdienft übe, ift aus der 
tiefiten Seele des deutſchen Volkes geiprochen. Wie verjchieden ift das von der 
Schäßung der Arbeit im klaſſiſchen Altertum! Denn feinen großen Dentern 
ichien nur in der aller äußeren Notwendigkeit enthobenen PBethätigung, der 
freien Muße, ein menichenwürdiges Dajein erreichbar; „wer ein Handwerker: 
(eben führt, der kann nicht Werke dev Tugend verrichten”, jo meinte der große 
Aristoteles. Nur weil das deutiche Volk anders über die Arbeit dachte, Eonnte 
es in ihr einen feiten Dalt im Leben und einen Troft in ſchweren Zeiten finden. 


Rudolf Euden, Die meltgefchichtliche Aufgabe des deutſchen Geiſtes. 97 


Auch ift mit jener Schätzung der Arbeit aufs Engfte verbunden die Gewiſſen— 
haftigfeitt der Arbeit, die viel gerühmte „Gründlichkeit". Nur wer das Kleine 
achtet, kann jene Eigenichaften entwideln; das Kleine, ſcheinbar Verſchwindende 
aber wird nur achten, wen die Arbeit ſelbſt wertvoll, ja heilig it. So bezeugt 
die Größe der deutschen Arbeit unmittelbar die Tiefe der deutichen Seele; daß 
aber die Arbeit ohne die Kraft des Geiſtes nicht hätte neue Bahnen einjchlagen 
und ind Große wirken können, das iſt ohne Grörterung einleucdhtend. 

Nicht Fo einleuchtend ift von vornherein, daß die Entwidlung eines Reichs 
der Innerlichfeit nur zufammen mit kräftiger Arbeit zur fichtbaren Welt gelingen 
kann. Und doch ift auch dieſes zuverfichtlich zu behaupten. Allerdings bat bei 
den Deutihen nicht felten das Streben zur Innerlichkeit geglaubt alle Beziehungen 
ur fihtbaren Welt löjen und völlig eigne Wege einschlagen zu fünnen, aber 
es it ſolches Unternehmen nicht nur auf wachſenden Widerſpruch von außen 
geitoßen, es hat auch bei fich jelbft nicht vecht gelingen wollen. Ohne ein ener: 
ches Ringen mit der Außenwelt erlangt das Innenleben feine volle Kraft und 
Stärke, es bleibt zu ſehr eine Sache bloßer Gefühle, Stimmungen, Begriffe 
itatt den ganzen Menjchen an fich zu ziehen und die Tiefe feiner Gejinnung zu 
gewinnen; die erſtrebte Innenwelt droht unwahr zu werden, wenn fie nicht immer 
von neuem dem fichtbaren Dafein abgerungen wird. Auch wird fich die Inner— 
lichkeit zu einer zufammenhängenden Innenwelt nur entwideln Eönnen bei unab— 
läffiger Beziehung, Prüfung, Daritellung in der ſichtbaren Welt; ohne dies ift 
die Bewegung zur Innerlichkeit ftet3 in Gefahr fich ins Phantaftiiche und Form: 
(ofe zu verlieren. Beſſer als lange Erörterungen zeigen Beilpiele, wie wichtig die 
Bahrung des Zufammenhanges mit jener Welt auch für das innere Bauen und 
Schaffen ift. Wir verehren Kant als den größten Denker, Goethe ald den größten 
Dieter der Deutichen. Nun wohl, hatten beide Männer eine weltfremde Art, 
war ihnen die Arbeit der Umgebung gleichgültig, war die anichauliche Welt ihrem 
Blid entichwunden? Sie ftanden beide nidyt im Lärm und Getriebe der Geichäfte, 
he bedurften einer Zurüdgezogenheit und vubigen Stille, um das große Wert 
ihres Lebens zu verrichten. Aber weil fie in jolcher Stille ichufen, waren fie 
durchaus feine bloßen Stubenmenichen, vielmehr waren ihnen die Eindrüde und 
die Erfahrungen der Weltinngebung mit lebhafteiter Friſche gegenwärtig, ftanden 
fie bei aller Erhebung über die Zeit zugleich mitten in der Zeit. Bei Goethe 
zweifeln wir daran feinen Augenblid. Aber aud der große Philoſoph' hatte zu 
jeiner Zeit und jeiner Umgebung weit engere Beziehungen als der erſte Eindrud 
jeiner Schriften verrät. Eben die neueiten Forschungen haben deutlich heraus 
geitellt, mit welchem Ernſt und Eifer er die ſchöne Litteratur feiner Zeit verfolgte; 
jeine Sympathien für den amerifanifchen Unabhängigkeitstrieg wie für die An- 
fänge der franzöfifchen Revolution find bekannt, ebenjo feine Teilnahme für die 
Reformen des Unterrichtsweſens; alle wifjenichaftliche Arbeit entfrenidete ihn nicht 


8 Rudolf Enden, Die meltgefchichtlihe Aufgabe des deutfchen Geiſtes. 


dem gefjellfchaftlichen und freundfchaftlichen Verkehr, unter feinen Freunden aber 
ftanden obenan Männer der Praris, Kaufleute, Bankdirektoren u. a. 

Sollte folches perfönliche Verhalten der großen Geifter niht auch einen 
notivendigen Zufammenhang der verichiedenen Lebensgebiete bezeugen, beftätigt 
es nicht die Behauptung, daß die Innerlichkeit ſelbſt ihre volle Kraft und Klarheit 
nur findet bei lebendiger Vergegenwärtigung der Außenwelt und der ihr zuge 
wandten Arbeit? 

So verlaufen die beiden Bewegungen, weldye das deutiche Leben umſchließt, 
feineswegs gleichgültig neben einander, fie jind darauf angewiejen, ſich gegenfeitig 
zu Suchen und einander zu ergänzen. Erſt im Zuſammenwirken beider erreicht 
das deutiche Streben feine volle Höhe. Nur indem innerhalb Eines umfaſſenden 
Lebenskreifes das Aeußere durch das Innere bejeelt, das Innere durch das Aeußere 
gefräftigt wird, erlangt das Thun eine volle Selbitändigkeit, kann der Menich 
den Kampf mit dem Ganzen der Welt aufnehmen, Tann er feine eigne Stellung 
im Ganzen der Wirklichkeit aufzuklären ſuchen. Won beiden Seiten Kräfte ſam— 
melnd, Eann er den unmittelbaren Eindrüden freier entgegentreten und fie ener- 
giicher umwandeln, kann er die Mannigfaltigkeit jtärker zur Einheit verbinden, 
fanıı er aus der Fülle dev Erfahrungen und Leiftungen bleibende und vein 
menjchliche Güter herausarbeiten, fann er in allem Thun fein eignes Wejen 
bilden und feit auf dieſem Weſen jtehen. 

Wie daraus eine durchaus eigentümliche Geftaltung des Lebens hervorgeht, 
zeigt ſich deutlich bei einer Wendung zu den einzelnen Dauptgebieten. So im 
beiondern beim Verhältniß des Deutfchen zur Neligion, das fremden Völkern ort 
faum verftändlich iſt. Deutichland it das Land der Neformation und die Heimat 
der Eritiichen Theologie, auf feine Art der Freiheit it dev Deutſche mehr bedacht 
als auf eine Freiheit in religiöfen Dingen; auch der deutiche Katholik ericheint 
dem fremden leicht als einer, der jich die religiöfe Wahrbeit zu ſelbſtändig und 
jubjektiv zurechtlegt. Wegen folder freieren Behandlung der Religion jind die 
Deutjchen von draußen ber oft getadelt und als ungläubig angegriffen. Aber es 
iſt jene Freiheit nur die Folge jener Wendung der Religion ins innere und Ganze 
des Menſchen, wie fie der eben gejchilderten allgemeinen Art entipricht. Und jene 
Begründung im Innern erklärt wieder den großen Ernſt und den gewaltigen 
Eifer, mit dem dev Deutiche diefe Probleme behandelt. Frivolität erträgt er in diefen 
Dingen niit. Selbit wo er ſich zu einer Berneinung getrieben fühlt, pflegt er ſo 
viel Wärme der Gefinnung in fie hineinzulegen, daß der Unglaube jelbit zu einer 
Art von Glauben wird. Wer nicht auf die äußere Erjcheinung, jondern auf das 
Weſen der Sache ftebt, der wird nicht leugnen, daß in Deutichland die Religion 
auch heute eine große Macht behauptet. Fremde pflegen dies jtärfer zu empfinden 
als die Deutichen felbit. Die grundverfchiedene Stimmung beim Gottesdienit 
im Kölner Dom und in den Barifer Kirchen bat mir einmal ein dänijcher Theolog 


Rudolf Erden, Die mweltgeichichtliche Aufgabe des deutichen Geiftes. 3) 


in lebhaften Farben geichildert. Und gerade eben lief durch die Zeitungen eine 
Aeußerung des Bilhof3 Bonomelli von Gremona über den Eindrud, den er 
gelegentlich einer Reiſe in Deutichland vom dortigen religiöfen Leben empfing 
Es beißt dabei, „daß das religiöfe Gefühl des deutjchen Volkes tiefer und nach— 
haltiger it ald das, was man in Frankreich gewahrt, viel mächtiger aber, als 
wir es in Italien kennen." — Und dieſes fo in feiner Neligiofität anerkannte 
Volk it zugleich der Träger jelbitändigen Denkens, freieiter Forſchung aud in 
religiöfen Dingen. 

Das Streben nad geiftiger Selbjtändigfeit und innerer Klärung macht 
auch die Philvjophie zu einem Grundbeftandteil des deutfchen Lebens. Der Trieb 
zur Bhilojophie mag fi in den meltumfpannenden Syitemen der Denker am 
glänzenditen entfalten, er reicht weit darüber hinaus, er hindert den Deutjchen 
durchgängig, den einzelnen Fall nach dem unmittelbaren Eindruck binzunehmen 
und lediglich nad) der individuellen Lage zu behandeln, er zwingt, überall Ber- 
fettungen zu juchen, das Handeln unter Ideen und Principien zu ftellen, die 
Erfahrungen des befonderen Gebietes zu MWelterfahrungen zu erweitern. Aud) 
der deutiche Praktiker bat oft eine, wenn auch nicht technifch durchgebildete, fo 
doch in charafterijtiichen Zügen entworfene Weltanjchauung. Die frühere idea- 
liſtiſche Philoſophie wird jett oft abgelehnt, teils aus Mißverftändnis, teild aber 
auch aus guten Gründen. Aber jene Philojophie war nur eine befondere Art 
der Philojophie; auch was in Deutichland an realiftiichen Bewegungen Macht 
gewann, ſtrebte ſich zu emer Bhilofophie zu erweitern. Die urſprünglich rein 
natımmiffenschaftlih angelegte Entwidlungslehre ift in Deutjchland alsbald zu 
einer Philofophie geworden, und auch der Sozialismus hat fich nirgends mehr 
als in Deutichland zu einer Welt- und Lebensanihauung geitaltet. 

Eine philofophiiche Art hat weiterhin auch das litterarifche und künſtleriſche 
Schaffen der Deutichen. Denn aud bier waltet die Neigung, das einzelne Werk 
aus einer Gejfamtüberzeugung zu entwideln, dieje in ihm zu verkörpern, mit 
ibm für ihre Wahrheit zu kämpfen. So vor allem bei unſeren klaſſiſchen Dichtern, 
jo aber auch über fie hinaus bis in die Gegenwart hinein. Auch von unferen 
Dihtern her ließe fid) eine Art Geſchichte der Philoſophie entwerfen. Und zeigt 
nicht ein Mann wie Richard Wagner, wie ſich bei und mit urfprünglichitem künſt— 
feriihen Schaffen eine hochentwidelte Gedanfenarbeit zu verbinden vermag? 

Nirgends vielleicht ift die eigentümlich deutfche Art mit ihrer Wechjelwirtung 
von Arbeit und Seele ausgeprägter als auf dem Gebiet der Erziehung. Seit 
dem Beginn der Neuzeit jtanden hier die Deutjchen voran. Denn mögen die 
anderen Völker noch jo jchäßbare Anregungen geboten haben, die volle Durd): 
arbeitung und die Verbindung zu einem Ganzen erfolgte bei und. Die Reform 
der Erziehung war es, zu der wir in den ſchwerſten Zeiten als zur wirkfjamften 
Hülfe Hüchteten, Tolche Arbeit haben wir inmitten der Stürme des 30 jährigen 


30 Rudolf Euden, Die weltgeichichtliche Aufgabe des deutichen Geiſtes. 


Krieges mutig fortgeführt, auf fie hat Fichte in jeinen Reden an die deutiche 
Nation feine zuverlichtlihe Doffnung begründet. 

Die ragen der Erziehung und des Unterrichts haben neben denen der 
Religion bis zur Gegenwart am meiiten unſer Gemüt bewegt. Solde Schäßung 
fonnte die Erziehung nur erlangen bei einer tiefinnerlichen Faſſung ihrer Auf: 
gabe, bei einer Faſſung, wie jie ein Peſtalozzi zu muftergültigem Ausdrud bringt. 
Erziehen ift hier fein bloßes Bereiten für Zwecke des äußeren Lebens, es ijt ein 
inneres Erwecken und Stärken des Menſchen, eine „Dandbietung” (Peftaluzzt) 
für die aufitrebende Natur, ein Entiwideln aller Kräfte für den Zwed, ein 
ganzer Menſch zu fein. Gewiß hat das deutiche Unterrichtsweien bei Verfolgung 
jolcher Ziele oft zu fehr die unmittelbaren Bedürfnijje des praftiichen Lebens aus 
dem Auge verloren, im Großen und Ganzen aber war jene innere Bildung 
zugleich die beite Vorbereitung für das praftifche Leben, das ganz andere 
Forderungen an den Menichen zu ftellen pflegt, als auch die Flügfte Berechnung 
voraußfieht. 

Sp aufs innere und Neinmenschliche hätte ſich die Erziehung nicht richten 
fönnen, ohne die genaue Beachtung und liebevolle Schäßung des Kindes, welche 
die Deutichen auszeichnet. Micht nur ihre pädagogische Theorie, nicht nur die 
Kindergärten eines Fröbel bezeugen eine folche, könnten die Deutichen das 
Kinderipielzeug allen Völkern darbieten, wenn ihnen nicht die Kindesſeele be: 
jonders nahe ftünde? Mo hat die Märchenwelt und die Kinderpoeſie jo hervor: 
ragende Geiſter beichäftigt ‘denken wir nur an die Gebrüder Grimm), wo haben 
bedeutende Zeitfchriften, wie die „Deutiche Jugend“, fo ſehr die beiten Kräfte 
für die Aufgaben der Jugendlitteratur zu ſammeln geludt? Alle ſolche Be 
ftrebungen befunden die Thatjache, daß die deutiche Arbeit im Menfchen vor 
allem den Menſchen ſucht und fieht; jo greift fie tiefer zurüd in die Anfänge 
und will fie die Bildung ſchon im Werden erfaffen, fo wird ihr vieles wertvoll, 
was fonft ala Klein verachtet wird. 

Eine gleiche Geſinnung zeigt aud) die Ausbreitung der Arbeit nach außen. 
Bayle, jener geiftreiche Freund der Deutichen, meinte, es fehle ihnen un certain 
talent pour la bagatelle. Darin bat er Sicherlich recht, es gelingt uns nicht 
immer, das wirklich Kleine von dem zu unterjcheiden, was nur £lein jcheint, die 
Gefahr der Umſtändlichkeit, Schwerfälligkeit, Bedanterie liegt uns beſonders nahe. 
Aber diefer Fehler ift Schlieglih nur die Kehrſeite jenes für alle tüchtige Leiftung 
unentbehrlihen Ernftes, der die Schätung, welche dem Ganzen der Sache zu- 
fommt, über ihre ganze Breite ausdehnt und daher an jeder Stelle die ganze 
Neberzeugung, die ganze Berfönlichkeit einjeßt. 

An allen ſolchen Entfaltungen erweiſt und beftätigt jich eine charafteriftiiche 
Gejamtart der Deutihen; worin ihre Eigentümlichkeit und zugleich ihre welt- 
geichichtliche Aufgabe beiteht, darüber kann nun fein Zweifel mehr jein. Das 


Rudolf Enden, Die weltgefchichtliche Aufgabe des deutichen Geiſtes 31 


deutſche Bolt ift vor allem berufen, für eine Vertiefung und Bejeelung der 
Kultur zu wirken, ein Ganzes und Inneres des Menjchen zu entwideln und in 
aller Bethätigung nad) außen gegenwärtig zu halten, die Arbeit an der Welt 
intenfiv zu geftalten, in fie die Seele hineinzulegen und durd) fie die Seele zu 
ftärken. In diefem weiteren Sinne find und bleiben die Deutſchen die Vertreter 
der Innerlichkeit, auch wo ihr Wirken icheinbar nur nad außen gebt. 

Wie die Deutschen feit ihrem Eintritt in die Weltgefchichte ſich in dieſer 
Weife bethätigt haben, fo it auch heute die Sache nicht auf den bloßen Augen- 
blid geftellt; die Vergangenheit übermittelt uns ein reiches Erbe und erleichtert 
damit die Arbeit des Tages. Wir denken dabei nicht nur an die erziehende 
Arbeit der Dichter und Denker und an den Nachhall großer Thaten, wir denfen 
auh an das ftille Werk der Schule und Sitte, an die Macht eingewurzelter 
Ueberzeugungen und Wertichätungen, wir denken im bejonderen an die veiche 
Gedanfenmwelt, mit der und unjere durch mannigfache Schidjale hindurch zu 
einem wunderbar gefügigen Werkzeug tieffter Gedanfen und innerlichiter Gefühle 
geftaltete Sprache umfängt. Sie vollzieht an uns unabläflig ein Werk innerer 
Bildung; mit ihrem Reichtum und ihrer Innerlichkeit ift fie ein Gauptmittel, die 
geiitige Arbeit über alle Anterefjen des bloßen Tages und alle gemeine Nützlich— 
feit binauszubeben. Für die unmittelbare Wirkung im Zufammentreffen der 
Völker ift die engliihe Sprache mit ihrer Kürze, Faßlichkeit, Klarheit entjchieden 
im Vorteil. Aber bei aller Wendung zu einer inneren Bildung erfolgt eine Um: 
fehrung zu Gunften der deutichen Sprache. Sie jtellt uns für die inneren Er- 
lebniffe de3 Menfchen und für den Aufbau einer jelbitändigen Gedanfenwelt jo 
viel mehr Ausdrüde und Nüancen zur Berfügung, fie unterfcheidet das Ganze 
der geiftigen Arbeit jo viel deutlicher vom bloßen Alltagsleben, daß fie eine 
tete Aufforderung zu einer Verinnerlichung und Vergeiftigung unferes Daſeins 
enthält. Daß die deutiche Sprache ein Stück der Weltkultur werde und bleibe, 
das ift nicht blos eine Angelegenheit der Deutfchen, das ift eine Angelegenheit 
der ganzen Menfchheit, der damit ein unentbehrliher Schat innerer Kultur 
zuſtrömt. Oft genug haben hervorragende Engländer und Amerikaner befannt, 
wie viel innere Erweiterung und Befreiung ihnen das Vertrautwerden mit der 
deutihen Sprade, die Möglichkeit eines Denkens in deuticher Sprade brachte. 

In dem allen iſt das deutſche Wejen fich jelbit ein deal, es muß immer 
von neuem errungen werden, auch empfängt es im Lauf der Zeit immer neue 
Aufgaben. So Steht es namentlich in der Gegenwart vor neuen Problemen, 
welche die ganze Menjchheit angehen, kein Volk aber mehr treffen als das unjere. 
Das 19. Kahrhundert hat uns nicht nur das Bild der Außenwelt viel eindring: 
fiher, ed hat und aud das Wirken zur Außenwelt weit bedeutender gemadht; 
immer mehr bat die Arbeit ſich ins Technifche geitaltet und ſich zugleich zu 
immer größeren Rompleren zufammengeichlofien, jie umfängt durch ihre 


39 Rudolf Euden, Die meltgejchichtliche Aufgabe des deutſchen Geiſtes. 


Mafchinenbetriebe das Individuum mit ‚überwältigender Macht, fie droht den 
Menſchen zu einem bloßen Mittel und Werkzeug eines raſtlos forteilenden 
Kulturprozeſſes herabzudrücken. So wird die Selbitändigfeit des Innenlebens 
bedroht, die Perjönlichkeit geſchwächt, die Seele gefährdet. Aber die Seele mit 
ihrem Verlangen nach Befriedigung und Glüd ift da und läßt fich nicht einfad 
auschalten; aud wirken jahrtaufendlange Erfahrungen und Entwidelungen in 
ihr fort und laffen jie jener Zurüddrängung bartnädig wideritehen. So gerät 
da8 Ganze umferer geiltigen Yage ins Unfichere; indem alte deale erjchüttert, 
neue noch nicht genügend befeftigt find, ericheinen Probleme über Problemen, 
es fehlen gemeinjame Ziele und Wertichäßgungen, an allen Hauptpuntten empfinden 
wir peinlich eine große Uinfertigkeit. Dem ungebeuren Yebensdrange mit feinem 
Egoismus der Individuen wie auch der Nationen fehlt das Gegengewicht Täutern- 
der und veredelnder ethiſcher Mächte; alle emfige Arbeit der Wiffenfchaft kanr. 
nicht eine wachlende Unficherheit über unfer Grundverbältnis zur Wirklichfeii 
verdeden; dem litterariichen Schaffen fehlt eine ind Große und Weſenh ifte 
hebende Lebensanjchauung; wie viel Probleme aber heute die Neligion enthält 
und wie es fie mit zwingender Gewalt über die jeßige Verworrenheit hinaus: 
treibt, daS habe ich joeben in einem größeren Werfe „Der Wahrheitögehalt der 
Religion” (Veit & Comp.) näher dargelegt. 

Alle diefe Fragen find viel zu dringlid, als daß fie ſich ohne ſchwerſten 
Nachteil noch länger zurüdichieben liegen, jie müfjen aufgenommen werden, fie 
werden ficherlich bald in den Vordergrund des Lebens treten. Nun find fie keines- 
weg‘ Sache eines einzelnen Volkes, jie gehören dem Ganzen der Menjchheit umd 
wollen von diefem Ganzen betrieben fein. So jehen wir in Wahrheit in den 
verjchiedenften Ländern bedeutende Perjönlichkeiten in jener Richtung thätig. Aber 
es bleibt zugleich überaus wichtig, wenn ſich in einer befonderen Volksart ein 
Grundſtock entgegenfommender Ueberzeugungen und Wertihägungen gebildet hat, 
wenn bier durch eine reiche Geſchichte eine entiprechende geiftige Atmofphäre ge: 
ichaffen und ein gemeinfamer Boden bereitet it, auf dem ſich die Beftrebungen 
nad jener Richtung zufammenfinden und zur Wirkung vereinen Eönnen. 

An dieſem allen kann die deutjche Art eben jett der Menjchheit befonders 
viel fein, weil das dringendfte Problem der Gegenwart, der Kampf um eine Seele 
des Lebens, ihr von Alters her innewohnt und für fie ein Hauptftüd ihrer Selbit- 
erhaltung bildet. Für uns it eine zwingende Notwendigkeit, was den meiften 
Anderen eine Beihäftigung neben anderen bedeutet. 

Aber vergeffen wir nie, daß wir die Höhe unjerer eigenen Art immer erft 
wieder in energifcher Anftrengung zu finden haben, und daß wir unjer Eigentüm- 
liches nur fiegreich behaupten können, wenn mir uns untereinander zufammen- 
finden, wenn im bejonderen die beiden Hauptrihtungen unferes Lebens: die 
Bewegung zur fihtbaren Welt und die Entwidlung eines Reiches der Innerlichkeit, 


Rudolf Euden, Die weltgefchichtliche Aufgabe des deutfchen Geiſtes. 33 


nicht gegen einander, jondern zu einander ftreben. Auch der Praktiker wirkt für 
die Macht des deutichen Geiftes, auch der Forfcher und Künftler für die Welt: 
itellung des deutſchen Volkes; jchließlich bedarf jeder des anderen; fuchen wir aljo 
ung immer mehr gegenfeitig zu veritehen, von einander zu lernen und durcheinander 
zu wachlen. Hoffen wir, daß das neue litterarische Unternehmen diejer Zeitjchrift, 
indem es die verjchiedenen Kräfte einander näher bringt, der wichtigen, ja notwen— 
digen Zufammenfafjung deutjchen Lebens wertvolle Dienite leifte. 

Ein leuchtendes Vorbild für ſolches Streben nad) innerer Solidarität fann 
uns unfer größter Dichter jein. Niemand hat mehr ald Goethe für die innere 
Kultur der Deutſchen gethan, und zugleid hat er die jchon beginnende Wendung 
zu einem mehr praftiichen und technijchen Yeben mit inniger freude begrüßt. In 
den Gefprähen mit Edermann, diefem Vermächtnis an die Menjchheit wie an 
jein Bolf, wünjcht er den Deutjchen „weniger Philvjophie und mehr Thatkraft, 
weniger Theorie und mehr Praris", wobei ihm bei Philvjophie und Theorie die 
ältere, enge Faſſung der bloßen Spekulation vorfchwebt. Wie hoch muß er von 
der Anregungsfraft des Meeres denken, wenn er „alle Inſulaner und Meer- 
anwohner des gemäßigten Klimas bei weiten für produftiver und thatkräftiger 
hielt al3 die Bölfer im Innern großer Kontinente”. Nichts ift aber bezeicdynender 
für die Berührung der beiden Welten in jeiner Perſönlichkeit, als daß der Ab- 
ſchluß feines größten Yebenswerfes, des Fauſt, in direkter Beziehung zu dem 
Bremerhavener Hafenbau fteht, jener genialen Schöpfung des Bürgermeifters 
Smidt, deſſen Perjönlichkeit jelbjt die Bereinbarkeit einer idealen Denkweiſe mit 
höchſter praftifcher Tüchtigkeit in glänzender Weife dartdut. Denn wie Edermanı 
im Februar 1829 Goethe „von Karten und Plänen in Bezug auf den Bremer 
Dafenbau umringt fand, für weldes großartige Unternehmen er ein bejonderes 
Intereſſe zeigte”, jo kaun fein Zweifel darüber fein, daß auf diefe Anregung hin 
das Bild der produftiven Arbeit entworfen ift, bei der Fauſt nad) allen Stürmen 
und Wandlungen des Lebens feine Befriedigung findet. Reichen fich hier nicht 
das alte und das neue Deutichland die Hand zum Bunde? Und bildet dieje ab- 
ichließende Ueberzeugung unjeres größten Dichters nicht ein gutes Vorzeichen für 
das Streben, Altes und Neues mit einander fejtzuhalten, die Gegenfäße in unjerer 
Natur zu gegenfeitiger (Förderung zu verbinden und jo der Weltaufgabe des deut: 
ichen Geiftes mit vereinter Kraft zu dienen? 


© 





Meine Kämpfe in Oitafrika. 


Den 
Dermann von Wissmann. 


I. 
Das Gefecht am Kilima-Ndſcharo. 


I dem Gebiet des Kilima-Ndſcharo hatte ich, nachdem ich den nördlichen 
Teil der Hüfte unterworfen hatte, einen Mann geichidt, der nicht als Soldat, 
jondern als politiicher Agent die Freundichaft der Deutjchen mit dem uns feit 
„jahren befreundeten Häuptling Mandara wieder anknüpfen und mir über die 
Berhältniffe dort oben unausgeſetzt Bericht eritatten follte. 

Bevor ich das Kommiſſariat an den erften Givilgouverneur abgab, war id 
gezwungen, nod einen Zug nach dem Gebiet des Kilima-Ndſcharo zu unter: 
nehmen, da mir mein Agent von der Unbotmäßigkeit befuonders eines Häuptlings, 
mit Namen Sinna, der über die Wakiboſcho herricht, und der auch häufig den 
und befreundeten Mandara, dent er an Macht weit überlegen war, bedrohte, 
Bericht Tandte. 

Ich ging mit drei Hompagnieen und einem Trupp ausgefuchter Träger von 
Pangani ab. Beim Ausichiffen der Truppe in Pangani vor der PBarre des 
Fluſſes Eenterte leider ein Boot und es ertranf ein Unteroffizier und fünf meiner 
alten Sudaneſen. Auch ich war dicht daran, an diefer Stelle umzuſchlagen, die 
außerordentlich gefährlich ift, tweil der hier den größten Teil des Jahres ftehende 
Schwell der Monfume ſich auf der flachen Barre bricht und eine furchtbare 
Brandung bildet. Faſt 100 m weit laufen die weißen Wände einer jeden bran- 
denden Woge umd oft in der Höhe von 2 m, fodah fie ein Boot erreichend, das 
nicht mit dem jcharfen Bug in fie hineingewendet das brandende Waſſer teilt, 
vollichlagen und zum Sinken bringen. 

Nach einer Furzen, aber nachhaltigen Belehrung der wilden Sogonoi-Maſſai, 
die jedoch im Kampfe gegen eine Truppe mit Ointerladern kaum Feinde genannt 
werden können, da fie feine Fernwaffen führen, jondern ihren Gegnern mit den 
hellebardenartigen, jchweren Speeren zu Leibe gehen müjjen, eine Aufgabe, die 
einer gut bewaffneten Truppe gegenüber fajt ein Ding der Unmöglichkeit it, ge— 
langten wir auf die weiten Vorebenen des Kilima-Ndfcharo. 

Prachtvolle Jagdtage verkürzten uns die Zeit; jo kehrten wir befonders am 
Tage der Geburtstagsfeier unferes Kaiſers — natürlich einem Nuhetage — alle 


- 


Dermann von Wißmann, Das Gefecht am Kilima-Noſcharo. 35 


gegen Mittag mit reicher Jagdbeute beladen und nun ſelbſtverſtändlich in einer 
wahren Feititimmung zurüd. 

Die Station, die mein Agent in Mofchi, dicht bei dem Hauptdorf Mandara's 
gebaut hatte, mußte von militärischen Gefichtspunften aus, da ich fie von nun 
bejegen wollte, durchaus umgebaut werden. Aber vorher mußte ich mit dem 
Däuptling Sinna Rechnung halten. Er pocdte jo auf jene Macht, und war fo 
allgemein gefürchtet, hielt fich für jo ficher in feinen labyrinthiſchen Befeitigungen, 
daß er unierer jpottete und uns auf unjere Forderungen nur höhnende Ant: 
worten jendete. 

Mit drei Kompagnieen und einigen hundert Sriegern, die mir Mandara zu 
ftellen hatte, Wadſchaga-Kriegern in ihrem jchönen Aufpuß, der auf Bildern meift 
nur den Maſſai zugejchrieben wird, zog id) aus. Trotzdem Sinna wußte, daß 
ich ihn zwingen wollte, fich zu unterwerfen und Buße zu zahlen für feine Ueber— 
griffe, traf ich mit meiner Spite in der Landichaft Kiboſcho für ihn ganz über- 
rajchend ein, wovon mid) das Schreien, die weit gellenden Warnungsrufe und 
Schüſſe von allen Seiten her belehrten. 

Die Hänge de3 mächtigen, alten, über 20000 Fuß hohen Bulfans, des 
Kilima-Ndſcharo, find immer nur ſtückweiſe bevölkert, dann aber äußerſt dicht. 
Die Eingeborenen laſſen dort, wo fie ſich niederlaflen, keinen Streifen Bodens 
unbenußt. Sie legen außerordentlich Eünftlihe Bewäfferungsfanäle an umd bauen 
Terraffen, die den meiſt aus vulkaniſchem Tuff beftehenden, guten Boden ab: 
halten, weggeſchwemmt zu werden. Auch ift bei allen diefen Stämmen eine aus- 
gedehnte Viehzucht vorhanden, und, fo wunderbar es flingen mag, dort weit im 
Innern Afrikas faſt ausſchließlich Stallfütterung. Die Hauptnahrungspflanze 
der Bewohner des Gebirges it die Banane. Jeder Bananenbaum trägt nur 
eine Frudt, dann wird er weggeichlagen und der nächſte Baum, aus Schöflingen, 
die am Fuße des vorigen entipringen, giebt im nächſten Jahre eine neue Frucht. 
Der faftige, grüne Bananenſtamm aber wird, in Schmale Scheiben gejchnitten, 
verfüttert und giebt den größten Teil des offenbar ausgezeichneten Viehfutters, 
denn alles Rindvieh, das ich dort oben jah, war glatt und fett und gab vor- 
trefflihe Mil, wenn auch nicht viel. Dieſe Eigenfchaft ift erit ein Erzeugnis 
langjähriger Zucht. 

Sp bat denn jeder diefer Stämme des Dſchagga-Volkes im Verhältnis zu 
feiner Kopfzahl nur einen Eleinen Bereich inne, hält ſich aber, wie häufig unfere 
Borfahren, ehe fie unter fräntiihem Scepter fultiviert wurden, eine Grenzwild- 
nis um fein Gebiet, die fein (fremder betreten darf. Ihre Dörfer, ihre Gärten, 
ihre Bananenkulturen und Felder find durch lebendige Heden, durch Pallifaden- 
didichte u. f. w. mit einem jchier undurchdringlichen Ringe eingefaßt, und nur 
wenige Pallifadenthore, die häufig im Zidzad führend ſo eng find, daß höchſtens 
nur ein Mann Hinter dem andern ſich hindurchdrängen kann, und die durd) 

gr 


36 Hermann von Wißmann, Das Gefecht am HilimaNdfcharo. 


Schießſcharten von allen Seiten noch bejonders gefichert find, führen in das 
eigentliche Gebiet de3 Stammes, alfo gewöhnlich in ein Gelände, in deſſen Mitte 
ein Komplex von großen Dörfern liegt, um die herum die vorbejchriebenen 
Pflanzungen fich hinziehen. 

Wenn auch nicht unbeobadıtet, jo waren wir doch unaufgehalten durch dieſe 
Pforten, die ich natürlich durdy Art und Spaten für uns erweitern ließ, hinein 
gedrungen in den eingehegten Gau der Wakiboſcho. Die Eingeborenen  eilten, 
. von allen Seiten flüchtend, jchreiend, johlend, Vieh vor ſich hertreibend nad) der 

Mitte des Gebietes, wo, wie wir wußten, das Dauptdorf, das Dorf Sinna’s, 
des Häuptlings des Stammes, lag. 

Bevor ich weiter erzähle, will ich verſuchen, diefes Dorf zu jchildern. Es 
lag, von tiefen Schluchten umgeben, die das von dem Schneehaupt des Gebirges 
herabrauſchende Wafjer gerifjen hatte, auf einer am Ende flachen Bergzunge. 
Auf dem Kamme derſelben Fam, von oben ber, forgfältig eingedämmt, ein Stanal 
herunter, der ſich durch das Dorf verteilte und in Gräben von großer Tiefe an 
verfchiedenen Stellen aufgefangen wurde. Das Dorf war durdy Gräben in viele 
Teile geteilt, die den ganzen Plaß in einem labyrinthifchen Gewirr durchzogen. 
Die Spannung der Grabenränder betrug durchſchnittlich 10 m, die Tiefe der 
Gräben — man denfe fich, welche ungeheure Arbeit zur Anlegung dieſer 
Gräben bei ihrer großen Ausdehnung und Zahl gehörte — 7 bis 10 m. Auf 
der Schmalen Sohle der Gräben lief gewöhnlich, wenn nicht Wafjer darin ftand, 
ein Fußpfad. Beide Ränder diefer Gräben, die ſie zum täglichen Verkehr mit 
langen Planfen überdedten, waren an Stellen, an denen die Nänder ſich bis auf 
6 m näberten, mit dreimannshohen undurddringlichen, ja undurchſehbaren Hecken 
eingefaßt, die fo dicht gewachfen waren, daß ein Durchdringen mit Art und Buſch— 
mefjer lange Zeit in Anfprud nahm. Tin diefem Gewirr von Heden und Gräben 
waren num wieder Eleinere Abteilungen von Dörfern gelegen, von doppelten und 
dreifachen Reihen von Pallifaden eingefaßt, und diefe jehr häufig von niedrig ge- 
baltenem Dornengebüſch umgeben, das ſich an die Pallifaden anlehnte und bis 
2 m vor dem Fuße derjelben fich ausdehnte. 

Die Eingänge zu diefen Eleinen Bomas inmitten des unentwirrbaren Irr— 
gartens waren ganz niedrige, enge PBallifadenthore, dte gerade hoch und breit genug 
waren, um das Kleine Vieh der Eingeborenen durchzulaffen, die aber der Mann 
nur gebüdt paſſiren konnte. Dieſe Thore waren zu tunnelartigen Gängen ins 
Innere verlängert, jo daß man mindeitens 10 m zwiſchen ca. 50 cm aus- 
einander ftehenden Ballifaden durchgehen mußte, bis man in den inneren Raum 
gelangte. Zu beiden Seiten diefes engen Ganges waren Schießſcharten oder 
Scharten für die Speere der Verteidiger frei gelaſſen. 

Das merkfwürdigfte aber an diefen ganzen wunderbaren Verteidigungsiyften 
twaren die Höhlen und unterirdiichen Gänge in Kiboſcho, von denen wir jchon 


Hermann von Wißmann, Das Gefecht am Kilima-Ndſcharo. 37 


lange hatten erzählen hören und die, wie wir bald erkannten, wirklich Hunderte 
von Metern unterirdifch fortführen mußten. Ich will vorgreifend erzählen, daß, 
ald wir die Eingeborenen am eriten Tage des Gefechtes — denn zwei Tage 
waren nötig, um dieſes Gewirr zu nehmen — aus den meilten Befejtigungen 
vertrieben und rings herum das Gelände inne hatten, ungefähr 800 m oberhalb 
de3 Dorfes ein großer Haufen Srieger erfchien, deren Aufitieg wir nicht geliehen 
hatten. Wir ſahen aber auf die Sohle der tiefen Gräben mündende Deffnungen 
von Höblengängen, durch die fie fi) und unbemerkt genähert hatten. Mehrfad 
hörten wir, wenn wir an dem Hand des Graben ftanden, aus ſolchen Deffnungen 
Sejchrei von Weibern und Kindern, von Ziegen und Schafen zu uns heraufichallen. 

Der Feind verfhwand in diefen Höhlen oft wie vom Boden verfchlungen 
und kehrte auch ebenjo fchnell zurüd, jobald wir den Rüden wandten. 

Zu alledem kam der Umftand, daß bis auf ganz kleine Pläße vor den 
Häuſern und einem einzigen größeren Plaß, den id) am erjten Tage zum Sam: 
meln meiner ganz verftreuten Truppe benutte und der fonft zu öffentlichen Ver— 
jammlungen diente, alles dicht mit Bananenbäumen beitanden war, jo daß das 
Ganze wie ein hellgrünes Bananendidicht ausfah, in dem die dunfeln Heden ſich 
in langen Reihen abzeichneten. — 

Wir marichierten zunächſt, nod nirgends angegriffen, von einem Manne ge: 
führt, der hier vertraut war, bis auf einen Bergrüden, der von dem eigentlichen 
Dorfe durch eine Schlucht getrennt war. Bier hatten die Wakibojcho einen neuen 
Kanal angelegt, der von oben herab der Rückenlinie des Höhenzuges folgte, aber 
oben offenbar noch nicht fertig war, denn er war leer und troden und fchien mir 
zu einem feiten Lager, dicht amı Dorf des Feindes gelegen, zu einem Stüßpunft, 
von dem aus ich operieren konnte, fehr geeignet. 

Sch machte bier Halt, ließ meine ganze Truppe in den Graben treten, 
Sicherung nach allen Seiten ausstellen und die Wadſchagga-Krieger hinter dem 
Dalbbugen, den der Graben bildete, in einer Senkung lagern. 

An der ganzen Mafle vorzugehen, wäre unmöglich gewefen, denn das ſahen 
wir Schon, hier fonnte nur im Gänſemarſch marjchiert und jelbft gefochten werden; 
wurden Doch ſpäter im Dorfe mehrfach Leute durch Speerftihe aus den Heden 
heraus, welche die engen Wege begrenzten, verwundet, ohne auch nur den Feind 
zu Geſicht zu befommen. 

In mehreren Abteilungen dirigierte ich meine Truppe jo, daß wir das Gen: 
trum, welches una bezeichnet wurde, das Gehöft des Sinna, wo auch eine rote 
Flagge wehte, zunächſt in der Mitte behielten, um dann, wenn die Truppen un— 
gefähr die ihnen angegebene Stellung erreicht hatten, ftrahlenförmig nach der 
Mitte vorzudringen. 

In dichten Bananenpflanzungen, die da8 Dorf umgaben, ftießen wir zuerit 
auf den Feind und erwiderten jein Feuer, jo gut es eben ging. Wir trieben 


38 Hermann von Wißmann, Das Gefecht am KilimaNdicharo. 


überall die einzeln und zeritreut fechtenden Leute vor uns ber und famen, fort: 
während einzeln, nad) vorwärts, rechts oder linf3 feuernd, in den Irrgarten hinein. 


Häufig entitand ein langer Halt, denn die Planfen, die über die Gräben 
geführt hatten, waren hinabgeworfen worden vder ganz verichwunden, und es 
mußten neue Mittel gefunden werden, um binüber zu fommen. Bier und da 
famen wir bis in die Gehöfte hinein und brannten diefe, um den Aufenthalt dort 
Ichwieriger zu machen, nieder. Oft mußten wir, und zwar meiſtens nad) der dicht 
vor uns liegenden Dedung, aus der wir Feuer erhielten, Salven abgeben, ohne 
auch nur den Feind zu jehen, doch waren diefe Salven von größerer Wirkung, 
al3 wir geglaubt hatten, denn der weiche Bananenftanım ift natürlich durchaus fein 
Hindernis für ein Geichoß. 

So zugen wir denn durchaus planlos — denn nur im allgemeinen konnten 
wir die Himmelsrichtung verfolgen — Ereuz und quer durch diefes Gewirr, bis 
ich endlich mit der Abteilung, die ich führte, jenen einen freien Plaß erreichte. 
An allen Stellen, die wir paffiert hatten, war der Feind wieder erfchienen; mehrfach 
hatten wir noch auf ihn feuern Eünnen, wenn wir ihn auf der Sohle der Gräben 
entlang laufend eben in einem Höhlenwege verfchwinden jahen. Einige Male 
mußte ich die Zulu, die ich bei mir hatte, abhalten, ja bejtrafen, weil fie auf ſich 
rettende Weiber und Kinder, die fich unten in den Gräben drängten, jchojfen. 
Bei einem Zulu kam ich leider zu fpät; er Schoß auf einen Mann, der, fein Kind 
in Arm, flüchtete, und erichoß das Kind. Ich Ichlug den Zulu zu Boden, in der 
Erregung des Mugenblid3 nicht bedenkend, daß diefe erſt jeit fo kurzer Zeit ae- 
zogenen Wildlinge in der Aufregung des Gefechtes noch nicht mit Ueberlegung 
bandelten. 

Auf dem freien Plage angekommen, gab id) jo lange Signale, bis ſich der 
größte Teil dev Truppe herangefunden hatte. Wir fanden jett den Eingang zu 
dem Gentralpunft des Plaßes, zu dem Gehöft Sinna’s, aber diefer war nod) viel 
fünftlicher befeftigt, al3 alles, was ich vorher beichrieben habe. 

Zwei Unteroffiziere wurden angeſchoſſen und auch mehrere Yeute, che es 
mir gelang, in die Berlängerung der Eingangsthüre das Geſchütz zu bringen. 
Aber die Granaten zeigten fid) den mächtigen Planken und Stämmen gegenüber 
durchaus wirkungslos. 

Der Abend fam herbei. Leberall, wo wir durchgezogen waren, war der 
Feind wieder wie aus dem Erdboden heraus erichienen und vor allem hatten jich 
auch die Leute Mandara’s, meine Wadjchagga, deren id; als Führer und Randes- 
kundige bier ſehr bedurfte, allmählich verfrümelt und waren ganz verichwunden. 
Sie hatten ſich unterdejfen wieder bei den Yenten, die ich zum Schuße des 
Lagers zurüdgelaffen hatte, eingefunden. Ich konnte in der Nacht hier nicht 
bleiben, denn von allen Seiten mußte ich aus nächlter Nähe Feuer erivarten. 


Hermann von Wißmann, Das Gefecht am Kilima-Ndſcharo. 39 


Ich beichluß deshalb, für diefen Tag nad) dem Lagerplag zurüdzugehen, um am 
nächſten Morgen das Gefecht von neuem aufzunehmen. 

Jubel, Hohngeichrei und Angriffe auf die legten Leute bei dem Gänſemarſch 
meined Abzuges folgte auf dem Rüdzug. Wir wurden, als wir die Hänge hinab- 
und den von uns bejetten Berg hinaufflommen, von allen Seiten aus den 
Bananendidungen beichofien. Am Yager angekommen, bemerften wir, daß einer 
meiner Offiziere, mein Better, mit nur 15 Mann noch fehlte. Nach circa einer 
halben Stunde hörten wir ein ſich näherndes Feuer und bemerften, wie an dem 
mit Bananen dicht bededten gegenfeitigen Hügel jich etwas herabzug. Es war 
mein Vetter mit feiner Truppe, der fich dem ihm dicht folgenden Feinde ſtets 
erwehren mußte. Jetzt lagen wir Europäer alle am Rand des Grabens im 
Anihlag, um feinen Rüdzug zu deden, und diejes Einzelfeuer belehrte die Ver— 
folger jo nachdrüdlich, daß die Entfernung für unfere Waffen nur gering fei, daß 
jie von der allerbedrohendjten Verfolgung in der Schlucht abitehen mußten. Eine 
große Anzahl der Verfolger blieb, von unſern Geſchoſſen getroffen, liegen. 

Yet war e3 dumfel geworden; wir lagen im Graben und verfuchten, jo 
gut e3 ging, bier die Nacht zuzubringen. Die Nacht war ſchön, Elar und warm. 
Bei völliger Dunkelheit verſuchten in der rechten und in der linfen Flanke noch 
Trupps einiger befunders unternehmender Wakiboſcho uns anzugreifen, wurden 
aber von den Kleinen Feldwachen, die ich nad) überall hin verteilt hatte, abge- 
wiejen. 

Da meine Boften ringsum feine Dedung hatten, mußten fie zu zweien mit 
Abftänden von 15 bis 20 m liegend ihre Zeit verbringen, denn nur jo wurden 
lie dem Feinde weniger jichtbar. 

Während der Nacht hörte ich mehrfach, bejonders an einer Stelle, wahr: 
iheinlich einem Hauptpunkt der boma, den wir niedergerijien hatten, Artjchläge; 
der Feind arbeitete aljo an der Wiederheritellung feiner Dinderniffe. Ich richtete 
nad) dem Gehör das maxim gun, gab ihm einen gewilfen Streuungsfegel und 
feuerte dorthin. Einige laute Aufichreie und das Berftummen des Arbeits 
geräufches zeigten, daß das Feuern nicht wirkungslos geweſen war. Noch dreimal 
in der Nacht machte ich jo Gebrauch von dein maxim gun, welches jich für jolche 
Zwede und auc zum Abftreuen dicht befetsten, uneinichbaren Bufchterrains außer: 
ordentlich eignet. 

Am nächſten Morgen ging der Tanz von neuem los. Set aber ging ich 
vorlichtiger vor. Ich mußte mir vor allem in dem Didicht eine Umficht ver: 
ihaffen. Syn einer langen Reihe klomm die Schüßenkette den Berg hinauf, ein 
Mann ftet3 fertig mit dem Gewehr zum Feuern, wenn ſich etwas zeigte, der 
andere mit dem Geitengewehr in der Hand, jeden Bananenbaum abfchneidend, 
um jo eine weite freie Oeffnung Hinter uns zu lafjen, die ein etwaiges Ber: 
folgen, wie geftern, fpäter unmöglich madıte. 


40 Hermann von Wißmann, Das Gefecht am Htlima-Ndfcharo. 


So ſchoſſen und arbeiteten fich meine Truppen langfam vorwärts und famen 
durch vorbereitetes, beſſeres Ueberbrüden der Gräben, Durchſchlagen der Heden 
auf große Breite, Niederrennen der Ballifaden unter dem Feuer anderer Ab: 
teilungen, bi an die boma Sinna's heran. Sekt war auch Raum geichaffen 
für das Geſchütz, und an einer anderen Stelle, die fih zum Einbruch befier 
eignete, wurde abwechielnd mit Granaten und mit Rammen gearbeitet, um die 
Dindernifje niederzulegen. 

Ich ſelbſt war mit einer Abteilung im Lager geblieben, um irgendivo, wo 
es not that, beſonders eingreifen, den Nüden der drei Trupps, die jett vorge: 
gangen waren, deden zu Eünnen und jie eventuell aufzunehmen. 

Nach heftigem Gefecht drang die Truppe in die Mitte ein und fand natür: 
lid) da8 Gehöft des Sinna ganz verlaffen. Einige Elefantenzähne, Waffen und 
große Trommeln murden herausgebradt. Schnell war das Haus Sinna’s an- 
geſteckt. Unſer Führer fam zum Glück nocd zur rechten Zeit an diefen Bunt, 
um alle Yeute aus dem Gehöft herauszurufen, — der Yeßte, der heraustrat, war 
der Führer diefer Abteilung, dev Dr. Bumiller, — gerade ald mitten zwiſchen den 
innerften Häufern, mit mächtigem, dumpfen Sinall, ein großer Teil der Hütten in 
die Luft flog, eine mächtige Feuerfäule hoch emporfchoß und eine tieffchwarze Wolfe 
aufſtieg. Bumiller wurde von dem Luftdrud eine ganze Strede zurüdgemworfen, 
jedoch nicht verleßt. Nur en Manı, den wir vermißten, ift wabrfcheinlich bei 
diefer Erplofion der Pulvervorräte Sinna's umgekommen. 

Diefe Gefchehnis war das Signal zum Aufgeben weiteren Kampfes für den 
Feind; jeßt wurde er überall flüchtig und jett hatten auch die mic; begleitenden 
Wadfchagga, die Krieger Mandara’s, wieder Mut befommen, kamen aus allen 
ihren Verſtecken hervor und ftürmten mit ihrem Kriegsgeheul in das Labyrinth. 

Da einmal der Feind verſchwunden war, dann aber auch die weitere Ver— 
folgung und das Eintreiben der Beute die Wadichagga beijer übernehmen Eunnten, 
jo 6lies ich zum Sammeln und ſah bald die Truppe, die wieder lange Stunden 
ſchwerer Arbeit und guten Fechtens hinter fich hatte, von allen Seiten zurüd- 
foınmen. Die Abteilung Bumiller’s hatte das Kerngehöft genommen und den 
Ausschlag gegeben zu jchnellerer Enticheidung und zur Ueberwindung des zähen 
Feindes. 

Unglaublich war die Menge des Viehs, welches die Gehöfte beherbergten. 
Ich zog jetzt, um meine eigenen Wadſchagga-Krieger zu überwachen und zu kon— 
trollieren, daß ſie die Beute nicht nach andern Stellen brachten, was bereits viel— 
fach geſchehen war, in das Dorf. Leider war ſehr viel Vieh von unſern Geſchoſſen 
getroffen, verwundet und verendet, aber immerhin blieben uns noch 4000 Stück 
Rindvieh, 5000 Schafe und Ziegen, einiges Elfenbein, Waffen, Trommeln und 
dergleichen an Beute. 

Mit dieſer für Afrika großen Beute zogen wir zurück und wurden natürlich 


Hermann von Wihmann, Das Gefecht am Kilima-Ndſcharo. 41 


mit großem Aubel von dem Bolt Mandara’3 empfangen. Auch er befam einen 
Teil dev Beute, 1500 Stück Rindvieh und 2000 Stüd Kleinvieh, das übrige er- 
hielt, nachdem für mehrere Tage die Truppe und die Krieger mit Fleiſch veriorgt 
worden waren, zum größten Teil meine Station. 

Peider verfiel nur wenige Wochen nad) dem Gefecht alles Bieh der Seuche, 
welche die ganze Kilima-Ndſcharo-Gegend, mit ihren Dunderttaufenden von Stüden 
Vieh, verheerte. 

Ich hatte während der zwei Tage des Gefechtes in der Truppe nur drei 
Tote und jiebenzehn Verwundete gehabt. Bon den Wadjchagga waren eine ganze 
Reihe verwundet und einige verſchwunden, von denen ich bis zu meinem Abmarich 
nicht feititellen £onnte, ob fie gefallen waren. Die VBerwundeten ließen fich jedod) 
nicht von unjerm Arzte behandeln, jondern machten ihre eigenen Kuren. 

Die Wafibofcho hatten gegen 200 Tote. — 

Erwähnen muß ich Schließlich noch einen für afrifanische Verhältnifie feltenen 
und erfreulichen NAusnahmefall. Zwei Tage nad) dem Gefecht — ich hatte zu Sinna 
hingefandt und ihm Sicherheit zugelagt, wenn er ſich unterwerfen wolle — erichien 
der Häuptling Sinna in der Station mit vier Unterhäuptlingen. Frei und furdhtlos 
ichritt er auf mid) zu, der ich mit meinen Offizieren zu feinem Empfang vor dem 
Haufe ſaß. Die Leute rannten ihre mächtigen Speere in den Boden, madıten 
ihren Salam und ließen mir jagen, ich ſei der Stärfere, fie unterwürfen fih. Sie 
brachten zum Zeichen dejien als Geſchenk Elfenbein, das ihnen nacdgetragen 
wurde, und jo viel Speere, daß jeder Europäer einen der fchönen Häuptlings: 
Ipcere zum Andenken an das Gefecht erhalten konnte. Mir felbit überreichte 
Sinna feinen wundervollen Speer, der gleichzeitig das Zeichen feiner Herrichaft, 
fein Scepter war. 

Seit jener Zeit hat Sinna ftetS auf unſerer Seite geitanden und gefochten. 
Selbit als der Sohn Mandara’s von uns abfiel, den Angriff unferer Schußtruppe 
blutig abichlug — es fielen ſogar zwei Offiziere bei dem Gefecht — war Simma 
unentwegt unſer treuer Bundesgenofle und it es bis heute geblieben. 


16 


Der Geilt, der über den Wailern ſchweht. 


Von 


Friedridı Raßel. 


II: fleines Buch „Das Meer als Duelle der Bölfergröße" hatte ich 
(1900) mit dem Gefühl abgeichloffen, daß das Tiefite und Größte, was vom 
Meere zu jagen wäre und was man von ihm jagen müßte, ganz unausge— 
jprochen geblieben war. Es war damals freilich darauf angefommen, die politiiche 
Seite zu zeigen, und diefe verträgt befanntlicd; nicht die Bermengung mit der all- 
gemein menfchlichen. Das Erfordernis der Stunde war die Betonung, Scharf wie 
ein MWedruf, der Notivendigkeit, daß unſere Nation einen größeren Anteil an der 
Veherrichung des Meeres gewinnen müſſe. Sie follte aus der Eontinentalen 
Enge eines kleinen, geihichtlich alten Erdteiles mit allen Kräften dorthin hinaus- 
jtreben, wo die Völker, wie die Einzelnen, mit dem eriten Mtemzug in reiner 
Brandungsluft Blick und Herz fich erweitern fühlen. Oder, um dasjelbe Be: 
dürfnis tiefer zu fallen: nicht auf die Dauer darf und kann der Zufall des Eon: 
tinentalen Wohnplages über die Stellung unferes Bolfes in der Welt enticheiden. 
ft nicht gerade das Meer, das keine Grenzen kennt und das feiner Macht zu 
eigen fein kann, dazu gejchaffen, einem Volke jeine wahre Deimat, die ganze 
Erde, zu zeigen und zu erfchließen? Diefen politifchen und wirtichaftlihen Nußen 
des Meeres Kar binzuftellen, erforderten alfo damals die Zeitverhältnifie. 

Ich wartete darauf, daß von ivgend einer Seite dann auch die Bedeutung 
des Meeres für die Seele eines Volkes gezeigt werde. Vielleicht war es 
icon geſchehen. Wie groß, aber auch wie verlodend ift doch die Aufgabe, ein- 
mal alle Beziehungen einer großen Naturerſcheinung zur Menfchbeit, die nicht, 
dem Nutzen angehören, treu darzuitellen! Man jollte meinen, in einer großen 
Pitteratur, wie der deutfchen, müßten dafür Schäße zu heben jein. Der lieder: 
fundige Herausgeber diefer Zeitichrift ließ damals ein Bändchen Gedichte „Zur 
See, mein Volk!" ericheinen, wo man die größten Namen und außerordentlich 
viel Schönes findet. Als er die Güte hatte, mir es zu ſchenken, ſchrieb ich ihm 
mein Eritaunen über die Armut an Neuerungen über die jeeliichen Wirkungen 
des Meeres. Wir ftimmten beide darin überein, daR, wo foviel über den praf: 
tiichen Nußen des Meeres geiprochen worden, der ideale Gewinn, den es aus- 
ftrahlt, jchlecht weggefommen war. Was wäre aber Eurzfichtiger, als das Meer 
tie ein Sohlenbergwerf zu behandeln, aus deſſen Tiefen man marktbare Mare 


Friedrich Natel, Der Geiſt, der über den Waſſern ſchwebt. 43 


in beliebiger Menge heraufholt, und ſonſt nichts? So mag dem Meere gegen: 
über der Fiſcher verfahren, für den ja die Meerestiefen auch nur ergiebige Schädhte 
iind. Aber die Beherrichung des Meeres muß geiftige Mächte in Bewegung 
jegen ımd an das, was am Meere geiltverwandt ift, muß jie daher auch an- 
fnüpfen können. Die ftarfen Derzen, die das Meer fordert, müflen ihre Kraft 
vom Meere jchöpfen; und ebenio die ſtarken Geifter. Venedigs Seeherrichaft 
war eine Zeit lang die vollfommenfte, die es gegeben hat, und fie berubte nicht 
bloß auf der Zahl der Galeeren; VBenedigs Gelehrte haben die Karte des Meeres 
verbejjert, Wenedigs Künſtler haben das Meer und die Luft, die darüber ſchimmert, 
jehen und malen gelehrt. In der Bermählung des Dogen mit der Adria liegt das 
Symbol diefer tieferen Beziehungen zwiichen dem Meer und feinem Volk. In 
noch viel größerem Maße ruht Englands Seebeherrihung nicht allein auf wirt: 
ihaftlichen und politifchen Leitungen, Die Erforſchung des Meeres und die 
fünftlerifche Darftellung desfelben, des Waſſers überhaupt, durch englijche Ent- 
deder, Foricher, Kartographen und Künftler find nicht die ſchwächſten Quadern in 
den Grumdmauern britiicher Seeherrſchaft. 

Aber das Alles hängt doc irgendwie noch mit dem „Nußenziehen“ zuſammen. 
Woran ich aber in dieſem Augenblid denke, das hat gar nichts mit irgend einem 
greifbaren oder fihtbaren Gewinn zu thun, der dem Meere abgerungen würde, 
und auch jogar nichts mit dem Verhältnis eines großen Dichter- oder Künſtler— 
geiftes zum Meere. E3 betrifft vielmehr eine ganz zurüdliegende, unſcheinbare 
Sache, die im Grund mächtig, aber doch jo wenig auffallend wie die Wiejen: 
blumen oder wie eine hingehauchte Wolfe ift. 

Ich meine die Beziehungen des Flüſſigen unferer Erde und befonders des 
Meeres zu jenen unverdroſſenen Berfuchen, das Ewige zu erfaſſen, die die 
Menihen zu allen Zeiten gewagt haben und wagen werden: im Ringen um 
Hot. Man künnte auch hier von einem Nuten fprechen, aber es handelt ſich 
dabei doch um viel mehr, als was wir mit diefen Worten zu bezeichnen pflegen. 
Worte höherer Art, nicht entweiht durch alltäglichen Gebraud, find am Platz, 
wo man von einer Naturericheinung jpricht, der von allen iwdiichen die ftärfite 
Kraft innewohnt, und mit jener Bewunderung und Ehrfurcht zu erfüllen, die 
Kant beim Aufblick zum gejtienten Himmel empfand. Bon. der Natur diejer 
Kraft möchte ich fprechen und nicht bloß ihre mögliche Leiſtung darlegen, die weit 
über die Kräfte jämtliher Wellen und Waflerfälle der Erde binausreicht, ſondern 
auch verfuchen, zu zeigen, dab die göttliche Seite, die jedes Naturding bat, ſich 
faum in einem ſo Elar bekundet, wie in dem mächtigen, Klaren, beweglichen, 
taufendgeftaltigen Waſſer. 

Hier liegt die Natur frei vor mir ausgebreitet. Ich muß nicht durch eine 
Schale oder Rinde von vielgeftaltigen Geſchöpfen durchdringen, wie auf der 
Wieſe oder im Wald, um zum Kern zu kommen. Die Pflanzen find Schön und 


44 Friedrich Nagel, Der Geift, der über den Waſſern fchmebt. 


ganz geeignet, und zu fejleln, aber ich möchte fie den Blafen vergleichen, die der 
Strom wirft. Der Strom felbit find fie nicht. Wenn id) die Größe der Natur 
ganz erfajjen und das, was darüber fein muß, voll empfinden will, dann find unter 
allen Ericheinungen der Natur die des Wafjers mir die nächſten umd nüßlichften. Die 
Schönheit im Einzelnen und den mannigfaltigen Neichtum zeigt allerdings die 
organiiche Welt beſſer.“ Aber die Vorftellung von einem Hohen hat eine breite 
Grundlage nötig, auf der jie jicher ruhen kann. Auch follte diefe Grundlage 
einfach fein. So it das Meer, das uns nichts zeigt als Waſſer, ebenes Wafler 
und Waffer zu Wellen erhoben, und die Wellen wieder in Waſſer zerrinnend, fo 
daß, mit demfelben Etoff und immer in denfelben Formen fich beichäftigend, unier 
Geiſt von Feiner fremden Erjcheinung abgezogen wird, die ein Recht für fich will, 
jondern ungeltört die einfache Größe der Natur in fi aufnehmen kann. 

Ich höre jagen: Im Bergleich mit der Stemenwelt bleibt die Welt des 
Waflers immer eine enge und begrenzte. Die wahre Schule des Erhabenen liegt 
doh in der Betrachtung „der Verknüpfung ins unendlich Große, einer Per: 
fnüpfung mit Sternen über Sternen, mit Welten über Welten, Syftemen über 
Syitemen” (Kant), Das mag fo jcheinen, wiewohl nicht alle Denker davon 
ducchdrungen find, und Sant jelbjt am Schluß der angeführten Stelle fagt: „Das 
Borftellen erliegt diefem Fortgehen ins Unermeßlich-Ferne, wo die fernite Welt 
immer noch eine fernere hat, die jo weit zurüdgeführte Bergangenheit immer nod 
eine weitere hinter jich; die noch fo weit hinausgeführte Zukunft immer noch eine 
weitere vor fich; der Gedanfe erliegt diefer Vorftellung des Unermeßlichen, wie 
ein Tram, daß einer einen langen Gang immer weiter und unabfehbar weiter 
fortgebe, ohne ein Ende abzuiehen, mit Fallen oder mit Schwindel endet." Kant 
will doch damit jagen, daß das Ende diefer Gedanfengänge, die aus einer un: 
möglichen Borftellung von der Unendlichkeit das Gefühl des Erhabenen gewinnen 
wollten, nichts als das Gefühl der Obnmadt jet. Ein anderer großer Denter, 
Degel, bat das „Ichale Erftaunen“ jener Nitronomen gegeißelt, die das Er: 
babene ihrer Wiffenichaft im Unermeßlichen der Zeiten und Räume fehen, jtatt 
im Maß und im Geſetz. Und im Grunde hatte ichon vor Beiden Albrecht von 
Haller in jeiner einft vielgerühmten, von Kant ſogenannten fchauderhaften Be- 
ichreibung der Ewigkeit das Nichtigfte gefagt, wenn er nad) jenen großen Worten 
„ich häufte ungeheure Zahlen, Gebürge Millionen auf, ich feße Zeit auf Zeit und 
Welt auf Welt zu Hauf“ mit dem Bekenntnis endigt, daß alle diefe Mühe für 
nicht3 war, denn es ift ja „alle Macht der Zahl, vermehrt zu taufendmalen noch 
nicht ein Teil von Dir: ich zieh fie ab, und Du liegjt ganz vor mir.“ Kommt 
man damit nicht auf die freilich durchaus nicht neue Erfahrung zurüd, daß die 
äußere Größe an fih gar nicht Gegenftand unferer Bewunderung fein fünne? 
Das ımendlich Kleine ift ebenfo bewundernswert wie das unendlich Große, umd 
es it es nicht minder das, was zwiſchen beiden liegt. Degel hat recht: das Er: 


Friedrich Natel, Der Geiſt, der über den Waſſern ſchwebt. 45 


habene liegt in den Gejegen der Natur; und jo wie diefe allwaltend find, ift 
die Natur überall erbaben. 

Aber jo groß ift allerdings umjere menichlihe Schwäche, daß wir dod) 
wenigitens die Anregungen unferer Sinne für das Erhabene im Weiten umd 
Großen zu gewinnen ftreben. Vor der Tiefe der Ewigkeit gejehen ift ein Tau— 
tropfen ein Meer, aber am Meere ftehen wir unmittelbar vor einer unabjehbaren 
Größe, während den Tautropfen wir erft durch große Ueberlegungen denfend in 
ein Meer vergrößern müſſen. Das alltägliche Leben drüdt uns immer wieder 
die Kleinen Maßitäbe in die Hand und gewöhnt unjere Augen an die Furzen Per- 
ipeftiven von einer Straßenede zur anderen. Wir mögen uns wohl beim Drehen 
einer Luftblafe auf der Oberfläche des wirbelnden Bades jagen: jo find die 
Wirbel, die eined Tages die Planeten in die Sonne ftürzen; es kommt endlich 
doch immer wieder bei unjeren beengten und bejchränften Sinnen auf die Um— 
itände an, unter denen wir an die Natur heranfommen. Wenn wir fie frei und 
friſch empfinden follen, ſoll kein Tele: noch Mikroſkop unfer Werkzeug fein müſſen, 
und wenn wir immer wieder zu ihr zurüdfehren jollen, möge ihre Erhabenheit 
nicht Einförmigfeit fein. Würden wir uns ethiſch gehoben fühlen, wo wir äfthe- 
tiich nicht angezogen oder nicht gefejlelt werden? Unſer Sinn für das Natur- 
ihöne ift ja freilich durd) eine Menge von Nebenvorftellungen bedingt, die mit 
der reinen Schönheit nichts zu thun haben. Aber welche Poeſie ſchied jemals die 
erfriichende Kühle einer Quelle mit ihren mwohlthuenden Erinnerungen aus der 
bewundernden Betrachtung ihrer Klarheit aus? Das Waſſer wird immer eine 
raſchwirkende Arzenei der Seele fein, weil es im Großen und Kleinen dasjelbe, 
ich immer gleiche ift. Und wie von der Duelle dev Bad) zum Strom und zum 
Meere hinwächſt, wachſen aud) unfere Gedanken vom Tautropfen zum Meere, 
und bleiben dabei ftromgleich doch in derjelben Bahn. 


= * 
* 


„Und der Geiſt ſchwebte über den Waſſern.“ Mögen ſich die Sprachkenner 
ihre Köpfe zerbrechen, ob es im hebräiſchen Urtert der Geneſis heißt: „ſchwebte“ 
oder „brütete”, und mögen fie das Brüten deuten auf einen Geift, deſſen Frittiche 
die Erde überichatten, oder ſich an das Weltenei erinnern, daß das Dervorgehen 
eines neuen Lebens aus zerbrehenden Schalen verfinnlihen will. Es bleibt der 
Beift und das Waifer, und der Geiſt über den Wafjern. Und da dies nicht 
das erſte Mal ift, daß uns das Wafler in den Gedanken der Völfer über die 
Schöpfung der Welt begegnet, jo dürfen wir wohl fragen: Warum jchwebt der 
ichaffende Geift über dem Wajfer? Und warum wird auch in anderen Welt: 
ihöpfungsgeihichten das Waſſer an den Anfang geftellt? In den Einzelheiten der 
Schöpfungsfagen liegt die Uebereinſtimmung nicht, fie liegt im Hervorſteigen der 
Erde aus dem Waſſer. Ob nun ein Mavrififcher ſie im Netz heranfzieht, oder 


4 Friedrich Nabel, Der Geiſt, der über den Waſſern fchmebt. 


nordamerikaniſchen Indianern ein Biber oder eine Mofchusratte den Erdenfloß im 
Munde bringt, oder ob das auf dem Meere ſchwimmende Weltenei ſich öffnet und 
die eriten, Ichon mit dem Kahn verjehenen Polynefier entläßt: das Waſſer und der 
ichaffende Geiſt find zuerft. Und wo eine Neufchöpfung der Erde nötig wird, 
weil die erite durch die fündigen Menfchen oder die boshaften Götter verdorben 
it, da fehren auch gleich die reinigenden Waflerfluten wieder. 

Der babyloniſche Sintflutbericht und feine Nachkommen, zu denen der 
bibliiche gehört, find erfüllt von der menjchenfeindlichen Macht des großen 
Waflers, das entfteht, wenn „die Himmel Berderben regnen”, der Peftgott die 
Wirbelwinde entfefjelt, der Gott Adar die Kanäle überftrömen läßt, die Götter 
des ıumterirdiichen Wafjers gewaltige Fluten heraufbringen, jo daß die Erde 
erzittert, ded3 SturmgottS Wogenfchtwall bis zum Himmel fteigt, und alles Licht 
in Finſternis verwandelt wird.*) Ob nun, wie Sueh mit vielem Scharffinn nad): 
zuweilen verfucht, eine Verbindung von Erdbebenfluten mit Wirbelftürmen die 
Berwüftungen bewirkte, die bier in fagenhafter Geftalt ericheinen, wiſſen wir 
nicht. Einzelne Züge der Erzählung mögen wohl einen derartigen Urſprung 
haben. Das Wefentlihe ift aber die Heberflutung der Erde, die aud der Kern 
zahlreicher anderer Leberlieferungen von offenbar ſehr hohem Alter ift, die wir 
bei vielen anderen Völkern in allen Teilen der Erde finden, am reichiten aus: 
gebildet und am weiteften verbreitet in Ozeanien und Amerika, weniger in Afrika. 
Wiederum, wie bei der erſten Schöpfung aus dem Waffer, ift die Hebereinftim- 
mung äußerer Züge überrafchend. An der deufalionifchen Flut der Griechen 
finden wir das rettende Fahrzeug, das Deufalion und Pyrrha auf den Barnaf 
trägt, wo es ftrandet, aud) die Edda kennt ein rettendes Boot, und in manden 
anderen Formen kehrt die Arche Noäh wieder. Die Mandanen im oberen 
Miſſourigebiet hatten ſogar nod) zur Zeit des Prinzen von Wied in jedem ihrer 
Dörfer ein faßähnliches Gebäude aus Holz aufgeftellt zur Erinnerung an die 
Rettung ihrer Ahnen in einem ähnlihen Bau, den fie vor der nahen Flut auf 
einem Berge errichtet hatten. Andere weltweit verbreitete Beftandteile der 
eslutfagen ift der Vogel, der das nahe Ebben verkündet. Die Taube mit dem 
Oelzweig wird. bei den Krih-Indianern zu einem großen Bogel, an deffen Fuß fich 
haltend die Ahnin des Stammes auf die Spige eines hohen Berges getragen wird, 
in einer auftralifchen Sage tft jie der Pelikan, der die Menfchen vor dem Ertrinfen 
rettet, und der auch auf den Andamanen den armen erften Menjchen Feuer bringt. 
Der den Feuerbrand vom Himmel bringende Eisvogel kehrt in dem Raben Jälch 
der Nordiweltamerifaner wieder, der überhaupt die Schöpfung vollendete, indem er 


*) Ich halte mich an die Haupt'ſche Ueberſetzung des 1872 von ©, Smith entdedten, in 
das zweite vorchrijtliche Jahrtaufend zurückreichenden chaldäifchen Berichts, der viel älter als 
der bibtifche ift. 


Friedrich Nabel, Der Geiſt, der über den Waflern ſchwebt. 47 


die von einem boshaften Geifte in einen dunkeln Kaſten geiperrte Sonne den 
Menichen brachte oder, nad) einer anderen Verſion, Feuer von einer Inſel im 
Weſten holte. In ähnlicher Weife ift auch der Delzweig, den Noahs Vogel im 
Schnabel trägt, nur ein Zweig von einem weltweit bekannten Baum, dev bald 
in Birma ein Mangobaum ift, auf den fid) der auf der Flut umbhertreibende 
Vater der Menſchen rettet, bald ein hundert Ellen hoher Tannenbaum, der die: 
jelbe Aufgabe bei den Odichibwäh Nordamerikas hat, bald auf Palau der Baum, 
an dem das rettende Floß befeftigt wird. 

Zum dritten Mal leuchtet das Meer in die Gedanfenwelt einfacher Völker 
herein, wo die große Frage Wohin? der Seelen der Abgeichiedenen fich vegt. 
Da fteigen am goldenen Abendhimmel die fagenreichen Toteninjeln auf, wohin 
die Seelen der Sonne folgen. Die Voritellung, daß die Sonne, die in das 
Meer binabfinft, ſich in ein anderes Yand begebe, ift bei Küften= und Inſelvölkern, 
die ein weiter Dorizont umfaßt, verbreitet. Man findet fie felten im Binnenland 
ımd dort mag fie wohl von ſeewärts gelegenen Orten bingetragen worden fein. 
Entweder liegt nım „das Land der Sonne”, wie die Palau-nfulaner ihr 
mythiſches Land nennen, ganz fern im Weften, wo die Sonne hinabiteigt, und 
wird dann als eine Inſel von großem Umfang gedacht, vder es foll gerade unter 
der Erde gelegen fein. Der Sonne muß man folgen, um dahin zu gelangen, denn 
wo fie ins Meer taucht, dort ift der Eingang. Darum zeigt man auf manchen der 
Inſeln Ozeaniens weit in das Meer voripringende Klippen, Landipigen, Felsvor- 
Iprünge, die der untergehenden Sonne zu gelegen find: von ihnen thaten die Seelen 
den Sprung ind Meer, um ins Jenſeits zu gelangen. Im Tonga-Archipel hatte 
jede einzelne Inſel einen ſolchen Sprungftein. Auf den Samoa-Inſeln ließ man 
mit jener fonderbaren Spitfindigkeit, die manchmal in der polyneſiſchen Mytho— 
logie bervortritt, die Seele alle Inſeln bis zur weftlichften Klippe durchwandern. 
Anderswo war die Mündung eines Baches ins Meer der Sammelplat der 
Seelen, die auf einem abſchüſſigen Korallenfels daneben ihre neuen, für die 
Reiſe beitimmten Gemwänder bleichten. 

An einigen Orten denkt man fich den Eingang in das Nenfeit ganz nahe, 
ſo daß die Seelen einfach binabfteigen, an andern haben fie eine ermiüdende 
Reiſe ſchwimmend zurüdzulegen, wieder an andern erwartet fie Kahn und 
Seelenferge. Daher der Kahn als Sarg vder Grabdenkfmal. Auf den Phi: 
lippinen waren die Geilter der Sklaven, die beim Begräbnis getötet wurden, 
dazu beitimmt, den Geelenfahn ins Jenſeits zu rudern. Verwandte Vor— 
tellungen begten einft auch europäiſche Völker: in der Bretagne zeigt man neben 
Kap Raz eine „Seelenbucht“, von der aus die Toten ihre Reife antreten. Für 
dieje Selten des Kontinents war Schon Britannien die Toteninfel. Prokop erzählt 
von ihnen: fie feien zwar den Franken untertvorfen, bezahlten aber, joweit fie 
der britannifchen Küfte gegenüber wohnen, keinen Tribut, da fie feit alter Zeit 


48 Friedrich Raßel, Der Geiſt, der über den Waſſern ſchwebt. 


die Pflicht hatten, die Seelen der Toten über zu fahren. Für die Kelten Jrlands 
it Flath Innis, eine weftlihe Wiederholung des grünen Erin, Totenland. 
Braude ih an die Inſeln der Seligen zu erinnern, wohin die Seelen der 
Griechen gingen, ehe die BVBorftellung vom Hades fich ausgebildet hatte? Ich 
möchte nur an zwei Züge der griechiſchen Sage erinnern: an die dicht an den 
Grenzen des Dunfeld wohnenden Hejperiden, die die Eöftlichen Mepfel behüten, 
und an die weitliche Inſel Erytbeia mit ihren Rindericharen. Der Garten der 
Deiperiden entipricht jo manchem andern Fruchtbaum mit goldenen Früchten am 
goldummvölkten Eingang zum Yande der Seligen, und auch die rötlichen Rinder: 
ſcharen find nicht neu: fie verfinnlichen das Not des Weſthimmels bei Sonnen: 
untergang. In Welt: und Südeuropa hat die meltweit verbreitete Sage von 
der Toteninfel Jich in fo mannigfaltigen Formen und Yagen entwidelt, dab man 
aud darin eine Wirkung des reihen Wechjels von Land, Inſeln und Meer zu 
erbliden meint. 

Die Nehnlichkeit des Dorizontes einer weiten Ebene mit dem des Meeres 
veranlaßte ähnliche Gedanken über die Sonne, die jenjeit3 der Ebene zu anderen 
Ebenen im Weften hinabjteigt, wie jie jenjeitS des Meeres zu weſtlichen Inſeln 
geht. Wo dann Gebirge den Dintergrund der Ebene bilden, find jie willkommen, 
um das Seelenland zu verbergen, das hinter ihnen liegt: fo in Zentralafien und 
Indien. Doc ſelbſt die Ehinefen Eennen Inſeln der Seligen. Aber um zum 
Meere zurüdzufehren: die Sonne verfinft nicht im Meere, um dort zu bleiben, 
fie ehrt jeden Tag verjüngt wieder: auf den Abend folgt der Morgen. So 
wird nım das Meer zur Yebensquelle. Die Lage diefer Duelle ift naturgemäß 
in manchen Füllen diefelbe wie die des Seelenlandes. Die Sage der Mohammedaner 
verjeßt fie an den Eingang zum Paradies. Aber andere Formen des Wajjers 
bieten fich hier dar, bejonders die erfriichende Qiuelle, die geheimnisvoll aus einer 
Höhle austritt, oder der See auf einem Berge; und nım liegt die Verbindung 
mit den Flüſſen nicht fern, die in diefem See oder in jener Quelle entfpringen, 
und wir kommen zu den Strömen des Paradiefes, die Fruchtbarkeit weit hinaus: 
tragen, und an deren Ufern hinab die erften Menjchen, die Haustiere, die Kultur: 
pflanzen ihren Weg in die tieferliegende Welt gemadjt haben. 


= * 
* 


Aus dieſen Stimmen der Vorzeit, die wie abgebrochene und verhallende 
Laute aus den Wäldern und von den Inſeln der „geſchichtsloſen“ Völker herüber— 
tönen, ſpricht uns, ſo ſeltſam im einzelnen ihr Sinn und ihre Einkleidung be— 
rühren mag, eine Grundverwandtſchaft des Naturgefühles wie etwas Altbekanntes, 
Altbefreundetes an. Iſt es nicht wunderbar, daß bei fo weit entlegenen Völkern 
und in den verfchtedeniten mythiichen Formen das Dervorgegangenfein der Erde 
aus dem Waffer der Grundgedanke ihrer Schöpfungsgeidichte it? Das ift wie 


Friedrich Ratzel, Der Geiſt, der über den Waſſern fchmwebt. 49 


eine wiſſenſchaftliche Wahrheit, auf die mit einer gewiſſen Notwendigkeit die 
Geiſter aller Denker, die ſich damit bejchäftigen, geführt werden. In beftimmten 
Bölferfreifen mag es auf Uebertragung zurüdführen, im ganzen ftehen wir hier 
doc vor einem jener elementaren Zujammenhänge, die unter den verfchiedeniten 
Bedingungen wiederfehren. Das Wajjer unferer Erde muß Eigenſchaften haben, 
die immer mit denjelben Lauten zum Menfchen jprechen. Allwirkſam ift in diefem 
Sinn die Einfachheit und Größe des flüffigen Elementes. Zu deren Er: 
faflung brauchte es feine Weltumfjegelungen und wiflenjchaftliche Ausrechnungen 
der Größe der Wafjerfläche. Für das gebildete Europa hatte erft Bude 1783, 
nad; Cooks Reifen, die den Stillen Ozean endlid; ald den wahren Großen Ozean 
ſicher nachgewieſen hatten, das Verhältnis des Waſſers zum Land auf der Erde 
durch das Zahlenverhältnis 1:3 feitgeitellt. Für die Völker der Hüften umd 
Imfeln, an deren Horizont immer und überall das Flimmern des Meeres ftand, 
war das Lebergewicht des Waſſers länaft feitgeftellt. 

Was lange vor aller Wiflenichaft Denker und Dichter der Naturvölker, 
beide noch unzertrennlich Eins, jahen, überdachten und überlieferten, das ift: das 
Waſſer it überall und immer dasjelbe. Das Land ift mannigfaltig und trägt 
noch Mannigfaltigeres. Das Einfache aber ift vor dem Mannigfaltigen da umd 
jo denken die Priefter der Welträtfel: Mus dem Waſſer ift das Land empor: 
geitiegen. Die Allgegenmwart des Waſſers machte einen mächtigen Eindrud auf diefe 
Beifter. Es fällt vor der großen Flut vom Himmel in wigwangroßen Tropfen“, 
e3 brauft aus dem Innern zerflüfteter Berge oder zeripaltenen Landes, ſchmelzender 
Schnee überflutet bi zu den Spigen der Tannen. Und nicht genug mit dem Waſſer, 
die ihm verwandten FFlüffigkeiten haben dieſelbe Gabe, die Erde zu ertränfen, 
vor allem das Blut von Riefen, aus deren Wunden es. ftromhaft quillt, oder 
von Schlangen, die ja ohnehin als „Regenichlangen‘ jo oft die vegenbringenden 
Wolken verfinnbildlihen. Auch die Schildfröte, die triefend aus dem Wafjer fteigt, 
oder deren braunes Schild gerade über den Waflerjpiegel, wie eine kleine Inſel, 
hervorragt, gehört in den Kreis von Vorftellungen und Dichtungen, die fich zu 
einer wahren mythologischen Philufophie des Flüffigen erweitert haben. Es giebt 
aber überhaupt nichts, was in diefen Erzeugniffen einer bald tief ahnenden und 
bald an der Oberfläche hinfpielenden Dichtungen nicht mit dem Wafler im Zu— 
ſammenhang ftünde. 

Gerade das ift eine wunderbare Eigenfchaft der Schöpfungs- und Flut— 
jagen und ſelbſt auch der Borftellungen von Toteninjeln der verfchiedenften 
Völker, daß ſie fich mit allen Elementen der übrigen Schöpfung in Verbindung 
jegen. Die Erde, die Sterne, die Welt unter der Erde, Inſeln, Flüffe, Quellen, 
Tiere jeder Art, beſonders Schlangen und Fiſche, die verjchiedeniten Pflanzen, 
bejonders große Bäume, hängen mit der Waſſerflut urjächlic zufammen. Darin 
liegt die Aynung der innigen Verknüpfung alles Feſten, alles Lebens mit dem 


50 Friedrich Nabel, Der Geiſt, ber über den Waſſern ſchwebt. 


Flüffigen, die felbjt in dem einfahen Naturmenſchen dur die allenthalben ſich 
wieberholende Berührung mit dem Flüffigen aufdämmerte. 

An allen rubenden Formen des Waſſers fehen wir die Klarheit eines 
Kryſtalls. Auch in manden bewegten kommt fie überrafchend zum Vorſchein. 
Im Meer, im See, im Fluß, und felbft in der leife aufwallenden Quelle liegt ein 
Kryſtall vor uns, in deffen Tiefe unfer Blid hinabtaudt, und defjen glatte, 
glänzende Fläche ihre Ueber: und Ummelt wiederjpiegelt. Auch ſtark bewegtes 
Waſſer wirkt fo, fo lange e8 ein Ganzes bleibt: eine mächtige Dünung, die lang- 
fam den Strand binanfchwillt, wobei fie immer dünner und durchfichtiger wird, 
eine Wafjermaffe, die fich über ein Felsriff hinabbiegt, ohne zu zerreißen, wirken 
wie geſchmolzenes Glas. In der ftarfen Spiegelung und dem ruhigen Glanz 
einer gebogenen Waflermafje liegt das Geheimnis der fchönen Wirkung der 
Nappes d’eau in der franzöfiihen Gartenfunft, in deren architektonische Grund: 
linien die Wafferlinien und flächen fich jo ſchön einfügen. Es ift aber etwas 
Tieferes. Wordsworth, auf deffen Dichtungen die Reflere der Seen und ftillen Flüffe 
des nordweftlichen Englands liegen, bat die Wirkungen diefer Eigenfchaften des 
Waſſers am beiten bezeichnet, ald er in jeinem faft vergejlenen „Führer dur 
das Seengebiet" Nordenglands jagte: „Wenn wir die unbewegte Wafjerflädhe 
betrachten, wird unſere Seele in Tiefen der Empfindung verfenkt, die uns fonft 
unzugänglid find. Was anders ift der Grund, ald daß bier nicht bloß der 
Himmel in die Erde herabfommt, fondern daß wir die Erde hauptfächlich durch 
dad Medium eines reinen Glementes betrachten?“ Plan Eönnte diefen Wert 
des flüffigen Kryſtalls in einer Kraft der Anfchauung fehen, wie fie aus der 
Berührung unferes Blides mit der Oberfläche der Dinge nicht hervorgehen kann. 
Gewiß zieht uns der Blid in ein Thal nad fich, auch felbft ein dunkler Wald- 
weg ſcheint in endlofe Fernen zu führen. Aber dem Allen ift einmal ein Ziel 
gefegt. Anders das Waſſer. Der Volksglaube giebt jedem See unergründliche 
Tiefe und läßt jede Duelle aus entlegenem Erdfpalt herrinnen. Daher ließ er 
hervorbrechende Waflermaffen die ganze Erde überfluten; denn der Wafjervorrat 
des Erdinnern mußte ja umerfchöpflich fein. Der Wert der Sryftallflarheit 
jteigert noch ihre Beftändigkeit. Mag der Sturm das Meer zerreißen, er treibt 
doch nur mit der Oberfläche fein Spiel. „Die Windsbraut hat den Ozean ent- 
wurzelt“ ift ein Bild ohne Wahrheit, eines von den gewaltiamen, erzwungenen, 
die nur auf Geifter ohne Anſchauung wirken. Unter dem Sturm ruht das Meer 
in alter, ficherer Klarheit. Auch die leichte Brife läßt einen matten Ton, wie von 
orydiertem Silber, über das glänzende Metall des Spiegeld wandern, bier matte 
Anfeln, dort Streifen, die ſich ſondern und wieder ineinander fließen. Am äußerften 
Horizont bleibt ein leuchtender Streif unberührt, das ift die Summe ber 
Spiegelungen der Wellen. Sobald die Brife einnidt, ift der Wafjerfpiegel in 
alter Klarheit bergeitellt. 


Friedrich Rabel, Der Seift, der über den Waſſern ſchwebt. 51 


Die Stille des ruhenden Waſſers gehört nicht zu jenen tiefften Stillen der 
Natur, die die Erwartung auf etwas Furchtbares fpannen, welches kommen foll. 
Man kann fie nicht mit den „loca nocte late tacentia“ vergleichen, mit deren 
leeren Behaufungen und hohlen Reichen Birgil feine Unterwelt ausftattet, um uns 
in ein Graufen darüber zu verjegen. Unmillfürlich tönt uns vielmehr Goethes 
„Meeresitille und glüdliche Fahrt” ins Ohr, indem wir von den ftillen Wafjern 
Iprehen. Wer in einfamen Gegenden gewandert ift, für den werden gerade die 
Yaute des Waſſers zu den frohen Erinnerungen gehören. In jedem hohen Gebirge 
giebt es eine Stufe, die nur ftilles, d. h. feites Waſſer ala Schnee, Firn und Eis 
hat, und darumter eine Stufe der Quellen und Bäche, die raufchen und reden. Welche 
Rohlthat, nach tagelangem Wandern in jener das erfte Rauſchen wieder zu hören. 
Aber was rede ich hier von Tönen des Wafjers. Ein Seefpiegel mag glatt wie 
ene Metallplatte fein, es Spricht feine Klarheit und es ſprechen aus feiner Tiefe 
die Spiegelbilder zu und. Das mögen uns die Maler zeigen, die in unferer 
Zeit der Poefie des Waſſers viel näher gekommen find als die Dichter. Auf 
dunkelm Wafferfpiegel ein vorübergehendes Leuchten, die Spiegelung eines fernen 
Sternes, den wir nicht fehen, eines darüber hin hufchenden verirrten oder auf: 
zudenden Sonnenftrahles: wirft e8 nicht wie ein verflingender Ruf aus der 
Ferne oder der Tiefe? Es giebt tiefempfundene Waldbilder, in deren Dunfel 
das Spiel eines Lichtftrahls auf einer kaum fichtbaren Wafferfläche die einzige 
belle Stelle it. Jm Haag ift eine Eleine Scene von Hobbema, wo alles ruht 
md ſchläft, nur eine jcheinbar zufällige Spiegelung in einem Tümpel belebt fie 
in traumhafter Art. Allerdings verftand Hobbema vielleicht von allen Malern 
(und Dichtern) des 17. Nahrhunderts die Poeſie des Wafferd am beiten, die 
damals noch jehr jung war. E3 wäre fchön, wenn ein GSadjverftändiger uns 
die Entwidelung der Kunft, das Waſſer zu malen, mit vielen Beifpielen vor 
Augen führte. Ich erinnere mich nicht, lebendig bewegtes, leuchtendes Waſſer 
vor dem Ende des 15. Jahrhunderts gemalt gefehen zu haben; es ift gewiß fein 
Zufall, daß erft in derjelben Zeit die Wolfen, die bis dahin in zahmen Streifen 
lagen, anfangen fich zu ballen oder zu zerfließen. 


+ * 
* 


Wir nehmen es nicht mehr fo ernft mit der Natur wie die Schöpfer der 
Flutmythen und Toteninfeln. Kennen wir denn nicht die meilten von ihren Ge- 
beimniffien? Die Wiſſenſchaft hat una Macht über die Natur gegeben. So weit 
unſer Auge reicht, meinen wir fie zu durchſchauen. Einige übrig gebliebene 
Probleme werden ſchon noch gelöft werden. Das Bangen vor einem Unberechen- 
baren, das in jenen Mythen fi ausfpricht, ja ſelbſt die Auffaffung der Natur als 
einer Macht, der wir uns unterordnen, hat der „Sebildete” völlig überwunden. Wir 
leugnen nicht ihre Größe, ihren Reichtunr und ihre Schönheit, denn gerade das wär 

4* 


52 Friedrich Nabel, Der Geiſt, der über den Waſſern ſchwebt. 


ja ein Berftoß gegen die naturwiflenfchaftlihe Bildung diejes Zeitalters; aber 
wir fchauen auf fie herab. Wir kennen fie und beherrichen fie, wie follten wir 
nicht über ihr ftehen? Es wäre indefjen wiederum ein jchlechte8 Zeugnis für 
unjere Bildung, wenn wir fie nur ftofflih ausnugen wollten. Wir find viel: 
mehr ftolz darauf, mehr als vorangegangene Geſchlechter ihre ſeeliſche Heilkraft 
zu würdigen. Halten wir aud) fonft wenig von Gefühlen, für dad Naturgefühl 
ift ung eine gewiſſe Schwüche geblieben, und dem „Naturgenuß“ geben wir ums 
mit vollem Bemwußtfein hin. Naturgenuß! Diejes Wort it fo recht be 
zeichnend für die Naturauffaffung, die ich eben jchildere, die die Natur für die 
Menichen da fein läßt. Wenn ich die Macht hätte, Wörter zu verbieten und zu 
gebieten, jo würde ich „Naturgenuß“ ausmerzen und durch „Naturfreude”, ja 
lieber noch durd; „Naturverehrung“ erjegen. ch glaube übrigens, man wird 
ganz von felbft eines Tages Naturgenuß als ein veraltetes Wort empfinden. 
Genuß, d. h. pajjives Hinnehmen und Aufnehmen, bezeichnet gar nicht die Art, 
wie wir der Natur gegenüberftehen, noc viel weniger ift das genüßlich aus: 
wählende Derausfuchen des Angenehmen, Anmutigen, Gefälligen unjerer Stellung 
in der Natur gemäß. Amer ift die Natur älter, größer als wir jelbjt, die wir 
nur ein Stäubchen, verglichen mit ihrer Größe, und nur Welen des Augenblids, 
verglichen mit ihrer Dauer find. 

Plato dachte nicht gerade an das Verhältnis einer jchönheitsdurftigen Seele 
zur Natur, als er aus dem, was er das Schöne nannte,” alles entfernt haben 
wollte, wa3 dem Reize und Genuß dient, bloß anmutig und gefällig iſt, bis 
zuletzt das Schöne ımd das Wahre eins find. Wohl ift ihm der Bau des 
Weltall3 mit feiner unmandelbaren Ordnung und Bewegung der Geſtirne das 
Bild der Harmonie in der fichtbaren Welt, und er ahnte hinter allen Natur: 
ericheinungen dasfelbe Ebenmaß, die gleiche Ordnung. Im einzelnen hat er 
es nicht ausgefprochen. Doc war ihm ficherlich zwilchen dem Weltgebäude und 
dem von Menfchenhand geichaffenen Kunſtwerk die unendlich reichere Natur 
nicht jener fchönen Ordnung bar, deren höchſten Ausdruck er in der Harmonie des 
Lebens, Handelns und der Bildung der Menſchen fab. Nur ftrebte er jicherlich 
auch in ihrer Betrachtung über alle bloße Sinnlicjfeit hinaus dem Erhabenen zu. 

Das Erhabene fchließt mun eigentlich den Genuß aus. Denn die Em- 
pfindung unferer Kleinheit und Abhängigkeit, die jedes Erhabene in uns hewvor- 
ruft, kann unmöglich genußreich fein. Und auf der anderen Seite ift das Gefühl 
der geiltigen Erhebung und Unabhängigkeit, in dem wir das Erhabene erfaflen, 
für einen Genuß zu groß. Scheint es da nicht, ald ob/gerade ein ernjtes und 
tiefes Naturgefühl fich wieder jener Ehrfurcht nähern müffe, die den Geilt über 
den Waſſern fchweben ſah? Eines Tages wird die alte Natıurverehrung, die in 
diefem modernen Naturgenuß ftedt, wie ein Keim in der Schale ihre Hülle 
fprengen, und wenn diefe in Stüden vor uns liegt, werden wir ftaunen, daß fie 


Friedrich Natel, Der Geift, der über den Waſſern ſchwebt. 53 


uns jo lange abhalten konnte, die wahre Natur dejjen zu erkennen, was jie ums 
ihloß. Es ift ja das alte Fragen nad) unferem Woher? und Warum?, das vor 
der Wiſſenſchaft war und nad) der Wiſſenſchaft fein wird. Denn die Wiſſenſchaft 
hat zeitliche und räumliche Grenzen. Dagegen wird, folange es Menjchen giebt, 
die Ahnung einer tiefen VBerwandtichaft uns zur Natur binziehen, mit der und 
dag Rätſel der Schöpfung verbindet; denn wir find mit ihr und in fie hinein- 
geihaffen und in gewiſſem Sinn zugleich aus ihr herausgebildet. Als das Werf 
desjelben Geiftes, dem ich entiprungen bin, ift das Blümchen und der Stein 
am Weg mir viel mehr als merkwürdig, fie erweden meine Teilnahme Wenn 
jolhe Verſenkung in die Natur uns die ungeheure Beſchränktheit unferes Wiſſens 
auf Schritt und Tritt fühlen läßt, werden wir zwar gegen die Illuſion geſchützt 
jein, einen „Neuen Glauben” auf gemeinverftändlich gemachte Naturwifjenichaft 
zu gründen; wohl aber werden wir unferer Stelle in der Welt beſſer inne werden, 
indem wir uns eins mit allem fühlen. Daß die Natur nicht mehr im ftande 
üt, da8 Ganze unferer Wirklichkeit zu fein, darüber läßt die enttäufchende Bilanz 
der naturwiſſenſchaftlichen Aufklärung feinen Zweifel übrig. Aber diefes negative 
Ergebnis jchließt unfere engfte Verbindung mit ihr um jo weniger aus, wenn id) 
mir jagen muß, daß wir beide, fie und ich, feine zufällige Zuſammenwürfelung, 
ſondern Werk einer finn- und zwedvollen Schöpfung fein müfjen. So wäre alfo 
auch der Geiſt über den Waffern nicht vollftändig in Bücher und Karten hinüber: 
deitilliert? 

Ich verjege mich an das Ufer eines mittleren Landfees, über deſſen leuchtender 
Waſſerlinie ferne Berge ſich aufbauen, die den Himmel tragen. Herbitmorgen, 
tiefe Stille. Leichte Nebenmwöltchen fchweben zur Seite, das Wajjer liegt ruhig 
wie ein Spiegel, und in feiner Tiefe wiederholt ſich die ganze Landichaft ſamt 
dem Firmament darüber. Das Auge wird zu unbeftimmten Zielen hinaus und 
binübergezogen und die Gedanken, die folgen, laffen "ihren Halt an taufend 
einzelnen Dingen fahren. Unmillfürlich raucht in mir ein Sag 4. v. Humboldt 
empor. „Die duftige Ferne, die den Eindrud des Sinnlich-Ilnendlichen hervorruft.“ 
Welch wohlthätige Berarmung! Ach taufche taufend Eindrüde gegen den einen weiten 
umfafjenden Blid, der mir den See zum Meer macht. Der Horizont fcheint 
binabzufinfen. Es ift wie eine fteigende Flut, die alles wieder in fih aufnimmt 
was einft aus ihr heruorgegangen war. Auch mich jelbft, über den ein Gefühl 
wie von geheilten Heimweh kommt. Wo fteht der Weltbaum, der am Thore zum 
Jenſeits blüht? Hörſt Du nicht das Naufchen des Sonnenvogels, der das Licht 
zur Erde bringt? Das ift zum Beiſpiel eine Stunde, die mir heilig ift; ich fühle 
ed, der alte Geift ſchwebt immer noch über den Waſſern. 


O 





SIBIBIBIBIBIBIPIRIEIRIDIBIDIBIDIPIDIBIPDIDIPIPIPIPIPIPIB! 





Der Wunidi-Sort der Germanen. 


s ruht, verfenkt an ftillem Ort, tief unter Urwald-Eichen, 

Ein teurer, berg-entrückter Sort, ein Wunid-Sort fondergleidıen. 
Da liegt Gott Wotans Runen-Speer, dabei Frau Frigga’s Spule, 
Dort blinkt der Becher, goldesichwer, des Königs Ring von Thule. 
Der Amalungen weißer Schild, das Schwert Herrn Karls, das ſcharie: 
keis tönet, wie verträumt fo mild, des Vogelweiders Harfe, 
Der Schöppeniprudı auf Pergament, der Schapel holder Maide, 
Manch kied, dess Sänger niemand kennt, und itein-beipangt Geichmeide, 
Des Rotbart flatternd Kreuzpanier, des Bethausdaches Giebel, 
Der Sana ftolze Flaggenzier und Doktor kuthers Bibel! 
Darüber hin ein Baudı, ein Duft kernfirnen Rheinweins brütet: — — 
O dringet kühn in dieie Gruft, die quillend Leben hütet! 
All auf, Senoſſen! Unverwandt laßt nadı dem Schatz uns schürfen: 
Nur reines Serz und treue Band wird ihn erheben dürfen! 
Er it nicht tot, er wächlt, er blüht, er fteigt uns felbit entgegen: 
Er will in Geilt und in Gemüt uns feinen Segen legen: 
Den Segen deuticher Serrlidikeit, die Heldenichaft der Ahnen, — 
Laßt uns den heben allezeit, den Wunid«-Sort der Germanen! 
An folder Hebung woll'n wir hier mit treuer Arbeit ſchalfen, 
Dem deutichen Volk nicht nur zur Zier, nein, auch zu Wehr und Waften. 
Ja, Deuticıland und das Ausland foll'n an dieien unfern Werken, 
Daß wir hier fchöpfen aus dem Voll'n des deutſchen Geiites, merken. 
Dem Deutichen in dem Fremdiand audı ioll wohl damit geichehen: 
Ihm foll ein warmer Heimat-Sauh aus diefen Blättern wehen! 

Felix Dahn. 


16 





Betraditungen über Marokko. 


Von 
3. Graf von Pfeil. 


n: Deutfchen bleiben das Bolt der Barteipolitifer. Zu jeßiger Zeit, wo unfere 
Weltmacdtitellung nah außen bin ſich mit fait noch nie dagewefenem 
Glanze präfentiert, uns faſt nötigend, jollte man meinen, in Weltmachtsfragen 
ein enticheidendes Wort zu fprechen, ſehen wir, wie uns in erfter Linie Dinge 
interejfieren, welchen nur deshalb eine bejondere Bedeutung zuerfannt wird, weil 
jie mit dem Erfolge diefer oder jener Partei unmittelbar zufammenhängen. 

Die Spalten unjerer Tageszeitungen liefern den untrüglichen Beweis hier- 
für. Noch immer giebt es leider keinen Punkt, auf welchem ſich die Anhänger 
aller Parteien in Einigkeit fcharen wollen, und um eine Sade zum Siege zu 
führen, muß man fie zum PBarteiprogramm erheben. Weder die Entwidlung des 
Deutihtums im Often, der Bau eines Binnenlandfanals, die wichtigen Handels: 
verträge konnten eine Auffaffung erfahren, nad welcher fie im Lichte ihres 
nationalen Wertes geihäßt und behandelt wurden, die Flammen des Parteihaders 
werfen ihre fladernden Lichter auf jede Verhandlung über die betreffenden Gegen- 
ftände. Ja jelbit der Gedanke an eine große Flotte bedurfte einer Populari- 
ſierung, die faft fchon als Reklame bezeichnet werden fann, ehe er mit feinen 
Wurzeln die Mehrheit des Volkes durchdringen und fie zu einem zulammenhän- 
genden Ganzen verknüpfen Eonnte. Auf dem Gebiet der Kolonialpolitif iſt bis 
jegt noch feine einheitliche Anfchauung erwachſen. Sie wird gepriejen oder ver- 
worfen je nach dem Parteiftandpunft des Beurteilerd. Unter ſolchen Umftänden- 
it eö nicht zu verwundern, jo betrüblich e3 jein mag, daß die öffentliche Meinung 
einer jo wichtigen Frage wie der marokkaniſchen mit faft vollkommener Indifferenz 
gegenüber fteht. Nur jelten bringt ein oder das andere Blatt einen kurzen 
Artikel über Marokko, der fi dann meift in allgemeinen Betradtungen ergeht, 
ohne jedoch die Wege zu weiſen, welche uns gefunden Fußes zu dem ung ge- 
bührenden Fleckchen in der maroffanifhen Sonne führen können. Wenn man 
beobachtet, wie Frankreich langſam aber unwiderſtehlich von Algerien nad) dem 
Atlas vordringt, wie ed allmählich ſich in den Befit des ihm bequem gelegenen, 
geographifch zu Algerien gehörigen Muluja-Thales fett, fo ſteht man beſchämt 
vor der Wahrnehmung, daß diejes feit 1870 von feiner Führerrolle in Europa 


56 J. Graf von Pfeil, Betrachtungen über Maroklko. 


verdrängte Volk es beſſer als wir verſteht, auf afrikaniſchem Gebiet ſeine Macht 
und ſein Anſehen aufzurichten und zu befeſtigen, indem es geſchickt die Momente 
benutzt, in denen konkurrenzfähige Völker hypnotiſierten Auges beharrlich auf 
einen Punkt ſtarren, ohne wahrzunehmen, was in ihrer Umgebung ſich abſpielt. 

Wenn aber auch England zur Zeit nicht in der Lage iſt, Frankreich gegen— 
über ein Veto zu ſprechen, warum tritt nicht Deutſchland in die Arena, um wie 
Frankreich ein Kleinod des zerſplitternden Sherifen Rüſtzeuges ſich aufzuleſen. 
Demütig genug wäre das Verfahren ja immer noch. 

Die Zeiten einer nur auf den eigenen Vorteil gerichteten, daher unter Um: 
tänden auch etwas rüdjichtslofen Politik find Für Deutjchland noch nicht ge— 
fommen, daher it ein Handeln in der marokkaniſchen Frage auf alleiniger Bafıs 
des bdeutichnationalen placet noch nicht angebradıt. Pur der chauviniftifche 
Heißſporn kann fordern, daß Deutichland zur Zeit feine geharniſchte Hand nad) 
marokfaniichem Gebiete ausſtrecke, dadurch eine Neihe von internationalen Madıt- 
fragen aufrührend, deren Beilegung die Neichsmacht in unnötiger Weile anfpannen 
dürfte. Seltſam aber berührt es den großdentich denfenden NReichsbürger, daß 
feine Anftrengungen gemacht, oder anscheinend wenigitens nicht ſichtbar werden, 
um bei dem Wettlauf der intereffierten Nationen nad) den leuchtenden Gipfeln 
des Atlas wenigitens Schulter an Schulter mit dem leichtfüßigen galliichen 
Nachbar ſich zu halten. 

Marokko als Staatengebilde geht unaufhaltſam feinem Berfall entgegen. 
Zwei Mittel nur verleihen ihm zeitweilig noch eine wenn auch ungebührlich ver- 
längerte Scheinexiſtenz ftaatlihen Dajeins. Zunächſt die Eiferfucht der nad) 
ſeiner Hinterlaſſenſchaft erbgierigen Nationen, deren feine wagt, an dem morfchen 
Gebäude zu rütteln aus Beforgnis, die wertvollen Trümmer fönnten in das 
- Gebiet des Nachbarn fallen, dann der wunderbare Dauerfitt mufelmännifchen 
Befenntnifjfes. Lebteres enthält die wertvollen ngredienzien dev Anerkennung 
einer unbejtreitbaren Autorität des Staatsoberhauptes, das Gefühl unbedingter 
Zulammengebörigfeit und daraus rejultierendes Empfinden völfifcher Ueber— 
(egenbeit über alle ‚Fremden. Zufriedenheit mit der beitehenden Sraduierung der 
verfchiedenen Bolksichichten und der damit zufammenhängenden Unterjchiedlichkeit 
der materiellen Lage des Einzelindividunms. Letztes Moment darf als wirk— 
jamftes Antifeptitum gegen volkszerſetzende Gährungserreger betrachtet werden. 

Obne das unglaublich zähe Band diejes Befenntniffes und der darin anbe- 
fohlenen Unterthänigfeit müßte die ftaatliche Mißwirtſchaft der Sherifen Regierung 
Ichon längit einen vernichtenden Sturm des Volksunwillens hervorgerufen haben. 
Als eriter Anlaß dazu und als vornehmfter Erreger jtaatliher Fäulnis muß der 
Mangel jeglicher Moral in unferem Sinne bei den ftaatsleitenden Perfönlichkeiten be- 
zeichnet werden; das kann nicht überrafchen, befteht doc; fein Syftem, nad) welchem 
bei Anftellung dev Beamten verfahren wird. Diefe haben weder irgend einen 


x. Graf von Pieil, Betrachtungen über Maroffo. 57 


Befähigungsnachweis zu erbringen, noch irgend welche Spezialkenntnis zu erwer— 
ben, fie kaufen ihre Stellen und, wer am meiften bietet, erhält fie. Der angeftellte 
Beamte bezieht keinerlei Gehalt, er muß, wie in alter Zeit bei uns auch, Sporteln 
erheben. Da ihm von feiner Regierung Eeinerlei politifche oder Berwaltungsauf- 
gaben geftellt werden, feine geſamte Thätigfeit vielmehr falt ausfchlieglich in der 
Einziehung von Steuern befteht, jo läßt fich denken, daß er, um feine Stellen: 
faufgelder, Sporteln, Staatsftenern wiederzuerhalten, alsbald ein Erpreſſungs— 
ſyſtem einfchlägt, welches die nachteiligfte Wirkung auf die Bevölkerung haben muB. 
Gewiſſermaßen läßt fich fein Verfahren auch wieder entfchuldigen. Er weiß jelbit 
nie, twie lange er auf feiner Stelle bleiben wird. Kommt es zur Kenntnis 
des Sultans, daß es ihm mit der Zeit gelungen ift, aus feinen Bezirkseingeſeſſe— 
nen ein einigermaßen anfehnliches Vermögen zu erpreifen, To kann e8 ihm paflteren, 
dak er plötzlich fchmerer Verbrechen gegen die Wohlfahrt des Staates vder des 
Sultans angeklagt wird. Das hat natürlic) feine Amtsentfetsung und Einziehung 
jeines Vermögens zur Folge, welch leßteres in die Kaſſen des Sultans, refp. zum 
Zeil in die derjenigen Feinde des Beamten fließt, welche es vermocdten, ihn aus 
jener Stelle zu verdrängen, um felbjt hineinzukommen und fpäter denfelben Weg 
wie ihr Vorgänger zu wandern. Gin weiterer Verderb des Beamtentums iſt die 
Sitte oder vielmehr Unfitte der Gefchenfedarbringung. Wird ein Beamter an 
den Hof befohlen, fo darf er nicht mit leeren Händen ericheinen, fondern muß ein 
feinem Nange angemefjenes Gefchent mitbringen, welches indeſſen nicht gegen die 
abzuliefernde Steuerquote verrechnet werden darf. Dieje Geichenfe belaufen fich 
oft auf gewaltige Summen, dreißig bis vierzigtaufend Dollars werden von den 
Kaids großer wohlhabender Diftrikte erwartet. Man kann diefe Gewohnheit nicht 
anders al3 eine Prämie auf die Erprefiung bezeichnen. Da, wie ſchon gefagt, den 
Beamten Eeinerlei Berwaltungs: oder politiiche Aufgaben vbliegen, da ferner 
alle Kontrolle ihrer amtlichen Thätigfeit fehlt, jo wird jede ihrer Amtshandlungen 
zum Gelderprejfungsgeichäft, und der geringfte Anlaß wird zum Borwand der 
Amtshandlung genommen. Ein Beifpiel möge das Verwaltungsſyſtem der Kaids 
iluftrieren. Der Maroftaner hat die Gewohnheit, fein Geld zu verbergen, ftatt 
es nugbringend anzulegen. Oft itirbt er, ohne von dem Aufbewahrungsort feiner 
mitunter beträchtlichen Schäße Stunde binterlafjen zu haben. Es ift daher nichts 
Ungewöhnliches in Marokko, beim Einreißen alter Häufer beträchtliche Summen 
ın Gold im Gemäuer oder anderswo veritedt zu finden. In einem befannten 
derartigen Falle gedachte der erfreute Finder gemächlich fein Glück zu genießen, 
nahdem er vorfchriftsmäßig einen für die Regierung beftimmten Teil feines Fundes 
an den Kaid des Diitriktes abgeliefert hatte. Da erichien leßterer mit der in 
freundlichftem Tone vorgetragenen Behauptung, der Finder habe doch ficherlich 
den der Regierung zuftehenden Zeil weit zu gering angegeben, diefe Fleine Hinter: 
ziehung ſolle indefien unbeadhtet bleiben, wenn der Finder den zurüdbehaltenen 


58 J. Graf von Pfeil, Betrachtungen über Marokko. 


Betrag in aller Stille mit ihm, dem Kaid, teilen wolle. Gegenteiligen Falles müſſe 
er, wie er wohl wiſſe, ins Gefängnis wandern. Der geängſtigte Mann erkannte 
ſein Schickſal, und lieber als im Gefängnis zu verſchmachten, trennte er ſich von 
ſeinem mühelos gewonnenen Reichtum und gab dem Kaid die von dieſem gefor— 
derte Summe, welche ſo viel betrug als der zurückbehaltene Teil des Fundes. 
Dieſen nahm der Kaid an ſich, verlangte indeſſen unmittelbar nachher von dem 
Finder ganz erhebliche Leiſtungen für Rechnung der Regierung mit der Motivierung, 
daß letterer durch den Fund in der Lage fei, dem Staatöwohl ein geringes Opfer 
zu bringen. Die Forderungen brachten den Mann an den Rand des Ruins; da 
ex fich fchließlich weigerte, mehr zu leijten, wurde er von dem Kaid ins Gefängnis 
geworfen und fein Vermögen Eonfisziert. Derartige Beifpiele könnten in beliebiger 
Anzahl angeführt werden. Die daraus jprechende Korruption findet fi in allen 
Zweigen der Behörden. Von weittragenditer Wirkung und darum am jchlimmiten 
ift die bekannte Unredlichkeit der Adulen, d. i. der Rechtsgelehrten und Advokaten. 
Um dofumentariiche Kraft zu haben, muß ein Schriftftüf von zwei Adulen unter 
zeichnet fein. Nun läßt fich indefjen durch hinreichende, bei größerer Konkurrenz 
oft nur recht geringe Zahlurig die Auffaffung des Adulen jo beeinfluffen, daß er 
ganz merkwürdige Vorgänge als der Wahrheit entfprechend bejcheinigt. Nehmen 
wir an, es handele fich um die Feititellung, daß die Summe von 100 Doll. bezahlt 
worden jei. Das Geſchäft vollzieht fich dann folgendermaßen. Die eine Partei 
zahlt der anderen 10 Doll. auf den Tiſch, dann entfernen ſich beide mit dem 
Gelde, um fogleich zurüdzufehren und die Handlung mit denfelben 10 Doll. zu 
wiederholen. Das Spiel geht fo weiter, bis die betreffende Summe erlegt ilt. 
Der Adul bejcheinigt nun der Wahrheit gemäß, daß die Summe bezahlt ift, und 
erhält für feine Bemühung vielleicht fünf Doll., während ihm das reelle Gejchäft 
möglicherweile nur zwei eingebracht hätte. In den bei der Angelegenheit erzielten 
Gewinn teilen fich die beiden Parteien. Man könnte fagen, daß eine ſolche Auf- 
fafjung von Beamtenehre und Pfliht uns ja nichts anginge, allein gerade der 
Unfug mit den Adulen ift von weittragender Bedeutung. Auch Europäer be 
dürfen der von ſolchen angefertigten, aller Zuverläffigfeit entbehrenden Dokumente, 
und wo e3 ſich darum handelt, Zeugnis gegen Chriſten aufzubringen, find Leute 
derartig weiter Gemwifjen von unſchätzbarem Wert. Thatfächlich gejchieht es nur 
zu oft, daß Klagen von zuverlälfigen Europäern unberüdjichtigt bleiben müfjen, 
da die Sherife Regierung amtliche Zeugniffe erbringt, daß diefer oder jener Sad): 
verhalt fich in ganz entgegengefegtem Sinne abgefpielt habe, als vom Chriſten 
berichtet worden ift. In ſolchen Fällen, die fie wohl zu erkennen vermögen, find 
auch unjere Behörden machtlos, weil fie bei den Beamten des als Staat aner: 
fannten Volksgebildes dieſelbe Wahrhaftigkeit vorausfegen müſſen, mit der fie 
jelbft zu arbeiten gewohnt find. 

Eine Regierung, in welcher alle Stellen, die niedrigiten wie die höchſten, mit 


J. Graf von Pfeil, Betrachtungen über Mlarokto. 59 


derartigem Beamtenmaterial beſetzt find, könnte, ſelbſt unter der Leitung eines 
kräftigen Oberhauptes, nicht den Bedirfnifien des Landes Rechnung tragen, ja 
nicht einmal fie erkennen. Bon innerpolitiichen Bedürfniffen kann kaum die Rede 
jein, da das Volk hinlänglich befriedigt wäre, wenn der den Volkswohlſtand aufs 
ärgfte fchädigende Steuerdrud nur ein wenig nachließe. Es läßt ſich nicht jagen, 
ob bei größerer Steuerfreiheit das Volk nicht feine Aufmerkſamkeit anderen 
Dingen zumwenden und einen Willen zu erfennen geben würde; allein einen jolchen 
zu leiten, befäße dieſe Regierung ebenjowenig die Fähigkeit, wie einen Volks— 
willen da zu Schaffen, wo jie vielleicht wünichen follte, von ihm getragen zu 
werden. Ganz abgejehen von der politischen Seite dev Frage, ift die Sherife 
Regierung nicht einmal im ftande, das materielle Wohl des Landes zu fördern, 
weil fie jelbft in den Elariten Fällen unterläßt, es zu beobadıten. Das A und O 
Sherifer Regierungsweisheit ift die Kunſt, die großmöglichjte Steuerquote zu er: 
balten. Man follte demgemäß annehmen, da jte auch Sorge tragen würde, die 
Steuerfraft des Landes entiprechend zu heben. Nirgends indeijen kann der Be— 
obachter dahin zielende Maßregeln in der Verwaltung wahrnehmen. Die hödjiten 
Steuerbeträge werden erreiht durch Konfigfation, die außerdem den Vorzug 
größter Bequemlichkeit beim Verfahren hat. Es iſt begreiflich, daß wirklicher Wohl: 
ſtand infolge deſſen nur jelten ift, dann aber ängftlich verheimlicht wird. Zur 
Erleichterung des Inlandverkehrs geichieht nichts, Flüſſe werden nur da über: 
brüct, wo der Hof fie auf feinen feltenen Reifen zu pafjieren hat. Nach Bollendung 
der Reije fällt da8 Bauwerk dem Ruin anheim. Zwar eriftieren im Lande einige 
ſchöne Brüden aus alter Zeit, von fo cyElopenhaften Bau, daß jelbit der Zahn der 
Zeit fih daran ftumpf genagt zu haben jcheint, allein fir deren Unterhaltung 
wird nichts gethan, follten fie einfallen, nun jo watet man durchs Waſſer. 
Deffentliche Wege giebt es nicht, oder vielmehr, jeder Weg ift öffentlich, nur hat 
niemand die Verpflichtung, für deſſen Beichaffenheit Sorge zu tragen. In der 
trodenen Jahreszeit hat, das nichts zu bedeuten, in der nafjen Periode dagegen 
jind die jogenannten Wege unergründlich und Lafttiere wie Menfchen bleiben 
buchitäblich oft alle fünf Meter ſtecken. Kurze und fichere Berbindungen zwijchen 
bedeutenden Orten berzuitellen, wagt die Regierung Telbft nicht. So iſt 3. B. 
noch heute dev von Marakeſch nad Fez reilende Händler gezwungen, jtatt in 
grader Richtung zu reifen, den Weg über die Küftenftadt Rabat zu nehmen. 
Sogar der Sultan mit feiner ganzen Armee muß ſich diefes Umweges bedienen, 
weil die das Zwilchengebiet bewohnenden Beni Zemur die Oberhoheit des Sultans 
nicht anerkennen und mächtig genug find, die Anerkennung einer auf jo fchwachen 
Füßen jtehenden Autorität zu verweigern. Daß unter ſolchen Verhältnijfen der 
Inlandverkehr ſich nur wenig zu entwideln vermag, liegt auf der Hand. Aber 
aucd den Verkehr mit dem Auslande unterbindet die Kurzſichtigkeit der unfähigen 
Regierung. Daß Ausfuhr der Pandesprodufte ein Land niemals chädigen, feinen 


60) J. Graf von Brei, Betrachtungen über Marokko— 


Finanzen nur müßen kann, ift ein Grad ökonomischer Weisheit, zu dem fich die 
Machthaber der Sherifen Regierung noch nicht haben aufichtwingen können. Es 
geichieht daher auch nicht das geringste, den Handel zu beleben. Zwar ift neuer: 
ding3 der Erport von Weizen und Gerite für den Zeitraum von zwei Jahren 
freigegeben, *) allein hierin läßt ſich Fein Funken plöglicher öfonomifcher Erleuchtung 
erblicken, höchitens erhärtet die Maßregel die Wahrheit der befanuten Thatſache 
der tiefiten Ebbe in der Sherifen Staatskaſſe, jo daß man ſich jogar dazu herbei- 
laffen muß, Getreide an die ewig hungernden Chrütenhunde, möge Allah fie ver: 
dammen, zu verkaufen. Gründe ſchwächlicher Gefühlspolitif nicht gefunde Staats— 
raifon bilden die Unterlage für fait alle wirtichaftlidyen Maßnahmen. Nicht um 
die an und für ſich minderwertige Raſſe ihrer Pferde ausschlieglihh dem Lande zu 
erhalten, ift der Erport von Pferden verboten, man will vielmehr den Europäern 
nicht auch noch das Eoftbarite Hriegsmaterial in die Hände liefern, Wenn Allah 
wollte, daß an den der Schiffahrt gefährlichen Stellen Yeuchttürme ftünden, jo hätte 
er fie wohl ſelbſt dahingejett. Allerhand widerwärtige Ehifanen beim Ausladen 
europäischer Schiffe werden als ungemein qute Wite auf Koſten der Ausländer be- 
trachtet; Eifenbahnen find Icheußliche Erfindungen der ‚Fremden, die an ſich feinem 
guten Zwede dienen, aber noch den Nachteil haben, daß fie, will man fie einführen, 
den Frieden der vielen im Lande zerjtreuten Deiligendenfmäler ftören. Der 
Telegraph ift eine höchit verdammungsmwürdige geheimnisvolle Einrichtung, mit der 
ein guter Mufelmann nichts zu ſchaffen haben darf. Derartige Findliche An— 
ſchanungen, welde man ſelbſt aus dem Munde beijerer Araber oft hören kann, 
beweilen nur, wie wenig noch die führenden Klaſſen das Bedürfnis der Zeiten 
erfaßt haben, wie wenig fie fich eine Vorſtellung von ftaatliher Entwidelung zu 
machen im ftande find. Natürlich gehen mit diefen Anſchauungen eine außerordent- 
liche Selbftüberhebung und eine tiefe, felten indeffen öffentlich zum Ausdrud ge- 
brachte Berahtung des Europäers Hand in Dand. Daß letterer dem Muhame- 
daner in irgend einer Richtung überlegen fein könnte, gefteht Tich fein Mujelmann 
ein, und diefe Geringihätung zum Teil ift es, welche bislang die richtige Er- 
füllung des Vertrages von Madrid illuforifch macht, nach welchem der Europäer 
berechtigt jein joll, int Yande Grundbefig zu erwerben. Damit paart ſich wieder 
eine nicht geringe Furcht vor dem Ausländer: weil diejer kommen und jie in 
Belig nehmen könne, tjt der Betrieb von edelmetallführenden Minen im Lande 
ftreng unterjagt. 

Es fehlt jomit, teil8 aus bewußten, teild aus unbewußten Gründen, jegliche 
ftaatliche Organifation, welche, das maroffanische Wolf verfürpernd, das Yand 
nad innen hebend, es nach außen verteidigend, marokkaniſche Politik zu treiben 
vermöchte. Die logiſche Folge diefer Thatſache iſt die oft beachtete Erjcheinung 


*, Soeben auch Kartoffel und einiges andere. 


3%. Graf von Pfeil, Betrachtungen über Marofto. 61 


der Ummwahrheit bei politischen Verhandlungen. Wie foll eine Regierung aud) 
fonjequent bleiben, wenn fie feine feiten Ziele hat und nur von den Eingebungen 
des Momentes geleitet wird? Richtſchnur für das Verhalten it ftetS nur die 
Laune diejes oder jenes Beamten, oder richtiger, jeine Erwägung, wie er den 
vorliegenden Fall zu behandeln habe, um ihn mit materiellem Vorteil für ſich 
jelbjt zu verwerten. Die endlojen Verzögerungen im Gejchäftsgange, unter 
welchen unjere Kaufleute ſchwer zu leiden haben, find zum großen Zeil auf der- 
artige Urſachen zurüdzuführen. Es it Elar, daß es für das Ausland unmöglich 
it, durdy das Mittel einer fo bejchaffenen Regierung feine Stellungnahme zu 
Marokko dem Lande ſelbſt zur Kenntnis zu bringen. Wie das Land niemals 
von einem Siege marokkaniſcher Diplomatie Mitteilung erhalten würde, jo er- 
fährt e8 auch niemals eine erlittene Niederlage. Sogenannte Reklamationen 
verfehlen daher auch gänzlich, irgend welchen Eindrud auf das Volk zu machen; 
es erfährt nicht den Zufammenhang, und da die Reklamation mit Sicherheit in 
der Forderung einer Geldſumme ausläuft, To leidet direft nur der Säckel des 
Sultans, der die geforderte Summe zu zahlen hat, das Volf leidet exit in ziveiter 
Reihe, indem nad) Begleihung der Forderung die Steuerſchraube wieder ein 
wenig jchärfer angezogen wird. 

Diefer Mangel aller jtaatlihen Organifation, diejes Fehlen aller Fühlung 
mit dem In- und Auslande ‚hatte wenig zu bedeuten in den Jahrhunderten, wo 
das ganze Volk zufammengehalten und geführt wurde von zwar deſpotiſchen, 
aber Eraftoollen, zielbewußten Herrichern. Unter jolchen erlebte Marokko eine 
Zeit hoher Blüte des Anlandes, von der noch heute viele Bauwerke Zeugnis ab» 
legen, deren Weberbleibjel der Reſt der vorhandenen marokkaniſchen Jnduftrie ift. 
Wie jehr die Kraft ſolcher Herriher nad außen fid) zeigte, erhellt aus der Ge- 
ichichte der in marokkaniſcher Sklaverei gehaltenen Ehriften, mit der wir ung bier 
nicht befaffen können. Heute, im Zeitalter des rajchen Verkehrs, wären derartige 
Deipoten auch in Marokko nicht mehr möglich. Die europätichen Staaten können 
nicht mehr als Quantites negligeables betradjtet werden, ihre Machtitellung 
und Machtmittel bedeuten eine wejentliche Beſchränkung auch des deſpotiſchſten 
Sultanswillens. Nun aber ein jolcher nicht einmal vorhanden ift, bedingen die 
fehlende Moral der Regierung ſowohl nad) innen wie nach außen, die Unfähig— 
feit die Forderungen der Zeit zu begreifen, die mangelnde Organifation zu Aus: 
führung etwa erfaßter Ideen den zunächſt wahrnehmbaren Grund des politischen 
Verfalles, des wirtichaftlichen Ruins von Marokko. 

Ueber diejen Verfall vermag ung auch die Nachäffung ftaatlihen Gebahrens 
feitenö der Regierung nicht hinwegzutäufchen. Es verfängt nicht, day Marokko 
prahlerifche Gejandtjchaften nah Europa ſchickt, Generale mit jumelenbejegten 
Ehrenfäbeln beichenkt, feine Gefandten anweiſt, fich für Theater, Bauten, Wohl: 
fahrtseinrichtungen zu intevejjieren. Dem Nenner imponiert es nicht, daß ders 


62 J. Graf von Bfeil, Betrachtungen über Maroffo. 


artige Gejandte mit hochklingenden Titeln bezeichnet, mit allerhand Orden ge: 
ſchmückt, nad) den verjchiedenften Methoden beweihräuchert werden, wenn auch 
unter maroffanifchen Beamten bier und da gewiß tüchtige, ehrbare Männer ge: 
troffen werden, und der Verfaſſer hat jelbit folche kennen gelernt, ſo verhüllt 
doch jelbft die große Schlauheit, das gewandte Auftreten eines vornehmen Marot: 
fanerd nicht den trinfgeldhungrigen Käufling, deſſen Eebrige Handflächen den 
Stempel der Unzuverläffigkeit und darum politifcher Unfähigkeit tragen. Unter 
der Leitung folder Männer kann ein Land fich nicht auf dem Wege gedeihlicher 
Fortentwickelung bewegen, es muß den Krebsgang des Verfalles antreten. 

Bei dem rajchen Verkehr der heutigen Zeit, der allen Kulturmächten das 
zwingende Geſetz der Erpanfion auferlegt, ihnen bei Schädigung der eigenen Be— 
deutung verbietend es zu verlegen, ift ohne der erfteren Einmiſchung ftaatlicher 
Berfall irgend eines Landes kaum mehr dentbar. So wird auch Maroffo jein zer- 
ichliffenes Staatsfleid faum aufzutragen vermögen, ohne daß von verjchiedenen 
Seiten Hände fih ausftreden werden, um ein möglichit großes Stüd des immer 
noch äußerjt wertvollen Stoffes abzureißen. Allen voraus hat Frankreich einen 
Zipfel erfaßt, und troß feierlicher Gefandtichaften, Verficherung ewiger Freund— 
Ihaft und Gleichheit dev Intereſſen wird diejes in Eolonialen Erwerbungen un- 
gemein gewandte Volk die von ihm beanſpruchte Intereſſenſphäre fehr bald zum 
Länderbejig ausgeftaltet haben. Da das in Rede ftehende Gebiet geographisch zu 
Algerien gehört, deſſen natürliche Weftgrenze der Atlas bildet, fo darf man dag 
Vorgehen der Franzoſen nicht unbillig fchelten nach dem alten Grundfag: „That 
those shall take who have the power and they shall keep who can.“ 

Die natürliche Mtlasgrenze fett aber auch Frankreichs Beftrebungen ein 
Biel, deſſen Ueberjchreitung eine Verlegung der Billigkeit gegenüber anderen In— 
tereffenten und der Verteilung de3 politiichen Gleichgewichtes bedeuten würde. 
Zu den Anmwärtern auf einen Teil der maroffanischen Erbichaft gehören vor 
allen anderen wir Deutihe. Mittelft der Statiftit, dem Handelsnachweis und 
den Annalen der Geographie ließe ſich der hier überflüffige Beweis dafür leicht 
erbringen. Auf der atlantiichen Seite des Atlas liegt nad) obigen Ausführungen 
die Bone, in welcher unfere Anfprüche ihre dereinftige Verwirklichung finden 
müffen. Dieje nach dem Beifpiel Frankreichs im Wege langfamer militärifcher 
Operationen anzubahnen, die Hand auf uns bejonders zufagende Teile maroffa- 
nischen Gebietes jet ſchon zu legen, würde ſich mit der von uns dargeftellten 
politiichen Yage nicht vereinigen laffen. Zu einer uns am beften anftehenden 
fräftigen Annerionspolitif fehlt uns annoch die erforderlihe Marine. Wir find 
viel mehr als unſer transatlafiicher Stonkurrent dem Widerſpruch anderer Mächte 
ausgefegt, haben nicht den trefflihen Borwand einer fehlerhaft regulierten 
Grenze, wir würden mit mehr Eile als Frankreich der Ländergier beichuldigt 
werden und mit mehr Recht bejchuldigt werden können. Ohne Frage dürfte der 


3. Braf von Pfeil. Betrachtungen über Marofto. 63 


Augenblif unſeres Zulangens auch das Signal für eine ganze Anzahl anderer 
Hände fein, fich zum leder bereiteten Male zu erheben. Dabei könnten fich die 
vielen Finger in fo unbequemer Weije mit einander verwideln, daß die Herbei- 
führung der Löfung die Kräfte des Reiches in unnötiger Weife in Anſpruch 
nehmen dürfte. Bei der uns damit erwachſenden Aufgabe würde ſich abermals 
das Fehlen einer unferer Landmacht entjprecdhenden Marine ſchmerzlich bemerkbar 
mahen. Wäre es jomit gewagt, unferen faufenden Hammer bis zur Atlaswand 
hbinüberzufchleudern, jo dürfen wir doch in unjerem eigenen Intereſſe nicht unter: 
laflen, den Augenblid zu Vorbereitungen zu benugen, in welchem unfer zur See 
mächtigſter Mitbewerber gezwungen ift, feine Flotte anderweitig.zu verwenden, uns 
liegt die Pflicht ob, Intereſſen zu Schaffen zur dereinftigen Begründung weiterer 
Anſprüche. Die Erfahrung zeigt uns, daß unſer Vetter von jenfeit3 des Kanals 
jeine Anfprüche meift nicht nach Maßgabe der jeweiligen politifchen Yage, Sondern 
nad feinen nachgewiefenen oder auch nur behaupteten materiellen Intereſſen 
bemißt. 

Leider läßt bei uns fich nicht wahrnehmen, daß unfererfeit irgend etwas 
geſchähe, diejenigen Sntereffen zu vertiefen, welche von Privaten im Laufe der 
Zeiten unter großen Opfern gefchaffen worden find. Bier aber ift der Punkt, 
wo wir einfegen follten, denn im Mugenblide des Zulangens wird derjenige die 
fetteften Biffen erwifchen, der am beiten Bejcheid weiß, wo fie zu fuchen find. 
Iſt e8 nad) wie vor die Aufgabe unferer Kaufleute, die guten Bifjen aufzufuchen, 
fo fallen die zu deren dereinftiger Sicherung erforderlihen Maßnahmen unbedingt 
unjerer Regierung zu. Das ift Eein unbilliges Verlangen, man fehe nur, wie 
andere Nationen für ihre Zukunft Sorge tragen und für ihre Antereffen überall 
offizielle und private Vertreter haben. Nur Deutichland, das mächtige Militär- 
veih, hat erft ganz vor Eurzem fich aufgefchwungen, in Fez einen Vertreter zu 
beitallen, und in der NRefidenz des Sultans, wo England, Frankreich und andere, 
faum interejfierte Ränder in wirkſamſter Weife vertreten find, an den Orten, wo 
allein man über die politifchen Vorgänge im Land etwas fieht und Hört, fucht man 
vergeblich nach einem Repräfentanten des augenblidlich vielfach ausfchlaggebenden 
Kulturftaates. Beichämend wirkt der Eindrud, den der deutiche Beſucher der 
maroffanifchen Hafenorte erhält, wenn er fieht, daß die Konfulate aller anderen 
Nationen in eigenen Häufern refidieren, daß nur das deutiche Konſulat ftets in 
irgend einem winfligen arabifchen Gebäude zur Miete untergebracht ift. Es it 
hart, zugeftehen zu müſſen, daß ſtets die Konfuln anderer Nationen die politische 
und gefellihaftliche Führung in der Hand haben, zu welcher die durchaus tüchtigen 
deutihen Kaufleute weit eher befähigt wären. An der Vernadhläffigung diefer 
Aeußerlichkeiten liegt eine nicht zu unterichäßende Unterlafjungsfünde, durch welche 
nicht allein unfer nationales Anſehen ſchwer gefchädigt wird, fondern durch welche 
wir diveft uns die Möglichkeit vericherzen, fpäteren Anſprüchen denſelben Nach— 


64 J. Graf von Pfeil, Betrachtungen über Marofko. 


drud wie andere zu verleihen. Wir betonen noch einmal, Unterlage für alle zu- 
künftigen Anſprüche find unfere materiellen Intereſſen. Deren Erweiterung mit 
allen Kräften anzuftreben, muß in Marokko unjere jtändige Sorge fein. Ju 
welcher Richtung ſich unſere diesbezüglichen Bemühungen eritreden, welche beſonde— 
ren Unternehmen wir jeweilig fördern müſſen, werden wir leicht von unferen Kauf— 
leuten erfahren. Es liegen eine Neihe von jorgfältig ausgearbeiteten Plänen vor, 
deren Durchführung unferen Handel mit einem Schlage fait auf die Höhe des 
englifchen bringen fünnten, allein ihre Ausführung ift nur mit der moralischen 
Unterftügung der Negierung denkbar. Es kann natürlich) hier nicht unfere Auf: 
gabe fein, in die Details kaufmänniſcher Unternehmungen einzutreten, allein 
einige Punkte jeien doc) erwähnt, in denen die ohne die geringite Schwierigkeit 
zu leiftende Mitwirkung der Negierung von unendlichen Burteil für den deutichen 
Dandel jein würde, 

Wiewohl in den beitehenden Dandelsverträgen Art und Höhe der in Marokko 
zu erhebenden Ein: und Ausfuhrzölle auf europäische und einheimifche Waren genau 
feftgelegt ift, befleißigen fich die Zollbeamten einer erichredenden Willkür in der Be- 
rechnung der Zölle und der Art ihrer Erhebung. Eine Unſumme von Straft und 
Intelligenz muß allein darauf verwandt werden, die Chifanen der Beamten der 
Zullbehörde zu überwinden. So werden, um ein Beilpiel zu erwähnen, die aus- 
geführten Teppiche in Rabat nad) dem Wert, in Cala Blanca nad) dem Gewicht 
verzollt. Wie muß der Handel unter folcher Willkür leiden. Warum müſſen ſich 
die Kaufleute gefallen laffen, daß die Entladung von Dampferfracht vollftändig dem 
Belieben der Hafenbehörden anheim gegeben ift. Paßt es diefen gerade nicht, Reichter- 
boote hinauszufenden, jo fann jich dev Dampfer draußen auf der Reede heifer 
pfeifen, er muß mit feiner ungelöjchten Fracht weiter fahren und die Kaufleute 
am Ort mögen jeben, mit welcher Gelegenheit fie ihre Waren erhalten. Der 
Berfafler hat zu wiederholten Malen den Borgang miterlebt und kann bezeugen, 
welcher Berluft durch dieſe Art der Chikane dem deutichen Handel erwachſen 
muß. Warum ſind troß des Madrider Vertrages noch heute die Kaufleute ge: 
zwingen, in beſtimmten Vierteln der Dafenftädte zu wohnen, warum ift es ihnen 
bis heute noch unmöglich, eigene Häuſer zu errichten. Welch ſchwere pekuniäre 
Laſt letzterer Umſtand dem Handel auferlegt, erkennt man daraus, dat die Eigen- 
tümer der Häufer, in denen jeßt die Naufleute wohnen müſſen, ihre Mieter jährlich 
in einer Weile fteigern, von der fich jelbit ein Berliner Dausbefiger kaum eine 
Boritellung machen fann. Es ift ja klar, daß am Ende der Maure felbjt die 
auf diefe Weife erprekten Gelder wieder bezahlen muß, allein es tritt felbitredend 
eine ſtarke Verzögerung des Umſatzes ein, unter der der Kaufmann jchwer zu 
leiden hat. Eine größere Sicerftellung des Eigentums ift ebenfalls noch für 
das Gedeihen unferer Entwidlung in Marokko erforderlid. Wenn unfere Kauf: 
leute ihre Handelöbeziehungen pflegen wollen, kommen fie fortwährend in die 


J. Graf von Pfeil, Betrachtungen über Marokko 65 


Lage, den Mauren Borihüfle gewähren zu müſſen. Die Darlebne wieder zu 
erhalten, gehört zu den jchwierigiten Aufgaben unferer Dandelsbeflifjenen in 
Marokko. Nicht, daß ein Maure die Schuld leugnete, das widerjpricht feinen 
religiöjen Gewohnheiten, aber die Behörden verhindern auf tanfendfache Weite 
den Europäer, fich gegenüber dem ſäumigen Schuldner der zuläſſigen Nechtsmittel 
zu bedienen. Am Ende ift der Europäer froh, wenn er fein Kapital ohne Wer: 
fürzung zurüderhält. Für Solche Fälle müßten den europäiſchen Behörden 
bedeutend weiter gehende Befugniſſe zugeitanden, vor allen Dingen die Mitwirkung 
der maroffaniichen Gerichtsbarkeit gänzlich ausgeichlojien, die der Polizei weit 
kräftiger in Anipruch genommen werden. Soweit haben wir uns begnügt, auf 
einige beitebende Uebeljtände hinzumeilen; deren Abänderung reip. Abjtellung zu 
fordern, jollte der Dandel wohl die Berechtigung, unfere Regierung die Madıt 
befigen. Allein die Unterdrüdung dev gegen ihn gerichteten Chikanen reicht nicht 
aus, dem deutichen Dandel die ihm gebührende Stellung im Lande zu Ichaffen. 

Soll er ſich entwideln, jo muß ihm der Weg in das innere des Yandes 
eröffnet werden. Dierzu it in eriter Pinie die Innehaltung des Bertrages von 
Madrid erforderlid, nach welchem Europäern geftattet fein Joll, fich im Yande 
anzuſiedeln. Die Durchführung der diesbezüglichen Beſtimmung in dem Sinne, 
wie fie gedacht wurde, fette den Kaufmann fofort in Stand, an verjchiedenen 
Stellen des Inlandes jeine Niederlagen zu eröffnen und in ganz anderer Weiſe 
als jegt, wo er nur in veritedter Form jich mit Kulturen beichäftigen darf, un— 
bebaut liegende, aber wertvolle Yändereien dem Anbau vder der Viehzucht zu er- 
ichliegen. Inter denielben Paſſus des Vertrages gehört die Bewirtichaftung 
von Gärten innerhalb der Stadtmauern. Nur mit den größten Schwierigfeiten 
ift es einigen Kaufleuten heute möglich), fich diefen Keinen Luxus zu gönnen. Die 
meisten müfjen auf dieſe Annehmlichkeit verzichten. Von großer Wichtigkeit Für 
die Entwidlung des Dandels wäre die Erleichterung des Geldverfehrs. Wir 
können dieſe frage bier nur andeuten, fie zu erörtern müßte den nicht einge: 
weibten Lejer ermüden. Der Fradtverfehr mit dem Meutterlande bedarf dringend 
der Nevilion, um ihn mit dem des Auslandes kunkurrenzfähiger zu machen. Die 
natürlihen Produkte des Landes, Wälder und küſtennahe Erzlagerſtätten, müßten 
behufs ihrer Verwertung dem Kaufmann zugänglid” gemacht werden jtatt ihn 
davon abzujperren, und die Ausfuhr jedes Landeserzeugniſſes jollte erlaubt jein. 
Das Land müßte veranlaft werden, feine Küfte mit Leuchtfeuern, feine zahl: 
reichen Küſtenſtädte mit telegraphiicher Berbindung zu verjehen. Wir haben uns 
mit Aufzählung der allereinfadyiten Bedürfnifie begnügt, und mancher ſach— 
veritändige Leſer wird eritaunt fein, daß dergleichen felbjtverftändliche Dinge über- 
haupt der Gegenstand von Forderungen fein können. Zaghafte Gemüter werden 
alsbald von übertriebenen Anforderungen reden und gegen dieje die Meiſt— 
begünftigungsklaujel ins Feld führen. Allein die Geſchichte Lehrt, day aud) 


1} 


6b J. Graf von Pfeil, Betrachtungen über Marofto, 


ſolche Klaufeln immer nur fo lange in Wirkſamkeit bleiben, bis jemand es durd)- 
fett, irgend einen Vorteil fich zu fihern und ihn energisch zu behaupten. Möchten 
wir ein Weniges diefer Kunft von unfern englifhen Vettern erlernen. Ging doc) 
fürzlich eine Notiz durch die Zeitungen, fie haben den Bertrag für den Bau 
einer Eilenbahn fertig in der Taſche. Ein folder Vertrag wäre allerdings eine 
augenfällige Verlegung der Meiftbegünftigungsklaufel, allein das wiirde unfere 
Bettern wenig anfechten und niemand würde thatſächlich in der Yage fein, ihnen 
den Beſitz des erworbenen Rechtes ftreitig zu madıen, man würde Widerſpruch 
einfach mit der einwandsfreien Formel begegnen, warum habt Ahr Euch denn 
den Vertrag nicht geholt? Verſucht doch etwas Gleichwertiges zu erhalten. Eine 
derartige Antwort enthält unſeres Eradtens den Schwerpunft aller maroffanifchen 
Politik. Zugreifen im rechten Augenblit und nad den redjiten Dingen. Die 
legteren laffen fi) leicht namhaft madhen, wer Maroffo einigermaßen fennt, 
ſieht bald, was wir dort haben follten und haben könnten. Much der rechte Augen— 
blid, wenigftens der unter Zugrundelegung allein maroffanifcher Berhältniffe richtige 
Augenblid, ließe fich wohl beitimmen, allein das Zufaſſen ift nur im Ausnahme: 
falle Sache des Privatmannes, es ift das Privileg und die Pflicht der Regierung. 
Wie im alten Rom den Leitern ded Staates warnend zugerufen wurde, fie mögen 
Sorge tragen, daß nicht irgend etwas Uebles dem Staatsweſen begegne, jo möchten 
wir vor den unferen die Stimme erheben, damit fie nicht einen uns gebührenden 
und erreihbaren Zuwahs an Macht und Vermögen fich entgehen laffen. Alfo, 
videant consules! 


1% 


EREZRTEZTIEZRTETETREZIEAIER 


Fürlt Bismark und die Kunlt. 


Erinnerungen von 


Anton von Werner. 


D: Deutſchen find glüdlich, den Baumeifter des Deutichen Reiches, den Ge- 
waltigen, feiern zu Eönnen, ohne daß fie feinem Andenken zu jchmeicheln 
brauchen, und fie beleuchteten feine hehre, ihnen jo teure Geſtalt aud in diejen 
Tagen der Feftesfreude bei Aufrichtung feines Denkmals in der Reichshauptitadt 
von allen Seiten, um noch hier und da zwiſchen altbefannten marfigen Zügen 
etwas Neues, Bewundernswertes zu entdeden. 

„Die Kunſt hat fich jo vielfady mit Fürft Bismard befchäftigt“, jagt man 
mir, „wie ftand Fürft Bismard zur Kunſt? Sie müfjen ja etwas davon wiſſen.“ 

Gewiß, meine künftlerifche Thätigkeit hat mich feit 1870 vielfad; mit dem 
eifernen Kanzler zujammengeführt, und die Stunden, die ich mit ihm im Geſpräch 
zubringen durfte, gehören zu den £öftlichiten Erinnerungen meines Lebens. Nur 
erinnere ich mich nicht, jemals mit dem Fürſten eigentlich über Kunft geſprochen 
zu haben. Aber er muß eine fünftlerifche Ader ſtark realiftiicher Natur in fich 
gehabt haben, das fiel mir auf, als ich die Ehre hatte, ihm zum eriten Male 
vorgeftellt zu werden und feinem Geſpräch lauſchen zu dürfen. 

Das war eines Abends im Oktober oder November 1870 im Hauptquartier 
des Kronprinzen zu Verſailles beim Diner. Nach Tiſch hatte Graf Bismard 
behaglich auf einem Sopha Blag genommen, eine Corona aufmerfjamer Zuhörer 
hatte ſich um ihn gebildet und er erzählte u. A. von feinem erften Zufammentreffen 
mit les Favre in Ferrières. Er malte ihn von Kopf bis zu Fuß ab und 
äußerte u. A.: „Er war mir gleich fympathiich, denn er hatte jo große Hände 
und Füße, daß er eigentlich hätte ein Deuticher fein müfjen, weil das für einen 
Franzoſen nicht charakteriſtiſch iſt.“ Sch wunderte mich im Stillen ehrfurdjtsvoll 
darüber, daß man bei weltgejchichtlichen Ereigniljen Zeit und Stimmung haben 
kann, ſolche Beobachtungen zu machen. 

Meine eriten größeren künftleriichen Arbeiten in den fiebziger Jahren in 
Berlin, der Fries um die Siegesjäule und die „Proflamierung des deutjchen Kaiſer— 
reichs“, zwangen mich zu eingehenderer Beichäftigung mit dem Fürften Bismard, 
der aber leider mit viel bejjeren und nötigeren Dingen zu thun hatte, als mit 
meiner Malerei. Ich eröffnete troßdem die Laufgräben und Approchen gegen 

5* 


68 Anton von Werner, Fürſt Bismard und die Kunſt. 


ihn, um ihn zu einer Sißung für mein Bild zu gewinnen, Ich hatte ihn aller- 
dings ja am 18. Januar 1871, als er die Proflamations-Urkunde des neuen 
Deutjchen Reiches im Spiegelfaale des Verfailler Schloffes vorlag, flüchtig fkizziert, 
auch beobachtet, wie er bei Seite ſtand und, während Kaiſer Wilhelm von der 
Eitrade herunterfchritt, vom bayerifchen General von Hartmann und dem General 
von Blumenthal beglückwünſcht wurde. 

Das genügte doc aber nicht fir mein Bild. Für Porträtſitzungen hatte der 
Kanzler natürlich feine Zeit, aber er hatte die Freimdlichkeit, mid) mehrfach zu 
Tafel oder zum Abend einzuladen und weiteres in Ausficht zu Stellen. Bei einem 
diefer Ejjen, am 15. Januar 1877, Hatte ich dem Reichskanzler im Auftrage meines 
Freundes J. V. von Sceffel die ziweite Auflage des von mir illuftrierten 
„Gaudeamus“ überreicht. Er intereilterte ſich für Scheffel3 Berfönlichkeit, den 
er exit etwas jpäter in Kiſſingen fennen lernte, und bedauerte, daß er ihn nicht 
jenen Lanenburgern als Neichstagsfandidaten empfohlen habe. Er las nad) 
Tiſch, nachdem ihm Geheimrat Obernit feine lange Pfeife gebracht und ange: 
zündet hatte, mit ſichtlichem Bergnügen die Gedichte von „Guano“, vom „Ichwarzen 
Walftic zu Askalon“ und andere laut vor, und ich zeichnete ihn indeſſen mehrfach. 
Damit war aber für mein Bild immer nod) nicht viel zu machen. Der Nblieferungs: 
termin — 22. März 1877, zum 80. Geburtstag Kaiſer Wilhelms — rüdte immer 
näher und ich wurde immer dringender. Die Frau Fürftin verfprad) ihr mög: 
lichites zu thun. Endlich — drei oder vier Tage vor dem legten Termin — wird 
mir die Fürſtin Bismard gemeldet, ic ftürze aus dem Atelier hinunter und febe, 
wie fi) aus dem vor der Thür hHaltenden Wagen der Arm der Frau Fürftin 
berausftredt — die beiden mächtigen Kürafiieritiefel ihres hohen Gemahls mir 
entgegenreichend. Das war alles... .. 

Das Jahr 1878 führte mich in einer ernfthafteren, die Kunſt näher be: 
rührenden Angelegenheit mit dem Neichsfanzler zufammen. Das Deutiche Reich 
hatte abgelehnt, ih an der 1878er Pariſer Weltausftellung zu beteiligen. Der 
Umſchwung in unjeren Beziehungen zu Frankreich indejlen, als das liberale 
Minifterium Dufaure-Waddington die Negierung übernahm und Graf St. Vallier 
als Botichafter nach Berlin kam, veranlaßte den Neichäfanzler, der franzöfiichen 
Republik ein ſichtbares Zeichen freundlicher Gefinnmung dadurch zu geben, daß das 
Deutiche Neich ſich noch in letter Stunde an der Weltausfteling in Paris in 
irgend einer Form beteiligte. Er ließ mich am 21. Februar 1878 um 11 Uhr 
Abends zu ſich rufen und legte mix die Frage vor, ob ich bis zum 1. Mai noch 
eine deutſche Kunſtabteilung für Paris veranftalten könnte. Bon Kommiſſionen 
und dergf., die ich ihm vorichlug, wollte ev nichts wiſſen, „damit habe ich mid) 
in meinem Leben genug zu ärgern gehabt," meinte er, „machen Sie es oder es 
unterbleibt.” Ich veriprah ihm darauf, in adıt Tagen Beicheid zu bringen. 
Pünktlich an dem bejtimmten Tage gegen Mitternacht legte ich ihn mein Pro— 


Anton von Werner, Fürſt Bismard und die Kunſt. 69 


gramm dor, in dem in zehn Punkten meine Borichläge formuliert waren. Ich 
war erjtaunt über den gejchäftlichen Blid, mit dem der Stanzler diefe zum Zeil 
rein techniichen Punkte beachtete und mit mir durchſprach. Er blieb am Koften- 
punkt haften. ch jagte ihm: „Wenn id) Ew. Durchlaucht recht verjtehe, jo handelt 
e3 ic hier nicht um eine Frage der Kunft, Jondern um einen coup de politique; 
wir jollen in Paris unfere Vifitenfarte abgeben, jo vornehm und anjtändig wie 
möglich, und das wird Geld koſten!“ „Das ift richtig,” meinte ev, „aber denfen 
Sie daran: ultra posse nemo obligatur.“ Er wiederholte diefen Sprud; jpäter, 
nachdem ich in Paris geweien war und die Situation ftudiert hatte und mit dem 
Koſtenpunkt vorrüdte, nocd öfters, bejonders an einem parlamentarifchen Abend, 
als gerade der eben neu ernannte Finanzminiſter Dr. Hobrecht mit ihm am Kamin 
tand. Der Minifter von Bülow fagte indeffen zu mir: „Sind wir ins Waſſer 
geiprungen, jo müſſen wir auch ſchwimmen!“ und ich erhielt die umfajjendften 
Vollmachten. 

Die Ausſtellung erledigte ſich übrigens in zufriedenſtellendſter Weiſe; einige 
der ausſtellenden Nationen ſchloſſen ihre Kunſtabteilungen — wenn ich nicht irre, 
ſogar die Franzoſen ſelbſt —, um ihrer Einrichtung ſoweit als möglich nachzu— 
helfen, nachdem ſie die unſrige, von Gedon-München mit vollendetem Geſchmaäck 
ausgeſtattete, geſehen hatten. Die franzöſiſche Regierung verweigerte überdies allen 
auf den Krieg von 1870/71 bezüglichen Kunſtwerken die Aufnahme in die fran- 
zöfiiche Kunstabteilung, weil auch unfererfeits jede Erinnerung an 1870/71, jelbit 
die Aufitellung einer Büfte des Kaiſers vder des Fürſten Bismard, vermieden 
worden war. Die „Bilitenfarte“ war alfo fo höflich und korrekt als möglid) 
abgegeben worden und auc das „ultra posse* forreft erledigt, denn ich Eonnte 
von den mir zur Verfügung gejtellten Mitteln noch 30000 M. als unverbraucht 
zurüdgeben. 

Inzwiſchen war am 12. Juni in Berlin der europätiche Kongreß zufammen: 
getreten, und die mir von der Stadt Berlin gejtellte Aufgabe, die Mitglieder des— 
jelben in einem größeren Porträt-Sruppenbilde darzuftellen, führte mich aufs 
neue in einer Künftleriichen Angelegenheit mit dem Fürſten Bismard zuſammen. 
Ter Reichsfanzler hatte mir geftattet, zum Studium der delegierten Diplomaten 
vor Beginn der Situngen anwelend zu fein. Graf St. Vallierv meinte dazu, id) 
itudierte die Herren Diplomaten jet „comme les bötes fauves au jardin zoo- 
logique.“ In den Morgenftunden machte ic Borträtftudien der Herren. Fürſt 
Gortſchakow erzählte mir bei einer Borträtlikung, daß er übermorgen 80 Jahre 
alt würde. Als er dann einige Tage fpäter meinen Studienkopf befichtigte, jagte 
er mir: „Mais, mon ami, Sie haben mid) zehn Jahre älter gemadt.“ Das 
wäre alſo als MWijähriger; ich glaube nicht, daß ich diefe Aufgabe, wenn jie als 
Preisaufgabe geftellt worden wäre, hätte lülen können. Fürſt Dobenlohe, der 
ſpätere Neichsfanzler, fagte mir eines Tages: „Andrafiy erzählte mir, Sie hätten 


70 Anton von Werner, Fürft Bismard und die Kunſt. 


eine fo gute Karrikatur von ihm gemadt." Da ich, außer in frühefter Slünftler- 
jugend, nie Sarrifaturen gemacht habe, war ich einigermaßen erjtaunt über dieje 
Mitteilung. Lord Beaconsfield, der unter allen beim Kongreß anweſenden hohen 
Herren von der Natur wohl am wenigften mit körperlicher Schönheit bedacht war, 
zeigte ſich am meiſten zufriedengejtellt von meiner Borträtitudie und wiederholte 
öfters: „Mais c’est très bien, c'est magnifique.“ Er jaß, ſtark an der Gicht 
leidend, aber guten Humors, halb liegend auf der Chaifelongue, während ic) ihn 
zeichnete und malte, und meinte, auf fein Bein zeigend, lachend: „c’est la goutte, 
mon cher!“ „Mais oui,“ antwortete ih ihm, „la maladie historique de 
Downing-Street.“ 

Mit Fürft Bismard hatte ich mic ins Vernehmen zu feßen über die äußere 
Gejtaltung der Schlußfigung, der Unterzeichnung der Verträge, die id) in einem 
Bilde vereinigen follte. Herr von Radowitz und Graf Herbert Bismard waren 
— als Sefretäre des Kongreſſes — die Bermittler. Ich hatte meine Kleinen 
Wünſche. Eritens follten die Herren in Uniform ericheinen, da das Zivilkoftüm, 
wie ich mid) überzeugt hatte, zu charakterlos für ein folches Bild war. Zweitens 
jollten die Verträge nicht an dem Hufeifenförmigen Situngstifch, fondern an dem 
Eleineren Kartentiſch unterzeichnet werden. Drittens wäre e8 mir erwünſcht ge- 
wejen, wenn bei der Unterzeichnung aus dem dicht neben dem GSitungsjaale 
liegenden Buffetzimmer Sekt präfentirt worden wäre; die türkischen Bevollmäch— 
tigten, die auf dem Bilde recht$ von der betreffenden Thür zunächſt ſich befanden, 
wären damit zuerit bedacht worden. Sie jollen ja nad) dem Koran wohl eigentlich) 
feinen Wein trinfen, aber e8 war mir wohlbefannt, daß die Herren, vor allem 
unjer Landsmann, Marjchall Mehemed Ali Paſcha (geb. Detroit aus Magdeburg) 
einen guten Trank nicht verſchmähten. Endlich hätte ich gern auch den Reichshund 
Tyras mit verewigt. Punkt eind und zwei bewilligte der Kaiſer, Punkt drei 
erichten ihm bedenklich wegen der bulgarischen Greuel, und gegen Punkt vier war 
des Umftandes zu gedenken, daß das Reichstier gelegentlich unbeabſichtigt dem 
Fürſten Gortſchakow zwiichen die Beine gefahren war und den alten Herrn fait 
zu Falle gebracht hatte. Punkt drei und vier wurden alfo fallen gelaffen. 

Bei der Schlußfigung fiel es mir auf, mit welcher Sorgfalt Fürft Bismard, 
welcher frei ſprach, die Worte wählte und ſich öfters Eorrigierte, 3. B. ftatt des 
Wortes „observations“, den Sat wiederholend, das Wort „objecetions“ ge: 
brauchte. Graf Andrafiy las feine kurze Dankesbemerfung an den präfidierenden 
Reichsfanzler von einem Duartblatte ab. 

Erſt zwei Jahre jpäter, im Juli 1880, konnte ich Porträtitudien des Fürften 
in Friedrichsruh machen, wohin ex mid) für einige Tage freundlichft eingeladen 
hatte. ch Hatte mehrere Studienköpfe untermalt, da ich ahnte, daß der Fürft 
für die Situngen nicht gerade zu viel Zeit übrig haben würde und daß ich mid) 
mit einigen Farbenfleden und Andeutungen begnügen müßte. Dem war aud) fo. 


— 


Anton von Werner, Fürſt Bismarck und die Kunſt. 71 


Schon nad) fünf oder zehn Minuten jprang der Fürſt auf und erklärte, daß ihm 
das Sitzen gräßlicd) ſei, jeitdem ihn die Bildhauerin Elifaberh Ney im Jahre 1866 
unverantwortlic) damit gequält hätte. Much noch ein Eleiner Nebenumſtand machte 
die erſte Sigung nicht gerade behaglich für mich. Ach bin gewohnt, mit dem 
Malitof zu arbeiten. Als der Fürft, gefolgt von dem Neichshunde, eintrat und 
den Stod in meiner Dand bemerkte, rief ev mir zu: „Um Gottes willen, legen 
Sie den Stud weg, Tyras jpringt Ahnen jonft an die Kehle!” Recht angenehm 
für einen harmloſen Porträtmaler! Ich konnte den Fürjten übrigens jeweils nad) 
der Tafel genügend von allen Seiten zeichnen und feine Bewegungen ffizzieren, ohne 
mit Tyras in Fehde zu geraten. Der Fürft jah damals jo rot und braun verbrannt 
aus, daß er dem zu 1878 pajjenden Teint durchaus nicht entiprad). 

Als ic) mit den Wandgemälden für den Nathausfaal in Saarbrüden, die 
1880 fertig wurden, beichäftigt war, hatte ich den Fürften Bismard um eine 
Devije für fein dazu gehöriges Porträt gebeten. Er gab mir als ſolche die Worte: 
„Ohne Kaiſer fein Reich.” ch erinnere mich nicht, dab diefer Ausſpruch ſchon 
früher in Anwendung war. 

Daß Fürſt Bismard der liebenswürdigite und unermüdlichite Wirt umd 
der geiftvollite Plauderer bei Tiſch war, bleibt wohl jedem, der das Glück gehabt 
bat, unter feinem Dace zu wmweilen, in unvergeklicher Erinnerung. In jenen 
Tagen war gerade der damalige Oberpräfident von Schleswig-Holjtein, Herr von 
Bötticher, auch Gaft in Friedrichsruh, und täglich waren zu Tiſch nody einige 
andere Derren anweſend. Die Geipräche, deren Koften der Fürft unermüdet faft 
allein beftritt, drehten ſich um Fort: und Landwirtjchaft, die Verſtaatlichung der 
Eiſenbahnen und die in Angriff genommene fozialpolitiiche Geſetzgebung. Als 
ih eine bewundernde Bemerkung über des Fürften eingehende Kenntnis der 
kleinſten Detaild der Landwirtichaft machte, antwortete er: „Das ift leicht er- 
flärlich, ich bin ja eigentlich von Fach Yandwirt und nur aus Verſehen Miniiter 
geworden. Deshalb bin ich auch am liebften hier oder in Varzin und jehr 
ungern in Berlin, befonders im Neichstage, um Reden zu halten; meine Kanzler— 
geichäfte Fann id; ganz gut aud) von bier aus erledigen, und ich begreife nicht, 
warum die Zeitungen mich immer durchaus in Berlin und im Neichstage haben 
wollen." ch konnte jogar eines guten Abends mit dem Fürften Erinnerungen 
an die Tage in Verſailles 1870/71 austauschen, die höchſt intereſſante politifche 
Aeußerungen des Fürften mit fi) brachten. 

Als das Sedan: Panorama fertig geftellt ward, und ich die beiden erjten 
Dioramen dazu: „General Reille überbringt dem König Napoleons Brief“ und 
„Biemards und Napoleons Zufammentreffen auf der Chauſſee von Dondery“ 
vollendet hatte, war Fürſt Bismard von der Panorama-Direktion zur Befichtigung 
eingeladen worden, und ic) jah ihn dort am 18. November 1884 wieder. Gr war 
inzwijchen in Schweninger'ihe Behandlung getreten und ſah ſehr wohl und ver: 


72 Anton von Werner, Fürſt Bismarck und die Kunſt. 


gnügt aus. Er geitand, ein Banoranıa noch nie gejehen zu haben, und war von 
dem eriten Eindrud ſichtlich überraſcht; er erzählte viele Eleine Epiſoden des 
Scladttages und erinnerte ſich genau einiger charakteriftiichen Einzelheiten, jo 
3 DB. daß er bei der llebergabe des Napoleon'ſchen Briefes etwas weiter rechts 
vom Könige geitanden hätte, als id) es dargejtellt habe. Auch bedauerte er, daß 
ich den Grafen Daßfeld nicht mit angebradjt hätte, „den einzigen Ziviliſten, der 
dabei war." 

Sein Zulammentreffen mit Napoleon fchilderte er etwas anders und weniger 
draftiich, als ich es 1877 von ihm gehört hatte. Damals erzählte der Kanzler, 
daß er bei feiner KHurzlichtigfeit erit, als er dem Wagen ſchon ganz nahe war, 
Napoleon erfannt habe, mit drei Offizieren am Wagen ftehend. „Ach parierte 
mein Pferd, um abzuiteigen; dabei war mir der Revolver zwiſchen die Beine 
geruticht und genierte beim Abfteigen. Ach griff darnach und bei dieſer Be- 
wegung wurde der . . . . (Napoleon) weiß, wie eine Kalkwand.“ Ich Falkulierte 
daraus, daß Bismard dem Kaiſer ganz nahe geweſen fein müßte, um bei feiner 
Nurzfichtigkeit dies zu bemerken und wählte deshalb für mein Bild nicht die Dar: 
jtellung, welche Bismard in feinem offiziellen Bericht über fein Zufammentreffen 
mit Napoleon gemacht hat. Unbewußt gab mir indejlen der Kanzler Nedt, in- 
dem er fragte: „Daben Sie den Kaifer gekannt? Gerade jo, wie Sie ihn hier 
gemalt haben, ftand Napoleon vor mir. Ich war in Wirklichkeit aber wohl 
etwas höflicher, als ich bier ausſehe.“ Er erinnerte ſich nicht, ob er an 
dem Morgen in der Eile, mit welcher er abgeritten jei, die Schärpe angelegt hätte, 
und meinte, es jei inforreft, wenn ich ihm nicht auch die Kartuſche dazu gäbe. 
„sch werde auf die Nachwelt als inforrefter Soldat übergeben, und wenn der 
Kaiſer dies fieht, fo wird er es gewiß monieren. Die quite Roſa (des Kanzlers 
Pferd) iſt aut netroffen, es war ein ftarffmochiges Tier, aber eine Stute, — 
bier ıjt ihr Kopf etwas männlich — fie ift erit im vorigen Jahre geftorben." 

Wenige Tage nachher, am 21. November, traf ich den Fürften zu meiner 
größten Ueberraichung in einer Soiree bei den fronprinzlichen Derrichaften zur 
eier des Geburtstages der Fran Kronprinzeſſin; er war jeit mehreren Jahren 
nicht mebr in Gefellichaft gegangen. Gr wiederholte mir, als ich ihn begrüßte, 
in verbindlichiter Weile, welchen Eindrud ihm das Sedan- Panorama gemadıt 
babe und daß er „Immer noch unter diefem Gindrud ftehe.“ 

Zum 70. Geburtsfeite des Neichsfanzlers hatte ich das Ehrengeichent Kaiſer 
Wilhelms und der königlichen Familie anzufertigen, eine Wiederholung der Kaiſer— 
proflamation in Eleinerem Format, wie ich fie als Wandbild im Zeughauſe gemalt 
hatte. Der Mailer hatte mehrfache Abänderungen mit Rüdjicht auf den vor: 
liegenden Zweck gewünjcht. Am 1. April 1885 wurde das Bild dem Fürften vom 
Kaiſer unter Aſſiſtenz des Kronprinzen perfönlich überreicht. ch war leider bei 
diefem Akte nicht zugenen, Fam aber Mittags nad ein Uhr zum Kanzler und 


Anton von Werner, Fürſt Bismard und die Kunſt. 3 


fand ihn umringt von Hunderten von Gratulanten aller Stände, Abgeordneten, 
Diplomaten, Studenten, unjeren Kunjtafademifern, die den Feſtzug vom Abend 
vorber arrangiert hatten, Abordnungen und Herren und Damen aus allen Ständen. 
Bismard war die Freude und Liebenswürdigkeit felbft, plauderte mit allen und 
tranf überall din zu, allerdings ſcharf beobachtet von Dr. Schweninger, der ihm 
nicht von der Seite wid. Er jagte mir viel Freundliches über mein Bild, das 
ihm bejjer gefiel als das große im Sclofje befindliche. Seit dieſer Zeit bin ich 
mit dem Fürſten nicht mehr in perjönliche Berührung gekommen. Ich habe ihn 
nur noch gejehen, als er im Jahre 1890 als verabfchiedeter Kanzler von feiner 
legten amtlichen Audienz vom Schlofje die Linden entlang zurüdfehrte, eine gelbe 
Roſe in der Hand und vom Bublifum ftürmijch begrüßt. Und das letzte Mal, 
als er am 26. Januar 1894 zur Beglückwünſchung des Kaifers hierher Fam, mit 
füritlihen Ghrenbezeugungen empfangen und begleitet von Prinz Deinridy, in 
einem Dofgalawagen, von Garde-Slüraffieren esfortiert, die Linden zum Schloſſe 
binfubr. 

Für feine Geſtalt auf dem 1893 vollendeten Reichstagsbilde habe ich mid) mit 
den Skizzen behelfen müſſen, die ich bei der Feitlichfeit jelbjt, am 24. Juni 1888, 
von ihm gemacht hatte. 

Die feſtumriſſene Deldengeitalt des eifernen Kanzlers wird, wie aus der 
deutichen Geſchichte, fo aud) aus der deutjchen Kunft nie verſchwinden, dafür bat 
er ſelbſt geforgt, denn „eine Zeile Geſchichte it mehr als taufend Gedichte,“ wie 
ihm mein Freund J. B. von Scheffel einft jchrieb. 


Net 


BIDIBIBIDIBIBIBIBIBIBIBIBIB] 


Bankbrüche und Bankkontrollen. 


Von 


Adolph Wagner. 


I. 
Zur Diagnofe und Kritif. 


D: vollftändigen oder partiellen Zufammenbrüde, Zahlungseinftellungen, 
Zahlungsitodungen einer ganzen Anzahl größerer deuticher Banfen jeit 
vorigem Winter haben weit über die Kreiſe derer, welche davon zunächſt ſchwer 
- betroffen und zum Zeil ruiniert worden find, berecdhtigtermaßen das peinlichite 
Aufiehen erregt, im bisher jo vertrauensfeligen Inlande wie im bisher neidifchen, 
jet jchadenfrohen Auslande. Zuerft die Enthüllungen über die Hypothefenbanfen 
der „Spielhagengruppe" — voran über die Preußiiche Hypotheken-Aktienbank mit 
ihren Tochtergelellichaften, die Deutjche Grundſchuldbank, dann über die Pommerſche 
Hypotheken-Aktienbank, die Mecklenburg-Strelitz'ſche Hypothekenbank —, jpäter 
die noch überrajchenderen Enthüllungen über die Berhältuifje in der Gruppe 
moderner jog. Effektenbanfen — bei der Dresdener Kreditanftalt für Anduftrie 
und Dandel, der Leipziger Bank, der Rheinifchen Bank in Mülheim an der 
Ruhr, um nur die wichtigften Fälle zu nennen. Dieſe Enthüllungen haben eine 
Summe von geichäftlicher Unordnung, Mißwirtſchaft und Ungefchidlichkeit, von 
Leichtjinn, Gewiſſenloſigkeit, Unredlichkeit, von Verſtößen gegen die Grundregeln 
ordentlichen Bankbetriebs, von ſchamloſer Verlegung von Treu und Glauben und 
gejeßlicher und ftatutarifcher Normen offenbart, wie es wenigftens in der neueren 
Bankgeſchichte anderer Kulturländer, Großbritanniens, Frankreichs, Nordamerikas 
kaum ähnlich vorgefommen if. Man muß auf die fchlimmiten Zeiten der 
britiichen und nordamerifanischen älteren Bankgeſchichte zurüdgehen, um wirklich 
Hehnliches, aber auch da kaum von folcher Ausdehnung und in ſolchem bedenk- 
lichen Maße zu finden, und auch die franzöſiſche Bankgeſchichte meldet doc) immer 
nur von einzelnen derartigen Fällen, nicht gleich von einer ganzen Epidemie 
von Banfbrüchen. 

In Wechſelwirkung mit diefen Vorgängen im großen Bankweſen ftehen 
ähnliche Erjcheinungen auf dem Gebiete der Anduftrie, namentlich bei Induſtrie— 
Aktiengeſellſchaften. Auch hier gleiche oder faft noch ärgere Mißwirtichaft, Ueber: 


Adolph Wagner, Bankbrüche und Banktontrollen. 75 


ſpannung der Geichäfte und des Kredits, bedenklichite und unlauterfte Berquidungen 
der Unternehmungen untereinander, von Mutter: und Tochtergejellihaften, mit- 
unter ein wahrer Rattenkönig von Gefchäften, unordentliche oder jelbft gefäljchte 
Buchführung, Ungefchidlichkeit, Unredlichkeit, direkter Betrug. Die Banken leicht: 
jinnig im Kreditgeben an folche induftrielle Unternehnnmgen bis zur Blindheit, 
dann nicht mehr in der Lage, zurüd zu können, immer weiter gezogen, bis zum 
eigenen unabmwendbaren Ruin, wie die Leipziger Bank in ihrer Verbindung mit 
der Kafjeler Trebertrodnungs-Gefellihaft und deren Tochter: Knäuel, wie die 
Dresdner Ereditanftalt in der Verbindung mit den in einer Dinficht ja tüchtigen, 
aber geſchäftlich ebenfalls unverantwortlich geleiteten Kummerſchen Elektrizitäts— 
werken. Die Induſtriegeſellſchaften, wie die oben genannten, den willfährig ge— 
gebenen Bankkredit übermäßig ausbeutend, die fo erlangten Kapitalien in ihren 
Anlagen feitlegend, beſtenfalls unerhört leichtjinnig geleitet, mehrfach direkt un— 
ehrlich und betrügerifch, bis zu dem wahrhaft jfandalöfen Fall der G. Terlindenichen 
Aktiengejellihaft mit Fälſchungen und Betrug aller Art im größten Maßjitabe. 

Meift durch jene genannten — aber freilid) auch noch durch andere — 
Hypothekenbanken begünftigt eine „wilde und wüſte Terrainjpefulation", wie es 
jelbft die Börjenprefje jett nennt, in den großen Städten und deren Vororten, 
voran in Berlin, ein wahrhafter „Bodenwucher”, der die Grundjtüdspreife empor: 
ichnellte, da8 Bebauen maßlos verteuerte, das Baugefchäft in unjolide Bahnen 
drängte, die dabei Beteiligten, eigentlich erft die Werte jchaffenden Elemente, die 
wirklichen Bauhandwerker, ausbeutete. Millionen und aber Millionen „Brand: 
briefe" dieſer Hypothekenbanken werden al3 „ſolideſtes Anlagepapier" auf den 
Markt gebracht, in die Hände des Eleineren und mittleren Kapitaliftenpublifums 
lanziert, ein Publikum, das für feine oft mühſamen Erjparniffe nur eine fichere 
Anlage, fern von aller Spefulationstendenz und Gewinngier fucht, fich mit einer 
mäßigen Rente begnügt; ein Bublitum, das durch Neklame mit unverdienten Hof: 
prädifaten, wie die Pommerſche Hypothefen-Aktienbanf als „Hofbank der deutfchen 
Kaiferin” und mit dein Hinweis auf die Stellung der Bank unter „ftaatlicher 
Aufſicht“, noch mehr künſtlich herangelodt twird, — um elend betrogen und um 
einen guten Teil feines ehrlich erworbenen Vermögens gebracht zu werden! 

Es ift ein in jeder Hinficht trojtfofes Bild, das ſich hier bietet. Die end- 
gültigen Bermögensverlufte, welche das Privatpubliftum an den Aktien der Banken 
und Anduftrieunternehmungen, an den PBfandbriefen und Obligationen, den 
Depofiten und fonftigen Forderungen erleiden wird, laſſen ſich noch nicht ganz 
überjehen. Bieles wird von dem Ausfall der „Sanierungen, Abwidlungen, Liqui— 
dationen, Konkurſe abhängen, aber in einzelnen Fällen, wie 3. DB. bei der 
Yeipziger Banf, wird für die Aktionäre wohl alles, für die Gläubiger ein jehr er: 
bebliher Teil ihrer Forderungen, man fpricht von 50 Prozent (!), unmiederbring- 
ih verloren fein. Bei den Hypothekenbanken werden die eingeleiteten Sanie— 


76 Adolph Warner, Bankbrüche und Bankkontrollen. 


rungsmaßregeln wenigftens für die Pfandbriefbefiter die Verfufte glücklicher: 
weije einichränten, — wenn alles gut gebt; in welchem Maße, hängt immer 
nod; von mandherlei veränderlichen Faktoren ab. Ohne Berlufte, mindeftens 
für eine Zeit lang an Zinien, wird es für die Pfandbriefbejiger kaum abgehen. 
Die Unficherheit aller Wertihätungen bei den hypothekariſch als Dedung der 
Pfandbriefe dienenden Grundjtüden hat ſich jchon bisher gezeigt, wie zu eriwarten 
war, fo in den verjchiedenen Ergebniſſen, welche die Nevifionen, darunter auch 
ſolche von ſtaatlichen Auffichtsorganen, in diefer Hinficht geliefert haben. Ein 
Beleg für die Unficherheit des ganzen Gejchäfts der Oypothefenbanfen. Dauert 
die abiteigende Konjunktur im allgemeinen Wirtichaftsleben, in die wir feit 
Mitte 1900 unzweifelhaft eingetreten find, länger an und greift fie tiefer, was 
beides zwar nicht gewiß, aber, aud) verbleibende politiiche Ruhe vorausgefekt, 
nicht unwahrscheinlich ift, jo werden vermutlich ned) manche Enttäufchungen bei 
den Werten großftädtiicher Grundjtüde, vollends der Bauterrains — aber aud) 
bei den im Wert ſelbſt im ‚„Feuerkaſſenanſchlag“ überſchätzten Häuſern erlebt 
werden. Jedoch auch unter günftigeren oder günftiger werdenden allgemeinen 
Wirtſchaftsverhältniſſen jind erhebliche Berlufte, in verfchiedenem Grade freilich 
bei den einzelnen Banfen und Anduftrieunternehmungen, ſchwerlich ausgeichlofien. 
Nur nad dem gegenwärtigen Stand der Dinge (Anfang Auguft 1901) ver: 
anfchlagt, ergeben Sich für einige der wichtigiten Fälle des Zuſammenbruchs fol- 
gende Schäßungen des Berlufts, auf Grund der Materialien in den Salingjchen 
Boörfenjahrbühern und nad den Surszetteln. Die Zahlen liefern mwenigitens 
ein ungefähres Bild der Verwüſtungen in Vermögen der betroffenen Aktionäre 
und Gläubiger. Es find dabei die Berluite nach dem ungefähren Kursſtand in 
neuerer Zeit (1898— 1900) vor der Kataſtrophe verglichen mit dem gegemmärtigen 

Kursſtand (Anfang Auguft 1901) in abgerundeten Summen berechnet. 

Verluſt in Millionen Mark am 
Altienkapital Pfandbriefkapital 

am Nennwert am Kurswert am Nennwert am Kurswert 


Preußiſche Hypotheken— 


Aktienbank. . . . 19,5 26,5 75 66 
Deutiche ®rundichuldbanf 9,7 12,7 57,0 56,2 
Pommerſche Hypotheken: 

Aetienbanf. . . . 11,5 17,5 38,9 37,4 
Medlenburg Streligiche 

Hypotheken-Bank . 10 14 12,6 12 
Sa. d. 4 Hypoth.Bank. 50,7 70,7 184,1 171,6 
Dresdener Kreditanftalt 175 255 — 

Leipziger Bank. . . . 45,5 69,5 — 


Summe d. 6 Banken . 1137 165,7 — — 


Adolph Wagner, Bankbrüche und Bankkontrollen. 77 


So ergäbe ſich nur bei dieſen ſechs Banken für die Aktionäre ein Ver— 
luſt am Nennwert der Aktien von rund 114, am früheren Kurswert von 
166 Mill. M.; für die Pfandbriefbefiker ein VBerluft von ca. 170—180 Mill. M.; 
fir beide zufammen alfo von 334—344 Mil. M. im Verlauf von nod) nicht 
einem Jahre. Diefer Berluft ift ja nicht durchaus ein reeller, er kann ich bei 
Wiedergefundung einzelner der Anftalten, befonders der Oypothefenbanfen, wozu 
erfofgreihe Schritte geichehen find, ermäßigen, der Kurs der Pfandbriefe und 
jelbit der der Aktien kann wieder jteigen. Aber der Verluſt kann möglicher: 
weile auch noch größer werden. Jedenfalls ift er fir denjenigen Befiter ein 
veeller, welcher zu den jeßigen oder zeitweife vordem jelbit noch fchlechteren 
Kurſen verkaufte, jei es aus Notwendigkeit und Geldbedarf, fei es aus Mengft- 
lichkeit und um ſich den Ipefulativen Kursſchwankungen zu entziehen — und fo: 
gar in Pfandbriefen der nutleidenden Banken bat ſich alsbald ein Differenz: 
geichäft an der Börſe angefnüpft. Zu dem berechneten Verluſt fommt aber 
ein ebenfalls noch nach Millionen zählender jchon bei den Gläubigern der Leip- 
iger Bank allein, der übrigen Eleineren in Berfall geratenen Banken nicht zu 
gedenken. Die Leipziger Bank bat mit ca. 2 Mill. M. Verbindlichkeiten gegen 
Dritte, denen feine realifierbaren und großenteil® nur wertlofe Forderungen 
gegenüber ftanden, ihre Zahlungen eingeftellt. 

Aber ſelbſt die Kurſe der Aktien und der Brandbriefe anderer deuticher Banken, 
jo ziemlich aller, auch der jolideiten, haben wenigſtens zeitweife unter dem Ein— 
druck gelitten, welchen die Enthüllungen bei den befprochenen Banken hervorriefen, 
weil man fürdjtete, dat Mehnliches auch bei noch feitftehenden Banken vorgekommen 
jet oder vorkommen könne, wenn ed auch noch nicht befannt geworden jei, und 
daß wenigitens auch diefe Banken von den Berluften an den zujammenge- 
brochenen Banfen und vollends den induitriellen Unternehmungen mit betroffen 
werden fönnten. Abgejehben von dem namentlich für Aktien überhaupt ungünſti— 
gen Einflujfe der nach maßloſen Spekulationserzejfen, wie ſtets, ſtark herabgehen— 
den wirtichaftlihen Konjunktur find durch die Ereigniſſe bei den erwähnten 
Banken daher allgemeine Kursverlufte bei anderen Banfen eingetreten, die 
wieder in die Millionen geben, in Summa mit den oben berechneten zuſammen 
jicher in die vielfachen Hunderte von Millionen Mark. 

sreilich find das ja nun zunächſt nur private VBermügensverlufte umd 
Renteneindbußen. Ob und wieweit wirklich volfswirtichaftliche Verluite, d.h. 
jolhe am eigentlihen Nativnalvermögen, ſteht noch dahin, da hierfür die 
Kursitellung der Wertpapiere nicht das Beftimmende ift. Der eigentlich volks— 
wirtichaftliche Berlujt an werfthätigem Nationalfapital, das im Wert vermindert 
wird, fich zurüdzieht und brach liegt, der Berluft am Nationaleinfommen, weil 
Arbeitskräfte infolge diefer Vorgänge nicht beichäftigt werden, ergiebt ſich erit 
aus der Weiterwirfung folder GEreigniffe, wie den bei den Banken vorge: 


78 Adolph Wagner, Bankbrüche und Bankkontrollen. 


fommenen. Die von diefen bisher direkt und indireft mit Kapital unteritütten 
Unternehmungen gehen jett ebenfall3 zu Grunde, weil ihre bisherige Kredit: 
quelle verfiegt, oder müſſen ihre Gefchäfte deswegen einfchränfen. Eine ganze 
Anzahl Konkurfe von Snduftrieunternehmungen war bereit3 die Folge der Kr: 
eigniffe bei der Dresdner Streditanftalt und der Leipziger Bank. Hilfsaftionen, 
wie fie von den großen Berliner Banken durch Gründung von Filialen u. |. w. 
eingeleitet worden find, 3. B. in Sachſen, find daher audy gewiß richtig und 
wertvoll, um die Weiterwirfungen folder Banfkrifen zu hemmen. Wieweit 
mit Erfolg, muß fich freilich erft zeigen. 

Auch die privaten Vermögens: und Einktommensverlufte, wie bei notwendig 
werdenden Zinsfußreduftionen der Pfandbriefe und Dividendenkürzungen der 
Aktien, haben indeflen eine da8 allgemeine Intereſſe berührende Seite. Am 
ihlimmften in diefer Dinficht und überhaupt find bier die Vorfälle bei den 
Hypothekenbanken, joweit fie die Pfandbriefe betrafen, und, wenn auch jchon 
nicht in gleihem Maße, bei den Effektenbanken — binfichtlid der privaten, aus 
nicht-gefchäftlichen Kreiſen ſtammenden Depofitengelder u. dgl. anzufehen. 
Zugleich tritt hier der Bruh von Treu und Glauben in feiner gemeinihäd- 
lichen Wirkung befonders fcharf hervor. Denn die bier betroffenen Kreife find, 
zumal bei den Pfandbriefanlagen, großenteil3 diejenigen mittlerer und Eleinerer 
Kapitaliften, denen e8 gar nicht auf Gewinne aus Kursdifferenzen, ſondern 
fediglih nur auf fihere, meiftens dauernde Anlagen ihrer Erjparnifje zu 
mäßigen Zinsfuße ankommt. Es it auch ein volfswirtfchaftliches Inter 
ejle, daß diefen Streifen Gelegenheit gegeben wird, ihr jo ich bildendes fleines 
Vermögen fiher anzulegen und es fo der foliden nationalen Produftionsthätig- 
feit durd; Bermittelung der Banken zuzuführen, außerhalb der unjoliden Speku— 
lationen de3 Börfengetriebes und vielen Aktienweſens. Deutſche Staatöpapiere 
find für derartige Anlagen bei der relativen Kleinheit der deutfchen Etants- 
ichulden nicht ausreichend, unterliegen in der heute verbreitetiten Yyorm der 
Rentenfchuld feiner regelmäßigen Tilgung al pari und damit Feiner davon 
mit bedingten Sicherung des Kurfes, haben in den legten 2—3 Jahren befannt: 
ih auch erhebliche Kurseinbußen infolge der allgemeinen Bewegung des 
Zinsfußes erlitten, von denen fie fich erft in neuejter Zeit wieder erholen. Won 
landfchaftlihen Pfandbriefen gilt 3. T. Gleiches, namentlich, daß auch fie nicht 
für das Anlagebedürfnis jener Sapitaliftenkreife ausreihen. Die nach den 
Kurfen, auch bei ruhigem Geldmarkt und in der Zeit hoher Kurje bis 1898, eine 
Kleinigkeit höhere Verzinfung der Bankpfandbriefe gegenüber Staatspapieren und 
meiftens etwas aud; gegenüber landſchaftlichen Pfandbriefen fällt bei Eleineren 
und mittleren Kapitaliſten namentlid) ſeit der allgemeinen ftarfen Ermäßigung 
des Zinsfußes in den letten Jahrzehnten mit ins Gewicht. Die Zinsreduftionen 
der Staatöpapiere und aller Pfandbriefe, welche gerade auch die deutjchen 


Adolph Wagner, Bankbrüche und Bankkontrollen. 79 


Sppothefenbanken unter Anwendung ihrer Machtftelung gegenüber den Pfand- 
briefbefigern noch faft bis in die Tage des Beginns der finfenden Kurſe (1897) 
hinein rückſichtslos forciert haben, find für diefe Kapitaliftenkreife ohnehin ſchon 
oft befonder3 empfindlich für Einkommen und Lebenslage gewejen. Individual— 
opothefen find in Eleineren Boften, gerade mit unter der Konkurrenz der 
Hypothenbanken, Berficherungsanftalten, Sparkaffen für ihre hypothekariſchen 
Beleihungen, in genügender Menge und erforderlicher Güte dem Privatmann immer 
ſchwerer erlangbar geworden, vollends in großen Städten, wo hierfür auch die 
erforderliche Perjonalfenntnis zu erwerben ſchwierig if. So war der Bank— 
Prandbrief für die Kapitalanlagen der genannten Kreife in den legten Jahren 
immer mehr ein wahres Bedürfnis geworden. Das zeigt ſich auch in der riefigen 
Ausdehnung diefer Pfandbrief-Emijfion, deren Betrag vom „Deutfchen Oekonomiſt“ 
für Ende 1900 auf 6504 Mill. ME. gegen bloß 3721 Mill. ME. Ende 1892 
berechnet wird. Sind es, wie die neueften Enthüllungen gezeigt haben, aud) 
mancdherlei unlautere Mittel geivefen, mit denen mande Banfen den Bertrieb 
ihrer Pfandbriefe in die Wege geleitet haben, fo liegt doch der Entwidlung 
ftiher ein reelle8 Bedürfnis des Kapital zu Grunde und ift fie auch volf3- 
wirtichaftlih vielfach al3 eine erwünſchte anzufehen. Someit die Banfen 
nämlich folide Ausleihungen machten, wirklihe Baubypothefen gaben oder 
auf bejtehende, ertragsfähige Häufer liehen und jo andere Kapitalien öfters für 
andere produktive Zwecke flüffig machten, zu ländlichen Meliorationen Geld 
lieferten, .. fann die Funktion der Hypothekenbanken auch al3 eine volfs- 
wirtfchaftlih günftige gelten. Diefe Funktion wurde den Banken aber erit 
durch die Pfandbrief - Musgabe ermöglidt. Wo freilich direft und indirekt, 
durch Bermittlung von Zwifcheninftanzen, durch Schiebungen unter geichäfts: 
verbundenen anderen Banken, wie in dem Falle der Spielhagengruppe, der 
Pommershen und Medlenburg-Strelitihen Bank, weſentlich Terrainſpeku— 
lationen felbjt getrieben oder für andere vermittelt wurden, bat eine fchlimme 
Mikleitung des in den Pfandbriefen herangezugenen BPrivatfapitals ſtatt— 
gefunden, wie fich leider nunmehr vielfach gezeigt hat. 

Diefe mittleren und Eleineren Kapitaliftenfreife find nun durch die Vor: 
gänge bei den Hypothekenbanken auf das jchmählichite getäufcht worden. Gie 
haben auch nicht, wie doch wenigitens die Aftienbefiger, in jahrelangen hohen 
Rentenbezügen wenigftens einen Ausgleid für die jegigen Verlufte gehabt. 

Hier macht fich denn auch eine ftarfe Erfchütterung des Vertrauens in die 
ganze Inſtitution des Aktien-Hypothekenbankweſens mit feiner Eolofjalen Pfand: 
brief:Emiffion geltend. Die Ausweiſe, die Bilanzen, haben fich 3. T. als falſch 
erwiejen, die hypothekariſchen Beleihungen beitenfall3 als vielfach, leichtfinnig, 
viel zu hoch. Die Befürdtungen in leßterer Hinsicht, welche noch vor 2—3 Jahren 
Dr. Baul Boigt auf Grund feiner Unterfuhungen der Berliner bezüglichen 


80 Adolph Wagner, Banfbrüche und Banfkontrollen. 


Berhältniffe geäußert, Befürchtungen, gegen die damals die fämtlichen Hope: 
thefenbanten Proteſt erhoben Hatten, die man auch amtlich als unbegründet 
bezeichnet hatte — jie find wenigſtens im aanzen offenbar nicht über: 
trieben geweien. Die Staatsaufficht, auf welche Banken zu Reklame— 
zweden bingewiefen haben, hat die nunmehr notoriich gewordenen Schäden und 
Berfehlungen nicht verhütet, nicht einmal jelbft rechtzeitig aufgededt. Auch über 
den Kreis der notleidend gewordenen Öypothefenbanfen hinaus jind Praftifen 
befannt geworden, von denen tvenigitens tweitere Kreiſe, zumal die der gewöhn 
lichen privaten Pfandbrieferwwerber, nicht3 wußten. 3. B. die Praktik, daß die 
Banken jelbit durch Anterventionsfäufe und Aufnahme ihrer Pfandbriefe, wenn 
fih aerade feine anderen Käufer fanden, die Kurſe ihrer Papiere hielten, Diele 
Kurfe daher zum Teil nur Eünftliche waren, öfters wohl zu hohe. Diele Kurie 
wurden nım aber von den Banfen wieder dazu benutst, um immer neue Maflen 
Pfandbriefe ins Publifum zu ſolchem Kurſe zu bringen, um vermittelnden 
Banquiers überhohe Brovifionen zu gewähren, um Zinsreduftionen mit durchzu— 
jegen. Ob bier eine von allen Banken geübte Praris beitanden hat und wie 
weit jie ausgeübt worden ijt, mag nod; fraglich fein, aber daß nicht nur die 
„verkrachten“ Banfen jo vperierten, jcheint feitzuftehen. So bat fich hier ein Krebs— 
Ichaden offenbart. Und wie fühlten ſich diefe Banken doch alle gefränft, wie em- 
phatifch traten ihre Preßklientel und fonftigen Soldfchreiber für fie in die Schranten, 
als ihren Pfandbriefen von der preußiichen Gefeßgebung die Eigenichaft der 
Mündelſicherheit verfagt blieb (bis auf ihre fogen. Kommtunalobligationen), eine 
Eigenschaft, welche landjchaftliche Pfandbriefe und in einigen deutfchen Ländern 
auch Banf-Pfandbriefe befiten. Welche Triumphe hätte der arme Dr. P. Boigt 
jeßt gefeiert, der. damals von diefer Prejfe und von den Banken und ihren 
Brojchürenschreibern verunglimpft wurde! Wie ſehr wurden in denfelben reifen 
manche Beſtinnnungen de3 neuen Reichs-Hypothekenbankgeſetzes (vom 13. Juli 
1899) angegriffen, noch ftvengere, aber durchaus notwendige, zu bintertreiben ge- 
jucht, weil ſie ein „ungerechtfertigtes Mißtrauen“ gegen die Oypothefenbanten 
verrieten, „das Geſchäft zu ſehr hemmten“; 3. B. die Beitimmung über die nur 
beichräntte Zulafjung von Hypotheken auf Baupläße und noch nicht fertige und 
noch nicht ertragsfäbige Neubauten zur Pfandbriefdekung, im genannten Ge: 
ſetz $ 11, Abſ. 3, eine Vorſchrift, die jelbit ein fo eminenter, mit Recht hoch— 
angejehener Fachmann, Theoretiker wie Praktiker, wie der Direktor der Rheiniſchen 
Hypothekenbank in Mannheim, Dr. Hecht, eine „allzuängitliche, der Entwidlung 
des deutjchen Städteweſens nadjteilige” nennt, während man wohl einwenden 
kann, Nie kommt gerade durch Beichränfung der Bauftellenipekulation auch dieſer 
Entwidlung zu aute Bei der Pommerſchen und Medlenburg: Strelitichen 
Hypothekenbank hat ſich jetzt gezeigt, wie es nit dem Wert folder Hypotheken 
iteht. Welche mehrfach gehäſſige und ſachlich unrichtige Polemit haben einzelne 


Adolph Wagner, Bankbrüce und Banklontvollen. 81 


Organe der Börſenpreſſe und „Spezialiſten“ darin gegen die Landſchaften und 
zu gunſten der Hypothekenbanken geführt. Da wurde die Sicherheit der land— 
ſchaftlichen Pfandbriefe verdächtigt, die Wertloſigkeit des genoſſenſchaftlichen 
Haftbarkeitsprinzips dabei proklamiert, der Vorzug der kulanten Geſchäfts— 
führung der Hypothekenbanken, die beſſere Sicherheit der Pfandbriefe derſelben 
wegen der Mithaftung von Aktienkapital und Reſervefonds neben den Hypotheken 
prahleriſch gerühmt! Jetzt ſind in mehreren der erwähnten Fälle ſolche Kapitalien 
und Fonds durch Mißwirtſchaft dahin geſchwunden und die hypothekariſchen 
Deckungen haben ſich ſelbſt, wenigſtens teilweiſe, als faul oder unzureichend 
erwieſen. Beim Vergleich zwiſchen dem genoöoſſenſchaftlichen Pfandbriefweſen der 
Landſchaften, wo reelle Kreditbedürfniſſe befriedigt, aber nicht immer erſt künſtlich, 
um Gewinne aus Proviſionen und ſonſt bei den Darlehnsgewährungen und Pfand— 
briefausgaben zu erzielen, erweckt werden, mit dem ſogenannten Pfandbriefweſen 
der Hypothekenbanken wird man nach den neueſten Vorgängen wohl wieder zu 
dem gleichen Ergebnis wie auf dem Verſicherungsgebiet kommen: die genoſſen— 
ſchaftliche Organiſationsform iſt in beiden Fällen die ſolidere, ge— 
ſundere, privat- und volkswirtſchaftlich verdient ſie den Vorzug vor 
dem Aktiengeſellſchaftsweſen. Es fallen bei jener nicht die unmäßigen und 
unlauteren Gewinne für Direktoren, Aufſichtsräte und Preßtrabanten ab wie 
bei diefen. Davon ließe ſich nad) mandem, was nunmehr befannt geworden 
it, ein Lied fingen. Sch wenigftens fehe meine dem Aktien: Bank: und Ver: 
jiherungswefen feit lange vielfach nicht eben günftige Auffaflung durd die 
neueften Vorfälle nur zu jehr bejtätigt, wobei ich gewiß wichtige Ausnahmefälle 
anerfenne und nicht völlig generalifieren will. Wie oft aber bin id; wegen diejer 
Stellungnahme in der Frage angegriffen, förmlich verunglimpft worden. Der 
Doktrinär“, der „Stubengelehrte”‘, der „graue Theoretiker“ hat duch gegenüber 
dem ‚Realiſten“ und „grünen Praktiker“ wieder einmal recht behalten. 


Leider! Denn der Vertrauensbrud, der auf den Gebiete des deutjchen 
Oppothefenbanfwejens in den oben erwähnten Fällen Eund geworden ift, hat zahl: 
oje ehrenwerte Elemente jchuldlos ruiniert oder jchwer geichädigt und die ganze 
Inſtitution des Hypothekenbankweſens diskreditiert. Darüber kann leider fein 
Zweifel jein. Diefe Vorfälle bei diefen Banken find wirtichaftlich und moralisch 
daber auch beſonders ihlimm zu beurteilen, fie ſollten auch ſtrafrechtlich 
am jchweriten getroffen werden. 


Aber was wird in leterer Beziehung viel mehr heraus fommen, als 
höhftens ein paar Jahre Gefängnis für die Schuldigen, was aud) neben der 
eigenen Vermögensſchädigung diefer Perfonen feine genügende Sühne, zumal für 
Yeute höheren jozialen und Bildunasitandes ift. Wie mander arme Teufel, der 
durch Schlechte Erziehung von Jugend auf, böſes Beiſpiel u. j. w. auf Abwege 

6 


32 Adolph Wagner, Bankbrüche und Bankkontrollen. 


geraten, büßt im Grunde leichtere und nicht ſo gemeinſchädliche Verfehlungen 
mit weit ſtrengeren Strafen, Zuchthaus u. ſ. w. 

Auch die Verluſte, welche Privatperſonen, darunter hier vornehmlich die 
nicht-geſchäftlichen verſtanden, an Depoſitengeldern u. dgl., an Guthaben 
im Contocorrentverkehr bei Banken, erleiden, wie vermutlich bei der Leipziger 
Bank, haben doch ebenfalls eine das allgemeine volkswirtſchaftliche 
Intereſſe berührende Seite. Daß ſich wenigftens das wohlhabendere Privat- 
publifum auch bei uns mehr an die Benutzung von Banken zur Kafjenführung 
und Zahlungsvermittelung gewöhne, iſt wegen der Rückwirkung davon auf ordent- 
lihe Buchführung im Privathaushalt, wegen der wünjchenswerten Stonzentration 
und der aeichäftlichen Verwendung von ſonſt brachliegenden Kaſſenbeſtänden 
durch Banken erwünſcht. Die engliihe Sitte hat bier viel für fih. Benutzung 
von Checks zu Zahlungen von jeiten der Privaten kann fih daran anschließen. 
Erhebliche Geldbeträge werden jo dem Verkehr, der Produktion durch Ver— 
mittelung der Banken zugeführt. Berzinfung, wenn auch nur eine mäßige, 
braucht aber dabei und ſollte für die Depofiten- und Kontocorrentgelder nicht 
fehlen. Gelegenbeit zu derartigen Einlagen zu geben, ift alio ein allgemeines, 
auch volfswirtichaftlicies Defiderat. Auch, wiederum nad dem großen 
britiichen Mufterbeiipiel, müßig liegende Geldſummen öffentlicher Kaſſen bei 
Banken in ähnlicher Weile anzulegen, ift zwedmäßig. Aber eine unbedingte 
Vorausſetzung it dabei Freilich immer: Sicherheit der Anlage in der Banf und 
die PVorausießung diefer Sicherheit it wieder: entiprehende Geſchäfts— 
führung der Bank. 

Die wilfenichaftliche Banktheorie hat mit Necht ein zuerit von der britischen 
Banfpraris aufgeltelltes Dauptgefeß für den ökonomiſch-techniſch richtigen Bank: 
betrieb jo formuliert: „eine Bank (im modernen Sinne der Worts, alfo eine Kredit— 
bank) darf im weientlichen nur ähnlichen Kredit — „nur gleichen‘ zu jagen, 
geht zu weit — geben, wie ſie nimmt.“ Dagegen haben 3. B. die Peipziger Bank, 
die Dresdner Nreditanitalt in gröbfter Weile verftoßen. Much eine andere praf: 
ttiche Hegel hat die Theorie übernommen: „eine Bank muß ihre Musleihungen 
verteilen, nicht zu viel bei Einer Berion, Einem Unternehmer anlegen." Auch 
dagegen haben jene Banken verftoßen. Dieſe Verſtöße verurfachten jett, wie 
jtet3 früher, den Ruin, ımd dagegen muß der private Deponent zumal ge: 
jichert fein. 

Die Reichsbank it troß ihres großartigen Filialenſyſtems nicht aus- 
reichend, die betreffende Funktion einer allgemeinen Depoſitenbank zu erfüllen, 
ihr Betrieb auch wohl dafür etwas zu ſchwerfällig und ſie giebt, wie die anderen 
großen europäiichen Gentralbanfen, feine Zinfen auf ſtets fälliges Geld. Ob 
nicht eine Entwidlung dieſes Geſchäftszweiges mit verzinslicdhen Depofiten, ſtets 
fälligen wie an kurze Nündigungstermine gebundenen, für die Reichsbank ſelbſt 


Adolph Wagner, Bankbrücde und Banflontrollen. 83 


zwedmäßig wäre und ihre zu befchränften Mittel pafjend vermehren würde, aber 
zugleich dem angedeuteten allgemeinen Bedürfnis und Intereſſe entjpräche, wäre 
wohl einmal genauer zu erwägen. Ich bin geneigt, die Frage zu bejaben. 

Das gewöhnliche private Banguiergeichäft bietet die Gelegenheit zu 
Depofiteneinlagen für das private Publifun allerdings auch und bat dielen 
Zweig jeit lange gepflegt. Aber gerade im Punkte der Sicherheit und vollen 
Bertrauenswürdigkeit entjtehen doc Zweifel, ob bier alles den zu ftellenden 
Anforderungen entipricht, zumal, im Gegenfat zu England, unſer Banquiertum 
auch zu viel auf eigene Rechnung jpefuliert, dem Börjentreiben zu nahe ſteht 
und — in verhängnisvoller Weife feine Kunden in dies Treiben bineinziebt. 

Große folide Aftienbanfen mit öffentlicher Nehnumaslegung und Bilanz- 
publifation wären für die Entwidlung diefes „privaten" Depofitengeihäfts im 
engiten Sinne an ſich bejonderd geeignet. Aber leider haben wir feine jolche 
Banfen, welche, nad; dem britiichen Vorbild, fich auf diefes Geichäft und auf die 
ihm allein entſprechenden Aktivgeſchäfte, die ſolide Wechieldisfontierung und 
Lombardierung, beſchränken. Es find fait nur unfere großen und FEleineren 
Effeftenbanfen, welche diefe Privatdepofiten annehmen und — zum Teil 
wenigjtens — mit in ihren mannigfachen Anlagegeichäften, ihren Kommiſſions-, 
Gründungs-, Effekten-, „diverje Debitoren’-Gejchäften anlegen. Gewiß verfahren 
die beiten dieſer Anftitute hier mit der notwendigen Vorſicht, Halten ent: 
jprehende Barbeftände und wirklich raſch und ficher und leicht realifierbare, 
liquide Aktiva, um allen Anforderungen ihrer Gläubiger, ihrer Deponenten 
u. ſ. mw. ftet3 gerecht werden zu können. Aber es liegt in der Natur diefer 
Gffeftenbanfen, mit ihrer großartigen Thätigkeit auf dem Gründungs- und 
Emijfionägebiete, im In- und Muslande, bei jeder fehlenden gejeglichen Be: 
ſtimmung über die Dedung der Paſſiva und über die betreffenden Nftiogejchäfte, 
bei der fehlenden Trennung der verichiedenen SKategorieen der Balliva und 
Aktiva, der einfachen Mitanlegung des eingezahlten Stammkapital und des 
oder der Mefervefonds in den allgemeinen Geichäften, daher der Gejamt 
jumme der Aktiva — daß eben eine genügende Sicherheit für die aus Depo 
fiten u. ſ. w. bejtehenden Paſſiva nicht immer vorhanden ift, weder für die, 
den vertragämäßigen Bedingungen entiprechende oder an kurze Kündigungs— 
termine gebundene Rüdzabhlung, noch jelbjt für die Verhütung von defini— 
tiven Berluften. Das zeigt auch das Yeipziger Beiipiel. Namentlich die Ab- 
hängigfeit der Effeftenbanfen von der allgemeinen Lage des Geldmarktes, des 
Kredit, der Konjunkturen, die regelmäßige intenfive, aber auch faſt immer für 
fie ſelbſt überfpannte und die WVolkswirtichaft überſpannende Thätigkeit dieſer 
Banken in Emiffionen und Gründungen in der Zeit der Hochkonjunktur, die 
Feſtlegung eines großen Teils des eigenen Kapitals und beträchtlicher Beträge 
des ihnen in verichiedenen Formen geliehenen fremden Stapitals in mehr oder 

6* 


84 Adolph Wagner, Bankbrüce und Bankkontrollen. 


weniger unrealifierbaren oder nur fehr allmählich realifierbaren Anlagen, von 
Ichlechten Anlagen gar nicht zu reden, die Rückwirkungen dann der finfenden 
und der ſchlechten Konjunktur — alles das find PVerhältniffe, welche die bank— 
techniſch und wirtfchaftlich wirklich befriedigende Funktion der Effeftenbanfen 
überhaupt, io vollends als Depofitenbanfen beeinträchtigen. Das hat man 
jeit lange bei uns erkannt, aber es ift weder legislativ noch fpontan etwas zur 
Neform geichehen. Bedenken, wie fie jüngft wieder in einer Brofchüre 
Dr. Lindenberg hervorgehoben hat, find daher ganz begründet (Die Gefahren im 
deutichen Bankweſen, 1901). 

Ich babe das ebenfall3 feit lange To angefehen und mich demgemäß ge— 
äußert, wie ich denn überhaupt der wirtichaftlihen Thätigkeit der Effekten— 
banfen etwas jfeptifch gegenüber ftehe, bei aller Anerfennung ihrer in ge 
wiffen Maße zuzugebenden Lmentbehrlichfeit in unferen heutigen Wirt 
Ichaftsorganismus, wie er namentlich in Deutichland beiteht, und bei gern von 
mir eingeräumter Achtung vor den Leiftungen einiger unferer größten umd 
tüchtigiten diefer Inſtitute. Aber die Hypertrophie des „Anduftrieftaats”, die 
Ueberſpannung der Hochkonjunktur, „die Beteiligung an den verjchiedenartigften 
Spefulationsgefchäften, darunter an den bedenklichiten, wie ſolche an heimischen 
Srundftüdsfpekulationen, erotiichen Giniffionen, feiner Zeit an Spekulationen 
in ruſſiſcher Valuta, findet ſich gerade bei den bdeutichen Effektenbanken. 
Die großen verhängnisvollen Schwankungen im Erwerbsleben befördern ſie 
durch Begünitigung der lleberipekulation in der Zeit der auffteigenden Konjunktur, 
durch Unterftügung der Börfengefchäfte, durch neue Gründungen und Ummand- 
(ungen, durch Kapitalerhöhungen, worauf dann der Rüdjchlag um fo ftärfer 
werden muß." Dieje von mir im Jahre 1896 gefichriebenen Süße aus meinem 
Vorwort zur Schrift meines — wie P. Boigt in den Alpen verunglüdten — 
Schülers BP. Model „die großen Berliner Effektenbanken“ (1896), haben jie durd) 
die Ereigniffe in der letten Daufjeperiode und in der gegenwärtigen Periode des 
Rückſchlags nicht ihre volle Beftätigung gefunden? mr allgemeinen ımd noch in 
ganz bejonderem Maße durch die Vorgänge bei der Dresdner Ereditanitalt und 
vollends bei der Yeipziger Bank, wodurch zugleich das geſamte Depofitengeichäft 
diefer ganzen Kategorie der Effeftenbanfen in der öüffentlihen Meinung einen 
ftarfen Stoß erhalten hat? Das ift auch wieder eine volfswirtichaftlich üble 
Wirkung diefer Vorgänge: 

Die Leipziger Bank iſt ein altes, ſchon 1839 als Notenbank errichtetes 
Inſtitut, das früher durchaus folide und fat etwas pedantijch ängſtlich geleitet 
war. Die Bank hat fchon 1875 nach dem Erlaß des Reichsbankgeſetzes das ihr 
danach noch verbliebene Notenrecht aufgegeben, um fich nicht den ftrengeren 
nennen Beftimmmngen für die Sefchäftsführung der Notenbanten unterftellen zu 
müljen. Sie ift dann mehr und mehr und vollends in ihrer neueſten Entwidlung, 


Adolph Wagner, Bankbrüche und Bankkontrollen. 85 


unter ihrem Direktor Exner, eine Effektenbank mit dem üblichen weiten Geſchäfts— 
kreis einer ſolchen geworden. Ihr Aktienkapital von 48 Mill. M. war noch 1898 
um die Hälfte erhöht worden, wobei 16 Mill. M. neue Aktien mit einem Agio 
von 550/, begeben worden find. Die Bank hatte außerdem einen Reſervefonds 
von mehr al3 einem Viertel ihres Kapitals, 14,07 Mill. M. und einem Spezial- 
rejervefonds von I Mill. M., fie hatte in den letten Jahren 10, nod für 1900 
90%, Dividende vertheilt, der Aktienkurs, früher 180—1% und höher, war nod) 
Ende 1900 163 und noch im uni 1901 über 140. Diefe Bank ftellt, völlig un- 
erwartet, am 25. Juni 1901 ihre Zahlungen ein und gerät bald darauf in 
Konkurs, namentlich weil fie einen viel zu großen Teil ihrer eigenen und 
erborgten Mittel, noch 17 Mill. M. über ihr ganzes Stammkapital und ihre 
Rejervefonds hinaus, in dem Kaſſeler Trebertrodnungsunternehmen, einem völlig 
ichwindelbaften Betriebe, feitgelegt hatte, in Widerjpruch mit jenem oben hervor: 
gehobenen Grundfag für den Bankbetrieb. Ihr Aktienkurs ſank gleich nad) 
Bekanntwerden der Zahlungseinftellung auf des bisherigen und fteht jeßt 
(Auguft) — unter 5, wenig über halb jo hoch als noch die lettjährige Divi- 
dende. Außer Privaten haben zahlreiche Geichäftsleute, auch öffentliche Kaſſen 
(Sadien, Weimar), Städte (Leipzig), Stiftungen ihre Guthaben im Eontocorrent: 
verkehr der Bank und aud in Aktien der Bank, die al3 „beites Anlagepapier“ 
galten, ihr Vermögen mit angelegt gehabt, was nun alles oder zum großen 
Zeil verloren ift. Müſſen ſolche Erfahrungen nicht das allgemeine Bertrauen in 
diefe Art Banken erfchüttern, wenn auch bei der Leipziger Bank ganz uner— 
hörte, in diefer Art glüdlicherweife Faum noch wieder vorfommende Berhält- 
niſſe beitanden haben? 

Aus der vorausgebenden Diagnofe und Kritik laſſen fic einige allgemeine 
Ergebniſſe ableiten und einige Neformanforderungen, befonders betreffs der Ver— 
beijerung der Bankkontrollen, aus den neuen Erfahrungen abermals begründen. 
Darüber joll fi ein zweiter Artikel verbreiten. 


Artifet IT im nächſten Heft 


5 


NININ IN ITR IN TAN N IN N IN 


Wilhelm Raabe.*) 
Don 
Adolf Stern. 


D: weife Seneca, nicht der römische Philoſoph Lucius Annäus Seneca, nero: 
nischen Angedenfens, fondern der ehemalige Göttinger Korpsftudent und der- 
zeitige vegierende Bürgermeifter von Wanza an der Wipper, Derr Ludwig Dorften, 
eine der fchier unzähligen prädjtigen und lebensvollen Geftalten, die Wilhelm Raabe 
geſchaffen hat, erklärt es für den Gipfel der Weisheit, feinen Stoifermantel mit 
dem fröhlichen Burpur des Vergnügens an der Welt zu färben. Mit diefem Maßſtab 
gemejjen, als einer der jeltenen Menſchen betradjtet, die, mit bewußtem und un— 
bewußtem Berzicht auf alle Nichtigfeiten, nach denen Millionen haften und meift 
bis zum legten Atemzug vergeblich lechzen, ficd) dennoch die Luft an des Lebens 
echter Herrlichkeit nie verfümmern ließen, hat der Dichter Wilhelm Raabe nicht 
bloß in gutem Augenblid einen Gipfel der Weisheit erflommen, jondern er iſt 
ein halbes Nahrhundert lang auf und über allen Gipfeln gewandelt, die man fo 
benennen mag. Auch gewanır es angefichts des heutigen Feſttags gar jehr den 
Anſchein, als ob der Denker, der Philoſoph, der liebevolle, ſcharfſichtige Beob— 
achter alles Menfchenwefens, zumal alles deutichen Weſens, der Kulturhiſtoriker 
des Halbjahrhunderts zwiſchen 1820 und 1870, vor dem Dichter und kräftiger als 
der Dichter geprielen werden follte. Der unauslöfchlihe Durft der Gegenwart 
über alles Gewachſene, Natürliche, Lebendige hinaus, phantaftiiche Zukunftsbilder 
nicht etwa zu erträumen, fondern mit Prophetenficherheit zu offenbaren, verführt 
jelbft Eluge Yeute dazu, das gewiſſe Gut mit Geringihätung, das erhoffte aus 
der Lotterie einer neuen Welt mit fchrwindlerifcher Uebertreibung in Rechnung zu 
jtellen. Als ob es nicht genug wäre, an einem Dichter, defjen große und reiche 
Weltanschauung des Yebens Abgründe jo qut erkannt hat, wie feine lichten Höhen, 
deſſen Ichaffende Phantafie ihn weit über feine unmittelbaren Umgebungen bin: 
wegträgt, dejien Yiebe zum deutichen Volke ihn gleichwohl feit im Heimatboden 
wurzeln, ja feine Wurzelfafern in der Tiefe fortipinnen läßt, foweit ein Stüd 
deutichen Budens reicht — als vb irgendwer das ganze Verdienit ſolcher Natur 
und folcher Yebensarbeit jchon ergründet hätte, möchte man mit überflüfliger 


) Feſtrede zum Feier don Wilbelm Raabe's ſiebzigſtem Gebnrtstane. 


Adolf Stern, Wilhelm Naabe. 37 


Voriorge den gedanken: und jinnvollen Erzähler zu einem geitigen Etwas 
itennpeln, das Beſtand und Geltung haben kann, wenn eine künftige deutiche 
Welt feiner Dichter mehr bedürfen und feinen mehr ehren wird. Wahrlicdh unter 
den Geftalten leßter Dand, die auf Raabes humoriſtiſche Meifterdarftellung noch 
barren, follte der Eritifche Fernſchauer nicht fehlen, der die jchattenden Bäume 
umbadt und feine Lauben mehr um ſich duldet, weil ja doch unfehlbar, man 
weiß nur nicht genau wann, dermaleinjt die Eiszeit hereinbrechen wird. So 
ſehr bat dies Geichlecht Sich dem Reſoluten, einfah Schönen entwöhnt, daß. ihm 
der Gedanke, die Dinge beberzt und einfach zu erfaſſen und ſchön auf ſich wirken 
zu laflen, viel ferner liegt, als die ſeltſamſte Grübelei. 

Deute und an diejer Stelle jedoch jind wir hoffentlich diefer Gefahr entrüdt. 
Da die Feier des fiebzigften Geburtstages Wilhelm Naabes aus wärmerer Anteil- 
nahme der Derzen und ftärferer Kraft der Wahrheit ftrömt, al3 die zur bloßen 
Sewohnheit gewordene Feitlihe Hervorhebung des biblischen Lebensalters eines 
Mannes und unendlid; mehr bedeutet, al3 eine Anweilung auf das „Konverſations— 
Lexikon“, fo kann ihr tieferer Sinn doc) eben nur fein, die ganze Erjcheinung des 
Gefeierten in all’ ihrer Urfprünglichkeit und Eigenart freudig zu erkennen, dankbar 
zu ehren, nicht aber ein Element feines Weſens ausſchließlich hervorzukehren, 
eine Seite feines Berdienite3 als die allein wertvolle zu preiſen und im beiten 
Falle die ganze Geftalt in das Licht einer Augenblidsftimmung, eines modiſchen 
Zeitbedürfnifjes zu rüden. Nein, mit dem Dichter ſelbſt jagen wir: „Des 
Menſchen Dafein auf Erden baut ſich immer von nenem auf, doch nicht von dem 
äußersten Umkreis ber, ſondern ftet3 aus der Mitte. In unſerem deutichen 
Rolfe weiß man das im Grunde gar nicht anders." Und wir jauchzen mit ihm: 
„Es ift doch der höchite Genuß auf Erden, deutich zu veritehen. — — Es iſt in 
der That ſehr trüftlich deutich zu verftehen, zumal wenn man unter dem Pfingſt— 
geläut das große Buch von Wahrheit und Dichtung, das große deutiche Bud) 
menjchlicher Erfahrung und Weisheit in Herz und Dirn trägt!“ 

Suchen wir nad) einer Formel für die Summe aller Bhantalie und Lebens: 
fülle, aller Seftaltungsfraft aus der Mitte, das heißt aus dem Derzen heraus, 
für all’ den Einflang mit dem innerjten und beften Weſen unſeres Volkes, die 
wir bei Raabe finden, jo lautet fie doch wohl: die unvergänglichite Yiebe zum 
Wirklichen und der hellite untrüglichite Bli für die ewigen Geſtirne des 
Menichenlebend, die dem Wirklichen erit Wert und Weihe geben, Sind dieſem 
Dichter zu eigen. Im Yicht jener Geſtirne findet er den Mut, die ganze Welt: 
weite und Weltbreite mit den tauſenden ihrer Erjcheinungen, mit ihren Abgründen 
und Widerfprüchen feſt ins Auge zu faflen, ein Erzähler, der vor der verwirrenden 
Mannigfaltigkeit großen und kleinen Lebens nicht erichridt, ein Menſchendar 
tteller, der hunderte von lebendigen, charakteriftiichen, ureigentümlichen Geftalten 
von den Tonnigiten Höhen, wie aus den dunkelſten Tiefen des Daſeins erfaßt, 


88 Adolf Stern, Wilbelm Raabe. 


ergriimdet und vor unfere ftaunenden Augen geitellt hat, ein Humoriſt, dem es 
bewußt blieb, daß gerade die, „die mit heiterem Lächeln den uralten bitteren 
Kampf führen, in der rechten Stunde ernſt genug fein Eönnen und vor allen 
anderen Erdenbürgern am menigiten wagen, des Lebens räthielhafte Tiefen, 
durch leichtfinnigen Scherz zu überbrüden", ein Herzenskünder und Lebensdeuter, 
der fein tiefiinniges Wort „Schuld haben ſie beide nicht, weder der Menſch, nod) 
das Scidjal, fie pafjen nur immer ganz genau auf einander" in unerjchöpflicher 
Erfindungskraft und Fabulierluſt wie oft und wie überzeugend verkörpert bat. 
Es ift das mindefte, das er, der Dichter an folhem Ehrentage wie heute — und 
foll der Tag einen wahrhaften Sinn haben, in aller Zukunft — von feinen 
Verehrern fordern darf, daß fie ſich der Ganzheit feines Wejens bewußt find, 
bevor fie den ragen über etwaige äfthetiiche Schranfen feiner Künftlernatur 
und über etwaige Mängel jeines Stils nachgehen. 

Wenn es aber die umerläßliche Vorbedingung zur freudigen und bleibenden 
Würdigung des Dichters ift, den Umfang, den Reichtum feines Lebensgefühls 
und feines Schaffens zu überfchauen und weder blos das eine und das andere 
dem Ginzelnen bejonders nahetretende Bild, noch eine Folge glüdliher Einfälle 
und Ausiprühe aus feinen Büdern in der Erinnerung zu tragen, jo find das 
Gefühl für die Urfprünglichkeit feines Talents und die Heberzeugung von der 
bleibenden, in alle Zufunft binausreihenden Wirkungsfraft feiner Gebilde und 
Sejtalten nicht minder unentbehrlihe Borausfeßungen eines tiefer reichenden 
Verſtändniſſes. Wilhelm Raabe ift kein Modefchriftiteller, iſt nie einer gewejen, 
wird nie einer werden. So ift er aud nie ein Nachahmer, ein geiftiger Wieder: 
käuer der gerade auf die Naufe gefchütteten, in allgemeiner Geltung ftehenden 
Borftellungsreihen und Wortreihen gewefen, hat, mit eigenen Elaren jo jcharfen, 
als liebevollen Augen Welt und Leben im fich aufnehmend, nie der Gläſer aus 
anderer Werkitatt bedurft, hat die überftrömende Fülle, die ihm zu eigen ift, mit 
eigener Dand aus den Tiefen gefhöpft und ein volles Recht darauf im Ganzen nur 
mit ſich jelbit verglichen und aus dem Stern feines perfönlichen Weſens heraus 
gedeutet zu werden. Wohl müßte blind fein, wer die Fäden nicht ſehen wollte, 
die Raabes Weltanfhauung und Darftelluing bier mit Jean Pauls lebendigen 
Gefühl für die Armen, die Mühſalbeladenen, die Stieffinder des Glücks, die den 
großen Schidjalsihiffbrüchen mit knapper Not entronnen find, dort mit Charles 
Didens bumorifticher, faſt jchwelgender Freude an feltjamen Geſichtern, an 
twiunderlichen Käuzen, an Eraufen und bunten Lebenseindrüden verbinden. Much 
die freude im Fleinen Geäder einzelner Raabeſcher Geftalten da und dort einen 
abionderlidy gefärbten fremden Blutstropfen zu unterfcheiden, wollen wir feinem 
verfümmern. Nur bedeutet folche Erkenntnis der Zuſammenhänge des Schrift: 
ftellers mit anderen germanifchen Humoriſten, bedeutet das nod fo feine Er- 
Iaufchen der Melodie anderer in Raabes Nompofitionen, ſehr wenig gegenüber feiner 


Adolf Stern, Wilhelm Raabe. 89 


eigenjten Weife, deren bald jtärkere, bald leifere Klänge immer vom Leben jelbit, 
von fremder Dichtung aber nur injoweit gewedt wurden, als diefe Dichtung 
Leben war und aus vollem Leben ftrömte. 

Die dritte Borbedingung für ein ganzes Verſtändnis und eine reine 
Würdigung des Dichter Wilhelm Raabe: die Heberzeugung von der fortdauern- 
den Wirfungsfraft feiner Gebilde und Geftalten, iſt die bedeutſamſte, gewichtigite, 
fie jchließt den ftärkiten Ruhmesanſpruch des Dichters und, mitten in der Gegen: 
wart, ein ſichres Vorgefühl für die Zukunft nicht nur unferer litterariichen Ent— 
widlung, jondern de3 deutjchen Volkes jelbft ein, fie ftellt die Frage an ung, ob 
wir an ewige Gewalten des Lebens, an unmwandelbare Elemente der Menſchen— 
natur wie der Bolköjeele glauben. Sie bildet die Grenzicheide zwijchen allen, 
die vom lebendigen Quell Raabefcher Poefie wirklich getrunfen, und zwijchen den 
Zaufenden, die von ihm nur genippt oder ihn gar nur prüfend betrachtet haben. 
Nicht leicht wird jemand dem Dichter jeinen Pla in der deutjchen Litteraturge- 
ihichte ftreitig machen. Als ein Glied in ihrer Entwidlung laſſen auch Gegner 
die Erfindungen Raabes gelten und ihren kulturhiſtoriſchen Reichtum preijen juft 
die, die in dem Humoriſten ausjchliegli den Scilderer alter Nefter, den glück— 
lihen Bildnigmaler deutjcher Menfchen aus den Zeiten des feligen Bundestages, 
den Lobredner einer Bergangenheit jehen, die zwar erjt ein paar Jahrzehnte 
hinter ung liegt, von der wir aber nad) der Verficherung gar vieler Weltweiſen 
und Zukunftsdeuter durd) tiefere Abgründe getrennt find, ald von der Diadodjen- 
und jelbft von der Pharaonenzeit. Die Motive zu Haabes Hauptwerken, die 
Zuftände, Bildungen und Schidfale einer langen Reihe feiner vorzüglichiten Ge: 
ftalten wurzeln allerdings in den Jahrzehnten unjerer Großväter und Väter, 
die Ideale und Irrthümer, die Träume und Stimmungen, wie die vielfach ſelt— 
jamen Lebensläufe der in den zwanziger bis vierziger Jahren Geborenen 
haben in dem Humporiften einen getreuen Beobachter und Zeichner erhalten, der 
jelbjt, wo er karrikiert, noch mit Liebe jeden menſchlich gemwinnenden, jeden ver- 
jöhmenden Zug auffaßt und bervorfehrt. Stein Wunder, daß Raabe vielen, die 
das Bleibende im Vergänglichen nicht zu faffen vermögen, die an Aeußerlichkeiten 
haften, durchaus als der Darfteller einer vergangenen und überwundenen Kultur 
erſcheint. Wem die ewige Odyſſee nichts ijt, al3 ein Lügenmärchen von griedji- 
ihen Scifferabenteuern, Goethes Werther nichts als der Abglanz einer Periode 
überfchwänglicher Gefühlsjeligkeit und krankhafter Sehnſucht nad) dem idylliich 
Beſchränkten, der ift für das Beſte in Raabes Gebilden von vornherein un— 
empfänglid. Wer vollends träumt, es könnten jemals ein Weltalter und eine 
Kultur aufgehen, in denen das Schidjal der Einzelnen feine Bedeutung mehr 
hätte, irgend welche politifch-joziale Verbejjerungen und Zuftände ein völliges 
Gleichmaß der Gharaktereigenichaften, der Bildungen, des Lebensgefühlse und 
Lebensglückes fiher verbürgten oder wer umgekehrt einen Tag hofft, an dem 


90 Adolf Stern, Wilhelm Raabe. 


Kunſt und Dichtung es nur mit den einſamen Bevorzugten zu thun haben würden, 
die als Götter über den Häuptern einer verſklavten, tieriſch ſtumpfen Maſſe dahin- 
wandeln, dem muß Raabes Maßſtab für das deutiche Leben, fein herzenswarmer 
Anteil an den Schidialen der Stleinen, Unfcheinbaren, der äußerlich Gefcheiterten, 
innerlid; Siegreihen jchon heute als vollfommen antiquirt gelten. Für Lejer 
und Beurteiler diefes Schlages ift ja ausgemadt, daß Charakteranlagen, 
Menſchenherzen und Menſchenſinne, Wallungen des Blutes und tieffte Bedürfnifie 
der Seele genau fo veralten, wie Trachten und Frifuren, wie der Biedermeier: 
fragen, der Mendelsfohnmantel und die Schmadtloden verfloffener Tage und 
böchftens in einem thörichten Faſching wieder auftauchen fünnen. Nach ihnen 
geht uns die gewaltige Mannigfaltigkeit von Shakeſpeares Menjchengeftalten jchon 
heute nicht mehr an, als uns die finnvolle und innerliche Mannigfaltigkeit von 
Raabes Welt über ein Kleines angehen wird. 

Zu gutem Glück zum Glück auch für den Dichter, vor allem aber doch 
für uns! — verhält es fich gerade umgekehrt. Wer je fchaffend in das Innerſte 
eines Derzens, den Kern eines Lebens hinabgedrungen ift, wer die Wahrheit er- 
fahren und jchöpferifch geftaltet hat: „Die Jungen haben eine Sonne und die 
Alten haben eine und es bleibt doc ein und diefelbe. Die Reichen haben ein 
Leben und die Armen haben ein Leben und es ijt doch ein und dafjelbe,“ deſſen 
beite Lebensarbeit kann überhaupt nicht veralten. Eben darum darf der Dichter 
ohne akademiſch ängftliches Taten nad einem allgültigen Durchſchnitt der Yebens- 
wahrheit und einer allwirfenden Allgemeinheit des Ausdruds, ind Reale mit all 
jeiner Beichränftheit verliebt jein, fich ganz an die Ericheinung, die ihn reizt und 
feffelt, hingeben. Er ift, wenn er jie warm und voll erfaßt, ficher genug, daß fie 
neben dem vergänglichen das dauernde probehaltige Element in fich ſchließt. Eben 
darum dankt es die Welt von heute Wilhelm Raabe, daß er mit liebevoller Hin- 
gebung die deutichen Zuftände des Halbjahrhunderts, daS der Gründung des 
neuen Reichs voranging, durchlebt und bleibend verkörpert hat. Eben darum 
weiß fte, daß alles, was an troßiger Lebenskraft, an tiefem Gemüt, an leuchten- 
der und unfcheinbarer DOpferfähigfeit, an demütiger Erkenntnis, Wert und Glüd 
jeden Yebens liege in der Yiebe, die der Einzelne zu fühlen, zu finden, zu er: 
weden vermag, die Geftalten der Großväterzeit und die Mauern von Raabes 
alten Neſtern erfüllt, lebendige Kraft genug hat, um auch die Kommenden in 
künftiger Zeit zu ergreifen. Denn was aud) die gefchichtliche Entwidlung unferes 
Volkes oder der Welt bringen mag, bier find die Grenzen der Menjchheit und 
des Menſchenſchickſals gegeben: die werktätige, verjüngende, erlöfende Liebe, die 
der Einzelne dem Einzelnen giebt und von ihm hofft, können in keiner Form umd 
Seftalt des Lebens entbehrt werden oder ihre tiefe und reine, Nachgefühl und 
Sehnfuht erwedende Wirkung auf warme Herzen und offene Sinne verlieren. 
Raabe hat ja unendlich mehr Welt- und Menſchenſchickſal geſchaut und gejpiegelt, 


Adolf Stern, Wilhelm Raabe. 9 


als der Rahmen der denkwürdigen llebergangszeit von der Schladht bei Waterloo 
bis zur Schlacht bei Königgrätz zu fallen verniochte. Doc hätte er wirklich nur 
dies Stück Leben erfaßt und fo dargeftellt, wie er es in den „Leuten von Walde" 
und im „Dungerpaftor”, in der „Deimfehr vom Mondgebirge*, im „Dorader* 
und im „Dorn von Wanza” gethan, es würde ausreichen, ihn unter die Dichter 
zu reihen, deren ftarfes, unmittelbare Lebensgefühl die Dauer feiner Wirkung 
verbürgt. Ja, wenn der Dichter felbit uns in einem Sat des Phantaſieſtücks 
„Pfiſters Mühle“ die Verflechtung feines Schaffens mit den Eindrüden der vier: 
ziger, fünfziger, fechziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts mit den Worten 
enthüllt: „wenn fie geahnt hätten, die Yeute vor hundert Jahren, wo ihre Nad)- 
fommen das „alte romantische Land“ zu fuchen haben würden. Wahrlich nicht 
mehr in Bagdad. Nicht mehr am Hofe des Sultans von Babylon. Wer dort 
nicht jelber gewejen it, der kennt das duch wohl zu genau aus Photographien, 
Dolzichnitten, Konfularberichten, aus den Telegrammıen der „Kölniſchen Zeitung‘, 
um es dort noch zu ſuchen. „Der Vorwelt Wunder”, zehn Schritt weit von 
unferer Thür liegen fie, zehn, zwanzig, dreißig Jahre ab — als die Eifenbahn 
nod feine Halteitelle am nächſten Dorfe hatte, al3 der Eichenfamp auf dem 
Grafenblede noch nicht der Separation wegen niedergelegt war, al3 man die 
Gänſeweide noch nicht unter die Bauernichaft verteilt und zu ſchlechtem Roggen 
ader gemacht hatte, als die Weiden den Bad) entlang noch ftanden” jo müſſen 
wir ihn gegen feine eigene Begrenzung in Schuß nehmen. Dichter wie er wifjen 
das alte romantische Land und der Vorwelt Wunder auch dann noch zu finden, 
wenn der Wald und die Heide von den Eifenichienen durchquert find, wenn der 
ichrille Laut des Automobil die Luft widerwärtig durchichneide. Mit einem 
Worte, wir fühlen innerhalb der Schranfen der von Raabe's Phantafie bevor- 
- zugten Welt das Ewige und den zeitlich beitimmten Geftalten des Dichters 
gegenüber den menſchlich puetifchen Gehalt, der jo wenig veralten, als vergehen 
kann, der immer neu auflebt, jelbft wenn er unter der Ungunſt einer Zeit oder 
den Yaunen einer Mode vorübergehend vergefjen werden jollte. 

Das Wilhelm Raabe's erzählende Werke im Augenblide der legtern Gefahr 
weit entrüdt jind, vielmehr im Lichte ihrer Geſamtwirkung ihr zweites Leben 
beginnen, deſſen wejentlichfter Erfolg die Ueberraſchung ift, bier liege ein uner: 
ſchöpflicher Schaß, von dejien Vorhandensein Unzählige jeither nichts geahnt haben 
und den fie nun mit dankbarer Beglüdung hinnehmen, foll hierbei nicht befonders 
in Betracht fommen. Die höhere Gewißheit, daß diefe Werke, in welchem Um: 
fang immer, den dauernd lebendigen Schöpfungen deuticher Dichtung, den unver— 
gänglichen Befigthümern der deutichen Litteratur angereiht find, erfüllt uns und 
hebt die eier dieſes Dichtergeburtätages über alles Gemachte und Künftliche, 
über jede Meußerlichkeit und tagesübliche Feftluft, wie über alle bloße Dankbar— 
keit und Pietät erquicklich hinaus. 


92 Adolf Stern, Wilhelm Naabe. 


Alles Schönfte, wie alles Bleibende Wilhelm Raabe's erwächſt aus dem 
tiefen Snnenleben des Dichters, aus feiner unverwüftlichen Freude an der jelbit: 
ofen Herzenskraft, der Opfenvilligfeit der höheren menjchlihen Natur, die neben 
dem Irrſal der Ichſucht, neben der Härte, dem Weh, dem Leid des menjchlichen 
Lebens in der Welt vorhanden find, überall vorhanden find, aber in unferem deut: 
ſchen Wejen ein beionderes Gepräge tragen, dus kaum ein zweiter jo bejtimmt, 
jo Elar, jo unabläjjig ausgeprägt hat, als eben er. Lange, lange bevor modiſche 
Zendenzdichter daraus Kapital fchlugen, hat Wilhelm Naabe gewußt und ent- 
ſchloſſen dargeftellt, daß die höhere Menfchennatur in jeder äußeren Lage, im Elend 
eines dörflihen Armenhaufes, in der Verktümmerung einer äußerlich geicheiterten 
Exiſtenz ebenfowohl erwachſen und fich bethätigen fann, als im Glüd und Ge: 
deihen und der vollen Thatkraft bevorzugter Menfchen. So reich, ſo mannigfaltig 
ijt die Wiedergabe des Beiten alles Lebens bei unferem Erzähler, daß — auch 
wenn wir uns auf deutjchen Boden bejchränfen — es unmöglich erjcheint ihre vor- 
trefflichen Einzelheiten hier nur aufzuzählen. Sein Dichterrecht auf den gefamten 
deutſchen Boden in Bergangenheit und Gegenwart hat Wilhelm Raabe ebenjo 
ftegreich gegen einen allzumweit in die Ferne ſchweifenden Kosmopolitismus, wie 
gegen die Verengung einer ganz provinziellen naturaliftiichen Kunſt vertheidigt. 
Die deutjchen Stammeseigentümlicjfeiten waren und find ihm alle zugänglid), 
ſprechen insgeſamt zu feiner Phantafie und feinem Gemüt. Er zeichnet Frau 
Fortunata Madlenerin, die brave Wirtin zur Traube in Alberfchwend im Bre- 
genzer Wald, nicht weniger gut und lebensvoll al3 den Müller Ehriftian Boden- 
bagen an der Innerſte im Hannöverſchen. Wohl ift unfer Dichter nach Blut, 
Seelenleben, Bildungsrichtung und Einfluß der Ueberlieferung ein Norddeutfcher, 
aber die Fähigkeit, das bejondere Wejen der füdlicher wohnenden Volksgenoſſen 
zu erfaffen und zu verſtehen, hat er längjt vor feinem mehrjährigen Leben unter 
den Schwaben bejejjen. Eine lange Neihe feiner größeren Romane, wie jeiner 
Eleineren Erzählungen jpielt auf dem Boden zwiichen Elbe und Weſer, nord» und 
jüdwärts vom Harz — bier ift der Dichter vorzugsweije daheim, aber er be: 
ſchränkt fic fo wenig auf dies Gebiet, al3 fein inneres Erleben fi im Bann der 
eriten beiden Drittel des neunzehnten Jahrhunderts halten läßt. 

Wilhelm Naabe fteht überall, in feinen größten, wie in feinen Eleinften Ge: 
bilden, ja ſelbſt im fcheinbar phantaftifchen Capriccio der Natur nahe, er erlaufcht 
zu Zeiten ihren geheimften Herzichlag und die Schauer, die von ihr aus in Die 
Menfchenjeele übergehen und Schickſal werden. Dabei fennt er den künſtlichen 
Gegenſatz nicht, in den volksthümliche Erzähler und gewiſſe Aeſthetiker die friſche 
Unmittelbarfeit des Lebens zu jeder Erhebung über Eleinbürgerliche oder bäuer— 
liche Lebenskreiſe jegen. Keiner weiß bejjer wie er, daß „alle hohen Männer, 
weldhe uns durd die Zeiten voranfdhreiten, aus Nippenburg kommen und fich 
ihres Herkommens nicht fchämen, dab im Lande zwischen Vogefen und Weichjel 


Adolf Stern, Wilhelm Raabe. 93 


ein ewiger Werfeltag herricht, daß e3 immerfort wie frifchgepflügter Ader dampft 
und jeder Bliß, der aus dem fruchtbaren Schwaden aufwärts fährt einen Erd» 
geruch an fich trägt," aber auf den Pflüger und den Handwerker fchränft er feine 
Menſchen nicht ein. Ein eifervoller Pfarrer, ein emeritierter Schulmonarch, ein 
Univerfitätsprofeflor oder Magifter kann ihm eben fo rund und natürlich zum 
Helden werden, wie ein Bauer, Müller vder Jäger, ein Offizier fo gut wie ein 
Sefreiter oder Gemeiner. Bei entichiedener Neigung zum Idyll ift ihn der Zug 
zur Größe fo wenig fremd, wie der neuerdings mit Acht und Aberacht belegte 
Zug zur Bildung. Die Breite und Manmnigfaltigfeit der Welt überwältigt ihn 
nie, aber ſie fchredt ihn auch nicht ab, fie gehört aelegentlich eben auch zur Welt, 
wie er fie erfaßt. Raabe tritt jeder Lebenserfcheinung und Pebensanfchauung, 
fofern fie nicht der eitlen Selbitbeipiegelung, dem Erhabenheitsdinfel und der 
brutalen Schlucht entftammt, die er ohne Pathos immer fatirifch überwindet, mit 
dem gleichen warmen Antheil und lebendigen Verjtändnis gegenüber. Es iſt ein- 
fach nicht wahr, daß ſich fein Bli und feine Herzensvorliebe auf eine fchöne 
Philifterei beichränfe. Doch er fühlt und weiß, daß gar vieles Philifterei heißt, 
was feine ift, er unterſcheidet Scharf zivifchen der Fügung in das Alltägliche und 
zwifchen dem Einklang mit dem Niedrigen. Das gewaltige Wort: „das ift das 
Scrednis in der Welt, fchlimmer al3 der Tod, daß die Canaille Herr ift und 
Herr bleibt” ift bei ihm Eeine blitartig vorübergehende Sentenz. Doch er fühlt aud), 
daß die Dichtung gar feine größere Gefahr laufen kann, als die, ihre Blicke aus- 
ichließlich nach den Sounnenhöhen zu richten. Wer daran zweifelt, daß Wilhelm 
Raabe des höchſten Pathos der tiefiten Lebensmächte fähig fei, kann die Er: 
fchütterung nicht empfunden haben, die uns überfommt, wenn fich in „Des Neiches 
Krone" die Schöne Mechthild in die Arme des unheilbar kranken verlorenen Ge- 
liebten ftürzt und fi) mit ihm in die grauenhafte Weltabgeichiedenheit der Sonder: 
fiehen, der Ausſätzigen, verbannt, „die Erde ift fir uns Beide untergegangen, 
aber wir beide, du und ich, find doch gerettet," er erfaßt die Tragik wie den Troit 
nicht, die den Kandidaten Dans Unwirſch aus dem „Dungerpaftor” am Sterbebett 
jeiner Mutter erfüllen. Es iſt ebenjo falfch, zu meinen, daß die Vorliebe des 
Dichters ihn allzufeit im Seife der verkümmerten Griftenzen, der ausgeglühten 
Pebenskünftler halte. Am Gegenteil, fonniger, überquellender, herzgewinnender 
haben wenige unter den Neueren Lebenshoffnung, Thatluft und Frohgefühl der 
ungebrochenen Jugend dargeftellt, als Wilhelm Raabe. Nie ift feine Teilnahme 
voller, wärmer, von feligerem Schimmer umbaudt, als wenn, wider Weltlauf 
und Gewohnheit, die jubelnde Fahrt ins Meite einmal rasch zu glüdlihem Ziel 
gelangt. Aber damit kann es nicht abgethan fein, und die Summe der Enttäu- 
ihung und der unentbehrlihen Nefignation ift eben viel größer als ſich die Nei— 
gung für das Herotiche träumen läßt. Es iſt weder fo willfürlich, wie es Einigen 
icheint, noch jo fubjectiv hartnädig, daß die Zahl der in ſich gefakten, der ftill- 


94 Adolf Stern, Wilhelm Raabe. 


geivordenen Menfchen in Naabe's Dichtungen fo groß it: die Dichtung muß eben 
gar Vielen in der Wirklichkeit Pebenden die Augen für die Wirklichkeit erſt öffnen. 

Das Aneinanderjpiel von Yebensdrang und Verzicht, von Scherz umd 
Schmerz in Raabe's Weltjchilderung ift jo lebendig und taufendfältig, als das 
Spiel der Lichter über unjeres Dichters Schöpfungen. Wechſelnd fliegen dieſe 
Lichter aus dem Humor wie aus der tragiichen Kraft des Erzählers und erhellen 
die Wald- und Stadtwinkel, die die Schaupläße feiner Erfindungen find. Hier 
findet ſich die ſchier unerichöpflihe Mannigfaltigfeit von Daide und Holz, von 
Feld und Wiejen, von einfamen Gütern, ftillen Mühlen an kleinen Flüſſen, von 
alten PBatrizier- und Bürgerhäufern in Eleinen deutichen Städten, von jtillen 
Döfen, von Erfern und Giebelzimmeru mit altem Gerät. Die tiefe Wahrhaftig: 
feit des Dichters ſchließt alles Auliffenhafte und Yeblofe auch in der Scenerie 
feiner Erfindungen aus und beivährt das feinfte Gefühl für die geheimen und 
unerklärlihen Einflüffe einer jtimmungsvollen Außenumgebung auf die tiefere 
Phantaſie und die Gemütsfräfte. 

Dabei vergißt Raabe feinen Augenblid, daß feine Weltanfchauung, wie 
alles, was er tiefer erfaßt und bleibend geftaltet hat, niemals zur großen Natur, 
zur Welt der Wirklichkeit, aber ſehr oft zu dem, wie jich die Neigung des Tages 
die Welt zu malen liebt, im Gegenjaß ſteht. Er ſchwimmt nicht gegen den 
Strom, aber er ringt gegen künſtlich erzeugte Wirbel und Strudel, die den natür: 
lichen Lauf zu hemmen jcheinen, er fett alle Kraft gegen die Verſchlämmungen 
ihlimmer Stellen ein, immer in der vollen Gewißheit, daß jenſeits ihrer der 
natürliche urewige Stromlauf des gefunden, ſich erneuernden Lebens ihn und 
ſeinesgleichen alsbald wieder tragen wird. 

Die heitere, überlegene Ironie, mit der in der Pradterzählung „Dorader“ 
dev vourtreffliche, geicheidte Konrektor Eckerbuſch dem dünfelvollen, geiftreichelnden 
Streber Oberlehrer Neubauer gegenübertritt, Scheint mix ſymboliſch für das ganze 
Verhältnis des Dichters zur Unnatur und verlogenen Aufgeblafenheit der jchlechten 
„Moderne“. Er läßt ſich Lächelnd einen „alten Herrn“ jchelten und fühlt ſich 
dabei mit Hecht jünger als die Jungen, deren Bebahren alle Züge der Greifen: 
haftigkeit trägt. In diefem Roman, wie in einer Reihe anderer Meiftererzählun: 
gen ift gleichjan alles dreimal erlebt: in dem ſcharfen Blick für die Wirklichkeit 
mit ihren taufend Wunderlichkeiten, in der verklärenden Erinnerung, in der ſchöpfe— 
riihen Stimmung, die dem humoriftiichen Dichter offenbart, wozu die krauſen 
Wirrſale und Widerfprücde des Dafeins qut find. Und wenn nad einem guten 
Raabe'ſchen Wort „auf diefer lärmwollen Erde den Menidien am Ende dod 
nichts jo ſehr imponirt, als einer von ihnen, der gar feinen Speftafel zu verur: 
ſachen wünscht und doch feinen Willen effektvoll durchſetzt“ To gilt dies nicht bloß 
vom Konrektor Eckerbuſch gegenüber den Ganſewinkler Bauern, Jondern auch von 
hundert anderen Geitalten des Dichters gegenüber ihren Umgebungen und zuerit 


Adolf Stern, Wilherm Raabe. 95 


und zulegt vom Dichter jelbit gegenüber der lärmvollen Reflamelitteratur 
feiner Tage. 

Doch wahrlich nit an dieſe PLitteratur wollen wir heute und hier denken. 
Vielmehr feithalten wollen wir alle Erinnerungs: und VBorftellungskraft im 
weiten, reich ausgefüllten Darjtellungskreiie, den Raabe's Meiſterhand gezogen 
bat. Der Unmöglichkeit gegenüber im Enappen Raum der Stunde auch nur die 
eindringlichiten Bilder, die beiten Geftalten beraufzubeichwören, die dem Griffel 
eines bumoriftiichen Erzählerd von jo vollem und übermwältigenden Pebensernft 
entitammen, möchte man wohl auf ein raich zu durhblätterndes Bilderbuch hin- 
weilen können, in dem von der „Chronik der Sperlingsgajje” bis zu „Haſtenbeck“ 
die lange Folge unvergeklicher Situationen und charafteriftiicher Geſtalten raſch 
wechielnd vor unferen Blick träte. Da würden wir alles haben und fchauen: die 
phantaſievollen Arabesfen, zwiſchen denen fchon lebendige Gefichter hervorbliden 
aus der „Chronik und der Sammlung „Dalb Mär, halb Mehr"; den jungen 
Srafen Philipp von Spiegelberg und die dämoniſche Fauſta la Maga fowie den 
wadern Reiter Klaus Eckenbrecher mit feinem Pfarrerstüchterlein Monika Fichtner 
aus dem „Deiligen Born”; die trogigen Glaubensitreiter aus „Unferes Herrgotts 
Kanzlei"; die wunderliche Sippichaft in der Mufifantengaffe 12 aus den „Leuten 
aus dem Walde”; den Knaben Dans Unwirſch ſamt feinem Oheim Grünebaum 
und feiner Baſe Schlotterbed, den Trödelladen des Samuel Freudenftein, das 
Daus des Geheimrats Göß, die Gefellfchaft der Neuntüter, den grimmen Oberſt 
Bullan, das Herrenhaus und die Dungerpfarre von Grunzenow an der Oſtſee 
aus dem „Dungerpaftor”,; die Verzweiflung, in der YPeonhard Dagebucher als 
Sklave zu Abu Telfan im Qumurkielande die Arme in den Sand und den 
Kopf zwiſchen die Arme bohrt und jene andere tiefere, die ihn überkommt, als 
er in Deutfchland, in Bınnsdorf und Nippenburg wiederum daheim tit und Be- 
iherd weiß; die bittere und doc jo menschliche Kane Warivolf im Armenhaus 
aus dem „Schüdderump.“ Den Hausgarten des Konrektors Eckerbuſch, die Wald- 
blöße, auf der der Schulmann mit dem Kollegen Windwebel Ferienvejper hält, 
den Pfarrgarten von Ganfewinfel aus „Dorader' würden die prächtigen Ge— 
ftalten des letten gelehrten Mohikaners und feiner noch prächtigeren Proceleus- 
matifa, des Pfarrherrn Ehrijtian Winkler und feiner Billa, des Gemeindevor:- 
iteherd Neddermeyer und des Oberlehrerd Dr. Neubauer beleben, des Räubers 
Dorader und feines Lottchen Achterbang nicht zu vergefjen. Da träte uns das 
wunderreihe Haus Weiland am Schloßberg der Mittelftadt, das Häuschen am 
Unterthor und das zum Dorfwirtshaus herabgefommene Jagdhaus zum Ried— 
horn mit den Figuren des phantaftiichen eyniſchen Sammelnarren des Negierungs: 
rats Wunnigel und des neunzigjährigen Rottmeifters Wenzel Brüggemann vor 
Augen; die Rittmeifterin Sophie Grünhage und der ftädtiiche Nachtwächter 
Martin Marten aus dem „Dorn von Wanza”; der Vetter Juſt Everftein aus 


7 Adolf Stern, Wilbelm Raabe. 


den „Alten Neitern‘‘, der Zar und der Dräumling mit allen zu ihnen gehörigen 
Geftalten, bis auf den entflohenen erblihen Scharfrichter und nachmaligen füd- 
amerifaniichen Oberit in der Apothefe „Zum wilden Mann.” Und doc, wenn 
alle genannten Schaupläße und alle genannten Menfchengeitalten im Bilde vor 
ung ftünden, fie würden mur ein paar Dutend von mehr al3 hundert Pebens- 
hintergründen, kaum ein halbes Hundert von vielen hundert Menfchenfiguren, die 
Raabe lebendig geichaut und lebendig geichaffen hat, bedeuten. Und weil aud) 
eine ganze Folge von Bildern an den inneren Reichtum des Erzähler nur da 
und dort, gleichſam pfadzeigend, mahnen fönnte, fo mag wohl auch die flüchtige 
Andeutung durch das trodene Wort genügen, lebendiges Verlangen nad) dem 
Ueberfluß Raabe'ſcher Bhantafie, der Fülle Raabe'ſchem Humors, der nie verfiegen- 
den Wärme Raabe'ſchen Herzenslebens neu anzuregen. Zuerſt und zuletzt wird 
ein Dichter im jtillen Genuß feiner Schöpfungen, im lebendigen Anteil an allem 
gefeiert, was ihm Natur und Leben war und ift. Der Hauch des mitlebenden, 
nachſchaffenden Anteils, der vor diefer Stunde wirkſam war, der fie üiberdauern 
joll, giebt auch ihr die beite Weihe. Und wenn es den Sprecher, der Raabe's 
Geſchichten und Geitalten, jett in ſchier endlofer Reihe an fich vorüberziehen 
ſieht, wohl lockte, noch vieles Einzelnen zu gedenken, fo gebietet ihm gerade heute 
und in diefem Kreiſe die ftille Frage: wozu? und der Augenzuruf: „wir kennen 
ſie alle, wie lieben ſie alle!“ rechtzeitig Einhalt. 

Die geſammelte Erinnerung an alles, was der Dichter uns faſt durch ein 
halbes Jahrhundert und bis zu dieſem Tage gegeben hat, der Eindruck, daß ein 
wunderſamer Hauch unverwüſtlicher Jugend die älteſten wie die ſpäteſten Erfin— 
dungen Raabe's durchdringt, verführt leicht dazu, die große und eigentümliche 
innere Entwicklung zu überſehen, die in Wilhelm Raabe's Schaffen ſtattgefunden 
hat. Freilich ziemt es hier nicht die einzelnen Phaſen dieſer Entwicklung, die auf— 
und abſteigenden Linien der Anſchauungen und Eindrücke, der Gedanken über 
Welt, Zeit und Ewigkeit, die wechſelnde Färbung der Stimmungen in Raabe's 
einzelnen Dichtungen, die Gemeinſamkeit und das Gegenſätzliche in periodiſchen 
Gruppen prüfend und nachſpürend zu fondern. Eine Eritifche Aufgabe, wie 
folche Unterfuhung und Prüfung, würde nicht nur weit über die Spanne Zeit 
hinausführen, die uns bier gegönnt ift, fondern für den Nugenblid das Ge— 
famtbild des Dichters, das wir heute voll fchauen follen, entrüden. In unferem 
Bewußtſein aber muß es Stehen, daß diefer Dichter nicht im Winkel geträumt, 
jondern voll, wenn auch anders als Taufende, mit feiner Zeit und feinem Volke 
gelebt hat, daß er die alten wie die neueften Gefchide und Wandlungen deutjchen 
Lebens mit warmer Treue, mit hohem Stolz, oft genug freilich auch mit dunkler 
herzprefjender Sorge geteilt hat. Die innere Entwidlung, die hinter ihm liegt, 
stellt Wilhelm Raabe zu den Naturen, die, fich immer ernenernd, niemals ftill- 
ſtanden, obſchon jie den Anfchein des Stillitandes nicht ſcheuten. Eines unver: 


Adolf Stern, Wilhelm Raabe. 97 


lierbaren Kerns in jeinem Wefen gewiß, hat ſich dev Dichter dem Zug jeiner 
Phantafie und ſeines Humors in Eöftlicher Freiheit überlaffen. Die Zeit wird 
fommen, da Raabe’3 gejammelte Werfe die reiffte Erfenntnid der Entwidlung 
zeitigen, dad Verhältnis der einzelnen Dichtungen zu einander und mitten im 
freien Spiel des poetifchen Laubwerks einen ftarfen feften Zug des inneren 
ftarfen Wachstums, einen Zug nad) aufwärts, gewahren und würdigen lajjen 
werden. Doch auch dann, wenn diefe eingehendere, breitere Würdigung aller Ber- 
dienste und Eigenſchaften des Humoriften und Erzähler, im vollen Gang, wenn 
fie in fich befchlofjen fein wird, kann die Nachwelt Wilhelm Raabe fein höheres 
Rob fpenden, als das, was heute aus vollem Herzen erklingt: daß er feinem 
deutfchen Volke nicht nur ein großer Schriftfteller, ein reicher Poet, der Taufen- 
den lieb und erquidlich für den ganzen Lauf ihres Yebens geworden und Hundert- 
taufenden taufend gute Stunden gefchentt hat, jondern daß er auch allezeit ein 
getreuer Edart, der vor Srriwegen und gleißenden Phantomen gewarnt hat, daß 
er einer ber Echaffenden gemwefen ift, die ihrem Volke nur Gutes gewirkt, ihm das 
Bemwußtfein feiner innerften, höchſten Güter lebendig erhalten haben. 

Aus der Meiftererzählung „Alte Nefter" leuchtet uns mit unvergänglichen 
Licht ein Wort entgegen, in dem Alles beichloffen ift, was Mitwelt und Nad)- 
welt von ihm rühmen mag. „Eine Blume, die fich erſchließt“ heißt es da, „macht 
feinen Lärm dabei, aud) das, was man von der Aloe in diefer Beziehung be- 
bauptet, alte ich für eine Fabel. Auf leifen Sohlen wandeln die Schönheit, das 
wahre Glück und das rechte Heldentum. Unbemerkt kommt alles, was Dauer 
haben wird in diefer wechjelnden, lärmvollen Welt voll falfchen Heldentumg, 
falſchen Glüdes und unechter Schönheit." Wer zweifelt, daß dieſes Wortes tiefite 
Wahrheit vor allem auf den Mann angewendet werden muß, dem twir heute 
huldigen. In jener Stille, von der er fpricht, haben ſich feine lautere Natur, 
fein reiches Schaffen entfaltet und die Dauer, die er wahrem Heldentum, wahren 
Glück und echter Schönheit verheißt, wird fein Teil fein! 


® 


BSESESESESESESDSENSESESESSBSSENS 


Didtergaben aus dem Raabe-Album.*) 
Zum 70. Geburtstage des Meliters. 


Uns alle dodı, die Deinen Mondbergwegen 
Gelolgt im Schauen, laß aus Berzensgrunde 
Uns frohen Dank gleic bunten Kränzen legen 
Um Deinen Herd zur Felerabenditunde. 


Du nahmit mit tiefem, glänzendem Bumor 
Vom Haupt uns fort des Alltags Not und Trauer, 
Du zeigteit uns der Sehnluct Strahlenthor, 
Den Weg zur Kraft, zur itarken lsebensdauer. 


Ein Volk, das Dichter Deines Stammes treibt, 
Ragt durc die Zeit; es blüht, es relit, und bleibt. 
Emil Schönaidı-Zarolath. 


o 

Man wird Dir, Teurer, in dielen Tagen laß lieber ichlecht und redıt mid lagen, 
Dielhundertitimmig fingen und lagen, Daß ich im Berzen Did lang getragen, 
Was alles Du uns warlt und bilt, Eh nodı um Didı verehrungsvoll 
Bis: Deutichlands größter humoriſt, Ein Bymnus der Kritik ericholl. 
Ein Berzenskündiger, tief und heiter, Und io nadı alter Melodie 
Ein Weltverklärer und io weiter, Sing ih: Wie ichön, daß wir Didi haben, 
Bis Dirs nadı Deiner iclichten Art Dem io viel Gelites- und Seelengaben 
Scdiier allzuviel des Guten ward. Der Muie reicdıe Gunit verlieh, 
In dieiem hochgeltimmten Chor Und der im Marktgewähl der Welt 
Käm’ ich fürwahr mir thöricht vor, Binichritt mit unbeirrtem Fuß 
Veriuct’ ichs aud, zu Deinen Ehren Nur lauichend ieinem Genius, 
Did vor Dir lelber zu erklären, Von ernitem Mut die Bruit geicwellt! 
Heithetiic zu viviiecieren, Nimm denn zu alt der lauten Ehrung 
Dich und Dein Werk zu regiltrieren. Audı diele stille Liebeserklärung. 

München. o Paul Seyle. 


Schloß Ober-Eunewalde, Auguit 1901. 

Der Virtuos mag den Beifall der Menge finden, Liebe wird nur durdı kiebe gewonnen. 

Es jit tiefe tröftlihe Gerechtigkeit darin, dab, wer treu geliebt hat, wie Du, endlic von einem 
Volke den Dank empfängt, um den er nie geworben hat. Wilhelm von Polenz. 


o 


Die beite Kunit beim Sagen und Singen: 
Zwei Menidenherzen zulammen zu bringen. 
Ernit Wichert. 


* Gefammelt von Julius Pohmener und Emil Sarnom. 


Dichtergaben aus dem Raabe-Album. 99 


Publikus iteht und kraut lich das Saar: That genau wie der liebe Gott, 

Wieder ein Dichter wird 70 Jahr? Schuf feine Welt für lich allein: 

3a wohl, mein Lieber, und was für einer! Wer mid beiucht, joll willkommen fein! 

Ein großer Dichter, ob jult nicht Deiner: Und die feine Wunder zu ſehen kamen, 

Der baute nicht Dillchen, noch Mietskaiernen, Die trugen die allerbeiten Namen 

Wußt' audı von der Mode nicts zu lernen, Und ichauten einander mit Rührung an: 
Madıt' kein Verlegericifflein Hott — „Von Gottes Gnaden ein Dichter und Mann.“ 


Halt foldıe Meinung wohl mandımal veripürt — 
Heut wird fie Dir feitlict präfentiert; 
Und das thut wohl bei 70 Fahren: 
Mag einer getroit von hinnen fahren! 
Freienwalde a. O. ni Victor Blüthgen. 
„Alte Kirhen — dunkle Giäler , 
Sagt ein Sprudı mit trübem Klange. 
Doch mit Farbengluten bricht 
Durch ehrwürd’ger Scheiben Licht 
Deines Veſens gold’ne Sonne. 
Und es laufht In lel'ger Wonne 
Die Gemeinde Deinem Sange. 
Charlottenburg, den 21. Auguit 1901. Otto Mardı. 
o 
Drei große Dinge halt Du Deinem Volke gelehrt: den Glauben an das Gute, die Liebe 
zu den Menicen, die Treue zur Seimat. 
Kriegladı, im September 1%1. Peter Roiegger. 
o 
Daß wahre Schönheit nichts als ſchöne Wahrheit, 
Du hait’s gezeigt in herzerfreu'nder Klarheit. 


Wildbad Gaitein, zum 8. September 1901. Felix Dahn. 
o 
Ein Prieiter, der dem Bochlten zugewandt, Uns aber, da zum Feit wir uns bereiten, 
fernab vom Schwarm andäcteinder Gelichter, Uns ſchlägt das Berz, dab wir gewürdigt waren, 
Um Gunit und Ehre unbelorgt, in ſchlichter, Den Lebensweg zu gehen Dir zu Seiten. 


Einiamer Eindacht Khauend, Iätaflend Hand. Und wie mit Dir wir keid und luft erfahren, 


So wirit Du endlich, der Du warit, erkannt : Den eignen Sinn zu welhen und zu weiten 
Sie prelien Dich den deufichesten der Dichter, Im Aufblik zu dem Guten, Schönen, Wahren ! 
Sie bringen Deinem Alter Ihre Lichter, 
Und, wie Du fprichit, geht Amen! durch das kand. Wollenbätiel. Nilkelm Brandes, 
° 

Mit den dunklen Mäcten ringen, lachend lic in Iicıten Zeiten 

Die das Leben Itumm begleiten, Zu des Zubels Höhen icwingen — 

Tief im Berzen ſſe bezwingen, Wem dies Wunder mag gelingen, 

Topfer vor und höher ichreiten ; Wird fidı jelbit zum Frieden lelten, 

Trüber Tage graue Weiten Tauienden Erlöfung bringen. 

Mit des käcdelns Licht durchdringen, Wernigerode. Bans ßoftmann. 


7, 


100 Dichtergaben aus dem Raabe Album. 


Aus meinem Erden-Sein könnte ich mir eine Fülle des Erkhauten und Erfahrenen, könnte ich 
mir das Miterleben von tauiend Kunit- und Staatsereignifien, die der Welt für unermeßlic wichtig 
gelten, könnte ich mir Perlönlichkeiten der vericiiedeniten Art ausgemerzt und ausgeihloffen denken, 
ohne daß id einen Welensverluit veripüren würde. Fede Stunde aber, die ich mit Raabes Geltalten, 
mit feinem Geiit in feinem Frieden zugebradıt, it mir ein liebes und Ewigkeitsbeilß ; in jeder habe 
ich in editer und reiner Meniclichkeit gewonnen, in jeder das Wehen des Allgeiites beiellgend ver- 
ipürt, von jeder ift mir ein Nadtempfinden geblieben, wie von etwas unendlidı Feinem, Lichten und 
Köftlichen, von jener Weltweienheit, die da höher ift, denn alle Vernunft... .. 


Charlottenburg. o Beinrid Bart. 
Herz, mein altes Herz, idı muß Dich lieben, Wie vor Fahren Icon. 
Immer findelt Du Dein Lachen wieder, Und fo preis ich Dich ob Deiner Tugend, 
Singit die lieben Kindheitsmorgenlieder Deiner immer unverdroif’nen Jugend. 
Mit dem alten, hellen, tapfren Ton, o Bamburg. Guitav Falke, 
Sonntagskinder giebt’s in ünlern Landen, Denen ihres Volkes Seel’ auf Wieien, 
Denen Mondlicht fit wie Sonnenklarheit, Beiden, alten Neitern it begegnet. 
Die des Märchens blaue Blume fanden Du, erkannt, geliebt als eins von dieien, 
Und fle flechten In den Kranz der Wahrheit; Sei von Gott und Deinem Volk gelegnet ! 

o Adolf Wilbrandt. 

Galienlärm und Sternenfrieden, Oft In Deine Welt gekommen, 

Deuticher Meilter, fingit Du ein. Sieh, und itets wenn es geſchleden, 

Jit mein Gerz gedrüct, beklommen War es ruhig, war es rein! 

Berlin. o Carl Bulle. 


Farbengligernde Paradiesvögel, buntgefiederter Papageien lultiges Laden vernahm ich in der 
Südiee und Indiens Palmenkronen, hodı von auitraliihen Summibäumen rief mich des fcopfigen 
Kakadu ichallende Stimme, in Afrikas dunklem Buſch laufchte ich dem leilen Gefange der „Incwinowi“, 
hörte die itille Lippe erklingen vom Schlage des „Sakabula“. Ueber alles wohllautend aber ertönte 
mir in fernen Landen der heimatlidıe Klang Deines bledes, — Du deuticher Raabe ! 

Scioß Friedersdorf. 3oadim Graf v. Pfeil und Klein Ellgufh. 

o 
In dem herumreiienden Sammelbucde eines Autographenjägers fand ich ungefähr Folgendes : 
„Wir ſchreiben nicht nur für die Autographeniammlungen und keihbibliotheken, londern 


auch für den Bücherſdurank. Wilhelm Raabe.“ 
Da nodı ein Plätzqien daneben frei war, letzte ic dazu: 
freund Raabe hat wie immer redt. Die denken, ile find Mäcene geweien, 
Er kennt ſelne guten Deutihen nicht ichlecht, Wenn ile geborgte Büdher lelen!“ 


Doch nodı lit es nicht zu ipät, und io wünice ich denn dem verehrten Meiiter für feine 
goldene Saat eine hunderifältige Ernte! 
&r. kicdhterfelde. = Beinrid Seidel, 


Ob nun die „Kunit“ von können abzuleiten, 
So viel Iteht feit: aufs Können kommt es an, 
Ira andere um Theorie'n lic Itreiten : 
Du kannit es! So blit Du der rechte Mann. 
Berlin, Friedrich Spielhagen. 


& 


BIDIBIBIBIDIBNIBIBIBIBIBIBIRI 


Der junge deufihe Kaufmann in Oitalien. 
Von 


Karl Tanera. 


Zestmet habe ich den Oſten, d. h. Nordoftafrita und insbefondere Aſien ge: 
ſehen und dabei vielfach Gelegenheit gehabt, unfere dort lebenden Landsleute 
fennen zu lernen. Das Ergebnis meiner Beobachtungen ift ein durchaus günftiges 
geweſen. Ich bin zu der Ueberzeugung gefommen, daß wir auf die in Aſien lebenden 
Deutihen ftolz zu fein alle Urfache haben; fie vertreten ung würdig, und in 
mancher Beziehung können wir und an ihnen jogar ein Beifpiel nehmen. Lebteres 
vor allem in politifcher und religiöfer Beziehung. Am großen Weltgetriebe fchleifen 
ſich Einfeitigfeiten ab, man verliert die Empfindung für eine fpießbürgerliche 
Schollenpolitik, für kleinlichen Partitularismus, für engherzige Standesvorurteile. 
Schon der Umftand, daß Jeder „draußen“ auf feine eigene Kraft angewieſen ift, 
ſich ſelbſt durchkämpfen muß, will er gelten und nicht verfommen, ift gar nicht 
hoch genug anzufchlagen. „Draußen” gilt nicht der Name, nicht der Stand des 
Baters, „draußen” kann kein fauler Müßiggänger, gededt durch Adel oder Ber: 
mögen, eine Rolle fpielen, denn er findet feinen gleichgefinnten Umgang, es giebt 
dort Feine vornehmen Bummler, Schlemmer, Spieler und Püftlinge, jeder muß 
feinen Platz ausfüllen, feinen! Mann ftellen, fonft ift er nichts und genießt feine 
Achtung, ſonſt kann er ſich nicht halten, muß fort, muß wieder heim. Es find 
Männer des PVerdienites, der geiftigen und £örperlichen Arbeit, welche unter den 
ſchwierigen PVerhältniffen des Welt-Wettbetriebes in fernen Landen ihre Stelle 
behaupten und mühevoll aber ftetig vorwärts kommen. Solche Männer haben 
für Eurzfichtige Eleinliche Fraktions- und Kirchturm: Bolitik der Heimat fein Ver— 
ftändnis mehr. Sie haben jtet3 das ganze große Vaterland, deſſen Nuten und 
Vorteil im Auge, fie denken einfach nur deutſch. 

Wie habe ich mich gefreut, Anfichten folder Art in deutichen Familienkreiſen 
und in Klubs von Rangoon, Madras, Singapore, Hongkong, Schanghai, Kobe, Yoko— 
hama und an anderen Orten, in denen ich verkehrte, zu hören! Nie vernahm ich 
das bei uns fo unvermeidliche Nörgeln und Sritifieren jeder, auch der neben- 
fädhlichften Handlung unferes Kaifers und unferer Regierung. Ueberall Elang es 


t02 Karl Tanera, Der junge deutfche Kaufmann in Ditaften. 


durch, daß man gerade im Diten erfannt hat, wie viel wir dem zielbewußten, 
Elaren Auftreten des Kaijers in allen weltpolitiichen Fragen verdanken, wie ex 
unfer Anfehen vor allem auch durch feine Fürforge für die Flotte ungemein 
gehoben hat, wie er damit dem deutichen Handel und unſerer Induſtrie freie 
Bahn jchaffte, um immer weitere Abjatgebiete fich zu eröffnen, kurz, wie er der 
Welt im Often erſt gezeigt bat, wie die andern Staaten mit der deutichen Welt: 
macht jett und in Zukunft zu rechnen haben. 

Wo ich von unferm Kaiſer reden hörte, oder wo ich abſichtlich das Geipräd 
auf ihn lenkte, vernahm ich num begeifterte und anerfennende Worte, ohne jeden 
nörgelnden Beifaß. Solche Zuſtimmung ift um jo höher anzujchlagen, als jene 
Landsleute nicht dur; Beruf und Stellung Anhänger der Krone und ihres Trägers, 
jondern meift Kaufleute, Jnduftrielle, Angenteure, Seeleute oder ſonſt vom Staate 
völlig unabhängige Männer find. 

In gleicher Weile hörte id; überall nur abſprechende Urteile über das Flein- 
lihe Wejen unierer Reichdtags-Fraftionsmänner, über den heimatlichen Barti: 
fularismus, über da3 Ausarten der heimiſchen Preſſe. 

In Bezug auf religiöfes Leben fand ich überall in den deutfchen Kolo— 
nien des Dftens Ruhe und Frieden. Dort findet man Eeine Eonfeffionellen 
Streitereien und Gehäffigfeiten, feine Eunfellionellen Familienverhetzungen und 
Feindſchaften. Auch von den Brieftern werden die Fonfeffionellen Unterichiede 
nicht ftet3 von neuem betont und jede Toleranz verurteilt. „Draußen“ ift man 
in Beziehung auf das Eonfejfionelle Leben fehr tolerant und läßt jeden nad feiner 
Fagon jelig werden. Die Milftonare kommen im Ganzen zu wenig in Betradt, 
da fie durch ihren Beruf dem gefellichaftlihen Umgang mit den Landsleuten fait 
ganz entzogen werden. 

Da aljo weder landsmännijch-partikulariftiiche, noch politifche oder konfeſſio— 
nell ftörende Meinungsunterjchiede dort größere Bedeutung haben, dafür aber die 
Vertretung des Deutichtums gegenüber den Angehörigen anderer Völker und 
Raſſen hohe Geltung erlangt, jo bilden jich unfere Landsleute im Often allmählich 
zu immer befjeren Deutjchen heraus, und mit ihrem Zuſammenhalt gewinnt auch 
unjer engeres Baterland dort ftet3 höheres Anſehen. Das erfüllt mit hoher 
Freude, bejonders wenn man mit diefen die Verhältniſſe in Nordamerika vergleicht, 
wo der Deutiche vielfach Heimat, Sprache und Sitte verleugnet, um ein Bollblut- 
Yankee zu werden. Freilich darf man nicht vergeffen, daß diefe Renegaten vielfach 
auch ſolche Deutjche find, welchen der heimatliche Boden zu heiß wurde, während 
der wadere Deutjche aud in Amerika feinen vaterländifchen Anfhauungen, Weſen 
und Bräucdhen getreu bleibt. Dat dies — Gott ſei Dank! — noch in reichem 
Maße der Fall ift, Habe ich unter anderem bei dem großen deutichen Sängerfeft 
in Brooklyn in den eriten Julitagen von 1900 zu erfennen reiche Gelegenheit ge- 
funden. 


Karl Tanera, Der junge deutfche Kaufmann im Oſtaſien. 103 


Wie mic die Beobachtungen in Bezug auf die politifche Auffaffung unferer 
Yandgleute im Oſten mit wahrer Freude erfüllte, fo machte e8 mich ftolz ſehen 
zu können, welche günftige materielle und gefellichaftliche Stellung ſich der Deutiche, 
bejonders der deutjche Kaufmann, in den leßten zehn Jahren dort erworben hat. 
Ich habe gefunden, daß gerade der deutſche Kaufmann es verftanden hat, ſich in 
ganz Süd- und Oſt-Aſien eine erſte Stellung zu erobern, daß er den bis dahin 
angejehenjten Kaufmann, den Engländer, in Beziehung auf perfönliche Leiftung 
überall, aber auch in finanzieller Beziehung mehr und mehr aus dem Sattel 
gehoben hat, und dadurd) die oftafiatiiche Welt lehrt, daß nicht nur Deutichlands 
Soldaten und Gelehrte, jundern auch Deutichlands Kaufleute die aller andern 
Völfer, felbft die eugliſchen, an Thatkraft vielfach überragen. 

In der erften Zeit imponierte es mir jehr, daß die größten und geachtetften 
Firmen in Aſien nicht, wie ich bisher geglaubt habe, englische, fondern eben 
deutiche find. Schon auf Keylon fagte mir jedermann, daß die mächtigjten und 
angefehenften Kaufleute die Deutichen Freudenberg und Hagenbeck jeien. Die 
gleihe Beobachtung machte ich in Birma, Singapore, Hongkong, Schanghai, in 
Tonfin, Japan und auf Honolulu 2c. 

In meiner Jugend galt e8 geradezu als eine Art von Axiom, daß auf den 
Meeren ſowohl als Sriegsleute, wie auch als Kauffarteifuhrer unftreitig die 
Engländer die bedeutendften, die beiten, die eriten jeien. Damals hatte man aber 
auch noch Reſpekt vor der englischen Yandarmee, weil man nur mit den Er: 
fahrungen von Belle-Alliance und dem Krimkrieg vechnete, weil man damals noch 
nichts von der Unfähigkeit der englischen Armee wußte, die bei dem Kriege gegen 
die Buren und dem Verhalten engliicher Söldner bei der Seymourfchen 
Erpedition in China u. f. to. fich gezeigt hat. Wie die englifche Kriegsmarine fich 
in einem Kriege bewähren wird, muB abgewartet werden. Daß aber als Handels: 
jeefahrer nicht mehr der Engländer, fondern der Deutjche im Dften das größte 
Anfehen genießt, obwohl die deutiche Handelsflotte der Zahl nach noch lange nicht 
die englifche erreicht, erkennt jeder, der mit offenen Augen Oftafien wiederholt bereit 
hat. Seine engliihe Schiffahrtsgefellichaft, überhaupt Feine auf der Erde, kann 
bier gegen den „Norddeutichen Lloyd“ auffommen, und als am 11. Mai 1900 die 
„Hamburg” der „Hamburg-Amerika-Linie“ in Yokohama einlief, ſah man an den 
beftürzten Gefichtern der Engländer, wie fie es berührte, daß nun noch eine zweite 
deutſche Gefellfchaft mit ſolchen Riefendampfern in Aſien auftritt. Deutſche Firmen 
haben in den leßten drei Jahren ganze englifche Flotten aufgekauft, 3. B. die voll 
itändige Seotch-Oriental-Line, die Dolt-Line und andere. 27 Dampfer, welche nod) 
vor drei Jahren englifche Flagge, Kapitäne, Offiziere und Mannſchaft führten, find 
jet ganz deutich, vom Kapitän bis zum letten Schiffsjungen, und führen die 
ſchwarz⸗weiß⸗rote Flagge. Damit ift der Handel, den diefe Linien vermittelten, 
von englifhen in deutiche Hände übergegangen. Wir haben jet den gangen 


104 Karl Tanera, Der junge deutſche Kaufmann in Oftafien. 


Handel und Rofalverkehr zwifchen Honkong und Singapore, den nah Siam und 
großenteil8 den nah Sumatra in ber Hand. Dadurch wurde nicht nur Zahl 
und Macht der Handelsflotten fehr verfchoben, fondern auch dem englifchen Anſehen 
ein unmwiedereinbringbarer Schlag zugefügt. 

Ein Hauptgrund für die Bevorzugung der Schiffe der deutfchen Schiffahrt: 
Geſellſchaften durch die NReifenden, aud; englifche Reiſende, ift nicht nur in der 
Zuverläffigkeit der Schiffe, ihrer größeren Reinlichfeit und befferen Verpflegung, 
jondern vor allem in dem Vertrauen zu fuchen. das fid die deutfchen Kapitäne, 
Offiziere und Mannichaften duch Pflichttreue und Disziplin und durch ihr auf 
opferndes Berhalten bei den verfchiedenften Sciffskataftrophen erworben haben. 

Den Schiffen der großen deutichen Geſellſchaften vertraut ſich der Reiſende 
ohne mweitere8 und mit Vorliebe an. So wurde uns die Thatfache erklärt, dak 
die deutihen Schiffe meiſt überfüllt, während die engliihen oft halbleer von 
oftafiatifhen Stationen abgehen. 

Diele Beifpiele und andere Beobachtungen riefen in mir die Anficht hervor, 
daß wir zu weiteren Erfolgen am ficherjten dann gelangen werden, wenn wir 
auch andere Unternehmungen von Anfang an mehr im Großen betrieben. 

Nah meinen Amformationen in verfchiedenen deutichen Kaufmannskreiſen 
Icheint mir Afien nicht mehr der Boden zu fein, auf dem ein junger Dann wie 
früher ohne Mittel auf gut Glück verfuhen kann, ſich empor zu arbeiten, felbfi 
wenn er fehr tüchtig ift. Ein unbemittelter junger Kaufmann möge lieber nad 
Amerika gehen, wenn er zu Haufe jein Brod durhaus nicht finden kann. In 
Alten muß man mit einer fehr ficheren geldlihen Grundlage arbeiten, um durch 
diefe Geldmadt, verbunden mit der zähen deutichen Arbeitskraft, die Konkurrenz 
zu befiegen. 

Die Eingeborenen arbeiten im allgemeinen, befonders was die Ehinejen be: 
trifft, ebenfo zuverläffig wie wir, und alle viel billiger. Darum kann ein junger 
Deutfher in China nicht allein durch feine tüchtige Arbeitsleiftung, auch nicht in 
höheren faufmännifchen Stellen, 3. B. als Kaflierer, mit dem Ehinefen metteifern. 


Ich habe im ganzen Often feine Bank, fein größeres Gefchäft gefehen, von 
der deutjch-afiatifchen Bank angefangen, in der nicht Chineſen mit den wichtigſten 
Bertrauensjtellungen betraut gewejen wären. Ebenfo fand id) es in Indien, wo 
Hindu und Parfen jene Stellungen inne haben. Deutiche Bankbeamte geftanden 
mir ein: „Wir fünnen ohne hinefiiche Kaffierer in China gar nicht arbeiten, ſchon 
wegen der nötigen Sprachkenntniſſe und den Iofalen Erfahrungen, fomwie wegen 
der fabelhaften Gefchidlichfeit der Chinefen in dev Behandlung der verjchiedenen 
Geldſorten.“ 

Aehnlich wäre es in allen offenen Geſchäften, ſelbſt europäiſcher Waaren beim 
Detailverkauf. Es bleibt alſo außer der Buchführung für einen jungen Mann 


Karl Tanera, Der junge dbeutiche Kaufmann in DOftafien. 105 


wenig übrig, wenn er nicht? mitbringt ald nur Arbeitskraft und guten Willen. 
Ganz genau fo fteht es in Indien, auf Java und in Japan. Daher follte ein 
junger Kaufmann nur nad, Afien gehen, wenn er in einem großen deutjchen 
Haufe feſt angeftellt ift, alfo nicht ins Unfichere zieht. Ich habe junge, tüchtige 
Leute Eennen gelernt, die diefe Vorficht verfäumten, darum mit beftem Willen nicht 
in die Höhe kommen konnten und die mir darum in innerfter Seele leid thaten. 

Wie in der Arbeit der Eingeborene, vor allem der Chineſe, jo ift bei der 
Gründung von neuen Gefchäften der Engländer mit feinem vielfach noch ſehr ge: 
jpidten Geldbeutel der Konkurrent unferer deutfchen Kaufleute im Dften. Mit 
feiner angeborenen Rüdfichtslofigkeit macht nun der Brite jeden geldſchwächeren 
Nebenkaufmann fo fchnell als möglich tot. Daher wird im allgemeinen ein 
Kaufmann mit Kleinen Mitteln im Often wenig Ausficyt haben, auf einen grünen 
Zweig zu kommen. Sch möchte jedem raten, dort nicht Elein anzufangen, wo eng: 
liſche Konkurrenz zu befämpfen ift. 

Wir haben in Ehina nur Tfingtau, wo Aehnliches nicht erwartet werden muß. 
Dier, in Zapautan oder längs der Bahn nad) Kiautfchou, Eönnten nach meiner 
Anficht auch noch der deutiche Kleinkaufmann und das Kleingewerbe Berdienft 
finden. Auch mittelgroße und große Unternehmungen dürften dort noch am 
Plage fein. Es fehlt eine Bierbrauerei, es Eönnten Feinbäcker, Schneider, 
Tiſchler u. ſ. w. Arbeit finden. Ich glaube aud, daß Zwifchenhändler zwiſchen 
dem chineſiſchen Hinterland und den europäifchen Bewohnern unferes Gebietes 
lohnende Beichäftigung erhalten würden. Die zu gründenden Bergmwerfe werden 
ebenfalls gut bezahlte Stellen eröffnen. Das Alles gilt aber, wie gejagt, nur 
für Deutſch-China. 

Früher hatte ich die landläufige Phrafe „der Engländer ift der erſte Kauf: 
mann der Welt" auch ald bare Münze hingenommen und glaubte, diefes Ur- 
teil beziehe fih aud auf die englifche perjönliche Leiftungsfähigkeit. Man hat 
mir aber in diefer Beziehung gründlich die Augen geöffnet und mir bewielen, 
daß felbit in größeren englifchen Gefchäften Deutjche die eigentliche Arbeitskraft 
und nur Name und Geld englifch find. Ich kenne eine englifche Brauerei in 
Yokohama, in der die ſechs europäifchen Angeftellten Deutiche find. Die dadurd) 
erreichte tüchtige Leitung bewirkte, daß alle anderen Brauereien überflügelt wurden. 

Sleihe Fälle kenne ich in Nangoon. Große Neismühlen dort gehören Eng: 
ländern oder fogenannten Deutjchengländern, aber die Leiter find Deutfche. Die 
größte Holzjägemühle gehört Engländern, der Leiter iſt ein Deutjcher, kurz eng- 
liſches Kapital wird durch deutiche Arbeitskraft nußbar gemacht, Nicht nur durch 
diefe praftifche Ausnützung, ſondern aud) theoretiich erkennen jett die Engländer 
immer mehr die ihnen überlegene geiftige, und ich möchte jagen, auch phyſiſche 
weil ausdauerndere Leiftungsfähigkeit des deutichen Kaufmannes an. Darum 
fürdten fie ihn fehr und vernichten mit ihrer Geldmadt jeden, der den Kampf 


106 Karl Tanera, Der funge deutiche Kaufmann in Oſtaſien. 


nicht beitehen kann. in deuticher Kaufmann mit geringer Geldkraft ſollte alſo 
den Kampf im Alten gar nicht erit beginnen. 

Mit jtolzer Genugthuung aber muß uns die Erfahrung erfüllen, daß, wenn 
ausreichendes deutsches Kapital fich mit deutfcher Leiſtungsfähigkeit vereint, weder 
der reiche Engländer, nod der fleigige Eingeborene mit unferen Kaufleuten kon— 
kurrieren können, daß diefer glüdlichen Vereinigung das überraichende Aufblühen 
unſeres Handels auch im Oſten zu danken ift, umd daß wir auf diefem Wege 
alle anderen Nationen auch in Zukunft aus dem Felde fchlagen werben. 

Ih muß aber aud) von Erfahrungen berichten, die keineswegs jo erfreu: 
licher Natur find. Sie betreffen jedoch mehr die deutichen VBergnügungs:, Er: 
holungs- oder Studien-Meifenden. Leider giebt es bei uns immer noch genug 
Deutjche, welche dadurd im Anfehen zu gewinnen fuchen, daß fie in fremden 
Yändern fremde Sitte und fremde Neußerlichkeiten nachmachen, über deutfche Art 
mißgünftig urteilen, auch da, wo fie keinerlei Berechtigung dazu haben, die über- 
all mit Sprachkenntniſſen Eotettieren, felbit da, wo fie es gar nicht nötig haben, 
kurz, die ihr Deutichtum verleugnen und ſich wohl gar freuen, wenn man fie für 
einen Fremden hält. Am widerwärtigften find wohl jene, welche englifche Art in 
möglichft läppiicher Weile nachzuahmen ſuchen und damit nicht nur fich jelbft, 
jondern alle ihre Stammgenoijen in unglaublicher Weiſe herabfeßen. Sch lernte mehrere 
ſolche Wichte kennen, einen jungen Grafen, der, wie ed den Anfchein hatte, gar 
nicht mehr deutjch ſprechen konnte, der lieber mit jeder untergeordneten englifchen 
Dame ſtatt mit einer deutfchen Frau ſprach, ich hörte von hochgeftellten deutichen 
Herren ſprechen, die faſt ausschließlich in englifchen Klubs verkehren, während 
in der gleichen Stadt ein jehr vornehmer deutfcher Klub befteht, die in geradezu 
verlegender Art den enaliichen Gefellfchaftskreis bevorzugen, während die deut- 
ſchen Großfaufleute und ihre Angehörigen keine Mühe und keine Koſten jcheuten, 
ihnen in ihren Vereinigungen Angenehmes zu erweilen. Ich traf mit jungen, 
reichen Hamburgern zufammen, die im Neußern, im Umgang, in Anschauungen, 
kurz, in allem fo vollkommen die Engländer markierten, daß fie 3. B. ihrer Be- 
geifterung für die englifchen Truppen im Burenkrieg und für die dort vertretene 
engliiche Bolitit lauteften Ausdruck gaben; ja einem deutichen Neifenden begegnete 
ich, der, freilich in engliichem Dienft, fi überhaupt als Engländer ausgab, ob— 
wohl er bei der Garde als Einjähriger gedient hatte. Man erzählte mir in 
Japan von einem jungen adeligen Offizier, der mit dem Hut auf dem Kopf in 
ein deutiches Berufskonfulat (nicht faufmänniiches) eintrat, in englifcher Sprache 
brüsk fein Verlangen äußerte und fich dort erft belehren laflen mußte, daß man 
al3 Europäer beim Beſuche eines deutjchen Konjuls den Hut abzunehmen und 
als Deutfcher dafelbit deutfch zu ſprechen habe. 

Ich könnte noch eine Reihe folcher traurigen Beilpiele von Vaterlandsloſig— 
feit anführen. Im Gegenfage freut man fi, wenn man fieht, wie fich deutjches 


Karl Tanera, Der junge deutiche Kaufmann in Ditafien. 107 


Selbitgefühl bei wirklich deutfchen Männern durch nichts herabdriden läßt 
ud dann auch Achtung und Anerkennung findet. In diefer Beziehung möchte 
ih in erfter Linie den deutjchen Klub in Rangvon erwähnen. Alle Achtung da- 
vor, wie diefe Herren — aud wenn fie im englifchen Dienft ftehen — gut deutſch 
aufzutreten willen, und wie fie ſich durch folches Verhalten ein ganz bejunderes 
Anjehen bei allen Nichtdeutichen erwarben. An wenigen Pläten fteht ein deut 
iher Klub jo Hoch im Anfehen wie bier. Aehnlich verhält es fi in Schanghai, 
Kobe, Yokohama, Madras und felbit in Galcutta. 

In Yokohama beklagte ich, daß man die deutichen Damen — und id) 
fand deren dort bejonders viele reizende — von deutichen Klubs ausschließt. 
Man zwingt die deutichen Frauen duch ſolche Ausichliegung zu fremdem Um— 
gang. Für manden Herrn wäre e3 gewiß viel erfreulicher mit anderen Damen 
zu verfehren, als nur mit japaniichem Spielzeug. 

Noch einer Ichlechten deutichen Sitte möchte ich erwähnen, die ung im Ausland, 
wo man jo viel nad) dem äußern Schein urteilt und zu urteilen gezwungen it, 
entihieden fchadet. Viele unferer Landsleute meinen nämlich, fobald fie den Be- 
fanntenfreifen der Heimatjtadt für einige Zeit Lebewohl gejagt, dürften fie fid) 
in ihrem äußeren Auftreten vernacläfligen. Manche fragen jich während der 
Reife nur: „Wie kann ich auf die billigste Weife möglichft weit gelangen?“ 
Dan ſieht und erlebt in diefer Beziehung geradezu tolle Dinge. Ach traf in 
Sicilien einen aktiven deutichen Generalleutnant, den Chef einer unſerer höchiten 
Behörden, mit feiner Familie in völlig unwürdiger Bekleiding. Dieſe Familie 
lebte ftetS in den mäßigften Gafthänfern, ihr Auftreten war das einfacher Klein: 
bürger oder befjerer Handwerker. Unangenehm ftachen von ſolchem Auftreten 
dann die Adrejjen der eintreffenden Briefe ab: An Seine Ercellenz :c. 

Auf einer Reife um die Erde traf ich wiederholt auf den Schiffen, in 
1. Klaffe, mit einem Deutjchen, adeliger Herkunft, einen ehemaligen Landrat 
ans einer der größten deutichen Städte, Rohanniterritter u. |. w. zufammen, der 
ttet3 in gewöhnlichen, meift unreinem Jägerhemd, ohne Vorhemd, ſich zu den 
Diners einfand. In den Tropen trug er nicht einmal eine Weite. Ach Eonnte 
es Engländern, die ftet3 in feinfter Gefellichaftstoilette beim Diner erjcheinen, 
wahrlich; nicht verargen, daß fie ſich von dem Tiſche wegfeßten, an dem der 
Herr ſich niedergelaffen. Auch die übrigen Deutfchen hielten fich iiber ſolche Nach— 
läffigkeit auf. Für derartige Ausartungen wüßte id} leider noch viele Beifpiele 
anzuführen. 

Solches Sichgehenlafjen Ichadet ums ganz ungemein, da die meiften Anges 
hörigen anderer Nationen gerade auf Reifen befondere Surgfalt auf ihr äußeres 
Eriheinen legen. Ach will gewiß mit diefer Ausftellung nicht jener übertriebenen 
engliihen Mode das Wort reden, in den vornehmeren Hotel3 oder in den Speife- 
lälen 1. Klajje der Dampfer ſtets in Balltoilette zu den Diners zu erfcheinen. 


108 Karl Tanera, Der junge deutiche Kaufmann in Diftafien. 


Man follte aber wenigftens ftetS bei größeren Reifen im Auslande äußerlich 
würdig auftreten. Ich gehe von der Anficht aus, daß man in gejellichaftlicher 
Beziehung ſich nach den Sitten des Landes zu richten habe, deſſen Gaſt man ilt. 
Man follte daher 3. B. auf engliihen Schiffen beim Diner in ſchwarzem, in den 
Tropen in weißem Gejellfchaftsangug erfcheinen. Solche Sitte verftößt gegen unfer 
Deutfchtum gewiß nicht. 

Wenn meine vieljährigen Reifeerfahrungen nich immer mehr mit Hocad)- 
tung vor unfern deutichen Landsleuten, die ftändig oder längere Zeit im Often 
leben, erfüllt haben, jo bleiben mir doch mande Wünjche noch übrig in Beziehung 
auf viele unferer lieben Landsleute, die nur vorübergehend die afiatifchen Länder 
bereifen. Aber auch in diefer Beziehung ift Schon ein Wandel zum Befjeren zu 
beobachten, was zur Hebung unferes deutichen Aniehens nur dienlich fein kann. 
Man betrachtet uns als eines der tüchtigften, der arbeitiamften und verläffigften 
Völker, man beginnt, und als Induſtrie- und Handelsvolk zu fürchten, man 
achtet unfere Landarmee als die erite der Welt, man gewinnt immer mehr 
Reipekt vor unjerer Seemadt, aber man hält und im allgemeinen für gejellichaft- 
(ih noch nicht jo gebildet wie die meiften andern europäiichen Völker. Wir 
willen, wie wenig Berechtigung man für folde Meinung hat, übertrifft doch der 
Deutiche in wiljenfchaftliher Bildung meiſt die Angehörigen anderer Nationen. 
In Bezug auf die Beachtung der äußeren Formen aber ericheint der ung gemachte 
Vorwurf allerdings noch berechtigt, wenigitens trifft er viele unter jenen Deut: 
ichen mit Recht, welche ald Vergnügungs-, Studien: oder Erholungsreifende 
ih im Nuslande aufhalten. 


“ 


COGGGGOGGGGGGEC 


Deutſchland und die groſsen europdiſchen Mächte. 


Von 
Theodor Schlemann. 


I. 


U" in politiihen Fragen einen fruchtbaren vegelmäßigen Berfehr aufrecht zu erhalten, 
wie ihn die politische Monatsüberficht diefer Zeitichrift ihren Yejern gegenüber 
erftrebt, ift es notwendig, ſich vorher über eine Neihe von Grundfragen verjtändigt zu 
haben. Welche Stellung nimmt unfer Deutſches Reich im reife der großen Mächte ein, 
was hat es zu behaupten, was abzumehren und was zu erringen? Sobald wir uns 
über dieſe Hauptfache verftändigt haben, wird es leicht fein, in gutem Einvernehmen von 
Monat zu Monat den Gang der Ereigniffe zu verfolgen. 

Wir ſchicken voraus, daß die großen Ziele der Bolitif eines Staates einfach und 
jedermann einleucdhtende fein müffen. Nur das Detail der Ausführung entzieht ſich meist 
der Einficht der Beitgenofjen und muß naturgemäß Geheimnis derjenigen bleiben, welche 
die Verantwortung zu tragen berufen find. Das ungeheure komplizierte Räderwerk der 
Diplomatie ift dem Laien ebenjomwenig zugänglid wie der Mechanismus der Kraft: 
maſchinen, deren Wirkung wir erkennen, ohne, wo die Erläuterung fehlt, die bejondere 
Aufgabe jedes Rades oder jeder Schraube zu veritehen. 

Bon der Stellung Deutichlands in der Reihe der großen Mächte denfen wir jehr 
hoch. Am Lauf eines Menfchenalters hat Deutichland ſich von einer zwar beachteten, 
aber an feinem Punkte enticheidenden Stellung aufgeſchwungen zu einer Pofition, die es 
ausichließt, daß irgend eines der großen Probleme, welches der Völkerverkehr und die 
Kulturbewegung der Zeit bedingte, ohne jein Zuthun gelöft werden kann. Wir bilden 
einen Staat, deſſen Kraft fich zu einer Spike Fonzentriert, ohne dody das Fortwirken 
biftoriich gewordener lebendiger kleinerer Zentren auszujchliegen. Kein Reich der Erde 
bat eö wagen dürfen, wie wir es gethan haben, neben einem Kaifer Könige und Fürften 
mit großer Machtvolltommenheit, mit einer ftolzen Gefchichte und mit eigenen Landes: 
vertretungen bejtehen zu laffen. Wo etwas Aehnliches beitand, ift e8 unbarmherzig zerjtört 
worden, wie das Beifpiel Rußlands, \ftaliens, im gewiſſen Sinne aud) Frankreichs, Eng: 
lands und Spaniens zeigt. Nirgend in aller Welt giebt cs neben der Hauptſtadt jo 
viele Städte, die ſich mit gutem Recht gleichfalls Hauptſtädte nennen, nirgend mehr 
Mannigfaltigkeit in der Einheit. Nicht Uniformität und Eintönigfeit, nicht die Unter: 
drüdung des Bejonderen war das Biel der großen Bauherren des Deutihen Reiches. 
Es fam ihnen darauf an, unter Wahrung aller lebensfräftigen und gefunden Sonder: 
heiten, die ftärkfte Aufammenfaflung der nationalen Kraft zu finden, auf daß der deutiche 
Name wieder in Ehren genannt werde. 


110 Theodor Schiemann, Deutfchland und die großen europäiſchen Mächte. 


Ein deuticher Kaiſer, deutſche Fürsten, ein deuticher Neihstag, ein deutſches Heer, 
das wie fein zweites das Ehrenrecht der allgemeinen Wehrpflicht zur Wahrheit gemacht 
bat, eine deutiche Flotte, die uns ſchon heute ahnen läßt, was fie in Zukunft jein kann, 
ein einheitliches Recht und endlich ein freies Feld für alle Beftrebungen der Aunft, der 
Wiſſenſchaft, des materiellen Wettbeiwerbes, das ift es, was das neue Neih uns bietet. 


Und mit diefem Schatz idealer Güter, welchen die Praxis des Lebens umfekt in 
das, was Yuther in jeiner Erklärung der vierten Bitte das „tägliche Brot“ nennt, tritt 
num Deutichland ein in das Getriebe jenes NRingens, das, jo weit die Winde wehen, die 
Völfer der Erde in Berührung mit einander bringt. Kleines vermag fich der allgemeinen 
Bewegung zu entziehen, die einen führend, die andern folgend, dieſe gebietend, jene die- 
nend, alle beftrebt jid, ihren Blast, und wenn möglich den beften Pla, an der Sonne 
zu fihern. Was Wunder, daß fie fich ftoren und drängen, daß der Vorteil des einen 
der Nachteil des anderen wird, und daß fchließlid alle einander gegenüberzuftehen 
icheinen wie erbitterte Stonfurrenten. Unſere Gejchichte, über deren Gang wir nicht 
hadern wollen, denn fie hat uns wunderbar geführt, bedingte cs, daß Deutjchland, als 
es endlid) feine Einigung erreicht hatte, in ungeheurem Rückſtande den anderen großen 
Mächten gegenüber war. Seit den Tagen Ludwigs des Heiligen hatte Frankreich daran 
gearbeitet, im afrikanischen Orient und im weitlichen Afien fich eine vorherrichende Stellung 
zu erringen, es hatte in Amerifa und in Südafien Königreidhe gewonnen und verloren 
und wiedergewonnen; unaufbaltiam war die Macht Englands über alle Meere ausge 
dehnt worden und überall hatte es die Keime nationaler Neufchöpfungen in den Boden 
bisher barbariicher Gebiete, ja ganzer Weltteile gejenft, die dann herrlich aufgegangen 
waren; Rußland hatte ſich das nördliche umd mittlere Aſien durd die Jahrhunderte 
rejerviert und war ratlos thätig, fi das ganze ungeheure Gebiet, das es nominell bejak, 
thatlächlich zu eigen zu machen; immer gewaltiger war die Macht der Vereinigten Staaten 
von Nordamerifa emporgewacfen — es war die höchite Zeit, daß auch wir, jollte nicht 
das neue Reich in ſich eritiden, Naum gewannen, um die Ellenbogen frei zu bewegen. 
Es iſt das unfterbliche Verdienft Bismards, das richtig erfannt und mit bewunderungs— 
wiürdiger Umficht die Fundamente zu dem Ktolonialveich gelegt zu haben, das heute unier 
it. Um jo bewunderungswürdiger, als er, was uns heute faum verftändlidy ericheint, 
bei der ungeheuren Mehrheit der Volksvertretung und der öffentlichen Meinung zunächſt 
fein Verſtändnis fand für feine Beitrebungen, und auf Schritt und Tritt mit der Eifer: 
ſucht der anderen Stolonialmächte, zumal Englands, und mit den Schwierigfeiten zu 
rechnen hatte, die auf dem Boden der europäiichen Politik ftets neu emportauchten und 
die vor allem überwunden werden mußten. Unter dem drohenden Schatten eines europäi- 
ichen Krieges, wie er von 1871 bis 1890 fait alle Zeit möglich gemwefen tft, hat ſich der 
Eintritt Deutichlands in die Weltpolitif vollgogen. Die eriten Schritte waren aud) hier 
die fchtwierigften, aber wir wollen nicht verfennen, daß es jeither — wenn wir von der 
unglücklichen Gaprivifchen Periode abjehen, die uns die Anwartichaft auf Zanzibar ge 
foftet hat — ftetig vorwärts gegangen tft. Unſere Stellung in Afrika, in der Sübdjee, 
die vornehmlich wirtfchaftlichen Borpoften in Aſien, die gewaltige Entwidelung unſeres 
Dandels in aller Welt, die heute ohne Zweifel vorhandene Möglichkeit, nicht nur alle dieje 
weiten Gebiete wirkſam zu verteidigen, fondern darüber hinaus in aller Welt ſchützend 


Theodor Schiemann, Deutfchland und die großen enropätichen Mächte. 111 


einzutreten, wo das Necht eines Bürgers des Deutichen Reiches gekränkt wird — das ift 
die Stellung, die wir heute einnehmen. 

Man jage nicht, das ſei eine optimistisch gefärbte Zeichnung. Die Unvollkommenheit, 
die allen menſchlichen Thun anhaftet, ift auch der Arbeit und dem Ausbau des Deut: 
ichen Reiches nicht fern geblieben. Das liegt in der Natur der Dinge, und wenn im 
Getriebe der Tagespolitif wir uns an jenen Menjchlichkeiten ärgern, jo ift auch das 
verständlich. Aber der Augenblick überſchätzt im Guten wie im Böfen das Gegemwärtige, 
und erſt wer auf einen längeren Zeitraum zurückblickt, wird die richtige Schätsung finden. 
Was heute bedeutend erichien, ſchrumpft zufanımen, was für unerträglich galt, wird als 
gleichgiltig bei Eeite gelaffen, während das Wefentliche, Enticheidende in fein Necht tritt. 
Weſentlich aber ift gerade das, was meift freudlos und danflos wie Licht und Yuft als 
etwas Selbjtverftändliches hingenonmmen wird: die Keftigkeit des Rechtsbodens, auf dem 
wir jtehen, die Freiheit geiftiger und materieller Arbeit, die jedem gefichert ift, die Wahrung 
der nationalen Ehre, die Erhaltung und Ausbildung der nationalen Kraft. Nur wo 
dieje Fundamente feitftehen, arbeitet die Gegenwart ſegensreich für die Zukunft, wir 
freuen uns aber, mit aller Beitimmtheit behaupten zu können, daß fein einziges diefer 
Fundamente ins Wanfen geraten ift. 

Aber Politik ift der Kompromiß zwifchen den nur zu oft auseinander gehenden 
‚intereffen der Bölfer. Wer daher die deutjche Politik recht begreifen will, muß genau 
willen, nicht nur was wir wollen, jondern aud) was das Ziel der Beltrebungen der 
anderen Mächte ift. In jedem einzelnen Fall wird es ſich fragen, wie weit divergierende 
Intereſſen ſich miteinander vereinigen laflen, und eine weile Staatsfunft wird bemüht 
jein, jo lange es irgend möglich iſt, auf friedlichem Wege den Ausgleich zu finden. Ein 
Friede in Ehren, das ift furz gefaßt das Ziel der deutfchen Politik, fein fauler Friede, 
wie Preußen ihn von 1795 bis 1806 auf Koſten der Zukunft ſich gewahrt hatte, jondern 
ein Friede in Ehren, wie wir ihn bon 1871 ab bis auf den heutigen Tag behauptet 
haben und wie wir ihn auch in Zukunft jeder noch jo verlockenden Kriegspolitik vor: 
ziehen werden. 

Welches find nun die nach außen hin wirkenden Kräfte und Intereſſen der anderen 
großen Mächte und wie weit treten fie mit unjeren Beitrebungen in Berührung und 
Gegenſatz? das wird die Frage fein, die wir zu intimerer Verftändigung über die Rich— 
tung unferer PBolitif beantworten müffen. 

Wir beginnen mit England und heben zunächſt die Momente hervor, welche eine 
freundliche Annäherung zwiſchen beiden Staaten und beiden Nationen als das Natürliche 
ericheinen laffen. England ift nächſt Deutichland die einzige überwiegend proteftantifche 
Großmacht. Die beiderjeitigen Herricher Stehen wie die Bölfer in naher Blutsverwandt- 
ichaft und die Richtung in Wiffenichaft, Yebensführung, Sympathieen und Antipathieen 
zeigt gleichfallö verwandte Züge. Zwiſchen dem gebildeten Deutjchen und dem gebildeten 
Engländer ift daher aud) die gegenseitige Anziehungsfraft außerordentlich groß. In feinem 
Lande der Welt hat Goethe einen mehr begeifterten und verjtändnispolleren Herold 
gefunden als in England. Karlyle ift uns im feinen Verftändnis der großen Seiten des 
Goetheſchen Geiftes faft vorausgegangen; ebenjo aber hat fein Volk der Welt Shate: 
ipeare fo zu würdigen und ihn fi) fo zu eigen zu machen verſtanden wie das deutjche. 


112 Theodor Schiemann, Deutichland und die großen europäifhen Mächte, 


Was unjerem Volksbewußtſein den Engländer unliebenswürdig erfcheinen läßt, ift, abge- 
jehen von ſeiner geſchäftlichen Rüdfichtstofigkeit, der ungeheure Hochmut der englifchen Bolitit. 
Davon kann Deutſchland allerdings ein Yied fingen, und es wäre leicht ein langes Schuldfonto 
aufzuftellen, wenn es überhaupt, politiich betrachtet, einen vernünftigen Sinn hätte, die 
Sünden der Bäter an den Kindern heimzufuchen. Die Engländer ihrerjeitö glauben, daß 
jowohl der Prinz Stonjort wie die Königin Viktoria jehr deutſchfreundlich gervejen feien, 
und mit gewifjen Einichränfungen iſt das auch richtig. Die Zukunft wird e8 an der Hand der 
Ktorreipondenz, welche von den Mitgliedern des preußiſchen Königshauſes nach England hin 
geführt worden ift, wahricheinlic in merkwürdigſter Weife beftätigen. Aber dieſes Wohlmollen 
hatte feine Grenzen und nahm nad) 1871 ftetig ab. Mit dem Moment, da Deutichland 
den Weg der Ntolonialpolitit bejchritt und jo überraschend jchnell, danf der Snitiative 
und der zähen Beftändigfeit Kaiſer Wilhelms, feine Seemacht auszubilden begann, wurde 
England jo jehr unjer Gegner, daß es mehrfach Situationen gegeben hat, die einen Krieg 
zwischen uns und ihm nicht unmahrjcheinlich machten. Daß er vermieden wurde, ift ohne 
allen Zweifel ein großes Glück für beide Teile gewejen. Die Stihmworte: Delagoa, 
Samoa, Philippinen bezeichnen den Höhepunft diejer Krifis. Es ift aber ein Arrtum, 
wenn man annimmt, daß der engliiche Imperialismus jeine Spige gegen Deutſchland 
richtet. Der Uebergang Englands zur imperialiftiichen Politik war eine unabweisbare 
Notwendigkeit, die fi) aus dem Verhältnis des Mutterlandes zu jeinen Ktolonieen ergab. 
Es mußte ein Band gefunden werden, das den Zuſammenhang aufrecht erhielt, wenn 
nicht Canada und Auftralien zu politiihen Selbjtändigfeiten auswachſen jollten, Die 
ähnliche Wege einfchlugen, wie fie die Vereinigten Staaten von Nordamerika gegangen 
find. Das Opfer diefer Politik find die beiden jüdafrifanischen Republiten geworden, 
deren Vernichtung die große afrikaniſche Nückzugslinie Englands fihern follte, wenn 
einmal die engliihe Herrihaft in Indien ins Wanfen geriet. Es war eine weit aus: 
ichauende Politik, die mit ſchlechten Mitteln zu einen unficheren Ausgang geführt worden 
it, Die aber der übrigen Welt die Möglichkeit bot, einigermaßen den ungeheuren Vorſprung 
nachzubolen, den England zur Eee voraus hatte. Das England, mit dem wir heute zu 
rechnen haben, ift merklich beicheidener geworden, als es vor 1899 erjchien, jodaß eine 
Berftändigung zwiſchen unjeren Intereſſen und den englischen heute leichter zu erreichen 
icheint, alö vor wenigen Jahren möglih war. Schon der Samoa Vertrag ift unter 
diefen Aufpizien geichloffen worden, das deutſch-engliſche Abkommen in betreff des Jangtſe— 
Thales ift eine zweite Etappe auf diefem Wege, und es fann nur erfreulich fein, wenn 
eine dritte fich bald anfchlieht. Denn fobald beiderfeits die beftehende politifche Lage 
ſcharf und in nücjterner Erwägung ins Auge gefaßt wird, werden ſich vitale Intereſſen— 
gegenjäte nicht nachweiien laffen. Gegen die egyptiſche Stellung Englands kann Deutid- 
(and nichts einzumenden haben. Man mag über die Politik, die zur Okkupation Eghptens 
durch die Engländer führte, denfen wie man will — und alle Welt denkt darüber anders 
als die Engländer — beftreiten läßt ſich nicht, daß England auf diefem Boden eine 
großartige Kulturarbeit durchführt, die bei weitem in den Schatten ftellt, was Frankreich 
in den 70 Jahren geleiftet hat, die es nunmehr auf algeriihem Boden gebietet. Daß 
an dem Aufblühen Eghptens intereffierte europäifhe Kapital, an welchem Deutjchland 
mit rund 34 Millionen Mark beteiligt ift, ruht unter der engliihen Vorherrſchaft 


Theodor Schiemann, Deutichland und die großen europäifchen Mächte. 113 


ficherer, als bei jeder anderen Kombination wahricheinlid) ift, aucd) am Suezkanal ſehen 
wir die englische Nachbarſchaft lieber als die beliebiger anderer Mächte, ganz wie für 
Deutſch⸗Südweſtafrika England der noch verhältnismäßig beite Nachbar ift. Das mag 
parador klingen, ift aber gewiß richtig — jo lange wir ſtark bleiben. 

Im europätfhen Orient und in Border-Aften, an denen wir weit ntehr ein wirt: 
ichaftliches als ein direkt politisches Antereije nehmen, ift England unfer Gegner nicht, 
und ebenfo haben, jeit wir in Kiautſchou ficheren Fuß gefaßt und im übrigen China 
unjere Gleichberechtigung zur Anerkennung gebracht haben, die englischen Bejtrebungen 
dort für uns nichts Bedrohliches. Immer unter der VBorausjegung, dat wir ftarf bleiben. 
Es fann von diefem Geſichtspunkte aus gar nicht hod) genug angejchlagen werden, daß 
Deutichland während des legten chineftichen Itrieges den Beweis erbracht hat, daß es 
eine Kolonialarmee in fürzefter Frift improvifieren und auf eigenen Schiffen transportieren 
fann, zumal niemand in aller Welt behaupten wird, daß wir damit auch nur annähernd 
an die Grenze unferer Leiftungsfäbigfeit gelangt jeien. Der chineſiſche Krieg ift vorüber: 
gezogen, ohne dar das Reid) und der einzelne eine merfliche Yaft getragen hätten, und 
der jchließlihe Ausgang zugleich ein glänzendes Zeugnis für die maßvolle Haltung 
unferer Diplomatie im Felde jowohl wie in der Wilhelmftraße. 

Ergiebt ſich aus alle dem, daß heute ein weiter Gegenſatz der Intereſſen zwijchen 
Deutſchland und England nicht bejteht, jo läßt fich andererieits nicht verfennen, daß der 
Burenkrieg unfer Volk dem engliſchen abgewandt hat. Ungerecht in feinen Anfängen, 
ruchlos in den Mitteln der Kriegführung, die einen ungeheueren Rückſchritt in der Braris 
des Völferrechtö bedeuten, iſt dieſer füdafrifaniiche Krieg allerdings dazu angethan, das 
fittliche Empfinden zu beleidigen. Und doch iſt fein anderes Volk den Engländern in den 
Arm gefallen: weder Rußland, noch Frankreich, noch die Vereinigten Staaten, die doch 
ihrem Uriprung nad) meist berufen ſchienen einzugreifen! Ihre Neutralität ftand feft, 
noch ehe Deutichland geiprochen hatte. Wären wir nur in unjerer Bolitif der aura 
popularis nachgegangen, jo hätten wir durch ein Machtwort unfererjeits den Krieg von 
Südafrika auf uns abgelenft und das wäre, wie ich zu behaupten wage, jorwohl cin 
Frevel wie ein politischer Wahnfınn geweſen. Kriege, in welchen die eigene Eriftenz 
aufs Spiel gefetst wird, darf ein Volk nur um feiner eigenen Exiſtenz willen auf ſich 
nehmen. Das ift ein Axiom politischer Sittlichfeit, das noch niemals ungeitraft verleßt 
worden ift. Unjere öffentliche Meinung war 1899 und iſt heute ebenio auf dem falfchen 
Wege, wie 1848 und 1863, als fie ſich für die Wiederheritellung Polens begeifterte, oder 
1886, als fie um Aleranders von Bulgarien willen einen ruſſiſchen Strieg auf ſich nehmen 
wollte. Daß damals die öffentliche Meinung irrte, beftreitet heute niemand mehr, nadı 
wenigen Jahren wird das Urteil in diefen fidafrifaniichen Dingen ſich ganz ebenju 
zurechtſtellen. Die politische Zittenpolizei, wie die heilige Allianz fie ausüben wollte und 
gewaltjam genug ausgeübt hat, gehört feinem Bolfe dem anderen gegenüber. Wo die 
„ungeichriebenen Geſetze“ des ewigen Nechts verlekt werden, folgt die Nemefis aus der 
inneren Kraft der Thatjachen, früher oder jpäter. Es iſt niemandes Aufgabe, ihr vorzugreifen. 

Ich möchte nicht mißverjtanden werden. In dem jüdafrifanischen Kriege ftehen 
alle meine Sympathieen auf jeiten der tapferen Buren. Sie haben der Welt ein Beifpiel 
bewunderungswürdiger Freiheits- und VBaterlandsliebe gegeben, und die Früchte der 

8 


114 Theodor Schiemann, Deutſchland und die großen enropätfchen Mächte. 


Standhaftigkeit, die fie aufrecht erhielt, werden weder ihnen noch der Welt verloren 
gehen. Nur der Ausgang kann nicht mehr der fein, den die öffentliche Meinung Europas 
vor der Niederlage Eronjes und vor der Einnahme von Prätoria erwartete und wünſchte. 
Unterlag in jenem entjcheidenden Augenblid nicht der Burengeneral, fondern Lord Roberts, 
jo war Südafrika für England verloren. Die Kapitulation Cronjes, die, wie heute faum 
beftritten wird, fi) jehr wohl hätte vermeiden laffen, brachte eine Entſcheidung, die nicht 
mehr rüdgängig zu maden ift, wenn nicht durch einen Abfall des Kaplandes Südafrifa 
jich felbjt befreit. Die Engländer bleiben die Herren in Südafrifa. Daß der Krieg 
noch fortdauert, kann daran nichts ändern, das iſt eine heroiſche Thorheit, welche 
man bewundern, über die man aber im Intereſſe der Buren felbft fich nicht freuen 
fann. Sie werden langjam aber ficher aufgerieben, ohne daß die erwartete Intervention 
ihnen Rettung bringt. Früher oder fpäter, vielleiht erjt im Stadium äußerjter 
Erihöpfung, aber infolge einer unerbittlichen Notwendigkeit, wird die Anerkennung der 
engliichen Oberhoheit durd die Buren erfolgen. Die Konſequenzen, die fih daraus 
ergeben, führen aber nidyt zum Vorteil der Engländer, jondern zu dem der Buren, 
vder jagen wir richtiger der jogenannten Afrifander niederdeutichen Blutes, und jchlieken, 
was als enticheidende Thatjache hervorgehoben werden muß, die Anglifierung der Be: 
völferung aus. Damit aber gehört die Zukunft diefen faftifch unterlegenen Elementen, 
die in der ſüdafrikaniſchen Republif der Zukunft ohne allen Zweifel die führende Rolle 
jpielen werden. Und damit müffen auch wir uns zufrieden geben, wer bon der Gegen- 
wart Unmögliches verlangt, dem ift nicht zu helfen. 

Aber verfennen läht fich nicht, daß das hiftorisch begründete Mißtrauen gegen die 
Aufrichtigfeit und Zuverläffigkeit der engliichen Politik, tombiniert mit den aus der eng— 
lichen Berfaffung entipringenden weiteren Schwierigkeiten, durch die bei uns borherr- 
ihende Strömung verjtärft, eine weitere Annäherung, als fie heute zwijchen uns und 
England bejteht, außerordentlich) unmahricheinlih macht. Sollte fie trogdem fich an- 
bahnen, fo hätte die Snitiative von England auszugehen, und Garantieen gegen einen 
plöglichen Wechſel wären unerläßlih. Audı hat im Bewußtſein dieſer Realitäten die 
englische Bubliziftit fich lebhaft um Kombinationen bemüht, die England mit Rußland 
und Frankreich gegen uns in Verbindung zu ſetzen bejtimmt waren. Alle diefe Verſuche 
laſſen fich heute als gejcheitert bezeichnen. England ſteht in Europa ifoliert; auch der 
vielummworbene amerifanifche Better ift, troß der zum Teil jehr entgegentommenden 
Haltung feiner Preſſe, in der Praris jeiner Bolitif eher als ein Gegner, denn als ein 
Freund Englands zu bezeichnen, ſodaß jchlieglich nur jenes greater Britain übrig bleibt, 
von dem wir bei unierer Beobachtung ausgingen: Australien, Canada, die Kronkolonieen, 
das heute noch mehr hemmende als fürdernde Kapland. Immerhin eine gewaltige Macht, 
die ihre volle Energie und Leiſtungsfähigkeit zu entfalten noch niemals Gelegenheit 
gehabt hat. Sie hat erſt jet begonnen, als ein Faktor der großen Politik mitzujpielen. 
Die Zufunftsfrage aber ift, ob England die Bolitif der Kolonieen, oder — in keineswegs 
undenfbarer Umkehrung des imperialiftiichen Gedanfens — die Stolonieen die Politik des 
Miutterlandes in ihre Bahnen leiten iverden. 


1% 


CHLCHHLHCH HELEN HNEH HUT 


Weltwirtichaftlihe Umſchau. 


Von 


Paul Dehn. 


jur weltiwirtjchaftlihen Entwicklung. — Die moderne Schutzollpolitit. — Deutjche Handels- 

politif und der neue Zolltarifentwurf. — Wertvoll zuerit ein Hanbdelövertrag mit ben Vereinigten 

Staaten von Nordamerika. — Ausfuhrzblle auch auf nordamerlfantiche Baummolle? — Die 

Bagdadbahn, ihre politifche Anfeindung und ihre wirtfchaftliche Ueberſchätzung. — Der ver- 
fehröpolitifche Wert anderer Ueberlandbahnen. 


n‘ Weltwirtichaft entftand aus der allmählichen Einbeziehung aller Länder in den 
internationalen Güteraustaufch, fie ift noch im Werden und fie entwickelt fich, je 
mehr durch den internationalen Güteraustaufch die verjchiedenen Yänder von einander 
in Abhängigkeit geraten. Die Weltwirtichaft ift eine Art natürlider Organifation, 
die in allen Ländern auf Erzeugung und Verbrauch nachhaltig und auf die Breife maß— 
gebend einwirft. Bor hundert Jahren fonnte man von jolcher Weltwirtihaft noch nicht 
iprechen, weil der Güteraustaufch unter den verjchiedenen Völkern mehr oder minder 
gelegentlich, zufällig und entbehrlich, weil er vielfach überhaupt nod) gar nicht vorhanden 
war. Gegenwärtig müfjen alle Bölfer gemwiffe Erzeugniffe einführen, die einen Rohſtoffe, 
die anderen Nahrungsmittel, wieder andere nduftrieerzeugniffe, und um diefe Einfuhr 
zu bezahlen, müfjen fie ausführen, was fie beſonders preiswürdig erzeugen, was auf 
dem Weltmarkt feinen Anwert findet. Bis zu einem gewiffen Grade find alle Völker 
von einander abhängig, weil fie einführen und zugleich ausführen müffen, und zwar 
find fie abhängig von dem Mittelpunft der Weltwirtichaft, von dem Weltmarkt, von 
feinen Konjunkturen und vor allem von feinen Preifen, die maßgebend geworden find, 
auch wenn fie mit den heimischen Erzeugungsbedingungen nicht immer in Einklang Stehen. 


* + 
Wie in der Weltpolitik, jo findet auch in der Weltwirtfchaft ein beftändiges Ringen 
itatt. Inmitten der weltwirtichaftliden Entwicklung jucht jedes Volk und jeder Staat 
jeine nationalen Kräfte zu entfalten, un einen möglichſt großen und lohnenden Anteil 
an der Weltwirtfchaft zu erlangen. Es ift daher in abjehbarer Zeit eine Regelung der 
Weltwirtſchaft auf ftreng freihändleriicher Grundlage ebenfo wenig denkbar wie etiva eine 
Regelung der Weltpolitif durch die Einführung des ewigen Bölferfriedens. Als England 
8* 


116 Paul Dehn, Weltwirtichaftliche Umschau. 


nad) Erftarfung feiner Induſtrie feine hohen Schutzzölle abjchaffte und zum Freihandel über: 
ging, rief e8 die anderen Völfer zur Nachahmung auf nicht aus idealen Gründen, ſondern 
um mit Hilfe des Freihandels ein induftrielles Monopol auf dem Weltmarkt zu erlangen 
und fid) eine induftrielle Vorherrſchaft zu fihern. Darüber ift man ſich Tängft aller: 
wärts Far. Alle Staaten haben fi) vom FFreihandel abgemwendet, in neuejter Beit in 
gewillen Maße jelbjt England, und find bejtrebt, durd; mehr oder minder hohe Zoll: 
ichranfen die nationale Arbeit nad) allen Richtungen hin gegen die Konkurrenz des Aus: 
landes zu ſchützen, ohne ſich dabei don den internationalen Beziehungen, die fie nicht 
entbehren fünnen, abzuſchließen. Im großen und ganzen hat die moderne Schußzoll: 
politif anfcheinend überall günftige Wirkungen, zum Teil jogar, wie in der nordamert- 
fanifchen Republik, glänzende Erfolge erzielt, jo daß eine Rückkehr zum Freihandel vor 
der Hand nirgends in Ausficht fteht. Vielmehr ift anzunehmen, daß verichiedene Staaten 
ihre Schuggollpolitit noch verichärfen werden. 


* * 
* 


Zu diefen Staaten gehört in erſter Reihe das Deutihe Reich. Im Jahre 1879 
vollzog Bismard den Umſchwung der deutjchen Wirtichaftspolitif und leitete fie in ſchutz— 
zöllneriihe Bahnen. Als Ende der adıtziger Jahre der Ablauf der Handelsverträge 
herannahte, gedachte Bismardf einen Doppeltarif aufzuftellen, einen Mindefttarif für die: 
jenigen Staaten, die bereit waren, neue Verträge abzufchliegen, und einen Höchſttarif 
für die anderen Staaten. Bismard wurde entlaffen. Sein Nachfolger aber beeilte ſich, 
neue Handelöverträge zuftande zu bringen in der Beſorgnis, es fünne bei Eintreten einer 
allgemeinen Bertragslofigfeit das Deutiche Reich, obwohl wirtfchaftlich der ftärfite Staat 
auf dem europäifchen Feltlande, Fritiichen Zeiten entgegengehen. Diefe Handel3verträge 
erregten bei den Landwirten große Unzufriedenheit und bei den Snduftriellen keine Be 
friedigung. Ende 1902 fünnen fie aufgefündigt twerden, und es ift mit Sicherheit an: 
zunehmen, daß dieſe Auffündigung erfolgen wird. Kündigt au nur ein Staat, fo 
müffen die übrigen folgen. Oeſterreich-Ungarn ift im Begriff, fi einen neuen höheren 
Bolltarif zu ſchaffen. Der neue deutiche Zolltarif ijt im Entwurf fertiggeitellt. Aud) 
die Schweiz bereitet Zollerhöhungen vor. Rumänien will die alten Tarifverträge nicht 
verlängern. Man wird alfo unter allen Umftänden am 1. Januar 1904 in den zoll- 
politiihen Grundlagen des internationalen Giüteraustaufches erhebliche Veränderungen 
zu erwarten haben. 

Wie im Jahre 1879, fo wird auch jett wieder unter Hinweis auf den neuen 
deutihen Zarifentwurf das Deutiche Reich ald das Karnickel hingeftellt, das mit der 
Schußzollpolitif oder gar mit der Hochichugzollpolitit angefangen haben fol. Diefer 
Vorwurf läßt fi heute jo wenig wie damals begründen. Damald waren andere 
Staaten auf den Bahnen des Schutzzolles vorangegangen und Deutichland folgte ihnen 
erft. Heute nimmt Deutichland unter den fchußzöllneriichen Staaten eine mittlere 
Stellung ein und würde noch bei weitem nicht den Hochſchutzzollſtaaten zuzurechnen jein, 
jelbft wenn der neue Tarifentwurf, was fo gut wie ausgefchloffen ift, ohne jede Aenderung 
in Kraft treten ſollte. Das ließe fich ziffernmäßig genau feftftellen, wenn der fonderbare 
Borichlag der Peteröburger „Nowofti” auf Einberufung einer internationalen Konferenz 


Paul Dehn, Weltwirtichaftliche AUmfchau. 117 


zur Berftändigung über die Grundfäge der europäifhen Zollpolitik vermirklicht 
werden jollte. 

Im großen und ganzen ift zutreffend, mas der „Induſtrielle Klub“, der ältefte 
Verein öÖfterreichifcher Großinduftrieller, durd A. G. Raunig in feinem Organ über den 
deutichen Zolltarif hat ausführen laſſen, daß die Logik der Thatfachen das Deutſche 
Reich zu diefem Entwurf führen muhte und daß die leitenden beutichen Staatsmänner 
ich ficherlich über die Bedürfniffe von Landwirtichaft und Induſtrie ſowie über die 
bandelspolitiichen Abjichten ihrer Mitberverber auf das Gründlichfte unterrichten ließen, 
bevor fie dem Zarifentwurf ihre Zuftimmung gaben. 

Der Bolltarif fol die nationale Arbeit ſchützen, zunächſt ſoweit fie den heimifchen 
Bedarf det, weil die am inländischen Markt intereffierten Gruppen weitaus die größeren 
find. In zweiter Reihe fteht die Wahrnehmung der ntereffen der deutichen Ausfuhr: 
indujtrie, die ja verhältnismäßig bedeutend ift und angemefjene Berüdfichtigung mit 
Recht erheiicht. Darüber wird aber erjt in den bevorftehenden Handelsvertragsver- 
handlungen entjichieden werden. Bis dahin mwird mit jeinem Urteil zurücdhalten, wer 
nicht zu gunjten einer beſtimmten ntereffentengruppe agitatorisch twirfen will. Die 
neuen Zölle werden erft dann in bejtimmten Sätzen vorliegen. 

Lauten Widerfpruch hat die geplante Erhöhung der deutjchen Agrarzölle hervor: 
gerufen. Am freihändleriichen Yager verichliegt man fic die Nugen vor der unleugbaren 
Notlage jehr großer Teile der deutjchen Landwirtichaft und verlangt in Uebereinftimmung 
mit den Sozialdemokraten die ungehinderte Weiterentwidlung Deutjchlands zum „m: 
duftrieftaat”. Im Falle einer Erhöhung der Agrarzölle würden alle Yebensmittel ver- 
teuert, die Yebensführung der Arbeiter verjchlechtert, die Arbeitslöhne gefteigert, die 
tonfurrenzfähigfeit der deutichen Anduftrie auf den Weltmarkt erjchwert und der Ab 
ichlug von Dandelsverträgen unmöglich gemacht werden. Manche von diefen Gründen 
verdienen immerhin Beachtung bei der endgültigen Feſtſetzung der neuen Agrarzölle. 
Aber es wird doc) weit über das Biel hinausgejchoffen, wenn man behauptet, daß die 
deutſchen Agrarzollerhöhungen den Abfchlu neuer Dandelsverträge unmöglich machen, 
ja das Deutjche Neich in eine ganze Fette von Zollkriegen verwickeln würden. 


* Pr * 

Bon europäiſcher Seite iſt die nordamerikaniſche Republik immer mit beſonderer 
Rückſicht behandelt worden. Europa hat in ihr den Kunden geſehen, dem es liebens— 
würdig entgegenzukommen bereit ift, und ſich ſelbſt als den Kaufmann und Reeder be 
trachtet. Nun hat 3war die nordamerikaniſche Republik dieſe Liebenswürdigkeit mit 
großer Rückſichtsloſigkeit, ja mit einer geradezu europafeindlichen Handelspolitik ver— 
golten, allein hier enticheiden nidyt Gefühle, jondern Intereſſen. Und da iſt zu Jagen, 
daß Deutihland bemüht jein jollte, Zolltriege überhaupt zu vermeiden, ganz bejonders 
aber troß alledem und alledem einen Zolltrieg mit Nordamerifa. Nordamerika bezug 
im Jahre 1900 immerhin für 440 Millionen Mark deutſche Erzeugnifle Es wäre jehr 
vorteilhaft, wenn Deutichland diefe Ausfuhr nicht nur aufrecht erhalten, ſondern vielleicht 
noch vermehren fünnte und zwar durch Abſchluß eines neuen Dandelsvertrages auf 
Grundlage des neuen deutichen Tarifentwurfs. Nach Berichten aus New-Yoöork Toll in 


118 Paul Dein, Weltwirtichaftliche Umſchau. 


Bafhington dazu Geneigtheit beftehen. Die Nordamerikaner find Gefhäftsmenfchen und 
nehmen es durchaus nicht übel, wenn man fid) von ihnen nicht übers Ohr hauen läßt. 

Ausichlaggebend dafür, daß Deutichland zunächſt mit Nordamerika verhandelt und 
abſchließt, ift folgende Erwägung. Bereinbart Deutichland zuerst mit den europäiichen 
Staaten Handeldverträge und räumt es ihnen feinen Mindefttarif ein, dann ift eine 
jehr unerquidliche Entwidlung des handelspolitiichen Verhältniffes mit Nordamerika zu 
befürdten. Unter gar feinen Umſtänden werden es fich die Nordamerifaner gefallen 
laffen, von Deutihland differentiell ungünftig behandelt zu werden. Wohl werden fie 
fi) bereit zeigen, die deutſche Meiftbegünftigung durch Gegenzugeftändniffe zu er: 
faufen, aber vermutlich werden fie diefe Gegenzugeitändniffe jehr gering bemefjen in der 
Annahme, daß Deutichland ein dringendes Intereſſe hat, einen Zollfrieg mit Nordamerifa 
zu vermeiden. Um nicht in dieſe Zivangslage zu geraten, empfiehlt es ſich für das 
Deutſche Reich, zuerjt mit Nordamerifa einen Dandelövertrag zu vereinbaren, auf 
deffen Grundlage die beiden Reiche ihre Dandelsbeziehungen dann auch zu anderen 
Staaten regeln würden. 

Ein Zollkrieg mit Nordamerifa würde auch Deutſchland empfindlich ſchädigen und 
ihm gerade in jegiger Zeit höchjt unerwünfcht fein, während ein neuer Dandelsvertrag 
mit Nordamerifa dem Deutichen Reiche eine fehr mwillfommene Rückendeckung bieten 
fönnte gegenüber den Bollfriegsandrohungen, die wegen des deutjchen Bolltarifentwurjs 
aus verjchiedenen Staaten, wenn auch zumeift von unberufener Eeite, ausgeſprochen 
tworden find. 


* 


Aus der Rüſtkammer des alten Merkantilismus haben die Engländer den Aus 
fuhrzoll bervorgeholt und find offenbar der Meinung, hiermit einen außerordentlich 
glüclichen Griff gemacht zu haben. Wie fie behaupten, wird der Kohlenausfuhrzoli 
einmal jehr einträglidy jein und jodann die nationalen Klohlenlager ſchützen. Darin Liegt 
nun freilich ein Widerjpruch, denn wenn der Zoll jehr hohe Einnahmen ergiebt, fann er 
nicht die nationalen Kohlenlager jhüten, und wenn er die nationalen ohlenlager ſchützt, 
jo fann er feine hohen Einnahmen bringen. Aber mit Logik haben die Engländer nie- 
mals praftiiche Politik getrieben. Vom Koblenzoll nehmen fie an, daß er in der einen 
oder der anderen Weiſe wirfen wird, und rühmen ihm als bejonderen Vorzug nad), day 
er unter allen Umftänden vom Auslande getragen werden wird. 

Es fragt ſich nun, ob nicht mit der Zeit Englands Borgehen, da «8 jo große 
Erfolge zu verheißen jcheint, anderweit Nachahmung findet, vielleicht gar eine Nadı- 
ahmung, die den englifchen Intereſſen außerordentlic, abträglich werden könnte. 

An Rohftoffen ift im allgemeinen während der legten Jahre Fein Mangel hervor— 
getreten. Aber die Nachfrage ift vielfach ſtärker geftiegen al8 das Angebot, man bejorgt 
eine Erichöpfung der Vorräte, man ijt beitrebt, gewiſſe Robftoffe thunlichft im Yande 
zurüdzubalten, damit fie von der heimischen Induſtrie bearbeitet werden. 

Dieje Erſcheinung zeigt fid u. a. im Dolzverfehr. In Rußland und in Defterreich 
möchte man die Ausfuhr von rohem Holz erichtveren, um die heimiſche Holz- und Gellu- 
tojeinduftrie zu begünftigen. In Oeſterreich verlangen die interejfierten Snduftriellen 


Paul Dehn, Weltwirtfchaftlihe Umfchan. 119 


fogar die Einführung eines Ausfuhrzolles auf Rohholz. Aus Petersburg wurde im 
legten Frühjahr gemeldet, daß die ruffifche Regierung dieNaphtaausfuhr zu befteuern gedenkt. 

Wichtiger ift die Frage, ob in Befolgung des englifchen Beijpiels für Kohle die 
Erzeugungsftaaten e8 aus irgend welchen Gründen für zweckmäßig erachten, auch auf 
Nohbaummolle einen Ausfuhrzoll zu legen. Bisher hat die Erzeugung zwar fort: 
gejeßt zugenommen, namentlic) auch in Nordamerifa, aber nicht minder ftark der Verbraud), 
der in den mwichtigften Staaten von durchſchnittlich 1500 Mill. Kilogramm in den fiebziger 
Nahren auf durchichnittlid) über 2500 Mill. Kilogramm in den neunziger Jahren ftieg. 

Zunächſt find die Erzeugungsftaaten von Rohbaumwolle mit Erfolg darauf bedacht, 
diefen Rohſtoff jelbjt zu verarbeiten. Das gilt nicht nur von Nordamerika, fondern auch 
von Andien, China, Japan und Rußland. Längft vorüber find die Beiten, da Nord— 
amerifa den größten Teil feiner Rohbaumwolle nach Europa fandte und von dort 
baummollene Stoffe und Kleider bezog. Zu Beginn der neunziger Nahre erntete man 
in Nordamerifa 10 Mill. Ballen Baumwolle, und es verarbeiteten die nordamerifaniichen 
Fabrifen davon 2 Mill. Ballen. Am Jahre 1900 belief jich die nordamerifaniiche Ernte 
auf 9/, Mill. Ballen, wovon 4 Mill. Ballen in den dortigen Fabriken zur Verarbeitung 
gelangten. Innerhalb eines kurzen Nahrzehnts hat fich aljo der Bedarf ber nord: 
amerifanifhen Anduftrie an Rohbaummolle verdoppelt, während die Ernte etwas zurück— 
gegangen ift. Es liegt nahe, daß der nordamerifanijche Spinner unter günftigeren Be: 
dingungen arbeitet als jeine Konkurrenten in Yändern ohne eigene Erzeugung des Roh: 
jtoffes, weil er, wie man in Nordamerika zu jagen pflegt, „über den Zaun” fauft, weil 
er ganz bedeutende Fracht, Vermittlungs- und Verficherungsgebühren erfparen fann, die 
beiläufig auf 20 p&t. der Fabrikationskoſten in der Spinnerei veranicjlagt werden. Au 
Anfang der neunziger Jahre beſaßen die Südftaaten von Nordamerika nur 1'/, Mill., 
gegenwärtig zählt man dort etwa 5 Mill. Baummollipindeln. Borausfichtlic wird dieje 
induftrielle Entwidlung weiter gehen und Nordamerifa immer mehr und mehr jelbit 
jeine Robftoffe zu Fabrifaten verarbeiten. 

Da haben nun die Engländer mit ihrem Stohlenausfuhrzoll den Nordamerifanern 
ein allem Anjchein nach jehr wirkungsvolles Mittel gezeigt, wie man es anfangen fan, 
die heimische Induſtrie zu ſchützen und zu kräftigen und die fremde Konkurrenz zu 
ihädigen. Mit beſſeren Gründen als die Engländer einen Kohlenausfuhrzoll könnten die 
Nordamerifaner einen Baunmollausfuhrzoll einführen. Ein nordamerifanticher Baum: 
wollausfuhrzoll würde nicht nur finanziell ſehr ergiebig fein, jondern auch die nord: 
amerikanische Baummwollinduftrie nahhaltig kräftigen, er würde überdies unbedingt vom 
Auslande getragen werden mülfen. 

Nordamerika hat in Rohbaummolle eine Art von natürlichem Monopol. In den 
wichtigsten europäifchen Anduftrieftaaten wird gang überwiegend nordamerifaniiche Baum: 
wolle verarbeitet, troßdem die eghptiiche Baumwolle gemwilfe Vorzüge befitt. England 
bezog in den legten Jahren reichlich Dreiviertel jeines Bedarfs an Rohbaumwolle aus 
Nordamerika, wie aus umftehender Ueberficht hervorgeht. 

Deutichland führte im Jahre 1900 31,3 Mill. Doppelcentner Rohbaumwolle ein, 
davon 25,6 Mill. aus Nordamerika, 2,6 Mill. aus Britiſch-Oſtindien und 2,6 Mill. 


aus Eghpten. 


120 Paul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umschau. 


Englands Einfuhr an Rohbbaummolle. 
Wert in Mill. Mark. 











| 1896 1897 | 1898 | 1899 1900 
nn — — — * - — — — — — * 7 


Bereintgte Staaten von Nordamerika 60 | 4 550 











408 | 604 
Goubeen - - 6 17 | 156 180 
Oſt⸗ Indien 
Brafilien 
Bert... .. 


Andere Staaten 





An ihrer Dandelspolitit haben die Vereinigten Staaten eine fteigende Rüdfichts- 
Lofigfeit befundet und fie ungehindert durchführen fünnen, da man es in Europa nicht 
für zweckmäßig bielt, Bergeltungsmahregeln zu ergreifen. Kenner nordamerifanijcher 
Berhältniffe halten es für fehr wahrjcheinlich, da& der neue deutjche Bolltarifentwurf 
die nordamerifaniihen Bolitifer nicht verftimmen, fondern von ihnen als eine begreifliche 
"Verschärfung der deutihen Schußzollpolitif angefehen und als Grundlage für den Ab- 
ichluß eines neuen Dandelsvertrages mit Deutichland angenommen werden dürfte. 

Dagegen würden nordamerifaniiche Ausfuhrintereflen in großem Umfange gejchädigt 
werden, wenn der größerbritiiche Zollverband troß all der großen politischen und wirt— 
ihaftlihen Dindernifle, die fih ihm entgegenitellen, feiner Berwirflichung näher rüden, 
wenn in Britiid-Südafrifa und in dem geeinigten Auftralien Vorzugszölle zu guniten 
der englischen und zum Nachteil der fremden, alſo auch der nordamerifanifchen Erzeugniffe 
eingeführt werden jollten. In diefem Falle würden die Nordamerifaner vermutlich nicht 
zögern, Maßregeln zu ergreifen, um England an feiner empfindlichiten Stelle zu treffen. 
Und da bietet fid) den Nordamerifanern eine fharfe Waffe, mit der fie den europäiichen 
nduftrieftaaten, in erjter Reihe aber dem britifchen Reiche, einen empfindlichen Schlag 
verſetzen können, nämlid die Einführung eines Ausfuhrzolles für nordamerifa- 
niſche Baummolle Mit einem ſolchen Ausfuhrzoll würde Nordamerika die europäiſche 
Baummollinduftrie fchädigen, ihr die Aufuhr des erforderlichen Rohftoffes erſchweren 
und berteuern, zugleich der heimiihen Baummollinduftrie den Rohſtoff zu bejonders 
billigen Preiſen fihern und fie dadurd) auf dem Weltmarkt nicht nur konkurrenzfähig, 
jondern fonfurrenzüberlegen machen. 

Ein nordamerifanischer Baummwollausfuhrzoll würde England zwar nicht an— 
nähernd in jolche Kriſis ftürzen, wie es fie zu Anfang der fechziger Jahre durchmachen 
mußte, als infolge des Bürgerfrieges die nordamerifaniihe Baummwollausfuhr nahezu 
aufhörte. Aber die engliiche Tertilindustrie mit ihrer gewaltigen Ausfuhr würde auf 
den Weltmarkt ihre bisherige Vorherrichaft wahricheinlih an Nordamerifa abtreten 
müſſen, da ihr die nordamerifanische Baummolle unentbehrlich ift. Die indiiche Baum: 
wolle iſt jchledhter umd teurer, fie findet außerdem in Indien und Oftafien ausreidyenden 
Abſatz und kommt nach England nur noch in ganz geringen Mengen. Keinesfalls kann 
indische durdy nordamerifanische Baummolle erjegt werden. Zu Anfang der jechziger 


Baul Dehn, Weltwirtſchaftliche Umſchau. 121 


Nahre waren die Berlufte Englands infolge der Baummollkrifis groß, aber doch nur 
vorübergehend. ine lintergrabung der engliihen Baummollinduftrie durch nord» 
amerifanifche Baummollausfuhrzölle und die Befeitigung der Derrichaft, ja des Monopols 
der engliihen Baummollinduftrie auf dem Weltmarkt durch die nordamerifanijche Kon— 
furrenz würden die induftrielle Entwidlung Englands auf das Nachteiligfte beeinfluffen 
und neue große Wandlungen in der Weltwirtichaft einleiten. 

Mohl hätte auch Deutichland unter einem nordamerifaniiden Baummwollausfuhr: 
zoll zu leiden, aber nicht annähernd in ſolchem Make wie England. Deutichlands 
wichtigfte Tertilinduftrie ift die Wollinduftrie, die ungzweifelhaften Nuten ziehen wird, 
wenn die Entwidlung der Baummollinduftrie durch einen Ausfuhrzoll für nord: 
amerifanijhe Baummolle erſchwert werden follte. 

Außerdem würde man in Deutichland durch die Not der neuen Lage genötigt werden, 
was feineswegs als ein Unglück zu betradıten ift, den Kolonieen größere Aufmerkjamfeit 
zu widmen, fie thatfräftiger als bisher für das Neich nutzbar zu machen und dort aud) 
die Baummollfultur zu entwideln, vor allem in Togo, wo man im Begriffe fteht, zu 
dieſem Zwed farbige Baummollpflanzer aus Alabama heranzuzichen. Tauſende tüchtiger 
Neger in Nordamerifa fjollen bereit fein, nad) Togo auszuwandern, um dort eine 
Baumwollzucht zu begründen, wie fie in Nordamerifa lediglich durch Negerarbeit ge 
Iihaffen wurde Alle Berfuche, in Afrita Baummollpflanzungen mit weißen Arbeitern 
anzulegen, jcheiterten an dem heißen Klima. Auch in den Niederungen des Euphrat und 
Tigris dürfte Baumwolle mit Erfolg angebaut werden können, und es ift zu hoffen, 
dag mit dem meiteren Ausbau der PBagdadbahn auch diefe Gegend zur Dedung des 
mitteleuropäifchen Bedarfes fruchtbar gemacht werden wird. 

Berhältnismäkig am günftigften ſteht Rußland da, das jeit Beginn der adıtziger 
Nahre in Turfeftan die Baummollfultur beförderte und zwar mit ſolchem Grfolge, dat 
im fahre 1900 bereits 1 Mill. Doppelcentner zum Kajpiihen Meer gebracht werden 
fonnten. Schon beziehen die ruſſiſchen Fabriken einen großen Teil ihres Bedarfes nicht 
mehr aus Amerifa, und in abjehbarer Zeit wird Rußland auch in dieſer Dinficht un 
abhängig geworden jein. 

* * * 

Nur der Levantehandel iſt noch frei und für Deutſchland jo günſtig als möglich. 
Man läßt dieſen Handel den Franzoſen, Engländern und Holländern. Nach Smhrna, 
nach Aleppo, nach Kairo ſollten unſere Haufmannsjöhne gehen. Hätten die wirtſchafts— 
politiſchen Beſtrebungen der deutſchen Handelsſtädte im alten Reiche nicht Anfeindung, 
ſondern Förderung gefunden, ſo würde nicht ein Engländer, ſondern ein Deutſcher am 
Ganges Befehle erteilen. So ungefähr ſchrieb Juſtus Moeſer, der patriotiſche Rat 
von Osnabrück, im Jahre 1763. Viel hat ſich ſeither geändert. Das Deutſche Reich 
iſt politiſch und wirtſchaftlich aufgeſtiegen. Aber gerade in der Yevante, die ihm näher 
liegt als Nordamerifa und günftigere NAusfichten fiir wirtichaftliche Thätigkeit bietet als 
Afrifa oder China, hat es erit unbedeutende Fortichritte gemacht und noch nicht jene 
Stellung errungen, wie fie bei nationaler Bethätigung feines Großkapitals längſt zu 
erreichen gewejen wäre. 


122 Paul Dehn, Weltwirtichaftliche Umſchau. 


Auf die Bedeutung Klein-Aſiens haben zuerft Deutfche hingewieſen, vor allem der 
Hallenſer Profeſſor Yudwig Roß in feinem Buche „Klein-Aften und Deutichland, Reife: 
briefe und Auffäge mit Bezugnahme auf die Möglichkeit deutſcher Niederlafjungen in 
Kleinafien“ (Halle 1850), dann Moltfe in feinen Briefer aus der Türkei, endlich 
Dr. A. Sprenger, Profeffor und früher Vorfteher der mohammedaniichen Hochichule von 
Kalfutta, in jeiner Schrift „Babylonien, das reichfte Yand der Vorzeit und das lohnendſte 
Ktolonijationsfeld für die Gegenwart“. Praktiſche Arbeit leiftete Wilhelm BPreffel, der 
ichwäbiiche ingenieur, der ichon im Jahre 1872 das Eleinaftatiiche Eiienbahnnet, fo wie 
ed ausgebaut werden wird, im weſentlichen feſtſtellte und fpäter einen umfaffenden Plan 
für die Stolonifterung Klein-Aſiens entwarf. Alle dieje Pioniere deutſcher Koloni— 
jation blieben ohne Unterftügung deutjchen Kapitals. Franzöſiſche und englijche 
Stapitaliften bauten die erften Eifenbahnen in Klein-Aſien, engliihe von Smyrna aus, 
franzöfifche ebenfalls von Smyrna aus, ferner von Skutari nad; Ismidt und einige 
Strefen in Sprien. 

Erſt durch einen Agenten, der fi aus anderen Gründen in Konstantinopel aufhielt, 
wurde die Aufmerkſamkeit der deutichen Hochfinanz auf Hlein-Afien gerichtet und bie 
Deutiche Bank übernahm, nachdem fie die Strede Skutari—Ismidt angefauft hatte, 
deren Fortführung in der Richtung nach Bagdad, wobei fie den hochverdienten Wilhelm 
Preſſel mit jeinen Vorarbeiten zwar bemutte, aber wenig rückſichtsvoll bei ſeite fchob. 
‚rertig gejtellt wurden von diefer Bahn bisher etwa 1000 km, 578 bi8 Angora und 
445 km bis Sonia. Da beide Streden in derjelben Richtung laufen, die Ueberlandbahn 
bis zum Berfiichen Meerbujen aber eine Länge von rund 2500 km erreichen würde, io 
ift alfo von diefer Ueberlandbahn erft der fünfte Teil gebaut worden. Die ganze Bahn 
wird ein Kapital von mindeitens 500 Mill. Mark erfordern. Indeſſen übernimmt die 
Sejeflichaft Fein befonders Wagnis, da die türkische Negierung eine beſtimmte Mindeft- 
einnahme für den Stilometer verbürgt. Seit Nahr und Tag ſtockt der Weiterbau, weil 
die türkische Regierung zögert, diefe finanzielle Bürgſchaft auch für die weiteren Streifen 
auf fich zu nehmen. Die Anatoliihe Bahngeiellihaft befist vorläufig nur die Vorkon— 
zeſſion für die Erbauung der Bagdadbahn, es befteht nur ein Borvertrag. Der endgültige 
Vertragsichluß ift noch vorbehalten worden, aber die Anatoliiche Eifenbahngefellichaft 
befitst unter allen Umftänden das Vorredt. 

Bon bornherein war zu beforgen, daß gegen die Anatolifche Eifenbahngefellichaft, 
wenn fie als ein deutichenationales Unternehmen herbortrat, Ränke aller Art verjucht 
werden würden. Das trat bald hervor. Engliſche Agenten waren bemüht, die Kon— 
zeſſionserteilung an die deutiche Geſellſchaft zu durchfreuzen, fie unterboten die Deutjchen 
Icheinbar, fie erflärten, die Bahn ohne jede Zinsbürgichaft bauen zu wollen, womit e8 
ihnen indeifen durchaus nicht ernſt war. Nach der letzten Orientreiſe des Kaiſers er: 
neuerten die engliichen Blätter ihre Verdächtigungen. Deutichland wolle die türkiiche 
Erbichaft antreten, die Vormacht in Klein-Aſien werden, die ruffifchen Bahnpläne durch— 
freuzen und begründete Rechte Ruklands jchädigen. In der ruffiihen Preſſe fanden 
diefe Verdächtigungen empfängliche Aufnahme. Am widerwärtigſten benahm fich auch 
hier wieder die Londoner „Times“, die Ende 1899 verficherte, es gäbe feine Macht, der 
England die fragliche Konzeſſion lieber bewilligt gejehen hätte. Indeſſen habe Rußland 


Paul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umfchau. 123 


ein lebhaftes Sintereffe an der möglihen Schwäche der Türkei, Rußland müfje alfo mit 
äußerftem Mißfallen auf eine Bethätigung des deutichen Unternehmungsgeiftes bliden, 
deffen Ergebniffe zur wirtſchaftlichen und politiichen Kräftigung des türfifchen Reiches 
beitragen! 

Thatjählid nahm die Anatoliihe Eiſenbahngeſellſchaft die größte Rückſicht auf die 
rusfischen Intereſſen. Man war beftrebt, der ruffiichsperfiichen Grenze nicht zu nahe zu 
fommen. Rußland will jelbft nad) dem Perſiſchen Meerbujen bauen und wünſcht Feine 
Konkurrenz. Die Eleinafiatifche Ueberlandbahn foll nicht als Tigrisbahn über Diarbefr 
gebaut werden, fondern mehr als Euphratlinie, obwohl diefe technisch und wirtjchaftlich 
nad) den Ermittelungen Preſſels weniger günftig ſchien. Da inzwijchen Rußland mit der 
Türkei ein Abkommen abgejchloffen hat, wonach öjtlih von Heraklea (Eregli) am 
Schwarzen Meer und nördlich von der Strede Angora-Diarbefr nur die Ruſſen oder 
aber der türfifche Staat ſelbſt Eifenbahnen zu bauen das Recht haben, jo dürfte den 
ruffiichen Anforderungen durd) diefe eigenartige Begrenzung einer ruffifchen Intereſſen— 
iphäre im türkischen Klein-Aſien Genüge geichehen fein. 

Außerdem festen fi) die deutichen Unternehmer mit franzöfiichen Kapitaliſten in 
Verbindung und nahmen fie in die Gejellichaft mit einem Anteil von 40 Prozent des 
Kapitals auf, jo daß thatjächlich die Anatolifche Eifenbahngejellihaft nicht eine deutjche 
Sejellichaft ift, fondern eine deutſch-franzöſiſche mit 60 Prozent deutfchem und 40 Prozent 
franzöfiihem Kapital. Zu diefer Verbindung joll Kaiſer Wilhelm felbjt geraten haben. 
Und diefer Rat war gut. Denn ein rein deutsches Unternehmen oder eine deutich-englifche 
Sruppierung hätte das Miktrauen und die Eiferfucht der Ruſſen auf das Meußerfte 
erregt. In einer deutſch-franzöſiſchen Gefellihaft dagegen Fonnte Rußland feine poli— 
tiiche Konkurrenz erbliden, eine deutſch-franzöſiſche Gejellichaft konnte e8 nicht von vorn— 
herein feindlich behandeln. Mitte 1901 war die Rede davon, dak auch ruffiiches Kapital 
zu dem Unternehmen herangezogen werden follte Die deutihen Teilnehmer wollten 
von ihren 60 Prozent und die franzöfiichen von ihren 40 Prozent den Ruffen je 5 Prozent 
ablaffen, fo daß aljo unter Aufrechterhaltung des Mehrheitöverhältniffes die ruffischen 
Ktapitaliften mit 10 Prozent beteiligt worden wären, dod) jcheint dieſer Gedanke nicht 
verwirflidit worden zu jein. Thatſächlich haben einige ruſſiſche Organe wieder ent- 
ichiedener gegen das ganze Unternehmen Stellung genommen. Deutichland werde ernten, 
jo derficherten die ruſſiſchen Blätter, was Rußland blutig gejäet habe, die Zukunft Klein— 
Aliens werde dem Deutſchen Reiche gehören, es werde Anatolien und Mejopotamien 
wirtfchaftlih erobern und Klein-Aſien von fic) abhängig maden. Das Eleinaftatiiche 
Getreide werde das rufftiche verdrängen u. j. wm. Als Ende Juli 1901 das Pariſer 
„Journal des Debats“ die Unterftüßung des Bagdadbahnunternehmens durch Frankreich 
empfahl, erblidte in diefer Empfehlung die „Nomwoje Wremja“ eine Art von FFelonie. 
Die Bagdadbahn, ſchrieb diejes Blatt, werde nicht für Frankreich, jondern für Deutid)- 
land von Nuten fein; von Hamburg bis zum Berfiihen Meerbufen würden die Deutichen 
herrichen, einen Schnitt durch ganz Europa und Südafien führen und die ſlaviſche 
Welt auf lange, wenn nicht auf immer von der lateinischen trennen. Die Bagdadbahn 
wurde von dem Beteröburger Blatt als einer der jehnlichiten Wünjche der Bangermanen 
erflärt mit dem Bemerfen, wenn Frankreich für diefe Bahn wirfe, arbeite es gegen ſich 


124 Paul Debn, Weltmwirtfchaftliche Umſchau 


felbft und für die Kräftigung feines Erbfeindes. Bei richtiger Auffaffung der nationalen 
ntereffen Frankreichs müßten die Franzoſen gegen die Bagdadbahn thatkräftig Ein- 
ipruch erheben, weil fie Rußland politisch wie wirtichaftlich ſchwäche, daher auch SFrant: 
reich zu Grunde richte und den Flügeln des deutjchen Adlers eine Kraft verleihe wie 
nie zuvor. 

Uns mill es jcheinen, als gefällt man fich in einer weitgehenden Ueberfchägung der 
Bagdadbahn. Auch in Deutichland irrt man, menn man annimmt, daß die Bagdadbahn 
nad) ihrer Vollendung im ftande fein werde, den indifch-europätfchen Handel wieder wie 
in früheren Jahrhunderten auf den Landweg über Mitteleuropa zurückzulenken. Man 
geht dabei von einer falichen Vorausjekung aus, nämlich von der Annahme, daß Die 
Ueberlandbahn Bagdad— Konftantinopel—Peit— Wien —Köln— London gegenüber dem See- 
wege nidht nur fonfurrenzfähig, fondern jogar fonfurrenzüberlegen fein wird. Das ift aber 
bon vornherein ausgeſchloſſen. Konkurrenzfähig ift die Bagdadbahn nur in Bezug auf 
den Eil- und Ballagierverfehr, den fie nach ihrer FFertigitellung alsbald übernehmen 
wird, weil fie jchneller befördert als der Seeweg. Aber der Frachtverkehr wird nad) 
wie vor dem Ecemwege verbleiben, weil dieſer undergleichlich billiger if. Vom Schwarzen 
Meer wie von der ganzen Yevante aus werden durchichnittlich 100 Kilogramm Fracht— 
gut auf dem weiten Umwege zur See nad den Nordjeehäfen um 1 Mark, häufig jogar 
noch billiger verfrachtet, während die Eifenbahnen, troßdem fie einen erheblicd; fürzeren 
Weg zurüczulegen haben, annähernd das Fünffache beredinen. So erklärt es ſich, daß 
der ganze Maffenverfehr zwiichen dem Nordoften und dem Südweſten Europas den 
billigen Seeweg benugt. Genau dasjelbe Verhältnis wird fi im Verkehr zwiſchen dem 
Perſiſchen Meerbuien und Indien eimerjeits mit der Pevante und Europa andererieits 
enttwiceln. Die Bagdadbahn muß mit viel zu hohen Tarifen arbeiten und kann ar 
eine Konfurrenzierung des billigen Seeweges gar nicht denfen. Auch hochwertige Güter 
werden die Bagdadbahn wenn irgend möglidy vermeiden. Selbſt die Fleinafiatiichen 
Bitter werden zur Erlangung billiger Frachten immer jo bald als möglid den Seewen 
zu erreichen fuchen, jei es nun bei Ismidt, Alerandrette oder einem anderen geeigneten 
stüftenpunft. Vom Meere flankiert, d. h. vom Seewege fonfurrenziert wird die Bagdad- 
bahn ſich im wejentlihen auf den örtlichen Verkehr beichränfen müffen. Ein großer 
Durchgangsverkehr von Gittern wird ſich auf der Bandadbahn jo wenig entwideln, mie 
er fich auf den füdofteuropäiichen Bahnen im Verkehr zwiſchen Mlitteleuropa und dem 
näheren Orient einstellen konnte. 

Uebertrieben ericheinen ums aud) die Befürchtungen agrariicher Kreiſe über Die 
Belebung des anatoliichen Setreidebaues durd die Baqdadbahn, alie über die Schaffung 
einer neuen Nonfurrenz für die deutiche Yandwirtichaft. Diefe Möglichkeit liegt vorläufig 
in jo weiter Ferne wie die Vollendung der Bagdadbahır ſelbſt. Bis dahin können ſich 
in der weltwirtichaftlichen Entwicklung eingreifende Wandlungen vollzogen haben, bis 
dahin kann an die Stelle der Auvielerzeuqung von Getreide ein Zuvielverbraud ge 
treten fein, fo da Zufuhren aus Klein-Aften willkommen jein müßten. Aber diefe Zu: 
fuhren find nur möglich unter Borausjegungen, die gerade unter den türkiſchen Ver— 
hältniffen nicht leicht herzuſtellen find. Die Wiederaufrichtung der Landwirtſchaft in 
Anatolien wird bei der Schwäche dev türfifchen Negierung nur äußerſt langjam von 


Baul Dehn, Weltwirtichaftliche Umſchan. 125 


ftatten gehen. Und erweift fi) das Innere Klein-Aſiens wirklich in Landwirtjchaftlichen 
Erzeugniffen ausfuhrkräftig, dann find die hohen Bahnfrachten zu überwinden, bevor 
das Getreide zur See gelangt, und jo wird die neue Konkurrenz vorausſichtlich nicht 
annähernd jo drüdend werden, wie man in manchen deutjchen Streifen befürchten zu 
müjlen glaubt. 

Da die Bagdadbahn unter allen Umjtänden einmal gebaut werden wird, jo ift es 
auf jeden Fall erwünſcht, wenn diejes große Berfehrsunternehmen unter überwiegend 
deutfchem Einfluffe fteht. 


* * 

Für den großen internationalen Durchgangsfrachtverkehhr werden Ueberlandbahnen, 
mögen fie auch halbe Erdteile durchziehen, niemals eine Bedeutung erlangen, wen fie 
von dem Seewege mit feiner überlegenen Billigkeit fonfurrenziert werden. Das gilt in 
noch höherem Grade als von der Bagdadbahı von einer ganzen Reihe großer Ueber— 
(andbahnpläne, die in neuefter Zeit von fih reden machten. So wurde vor Jahr und 
Tag gemeldet, daß die Engländer eine Konkurrenz gegen die Bagdadbahn bauen wollen, 
und zwar bon Kairo aus quer durch das öde Arabien in der Richtung auf Komeit am 
Perſiſchen Meerbufen, wo aud die Bagdadbahn ausmünden joll. Indeſſen wird Dieje 
engliiche Bahn niemals gebaut werden, weil fie nur für den Poſt- und Perſonenverkehr 
in Betracht fommen fann. 

Aus denfelben Gründen verfehlt ericheint aud) der Rhodesſche Plan einer Eijen- 
bahn von Kairo nad) Kapftadt, die fid nur aus politifchen Erwägungen erflären läßt 
als Unterlage für die Verwirklichung des größerbritiichen Zieles: Afrika englifh vom 
Kap bis zum Nil! Als Ueberlandbahn hat fie nicht die geringfte Dafeinsberechtigung. 
Auf Durdgangsgüter muß fie von vornherein verzichten und nur wenige Reifende dürften 
fich bereit finden, aud) nur verfuchsweije den bewährten Seeweg mit dem bequemen 
Schnelldampfer zu verlaffen und die lange Fahrt mit der Bahn durch Eindden und 
Wüften zu unternehmen. In Afrika laſſen ſich grundſätzlich nur folhe Bahnen recht— 
fertigen, die von der Küſte aus in das Innere gehen und dem Binnenverfehr eine neue 
Verbindung mit dem Seewege eröffnen. 

Nicht ernfthaft zu nehmen ift endlich die jogenannte panamerifanifche Eifenbahn, 
die New-York und Buenos-Mires verbinden joll. Diefe Bahn hat als Ueberlandbahn 
gar feinen und für die einzelnen Staaten nur jo geringen Wert, daß dafür unverhältnis- 
mäßige Opfer gebracht werden müßten. Die panamerikanifche Eifenbahn ift, wie die 
Stap-Rairobahn, nur ein Erzeugnis politiicher Unterftrömungen. 

Welche Erwartungen hat man an die fibirische Eifenbahn geknüpft! Von ruffischen 
Blättern wurde verfichert, daß jie eine „Bulsader des Welthandels“, dab fie eine „Welt: 
handelsjtraße erjten Ranges“ werden und Berlin zum Mittelpunkt des Welthandels 
maden würde. Indeſſen kann die fibirifsche Bahn niemald mit dem Seewege in Son: 
furreng treten, da ihre Frachten viel zu hoch find. Von Bremen nad) Schanghai ver: 
fradhtet der Norddeutiche Lloyd auf dem Seewege (rund 22000 $ilometer) eine Tonne 
glei 1000 Kilogramm Güter für 25 bis 32'/, Marf mit einer Lieferungsfrift von 43 bis 
47 Tagen. Der Eijenbahnmeg von Bremen nad) Wladiwoftof ift nur 11000 Kilometer, 


1206 Paul Debn, Weltwirtfchaftliche Umſchau. 


alio nur halb jo lang wie der Seeweg. Nimmt man an, daß auf diefer Eifenbahn die 
Güter zum billigften deutſchen Sat gefahren werden, zu 2 Pfennig für den Tonnen: 
filometer, d.Ch. daß die Beförderung von 1000 $tilogramm 1 Kilometer weit 2 Pfennig 
foftet, jo würde 1 Tonne von 1000 Kilogramm von Bremen nad) Schanghai 11 000 x 
2* 220 Mark koften, aljo ungefähr das Achtfache der durchſchnittlichen Säte des Nord- 
deutichen Lloyd! Dabei würde die Lieferzeit auf der fibirifchen Bahn wenigftens vor- 
(äufig nicht kürzer jein. Dazu kommt, daß die Peiftungsfähigfeit der fibiriichen Bahn 
wenigitens vorläufig noch jehr beichränft, die Leiltungsfähigkeit des Norddeutihen Lloyd 
dagegen jozujagen unbeichränft it. Auf dem Seewege unterliegen die Frachten feiner 
Umladung, wohl aber auf der Eijenbahn, mindejtens beim Uebergang über die ruffifche 
Grenze. Für den Güterverkehr wird Oſtaſien durch die fibirifche Bahn nicht näher an 
Mitteleuropa herangerücdt, wohl aber wird im äußerjten DOften Sibiriend durch die 
jibirifche Bahn ein wirtjchaftliches Gebiet erweitert, das bisher nur von der Seejeite zu 
erreichen war und nun durch die jibirische Bahn weiter nad) innen hin aufgeſchloſſen 
worden ift. Bekanntlich hat fid) daraufhin in Hamburg eine Deutjch-fibiriiche Handels— 
und Sciffahrtögeiellichaft gebildet für die Entwicklung des Handels zwiichen dem Amur— 


gebiet und Deutjchland. 


æa Das deutiche Meer. 


Sei mir gegrüßt, du deutiches Meer Wohl wiegt Du Deiner Söhne Schar 
Mit Deiner grünen Wogen Rollen, In rauhgewalt'ger Wellenwiege, 
Geliebte Nordiee, groß und hehr Dodı madit Du Ihre Augen klar 

In Sonnenglait und Sturmesgrollen! Und ihre Sehnen Itark zum Siege. 

Wie ieh’ ich gern von hohem Deck Ein Kiel, den Du im Zorn umtobt, 

Auf Dir die fernen Segel gleiten, Darf kühnlicd zieh'n auf Abenteuer; 
Wenn vor dem Bug und hinterm Hech Wer Dir getroßt, der lit erprobt, 

Sich endlos Deine Waller breiten! Zu treten ke an jedes Steuer. — 
Stürmit Du in grauligwilder Pracht Ob felten aud ein Lächeln bricht 

Ans Bollwerk Deiner Inieldünen, Durd Deinen Ernit mit mildem Scheine 


Dann dröhnt es durd die Frühlingsnacht Wer redıt Dir fah ins Angelict, 
Gleich lautem Schlachtgelang der Hünen. Der bleibt fürs eben treu der Deine. 


Für jeden Kummer, jedes Weh 

Birgit Du den Troft im Wellenikhoße. — 
Nimm mid ans Berz, o deutiche See, 
Du ewigicdöne, ewiggroße! 


© 


Reinhold Fuds. 


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Monatsbericte über deutiche innere Politik. 
Von 


Wilhelm von Maifow. 


J. 
Einleitende Betrachtung. 


R" 16. Juni d. J. hielt der Neichöfangler Graf v. Bülow bei der Enthüllung des 
Nationaldenfmals für den Fürften Bismard eine Rede, die das Verhältnis der heutigen 
deutichen Politik zu der des Fürften Bismard ſcharf beleuchtete. „Er ift,“ jo zeichnete 
der Kanzler die Bedeutung feines großen Vorgängers, „der Ausgangspunkt und Bahn: 
brecher einer neuen Zeit für das deutiche Volk geworden. An jeder Hinficht ftehen wir 
auf feinen Schultern. Nicht in dem Sinne, als ob es vaterländiiche Pflicht wäre, alles 
zu billigen, was er gejagt und gethan hat. Nur Thoren oder Fanatiker werden behaupten 
wollen, daß Fürſt Bismard niemals geirrt habe. Auch nicht in dem Sinne, als ob er 
Marimen aufgeftellt hätte, die nun unter allen Umftänden, in jedem Falle und in jeder 
Yage blindlings anzuwenden wären. Starre Dogmen gibt es weder im politischen, nod) 
im wirtichaftlichen Yeben, und gerade Fürſt Bismarck hat von der Doftrin nicht viel 
gehalten. Aber was uns Fürft Bismarcd gelehrt hat, ift, daß nicht perfünliche Lieb— 
habereien, nicht populäre Augenblidsftrömungen, noch graue Theorie, jondern immer nur 
das wirkliche und dauernde Antereffe der Volksgemeinſchaft, die salus publica, die Richt: 
ſchnur einer vernünftigen und fittlich berechtigten Politik fein darf.“ 

Es ift bezeichnend, dab diefe Worte angefochten worden find, und zwar nicht von 
den alten Gegnern des Fürften Bismard, fondern im Namen bismärdifcher Politik. 
Fürſt Herbert Bismard ſelbſt hat kurz darauf in einer Anſprache an eine ftudentifche 
Abordnung einige Bemerkungen nicht unterdrüden fünnen, die eine fcharfe Spitze gegen 
die Bülowſche Rede enthielten. Und doch wird Fürft Herbert Bismard ficherlich davon 
durchdrungen fein, daß nichts verfehrter jein würde, als der Politik feines großen Vaters 
einen doftrinären Gharafter beizulegen. Niemals hat Fürft Bismard fih auf eine 
politifhe Theorie feitgelegt. Grundlagen und Ziele feiner Politik find die denkbar all: 
gemeinften gewefen, die für jedes Land und jede Zeit gelten. Er wollte die Macht und 
Größe feines Baterlandes jchaffen, und jein ftaatsmännifcher Genius bejtand darin, daß 
er zu jeder Zeit die äußerlich gegebenen Mittel und Möglichkeiten im Einklang mit dem 
Pulsſchlag des deutichen Volkes zu erfaffen wußte. Gerade das wird der politische 
heoretifer niemals können. Er wird die Neigung haben, jein Staatsideal verftandes- 
mäßig auszumalen, und in dem Zuſammenſtoß jeiner Pläne mit der rauhen Wirklichkeit 
Gefahr Taufen, manches zu überfehen und ſchief zu beurtheilen, was zum Gelingen führen 


128 Wilhelm von Maſſow, Monatsberichte ber deutfche innere Bolttik. 


fünnte. Der echte Staatsmann aber, der ein großes und weites Biel einmal mit dem 
Herzen erfaßt hat, vermag mit voller Sicherheit in die Wirren der Tageskämpfe hinabzu- 
fteigen ohne die Gefahr, darin zu verjinfen oder die Klarheit des Blickes zu verlieren. 
‘a, je jchärfer er das Gebot des Augenblids, die Bedentung der gegebenen äußeren 
Umftände erfaßt, deſto größer und erfolgreicher wird er jein; denn jein Xeitftern zum 
großen Biel bleibt trog alles Wechfels im Grunde feiner Seele unverrüdbar. Es ift 
ein Irrtum, wenn man einen großen Staatsmann dadurd zu feiern und zu erheben 
glaubt, daß man leugnet, er jei ein Kind feiner Zeit geweien. Nein, er muß es jogar 
fein; nur in der Fähigkeit, au$ den wirr durcheinander laufenden Zeitjtrömungen einen 
gropen Gedanken zu formen, zeigt ſich die Kraft des ftaatSmännijchen Genies. So ift 
aud) Fürft Bismard ganz und gar ein Kind jeines Zeitalter gewejen, Vertreter be: 
ftimmter Anſchauungen über Staat und Gejellichaft, die vielleicht einmal nicht mehr jein 
werden. Es iſt notwendig, diefe Wahrheit in aller Schärfe hinzuftellen und fich klar 
zu macden, daß man dem Begründer des Reichs unauslöſchliche Danfbarfeit bewahren, 
daß man von ihm als unvergleihlihem Meifter der Staatöfunft ſtets aufs neue lernen 
und Doc fid) bewußt werden fann, daß die Gegenivart ſtets neue Aufgaben ftellt, die 
aud) über den größten Staatsmann der Welt einmal hinausmweijen. Unvergänglid) 
bleiben nur die grundfäglichen Yehren über die Art des Anfaffens politischer Aufgaben, 
wie fie fi aus dem vorbildlichen Wirken eines großen Mannes von jelbjt ergeben, und 
in dem Hervorheben diejes bleibenden Anhalts der Bismardihen Schule iſt Graf 
Billows Rede geradezu muftergiltig zu nennen. Wenn nun trogdem gerade aus dem 
Kreiſe derer, die dem Fürſten Bismark im Leben nahe ftanden, gegen diefe Fafjung 
feiner Lehre Widerſpruch erhoben wird, jo muß eine Unterlage für die Befürchtung vor- 
handen jein, daß felbft die Befolgung Bismardicher Grundjäge in der Politif nicht das 
Einichlagen völlig neuer Wege hindern fann. Wir haben darin ein Merfzeichen, wie 
weit twir bereit über das Zeitalter Bismards hinausgewachſen find. 

Dem ift in der That jo. Der Mann, der mit gigantiicher Kraft alle die Hinder— 
niffe hinwegzuräumen hatte, die der politischen Einigung Deutjchlands entgegenftanden, 
fonnte bei aller Weite und Klarheit feines Blicks doch nicht die Fülle reifer Kraft ahnen, 
die in dem deutjchen Volke nur der Entfeffelung harrte, um fidy überreich zu entfalten. 
Wer jelbjt ſchwere Hebearbeit zu verrichten hat, kann fich nicht jo leicht vergegenmwärtigen, 
twie leicht jpäter die Maffe ins Rollen fommt. Wohl hat aud) Bismard geglaubt, Frau 
Germania werde reiten fünnen, wenn man fie in den Sattel gejegt habe. Aber dat 
Frau Germania alsbald ein jo fräftiges Galopptempo einjchlagen würde, fonnte er nicht 
borausjehen. 

Was das Antlik der Yage in verhältnismäßig jo kurzer Zeit vollitändig verändert 
bat, ift der ungeheure Aufichwung des mirtichaftlichen Lebens, der alsbald eintrat, 
fobald die Schranke des Mißverhältniſſes zwiſchen der politifhen Stellung Deutichlands 
anderen Mächten gegenüber und der im Volke vorhandenen, gejammelten kulturellen 
Kraft gefallen war. Bismard hätte dem Deutjchen Reiche gern noch eine Zeit der 
Sammlung und inneren Kräftigung gewünfcht, eine Friedens: und Kulturmiſſion, die 
ſich Streng auf dem Boden des mit Blut und Eifen Errungenen hielt. Das Friedens— 
prinzip ift, dank der weiſen Beſonnenheit unjerer Politif, dauernd feitgehalten worden, 


Wilhelm von Maſſow, Monatsberichte über deutiche innere Politik. 129 


aber die wirtichaftlichen Bedürfniffe der neugefeftigten und durch den politifchen Macht: 
zuwachs beflügelten Volkskraft ſtrebten mit elementarer Gewalt über den engen Rahmen 
hinaus. Unmerklich, aber doch mit jchnellen Schritten ift das deutiche Volk von jelbit 
Dazu übergegangen, Weltpolitik zu treiben, eine Weltpolitik, die jchon um deswillen feine 
Politit der Groberungen und politiihen Einmiſchungen jein konnte, weil die offizielle 
Politik diefen Bedürfniſſen nur zögernd folgte und eher ein Gegengewicht als Unter- 
früsung bot. Aber diefe Weltpolitif gewann eben ihre Bedeutung gerade dadurd), dai; 
die Beteiligung des deutſchen Volkes am Welthandel feinen wirklichen Bedürfniffen und 
Kräften genau angepaßt, durchaus nicht etwa Fünftlich gezüchtet und durch Machtgelüfte 
geitügt war. Allmählich jedoch mußte die Zeit fommen, wo auch die Reichsgewalt diejer 
Entwidlung nicht mehr zügernd folgen durfte, jondern die Führung übernehmen mußte. 
Deshalb brauchte in der Art und Ausführung diejer Politik die Bismarckſche Schule 
nicht verlaffen zu werden. Kaifer Wilhelm II. bat den eriten enticheidenden großen 
Schritt in diefer neuen Richtung gewagt. Tb er den Schritt vielleicht zu früh gethan 
bat, ob es richtig war, um der neuen Ideen willen auf eine ftaatsmännijche Kraft von 
jo überragender Größe wie Bismard zu verzichten, che der natürliche Verlauf der Dinge 
und höherer Ratjchluß diefe Notwendigkeit herbeiführte, dariiber wird erſt die Nadı- 
welt zutreffend zu urteilen im ftande fein. Wir müſſen uns jedenfalls jagen, dag ein 
Srollen mit dem Geſchehenen bei dem jetigen Stand der Entwicklung allermindeitens 
eine grobe politiiche Pflichtvergeiienheit fein wirde. Wir ftehen der unabänderlichen 
Thatſache gegenüber, dat ein Wandel bereits vollzogen it, dev dem deutichen Volk nicht 
mehr geftattet, ın beichaulicher Ruhe alle Kraft allein auf den Ausbau feiner inneren 
Einrichtungen zu veriwenden. Nicht der Wille eines Mächtigen, jondern eine aus wirt— 
ichaftlichen Urjachen fließende Notwendigkeit treibt uns dazu, in friedlichen Wettbewerb 
mit allen Völkern als weltwirtichaftlicher Faktor von Bedeutung unſern Plak aus- 
zufüllen. 

Welchen Einfluß bat nun dieſe Wandlung auf die innere Yage ausgeübt? 

Zelbitverftändlih konnte die Entwiflung der Parteien davon nicht unberührt 
bleiben. Die politischen Parteien haben aber der jchnellen Umgeftaltung unjerer Ber: 
hältniffe nicht in gleichem Schritt folgen fünnen. Barteien haben überhaupt niemals 
bejondere Anpaflungsfähigfeit an neue Verhältniſſe; erit durch Zerſetzungserſcheinungen 
hindurch geht der Weg zu neuen Geftaltungen. Uniere Parteien ruhen noch heute auf 
den Grundlagen, die ihnen durch die Aufgaben gegeben waren, die unfere politische Ent 
wielung in den eriten zwei Dritteln des 19. Nahrhunderts beitimmt haben. Pieles 
davon hat ja noch heute Gültigkeit. Selbſtverſtändlich giebt es feine Scheidewand 
zwiichen zwei Zeitaltern, jondern nur allmähliche Uebergänge, und auch heute noch find 
Zeile der Aufgaben zu Löten, die jchon uniere Väter beichäftigt haben. Außerdem 
bleiben gewiſſe Grumdverichiedenheiten der Anjchauung durch alle Zeitalter beitehen, 
wenn fie auch in den Ericheimmgsformen wechſeln. Stets wird es auf der einen Eeite 
Yeute geben, die das Wohl des Ginzelnen am beiten in dem bejonnenen Nusbau und 
organiihen Wachstum der Gemeinschaft, des Staates und der Geiellichaft gewahrt 
glauben, und auf der anderen Seite jolche, die dem Einzelnen auf Grund der Bedürf- 
niffe der Gegenwart möglichite Bemwegungsfreiheit wünjchen und überzeugt jind, dab 

9 


130 Wilhelm von Maſſow, Monatsberichte über deutsche innere Bolitik. 


dabei auc das Ganze am beiten fährt. Mag man num heute jene fonfervativ und Diele 
liberal, oder mag man fie nach hundert Jahren vielleicht anders nennen, das Weſen 
diefes Unterſchieds wird ſtets bleiben, Jo lange es Menjchen giebt und wir Staatsfornen 
haben, die überhaupt ein politiiches Yeben geftatten. Nicht nötig aber ift, daß dieje 
Gegenſätze beitändig im Vordergrund ftehen und man verjucht, fie in grundjäßlicher 
Fehde zum Austrag zu bringen, während wichtigere Aufgaben vorliegen, bei denen ein 
Zufammengehen verichiedener Richtungen trog abweichender Grundauffaſſungen nicht nur 
möglich, ſondern praktisch geboten iſt. Konſervative und Yiberale mußten naturgemäß 
hart aufeinanderftoßen, als es ſich darum handelte, die Grundformen ſtaatlichen Yebens 
ieftzuftellen. Der Abſchluß der Perfaffungsfämpfe in den Ginzeljtaaten und die Er- 
fämpfung der deutjchen Einheit hat aber diejen Gegenſatz ſoweit zum Austrag gebradht, 
daß den Spätergeborenen die Nachwehen jener inneren Kämpfe als nebenfächlich und halb 
unverſtändlich erſcheinen müſſen. So weit ift die Ucberwindung diefer alten Gegenjäte 
gediehen, daß 3. B. heute eine Partei, die aus biltoriichen Gründen und mit Rückſicht 
auf die von ihr vertretenen Intereſſenkreiſe mit Recht Wert darauf legt, ſich liberal 
zu nennen, — es ift die nationalliberale Partei —, ihrem innerften Wejen nad) fonfer- 
vativ ift. Denn diejenigen Ideale des Piberalismus, die fie ſich zu eigen gemadjt hat, 
iind in der heutigen Geſtaltung des Verfafiungslebens im twejentlichen erfüllt, und es 
gilt nur, fie feitzuhalten und lebendig zu erhalten. Die alten Barteien würden alto den 
Inhalt unjeres politiichen Yebens vollitändig falſch widerjpiegeln, wenn fie nicht allmäh 
lic) aud) zu den modernen Tagesfragen Ztellung genommen und fich dadurch am Yeben 
erhalten hätten. Freilich ift dieſe Flidarbeit an den alten Programmen mühſam genug 
und nicht immer glücdlich gewejen. Aber wir müſſen im Parlament jelbjt und bei den 
Wahlen damit rechnen. Schließlich wird ſich auch einmal die alte Form den Forderungen 
der neuen Zeit anpaffen. 

Es find, mie ſchon bemerkt, wirtichaftliche und, damit eng verbunden, joziale 
Wandlungen, die den Umſchwung herbeigeführt haben. Darin kann ſich die ältere 
Generation ſchwer finden. Gerade diefe Momente traten vor 1870 mehr zurüdf. Die 
wirtichaftliche WBorbereitung der Einigung Deutschlands blieb dem eigentlichen Partei 
itreit, dem politiichen Kampfgebiet, ziemlich entrüdt; die preugiiche Regierung war cs, 
die mit ihrer Bollvereinspolitif in etwa vierzigjähriger stiller Arbeit dieien Teil der 
Aufgabe faſt allein löſte. Und auch für die joziale Frage war die Zeit nody nicht reif. 
Dadurch bemahrten ſich die Barteifümpfe jener Zeit den Charakter eines reinen Prin— 
zipienftreits um die höchſten Ideale der Nation, und das gab auch dem politischen 
Veben der eriten Jahre des jungen Reichs jenen frohen, unbekümmerten Aufihrwung, 
der dem befriedigenden Gefühl erfüllter Hoffnungen entipringt und auf den heute die 
Beteranen der Politit mit ſchmerzlicher Wehmut zurüdbliden. Sie können, im Einflang 
auch mit manchen Jüngeren, das Gefühl nicht unterdrüden, daß dev wirtichaftliche und 
joziale Kampf, der die Gegenwart bewegt, ein Berlaflen der idealen Richtung und dem: 
gemäß ein Derabfinfen bedeutet, 

Das iſt ein völliger Nrrtum. Aufmerkſame geichichtliche Betrachtung läßt in 
dieſem ungeftümen Bordrängen wirtichaftlicher Intereſſen, nachdem wir 1871 unjer Haus 
neu gebaut haben, eine Notwendigkeit erkennen, die uns den Weg zu einer neuen 


Wilhelm von Maſſow, Monatöberichte über deutfche innere Politik. 134 


Aufwärtsentwicklung zeigt. Wenn wir diefen Wink dev Borjehung nicht verftehen, und 
wirklich darüber in Materialismus und Kümmerlichkeit verſinken follten, jo würde nur 
uniere Berzagtheit und Ungelenkheit daran jchuld fein. Wir fünnen und follen aud an 
diejen Aufgaben den Idealismus bethätigen, der der Ruhm unferer Väter geweſen iſt. 
Es fragt ſich nur, melden Inhalt und Zweck man den wirtichaftlichen Beitrebungen 
giebt und in welchem Geiſte man tbätig ift. Wo die materiellen nterefien im Sinne 
der Erhaltung deuticher Eigenart und deutſchen Wejens und zum Gedeihen der Ge 
jamtheit de3 deutſchen Volkes wahrgenommen werden, da bat auch diefes Schaffen 
einen idealen Untergrund. Wo aber jeder nur an den Erfolg der eigenen Intereſſen 
denkt, da beſteht allerdings die Gefahr, daß der Idealismus den Rüden kehrt. Das itt 
der eine Grund, warum wir wünſchen, daß die wirtichaftlichen Aufgaben, die den Anhalt 
unfrer nächften politifchen Entwicklung bilden, -in engem Zufammenhang mit dem tiefiten 
Fühlen und Denken deuticher Volksart erfaßt oder, wie wir auch jagen fünnen, von 
nationalem Geifte getragen werden. Die Leute, denen der wirtichaftliche Erfolg nur ein 
Nechenerempel ift, die feinen Zuſammenhang anerkennen zwiichen ihrem Intereſſe und den 
Nöten und den Bedürfnijfen des Volkes, diefe Vertreter des wirklichen Mammenismus 
und Materialismus find ihrer Natur nach international. 

Die falfche und einjeitige Ausbildung des wirtfchaftlichen Egoismus hat aud) auf 
iozialem Gebiet die Mißſtände gezeitigt, deren Neaftion wir in der internationalen 
Sozialdemokratie vor uns fehen. Wie die Partei auch in der Praris zur Zeit ausjehen 
mag, ihre Parteitheorie ift umd bleibt durchaus revolutionären Charakters. Das bedeutet 
aber nichtS Anderes, als daß fie außerhalb jedes gejchichtlichen Zufammenhanges Steht, 
daß fie auf dem Wege der Verneinung der beftehenden Ordnung künſtlich ausgeflügelt 
it. Will man fie alio als eine Gefahr wirkſam befämpfen, jo gehört neben dem ernſten 
Willen zu einer vernünftigen Sozialreform vor allem dazu, daß man diefe Theorie an 
ihrer größten Schwäche faßt, an der Blutlofigfeit, zu der jte durd ihren internationalen 
Utopismus verurteilt ift. Der Kampf muß freilich vergeblid, bleiben, jo lange nur Die 
Angst der Befitenden und Herrichenden um Eigentum und Autorität jeine Triebfeder 
it. Es genügt aud) nicht, daß man, wie heute Pfarrer Naumann und jeine Getreuen, 
einem immer einjeitiger werdenden Sozialismus einen Anjtandsbroden von Fühlen 
Nationalismus beimifcht; nein, nur ein warmes Sich-Eins-Fühlen mit allen Intereſſen 
und Sträften, die im Volk lebendig find und die es vorwärts bringen, fann die nötigen 
Gegenwirkungen frei machen, durch welche die Gewiſſen zur Sozialreform geihärft und 
zugleich die Empfindungen für das Thörichte und das Verderbliche der Sozialdemokratie 
geweckt werden fünnen. Wir gewinnen aljo durd) eine tiefbegründete nationale Geſinnung 
zugleich die wertvollite Stüße für unjere Gejundung auf jozialem Gebiet. 

Die Aufgaben unjerer Zeit erfordern, wie jchon erwähnt, daß die Parteiunterſchiede, 
die nicht in unmittelbarer Beziehung damit ftehen, möglichft in den Hintergrund geichoben 
werden, und aud) um deswillen muß alles hervorgehoben werden, was die verjchiedenen 
Antereffengruppen im Volfe vereinen und zu gegemjeitiger Rückſichtnahme bejtimmen kann. 
Der mwajchechte Parteiftandpunft fürchtet den Kompromiß, und jo findet man mitunter 
ein ängſtliches Sträuben gegen die rein nationalen Geſichtspunkte aud) bei einer Partei, 
die ihrem Weſen nad) eigentlicd) national jein muß, nämlich bei dev deutich-fonjerpativen 

g* 


132 Rilhelm von Maſſow, Monatäberichte über deutiche innere Pofttik. 


Partei. Es wäre zu wünjcen, dat aud) dieje Störungen und Schwankungen überwunden 
würden. Die genannte Partei leidet überdies unter der Verquickung politifcher Ideen mit 
firchlichen Beitrebungen. Die Löſung diejer Verkettung ericheint ihr als eine Berleugnung 
der chriftlidien Idee. Sehr mit Unrecht! Je höher man die religiöfen Faktoren jchäkt, 
defto mehr wird man erfennen, wie das religiöje Yeben, wo es fid) ftart und unabhängig 
entfaltet, ein unveräußerlicer Beftandteil des Volkslebens ift. Andem wir in einem 
chriftlichen Bolfe nationale Bolitif treiben, treiben wir auch chriſtliche Bolitif, wir mögen 
wollen oder nicht. Es ift dies auch die einzige Grundlage, auf der ſich verichiedene Be 
fenntniffe und Richtungen vertragen fünnen, ohne ihre Freiheit aufzugeben. Als ein 
fonfefftonell geipaltenes Volk müffen wir uns aber vertragen lernen. So kann fi aud) 
die Slaubenstreue der Katholifen bethätigen, ohne dat ſie Sich zu Werkzeugen der ſtaats— 
feindlichen Macht hergeben, die in der Form des jogenannten Ultramontanismus die 
Gewalt der römischen Kirche über die Gewiſſen zu weltlichen Machtzwecken mikbraudıt. 
Nationalgefinnte Broteftanten und Katholiken werden in dem gemeinfamen vaterländiicdhen 
Wirken ſtets auch ihren kirchlichen leberzeugungen gegenieitige Rückſicht erweifen. Indem 
aber der evangeliiche Honjervatismus die Kirchlichfeit zur politiichen Parteiſache madıt. 
wird er oft der Bundesgenofje des jtaatsfeindlichen Ultramontanismus und hilft die 
verhängnispolle Machtitellung der diejen Zwecken dienenden Gentrumspartei verftärten. 
Richt, ala ob es nicht ein gelegentliches Zujammengehen in einer praftiichen Frage geben 
fünnte; aber die grundfäßliche Stärkung des Gentrums durch die fonjervative Politik 
jollte aufhören. 

Es wird alſo das Daupterfordernis unjerer inneren Politik fein, daß ſich die auf 
nationalem Boden ftehenden Parteien nadı Möglichkeit zur Yöfung der großen wirtſchaft— 
lichen Aufgaben zuſammenſchließen. 

Damit haben wir ungefähr den Standpunkt feitgelent, von dem aus wir an die 
Beurteilung der wichtiaften Frage der heutigen deutichen Volitik herantreten Fünnen. 
Diele Frage ift die der Handelsverträge. Site beherricht, nachdem jüngjt der Entwurf 
des Zolltarifs veröffentlicht worden ift, die ganze politische Yage. Frür den nationalen 
Politifer muß die Grundlage der ganzen Betrachtung bleiben, daß die verjchiedenen 
Zweige der Erwerbsthätigfeit, Yandwirtichaft, Induſtrie und Dandel, möglichſt gleich 
mäßig auf ihre Redmung kommen. Die jüngfte wirtichaftliche Entwidlung bat die 
Yandwirtichaft Durch eine Schwere Kriſis, deren Ueberwindung noch nicht gelungen iſt, 
hindurchgeführt, der Induſtrie einen gewaltigen Aufſchwung gegeben und auf Grund dieſer 
Sefamtlage den Dandel ein bedeutendes Uebergewicht verichafft. Unter joldhen Ber: 
hälmiffen hat die große Mehrheit der industriellen Vertretungen das Bedürfnis anerkannt, 
bei dem Abſchluß neuer Dandelsverträge nach Möglichkeit der Yandwirtichaft durch 
erböbten Zollichur zu Dilfe zu fommen. An dem Zuftandefommen der Dandelsverträge 
auf diefer Grundlage ift nad) der jorgfältigen Vorarbeit jachverftändiger Kräfte und 
nach der Prüfung der Berhältniffe im Auslande nicht zu zweifeln. Kommen aber Dandels- 
bertrüge zu ſtande, jo iſt es ebenjo ficher, daß unjer heutiger aufitrebender Welthandel 
nicht nur unberührt bleiben, jondern auch einen weiteren Aufſchwung nehmen wird. Der 
Egoismus derjenigen Dandelsfreije, die ſich vielleicht vorübergehend beeinträchtigt ſehen 
und den Traum von dem Lebergang Deutichlands zum reinen Handelsſtaat aufgeben 


Wilhelm von Major, Monatsberichte über deutfche innere Bolitif. 1.33 


müſſen, rüſtet fich gleichwohl zu einen erbitterten Wideritand, indem er durch Dervor- 
fehrung des vermeintlichen Konſumenten-Intereſſes die große Mafle für fi zu gewinnen 
jucht. Yeider wird diejer Kampf mit zum Teil vermwerflichen Mitteln geführt. Was 
dabei vor allem zu tadeln ift, iſt weniger die Uebertreibung, die immerhin aus einer 
ehrlichen Ueberzeugung hervorgehen kann, als die gänzliche Empfindungslofigkeit für die 
Prlicht, jedes deutſche Intereſſe doch unter allen Umftänden dem des Auslandes voranzı 
ſtellen. Manchen Gegnern des Zolltarifs aber jteht der ausländiiche Händler, Broduzent 
und Konjument näher als der Landsmann, der von andern wirtjchaftlidien Bedürfniſſen 
ausgeht. Gegen diefe Gegner wird entichieden Front zu machen fein; im übrigen aber 
wird man zunächſt die einfache Erwägung feftzubalten haben, dal ein autonomer Tarif 
natürlich nidyt die Sätze enthalten kann, die ſchließlich als VBertragsergebnis heraus: 
ipringen. Wir jtehen erit am Anfang diejer Kämpfe. Gin weiterer Bericht wird hoffent- 
lich ſchon mande Klärung bringen. Dann wird es Reit fein, div Stellung der Parteien 
noch näher zu erörtern. 


© 


An Wilhelm Raabe. 


Wer aus dem Berzen leines Volkes Ichreibt, 
Dem mag Erfolg am lauten Markte fehlen, 


Dann plötzlih kommt ein Sturm mit Allgewalt, 
Der fFrühlingssturm, nach dem die Knoipen 


Doc pflegt er lich ins Gerz des Volks zu Itehlen 
Wie benzeshaudı, der itill und heimlich treibt 


Und ob lein Name noch im Dunkel bleibt, 
Lebt er geborgen ſchon in taulend Seelen, 
Und keinem kann die reine freude fehlen, 
Dass Göttlidies nodı immer lebt und leibt. 


Weimar, den 16. Auguit 1901 


Ipringen 
Und alles Grün entgegeniprlesst der Sonne - — 


Der Sturm ift da! und wurdeit Du auc alt, 
Dein Werk wird felber drum fein Werk 

vollbringen, 
0 Meilter, aller deutfhen Kerzen Wonne. 


Adolf Bartels. 


I 


Als Adam aus dem Paradies veritoken, 

Der Erden Not entgegenging, der großen, 

Und Eva trdäumend ſchritt an jeiner Seite, 

Da iette ihnen beiden zum Geleite, 

Auf Adams Sculter fic ein kleiner Engel, 
Ein krausgelockter, allerliebiter Bengel 

Und flälterte: „Ihr müßt nicht fo verzagen, 
Id will zum Troft Euch ein Geheimnis jagen : 


Weimar. 


Veritekt auf Erden wädlt ein winzig Reis, 

Von dem man nidıts im Paradieie weiß, 

Es wäclt nur, wo nicht immer Sonne ſcheint, 

Es findet nur, wer einmal ſchon geweint, 

Es heilt von Leiden, lindert die Beldiwerden, 
Wer’s einmal fand, kann nie ganz elend werden,“ 
Adam und Eva ipigeten das Ohr: 

„Wie heißt das Reis 1“ Er ipradı : „Es heißt Humor” ! 


Ernit v. Wildenbrud., 


LILILILILILILILILILITITILITILITILILITILILITILILILITITIG 


Deufictes Ausland. 
Don 


Paul Dehn. 
Il. 


Kinleitendes über deutiche Stüßpinikte im Auslande umd die Notwendigkeit, die Beziehungen 
nit den Dentichen aller Yänder zu pflegen. — Zur Erhaltung des Dentfchtums im Muslande. — 
Ungarn. — Schweiz. — Belgien. — RordAmerifa. — Mittel: und Süd-Amerilka. 


rn der Deutfchen auf der Erde beläuft fih auf rund 80 Millionen Seelen, 
davon wohnen 69 Millionen in Europa, nämlich 52,6 im Deutjchen Reiche jelbit, 
10,0 in Defterreich, 2,2 in Ungarn, 2,1 in der Schweiz umd über 2 Millionen im übrigen 
Europa. In Amerika jollen 10, in Afrika, Aſien und Auftralien zufammen 1 Vlillion 
Deutiche leben. 

Zahlreicher als die Deutichen find die Angelſachſen, aber ftaatlich in zwei große 
Gruppen geichieden, die feine andere als lediglid; ideale Gemeinſamkeit anerkennen und 
eine jede für ſich nad) der Vorherrichaft ftreben. 

Steine zweite große Nation ijt jo verbreitet, fo zerftreut und dabei jo zujammen: 
hanglos, wie die deutfche. Weshalb? Weil die Deutjchen lange Zeit politifch und wirt: 
ichaftlicy Schwach daftanden, politisch ſchwach, d. h. ohne Rückhalt an ein ftarfes natio= 
nales Reich und wirtichaftlich ſchwach, d. h. ohne Großkapital, ja ohne Kapital über: 
haupt. In beider Hinfidyt waren Engländer und Franzoſen befler daran und konnten 
fich deshalb auch im Auslande national kräftiger fühlen, zufammenjchliegen und bethätigen. 

Inzwiſchen haben fich auch die Verhältniffe für die Deutichen im Auslande günftiger 
geftaltet. Ein Deutiches Reich ift erftanden, bereit und ſtark genug, um alle jeine An- 
gehörigen zu Ichüten. Und allmählich wird hoffentlidy audı das deutſche Großfapital jo 
erzogen werden, dab es fich geneigt zeigt, im Nuslande Hand in Hand mit deuticher 
‚intelligenz, deuticher Unternehmungsluft und deuticher Arbeit zuiammen zu wirfen. 

Aufgabe aller Deutichen aber muß es fein, den nationalen Zuſammenhang zwiſchen 
den Deutichen im Reich und den Deutichen im Auslande auf dem Gebiet des geiitigen 
und wirtichaftlichen Yebens inniger als bisher zu geitalten. Dazu ſoll an diefer Stelle 
beftändige Anregung gegeben werden. 

Zunächſt gilt e8, die Deutichen im Auslande durch thatkräftige Förderung ihrer 
nationalen Vereinigungen zu ftärfen. An dieſer Stelle joll Intereſſe vor allem für die 
deutichen Mifftonen, Kirchen und Schulen im Auslande erweckt werden, aber auch für 
die deutichen Hülfs- und! Wohlthätigkeitsvereine, Strankenhäufer und Heime, ferner für 
die deutichen Berufsvereine faufmänniicher und techniſcher Art, für Die deutichen 
Stedelungs-, Handels- und Flottenvereine, für die deutichen Sprad):, Gelang- und Turn— 
vereine, endlich für die deutichen Gejelligfeitsvereine im Auslande. Alle deutihen Or: 


Paul Dehn, Deutfches Ausland. 135 


ganijationen im Auslande jollen an diefer Stelle in ihrer Entwidlung verfolgt, in ihrer 
Ihätigfeit gewürdigt und in ihren Beitrebungen gefördert werden mit Rückſicht darauf, 
dat e3 notwendig ift, deutiche Stützpunkte im Auslande zu fchaffen und zu Fräftigen, um 
auf allen Gebieten des Lebens innigere Beziehungen zwijchen den Deutichen im Reidı 
und den Deutjchen im Auslande herzuftellen. Insbeſondere joll unter den Deutfchen im 
YAuslande das Bemußtjein erweckt und gefräftigt werden, daß fie die Träger deutfcher 
Kultur, aber auch deuticher Intereſſen find und für fich felbft arbeiten, wenn fie immer 
und überall ihre Eigenart hochhalten. 

Für die Kräftigung der Beziehungen zwijchen den Deutichen aller Yänder liegen 
heute alle Berhältnijie günstiger als je. Politiſch ſtark fteht das Deutjche Reich da. 
Im deutihen Volke ift das nationale Bewußtfein erwadjt. Und diefes Bewußtſein kann 
ich bethätigen infolge der Fortjchritte der modernen Verkehrsmittel. Ehedem, als nodı 
Wochen und Monate dazwiichen lagen zwijchen den Deutichen im Reich und den Deutjchen 
in der Ferne, da war es ſchwer, faft unmöglich, das Bewußtſein der Zulammengehörigfeit 
aller Deutjchen zu verbreiten. Heute ift das leicht. Denn alle Deutfche, wo immer auf 
der Erde fie wohnen, ſtehen in bejtändigem Verkehr mit einander, alle Deutjche fünnen 
fich als Angehörige einer großen Nation fühlen und mit der Zeit werden auch alle 
Deutiche zu der Erkenntnis kommen, daß es für fie unter den heutigen Verhältniſſen 
mindeitens ebenjo notwendig wie für andere Völker ift, fich zufammenzufchließen, um 
alle Kämpfe der Zukunft fiegreich beftehen zu fünnen. 


Zur Erhaltung des Dentjchtums im Anslande. Als Ende der fiebziger 
Jahre die Deutihen in Ungarn über Unterdrüdungen und Bergemwaltigungen der 
magdyariichen Staatösverwaltungen zu Hagen begannen, lenkten fie die Aufmerkſamkeit 
deutichnationaler Kreiſe auf fi und im Jahre 1881 erfolgte die Gründung des „ALL: 
gemeinen deutihen Schulvereins“ zur Erhaltung des Deutjchtums im Auslande, 
zunädjit zur Unterftügung des fämpfenden oder mit dem Untergange bedrohten Deutjd)- 
tums an den Sprachgrenzen, aljo des Deutjchtums in alten deutjchen Bolfögebieten. 
Aber auch die deutichen Niederlaffungen und Kolonieen im fprachfremden und überfeeijchen 
Auslande traten jpäter an den Schulverein heran und baten um jeine Hilfe. Viele 
Tauiende von Deutjchen im Auslande find ihrem Volke verloren gegangen, weil ſich 
niemand um fie kümmerte. Hier ift der Allgemeine deutſche Schulverein eingetreten umd 
hat mit verhältnismäßig Kleinen Mitteln anfehnliche Erfolge erzielt. Dunderte von 
Schulen hat er gebaut, eingerichtet oder fräftig unteritügt, zahlreiche Kirchen: und Pfarr 
hofbauten gefördert, Kirchen: und Echulverwaltungen hilfreich beigejtanden, Kindergärten 
errichtet, Volks- und Schülerbüchereien aufgefteltt, deutiche Studierende, Geiftliche und 
Gehrer unterftüßt und entiendet. 

Yeider hatte der Deutiche Schulverein jahrelang mit "großer Teilnahmslofigfeit zu 
fämpfen, bis allmählid; die Erkenntnis, dat es notwendig jei, dem gefährdeten Deutſch— 
tum im Auslande, zunächſt auf dem Gebiet von Schule und Kirche, Dilfe zu bringen, 
in weitere Slreije drang. Im Nahre 1900 verausgabte der Schulverein rund 90 000 ME. 
für gewährte Unterjtüßungen. Aber im Verhältnis zu ausländischen Bereinen ähnlicher 
Art find feine Mittel nod) gering. In feinem letzten Jahresbericht Elagt der Vorſitzende 
de3 Gejamtvereins Profeffor Dr. Brandl-Berlin: „Den Weg zum Derzen der deutichen 


136 Paul Dehn, Deutfches Ausland. 


Kapitaliſten haben wir immer noch nicht entdeckt. Unſer franzöfifcher Barallelverein, die 
Alliance Frangaise, iſt hierin viel glüdlicher und verdankt es der Freigebigkeit der 
iranzöfiichen SFinanzwelt, daß er, obwohl an Mitgliedern uns ungefähr gleichitehenDd, 
doch mehr als das Doppelte unjeres Einkommens zur Verfügung hat. Bei uns find 
vielmehr die mittleren Leute, denen der SXahresbeitrag von 3 ME. gerade ein bischen weh 
thut, für unfere nationalen Zwede am opferwilligften und einfichtigiten.“ Gegenwärtig 
zählt der Zchulverein annähernd 33 000 — die zu einem erheblichen Teile aka— 
demiſchen Streifen angehören. 

Ungarn. Yeider wohnen die Deutjchen in — über das ganze Land zerſtreut 
und find daher der Entnationaliſierung, zumeiſt der Magyhariſierung, leichter ausgeſetzt. 
Aber nicht überall find die Deutihen im Rückgange wie im ungarischen Erzgebirge, in 
der Zips, in Peſt, Stuhlweißenburg, Fünfkirchen, Raab, Gran, Kaſchau u. |. w. Biel- 
mehr vermehren ſich die Deutichen da, mo fie dichter zufammenfigen, wie in Sieben- 
bürgen, ferner in den weltlichen Stomitaten Eiſenburg, Oedenburg und Wiejelburg, mo 
300 000 deutiche „Deidebauern“ und „Deanzen* ſich an die Deutichen Nieder-Deiterreichs 
und der Steiermark anlehnen. Bor allem aber ift die deutiche Bevölkerung angewadjjen 
in den Stomitaten Tolna und Baranya zwijchen Donau und Drau, wo 225000, im 
Banat, wo 450 000, und in der Baeska, nördlid von Neufag, zwiichen Donau und Theiß, 
wo 250 000 Deutſche wohnen, ſich durch Fleiß, Sparfamkeit und religiöfen Sinn aus: 
zeichnen, großen Stinderreihtum aufweilen und allmählich durch Güteranfauf die 
Rumänen, Serben und Magyaren verdrängen. Die Deutihen in der Baeska kamen 
um die Mitte des 18. Nahrhunderts aus dem Elſaß, aus Baden, Württemberg und der 
Pfalz, zum Teil aud aus Thüringen, insgefamt etwa 30000 Köpfe ftarf. Am Jahre 
1835 waren fie auf 92000 angewachſen und heute beläuft ſich ihre Zahl auf 250 000, 
wovon */, römifch-fatholiih. Da das nationale Gefühl dieſer Deutjchen ſich kräftiger 
als bisher befundet, jo ift nicht daran zu denken, dat es der magyariichen Verwaltung 
gelingen wird, den deutſchen Unterricht und die deutfche Predigt gänzlich zu bejeitigen, 
jelbft wenn fie an diefer Magyariſierungspolitik fefthalten follte. 

Siebenbürgen. Das Heine Pölten der Siebenbürger Sadjen mit etwa 
200000 Seelen fällt ins Gewicht durd feine Antelligenz, es bildet in Siebenbürgen den 
begüterten Mittelftand, an dem es anderwärts in Ungarn vielfach fehlt. Welche Stellung 
die Siebenbürger Sachſen gejellichaftlich einnehmen, ergiebt ſich aus ihrem akademiſchen 
Nachwuchs. Am Sommerjemefter ftudierten 234 junge Sadjjen, davon 46 in Klauſen— 
burg und 13 in Peſt, ferner 30 in Graz und 26 in Wien, endlich 22 in Berlin, 16 in 
Münden, 13 in Leipzig u. ſ. w. Nach Deutichland gehen hauptiädhlich die Theologen, 
Mediziner und Techniker. 

Schweiz. Nach den Ergebnifjen der legten Volkszählung ift die Zahl der Deutid)- 
iprechenden jeit der vorlekten Volkszählung um 17 vom Taufend zurüdgegangen, fie 
betrug 18% 714 und 1900 nur nod) 697 vom Tauſend. Indeſſen ift dies nicht allzu 
tragisch zu nehmen. In der Schweiz vermehrten ſich die Deutjchen um '/, Million auf 
2,3 Millionen, die Franzoſen um 95000 auf 733 000 und die Italiener um 65000 auf 
222000. Der Rückgang der Deutichen entfällt auf die nichtdeutichen Bezirke, insbejondere 
auf Neuenburg, franzöſiſch Bern, franzöſiſch Wallis, Waadt, franzöſiſch Freiburg und 


Paul Dehn, Deutiches Ausland. 137 


Genf. Ber Vorhandenfein deutiher Schulen würde vielleicht diefer Rückgang nicht ein: 
getreten jein. Dagegen werden in Graubündten die Rätoromanen von den Deutichen 
zurüdgedrängt, was A. Sartorius Freiherr von Waltershauien in feiner Schrift „Die 
Germanifierung der Rätoromanen in der Schweiz” (Stuttgart 1900 bei Engelhorm) des 
näheren dargeftellt hat. 

Belgien. U. d. Titel „Deutjchbelgien“ veröffentlicht der „ Deutiche Berein zur 
Hebung und Pflege der Mutterſprache im deutjchredenden Belgien“ feit 1899 
eine Zeitſchrift mit intereffanten Mitteilungen über das Deutihtum in Belgien. Be: 
merfenöwerterweile ftügt fich der Verein beionders auf die katholiſche GSeiftlichkeit, die 
mit rühmlichem Eifer die deutiche Volksſprache pflegt. Borlitender des Vereins it 
Profeſſor ©. Kurth von der Hochſchule in Yiüttich. 

Nordamerika. In der Tagespreffe wird auf den hervorragenden Anteil des 
Teutijhtums an der panamerifaniihen Ausftellung in Buffalo hingewiefen. Ohne 
Deutiche Intelligenz und ohne deutiche Organifationsfraft wäre fie mindeitens nicht in 
diefer Ausdehnung zu jtande gekommen. Nächſt New-York, Chicago, Philadelphia, St. 
Youis, Milmwaufee und Cincinnati bat Buffalo die verhältnismäßig ſtärkſte deutiche 
Bevölkerung, die überdies beftändig zunimmt. Auch ſteht die Stadt ſchon jeit Jahren 
unter Yeitung deutfcher Bürgermeifter. Unter ihren hervorragendften Induſtriellen be- 
finden fid) viele deutiche Einwanderer, wie Jakob Schöllkopf, der als Gerbergejelle aus 
Württemberg Fam und die Niagarafall-straftgeiellihaft gründete, der Eleftrifer Yuther 
Ztieringen, der Kunſtgärtner Rudolf Ulrich, der Bildhauer Karl Bitter, der Architekt 
Aug. E. Ejenwein aus Fitddeutichland, der mehrere Hauptbauten zur Ausftellung lieferte, 
jo u.a. den Mufiftempel, vor allem aber Alt:Rürnberg ſchuf, dieſen „Clou“ der 
panamerifaniihen Ausftellung, der den nordamerifanishen Deutichen ein Feines Stückchen 
ihrer alten Heimat wieder vorführte. Unter den Ausftellern befinden ſich viele ange- 
jehene deutiche Geihäftshäufer, jo u. a. die Papftiche Brauerei von Mihvaufee, die in 
New: Hork den Palmengarten, ein Wirtshaus größten Stils mit einem Faſſungsraum 
für 10000 Beſucher, begründet hat, die Firma Kohn A. Röbling & Söhne, die Erbauer 
der Hängebrücde zwifchen New-York und Brooklyn, die Konfervenfabrif von Heinz in 
Pittsburg, die SFleifchpaderei von Jakob Dold, einem eingewanderten Schwaben, in 
Nebraska, Kanjas und Buffalo u. ſ. mw. 

Die Klagen über den Rüdgang des Deutichtums in Nordamerika find alt. Uber 
das Deutichtum befteht drüben bereits zweihundert Jahre. Wohl befchränft es ſich zu: 
ineift auf das eingewanderte und auf das erfte dort geborene Geſchlecht und vererbt ſich 
jelten oder nie auf fpätere Gefchlechter. Aber es bat ſich doch infolge der bejtändigen 
Einwanderung erhalten und immer wieder erneuert. Und in der heutigen Zeit, da das 
nationale Gefühl allerwärts erwadjt und fich immer ftärker geltend macht, wird es aud) 
unter den Deutfchen in Nordamerika nicht verlöfchen, ob mun die deutiche Einwanderung 
über furz oder lang wieder zunimmt oder nicht. Erkennen dody auch nordamerifaniiche 
Kreiſe die Bedeutung des Deutſchtums, da fie ihre Kinder aud) in der deutichen Sprache 
unterrichten laffen. Es ift begreiflid, daß die Deutfchen in Nordamerika, um fortzu- 
fommen, engliih lernen und ſprechen müſſen, aber wenig flug wäre es von ihnen, 
wollten fie darüber die deutſche Sprade vernadjläffigen und vergeffen oder ihren Kindern 


136 Paul Debn, Deutiches Ausland. 


vorenthalten. Von vornherein hat derjenige, der zwei Sprachen verſteht, immer beſſere 
Ausfichten für jein Fortkommen. Das gilt ganz befonders für Nordamerifa. Wenn Die 
Deutichen in Nordamerifa an der deutſchen Spracde feithalten und aud) ihre Kinder 
deutich lernen laſſen, fo erfüllen fie nicht nur eine nationale Plicht, jondern erwerben 
ſich auch einen wirtfchaftlichen Vorteil, der nicht zu unterichägen if. Das Deutſchtum 
in Nordamerika jcheint fich feiner nationalen Ueberlieferungen wieder zu erinnern und 
wird, wenn es daran fejthält, in der neuen Heimat auf allen Gebieten des Lebens eine 
Bedeutung erlangen, wie fie feiner nationalen Stellung entipridt. 

Nach dem ftatiftiichen Jahrbuch der deutichen evangeliich-lutheriihen Synode von 
Miſſouri, Ohio und anderen Staaten für 1900 zählt die Ennode in 2147 Gemeinden 
mit 1731 Baftoren rund 728000 Mitglieder, immerhin ein Fleiner, wenn auch unzuläng- 
(icher Beitrag zur Kenntnis des Deutichtums in den Vereinigten Staaten. 

ALS ein Anzeichen dafür, dat die Deutjchen in Nordamerifa ihr Bolkstum nicht 
vergeſſen, fondern in Ehren halten, ift u. a. die „Deutich-amerifanifche hiftoriiche Geſell— 
ichaft von Illinois“ in Chicago anzuführen, die beionders in ihrem Organ „Deutſch— 
anterifanifhe Geichichtsblätter”, einer Pierteljabrsichrift, ihre Aufgabe, die Geichichte des 
Deutjchtums aufzubellen, erfüllt. Gerade in Illinois ift das Deutjchtum ftarf verbreitet. 
Bon den 5 Millionen Einwohnern diefes Staates find annähernd ein Drittel Deutiche 
oder deutfcher Abjtammung. In Chicago allein wohnen über 400 000 Deutidhe. Tim 
Nuliheft der genannten Bierteljahrsichrift findet fich u. a. ein Aufjat iiber die Gründung 
des deutfchen Daufes in Chicago von 1854. 

Mittel: und Südamerifa. An Zahl find die Deutjchen in Mittel: und Siüdamerifa 
nicht herborragend. Nach den Berechnungen Dr. Winters (Die Deutichen im tropiichen 
Amerifa, Münden 1900, J. F. Lehmann) wohnen in Merifo nur etwa 1600 Deutiche, 
davon 600 in der Dauptitadt und 100 in Weracruz, in Guatemala 1000, in Nicaragua 
125, in Venezuela 1200, in Beru 1500, in Bolivien 200 u. ſ. w. Allein die Deutichen 
beherrichen in diejen Yändern einen großen Teil des Dandels, fie find am Bankweſen 
beteiligt und außerdem Blantagenbefiter. Anläßlich der Erieneriihen Wirren zwiſchen 
Venezuela und Columbien im August 1901 wurde von der Tagespreffe darauf hin— 
gewieſen, welche bedeutende deutiche Antereffen dort vorhanden find. In Venezuela bat 
die Disfonto:-&ejellichaft mit einem Aufwand von 60 bis 80 Millionen Marf eine 
Eiſenbahn von Caracas nad Palencia gebaut. Nach einem Bericht des deutichen 
Konfuls in San Chriftobal (Benezuela) beherrichen vier deutiche Dandelshäufer faſt 
den gejamten Ein» und Ausfuhrhandel und vertreten ein Napital von 12 Millionen 
Mark. Das in Venezuela angelegte deutjche Kapital wird auf 200 Millionen Marf 
veranschlagt, in Golumbien auf weit über 100 Millionen Mark. Auch in Kolumbien 
ift Die erfte und wichtigfte Eifenbahn von Deuticyen erbaut worden, es beftehen dort 
deutiche Brauereien, Glasfabrifen u. j. mw. In Merifo jollen 200, in Guatemala 75 
bis 85, in Cofta Rica 17 bis 18 und in Peru 81 Millionen Mark deutjches Kapital 
arbeiten in Dandel, Gewerbe und Pflanzungen. Winger ift der Meinung, daß die Gebiete 
im Norden des künftigen Nicaraguafanals den Vereinigten Staaten zufallen werden, jv 
dak nur die ſüdlich davon *nelegenen Yänder fich für weitere deutiche Zumwanderungen 


eigneten. 
By 


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Ueber die neuere deufiche Dichtung. 


Rüd- und Ausblice*) von 
Garl Buſſe. 


D“ deutſche Volt hat vor anderen Nationen das Cine voraus, daß es ſowohl in 
jeiner politiichen wie litterariihen Gejchichte auf zwei Glanzzeiten, zwei leuchtende 
Höhepunkte der Entwidelung zurüdichauen farm. Teuer genug ward dieſes Glück erfauft. 
"ie die Gipfel, die wir erreichten, höher find, jo find die Niederungen und Abgründe, 
die wir durchwandern mußten, tiefer und finfterer. Nein Volk ift in feiner Entwicklung 
jo oft gejtört umd zurückgeworfen worden wie das deutfche Durd Jahrhunderte hat 
uns gefehlt, was andere Nationen durd) feſteres Gebundenjein und ruhigere Entwidlung 
gleichſam jpielend erwarben: die gleichmäßige nationale allgemeine Durchbildung. Wir 
Iprechen wohl das Zeitalter der Herder und Leifing, Goethe und Schiller nad) den be- 
deutenden und umfaffenden Perjönlichkeiten, die es hervorgebrad)t, als das Zeitalter der 
Humanität und Intelligenz an, aber wir erjchreefen, wenn der Blif von den geiftigen 
Heroen herabjchmweift und die Niederungen durchforscht: fo tief liegen die Schatten darüber, 
jo ungeheuer ift der Abjtand zwifchen den führenden Geiftern und dem Volksdurchſchnitt. 
Erſt das neunzehnte Jahrhundert hat darin Wandel geichaffen; in planmäßiger Arbeit 
wurde und wird der geiltige Befit der Nation den Maffen zugänglid; gemacht. Aber es 
wird noch ein weiteres Jahrhundert dauern, ehe alles durch: Zeriplitterung und Unglück 
Bernichtete und Verſäumte wieder eingebracht und nachgeholt tft, ehe wir völlig national 
Durchgebildet find. Diefe Aufgabe mit allen Kräften zu fördern, ein immer reineres, 
'peziell deutiches Bildungsideal herauszufrnftallifieren, unier Volt dadurd; auch geiitig 
immer jtärfer zu einer wirklichen Nation zu verbinden, das ift der ſchöne Beruf, den 
die geiftigen Führer des Volks, die Yehrer und die Dichter, zu erfüllen haben. Wenn 
ſie fich dazu befennen, wenn fie diejen Zielen nacjtreben, dann wirfen fie das Band, 
das uns bindet, unlösbar feſt, dann ftählen fie die Herzen und bereiten fie für die großen 
Aufgaben, die in der Zukunft unferer warten. Auf jeder Scite lehrt die Geichichte, daR 
es immer der moraliſche Faktor ift, dev den Ausschlag giebt. Ihn in unserem Volke 
wachzuhalten und zu jtärken, ift die natürliche Aufgabe jedes Patrioten. Was kann die 
deutſche Dichtung dazu thun und was thut fie? Das ift die Frage. 

Es ift ja ohne weiteres klar, daß die politifchen und fozialen Berhältniffe des zer: 
jtücfeften und zerriffenen Deutichlands die Art und Geftaltung der Yitteratur ebenſo 
beeinflußt haben, wie umgefehrt diefe bald mehr, bald minder ftarf auf die äußeren Ver— 
hältniffe gewirkt hat. In eine Nation geftellt, die feine war; umgeben von Heinlichem 





*), Drientierende Einleitung für unjere litterariichen Vlonatsberichte. 


140 Karl Buſſe, Ueber die neuere deutiche Dichtung. 


Dader, wohin fie aud) jahen; preiögegeben der Gunſt oder Ungunjt von Duodezfürften — 
jo ftanden die deutjchen Dichter da. Nur zwei, Möglichkeiten gab es für fie: entweder 
jie paßten ji; dem Leben an und wurden Eleinlich mit ihm — aber einem unfreien und 
Eleinlichen Derzen entblüht fein freies und großes Gedicht — oder fie flüchteten ins Neid) 
der Träume, fehrten Ttch von der Welt und dem regen Yeben ab und famen zu einer 
Phantaſiekunſt. Dielen Weg gingen gezwungenermaßen fait alle befferen PBoeten. Bon 
hier aber datiert das uns immer wieder jhädigende Auseinanderfallen von Kunſt— 
und Volksidealen. Beil unjere Didytung nit aufranfen konnte an großen Thaten, 
ichloß fie die Augen und träumte. Die Ungunft der äugeren Berhältniffe trieb uns nad) 
innen, machte uns zum Wolf der „Dichter und Denker“, machte uns zu Träumern und 
Narren. Manch einer fühlte dumpf das Ungejunde des Zuſtandes. immer wieder 
tönt aus den Blättern der deutichen Dichtung der verzweifelte Schrei nad) einem 
größeren Yeben. Ob Schiller jeufzend gejteht, daß Freiheit „nur in dem Neid) der 
Träume“ ift, ob Platen in wilden Schmerz ruft: „Wie bin ic) jatt von meinem Bater- 
lande“, ob Immermann die „kalte jeelenmörderische” Zeit verflagt, ob andere nad) nur 
einem Manne aus Millionen jchreien, ob nod Storm ſelbſt in Rejignation des Dichters 
gedenft, der einjt „aus dem ofinen Schacht des Yebens“ den „Edelftein der Dichtung“ 
heben kann — es ift immer dasſelbe. Wollte man ſuchen — fein Dichter würde fid) finden, 
der nicht an der Enge und Unfreiheit gelitten, der diejen Aufichrei, in welcher Form 
aud) immer, nicht gethan. 


Zweimal ichien ſich ein reines deutſches Bildungsidenl herauskryſtalliſieren zu 
wollen. Das erjte Mal wurden alle Saaten, an denen die Hoffnung hing, durd) den 
dreigigjährigen Krieg vernichtet. Das zweite Mal ward es fat erreicht; ja, der all: 
gemeine Glaube ift jogar, dat; es vollftändig erfüllt ward. Aber ich bin nicht der erite, 
der daran zweifelt, der die Frage aufwirft, ob die Goethe und Scjiller, die jo herrlid) 
begammen, nicht noch ein tieferes deutiches Bildungs: und Dichtungsideal uns geichaffen 
hätten, wenn die Zeit ihnen emen jtärferen nationalen Rückhalt hätte geben fünnen. 
Aber ihre Zeit, aus der jie feine Straft jaugen fonnten, trieb fie ja gewaltiam in die 
Welt der reinen Formen zurüc, zurück zu den heitren, ewigklaren Göttern von Hellas. 
Die im „Götz“ Schon gegebene Yinie der Entwidlung wird jäh abgebrodyen. Was uns 
dafür geboten wird, etwa die „Iphigenie“ oder der „Taſſo“, kann nicht dafür entichädigen, 
ob untere Philologen aud) gerade das der deutichen Jugend mundgeredyt machen. Grit 
im „Fauſt“ wird die Yinie wieder aufgenommen, aber doch nur im erjten, lange zurüd: 
liegenden Teil mit dev alten Kraft. Hier find wir aud) dev Erfüllung unferer Sehnfucht 
am näcjiten. Doch es bleibt beitehen, daß gerade aus dem, was auf unjeren Schulen 
als echt klaſſiſch angeprieſen wird, ein -jpeziell deutiches Pildungsideal nicht heraus- 
deitilliert werden fann, daß in ihm Kunſt- und Bolfsideal ſich ſchon trennen, dat 
Yitteratenfunit an Stelle der Volkskunſt getreten it. Man nimmt dem großen Goethe, 
der im „Fauſt“ deutjches Weſen doch wieder am gewaltigiten eingefangen hat, wahrhaftig 
nichts, wenn man das ſtets von neuem betont. Auch er konnte nichts wider die Beit, 
die jeden Idealismus enttäujchte, die aus des Yebens unerfreulihem Drang jeden „in 
des Herzens heiligftille Räume“ zuriüctrieb. Aber jede Kunft, die nicht in fräftigen 
Yebenswinden reift, verzärtelt und wird franf wie die Treibhausblume. Bor die erite 


22 Carl Buſſe, Ueber die neuere deutſche Dichtung. 144 


Auflage jeiner Gedichte jegte Uhland ein poetiſches Vorwort, in dem die Verſe ftehen: 
„Fehlt das äußere freie Weſen / Leicht erkrankt auch das Gedicht"; ein Vorwort, in 
dem er alles Kleinliche auf die peinliche Zeit jchiebt. Nun, eine „Erkrankung“ in dieſem 
Sinne find aud) viele der jogenannten rein klaſſiſchen Werke, eine Erkrankung ſtellt die 
erite Romantik in ihrer Ausartung dar. Die Kunſt „erkrankt“, wird Bhantafie- und 
Yurusfunft, weil die äußere Freiheit, die That fehlt, auf die fie fid) ſtützen, an der fie 
id; begeiltern fan. Und immer wieder giebt es Anläufe — fie fehren das Jahrhundert 
durd) jtet$ don neuem wieder —, die das herrlich Begonnene, nicht zu Ende Geführte 
vollenden wollen; immer wieder ſchreiben neue Richtungen es in ihr Programm, daß fie 
an den jungen Goethe, den Goethe des „Götz“, des „Werthers“, des eriten „Fauſt“, an- 
fnüpfen wollen; immer wieder das klare Bewußtſein oder die dunkle Ahnung, dag nur auf 
dieſem Wege deutiches Weſen zu ſich jelbit kommen und ſich rein ausdrüden kann. 
‚immer allgemeiner wird die Erfenntnis, ob auch gerade unjere Schulen fich ihr zum 
Teil noch verichließen. 

Es iſt gejagt worden, daß die äußeren Verhältniſſe die Abirrung vom ſchon ge 
jundenen rechten Wege bedingten. Nun find die Schmerzensrufe der deutſchen Dichter 
längſt verhallt. Die Zeit der Zerriffenheit ift vorüber, groß und mächtig fteht unſer 
Deutichland da, geftillt und erfüllt ift die Sehnſucht nach dem einigen Baterlande. Und 
die Frage liegt nahe: ob denn nun das ftarfe Deutichland feine Dichter nicht ſtark 
machen muß, twie das ſchwache fie ſchwach gemadıt; ob von den gewaltigen Thaten der 
deutichen Erhebung und unferer Heldengeftalten nicht aud) die deutiche Dichtung Gewinn 
gezogen hat; ob der neu gewonnene Yebensgehalt ſich nicht aud) der deutichen Litteratur 
mitteilen und fie befähigen muß, das große Werf auszubauen, das nationale Bildungs: 
ideal zu erweitern oder feiter zu umfdjreiben, oder jedenfalls von ihm Zeugnis abzulegen? 
Und man mird meiter fragen: Bis zu weldem Grade hat unjere politiiche Ginigung 
das bewirkt? Bis zu weldyem Grade ift unfere neuere Dichtung echte Nationallitteratur? 
Was jehlt ihr noch? was ift ihr not? auf welchem Wege geht fie und auf welchen: joll 
fie gehen? 

Seit Errichtung des Reiches laſſen fich drei Phaſen innerhalb der deutichen 
Dichtung unterjcheiden. Die Pitteratur der jiebziger Jahre entſprach ganz dem Jahrzehnt, 
das fie hervorbradite: fie war materialiftiich und peſſimiſtiſch. Gründerperiode und 
stulturfampf bier — dort der große Siegeszug des Peſſimismus (Schopenhauer), der 
Iriumph der rein materialiftiihen Weltanfchauung (Büchner), die begeifterte Aufnahme 
von Griſebachs Zannhäuferliedern und Sacher-Maſochs Meffalinengeihichten, dazu 
noch Offenbachſche Muſik und die pifanten „Unſittenſtücke“, mit denen das eben befiegte 
‚sranfreicd in Berlin triumphierte. Die achtziger Nahre brachten uns den erfolgreichen 
Vorſtoß Wildenbruchs, bald darauf aber den undeutfchen Naturalismus und die ewigen 
Verbeugungen vor Zola, Doſtojewsky, Ibſen und anderen Göttern. Doch fahen fie und 
ihre Nachfolger auch, wie einige beijere Bertreter der deutichen Litteratur ſich aus 
Zturm und Drang, aus unfünftleriichem Naturaliamus langfam zu einem Fräftigen 
poetiichen Realismus emporrangen, ſahen fie auch die Schilderhebung eines Keller und 
eines Fontane. Am Schluß des Jahrhunderts wiederum fiel die deutſche Dichtung, die 
nach Ueberwindung des Naturalismus durch Niekfche unbeilvoll beeinflußt ward, in das 


142 Garl Buſſe, Ueber die neuere deutfche Dichtung. 


dem Naturalismus entgegengeſetzte Grtrem; der l'art pour l’art-Standpunft gewann 
Oberwaſſer, hohle Rorm- und Bhantafiefunft, eine Kunſt, die Futterale ohne Gehalt fabri— 
zierte, machte ſich breit; myſtiſche, ſymboliſtiſche, neuromantiſche Strömungen gingen und 
gehen daneben bin; Baudelaire, Berlaine, Maecterlind, d'Annunzio geben die Richtung an. 

Man wird nicht gerade behaupten fünnen, daß danach die Yitteratur des Kaifer 
veiches ein erirenliches Bild bietet. Nicht das iſt unerfreulich, daß uns große Dichter 
ichlen, fondern vor allem berührt jehmerzlich, daß der Geift, der ſich in den poctijchen 
Zchöpfungen fundgiebt, zum großen, ja größten Teil unfruchtbar ift. Große Dichter 
iind eine Gnade des Himmels; wenn fie fehlen, müflen wir cben warten; fie laſſen ſich 
nicht züchten. Wohl aber darf man erwarten, dak eine Nation, die zu Sich ſelbſt ae 
fommen ift, die fih als ſolche fühlt, die große Aufgaben noch bewältigen joll, auch die 
Araft hat, jedem Einzelnen, den Dichtern voran, unbejchadet aller individuellen Eigen 
ichaften ein Gemeinſames mtitzugeben, gewiffermaßen den nationalen Derzichlag. 
Vielleicht find wir als Nation, als auch äußerlich feit gebundene, noch zu jung dazu. 
Thatſache iſt und bleibt einmal, daß diefer gewiffe nationale spiritus rector unjeren 
Dichtern mehr oder minder noch fehlt. Und er fanıı nur dann fehlen, wenn ein reines 
nationales Bildimgsideal fich entweder noch nicht vollftändig und Klar herauskryſtalliſiert 
oder aber, wenn es das Volk noch nicht aleihmähig durchdrungen hat. Grit wenn diejes 
Ziel erreicht ift, werden wir wahrhaft eine uns immer und überall begleitende, nicht 
mehr unterbrochene nationale Dichtung haben. Nur eine Aufgabe giebt es jett: das 
Rolf immer ftärfer mit dem nationalen Seit zu erfüllen und nicht müde zu werden, 
bis es eben ganz und gleichmäßig davon durchdrungen tt. Wenn, die Litteratur dazu 
mithilit, jo hilft ſie ſich ſelbſt. Denn taufendfältig wird fie einst zurüderbalten, was fie 
jebt giebt 

Wie aber fann die Dichtung dazu mithelfen? Soll fie Joſef Lauff auf den Kriegs 
pfaden der Hohenzollern folgen? Zoll eine Maflenproduftion von ſchwarzweißroten 
Flotten- Sedan- und Bismardgedichten das Yand überſchwemmen? Mit einem Worte: 
joll die Dichtung Sich auf das bejchränfen oder das bevorzugen, was man gemeinhin 
„Patriotiich" nennt? Nur kurzlichtige Thorheit kann das wünschen. Nationales Gefühl 
lebt nicht am Stoffe Nein, was wir brauchen, ift eine Dichtung, die, jelbit voll ae 
under fittlicher Kraft, die fittliche Kraft der Nation jtärfen fann, daß wir mit Würde 
die Zukunft beitehen; it eine Dichtung, welche die verecundia hat fiir die große Ver— 
gangenheit, aus der wir geworden; ift eine Dichtung, welche die fpeziell uns eigen: 
tiimlichen, uns unterfcheidenden Eigenicaften rein zum Ausdruck bringt. Das und mur 
das it eine nationale Dichtung im höheren Sinne. Zie fann der üblidyen patriotiſchen 
unter Umſtänden direkt wideritreben. Der engere PBatriotismus kann eine Dichtung 
ichädigen, wie etwa der „Michael Kohlhaas“ von Kleiſt dadurch geihädigt ift. Der weitere 
Nationalismus fann die Dichtung nur heben. Zeine Wirkung ift tiefer und ftiller. 
Patriotiſch war Theodor Hörner; er entflammte die Begeisterung. Aber die eigentlich 
nationale Arbeit, das VBolf erit jo zu erziehen, dat die Begeilterung wieder Begeifterung 
werden fonnte, that der Deidelberger Kreis. In ihm, hat der Freiherr von Stein aefagt, 
hat ſich ein qut Teil des Feuers entzündet, das die Franzoſen ſpäter verzehrte. And 
worin beſtand die nationale Arbeit? Bir brauchen nur an die Grimms und an Uhland, 


Carl Buſſe, Ueber dte neuere deutſche Dichtung. 143 


an Eichendorff;und Adim vonz Arnim zu denfen, um die Antwort zu wiflen; wir brauchen 
nur vor dem Geiſte „Des Knaben Wunderhorn“, die Grimmſchen Kinder- und- Daus 
märchen, die deutichen Zagen, die Forſchungen zur deutichen Mythologie, die „Teutichen 
Volksbücher“, die volfstiimlichen Yieder Uhlands und Eichendorffs erftchen zu laſſen, 
um nicht mehr zu fragen. Nicht nur die Kunſt, der Volksgeiſt jelber, das National- 
bewußtjein verjüngte ſich an den Schätzen deuticher Vergangenheit. Die Gelehrten, die 
ſie gelammelt, die Dichter, die davon befruchtet wurden, fie haben dasielbe gethan, was 
Goethe nad) eigenem Zeugnis im „Götz“ erftrebt: fie haben „direkt an den Derzen des 
Bolfes angefragt!” Als Deutjchland ganz verloren ſchien, fand es ſich wieder in dem, 
was Gelehrte und Dichter vor ihm ausichütteten. „Die Gelundheit künftiger Tage,“ 
jagt Arnim, „grühte und ermutigte daraus das verzagte Bolf in den Tagen der Not 
und Grniedrigung.“ 

Was unſere Didytung nad) tiefem äſthetiſchem Fall einst gerettet, kann fie auch heut 
zur Gefundung führen. Nicht tief genug kann fie hineintauchen in den Aungbrumnen 
alter echter Volkskunſt — nicht um archaifierend nachzuahmen, ſondern um geltählt zu 
werden, um in dem gleichen fräftigen Geifte das zu geftalten, was unjerer Zeit Schn- 
ſucht und Ziel iſt. An dem Geift, der qläubig und kernig aus den alten Mären ſchlägt. 
jollen unjere Boeten genefen, nicht aber, wie die Butenjcheibendichter, an Wort und Reim 
fleben. Unklar drängendes Fühlen wird flar und ficher, ftolz und fröhlich, wenn man 
den Derzichlag, der in den alten Yiedern lebt, auch in fidy erfennt, wenn man fich un: 
verlierbar verbunden fühlt den reinften Ausjtrahlungen deutichen Geiftes, deutſchem 
Geiſt jelbit. Hein Gefühl, das einen ftärferen Rückhalt giebt; Feines aud), das eigenes 
Schaffen mehr hebt und fördert. 

Wenn die Augen dann hineinjehen in die Gegenwart und ihren großen Yitteratur- 
marft, mag wohl ein dreimal heiliger Zorn das Herz erfüllen. Die Händler und Gaufler 
find wieder in die Tempel gedrungen; das verruchte Evangelium der Zmedlofigkeit der 
Stunit, das Fart pour l’art- Dogma wird an allen Altären gepredigt, und ein zwedlojes 
Kunſtſtück ift allerdings audı das Meifte, was dargeboten wird. Nicht mehr Brot des 
Lebens giebt und ift die Dichtung, jondern beiten Falles ein buntes Gaufelipiel der 
Phantaſie, Schaumbrot, das nicht nährt, ein Yırrusartifel, bei dem die Form alles üt. 
Und man muß fid) noch freuen, wenn Frechheit und Pirfternbeit, die als „geiunde Sinn— 
lichkeit“ angeiprochen fein möchten, nicht Haſchen ſpielen. So wenigſtens ſieht der größte 
Zeil der modernen Didytung aus, die Dichtung des Nachwuchſes. Vor zehn jahren 
haben die Zwangzigjährigen naturaliftiich geichrieben und formlos; die heutigen Zwanzig: 
jährigen, diejenigen, die doch auch einjt am Ruder ſtehen follen, erſticken im Formkunſt 
ſtück, geben ſich in Phantafieflügen aus. Ahr Schaffen entbehrt jeder Notwendigkeit, 
jedes inneren Gehalts. Gerade was die Jugend ſonſt ziert, das friiche, ſtarke, ja 
ſtürmiſche Gefühl, das ſich Bahn bricht, jehlt, joweit man fehen fann, der nachwachienden 
Generation. 

Da iſt es doppelt notwendig, die Wachtpoſten zu beziehen. Immer wieder und 
wieder muß man die Stimme erheben und zu den Irrenden reden; muß ihnen ſagen, 
dag am Ende des Weges, auf dem fie dahingehen, nicht nur der künſtleriſche, ſondern 
auch der fittlide Ruin ſteht; dat die Kunft, der fie nachjagen, die Kunſt, die nichts fein 


144 Carl Buſſe, Ueber die neuere deutfche Dichtung. 


joll als Kunſt, ih in eine reißende Wölfin vennvandelt und jedes Vollgefühl, alles 
Menichlichnatürliche zeririkt; daß jede Kunſt degeneriert, die nicht erfüllt ift von einer 
jittlichen ‚idee, heiße ſie Gott, Baterland, Freiheit, Yiebe. Erſt dieſe fittliche dee — 
ich) verftehe jedes Vollgefühl, jede echte Begeisterung darunter — giebt der Kunſt wirkende 
siraft, Die notwendige Schwere, die ſie hält und ohne welche fie — eine leere Hülſe — 
dem Spiel der Winde fteuerlos preisgegeben ift und bald fpurlos verweht. Predigt Die 
Geſchichte nicht laut genug für alle, die hören wollen? Sind nicht außer den ungezäblten, 
die fein Buch mehr nennt, aud) Talente erjten Ranges von der ungezügelten Wölfin 
Kunſt gehetzt, zerfrefien, dem Untergange entgegengetrieben worden? ft nicht jelbft ein 
Kleiſt von ihr bis zur Erichöpfung gejagt und getötet worden, von ihr, die all jeine 
Kraft, all jeinen Glauben, all jein Denken und Fühlen jo ausichlieglich abjorbierte, daß 
nichts mehr für andere Bethätigungen und für kräftige Yebensführung übrig blieb, daß 
ichlieglicd) das Yeben jelbit ihm zerrann und der Piſtolenſchuß das”Ende jein mußte? 
Sprit der Aufichrei, den Yenau that, bevor ihn der Wahnſinn padte, nicht ganze Bände, 
der Aufichrei: „ch muß jterben, Strafe muß fommen. Ich habe das Zittengefeg nicht 
heilig geachtet, das Talent ſtand mir viel höher, und das Zittengefet ift doch das 
Höchſte“ — 7 ſpricht dieſer Aufichrei, frage ich, nicht Bände? Und ift es nicht das- 
jelbe, wenn Debbel am 19. Mürz 1842 in jein Tagebuch jchreibt: „ich habe das Talent 
auf SKoften des Menſchen genährt, und was in meinen Dramen als aufflammende 
Leidenschaft Yeben und Geitalt erzeugt, das ift in meinem wirklichen Yeben ein böfes, 
unbeilgebärendes Feuer, das mid) jelbit und meine Yiebften und Teueriten verzehrt" —? 
Muß denn die große Yehrmeifterin, die Gejchichte, immer tauben Ohren predigen? Die 
Kunſt, die nicht geftüßt wird durd) eine große dee, ift einem Lichte vergleichbar, das 
ohne feiten Halt jchnell zerrinnt und verichtwelt, während es auf ficherem Stande, auf 
dem Leuchter, der es trägt, rein, rubig und lange brennt. Jede große dee giebt den ficheren 
Standpunkt des Geiftes, die Gefühlseinheit, die allein wirken fann. Das aber ift das 
Schreckliche, daß die meiften unferer jungen Dichter ihre Not zur Tugend maden, dak 
ſie erklären, die Kunſt jolle garnicht wirken, dat fie für eine Dand voll gleichgefinnter Ar- 
tijten fchreiben, nicht für die Nation! Sie ahnen nicht, wie fie damit ihrer jelbit jpotten, 
wie fie die Kunſt und ſich jelbjt degradieren, wie fte ihr und fih das Höchſte nehmen: 
die große priefterlihe Aufgabe, das Fühlen des Volkes zu beeinfluffen und reiner zu 
jtimmen. Und wenn das GErziehen und das Durchläutern der Volksſeele, nicht durch 
Moralpauferei, jondern durdy lebendige Geftaltung, nicht mehr Aufgabe und Beruf des 
Didjters jein joll, dann ftellt er fi mit dem Seiltänzer auf eine Stufe, dann iſt er nur 
ein geiltiger Boltigeur, dem niemand eine Thräne nachweinen wird. 


Wir fünnen die Boeten, die wir eriehnen, nicht aus den Boden ftampfen, wir 
fünnen die Geiltesrichtung einer Generation beklagen, aber nidyt von heut auf morgen 
ändern. Was mir aber fünnen und müffen: die Waffen blank halten, nicht erlahmen im 
Kampf gegen den unfruchtbaren Pügengeift, gegen die Hohlheit und Marklofigkeit, die 
alle jich in unjerer modernen Dichtung breit machen. Auf den Binnen gilt es nach wie 
vor zu Stehen; die echten Propheten, die Jonntägliche Deiligung unjeren Derzen vermitteln 
fünnen, durch unjere jubelnden Zurufe zu ermuntern und zu fräftigen; die falfchen Pro— 
pheten immer wieder mit allen Waffen des Geiftes zu jchlagen, daß die Entnervung nicht 


Garl Buſſe, Ueber die neuere deutiche Dichtung. 145 


übergreift auf unjer Volk und unjere Zukunft bedroht. So fann jeder helfen, jo ift 
auch der nicht Schaffende berufen, mitzuarbeiten an der geiftigen Wohlfahrt der Nation 
So übt man produktive Kritif! Nicht alle Keime, die fich zeigen, nicht alle Saaten, die 
aufgehen wollen, find ja taub. Kräftig greift hier und da auch gefunder Geift in die 
Dihtung ein. Der Ruf nad) der fogenannten Heimatsfunft, ob der Begriff auch allzu 
eng ift für das poetiihe Schaffen einer großen Nation, ſpricht chen von einem Sich: 
beiinnen auf das, was uns not thut, ift Schon ein Anfang, der gute Frucht verheißt. 
Und wenn die Beſten des Volkes in Flarer Erkenntnis ihrer Pilichten und ſteter Arbeit 
zujanmenftehen, wenn fie ihrem Ziel treu bleiben und in herzlicher Mühe das fittliche 
und nationale Gefühl des Bolfes, in das Gott fie geftellt, zu ftärfen verſuchen, daß es 
befähigt wird, die Aufgaben der Zukunft zu löfen, wenn zu der äußeren auch eine immer 
itärfer werdende innere Bindung der Nation tritt, dann wird auch der Erfolg nicht 
jehlen. „Um große Flammen geht ein großer Zug mit zu verlodern.” Bon dem großen 
Zug wird auch die Dichtung ergriffen werden. Felt auf dem heiligen Boden des Pater: 
landes ftehend, ihrer höchſten Aufgabe eingedent, werden die Dichter wie einft ihr Volk 
begleiten, die Derzen mit Kraft und Glauben erfüllen, hohe Ziele abſtecken und darüber 
hinaus auch weiter in deutichen Seelen das tiefe „Zonntagsheimmweh“ erwecken, das über 
Welt und Leben zu ewigen Höhen führt. 

Wir haben aucd, jett ſolche Dichter, die mit heiliger Yiebe ihr großes Baterland 
umfaſſen und immer wieder darüber hinaus auf Schwingen der Sehniudjt ein größeres 
ſuchen. Und wie könnt’ ich bejier ichliegen als mit einem Worte, das der gejagt hat, 
der zu unferen Größten gehört, als mit einem Worte unjeres alten herrlichen Wilhelm 
Raabe? ES Steht in feinem berühmteften, ob auch nicht beften Buche, in der „Ehronif 
der Sperlingsgaffe*; es jollte ein Weifer jein auf allen Wegen, die unjere Dichter 
gehen; e3 lautet: 

„O Ahr Dichter und Schriftſteller Deutjchlands, jagt und ſchreibt nichts, Euer 
Bolk zu entmutigen, wie e8 leider von Eud), die Ihr die ftolzeften Namen in Poeſie und 
Riffenihaften führt, jo oft geichieht! Scheltet, fpottet, geikelt, aber hütet Euch, jene 
ſchwächliche Refignation, von welcher der nächſte Schritt zur Gleichgültigkeit führt, zu 
befördern oder gar fie hervorrufen zu wollen. .... hr habt die Gewohnheit, Ahr 
Prediger und VBormünder des Volks, den Wegziehenden einen Bibelvers in das Gejang- 
buch des Heimatsdorfs zu Ichreiben; jchreibt: 

Vergeſſe ich Dein, Deutfchland, großes Vaterland: 
jo werde meiner Rechten vergeffen!‘ 


Der Sprud) in aller Derzen, und — das Vaterland iſt ewig!” 


10 






EHEN: we 


EHER 





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Vom deutichen Theater. 


1. 
Einleitender Artikel für die regelmägigen Monatsberichte über unfere Bülme. 


Von 


Max Marteriteig. 


D“ in deutjchen BZeitichriften üblichen Nahresrüdblide neigen gemeinhin einer doppelten 
Sefabr zu: fie verfallen einmal leicht in den Fehler, einen foldyen Ridbli mit 
einer faufmännifchen Inventur zu verwechieln und nad der Summtierung der eingeftellten 
Poften eine Bermögensüberficht bekannt zu geben, die dann, mit irgend einem vorgefaßten 
ehemaligen Zuſtand des deutichen Theaters verglichen, leicht zu jeder Art Peſſimismus 
verleitet, — oder fie fuchen ungeduldig in dem gerade Geleifteten Symptome zu entdeden, 
die eine Entwicklung der dramatiſchen Kunftform im Sinne einer rafch ſich vollziehenden 
Ummandlung aller Werte zu bejtätigen jcheinen. Beides „it ein Brauch, wovon der 
Bruch mehr ehrt als die Befolgung*. 

Ein Generalglaubensbefenntnis über den AZuftand und die Aufgabe des deutjchen 
Theaters abzulegen, hätte man immer auf mindeitens hundert Jahre zurüczubliden, und 
wenn der mehr als nützlich ſchwankende Begriff eines „Nationaltheaterd” gar den Maß— 
ftab abgeben ſoll, genügt felbjt diefe Spanne nicht. Man hätte dann zu fragen: wo, bei weldyen 
Bölfern, unter welchen außerordentlichen Umftänden bejonderer Gunft und für melde 
Beiträume jolche „Nationaltheater“ denn wirklich beftanden haben? Eine gemifienhafte 
Antwort würde lehren, daß man große Epochen der dramatifchen Kunſt jo wenig züchten 
kann wie folche religiöfer und fittlicher Produktivität, die den Glangperioden des 
Theaters, die wir fennen, erft vorausgehen mußten. Aber wir neigen zu gem dahin, 
den aus den Perſerſchlachten fiegreich heimfehrenden Griechen, den Spaniern im 
jechzehnten Jahrhundert, die romantifches Rittertum, Patriotismus und Katholizismus, 
zu untrennbarer Einheit verichmolgen, befeelte, oder den Bewohnern Londons unter dem 
glüdlichen Szepter der Elifabeth, denen die geſamte Ernte der großen europäiichen 
Sulturarbeit der Renaiffance in den Schoß fiel, uns gleichauftellen. Da meinen wir denn, 
alles gute Necht auch auf einen Aeſchylos, einen Galderon, einen Shafeipeare und ihre 
Theater zu haben. Da klagt dann der Peſſimiſt, dab dieſes Recht infolge diefer und 
jener Tücke uns nicht erfüllt wird — und der Dptimift eriwartet, aus jedem unter dem 
üblichen Geichrei gelegten Ei den erfehnten Phönix ausfliegen zu jehen, und begrüßt jedes 
bloße Verſprechen als einen „Wendepunft“. 

Das aber ift der befondere Irrtum unferer Zeit: das deutfche Theater erlebt fo 
viele Wendepunfte, dak es einen feiten, fein Gedeihen ftükenden Punkt nie finden kann. 
Wer nur oberflächlich zurückzählt, kann im letten Vierteljahrhundert ungefähr fünfund- 
zwanzig „Wendepunfte” feſtſtellen: allein einige ſechs bis zehn Stile des Dramas und 
ein Dupend etwa folder der Schaufpielfunft find in diefem Beitraum neu entdedt worden. 

Leider giebt es aber im geiftigen umd im Eünftlerifchen Leben der Völker nur 


Mar Marterfteig, Vom deutſchen Theater. 147 


ſehr jelten einen Glüdsfall, und noch jeltener wird Der zum Wendepunft. Nur 
vom Theater zu reden: Goethe war ein Glücksfall, — ein unerhört glüdlicher Zufall 
ohne Folgen, meinte Nietzſche — der größte, jegensreichite, den wir je erfahren durften; 
Stleift und Hebbel waren ähnliche, aber Wendepunfte unjerer Theaterfultur jind 
von ihrem Ericheinen nicht zu datieren. Noch weniger, will mir jcheinen, geht es ferner an, 
bei dem ganz bemerfenswerten Mangel eines feiten Wollend unjerer heutigen Drama— 
tifer, — ſofern fie ſich nicht überhaupt ganz ehrlich als Fortſetzer der alten Theater: 
firmen: Kotzebue, Raupach, Birch- Pfeiffer, Benedir, Mojer © tutti quanti etabliert haben 
— die jamt und jonders nach dem Stein der Weijen inbrünftig beten, aus ihren taftenden 
Fehlverſuchen die Hoffnung einer baldigen neuen Aera des Theaters abzuleiten. 


Wer unter den Größen des Tages berechtigt eigentlich dazu? Es giebt Leute, die 
jeit langem auf Sudermann das verehrungsbedürftige Auge richten. Und der Seftalter 
der jo beionders modernen Magda, die auf allen Brettern Europas als die jenjeit3 von 
Gut und Böje lebende Primadonna das deal judermänniicher Menjchheit verkörpert, 
möchte fich ja offenbar nicht geringer eingejchäßt jehen. Das ging aus jeiner erichredenden 
ex Heinze-Rede hervor, die mit erftaunlicher Schneidigfeit alle dramatiiche Yeiftung 
des vorigen Nahrhunderts zum alten, raſſelnden Eijen verwarf. Mehr goethiich als 
guethebündijch betrachtet, ericheint e$ aber doc) noch jehr fraglich, ob die Gejchichte dieie 
Selbfteinihäkung beftätigen wird. Fraglich, ob der Grfinder der wundervollen 
Weßkalnene im „Rohannisfeuer“, dem legten Werfe des Meifters, überhaupt ins goldene 
Auch der deutichen Dichtung gehört. in dem der Theatergeichichte wird man ihn finden, 
ganz zuverläffig! Und mit einem großen Stern, wie im Büdefer, summa cum laude: 
erste Zenfur! Man kann das, wenn man gerecht wägt, bedauern, denn Sudermann hat 
erfichtlich ein viel weiter reichendes Vermögen dem Moloch des Tageserfolges hingeopfert; 
feines feiner Theaterftücfe geht die Bahnen mwahrhaftiger Konſequenz, auf denen dem 
Dichter in einigen feiner früheren Erzählungen zu begegnen auch jeinem Gegner Freude 
bereiten muß. Nun hat er mit dem ‚„Johannisfeuer“ die Erfahrung gemacht, daß man 
nicht ungejtraft nach bicchpfeifferiichem Yorbeer langt, denn als der Theatralifer auf den 
Dramatifer fi befinnen wollte, — im lebten Akt — verjagte der gewohnte Erfolg; 
damit aber war das ganze Stüd, trotz der ſommerſchwülen Yiebesjcene, um deren twillen 
ed, wie jedes Sudermannſche Stüd, geichrieben ift, verthanes Spiel. Und doc iſt viel- 
feicht diefer lebte Akt das ehrlichite Stücd Arbeit, das er der Bühne je gebracht hat; 
freilih enthüllt er aud) des Dichters wahre Meinung über jeruelle Sittlichfeit mit einer 
Tapferkeit, die ihm Verderben bringen mußte: dab „ſündhafte“ Yiebe frei ausgehen 
dürfe, ohne dat man erfährt, ob fie ſich Strafe oder Erlöjung jelbit ermwirfen werde, 
hört man in unjeren Theatern der quten Gejellichaft nicht gern. 

Mit diefer Hinneigung zu einem problematischen Schluß im Stile Ibſens erinnerte 
Subdermann, der jonft jo Hug Erfahrene, an die vielen ehrlich Unbeholfenen, die nadı 
dem großen Halbverjtandenen binjchielen, der jegt da oben in Ghriftiania jo merkwürdig 
reflamelos der dunfelen Pforte des Todes entgegenichreitet. Der hatte das Recht, die 
Wahrheit jagen zu dürfen, — darum aber bringt erö und brachte er e8 nie auf die viel: 
begehrten hundert Aufführungen in einer Saijon, die gegenwärtig „aller Weisheit letter 
Schluß” ımferer Theaterkultur au bedeuten fcheinen. 

10* 


148 Dar Marteriteig, Bon deutichen Tbenter, 


Von einem gerade in diefen Tagen Bielgenannten, von Wilhelm Raabe, wird er: 
zählt, daR er feit zwanzig Nahren dem Theater fern geblieben und auch nie einer An- 
wandfung unterlegen jei, um Melpomenes oder Thaliens billige Kränze zu werben. 
Aber find die von echtem Edellaub in der That fo billig? Warum reisten fie dann Ibſen, 
den ftärfiten Verächter alles Berächtlichen, den Argos jeder Thorheit, die Lebensprobleme, 
mit denen feine Seele rang, durdaus nur in der Form der ſzeniſchen Dichtung zu 
löfen? Dieje Form muß ihn doch „aeheimmisvoll entzückt“ haben und in ihrer Fähigkeit, 
das „Beilterzeugte feit zu bewahren“ ihm ein mächtigiter Sporn geweſen fein. Und ficher 
bleibt ihr auch trog Allem und Allem der erſte Rang unter den Klunftformen, — vor: 
ausgejeßt eben nur, daß wirklich der Dramatiker, wie Goethe von Shafefpeare jagt, 
„zum Ieltgeift ſich gejellt, die Welt durchdringt wie jener“ und — daß man noch in 
unfere Schaufpielhäuier ginge, von dieſen hohen Derren, ftatt von Faijeuren und Zauber: 
lehrlingen unterhalten zu werden. 

Als jold; ein Zauberlehrling enthüllt fi) immer mehr aud; Gerhart Hauptmann. 
Aber nicht nur in zwei Teile hat ſich ihm der heraufbeichworene Weltgeift geipalten: 
eine unheimliche Vielteilung ift im Yauf der Jahre eingetreten. An der Dauptmann- 
Yitteratur ſelbſt herricht die größte Verwirrung darüber, welche Offenbarung nun eigentlid) 
die gültige it. Die „Verſunkene Glocke“ jollte es eine Zeit lang fein; fie hatte fogar 
einen großen Teil der früheren Widerfacher zu dem Dichter hinüber geläutet. Dem 
Ringelreihenſchweſtertanz von etwas pervers angehaudter Sinnlichkeit, Myſtik und Er: 
löſungshyſterie fonnten nur wenige poefteempfänglide Gemüter fern bleiben. Aber 
dann kam dod) wieder der „Fuhrmann Henſchel“ mit feiner ſchlimmen Hanne! Wieder 
ein Höhepunkt, — und zwiichen ihm und dem der „Berjunfenen“ allerdings wieder ein 
Weltraum. Das aber gerade pries mar aufs höchſte; denn nun fonnte jeder im Schatten 
Gerhart Hauptmann fich nach Belieben feine Hütte zur Aus: und Einſicht in die Welt 
bauen. Wem Nidelmann und Rautendelein zu glitichig-ichlüpferig waren, modhte fich 
dem ehernen Schickſal, das den fchlefiichen Yohnfuticher zum Range des König Dedipus 
erhob, in erfcehauernder Ehrfurcht beugen! 

Dabei hätte Hauptmann es nun bewenden laſſen jollen; er fing jett wirflih an, 
feine Gönner zu berwirren und das Berliner „Deutiche Theater“, das von ihm die Jahres— 
parole zu beziehen fi) gewöhnt hatte, erntlicdy zu gefährden. Gewiß Fünnen fi ein 
moderner Dichter und ein modernes Theater nicht auf die Einſeitigkeit einer gefchloffenen 
Weltanſchauung verpflichten; Antereffen der Kaffe und der Tantiemen verbieten das 
geradezu, — aber dann muß man ſich überbieten und nicht unterbieten. „Schlud und 
Jau“ war, wie erzählt wurde, eine von Dichter leicht verfchmerzte Niete. Aber „Michael 
Kramer“ ....? Faſt fo fehr wie die Florian Geyer-Kataſtrophe ſoll ihn der Abfall 
geichmerzt haben. Und wenn Dem fo wäre, jo jollte man daraus eine Hoffnung jchöpfen 
und der Dichter eine Einficht. Er follte aus dem Schaden lernen, was er in der Per: 
mwöhnung der Erfolge nicht lernen wollte: daß es auf die Dauer mit den dramatischen 
Aeußerungen zufälliger Stimmungen nit geht. Daß eine Empfindung erft feite 
poetiiche Geftalt erlangen muß, — und daß auf dem Theater eine wohlproportionierte 
Dummheit immer noch mehr Glück macht als die formlofe Zufammenhäufung mühfam 
fopierter „documents humains“ einer frühen perlönfichen Erinnernng; daß ber 


Mar Marteriteig, Bom beutfchen Theater. 149 


Dichter arbeiten, bilden und durdbilden muß: Handlung und Menjchen. Denn der 
„Michael Kramer“ ift — von anderen Bedenken ganz zu fchmeigen — denn doch mit 
betrübender KRunftlofigfeit gearbeitet. 

Das Wirken der ftarfen Dramatiker von Schiller an, das Kleifts, Hebbels, Anzen— 
grubers, Ibſens, umschließt bei jedem Einzelnen, nicht minder als bei Hauptmann, die 
heterogenften Vorwürfe und Probleme; aber Alles an Allem vergleichend, wird man dod) 
bei jedem diejer Dichter ein ſcharf umriffenes Bild der Welt, wie es jein Mikrofosmus 
ihm enthüllte, nicht verfennen fünnen. Wer bei Hauptmann diejes Weltbild fonftruieren 
will, fteht vor einer Berieraufgabe wie bei einem chinefiichen Geduldipiel. Aber es iſt 
bezeichnend, daß die deutiche Bühne jo lange in Bewegung gehalten werden konnte bon 
diefem zarten, für alles Kleine und Feine individuellfter Regungen, aber aud) für alles 
Scrullenhafte in den Nebengäßchen des Gefühls mit finnigem Blick ausgerüfteten 
dichteriichen Träumer, — dem leider Eines verjagt blieb: einmal das wahre Antlik der 
Welt in feiner Seele Spiegel heraufbeihtwören zu können, ihm fejt ins Auge zu bliden 
und, von diejem Blick gebannt, doc) auch zur tiefften Ueberzeugung durd) ihn gemerkt, nun 
diejer Erkenntnis Kraft den Hammer werden zu lajfen, der jeine Gebilde jchmiedet. 

Auf diefen Dramatifer wartet jegt wieder das Deutſche Theater. 

Einftweilen, und weil die großen Schlager ausblieben, behalf es ſich, wie es fid) 
immer beholfen hat und behelfen wird. Nur eigenfinnige Hefthetifer wollen nicht zugeben, 
mit wie wenig Dichtung es ausfommen fann! Zur Not thut einmal ein Jahr hindurd) 
auch „Yumpaci:Bagabundus“ feine Schuldigkeit, oder es giebt einen „Brobefandidaten* und 
einen auf dejien Schultern zu noch höheren Sphären der Gunjt ſich hinaufredenden 
„Flachsmann als Erzieher“. Der geiinnungsflammende Flemming des Hamburgers Otto 
Ernſt hatte in diefem Jahre mit dem unglüdlichen Yeutnant im „Roſenmontag“ von Otto 
Erich Dartleben un die Meijterichaft zu ringen und noch ift dev Preis nicht verteilt; fie 
werden in der neuen Saiſon ſich wieder ſtellen müſſen. Mean konnte fic) gar zu ernjthaft 
mit ihnen überhaupt nicht bejchäftigen, weil gleichzeitig die wirkliche neue Aera des 
zwangzigiten Jahrhunderts heraufzog. Wieder läuteten einmal ſämtliche große und Kleine 
Klüngelgloden zur feierlihen Anthroniation des „Ueberbrettls" als des zukünftigen 
Ratiovnaltheaters der Deutichen! 

ALS Ernit Freiherr von Wolzogen jein „Iheater zum vajenden Jüngling“ — wie 
es uriprünglic heißen jollte — erfonnen hatte, durite er lange Zeit vergeblich in den 
PBrivatbiireaus Eunftfördernder Bankier und bei den Direktoren der Yinden:Baläfte 
antichambrieren, um jeinem Kinde ein Heim zu finden. Denn es jollte eines jein im vor: 
nehmiten Berlin, wo fid) in jpäter Abenditunde die Antelleftuellen der Hauptitadt, die 
der Devije „L’art pour Fart“ Zugeſchworenen in behaglichem, nicht au die Trivialität 
der jonftigen Theater- und Konzertſäle erinnerndem Milien zuſammenfinden fonnten. 
Dem mit unferen beften litterariichen Traditionen eng verwachſenen Sproſſen eines alten 
Geſchlechts lag es ficher fern, ettwa die (hat-noir oder font eines der Barifer Cabarets 
vom Montmartre nad Berlin zu verpflanzen. Nicht Ariftide Bruant, der fünftlerüche 
Schukpatron der Dirnen und AZuhälter, war jein Vorbild, — höchſtens dod) ein Rudolphe 
Salis: wie diefer die Jules Jouy, Fragerolles, MacNab, Goudeau, die Humoriften 
Gourteline und Allais um jich veriammelte, jo dachte Wolgogen aus dem Schwarm 


150 Mar Dlarterfteig, Bom deutfchen Theater. 


unjerer jüngftdeutichen Lyriker fich jeine Helfer zu refrutieren. Ein Zufall endlich, eine 
raſch zufammengebradjte Improviſation der neuen Kunſt, die nod) dazu ziemlich blamabel 
ausftel, die aber unter Schu und Schirm des Goethe-Bundes bei einem Philharmonie: 
tefte fich zeigen durfte, brachte die Sache endlid in Fluß. Das neue Genre wurde 
„gegründet“ — aber nicht in das erhoffte vornehme Yofal unter den Linden zog es ein, 
jondern in die wenig traulichen Räume des Aleranderplap- Theaters, die für die Platz 
machende Egzejftonsbühne „zeitgemäß“ ausftaffiert waren. Der Gedanfe, ein litterarijch- 
artiftiiches Deſſert für Feinſchmecker zu fervieren, dankte zu guniten des verheißungs— 
vollen Borhabens ab, mit jchnell zufammengerafften Vorräten mın allabendliche Haupt- 
mahlzeiten der neuen Kunſt zu gediegener Eättigung für Monsieur Tout-le-Monde zu 
veranftalten. 

Das gelang über alles Erwarten! Und der populäre Grfolg belehrte Herrn 
von Wolzogen erft über die Tragweite jeiner Reform. Abend für Abend ausverfaufte 
Häuſer ... und ehe noch drei Wochen ins Land gingen, fangen die Babies auf den ge: 
ichorenen NRajenpläten der Thiergarten:Billen: „Ringelvingelrofenfranz, id tanz mit 
meiner Frau“ und „Blatichepitih Spagatelregen— Schofolad auf allen Wegen“ ... 

Der Kultur Pinholog zieht die Stirn in krauſe Falten: Was bedeutet das? 
Woher diefer Umſchwung des Geſchmackes? Wie fommts, daß nun allabendlih am 
Alexanderplatz Profeifor, Geheimerat, Börſenmakler, Schneider, Handſchuhmacher und 
Stadtreifender, das Nonfektioneuschen neben der Geheimen ommerzienrätin denfelben 
prieelnden Trunk jchlürfen? — Was fonft etwa nod) dort zuſammenkommt, das, wie in 
der Rolfsichlucht, fieht ein Geſcheiter nicht! — Es iſt mit den Stirnefalten nicht gethan; 
es muß Kar und rund herausgejagt werden, worin Wolzogens Erfolg und jein un: 
beitreitbares Verdienst befteht: er hat einer allergrößten Mehrheit unjeres kunftbedürftigen 
Tublifums das böje Gewiſſen abgenommen. Gr hat eine unausrottbare Neigung, die 
die Gebildeten ſonſt ſchamhaft verjteeften und der te verborgen nur nadıgaben, mit dem 
Nimbus litterariicher und fünftleriiher Ehrlichkeit umfleidet. Unter fi) waren dieje 
veute aller Art Geſellſchaft längſt darüber einig, daß cs im Wintergarten, Apollo: und 
Metropol-Theater im Grunde doc) viel vergnüglicher jet als im Deutichen oder im Leſſing— 
Theater. In dieſe geht man doch eigentlich nur zu Premieren — das ijt eine Per: 
pflichtung, damit man mitreden kann, — dorthin aber geht man, wenn man fich wirklid) 
erholen und vergnügen will. Der in Berlin Kundige weil es gut jeit vielen Jahren, 
daß er des Abends im Wintergarten weit mehr Chance hat, Yeute aus der Yitteratur, 
Wiſſenſchaft, Kunſt, von der Börſe und namentlich ſolche unjerer Nobility anzutreffen — 
wenigstens jolche männlichen Geſchlechtes — als etwa im Nöniglihen Schauſpielhauſe, 
wohin allenfells die Frauen und höheren Tüchter abgejchoben werden. Das iſt nun, 
Dank Herrn von ".olzogen, anders geworden: der Familienzuſammenhalt beim Kunſt— 
genießen ift wieder hergejtellt und man braud)t, Bott jei Dank, nicht mehr zu erichreiden, 
wenn man andern Tags bei der Deſſerteigarre ummillfürlic; das Couplet vom legten 
Abend vor ſich hinſummt. 

So betraditet, darf man das Meberbrettl in der That als ein Symptom der Ge- 
ſundung begrüßen; — nur dat es cben, wie alle Moden, nicht von langer Dauer fein, 
‘eine Miffton nit zu Ende führen wird! Das Geſtändnis, das es dem Publikum 


Mar Marterfteig, Bom bdeutfchen Theater. 151 


entlockt, das gute Gewiſſen, das es geichaffen hat, werden leider die Genefung von der 
hronifhen Kulturfranfheit, die fich in der Art unferes modernen Theaterbefuchs verrät, 
nicht verbürgen. Sonft wäre die dramatifche Kunſt nur zu beglücdwünjchen! Sie würde, 
bon der Gunft der Kunſtnäſcher im Stich gelaffen, ſich darauf befinnen müfjen und 
fönnen, daß fie im tragischen wie im komischen Fache der Konzentration auf immer ernit: 
bafte Probleme nicht entraten darf, daR fie nie anders als mit dem Aufgebot des heilig: 
iten Ernſtes vor das Volk treten joll. Das Theater könnte dann den großen aber jeltenen 
Gelegenheiten vorbehalten bleiben, wo ein Dichter das Beſte und Neiffte feines inneren 
Schauens der Volkheit offenbarte, wo die Schaufpieltunft ſtets Kraftproben eines nur 
auserwählten Könnens darböte und das Publikum zu einer weihevollen Feier ſich ver: 
jammelte, die jeines bürgerlichen, dev nationalen Arbeit gewidmeten Jahres Felt: und 
Ehrentag bedeutete. So, wie es im Aufchnitt jegiger Civilifation ift, ein Geſchäft, ein 
Handwerk, eine täglid an fünfundzwanzig Orten der Großftadt gebotene Zerftreuung, 
zeitigt e8 fünfundzwanzig mal an jedem Tage eine Unwürdigkeit — und eine Profti: 
tution der unjerem Volke eingeborenen Fünftleriichen Kraft. Nichts anderes ift es, wenn 
die ernften Großthaten der Dichter täglich por einem müden, aufnahmeunfähigen, eben 
in Haft feinen Tagesgejchäften entlaufenen Publikum mit ungulänglihen Mitteln umd 
ohne jede Art von Weihe auf den Markt geftellt werden, oder wenn in raftlofer Hetzjagd 
die Kunſtſpekulanten täglich jo und jo viele verlogene, mit heuchleriicher Dutendntoral 
aufgepugte Zerrbilder des Lebens auf den entweihten Brettern uns vorgaufeln. 

Darum ſage ih: Das Ueberbrettl hat uns vom schlechten Gewiffen befreit. Seine 
in einen Portionen, pifant und ſchmackhaft zubereitete, abwechslungsreiche, leichte Koſt 
it uns, wie wir im Zuſchnitt des modernen Lebens gemeinhin einmal fein müffen, ge 
jundere Koſt als die einer wirklichen großen Kunſt, wenn dieſe in unanftändiger Eile, nur 
um des lieben quten Tones willen, hinuntergejchlungen wird. Wie dem ungeduldig fie 
Ertroßenden wird auch dem wahllos fie Schlingenden die goldene Himmelsfrucht der 
Kunſt leicht — „jaure Speiſe“ . . . . Aber das Meberbrettl ift ja gewiß nur eine Mode. 
Dafür jorgt ſchon die unheimlid; emporwucernde Nachkommenſchaft. Ich will der Ziffer 
nicht nachſpüren der jett ſchon beitehenden und für die bevorjtehende Spielzeit unter: 
nommenen QTingeltangel diejed Genres, — e8 iſt dazu Zeit, wenn die Lite der zu er: 
wartenden Banferott3 erſchreckend anwächſt. 

Eine wirklich geift: und geichmadfvolle Ausbildung fand die Ueberbrettl-Idee an 
den von Schauspielern des Deutichen Theaters veranftalteten Abenden, die fie „Schall 
und Rauch“ nannten; mit £öftlicher Yaune wurde da eine Selbitironifierung des theatra- 
lichen Artiftentums einem geladenen Publikum dargeboten. Nun haben auch dieie 
[uftigen Yibertins zu geichäftlicher, vegelmäkiger Ausbeutung diejes Genres fich „ge: 
gründet* — und die Belorgnis ift nicht abzuweiſen, daR damit das qute Gewiſſen und 
der qute Geſchmack auch diejes heiteven Spieles verpöbelt wird. 


E* 


GCEWEEWEELEEELELE Technik. WLELE LEE ELF 1515 1515 


Ueber die künftige Entwicklung der Eisenbahnen. 


ei allen Berkehrsarten iſt man bejtrebt, die Verkehrsgeſchwindigkeit ſo weit zu 

fteigern, als es die Wirtichaftlichfeit des benusten Syſtems einerjeitS und die jeweilige 
technijche Ausbildung desjelben andererjeitS zuläßt, wobei die Wahrung der Betriebs: 
fiherheit natürlich ſtets oberjter Grundjat bleibt. Dabei ift vorausgejegt, daß Die 
Erhöhung der Verkehrsgeſchwindigkeit einem allgemeinen Bedürfnis danach ent- 
gegenfommt. 

Betradhtet man num unjer heutige Eiſenbahnweſen, jo tritt bier die Forderung 
höherer Fahrgeihmwindigfeiten mit jedem Jahre mehr hervor und zwar um jo dringender, 
je weiter die einzelnen Züge durchgehen, je länger aljo der ununterbrodene Aufenthalt 
des Reijenden in einem Zuge it, je mehr der Berfehr ein internationaler wird und je 
größer die Städte find, die durd; eine Eijenbahnlinie mit einander verbunden find. 
Jeder, der eine weite Reife zu machen bat, jucht im Kursbuch nad) der jchnellften Ber: 
bindung und alle Annehmlichkeiten, die die durchgehenden Schnellzüge in den lebten 
Jahren gebracht haben, helien nicht über die Yangwierigkeit der Neife hinweg. Die 
Forderung direkter Schnellgüge mit weit höheren Gejchwindigfeiten, als jet üblich find 
die Berlin mit Hamburg, Köln, Rranffurt, München und darüber hinaus mit der. 
Hauptitädten der Nachbarländer verbinden, tritt immer mehr zu Tage. 

Trogdem zeigen die Kursbücher mit jeder neuen Fahrplanordnung feine weſent— 
lichen Erhöhungen der Auggeidwoindigkeiten. Wohl find die Eifenbahnverwaltungen 
bemüht, durch häufigere Schnellzüge und Yuruszüge beifere Verbindungen zu jchaffen und 
die Dauer der Reiſe zu vermindern, und thatjächlicd find dadurd die Fahrzeiten für 
manche Stredfen im Yaufe der Jahre erheblich gekürzt, aber die Fahrgeſchwindigkeit jelbit 
ift nicht wejentlich gefteigert. Die Betriebsordnnung für die Daupteifenbahnen Deutjchlands 
vom ‚jahre 1897 jest als höchit zuläffige Fahrgeichwindigfeit für Berfonen-Schnellgüge 
% km pro Stunde feit, und die thatjächlich im regelmäßigen Betriebe erreichte grüßte 
Bejchwindigfeit beträgt 82,5 kın pro Etunde auf der Strede Wittenberge— Hamburg. 
In den übrigen europäiichen Yändern, in denen die Rückſicht auf die Verkehrsſicherheit 
etwa die gleiche ift wie in Deutjcyland, werden zwar etwas höhere Gejichwindigfeiten 
erreicht — der jchnellfte Zug der franzöfiichen Nordbahn, PBaris—Amiens, fährt mit 
104,8 km pro Stunde, während in England auf der Strede Frorfar— Perth eine 
Geihwindigkeit von 95 km pro Stunde erreicht wird — aber man erfennt, daß Fahr— 
geichwindigfeiten von über 100 km pro Stunde mit einer einzigen Nusnahme in Europa 
nicht vorfommen, jondern daß mit 80 bis 95 km pro Stunde die Grenze der betriebs- 
mäßigen Fahrgeſchwindigkeit überall erreicht ift. 

Zomohl der Umstand, daß fich die Geichwindigfeiten von Jahr zu Jahr nicht 
wejentlich ſteigern, als aud der, daß die in den verichiedenen Yändern erreichten 
marimalen Gejchtwindigfeiten nicht jehr erheblih von einander abweidyen, legt den 


Ueber die fünftige Entwidlung der Eifenbahnen. 153 


Gedanfen nahe, dar bei Innehaltung des jekigen Betriebsipftems eine weſentliche 
Steigerung der Zuggefhmwindigfeit nicht mehr zu erwarten ijt, entweder weil fie praftiich 
und finanziell unwirtſchaftlich oder tehnijch unmöglich iſt. 

Man wird ji fragen, ob es bei den jetigen, auf den Tagesfahrplan ſpärlich 
verteilten Zügen mit oft langen Zeiträumen zwijchen den Etrefenanichlüffen überhaupt 
Zweck hat, die Fahrgeſchwindigkeit wejentlich zu fteigern, da die gewonnene Zeit mit 
Warten auf die Abfahrt oder Weiterfahrt leicht wieder verloren geht, und ebenjo, ob es 
beim Güterverkehr lohnt, Scnellzüge mit hoher Geſchwindigkeit einzurichten, wo Die 
Rangierarbeit für die großen Züge auf den vielen weitläufigen Güterbahnhöfen am 
meilten Zeit in Anjprud nimmt. Man kommt jo vom Standpunkte der praktischen 
Betriebsführung aus auf eine Ivennung des Fernverfehrs vom Yofalverfehr und weiter 
dazu, den erjteren nicht durch jpärliche längere Züge, ſondern durdy häufig fahrende 
furze Züge oder Einzelmagen zu bewerfitelligen. Auf dem Gebiete des Berjonenverfehrs 
it die lleberlegenheit diejes Spitems, bei dem auf den großen Fernſtrecken etwa alle 
10 oder 15 Minuten ein furzer Zug oder Einzelwagen in jeder Richtung fahren würde, 
evident, aber auch im Güterverfehr bringt es große praftiiche Vorteile, wie Herr 
Finanz: und Baurat Wiechel, Dresden, nachgewiejen hat, eine öftere Beförderung kurzer 
Züge einzuführen, weil dadurch eine große Entlaftung der Güterbahnhöfe und Berein 
fahung und damit Beichleunigung der Nangierarbeit möglich it; dabei würde die 
Trennung in Fern- und Yolalverfehr ebenfalls durchzuführen ein. 

Wie das Verfehrsintereffe, jo jpricht auch die Frage nadı der Wirtichaftlichkeit 
für das oben geichilderte Syſtem. Allerdings nicht, wenn man den Dampfbetrieb bei 
behält, der, um wirtfchaftlich zu fein, ftetS auf große Züge hindrängt, wohl aber, wenn 
man elektriſchen Betrieb auf Bollbahnen einführt. Nach den auf der Wannjee-Bahn 
angeftellten Verſuchen hat Herr Eijenbahndireftor Borf ermittelt, dat durd Einführung 
des eleftriihen Betriebes auf Bollbahnen die Traftionsfoften um 10 Prozent vermindert 
werden (nad einer Rechnung des engliidhen Gijenbahnelektrifers Yangdon jogar um 
20 Prozent), wobei die jegige Zugzulammtenjeßung zu Grunde gelegt it. Es ift nidıt 
unwahrjceinlidh, daß das Kefultat finanziell nod; günftiger wird, wenn man jtatt mit 
wenigen langen mit häufigeren furzen Zügen rechnet. Jedoch bleibt abzumarten, was 
hier die Erfahrung lehren wird. 

Nun bleibt die Hauptfrage übrig: Iſt es techniich möglich, die Zuggeſchwindigkeiten 
wejentlich, aljo etwa auf das Doppelte, zu fteigern und mit welchen Mitteln? Da 
fommen zunächit die motorischen Mittel, die Dampftraft und die Elektrizität, für Voll- 
bahnen in Betradht. Die Yofomotive, welche durch Dampfkraft den Zug vorwärts treibt, 
arbeitet mit hin- und hergehbenden Majlen, auf jeder Seite treibt der Dampf von einem 
oder mehreren Cylindern aus Kolben, Kolbenſtange und Kurbelſtange, und dieje fchnell 
hin- und hergehenden Maſſen fünnen, wenn aud nad; Möglichkeit ausbalangiert, bei 
hohen Geichwindigfeiten die ganze Yofomotive in jo ftarfe Schwingungen bringen, daß 
ein Ausjpringen der Räder aus den Gleijen zu befürchten it. Beim eleftriihen Betriebe, 
wo aljo die Yofomotive einen oder mehrere Elektromotore hat, denen die eleftriiche 
Betriebskraft mitteld Leitungen und Bügeln zugeführt wird, fehlen alle hin und her— 
gehenden Maſſen. Die Motoren. jind Ddiveft mit den Triebachſen der Yofomotive 


154 Ueber bie fünftige Entwidlung ber Etienbahnen. 


gefuppelt und jo find nur rotierende Mafjen vorhanden, welche feine DOscillationen des 
ganzen Syſtems hervorbringen fünnen. Da man nun ferner einen Elektromotor mit 
faft beliebig hoher Umdrehungsgefchwindigfeit fonjtruieren kann, jo ift bei eleftrifchem 
Betriebe durch die motoriſchen Mittel eine höchit erreichbare Grenze der Geſchwindigkeit 
nicht geitecft, während Ddiejes beim Dampfbetrieb jesigen Syſtems der Fall if. Man 
macht zwar erfolgreiche Berfuche, durch Vergrößerung der Yofomotiven, durd) Anbringung 
innerer Cylinder u. |. w. die Gejchwindigfeiten zu fteigern, ohme gleichzeitig die Fahr— 
ficherheit zu jchmälern, aber eritens ift abzuwarten, ob dieje Steigerung bis zu der Höhe 
möglich jein wird, die der Ecynellfernverfehr fordert, und zweitens drängt diefe Ent: 
wicklung in legter Yinie immer auf große Yotomotiven, alſo auf Antrieb großer Züge, 
während, wie wir oben jahen, alles gerade auf furze häufig fahrende Züge Hinzielt. Hier 
ift aber der eleftriiche Betrieb am Plate, der es ermöglicht, die Betriebsfraft in größeren 
Gentralen (eventuell durch Ausnutzung von Wafferfräften) öfonomijch zu erzeugen und 
diefe dann beliebig vielen Einzelwagen, die mit Motoren, oder furzen Zügen, die mit 
eleftriichen Yofomotiven ausgerüftet find, zuzuführen. 

Nach den motorischen Mitteln fommen die übrigen in Betradıt, das Fahrſyſtem 
und der Schienen= oder Oberbau, und es fragt fi), ob und in welcher Ausführung 
diefe eine erheblich geiteigerte Fahrgeſchwindigkeit zulaffen. 

Es ericheint wohl als ausgeſchloſſen, daß das jegige Gleiſeſyſtem mit feinen zahl- 
veichen Weg: und Chauffeefreuzungen einem Verfehr dient, bei dem in furzen Zwiſchen— 
räumen, vielleicht alle 10 Minuten, ein kurzer Zug oder Einzelwagen mit einer Ge— 
ichmwindigfeit von 150 bis 200 km pro Stunde von beiden Endftationen abgelafjen wird. 

Man würde alſo wohl für diefe Art von Fernverkehr bejondere Gleifeanlagen 
bauen müfjen, die vorausfichtlich jo hoch zu legen find, daß fie alle jetigen Verkehrswege 
nicht freuzen, jondern darüber hinweggehen. Wenn man nun den Bahnförper hochlegen 
muß, jo wird man fich weiter fragen, ob man bei dem jegigen Syſtem der Standbahnen 
bleiben joll (bei denen alſo der Wagen mittels Rädern auf den Schienen iteht) oder ob 
man vielleicht den Dänge- oder Schwebebahnen den Vorzug geben joll. Bei letterem 
Syſtem hängt dev Wagen mit mehreren gebogenen Armen, die die Räder tragen, an einer 
oder mehreren Schienen, wobei dasjenige Syitem, welches mit nur einer Schiene arbeitet, 
an der der Wagen mit den Nädern hängt, bisher die beiten Erfolge erzielt hat. Die feit 
einiger Zeit im Betriebe befindliche und neuerdings eriveiterte Schwebebahn Elberfeld— 
Barmen— Bohminfel ift in diefer Art gebaut und hat vorzügliche Fahrrejultate ergeben. 

Au diefer Frage, ob Stand- oder Dängebahnen, wird man um jo mehr kommen, 
als das legtere Syſtem gerade bei hohen Geſchwindigkeiten unverfennbare Vorzüge hat. 
Es iſt jedem bekannt, daß bei Sleifen,für Standbahnen bei allen Kurven die äußere 
Schiene höher Liegt, als die innere, damit der Zug ſich beim Durchfahren der Kurve 
nad) innen ſchräg jtellt um der nach außen wirkenden Gentrifugalfraft entgegen das 
Gleichgewicht zu behalten. Die Gentrifugalfraft ift um jo wirfjamer, je ftärfer die 
Kurve gekrümmt it, und je fchneller der Zug fährt. Je höher alfo die Zuggeſchwindigkeit, 
deito jtärfer muß die Heberhöhung der äußeren Schiene fein, defto ſchräger ftellt fich alſo 
der Zug in der Kurve; andererjeits muß aber der Zug auf der Kurve zum Halten ge 
Srıcht werden können, ohne umgufippen. Bei Innehaltung des jetigen zweigleifigen 


Ueber die Fünftige Entwidlung der Eifenbahnen. 155 


Standbahnſyſtems dürfte man aljo bei hohen Gefchwindigkeiten nur ganz flache Kurven 
anmenden, d. h. die Stredfe müßte faft geradlinig fein. Daß dieje Bedingung nur in 
jeltenen Fällen zu erfüllen wäre, liegt auf der Hand. 

Anders iſt die Sache bei eingleifigen Dängebahnen. Hier nimmt der hängende 
Wagen beim Durchfahren einer Kurve von felbft die ſchräge Yage ein, die dem Gleich— 
gewichtözuftande entjpricht, und die oben erwähnte Schwebebahn Elberfeld-Barmen hat 
praftiich erwiejen, daß diejer Vorgang bei richtig gewählten Uebergangskurven fich ohne 
jede Gefahr und ohne die geringste Unannehmlichfeit für die Neifenden abipielt. Da 
diefe Bahn zwar mit nur mittlerer Geſchwindigkeit führt, aber jehr ſtarke Krümmungen 
hat, jo ift zu erwarten, daß aud) bei hohen Geſchwindigkeiten und entjprechender Ver— 
minderung der Krümmungen diejes Syſtem brauchbar jein wird. 

Welches diejer Syſteme aber den Sieg über die anderen davon tragen wird, mag 
wohl die Zukunft lehren, denn das Bedürfnis nach höheren Verkehrsgeſchwindigkeiten 
ift unabmweisbar und ſoviel ift fiher, dat die Technif im ftande ift, den allmählich ſich 
jteigernden Forderungen auf dem einen oder anderen Lege zu folgen. 

Um nun noch über den heutigen Stand der Beftrebungen auf diefem Gebiete zu 
berichten, jeien einige Notizen gebracht, die, wie auch einige andere Einzeldaten diejes 
Artifels, einem Bortrag des Herrn Givilingenieurs M. Schiemann auf der 9. Nahres: 
verfammlumg des Verbandes Deutjcher Elektrotechniker in Dresden entlehnt find. 

In Deutichland beſchäftigt ſich hauptſächlich die Deutſche Studiengejellihaft für 
elektriſche Schnellbahnen fpeziell auf diefem Gebiet und hat die Ergründung aller tech— 
nischen einjchlägigen ragen auf ihrem Programm. ine Brobejtrefe auf der Militär- 
bahn Berlin—Zoſſen befindet fi) im Bau und foll nod in diejem Jahre in Betrieb 
fommen. In Belgien beabjichtigt man, auf ein weites Netz elektrischer Bahnen hinzu: 
wirken. Brüſſel joll mit Oſtende, Antwerpen mit Baris verbunden werden. In Italien, 
wo bereits im Jahre 1897 die Negierung die beiden italienischen Eiſenbahngeſellſchaften 
bewogen hat, die Umgejtaltung der Bahntraftion auf eleftriichen Betrieb in Erwägung 
zu ziehen, find angeſichts der dort leidigen Slohlenfrage und der vorhandenen Waſſer— 
fräfte bereits die eriten Erfolge zu verzeichnen. Es werden bier die Streden Vecco— 
Zondrio und Golico—Ehiavenna in einer Yänge von 110 km auf eleftriichen Betrieb 
eingerichtet und auf der Yinie Mailand— Portocerefio, die iiber 100 km lang ift, wird die 
Rerionenbeförderung in den eleftriihen Zügen mit einer Geſchwindigkeit von 90 kın pru 
Ztunde durchgeführt werden. Auch in Frankreich ift die Musnußung von Wajlerfräften 
für Bahnzwede ın Ausficdt genommen, und zum Zwede der einschlägigen Studien eine 
aus Gilenbahndireftoren, Profeſſoren und Etaatsingenieuren bejtehende Kommiſſion ne 
gründet. Gin Konſortium ruſſiſcher Banken und Napitaliiten endlich hat den Bau einer 
Zt. Petersburg und Moskau verbindenden elektriſchen Eiſenbahn in Erwägung gezogen, 
wobei die etwa 650 km lange Strecke mit einer Geichwindigkeit von 150 km pro Stunde 
durchfahren werden foll. Die Züge jollen aus 5 Wagen mit je 35 Sitzplätzen beftehen 
und in Swifchenräumen von 10 Minuten von beiden Endftationen abgelaffen werden. 

Paul Dend. 


1% 





Bucherſchau. 


Monographien zur Deutſchen kulturgeſchichte. Herausgegeben von Dr. Georg Steinhaufen. 
Verlegt bei Eugen Diederichs in Yeipzig. 

Wir leben in der Zeit der Weltpolitik. Für uns Deutiche fallen ja die Anfänge unjeres 
2seltmachtitrebens mit ;dem endlichen Erwachen eines politifchen und Nationalbewußtſeins 
zuſammen. Tem Streben nach außen entiprict ein Drang nach innen, fein Sinnen und Träumen, 
vielmehr ein stolzer Trieb und jtartes Sehnen nach Erkenntnis unſeres Volkstums, unferer eigen- 
artigen Kräfte. Dieje Selbiterfenntnis muß das Gewiſſen und Verantwortlichkeitögefübl eines 
Bolfes ftärfen, das ſich als den Träger feiner Geſchichte kennen gelernt hat, unbeichadet der großen 
Führer, die ja ſelbſt nur der höchite Ausdrud der Volksſeele und des Vollswillens jind. Diejer 
Selbjtertenntnis, die gleichbedeutend ift mit Stärkung des völfiichen Selbſtbewußtſeins, wollen die 
„Monograpbien zur Deutihen Hulturgefchichte” dienen. In lebendiger Darjtellung führen 
fie dem großen Kreis dev Bebrldeten das Wachen und Werden der wichtiniten Berufsitände und 
Volksgruppen, der Sitten und Anschauungen unferes Volkes vor. Zugleich wird den Freunden 
deuticher Art und Stunt die jeltene Gelegenbeit geboten, ſich an einer Fülle von Bildern alter 
Meifter zu erfreuen; die Namen Baldung, Beham, Burgkfmair, Dürer, Holbein, Schäuffelein, 
Schongauer u. a. fprechen für fich. Welch" ein Leben, welche Natur in diefen Holzſchnitten und 
Kupfern! Welche Fülle von Anschauung in Flugblättern, Drudproben u. f. w. Bis jet jind 
7 Bände erjchienen: Der Soldat (Georg Yiebe); Der Kaufmann (Steinbaufen),; Der Arzt 
(Derm. Peters); Der Richter (J. Deinemann); Der Gelehrte (E. Stride); Minderleben (Dans 
Boeſch); Der Bauer Adolf Bartelsı. 

Worms. Karl Berger. 


1. Deutihe Litteraturgefhichte des ı9. Jahrhunderts von Carl Weirbredht. Yeinzig, 1901. 
Sammlung Goeſchen. Ver. 134, 135. Jedes Bändchen 0,80 M. 
2. Neue Ideale. Gejanmelte Aufſätze von Frig Lienbard. YeipzigsBerlin, 1901. ©.9. Viener. 
Subffriptionspreis (erliicht Ende 1901) 2,50 M.; geb. 3,50 M.; fpäter 4,— M.; geb. 5,— M. 
Als Aeußerungen geiftesvertvandter deuticher Perjönlichkeiten, als litterarifhe Zeugniſſe 
der Fräftigen Gegenbemwegung des Deutichtums wider den zerfabrenen Zeitgeift und alle Moderni- 
tätsſucht stelle ich dtefe beiden Bücher zufammen. 
Karl Weitbrecdt zeigt in feiner „Yitteraturgeichichte” sichere äſthetiſche Schulung 
md natürlichen pfuchologifchen Scharfblid in einer Fülle treffender Urteile; als Dichter wei er 
genau, was dichteriiches Schaffen ift, und vermag das Echte von dem Gemachten, das Berjünliche 
von dem Schulmäßigen zu unterfcheiden. Schon in der Anordnung des ungeheuren Stoffes 
befumdet er jeinen Sinn fir natürliche Gruppierung; er findet ſechs Dauptabjchnitte: Der Ans 
fang des Jahrhunderts; Zwiſchen den !Revolutionen; Die Rückkehr zur Form; Der poetifche 
Nealismus (darin erblidt er wie Ad. Bartels den litterariichen Höbepunft des 19. Jahr— 
hunderts, eine Uebereinſtimmung, die wie jo manche andere fich aus den Aehnlichkeiten der 
Grundanſchauungen beider mit Notwendigkeit ergiebt); Nationale Einigung und geiftige Ent— 
artung; Die Moderne. Nur was lebt oder einmal wirklich lebendig geworden war, iſt berück— 
lichtigt, wobei freilich bei dem Enappen Raum eine oder die andere Charaftergeitalt zu kurz ges 
fommen ift oder mie ‚y. v. Saar ganz fehlt. Die einzelnen Perioden und Dichter werden ſtets 
im Zuſammenhang mit dem Gejamtleben der Nation betrachtet und ihre Bedeutung mit den 
Maßſtäben einer Aeſthetik gemeſſen, die auch ethtiche Zucht vom Dichter fordert und über ber 
Form den Gehalt nicht vergißt. In Eraftvollen Berjönlichkeiten, die Fühlung haben mit dem 
jtilfinnerlichen, vormärtstreibenden Yeben des deutichen Volkes, nicht in Theorieen und Schulen, 
Beittendenzen und Moderichtungen erbiidt Weitbrecht das Heil der Poejie. Daraus ergiebt ſich 
feine fritiiche Stellung zur „vomantischen Schule”, zum „undichterifchen jungen Deutjchland‘ 


Bücherſchau. 157 


und zur zerfahrenen Moderne mit ihrer Nahabmungsfucht ganz von jelbit. Weitbredit's 
vitteraturgeſchichte empfiehlt fich durch ihren deutfehnationalen Grundzug ebenfo jehr mie durch 
ihre traftvolle, lebendige Daritellungsiweife. 

ALS ftammesftolger und heimfefter Schwabe wei Weitbrecht die Bedentung der Heimat 
und des Volkstums für alle echte Dichtung wohl zu ſchätzen: in der neuerdings viel berufenen 
Heimatkunſt“ fieht er ein Stüd Genefungsboffnung für unfere poetifche Pitteratur. Inter den 
eriten, die für eine gefunde, im deutjchen Bolfsleben wurzelnde Kunſt und Dichtung eintreten, 
befand fich der Elſäſſer Fritz Lienhard. Inzwiſchen haben die flinfen Marktichreier und 
Zwiſchenhändler in ſenſationellen Neuheiten aus der „Heimatkunſt“ eine Mode und ein 
Schlagwort zu machen gefucht. Lienhard und feine Mittämpfer wurden grimdlich mißverſtanden. 
Für fie follte fie ja mır der Ausgangspunkt einer möglichen gefunden Entwidlung deuticher 
Dichtung, kein Endziel fein. Den von Tag zu Tag wechſelnden Strömmmgen und Richtungen, 
den theoretifchen Forderungen und der Hetze nach meuen Ismen gegenüber wies Yienhard 
auf die Heimat, die Yandichaft, den Stamm als den natürlich gegebenen Boden bin, von wo 
aus eine gefunde, echte Kunſt wachfen könne; er bob die Pedeutung der Perfönlichkeit wieder 
bervor. Erſt etwas fein, ehe ihr etwas machen wollt! Genen die Fremdſucht und Nachäfferei, 
gegen die plumpen Schlagworte, gegen den pefiimiftifchen, „veritandesdürren Geiſt dev Elends— 
dichter“ ftellte er eine im Volksgemüte wurzelnde, nad) weiten Horizonten und Ewigkeitswerten 
fröhlich hinaus- und emporitrebende Dichtung. Und er forderte nicht nur, er ſchuf auch felber 
Dichtungen voll ftarter Empfindung und Geitaltenfreude. Der mürrifchen Satire und patho— 
logifchen Tüftelei und Nervenkofetterie mübder Seelen wurde nicht nur der Krieg erklärt, mein! 
der Weg zu neuen Idealen wurde gezeigt, der Weg zur Höhe, wo mir unſerer tiefiten Vebens- 
fräfte erjt inne werben. Anregen, ermutigen, erweitern wollte Yienbard die Geiſter. Was er 
nun in verfchiedenen Blättern — namentlich in der Beilage zu Dr. Friedrich Yange’s 
„Deutfcher Zeitung” ımd in der „Täglichen Rundſchau“ — dem deutichen Wolfe über 
Fragen der Litteratur und des eitgeiftes in dieſem Sinne zu jagen hatte, das ift in dem vor— 
liegenden Buche unter dem Titel „Neue Ideale“ zuſammengefaßt. Ich nenne die Titel 
einiger ber fünfzehm Auffäße: Perjönlichkeit und VBolkstum — Grundlage der Dichtung; Tolitoi 
und Ibſen; Ehriftentum und Deutichtum; Die litterariichen Aufgaben der deutichen Katholiken; 
Heimatkunſt; Sommerfeftfpiele; Litteratur-FJugend von beute; Jahrhundertwende. — Neidhite 
Anregung und Förderung wird Lienhard jeder Yefer verdanken, der noch nicht verlernt bat, 
auch Litteratur- und Kunſtfragen als eine richtige nationale Angelegenbeit zu betrachten. 

Worms. Karl Berger. 


Malta, feine kriegshiftorifhe Vergangenheit und feine heutige ſtrategiſche Bedeutung. Yon 
Oro Wachs, Major a. D. Berlin 1901. E. ©. Mittler & Sohn. Preis 50 Pf. 

Melche Bedeutung Malta für England innewobnt, wird vom Berfafler, auf Grund langs 
jähriger Studlen und unter Anführung zahlreiher Autoritäten, in trefflicher und anichanlicher 
Meife dargejtellt, wobei der möglichen Stonitellationen des unvermeidlichen Stampfes um die 
Vormacht im eingehender Weife gedacht wird. Den Schluß macht ein Ausfprud Mahans: 
„Ausgeſchloſſen vom Mittelmeer, darf England in der Volitit eine wichtigere Rolle als die 
Niederlande oder Dänemark zu jpielen kaum noch beanfpruchen.” Der Gntmidelung des 
SGedanfenganges bis zu diefem Schluß von umerbörter Tragmeite zu folgen, fit von bobem 
Intereſſe und trägt viel zum Verftändnis der Vorgänge unſerer Zeit bei, 


Grüne Befte tür Kunft und Volkstum. Verlegt bei Georg Heinrich Mener, Berlin SW., Preis 
jedes Heftes 15 Pf.; 12 Hefte 1 Marf. 

In diefen billigen Heften, die der Werleger dev viel genannten und noch mehr verfannten 
„neimatkunft in's Volk wirft, ift Verfaſſer diefer Unzeige felbft mit zwei Aufſätzen vertreten. 
Seine Beiprehung wird aljo zum Teil eine Art Selbitanzeige, und jede Fritifche Zuthat vers 
bietet fi von ſelber. Doch darf man wohl jagen, dat den Heftchen recht viele Leſer und 
Käufer gegönnt werden dürften, weil es eine bequemere und billigere Einführung in eine note 
wendig zu beachtende Pitternturhemenung micht wohl neben kann. Por allem mache ich auf 


158 Aitcherichan. 


Adolf Bartels’ prachtvoll aufammenfafiende Kennzeichnung unferes nun fiebzinjährigen Meifters 
Milhelm Raabe aufmerkſam (Heft 2). in einem anderen Heft fpricht derſelbe befannte Litterar- 
biftorifer und Schriftiteller über die „Heimatkunſt“ (Heft 9. Willn Paſtors Heine Einführung 
in des geiftvollen Fechner Weltanſchauung (Beft 5) iſt gleichfalls ſehr anregend. Heinrich 
Sohnren äußert ſich bedeutjam und anfchaufich über die Anfiedlerfrage in der Oſtmark (Der 
Heine Heintich, Heft 4. Andere Hefte jprechen über „Pitteraturjugend von heute” Lienhard), 
„Dentichsevangelifhe Volksſchauſpiele“ (Lienhbard), „Helmat und Pollsfchaufpiel" (Wachler), 
„Das deutfche Biarrhaus und die Volkskunſt“ (Mielke), „Offener Brief an ben Bürgermelfter 
einer deutfchen Kleinſtadt“ (Schwindraßbeim) u. j. mw. Kleinigkeiten, meinetwegen, aber ich dente 
doch: anregende Hleinigfeiten. 
Berlin. F. VYienbard. 


Julius Lohmeyer, humoresken. Berlin, Verlag von Freund & ‚edel. 3. Auflage, 1901. — 
Julius Lohmeyer, Wir leben noch und anderes. Neue Novellen. Stuttgart, Verlag von 
Adolf Bonz & Comp. 1901. 

„Ehrfurcht, ebrfürchtige Unterordnung, gleichviel mo man jie findet, dankbar freubige 
Weltbejahung bleibt doch unter allen Umftänden das Höchite, das KHöftlichite, zu dem wir bier 
überhaupt nur fommen fünnen.” Diefer Sab findet fich auf Seite 185 des zweiten der bier 
angezeigten Bücher; und wenige Zeilen darüber ijt von einer „mit Gott und Welt in Harmonie 
jtehenden Natur‘ die Rede und vom „treulich aufopfernden Thun im Heinen Sreife.” In folchen 
Zäßen tritt klar ausgeſprochen zu Tage, was beiden Büchern und den ganzen Schaffen und 
vebensmwert des herzenswarmen Berfaſſers jo ichön den Brundton und das Gepräge giebt. 
Man liebt und fchäßt Lohmeyer längſt als ugendichriftiteller. Und es war in den materialiüti« 
ſchen und naturaliſtiſchen Jahrzehnten, die hinter uns liegen, im jener Unftete und Gebe, die 
einen rajchen Nervenverbrauc und eine Verkümmerung des Gemütslebens zur Folge hatte, ein 
Deldenftüd, mit gejammelter Freudigkeit zu unferem Völkchen und Volke im deutſchen Heim zu 
iprechen und doch in und mit der Zeit zu wandern. Man bat über dem Jugendſchriftſteller ben 
Dichter, Plauderer und Erzähler gelegentlid; zu Fury kommen laſſen: — und doch beweiſen audı 
dieſe Humoresken und Novellen wieder, wie viel temperamentvolle Geſtaltungskraft, mie viel 
warme Freudigkeit des Frabulierens in diefer Dichternatur fteden. Wer die Bücher zu lefen be- 
gonnen, legt fie fo leicht nicht wieder bei Seite. ich will nicht fagen, dat die Humoresfen, 
äjthetifcher Wertung nad, alle 16 auf gleicher Höhe Steben; ich würde diefer oder jener gelegent- 
lid mehr Fünftlertiche Feinheit wünjchen. Was aber von A bis 3 an dieſen Büchern fejlelt, iſt 
das reiche Lebensfluidum, das in und zwiichen und binter den Worten, Gejtalten und Geſcheh— 
nifjen flutet und leuchtet, immer feifelnd, immer erwärmend, oft zu heller Luſtigkeit und wahr: 
baft charakteriftiihen Humor gefteigert, oft finnvoll zu milder Ironie abgetönt. ES ſteckt 
Lebenserfahrung und Seelenerfabrung in Yohmeners Plaubderbühern; es ſteckt eine Weltan- 
ſchammg dahinter. it fie veraltet? Können Derzenswärme und millensfräftige Selbiterziehung 
eines echten \Ndealliten jemals veralten? Ich meinesteils, felber im Geiftesfampfe ftebend, babe 
erit die feichten Dumoresfen, denn die erniteren, zum Teil vortrefflich erzählten Novellen mit 
mwahrem Behagen genofien. Und ich hab' mir dabei gedacht: ältere und jüngere Generation 
deuticher Litteraturmenſchen mögen durch mande Wandlung in Aeſthetik und Technik fcheinbar 
getrennt marichteren: wir fchlagen dennoch berrlich auf dem einen Boden deutichen Herzens und 
beutichen Glaubens! Wenigitens ichaffen wir daran, daß es bald wiederum jo merde! 

Berlin. F. Lienhard. 


Deutſchland auf den hochſtraßen des Weltwirtſchaftsverkehrs. Yon Arthur Dix, Jena 1901, 
Guſtav Fiſcher. 

Der Verfaſſer hat ſich der nützlichen und notwendigen Arbeit unterzogen, aus einem 
überreichen, zerſtreuten Material das Wichtigſte zur Erkenntnis der deutſchen Weltſtellung in 
fleinen Skizzen zufammenzufaiien; er iſt dabet von der Abſicht geleitet, „den Blid des Volkes 
zu fchärfen für die Bedeutung unſerer Beziehungen auf den Hocitrafen bes meltiwirtfchaftlichen 
und meltpofitifchen Nerfehr&, für ihre Vorteile fo gut mie fiir ihre möglichen Gefahren. Die 


Aficherichai. 159 


mwichtigiten Straßen des Weltverfebrs find ja heutzutage die Seewege. Darum fordert das 
Wachſen und Wandern des deutjchen Volkes, das uns in immer engere Berührung mit dem 
Weltmarft bringt, eine fortgejett geiteigerte Bilege und Sicherung gerade der überfeeiichen Ber 
ziehungen. Nach einer geichichtlichen Betrachtung über Preußen-Deutichlands Weg zum Welt- 
meer und Anteil am Weltwirtichaftsverfehr werden Dentichlands glänzend fich entwickelnder 
Schiffsbau und die großen und Fleinen Reedereien geichildert, dann die Notwendigkeit moderner 
Schiffabrtöpolitif und unfere wenig erfreuliche Stellung im überjeeifhen Nachrichtendienft er- 
örtert. Den Kern des Buches bilden die unter dem Titel „Deutichland und die Hauptwege des 
Weltverkehrs“ zufammengefakten Skizzen, die unfere Stellung in den europätichen Meeren, die 
Seewege nad Afien, Afrika, den verichtedenen Teilen Amerikas unter jteter Berüdjichtigung ber 
beitebenden politifchen Verhältniſſe und der Zufunftsaufgaben behandeln. Für Aſien fommen 
befonders noch die bereits gebauten oder projeftierten Bahnen in Betradıt. Im lebten Teile 
werden die Wechjelwirfungen zwiſchen Weltpolitift und Sozialpolitif, Weltwirtſchaftsaufgaben 
und Sozialer Frage behandelt: fie bedingen fich nenenfeitin, der Erfolg der einen ift die Voraus— 
jeßung für die Durchführung der anderen. Das Buch wird jedem im politifchen oder wirt: 
schaftlichen Leben Stebenden nützlich fein; im Kampfe um unfere Flottenpolitik ift es ein unent— 
behrliches Anreger und Yehrmittel. B. 


Dr. phil. hermann Franke: Chriſtentum und Darwinismus. Berlin 1901. Alex. Duncker. 

Es liegt uns bier wieder, umd zwar aus ber Feder eines Geiſtlichen, einer der Nerfuche 
vor, eine Verfühnung zwiichen moderner Naturwiſſenſchaft und ftrenger Gläubigfeit herbeizu— 
führen. Das Programm des Werkes entwidelt der Verfaſſer in dem eriten Sapitel, das ben 
Kampf um die Weltanichauung behandelt. Sein Perfuch der Beilegung diefes Kampfes, einer 
Verſöhnung der Gegner, fußt auf jener Erfenntnis, daß diefe Gegenſätze nicht fo ſchroff feten, 
wie fie ericheinen, daß die Entwidlungslehre auch für das Chriſtentum und feine Geſchichte 
anwendbar ijt. Die klare Darftellungsweife des intereffanten Buches wird dem Iwecke des 
Wertes, manchen Leſer aus Zweifeln zu erlöfen, gewiß in hohem Make dienlich fein. 


Zauber der Ehe. Ein Buch von Richard hamel. Pierte umgeſtaltete und vermehrte Auflage. 
Berlin 1901. Alerander Dunders Verlag. 

An dem vorliegenden Werf wird das Glück eines Liebenden und feiner in Ihm ganz auf: 
gehenden Gattin in ſchwungvollen Poeſieen gefchildert. Beide Liebende werden durch ihre Liebe 
auf den Gipfel böchiten menichlichen Glücdes gehoben. Da mird biefes befeligende Liebesleben 
jäbling® unterbrochen, indem der Tod das fchöne irdifche Band zerfprengt. Die ben Zeitraum 
eines Jahres umfpannende Dichtung, in melcher die Zartbeit der Empfindung, das Vollglück 
des ehelichen Lebens, und die überaus glüdliche Wiedergabe der Stimmungen uns tief erfallen, 
gewährt dem Leſer bis zum Schluß einen reinen Genuß. 


Quellen und Unterfuchungen zur Gelchichte des Haufes Hohenzollern. Band ı. Aus dem Brief 
mechfel König Friedrichs J. von Preußen und feiner Familie. Herausgegeben von Ernſt 
Berner. Berlin 1901. Verlag von Alerander Dunder. 

Der Königliche Hausarchivar, Archivrat Brof. Dr. Berner, bat ſich die überaus danf- 
bare, mühevolle Aufgabe geitellt, in einem Sammelwerfe die Ergebniſſe feiner Forſchungen über 
die BVerjönlichkeiten unferer Hobenzollern niederzulegen. Eine mehr als Mjährige Thätigfeit im 
Köntglihen Hausarchiv ermöglicht es dem gefchäßten Verfaſſer, den umfangreichen Stoff in 
biefen intereſſanten Peröffentlichungen voll zu beherrichen. Der erite Band, der gelegentlich der 
Zmeibundertjabrfeier veröffentlicht murde, bringt den Briefmechfel Friedrich I. mit feiner Familie. 


Aus den Papieren eines modernen Theologen. Yon Franz Breda. Berlin 1901. Alerander 
Dunders Berlag. 

Es find Bilder, denen man fomohl marmes Herz mie fcharfe Beobachtungsgabe und 
friſche Urfprünglichkeit de8 Empfindens anfühlt. In dem Buche ſteckt fo viel Gefundbeit und 
berzerquidende Geradheit des Urteild Über Firchliche® und pajtorales Leben, daß es dem Ber- 
fafler zahlreiche Freunde erwerben wird, freilich auch mandien Gegner. N. G. 


160 Ueberſee. 


Ueherſee. 


Nachrichten vom „Sauptverband deutſcher Flottenvereine im Ausland“. 
J. 


D: Hauptverband will: alle im Auslande lebenden Dentichen zur Berbätigung ihres Intereſſes 
für die Eraftvolle Entwidelung der deutichen Marine anregen und vereinigen, und, jede 
Parteipolitif fernbaltend, zur Erhaltung und Sträftigung der Beziehungen der Deutichen im 
Auslande zur Deimat beitragen. — 

Nach Beirut und Balencia {Benezuela) fenden wir unjern Dank für die Einfendung 
des Beitrages von 865 bezw. 753,78 ME, Rhodus 48 ME. 30 Pf. Santos 1500 ME, Port au 
Prince 1293,73 ME, Hapitadt 3059,79 IE — 

Der 7rlottenverein zu Yonden berichtet über die Ergebnifie feines erſten Rereinsjabres. 
Katurgemäß war die Arbeit zunächſt anf die Anwerbung von Mitgliedern gerichtet, und diefe 
war nicht ohne Erfolg; denn troß der in dem Jahresbericht bervorgebobenen Ungunſt der 
politiichen Verhältniſſe und beflagenömwerten Yaubeit des patriotifchen Zinnes eines großen 
Teiles der in Yondon anfälligen Deutjchen, fonnte der Berein fein erites Gefchäftsjabr mit einen 
Beitand von 330 Mitgliedern abjchlieren. 

Der Verein beteiligte fich als folcher umter anderm an einer bon der deutjchen Kolonial— 
gejellichaft veranitalteten Ehrung des in Yondon ammejenden Gouverneurs z. D. von Wißmann. 

Der erite \\ahresbeitrag des Yondoner Vereins ift dem Dauptverband mit einer Summe 
von 1000 ME. übermittelt worden. 

Die Summe der Pereinsbeiträge beläuft fich zur Zeit auf rund 400000 WIE. 

Der Flottenverein für Napftadt und die Weſtprovinz iſt im der Lage zu berichten, daß er 
„trog Krieg und Peft wieder emporblüht”. Der Beitrag von 150 #, über den wir bereits in 
der Augujt-Nummer auittierten, ift uns bierfür ein hocherfreuliches äußeres Zeichen. 

Der Eingang wmeiterer Beiträge tt zu verzeichnen aus Guritiba mit 300 Mk.; Mogador 
145 WIE. 

Auf die Zeitjchrift „Armee und Marine” Fönnen wir unfere Yefer, wenn fie jich über bie 
Angelegenheiten ber Flotte ſachgemäß informieren wollen, ganz befonders binmweifen. Sie bringt 
außer meift recht guten Abbildungen, anfprechend gejchriebene Aufſätze über militärifche und 
technifche ragen. Das Blatt ericheint im Berlage von Boll & Pidardt, Berlin NW. Der 
Preis des einzelnen Heftes beträgt 30 Bf. 

„Ueberſee“ joll der Hauptſache nach ein Nadrichtenblatt zur Wermittelung engerer Be: 
ziebungen zwiſchen unferen Vereinen bilden. Der Schriftverfehr mit diefen Dat es uns audı 
ermöglicht, allınonatlich eine Reihe allgemein interefiierender Mitteilungen zu bringen. 

Die Auguſt- und Septemberbefte der „Ueberſee“ bringen von wertvollen Original- 
artiteln die nachfolgenden: 1. Engliiche Flußkanonenboote. 2. Die Bionierfahrt des „Vorwärts“. 
3. Die ‚amerikanische Gefahr. 4. Neue Schiffsverbindungen zwiſchen Chicago und Europa. 
5. Mängel der engliihen Marine. 6. Amerifas Nnduftrie und Deutfchlands Zukunft. 7. Die 
Monroe-Doktrin. 

Anfragen wegen Beitrittöerflärungen von Auslandsvereinen werden aud) von der 
Redaktion und Erpedition der „Deutichen Monatsichrift”, PBerlin W. 35, der Berliner 
Dauptgeichäftsitelle übermittelt. 


Neuerfhhienene Bücher für die Bücherſchau bitten wir an die Verlagsbuch handlung einfenden x 
wollen. Befprechungen behält fi die Redaktion vor. 
Nachdruck verboten. — Alle Rechte, insbefondere das der Meberfeung, vorbehalten. 





Berlag von Alexander Dunder, Berlin W.35, — Drud von 9. ©. Hermann in Perlin 
Für bie Redaktion verantwortiih: Dr. Aulius Lohmecyer, Berlin-CEharlottenburg. 


De 





—— nicht der : Partei 


Ss — für die Gebildeten aller Stände. TU ? 

TG 3 Ace 

TE N W Hherausgeber: Heinrich Rippler, Berlin. Gr — 
—— — — —— - u IC. ei * 
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Morgen- und Abendausgabe, 


Derlag des Bibliographifchen Inſtituts in Berlin und Eeipzig. 





Bezugspreis: Bei den Poftanftalten des Deutfhen Reichs und Öfterreich- Ungarns vierteljährlich 
5 Marf. — Monatliche Sonderbeftellungen fönnen zum Preife von je ı Marf 67 Pf. bewirkt werden. 


Mit direkter Poftverjendung nah dem Ausland Foftet die „Tägliche Rundſchau“ einfchl. Porto 
vierteljährlich 15 Mark — nad den deutjchen Schußgebieten 10 Marf. 


In den einundzwanzig Jahren ihres Beftandes 
tjt die 


„Tägliche Rundichau“ 


das — Kieblingsblatt — der gebildeten 
nationalen Kreife Deutfchlands geworden, 
und fie hat befonders in der leiten Feit nicht nur 
ihren Abonnentenftand — der faft alle Berliner 
politifchen Tagesblätter um ein Bedeutendes über 
fteigt — um mehrere Taufend neuer £efer ver- 
mehrt, fondern auch eine unbeftrittene politifche 
Geltung erften Ranges gewonnen. 

Unabhängig nach allen Seiten, vornehm 
im Ton und jachlich im Urteil, fucht die „Täg- 
lihe Rundſchau“ Märend und fammelnd für die 
fittlihen Jdeale des Deutfchtums ſowohl als für 
den Dölferberuf unferer Nation einzutreten. Sie 
befürwortet eine felbfibewußte und weitfchanende, 
aber in ihrem Dorgehen nüchterne und befonnene 
Realpolitif und war der Berold unferer Kolo- 
nial- wie unferer $lottenpolitif, die fie beide 
auch thatfräftig hat in die Wege leiten helfen. 

In der inneren Polttif betont die „Tägliche 
Rundſchau“, getreu ihrem Wahliprude: 
Daterlande, nicht der Partei, das Gefamtinter- 
effe gegenüber den Sraftionsanfprücen, ftellt ſich bei 
fonfervativer Örundgefinnung jedem Anfturm auf 


„Dem" 





unfere Geiftesfreiheit wie jeder undeutſchen 
Strömung entgegen nnd vertritt bei ſcharfer 
Befämpfung der Umfturzpartei den Gedanken der 
ehrlichen und befonnenen Soztalreform. 

Un die gebildeten Kefer mit eigenem nnbe- 
fangenen Urteil wendet fi die „Täglidye Rund- 
ſchau“, nicht an die führerbedürftige Maffe. Aus 
den Reihen der Gebildeten unferer Nation tft ihr 
daher auch in immer fteigendem Maße der Lohn 
geworden, daf fie die „Tägliche Rundfchan' als 
ihr Blatt anerfennen und aus ihren Reihen das 
Wort von der Rundfhangemeinde hervorge- 
gangen ift. 

eben ihren fachlichen Dorzügen, die wieder- 
holt von berufenfter Seite öffentlich und in ehrend- 
fier form anerfannt worden find, darf fich die 
„Täglihe Rundfchau‘ ferner rühmen, eine der 


reichhaltigjten deutfchen Zeitungen 


zu fein; ihr Bezugspreis bleibt trotz der Neuerung, 
nach welcher unfer Blatt nunmehr 


— zwölfmal wöchentlich — 


erfcheint, der alte, fo daf die „Täglihe Rund- 
ſchau“ nicht nur die vornehmfte, fondern aud 
die billigfte aller zweimal täglich erfcheinenden 
großen politifhen Tageszeitungen ift. 


Probenummern werden fofort nach Beftellung umfonft und poftfrei 7 Tage hinter 
einander gefandt von der Geſchaftsſtelle der 
„Täglichen Rundſchau“ in Berlin SW. 12, Simmerftraße 7—8. 


Jahrgang 1%1/2. Ynhalt des Oktoberheftes. Beft 1. 


Deuticıe Monatsichriit 


für das gelamte Leben der Gegenwart. 


Berausgegeben von Julius kohmeyer 





Adolf Wilbrandt: Große Zeiten. Novelle. 

Rudolf Euken: Die Aufgabe des deutkhen Gelltes, 

Bermann von Wißmann: Aus meinen Kämpfen In Oftafrika. I. Das Gefecht am Kilima-Mdicaro, 

Friedri Raßel: Der Gelit, der über den Vallern idıwebt. 

Felix Dahn: An die Deuiſchen. j 

Graf Joadıim von Pfeil: Marokko und Deutichland, 

Anton von Werner: Bismard-Erinnerungen. 

Adolf Wagner: Bankbrüde und Bankkontrolle, I. 

Adolf Stern: Wilhelm Raabe zum 70 ten Geburtstage. 

Dichtergaben aus dem Raabe-Album zum 7Oten Geburtstage des Meilters von Prinz Emil 
Schönald+»Carolath, Paul Geyle, MW. von Polenz, Victor Blüthgen, DOito 
Mardı, Peter Roiegger, Adolf Bartels, Felix Dahn, Ernit Wichert u. a. 

Karl Tanera: Der junge deutihe Kaufmann In Oitalien. 

Theodor Sciemann: Deufſchland und die großen europäiihen Mächte, 

Paul Dehn: Weltwirtihaftliche Heberkhau. Monatsberict. T, 

Wilhelm von Maliow: Monatsikhau über die Innere polltiihe Lage. I. 

Paul Dehn: Die Deufihen im Auslande. Monatsihau. 1. 

Karl Bulie:; TMeuere deuffde Dichtung. Monatsbericht. I. 

Max Marterlteig: Die deutfhe Bühne. Monatsberiht. J. 

Paul Bey: Technlihe Umſchau. I, Ueber die künftige Entwicklung der Ellenbahnen. 

Bucherſchau von Frig Lienhard, Karl Berger, Adolf Bartels, Richard Veltbrecht u. a. 

Beridıt des Gaupfverbandes deuticher Flottenvereine im Auslande, I, 


—ñ — ⸗ 


Die „Deutiche Monatsichrift” erſcheint in Seften von 160 Seiten Umfang 
zu Beginn jeden Monats. Der Abonnementspreis beträgt: 

vierteljährlich im deutichen und öiterr.-ungar. Poltgebiet . . . . Mk. 5,— 
2 im Weltpoltvereins-Gebiet . . » 2 2 2 2 2 ee 06,25 
jährlidı im deutichen und ölterr.-ungar. Poitgebit . . x 2 22 D,— 
„ Im Weltpoitvereins-Gebit . . : : 2 2 2 2 2 2 2 2 00 Bd 
Der Preis einzelner Hefte Mk. 2,—; im Weltpoitvereins- Gebiet „ 2,50 
Die „Deuticıe Monatsicrift” ift zu beziehen durch die Buchhandlungen des In« 
.und Auslandes, die Poltanitalten (Poitzeitungsliite für 1901 No. 1846«) oder die 

Expedition, Alexander Dunder, Berlin W.35, küßowitr. 43. Prospekte gratis. 


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Deutfche Monatsichrift 


für dasgesamte Leben der Gegenwart 


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HERAUSGEGEBEN Vor 
JULIUS LOAMEYER 


ERLIN 


IA VERLAGVnALEXAMDER DUNCHER 





1% 


Einzelheft 
30 Pige. 


1% 


SEE wer 275 —— — „... — Ze 


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1 


Abonnement: 
- 3 Mk. 25 Pig. 


1% 


Aufgabe der Zeitichrift iit die Verbreitung 
der Kenntnilie über unſere und fremde 


- Armeen - - » Marinen » » » Kolonieen - 


Länderkunde und überleeilhe Intereiien, 
ferner Waller«, Reit» und Jagdiport usw. 


Reid Probehefte Skizzen, 


Illuitrierte Aufätze 





* koltenfrei * Novellen, Romane 





Als Goethes „Gore“ erfchien, jubelte es auf: „Das iſt deunfch!“ Der [ich 
erkennende deutjche Geift verftand es, [ih und der Welt zu zeigen, was 
Shakefpeare jei, den jein eigenes Uolk nicht verltiand; er endechte der Welt, 
was die Antike fei, er zeigte dem meniclichen Geilte, was die Natur und 
die Welt fei. Diele Chaten wollbrachte der deuifche Geljt aus ſich, aus [einem 
innerjten Verlangen, [ich feiner bewußt zu werden. Und diefes Bewußtfein 
{agte ihm, was er zum erften Male der Weit verkünden konnte, dafı das 
Schöne und Edle nicht um des Vorteils, ja felbjt nicht um des 
Ruhmes und der Anerkennung willen in die Welt ıriti: und 
alles, was im Sinne diefer Lehre gewirkt wird, ift „deutjch“, und deshalb 
ift der Deutfche groß; und nur was In diefem Sinne gewirkt wird, 
kann zur Größe Deuifchlands führen, — 

Richard Wagner, aus: „Was ift deutſch? 


— Große Zeiten ⸗ 


Erzählung von 


Adolf Wilbrandt. (Sorsfegung.) 


e: begann die große Woche, in der alles zur Entjcheidung kam; das Auf- 
flammen der deutichen Empörung über die franzöliiche Herausforderung vom 
Meer zum Feld und vom Fels zum Meer; die Kriegserflärung von Paris nad) 
Berlin; die Mobilmahung Bayerns und der andern jüddeutichen Staaten. Das 
deutiche Gefühl braufte aucd in München auf, jauchzte dem jungen König zu, der 
ſich ſogleich als Schug- und Trußverbündeter zu Preußen geftellt hatte; Helmuth 
von Dorn ftand mit dabei, vor der Refidenz, al3 eine ungeheure Menſchenmenge 
fi drängte, um dem von Hohenſchwangau hereingefommenen König für jeine 
rafche nationale Entfchließung zu danken. Er fah die hohe, jugendliche Geftalt 
ans Fenſter treten, grüßen, ſich verneigen, er hörte den Donner der Hochrufe, die 
vaterländifchen Lieder, die jo viele Taufende anftimmten, und fühlte endlich die 
erfehnte Wonne: nun wachen auch wir Bayern hinein in das neue Reich! — 
Dann folgten zwar noch die Kämpfe im Ständehaus in der Prannerftraße: die 
Römlinge und die Stodbayern unter den Abgeordneten wehrten fich gegen die 
deutiche Strömung, der Preußenhaß jchlug noch einmal mit den ſchwarzen Flügeln. 
Den gut Deutfchen aber wuchs der Mut, fie fühlten den übermädtigen Wind 
der Beit. Es war keine Ruhe mehr in der Welt; eine herrliche, fampffrohe Unraft 
ergriff die Herzen. Das Lied von „Lieb Vaterland" tauchte plößlid) auf, man 
wußte nicht woher, und es ward jchnell der allgemeine Gefang. Die Gleich— 
gefinnten fuchten fih, auf der Straße, im Wirtshaus, in den von deutjcher Muſik 
erflingenden Gärten. Auch Helmuth zog es hinaus, hinaus, ev ward faft ſo 
bausfremd wie in der Studentenzeit. Wenn er nicht im Kolleg dozierte, wanderte 
er in die Kammerſitzungen, zu jeinen Freunden in der Hegierung, neues zu er: 
fahren, abends ins Cafe national, wo viele der feurigſten Patrioten ſich zu— 
11 


162 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


jammenfanden. Es erfüllte ji, was er an jenem Abend im „Eliſium“ zu Marie 
gejagt hatte: das Allgemeine zog ihn aus jeinem inzeldaiein heraus; über dem 
großen Scidjal vergaß er das jeine. 

Sp erging es Marien nicht; ihr erging's fait umgekehrt. In ihr franfes 
Gemüt war an demfelben Abend ein Blit gefahren; er hatte in das Dunkel, 
das fie num fchon fo fange quälte, ein blendendes Licht geworfen, dann war die 
alte Nacht wieder eingefehrt. Aber ein Ahnen war zurüdgeblieben, das ſie nicht 
mehr lusließ; jtürmifcher als je war in ihr der Drang erwacht, fich in dieſem 
Dunkel zurechtzufinden, das Ahnen zum Grfennen zu machen. Sie brütete über 
der Bergangenheit, dev vergejienen, bis zur Ermattung: was hab’ ich erlebt? 
was hab’ id) gefühlt? — Gefühlt? Für wen? Für diefen „Jugendfreund“ Franz? 
Sie fah ihn an, fie horchte auf feine Stimme, fie hörte die warmen, aud) heißen 
Worte, in denen er von jenen Zeiten ſprach. Er hatte geliebt, da$ war nun 
gewiß. Sie au? Sie ihn auch? — Es war ein quälendes, doc auch dumpf 
bejeligendes Suchen, Horchen, über dem fie die Welt vergaß. Ein gefährliches: 
denn all ihre Gedanken kamen zu Franz, drehten fi um Franz, und inden fie 
in die Vergangenheit tauchte, jchlug die Gegenwart über ihr zujammen. 

Franz, in derfelben Gefahr, aber fich nicht vor ihr fürchtend wie Marie, 
fam nun fait täglid in das Dornſche Haus, einen zierliden Neubau in der 
Brienner Straße, den nur fie bewohnten; er brachte zuerjt jeine „Phantaften“ 
mit, dann andere Muſik, fie jpielten mit einander wie in alten Zeiten. Es be- 
günftigte ſie nur zu fehr, daß Helmuth fait nie zu Haufe war; die beiden Männer 
ſahen ſich gar nicht; zuerit verfehlte yranz den Hausherrn, dann diefer bei feinem 
Gegenbeſuch Franz. Beiden war's wohl recht; Eeinem lag am andern‘... . In 
Franz war alles wieder erwacht, was er einft gefühlt hatte; umd nie hatte er für 
ein anderes Weib jo wie für Marie gefühlt. Wenn er mn ihr feines, edles, 
leidendes Geficht jo gedantenvoll träumen ſah, mit allen Seelenorganen belauichte, 
wie fie heimlich über dem gemeinfam Erlebten brütete und verworrene Erinne— 
rungen in ihr zu erwachen jchienen, wenn er die holde, geliebte Frau in diefent 
nachtwandleriſchen Zuftand jah, wie er ihn nod) nie an einem Menſchen geſehen 
hatte, dann ward ihm wohl toll und jündhaft zu Mut. Krieg, Baterland, Ehre 
— er hörte davon reden, aber wie im Schlaf. Eine unglüdlihe Frau erlöſen — 
fie und fich beglüden — das war das deutjche Lied in feinem Herzen. „ch babe 
ein Recht an fie!” damit lullte ev fein Gewifjen ein. Und wenn doch einmal eine 
innere Mahnung ihm zuflüfterte: „Was willft Du bier? Geh! Du haft wieder 
abreifen wollen; nun, fo reif’ doch ab!* dann rief die andere Stimme in ihm, auf die 
er mit wilder Freude hörte: „Ich kann nicht fort, Marie! Ich kann noch nicht fort!“ 

Unterdejjen ging die Weltgejchichte auch im Ständehaus in der Brannergajie 
ihren guten Gang; am neunzehnten Juli fiegte dort die deutfche Sache, die Mehr- 
heit der Abgeordneten bemilligte die von der Negierung verlangten Summen zur 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 163 


Kriegsaufitellung des bayrischen Heers. Am zwanzigiten folgte die Kammer der 
Reichsräte, einftinmig. Am Abend diejes Tags erichien Neichthal im Dornjchen 
Daus, um ſich mit Marie über diefen neuen Sieg zu freuen; doch eigentlich nod) 
mebr, um nad dem Rechten zu jehn; denn wie die beiden „Muſikanten“ mit ein: 
ander verfehrten, wie Marie darüber weltfremd wurde, das geftel ihm nicht. Ihn 
wurmte, daß der Dausherr für fein Daheim feine Augen hatte... Er traf aud) 
die beiden richtig wieder beilammen; ſie ftanden im Salon am Klavier, Marie 
blätterte in Notenheften, die Franz joeben gebracht hatte. Es war nod) vor dem 
Nachtmahl; in diefer Zeit der langen Tage wurde fpät gegeſſen. „sch will nur 
melden,“ jagte Neichthal nach der erſten Begrüßung, „da Marie die Träumerin 
es wohl nod nicht willen wird und Franz der Weltumfegler auch nicht: in 
Bayern find wir nun fertig! Auch die Herren Neichsräte haben das Geld mobil 
gemacht. Der Krieg kann nım allerfeits losgehn. Für die Herren Beinabfäger 
kommt 'ne gute Zeit!“ 

„Bott, Gott, diefer Krieg!” ſeufzte Marie, indem ſie das Notenheft fallen 
ließ. „Dieſer graufame Krieg!“ 

Reichthal verhärtete feinen menfchenfreundlichen Bariton: „Er muß fein, er 
muß fein. Was hilft das alles? — Kann Ehre ein Bein anjeben? Nein, aller: 
dings nicht. Aber kann Unehre das Herz brechen? Jawohl. Dann joll uns alfo 
lieber die Ehre ein Bein brechen, als die Unehre das Herz!“ 

„Wem jagen Sie das?" verjegte Marie. „Eine Frau kann für ihre Ehre 
fterben; warum nicht ein Volk? — Aber mein Gott, das Elend! it denn die 
Welt noch nicht elend genug? Iſt es denn nicht jinnlos, auf diefer mitleidswerten 
Welt zu haſſen, ftatt zu lieben?" 

Statt zu lieben! wiederholte jie in Gedanken; jie jagte es aber nicht laut. 
Sie verfiel wieder in ihr träumendes Starren. Franz hing mit den Mugen an 
ihr. In feiner heimlich jchwelenden Erregung ging's ihm wunderbar: da fie zwar 
aufredht, aber jo bewegungslos daftand, war ihm, wie wenn er jie liegen jähe, 
regungslos ausgeftredt, wie eine Scheintote im Sarg. a, dachte er, jcheintot 
ift Jie! So zur Liebe gejchaffen und zum Glück geboren; aber jtill und Ealt 
und rührt ſich nicht. Sie atmet aber noch, jie jeufzt. Sie will eriwachen. Und 
ich ſoll fie nicht wecken? 

„Und es war einmal eine junge Frau,“ fing Neichthal an, dev ſie auch be- 
trachtete, „die jann und träumte alleweil wie ein junges Mädchen . . .“ 

„Wer?" fragte Marie. 

„Der Zuftand iſt nod im Wachſen: jie hört und veriteht nicht mehr, was 
man zu ihr Spricht! — Wer doc diejen unfähigen Schurken von Vormund fennte, 
der die Dame erzogen hat!“ 

Marie trat zu ihm umd legte ihm eine Band auf den Arm. Ihn nur flüch— 
tig anblidend fragte fie: „Hältſt Du das für möglich, Onkel Reichthal?“ 

1* 


164 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


„Was, mein Sind?‘ 

„Daß, wenn fo eine große Krankheit mit einem naflen Schwamm, wie ein 
Schulmeiſter, über die Tafel gefahren iſt und die ganze Streideperivde eines — 
Gefühls, eines — Grlebnifjes von der Gehirntafel weggewiiht bat — ſodaß man 
nun nicht mehr weiß: was ift erlebt und was nur im Fieber geträumt — daf 
dann doch nod), von außen gemwedt, nad) und nad Erinnerungen erwachen? und 
— und — —" 

Sie verftummte. Sie fah in die Luft; über ihre Wangen ging ein neroöfes, 
den mitleidigen Reichthal ergreifendes Zuden. 

Reichthal blidte von ihr auf Franz; der fchien nicht zugehört zu haben, er 
vertiefte jich in ein Notenblatt. „Meine liebe Marie, gab NReichthal achielzudend 
zur Antwort, „ich bin fein Mediziner, kann es Dir nicht jagen. Das kann id) 
Dir aber jagen, daß Du ein weiblicher Hamlet biſt; — ja, ja, ganz das redjte 
Wort. Sein oder Nichtfein — ſich erinnern oder ſich nicht erinnern! — Hätt'ſt 
Du wenigſtens von mir gelernt, einen Eunftgerechten Salat zu maden; das hat 
mehr Wert als all das Spintifieren. Heut werd’ ich ihn machen; für das Abend- 
eſſen, zu dem ich mich hiermit einlade." 

Marie lächelte liebenswürdig: „Sa, Deinen berühmten Salat! Er erfrijcht 
jo; er fühlt." 

„Es iſt der Salat der Salate! — Und wenn id) ihn für die Frau da mache, 
jo gelingt er mir allemal; Inſpiration. Ich komm’ aljo mit einem vollendeten 
Kunſtwerk wieder, oder nie!’ 

Neichthal ging zur Thür, der Küche zu. „Die zehnte Muje der Kochkunft," 
rief fie ihm nach, „führe Dir den Löffel!" 

Das Wort wedte ein andres in ihm, er kam zurüd, es mußte heraus. „Und 
die elfte Mufe, die der Yebenskunft, nehm’ fich Deiner ein wenig an! Erlaube 
mir die unterthänige Bemerkung; phantafier' nicht zu viel! — Nun madıt fie mir 
böjfe Augen. Es ift doch fo. Du grübelft zu viel! Du bift jchlecht erzugen; daher 
mag’s ja kommen. Du — quälft Di) und mid. Jawohl, Du! Du! — — Ich 
mad’ aljo den Salat!” 

Neichthal ging. Marie ſah ihm beklommen und traurig nad. Franz warf 
auf einmal die Noten mit einer jo leidenjchaftlihen Bewegung aufs Klavier, daß 
jie zufammenfuhr. Dann heftete er die fchwarzen Augen auf fie, die unter jeinen 
Stirnloden hervorflammten, und trat langjam auf fie zu, ohne zu ſprechen. 

Eine plötliche Bangigfeit befiel fie. „Bleiben Sie nur, wo Sie find," ent: 
fuhr ihr. „Bleiben Sie nur beim Klavier, — Warum fpielen Sie nicht?" 

„Warum follt' ich ſpielen?“ entgegnete Franz, mit einem Blid, den fie nicht 
ſehen mochte. „Es hat's ja niemand begehrt.‘ 

„So begehr' ich's jetzt!“ 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 165 


Sie ſah, daß diejer erregt gebietende Ton ihn befremdete; jich verbejjernd, 
lächelnd fette fie hinzu: „Sit es unbefcheiden, franz, wenn ich Sie darum bitte?" 

„So eine Bitte ift Befehl, erwiderte er etwas verfinitert. 

„Bitte, ſpielen Sie mir nod) einmal — ja — die Würzburger Phantafien 
zum Schubert. Und vorher den Schubert.‘ 

Er jeßte fih an den Flügel. „Wie Sie wollen, Marie. — Aber wenn Sie 
mwühten —“ 

„Warum zögern Sie denn noch?“ 

„sch zögere nicht." 

Er fpielte. Marie ließ ſich in einen Lehnjtuhl finfen; eine Hand an der 
Stirn, ihn von der Geite her betrachtend, fiel fie bald in ihren Däntmerzuftand 
zwijchen Sehen und Träumen zurüd. Ach wei es ja! dachte fie, da ein Er- 
innerungsbild, das fie diefer Tage ſchon mehrmals gehabt, in berüdender Scein- 
Elarheit wiederfehrte. Bei diefer Mufif erwacht's! Er ſaß am Klavier wie jekt; 
es war aber nur ein Pianino, unjer Pianino. Und er blidte mich ſchwermütig, 
ltebevoll an... Und id fagte mir — ja, jo war's — oder träum’ ich's nur —: 
du bift ja ein Mädchen, fall’ ihm nicht um den Hals! — Und dann — — 

Es war aus. Sie fuhr ſich mit der Hand über die brennende Stirn; es 
nügte nichts. Won der Tafel weggewiicht, mit dem nafien Schwamm! 

Die innere Unruhe trieb fie vom Stuhl empor; jte ging leife, aber wie im 
trieber über den Teppich bin. Franz bemerfte ed. Mitten in einer Figur brach er ab. 

„Nun?“ fagte fie. „Warum hören Sie auf?” 

„Mir — zittert die Hand,“ antwortete er. Ihm zitterte die Stimme. 

Sie fragte mit einem bangen Lädeln: „Wovon denn?‘ 

„Marie! — Fit es denn möglich? Wiſſen Sie das nicht mehr? Sp, wie id) 
bier ftge, faß ich auch vor viereinhalb Jahren — 

„Sehr möglid,“ unterbrach fie ihn. „IIrgendwo; zu Hauſe.“ 

„Rein, jo wie hier: Ahnen gegenüber. Sie faßen in demjelben Lehnſtuhl, 
ich kenn’ in noch; Sie haben ihn offenbar aus Würzburg mitgebradt. Das 
willen Sie alles nicht mehr? Das it alles hin?" 

Marie begann zu zittern; fie wußte nicht recht, warum; aber jie fürdhtete fid). 
Sie war zum Lehnftuhl zurüdgefommen, der fie nun jo anſah, als erinnere er fie. 
Wieder hineinzufinfen wagte fie nicht; jie lehnte ſich aber auf ihn, fo blieb fie ftehn. 

„sch wollte Ahnen die Phantaſien vorjpielen,“ fuhr er fort, mit jeinem be- 
flemmend weichen Tenor; „zwei Tage vorher, in jener Nacht, hatt’ ich fie kom— 
poniert. Ach — ich brach aber ab, wie jeßt; ich hatte feinen Sinn für Mufif. 
Es war alles wie heut;“ — Franz itand in feiner tiefen Erregung auf — „nur 
waren die Phantafien noch neu, und Sie — feine Frau!“ 

Jetzt bin ich's aber,“ erwiderte fie. 

„Es war der Abend, an dem Ihre Strantheit ausbradh. ch ſeh' Und hör’ 


LER Adolf Kılbrandt. Große Yeiten. 


ums wie damals, ich weiß jedes Wort! Ich ſaß da und Eonnt nicht mehr ſchwei 
gen, ich jagte „ihnen, daß ich Sie liebte. Und Sie —“ 

Marie itarrte ihn mit unaufbaltiam Fragenden Augen an. „Und id —“ 

„Zie fagten mir fein Wort; aber Sie fchauten auf mich mit einem Blid, 
der mir Ihr ganzes Herz — — ! Und ich Stand auf. Und ging jo auf fie zu —“ 

Dit einer halb unbewußten Geberde wehrte fie ihn ab: „Stehn Sie jtill.“ 

„I Marie!” 

„Stehn Sie ſtill. — Und ih —“ 

„Franz! ‚Franz! jagten Sie. Und als Sie dann aufitanden, mir entgegen: 
traten —* 

Ich!“ 

„Und Ihnen das Wort auf den Lippen lag —“ 

„Nein, nein!“ 

„Warum verlieh Sie da auf einmal die Kraft? in dem Angenblid? Warum 
mußten Sie ſtumm zulammenbrechen — in meinen Armen... ‘a, in meinen 
Armen — da lagen Sie — zum erften und fetten Mal! — Marie!“ 

„Yajlen Sie meine Hand.“ 

„Marie, warum liegen Sie ſich aus meinen Armen auf das Krankenbett 
tragen, und itanden evit nadı Monaten wieder auf? Ind nur um mid) grenzenlos 
elend zu machen — ja, Sie! Wenn Ihr Derz, das mich lieb hatte, an diejer um: 
finnigen Krankheit jtarb, und nur ein öder, falter, erinnerungslofer Reit Ihrer 
Seele — — Sie gehörten mir! Mir allein! Und num ſteh' ich da — vor Ihnen 
— Sie jind aber die Frau eines andern... Das it gegen die Natur, Marte! 
Das nimmt mir die Vernunft!” 

Das nimmt ihm die Bernunft! ſauſte es durch ihren Kopf; ihr war zu Mut, 
als hätte er Recht. Nur mit ſchwacher Stimme bradıte fie hervor: „Sie jind 
von Sinnen. Gehn Sie, gehn Sie..." 

„Marie!“ jpradı er weiter; jie wollte ibn hindern und konnt' es nicht. 
„Jugend, Schidial, Yiebe hatten uns für einander beſtimmt! Sie find eine un 
glüdliche Frau; — Ichütteln Sie nicht den Kopf, lügen Ste doch nicht. Ich ſeh' 
Sie nur an ımd ich weik es. Sie waren mein! Sie find es noch! Und jo 
wahr ich Sie liebe — und Sie mich nicht haſſen — wir haben das ewige Kedt, 
Marie, unfern Schidialsbecher auszutrinfen — * 

Er kniete nieder. „Marie! Marie!” 

„Dore!“ rief fie nun auf einmal laut; ſie hatte nach Puft, nadı Stimme 
gerungen. Ahr Nel in ihrer Empörung, ihrem Entſetzen nichts anderes cin, als 
nad der alten Köchin zu rufen. „Dore!“ wiederholte fie. 

Franz Jprang auf. „ber Marie — * 

Zie wid) hinter den Lehnſtuhl zurüd. Ihre Augen jaben mit Daß auf ihn. 
Damm, nach einem tiefen Atembolen: „Gehn Ste! Fort, fort, fort!” 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 167 


Die Thür vom Speilezimmer ging auf; es erſchien aber nicht Dove darin, 
ſondern Reichthals hellgrau gefleidete, wohlbeleibte Gejtalt. Mit vollendet harm— 
loſem Geficht lächelte er herein, wie wenn Marie nur geflingelt hätte. „Die 
Köchin wird gerufen, der Koch tritt an! Was befiehlt unſre gnädige Frau?" 

indem Marie an Franz vorbeiging, Eonnte fie ihm zuraunen, ohne daß 
Reichthal es bemerken Eonnte: „Sie werden gehn, auf der Stelle." Mit aus- 
reichend Elarer und feiter Stimme fagte fie dann laut: „Franz will leider vor 
Deinem Salat wieder fort; er bat fid) verabredet. Deine Muje jchafft alſo heut 
nur für mid.” 

„Ah! Und ich wollte eben melden, daß fie fertig it!“ 

Franz nahm feinen Hut. Er vermochte kaum zu verbergen, was in ihm 
vorging, vermochte nicht zu fprechen. Nur ein ausdrndslojes Lächeln ivrte über 
jein Gefiht. Ein Wetterleuchten düfterer Scham oder Neue folgte. So ftand 
er vor Marie und reichte ihr die Dand. 

Sie nahm fie, um nicht aufzufallen. „Ich will Sie nie wiederjehn,” hauchte 
fie ihm zu. „Nie!“ 

Er verneigte jih. „Gute Nacht!” jagte er dann, grüßte Reichthal und ging. 

Was hat's hier gegeben? dachte Reichthal, noch völlig unficher zwilchen 
Angft und Freude. Er bradite aber wieder ein ımbefangenes Lächeln zumege: 
„Soll ic) alfo anrichten lajjen, gnädige Frau?“ 

Großer Gott! durchfuhr es Marie, als fie diefe Worte hörte. Pebt dem 
Reichthal gegenüberfißen! ihm in die Augen jehn! Sie lechzte nad) nichts als 
Einfamfeit. Sie fchüttelte den Kopf. „Armer Onkel Reichthal!" ſagte fie, ſo 
qut ſie fonnte. „Dein Salat ift fertig — und nun findet jich niemand, der ihn 
eſſen will! — Bitte, bitte, fchilt nicht. Beweiſ' mir nicht wieder, daß ich unbe— 
vechenbar bin, daß ich Launen habe. SKopfweh! Das einfeitige! ch hab’ es 
auch Franz gejagt; auch darum ift er jo früh gegangen. Komm morgen wieder! 
‘ch leg’ meinen Kopf aufs Bett. Gute Nadıt!“ 

Sie nahm die Hand von der Stirn, winkte ihm damit und ging. 


3 * 
+ 


Franz verichwand aus München. Am zweiten Tag nach diefem Abend 
kam ein Zettel, an Reichthal, nicht an Marie: er habe jich ins Gebirg begeben, 
er ziehe dann wohl gleich von dort weiter nach Berlin. Seine leicht erregte 
Seele war erichüttert; diefe plößlichen Rufe „Dore! Dore!* waren ihm durch 
Mark und Bein gegangen; Mariens tiefer, feindlich erniter, ſchmerzuoll vorwurfs- 
voller Bli hatte ihm das Herz umgekehrt. Sich ganz von ihr loszureißen fehlte 
ihm zwar die Kraft; er floh nur in die bayrischen Berge, in der Hoffnung — 
oder auch Furcht —, er werde dann weiterfliehn. Er fuhr und wanderte nadı 
Tegerniee, nach Kreuth, über die Höhen ins Narthal, dann zum Walcheniee. 


168 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


Während die deutjchen Soldaten in endlofen Zügen, Tag und Nadt, gen Weiten 
zogen, um fich zu großen Heeren zu ſammeln, irrte er zwiſchen Wäldern und 
Felfen herum, gegen den Feind in fich jelber kämpfend. 

Auch in Marie war der Krieg; fie fühlte es zu ihrer Scham und Not. 
Eine furchtbare Ermattung war nad) diefer Trennung von franz über fie ge- 
fommen; ein Gefühl, als habe fie ihre Nugend zum zweiten Mal verloren, und 
nun für immer. Dann ftieg’3 aber in ihr auf wie ein Aberglaube: Franz hat 
ein Recht auf mich! Ich bin noch in feiner Schuld! Und diefe Gedanken, wenn 
auch mit Empörung fortgewiefen, kehrten immer twieder, wie in einem fiebernden 
oder überreizten Hirn diefelben Borftellungen jich im Kreiſe jagen. ihre Ge- 
jundheit nahm ab; fie fchlief nicht mehr... Die Srtegsvorbereitungen, Die 
Mobilmahung hüben und drüben, gingen unterdejjen ihren jtillen Weg. Die 
erſten Vorpoſtenſchüſſe an der Grenze, bei Saarbrüden, fielen. Auch das 
Mitleid machte mobil, die freiwillige Krankenpflege ward vrganifiert, um zur 
vechten Zeit ins Feld zu rüden, freiwillige Sanitätstruppen begannen jich zu 
bilden. Der fiebenundzwanzigfte Juli kam heran, für München ein größter Tag: 
der Kronprinz von Preußen, der berufene Deerführer der „dritten Armee“, dar- 
unter aller füddeutichen Truppen, zog durch das ihm entgegenjubelnde bayrijche 
Land zur Hauptftadt, um vor feiner Fahrt über den Rhein König und Volk zu 
begrüßen. Die fih vor vier Jahren, zum leßten Mal, als Feinde gemefjen, 
fahen ſich nun als Waffenbrüder in die Augen. Zulammen mit dem bayrifchen 
König, der ihm bis Röhrmoos entgegengeeilt war, fuhr der Kronprinz ein. Der 
Bahnhof war in einen Garten verwandelt; an den Flaggenſtangen hingen 
Schilder mit dem preußiichen Ndler, flatterten bayrifche, preußifche, norddeutjche 
Bundesfahnen. Wer ein Seheranuge hatte, konnte auch ſchon das Vierte und 
Reste flattern jehn: das Banner des Deutjchen Reichs! 

An fo einer Scidfalsftunde fehlte Helmuth nicht. Er wanderte am 
Morgen zum Bahnhof, allein; jeine Seele, ahnungslos, was diefer Tag ihm 
noch bringen werde, ganz von vaterländiichen Gefühlen erfüllt, zitterte vor Freude 
und Dankbarkeit. Unterwegs jollte er dod noch ein Mißgefühl erleben, das 
einzige diefer Art, das ihm bisher begegnet war: ein junger Mann, den er jeit 
Jahren kannte, ein Schriftiteller, ‚selir Bergheim, trat ihm in den Weg. Es 
war ein Elſäſſer von Geburt, der aber jchon lange in Süddeutichland lebte; jetzt, 
da der Krieg erklärt war, wollte er zu den Verwandten nad Straßburg zurüd. 
An diefem Tag der Erhebung zeigte er ein kränklich ſorgenſchweres Geficht. Auf 
Helmuths verwunderte Frage ſchüttelte er den Kopf, brach in Klagen über die 
„verpfuichten Zeiten“ aus. Mit den Preußen, die da heute fümen, füme die 
Miſere; die Neutralität der deutihen Südftaaten fei fchon verloren, nun werde 
auch das Sclimmere kommen: der Berluft der „Fitddentichen Nationalität“. 
Diefe beiden Worte hatte Helmuth noch nie zufammen gehört. ‚Er ſtand ein 


Adolf Wilbrandt, Grohe Zeiten. 169 


paar Augenblide und wußte nicht, ob er lachen oder wettern ſollte. Er that 
feins von beiden: ohne ein Wort zu erwidern, ließ er den Mann jtehen und ging. 

Ihm ward wieder wohl, als er in der Volksmenge am Bahnhof, einer von 
Tauſenden, in das Gedränge eingefeilt, daS Lebermaß der gemeinfamen Freude 
fühlte; als der Kronprinz Friedrich Wilhelm an des Königs Seite im offenen 
Wagen, von Küraffieren geleitet, zum hohen Thor des Bahnhofs herausfuhr. 
Unermeßliches Jubeln und Jauchzen braufte ihm entgegen; auf dem Plat und 
weiter, den ganzen Weg. Es war Helmuth, als riefen alle die Stimmen: Du 
wart unfer Feind, Du wirft uns nun zum Siege führen, wir vertrauen auf 
Did! Und dazwiſchen jchien nod; eine Stiinme zu jagen oder zu flüftern, Feine 
Menichenftimme: Heil Dir, zufünftiger Sailer des neuen deutichen Reichs! — 
Dem ahnenden Helmuth wurden die Augen feucht. Er hörte den Jubel in der 
Ferne verhallen, er ſchob ſich noch eine Weile im Gedränge weiter, das Bolt 
verlief jih; er ging langjam, träumend nad Haus. Zuweilen blieb er ftehn, 
über diefe Wendung der Geſchicke von neuem ftaunend, in ftiller Wonne den 
Kopf Ichüttelnd. Es war ſchon Eſſenszeit geworden, als er endlich heimkam. 
Sein Herz z0g ſich zufammen, da er num gleichjam wieder aus der Welt heraus 
war, am Tiih mit Marie allein, gegenüber ihrem blafjen, fremden, freude: 
loſen Geſicht. 

Er fühlte auf einmal, vielleicht ſtärker als je, wie freudlos es war. Ihm 
ſelber verging das Glücksgefühl; ein Schmerz zog durch ihn hin, für den er 
feinen Namen hatte. „Marie,“ ſagte er nach einer Stille, „ich hab’ auch für 
Dih ein Billet zu heute Abend, wenn Du willit. Sie jpielen Walleniteins 
Lager, weißt Du; vorher ein Prolog. Es ift ja nur, damit man fie jieht, im 
der großen Loge, den Kronprinzen und den König, und die Königin Mutter und 
Otto; damit man ihnen zujauchzen fann. So was Feſtliches, das könnt'ſt Du 
brauchen. Denn Di) packt's doch auch. Und Du ſiehſt aus, als — als 
fehlte Dir's!“ 

„AS fehlte mir was?" fragte Marie, indem fie matt von ihrem 
Teller aufjah. 

„greude. Deiterkeit. Glück. — Und es ijt doch jeßt fo viel davon zu haben; 
jie verkaufen es auf der Straße — umd ganz umſonſt. Willft Du alfo heut 
Abend mit?" 

Sie jichüttelte den Kopf. „Bitte, dent nicht: GHleichgültigkeit! Meine 
Nerven vertragen'3 nicht. Sie — fcheuen ſich vor allem, was ſie angreift, auf- 
regt; fie ſind jonderbar jchwach geworden. Sie werden wieder bejjer werden. 
Gewiß, gewiß; hab’ nur noch Geduld!” 

Die hab’ ih ja, dachte er. Dder nicht? — Was thu' ich ihr? Trag' ich 
nicht jo ftill wie möglich, daß mir felbit in dieſer großen Zeit jo wenig zu— 
jammenftimmen? — Er erwiderte nichts, er aß itumm, ſie aud. Seine Ge— 


170 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


danfen gingen aber diefes Weges weiter; ihre Bläfje, das Fiebernde, Geipannte 
in ihren abgezehrten Zügen — es war ihm noch nie fo aufgefallen — weckte 
allerlei in ihm. Warum lebt fie fo wenig mit? fragte er fih. Sie hat ja dod) 
ein deutiches Herz? Was quält fie denn, was zehrt an ihr, daß fie. ich aus der 
Belt zurückzieht, jtatt hinanszujauchzen? Nur unsre mangelhafte Harmonie? — 
Er Ichüttelte ummilltürlich den Kopf. Die ift ihr jo wenig neu wie mir. Die 
macht ihr nicht ſolch' ein Geſicht! — Andere Gefühle? — Er erbebte; zum 
eriten Mal. Eben zudte etwas in ihren Zügen; als rege ſich da irgend eine 
Empfindung, von der er nichts wußte — eine Seelenwelle — ein Geheimnis, 
von den er feine Ahnung hatte . . . Diefer Klavierſpieler? fuhres ihm durch den 
Kopf. Diefer Jugendfreund? — Der tft ja aber fort? 

Er fahte ji, er jagte diefe Gedanken weg. Das Mittagsmahl war zu 
Ende, fie trennten ſich; Helmuth ging in jein Zimmer, die legten Borlefungen 
dieſes Semefterd vorzubereiten, um dann ins Theater zu gehn. Marie war 
allein. Sie hatte jich nach der Einſamkeit geiehnt, nun bangte ihr doch auch vor 
ihr; denn die Vorftellungen und Gefühle, die jie empörten, die fich mit Franz 
und feiner Liebe, feinem „Net auf fie" beichäftigten, fchlichen dann immer 
wieder wie leife rafchelnde Schlangen aus ihren Verſtecken hervor. Sie floh zu 
den Bücjern, zu den Zeitungen; es wollte aber die rechte Andacht nicht kommen. 
Ein weiches Mitleid mit ich ſelbſt, ihrer tapferen Natur ſonſt ganz zuwider, 
fegte fich wie eine feucht ſchwüle Yuft auf fie. Endli war der Abend da, die 
Dämmerung drang langſam ins Zimmer. Marie zündete eine Lampe an und 
nahm eine weibliche Arbeit zur Dand, um etwas zu thun. 

Dore trat herein, die Köchin, das alte Familienſtück des Dornichen Hauſes, 
früher „Mädchen Für alles", da ſie valtloje Arbeitsluft und einen rührenden Ehr— 
geiz hatte; jegt fühlte fie doch ihre Gebrechen und aud ihre Jahre und ließ eine 
zweite Dienerin neben jid) gelten. Sie kam mit einem Brief in der Hand, den 
ſie nachdenklich betradjtete. „Was haben Sie da?” fragte Marie. i 

„Das iſt nicht von der Bolt,” antwortete Dore; „das hat man mir fo in 
die Hand geitedt. Ach ſteh' eben vor der Dausthür, bei dem Schönen Wetter; da 
ſteht auf einmal der Herr Yiebenau da, der jo fchön Klavier |pielt — ordentlich 
braun im Geficht geworden; wohl viel in die Berg’ berinngeftiegen — und hält 
mir das Billet bin: ‚Guten Abend, Dore; geben Sie das Ihrer gnädigen 
rau!’ * 

„Na, fo geben Sie ber,” fagte Marie, ihren Schreck verbergend. Sie 
nahm den Brief, ſo gleichmütig, wie wenn fie ihn erwartet hätte, und während 
die Alte in das anftoßgende Boudoir verſchwand, machte jie ihn auf. Franz hatte 
mit jeiner fleinen, haſtigen Schrift nur die erfte Seite beichrieben: „Liebe gute 
Marie! Ich wollte Ihren Willen thun umd nicht wiederfommen. Seit einer 
Stunde bin id) aus dem Gebirg zurüd. Mein, fo darf's nicht enden. Das wär’ 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 171 


ein Unrecht gegen uns beide, und Schmach für mich! Ich will ganz ruhig jein, 
ganz Entjagung. Geben Sie mir nur noch einmal Gehör! 

Sie find jtolz, Sie find gerecht, Sie jagen mir auf dieſe legte Bitte nicht 
Nein, Oder fürchten Sie jih? Haben Site nicht den Mut?“ 

Marie zerdrüdte den Brief; fie jchüttelte langjam den Kopf. Nein, dachte 
je, ich hab’ nicht den Mut. — O mein Gott! — Zufammenichaudernd, wie noch 
nie, legte jie ji) beide Hände vors Geſicht. 

Ein Geräuſch erjchredte ſie, daß fie auffuhr. Sie ſah Dore im Zimmer 
ſtehn; und fie wußte doch, die war hinausgegangen. „Sie ſchon wieder dar" 
jagte fie, indem jie nach Ruhe rang. 

„Ich war im Boudoir der gnädigen Frau. Da mußt' ich ja doch hier 
wieder durch.“ 

Marie betrachtete die Alte mit einem raſchen, forſchenden Blid; hatte jie 
die Hände vor ihrem Geficht geſehn? Dore ftand aber jo harmlos da wie font, 
ihre treuberzig Elugen Haustierzüge hatten vffenbar nicht8 zu verbergen. 
„Warten Sie noch!" vief Marie mit plöglichem Entſchluß, da die Alte ging. Sie 
trat an ihren Schreibtisch, Jette Jich und tauchte die Feder ein. „Ich hab’ Ahnen 
gejagt,“ ſchrieb ſie mit feiter Dand auf ein Briefblatt, „ich wollte Sie nie wieder 
ſehn. Sie haben mir gejagt, meine Wünfche jeien Ihnen Befehle! Marie.“ 

Sie Schloß den Brief, machte die Aufichrift, beflebte ihn; dann gab fie ihn 
der Dore hin. „In den Briefkaſten!“ Dove nickte und ging. 

O welche Schmach! dachte Marie, als fie wieder allein war. Ach hätte 
nicht den Mut, ihn zu ſehn! — Sie war aufgeitanden, fie blickte an jich hinunter, 
ſah fi dann im großen Spiegel ftehn; „das it ja nicht mehr Marie Dorn!“ 
murmelte fie in der Mufregung vor ſich bin. „Das it eine andere Frau! — 
Was ich auch alles träume — was ich denfe — was id; mit mir Ipreche — wie 
jeßt. Gott, mein Gott, was ift über mich gekommen!” 

Sie ſchaute jich wieder im Spiegel an, erichraf vor dem fremden Geſicht, 
das jo wenig Blut und jo tiefe Augen batte; darüber ward es aber allmählic) 
wieder das alte, befannte, nur fchmerzvolle und ſich wundernde Geſicht. Als 
wäre jie zu zwei Menſchen geworden, die einander quälten . . . Doch wer 
von den beiden hatte nun Recht? Warum nicht der neue? Kin Gleichnis fiel ihr 
wieder ein, das ſie in der legten jchlaflofen Nacht gemacht, das ſie beinahe in Verſe 
gebradıt hätte: Mix it iwie einem Baum, der dem Winter verfprochen bat, ſchwarz 
und fahl zu bleiben; aber der Frühling kommt, und taufend Knoſpen brechen 
wie taufend falihe Schwüre aus ihm hervor! 

Es dauerte nicht lange, ſo kam Dore zurüd, abermals einen Brief in der 
Dand, diesmal verwundert und befvemdet, wie es fchien. „Bier, gnädige Fran,“ 
jagte fie, während jie herantrat. 

„Was tit das?" 


172 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


„Die Antwort. Der Herr hat mir Ahr Billet jelber abgenommen — “ 

Marie fuhr auf. „Wo denn?“ 

„Draußen, vor der Hausthür; ich wollt" zum Brieffaften. Er hatt‘ ja wohl 
gewartet, er ftand da noch. Und hat eins zwei drei mit feinem Bleiftift geant- 
mwortet; der hat ja wohl die Taſch' voll Billeten!“ 

Was beit das: antworten? dachte Marie. Sie riß das Briefchen auf 
und las: „Vergeben Sie mir, Marie, wenn ich diesmal nicht gehorhe! Es ift 
Ihre und meine heilige Pflicht, und nod einmal zu jehn. Verzweiflung macht 
fühn! ch weiß, Sie find allein zu Haus. Gin viertel nach neun, oder halb 
zehn, werd’ ich wiederfommen und Ihrer Dore jagen, daß id; Ahnen eine 
wichtige Nachricht bringe. Und dann werden Sie gütig fein, dent’ ih, und 
mich empfangen — “ 

Nein, rief es in ihr, ich werd’ ihn nicht empfangen, er wird mich nicht 
Anden! Wofür hält er mich? — Sie überflog die legten Zeilen, die Unterjchrift, 
fie hätte faft den Brief zerriiien; ihr fiel aber Dore in die Mugen, die drei 
Schritte entfernt noch daftand, ald warte fie auf eine zweite Antwort oder 
wenigſtens einen neuen Befehl. „Geben Sie mir meinen Hut, mein Mäntelchen,“ 
ſtieß Marie fait zu haſtig hervor. „Ach hab’ noch einen Gang. Zu Eliſe — — 
zu rau von Plauen. Um halb elf joll die Erescenz mid abholen.“ 

Dore nidte. „Und jegt?” 

Jetzt geh’ ich allein.“ 

„Es wird ſchon Nacht, gnädige Frau.“ 

„8 iſt noch hell genug!” 

Er ift toll! dachte Marie, während Dore ging und fie in ihre Dandichube 
fuhr. Und idy werd’ es. Fort, fort, fort! — Er komme nur mit feiner „wichtigen 
Nachricht“. O wie Hug er ift! Sich fo den Einlaß zu erzwingen ... Er 
treibt mich aus meinem eigenen Daus. Nein, nein, nein, ich will ihn nicht ſehn! 

Dore fam mit Mantel und Hut, Marie lief die Treppe binunter und trat 
auf die Straße. Es dämmerte noch; die Luft war ſchwül. Nach ſchönen 
warmen Tagen begann eben eine Getwitterzeit; zuweilen zudte ein Wetterleuchten 
zwilchen den in Gärten liegenden Häufern auf. Marie jog die Luft in fich ein, 
ihr fchien fie wie Erquidung. Es war ein Dürften, ein Lechzen in ihr, das trank 
num den Atem der ſinkenden Nacht. Schwere Düfte famen von den Gärten 
ber, fchmeichelten jich wie Wellen heran. Bon den Hauswänden flutete noch die 
Wärme, die die Sonne zurüdgelaffen, und legte fid) ihr wie warme Hände auf 
Wangen und Stirn. Auch der Gewitterichein that ihr wohl. Es war, wie wenn 
lauter verwandte Elemente zu ihrer Seele ſprächen . . . Sie floh aber dod 
weiter, es trieb fie fort. Wer trieb fie? Sie wußte nicht mehr, wer in ihr 
regierte. Zuweilen jtand sie ftill, den Kopf jchüttelnd, die Augen jchliegend; 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 173 


dann fuhr fie auf, als hörte fie etwas PVerfolgendes hinter fich, und in einen 
leiſen Taumel, mit balbgeöffneten Lippen, ſchwankte fie dahin. 

Sp kam fie zum Königsplat, zu den Propyläen; durch die Quifenftraße 
zogen marſchierende Soldaten heran, fie hörte den dröhnenden Schritt. Setzt 
marſchierten fie hinter dem marmorweiß leuchtenden Thor vorbei, dem Bahnhof 
zu; ihre Muſik fegte ein, die Trompeten jchmetterten fröhlich Eriegerifch in die 
junge Nacht. Marie blieb ftehn; es lief ihr über die Haut. Da ziehn fie in den 
Krieg, dachte fie, all das junge Blut; und wie fchreiten fie aus und wie jauchzen 
die Hoboen, Poſaunen und Trompeten, als ging’ es fo recht ins Leben hinein! 
— Und mas thu’ denn ih? Bin doc; aud ein deutjches Kind. Weiß, wofür 
ie fämpfen werden und fterben; und fo friſch und fröhlich hinaus für ihre Ehre 
und Pflicht — Taufende von Opfern — für ihre Ehre und Pflicht... . 

Sie drüdte die naß werdenden Augen zu; erfchüttert, wie noch all diefe Tage 
nicht, in ſich jelber fo Elein geworden, ftand fie da, bis alles vorüber war, der letste 
Soldat und der lette Ton. Dann eilte fie ohne Ruhe weiter; endlich ftand fie in 
Elifens Gartenzimmer nnd jah in deren verwundert fragendes Geſicht. Sie warf 
ihr Mäntelchen ab, e8 lag wie eine Laft auf ihr. Sie nahm Elifend Arme und 
drüdte fie. „Eliſe!“ jagte fie ohne weiteres. „Wie fängſt Du’s auf Ddiefer 
wunderbaren Erde an, glüdlich zu fein?“ 

„Kommft Du darum ber," war Elifens Antwort, „um mic das zu fragen?“ 

„Ach, nur nicht fo lächeln. Sag's!“ 

„Haft Du wieder einen ganz verrüdten Tag? — Warum ich glüdlich bin? 
Das könnt'ſt Du doch wiſſen. Mit meinem guten, gezähmten Tyrannen, 
meinen beiden Eleinen Liebehens, meiner Nähmaſchine — " 

„oh! Oh!“ 

„sn diefem gemütlichen, idylliichen — * 

Marie legte ihr eine ihrer falten Hände auf den Kleinen Mund. „In 
diefem Einerlei, diefer Proja ift ihr mwohl! ift fie glücklich!“ Sie jchüttelte den 
Kopf, und ihre Arme zitterten nad. „Nein, lieber in einem wilden Strudel 
untergehn — den Schaum mit den lechzenden Lippen trinken — und dann nie 
mehr fein! So hätt’ ich doch wenigſtens im Sterben gelebt!" 

Elife machte ihren Arm los, den Mariens linte Hand noch hielt; etwas 
verleßt verzog fie die Lippen. „Diefe ewigen bizarren Phantafien! — Es ift 
beſſer, ich hol’ meine ‚Broja', meinen langweiligen Tyrannen, und wir !reden 
was Bernünftiges.” 

„Hab' ich Dich beleidigt?” 

„DBielleicht.“ 

„Ad verzeih mir. — Eliſe! Eliſe!“ 

Marie warf ſich an ihre Bruft. Dort lag fie eine Weile. Elife hielt fie 
mit den Armen, aber nicht feft, nicht recht mit dem Herzen. Ihr war nicht wohl 


174 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


bei diefem Ausbruch, jie wußte nicht, was fie davon denfen ſollte. Sie jchmwien. 
Allmählich enttäufcht oder ernüchtert löfte ſich Marie von ihr und trat ein paar 
Schritte zurüd. 

„Was haft Du?" fragte Elife jest. „Was willit Du?“ 

„Ah ja — Du biſt glüdlih. Manchmal denf ich wohl auch: könnt' id 
mein Schiefal mit Dir taufhen — — aber um Gotteswillen, das wär Dir 
nicht recht. Mein, jo meint’ ich's nicht. Könnt' ich Div darin ähnlicher werden, 
meint’ ich; fo ähnlich, wie ich Dir einft in der Handichrift wurde, weist Du 
noch? — Dann denk' ich aber wieder — —“ 

Sie ſprach's nicht aus, ſie bewegte nur den Kopf wie in einem rhythmiſchen 
„Mein — nein!" bin und her. 

„Was hat man Dir demm nur gethan, Kind, dat Du fu verftört biit? - 
Sie antivortet nicht. — Wollen wir in den Garten gehn? Willft Du was ge: 
niegen? Gin Glas Wein?“ 

„Nichts, nichts.“ 

„Willſt Du meine Kleinen Sclafragen ſehn? Sie haben ſo rote Bäckchen, 
wie es gar nicht giebt.“ 

„war nur.“ — Vielleicht wenn's meine eigenen wären! dachte Marie. Aber 
das alles nützt mir nichts. Diefe gute, glückliche Frau — und ihr Mann — ihre 
Nähmaſchine — ad), dus rettet mich nicht! 

Auf einmal fuhr fie zufammen: die Uhr auf dem Spiegeltiich Ichlug ein 
Biertel. Sie blidte hin; ja, ein Viertel auf zehn. Im nächjten oder im jelben 
Augenblid Schoß ihr durd; den Kopf, durchs Derz: Nah Haus! Ihn nod 
einmal jehn! Franz, deifen weiche, antlagende Stimme jie gehört hatte, während 
Elife ſprach, Franz, der jeßt hinter der Glasthür im Garten zu ftehn und mit 
blafiem Geſicht zu winken ſchien — ja, ihn doch noch ſehn! — Sie griff nad) 
ihrem Mäntelchen. Sie rückte an ihrem But, der, als fie an Elifens Bruit lag, 
ich verichoben hatte. „'s iſt viertel,“ ftieß fie heraus. „Dann geh’ ich!“ 

„Was? Du willft Schon wieder fort?" 

„sch wollt! Div nur Guten Abend jagen. Ach lief ein wenig durch die 
Gaſſen: Luft! Mir war fo ſchwül. Da kam ich auf einen Sprung berein. 
Ach ja, ich bin heut etwas verrüdt. Das Wetter. Morgen it's vorbei. 
Gute Nacht!“ 

„sch laſſ' Di nah! Haus bringen — " 

„Kein Gedanke. Nicht nötig. Schlaf gut!” 

Marie rannte fort. 

* * + 

Sie fam wieder in ihre Wohnung; es waren nod fünf Minuten vor halb. 

Franz war offenbar noch nicht dageweſen, Dore, die ihr öffnete, hatte nichts 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 175 


gelingt. In ihrem Zimmer ans offene Fenſter tretend, warf fie Gut und 
Mantel hinter ſich, unbekümmert, wohin ſie fielen, viß die Handſchuhe von den 
Fingern und rang nach Atem. Ihre Hände froren. Ihr Derz ſchlug, als ſäße 
das Gewitter drin. Das ferne Wetterleuchten über den Häuſern und Bäumen 
zucdte ihr durch den ganzen Leib. „Was will ich thun?“ ſprach fie vor jid hin, 
und immer wieder; „was will id) thun?“ — Sie horchte und ſchrak zuſammen: 
jein Tritt! hinter ihr! — Nein. Sein Tritt. Nur ein Hämmern in ihrem Ohr. 
Was will ich ihm jagen? fragte jie fi, die Hände auf ihrer Bruft. Was will 
ich ihm jagen? 

Draußen war e3 fo tötlich jtill; auf einmal fingen fie an zu fpielen, zu 
blafen, in einem Wirtgarten drüben in ihrer Brienneritraße. Am zweiten Ton 
erkannte jie's: „Die Wacht am Rhein“. Das deutfche Lied, das jeßt jede Kehle 
lang, jedes Ohr begehrte; e8 war wie vom Dimmel auf die deutiche Erde gefallen. 
Saum hatten die Mufitanten den Anfang geblafen, jo fielen auch jchon die 
Stimmen ein, zuerit wenige, dann mehr und mehr, und mit voller, jubeln- 
der Kraft: 

„Es brauft ein Ruf wie Donnerhall, 
Wie Schwertgeflivv und Wogenprall: 
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutſchen Rhein 
Wer will des Stromes Hüter fein? — 
Yieb Vaterland, magit ruhig jein, 
Feſt Steht und treu die Wacht am Rhein!“ 


Marie zitterte. Borgebeugt, während ihr die Hände niederjanfen, jtand jie 
am Fenſter und laufchte. Sie glaubte jedes Wort zu verftehen, denn jie kannte 
und wußte fie. Es kam über jie und jie fang mit; — plößlich brach jie ab. 
Ein fchredliches Gefühl ſchlug ihr auf die Bruft: ich darf nicht mitfingen! Die 
alle dürfen’s, ich nicht! Was thu' ich hier? Was will ih? Was will ich? 

Sie ſank auf einen Stuhl am Fenſter. Sie legte ſich die Hände aufs 
Herz, weinte, ſchluchzte laut. 

Reichthal trat ind Zimmer; er war im Theater geweſen, wo fie den Kron— 
prinzen von Preußen bejubelt hatten, es trieb ihn her, ihr zu berichten, wie 
ihön es war. „Marie!" rief er erfchroden aus, als er jie weinen hörte. 

Sie fuhr mit Entjfegen vom Stuhl empor. „Wer fpriht? Wer ift da?" 

est Jah fie, es war nit Franz. „Reichthal! — Wie kommſt Du — Du 
hierher? Was ſtehſt Du da wie ein Geiſt?“ 

„Sch?“ fragte er zurüd. „Sch doc nicht. Aber wie ſtehſt Du vor mir 
da? Wie ein Bild des — “ 

„Wie was?" 

„Marie! Sind!” 

Sie hob die Hand, es brach aus ihr hervor, alles, was jie fühlte. „Still! 


176 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


Sag mir nichts. Ach weiß jedes Wort, das Du jagen willft. Na, ja, ja, es iſt 
fo! Ach bin ein jchlechtes, erbärmliches, elendes Geſchöpf — “ 

„Marie!“ rief er tieferichroden dazwiſchen. 

Draußen fangen fie nod, fie hörte es, fie ſprach unaufhaltiam weiter: 
„Nicht wert, daß mich die Sonne bejceint! Keine deutiche Frau! Eine, die 
fi} verderben, entehren wollte, jet, in diefer Stunde —“ 

„Nein, nein, nein!" 

„Ein Weib ohne Treu’ und Glauben. Ta, ja, ja! Haß mid, verachte 
mich — jo wie ich mich haſſe und veradte!" — Sie wollte mit beiden Fäuften 
auf ihre Bruft ſchlagen, ihr ging aber der Atem aus. „Luft!“ fchrie fie noch 
mit dem Reſt ihrer Stimme. Dann ftürzte fie auf den Fußboden hin. 

Neichthal ftand entießt daneben, zuerft wie betäubt. „Marie! Marie!” 
ftammelte er, al8 er an ihrem Kopf auf den Knieen lag und in die blidlos 
itierenden Augen ſah. „Steh' auf! steh doh auf! Wenn nun jemand käme! 
Er verjuchte fie emporzuheben, aber in der Aufregung ungeichidt oder zu Eraftlos, 
vermochte er's nicht. „Wie kannſt Du jo fluchen,“ vaunte er dann, da fie nicht 
ganz bewußtlos jchien; „noch it ja nichts verloren; Du wolltejt nur, jagit Du. 
Kind, Kind. Tod und Teufel, wach auf! Steh auf!" 

An die Thür hinter ihm ward geflopft; vor Schred hielt er den Athen an. 
Nach einigen Augenbliden — er hatte den Kopf gewendet — ſah er die Thür 
aufgehn und Franz erfchien. Nun begriff er alles. Die Mufit, der Geſang 
hatten inzwifchen aufgehört. „Sie hier!“ ſtieß Reichthal füfternd hervor, in faumt 
verhehlter Erbitterung. „Sie wieder hier!“ 

Franz fniete ihm gegenüber nieder. „Um des Himmels willen!“ jagte er 
laut. „Marie!“ 

Es war, als füme fie durch den lang diefer Stimme zu ji; fie regte ſich 
und erwachte fofort. „Das ift feine Stimme!“ jagte jie auch mit einem Ent— 
jegen, das Neichthal durch alle Glieder ging. Sie begann ſich aufzurichten. Franz 
wollte ihr helfen, fie wies ihn aber heftig zurüd. 

„Was ift Ihnen geſchehen?“ fragte ‚Franz. 

Sie ftand wieder, mit einem wilden Blid ſah jie ihn an wie den böſen 
Feind. „Weg! Weg!" rief fie, mit zum Glück noch Schwacher Stimme. „Schau 
Sie mid nit an! Ach will nichts von Ihnen! Was hab’ ich Ahnen gethan? 
Was wollen Sie hier? — Gehn Sie. Ach ver — — Mein, nein. Nur mic 
felbit. Gehn Sie! Gott joll Ahnen vergeben!“ 

Sie ſchwankte zur Thür, die zum Vorplag führte. Neichthal hielt fie nicht 
auf, er trat ihr aus dem Weg. Mit einem erleichternden Aufatmen ſah er ihr 
nad und fah, wie die Thür fich hinter ihr jchloß. 

Gott jei Dank! dachte er; aber nur einen Augenblid. Er hörte ein Thüren- 
ichlagen, darauf zu jeinem Entſetzen Helmuths Stimme. Jetzt, gerade jegt, zum 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 177 


erſten Mal feit Wochen jo früh, kam Helmuth nad Haus! — Reichthal legte die 
Hand and Ohr und horchte. Dore fprah ein Wort, dann ber Hausherr, 
dann auch Marie. Sie fpradh mit einer unheimlichen, hohen, entftellten Stimme, 
wie ein ganz verjtörter Menſch. Es jchien ſogar, als beginne jie fi anzuflagen; 
„Bottes Tod!" murmelte Reichthal in feiner Angft, „it fie denn von Ginn und 
Berftand!" Auf eine jehr erftaunte Frage Helmuths gab fie dann keine Antwort... 

Franz ftand wie eine Bildjäule da, fihtbar faffungslos. „Unglüdjeliger 
Menſch,“ flüfterte Neichthal, „wenn er Sie bier findet — und Mariens Ber- 
wirrung — jo errät er alles!" Seine Augen gingen herum, er jah nur die Thür 
zum Boudoir, eine Art von Zufluht. Er padte franz am Arm: „Kommen Sie! 
Kommen Gie!" 

„Wohin denn?" 

„Marie retten! um jeden Preis! — Sie gehorchen mir blind! Berftehen Sie?" 

Damit ſchob er ihn ſchon ins Boudoir und madte die Thür Hinter ihnen 
beiden zu. 

x J * 

Im Hof- und Nationaltheater hatte dieſer Feſttag ſchön geendet; eine ſolche 
Feier hatte das kunſtgeweihte Haus noch nicht erlebt. Der Feldherr der ver- 
bündeten Truppen, die Berbrüderung Bayern und Preußend war von einer 
feierlich bewegten, aus Hoc und Nieder gemifchten Menge bejubelt worden, im 
Sturm der Begeifterung und immer wieder: beim Eintreten der Fürſten in die 
Königsloge, nad) dem Prolog, nach „Wallenfteins Lager” und dem Schlußgefang. 
Die erften Sänger der Oper fangen alle mit; als nad) den leßten Zeilen des 
Chors am Ende: 


Und jeßet ihr nicht das Leben ein, 
Nie wird euch daß Leben gemonnen jein! 


die kriegeriſche Stimmung fih in mächtigem Beifall entlud, trat noch einmal der 
„erite Jäger“ vor und fang mit feinem herrlichen — eine hinzugedichtete 
Strophe, die mit den Worten ſchloß: 


Und ſetzen wir auch das Leben ein, 
Befreit wird für emig der deutfche Rhein! 


Da brach erit der gewaltigfte Jubel los, in der vollen Ahnung unferes kommenden 
Glücks. Der Kronprinz Friedrich Wilhelm, der fich fchon entfernte, mußte noch 
einmal an die Brüftung der Loge treten. Der letzte Freudenfturm umbraufte ihn. 

Draußen dämmerte es nod), ald Helmuth aus dem Theater ins Freie kam. 
Er war allein, und gern allein; fein Herz war zu ftarf erjchüttert und zu meihe- 
voll bewegt, er mochte jett nicht reden hören. Man redet jich doch immer zu 
geſchwind in die platte Alltäglichkeit zurüd. So vermied er diesmal den gewohnten 

12 


178 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


Berlammlungsort der „Begeilterten” und fchlenderte einfam durch die Gaſſen, 
jeinem hohen Glüdsgefühl bingegeben, zugleich auch wieder vor die alte Frage 
tretend: was fann ich denn thun, um mich auch zu opfern? — Er fann hin umd 
ber. Endlich zog ihn das Alltäglichite, der Hunger, nad) Haus. Er ftieg die 
Treppe binan und trat in das Vorzimmer zu den eigentlichen Wohngemächern; 
bier fand er Marie. Site war leichenblaß und veritört, verwirrt. Sie jprady zu 
Dore, dann zu ihm, wie jemand, der nicht recht weiß, was er thut; es entfielen 
ihr Worte, die er nicht verftand; fie jchienen aber auf irgend eine Gemüts- 
verirrung binzudeuten. Darauf ſchwieg fie, als‚er um bejjere Erklärung bat, und 
trat in die Küche... Helmuth war daran gewöhnt, jie von Zeit zu Zeit in ner- 
vöfer Erregung zu ſehen; diesmal traf's ihn aber anders als ſonſt. Seine arg: 
wöhnifchen Mingefühle von diefem Mittag waren wieder aufgeichredt. Als er 
durch! die Brienneritraße heimging, war's ihm auch jo vorgefommen, als hätte er 
einen Mann, einen feingefleideten, ihm nicht befannten, in jein Haus treten jehen... 
Dore befragen wollte er nicht. Auch mit der jo Erankhaft erregten Marie wollt‘ 
er jegt nicht veden. Er trat, den Dut auf dem Kopf, in ihr Wohnzimmer ein, 
aus dem jie gekommen war. 

Klarheit! Wahrheit! ſchrie es in ihm, der ſich eben noch in Glück berauſcht 
hatte. ch ſuche, bis ich finde! — Er rang aber nad Faſſung, er hatte fich noch 
immer wie ein Dann befonnen. Das Zimmer war lampenhell und leer. Kine 
Weile jtand er ftill und horchte. Im Boudoir glaubte er ein Flüftern zu hören 
oder jonft ein leiſes Geräuſch. „Wer it da?” fragte er mit lauter Stimme. 

Die Bowdoirthür ging auf; zu feiner Ueberraſchung trat Reichthal heraus. 
Der fonft jo behagliche Menſch hatte ein erbißtes, aufgeregtes, bald auch die 
Farbe wechjelndes Geſicht. Er machte die Thür hinter ſich zu und blieb wie in 
Verwirrung und Beklommenheit ftehn. 

„NReichthal! Sie!" rief Helmuth. 

„sa — id." 

0, Was beißt dans? Was thun Sie da in Mariens Boudoir? Es iſt ja kein 
Yicht darin. Es ift dunkel. Als Sie heraustraten, hab’ ich's ja gejehen.“ 

„Dunkel?“ entgegnete Reichthal. Er ſuchte noch nad; Worten. Er ſah, es 
gab nur eine Möglichkeit auf der Welt, die noch helfen konnte; doch er wußte 
jeinen Weg noch nicht. 

„Antworten Ste dod! Was thun Sie da? — Warum find’ ich meine Fran 
da draußen jo aufgeregt, jo wirt, daß fie nicht weiß, was fie jpriht? Warum 
fommen Sie mit diefem Geſicht aus dem dunklen Zimmer? — So reden Sie 
doch!” 

„Argwohn gegen mich? —“ 

„Sie zwingen mid) ja dazu. Was iſt mit Marie?“ 

Eiferſucht? —“ 


Adolf Wilbrande, Große Zeiten. 179 


„Antworten Sie! — Sie wollen niht? — Das ift — wunderbar. Dann 
frag’ ich aljo meine Frau . . .“ Helmuth wendete jich zur Ihür. 

Dann verrät fie alles! durchfuhr es Reichthal. Er weiß aber vffenbar noch 
nichts! — „Helmuth!“ rief er jet hinter ihm ber. „Hören Sie mid an!“ 

Helmuth blieb ftehen. 

Laſſen Sie Ihre arme Frau! Die hat keine Schuld! — Warum fie fo auf: 
geregt it? Weil ich ihr geiagt hab’ — — Ich hab’ einen Wahnfinn begangen. 
Ich bin verrüdt. ch hab’ ihr gelagt, daß ich fort muß, weil ih — fie zu lieb 
hab'. Das ilt's." 

„Sie!“ 

„sa, ih. In meinen Jahren; der ehemalige Bormund. Lachen Sie mid) 
aus — oder fordern Sie mid) — mir ift alles eins, ich nehm’ alles hin. Es ift 
über mich gefommen! Der helle Wahnſinn, ich weiß es; ich ſchäm' mich wie ein 
Bub; es hat mich halt wie 'nen Buben gepackt!“ — Reichthal hatte die Stimme 
gehoben, damit auch Franz im Boudoir ihn hörte; er ließ Helmuth nicht aus den 
Augen, während er ſprach; er ſah, wie der ſtolze Mann an der Lippe nagte und 
nad; Atem vang. „Höll' und Teufel auch!” fuhr er fort, um noch anderes [os 
zu werden. „Ach bin elend verrüdt, das weiß ih; aber — id bin nit ganz 
allein an dem Unfinn Schuld. Sie, Sie find es mit! Warum fraß mir’s denn 
das Herz ab, wenn ich's mit anjehen mußte, dag Marie — nicht glüdlich war? 
daß fie verſchmachtete — ja — nad) Leben, nad) Liebe, nad Glück? daß ihr Herr 
und Gatte fie fo gehen ließ und ihr nur Bernunft predigte, ftatt fie recht unver: 
nünftig lieb zu haben? Wenn einem da endlich zu weicd und zu wehe wird, und 
die jchlechten Gedanfen einem über den Kopf wachen — wenn man vor dummem 
Mitleid und Tröftenwollen und Kummer nach und nad) Veritand und alles ver: 
liert — Sie haben die halbe Schuld!" 

„Schweigen Sie!" fuhr ihn Helmuth an; e8 war aber ein unficheres Beben 
in feiner Stimme. „Sie klagen mid an — jtatt daß ich Ahnen ſage, was 
Sie find!" 

„Sagen Sie. Ach wehr mich ja nicht. Und fordern Sie jede Genugthuung, 
die Sie wollen; ich bin ja bereit!" 

„Neihthal! So wahr Sie ein Mann von Ehre waren — jo wahr Sie 
einjt ruhig Sterben wollen — was ift in meinem Haus geſchehn?“ 

Neichthal Stand nod) immer an der Boudoirthür; Franz! fiel ihm wieder ein, 
der über jeinem Phantafieren halbvergeſſene Franz. Er bob abermals die 
Stimme, für den; „Helmuth,“ jagte er, „To wahr id einft ruhig fterben will, 
nichts, nichts ijt geichehen! Und bei Gott, ich gelob’ Ihnen, Ahr Hausreht fol 
von diejer Stunde an wieder heilig fein; keine verfluchte Regung foll mehr über 
Ihre Schwelle — vder Sie jollen mid; niederjchießen wie 'nen tollen Hund." Er 
ſprach nod) lauter, wie von ſelbſt, aber jedes Wort galt Franz: „Wär ich noch 

12* 


180 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


ein junger Kerl, bei Gott, ich machte dieſen ichlechten Streich durch einen friichen 
Yugendftreich wieder gut: zög' mit in den Krieg — ala Soldat, ald Nothelfer, 
als irgendwas. Helmuth! Ach beſchwör' Sie nur. Thun Sie mit mir, was Sie 
wollen, aber lajlen Sie Marie in Ruh, quälen Sie fie nit. Sie ift nur un— 
glücklich. Micht ein Hauch von Schuld!" 

Unglüdlich! dachte Helmuth, dem ein gräßliches Gefühl auf der Bruft lag: 
nad) diefer vaterländiihen Erhebung die Vernichtung feines Ach. Unglüdlich, 
durch meine Schuld! Der Mann, der fie liebt, jagt mir's ins Geſicht. Und ich 
fann nicht nein jagen, ich hör’ mit an. Mein Haus tft nicht mehr mein Haus! 
Meine Ehe it ein Fetzen Papier! 

Er rik fih das Halstuch ab, das Hemd auf, jo jchrie auf einmal feine 
Brust nach Luft. Was er erwidern wollte, blieb ihm in der Kehle. Er hielt es 
nicht mehr aus, vor diefem Menſchen ſo dazuftehen; er ftürzte aus der Thür. 

Reichthal horchte, die Thür blieb offen; er fonnte Helmuth auf der Treppe 
hören. Der Borplaß war leer. Dann hörte er durchs offene Fenſter, daß die 
Hausthür ging, und rajche Schritte. Er trat hin und fah ihm nad); es war 
Delmutb, unverkennbar, der bald um die nächte Ede verſchwand. 

Nest nur feine Zeit verlieren! — Er riß die Boudoirthür auf. In dem 
Lichtichein, der bineinfiel, ſah er Franzens bleiches, offenbar tieferfchüttert ernites 
Geſicht und zuſammengeſunkene Geſtalt. Kommen Sie!" raunte er. „In einer 
Minute müfjen wir draußen fein!" 

Franz gehorchte ftumm. Exit im andern Zimmer ergriff er Reichthals 
Dand und preßte fie: „Ste ſprachen jo deutlich — ich hab’ alles verftanden. 
Ich danke Ahnen!“ 

Sie famen ins Vorzimmer und zur Treppenthür. Die zur Küche war nur 
angelehnt; jie ging leile weiter auf, Reichthal erkannte die fchlanfe Marie, die 
dahinter ftand, die zu horchen jchien. „Gute Nacht, Marie!‘ jagte er laut. „Wir 
gehen. Franz und ich, wir reifen alfo ab. Wir fchreiben Ihnen von unterwegs. 
Al right! Alles gut!“ 


Schluß folgt.) 





5 





Der Mensch lebt nidit vom Brot allein. 


Von 
Johannes Reinke. 


I. 


[Ki jchweben über der Breite des Stroms noch Spuren zerfloffenen Morgen- 
nebels. Ein Schleier von Maiengrün umhaucht das Gezmweig der Bäume, 
durchlichtig, durchflutet von Sonnengold. In bläulihem Duft grüßt das jen- 
jeitige Ufer mit feinen Häuſern und rauchenden Schloten. Stolze Schiffe ruhen 
mojeitätifch auf der kaum gekräuſelten Flut, man fieht die Flaggen verjchiedener 
Nationen friedlich neben der unfrigen ich bewegen. Die jtolzeften unter ihnen 
ind deutiche Kriegsſchiffe, gewaltige Zeugen menfchliher Kraft; die deutfche 
Kriegsflagge aber erfüllt uns mit freudigen Selbftbemußtjein. Da läutet es 
acht Uhr von den Schiffen, und wie auf einen Zauberichlag überziehen fich die 
Maften mit zahlloien Wimpeln in allen Farben, luftig flatternde Zeichen, die 
nur der Eingeweihte zu leien weiß, deren Bedentung der Laie aber ahnt: denn 
es it der Geburtstag des deutichen Kronprinzen. 

Wie find wir begnadet, daß wir folches erleben können, daß es uns ver- 
gönnt ift, ſolche Symbole deutjher Macht und Derrlichkeit zu ſchauen. Eine 
deutiche Flotte, ein deutſcher Kaifer, ein deutiches Reich! Die Größe dieſer 
Güter kann mur der völlig ermefjen, der jelbit noch den bundestäglichen Jammer 
Deutichlands gefoftet, der im Sciffbruche jo vieler Hoffnungen, im Grame eines 
erflärlichen Peſſimismus verzweifelte an der Wiedergeburt Deutichlands, der irre 
wurde an dem Berufe der Hohenzollern, jeine Einigung durchzuführen. Als dann 
der Frühling anbrad) nach der langen hiſtoriſchen Winternadht, al3 früher denn 
erwartet der Gemwitterfturm losbrach, der unser Volk vor die legte und ſchwerſte 
Probe ftellen jollte, da wußten wir alle, die wir jubelnd hinauszogen über den 
Rhein, daß es nicht bloß galt, der Heimat Fluren zu fchirmen, fondern daß wir 
Blut und Leben einjeßten um den höchiten Preis, um die Ehre der Nation; nicht 
wie wir fie ererbt, von der Gejchichte überliefert erhalten hatten, jundern wie jie 
und vorfchwebte in unjeren Träumen von Jugend auf, wie unfere Väter fie und 
gefungen in den Liedern vom alten Blücher, der wunderjchönen Stadt Straßburg 
und dem deutjchen Baterlande: kurz in dem Ideal von Kaiſer und Neid, einem 


182 Johannes Reinke, Der Menich lebt nicht vom Brot allein. 


deutſchen Kaiſer und einem deutſchen Reiche, das wie ein Phönir jich erheben 
jollte aus der Aſche des abgejturbenen Phantoms eines heiligen römischen Reiches 
deutfcher Zerſtückelung traurigen Angedentens. 

Es ift eine Luft zu leben, wenn man an dieje Verwirklichung unjrer kühniten 
geihichtlichen Hoffnungen denkt. Deutjchlands Einheit wurde errungen durch die 
gewaltige Energie, die das deutiche Volk unter Führung feiner Fürſten, Staats- 
männer und Feldherren einjeßte fir eine Idee, für feine geichichtliche Ehre. Nicht 
um ein Huhn im Topfe wurde gerungen, fondern um unmwägbare Güter, und 
heiliges Feuer der Begeifterung loderte von den Altären des VBaterlandes zum 
Dimmel empor. 

Eine alte Weisheit jagt, daß ein Volk errungene Güter nur mit den Mitteln 
behaupten könne, durch die fie gewonnen wurden. Sind wir wachſam, unjern 
Schatz zu hüten, der von jener heiligen Lohe umgeben ift, in dem Geiſte dev 
großen Zeit, die ihn uns geſchenkt? Kopfichüttelnd ftehen wir oft vor den Er: 
iheinungen des Tageslebens, das uns in Fragen des materiellen Intereſſes, in 
Brotfragen aufzugeben jcheint; während die Güter, die wir erivarben, einer 
höheren Ordnung der Dinge angehören. 

Aber der Geilt, der das Deutiche Reich ſchuf, kann wohl zeitweilig ruhen 
und andere, Eleinere Geijter einmal jich tummeln lajjen; er ift darum nicht ge 
ſchwunden, er lebt in alter Kraft und Reinheit. Wehe dem Feinde, der wähnen 
möchte, er jei uns verloren gegangen! Denn er ift der Yebensgeift unjver Nation, 
und nur der Fanfare des Wüchters würde es bedürfen, um unjer Wolf bei 
drohender Gefahr in gleicher Einmütigkeit, Opferfreudigkeit und Stärke zur Ber: 
teidigung jeines NAllerheiligiten zu entflammen, wie in den Tagen des alten, 
großen Kaiſers. 

Eine mächtige Gewähr dafür, daß der nationale Geift unferes Bolfes ſich 
niemal3 durch den Widerftreit materieller Tagesinterejien wird erjtiden lafjen, 
bietet uns das Elarblidende Auge unjeres Eaiferlihen Herren. Er hat es heuer 
mit lauter Stimme am deutichen Mufenfige Weimar verkündet, daß das Palladium 
der Ideale hochzuhalten fei, um die Traditionen zu bewahren, denen wir unjere 
geiftigen und nationalen Güter verdanken. In der weinlaubumkränzten Stadt 
der Wiffenjchaft aber, deren Zinnen in den Fluten des Rheinſtroms ich ſpiegeln, 
hatte kurz vorher die gleiche erhabene Stimme, auf den Zug der deutichen Ge- 
ihichte von Karl dem Großen bis auf unfere Tage hinweiſend, die Perſön— 
lichkeit des deutfhen Volkes gefeiert. 

„Herrlich emporgeblüht ſteht das Neich vor Ahnen,” ſprach der Kaiſer zu 
den Studenten, „Freude und dankbare Wonne erfülle Sie und der feite, mann— 
bafte Borjat, ald Germanen an Germanien zu arbeiten, e8 zu heben, zu ftärfen, 
zu tragen, durchglühe Sie. Die Zukunft erwartet Sie und wird Ihre Kräfte 
gebrauchen; aber nicht, um fie in fosmopolitiichen Traumereien zu verſchwenden 


Johannes Reinte, Der Menfch lebt nicht vom Brot allein. 183 


oder in den Dienft einfeitiger Parteitendenzen zu ftellen, jondern um die Feſtig— 
feit des nationalen Gedanfens und um unjere Ideale zu pflegen. Gewaltig find 
die Geiftesheroen, welche der Stamm der Germanen durch Gottes Gnade hat 
hervorbringen dürfen, von Bonifacius und Walther von der Bogelweide: bis auf 
Goethe und Schiller, und fie find zum Lichte und Segen der ganzen Menjchheit 
geworden. Sie wirkten univerjal umd waren doc) jtreng in ſich ſelbſt abageichloffene 
Germanen, .d. h. Perjönlichkeiten, Männer! Die brauchen wir auch heute mehr 
als je! Mögen Sie auch dahin ftreben, ſolche zu werden!“ 

So goldene Worte, von fo hoher Stelle geiprochen, können von deutjchen 
Volke als eine Gewähr dafür aufgenommen werden, daß e3 vertrauensvoll in 
jeine Zukunft bliden darf, und daß feine Reale einen mächtigen Hüter ge: 
funden baben. ; 

II. * 

Die Vollendung ſeines geſchichtlichen und politiſchen Ideals hat dem deutſchen 
Volke auch Brot gebracht, gutes, reichliches Brot. Das war gewiſſermaßen ein 
Nebenerzeugnis ſeiner idealen Beſtrebungen, ſeiner nationalen Kämpfe; eine reife 
Frucht, die ihm in den Schoß fiel von dem Baume, der, in den Freiheitskriegen 
gepflanzt, mit der Kaiſerkrone auf dem Haupte der Hohenzollern zu herrlicher 
Blüte gelangt war. Dantbar jullen wir dies Brot eflen; mur u. wir bes 
Bodens nicht vergeſſen, auf dem es gewachſen it. 

Auch die Wiſſenſchaft hat uns Brot gebradt, darin befteht eine iskdiehrhige 
Analogie zu den Ergebnifjen der politiichen Entwidlung. Der gewaltige: Auf- 
ihwung unferer Technik und Anduftrie ift der Wiſſenſchaft zu danken; ein Gleiches: 
gilt von den gefteigerten Erträgen der Bodenkultur. Ohne die Förderung, die 
ihr von der Willenjchaft zu teil geworden, würde die Produktion unjerer Land— 
wirtichaft heute nicht entfernt die erreichte Höhe einnehmen. Und doch ift Willen: 
ichaft ihrem Urfprunge und Wejen nad nur idealen Motiven der Menjchenbruft 
entiprungen, das darf bei allem Preife der yortichritte unferes techniſchen Könnens 
nicht überjehen werden. Das Heiligtum der Wiſſenſchaft ift ein Tempel, im dem 
nach der Wahrheit geforjcht wird, unbefünmert darum, ob aus diefer Wahrheit 
ein unmittelbar greifbarer, in Geldeswert zu berechnender Nuten erwächſt. Und 
die Flammen auf den Altären dieſes Tenıpels würden Gefahr laufen, zu erlöjchen, 
wenn einmal andere Mächte als lauterer Wahrheitstrieb und. ideale Begeifterung 
ihre Pflege an ſich reißen jollten. 

Man hat zwiichen Natur: und Geifteswilfenichaft unterfchieden, doch im 
Ideal ihrer Wege und Ziele find beide gleich. her könnte man jagen, es giebt 
Wiſſenſchaften, die felbjt der Hauptfache nad; Brot find, d. h. dem praftifchen 
Leben des Menfchen unmittelbar dienen, wie Technologie, Jurisprudenz umd 
Medizin; während andere fi) mım in der Sphäre des Idealen beivegen, für das 
wirtichaftliche Leben und Gedeihen der Völker gleichgültig find, wie die klaſſiſche 


184 Johannes Reinfe, Der Menich lebt nicht vom Brot allein. 


Philologie, die vergleichende Sprachforſchung, die Philofophie. Die Naturwifjen- 
Ihaft gehört mehr zur zweiten als zur erften Kategorie, weil die gewaltigen 
wirtfchaftlichen Fortichritte, die fie der Menjchheit gebracht, ein Nebenerzeugnis 
find, der Kern der Naturmifjfenichaften aber ein idealer ift, wie fie aud in 
früheren Zeitaltern nur einen Zeil der PVhilofophie bildeten. Für jedes Volk 
aber, das über das Niveau der Barbarei fich erhebt, ift reine Wiffenfhaft — 
ohne Rüdfiht auf praftifhe Nebenerfolge, auf Brot, Bequemlichkeit oder Heil- 
tränte — ein Lebensbedürfnis wie Luft und Sonnenjdein. 

Der über feinen tieriichen Körper hinauslebende Menſch ſieht fich in eine 
Welt der Myfterien bineingeftellt; Myſterien umgeben ihn von außen, Myſterien 
findet er in feinem Innern. Er madt die Erfahrung, daß er durch Beobadıten 
und durd; Nachdenken über den Zujammenhang des Beobadıteten den Schleier 
des Geheimnifjes an einzelnen Stellen ein wenig zurüdichieben fann, und damit 
ift der Anfang aller Wiſſenſchaft, insbejondere der Naturwiſſenſchaft gemadıt. 
Durd den Beſitz ſolcher Wiljenihaft und durch das Streben nad) Erweiterung 
und Bervollftändigung derielben unterjcheidet ji der Menſch vom Xier, für 
welches Eörperliche Nahrung und materielle Wohlfein das Motiv alles Handelns 
bilden. Der Schaf des Wiſſens wird von einer Generation auf die andere 
vererbt; was die Vorfahren errangen, wird dadurd erhalten und der Befikitand 
unausgejeßt vermehrt. So kämpft der Menſch um die Geheimnifje der Natur 
und um die feines eigenen Geiftes; jein Gewinn ift in ftetigem Fortſchritte und 
unauögefegter Mehrung begriffen, wenn auch der Kurs oft im Zidzad vorwärts 
gebt, und die Ausmerzung eined Irrtums nicht weniger Mühe verurjacdht, ala 
das Erkennen einer neuen Wahrheit. Was die Wifjenihaft errang, ift Gemein: 
gut der Menichheit, die Wiſſenſchaft ift geiltige Speife des Menfhen; darum 
balte ich es für unrichtig, zu jagen, die Wiffenfchaft fei um ihrer felbft willen da; 
um des Menfchen willen wird fie gepflegt. 

Weil Geift und Natur das Objekt der Wiffenihaft bilden, find daraus ver- 
ſchiedene Sonftellationen und Gefichtspuntte entfprungen. Bon den beiden Er- 
tremen behauptet der eine Standpunft, die Natur ſei Illuſion, nur des Geiftes 
feien wir uns bewußt; der andere erklärt den Geift für ein Erzeugnis der 
Materie. Da jeder Rabdikalismus fehlerhaft zu ſein pflegt, it es wohl auch 
diefer, und die Wahrheit dürfte feine diefer „Anfichten“ für fih beanfpruden 
fünnen. Die Wahrheit wird man nur finden, wenn man über die chinefifche 
Mauer derartiger Borurteile hinauszubliden vermag. infeitigleit der Be: 
trachtung bat wohl ein Erkennen von Einzelheiten, niemals aber ein Erkennen 
des Zufammenhangs des Ganzen gefördert. Erſt, wern der von der Phantafie 
unterjtügte Gedanfe das Stückwerk der Einzelfenntnifje zufammenfaßt, gewinnt 
die wiſſenſchaftliche Forſchung Einheit und Leben. 

Schon in der Phyfit und Chemie fpielt die fpekulative Betrachtung eine 


‚sobannes Reinke, Der Menich lebt nicht vom Brot allein. 185 


wichtige Rolle. Die Thatſachen werden durch dichterifhe Zuthaten der Ein: 
dildungskraft ergänzt. Noch niemand jah ein Molekül, wog es, taitete es; und 
doh operiert die theoretiiche Chemie mit Molekülen als realen Einheiten, ftellt 
ibr Gewicht feſt, Handelt von ihrer Zuſammenſetzung aus Atomen, ja von deren 
Lagerung innerhalb des Moleküls. Solche Dichtung braucht in keinen Gegenſatz 
zur Wahrheit zu treten. Wahrheit läßt ſich nicht nur unmittelbar wahrnehnten, 
iondern auch erichließen. Anderfeits muß man einräumen, daß beide Methoden, 
dad Beobachten und das Nachdenken, nur zu relativen, angenäherten Wahrheiten 
führen, daß die Wahrheiten der Naturwifjenichaft zum großen Zeil Wahrichein- 
heiten jind, für die ein mathematijch-ficherer Beweis ſich nicht erbringen läßt. 

Es giebt aber auch dichteriiche Wahrheiten, und wenn wir den Schritt thun 
von der Phyſik und Chemie zur Biologie, zur Lehre vom Leben, jo begeben wir 
und auf ein Gebiet, auf dem, wenn wir von den rein empiriich beobachteten 
Thatſachen einmal abjehen, dad mathematisch beweisbare Willen immer mehr 
jurüdtritt hinter das durch Gedankenflug „erichloflene”, an dem Dichtung und 
Phantaſie einen jo bedeutenden Anteil haben. Darım auch die große Meinungs: 
verichiedenheit der Biologen im Vergleich zu der Einftimmigfeit, die uns bei 
Chemikern und Phyſikern entgegenzutreten pflegt. Es jei nur auf ein fundamen- 
tales Problem bingewiejen, das aus dem Gebiete der Naturforihung in das der 
Bhilojophie hineinragt. 

sc befenne mic; zu der Ueberzeugung, daß in der lebenden Natur Gedanken 
verkörpert jind. Wo immer wir auf Gedanken treffen, die nicht unfere eigenen 
imd, da ſchließen wir auf jie und juchen fie zu verftehen aus ſinnlich wahrnehm— 
baren Zeichen. Wenn mein Freund zu mir Spricht, jo ift ed das Ohr, das mir 
jeine Gedanken vermittelt; jchreibt er mir, jo wird das Auge ihr Dolmetſcher. 
Hat jemand ein verwideltes Bauwerk errichtet, jo entziffere ich feine Gedanken 
aus den Blänen oder dem Studium des fertigen Gebäudes; jelbft aus den 
Fundamenten kann ich fie vielleicht erfennen. Eine Maſchine, ein Uhrwerk ent- 
büllt mir die Gedanken des Technikers in den Zweden, die es verwirklicht, und 
in den Mitteln, durch die jene Zwecke erreicht werden. Aus einem. Gejeße er- 
kenne ich die Abfichten des Gejeßgebers; aus feinen Handlungen kann id; Schlüjfe 
auf die Gedanken eines Menſchen ziehen. Unter allen Umftänden ift ein gewiſſer 
Zufammenhang von Gejchehensfolgen erforderlich, aud bei Wort und Schrift, 
um daraus einen diefem Zufammenhange von Thatſachen vorausgegangenen 
logiſchen Zufammenhang im Geifte des Urhebers jener Handlungen feititellen 
zu fönnen. Denn ein ungeordneter Wortichwall wird uns feine Gedanken verraten. 

Wenn id nun in der Welt der Pflanzen und Tiere lauter ziwedmäßig und 
zielftrebig geordnete Borgänge erblide, jo bleibt mir nichts weiter übrig als die 
Annahıne, daß diefen geordneten Erſcheinungen und Handlungen ein logiicher 
Zufammenhang, daß ihnen Eusmiiche Gedanken zu Grunde liegen, wie den Hand— 


186 Johannes Reinfe, Der Menfch lebt nicht vom Brot allein. 


lungen der Menjchen menschliche Gedanken. Denn alle unjfere Erffärungen be: 
ruhen auf Bergleiden und Analogieen. Die Hypotheſe der fosmifchen Gedanken 
oder der Wirkfamkeit einer Weltvernunft erfährt eine Stüte dadurch, daß für 
jene Zwedmäßigkeit der Organismen feine andere Erklärung zu finden ift. Der 
Darmwinismus, der eine foldhe Erklärung aufzuftellen verluchte, ift damit ge- 
icheitert; und die Philofophen, die uns glauben machen wollten, daß wir die 
Zwedmäßigfeit erft in die Natur hineingedadht hätten, die wir darin zu finden 
und daraus abzulefen glauben, find nicht ernſt zu nehmen, auch ift ihre Lehre 
wiffenichaftlich längft widerlegt. Somit bleibt nichts Anderes übrig al3 die Er- 
fenntmis, daß in der belebten Natur kosmiſche Gedanken ihren handelnden und 
durch Thatfachen fprechenden, durch Sichtbare Zeichen zu uns vedenden Ausdruck 
gefunden haben. 

Es giebt nur einen einzigen wirkſamen Einwand gegen dieſe Auffaſſung der 
lebendigen Natur. Dies ift das Dogma: es ift unftatthaft, andere Gedanken in 
dev Welt anzuerkennen als joldhe, die im Hirn eines Menſchen ihren Urſprung 
genommen haben, Aber auch dies Dogma ift nur wirkſam für diejenigen, die 
fi; ihm blind unterwerfen, die abfichtlich jich mit der Mauer eines folden Vor— 
urteils umgeben, über die dann allerdings nicht hinwegzukommen ift. Denn jeder 
Unbefangene muß fragen: welcher Grund befteht für jolches Dogma? Und wenn 
ein ftichhaltiger Grund nicht anzugeben ift, um das menjchliche Gehirn zum 
Mittelpunkt der Welt und zur allen möglichen Gedantenwerkitatt zu erheben, 
wenn die Anhänger jener Lehre zu ihren Gunften nur anführen können, daß fie 
ihnen mehr zujagt als die andere, jo ift zwar gegen eine ſolche Anjchauung 
ein Einwand nicht möglich; dann aber kommt es für die Wiffenfchaft auch nicht 
mehr darauf an, was wahr ift, fondern nur noch darauf, was gefällt. Das wäre 
der Banferott, das Ende der Wiſſenſchaft und zugleich eine geiſtige Tyrannei, die 
berechtigten Widerſpruch hervorrufen muß. 

Freiheit im weiteften Sinne, Luft, Licht und Raum zur Ausdehnung ift für 
die Wiſſenſchaft zu fordern; nur die Erkenntnis der Wahrheit fei ihr Ziel, mögen 
noch jo viele Borurteile darüber zufammenftürzen. Ein orthodoxes Mönchsſtum 
in der Wiffenfchaft, wie der Atheismus es anftrebt, it zu befämpfen. Der 
Prozeß Galileis darf fich nicht wiederholen; die Menichheit hat vor dem Richter: 
ftuhl der Gefchichte genug an ihm zu tragen. ine reine Wahrheitsforichung er: 
hebt den Menichen aber über den Staub der Alltäglichkeit und trägt ihn zu 
DHimmelshöhen empor. Und das haben wir nötig. 


II. 
„Panem et eircenses* fchrie das Volk in der römischen Kaiſerzeit. Diefer 
Ruf iſt auch eine Meußerung des tiefen Bedürfnilfes der Menjchheit, Nahrung 
für die Seele, nicht nur für den Leib zu erhalten, mag der Inhalt jener Eircenfes 


Johannes Reinte, Der Menſch lebt nicht vom Brot allein. 187 


uns heute nod) jo jehr als Verirrung erfcheinen. Ein Hörnchen höheren Strebens 
lag doch darin, ein Durft nad) der Kunſt, die das Gefühl zu befriedigen bejtinmt 
it, wie die Wiflenichaft das Denken. Uniere Bewunderung für die Antike gilt 
weniger ihrer Wiljenichaft als ihrer Kunſt, zu deren jtrahlender Vollendung wir 
Itaunend emporbliden. Phidias und Prariteles; Domer, Aeſchylos und Sophofles 
verkörpern in ihrer Sphäre unerreihte Ideale von bleibenden Wert. Bon jener 
Kunſt war das Mltertum erfüllt, jie gehörte zu feiner Lebensluft, ohne die der 
antife Kulturmenſch nicht atmen mochte. Der gegen jene Kunſt gerichtete An- 
fturın der Barbaren hat der Menjchheit die tiefften Wunden geichlagen. Es hut 
vieler Jahrhunderte der Selbitbeiinnung und Sammlung bedurft, bevor für die 
Kunſt wieder eine Wertichägung erreicht wurde, wie fie zur Zeit des Perikles bejtand. 

Ein Schönes Zeichen für die Gegenwart iſt es, daß ſie Kunſt und Wien: 
haft mit gleicher Liebe pflegt; die Frucht der Erkenntnis, daß wir geiltiger 
Speife bedürfen, und daß fie uns über die Sorge und Mühjal des Tages 
binwegbilft. Darum joll die Kunſt volkstümlich und verftändlich jein, weil Die 
Wiſſenſchaft dies ihrem Wejen nad) nicht ift und fie nur zum geringen Teil durch 
Berdolmetichung unmittelbar auf die Maſſen zu wirken vermag. 

Weil wir an die Kunſt die Forderung der Volkstümlichkeit richten, mag es 
fi) um bildende Kunft, um Muſik oder um Poeſie handeln, muß fie rein bleiben 
von Giftftoffen aller Art, ſonſt kann fie als gejunde Seelenjpeife nicht gelten. 
Wie jchlechtes, verdorbenes Brot ichadet, jo kann eine vergiftete Kunſt nanten- 
lofen Schaden anrichten. Wir bedürfen gejunder Geiftesnahrung nicht weniger 
als geſunden Brotes. 

Dies gilt auch von der Wilfenichaft. Eine Wiſſenſchaft, welche die Lüge 
nicht von ſich fern hält, ift Gift für den geiftigen Organismus der Menjchheit. 
Wenn ſie durch Bopularifierung angeblich begründeter Yehrjäße ſich an die urteils- 
(oje Maſſe wendet; wenn Leuten, deren Urteil nicht ausreicht, das Wahre vom 
Falſchen zu unterjcheiden, von angeblichen Autoritäten ein gefälichtes Bild der 
Forſchungsergebniſſe vurgeipiegelt wird, ſo verdient dies die ſchärfſte Brand- 
markung. Leider fehlt es nicht an folchen falfchen Propheten. Ein Treiben wie 
das ihre hat Luther im Neuen Teftamente mit „Nergernis bringen" überlegt; 
ihnen wird dort das Urteil geiprodhen: es wäre ihnen beffer, wenn jie mit einem 
Mühlſtein am Halſe im Meere verienft würden, wo es am tiefiten ift. Cine 
furchtbare Verantwortung laden fie vor dem Richterſtuhl dev Geſchichte auf ſich, da 
jte indirekt daS Volk auffordern, aus jenen faljchen Lehren die Folgerungen zu ziehen. 

Kunft und Wiffenfchaft haben vielfachen Anlaß, einander die Bände zu 
reihen. Die Wiſſenſchaft erreicht erft dann ihre Vollendung, wenn fie in ihrer 
Darftellung von fünftlerifchem Geifte durchhaucht wird. Die ſprachliche Behand: 
fung wiflenichaftlichen Stoffes kann eine verklärende fein — und fie kann, dem 
Wüftenfande gleich, das in dev Forſchung erbohrte lebendige Quellwaſſer durd) 


188 Johannes Reinke, Der Menich lebt nicht vom Brot allein. 


Dürre und Dede zum Berfiegen bringen. Nicht mit Unvecht leider hat man den 
deutfchen Gelehrten vorgeworfen, daß fie vielfach nicht deutfch zu ſchreiben ver- 
itehen, und in dieſer Hinficht find unjere weftlihen Nachbarn uns als Mujter 
bingeftellt worden. ft e8 doc auch ein fünjtleriicher Genuß, eine Abhandlung 
von d’Alembert, von Zagrange, von Elaude Bernard zu leſen. 

Allerdings können wir mit einer gewiſſen Genugthuung jagen, daß es aud) 
in Deutichland beffer zu werden beginnt. Beſonders die Phyſiker haben ſich Ber: 
dienfte um die künftleriiche Geftaltung ihrer Gedanken erworben, und Meiiter 
eriten Ranges ftehen darin voran, wie Helmholtz, Mad, Heinrich Hertz. 
Sie find gerade in ihren tieffinnigften Betrachtungen zur edlen Sprache Goethes 
und Alerander von Humboldt3 zurüdgefehrt, das können wir ihnen nidt 
genug danken. Bei der ungeheuren Fülle des litterartichen Stoffes, der bewältigt 
werden muß, follten die Fachleute Sich die ſaloppe Bernadhläffigung des Stils 
nicht länger gefallen lafjen, die bei manchen deutfchen Gelehrten, ein Ausfluß 
geiftiger Trägheit, uns noch immer begegnet. it das Wort auch übertrieben: 
„der Stil ift der Menſch“, jo darf andererjeits nicht verfannt werden, daß Worte 
und Wortfügung der Ausdrud der Gedankenbildung find, daß aus flaren Worten 
auf klare Gedanken, aus einer verworrenen Darjtellung auf Unklarheit im 
Denken geichlofjen werden kann. Denn mir denken in Worten, nur ausnahnıs- 
iweife in wortlojen Begriffen. Darum jollten die Männer der Wifjenichaft es 
ſich angelegen jein laflen, durch klaren, einfachen, edlen Stil uns zu erfreuen 
und zu erheben, anftatt in ungeheuerlichen Perioden uns Rätjel aufzugeben oder 
beitenfall$ uns eine widerwärtige und überflüjfige Anftrengung zu verurjachen. 

Bon einer Unterſchätzung der Sprache rührt zum großen Theil der finkende 
Einfluß der Wiffenichaft auf das geiltige Leben in breiten Schichten unſeres 
Bolkes her, und zwar keineswegs bloß in den unteren, jondern gerade in den 
höheren und höchſten Schichten. Wer mag es gebildeten und wohlhabenden 
Männern verargen, wenn jie vorfichtig find, ein wiflenichaftliches Buch zu kaufen, 
weil jie fürchten, darin ſtatt einer Quelle edlen Genuſſes und wahrer Be- 
lehrung ein abjtoßendes Ungeheuer mit einem Uebermaß von barbariihen Aus- 
drüden und von nachläffigiter Darftellung der Gedanken zu finden. Der ideale 
Einfluß der Wifjenichaft leidet unter der gerügten Trägheit jo vieler Gelehrter, 
jo daß im Bolfe ein Verjtändnis für die Bedeutung der Wiſſenſchaft erft auf: 
dämmert, wenn fie Brot als Nebenproduft abwirft, Brot in Geftalt von Patenten, 
Berfehrserleichterungen (Telephonie, drahtlofe Telegraphie) oder Heilmethoden. 
Alle diefe guten Dinge jollen gewiß nicht unterſchätzt werden, doch rechne ich fie 
zur materiellen, nicht zur geiftigen Nahrung. Iſt doc der Reichtum, den ein 
Maler oder Bildhauer erwirbt, nur eine Nebenſache feines Schaffens, defjen 
Wert ein geiltiger ift und damit ein Gemteingut der Menichheit. Man kann 
nicht Sünftler werden, wie man Handwerker wird. Nur ödes Banaufentum 


Johannes Reinte, Der Menfch lebt nicht vom Brot allein. 189 


wird die Kunft und die Willenichaft zum Broterwerb erniedrigen; dahin rechne 
ich ed auch, wenn man fie um perfönlichen Ruhmes und Ebrgeizes willen treibt. 


IV. 
Nach Abſchluß der Freiheitsfriege mahnte ein Sänger: 
Aber eins noch mußt du dämpfen: 
Dak und Neid und böfe Luſt; 


Dann nach langen, jchweren Kämpfen 
Kannst du vuben, deutiche Bruit. 


Mag der Strom idealer Beitrebungen, wie er in Kunſt und Wiſſenſchaft 
heute prächtig dabinflutet, mag das Geiftesteben in Denken und Fühlen mehr 
und mehr zu begeilterndem Schwunge fich fteigern und unfer Herz erheben, — 
wir dürfen auch das Sollen nicht vergeffen, den fategoriichen Nmperativ, der 
die dritte Seite des Geifteslebens, den Willen, zu zügeln hat, wenn uniere Ideale 
ih harmonisch geftalten jollen, wenn unjer Volt wahrhaft ewige Güter gewinnen 
will. Die Antike ift an dem Yeichtfinn, mit dem fie fi) über die Stimme des 
Gewiſſens hinwegiegte, zu Grunde gegangen; „videant Consules“ follen wir auch 
heute den Wächtern zurufen, denen das Hüten des heiligen Feuers unferer Ideale 
anvertraut ift. 

„Wie hältft Du's mit der Religion?" Welcher ernſt geſtimmte Menſch ver: 
nimmt nicht immer wieder mit Rührung dieje Frage des treuherzigen Mädchens! 
Wohl find die Religionen jo mannigfaltig wie die Herzen der Menfchen, und in 
jedem Kopfe malt das religiöfe deal ſich etwas verichieden, jelbit bei den An: 
bängern eines in jtarre Formeln gegofjenen Kirchentums. Dennoch geht durd 
alle Religionen ein gemeinfamer Zug, es ift das Gefühl der Abhängigkeit von 
einem höchſten Willen, der in jenem Imperative zu uns ſpricht; der außerdem 
aber aud in der Natur auf Schritt und Tritt ſich uns offenbart. 


Dieje leßtere Offenbarung findet ihre Anerkennung in dem eriten Artikel 
des apoftoliichen Glaubensbefenntnifjes, und ich bin meinerjeit3 davon überzeugt, 
daß jede vorurteiläfreie Naturforihung in denjelben einftimmen kann. Mehr als 
dies leiftet die Naturforichung für die Erkenntnis Gottes nicht, und man darf 
nicht mehr von ihr fordern. Aber der Gottesglaube, mag er eine Geftalt an: 
nehmen, weldje er will, eine Geitalt, auf welche die Einbildungskraft des Ein- 
zelnen ſtets von Einfluß fein wird, bildet das Nüdgrat jeder Religion. Wenigitens 
im Bolfe. Religion ift nur möglich bei einer Heberzeugung vom wirklichen Dajein 
der „Elohim“, von Mächten, die über den greifbaren Dingen walten; fie ift das 
Bemußtfein der Abhängigkeit von diefen Mächten. Die Erkenntnis der har- 
monifchen Ordnung in der Natur muß zu diefer Ueberzeugung binführen, von 
der jelbit ein jo vorausießungslojer Denker wie Voltaire feljenfeit durchdrungen 


190 Johannes Reinke, Der Menich lebt nicht vom Brot allein. 


war, und zu deven Erjchütterung die Frortichritte der Naturwiſſenſchaft bis in 
unſere Tage nicht den geringiten Anlaß gaben. Im Gegenteil, je tiefer wir in 
die Natur eindringen, um jo weniger können wir uns der Anerkennung des 
Waltens eines höchſten Prinzips entichlagen, das als „Elohim“ in den eriten 
Kapiteln der GenefiS gefeiert wird, und die uns zur bewundernden Anbetung 
jenes höchſten Wejens treibt. Dann aber, wenn wir die Ordnung der Natur 
erkannt haben, werden wir uns der fittlichen Weltordnung um jo weniger verichließen. 

Die ideale Weltanihauung wird in den Geſetzen der Natur Geſetze der 
Sottheit erkennen, was d'Alembert in folgender Weile ausdrüdt: 

„Wenn die von der Erfahrung gelieferten Gelege mit jenen, twelche die 
Ueberleaung allein finden ließ, übereinjtimmen,; wird ein Philoſoph daraus den 
Schluß ziehen, dat die beobachteten Gejege notwendige Wahrheiten find, nicht 
in dem Sinne, daß der Schöpfer nicht etwa ganz andere Geſetze hätte aufjtellen 
können, jondern in dem Sinne, daß fein Entjchluß nicht dahin ging, andere auf: 
zuftellen als jene, welche aus der bloßen GEriftenz der Materie ſich ergeben.“ 

Für die Bethätigung religiöfen Sinnes fordern wir Toleranz im weitelten, 
edelften Sinne; unduldiam ſollen wir nur fein gegen das Schlechte, Berdorbene, 
was unſer Geiftesleben zu verpeiten geeignet ift. Dies gilt namentlich) vom Gift 
der Lüge, wenn es fih in die Wilfenjchaft einzufchleichen droht. In der Phyſik 
und Chemie ift die Yüge weniger möglich, weil fie fich leicht widerlegen läßt, be- 
jonders, wo das Hilfsmittel der mathematiiihen Kontrolle nicht verjagt. Anders 
fteht e$ leider auf dem fchwierigeren und dumfleren Gebiete der Biologie; hier it 
uns das bejchämende Schauipiel nicht eripart worden, die Lüge wuchern zu fehen 
wie ein Unkraut, wie einen Krankheit erregenden Bacillus. Da wird es zur 
Pflicht, dies Unkraut am Maßſtabe der Wahrheit auszurotten mit Stumpf und 
Stiel. Denn eine Menithheit, welche die Wahrheit verachten wollte, wäre dem 
Untergange verfallen. 

E3 giebt einen Materialismus der Neligion, der darin eine Verſicherungs— 
anitalt zum Schuß gegen die Folgen eigener Verfehlungen und zur mühelofen 
Erreichung einer ewigen Glückſeligkeit erblidt. Diejer Standpunft hat mit dem 
des Idealismus wenig gemein, denn auch er trachtet nach Brot. Das Suchen 
nad) dem Reiche Gottes, wie es auch der Naturforicher in jeiner Thätigkeit übt 
— bewußt oder unbewußt — und welches in einem Hohenliede zum Preife der 
Größe Gottes ausläuft, ift weit davon verjchieden. Ich möchte glauben, daß 
gerade der leßtere Standpunkt dem Willen Gottes entfpricht, wie er ſich in der 
Natur und in den Imperativen des Menſchenherzens offenbart. 

Unfer ideales Streben auf allen Gebieten der Wiffenichaft, der Kunft und 
der Neligion muß dahin gehen, der praftiich-materialiftiichen Zeitſtrömung da? 


(Gleichgewicht zu halten; denn dev Menſch lebt nicht vom Brat allein. 


* * 
* 


Johannes Reinke, Der Menfch lebt nicht vom Brot allein. 191 


Militärmuſik tönt von der Straße herauf. An feitem Schritte, das Gewehr 
geichultert, zieht ein Trupp Matrofen einher, aus China heimkehrende Krieger. 
Im fernen Diten erbeutete Fahnen werden ihnen vorauf getragen, ein Wink für 
die Welt, daß ein geeintes, mächtiges Deutjchland hinter jedem feiner Söhne ſteht. 
Das feite Zufaffen der eiſengepanzerten Fauſt wird man nicht leicht vergejjen. 
Zwar ijt der Schritt der Gejchichte ein langſamer, den Wünſchen des Einzelnen 
oft zu langiam; was die Freiheitskriege veriprachen, hat erit das Nuhr 1870 
unjerem Volke gehalten. Aber die Probe auf unjere nationale Kraft haben wir 
im Morgenrot des neuen Jahrhunderts beitanden, und den berechtigten Stolz 
darauf werden wir uns nicht verfümmern lafjen. Nur bleiben wir auch deflen 
eingedenf, daß die Welt uns einſt das Volk der Denker, der Dichter und des 
fategoriichen Imperativs genannt hat; auch dies find Chrentitel, an denen wir 
für alle Zufunft feithalten wollen. Denn die Größe der Deutjchen rubt 


auf ihrem Idealismus. 


Die Göttin. 


ie hat io unergründlichen Blick, 
Und mütterlii weiche Band, 
Und eine Falte in ihrer Stirn; 
Von Edelweiss ift ihr Gewand. 


Ihr Haar ilt Ulbern, ein Schleier liegt 

Wie Sommerfäden darauf, 

Ihr Mund wie Blumen, ihr Bauch ein Duft, 
Scließt alle Seheimnilfe auf. 


Sie geht io leile wie Abendweh'n 
Und ipricht mit Glodeenlang, 

Der Domuhr gleich, und lächelt ftill, 
Wie Pfirfich find Kinn und Wang. 


Und keiner kennt ihre Rielenkraft, 
Ihr Herrichen ob Schwäcte und Schuld, 
Ihr ward das heiligite Heldentum, 
Sie heißt die Göttin Geduld! 


Carmen Sylva. 


1616161616161616161616161 616161616 16161 6161616161 G1G1616} 


Wenn ein Volk aufwaht — 


ww ein Volk aufwact und des 
Schlafes Blei 

Im Zorn von den Wimpern ichüttelt, 

Wenn fein Morgengeiang wird Kriegs- 
geichrei, 

Scladtiturm an den Fenitern rüttelt — 

Wenn es aufipringt dann 

Wie ein einziger Mann, 

Mit dem Atem zerbläft feiner Schwäche 
Bann 

Und vor feine Thür tritt ichwertbereit: 

Jit große Zeit! 


Aus der Zukunft Nacht, ein flimmern- 
der Stern, 

keuchtet der Völkerfriede - 

Die Sehnfuct mag ihn grüßen von fern 

Und feiern in heiligem Isiede. 

Doch, fordert der Tag 

Den Stoß und den Schlag: 

Sei geprieien das Schwert, dem der 
Feind erlag, 

Sei dem Krieg und dem Siege der 
Sang geweiht, 

Der großen Zeit! 


Wo das Serzblut fließt, wo Knochen 
und Mark 

Schüftern in wilder Bewegung, 

Wo fiedendes Sirn, gefaßt und Itark, 

Bändigt die eig’'ne Erregung; 

Wo das letzte gewagt, 

Wo keiner zagt, 

Wenn der Trauermarich um die Toten 
klagt, 

Wo des Scdimerzes Größe den Schmerz 
befreit: 

Jit große Zeit! 


Audı das Größte geht hin. — Klein- 
ichattig und eng 

Keudıen die minderen Jahre. 

Der Enkel genießt. In Müh und 
Gedräng 

Ergrauen den Siegern die Saare. 

Arbeit und Pein, 

Nücdıtern und klein, 

Will gethan und verwirkt und gelitten 
ein, 

Und grau überfliegt Vergelienheit 

Eine große Zeit. 


Doch wenn es fi jährt und Erinnrung erwacht, 
Großichreitend der blutige Reigen 

Aus den Gräbern herauf, in der Winternadt 
Auffteigt, feine Wunden zu zeigen: 


Dann, ihr Berzen all, 


Gebt Wiederhall, 


Dann mit Glodengeläut und Trompetenicall 
Erbraufe der Sang durdı die Lülte weit 


Von der großen Zeit! 


Carl Weitbrect. 


0 GGGGGGGGGGGGGC 


Die Friedensbewegung und nationale Gelinnung. 


Don 
Karl von Stengel, 


I. 


N: ee des jog. ewigen Friedens, d. b. eines dauernden Friedenszuſtandes 
unter den jämtlichen die Menſchheit oder wenigitens die zivififierte Menſch— 
beit bildenden Staaten und Bölfern, Bejeitigung des Krieges und Beilegung 
internationaler Streitigkeiten durch friedliche Mittel, insbejondere durch Scieds- 
ſpruch — ift verhältnismäßig neu. Den Anſchauungen des Altertums lag eine 
derartige Idee vollkommen fern. „Die alte Welt it da3 Zeitalter des ewigen 
Krieges entweder zwiſchen Einzelwejen vor der Begründung ftaatliher Ordnungen 
oder zwiichen Nationen und Gemeinden nad der Einrichtung des Staates” ſagt 
Hofgendorff (Die dee des ewigen Völkerfriedens ©. 5). 

Die Geichichte der Völker des Altertums, der orientalifchen Völker ſowohl 
wie der Griechen und Römer, iſt im wefentlichen eine fortlaufende Erzählung der 
von ihnen geführten Striege, und in der Poeſie diefer Völker nimmt die Verherr— 
hung Eriegeriiher Tüchtigkeit und Leiltungen den breiteften Raum ein. 

Daß im Altertum fortwährender Kriegszuftand herrſchte, ift eine durchaus 
natürliche Gricheinung, denn ganz abgejehen von denjenigen Urſachen, die auch 
in der Gegenwart zu FEriegeriihen Bermidelungen führen fünnen, kommt vor 
allem in Betracht, daß den Völkern des Altertums die Auffaifung völlig fremd 
war, daß alle Völker gleihberechtigte Mitglieder einer höheren Gemeinſchaft find. 
Jedes Volk betrachtete alle andern als Feinde und ſuchte die benachbarten Völker 
zu unterjochen und zu .beherrichen. Bor allem jtellt ſich die Entmwidelung des 
römiſchen Wolfes und Staatöweiens in der Hauptſache dar als unausgejeßter 
Kampf um die Weltherrjchaft mit den verichiedeniten Völkern, die Rom nad und 
nad) bejiegte und unter feine Derrichaft beugte. 

Eine volljtändige Ummandelung in den bisherigen Anjchauungen wurde in: 
jofern durch die Entftehung des Chriftentums angebahnt, als dasjelbe im Gegen 
ing zu den Nativnalreligionen des Altertums den Anfpruch erhob, Weltreligion 
zu werden, und von feinen Bekennern verlangte, alle Menſchen als Brüder zu 
lieben, und daher den Menichen den Frieden jchon auf Erden predigte. In der 

13 


194 Karl von Stengel, Die riedenäbemegung und nationale Geſinnung. 


That bat auch die Ausbreitung des Chriftentums immerhin die Folge gehabt, 
daß die Völker, deren Rechts- und Staatöordnung auf der dhriftlichen Lehre 
beruht, ſich allmählich als gleichberechtigt anerkannten und daß ſich aus dieſen 
Völkern im Gegenſatz zur nichtschriftlihen Welt die völferrechtlicde Gemein- 
ichaft der chriftlich-europäiichen Staaten bildete, deren Mitglieder in ihren fried: 
lichen wie kriegeriſchen Beziehungen durch das fog. europäiſche Völkerrecht geregelt 
wurden bezw. werden. 

Dagegen läßt ſich nicht behaupten, daß die Entitehung und Ausbreitung des 
Chriſtentums einen allgemeinen Friedenszuſtand unter den Bölfern bewirkt hätte. 
Im Gegenteil, wie die eriten Kahrhunderte nad) der Entitehung des Ehriltentums 
durch die Völkerwanderung und die jich daran anfchließenden wüſten Kämpfe 
ausgefüllt waren, jo ift aud das ganze chriftliche Mittelalter eine umunter- 
brochene Kette von Fehden und Kriegen der chriſtlichen Völker und Staaten 
untereinander und diefer mit der mohamedaniichen Welt. 

Die Reformation gab dann Anlaß zu häßlichen Glaubensfriegen, die Ent: 
deckung der neuen Welt zu den unter den europäiſchen See- und Kolonialmächten 
ausgefochtenen zahlreichen und lange dauernden Kolonial- und Dandelskriegen, 
während die Ausgeitaltung und Bildung der verichiedenen Nationalftaaten im 
Beginne der ſog. neuen Yeit eine ganze Reihe großer politiicher Kriege, nament- 
(ih jug. Erbfolgefriege verurfachte. Infolgedeſſen ſehen wir mährend des 16. 
und 17. Jahrhunderts allenthalben Krieg und immer wieder Krieg. 

Ein Fortichritt war allerdings mit dev Entjtehung der abjoluten Monarchie 
eingetreten, injofern das Fehderecht des Mittelalters bejeitigt wurde, auf Grund 
deilen jeder Ritter und jede Stadt das Hecht der Kriegführung beanſpruchte. Es 
trat nunmehr der Grundſatz auf, daß nur der Staat bezw. der ſouveräne Fürit 
das Hecht der Hriegführumg habe. Damit waren wenigftens die fortwährenden 
Kämpfe und Fehden innerhalb der einzelnen Völker und Staatsweſen bejeitigt 
und die Möglichkeit gegeben, die Kriegführung jelbit in höherem Maße als früher 
Nechtöregeln zu unterwerfen. 

Wer die Geichichte des Mittelalters und des 16. und 17. Jahrhunderts auch 
nur oberflächlich betrachtet, wird es begreiflich finden, daß den Menichen dieler 
Zeit die dee eines ewigen Wölferfriedens im allgemeinen durchaus fern liegen 
mußte. In der That ift die erite Schrift, in welcher das Problem des ewigen 
Friedens erörtert wurde, die zu Anfang des 18. Nahrhunderts nad dem Ab- 
ichluffe des Utrechter Friedensvertrags erichienene Schrift des Abbé de Saint 
Pierre „Entwurf zur Deritellimg des ewigen Friedens“. 

Anlaß zum GEricheinen der Schrift gaben wohl die Berwüftungen des 
ſpaniſchen Erbfolgekrieges; vorgearbeitet war aber der in derjelben vertretenen 
bee durch die von Hugo Grotins begründete Theorie des Naturrechts, denn die 
naturrechtliche Schule hatte bereits wiederholt die Frage erörtert, ob Krieg— 


Karl von Stengel, Die Friedensbewegung und nationale Geſimmmg, 195 


führung und Sriegsgewalt überhaupt al3 ein angemejjenes, den Staatsinterejjen 
entiprechendes Mittel zur Beilegung von Streitigkeiten erachtet werden könne 
und ob nicht auswärtige Kriege innerhalb der europäiichen Staatenwelt in der- 
jelben Weiſe entbehrlich gemacht werden fünnten, wie das mittelalterliche Fehde— 
recht innerhalb der einzelnen itaatlichen Gemeinweſen durch den Landfrieden ver: 
drängt worden iſt. 

Bei Aufwerfung und Erörterung diejer Fragen fiel jehr ins Gewicht, daß 
feit dem Ende des 16. Jahrhunderts der Wettbewerb der europäiſchen Seemächte 
um Aneignung eines möglichjt großen Teil des neu entdedten amerifanijchen 
Kontinents und des durch diefe Entdedung ungemein erweiterten Welthandels 
eine Reihe von Seefriegen zwiichen diefen Staaten zur folge gehabt hatte, diefe 
Kriege aber, wie alle Seefriege, die Anterejjen auch der Neutralen empfindlich 
berührt hatten, zumal die großen Seemädte, namentlich yranfreich und England, 
während des SHriegszuftandes beftrebt gewejen twaren, auch den Dandel der Neu- 
tralen möglichft zu Schädigen und die Freiheit der Schiffahrt auf hoher See zu 
beeinträchtigen. Die empfindlichen Nachteile, die den Neutralen aus den zwiſchen 
anderen Staaten geführten Sriegen zugingen, legte denjelben begreiflicherweife 
den Gedanken jehr nahe, daß jedenfalls thunlichite Befeitigung der Kriege jehr 
wünſchenswert jei. 

Das dreibändige Werk des Abbe de Saint Pierre, der einen dauernden 
Friedenszuſtand unter den ſämtlichen chriftlihen Staaten Europas durch 
Gründung eines europäiſchen Staatenbundes zu erreichen hoffte, in welchem 
aber natürlich Frankreich eine hervorragende Rolle jpielen jollte, wurde als 
Kuriofität viel gelejen, einen praftiichen Erfolg hatte e8 aber nicht. Ebenjomwenig 
war Died der Tall mit der Ende des 18. Jahrhunderts erichienenen Schrift 
Kants über den ewigen Frieden, wobei es ganz dahin gejtellt bleiben mag, ob 
Kants Ausführungen mehr ironisch als ernit gemeint waren. 

Einen fruhtbareren Boden fand die dee des ewigen Friedens erit im 
19. Kahrhundert. Schon die aus der Anregung des Kaiferd Alerander I. von 
Rußland hervorgegangene fog. heil. Allianz läßt jich in diefer Beziehung an— 
führen. In dem vom 14./26. September 1815 datierten Bertrage erflärten die 
Unterzeichner, daß fie die Ueberzeugung von der Notwendigkeit, das von den 
Mächten einzuhaltende Berfahren auf die erhabenen Wahrheiten zu gründen, 
welhe die ewige Neligion des göttlichen Erlöjers lehrt, erlangt hätten und daß 
hie hiermit im Angefichte der ganzen Welt ihren unerjchütterlihen Entſchluß offen- 
baren wollten, ſowohl in der Verwaltung ihrer eigenen Staaten als aud in 
ihren politifchen Beziehungen zu fremden Regierungen feine andere Richtichnur 
als die Vorjchriften diefer ‚heiligen Religion zu nehmen, nämlich die Borfchriften 
der Gerechtigkeit, der chriftlihen Liebe und des Friedens, welche, weit entfernt 
bloß auf das Privatleben anwendbar zu fein, vielmehr auf die Entſchließungen 

18* 


196 Karl von Stengel, Die Friedensbewegung und nationale Geitimmung. 


der Fürften Einfluß haben und alle ihre Schritte leiten müſſen, da fie das einzige 
Mittel feien, die menfchlichen Einrichtungen feit zu begründen und ihren Un— 
vollkommenheiten abzubelfen. 

An Art. 1 des Vertrages hieß es dann, daß in Uebereinſtimmung mit den 
Worten der heiligen Schriften, welche allen Menichen befehlen, einander als 
Brüder anzufehen, die drei vertragfchliegenden Monarchen durch die Bande einer 
wahren und unauflöslichen Brüderlichfeit verbunden bleiben werden und, da fie 
einander ala Mitbürger betrachten, fie einander bei jeder Gelegenheit und aller 
Drten Unterſtützung, Beiftand und Hilfe gewähren werden, ſowie daß, da fie fid) 
gegenüber ihren Unterthanen und Heeren als Familienväter anfehen, fie diefelben 
in dem gleichen Beifte leiten werden, von welchem fie bejeelt jind, um die Religion, 
den Frieden und die Gerechtigkeit zu bejchirmen u. ſ. mw. 

Auf die Schickſale der heil. Allianz ift hier nicht weiter einzugehen. Jeden— 
fall hat dieſelbe einen dauernden Friedenszuftand unter den europäiſchen 
Bölfern nicht bewirkt; eher kann man jagen, daß die abjolutiftiich-patriarchalifche 
Politif, deren Ausdrud die heil. Allianz war, eine ganze Neihe von Kriegen und 
Revolutionen wenigftens mittelbar veranlaßt und verurſacht hat. 

&8 liegt nahe, das jog. Friedensmanifeit des Zaren vom Auguſt 1898 mit 
den in dem Wertrage über die heil. Allianz entbaltenen jchönen Redensarten 
von Brüderlichkeit, Friede und Gerechtigkeit zu vergleichen. Bei einer jolchen 
Bergleichung wird man finden, daß das Friedensmanifeſt ganz im Geiſte des 
Begründers der heil. Allianz erlaffen it. Ob die Ergebnilfe der durch das 
Friedensmanifeſt veranlagten Friedenskonferenz im Haag in Bezug auf die Der- 
jtellung des ewigen Friedens beſſere Wirkungen erzielen werden als die heil. Allianz, 
wird ja die Zukunft zeigen; aber die Frage follen jich doc) die leichtglänbigen 
Schwärmer, die das Friedensmanifeit mit fu großem Jubel begrüßten, aufwerfen, 
ob die innere und äußere Politik der ruffiichen Negterung in der Zeit nach dent 
Abjchluffe der heil. Allianz in dem Make von den Ideen der Gerechtigkeit, 
Brüderlichkeit und Friedensliebe beberricht war, wie es nach dem Inhalte des 
über die heil. Allianz abgejchlojjenen Vertrags hätte jein müſſen. Bielleicht 
werden ie es dann begreiflih finden, wenn troß des Friedensmanifeſtes umd 
troß der Daager Konferenz nicht jedermann ein unbedingtes Vertrauen auf die 
ruſſiſche Friedensliebe hat. Ob der Zar perjönlich friedfertig ift, it dabei ganz 
gleichgültig, denn auch in Rußland find für die Richtung der Äußeren Bolitif 
ichließlich die Antereifen des Staates und nicht die perfönlihen Neigungen des 
Derrichers maßgebend. 

Vom Abichluffe der heil. Alltanz bis zum Zufammentritte der Daager 
Friedenskonferenz it von Seite dev Hegierungen fein ernithafter Verſuch einer 
Bereinbarimg vder Organiſation im Sinne der Idee des ewigen Friedens ge— 
macht worden. Um jo rühriger war auf diefem Gebiete die private Initiative. 


Karl von Stengel, Die Friedensbewegung und nationale Gefſinnung. 197 


Zahlreiche Friedensgeſellſchaften entjtanden faft in allen Staaten, nachdem zuerit 
1816 eine jolche Gefellichaft (Peace society) in England «und wenige Jahre 
ſpäter eine amerikaniſche Trriedensgejellichaft gegründet worden war. Im Jahre 
1842 trat dann der erſte internationale Friedenskongreß zuſammen, dem ſeitdem 
eine ganze Anzahl ſolcher Kongreſſe folgte, darunter in den letzten zwanzig Jahren 
auch ſog. interparlamentariſche Friedenskongreſſe d. h. Verſammlungen von 
Parlamentsmitgliedern verſchiedener Staaten, die Anhänger der Friedens— 
bewegung ſind und ſich verpflichten, für die Idee des ewigen Friedens in den 
Barlamenten einzutreten. 

Eine beſondere Regiamkeit haben natürlich diefe Vereinigungen und Ber: 
jammlungen ſowie einzelne hervorragende Vertreter und Wertreterinnen der 
Friedensidee jeit dem Erlaffe des Friedensmanifeftes des Zaren. und während 
der Haager Konferenz entfaltet, wie auch begreiflicherweiſe die Ergebniffe diejer 
Konferenz von ihnen entiprechend verarbeitet und verwertet werden. 

Die Beftrebungen der Friedensvereine und Friedensfreunde zielen auf gänz- 
liche Abſchaffung des Krieges und zwar entiweder durch Begründung einer die 
ämtlichen zivilifierten Staaten umfafienden Konföderation, in der der Krieg 
unter den einzelnen Mitgliedern begrifflich ausgeichloffen wäre oder durch Ein- 
führung des fog. obligatoriihen Schiedöverfahrens, d. h. des Grundſatzes, daß 
jede Streitigfeit ımter Staaten friedlich, nämlich duch Schiedsſpruch beigelegt 
werden muß. Daß die Friedensfreunde gleichzeitig möglichfte Abrüftung verlangen, 
ift jelbftverftändlih, da auf dieſe Weile den Staaten die Fähigkeit, Mrieg zu 
führen, entzogen oder doch erheblich beſchränkt wird. 

Ob die Beſtrebungen der Friedensfreunde in ferner Zukunft je einmal ver 
wirklicht werden, kann ganz dahingeitellt bleiben. Zweifellos ift jedenfalls für 
jeden, der die politiichen Werhältnifje der Vergangenheit und der Gegenwart 
nüchtern beurteilt, daß für abjehbare Zeit an eine Beſeitigung des Mrieges, als 
des äußerften Mittels, um internationale Konflifte zum Austrag zu bringen, 
nicht zu denken if. Daran haben auch die Ergebnifje der Daager Konferenz 
nichtö geändert, wenn auch nicht beftritten werden joll, daR durch die Haager 
Schiedsgerichtö- Konvention die Möglichkeit, internationale Streitigkeiten durch 
Sciedsfprud zu erledigen, erleichtert worden if. Wer etwa infolge des 
friedendmanifejtes des Zaren und des Zuſammentritts der Daager Friedens— 
fonferenz in diefer Hinficht optimiftifch geitiummt war, kann inzwiſchen durd) den 
jüdafrifanifchen Krieg ernüchtert worden fein. England, deifen Vertreter auf der 
Konferenz nicht genug vom ewigen Frieden und ſchiedsgerichtlicher Beilegung 
internationaler Streitigkeiten ſprechen Eonnten, bat faft unmittelbar nach dem 
Schlufje der Konferenz den ſchon vorher geplanten Krieg mit den ſüdafrikaniſchen 
Republiten begonnen, es weift jede Antervention zu Gunsten diefer Republiten, 
ſowie die Austragung feines Streites mit denielben durch Schiedsſpruch zurüd 


198 Karl von Stengel, Die Friedensbewegung und nationale Geſinnung. 


und muß ſich Sogar den Vorwurf gefallen lafjen, dat es in Südafrika nicht in 
jeder Beziehung die Geiete und Gebräude des Kriegsrechts beobachte. Daß dies 
unter dem frifchen Eindrude der Beſchlüſſe der Haager Konferenz möglich ift, 
beweift recht deutlich, wie wenig durch derartige, wenn auch vielleicht recht gut 
gemeinte Veranstaltungen erreicht werden fann. 

Die Gründe, die der Verwirklichung der Beftrebungen der Friedensfreunde 
im Wege ftehen, find ichon jo oft dargelegt worden, dat es überflüfjig ift, die- 
felben bier zu wiederholen. Dagegen ericheint es veranlaft, näher auf die 
Gründe einzugehen, welche die Friedensbewegung in Gang gebradıt und ge 
fördert haben. 

Es fteht nun wohl außer Zweifel, daß auf die Entftehung und Entmwidelung 
der Friedensbewegung vor allem wejentlihen Einfluß das Ruhebedürfnis gehabt 
bat, das ganz naturgemäß nad) den langen und blutigen Kriegen der napoleoniſchen 
Zeit fich geltend madıte. Alles jehnte fich nach dauerndem Friedenszuftand und 
hoffte auch auf denjelben rechnen zu können, da man der allerdings irrigen 
Meinung war, daß durch die Beltimmungen des Wiener Kongreſſes auf 
abfehbare Zeit die politiichen Berbältniffe Europas in befriedigender Weile ge— 
regelt jeien. 

Diejes Nuhebedürfnis vereinigte ſich mit gewiſſen, im 18. Jahrhundert zur 
Geltung gelangten Eosmopolitiichen Anjchauungen und der namentlidy im Anfange 
der franzöfifchen Revolution ſtark betonten, von den Franzoſen freilich eigentüm- 
li) verwirklidhten dee der Brüderlichkeit aller Menſchen, die begreiflichermweile 
auf ſchwärmeriſch angelegte Gemüter großen Eindrud machen und in denfelben 
Abſcheu vor kriegeriſchen Stonflikten hervorrufen mußte. 

Dazu kamen dann jpäter die immer mehr Boden gewinnenden Ideen der 
ſog. Mandheiterfchule und die freihändleriiche Richtung, welche thunlichit alle Zoll: 
Ichranfen unter den Staaten bejeitigt wiffen wollte und lediglich friedlichen Wett: 
bewerb unter den Völkern auf wirtichaftlihdem Gebiete erftrebte. Außerdem 
wollten die Anhänger diefer Richtung das Eingreifen des Staates auf allen 
Gebieten des Yebens möglichit eingejchränft haben, und waren daher jchon aus 
dieſem Grunde grundfäßlich dem Sriege, in dem der Staat von feinen Unter: 
thanen nicht bloß die größten mwirtfchaftlichen Opfer, jondern felbft das Opfer 
ihrer Perfönlichkeit verlangt, abgeneigt. Es handelte fich bei diefen Strömungen 
um Trolgerungen des durd die fog. naturrechtliche Schule zur Geltung gelangten 
Individualismus. Die naturrechtliche Schule glaubte nämlich den Staat auf das 
Einzelindividuum aufbauen zu follen und die Entitehung des Staates durch den 
jog. Staatövertrag — contrat social — d.h. in der Weiſe erflären zu fönnen, 
daß ftaatliche Gemeinweſen uriprünglich lediglich durch Freiwilliges Zufammen: 
treten einzelner, von einander unabhängiger Menfchen gebildet wurden. Im 
Gegenſatze zum Elaffiichen Altertum, das den Schwerpunft auf die Geſamtheit 


Karl von Stengel, Die Friedensbervegung und nationale Geſinnung. 199 


legt, weshalb Ariftotele® ganz folgerichtig fagte, die Gemeinichaft jei vor den 
einzelnen vorhanden, jchob dieſe Theorie das Einzelindividuum mir jeinem Wohl 
und Wehe in den Vordergrimd ; die nterefien der Gejanıtheit kommen erjt in 
zweiter Linie im Betradt. Berüdfichtigt man dazu, daß mit der Zunahme der 
Induſtrie und des Dandels und der fortwährenden Entwidelung des Wohl: 
ftandes der Bevölkerung die Wirkungen eines Krieges immer verheerender wurden 
und ſich den einzelnen noch fühlbarer machten als in früheren Zeiten, und daß 
die verfeinerte Kultur die Menichen verweichlicht und fie dem Kriegshandwerk 
entfvemdet, jo wird man es begreiflid) finden, daß eine Bewegung, die dieſer 
Richtung und diefen Neigungen entgegenfam, in weiten Kreifen Anerkennung und 
Anhänger finden konnte. 

Bon den politiichen Parteien war es vor allem die liberale Partei, welche, 
auf dem Boden des Individualismus jtebend und an den in der franzöfiichen 
Revolution zur Geltung gelangten Ideen fejthaltend, der Friedensbewegung hold 
war und jchon deshalb hold fein mußte, weil jie den Militarismus als Stüte 
einer ſtarken Regierungsgewalt befämpfte und befürchtete, daß die Negierung 
friegeriiche Konflikte mit freinden Staaten zur Unterdrüdung der ſog. Volks— 
freiheit benüßen werde. Wir finden daher unter den Anhängern und Förderern 
der Friedensbewegung vor allem Männer der liberalen Parteien, namentlich aber 
derjenigen, in denen demofratiihe Strömungen in größerem oder geringerem 
Grade vertreten find. 

Daß die Friedensbewegung in eriter Yinie in Nordamerifa und in England 
feſten Fuß gefaßt hat, hat aber noch jeine bejunderen Gründe. Gegenüber dem 
angeblih vom Dejpotismus bedrüdten und im Militarismus verfommenen Europa 
haben es die Amerikaner ja immer veritanden, ihr Staatöwelen als die fried- 
fertige, auf den Ideen der ‚freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aufgebaute 
demofratiiche Republik binzuftellen, die auch mit Rückſicht auf ihre geographiiche 
Lage kein ſtehendes Heer braucht und der Eriegerijche Abenteuer jo fern als 
möglich liegen. Es lag daher durchaus im Sinne diefer Richtung, daß in 
Amerika einer der eriten Friedensvereine gegründet wurde, und daß ich Amerifaner 
lebhaft an der Friedenspropaganda beteiligten. Inzwiſchen werden die Amerikaner 
durch die Erfahrungen des Sezeifionsfriegs belehrt worden jein, wozu jtehende 
Armeen nüglich find, die abſolute Friedensliebe der Union hat aber in dem von 
ibr veranlaßten Kriege gegen Spanien eine eigentümliche Beleuchtung erfahren, 
wie aud der jet in Nordamerifa berrichende „Imperialismus kein bejonders 
friedfertiged Gepräge an jich trägt. 

Was aber die Engländer anlangt, jo gehört es bei ihnen von jeher zum 
guten Ton, für die Ideen der Humanität und Zivilifatton zu fchwärmen, wenn 
fie auch bei der praftiichen Durchführung ſolcher een recht vurjichtig verfahren, 
um ihre materiellen Intereſſen nicht zu jchädigen. Es war daher ganz jelbit- 


200 Karl von Stengel, Die Friedensbewegung und nationale Geſinnung. 


verftändlich, daß man ſich in England für die Friedensidee begeijterte, wie man 
ed auch von jeher liebte, England als den Hort und Beichüter aller „unter- 
drüdten Völker“ darzuftellen. Dazu kam aber noch, daß England nad den 
napoleoniihen Kriegen mächtiger ald je daftand und namentlich durch jeine 
gewaltige Flotte alle Meere beberrichte. Im Gefühle feiner Macıt und geihügt 
durch jeine infulare Yage konnte fih England leicht als friedfertig darftellen, da 
es wußte, daß es von feinem Staate einen Angriff zu befürchten babe, und fein 
während der napoleonifchen Kriege errungenes wirtichaftliches Uebergewicht ſich 
zunächſt am beiten während des ‚Friedens befejtigen und erhöhen ließ. Dar 
England im Anterefie der Ausdehnung feiner Herrichaft in -verichiedenen Welt: 
teilen fortwährend mit wilden und halb zivilifierten Völkern Kriege führte, wurde 
als nebenfächlich nicht weiter in Betracht gezogen. 


11. 


Wie bereitö angedeutet, hat die ‚jriedensbewegung in den legten zwanzig 
Jahren erheblih an Umfang zugenommen; in den meiften Staaten baben ſich 
‚friedendvereine gebildet, auch Deutichland it in diefer Beziehung nicht ganz 
zurüdgeblieben, wenn es aud nicht in eriter Yinie ſteht; fait jedes Jahr finden 
Kongrefle der Friedensfreunde ftatt, die immer wieder auf die Deritellung des 
ewigen Völferfriedens abzielende Nefolutionen fafjen, und die Litteratur über die 
eriedensbewegung im allgemeinen und über völterrechtlihe Schiedägerichte im 
beionderen ift, wenn auch nicht immer in die Tiefe, jo doch in die Breite 
gewachſen. 

Man könnte nun vielleicht ſagen, daß diejenigen, welche die Beſtrebungen 
der Friedensfreunde als utopiſtiſch und jedenfalls auf abſehbare Zeit für undurch— 
führbar halten, dieſelben mit vollkommener Gleichgültigkeit betrachten können, wie 
etwa Diejenigen, welche die Beſtrebungen der Temperenzler als übertrieben und 
teilweiſe ſelbſt Tächerlich halten, jich kaum die Mühe nehmen werden, diejelben 
ausführlich zu befämpfen in der Meinung, daß die Dinge von felbit in richtigen 
Geleiſe bleiben werden. 

Bei den Beftrebungen der jog. Friedensfreunde liegt aber die Sache doch 
etwas anderd. Dieje Beitrebungen haben eine politische Tragweite; jie beziweden 
nicht bloß eine völlige Aenderung der internationalen Beziehungen der Staaten 
zu einander, jondern auch eine Aenderung ftautlicher Einrichtungen, nämlid) des 
Heer- und Kriegsweſens, wie fie auch eine völlige Umwälzung gewiſſer, jest das 
Staatöleben beherrichender Anfchauungen beziveden. 

Es iſt daher notwendig, die Beitrebungen vom ftaatlichen bezw. nationalen 
Standpunfte aus zu beurteilen. Selbitverjtändlich wird ein kleiner, vielleicht nur 
durch die gegenfeitige Eiferjucht der Großmächte in feiner Eriftenz ſich erbaltender 
Staat der Friedensbewegung ſich anders gegenüberftellen wie ein Großſtaat, der 


Marl von Stengel, Die Friedensbewegung und nationale Geſinnung. 201 


eine Rolle in der Weltpolitik ſpielt und ſpielen muß. Ebenſo werden die ver: 
ſchiedenen Großſtaaten die Friedensbewegung verſchieden beurteilen, je nachdem 
hie Borteile"oder Nachteile von derſelben erwarten. 

Wir haben die riedensbewegung lediglich von deutich-nationalen Stand- 
punkte aus zu beurteilen und lediglid von dieſem Standpunfte aus die Frage 
zu beantworten, ob es wünichenswert erjcheint, daß die ‚sriedensbemwegung weite 
Areiſe des deutichen Volkes nachhaltig ergreift. 

Deutjchland bat mehrere Nahrbunderte politiiher Ohnmacht durchzumachen 
gehabt und zwar gerade die bedeutungsvollen Jahrhunderte, in melden andere 
enropätiche Nationen ſich politiich Eonfolidierten und ſich ihren Anteil an den neu— 
entdedten Weltteilen und dem ſich daraus entwidelnden großartigen — 
und im Zuſammenhang damit an der Weltpolitik ſicherten. 

Dervorgerufen wurde bekanntlich) dieje politiihde Ohnmacht Deutichlands 
dadurch, daß in derjelben Zeit, in der in frankreich die Zujammenfafjung aller 
nationalen Kräfte zum Ginheitäftaate erfolgte, das Deutihe Reich in eine große 
Jahl immer jelbitändiger werdender Territorien zerfiel. 

War Icon dieje politiiche Zerſplitterung für Deutichland ein Unglüd, jo 
wurde das Uebel noch dadurch vericärft, daß infolge der Meformation das 
deutihe Volk in zwei jich feindlich gegenüberftehende und ſich fortwährend be- 
kämpfende Konfeſſionen zerfiel, denn es ift klar daß der politische Bartikularismus 
an dem Eonfeljionellen Gegeniag immer wieder Dalt und neue Nahrung fand 
und der politische Gegenſatz unter den deutichen Staatswejen, wie die Ver: 
ihiedenheit der deutichen Stämme durd den konfeſſionellen Gegeniat in der 
bedenklichſten Weile verichärft wurde. 

Nach ichweren inneren Kämpfen und blutigen Kriegen ift ‚es dem deutjchen 
Volke gelungen, jeine politiiche Einheit zu erringen, und auf Grundlage dieler 
Einheit und der hierdurch geichaffenen Möglichkeit der Zufammenfafjung aller 
nationalen Kräfte ſich in unglaublich Eurzer Zeit eine achtunggebietende Stellung 
in der Weltpolitif zu erobern. So groß aber auch die Errungenjchaften des 
deutichen Volkes in politiider und mwirtichaftlicher Beziehung find, die das 
deutiche Volk im Yaufe des legten Menichenalters gemadt bat, in den Schoß 
darf es die Dände nicht legen, wenn die erworbene Stellung feitgehalten 
und die deutihe Macht und der deutiche Einfluß vergrößert und ermeitert 
werden jollen. 

Es ift ja ganz begreiflich, daß Deutichland, das fo lange lediglich ein 
geographiicher Begriff war und weder in der Politif noch im wirtichaftlichen 
Leben eine Rolle jpielte, von allen denjenigen Staaten, deren Kreiſe es durch 
jein raſches Emporkommen jtörte, eben ala Emporfümmling mit Mißgunſt, in 
die bei den Hleineren Nachbarn fich ein Gefühl der Beängitigung mijcht, betrachtet 
wird. frankreich hat den Gedanken an Revanche für die im Jahre 1870771 


202 Karl von Stengel, Die Friedensbewegung und nationale Geſinnung. 


erlittenen Niederlagen immer nod nicht ganz aufgegeben, England hat begreif: 
licherweife weder den Eintritt des Deutſchen Reiches in die Reihe der Kolonial- 
mäcdhte, noch den ungeheuren wirtichaftliden Aufſchwung Deutichlands mit 
bejonderer Freude begrüßt und ift auch darüber nicht jonderlich entzüdt geweſen, 
daß das Deutiche Reich immer mehr aud ein Faktor in der Weltpolitit geworden 
ft und in Oftafien, wie in der Südſee und in Afrika eine Rolle jpielt. Daß 
die Slaven die erbittertiten Feinde der Deutichen find, darüber kann troß aller 
wenigftens außerlih zur Schau getragenen zrreundichaft des offiziellen Rußland 
nit dem Deutſchen Reiche niemand im Zweifel fein, wie auch alle Liebens— 
würdigfeiten, die bei offiziellen und nidhtoffiziellen Gelegenheiten zwiſchen Deutſchen 
und Amerifanern ausgetauscht werden, über die Gegenfäte nicht hinwegtäuſchen 
fönnen, die in politiicher wie in wirtichaftlicher Beziehung zwiſchen dem empor- 
jtrebenden Deutichen Reiche und der in den Bahnen des „Antperialiamus“ 
wandelnden großen transatlantiichen Republik vorhanden find. 

Daß die äußere Politit des Deutichen Reichs eine friedliche ift, bat es jeit 
nabezu einem Meenichenalter beiwielen, wie es auch zweifellos ift, daß feine 
Bolitit gerade mit Rückſicht auf feine zahlreichen und mächtigen Gegner in ber 
ganzen Welt eine friedliche jein muß, da eine friegeriiche Politik das vom deutichen 
Volke jo ſchwer Errungene wieder in Frage Itellen könnte. 

Eine ganz andere Frage ift es aber, ob die deutiche Politik eine friedliebende 
im Sinne der Friedensfreunde ımd der Friedensbewegung jein kann. Dieje Frage 
muß unbedingt verneint werden. 

Das Deutiche Reid) darf, wenn es jeine Stellung als europäiſche Groß- 
macht und als Faktor der Weltpolitit behaupten will, weder feine Waffenrüftung 
zu Lande ſchwächen, noch nachlaſſen in dem Beitreben, fich eine achtunggebietende 
Kriegsflotte zu Ichaffen, denn heute kann fein Staat in der Welt Anſpruch auf 
den Namen einer Großmadıt erheben, der nicht die beiden Arme jeiner nationalen 
Wehr, Heer und Flotte, mit voller Schlagkraft und Schlagfertigkeit zu gebrauchen 
weiß. (Nautieus 1901 ©. 129.) 

Es wäre geradezu politifcher Selbftmord, wenn etwa Deutjchland im Ber- 
trauen darauf, daß es im Falle eines internationalen Konflikts jein Recht vor 
einer nad) Maßgabe der auf der Danger Friedenskonferenz feitgeltellten Schieds- 
gerichtöfonvention zur Geltung bringen fönne, abrüften wollte. Der beite Schuß 
für das gute Recht eines Staates ift und bleibt inmer fein gutes Schwert. In 
dem gleichen Sinne hat Nichelieu in feinem politifchen Tejtament gejagt: 
„Niemals darf ſich ein großer Staat in die Lage bringen, eine Beleidigung zu 
empfangen, ohne fie erwidern zu können.“ Ebenſo jagt Schmoller: „Wer ohne 
Rüftung dafteht, wird mißhandelt. Es giebt feine internationale Wirtfchaftspolitif 
ohne Madtvolitit, wenn einmal der betreffende Staat die Eiferfucht der Mächte 
erregt.“ 


Karl von Stengel, Die Frriedensbewegung und nationale Geiinmung. 203 


In diefem Ausſpruche Schmollers ift ganz richtig der Gedanke zum Ausdrud 
gebradjt, daß auch der jog. friedliche Kampf der Nationen auf wirtichaftlichem 
Sebiete von dem einzelnen Bolfe nur dann mit Erfolg geführt werden kann, 
wenn dasjelbe fi auf eine achtunggebietende militäriiche Macht zu ftüßen in der 
Lage iſt. 

Mit Vorliebe betonen die Friedensfreunde, daß die Völker ſelbſt durchaus 
friedlich geſinnt ſind und daß Kriegsluſt lediglich bei den Fürſten und Regierungen 
zu finden iſt, die von jeher aus Händelſucht, Ehrgeiz, Ländergier oder anderen 
gemeinen Beweggründen Kriege begonnen hätten. Dieſe Behauptung iſt durchaus 
unrichtig; daß nicht bloß die Regierungen, ſondern auch und zwar in erſter Linie 
die Völker kriegeriſch geſinnt ſind, beweiſt z. B. ganz deutlich die Haltung des 
franzöſiſchen Volkes i. J. 1870/71 und die Haltung des engliſchen Volkes während 
des jetzigen ſüdafrikaniſchen Krieges. Es iſt dies auch ganz begreiflich. Die 
Beweggründe zu kriegeriſchen Konflikten liegen nicht in dem mehr oder weniger 
willkürlichen Belieben der Regierungen, ſie ſind gegeben durch die Intereſſen der 
Völker und Staaten. Wo ein Volk ſeine Ehre und ſeine wichtigſten Intereſſen 
von gegneriſcher Seite bedroht ſieht, greift es trotz aller Friedenskongreſſe zu den 
Waffen. Zu denjenigen Intereſſen, um deren willen aber wohl die meiſten Kriege 
geführt worden ſind, gehören die wirtſchaftlichen. Man denke nur an die ſog. 
Kolonialkriege des 16., 17. und auch 18. Jahrhunderts, bei denen es ſich darum 
handelte, welche von den europätihen Seemädten in der Kolonialpolitit und im 
Welthandel die führende Rolle zu fpielen berufen fein follte. 

Selbſt bei ſolchen Kriegen, die in erjter Linie nicht um wirtjchaftliche Ziele 
geführt werden, fallen die wirtichaftlichen Intereſſen ſtets injofern jehr erheblich 
ins Gewicht, als in der Regel derjenige Staat, der aus dem Kampfe als Sieger 
hervorgeht, durch den Sieg in feiner wirtichaftlichen Entwidelung ungemein ge- 
fördert erjcheint, während der Bejiegte in der Hegel durd; die Niederlage nicht 
bloß augenblicklich wirtſchaftlich geſchwächt iſt. Man braucht in diefer Beziehung 
nur darauf hinzuweiſen, daß das wirtjchaftliche Mebergewicht, welches England 
ich im 19. Jahrhundert zu erringen wußte, jedenfalls zum großen Teile darauf 
zwurüdzuführen ift, daß es aus den langjährigen erbitterten Kriegen mit Frank: 
reich als Sieger hervorgegangen iſt. Ebenſo kann e3 wohl feinem Zweifel 
unterliegen, daß der für Deutjchland jiegreiche Ausgang des deutſch-franzöſiſchen 
Krieges für die deutſche Volkäwirtichaft die Bahn für die Entwidelung geöffnet 
bat, auf der das deutiche Volk jeit 30 Jahren unaufbaltiam vorwärts ge: 
gangen iſt. 

Kaum zu irgend einer Zeit war dev Gegenjat auf wirtſchaftlichem Gebiete 
zwiichen den einzelnen Bölfern, ja jelbft zwiichen ganzen Weltteilen umfafjender 
und erbitterter als in der Gegenwart. Wenn diefer Gegenjat zunächſt noch in 
Kämpfen wirtichaftliher Natur zum Ausdrud kommt, jo kann doch niemand 


204 Karl von Stengel, Die Friedenbbewegung und nationale Geiinmung. 


dafür bürgen, daß der Kampf nicht früher oder jpäter auch in der Form bes 
Krieges geführt wird. Es ift dies ebenfo möglich, wie die Gefahr befteht, dat 
die wirtfchaftlich-jozialen Gegenfäre int Innern der einzelnen Staaten zu blutigen 
Revolutionen führen. 

Wenn wir aber jelbjt hoffen dürfen, daß in Europa der Friede auf die 
Dauer gefichert bleibt, fo ift doch im vorigen Jahre durch die chineſiſchen Wirren 
eine Frage aufgerolit worden, die in ihrer Tragweite noch gar nicht überjeben 
werden kann. Es handelt fich in Oftafien nicht etwa bloß um den größeren oder _ 
geringeren Einfluß der einen oder anderen europäifchen Macht, jondern um den 
Gegenſatz zwifchen der gelben und weißen Raſſe, um die Frage, ob in Oftafien 
und weit darüber hinaus in Zukunft der Weihe oder der Mongole in mwirtichaft: 
licher wie politifcher Hinſicht herrſchend und maßgebend fein Toll. 

Derartige Lebensfragen für ganze Nationen und Raſſen jind aber nod) 
niemals in friedlicher Weije zum Austrage gebracht worden. Allerdings iſt vor- 
laufig in China eine gewiſſe, wenigitens oberflächlihe Beruhigung eingetreten, 
aber Europa muß mit der Möglichkeit und jelbft mit der Wahricheinlichkeit rechnen, 
daß in vielleicht nicht zu ferner Zukunft der Kampf in Oſtaſien abermals und 
noch heftiger entbrennt. 

Berüdfichtigt man alle diefe Verbältniffe, jo ift es nicht ſehr wahrſcheinlich, 
daß das 20. Jahrhundert ein vollfommen friedliches fein wird. Es iſt daber be- 
greiflich, daß alle Staaten an der Mufrechthaltung ihrer Kriegsmacht nicht bloß, 
Jondern, namentlich was die Flotte betrifft, auch au deren Verſtärkung arbeiten; jelbit 
wenn dies auch von den meiften Staaten im Sinne des befannten Saßes ge: 
ſchieht: „Si vis pacem, para bellum!* 

Die Friedensfreunde dagegen verlangen Entwaffnung und Abrüftung md 
itellen diefes Anfinnen in erfter Linie an das Deutiche Neich, das von ihnen jo 
gern als der Triedensftörer oder doch als derjenige Staat bezeichnet wird, der 
der Verwirklichung der „idee des allgemeinen Friedens vor allem im Wege jteht. 
Gewiß wird das Deutiche Neich abrüften, Tobald auch die übrigen Staaten, 
namentlich aber franfreih und Rußland, die den Friedensfreunden ja jo ſehr 
am Derzen liegen, entwaffnen; Deutjchland muß aber mit Rüdfticht auf feine 
geographifche Yane und jeine politiich wie wirtſchaftlich erponierte Stellung 
anderen Staaten den Bortritt laffen. Wenn die Friedensfreunde zur Begründung 
ihres Verlangens nad Abrüftung geltend machen, daß die Völker unter der Laſt 
der friegeriichen Rüſtungen erliegen und schließlich dem wirtichaftlfihen Ruine 
entgegen gehen, jo mag, was das deutiche Volk anlangt, an die trefflihen Worte 
erinnert werden, die der leider zu früh verftorbene General von Schwarzhoff in 
der Situng der Haager Friedenskonferenz vom 26. Juni 1899 gefprocdhen hat: 
„Das deutiche Volk ift nicht erdrüdt duch das Gewicht der Yaften und Auflagen, 
es gleitet nicht auf Schiefer Ebene dem Abgrund zu; es gebt nicht der Erſchöpfung 


Karl von Stengel, Die Friedensbewegung und nationa!e Geſinnung. 205 


und dem Ruin entgegen. Ganz im Gegenteil! Der öffentliche und private 
Reichtum mehrt ſich; der allgemeine Wohlftand, die ‚Standard of life‘ hebt ſich 
von Jahr zu Jahr.“ 

Am Anfchluffe daran ſagte Schwarzhoff: „Was die allgemeine Wehrpflicht 
anlangt, die auf das innigfte mit diejen Fragen zuſammenhängt, fo betrachtet 
fie der Deutfche nicht als eine läftige Bürde, jondern als eine geheiligte patriotifche 
Pflicht, deren Erfüllung ev jeines Vaterlandes Eriftenz, fein Wohlergehen und 
jeine Zukunft verdanft.” 

Mit diefem Ausjpruche hat Schwarzhoff einen jehr wichtigen, mit der ſoge— 
nannten Friedenäbewegung zufammenhängenden Punkt berührt. 

Die Friedenäfreunde wollen nicht bloß allgemeine Entwaffnung, jondern 
auch Ertötung des Friegerifchen und militärischen Sinnes in den Völkern. Der: 
artigen Beftrebungen müſſen wiv aber gerade in Deutichland auf das ent- 
ichiedenfte entgegentreten. 

Wenn bier von Eriegeriihem und militärischen Sinne gefprochen wird, jo 
bandelt es ſich jelbftverftändlich nicht um rohe Raufluſt, jondern darum, daß im 
Volke der feite Wille vorhanden ift, gegebenenfalls für die Ehre, das Recht und 
das Intereſſe der jtaatlichen Gefamtheit zur Waffe zu greifen, und daß jeder 
Staatsangehörige willig der Wehrpflicht ſich unterwirft, weil die Erfüllung der- 
jelben im Intereſſe des Baterlandes geboten it. Unter diefem Gefichtspunfte ift 
die kriegeriſche Geſinnung nur eine Seite der nationalen Gefinnung, d. h. der 
Neigung in jedem Stantsangebörigen, bei allen Dingen zu fragen, was das Ned, 
die Ehre und das Intereſſe feines Volkes verlangen, verbunden mit der Ent- 
ichloffenbeit, für jein Waterland Gut und Blut zu opfern. 

Nur dann, wenn ein Volt von einer jolchen Gefinnung durchdrungen ift, 
wird es dauernd groß und mächtig fein. 

Wir haben aber in Deutichland allen Grund, die nationale Geftnnung zu 
heben und zu pflegen, denn wenn auch das deutiche Volk jegt nad außen geeint 
ift, die das nationale Jutereſſe über alles ſetzende Gefinnung ift leider noch nicht 
jo völlig durchgedrungen, twie es notwendig wäre. Wenn man ganz abfieht von 
dem vaterlandslojen Gebaren der Sozialdemokraten, jo kann doc nicht überfehen 
werden, daß eine mächtige politifhe Partei, die angeblich dur die Wahrung 
veligiöfer Anterefjen zufammen gehalten wird, in Wirklichkeit aber die Herrſchaft 
der Kirche über den Staat anftrebt und geneigt ift, die Eicchlichen Intereſſen 
über die nationalen zu ftellen, infolgedejjen leider wiederholt Fein Bedenken ge— 
tragen bat, alle möglichen dentich:feindlichen Elemente, wie 3. B. die Polen, in 
der entjichiedenften Weile zu begünftigen. Ebenjo haben wir es oft genug erleben 
müfjen, daß die äußeriten linfäliberalen Parteien, wenn es ihren politifchen oder 
wirtichaftlichen Zielen förderlich fchien, die Einmifchung des Auslandes nicht bloß 
nicht zurüdgewiejen, jondern jelbft veranlaßt haben. 


206 Karl von Stengel, Die Friedensbewegung und nationale Sefinmuna. 


Wie beihämend war ferner das Schaufpiel, das fich leider mehrmals 
wiederholt hat, dat die Reichäregierung die Stärkung der nationalen Wehrkraft 
zu Land und zu Wafjer dem Reichstag förmlich abringen mußte. 

Wie ganz anders liegen in diefer Beziehung die Dinge in Frankreich und 
England. Ohne Rückſicht auf feine PBarteiitellung und jeine Konfeſſionsange— 
börigkeit fühlt fich jeder Franzoſe und Engländer in erfter Linie als Franzoſe 
und Engländer. Das nationale Interejie fteht ihm in erfter Linie: right or 
wrong — my country. Recht deutlid) hat jich dies in dem gegenwärtig noch 
nicht beendigten jüdafrifanijchen Sriege gezeigt. Trotzdem in England eine ftarfe 
Strömung gegen den Krieg vorhanden war und noch ift, ſtand von Anfang an 
dad ganze Volk, nachdem einmal der Krieg begonnen und die Ehre und das 
Intereſſe des Landes in Frage waren, auf Seite der Regierung, die den Krieg be- 
gonnen hatte. Selbit der eifrige Friedensapoftel W. Stend hat ſchließlich den 
Kampf gegen den Srieg (war against war) aufgegeben. 

Bei national jo geſchloſſenen Völkern, wie es die Franzoſen und Engländer 
iind, wird die Friedensbewegung begreiflicherweije feinen großen Schaden thun. 
In Deutichland haben wir aber wohl Anlaß, diefelbe mit Miftrauen zu be- 
trachten, denn in der Friedensbewegung liegt, wie dies auch nicht anders fein 
fann, ein internationaler, kosmopolitiſcher, die nationalen Intereſſen nicht 
beachtender Zug. Derartige Ideen finden aber gerade in Deutichland leider viel 
mehr Anerkennung und Boden als anderswo. 

Dazu kommt noch, daß in den ‚sriedendvereinigungen immer wieder eine 
ausgeſprochen deutjch-feindliche Richtung zu Tage tritt. Der Beweis dafür liegt 
darin, daß auf den Friedenskongreſſen ſchon wiederholt die jog. elſaß-lothringiſche 
frage im Sinne einer: Barteinahme für Frankreich beiprocdyen wurde, dat 
während der Haager Konferenz die deutiche Regierung und ihre Bertreter Gegen: 
ſtand der gehäffigiten Angriffe feitens der Friedensfreunde und Friedensfreun— 
dinnen waren und daß in den meilten der Schriften, die der Friedensbewegung 
gemwidinet find, Deutichland mit Mißgunſt behandelt wird. in Beilpiel aus der 
neueften Seit bietet die Schrift des Rufen J. Novicom „Die Föderation 
Europas“, in welcher auf mehr als 700 Seiten die befannten Redensarten der 
Friedensfreunde wiederholt und breitgetreten find, allenthalben aber eine Ge— 
bäffigkeit gegen Preußen bezw. Deutichland fich geltend macht, das als der 
eigentliche Friedensſtörer ericheint und das namentlich) dem unglücklichen Frank: 
veih Elſaß-Lothringen geraubt hat, wie es auch ſchuld daran war, daß Die 
Daager Konferenz. den von den Friedensfreunden erwarteten Erfolg nicht hatte. 

Dieje Gehäſſigkeit hat den „Deutichen" A. Fried nicht gehindert, die ruſſiſche 
Schrift mit Behngen zu überfegen, wie es aud) diejenigen unter den deutjchen 
Friedenäfreunden, denen nationales Bemußtjein und das Gefühl für nationale 
Ehre als überwundener Standpunft gelten, nicht abhalten wird, die Schrift als 


Karl von Stengel, Die Friedensbewegung und nattonale Geſinnung. 207 


hochbedeutſame Leiftung zu begrüßen. Hat man doch auch nicht davon gehört, 
daf die deutichen FFriedensfreunde gegen die Behandlung der elfaß-lothringifchen 
frage auf den verjchiedenen Friedenskoöngreſſen jo energiſch proteftiert 
haben, wie es ihre patriotifche Pflicht geweien wäre. Ebenſo find die 
deutihen FFriedensfreunde den Angriffen auf die Daltung der 
deutichen Regierung während der Haager Konferenz nicht bloß nicht ent: 
gegengetreten, ſondern fie haben wader in diejelben mit eingeftimmt. 

Gegenüber derartigen Ericheinungen kann man wohl jagen, daß Jich die 
Friedensbewegung mit geſunder nationaler Gefinnung ſchwer verträgt. Diejenigen 
Deutichen, die aus Idealismus geneigt wären, der Friedensbewegung fich anzu: 
ichließen, mögen ſich daher wohl bedenken, ob fie eine Bewegung unterjtüten 
wollen, die dem nationalen Anterejje nicht förderlich ift, denn das nationale 
Intereſſe muß uns ftet3 und in allen Fragen in erſter Linie jtehen. Erſt wenn 
diejes Intereſſe gewahrt ift, mögen wir uns Eosmopolitiichen Schwärmereien und 
Träumereien hingeben. 


BS 


Abenditimmung im Berbit. 


ühllt Du den Heimweh-Kaudı des Herbites nicht ? 
Nicht, wie er alles keben leife löit? 
.. Das Meiite ging Icon müd' zur großen Ruh’, 
Und was nodı glänzt, das glänzt in leftem Licht. 
In ruhigem Rot reift mein verfärbter Wald. 
In Seinen Tiefen hängt das Sonnengold 
Die le&ten zarten Sommerträume auf; 
Wie Schleier Ichweben fie um jeden Baum. 
Dod oben leuchtet ganz in Sold gemalt 
Das leife Land — und jede Wolke Iteht 
Wie eine eigne Farbenwunderwelt 
In die durdilictt'ge leichte Luft gebaut. 
Mein naher Berg fteigt in den Horizont, 
Als wär’ er aller Erdenichwere los. 
So löft ſch meine Seele audı vom kärm 
Des lauten Lebens. Diele Ruhe wirkt. 
Erlöit it Herz und hirn von jeder Halt. 
Die Sehnlucht ſpannt die weiten Flügel aus 


Und möcdte heim. Der Serbit hat heimweh -Hauch. 
Karl Ernit Knodt. 





Erinnerungen an Miguel. 


Von 


Freiherrn ©. von Zedlitz und Neukirch. 


15 der Eonftituierende Neichstag des Norddeutichen Bundes tagte, war ich in 

Berlin, um die Arbeiten für da8 große Verwaltungseramen zu machen 
und zugleich meinen, bei Königgräg ſtark verwundeten rechten Arm einigermaßen 
auszubeilen. Natürlih war ich öfter auf der Zuhörertribiine des Reichstages. 
Bei meiner erften Anwejenheit hatte gerade ein nod im beiten Mannesalter 
jtehender Hedner das Wort, deſſen patriotiicher Schwung und dialektiſche Schärfe 
alsbald Herz und Beritand zugleich gefangen nahmen. Es war Johannes Miquel. 
Ich babe feitdem innerhalb und außerhalb der Parlamente zahlreiche vortreffliche 
Neden und Redner gehört, niemals aber davon einen fo tiefen und nachhaltigen 
Eindrud erhalten, wie von jener Miquelſchen Rede. 

Dem eriten deutjchen Reichötage gehörte ich zuiammen mit Miquel an. In 
nähere Beziehungen bin ich zu ihm dadurd) getreten, daß ich in die Kommiſſion 
zur Vorberatung des NReichseigentums-Gejeges gewählt wurde, welche unter 
Miqueld Vorſitz tagte. Die Löſung der gejeßgeberiihen Aufgabe war an ſich 
nicht leicht, weil es galt, einen jachgemäßen Ausgleich zwijchen den entgegen: 
gejegten \interefjen des Reiches und der Bundesftaaten zu finden, fie wurde noch 
erheblich erichiwert durd den unter Führung Eugen Richter? unternommenen 
Berfuch, angefichts des großen Interefjes der Regierung an dem Zuftandefommen 
des für fie nahezu unentbehrlichen Gejeßes zugleich die Enticheidung einer ganzen 
Reihe damit nicht unmittelbar zufammenhängender etatsrechtlicher Streitfragen 
im Sinne der Reichsſtagsmehrheit und gegen Bismard durdjzudrüden. Bei den 
Verhandlungen hatte ich Gelegenheit, Miquels große Geichäftsgewandtheit und 
taftiiche Meiſterſchaft, jowie die Klaftizität feines Geiftes kennen und jchäßen 
zu lernen. 

Aus den folgenden Fahren bis zu Miquels Eintritt in das Minifterium 
find mir namentlich zwei Begegnungen mit Miquel in friiher Erinnerung. Die 
erite fand gegen Ende des Jahres 1879 im Arbeitöminifterum statt. Die 
Miniſter Maybach und Bitter hatten eine Eleinere Zahl einflußreicher national: 


sreiberr O. von Zedlitz amd Nenkirch, Erinnsvungen an Mintel. 204 


liberaler, konſervativer und freikonſervativer Abgeordneten eingeladen, um mit 
ihnen die bei der Verſtaatlichung der preußiſchen Privatbahnen zu gewährenden 
wirtichaftlichen und finanziellen Garantieen zu vereinbaren. Es galt eine Reihe 
noch ziemlich unbejtimmter und unklarer Gedanken in unmittelbar brauchbare 
gefeßgeberifche Münze umzuprägen und alle die verichiedenen beteiligten Köpfe 
unter einen Hut zu bringen. Cine Hauptſchwierigkeit lag in der Perſon des 
Ainanzminifters, der, ein trefflicher Mufiker und verdienter Beantter, doch gerade 
für Finanzfragen fein” Berjtändnis hatte und, wenn endlich alles klar ſchien, 
immer wieder mit Bedenken und Wünichen bervortrat, in welche die anderen 
Teilnehmer der Beiprechung ſich ſchwer hineindenfen Eonnten. Miquel gebührt 
in eriter Linie das VBerdienft, daß troß alledem in wenigen Abendjtunden die 
Aufgabe gelölt und dev Bereinigung der meilten Bahnen Preußens in der Hand 
des Staates zu einem einheitlichen Berfehrsunternehmen von gewaltiger Größe 
und mußerordentlicher volkswirtjchaftlicher und finanzieller Leiftungsfäbigkeit der 
Boden geebnet wurde. Gr überragte die andern auf Grund der hannoverfchen 
Erfahrungen mit dem Staatsbahnſyſteme an Sächkenntnis und ficherer Er: 
fenntnis deifen, was winjchenswert und ausführbar war. Bor allem aber trug 
jeine Schnelligkeit der Auffafiung und des Entichluffes, jein Neichtum an Aus: 
funftämitteln zur Heberwindung von Schwierigkeiten, jeine glänzende Dialektik, 
durch welche Widerjprüche befeitigt oder beglichen wurden, ſowie nicht zum 
mindejten die nur groß angelegten Naturen eigene, für den Staatsmann To body: 
wichtige Fähigkeit, um großer Ziele willen in Nebenfragen einmal fünf gerade 
jein lafjen zu £ünnen, zu dem Erfolge bei. Charakteriftiicd hierfür iſt es, daß, 
als in letter Stunde die Forderung des Finanzminiſters, das derzeitige Defizit 
von 2,2 Millionen Mark in der die finanziellen Garantieen betreffenden Reſolution 
zu berüdfichtigen, das im übrigen fertige Werf in Frage zu ftellen drohte, Miquel 
alsbald ſich trog ihrer augenfälligen Sinnlofigkeit mit der Aufnahme einer: 
Klauſel in jene Reſolntion einverjtanden erklärte, wonach im Falle eines Defizits 
vorweg 2,2 Millionen aus dem Eiſenbahnüberſchuſſe zu deſſen Bedeckung zur 
Verfügung geftellt werden follten. Damit war das legte Hindernis befeitigt. 
Jene Beſtimmung it denn auch als ein Merkzeichen der finanzminifteriellen 
Weisheit jener Tage, fowie der von jeder pedantiſchen Nechthaberei freien, lediglich 
das große Ziel im Auge behaltenden Sadbehandlung jeitens der führenden 
Parlamentarier, namentlid Miquels, in das Eilenbahngarantie-Gejeß über: 
gegangen, das befanntlich junft ſehr wejentlid; von den 1879 vereinbarten Grund- 
lagen abweicht und entgegen den bei der Berftaatlidyung verfolgten Abfichten die 
Staatsbahnen fehr zum Schaden des Verkehrs zu einer der wichtigften Finanz: 
quellen gemacht hat. 

Die zweite Begegnung fand bald nad Neujahr 1888 ftatt. Die Wellen, 
welcye die Walderſee-Verſammlung in der öffentlichen Meinung hervorgerufen 

14 


210 Frelherr D. von Zedlitz und Neukirch, Erinnerungen an Miguel. 


hatte, gingen noch hoch. Es galt zu verhüten, daß die Perion des Thronerben 
in den Streit der Parteien gezerrt, daß aus diefem Streit ein Schatten auf 
feine Gefinnung und Gefamtanfchauung fiele, welcher da3 Vertrauen weiter und 
wichtiger Sreife der Bevölkerung ſchwächen könnte. Sailer Wilhelms Leben 
neigte dem Ende zu, die Tage des Sronprinzen waren gezählt. In naher Zeit 
hatte der damalige Prinz Wilhelm das Erbe des erften deutichen Kaiſers anzu- 
treten. Es leuchtet ein, wie wichtig e8 war, daß unter den Nachwirkungen der 
Walderfee-Berfammlung das Anjehen des künftigen Herrichers und das Vertrauen 
zu ihm im Volke wicht litte. Wichtig war es unter diefem Geſichtspunkte auch, 
daß der Weg gefunden wurde, die feit der Walderjee-VBerfammlung auf einen 
toten Strang geratene Aktion zur Verbeſſerung der kirchlichen Berhältniffe von 
Berlin, an deren Spite nun dod einmal Prinz Wilhelm ſich geftellt hatte, wieder 
in Fluß zu bringen. 

Patriotiihe Erwägungen diejer Art hatten Graf Douglas veranlaft, 
einen ganz Eleinen Kreis ihm politiſch naheftehender Männer in jeiner in der 
Boßftraße belegenen Wohnung zu dem Verſuche zu verfammeln, einen nad) allen 
Seiten hin befriedigenden Ausweg aus der verfahrenen Sache zu fuhen. Das 
Ziel war Elar, der richtige Weg zu deſſen Erreihung zu finden um fo fchwerer, 
al3 das perjönlihe Moment dabei eine große Rolle fpielte.e Der ſchließlich ver: 
einbarte Vorſchlag, dem Aufrufe zur Begründung des Kirchenbauvereind eine 
Einleitung vorauszufchiden, durch welche deſſen gänzliche Freiheit von einfeitigen 
kirchlichen oder politifchen Parteibeftrebungen völlig Elargeftellt wurde, und ihn 
von einer Anzahl von Perfonen mitunterzeihnen zu laffen, deren Namen eine 
Bürgichaft gegen das Hineintragen folder Beftrebungen böte, hat den gewünfchten 
Erfolg gehabt. Miqueld ficherem Urteil über die perfünlicdhe Seite der Sadıe 
und jeiner diplomatischen Gefchiklichfeit gebührt das Hauptverdienft, wenn er 
aud; felbft auf Bennigfens Abraten feine Unterfchrift unter dem Aufrufe zurüd- 
gezogen hat. 

Mehr noch als der geichäftliche Teil des Abends, an dem dod) einige be- 
ſonders bemerkenswerte Eigenschaften Miquels in fehr intereffanter Art hervor: 
getreten waren, haftet in meiner Erinnerung das ihm folgende gefellige Zuſammen— 
fein im engften Sreife, weil es Gelegenheit bot, ihn als Cauſeur erften Ranges 
fennen zu lemen. Es war allerdings feine gewöhnliche Saloncauferie, bei der 
Miquel zumeift die Koften der Unterhaltung trug, der Geſprächsſtoff war vielmehr 
geihichtsphilofophifcher Art und die Unterhaltung berührte die tiefiten Probleme 
der Geichichte des Menſchengeſchlechts. Ob man Miqueld ungewöhnlich ftarken 
hiftorifchen Sinn oder den Reichtum feines Wiſſens mehr bewundern follte, blieb 
zweifelhaft. Beſonders reizvoll aber war feine Art, feine ernften und in die 
Tiefe gehenden Betrachtungen in die Form leichter und anfprechender Plauderei 
zu Eleiden. 


‚reiherr O. von Zedlitz und Neufirch, Erinnerungen an Miquel. 1 


Ich habe jpäter, ala Miguel Minifter geworden war, öfter Gelegenheit 
gehabt, ähnlich yenußreiche Stunden mit ihm im Zwiegeſpräch zu verleben, an 
jenem Abend aber war es das erite Mal, daß ich Miquel von diejer Seite fennen 
lernte und zwar in bejonders padender Weile, weil ev jehr angeregt war umd 
eine noch reichere Fülle von Gedanken zu Tage förderte als jonft. 

Nach 1890 habe ich naturgemäß jehr viel mehr perſönliche Berührungen mit 
Miquel gehabt als früher, hatte ich doch jeinem großen Werfe, der Steuerreform, 
jeit Jahren im Parlament und in der Preſſe vorgearbeitet und habe ich doc) 
dann redlich an deſſen Durchführung mitgearbeite. So häufig, wie mir von 
politifchen Gegnern nachgelagt wurde, habe ich allerdings im Finanzminifterium 
nicht verkehrt. ch vermied es namentlid; während der Yandtagsfeilion dort vor- 
zufprechen, um nicht in der Unbefangenheit meines Urteils beirrt und in der 
vollen Freiheit der Aktion behindert zu werden. Immerhin habe ich eine ganze 
Reihe von mehrftündigen Zwiegeiprächen zwiſchen Miquel und mir in guter Er: 
innerung. Der Schauplat diefer Unterredungen wechlelte. Zumeiit fanden ſie 
in Miquels Arbeitszimmer ftatt, gleichviel, ob ſie au ein Mittagefien fich an: 
ichloffen oder in eine jpätere Abendftunde fielen. Am Sommer aber, wo Miquel 
jeine dienftfreien Tagesjtunden in den nach dem Garten hinausgehenden Räumen 
zu ebener Erde zu verleben pflegte, ſaß man nad Tiſch in der offenen Veranda 
oder wandelte in den Gängen des nicht großen, aber an fchönen Bäumen und 
Sierpflanzen reihen Gartend. Miguel intereſſierte ſich für die gärtmeriichen 
Anlagen ebenfo, wie für die fünftleriiche Ausihmüdfung jeiner Wohnräume, beides 
im Gegenfag zu Bismard, der nur den Wald liebte und in feinen Räumen ohne 
jeglichen künſtleriſchen Schmud, ja ohne den zur Behaglichkeit notwendigften 
Komfort haufte. In Miquels Arbeitszimmer bildete bezeichnendermweile das be- 
deutendfte Schmudftüf eine überlebensgroße antike Büfte Eäfars, den er mit 
Monmfen unter den Staatsmännern des alten Nom, vielleicht jelbit aller Zeiten 
am höchften ftellte. Das Mittagsmahl, an dem hier und da einer der Söhne 
des Haufes teilnahm, beftand aus wenigen, aber erlefenen Gängen, alle Spetjen 
waren bejonders leicht. Miquel war bis vor wenigen Jahren nicht nur ein 
Kenner, jondern auch ein Liebhaber eines guten Tropfens; aud als er in der 
legten Zeit mehr auf Wafjer geſetzt war, gab es jtetö einen zweiten Wein von 
beſonderer Güte, 

Im Zimmer pflegte Miquel während der Unterhaltung auf und ab zu gehen 
und die Eigarre nicht ausgehen zu lajien; für den Aufenthalt im Garten ftülpte 
er einen Hut oder ein Käppchen von ehrivürdigem Alter auf. Der Gefprädhsitoff 
wechielte natürlich. Aber wie immer, wenn Miguel fich ınit einem Manne unter- 
bielt, dem er Wiſſen und Urteil genug zutrante, um mit ihm mit Nuten größere 
Probleme zu diskutieren, wandte ſich vegelmäßig die Unterhaltung von den an 
der TC herfläche liegenden Fragen dev Tagespofitif zu einer der großen Toztalen, 

14* 


212 Freiberr O. von Zedliß und Neukirch, Erimmerumgen an Mianel. 


wirtſchaftlichen oder politiichen Aufgaben, die unserer Zeit, unjerem Staate und 
Volke geitellt find. Ebenſo ftreifte Miquel in ſolchen Momenten all die Schladen, 
welche ihm aus der politiichen Tagesarbeit, von der man ja jagt, daß fie dei 
Charakter verdirbt, anhaftete, ab, jein Geift war allein von dem Beitreben be: 
berrfcht, das Problem, das ihn gerade beichäftigte, in jachlicher Wahrhaftigkeit 
zu ergründen, zu vertiefen und jo ganz Herr desfelben zu werden. Dabei ent- 
widelte Miquel nicht nur ein ſtaunenswertes Maß von Willen und Belejenheit 
aus früherer Zeit ber, er-ließ auch erkennen, daß er in einem Alter, in welchem 
ſonſt die vezeptive Thätigfeit mehr zurüdtritt und man von den Studien früherer 
Zeit zu zehren pflegt, wie im allgemeinen theoretifch fortarbeitete, fo jede der 
Ichwebenden großen Fragen wiflenichaftlich durcharbeitete. Wie er e8 auch nur 
zeitlich möglich machte, neben den Dienft: und Repräfentationspflichten feines 
Amtes all das zu lefen, was er ftudiert hatte, tft zu verwundern Mehr nod), 
wie er all diejen gewaltigen Stoff, auch bei der größten Konzentration der Kraft, 
ſich geiftig eigen machen Eonnte. Am meijten aber, daß der Feuergeiſt die ſchon 
jeit Jahren mehr und mehr fchwindende Körperkraft zu erſetzen umd den Körper 
bis zur gänzlichen Erfchöpfung in feinen Dienft zu zwingen wußte. Rechnet man 
die Kunſt Hinzu, die ſchwierigſten Fragen ohne pedantiiche Langweiligkeit in den 
gefälligen Formen gefelliger Unterhaltung zu behandeln, jo gewinnt man ein 
Bild dejjen, was Geſpräche diefer Art mit Miquel an augenblidlihem Genuß 
und an dauernder Frucht brachten, 

In den legten Jahren, jeit die großen Aufgaben, welche Miguel ſich als 
Finanzminiſter gejtellt hatte, die Steuerreform und die Sicherung der preußiichen 
Finanzen in ſich und aus fich, im weſentlichen zum Abſchluß gebracht waren, 
befchäftigte Meiquel vornehmlich) das Problem der wirtfchaftlihen Hebung der 
preußifchen Oftprovinzen, auf das ich etwas näher eingehen möchte, weil dejien 
Behandlung für Miquels Eigenart und feine Gejamtauffafjung auf. der letten 
und höchſten Stufe feines ftaatSmännifchen Entwidlungsganges jehr bezeichnend 
und demzufolge für feine Beurteilung von Wert ift. 

Den Ausgangspunkt bildete für Miguel die außerordentlihe Verſchiedenheit 
der Berhältniffe in den Dftprovinzen Preußens und den ihm aus feiner Wirf- 
jamfeit in Hannover und Frankfurt aus eigener Anſchauung befannten Verhält- 
niffen der weftlichen Dälfte der Monarchie. Zunähft war dem genauen Kenner 
der wirtichaftlihen und jozialen Entwidlung des flachen Landes, namentlich der 
Bauerſchaften feiner engeren Heimat, die völlig abweichende Struktur der länd— 
lichen Bevölkerung der erſt dem Deutjchtum erworbenen Teile Preußens aufge: 
fallen. Er jtudierte und fand die Urſache diefes tiefgehenden Unterſchiedes in der 
Srundverjchiedenheit des Fundamentes für die joziale und wirtichaftlihe Ent: 
wielung des flachen Yandes, | 

In den altdeutichen Landesteilen ift die Bauergemeinde das Urſprüngliche; 


Freiherr O. von Zedlig und Neukirch, Erinnerungen an Miguel. 213 


auch die Gutsherrſchaften haben ſich erſt aus ihr heraus entwickelt. Umgekehrt 
iſt zumeiſt in dem mit dem Ritterſchwert eroberten Oſten die Gutsherrſchaft die 
Urform des ländlichen Beſitzes, die Bauerſchaften aber ſind überwiegend auf 
Gutsland erſt angeſiedelt. Dieſer hiſtoriſche Vorgang rückt die innere Koloniſation, 
welche ſich in der Hauptſache ja auf die öſtlichen Provinzen bezieht, erſt ins rechte 
Licht, es Handelt ſich dabei um das planmäßige Fortſchreiten auf dem Wege, auf 
dem bisher ſchon die meiften freien Bauerjhaften des Oſtens entitanden find. 
Dabei kann es angefichts der hiftoriichen und Eulturellen Bedeutung des Groß— 
grundbeſitzes in diejen Landesteilen nicht die Aufgabe des Staates fein, hier eine 
vollftändige Ummälzung der Verteilung des ländlichen Grundbeſitzes nad) dem 
Vorbilde derjenigen in den altdeutichen Zandesteilen herbeizuführen, wohl aber 
konmit es darauf an, in den Yandesteilen mit überiviegenden Großgrundbefige 
„die ſchwächeren Glieder derjelben durch lebensfräftigere Bauerjchaften zu erjeßen 
und jo zugleich auf eine beſſere Verteilung des Grundbefiges, auf eine Gejundung 
der wirtjchaftlichen Berhältniffe und zwar auch des Großgrundbefites, ſowie auf 
eine Hemmung de3 Zuges nad) dem Weiten hinzurirfen. 

Auf Erwägungen diefer Art gründet ſich das praftifche Imtereffe, das Miquel 
an der Befiedelung im Großbetriebe unrentabler Ratifundien in den Oftprovinzen 
mit mittleren und kleineren landwirtichaftlichen Betrieben nahm. Bon der Ein- 
führung des Nentenguts und des Anitedelungsgedanfens in das von Bismard 
anders geplante Polenausfaufsgefeg iſt er auf diefer Bahn ſchrittweiſe bis zur 
Indienſtſtellung der Organe und des Kredits des Staates für Rentengutsbildungen 
und zur Bereitftellung des größten Teild des Reſervefonds der Rentenbanten 
zur Gewährung von Zwifchentredit bei Nentengutsbildungen fortgeichritten. Nur 
dazu, den Staat, abgefehen von feinen Domanialbefit und der Thätigfeit der 
Anfiedelungstommilfion für Poſen und Weftpreußen, felbit als Kolonifater auf: 
treten zu laſſen, war er bis zu allerlett nicht zu bewegen. Er jcheute eine ſtarke 
Erweiterung des Rahmens der ſtaatlichen Thätigkeit und die damit notivendig 
verbundene Gentralifation jowie die Uebernahme der VBerantivortung für eine 
gefunde Verteilung des ländlichen Grundbefites durch den Staat. Dem Hinweis 
auf die Kolonifationen Friedrichs des Großen, auf welche er ſich ſonſt fo gern 
für die Behandlung der Oftprovinzen bezog, begegnete er mit der Ausführung, 
dat in der Zeit des aufgeklärten Abſolutismus bei dem Mangel fchaffender Kraft 
der Bevölferung ſelbſt ein folches Vorgehen der Staatögewalt notwendig und 
daher richtig geweien jei, in umferer Zeit kräftiger Entwidlung der Selbitthätig- 
feit der Bevölkerung der Staat dagegen auf deren Eräftige Förderung und Unter— 
ſtützung fi zu bejchränten habe. Erſt im letten Frühjahre hat Miquel fich 
unter dem Eindrucke des Nüdganges der Bevölkerung Oftpreußens in dem letzten 
Jahrfünft, in dem die Bevölkerung im Staatsganzen in überdurchichnittlichem 
Maße und in den Großjtädten und Anduftriezentren geradezu übermäßig wuchs, 


744 Freiherr ©. von Zedlitz und Neufirch, Erinnerungen an Miquel. 


mit einem in engen Grenzen gehaltenen Berjuche direkter Koloniſation von Staats 
wegen befreundet. 

Aber e3 konnte einem Manne von Miquels Scharfblid auch nicht entgehen, 
daß mit der inneren Kolontiation nur eine Seite eines weit allgemeineren Pro: 
blems getroffen würde. Wo immer allgemeine Kulturfortichritte in Frage kamen, 
mußte er wahrnehmen, daß Maßnahmen, welche in den wejtlichen und mittleren 
Provinzen Preußens nicht den mindeften Schwierigkeiten begegneten, ſich für den 
ganzen Umfang der Monardjie als unausführbar erwielen, weil den Oſtmarken 
die erforderliche Leiitungsfähigkeit fehlt. Mag es ſich um die normale Auöge- 
italtung der Volksſchule, um Gejundheitspflege vder um die Wohnungsfrage 
handeln, überall jcheitert der eritrebenswerte und anderwärts erreichbare Fort- 
ichritt an der unzureichenden wirtſchaftlichen Kraft jener Landesteile. Die Kultur: 
pflege des Staates kann ſich nicht auf der dev Entwidlung der mittleren und 
weitlichen Provinzen entiprechenden Höhe bewegen, jondern muß fich in den be-* 
icheidenen Bahnen halten, auf denen die Oftprovinzen noch folgen können. Das 
ift ein Zuftand, der für einen Staat von dem hiftorifchen Berufe und der Stel- 
lung Preußens als Vormacht des Heiches, der notwendig an der Spite der 
Kulturjtaaten jtehen muß, auf die Dauer unhaltbar ericheint. 

Aber auch unter dem Gejichtspunfte, daß troß der Anpajjung der jtaatlichen 
Wohlfahrtspflege an die ungünftigen wirtichaftlihen Verhältniſſe des Dftens, 
defien Abitand von dem Kulturniveau der übrigen Landesteile infolge der weit 
reicheren Kulturarbeit der Kommunen, Körperſchaften und Privatperjonen in 
diejen fich jtetig vergrößert und demzufolge, wenn nicht Abhilfe eintritt, in näherer 
oder fernerer Zeit died für eine erjprießliche einheitliche jtaatliche Zuſammen— 
faffung ımerläßliche Maß von Gleichheit der Verhältniſſe ganz verloren zu gehen 
droht. Abhilfe aber kann naturgemäß nicht durch Senkung des Kulturniveaus 
der vorgeichrittenen, jondern nur Hebung derjenigen der zurüdgebliebenen Landes 
teile herbeigeführt werden. Die Urſache dieſes Zurüdbleibens liegt teild in dem 
ungünftigeren Klima und dem Mangel an Kohlen und anderen unterirdifchen 
Schätzen, teild aber aud darin, daß die altdeutichen Teile Preußens einige Jahr: 
hunderte Kulturarbeit vor den erſt mit dem Schwert ber deutichen Kultur er- 
ſchloſſenen Landesteilen voraus haben. Inter diefen Eranfen die halbpolniſchen 
Provinzen überdies noch an dem Nationalitätenhader. Dem Staate erwächſt 
aus diefer Yage der Dinge die unabweisbare Aufgabe, feine Fürſorge weientlic 
der Hebung der Oftprovinzen zuzumenden und auf die Erreichung dieſes großen 
Zieles feine ganze Kraft zu konzentrieren, wie dies Tyriedrich der Große in der 
Zeit nach dem Dubertusburger Frieden jo planmäßig, energijth und erfolgreid) 
getban hat. Auf dieje Kulturarbeit des großen Königs und ihre Erfolge lenkte 
Miquel mit Vorliebe das Geipräh; er jchilderte dann mit reicher Sachkenntnis 
in der anichaulichiten Weile die Fraftuolle und jegensreiche Thätigkeit, welche 


Freiherr O. von Zedlig und Neukirch, Erinnerungen an Miquel. 215 


König Friedrich, abgejehen von der Befiedelung der entvölferten Landftriche, auf 
dem Gebiete der Landeskultur, der Berbejjerung des Verkehrsweſens und der 
Entwicklung von Handel und Gemerbe entfaltet hat, und pries dabei deſſen 
weitfichtige und energifche Finanzpolitik, welche ihn in ftand jette, ohne Ge- 
fährdung des Gleichgewichts im Staatshaushalt und ohne Bernadhläffigung der 
Srundlagen der Sicherheit. und Machtitellung Preußens für jene Zeit und das 
arme Land überaus reiche Mittel auf die Hebung jeiner Dftprovinzen zu 
verwenden. 

Nachdem die grogen und dringlichen Aufgaben, welche im vorigen Jahr— 
hundert den preußilhen Staat an der Fortjeßung der Oftmarkenpolitif des 
großen Königs gehindert hatten, alfo vornehmlich; der Neuaufbau des Staates 
und feiner Finanzen nach dem Befreiungskriege und die Herftellung der deutjchen 
Einheit, erledigt waren und die finanzielle Leiſtungsfähigkeit des preußijchen 
Staated wieder auf die Höhe derjenigen der friderizianischen Zeit gehoben mar, 
hielt Miquel es für angängig und demzufolge für geboten, ohne Verzug mit 
voller Kraft die Kulturarbeiten in den Oftprovinzen nad) dem Vorbilde Friedrichs 
des Großen wieder aufzunehmen. Allerdings mit zwei wejentlichen Abweichungen. 
Wenn neben der inneren Kolonilation wie damald Hebung der Landeskultur und 
de3 Verkehrs, Entwidlung von Handel und Induſtrie das Biel jein muß, Jo 
kann dasjelbe doch nicht durch unmittelbar fchöpferiiche Thätigkeit des Staates 
jelbit, jondern nur durch Entwidlung der eigenen wirtichaftlichen und fchaffenden 
Kraft der Bevölkerung unter dem Schuge und mit kräftiger Hilfe des Staates 
erreicht werden. Sodann ift bei der überwiegenden Bedeutung der Yandiwirt- 
Ihaft für das Erwerböleben der betreffenden Yandesteile die Fürſorge für deren 
Erhaltung und gedeihlihe Entwidlung im allgemeinen in das Programm aufzu- 
nehmen. In der Hebung und Stärkung der eigenen mwirtichaftlichen und mora- 
(ichen Kräfte der Deutjchen in den Oftmarfen fah Miquel zugleich ein ungleich 
wirkſameres Schutmittel gegen den Polonismus als in polizeilihen Maß— 
nahmen. 

Miquel jelbft hatte feinen Zweifel darüber, daß es ih um eine jtetige 
Kulturarbeit von Menjchenaltern handeln werde, aber er würde ſich durd die 
Ausficht, die Früchte feiner Arbeit nicht ernten zu können, ficher nicht haben ab- 
ſchrecken laſſen, jondern mit derjelben Kraft und derjelben Entjchlofjenheit, ganze 
Arbeit zu machen wie bei der Steuerreform und der Sicherung der Staats— 
finanzen, and Werf gegangen fein, wenn nicht Alter und Ueberanſtrengung jeine 
Kräfte und namentlich feine Entſchlußfähigkeit mehr und mehr geſchwächt hätten. 
Der Vaterlandsfreund muß es tief beflagen, daß es ihm nicht vergönnt war, in 
der Zeit der Vollfraft an die Löjung der großen Aufgabe, welche ihn während 
der legten Jahre feines Lebens jo lebhaft beſchäftigte, heranzugehen. 

Borjtehende kurze Skizze läßt einen der wichtigften Leitſätze Miquelicher 


216 Freiherr O. von Zedlitz und Neukirch, Erinnerungen an Miguel 


Staatsweisheit erkennen. Bon der Auffaffung, daß es eine der vornehmſten 
Aufgaben des Staates ift, alle feine Glieder auf gleicher wirtfchaftlicher und 
fultureller Höhe zu erhalten und zu diefem Ende diejenigen unter ihnen, welche 
aus eigener Kraft der fortichreitenden Entwidlung des Ganzen nicht zu folgen 
vermögen, durch vorzugsweiſe Förderung und Unterftügung zu ftärfen und zu 
heben, ift u. a. auch feine Mittelitandspolitif getragen, 

Zugleich wird man aus der Skizze erfehen können, wie jehr die landläufige 
Auffaſſung, daß Miquels Fiskalität Selbitzwed gewejen fei und fi) auf Koften 
der Sulturaufgaben des Staates geltend gemacht habe, den wirklichen Sad): 
verhalt karikiert. Wie Friedrich dev Große, der gleichfall3 dem Vorwurfe über: 
mäßiger Fisfalität ausgefeßt war, Jah Miguel gute Finanzen als die unerläßliche 
Borausfeßung für die befriedigende Löſung der Kulturaufgaben des Staats an, 
und wenn er unabläſſig und ohne Scheu vor Unpopularität bemüht war, die 
Staatäfinanzen zu beſſern, fo geichah dies vornehmlich zu dem Zwecke, um 
Preußen in den Stand zu ſetzen, feine Rolle als führender Kulturftaat im 
Deutichen Reihe voll durchzuführen. Die Finanzkunſt Miquels ſtand ftets im 
Dienfte feiner Staatskunft; König und Volk werden ernten, was Miquel vor 


forglich gefät hat. 


Derbitklang. 


ER uisiende Blätter 
Um meinen Gang, 

Pofthorngeicdımetter 
Fern, abidiiedsbang, 
Flüchten und Sorgen 
Weit durdı die Welt — . 
Wohl, wer geborgen 
Sein kiebites hält! 


Fulius kohmeyer 


% 


TLHTRTNHTNTHTNTNTNTNTN II EIN 


Das Meer im keben der Völker und In der Machtitellung der Staaten. 


Don 


Alfred Kirchhoff. 


I von ungefähr durchweht jüngit ein mariner Odem unſer Deutiches Neich 
bis hin zu den Alpenhöhen. Nie vordem haben die Dentichen fo wie heute 
durch alle Schichten der Bevölkerung, durch alle Gare in Nord und Süd jolchen 
Anteil am Scewejen genöommen wie heute. Selbit unſere Binnenlanditänmme, 
die niemals von ihrer Deimatichulle aus das ewig beivegte Spiel dev Meeres— 
wogen fchauen, niemals das Dröhnen der Brandung vernehmen, ſelbſt ſie haben 
wie über Nacht Anterefje für das Meer, Berftändnis für Flotte und Seehandel 
gewonnen. Was mit all ihren Nuhmesthaten die Danfa nicht erzielte, das er: 
reichte alfo in der kurzen Friſt dreier Jahrzehnte das neue Neich, die ſchwarz— 
weißrote Flagge. 

Veriuchen wir uns darüber Kar zu werden, daß in diefer plößlich unter 
uns Deutschen jo allgemein gewordenen Neigung für Ozeanifches duch wahrlich 
etwas Tieferes verborgen liegt als eine bloße Tagesmode, wie etwa in der 
Matrofentracht, in die man jegt auch in Süddeutſchland gern die Buben, wohl 
gar die Mädchen ftekt. Diele Trachten werden ſich wie andere wandeln; aber 
find fie nicht in ihrem uniformen Marineblau ein vecht offenfichtiges Zeichen auf 
unferen deutichen Straßen und Plätzen, bei jedem frohen Kinderfeft, wie populär 
jene Vorliebe für das Meer auf einmal bei uns geworden it? 

Jedoch gar nichts Modernes, etwas Wraltes vielmehr ift die Bermählung 
des Menjchengeichlechts mit dem Weltmeer! Die Geichichte, die wir doc) jetzt 
auf weit über ſechs Jahrtaufende zurück zu verfolgen im ftande find, weiß gar 
nichts zu melden davon, wie und wann diefer merkfwürdige Bund einft ge— 
ichloffen wide. Lange alio vor dem erjten Tagesgrauen dev Geichichte, lange 
vor jeder Aufzeichnung geichichtlicher Erinnerung bat der Menic bereits den 
tolgenreihen Schritt gewagt, jich dem Weltmeer anzuvertranen, wenn er auch 
gewiß noch lange blog Küftenfahrer blieb. Geht die Erfindung mariner Fahr: 
zeuge wohl auch nicht auf die Urzeit der eriten Feuerzündung durch Menjchen: 
hand zurück, fo liegt fie doch ſicher in vorgefchichtlicher Zeitferne und mag mehr: 


218 Alfred Kirchhoff. Dat Meer ım Leben der Völler. 


fach an weit. dort‘ einander entlegenen Geſtaden den verfchiebenen‘ Menſchen⸗ 
ſtämmen geglückt fein, in Aſien, Europa, Amerika, als ſich Oſt- und Weſtfeſte 
noch gar nicht kannten. 

Die Urmenſchen waren wahrſcheinlich Früchte verzehrende Waldbewohner. 
Wann im Verlauf der wohl mehr als 100000 Jahre meſſenden Entwickelungs— 
zeit des Menſchen der Zeitpunkt eintrat, in dem er zuerjt der See anjichtig 
wurde, bleibt uns natürlich für immer verborgen. Nur das dürfen wir be- 
haupten: unſer Gejchleht kann ſich unmöglid aufs Meer bingezogen gefühlt 
haben, ala es dasſelbe etwa vom Waldesfjaum zum erjtenmal erblidte. 
Keinerlei Fruchtſpende lodte dahin, und jelbit um einen nur ſchmalen Sund zu 
überfegen, der vielleiht von einer mit Waldesgrün winkenden Nahbäarküfte 
trennte, fehlte da8 Boot, mangelte die Schwimmfähigkeit. Mithin muß es irgend 
ein Zwang, irgend ein Notgebot gewejen fein, was den Menjchen antrieb, die 
Scheu vor der gefahrvollen Salzflut zu überwinden, oder es könnte auch der 
Zufall es gefügt haben, daß vom Ufer eines durch tropische Regen angejchwollenen, 
übertretenden Stromes geringzählige Menfchenhorden jamt einem Stüd Wurzel: 
boden ihres heimischen Waldes ftromabmwärts geriffen wurden und auf ihrer 
ſchwimmenden Inſel in die See, ichlieglih an fremdes Gejtade gelangten. Die 
ohne ihren Wurzelboden ins Waffer eines Fluſſes, eines PBinnenjees nieder: 
gejunfenen Baumftämme jind wohl ohne Zweifel die früheften Vehikel für die 
Fortbewegung des Menjchen auf den Binnengemwäfjern gewejen. E3 war nur 
ein furzer Schritt, der vom durch die Natur dargebotenen Schwimmbaum zum 
fünftlih ausgehöhlten Bootsbaum, zu dem noch weit und breit durch alle Erd— 
teile (mit Ausnahme des flußarmen Auftraliens) benugten „Einbaum“ führte, 
und wiederum nur ein Schritt, ſolche Flußboote, jeitdem man fie zu rudern ge: 
lernt hatte, über die Strommiündung binaus zur Fahrt aufs Meer zu benugen. 

An den Meeresgeitade haujende Stämme fonnten, als unſer Geſchlecht 
(wohl bereits frühzeitig) fih an gemijchte Koſt gewöhnte, leicht die Scheu vor 
dem Ozean überwinden, wenn ſie den eßbaren Seetieren, wie Filhen, Mujcheln, 
Krebien, nachitellten, wozu fich beionders an ſeichten Stranditellen, die zur Ebbe- 
zeit vom Meerwaſſer ganz oder teilmeile verlajlen wurden, Gelegenheit bot. 
Was für gewaltige Aufternmafjen vorgefchichtlihe Strandvölfer der heutigen 
dänischen Inſeln verzehrt haben, das lehren ja die an den dortigen Küften zu 
ganzen Wällen aufgehäuften Aufternichalen der „Küchenabwürfe"‘. Der nagende 
Hunger neben der Neugierde, die nach neuen Nabrungsquellen haſcht, mochte an 
der einen Stelle einen Menichenitamm auf die See treiben, anderwärts ſcheuchte 
vielleiht ein überlegener feindliher Angriff von der Landjeite einen der Boot- 
fahrt nicht ganz unfundigen Stamm nad einer rettenden Gegenfüfte, die Den 
Bedrängern ohne Flöße oder Einbäume unerreihbar bleiben mußte. So wird 
bitterevr Zwang und Zufall die Doppelbrüde geichlagen haben, auf der der 


Alfred Kirchhoff, Das Meer im Leben der Voller. 49 


Menſch, diejer vorher ausfchließliche Landbervohner, zu einem anıphibiichen Weſen 
fih entfaltete. u 

Was den Vorfahren nur Zufoft geweſen, wurde bald Hauptfoft; fifcheijende 
Bölker, die nach ihrer Fiſchnahrung bei den Griechen geradezu den Namen 
Ichthyophagen) trugen, Eennen wir jchon aus grauem Altertum; die Bewohner 
der Sübjeeinjeln, die Indianer der Fjordenregion des pazifiichen Nordweſtens 
von Amerika wie die Feuerländer dürften wir noch heute zu den Ichthyophagen 
rechnen. Was aber den mannigfaltigen Reiz betrifft, den von fernher lockende 
Gegenküſten feitländiicher oder injularer Art ausübten, nicht bloß dort Zuflucht 
im Kriegsfall zu juchen, jondern dortige Naturichäße auszubeuten, mit den An- 
wohnern Handel zu treiben, zulett jelbit dort jich anzufiedeln, jo ift es gerade 
diefer Anreiz gewejen, der ganzen Küſtenvölkern den Trieb zur Seebethätigung 
einflößte, fie zu Sciffervölfern made. 

Es kann gewiß feinen deutlicheren Beweis für die großartige, geradezu 
weltgeichichtliche Bedeutung dieſes Rodrufs der Küftengliederung, der Auflöfung 
von Landmaſſen in Halbinjeln und Inſeln geben als die geographiiche Verteilung 
ber GSeetüchtigfeit. Die gliederärmften Erdteile, Afrita und Auftralien, haben 
die eingeborene Menjchheit niemals feegewaltig werden lafjen; ja der Auftral- 
ſchwarze kannte weder Boot noch Floß. In Amerika läßt fi) von der Land— 
karte die urſprüngliche Berbreitung jeefundiger Völker ablejen: jie bewohnten die 
fjordenzerichnittenen Küftenländer und die Archipele; die Arowaken Weftindieng, 
die friedfertigen Maisbauer -auf der weſtindiſchen Inſelflur, lehren uns zwar, 
daß der Menich auch auf Anjeln keineswegs den Mut zur Seefahrt wie mit der 
Seeluft einatmen muß, dafür fielen fie aber auch den eroberumgaluftigen 
Karaiben zur Beute, deren Scifferkunft jich genau da entiwidelt hatte, wo die 
Antillen mit Trinidad das jüdamerifanische Feitland fait berühren; und wer 
fennte nicht die unvergleichlichen Meifter im Kajaf, die Eskimos, auf dem großen 
arktiihen Archipel der neuen Welt, deren Eriftenz geradezu an der Befahrung 
der See haftet, meil ihnen allein der Seehundsfang das Leben zur Genüge friftet! 
In Aſien gewahren wir abermals auf der geräumigen Inſelgruppe im Südoften, 
dev malaiiſchen, die Heimitätte eines f£unftreihen Bootbaues (der jchmalen 
„Prauen” mit Mattenjegeln und Auslegern), den Ausgangsort der größten 
ozeaniſchen Kolonijation, die die Geſchichte kennt, der polynefischen. 

Die Nautit Europas bat naturgemäß immer zwei getrennte Schaupläße 
beſeſſen: den mittelmeeriichen im Süden, den atlantiichen im Weften. Auf jenem 
wurden die Phönizier erſt Fiſcher und Taucher nach Burpurichneden am Syrer: 
itrand, dann Süftenfahrer, Händler, Kolonifatoren, die Lehrer der Hellenen, 
zumal der Jonier, die am thatkräftigiten die geograpbiichen Antriebe der ägäiſchen 
Beftade zum Seeweſen ausnutzten. Auf der atlantifchen Seite erblühte im 
härteren Kampf gegen ozeaniiche Gemalten, gegen Sturmmetter, wie ed das 


220 Alfred Kirchhoff, Das Meer im Yeben der Völler. 


Mittelmeer in folcher Furchtbarkeit nicht erfährt, das Seemannshandwerk zuerit 
an dev Zadenfüjte der Bretagne und Norwegens zu achtungswerter Leiſtung 
die Normannen führten ihre Piraten: und Groberungsziige bis in den Tonnigen 
Süden, wo fie ſich auf dem Boden der Geresinfel mit den Sarazenen trafen, 
jie wurden auf ihren geteerten Ruderfähnen, den „Seerappen‘‘, die beherzten 
Entdeder Islands, Grönlands, des Ojftens des benachbarten nordamerifanijchen 
Feſtlands. Erit jedoch nachdem Kolumbus die transatlantiihe Welt in den 
reiheren Tropen enticjleiert hatte und danach ganz Amerika ſich den eritaunten 
Biden Europas erichloß, regte füh in England und Deutichland die Begierde, 
die geographifche Gunst der Lage wie dev Hafengüte zu ozeaniſchen Großthaten 
auszukaufen, und ſo erſtanden zulegt unter dem fürdernden, Einfluß ftantlichen 
Aufſchwungs die beiden maritimen Großmächte Europas. J 

Im erfolgreichen Ringen mit der Gegnerſchaft aus Südweſten, von Amerika 
daherziehender Meeresſtrömung, hauptfächlich gleichfalls aus Südweſt wehender 
Winde war der Triumph der Neuzeit erzielt worden, gleihlam gegen den Willen 
der Natur die verfehrsreichite jener überfeeifchen Brüden zu jchlagen, die erit 
aus den zertrennten Grdfeiten ein Ganzes zulammenichmiedeten: diejenige 
zwiihen Europa und der neuen Welt. 

Ungleich früher dagegen, ſchon ſeit Menjchengedenfen war ein transozeaniicher 
Seeverkehr in wirfungsvollem Gang, der etwas mit dem rhythmiſchen Pendel- 
ſchlag gemein hat, nämlich dev über das indiſche Weltmeer. Dort, wo der 
Wintermonſun die Segel mit Nordoftluft bläht, daß die Schiffe wie von ſelbſt 
von Indien und von jidoftarabiichen Geftaden nach dem tropiichen Oftafrifa 
treiben, und fodann im jummerlichen Dalbjahr die Segler mit dem entgegen: 
gejegten Monfun wieder jo bequem die Rüdfahrt zu vollführen vermögen, iſt 
ein natürliches Einungsband geſchloſſen zwiſchen Aſien und Afrika, das ſich in 
uralten Warenaustaufch und daraus folgenden Kulturſymptomen ausſpricht. 
Das menihemvimmelnde WBorderindien holte fich ſeit alters fein Elfenbein für 
zahllojes Schmuckgerät aus den Wäldern und Savannen Afrifas, arabiſche Sflaven- 
fänger drangen von der Hüfte gegenüber von Sanfibar bis zu den großen inner: 
afrifaniihen Seen vor, bis wohin fie nebenbei indiichen Neisbau einführten; 
auf den nämlichen Straßen bewegte ſich der vftafrifanische Handel jchon im 
Altertum, denn diefer offenbar war es, der dem großen Btolemäos in Nlerandrien 
eine genauere Kenntnis der Nilquellfeen vermittelte, als wir fie noch vor einem 
Menjchenalter befaßen; von der Omanküſte aus ward fogar das Reich des 
Herrſchers von Maskat bis an das oftafrifanische Geftade erweitert, ſodaß ein 
wahrer „Monſunſtaat“ entitand rittlings Über dem Nordweitteil des indilchen 
Ozeans; und nod) zur Stunde jigen indiſche Großkaufleute, arabijche lem: 
händler an der Küſte Deutich-Ditafrifas. 

So innig veritridt die Seefahrt weit entlegene Lande! Und wie deutlich 


Alfred Kirchhoff, Das Meer. im Veben der Wölter. 221 


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zeigt Jich jene wiederum abhängig von der Ländernatur, jchon in dev Wahl des 
Materials für die Schiffe! Die Eingeborenen der Südſeeinſeln ſowie Alt— 
Amerikas ermangelten gänzlic, des Eifens, folglich benugten fie feinen einzigen 
Gifennagel zur Bootzimmerung. Die Südfeeinfulaner verwendeten jelbftver- 
jtändlich nie Taue aus Peinen- oder Hanffafer; mit Kokosftriden banden fie ihre 
Schiffsplanken zufammen, aus ihnen beftand ihre Tafelage, ihre Segel waren 
aus Blattjtreifen geflochtene Matten. Leinwandjegel machen die nautifche 
Signatur der Oſtfeſte aus, unter Baunmollfegeln fuhren die Karaiben, unter 
Vederjegeln die xinderweidenden keltiſchen Beneter der Bretagne, die bereits vor 
Jahrtauſenden folide Eiſenanker jich anfertigten.. Das auch auf unferen deutjchen 
Werften für den Shiffsbau jo geichäßte Teakholz Indiens hat weſentlich mit 
dazu beigetragen, die Engländer nad) Hinterindien lüftern zu machen. 

Die höher umd höher gejteigerte Technik des Baues ſowie der Führung 
mariner Fahrzeuge hat immer eine kräftige Anregung für technifche und. wiſſen— 
ichaftliche Fortichritte verfchiedenfter Art geboten. Das wirkte befruchtend ſelbſt 
anf rein theoretiiche Wiffensgebiete, Woher wären die Geldmittel zu beichaffen 
geweſen, um die milliardenbaften Beobachtungen über den ganzen Erdball aus- 
zubreiten, die erfordert wurden zum Musbau der Lehre vom Erdmagnetismus, 
wenn nicht die Italiener des Mittelalters aus der Hand der Araber die chineſiſche 
Entdeckung der Richtkraft eines jchwebenden Magnetitabes zur Einhaltung feiner 
ganz beitimmten Winkellage zum Ortsimeridian empfangen und weiter vervoll- 
fommnet hätten zur Derftellung dev Schiffsbufjole? Wie lehrreih für die Ein- 
jicht viel fchnellerer Uebertragung von Gedanken durch See- als. durch Yandver: 
kehr ijt Schon jene bligartig vor jich gehende Mitteilung dex Srundfraft, die wir 
in der Magnetnadel ftaunend belaufen, von China nad) Portugal! Und wie 
lehrreicd; dann wieder die Verwertung der Scifferbeobadhtungen. iiber Recht- und 
Mikweifung der wunderbaren Stahlnadel von Ort zu Ort für den Entwurf erd- 
magnetifcher Karten, die anjcheinend nur den Phyſiker oder den Geographen 
angehen und doch zugleich To ımentbehrlich find für den Seemann, weil diejer 
nur auf folcher Grundlage fein Schiff bei Nebel oder dichter Wolfenverfchleierung 
des Himmels richtig zu ſteuern weiß. Vollends die unſterbliche That des 
19, Jahrhunderts, die Dampfmalchine in den Dienſt der Schiffahrt zu ftellen, 
um ſelbſt gegen Wind und Strömung, ja auch bei voller Windftille (mie in der 
Glut des Roten Meeres, wo die Ruderknechte an Bord der Opbirfahrer entjeß- 
lich ſich müſſen geplagt haben) das Fahrzeug möglichft geradlinig den Kurs be- 
wahren.zu laffen, — fie hat das Wiffen und Können der Menjchheit mit dem 
Stachel des Erwerbötriebes mächtig voran gebradjt. Wie viel Ueberlegung und 
Kunſt fordert ſchon der Bau eines großen Segelichiffes, mie viel mehr aber der 
unjerer U zcandampfer, die ob ihrer fo viel größeren Leiftungsfübigkeit die Segler 
mehr und mehr verdrängen, und wie gewaltige Berdienftfiimmen wirft Tolcher 


222 Alfred Kirchhoff, Das Meer im Leben der NRölter, 


Schiffsbau ab für den Handel, für die Anduitrie, für die Arbeiterwelt! Bertritt 
doch allein die deutiche Handelsflotte einen Geldwert von mehr denn 500 Milliv- 
nen Marf, und in diefer Summe ſteckt ganz überwiegend der für die Bauarbeiter 
gezahlte Lohn. Auf den Werften unferer failerlihen Marine werden den Werft: 
arbeitern im Jahresdurchſchnitt rund 13 Millionen Mark ausgezahlt, ſodaß der 
mittlere Jahreslohn eines jeden fich auf 1170 Mark beläuft. 

So hoch fi aber auch die Summen des Berdienites beim Schiffäbau, 
dazu diejenige der wader verdienten Löhne der Sciffsbemannung und Schiffs: 
führer auf Erden belaufen mögen, ungleid) höher als dieſer für die Volkswirt: 
ſchaft gewiß micht zu unterfchäßende Wert fteht uns denn doc die Bedeutung 
der Schiffahrt aller Zeiten durd) den Endzwed, den fie bewußt oder unbewußt 
verfolgt. Diejer ift doch fein geringerer als die Verbindung der jeit Urzeiten 
völlig zerfplitterten Menſchheit zu einer alle Raffen und Länder um: 
jpannenden Einheit. Weil e8 eben feine Verfnüpfung aller Lande auf Erden 
von Natur wegen giebt, fondern allein der Ozean eine einheitliche Dede an der 
Außenfeite des Erdballs bildet, ift weder wirtjchaftlich noch geiftig eine Einung 
der Völker anders möglich als durch die See. Sie liefert zugleich die herrlichite Ge— 
legenbeit, diefe einzig mögliche Einung zu verwirklichen; denn troß Aeolustücken, jelbit 
wenn fie in wütende Eyflonenftürme ausarten, eröffnet die Meeresfläche im Gegen- 
aß zur Landfläche die denkbar beite, weil völlig hemmnisfreie Bahn für mwohl- 
feilfte Fortbewegung von Perfonen und Waren ohne Benötigung des Milliarden 
verfchlingenden Wegebaues. Ilnjere Großhändler willen davon zu erzählen, wie 
der Warenbezug auf viel weiter geftredten Wegen aus fernen Landen oft viel 
billiger zu ftehen fommt als aus der Nahbarichaft, wenn nämlich diefe bloß zu 
Land erreihbar ift, jene dagegen Seewege jind. Deshalb kann man Sigiliens 
Apfelfinen beträchtlich wohlfeiler in Hamburg ala in Sübdeutfchland haben, und 
vermögen weftfälifche Steinfohlen troß des Ausnahmetarifs, der ihnen gerade 
zur Erleichterung des Wettbewerbs gegen die englische Kohle auf unferen Eifen- 
bahnen gewährt wird, Hamburg nicht mit fo geringen Transportkoften zu er: 
reihen wie die nordengliihen Kohlen auf der jo viel längeren Nordfeefahrt von 
Neweaſtle her. Sp bedurfte ed denn nur der kühnen That der Pfadfinder quer 
über das atlantiihe Meer, um das Kap nad) der indischen Ser, um Amerifa 
herum in die Südſee — und die Wirtfchaftäfreiie der bis dahin armielig ver- 
einzelten Völkergruppen wuchſen allmählich zufammen zu dem erdumfaffenden 
Getriebe einer einheitlihen Weltwirtichaft. Doch Größeres vollzog fi im Ver— 
lauf dev legten vier Jahrhunderte als der materielle Zuſammenſchluß der Völfer 
auf dein Weltmarkt, wie es Schiller in den Berien andeutet: 


Euch Ihr Götter gehbörer der Kaufmann! 
&üter zu fuchen gebt er, 
Toh an fein Schiff ſchließet das Gute fich an. 


Alfred Kirchhoff, Das Meer im Yeben der Nölker. 223 


Was Paulus den Athenern einjt predigte, alle Menſchen ohne Unterjchied, 
Hellenen wie Barbaren jeien Brüder, — das vermochte man doch nicht früher 
zu beiveifen, mithin auch nicht früher als eine feft begründete Wahrheit zum 
Gemeingut des Bildungsichages von Geilt und Gemüt der Menfchheit zu 
machen, als bis die Hochleefahrt aus den Meeren Brüden zwiſchen den 
Erdfeften geftaltet hatte, da fie vorher abichranfende Mauern gewejen. 
Dem Ozean in feiner Bewältigung durd die Seefahrt verdanken wir es, daß 
wir das Erdenrund bis hart an den Nordpol, hoffentlich bald auch bis gegen 
den Südpul hin fennen und daß wir unferen geiftigen Gefichtöfreis über 
jämtliche Völker ausfpannten zum allmählidhen Begreifen des wahren Wejeus 
der Menichheit, diejer unerläßlihen Borbedingung aller Humanität. Auf 
Meereswogen allein kann Europas Gefittung ihren Siegeszug durch den ganzen 
Erdenraum vollenden. 

Wie zur Belohnung dafür, unjer Gejchleht nah der urzeitlichen Ber: 
trennung auf den einzig möglichen Weg der Wiedervereinigung geführt zu haben, 
ward feefahrenden Völkern eine reiche Fülle edelfter Spenden zu teil. Wer fein 
Reben qutenteil8 auf dem Meere verbringt, füllt feine Lungen mit vzonreicher, 
ftaubfreier Luft. Schon das vermittelt körperliche Geſundheit, die aber beim 
Seemann noch wejentlich gejteigert wird durch harte Anspannung von Muskeln 
und Nerven bei feiner anftrengenden Berufsarbeit. Diefe fordert ſcharfes Aus: 
ipähen, Elarfinniges Beobachten, Geiftesgegenmwart, mutige That, zähe Ausdauer. 
Es giebt gar feinen großartigeren Dafeinsfampf de3 Menfchen mit elementaren 
Naturgewalten, ald ihn der wetterharte Seemann zu beftehen hat gegen die 
vom Orkan zu furdtbarem Wogenſchwall aufgepeitichte Salzflut, wenn der 
beulende Sturm etwa gar bei finfterer Nacht die Segel in Feten zerreißt, die 
Maften und das Steuer zu brechen droht! Faſt allerwegen aber dräut dem 
Schiffer Gefahr, jelbft bei jpiegelglatter See und freundlichftem Sonnenfdein; 
tagtäglich findet auf ihn das Wort Anwendung: 

„Und ſetzeſt dur nicht das Leben ein 
Nie wird dir das Leben gewonnen fein!“ 

Das hat den Seeleuten in allen Zonen gewiſſe Verwandtſchaftszüge 
jeelifcher wie leiblicdyer Art aufgeprägt, an denen man fie fait ebenfo untrüglich 
erkennt, wie an dem breitjpurig langlamen Gang, ben fie vom hin- und her: 
ſchwankenden Ded auf den feiten Boden des Landes mitzubringen pflegen. 

Bei uns in Deutfchland kommt der Typus des Matrojen nur an den Ge- 
ftaden von Nord: und Oſtſee recht zur Geltung; im feefernen Binnenland, etwa 
ın Thüringen oder gar in Süddeutſchland gelangt er höchſtens in den Eräftigen 
Seitalten beurlaubter Blaujaden der Kriegsmarine zur Erſcheinung. Wo hin- 
gegen die Seefüfte nirgends fernliegt, wie auf den britiichen Inſeln, oder das 
ganze Volk beinahe nur an der Hüfte wohnt, wie in Norwegen, ba übt das ge: 


294 Alfred Kirchhoff, Das Meer im Yeben der Wölter. 


ſamte Weſen dev Seemannsnatur einen merkwürdigen Einfluß aus auf die Nach— 
ahmung und Nacheiferung der übrigen Stände, um fo mehr, "als der Schiffer: 
beruf huchgeachtet dafteht im Kreis ſolcher Nationen, die es fühlen, wie viel jie 
diefem Beruf danken für die Gefamtleiftung ihrer nationalen Wirtichaft. Dann 
teilt fi} von der auf der Seefahrt geftählten Tüchtigkeit, dem Eugen, geipannten 
Beobachten, dem ruhig jahlidhen Abwägen, dem unbeftechlichen Sinn für das 
Wirflihe, dem weiten Blid, dem twagemutigen Unternehmungsgeift dem ganzen 
Bolt mit. So wird es dereinft audh in Sidon und Tyrus, am Jonierſtrand 
Stleinafiens, in Genua und Venedig geweſen fein! Dafür reden laut die 
koloniſatoriſchen Großthaten diefer gewiß nur mäßig großen Stadtgemeinden, 
vergleichbar denen unferer Hanfenten des Mittelalters. In Seeluft gedeiht 
fein engherziges Philijtertum; wo Meeresbrandung das Land küßt, da thut ſich 
dem Bervohner die Welt auf, ganz unbewußt richtet er fein Auge in die Fremde, lernt 
anderer Leute Sitten kennen, die da anlanden oder die er in überjeeiichen Fernen 
auffucht, fühlt ſich an der freien ozeanischen Bahn zu weltweiten Landen angeregt 
zum Wettbewerb mit allen Völkern der Welt, empfindet es mit jedem neuen Ge- 
lingen überfeeifcher That immter tiefer, daß wirklich „dem Mutigen gehört die Welt“, 
Das Meer, einitmals gewiß für den Menfchen der Urzeit das Abjchredendfte 
auf Erden, ward ſomit allmählicd) den Bölfern, die an ihm wohnten, die jich ihm 
auf ihren Fahrzeugen anvertrauten, immer vertrauter. Man verehrte es wohl 
ob der nahrhaften Spenden, die es aus feinem Mutterſchoß gewährte, als eine 
dem Menſchen holde Göttin; doch des Meeres Uebergewalt, die furchtbaren Kata- 
ftrophen, die es über den ihm gegenüber jo ohnmächtigen Menschen verhing, 
icheuchte allzu vertraulichen Umgang zurüd. Ehrfurcht und Schreden begegnen 
jich in den Mythologemen vom Ozean bei den Schiffervölfern, jeien es Südſee 
infulaner oder Hellenen. Den gräßlichen, alles im Nu vernichtenden Angriff 
der Seebebenwelle jchrieb man natürlid; dem plößlic, erregten Zorn der Meeres: 
gottheit zu; darauf offenbar muß der Dreizad Pojeidons, des „Erderſchütterers“ 
der homeriſchen Geſänge, bezogen werden. In den Dichtungen aller Seeanmwohner 
jpielt da3 Meer eine hervorragende Rolle; jein Wüten im Sturm ertönt, fein 
Friedensſpiegel mit leifem Wellengekräufel erglänzt in den Eunftlofen Liedern 
der braunen Menſchen pazifiſcher SKtoralleneilande, wie in den poetijchen Kunſt— 
werfen der Kulturkreiſe Aliens und Europas. In prädtigen „Seejtüden“ offen 
bart ji) auf anderem Kunſtgebiet nicht minder die Macht des Ozeans, wie fie 
zumal bei MWeltichiffahrt treibenden Nationen Auge und Seelentiefe in wahrer 
Andacht zu ergreifen pflegt. Es wäre eine lohnende Studie, zu verfolgen, mie 
jich bei talienern und Niederländern, Engländern und Deutichen die Seemalerei 
parallel entfaltete mit dem Aufſchwung zur nationalen Größe auf dem Meer. 
i Längſt aber hat es die Geichichtichreibung beachtet, welch einen gewaltigen 
Einfluß das Meer weit über den Küſtenſaum hinaus bis auf binnenländiſche 


Alfred Kirchhoff, Das Mieer im Yeben der Bölfer. 235 


Fernen ausübt auf das Staatenleben. Im Drängen aus dem Hinterland nad) 
der Küfte liegt zuvörderſt der natürliche Trieb eines Staates, durch den Belit 
einer, wenn auch nur Eleinen Küftenftrede, (vielleicht bloß eines einzigen Hafens 
Anteil zu gewinnen am einträglihen Seehandel, an der Madhtentfaltung über 
See bis hin zum entlegeniten Strand. Ein fräftig auswachſender Staat ver- 
folgt indefjen bewußt oder unbewußt eine küſtenſuchende Politif niemals allein 
im Streben nad) Anteilfhaft an jolchen ferner liegenden Aufgaben, wie fte ihn 
al3 Ganzem, jowie allen jeinen Bürgern winken in Handelsgewinn, Stolonieen- 
erwerb und jedweder jonftigen überjeeijchen Bethätigung, immer ſchwebt dabei 
mehr oder weniger deutlich der Gedanke vor: die Seegrenze bietet den treuften 
Schuß für den Staat nach außen und fie hält das Innere heilfamer zujammen 
als hochragende Gebirge, indem jie nicht wie diejfe den Berfehr hemmt, jondern 
ihn in ihrer Weile fogar aufs großartigjte fördert. Was wäre Rußland für ein 
armjeliger Moskomwiterftaat im jeefernen Binnenraum Dfteuropas geblieben, 
hätte ihm Peter der Große nicht den Impuls aufs Meer verliehen, daß nun ein 
Staatögebilde dafteht von der Ditiee bis zum Gelben Meer, vom arktiſchen 
Beitade bis zum Pontus! Und wie deutlich lehrt und Englands Gefchichte den 
nationalpolitiichen Wert des Küſtenrings begreifen! Aus Selten, Angeln, Sadjen, 
Frieſen, Normannen gebar dort das Mittelalter faſt ſchon die Einheitsnation, 
wenn auch noch mit der durch ftaatliche Kandgrenze geſtützten Variierung in Eng— 
länder: und Schottentum gegenüber der durch Meeresabſchluß wmejentlich jelbit- 
itändiger verbliebenen Nachbarinjel Jrland; die Doppelfrone ſchwand, in jchärfiter 
Umriſſenheit fonnte Großbritannien feine Eigenart entwideln im Gegenjaß zum 
ganzen europäifchen Feitland, wie am anderen Ende der Ditfelte Japan im 
Gegenjat zum afiatijchen, verharrte dabei aber im befruchtenden Austaufch mit 
nah und fern, im Snjelfrieden fernerhin von feiner Bölferwelle überflutet, un- 
berührt von den Wirrniſſen des Dreißigjährigen Kriegs wie der napoleonifchen 
Eroberungszüge, jchließlich zufolge rechtzeitiger Ausnugung der Gunft feiner See- 
lage ein Großjtaat mit Machtgebieten in jämtlichen Erdteilen, geeint durch diefelbe 
irdiſche Großmacht, die allein jeine Gründung ermöglicht hat, durd den Ozean. 

Kein Staat zeigt uns fo deutlich wie der engliiche das Meer in feiner Be- 
deutung für Erklimmen einer Weltmadtitellung. England war nach der angel: 
ſächſiſchen Eroberung, als ſich jein Volk einjeitig mit Feldbau, Schafzudt und, 
an der Band der Seefilcherei, mit geringfügiger Kültenjchiffahrt beichäftigte, ein 
Sleinftaat, der gar feine Nolle jpielte in der großen Politik Europas, ganz 
zurüdjtand 3. B. in der Streuzzugsbewegung, in der fich zum erjtenmal die abend: 
ländifche Chriftenheit als einheitliche Kulturmacht bethätigte. Kaum aber ift der 
Bann gebrocdhen, der Mut zur Schiffahrt auf hoher See erwachſen, jo jtrömen 
die Schäte der Welt in das vorher jo arme Land, von dejjen gewerblich rüd: 
fändigem Volk die deutichen Danfeaten höhnten: „Wir kaufen ihm den Fuchs— 


15 


296 Alfred Kirchhoff, Das Meer im Leben der Völker. 


velz (die Rohwolle) ab für einen Grofchen und verkaufen ihm den Fuchsſchwanz 
(die Eoftbaren Zuche) für einen Gulden!” Der Warenabjat durd; Vermittlung 
einer alle Meere befahrenden Dandeläflotte, die induftrielle Umſchaffung von 
Rohſtoff in Hunfterzeugnis, der Erwerb umfangreicher, durch tropiiche wie außer: 
tropifche Zandftriche ausgedehnt, arbeiteten einander aufs glüdlichite in die Dand, 
die zuvörderſt zum Schirm des friedlichen Tagewerks der Nation berufene Kriegs— 
flotte ward zufammen mit dem durd) jene einträglichite Richtung der Wirtjchafts- 
thätigkeit mächtig vermehrten Staats- wie VBolfsreichtum die naturgemäße Grund: 
lage für Englands Großmacht. 

Weil höhere Stufen von Neihtum und Macht eben nur durd; Wettbewerb 
auf der Weltbühne des Ozeans zu erjteigen find, deshalb mühen ſich nach Aus— 
weis der Geſchichte die Staaten um Küftenanteil ab, falls fie nicht etwa wie 
Sidon oder Athen, Portugal oder die Niederlande als Litoraljtaaten ſchon auf: 
gewachſen waren. Auch die Politit des brandenburgiſch-preußiſchen Staates ift 
nächjt dem felbitverjtändlichen Trieb nah Zuſammenſchluß feiner bedenklich zer- 
itreuten Territorien durch nichts mehr geleitet wurden feit den Tagen des Großen 
Kurfürften, als durch die heiße Sehnſucht, die baltische und die Nordſee-Küſte zu er: 
werben, eine ‚Flotte unter brandenburgiich:preußiicher Flagge zu ſchaffen. Heutzu— 
tage giebt es nur ganz wenige Staaten, die der Meeresberührung ermangeln: die 
Schweiz, Serbien, Tibet, Abeijinien, Paraguay. Unter fihnen bietet allein die 
Schweiz das merkwürdige Beilpiel eines Staates dar, deſſen Bürger anfehnliche 
Werte im Getriebe des Welthandel umſetzen ohne jedweden Flottenſchutz im 
‚all einer nicht friedlich zu Ichlichtenden Zwiltigfeit beim überfeeilchen Gejchäft 
oder gar im Fall eines Weltkriegs, der als folcher in Zukunft ſtets das Meer 
mit jeinen Dandelsfrachten ergreifen wird. 

Noch vor wenigen Jahrzehnten unterschied man unter den Großmächten 
Europas Land» und Seemächte. Das ift für immer vorüber. Moderne Groß: 
mächte find ohne die Dauptquelle materiellen Neihtums, Anduftrie nebft See- 
handel, fürder nicht denkbar; Seehandel aber fordert Seefüfte und den allzeit 
bereiten Dedungsichild der Hauffabrtei: die gepanzerte Seewehr. Geräuſchlos 
ift vor wenigen Monaten der erite Staat entitanden, der eine ganze Weltinjel 
befaßt, der gelamtauftraliiche; die große Republik unter dem Sternenbanner 
macht fein Hehl daraus, auswachſen zu wollen zu einem die ganze Weitfefte 
erfüllenden panamerifaniihen Staat. Mit derartigen meerumgürteten Rieſen— 
itaaten fünnen ebenjo wie mit England oder Japan Eriegeriihe Entſcheidungen 
überhaupt nicht endgiltign auf andere Weiſe erzielt werden’ als mit Kriegsichiffen 
und Zorpedos. Begriff es doch ſchon Nom im Kampf mit Karthago um Sizilien, 
dat man mit einem bloßen Yandheer nie eine Seemadjt zwingen fann. 

Wie ſchlimm ſähe es alio auch mit unferes Deutfchen Reiches Herrlichkeit 
aus, wenn wir uns feine Schlagfräftige ‚Flotte von Eiſenpanzern fchleunigft er— 


Alfred Kirchhoff, Das Meer im Leben dev Völfer. 3927 


ichaffen hätten! Ganz überwiegend über unfere Hüfte finden die Güter der Welt, 
Lebensmittel wie ebenjo unentbehrliche Rohſtoffe für industrielle Verwertung, den 
Weg in deutihe Gaue. Jene Hüften im Kriegsfall auch nur einer Furzen 
Blodade hilflos ausjegen, hiege den Lebensodem deuticher Nation mit Erdrofjeln 
bedrohen laſſen. Wie viel beijer, kühn diejelben Küſten mit wohlgerüfteten 
Striegshäfen benuten zum Vorbrechen unjerer Geichwader nad) dem altpreußifchen 
Grundjat: Angreifen ift die befte Berteidigung! Wollen wir unfer wirtichaftliches 
Aderſyſtem nicht unterbinden laſſen und im eigen der Nationen aud) fernerbin 
gebört werden, fo gilt es mithin Deutichlands Seegeltung zu bewahren. 


Gruß an das Meer. 


Il Deine Hügel find Morgengebirge voll Glut! 

All Deine Thäler find Schalen, gefüllt mit Glanz! 
Zerbrech' idı mit ichwarzem Kiele die brennende Flut, 
5o überladt mid, 

So überdadt mid, 
So überkhüttet die tropfende, iprühende Pradıt mich! 
Sonnenkraft überichauert midı ganz! 


Ich hab’ Dich lieb, o flammenichönes Meer! 
Ihr Berge des Kichts, ihr Schalen voll Brand! 
Troitvoll komm’ ich aus Tannengebirgen her, 
Dir „Grüß Gott‘ bringend, 

Den Waldhut Ichwingend, 

Hochlandslieder und Heilwunidı fingend 

Dir, großes Meer, groß wie mein Vaterland! 


Fritz bienhard. 


1% 


15” 


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Die deutſche Bauernicdaft und die Bandelspolitik. 


Von 


Max Sering. 


Ei führende ſüddeutſche Zeitung ſprach in diefen Tagen ihre Berwunderung 
aus über die bunte Mannigfaltigkeit der Meinungen, die in den jüngften 
handelspolitifchen Debatten des Vereins für Sozialpolitit zu München ku Tage 
getreten wären und Beifall gefunden hätten, während doc auch die national» 
ökonomische Wahrheit nur eine einheitliche fein Eünne. Es liegt dem eine An: 
Ihauung zu Grunde, welche zwar von manchen Nationalöfonomen geteilt wird, 
aber das Berhältnis von Wiffenfhaft und Politik verfennt. Die Volkswirt: 
ihaftslehre hat Thatjachen zu Jichten und Beziehungen nachzuweiſen, welde 
für die Beurteilung der politifchen Probleme von Wichtigkeit find. Sie 
fann und joll den entjcheidenden Inſtanzen den Blid ſchärfen helfen, jo daß 
jie die Konfequenzen deſſen, was ſie thun und lajjen, nach allen Richtungen 
bin zu erkennen vermögen. Aber politiſche Forderungen laffen ſich niemals reſt— 
(v8 aus den wiſſenſchaftlich fejtgeitellten Naufalzufammenhängen ableiten. Die 
große Richtung des politiichen Handelns beftimmt fich für Leute, welche perſönlich 
an den Klaſſenkämpfen "unbeteiligt find, durch Ideale und Werturteile, die nie- 
mals das alleinige Ergebnis wiſſenſchaftlichen Nachdenkens find, ſondern die Be— 
deutung einer fubjektiven That haben. Treten deshalb Männer der Wiſſenſchaft 
für, politifche Forderungen ein, jo thun fie es als Bolitifer und Patrioten. Es 
finden ſich unter ihnen notwendig ähnliche Gegenjäße der politifhen Grund- 
anjhauung wie unter den Parteien. Wiſſenſchaftlichen Wert hat lediglich ihre 
Auffafjung von!dem inneren Zufammenhang der Dinge, jofern fie das Refultat 
ernfthafter Forfchung ift. Nur auf diefem Gebiete kann von wiljenichaftlicher 
Wahrheit die Nede fein und wird auch unter politifchen Gegnern, denen «es 
um die Wahrheit zu thun ift, eine Einigung erzielt werden können. Die 
politiichen Gegenfäte jelbft werden dadurd aber nicht befeitigt. 

Der genannte Berein hatte in dieſem Jahr die Wirkungen der bisherigen 
und die Ziele der künftigen deutfchen Dandelspolitif befonders in fozialpolitifcher 
Hinfiht zum Hauptgegenftande feiner Erörterungen gemadt. Ein bejunders 
heftiger Widerftreit der Meinungen trat bei der Beurteilung der Agrarzölle, 


Mar Sering, Die deutfche Bauernjchaft und die Handelspolitit. 299 


namentlich der Getreidezölle, zu Tage. Eine Anzahl von Rednern verwarf jie 
ohne weiteres, weil fie den Lebensunterhalt der nichtlandwirtichaftlicdyen Bevölke— 
rung verteuern, und manche erklärten Sozialreform und Kornzoll für unverein- 
are Gegenfäge. Freilich wurde m. W. von keiner Seite die logiſche Konſequenz 
gezogen und die Aufhebung der beftehenden Zölle gefordert. 

Ich habe dem gegenüber auf gewiſſe Zufammenhänge des jozialen Lebens 
bingemwiejen, welche mir in der bisherigen Erörterung der Frage nicht ausreichende 
Beachtung gefunden zu haben fchienen. Ihre Darlegung an diefer Stelle joll 
die Größe der nationalen Intereſſen, die dabei auf dem Spiele ftehen, weiteren 
Kreifen fihtbar maden und dürfte zum mindeften geeignet fein, die öffentliche 
Diskuſſion zu vertiefen. Manche Punkte follen! im folgenden etwas eingehender 
behandelt werden, als es die viertelftündige Redezeit in München geftattete. 

Die joziale Verfaſſung eines Landes ift ein einheitlicher Organismus derart, 
daß die Agrarverfaffung überall die Grundlage des Ganzen bildet. Man kann 
deshalb Deutichland als Bauernland bezeichnen. Drei Viertel feiner landwirt- 
ichaftlich benußten Fläche werden von mittleren und £leineren Wirten, reichlid) 
drei Fünftel von felbjtändigen Bauern bemwirtfchaftet. Daß hinter der Forderung 
um ausreihenden Zollſchutz die deutichen Bauern ftehen, madt den darum ent- 
brannten Streit ganz unvergleihbar den Kämpfen, welche in den Tagen Cobdens 
und Bright3 in England ausgefochten wurden und lediglich den Intereſſengegen— 
jag zwijchen dem neuaufgefommenen induftriellen Herrenftande und einer Eleinen 
grumdbefitenden Ariftofratie zum Austrag bradten. Mit manchem politifchen 
Gegner bin ich der Anficht, daß Getreidezölle fozialpolitifch nur gerechtfertigt 
werden können, wenn die Erhaltung des Bauernftandes oder doch großer Teile 
desfelben jie fordert. E83 ift deshalb die rein milienfchaftliche Borfrage zu 
beantworten 1. ob ohne alle Zölle und 2. ob) auch bei den beftehenden Agrar— 
zöllen jene Bevölferungsichicht ald gefährdet anzufehen ift. 

Wie es um unfer Land ftehen würde, wenn wir uns die engliiche Freihandels— 
politit zum Mufter genommen hätten, läßt ein Blick auf England felbft erkennen. 
Es ift häufig darauf hingewiefen worden, daß troß fehlenden Zollſchutzes die dortige 
Landwirtſchaft nicht zu Grunde gegangen wäre, weil fie verftanden hätte, die Krifis 
durch geichidte Anpaflung an die weltwirtſchaftliche Konjunktur, insbefondere durch 
Ausdehnung der Viehzucht, zu überwinden. Den deutfchen Landwirten — das ift die 
Schlußfolgerung — zumal den Bauern, die jo vortreffliche Viehzüchter find, müſſe 
das ebenfo gut gelingen. Wir find über die englilchen Verhältnifje faft befjer 
unterrichtet als über umjere eigenen. In der ausgezeichneten Agrarenquete, 
welche dort in den Jahren 1893—95 ftattgefunden hat, ergab fich, daß zwar in 
allen Zeilen des Landes Grundbeſitzer und Pächter mit Schwierigkeiten und Not 
zu fämpfen gehabt haben, daß aber allerdings in großem Umfange, nämlich im 
ganzen Welten von Großbritannien, fich jene Anpafjung vollzogen hat. 


230 Dar Sering, Die deutjche Banernichaft und die Dandelöpolitit. 


„Wir halten es daher,“ jo heißt es im Schlußbericht der Enquetekommiſſion, 
„nicht für unfinnig, zu glauben, daß der durd feine Natur und wirtichaft- 
lihe Lage jo bevorzugte Boden Großbritanniens als Grasland, wenn nicht als 
Aderland, auch in Zukunft bebaut bleiben wird. Er wird einen Ertrag gewähren, 
der zwar niedrig und nur mit größter Anftrengung zu erarbeiten fein wird, aber 
fi) doch mit dein in anderen Gewerben vergleichen läßt." Am Often Englands 
dagegen, fo heißt es weiter, „in den ‚Kornbaudiftriften‘ muß mit den fallenden 
Preiſen eine Zeit fommen, wo nicht allein die Entrichtung der Rente, fondern die 
Kultur an jih aufhört. Das ift Schon zum Teil, befonders in den jüdöftlichen 
Bezirken von Ejjer" — einer Grafichaft, die an das Weichbild von London 
grenzt! — „eingetreten, und es würde in noch größerem Umfange geichehen fein, wenn 
nicht Grundherren und Pächter unter großen Opfern dies abgewandt hätten. Mit 
der Erihöpfung ihrer Kapitalmittel wird mehr Land ganz wüft bleiben oder ſich 
in eine rauhe Weide von geringem Wert verwandeln.“ Cine weitere Renten— 
ermäßigung kann dort nicht helfen. „Wo die Nenten nicht mehr zur Erhaltung 
der Gebäude, der Drainagen und anderen Sultureinrichtungen ausreichen, da ver: 
mögen fie mit Vorteil für den Pächter nicht mehr reduziert zu werden." Am 
ſchwerſten wurden die Hefte des freien Bauernitandes getroffen, weil fie ftatt der 
Pacht- Schuldzinfen zu zahlen haben und! für jie ein Rentennachlaß deshalb nicht in 
stage kommen Eonnte. 

Der Grund dafür, dat die Anpaffung im Weiten von Großbritannien gelang, 
während im Often weite Streden der Gefahr der Verödung anheimfielen, ift 
einleuchtend. Der Weiten ded Landes gehört zu den regenreichiten Gebieten 
Europas. An manden Stellen fallen 3—-400 cm Regen im Jahr, während im 
Diten, namentlih auf der Leeſeite der Gebirge viel weniger, nur 60—80 cm 
Niederichläge erreicht werden. 

An Deutichland*), find mit den weitlihen Bezirken Großbritanniens an 
Reichtum und günftiger Berteilung der Niederichläge einigermaßen vergleichbar nur 
die Nordjeefüfte von der Emsgegend bis in die ſchleswigſchen Marſchen einer: 
jeits und die bayerifchen Alpen andererſeits. In beiden Gebieten find denn auch 
die Wiefen und Weiden von größerem Umfang als das Aderland. Diejen Bezirken 
find nach ihren Niederichlagsverhältniffen weite Landjtriche im Nordmweften und Süd— 
often anzugliedern, außerdem manche mittel: und jüddeutiche Gebirgsgegenden und 
geringe Teile der Ditjeefüfte, namentlich in Oftpreußen. Es herricht zwar wegen des 
geringeren Regenfalls dort überall ſchon der Aderbau und im Aderbau die Getreide- 
produftion vor; der Rüdgang der Ktornpreije mußte deshalb aud in diefen Gebieten 
ichwer empfunden werden. Aber das Klima geitattet doch eine jo ausgedehnte Vieh— 
haltung, daß bei den gegenwärtigen Preiſen — durch die veterinäre Grenziperre 


* 


) Vgl. Deutichlands landrwirtichaftliche Klimatograpbie von B. Thiele, Bonn 1595. 


Mar Sering, Die deutfche Bauernjchaft und die Handelspolitif. 231 


und die allgemeine Konjunktur hoch gehaltenen Biehpreifen und niedrigen Getreide: 
preijen — unter den Bruttveinnahmen der Landwirte diejenigen aus der Viehzucht 
meift überwiegen. Eine Sonderftellung nehmen die Thäler des Mittel: und 
Oberrheines, des Main und Nedar ein, die man kurz als Wein: und Dandels- 
gewächsbaubezirke bezeichnen fann, und die Centralmärfte der deutſchen Anduitrie, 
weiche ſich um die Funditätten von Eifen und Sohle gruppieren. 

Aber das übrige Deutjchland, etwa die Hälfte des Ganzen, ift in noch viel 
höherem Maße als Kornbaugebiet anzufehen als der großbritannifche Often. Nur 
von dieſen Bezirken joll im folgenden gefprochen werden. Sie haben meift nicht 
mehr als 45—55 cm Regenfall. Sie müſſen in erjter Linie Getreide bauen, 
weil feine andere Sulturpflanze jo leicht die Trodenheit verträgt. Die Viehzucht 
aber ift beichränft, weil dev Futterbau weniger ſicher und ergiebig ift, als in Gegen- 
den mit ftärferen Niederichlägen. Gewiß hat man aud dort die Viehzucht aus: 
gedehnt, beionders in den Flußniederungen und mit Hilfe der Nebengewerbe ſowie 
des Ankaufs von Kraftfuttermitteln auf den größeren Gütern. Mber im ganzen iſt 
die Viehzucht, zumal die Aufzucht, die wefentlich den Bauern zufällt, dort mit großen 
Riſiko verfnüpft. Haben doc; die beiden letten beſonders trodenen Jahre viele 
Wirte gezwungen, ihren PViehitand auszuverkfaufen, weil es an Futter und an 
Streu gebrach. Hierher gehört beſonders der größte Teil des deutfchen Oftens. 

Es ift falih, wenn man Ddenfelben oft als Latifundiengebiet bezeichnet. 
Yatifundien giebt es dort wenige, wohl Nittergüter, aber auch diefe herrſchen 
nur in einigen Gegenden vor. 56°/, der landwirtichaftlich benußten Fläche des 
öftlihen Deutjchland find in Händen von Bauern, werden in Betrieben von 
weniger al3 100 ha bewirtichaftet. 

Wenn es nun feftiteht, daß in den engliihen Kornbaubezirfen zur Zeit der 
Agrarenquete die Produftiongkoften nicht gedeckt wurden und ftellenweile Die 
Kultur aus diefem Grunde aufgegeben werden mußte, fo ift von vornherein 
wahricheinlich, daß in Deutichland noch viel größere Gebiete der Verödung aus— 
gejett gewejen wären, hätten wir die Preisbildung dem internationalen Verkehr 
ganz überlaffen. Allerdings find die Getreidepreile in der zweiten Hälfte der 
Mer Jahre etwas geitiegen, und ift in England auch wieder eine Zunahme des 
Weizenareald infolgedejlen eingetreten. Aber im öftlichen Deutichland jtehen die 
Preife nach Abzug des Zolles weſentlich tiefer als in England. Dabei find, wie 
der englifche Bericht hervorhebt, die ertremen Bodenarten, die leichten Sand- und 
die ſchweren Thonböden am meiften gefährdet. un: die ungünftigen Thon 
böden auf der Höhe, die Moor» und Sandböden machen im Königreich Preußen 
nach den Ergebniſſen der Einichägung zur Grundfteuer 44,2 %/, der Geſamtfläche 
aus, Wir haben weite Flächen unter dem Bfluge, welche weltwirtichaftlidh nicht 
mehr al3 anbaumwürdig anzujehen find. Es wird jo oft vergeſſen, dat Deutſch— 
fand, verglichen mit feinen weftlihen Nachbarſtaaten, ein armes Yand ift, daß 


232 Dar Sering. Die deutſche Bauernſchaft und die Handelöpotitif. 


die Deutſchen auch bei der Befiedelung Europas „zu ſpät gekommen“ find, daß 
wir umjere Lebensweiſe und Wirtichaftspolitit der Beichaffenheit unjeres Landes 
anzupajien haben. 

— Die gezogenen Analogieſchlüſſe werden‘ durch Beobachtungen, die ich auf 
Studienreifen in beutfchen Kornbaubezirken gemacht babe, ‚betätigt. Ach habe 
bejonders eingehend einige ‚niederfchlefiiche Dörfer nahe’ der pofenfchen Grenze 
unterjucht, deren Boden- und Klimaverhältnifje typiſch find für weite Teile des 
deutjchen Dftens. Ihr Grundfteuerreinertrag entfpriht dem Staatsdurdfchnitt. 
Die Wirtfchaften haben Sand- und Iehmigen Sandboden, Roggen- und Ktartoffel- 
bau herrſchen vor. ch habe in jenen Dorfichaften zweimal Nachforſchungen an- 
geitellt, vor 6 Jahren und in diefem Herbſt. habe an der Hand der GSteuerein- 
Ihätungsliften die Yage der einzelnen Bauer: und Gärtnerftellen mit den Befigern 
und fonjtigen Sadverftändigen durchgeſprochen. Die Wirtſchaftsweiſe hat fich im 
Laufe der legten 6 Jahre gehoben. Namentlich ift die Viehzucht ausgedehnt, der 
Nohertrag durch Gründüngung geiteigert, auch das Kreditweſen durch genoſſenſchaft— 
liche Einrichtungen verbefjert worden. Die Leute leben in äußerft einfacher Weife. 
letich giebt es, umd zwar 3 mal in der Woche, nur dann, wenn man fremde 
Leute beichäftigt. 

Dbwohl die Bauern nicht Bud) führen, wiljen fie doch recht gut Beſcheid 
mit ihren baren Einnahmen und Ausgaben. 

Nehmen wir als Beifpiel einen bäuerlichen Hof von 100 Morgen (25 ha)! 
Das Bild trifft mit geringen Modififationen für alle jelbftändigen Stellen zu; 
die Grenze der Selbjtändigkeit liegt bei 30 Morgen (7!/, ha), ‚der regelmäßige 
Getreideverfauf beginnt bei 3—5 ha. Als Lohn für das hart arbeitende Befiker- 
paar, das drei unermwachjene Kinder zu ernähren bat, ſetze ich 400 M. bar ein, 
während Knecht und Magd zufammen, alle Nebenkoften mitgerechnet, auf 350 M. 
bar zu jtehen kommen. Was im Haushalt aus der eignen Wirtjchaft verzehrt 
wird, ift ebenfalls in den Arbeitslohn zu rechnen und fällt gleihmäßig auf der 
Einnahmen: und Ausgabenfeite fort. Für Amortifation und Verficherung wurden 
mäßige Beträge in Anfat gebracht, hingegen nichts für die‘ Verzinfung des 
Anlage: und Betriebsfapitald. Die durchfchnittliche Gefamtausgabe ftellt fi dann 
auf 1550 M. im Jahr. 

Bon 100 Morgen werden 50 mit Noggen beftellt; bei einem für dortige 
Berhältniffe guten Ducchichnittsertrag von 4/,—5 Hentner vom Morgen werden 
225—250 Zentner |geerntet. 100 Zentner werden ſals Saatgut, im Haufe und 
zur Berfütterung gebraudt. Es bleiben alſo 125—150 Zentner zum Berkauf, 
die bei dem Durchſchnittspreis, wie er 1892—1900 mit 6,50 M. pro Zentner er: 
zielt wurde, 812,50 bezw. 975 M. bringen. Dazu fommt der Erlös aus ver- 
kauften Kartoffeln mit 100 M., von 2—3 Stüd Vieh, die zweijährig veräußert 
werden, durchſchnittlich 450 M., von 3 Schweinen 240 M., von Butter 75 M, 


Mar Sering, Die deutfche Bauernichaft und die Dandelspolitif. - 233 


Es ergiebt ji) eine Gejamteinnahme von 1677,50 bezw. 1840 M. und ein Mein: 
ertrag von 152,50 bezw. 315 M. Zieht man nun den jeßt geltenden Noggenzoll 
mit 1,75 M. für jeden verfauften Zentner ab, jo bleibt nur ein Reinertrag von 
— 66,25 bezw. +52,50 M. Es dedte alfo bei einem ſehr geringen Arbeitslohn 
des Befigers und ohne daß ein Pfennig Verzinfung in die Koften eingerechnet 
wurde, der Durchichnittspreis der Fahre 1892/1900, abzüglich des Zolles, gerade 
nur die Produftionskoften. Die Preife ftanden aber 5 Jahre lang unter dem 
genannten Durchichnitt, 1893/97 betrugen fie im Mittel nur 5,50 ftatt 6,50 M. 
für den Zentner Roggen. Sett man diejen geringeren Betrag ein, jo ergiebt ſich 
ein Defizit von 191,25 bezw. 97,50 M. Zu, jener Zeit würde aljo nicht einmal 
ein Dungerlohn erzielt worden fein. Es genügt eben nicht, wenn die Durchſchnitts— 
preife gerade nur die Dedfung der eigentlichen Erzeugungskoften gewähren. Ein 
Produktionszweig, der keinerlei Reinertrag abwirft), ift ſchon deshalb auf die 
Dauer nicht zu halten, weil alle technischen Fortjchritte, die Geld Eoften, unmög- 
lih werden und fremdes Kapital in die Wirtjchaft nicht herangezogen werden 
fann. Die Sade fteht auch nicht fo, daß die Verlufte in Zeiten gedrüdter Preije 
durch die Mehreinnahmen aus den höheren Preifen einzelner Jahre mit Sicher: 
beit gededt werden Eünnten, . weil durch den Einfluß der internationalen Stonfurrenz 
der örtliche Zufammenhang zwiichen Ernte und Breis zerriffen iſt. 

Nach den englifchen Erhebungen und eigenen Beobadhtungen betradjte ich es 
als erwiejen, daß, hätten wir feine Getreidezölle gehabt, nicht bloß in größter 
Ausdehnung eine gänzliche Entwertung der im Boden firierten Kapitalien, jondem 
auch die Berödung weiter heute bejiedelter Bezirke erfolgt wäre. An die Stelle 
von Zehntaufenden von Bauern wären wenige Waldarbeiter und vielleicht Schaf: 
birten getreten. ine ungeheure Krifis hätte nicht nur die Landiwirtichaft, ſondern 
den ganzen Bau unferer volfäwirtichaftlichen und fuzialen Verfaffung erichüttert. 
Die Induſtrie und ihre Arbeiterihaft wären durch eingejchränften Abſatz und 
ftarf vermehrtes Arbeitsangebot unmittelbar in Mitleidenschaft gezugen worden. 
Schon hieraus ergiebt ſich, daß es falfch iſt, wenn man bei der Erörterung der 
Setreidezollfrage meift von der Voritellung eines unüberbrüdbaren Intereſſen— 
gegenjaßes zwilchen Getreide-Konſumenten und Produzenten ausgeht. Es [liegt 
dem eine anorganiiche Betrachtungsweiie der Volkswirtichaft zu Grunde. In den 
großen Fragen der nationalen Eriftenz, und dazu gehört die Erhaltung der landwirt— 
jchaftlichen Kultur und des Bauernftandes, find die Intereſſen aller Klaſſen identisch. 

Wie aber iſt die geforderte Erhöhung der Getreidezölle zu beurteilen? 
Zweifellos werden die eigentlichen Produfktionskoften heute mit Hilfe der Zölle 
gededt. In unferen ſchleſiſchen Dörfern ift der Reinertrag für die beſſeren Stellen 
auf etwa 1,6%, des Gejamtwertes derfelben zu berechnen. Diefer Reinertrag it, 
beiläufig bemerft, nicht etwa, wie man gewöhnlich annimmt, als „Grundrente" 
anzufeben; denn Gebäude und Iwwentar machen wenigitens die Hälfte des Geſamt— 


234 Mar Sering, Die deutiche Bauernſchaft und die Handelspolitit. 


wertes bei den jelditändigen Bauerngütern aus. Das in der Yandwirtichaft 
thätige Produftivfapital erzielt aljo beitenfalls eine Berzinfung von ungefähr 
3%, Für eine reine Grumdrente bleibt da jchlechterdings fein Raum. 

Went jener Neinertrag unverfürzt zufließt, gilt bei den bejcheidenen Lebens: 
aniprüchen unjerer Bauern im allgemeinen für einen gut fituierten Mann. Gr 
bat fein erträgliches Auskommen und legt in beſſeren Jahren jo viel zurüd, daß er 
auch die fchlechteren zu überitehen vermag. Aber der Reinertrag bleibt nur aus: 
nahmsweife ımwerfürzt in den Dänden der Beliter. Denn die meilten haben 
Schulden und müſſen den Ertrag ganz oder teilweife an ihre Gläubiger abführen. 
Die Schulden jind nicht etwa aus Ankauf entitanden. Unjere Bauern find feine 
Bodenfpekulanten, denen der Staat die erwartete Bodenrente garantieren foll. 
Die Schulden find vielmehr ganz überwiegend Erbicdaftsichulden, d. h. entitanden 
aus der rechtlichen und moralifchen Verpflichtung, die auf den Bauernftellen 
ruht, eine Generation nad) der andern auszuftatten und allen anderen Volks— 
klaſſen friſche Kräfte zuzuführen. Die Schulden find auch nicht hoch; deun e3 
berricjt, wie in vier Fünfteln des Deutjchen Neichs, die Anerbenfitte, und fie 
bewirkt, daß den Annehmern der Grundbefit zu einem ſehr mäßigen Preite, 
nicht viel teurer, als ihn heute auch der Ginwanderer in den Vereinigten 
Staaten allerdings für beijeren Boden anlegen muß, zufällt. Aber ielbit eine 
mäßige Schuld ift durch den Rüdgang der Getreidepreife, der trotz der geltenden 
(Hetreidezölle eintrat, drüdend und oft ruinös geworden. Ein Neinertrag von 
1,6%, des Geſamtwerts einer Bauernjtelle wird durd eine 49, Schuld voll: 
jtändig abiorbiert, die ?/, des Bodenwertes, oder, was dasjelbe bedeutet, Das 24= bis 
28fache des Grunditenerreinertrages ausmacht. Die hypothekariſche Berichuldung 
der mittleren Bauerngüter betrug nun aber in jämtlichen preußifchen Erbebungs- 
bezirfen 1896 im Durcchichnitt bereits das 29 fache des Grimdftenerreinertrages. 
Aus meinen fchlefischen Unterfuchungen ergiebt ſich alfo, daß fchon die Durchſchnitts— 
belaftung in den Kornbaudiſtrikten als überaus gefährlich anzujehen ift. Freilich 
beißt das nicht joviel, als daß der ganze dortige Bauernftand in jeiner Eriftenz 
bedroht wäre. In den unterjuchten Dörfern jind 320/, der Beſitzer gar nicht 
oder gering verjchuldet — auch dies entjpricht etwa den Durchichnittsverhält- 
niffen — und unter den 68 %/,, welche annähernd mit der genannten Quote oder 
höher belaftet find, erijcheinen immerhin nod 26°, als vorläufig durch individuelle 
Verhältniſſe gefichert, wie Mithilfe erwachjener Slinder, bejondere Milde der in 
der Berwandtichaft figenden Gläubiger ꝛe. Aber der Neft, das find einige 40 %/,, 
bat auf das äußerite zu kämpfen. Jedes Unglück mit dem Vieh, jede Mißernte 
bringt diefe Leute in die Gefahr des wirtichaftlihen Zufammenbruds. 

Naturgemäß leidet unter dent jegigen Zuftande auch ihre Wirtichaftsführung. 
Nicht wenige zahlen die Zinſen aus der Subſtanz des Gutes, indem fie not: 
wendige Berbejlerungen und Neparaturen unterlaffen. Nur ansnahmsweiſe 


Mar Sering, Die deutjche Bauernichaft und die Dandelspolitif. 235 


fünnen noch vollwertige Hilfskräfte verwandt werden. Man begnügt ſich mit 
halberwachſenen Burschen zum Schaden der Kraft und Ergiebigkeit des Betriebes. 
12%, der bäuerlichen Befißer in jenen Dorficdaiten jind im Laufe der letten 
6 Jahre thatſächlich wirtichaftlich zufammengebrochen, obſchon es nur ausnahms: 
weiſe zur Subhaftation kam. 

Den ſchlimmſten Ausblid in die Zukunft eröffnet der Umftand, daß unter 
dem Preisdrud die Anerbenfitte ſchwindet. Die Erbichaftsichulden fünnen nid 
mehr abgetragen werden. Kommt aber ein verichuldeter Hof zur Vererbung, To 
wird er body veranſchlagt, überwertet, damit die weichenden Erben doch etwas 
erhalten. Das enorme Anwachſen der ländlichen Schuldenlaft in neuerer Zeit 
ift zum größten Teil eine durd) die Not bedingte Zunahme der Erbegelder. 

Das alles jind ganz typifche Vorgänge, die man überall in den Getreide: 
gebieten beobachten fann. An die Stelle der ruinierten Bauern tritt zumeilen 
ein benachbarter fapitalkräftiger Großgrundbelißer, wie ſolche namentlich in 
Sclejien noch vorkommen. Bor allem aber find es Eleine Leute, und jofern tie 
ih) bei jolcher Gelegenheit zur Selbftändigkeit erheben, ift ihr Auffommen an 
ih nur freudig zu begrüßen. Aber ſie find aus dem Ankauf höher verichuldet 
al3 die mittleren Befiter; jie können das eher ertragen als dieje, weil fie feine 
fremden Leute beichäftigen und deshalb ichlechter leben. Aber troß übermäßiger 
Anftrengungen und unterdurdhichnittlicher Ernährung werden auch ſie ſich nicht 
auf die Dauer halten fünnen, wenn die Preife nicht beijer werden. 

Am meiſten indeſſen find die unfelbitändigen Stellen der Zahl nad) im 
Wachſen, und deren Inhaber ſuchen ſich als Landarbeiter, Zimmerleute, 
Maurer u. }. w. ihr Brot, meift weit in der Ferne. Kurz, an die Stelle unab: 
hängiger Beſitzer treten Reute, die itbertwiegend als Yandproletarier zu bezeichnen ſind. 

Dat die Nation, haben die Induſtriearbeiter ein Intereſſe daran, den 
Zuſammenbruch der jelbftändigen Yandwirte, großer Teile des bäuerlichen Mittel: 
itandes zu verhindern? 

Die joziale Bedeutung der Banernichaft kommt in den üblichen ftatiftiichen Zu— 
jammtenftellungen fon deshalb nur ungenügend zum Nusdrud, weil die in der Wirt 
ihaft des bäuerlichen Bejigers mitarbeitenden Familienangehörigen fälichlid) den 
Arbeitern zugerechnet werden, während doc) die Söhne und Töchter an allen Bor: 
zügen der familienhaften Arbeitsverfafjung und des geordneten Dajeins unab- 
hängiger Beſitzer teilnehmen. Zählt man die ſämtlichen Angehörigen, ſowohl die 
mitarbeitenden als die fonftigen, den Unternehmern hinzu, fo umfaht die Schicht 
der Selbftändigen in den drei aroßen wirtichaftlihen Berufsgruppen Deutſch— 
lands 19!/, Millionen Menſchen. Davon entfallen 57%, auf die Landwirtſchaft, 
das heißt überwiegend auf die Bauernfamilien. 290%, gehören zum Gewerbe, 
14%, zum Handel und Verkehr. Annähernd 3/; aller derjenigen, die wirtichaftlid) 
unabhängigen Familien angehören, haufen alfo auf den Bauernhöfen. 


236 Mar Sering, Die deutſche Bauernſchaft und die Handelspolitik. 


Ich bin nun der Anſicht, daß die Eigenſchaften, welche aus den dortigen 
Lebensbedingungen hervorgehen, in dem Maße wertvoller werden für die Geſamt⸗ 
beit, für die Charakfterbildung der Nation, als die vordringende Induſtrie zu 
einer wachjenden Zentralilation der Betriebe und Wohnftätten führt, die körper: 
liche und geiftige Entwidlung der Menjchen gefährdet. Auf dem Lande find alle 
öfonomischen Vorausfegungen gegeben, um dem Volke eine zahlreiche Klaffe ven 
wahrhaft freien Menfchen, um ihm Eraftvolle Individualitäten und wehrhafte 
Männer zu erhalten, die eine erdgefeftigte Heimat zu verteidigen haben. Die 
foziale PVerfafjung des platten Landes jpiegelt fich aber überall auch in der: 
jenigen der Städte wieder, weil die ſtädtiſche Bevölkerung ſich fortgefegt vom 
Yande ber ergänzt und erneuert. Wo ein Fräftiger Bauernftand befteht, da blüht 
das Handwerk in den noch lebensfähigen Zweigen, denn ihm ftrömt der er: 
forderliche gut erzogene und ausgeftattete Nachwuchs vom Yande ber zu. Und 
wo der Grundbefiß vorwiegend in Händen von felbitarbeitenden, aber wirt- 
Ichaftlichh unabhängigen Landwirten ruht, da fteht auch die ftädtifche Arbeiterſchaf 
hoch und ift weniger fchroff von den anderen Schichten getrennt. Man vergleiche 
die ſoziale Entwidlung der Anduftrie in England einerfeits, in Mittel: und 
Weftdeutfchland andererfeits. In England ein riefenhaftes Yumpenproletariat, 
hervorgegangen aus den britischen und namentlich irifchen Yandarbeitern und 
Kleinpächtern. Nur eine Oberſchicht von gelernten Arbeitern hat fich in heftigen 
Kämpfen von anderthalb Jahrhunderten mit Hilfe der Gewerkvereine aus jenem 
Elend emporgearbeitet. In den Dauptzentren der deutjchen Anduftrie hatten fich 
die Arbeiter von vornherein und ohne daß es ſolcher Kämpfe bedurft hätte, einer 
höheren Lebenshaltung zu erfreuen, weil die Induſtrie ihre Mannſchaft aus den 
Bauernjöhnen und denjenigen Yandarbeitern zu refrutieren hatte, welche als 
Gefinde am Haushalt der Bauernfamilien teilgenommen hatten. Die Lebens: 
haltung der Mafje des Landvolkes beftimmt die Untergrenze der jtädtifchen Löhne. 
Gewiß Fönnen die Löhne auf dem Lande ihrerjeits in 'gewilfen Grenzen durd 
eine ftarfe Induftrieentwidlung gehoben werden. Aber die Proletarifierung des 
Landvolkes bildet eine ſchwere Gefahr auch für die ftädtiiche Bevölkerung. 
Yaflen wir das Fundament der jozialen Verfaſſung unferes Landes zerfallen, 
jo wird aud der Oberbau jich fenken und abjtürzen. Die Induſtrie und ihre 
Arbeiter, die Nation als ein Ganzes können der Zukunft nur jo lange ruhig 
entgegenjehen, als die nachhaltige Quelle von Kraft und echter Freiheit intakt 
bleibt, welche Deutichland in feinem Bauernitande bejigt. 

Dies alles find ja Beziehungen und Zufammenhänge, welche fich nicht un- 
mittelbar ftatiftiich erfaffen und beweifen Iafjen, aber niemandem, der die großen 
Züge der jozialen Entwidlung in Bergangenbeit und Gegenwart überblidt, 
fönnen ſie verborgen bleiben. Sch verweife nur auf Beobachter wie Karl Marr 
md Kohn Ruskin. Wenn der leßtere ausruft: „England mag, wenn es will, 


Max Sering, Die deutjche Bauernichaft und die Dandelspolitif. 


IS 


37 


eine Fabrikſtadt werden, umd jeine Bewohner mögen inmitten von Lärm, Finſternis 
und verpejteter Atmoſphäre eine verkürzte Lebenszeit leben“, und an anderer 
Stelle auf Deutichland und die Alpenländer hinweiſt, wo er „millionenfache 
Beijpiele zeigen kann, glüdliche Menſchen, glüdlih durch ihren eigenen Fleiß, 
Hof an Hof, in Bayern, der Schweiz, Tirol”, jo jcheint mir darin eine dringliche 
Mahnung zu liegen, eine Wirtjchaftspolitif zu verfolgen, deren Anhalt Ruskin 
jelbft mit den Worten fennzeichnet: „Zwed und Ziel alles Neichtums ift, recht 
viele breitbrüftige, helläugige, glüdjelige Menjchen aufzubringen.“ Dede nad) 
haltige Sozialpolitit beginnt mit der Erhaltung, Kräftigung und Mehrung des 
Bauernitandes. 

Es erhebt ſich die Frage: find die Getreidezölle ein geeignetes Mittel, um 
die gejchilderten Gefahren von der Ddeutichen Volkswirtſchaft abzumenden ? 
Zweifellos bilden die von der Regierung vorgeichlagenen Minimalzölle eine jehr 
wirkſame Hilfe für die Getreidebauern. Bei einer Verjchuldung von ?/; des Guts: 
wertes bedeuten jie in unferen ſchleſiſchen Dörfern für den Beier von 100 Morgen, 
der 150 Zentner Roggen zu verkaufen hat, eine jährliche Mehreinnahme von 112,5 OM., 
und eine Entlajtung von’/sjeiner jährlichen Zinsverpflichtungen; wer60 Morgen bejitt 
und 70 Zentner verfauft, wird um !/, entlaftet; und der unfelbftändige Befiger von 
15 Morgen, der bei Eleinerer Familie noch 27 Zentner zu verkaufen bat, wird, wenn 
er zur Hälfte verjchuldet ift, um mehr als ’/, feiner Zinsverpflichtungen erleichtert. 
Dabei ift die iim Minimaltarif geplante Erhöhung als eine durchaus maßvolle 
Gegenwirkung gegen das fortgejette Sinken der Getreidepreife anzujehen. Hätten 
wir in den adıt Jahren von 1892—1899 die jeßt vorgejchlagenen Zölle des 
DMinimaltarifes gehabt, jo würden unjere Getreidepreife in diefer Zeit nody nicht 
den Stand der vorhergehenden adıt Jahre erreicht haben, der jeinerleit3 wieder 
weit hinter den vorhergehenden achtjährigen Perioden zurüdfblieb. 

Es iſt auch falich, wenn behauptet wird, daß die Förderung, welche der 
Grundbejig durch die Zullerhöhung erfährt, nach kurzer Frist immer wieder hin- 
fällig werden müſſe durch das entſprechende Steigen der Bodenpreife und Beſitz— 
jhulden. Denn die Anerbenfitte, welche gerade in den vorwiegend Getreide 
bauenden Gebieten befteht, verhindert, daß der Grundbefit zum DandelSobjekt 
gemacht wird, und bewirkt, daß die Erhöhung der Erträge nur mit ftarfer Ab- 
ſchwächung in den ‚Uebernahmepreifen zum Ausdruck gelangt. Im Gegenteil ift 
zu erwarten, daß durch die wieder gewährte Müglichkeit von Anfparung und 
Schuldentilgung jene Sitte gefeftigt und der Gutänachfolger jeweils günftiger 
gejtellt werde, als es in der fetten Zeit üblich und möglich war. Die Theoretifer, 
welche dies leugnen, verfennen, daß ſich die Wertbildung innerhalb der Familie 
nach anderen Grundſätzen vollzieht als im Handel. Jener Einwand trifft 
lediglich auf Güter zu, die zu Handels: und Spefulationsobjeften geworden find, 
wie es leider bei einem Teil des öftlihen Großgrundbefiges der Fall iſt. 


238 Mar Sering, Dis deutiche Bauernichaft und die Dandelspolitif. 


Endlich jind die Getreidezölle als eine Notftandshilfe anzufehen, welche nur 
fir eine abjehbare Zeit erforderlich ift. Denn die Senkung der Kornpreiſe ift 
eine Wirkung der mit Dilfe der modernen Technik überaus beichleunigten Er- 
Ichließung und Befiedelung von Gebieten gemäßigten und jubtropiihen Klimas. 
Sobald die Möglichkeit aufhört, den Getreidebau in ertenfiver Weile ganz im 
großen zu vermehren, und dies iſt im Laufe eines Menfchenalters zu erwarten, 
werden auch die Weltinarktpreife wieder eine aufwärts jteigende Tendenz gewinnen. 

Wenn fie bisher immer tiefer gedrüdt werden fonnten, jo wirkte übrigens 
dazu weientlid) der Umftand mit, dat die Yebenshaltung der Anbauer in wichtigen 
Nonfurrenzgebieten eine jehr niedrige ift umd weit unter der unfrigen fteht. Die 
gefährlichiten Mitbewerber unjerer Landwirte find nicht die nordamerifaniichen 
Farmer — denn ihre Hulturbedürfniffe find hoch entwidelt —, jondern die bedürfnis— 
(ofen italienischen Koloniften in Argentinien und die unter einem jchweren Wucher: 
und Steuerdrud leidenden ruffiichen Bauern. Unterwerfen wir deren Erzeugniffe 
einer erhöhten Abgabe, jo erhellt, daß fte auch aus diefem Grunde den Charakter 
eines ſozialen Schußzolles befitt. 

Man bat vorgeichlagen, die Erhöhung der Getreidezölle durch Direkte 
Schuldentlaftung der Grundbefiger, das heißt durdy Zinserleichterung im Wege 
verbejjerter Nreditorganijation unter öffentlicher Beihilfe unnötig zu machen. 
Ich ſelbſt Habe mich um derartige Maßnahmen bemüht, bin aber zu der Anficht 
gelangt, dat der Widerftand dagegen ein noch viel jchärferer fein würde. Es 
bandelt fi) da um verwaltungstechnifch vecht jchiwierige Aufgaben, und jchon der 
Grundgedanke it, ich möchte jagen, zu fein, als daß er viel Ausficht hätte, durch 
den Ichwerfälligen Mechanismus einer demofkratilierten Geſetzgebung in die Wirk: 
[ichfeit übergeführt zu werden. 

Ich bin alfo für die von der Negierung vorgeichlagenen Minimalzölle. Sie 
allein fommen ja praktisch in Betracht; denn daß fie den Abſchluß von lang- 
friftigen Dandelsverträgen, fo wie die Induſtrie fie nötig hat, unmöglich machen 
und in diejem Fall durch die vorgejehenen Marimalzölle eriett werden follten, 
halte id für ausgeſchloſſen. richeinen doch die ins Auge gefaßten Vertrags: 
zölle für Getreide als beicheiden, verglichen mit den Anduftriezöllen, welche die 
wichtigiten Getreideerportländer, wie Rußland und die Vereinigten Staaten, er: 
heben und vorausſichtlich im ganzen beibehalten werden. 

Aber id; wünſche zwei Nompenfationen für die Zollerhöhung, die eine zu 
Gunſten dev mehr belajteten Konfumenten, die andere zu Paften der meiftbe- 
günftigten Produzenten. 

Unter der VBorausfegung, daß die geplante Erhöhung des Zolles auf Brot: 
getreide im Preiſe voll zum Ausdruck gelangt — eine Borausfegung, die aller- 
dings nur bei Enappen Welternten zutreffen wird — ergiebt fih eine Mehr: 
belaftung der Konſumenten zu Gunſten der Bauernichaft von fajt genau 3 M. 


Mar Sering, Die deutihe Bauernidhaft und die Handelspolitif. 239 


pro Kopf (Berbrauch von 110 Silo Roggen, 70 Kilo Weizen, Zollerhöhung von 
1’/, bezw. 2 Pf. pro Kilo), Die Mehrbelaftung bedeutet gerade für die ärmiten 
Konjumenten gewiß ein jchweres Opfer; es liegt aber keineswegs außerhalb der 
finanziellen Möglichkeiten, an anderer Stelle, nämlich durch Aufhebung reiner 
Finanzabgaben eine Entlaftung eintreten zu laſſen. Die Aufhebung des Kaffee- 
und des Petroleumzoulles würde eine Entlaftung von etwa 2,80 M. pro Kopf herbei- 
führen, und wenn die Befeitigung des Petroleumzolles gewichtigen Bedenken be- 
gegnet, jo wäre die Beleitigung der Kaffee und Salzabgaben anzuftreben. 
Dadurh würde immerhin eine Erleichterung um mehr als 2M. pro Kopf erreicht 
werden fünnen. Die dann nod) verbleibende Mehrbelaftung würde in der That kaum 
bemerfbar jein und ficherlich mehr als ausgeglichen werden durch die Kräftigung, 
welche die landwirtichaftliche Bevölkerung und mittelbar die ganze Volkswirtſchaft 
erfährt. Es würden damit aud) ganz und gar diejenigen Bedenken hinfällig werden, 
welche die Anduftrie aus der Verteuerung der Lebenshaltung ihrer Arbeiter ab- 
leiten könnte. Man darf dabei nicht vergeffen, daß unfer wichtigstes Brotforn, 
der Noggen, troß des Zolles in Deutfchland bisher im Mittel immer noch etwa 
ebenfo billig gewefen ift wie der Weizen, die Brotfrucht in England, und wejentlid) 
billiger als der Weizen in Frankreich, daß auch die Steuerbelaftung pro Kopf 
bei uns hinter der dortigen weit zurüdbleibt. Gin großer Teil des Einnahme: 
Ausfalls für das Reid) würde durd) vermehrte Zolleinnahmen ausgeglichen werden, 
und eine gründliche Reform der Neichöfinanzen unter Mehrbelaftung der größeren 
Einkommen ift ohnehin, wie ich glaube, nicht mehr lange zu verichieben. 

Die zweite Kompenfation betrifft den öftlihen Großgrundbefiß. Ich unter- 
ihäße nicht feine Bedeutung ald Trägers des landwirtichaftlichen Fortichritts und 
als unentbehrlichen Bertreters der Bauernſchaft in den politifchen Kämpfen. Aber 
eine Ariftofratie fann eine Förderung auf Koften der Gejamtheit nur erwarten, 
ſoweit ſich ihr Intereſſe mit demjenigen ihrer geringeren Berufsgenojien det. 
Nun bat zweifellos der Großgrundbefi den Hauptnußen von den Getreidezöllen. 
Soll ihnen an diefer Stelle die Bedeutung der Sonderbegünftigung einer 
fleineren Dberihicht genommen und der Charakter einer fozialen Mafregel ge: 
wahrt bleiben, jo iſt dafür zu forgen, daß auch der großen Mafje der Land: 
bewohner in den Großgüterdiftrikten, der Yandarbeiterfchaft, ihrer Yebenshaltung 
und Arbeitsverfaſſung zu Gute fomme, was durch Opfer der Gejamtheit erfauft 
wird. Beute fehlt e8 dafür an jeder Garantie. Im Gegenteil ift zu beobad)ten, 
daß Sich troß der Tendenz auf Steigerung der Geldlöhne eine fortjchreitende 
Proletarifierung der öftlihen Landarbeiterfchaft vollzieht, weil immer mehr eine 
Unterfchicht tiefitehender, meift ſlaviſcher Wanderarbeiter an die Stelle der ſeßhaften, 
beſſer genährten und tüchtigeren deutjchen Gutstagelöhner tritt. Immer mehr bat 
man unter dem Drud der Berhältnijie jenen Zuzug aus einer vorübergehenden 
Aushilfe zur Grundlage des ganzen landwirtichaftlichen Betriebes gemadt. Die 


340 Mar Sering, Die deutiche Bauernſchaft und die Handelspolitik. 


allmähliche foziale Herabdrüdung, welche fich in dem großen Menſchenreſervoir der 
induftrielofen Aderbaugebiete des Oſtens vollzieht, muß aber ſchließlich auch die 
Induſtriebevölkerung mit ergreifen, und die foziale verknüpft ſich mit einer ſchweren 
wirtſchaftlichen und! politiichen Gefahr. Denn in dem Maße, als der jlavifche 
Zuftrom anjchwillt, wird unjere Bolkswirtihaft von dem guten Willen einer aus: 
ländiſchen Regierung abhängig, und werden immer größere Teile des Reiches 
aus dem geficherten Beſitzſtand deuticher Kultur und Macht ausgefcaltet. 

Aus diefen Gründen find Mahnahmen vorzufehen, welde den Großgrund: 
bejit nötigen, feine vermehrten Einnahmen zur Herftellung einer Arbeitsverfaffung 
zu verwenden, welde ſich jenen Gefahren gewacdjen zeigt und der erhöhten 
Lebenshaltung der deutichen Arbeiter anpaßt. Dazu bedarf es 1. der fchrittweifen 
Zurüddämmung des Zuzugs flavijcher Arbeiter, und als Borbedingung dafür 
2, einer energijchen Förderung ‚der inneren Kolonijation, d. h. der Beihaffung 
von Staatsmitteln zum Ankauf großer Güter und ihrer Umwandlung in Bauern: 
dörfer. So entitehen dann zahlreiche neue Centren eines gejicherten deutichen 
Volkslebens im Diten, die Nachfrage nad) Arbeitskräften verringert jich, und 
durch die geiteigerte Ausſicht auf Verfelbitändigung wird der jtrebjame deutiche 
Arbeiter auch bei günftigen induftriellen Konjunkturen dort feftgehalten. Ohne 
Staatsmittel aber giebt es feine gedeihliche Kolonifation. Sit fie doch außerhalb 
des Wirkungskreifes der Anſiedlungskommiſſion für Weftpreußen und Bofen fait 
ganz zum Stillftand gefommen. Durd) die bisherigen Erfahrungen ift zur Evidenz 
erwiefen, daß die Eapitaliftiiche Unternehmung allein die große nationale Aufgabe 
nicht in einem dem Gelamtinterefje genügenden Umfange und Grade zu löfen vermag. 

Nur unter der Vorausfeßung, daß diefem Verlangen genügt wird, bin ich 
für die Erhöhung der Getreidezölle, andernfalls dagegen. Denn es ift die logifche 
Konſequenz der jozialpolitiihen und nationalmwirtichaftlichen Ideen, aus denen 
allein die erhöhten Zölle zu rechtfertigen find. Man kann nicht ohne inneren 
Wideriprud aus fozialen Gründen die Erzeugnifje billiger Muslandsarbeit ab- 
wehren und doc eine Verfaſſung dulden, welche diejelbe Auslandsarbeit zu einem 
integrierenden Beltandteil der eignen Bolkswirtihaft macht. Die öffentlichen 
Borteile der Zollerhöhung werden wett gemacht durch die fozialen und politifchen 
Schädigungen, welche die Fortdauer der heutigen Zultände im Often mit fich 
bringt. 

Auf der anderen Seite wird erit durch den erhöhten Zollſchutz die Koloni— 
ſation in den Kornbaugebieten ausfihtsvoll, weil er den Anjiedlern eine geficherte 
Griftenz verbürgt. Auch werden dadurd zahlreiche Befiger erſt in ftand geſetzt, 
ihr Land zu verkaufen, weil fie nun erwarten können, einen Preis zu erhalten, der, 
ohne den Anfiedler zu üiberlaften, einen Ueberſchuß über die Schulden des Gutes 
abwirft. 

Diejenigen werden meinem Borichlage am mwenigiten widerjprechen dürfen, 


Mar Sering, Die deutfche Bauernichaft und die Handelöpolitif. 24 


welche für eine größere Unabhängigkeit unjerer Volkswirtfchaft vom Auslande im 
übrigen eintreten. 

Jetzt oder nie hat e8 eine zielbewußte Regierung in der Hand, den Wibder- 
ftand zu überwinden, welcher von einer Kleinen, aber einflußreichen Minderheit 
gegen jene nationale Notwendigkeit aus einem mißleiteten Machtinſtinkt heraus 
erhoben wird. 

Nad dem allen ift die Erhöhung der Getreidezölle lediglich zu rechtfertigen 
als Glied eines meitausfchauenden Brogramms, dann aber fteht fie nicht im 
Wideripruch, fondern bildet geradezu die Grundlage einer groß gedachten jozialen 
Bolitif. 


1% 


Gebete der Buren. 
I IL 
Gewaltiger Engel, erzeige 


H' die Gewehre, io hallt der Ruf 


Von ragenden Bergen nieder, 
Die freie Steppe, wie Gott fie ichuf, 
Wir halten fie, wadıre Brüder. 
Ob audı im Nebel Englands Heer 
Empor zu den Höhen klimme, 


Dich gnädig unferm Flehn, 
Sankt Michael, o ſteige 
Hernieder aus SKimmelshöhn ! 
Wie Du geführt die Väter 
Zum Siege in wilder Schlacht, 


Von oben leudıtet flammende Wehr, Dem Bäulflein frommer Beter 
Dröhnt laut die rädhende Stimme. — Ericheine in finiterer Nadıt. 
Aufichwellt, ihr Bäche, zum wilden Strom, Umweht vom Pulverdampie, 


Vernichtend brauiet zum Meere, 
Zerberite kracdhend, du Feliendom, 
Eine Mauer fei unierem Deere. 
Du aber, Herr, im ewigen kict 
Hoch über der dräuenden Wolke, 
O hebe gnädig dein Angelicht 
Auf über dem ringenden Volke. 


Verlalfen von aller Welt, 

Wir Hehen im legten Kampfe 

Zu Dir, Du itarker Held. 

Die Roiie itampien und ſcharren, 
Der blutige Morgen erwadht. 

O laß’ uns vergebens nicht harren, 
Ericheine in alter Pracht! 


Karl Dove. 


O0O000000000000 


Die Semütsmacht der deutſchen Frau. 


Von 
Frig kienhard. 


[gsi beginnt es den Reichsdeutſchen bewußt zu werden, daß unjer litte- 
rarifcher Zeitgeift im Berlauf der letzten Jahrzehnte nicht dem Stolz und 
dev Würde eines großen Reiches entiprad). 

Unjere Litteratur, beeinflußt von Zeitproblemen und kritiſchen Geiftern des 
Auslandes, war und ift noch eine vorwiegend verneinende und zerjeende Profa, 
eine aufbauende und erhebende Poeſie. Unreife und nervöfe junge Litteraten, 
befangen in vergängliden Moden, noch nicht befähigt, die Welt ſchön und be- 
deutend widerzufpiegeln, drängten rudelweife den wahren Ernſt und die wahre 
Heiterfeit zurüd. Ein Hauch von jchillernder Zerſetzung und fünftlerifcher wie 
jittlicher Unreinheit lag und liegt in der litterarifchen Luft, befonders der drei 
Großftädte Berlin, Münden und Wien. Und nun, nad) fo viel „Revolution der 
Litteratur“, hat ſich das Völkchen jelbft entthront und aus der ernfthaften Litteratur 
verbannt: wir befinden uns in den beweglichen Tagen der 43 Berliner Ueberbrettl. 
Das ift ein gutes Ende, weil es die Sadlage klärt. Denn gleichzeitig mit der 
rajenden Epidbemie der Ueberbrettl feßte überall im Reiche eine „Dezentralifation” 
ein. Und diefe Dezentralifation bedeutet nichts Geringeres als ſchlechthin ein 
ernfthaftes Erwachen des Reichsgedantens und Neichsftolzes. 

Es handelt fi hierbei nicht um eine rüdjchauende Bewegung gegen das 
räumliche oder zeitliche Berlin. Denn wir felbft leben ja einen großen Teil des 
Jahres in der ftetig wachſenden Reichshauptſtadt mit ihren angenehmen Verkehrs- 
verhältnifien. Es handelt fich vielmehr um das Erwachen eines wertvolleren 
Geiftes. ES handelt ſich darum, daß nad foviel Verftandestum und Nerventum 
nunmehr auc die übrigen Organe, die den ganzen Menjchen ausmachen, vor 
allem Gemüt und Willen, wieder in Thätigfeit treten. Es handelt ſich darum, 
dat Litteratur und Kultur, Poefie und Gefamtvolf, Kunft und Perfönlichkeit ein- 
heitlih und organiih emporwachſen, fi gegenfeitig befruchtend, ein herrliches 
Ganze Ichaffend: dem großen Reiche eine große Seele! 

Und da will ih nun einen einzelnen Punkt herausgreifen, an dem ſich jo 
recht jcharf qute Art und ungute Entartung von einander jcheiden: die Stellung 
zur Frau. 


Fritz Lienhard, Die Gemütsmacht der deutichen Frau. 243 


Dieje Frage fchneidet tief hinein, geht an den Nerv unjeres modernen 
Lebens. Ein Zeitgeift und feine Litteratur, dejjen Träger unter dem Einfluß 
einer lärmenden und genußfüchtigen Außenwelt verwirrt jind im ficheren Inſtinkt 
für das Gute, Große und Wahre, wird ſich zu allererft daran verraten, wie er 
das Weib jchildert, wie er die Frau einfchägt. Und ein Aundbli über unfere 
moderne Litteratur und Kunſt genügt, um feftzuftellen, wie mißhandelt und miß- 
adjtet die deutiche Frau fich widerfpiegelt in dieſer Litteratur. 

Die deutihe Frau? Nein, das ift nicht die deutſche Frau, jo wenig wie 
jene dumpf-erotiihe Stimmung unjerer modernjten Romane, Chanions und 
Theaterfabrifate deutjche Litteratur it. Wir müſſen den Adel deutjchen Frauen: 
gemüts erſt wieder entdeden, wie wir unfere Gemütöfraft überhaupt erſt wieder 
entdeden und ihr zu ihrem Herrichertum verhelfen müſſen. Man muß wieder 
mutig genug fein, Treue und Stolz mit treuen und jtolzen Tönen und Worten 
modern=lebendig zu bejagen und zu befingen. Man muß einen reichen Sommer 
über immer wieder Einſchau halten in die viele ungefünftelte Herzlichkeit und 
das viele jeelenftarfe Sorgentragen im deutichen Haufe, um ganz zu empfinden, 
welches Bohemientum und welde Boudoirluft, herübergeweht vom defadenten 
und bejiegten Paris, über Europa hin als moderne Errungenſchaft frech die 
Gafjen und Bühnen bejegt hält. Wie wir dem Reichskörper — um ein oft von 
mir gebraudites Bild wieder zu gebrauchen — eine Reichsfeele zu ſchaffen haben, 
jo wird es zu unſeren edelften Arbeiten gehören, die Achtung vor dem wahrhaft 
Weiblichen und den Wert des wahrhaft Weiblichen feſt und unfentimental als eine 
höchſte nationale Pflicht, als ein gut-altes Erbteil ehrfurchtsvoll und tapfer wieder 
in den Vordergrund zu ftellen. 

Wir find in den Tagen einer etwas aufgeregten Frauenbewegung. Ach will 
mich über diefe Beftrebungen, die am breiten Baum der fozialen Frage nur ein 
Aft find, hier nicht weiter ausfprechen. Es werden fi in der That mande 
Berufe mutigen Frauen noch erichliegen lajjen — ob alle, die man heute ver: 
langt, iſt mir jehr fraglih. Ach fürchte, ſelbſt bei befter Eingemwöhnung wird die 
Frau oder Aungfrau in mandem herben Beruf ihr Beites verlieren, ihr Ach, 
ihre weibliche Sonder-Art und Sonder-Sraft. In Bureau: und Mafjenarbeit 
gebeiht die Kraft der Verinnerlicdyung nicht. Und gerade das fehlt unjerem Zeit: 
geijt jo unermeßlih. Magenforgen find ja gewiß ein traurig Ding, aber Herzens: 
forgen und Geelenverfümmerung find unfäglich ſchlimmer. Um wie viel leichter 
ließen ſich foziale Nöte tragen, überwinden und verflären dazu, wenn jene jtärfite 
Kraft, die etwa ein Jean Paul im Uebermaß beſaß, jene Kraft des Schul: 
meijterlein Wuz und des alten Königs Midas: die Kraft des Bergoldens reicher 
unter und verbreitet wäre. Und wer denn joll fie verbreiten, wenn nicht die 
Berkörperung des Liebesgedankens und der Güte, die gemütsitarfe Frau? 

Die Frau — und der wahre Dichter, der Erzieher der Erwachſenen. ch 

16* 


244 Fritz Lienhard, Die Gemütsmacht der deutichen Fra. 


möchte faft jagen, das Wort, der Sänger folle mit dem König gehen, da fie 
beide auf der Menfchheit Höhen ftehen, bedürfe einer zarten Ergänzung. Gewiß 
fei der Poet ein Held und König: aber der wahre Held ift auch gütig. Wahre 
Größe ift gütig, wahre Ritterlichkeit ift gütig., Wenn ich ftarf bin, darf ich aus 
meinem Weberfluß fpenden und verichenfen. Und das Köftliche beim Nusteilen 
von Liebe und Güte ift es ja, daß der Geber davon nur immer reicher wird. 
Der Dichter muß nicht minder mit edlem Frauentum und anregendem Mädchen: 
und Kinderfinn Hand in Dand gehen. 

Und diefes Erzeugen und Austeilen von Liebesgütern, die vor allem 
anderen it die Aufgabe der Frau, welchem Stande fie auch angehöre und wie 
nah oder weit aud) ihr Machtbezirk fich erjtrede. Edles Frauentum, das über 
Triebe und Bejchwernifje derart zu fiegen wußte, daß die Seele nur immer 
reicher und ftärfer aus Kämpfen ſich ein Lichtgewand mob, ift eine Volkskraft, iſt 
ein vulfswirtichaftlicher Gewinn für den ganzen Umkreis. Es geht wie ein 
Leuchten von ihr aus, es fommt aus ihrem warmen Hauch und aus ihren zarten 
Händen wie ein magnetifcher Strom voll Wohlthun und Beruhigung. Das 
Evangelium nennt die Liebe das Höchfte; wir dürfen das nicht fo eng fallen, als 
wäre nur eine farbloje Liebe zu Gott oder Kirche gemeint. Bift du im Geſamt— 
zujtande liebevollen und hoheitvollen Verklärens deiner Eleineren oder größeren 
Welt, jo fpiegelt fi) das in allem wieder, im Schmüden und Ordnen deines 
Heim3 wie in deinem Schaffen für Volk, Staat und Zeitgeift. So wahrhaft 
furchtbar entartete Liebe fich verhäßlichen, ja verteufeln kann, jo wahrhaft über 
alle Bernunft hinaus kann fie auch fteigen. In die Höhen des Paradiefes konnte 
den Döllen- und Himmelswanderer Dante nicht mehr der vernünftige Mann Birgil 
geleiten, da mußte die Jungfrau Beatrice erjcheinen und ihn mit ihrer Din- 
gebungskraft hinauftragen, hinan zu jener Liebe, die Sonn’ und Sterne beivent. 
Aber andererſeits — und das ift eine Art Troft — fteht felbft entartete Liebe, 
fofern fie Leidenfchaft ift, dem Himmelreich hohen Menfchentums immer noch 
näher, al3 dürre und erftorbene Alltäglichkeit. Wahre Leidenjchaft verbrennt fich 
rafch, der treibende Wille dahinter aber, wenn er nicht ganz von Dämonen zer: 
rüttet ift, kann fich ebenſo ſtürmiſch auf edle Dinge werfen, wie wir das an 
mandem Auguſtinus erlebt haben, der erft nach wilder Jugend feine Kräfte 
fammelte auf den rubenden Bol in der Erfcheinungen Flucht. Chriftus bat nicht 
umfonft das tiefe und meite Wort geſprochen: „Ihr ift viel vergeben, denn fie 
hat viel geliebt.“ Wo Liebe ift, da iſt Wahstum möglich; wo gar feine Liebe 
und gar fein Wille mehr treibt und glimmt — da freilich ift der Tod. 

Liebt unfere Zeit? Nein, fie liebt eben nicht. Sie iſt lüftern, fie it 
erotifch, fie Eranft an Entartungen; auch ift fie gelegentlich fentimental, zweifelnd 
und jpöttelnd. Aber zur echten Lyrik und zur echten Tragik gehören echte Liebe 
und echte Leidenſchaft. Mag die Liebe fündigen, fie wird ihre Wildheit büßen — 


Fritz Lienhard, Die Gemütsmacht der deutſchen Frau. 245 


aber ſie ſei geſegnet, wenn ſie mit Kämpfen des Willens und des Gewiſſens 
verbunden bleibt, wenn ſie ſtolz bleibt, wenn ſie noch weinen und beten kann. 
Unſere Zeit (was man eben nad) dem Getümmel der Mitläufer „unſere 
Zeit" nennt) hat nit Mut und Sraft, mit voller Seele zu lieben. Ya, es iſt 
das Grundgebrehen aller Stände, daß fie zu wenig Liebe haben. Wenn jemals, 
jo bedürfen wir heute der Mithülfe echten Frauentums. Es müßte wie ein 
Abendrot Perzensgüte ausgejchüttet werden in die graue Luft eines freudlojen 
Zeitgeiftes; es müßte wie ein Abendglöckchen reines Herzenslachen diefe ſchwere 
Luft wieder in Schwingung verjegen, die dann meiterbebte in alle Stände und 
Berufe. Dann wäre aud) für die fchwerfte Frage, für die wirtichaftliche Frage, 
eine bejjere Gejamtjtimmung gejchaffen, wir würden uns freundlicher und bereit- 
williger zu verjtehen juchen. 

Als in den Tagen der Königin Luife, diefer wahrhaften Edelfrau, Deutich- 
land in Not war, da gab mand) eine brave Frau „Gold für Eifen“. Ich meine, 
Deutihlands Kultur ift in ebenjo ſchwerer Not wie damals. Und ich meine, 
heute gilt es, das Gold der Gemütskraft hinauszugeben für das Eifen dieſer 
Zeit, das jid; unter euren Händen wieder in Gold verwandeln wird. 

Es wäre unrecht, wenn ich hier nicht den Adelsmenſchen Kohn Ruskin und 
jeinen prächtigen Auffat „von den Gärten der Königin“ erwähnen würde. Wie 
ihön und rein fpricht diefer ganze Mann von den Aufgaben der Frau! Auch 
ihm ift der Mann die pojitive Elektrizität, der Schöpfer und Schaffer, der Ent— 
deder und Bekämpfer. Aber die Gabe der Frau ift das Ordnen und Berflären. 
„Der Mann — jagt Rusfin — muß bei feiner rauhen Arbeit in der Deffentlich- 
feit jeder Gefahr und Prüfung entgegentreten; ihm werden daher Fehlichläge, 
Kränkungen und unvermeidlihe Irrtümer zu teil; er muß häufig verwundet, 
bejiegt, irre geleitet und ftet3 abgehärtet werden. Aber er ſchützt die Frau vor 
diefem allem; in fein von ihr beherrichtes Haus braucht, wenn fie e8 nicht ſelbſt 
aufjucht, weder Gefahr noch Verſuchung, noch irgend eine Urſache für Irrtum 
oder Kränkung zu dringen. Das ift die wahre Natur des Heims: es ift der 
Ort des Friedens; die Zuflucht nicht nur vor aller Verlegung, jondern vor allem 
Screden, allem Zweifel, aller Spaltung. ... Wohin ein echtes Weib aud) 
fommen mag, wird dies Heim fie immer umgeben. Sie mag nur die Sterne 
über ihrem Haupte haben, und der Glühwurm im taufeuchten Gras mag die 
einzige Leuchte ihrer Füße fein: dennoch ift Heim, wo immer fie ſich befinde... 
Und da im Menjchenherzen ſtets ein natürliches Gefühl für alle feine wahren 
Pflichten lebt, wie 3. B. der tiefe Inſtinkt der Liebe, der, richtig geleitet, alle 
Heiligtümer de3 Lebens erhält und, falſch geleitet, jie untergräbt, jo ift im 
Menichenherzen aud) ein unauslöfchlicher Inſtinkt, die Liebe zur Macht, die, richtig 
geleitet, die Majeſtät aller Geſetze und alles Lebens erhält und, falfch geleitet, 
alles zeritört. Tief wurzelnd im innerjten Derzensleben des Mannes und der 


% 
246 Fritz Lienhard, Die Gemütsmacht der deutichen Frau. 


Frau hat Gott fie gepflanzt, und Gott erhält jie auch dort. Es iſt ebenfo ver: 
geblich wie faljch, den Wunſch nah Macht zu tadeln oder zu ſchelten. Wünfcht 
fie Euch, ihr Frauen, fo jehr ihr könnt. Aber was für eine Macht? Das ift 
die große Frage. Macht zu zeritören? Nicht fo. Die Macht zu heilen, zu er- 
löfen, zu leiten und zu behüten.“ Und fo nennt Ruskin die Frauen Königinnen. 
„Bemwußt oder unbewußt müßt ihr in vielen Herzen thronen. Königinnen müßt 
ihr fein. Söniginnen für Gatten und Finder, Königinnen von geheimnisvollerer 
Macht für die übrige Welt, die fich beugt und immer beugen wird vor der 
Myrtenkrone und dem unbefledten Szepter der Weiblichkeit." 

Man vergleiche diefe Adelsſprache mit dem jegt üblihen Ton unferer 
Ueberbrettl- Dichter und ihrer Geiltesverwandten oder mit den bageren Zerr- 
bildern gewiſſer Witblätter nad) Parifer Art! Der Zeit der Minnejänger 
und des blühenden Marien-$ultus wirft man eine gewiſſe provenzaliſch beein- 
flußte Sinnlichkeit vor. Ach, ich denke, damals fand unfer Walther von der 
Vogelweide jo mannhaft hohe und mwürdige und zugleich fo innige Töne von der 
Edelart deutfchen Frauentums und weiblicher Zucht oder fraulicher Minne, dat 
man nad diefer Seite hin die unftolze Durchſchnittsdichtung, die bisher aus 
dem neuen deutſchen Reiche herausgewuchert ift, mit jenem alten deutichen Reiche 
auch nicht im Scerze vergleihen darf. Minnedienft und Frauenverehruug 
jener ritterlihen Zeit waren nicht undeutſch: denn die franzöſiſchen oder lom— 
bardiichen oder fogar fpanifchen Herrengeichledhter, die „Blaublütigen“ alle, 
waren wejentlich aus germanijchen Ländern ſeit der Flut der Völkerwanderung 
und fpäterer Jahre dorthin getragen worden. Frauen-Achtung ift gegenüber 
Mauren- und Gemitentum germanifche und ariiche Herrentugend. „Ein edler 
Menſch zieht edle Menſchen an” — in einem edlen und perfönlichkeits-ftolzen 
Manne fpiegeln ſich frauen nicht in verzerrten Bildern. 


(Schluß folgt.) 


1% 


ESESESESESESESESEISEDSESESESENS 


Sedidite von Frida Schanz.*) 


Mondnadt. 
Sa felerlihes Silberlidit getauct Vergelitigt die geliebte kandicalt, fremd, 
Die nächtge Welt, fo groß, fo ftumm und hehr, Wie ein Gelicht, von höhrem Schaun verklärt, 
Die Bergesmalien zart, wie hingehaucht. Ein trauter Freund, dess Seele ungehemmt 
Mein frohes Thal, ic kenne Dich nidıt mehr. Weit, weit entrückt, mit Ewigem verkehrt. 
oO 
Ergebung. 
m tiefiten Leid hab ich des Leidens Ziel Das ganze All ilt ein gewaltger Sang 
Mit einem Mal geipärt: — Doll Itarker Melodie, 
Id bin die Salte nur im Saitenipiel, Und was idı leide, nur ein tiefer Klang 
Von höhrer Sand berührt. In hödchiter Garmonle, 
o 
3ede Nadıt ein Erwahen — 
J Nadıt ein Erwachen Ein Scaun In die Tiefe, till, verltohlen, 
Mit dem freien Blik& über Glück und Weh, Ein Schaun in die höhen, leligweit, 
Ein Sichalleinbeiinden im Naden Das ift das tiefite, tlefite Erholen ! 
Auf der beruhigten Lebensiee. — Das ilt die weltfernite Einiamkeit ! 


Ringsum die Ruhe fo zauberhaft, 

So groß die Weite um deinen Machen! 
3ede Naht ein Atmen in Licht und Kraft, 
3ede Nadıt ein Erwacen ! 


oO 
Daheim. 
Zuses daheim und bei mir Telbit dahelm ! Ein liebes Werk, hellgoldnes kampenlicht 
Im fiefiten Eigen traulich abgeſchleden, Fern, traumhaft fern, der Menichen hait'ge Menge, 
Die Flamme prafielt ihren alten Reim, Wie Sonnenhaucd durchglüht es mein Gelict, 
Die Seele lingt. — Glüdlelger Seimatsfrieden ! Beimfelig ralt ich in der itillen Enge! 
o 
Zugvögel. 
U" kahlen Wald, um tote Auen, Welch mädtiges, weld ielges Leben 
Spielt müde Serbitluft, klar und warm, In dieiem fliegenden Entfliehn, 
Zugvögel itreidten hodı im Blauen In diefem Schwung, in dielem Schweben, 
Dahin in langem, ſchlankem Schwarm. In dieiem Weiter, Weiterziehn ! 


Ic ieh mit wunderlichen Schmerzen 
Ihm nadı, dem Wandervogelflug, 
Mir ift, als flög aus meinem Berzen 
Ins Weite dieier Sehniuctszug ! 


Aus der demnächſt ericheinenden Sammlung „Intermezzo“. Berlag von 
F. A. Yattmanıın, Boslar. Buchſchmuck von Maria Stüler-Walde. 


BIBIBIBIBIBIBIBIBIBIBIBIBIBI 


Bankbrühe und Bankkontrollen. 


Don 


Adolph Wagner. 


II. 


Allgemeine Ergebnilje und Reformanforderungen. 


gi Eigentümlichkeit der neueften Bankbrüche in Deutichland, die im erften 
Artikel behandelt wurden, ift das ganz oder faft ganz Unerwartete, Plöß: 
liche, wie fie ausbracdhen, und der weitere Umftand, daß nicht eigentlich all: 
gemeine politische oder wirtſchaftliche Verhältnifje den Ruin verurfacht haben. Wie 
die Pfandbriefe aller anderen Banken, wie aber auch die beften Staatöpapiere mit 
feftem Zinsfuß, deutjche, preußifche, mittelftaatliche und die landichaftlichen Pfand- 
briefe, iind unter dem Einfluß der allgemeinen Bewegung des Zinsfußes und der 
Kapitalabſorption durd) die übermäßig rajche Entwicklung von Induſtrie und Handel 
jeit 1897—98, ſeit den politischen Borgängen der letten Jahre in Amerika, Afrika, 
Alten und bei der fteigenden Geldklemme, die damit verbunden war, die Pfandbriefe 
der jegt notleidenden Hypothekenbanken und die Aftien diefer und der übrigen ver— 
frachten Banken jchon vor der Ktataftrophe etwas gegen früher im Kurſe geſunken 
geweien. Aber nicht mehr als die anderen verwandten Papiere. Und nod) kurz 
vor der Stataftrophe ftanden die Kurſe der Papiere der gefallenen Banken nicht 
eben ſchlechter als Diejenigen der übrigen gleichen Unternehmungen. Bollends 
eklatant war das bei der Leipziger Bank fo. Zwar munfelte man bei den Banfen 
der Spielhagengruppe, der Preußischen Hypothekenaktienbank, der Bommerichen, 
der Medlenburg:Streliger mitunter etwas über gewiſſe bedenkliche Dinge, aber 
auch meift nur furzfvor dem Eflat, und ohne irgend pofitive Thatjachen an- 
geben zu Können. Die Direktoren diefer Banken genofien „öffentliches Vertrauen“ 
bis zulegt und haben augenfällige Anerfennungen erfahren, ſich an gemeinnügigen 
und patriotiichen! Dingen in jignififanter Weife beteiligt. Bei öffentlichen Er- 
klärungen, worin die Banken fich jelbjt und dem Publikum ihre Kreditwürdigfeit 
gegenjeitig beicheinigten, haben wenigitens 1897 auch jeßt verfradhte Banken nicht 
gefehlt. Ganz plötzlich brach dann die Kataftrophbe aus. Der Kursitand an 
Aktien und Pfandbriefen bis dahin beweiſt am beiten, daß die Börſe, die „alles 


Adolph Wagner, Bankbrüche und Bankkontrollen. 249 


durchſchaut“, da die großen Banken, die „jedes Unternehmen genau kennen“, dat 
die Krediterfundigungs-Unternehmungen, die Auskunfteien gerade jo überrajcht 
wurden, alle nichts wußten, ebenjo wie die ſtaatlichen Aufjihtsorgane und 
Inftanzen und wie die Maſſe der Aktien und Pfandbriefbejiger. Sonſt hätte 
jiher fchon länger eine angemefjene „Anticipation der zufünftigen Ereigniſſe“ 
durch entiprechende Operationen des Kapitals und der Börje und frühere Derab- 
jegung der Kurſe demgemäß ftattgefunden, wie ja die Börfe, fich ihrer guten 
Borausficht rühmend, es jonft wohl thut. Bei der Reichsbank wurden die Pfand- 
briefe der Preußiihen Oypothefenaftienbanf und der Pommerſchen Bank bis 
zulett, jogar in Klaſſe I (bis zu %/, des Kurſes), lombardiert. 

Und genau jo ging es bei den Fall der Effektenbanten zu, jpeziell bet der 
Leipziger Bank. Auch da bat man zwar jeit einiger Zeit, gerade wegen der 
Verbindung mit der jchmwindelhaften Trebertrodnungsgejellichaft, über die Leip— 
iger Bank hie und da etwas Verdacht geäußert, 3. B. in einem ſüddeutſchen 
Preßorgan. Aber wiederum zeigt am beiten die Kursitellung der Aktien, daß 
doh eigentlih niemand ernſtlich Mißtrauen begte, vollends nicht in dem 
Umfange, wie es fich bald als nur zu begründet ergeben jollte; daß niemand 
daran dadıte, durch umfafjenderen Aktienverfauf jein Vermögen, durch Heraus— 
ziehen jeiner Gelder feine Guthaben zu fichern. Bei anderen Banffradyen lag 
die Urjache, zunächſt wenigitend der Zahlungseinjtellungen, in dem, was 
der Engländer und Amerifaner einen run upon the bank nennen, einem 
„Bankrennen“, wo aus einem allgemeinen Motiv des Mißtrauens die Banfnoten- 
befiger ihre Banknoten zur Einlöfung präfentieren, die Deponenten ihre Depofiten 
berausziehen, ſei es unter der Angfterregung einer allgemeinen politischen oder 
großen Wirtjchaftskrife, jei es wegen fpeziellen Mißtrauens gegen eine beſtimmte 
Bank. Davon war vor der Kataſtrophe feine Rede bei uns. Hinterher jind freilich, 
unter der Erregung des Miftrauens gegen Banken überhaupt, aud die Kaſſen 
anderer Banken, jo in Dresden, ferner einzelne Sparkaſſen von den Gläubigern 
überlaufen worden. Aber vor der Sataftrophe bat aud bei den verfraditen 
Efjektenbanfen im Grunde niemand etwas gewußt, kaum jemand etwas geahnt, 
feiner Mißtrauen gehegt. 

Das iſt eine Thatiahe von großer allgemeiner Bedeutung. Sie 
zeigt die Wertlofigkeit, jedenfall3 den geringen Werth einer Reihe von Normen 
und Einrichtungen, auf die man fich zu allgemein verlafjen bat, und zeigt aud), 
daß es unrecht iſt, von gewöhnlichen Privaten, die für feite Kapitalanlagen Pfand: 
briefe oder ſelbſt als folid geltende Bankaktien erwerben, eine Vorausſicht zu ver- 
langen, die niemand, aud) die „gewiegteiten Praktiker“, auch die „großen Banken“, 
die „Immer orientiert find”, aud) die Börfe, „die alles wittert”, gehabt hat. 

Bei unjerem Aktienbankweſen hat man, wie bei allem Aktiengejellichaftsiveien, 
feit der Befeitigung des früher jchon allein wegen der Form der Gejellichaft 


250 Adolph Wagner, Bankbrüche und Bantkontrollen. 


geitellten Erforderniffes der Stantsgenehmigung in der Novelle von 1870, alles 
Gewicht gelegt auf die beiden Grundjäge der Deffentlichfeit in Bezug auf 
die Gründungsporgänge, Gejchäftsbetrieb, VBermögensftand, Stand der Aktiva 
und Paſſiva (Bilanzen, Status), Rechnungsabihluß, und der perfönlichen, civil- 
rechtlichen, eventuell auch ftrafrechtlihen Verantwortlidfeit und Haftbar— 
feit der Gründer und Leiter, Direktoren, Aufſichts- Verwaltungsräte. Die un: 
genügenden Bejtimmungen hierüber in der Novelle von 1870 find in der Novelle 
von 1884 für das gefamte Aktienweſen verändert, verbeilert, verjchärft, aber im 
Ganzen nur gleihmäßig für alle Gejellichaften, nach ihrer Form — als Attien- 
gejellihaft — gegeben, nicht zugleih nad Zweden der Unternehmungen 
ipezialijiert worden. Beide Grundjäße in ihrer heutigen Normierung haben fid) 
audy wieder in den neuejten Fällen nicht bewährt, nicht ausreichend gezeigt, 
nicht präventivd genügend gewirkt. Ob der Grundjat der Verantwortlichkeit 
der civil, vermögensredhtlichen wie der jtrafredhtlichen, wenigitens repreſſiv 
genügend wirken wird, muß fich demnächſt, bei den Gerichtöverhandlungen und 
Civilprozeſſen zeigen, iſt aber — einftweilen nicht ſehr wahrjcheinlid). 

Die Beröffentlihungen der Banken, ihrer Nahresbilanzen, Rechnungs: 
abichlüffe, die begleitenden allgemeinen Gefchäftsberichte haben ſich namentlich 
ungenügend dafür erwiefen, um ein mwahres Bild der Lage, wenigftens dem 
fundigen Sadpverftändigen, gewinnen zu laſſen. Nicht nur, daß Bilanz: 
täufchungen und Berfchleierungen vorgefommen find, auch wo die Zahlen nicht 
an fich falich waren, haben fie feine richtige Belehrung gegeben. Bejtenfalls 
gewähren diefe Bilanz: und Rechnungszahlen einen Einblid in einige quanti= 
tative Momente, auch bier aber gar nicht ausreichend, weil jie zu wenig 
jpezialifiert find, ganze große Gruppen von Aktivis und Paffivis und von 
Geſchäften darin in Einer Ziffer zufammengefaßt werden. Was nüßt 3. B. die 
Kenntnis der Gefamtziffer „Effeftenbeftände“ oder „Debitoren“, vielleicht in 
einer Höhe des Betrags, fo daß eben die Lage der Bank ganz wejentlich von 
diefer einen Ziffer beftimmt wird und die vielleicht genauer jpezifizierten fonftigen 
Aktiva auch im Gejamtbetrag an Bedeutung ganz zurüditehen? Durch Ver— 
ichiedenheiten der Buchführung, Teilung der Conti erfolgen weitere Verſchleie— 
rungen. So war e3 bei der Leipziger Bank bei den Gefchäften mit der Treber: 
trodnung. In der 80 MillionensForderung der Banf an dieſes „concern*“, um 
dem neueften Börlenjargon zu folgen, lag das Schidjal der Bank. Aber wenn 
jelbft ein genügend fpezialifierter richtiger Status immer vorläge, damit würde 
man doch erit Hilfsmittel quantitativer Art für die richtige Kontrolle haben, 
für eine qualitative noc feine ausreichenden.- An leßterer Beziehung lajjen 
die bisherigen Publikationen der Banken, wie freilich auc der übrigen Aktien: 
geiellichaften, noc, fait alles zu wünfchen übrig, Es müßten mindeftens Die 
GEffeftenbeftände nidyt nur nach einzelnen Stategorieen oder Gattungen (Staats: 


Adolph Wagner, Bankbrüche und Bankkontrollen. 251 


papiere, in= und ausländiiche, Pfandbriefe, Prioritätsobligationen, Aktien der und 
der Art, von Bahnen, Banken u. |. w., wie jüngft in dem „zur Berubigung“ ver: 
öffentlichten Halbjahritatus einer Berliner Effeftenbanf), ſondern nad) den ein- 
zelnen Spezies jeder Gattung und hier zugleid; nad) dem Nennwert, 
Erwerbspreis, Bilanzanjaß, Kurswert, wo dieſe letteren drei von ein= 
ander abweichen, in der Jahresbilanz, womöglich aud in öfter veröffentlichten 
fnapperen Rohbilanzen während des Jahres angegeben werden. Das verlangt 
ein wenig mehr Mühe und ein wenig mehr Raum, macht vielleiht auch ein 
wenig mehr Koften der Publikationen, was alles zujammen aber feinen Grund 
bildet, diefe allein braudbare, weil allein wirklich ſicheres Urteil 
ermöglichende Art der Verwirklichung des Publizitätsprinzips zu unterlafien. 
Aehnliche Anforderungen find an die Zerlegung der unter den Aktivis aufgeführten 
Beträge aus Konfortialbeteiligungen, Kommanditbeteiligungen u. dgl. zu stellen. 
Auch bei den Lombardforderungen, Reports, ſonſtigen Darlehnsforderungen, 
diverfen Debitoren find möglichft eingehende Spezialifierungen der einzelnen 
Geſchäfte u. |. w. zu verlangen, 3. B. bei den Lombardforderungen binjichtlich der 
einzelnen Arten der beliehenen Werte, Effekten, bei den Wechſeln wenigſtens 
nach den Berfallzeiten (wie im Jahresbericht der Reichsbank). Auch die Haupt: 
paffivpoften find in den öffentlichen Ausweifen zu zerlegen, jo die beliebte 
Kategorie „diverje Kreditoren” nad) den einzelnen Arten derjelben, die Depofiten- 
und dergl. Conten mindeitens nad) den Fälligkeits- und Kündigungsterminen. 

Ich ftimme hier wieder mehrfacd den Anfichten und Forderungen Dr. Linden- 
bergs in der oben genannten Schrift bei und habe ähnliche in meinen litterarifchen 
Bantarbeiten auch jeit langem vertreten. Dieje Dinge find aber in den Grund- 
zügen dur das Gejek, in den Einzelheiten durch das der Aufjichtsbehörde 
demgemäß in umfafjendem Maße zu erteilende Verordnungsredht zu be— 
ftimmen, nicht den Banfen allein zu überlafjen. Bei den Notenbanten ift das 
wenigftens erreicht, wenngleid) auch hier noch nicht völlig ausreichend eingerichtet. 
Bei den Hypothekenbanken hat das neue Reichsgeſetz von 1899 $ 24 für die Auf- 
ftellung der Jahresbilanz die getrennt anzugebenden Poſten bezeichnet, ift 
aber in der Spezialifierung doch auch noch nicht weit genug gegangen. Veröffent- 
lichungen des Betrags der in Umlauf befindlichen Bfandbriefe und der Dedungs- 
bypothefen dafür und einiges Weitere foll jett auch am Schluß des Kalender: 
balbjahrs erfolgen ($ 23). Für die anderen Banken, daher die wichtigfte, aber 
aud in mander Hinfiht banktechniſch gefährlichite moderne Banfkategorie, die 
Effektenbanfen, fommen nur die allgemeinen Beitimmungen des Aktiengeſellſchafts— 
und des Genojjenjchaftsrechts in Betracht, die aber nicht ausreihen. Das hat 
ſich wahrlüh jetst wieder gezeigt. 

Das Mindefte ift doch, daß man den Grundſatz der Deffentlichfeit ernit- 
lich nimmt und jichert, wenn man felbjt von weiteren formellen und vollends 





252 Adolph Wagner, Bankbrüche und Bankkontrollen. 


von allen materiellen Kontrollen abſieht. Diefe Sicherung des Grundſatzes der 
Deffentlichkeit fehlte aber bisher und das hat ſich gerät. Hier ſchadet aud) die 
dem wirtſchaftlichen Gebenlafien jo bequeme und jo entgegenfommende lediglich 
formaliftiihe Behandlung der Dinge in der Gefeßgebung unter dem Einfluß einer 
formaliftiichen Jurisprudenz und die von den Gejellichaftsorganen gehegte Scheu, 
wie von ihnen verfichert wird, die Unthunlichkeit „wegen der notwendigen Ge— 
heimhaltung der Geſchäfte“ Beitimmungen über die Publizität zu treffen, die 
wirklichen Wert für die Kontrolle haben. ch habe vergebens feiner Zeit Ichon 
als Mitglied der Minifteriallommiffion, welche 1882 mit der Borbereitung der 
neuen Aktiennovelle betraut war, eine viel weiter gehende Publizität, insbejondere 
eine Aufftellung der Bilanzen oder Status nad) jpezifizierenden amtlidhen 
Schematen vertreten. Den Juriſten ging das zu weit ind Detail, den Praftifern 
war es vollends gegen den Stridy und wurde al3 unausführbar und mit dem 
notwendigen Geheimhaltungsinterefje unvereinbar bezeichnet. Ach habe damals 
nicht minder die allgemeine Forderung vergebens vertreten, daß ſich an ein doch 
wejentlih nur Formalbeſtimmungen treffendes allgemeines Geſetz, wie das 
Dandelögejeßbuch in jeinen Beitimmungen über die Aktiengejellihaften, wo die 
Aktiengelellichaft wejentlih nur als Rechtsform der Unternehmungen in Bes 
tracht Eommt, Spezialgejege, wirtichaftliche Verwaltungsgeſetze an: 
ichliegen müßten, welche jede Dauptfategorie der in Aftiengejellidaftsform 
(und eventuell auch noch in anderer) betriebenen Unternehmungen nad) deren 
wirtihaftlihem Zwed aud einer Neihe gerade nad dieſem Spezial- 
zwed erforderlihen Spezialbejtimmungen unterftellte. Es iſt doch Elar, 
daß, je nachdem es jih 3. B. um eine Bank, ein Verficherungsgeichäft, eine 
Dampfihiffahrt, ein Bergwerk, eine Fabrik, einen Gaſthof ꝛc. handelt, ferner 
innerhalb diejer Sategorieen, 3. B. bei Banken um eine Noten-, Depofitenz, 
Hypotheken-, Effektenbanf, verſchiedene weitere Beitinnmungen im Recht geboten 
ind. Damals fand auch diefe Anregung bei Juriſten wie bei Gejchäftspraftifern 
weientlich nur Ablehnung. Ach glaube, die Erfahrung, auch wieder die jüngfte, 
bat mir recht gegeben. Für die Notenbanken jchon feit 1875, endlich auch für die 
Hypothefenbanfen und die VBerficherungsunternehmungen ift diefe Auffafjung ja 
nun zur Anerkennung gelangt. Aber die anderen Gebiete, darunter beim Bank: 
wejen das Effektenbanf- und das Depofitengeichäft, harren noch einer 
jolhen Spezialgeleßgebung. 

Bei den Dypothefenbanten iſt wenigftens der Grundjag der Staats— 
genehmigung für das einzelne Unternehmen im deutichen Partikularrecht feft- 
gehalten und nunmehr auch im Reichsgeſetz von 1899, $ 1, definitiv geſetzlich 
feitgelegt worden. Wo es fih um jo lang =terminliche Gefchäfte, wie Pfand- 
briefausgabe, um jo wichtige allgemeine Intereſſen, wie bei dem Hypotheken— 
geichäft dieſer Banken handelt, ift das völlig gerechtfertigt. Auch die laufende 


Adolph Wagner, Baukbrüche und Bankkontrollen. 953 


Staat3aufficht ift mit diefem Grundfaß verbunden und notwendig. Aber Mip- 
jtände find geblieben, und die Staatsaufficht, joweit ſie bei den verfradhten 
Dypothefenbanfen in Betracht fam, hat allerdings nur einen vollen Miterfolg 
gezeigt, jedenfalls, wie fchon oben bemerkt, die fund gewordene Mißwirtſchaft 
nicht vechtzeitig verhindert und fie nicht einmal zuerft aufgededt. Das iſt auch 
eine Thatfache, von der aus den letzten Ereigniffen Akt zu nehmen ift. Auf dem 
Gebiet des Hypothekenbankweſens hat fich ferner aud) noch in der Periode des 
Deutfchen Reichs eine Ungehörigkeit erhalten, wie ehemals unter den Deutichen 
Bunde bei den MNotenbanten. Als in den 1850er Jahren Preußen und 
die größeren Mittelitaaten feine weiteren Notenbanfen in ihrem Gebiet Eon: 
zefftonierten, fuchte das fpefulievende Kapital, gegen alle möglichen Zugeſtändniſſe, 
Konzeffionen in den meisten Slleinftaaten zu erlangen, Orte, wie Meiningen, 
Gera, Gotha, Weimar, Sondershaufen, Deffau, Homburg, Büdeburg fogar 
erhielten ihre eigene Notenbanf, in Büdeburg 3. B. eine „Niederfächliiche Bank“ 
mit „unbegrenztem“ Recht der Notenausgabe, fogar in allen Hauptwährungen der 
Welt, felbft in der ungeprägten Hamburger Mark Banko, die genehmigten Sta- 
tuten diefer Banken mehrfach mit zu laxen Dedungsvoricriften. Dieſem Syſtem 
bat die Meichsgejeßgebung ein Ende gemacht. Wenn aber jett Duvdezftaaten, 
wie Medlenburg » Strelit, wieder eigene Hypothekenbanken Eonzeffionieren, mit 
dem Gejchäftskreis im ganzen Reiche, wie die durch die neuejten Ereignifje jo 
berüchtigt gewordene, ift das nicht im Grunde eine ganz ähnliche Kompetenz— 
überjchreitung wie ehemals auf dem Gebiete des Notenbankweſens? Dat ein 
folder Staat auch nur ſicher hinlänglich fachverftändige Perjönlichkeiten, die die 
Staatsaufficht wirkſam ausüben künnen? Am neuen Reichsgejet jind die einmal 
bejtehenden Hypothekenbanken wiederum in ſehr jchonender Weile behandelt, 
unterliegen nicht oder nicht völlig oder nicht uhne weiteres jofort den neuen, 
mehrfach ſelbſt noch zu wenig ftrengen Anforderungen des neuen Gejeßes, be- 
halten daher eine nicht erwünfchte Musnahmeftellung. Bei Neugründungen von 
Dypothefenbanfen, wenigitens in der praftiich fajt allein in Betracht kommenden 
Form der Aktiengefellichaft und der Kommanditgeſellſchaft auf Aktien, muß aber 
jett nad) $ 1 des Gejetes doch wenigitens, wenn fid) die hypothekariſchen Be- 
leihungen einer Bank nicht fagungsmäßig auf das Gebiet des Bundesitaats be- 
jchränfen, in dem die Bank ihren Sit hat, der Bundesrath die Genehmigung 
erteilen, während in dem angegebenen Fall nur die Genehmigung der Gentral- 
behörde des betreffenden Einzelſtaats erforderlich it. Erwünfcht, vom nationalen 
und allgemein wirtfchaftlichen Standpunkte aus betrachtet, iſt lettere Kon— 
zeſſion an den PBartifularismus, euphemiſtiſch „Föderativprinzip“ genannt, nicht. 
Aber wenigftens wird durd die neue Vorſchrift eine eigene Hypothekenbank in 
einem der deutfchen Sleinftaaten kaum mehr möglid), da das Gebiet derielben 
ſelten für die erjprießliche Wirkjamfeit einer Bank ausreichen wird. 


254 Adolph Wagner, Baukbrüche und Banftontrollen. 


Daben jich nun auch wieder nad) den dargelegten neueiten Erfahrungen mit 
„Bankbrüchen“ die Bejtimmungen des Aftiengefellihaftsrehts über Publizität 
und Berantwortlichfeit, diejenigen der bisherigen Oypothefenbantitatuten über die 
Einrihtung und Geichäftsführung diefer Banken und über die Staatsaufficht 
darüber nicht ausreichend gezeigt, um unerhörte Mifwirtichaft zu verhüten und 
ſelbſt num rechtzeitig befannt werden zu lafjen, bevor die Schäden die nunmehr 
feftftehende Höhe erreicht haben; hat die Kontrolle der öffentlichen Prefje, der 
Konkurrenten, der Börſe, worauf man früher fih als genügendes und der 
Staatdaufficht überlegenes Kontrollmittel vielfach glaubte verlafjen zu können, 
ebenfo wenig auägereicht, — auch der Verfaſſer dieſes hatte in feinen jungen 
Fahren, in feinen früheften Bankſchriften noch diefe optimiftiihe Illuſion —; 
haben die Nädhjitinterefjenten, Nktionäre, Pfandbriefinhaber, fonftige Gläubiger 
ji völlig außer ftande gezeigt, Ti) vor großen Vermögensverluften zu hüten, — 
was foll nun geſchehen? Soll man alles beim Alten laſſen? „Die Dinge nicht 
noch ſchlimmer machen, indem man fie an die große Glode hängt und das Mip- 
trauen immer weiter greifen läßt”, wie aus der Bankgeſchäfts- und Börjenwelt wohl 
abgemahnt wird? Soll man ſich mit dem wohlfeilen, nach Lage der Dinge beinahe 
höhniichen Rat begnügen: „hr müßt eben vorfichtiger fein, ſelbſt prüfen” und 
im übrigen: „Die Dummen werden nicht alle”, wie immer noch gewiſſe Leute 
fpotten? Während man den Intereſſenten, wie 3. B. den Pfandbriefinhabern, 
bisher faft Feine, auch jelbft im neuen Reichsgeſetz noch feine ausreichenden und 
zum Teil wieder nur formaliftifche Kontrollmittel und Scutmittel gewährt 
bat?! Oder hat ein Schugmittel, wie das in dem genannten Geſetz in $ 30 
Abjat 1 gegebene, einen größeren, einen wirklich materiellen Wert, in der That 
nicht nur einen formaliftiihen, wenn e8 da 3. B. heißt: „Der Treuhänder hat 
darauf zu achten, daß die vorfchriftsmäßige Dedung für die Hypothefenpfand- 
briefe jeder Zeit vorhanden fei; hierbei hat er, jofern der Wert der beliehenen 
Grundftüde gemäß der von den Auffichtsbehörden genehmigten Anmeifung feit- 
gejett ift, nicht zu unterjucdhen, ob der feitgeiegte Wert dem wirklichen 
Wert entipriht?" Gerade auf letteres füme alles an, das „nicht“ in diefem 
Sate mühte fallen, wenn die Kontrolle und das Schutmittel Wert haben 
jollten! Aber — das würde, meint man, eine unzulälfige und jtörende Ein- 
milchung in den Gejchäftäbetrieb fein. Nun, dann täufhe man ſich doch nicht 
darüber, daß auch unter dem neuen Geſetz Mißwirtichaft, wie die jett bei den 
verkrachten Hypothekenbanken erlebte, auch in Zukunft nicht ſicher ausgefchlofien 
ift. Jener Paragraph entfpricht doch nur wieder dem alten Sat: Wald, mir 
den Pelz, aber mad’ mich nicht naß. 

Meines Erachtens folgen aus den jüngiten Erfahrungen bei diefen Bank— 
brüchen und aus der völlig unzureichenden, nirgends, worauf doch alles ankäme 
genügend präventiv wirkenden Banffontrolle einige Forderungen, welche id) 


Adolph Wagner, Bankbrüche und Bankkontrollen. 255 


mich hier begnüge, nur zum Schluß kurz ohne weitere Begründung des Einzelnen 
hinzuftellen. Ich habe fie teil ähnlich, teils ebenjo in meinen verjchtedenen 
Banfarbeiten vertreten, oder jie folgen ald Konjequenzen aus dem, was ich dort 
darüber dargelegt habe. Eine volle Beitätigung meiner Auffafiungen finde ich 
in den jüngften Borfällen. Freilich find Ddiefe Forderungen, wie mir oft 
genug entgegengeworfen ift und wahricheinlich jeßt wieder werden wird — 
diejenigen eines „grauen Theoretikers und Stubengelehrten”, der dem 
„großen modernen Wirtjchaftsgetriebe" nicht nur fern, fondern, wie man ihm 
nadjjagt, auch veritändnislos und ſelbſt antipathiich gegenüber jteht, der fogar, 
horribile dietu, „ein Gegner des Induſtrieſtaats“ it. Das Alles iſt mehr oder 
weniger richtig. Aber Schreiber diejes ift andererjeit3 perjönlich unintereffiert und 
bat feine Studien, allerdings nur theoretiiche, auf dem Gebiete gemacht und traut 
jih danach doch ein Urteil zu. Von einzelnen anderen Seiten wird jett doc 
auch ähnlich geurteilt. Auch hier beziehe ich mich für einige Punkte wieder auf 
die Schrift von Lindenberg, auch auf praftiice Beftrebungen von — Praktikern, 
die 3. B. von Frankfurt a. Main aus für die Ausbildung eines eigentlichen De- 
poſitenbankweſens ausgegangen, aber ohne Erfolg geblieben find. Auch die 
Arbeit Neumann=Hofer8 über Depofitenbanfen mag weiter genannt werden. 

Bei den, was m. E. zu gejchehen hat, handelt es jich allerdings in eriter 
Linie um den Schuß gewiſſer privater fapitaliftiiher Intereſſen, auch nament: 
lich joldher von mittleren und Eleinen Kapitaliften, wie in der Brandbrieffrage, 
zum Teil au im Depofitengeichäft. Aber diefe Intereſſen haben, wie oben 
dargelegt, auch eine allgemeine volfswirtichaftlidde Bedeutung. Ferner ift 
die bejjere Sicherung von Treu und Glauben ein hohes volfswirtichaftliches 
Intereſſe allgemeinfter Art und darüber hinaus ein nationales joziales Intereſſe. 
Und endlih ift in der heutigen Organifation der Volkswirtſchaft, bei der er- 
reihten Entwidlung des Kredits, eine geiteigerte Sicherung der Leiſtungs— 
fähigkeit der Banken aller Art, auch der, wie ich zugebe, unentbehrlidhen 
Effektenbanten, eine volfswirtichaftliche und jelbft — wegen der wenigftens 
indirekten Bedeutung für die Arbeiterbeichäftigung — eine joziale und wegen 
der Rückwirkung aller Wirtjchaftsverhälmniffe auf den Staat, auf die Finanzen, 
auch eine politiiche Angelegenheit allererften Ranges. Wegen aller dieſer viel- 
feitigen Beziehungen fann man wohl Forderungen wie die folgenden aus dem 
Befihtspunft nationalen Gejamtinterejjes ftellen und reditfertigen. 

I. Zur Sicherung des Grundiages der Publizität, damit aus den 
Ausweiſen u. ſ. w. zuverläſſige Schlüffe auf die wirkliche Lage einer Bank gezogen 
werden können, was bisher nicht genügend verbürgt ift, find Beröffentlichungen 
der Jahresbilanz in weitgehender Spezialifierung, ferner, wenn auch in fnapperer 
Form, aber immer noch etwas mehr jpezialifiert, von mindeſtens Quartalsftatus, 
womöglich von Monatzjtatus nad amtlichen, von der NReichsauffichtsbehörde auf: 





256 Adolph Wagner, Bankbrüche und Banfkontrollen. 


geitellten Schematen, ebenſo die jährlichen Rechnungsabihlüfle und Geſchäfts— 
berichte nach joldhen Schematen zu veröffentlihen. Die Schemata find für die 
großen Hauptfategorieen der Banfen, insbejondere ſür Noten-, Depofiten-, Hypo— 
thefen- und aud für Effeftenbanfen in verjchiedener Weife nad) der Art der 
Aktiv- und Paſſivgeſchäfte diejer KHategorieen, ſtets mit möglichit weitgehender 
Spezialifierung, zu entwerfen. 


I. Zur wenigftens formalen, eventuell auch materiellen Kontrolle des 
gefamten, in Form von Aktien, Kommanditaftien » Gejellichaften, Genojfen- 
ichaften und öffentlichen Korporationsbanfen betriebenen Bankweſens im Deutichen 
Reich ift ein Reichs-Bankkontrollamt zu errichten. Diejes ift aus Sadı- 
verftändigen des Bankweſens, Praktikern und Theoretifern, und aus richterlichen 
und Berwaltungsbeamten zufammtenzufegen. Es hat die Aufgabe, die Banfen 
der „formalen” Stontrolle bezüglich der Nichtigkeit ihrer vorgeichriebenen Publi- 
fationen zu unterziehen und, joweit das Geſetz betreffende Beitimmungen ge- 
troffen hat, auch der „materiellen“ Kontrolle bezüglich der Innehaltung der gejet- 
lihen Vorichriften. Zu dem Behufe find alle vorgeichriebenen Publikationen der 
Banfen an das Amt einzuliefern. Das Amt hat das Recht, jederzeit die Bücher, 
Geihäftspapiere 2c. der Banken daraufhin zu prüfen, ob die Publikationen der 
Banken damit übereinitimmen, und die Pflicht, diefe Prüfung wenigftens einmal 
im Jahre unvorhergefehen vorzunehmen. Ueber den Befund ift öffentlich Bericht 
zu erſtatten. Fühlt ſich eine Banf dadurch beichwert, fo fteht ihr zu, an ein zur 
Prüfung folder Fälle einzurichtendes Schiedsgericht Berufung einzulegen, deſſen 
Enticheidung ebenfalld veröffentlicht wird. Soweit es fih um die materielle 
Kontrolle handelt, hat das Amt die Pflicht, Verftöße gegen geietliche Vorfchriften 
zu rügen, Abftellung zu verlangen, die Ausführung von geſetzwidrigen Maßregeln 
zu verbieten, unter Androhung von Strafen gegen die Gejellichaftsorgane. Aud) 
gegen die Entjcheidung des Amts im Gebiet der materiellen Kontrolle findet eine 
Berufung feitens der Bank an ein Schiedsgericht ſtatt. Die Enticheidung des 
Anıtes in der materiellen Kontrolle, gegen welche Feine Berufung eingelegt ift, 
ferner die Enticheidung des Schiedsgerichts wird auch hier amtlich veröffentlicht. 
Findet das Amt bei feiner formalen oder materiellen Kontrolle ftatutenmwidrige, 
wenngleich nicht ungeleglihe Borgänge, To hat es davon den Aufſichtsrat der 
Bank zu benachrichtigen. 


II An materiellen Vorſchriften über Einrichtung, Betrieb, Ge: 
ihäftsführung werden für alle Banken, in welcher Rechtsform fie auch be- 
jtehen, folgende im Wege der Reichsgeſetzgebung getroffen. 

I. Der oder die verjchiedenen Nejervefonds einer Bank find apart, in 
mündelficheren Wertpapieren anzulegen, von den übrigen Anlagen der Banf 
getrennt. Die Kontrolle des Bankamts eritredt fich hierauf mit. 


Adolph Wagner, Bankbrüche und Banklontrollen. 257 


2. Der Penfionsfonds einer Bank für ihre Beamten ift regelmäßig mit 
einer Minimalquote aus dem Jahresgewinn (Reinertrag, inkl. Hejervelegung), 3. B. 
von 2—5 Prozent, doch verjchieden nad) den Umftänden, gemäß den Beftimmungen 
des Banfamts, zu dotieren. Er ift einfchließlic der ihm durch freiwillige weitere 
Dotierungen zufließenden Beträge apart zu verwalten, ebenfalls in mündelficheren 
Werten anzulegen und gilt als nicht mehr zum Bermögen der Bank gehörig, 
bleibt daher bei Konkurſen u. ſ. w. der Bank für die fonftigen Bankgläubiger 
unfaßbar und für die Anſprüche der Beamten rejerviert. 


3. Die Gejellihaftsorgane, insbefondere Direktorium und Auf: 
ſichtsrat, unterliegen der befonderen Haftbarfeit für VBerlufte, welche die Bank 
nicht nur in Fällen des Betrugs, ſondern aud) der groben Fahrläffigkeit in Gejchäfts- 
führung und Kontrolle erleidet, namentlich bei einer den Grundſätzen einer guten 
Eaufmännischetechnifhen Bankleitung widerfprechenden Geichäftsführung, daher 
insbefondere auch bei gejeß- und ftatutenwidriger. Um den Auffichtsrats- 
mitgliedern wenigftens erfüllbare Aufgaben zu ftellen, wird die Zahl der Auf- 
fihtsratsämter, die eine Perſon gleichzeitig führen darf, auf ein Marimum be— 
jtimmt, 3. B. 6, aber nad) näherer Beftimmung des Kontrollamts. Zur befjeren 
Sicherung der zivilrechtlichen Haftbarfeit von Direktorium und Aufſichtsrat wird 
die ftatutenmäßige Tantiöme nur zur Hälfte bar ausgezahlt, die andere Hälfte 
zinslos 10 Jahre lang referviert, um daraus denjenigen Schaden einer Ban, für 
welche die genannten Perjonen als haftbar aus der Zeit ihrer Amtsführung ber 
anerfannt werden, zunächſt zu deden.!) Auch diefe Tantiömenreferve wird apart 
mündelficher angelegt und verwaltet. 


IV. Für die Dedung der Bankverbindlidhkeiten werden gejegliche 
Beltimmungen, verfhieden nad) den einzelnen Bankfategorieen, erlafjen. 
Für Noten- und für Hypothefenbanken ſei auf die bezügliche Gejetgebung 
bingewiejen, die freilih, zumal für die zweite Art der Banken, no Ber- 
ſchärfungen des Reichsgeſetzes bedürfen möchte, worauf hier jett nicht weiter 
eingegangen wird. Yür reine Depofitenbanfen, d. 5. für jolche, welche nicht 
die Spefulationsgejchäfte der Effeftenbanfen betreiben (Gründung von Aktien— 
gejellihaften, Emijfion neuer Wertpapiere u. f. w.) wird eine Minimalquote 
Bardedung, 3. B. "/; für ſtets fällige und binnen 8 Tagen fällige, Y/o für 
länger, bi3 zu 1 Monat fällige vorgefchrieben, fonft daneben nur Dedung mit 
Wechſeln, Lombards, feſt verzinslichen Effekten zugelaffen, alles nad näheren 
Borfchriften des Kontrollamts. Für die Effektenbanken, welche Depofiten- und 


I, Dies war bereits gejchrieben und gedrudt, als mir ähnliche Yorichläge von Profeflor 
G. Schanz in Würzburg aus der Preſſe befannt murden. Wir find ganz unabhängig von 
einander auf diefe Gedanken gelommen, freilich — alle beide „bloße Theoretiker“. Die „Praktiler“ 
haben es ja jo herrlich weit gebracht mit ihrer Fürſorge für die Bankintereſſen. 
17 


258 Adolph Wagner, Bankbrüche und Banffontrollen. 


verwandte Gejchäfte (Eontocorrentverfehr u. j. w.) betreiben, wird für ftet3 fällige 
Gelder eine Minimalquote Bardekung in höherem Betrage als bei reinen 
Depofitenbanten, 3. B. von !/, für ſtets und innerhalb 8 Tagen Fündbare, von 
1/, für länger, bis I Monat laufende, von !/;, für weiter bis 6 Monat fündbare, 
ferner vorgefchrieben, daß der Reſt diefer Gelder zur Hälfte ebenfalls nur in 
Wechjeln und Lombards und feft verzinslichen erſtklaſſigen Effekten, bloß zur 
anderen Hälfte in den allgemeinen Aftivgeichäften und Werten der Effeftenbanf 
mitangelegt werden darf. Als Bardedung gilt nur die in deutihem Währungs» 
geld beftehende, aljo Goldmünzen und einjtweilen auch Thaler, ferner Goldbarren 
und fremde Goldmünzen nad) dem Tarife der Reichsbank, Reichs- und andere 
deutfche Banknoten, Reichsfafjenicheine, ſtets fällige (Giro- u. ſ. w.) Guthaben bei 
der Reichsbank. Die „Effetenbankfähigkeit" der Wechjel und Lombards wird 
vom Sontrollamt feftgejett, ſei es generell, jei es für die einzelne Banf, fie braucht 
nicht jo ftreng wie die „Neichsbanf- und Notenbankfähigfeit” zu fein. 

Bon noch weiteren Einzelheiten und von der Erläuterung, Begründung und 
Rechtfertigung gegen zu erwartende Kritik und Angriffe wider dieſe Vorjchläge 
jehen wir, wie bemerft, ab. Mander „Praktiker“ wird die Vorſchläge für viel 
zu weitgehend halten und jie „wohl unter aller Kritik" finden, das macht mich 
nicht irre. Auch die bisherige Stellung und Funktion der Neichsbanf in Ueber: 
jpefulationgzeiten, wie der jüngft vergangenen, und in Kriſen, wie der jüngiten 
Bankkriſe und der ſich immer mehr ankündigenden induftriellen Kriſe, verdient 
einmal eine nähere Unterjuchung. ch habe auch bierbei einige Defiderata auf 
dem Herzen. Doch kann darauf jetst nicht eingegangen werden. 


© 


Deutſche Sprüche. 


ch laſſe mir die große Zeit nicht ſchelten; 

Was fie uns raubt, wir werden es vericdımerzen; 
Sie rüttelt mäctig an der Menicheit Herzen 
Und dient der Wahrheit, — darum wird fie gelten! 


o 
An meinem Volke werd’ idı nie verzagen, 
Denn Wahrheitsdrang bleibt feines Weiens Kern; 


Es wird, wie einit Chriltophorus den Herrn, 
Der Menkhheit Kleinod durdı die Zeitflut tragen. 


Yulius kohmeyer, 





Meine Kämpfe in Ostafrika. - 


Don 
Hermann von Wissmann. 


II. 
Beitrafung der Wawemba-Sklavenräuber. 
9* Jahre 1893 näherte ich mich, vom Nyaſſa kommend, dem Tanganika-See. 

Noch war mir von meiner zweiten Durchquerung her der Weg bekannt, noch 
erinnerte ich mich, wie ich damals die Dörfer verlaſſen oder die Eingeborenen zur 
Flucht bereit antraf, da gerade der alljährlich wiederkehrende große Raubzug 
der Wamwemba an der Zeit war und die ganze Gegend bedrohte. Seit damals 
waren jene Länder jchon jehr entvölfert. Der Grund lag in den bis zum Jahre 
1894 fortgejetten Zügen der Wawemba, um Sklaven zu rauben und diefe an 
die Araber, die am Tanganika auf engliichem Gebiete angefiedelt find, zu ver- 
bandeln. Die Wawemba ſelbſt wohnen auf engliichem Gebiete. 

Bon den Leuten einer mir entgegenfommenden Kleinen Karawane vernahm 
ih, dat auc die am Ufer des Tanganifa gelegenen Eatholifchen Mifftonen von 
dem Raubzug der Wawemba bedroht jeien und jich ſchon feit einiger Zeit in der 
feft geichloffenen Boma zur Berteidigung bereit bielten. 

Dieje Nahricht veranlagte mich, meinen Marſch zu beichleunigen, um bald- 
möglichit nach der Gegend zu gelangen, in der das Naubgefindel jein Wejen trieb. 
Bon Stunde zu Stunde gingen mir jcheinbar übertriebenere Nachrichten zu über 
die Zahl der Räuber, über ihre Erfolge, über die Maſſen von Sklaven und Vieh, 
die fich Ihon in ihren Händen befänden. 

Eines Abends kam ich in ein ganz neues, gut gebautes, aber vollftändia 
verlajjenes Dorf, und da es fchon jpät am Abend war, mußte ich mid) hier für 
die Naht einrichten. Noch vor Dunkelſein erjchienen zögernd zahlreiche Leute, 
die Bewohner des Dorfes, die mit ihren Familien in den umliegenden Dickungen 
und Sümpfen ſich verftedt gehalten hatten, da fie jeden Augenblid den Angriff 
der Wamwernba bejorgten, die auch bei ihnen für unüberwindlich galten. „Die 
Wamwenba,” jo erzählten mir die Leute, „haben viele Gewehre; die wenigſten 
gehören ihnen jelbit, fie haben folche in aroßer Zahl von den Arabern am Nyaſſa 
zu ihrer großen Sflavenjagd geliehen erhalten." 

Bis jett hatte jich nichts von den Wamwenba gezeigt, und jo marjchierte id) 
denn am nächſten Morgen bis zu einem Eleinen Dorfe weiter, in dem id; mittags 

17° 


260 Herman von Wißmann, Beitrafung ber Wawemba-Sklavenräuber. 


eintraf. Da auch dort nicht3 von den Räubern fichtbar wurde, die Gegend aber 
als jehr reih an Elefanten befannt war — hatten wir doch auf denn Mariche 
nad) eben jenem Eleinen Dorfe viele Fährten gefunden —, jo gedachte ich am 
nächſten Morgen hier Ruhe zu machen, nähere Nadrichten über die Räuber durch 
die von mir ausgefandten Eingeborenen einzuziehen und bis zum Eintreffen diefer 
eine Elefantenjagd zu unternehmen. 

Ich hatte nur ſechzig Soldaten bei mir, von denen fünfundzwanzig Subdanefen, 
zwanzig Zulus und fünfzehn ausgefuchte Suahelileute waren; alles gute, verläß: 
liche, jeit faft einem Jahre einererzierte Truppen unter dem Kommando von zwei 
Offizieren, dem Dr. Bumiller, meinem Better und zwei Unteroffizieren. Aud) 
ein kleines Geihüg und ein Maxim-Maſchinengewehr führte ich bei mir. 

Der Sicherheit wegen hatte ich rings vor den Palliſaden Poſten aufgeftellt, 
wie auch auf einem großen Termitenhügel, der inmitten des Dorfes fich erhob 
und oben ca. drei Quadratmeter Flähe bot. Das Dorf war etwa zu drei 
Bierteln feiner Umgebung von einem zwei Meter hoben Ballifadenring um— 
ichlofjen, vor dem ein bis zu drei Mieter tiefer Spitgraben ausgehoben war, 
an einer Stelle war fogar ein baftionartiger Aufbau aufgeführt. Das nicht bewehrte 
Viertel des Dorfes ftieß an einen fumpfigen Urwald, der aus fo weichem Boden 
aufwuchs, daß er von außen her wohl als unpaffierbar gelten konnte. Die Ein- 
geborenen hatten ſich jedoch mittels zum Teil vom Sumpfboden bededten Bäumen 
und Snüppeldämmen einen Weg ins Innere diefes Urmaldes angelegt. Diejer 
Damm fonnte auf den erjten Augenblid von niemandem als Weg erfannt 
werden, da er zum größten Teil von Wafjerlahen und Sumpf überdedt war; 
nur die Eingeborenen wußten fih auf ihm zurecht zu finden. Da fie fi aljo 
jicher fühlten, Hatten ſie das Dorf nicht verlafjen, fich jedoch, wie id) daran er: 
kannte, daß fie alles Mitnehinbare und zum Wegſchleppen Geeignete zufammen- 
geitellt, offenbar vorgenommen, einem Angriff der Wawemba nicht Widerftand zu 
leiften, fondern fich bei ihrem erften Anfturm in ihre Schlupfwinfel zu retten. 

Wir Europäer ſaßen bei Eintritt der Dunkelheit um unfere Kiften herum 
und nahmen unſer Abendbrot ein, als wir von einer Salve aufgejchredt wurden, 
deren Kugeln über uns binwegpfiffen. Ein müftes Geſchrei von draußen vor 
dem Dorfe jchien einen Leberfall der Wawemba einleiten zu jollen. 

Meine Poſten feuerten ihre Gemwehre fofort in jener Richtung ab, aus der 
die Salve gekommen war, und der Homift blies das Signal zum Befeßen 
der Ummwallung. Die Soldaten rannten an die Pallifaden, draußen jedoch blieb 
nun alles ftill. Die unerwartet jchnellen Antwortihüffe und das Hornfignal 
hatten wohl einen Trupp der Wawemba-Räuber, der verjuchen follte, das Dorf 
zu überrafchen, darüber belehrt, daß ein joldyes Unternehmen doch fo leicht nicht 
ins Werf zu fegen wäre. Ob die Wawemba von meiner Anwejenheit Nachricht 
hatten, wußte ich nicht, bezweifle es jedoch. 


Hermann von Wißmann, Beitrafung der Wamwenba-Sflavenräuber. Di 


Natürlich wurde die für den nächſten Morgen geplante Jagd aufgegeben, 
denn e3 war anzunehmen, daß am nädften Morgen die ganze Macht der 
Wawemba vor dem Dorfe ericheinen und den Angriff wagen würde. 

Ach ließ die Eingeborenen antreten, mufterte ihre Waffen und verteilte 
die Truppen zur Beſetzung der Boma. Einige der Leute ſchickte ich in den 
Sumpfwald, um möglichjt raſch einen etwaigen Verſuch des Teindes, durch den 
Wald in das Dorf zu dringen, melden zu Eönnen. 

Was nod an den Pallifaden und im Borterrain zu befjern war, wurde beim 
eriten Morgenlicht ausgebeifert, im Beſondern ließ ich noch ſchnell einige Büſche dicht 
vor dem Dorfe niederichlagen, um das Schußfeld zu erweitern. 

Der Feind ließ nicht lange auf fi warten. Kaum eine Stunde nad) 
Sonnenaufgang erichienen plößlich auf der in direfter Richtung wohl nur eine 
halbe deutiche Meile entfernten Höhe die Spiten einer langen Karawane und 
an ihrer tete eine blau-mweiß-rothe Flagge, die franzöfiiche Trifolore. 

Nach allen bisher eingezogenen Meldungen, bei denen ich die afrikanische 
Uebertreibung abzurechnen hatte, mußten die Wawemba-Krieger nad Taufenden 
zählen, und da da3 ganze Gelände rings umher nicht geradezu ein offenes 
genannt werden Eonnte, jo bejchloß ich, mit meiner Eleinen Truppe erft abzu— 
warten, ob die Wawemba angreifen würden, bevor ich gegen die Näuber auszog. 

Der Zug des Feindes im Indianermarſch, wie es afrikaniſche Wege gebieten, fette 
jich über den gegenüberliegenden Hügelrüden ununterbrochen fort. Der Feind mußte 
ſich — da wir von dem hochgelegenen Dorf die Höhen und die ganze fumpfige 
Niederung überjehen Eonnten — unter unfern Augen, um den Sumpf herum, 
nach dem Dorf hHinwenden, und fo Eonnten wir faft eine Stunde lang Mann 
hinter Mann über die Höhen heranfommen fehen und eine ungefähre Zählung 
des Feindes vornehmen. Es waren, als die vorderiten Leute des Zuges bereits auf 
einer Anhöhe ca. einhundertfünfzig Meter vor dem Dorfe erichienen, jchon über 
5000 Menichen von uns gezählt worden, die mit mindeftens 30 franzöfifchen 
Flaggen, deren Uriprung uns erit jpäter erflärlich wurde, heranzogen. Wir 
hatten alſo gegen frankreich zu fechten, eine kleine Fortſetzung von 1870/71. 

In dem vorderjten Zuge marichierten offenbar Häuptlinge und hervorragende 
Krieger, denn jie zeigten ſich in ſchöne bunte Stoffe gekleidet, waren kriegeriſch 
geihmüdkt und führten Gewehre. Erit Später kamen zu diefen, die fid) jetzt ge- 
mächlich und ohne jede Scheu um das Dorf herum poftierten, Leute mit Speeren 
und Bogen. Bei den Borderiten hatten wir auch die Träger mächtiger afrika— 
niicher Pauken gewahrt, die zu dem Sriegsgefchrei und den Zurufen laut ge: 
ſchlagen wurden. 

Diefen Maſſen des Feindes gegenüber erichien es am ausfichtsvolliten, beim 
Angriff in die dicht andringenden Mengen zu feuern, überwältigende Verluſte 
herbeizuführen und dann, dieſe benugend, dem zurüdprallenden Feinde nachzu— 





262 Hermann von Wißmann, Beitrafung der Wamwemba-Sklavenräuber. 


dringen und ihn zu werfen, jodaß auch die weiter rüdwärts Kommenden von 
feiner Flucht noch mitgeriffen wurden, denn noch immer hatte die lange, über die 
Höhe fi; heranmälzende Karamane nicht ihr Ende erreiht. Wir fahen unter 
ihnen aber ſchon Trupps von Leuten, die fichtlich getrieben wurden, alfo erbeutete 
Sklaven waren, und Rindvieh in kleinen Trupps. 

Ich erftieg, um vor allen Dingen noch den Ausbrud, des Gefechtes aufzu- 
halten und dem Feinde Zeit zu laſſen, ji) zu jammeln, den Termitenhaufen, 
auf dem fi das Heine Gejhüß und das maxim gun befanden, die ich mit 
Tüchern hatte zudeden laſſen, und rief in kisuaheli dem frei ftehenden Trupp 
der Häuptlinge oder Führer die Frage zu, was ihre Anfammlung und die Salve 
vom vorhergehenden Abend zu bedeuten habe? 

Ein befonderd vornehm gekleideter und herausgepußter Krieger nahm das 
Zwiegefpräd in gutem kisuaheli auf. Gr erklärte, wir jollten das Dorf ver: 
laffen, fie, die Wamwemba, beabfichtigten nicht, Krieg mit den Weißen zu führen, 
fie wollten nur das Dorf beitrafen für von den Bewohnern erfahrene Unver: 
Ichämtheiten und Mangel an Gehorſam, vor allem wegen ausbleibenden Tri: 
butes; fie würden uns jedoch mit unfern Leuten ruhig abziehen lafjen. 

Ich hatte meinen Offizieren befohlen, fich nicht zu zeigen, ſodaß vorläufig 
" der Feind nicht erkennen konnte, daß außer mir noch andere Europäer in ber 
Boma anwejend waren. Auch jtanden alle meine Leute wohlgededt hinter den 
Pallifaden und ſahen jchußfertig durch die, zum Teil noch an demjelben Morgen 
zurecht geichlagenen Schießſcharten. 

Während des Geſpräches, das ich mit Abficht in die Länge zog, fingen die 
Wawemba an, jich ringsumhber auf den mit hohem Gras bewachſenen Höhen 
zum Gefechte einzurichten. Sie legten ihre Gewehre in Anfchlag, jchoben die 
Grasbüjchel auseinander, machten fich von aufgetürmter Erde Unterlagen für 
das Auflegen ihrer Gewehre zurecht und begannen bereits Zielübungen, natürlic) 
auf den einzig ſichtbaren Punkt im ganzen Dorfe, auf mich felbft, der ich mich 
noch immer auf dem die Pallifaden wenig überragenden Termitenbau befand. 
Die Lage als YZielicheibe für fo viele Waffen, die, wenn fie aud) nicht von her- 
vorragenden Schüßen geführt wurden, doch an Zahl von Sekunde zu Sekunde 
zunahmen, wurde mir unheimlich. 

Der Feind hatte ſich an einigen Stellen ſchon zu dichten Maffen gelammelt, 
die, in höchftem Grade erregt, mit heftigen Gebärden unter einander jprachen 
und ſich für den Kampf erhißten. 

Einige der frechſten Wawemba tanzten fogar vor den Pallifaden, indem jie 
die Gewehre ſchwangen und dabei bis dicht an den Rand des Grabens heran 
famen, wobei fie uns eine Geſte der höchſten Verachtung madten, nad) der fie 
dann wieder in ihre Reihen zurüdiprangen. Dieje kühnen Krieger bielten auch 
Neden vor den Ballifaden, indem fie verficherten, fie würden es audy mit den 


Hermann von Wißmann, Beitrafung der Wamwenba-Sklavenräuber. 263 


Weiten aufnehmen, ein weißer Kopf über ihren Pallifaden würde ſich ebenſo 
ihön ausnehmen wie ein ſchwarzer, und dergleichen mehr. 

Ich hatte den Häuptlingen bereits gejagt, daß wir unfere Schwarzen, bie, 
wie fie jehen mußten, unter der deutjchen Flagge wohnten — mir hatten dieje 
natürlich hoch über dem Dorfe gehißt — nicht verlafjen würden, daß wir mit 
ihnen fechten würden, wenn fie nicht davon abftänden, das Dörf zu berennen. 
Allmählih wurden die Antworten der Häuptlinge immer höhniicher, ſowie auch das 
Benehmen der übrigen Wawemba immer Eriegeriicher. Dichte Gruppen des Feindes 
ihoben fich Schon hin und her und die heranrüdende Mafje wurde nach und nad 
jo groß, daß bei einem plößlichen Angriffe zu befürchten war, der Feind könnte 
im Anlauf feine VBerlufte gar nicht bemerken und dann doch vielleicht im An: 
ſturm in das Dorf gelangen. Dann aber wäre inmitten des Häuſergewühls die 
Lage leicht Eritifch geworden, denn in foldem Nahefampfe wären meine wenigen 
Leute von der großen Uebermacht erdrüdt worden. 

Als, wie es fchien, die leßten Leute der langen Karawane über die 
Höhe heranzogen — den Schluß bildete eine große Nindviehherde — glaubte 
ih, daß es nun Zeit, ja die höchſte Zeit wäre, Ernft zu machen. Auch 
meine Leute wurden unruhig, und ich ſah, wie fie eifrig Zielübungen madıten 
und verlangten, ihr Feuer endlich zu eröffnen. Ach rief meinen Offizieren und 
Begleitern zu, jie follten ihre Leute jet den Feind Icharf aufs Korn nehmen und 
auf den eriten Schuß von mir das Feuer beginnen laſſen. 

Es fchien bereits, als wollte von draußen ein Haufen des Fyeindes ohne 
bejonderen Befehl der Häuptlinge auf die Boma zuftürmen. Die Führer Hatten 
offenbar, durch mein Benehmen eingefhüchtert, nur noch gezögert, den Befehl 
zum Angriff zu erteilen. 

Ich hatte mich während der Verhandlungen mit ihnen auf das bededte Geſchütz 
gefett, hatte mir während des Gejpräches meine fleine Pfeife angezündet und mich 
öfter lachend mit meinen Genojjen, die der Feind ja nicht ſehen fonnte, unterhalten. 

Jetzt rief ich den Däuptlingen, die uns erklärt hatten, da wir das Dorf nicht 
verlajfen wollten, müßten wir mit den Eingeborenen fterben, die Worte zu: 
„Nun gut; wenn ihr wollt, dann Krieg!“ 

Ich zog in diefem Augenblid das Tuch von dem kleinen Geſchütz zurüd, 
richtete den mit einer Kleinen Granate geladenen Lauf in die Mitte eines Haufens, 
drüdte ab und jaufte gleichzeitig mit dem ganzen Geſchütz ungefähr fünf Mieter 
weit von dem Termitenhaufen herab, wahrscheinlich zu meinem großen Glüd, denn 
im Moment des Losſchießens antworteten viele hundert Gewehre rings umher, und 
von diefen hätten mic) einige Geichofje treffen müfjen. 

Der Aufftellungsplag des Geichütes war für den Rüdlauf nicht groß genug 
gewejen; es war über den Rand zurüdgerollt und hatte mich, der ich, um abzu= 
feuern, auf der Lafette jigen mußte, mit hinabgenommen. 





264 Hermann von Wißmann, Beitrafung der Wamemba-Sklavenräuber. 


Auf das vermehrte Feuer von draußen antwortete jet Furze Zeit hindurd) 
ein Schnellfeuer meiner Leute, das auf diefe geringe Entfernung furdtbar 
wirken mußte. Aber noch hatten die Wawemba in eigener Gefecht3aufregung 
unfere Stärke nicht erkannt. Sie fchoben, ſobald unjer Feuer ausiegte, fich in 
dichterer Mafje auf die Höhe, hinter der, für uns unfichtbar, die Hauptmacht des 
Feindes fich jest geſammelt hatte. 

Wir gaben in drei Abteilungen — der Sudaneſenzug, der Zuluzug 
und der Suahelizug — Salven durch die Palliſaden ab. 

Ich war wieder zum Ausipähen auf denTermitenbau hinaufgekrodhen, jedochnur 
fo weit, daß ich durch einen Spalt in jeiner Krone bindurchlehen fonnte. Auf unfere 
zweite Salve entftand ein Wanfen des Feindes, auf die dritte ftürzten die Majjen 
der Wawemba rückwärts. Nun rief ich Bumiller und meinem Better zu: „Hin— 
aus jet, Salven und Hurrah!" 

Wie die Katzen waren meine Zulu und Suaheli nad) außen gedrungen, und 
hatten fih bier im Nu in Neihen aufgeftellt. Der Feind ftugte. In Marich- 
marſch gingen nun meine Führer mit ihren Trupps bis an den Rand der 
Höhe vor, jo daß fie jeßt die durcheinander wogenden und zum Teil auch wieder 
vorwärts drängenden Wawemba-Maſſen auf nur ungefähr fünfzig Schritte vor 
fih hatten. Auf Kommando gingen die beiden Züge nieder aufs nie, und 
die erite Salve praffelte in den wanfenden Feindeshaufen, eine zweite folgte, 
und nun wurde — das Seitengewehr war ſchon im Vorwärtslaufen aufgepflanzt 
worden — von unlern Trupps mit „Hurrah!“ Hinter den fich jelbft nieder- 
rennenden und Eopflos flüchtenden Wawemba hergeſetzt. 

Ich Ichidte den beiden Herren Befehl, den Feind weiter zu verfolgen und 
ihm möglichit viele Sklaven abzunehmen, und ging, da nun nicht nur von jenen 
Stellen, wo die Wawemba am dichteften geftanden hatten, auf die der Angriff 
meiner Leute erfolgt war, fondern, da ringsumber der Feind geflohen war, mit 
meinen Triartern, den Sudanefen, auch hinaus, um den beiden, den Feind heftig 
verfolgenden Zügen zu folgen. 

Eine große Anzahl von Menichen waren, merfwürdigerweile meilt Frauen, 
Ichon während des Anfangs des Gefechte mit erhobenen Händen winkend, mitten 
aus den Wawemba heraus, auf das Dorf zugelaufen. Es waren gefangene 
Sklaven. Leider waren einige, die den Moment für günftig bielten, den 
Wawemba zu entfliehen, im Getümmel des Gefechtes von uns angeſchoſſen 
worden. 

Ueber die weite jumpfige Wieſe bin ſahen wir die Leute nach jeder 
Richtung hin entfliehen, oder ji in dem hohen Sumpfgras veriteden. 

Bevor id) weiter zur Verfolgung überging, ichidte ich eine Granate über einen 
noc immer in der Senkung Jichtbaren Daufen des Feindes und bemerkte bald den 
Erfolg des Niederſauſens oder Krepierens unſeres Geſchoſſes: eine jchnelle Auf— 


Hermann von Wihmann, Beitrafung der Wamemba-Sflavenräuber. 265 


löjung des Zuges folgte, ein Auseinanderrennen des Viehs und ein Rüdwärts 
rennen der mitgeführten Sklaven, 

Ich marfchierte nun langjam und geſchloſſen den verfulgenden Zügen nad) 
und entließ die mir entgegen wogenden Gefangenen nad) ihrer Heimat. 

Noch nicht zehn Minuten, nachdem der Angriff abgefchlagen worden war, 
famen große Haufen Bewaffneter im Lauffchritt heran, von denen meine Leute 
anfangs glaubten, e3 jeien Feinde, und die Wawemba hätten uns geſchickt in 
einen Dinterhalt gelodt. Ich erkannte jedodh an den Gebärden des an der 
Spite her laufenden Führers, daß ed Freunde waren. Es waren Leute aus 
den nächiten Dörfern, die ſich bewaffnet in einem nahe gelegenen Berftede auf: 
gehalten hatten und num baten, auch mitthun zu können. Sie waren mir jet 
die erwünfchtefte Truppe, denn in ihrem eigenen Yande Eonnten fie am beften die 
weitere Berfolgung der Wawemba aufnehmen und ihnen den Reit der Sklaven 
und des Viehs abjagen. 

Auch die Truppe, die ich ſchon vorher aus den Bewohnern anderer Dörfer 
zufammengeftellt hatte, fette ich auf die Fährte. Meine Truppe war für die 
Verfolgung unbelajteter Eingeborener in ihrem Lande wenig geeignet. 

Die fliehenden Wamwenba hatten, wenigjtens zum größten Teil, nicht die 
Wege innegehalten, jondern ſich in die Wälder verftreut; waren vollfommen zer: 
iprengt und liefen in Eleinen Trupps ihrer Heimat zu. 

Als ih nah) Monatsfriit zu derjelben Stelle zurüdtam, erfuhr ich von den 
Eingeborenen und von den Engländern der Stationen am Südende des Tanga- 
nifa, daß die Wawemba die Strede von dent Gefechtsorte bis nach dem Orte 
ihres Häuptlings, des diden, unförmlich fetten Kiti mkurru, eine Strede von 
fünf gewöhnlichen Tagemärfchen, in noch nicht 48 Stunden zurüdgelegt hätten. 

Der dide Kiti mkurru joll tagsüber im dichteften Sumpf verftedt geblieben 
und erjt nach vier Tagen zu Haufe eingetroffen jein. Er hatte den Seinen ſchon 
als verloren gegolten. 

Bon Sklaven follten die Wawemba jo gut wie nicht3 heimgebracht haben, 
ebenjowenig von Vieh, auc viele Gewehre hatten fie verloren. 

An der Berfolgung hatten jich bald nocd andere, in der Nähe wohnende 
Gingeborene beteiligt und ſich bei diefer Gelegenheit endlich einmal für die jeit 
Jahrzehnten jährlich wiederkehrenden Hebjagden der wüſten Sflavenräuber gerädht- 

Diefe Abwehr der Wamwenba fand im Jahre 1893 ftatt und bis zum 
heutigen Tage haben die Räuber die Lehre nicht vergejfen, haben fie noch nicht 
einmal wieder die Grenze in feindlicher Abjicht überjchritten. 

Die katholiſchen Miſſionen glaubten damals, die Wamwenba würden, wenn 
ich wieder abmarfchiert wäre, zurüdfehren und fich für die von uns erhaltene 
Belehrung rächen, und baten mic daher um Waffen. Ach war der Meinung. 
daß ihre Beforgnis unbegründet wäre, lieh ihnen jedod, da id; zur „Zeit 


266 Hermann von Wirmann, Beitrafung der Wamenba-Sklavenräuber. 


Waffen entbehren fonnte, das Eleine Gejhüß und eine- Anzahl von Gewehren, 
lo daß jie in ihren jehr gut befeftigten Stationen vollkommen ficher waren. 

Es iſt nod) übrig, zu erzählen, wie es kam, daß uns die Wamwemba unter 
einer Anzahl franzöfiicher Flaggen angriffen. Im Jahre 1884 war der franzö- 
ſiſche Sciffsleutnant Giraut durd das Land der Wawemba gekommen und 
hatte, wie man mir erzählte, dem damaligen Kiti mfurru, dem Vater des jetigen, 
eine ganze Laft franzöfiicher Flaggen geſchenkt. Es war mir recht interefjant, zu 
erfahren, daß Franzoſen jchon damals mit Verteilung von Flaggen in Afrika 
begannen. Man weiß, daß wir erft im Jahre 1885 anfingen, Verträge in Afrika 
zu jchliegen, und daß man uns damals allgemein vorwarf, daß wir es geweien 
wären, die mit der Deßjagd zur Erwerbung von Kolonieen in Afrita begonnen hätten. 

Wir follten aus diefer Erfahrung übrigens die Lehre ziehen, daß man, wie 
es von Franzoſen, Engländern und anderen geichieht, jede Gelegenheit benuken 
joll, dem Vaterlande Dienfte zu erweiſen. Es herrſcht bei uns leider immer 
noch die Anficht, daß ich nicht direft von der Negierung ausgehende Unter: 
nehmungen durchaus nicht in Politit zu mijchen hätten, und diefe Anficht bat 
auch in Dftafrifa Veranlaſſung zu unerfreulihen Auseinanderjegungen zwiſchen 
der Negierung und privaten Expeditionen gegeben. Heute ift man bei uns jchon 
jo weit gefommen, daß man private Erpeditionen ohne Begleitung von Offizieren 
gar nicht mehr in das Innere lajjen möchte. Diele Maßregel geht viel zu weit; 
ähnliches geichieht in Feiner anderen Kolonie und dieje allzugroge Zurüdbhaltung 
entipringt zum guten Teil aud) noch jenem altpreußiichen Bureaufratismus, der 
für die Kolonieen am allerwenigften paßt. Man hält es beinahe für unerhört, 
daß ein MNeifender zum Schutze jeiner Karawane fich ſelbſt hilft, ftatt nachträglich 
die Hilfe der Regierung anzufprechen. Aber viel beſſer ift es, wenn fich der 
Europäer, wenn ſich der Deutſche in feinen Kolonieen, wo er aud) fei, jo ſchnell 
als möglich ſelber Hilfe Schafft. Solche energiihe Abwehr kann nur dazu bei- 
tragen, den Reſpekt vor uns zu mehren. Sollte wirklich einmal bei folcher 
Gelegenheit etwas zu jchnell gehandelt werden oder energijcher, als es vielleicht 
durchaus zwedentiprechend war, jo ift ein folder Uebergriff im Berhältmis zu 
dem Gewinn des damit erzielten Reſpekts bei den feindlichen Eingeborenen nicht 
allzu hoch anzuichlagen. 





Deuticland und die großen europällhen Mächte. 
Don 
Theodor Schiemann. 
ll. 


De Politik Frankreichs, ſo wie ſie uns heute entgegentritt, beruht vor allem auf dem 
ruſſiſchen Bündnis. In ihrem Entſtehen gegen die Tripelallianz gerichtet, iſt ſie be— 
müht, das deutſch-öſterreich-ungariſch-italieniſche Bündnis aufzulöfen, fie pflegt in weiterer 
Peripeftive den Gedanken der Revandje für 1870 und fucht nad) der politischen Kombi: 
nation, die ihr ohne allzu großes eigenes Rilifo den Weg dazu bahnen könnte. 

Die franzöftiiche Politik, die fi) überhaupt auf der gefährliden Bahn der Refri- 
minationen bewegt, hat aber noch eine andere Revanche zu nehmen, für Eghpten und 
Faſchoda an England. Ahr Problem liegt daher jo, daß fie die politifche Lage finden 
muß, die es ihr möglich macht, mit diefen Gegnern Ber Einbildung fo abzurechnen, daß 
fie fich nicht zuſammenſchließen fünnen. 

Bekanntlich hat es im Nahre 1896, nad) dem Jameſon-Einfall und dem Telegramm 
Kaiſer Wilhelms an den Präfidenten Krüger, einen Augenblid gegeben, da Frankreich 
jeinem Ziele nahe zu jtehen meinte. Dieſer Augenblit mußte aber ungenutzt vorüber 
gehen, da der Anlaß ein zu nichtiger gewejen wäre. lm einen Glückwunſch führt man 
feine Kriege. ES giebt aber zwei Momente, die diefe in der ntention gegen uns feind- 
lihe Richtung weſentlich abſchwächen: Eben jenes rujfiiche Bündnis, und die auf Selbit- 
erhaltung gerichteten Inſtinkte derjenigen Gruppen, welche die Regierung Frankreichs 
bilden. 

Das ruffifch-frangöfiihe Bündnis trägt für Rußland ohne Zweifel in Europa den 
Gharafter einer Defenfivallianz und hat Franfreid in die eigentümliche Yage verjekt, 
aud) jeinem Alliierten gegenüber an der Fiktion feitzuhalten, daß es wejentlich friedlid) 
aefinnt jei. Die reservatio mentalis dabei ift wohl, daß in einem Frankreich günftigen 
Augenblid die Schuld an dem Stonflikt fi) werde auf Deutjchland wälzen laſſen, und 
daß dann der Drud der öffentlichen Meinung auf die ruſſiſche Regierung ein jo ftarfer 
jein werde, daß fie, wohl oder übel, mit ganzer Macht zu Frankreichs Gunften werde 
eingreifen müſſen. Wie weit diefe Redynung, man darf nicht jagen — richtig — jondern 
wahrjcheinlich ijt, muß fi aus der Betrachtung der ruſſiſchen Bolitif ergeben. 

In Frankreich glaubt man an die Richtigkeit der Spekulation und es iſt wohl 
denkbar, daß auch in den leitenden ruflischen Streifen die Möglichkeit einer jolchen Wen 
dung nicht ohne Beforgnis ins Auge gefaßt wird. Die bis heute wirkſame Aſſekuranz 
gegen eine Ueberrumpelung liegt aber, wie ich ſchon hervorhob, in dem Inſtinkt der 
Selbfterhaltung, der jede franzöfiiche Regierung einen deutjchen Krieg fürchten läßt. 
Denn mie immer der Ausgang wäre, die Welle der erregten öffentlichen Meinung des 


268 Theodor Schiemann, Deutichland und die großen europäiſchen Mächte. 


Yandes, oder vielmehr der dann entjcheidenden unruhigen hauptftädtiichen Bevölkerung, 
hebt unter allen Umftänden neue Männer empor, an die Stelle des Bekannten, zu Be: 
rechnenden, tritt dann das Unbekannte und mwahrfcheinlic das Unerwünſchteſte: irgend 
eine Form der Monarchie oder der militärischen Diktatur. Kombinieren wir dieſe für 
und wider den Frieden wirkenden Grundelemente, jo ergiebt ſich ein Facit, das zur 
Praris einer Friedenspolitif führt, mit der wir uns zufrieden geben fünnen. Die innere 
Unmahrbeit, die dem ganzen Spftem zu Grunde liegt, kann uns dabei gleichgiltig fein, es 
fommt und auf die Refultante an. 

Nun läßt fich freilich nicht verkennen, daß der ftete Kompromiß mit jo divergierenden 
Tendenzen auch feine beunrubigenden und läftigen Seiten hat. Das Buhlen um die 
Freundſchaft der radikalen italienischen Parteien, neuerdings die Verbrüderung mit dem 
bejonderen öfterreichiichen Banflavismus und mit den deutjch-feindlichen Elementen in 
Ungarn, können und ebenjomwenig gleichgiltig jein, wie den dadurch bedrohten Dynajtieen 
in Oefterreich-Ungarn und in Stalien. Aber die Antrigue ift zum Glüf an den Tag 
getreten, bevor fie ausgereift war, und jo läßt fich hoffen, daß ihr rechtzeitig die Lebens— 
adern unterbunden werden fünnen. 

Zu einem jchmerzliden Verzicht ift jedoch die franzöſiſche Politik durch die ruſſiſche 
Alltanz genötigt worden. Es giebt heute feine franzöfiiche Drientpolitif im alten Sinne 
mehr. Frankreich muß in Syrien, Baläftina, Kleinafien dem ruffischen Freunde Plat 
machen und das hat zu einem augenfälligen Rückgang des franzöfiihen und des fatho- 
lichen Einfluffes auf diefem Boden geführt. Auch der jüngfte Verſuch des Botichafters 
Conſtans, der Pforte eine empfindliche Demütigung beizubringen, fcheint an der Zurück— 
haltung Rußlands jcheitern zu müffen. Was Rußland dagegen geboten hat: freie Hand 
in Afrika und im ſüdöſtlichen Aften, ift, recht betrachtet, nur die Beftätigung eines Wirkungs— 
feldes, das die Bismardische Politif den Franzoſen eröffnet hat. Die Ermutigung, die 
der große Kanzler dem Minifter Jules Ferry zu teil werden ließ, führte 1883/84 zur 
Eroberung von Tonkin, 1885 folgte die Unterwerfung von Anam und jeither dringt 
Frankreich Stetig gegen Siam und nah China hinein vor. Parallel damit ging das 
Rordringen der Franzoſen in Afrika, die Ausdehnung ſüdlich von Algier, die bis zur 
Stunde fortdauert und ernitlich die Selbſtändigkeit Marokkos bedroht; jeit dem Bertrage 
von Bardo (Juni 1883) folgte die faktiiche Beherrichung von Tunis, ſeit 1880 das all- 
mähliche Aufſaugen des Senegalgebietes und des weltlichen Sudans, Guineas und 
Dahomes, Gabuns, des jogenannten frangzöfiichen Ktongos, Ubanghis und des Bajlins des 
Tſchadſees. Nehmen wir nod die Feitjegung der Franzoſen in Madagaskar hinzu, die 
gleichfalls durch Aules Ferry durchgeführt wurde, und im Februar 1897 in die förmliche 
Annerion der Inſel ausmiündete, jo haben wir damit den ungeheuren Umfang des 
franzöſiſchen Stolonialveichs, wie es in den legten 18 Jahren mit unerhörter Schnelligkeit 
jich aufgebaut hat, kennen gelernt. Sind die. erften Anfänge deuticher Ermutigung zu 
danfen und hat auch jpäter Deutichland den Franzoſen fein Hindernis in den Weg 
gelegt und jeden drohenden Grenzkonflikt gütli ausgeglichen, jo hat Rußland in den 
Ipäteren Stadien den Franzoſen diplomatiſch beigeitanden, ohne freilich den Tag von 
Faſchoda verhindern zu können. Nun liegt auf der Dand, daß diefer Kolonialbeſitz eine 
Rindung der franzöſiſchen Politik bedeutet. Sie hat mit einer erponierten Yage zu rechnen 


Theodor Schiemann, Deutichland und die großen europäiſchen Mächte. 269 


und ift namentlich genötigt, im Mittelmeer fich in ftärfjter Aufrüftung zu halten. Sie iſt 
mehr, als es früher der Fall war, die Rivalin Englands geworden und hat durch den 
faktiſchen Belt von Tunis den italienischen PBatrioten eine mit befonderer Liebe gehegte 
Hoffnung zu nichte gemadjt. Auch das find Momente, die für den Frieden mit Deutjd)- 
land jprecdhen, jo lange die ruhig abmwägende Vernunft in Frankreich am Ruder ist. 
irgend eine moralifche Garantie für die Dauer diejes Berhältniffes aber giebt es nicht, 
und das dürfen weder die Nachbarn Frankreichs jenjeitö des Kanals, noch dürfen wir 
es vergejlen. 

Ueber die Verhältniffe in Oeſterreich-Ungarn und in Rtalien dürfen wir in dieler 
orientierenden Ueberfiht rajcher hinmeggehen. 

Oeſterreich-Ungarn ift feiner Natur nach ein eminent friedfertiger Staat, der weder 
nad) der rufltichen, noch nach der deutfchen oder italieniichen Seite hin eine Ausdehnung 
wünjchen fann. Die Zeiten, da Frankreich auf eine öjterreihifche Bundesgenofjenichaft 
hoffen durfte, find feit den Tagen der alliance franco-russe dahin, weil diefe Allianz, 
jobald fie fi auf europätihem Boden praftiich geltend machen jollte, den Befititand 
der habsburgiihen Monarchie auf der Balfanhalbinjel, Bosnien und die Herze— 
gowina, bedroht. 

Ebenſo widerftrebt den öſterreichiſch-ungariſchen Intereſſen das franzöfiiche Spiel 
in Italien, das gleichfall® nur den Sinn einer Bedrohung haben fann. Mehr als je ift 
daher die offizielle Politik unferes öfterreichtich-ungariichen Bundesgenoffen die Erhaltung 
des status quo, und Deutichland ift auf das lebhafteſte intereifiert, ihm dabei hilfreich 
zur Seite zu ftehen. Die Schwierigkeiten liegen in den inneren nationalen Berhältnijien 
der Monarchie, und zum Teil aud) in den konfeſſionellen: die ſich anbahnende politijche 
Emanzipation des Slaventums unter tichechiich-panjlaviftiicher Führung, die Demorali- 
fterung des öſterreichiſchen Parlamentarismus, die Leidenſchaftlichkeit der Raſſenkämpfe. 
Die fonjervierenden Kräfte jollten dabei die Deutſchen und die Magyaren jein, deren 
politisches Bündnis eine vitale Notwendigkeit ift. Cine Politik, wie fie in Ungarn Herr 
Ugron, wie fie mit entgegengejetter Tendenz die öſterreichiſchen Alldeutichen vertreten, 
läßt ſich kurzweg als jelbitmörderiich bezeichnen. Dem Intereſſe des Deutfchen Reiches 
widerspricht die eine ebenfo jehr wie die andere: was wir wünfchen müffen, ijt die Stär- 
fung der dhnaftiihen Spike auf dem Untergrunde eines ehrlihen Bündniffes der 
Deutihen und Magyaren. So jehr wir die Gefinnung rejpeftieren, aus welcder die 
nationale Erregung der Deutich-Deiterreicher hervorgegangen ift, und jo aufrichtig wir 
in dem Ringen zwifchen Deutichen und Slaven in den Grenzgebieten der beiden Natio- 
nalitäten für unjere Stammes- und Blutsgenoſſen Partei nehmen, jo entichieden lehnen 
wir all jene Uebertreibungen ab, welche einen direft oder indirekt jeparatiftiichen und 
antidynaftiichen Charakter tragen. 

Die politiihe Stellung unjeres italienischen Bundesgenoifen haben wir jchon mehr: 
fach Streifen müjjen. Italien ift durd; feine geographiiche Yage im Mittelmeer der natür— 
lie Freund Englands und der notwendige Rival Franfreihs. Daß diefe Thatjadhe 
ſich nicht deutlicher fühlbar gemacht bat, liegt zum Zeil an der jchwer verjtändlichen, furz- 
fichtig egoiftiichen Haltung Englands während der abejinniichen Verlegenheiten Italiens 
(1885—1887). Wenn tropdem ein, wir möchten jagen latentes Bündnis zwiſchen England 


2370 Theodor Schiemann, Deutjchland und die großen europätichen Mächte. 


und Italien befteht, jo hängt jeine Dauer von dem Stehen Italiens zur Tripelallianz ab. 
Was diefe bedroht, haben wir jchon zum Teil erwähnt, es muß aber ausdrüdlich hervor- 
gehoben werden, daß mit der neuen montenegrinifchen PVerichwägerung ein weiteres 
Moment der Ablenkung hinzugetreten ift, das in merfwürdiger Weile durch das um 
gemein ſchwierige albanefiiche Problem gefördert wird. Alle Wahrjcheinlichkeit fpricht 
dafür, daß diefe Dinge die politiiche Welt noc; mehr als einmal in Anjprud nehmen 
werden. Dazu kommt, daß die Italiener heute unter dem Druck ſchwerer wirtjchaftlicher 
Berhältniffe zu einer Auswanderungsbewegung geführt worden find, die einerjeits zahl 
reiche italieniihe Arbeiter nad Frankreich, der Schweiz und Deutſchland führt, deren 
Dauptzug aber in die Vereinigten Staaten und nad Südamerika, jpeziell nach Argen: 
tinien und Brafilien geht. An einer Stelle ajfimiliert ſich diejes italienijche Element 
mit den Fremden, es wird auch nicht eigentlich anſäſſig, jondern ftellt eine fluftuierende 
in ſich abgeichlofjene Maffe dar, die fi) in der Fremde nie heimisch zu fühlen vermag. 
Nur die taliener in Tunis ftellen eine Nusnahme von dieſer Negel dar, und es il 
daher wohl verjtändlich, wie ſchwer das patriotiiche Empfinden der Nation darunter 
leidet, dab Frankreich auf diefem Boden den Herrn fpielen kann. Bijerta und Tunis 
ſtehen fo zwiſchen Frankreich und Italien; wir jehen die Kombination nicht, die dielen 
Pfahl im Fleiſch der italienischfranzöfiichen Zukunftsfreundſchaft bejeitigen fünnte. 
Mit Touloner Feittagen ift es jedenfalls nicht gethban. Was Stalien heute vor allem 
braucht, ift ein großer Neformer, ein Gavour jeiner Wirtichaftspolitif, und niemand wird 
aufrichtiger den Tag begrüßen, da er ericheint, als Deutichland. 

Wir wenden und nunmehr Rußland zu. An den deutjchrufftichen Beziehungen 
hat nicht, wie die landläufige Behauptung jagt, der Berliner Kongreß, fondern das 
Jahr 1870/71 den Wendepunkt zum Schlechteren herbeigeführt. Die öffentlie Meinung 
Rußlands empfand Sedan und Frankfurt im Grunde ebenfo als eigene Niederlage, wie 
einft die Franzoſen Königgrätz und Nikolsburg. 

Bon 1870 ab wandelte ein früher ohne Zweifel vorhandenes Wohlwollen fich in 
das Gegenteil um, und die nach 1878 mit elementarer Gewalt an die Oberfläche tretende 
reindjeligfeit war nur der Ausdrudf eines ſchon lange vorhandenen und nur ummillig 
verhaltenen Grimmes. Much heute ift das nicht anders geworden, nur die Form und 
die Methode, diefe Empfindungen zu äußern, haben fi; verändert. Das Jahr 1878 bot 
einen Vorwand und eine Gelegenheit, die Schuld an dem ruſſiſch-öſterreichiſchen Vertrage, 
durch melden, wider alle Inſtinkte der Nation, Bosnien und die Herzegowina der 
öfterreichiichen Okkupation frei gegeben wurden, auf die angebliche Perfidie der deutjchen 
Politik abzumälzen. Seither hat unter merfwirdigen Schwankungen in den offiziellen 
Beziehungen von Staat zu Staat das politiiche Empfinden der Rufen fi in feiner 
gegen Deutichland gerichteten FFeindjeligkeit jtetig gefteinert, ohne daß darum der Friede 
zwijchen beiden Mächten getrübt worden wäre. Als unter Alerander IIL, nad Boll: 
endung der durch die Mikerfolge des Türfenkrieges veranlakten völligen Reorganiſation 
des ruſſiſchen Heerweſens, die drohende Aufftellung der ruffischen Armeen an unjerer 
Dftgrenze erfolgte, hat Fürft Bismarck 1887 und 1888 einerjeits durch die Verſtärkung 
des deutjchen Heeres, andererieitS durd; eine Wandlung des bisher geltenden Völker— 
rechts den drohenden militärischen Zujammenftoß zu vermeiden verftanden. Denn eine 


Theodor Schiemann, Deutichland und die großen europäiſchen Mächte, 371 


Wandlung der völferredtlihen Praris bedeutet e8, wenn Fürſt Bismardf in der be- 
rühmten Rede vom 6. Februar 1888 ausdrücklich das Recht Rußlands anerfannte, an 
der deutjchen Oftgrenze fo viel Truppen aufzuftellen, als ihm irgend beliebte, ohne für 
ſich das Recht in Anſpruch zu nehmen, über die Gründe diefer Aufrüftung eine „Late 
gorische Erklärung“ zu verlangen. Thatlählih hat der fortan dauernde bewaffnete 
Friede beruhigend nad; Rußland hinein gewirkt und auch in Deutichland hat man ſich 
nachgerade an die formidable Aufitellung an unferer Grenze gewöhnt und auf ihre 
Stonjequenzen eingerichtet. Es mar das aud um fo eher möglich, als mwirfliche Konflifts- 
momente nad) wie vor zwijchen beiden Reichen nicht vorlagen. Man hätte fie künſtlich 
fonftruieren müffen, was weder unjeren Gepflogenheiten entipricht, noch im Intereſſe 
der ruffiichen Politik liegen fonnte, die vor allem freie Hand nad) anderer Seite hin 
braudjte. Seit die ruſſiſche Balkanpolitif jene Wendung genommen hat, die, unter Ber: 
zicht auf eine direkte Beherrihung der Fleinen ſlaviſchen Staaten ſüdlich der Donau, 
dad Erſtarken nationaler Selbftändigfeiten und ihre allmählihe Emanzipation bon der 
Türkei fördert, ift für Rußland die orientalifche Frage in ein neues Stadium getreten, 
das jih am beiten als eine Bolitit des Hinausichiebens bezeichnen läßt. Man hat in 
Peteröburg die Ueberzeugung gewonnen, daß die Dinge noch nicht genügend gereift find, 
um den Anlauf zu wiederholen, den Kaiſer Nikolaus 1. in den Jahren 1828 und 1829 
zum evjten und 1854 zum zmweitenmal nahm und mit dem es dann Alerander Il. 1877 
zum drittenmal verfuchte. Rußland tritt, obgleich es ohne jede weitere Förmlichkeit fich 
1885 über die Beitimmung des Berliner Vertrages hinwegſetzte, welche die Armierung 
von Batum verbot, auf der Balfanhalbinjel als Hüterin dieſes Vertrages auf, ſucht 
aber ſowohl Serbien als Bulgarien in faktiſcher Abhängigkeit von den Direftiven des 
Beterdburger Kabinett3 zu erhalten und zugleich den beiden Dynaſtieen in Montenegro 
einen Ktonfurrenten heranzubilden, der im geeigneten Augenblide als unbedenfliches Werk: 
zeug der ruffiihen PBolitif verwendet werden kann. Es liegt in der Natur der Dinge, 
daß eine joldhe Haltung Ruklands nur den Charakter eines Stillftandes trägt, und ſchon 
heute läßt ſich erfennen, daß die öffentlihe Meinung Rußlands dieje Politik nicht billigt 
und auf eine Aktion hindrängt. Was fie beunruhigt, ift das militäriiche Erjtarfen der 
Türkei, da8 Anwachſen des öſterreichiſchen Einfluffes, der Bosnien und die Herzegowina 
immer fefter dem Reichskörper angliedert, endlich die in den Fleinen Balkanſtaaten um 
ſich greifende Illuſion, daß ihre Scheinfelbjtändigfeit in wirkliche Selbitändigfeit 
übergehen fünnte. Aber diefe Bedenken haben an dem Gang der rujfiihen Politik 
nicht8 zu ündern vermodt. Sie hat ein weiteres Biel ind Auge gefaßt, durch deſſen 
Verfolgung Englands Einfluß aus der europäifchen Türfei hinaus manövriert worden 
ift, während gleichzeitig auch die afiatiiche Pofition Englands immer mehr gefährdet 
ericheint. 

Bis zum Jahre 1870 ſchien die aftatijche Politif Nuklands für England nur wenig 
bedrohlich zu fein. Die damals erfolgte Eroberung von Buchara war aber nur ein erfter 
Schritt in Gebiete hinein, in denen bislang der engliiche Einfluß überwogen hatte. 
1873 folgte die Unterwerfung Chiwas, 1876 Chofands, zwiſchen 1879 und 1883 endlich die 
endgiltige Eroberung von ganz Turfejtan. Rußland jtand damit in breiter Aufftellung 
an den Grenzen von Perfien und Afghaniftan, berührte das Dach der Welt und ftand 


272 Theodor Schtemann, Deutichland und die großen europälfchen Mächte. 


in nädjter Nachbarſchaft mit den britiihen Wafallenftaaten an den Yusläufern des 
Himalaya. 

ALS 1885 die ruffiihe Grenze nad) der Annerion von Merw bis hart an die 
Pforten Herats vorrüdte, ſchien vorübergehend ein ruſſiſch-engliſcher Krieg unvermeidlich 
zu jein und ebenjo fpiste fi nad) 1891 alles auf einen Konflift wegen Bamirs zu. 
Schließlich aber find hier wie dort Kompromiffe getroffen worden, deren Vorteile auf 
ruffiiher Seite lagen; Rußland behielt, wie jtet3, was es einmal gefaßt hatte, jtellte 
aber ein weiteres Vordringen vorläufig ein: es fann warten. Und darüber hat man ſich 
in London beruhigt, wenn aud) weiter blifende Politifer, wie der jetzige Vizekönig von 
Indien, Lord Gurzon, den Zeitpunft kommen jehen, da Britiſch-Indien wie eine Enflave 
inmitten ruſſiſcher und frangöfiicher Beſitzungen liegen werde, eine Befürchtung, die nad) 
den Beziehungen, die Rußland neuerdings zu Tibet angefnüpft hat, an innerer Wahr: 
icheinlichfeit nicht verloren hat. 

Das aber ift doch nur ein Teil des großen Programms der afiatiichen Politik 
Rußlands geweien. Die jeit 1889 in Angriff genommene jibiriihe Bahn rüdt ihrer 
Bollendung immer näher, noch 2 höchitens 3 Jahre, und fie wird perfeft fein. Nicht wie 
fie urfprünglich gedadht war mit dem einzigen Endpunkt Wladimoftof, jondern mit der 
Verzweigung durd die Mandjchurei nad; Port Arthur und mit Dependenzen, die nad 
Peking und weiterhin bis an den Jangtſe reihen werden. Techniſch wie politifch eine der 
großartigften Leiftungen, von denen die Geſchichte der Welterjchliegung weiß, eine Speku— 
lation auf die Zufunft, die in wirtſchaftlicher wie in politischer Dinficht die ungeheueren 
Opfer einbringen joll, welche die gegenwärtige Generation, weit über ihre Kräfte hinaus 
auf fich genommen hat. 

Es ift aber in höchftem Grade wahrjheinlich, daß die jegt zu einem erften Ruhe: 
punkt gelangten chinefiichen Wirren der ruffiichen Politik zu früh gefommen find. Der 
Daager „Friedenskongreß“ hatte die Bedeutung, einen wiederum drohenden ruſſiſch— 
englijch-japanifchen Konflitt abzulenten oder mindeſtens hinauszufchieben. In diefem 
BZufammenhange hat England den Krieg gegen die beiden Burenrepublifen auf ſich 
genommen und die Pelinger Schredenstage find als etwas nicht in den Kreis der 
politifchen Berechnungen Gezogenes jomwohl den Engländern, wie den Ruffen unbequem 
und überrafjchend gefommen. 

Wir fehen heute, wie auch hier die Vorteile den Ruffen zugefallen find. Die faktifch 
perfeft gewordene Annektierung der Mandſchurei hat Rußlands Stellung in DOftafien 
gewaltig geftärft und den SYapanern den Gedanken an eine PVerftändigung mit dem ge: 
fährlihen Nachbarn jehr nahdrüdlich nahe gelegt, während Englands Preitige geſunken 
ift und fein thatfächlicher Einfluß im großen Orient abgenommen hat. Es wird ihm 
nichts übrig bleiben, als nachträglich den Verſuch zu machen, ob es nicht möglich ift, mit 
Hilfe feiner überlegenen wirtichaftliden und pefuniären Kräfte zurüdzugewinnen, mas 
die Ungunft der Verhältniffe und eine unficher geleitete Politik ihm an Einfluß entrifjen 
haben. Auch hier Liegen jedoch die Verhältniffe Feinesmwegs jo, daß Rußlands Ausfichten 
in dieſem wirtichaftlichen Stampfe fich alö verzweifelte oder auch nur als entjchieden un- 
günftige bezeichnen liehen. Für Nußland arbeitet das ſich ihm zu Dienft ftellende franzö— 
fiiche und belgische Kapital, und es ift nicht unmöglich, dat in Zufunft aud) die amerifa- 


Theodor Schiemann, Deutjchland und die großen europäiſchen Mächte. 373 


niſchen Großfapitaliften ihren Vorteil darin finden, die weitangelegten ruffifchen Unter: 
nehmungen zu unterjtügen. Wir verweilen nicht bei dem Detail diefer jehr wichtigen 
politiichen Zufunftsfrage. Das Weſentliche ift, dag Rußland wiederum gezeigt hat, dat 
e3 einen großen Krieg im fernen Oſten auf ſich nehmen fann, ohne jeine militärifche 
Aufftelung im Weiten erheblich zu ſchwächen. 

Es läßt ſich jedoch aud) eine jo gedrängte Heberficht über die Politit Rußlands, 
wie fie bier verfucht wird, nicht abjchliegen ohne einen Hinweis auf die inneren Verhält— 
nifje ded Staates. Seine Kraft liegt in dem konzentrierten Abjolutismus, der es ihm 
möglich macht, ohne Rüdficht auf die Strömungen der öffentlichen Meinung, jederzeit 
gerade auf diejenigen Punkte die Geſamtmacht des Reiches zu richten, von welchen fich 
der größte Effekt nach außen hin veriprechen läßt. Die Nüdfichtslofigkeit, mit der die 
ruſſiſche Regierung fi dabei über die Wünjche und über die oft fchreienden Bedürfnifie 
ganzer großer Provinzen des Reiches und über das leidenichaftliche Verlangen der 
öffentlichen Meinung nad) freieren Formen des ftaatlihen Yebens hinwegſetzt, kann in 
feinem anderen Kulturſtaate nachgemacht werden. Die droniichen Hungersnöte, welche 
der fortichreitende Niedergang der ruſſiſchen Landwirtſchaft bringt, hätten jeden anderen 
Staat genötigt, alles Uebrige zurüdzuftellen, um eine Wirtfchaftsreform durchzuführen; 
ebenjo hätte auf jedem anderen Boden die liberale und zu nicht geringem Teil 
radikale Gefinnung fait aller gebildeten und in einflußreichen Stellungen jtehenden 
Männer eine liberale Gejeßgebung herbeiführen müfjen, ganz wie in einem Lande, das 
in einzigartiger Weiſe Eonfeffionelle und rituelle Neubildungen entftehen läßt und nebenher 
Anhänger aller alten chriftlichen Kirchen in ſich jchließt, Toleranz und Gewiffensfreiheit 
fih als eine zwingende Notwendigkeit Anerkennung geichafft hätten. Aber nichts von 
alle dem ift gefchehen. Rußland geht in feinen alten abfolutiftifchen Bahnen weiter und 
vorläufig jcheint feinerlei Ausficht vorhanden, dat ih das ändert. Wohin diefe Ent: 
widlung in Zukunft führen muß, läßt fich weder logijch Fonftruieren, noch definieren. 
Am klügſten wird derjenige thun, der fich darauf einrichtet, mit dem jegigen Syitem als 
mit einem dauernden zu rechnen, und dabei die Möglichkeit im Auge behält, daß aud) 
das völlig Unerwartete und Unmwahricheinliche über Nacht zur Wirklichkeit werden ann. 
Der Beſuch des Zaren in Franfreih und die Danziger Zuſammenkunft haben die all: 
gemeine Lage in feiner Weiſe verändert. Sie haben die Bedeutung des rufftichen Faftors 
in der Weltpolitif ſcharf hervortreten lajien, aber aud) gezeigt, wie abhängig er ift von 
der Nüdficht, die ihm durch das Intereſſe der anderen großen Mächte und durch die 
eigenen finanziellen und woirtjchaftlihen Bedürfniffe aufgenötigt wird. Auch die 
Feſtigung der guten perfönlichen Beziehungen der beiden nahe verwandten Herricher 
fann nur als ein höchſt erfreuliches Greignis bezeichnet werden. Trotzdem ift die 
Tendenz der ruffifchen Bolitit eine‘ vordringende, wie fie jüngft nicht übel durch die 
halb ernft, halb ironisch gedachte Aeußerung eines ruffiihen Staatsmanns gekennzeichnet 
wurde: „La Russie est un &tat qui cherche ses limites, sans pouvoir jamais les 
trouver.“ Es liegt im allgemeinen Intereſſe, den Rufen aus dieſer Verlegenheit 


binauszubelfen! 
1% 


Zur Zolltarifbewegung. 


Don 
Wilhelm von Maffow. 


W“ die Frage der deutichen Dandelspolitit nur nad) den Eindrücden beurteilt, die 
ſich aus einer oberflächlichen Kenntnisnahme der deutichen Tagesprejie ergeben, der 
wird zu glauben geneigt fein, daß wir feit der Veröffentlichung des Zolltarifennwurfs 
noch feinen Schritt vorwärts gefommen find. Da it immer nod) diejelbe leidenjchaftliche 
Grbitterung, diejelbe Neigung zu Webertreibungen, diejelbe Sucht, das Ausland zum 
Nichter über unjere Antereflen zu beitellen, dasjelbe Hervorkehren von Bemweisgründen, 
die längft als unrichtig, wenn nicht als bewußte Umvahrbheiten nadıgewiejen find. Kurz, 
ein unerquidliches Bild, das wohl geeignet ift, die unleugbaren Schwierigkeiten der Yage 
vollends als unüberwindlich ericheinen zu lalfen. Sicht man aber etwas näher zu, jo 
erfennt man, daß dieſe wild durcheinander wogenden Gewäſſer doch allmählich anfangen, 
einer allgemeinen Strömung zu folgen,. und es it jchon jet bei erniter Erforſchung der 
Stimmung in den praftiich thätigen und bejonnenen Streifen ziemlich ficher, daß dieſe 
Strömung uns ichließlich ans Ziel führen wird. 

Man wird gut thun, ſich einmal von dem Yärm der Tagesmeinungen möglidjit 
zurückzuziehen und auf die Zeichen zu achten, die den künftigen Kurs beſſer andeuten 
als jene Stimmen wirrer Peidenichaft. Es iit vor allem notwendig, nicht die Barteien, 
jondern die großen wirtſchaftlichen Intereſſengruppen, Landwirtſchaft, Induſtrie und Handel, 
jelbit zu hören und danach die Yage zu beurteilen. 

Zunächſt die Yandiwirtichaft. Als die Vertretung ihrer Intereſſen im politiichen 
Yeben wirft dev Bund der Yandwirte. Es liegt aljo nahe, das Urteil über die Stellung- 
nahme dev Yandmwirtichaft nadı den Kundgebungen des Bundes zu bemeilen. In diejen 
aber fpricht fich faft ausnahmslos das heftige Berlangen nad einem Zollihut aus, wie 
ihm in folcher Höhe die Negierung unmöglid, vertreten fann, wenn jte nicht die Grunde 
lagen einer vernünftigen Wirtichaftspolitift aufs Spiel jeten will. Man wird dieſem 
Vorgehen des Bundes vieles zu gute halten müſſen. Nur blinde Boreingenommenbheit 
oder Unkenntnis fann leugnen, dag es unjerer Yandwirtichaft Ichlecht gebt. Um auch 
diejen Begriff gegenüber thörichten Mißveritändniffen einigermaßen klar zu ftellen, jei 
hier eingeichaltet, Daß der Gegenbeweis nicht durd) die Behauptung geliefert wird, diejer oder 
jener Landwirt habe bei irgend einer Gelegenheit einmal Sekt getrunfen, fondern die Not 
der Pandwirtichaft beruht darin, daß die Preiſe der landwirtichaftlihen Erzeugnifie, die 
die Grundlage einer vom Nuslande möglichſt unabhängigen Bolfsernährung bilden, bei 


Wilbelm von Maſſow, Zur Zolltarifbewegung. 275 


normalen Produktionskoſten nicht mehr eine ausreichende und den allgemeinen Erwerbs: 
verbältniffen entiprechende Berzinjung des im landwirtichaftlichen Betriebe angelegten 
Kapital gewähren. Zu der durd; weltwirtichaftlihe Berhältniffe herbeigeführten Krifis, 
die ihren Höhepunkt irberichritten zu haben ſchien, iſt nun neuerdings ein allgemeiner 
Niedergang der Geſchäfte und allerhand ürtliches Mißgeſchick durch Ungunft der Witte 
rung getreten. In diejer Eritiichen Page und der dadurch bervorgerufenen, mitunter recht 
verzweifelten Stimmung erinnern die Landwirte jich der Thatiadhe, dat bei dem letzten Ab- 
ſchluß von Dandelsverträgen die Yandwirtichaft für die Erportinterefien der Induſtrie die 
Zeche zahlen mußte und die patriotifche Opferwilligfeit der Yandwirte damals von der 
Kegierung eigentlic als etwas ganz Selbjtverjtändliches angejehen wurde. Wer wird 
itch wundern fünnen, wenn unter dem Druck der Not und angeſichts der gegnerischen 
Treibereien die bevoritehenden Verhandlungen bei den Yandwirten eine gewiſſe Nervofität 
erzeugen, und der Gedanke, es fünnten fich die Vorgänge der Aera Gaprivi erneuern, jie 
beſtimmt, zunächit ihr Antereije mit folder Schärfe zu betonen, daß fie nicht wieder als Opfer- 
lamm vorgeichoben werden? Und ebenſo verjtändlich ift eine taftiiche Erwägung. Gewohnt, 
von ihren Gegnern unabläjlig als Urbild unerhörter Eigenſucht und wüfter Begehrlich- 
feit bingejtellt zu werden, müſſen ſich die Vertreter der Landwirtichaft jagen, daß bei 
den lärmenden Auftreten der Gegenpartei gegen den Regierungsentwurf ihre glatte Zus 
ſtimmung zu dem Bolltarif nicht ganz ungefährlich fei. Ohne Zweifel wäre das aus- 
genußt worden, indem die Gegner dev Yandwirtichaft in die Welt hinausriefen: „Seht, 
was für ein tolles Machwerk diejer Zolltarif ift; jogar die Agrarier find damit zu: 
frieden!“ Endlich darf nicht unbeachtet bleiben, daß die Maffe der Yandwirte in den 
modernen politiihen Bewegungen einen ſpröden Stoff daritellt. Sie erwärmen ſich für 
eine Frage erit, wenn ſie ihnen auf den Yeib rücdt; um jo jchwerer wird es ihnen dann 
aber auch, in dieſen Yebensfragen die Grenze des Erreihbaren zu erfennen und Zu: 
geltändniffe zu machen. Alles dies wird man berücdjichtigen müſſen, wenn man 
zu einem objeftiven Urteil über die heutige agrariihe Bewegung gelangen 
will. Trotzdem mus man jagen, daß das gegenwärtige Auftreten der Führer des 
Bundes geeignet ift, große Bedenken binfichtlic; der Zukunft der Yandwirtichaft hervor: 
zurufen. Es märe Gelegenheit genug vorhanden, der Kampfluſt und der regen Be- 
thätigung der eigenen Ideen einen Ausweg zu verichaffen, indem man den Entjtellungen 
und Verhetungen der Gegner gegenübertritt. Indeſſen in der agrariſchen Preſſe nicht 
nur, fondern auch in VBerfammlungen iſt der Fehler gemacht worden, ſich auch gegen 
die Regierung zu wenden, fie zu drängen und ihre Stellung zu erjchtveren, auch perjön- 
liche Angriffe gegen Staatsmänner zu richten, die, wie der preußifche Dandelsminiiter, 
durch ihre vermittelnde Thätigfeit in den Kreiſen von Handel und Anduftrie der Yand- 
wirtichaft mehr nüßen, als der entichiedenjte Agrarier jemals nüten könnte Auch muß 
es als ein gefährlidyes Spielen mit dem Feuer bezeichnet werden, wenn bon agrariſcher 
Zeite gelegentlich behauptet wurde, man wolle lieber gar feine Zölle, als fi) mit den 
geringfügigen Erhöhungen begnügen, die die Negierung feitgelegt habe. Angefichts joldher 
Maplofigkeiten ift die Frage von großer Bedeutung, wie weit der befonnene, unter: 
richtete, politiich einflußreiche, nicht agitierende, jondern wirklich führende Teil der 
Deutichen Landwirte hinter den lärmenden Wortführern des Bundes jteht. Die Frage 
18* 


276 Wilhelm von Maſſow, Zur Zolltarifbewegung. 


it jchtwierig, weil fich für ihre Beantwortung nad) feiner Richtung genaue Beweije bei— 
bringen laſſen. Forſcht man aber bei guten Sennern der, Stimmung nad, jo muß 
man doch zu der Leberzeugung gelangen, daß bei den enticheidenden Verhandlungen die 
mäßigenden Einflüſſe ficher zur Geltung fommen werden. Im weiteren Verlauf der 
Dinge, namentlih in der parlamentariihen Behandlung, wird Gelegenheit jein, den 
Unterjchied zwiſchen der heutigen Handelspolitik und der Capriviſchen deutlicher 
hervortreten und eine aus dem Vertrauen zur Regierung fließende Beruhigung all— 
mählich auch in die breiteren Maffen dringen zu lajien. Trog aller Ausichreitungen 
und Unklugheiten, die jet von agrarischer Seite begangen werden, wird man daran 
fejthalten fünnen, daß in diefem Lager die Oppofitionsjtimmung nicht jtichhaltig fein 
fann, jofern nur die Regierung ernithaft daran feithält, bei dem Abjchluß neuer Handels— 
verträge dem deutjchen Getreidebau einen einigermaßen ausreichenden Zollichut zu ver: 
ihaffen. Dann werden die befonnenen Elemente der Yandwirtichaft nicht verfagen und 
in voller Erkenntnis der Notwendigkeit der Handelsverträge ſich mit dem Erreihbaren 
aufrieden geben. 

Bon diefer Seite ift alfo die Gefahr, daß der BZolltarifentwurf etwa nicht Geſetz 
werde, nicht jo groß als fie jcheint. Dagegen find manche Kundgebungen aus den Reiben 
der Induſtrie jo gedeutet worden, als ob dieje nicht übel Yuft habe, der Yandwirtichaft die 
Freundſchaft zu kündigen. Richtig ift, daß die Feitfekung von Mindeſtſätzen des Zolles 
für verjchiedene Getreidearten in weiten induftriellen Streifen, die durch den Preßlärm 
beeinflußt waren, unangenehm berührt hat. Die einen glaubten dadurch das Zuſtande— 
fommen der Dandelsverträge in Frage geftellt, die andern hätten gern den Doppeltarif 
auch auf gewerbliche Erzeugniffe ausgedehnt geſehen. Der Zentralverband deuticher 
Induſtrieller, der kürzlich über jeine Stellung zum Zolltarif beraten bat, fonnte an 
diejer Stimmung nicht gang vorübergehen. Er ſprach ſich grundjäglich gegen Mindeſt 
tarife aus und erflärte den Bolltarif nur gutheißen zu fünnen, wenn die Unterhändler 
für die Handelsverträge durch feinerlei untere Grenze ich gebunden ſähen. Für den 
Fall, daß man mit diefer Anficht nicht durchdränge, behielt man fich weitere Anträge 
vor. Diejer Vorbehalt fieht aus wie eine Drohung im Sinne der um die Verträge be- 
jorgten Gemüter. In Wirklichkeit aber ift es wohl die Vorbereitung der Nüdzugs- 
brüde. Denn die maßgebenden Bertreter der Induſtrie willen jehr wohl, daß, wenn 
der Zeitpunkt für die „weiteren Anträge“ gekommen ift, das allgemeine Urteil über die 
Möglichkeiten des Zuſtandekommens von Dandelöverträgen fehr viel ruhiger und ge 
flärter fein wird. Die Kinduftriellen werden dann Gelegenheit gehabt haben, anjtatt 
fi durd; die Deflamationen einer aufgeregten Preſſe einmwiceln zu laffen, vielmehr die 
Ergebniffe einer parlamentariihen Erörterung mit den eigenen praftiichen Erfahrungen 
zu vergleichen. Dieje beruhigende Ausficht ſchließt das Bedauern nicht aus, daß der 
Beſchluß des Zentralverbandes geeignet geweſen iſt, in den Kreiſen der Landwirte 
ftarfes Mißtrauen und Entrüftung zu erregen. Die Hauptjache ift aber doch, dat beide 
Gruppen auf ihre Rechnung kommen, die Landwirtichaft die höheren Getreidezölle, die 
Industrie die Sicherung ihres Erport3 durch Handelsverträge erhält. Und die Ueber— 
zeugung, daß beides vereinbar, wird jedenfalls durchdringen. 

Daß aud) der Handel allmählich dieſe Ueberzeugung gewinnt, zeigt die legte Ver— 


Wilhelm von Maſſow, Zur Zolltarifbewequng. 277 


ſammlung des Dandelstages, der faum einen unbeftimmteren Beſchluß faflen konnte, als 
er bei diejer Gelegenheit ihn gefaßt hat. In der Form erjcheint diejer Beſchluß geſchickt 
den vielen Kundgebungen angepaßt, ‚die vorher aus Handelsfreijen gegen den Bolltarif 
gerichtet waren. Sicht man aber näher zu, jo entdeckt man, daß eigentlidy die Frage 
offen gelaiien wurde. Es liegt eine gewiſſe Refignation in dem Beſchluß, die deutlic durch— 
blifen läßt, dag man ſich in jede Löſung der Zollfrage finden wird, jofern nur überhaupt 
Dandelsverträge abgeichlojien werden. Auch die Verwerfung der Mindeftzölle für Ge- 
treide joll nur die Bejorgnis zum Ausdrud bringen, daß eine ſolche Bindung vielleicht 
zum Scheitern der Berhandlungen führen fünnte. 


Sonad) hat man bei jachlicher Betrachtung durdjaus feine Veranlaffung, aus dem 
Wirrwarr der Meinungen, die die Tagesprefie beherrichen, peiftmiftiiche Folgerungen zu 
ziehen. Dat Verhandlungen zwiichen verjchiedenen Staaten über ihre mitunter ſcharf 
entgegenftehenden Intereſſen große Geichieflichkeit und Sachkenntnis erfordern und gewiß 
nicht leicht zu nehmen find, iſt jelbftverftändlich, aber das ift eine Sache für fi. Wir 
ftehen heute, was die Bejeßung der leitenden Stellen und bejonders ihr einheitliches 
Bufammenmwirfen betrifft, erheblich günjtiger da als bei den Verhandlungen vor Abſchluß 
der gegenwärtig laufenden Verträge. Aber man darf freilich auch nicht alle ungünftigen 
Momente jener früheren Verhandlungen ausichlieglich den Fehlern der damaligen Staats: 
männer zurechnen. Man hatte es jchon damals mit einem nicht gehörig revidierten Tarif 
zu thun, der die im Namen des Reichs Verhandelnden außer ftand ſetzte, ſachgemäße, 
d. h. vor allem den wirklichen handelöpolitifchen Intereſſen entiprechende Gegengebote 
zu machen und dadurch Zugeltändniffe zu erlangen, ohne allzu hohe Preife dafür zu 
zahlen. Es wäre handelspolitiih unverantwortlich, mit dem veralteten Tarif, der jeit- 
dem durd) die Entwiclung der Industrie wieder noch um ein Ungeheueres überholt ift, 
in neue Verhandlungen einzutreten. Wir brauchen aljo dringend einen neuen Bolltarif 
und müſſen in diefen autonomen Tarif ſolche Säge einstellen, die eritens den wirklichen 
Verhältniflen des Handelsverkehrs entiprechen und zweitens das Ausland zwingen, 
unierm Erport Zugejtändniffe zu machen. Als entſprechende Säße grundjäglich nur ſolche 
anzujehen, die den künftigen Vertragsiägen gleich find oder fie nur unerheblich überfteigen, 
wäre eine unbegreiflic)e Thorheit, die im Grunde aud von; feinem denfenden Bolitifer 
ernit genommen wird, jondern nur dazu dient, in verhüllter Form eine rein freihänd: 
lerijche Ueberzeugung auszudrüden. Bedauerlich ift nur, daß fie zur Srreführung Une 
fundiger benugt wird. Ginen hohen Zoll wird man im autonomen Tarif z. B. für eine 
Ware fejtiegen müflen, die in großen Mengen aus einem Yande importiert wird, das 
durch fein eigenes Zollſyſtem unjerm Erport große Schwierigkeiten bereitet. Würden 
wir hier einen niedrigen Zoll beitimmen, jo würde für jenen andern Staat nicht der 
geringste Anlaß vorliegen, unjerm Erport Zugeftändniffe zu machen. Wir müſſen eben 
ein Drucfmittel haben. Dagegen wäre die gleiche Zollerhöhung nicht vorteilhaft, wenn 
der Staat, mit dem wir zu verhandeln haben, jelbft nur eine mäßige Schußgzollpolitif 
treibt, unferm Erport ohnehin günftig gefinnt gegenüberjteht oder jeinerjeit3 auf die 
Ausfuhr der betreffenden Ware nad Deutichland nicht angewieſen ift. Wir fünnen unter 
Umſtänden durch hohe Zölle einen Fabrifationszweig ohne Not Ichädigen, ohne daß wir 
ihm Erjat bieten fünnen, wir fünnen aber auch unter andern Berhältniifen uns durd) 


278 Wilhelm von Maſſow, Zur Zolltarifbeiwequng. 


niedrige Zölle der Möglichkeit begeben, unierem Erport die Hinderniffe fremder Schutzoll: 
politif aus dem Wege zu räumen. Das allein find die Gefichtspunfte, nach denen die 
Höhe der Zölle im autonomen Tarif zu bemeilen it; find fie geſchickt und jachfundig 
aufgeitellt, jo werden gerade die hohen Zölle Gelegenheit geben, bei den Verträgen Ver— 
günftigungen zu erlangen. Sie verſchwinden dann im Bertragstarif, während ein falſch 
angelegter autonomer Tarif zwar jcheinbar vielleicht zu demjelben Ergebnis führt, aber 
uns zwingt, die allein Gebenden zu jein und nichts dafür einzuhandeln. 

Es zeigt ſich hiernach das rreführende aller der Auseinanderjegungen, die in 
einem hohen Zollaniag im autonomen Tarif ins blinde Ungefähr hinein nur einen Aus» 
drud der Begehrlichkeit oder ungerechten Begünjtigung eines einzelnen Induſtriezweiges 
ſehen. Wenn dergleichen Behauptungen gleichwohl in der Deffentlichfeit möglich ſind, 
jo erflärt fi) das aus der Dineinziehung parteipolitischer Geſichtspunkte in die wirt 
ichaftliche Debatte. In der LYandwirtichaft jehen die Gegner ihrer bejondern Intereſſen 
eben nicht einen Erwerbszweig, der vermöge jeiner grundlegenden Bedeutung für das 
RWirtfchaftsleben und das Gefüge des Staats und vermöge feiner jozialpolitiichen Wich— 
tigkeit geichügt werden muß, fondern fie jehen darin die Stüte einer fonjervativen Bartei- 
anjchauung und ſchöpfen daraus das Recht, ihre Beitrebungen grundjäglich zu befämpfen. 
Sie juchen dabei das Intereſſe des kleinen Grundbeſitzers fünftlih von dein des Gros 
beſitzes loszulöſen, weil der legtere aus politiichen Gründen ihnen als Tuelle der Ein— 
flüffe ericheint, deren Bekämpfung ihnen die eigene Parteiüberzeugung nabe legt. Vie 
Induſtrie andererjeitö gilt den Konſervativen itrenger Obſervanz als ein Tummelplag 
des von ihnen verabicheuten Yiberalismus; fie glauben ihr Uebergewicht fürchten zu 
müffen, und wiederum find es politiiche Gründe, die bier und da eine Kluft zwiſchen 
Yandwirtichaft und Induſtrie ſchaffen, die bei jachlich-wirtichaftlicher Betrachtung wohl 
ausgefüllt werden fünnte. Zugleich wenden ſich die jozialrevolutionären Kräfte genen 
das in den Vertretern der Induſtrie verkörperte Unternehmertum und befämpfen in der 
Induſtrie jomit die ihrer jozialen Theorie feindlich gegenüberftehende Geſellſchaftsord— 
nung. Im Sandel endlich befümpft der Wegner nicht fo jehr die den jeinigen mitunter 
entgegenstehenden wirtichaftlihen Bedürfniffe, al$ den internationalen, kosmopolitiſchen 
Bug und das Streben, fich jeder möglichen Lebensform möglichit frei anzupaiien. Auch 
der Dandel ericheint daher als Träger des politischen Liberalismus, und wiederum ſind 
es politiiche Erwägungen, die in die wirtichaftlichen Intereſſen mit hineinipielen und 
Yeidenichaften erregen, die vor ſachlicher Ueberlegung nicht bejtehen fünnten. Vergleichs— 
weile günjtig jteht in diejen Nampfe das Zentrum da. Seine eigentlihen Ziele liegen 
von wirtjchaftlichen und ſozialen Beitrebungen weit ab; um jo freier fann es dieſe jehr 
wohl in ihrer Bedeutung geichägten Beitrebungen zur Hebung ſeines politischen Anjehens 
und zur Befeitigung feiner ausjchlaggebenden Stellung benugen. Dieje Freiheit feiner 
Icheinbar jo ganz objektiven und dementiprehend in der Dauptiache auch vegierungs- 
freundlichen Stellung ift, parteipolitiich betrachtet, nicht unbedentlih. Es liegt darin für 
uns unleugbar die Gefahr der Täuſchung über die wahre Bedeutung diefer Stellung. 
Der praktische Politiker aber fann fidy immerhin zunächſt an die Thatiache halten: das 
Zentrum wird den Bolltarif durchbringen helfen. 

Heben den Nntereifenvertretungen der drei großen wirtichaftlichen Erwerbsgruppen 


eilhelm von Maſſow, Zur Bolltarifbeweqgung. 279 


haben wir es nun außerdem mit dem veinen Nlonfumenten-Standpunft zu thun, für den 
das Schlagwort vom „Brotwucer“ fennzeichnend ift, und das führt zu der jozial- 
politiihen Seite der Frage hinüber. Bei den milfenichaftlichen Erörterungen, die auf 
der Tagung des Vereins für Sozialpolitif im September gepflogen wurden, wurde dieſer 
Bujammenhang veridhiedentlih betont. Was namentlid) Profeſſor Zering bei dieſer 
Gelegenheit gejagt hat, jcheint mir bejonders einleuchtend zu jein, und nur der eine 
Einwand ließe fich vielleicht erheben, daß, was er als „Ntompenjationen“ bezeichnete, 
auch dann geichehen müßte, wenn die Erhöhung dev Getreidezölle nicht durchdränge. 
Eine gewaltige Lebertreibung ift es, wenn von anderer Zeite behauptet wird, die von 
der Regierung angeitrebte Dandelspolitif und die Fortführung der Sozialreform ſchlöſſen 
fi) gegenjeitig aus. Um das zu bemeilen, bedarf es jchon allerlei künſtlicher und 
theoretiſch ausgedachter Borausjegungen, vor allem jener verbreiteten, aber darum nicht 
minder unhaltbaren Betrahtungsmweife, die die Nonfumenten als eine gejonderte, den 
Produzenten gegenüberitehende Klaſſe auffaßt. Es iſt hier nicht Gelegenheit und Raum, 
nachzuweiſen, wie in dem verwicdelten Organismus der Bolkswirtſchaft die Anterejien 
von Konjument und Produzent teilweile völlig zulammenfallen, teilweise ſich ſoweit 
durchdringen und gegenfeitig bedingen, dat e8 gang unmöglich it, fie gegenüberzuitellen. 
Es iſt natürlich) nichts einfacher und allgemeinveritändlicher, als die Behauptung, dat 
der Konjument durch höhere Yebensmittelpreife geichädigt wird. Daß aber die über- 
wältigende Mehrheit der Konſumenten zugleich als Produzenten — oder als Lohn: 
empfänger im Dienite der Produktion — bei einer allgemeinen Berfchlechterung der 
wirtichaftlihen Yage durch ein handelspolitiiches Lebergewicht des Muslandes oder 
durch dauernden Niedergang der Yandwirtichaft weit empfindlicher und nachhaltiger 
geichädigt werden, als durd) niedrigere Yebensmittelpreiie jemald ausgeglichen werden 
fann, das erfordert freilich etwas mehr Nachdenken, und die politischen Agitatoren, in 
deren Kram die faliche Theorie beſſer part, thun ihr Möglichites, dieſes Nachdenken 
zu verhüten. 

Den dankbarften Boden findet dieje Agitation begreiflicherweife im Yohnarbeiter: 
itande, der fid) im Wideripruch zu der beitehenden Ztaatsordnung überhaupt fühlt und 
unter der Herrichaft der marxiſtiſchen Iheorie niemals einen Gedankengang als richtig 
anerkennen fann, der im engen Zuſammenhang mit dem Schuß des individuellen Eigene 
tumsrechts an den Broduftionsmitteln steht. Daher konnte Bebel auf dem legten jozial- 
demokratiſchen Barteitage in Lübeck in jeiner leidenichaftlihen Weiſe mir dem offenen 
Geſtändnis hervortreten, daß es jeßt die Aufgabe der Partei ſei, mit Hilfe des Schlag: 
worts vom Brotwucer das Volk „aufzuhegen“. 

Auch die Nationaljozialen haben fich in dieſe Ridytung drängen laſſen. Das it zu 
bedauern. Die Doffnung auf die Vebensfähigfeit diejev Bewegung, die in der Ihat eine 
Lücke in unjern Parteigetriebe hätte ausfüllen können, berubte auf dem Gelingen einer 
Verbindung zwifchen dem berechtigten Bormwärtsdrängen des Arbeiteritandes einerieits 
und andererjeits jolchen Elementen, die, aufrichtig national und antirevolutionär, doch 
ebenjo aufrichtig bereit waren, dem Arbeiterftand eine den modernen Berhältniiien 
beſſer entiprechende Stellung im Ztaatsorganismus zuzuweiſen und ihn Dadurch zur 
nationalen Mitarbeit zu erziehen. Dieſe leßteren Elemente find auch heute noch in der 


280 Wilhelm von Maſſow, Zur Zolltarifbewegung. 


Bewegung thätig, aber fie find völlig zurüdgetveten gegen andere, die den Staat aus: 
schließlich nadı den Bedürfniffen des Yohnarbeiterjtandes zurechtichneiden wollen. Rau: 
manns Stärke lag zu Anfang darin, daß er durch jeine Berjönlichkeit und den Friichen 
Glauben an jeine Sadıe ‚jene ſoeben gefennzeichnete Verbindung zu erhalten verftand. 
Seit aber die Bewegung über jeine Kraft hinauswuds, die Heißſporne immer mehr in 
Vordergrund traten und Naumann, unter ihrer Führung immer mehr zum „Realpolitifer“ 
werdend, jein Daus mit allerhand ſchadhaftem demokratischen Trümmerwerf auszufliden 
begann, iſt die Hoffnung auf die Wirfung der Partei als jozialpolitischer 
Eauerteig Stark herabgeitimmt, wenn nicht vereitelt tworden. Auf dem jetzt 
eingeſchlagenen Wege des „Aufhetzens“ kann nur noch die eine Wirkung er— 
reicht werden, von der freiſinnigen Partei einiges abzuſprengen und zur 
Eogialdemofratie hinüberzuführen. Denn trotz des feindſeligen Hohns, mit dem die 
Sozialdemokratie das nationalſoziale Häuflein überſchüttet, trotz der Sorgfalt, mit der 
die Führer der Nationalſozialen die Unterſchiede betonen und fi in Preſſe und Ver: 
jammlungen in eifrigen Disputationen gegen die marriftiichen Anjchauungen verwahren, 
it die Wirkung dieſer Gruppe in der praftiichen Politik lediglich die einer Hilfstruppe 
für die Sozialdemokratie. Deshalb hätte der fozialdemofratiiche Rechtsanwalt Beine 
in Yübef mit den Nationaljozialen immerhin etwas glimpflicher umgehen follen. 
Aber Dankbarkeit ift Feine jozialiftiihe Tugend; fie ipielt jchon im Gegenwartsſtaat 
faum eine Rolle. 

Ueber die Beziehungen der Bolltariffrage zur Sozialpolitif bringt vielleicht die 
Zukunft noch manches Intereſſante. Beute aber ift es noch nidyt möglich, die Geftal: 
tungen zu überfehen, die uns die nädjfte Zeit in diefer Frage bringen wird. 


© 


Der Heimruf. 


S geht eine Sehnſucht nach Licht durch die Welt... 
In jedweder Brult 

Erregt fie die Schwingen 

Der SHeimatluft, 

Bis liegend lie dringen 

Zur Sonne, die alle Tiefen erhellt. 


Es geht nad Erlöiung ein Schrei durch die Welt, 
Ein Schrei, durd das leid 

Des Leben geboren, 

Ein Ton, in dem Streit 

Des Tag’s unverloren —: 

Der Seimruf, der Simmel und Erde durchgellt. 


Karl Ernit Knodt. 


DIEIPPDEAPEDIEIED 


Weltwirtichaftlihe Umſchau. 


Von 


Paul Dehn. 


Teutichlands Güteraustaufc mit jeinen Nacbaritaaten. — ‚internationale Berrufserklärungen. 

— Der frifenartige Zujtand der induftriellen Entwidlung Deutjchlands und das Ausland, — 

Schwarze und weiße Kohle — Neue Waſſerſtraßen und Eifenbabnen in Oeſterreich und ibre 

Bedeutung für Deutichland. — interejienreibungen am Perſiſchen Meerbuien. — Deutiche Arbeit 
in Siam. — Neues bon der fibirtfchen Bahn. 


g" dem Güteraustaufch der verichiedenen Länder der Erde zeigt ſich fchon jeit Jahren 
eine merkwürdige Ericheinung. Nach der Theorie ift e8 gang einleuchtend, daß, wenn 
auf der Erde aud) die Agrifulturjtaaten ihre Induſtrie mehr und mehr fördern, die 
Ausfuhr der Anduftrieftaanten in entjprechendem Make abnehmen und jchließlih einmal 
ganz verihmwinden muß. Thatiächlich entwidelt ſich der internationale Güteraustauſch 
durhaus nicht in diejer Richtung. Nächſt England haben Deutihland, Frankreich, 
Tefterreich-Ungarn, Stalien, jodann Rußland, Rumänien und andere Staaten, am er- 
folgreichjten die nordamerifanifhe Republif ihre heimijche Induſtrie mit Hilfe von 
Schutzzöllen leiftungsfähiger gemacht und fie in den Stand gefegt, einen immer erheb- 
liheren Teil der Nadıfrage des heimiſchen Marktes jelbjt zu befriedigen. Nichtsdefto- 
weniger hat in allen diefen Staaten die induftrielle Einfuhr entweder garnidjt oder doch 
nicht merklich abgenommen, zumeift ift fie jogar geftiegen. Wer fich der Aufgabe unter- 
ziehen wollte, diefen Güteraustaufc genauer zu erforichen und zu ermitteln, in welchen 
Anduftrieerzeugniffen die Einfuhr nicht abnahm oder gar zunahm, wird wahrjcheinlid) 
finden, daß in gewiffen Erzeugnilfen, die die heimiſche Induſtrie liefern fonnte, die fremde 
Einfuhr zurüdgegangen ift, daß dagegen in anderen Erzeugniffen die fremde Induſtrie 
hervortrat und eine Nachfrage dedte oder auch erft ſchuf. Aus der Thatjache, daß der 
Güteraustauſch zwiſchen denjenigen Staaten, die ihre Induſtrie mehr und mehr förderten, 
durdaus nicht abgenommen, jondern vielfach jogar zugenommen hat, läßt fich mit gutem 
Grund der Schluß ziehen, daß diefer Güteraustauſch auch in Zukunft noch fortdauern 
wird, jelbjt wenn die Staaten ihre heimifche Induſtrie immer mehr zu entwideln fuchen. 
Kur mit Hilfe von jehr hohen Zöllen könnte diefer Güteraustaufch unterbunden, aber 
ſchwerlich jemals ganz unterdrüdt werden. 

Aus dem befonders umfangreichen Güteraustaufch gerade zwiſchen Anduftrieftaaten 
hat man jogar den Schluß ziehen wollen, daß bei fortgejett induftrieftaatlicher Entwick— 
fung der internationale Giüteraustaujd; noch immer größeren Umfang annehmen wird, 
weil die Induſtrie mit ihren Fortjchritten immer wieder neue Bedürfniffe entwidelt. 


282 Baul Dehn, Weltwirtichaftliche Umſchau. 


Nach der deutichen Reichsftatiftif ift die Vorausſetzung nicht ganz zutreffend. Die beiten 
Abjagmärfte des Deutichen Reiches waren im Jahre 1900 England, wohin für 
912 Mil. M. deutiche Erzeugniffe gingen, Defterreich-lingarn mit einem Bedarf von 
500 Mill., die Vereinigten Staaten von Nordamerifa mit 40 Mill., die Niederlande 
mit 396 Mill., Rußland mit 325 Mill, die Schweiz mit 292 Mill, Frankreich mit 
278 Mill., Belgien mit 253 Mill, Schweden mit 138 Mill, Ntalien mit 127 Mill, 
Dänemarf mit 125 Mill. und Norwegen mit 71 Mill. M. Danad) hatten allerdings 
die wirtjchaftlich, induftriell und fommerziell am entwideltiten Staaten die größten Be- 
züge aus Deutichland aufzumeiien. 

Indeſſen ergiebt fich ein ganz anderes Bild, wenn man nicht den Gejamtbedart 
diejer Staaten, die ja jehr verichieden groß find, in Betracht zieht, jondern ihren Gejamt- 
bedarf auf den Kopf der Bevölkerung umlegt. 

Danach berechnet erhielten im Sabre 1900 an deutſchen Waren die Schweiz für je 
97 M., die Niederlande für je 5 M., Dänemark für je 55 M., Belgien fir je 40, M., 
Norwegen für je 35 M., Schweden für je 28 M., Großbritannien für je 24 M., Deiter: 
reich:Ungarn für je 12 M., Frankreich jür je 7'/, M., die nordanterifaniiche Republif 
für je 5, M., Italien für je 4 M. und Rußland für je 21, M. Meder praftiiche 
Kaufmann weiß, was diefe Statiftif zu bedeuten hat. Wo er großen Abjat findet, darf 
er mit Grumd hoffen, noch immer mehr zu verfaufen. VBerhältnismäßig am meisten 
Abſatz fanden aber die deutihen Waren in denjenigen Nadhbarländern 
Deutihlands, deren Bevölkerungen ftammperwandt jind, wie in dev Schweiz, 
Holland, Dünemarf, Belgien, Norwegen und Schweden. Hieran würde fich Ticherlich 
Oeſterreich reihen, wenn fein Bedarf allein abgejchätt werden fünnte, wenn e3 nicht mit 
Ungarn zu einem Zollgebiet verbunden wäre. Statt deſſen ſteht Großbritannien voran, 
das durch jeinen Zwiſchenhandel viele deutsche Ware bezieht, ohne fie jelbjt zu verbrauchen. 
Deutichlands Nachbarländer ohne ftammverwandte Bevölkerung haben nur einen geringen 
Bedarf an deutichen Waren. Das zeigt die Statiftif in Bezug auf das hochentmwicfelte 
Frankreich und auf das zurücdgebliebene Rußland. 

Bei Abſchluß neuer Handelsverträge wird man gut thun, fich die Handelsftatiftif 
auch von diefer Seite anzufehen und diejenigen Staaten bejonders zu berückfichtigen, die 
nicht nach ihrem Gejamtbedarf, jondern nad) ihrem Durchichnittsbedarf vom Hopf der 
Bevölferung die Kunden Deutichlands find. Deutichland joll allerdings bemüht fein, 
fi) neue Abfasgebiete zu erjchliegen. Allein man darf dabei nicht überjehen, daß es in 
der Regel leichter und erfolgreicher ift, die alten bewährten Abſatzmärkte zu pflegen und 
zu ermeitern. 

In den ftammverwandten Nachbarjtaaten anerkennt man unbefangen oder auch 
erfreut oder aber bejorgt das wirtichaftliche Uebergewicht des Deutjchen Reiches. Mitte 
September 1901 hob ein Stocdholmer Blatt hervor, dab Berlin gegenwärtig den aus- 
ichlaggebenden Mittelpunft für die Negelung der gejchäftlichen Beziehungen Schwedens 
zum Auslande bilde. Alle wirtichaftlihen Schwankungen und Veränderungen des feſt— 
ländiichen Handelsverkehrs jpiegele der Berliner Markt dank jeiner intenfiven Konzen— 
tration in allen Erwerbszweigen mit der Empfindlichkeit der Magnetnadel mieder. 
Berlin fei für die ſchwediſche und norwegische Handels: und nduftriewelt zur mar: 


Baul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umſchau. 283 


gebenden Yehrftätte geworden und gebe alle erforderlichen Aufichlüffe, Anregungen und 
Dinmweife zur Führung des Kampfes gegen die internationale Konkurrenz. Wehnliche 
Stimmen hat man aus der Schweiz wie aus Holland vernehmen fünnen. Sogar in 
Stalien beklagte Ende September ein allerdings beutichfeindliche® Blatt, die „Voce 
della Verita“, das Ueberhandnehmen der Deutjchen in talien. Genua fei faſt ganz in 
deutihen Händen, ganz Oberitalien nur ein Dinterland des deutichen Handels, in der 
Yombardei ftehe die Seideninduftrie unter deutichem Einfluß, wie überhaupt die Lom— 
bardei und Yigurien, Florenz, Rom und Neapel längft Zmeigftellen deutſcher Industrie 
und Finanz geworden feien. Ein Deutjcher ziehe den andern nad) fi, und jo habe im 
Norden aud) ichon der Eleine Kaufmannsftand einen großen Prozentiak von Deutichen 
aufzumeifen. Das find Uebertreibungen eines deutjchfeindlichen Blattes. Man darf jie 
nicht für bare Münze nehmen. Aber jo ganz unbegründet find die Angaben nicht 
und im Kerne zeigen fie die Erpanfionsfähigfeit der deutichen Unternehmungsfuft und 
der deutſchen Arbeit. 

Vielleicht darf man in der Entwicklung des Berfehrs zwischen dem Deutjchen Reiche 
und jeinen ftammverwandten Nadbarjtaaten den Anfang zu einem mitteleuropäiichen 
Bollverbande unter deutjcher Führung erbliden, der zwar vorläufig nod) in nicht abjehbarer 
Ferne ſteht, aber doch eine Notwendigkeit ift und über kurz oder lang einmal zu ftande 
fommen muß. Nimmt diefer Verband greifbare Formen an, jo werden fich ihm 
fiherlich) au) andere Staaten und Reiche angliedern, die ſich jetzt noch von vornherein 


ablehnend verhalten. 


* * 
* 


Nationale Verrufserklärungen von Volk gegen Volk gegen Waren aus ge— 
wiſſen Ländern find feine neue Erſcheinung. Schon in den dreißiger Jahren, als die 
Engländer fi in die inneren Kämpfe Bortugals allzu gehäffig einmiichten, erflärten die 
portugieſiſchen Kaufleute in ihrer Entrüftung darüber, alle Handelöbeziehungen mit den 
GEngländern abbrechen zu wollen. Der englische Handelsmarkenſchutz vom Jahre 1885 
mit feinem „made in Germany“ war aud) eine Art von Verrufserflärung, wenngleich 
in verftedter Form. Angefichts der polenfeindlichen Kundgebungen im deutſchen Reichs: 
tage und im preußifchen Yandtage erflärte im Jahre 1897 die polnische Kaufmannſchaft 
zu Krakau in Berbindung mit derjenigen zu Yemberg und Warſchau, dahin zujammen- 
wirfen zu wollen, dat alle Gejchäftsverbindungen mit deutichen Firmen gelöft würden. 
Aehnliche Kundgebungen waren fchon früher von polnischer Seite erfolgt. Annähernd 
um diejelbe Zeit verficherten auc griechische Kaufleute, infolge der türfenfreundlichen 
Haltung Deutihlands ihre Beziehungen zu dem deutihen Handel abbrechen zu wollen. 
Als im Nahre 1890 Frankreich jeine Korinthenzölle erheblich erhöhte und die Einfuhr 
diefes wichtigsten griehiihen Ausfuhrerzeugniffes empfindlich zurückdrängte, eritand in 
Griechenland ein faufmännischer Verband mit dem Zweck, nichts mehr von Frankreich 
faufen und fortan die Handelsbeziehungen mit Deutjchland auf alle Weiſe entwiceln zu 
wollen. Zuletzt verfuchten Ende 1898 nad den Ausweifungen aus Schleswig däniſche 
Kaufleute, die deutjchen Waren in Acht und Bann zu thun. 

Alle diefe Verrufserflärungen haben nicht den gewünichten, ja überhaupt Feinen 
nachhaltigen Erjolg gehabt, obwohl fie anfangs eine gewifle Wirkung veripradyen. Bald 


284 Paul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umfchau. 


wurden die alten Beziehungen, wo fie vorübergehend wirflich abgebrochen waren, wieder 
aufgenommen, und die Gejchäftsleute fuhren fort, ihren Bedarf da zu deden, wo er in 
gewohnter Weile am preismwürdigften und pafjenditen beſchafft werden fonnte. Es ift 
demnach faum anzunehmen, dat die neuejten Berrufserflärungen diefer Art erhebliche 
Erfolge erzielen werden. In Frankreich wie in Holland werden öffentlich und brieflich 
Aufforderungen verbreitet des Inhalts: Kauft nicht von den Engländern, helft den 
Buren! Bon den Kaufleuten wird erwartet, daß fie feine einzige Ware engliihen Ur: 
iprungs beziehen. Ganz ohne Wirkung dürfte diefe Verrufserflärung aber doch nidjt bleiben, 
ja vielleiht aud) anderwärts auf dem Feitlande Nachahmung finden, weil die Abneigung 
gegen die Engländer infolge ihres blutigen, aller Kultur Hohn fprechenden Eroberungs- 
feldzuges gegen die Burenrepublifen in allen Staaten des europäiihen Feitlandes eine 
fo tiefgreifende und nachhaltige ift, daß fie ſelbſt im geichäftlichen Leben fich geltend zu 
machen beginnt. 
* * 

Hervorgerufen wurde der kriſenartige Zuſtand der induſtriellen Entwick— 
lung Deutſchlands durch Zuvielerzeugung und verſchärft durch Ueberſpekulation. 
Zuerſt ſahen ſich davon einzelne Zweige der Textilinduſtrie ergriffen, ſpäter auch die 
Metallinduſtrie und einige andere Induſtrien. Roh: und Hülfsſtoffe, wie vorübergehend 
Flachs und Wolle und andauernd Kohle und Eifen, wurden im Preiſe zu hoch getrieben 
und berteuerten die Erzeugung. Die Ausfuhr ftocdte infolge friegeriiher Wirren. Die 
Nachfrage lieg nad. Daneben famen in induftriellen Börfengründungen bedenkliche 
Berfehlungen vor. Aus diefer wirtichaftlichen Ebbe wird und muß fich die deutjche 
industrie wieder aufraffen und das Krankhafte ausscheiden, um zu gefünderen Zuftänden 
zu gelangen. Der krilenhafte Zuftand wird heilfam jein, wenn man die begangenen 
Fehler beachtet und fortan zu vermeiden ſucht. 

Im Auslande hat diefer frifenhafte Zuſtand hie und da eine gewiffe Schadenfreude 
hervorgerufen, allein die Achtung vor der wirtſchaftlichen Leiftungsfähigfeit und Größe 
des Deutfchen Neiches nicht im geringsten vermindert. Mitte Juli verherrlichte ‚der 
„Budapefti Dirlap“, ein feineswegs deutichfreundliches Blatt, die wirtichaftliche Be— 
deutung des Deutjchen Reiches und jchrieb: „Zum Rieſen ift der Deutiche in feinem 
Selbſtbewußtſein geworden und hat aud) der Welt achtunggebietende Kraft, Entichloffenheit, 
fühne und unbeugiame Ausdauer gezeigt. Er ift in allen Dingen dergeftalt vorwärts 
gejchritten, wie einjtens die Legionen der römifchen Gäfaren: tolltühn, hart, furdtlos, 
im Herzen mit dem überzeugten Glauben an !den Erfolg und an das Glück und mit 
jenem flammenden Gefühl der Selbftjuht, wonach alles Gute auf diefer Welt ihm zu— 
fommt, nur muß er es mit Arbeit und all den Mitteln erwerben, die das /moderne 
Veben ihm in die Hände ſpielt. . . Glücd, Kriegführen, Arbeit, Sparjamteit, jtaatliche 
Fürſorge, bis zur Tollfühnheit entwidelter voirtichaftliher Wagemut haben im Reich 
mächtige Hapitalien zufammengehäuft, die große Maffe der brach liegenden Arbeitskräfte 
ausgenust und fruchtbar gemacht. Eine auf jeden Atemzug achtende Politik hat mit 
derjelben Sorgfalt, derjelben Entjchloffenheit die wirtfchaftlichen Kräfte organifiert, wie 
vorher die Waffenfraft, und mit derjelben in Fleisch und Blut übergegangenen Disziplin 
die Bewegungen, die Ihatkraft der wirtichaftlichen Heereskräfte nelenft, wie fie e8 in 


Vaul Dehn, Weltwirtichaftliche Umschau. 285 


ihren Sriegen mit ihren Heeresjäulen gethan hatte. Die Organifierung und Leitung 
des wirtichaftlichen Yebens unter jtaatlihem Banner, die auf das wirtſchaftliche Gebiet 
übertragene Heereswillenichaft, das hat das Deutſche Reich zu einer Fülle der Früchte: 
einheimfjung geführt, auf die wir mit Staunen blicken müffen.“ 

An diejes Loblied über die wirtichaftliche Größe Deutichlands Fnüpfte der „Buda— 
peiti Dirlap“ die Forderung, Ungarn möge ſich mehr aus anderer Richtung eine Kapitals— 
zufuhr fihern und fich langfam von der wirtichaftlihen Abhängigkeit von Deutſchland 
befreien. Es iſt Elar, dab der „Budapeiti Hirlap“ von Deutfchland nit eine Schäbdi- 
gung der ungarifchen Volkswirtſchaft fürchtet, jondern vielmehr den wachſenden Einfluß 
des Deutihtums auf Ungarn, der ſich zunächſt auf wirtichaftlichem Gebiete bethätigt. 
Wie jehr Ungarn mit Deutichland verknüpft ift, geht aus einer Aeußerung des Peſter 
Blattes hervor, wonach mehr als die Hälfte der geiamten geichäftlichen Beziehungen, die 
Ungarn zum Auslande hat, an das mirtichaftliche Yeben Deutihlands gebunden jei. 

* 
— 

Seit Jahr und Tag ſteht die Induſtrie unter dem Druck hoher Kohlenpreiſe, die 
im Winter auch der Privatmann empfindet. Nicht Kohlenmangel herricht, wohl aber 
Kohlenteuerung. Da nun die Kohlenwerfe und Kohlenhändler in Verbänden oder Verban— 
delungen feſt zufammenhalten, jo ift vorläufig eine erhebliche Preisermäßigung nicht 
zu erwarten. Inwieweit der Staat die Preisftellungen der Kohlenvereinigungen beein: 
fluffen kann und ſoll, ift ein Problem, das nur von einer ftarfen Hand gelöft werden 
wird. Bis dahin wird man verſuchen müflen, Abhilfe von einer anderen Seite her zu 
finden und zwar in Geftalt einer Konkurrenz gegen die Kohle. Ein ſolches Konkurrenz: 
mittel bejiten alle Länder von großem Wafferreichtum und befonders jolche, deren Ge— 
wäffer auf kurze Entfernungen große Gefällsunterfchiede aufzumweifen haben wie die 
Alpenländer. In den deutfchen und öſterreichiſchen Alpenländern ftehen viele Millionen 
von Pferdefräften an mechanischer Arbeit in Form von bewegten Wafjern, aljo von 
Bächen und Flüffen, oder von großen Wajjerbehältern, alſo von Seen, zur Verfügung 
und bilden eine unerjchöpfliche, fich ftetö erneuernde Kraftquelle. Wenn es einmal dahin 
gefommen fein wird, daß die Wafferfräfte in den deutichen Bergen gefammelt und nutzbar 
gemacht werden zur Erzeugung von Licht, Verkehrsmitteln und motorifcher Kraft und 
wenn durch Fortichritte der Elektrizität diefe drei Dinge auf weitere Entfernung über- 
mittelt werden fünnen, dann wird der Kohle ein nicht zu unterjchäßender Konkurrent 
entgegengeftellt jein, der jich in jpäter Zukunft wahricheinlich Langlebiger erweilen dürfte 
als die Kohle ſelbſt. 

Bu den wafjerreichiten und waſſerkräftigſten Yändern Mitteleuropas gehört Tirol, 
und man hofft dajelbft, wie aus einer Fleinen Schrift von E. M. Menghius über 
„Tirols Wafferkräfte und deren Bermwertung“, herausgegeben von den Handels: 
und Gemwerbefammern in Tirol, hervorgeht, daß mit Hilfe von deutichem Kapital und 
deutfhem Unternehmungsgeift Tirol wieder jene Blüte erlangen wird, die es im Mittel: 
alter bis zur Entdedung Amerifas aufzumweifen hatte, daß mit deuticher Hülfe nicht nur 
die Wafferfräfte Tirols erichloffen, jondern auch Handel und Verkehr mit dev Levante 
und dem ferneren Orient wieder belebt werden. In der erwähnten Schrift findet ſich 
eine genaue Weberficht der vorhandenen Gewäſſer und Waflerfräfte Tirold. „Es wird 


286 Baul Dehn, Weltwirtichaftliche Umfchau. 


die Zeit kommen,“ heißt es da, „wo jich die Felſen Tirols in buchſtäblichem Sinne in 
Hold verwandeln werden. Die Elektrocdyemie wird in Tirol einmal Wunder wirfen.“ 

Tirol und Bayern find wirtichaftlidy faum zu trennen. Es wäre in hohem Grade 
erwünſcht, wenn fich die deutſche Eleftrotecdhnif, die doch an der Spite marjdiert, den 
deutihen Bergen und ihren Wafjerkräften zumenden wollte An der Sill in Tirol 
wurde in dieſem jahre die erite größere Waflerkraftanlage, die „Brennermwerfe“, eröffnet, 
die über 6000 Pferdekräfte liefern jollen. Ein Anfang it aljo gemadht. 

In Italien iſt man bereitS weiter vorgeichritten. Nach den amtlihen Angaben 
jollen in den Provinzen Biemont, Yombardei und Venedig an Dampffraft 60000, an 
angewandten Wajlerfräften 103 000 und an nod) verfügbaren Wajferfräften 996 000 Pferde: 
fräfte vorhanden fein. Man wird daher zunächſt in den Alpenländern die ſchwarze 
stohle durch die „weiße Kohle“ verdrängen, fid) der Stohlenteuerung entziehen und nod) 
neue Kräfte in großer Anzahl dazu jchaffen fünnen. 


* * 
* 


Neue groge Verkehrswege, Wafierftraßen und Eijenbahnen, die für das 
Deutjche Reich von Bedeutung und Nugen find, wird fih Oeſterreich ſchaffen. Zu 
diefem Zwecke haben dort die geießgebenden Hörperichaften mehr als 1 Milliarde Marf 
bewilligt und zwar iiber 600 Millionen Mark für neue Wafferftragen und über 400 Mil 
lionen Mark für neue Eijenbahnen. Die SFertigftellung diefer neuen Verkehrsmittel 
fan feinem Zweifel unterliegen, indejjen wird fie geraume Zeit in Anjprudy nehmen. 
Die neuen Kanäle werden nicht vor dem Jahre 1915, die neuen Eijenbahnen etwa im 
Jahre 1908 vollendet jein. 

Vom reihsdeutihen Standpunft aus betrachtet find die neuen öfterreichiichen 
Waſſerſtraßen nur willfommen zu heigen, da fie geeignet ericheinen, den Verkehr der 
deutihen Wafferftragen und insbejondere der deutfchen Häfen nod; mehr zu beleben. 
Zunädjft wird die Donau mit der Oder durd) einen Stanal verbunden werden, der von 
Wien nach Dderberg gebt. In Galizien joll jodann die Weichjel mit dem Dujeſtr und 
beide mit der Oder durch einen Slanal verbunden werden. Ferner wird von der Donau 
entweder in der Nähe Wiens oder bei Linz ein Kanal nad) der Moldau gebaut und 
jomit eine Wajjerftraße zwilchen der Donau und der Elbe hergeftellt werden. Endlich 
it noch eine Wafferftraße zwifchen dem Donau-Elbe: und dem Donau-Üderfanal vor: 
gejehen und zwar durd; Sanalifierung der oberiten Elbe von Melnik nach Bardubit und 
durch Anlage eines Kanals von Pardubis über Olmütz und Prerau nad) Oderberg. 

Welchen Wert diefe Kanäle für Deutichland haben werden, geht aus einem Bericht 
des Abg. Naftan hervor, in dem gejagt wird, daß die Are drs Welthandel im Atlan- 
tiichen Meer Liegt, Oefterreich aber zu weit davon entfernt ſei. Durch die Entwicklung 
jeines inneren Verfehrs werde es der Weltare näher rüden. Mit dem Donau-Moldau— 
Elbe-Kanal werde ſich Oeſterreich die Zugehörigkeit zur gleichen wirtichaftsgeographifchen 
Bone fihern wie Sachſen, Baden, Bayern und Württemberg. Erjt die Verbindung der 
Donau mit der Elbe und Hamburg würde den Berkehrsinterefien Defterreihs einen 
Abflug nach dem Weiten verichaffen, dem Pande neue Impulſe und jeinem wirtjchaftlichen 
Leben einen neuen Schwung verleihen. Noch weiter ging der Deutichnationale Wolf, 
der hervorhob, daß durch die neuen Waflerftragen die Neigung der gefamten Wirtichafte: 


Paul Dehn, Weltwirtichaftliche Umfchau. 287 


fläche Deutſchöſterreichs gegen die Nordſee und Oſtſee herbeigeführt würde, eine Neigung, 
die allmählich zu einer feſten wirtfchaftlichen Bereinigung Deutichöfterreihs mit dem 
Deutſchen Reiche in Form einer Zollunion führen müſſe. In derjelben Ridytung, wenn 
auch von jeinem tichechiichen Standpunkt, machte der Abg. Kramarz Bedenken geltend und 
meinte, in den internationalen Kanälen fein Glüdf für die Tjchechen erbliden zu fünnen, 
ja befürchten zu müffen, daß Defterreich die Kanäle für Deutichland baue und es diejem 
Reiche ermögliche, den Defterreihern am Balfan und in der Levante noch erfolgreicher 
Konfurrenz zu machen. 


Mit dem Bau diejer Kanäle großen Stils übernimmt Deiterreih ungeheure 
finanzielle Paften, und feinen Technifern werden Aufgaben geftellt, wie jie jchwieriger 
bei Stanälen nod) nirgends zu löjen waren. Aber vom reichsdeutihen Standpunft aus 
fann man fid) nur befriedigt über dieſe Wafferftragen äußern, da nad) ihrer Fertig: 
ftellung die Donau drei Anfchlüffe nach Norddeutichland, nach der Elbe, der Oder und 
der Meichiel, erhalten wird und da die induftriereichften Gebiete Defterreichs den deutichen 
Häfen Hamburg, Stettin und Danzig nody näher gerüdt werden. Dieje Nüdwirkung 
des beichlofienen öjterreichiichen Nanalnekes hat man in Wien wohl dunfel empfunden. 
Auch lagen Vorſchläge vor mit dem Zmede, ſolche Rüdwirkungen zu durchfreuzen und 
das dfterreihiiche Waſſerſtraßennetz in Verbindung mit der öfterreihiichen Küfte, mit der 
Adria, zu bringen. Bon dien aus murde ein Stanalprojeft in die Teffentlichkeit geſetzt, 
wonach eine Waflerftrage von Aien über den Semmering und an Graz und Yaibadı 
vorbei über den Ntarft nach Trieft gebaut werden jollte, mit zahlreichen Hebewerken, 
nammerjchleufen und Qunnels. An Ungarn wird jchon jeit Jahren die Möglichkeit 
erörtert, Budapeft und Fiume durch eine Wafferftrage zu verbinden, etwa unter Ein- 
beziehung des gleidyzeitig geplanten Kanals Vukovar-Samatz über Kroatiſch-Brod und 
unter Durchquerung des Naritgebirges mit Hilfe des Syſtems der jchiefen Ebenen — 
allein man ſchreckt vor den tedhniichen Schwierigkeiten und vor den großen Koſten zurüd. 
Beide Pläne werden, wenn iiberhaupt, keinesfalls in abjehbarer Zeit durchgeführt werden. 
Voraussichtlich wiirde auch der Verkehr auf dieſen Waſſerſtraßen nicht erheblich fein, da 
nun einmal das industrielle Nordöſterreich e8 aus verfchiedenen Gründen für vorteilhafter 
findet, über die norddeutichen Häfen, namentlich über Hamburg, ınit dem Auslande zu 
verkehren. Das gejchieht zuweilen auch in Fällen, die auf den erften Blick überrafchen 
müſſen. So fommt nad) einem Bericht des Anduftriellen Klubs in Wien, der angefehenften 
Großinduſtriellen⸗Vereinigung Oeſterreichs, Stabeijen, das in Böhmen oder in Mähren 
hergeftellt worden ift und nadı Gala an der unterſten Donau geſchickt werden joll, 
nicht etwa auf dem nächſten Wege, auf der Eifenbahn oder auf dem fombinierten Wege 
Eifenbahn-Donau zur PVerjendung, aud nicht über den djterreichiichen Hafen Trieft, 
jondern es geht über Oderberg mit der Eifenbahn unmittelbar nad) Hamburg oder aud) 
unter Benutung des Elbe-Weges und dann ſeewärts um gang Europa herum bis an 
ieinen Beitimmungsort. Weshalb? Die Antwort iſt jehr einfach, weil nach den Berech— 
nungen des Snduftriellen Klubs 10000 kg Stabeifen von Wittkowitz über Trieit nadı 
(alas 360 M., auf dem unmittelbaren Eifenbahnmwege noch etwas mehr, dagegen über 
Oderberg und Hamburg nur 235 M. Frachtkojten zu zahlen haben. 

So erflärt es ſich, daß ſchon jeit Jahren der ganze Mafjengüterverfehr zwiſchen 


288 Paul Dehn, Weltwirtichaftlihe Umſchau. 


dem Südojten und Nordmweiten Europas, ja jelbit zwifchen dem Gebiet der unteren 
Donau und des Schwarzen Meeres einerjeitS und des Rheins und der Elbe anderer: 
jeitö jih um Europa herum auf dem Seewege bewegt, der zwar fünfmal länger ift als 
der Landweg, aber durchſchnittlich felbit für fcheinbar ungünftige Beziehungen erheblich 
billiger, für die Küftengegenden jogar mehr als fünfmal billiger ift als die Eijenbahn. 

Eine Verkehrskarte der Erde würde gang anders ausiehen als die herkömmliche, 
wenn man fie nadı der Billigkeit der Frachten, aljo nicht nad) den Entfernungen, 
jondern, was für die Praxis maßgebend ift, nach der Höhe der Frachtſätze feſtſtellen 
wollte. Auf diefer Karte würde ſich zeigen, dat Süddeutſchland weiter entfernt ift von 
Hamburg und jogar jehr viel weiter ald Nords oder Siüdamerifa, daß Chicago näher 
an Mannheim Tiegt als eine oftpreußiiche Stadt, ja jelbit näher als Berlin. Mit den 
Seefrachten können die Yandfradjten nicht konkurrieren, und jo erklärt ſich jene jeltiame, 
unnatürlide und zumeilen unleidliche Berichiebung des Güterverfehrs in und nad) 
Europa. 

Unter diejen Umftänden kann der neuen groß angelegten und tedmifch hervor: 
ragenden Alpenbahn Deiterreihs, der Tauern - Harawanfen-Bahn, die 
Salzburg und Trieft unmittelbar in Verbindung bringen wird, eine bejondere und 
große verfehrspolitiiche Bedeutung für das Deutiche Reich nicht zugeitanden werden. 
Dieje Bahn wird von Schwarzad nächſt Yend an der Giſelabahn über Gaſtein durch 
den großen Tauerntunnel nad) Möllbrüden führen, dort die bereits beitehende Südbahn- 
ſtrecke bis Villach verfolgen, nah Aufnahme eines Anjchluffes von Klagenfurt bei 
Apling die Karawanken durchbrechen und fih dann durd; das Wocheinerthal über Görz 
auf die Höhen des Karft winden bis Optichina, einem der ſchönſten Ausfichtspunfte über 
das Mittelmeer, wo fie dann jüdöftlih in einem weiten Bogen nach der Bucht von 
Muggia bei Trieft niederfteigt. Die neue Bahn erfordert drei größere Tunnels von 
8/,, 8 und 6 km und wird insgefamt rund 150 Mill. M. often. Defterreid baut 
diefe Bahnen im Intereſſe feiner öftlichen Alpenländer, die dort eine empfindliche Ber: 
fehrslücte aufzumweien haben, und bejonders zu Gunſten feines Dafens Trieft, deſſen 
Berfehr feinen rechten Aufſchwung nehmen will. Durd die neue Bahn wird Trieft dem 
Deutichen Reiche erheblich näher gerüdt, ja für eine ganze Reihe von Städten in Süd— 
oftdentichland wird Trieft der nächſt gelegene Seehafen werden. Bisher war der Ver— 
fehr Deutjchlands über Trieft nicht erheblich und beichränfte fih auf Gemüſe, Süd— 
früchte, Getreide, Dele, Petroleum, Baummolle und Wolle in der Einfuhr und auf 
Bier, Tertil- und Eifenwaren in der Ausfuhr. Nach Vollendung der Tauern-Kara— 
wanfenbahn wird fich diefer Verkehr vorausfichtlich heben, namentlich wenn deutiche 
Sroßhandlungsfirmen ſich in Trieft niederlaffen jollten. Genua wird indejlen feine 
Ueberlegenheit behalten, da Weftdeutichland mit jeinem größeren Verfehr den italienischen 
als den näheren Hafen bevorzugt, der überdies einen leiftungsfähigeren Kaufmannsftand 
und zahlreichere Verbindungen nad) allen Richtungen hin aufzumeifen hat. In die 
Sadgaffe des Adriatiihen Meeres fährt fein Schiffer gern hinein, und wenn er es thut, 
fo fordert er höhere Frachten, weil er in Trieft, Venedig oder Fiume faum Gelegenheit 
zu Rückfrachten, Neparaturen u. ſ. w. findet. Somit haben von der neuen Bahn, ob- 
wohl fie das öftliche Mittelmeer etwas näher an Deutſchland heranrückt, die deutichen 


Paul Dehn, Weltwirtfchaftlihe Umſchau. 239 


Nordſeehäfen mit Hamburg an der Spitze nicht die geringſte Beeinträchtigung zu be 
fürdten. Hamburg wird jeine Stellung als widtigiter Seehafen des nördlichen 
Deutichlands behaupten und jeine weiterreichende Anziehungskraft nad) Vollendung des 
neuen oben angedeuteten Wajleritragennekes vorausfichtlich noc) weit über das Gebiet 
der oberen Elbe hinaus ausdehnen. 

Gleichwohl jcheint man in Tefterreid) beforgt zu fein, daß die Tauern Karawanken— 
bahn dem deutichen Verkehr, bejonders dem jüddeutichen, große Vorteile bringen fünnte. 
Aus diefen! Grunde hat man beichloifen, zuerft von der Tauernbahn nur die Strede 
Schwarzach-Baſtein zu bauen, dann aber die Arbeiten an der Tauernbahn ruhen zu 
laffen, die Karawankenbahn in Angriff zu nehmen und fie im Jahre 1905 fertig zu 
jtellen, die Tauernbahn aber erit darnach zu vollenden und jie erſt im Jahre 1908 dem 
Betriebe zu übergeben, damit der öſterreichiſche Verkehr mit Trieft einen angemefjenen 
Voriprung erhält. Man dürfte Tih in Deutjchland davon nicht weiter berührt fühlen, 
jo lange die Kaufmannſchaft von Trieft für das effektive Gejchäft jo wenig Neigung 
und Perftändnis bekundet mie bisher. Für die deutichen Handelsbeziehungen mit dem 
näheren Orient hat die neue Alpenbahn, wie gejagt, einige Bedeutung, aber durchaus 
feine groge Bedeutung, und es zeugt von bedenflihem Unverftändnis für die thatfäch: 
lihen Berhältniffe, wenn ein Berliner Pofalblatt ji zu dem Ausipruch verftieg: „Mehr 
als ſonſt von irgend einem Unternehmen in dem verbündeten Tefterreih darf man im 
Deutihen Reiche von den neuen Alpenbahnen jagen: Nostra res agitur. Das ilt 
meit über das Ziel hinaus geichoilen. Trieft hat vorläufig für Deutichland eine ganz 
untergeordnete Bedeutung, da es in feiner Beziehung mit Genua oder Marfeille fon- 
furrieren fann, und ed wird auch in Zukunft nur aushilfsweife herangezogen oder in 
gerwifien Spezialitäten benutt werden. Wäre etwa die Frage aufgerworfen worden, ob 
Deutihland für die Tauern - aramanfenbahı einen Zuſchuß zu geben hätte, wie einit 
für die Gotthardbahn, jo hätte dieje Frage unbedingt verneint werden müflen. 


* * 
* 


Eine entlegene, nahezu verkehrsloſe kleine Waſſerfläche ſcheint ſich zu einem Brenn— 
punft europäiſcher Politik, ja der Weltpolitik zu entwickeln. Wirtſchaftlich betrachtet iſt 
der Perſiſche Meerbuſen noch heute faſt ohne Bedeutung. Wenn aber einmal, was 
allerdings noch viele Jahre in Anſpruch nehmen wird, die kleinaſiatiſche Ueberlandbahn 
über Bagdad hinaus bis zu der arabiſchen, unter türkiſcher Hoheit ſtehenden Hafenſtadt 
Koweit — im Nordmeiten des Meerbujens, jüdlic) unmeit der Mündung des Scatsel: 
Arab — geführt worden fein wird, dann dürfte auch jene Gegend in den Weltverfehr 
einbezogen werden und zugleich jene politiiche Bedeutung erlangen, die ihr ſchon heute 
beigelegt wird. Worderhand ringen dort politische Nntereilen miteinander. Gngland 
will ſich im Berfiihen Meerbuien feitieken, Rußland fann da nicht unthätig bleiben, 
denn es ſucht aud) dort, was es zu feiner weltwirtichaftlichen Entmwidelung braucht, eine 
Verbindung mit dem offenen Meer. Zollte 88 wegen des Berftiihen Meerbujens zu 
einem ernſten Gegenjat zwiichen Gngland und Rußland fommen, jo wird indeifen die 
Entſcheidung nicht in jener Gegend fallen, da es für Rußland unter den gegenwärtigen 
Verhältniſſen unmöglich ift, jelbit im Ginverftändnis mit der perfiichen Regierung einc 
größere Anzahl von Truppen zu Yande nad) dem Perſiſchen Meerbufen zu ſchaffen. Die 

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290 Baul Dehn, Weltwirtichaftliche Umſchau. 


Cchmwierigfeiten des ganzen Geländes im jüdlichen Perfien find nahezu unüberwindlich, 
fie find jo groß, dak fie auch die Anlage von Eiſenbahnbauten auf viele Jahre hinaus. 
zuichieben vermögen. 

Das Schickſal des Perfiihen Meerbufens ijt ein Problem der Weltpolitif. Ende 
Auguſt befiirwortete Sir Rowland Plennerhaflett, der bekannte Ddeutichfeindliche 
Konjunfturalpolitifer, ein endgiltiges Uebereinkommen zwiichen England und Rukland, 
da jonft ein newaltiger Krieg ausbrechen müſſe. England könne dem ruſſiſchen Reiche 
erlauben, jeine Gifenbahnen vom Kaukaſus und von Mittelfibirien nach dem Berfischen 
Meerbufen herunter zu führen, Alten biete Naum genug für England und Rußland. 

Bom Standpunkt mitteleuropäticher Intereſſen wäre darauf hinzumirfen, daß der 
Ausgangshafen der Heinaftatiichen Eifenbahn neutral bliebe und mit feinem freien Verkehr 


weder von einer ruffiichen noch von einer englischen Oberherrſchaft beichränft würde. 


* * 
* 


Erfreuliche Nachrichten kommen aus dem fernen Siam. Die große Eijenbahn von 
Bangkok über Mjuthia nach Korat (288 km) ijt endlicd) eröffnet worden; fie wurde mit 
engliihem Kapital erbaut, weil das deutiche leider wieder einmal verjagte, aber doch 
unter deuticher Yeitung, wie denn auch die Betriebsführung in den Händen deuticher 
ngenieure und deuticher Beamten verbleiben wird. Deutſche Technif und Thatfraft 
haben dieſen Zchienenweg durch die Urwälder und Gebirge des nordöftlichen Siams 
gelegt und ein ftattliches Stüd Yand der Kultur erſchloſſen. Yeider konnte der oberite 
Träger des deutjichen Einfluffes in Siam, Direktor Bethge, Mitte der achtziger Jahre 
Baurat im ferbijchen Eifenbahnminifterium, jeitdem der Pionier deutjcher Antereffen in 
Siam, diefen Tag nicht erlchen, da er dor fahr und Tag mit Frau und Find von einem 
jühen Tode ereilt wurde. Inzwiſchen bat er in dem Baurat Behrts einen Nachfolger 
gefunden, und jo iſt zu hoffen, dat der deutiche Einfluß in Siam ſich glücklich weiter 
entwideln wird mit Unterftügung der deutichen Firmen in Siam, die insbejondere die 
wichtige Reisausfuhr beherrſchen. Am Hofe in Bangfof wird man zweifellos die Ent: 
wicklung deuticher Intereſſen immer mehr begünftigen in der Erkenntnis, daß deutſcher— 
ſeits nicht nur keinerlei Bedrohung der Unabhängigkeit Siams zu befürchten ift, jondern 
daß an der Aufrechterhaltung dev Selbitändigfeit Siams das Deutiche Neich das größte 
Intereſſe hat. R R 

p 

Nad) einer Veröffentlichung aus.der Kanzlei des rufftiichen Minifterfomitees bean: 
ſprucht eine Meile von Paris nach Wladiwoſtok über die fibiriiche Bahn nur etwa 
3, Moden. Die Bahn ift noch nicht fertig aeitellt, aber es befteht eine ununterbrodene. 
mit Dampfbetrieb unterhaltene Verbindung bis Wladiwoſtok teils durch die Eifenbahnen, 
teils auf Dampfichiffen. Die Fahrt geht von Paris über Köln, Berlin, Alerandrowo, 
Warſchau, Moskau, Tula, Samara, Ticheliabinsf, Srkutst mach Wladiwoſtok in einer 
Sefamtlänge von 11950 km. Zu Wailer erfolgt die Heberfahrt über den Baifalfee 
(64 km) auf einem befonders zur Aufnahme eines ganzen Eifenbahnzuges eingerichteten 
Eisbreherdampfer und von Sretensf bis Chabarowsk auf dem Scilfafluffe und dem 
Amur (2240 km) mit dem Dampfer. Indeſſen icheint es, als ob thatfächlich diefe Ver 
bindung nicht jo Schnell ift, wie die wujliiche Regierung anfindigte. Im Frühjahr 1900 


Paul Dehn, Weltwirtichattlihe Umſchau. 291 


unternahm der Dolmetjcher der deutihen Gejandtihaft in Peking Frhr. von der Golk 
die Rückreiſe von Peking nach Berlin auf diejem Wege, brauchte aber dazu 37 Tage, 
anfcheinend infolge empfindlicher Verzögerungen auf dem Schilfa und Amur. Der fran- 
zöftiche Journaliſt Stiegler, der eine Schnellreife um die Welt in 64 Tagen madıte, 
verließ Paris am 29. Mai 1901 und traf in Wladiwoſtok am 27. uni ein, mar dem: 
nach auf diefer Strefe nahezu dreigig Tage unterwegs. Für den Durchſchnittsreiſenden 
dürfte die Fahrt von Paris nach Wladimoftof über die fibiriiche Eifenbahn mindeitens 
5 Wochen in Anipruch nehmen. Erit nad Auswechslung der Schienen und nad) der 
Verſtärkung des jehr dürftigen Oberbaues, etwa in zehn Nahren, wird die fibiriiche Bahn 
jene Peiftungsfähigfeit befunden, die man ihr etwas verfrüht ſchon jest beimigt. Man 
überfieht auch die großen Schwierigkeiten des Betriebes bei der eingleifigen Anlage im 
Falle Starken Froftes, großer Schneewehen und plöglihen Tauwetters. Bei den djine: 
fiihen Wirren verjagte die jibirtihe Bahn und Rußland war genötigt, fremde Schiffe zu 
mieten, um feine Truppen nach China auf dem Seewege zu befördern. 

Bon Neapel aus fährt dev Norddeutiche Lloyd bis Schanghai in 31 Tagen. Von 
Queenstown geht eine Konkurrenzlinie über Amerika und das Stille Meer nad Oftaften 
und befördert nad Schanghai in 39 Tagen. Im allgemeinen iſt demnach der Seeweg 
nah Dftaften durd; den Suezkanal mit dem Norddeutichen Lloyd vorzuzieben. Dieje 
Strede erfordert weniger Zeit und bietet mehr Abwechslung als die Fahrt über Nord- 
amerifa und das Stille Meer und etwa ebenjoviel Zeit wie die Verbindung mit der 
fibiriichen Eifenbahn.. Mit der fibiriichen Eifenbahn wird man freilich billiger von Paris 
nah Schanghai fommen fünnen. Nach ruffiihen Angaben wird die Neife von Paris 
nah Schanghai in der eriten Wagenklafje nur 690 M. koften, während der Lloyd einen 
höheren Preis berechnet. Aber welche Bequemlichkeit und welche Freiheit der Bewegung 
genießt man auf einem Vloydichiffe und welche Qual muß es jein, dreißig Tage in einem 
Eiſenbahnwagen zuzubringen, jei er auch noch jo lururiös eingerichtet! 

Im öftlichen Sibirien bekundet die Eijenbahn bereits ihren befebenden Einflup. 
Raſch vermehrt fich die Bevölkerung. C'haborowsk, noch vor kurzem ein Dörfchen, der 
vorläufige Endpunft der Bahn von Wladiwoſtok und ein Umjchlagepunft für den Verfehr 
auf dem Amur in der Richtung nach Sretensf, der öftlichiten Station der fibirifchen 
Bahn, it eine anſehnliche Stadt von 15000 Einwohnern geworden. In einem Auffak 
über die Ausgeftaltung der Mandichurei rühmt ein Mitarbeiter der Londoner „Monthlh 
Revier“ die Thatkraft der deutichen Kaufleute und ihre erfolgreiche Wirkſamkeit in jener 
Segend und beflagt die Berdrängung der englischen Bertreter. In ganz Sibirien gäbe 
e3 nur zwei englifche Firmen und nur äußerft jelten höre man die engliiche Spradıe. 
Dagegen find in Wladimoftof, wie der engliſche Reijende in der „Monthly Revier“ 
berichtet, nicht weniger al3 400 Deutjche anfällig, unter ihnen die Inhaber der wichtigsten, 
am fibirifchen Handel beteiligten Häuſer. „Deutich it die Fremdſprache im Handels- 
verfehr, wie Franzöſiſch die des geſellſchaftlichen Lebens iſt. Wir follten, wie die 
Deutichen, beftrebt fein, mit den Ruſſen in Handelsverbindungen zu treten, und, wie die 
Deutihen mit jo glüdlichem Erfolge gethan, ebenfalls aus der für Handelsunter- 
nehmungen außerordentlich nünftigen Yage Vorteile zu ziehen juchen. Aber es ift wenig 
Hoffnung vorhanden, daß der engliiche Kaufmann das verlorene Terrain zurüderobert.“ 

19* 


“m Paul Tebn, Weltwirtichaftliche Umichau: 


Schon im fommenden Herbft joll die mandihuriihe Eifenbahn, die während 
der chineſiſchen Wirren faft völlig zeritört wurde, jomeit fertiggeitellt werden, daß 
ein borläufiger notdürftiger Berfehr eröffnet werden kann. Die amtliche Uebergabe 
der ganzen Strede an das ruffiiche Verfehrsminifterium wird indeſſen erit nadı PVoll- 
endung der Schuppen und Stationsgebäude wie nach Beijtellung des Fahrbedarfs, erit 
nach einigen Jahren, erfolgen. immerhin wird die ruſſiſche Regierung ſchon in aller: 
nächiter Zeit über eine unmittelbare Bahnverbindung mit der Mandſchurei verfügen, die 
bei Kaidalowo von der fibiriichen Bahn abzweigt, die Mandſchurei durdyichneidet, Dalııy 
und Port Arthur erreiht und außerdem nod) in die Nordbahn nach Peking einmündet. 
Diefe Bahn bedeutet für Rußland eine weitere erhebliche Ztärfung jeiner politijchen 
Stellung in Titafien gegenüber China und Japan und ermöglicht ihm die wirtichaftliche 
Aufichliegung der Mandichurei mit ihren Bodenichigen an Gold, Zilber, Eiſen und 
Kohle. In den fruchtbaren Streden wird Nupland auch die Baumwollkultur betreiben 
und fit) allmählich vielleicht den ganzen Bedarf jeiner Induſtrie an Rohbaumwolle jelbit 
bejchaffen fünnen. Bisher konnte es nur 25 p&t. dieſes Bedarfs aus Turfeftan be: 
ziehen. Es wäre aud für andere Ztaaten erfreulich, wenn Rußland immer mehr Roh 
baumwolle erzeugen und ſchließlich auf den Weltmarkt als Konkurrent Nordamerikas 
herbortreten könnte. 

Ch die politische Angliederung der Mandichurei an Rußland früher oder jpäter 
erfolgen wird, ericheint unerheblih. Maßgebend iſt auch in diefem Falle, was einmal 
‚sriedrich Yilt jagte, daß, wer über die Verfehrsmittel eines Landes verfügt, das Yand 
jelbft in jeiner Gewalt hat. 


© 


Berbitwald. 


Inmal noch wie im Verbluten Wieder Ichlägt die goldne Flamme 
Sprüht die letzte Sommerpradt Zu des 3ahres Scheidefeit, 
keuchtend auf in Purpurgluten Züngelnd fort von Stamm zu Stamme” 
Eh’ fie finkt in Tod und Nacht. Durch des Hodtwalds kaubgeäft. 


Ob dem iommermüden Lande 
Ueber Waldgebirg und Flur 
kodert auf im Opferbrande 
Die hinfterbende Natur. 


Fulius kohmeyer. 


SISIRIRIRIRIRIPRIPRIBIPIPIRIBIPISIPIBITBISIBIBIPIPTIPTBIE 





Deutihtum im Auslande. 


Von 


Paul Dehn. 


Tentiche Kirche im Auslande. — Deutſches Schulweſen im Auslande. — Dolland. — Belgien. — 
Rußland und Bolen. — Burenitaaten. — NRordamerifa. — Ehile. — PBrafilien. 


Dentjche Kirche im Auslande. Auf der diesjährigen Hauptverſammlung des 
Guſtav Adolf: Bereins, die Ende September in Köln abgehalten wurde, ſprach 
Superintendent Klingemann-Eſſen über die Frage: Wie fann ein größeres Intereſſe 
für den Verein erwedt werden? und betonte in feiner Erörterung u. a. auch die 
Wichtigkeit der Diafpora für die Erhaltung des Polfstums. Der Guſtav Adolf-Verein, 
jagte Superintendent Klingemann, hat mit dem Nationalitätshader nichts zu thun. Er 
übt fein Liebeswerk an allen Glaubensgenoffen und will dafiir jorgen, daß unter allen 
Völkern Gottes Wort in der Mutterfprache verfündet werde. Aber auf deutichem 
Boden entjtanden, aus der Not der deutjchen evangelischen Chriftenheit berausgeboren, 
darf er auf die Thatiache hinweiſen, daß überall an den Grenzen des heimatlichen Be- 
fenntnifles unjerer Diajpora: Gemeinden auch ihr deutiches Volkstum gefährdet ift. Und 
wenn denn wirflich die Bewegung in Tefterreich ihren Anfang aus nationaler Bedrängnis 
genommen hat, jollte uns das nicht cin Grund mehr fein, fie mit Freudigkeit zu unter 
jtügen? Iſt denn die Thatſache vergejien, daß die gejegnete Reformation doc; auch eine 
That deutjchen Geiftes und mit einer nationalen Bewegung innig verbunden geweſen 
it? An die Verlufte, die unjer Volkstum durch kirchlich nicht vechtzeitig verforgte Aus: 
wanderung erlitten hat, an die Pflicht firchlicher Berjorgung unſerer Yandsleute in unjeren 
überjeeifchen Befigungen und Anfiedelungen, in Afrika, Brafilien u. j. w. kann hier nur 
frz erinnert werden. Der Guſtav Adolf-Verein darf bei jeinem Werben um hilfsbereite 
Freunde es getroit betonen, daß er ein hervorragend nationales Werk betreibt, ohne 
dag mir irgendwie für eine unrichtige Beurteilung des Charakters unjerer Arbeit fürchten 
müßten. 

Ende September tagte in Glasgow die 22. Nonferenz deutſch-evangeliſcher 
Baftoren in Großbritannien. Bertreten waren jümtliche deutſch-evangeliſchen Ge— 
meinden ®roßbritanniens, nämlich Bradford, Kardiff-Barın Seemannspaſtor), Edinburg, 
Glasgow, Hull, Yeith (Seemannspafteri, Yiverpool "Pfarrer und Ceemannspaftor), 
London (2), Middlesborougb, Newcaftle, Shields (Seemannspajtor), Sunderland. Der 
rege Beſuch betätigte aufs neucdie Notwendigkeit und den Nuten diefer Yereinigung- 

Auf dem Baulus-Plak vor dem Damaskus-Thor in Jeruſalem joll ein neues 
katholiſches Hoſpiz erbaut werden. Bisher hat ein rheiniſch-weſtfäliſcher Ausichuy 


294 Banl Dehn, Deutichrum im Auslande 


für diefen Zweck 50000 Mark zufammengebradht. Zunächſt wird mit dem Bau einer 
neuen deutihen Schule begonnen werden. 

Deutfches Schulwefen im Auslande. Mit der Erörterung dieſes wichtigen 
Gebietes beichäftigte fi) die Konferenz deutich-evangelifcher Paftoren im Orient, die 
Mitte 1901 in Alerandrien abgehalten wurde. ES fehlt den deutichen Schulen im Aus— 
lande der Rüdhalt an eine heimatliche Ecdulbehörde. Man erachtete die Errichtung 
eines Reichsſchulamtes als dringli und wünſchte zur Vermittelung der Yehrmittel 
und Lehrkräfte die Schaffung einer pädagogiichen Zentralausfunftsftelle für die Aus: 
landsjchulen Deutichlands. Auch jollten die Lehrer der deutihen Schulen eines Yänder- 
gebietes fidy zur Beratung gemeinfamer Intereſſen jährlich veriammeln. Für völlig un: 
genügend erachtete man die vom Deutjchen Reich gewährten Mittel zur Erhaltung und 
Förderung der deutichen Schulen im Auslande. Eine Erhöhung diefer Mittel jei eine 
Lebensfrage der deutihen Auslandsidulen. Die Aufgaben der deutichen Auslands: 
ichulen feien für die Weltmachtſtellung des Deutichen Neiches und für feine zunehmenden 
Dandelöbeziehungen ftetig wachſend und jollten daher doppelt auf ein wohlwollendes 
Perftändnis und auf ein thatfräftiges Eintreten bei allen mahgebenden Kreiſen des 
Baterlandes rechnen dürfen. Im Frühjahr 1902 wollen in Jaffa die Pehrer an den 
deutichhen Schulen im Orient eine Beiprehung abhalten. 

Der „Berein deuticher Yehrer in Antwerpen“ bat die deutjchen Yehrer im 
Ausland aufgefordert, jich zu einem Vereine zufammenzufchliegen, um das Gefühl der 
Bujammengehörigfeit der Deutihen im Auslande auch in der Nugend zu pflegen.” Auch 
diejer Berein will befonders eintreten für die Errichtung eines Reichsſchulamtes und 
für gemwiffe Forderungen zu Gunften der deutſchen Auslandsichulen und ihrer Yehrer, 
wie fie Dr. Johann Paul Müller, Direktor der Allgemeinen deutichen Schule zu 
Antwerpen, in jeinem Werf: Deutihe Schulen und deutjcher Unterriht im Aus- 
lande“ eingehend begründet hat. Als Organ des Vereins joll eine Monatsichrift unter 
dem Titel: „Die deutihe Schule im Auslande“ ericheinen. 

Holland. Ende September tagte in Nymmegen der Kongreß für die Ber: 
breitung der niederländiichen und niederdeutihen Sprache und Litteratur. 
Man erörterte, auf welchem Wege das Eindringen der frangöfiihen Sprache nicht nur 
nad; Holland, jondern aud) nad) Belgien verhindert werden fünne. Der Holländer 
muß, weil jeine Yandesiprache ein zu beichrünftes Verbreitungsgebiet befist, ſich eine 
Weltfprache aneignen. Am Hofe König Wilhelms III. war leider der franzöfiihe Ein- 
Muß beſonders mächtig, und die franzöfiihe Sprache erlangte damals eine Vorzugs— 
jtellung. Gegen diefe Richtung wendete fich der Kongreß. ‚in dem Eindringen der 
franzöſiſchen Sprache nad; Holland erblickten die Hauptredner die Urſachen einer Ent: 
nationalifierung des Yandes und befürmorteten wärmstens die Bevorzugung der deutjchen 
Sprache, die überdies die Aufgabe habe, alle Völker germanifchen Urſprungs miteinander 
zu verbinden. 

Engländer und Franzoſen, Italiener und Schweizer, alle Nationen, jelbjt die 
kleineren, Polen und Tſchechen, bethätigen, wohin fie fommen, ihre nationale Art, leider 
nur in jeltenen Fällen auch der Deutiche. Noch immer hört man laute und berechtigte 
Silagen über das Berhalten vieler Deutichen im Auslande. So wird aus dem vlämiichen 


Paul Dehn, Deutfchtum tm Auslande. 295 


Badeort Rlanfenberghe berichtet, dat die meiften deutichen Badegäſte Belgien für ein 
durchaus franzöſiſches Pand halten und mit auffallender Vorliebe und noch auffallenderer 
Ausſprache fi des Franzöſiſchen bedienen, anjtatt im Berfehr mit der vlämiſchen Bes 
völferung deutjch zu Sprechen. Immer noch befunden die meiſten Deutjchen eine unent- 
ihuldbare Gleichgiltigkeit gegen die vlämiiche Bewegung und verlesen zugleid ihre 
nationalen Pflichten. 

Wennſchon diefe Deutichen nicht aus innerem nationalen Drange ſich als Deutjche 
geben und bethätigen wollen, jo jollten fie doch bei genauen Zuſehen erfennen müſſen, 
dag fie durch Beijeitefegung ihrer nationalen Art und durch den Gebrauch einer fremden 
Spracde bei den Angehörigen der anderen Nationalitäten nicht etwa an Achtung ge: 
twinnen, jondern das Gegenteil davon ernten. 


Belgien. Infolge einer Schenfung des Monjuls a. D. Müjer in Höhe von 
200 000 Mark kann für die Deutihe Schule in Brüſſel ein neues Gebäude mit 
einer geräumigen Aula für Worleiungen, Konzerte und dergl. errichtet werden. Die 
deutihe Schule in Brüffel beiteht bereit3 neun Nahre und zählt 186 Schüler, darunter 
128 Deutihe und 41 Belgier. Da die Aufwendungen für den Bau mie für die laufenden 
Ausgaben immer noch höher jind als die Einnahmen, jo hofft der Boritand des 
Deutihen Schulvereing in feinem neuejten Bericht auf erhöhte Zuwendungen, inöbejondere 
auf eine Beihülfe des Neiches zu dem Zchulneubau, wie jolche der deutschen Schule in 
Konitantinopel und Salat gewährt murde. 

Nußland und Polen. Bei einer Sejantbevölferung von rund 135 Millionen 
zählt das ruſſiſche Neich gegenwärtig nadı neueren Schätzungen 1,8 Millionen Deutiche, 
wovon 510 000 in Ruſſiſch-Polen, 377 000 im jüdlichen Nukland, 282000 im jidweitlichen 
Rukland und 454000 in den Bezirfen Sſamara und Zjaratow wohnen. Verhältnis: 
mäßig am dichteiten ift die deutiche Bevölkerung in Ruiftich- Polen und drängt fich dort 
in der großen Fabrikſtadt Yodz und Ungegend zuſammen, wo '/, Million Deutiche ans 
geitedelt jein jollen. Das Aufblühen von Lodz als Induſtrieſtadt wurde weſentlich durch 
deutiche Arbeit, Intelligenz und Kapitalstraft bewirkt. Ende uni veröffentlichte das 
Moskauer Blatt „Moskowskija Wjedomofti” eine Reihe von Aufſätzen u. d. T. „Eine 
Million Deutſche an der Weſtgrenze“ und jucht darin die deutichen Anſiedler im Weiten 
als ftaatsgefährlich Hinzuitellen. Der „Drang nadı dem Dften“ (von dem ruſſiſchen 
Blatt deutich mit lateinischen Yettern gedrudt) nehme Syſtem an und wolle die weit: 
lichen Grenzländer Rußlands erobern. Deutiche Großfapitaliiten Fauften große Yändereien 
und wanbelten fie durch Anfiedlung von Tauienden deutiher Koloniſten und Arbeiter in 
„Winkel Deutichlands“ um. Das ruiftiche Blatt behauptete, daß in den meitlichen 
Yändern Rußlands bereits mehr als 1 Million Deutiche wohne, eine Avantgarde des 
deutichen Volkes, das vom Scheitel bis zur Zehe bewaffnet jederzeit bereit jei, mit 
Waffengewalt Anjpriche auf jene Yänder zu erheben. Schließlich verlangte das ruſſiſche 
Blatt die Anwendung ftrengjter Gejege gegen dieje Deutihen, „die miteinander zu: 
jammen einen ganzen deutichen Staat in Rußland bilden“. Thatſächlich ſind Die 
Deutihen in Rußland nichts weniger als organifiert und hegen gegen Rußland feine 
feindfeligen Empfindungen. Nach den weiteren Ausführungen des Moskauer Plattes 
ollen in Ruſſiſch- Polen nahezu 14000 ländliche und ſtädtiſche Beſizungen mit einen 


23 Bant Dehn, Deutſchtum im Auslande. 


Wert von 400 Millionen Rubel in deutſchen Händen ſein, die beiten Güter, zaählreiche 
Fabriken, Mühlen, Geichäfte und Banken. Während die ruffiiche Bevölkerung vor 
Dunger fterbe oder auswandere, machten ſich die Deutichen in Polen breit, mäjteten ſich 
dort umd fühlten fich al8 Herren des Yandes. Das find gehäſſige Uebertreibungen, die 
aber im Grunde genommen nur bejtätigen, dat es die deutiche Antelligenz und Napitals- 
fraft waren, die in Ruſſiſch-Polen ein neues wirtichaftliches Yeben erweckt und vor allem 
oda zu der hervorragenden, zuv zweiten Induſtrieſtadt des ruſſiſchen Reiches gemacht haben. 

Burenftanten. Auf dem 46. deutſchen Schulmänner: und Philologentag zu 
Straßburg lenkte Direktor ©. Weidner, 3. 3. in Eijenad), die öffentliche Aufmerkjamfeit 
auf die deutſche Schule in Johannesburg. Im Herbſt 1897 mit 31 Echülern be: 
gründet, blühte diefe Schule troß der jchwierigen Verhältniffe unter Weidners Leitung 
raſch auf und zählte bei Beginn des unfeligen Strieges 9 Lehrer und 300 Schüler. Bon 
der Reichsregierung wie von der Transvaalregierung wurde fie unterftügt. Da fam 
der Krieg, die Eltern wurden brotlos und konnten das Schulgeld nicht mehr zahlen, 
der Zufchuß der Transvaalregierung fiel fort. Die deutiche Schule würde jofort aus 
allen Berlegenheiten fommten, wenn fie fih unter engliichen Schuß ſtellte. Allein das 
ift ausgeichloffen, fie würde als deutiche Schule aufhören, weil die deutihe Sprache 
aus dem Unterricht faft ganz verjchwinden müßte Dilfsausihüffe für die Schule 
haben fich bereits in Gijenach, Hamburg, Berlin und Straßburg gebildet, und jo ift zu 
hoffen, daß die anſcheinend gefährdete deutihe Schule zu Johannesburg, ein nicht zu 
unterjchäßender Stütpunft des Deutihtums in Südafrika, über den jchwierigen Wende- 
punkt hinwegkommen werde, die der Krieg der Engländer in Südafrifa auch über fie 
verhängt hat. 

Nordamerifa. Anfang Oktober beſchloß der deutjch-amerifanifhe Nationalbund 
in Nemw-Worf, die Bereinigung über das Gebiet der ganzen Union auszubreiten und in 
Jahre 1903 in Baltimore eine große Tagung abzuhalten. Nach den Sagungen des 
Bundes follen die Deutichen nordamerifanifche Bürger werden, ſich aud) am politiichen 
Veben rege beteiligen und vor allem für deutichen Unterricht, deutjche SFortbildungsichulen 
und deutſche Theater jorgen. 

Mit Bedauern räumt Pfarrer F. W. Minkus im „Morgenjournal* die traurige 
Thatſache ein, daß die alte deutiche Kirche, die anerkannte Trägerin des Deutjchtums 
in den Bereinigten Staaten, ihrer idealen Aufgabe, deutiches Weſen, deutihe Sprache 
und deutiche Sitten zu erhalten, ſich nicht mehr völlig bewußt zu jein jcheint. Den 
Grund für den jcheinbaren Rüdgang des Deutichtums in Nordamerika findet Pfarrer 
Minfus nicht in der Kirche jelbit, d. h. in ihrem ftarren FFeitbalten am Glauben der 
Väter, noch in dem Mangel geeigneter deutiher Schulbildung, denn die nämliche Klage 
ertönt auch aus der großen Neihe von Vereinen und Logen, die mit der Kirche nur 
loſe oder feine Fühlung haben und die vielfach Privaticyulen unterhalten. Den Grund 
für den Rückgang des Deutfchtums ſucht Pfarrer Minkus in dem Schwinden des 
Deutihtums überhaupt, unter dem nicht nur die deutjche Kirche, jondern aud alle 
Vereine zur Pflege des Deutichtums Leiden, und jagt zur Begründung feiner Auffaffung: 
„Der deutiche Einwanderer hat wie fein anderer die Gabe, fi) in diefem Lande jchnell 
zu affimilieren. Seine gründliche deutiche Schulbildung erleichtert ihm nebenbei unge: 


Paul Dehn, Deutſchtum im Auslaude 297 


mein das Erlernen der Landesſprache. Aber anſtatt nun von dieſer Gabe den rechten 
Gebrauch zu machen, und zwar ſo, daß er allen Anforderungen des amerikaniſchen 
Staatsbürgers gerecht wird, dabei aber ſeine deutſche Individualität nicht verleugnet 
und jo das Deutſchtum in dieſem Yande zu Ehre und Anſehen bringt, liebt er es leider 
nur zu jehr, den Amerikaner auf Koſten des Deutſchen herauszubeigen, zu jeinem 
eigenen und zum Schaden ſeiner Familie . . . . Man hört hierzulande immer die alte 
Entihuldigung, man babe bei dem Treiben und Jagen feine Zeit für ein gemütliches 
deutjches FFamilienleben, und die jugend hier jei auch ganz anders ald „draußen“. 
Aber Kinder find überall in allen Yanden diejelben, es fommt nur bei ihnen, wie bei 
der Pflanze, auf die rechte Pilege an, und Zeit dafür kann jeder Vater und jede Mutter 
finden, wenn fie nur wollen. So aber überläßt man das Sind fich jelbft. Kommt es 
auf die Straße, jo it das Deutſche über dem Englifchen bald vergeflen. Bald jpricht 
das Kind mehr engliich als deutſch mit jeinen Eltern. Wenn's auch die Mutter nicht 
veriteht, jo duldet fie es doch, anjtatt von dem Slinde im Hauſe die Mutterfprache zu 
verlangen. Nun wird das Kind jchulpflichtig, hört den größten Teil des Tages alfo 
fajt nur die engliihe Sprache, und jomit tritt die deutſche Mutterſprache noch mehr 
zurüf. Da joll num die Kirche Dilfe jchaffen, indem man das Kind in die Sonntags- 
ichule oder aud; am Samstag für ein paar Stunden in die mit der Kirche verbundene 
Schule ſchickt. Dann ift es aber in den meilten Fällen jchon zu jpät. Dann muß das 
Mind fleißig lernen und der Lehrer jtreng jein. Das gefällt nicht allen Kindern, und 
daraus erflärt ſich der traurige Umitand, daß die Kinder deutſcher Eltern in Scharen 
zur engliihen Sonntagichule übergehen und damit dem Deutjchen verloren gehen. 
Darum gilt es in unjeren Tagen, nicht über den jheinbaren Rückgang des Deutichtums 
jogar in der Kirche zu Flagen, jondern die Hand mutig an die Wurzeln des Uebels zu 
legen, d. h. Schon beim Kinde anzufangen, deutſche Sprache, deutiche Sitte und Gemwohn: 
heit zu pflegen. Die Amerikaner laſſen es fich viel Zeit und Geld foften, um die 
Ihöne, an Schäten jo reiche deutihe Sprache zu erlernen, die deutichen Eltern aber, 
man könnte jagen berauben ihre Nachfommen diejes föftlihen Gutes — der Mutter- 
ſprache.“ 

Ehile. Nach der Volkszählung von 1895 waren in Chile 7049 deutſche Reichs— 
angehörige anſäſſig. Mitte 1901 jtellten die deutſchen Konſuln in Chile jtatiftiiche Er- 
bebungen an und ermittelten insgefamt 6123 NeichSangehörige, wovon die Hälfte in dem 
ſüdlichen Bezirt Gonceprion mit einem gemäßigteren Klima wohnt In Balparaijo 
wurden 1200 und in Santiago 1000 Deutiche gezählt. Bon diejen 6132 deutichen 
Reidysangehörigen find 2381 als ſolche bei den Konjuln eingetragen. Nach dem 
deutichen Gejeg behalten befanntlid; die Deutichen ihre Reichsangehörigfeit noch zehn 
Jahre nach den Verlaſſen des Baterlandes und verlieren fie dann, jalls fie jich nicht 
bei dem zuftändigen Nonjul eintragen laffen. In Chile iit die Zahl der eingetragenen 
deutihen Staatsangehörigen verhältnismäßig groß. Dennoch gehen auch dort infolge 
des unzulänglichen deutichen Gejetes dem Baterlande viele jeiner Angehörigen verloren. 

Brafilien. Bor einem halben Jahrhundert famen die erften deutichen Stolonijten 
nah Süd-Brafilien und gründeten dort die Siedelungen Dofia Francisca, Blumenau 
und Dania. Damals war jene Gegend undurchdringlicher Urwald, heute ift fie der 


298 Baul Dehn, Deutfchtum im Auslande. 


Kultur erichloffen worden. Dan erblickt deutihe Städte und Dörfer in blühendem Zu: 
ftand und hört überall die deutiche Eprade. Die Brafilianer nennen Diele Stolonie 
Nova Allemanha. Das Gelände der Kolonie war früher im Beſitz eines Prinzen von 
Xoinville, der mit dem brafilianiichen Kaiſerhauſe verſchwägert war. Der Prinz er 
fannte, daß zur Kultivierung diejes Gebietes tiichtige Koloniften notwendig waren, und 
309, was bon jeinem jcharfen Bli zeugt, deutiche Ktolonijten heran, durch Vermittlung 
des Hamburgiichen Kolonijationsvereins von 1849, der im März 1852 die eriten 192 An- 
jiedler nah Santa Catharina brachte. Anfangs waren gewaltige Schwierigkeiten zu 
überwinden, aber ſchließlich ſiegte die deutiche Volkskraft und fie hat ih in Santa 
Gatharina einen außerordentlich wertvollen Beſitz geichaffen. Näheres über die tüchtige 
Eigenart der deutichen Koloniften in Brafilien veröffentlichte Dr. Herrmann Meyer auf 
Grund eigener Anſchauung u. A. in der „Kolonialen Zeitichrift“ 1900 Nr. 9. Zur Freier des 
fünfzigjährigen Beitehens jener Kolonieen hat Robert Gernhard, früher Redakteur der 
„Reform“ in Noinpille, eine umfangreiche Feitichrift u. d. T. „Santa Catharina, Dofia 
Franecisca, Hanſa und Blumenau, drei deutſche Mufterfiedelungen im jüdbrafilianijchen 
Staate Santa Gatharina* herausgegeben, die reihen Stoff für die Kenntnis des Deutidı- 
tums in Santa Catharina enthält. Nach der Angabe diefes Buches befinden fi unter 
den 400000 Bewohnern des Staates Santa Catharina rund 100000 Deutjche. Im 
Anſchluß an diefe Kolonieen beiiedelt jegt die Hanſeatiſche Koloniſationsgeſellſchaft m. b. 9. 
zu Hamburg die neue Kolonie Hanja mit einem Gelände von 650000 Hektar und will 
dort zwei neue deutiche Städte Dammonia und Humboldt gründen. 

In den legten vier Jahren hat diefe Geiellichaft 900 Perjonen zu neuen Heim: 
jtätten verholfen. Nach der Leberzeugung ihres Direftors A. W. Sellin ift e8 nod) 
nicht zu jpät, in Südamerifa ein fräftiges deutſches Volkstum zu ichaffen. In den 
deutfchen Siedelungsgebieten liegen nach feiner Beobachtung die Berhältniffe gegenwärtig 
fo, daß dort deutfch werden muß, wer feinen Erwerb jucht, ob nun Portugiefe oder Ita— 
liener oder Neger. 

Wiederholt und nachdrücklich hat in jüngfter Zeit Dr. Herrmann Meyer auf die 
Vorzüge Brafiliens für die deutiche Auswanderung bingewiejen. Er nennt den ſüd— 
lichſten brafilianiihen Staat Rio grande do Sul, nachdem er ihn freuz und quer audı 
in feinen unbewohnten Gegenden durchzogen, ein Eldorado für germaniiche Kolonijation. 
Mit beredten Worten und warmem Herzen hat er in Vorträgen und Schriften die Ent- 
wicklung der deutichen Anfiedler neichildert, wie fie nad) vieler Arbeit langſam vordringen 
und fich immer mehr ausbreiten. Das Yand fteigt im Wert, doch noch immer verkauft 
der Staat bei Konzeſſionen 10000 ykın des jchweriten Urwaldes für 3 Mark und im 
freien Verkehr ift ſolche Fläche für etwa 10 Mark zu haben. Bei der fteten Ausdehnung 
der deutichen Siedelungen ift es nun aber notwendig, fie mit den Dauptplägen, vor 
allem mit der DHandels- und Hafenstadt Porto Allegre, in beffere Verbindung zu bringen 
um einen regeren Güteraustaufch zu ermöglichen. Unter ſolchen Berhältniffen war es 
ein glüdlicher Gedanke der Regierung, Eiſenbahnkonzeſſionen in Verbindung mit großen 
Landfonzejfionen zu erteilen. So fünnen größere Sapitalien herangezogen werden, da 
fie bei ausreichender Sicherftellung durch Zinsbürgjchaft oder Landbeſitz auf reichen Ge— 
winn zu rechnen haben. Bereits Stehen mehrere Eifenbahnen in Betrieb, find jedoch in 


Paul Debhn, ‚Deutichtum in Auslande. 290 


den Händen belgiſche nd engliicher Kapitaliften. Diejenige Bahn aber, die den ganzen 
Rogen des Uruguay-Urmwaldes mit jeinen NReichtümern, das eigentlihe Zukunftsland des 
Staates, zu erjchliegen beftimmt iſt, wurde einer deutichen Gejellichaft vorbehalten, „der 
Rio grande Nordweitbahn-Gejellichaft” m. b. H. durch Erteilung einer Konzeſſion zum 
Bau einer Eiſenbahn von etwa 1000 km Yänge durch den fruchtbarſten Teil Rio 
grandes in Verbindung mit einer Yandüberweifung von 10 km Breite zu jeder Seite 
Bahn, die die Rentabilität der Bahn jicher jtellt. Es wird eine lohnende Aufgabe jein, 
dad fruchtbare Gebiet im Bereiche diejfer Eifenbahn zu folonifteren, zumal ſich dort 
auc 3. T., genau betrachtet, altes Kulturland befindet, das Nahrhunderte hindurch in 
eigentümliher Verfaſſung blühte. Bon den eingeteilten Stolonielojen mit je 25 Hektar 
iind viele an den Ueberſchuß der Stoloniftenbevölferung von Rio grande do Sul ver- 
fauft. Indeſſen wird der nationale Wert diejes Unternehmens in der Unterbringung 
deutijcher Auswanderer liegen. Bereit3 hat die Gejellihaft die Hälfte der Bahnſtrecke 
vermeifen und ca. 100000 ha Yändereien übernommen und mit den Solonijationg-Ar- 
beiten begonnen. In jener Gegend wird ſich nicht nur ein ausfichtsreiches Feld fir 
das deutiche Kapital, jondern vor allem ein günftiges Gebiet für die deutjchen Aus— 
wanderer eröffnen. Yange Zeit mußte Rio grande do Sul unter dem v. d. Hehdtichen 
Auswanderungsverbot leiden, das erſt vor einigen Jahren auf Grund befferer Kenntnis 
der Verhältniſſe für die drei Südſtaaten aufgehoben wurde. 

Hoffentlich wird es gelingen, in Deutfchland Intereſſe für das nationale Unter: 
nehmen zu erweden und neue deutiche Kraft an Kapital und Menſchen dafür zu ge 
winnen. Xeider ift auch in Brafilien das deutſche Großfapital noch nicht auf dem Plage, 
obwohl fich ihm dort günftigere Ausfichten bieten al3 in China oder Afrita. Müſſen 
denn immer von vornherein 8 bis 10 Prozent mindeftens berausipringen, fragt 
Dr. Herrmann Meyer unmutig, che man fih an ein Unternehmen heranwagt? Wenn 
England derartige fleinliche Wirtichaftspolitif getrieben hätte, wäre es nie eine jo große 
Stolonialmadıt geworden. Verſagt das deutiche Großfapital, jo muß es ſich den Vor— 
wurf gefallen laſſen, nicht nur in nationaler Dinficht, jondern auch rein finanziell be- 
trachtet, als kurzſichtig und Eleinlich bezeichnet zu werden, dann beſteht die Gefahr, dar 
die groß angelegten und national bedeutenden Schöpfungen, insbejondere die Eifen- 
bahnen: und Siedelungsfonzejfionen in Santa Katharina und Rio grande do Zul, ver- 
fallen und anderen Nationen mit weiterem Blick zu gute fommen, ja, daß mit dem 
Verfümmern der deutichen Anſiedelungen Südbraſiliens auch der Abſatzmarkt dem 
Deutichen Reich verloren geht. Hoffentlid; fommen die deutichen Finanzkreiſe zu einer 
befferen Grfenntnis oder aber werden dazu von der Reichsregierung gebracht durch einen 
entiprechenden Drud unter Hinweis auf die nordamerifanijchen, engliichen und belgiſchen 
Stapitaliften, die fich ungleich mweitblictender zeigen. Die Pachtung brafilianischer Staats 
bahnen durch eine englifche Gejellichaft bedeutet für England einen erheblihen Zuwachs 
an Einfluß auf das brafilianische Wirtichaftsleben. 

Arbeitet aber bei der Ausbeutung der Reichtüimer jenes Gebietes mit dent Fleiße 
der 150000 deutjchen Anfiedler das deutiche Grogfapital Hand in Hand, jo wird Rio 
grande do Zul einen bedeutenden Aufſchwung erleben und aud) das Deutjche Reich 
daraus erheblid;e Norteile ziehen. Diejes zufunftsreiche Yand iſt aber für Deutichland 


sun Paul Dem, Deutſchim om Anslande. 


wirtschaftlich verloren, wenn das deutiche Kapital es micht wirtichaftlich zu erobern 
jucht, wie es bereits der deutiche Bauer mit der Scholle gethan hat. Notwendig muß 
verhindert werden, dak fremde Nationen, Nordamerifaner, Belgier, Engländer und 
‚srangojen, die Früchte der Arbeit genießen, die feit einem Jahrhundert die Deutichen 
dort/geleiftet haben. 

In den nationalen Kreiſen Deutichlands aber jollte man ebenfo thatfräitiges In— 
terejie befunden für die Aurrechterhaltung und Ausbreitung des Deutichtums in Brafilien 
durch Förderung der gemeiniamen Einriditungen der Deutich-Braftlianer in Kirche, 
Schule, Volfsbibliothefen u. j. w. Bier wird zunächſt eine Eundige Rermittelungsftelle 
zu ſchaffen fein, die über die Bedürfniſſe der deutfchen Anfiedelungen in Südbrafilien 
nad) Deutjchland berichtet und jodann zur Verteilung übernimmt, was an freundrilligen 
(Haben, aud an Biichern und jonftigen Zpenden eingeht. Auch empfiehlt es sich, Die 
deutiche Preffe Südbraſiliens in Deutichland durch Verbreitung in den Intereſſenten— 
freifen zu fördern. 

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Auf dem @renzkamm. 
(Im Böhmerwald.) 


Dee Bergwald, hoch und her Hoch und herrlicı, deuticher Geilt, 


Fluten über Thal und Gipfel Walte deiner Schicklalslendung, 
Wie ein dunkelwogend Meer Die durdı Nacht und Nebel weiit 
Weithin deine Tannenwipfel. kichtwärts, aufwärts zur Vollendung ! 
Ueberm Strom, der drunten zieht, Deutiche Foricung, deutſches Wort, 
Seh’ ich klar die Sonne Iteigen, Keine Grenze ſoll fie hindern; 
Und ein itolzes Heldenlied Treu vererben, hier wie dort, 
Harft der Frühwind in den Zweigen. kaßt fie uns den Enkelkindern! 
Ferner Dörfer Morgenraud, Heil’ge Lolung laßt’s uns lein, 
Fluren, drauf der Sämann icreitet - Ohne Murren, ohne Klagen, 
Wie ein friiher Werdehaudı Unermüdet Stein um Stein 
Liegt es ob dem Land gebreitet. Zu der Grenzburg Bau zu tragen. 
Seid gegrüßt, du junges Licht, Mögen lelbit wir audı im Streit 
Droiielruf und Finkeniclagen! Sinken einit als wunde Fedıter, 
Stille, heil'ge Zuverlicht Strahlt gewiß einit ichönre Zeit 
Fühl’ ich in der Seele tagen. Hell auf kommende Seſchlediter. — 
Ja, mein Volk, ob gift'ger Neid, Froh, auf hohem Bergeswall 
Feindesgroli dich noch umringen, Raitend zwiichen zweien Reichen, 
Siegreicd wirft du Not und keid Grüß’ ich did, o Sonnenball, 
Als ein Dracdhentöter zwingen. Als der lidıten Zukunft Zeichen! 


Reinhold Fuchs. 


SEA aa9a98 


Von deuticher Kritik und vom deuficten Roman. 


Von 


Garl Buife. 


&‘ jind wunderbare Herbittage. Noch halten die Bäume ihr Laub, aber es ſpielt 
ihon in allen Schattierungen vom Grün bis zum fräftigften Braun und Rotbraun. 
Das leuchtet über die Maßen ſchön in der milden, Flaven, ruhigen Luft. Man fteht in 
der Stille und Klarheit jo weit ins Yand hinein, man überjchaut Nähe und Ferne und 
fann alles in feinem richtigen Map und Berhältnis bemeſſen. Die Sonne blendet nicht 
mehr und bricht nidyt mehr durch flimmernde Nege der Weite, und nod haben nicht 
dunfle Wolfen den Horizont verhangen und das Auge auf die Nähe bejchränft. Aber 
hinter diejer Stille ftehen die Stürme, die bald in allen Regijtern durch die Gaffen 
ipielen und pfeifen werden, dab einem Hören und Sehen vergeht. 

Eine tröjtliche Stille herricht aud) noch in der Fitteratur. Ab und zu fliegt einem 
ihon ein verfrühtes Buch auf den Tifch, ein verirrter Vorreiter der großen] Deere, die 
bald folgen. Das Beite Eommmt erit jpäter. Tage wohl nur, faum noch Wochen trennen 
uns davon. Mit den eriten Stürmen, die braufend die Stille zerreißen, fangen aud) 
die großen und fleinen Yitteraturfanonen zu donnern an. Die großen und die Fleinen 
-.. . boffen wir, daß diesmal eine große dabei ift. 

Man kann, jcheint mir, jo lange nichts Bejleres thun, als noch einmal Rähe und 
Ferne zu überichauen, das alte und ewig neue Schlacht- und Siegesfeld abzumeſſen und 
die gefundenen Maße fich einzuprägen, daß man ſich nicht verwirrt fühlt, wenn die neue 
Schlacht beginnt. Lieber die neuere deutiche Dichtung im allgemeinen habe ih im vorigen 
Heft geſprochen; ein paar Bemerkungen über Art und Auffaffung der Kritik möchte ich 
heute vorausichiefen und daran anichließend einen raſchen Bli auf das befondere Gebiet 
werfen, dem ein großer Teil der hier zu beſprechenden Werke angehören wird. 

Es giebt Yeute, die ed ald Hauptaufgabe der Kritik betrachten, ihnen zu jagen, ob 
ein gerade vielgeleienes Bud) gut oder ſchlecht jei, und die den Rezenſenten rühmen, der 
ihnen ein paar Schlagworte für ihre geiellichaftlichen Unterhaltungen an die Hand giebt. 
Man trifft andere, die behaupten, dat die Kritik des Dichters wegen da jei, den ſie auf 
jeine Fehler aufmerfjam zu machen und in feinen VBorzügen zu beftärfen habe. Wie 
thöricht beide Anfichten find, brauche ich nicht erſt zu bemerfen. Selbit die höhere Mei- 
nung, daß die Kritik der Kunſt dienen ſolle, umſchreibt ihre Aufgabe nicht. Die echte, 
produktive Kritik hat ein letztes größeres Biel: fie dient, wie die Kunſt jelbft, ob auch 
in beicheidenerer Art, der Nation. Deshalb kann ihr höchſtes Ziel nicht nur in der 
Geltendmachung äfthetifcher Yehrmeinungen liegen, fondern vor allem in der fittlidhe:. 


302»  .-- Carl Buſſe. En deutfcher Kritik und vom deutichen Roman. 


Sie Burgeli nicht nur in * Weltanſchauung, ſondern will auch die Weltauſchauumg 
und kämpft für fie. Nur kämpft fie eben auf ihre Art und tritt auf „eigene Waffen“ 
an; das Nüftzeug des litterariichen Kritifers ift ein anderes, als das des Theologen 
oder Moralphilofophen, wenn fie alle auch vielleicht diejelben fittlihen Wirkungen er: 
zielen wollen. 

Es wird am beften jein, die verichiedenen Arten von Kritik an einigen Beiipielen 
in Kürze Far zu machen. Nehmen wir an, e3 jei ein neuer Roman von irgend einem 
hervorragenden Schriftiteller erichienen, der verfchiedenen Beurteilen Veranlaſſung zu 
ausführlicher Beiprechung giebt. Der eine wird die Handlung erzählen und das Werf 
genau analyfieren. Er findet vielleicht, dat die Kompofition bortrefflih ift, kann aber 
nachweiſen, daß ein Bruch in der pinchologiichen Entwicklung des Helden ftattfindet, dat 
deshalb der zweite Teil an innerer Ummwahricheinlichfeit leidet. Er hat weiter den Stil 
geprüft und ihn pointiert oder fahl gefunden. Er hat ſchließlich etwa herausgebradht, 
daß die Dialogführung jehr gewandt, die Charakterifierungsfunft aber gering ift. Er hat 
auch alles Gefundene mit Beifpielen belegt, und jchlieft dann, daß troß Diejer 
Mängel das Bud; des befannten Schriftstellers doch zur Lektüre empfohlen werden fann. 

Das ift eine litterariiche Fadıkritif, eine Kritik für den Dichter, eine Kritif, 
mie fie allenfalls in ein reines Litteraturblatt gehört, dejien Leſer nicht nur den 
beiprochenen Schriftfteller, jondern aud) zum Teil ſchon den beiprodyenen Roman genau 
fennen. ber ift das echte, produktive Kritik? Nein und dreimal Nein! Man denke fich 
3 B., daß aus Verſehen der Titel des rezenfierten Werfes jamt dem Namen des Per: 
faffers fortgeblieben wäre. Dann bedeutet die ganze Kritif wenig mehr als nichts. Sic 
diente nur dem Buche, mit deifen Verſchwinden fie auch verichwinden muß. Sie ift im 
legten Grunde überflüſſig. Denn was in aller Welt geht es mich an, daß der befannte 
Dichter N. N. im jo und jo vielten Bande jeiner Werfe einen pinchologiichen Schniker 
gemacht hat! Das ift mir jo nebenfächlih, daß ich nicht vier Spalten lejen will, um 
als Ergebnis nachher dieſe erjchütternde Offenbarung zu vernehmen! Kritiker dieſer 
Art find glüdielig, wenn fie dem Autor etwas „nachweilen“ können, jeien es unreine 
Reime, jeien es jchiefgebaute Säge. Man fieht ordentlich ihr freudeitrahlendes Geficht, 
wenn fie berausgefriegt haben, dat etwa in einer neuen Litteraturgeſchichte ein falſches 
Datum gegeben oder ein Dichter vergeflen oder eine irgendwo aufgefundene Goethejche 
Windel nicht regiftriert ift. Das ift die häufigfte Art der Kritiker, d. h. der überhaupt 
ernst zu nehmenden. Sie fitt meiſt auf dem Katheder und nicht nur auf dem des Gym— 
nafiums; fie hat von Berufs wegen die Korrigiertwut, aber man darf fie nicht unter: 
ichägen. Denn fo wenig dieje Spezies für die höhere Kritik und für die Allgemeinheit 
bedeutet, jo wichtig ift fie für den Autor und für den, der die von ihr herangeichleppten 
Steinchen zu benugen verfteht. 

Den Gegenjag zu diefen litterariich-philologiihen Kritifern bilden die impreiito 
niftiichen. Was jenen die Hauptjache ift, äßt dieſe gleichgültig. Die Impreſſioniſten — 
wir haben in Berlin eine Eleine, aber einflußreihe Gruppe davon — verichmähen die 
alte Art zu £ritifieren durchaus. Sie wollen den Dichter nicht meiftern, jondern fich in 
ihn „einfühlen*, daß ſie ihn aleichlam nachdichten und den ganzen Stimmungsertraft 
jeines Wertes dem Bublifum vermitteln fünnen. Sie find gleichſam Anfirumente, auf 


Cart Buſſe, Bon deutſcher Kritik und vom deutjchen Ronun. 33 


denen der Dichter ſpielt. Jedes Buch „stimmt“ ſie. Sie ftimmen ſich bei Sudermann 
oitpreußtiich und bei Hauptmann jchlefifh; aber bei beiden ift ihnen zu viel robuste Klar— 
heit, zu viel Materie. Am liebſten laffen fie jich ftimmen dur Dichter wie Huysmans, 
Maeterlind, Berlaine. Dann reden fie mit umflorter Stimme, jo dar hinter jedem Sat 
ein Geheimnis fteht; veden leije und ahnungsreich mit großen, jehnfüchtigen Worten — 
fie jelbft verfümmerte Dichter. Dieſe Art von Kritik, die den Eindruck eines Werfes 
vermitteln will, ift von Frankreich zu uns gekommen; die franzöſiſche Pitteratur iſt auch 
den impreiftontitiichen Mritifern lieber als die deutihe. Die Nuance ift ihnen die Haupt- 
lache; ihr Stil ift ganz weiblid), ganz ſchmiegſam und gefchmeidig, er tajtet dem Dichter 
nad. So werden Ddieje Herren, die im Gegenjag zu der eriten Gruppe gewöhnlid) 
Berufsfritifer und Journaliſten find, zu interejfanten Birtuojen und weiter hinaus zu 
„Blendern“. 

Jonglieren fie mit Stimmung, jo jongliert eine dritte Gruppe mit Geift. Für fie 
ift jedes Buch nur das Sprungbrett, von dem aus fie zur geiftigen Afrobatif abjpringen. 
Die Bedeutung des Dichters, den fie bejprechen, ift ihnen Nebenfahe. Schon in der 
dritten Zeile fällt ihnen ein geiftreihes Wort ein, das fie auf Nebenpfade lodt. Und 
num entzückt fie ihr eigener Geilt in jolchem Maß, daß fie das Bud) — den Ausgangs: 
punft ihrer Ergüſſe — oft völlig vergefien. Sie ſchlagen jchwindelnde Ideenbrücken, auf 
denen fie herumtanzen und geiitige Jongleurkunſtſtückchen machen, fie find außerordentlich) 
geiftreich und bemweijen dem Yejer, wenn es not thut, das Unmögliche; fie korrigieren die 
Weltgeihidhte, je nachdem fte gerade dies oder das belegen wollen, mit beneidenswerter 
Kühnheit; fie fprudeln von glänzenden Aphorismen und begeiftern fich für einen Dichter 
oder eine Idee genau jo lange, wie es noch fein anderer thut. Paradore reizen fie am 
meiften. Sie jelbjt haben taujend Maßſiäbe für einen, und wenn fie ein Buch befprechen, 
bligen fte im Zickzack darum ber, bald dieje, bald jene Bartie — nie aber das Ganze — 
hell beleudytend. Sie find Oppofitionsgeifter, die dasjelbe Buch mit einem glänzenden 
Aufwand von Geiſt in den Himmel heben und es ebeniogut zur Hölle ftoßen, je nach— 
dem ein anderer es vorher gelobt oder getadelt hat. Sie ichlagen fi immer zur Mi- 
norität. Sie find glänzende Ankläger oder Verteidiger und unmögliche Richter. Unreife 
Menſchen verwirren fie; reife jeffeln fie. Man darf ſie lejen, jie bewundern — aber 
man darf eins nicht: man darf ihren Urteilen nicht glauben. 


Und wie fieht nun endlich die vierte Gruppe aus? Die der editen, produftiven 
Kritiker, der Kritiker im höheren Sinne? Nun, fie werden immerhin noch am nächſten 
der eritgenannten litterariich:philologiichen Art ftehen, infofern als fie deren Arbeit auch 
thun oder die ſchon gethane bemugen. Nur fangen fie genau dort an, mo die erite 
Sruppe aufhört. Ilm auf das angeführte Beispiel zurüczugreifen: fie prüfen die Kom: 
pofition des Romans cbenjo, finden den Brud) in der pfychologischen Entwidlung auch, 
fehen fi den Stil und das Gharafterilierungspermögen nicht minder an, aber damit 
ind fie noch nicht fertig. Sie fragen bei den Mängeln nad dem Warum, fie vergleichen 
und fpannen fie in einen größeren Rahmen, fie werden auf litterariihem Wege zur 
Erkenntnis einer charafteriftiihen Schwähe des Dichters geführt und auf pſycho— 
logijhem zu einer Schwäche des Menſchen. Sie wilfen, daß nichts im Dichter und 
Gedicht ift, was nicht auch im Menſchen wäre. So fommen fie vom Bud) zum Autor. 


"04 Carl Bunde, Bon deuticher Kritik und vom deutichen Roman 


Sie fommen über die technijchen und litterarifchen Dlängel zu dem Geifte, der das 
Bud) geboren hat und trägt, zu dem Geiſte, der den Schöpfer durdibrauft, und den 
wägen fie. Nur der ift ein echter Richter, der einen unverlierbaren Rüdhalt hat an 
jeinem Bolfe, der da weiß, wie es geworden, was es groß und was es flein gemacht 
hat, was es emporführen und was es jchädigen fan. Für oder wider den Geilt, den 
ein Bud), eine Epoche atmet, wird er ſich gläubig und mit aller Wucht einer in ſich jelbit 
ſicheren Perſönlichkeit jegen. So prallt zulett Weltanichauung auf Weltanihauung; jo 
wird aus litterariicher Enge der Kampf zulegt auf das weite Feld verlegt, auf dem die 
größten und jeden einzelnen angehenden Schlachten geſchlagen werden — die Schlachten, 
die über unjeres Volkes Zukunft entfcheiden. 


Nur joll man das nicht falich verjtehen, nicht jo auffaffen, als ob der tritifer 
mit einem vorher feitgelegten, unmeigerlic; an jede Nezenfion zu hängenden ceterum 
censeo dor ein Bud) treten und in Allgemeinheiten ſchwelgen fol. Er foll wohl vor 
dem Nahen, vor dem fleinen Ausjchnitt bleiben, aber er foll die Perſpektive nicht 
vergefien. Was der ungeheuren Mehrzahl der litterariihen Richter fehlt, it der fichere 
Blick für Größenverhältniffe. Sie jehen chief, fie beleuchten die Gegenstände jo, dat 
die geworfenen Schatten hier ungeheuerlich anwachſen oder dort ſich verfürzen, jo daß 
hie abjolut nicht mehr dev Größe der Gegenstände entipredhen. Da wird denn Gerhart 
Hauptmann bier ein Rieje, der über Goethe hinauswächſt, und dort ein litterarijcher 
Stammler, den man veradıten, gering ſchätzen zu können glaubt. Aber -jelten bleibt er 
das, was er ift, nämlid) ein Dichter, deffen wundervoll plaftiicher Kraft leider nicht ein 
entiprechendes großgeiftiges Vermögen zur Seite fteht. Und weshalb dieje Verichiebung 
aller Berhältniffe, was führt dazu? Docd nur zweierlei: der Mangel an naivem 
Gefühl für poetiihe Werte, und ferner der Mangel an biftoriiher und äfthetijcher 
Durdbildung. Beides, das angeborene, injtinktive Gefühl und der geihulte Geſchmack, 
ift dem litterariichen Richter von nöten. Sein Gefühl findet das Echte heraus; feine 
hiftorifche Schulung erlaubt ihm, es zu meſſen und ihm den Platz anzuweiſen. Natürlich 
wirft beides untrennbar zuſammen. Und wer das nicht genug zu preifende Glück 
hat, fih Eins mit feinem Volke zu fühlen und ohne äjthetiiche Heuchelei das, was es 
dur die Nahrhunderte ausgewählt hat, auch nad) jeinem Empfinden als das Befte und 
Echtefte aniprechen zu fünnen; wer, ohne der Maſſenſuggeſtion zu unterliegen, ſich jagen 
darf, daß jeine Liebe und jein Haß ſich immer und überall mit Liebe und Haß feiner 
Nation det, dat gleihlam die fongentrierte Bolksjeele auch in jeiner Brust lebt — dem 
hat die Gnade des Himmels einen jo fejten Rückhalt gegeben, daß er mit ficheren 
Schritten auch durch das Getriebe der Gegenwart geht. Gr hat den feiten Standpunft 
des Geiſtes, er hat in jeinem Gefühl einen jelten oder nie trügliden Maßftab, er hat 
einen guten, fröhlichen, danfbaren Glauben, er hat Ruhe und Einheit der Berjönlichkeit. 
Was ift Perfönlichkeit anderd als ftarfe Einheitlichfeit? Nur fie aber kann wirken. 
Ind wirken will derjenige, der produftive Kritik jchreibt. Ein Stritifer, der nicht zum 
Glauben zwingen fann, verdient den Namen nicht. Gin $tritifer, der nicht mit wuchtigem 
Stüraffierhieb die Herzen fpaltet, jollte zu fchreiben aufhören. In jeder guten Kritik, 
jagt Jean Paul, ift in nace eine ganze Aeſthetik enthalten und zwar die befte, die es 
giebt. Ich gehe weiter und jage, dat in jeder gutem Kritik eine ganze Weltanjchauung 


Garl Buſſe, Bon deuticher Kritik md vom deutfchen Roman. 303 


lebt und daß ſich im jeder eine fittliche Kraft auslöſen muß, die im ftande ift, weitere 
Kreiſe zu ergreifen und feftzubalten. 

Es it eine alte Weisheit, daß es leichter ift, von der Hölle als vom Dimmel zu 
reden, daß der Teufel einfacher zu zeichnen ift als ein Erzengel. Das möchte ich Tür 
diejenigen ausjprechen, die finden jollten, daß ich Die drei erften Mritifergruppen ſchärfer 
umrändert habe, als die vierte und beſte. Pichleicht kann ich den Unterſchied der ver: 
ſchiedenen noch £larer machen, wenn ich fie im einzelnen furz fontraitiere. Man könnte 
„Br. wenn man einen Kritiker der eviten, Litterarijch-philologiichen Art neben einen 
echten Werte jchaffenden der legten Gruppe ftellt, mit Fug den Unterichied beider jo aus: 
drüfen, daß man den einen eben als fachlichen Nritifer, den anderen als Hiſtoriker 
anjpricht. Der eine beſorgt aleichlam die polizeilichen Ermittelungen, auf die ſich der 
andere, der Richter, fügt. Die erite, litterariich:philofogiiche Art bat ihren Bertreter 
etwa in dem oft mit Recht, öfter nut Unrecht verläfterten Dünker; aus der zweiten 
Gruppe, der imprelltioniftiichen, den „Einfühlungs“Kritikern, fünnte bei Botenzierung 
der Begabung vielleicht wieder einmal ein August Wilhelm Schlegel hervorgehen; die 
dritte Gruppe hat ihren feiniten und glänzenditen Vertreter etwa in Georg Brandes, 
den man immer lejen und dem man niemals glauben joll. Und fir die vierte Gruppe 
fünnte man wohl Peffing nennen, obwohl er nicht das deal, jondern nur derjenige ift, 
der ihm in vielem am nächiten fam. Das deal wäre vielleiht eine Miſchung Leſſing— 
Herder, wodurd) zu der ſcharf-kritiſchen nocd eine ſtärkere divinatorische Gabe träte. 

Wenn man fich nach diefem furzen Kapitel über fruchtbare und unfruchtbare Kritif 
der Yitteraturgattung zumendet, über die wir an diefer Stelle wohl zumeift werden zu 
berihten haben — dem deutichen Roman, — jo erhebt ſich eine neue Frage. Es ift für 
jeden, der die Gejchichte unjerer ſchönen Yitteratur eingehender ſtudiert hat, eine un: 
beitreitbare Wahrheit, da der deutiche Roman im Berbältnis zu unſeren dramatiichen, 
vornehmlich aber zu unſeren Inriichen Yeiltungen einen merkwürdigen Tiefftand aufweiſt. 
Wenn die bedeutenditen Dramatifer der Weltlitteratur aufmarjchieven, jo haben wir 
einen Schiller und einen Kleiſt, und fünnen uns des weiteren damit tröften, daß der 
größte Dramatiker aller Zeiten, wenn ſchon Fein Deuticher, jo doch ein Germane it. 
Auf dem Gebiete der Lyrik kann überhaupt feine Nation ernftlich daran denken, mit uns 
in Wettftreit treten zu wollen. Wicht mur, daß der erite Lyriker der Welt unfer ift, wir 
haben auch neben ihm eine eritaunliche Fülle reicher und jchöner Talente gehabt, und 
noch immer auillt dev Born unjerer Lyrik. Wie aber fteht eS mit dem Noman? Kalt 
alle romaniichen und jlaviichen Völfer fünnen da mit Namen aufwarten, denen wir 
nichts oder wenig an die Seite zu jtellen haben. Die Geichichte des deutichen Romans 
iſt eigentlich eine Geſchichte der ſpaniſchen, italienischen, franzöſiſchen, zuletst auch noch ruſſiſchen 
Yitteratur. Mit Uebertragungen jekt dieſe Gefchichte des deutschen Profa-Romans ein. Und 
wie fteht es heut? Deutichen Chren klingt dieſe Wahrheit nidyt angenehm, aber ſie bleibt 
eine Wahrheit. Was haben uns denn die ganzen Jahrhunderte gebracht, das nicht aus 
fremden T.uellen geichöpft wäre? Aa, um ganz beicheiden zu fein: was haben fie ung 
überhaupt gebracht? Leberhaupt gebracht, wenn wir die ausländiichen Einflüſſe ganz 
überiehen wollen? Der nadı fpaniihen Muſtern gearbeitete, aber herrlich iprachkräftige 
„Simplieiſſimus“ fällt jedem jofort ein. Aber dann reibt fih der Laie verlegen die 

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306 Carl Buſſe, Von deutfcher Kritik und vom deutichen Roman. 


Stirn, und der Litteraturhiftorifer —? Er nennt wohl fo und jo viel Büdjer, aber 
wenn er ehrlich ift, muß er zugeben, daß fie nicht viel bejagen wollen. Und wieder wird 
dann ein Tujch geblafen: Der Werther! Bon hier an beginnt es allmählich in Hülle und 
Fülle Romane zu regnen. Jeder hat Dutzende berühmter Romanſchriftſteller parat; 
jeder glaubt, daß wir es gar herrlich weit gebracht haben; daß der deutiche Roman, des 
Publifums litterariſches Schoßkind, womöglich gar reinfter Wejensausdrud der Nation 
geworden ift. Und man betradjtet den als Nörgler, der die Behauptung ausipridt, dat 
ein deuticher Romanitil überhaupt fehle, daß er allenfalls in den Anfängen vorhanden 
jei und daß der Wert unferer gefamten Romanlitteratur im Verhältnis zum Wert unferer 
lyriſchen und dramatiihen Dichtung doch nur ſehr gering ſei. 

Ich bekenne mich zu diefer Meberzgeugung. Und ich befenne weiter, daß ich aud) 
von der näheren Zukunft nicht allzu viel erwarte. Eine Nation, ob jie auch jo reich 
jei und fo voll von inneren Sräften wie die unfere, kann nicht auf allen einzelnen Ge— 
bieten führen. Wie dem Indibiduum find aud ihr gewiffe Grenzen geſteckt. Allerdings 
ift ganz zweifellos, daß die nationale Zuſammenfaſſung einerjeits, die ftärfere Hinlenkung 
des PVolfsgeiftes auf das reale Yeben andererjeit3 gerade dem Roman ſehr zu gute 
fommen müffen. Dan fann die Frage aufwerfen, ob überhaupt dieſer allzuftarke 
Andividualismus, die deutiche Uuerföpfigkeit, die uns geiftig im ganzen jo jehr genützt, 
die uns gerade unjere Bhilojophen und unſere Lyriker geſchenkt hat, uns nicht wie im großen 
politisch, jo auch im Fleinen, eben in vontansjchöpferischer Dinficht geichädigt hat. Der Roman 
braucht mehr denn jede andere Didtungsgattung eine Geſellſchaft — nicht den Einzelnen, 
der ſich abjondert. Er braucht reich verzweigtes, in ewigem Fluffe befindliches, ſich an- 
einander reibendes Yeben. In den Ländern lateinifcher Zunge findet man das ungleid) 
jtärfer als bei uns; das leichter bewegliche geſellſchaftliche Leben, der Begriff der Ge: 
jelichaft überhaupt, ift wohl an ſich ein Attribut älterer nationaler Kulturen. So mag 
diefer meinen, unjer Roman jtehe auf niederer Stufe, weil die Deutjchen nicht dafür 
veranlagt jeien und das Befte in der Gattung, wie das Wort Roman jelbjt, den vomanischen 
Völkern hätten entlehnen müſſen, und ein anderer mag unjere geſchichtliche Entwidlung 
dafür verantwortlich machen und der Anficht jein, daß nach der feften Zujammenfaffung zu 
einer Nation auch erjt ein deuticher Roman möglich jei und daf man deshalb frohen Mutes 
in die Zukunft blieten fünne. In der Praxis fommt beides ziemlich auf dasjelbe hinaus. 

Wir hatten am Anfang des neunzehnten Nahrhunderts Jean Paul; mir hatten 
den Wilhelm Meifter, der fi in den jogenannten Pildungsromanen der Nomantifer 
fortjegte und im „Grünen Heinrich“ Stellers feinen legten Ausläufer fand. Es iſt bier 
nicht der Ort, zu verfolgen, wie ex ji wandelte zum Zeitroman Immermanns und der 
Jungdeutſchen; wie unter Scotts Einfluß der hiftoriiche Roman Bedeutung gewann und 
ihm zur Seite trat; wie das Prinzip des poetiihen Realismus — das jegensreicite 
im legten litterariichen Jahrhundert — fich ftärfere Geltung verichaffte und uns zu den 
beiten Früchten verhalf; wie jchlieglich der Naturalismus wieder zerftörend wirkte. Aber 
vor jeder Wendung Stand fajt ein fremder Heiliger, dem dev deutiche Roman nadjzog, 
ob er nun Erebillon hieß oder Richardſon, Rouſſeau oder Sterne und Fielding, Scott 
oder Balzac, Cooper oder Marrhat, Zola oder Doftojewsfi. Nur Anſätze zum echt 
deutfchen Roman find da; dem Prinzip des poetiihen Realismus verdanfen mir fie. 


Bart Buſſe, Bon deutſcher Kritik und vom deutichen Roman. 307 


Dieſe Anjäge fteden in Werken Neuters, Raabes, Freytags und Holteis. Mancher wird 
fih wundern, den Namen Holtei mitgenannt zu hören; aber wer einmal den eriten Teil 
des Ehriftian Lammfell gelejen hat, wird nicht darüber erftaunen. Wenn wir überhaupt 
einmal zu einem, jagen wir befjer: zu dem deutichen Nationalroman fommen, jo mird 
er in dieſer Yinie liegen. Vorläufig find wir über die großen Anſätze noch nicht hinaus. 

Soll man an diefer Sehnſucht die Nomane meflen, die uns Herbit und Winter 
neu beicheren werden? Das ift die Frage, von der ich vorhin jprach und die noch auf: 
taucht. Oder joll man ſich beicheiden und das, was der Tag bringt, nur vergleichen mit 
jeinen Geihmwijtern? Das eine wäre jo ungereht vie das ander. Man wird auch 
bier die richtige Mitte finden müſſen. Man wird den Einäugigen fröünen, aber man wird 
ihm jagen, daß e8 der Blinden wegen geichieht und day er nur jo lange Reichsvermweier 
jei, bis einer füme, der mit beiden hellen Augen ins Yeben jehe und es in Höhen und 
Tiefen erfafie. 


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nerbitesfroit. 
R° leuchtet wie Rubin das kaub Das Eicdihorn turnt von Baum zuBaum, 
Des wilden Weins im Garten, — Als ging's zum frohen Feite 
Was fragt es, ob den reichen Raub Und nicht zum Schlaf im engen Raum, 
Der Sturm kaum mag erwarten? Im fdıneeumhüllten Neite, — 
Die Birke fteht in goldner Pradıt, DO Menichenherz, wie wagtelt du 


Ob audı kein Fink mehr ichmettert ; Allein in eitlem Trauern 
Sie harrt getroit der froit'gen Nadıt, Zu ftören rings die heitre Ruh 
Die jählings fie entblättert. Mit bangen Sterbeidauern ? 


Genieße froh, wie Baum und Tier, 
Des Fahres fonnige Wende, 
Und trag es läcdhelnd, dass audı dir 
Der Sommer geht zu Ende! 


Reinhold Fuchs. 


o 


SOAEe8eaaaaaaao 


Mufikalifihe Rundſchau. 


Don 


Leopold Schmidt. 


I. 


It: nicht urteilen“ lautet cin Ausſpruch Goethes. Der Dichter thut ihn gelegentlid) 
in jeiner „Italieniſchen Reife“, als er von der Wohltbat jpricht, die in der unbe 
fangenen Aufnahme künſtleriſcher Eindrücke liegt. Niemand vermag wohl tiefer dieje 
Wohlthat zu empfinden, als wer dazu berufen iit, beftändig über das Schaffen anderer 
jeine Meinung zu äußern. Aus einer Autorität heraus, die im Grunde niemand recht 
anerkennt, Urteile zu fornntlieren, anſtatt jelber produftio zu ſein, Fremden Leiſtungen 
Cenſuren auszuſtellen: das wäre in der Ihat ein Fruchtlojes Beginnen. Zum Glück iſt 
der Kritiker, für den man das jchredliche Wort „Kunftrichter“ gefunden hat, mehr und mehr 
dem „Referenten“ gewichen. Die öffentliche Berichterftattung über wichtige Vorgänge in 
der Kunſtwelt ift längit ein Bedürfnis geworden, ſowohl für den in Frage fommenden 
Yejerkreis, als für den Künſtler, der ohne fie feine Stellung jtets von neuen erkämpfen 
müßte. Und chrlich die Ihatjachen verzeichnen, verftändnisvoll den Ereigniſſen folgen 
darin kann allerdings ein Verdienſt liegen. Yeider verhält ſich jedoch die Sache nicht ſo 
einfacd), ift die zrorderung Goethes nicht immer leicht zu erfüllen. Das Verlangen derer, 
die, unfähig fich ein eigenes Urteil zu bilden, durch Schlagworte und Zentenzen geleitet 
werden wollen, künnte man allenfalls unbenchtet laſſen; aber die Daritellung ſelbſt 
ſchließt gewöhnlich ſchon ein Urteil ein. Die Art allein der Berichteritattung verteilt 
Licht und Schatten, und schließlich kann man über finftleriiche Dinge doc nicht veden, 
ohne Kragen des Geſchmacks zu ſtreifen, ohne von hiftoriichen oder allgemein äſthetiſchen 
Standpunkten Freude oder Mirfallen fundzugeben. Damit tritt aber die Perſönlichkeit 
des Urteilenden umweigerlich auf den Schauplatz; in dieſer Beziehung zum mindeiten it 
die Daritellung nie ganz von ihr loszulöjen, und mit der eriebnten „Objektivität“ ift cs 
wiederum nichts. 

Für den Tagesichriftiteller macht fid die Schwierigkeit nicht jo fühlbar. Die Fülle 
des Stoffes, die Vielheit der einzelnen Erſcheinungen drängt von jelbjt die Keflerion in 
den Dintergrumd und ermöglicht ein mehr berichtendes Verfahren. Iſt der Referent für 
eine Fachzeitung thätig, jo kann er vollends die Analyſe zu Dülfe nehmen und die be 
jprochenen Werke durch Notenbeiipiele erläutern. Je höher jedoch der Sefichtspuntt, von 
dem aus Umſchau gehalten wird, je ſummariſcher dev Bericht, un jo mehr wird natur 
gemäß das Raiſonnement vorwalten müſſen. Eine Monatsjchriit wie die vorliegende, 
die einen weiten Kreis von dem jeweiligen Ztand des muſikaliſchen Schaffensgebietes 
unterrichten möchte und mer die bedeutendften Ericheimmmgen in ihven Bereich zieht, kann 


Yeopold Schmidt, Muſikaliſche Ruudſchau. 309 


auf eine mehr Eritiiche Darſtellungsmethode nicht gut verzichten. Bon dem Bertrauen 
zu der Perfönlicdyfeit des Referenten, von dem Maß an Uebereinſtimmung in den leitenden 
Grundanſchauungen zwijchen ihm umd dem Peer wird es dabei abhängen, welchen Wert 
ſolche Erörterungen gewinnen. Im Begriff, die der Muſik gewidmete Abteilung in diejen 
Blättern zu übernehmen, glaube ich deshalb nichts Beſſeres thun zu können, als einige 
Worte über meine Anfichten von dem Wejen und dem Ziele der Mufiffritif, von ihren 
Aufgaben der Gegemwart gegenüber, vorauszuſchicken. Damit joll natürlich £einerlei 
Programm gegeben jein, ſondern nur ein jchlichtes Bekenntnis; hängt doch dev Chronift 
zu jehr vom Gang der Ereigniſſe ab, die in jeinem Berichte gleichlam ein Echo finden 
tollen, als daß er irgend einen Weg ſich verzeichnen könnte. 

Hat es jchon der Stumftichriftiteller an ſich nicht leicht, da man — um wiederum 
Goethe zu citieren — don der Kunſt eigentlid) nur in ihrer Gegenwart reden joll, jo 
itellen jich der Beiprechung muftfaliicher Werke und Vorgänge ganz bejondere Schwierig: 
feiten entgegen. Wer über Poeſie, Malerei und bildende Künſte jchreibt, kann wenigitens 
den Inhalt eines Werkes, das was es boritellen will, in zutreffenden Worten jchildern. 
Das Wejentliche, das eigentlich Nünitlerijche ift zwar auch bier nicht wiederzugeben, 
aber eine bejtimmte Voritellung davon ift immerhin zu erweden. Bei der Mufif entzieht 
ich der geſamte Inhalt den Künſten der Schilderung: Tüne und ihre Nombinationen 
ind nur durch ſich jelbit daritellbar. er davon erzählen will, kann nie das Weſen 
der Dinge berühren; jeine Schilderung bewegt ſich immer um den Kern der Zacıe 
herum. Dazu kommt, dat die Sprache für muſikaliſche Begriffe feinen Wortſchäatz bietet, 
außer denen, die phyſikaliſche Eigenichaften des Tones bezeidmen. Alles Künſtleriſche, 
alles, was die Wirkungen, Freude und Mißfallen, die inneren Beziehungen und den 
äußeren Aufbau betrifft, mu Fremden Gebieten entlehnt werden. Allerdings iſt mit dev 
Zeit durch Uebereinkunft eine Terminologie entitanden, die den eingeweihten Kreiſen 
durchaus veritändlich it; aber es find doch inmner nur Vergleiche, mit denen wir uns 
behelfen, keine zutreffenden Begriffsbeftimmmmgen. Die Empfindung dafür mag Nobert 
Schumann, nachdem er ſelbſt lange Zeit hindurch mit glänzenden Grfolge ſich kritiſch 
bemüht hatte, zu dem ärgerlichen Nusipruc veranlagt haben, dat alles Gerede iiber 
Muſik schließlich darauf hinauslaufe: mir gefällt etwas, oder es gefällt mir nicht. Das 
Beite wird deshalb noch immer, wo fie irgend augängig it, Die fachmänniſche Analyie 
bleiben, die mit technifchen, dem Muſiker vertrauten Ausdrücken und womöglich mit 
Rotenbeiipielen die Sache erläutert. Innerhalb einer mehr Fenilletoniitischen Darſtellung, 
die Sich an das große Publikum wendet, ift fie natürlich mit Maß zu gebrauchen. 
Nichtiges Taktgefühl wird bier Trockenheit zu vermeiden, die Allgemeinverftändlichfeit zu 
wahren willen. 

Unter den obwaltenden Umſtänden ericheint es Fiir den Mufifreferenten doppelt 
geboten, überall da, wo die Darjtellung die Form eines Urteils annimmt, vorfichtig zu 
jein. Da 08 ihm an der Möglichkeit, ja jogar an Worten fehlt, dem Yeler die Sache 
jelbjt zu unterbreiten, muß er ihn jtets darüber im Klaren laſſen, daß es lediglich Ein: 
drücke find, die er wiederzugeben vermag. Dieje Eindrüde find naturgemäk immer per- 
jönficher Natur und zeitlich begrenzt, d. b. wandelbar. Man denke nur daran, wie zu: 
meist Die Daraus gewonnenen Anſchauungen zuftande formen! Während 3. B. der We 


310 Leopold Schmidt, Mufikaliiche Rımdicau. 


zenient eines Bildes jo lange vor dasjelbe Hintreten fann, bis er es ergründet zu haben 
alaubt, ift die Muſik ein einziges Mal am Ohre des Betrachters vorbeigeraujcht, wenn 
er zur Feder greifen ſoll. Diejes „jofort“, zu dem fein Beruf ihn zwingt, verleitet ihn 
fiher zu einem Unrecht, zum mindeiten zu einem Unrecht gegen ich ſelbſt. Man kann 
deshalb jagen, daß der Journalismus der ärgite Feind der Kritit ift. Jeder gemifjen- 
hajte Referent wird, wenn er ichon die Berantwortlichkeit des Urteilens auf ſich nimmt, 
eine möglichit lange Bedenkzeit für ſich beanipruchen, er wird neue Ericheinungen lieber 
vier- und fünfmal ftudieren, bevor er das Wort ergreift. Erſt wenn ſich allgemein die 
Erkenntnis Bahn gebrochen hat, wie ſehr Publikum, Nünftler und Kritifer durch Nacht— 
rezenlion und PBremierenbeiprehjungen gejchädigt werden, wird die öffentliche Stunt 
fritit ihre Würde wahren und die ihr erreichbare Wirkungskraft entfalten können. 


* 


Ein weiterer Grund zu vorſichtiger Zurückhaltung allem Neuen gegenüber liegt in 
der Wandelbarkeit der äſthetiſchen Anſchauungen, der nicht weniger als Der Yaie der 
Fachmann unterworfen it. Das menſchliche Ohr iſt unglaublid) anpajlungsfähig; mit 
der Art zu hören ändert ſich aber aud) das Urteil. Die Geſchichte liefert beftändig Be: 
weile dafür, und niemandem ılt ein Vorwurf daraus zu machen, wenn er in fich die 
Entwidlung der Tonfunit mitmacht. Es wäre nun aber durchaus unrichtig, aus dem 
Gefagten etwa die Wertlofigkeit aller Tageskritik herzuleiten. Cine abjolute, unab- 
änderliche Norm, deilen muß man fich bewußt bleiben, läßt fich freilich nicht aufitellen; 
es genügt aber und interejitert den veritändigen Yeler, zu erfahren, wie ein Fachmuſiker, 
dein er Vertrauen ſchenkt, zu einer gegebenen Zeit über diefe oder jene Erjcheinung denkt. 
Was er von feinem Gewährsmann verlangen kann und muß, iſt, außer der ſelbſtver— 
ftändlichen Unparteilicyteit und Ghrlichkeit, Erfahrung und die nöthige Zumme von 
Stenntniffen. Wie überall it aud für die Erfenntnis fünstleriicher Werte die 
Erfahrung ein unſchätzbares Hülfsmittel. Wem die Gelegenheit zur Beobachtung be: 
Ständig wiederfehrt, dem vereinfachen ſich die Dinge, der wird fich im Urteil weniger 
leicht durch Zufälligfeiten oder Neuperlichfeiten beeinfluffen laſſen. Was die pofitiven 
Kenntniſſe betrifft, jo wird man die Grenze nicht weit genug ſtecken können. Bor allen 
muß der Stritifer die Geichichte feiner Kunſt beberrichen, um allen Greigniffen gegenüber 
den richtigen Standpunkt zu gewinnen. Dar er nicht alles, was er beurteilt, jelber 
braucht machen zu können, it ein Semeinplag, den ſchon Leifing nicht mehr des Beweiſes 
für wert erachtet hat. Immerhin ift ein gewiſſes praftiiches Nönnen auf muſikaliſchem 
Gebiete mindeitens wünſchenswert. Wer die Fähigkeit Telbit zu ichaffen beſitzt, ſteht den 
ES chöpfungen anderer verſtändnisvoller gegenüber. Ein unbilliges Verlangen ift es, dev 
Referent folle die einzelnen Disziplinen der ausübenden Tonkunſt nicht mur kennen, 
iondern auch selber zu bethätigen im ftande fein. Dergleichen haben in neuerer Zeit 
namentlich Geſanglehrer aufgeitellt, die alles mur aus dem Geſichtswinkel ihrer allein- 
jelinmachenden Methode betrachten möchten. Was dabei herausfommt, wenn der Geſang— 
lehrer über den Zänger, dev Mlavierpädagoge über den Pianitten u. ſ. w. urteilt, davon 
kann man in Faächſchriften und mindlihen Ausſprüchen genug abſchreckende Beijpiele 
finden. Das Perlangen tt aber nicht nur unbillig, jondern aud unnötig, wo es ſich 
nicht um einen beſtimmten Kreis von Fachgenoſſen handelt. Für die größere Oeffentlichkeit 
kommt es immer und überall nur auf das Allgemein-Muſikaliſche, auf das Künſtleriſche 


Leopold Schmidt, Muſikaliſche Rundichan. 314 


an, und jedes Hinabiteigen in technijche Streitfragen, zumal in noch unerledigte, wäre 
hier ſchlecht am Plage. 

Soll ich mic) als Laie der Führung eines Kundigen in irgend einem Fade ander: 
trauen, fo jcheint mir neben der Frage nad) Wilfen und Können vor allem die Frage 
wichtig: wie jpiegelt jich die Gegenwart in jeinem Kopfe, wie ift jeine Vorftellung vom 
Zeitbilde bejchaffen? Es ift heutzutage nicht leicht, fich zu einer Haren Anſchauung durch— 
zufinden. Wir [eben in einer interefianten Zeit, aber manches eridheint wirr und zer 
fahren. Auf eine Epoche unerhörten Aufſchwungs ift unleugbar ein Stillftand in der 
Produktion eingetreten; nicht mehr wie von Beethoven zu Wagner und Brahms folgen 
ih die bedeutenden Erjcheinungen in üppiger Dichtheit. Nicht mit derjelben Beſtimmt— 
heit läßt fich dagegen jagen, dat das Niveau des technischen Könnens und der Erfindung 
gejunfen jei, denn die Kunſt der Sllangmijchungen, eine freiere, bielverfchlungene 
Volnphonie finden wir vielfach bis zur höchiten Meifterichaft gejteigert. Eigentümlich 
ift der tiefe Zwieſpalt, der heute die mufifaliiche Welt in zwei ganz verichieden fühlende 
Hälften teilt. Altes und Neues hat fi wohl immer gegenübergeitanden, indeſſen nie 
jo unverjöhnlich, jo umüberbrüdbar wie jest, wo die Schule Wagner-Piszt nach ſchwerem 
Kampfe zur Anerfennung gelangt ist. Vielleicht ift es nur ein Gradunterjchied gegen 
früher; allein die Entwidlung bat einen jo gewaltigen Schritt und jo plötzlich vorwärts 
gethan, dat die Gipfel der älteren und neueren Tonkunſt völlig verjchiedenen Welten 
anzugehören jcheinen. Es ift nicht nur das Aufgeben der Form im engeren inne, der 
beide von einander trennt; durch das „Programm“ ift eine ganz anders geartete 
Deutungs: und Ausdrucksfähigkeit in die Muſik eingezogen. War früher der thematische 
Gedanke der Stern, das Wejentliche des muftfalischen Gebildes, jo führt heute das Klang: 
gewand, das „Rolorit* ein jelbitherrliches Dafein. Was mir aber an diefer Neufunft 
vermiſſen, ift die Uriprünglichkeit, der lebendige Fluß, der die Werke der älteren Meifter, 
Wagner nicht ausgeichloffen, durchftrömt und uns nivgend auf tote Stellen treffen läßt. 
Nur zu oft iſt an die Stelle der Begeifterung die Reflexion getreten und hängt ihre 
Pleigewichte an die aufftrebenden Schwingen der Phantaſie. 

Intereſſant ift es zu beobachten, wie ſich der Yaie der neueſten muftkaliichen Fort: 
ichritt$Spartei gegenüber verhält. Durch die Geichichte des eben beendeten Jahrhunderts 
belehrt, hütet fich der mufifaliiche Gebildete, an der Entwicklungsfähigkeit der Tonkunit 
zu zweifeln und das Neue um des Neuen willen abzulehnen. Aber nur in den jelteniten 
Fällen gelingt es ihm, jo recht ein inneres Verhältnis zu den deflamierten Liedern umd 
ſymphoniſchen Dichtungen unferer Jüngſten zu finden. Gr ift gerade erft im Zuge, ſich 
jeines Wagner's recht zu freuen und hat noch genug zu thun, ihn ganz in jemen Befit 
zu bringen. Die Heuchelei macht jich freilich im Konzertſaal nicht weniger breit wie im 
Theater; fie erhebt ihr Haupt, jobald die Mode fich für irgend eine Richtung entichieden 
hat. Nur die Ungeduldigen erflären vorläufig noch vundheraus: „das iſt gar feine 
Muſik mehr!” Thatſächlich iſt unfere Tonkunſt auch längft nicht mehr die Freuden: 
bringerin von ehedent; daher die ſtets erneute, elementare Wirkung der Klaſſiker, jo oft 
fie auch auf dem Programm ericheinen. 

Ganz anders ift die Stellung des Mufifers. Was ſich vegt und zum Schaffen 
gedrängt fühlt, jchart fi um die neue Fahne. Immer ftattliher wird die Gefolgichaft 


312 Leopold Schmidt, Muſikaliſche Ruidſchau 


von Richard Strauß und Schillings, den Häuptern der aus der Weimarer Schule 
bervorgegangenen Nomponiiten. Nur eine Gruppe älterer Meiiter, deren Entwicklung 
in eine frühere Zeit fällt, Männer wie Bruch, Gernsheim, Humperdink u. a. ſtehen noch 
in innigerer Berbindung mit dev Vergangenheit. Ihre Werke überragen zweifellos an 
Bedeutung, was ſich im Durchſchnitt daneben hören läßt: aber es weit michts über tie 
hinaus in eine Zufunft, wie fie Die \ungen träumen. Unter den Borfämpfern Tteben 
faſt ausnahmslos untere großen Dirigenten, ei Umſtand, der nicht wenig dazu bei 
getragen hat, Die moderne Richtung zur Weltung zu bringen. Trotzdem manches Un: 
geſunde, Aufgebauſchte, das ohne innere Berechtigung mitmachen möchte, ſich darin breit 
macht, fan man dem idenlen und kühnen Aufwärtsſtreben der jüngeren Generation 
jeine Sympathie micht verfagen. Dan gönne ihre Licht und vuft zum Enwicklungz viel 
leicht bereitet ſich in unſerer Mitte Großes vor, bevor wir es ahnen. Daß übrigens 
ticht geraden Weges mehr vorwärts geſtürmt wird, dafür bürgen mancherlei Anzeichen. 
Die Neigung zu Zeitenpfaden, um nicht zu jagen zur Umkehr, zeigt Sich am lehrreichſten 
bei Zchillings, weil ſie bier nicht als äußere Wandlung ericheint, ſondern aus innerer 
Nötigung und aus künſtleriſcher Erkenntnis heraus fich vollzogen bat. 

Fine dritte Gruppe, deren Bertveter glüdlicherweiie immer jeltener werden, liche 
jich den bereits genannten anreihen. Es find dies Die veripäteten Extremen der neu 
Deutichen Nichtung, die, ohne neue Werte prägen zu fünnen, an überwundenen Einſeitig 
feiten hartnäckig feſthalten. Ihr Gebahren fürdert Partei- und Cliquenweſen, anſtatt cs 
aus der Kunſt zu bannen, und wirkt unerfreulich wie der geſchäftliche und auf Aeußer 
lichkeiten gerichtete Zug, der andererſeits unſerer Zeit jo jehr eigentümlich iſt. Ueberall 
herrſcht mehr der Hang, den Kunſtgenuß auf muſikaliſchem Gebiete durch Verbreiterung 
zu vergröbern, als ihn wieder intimer zu geſtalten, und nicht zu unterſchätzen iſt die 
Gefahr — um alle Schattenſeiten aufzuzählen — die aus dem Uebermaß an öffent 
lichen Muſikaufführungen erwächſt, das ſchließlich bei allen Beteiligten zum Ueberdruß 
führen muß. 

Faſſen wir nun, nach dieſem Ausflug ins Polentiſche, die poſitiven Aufgaben zu 
ſammen, die man der öffentlichen Muſikkritik zuweiſen darf, ſo ergeben ſich folgende 
Forderungen. Der Kritiker betrachte ſich im erfter Linie als der Vermittler zwiſchen 
dem Rünſtler und dem Publikum, der das Intereſſe am den Leiſtungen weckt, indem 
ev Das Berſtändnis dafür Fürdert. Wo ſein Neferat ſich nicht auf Berichterſtattung 
bejehräntt, jet er bemüht, für das Urteil die vorfichtigite und am wenigiten verletzende 
Form zu Anden, ſtets eingedenf, day es Immer nur momentane Gindrüde find, die ev 
twiedergiebt. Bei der Verprechung älterer Muſik iſt es Zache der Mritit für die Ver: 
breitung pofitiven Willens und bittoriicher Anſchauungsweiſe zu ſorgen; handelt es ſich 
um moderne Werke, jo Fällt ihr die Aufgabe zu, das Wollen des Nomponijten zu deuten, 
zu zeigen, in welchem Zuſammenhang ev mit der allgemeinen Entwidlung ſteht, was 
etiwa Kunſtgemäßes und Originelles an jenem Zchaffen zu beobachten iſt. Uhme leicht 
tertigem Unfug Thor und Thür zu öffnen, halte man ſich allem Eruften, irgendivie Be: 
deutjamen gegenüber zur Zurückhaltung verpflichtet. Die Zeit wird enticheiden; es ilt 
kein Unglück, wenn das Urteil nicht gleich geprägt wird. Das Perſönliche der Anſchauung 
iſt nie zu vermeiden, wohl aber der Einflug des perfünlichen Geſchmackes. Der Nezenfent 


Leopold Schmidt, Muñſkaltiche Rundichau. 313 


nur die Sabe haben, unabhängig von Vorliebe und Antipathie, wenn nicht empfinden, 
doch betrachten zu können; Wiſſen und Erfahrung treten für das unmittelbare Gefühls- 
verſtändnis ein und geben ihm die Mittel zur Erkenntnis jediveder Eigenart an die Dand. 

In Boritchendem babe ich mich zu den Anschauungen befannt, die ſich mir als Die 
wichtigiten und als unumſtößliche von meinem Berufe gebildet haben. Im einzelnen Falle 
danadı zu handeln will id}, joweit es im meinen Mväften steht, mid) gern verpflichtet 
wilfen. Die Muſikkritik ift ein noch junger Zweig der Aeſthetik und Munitgeichichte, Die, 
jelbit die jüngsten der Wiſſenſchaften, nur zu oft eine ſchwankende und unvollftändige 
Grundlage abgeben. Man muß deshalb Geduld haben und ihr die Zeit laſſen zu ev: 
jtarfen, bevor man veife Früchte von ihr verlangt. 





Bucherſchau. 


Am Marſitplah. Roman in Kleinſtadtbildern von Hermann Beiberg. Freiburg i. Br., Berlag 
von Friedrich E. Fehſenfeld. 

Die treue Wiedergabe der Lebensiwirflichkeit iſt heute wie vor einem Jahrhundert ber 
erite unerlägliche Schritt zur Poeſie und poetifhen Wirkung, und doch ermeiit fich immer wieder, 
daß es beim eriten Schritt nicht bleiben darf. Die fcharfe Nüchternheit, die fich auf die Treue 
ihrer Beobachtung und die Deutlichkeit ihrer Schilderung verläßt, kann die von ihr erfakten 
Menichen und Zuftände aus der Zufälligfeit nicht zur Notwendigkeit erheben, fie bemeijt, aber 
fie überzeugt nicht. Die Kluft, die die Bermunderer von Goethes „Wilhelm Meiſter“ von denen des 
Engel’ihen „Herr Yorenz Stark“ trennte, ift auch nach einem Jahrhundert unausgefüllt geblieben. 
Heiberg’s Roman „Am Marktplatz“ ift einer der jüngjten Nachlommen des „Lorenz Stark” und 
erfüllt die Forderung verjtändiger Folgerichtigkeit und anichaulicher Detailfchilderung, läht aber 
das Berlangen nad) tieferen Yebensgehalt und bedeutenderen Geitalten ebenfo unbefriedigt, als 
die Forderung künſtleriſcher Form. Es ift ein Stück „Beimatkunft in dieſen Kleinſtadtbildern, aber 
da der Verfaſſer dem gleichen Boden entſtammt, der den Hinter⸗- und Untergrund des größten 
Teild von Theodor Storms Novellen abgiebt, jo fann der Vergleich jeiner „abfeits” jtehenden 
und lebenden Menichen mit den Gejtalten des ſchleswigſchen Dichters nicht zu feinem Vorteil 
ausfallen. Zelbit das Hilfsmittel, Kindererlebniſſe und Kinderfchidjale mit Erlebnifien und 
Schickſalen Erwachſener zu verflechten, bat jich im Fall diefes Romans nicht bewährt. ‚Freilich 
müſſen wir der Art Nüchternbeit, die den Bildern „Am Marktplaätz“ eigentümfich ift, den Vorzug vor 
der weſenloſen Phantaſtik und dem Haſchiſchrauſch zahlreicher, vermeintlich dichteriicher Schöpfungen 
der jüngſten Zeit geben. Aber gerade gegen die Annahme, als ob mir nur noch die Wahl zwiſchen 
dem Entweder der pochelojen Niüchternheit und dem Oder der naturlojen Ueberhitzung und 
Ueberkünſtelung bätten, kann nicht oft und nicht entfchieden genug Verwahrung cingelegt werden. 
Was uns not tbut, it warmes, großes Yeben und lebendige, große Kunſt. Wer daneben noch 
‚jerjtrenung und leichte Unterbaltung nötig bat, wird feine Rechnung bei diejen Kleinſtadtbildern 
jelbjt mit einen Ueberſchuß finden. Adolf Stern. 


Maria. Roman von Ernft Muellenbab, Berlin, Berlag von Emil selber. 1901. 

Mit lebhaften, aber webmiütigem Anteil begrüßen wir die leute erzäblende Schöpfung des 
rheiniſchen Novelliiten, der in den Furzen Jahren feiner litterariichen Thätigleit fich als liebens— 
würdiges und Frifch Fabnlierendes Talent eriwielen hat. Muellenbachs Romane und Novellen 
balten jich tm der Mitte des Yebens, feine Charaktere baben ihre Wurzeln jelten in elementarer 
Tiefe umd jeine Stimmungen erheben fich noch feltener m die lichteſten wolkenloſen Höhen. 
Muellenbach it, oder leider er war, Fein bloger Unterhaltungsichriftiteller, fondern ein phantaſie— 
voller Erfinder und ehrlicher Seitalter. dev für die verborgene Bocfie und den beſſeren Kern 
icheinbarer Alltagsericheimungen einen feinen Blid beſaß und jedes Stüd Yeben, das er ergriff, 
warm zu bejeelen wußte. Seine Erzäblungstunit war der älterer Erzähler wie Otto Müller 
und Edmund Döfer einigermaßen verwandt, aber ein jtärkerer Zug zur rbeinifchen Fröhlichkeit 
und ein Hauch echten Humors gab ihr einen noch intimeren Reiz, und da ſich der Luft des 
‚sabulierens der Trieb nach künſtleriſchem Gleichmaß und die ‚Fülle der Anfchauung geiellte, fo 
vermochten feine Sejchichten nicht bloß flüchtig zu feileln. Gerade dieſer lebte Feine Roman 
„Daria” weit alle befonderen Vorzüge des liebensmürdigen Erzüäblers auf. Ohne ein Weltbild 
su fein, spiegelt der zum größeren Theil in Bonn verlaufende Roman cin gervinnendes Stüd 


Bücherſchau. 315 


Leben, und die Titelheldin iſt in ihrer kräftigen Unverbildetheit und ihrer unbewußten Vor— 
nehmheit eine ganz prächtige Geſtalt. Es iſt viel Erlebtes und viel fein Beobachtetes in der 
ſchlichten Geſchichte und die alte wehmütige Erkenntnis, daß nicht die Dauer, ſondern der Inhalt 
eines Lebens deſſen Wert beitimmt, die uns angeſichts der Schickſale Maria Sommers über— 
fommt, klingt mit dem Gefühl zuſammen, nit dem wir des frühgeſchiedenen Verfaſſers gedenken. 
Adolf Stern. 


Aus Schule, Unterricht und Erziehung. Geſammelte Aufjäge von Dr. Adolf Matthias, Geb. 
Regierungsrat und vortragender Rat im Aultuäminijtertum zu Berlin. München 1901. 
C. H. Beckſche Berlagsbuchhandlung. 

Der Name Adolf Matthias bat überall, wo deutſche Eltern ſich tiefer mit der Frage 

„Wie erziehen wir unfern Sohn Benjamin?" beihäftigen, einen guten lang. Auch die in vor- 

liegendem Bande gefammelten Auffäge dürften nicht bloß bei Schulmännern und Pädagogen 

von Fach, ſondern auch bei allen, die zur Erziehung berufen find, — und das iſt ja neben ber 

„Schule“ auch das „Haus“ — Anklang finden. Die Reformbewegung im höheren Schulmefen, 

brennende Tagesfragen und Tagesjorgen mehr jchulpolitlicher Art, wie fie in der erjten Abs 

teilung diejes Buches („Allgemeine Schulfragen“) behandelt find, berühren und bewegen uns ja 
alte, fie find eine Angelegenbeit der ganzen Nation. Wer fich die Gefchichte, die Ziele und Auf— 
gaben diejer Bewegung vergegenmärtigen till, der findet an Matthias einen fachtundigen und 
durchaus nicht trodenen Führer. Der Verfaſſer gebört zu den Perfechtern der bumantftiichen 
Bildung, aber er verfennt die Schtvächen und Unzulänglichkeiten unferes beutigen Gymnaſiums 
durchaus nicht; er weiß, daß uniere Zeit neben der „Eafftichen‘ vor allem auch eine moderne oder 
bejjer jpezifiih deutiche Bildung verlangt, und deshalb it er ein warmer Fürſprecher dev 
lateinlofen höheren Bürgerichulen und ein unbefangener Anwalt der Gleichmwertigkeit der Ober- 
realfchulbildung mit der des Gymnaſiums. Dem „verzagenden und verbitternden Beifimismus, 
der der Entwicklung unjerer Zchulen und dem Yebreritande in feiner Arbeit, feiner Stellung 
und Wertichätung To unendlich viel geichadet hat“, tritt Mattbias überall entgegen. ‚in der 
zweiten Abteilung „Aus dem deutſchen Unterricht“ finden fich naturgemäß mehr mur den Schul— 
mann angehende Aurfäse, wenn auch einzelne wie „Uhland als Volksdichter“, „Deutſches 
Ghrijtentum und griechliches Detdentum in Goethes Iphigenie“ jedem Gebildeten etwas zu jagen 
haben. Alien Grzichern gilt, was Matthias in dritten Abjchnitt über „Minderindividualitäten 
und Kinderfehler“, „Weber Anlagen und Begabung” ſagt, und allen Deutjchen kann es gejagt 
fein, wenn er im lebten Abjchmitt vom „Bert politifcher Parteikämpfe“ fpricht oder jein liebes 
volles Berjtändnis für deutiche Größe in Gedächtnisreden auf Wilbelm |. und Bismard kund— 
giebt. „rei von bochgeftochenem, alademiſchem Ton“, wie fie find, werden die Aufjäge befonders 
durch die humorvolle, jchlichtsdentfrbe Art ihres Verfaſſers jeden Yeler angenehm berühren. 
Worms. Karl Berger. 


Schiller und die deutfiche Gegenwart von Carl Weitbrecht. Stuttgart 1001. Ad. Bonz & Gum. 

Es war nach all dem oberjlächlichen Gerede von veralteten Schiller, von feiner blutlofen 
Rhetorik, von feinem überwundenen Ideglismus und einer überbolten Dramatik, einem Gerede, 
das in den romantüchen Kreiſen und in den Salons der Nabel begann und neuerdings an den 
mißveritandenen Otto Ludwig wieder anfnüpfte, endlich einmal an der Seit, daß Schiller der 
deutihen Gegenwart in feiner dichterifchen und menschlichen Größe aufs neue aufgezeigt 
wurde. Ich glaube, das deutjche Volk fängt nun evit an, jchillerreif zu werden. ebenfalls 
haben wir das Recht und die Prlicht, uns unſeren Schiller nicht durch einige litterariiche Macht» 
jprüche md Schlagwurte wegesfamotieren zu laſſen, — das ijt auch gar nicht jo leicht, wie 
ichnellfertige fitterariiche Fünglinge anzunehmen Luſt baben. Daß Schiller, weit entfernt ver- 
altet zu fein, vielmehr heute gerade wieder modern wirkt, d. b. verſchiedenen wejentlichen Bes 
bürfnifien der Gegenwart entgegenkommt und vichtunggebend für die Zukunft werden kann, das 
weijt der Stuttgarter Heithetiter Carl Weitbrect in vorliegendem Büchlein in überzeugender 
Weiſe nach. Gr iſt ale Schwabe, Tichter und Menſch ganz der Dann dazu, die Größe des 


316 Bücherſchau. 


Dramatikers und Tragikers Schiller zu erfaſſen und darzuſtellen. Weitbrecht will Teine kritik— 
ſcheue Bewunderung des Dichters, er ſoll kein Stilmuſter ſein, aber lernen ſollen und fünnen 
wir auch heute noch von Schiller das Weſentliche aller echt dramatiſchen Knuſt. Weitbrecht 
öffnet ums die Augen für die oft gelengneten Zuſammenhänge zwiſchen Schillers Yeben, Ber: 
jönlichkeit und Dichtung, für die nur den Raturtiefen jeines Wejens entfpringende tragiiche 
Bucht feiner Dramen. Gingebend bat Weitbrecht diefe Dinge früher ſchon in feinem Buche 
„Schiller in jeinen Dramen’ (Stuttgart, Arrommann 1897) dargeftellt. In der neueiten Schrift 
wird auch dargelept, warım und mie gerade unfere Gegenwart Männlichkeit, weite Dorizonte, 
Sucht und Gewiſſen, Begeiſterung, einheitlich geichloiiene Weltanjchauung, aljo gerade das, tvas 
ihr am meisten not ihnt, bei Schiller finden kann. Auch über Schillers Lyrik weis Weitbredi 
nee Aufichlürie zu geben und die Bezichungen des jungen Schiller zum modernen Yeben und 
ben Beitrebungen des modernen Dramas einleuchtend nachzumeiien. Einen bejjeren Führer zu 
Schiller, wie wir diefen beute erkennen müſſen und nötig baben, als Weitbrecht, wüßte ich nicht 
zu nennen. Das fejlelnde, mit hinreißendem Feuer und gediegenjtem Beritändnis gefchriebene 
Büchlein fei allen Schillerfreunden und Scillerveräcdhtern, den einen zur Erbauung, den anderen 
zur Einkehr, entpfoblen. 
Wornis. Marl Berger. 


Grundzüge der deutichen Litteraturgeichichte. ‚Für höbere Schulen und zum Selbjtunterricht. 
Won Dr. Gotthold Klee, Broiejior am Gymnaſium zu Bauten. Vierte verbeilerte Auflage., 
Berlin, Georg Bondi, 1901. 


Die Thatfache, daß ein bauptjächlich für die Gymnaſien beitimmtes Buch binnen ſechs 
Jahren vier Auflagen erlebt und eine Verbreitung über die erjten zehntanjend Exemplare hinaus 
gewinnt, vechtfertint es allein noch nicht, diefem Buche eine tiber feinen pädagogiſchen Wert meit 
binansnehende Bedeutung nachzurüßmen Da es Tich indes um „Grundzüge der deutichen 
Yitteratingeichichte handelt nnd wor einzelner, höchit gangbarer Yeiltungen und unzähliger An— 
länfe die Zahl auch nur Gramchbarer Grundriſſe und Yeitfäden auf diefem Gebiet gering üt, 
da eine gleichmäßig Für die ganze Entwidlungsgeichichte der Litteratur zuverläſſige, innerlich 
veiche, äußerlich knappe Daritellung nicht nur für die Schule, fondern für die weiteſten Kreiſe 
unabweisbares Bedürfnis bleibt, jo bildet der Erfolg von Klees Buche eines der wichtigſten 
Zeugniſſe dafür, daß man ſich mitten im ‚Fieber der Zeit nach Gefundung und mitten in Der 
Verwirrung nach feiter, charafterboller Stlarbeit zu febnen beninnt. Das kleine, aber gebattreiche 
Werk Klee's iſt allfeirig um feiner geiitigen ‚grifche, um det Wärme feiner nationalen Geſinnung. 
der Bejtimmtbeit und Schärfe feiner Irteitsfrait md der Blajtit feines Stils willen als cine 
ungewöhnliche Erſcheinung anerfannt worden. Auch wer nur darin blättert und das feite Gbe= 
füge, die Hare Erkenntnis aller Uebergänge und Zuſammenhänge nicht gewahrt, ſieht doch als 
bald, dar bier eine glüdliche Beberrichung des ganzen weitichichtigen Stoffes und ein ficheres 
Unterſcheldungsvermögen für das Wichtige und Umwichtine ſich in gedrängtem und jchlagendem 
Ausdruck geltend macht. Für die Zwecke der Schule werden vermutlich und wenigſtens in den 
meijten Fällen die Kapitel „Althochdeutſche Zeit“, „Mittelbochdentiche Seit” und die drei eriten 
Dauptabjchnitte der „Neubochdeutichben Zeit” allein Berwertung finden, gleichwohl legen wir dem 
vierten Dauptabichnitt, der „die moderne Dichtung bis zur Gegenwart“ bebandelt und dem 
Zelbjtunterricht dienen joll, enticheidende Bedeutung Für dem Wert des Buches bei. Denn to 
vortrefflicdh Klees Meberficht der mittelalterlichen deutſchen Dichtung oder feine Charakteriitif des 
großen Jahrhunderts der Haffischen und romantischen Dichtung auch iſt, fo feit und überzeugend 
der Verfaſſer feine Ueberzeugung bei jtreitigen ‚ragen kundgiebt, mit jo unbefangener Empfindung 
er die lebendige Dichtung von der papiernen Yitterattır, die Urfprünglichleit von der Nachahmung 
trennt, bier ftebt er werigitens nicht völlig alle, bier fehlt es nicht an umfafienden umd glück— 
lichen Vorarbeiten, die dem Verſaſſer der „Grundzüge“ die Arbeit erleichterten. Schon in den 
Parapraphen, die die Zpätromantif, die Borlänfer der realiſtiſchen Dichtung, das junge Deutſch— 
land und die politiiche Vyrik bebandeln, und noch mebr in dem ganzen legten Hauptabſchnitt 
mus die jelbitändige Kenntnis der neueren Poeſie, der belle Bid und gute Takt des Berfafiers 


Büchericeban 417 


aufrichtig bewundert und jein ‚zührertalent gerühmt werden. Gs kommt hier nicht auf Boll 
jtändigfeit und nicht daranf an, ob dem genammten Namen noch einer oder der andere mit Hecht 
hinzuzufügen wäre, jondern darauf, daß „der umparteitiche Führer den ernſten Willen bat, 
die Wege zum Echten, wahrhaft Bedentenden zu weiſen“. Da Klee mit allem Recht das Haupt— 
gereicht auf die lebendige poetische Perſönlichkeit, ihr Berbältmmis zur Natur amd ihre Fünftlerifche 
Prägung legt und dem dichteriichen Gefühl fir die große Weltwirkticbkeit, der Darſtellung des 
geſunden Menichentums und der Eraftvollen That den Vorzug vor der noch jo virtuojen 
Zchilderumg des Zuſtändlichen und der bloßen Berſenkimg in Stimmungen giebt, jo wird der 
rückſchauende Yitterarbiitorifer unwillkürlich zum Mitvorkimpfer für die Neuträftigung und den 
Rengufſchwung ımierer poetifchen Yitteratur. Das Verdienſt der „Grundzüge geht alio weit 
über das Perdienit eines guten Schulbuchs hinaus und gejellt den Verfaſſer den Geiftern zu, 
die den feiten Zufammenbang der poetiichen Schöpferfraft mit dem Yeben unſeres Volkes erfamıt 
baben und mejentlich fördern. Adolf Steru. 


Wie ift unfere männliche Jugend von der Entlaffung aus der Uolksibule bis zum Eintritt in 
den Beeresdienft am zwedmäßigiten für die bürgerlidhe Gefellldhaft zu erziehen? Gekrönte 
‘preisichrift von Dr. Georg Kerfchenfteiner, Ztadtichuirar und Königl. Schulkommiſſar in 
München. 78 2. Carl Billaret, Erfint. 

Die vorliegende Schrift iſt durch ein Preisausjdweiben der Rönigl. Akademie gemeint: 
nüsiger Wiflenjchaften zu Erfurt bewvorgerufen. Auf das Preisausſchreiben gingen nicht 
weniger als 75 Abhandlungen ein, ein augenfcheinlicher Beweis, mie viel Anterefie das Problem 
erwerte. Der Breis wurde einſtimmig der obigen Schrift zuerfannt. Die verdient ibn im der 
That durch die inftematifche Art ihrer Antage, die Weite des Geſichtskreiſes, die Beſonnenheit 
des Urteils, die Zweckmäßigkelt dev gemachten Vorſchläge. Der bier entiwidelte Blan der ftaate- 
bürgerlichen Erziehung beiteht vornehmlich darin, „die mannigfach vorhandenen Erziebungskräfte 
aller Art in entiprechender Weife zu jtärten, fie nach dem gleichen bewußten Ziele zu richten 
md wo möglich zu einen feſten Kräfteſuſtem zu verbinden”. So ſehr dabei dem Verfalier die 
Einrichtungen dev anderen Kulturvölker gegenwärtig jind, fo knüpfen feine Borjchläge durchaus 
an die deutjchen Verbältniiie am und eritreben das bei ums Mögliche. Worin aber näber jener 
Plan beitebt, dag möchten wir die Peer lieber in dem Buche ſelbſt nachzuſehen bitten. n. 


Nauticus, Jahrbuch für Deutichlands Seeintereffen, 1901. Berlag von E. 2. Mittler & Sohn, 
»erlin. 

Die Reröffentlichungen des fachtundigen „Nautiens“ haben fchon feit Jahren die Aufmert- 
janıkeit der Fachwelt und flottenfreundlichen Kreiſe auf fich gelenkt. Er evariff bei dem parlas 
mentarischen Kampf um das erite Flottengeſetz im Jahre 1808 zum evitenmal das Wort, um 
in Form von Zeit: Streitfrageichriften (Altes und Neues zur Flottenfrage, Neue Beiträge zur 
‚slottenfrage) unjer damals noch „meerfremdes” Publikum über Deutichlands Seeintereilen imd 
maritime Aufgaben aufzuklären. Seitdem bat fich die Kenntnis maritimer Angelegenheiten mit 
Kiefenjchritten in unferer Nation Bahn gebrochen, und damit bat auch Nanticus in richtiger Er: 
kenntnis des zeitlichen Bedürfniſſes das agitatorifche ‚yeld verlaiien und fich der Herausgabe 
händiger Nahrbücher zugewandt, die wir als ein in Deutichland einzig daſtehendes 
Sammelwerk für die objektive Behandlung maritimer und mit ihnen in Zulanunenbang 
jtebender politifcher, geichichtlicher und mirtichaftlicher Aragen anerkennen müſſen. 

Das diesjährige, vor kurzem erichienene Nabrbuc bringt in der That eine Fülle hoch— 
interefianten und dabei muſterhaft behandelten Stoffes. Was gegen die früheren Berdffent- 
lichungen bejonders auffällt, it das Eingehen auf friegsmaritime Fachwiſſenſchaft, das 
man in früheren Jahrbüchern vermißte. Wir erfahren jetst zum erjtenmale Zuverläſſiges und 
Ausführliches über die Entwidelung unſerer eigenen Marine und die ‚sortichritte der fremden 
Seemächte; die gemachten Angaben find durchaus zuverläfiig und an feiner anderen Stelle 
veröffentlicht. Die im Vormort ausgefprocdene Abficht des Herausgebers, auch im künftigen 
Jahrbüchern ſtändig die Entwickelung unſerer Kriegsmarine, die Fortſchritte fremder Kriegs— 
marinen und die Fortſchritte der dentſchen Handelsmarine einer eingehenden Daritellung zu 


318 Bücherſchau. 


würdigen, können mir nur mit Freuden begrüßen. Nauticus wird ſich um fo mehr Freunde er— 
werben, wenn feine Berdffentlichungen von vornherein ſich auf Gebiete eritreden, über die fich 
der Late meiſt nur an ber Hand unvollftändiger, ihrem Werte nach unlontroflierbarer Berichte 
ber Tagespreile verjtändigen kann 

Aus dem jonftigen, überaus vieljeitigen und interefjanten Inhalt bes Jahrbuchs möchten 
wir noch als beionders bemerkenswert den Aufſatz „Die chineftfche Frage” hervorheben. Er 
entitammt zweifellos der Feder eines unferer bedeutenditen Chinafenners und bringt höchſt be> 
achtenswerte Auslaſſungen über die innere Politik Chinas, vor allem die Nefeemfrage, ferner 
über die hauptiächlichiten Wirkungen der europäifchen Aktion und die Ausfichten für Schantung 
und Kiautſchou. — Die chineftiche Frage wird in Zukunft fortgefeßt eine erhebliche Rolle in 
unferer auswärtigen Wirtichafts« und Handelspolitik fplelen. Dort im fernen Dften liegt der 
zukünftige Mittelpunkt unferer überfeeifchen Intereſſen. Wir werden Nauticus zu Dank ver- 
pflichtet fein, wenn er aud in fommenden Jahrbüchern mit gleicher Sachkenntnis die ſich 
anbahnende Löfung der chineftichen Frage und die weitere Entmidelung unſerer dortigen Inter— 
eſſen behandelt. 


Oskar Weißenfels, Die Bildungswirren der Gegenwart. Berlin 1901. Ferd. Dümmler. 


An der That, über alle äußeren Wirren der Gegenwart, bie politiſch-internationalen und 
die nationalewirtfchaftlichen, geben noch diejenigen, welche als die „Bildimgämwirren” im Titel 
diefes Buches bezeichnet find: fie gehen darüber, jofern fie wohl noch ſchwerer zu entwirren find. 
Es iſt Schon nicht wenig, fie zu erkennen, nach ihrer Entitehung, ihrer Verzweigung und Durch: 
freuzung fie zu verfolgen; die Meiften finden die Sachlage und namentlich die Abhilfe einfacher, 
als fie it. Offenbar iſt aber mit dem wirflihen Durchſchauen ſchon eine Art von Entwirren 
gegeben. Der Berfafler, erjt unlängit mit einem wertvollen Buche über „Sternfragen des höheren 
Unterrichts” (Berlin, R. Gärtner) bervorgetreten und überdies in der Welt ſeiner Fachgenoſſen 
feit lange als einer ihrer feinfinmigiten und durchgebildetſten Vertreter hochgeichätt, bat ſich er— 
freulichermeife diesmal an einen viel tweiteren Kreis gewandt und, um es kurz zu jagen, uns 
ein Buch von hohem Werte geichentt, das vielen Suchenden Stlarheıt geben kann und deilen 
Berbreitung dringend zu wünjchen ift. Es fpricht bier eine bochgebildete Perfönlichkeit, ein feiner 
Geiſt, ein geflärter Sinn, es thun jich ein weiter Gefichtsfreis, vieljeitige Beobachtung und 
jelbjtändiges Denken fund. Was ift Bildung? mas ift fie ihrer idee nach? was ijt fie dem 
gegenwärtigen Gejichlecht geworben? was follte ſie den Beiten bleiben? tie wird jie bewahrt 
und gewonnen? Kann wirklich die förperliche Ausbildung die gleiche Würde beanjpruchen tie 
die des Innern? In weldhen Sinne nur ift die Harmonie der beiden noch möglich und anzu— 
itreben? Wie arbeitet man dauernd an jeiner Zelbitbildung? Wie wird die rechte Art der 
Borbildung für diefe gewonnen? Welche Anſprüche an unfere höheren Bildungsanftaften find 
zurüdzumeijen, welche erfüllbar? Das it aus der ‚zülle des Bebandelten eine Reihe der Daupt- 
fragen. Die Ausführung ſelbſt aber läßt alles viel origineller ericheinen, als dieſe zuſammen— 
iaffende Formulierung andeutet. Des Verfaſſers Standpunkt liegt auf ungewöhnlicher Höhe; 
er wird manchen modernen Yefern meit von den durch die Zeit gebotenen Wegen abauliegen 
scheinen. Das Buch möchte in der That retardierend wirken, oder doch EForrigierend, und vor 
allem vertiefend. Zur Yeltüre regt auch die edle und nicht zu jchwierige Sprache an, in der 
herrliche Bilder ſich zahlreich folgen und viele Einzelftellen al8 Uphorismen berausgehoben jehr 
gefallen würden. Ein gelegentliches Zurüdfommen auf den Anbalt möchten wir uns denn audı 
ausdrücklich vorbehalten. 

Berlin. W. Münd. 


Gverhe in der Epoche feiner Vollendung von Otto Barnak. Wweite imgearbeitete Auflage. 
Leipzig, J. E. Dinrichsfche Buchbandlung, 101. XI. 316 2. 

Je leichter in der Behandlung Goethe's der Denker hinter dem Dichter zurüdtritt und je 

öfter eine Üüberreiche Detailarbeit den Blick für das Ganze neführder, deito willlonmmener wird 

eine Darjtellung fein, welche jeine geſamte Denkweiſe ımd Weltbetrahtung in anichaulicher 


- Rücherfchau. 319 


und feilelnder Weife vorführt. Das aber thut das Werk von Prof. Harnad. Als Epoche der 
Vollendung gilt dabei die Zeit feit 1805, indem nad) dem Tode Schillers Feine erheblichen Ver— 
änderungen mehr in Goethe vorgegangen find und die noch folgenden 27 Jahre einen jo eins 
beitlichen Charakter, einen ſo gleihmähigen Ton befiten, daß ſich diefer Zeitraum nicht wohl 
teilen läkt. Indem aber die Beichräntung auf diefe Epoche dem Verfaſſer ein einheitliches Bild 
ju bringen gejtattet, hat er keineswegs die frühere Zeit außer acht gelaffen, fondern durchgängig 
die inmere Entwidlung des Mannes vergegenmwärtigt. Die Anordnung des Stoffes iſt jo, daß 
nach einer kurzen Orientierımg über die Grundlage Goethejcher Denkweiſe die ethiichen und 
religiöfen Anjchauungen, die Naturbetrachtung, die Kunſtanſchauung, die Betrachtung der, poli- 
tifchen und fozialen Verhältniſſe erörtert werden und fich fchließlich alles in einen Rüdblid zus 
jammenfaßt. Möglichit fommt dabei Goethe felbit zu Worte, und zwar entjpricht es der Auf: 
gabe, dabei weniger die poetischen Werte als die Sprüche und Profafchriften, ſowie Briefe und 
Seiprächsaufzeichnungen zu verwerten; jo wird manches höchſt wertvolle Material beigebracht, 
das weiteren reifen fait unbefannt ift. Nie aber wird die Unterfuchung eine bloße Materials 
fanımlung, überall fügt der Verfafier das Mannigfache in feite Zuſammenhänge und jtellt es in 
eine aufhellende Beleuchtung. Er will dabei nicht ſowohl über Goethe reflektieren, als ibn felbit 
in feiner Eigenart geben und im Zufammenbange der mweltgefchichtlichen Arbeit verjtehen, er bat 
diefe Aufgabe in vortrefflicher Weife gnelöjt. Die und da mag man fic zur Abweichung ge 
trieben fühlen. Mit gutem Grunde hebt der Verfaſſer die mannigfachen Beziehungen Goethes 
zu Sant hervor, darüber gelangt der fundamentale Gegenjas zwiichen beiden Männern nicht 
voll zur Geltung. Auch möchten wir meinen, daß, mern eine Eigentümtlichkeit zeichnen zugleich 
eine Grenze bezeichnen heißt, dieſe Grenze gegen andere Vebensmöglichkeiten wohl jchärfer hätte 
markiert werden fünnen. Leicht entfteht fonft die Gefahr, dat Goethe wie ein allgemeingültiges 
Borbild erjcheint, was er nicht fein will umd nicht fein kann. Aber derartige Abweichungen 
hemmen feineswegs die lebhaftejte Anerkennung des Buches, das ebenfo durch jeinen ‚inhalt 
fördert wie durch die geichmadvolle Darjtellung feiielt. n. 


Deutihe Arbeit in Böhmen. Sulturbilder von F. Adler, Ad. Badımann, Kid). Batta, Joſeph 
Bendel u. ſ. w. Herausgegeben von Bermann Bachmann, Perlin, Concordia Deutfche Wer: 
tagsanjtalt. 1900. 

Dieſes Bud führt uns in einer Reihe von Cinzel-Darjtellungen unter der Leitung 
Hermann Badımanns, des Chefredakteurs der „Voſſ. Itg.“, in großen Zügen ein Bild des 
gegenwärtigen Standes der deutichen Kultur in Böhmen vor: einerjeits joll damit die nationale 
Widerſtandskraft der dortigen Deutſchen, andererjeits den Deutichen außerhalb Böhmens das 
Peritändnis für den Erbaltungsfampf und die Teilnahme für die Geſchicke der Volksgenoſſen 
gewedt und gejtärkt werden. Das gejdhlojiene deutiche Spradigebiet in Böhmen wird von 
G. Laube, Die Entmwidelung und Art der deutjchen Siedelungen von Y. Schlejinger, Die 
itaatörechtlichen Beziehungen Böhmens zu Defterreich und zum Deutichen Reiche von A. Badı- 
mann bdargeitellt; weiter werden bebandelt: Das deutfche Rolkstunm in Böhmen (Ad. Haufien), 
Die deutfche Pitteratur in Böhmen (W. Toiſcher, Alfr. Klaar, R. Fürft), Deutiche Kunſt 
J. Neuwirth, F. Adler) und Deutfche Tonkunſt Batka), Bühnenkunit H. Temweles), Wiſſen— 
ihaft Ph. Knoll, Das Schulmefen (N. v. Kraus), Induſtrie (J. Grunzel), Kunſtgewerbe 
'Bazauref), Handwert und Dausinduftrie (KH. Koſtka), Adel, Bürgertum und Bauernitand 
J. Benbel), Kurorte (9. Kiſch), Das deutiche Prag (Alfr. Klaar). Die Abhandlungen find 
fachlich gehalten, fie juchen das Volk bei der Arbeit, nicht beim Streite auf. Aber „beiliger Zorn“ 
md „gerechte Erbitterung” über die Bedrohung des Deutichtums in Böhmen klingt doch mit 
herein. Die Sache jpricht genug für fich jelbit: jeder Aufſatz bemweiit es, und H. Badımann betont 
es in jeiner vortrefflihen Einleitung ausdrücklich, daß dbeutfcher Idealismus und Arbeitsfleiß es 
waren, bie frühere Wildnis zu der foftbariten Perle in Habsburgs Krone gemacht haben, das 
alle Kultur in Böhmen gewijlermagen die Marke „Made in Germany* trägt. B. 


An vitteraturgeſchichten von allerlei Umfang und Güte iſt feın Mangel, und es ſcheint 
dem Abiate nach zu ſchließen, wirklich ein Bedürfnis darnadı vorhanden zu fein. Ja, fait habe 


20 Bircherichan. 


ich unſer Bolf im Berdacht, dat es lieber über feine Dichter, als diefe jelbit Lieft, was nerade 
fein gutes Beichen für die Gegenwart wäre, oder ein Beweis, daß wir vielleiht jchon von 
Nugendunterricht an litterariichekritifch verborben worden find. Mit Borliebe über etwas ſchwatzen, 
das man aus zweiter Hand kennen gelernt bat, ift feider heutzutage eine, insbejondere durch Schuld 
unferer Zeitungen meitverbreitete Unart; umd jo könnte man zu dem MWumjche kommen, da 
unſer liebes Publikum von den vielen Yitteraturgeichichten, deren eine vor Jahr und Tag ver« 
brochen zu haben, auch ich mich ſchuldig befenne, gar feine läſe, jedenfalls nicht jolche, welche 
ftatt in die Tiefe unſeres dichteriichen Schrifttums zu führen, nur das vberflächliche Geſchwät 
darüber befördern. Aber wir verlangen von einer beute gejchriebenen Yitteraturgejchichte mebr; 
nämlich, daß fie gefchrieben werde aus dem nationalen Peben und vebenszuſammenhang heraus. 
Dar ſie dadurch den Ztols auf unfer deutfches Volkstum jtärft und das nationale Gewiſſen 
ſchürft, wird fich bei einem charattervollen deutichen Verfaſſer von jelbit ergeben. Und wenn fie 
nebenbei allen den überflüſſigen Ballait über Bord wirft, den andere, auch populäre, Yitteraturz 
nefchichten immer noch mit fich ichleppen, und werm fie endlich lesbar iſt für den Sebildeten, der 
überhaupt Sinn für unfere Yitteratur bat, fo verdient fie, in weiten Streifen gelejen zu werden, 
ohne daß man fchädfiche Nebenwirkungen befürchten müßte 

Und im dieſem Sinne fünnen mir aufs wärmſte empfehlen die @efchichte der Deutichen 
Eitteratur von Adolf Bartels (Veipzig, W. Avenarius, 1901, von der der erite Band (von den 
Anfängen bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts, vorliegt. Ein weiter und Schlußband 
wird die Yitteratunmefchichte des 19. Jahrhunderts bringen. Iſt das Werk. das einen bedeut- 
jamen Fortſchritt in der Pitteraturgeichichtichreibung bedeutet, einmal vollendet, ſo werden wir 
eingebender auf das Buch zurückkommen, als bier möglich üt, wo es ſich uns mur darmn handelt, 
auf ein wirklich nationales Werk aufmerffam zu machen. 

"impfen, Dr. Richard Weitbredt. 


Deutihlands Rubmestage zur See. Zwanzig Bilder aus der deutichen Seefriensgefchichte in 
Kupferlichtöruden mac Originalgemälden. Bon Marinemaler Prof. Hans Peterfen. Mit 
furzgem Tert von Picendmiral a. D. Reinhold Werner. Verlag von N F. Yebmam. 
München. 

Diefer prächtige Wandjchmued wird bei den Pejern unſerer Monatsjchrift ganz befondere 
‚sreunde finden, ſoweit diefe großen und ſchönen Bilder ibnen noch wicht befannt find. Die 
Blätter find auch einzeln zu beziehen (4 M. gerahmt 8 M.ı; das Ganze erjcheint in ſieben 
referungen zu 5 M., fo daß die Sefamtmappe 40 M. Folter. „Der Untergang des Iltis“, 
„Baul Benedes Steg über die englifche Flotte“, „Eroberung Novenbagens durc die Danfa‘, 
„Kampf brandenburgifher und ſpaniſcher Schiffe bei Zt. Vincent“, „Gefecht bei Jasmund“, 
„Deutſche Flotte in Kiautſchou“ u. ſ. m. — fie find von den Wänden unferer Zimmer berab ein 
terichtender Beweis, wie viel Kraft zur See das Deutichland der Hanfa, das brandenburgiice 
Deutfchland und endlich das neueſte Dentichland bereits entfaltet haben und von nun ab evit recht 
entfalten werden. Much zu Feſtgeſchenken empfebten fich die vortrefflih ausgeführten Bilder ganz 
beionders. — Aus bdemielben nationalen erlag laſſe man ſich ein Verzeichnis der dort ers 
ſchienenen illuitrierten „Paterländtichen Jugendbücherei“ fenden: man wird für die veifere ‚\ugend, 
gerade in unferen nationalen Streifen, viel Schönes und Wediegenes darin finden. v. 


Neuerſchienene Bücher für die Bücherſchau bitten wir an die Verlagsbuchhandlung einſenden zu 
wollen. Beſprechungen behält ſich die Redaktion”vor. 


Yahbrud verboten. — Alle Rechte, insbefondere das ber Ucberfeung, norbehaltın, 


Berlag von Ulexzander Dunder, Berlin W,5. — Trud von ©. 5. Hermann in Berlin. 
Kür die Hebaftion verannwortlic: Ihr, Rulius vVohmever, Berlin: Charlotenburn. 


Dem an) — der e Daxteil. 


Anna 2 — ale muß 








Morgen- und Abendausgabe, 





Derlag des Bibliographifchen Inftituts in Berlin und £eipzig. 





Bezugspreis: Bei den Poftanftalten des Deutſchen Reichs und Öfterreih-Ungarns vierteljährlich 
5 Mark. — Monatliche Sonderbeftellungen fönnen zum Preife von je ı Marf 67 Pf. bewirft werden. | 


Mit direfter Poftverjendung nad dem Ausland foftet die, Tägliche Rundfhan" einſchl. Porto 
vierteljährlih 15 Mark — nad den deutjchen Schußgebieten 10 Marf. 


In den einundzwanzig Jahren ihres Beftandes | 


ift die 
„Tägliche Rundichau“ 


das — Eichlingsblatt — der gebildeten 
nationalen Kreife Deutfchlands gemworden, 
und fie hat beionders in der letzten Seit nicht nur 
ihren Ubonnentenftand — der faft alle Berliner 
politifben Tagesblätter um ein Bedeutendes über- 
fteigt — nm mehrere Cauſend neuer £efer ver- 
mehrt, fondern auch eine unbeftrittene politifche 
Geltung erften Ranges gewonnen. 

Unabbängig nach allen Seiten, vornehm 
im Ton und jachlich im Urteil, fucht die „Läg- 
libe Rundſchau“ Plärend und fammelnd für die 
fittlihen Jdeale des Dentfchtums fomohl als für 
den Dölferberuf unferer Nation einzutreten. Sie 
befürwortet eine ſelbſtbewußte und weitichauende, 
aber in ihrem Dorgehen nüchterne und befonnene 
Realpolitif und war der Berold unferer Kolo- 
nial» wie unſerer $lottenpolitif, die jie beide 
auch thatfräftia hat in die Wege leiten belfen. 

In der inneren Politif betont die „Tägliche 
Rundſchau“, getreu ihrem Wahlfprucde: „Dem 
Daterlande, nicht der Partei, das Gefamtinter- 
effe gegenüber den Fraktionsanſprüchen, ftellt ſich bei 
fonfervativer Brundgefinnung jedem Anfturm auf 





unfere Beiftesfreiheit wie jeder undeutichen 


Strömung entgegen und vertritt bei ſcharfer 


Befämpfung der Umfturzpartei den Gedanken der 
ehrlihen und befonnenen 5Sozialreform. 

An die gebildeten Kefer mit eigenem unbe- 
fangenen Urteil wendet fi die „Läglihe Kund- 
ſchau“, nicht an die führerbedürftiae Majfe. Aus 
den Reihen der Gebildeten unferer Nation ift ihr 
daher au in immer fteigendem Maße der Kohn 
geworden, daf fie die „Tägliche Rundſchau“ als 
ihr Blatt anerfennen und aus ihren Neihen das 
Wort von der Rundfhaugemeinde hervorat- 
gangen ift. 

eben ihren fadlichen Dorzügen , die wieder: 
hoit von berufenfter Seite öffentlich und in ehrend- 
fter form anerfannt worden find, darf ſich die 
„Tägliche Rundſchau“ ferner rühmen, eine der 


reichhaltigften deutjchen Zeitungen 


zu fein; ihr Bezugspreis bleibt tro der Neuerung, 
nach welcher unfer Blatt nunmehr 


— zwölfmal wöchentlich — 


ericheint, der alte, fo daß die „Tägliche Rund- 
ſchau“ nicht nur die vornehmfte, fondern aud 
die billigfte aller zweimal täglich erfcheinenden 
großen politifchen Tageszeitungen tit. 


Probenummert werden fofort nad Beftellung umfonft und poftfrei 7 Tage hinter. 
einander geſandt von der Beicäftsftelle der 


„Täglichen Rundfchau” in Berlin SW. 12, 


Simmerftraße 7-8. 


Jahrgang 1901/2. Inhalt des Tlovemberheftes. Heft 2. 


Deufide Monatsicriff 


für das geiamte leben der Gegenwart. 


Serausgegeben von Julius kohmeyer. 








Seite 
keitipruc von Rihard Wagner . . » 2 2 2. ae An | 
Adolf Wilbrandt: Große Zeiten. Erzählung. (Fortiegung) a a re Te 161 
Johannes Reinke: Der Menic lebt niht vom Brot allen . . 2 2 2 2 nm en 181 
Carl Weitbredt: Wenn ein Volk aulwaht — » >» 2: 2: En mn ren 192 
Karl von Stengel: Die Friedensbewegung und nationale Gelinnung - : : » 2 2 2... 193 
Karl Ernit Knodt: Abenditimmung im Serbit. - - » 2: 2 22 2m. sah —— 
Freiherr ©. von Zedlit und Neukirc: Erinnerungen an Miquel . » » 2 2 20m: 208 
Julius kohmeyer: Gerbiklang : 2 200 0 nn 216 
Altred Kirchhoff: Das Meer im Leben der Völker und in der Machtitellung der Staaten . . 217 
Frig Lienhard: Gruß an das Meer - » 2 2 2 2 0 0 nr ren 227 
Max Sering: Die deutidıe Bauernicalt und die Bandelspolitik -. - © > 2: 2 2 22 n0u 228 
Karl Dove: Gebete der Buren . » 2 2 un vn nenn a A 241 
fritz Hlenhard: Die Gemütsmacht der deutihen Fru. . . . . a eg . 242 
Frida Schanz: Gedihte -. » : 2 2 2 2 20. A ea ea er 247 
Adolph Wagner: Bankbrücde und Bankkontrollen. 1L.. rar ne ER er <E 248 

“Julius Lohmeyer: Deutihe Sprüchee. 258 
5. von Wißkmann: Meine Kämpfe in Oftafrika,. i. Beitrafung der Wawemba-Sklavenräuber 259 
Theodor Schiemann: Deutihland und die großen europälfhen Mähte . . . ... . . 267 
Wilhelm von Maifow: Zur Zolltarlibewegung : : 2: 2: nm mn nen 274 
Karl Ernit Knodt: Der Beimuf . 2 2 2 2 nenn he ae ge 280 
Paul Dehn: Weltwirtihaftlihe Umihau . > 2 20mm nn en 281 
Jullus Lohmeyer: herbltualddd.— 292 
Paul Dehn: Deutichtum Im Auslande . . . » 2: 2 22 20. a a 
Reinhold Fuchs: Auf dem Grenzkamm . : : 200 nn nn 300 
Carl Bulfe: Don deutlicher Kritik und vom deutihen Rman . . . 2 2 2 2 nn. 301 
Reinhold fuchs: Herbliesſrot. 307 
keopold Schmidt: Mufikalikhe Rundſchau. I. Bekenntnliſe des Muſſktelerenten 308 
Büderichau von Adolf Stern, Ridard Weltbreht, Wilhelm Müänd, Karl Berger, 

EISEN EA a ee 314 


Die „Deutihe Monatsichrift“ erkheint in Seiten von 160 Seiten Umfang 
zu Beginn jeden Monats. Der Abonnementspreis beträgt: 

vierteljährlich im deuficten und ölterr.-ungar. Poitgebiet . . . . Mk. 5,— 
pr im Weltpoitvereins-Gebiet . . » 2 2 2 2 m nm 6,85 
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„ Im Weltpoitvereins-Gebiet . . . „ 3,— 
Der Preis einzelner Hefte IMIk. 2,—; im Weltpoitvereins- Gebiet „2,50 
Die „Deutiche Monatsichrift” iit zu beziehen durdı die Budıhandlungen des In- 
und Auslandes, die Poitanitalten (Poitzeitungsliite für 1901 No. 18464) oder die 

Expedition, Alexander Dunder, Berlin W. 35, küßowitr. 43. Prospekte gratis. 


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Deutf che Monatsichrift 


für dassesamte Leben der Gegenwart 


N 
FERAUSGEGEBEN von 
JULIUS LORMEYER 


N 


| BERLIN 
| | A) VERLAGVonALEXANDER DUNCHER 
— | | 








Jahrgang 19012. Inhalt des Dezemberheftes. Heft 3. 


Deufidıe Monatsichrift 


für das gelamte Leben der Gegenwart. 
Berausgegeben von Jullus kohmeyer. 








Seite 


keitiprud von Beinrih von Treitihke » » : 2 0 m m rn —— 1 
Adolf Wilbrandt: Große Zeiten. Erzählung. (Schluß) . a — 321 
Frig blenhard: Sötlihe Fahrt‘ . © 2 0 0 2 er ea .... 343 
Theodor Lindner (Salle): Die Entulckelung des deutſchen — FE 34 
Julius kohmeyer: Deutſche Sprüde . . . . ; ER. - 7 
frig Lienhard: Die Gemätsmadt der deutichen Frau (Schluß) ar at 
frida Schanz: Großitadtabend . 2 2 20 nu m rn ee | 
M. Wilhelm Meyer: Die gemeiniamen Züge Im Weltenbau. | Fe ER ——— 362 
Frig Lienhard: Maric der Seekadetten . . . .». . Pa Fa a r | 
Alexander von Peez: Der engliiche Zwilcenhandel als Deutichenfeind . IE NE GRFT FRE, : .. 
Karl Dove: Auf füdlihem Meere . . x 2 2 2 2 0. er 
Karl Dove: Die künftige wirtichaftlihe Bedeutung Südweitafrikas Hr Deutfchland u 0. Bl 
Martin Srel: VKelhnachtennn. een — 1— 
Adolt Bartels: Goethe und Echermain. 0 20.“ a ee nen. 392 
Paul Friedrid:; Die Großitadt ſchlaittt. en. 3 
3. Norden: Aus dem lieben der Bauptitadt - » © 2 2 nn m na  \\' 
Karl Panlelou: Sellg Und. Mo 
Theodor Schlemann: Ilonatsſciau aber auswärtige Poltik - -. © 2 2 2 2 2 42411 
W. von Mallow: Monatsihau über innere deutihe Pollik - . - 2 2 > 2 2220. M8 
Beinrih Dierordt: Die Tauben der Denur . . . A Ta ae es er . 423 
Paul Dehn: Weltwirtfhaftlihe Umihau - 2 2 mon en . 42% 
Dictor Blüthgen: Berbltitimmung -» » x 2 2 2200. a de .. 434 
Paul Dehn; Deutichtum im Buslande. -. - . >: 2 2 2 Er m nn 82133 
Pictor Blüthgen: Kinderos . . . an Eee el ae a a ee un . MO 
Garl Bulie: Kitterariiche Monatsberichte a a nen es, Eee Gen. Aut ne Ja 4 
eo Bulle: Es ut in Bed  . nen nr . . 451 
Max Marteriteig: Vom deutihen Theater - » : 2: 2 Km m nr ne 452 
Paul heude: Ueberliht über den augenbliklihen Stand der Elektrotechnik ee a ac, 459 


Büdericau von Otto Siebert, Th. Sciemann, Th. Adhelis, Karl Berger, Oskar SGorn, 
Julius Lohmeyer, Julius Stinde, Ridard Weltbredt, Victor Blüthgen, 
5. Montanus, Paul Dehn, K. Dove, Georg Böttidher, Karl Emmerid, 
Otto Conrad, ©. O. Fels, F. Freiherr von Dinklage, K. Eberhard, N. Pichler u.a. 462 





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„ Im Weltpoftvereins-Gebiet . . . 2 2 nr rn 425858,— 
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Die „Deutiche Monatsicrift“ iſt zu beziehen durdı die Budihandlungen des In« 
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Unermeblich find die neuen politijchen Aufgaben: 
welche lich feit wenigen lahren unferem geeinien Lande 
aufdrängen. Die deutſche Nation ift ihnen allen gewachfen, 
wenn fie ibr Kaijertum in Ehren bält und fich nicht ab- 
bringen läht von dem Gedanken der Monarchie, den kein 
Volk je jo frei und fo tief verjtanden hat wie das unjere 


Beinrih von Creii[dhke: 
Unfer Reich 1886, 


= Große Zeiten «= 


Erzählung von 


Adolf Wilbrandt. (Schlaf) 


S war ungefähr eine Stunde ſpäter, Helmuth noch nicht wieder im Haus. 
Marie hatte ſich, nachdem Reichthal mit Franz verſchwunden war, wieder in 
ihr Wohnzimmer begeben, auf jeden Laut nah und fern gelauſcht, zuweilen auch das 
Pochen ihres Herzens gehört; zuweilen atmete ſie für einen Augenblick erleichtert 
auf: noch bin ih allein! Dann fragte fie fi wieder: Und was wird nun? — 
Und mas ift gefchehn? — „Alles gut!" mar Reichthals letztes Wort. Und mit 
Franz hinunter, hinaus ... So wußte wohl Helmuth nichts von Franz. Was 
wußte er denn? Warum war er doch fortgeftürzt? Was wird er jagen und 
fragen, wenn er mwiederfommt? — hr war zu Mut, als ginge fie zmifchen 
lauter Abgründen, vor ihr, recht3 und links. Sie drüdte die Mugen zu. 

Endlich kam ein jonderbares Gefühl, das fie nicht verftand; es zog fie vom 
Stuhl empor und aus ihrem Zimmer fort. Ein banges, aber weiches Gefühl, 
das einen Schmerz, aber auch etwas Bitterfühes hatte; es war eine Sehnfucht 
darin; fie überließ fich ihm, wie im Traum. Im Ohr rührte fich dazu der Geſang 
von vorhin: „Lieb Vaterland, magjt ruhig ſein . . .“ Ihr ward zum Weinen zu 
Mut. Sie weinte aber nicht; etwas Stärferes, eine Kraft oder ein Wille war 
in fie gefommen; fie nahm eine Lampe vom Tiſch und ging durch die Zinumer, 
bis fie in das Arbeitszimmer Helmuths fam. „Lieb Vaterland“ — die Melodie 
ging mit. Gott, mein Gott, dachte fie zugleich, ſich wieder in ihr Elend vertiefend, 
— der du mich fo geihaffen Haft, jo umvernünftig, fo ſchlecht — es war eine 
Thorheit — — verzeih mir die Läfterung. Laß mic, lieber Gift trinken, oder 
was du twillft, und fterben! — Sie fah nun aber umher und ſah, wo ſie jtand: 
im Zimmer ihre8 Mannes. Sie ftellte die Lampe auf feinen Tiſch. „Meines 
Mannes!“ Die beiden Worte gingen ihr durch) den Kopf. Meines Mannes! 
Wie mir das Elang, dachte fie, als ich mir's zum erſten Mal voriprad, in meinen 
Mädchenphantafieen: dereint das Weib eines Mannes zu fein. Des einzigen 


21 


322 Abolf Wilbrandt, Grohe Beiten. 


Menfhen auf Erden, dem man feine ganze Seele aufzufchlagen habe wie ein 
heilige Bud; des Geliebten, des Beihüters, des Freundes — alles in dem 
einen Namen. Es war mein Mädchenftolz, der Welt einft zu zeigen, wie 
ich das verftünde. Immer „treu, wahrhaft und geduldig” fein: das war mein 
Gelübde! — Und fo fteh' ich nun da. — — Helmuth! Helmuth! — O hätt’ft 
du nur den rechten Willen, die Geduld gehabt, mid, dir zu gewinnen; ich war ja 
nicht fo kalt, wie ich fhien. ch martete ja auf did. Warum ift denn nun alles 
verloren — o mein Gott! 

Sie ſank auf Helmuths Arbeitsftuhl, jtügte die Arme auf den Tiſch, den 
Kopf in die Hände; fo ſaß fie eine Weile, den Thränen nahe, in tiefer, ſchauernder 
Traurigkeit. Ein aufgejchlagenes Bud, fiel ihr in die Augen, zuerft ohne daß 
jie'3 wußte; als fie aufmerfte, ſah fie, daß es die Bibel war. Verwundert nahm 
fie e8 in die Hand; mitten unter feinen Kriegskarten und Zeitungen diefes ſchwarze 
Bud! Sie blidte auf eine der offenen Seiten, eine Stelle war angeftrichen, fie 
las: „Wer fi) von feinem Weibe jcheidet, der macht, daß fie die Ehe bricht...“ 
Beklommen ftarrte fie hin. Warum ftric er das an? Hatte er an Scheidung 
gedaht? — Sie ſchlug um, die Bergpredigt endigte auf dem nächften Blatt; 
einige Verje waren mit ftarfer Schrift gedrudt. „Und die Pforte ift enge,“ ſah 
fie mit dem erſten Ylid, „und der Weg ift fchmal, der zum Leben führet; und 
wenig ift ihrer, die ihn finden." Es klang in ihrem träumenden Ohr, als hörte 
fie diefe Worte fingen, über die Straße herüber, von denfelben Stimmen, die 
„Die Wacht am Rhein" gefungen hatten; alles floß zufammen, wie in ein Gefühl. 
Der Weg, der zum Leben führet! feufzte fie auf, aber nicht mehr ganz ohne 
Glauben und Mut. Der zum Leben führet! Ach, wer zeigt mir den Weg? 

Weiter oben ftand noch fo ein Vers mit ſtarkem Drud. Ahr Auge fiel hin, 
fie las: „Bittet, fo wird eud; gegeben; juchet, jo werdet ihr finden; Elopfet an, 
fo wird euch aufgethan." Ahr ſchwoll das Herz, unmäßig. Leife fing dann darin 
ein Zittern an. „Suchet, fo werdet ihr finden!” wiederholte fie vor fich hin; es 
ward lautes Denken. „Ad mein Gott, warum fuch’ ich nicht? Den ‚Weg, der 
zum Leben führe . . . Nur Ehre iſt Leben. Entehrung ift der Tod! Feſt 
ftehn und treu‘ ... ‚Treu, wahrhaft und geduldig‘... Gott, Gott, lieber ewig 
ungeliebt und unfelig fein, als veradhtet von diefem edlen Mann, dem ich mein 
heilige Wort gegeben. Helmuth! Helmuth! — D hätt! ich nur den Mut, vor 
ihm zu befennen! Bor feinem reinen, ftrengen, pflichtftolgen Blick bin ich jo ver- 
zagt, fo feig. ®ott, was ſoll ich thun?“ 

Ihr Muge irete über den Tifch, über die Karten und Zeitungen; ein offenes 
Briefhen lag dazwiſchen, halbverdedt. „Lieber Freund!” Tas fie. Es war Elifens 
Schrift. Irgend eine Eleine Bitte, fchien’3; — ja, fie erinnerte fih. Das Billet 
lag mohl fchon eine Woche da. Die bekannte fühne Schrift mit den derben 
Strichen, die über ihren Buchftaben wie Fahnen ſchwebten . . . Die hatte Marie 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 323 


einft ebenfo gemacht, dann ſich wieder abgewöhnt. Wenn ich wollte, dachte fie, 
ich könnt’ es noch ... 

Ein zweiter Gedanke durchbebte ſie. Wenn ſie heute, jetzt —! Nicht vor 
ſeinem Aug' bekennen — aber an ihn ſchreiben — als käm's von Eliſe! — Die 
Gefühle, Erinnerungen, Entſchlüſſe jagten ſich in ihrem Hirn. Eh' Helmuth heim— 
kam! Es war vielleicht die höchſte Zeit! — Sie ergriff einen Briefbogen, der 
ſeitwärts lag, tauchte die Feder ein, und auf Eliſens Schrift blickend, um treu 
nachzumalen, fing ſie an zu ſchreiben: 

„Lieber Freund! Als ih Sie damals —“ 

Ihr ftürzten nun doch die Thränen in die Augen; die Hand wollte nicht. 
So in fremdem Namen, an ihn, an Helmuth, als wär’ fie nicht feine Frau! — 
Aber ich bin's ja auch nicht!, dachte fie dann. Will's werden — wenn ich noch 
fann! — Sie fuhr fi) mit der Hand über die Augen, darauf fchrieb fie weiter: 

„Als ich Sie damald warnte vor Ihrer ‚gefährlihen Frau — zwei Wochen 
iſt's ber; in meinem Garten — da fragten Sie mid, wie man denn diefe Frau 
behandeln müffe, um fie gefund zu machen. Marie kam dazwiſchen. Heute jag' 
ich's Ihnen, denn ich fühle, e3 ift meine Pflicht. Wenn Sie Ihre Frau ſich nod 
retten wollen, fo feien Sie ein Mann, geben Sie ihr die Hand, fie zu halten. 
Reifen Sie mit ihr ab, fo bald Sie können! — Elije." 

Sie ftedte den Bogen in einen Umfchlag, befchrieb und ſchloß ihn und legte 
ihn auf die offene Bibel. Dann ging fie; nur eben zur rechten Zeit. Sie hörte 
die fnarrende Thür zur Treppe, und wie jemand, offenbar Helmuth, auf den 
Vorplatz trat. Ahr Herz jchlug wie toll. Sie floh in ihre Zimmer zurüd. 


+ * 
* 


Helmuth kam langſam, mit geſenktem Kopf. Draußen war ihm nicht wohler 
geworden; in der ganzen Welt, ſo ſchien es ihm, war keine reine Luft. Er ſchämte 
ſich, es ekelte ihm, daß er jo davongeſtürzt war, alle Haltung und Faſſung ver- 
loren hatte wie die Weichlinge, die er verachtete. Was war aber mit ihr, mit 
Marie? „Nur unglüdlich” — Reihthals Worte — „nicht ein Hauch von Schuld”. 
Warum dann fo, jo verftört? Nur weil Reichthal feine „Berrüdtheit” vor ihr 
ausgejchüttet? Wenn ich vor fie hintreten werde, dachte er und erzitterte, und ihr 
fagen: heraus mit der Wahrheit! was werd’ id dann hören? — — In der Küche, 
ſah er, war noch Licht. Er trat in die Thür. Dore ſaß am Tifch, die Emfige 
nähte an ihrer jhadhaften Hausjade. „Sie noch auf?” fagte er. „Und nod fu 
fleißig?" 

Sie deutete mit der mageren, braunen Hand auf ihre Arbeit. „Das alte 
Zeug, das hält ja nicht, Herr Profejjor. — Ich Hab’ auch eben noch einen 
Schlummerpunfh gemadt für die gnädige Frau, wollt’ ihn ihr jet bringen." 

„Herr von Reichthal ift wohl nicht mehr hier?“ 

21* 


324 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


„D nein, der ift gleich nad) Ihnen fort! — Es find wohl wichtige Nach— 
richten vom Krieg gefommen, Herr Profeffor?" — So hatte Dore ſich's zu: 
fammengereimt, all da8 Kommen und Gehn im Dans. 

„Wichtig? — Nicht gar fo ſehr. Auf die großen Schladhten warten wir ja 
nod. — Gehn Sie nur bald zu Bett. Gute Nacht!“ 

Helmuth trat in jein Arbeitszimmer. Reichthal! Der Name ging ihm 
wieder durchs Hirn, wohl ſchon zum hundertiten Mal. Er drüdte fich die Hände 
gegen die Schläfen; ich kann ihn nicht haſſen, dachte er, kann ihn nicht veraditen; 
ich fühl’ nur das Eine: Du, du haft die Schuld, warum Eonnteft du fie nicht 
glüklih machen! — O was für ein Thor ich war, als ih um fie warb; und wie 
glaubt’ ich klug zu fein. Aus PVerliebtheit kam ih, und aus Scham und Stolz 
verbarg id) fie; und aus ihrer Achtung, hofft’ ich,. wird fchon Liebe werben; — 
alles, alles Thorheit. Berflucht war diefe Ehe, denn fie war 'ne Lüge! — Der 
hat fein Weib verloren, der es nicht glücklich machen kann. Ach hab’ Marie ver- 
loren! id kann's nicht! 

Er ging eine Weile hin und ber; dann jette er ji am Arbeitstifch nieder, 
wie er ed gewohnt war; dort ftand die brennende Lampe noch. Auf der Bibel 
lag das Briefen; er erkannte Elifens Schrift. Gleichgültigemehaniih riß er 
den Umſchlag auf; die Gute, dachte er, fie ahnt nicht, mit wie abgewendeter 
Seele ih das lefe! — „Lieber Freund!” fing er an. „Als ich Sie damals 
warnte vor Ihrer gefährlichen Frau —“ 

Er las in fliegender Haft zu Ende. Dann ftarrte er auf das Blatt. 
„Reifen Sie mit ihr ab, fo bald Sie können . . .“ So ftand es da. Wort für 
Wort. Warum jchrieb Elife das? gerade heute? „Ich fühle, es ift meine Pflicht.“ 
Was wußte fie? Dder was glaubte fie? Wußte fie von NReichthal? — „Wenn 
Sie Ihre Frau fich noch retten wollen... .“ 

Wie das Eingt! dachte er. Wenn man's gefchrieben vom Bapier herunter: 
fteft; wenn die befte Freundin einem das jagt! 

Er zerfnitterte den Brief. Er hob die Hand, um ihn auf die Erde zu 
werfen; — es kam aber ein andrer Gedanke und hielt ſie zurüd. Der deutfche 
Krieg! Auch was thun! Das bewegte ihn nun fchon diefe ganze Zeit. 
Ein jeder follte thun, was er kann! — „Reifen Sie mit ihr ab, fo bald Sie 
fönnen .. .“ 

Die Hand öffnete jich wieder, er jah wieder auf das bejchriebene Kleine 
Blatt. „Seien Sie ein Mann —" ihm ſchien, die vier Worte ftanden größer 
als die andern da. Ein Mann! Weniger al3 ein Mann konnte doch ein Mann 
nicht fein. Nur nicht verzagen an feiner Pflicht! — Fort könnt’ ich wohl! ſchoß 
ihm durch den Kopf. Meine Vorlefungen kann ich übermorgen jchließen, dann 
bin ih am Ende. Die großen Ferien find da... Aber „To bald Sie können“, 
ichreibt fie Warum nit fofort? Noch heute Naht? Bis Um? — Dort 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 325 


ließ’ ich fie morgen allein. Ich führe wieder her. Uebermorgen mit ihr weiter. 
Hilf dir nur, fo hilft dir Gott! — Meine Pflicht, meine Pflicht! 

Eine Art von Seligfeit fam in feine wunde Bruft: die Freudigkeit des Ent- 
ſchluſſes, die Befreiung von der dumpfen, wehrlofen Dual. Er ging mit großen 
Schritten durchs Zimmer hin. Er ging an die Thür, die zu Mariend Gemächern 
führte; „Marie! Marie!" jagte er halblaut, als jtünde fie dort... „Ich hab’ Dir 
diefe Hand am Altar gegeben, Dich damit zu ſchützen und zu halten bis an 
meinen Tod. Sch verfuc es! Das End’ weiß Gott!“ 

Er trat wieder an jeinen Tiſch, drüdte auf die Slode. Dore kam herein. 
„Iſt meine Frau noch auf?” fragte er. 

„a, Herr Profefjor. Sie geht in ihrem Zimmer auf und ab, ich hab’s 
eben gehört.“ 

„Dann laff’ ich jie bitten, auf ein paar Augenblide herzukommen. Derweil 
gehn Sie Hin und paden ihre Fleine Reifetafche; nur das Notwendigſte für eine 
Nacht, wie in früheren Fällen, Sie wifjen ja.“ 

„Ah! Die gnädige Frau verreift?" 

„Bielleiht. Sie hören dann mehr!” 

Dore ging. Helmuth ichloß eine Schublade im Schreibtijh auf und nahm 
Geld heraus. Weber fein tief ernites Geficht zog ein verwundertes Lächeln; ja, 
ja, dachte er, das ift dieje Zeit! Da kommen einem Gedanken, die man jonjt 
nicht kannte; man friegt einen hohen Mut. Man will aud feinen großen 
Kampf! — Was wird fie jagen? — Einerlei. Meine Pfliht! Meine Pflicht! 

Marie trat ind Zimmer. Ihre Bewegung, ihre Bangigkeit befämpfend 
jagte fie fanft und ruhig: „Du haft gewünjcht?* 

Er jah auf ihrem Geficht feine Spur mehr von der Aufregung, die es vor- 
hin verzerrt hatte; die Augen blidten Ear und gejund. „Sa, ich hab’ Dich bitten 
laſſen,“ fing er langjanı an, eine Hand unbewußt mit der andern reibend; es 
war eine faft feierliche Spannung in ihm, die er nicht ganz unterdrüden fonnte. 
„IIch fürchte aber jehr, dat Du ftaunen wirft. Wenn Deinem — Deinem Mann 
nun der Gedanke füme, Di plötzlich, ſpät am Abend zu rufen und Dir zu 
jagen: wir — verreifen noch diefe Naht, Du und ich, miteinander; aber der 
Grund, warum, der bleibt einftweilen unausgeſprochen, und ich bitte Dich, nicht 
danach zu fragen: nicht wahr, das würd’ Dich jehr befremden, Marie.* 

Zu feiner Berwunderung ftand jie noch ebenfo da, wie vorher, ruhig Aug’ 
in Auge. „Bielleiht im erſten Moment,” eriwiderte fie. „Aber ich würd’ denken: 
er bat jeinen Grumd, e8 nicht zu jagen —“ fie lächelte ein wenig: „und die Frau 
bat ja dem Mann Gehorjam verjprocdhen. Und darum würd’ ich dann antworten: 
gut. Thu nur, was Du willſt!“ 

Helmuth ſchwieg eine Weile vor Ueberrafhung. Gehorjam! Das Wort 
hörte er von ihr zum erften Mal. Was für eine gefügige Weichheit war in fie 


326 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


gekommen? Datte Neichthals Geftändnis die Pflichtgefühle, das Ehebewußtſein 
in ihr aufgerüttelt? — Er faßte jih: „Aber Marie — es iſt nicht nur jo 'ne 
Fabel, oder Hypothefe. Wir verreifen wirflid. Und noch heute Nacht.“ 

„Und ich foll nicht fragen, warum?" 

„sch bitte.“ 

„Das ift freilid — abſonderlich.“ 

„Und Du —“ 

„Und ih..." Marie erzwang wieder ein leife zitterndes Lächeln: „Und 
ic) frag’ nicht, warum.” — O wär’ ich erft fort! dachte jie. 

Aber das ift ja ein Traum! dachte Helmuth. So weich ſah ich fie nod) 
nie! — Auch ihm ward wunderbar weich zu Mut: „Ich dank’ Dir, Marie. Ad) 
dank Dir ſehr. — Um Mitternacht geht der Zug. Wir haben alfo noch eben 
Zeit. Meine Tafche it in drei Minuten gepadt; Dore padt fchon deine. Was 
wir dann noch brauchen, ſchickt ſie nach. — Du würſt alſo bereit?“ 

„Wohin geht die Reife?“ fragte Marie, nur damit er ſich nicht wunderte, 
daß ſie gar nichts fragte. 

„Heute Nacht nicht weit. Dann —“ Er jtodte. 

„Laß nur. Ich frage nicht. Mir ift alles recht!“ 

„Nicht wahr, diefes lange Rätſel befremdet Did; —“ 

„O nein. Gar nicht. Ich find’ mich hinein!“ 

„Aber Du taumelft ja. Was ift Dir?“ 

Die verſteckte Erregung ward ihr nun doc; zu ſtark. „Nichts!” antwortete 
fie; „wa3 follte mir fein?" Sie konnte aber nicht mehr jehn, ihr fchwindelte, 
und das Herz that ihr weh. Sie fahte einen Stuhl und ſank auf ihn nieder, 
hielt fi an der Lehne. 

Er jprang hinzu und ftüßte fie. Nun fühlte er aber, daß fie zufammen: 
fuhr. Sogleich zogen fid) feine Hände zurüd, wie ſich die drei Kahre lang fein 
Derz zurüdgezogen hatte. Bewegungslos blieb er vor ihr ftehn. — „Du bift 
feidend, fcheint mir.” 

„Kein, nein." — Mit Doppeljinn murmelte fie fo hin: „Mir wird wohl!“ 

„Du kannſt fo nicht reifen —“ 

„Do, doch. — Wie — gütig Du das ſagſt. — Ach kann und will. Schon’ 
mich nicht. Thu nur, was Du willft!" 

„Wie Du meinft,“ fagte er, heimlih erichüttert und nicht recht begreifend. 
„Alfo heute Nacht!“ 

„Sogleih!" Sie ftand wieder auf. „Da bin ich!” 

Er padte jeine Handtaſche; es war fchnell gefchehn. Dore kam mit 
Mariens Tafche, auch mit ihrem Mantel, Schleier, Hut und Schirm. Sie jah 
ihren Profejlor reifefertig.. „Sie fahren mit?” fragte jie. 

Er nidte. 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 327 


Ob das dod vom Krieg kommt? dachte fie. Verſtehen that fie's nicht; 
aber jo ein Mordskrieg ftellt ja die ganze Welt auf den Kopf! . 

„Dore, Sie hören morgen von uns,” fagte Helmuth nur. „Bleiben Sie 
bier, wir gehn zum Bahnhof; eh’ Sie uns fo ſpät 'nen Yiafer finden, vergeht 
die Zeit. Gute Nacht!” 

„Gute Nacht!" jagte aud) Marie. 

Dore jah die Beiden gehn, e8 ward ihr immer mehr wie ein Traum. Der 
Profefjor und die Profeſſorin in die Nacht hinein — mit einander fort — die 
ich in diefen Wochen kaum gelehen hatten. Ra, das war der Krieg! 

* * 


* 

Im Auguſt begann der wirkliche Krieg. Es folgten einander, wunderbar 
geſchwind, die gewaltigen Schickſalsſchläge, die das franzöſiſche Kaiſerreich nieder— 
warfen und das deutſche ſchufen: Saarbrücken, Weißenburg, Wörth, die Schlachten 
um Metz herum, die Kämpfe auf dem Marſch nach Sedan. Es war ein Monat, 
dieſer Auguſt, wie wenige Menſchengeſchlechter ihn erleben; eine Siegesbotſchaft 
hinter der andern her, und nie etwas anderes als Sieg. Nun, wer hatte recht? 
dachte Neichthal, den die Freude wieder zum Jüngling machte; Helmuth der 
Bejlimift oder ih? „Es wird wohl mande Siege geben, die wir beide nicht 
feiern." So fagten Sie damals, mein guter Helmuth, al ich ein paar Gläjer 
von Eliſens Erdbeerbowle auf den erften Sieg trinken wollte. Ich hab’ bis 
jest auf jeden getrunfen. Und ich denk’, dabei bleibt's! 

Nur ein großes Rätſel jtörte ihn und die andern Freunde in ihrem vater: 
ländifchen Glüdsgefühl: das Verſchwinden des Dornſchen Ehepaares; es war 
völlig wie aus der Welt. In der Nacht plötzlich abgereift, niemand wußte wohin; 
Helmuth noch wieder in München erfchienen, aber nur von den Studenten im 
Kolleg, ſonſt von feinem Menſchen gejehen; dann von neuem fort, ins Blaue 
hinein. Wohin? Wo waren die beiden und was trieben fie? Es gab eine Ein- 
geweihte, die alte Dore, das erkannten Reichthal und Elife bald; die hatte aber 
offenbar „auf die Hoftie geſchworen“, wie Reichthal Elagte, das Geheimnis nicht 
zu verraten: fie wich jeder Frage aus, jie gab feine Antwort. Es vergingen 
Wochen, Met ward jchon belagert, Straßburg beichofien, Helmuth und Marie 
blieben verjhollen. „Dat er fie umgebracht?" fragte Reichthal in feinem Galgen- 
humor Elife, die über das Geheimthun ebenjo empört war wie er. „Oder hat 
er jie den Franzoſen auögeliefert?" Zumeilen famen ihm ewnfthaft ſchwere, 
düftere Gedanken: feine Selbitanflage hatte auf Helmuths ſchwarzes Blut zu 
giftig gewirkt, er war mit Marie in irgend eine Einöde entflohen, hatte ſich in 
eine verlaffene alte Burg hoch im Gebirg mit ihr eingefperrt. Dort jollte fie 
langjam vergehn . . . . Dann lächelte er wieder bei feinem Glas Siegesbowle: 
das thut vielleicht ein wilder Welfcher, aber ein deuticher Profeſſor nicht. Der 
iſt eingeſchworen auf „Humanität“. Sie fommen wieder an den Tag! 


328 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


Endlich hielt er's doch nicht mehr aus; er griff zu einer „Sriegslift“, wie 
er's nannte, da er jetzt alles auf den Krieg bezog, oder mit ihm entichuldigte. 
Er ging ind Dornihe Haus zu Dore, mit einem tragiſch ernften Geficht. Seiner 
jtillen Bermutung ein faljches Mäntelchen umhängend, jagte er: „Jetzt haben 
wir's, ach du lieber Gott! In der Abendzeitung fteht's. Ihre gnädige Frau, 
meine Marie, in einem unjerer Feldlazarette in Frankreich ilt fie von Franzofen 
überfallen und verwundet worden. Man hofft, fie wird uns ausgeliefert; aber 
die Schwere Wunde, die hat fie weg!” 

Dore war blaß geworden; ſie jchüttelte nım aber den Hopf. „Das fann 
doch nicht jein, Herr von Reichthal.“ 

„Warum nicht?" 

„Weil ihr Feldlazarett —“ 

Sie fahte ſich wieder, fie jagte nicht mehr. Aha! dachte nun Reichthal; er 
ſah ich nun doch auf dem rechten Weg. Er zug im tiefiten Ernft die Brauen zu- 
jammen: „Weil das ?yeldlazarett der gnädigen Frau nicht in Frankreich it? 
Dann hat fie fich wohl verjegen lafjen, nach Frankreich hinein. In der Zeitung 
ſteht's.“ 

„Das iſt doch nicht möglich!“ rief Dore, der nun bange wurde. „Geſtern 
iſt noch ein Brief vom Herrn Profeſſor gekommen: ſchicken Sie mir den wärmeren 
Mantel und —“ 

„Nach Frankreich!“ 

„Nein, in die Pfalz, wie bisher!" — — 

Eine halbe Stunde jpäter kam Reichthal zu Elije: „Ich bin jonjt mehr für 
Deldenthaten als für Kriegsliften; aber diefe war gut! Sie wirken alfo beide fürs 
Baterland, wie ich dachte. In einem Tyeldlazarett in unjerer Pfalz, nicht weit von 
der franzöſiſchen Grenze; den Ort will Dore nid,t jagen, fie hat mich beſchworen: 
fragen Sie nicht mehr! ich darf nicht, ich darf nicht! Aber weil ich die Pfalz gut 
fenne, Dore aber nicht, jo hab’ ich doch jo ziemlich herausgebracht, wu es ift. 
Um zivei oder drei Städte im ſüdweſtlichen Winfel kann ſich's höchitens handeln. 
Wenn's alfo noch wahr ift, was Sie immer jagen: ih muß hin —" 

„Sa,“ rief Elije, „gewiß muß ich hin! muß Marie wiederjehn! muß jehn, 
wie es ift!” 

„Dann finden Sie fi jhon zurecht!“ 

„sh? Sie finden fi zuredht. Sie begleiten mid ja doch. Es ift ja 
Ihre Marie!“ 

„Allerdings. Aber, meine Liebe, Gute — da ift ein Kleines Hindernis. Der 
Dann. Mit dem — fteh’ ich jegt nicht gut. Am letten Abend haben wir uns 
hart geiproden —“ 

„Na, das haben Sie ja oft gethan.“ 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. | 329 


„Diesmal ganz bejonders hart! Am Unfrieden auseinander. Eh das 
nicht aus der Welt ift, möcht’ ich ihm nicht unter die Augen treten —“ 

„Was! Sind Sie feig?“ 

Reichthal richtete fih hoch auf. „Das müſſen Sie jett feinem Deutichen 
jagen. Verlaſſen Sie jih auf meine Worte, bafta.“ 

„Worüber jind Sie denn jo auseinander gekommen?“ 

„Das erzähl’ ich Xhnen ein andres Mal. Marichieren wir nur erft nad) Paris!“ 

Wieder eine halbe Stunde jpäter hatten fie ſich geeinigt: die Reife nad dem 
Lazarett in der Pfalz ward gemacht; Neichthal fuhr mit; er half aber nur juchen, 
bliden ließ er fich einjtweilen nidt. Wenn Marie und Helmuth gefunden waren, 
jollten fie nicht überfallen werden: Eliſe jollte jchreiben, fich melden, ihnen über: 
lafjen, ob jte fie fehen wollten oder nicht. So fuhren fie, von ihrer Liebe, Neu: 
gier und Sehnſucht gezogen, am nächſten Morgen in der Frühe ab; nur Elifens 
Gatte war im Geheimnis, Dore wußte nichts. Inzwiſchen waren die leßten 
entjcheidenden Nachrichten von Sedan gekommen: Mac Mahons ganzes Heer in 
unjern Händen, „und der Kaiſer, der Kaifer gefangen“! München war im Sieges- 
rauſch. Ganz Deutichland war's. Auf der Fahrt durh Bayern, Württemberg, 
Baden in die Pfalz — am Morgen des vierten September — jahen die beiden 
Reifenden überall die Fahnen wehen, hörten Böllerfihüfje oder Glodenläuten. Die 
Menjchen zogen, da es Sonntag war, auf allen Straßen und Wegen umber, 
auch SKinderfcharen, auch mit Geſang. Reichthal drüdte fich zulekt in die Ede, 
jein luftige® Würzburger Herz ward ihm doc) zu groß. Er lachte zuweilen plößlich 
Frau Elife an, über das Geficht floffen ihm aber lange, ftille Thränen. 

Am Nachmittag erreichten fie die Stadt, die Reichthal vor allen im Verdacht 
hatte, daß fie die Verſchollenen beberberge; auch bier alles im Fahnenſchmuck, in 
Feſtesfreude, vom herrlichiten Sonnenlicht verflärt. Sie ftiegen aus und gingen 
dem Feldlazarett zu, das draußen in der Borftadt lag, einem Wirtshaus jchräg 
gegenüber; von Garten umgeben ein geräumiges, fenfterreiches Gebäude, beim 
Ausbruch des Krieges für diefen Zwed hergegeben und jchnell eingerichtet. Hohe 
Bäume beichatteten es, ein Eleiner Fluß zog vorbei. An den Fenſtern des Ober- 
jtods waren weiße Jacken zu jehen und junge, zum Teil blafje Gefichter: die 
Kranfen und Verwundeten aus dem Krieg. Eine Diakoniffin in ſchwarzem Ge- 
wand und weißer Haube ging eben ins Haus. Im Garten faßen drei oder vier 
Soldaten vor dihtem Gebüſch, halbverftedt, und jangen ein befanntes Lied: 

Eine Schwalbe macht noch feinen Sommer, 
Wenn fie gleich die erjte ift, 

Und mein Mädchen madıt mir Summer, 
Wenn jie einen andern Füht. 

„Das werden Geheilte, Genejene fein,“ jagte Elife, die mit Andacht zuhörte; 
es fam ihr bier alles heilig vor. 


330 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


Reichthal nidte heiter. „Sobald das die Glieder wieder rühren kann, muß 
es fingen!” 

Die Soldaten fangen unterdefjen weiter: 

Denn es hält ja fo ſchwer, auseinanderzugehn, 
Wenn die Hoffnung nicht wär’ auf ein Wiederfehn. 
Lebe wohl, lebe wohl, lebe wohl, lebe wohl, 

Lebe wohl, auf Wiederſehn! 

„Die ziehn wohl heut ab,“ murmelte Elie. 

„Sa, und find noch gerührt obendrein. Danfbare Gemüter. Biel Vergnügen 
haben ſie hier wohl nicht gehabt!" 

Elife drängte jeßt mit Augen und Händen: ins Haus! Sie traten ein. 
Von einem jungen Mädchen gewiefen, famen fie in einen Arbeitsraum zu ebener 
Erde, der auch als Spredzimmer diente; große Schränke ftanden an der Wand, 
lange und breite Tifche in der Mitte, zum Teil mit friſcher Wäſche bededt. Eine 
Diafoniffin in mittleren Jahren war mit der Wäſche bejchäftigt; eine jüngere 
erfhien eben aus einem Nebenraum, mit Paketen und Zeitungen. Sie ſummte 
vor fi Hin: 

Und mein Mädchen macht mir Summer, 
Wenn fie einen andern küßt. 

Auf einmal war's, al3 erwade fie. „Mein Gott,“ ſagte fie zu der andern, 
„da fing’ ich ſchon wieder diejes heillofe Lied!“ 

Die Meltere blidte von ihrer Arbeit auf und lächelte: „Ya, ja, die Soldaten- 
lieder wollen Ahnen nicht mehr aus dem Kopf. Das kommt davon, wenn man 
muſikaliſch iſt.“ 

„Man möcht's bald verwünſchen! Seit ich hier im Feldlazarett bin, lern’ 
ih Melodien — und Terte — daß 's einem grauf't!” 

Reichthal trat mit Elife näher; er nahm das Wort. „Diplomatiſch“: das 
war jeine Sache! „Meine frommen, verehrten Damen," begann er mit einer 
Ihönen Verbeugung, „ich möcht Sie ganz ergebenft um Auskunft bitten über eine 
dritte Dame, die wir hier vermuten.“ 

„Ueber wen, mein Herr?" fragte die Diakoniffin, die gelungen hatte, mit 
ihrer angenehmen, friichen Stimme. 

„Es wird fünf Wochen ber jein, oder einen Monat, daß eine nod junge 
Dame von — von jehr empfehlendem Aeußern in das Lazarett kam, um die Ver— 
wundeten und Stranfen pflegen zu helfen; und mit ihr —“ 

„Ab, Sie meinen vermutlich die Miß!“ fiel ihm die ältere Diakonijfin mit 
einem jcharfen Lächeln ins Wort. 

Reichthal machte eine höfliche Bewegung mit dem Kopf: „Wollen Sie mir 
gefälligit jagen, wer die „Miß“ ift; fo will ich Ahnen jagen, ob ich fie meine.” 

„Die „Miß“, mein Herr, wie wir fie nennen, die fam vor ungefähr vier 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 331 


Wochen ber; gleid; nach den eriten Schlachten; mit hohen Empfehlungsichreiben, 
einer langen Jungfer und jehr viel Gepäd. Sie wollte ſich nützlich machen. a, 
ja! Jeden Morgen gegen zehn Uhr — nie früher, o nein — trat fie feierlich in 
den Saal der Verwundeten ein, in eleganter, weißer Morgentoilette —“ 

Die junge Diakoniffin warf dazwilchen: „Aufgelöftes, langwallendes Haar —“ 

Die ältere fuhr fort: „Ein rotes Kreuz auf der Bruft —“ 

„Sab einem VBerwundeten zu trinken —“ 

„Dielt einem andern die Waſchſchüſſel —“ 

„zeilte einige Traftätchen aus —“ 

„Und verihwand dann wieder,“ ſchloß die ältere, „bis zum nächſten Morgen 
um zehn. Das ift die „Miß‘! Wenn Sie wegen diejer Dame gekommen find, 
dann könnten Sie fi) mit wenig Mühe recht nützlich machen: reifen Sie mit 
ihr ab.“ 

„Das ift nicht Marie!” flüfterte Elife. 

„Nein,“ verjette Neichthal leife, „das ift jie nicht — oder id) bin ein altes 
Pferd!" — „Entichuldigen Sie," fagte er zu den Pflegerinnen. „Daben Sie hier 
feine andere weltliche Dame außer diefer Miß?“ 

„Doch, noch eine,” erwiderte die Junge. „Die jugenannte gnädige Frau.“ 

„Warum die ‚gnädige Frau‘?" fragte Elife. 

„Wir nennen fie alle fo; wie fie heißt und was fie ift, hat man uns nicht 
geſagt. D, das ift freilich eine andre Dame.” 

Die Veltere nahm das Wort: „Die fam mehrere Tage oder eine Woche 
vor der Miß; mit einen Herrn, ihrem Mann —" 

„Sanz vecht!* fiel Reichthal ein. 

„Man hatte fie unferm Feldlazarett zugewieien, beide. Er half in der 
Kanzlei, im Depot und fonft, fie bei den Berwundeten und Kranken. Sie über- 
nahmen alles, fie wollten alles. Zuerjt dachten wir —" 

„Zuerft räfonnierten wir,“ jagte die Junge lächelnd: „ach, die verftehn wohl 
beide nicht viel! Die fommen jo recht aus der Welt! Aber das haben wir 
ihnen abgebeten. Das find feine Mijjes. Jetzt verftehn fie alles! Und fie 
thun's aud, fie machen's auch!“ 

Reichthal jah Elife an, fragte mit den Augen: find fie das oder nicht? 

„Und die Dame hat Ahnen nie gefagt, wer fie ift?" fragte Elife. 

Die unge antwortete: „Nein, das hat fie nicht. Sie ſpricht ja auch nie 
von fich, gnädige Frau! — Sie Spricht überhaupt nicht viel; auch mit ihrem 
Mann nidt. Sie fehn jich wohl oft nad) den Augen; aber meift find fie fill, thun 
nur ihre Pflicht. Ad, was red’ ich da: ihre Pflicht. Sie thun beide mehr, als 
fie können. Sie gönnen ſich feine Ruhe, fie reiben fi auf. Das fagt der 
Dberftabsarzt aud. Wenn eines Morgens der letzte Soldat geheilt abmarjchiert, 
fagte er geftern zu mir, dann bleiben vielleicht die beiden hier liegen!” 


332 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


„Großer Gott! rief Elife aus. 

Reichthal blieb ruhig, als „Diplomat. „Na, und wenn die beiden bier 
liegen blieben, dann würd’ man nicht wiflen, was man ihnen auf den Grabjtein 
zu Schreiben hätte?‘ 

„DO doch," erwiederte die ältere Diakonijfin und lächelte. „Die Vorgeiegten, 
die werden's wiſſen. Wir nicht. Man fragt bier nicht viel, mein Her. Man 
bat auch nicht viel Zeit dazu.‘ 

„Und die Neugier gehört ja aud nicht zu Ihren Gelübden,“ bemerfte 
Reichthal heiter. 

„Belübde? Wir haben feine. Wir find nicht Eatholiih. Nur zum Ge: 
borfam find wir verpflichtet.‘ 

„Entihuldigen Sie! — Das ift auch genug. Neugier geloben wär’ gegen 
die menfchliche Natur, denn der Menſch gelobt nur, was er nicht halten kann!" 

„Sie maden recht gottlofe Späße —“ 

„BVerzeihen Sie. Das ift der Krieg!“ 

Eine Hausglode läutete. „Aha! jagte die Aeltere, „das gilt mir. — Ich 
fomm’ jetzt zu der ‚gnädigen rau‘, ich feh’ fie. Nun, was meinen Sie? it 
das Ihre Dame?" 

Elife nidte. „O gewiß, gewiß!“ 

„Soll ic ihr was ausrichten?" 

„Wenn Sie Ihr diefes Billet übergeben wollten . . ." 

Elife zog ein Briefchen aus der Taſche und reichte e8 der Diakonifjin Bin. 
Die ſah e8 nun mit lebhaften Augen an; die Junge ſchaute ihr über die 
Schulter. Beide machten dann unmillfürlic ein enttäufchtes Geſicht. „Obne 
Auffchrift!" ſagte die Aeltere. 

Reichthal ſchmunzelte: „Sie haben ja nicht gelobt, neugierig zu fein!‘ 

„Dan follt! meinen, daß Sie ein verwundeter Leutnant wären,” entgegnete 
die Pflegerin etwas aufgebradt, indem fie ihm mit dem Briefchen drohte; „troß 
Ihres — ehrwürdigen Gefichts!" 

Sie ging in dad Nebenzimmer; Reichthal jah ihr nad. „Auch dieſe 
ſanften Geſchöpfe,“ flüfterte er Elifen zu, „haben ihren Stadel. — Jetzt aber, 
bitte, gefhmwind hinaus! Eh Marie oder gar Helmuth erjcheint; denn Sie haben 
jiher recht, die find’s. In unfer Wirtshaus hinüber! Bei mir meldet jich ſchon 
jo was wie Appetit." 

„Bei mir aud." 

„Alfo auf zur That! — Ja, da ſchwatzt und jpaßt man, und eigentlich iſt 
einem verteufelt ernfthaft und verflucht beflommen zu Mut.‘ 

Fluchen Sie doc nicht jo viel —“ 

Auch das ift der Krieg!" 

Sie nahmen Abjchied und gingen. 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 333 


Es war eine Weile ganz ſtill im Zimmer; die Diakoniſſin räumte ihre 
Päckchen in die Schränke ein, ſie vertiefte ſich dann in die Zeitungen, die ſie mit— 
gebracht hatte: es ſtanden heute gar ſo wunderbare Sachen drin. Während ſie 
noch las und ihr die Augen vor Freude blitzten, kam Marie herein, in dem ein— 
fach dunklen Gewand, das ſie hier trug, ein braunes Täſchchen angehängt. Sie 
war etwas blaß und müde; aber das Glück dieſer Siegestage, die Feiertags— 
ſtimmung, und wohl auch noch andres verklärten, verſchönerten ihr Geſicht. Mit 
der freundlichen Stimme, die die Pflegerin beim erſten Ton erkannte, ſagte ſie 
im Nähertreten: „Nun, Schweſter Agathe? Gefallen Ihnen dieſe Zeitungen?“ 

„Man glaubt's nicht, gnädige Frau!“ erwiderte Schweſter Agathe. „Es 
iſt wie ein Roman!“ 

‚za, heuer ſchreiben ſie da oben Romane ...“ 

Die Schweſter ſah, daß Marie das Briefchen von Eliſe in der Hand hielt, 
doch noch unerbrochen. Sie deutete hin: „Sie leſen ja nicht?“ 

„Ach, das eilt ja nicht.“ Marie griff in ihr Täſchchen: „Hier ſind die 
Rezepte, und hier die verlangte Eſſenz. Ich hab' auch wieder für meine Ver— 
wundeten ein paar Briefe geſchrieben; wenn Sie die hernach mit den andern an 
die Feldpoſt abliefern wollten.“ 

Sie gab ſie hin; Schweſter Agathe zählte ſie. „Eins, zwei, drei, vier, fünf! — 
Wieder fünf auf einmal. Sie ſchreiben die Briefe bald nur noch dutzendweiſe, 
gnädige Frau.“ 

Marie lächelte: „Es find auch nur Dutzendbriefe! Wir entwickeln nicht 
viel Geiſt darin.“ 

„Aber Sie ſchreiben ſie, wenn Sie ausruhen ſollten.“ 

„Ach, meine gute Agathe, wenn ich ausruhte, dann blieben ſie ungeſchrieben! 
Und jo viele Mütter, Bräute und Schweitern fümen nicht zur Ruhe. — Es find 
auch jo gute, rührende Gejchöpfe, unjre verwundeten Krieger! Sie diftieren oft 
ein graufames Deutſch; das ift aber das einzige Graufame an diefen Deutjchen.“ 

Marie fette fich, fie war doc zu müde. Von draußen, aus dem Garten, 
fam wieder Gefang herein. Sie horchte. „Das find die Geheilten, nicht wahr?“ 

Die Schmefter nidte. „Sie warten auf ihren Zug; es geht wieder nad 
Frankreich hinein, zur Truppe. — Sie wollen aber die gnädige Frau noch jehn, 
eb’ fie abziehn. Wie fie alle an Ihnen hängen, gnädige Frau!“ 

„Ad, der Menih ift ein dankbares Geſchöpf, liebe Schweſter Agathe. 
Man jagt jo viel Böjes über die menſchliche Undankbarkeit; ich find’, es ift nicht 
jo ſchlimm!“ — Marie jtand wieder auf: jo im Stilljigen firfen ihr die Augen 
zu. Sie madte fih an dem ihr überwiejenen Schrank zu thun. 

„Webrigens, es reift ja no Einer ab“, nahm Agathe das Wort, „obgleich 
er noch nicht genejen ift. Vorhin hat er mir's gefagt; ich wußt' es nicht.“ 


334 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


Marie ftand abgewandt; fie verbarg ihr Geſicht. „Wer denn?“ fragte fie, 
wie wenn fie e8 auch nicht wüßte. 

„Der feine junge Mann, der Nothelfer, der in Frankreich die Verwundeten 
aus dem Granatfener trug und dabei die Splitter im Arm und in der Bruft 
Friegte ; der hübſche, muſikaliſche Menſch.“ 

„Ach ja, der! — Wir haben ihn nun doc) fo weit.“ 

„Sie haben ihn jo weit gebradht, gnädige Frau! — Ja, das fagen 
alle, das jagt der Herr Oberftabsarzt auch. Sie haben ihn einfad) gerettet, fagt 
er! — Zuerft war's ja gar nicht fo ſchlimm mit ihm, als er hier anfam; Doktor 
Elsner meinte: der kommt ficher duch! Dann aber plößlich die furchtbaren 
Fieber. Und das Phantafieren Tag und Nacht. Wie haben Cie ihn da 
gepflegt! Wie 'ne Mutter ihr franfes Kind! — Das jagen alle, gnädige Frau. 
Der muß Ahnen danken!“ 

Marie zwang fi) zu einem Lächeln und zeigte num ihr Geficht: „Das thut 
er dann wohl aud).“ 

„O ja, das thut er! Er verehrt Sie ja. Es Elingt manchmal beinah’ wie 
Berje, wenn er von Ihnen ſpricht. Wie von einer Heiligen.“ 

Er — von mir! dachte Marie. 

„Ihm wird's aud leid thun, daß er von Ihnen fort jol. Warum foll er 
eigentlih von hier fort? Er ift ja doch noch nicht geſund. Da fit ihn der 
Herr Oberftabsarzt ſchon weiter rückwärts in ein anderes Lazarett — " 

„Das wird ja jett die Megel, hör’ id. Um an der Grenze mehr Raum zu 
ichaffen, für all die Berwundeten und Kranken, die aus Frankreich) kommen.“ 
Gott fei gelobt! dahte Marie. Franz mußte jegt fort, oder ich! 

Helmuth trat ein, vom Borplag her. Er hatte einen Gang gemadt; das 
that er felten; der Oberjtabsarzt hatte ihn aber mit janfter Gewalt fortgefchidt. 
„Sie werden mir im Geſicht grün und grau, fchnappen Sie gefälligft friſche 
Luft!" — Er zog die neuefte Zeitung aus der Tafche, die er im Gehen gelejen 
hatte. „Das mußt Du jehn, Marie!" jagte er mit ftrahlenden Augen. „Ein 
Telegramm des alten Wilhelm an die Königin aus Varennes, vom vierten, 
heute, über feine Begegnung mit Napoleon. ‚Welch ein ergreifender Augenblid!‘ 
ichreibt er. Wilhelmshöhe bei Kafjel hat er ihm zum Aufenthalt gegeben. 
Dann hat der alte Herr die Armee beritten, fünf Stunden lang. ‚Den Empfang 
durch die Truppen Eannft Du Dir denken‘, telegraphiert er. Unbeſchreiblich!“ 

Marie lächelte vor Freude und Rührung. Sie jah beftändig den vorlefenden 
Helmuth an; e3 that ihr fo wohl, daß er frifchere Wangen hatte. Ihr war aud), 
als hätte fie feine großen blauen Mugen wohl noch nie fo ſchön gefehen. 

„Dann noch eine Depejche von heute morgen aus dem großen Haupt: 
quartier,” fuhr er fort. „Er wird noch immer größer, diejer legte Sieg! Die 
franzöfifche Armee, die bei Sedan Fapitulierte — hier jteht e8 — fie zählte vier- 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 335 


zehn Infanterie- und fünfeinhalb Kavalleriedivifionen. Das alles in unfrer 
Hand! — Und hier am Schluß: Unfre Berlufte find verhältnismäßig gering." 

Marie nahın das Blatt, las dieſe legten Worte und fühte fie. „DO mie 
Hingt das gut!“ 

Helmuth betrachtete fie, wie vorhin fie ihn; wie blaß! dachte er. Aber 
dabei wie Schön! — Ihn fchmerzte, fie jo mager zu ſehen; dann entzüdte ihn aber 
wieder das feine, befeelte, veredelte Geficht. „Ja,“ jagte er, Wonne und Wehmut 
fühlend, „der Sieg ift unfer — und mein Herz leicht. Segen über Segen! Ad) 
hab’ nicht geahnt, daß ich — noch fo glüdlich werden könnte. So glüdlich!“ 

Marie hörte den heimlichen Seufzer in diefem Glüd. Ach! feufzte fie auch. 
und ebenfo heimlich, könnt’ ich ihn je ganz glücklich machen! ihn und feine Fran! 

Sie ſah ſich mit ihm allein, Schwefter Agathe war binausgegangen. Auf 
dem Tiſch neben ihr lag das noch ungeöffnete Briefchen; fie hatte es vergeijen. 
Nest ward ihr erſt bewußt: ohne Auffchrift! Warım? Wer fchidte ihr ein 
Billet ohne Auffchrift? — „Franz!“ durchfuhr fie plößlih. Da er abreijen fol, 
hat er mir gejchrieben! 

Im nächſten Augenblid bielt fie den Brief Helmuth hin. So, jo wollte 
fie ihm endlich jagen, was fich bisher noch nicht auf die Lippe gewagt, noch nicht 
die vechte Stunde gefunden hatte. „Da ift ein Brief an mic,” fagte fie. 

„u, dann mad’ ihn auf.“ 

“Du!” 

„Warum ich?" 

„sch bitte Dich.“ 

Er öffnete ihn: „Wenn Du’s willft —!" — Jetzt erftaunte er jehr, aber 
anders, als ſie's erwartet hatte. „Bon Elife!” rief er aus. 

„Bon Elife? Sie jchreibt an mih? Sie weiß, wo id bin?“ 

„Sie hat der Verräterin, der Dore, unfer Geheimnis abgeliftet; abgeliftet, 
ichreibt fie." Helmuth ftarrte das Blatt wie fragend an: Wozu das? Warım 
drängte fie fich jett hierher? ihnen nah? Batte dod) ihr Brief von damals fie 
fortgeihidt? — „Elife it bier! Sie fragt, ob Du fie jehn willſt. Sie fehnt 
ih nad) Dir. Aber aufdrängen will fie ſich nicht. Am Wirtshaus gegenüber 
wartet fie auf Botſchaft. Da, lies!” 

Marie nahm den Brief, ſie warf einen Blie hinein; fie fchüttelte aber in 
jtarfer Erregung den Kopf. „Nein, ich will fie nicht fehn! — Keinen Menfchen; 
auch fie nicht. Nein!“ 

„Hm! — Warum willft du nicht? — Aber nein, ich frag’ nicht. — Ich will 
num jagen — da Elife hier ift — es kommt ja doch einmal die Zeit —“ 

„Was für eine Zeit?" 

„Wo wir uns nicht vor der Welt verjteden können wie bisher — wie es 
uns beiden gefiel. Wo wir zurüd müſſen in unfere Welt.‘ 


336 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


„Noch nicht! Du bift ja noch lange frei!" 

„Aber endlich) doch. Und dann — wenn id) Di fo anjchau’, Marie — 
Deine farbe erjchredt mich. Deine Kraft geht bald zu Ende. Schüttle nicht den 
Kopf! — Soll id ganz ehrlich fein, fo muß ich jagen: Dein Plaß wär' nun 
wieder — daheim.‘ 

Marie zitterte; vor diefem Gedanken war fie bisher geflohen. „Wieder vor 
den Augen der Menichen leben!" ſprach jie kaum hörbar vor ji) hin. 

Nicht jehr viel lauter entgegnete er, was er jelber fühlte: „Sch begreife ja 
— an diefe Weltabgeichiedenheit hatt’ft Du Did gewöhnt. Wir waren ver: 


ſchollen —“ er lächelte mühlam — „wie in einem Märchen. Niemand als Dore 
mußte —“ 

„Ja, ein Märchen!” murmelte fie. — „Helmuth!“ 

„Was?“ 


Sie ſah ihn nit an. ES trieb fie wieder, wie fo oft, ihm von Franz und 
ihrer Berirrung zu jagen; und immer und jet verzagte jie vor feinem ſchwer— 
mütig ernften Geficht. Könnt’ ich ihm nur einmal in die Arme ſinken, dachte ſie, 
und ſterben! 

„Was wollteft Du?" fragte er. „Was haft Du?" 

Sie ſetzte fih. „Meattigkeit. Diefe empfindſamen Kniee!“ 

Er ſah voll Mitleid und voll Sehnſucht auf ihr blaſſes Geſicht, auf die 
ganze Schlanke Geftalt. „Meine liebe Marie, jagte er weich und gut, doc; mit 
noch immer jcheuer Zärtlichkeit. „Wenn Du Did nur fchonen mwollteft." 

„Schonft Du Did? O Du —!“ 

„sh! ch bin ein Dann.‘ 

„sa, das bift Du!” fagte ihr ftummer Blid. 

„Und daran gewöhnt, mid) | Zu plagen.‘ 

„Nun ja, und id — hab's vun Dir gelernt!" 

„sa, das fühl’ ich, Marie. Dafür dank! ich Div. Den’ nur nicht, es 


rühre mid) nicht . . . Aber Du verlernſt dabei, jung und gelund zu fein. Und 
wirft gar fo ernit, jo — — könnt' ich Did nur einmal —“ 
„Was? 


„Su recht von Herzen lächeln ſehn!“ 

Sie lächelte ihn recht innig an, in all ihrer ftillen Traurigkeit. 

„eh! Nun thut ſie's. Gute Marie! 

O Gott, dachte er, wie hold fie lächelt. — — Ich veriteh's nicht — fie 
und mich und alles. — O dieje Zweifel, diefer Stolz, diefe Dual! 

„Aber ja, Elife!” fing fie nun an, fich dazu überwindend. „Soll id) jie 
jehn? Was meinft Du?’ 

„Es ift Deine Sache.“ 

„Aber was meinft Du? 


Adolf Wildrandt, Große Zeiten. 337 


„sh? Ach dächte wohl. Wenn fie diefen weiten Weg — —“ 
„Ach ja, Du haft recht. Ach, ich muß ja wohl!" 
ir * 
* 


Vom Garten her traten die drei geheilten Soldaten ein, blonde, wieder 
rotbäckige Burſche; man ſah ſogleich ihren Blicken und Bewegungen an, daß ſie 
kamen, um von der „gnädigen Frau“ Abſchied zu nehmen. Der kleinſte von 
ihnen, der aber beſonders lebendige Augen hatte, ging in dreiſter Schüchternheit 
voran, mit einem Blick auf Helmuth. „Wenn wir ſtören, gnädige Frau —“ 

Helmuth lächelte herzlich: „Hier ſtören Sie nie. — Ich gratulier' Ihnen 
zur Geneſung; und daß Sie wieder zu den Kameraden kommen. Wir hoffen 
zwar jetzt, der Krieg iſt bald aus —“ 

„Den Bonaparte, den haben wir ja!” ſagte der Soldat vergnügt. „Napolium 
fraucht nicht mehr im Buſch herum!“ 

„Hurra! vief der Zweite. Der Dritte ſchwenkte die Müte, die er in der 
Dand hielt. 

Helmuth nidte lachend. „Alſo glüdliche Reife, meine Herren! Und bald 
Frieden und Heimkehr!“ 

Der Kleine, der das Wort führte, ſchmunzelte: „Muttern wär's fchon 
recht.‘ 

„Uns auch,“ jegte der Dritte Hinzu, ein langer und breiter Gejell. „In— 
deſſen, wenn fchon, denn ſchon!“ 

„Bute Verrihtung, meine Herren. Bon bier nad Paris, von Paris zu 
Muttern!“ — Helmuth trat an Marie heran; „ich gebe aljo zu Elife hinüber 
ins Wirtshaus," fagte er leife. „Und ich bring’ fie Dir mit.‘ 

Marie nidte. Er ging. 

„Wir wollten Ihnen nämlich nody ganz bejonders danfen, gnädige Frau,“ 
nahm der Sleinfte wieder das Wort. „Bitte, machen Sie nicht gleich jo mit der 
Dand, hören Sie nur drei Worte an! Ka, Ahnen ganz bejunders danken: denn 
Sie haben uns fo bejonders liebreich und menjchenfreundlid; gepflegt; das fühlen 
wir ja doch aud. Und Sie haben für uns die Briefe geichrieben. Und dann 
thut es ja feinem Menſchen weh, wenn er bei guter Pflege und Behandlung aud) 
einen feinen, ſchönen, lieblichen Anblid hat, gnädige Frau.“ 

Marie errötete bei diefer Huldigung wie ein junges Mädchen, zu ihrer 
eignen Berwunderung. Sie mußte aber auch lächeln: ſo treuberzig heiter ftanden 
die drei Krieger da. „Das müſſen Sie nämlich nicht glauben,“ fuhr der 
Sprecher fort, „daß wir ohne Gefühl find; denn fo ift es nicht. Denn fo ift es 
nicht ...“ 

Er verwirrte ſich nun doch und verlor den Faden; vielleicht durch den 
feinen, lieblihen Anblid, vielleicht auch durch Mariens Lächeln. Der Zweite 
ftieß ihn mit dem Ellbogen an. Er nahm fi) zufammen und machte einen 

22 


338 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


raſchen Schluß: „Und das wollten wir Ihnen nur .nod jagen, und nun leben 
Sie wohl!" 

Marie nidte berzlih: „Sie auch; Ihr auch. Ach dank Euch für Eure 
freundlichen Augen, Eure guten Herzen. Nehmen Sie jeder eine Hand zum 
Abſchied, und behüt' Sie Gott!" 

Es waren feite Händedrüde, fie fühlte fie; zu jedem noch ein dankbarer 
Blid. Der Kleinſte befam die Hand zuletzt. Er entichloß ſich geichwind und 
füßte fie: „Sm Namen meiner Kameraden, gnädige Frau!‘ 

„Lügenlügner Du!” flüfterte der Lange, mit Neid. 

Marie lächelte. „Lebt wohl! Lebt wohl!" 

Die Soldaten gingen hinaus. Sie jah ihnen nad. Jetzt bemerkte jie erit, 
daß jeitwärts ‚noch einer daftand, Franz; er war leije eingetreten, während fie 
mit den andern ſprach. Zur Abreife bereit, in dunklem Anzug, den rechten Arm 
noch in der Binde, fchaute er fie mit blaſſen Augen in verhaltener Bewegung 
an. Er war eine Weile ftill; fie aud. Nachdem fie ein nervöſes Erichreden 
abgejchüttelt hatte, überfam fie das Gefühl, wie wunderbar jie ſich hier gegen- 
überftanden: in einem Feldlazarett, als verwundeter freiwilliger Nothelfer und 
freiwillige Bflegerin. 

„Ich ſoll Sie auch verlaſſen,“ begann er endlih. „Da vergönnen Sie wohl 
auch mir nod ein Abſchiedswort; — in diefen Wochen haben wir ja nicht viel 
mehr geiprochen, al3: wie geht es Ahnen? jo, jo; und Guten Morgen und Gute 
Naht! — Muß ich Ahnen nicht wenigstens danken, Marie? Ach lebe nod, 
und will nun auch wieder leben; und daran find Sie ſchuld. Ja, Sie! — Ich 
kann's ja jett jagen. Ich wollt nicht mehr! Als ich bier aufwadhte, nach dem 
eriten guten Schlaf, und Sie neben meinem Bett ftehn ſah — zuerit dacht’ ich: 
ein Geift! — umd als ich alles begriffen hatte, da ward mir fo zum Sterben, fo 
abergläubifch zu Mut: du ſollſt nicht mehr leben! Das ift nicht ein jchredlicher 
Zufall, daß ihr euch ſo wiederjeht, das ift Gottes Wille! Du follft hier vor 
dieſer Frau vergehn! — Und id; verlor den Lebenswillen. Ich fühlte mit einer 
Art von Wolluft, daß das Fieber kam. Beinah nur noch Muſik im Kopf — 
zumeift die Würzburger Mufit — ließ ich mic) vergehn. Ich kann Ihnen nicht 
ichildern, wie das war... .” 

Ihm verjagte die Stimme vor Schwäche und Erregung; fo viel hatte er 
auch. nody nicht hintereinander geiprochen, feit ihn die Granatiplitter getroffen 
hatten. „Sie jtrengen fih an,” jagte Marie mit dem Geficht und dem Ton der 
Pflegerin. „Spreden Sie nicht zu viel!" — Und ih? dadıte fie. Wollt’ ich 
nicht in der erften Stunde fort, als ich jah: das ift Franz! als ich noch nicht 
wußte, ob ſich nichts als Mitleid rührte? — Aber „aushalten!” jagt’ ich mir 
dann. „Das ift deine Prüfung!" Und nun ift alles, alles qut .. . 

„Ich muß Ihnen das noch jagen, Marie!“ fing er nad) einer Weile von 


Adolf Wilbrandt, Große Betten. 339 


neuem an. „Dieje andern da, an denen thaten Sie Ihre Pfliht, — wenn 
Sie jo wollen. Aber was Sie an mir gethan — wie Sie mit Hinopferung all’. 
Ihrer Kraft, die barmhderzigite aller barmherzigen Schweitern, mich gepflegt 
und gerettet haben —“ 

„Nun ja!" unterbrach fie ihn. „Ra! Ach hab’ das Meine für Sie gethan. 
Sagten Sie mir nicht damals, in München, meme Krankheit hab’ Sie um bie 
Liebe betrogen, die Ihnen gehörte? die ich Ahnen jchuldig war? Als Sie hier 
jegt auf dem Wundbett lagen, da hab’ ich Ahnen meine Schuld gezahlt. Ja, id)‘ 
hab’ mehr für Sie gethan als die Pflicht; das befenn’ ich vor Gott und vor 
Ihnen. Die alte Liebe in Würzburg, wenn Sie damit recht haben, die ſaß 
an Ihrem Bett; die hat Ihnen das Leben erhalten — und num find wir quitt.“ 

Franz jenkte den Kopf. „Mit welcher graufamen Erhabenheit Sie mir das 
jagen, Marie! — Aber ich murre nicht. ch nehm's hin. Mit reinen Schmerz 
der Dankbarkeit nehm” ich’3 Hin, daß ich Sie verloren hab’; nun ganz, und für 
immer. Bei Bott, ich wollt's auch nicht anders — jeit ic) wieder leben will, Ich 
fühl’ etwas, das ich jo noch nie gefühlt hab’: jo ſchön wie Sie da vor mir ftehn, 
ic könnt’ Sie nicht mehr begehren, Marie. Ach würd’ zittern bei den Gedanken, 
diefes edle, reine Bild zu entweihen . . .* 

Ihm verging wieder die Kraft. Er ſtützte ſich auf einen Tiſch. Aus dein 
Sarten fam noch einmal Gejang, es ſchien ein letter Gruß an die „gnädige 
Frau“ zu fein: . 

„Des Morgens zwiſchen dreien und vieren, 
Da müſſen wir Soldaten marjchieren, 
Das Gäßlein auf und ab; 

Tralali tralalei tralala 

Tralali tralalei tralala 
Dein Schäßel ſieht herab. 


„Ach Bruder, jetzt bin ich geichoiien, 
Die Kugel hat mich ſchwer netroffen, 
Trag mich in mein Quartier; 
Tralalt tralalei tralala 
Tralali tralalei tralala 
Es iſt nicht weit von hier.” 
Marie Horchte; jie mochte nicht reden. Sie fah vor fi hin. Nun fegten 
fie draußen noch einmal ein, offenbar jchon im Gehen: 
„E83 brauft ein Ruf wie Donnerhall . . .* | 
Die Wacht am Rhein! — Das Lied, das fie damals erlöfte, befreite. Marie 
ihloß die Augen, tief und weich erjchüttert. Thränen floffen ihr über die 
Wangen herab. 
„Ein Abjchiedsgejang,” fagte Franz, dem die Stimme bebte. „Diefe ‚Wacht 
am Ahein‘, die hab’ ich auch in: jener Nacht gehört, als Sie mich mit jo ſchreck— 
22* 


340 Adolf Wilbrandt, Große Beiten. 


fihen Worten und Bliden fortgewiefen hatten — als ich dann in der Ber: 
zweiflung und Zerknirſchung auf der Gafje dachte: Mitziehen! Notheljer! Zur 
Sühne! — D, es war auch gut. Ein paar Wochen hab’ ich doch helfen können; 
die wunderbarften meines Lebens. In fchlummerlofen Nächten im Feld — beim 
furdtbaren, eintönigen Gefang der Kanonen — bei den Zerfchofjenen und Zer: 
ſchlagenen . . . Aber erft hier, Marie — laffen Sie mi Ahnen das nod 
jagen; dann geh’ ich — erft bier, bei Ihnen, ward ich wieder lebensftarf. Dier, 
wo e3 mich erfchüttert bat Tag und Nadıt, wie fi der Menſch dem Menfchen 
zum Opfer bringt; wo Sie walten wie ein Engel, Marie —“ 

„DO ſtill! ſtill!“ 

Es riß ihn fort, Rührung, Abſchiedsweh, Reue, alles, er mußte ſich ihr zu 
Füßen ſtürzen. „Vergeben Sie mir, Marie! Sagen Sie mir nur das eine Wort, 
daß Sie mir vergeben!“ 

„Sind Sie toll?* flüfterte fie mit Umwillen; ihr Blick flog durchs Zimmer, 
zur Thür, „Stehn Sie auf!“ 

„Nur ein gutes Abjchiedswort! Geben Sie mir die Hand zur Verſöhnung 
und Vergebung —" 

„Franz!“ rief fie mit gedämpfter Stimme, „Exit ftehn Sie auf! Diejen 
Augenblid!* 


* * 
63 


„Franz — wiederholte eine Stimme hinter ihr. Aus dem Nebenzimmmer 
war Helmuth -in die Thür getreten; durch die legten Reden, die er gehört hatte, 
wie zu Stein geworden jtand er ohne Regung da. Marie, die der Schred 
herumdrehte, ſah ihn fo ftehen; weiter rüdwärts fah fie Elife mit der Schweſter 
Agathe. Franz jprang auf. Marien vergingen faft die Sinne. Sie erfaßte nur 
noch, daß Elife, fi) von der Diakoniſſin trennend, allein näher trat, faffungslos 
hereinftarrte, dann die Thür hinter fich ſchloß. 

Set hörte fie auch Elifens dumpfe Stimme jagen: „Mein Gott — was 
ift das?" 

„Was das ift?" antwortete Helmuth. „Daß man vor meiner Frau Eniet, 
un Vergebung bittet. Daß es einen Feind meines Friedens giebt, von dem ich 
nichts ahnte! — Warum fehrieben Sie mir damals den Brief? Bor wem follt 
er mich warnen? Bor dem?" 

Er deutete auf Franz, der, nun völlig farblos, ſich an einer Stuhllehne auf- 
recht hielt. „Mein Herr,“ fagte Franz fait ohne Stimme, „Ihre Frau it 
ſchuldlos, jo wahr ich lebe —“ 

„Wollen Sie mid; erft lehren,“ fiel ihm Helmuth in's Wort, „ob meine 
Frau ſchuldlos ift oder nicht?" — Sein aufzudender Stolz ging in eine 
flammende Erregung über; zu Elife gewendet ſtieß er heraus: „Ach will ihn nicht 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 341 


jehn! Führen Sie ihn fort! Diefer todblaffe, wunde Menſch da — ich mill 
nichts von ihm. Aber fort, fort, fort!” 

Elife winfte Franz mit den Augen, fie nahm ihn bei der Hand, zog ihn 
zum Vorplag hinaus. Als fie ihn dort zu ſich kommen ſah, kehrte fie zurüd. 
„Helmuth!“ fagte fie, die Stimme dämpfend. „Was redeten Sie von einem 
Brief?* J— 

Helmuth hörte nicht. Die ganze furchtbare Laſt, die ſich wochenlang in 
jeinem verjchloffenen Innerſten angefammtelt hatte, ftürzte jet dem Ausgang zu; 
jeine Lippen bebten. „Da fteht fie,“ erwiderte er, die brennenden Augen auf 
Elife, die Hand auf Marie gerichtet. „Da fteht diefe Frau! Mit der ich in der 
Angft und Not meines Herzens davonging, um fie mir zu retten! Mit der ich 
bier gelebt hab’, ftumm — in Qualen, die niemand kennt — und gerungen und 
gehofft und gewartet. Und nun enthüllt es fih jo! Täuſchung, Heimlichkeit, 
Betrug alles um mic her! Man kann Geheimnifje Haben und fchmweigen wie 
das Grab — aber man kann mich nicht lieben! Man kanm's nicht!" 

Ein plötzliches, Erankhaftes Schluchzen begann ihn zu jchütteln, brad ihm 
aus der Kehle. Sie erichrafen alle drei über dieje noch nie gehörten Töne; am 
meiften er jelbit. Ex legte fich die Hände auf die Brujt, an den Hald. Er rang 
mit fürcchterlicher Anjtrengung, um es zu erftiden. 

„Helmuth! Lieber Fremd!” fagte Elife, nachdem fie diefem Kampf eine 
Weile jchweigend zugejehen hatte „Was für einen Brief hätt! ich Ahnen ge: 
ichrieben? Bon was für einen Brief fpradhen Sie vorhin?“ 

„D diefer Brief!“ zitterte Marien Stimme hervor; Marie hatte fich bisher 
nicht geregt, wie betäubt. Sie warf zu Helmuth einen Blick hinüber, der voll 
. Verzweiflung war und ohne Hoffnung „Willſt Du mid) noch zwei Augen: 
blide anhören, Helmuth, damit ich Dir wenigftens jage, wer den Brief an Did) 
ichrieb ?" 

Er ftarrte fie an. „Wer ihn an mich jchrieb?" 

Mariens Augen gingen zu Elife und flehten: laß uns allein! — Eliſe 
bewegte fich ftumm, geräufchlos zur Thür. Sie trat auf den Vorplatz hinaus, 
zu Franz. 

„Wer ihn an mich schrieb?” wiederholte Helmuth. „Wenn nicht Eliſe, 
wer denn?" 

„IH, Deine Frau.“ 

„Du!" 

„Es war ein Verſuch — ich wollte Dich zwingen, mich zu Dir zu retten. 
Ich hoffte noch; ich dachte: laß uns nur wullen, vielleicht wird noch alles gut, 
— zwifchen Dir und mir." Sie fah ihn troftlos an, dann drüdte fie die Mugen 
zu. „Es war zu jpät!” 

„Zu ſpät — für Dein Herz!” 


342 Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 


Sie jchüttelte den Kopf. „Diefer Irrtum — ad! — Aber diejfer Irrtum, 
der trennt und ja. Nie wirt Du mehr an mic glauben; jekt, in diefer Stunde 
bab’ ich's ja erlebt. Und aud wenn Du mic fo lieb hätteft, wie ich Dich 
liebe —“ 

Helmuth fuhr zufammen. Vier Worte — die hatte er nod nie gehört. 
Er beftete die großen Augen auf fie, wie einer, der nicht glaubt, was vor ihm 
ſteht. Er ftammelte: „Wie Du mich —!“ 

„Es wär’ ja nun doch zu ſpät! Ach hab’ Di argwöhnen gelehrt; was Du 
gar nicht Eannteft. Und ic; hab’ Deine Achtung verloren. — Helmuth! — O 
Gott! — Berfag’ mir Deine Liebe, das muß ich tragen, aber gieb mir Deine 
Achtung wieder!“ 

„Marie!“ ftammelte er nur. Es braufte in feinem Kopf. 

„sh kann jo nicht fortleben! So nit! — D wenn ich nur nicht geichwiegen 
hätt’; — id fand nicht den Mut. mer hab’ ich Dir's jagen wollen — von 
Franz und — 

„Und Reichthal —" 

„Was ſprichſt Du von Reichthal? Bon dem weiß ich nichts. Aber diefer 


Franz — — ja, id war einmal Eranf! Und mir war einmal, als ob mein Herz 
für ihn — — weil's nad) Liebe lechzte. Aber, ach mein Gott —“ fie jah mit 


einem über jich jelber ftaunenden Lächeln in die Luft — „wo ift das alles hin! 
Sch Bin eine andere Frau! Ich bab’ hier ja exit leben gelernt. Leben, durch 
Dih — für Did — und für Deine Welt! Ich hab’ eingefehn — — Aber aud) 
Du! 3 hat ſich hier fo wunderbar gedreht zwiſchen Dir und mir. Das Herz 
ift mir aufgegangen für das Große, das Weite, ich lieb’ e8, weil Du es liebit 
und wie Du es liebit; und Du, Du haft Did bier in jede diejer leidenden 
Menfchenjeelen, in alles Einzelne, Kleine, Befondere fo vertieft, fo Hingegeben, 
daß ich oft lächle und — — Delmuth! Aa, Du! 

Der volle Ton der Liebe wagte ſich endlih aus ihrer Bruft hervor; er 
börte ihn in dem „Helmuth!“, im „Du! Er fahte es nod nicht. Er begriff 
nur, dat ihn Reichthal getäufcht hatte. „Marie! wußte er mur zu jagen. 
„Marie! 

„Helmuth!“ jeufzte fie. „Seden Morgen, wenn ich aufwache, dank’ ich Dir; 
jag’ Dir im ftillen, wie ich Did verehre — liebe... Du haft mich's ja bier 
erleben lajien, was das ift, wenn die Pflicht mit der Liebe eins wird, fich mit 
ihr vermäblt. Ad, die Schönfte Ehe in der Menjchenjeele! Das heiligite Gefühl! 
— — Nun hab’ ich Dir alles gejagt. O Gott, hätt’ ich's früher gethan! nicht 
fo lang’ geichwiegen! Thu’ nun mit mir, was Du willit, was Du willft. Nur 
veracht' mich nicht! Deine Verachtung wär! mein Tod!" 

Helmuth lächelte; jetzt konnt' er's endlich. „Ich Did) verachten! — Ich, der 


Adolf Wilbrandt, Große Zeiten. 343 


ich nur immer nod) fürchte, ich träum’s. — Meine Frau! Mein Weib! Meine 
Marie!" 

Er umfaßte ihre beiden Schultern, er jchüttelte fie leile. Dann drüdte er 
Marie auf einen Stuhl nieder und kniete vor ihr hin. 

Sie erichraf jo ſehr, daß ihr fait das Sehen verging. Gie hatte nie 
gedacht, geglaubt, daß er knieen könnte. „Helmuth!“ fagte fie. „Was 
machſt Du? 

„Ich Did verachten? — Laß mid nur jo; das ift mein Platz. — Zu ſpät? 
Nein, Marie. D nein! Es iſt nicht zu Spät! Ich bitt! Dich auf den Knieen, 
vergieb mir; denn ich hab’ die Schuld. Aber mein Gerz ift jung, es ift wieder 
jung. Es weint und ladıt — vor Seligkeit — und id) liebe Dich, ich liebe Did) 
von ganzem Derzen —“ 

„Sroßer Gott!" ftammelte nun fie. — „Steh’ auf!" 

Er umfaßte ihre Kniee, er lächelte: „Ich bin ja nicht Franz, ich darf ja 
fnieen. Ka, nun fann ic) Dir’s endlich jagen: ic) liebe Dih! Ach bin in Did) 
verliebt! Nicht bloß in Deine Seele, Deine ftarfe Seele; aud) in Deine Augen 
— Deinen Mund — Deinen Fuß. Sch lieb’ Di, weil Du meine Braut Bilt. 
Weil Du meine ſchöne Marie bilt; fo ſchön wie das Leben — das uns himmliſch 
lächelt. Ach bab’ einen Rauſch vor Glück. Ach kann nicht mehr reden. Marie! 
Deine Marie!" 

Sie zog ihn nun dod) empor; dann ſank ſie ihm an die Brnuſt. „Laß ınid) 
weinen, Delmuth! — Ach in Deinen Armen! 


S 


Göttlicbe fabrt. 


it den windaeftrafften Scaeln, ganz von Pimmelsglanz belcuchtet, 
Fliegen, wie auf breiten Schwingen, raufcbend wir ins off’ne Licht! 


Gleich den windgeftrafften Segeln, die ein Wlellentanz befcuchtet, 
Breit’ ih meines berzens Arme — eine Welt erfüllt fie nicht! 


kein Geleucht aus Purpurlüften, Reine flammenden Gewäffer 
Und kein Kreuz des ſchönen Südens ftrablen wie mein Scelenglück. 


So von innen laf3 mich leuchten, mach’ mich gut und mach’ mich beffer! 
MBit Des berzens ftarken Schwingen, Gott, fabr’ ich zu Dir zurück! 
Fritz; Lienbard. 


FETSITEITEITITEITEITEHTEITEITENTEITEITEN 


Die Entwikelung des deuticen Nationalbewußtieins. 


Don 
Theodor Lindner (Halle). 


nD: Kabrhundert, das joeben zu Ende gegangen ift, wird in der geichichtlichen 
Erinnerung allzeit als eines der bedeutungsvolliten fortleben. Den reichiten 
Segen hat ed und Deutichen gejpendet. Wohl beftand bei feinem Anfang noch 
ein Kaiſertum deutjcher Nation, deſſen Titel jogar einen weiteren Raum um: 
ipannte als das heutige, denn zu ihm gehörten auch die Habsburgifchen Yande, 
die, jetzt Losgelöft, einen schweren Kampf um ihr Deutfchtum führen müfjen. Allein 
das liebe, heil'ge Röm'ſche Reich, wie hielt's nur noch zufammen? Lediglich durch 
die Macht der hiſtoriſchen Verhbältniffe, durch jeine Borgefchichte, und weil von 
außen her noch feine Angriffe gefommen waren, jtarf genug, es zu zertrümmern. 
Doch damals war bereit3 einer im Gange, der in feiner Fortſetzung dahin führen 
follte, daß die Deutfchen aus der Neihe der ftaatenbildenden Völker geftrichen 
wurden; fchon hatte das republifaniiche Frankreich das linfe Rheinufer erobert. 
Das Neid in feiner buntfchedigen Zuſammenſetzung aus Hunderten von Fürften- 
tümern und noch weit mehr Keinen, fo qut wie felbftändigen Gebilden, mit einer 
überlebten Berfaffung, die weder dem Ganzen Sraft, noch den Teilen Schuß 
gab, war zudem in zwei große Teile geipalten, denn Preußen hatte 1795 mit 
Frankreich Frieden geichlojfen umd fich von dem Kampfe zurüdgezogen, und ſomit 
war das nördliche Deutichland von dem jüdlichen getrennt. Noch wenige Jahre, 
dann gab Defterreich 1806 das Kaifertum auf; die deutichen Staaten, welche fich 
in den Stürmen der leßten Zeit erhalten hatten, wurden ſouverän. Bald darauf 
brach auc Preußen zufammen, im ZTilfiter Frieden um die Hälfte verkleinert, 
und die anderen Staaten waren Vaſallen des Napoleoniihen Frankreich ge: 
worden, welches das nördliche Dentichland bis nad Lübeck als Provinzen ein: 
verleibte. 

Wie ftand das neue Deutiche Reich am Schluffe des neunzehnten Jahr: 
hunderts da! Es ift überflüffig, den Vergleich anzuftellen. 

Bor hundert Kahren war Deutfchland ganz binnenländiih. Pur einige 
Städte trieben eine im Verhältnis zum Ganzen geringe Schiffahrt, vom Welt: 
handel floffen nur wenige Tropfen nad Deutfchland ab und an dem fchaffenden 
Weltkapital hatte es feinen Anteil. 

Die Deutfhen im Auslande waren wohl als Perfonen nicht ohne Schägung, 


Theodor Lindner, Die Entwidelung des beutfchen Nationalbemußtieins. 345 


aber pofitifch ein Nichts; Feine heimische Macht kümmerte fi um fie. Die Welt 
ichien weggegeben, und die Deutfchen durften wohl die Erde mit ihren Geifte 
umjpannen, aber nidjt ein Zoll Bodens war draußen vorhanden, auf den fie aus 
eigenem Recht den Fuß hätten jegen können. 

Zu den großartigiten Leiftungen des neunzehnten Jahrhunderts gehört, daß 
es die gejamte Erde zu einem Anterejjentengebiete vereinigte, an dem alle Kultur: 
völfer teil haben. Keine Berflechtung während feines Verlaufes ift merkwürdiger, 
als daß zulekt auf hinefiihem Boden nicht nur fait alle europäiſchen Nationen, 
jondern auch Nordamerifaner und Japaner Schulter an Schulter fochten. Die 
führende Rolle hatte Deutfchland, dasjelbe Deutjchland, deifen Bürgerphilifter 
ein Kahrhundert vorher vergnügt zufahen, wenn „hinten weit in der Türkei die 
Völker auf einander ſchlugen“, in dem niedrigen Bewußtſein, daß folche Welt: 
händel fie nicht berührten. 

Schuf ſomit das verflojene Säculum eine Weltgemeinihaft, jo hat es 
andererfeits die Bölfer fchärfer von einander getrennt, als fie ed vordem waren. 
Ein neues großes Prinzip ift entitanden: das nationale. Mit mächtiger Gewalt 
hat e3 die europäiſchen Völker ergriffen. „Nation ift das große Schlagwort, 
das alles Denken und Thun beherrſcht. Jedes Volk ift ftolz auf feine Natio- 
nalität und brennt vor Begierde, fie groß und herrlich zu machen, fie über die 
anderen zu erheben. National ift das höchſte Lob, antinational der jchärfite 
Tadel, mit dem wir eine Gefinnung oder Handlung bezeichnen. Alles Glück 
iheint zu hängen an der Ausbildung de3 eigenen Volkstums, die Zukunft wird 
danach bemefjen, ob der Fortichritt im nationalen Sinne erfolgt, und in ihm 
erblidt man das unfehlbare Heilmittel für jederlei Gebrechen und Schäden. 

Durch ganz Europa ift diefe Anfchauung verbreitet. Man begehrt die Ber: 
einigung getrennter Volfsteile mit der Hauptgruppe; wo eine Nation in einem 
Reiche die herrichende ift, gilt es als Pflicht, die daneben vorhandenen fremd— 
artigen Beftandteile fo umzufchmelzen, daß fie mit der überwiegenden Mehrheit 
Sprachgemeinſchaft annehmen und möglichit gleichmäßig fühlen. Aud) die kleinſten 
Völkerbruchteile entdeden fi als Nation” und möchten am liebſten Selbftändig: 
feit erreichen. 

Diefer nationale Drang ift wefentlich politifch; er will Volk und Staat 
gleihjegen und beide follen nad) innen und nad außen einheitlich zur größten 
Mactentfaltung geichloffen fein. Er vollbringt in der That wahre Wunder, 
indem er alle Sräfte aufs höchſte anjpannt, und wir Deutſchen haben am 
glüdlichften feine belebende Kraft an unferem eigenen Leibe empfunden. 

Diefes Streben in feiner hochentwidelten Geftalt it etwas Neues. Als 
nad) den Napoleonischen Kriegen der Wiener Kongreß Europa aufteilte, dachte 
niemand daran, daß in einem Staate nur eine Nationalität vorhanden fein 
dürfe, daß ihr die anderen ſich unterordnen müßten. 


346 Theodor Lindner, Die Entwidelung des deutichen Nationalbemurtfeins. 


Erſt in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts rang ſich der rein 
nationale Gedanke hervor, während die erite mit derjelben Begeifterung als deal 
die Freiheit begehrte, jelbft auf Koften nationaler Zufammenhänge. 

Wenn je ein Bolf es jchmerzlic an fich erfahren hat, was der Mangel an 
jtaatlich-politiicher Einheit bedeute, jo find es die Deuticdhen. Ihre ganze Ge- 
ſchichte ift eine Hoffentlich für die Zukunft Heilfame Lehre, wo die ftarfen 
Wurzeln der Kraft zu fuchen find. Die deutjche Geſchichte zerfällt gleihjam in 
zwei ganz verjchiedene und doch nebeneinander herlaufende: die eine weiß zu 
berichten von größten Leiftungen im wirtichaftlihen und geiftigen Leben, die 
andere von politiicher Schwäche, und fonderbar genug, mehrmals geichab es, daß 
zur jelben Zeit, während die erjteren Vorzüge einen glänzenden Höhepunft 
erreichten, auch jene Erniedrigung unheimlich) zunahm. 

Diefe wunderbare Ericheinung muß ihren Grund haben, und diefer liegt in 
der Anlage des deutichen Charakters, wie er jeit den Anfängen unferer Gejchichte 
immer geweſen und immer wieder hervorgetreten ift. Der Deutiche begehrte vor 
allen das Recht feiner eigenen Berjönlichkeit, er wollte denken und handeln, wie 
es ihm richtig und angemeſſen erfchien, und machte ſich jelbit zum Mittelpunkt 
feines Yebens. 

Daher liebte er nicht die Unterordnung unter eine ftarfe Gewalt, die ihn 
befchränft hätte. Der Staat war ihm nur zu dem Zwecke vorhanden, dem 
Einzelnen jeinen Beftand zu fichern. Für den Wert, den ein mächtiges Staats- 
wejen bat, befaß der Deutfche fein Berftändnis und war nicht geneigt, um 
jeinetiwillen Opfer zu bringen. Er war der Mann der perfünlichen Freiheit; 
troßgige Selbitverantwortung auf die Gefahr des Unterliegens hin war jeine 
Sache. Am liebften rührte er frei feine Arme, für ſich jelber jorgend. 

Daher batte der Deutſche eine Borliebe für fleine Verbände, für Genofjen- 
ichaften, in denen er vollberechtigt war, die dem Einzelnen fein Recht ließen und 
denen er das ihrige in aller Treue hielt. In diefen Eleinen Berbänden galt das 
Wort: „Alle für Einen, Einer für Alle.” Nicht gezwungene, jondern freiwillige 
Dingabe brachte der Deutiche dar. Er war gejchaffen für Selbitverwaltung, 
aber auch geboren für Partifularismus; er befaß eine reiche Befähigung für 
freie Thätigkeit, aber einen geringen Sinn für politiiche Einheit. Aus diefen 
beiden Eigenschaften erklärt ſich die wechlelvolle deutiche Gejchichte. 

Die alten Germanen hatten wohl ein Gefühl, daß fie gleicher Abkunft, 
gleihmäßiger Art jeien, aber es genügte nicht, jie zufammenzubalten; ohne Be- 
denken fchlugen die Stämme auf einander los, jogar im Dienfte der Könner. 
So zeriplitterte die germanifche Welt und erlitt in der Völkerwanderung troß 
größter Thaten der einzelnen Völker die ſchwerſten Berlufte, und nur das 
Frankenreich bewahrte eine Zukunft. 

Anden Karl der Große die Sachſen untenvarf, fie mit Franken, Memannen 


Theodor Lindner, Die Entwidelung des deutſchen Nationalbemwußtjeins. 347 


und Baiern in feinem Reich vereinigte, ermöglichte er erſt das Entitehen eines 
deutſchen Volkes; bi8 auf ihn waren Nord- und Süddeutſchland völlig getrennt 
und hatten jedes eine andere Richtung. 

Auf der Grundlage, die der mächtige Franfenherricher geichaffen hatte, 
errichtete der Sachſe Heinricd, im Anfang des zehnten Jahrhunderts ein deutfches 
Reich. Ihm lag ein weites Eroberungsfeld nad dem Dften und dem Norden 
vor, die Nordjee lud zur kühnen Fahrt ein, die bereit an ihr wohnende Stämme 
mit glüdlihem Erfolg geübt hatten, aber Heinrichs Sohn Dtto I. wandte jich 
dem Süden zu und eroberte Stalien, damit die weiteren Schickſale bejtimmend. 
Die Schwierigkeit, Italien zu behaupten, und der aus der Verbindung mit ihm 
entipringende Kampf zwifchen Kaiſertum und Papſttum entfremdeten raſch das 
neue Reich feinen nächitliegenden Aufgaben. Auch das Meer blieb unbeachtet 
und unbenußt; feiner der alten deutichen Kaiſer hat daran gedacht, es zur 
Mehrung und Stärkung der Reichsmacht zu verwerten. Ein Unglüd, das erit 
wir ſpäten Nachkommen in feiner ganzen Schwere empfanden. 

Die erften Erfolge wurden im Fluge errungen, Deutfchland ftieg rajch zum 
eriten Reiche Europas auf, während die andern Völker ſchwach waren. Gewaltiger 
Stolz ergriff die Deutfchen. 

Es ift natürlich, daß jedes Volk die Berjchiedenheit der anderen in Sprade 
und Sitte bemerkt und den Gegenjab zu ihnen empfindet; eine hervorragende 
Stellung flößt zudem leicht Seringihäßung und Berachtung der übrigen ein. 
Doch das ift mur ein Bolfögefühl, noch fein Volksbewußtſein, das thätig wirft, 
das die eigene Art erhalten und ausbilden will. Ein ſolches kann erſt entjtehen, 
wenn die Notwendigkeit den Wunſch erwedt, übermächtig werdende Feinde abzu- 
wehren. Die glorreihe Zeit des Kaiſertums hatte die Deutfchen groß in die 
Welt geftellt, und als der fo ftolze Bau raſch dahinſank, wurde das von ihm er: 
zeugte Volksgefühl zum Volksbewußtſein. 

Walther von der Vogelweide it der erite begeilterte Berfündiger des deut- 
fchen Volksſtums. Ihn Ichmerzten die Not, die über das Reich in den Kämpfen 
zwifchen den Gegentönigen Bhilipp von Schwaben und dem Welfen Otto IV. 
bereinbradh, und die dur die Wirren bervorgerufene Anmaßung des Papſtes 
Innocenz III; das PBapfttum und feine Kardinäle erichienen ihm als Welſche, 
die die „dummen“ Deutichen ausbeuten wollten. Diefe Deutfchen hatten die 
lobenswerteften rauen, die trefflichiten Männer, die beiten Sitten: „Deutjche 
Zucht geht vor in allem," rief Walther frohmutigen Herzens jeinen Volks— 
genoſſen zu. 

Noh mar die Zeit nicht reif, um das Volksbewußtſein zum politifchen 
Nationalbewußtiein zu erheben. Der geringe Staatsjinn der Deutichen Löfte das 
Reich in Fürftentümer auf, die dem Könige nicht mehr leifteten, al3 das eigene 
Intereſſe erforderte, und auch das nicht einmal. Wohl blieb das Reich beitehen, 





348 Theodor Pindner, Die Eutwickelung des deutjchen Nationalbewutjeins. 


aber nach außen hin machtlos, und nie ift das alte Reich wieder zu Sräften 
gefommen. 

Dafür entfalteten die Deutfchen, nachdem die lange Lernzeit vorüber war, 
ihre andern Eigenfchaften, die freie, ſelbſtverantwortliche That, getragen von der 
Genofjenfhaft. Nun auf fich geftellt, der abenteuerlichen italieniſchen Politik ent- 
hoben, wandten fie ihre erftarkte Kraft der Heimat und deren Nachbarſchaft zu. 
Nicht das Reich, ſondern das Volk in allen feinen Ständen, von den meltlichen 
und geiftlichen Fürſten bis zum Bauern hinab, ging daran, ſich ein neues Dafein 
zu Schaffen. Inzwiſchen war aud) ein neuer Stand emporgefommen, das Bürger: 
tum, dem frohe und freie Arbeit ſowie genofjenfchaftliches Zulammenhalten 
Lebensgrundſätze waren. So entfalteten fih im Innern des Reiches unzählige 
Städte, während der reiche Ueberihuß an Kraft hinausftrömte in die öftlichen 
Länder. Die Erwerbung und Deutſchmachung des Oſtens it die größte That, 
die die Deutſchen in der früheren Zeit vollbracht haben, und fie bezeugt zugleich) 
ihren Beruf für freie Koloniſation. 

Damit war auch die Oftfee geivonnen. Sie und die Mordjee wurden zu 
einem großen Sanbdelögebiet, in defjen Bereich ſowohl England wie die Nieder: 
lande, Dänemark, die beiden anderen nördlichen Königreihe und die livländi- 
ihen Küſten lagen, und noch weiter führten die Wege bis nad Rußland hinein 
zu der großen Handelsſtadt Nomwgorod. 

Da das Neich keinerlei Stüte bot und feine Hilfe gewährte, konnte nur ver: 
einte Anftrengung des deutfchen Kaufmanns eine fefte Stellung im Auslande 
erwerben. Schon die Fahrt dahin bot viele Gefahren auf einer oft wilden See, 
mit kleinen Schiffen und ohne die Anftrumente und Dilfsmittel, welche heute im 
Nebel vder bei der Landung in den Häfen den Weg weiſen; noch verderblidher 
Ichädigten den Verkehr entmenſchte Seeräuber und barbariiche Gewohnheiten der 
Küftenleute, die den Strandraub als ihr gutes Recht betrachteten. Im fremden 
Lande mußten erit langjam die notwendigen Gerechtſame erworben werden, um 
überhaupt Handel treiben zu dürfen, Schuß für Berfon und Eigentum zu genießen. 
Ein ehernes Gejchlecht fürwahr gehörte dazu, um jo Großes zu vollbringen. 

Aus diefer gemeinfamen Arbeit der Kaufleute ging die deutiche Hanje hervor, 
ein Bund von zahlreichen Städten von den Mündungen des Rheins bis zum 
finnifchen Meerbufen bin, geichlojien zu Dandelszweden. Der Hanſe gelang es, 
diefe weiten Gebiete wirtichaftlih falt ganz unter ihre Waltung zu bringen. 
Verſorgte fie doch die nördlichen Länder und felbft Rußland auch mit Getreide; 
deutiches Pier ging bis nad) Spanien. 

Es find großartige Yeiltungen, die zu verzeichnen waren, hervorgegangen aus 
der ureigenen Kraft des Volkes, ohne das Reich, das in feiner Schwäche teil- 
nahmlos blieb. Die Deutjchen waren fich ihres Volkstums wohl bewußt. 

Die Hanje nannte jid) „die deutiche*. Sie verbot ihren Angebörigen freund: 


Theodor Yindner, Die Entwidelung des deutichen Nationalbewußtſeins. 349 


ſchaftliche Beziehungen zu den Bürgern der fremden Länder; fein Kaufmann 
durfte dort eine Ehe eingehen, ohne die Mitgliedichaft zu verlieren. Diefe Ab- 
Ihliegung entfprang allerdingd auch der Vorficht, für fi) den Handel allein zu 
behalten. Hochgeehrt war der deutiche Kaufmann in den Staaten draußen, in 
Rußland, Norwegen, England und den Niederlanden. 

Diefe deutiche Hanje war jedod) nur norddeutſch; den Sitddeutfchen gewährte 
tie feine Rechte und hielt fie eiferfüchtig nad) Möglichkeit von ihrem Gebiete fern. 
Der Bund war nur loder, lediglich durch die Eaufmännifchen Intereſſen zufammen: 
gehalten, und wenn es einem Mitgliede jo bejjer dünfte, gab es auch eine Zeit- 
lang die Anteilnahme auf. 

Die mannigfaden Kriege gegen Dänemark, England und ſonſt führten auf 
ihre eigenen Koften nur diejenigen Städte, die ſich von ihnen Borteil verſprachen! 
Bor allem, mit dem Reiche und feinem Oberhaupte hatte die Hanfe nichts zu 
tbun; beide fümmerten fi) wenig um einander und. der Bund hatte, fo lange er 
groß daftand, gar nicht den Wunſch, daß der Kaifer fi um ihn bemühte. Auch 
die Städte im Neiche ftanden troß gelegentlicher Bündnifje einzelner gefondert 
neben einander; das deutfche Bürgertum kam zu feinem politiichen Zufammen- 
ſchluß. Auch hier finden wir wohl Volksbewußtſein, aber fein Nationalbemwußtfein, 
das dem Ganzen gedient hätte. 

So trugen ſchließlich das Reich und ebenfo das Volk nur ſchweren Schaden 
davon. Der erfte große Verluft war das preußifche Ordensland. Die dortigen 
Städte umd der Adel, in Zwietracht mit dem Orden, riefen die Hilfe Polens an, 
und als die Ritter erlagen, wurde 1466 Wejtpreußen von Polen in Befit ge: 
nommen, während der Orden Oftpreußen nur losgeriffen vom Reiche als Lehen 
der polnischen Krone behielt. Schon war aud die Macht der Hanfe erichüttert 
und fie mußte den Gemwaltftreicd des ruffiichen Zaren, der das Kontor in Now— 
gorod vernichtete, ruhig hinnehmen. 

Endlich regte ſich das Bedürfnis, zu bejjeren Reichszuftänden zu gelangen. 
Der Eägliche Verlauf der Huffitenkriege hatte den elenden Zuftand der Reichs— 
Eriegäverfaflung in grelles Licht gerüdt und den alten Auf der Deutfchen gründ- 
lich zerftört, da8 Reich war von inneren Kriegen und Fehden durdhtobt, bie 
fürftlihe Gewalt mit ihrem ſchweren Drud rief bittere Klagen der niederen 
Klaſſen hervor, alle Stände betradhteten fich gegenjeitig mit Haß und Feindſchaft. 

Bor allem erregten der unerquidlihe Zuftand der Kirche und die Miß— 
wirtihaft des Bapfttums, das Deutichland ausbeutete, den lebhafteften Zorn. 
Wie einft Walther von der Bogelmweide gab jett Ulrich von Hutten dem deutjchen 
Grimme gegen die Welfchen eine feurige Sprade, leidenjchaftlicher, wilder, als 
jener; der Ritter und Gelehrte jchleuderte furchtbarſte Anklagen gegen Papit 
und Pfaffen. E3 mußte in Deutjchland anders werden; dieje Erkenntnis ſchlug 
allenthalben durch, hier aus diefen, dort aus jenen Beweggründen. Reform des 


350 Theodor Lindner, Die Entwickelung des deutichen Nationalbewußtſeins. 


Neiches und Reform der Kirche wurden die Lofung, der allgemeine Zug war ein 
echt nationaler, kräftiger und bewußter als je zuvor. 

Allein die Verbefjerung der Reichsverfajjung jcheiterte an der Unmöglichkeit, 
allen Intereſſen gerecht zu werden, und weil niemand dafür Opfer bringen 
wollte. Die Fürften, bei denen die Enticheidung lag, ſahen den beiten Weg zu 
ihr in der Beichränfung des Königtums, aber ihre Bielköpfigkeit konnte feinen 
Erjag für eine Eräftige Obergewalt geben, und Kaifer Marimilian lehnte ihre 
Forderungen ab. Nichts als einige leidlich brauchbare Einrichtungen kamen aus 
all den Bemühungen zu ftande, und die fürftliche Gewalt, die das Reich in 
Splitter zerlegte, erhielt noch größere Kräftigung durch den Ausgang der Be- 
wegung auf dem firchlichen Gebiete. 

Auch jie, Scheinbar dem Siege nahe, wurde feine vollftändige, weil Deutjch- 
land nicht zu einmütigem Handeln zu bringen war; die Kirchenſache entglitt dem 
Bolfe und fam in die Hände der Fürften mit ihren eigenfüchtigen Anterefjen. 
Das Haus Habsburg hielt unter Karl V. und deſſen Nachfolgern an der alten 
Kirche und ihrer Verfaffung feit, und eine Anzahl von Reichsftänden ſchloſſen fich 
ihnen an. Wohl ergriffen andere die Reformation, wie fie Luther mit deutſchem 
Geiſt begründet hatte, und jeßten das Necht zu ihr durch, allein darüber kam 
eine Spaltung in das Neich, fchlimmer al3 zuvor. Nicht nur bejtanden jeine 
Einzelteile weiter, fie fchieden fich jegt in zwei Parteien, in SKatholifen und 
Proteftanten. Bald brach zwifchen ihnen der Kampf aus, aber er brachte feine 
Entſcheidung; der Augsburger Religionsfriede von 1555 gab zwar den proteftan- 
tiihen Ständen da3 gleiche Recht wie den Altgläubigen, aber er ftellte die 
Religionsſache den Landesfürften anheim und jicherte zugleic; den Beſtand der 
fatholiichen Kirche, wie er damal3 war, indem er eine weitere Ummandlung 
geiltlicher Fürftentümer, ihre Säfularifation, verbot. Der Frieden war ein fauler, 
nur Anreiz zu neuen Kämpfen. 

Durch ganz Europa ging damals der religiöfe Gegenſatz, der zugleich ein 
politifcher wurde. An dem Wefen ihrer Konfeſſion hing der Beitand der Staaten, 
und der Kampf um das Glaubensbekenntnis galt zugleih der Erhaltung und 
Mehrung der äußeren Machtitellung. Das zwiefpältige Deutjchland ftand in der 
Mitte diefer furchtbaren Wirren; der nationale Gedanke, der in jo ſchönem Auf- 
blühen geweſen war, verwelfte unter der Glut des Eonfefjionellen Haders, und 
von einer weiteren Reichsreform Eonnte nicht mehr die Rede fein. Die proteftan- 
tifchen Fürſten mußten danach ftreben, die Hemmniſſe, die ihnen die Reichs— 
verfafjung auferlegte, zu bejeitigen, die fatholifchen, obgleih auch jie feine 
Kräftigung der Reichsobergewalt wünjchten, hielten die Rechtsvorteile feit, die fie 
inne batten. 

Sp brach ſchließlich der entjegliche Dreißigjährige Krieg aus, der Leiden über 
die Deutichen verhängte, wie fie Fein anderes Volk erlebt hat. Die Fremden 


Theodor Lindner, Die Entwickelumg des deutſchen Nationalbewußtſeins. 351 


wurden die Herren des deutichen Daujes, und von ihnen hing es ab, vb das 
Unglüf ins Endloje vermehrt werden ſollte. Schließlich ſahen die Parteien ein, 
daß feine die andere bejiegen fünnte. Der Weftfälifche Friede brachte die heit 
erjehnte Ruhe umd ordnete die religiöfen Verhältniffe, wie fie in Deutichland bis 
in die neuefte Zeit geblieben find. 

Deutfchland ging aus diefen Höllenjahren hervor veriwüjtet, verarmt, ent- 
völfert. Die Thatkraft der Einwohner war gebrochen, die ehemaligen Fanatiker 
der Selbithilfe waren zu Bedientenjeelen herabgeiunfen, die auf den gnädigen 
Befehl von oben warteten, ehe jie die Finger zu rühren wagten. Allmächtig 
jtieg das abfolute Fürftentum empor, freilich die einzige Hilfe, welche die nieder: 
gebrochenen Länder notdürftig wieder aufrichten fonnte, und nicht überall, doc) 
vielfältig, hat ed wohlthätig gewirft. Unter der Führung der Hohenzollern ge- 
langte der brandenburgilch-preußiihe Staat zur fejten Einheit, die erft eine 
Sammlung und Vermehrung der Bolfsträfte ermöglichte. Aber jeder Staat 
arbeitete nur für Jich, und diefe Eritarkfung der einzelnen Fürſtentümer grub die 
Trennimgslinien zwilchen den Deutjchen nur tiefer. 

Jahre neuer Schmach folgten dem Dreifigjährigen Kriege, in denen das in 
feiner Einheit unmwiderjtehliche Frankreich ein Glied nad) dem andern von dem 
formlojen deutjchen Leibe abriß. Die Deutjchen zudten jchmerzlicd; zujammen, 
als die ſchöne Stadt Straßburg auf dem Münfter das franzöfiiche Banner ent- 
falten mußte, jo mande Schrift hielt den Deutfchen ihre helle Schande vor das 
brennende Geficht, aber was jollte man thun? Das Bolfsbewußtfein wurde zum 
leidenden Volksgefühl herabgedrüdt. 

Die Deutihen verjanfen in ein jpießbürgerliches Stillleben. Die Mün— 
dungen aller Ströme waren in fremden Bänden; die Engländer, Holländer, 
Franzoſen beherrichten den Handel. Auch die Hanje war eingegangen. Ihre 
ehemalige Größe beruhte auf der Schwäche der nordilchen Staaten; ſeitdem dieſe 
im Innern feft geeinigt waren, bedurften fie des deutſchen Kaufmanns nicht mehr 
und wiejfen ihm die Thür. Das Reich war nicht im ftande, feine Unterthanen 
zu ſchützen. Während die auswärtigen Staaten ihre Kolonieen gründeten, dem 
Welthandel die Bahn brachen, die Geldwirtichaft entwidelten, mußten die Deutichen 
bejcheiden jich mit den Broden begnügen, die von der Herren Tiſch für fie 
abfielen. 

Aber fie hatten fein Recht, fich zu beſchweren: nicht die Fremden, ſondern ſich 
felbit mußten fie anflagen, weil fie freventlich auf nationale Einheit verzichtet hatten! 

Wohl gab es einige wenige Männer, die weiten Blides erfannten, was 
Deutſchland not that, die es aus feinen engen vier Pfählen binausleiten wollten 
in die Welt, un einen Anteil an ihr zu retten. Es ift ein Ruhmestitel Branden- 
burg3 und feines Großen Kurfürften, daß troß der beichränkten Staatsmittel der 
Verſuch gemacht wurde, nad) dem Auslande Handel zu treiben und jogar Kolo— 


352 Theodor Yindner, Die Entwickelung des deutfchen Nationalbewußtſeins. 


nieen zu gründen. Schon damals kam nah Berlin eine Gefandtichaft von 
afrikanischen Negerftämmen, an deren Küſte Brandenburg jeine Fahne aufgeridhtet 
und Forts gegründet hatte. Der norddeutfhe Aar wagte jo großen Flug, 
während der Reichsadler mit gebrochenen Flügeln im dürftigen Neſt hodte, aber 
die Kräfte des Hohenzollernftaates waren noch zu gering, um lange aushalten. 
zu können. Wenigftens durften die Deutfchen nicht ihn mit anklagen, wenn die 
Welt ohne fie meggegeben wurde. 

Dod im Stillen und Berborgenen jeßte zu Haus die Arbeit der Wieder- 
geburt ein. Die Reformation hatte die firchliche Autorität gefprengt und damit 
der geiftigen Freiheit die Bahn gebrochen. Erſt jett, ald der Lärm des Streites 
der Konfeffionen und Theologen verftummte, weil ihm die Welt fein Intereſſe 
mehr widmete, war es möglich, zu Gedanken und Forſchungen überzugeben, 
welche der Erkenntnis des allgemeinen Lebens und jeiner Bedürfnifje dienten, 
Zugleich hatte die Reformation Nord und Sübddeutjchland, die vorher faft ganz 
getrennt neben einander ftanden, geiftig näher geführt und mit der neuen 
Schriftſprache, die fie verbreitete, eine allgemeine deutjche Litteratur ermöglicht. 
Schon vor dem Kammer de3 großen Krieges war ein Berwußtfein von dem 
Werte der deutfchen Sprache und des in ihr niedergelegten Volkstums aufge- 
dänmert, und obgleic, längere Zeit verging, ehe es tiefere Wurzeln jchlug, fing 
es an zu gedeihen. fern gehalten von den ftaatlihen Dingen, von dem 
Fürftentum zur politiichen Unmündigkeit herabgedrüdt, juchten jet die höher 
veranlagten Seelen das freie Recht der Perjon in der geiftigen Arbeit. Die 
Deutſchen, die einft das erfte Kriegsvolk, dann die erfte Handelsmacht im Norden 
geivejen waren, machten eine neue Wandlung durd: fie errangen jeßt den erften 
Plaß als Denker und Dichter. Das große Werk der Leljing, Schiller, Goethe 
war echt deutich, und fie gaben den Deutichen wieder gemeinfame Intereſſen, 
deren unermeßlichen Wert erft die Zukunft darthun follte. 

Denn noch war diefes neue Leben auf die Gebildeten beſchränkt, und es 
litt unter dem Mangel eines brauchbaren Staatsweſens, das ihm nationale 
Sefinnung hätte einflößen können. Im Gegenteil, die Ideale, denen man nad: 
jtrebte, fchienen die engen Schranken, welche ihnen die Enappen Grenzen der 
Einzelitaaten zogen, nicht ertragen zu können; man meinte, ſich aus dem Elein- 
lihen Banne der politiſchen Eriftenz in die freien Metherhöhen des allgemeinen 
Menfchentums flüchten zu müfjen, um würdig ſchaffen zu können. Ein Leifing 
Ichrieb an Gleim: Das Lob eines eifrigen Patrivten fei nach feiner Denkungsart 
das allerlegte, wonad er geizen würde, das eines Batrioten nämlid, der ihn 
vergeſſen lehrte, daß er Weltbürger jei; die Vaterlandsliebe jei höchſtens eine 
heroiſche Schwadjheit, die er gern entbehre. 

Sciller dichtete die Kenie: „Zur Nation Euch zu bilden, Ihr hoffet es 
Deutfche vergebens; bildet, Ihr könnt es, dafür freier zu Menfchen Euch aus!“ 


Theodor Lindner, Die Entwidelung des deutfchen Nationalbewußtſeins. 353 


Goethe traf den Nagel auf den Kopf, wenn er meinte, die Deutjchen ſeien acht: 
bar im einzelnen, mijerabel im ganzen. 

Dieſes weltbürgerliche Gefühl überwand nicht völlig den Stachel der poli- 
tiihen Nichtigkeit. Leifing empfand ihn, wenn er Tellheim die bitteren Worte 
in ben Mund legte: „Sch bin nur ein Deutſcher“, und Schiller wußte wohl zu 
ſchätzen, weld' jtarfe Wurzeln der Kraft das Vaterland biete. Klopftod erging 
fih in dem Preife des uralten Deutfchtums, in der Hoffnung, es möchte in feiner 
Derrlichkeit wieder aufleben. 

Die Kriege des großen Friedrich von Preußen ließen aud die Schwad)- 
mütigen wieder ahnen, welcher Wert in dem friegerifchen Heldentum Tiege, und 
die Schlacht bei Roßbach bradite die Genugthuung, daß über die hochmütigen 
Franzoſen ein gründlices Strafgeriht erging. Allein lediglich die Perjon 
Friedrich8 erwedte Bewunderung, und faum jemand hatte ein Verftändnis dafür, 
vor welch' furchtbarem Schickſal der preußische König Deutfchland rettete. 

Der lajtende Drud des Abfolutismus erzeugte wohl in lebhaften Naturen 
einen glühenden Tyrannenhaß; und da e3 zu viel Fürften und Megierungen gab, 
dachte man es fich bejonders ſchön, gar feine zu haben. Doch das war unreifes 
fruchtloſes Gedanfenjpiel, mit deſſen ungefährlichem Ueberſchwang fich die jonftige 
fanfte Rübrjeligfeit der oberen Stände ganz gut vertrug. Obnehin folgten dem 
Siebenjährigen Kriege matte Jahre, und unter Friedrich; Wilhelm II. gab aud) 
Preußen fein mwohlthätiges Beifpiel mehr, während die franzöfifche Revolution 
und die ihr folgenden Kriegsthaten die Phantafie in Anſpruch nahmen und die 
deutfche Elendigfeit im trübften Lichte erfcheinen ließen. 

Immerhin, die Deutichen fanden fich geiftig wieder und durften fich Jagen, 
daß fie wenigſtens nad) einer Seite hin anderen Nationen ebenbürtig geworden 
waren. Weite reife wurden hohen Idealen zugänglich, und ein neues Volks— 
bewußtjein dämmerte auf, noch weich und unbeftimmt, bis es das Schidfal mit 
feinem ehernen Hammer hart fchmiedete. 

Der völlige Zufammenbrud; rüttelte die Gewifjen auf. Preußen und Nord- 
deutfchland erhoben fih, um das fremde Koch abzufchütteln; laut erfcholl der 
Kriegsruf der Sänger bis in das Volk, und es war nichts Geringes, daß jekt 
auch die Bebildeten die Waffe fchwangen, die früher nur dem Söldner und dem 
Niedrigen zu gebühren ſchien. Aber die da den heiligen Kampf rüfteten und die 
Flamme anfadıten, die Staatömänner, die Krieger, die Gelehrten ftellten fich ſo— 
gleih noch ein höheres Ziel: fie wollten Deutfchland nicht nur befreien, fondern 
herrlicher wieder herftellen und zu einem PVaterlande erneuern, das für die 
künftigen Gefchlechter nicht bloß der trauliche Plaß ihrer Wiege, ſondern aud 
die erhabene und erhebende Stätte ruhmreicher Gefchichte werden follte, wie es Die 
ältefte Kaiferzeit geweien war. Indem das Volksbewußtſein den politischen 
Zufaß erhielt, wurde es zum Nationalbewußtfein. 

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354 Theodor Lindner, Die Entiwidelung des deutſchen Rationalbewußtſeins. 


Damit war der große Schritt gethan, den Deutfchen eine Zukunft eröffnet. 
Alles, was ſeitdem geſchehen ift, hat feinen erjten Urfprung in den Befreiungs- 
friegen, und die Kränze, mit denen wir die Gräber der Helden von 1870/71 
ſchmücken, gebühren zugleich den eingefunfenen Hügeln, unter denen die Streiter 
von 1813—1815 ruhen. Die Großväter begannen, was die Enkel vollendeten, 
und jenes Werf war das jchwerere und gemwagtere, denn wenn der Sieg 
nicht errungen wurde, war ein fchmadvoller Untergang gewiß. Ueber jenen 
Jahren liegt eine feiervolle Todesweihe, deren herzergreifende Tiefe nie vergeſſen 
werden darf. 

Der Sieg wurde erfochten, aber das erjehnte Ziel der Patrioten jchien nad) 
ihm wieder in hoffnungslofe Fernen zu entweichen. ine Bergangenbeit läßt 
ſich ſchwer umgeftalten, daher mag jedes Volk dafür jorgen, daß die Gegenwart 
nicht der Zukunft zum Hemmnis werde. Jetzt tauchten erſt die Schwierigkeiten 
auf, als das nene Deutfchland geichaffen werden ſollte. Die von Napoleon 
niedergedrüdten Selbitändigkeitsgelüfte der einzelnen Staaten, namentlich der 
größeren jüddeutichen, die ihm fo viel zu verdanfen hatten, richteten fich wieder 
troßig auf, und vor allem: jet erft nahm das gejchichtlich längſt vorbereitete 
Doppelverhältnis, der Dualismus zwilchen Oeſterreich und Preußen, eine greif- 
bare Geſtalt an. Seien wir nicht ungerecht: feine Macht auf Erden wird je 
freiwillig aufgeben, was fie als ihr Recht betrachtet und zu behaupten fich 
getraut. Nur der Zwang der Berhältniffe vermag da einzugreifen, und nur die 
erfannte Notwendigkeit kann aus der Unklarheit zum richtigen Verftehen führen, 

Der deutfche Bund brachte nur die äußere Form einer Einheit, nicht ihre 
wahre Geſtalt, aber es war vielleicht gut, daß feine Inhaltsloſigkeit die Zukunft 
nicht band. Noch wußten auch die beften Patrivten nicht redjt, was eigentlid) 
nit Deutichland werden jollte, und das Nationalbewuktjein mußte erft ausreifen,, 
indem es von den Gebildeten ins Volk herabftieg. 

Der Erregung folgte die naturgemäße Abipannung, und nad) den ungeheuren 
Opfern, welche die legten zwei Jahrzehnte verfchlungen hatten, that dringend 
not, daß Deutſchland zuerit auf einen leidlich wirtichaftlichen Stand gelangte, 
um überhaupt leiitungsfähig zu werden. Einige Beſſerung der öffentlichen Ver- 
hältniffe war auch wirklich erreicht worden, indem jo manche der Beſchränkungen 
von Dandel und Handwerk fielen, und die Gründung des SZollvereins, der raſch 
fein Gebiet ausdehnte, wirkte überall jegensreih. Die Deutſchen lernten all: 
mäblic; wieder auf fi vertrauen, da8 Bürgertum nahm an Rührigkeit, 
Bildung und Vermögen zu. In diefen itillen Jahren, in denen die Regierungen jede 
Regung des nationalen Bewußtſeins unnachfichtig verfolgten, wuchs ein Volt 
heran, das fräftig genug war, ihm wirkſamen Ausdrud zu geben. Die natio- 
nalen Ideen fiderten nach unten durch, von den Univerfitäten aus verbreiteten 
ſie fich weithin. Freilich, da verboten war, ein großes Vaterland auch nur zu 


Theodor Yindner, Die Entmidelung des deutichen Nationalbemußtieins. 355 


erträumen, ſchweiften die politiichen Fdeen wieder ins Weite, wurden weltbürger- 
lih und maßlos. Daher war eine Zeit lang Gefahr vorhanden, daß die kosmo— 
politifhen Schwärmer den Wert der Heimat vergeflen und den natürlichen Boden 
unter den Füßen verlieren könnten. 

Dennoch, als die franzöjiiche Februarrevolution überall zündete und den 
Mut gab, die nationalen Forderungen mit lingeftüm zu erheben, verlief die Be- 
wegung mit wenigen Ausnahmen geießlich, und aud die Regierungen, teil er- 
ichredt, teilß jelber von den großen Gedanken ergriffen, boten die Hand zu den 
nötigen Schritten. Die Paulstirche in Frankfurt vereinigte die Beten des Volkes 
zu einer Nationalverfammlung, die, zum eritenmale die deutjche Einheit dar- 
jtellend, zu den Ichönften Hoffnungen berechtigte. Wiederum, wie dreißig Jahre 
früher, erwieſen ſich die entgegenitehenden Hindernijje ald unübermwindlich, aber 
die Dentichen hatten, wie Moſes vom Sinai, das gelobte Land gefehen. Man 
lernte, daß mit Schönen Worten nicht zu thun, der vage Traum einer Republif 
undurchführbar jei, daß das neue Deutichland nur auf eine politifche Macht auf: 
gebaut werden Eönne, und ſchon in der Paulskirche hatte die Wagichale für 
Preußen entichieden. 

Nach wenigen Jahren einer dumpfen Ernücterung brachen die nationalen 
Ideen wieder kräftig hervor, und Bismard war es, der ihnen die klare Vollen- 
dung gab, die nur ein großer, mit dev Wirklichkeit der Dinge rechnender Geiit, 
den Blick unverrüdbar auf das zu erreichende Ziel gerichtet, Ichaffen konnte. Er 
führte den fcharfen Staiferichnitt aus, der Deutichland von dem hemmenden 
Deiterreich trennte, er bewies aud; den Süddeutichen, daß Frankreich der eigent- 
liche Feind fei, und jubelnd folgte 1870 ganz Deutfchland feinem Rufe: „Alle 
Mann an Bord!" 

Das große Werk war vollendet. Die deutihen Staaten jchloffen jich unter 
dem neuen Saifertum zu einer Einheit zufammten, die nicht wie das alte Reid 
num ein notdürftiges Band war, jondern lebendkräftig und Leben ermedend dem 
deutfchen Volke den Gegenitand eines wirklichen Nationalbemwußtfeins gab, das 
auf feiten Grunde und ficherer Unterlage beruhte. | 

Diefes nationale Sein qilt es, zu erhalten. Aber jedes irdiiche Ding hat 
zwei Seiten, und fo fann eine Uebertreibung des Nationalbewußtſeins jchädlich 
werden. Die Deutichen haben allzeit unendlich viel von den Fremden gelernt, 

und es wäre thöricht, aus falichem Selbftdiinfel fi auf den eigenen Herd zu 
bejcehränten. Nehmen wir weiter gern auf, was uns das Ausland zu wirklichen 
Fortſchritt darbieten kann, aber nicht die bloße Nachahmung fürdert, jondern 
wir müſſen die entlehnte Zuthat zum eigenen Bejig umwandeln, indem wir jte 
mit unſerem Sein fo verjchmelzen, daß fie in ihm aufgeht. Alle Völker ichreiten 
nur in großen Bereinen vorwärts, und jedes, das ſich ängftlich abſcheidet und 
trennende Mauern errichtet, kommt in die Gefahr, zu verfümmern. init ſchloß 


23” 


356 Theodor Lindner, Die Entwidelung des deutjchen Nationalbewußtſeins. 


uns die innere Schwäche von der Welt aus, mißbrauden wir nicht unfere 
Stärke, um uns jelber auszufchließen. 

Die Deutfchen, einft mit Gewalt in ihr Haus zurüdgedrängt, haben fi 
wieder binausgewagt, feitdem eine Flotte entftand, die erfte Reichsflotte. Ihre 
Flagge ift ſchwarzweißroth, indem fie die preußifchen Farben mit denjenigen ver- 
bindet, in welchen die Wappen der drei Hanfeftädte, die allein die alte Ueber— 
lieferung fortpflanzten, gehalten find. Aber weißroth war auch einft die in der 
Schlacht vorangetragene Sturmfahne des alten Neiches, das weiße Georgskreuz 
auf rotem Felde, und unfere Marine hat bereit3 ruhmreid unter dem neuen 
Banner gefochten. Es weht ſchützend über unferen Kolonieen und die Deutichen 
find daran, jenjeit3 der Ozeane nachzuholen, was einft verfäumt wurde. Go ift 
unſere nationale Pflicht eine doppelte geworden: fie richtet fi) nad) innen und 
nad außen, und durch die ganze Welt muß Deutichland dafür forgen, daß jeine 
Söhne in fremden Ländern ſich des Vorzugs bewußt werden, Deutjche zu jein, 
daß ihre Kraft der deutichen Heimat nicht verloren geht. Bisher war der 
Deutihe draußen „Kulturdünger" für andere Völker, die ihm kaum dankten; jet 
gilt es, dem Deutjchen felbft und dem Reiche feine Arbeit nutzbar zu machen. 

Die Deutfchen fchufen fi einft eine große Zeit, indem fie die ihnen eigene 
Thatkraft entfalteten, aber fie verloren das mühevoll Errungene, weil fie nicht 
verftanden, mit ihr den politifhen Einheitsgedanfen zu vereinigen. So tft ber 
rechte Pfad zu dauerndem Glüd, die alten Tugenden zu erneuern und die alten 
Fehler abzuftoßen. Der Einzelne foll wiffen, daß er vornehmlich nur durch feine 
eigene Leiftung vorwärts fommen, daß der Staat nidht alles für ihn thun kann, 
aber er darf darüber nicht vergeffen, daß fein Werk nur dann zu gedeihen ver- 
mag, wenn über ihm ein mächtiger Staat waltet und die Wege nad) innen und 
außen erjchließt, ein Staat, der jedes ihm gebradjte Opfer wirklich lohnt. Der 
Gedanke, der einft die Genofjenfchaften durhdrang: Alle für Einen, Einer für 
Alle! muß zum Reichsgedanken werden. Ein echtes Nationalbewußtfein erfor: 
dert, daß jeder Teil dem Ganzen, das Ganze den Teilen dient. Der Einzelne 
Toll fich bewußt fein, daß er nur durd die Nation etwas bedeutet, die Nation 
ſoll willen, daß nur die freudige und freie Hingabe der Volksgenoſſen das 
Ganze dauernd und fihher tragen kann. Nach langen Srrfahrten ift Deutſchland 
in den nationalen Hafen eingelaufen. Noch ſchwanken draußen viele hin und 
her; mögen fie einfehen, wo fie am beften geborgen find, dann werden ſie ihre 
Schiffe zuverfichtlich dorthin lenken. 

Ein Spridwort fagt: „Hochmut kommt vor dem Fall”, und vorzeitige 
Sicherheit trügt. Wir haben viel errungen, aber alles Erkämpfte muß erjt noch— 
mals verteidigt werden, ehe es zum feften Befit wird. Das wird die Aufgabe 
der nachfolgenden Geſchlechter fein. Unfere Zeit verfällt leicht in den Glauben, es 
müffe alles jo fein und bleiben, wie es ift, ohne zu bedenken, wie ſchwer es 


Theodor Lindner, Die Entwidelung des deutichen Nationalbewußtſeins. 357 


geihaffen wurde. Mag unfere Jugend in deutſchem Stolze überquellen, aber fie 
darf nicht vergefjen, daß die Volksgeſchichte keineswegs jo ehrenvoll ift, wie es 
der glüdlichen Jetztzeit erfcheint, daß tiefe Schatten in ihr vorhanden find, daß 
e3 Zeiten gab und langdauernde, in denen die Deutichen ſich ſchämten, Deutjche 
zu fein! Raſch wendet fi) das Schickſal eines Volkes, wenn diefes nicht jelber 
dazu thut, feine Kraft auch ftetig zu vermehren. Seinem Volke wird etwas 
gefchentt, und es liegt in dem Weſen der Geſchichte, daß ſchon ein Stillitand ein 
Rückſchritt iſt, daß die bloße Erhaltung nicht genügt, fondern ein Wachstum 
ftattfinden muß. Wer nicht fammelt, der zerjtreuet. Daher mag die lebende 
Generation, aus ber bereit3 die Männer zu fchwinden beginnen, welche an der 
Gründung des Reiches mitarbeiteten, defjen gedenk fein, daß es nicht des Fühlens, 
fondern de3 Handelns bedarf, daß das nationale Bemwußtjein fi) in nationale 
That umfeßen muß. Meiche werden durch Srieg gegründet, aber ihr Beſtand 
und Gedeihen hängen davon ab, wie fte fich im Frieden bewähren. Hierin liegt 
fogar die ſchwerere Leiftung; fein Blut für das Vaterland hingeben, ijt leichter, 
als ihm in unabläffiger, feldftentfagender Arbeit zu dienen. Deutichland ijt 
nicht fo geftellt, daß es, froh feiner leßten großen Zeiten, die Arme in den Schoß 
legen dürfte, daß es ber getreulihen Arbeit jeiner Söhne entbehren Eönnte. 
Unausgefegte Arbeit ift fein Lebensbedürfnid, und nur, wenn fie auf den einen 
Punkt gerichtet ift, vermag fie volle Frucht zu erzielen. 

Diefe Erkenntnis zu einer allgemeinen zu machen, fie zur That zu führen, 
möge dieſe neue Zeitſchrift erfolgreich helfen, damit dereinft unfere Nachkommen 
aus dem jetigen Jahrhundert ebenfo ftolz jcheiden fünnen wie wir aus dem 
verfloffenen, und ihre Gedanken ſich finden in einem, dem deutfchen Gedanken! 


Deutfche Sprüche. 


Du follft der Zeit nicht aus Dem Wiege Und ob manch’ Teures finkt und fälıt 
gebn, $n diefen wirren Tagen, 
Du baft Dich tapfer mit ibr abzufinden; In Gott rubt auch Die kranke Welt, 
Auf ibrem Plan den Feind mit zu beftebn, mie follt’ ich um fie zagen? 
Zu Gottes Ebre mit zu überwinden. 
* 


Ein jeder Praffer © ſchwachlich bin= und Widerfchwanken, 
Wird zum Verbrecher, © fremde Götzendienerei! 

Er zeugt die balfer, Seid deutſch im Fühlen und Gedanken, 
Er ruft Die Rächer. Und ihr feid grof; und ftark und frei! 


Aus: „Auf Pfaben des Slide”, Lebenbſprüche von Aulin® Rohmener Georg Wigand in Leipzig. 


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Die Gemütsmadt der deutſchen Frau. 


Von 


Fri Iienhard. ‚Sblup.) 


n»* und Scopenbauer haben jehr herb und ätzend über frauen ge— 
ſprochen. Beide waren Bewunderer Goethes. Sie find hierin diefem zarten 
Frauenkenner und Frauenſchilderer mit feinem jeberiihen Tiefblid nicht nach 
gefolgt. Es ift mit der Stellung zu den Frauen ähnlich wie mit der Stellung 
zu Pflanzen und zur Natur überhaupt. Jene beiden Denfer fanden auch zur 
Natur kein unmittelbares Berhältnis; ihre Sinne waren zu jehr, wie einmal 
F. A. Lange allgemein jagt, „Abitraftionsapparate". Dem mehr dentenden als 
ihauenden Schiller erging es ähnlich: er hat uns in jeimen Dichtungen nur ein- 
jeitig Frauen gejchildert, während der natumahe Shakeſpeare hierin Meifter 
war. Aber Scillers tieflauteres ethiiches Gemüt jtellte das Gleichgewicht wieder 
ber; er ſprach hoch und würdig von der Frau, jo etwa wie Goethe im gereiften 
„Taſſo““, wo im zweiten Aufzug die befannte jchöne Umjchreibung des „Erlaubt 
it, was ſich ziemt“ unferer herglihen Zuſtimmung allzeit ficher iſt. 

„Willſt du genau erfahren, was jich ziemt, 

So frage nur bei edlen ‚rauen an. 

Denn ihnen iſt am meijten dran gelegen, 

Daß alles wohl fich zieme, was gejchiebt. 

Die Schidlichkeit umgiebt mit einer Mauer 

Das zarte, leicht verlegliche Geſchlecht. 

Wo Sittlichfeit regiert, regieren fie, 

Und wo bie Frechheit herricht, da find jie nichts. 

Und wirft du die Geſchlechter beide fragen, 

Nach Freiheit jtrebt der Mann, das Weib nach Sitte.” 

Ich ftehe nicht an, zu wiederholen, was ſchon andere gejagt haben: die 
Stellung zur Frau it ein Gradmeffer dev Ungetrübtheit unferes Seelenjpiegels. 
it feine Fläche oder Wölbung blank und glatt, jo fällt aud) das Weltbild mit 
Sternen und Bergen, Blumen und rauen herrlid; darein und leuchtet herrlich 
wieder zurüd. Magit du üble Erfahrungen mit mander garitigen, kränklich— 
verftimmten oder unedlen Frau gemacht haben — die Gefamtheit Deines 
Urteil3 darf das nicht beeinfluffen. 

Dieje Betrachtung darf an einer jchönen und tiefen Szene, die der wieder 
entdedte Gobineau geichrieben bat, nicht vorübergehen. Die Freundſchaft jelbit 


Fritz Vienhard, Die Gemütsmacht der deutichen Frau— 3549 


zwiſchen durchgeiftigtem Mann und ebenjo Huber Frau ift eine andere als Die 
Freundſchaft zwiſchen gleichitrebenden Männern. Immer miſcht ſich in die eritere 
eine zarte Beigabe von mütterlicher, bräutlicher, weiblicher Neigung und Fürſorge, 
das liegt tief in den Geheimnijien der Geſchlechtsunterſchiede. Wie reif und keuſch 
bat Graf Gobineau in der letten Szene jeines Renaifjance-Dramas dies Ver- 
hältnis zweier hoher Menſchen gejchildert! Der greiſe Michel Angelo nimmt 
Abſchied von feiner ebenfo betagten Freundin Vittoria Colonna, Abfchied vielleicht 
für diefes Leben. „Ihr feid Michel Angelo,“ ſpricht die verwitwete Marchefa mit 
leifer Klage, „ich bin nur ein begreifendes Weib, genug begreifend, um den Ab— 
ſtand zu ermeflen, der mein Mitfühlen von Eurer unbezähmbaren Thätigkeit 
trennt. Ihr habt viel für die Welt gethan, und während Ihr den Thon Eurer 
Statuen zu fneten glaubtet, habt Ihr in der That der allgemeinen Erkenntnis 
neue (Formen und Ausdrudsweijen, die fie niemals gehabt hatte, vorgejchrieben. 
Ich, was babe ich getban? Ich Habe viel geliebt den, der nicht mehr ift. Ich 
habe Euch jelbit viel geliebt, und das ift alles. Aber der große Künſtler und 
Menſch wehrt ab: „So habt Ihr denn ebenfo viel al3 ich, genau ebenfo viel 
gewirkt... So lang uns der Himmel Euren edlen Gatten gelajfen bat, habt 
Ihr ihn geliebt und feid in feiner Liebe fo glorreich beglüdt gewejen, ald es 
einem Weibe, vom Weibe geboren, gegeben ift, ſich beglüdt zu fühlen. Glaubt 
mir: es war das ein edles Thun, und die Tugenden, die fid) durch die Wonne: 
ihauer ſolcher Liebe allmählih in Euch entwidelten, wurden gewißlich zum 
Meifterwerfe menjchlihen Wertes." ein und richtig wendet jie ein, daß fie 
durch den dauernden Befit des Glüdes an ſich nicht ganz jo gereift wäre, daß fie 
vielmehr erft durch die rüdjchauende und überjchauende Einſamkeit, bei andauernder 
Liebe, durch diefe nötig gewordene Sräfte-Anfpannung der treubleibenden Witwe 
zu dem geworden ift, was ein wolfenlofes Glüd niemals aus ihr gemacht hätte. 
Und Meifter Michel Angelo bringt ihre beiderjeitige Yebensarbeit in den jchönen 
Ausdrud: beide hätten fie ihren Mitmenfchen hohe Beilpiele hingejtellt, er, indem 
er ihnen Werke ſchuf, fie, indem fie fich jelbft zum Kunſtwerk machte. „Wenn 
aljo mir der Weltgeift einige Errungenschaften verdankt, jo weigert mir, Marcheia, 
den Ruhm nicht, mich mit Euch zu vergleichen, und laßt mic hoffen, daß wir im 
teben ber Emigfeit ebenbürtigen Fluges zu vollflommen gleichen Belohnungen 
uns werden emporjchwingen können. 

Poheitsvoller kann über zwei Edelmenfchen nicht geichrieben werden. 

Aber, um wieder in den Alltag zurüdzufehren, wir wollen noch eins nicht 
vergeffen: Der Körper der rau iſt im Entwidelungsplan der Erde ftärker in 
Anſpruch genommen als der leichter Ichreitende Mann. Biel Frauenlaune gilt es 
hieraus zu verjtehen und zu tragen. Wenn fich mancher Jüngling jachlich und 
nüchtern Elarlegte, dab das Weib, aljo auch feine Mutter, unter Lebensgefahr 
und zahllojen Schmerzen und Sorgen die Erhaltung des Menſchengeſchlechts im 


360 Fri Llenhard, Die Gemütsmacht der beutfchen Frau. 


Gange hält, er würde ernfter und minder pikaut über Frauen fprechen, empfinden 
oder an ihnen handeln. Wenn man fagt, die Mehrzahl der „modernen Weiber‘ 
ſei leider entartet, jo kann man fofort, nach dem Turnvater Jahn, antworten: 
der Mann jei mannlich, jo wird die rau fraulich fein! Die Ueberreizung 
zahllofer Frauen, befonders folder der Litteratur, ift nur ein Seitenftüd zu der nicht 
minder Erankhaften Weberreizung unferer Litteraturjugend, ich habe darüber 
anderwärt® genug gefproden. Ja, wie in der Liebe felber der weitaus be- 
herrihungsftärfere Mann faft immer der verantwortliche Teil ift, jo ift für die 
Entartung einer Zeit in erfter Linie der Mann verantwortlicd; zu machen. Die 
zarteren Organe der freilih durch Scheu und Keufchheit behüteten Frau fallen 
der einmal eingeriffenen Entartung immerhin leichter zum Opfer. Der Fanatismus 
der Anardiftinnen oder Pariſer Betroleufen, die Menge von PVerlorenen — 
welche Entartungen! Andererſeits aber: wie viel hohes Frauentum fammelte ſich 
ftet3 um alle hohen Genien der Menjchheit! Nicht nur um Dichter und Künftler, 
wie Goethe, Dante oder Michel Angelo, jondern auch um Chriftus und in Indien 
um Buddha Es war nidt weibliche Neugier, es war weiblich-feherijcher 
Inſtinkt, daß hier Kräfte ewigen Lebens feiern. Es war meibliche Liebe und 
Dingebungskraft. Hohe Manneskraft wedt hohe Frauenkraft — und um: 
gekehrt auch. Ein Adelsmenſch bringt mit Wort, Weſen und Werken das Beite 
in und zum Erwachen, wie durch magnetifche Berührung, indes das Gemeine zu 
gleicher Zeit von felber abdorrt, ohne daß man ein Wort weiter darüber verlöre. 

Es ift eine der verbderblichften Srrlehren der Gegenwart, man müfje das 
Leben „jo jchildern, wie es iſt“. Ja wohl, mein freund: nur fommt es darauf 
an, wer das Leben jchildert und was du dir aus der Fülle des Lebens zum 
Schildern herausholft, da du nun einmal fchlechthin „alles, d. h. einige Millionen 
Borgänge, in deinem Sternfchnuppendafein nicht herausholen kannft. Wenn du 
mir alfo „das Weib‘ fchildern willft, „wie es iſt“, fo ift das erftens eine thörichte 
Verallgemeinerung; fodann aber wird fich nur zu bald verraten, wie du felbft in 
die Frauenwelt Hineingefhaut haft. Unter dem Bann einer nicht hohen Per- 
Jönlichfeit werden fich, bei ihren leicht jchrwingenden Nervenfäden, der frauen beite 
Kräfte nicht entfalten, nicht ang Licht wagen. Wenn irgendwo, fo iſt juft bei 
gemwifjen Leuten, die fich blinzelnd für praktiſche Frauenfenner halten, jedes herab- 
ſetzende Wort wider die Frauen ein vernichtendes Urteil wider fie felber. Horde 
einen Unbekannten, der dich befucht, über Frauen aus, und aus der Art, wie er 
feine Urteile formuliert, erfährft du bald, wie e3 mit feiner charafterlichen 
Neife überhaupt fteht. Freilich gilt das nicht nur von Frauen allein; Goethe 
war in diejer ftillen Kunſt feinen vielen und oft aufdringlichen Bejuchern gegen- 
über ein gelaſſener Meifter. 

Und wenn mid nun eine Frau fragen würde: gewiß, wir wollen ja voll 
Gemütskraft mitarbeiten an deuticher SHultur, aber wo ift unfer Feld? — fo 


Fritz Lienhard, Die Gemütsmacht ber deutfchen Frau. 361 


jtehe ich nicht an, weitherzig zu antworten: wo immer ihr es euch ſchafft. So 
lange nur euer Gemüt und eure Weiblichkeit nicht nur „nicht Not leiden“ — denn 
das wäre ſchon ein Stilleftehen und alfo Rüdgang der Entwidelung — jondern ſich 
recht bethätigen, ald Ergänzung des männlichen Kampfes, da gilt das tapfere 
Wort: „Alles ift Euer! Jede hat irgendwie einen Kreis, den fie ausbauen 
fann — jie fange mit fich jelber an, fie jei felber in wirrer Beit eine har- 
moniſche Ericheinung für die drei oder vier Menfchen ihres Umkreiſes. Hier ift 
freilich der Mann befjer dran; er hat mehr Einfiedlerkraft. Die Frau bedarf 
des Austaujches, des Empfangens und Gebens meift mehr als der Mann. Dafür 
hat jie um jo mehr Kräfte der Geduld, wenn fie zuleßt entjagen muß. Freilich 
find auch bier große Wertunterfcdiede zwifchen den einzelnen frauen. Wie 
mande bejte Weiblichkeit muß auf fümmerlihem Erdreich vorzeitig verblühen — 
wie eine Pflanze in der Natur um uns ber, in deven Geſetze wir erbarmungslos 
nach unüberjehbarem Weltplan eingebaut find. 

Das aber iſt das Wefentliche: daß wir alle wieder Ideale bekommen, wieder 
die deutichen und menfchlichen Sdeale in neuer Tonart. Das wird ſich wie eine 
Atmosphäre auf alles und alle durchdringend verbreiten, das wird unfere Zus 
ftände beleben und durchleuchten wie nach langem, drüdendem Regen die Morgen: 
luft eine3 klaren Sommertags, dejjen Reinheit man ſchon in der Frühe beim 
Aufitehen fpürt. 


1% 


Broßltadtabend. 
Letzte Blut der Zulifonne, — Mũde Räder, arme Pferde, 
Draufzen, in der Flutenwonne, Schwüle Glut aus beifzen Steinen. 
Feierruf jetzt, tief und labend, Ungebört verklingt ein Weinen. 


Durch das Drängen, Durch Das Jagen 
Raft ein leerer Leichbenwagen 
Unter fchwarzem Stadtbabnbogen. 


bier der heiſze Grofsftadtabend,. 
Staub und Dunft und wirres Treiben, 
Bbendglanz in grellen Scheiben, 


Bbungerndes Bachbaufebaften, Draufzen: ftilles Gräferwogen. 
Lieb und Leid und Luft und Laften, Leifer, weiber Abendfriede 
Grelles, farbiges Bepränge, Wlebt mit feinem Beimcbenliede, 
Robes Elend im Gedränge, Stebt mit feinem Silberborne, 
bier verfcbämte Bittgebärde, Weber reitem aoldnen Korne. 


Aus Frida Shang: Antermesso. 
7. 9. Lattmann, Berlin, Goslar, Veipsig. 


0O0OOOOOOOOOGOGC 


Die gemeiniamen Züge im Weltenbau. 


Von 


M. Wilhelm Meyer.*) 


U“ Planet iſt ein mittelgroßes Mitglied einer größeren Familie, deren Ober: 
haupt, deren Mutter, wie wir wiljen, die Sunne iſt. Nur nod) zwei Ge- 
ichwifter der Exde, Benus und Merkur, jtehen diefer ſegenſpendenden Allmutter 
näher, empfangen noch direkter ihre Wohlthaten. Venus, der uns nächſte eben- 
bürtige Weltkörper, ift fait genau ebenjv groß wie die Erde und vollendet, ent- 
iprechend feiner größeren Sonnennähe. feinen Kreislauf um das allgemeine 
Centrum des Syftems jchon in etwa drei PVierteljahren. Bon der alles Leben 
bei und wedenden und unterhaltenden Sonnenitrahlung, der Sonnemwärme und 
ihrem Licht, fließt unſerm nachbarlichen Gejtirne etwa noch einmal jo viel zu 
wie uns. Fehlten jonjt ihm feine bezüglichen Eigenfchaften, jo wären die Lebens 
bedingungen auf ihm günjtiger wie ‚bei uns. 

Uber man kann aucd des Guten zu viel empfangen und von Ueberfluß 
erdrüdt werden. Solche Verhältniſſe mögen auf dem ſonnennächſten Planeten 
Merkur herrſchen, der nur etiwa vier Zehntel unjerer Sunnenentfernung von dem 
Centralgeſtirn abjteht und etwa fiebenmal mehr Licht und Wärme empfängt. 
Bei ihn jcheint ein Kompromiß zwischen feinen beiden Hemiſphären geichlofien zu 
fein, um wenigſtens einer derjelben ähnliche Yebensbedingungen zu ſchaffen, wie 
fie bei und das Leben fordert. Merkur wendet der Sonne beitändig diejelbe 
Seite zu, jo wie eö der Mond mit der Erde madt. Dadurh muß auf der 
Sonnenjeite eine fo verjengende Glut entitehen, daß nach unjern Begriffen an 
ein Borhandenfein von Organismen dort nicht gedacht werden fann. Dagegen 
fann auf der abgewandten Seite wohl eine ewig laue Dämmernacht berrichen, 
die für eigenartig bejchaffene Wejen die nötigen Lebensbedingungen zu bieten 
vermag. Merkur ift im Durchmefjer etwa dreimal Kleiner wie die Erde. Gr 
jowohl wie Benus bejigen feine Monde. 

Die Erde hat bekanntlich nur einen Mond (troß der gewaltigen Anitren- 


*, Der gegemvärtige Artikel bildet einen Teil eines demnächſt im Verlage des „Allgemeinen 
Bereins für deutjche vitteratur“ ericheinenden Wertes des Verfallers, „Der Untergang der Erde 
und des Irdiſchen“. 


M. Wilhelm Mever, Die gememſamen Züge im Weltenbau. 303 


gung, die in den legten Jahren ein altronomticher Dilettant gemacht hat, um ihr 
noch einen zweiten oder gar deren noch mehrere anzudichten), während alle übrigen 
jonnenferneren Planeten wirklich mehrere bejigen, wenn man den allerferniten 
Neptun ausnimmt, bei dem man zwar nur einen Mond fehen kann, der aber 
aller Wahricheinlichfeit nad) doch noch andere beißt, die man nur wegen 
der ſehr großen Entfernung, welche uns von ihnen trennt, nicht mehr jehen kann. 

Der Mond der Erde iſt ein gar wunderlicher Geſelle. Seine Oberfläche, 
die jedenfalld nur noch Spuren von Leben beherbergen wird, zeigt ſich nach allen 
Richtungen Hin durchlöchert, als mwäre ein Bombardement von Kugeln aller 
Größen, von Weltkörperausdehnung bis zu folchen, deren Spuren, von uns ge- 
ſehen, wie feine Nadeljtiche erjcheinen, auf ihn niedergehagelt. Die Zahl dieſer 
Löcher, ſoweit wir fie jehen können, ichäßt man auf 100000. rüber hatte man 
gemeint, der Mond bejäte überhaupt feine Atmoſphäre, heute aber hält man 
das Borhandenfein einer jehr dünnen Lufthülle für wahricheinlich, die ſich 
namentlich in den Vertiefungen jener Löcher, jener Mondkrater, wie man fie nad) 
einer alten Anfchauung über ihre Entſtehung genannt hat, vielleicht ſoweit ver- 
dichtet, daß fie ein dürftiges Leben wohl noch unterftügen fann. Der größejte 
Teil der Mondoberfläche ift wahricheinlich von Eis überdedt, das unter der Ein- 
wirkung der Sonnenbeitrablung während eines vierzehn unferer Tage andauernden 
bellen Sonnentages, dem eine ebenio lange Nacht folgt, zum Teil ſchmilzt und 
dadurch Schon eine Atmoſphäre von Wafjerdampf bilden muß. In die Krater: 
vertiefungen läuft dann das freie Wafler, und bier jieht man auch oft nach dem 
Sonnenaufgange eine leichte grünliche Färbung, die wohl von einer fchnell auf: 
wuchernden Begetation herrühren fönnte, welche aber unter der beftändigen 
Sonnenglut des langen Tages bald wieder abitirbt. Wir haben bein Monde das 
Bild einer im normalen Entwidlungsgange fait völlig hingeichiedenen Welt vor 
uns, die nur noch ganz ſchwache Lebenszeichen giebt. 

Der jenjeitige Nachbar der Erde itt Mars, halb jo groß im Durchmefjer 
wie jie. Er tft der populärite von allen Dimmelskörpern, über den bereits Ro— 
mane und Theaterſtücke gefchrieben worden find. E& giebt kaum noch ein Schul- 
Eind, das nicht weiß, daß auf dem Mars fi Kanäle befinden, und vielleicht wird 
er in der nächſten Reichstagsieilion als leuchtendes Beilpiel dafür herangezogen, 
daß die vernünftigeren Weſen dort oben von jeher für die Kanalvorlage - waren. 
Kaum weniger als über dieje lettere it über die Kanäle des Mars herum- 
geitritten worden. Wir können uns hier nur ſoweit damit bejchäftigen, ald es 
uns für die Frage des vermutlichen zukünftigen Entwidelungsganges der Erde 
intereffiert, dev mit dem der anderen Himmelskörper in einem gewiſſen Sinne 
parallel gehen muß. Wegen weiterer Details auc über die anderen aftronomifchen 
Segenftände, die wir hier ftreifen müſſen, verweiſe ich auf meine populäre Nitro: 
nomie „Das Weltgebäude“ (Leipzig, 1898, Bibliographifches Anititut). 


364 M. Wilhelm Meyer, Die gemeiniamen Züge im Weltenbau. 


Wir wiſſen nicht, was die Kanäle des Mars eigentlich find. Kanäle find 
es jedenfall nicht, denn fie haben meift eine Breite von vielen Kilometern, die 
für Waflerftraßen, mag der Verkehr auf ihnen auch noch fo gewaltig fein, finnlos 
wäre. Aber ebenjo gewiß wie fie feine Wafferftraßen fein können, find fie auch 
feine von der Natur allein gefhaffenen topographifchen Gebilde. Es find Ein- 
richtungen intelligenter Wefen, die und unbelannten Zwecken dienen. Die Dis- 
pofition diefer ganz geradlinig oder in genauen Kreisbögen auf der Mars: 
oberfläche verlaufenden „Kanäle“, wie wir fie ja ebenjogut noch weiter nennen 
können, wie wir die ganz ficher völlig trodenen Ebenen auf dem Monde als 
Meere bezeichnen, ift derart, wie fie die Natur bei feinem ihrer: Gebilde jemals 
hervorgebracht hat, fie zeigt eine offenbar zweddienliche Anordnung, zmeddienlich 
nur für Wefen, melde den ganzen Weltkörper beherrſchen und zur Erfüllung 
ihrer Aufgaben auf möglichft geradem Wege Berbindungen zwiſchen den ver- 
ſchiedenen Teilen ihrer Welt herftelen mußten. Dabei brauchen diefe breiten 
Streifen ſelbſt feinesmegs als bloße Verkehrswege angefprochen zu werden, 
Mars hat wenig Gebirge, man müßte fie an ihren Schatten fonft erfennen. Er 
muß vielmehr im großen und ganzen aus Flachebenen beftehen, die fi uns ala 
gelbbraune Flede darftellen und in den verjchiedenen Jahreszeiten, deren Wir- 
fungen auf dem Mars man nad verjchiedenen Richtungen bin deutlich verfolgen 
kann, ihre Farbe nicht ändern. Man ftellt filh vor, daß es Sandwüſten find, in 
welchen dieje Kanäle als breite Landftriche vertieft liegen, damit ſich bier die Feuchtig- 
feit anfammeln kann, welche zur Entfaltung einer Vegetation und alfo zur Unter- 
haltung des Lebens unbedingt nötig iſt. Man fieht deshalb im Gegenfate zu 
den gelben Fleden, den fogenannten Randgebieten, diefe Kanäle ihre Farbe mit 
den Yahreszeiten oft wechſeln, ja es ereignet fich regelmäßig im Frühjahr, daß 
Kanäle allmählich erfcheinen, wo früher nur gelbes Landgebiet fihtbar war. 
Diefe Kanäle waren alfo während der ungünftigen Saifon gänzlich ausgetrodnet, 
und überzogen ſich num erft nad der deutlich erkennbaren Schneefchmelze an dem 
betreffenden Pol des Planeten mit einer dunkel fchattenden Vegetation. 

Die Kanäle verbinden die fugenannten Meere des Mars miteinander. 
Aud) bei diefen verläßt man mehr und mehr die Meinung, daß es wirkliche, mit 
Waſſer erfüllte Beden feien. Man erkennt in ihnen nod; Details, die Kanäle 
jegen jich noch zuweilen bis tief in diefe dunfleren Gebiete hinein fort; aud fie 
wechjeln ihre Farbe, und man will jogar grüne Färbungen auf ihnen wahr: 
genommen haben. Bielleiht waren es ehemals Meere, die jegt im Austrodnen 
begriffen find, alſo gleichfall3 tiefliegende Gebiete, in welche das Waſſer fidert 
und wo das Schmelzwafjer fi) jammelt, der Lebensentfaltung eine günftige 
Unterlage bietend. Diefe „Meere breiten fi) zum größten Teil auf beiden 
gemäßigten Zonen aus, find alſo durch einen breiten äquatorialen Gürtel nad) 
unferer Anfiht umfruchtbaren gelben Wüftengebiete® von einander getrennt. 


M. Wilhelm Meyer, Die gemeinjamen Züge im Weltenbau. 365 


Durch diefen Aequatorialgürtel nun zieht fich das wunderbare Syftem der Kanäle, 
alle die fruchtbaren Tiefebenen mit einander verbindend durch gleichfalls Frucht- 
bare breite Thäler. Alles dies ift zu augenfällig angelegt, um als Naturproduft 
gelten zu können. 

Nehmen wir alle unfere Erfahrungen über den Mars zufammen, jo ergiebt 
ſich mit einer fo hohen Wahrfcheinlichkeit, wie fie bei fernliegenden Dingen nur 
immer zu erreichen ift, daß auf diefem Nachbarplaneten die Gaben der Natur 
anfangen, farg zu werben. Luft und Waffer beginnen zu mangeln, Sonnenlicht 
und Wärme find kaum Halb fo intenfiv wie bei und. Mars ift eine alternde 
Welt, die im übrigen der unfrigen jehr ähnlich ift, wo fich deshalb eine Natur- 
entfaltung wie bie unſere einſtmals ficher hatte ausbreiten und bis zur Erzeugung 
intelligenter Wefen emporwachſen können. Iſt dies der Fall, jo muß die Sintelli- 
genz auf dem Mars um Yahrhunderttaufende älter fein wie bei und. Gie hat 
die Natur gezwungen, unter ihrer Leitung fo riefenhafte Arbeiten zweckdienlich 
auszuführen, wie diefe VBerbindungsthäler, in welche fih das Leben inzwijchen 
zurüdziehen mußte. 

Zwiſchen Mars und Jupiter, dem nächften großen Planeten, bewegt fic) die 
Schar der jogenannten Planetoiden, Kleinen Planeten, um die Sonne, von 
denen einer, Ero8, fi fogar zum größten Teile noch diesfeit der Marsbahn 
bewegt und uns deshalb fo nahe kommen kann wie fonft fein anderer Planet. 
Eros ift erft 1898 von Witt auf der Urania-Gternwarte zu Berlin entbedt 
worden. Schon bald nad feiner Entdedung beobachtete man an ihm eine Eigen- 
tümlichkeit, die man jonft an feinem Himmelskörper wahrgenommen hatte. Er 
wecdhjelte in ganz kurzen Zwiſchenräumen von wenigen Stunden regelmäßig fein 
Licht. Dies konnte nur daher rühren, daß das winzige Weltkörperhen in ebenfo 
kurzer Zeit um ſich felbft lief und uns dabei abwechielnd fehr verjchiedene 
Dberflächenteile zufehrte. Ya, die Bejonderheiten des Lichtwechfeld maden es 
fogar wahrfceinlih, daß Eros eine beträchtlich von einer Kugel abweichende 
Geſtalt befigt. Inzwiſchen hat man an einigen anderen Heinen Planeten ähnliche 
Ericheinungen bemerkt. Als man zu Anfang des neungzehnten Jahrhunderts die 
erften vier dieſer Eleinen Himmelsweſen aufgefunden hatte, diskutierte man eifrig 
die Anficht, fie möchten Splitter eines einzigen größeren Planeten fein, den man 
längft in jener Rüde vermutet hatte, dem aljo durch eine plößlich eintretende 
Kataftrophe der Untergang bereitet worden wäre. Es war um diefelbe Zeit, da 
man im allgemeinen der Kataftrophentheorie, dem fprungmweifen Bor: oder Zurück— 
gehen der Natur in ihrer Entwidelung, zu Leibe ging und nur noch an volllommen 
unmerfliche Uebergänge glauben wollte, welche zum Beifpiel aus einem in das 
andere geologische Zeitalter oder aus einer in die andere Tier- und Pflanzen: 
gattung binüberführten, während man ja früher geglaubt hatte, daß zwiſchen 
jedem Zeitalter irgend eine Satajtrophe, wie vor dem legten die Sintflut, und 


300 M. Wilhelm Meyer, Die gemeiniamen Züge im Weltenbau. 


für jede organische Form ein bejonderer Schöpfungsaft ftattgefunden hätte. Wie 
ſalſch nun zwar dieje Kataftrophenlehre war, jo mußte man ganz beionders in 
neuerer Zeit immer mehr und mehr einräumen, daß ſolche Katajtrophen jeden- 
fallö eintreten, wo man auch die Naturentwidelung verfolgt. So hat es beijpiels- 
weiſe wirklich eine Sintflut gegeben, ımd was die Entftehung der Arten betrifft, 
jo weiß man, daß jeit Darwin gar weidlic; darüber herumgeftritten worden iſt, 
und daß man von ftreng wijjenfchaftlider Seite, man erinnere nur an einen 
Virchow, triftige Gründe gegen die Anficht von einer ganz unmerflichen Ber- 
änderung der Arten im Kampfe ums Dafein anführen fonnte. Es war namentlich 
die Thatfache der ungemeinen Stabilität der Arten vor unjfern Augen nicht weg» 
zuleugnen. Heute neigt man zu der lleberzeugung bin, daß nicht der ftetige 
Kampf ums Dafein, jondern immer nur bejondere Ereigniffe die Arten ſchufen, 
die dann, ſobald diefe bejunderen Einwirkungen aufhörten, in ſich abgefchloffen 
und unveränderlich blieben. Statajtrophen, die über große Überflächenteile der 
Erde einjchneidende Immälzungen veranlaßten, und die die verichiedenften Ur— 
jadhen haben Eonnten, mußten deshalb aud eine weſentliche Beränderung des 
Gejamtbildes der organischen Welt hervorrufen und fünnen nur jo die ftrenge 
Trennung der geologiichen Horizonte erklären, für die man Uebergänge vergebens 
jucht. Als man jeinerzeit die Weltkataftrophen ein für allemal aus dem Bereiche 
dev Möglichkeit verwies, machte die Reaktion eben wie gewöhnlich einen Schritt 
zu weit nach der anderen Seite; wir müfjen heute anerkennen, daß auf der Erde 
ſowohl wie am Dimmel gewaltige Kataftrophen in der That eingetreten find, 
und daß folglich auch diefe Keinen Planeten Trümmer eines Zuſammenſtoßes 
fein Eönnen, ter eine Welt von der Größenklaſſe der Erde in Staub zermalmte. 
Man ent heute weit über vierhundert Eleine Planeten, und ihre Zahl vermehrt 
ſich noch beitändig. Die Eleineren jtehen längft an der Grenze der Sichtbarkeit 
für unfere beſten Fernrohre. Es iſt deshalb anzunehmen, daß noch eine große 
Zahl noch viel Eleinerer eriftiert, die wir niemals wahrnehmen werden. Zwar 
glaubt man auf Grund einer Wahrjcheinlichfeitsrechnung, die fich auf das Zu- 
nahmeverhältnis der Entdefungen zu den abnehmenden Größenklafien der Plane: 
toiden ftüßt, erfannt zu haben, daß die Zahl diefer Körper mit zunehmender 
Kleinheit nicht To bedeutend wächlt, ald man wohl früher vermutete. Der Zer: 
Heinerung der Materie, die für jenen größeren Planeten bejtimmt geweſen war, 
jcheint eine Grenze geießt worden zu jein. Wäre der ganze Umkreis mit jtaub- 
artiger Materie erfüllt, fo müßte man ihn wohl am Himmel als Wing, ähnlich 
wie den des Saturn oder der Mildhftraße, wenn auch noch jo ſchwach, leuchten 
iehen. Der Ring des Saturn beiteht ja zweifellos aus ſolchen Weltftäubchen, 
die jedes jelbftändig den Planeten umfreifen. Vielleicht haben ſolche Staub- 
maffen neben den größeren in dem Planetoidenraume einjtmals erijtiert, aber 
die größeren haben ihn durch ihre Anziehung von dieſem Staube allmählid) befreit. 


M. Wilhelm Mener, Die gemeinſamen Züge im Weltenbant. 367 


Der ganze Weltenraum ift ja von ſolchem Staub erfüllt. Jede Sternfchnuppe, 
deren Millionen in jeder Nacht rings um die Erde herum fallen, ift Weltftaub, 
und häufig fallen auch befanntlich größere Stüde, die Meteoriten, donnernd aus 
den Himmeldräumen zu uns herab, ein plößlicher und völliger Weltuntergang 
für diefe, denn fie gehen meift, durch die Reibung an der atmosphärischen Luft 
auf das äußerfte erhikt, im Laufe von wenigen Sekunden in den gasförmigen 
Zujtand über, ſodaß ihre auseinander jtürmenden Atome fi) rings über unjern 
Planeten veritreuen, fich den Aufgaben diejes größeren Weltkörpers anfchliegend. 

Nach der Anficht Seeligers ift das Zodiakallicht nichts Anderes als der 
Widerjhein von Myriaden allerkleinfter Körper, die die Sonne in einem linjen- 
förmig in der Richtung der Planetenbahnen ausgebreiteten Raume bis teilmweife 
über die Erdbahn hinweg umgeben. Auch ſonſt fieht man am Himmel ähnliche 
Sonnen, die jogenannten Nebelfterne, die in der Mitte einer ganz ſchwach— 
leuchtenden Scheibe jtehen. Andere weite Gebiete am Himmelsgewölbe : ein: 
nehmende Nebel können als ähnliche kosmiſche Staubwolken von allergrößten 
Dimenfionen angejehen werden, und wir müfjen noch aus vielen anderen Gründen 
annehmen, daß der Weltitaub eine jehr wichtige Rolle im Weltgebäude fpielt. 

Jenſeits jenes Ringes der Eleinen Planeten bewegt ſich Jupiter, der 
größte aller Planeten, um die Sonne. Im Durchmeifer ift er nur etiwa elfmal 
kleiner als die lettere, und wenn man alle die von diefer Welt bekannt gewordenen 
Charafterzüge zufammenfaßt, jo muß man ihn als eine alternde Sonne bezeichnen, 
die vielleiht mit dem Gentralgeftimm zu ungefähr gleicher Zeit geboren, doc 
wegen ihrer geringeren Größe von fürzerer Yebensdauer jein mußte. Wir willen, 
dat die Sonnen ein jehr frühes Entwidelungsitadium der Weltkörper bilden. 
Jupiter fteht demnach in der Entmwicdelungsreihe zwiichen der Sonne und den 
Blaneten, diefen näher wie jener. Der gewaltige Körper ijt beftändig von einer 
dichten Atmofphäre umgeben, die ed niemals geftattet, einen Blick auf feine 
eigentliche Oberfläche zu werfen. Die beitändig, doch bei weiten nicht fo jchnell 
mie auf der Sonne, ihre Geftalt wechjelnden Wolfengebilde fcheinen auch beim 
Jupiter noch eigene Wärme und eigenes Licht auszuftrahlen. Cine Stelle diefer 
Wolkenoberfläche hat feit den legten Jahrzehnten die beſondere Aufmerkſamkeit 
der Aitronomen feitgehalten, der jogenannte rote Fleck. Ziemlich ſchnell, doch 
nicht mit Eataftrophenartiger Plößlichkeit, erichien diefe rotbraun leuchtende Stelle 
von etwa der Größe Europas und wanderte nun, abgefehen von der gemwühn- 
lichen lImdrehungsdauer des Planeten, die ſehr kurz, ca. zehn Stunden, ift, 
im Laufe der Jahre langſam erblafiend, vings um den Planeten herum. Man 
hatte gemeint, diefen roten Fleck als den Widerjchein von einem Vorgang auf 
der eigentlihen Oberfläche zu erklären, den die Wolfen auffingen. Man konnte 
fich beiſpielsweiſe vorftellen, diefe Oberfläche ſei ſchon von einer leidlich feiten, 
doch noch dünnen Krufte umgeben, die an jener Stelle wieder aufbrad), 


368 M. Wilhelm Meyer, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau. 


jodaß das glühend flüſſige Innere daraus Hervorgequollen fei. Aber die beob- 
achtete Wanderung des Flecks läßt diefe Erklärung nicht mehr zu. Es müſſen 
duch unbekannte Borgänge Maffen aus dem Innern des Planeten ausgefchleudert 
worden jein, die in den oberen Atmofphärenfcichten eine eigene Geſchwindigkeit 
durch die ausftoßende Kraft erhalten haben und mit diefer ihren Weg um den 
Planeten fortjegen. Aehnliches haben wir auch in unferer irdifchen Atmofphäre 
wahrgenommen, als durch den Ausbruch des Vulkanes Krakatoa in den Sunda— 
Inſeln im Fahre 1883 ungeheuere Mengen Staub in die höchſten Luftregionen 
emporgejchleudert waren, die dann Jahrzehnte lang und noch bis heute die Erde 
umfreifen, ung als „leuchtende Nachtwolken“ gelegentlich fichtbar werdend. Aller- 
dings können auf dem Supiter wohl kaum ſchon Vulkane thätig fein, da felbft 
eine feſte Oberfläche fich dort wahrjcheinlich nod nicht gebildet hat. Troßdem 
fönnen heftige Reaktionen des Innern gegen die Oberflächenſchichten ftattfinden, 
wie man dies aud) bei unferer Sonne wahrnimmt, die ganz gewiß noch Feine 
fefte Oberfläche befitt. Die Sonnenflede find in mehrfacher Hinficht mit diefem 
roten led auf dem Jupiter zu vergleichen. Auch fie treten meift ziemlich fchnell 
auf, um dann viel langſamer, allerdings duch ſchon nach Tagen, Wochen oder 
höchſtens Monaten, wieder zu verſchwinden. Auch fie bleiben nicht an derfelben 
Stelle der Sonnenoberfläce ftehen, und e3 ift bei ihnen gar fein Zweifel dar- 
über, daß die Urſache ihrer Entftehung in tieferen Regionen der Sonne zu fuchen 
ift. ebenfalls jehen wir es deutlid vor Augen, daß auf der Oberfläche des 
Jupiter noch verhältnismäßig große Unruhe herrſcht, da deren Anblid jelbft aus 
der ſchon recht großen Entfernung, die uns von ihm trennt, beftändigem Wechfel 
unterworfen ift, während wir beijpieläweife auf dem Mars bei jeder feiner 
Wiederfünfte in die günftige Lage für unfere Beobadhtung immer wieder die 
felben Flecken an genau derfelben Stelle feiner Oberfläche bemerken. Auf dem 
jugendlichen Jupiter haben fich die elementaren Naturgewalten noch nicht aus- 
geglihen. Sie kämpfen noch mit wilden Ungeftüm um den Plab, der ihnen im 
einer fünftigen Weltordnung diefes werdenden Himmelsförpers zu ruhigerer Mit- 
wirkung an feinen Entwidelungsfreisläufen zuerteilt werden wird. 

Auch injofern gleicht Yupiter der Sonne, ald er eine größere Anzahl von 
anderen Weltförpern in feften Bahnen, die feine Anziehungskraft diktiert, um fich 
Freijen läßt. Jupiter hat fünf Monde, von denen vier ganz anfehnliche Welt- 
förper von der Größenordnung des Merkur, alfo größer wie unſer Mond, oder 
dod in einem Falle ihm gleich find, während der fünfte, dem Planeten nächite, 
wieder nur ein ganz kleiner Weltkörper ift, der erit 1892 durch das damals 
größte Fernrohr der Welt zu entdeden war. Zwei ähnlich kleine Monde befitt 
bekanntlich auch der Mars, aber feinen größeren daneben, die Erde nur ihren 
einen verhältnismäßig großen Trabanten und die fonnennäheren beiden Planeten, 
wie jchon oben erwähnt, feinen Mond überhaupt. Jupiter ift die erfte Welt mit 


M, Wilhelm Meyer, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau. 369 


einer zahlreicheren Familie von Nebenkörpern, die ein Syſtem für ſich bilden. 
Aus unferer Entfernung gejehen, erjcheinen indes aud) jene größeren Monde nur 
al3 ganz Eleine Scheiben, auf denen nur mit Mühe zumeilen einiges Detail zu 
erfennen ift. Wir wiſſen aljo von ihrer Weltorganifation faſt garnichts. Aus 
geringen Schwankungen des Lichtwechjel3 ift zu entnehmen, daß fie eine Eigen: 
tümlichfeit unfere8 Mondes teilen, indem fie ihrem Planeten beftändig diefelbe 
Seite zufehren. Diefe Seite ift wegen der noch vorhandenen Strahlung des 
Jupiter aljo die bevorzugte. Es ift nicht ausgejchlofjen, daß hier noch die Be- 
dingungen für eine Lebensentfaltung vorhanden find, auch wenn fonft dieſe 
Monde ebenjo jchnelllebig gewejen wären wie der unfrige. Jupiter ift mehr als 
fünfmal weiter von der Sonne entfernt wie wir, und die ftrahlenden Wirkungen 
der Sonne auf ihn und feine Monde find deshalb etwa 27 mal geringer als 
bei und. Dafür aber fonnte eine lange Zeit hindurch der gewaltige Planet, 
der feine innere Glut nicht fo fchnell verlieren konnte wie etwa die Kleinere Erde, 
feinen Monden bie nötige Yebenswärme |penden, einer zweiten Sonne in feinem 
Syſtem vergleichbar, wenn auch fein Licht früher erlöfchen mußte wie das der 
Sonne. Hier befindet ſich alfo, wie es jcheint, wirklich ein Eleineres Planeten: 
ſyſtem in dem größeren, und wenn wir dad Schickſal des unfrigen, das 
unfere Erde zu teilen hat, verfolgen wollen, jo fönnen wir in diefem jchneller 
lebenden Eleineren Syfteme ein Zufunftsbild des unfrigen vermuten. 

Auf Jupiter folgt Saturn in der Reihenfolge der Sonnenabftände, und 
auch im Weſen ift er ihm am nächſten ftehend. Saturn ijt der zweitgrößte 
Planet des Syſtems; aud) auf jeiner Oberfläche gärt e8 noch unruhig, wenn: 
gleich man in diefer Hinficht wegen der großen Entfernung, die die der Erde vun 
der Sonne um das Neunfache übertrifft, nur felten bezügliche Einzelheiten zu 
erfennen vermag; auch er hat einen großen Hofjtaat von Trabanten um fid) 
verjammelt, deren Zahl ſich ſogar auf acht beläuft; wir haben in ihm eine ganz 
merkwürdig genaue Kopie des Sunnenfyftems vor und. Das Geltfamfte aber 
an ihm find feine Ringe, die ihn näher al3 der nächſte feiner Monde umtreijen 
und, wie ſchon gejagt, aus Myriaden von jelbftändig, wie allerkleinfte Monde, 
von der Größe eines Sonnenjtäubchens vielleicht, fich bewegenden Weltkörpern 
beftehen. Sie entjprehen in gemifjem Sinne der Anſammlung kosmiſchen 
Staubes, welche nad; der vorhin ausgeſprochenen Anficht das Zodiafallicht her— 
vorrufen. Allerdings erjcheinen die Ringe gegen den Saturn hin jcharf ab- 
gegrenzt, während das Zodiakallicht, wie es jcheint, gegen die Sonne hin ſolche 
Abgrenzung nicht befigt. Aber einerfeits ift es jehr ſchwer, wegen der Nähe ber 
blendenden Sonne folde Unterfuhungen am XTierkreislichte zu machen, und 
andererfeit3 zeigt es fich, daß au der Raum zwifchen der inneren Grenze der 
Ringe und der Saturnoberfläche nicht ganz frei von der Ringmaterie if. Man 
bat dort den fogenannten Schleierring entdedt, der wie ein leichter Hauch, ganz 


24 


370 M. Wilhelm Meyer, Die gemeinjamen Züge im Weltenbau. 


und gar dem Zodiafallicht vergleichbar, hier den Himmelsgrund bededt. Die im 
übrigen fcharfen Abgrenzungen der Saturnringe gegeneinander find, wie ich 
feinerzeit theoretiich nachweilen konnte, die notwendige Folge der beionderen An- 
ziehungen der größeren Trabanten auf dieje Eleineren, die den Ring ala Staub- 
wolten zufammenfeßen: Die Monde des Saturn halten feinen Ring in feiner 
gegenwärtigen Gejtalt zufammen. 

Ich habe diefes Ringſyſtem mit dem Tierkreislichte und nicht etwa mit 
dem Ring der kleinen Planeten zwifchen Mars und Jupiter verglichen, weil der 
eritere auf Eeinen Fall infolge einer Zujammenjtoß- oder anderen Kataſtrophe 
entftanden jein fann. Für diefe Annahme bei den Kleinen Planeten konnte auch 
der Umftand fprechen, daß jie meift jehr ercentrifche Bahnen befchreiben, die außerdem 
abjeit3 der allgemeinen Ebene liegen, um die fich die übrigen Planeten gruppieren. 
Es ift, als ob fie alle durch den vermuteten Zufammenftoß aus der urjprüng- 
lichen regelmäßigeren Bahn jenes angenommenen größeren Planeten hinaus— 
gejchleudert worden wären, deſſen Splitter fie nad) diefer Anficht find. Die 
Saturnringe aber zeigen folche Unregelmäßigkeiten nicht. Man bat feine um: 
fyummetrifhe Lage derielben zum Saturncentrum mit Sicherheit fonftatieren 
fönnen, und jie find in einer Ebene vergleichöweife jo dünn wie eine Papier— 
ſchicht ausgebreitet, in der ſich weiter außerhalb auch die übrigen Satelliten be 
wegen. Die Saturnringe müffen das Produft einer langfamen Entiwidelung oder 
Gruppierung der urfprünglichen Materie fein, aus der fi das ganze Syſtem 
gebildet bat, und ſehr wahrjcheinlich find fie gewiffermaßen embryonale Satelliten, 
die fich durch ganz langfanıen Zufammenfchluß der einzelnen Staubteilhen all- 
mählich aufbauen. 

Die Monde des Saturn find jehr verichieden groß. Der Eleinfte von 
ihnen fteht an der Grenze der Sichtbarkeit für uns; der größte aber erreicht 
nicht ganz die Größe des unfrigen. Jener Eleinfte befindet ſich in einer Lücke, 
die der der Heinen Planeten im Sonnenfvuften etwa entſpricht. Es ift möglich, daß 
man bier noch eine Anzahl anderer Monde entdeden würde, wenn die Kräfte 
unjerer Fernrohre dazu ausreichten. Der entferntefte Mond des Saturn, 
Japetus, ändert fein Licht in ganz auffälliger Weife mit feinem Umlauf um den 
Planeten. Befindet er fich mweftlih vom Hauptförper, ſo ift er in mittleren 
Fernrohren ganz gut zu jehen. Sein Licht nimmt aber nun mehr und mehr ab, 
je weiter ex fich dem öftlichen Teile feiner Bahn nähert, und ift jchließlih nur 
noch mit den beiten Sehwerkzeugen als verfchwindendes Lichtpünktchen zu er- 
fennen; von bier ab nimmt er dann wieder regelmäßig zu. Wir Haben ſchon 
früher erwähnt, daß man diefe Erfcheinung nur dadurch erklären kann, daß der 
Mond jehr verichiedene Oberflächenhälften befitt, die er während eines Umlaufes 
um den Planeten je einmal ung zuwendet. Much er kann alfo ebenjo wie unfer 
Mond feine eigene Umſchwungsbewegung bejißen. Bei feinem anderen Welt- 


M. Wilhelm Mever, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau. 371 


förper tritt dies im jo deutlicher Weije hervor wie bei diefem. Die übrigen 
Monde des Saturn zeigen indes gleichfalls Andeutungen, die auf diefelbe Be— 
wegungseigentümlichkeit fchließen lafjen, die das bejondere Attribut der Monde zu 
fein fcheint und dadurch dem ſonnennächſten und zugleich Eleinften Planeten 
Merkur eine Sonderftellung gewiffermaßen als Mond der Sonne einräumt.- 

Jenſeits des Saturn umfreifen die Sonne nod Uranus und Neptun, 
die wieder Fleiner find wie Jupiter und Saturn, jedoch größer wie die, eine 
bejondere Gruppe in jeder Dinficht bildenden, fogenannten inneren Planeten 
Merkur, Benus, Erde und Mars. Bon jenen fonnenfernften beiden Planeten 
willen wir nur fehr wenig. Man kann keine Detail3 mehr auf ihnen unter- 
icheiden. Uramus bejigt vier, Neptun, joviel wir wifjen, nur einen Mond. Die 
Satelliten des Uranus zeigen eine Eigentümlichkeit, die fie von allen andern 
Körpern des Sonnenſyſtems wejentlich unterfcheidet: Die Ebenen, in denen fie 
ih um ihren Hauptkörper bewegen, ftehen nahezu ſenkrecht auf jener allgemeinen 
Ebene, in der ſonſt alle Körper des Syſtems angeordnet jind. Entweder hat 
bier, an den Grenzen des Sonnenreiches, von außen her ein unbekannter 
jtörender Eingriff ftattgefunden, der, könnte er auch einmal der Erde paifieren, 
das ganze Getriebe der Naturwirkfungen auf ihr von Grund aus ändern 
und aljo einen Untergang der beftehenden Ordnung bedeuten müßte, oder es 
müffen bei der Bildung diefer Monde noch wejentlich andere Verhältniffe geherricht 
haben al3 in den inneren Regionen de Sonnenreiches. Hierfür fpricht auch der 
Umstand, daß der Mund des Neptun zwar in der Vlanetenebene, aber in ent- 
gegengejegter Richtung umläuft wie fonft alle permanenten Körper des Syſtems, 
die vierhundert Eleinen Planeten inbegriffen. Aber aucd hier kann ein und 
derjelbe von außen wirkende Eingriff die Bahnebene des der Urſache näheren 
Neptunmondes um volle 180°, die der Uranusmonde gleichzeitig nur um die 
Hälfte diefes Winkel gedreht haben. Je weiter wir uns von der Erdbahn ent 
fernen, je geheimnisvoller und fremdartiger treten uns die Weltkörper entgegen, 
welche dennoch zweifellos alle ein und denfelben Urſprung entweder aus oder 
gleichzeitig mit dem Gentralgejtirn gehabt haben. 

Diefe Sonne im Mittelpunfte überwiegt alle anderen Körper ihres 
Syftem3 bei weiten an Mafje, das heißt an Kraft, mit der fie nicht nur diefe 
Körper regiert, ſondern auch unausgefett mit den Wohlthaten ihres Lichtes und 
ihrer Wärme überjchüttet, ohne welche das Leben nicht möglich wäre. Eine ganz 
unermeßliche Lebenskraft erfüllt ihren ungeheueren Körper, der im Durchmeſſer 
108 mal, in feinem Förperinhalt 1'/, Millionen mal größer ift als unfer irdiicher 
Planet, der ja beinahe jchon uns Menjchen zu Elein zu werden begimit. 
Freilich ift die Maſſe weniger dicht in diefer ftrahlenden Kugel verteilt, aber man 
würde doch immerhin mehr als dreihundert Erdfugeln aus dem Stoffe der 
Sonne formen fünnen. 


24° 


372 M. Wilhelm Meder, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau. 


Auf der Sonne herricht ohne Zweifel eine ungehenere Hitze, die wir auf der 
Erde auch nidt in kleinem Umfange annähernd hervorbringen fönnen. Denn 
das Speftrojfop lehrt uns, daß dort die Metalle als glühende Dämpfe eine 
Atmoſphäre bilden wie bei und der Waflerdampf, der Sauerjtoff und der Stid- 
ftoff, welche beiden letzteren Gaje jchon bei einer Temperatur um — 200° 
berum flüchtig werden, während beijpieläweile Eijen, das in ungeheueren Mengen 
in Woltenform die Sonne umſchwebt, bei + 3000° noch gar feine Miene mad, 
in Dampfform übergehen zu wollen. Nur in der gewaltigen Energie des elef- 
triſchen Flammenbogens werden minimale Mengen der Metalle mit losgerijjen 
und dabei offenbar größeren Temperaturen ausgefett, ald wir fie noch meſſen 
fönnen. Hier zeigen dann im unendlich feinfühligen Spektroffope diefe Metalle 
die Speftrallinien, welche fie nur im dampfförmigen Zuftande befiten, und die 
Uebereinjtimmung diefer Linien mit denen im Sonnenfpettrum bemeift uns ihr 
Borhandenjein auf dem Centralkörper, der in chemifcher Dinficht eine ganz ähn- 
liche Zufammenfegung verrät wie die Erde. Sie find beide aus demjelben Stoffe 
gemadt. Man hat deshalb die Sonne für die Mutter der Erde und der übrigen 
Blaneten angejehen. 

Die wahre Temperatur der Sonne zu bejtimmen, begegnet großen Schwierig: 
keiten. Man hatte früher jelbit für ihre Oberfläche, die ja jedenfall ganz be- 
deutend Eälter jein muß wie ihr Inneres, ganz enorme Temperaturen gefunden, 
die fi nad; Hunderttaujenden von Graden bezifferten. Die neueren, von ganz 
verfchiedenen Gefichtspunften aus geführten Unterfuhungen laufen alle auf 
wejentlich geringere Temperaturen, etwa zwijchen ſechs und achttaufend Centi- 
gerade hinaus. Wegen des Drudes der überliegenden Schichten muß indes ganz 
ebenjo, wie wir es beim Cindringen in die Erdkruſte wahrnehmen, fich die 
Sonnenwärme in hohem Make jteigern. Nach neueren theoretijchen Unter: 
ſuchungen von Efholm ergiebt fich die mittlere Temperatur der gefamten Sonnen: 
mafje zwiichen 4 und 200 Millionen Graden. 

Aufgejpeicherte Wärme oder Arbeitsvorrat iſt dasjelbe. Wie wir in den 
Dampfmaſchinen die Wärme zur Arbeit verwenden, jo thut es die Natur in 
ihren lebendigen und Ieblofen Mafchinen in noch viel volllommmerem Maße. 
Außer der allgemeinen Anziehungskraft der Mafjen, welche die großen Bewegungen 
der Weltförper regieren, wird alle Arbeit in der Welt von derjenigen geheimnis- 
vollen Wirkung zwifchen den Eleinften Teilen der Materie ausgeführt, die wir im 
weitelten Sinne als Wärme bezeichnen können, da alle diefe fogenannten moleku— 
laren Bewegungen, mögen fie nun als Licht, Elektrizität oder in irgend einer 
anderen Form für und in die Erjcheinung treten, jih in Wärme verwandeln 
laſſen. Ausführliches über dieje Beziehungen fann man in meinem demnädjit im 
Berlage des Bibliographiihen Inſtituts in Leipzig ericheinenden umfangreicheren 
Werke „Die Naturkräfte“ nadlejen. Der ungeheuere Wärmegrad der Sonne 


M. Wilhelm Meyer, Die gemeinjamen Züge im Weltenbau. 373 


beziffert alfo ihre Arbeitskraft, die fie noch in das Weltall hinauszuftrahlen vermag. 
Ya, theoretifche Betrachtungen haben es ziemlich fiher gemacht, daß die Sonne, 
trotzdem jte beftändig enorme Mengen von Wärme in einen Weltenraum hinaus 
ftrömen läßt, deſſen Temperatur nicht viel über dem fogenannten abfoluten Null» 
punkt, — 273, liegt, noch beftändig heißer wird. 

Bon diefer Sonnenftrahlung empfangen die Planeten nur einen ganz mini- 
malen Teil. Nur foviel können fie ja offenbar davon auffangen, als die Planeten, 
von der Sonne aus gefehen, von der ganzen Oberfläche des jcheinbaren Firma— 
mentes bededen, und das ift im mefentlichen nicht mehr, als die Planetenjterne 
auch von unjerm Himmelsgewölbe wegnehmen. Es iſt leicht auszurechnen, daß 
died nur den 229 millionjten Teil der ganzen Sonnenfraft ausmacht; die Erde 
aber empfängt hiervon wiederum noch nidyt den zehnten Teil. Und doch mird 
von dieſem verichwindenden Bruchteil der Sonnenkraft unfere ganze atmo- 
Iphärifche Mafchine in Bewegung erhalten, werden in jeder Sekunde Millionen 
von Kubikmetern Wafler zu den Wolfen emporgehoben und zwilchen den Zonen 
fort transportiert, und alle Flüffe ftrömen nur durd fie. Welche Aufgaben jener 
Hauptteil der Sunnentraft, der fich Scheinbar im leeren Weltraum verliert, bier 
zu erfüllen bat, das wiſſen wir nicht; jener Tropfen aber aus einem Meere von 
Kraft, der uns feit Jahrmillionen in ununterbrodenem Strome zufließt, hat all 
das Leben gefchaffen und erhalten, das die Erde durch den Wechjel der geologischen 
Zeitalter trug, und wird all das zukünftige Leben jchaffen. 

Infolge der ganz ungeheueren Temperaturdifferenz zwilchen der Oberfläche 
der Sonne und ihrem Innern finden in ihrem Körper beftändige Strönnngen 
ftatt, die den Ausgleich hervorzubringen ftreben. Diefe Strömungen find Die 
Urfache der großartigen Borgänge, die mir täglich” aus einer Entfernung von 
zwanzig Millionen Meilen wahrnehmen, oft ſogar mit unbewaffnetem Auge: 
Sonnenflede entitehen zuweilen in wenigen Tagen in ganzen Gruppen, die einen be- 
trächtlichen Teil des Sonnenumfangs ſcharenweiſe überdeden und die betreffenden 
Atmofphärenichichten in wirbelnde Bewegung verjegen. Mehr und mehr zeigt 
ed ſich, daß dieje Sonnenflede im Wefen volllommen mit unfern irdifchen 
Eyflonen zu vergleichen find, die ja auch ihre Entftehung Temperaturdifferenzen 
verdanken. Wir fehen oft fehr deutlich die Wirbel- und Trichterform der Sonnen- 
Hefe und Eonftatieren, daß fie mit beträchtlichen Geichwindigkeiten über. die 
Sonnenoberflähe dahinrafen. Sie zeigen eine deutliche Periode von elf Jahren, 
in denen fie häufiger auftreten. Wir haben in der Vergleichbarkeit der Bewe— 
gungen in der Sonnen= und der Erdatmofphäre eine der jo ungemein merkwür— 
digen Parallelen der Naturthätigkeit vor ung, die uns zeigen, daß alles Natur- 
geschehen aus einheitlichen Uriachen, ein und derjelben aroßen Geſetzlichkeit ent- 
ipringt, die fih in allen Stufen der Naturentjaltung durch wefentlich gleiche 
Erjcheinungen offenbart, mögen fie nun in molekularen Dimenfionen oder auf 


374 M. Wilhelm Mener, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau. 


Weltförpern auftreten. Dort auf der Sonne haben ſich ertreme Temperaturen 
auszugleihen. Die Natur nimmt dazu Wolfen aus Eifen: und Silberdampf, 
die fie in unvorftellbar gewaltigen Stürmen durceinanderpeiticht; bier unten 
genügt ihr zu demjelben Zwecke das Wafjer, welches ſchon bei 100 ° verdampft. 
Dennod; würde zum Betjpiel ein Beobachter auf dem Mars gelegentlich ſpiralige 
Gebilde über Erdftriche binziehen fehen, die ein ganz ähnliches Ausfehen wie die 
Sonnenflede zeigen. Schluß folgt.) 
& 


Marſch der Seekadetten. 


AD"®: AMarfch! Adarfch! Adarfch! 

Und kommen zu Land Die 
Kadetten, 

So gebt ein Gekicber am Rain: 

Die Blumen, die ſchlanken und netten, 

Die Ranken, Lianen und Kletten, 

Als wenn fle Röckchen bätten, 

Rundum, waldaus, waldein, 

beben und beugen fi fein, 

Marſch! 


Und ſeht Ihr nicht, und ſeht Ihr nicht, 
Und febt Ihr am Bitter Das 
Blumengeficht 
Und febt in der Laube Das zweite? 
Marſch! Marſch! Marſch! Marſch! 
Unglaublich, wie der Mat verfchönt, 
Wenn man, ans graue Weer gewöbnt 
Und von dem Salzwind braun gewebt, 
Durch Mädels und Durch Blumen gebt, 
Als gaing’s zu Ball und Freite! 
Marfch! Marſch! Adarfch! Adarfch! 
Voraus, was geb’n uns Blumen an? 
Wir find des Kaifers, Adann für dann, 
Wir brauchen kein Geleite! 
Marſch! 


Doc balt, Doch halt, eins tbät’ mir leid: 
Weifz auch die Kleine am Gitter 
Bon deutfcher Flotte lebendig Beſcheid 


Und träumt nicht von Drachen und 
Ritter? 

Tot find die Ritter, die Drachen befiegt! 

Doch unfer eiferner Drace fliegt 


Mit jungen Rittern in Flammengetos 


Buf andere Drachen lebendig los! 
Das foll fie wiffen, Das Blumenkind, 
Und morgen, wie balt die Mädels find, 
Dlaudert fie weiter und wiſpert's 
umber — 
Achtung fchafft fie dem deutfchen Adeer! 
Marſch! 


Und wenn Freund Hans der Zweitc 
wär’, 
So könnt’ er der Zweiten dDabinten 
Den Elmsblit3 und dergleichen Bär’ 
Aufg reizende Mäschen binden. 
Freund — lafz die and’ren zum 
Trunke geb’'n! 
Marſch! Marſch! Marſch! Marſch! 
Uns zwei laſz ſtramm auf Poſten fteb’'n; 
Wir müffen in Gitter und Geisblatt 
fein, 
Der Flotte zu nutz, zu Gafte fein! 
Adarfch! Marſch! Marſch! Marſch! 


Und kommen zwei junge Kadetten, 
50 gebt ein Gekichber am Rain — 


Marſch — — 
fritz Lienbarb. 


FSIESIESIESIESIESIESIESIESIEDIESIFDIESIEDIESIESIESIESIE SIE DIE SIESITDIE DIT DIDI 3173) 





Der engliihe Zwilchenhandel als Deuticdtenfeind. 
Von 
Alexander von Peez. 


D: feftländifche Reifende, der nad England fommt, macht gern ben Ausflug 
durch die London Dods; er blidt verblüfft in die jchier unabfehbar langen 
Keller und ftaunt über die Zahl und Höhe der Speicher und die Stärke und 
Bequemlichkeit dev Ladeporrichtungen. Dies Bild des Welthandeld ift ftets 
anziehend für den Beſchauer, aber in den jeltenjten Fällen ahnt letterer, daß ein 
gut Teil des vor ihm entfalteten Getriebes vom Safte der eigenen Heimat des 
Reifenden genährt und mur duch eine Fluge Politit an die Geftade Groß— 
britanniens verfekt jei. 

„England ift als eine große Niederlage für Europa zu betrachten,“ jchrieb 
vor fünfzig Jahren ber engliiche Statitifer Porter. England war, damals noch 
weit mehr wie heute, der in die See vorgefchobene Bolten Europas, welchem aus 
Amerika, Afien, Afrifa und Auftralien die Waren zuftrömten, hier auf Land 
famen und in den englifchen Borratshäufern abgelagert wurden, um dann ent- 
weder in den eigenen Verbraud; Großbritanniens zu gelangen oder aber zur 
Weiterverjchiffung und zum Verkaufe an die europäifchen Länder hergerichtet, 
verteilt und verjendet zu werden. An die Berforgung des großen eigenen Marktes 
lehnte ſich jolchergeftalt ein mächtiger Zwifchenhandel. Der lektere mar eine be- 
deutende Quelle des englifchen Wohlftandes. Er nährte Schiffahrt, Seeverficherung, 
Dafenanlagen, Warenjpeicher, Transportwejen, Kreditgeſchäfte und zahllofe damit 
verbundene Arbeitäleiftungen. Die meilenweit an Themje und Merfey u. a. fi 
eritredenden Yagerpläße warfen den Grundeignern, meiſt Mitgliedern des hoben 
Adels, bedeutende Gewinne ab. Der Zwiſchenhandel, jtetig wachjend, verwohl— 
feilte den Bezug der überſeeiſchen Rohftoffe für den engliichen Induftriellen. Wenn 
der leßtere noch in manchen Zweigen bejonders gute Waren liefert, jo verdankt 
er das zu nicht geringem Zeile dem reich ausgeftatteten, mit allen Qualitäten 
und Spezialitäten verfehenen Markte. In der Megel behielt die englifche In— 
duftrie das Neuefte und Beite für fih. Der andere Teil ging auf den Kontinent, 
wobei der engliihe Verkäufer durch Kreditgebung, oft auch durch Mifchung, kurz 
durch die jogenannte „Warenmanipulation” und, wie zu vermuten ift, durch früh 


376 Ulerander von Peez, Der engliſche Zwiſchenhandel als Deutfchenfeind. 


ichon auftretende Truſts und geheime Berabredungen über Preife vom Feitlande 
hohe und fehr fichere Gewinne nahm. Nun, mehr oder weniger liegt das alles 
in der Natur des Handels und zumal des Zwijchenhandels. 

Nicht in der Natur des Handels aber lag die Notwendigkeit, daß dies Ver— 
hältnis zwiſchen England und dem Stontinente ewig dauern müſſe. Es war ja 
doh im Grunde ein Fünftliches. Es Hatte ſich vorzugsmeife entwidelt in einer 
Zeit, da das Feitland durch die napoleonischen Kriege zerrüttet war, während die 
meerbeherrfchende Inſel Albion in ftolzer Sicherheit ihre pruduftiven Kräfte aus- 
bildete und wie ein Eiland des Friedens den Welthandel bei ſich fammelte, jedoch 
nicht ohne vorfichtig genährten Krieg nach Deutfchland, Defterreich, Italien, 
Rußland und Spanien zu tragen. Diefer Zuftand war in die Friedenszeiten 
nad) 1815 hinein geblieben, da die Völker des Kontinents ſich mühfam von den 
Folgen zwanzigjähriger Kämpfe erholten, und ihre Leiter, unfundig des Welt- 
bandels, in Eleinlichen Dingen jich erichöpften. Aber mit dem Jahre 1848 
begann die Nenderung. Die Bölfer fingen an, größeren Einfluß auf ihre 
eigenen Angelegenheiten zu gewinnen. Die Induſtrie des europäiichen Feſt— 
landes bob fid), der Bedarf an fremden Waren ftieg, an der Auswanderung 
rankte ſich ſchon die einheimische Schiffahrt empor. Und damit war die Zeit ge- 
fommen, wo man fich in Deutichland und namentlich den Hanfeftädten fragte, 
warum denn die überjeeiichen Waren, wie erichöpft einfallende Zugvögel, erft auf 
einer fremden Inſel abfteigen und ſich rupfen laffen müßten, während fie doch in 
kürzerer Zeit und mit geringeren Spefen belaftet in die Häfen der Verbrauchs— 
länder gelangen könnten? Jeder Blid auf die Karte zeigt, daß nicht London oder 
Liverpool, fondern die belgischen, holländiſchen und hanſiſchen Häfen die größere 
Eignung zur Verforgung Mitteleuropas mit Waren des Weltmarktes befigen. 
Antwerpen, Rotterdam, Amfterdam, Emden, Bremen, Hamburg — das find die 
natürlihen Stapelpläte für unferen Zwiſchenhandel. Bon ihnen ftüßen fich die 
belgifhen und holländiſchen Häfen auf eiu dichtbevölfertes, induftriereiches Hinter- 
land, welches durch die vorzügliche Wafjerftraße des Rheinſtromes fich bis Mann- 
heim erftredt; fie find jedocd durch politifche und Zollichranten vom eigentlichen 
Mitteleuropa getrennt. Emden erwacht durd; den Dortmund-Emskanal zu neuem 
Leben. Bremen ift Wejerhafen und pflegt mit erfolgreiher Sorgfalt den Ber- 
jonenverfehr und gewiſſe Spezialitäten des Welthandels. Bon allen diefen Häfen 
jedoch der mächtigfte und zukunftsreichfte ift Hamburg, welches aus diefem Grunde 
auch von England mit wenigit günftigen Bliden angejehen wird. 

Je tiefer eingefchnitten die Bucht, an welcher ein Hafen liegt, in den Kon— 
tinent ift, je gewerbreicher fein Hinterland und je bejjere Verkehrswege feinen 
Einfluß in das PBinnenland hinein erweitern und erftreden, um jo mehr Aus- 
lichten des Gedeihens! Bei Hamburg treffen alle diefe Umftände zufammen. Bier, 
an dem Miündimgsgebiete der Elbe, ift der Endpunkt der wohlfeilen direften Fahrt 


Alexander von Peez, Der englifhe Zwijchenbandel ala Deutjchenfeind. 377 


der großen, von Weberjee fommenden Dampfer, da die cimbrifche Halbinfel die 
Weiterfahrt der durch das deutfche Meer herankommenden Schiffe verwehrt. Ohne 
die cimbrifche Halbinjel würden die Dftjeehäfen, würden Lübed, Stettin, Danzig, 
Riga einen größeren Anteil am atlantiſchen Welthandel haben, den jet Hamburg 
für fie ausübt. Der Kaifer Wilhelm-Kanal Eonute nur zu einem Eleinen Teile 
die Konkurrenzbedingungen ausgleichen. So ift Hamburg ber vorherrichende 
Stapelplat für die deutichen Oftfeeländer, für das nördliche Rußland und große 
Teile der ſkandinaviſchen Halbinjel. Außerdem aber und vor allem ift es der 
Hafen der deutfchen Mittelländer und erftredt feine Verbindungen vermittelt der 
guten Wafferftraße der Elbe durch das gemwerbereiche Sachſen (ſowohl Provinz 
wie Königreich) nad) Böhmen, Mähren bis Wien, ja darüber hinaus. So wurden 
Hamburg und Bremen die Site der großen deutſchen Dampfergefellichaften; die 
beiden Hanfeftädte der Nordſee bilden die bdiesfeitigen Pfeiler der Brüde über 
den Ozean, deren jenjeitiger Pfeiler in New York fteht. 

Sobald daher Deutihland nah Erringung feiner Einigung feine (haffenden 
Kräfte auszubilden begann und aufhörte, da3 Schlachtfeld Europas und ber 
Tummelplatz für alle möglichen diplomatiſchen Machenſchaften zu fein, entftand 
ein natürliher Zug des Zwiſchenhandels von den englifchen Küften direft nad) 
den Geftaden Mitteleuropas. Hamburg und Bremen erkannten die Konjunktur. 
Noch rechtzeitig gaben fie das Freihafenfyftem auf und wurden aus Brüdenköpfen 
Englands zu Vorburgen des Deutjchen Reiches, aus Einfuhrfaufleuten auch zu 
Ausfuhrkaufleuten, aus Kleinverjchleißern mit Waren aus England zu Groß: 
bändlern direft mit Ueberſee. Inmitten diefer Entwidlung befinden mir uns 
noch jet. 

Daß England alles verloren hätte, was die Hanjeftädte gewannen, das ift 
nicht der Fall. Vieles von der Zunahme bes hanfiichen Handels ift auf Rechnung 
der allgemeinen Verkehrszunahme zu ſetzen. Den Engländern bleibt vor allem 
dauernd die Berforgung des eigenen ungeheueren Marktes. Dann aber zeigt auch 
ihr Zwiſchenhandel nach dem Feſtlande faum eine Abnahme. Er ift jedoch, nad): 
dem er ein Jahrhundert lang gewachſen, zum Gtillftande gefommen. Das 
gewaltige englische Kapital mit feinem billigen Zins, die alte Gewohnheit, die 
den Preis verbilligende, an den Landesverbrauch angelehnte mächtige Beſchickung 
des Marktes und der große Umſatz halten — gegen die Geographie — noch einen 
Teil des Zwiſchenhandels in den englifhen Häfen feft. Allein die Engländer 
wiſſen recht gut, daß ihr Kampf wenig Ausfiht auf dauernden Erfolg hat und, 
wenn nicht wieder dad europäilche Feitland in die beliebte Selbſtzerfleiſchung 
durch Kriege verfällt, der Kontinent feine Sade in die eigene Hand nehmen und 
den Handel mit Ueberſee felbft bejorgen wird. 

Mit dem Zwifchenhandel geht Hand in Hand der Perfonenverkehr und die 
Dampfichiffahrt, fomweit fie dem Berfonenverfehre dient. Beide haben fich von 


378 Alerander von Peez, Der engliſche Zwiſchenhandel als Deutſchenfeind. 


England frei gemadt. Der Aufihwung der mächtigen Dampfergejellichaiten 
von Bremen und Hamburg findet in diefer Thatfache ihren Ausdrud. 

Day ınan in England dieje ganze Entwidlung jehr mit Mißfallen gejehen 
bat, darf und nicht befremden. Wer verzichtete denn gern auf eine faft mono: 
poliftifche Stellung im Handel? Die „in der See thronende Königin“ bemerfte 
den Abfall ganzer Länder, die jeit unvordenflicher Zeit ihr gehuldigt und Tribut 
geleiftet, und fie beichloß, ınit allen Kräften zu kämpfen, um weiteren Abfall zu 
verhindern und wo möglicd die jchun begonnene Rebellion niederzumerfen. 

Seit den Tagen ber Phönifer war gerade der Zwiichenhandel in der Wahl 
feiner Mittel am mwenigften mwähleriih. Die Gefchichte von Sidon, Tyrus und 
Karthago ift mit Blut und Gewaltthat erfüllt, und auch die Hanſen wie die 
Holländer waren in der Zeit ihrer Herrichaft ı14.—17. Jahrhundert) nicht durch 
aus den Lehren de3 praftijchen Ehriftentums zugethban. Als daher die englifchen 
Kaufleute zu Ende des 20. Jahrhunderts die Zügel der Derrichaft ihren Händen 
entgleiten ſahen, erinnerten fie ſich, daß ihre frühere Ueberlegenheit keineswegs 
das ausfchließliche Ergebnis ihrer Thatkraft und Weisheit, fondern zu gutem 
Zeile auch ein Find von ſtrieg, Seeraub und politischen Künſten aller Art geweſen 
fei. Hatten fie doch eben jenen Zwiſchenhandel dereinft den Hanſen und 
Holländern abgerungen, und zwar abgerungen nicht in der Schreibftube, mit dem 
Rechenbrett und der Tinte, jondern mit Waffen und Blut im zahlreichen 
Schlachten zu Land und zu Waller! Da lag nun der Gedanke nicht allzu fern, 
e3 jei das durch Gewalt Erworbene auch durch Gewalt feitzubalten. Zu jener 
Zeit, es war das lette Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts, erfchienen in Eng- 
land jene wohlvorbereiteten und zielbewußten Angriffe auf Deutichland und die 
Deutichen, wie jie namentlich in der im Jahre 1896 herausgegebenen Schrift von 
Williams „Made in Germany“ enthalten find. Was die Schrift nicht geradezu 
berausiagte, ergänzte die Tagespreſſe. Die Stimmung fand ihren bezeichnendjten 
Ausdrud in dem befannten Worte eines verbreiteten engliichen Blattes: „Kein 
Engländer lebt, für den nicht der Niedergang des Deutſchen Reiches einen Zur 
wachs an Vermögen bringen würde.“ In jener Zeit war es, daß in ſehr ernit 
zu nehmenden deutichen Marinefreiien ein Angriffsfrieg und zwar ein lleberfall 
von ſeiten Englands für. durchaus möglid; erachtet wurde. Wie immer ein 
jolcher Krieg ausgefallen wäre, ficher ift, daß er unermeßlihen Schaden ange: 
richtet, aber doch feinen Zweck verfehlt hätte. Einen jungen Riejen bringt man 
nicht durch Fauftichläge um. Deutichland ſaß jchon zu feſt im Sattel, und ein 
ungerecht aufgedrungener Krieg hätte nur zu einer ftärferen moraliſchen und 
phyſiſchen Zuſammenfaſſung der Kräfte geführt, und eine Reihe jugendlicher 
Mikgriffe und zänkiſcher Schrullen, wie fie eben bei jungen Rieſen vorkommen, 
wäre dem deutichen Wolfe eripart geblieben. Glücklich jedoch für beide Teile, 
daß es nicht zu einem jolchen Kriege fam! Das Wideritreben der Königin und 


Alerander von Peez, Der engliiche Zwiſchenhandel als Deutjchenfeind. 379 


ihres erfahrenften Ratgebers, ſowie die rechtliche Gefinnung des Kernes des 
englifhen Volkes verhüteten den Ausbrud, und fpäter nahın der lange geplante 
Kampf gegen die Holländer in Afrika das Intereſſe Englands völlig in Anfprud. 

Aber ſehr nachteilig wirkten jene Pamphlete doh. Sie verbitterten Die 
Stimmung. In Deutfchland hatten viele an ben FFreihandel als dauernde 
ideale Einrichtung, ja ald an eine zukünftige Weltpolitit geglaubt. Man 
ſchwärmte für Baſtiats „Harmonie der Intereſſen“. Und jekt mußte man jehen, 
wie die Verfündiger und Lehrer des Freihandels die erfte ernftliche Prüfung 
nicht beftanden und abſchwenkten. Die Lämmer, die, der Theorie nad, den 
mühſam nadjftrebenden Genofjen ermutigend umblöfen follten, verwanbelten ſich 
in der Praris in reißende Wölfe, welche über die armen Lämmer herfielen, die 
fih den weitgefpannten Weidegründen des erbgejejlenen Freihandelspropheten 
näherten. Das gab im grübelnden Deutichland viel zu denken. Man wurde an 
Lehre umd Lehrern irre und erividerte Mißgunft mit Ungunft. Manche Keime zu 
der während des Burenfrieges zum Ausbruch gelangten tiefen Verftimmung 
gegen England wurden auf handelspolitiichem Felde ausgejät und durd die mehr- 
jah erwähnten Pamphlete gefräftigt. Ein Volk, wie der Einzelne, muß eben 
jeine Erfahrungen machen, und Großbritannien war, durch die Schidjale ver- 
mwöhnt, zu weit voraus und Deutichland ſeit dem Dreißigjährigen Kriege zu weit 
zurüdgeblieben, als daß nicht der Ausgleich ein ſchwieriger wäre und ſich anders 
als unter Gemitterericheinungen vollziehen könnte. 

Man hat zumeilt die Duelle der englifhen Angriffe auf Deutichland in der 
Induſtrie gefucht. Ach glaube, daß man fi darin geirrt hat. Gewiß, aud die 
englifhe Anduftrie war durch das Ericheinen deutfcher Gewerbswaren auf den 
Märkten Großbritanniens unangenehm überrafht. Beſonders für Sheffield, den 
Sit der englifchen Kleineiſeninduſtrie war das Bordringen der Solinger und 
Remſcheider Konkurrenten jehr empfindlich, und Sir Pincent, der Bertreter 
Sheffields im Parlamente, gilt als Urheber des Gejetes, welches zur Angabe des 
Deutfchen Reiches als Uriprungsland auf Fabrikaten verpflichtete. Aber die 
Industrie hat ſich doc einigermaßen mit dem deutichen Wettbewerb abgefunden. 
Als ihre Werkftätten troß alledem in vollem Betriebe blieben, und die Schorn- 
fteine nicht weniger Rauchmwolfen als früher aus ihren Eſſen ſpieen, zog man 
mildere Saiten auf. Auch haben die engliihen Stapelartifel bis jett noch nicht 
gelitten. Ihr Preis mag bier und da gedrüdt worden fein, weniger ihr Abſatz, 
und der induftrielle Aufſchwung Deutichlands brachte doch auch beträchtliche 
Beitellungen (Mafchinen, Dampfer, SKriegsichiffe, Konfektionswaren) nad) Eng: 
land. Im Wefen der Ynduftrie, folange fie nicht vertruftet ift, liegt lange Feind 
ihaft nit. So kamen die fchärfften Angriffe gegen Deutjchland nicht aus 
Mancefter oder Glasgow oder Hudderäfield, fondern aus London und zwar 
befonders aus den Freifen der Londoner Handelöfammer, welcher auch Herr 


380 Ulerander von Peez, Der englifche Zwiſchenhandel als Deutjchenfeind. 


Williams, der Verfaſſer des „Made in Germany“ nahe fteht. In London 
fonzentrieren ſich aber die Intereſſen des Handels mehr, als die Antereffen der 
Induſtrie. ES ift daher durchaus wahrjcheinlich, daß der engliſche Handel, 
bejonderd der Zmijchenhandel und die damit verbundenen Schiffahrtsinterejien, 
die eigentliche Triebkraft für die wirtfchaftliche Feindichaft Großbritanniens gegen 
das Deutiche Reich gebildet haben. Auf diefe Quelle ift man bisher nicht auf: 
merfjam geworden, da der Zwifchenhandel, jeine Unvolfstümlichkeit wohl kennend, 
fih gerne maskiert. Man wird wohlthun, diejen Gegner genau im Auge zu 
behalten, der um fo unerbittlicher fein dürfte, als es für ihn feinen Ausgleich 
giebt. Hält die friedliche Entwidlung Mitteleuropas an, fo wird der Zwiſchen— 
handel der Station England durch den unmittelbaren Verkehr der Nordjeehäfen 
mit Ueberjee mehr und mehr den Boden verlieren und allmählich verſiechen, 
während allerdings ein Krieg oder, beſſer noch, eine Periode von Kriegen, wie fie 
unjere Großpäter zu Napoleons Zeit erlebt haben, den englischen Zwifchenhandel 
neu beleben und die monopoliftiiche Cage Englands als der „glüdlichen Inſel 
des Friedens“ wieder heritellen würde. 

Die Gefahr, daß Englands Diplomatie, wie jie oft gethan, einen ſolchen 
Krieg entzünde, ift indefjen in neuefter Zeit etwas geringer geworden durd) das 
Auftreten einer dritten Macht auf dem Plane des Welthandels, — der Ber- 
einigten Staaten von Nordamerika! Diefe find es, welche beiden, Engländern 
wie Deutjchen, jo viel zu denken und zu fchaffen machen werden, daß ihre Gegner- 
Schaft ımtereinander über der größeren amerikaniſchen Gefahr zurüdtreten mag. 


16 
Auf füdlichbem Meere. 


ilbern des Abondes Leuchten Leichte Wiälkchen nur flieben 
Liegt auf Dem weiten Weer, Ueber den bimmel gefhbwind, 


Ueber die alitzernden, feuchten MBenfcbengedanken, fie zieben 
Tiefen ſchimmert cs ber, Schneller als Wolken und Wind. 
Wie von taufend und taufend Eb’ noch die Schatten entſchweben 
Lichtern ein glänzender Steg Ueber der feurigen Glut, 
Unter dem kiele, der braufend Sch ich ſichs regen und beben 
Teilt den flüffigen "Weg. Aus der nächtlichen Flut. 
Geifter der Tiefe entfteigen Dieder zur Tiefe gezogen, 
Rings der funkelnden See, Gleiten fie näber beran; 
Spielend in wonnigem Reigen, Selige Geifter der Mogen, 
Auf zur fchäumenden böb, Eilet uns fcbirmend voran. 


Karl Dovrc. 


MHHHEHEHEHEH HEHE NS 


Die künftige wirtichaftlihe Bedeutung Südwestafrikas für Deutſchland. 


Von 
Karl Dove. 


er erjte Abjchnitt der deutſchen Kolonialgefchichte nähert ſich feinem Ende. 

Wie drüben über dem Meere der Zeit äußerer Madıtentfaltung friedlichere 
Tage folgten, jo ift aud in der Heimat der Begeifterung der achtziger Jahre 
reifliches Ueberlegen und eine ruhige Abſchätzung wirtihaftlicher Ausfichten gefolgt. 
Gleichwohl giebt es neben den rein faufmännifchen Gefichtspunften, die in erfter 
Linie bei der Beurteilung der Schußgebiete beachtet werden jollten, auch ſolche 
idealer Natur, Ideale, deren Verwirflihung wir von mehreren unjerer Kolonieen 
erwarten; die Aufgabe dieſes Auffates wird es fein, auch einiger von diejen zu 
gedenken. Wenn jie anders ausjchauen als die Träume von billigen Sieges— 
lorbeeren und von gligernden Sternden, dic jelbjt jett noch das Hirn mandjes 
angehenden Afrikaners bejchäftigen, fo liegt dies daran, daß, dem Himmel jei 
Dank, überall in unferem Vaterlande ein gemwifjer ſachlicher Ernit in der Be- 
handlung Eolonialer Fragen den ehedem übermäßig fich breit machenden, bisweilen 
ans Kindische ftreifenden Dilettantismus zu verdrängen beginnt, der zu den 
Sugendkrankheiten aller wirtſchaftlichen Neuarbeit zu gehören ſcheint. Immerhin 
ift es aber nod immer nötig, den jchwärmerifchen Anfchauungen entgegenzu— 
treten, nach denen wir in Südweltafrifa ein Land befigen jollten, geeignet zur 
Aufnahme all jener Maſſen, welche alljährlich das Vaterland verlafjen, um ſich 
jenfeit3 des Ozeans eine neue Heimat zu juchen. Solden und ähnlichen Vor: 
jtellungen mit Nachdruck entgegenzutreten ift Pflicht eines jeden, der die Steppen 
diefer Länder aus eigener Erfahrung kennen lernte. 

Anderthalbmal größer ald das Deutſche Reich breitet ſich das ſüdweſt— 
afrikanische Hochland zu beiden Seiten des Wendekreijes aus, infolge feiner durch— 
ſchnittlich unfern höchſten Mittelgebirgsgipfeln gleichfommenden Erhebung über 
den Meeresipiegel in der That zum größten Teile ein für dauernden Aufenthalt 
des Europäers geeignetes Gebiet. Die Krankheiten, welche in den legten Jahren 
auch unter den Weißen in der Kolonie eine Anzahl Todesfälle zur Folge hatten, 
dürfen uns feine allzu große Bejorgnis einflößen. Handelte es fich doch nicht 
nur um eine Ausnahmeerjcheinung, fondern aud um eine Einwirkung dieſer 


382 Dove, Die künftige wirtichaftliche Bedeutung Südweſtafrikas für Deutichland. 


wahrjcheinlich mit den Folgen der Ninderpeft zufammenhängenden Epidemie auf 
unter ungünftigen hygieniſchen Berhältnifjen lebende Menjchen. Die gefürchtete 
Geißel der Tropenländer, die Malaria, kommt zwar ebenjv wie die Dysenterie 
in den verjchiedenften Gegenden vor, allein das Wechjelfieber tritt außer im 
äußerjten Norden des Landes nicht in den gefährlichen Formen auf, in welchen 
es das Leben unjerer Rafje in den äquatorialen Breiten jo häufig bedroht. Mit 
der fortjchreitenden Verbefjerung der Wohnungen, mit der Beihaffung guten 
Trinkwaſſers und überhaupt günftiger Lebensbedingungen werden die beiden 
genannten Srankheiten mehr und mehr eingeſchränkt, ja ftellenweife wohl ganz 
ausgerottet werden können. In einer Unterfuchung, die ihr Augenmerk auf die 
wirtfchaftliche Zukunft diefes überfeeifchen Gebietes richtet, brauchen fie jedenfalls 
nicht des weiteren berüdjichtigt zu werden. 

Ein hervorragender deutſcher Forſcher, der allerdings bei feinem Ausſpruche 
die Steppen des Maſſailandes im Auge hatte, hat einmal gejagt: „Wo Afttfa 
fruchtbar ift, da iſt es ungelund, und wo es gejund it, da ift es unfruchtbar." 
Zum Glüd gilt diefer Sag für die füdafrifanischen Länder nur in beſchränktem 
Maße, denn ihre Meereshöhe würde aud; bei viel größerer und gleichmäßigerer 
Feuchtigkeit als der thatfächlich vorhandenen den Charakter des Klimas mildern 
und die entnervenden Einflüffe tropiicher Wärme fernhalten. Sinfichtlic dev 
Gartenkulturen und der Bemwäfjerungsanlagen, die hier möglich find, braucht man 
alfo feinerlei Beforgniffen wegen etwaiger ungünftiger Wirkungen auf die Ge 
jundheit der Anfiedler Raum zu geben. Aber leider gilt das böfe Wort von der 
Unfruchtbarkeit der gefunden afritanifchen Gebiete aud) hier wenigſtens inſoweit, 
als eben ohne fünftliche Wafferzufuhr an einen Landbau in unferem Sinne nicht 
zu denken ift. Die Niederichläge in den Landichaften, in denen der Europäer jid) 
thatfächlich anfiedeln kann, find an und für fid) zu gering, um bei der im Ver— 
gleic) zu der unjern doch noch ziemlich hohen Mitteltemperatur die Notwendigkeit 
einer Beriefelung auszuſchließen. Darauf muß bingewiefen werden, denn leider 
finden fich in Deutfchland immer noch Leute, die die Regenhöhe diefer Gegenden 
mit der in unſerm VBaterlande vergleichen, ohne fich zu überlegen, daß bei dem 
Wachstum befonders der Kulturpflanzen die fteigende Wärme eine Erhöhung des 
zu ihrem Gedeihen erforderlichen natürlichen Waflervorrates zur Folge hat. Und 
das ift feineswegs ber einzige Grund, der gegen die Anlage von Feldern und 
Aeckern in europäiiher Art ſpricht. Abgejehen davon, daß fi an Regenmenge 
doch nur ein jehr Eleiner Teil des Landes mit Deutichland vergleichen läßt, ift 
die Ergiebigkeit der Niederjchläge felbit in diefen Gegenden und viel mehr noch 
in den anderen in den verjchiedenen Fahren jo großen und fo häufigen Schwan— 
tungen unterworfen, daß ſchon deshalb eine Beftellung größerer Flächen mit 
Ackerfrüchten ausgeichlofjen ift. Erneuert ſich doc in manden Jahren nicht ein- 
nal die Dede von Steppengräfern und Stauden, melde den natiirlichen Reich— 


Dove, Die künftige wirtfchaftliche Bedeutimg ZSüdmeitafritas für Deutfchland. 38: 


tunı des Hochlandes bildet, und deren richtige Ausnutzung für alle abjehbare 
Zukunft die Grundlage der wirtichaftlichen Entwidelung der Stolonie bilden wird. 

Nach dem Gefagten wird der Leer begreiflich finden, wenn id) jo weit gehe, 
auszusprechen, daß die Beliedelung Südweltafritas ficher nicht in jchnellerer 
Entwidelung vor ſich gehen wird als. in den alten, vor diefem Lande vielfad) 
begünftigten SKolonialftaaten der englifchen und holländifchen Nachbargebiete. Da 
hilft kein Reden von unverbeflerlihem Peſſimismus; es ift und bleibt eine That- 
jache, daß die ländlichen Gebiete der Kapkolonie und der Burenftaaten troß der 
Diamanten: und Goldentdedungen in derjelben ruhigen und langſamen Weife 
ihre weiße Bevölferung anwachſen jahen wie. vor dem Auffinden jener wertvollen 
Mineralien; und anders als in jenen, den unferen ſo ähnlichen Siedelungsland- 
ihaften wird fic die allmähliche Verdichtung der Bevölkerung auch im deutfchen 
Schußgebiet nicht vollziehen. Auch in feinen Grenzen wird die Aufnahmefähigkeit 
de3 Landes für Weiße fi) nur jehr allmählich vergrößern und damit eine leife 
Bermehrung der. Auswandererzahl geftatten. Wohl find es mehr wirtfchaftliche, 
in Breisverhältniffen aller Art, in der Höhe der Arbeitslöhne und in vielen an— 
dern Dingen beruhende Gründe, als folche, die lediglich den geographiichen Be- 
dingungen des Kulturlebens entftanımen, welche man gegen die Möglichkeit einer 
plöglich ftarf fich vermehrenden Zuwanderung anführen kann. Aber jie find ein- 
mal vorhanden, man muß mit ihnen rechnen, und das Bild, das begeifterte 
Schwärmer ji) von diefer unferer „Ausmwanderungsfolonie" immer noch machen, 
könnte höchſtens ein gänzlich fozialiftiich gearteter Staat in Wirklichkeit zu ver: 
wandeln fich vermejjen. Allerdings würde dann nicht genügen, daß er allen Zu- 
ftänden, die fic) im Laufe der Zeit in Südweſt- und überhaupt in Südafrika 
entwidelt haben, mit einem fFederftriche feiner Leiter ein Ende madte, fondern 
er müßte viele hunderte von Millionen zur Verfügung ftellen, um die Grund: 
lagen für eine Maffenbefiedelung*) überhaupt erjt zu Ichaffen. Unter den be- 
ftehenden VBerhältniffen wird eine nicht einmal befonders große Bermehrung der 
Einwandererzahl nur dann, und aud dann nur für einige Zeit, ftattfinden, wenn 
abbaumürdige Lagerftätten wertvoller Mineralien gefunden werden, über deren 
‚Borhandenjein wir etwas Sicheres nod; nicht willen. Die Veränderungen, die ſich 
dann in der Befiedelung des Landes zeigen würden, haben wir uns ähnlich vor- 
zuftellen, wie fie in den alten Kolonieen Südafrikas zu beobachten waren. Die 
erfte "Verdichtung der Bevölkerung findet dann naturgemäß in den mit den Minen 
unmittelbar in Beziehung tretenden Verkehrsmittelpunkten ftatt. Es find die mehr 
oder. weniger ftadtartigen Niederlaffungen, die Handeld- und die Landungspläße, 


*) Eine jolhe wäre natürlich auc in diefem Falle nur in beſchränktem Umfange möglich, 
da jchliehlich die Natur jelbjt eine im nordeuropälfhem Sinne gehandhabte Ausnutzung des 
Bodens nicht geitattet. 


384 Dove, die künftige mirtfchaftlihe Bedeutung Sübmeftafrifas für Deutfchland. 


die eine rafchere Zunahme erfahren; der wichtigfte Teil der Bevölkerung, die 
landjäfjigen Kreiſe derfelben, erleiden fogar unter Umftänden zunädjft eine Ab- 
nahme. Erſt ganz allmählich wächſt auch die Aufnahmefähigkeit der reinen Farm— 
und Gartengebiete, indem die Vergrößerung der Ortichaften bejjere Abjagbedin- 
gungen ſchafft und damit jene Verkleinerung der Farmen geftattet, die von vorn- 
herein anzuempfehlen ein Fehler ift, den nur echte und rechte Theoretifer begehen 
konnten. Daß fie auch jet noch fo häufig vorgefchlagen wird, beweift am beften, 
wie jehr man noch immer bei und Deutfchen dazu neigt, die Erfahrungen der 
älteren Kolonialvölker gering zu achten. 

Man wird mir entgegenhalten: Wenn in der That Südmweftafrita fo wenig 
geeignet ift, den Ueberſchuß unferer Bevölkerung aufzunehmen, dann wäre es ja 
befjer, wir hätten diejes Gebiet niemals erworben oder wir gäben ed, da wir 
es einmal beiten, gegen irgend welche Vorteile in einem anderen Teile der Erde 
in Kauf. 

Diefen Standpunkt, von dem aus man gegen Dinge, deren wahren Wert 
man nicht fennt, zwar irgend eine Kleinigkeit einzutaufchen, jedoch niemals wirf- 
liche, d. 5. über das Nächte hinausſchauende Kolonialpolitit zu treiben vermag, 
follen die folgenden Auseinanderjegungen in feiner Berfehrtheit beleuchten. Zu 
diefem Zwecke brauche ich nur daran zu erinnern, daß die falſchen Vorftellungen 
von dem Werte überjeeifcher Gebiete ihren Grund faft immer darin haben, daß 
man von ihnen verlangte, fie follten diefe oder jene beftimmte Aufgabe unjerem 
Neiche gegenüber erfüllen, anſtatt daß man ſich fragte: welche Aufgaben können 
fie gemäß ihrer natürlihen Beichaffenheit dem deutfchen Volke gegenüber über- 
nehmen? Südweltafrifa galt mit Recht als ein Land, in dem der Europäer ohne 
Gefahr für feine Gefundheit leben könne, alfo mußte e8 das neue, erfehnte Aus- 
wanderungsgebiet der Zukunft fein, während man umgekehrt hätte fragen follen: 
was können wir unter Berüdfichtigung der ganz eigenartigen Natur diefer 
Kolonie aus derjelben mahen? Anjtatt aber jett, wo die Thatfachen auch für den 
ihwärmerifchiten Theoretifer immer verftändlicher zu reden beginnen, die Flinte 
ins Korn zu werfen, weil das Land die erträumte Entwidelung nun einmal nicht 
durchmachen will, follte man auch ihm gegenüber jene beiden Eigenjchaften wirken 
laffen, die in Afrika alles Erreihbare durdjegen, Geduld und ruhige Thatkraft. 
Dann wird es fid) erweijen, daß Südweſtafrika ein höchft wertvoller Teil unferer 
überfeeifchen Befigungen ift, wenn aud das Sulturbild, das heute noch kaum in 
feinen Grundlinien erkennbar, dort in Jahrzehnten Elar und deutlich hervortreten 
wird, ganz anders ausſchaut ald jene luftigen Gebilde, die jo mander Nidht- 
berufene dem bdeutfchen Volke vorgaufelt. 

Dürfen wir nun aber nit mit größeren Mengen von Anſiedlern in 
unferen Schußgebiet rechnen, jo hat die Verwertung des Bodend für unſer 
Baterland doch eine fehr hohe Bedeutung. Zwar die Biehherden, die ftet3 den 


Dove, Die künftige mirtfhaftliche Bedeutung Südweſtafrikas für Deutichland. 2385 


größten Reichtum diefes Randes bilden werden, vermögen ben Handel und die 
Induſtrie Deutichlands nur in geringem Maße zu beeinfluffen, obwohl darauf 
aufmerffam zu machen ift, daß große Landichaften, vor allem der Süden der 
Kolonie, ſich vortrefflih für die Haltung von Wollfchafen eignen. Sie können 
indeffen nur einen Kleinen Teil des Bedarfs unferer Fabriken deden, weshalb ich 
fie in diefer Skizze, welche die eigenartige Bedeutung Südweſtafrikas für una 
hervorheben foll, füglich vernadhläffigen kann. Anders der Gartenbau, der in 
Südafrifa unter PVerhältniffen arbeitet, wie wir ihnen etwa im Gebiete des 
Mittelländifhen Meeres begegnen. Wie fih auf Grund allgemeiner Studien 
erwarten ließ und bereit durch die Erfahrung betätigt worden ift, find es 
namentlih die Südfrüchte und der Wein, deren Anpflanzung Ausſicht auf eine 
vorzügliche Entwidelung bieten. Befonders der Weinftod darf ald eines der 
wichtigften Kulturgewächſe der Zukunft gelten. Zwar wird jeinem Anbau in 
Südafrifa überall dur die Grenze des Sommerregengebiete8 eine Schranfe 
gejeßt, und fo dürfte er aud im Innern unferes Schußgebietes höchſtens zu 
dem Zweck gepflegt werden, um einige leichtere Weinforten für den Gebraud im 
Lande felber herzuftellen. Aber wir befiten eine Landichaft, die auch für die 
Ausfuhr und gerade für diefe in hervorragendem Maße in Betracht fommt. Am 
Weften, da mo bie immer ſchwächer werdenden Niederihläge zur Entftehung 
jener Wüftenfteppen geführt haben, die, unter einem tiefblauen Himmel ausge- 
breitet, eines andauernden kräftigen Sonnenjdeines teilhaftig werden,’ bilden die 
tief in da3 Hochland eingefchnittenen Thäler der Flüffe wahre Dafenzüge. Dort 
ift zwar ein wahrhaft befruchtender Regen eine feltene Erjcheinung, aber die 
während des Sommers im Innern niedergegangenen Waſſermaſſen, die fi im 
Grundeder Beröllichichten und des Schwemmlandes gefammelt haben, dringen, gleich- 
jam ein unterirdifcher Strom, unaufhaltfam nad) der Küfte vor. Ahnen vermag man 
reihe Mengen de3 unentbehrlihen Elements zu entnehmen, und e8 hieße die 
Taufende von Heftaren guten Bodens, die fi) an den Seiten der weißglängenden 
Sanbdbetten ausdehnen, mißachten, wollte man fie nicht in Zukunft vorwiegend 
zum Anbau hochwertiger Gewächſe benugen. Sonne, Waſſer und trodene Luft, 
diefe drei großen Förderer jubtropiichen Pflanzenlebens, find aber gerade daß, 
was der Weinftod verlangt, wenn er jenes feurige Getränk liefern joll, das die 
Weinberge unjerer Heimat nicht mehr zu erzeugen vermögen. Es iſt keineswegs 
übertrieben, wenn man behauptet, daß die erwähnten Gegenden im ftande feien, 
den gefamten Bedarf Deutjchlands an jogenannten Südweinen zu deden. a, 
mehr no, fie vermögen auch die ganze Gewichtämenge Rofinen zu liefern, bie 
bei uns in den Handel gelangt, und daß ſolche in fehr guter Beichaffenheit dort 
thatfächlich gewonnen werden können, dafür liefern nicht nur der Vergleich mit 
dem ap, fondern auch ein recht lehrreicher, in ? dem deutichen Schußgebiet ſelbſt 


angeſtellter Verſuch den Beweis. 
35 


38h Dove, Die fünftige wirtfchaftlihe Bedeutung Südweſtafrikas für Deutichland. 


Diefe Ausführung, der ſich noch manche ähnliche anſchließen ließen, joll nur 
als Beifpiel dafür dienen, daß mit dem Anwadfen des in Südweſtafrika 
arbeitenden Kapitals manch lohnender Berufszweig von den dajelbft thätigen 
Landwirten ausgeübt werden fann, der ihnen wie dem Lande zum Gegen ge: 
reiht. Bedeutiamer aber ift der Nachweis, daß aud die verhältnismäßig 
wenigen Menjchen, die in den nächſten Jahrzehnten dort eine neue Heimat finden 
werden, eine viel höhere Wichtigkeit für unſer Baterland beſitzen, als der lediglich 
mit bloßen Bevölferungsmengen rechnende Politiker vermutet. Der erjte der 
bier zu berüdjichtigenden Werte läßt fich übrigens nod in jo deutlichen Zahlen 
ausdrüden, daß er aud) dem Volkswirt willlommen fein wird; die übrigen ge- 
hören mehr oder weniger zu jenen Dingen, die ſich zwar in Ziffern nicht aus: 
drüden und mit Worten oft nur umfchreiben lafjen, die aber doch im Leben der 
Völker bisweilen eine größere und wichtigere Nolle ipielen al3 die rohen Ge: 
walten, die das rein äußerliche Yeben des Menichen beherrichen und in vielen 
jungen Staatengebilden einen eher ungünftigen, als jegensreihen Einfluß aus- 
üben. Man bat ficdy jeit Jahrzehnten bemüht, Berechnungen darüber anzuiftellen, 
wie groß das Anwachſen der Koloniftenzahl in verichiedenen Rändern der Erbe 
jei und wie lange Zeit es dauern werde, bis diefes Gebiet jo viel, ein andres 
etwa jo viel Einwohner bejigen möge. Uns intereffiert eine derartige, für Süd— 
weftafrifa nebenbei faum durcchführbare Unterſuchung bier indejjen weit weniger 
al3 das wirtichaftliche Gewicht einer ſolchen Siedelung für unſer Deutfches Reich. 
Die Entwidelung aller füdafritaniichen Länder lehrt, daß eine eigentliche Klein: 
jiedelung überall in den Gteppen, und zu diefen gehört ja unſer gejamtes 
Siedelungsgebiet, nur in jehr beſchränktem Maße möglich ift. Die weitaus über: 
wiegende Mehrzahl der Auswanderer wird in der Stellung von Farmern, Kauf: 
leuten und Handwerfern, jowie von Gartenbauern ihren Lebensunterhalt ſuchen 
und finden. Die Thätigkeit von Arbeitern und ganz kleinen Grundbeſitzern, die 
weiter nicht3 find als dies, wird nur von verhältnismäßig ſehr wenigen Leuten 
ausgeübt werden können. Darin aber liegt ein jehr mwejentlicher Unterſchied in 
dem rein wirtichaftlihen Wert, weldyen eine Durdfchnittsfamilie in Südweſt— 
afrifa im Vergleich mit einer ſolchen in Deutjchland befigt. Einkommen und 
Verbrauch geftalten ſich drüben bei einer jolchen etwa wie bei einer verhältnis- 
mäßig gut geitellten Bürgerfamilie bei und. Das ift auch notwendig, denn bei 
unvorteilhafteren Yebensbedingungen liegt in einer joldhen Kolonie die Gefahr nur 
zu nahe, daß die Leute „verafrifanern”, d. h. daß fie uns mwirtichaftlih und 
kulturell verloren gehen. Somit hat eine Familie für den Handel und Die 
Induſtrie unſres Vaterlandes, die ftet3 enge Beziehungen mit der Kolonie unter- 
halten werden, denfelben Wert wie eine Anzahl von ſolchen im alten Baterlande, 
Ra, man kann, wenn diefe Rechnung natürlih auch nidt mit ganz genauen 
Zahlen arbeiten fann, jogar den ungefähren Geldwert ausdrüden, den fie für 


Dove, Die fünftige wirtschaftliche Bedeutung Südweſtafrikas für Deutfchland. 287 


und bejißt, wenn man berüdjichtigt, daß vor etwa acht Jahren der Bedarf eines 
Haushaltes an Waren europäifcher Herkunft von einer Reihe von Händlern auf 
mindejtens 4000 #6 veranjchlagt wurde. Wenn auch mande Ausgaben ſich 
damals auf Gegenftände, wie Konſerven und Getränke europäiicher Herkunft, be- 
zogen, die das Land in Zukunft ſelbſt zu liefern im ftande fein wird, ſo 
werden die eigentlichen, mit der unjerem Volke eignenden Kultur ver: 
bundenen Ausgaben ſich eher fteigern, als verringern, und jene Summe wird 
ih in Zukunft wahrjcheinlih eher erhöhen als erniedrigen. Um nur ein 
einziged Beilpiel anzuführen: was bedeuten zehntaufend Familien — und hoffent- 
{id} werden die meiften von uns die Anweſenheit einer folhen Zahl in Südweſt— 
afrika noch erleben — bei ung für den deutjchen Buchhandel? Wie viel mehr aber will 
e3 bedeuten, wenn einige Zehntaufende von Deutfchen mit einen in einem jolchen 
Yande jehr erflärlichen Yejebedürfnifje vorhanden jind, das zu befriedigen der 
Belig einer Anzahl von guten Büchern von ihnen jelbft für notwendig gehalten 
wird. Wem dies Beijpiel zu nidhtöjagend vorkommt, der gehe jelber einmal 
hinaus und überzeuge fi, wie in Südweitafrifa bei faft allen Deutjchen truß 
harter und foftfpieliger Zeiten das Bedürfnis nad) guten Büchern und nad) ge- 
wijjen höheren Genüfjen ein viel vegeres ift als bei zahlreichen Angehörigen der 
jogenannten gebildeten Klaſſen bei und. Je weiter der Deutjche fid) von der Heimat 
entfernt, um jo mehr hat er daS Beitreben, fein Heim und fein häugliches Leben 
möglichjt den Verhältniſſen der Heimat entfprechend zu geftalten; leicht wird er 
nicht auf die Stufe eines Halbeingeborenen hinabjinfen, und fomit bleibt er auch 
wirtichaftlich durch taufend Eleine Beziehungen mit dem Vaterlande verbunden. 
Denn eine Induftrie, ein Kunfthandwerf, ja auch nur ein Handwerk, wie es zur 
Lieferung aller Gebrauchsgegenftände des täglichen Lebens im jtande ift, wird 
ih niemald in diefem Lande entwideln. Und wenn jchon in der Befriedigung 
diefer immerhin äußerlichen Bedürfniſſe Südmeltafrifa an Deutfchland gebunden 
jein wird, jo wird es in Kunſt und Wiffenichaft noch mehr von ihm abhängen, viel- 
leiht aber auch in einigen Punkten auf dieje verichiedenen Zweige menſchlichen 
Lebens befruchtend einwirken. Rein kaufmänniſch gejprodhen würde es, wenn 
es auch erjt die Einwohnerzahl einer größeren Mittelftadt befittt, in Handel und 
Verkehr die Rolle einer Eleinen Provinz zu jpielen vermögen. Daß mir aber 
eine ſolche nicht al3 einen bloßen Tauſchgegenſtand betrachten dürfen, weil 
fie durch das Meer von und getrennt ijt, wird wohl jedem einleuchten, der 
berüdfichtigt, daß fie in abjehbarer Zeit dem Reiche durchaus feine Ant 
mebr bereiten wird. 

Eine GSiedelung, die infolge der wirtihaftlichen Lage ihrer Angehörigen 
ein in fich geichlojjenes Kulturgebiet bildet, bat aber gerade in diefen Gegenden 
nicht nur an und für fi; Anjprud auf Beachtung. Bielmehr fällt ihr bier nod) 
eine Aufgabe bejonderer Art zu, aus deren Löjung Vorteile kaufmänniſcher Natur 

25* 


388 Dove, Die künftige wirtfchaftlihe Bedeutung Südmeitafrifas für Deutichland. 


mit ſolchen rein geiftigen Inhalts fich ergeben werden. Ach habe fchon öfters, 
namentlich in öffentlichen Erörterungen über die Bedeutung Südmeftafrifas, auf 
diefen Punkt aufmerkſam gemadt. Die Erfahrung, daß er bisher felbft in 
unfern Eolonialen Kreiſen noch kaum berüdfichtigt wurde, nötigt mich, ihm aud) 
an biefer Stelle eine kurze Museinanderfegung zu widmen. 

" Eine Erfcheinung, die man in verfchiedenen Ländergebieten unferer Erde 
beobachten Eann, ift, daß überall da, wo europäifch kultivierte Gegenden unmittelbar 
an ſolche mit tropifhem Klima grenzen, fehr lebhafte gegenfeitige Beziehungen 
entftehen, und daß bie Pflanzungen der wärmeren Landichaft fich viel rafcher 
und in viel geordneterer Weife entwideln als in fern von größeren Europäer- 
Eolonieen gelegenen Tropenländern. Am beften vermag man dies in der Kleinen 
Matalkolonie zu beobachten. Die großen Fortfchritte, die gewiſſe tropifche Kulturen 
in dem Küftenlande nördlich und füdlich von Port Durban gemadt haben, wären 
undenkbar gewejen, wenn nicht gleichzeitig in den benachbarten Hodländern eine 
Niederlafjung europäifher Koloniften ftattgefunden und wenn nicht die engften 
Beziehungen zu den germanifchen Nachbargebieten beitanden hätten. Nun ift es 
eine in den Erhebungsverhältniffen des Landes beruhende Eigentümlichfeit Süd- 
afrika, daß fi) hier im Großen mwiederholt, was wir in Natal im Kleinen und 
doch als äußerſt wirffam in dem Wirtichaftsleben des Landes vor fich gehen 
fehen. Auch dies ganze große Hochmaſſiv mit feinem für Nordeuropäer fo zu: 
teäglihen” Klima”grenzt unmittelbar an die rein tropifhen Landſchaften Zentral: 
afrifas, ohne daß zwifchen diefen beiden gänzlich verfchiedenen Wirtſchaftsgebieten 
etwa eine trennende Zone ſich erjtredte, wie wir ihr zwifchen dem Aulturlande 
von Nordafrita und dem Sudan begegnen. &8 darf für jeden, der längere Zeit 
in Südafrika felbft aufmerkſam die wirtfchaftliche Entwidelung verfolgt bat, feft- 
ftehen, daß von dieſem Europäergebiet und nicht von den fernen Ländern der 
Nordhalbkugel aus die ftärffte Beeinfluffung und fchlieglich die gänzliche Leitung 
der Nutzbarmachung der reichen Tropenlandidhaften von Innerafrika erfolgen wird. 
Ich habe ſchon bei früheren Gelegenheiten darauf hingemwiefen und ich mwiederhule 
es für die Lefer diefer Zeitjchrift, daß der bei uns jo oft beipöättelte Gedanke 
eines Cecil Rhodes, Zentralafrifa durch eine Riefenbahn gerade mit dem Süden 
des Weltteild in engere Berbindung zu bringen, alles andere eher verdient als 
das Achſelzucken, das ihm vielfach bei ung zu teil wurde. Cecil Rhodes ift das 
in Wirklichkeit, was unfere heimifchen Diplomaten leider oft nur fcheinbar find, 
ein Bolitifer allererften Ranges. Er kennt fehr genau die unumſtößliche Wahr: 
beit des Sates, daß, wer Südafrika beſitzt, dereinft Herr von ganz 
Bentralafrifa fein wird, fei es nicht politiich, Fo doch ficherlich in Bezug auf 
Handel und Verkehr. 

Braude ich nad dem Gejagten noch auszuführen, worin die wirtichaftliche 
Bedeutung unferes erſten deutichen Schußgebietes für uns gipfelt?- Seine Norb- 


Dove, Die fünftige mwirtichaftliche Bedeutung Südweſtafrikas fir Deutichland. 389 


grenze durchzieht bereits tropiiche Gegenden; fie macht uns zu Nachbarn der 
wichtigen Gebiete, durch die der Weg hinüberführt in das wunderbare Land 
tiefiger ſchiffbarer Ströme, dem eine große Zukunft unter allen Umftänden vor- 
ausgejagt werden kann. Bon politiſchen Dingen will ich nicht fprechen, allein 
das fei betont, daß bereit in den nächſten Jahrzehnten die Sfnangriffnahme der 
wirtfchaftlihen Erſchließung Innerafrikas von hier aus beginnen wird. Daß 
fie demjenigen am meiften zu gute kommen muß, der von jeiner eignen Grenze 
aus die gegenjeitigen Beziehungen zu regeln vermag, ift Ear. Wäre nicht jchon 
an und für fih Südweftafrifa eine Kolonie, die wir auch um ihrer jelbit willen 
fefthalten müſſen, diefer Ausblid in die Zukunft ganz Afrikas mühte uns allein 
dazu zwingen, rüftig fortzufchreiten in der Arbeit für die Schaffung eines wenn 
auch nicht durch die Zahl feiner Angehörigen, fo doch durch Kraft und innere 
Geſchloſſenheit hervorragenden Deutſchtums an diefem Südende der alten Welt. 

Zwar handelt diefer Auffag eigentlich von wirtjchaftlihen Dingen. Aber 
vielleicht ift e3 gejitattet, au$ der Reihe rein idealer Einflüſſe, die der Beſitz eines 
ſolchen Koloniallandes mit der Zeit entwideln wird, wenigftens auf einen jolchen 
von Bedeutung hinzumeifen, der meines Wiſſens noch nicht in irgend einer unjerer 
tolonialen Zeitihriften behandelt worden ift. Vorher aber möchte ich mid gegen 
einen Gedanken wenden, der ſich ebenfalls eine foziale Rüdwirfung von Gübd- 
weitafrifa auf unjere Heimat veripridt. ch meine die Deportation von Sträf- 
lingen nad) dort, der man nicht fcharf genug entgegentreten kann, ſowohl im 
Intereſſe des Landes wie in dem der Gefangenen jelbft. Nach dem, was bereits 
vorhin betont wurde, ift jelbftverftändlich, daß ein Land mit geringer Aufnahme: 
fähigkeit für Weiße auch nur eine verhältnismäßig geringe Anzahl von Straf: 
gefangenen aufnehmen fann. Man hat nun davon gefprocen, dieje in einer für 
das Ganze nußbringenden Weile an öffentlichen Werken zu befchäftigen. Dann 
aber fteigern fi) die Unkoften des Unterhalt und vor allem der Bewachung der- 
maßen, daß die Leute dem Staat mehrfach jo teuer zu Stehen fommen wie in 
unferen Gefängniſſen. Man redet ferner bisweilen gar einer Anfiedelung von 
Deportierten das Wort. Abgefehen davon, daß ein folder Rat von bedauerlicher 
Untenntnis aller ſüdweſtafrikaniſchen DVerhältniffe zeugt, würde der Staat mit 
feiner Befolgung gerade das Gegenteil von dem erreichen, was die ſchwärmeriſchen 
Bertreter jener Anfhauung bezweden. Nicht eine Beſſerung und eine fittliche 
und wirtſchaftliche Hebung der Entlafjenen, jondern das Entgegengejegte würde 
fi) als unbeilvolle Folge folder Maßnahmen jehr bald bemerkbar machen. Ab- 
gejehen davon, daß ich und mit mir alle wahren Freunde unſeres Schußgebietes 
nicht recht einzufehen vermögen, warum wir die Opfer, die das Deutſche Reich 
ihm bereit3 gebradjt hat und aud in Zufunft noch bringen wird, nicht lieber an- 
ftändigen Menſchen als Verbredern zu gute fommen laſſen ſollen, ift eine jitt- 
liche Aenderung nad der befferen Seite hier noch mehr erfchwert als bei uns. 


390 Dove, Die künftige roirtichaftliche Bedeutung Sübmeitafritas für Deutfchland. 


Es ift eine Erfahrung, die feinen Widerſpruch von feiten oberfläd:- 
liher Beurteiler duldet, daß die Beten gerade gut genug find zur Löſung 
der Aufgaben, die jedes einzelnen in Afrifa harren, und daß der Verſuchungen 
und Gelegenheiten zu neuen Strafthaten für einen fittlich Herabgefommenen da: 
jelbft jo viele, die Möglichkeit des Entrinnens eine fo große ift, daß darin 
allein jchon die ſchwerſte Gefährdung der Anfiedler in einer etwaigen Deportation 
zu ſehen ift. 

Es ift ein bei weitem freumbficheres Bild, das ich dem Lefer vor Augen 
führen möchte. Es ſei mir erlaubt, zwei Erlebnifje zu fehildern, die ihm zeigen 
mögen, wie jich drüben überm Meere ein neues Deutfchtum bildet, dem zu feinem 
Segen viel von der Heuchelei und Lüge, die unferer heutigen Geſellſchaft an- 
haftet, verloren gegangen iſt. 

Es war am Geburtstage der Kaiſerin. In der großen Halle der Landes— 
hauptmannſchaft fand ein Feſteſſen ſtatt, und an dieſer angeregten Tafelrunde 
nahmen neben den Offizieren und Beamten, von denen einige mit ihren Damen 
erſchienen waren, dieſelben Anſiedler teil, die bei Tage etwa eigenhändig den 
mit Lehm beladenen Ochſenkarren einem Neubau zugetrieben hatten. An einem 
Tiſch mit den Führern der Truppe Neuangeſtellte der Behörde, die daheim als 
Gefreite der Armee angehört hatten! Welch ſchrecklicher Anblick für einen Hüter 
der guten, geſellſchaftlichen Sitte und Ordnung! — Ein Vierteljahr ſpäter befand 
ih mich am Kap der Guten Hoffnung. Am Haufe eines der angeſehenſten 
Deutihen in ganz Südafrika, in einem der erjten Gejellichaft von Kapftadt an- 
gehörenden Kreife wurde unter fröhlichen Gfläferklingen der Anbruch des neuen 
Jahres gefeiert. Da begann einer der jüngeren Herren, und es war der Ange- 
jehenften einer, ung Neuangefommenen zu erzählen, wie er feine Thätigfeit in 
Sübdafrifa vor einer Anzahl von Jahren als Gefelle eines Schlachter und 
Fleiſchhändlers begonnen, ehe er fich zu feiner heutigen Stellung als wohl: 
habender Kaufmann emporgearbeitet hatte. Und feine der älteren und jüngeren 
Damen janf in Ohnmacht, feiner der Herren faßte diefe humorvolle Schilderung 
früherer Erlebnifje al3 etwas Unerhörtes oder überhaupt als etwas Anderes auf, 
als was fie war, ein Zeugnis für die Tüchtigfeit des Betreffenden. 

Um es kurz zu Sagen, es ilt die Wertichäßung der ehrlichen Arbeit, die 
Achtung vor jeder Art, in der ſich Fleiß und gefundes Streben geltend machen, 
die in Südafrika die Schranken nicht erftehen läßt, die bei ung nım einmal vielen 
Berufsklaffen in geiellichaftlicher Dinficht gezogen find. Daß es aber die Er- 
fenntniS Ddiefer Hemmungen auf dem Lebenswege ift, die zahlreiche Leute und 
unter den gebildeten Anhängern der Sozialdemokratie wohl die meiften dem 
Radikalismus in die Arme treibt oder jie wenigftens ftarf verbittert, ift ziemlich 
ſicher für jeden, der beiſpielsweiſe einmal den Urſachen fozialiftiicher Anfchauungen 
unter Studenten auf den Grund geht. Die Arbeit, gleichviel welcher Art, 


Dove, Die künftige moirtichaftlihe Bedeutung Süsmeitafritas für Deutfchlan d. 391 


genießt bei weitem nicht die ihr zufommende Achtung, die fie ſich in den jungen 
Ländern Südafrifad ganz von ſelbſt erzwingt. Auf der andern Seite giebt ein 
gejundes Gelbitbewußtfein, wie es aus dem Leben drüben von felber ſich ent- 
widelt, ein ganz naturgemäß freierer Blid, vor dem zum Beifpiel die Eleinen 
Streitigkeiten politifher Natur gegenüber den großen Zügen der Anfichten und 
der Ereignijje verblafjen, giebt endlich da8 Bemwußtfein der Zufammengehörigkeit 
gegenüber den farbigen Rafjen den Angehörigen eines weißen Volkes ein Gefühl, 
das man als ein allen gemeinfames ariftofratijches, ald eine Art von Herren: 
gefühl bezeichnen kann, wie es unferen Landsleuten und befonders den in unteren 
Stellungen befindlichen leider nicht eignet. Sollte da nicht zu hoffen fein, daß 
dem mehr und mehr erſtarkenden Deutjhtum in unferem Schußgebiet auf Grund 
diefer Charaktereigenſchaft und vor allem diefer einzig richtigen Würdigung der 
gejellfchaftlihen Anjprüche auch der Arbeit eine Umgeftaltung der herrichenden 
Anfihten auch bei uns gelingen mödhte? Man überlege nur einmal, welchen 
belebenden Einfluß die ftudierende Jugend eines foldhen Landes, die ſich natur- 
gemäß immer nad) Europa wenden wird, auf ihre in Deutfchland aufgewachſenen 
Kommilitonen in folhen Dingen gewinnen kann. 

Es iſt ein Zufunftsbild, das aud in diefer legten Ausführung uns entgegen- 
tritt. Aber ift es deshalb meniger wertvoll, weil e8 uns auch auf geiftigem 
Gebiet die Möglichkeit jegensreicher Rückwirkungen unferer Kolonie auf unſer 
Baterland zeigt? ch glaube, wir follten uns hüten, verächtlich von einen folchen 
Lande zu denfen, weil es feine Fabrifjchlote tragen und niemals Großftädte 
erzeugen wird. Nicht die Menge der Menfchen, die eine Kolonie innerhalb ihrer 
Grenzen ernährt, giebt den Maßſtab für ihren Wert ab, fondern die Kraft, mit 
der dieje fich felbft einzufegen vermögen für die Größe des eignen und für die 
des Stammlandes über dem Meere. 


Ö 


Wleitbnachten. 
in Bäumlein gränt im tiefen Tann, Da, mitten in des Winters Graus, 
Daskaumein Hug’cerfpäben kann. Erglänzt es tromm im Elternbaus. 


Dort wobnt es in der Wildnis Schofs Wler bat es bin mit einem Abal 
Und wird gar beimlich ſchmuck und groſz. Getragen über Berg und Tbal? 


Der Jäger achtet nicht Darauf, Das bat der beil’ge Geift getban, 
Das Reb fpringt ibm vorbei im Lauf, Sich’ Dir nur recht Das Bäumlein an: 
Die Sterne nur, die alles febn, Der unfichtbar zurückgekebrt, 
Erfchauen auch Das Bäumlein fchön. bat manches Licbe Dir befchert. 


MartinGrecif. 








Goethe und Eckermann. 


Von 


Adolf Bartels.*) 


dermanns „Geſpräche mit Goethe" halte ich für das Hauptbuch der ganzen 
Goethe-Litteratur und jchließe da nicht einmal den Briefwechſel des Dichters 
felber aus. Wer „Wahrheit und Dihtung“, die „Stalienifche Reife” (jamt dem 
Eleineren ausgeführten Autobiographifchen) und den Edermann gründlich gelejen 
bat, der hat Goethe den Menſchen als Yüngling, Mann und Greis fo gut wie 
der, der die Iyriichen Gedidte und „Hermann und Dorothea“, den „Götz“ und 
ben „Werther“, „Egmont” und „Zauft“, „Iphigenie“ und „Taſſo“, „Wilhelm 
Meifterd Lehrjahre und die „Wahlverwandtichaften" in jich aufgenommen, 
Goethe den Didyter hat. Multum, non multa! Man muß fi beſchränken 
Eönnen in unſerer Zeit, nur das erwerben, was wirklich not thut, aber in dem 
fiher Erworbenen um jo feiter wurzeln. Stein Zweifel, der deutjche Dichter des 
äwanzigften Jahrhunderts heit Goethe jo gut wie der des neungzehnten, die 
Hoffnung, daß wir, ehe das zweite Yahrtaufend chriftlicher Zeitrechnung voll 
wird, feinesgleihen wieder jehen werden, ijt vergeblich, aber das Leben will 
immer fein Recht, und mir können unfere geiftige und fünftlerifche Kultur wohl 
auf Goethe gründen, aber er füllt fie nicht mehr aus. Will jemand ſich ganz 
und ausichließlih an Goethe bingeben, in Gotted Namen, er wird aud) dabei 
etwas werden, wenn er etwas iſt; wir haben nicht einmal etwas gegen die 
Goethe-Philologie, denn fie beſchäftigt viele Yeute, die fich ſonſt womöglich ſchlechter 
beihäftigen würden — jedoch die Goethe-Bildung des tüchtigen Durchſchnitts— 
deutfchen, zu dem ich auch alle Leute von Genie und Talent ftelle, die Beſſeres 
zu thun haben als Bücher zu lefen, muß fich jchon jett und wird ſich in Zukunft 
erjt recht innerhalb de3 von mir gezogenen Rahmens halten, was natürlich nicht 
ausfchließt, daß bier und da aud ein bedeutendes Werk über Goethe, etwa 
Viktor Hehns „Gedanken genofjen wird. Edermanns „Geſpräche“ allein ftelle 
ich zu Goethes eigenen Werfen, fie find ja auch fein Werf, der unbeftreitbare 
*, Einleitung zu einer neuen Ausgabe der „Geſpräche mit Goethe, die demnächſt bei 
Eugen Diederichs in Leipzig ericheint. 


Adolf Barteld, Goethe und Edermann. 393 


Grundfag, daß man den Dichter immer aus erfter Hand nehmen fol, trifft bei 
ihnen zu. Leben, unmittelbare Leben foll uns die Litteratur geben, nicht Rai- 
fonnement. Das ift freilich richtig, daß der große produktive Geift ebenbürtiger 
receptiver Geilter bedarf, um voll erfannt zu werden, aber wir Eönnen alle nur 
genießen, d. 5. mitleben nad) dem Maße bejjen, was wir find, Ejelsbrüden giebt 
e3 da nid. 

Ein Lebensbud, ein Buch des Mitlebend möchte ich die berühmten „Ge- 
ſpräche“ denn auch zunächſt nennen, darin befteht ihr jofort in die Augen fallen- 
der Wert. Wir haben nichts, was uns fo unmittelbar in das klaſſiſche Weimar 
zurüdverjegte. Ja gewiß, wer die Briefwechſel aus den Tagen, wo Wieland, 
Herder und Schiller noch lebten, richtig lefen, wer fi) aus all den Eleinen ver: 
ftreuten Zügen ein Bild zufammenjegen Eann, dem wird etwas Größeres und 
Bewegteres erftehen, als es Edermanns Darftellung jenes Weimard, in dem 
Goethe allein und alt war, bietet. Aber wiederum finden wir und aus dem 
heutigen Weimar auch leichter in das Goethe-Eckermannſche, das auch nod das 
Hajlifche, aber auch ſchon das des neunzehnten Kahrhunderts ift, zurüd, und dem 
Bilde, das wir empfangen, fehlt fein Zug, e3 it felten vollitändig, wunderbar 
treu. Faft Woche für Woche, oft Tag für Tag können wir mit Edermann in 
das gelbe Haus am Frauenplan wandern, dort mit ihm die breite Treppe hin: 
auffteigen, und immer tritt uns in einem der Zimmer, die noch heute genau in 
ihrem alten Zuftande erhalten find, die mächtige, ftraffaufgerichtete Geftalt mit 
dem S$upiterfopfe entgegen, die für den Sohn ber Lüneburger Heide der Mittel- 
punkt feines Lebens war und der Mittelpunkt der deutfchen Litteratur noch immer 
ft. Wir jehen Goethe im SKreife feiner Familie oder mit hervorragenden 
Männern Weimard und von auswärts bei Tiſche, wir jehen ihn in glänzender 
Abendgejellichaft, wir jehen ihn nıit Edermann allein in feinem einfachen Studier- 
zimmer, jelbft auf dem Srankenlager: feine ganze Hauserijtenz wird uns voll: 
fommen beutlih. Auch in der Natur jehen wir ihn, jei e8, daß er die Steige 
feines Hausgartens munter redend auf und ab fchreitet, jei es, daß er zu feinem 
Bartenhäuschen am Horn hinübergefahren ift und nun, alter jchöner Tage 
gedenfend, das Erwachen des Frühlings beobadtet. Manchmal geht es aud 
aus dem Weichbild Weimars hinaus, die Erfurter Ehaufjee entlang oder ums 
Webicht herum, in dem Edermann feine Vögel fängt, dann nad; Belvedere, auf 
die Höhe des Etteröberges oder nad Berka, einmal aud nad Dornburg und 
endlich nad) Jena ins ſchöne Saalthal. Wundervolle Frühlings:, Sommer: und 
Herbittage leben für uns in diefen Umgebungen wieder auf, aber auch das 
Vinterleben der Kleinſtadt mit Theaterbeſuchen, Hoffeftlichkeiten, Schlitten- 
partieen, an denen der Dichter zwar nicht mehr in Perfon, aber doch in Gedanken 
teilnimmt, erfteht für unfere Anſchauung. Wer Weimar fennt, der gewinnt die 
tieffte Vertrautheit mit der äußeren Eriftenz des greifen Dichters, aber auch wer 


394 Abolf Bartels, Boethe und Edermann. 


es nicht kennt, kann ſich Hineinfinden, und die Sehnjudht, einmal mit eigenen 
Augen zu ſchauen, wird ihn nicht mehr verlafjen. 

Doch giebt Edermann viel mehr als das Milieu des alten Goethe, er 
giebt die ganze Perfönlichkeit, äußerlich und innerlich, fein Stehen und Gehen, 
jeinen Blick und feine Rede und das gefamte, immer rege Geijtesleben des 
„Fürſten der Geiſter“ dazu. Es war die Zeit, wo unſer Dichter ald Haupt 
nicht bloß der beutichen, fondern der europäiſchen Litteratur anerkannt war, wo 
man aus England und Frankreich, aus Italien und felbit den Ländern des 
Nordens und Dftens nicht bloß nah Weimar blidte, fondern auch nad) Weimar 
wallte, um dem Dichter de3 „Werther“ und des „Fauſt“ feine Berehrung zu 
Füßen zu legen, es war aber aud; die Zeit, wo man die Karikatur des großen 
Mannes zu fchaffen begann, die, obwohl ein lächerliches Spiegelbild ganz be- 
ſchränkter Geifter, ſich doch bis auf diefen Tag fortgeerbt hat. Die Börne umd 
Menzel begannen ihre verabjcheuenswürdige Thätigkeit, der eine im Banne des 
politifchen Radikalismus, auch wohl inftinktiv die Abneigung Goethe gegen feine 
Raſſe empfindend und vielleicht noch örtlich durch die Größe feines Landsmannes 
bedrüdt, der andere durch ein perfönliches Erlebnis beftimmt und unfähig, feine 
chriftlich-gerntanischen Ideale ſoweit zu erweitern und zu erhöhen, daß fie auch 
Raum für einen Goethe geboten hätten. Und diefen beiden ſchloß fih um die 
Zeit von Goethes Tod noch Heinrich Heine an, indem er von Goethes Indiffe— 
rentismus und Wefthetizismus fafelte: feine Werfe zierten unfer Baterland, wie 
ihöne Statuen einen Garten zierten, man könne ſich in fie verlieben, aber fie 
jeien unfruchtbar. Ad, gar zu gern hätte ſich der eitle Poet, der die Stirn ge- 
habt hatte, dem Olympier zu jagen, er fchreibe einen Fauft, und infolgedeflen, 
wie es jcheint, ftarf abgefallen war, gar zu gern hätte er ſich an Goethes 
Seite geftellt, er war ja aud, wie er zu wiederholen nicht müde wurde, ein 
Hellene und fein Nazarener. Eckermann ftand ihm, noch ehe die „‚Geſpräche“ er- 
ſchienen waren, auf der Grenze des Lächerlichen, aber diefer Eleine Edermann, 
der dann noch im „Zannhäufer“ fein Teil abbefam, war ftärfer al3 alle die 
Börne und Menzel und Heine und wie alle die Feinde Goethes noch fonft 
heißen mochten, wie Liebe und Treue immer ftärker find als Haß und Neid und 
Hochmut. Seine „Geſpräche“, die er mit unermüdlicher Hingabe und wunder: 
barer Objektivität bei Goethes Lebzeiten aufgezeichnet, und die dann 1835 er: 
Ichienen, ſchlugen fie alle nieder, die großmächtigen Herren, die da glaubten, den 
Weimarer Jupiter abſetzen oder in die Ede fchieben zu können, und zwar durch 
weiter nichts als die fchlichte Wahrheit. Hier ift der wahre alte Goethe, ſagte 
Edermannd Bud, und die Zerrbilder lagen bleich und tot, mochten fie die, die 
nicht alle werden, auch in Zukunft noch oft genug wieder zum Reben zu erwecken 
juchen. Das ift die große hiftorische Bedeutung von Edermanns „Geiprähen“: 
Sie haben für alle Zeiten dargethban, daß Goethe „un et indivisible“ ift, 


Adolf Bartels, Goethe und Edermann 395 


der Alte des ungen würdig, jung geblieben, jomweit es überhaupt menſchen— 
möglich. 

Hier iſt der wahre alte Goethe, jede Seite des Eckermann-Buches offenbart 
die große Perſönlichkeit um ſo deutlicher, als auch die Schwächen des Großen 
keineswegs verſteckt ſind. Der am meiſten wiederholte Vorwurf gegen Goethe, 
daß er ein Hofmann und Fürſtenknecht geweſen ſei, ſich vor den Mächtigen der 
Erde gebückt und im übrigen ein ſteifes, kaltes Weſen zur Schau getragen habe, 
fällt vor dem lebendigen Zeugnis Eckermanns in ein weſenloſes Nichts zuſammen. 
O ja, Goethe kannte die Großen und beachtete die Regel, daß man ſich ihnen 
gegenüber „nicht durchaus menſchlich geben, vielmehr ſich durchaus innerhalb 
einer gewiſſen Konvenienz halten müſſe“, er hat jelbit dem einfadhen Edelmann 
dad Maß von Berbeugungen gewährt, das nad dem Höflichkeitsfoder unver: 
meidlich ift, aber wann hat er je feinem Verhältnis zu den Großen einen Einfluß 
auf fein inneres Wejen und feinen von ihm erkannten hohen Beruf, das deutfche 
Volk geiftig freizumachen, geftattet, wie will man auch nur den Schatten eines 
Bemeiles liefern, daß er Rang und Titel höher eingefchäßt habe als nad ihrem 
wirflihen Wert? Ganz ausdrüdlich erklärt er doch, daß ihm feine Standes- 
erhöhung innerlid; nichts bedeutet habe, und daß er fi) gar nicht gewundert 
haben würde, wenn man ihn zum Fürften gemadt hätte. Dabei verfannte er 
freilich, die Vorzüge ariftofratifcher Herkunft, deſſen, was wir jet das Raffige 
nennen, nicht und war weit davon entfernt, ſich ald Gleichheitäpriefter aufzu- 
Ipielen, vor der bloßen Fürftlichkeit als folcher, wenn nicht zugleich eine tüchtige 
Menihennatur und ein tüchtiger Menfchenwert dahinterſteckte, hatte er jedoch 
nad) eigenem Ausdrud „nie viel Reſpekt“. Es ift ſchlimm, daß man foldhe Dinge 
nod in unjeren Tagen wiederholen muß, aber die Krankheit unferes Zeitalters 
ift ja nicht der Servilismus, obſchon auch diefer hier und da nod in Reinkultur 
gezüchtet wird, fondern die demokratische Proßerei, die Ueberhebung des Plebejer- 
tums, das nicht bloß der hohen Geburt, jondern auch getitiger Größe die ge- 
bührende Rüdficht verjagt, dagegen vor der Macht des Geldes jämmerlich Eriedht. 
— Bon der „fteifen” Grellenz merkt man bei Edermann faum etwas. Selbft: 
verftändlich, Goethe ift öfter fteif und zurückweiſend gewefen, ob aber am un: 
rechten Plage, ift doc) noch ſehr fraglich, man weiß ja doc, welche Gefellen fi 
an die großen Männer heranzudrängen pflegen. Sollte er aber auch einmal je- 
manden, der es nicht verdiente, fchlecht behandelt haben, jo wird ſich das menſch— 
lich jederzeit leicht erklären lafjen: die Künftlernatur ift von Stimmungen ab: 
hängig, und wenn Goethe auch gewiß diefer Stimmungen mehr Herr war als 
jeder andere, hin und wieder machten fie jid) natürlich; auch bei ihm geltend. In 
der Hauptſache ericheint er bei Edermann durchaus menfclich-liebenswürdig, 
freundlich, ja gütig. Welche Nüdficht nimmt er auf die Eigenheiten feines 
Schüglings, die Gefellihaftsfurdt, die Theaterliebe, wie Eindlich-zutraulid er- 


396 Adolf Bartels, Goethe und Edermann. 


icheint er vft! Wie iſt es geradezu rührend, wenn er, der alte große Mann, den 
jungen, der ihm ja zwar in mander Beziehung nützlich war, väterlich ala „liebes 
Kind" anredet ımd feine Zuneigung wohl gar durch allerlei Liebfojungen, wie 
Dändedrud und Streicheln, zu erkennen giebt. Es ftedte in dent Genius Goethes, 
wie in jedem echten, die Kindesnatur bis zu allerlett: Nicht nur, daß er gelegent- 
lich noch auögelafjen wie ein Kind fein und Sinderfpiele, wie das Bogenſchießen, 
treiben kann, er hat aud die ftärfite Sympathie für die Jugend und weiß ſich 
jehr wohl in die Sinderjeele bineinzuverießen, wie er denn z. B. die Störung 
aller Sinderjpiele durch die Polizei, die in unferem demokratischen Zeitalter erſt 
recht an der Tagesordnung ift, aufs höchite tadelt. Jawohl, Goethe wußte, mie 
man freie Menjchen erzieht, daß es gamicht darauf ankomme, ob die Erwadjjenen 
ein größere8 oder geringered® Maß von politifcher freiheit (die ja nebenbei be- 
merkt, immer darauf hinausläuft, jo oder jo vielmal das Blindekubjpiel des 
Wählens treiben zu dürfen) befigen, jondern darauf, ob der öffentliche Geift, 
hinter dem wieder der Nationaldarakter fteht, wahrhaft frei ſei — nun, wir 
fangen an, uns in diefer Richtung zu entwideln, aber im Gegenjaß zur Demo- 
Eratie. Doch es ift bier zunächft noch von Goethes Berjönlichkeit, noch nicht von 
jeinen Anjhauungen die Nede. Wahre Güte und grandioje Natürlichkeit, das iſt 
meiner Ueberzeugung nad, wenn man die bier und da das Gold verbergenden 
Schlacken wie billig ignoriert, ihr Charafteriftitum. Goethe war fein Egoift oder 
doch nicht mehr Egotit, als es ein großer Mann, der feine Aufgaben auf Erden 
erfüllen will, fein muß. Gewiß, er benugt Edermann, er fchneidet ihm jogar die 
Möglichkeit auf fich ſelbſt geftellter Entwidelung ab, aber er thut das doch wohl 
aus der Erkenntnis heraus, daß der freie Schriftiteller Eckermann nicht viel mehr 
als ein Berufskritifer geworden wäre, und entſchädigt ihn aufs reichlichſte. Zu 
einem jchwärmerifchen Sdealijten, der ſich, wie er wenigſtens glaubt, immer für 
andere aufopfert, hatte Goethe allerdings nicht die geringfte Anlage, er war 
Realift duch und durch, aber jein Realismus hat nichts von der brutalen Härte 
des eigentlichen Thatmenjchen, er entjpringt einer durchaus gütigen, hochgebildeten, 
dabei allerdings auch jehr verjtandesklaren Natur. Und jo ergiebt er dauerhafte 
menſchliche Verhältniſſe. 

Eben dieſen verſtandesklaren, aber keineswegs rein verſtandesmäßigen, viel— 
mehr auf tiefſter Erkenntnis menſchlicher Natur und wärmſter Anteilnahme an 
allem Menſchlichen beruhenden Realismus erkennen wir in Goethes Verhältnis 
zu allen menſchlichen Dingen und Inſtitutionen, und es iſt ein ungeheures Ver— 
dienſt des Eckermannſchen Buches, daß es dies Verhältnis faſt jederzeit unendlich 
klar und prägnant hervortreten läßt. Daß Goethe kein Hofmann war, haben 
wir bereits geſehen, er war auch kein politiſcher Reaktionär oder, wie man es 
auch vielfach hinſtellt, ein völlig unpolitiſcher Menſch, ſondern er hatte ſehr ver— 
nünftige Anſchauungen über Staat und Politik, die man der Mehrzahl der 


Adolf Bartels, Goethe und Edermann. 397 


heutigen Deutfchen nur wünſchen könnte. Auch hier ein entjchiedener Realismus: 
Lange vor Bismard hat Goethe die Politik für ein fehr großes Metier, das den 
ganzen Menfchen erfordere, alfo für eine Kunſt erklärt und feinen Abjcheu gegen 
die Pfufcherei in Staat3angelegenheiten, woraus für Taufende und Millionen 
nicht3 als Unheil hervorgehe, ausgefprochen. Aber einfeitig Freund des Be— 
ftehenden wollte er auch nicht heißen, fondern nahm ganz entichieden den Ehren- 
titel eines Freundes des Volkes für fi in Anſpruch. Zwar er hafte den ge: 
waltfamen Umfturz, wie er den Defpotismus eine Ludwigs XV. verurteilte, 
alles Gewaltfame, Sprunghafte war ihm in der Seele zumider, weil es nicht 
naturgemäß fei, aber gegen den vernünftigen Fortichritt hatte er nicht daS Geringfte 
einzumenden, ja, er, der Sohn des angeblich unpolitifchen achtzehnten Jahrhunderts, 
war feinen mit dem englifhen und namentlic) dem franzöfiichen Liberalismus 
fofettierenden Zeitgenoſſen injofern unendlid, weit voraus, als er klar erkannte, 
daß jeder Fortichritt dem Nationaldyarakter eines Volkes entfprechen müſſe. Es 
find auch noch für ung goldene Worte, die er am 4. Kanuar 1824 zu Edermann 
jagte: „Wiederum ift für eine Nation nur das gut, was aus ihrem eigenen 
Kern und ihrem eigenen allgemeinen Bedürfnis hervorgegangen, ohne Nadhäffung 
einer anderen. Denn was dem einen Volk auf einer gewiſſen Altersftufe eine 
mwohlthätige Nahrung fein kann, erweift fich vielleicht für ein anderes als Gift. 
Alle Verſuche, irgend eine ausländiiche Neuerung einzuführen, wozu das Bedürf- 
ni3 nicht im tiefen Kern der eigenen Nation wurzelt, find daher thöricht und alle 
beabfichtigten Revolutionen ſolcher Art ohne Erfolg; denn fie find ohne Gott, der 
ſich von ſolchen Pfufchereien zurüdhält. Iſt aber ein wirkliches Bedürfnis zu 
einer großen Reform in einem Volke vorhanden, fo tft Gott mit ihm, und jie 
gelingt.” Daraus folgt, daß tiefe Kenntnis des Nationalcharakters die Bor: 
bedingung alles politiichen Wirfens ift, und daß Goethe diefe beſaß, beweiſt die 
ebenfalld im Edermann zu findende fchöne Rede über den deutichen Andividualis- 
mus, wie jeine Prophezeiung der deutfchen Einheit, die nicht viel anders gekommen 
ift, alö er vorausjah. Wundervoll iſt dann auch hier wieder Goethes Zug zur 
Jugend: „Wäre ich ein Fürft, fo würde ich zu meinen erften Stellen nie Leute 
nehmen, die bloß durch Geburt und Anciennetät nach und nad) beraufgefommen 
find und nun in ihrem Alter in gewohntem Gleife langſam gemächlich fortgehen, 
wobei dann freilic) nicht viel Geicheites zu Tage kommt. Junge Männer wollte 
ich haben — aber es müßten Kapazitäten fein, mit Klarheit und Energie aus— 
gerüftet, und dabei vom beiten Wollen und edelftem Charakter. Da wäre es 
eine Luft zu herrſchen und fein Volk vorwärts zu bringen.“ Diejer Preis der 
Jugend galt freilich nicht den grünen Jungen, über deren Anmaßlichkeit Goethe 
vielmehr öfter Elagte, er war nur die Proklamierung des Satzes: „dem Talente 
offene Bahn!“, der denn volllommen zu Goethes Flarem und warmem Realismus 
fimmt. - — 


398 Adolf Bartels, Goethe und Eckermann. 


Er hat ihn aud der deutfchen Litteratur feiner Zeit gegenüber zur Richt: 
ſchnur genommen, was auc gegenteilige3 behauptet worden ift. Es ift 3. 8. 
eine offenbare Lüge, wenn Heinrich Heine behauptet, Goethe habe Angft vor 
jedem jelbftändigen Driginaljchriftfteller gehabt und alle unbedeutenden Klein— 
geifter gepriefen, ja, er habe es jo weit getrieben, daß es endlich für ein Brevet 
der Mittelmäßigfeit gegolten habe, von Goethe gelobt worden zu jein. Ueber 
Goethes Verhältnis zu Kleiſt will ich hier nicht reden, das fallt in eine frühere 
Zeit — hat der Dichter aber nicht jelbit diefem Unglüdlichen, von dem er ſich 
abgeitoßen fühlte, die Bahn zu öffnen verſucht? Edermanns „Geſpräche“ jpiegeln 
die Yitteratur des Nejtaurationszeitalters wieder, das von Goethe mit Recht als 
eine etwas dumpfe Zeit des Auslebens empfunden wurde, es erhält aber jeder, 
der in ihm bedeutender hervortrat, von Goethe eine im ganzen zutreffende 
Charakteriſtik. Grillparzer, der bedeutendſte, kommt im Gdermann leider nicht 
vor, wir willen aber aus deſſen eigener Biographie, daß Goethe ihn äußerſt 
freundlich aufnahm, und daß er es Sich ſelber durd) ungeſchicktes Wejen bei dem 
Alten verdarb. Uhland geichieht nur jcheinbar unrecht — Goethe hat zufällig 
jeine etwas weichliche Jugendlyrik gelefen und ift dadurch abgeſtoßen worden, 
erkennt dann aber den Balladendichter an. Und wenn er jpäter unter noch 
wärmerer Anerkennung der Gejamterjcheinung Uhlands dejjen politiiche Richtung 
tadelt, hatte er da nicht recht? Sind nicht etwa die politiichen Gedichte des 
tüchtigen Schwaben troß einiger glänzenden rhetorifchen Stellen im ganzen 
poetiſch ſchwach? Ueber Rüdert hat Goethe freundliches gejagt, Platen hat er 
als Talent jogar überjchägt, freilich aud) feine negative polemiſche Richtung ge= 
tadelt und das harte, wenn auch bis zu einem gewiljen Grade treffende Wort 
über ihn geiprocdhen, daß ihm die Liebe fehle. AJmmermanns Bedeutung erkannte 
er auch gleich, obſchon das damals noch keineswegs fo leiht war. Das find 
denn doch jchon beinahe alle vorragenden Talente der Zeit. Daß hier und da 
auch einmal eine Mittelmäßigfeit gelobt wird, ſoll nicht bejtritten werden, aber 
die Egon Ebert, Auguft Hagen und Wilhelm Meinhold jind noch keineswegs 
ſolche. Es fiel dann allerdings das Wort über die forcierten Talente, aber wer 
möchte leugnen, dab es jchon für die zwanziger Jahre berechtigt (Grabbe, auch 
Deine) und für die dreißiger Fahre, die Zeit des jungen Deutichlands, geradezu 
prophetiih war? Sehr viel bedeutender find dann freilich im Edermann die 
Auslaffungen über die Älteren Zeitgenofjen Goethes, unſere klaſſiſche Dichtung, 
und die über die ausländifche Litteratur. Für die erjtere, für Leſſing, Wieland, 
Herder, vor allem aber Schiller find die Ausiprüde Goethes zum Teil von 
geradezu grundlegender Bedeutung, ich würde mich beijpieläweife anheiſchig 
machen, aus ihnen eine Charakteriftit Schiller3 in feinen Borzügen und Schwächen 
zu entwideln, die man noch heute, nach Hebbel und Ludwig, als maßgebend an- 
zuerfennen haben würde. Auch Nichtdichter, die während des Sturmes und 


Adolf Barteld, Goethe und Edermann. 399 


Dranges und in der klaſſiſchen Zeit, zumal in Goethes Leben eine große Rolle 
geipielt, Merk und Karl Auguft 3. B., treten aus den Geſprächen außerordentlich 
plajtiich hervor; fie find nicht bloß ein Lebens-, fie find auch ein Geſchichtsbuch 
von nicht unbeträdtlihem Wert. — Ganz hervorragend iſt der Edermann als 
Wiederjpiegelung der ausländischen litterariihen Einflüffe, die damals, nachdem 
ſie zuerit von Deutfchland, von Goethe im bejonderen ausgegangen, gleichſam 
rüdjchwellend nad; Deutſchland zurüdkehrten. In gewiſſer Hinſicht fteht Lord 
Byron im litterariihen Mittelpunkt des ganzen Buches, jein menjchlicher und 
dichteriiher Charakter und auch feine Poeſie finden eine fait erjchöpfende Dar: 
ftellung. Wir Deutihen von heute haben im allgemeinen feinen Zug mehr zu 
Byron, er it und zu ſehr im fich gebunden, feine unzweifelhaft äußerit jtarfe 
Subjeftivität ift uns nicht objeftiv-poetiich ausgiebig genug; immerhin aber be: 
greifen wir, wie er auf Goethe, der jeit Schiller8 Tode einjam daftand, wie ein 
Phänomen wirkten mußte, und wir folgen dem Alten gern, wenn er uns feines 
Lieblings Größe auseinanderjegt. Dauerhafter erjcheint uns Heute jein Lob 
Walter Scotts, und auch die Begeilterung für Manzonis „Verlobten" können 
wir wohl nod) teilen, umſomehr, da wir fie außerordentlich friſch und unmittelbar, 
in den Pauſen der Lektüre überliefert befommen. Daneben dann die Größen der 
franzöfiihen romantischen Schule, Beranger, der freilich als echter Gallier nur 
halb zu ihr gehört, Viktor Hugo, beffen „Notre dame de Paris“ freilich ver- 
worfen wird, Prosper Mérimée u. j. w. Auch die Männer der franzöfijchen 
Wiſſenſchaft, die Guizot, Couſin, Billemain, die ganze junge Generation des 
„Globe“ jchreiten ſehr refpeftabel einher, und wir empfinden das Erjtaunen 
Goethes, daß die leichtjinnigen Franzofen unter dem Einfluß deutſcher Wifjen- 
Ihaft und Kunſt plöglich jo ernithaft und gründlich geworden find, mit ganzer 
Seele nad). Mehr als alle dieje Männer des Friedens fejjelt freilich der Kriegs: 
gott Napoleon, vor dem er felber einft in Erfurt geftanden hatte, die Aufmerk: 
ſamkeit Goethes, er iſt, könnte man faft jagen, neben Byron der zweite Mittel- 
punft der „Geſpräche“, und das Genie Goethe madht aus feiner Bewunderung 
des Genies Napoleon Eein Hehl. Wer wollte fich darüber entrüften? So lächer— 
fi, ein eigentlicher Napoleonkultus in Deutjchland ift, wie er dann bald bei uns 
eingeführt wurde, jo leicht verftändlich iit ein gewaltiges pſychologiſches Intereſſe 
an dem Erben der Eäjaren, wie es die damals allmählich hervortretende Memviren: 
fitteratur über ihn denn aud; bei Goethe wachrief. Edermann als Geſchichtsbuch 
durfte nicht ohne die Geftalt des Korſen jein. 

So rei nun aber aud die „Geſpräche“ an Material zur Zeiterfenntnis 
find, jo ficher Byron und Napoleon höchſt bedeutfam gejpiegelt werden, immer 
kehrt doc) die Aufmerkjamkeit zu Goethe jelbit zurüd, feine Perfönlichkeit, fein 
Leben und Schaffen geben, wie felbitverftändlich, den Gehalt des Buches, erſt in 
Bezug auf ihn eriheint und alles von höherer und tieferer Bedeutung. Speziell 


400 Adolf Barteld, Goethe und Edermann. 


für Goethes Schaffen ift der Edermann ein äußerſt wichtiges Quellenwerk: Nicht 
nur, daß uns gezeigt wird, wie der alte Meifter zu den meilten feiner früheren 
Werke ſtand — beiſpielsweiſe über den „Werther” fagt er ſelbſt das Beſte, was 
je darüber gejagt worden ift —, mir fehen auch noch eine Reihe von Werfen, 
„Die Wanderjahre”, Teile von „Wahrheit und Dichtung”, die „Novelle“, vor allem 
den zweiten Zeil des „Fauſt“ vor unferen Augen entftehen und können unfchäß- 
bare Blide in die Dichterwerfftatt Goethes thun. E38 ift richtig, feine Geftaltungs- 
funft war nicht mehr auf der Höhe, wir bemerfen ein Hebergewicht der Reflerion, 
ja, bier und da eine gewifje mechanische Weife, die den mangelnden „Strom“ 
durch allerlei äußerliche Mittelhen erjegen will. Aber die ganze ungeheuere 
äfthetifche Erfahrung eines unendlich reichen Künftlerlebens beſaß doc auch noch 
der Goethe Eckermanns, und alles in allem find die „Geſpräche“ doch aud ala 
äfthetijches Lebensbuch in der deutfchen Litteratur einzig, nur etwa die „Tage— 
bücher“ Hebbeld möchte ich ihnen an die Seite ftellen. Natürlich, ich weiß, was 
auch in Goethes Werfen felber ftedt, aber die Form, in der wir e8 bei Eder- 
mann erhalten, ift vielfach glüdlicher, wir fünnen hier öfter den Gedankengängen 
nachgeben, und nichts ift fruchtbarer. Auf die Einzelheiten kann ich bier felbft- 
verftändlich nicht eingehen, aber beifpielsweife iind Goethes Auslaffungen über 
die Produktivität, über das Schöne als Urphänomen, über die Abhängigkeit der 
jüngeren Dichter von älteren von geradezu monumentaler Bedeutung, und nod) 
viele8 andere würde in einer Piychologie des künſtleriſchen Schaffens eine ganz 
hervorragende Stelle finden. Am Notfall ift die äfthetifche Bildung, die man fich 
aus Edermann holen kann, fogar noch für unfere jeßigen Eomplizierten Verhält— 
nifje ausreichend. Auch für die bildende Kunſt läßt fich ſehr viel lernen, mag 
Goethe immerhin zu fehr in jeinem Haffiziftifchen deal befangen gemwejen fein. 
Cum grano salis muß man freilich lejen Eönnen, wenn man den reiten Nutzen 
haben fol; es ift gewiß nur ſehr bedingt richtig, wenn Goethe den jungen 
Talenten das Abfaſſen größerer Werke widerrät oder die äußerfte Rüdfichtnahme 
auf das Theater empfiehlt, der Nealift Goethe lobt unter Umftänden auch ein- 
mal eine Praris, die mit der Kunſt nicht recht bejtehen kann. Aber dem Ganzen 
gegenüber bejagt das garnichts, nicht mehr, als feine Abneigung, in Sachen der 
Farbenlehre Widerſpruch zu erfahren, für feine ganze Perjünlichkeit bedeutet. 

Fa, die Farbenlehre! Da wären wir denn bei der Materie, die in den 
Geſprächen uns heute wohl gelegentlich einige Langeweile verurfadht. Ach kann 
nicht leugnen, ich würde mich Eöniglich freuen, wenn Goethe auch bier noch recht 
befüme und die geniale Intuition abermals einen Sieg über die gelehrte Forihung 
davontrüge. Aber ic; traue dem Frieden nicht recht, und am Ende war auch 
Newton ein Genie. Immerhin werden bei Gelegenheit der Farbenlehre von 
Goethe tiefe Wahrheiten genug ausgefprodhen, und vor allem, man kann den 
Geiſt erkennen, in’ welchem Goethe forfhte. Die modernen Naturforfiher haben 


Adolf Barteld, Goethe und Edermanın. 401 


ja zu einem großen Teil Gvethe als den Ihrigen reflamiert, aber ich fürchte, er 
würde keineswegs mit ihnen durd did und dünn gehen und manchen der Herren 
ſehr energiich ablehnen. Eine ähnliche Anſchauung hat Fürzlich Fri Lienhard 
ausgefprodyen: „Goethes, dieſes Künftler voll ficheren und feinen Inſtinktes, 
Grundftimmung in all feiner feufchen und intuitiven Forſchung war und mußte 
fein: eine zarte Zurüdhaltung vor den letten, nicht zu löfenden Weiten... . .“ 
Goethe vergleicht die Natur bald mit einem „nedifchen jungen Mädchen", das 
durch taufend Reize anlodt und immer wieder entjchlüpft, bald nennt er ihre 
„Geheimniſſe von einer unergründlichen Tiefe" und betont, daß fie, wenn wir 
auch immer weitere Blide hinein thun dürfen, „doch am letten Ende unergründ: 
lich bleibt". An einem Aphorismus jagt er ſcharf und nadt: „der Begriff vom 
Entftehen ift ung ganz und gar verſagt.“ Goethe, der die vielfagende Homunkulus— 
fcene gejchrieben hat, jchrieb aud) die Worte: „Wenn man fie (die bloß mathe: 
matiſchen Naturen, die Goethe nicht liebte) auf ehrfurchtsvolle Weife in Raum 
und Zeit gewähren läßt, jo werden fie erkennen, daß wir etwas gewahr werden, 
was weit darüber hinausgeht, welches allen angehört und ohne welches jie jelbft 
weder etwas thun noch wirken künnten: Idee und Liebe.“ Goethe, der jogar 
zu einem poetifchen Myſticismus leife Neigungen verriet (Seelenwanderung, 
Dämonismus des Genies), der über die Unfterblichkeit ebenjo fein zurüdhaltend 
wie ehrfürdtig jpradh, fahte das, was er als höchſtes Glück des denfenden 
Menfchen empfand, in die Weisheitäworte zufammen: „Das Erforichliche erforicht 
zu haben und das Unerforfchliche ruhig zu verehrten.“ So wurde er beiden 
Standorten gerecht: dem objektiven, der eraft die Materie bis zu gewiſſen Grenzen 
beihaut, aber auch dem fubjektiven, der ſich ahnend als Teil des unendlichen 
Weltgeiſtes fühlt — 
. » iſt doch der Kern der Natur 
Menſchen im Herzen.“ 


Ganz gewiß, das ift die richtige Anſchauung über Goethe als Naturforfcher. 
Ich gehe vielleicht noch weiter ald Lienhard und fage: Goethe hatte nicht bloß 
leife Neigungen zum poetiſchen Myſticismus, er war eine pojitiv religiöfe Natur, 
weit entfernt von dem religiöfen Indifferentismus, den man ihm vorgeworfen 
bat. Der Edermann, der nicht bloß Lebens: und Geſchichtsbuch, der auch Welt: 
anſchauungsbuch ift, beweilt e8 an hundert Stellen. Ich führe nur die eine an, 
wo Goethe, ald ihm Gdermann von der, ſelbſt freigelaffen, zu ihren in der Ge— 
fangenfchaft befindlichen Jungen zurüdfehrenden Grasmüde berichtet, in die Worte 
ausbricht: „Närrifcher Menſch, wenn Ihr an Gott glaubtet, jo würdet Ihr Euch) 
nicht verwundern." Ganz unbedingt ift in Goethe ein tiefer Gottesglaube, den 
man feineswegs als eine pantheiftiiche Allgemeinheit aufzufaffen hat, fondern als 
tiefſtes Bedürfnis einer wahrhaft frommen Natur, die freilich zu einem VBernunft- 
opfer nicht geneigt war und das Anthropomorphiiche in allen Religionsvorftellungen 

26 


402 Adolf Bartels, Goethe und Edermann. 


nur zu gut erkannte. Wäre nur der Glaube all unferer Frommen ſo innig, feit 
und demütig wie bei Goethe! Und es war ein echt protejtantifcher Glaube, noch 
in feinem legten Gefpräd mit Edermann fpricht Goethe das ganze Verdienit 
Luthers fo klar wie möglich aus: „Wir haben wieder den Mut, mit feften Füßen 
auf Gottes Erde zu jtehen und uns in unſerer gottbegabten Menjchennatur zu 
fühlen." Gottbegabte Menjchennatur! Als folde empfand er vor allen das- 
Genie, deflen, Schöpfungen ihm durch bloß menſchliches Wollen und menjchlice 
Kräfte einfach nicht erreichbar ſchienen, und ftellte e3 ſogar als Gottes Abjicht 
bin, auf der materiellen Unterlage der Welt eine Pflanzfchule für eine Welt von 
Geiſtern zu gründen: „So ift ev nun fortwährend in höheren Naturen wirkſam, 
um die geringeren heranzuziehen.“ Es iſt Kar, daß man zu einer jolchen An- 
ihauung mit dem dumpfen pantheiftiichen Gott, dejien Kerker die Welt ift, nicht 
gelangt, wenn andrerjeitS auch der außerweltliche perjönliche Gott Hier ebenjv- 
wenig in Betracht kommt. Goethes Gott ift aus den tiefiten Gründen nicht be- 
grifflich norimiert, aber er ift ebenſowenig ein hlafjer Schemen, ein Verlegenheits— 
produkt, wie bei jo vielen Religiös-Freifinnigen, er ift fejt geglaubt und tief gefühlt — 
und Gefühl ift alles! Suweit ſich überhaupt ein Glaube anders als dichteriich aus: 
iprechen läßt, hat Goethe ihn bei Edermann ausgefprodyen, und fo fehlt auch das 
Letzte nicht, was wir zur Erkenntnis einer großen Perfönlichkeit braudyen: Bon der 
äußeren Miene bis zum tiefiten Bekenntnis, alles birgt diefes wunderbare Bud). 

Es ſteckt ja aber nicht bloß der ganze Kohann Wolfgang Goethe, es ſteckt 
auch der ganze Johann Peter Edermann darin, und diefen genauer fennen zu 
(fernen ift doch ebenfalls dev Mühe wert. Goethe fpiegelt die Welt, und Eder: 
mann ſpiegelt Goethe, könnte man das Berhältnis ausdrüden, aber Goethe ift 
auch eine Welt, während Edermann als Perjönlichkeit freilich nur ein bejcheidenes 
Winkelchen bedeutet. Immerhin joll man die rein receptiven Naturen nicht unter: 
ihäßen, fie vermitteln zwijchen Genius und Welt und find um fo fhäßbarer, je 
treuer fie aufnehmen. Ein wenig Produktivität gehört auch dazu oder doch Re— 
produftivität, und die hat Edermann ja au durch jeine „Gedichte" und durch 
feine „Beiträge zur Poeſie mit bejonderer Hinweiſung auf Goethe" erwieſen. 
Als „Spiegel” aber ift er unvergleihlich, und es ift mehr als bloße Schmieg- 
jamfeit, was ihn befähigte, Goethes Wejen und Art bis zur Gebärde der Rede 
treu wiederzugeben, es ijt eine angeborene minutiöfe Beobadhtungsgabe und eine 
Frische der Sinne, wie wir ſie an den Naturfindern bewundern, und wie jie 
diefer Sohn der Lüneburger Heide als Erbteil feines Stammes und aus einer 
unter dem niederen Volke nahe der Natur verbrachten Jugend mit befam, es iſt 
endlich die Liebe, die das Beite gab. Ueber jeinen Bildungsgang hat Edermann 
jelber in der Einleitung zu feinen „Geſprächen“ berichtet: Er ift merkwürdig 
genug, es will etwas heißen, vom Subjungen zum vertrauten Genofjen eines 
Goethe emporzutommen. Noch merkwürdiger ift, daß Edermann nicht durch die 


Adolf Bartelö, Goethe und Edermann. 403 


ihm widerfahrene Auszeichnung „verdreht” wurde, daß er der einfache, bejcheidene, 
fiebensmwürdige Menjc blieb, der er gewejen war. Aber er fam nicht allzufrüh, 
erft nad) jeinem bdreißigften Lebensjahre (1823) an Goethe heran, und es war 
nicht bloß tüchtiges Bildungsftreben, ſondern auch ethischer Fonds in ihm, und 
der erſetzt menjchlidy jehr wohl die Genialität. Alles in allem war er eine durch— 
aus gefunde Natur und bei aller Sorglofigkeit und Beitimmbarkeit, was fein 
üußeres Geſchick anlangte, doc im Kerne feit. Es jpricht doch jehr für ihn, daß 
er Goethe jelbft auf dem Gebiet der Farbenlehre mit Einwürfen zu kommen 
wagte. Goethe aber hat nicht bloß feine Brauchbarkeit bei der Redaktion der 
Werke, jondern ſicher auch feine innere Tüchtigfeit wahrhaft gefchäßt, und es ift 
zwifchen dem alten und dem jungen Manne ein wahrhaft jchönes Verhältnis 
entftanden. Geiftig unbedeutend war Edermann aud) feineswegs, er war ein 
Zuhörer und „Zwiſchenredner“, wie ji ihn der große Mann nicht beſſer wünſchen 
fann, zwar durchaus „Släubiger”, aber darum noch nicht unbedingter Jaſager 
und Nachbeter. Es find nicht die jchlechteften Partien der Geſpräche, wo Eder: 
mann mehr hervortritt, jelbit die, wo er das Wort führt und feine Erfahrungen 
über Vögelzucht und -mauferung und über feine Bogenherftellungsverfuche meit- 
läufig darftellt, lefen wir mit großem Vergnügen: erftens, weil fie jo „ſachlich“ 
find und dann, weil fie angenehme Unterbrechungen bedeuten. Ueberhaupt ftammt 
von Edermann weſentlich das idyllische Element der Geſpräche, das wir zwiſchen 
all dem Hohen nicht miffen möchten, er war nicht umſonſt ein Landsmann oder 
doch Stammesgenofje von Johann Heinrich Voß. Daß er aber auch großer 
Empfindungen fähig und ein Stüd Dichter war, zeigt fih an manden Orten, 
vor allem bei der Schilderung bed Beſuches bei Goethes Leiche. Die hätte der 
größte Dichter nicht ergreifender geftalten können und fie wiegt hundert lobens— 


werte Gedichte auf. 


Bie Brokltadt Tdhläft. 


Die Mondnacht webt aus ABoll und Dur 
oh Üüberm toten bäufermecre 

Uralte Lieder der Matur, 

Gewebt aus Licht und Erdenfchwerc. 
Der Machtwind barft fie leis und facht, 
Solange bis die Stadt erwacht... 

Ein Lied der Mot, ein Lied der Liebe... 


Paul Fricdric. 
26* 


OGOGCOGOGGOGGGOGGCGCC 


Aus dem Leben der Hauptstadt. 


Von 
9. Norden. 


L 


pät abends, wenn Du auf Deinen Balkon hinaustrittſt, oder zum Fenſter 
hinauslehnſt, um vor dem Schlafengehen noch ein paar Züge friſcher Luft 
einzuatmen, oder Dich in den Anblick des ſternblinkenden Himmels über Dir zu 
verſenken, was Dich immer von ſo viel Ballaſt befreit, den Du tagsüber in Kopf 
und Herz mit Dir herumſchleppſt, Niederſchläge einer Menge häßlicher Eindrücke, 
die Du zwiſchen Morgen und Abend in Dir aufgenommen — dann tönt durch 
die faſt feierliche Stille des Vororts, in dem Du lebſt, ein dumpfes Rauſchen, 
ein leiſes Klingen und Singen, das nur jezuweilen der langgezogene oder kurz 
aufjauchzende-Pfiff einer irgendwo vorüberraſenden Lokomotive unterbricht .... 

Es erinnert Dich an goldene Sommertage, dieſes dumpfe Rauſchen, dieſes 
leiſe Klingen und Singen... Du wähnſt Did) wieder an der Meeresküſte, an 
einem friedlihen Abend, der einem Tage voll Sturmesheulen und Wogenbraufen 
gefolgt ift. Nafch haben die Stürme ausgetobt, und bald ſchon bejänftigte fich 
da8 Meer an Deiner Küfte. Und fo kann ſelbſt einem fturmreichen Tage ein 
ſtiller Abend folgen, und leife nur noch raufht und fingt und Elingt hinter der 
Düne das Meer. Seine Atemzüge nennit Du diefes regelmäßige Kommen und 
Gehen dumpfraufchender, Tanggeitredter Wellen... . 

Und Atemzüge auch find es, die Du jetzt vernimmft, in nädhtlicher Stille, 
auf Deinem Balkon, an Deinem Fenfter — die Mtemzüge einer Millionenftadt. 
Wie das Meer gewaltig in feinen Yebensäußerungen, wie das Meer unergründ- 
lich in feinen Tiefen, wie das Meer in hundert und aberhundert QTönen und 
Farben fchillernd, Leben zeugend und Leben vernichtend, voll tüdijcher Klippen 
und Riffe unter trügerifch gleißender Dede, furdtbar im Aufruhr, berüdend im 
Zufammenwirken zahllofer Kräfte, der Tummelplat und das Grab fühner Hoff- 
nungen, Wiünfche, Träume — wie das Meer... 

Du lauſcheſt dem Rauschen, Singen, Klingen . . . Eine zauberifche Weife. 
In ihrer Einförmigkeit erhaben und groß wie der helle Schein, der drüben hinter 
den Gärten, wie ein Nordlicht am Horizont leife fladernd und flimmernd, gegen 
den Nachthimmel fteht. Ein Glorienſchein des Schaffens und Wirfens und 


J. Norden, Aus dem Yeben der Dauptjtadt. 405 


Könnens menſchlicher Geifteskraft über der Riefenftätte, wo fie fich bethätigt im 
Treiben und Drängen und Ringen und Kämpfen von Hundert: und Hundert— 
taufenden einzelner Lebewefen, von denen jedes die Gejamtheit fo oder jo 
wiederjpiegelt. 

Man fpricht fo viel von der Poeſie der Kleinſtadt. Selbft da noch, wo ihr 
die Natur und Gefchichte mit allerlei malerischen Effekten nicht einmal zu Hülfe 
fommen. Es ift die Poeſie des Kleinen und Beichränkten, die Poefie des Idylls, 
des Liedchens. Sie löft in ung nur eine Empfindung aus. in gewaltiges 
Heldenepo3 ift die Poefie der Millionenftadt, und fein Held ift das Menfchen- 
tum in allen Bethätigungen feines moralifchen, intellektuellen und geiftigen 
Lebens: Duelle und Ausfluß diefer Thätigkeit auf allen Gebieten und zwiſchen 
beiden ein erbitterter Kampf, ein raftlofes Ringen. 

Es hat etwas Beraufchendes, wenn man ſich hineinverjenkt in die ungeheure 
Summe von geiftiger und förperlicher Arbeit, die in folcher Mietropole in jedem 
Augenblid geleiftet wird, und wenn ınan bedenkt, wie nie, auch in feiner Stunde 
der Nacht, diefe Arbeit ganz aufhört und ruht und wie viele Millionen von 
Menfchen im weiten Neid) und auf dem ganzen Erdball zu diefer Summe von 
Arbeit in enger Beziehung ftehen, diene fie der Staatsverwaltung, der Unter: 
haltung von Heer und Seemadt, dem Handel und Gewerbe, der Kunft und 
Wiffenichaft, der Technik und dem Werfehrsleben, dem Kultus und dem Unter: 
richtsweſen, der Wohlthätigkeit und der Gejundheitspflege oder was ſonſt es fei. 

Nie vielleicht fühlft Du Dich fo eins mit der Menfchheit, al8 in dieſer 
nädtlichen Stunde, wenn das ferne dumpfe Raufchen und das leife Singen und 
Klingen an Dein Ohr Ichlagen und Du der leuchtenden Aureole am Horizont 
nadhfinnft. Nie auch kommen Dir die Gegenſätze des Lebens fo zum Bemußtfein, 
wie dann: die Gegenjäte von Lurus und Wohlleben und von Hunger und Elend, 
von größter geiltiger Anfpannung und vom Schmarugertum, von mweitausfchauen- 
dem oder im jtillen, in engerem Kreiſe geübten MWohlthun und Dienft zum 
Segen bedürftiger Mitmenfchen und von furdtbaren Verbrechen und Ichranfen- 
loſeſter Nichtachtung des Nächiten, von dem heißeften Ringen nad, bejjerer Er- 
fenntnis und von fatanischer Leugnung all’ deilen, was menjchlichem Gemein- 
wejen und menjchlichem Gemeinwirken das Dafein und die Früchte der Arbeit 
gewährleütet. 

Tagsüber, wenn Du felbjt untertauchit in diefem Meer von Beftrebungen, 
von Arbeit, von Lebensbethätigung jeglider Art — dann ſpürſt Du, im Gemühl 
des Straßenlebens, in der Hetze des Berufälebens, im Drange Deines Strebens 
immer nur das Allernäcdhfte — überſchauen fannit Du das Ganze nur in jtiller 
Stunde bed Sinnens. Und dann auch mur erfchließt ſich Dir die ganze Poeſie, 
die das Wort und den Begriff einer „Millionenftadt” umfaßt. 

* 


* 
* 


406 J Norden, Aus dem Leben der Hauptitadt. 


Welch’ eine Unſumme von fchon Geleiftetem auf all! diefen Gebieten 
ichließen die Worte „Aus dem Leben der Hauptftadt” in fih. Hat der Gedanke, 
wie viel verjchiedenartige Arbeit in einer Millionenftadt in der kurzen Spanne nur 
einer Biertelftunde geleifter wird, jchon etwas Padendes — überwältigend ift 
der Eindrud, wenn man fid die gefamten Früchte diefer nimmerraftenden Arbeit 
vergegenmwärtigt. 

Man hat e8 — und mit Recht — als einen Borzug Deutſchlands z. B. vor 
Frankreich bezeichnet, daß hier feine jo ausjchließliche Zentralifierung des geiftigen 
Lebens jtattfindet wie bei unſern weſtlichen Nachbarn, wo „Paris“ der Inbegriff 
fast ſämtlicher geiftiger Arbeit des Volkes und des Landes ijt, wo alles, was nicht 
mit der Marke der Entjtehung oder des Erfolges in der Geineftadt abgejtempelt 
it, auf dem Markte des öffentlichen Lebens Frankreichs keinen Kurs hat. So 
weit find wir in Deutjchland — gottlob! — noch nicht. Dazu bejitt das 
Deutfche Neich viel zu viele bedeutfame Kulturftätten, von denen zudem ja nicht 
wenige noch weit älter in ihrer Kultur find als Berlin. Aber dennoch übt diejes 
je länger defto mehr eine unmiderftehliche, elementare Anziehungskraft aus auf 
die bedeutenditen Träger geiltiger Lebensäußerungen, und das bdrüdt jeinem 
öffentlichen Leben den Stempel des Großartigen auf. 

Davon wird an diejer Stelle oft die Rede fein müſſen. Auch davon, daB 
nicht immer und in allem diefe wachjende Bedeutung der Reichshauptſtadt zu 
ihren Gunjten ausfällt. Sie leitet vor allem dem Streben nad) rein äußerlicher 
Anerkennung häufig allzuvielen Vorſchub. Sie fördert die Jagd nad) dem Glüd. 
Sie bedingt für den einzelnen oft eine Verfladhung, behindert feine Bertiefung. . . 

Aber davon heute nichts. Heute nur von dem Stempel des Großartigen. 
Und nur von dem Großartigen, das jedem jofort in die Mugen jpringt, das jeder 
genießen kann und genießt ohne Nadjfinnen und Nachſpüren, wie es wohl das Er- 
faſſen der Bedeutung der wachlenden geiftigen Borberrichaft Berlins vorausjett. 

Was ſich dem die Reihshauptitadt in beftimmten Zeiträumen durdflutenden 
Zuge der Fremden vor allem aufdrängt, das iſt das gewaltige Anwadjen des 
Berfehrslebend und der Bauthätigkeit. Mit berechtigtem Staunen und begreif- 
licher Bewunderung erfüllen fie dieje, als die wohl großartigiten Seiten des 
großartigen Lebens der Hauptitadt. 

Es giebt zwei Bücher, in die ich mich gern vertiefe im Zuge der Gedanten, 
die das Nachſinnen über die Bedeutung einer „Millionenftadt” wacruft: das 
„Statiftiihe Jahrbuch der Stadt Berlin‘, das bereit3 im 25. Jahrgang vorliegt, 
und der „Bericht über die Gemeinde-Verwaltung der Stadt Berlin‘, der fich 
immer auf ein halbes Jahrzehnt bezieht. Der lebte, die Jahre 1889— 1895 um- 
fafjende, Bericht in drei jtarfen Bänden erjchien 18%... Man lächelt vielleicht 
darüber: endloſe Zahlenreihen, Tabellen, Diagramme und der Tert dazu troden, 
nüchtern, langweilig. Aber wie aus dem vohen Marmorblod unter des Künftlers 


J. Norden, Aus dem Leben dir Dauptitadt. 407 


bejeelter Hand ein wunderherrliches Kunſtwerk entfteht, fo erjchließt ſich aus diefem 
„trodenen, nüchternen, langweiligen” Material eine bezwingende Poefie dem, der 
es nicht mit den Augen und den Gedanken eines Nechenmeifters lieft — die Poefie 
jener Summe menjchlicher Arbeitskraft und Arbeitsleiftung als die Frucht poten- 
zierter Geijtesthätigkeit Taufender und Abertaufender, von der ein Teil in Hand» 
arbeit umgejett fortlebt auch in dem Hammerſchlag des Bahnarbeiters, ber 
nacht3 bei Napbthafadellicdyt Sleife auf dem Straßendamm vernietet, und in dem 
Schwung der Stelle des Maurers, der am helllichten Tage Baditein zu Badftein 
fügt und mit Mörtel verbindet. Das ift der Anhalt jenes Heldenepos, mit dem _ 
ich erft die Poefie der Millionenftadt verglich — das Hohelied der Arbeit. 

Und darum fönnen ftatiltifche Angaben nicht bloß für den Volkswirtſchafter 
und Sittenlehrer von großer Bedeutung und großem Reiz fein, fondern für jeden, 
der empfänglichen Sinn für die Neußerungen des Menjchenlebens befigt. Jede 
einzelne Zahl erjchließt ganze Gedankenreihen, eröffnet Ausblide, bildet- jozufagen 
einen eigenen Gejang in jenem Epos. — — 

Man vergegenmwärtige fi, daß bis 1873 die einzige Bferdebahuftrede 
Kupfergraben— Eharlottenburg—Weftend beitand, daß 7 Jahre fpäter bereits, 
außer der fat zwei Meilen langen Ringbahn, 28 Pferdebahnlinien in Betrieb 
waren und daß heute ein Riefenneg von mehr ald 70 Yinien mit einer Gefamt- 
länge von mehr als 453 km die Hauptitadt und die mit ihr verwachjenen Nach— 
baritädte und Vororte bededt. Auf diefen Streden wurden im vorigen Jahre 
56 636 558 km abgefahren und über 280 Millionen Baflagiere befördert. Die ge: 
ſamte Perjonenbeförderung aber in dem genannten Jahre mit Omnibufjen, Straßen: 
bahnen, Stadt: und Ringbahn be;iffert ſich auf ca. 458!/, Millionen! Im Jahre 
1898 belief ſich diefe Ziffer auf ca. 3621/, Millionen und wieder drei Jahre zurüd 
auf ca. 270 Millionen; feit 10 Jahren zurüd aber hat fie jich mehr als verdoppelt. 

Und gegenüber diefem Wachstum des Verkehrs erweiſen fih aud die 
453 km Straßenbahnen, die Stadt: und Ringbahn und die 187 km Ommibus- 
(inien al8 ungenügend. Die Siemensihe Hochbahn, die wie die Stadtbahn den 
äußerften Often mit dem fernen Weſten verbindet und die jchon demnächſt dem 
Betriebe übergeben wird, kommt jenen Berfehrsmitteln zu Hilfe, und in nicht zu 
ferner Zeit wohl folgt die nbetriebfeßung von Untergrundbahnen. Schon jegt aber 
giebt es Punkte in der Stadt, wo der Verkehr in vier Straßen übereinander ſich 
vollzieht — fo Hinter dem Potsdamer Bahnhof, wo die Waflerftraße des Kanals 
von gewöhnlichen Straßenzügen umſäumt wird, über die hin der Eifenbahnverfehr 
ſich vollzieht, während der Bahnkörper felbft in fühnem Schwunge von der Hoch— 
bahn überquert wird. So werden die IIntergrundbahnen bereits zu einem unab- 
weislichen Bedürfnis, und nahe liegt der Gedanke, daß endlich einmal aud) Teile 
der Spree und der Kanäle dem ſtädtiſchen Perſonenverkehr erichloffen werben, 
was dem gejamten Stadtbilde nur zur Zier gereichen würde . . . 


408 3. Norden, Aus dem eben der Hauptitadt. 


Wie ein gewaltiger Refrain Elingt3 durd dad dumpfe nächtliche Rauſchen 
immer wieder: welche Unjumme von Arbeitskraft und Arbeitsleiftung allein ſchon 
in diefen Ziffern aus dem Berfehrsleben der Millionenftadt! 

Wo mir das Heldenepos von der Arbeit auch aufichlagen — überall werden 
die Zahlenreihen, die und entgegenftarren, in der gleichen Weije zu lebendigen 
Zeugen der Lebensthätigfeit der Riefenftadt ... . 

Wie diefes Verkehrsleben, jo erfüllt auch die Bauthätigkeit Berlins und 
jeiner Vororte den Fremden mit Staunen und Bewunderung. Aber auch in 
diefem Fall kommt er um den Neiz des Miterlebens, wie alles ward und wird. 
Er fieht fi) nur immer wieder auf neue Höhen und Gipfelpunfte verjegt, aber 
die Wanderung aufwärts macht er nicht mit. 

Es ijt aber unjagbar reizvoll, diefes Wachstum der Stadt, namentlich nad) 
den weſtlichen Himmelsrichtungen bin zu verfolgen. Nicht bloß das Wachſen an 
ſich, ſondern aud), und nody mehr, wie fich mit dem Wachſen allmählic immer 
mehr und mehr das Ausſehen der Stadt in feinen neuen Zeilen verändert. 

Es iſt noch gar nicht lange her, daß die Lübomftraße die weſt— 
lihe Grenze des Häufermeeres bildete. An einem Kahrzehnt flutete dieſes 
bis zur Kurfüritenftraße; auch Ddiefer Damm wurde raſch überſchritten: 
Tauenzien- und Sleift: und Bülomftraße fchoben ſich hinein. Vor etwa 
fünf Jahren ſchien dann das Wachsſtum bei der Augsburger Straße 
Dalt machen zu wollen. Aber längft ift aud) diefe nur eine VBerfehrsader inmitten 
großer Wohnviertel geworden, die ſich ftellenweife bereits bi8 zur Berliner Straße 
zwiſchen Schöneberg und Wilmersdorf binziehen. Aehnlich wächſt das Straßen- 
neß nach vielen anderen Richtungen hin. 

Das alles jieht auch der Auswärtige, der von Zeit zu Zeit die Reichshaupt— 
ftadt beſucht. Der Einheimifche ſieht mehr, fieht das, was aud der fremde ſehen 
£önnte, wenn er fich die Zeit dazu nähme, oder auch nur, wenn er darauf auf- 
merffam gemadt würde. Dann bemerkte auch er, daß fih die Wachstums: 
ihichten der Miefenftadt ganz deutlich unterfcheiden lafjen wie die Jahresringe 
am Holz de8 Baumes: der Bauftil und die Ausſtattung geben die Kenn— 
zeichen ab. 

Je jünger der Stadtteil, die Straße, defto größer der Luxus oder aud) 
Sceinlurus. Dabei in jeder einzelnen Schidht von Wohnvierteln und Straßen 
zügen der gleiche Stil oder Typus für die Mietsfafernen. Eine oft erbarmungs- 
loſe Schablone, wie ſie der Spefulationggeift in den von ihm gefchaffenen Häujer- 
zeilen eingebürgert bat. Da tobte förmlich zuerft die Renaiſſanceſucht, Ende der 
70er Jahre bis Ende der 80er etwa, tobte jih aus in — Stud-Fajjaden 
zumeift; allmählich wurde fie dann durch den baroden Zopfftil und das heitere 
Rokoko abgelöft, die ihrerſeits fichtlich jett feit ein paar Jahren dem eng— 
lichen MWohnhausstil Pla machen müjjen, dort, wo genügend künſtleriſches 


3. Norden, Aus dem Leben der Hauptijtadt. 409 


Empfinden vorhanden ift, in erfreulicher Ummertung und unter Anlehnung an leider 
nur zu lange vergejlen gemwefene Ausdrudsformen deutichnationaler Baumeife. 

Aber Eines muß hervorgehoben werden: mit dem Lurus oder richtiger 
Sceinlurus der Anlage und Musjtattung der Häufer wächſt, je weiter, je mehr 
in erfreuliher Weife auch die Beachtung gefundheitlicher Forderungen, wird ber 
Befriedigung der Licht und Luftbedürfniffe Rechnung getragen, nit bloß im 
Borderhaufe, fondern auch im „Dinterhaufe”. An „Berlin W.”, im neuen und 
neuejten „Berlin W.“, das oft Schon Charlottenburg, Schöneberg, Wilmersdorf 
ift, ift auch diefes Hinterhaus durchaus wohnlich, hat ebenfo gut, ja öfter noch 
al3 das Vorderhaus, einen Garten, in den man vom Balkon, Erfer, aus der 
Loggia Hinabblidt. Neben den den breiten Bürgerfteig begleitenden Baum: 
reihen und den Borgärten find diefe drei für Neu-Berlin befonders bezeichnend 
und gerade fie bilden die Hauptmerkmale jener Entwidelungsichichten. 

Die ältefte Schicht „diefes Neu-Berlins“, die etwa vor 25—30 Jahren ent- 
jtand, weilt Balfons und Erker nur erft fpärlih auf. Die Seitenftraßen der 
Potsdamer: und der Lützowſtraße, zum Teil auch noch diefe felbft, zeigen noch die 
glatten, fchmudfofen Flächen, dunfel getüncht meiftens, troftlos öde und lang: 
weilig. Giebt es einmal bier und da einen Erker, fo gliedert er ſich nicht archi⸗— 
tektoniſch aus der ganzen Faſſade heraus, fondern erfcheint wie angeflebt, wie 
wir wohl einen Schrank an die glatte Wand stellen. Meift vieredig, felten ein ge— 
fälligeres halbes Sechseck bildend, find fie zudem nur der Borzug eines oder zweier 
Stodwerfe. In der nächſten Schicht wird das ſchon anders. Kaum ein Haus, kaum 
eine Wohnung ohne Erfer. Und da man hier beim Bauen jchon zu „Opfern“ bereit 
war und die Hausfläche mit anfpruchsvollen, aber in der Regel wertlofen Stud: 
ornamenten auäftattete, oft in geradezu überladener Weife, fo find die Erfer bier 
auch fchon feine vieredigen Kaften oder glattjeitige Halb-Sechsecke mehr, fondern 
haben ihren Anteil an dem Fafjadenauspug. Bier und da tritt auch jchon der 
Balkon hinzu: zwiſchen zwei Erferreihen zieht er ſich über die Mittelfafiade des 
Hauſes hin, oder er lebt rechts umd links, wie ein Schwalbenneft am Erfer. 
Endlich gefellt fich zu diefen beiden Licht: und Luftipendern die Loggia; bisweilen 
zufammenhängend mit dem Balkon al3 tiefe Nifche hinter ihm. Dankenswert 
it e8, daß wir den bedeutiamen drei Luft- und Pichtipendern nicht mehr nur in den 
Mietshäufern für den mwohlhabenderen Mättelftand begegnen, fondern auch 
bei jenen Kaſernen, die von oben bis unten für Arbeiterwohnungen hergerichtet 
find. Schön ſehen diefe Luftipender freilich nicht aus, dieje vieredigen Köcher in der 
Dausfläche und die Balkons, die wie freifchwebende, niedrige Vogelkäfige ohne Dad) 
an ber Mauer Eleben, einer über dem anderen — aber der Gejundheit dienen fie. 

Ja — ſchön im gemeinverftändlichen Sinn ift in Berlin Vieles nicht. Und 
unerreihbar ifts, daß Berlin einft die „Ichönfte Stadt würde. Dazu fehlt es 
an bügeliger Lage, Waflerreichtum, Farbenglanz; fehlt es an einer reichen, 


410 J. Norden, Aus dem Leben der Smuptitadt. 


glänzenden gejchichtlichen Bergangenbheit, deren Spuren überall in ber allmählich 
gewordenen Stadt zu Tage träten; fehlt e8 an einer Jahrhunderte alten Schule 
des Geſchmacks, des Reichtums, der Pracht, und einer Jahrhunderte alten, über: 
aus fruchtreichen Berfchmelzung geläuterter Sunftpflege und fchöner Natur: 
elemente, unter deren Einfluß dann die Gefchlecdhter fic folgen mit immer feiter 
wurzelndem Hunftbedürfnis und immer reifer werdendem Kunſtverſtändnis, einem 
Bedürfnis und einem Verjtändnis, die dem einzelnen gar nicht mehr fo recht zum 
Bemwußtfein, jondern ganz naiv und ungeziwungen zum Ausdrud kämen, weil fie 
ihm eben angeboren wären. 

Aber doc mehren fich fchon die einheitlich angelegten Pläße und Schmuck— 
gärten, die interefjanteren, abwechslungsreicheren Profilierungen der Häuferzeilen. 
Und dann — das Großartige der Bauthätigkeit und des Verkehrslebens in allen 
Teilen der Stadt, es übt ja auch an ſich ſchon eine Art Schönheitswirkung aus, 
die fogar berüdend werden kann . . . Und Eöftlich ifts, ihr nachzuſinnen und den 
Elementen, aus denen fie ſich zufammenfeßt, wenn man in nädtlicher Stille dent 
dumpfen Raufchen, dem leifen Klingen und Singen laujcht, das herübertönt von 
der „Millionenftadt‘‘, über der in ewiger, erhabener Ruhe der unendliche Sternen: 
himmel ſich ausdehnt, der die Bolksjtädte und Menichengeichlechter fommen und 
wachſen und ſchwinden ſieht . .. . 


16 


Selig [ind.... 


Eis find, die reines berzens find, 

$bren Blick verzebrt nicht Macht 
noch Ferne, 

WMunſchlos gebn fie, wunfchlos wie Die 
Sterne, 

Abit den Augen, Die wie Märchen find. 


Und fie baben eine beilge ABacht, 

Un fie ber find Schöne, fromme Träume. 

Wo fie weilen, lichten ſich Die Räume, 

Und die Stürme werden keuſch und 
facht, 


WIo fie wandeln giebts kein Dornenweb, 

Und die Blumen neigen ſich und 
grüfsen, 

Und der Weg wird weich vor ibren 
Fülzen, 

Dal; fie hingehn wie auf Blütenfchnee. 


Wleffen Fufz auf ibren Spuren gebt, 
Wleffen Auge ibrem Grufz begegnet, 
Der erkennt, wie reich ibn Gott 
gefegnet, 
Und er fucht nach einem Dankgebet. 


Und als ob ein neuer Tag beginnt, 
Ueberkommt ibn eine feltne Klarbeit, 
Und er füblt in fich Die ewige Wabrbelt: 
Selig find, die reines Perzens find. 


Aus: Karl Raniclow, „Eon Weib end Wei" Vertim Tempelhef. Erhnlbrus Verlan 1901. 


LHHHHHHEIHHEIHIHLIEHIEILIEIEIEIEIOILIEIEIEIG 


Monatsichau über auswärtige Polifik. 


Von 
Theodor Schlemann. 


Dftober bis 10. November 1901: W. September: Rüdreife der Sühnegefandtfchaft des Bringen 
Tihun nad China. — 3. Oktober: Tod bes Emird von Aighanijtan Abdur-Rahman Khan ; 
Thronbejteigung feines Sohnes Habibsllllah Khan. — 9. Oktober: Vorläufige Verftändigung Eng— 
lands und der Bereinigten Staaten von Nordamerita über den mittelamerifanijchen Stanal. — 
10. Oktober: Proflamierung des Kriegsrechts im Kaplande. — 33. Oftober: Eröffnung des pan— 
amerifanifchen Stongrejjes in Mexiko. Abſetzung General Bullers von feiner Stellung als Befehle- 
baber des 1. englifchen Armeeforps zu Alderfhot. — 31. Oftober: Das franzöfifche Geſchwader 
unter Gaillard bampft nad) Lesbos ab. — 5. November: Wahl des Senators Lom zum Bürger- 
meijter von New⸗York. Okkupation von Mytilene durch die Franzojen. — 7. November: Tod 
von Li⸗Hung-⸗Tſchang. — 9. November: Die Pforte bewilligt die Forderungen Frankreichs. — 
10. November: Das franzöfifche Geſchwader verläßt Muytilene. 


A außerordentlich ereignisreiche Zeit liegt hinter und. Sie fteht unter der Nach— 
wirfung einerjeits des Zarenbeſuchs in Deutichland und frankreich, andererjeit3 der 
in China gefallenen Entjcheidung und des Bräfidentenmwechjels in den Vereinigten Staaten 
von Nordamerifa. Endlich machen fih immer deutlicher die Nachwirkungen der Lähmung 
fühlbar, an der das britiiche Reich infolge des füdafrifanifchen Krieges krankt. Alle 
diefe politiſchen Ereigniffe ftehen zudem in einem gewiſſen Zujammenhange, wie denn die 
Entwidelung unjeres Kulturlebens immer mehr dahinführt, den Gejamtbegriff einer 
Weltpolitik zu jhaffen. Es giebt faum eine Erjcheinung im politischen Leben der anderen 
Nationen, der wir als Unbeteiligte gleichgültig zufchauen fünnten. Was gefchieht, wirkt 
weiter, und die jo entftehenden Kreiſe jchneiden und kreuzen ſich mit anderen fo vielfad), 
daß jchlieklich dem Beobachter das Urteil über den Punkt, von dem fie ausgegangen 
find, fi) verwirrt. Suchen wir uns zu orientieren. 

Als Zar Nikolaus II. feine Nuslandreife antrat, war ſich die Welt über 
die Motive diejer Reife Feinesmegs Far. Und doch liegt es nahe, darin den 
natürlichen Ausdruf der bejonderen Beziehungen zu erkennen, die nun einmal 
zwiihen Rußland und Frankreich beitehen. Die wenig anftändige Vermutung, daß die 
BZarenreife den Zweck habe, Stimmung für eine neue ruffiice Anleihe zu machen, ift in: 
zwiichen durch die Ereigniffe widerlegt worden, und ebenio mußte der Beſuch, den der 
Bar unferem Kaiſer in Danzig madıte, der Vorftellung den Boden rauben, daß eine ein- 
jeitige Bindung der ruſſiſchen Politik an die franzöftiche erfolgt ſei. Es ift allgemein 
bemerkt worden, wie herzlich der Berfehr zwiſchen beiden Kaiſern gewejen ift, und der 
nachträgliche Aufenthalt des Bringen Heinrih in Spala hat die fordialen Beziehungen, 
die zwiſchen den nahverwandten Derricherhäufern beftehen, noch weiter veritärft. Daß 
freilich zwilchen Rußland und Frankreich auch politifche Vereinbarungen ftattgefunden 
haben, hat der weitere Verlauf der Ereigniffe mit Evidenz erwieſen. Die franzöfifche 
Erpedition nach Mytilene konnte ohne ausdrüdliche Billigung Rußlands nicht ftattfinden; 
aber gerade jene moralijche Unterftügung, zu welcher die ruſſiſche Politik ſich bereit ge: 


412 Theodor Schiemann, Monatsjchau über auswärtige Bolitif. 


funden hat, mußte uns als Bürgihaft dafür dienen, daß bon einem Aufrollen der 
orientalijchen Frage nicht die Rede fein konnte. Das Programm der ruffiihen Politik, 
die ihre Stirn dem fernen Oſten zuwendet, jchließt jede VBerwidelung aus, welche gegen: 
wärtig die orientalifche Frage in Europa lebendig machen fünnte; ganz wie e8 als aus: 
geichloffen betrachtet werden muß, daß Rußland, aus weldhem Grunde immer, ſich für 
die nächſt abjehbare Zukunft mit einem europäischen Kriege belaften follte. Es war daher 
von ber frangöfifchen Erpedition nichts Anderes zu erwarten, als die erziwungene De- 
mütigung der Pforte und eine Stärkung des franzöſiſchen Einfluffes in den Gemäflern 
des öftlichen Mittelmeeres, in Syrien und an den Küſten der Levante. Dies, jo mußten 
wir vorausjegen, war das Piel der franzöſiſchen Bolitif, und im großen und ganzen 
dürfte dies Biel auch erreicht fein. Daß die franzöfiichen Anfprüche, ſoweit e8 fid um 
Geldforderungen handelt, ftarf übertrieben waren, madıt allerdings umjomehr einen 
peinlihen Eindrud, als es fi) um eine „Qumperei“ handelte, aber da nicht freiwillig von 
frangöfticher Seite, wie bereit8 einzelne Stimmen es verlangten, über diefe Punfte eine 
ſchiedsrichterliche Entfcheidung herangezogen wurde, blieb der Pforte nichts übrig, als zu 
zahlen. Weit bedenklicher in feinen Folgen konnte das an ſich nur zu billigende Eintreten 
für die Armenier werden, weil dieſe armeniſche Frage eine der böfeften Schwären am 
türfifchen Leibe darftellt und auf das Engfte mit vuffiihen Intereſſen verknüpft ift. 
Da war es jehr Flug, wenn Frankreich ſich jchließlich beichied, die eigentlich wunden 
Punkte nicht zu berühren und mit dem Echein eines Erfolges vorlieb zu nehmen. 
Endlih war es nicht unbedenflih, daß durch das Fräftige Auftreten Frankreichs 
das Gelbjtbewußtfein und die Begehrlichfeit der Lateiner auf dem vielumftrittenen 
Felde der heiligen Stätten den Griehen und den zahlreihen Sekten gegenüber ich 
gefteigert hat. Hier liegt ein Punkt, an welchem die rujliihen und die franzöſiſchen 
Intereſſen ſich ſcharf hon einander ſcheiden, und es ift immer fraglich, wie lange das 
bisher erfolgreid; geübte Syſtem des Vertuſchens fich wird behaupten laffen. Endlich 
ließ ſich nicht verfennen, daß auch jetzt ſchon Rivalitäten hervortraten, die in der orienta- 
lichen Frage nun einmal nicht zu befeitigen find. Somwohl in England wie in Ntalien 
waren deutliche Anzeichen einer auffeimenden Verftimmung zu erkennen. Die Pforte hatte 
fih nad London mit einer Berufung auf den berühmten Disraelichen Vertrag von 1878 
gewandt; die engliiche Abweiſung aber ſchloß zugleich eine Drohung gegen Frankreich 
für den Fall in fi, daß die frangöfiichen Anſprüche über den Kreis der ald berechtigt 
anerkannten Forderungen hinausgehen jollten. Italien aber dachte ernitlich daran, für 
alle Fälle feine Flotte in die öſtlichen Gewäſſer zu entjenden. Man konnte alledem 
gegenüber nur lebhaft wünjchen, daß die franzöſiſch-türkiſche Differenz ſchnell und end- 
gültig beigelegt werde; ift es doch allezeit gefährlich, jich dem orientaliichen Exploſions— 
herd mit bewaffneter Hand zu nähern. Schon mehr als einmal find auf diefem Boden 
die Kanonen von felbjt losgegangen. Mit um fo größerer Genugthuung begrüßen wir 
den jchließlichen Ausgang. Er hat, ohne die Pforte in ihrem Lebensnerv zu treffen, im 
mejentlichen den Forderungen Frankreichs genug gethan, und nicht, wie anfänglid, ge= 
fürchtet werden mußte, die Grenzen überjchritten, die für die hohe Pforte und die Mittel= 
meermäd)te zwiichen dem Erträglihen und dem nicht zu Duldenden liegen. Was an 
Veränderungen eingetreten iſt, trifft vor allem das Verhältnis der griechiſch-katholiſchen 


Theodor Schlemann Monatsihau über auswärtige Politik. 413 


zur römiſchen Kirche auf orientaliihem Boden, geht aljo vornehmlich die ruſſiſch— 
frangöfiihen Beziehungen an; das aber ift ein Thema, welches den intimen Charakter 
von Konzeſſionen trägt, wie fie in ehelichen Beziehungen ftattzufinden pflegen. Sie find 
oft notwendig, tragen aber nicht immer zur Steigerung des häuslichen Glüdes bei. Das 
wejentliche am Ausgange diefer jo plötzlich aufgetaudhten und jo überrajchend jchnell 
erledigten orientalifchen Krifis ift daher, daß ſich in der Gejamtlage des europäijchen 
Drients nichts geändert hat. Die Madtverhältniffe find genau diejelben geblieben, die 
vor der Erpedition Eaillard beitanden, aber die Folgen, die jid) aus diefem merfwürdigen 
Intermezzo für die franzöfticheruffifchen Beziehungen ergeben müſſen, laſſen ſich noch 
nicht überfehen. 

Daß die ruffiiche Politik den fernen, nicht den europäiſchen Orient ins Auge faßt, 
muß troß des Lärms, mit dem die ruſſiſche Preſſe die türkischen Angelegenheiten traftiert, 
als Thatſache betrachtet werden. Die fieberhafte Eile, mit welcher der endlie Ausbau 
der großen fibiriichen Bahn und ihre Verbindung mit der mandſchuriſchen Eifenbahn 
betrieben wird, mußte, auch wenn wir nit das Programm des Fürften Yobanom 
Roſtowski und den Ehrgeiz des Kaiſer Nikolaus IL, diejen Plan thatjächlich durchzuführen, 
fennten, an ſich auf eine derartige Vermutung führen. Es ift ganz richtig, daß eine 
gefunde ruſſiſche Bolitit darauf ausgehen muß, fih an den Küſten des orientaliichen 
Sturmminteld, vom Golf von Liao-Tung bis nach Port Arthur bin und an den 
Wurzeln der foreanifhen Halbinjel jo mächtig aufzuftellen, da fie einer japanifch-eng- 
liichen Koalition, wenn nötig, die Spike bieten kann. Schon jetzt liegt faft die gejamte 
ruſſiſche Kriegsflotte in jenen Gewäflen und in Rußland ift die Borftellung allgemein, 
daß Japan, dur die faktifhe Einziehung der Mandſchurei von feiten Rußlands in 
höchſtem Grade verjtimmt, unter feinen Umftänden ein Vordringen Rußlands auf forea- 
niſchem Boden dulden werde. Auch hat Japan thatſächlich heute eine weit jtärfere 
Stellung auf Korea als noch vor Jahresfriſt; Japan beherricht Korea finanziell; e8 hat 
die Ruffen aus Maſampo hinausmandvriert und eben jekt jein Flottenprogramm voll 
durchgeführt. Kein Zweifel, daß ihm eine Bindung Rußlands an anderer Stelle höchſt 
erwünjcht wäre, und Rußland hat gewiß gefchieft operiert, wenn es unter Ddiefen Ber: 
hältniffen jedem Stonflift mit Japan vorfichtig aus dem Wege gegangen ift. Auch erklärt 
ſich aus diefen Verhältniſſen, daß Rußland lebhafter als jede andere Macht an der 
Fortdauer des füdafritanichen Krieges interejfiert ift; es ift garnicht daran zu denken, 
daß es troß der rauſchenden Sympathiebezeugungen, die jehr aufrihtig in Preſſe und 
Geiellichaft zu Tage treten, auch nur einen Finger rühren wird, um durd eine jchnellere 
Löſung des Konflifts den Engländern die Hände frei zu madıen. 

Der Tod des Emird von Afghaniftan Hat die finfende Stellung Englands in 
Aſien noch weiter gefährdet, und es ift wiederum außerordentlich Flug, wenn Rußland, 
wie es wohl konnte, den Thronwechſel nicht benugt hat, um gewaltjam in die afghanischen 
Berhältniffe einzugreifen und dadurd auch England zu einer Aktion zu nötigen. Biel 
vorteilhafter ift e8 für Rußland, das Damoklesſchwert feiner impojanten militärischen 
Aufftellung in Turfeftan drohend über dem Haupte Englands jchweben zu laffen und 
e3 dadurd in Dftafien zu einer Politik ängftlichen Kleinmuts zu nötigen. 

Wenn einst ein englifcher Gejchichtjchreiber über die Politit Chamberlain-Salisburh 


414 Theodor Schiemanmm, Monatsfchau über auswärtige Politik. 


rückſchauend fein Urteil abgeben wird, werden gerade dieſe Dinge ſchwer in die Wag— 
ichale fallen. Trotz des glänzenden Berlaufs, den die englifchen SFlottenmanöver im 
Kanal genommen haben, und troß der Lopalitätsverficherungen, die der Herzog von 
Cornwall oder, wie wir ihn fortan nennen müffen, der Prinz von Wales, von feiner 
Weltreife durch die englifchen Solonieen heimgebradjt hat, geht ein Gefühl tiefer Be— 
unruhigung durd die Nation. Es wird durch die hodytünenden Worte der minijteriellen 
Redner und durdy die thörichte Herausforderung der fittlihen Empfindung und des 
Stolzes anderer Nationen nur ſchlecht verhüllt, daß man auf englifchem Boden allerdings 
um die Zukunft des Reichs zu forgen beginnt. Sogar der alte fundamentale Satz: dat 
es in England in fragen „of imperial moment“ feine Meinungsverjchiedenheit gebe, 
hält nicht mehr ftand; fteht auch die ungeheure Majorität des Landes in dieſen jorgen- 
vollen Tagen zu den offiziellen Vertretern der Regierung, fo ift doch das Gewiſſen der 
Nation unficher geworden, und es find nicht die ſchlechteſten Männer des Landes, die 
heute der Regierung in den Arm zu fallen juchen. Ahr Ziel aber werden fie nicht er- 
reihen; das Verhängnis reißt die Politit des Staates zu den äußerſten Konſequenzen 
fort. Mr. Chamberlain hat noch jüngjt erflärt, es fünne von Frieden feine Rede fein, 
ehe die engliiche Fahne als die einzige zwiſchen Zambeft und dem Kap der Guten Hoff: 
mung wehe; ev jcheint dabei freilich vergeffen zu haben, daß es in Sid-Weftafrifa eine 
deutjche Fahne giebt. 

Die Verkündigung des Sriegszuftandes im Staplande, die damit verbundene 
Siftierung der Verfaffung in der Kapkolonie, die leidige Notwendigkeit, mit friegsgericht- 
lihen Sprüchen gegen eine Bevölkerung vorzugehen, der ihre Loyalität dem britischen 
Reich gegenüber, man darf wohl jagen, gemwaltiam ausgetrieben worden ift, die durch 
Benjons Niederlage bei Berfenlaagte zur Evidenz bewiefene Thatſache, daß noch immer 
friegstüchtige Burenbeere im Felde ftehen, der Niedergang des engliſchen Geſchäftslebens, 
vor allem aber der bis ind Herz vermundete Stolz der Nation — das giebt in jeiner 
Summe ein Bild, von dem wir wohl verjtehen, wenn engliihe Patrioten fih von ihm 
forgenvoll abwenden. Dier ſpielt eine Nemefis, deren weiteres Wirken ſich wohl ahnen, 
aber nicht vorher ausmalen läßt. 

In den Gebirgshöhen am Himalaya muß Lord Curzon, der Vicekönig von Indien, 
wieder einmal mit den Wagiris kämpfen, einem Volksſtamm, der, wenn man die Unter: 
ichiede von Raſſe und Religion in Abrechnung bringt, den Buren nicht unähnlich zu 
jein jcheint. In Dindoftan und im Delta droht eine neue Hungersnot. Auch dieje 
Wunde am engliichen Leibe beginnt wieder aufzubrechen. Man mag darüber lachen, dat 
die italienische Bevölkerung Maltas, erbittert durch die thörichten Mafregeln jprachlichen 
Zwanges, die Chamberlain ihr aufgedrängt hat, den Engländern ihren Haß offen ins 
Geſicht ichleudert; jo Tange England feine Garniſon in Malta bat, fann es fich über 
derartige Dinge hinwegſetzen; aber es ift ein Symptom zu vielen anderen, und wer die 
Diagnofe über die Gejundheit des engliichen Staates abzugeben hat, wird auch dieſe 
Symptome mit zu Rate ziehen. — 

Kürzlich ift von einem frangöfiichen Statiftifer der zahlenmäßige Beweis erbradıt 
worden, daß der amerikanische Handel den englifchen aus den weſtindiſchen Inſeln und 
aus Ranada beinahe völlig verdrängt hat und aus Auftralien, zum Teil fogar aus den 


Theodor Schiemann, Monatsjchan über auswärtige Politik. 415 


indiichen Hafenjtädten zu verdrängen beginnt. Ebenſo weiſt der Berfafler diefer Studie, 
Herr Jacques Bardour, nad), daß das amerikanische Kapital jogar in England jelbft die 
heimische Amduftrie in Abhängigkeit zu bringen beginnt. Damit tritt aber die intereffante 
Thatjache zu Tage, daß nicht Deutichland, jondern Amerika der eigentliche Konkurrent Eng- 
lands ift, eine Thatfache, die in einer anderen Weltlage als der gegenwärtigen das politifche 
Verhältnis beider Staaten beeinflußt hätte; heute ift die Wirfung nur die geweſen, daß 
England den Forderungen ded amerikanischen Betters gegenüber nur noch nachgiebiger 
geworden ift. Das zeigte ſich zumal in den Verhandlungen, die jüngjt über den mittel- 
ameritanifhen Kanal gepflogen worden find und zu einer vorläufigen Vereinbarung 
führten, laut welder England die beanjpruchte Mitbeauffihtigung über die Neutralität 
des Kanals aus Händen gab. Wie der jchließliche Ausgang fein wird, hängt an den 
Beichlüffen des Eenats in Wafhington, der eben jett mit großem Eifer, in wenig entgegen- 
fommender Stimmung, über dieje außerordentlid; bedeutjame Zukunftsfrage verhandelt. 

Mit Spannung folgt alle Welt den Spuren der Thätigfeit des neuen Präfidenten 
Roojevelt, der mit frifhem Mut und gewohnter Thatkraft bemüht ift, den Augiasſtall 
der Mikbräuche zu jäubern, an denen die Verwaltung der Vereinigten Staaten, vor 
allem aber die der größten Stadt der Nepublit, New Yorks, krankt. Beherricht auch 
New-York nicht in gleihem Maße die öffentliche Meinung der großen Republik wie etiwa 
Paris die franzöfiiche und neuerdings die Yondoner Preſſe die englifche, fo läßt fich doch 
nicht verfennen, daß auch auf amerikaniſchem Boden ähnliche Berhältniffe fich auszubilden 
begonnen hatten. Die Tyrannis der von Richard Erofer geführten Tammany:Bartei, 
einer ihrem Urfprunge nad) irischen Korruptions- und Ausbeutungsgefellihaft, machte 
fih in ihren Wirkungen bis in den ferniten Welten hinein fühlbar und hat mehr, als 
bekannt geworden iſt, auch die große PBolitif der Vereinigten Staaten beeinflußt. Nicht 
nur die demokratische Prejie erhielt aus diefem herrichenden Ring ihre Inſpirationen, und 
die ſtarke BZentralifation in der Leitung von Tammanh ließ einen Widerftand genen ihre 
Direftiven faſt ausſichtslos ericheinen. 

Präfident Roojevelt hat nun die moraliiche Kraft gezeigt, den Bann zu brechen, 
ſich außerhalb der engen Schranken des Barteitreibens zu ftellen und eine Politik der 
reinen Hände zu inaugurieren, die er feither fonfequent behauptet hat. Inter dem 
Streitruf „Du follft nicht ftehlen!* ift bei der Bürgermeijterwahl in New York am 
5, November der Kamp” mit Tammanı) fiegreich durchgefocdhten worden. Der Sandidat 
Crokers, Shepard, höchit charakteriftiichermweije ein von Tammany germonnener früherer 
Gegner, ift von dem Kandidaten der Gegenpartei, Senator Low, aufs Haupt geſchlagen 
worden, und das bedeutet allerdings eine neue Aera im politifchen Leben nicht nur der 
Dauptftadt, jondern der Bereinigten Staaten überhaupt. Nicht etiva, als hätte die Welt 
fortan mit einer plöglihen Schwenfung in der auswärtigen Bolitif der Vereinigten 
Staaten zu rechnen, daran ift nicht zu denken, wohl aber dürfen wir erwarten, daß die 
bisher an die Wand gedrücten ruhigeren Elemente gleihfalls zu Wort kommen, und das 
kann nur wohlthätig wirken. 

ALS politisches Erbe Mac Kinleys bat Präfident Rooſevelt einerfeits die Agitation 
für eine jehr mejentlihe Berftärfung der amerifaniichen Striegsflotte übernommen, 
andererfeits die Reftrebungen, die in dem panamerifanischen Kongreß zu Merifo ihren 


416 Theodor Schiemann Monatsjchan über auswärtige Bolitif. 


Ausdrud finden. In betreff der Flottenverſtärkung find Demokraten und NRepublifaner 
ganz eines Sinnes. Sie wird zweifellos erfolgen und zwar innerhalb der Grenzen des 
techniſch Möglichen, mit außerordentlicher Schnelligkeit und in großem Umfange, womit 
dann ein ſchon heute, namentlich) in den Gewäſſern des Stillen Ozeans, jehr bedeutiamer 
Faktor noch an Geltung gewinnen muß. Alle Mächte, audı wir, werden damit zu 
rechnen haben. 

Vom panamerifaniihen Kongreß verlautet nur wenig. Das Programm ijt im 
mwejentlichen dasijelbe, mit dem einft der Staatsjefretär Blaine auftrat, wenn aud) das 
Beitreben, die politiſche Vormundſchaft Mittel- und Südamerikas zu übernehmen, weniger 
deutlich hervortritt ald vor 11 Jahren. Die obligatorischen Schiedsgerichte, unter 
Ausschluß europäifcher Mächte ald Schiedsrichter, find Heute nicht mehr als Kern der 
Berhandlungsgegenftände zu betrachten, und dad fann nad dem Verlauf, den die 
fubanishen Angelegenheiten genommen haben, nicht wunder nehmen. Auch gegen eine 
engere wirtſchaftliche Verbindung der lateinischen Amerifaner mit den mächtigen angel» 
jähfiihen Nachbarn fträubt fich das befondere Sntereffe und das Mißtrauen des Südens. 
Wie 18% in Waihington, fuchen auch heute in Meriko, als Protagoniften der lateinischen 
Raffe, Chile und Argentinien dem Einfluß der Vereinigten Staaten entgegen zu wirfen, 
und beide jind feine veräcdhtlihen Gegner. Die Vorausjegung ift dabei freilich, daß fie 
nicht untereinander raufen und die ftet3 vorliegenden ftrittigen Grenzfragen endlid) 
einmal völlig durch einen bindenden Vertrag aus der Welt jchaffen. Schen wir redt, 
fo bereitet ſich eben jeßt eine joldhe Verjtändigung vor, wenigjtens jcheint der gute Wille 
dazu auf der einen wie auf der anderen Seite vorhanden zu jein. 

Auch in den venezolaniſch-kolumbiſchen Krieg verſucht Chile vermittelnd einzugreifen, 
jodaß man immer mehr den Eindrudf gewinnt, daß fi) hier ein Gegengewicht gegen die 
Uebermacht der Vereinigten Staaten geltend zu machen beginnt. — 

Am 17. Oktober ift der öfterreichiiche Neichsrat wieder zufammengetreten und am 
28. fand die Eröffnung des ungarischen Neichstages ftatt. 

Bon den großen Erwartungen, mit denen man den Verhandlungen beider Körper: 
ſchaften entgegenjah, ift biöher nur wenig in Erfüllung gegangen. Der Schwerpunkt 
fällt auf die Haltung der öfterreihifchen Deutichen, namentlid) auf die Frage, ob es 
den „Deutſch-Nationalen“ gelingen wird, die übrigen deutjchen Parteien um ſich zu 
fharen und damit dem deutjchen Clement die von der weiland deutjchen Verfaſſungs— 
partei veripielte führende Stellung des deutichen Elementes in Oeſterreich wieder zurück 
zugewinnen. In einer jehr lejenswerten Brojchüre: „Dentichrift iiber Oeſterreichs 
innere Zuftände“*) wird ganz richtig hervorgehoben, daß „in dem Reiche Oeſterreich— 
Ungarn fih in der Politit (wie bei der Staiferreife in Böhmen im Juni 1901 fid) Far 
zeigte) der Streit der Völker um die Perſon ded Monarchen als der weit überwiegenden 
Quelle der Macht“ drehe. Das hätten am früheften die Ungarn begriffen, ihnen 
jeien Tſchechen und Polen gefolgt, und das Bündnis diefer drei habe die Deutichen aus 
ihrer Stellung verdrängt und Ungarn in die ungewohnte Stellung des „eritgeborenen 
Sohnes der Habsburger Monarchie” geführt. Die VBorbedingung jeder Bellerung in der 





*, Sonberabdrud aus der „Allgemeinen Zeitung“ vom 15. 17. 18. und 19. Sep 
tember 1901. 


Theodor Schiemann, Monatsichau über ausmärtige Politik. 417 


Stellung der Deutſchen jei daher, daß fie fid) wieder feit um die Krone ſcharen, etwa in 
der Weiſe, daß die „Deutich-Nationalen“ das Zentrum bilden und in nationalen Fragen 
mit den Deutich-Radifalen als linfem, mit den liberalen und deutſchen Großgrund 
befigern als rechtem Flügel geichloffen zufammenmwirfen. Der vor allem notwendige 
innere Frieden aber jei nicht zu gewinnen ohne eine gewijfe Scheidung der disparaten 
Teile. Durcd Abgrenzung und gefonderte Organifation fünne man zum Frieden ge: 
langen und eine allmähliche Vereinigung herbeiführen. Das Entjcheidende dabei werde 
der Schub der Minderheiten fein, eine Aufgabe, die das Kurienſyſtem erfüllen könne. 
Dann aber müffe die Involljtändigfeit und Undeutlichfeit der Gefeke von 1867, melde 
das Berhältnis der beiden Neihshälften regeln, gründlich bejeitigt werden. Der 
Shader um den Ausgleich mit Ungarn jei ftet3 auf Koften der Deutfhen zum Vorteil 
der Tichehen geführt worden. Diefer Handel aljo müſſe aufhören und daraus folge, 
daß die Deutfchen zwar den Ausgleih von 1901 maden und beiwilligen müßten, daß 
aber diefer Nusgleih auch der lekte jein müſſe, der auf jolde Weiſe abgeichloifen 
werde, dann aber jofort an die Reform der Gejeke von 1867 zu jchreiten jei. 

Der Verfaſſer übergiebt danady die folgenden Thejen der Öffentlichen Be: 

jprechung: 

Als für das Gejamtreich erforderlid: 

I. Reform der AusgleichSgejege, event. Trennung von Ungarn. 

2. Ernennung eines Reichsfanglers, der von 5 zu 5 fahren alternierend aus Defter: 
rei und aus Ungarn zu nehmen ift. 

Für Oeſterreich: 

1. Durchführung des Schuges der Minderheit, Uebergebung der Selbftverwaltung 
an die zufammengehörigen nationalen Gruppen in Land, Bezirk und Gemeinde 
Kurienſyſtem). 

2. Erlaß eines Nationalitätengeſetzes, wodurch das friedliche Zuſammenleben der 
Nationalitäten unter den Schuß ſtrenger Geſetze geftellt wird.*) Verantwortlich— 
feit der Gemeinden. 

3. Schaffung eines Zwiſchenzuſtandes zwijchen verfaflungsmäßigem Zuftand und 
Belagerungszuftand mit vorübergehender Einftellung von Rechten und mit 
Geldftrafen. 

4. Trennung des religiöfen und Unterrichtsdienftes von der Tagespolitif im 
höchſten Intereſſe des Unterrichts und der Religion. 

5. Bejeitigung der von Taaffe getroffenen Aenderungen des Wahlgejeges. Die 
allgemeine (5.) Kurie bleibt unberührt. 

6. Beichränfung der Diätenleiftung durch den Staat für den Reichsrat auf drei 
Monate jährlich, für die Pandtage auf einen Monat. 

Das ift gewiß ftaatSmännifch gedacht, wenn auch mehr als eine Einwendung jid) 

und aufdrängt. Die Hauptſache aber bleibt der Dann, der diejes Programm oder ein 
ähnliches durchführt, und die frage ift, ob in Defterreich diejer führende Kopf zu finden ilt. 


*, Weshalb nicht auch in Ungarn? 
ai 





Monatsichau über innere deufiche Politik. 


Von 


W. v. Mallow. 


III. 
Deutihe Verfehrspolitif. 


Ww" haben aud) in der inneren Politif einen verhältnismäßig bewegten Sommer ge 
habt, weil fi) jchon zu diefer Zeit die großen Streitfragen des nächſten parla- 
mentarifchen Winterfeldzuges vorbereiteten. Und jo ift es jetzt faft jedes Jahr. Aber 
es fommt dann doch noch eine jtille Zeit. Wenn der Hochjommer vorbei ift, gehen die 
Wogen eher noch höher als fonft. Es ift die Zeit der Parteifongreffe, der Borbe- 
fprechungen, der Minifterinterbiervs und ähnlicher Vorbereitungen. Aber dann giebt es 
gemeinhin einen Nugenblit der Sammlung und des Atemholend. Das öffentliche 
Leben Iteht unter dem Gefühl, daß in den großen Tagesfragen bis auf weiteres alles 
gejagt ift, was vernünftigerweife oder auch unvernünftigerweife gefagt werden fann, und 
nun heißt es: bald ijt ja der Reichstag da; dann kommen die Dinge in Fluß. 

Geit langer Zeit hat unfere innere Politik nicht jo unter dem Bann einer großen 
Frage gejtanden, wie jetzt vor den Zolltarifverhandlungen. Selbit das Flottengeſetz hat 
nicht mit folder Ausichließlichkeit die üffentlihe Meinung beherriht. Aber ganz fehlt 
es auch jett nicht an anderen Fragen, die von großer Bedeutung find und an Denen 
man den Bulsichlag des nationalen Yebens wohl meifen fann. Und wenn ihre Er- 
Örterung gerade in die ftille Zeit der Erwartung vor der Wiederaufnahme der Parla— 
mentöverhandlungen fällt, joll man erft recht nicht daran vorbeigehen. 

Bor einiger Zeit hat es in Süddeutſchland eine gerwilie Aufregung gegeben. Man 
fonnte fi beim Leſen der Zeitungen beinahe in die Zeiten der Anfänge des Zollvereins 
verjeßt glauben; jo viel befamen wir zu hören von preußiichen Machtgelüften, Auf: 
opferung der mirtfchaftlihen Selbſtändigkeit der Mittelftaaten und dergleichen mehr. 
Was war geichehen? Die mwürttembergiichen Staatseifenbahnen waren in ungünitige 
Finanzverhältniffe geraten, und unter den Abhilfemitteln war auch der Gedanke erörtert 
worden, in eine Eifenbahngemeinihaft mit Breußen nad) heifiihem Muſter einzutreten. 
Darin glaubte die ſüddeutſche Volkspartei die willkommene Gelegenheit zu finden, um 
durch leidenschaftliche Abwehr dieſer Vorſchläge den volkstiimlichen Sondergeift des 
Landes wach zu rufen und fich als Netter aus einer vermeintlichen Gefahr zu gebärden. 

Am Grunde war das doc alles blinder Lärm, denn Preußen übernimmt garnicht 
die Rolle, die ihm dabei zugedadht ift. Das Merkwürdige der Lage bejteht aljo darin, 


W. v. Maſſow, Monatsichau über innere deutfche Bolitik. 419 


dag eine ftarfe Strömung in Siüddeutfchland die deutjche Eilenbahnpolitit unter den- 
jelben Gefihtspunften zu betrachten anfängt wie einft die Politik des Zollvereing, 
während der preußiihe Staat, der im Zollverein feiner Zeit die Smitiative zur Ent: 
widelung einer deutjchen Wirtichaftspolitif ergriff, diesmal eben nicht von der Partie ift. 

Um ſich die Eigenheit diefes Verhältniffes und feine Folgen Elar zu machen, wolle 
man fich der Gejchichte der deutjchen Eifenbahnpolitif erinnern. Der Uebergang von der 
Privatbahn zur Staatsbahn ift zwar gerade in Deutichland verhältnismäßig früh erfolat. 
Bereits die vierte unter allen Bahnftreden, die in Deutichland gebaut worden find, 
nämlich die Linie Braunfhmweig— Wolfenbüttel, war eine Staatsbahn, und wir haben 
ihon aus den Anfangsjahren des deutichen Eiſenbahnweſens bemerfenswerte Zeugnifie 
dafür, wie jchnell die Notwendigkeit nicht nur der ftaatlihen Aufjicht, jondern auch der 
ſtaatlichen mitiative und des jtaatlidyen Betriebes bei uns erkannt worden ift. In 
Bayern 3. B., wo die erfte deutihe Eijenbahnlinie erbaut worden iſt, Nümbere— 
Fürth, wurde jhon 10 Jahre jpäter grundfäglid die Staatsbahnpolitit ange 
nommen. Allerdings ijt man dort jpäter (1855) wieder von diefem Grundjag zurück 
gefommen und erft nad) wiederum zwanzig Jahren aufs neue dazu übergegangen. 
Wie Hätte aber auch bei der einftigen politifchen Geſtaltung Deutſchlands eine all 
gemeine deutiche Eilenbahnpolitif Geftalt gewinnen können! Als der Norddeutiche Bund 
gegriindet wurde, befand man fich einem bunten Gemiſch von Staats: und Privatbahn- 
verwaltungen gegenüber, zu dem man bei Vereinbarung der Berfaffung zunächſt nur 
nad) zwei Richtungen Stellung nehmen konnte. Es handelte ſich erftens um die all- 
gemeine Anerfennung, daß das Eiſenbahnweſen Reichsſache fei, und zweitens die Seit: 
jtellung derjenigen Punkte, in denen ein Berfügungs- und Auffichtsrecht des Reichs ſchon 
jest ein für allemal anzuerkennen und zu ſichern jei. 

Der Ausbau diejer Grundfäge hätte nun unter normalen Berhältniffen eigentlid) 
dahin führen müſſen, daß fid) aus der Aufficht des Neiches über die Eifenbahnen eine 
Berwaltung durch das Neid) entwidelte. Es ift befanntlich anders gefommen. Der 
von Preußen im Jahre 1876 gemachte Verjud), durch das Anerbieten der Abtretung der 
preußifchen Staatöbahnen an das Reid) die Frage in Fluß zu bringen, ſcheiterte. Es 
blieb deshalb Preußen nur übrig, innerhalb feines Staatsgebietes das Staatöbahn: 
ſyſtem durch Ankauf der meiften PBrivatbahnen zum herrichenden zu machen, fo wie es in 
Württemberg von Anfang an, in Bayern und Sachſen feit 1875 durchgeführt war. Da: 
mit wurde dem deutichen Eijenbahnmejen eine ganz andere Entwidelung vorgezeichnet. 
Die Eifenbahnen als einzelftaatlihhe Unternehmungen wurden dementiprehend Wirtichafts: 
objefte für die eingzelftaatliche Verwaltung. 

Das ift nicht ohne jchwermwiegende Folgen geblieben. Wäre damals die Bermwaltung 
der Eiſenbahnen und die techniiche Seite der Sache in diefelben Hände gelegt worden, 
die das verfaffungsmäßige Auffihtsrecht und die Intereſſen der Yandesverteidigung wahr: 
zunehmen haben, jo hätte das gejamte deutſche Eifenbahnmwejen unter die großen Gefichts- 
puntte des modernen Verkehrs geftellt werden fünnen. Dat dabei die finanzielle Seite 
der Sache keineswegs hätte zu kurz fommen müffen, zeigt das Beilpiel der Reichspoſt— 
verwaltung. 

Das Spitem der eingeljtaatlihen Bahnverwaltungen hat nun aber dem Stante 


277 


420 W. v. Maſſow, Monatsſchau über innere beutfche Politik. 


die Rolle eines großen Unternehmers zugewieſen. Die Bahnen ſind im Grunde nichts 
anderes als Privatbahnen geblieben; fie find nur zu einem großen" Betriebe vereinigt 
und haben als neuen Befiger einen jehr großen Herrn erhalten, den reipeftloje Leute 
ngch dem Vorgang eines gefrönten Hauptes mitunter wohl „den Rader von Staat“ 
nennen. Gewiß ift dadurch alles vornehmer geworden; Grzellenzen, Präfidenten und 
Geheimräte regieren mit dem vollen Bewußtſein der Staatsbeamtenwürde und einer ent: 
Iprechenden Autorität, wo im PBrivatunternehmen dergleichen Attribute des Wirkens ganz 
zurüdtreten, aber das Weſen der Unternehmung ift unberührt geblieben. 

Der Staat ift ein fehr reeller, gewiffenhafter und tüchtiger Gejchäftsmann; er hat 
fein Haus vortrefflih und nad) den ſtrengſten Grundſätzen geordnet, vielleicht hier und 
da etwas zopfig, wie das bei alten ehrenfeften Firmen nicht jelten vorfommen joll. Mit 
Unrecht werden oft die notwendigen Kritiken der öffentlichen Meinung als Angriffe gegen 
die Gemilfenhaftigkeit und QTüchtigkeit der Beamten aufgefaßt, während niemand in 
Wahrheit an dem VBorhandenjein diefer Eigenjchaften zweifelt. Alfo nochmals, der 
Unternehmer ift folide und tüchtig und er jucht in feinem Geſchäft den Kunden nad) 
Kräften gerecht zu werden. Aber er iſt eben Unternehmer, d. h. die Befriedigung der 
Kunden interejfiert ihn immer nur foweit, als e8 die Fortführung des Unternehmens 
gebietet und als er damit Geſchäfte macht, d. h. Geld verdient. So tritt die Fürforge 
der die Gefamtheit repräientierenden Macht für die Entwidelung des Verkehrs und 
die Befriedigung aller auf diefem Gebiete herbortretenden Bedürfniffe ſtark zurüdf hinter 
die fisfaliichen Anjchauungen, die fid) aus der leider durd die Verhältniffe gegebenen 
Unternehmerrolle des Staates entwideln. 

Aus diefem Verhältnis ergeben ſich auch die Beziehungen der berfchiedenen deut: 
ſchen Staatsbahnfhfteme zu einander. Der ungeheure Umfang des Betriebes der preußi- 
ihen Staatsbahnverwaltung drüdt durch feine wirtichaftliche Uebermacht in derfelben 
Weiſe auf die fleineren Nachbarn, wie jedes große Unternehmen Eleinere Betriebe gleicher 
Art in Mitleidenschaft zieht. Während die preußiſchen Staatöbahnen eine glänzende 
Einnahmequelle für den Staat bilden, wird es den Fleineren Staatsbahnderbänden 
immer fchmwieriger, mit einem leidlichen Gewinn oder auch nur ohne Berluft herauszu- 
fommen, wenn fie den beftändig gefteigerten Anforderungen des modernen Verkehrs 
gerecht werden wollen. Damit ift dem Gedanken der Boden bereitet, durch vertrags: 
mäßigen Anſchluß dieſer Fleineren Verbände an die preußifche Staatsbahndermwaltung 
einen Ausgleich zu fchaffen. 

Man muß fich wohl flar maden, daß diefer Gedanke zunächſt das Ergebnis einer 
rein wirtichaftlichen Leberlegung war, die von politischen Nebenabfichten völlig frei war. 
In ſolchem Sinne ift denn auch die preußifch-heffiiche Eifenbahngemeinfchaft zu ftande 
gefommen. Es fonnte aber nicht außbleiben, daß die Frage jehr bald eine politische 
Beimiſchung erhielt. Die Gegner des Gemeinjchaftsgedanfens fanden in der politifchen 
Seite der Sache willkommene Gründe zur Oppofition, und in nationalgefinnten $reijen 
jah man in einem begreiflihen Mißverftändnis die Eifenbahngemeinichaften als etwas 
Hehnliches an, wie den Zollverein oder die Militärfonventionen. Man überfieht dabei, 
daß der Vergleich nicht pakt. Als Preußen den Zollverein gründete, geichah e8 in der 
bewußten Abficht, zur Derjtellung eines einheitlihen Wirtfchaftögebietes in Deutichland 


MW. dv. Maſſow, Monatsfchan über inmere deutſche Politik. 421 


die Initiative zu ergreifen; die preußiiche Eifenbahnvermwaltung aber beruht geradezu auf 
dem Grundgedanken, die Verkehrsintereffen jo weit als irgend möglich in den Dienft der 
bejonderen Bebürfniffe des preußiſchen Staatsweſens zu ftellen. Die Militärfonventionen 
dienten dem Reichsgedanken, weil die preußiſche Militärorganifation vorbildlich, die An: 
gliederung der kleineren Heeresfontingente aljo ein Schritt auf dem Wege zu einem wirf: 
lihen Reichsheer war; die preußifche Eifenbahnverwaltung aber ift nad) ihren map: 
gebenden Grundfägen durchaus nicht vorbildlich für das, was eine von Reichs wegen zu 
ihaftende Regelung des Eiſenbahnverkehrs fid) ald Aufgabe vorzeichnen müßte. Es lag 
jeinerzeit Preußen daran, einen deutichen Staat nad) dem andern an jeinen Zollverein 
anzuſchließen; es lag ihm ebenjo daran, die in der Reihsverfaffung vorgejehenen Grund- 
lagen eines einheitlicdyen Kriegsmwejens durch die Konventionen weiter auszubauen, weil 
dadurch; Direkt die Wehrkraft des Reiches, um bderentwillen doch alle diefe deutjchen 
Deerestontingente da waren, geftärft wurde. Aber es liegt Preußen garnichts daran, 
in weitere Eifenbahngemeinihaften mit anderen Staaten zu treten, denn es hat bereits 
von jeinem Eiſenbahnſyſtem, mas es haben mill. 

Auf Grund diefer Betrachtungen kann man fich überzeugen, daß die Frage ber 
Eijenbahngemeinfchaften vom nationalen Standpunft aus feinesmegs ſo leicht zu ent- 
icheiden ift, wie vielleicht mancher auf den erften Bli glauben könnte. Berurteilen wird 
man vom nationalen Standpuntt aus die Gehäffigkeit, mit der die ſüddeutſche Volks— 
partei und ihre Organe, jo wie es in diefen Wochen in Württemberg gejchehen ift, den 
Anſchluß an Preußen befämpfen, nicht etwa aus fachlichen Gründen, jondern lediglid), 
weil in unflaren Köpfen dev Popanz der „Verpreußung“ ſpukt. Daher muß man fid 
freuen über die ftarfe Strömung, die trogdem teil aus nationalen, teil aus wirtichaft: 
lihen Gründen auf einen ſolchen Anſchluß an Preußen hindrängt. Andererjeits zwingt 
ehrliche, fachlihe Prüfung doch zu dem Bekenntnis, daß jenes gutgemeinte Hinarbeiten 
auf eine allgemeine Reichseifenbahngemeinihaft durch den Anſchluß an Preußen ſicherlich 
eine Enttäufchung erfahren würde, daß die Gefahr vorliege, auf diefem Wege das Prinzip 
des Fisfalismus im Eiſenbahnweſen unrettbar zu verewigen.. Was wir im Neid 
brauchen, ift nicht die unumichränfte Herrichaft der Herren Finanzminifter über unjere 
Scienenftränge, jondern die mweitherzige Würdigung der vielfeitigen NRüdfichten und 
Intereſſen aller Art, die mit dem Verkehrsweſen zufammenhängen, mit anderen Worten 
eine weitblickende deutiche Berkehrspolitif. 

Ich Höre hier von konfervativer Seite einen Einwand, der oft genug auch jeinen 
Ausdrud von der Rednertribüne des Reichstags gefunden hat. Iſt denn diefe Art von 
Vergötterung des Begriffs „Verkehr“ überhaupt berechtigt? Konſervative Kreiſe pflegen 
unruhig zu werden, wenn auf das Kaiferwort Bezug genommen wird, daß die Welt im 
Zeichen des Verkehrs ftehe. Es joll bier nicht die Frage erörtert werden, ob nad) rein 
theoretijcher Betradhtung eine Steigerung bes Verkehrs wünſchenswert ift oder nicht. 
Diefe Doktorfrage lafjen wir einmal auf fi) beruhen. Im Zufammenhang der vor- 
liegenden Betrachtung kommt es nur auf den Hinweis an, daß, was man etwa an un: 
günftigen Wirkungen der Verfehrsentmwidelung verzeihnen fünnte, durch die fisfaliiche 
Auffafjung der Sache nur gefteigert wird. Denn die fisfaliiche Verwaltung verfährt 
eben nad) dem Grundſatz des guten Geihäftsmannes, der vor allem fragt, wo ein 


422 W. dv. Maſſow, Monatsichau über innere deutſche Politik. 


Geichäft zu machen ift. Der umfichtige Kaufmann ſteckt fein Kapital nicht an einen 
Pla, wo nichts zu holen ift. Und fo lange unſere Eifenbahnvermwaltung in erfter Linie 
Unternehmerin ift, macht fie es ebenſo. Darum haben unjere Eifenbahnen allerdings 
die Wirkung, daß fie die Bevölkerung und das geichäftliche Leben in die ohnehin von der 
Natur bevorzugten Gegenden und Plätze lenken, und das ift ja eben der Umſtand, der 
unferen Sonjervativen ihre durchaus nicht unberechtigten Klagen entlodt. Auch wir 
wünjchen von unjerer Gifenbahnvermwaltung, daß fie nicht nur Unternehmerin, fondern 
auch Bolitiferin ift. 

Es liege fih da noch mandes jagen über Verwendung der Ueberichüfle, um 
gewiffe Einwirkungen auf den Verkehr und dementiprechend auf das mwirtichaftliche Leben 
zu gewinnen; es ließe fich namentlich ein Kapitel fchreiben mit der Ueberſchrift „Unter: 
laffungsfünden“, das uns auf das Gebiet der Sozial: und Agrarpolitit hinüberleiten 
würde und u. a. aud ein grelles Licht auf die Polenfrage jallen laſſen könnte. Aber 
das würde jebt hier zu weit führen. 

„Wenn bier gejagt wird, die Eifenbahnvermwaltung jolle mehr politische Geſichts— 
punfte berüdfichtigen, jo ift Damit keineswegs verfannt, daß in Preußen innerhalb der 
(Hrenzen, die der Eifenbahnvermwaltung nun einmal durch ihre finangpolitiichen Aufgaben 
gejteckt find, auch auf anderem Gebiet vortreffliche Anläufe genommen find. Daß fozial- 
politiihe Ermägungen durchaus nicht beifeite geichoben werden, hat fich erit neuerdings 
wieder gezeigt, ald das Minifterium darauf bedacht war, in jeinem Reffort den Arbeits- 
ftodungen, welche die jegige Wirtichaftsfrifis mit fi) bringt, nach Kräften entgegen zu 
wirken. Freilich Scheint die Ausführung des Erlaffes nicht überall in vollem Berftändnis 
für die Bedeutung der Sache und die Abfichten der Zentralitelle erfolgt zu fein. So viel 
dürfte troß der mancherlei Berichtigungen, die gemwijfe Llebertreibungen und Entjtellungen 
gefunden haben, dod aus den Zeitungsberichten zu entnehmen fein: Für die Abhilfe 
fommt nicht die zweifellofe Tüchtigkeit der Beamten und die wohlmeinende Gefiinung 
des Minifters allein in Frage; es hängt da zu vieles mit dem Prinzip zujammen, von 
dem das ganze Verwaltungsſyſtem gewiſſermaßen durchtränkt ift und auf das auch bie 
ganze Organifation zugeichnitten ift. Die Eifenbahnvermaltung ift eben in eriter Linie 
ein Unternehmen zur Aufbeſſerung der Staatsfinanzen. 

Daraus folgt, daß die Ausfichten auf eine Aenderung der Yage nicht gerade be- 
deutend find. Es müßte erſt die Erſchließung neuer Einnahmequellen für den Staat 
und auch die dringend erwartete FFinanzreform im Reich vorangehen; das aber ift nicht 
eine Sache, die von heute zu morgen zu erledigen ift, am allerwenigften am Borabend 
der handelspolitiichen Entjcheidungen, die demnächft bevorjtehen. Deshalb wird man 
die Beitrebungen zur Herftellung einer Reichseifenbahn-Einheit noch auf ein langes, ge— 
duldiges Abwarten verweilen müſſen. 

Vielleicht aber treten doch noch eher, als fich jett vorausfegen läßt, Verhältnifie 
ein, die die preußiiche Eifenbahnpolitif auf einen andern Weg leiten, der ſchließlich auch 
zu der großzügigen deutjchen Verfehrspolitif führt, die wir als lektes Ziel wünjchen 
müffen. Wir werden dann umjomehr leiften können, als wir aud) jet noch in unfern 
Verfehrseinrichtungen den meiften andern Ländern im allgemeinen voraus find, Mit 
vollem Bedacht jage ich: „auch jett noch“, nicht etwa „ſchon jetzt“. Denn wir haben 


W. v. Maſſow, Monatöfchau über innere deutfche Politik. 423 


von Anfang an vortrefflihe Einrichtungen gehabt und haben, abfolut genommen, 
dieſen Borrang bis jett behauptet. Aber der relative Fortichritt der Verkehrsein: 
richtungen im Verhältnis zu den fich fteigernden Verfehrsbedürfniffen ift in mandjen 
andern Yändern in letter Zeit größer gewejen als bei uns; wir haben die hinter uns 
Burücgebliebenen näher heranfommen laſſen. 

Wenn erit der Grundiag einer wirklichen Berkehrspolitit an Stelle des fiskaliſchen 
Unternehmerftandpunfts die Derrichaft in der preußiichen Eijenbahnverwaltung ange: 
treten haben wird, werden wir aud) bezüglid; der werbenden Kraft diejer Einrichtungen 
jehr viel angenehmere Erfahrungen machen als jest. Wie in einem ſolchen Falle die 
Widerftände ganz von jelbjt jchwinden, zeigt wiederum der neuelte Erfolg der Reichs— 
pojtverwaltung, jo geringfügig das Erreichte auch manchem erjcheinen mag. Auch die 
Reichspoſt befindet fi ja in einer Rejervatftellung den beiden füddeutichen Königreichen 
gegenüber, und doc; hat fic das Streben, den praftifchen Bedürfniſſen unbefangen gerecht 
zu werden, mit einer gewiljen Notwendigkeit durchgeſetzt. Trotz der Beibehaltung des 
württembergifchen Boftrefervats werden jett wirklich gemeinfame Bojtiwertzeichen mit dem 
Gebiet der Neichöpoftverwaltung eingeführt. Noch vor wenigen fahren ſchien das 
unmöglich: es ſah wie ein Aufgeben des Nejervats aus. Aber die ruhige praftifche 
Erwägung hat zulegt die Bedenken bejeitigt. Wenn auch Bahern noch zähe an jeiner 
Sondermarfe feithält, wir find doch in einer wichtigen VBerfehrsfrage einen bedeutenden 
Schritt weiter gefommen und das eben nur deshalb, weil das ruhige, jachliche Be: 
jtreben, die Forderungen der Zeit und des allgemeinen Berkehrsbedürfniffes ohne 
Nebenabfihten zu erfüllen, über alle Regungen des Mißtrauens fieghaft hinmwegging. 
Hoffentlich gelangen wir auch auf anderen Berfehrögebieten einmal zu einer Braris, 
die in gleicher Weiſe überzeugende Kraft bethätigt. 


Die Tauben der Venus. 


Dr Des Erpiberges Zinnen, Eine flaumigelichte Wolke, 
Wenn es Frübling ward im 3abr, Öffenbarte fie der Welt, 

Lielzen Benuspriefterinnen Daſz die Böttin allem Volke 
Flattern eine Taubenfchar. Ewig ibre Gunft erbält. 

Aus erbabner böbe nieder Keiner Taubenfhbwinge Schimmer 
Strich der Wanderzug einber, Löft mebr priefterlibe band, 
Auf weifzleuchtendem Gettieder Doc die Licbe lebt noch immer, 
Webers ftille, blaue Weer. Wandelt über Beer und Land. 


Aus: Heinrih Bierorbt, Gemmen und Ballen“, Heidelberg 192. Karl Winters Univerfitätsbuchbandlung, 


DEINEN 


Weltwirtichaftliie Umſchau. 


Von 


Paul Dehn. 


Nordamerifas Handeläbeziehungen ‚zu Europa und Deutichland. — Der deutſche Rhein und 
Holland. — Die Ausfichten der Bagdadbahn. — Eine afritaniiche Ueberlandbahn. — Die Ab- 
wickelung des chinefischen Kriegsentſchädigungsgeſchäftes. 


g" den handelspolitischen Erörterungen der Tagesprefje wird überfehen oder ablichtlid) 
übergangen, was bei der Aufftellung des deutichen Zolltarifentwurfs maßgebend war 
und für die Neuregelung der Handelsverträge nad) ihrem Ablauf enticheidend jein wird, 
das Berhältnis zu Nordamerifa. Nad den Ergebniffen ihres Giteraustaufches 
mit Nordamerifa müflen mehr oder minder alle europäiſchen Staaten erkennen, daß fie 
dabei immer bedenfliher den kürzeren ziehen. Diejer Güteraustaufc erfolgt nit auf 
der borausgejegten Grundlage der Gegenieitigkeit. Die ntereffen der europäifchen 
Staaten werden dabei nicht genügend gewahrt. Bei Neuregelung der Handels— 
bezichungen wird entweder die nordamerifanifche Republif Zollermäßigungen bewilligen 
oder die europäiichen Staaten werden Zollerhöhungen vornehmen müffen. 

Der Güteraustaufh zwiihen Europa und Nordamerika jchloß in den legten drei 
Nahren zu Gunften Nordamertlas mit einem Ueberjhuß von durchſchnittlich 
2'/, Milliarden Markt ab, d. h. Europa mußte, um diefen Betrag zu deden, entweder 
jeine Gegenforderungen als Gläubiger auf Grund veranlagter Kapitalien einrechnen 
oder in jonftigen Werten zahlen, etwa durd) Verkauf nordamerikaniſcher Bapiere, oder 
jeine Ausfuhr nach anderen Ländern zu erhöhen juchen. In Wirklichkeit hat man jchon 
jetst zu allen diejen Ausmwegen gegriffen, da die Notwendigkeit dazu zwang. Der nord 
amerifanijche Ueberſchuß verteilt fih nun allerdings auf die einzelnen europäiichen 
Staaten in jehr verichiedenem Maße. England allein hat im Verkehr mit Nordamerika 
etwa 1!/, Milliarde Mark Mehreinfuhr zu verzeichnen und dedt diefen Betrag zu einem 
großen Zeil dur die BZinfen und Unternehmergewinne, die es aus jeinen jehr betrücht- 
lichen, in Nordamerika angelegten Kapitalien zu fordern hat. 

Deutfhlands Mehreinfuhr aus Nordamerika belief fih im Jahre 1900 auf 
580 Millionen Mark. Auch deutiches Kapital arbeitet in Nordamerifa, aber nit an- 
nähernd in ſolchen Mengen wie das engliiche. Deutjchland hat größere Schwierigkeiten 
bei der Dedung diefer Mehreinfuhr zu überwinden als England. Die Einfuhr Deutfch: 
lands aus Nordamerika befteht nun zwar zu einem exheblihen Teil aus Rohſtoffen 
(Baummolle und Petroleum), die es nicht entbehren fann, aus Nahrungsmitteln, die 


Paul Debn, Weltwirtfhaftliche Umfchau. 425 


zu verbrauchen es fih gewöhnt hat, aber auch aus einer ganzen Reihe von Erzeug- 
niffen, die e8 jelbft berzuftellen vermag. So war es eine gang ſelbſtverſtändliche Sache, 
daß bei der Aufftellung des neuen deutichen Bolltarifentwurfs darauf Rüdficht ge 
nommen wurde. Deutfchland folgte dem Vorgehen Nordamerifas, als es für gewiſſe 
Erzeugniffe, die es jelbft herftellen fann oder will, namentlih für ſolche nordameri- 
fanifcher Herkunft, höhere Zolljäge in Ausficht zu nehmen fich entjchloß, beiläufig be- 
merft noch nicht einmal jo hohe, wie fie im Dinglehtarif überwiegen. Es war geradezu 
eine Pflicht der deutichen Handelspolitifer, bei der Aufftellung des Zolltarifentwurfs die 
nordamerifaniihen Waren zu treffen und die nordamerifaniiche Einfuhr zurüdzudrängen, 
um den Giteraustaufch wieder ind Gleichgewicht zu bringen. Werden auf Grund 
des deutſchen Zolltarifentwurfs mit Nordamerifa neue Verhandlungen eingeleitet, jo 
haben die nordamerifanifhen Bolititer in Ermägung zu ziehen, ob fie an ihrer Zoll- 
politif fefthalten und ſich den deutſchen Markt verjchliegen laffen wollen oder aber, ob 
fie e8 vorziehen, mit dem Deutfchen Reiche in ein Hanbdelsvertragsverhältnis zu treten, 
das eine annähernde Gleichwertigfeit des Güteraustaufches verbürgt. 

Wer fih vor der jüngften mweltwirtfchaftlichen Entwidelung nicht die Augen ver: 
ichließt, wird zugejtehen müſſen, daß auf den Ablauf der beftehenden Handelsverträge 
die Reichsregierung ſich gar nicht anders vorbereiten konnte, als fie e8 durch die Auf- 
ftellung des neuen Tarifentwurfs gethan hat. Was fie dabei als oberften Geſichts— 
punkt ins Auge faffen mußte, war die nordamerifanische Gefahr. Als Graf Eaprivi 
die mitteleuropäiichen Handelsverträge abſchloß, hat man dieje Gefahr überfehen oder 
unterſchätzt. Es erjcheint heute nicht recht verjtändlich, da ein deuticher Staatsmann 
bon weiten Blid Handelöverträge mit europäiſchen Staaten abſchließen und darin 
Getreibezölle bewilligen fonnte, ohne an die nordamerifanifhe Gefahr zu denken. Zu 
jpät zeigte fich dann die Stlemme, in die man geraten war. Graf Caprivi hätte damals 
auf Grund des alten preußiichen Vertrages mit Nordamerika die Meiftbegünftigung 
verweigern fünnen, wie es jpäter mit Berufung auf denjelben Vertrag Nordamerika 
gethan hat. Ob man daran überhaupt dachte? Und wenn man wirklich daran dachte, 
hätte man es gewagt, den Nordamerilanern die Meiftbegünitinung zu verweigern und 
fie in die Lage zu verjeken, negen Deutichland den Zollkrieg zu erflären? Man hat 
damals an Nordamerifa das große Zugeftändnis der Meiftbegünftigung ohne Gegen: 
augeitändnifje bewilligt. Das war eine Notwendigkeit, eine Konjequenz der Gaprivijchen 
Dandelöverträge und ihrer eilfertigen Vereinbarung, aber ein Berkennen der nord» 
amerifanifchen Gefahr. Das große Augeftändnis hatte nicht nur eine empfindliche Be- 
einträchtigung deutſcher Anterefien zur Folge, jondern auch eine Berfchlechterung der 
bandelspolitiihen Stellung des Deutichen Neiches zu der Nordamerifaniihen Republif, 
mindeftend für die Dauer der Verträge. Man mag mit dem Grundgedanfen diefer 
Berträge einverftanden fein, man mag dieje Verträge an ſich für notiwendig halten, die 
Uebereilung aber, mit der fie abgeſchloſſen wurden, wird durch die jpätere koſtenloſe 
Gewährung eines großen Zugeftändniffes an Nordamerika doch in ein jehr bedenfliches 
Licht geiekt. 

Ein ausgezeichneter öfterreihifcher Volkswirt von Erfahrung und eilt, Dr. 
Alerander von Peez, beiläufig ein geborener Reichsdeuticher, ein gänzlich” unabhängiger 


426 Baul Debn, Weltwirtfchaftliche Umſchau. 


Dann, hat kürzlich die nordamerifaniihe Gefahr nad ihrer Entftehung und Größe 
behandelt und dabei neue Gefichtspunfte entwidelt, die in der deutichen Tagespreſſe 
nicht die genügende Würdigung gefunden haben. Ende der fiebziger Nahre war es, 
ald die nordamerifaniihe Konkurrenz auf den europäifchen Märkten zuerjt in land- 
wirtichaftlichen Erzeugnifjen in Ericdyeinung trat. Im großen und ganzen erzeugten da: 
mals die Yänder des europäiichen FFeftlandes, bis zu einem gewiſſen Grade aud Eng: 
land, an Nahrungsmitteln, was fie verbraudten. Der internationale Handel in 
Nahrungsmitteln war verhältnismäßig wenig entiwidelt, er beitand eigentlidy nur zwijchen 
Nachbarvölkern einfchließlih Englands. Bon einer überjeeiihen Konkurrenz wußte man 
nichts, man hielt e8 für ausgeichloffen, daß landwirtichaftlihe Erzeugnifje, die im Ver— 
hältnis zu ihrem Gewicht nicht zu den hochwertigen Gütern gehören, auf weite über- 
jeeische Entfernungen hin befördert werden fünnten. Und die Praris bejtätigte lange 
Beit diefe Annahme. Die Frachten waren viel zu hoch, als daß Getreide oder Vieh 
weiter als über eine gewiſſe, verhältnismäßig kurze Strede hinaus auf fremde Märkte 
gebradht werden und dort lohnenden Abſatz finden konnte. Man war der Meinung, 
daß auf weite überſeeiſche Entfernungen hin nur hochwertige Güter verfradhtet werden 
witrden, und jo gab man ſich auch einer ftarfen Täufchung bin über den Berfehr des 
Suezfanals, den man durch diefe Annahme weit unterſchätzte. Inzwiſchen find die See- 
fradıten von Jahr zu Jahr zurüdgegangen und haben gegenwärtig einen ſolchen Tief: 
ſtand erreicht, daß unter gemwijjen Umftänden zwiſchen Amerifa und Europa Getreide 
und Kohle in Ballaft oder doc) zu Spottpreijen gefahren werden. 


Induftriös waren die Nordamerikaner jchon damals und fie befundeten ihren In 
duftrialismus, indem fie es verftanden, durch eine zweckentſprechende Organifation des 
Dandels und durd eine außerordentliche VBerbefferung des Verkehrs landwirtſchaftliche 
Erzeugniffe zu einem Gegenftande des Weltverfehrs zu machen, das heißt auf weite Ent- 
fernungen bin zu verfenden und fie auf die europäiſchen Märkte zu einem Preiſe zu 
ichaffen, der niedriger war als der Preis für das heimifche Erzeugnis. Zunächſt be- 
ichieften fie den englischen Markt mit Getreide, namentlich) mit Weizen und Mais, dann 
mit Vieh, Fleiſch, Schmalz, Speck, Schinken u. |. w. Auf engliihem Boden, jagt Peez, 
wurde der große Kampf zwilchen der nordamerifaniichen und der europäiſchen Yandwirt- 
ichaft ausgefodhten und endete mit dem Siege der neuen ®elt. England war damals 
ein wichtiges Abjaßgebiet für die Yandwirtichaft des europäiichen Feftlandes, auch für 
die deutiche Landwirtihaft. Dieien Abſatzmarkt eroberte Nordamerika. Die Ausfuhr 
der feſtländiſchen Yandwirtichaft nach England geriet ind Stoden und verfiel. Schon 
daraus entitanden Berlegenheiten für die europäiſche Landwirtſchaft. Wohin mit ihrem 
Ueberſchuß, den England ablehnte? Diejer Ueberichuß verblieb auf dem Feitland und 
drücdte hier die Preife. Dazu kamen weitere Zufuhren aus Rußland und den Balfan- 
ländern. Bis dahin waren die Landwirte des europäilchen Feſtlandes als Intereſſenten 
der Ausfuhr Freihändler gewejen und verhielten fich gegen den Schuk der nationalen 
Arbeit ablehnend. Um jene Zeit entitand die ſchutzzöllneriſche Wandlung auch unter 
den Landwirten des europäilchen Feltlandes, und fie wurde mit der Zunahme der nord: 
amerifanifchen Ausfuhr nad) Europa und mit ihrem Vordringen auch auf dem euro- 
päiſchen Feſtlande ftärfer und ftärfer, bis fie in Verbindung mit der ſchutzzollbedürftigen 


Baul Dehn, Weltwirtichaftliche Umſchau. 427 


Induſtrie zum Durhbrudy fam und von den Regierungen der meiften Staaten als 
leitender Gedanke übernommen wurde. 

Erſtaunlich war in den lesten Jahren das Anwacjen der nordamerifanifchen 
Konkurrenz mit der Zunahme der nordamerifaniihen Ausfuhr auch in FFabrifaten. 
Gerade in den wichtigften Erzeugniffen des Weltmarftes, in Eiſen, Stahl und Majchinen, 
in Kohle, zum Teil ſogar in Luxuswaren wie in Geweben und fonfeftionierten Erzeugniffen, 
entwidelte Nordamerifa eine Ausfuhrfähigfeit, die um jo mehr überrajchen mußte, als 
fie nur Verſuche und Anfänge daritellte. An Stahl erzeugt Nordamerika bald jo viel 
wie ganz Europa. Nordamerifaniihe Mafchinen aller Art, Yofomotiven, Eifenbahn- 
tagen u. ſ. to. finden nicht nur in Europa Abſatz, jondern auch in anderen überjeeijchen 
Yändern, wo bisher die europäische Induſtrie wichtige Märkte fand. Nach Rukland 
lieferte Nordamerika im ‚fahre 1900 mehr ala 1 Million Tonnen Eifenbahnbedarf. In 
Südafrifa und Dftaften ift die nordamerifanifche Konkurrenz merklich hervorgetreten. 
Nach Deutichland kamen Nähmaſchinen, Fahrräder, Schuhe, Eifen: und Stahlwaren in 
anjehnlichen Mengen, und dazu gejellen ſich immer neue nordamerifanijche Erzeugnifje. 
Nod vor wenigen Kahren hat es niemand für möglidy gehalten, daß nordamerikaniſche 
Kohle in Europa Abjak finden würde und heute erjcheint fie nicht nur im füdlichen 
Europa, jondern aud) neuerdings im Norden, tro& der englifchen Konkurrenz. Die jo- 
genannte Expanſionskraft Nordamerikas jcheint feine Grenze mehr zu fennen, jeitdem 
fie von den großen Truftgejellichaften mit Hapitalien, wie fie in Europa unbefannt und 
unerhört find, geitüßt wird. Auf dem heimiichen Markt können dieje Truftgefellichaften, 
geihügt durch hohe Zollichranten, zu guten Preifen verfaufen, und was fie über den 
heimiſchen Bedarf hinaus herjtellen, ihre ganze Llebererzeugung, werfen fie auf die fremden, 
insbejondere auf die europäifhen Märkte nicht jelten zu Schleuderpreiien, vielleicht 
unter den Selbftfoften, was für ihre Art des Betriebes in der Regel feinen Berluft 
bedeutet. Kaiſer Wilhelm jollte darüber jein Befremden geäußert haben, welche Mit: 
theilung jedod) ohne Beftätigung geblieben ift, und zwar in einem Tiſchgeſpräch mit 
franzöſiſchen Reiſenden, die er an der normwegiichen Küſte auf jein Schiff zur Tafel lud. 
Man ſprach von der Möglichkeit, daß die nordamerifanifhen Trufts eine ganze Induſtrie, 
einen internationalen Handıl in wenige Hände oder in die Dand eines einzigen Mannes 
bringen könnten, daß der große Truftfönig Morgan interogeanische Schiffahrtslinien ankaufen 
und vereinigen fünnte, was noch jett keineswegs ausgeichloffen ift. Kaifer Wilhelm erblicte 
darin eine Drohung für die Zukunft. Vereinige ein ſolcher Truftfönig, meinte er, unter 
jeiner Flagge mehrere Schiffahrtslinien, fo fönne ihm ein fremder Staat, falls ein Zwiſchen— 
fall eintreten jollte, nicht beitommten, da die Nordamerikaniſche Republik die Berantwortlichkeit 
ablehnen würde. Nun muß freilich jede Seejhiffahrtsgeiellichaft die Flagge ihres Staates 
führen. Wie aber, wenn Morgan die Aktien einer großen deutichen Seeſchiffahrtsgeſellſchaft 
erwirbt, fie äußerlich als deutiche Gejellichaft beftehen läßt und fie zwingt, unter deutjcher 
Flagge nordamerifanifchen Äntereffen zu dienen? Dder wenn er fie abfichtlich zu 
Grunde ‚richtet, um ein unentbehrliches Hilfsmittel des deutichen Handels lahmzulegen? 

Schon jollen von ihm Aktien und von anderer nordamerifanijcher Seite Obli- 
gationen der großen deutſchen Schiffahrtsgefellihaften in nicht unerheblidyen Beträgen 
erworben worden jein. Gegen ihre Amerifanifierung wollen ſich nun die deutichen 


428 Paul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umſchau— 


Schiffahrtsgeſellſchaften jchügen, indem fie ihre Sapungen dahin ändern, da nur 
Deutjhe und nur im Deutfhen Reich Wohnende in den Auffihtsrat und Vorſtand 
gewählt werden fünnen. Diefe Abänderung genügt nicht, da fie ſich mit Hilfe von 
Strohmännern, die ſich immer und überall finden, umgehen läßt, wie denn auch das 
nordamerikaniſche Petroleummonopol in Deutihland durch eine äußerlich deutiche Ge— 
jellichaft gehandhabt wird. Um zu verhindern, da auch eine fremde Mehrheit Beichlüfie 
faſſen fann, die auf den Gharafter, die Nationalität oder die Gejhäftsgebarung der 
deutihen Schiffahrtsgefellihaften einen im nationalen Sinne ungünftigen Einfluß aus- 
üben, werden wirfjamere Vorkehrungen gefhaffen werden müſſen, wenn nicht nad) 
Analogie der Reichäbant, jo doch mindeftens durch Gewährung eines Auffichts- oder 
Beſtätigungsrechts an das Reid). 

Kaijer Wilhelm joll auch, was inzwijchen übrigens aud) dementiert wurde, von der 
Notwendigkeit eines europätfchen Zollvereins gefprodhen haben, einer Zollliga gegen die 
Vereinigten Staaten mit oder ohne England. Und ficherlich wird und muß diefer Gedanke 
in irgend einer Form verwirklicht werden, wenn die nordamerifanijche Konkurrenz weiter 
vorjchreitet, wenn fie mit Dilfe der nordamerifanifchen Truftgejellihaften bie europätfchen 
Zollſchranken durchbricht, wenn die nordbamerifanifche Gefahr immer drohender herbor: 
tritt und die heimijche Arbeit in Landwirtichaft und Induſtrie gefährdet. 

Leider find vorläufig die Antereffengegenjäße unter den europäiſchen Staaten, wenn 
auch nicht fo groß, doch noch fo Lebhaft, daß allem Anſcheine nach man noch nicht darüber 
hinweg und zu der Erkenntnis der größeren Intereſſengemeinſamkeit kommen wird. Bis 
dahin muß jeder europäiſche Staat jich jelbft und derart helfen, dat er aus eigener Kraft der 
nordamerifanifchen Gefahr wirkſam begegnen kann. Alle übrigen Rüdfichten im Verkehr 
der europäijchen Staaten untereinander müffen vorläufig zurüdtreten. Nicht zum zweiten 
Mal darf fi) das Deutiche Reich in die Zwangslage verjegen laffen, den europäiſchen 
Staaten Zugeftändnifje zu machen und dann an Nordamerika dieje Zugeftändniffe zu 
verichenfen oder aber von dort her einen Zollfrieg zu provozieren. 

Was fchon früher an diefer Stelle angedeutet worden ift, darf jekt mit größerer 
Beitimmtheit gejagt werden, daß das Deutjche Reich, nachdem es feinen neuen Bolltarif: 
entwurf fertig gejtellt und fich Leidlich gerüftet hat, bei Ablauf der Verträge zuerft fein 
Verhältnis mit Nordamerika neu regeln muß. Macht Nordamerika Zugeftändniffe, fo 
wird das Deutſche Neih es an Gegenzugeftändniffen nicht fehlen laffen. Andernfalls 
bleibt nicht8 Anderes übrig, als Nordamerifa an einer autonomen Bolltarifpolitif feſtzu— 
halten, die den nationalen Sintereffen entipriht. In diefem Sinne hat fi auf der 
Sahresverfammlung des Vereins für Sozialpolitif im September in München auch 
Profeſſor Dr. Schumader-Köln ausgefprodhen und empfohlen, die neuen Vertrags— 
verhandlungen unter allen Umftänden mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika 
zu beginnen. Im Berkehr mit ihnen müſſe volle Gegenfeitigfeit geichaffen werden unter 
Bejeitigung aller Willfürlichkeiten und Härten. Nach der Regelung des Verhältniſſes 
zu den Bereinigten Staaten fann das Deutjche Reich mit den europäifhen Staaten 
leichter und erfolgreicher verhandeln. 


* * 


Baul Dehn, Weltwirtſchaftliche Umfchau. 429 


Verkehrspolitiſch und auch wirtichaftlich der wichtigfte Teil eines Stromes ift der 
ichiffbare Linterlauf mit der Ausmündung in die Weltverfehrsftrake, in das Meer. Ein 
großer Strom bildet ein zujammenhängendes ®ebiet, ein untrennbares Ganze. Alle 
feine Thäler find mit ihrer Bevölkerung auf einander angemwiefen. Die Staatenbildung 
hat dieje Zufammengehörigfeit anerkannt, bis zu einem gewiſſen Grade auch in Bezug auf 
den Rhein, der Deutichlands Strom und nicht Deutjchlands Grenze geworden ift. Bon 
zwei großen deutfchen Flüffen, vom Rhein und von der Donau, flagte einmal ein 
deuticher FFürft, dak fie Gefangene in den Händen des Auslandes jeien. Der Vergleich 
ift nicht ungutreffend. Wer an der Mündung eines Stromes herricht, kann den gejamten 
Verkehr überwachen und umter Umftänden auch erihweren. An der Donau ift Deutſch— 
land nod wenig intereffiert. Die Donau war vielleiht vor Nahrzehnten die Yebensader 
des deutjch-orientaliichen Verkehrs. Heute verkehrt Deutſchland jelbft mit den unteren 
Donauländern ganz überwiegend auf dem vorteilhafteren Seemwege. Für den großen 
Berfehr kommt überdies die Donau erjt von Gran oberhalb Belt in Betraht und als 
Strom endet fie bereit3 bei der rumäniichen Grenze. Unterhalb des Eifernen Thores 
eriheint der Strom wie eine tief in das Land einfchneidende Ausbuchtung des Meeres. 
Diefer Teil des Stromes ift für mittlere Seejhiffe fahrbar und fteht überdies unter 
internationaler Ueberwachung, jo dak eine Beeinträchtigung der Sciffahrtsfreiheit nicht 
au bejorgen ift. Ernſthaft in Mitleidenichaft gezogen wird dagegen bie wirtichaftliche 
Entwidelung Deutihlands durch das unnatürliche Verhältnis, da die Mündung bes 
Rheins ji in fremden Händen befindet. Diejes Verhältnis ſteht einzig in feiner Art 
da. So neigt das ganze weſtliche Deutjichland mit feinem hochentwidelten Verkehr 
fremden Häfen zu, und es zeigt fich da ein Zmwiefpalt der nationalen Intereſſen, der auch 
durch die geplanten großen Stanalbauten nicht ausgeglihen werden wird. Auf Grund 
ihres reichen deutſchen Dinterlandes haben die fremden Rheinhäfen, namentlih Rotterdam 
und Antwerpen, einen noch größeren Aufſchwung genommen als die deutichen Nordjee- 
häfen Hamburg und Bremen, und man befürchtet von dem Bau des Mittellandfanals in 
Hamburg eine weitere Hindrängung der deutfchen Rheinlande zu den fremden Häfen, in dem 
man einen neuen Zubringer für die Erweiterung des Nheinverfehrs erblidt. Rotterdam, 
Amfterdam und Antwerpen erfreuen ſich ſchon jett im überjeeifchen Mafjenverkehr 
billigerer Frachten ald Hamburg, und es ift daher nicht ausgejchloffen, daß die fremden 
Häfen den Maffenverfehr mit Weft- und Mitteldeutfchland immer mehr von den Nord- 
jeehäfen abziehen, da fie billiger verfrachten fünnen. Wenn die Entwidelung ſich auf 
den bisherigen Bahnen weiter beivegt, werden in Fürzefter Zeit Rotterdam und fpäter 
auch Antwerpen den Verkehr des deutihen Hamburg überflügelt haben und die erften 
Häfen des europäifchen Feitlandes geworden fein. Deutſchland würde dann in nod 
höherem Grade als bisher wirtichaftlich von Holland und jeinen Märkten und auch von 
Belgien abhängig werden. 

Zunächſt wird man in Deutihland darnach tradhten müſſen, dieſer Gefahr au 
begegnen durch vermehrte und aud erhöhte Cifenbahnvorzugstarife zu Gunften 
der deutfchen Häfen, äußerftenfall® durch Flaggenzölle für den Rheinſchiffahrtsverkehr. 
Derartige Maßnahmen follten aber nicht den Zweck haben, das Verhältnis bes Reiches 
zu Holland zu verichlechtern, fondern vielmehr die holländiſchen Antereffenten zu drängen, 


430 Paul Dehn, Weltwirtſchaftliche Umſchau. 


auf eine engere Verbindung ihres Landes mit dem Deutſchen Reiche hinzuwirken, und 
zwar auf ein engeres wirtſchaftliches Verhältnis, auf die Schaffung einer Intereſſen 
gemeinſamkeit, die es ermöglicht, daß deutſcherſeits in den holländiſchen Häfen nicht mehr 
fremde und konkurrierende, ſondern verbundene und zuſammenwirkende Häfen zu erblicken 
ſind. Holland hätte unzweifelhaft dabei manches Opfer zu bringen wie Hamburg, als 
es ſeine Freihafenſtellung verlor, aber doch noch größere Vorteile zu erhoffen. Holland 
würde ſich eine fefte Grundlage für fein weiteres wirtſchaftliches Gedeihen ſchaffen und 
vielleicht Bürgſchaft für feine politiſche Unabhängigkeit wie für ſeinen kolonialen Beſitzſtand, 
um deſſen Erhaltung ihm angeſichts der Expanſionskraft der modernen Weltmächte bange 
werden könnte. in einer handelsſtatiſtiſchen Studie „Holland und ſein deutſches Hinter— 
land in ihrem gegenſeitigen Verkehr“ kommt auch Dr. Peter Stubmann zu dem 
Schluſſe, daß eine deutſch-holländiſche Zollunion nicht nur für beide Teile gewiſſe wirt: 
ſchaftliche Vorteile aufweiſt, ſondern auch kulturell die Vorbedingung iſt für eine ganze 
Reihe von tief einſchneidenden notwendigen Verkehrsplänen, insbeſondere auch für die 
ausreichende Vertiefung des unteren Rheines zur Herſtellung einer Rhein-Seeſchiffahrt 
zwiſchen den deutſchen Rheinhäfen und überſeeiſchen Plätzen. Auch Stubmann erblickt 
in einer Zolleinigung mit Holland das einzige Mittel zur Befreiung des weſtlichen 
Deutſchlands von den heute wirtſchaftlich unbequemen Ergebniſſen der politiſchen 
Entwickelung. 

Dazu kommt noch ein Umſtand, der von der Reichsregierung bei der Neuregelung 
des Dandelövertragsverhältniffes zu Dolland zur Erörterung gejtellt werden muß. Als 
in den fiebziger Nahren Sumatra, das zum Teil aud; mit deutfchem Blute von Holland 
gewonnen wurde, mit Hilfe deutfcher Unternehmer und Ktapitaliften aufblühte, als deutjche 
Pflanzungen, namentlich Tabakpflanzungen, angelegt worden waren und reiche Erträge 
abwarfen, hielt es die holländifche Regierung für zuläffig, ein Gejeß zu erlaffen, wonach 
Fremde in Niederländiſch-Indien nicht mehr das Recht haben jollten, Grund und Boden zu 
erwerben. Diejes Gejet richtete fich ganz iiberwiegend gegen deutjche Anterefjen, da eng: 
fiiche Unternehmer in den niederländiichen Stolonieen nur vereinzelt zu finden waren. 
Nur wenn die deutjchen Unternehmer ausſchließlich mit holländiichen Banfen arbeiteten 
und fich holländifieren liegen, fonnten fie dem neuen Gejeg entgehen oder aber ſich durch 
ein zweifelhaftes Mittel, durch die Vorjchiebung holländiiher Strohmänner, jeinen 
Wirfungen entziehen. Holländische Intereſſenten haben infolge dieſes Geſetzes manche 
Gewinne gemacht, aber in der Entwidelung der holländischen Kolonieen ift ein Stillftand 
eingetreten. Die deutichen linternehmer und Kapitaliften ſuchten andere Gebiete ihrer 
Thätigkeit und find erſt in neuefter Zeit wieder auf die niederländifchen Kolonieen auf- 
merfiam geworden, insbefondere auf die Inſel Puluway, nördlich von Sumatra, mo 
eine nichtengliiche Kohlen: und Dafengejellichaft mit deutfchem Kapital in Thätigkeit 
treten joll. Am Intereſſe Hollands läge hier eine Begünftigung deutichen Kapitals oder 
mindeftens ein Zujammenmirfen mit deutfchen Kapital, und es it zu hoffen, daß man 
in Holland ſich diejer Einficht nicht verichliegt und jenes Geſetz beieitigt, das dem 
deutichen Unternehmungsgeift und dem deutichen Kapital in den holländiichen Kolonieen 
die Wege verlegte. In einem Feithalten Hollands an jenem deutichfeindlihen Geſetz 
müßte bie Neichsregierung eine Unfreundlichkeit erbliden und an Vergeltungsmäßregeln 


Baul Debn, Weltwirtfchaftliche Umſchau. 431 


denken, denen vechtzeitig vorzubeugen Holland im Intereſſe der Aufrechterhaltung eines 
guten Einvernehmens mit Deutichland beftrebt fein follte. 


* * 
* 


Trotzdem Sultan Abdul Hamid lebhaft wünſcht, daß der Weiterbau der klein— 
aſiatiſchen Eiſenbahn über Konia hinaus zunächſt nach Biredjek in Angriff genommen 
wird, iſt es noch nicht gelungen, eine Verſtändigung darüber zu erzielen. Möglich, daß 
ſich in Konſtantinopel, angeſtachelt durch engliſche Ränke, ruſſiſche Einflüſſe gegen den 
Bahnbau geltend gemacht haben, weil er geeignet zu ſein ſcheint, das türkiſche Reich 
feſter zuſammen zu ſchmieden und ſeine militäriſche Widerſtandsfähigkeit zu ſtärken. 
Maßgebend ſind zunächſt aber wohl finanzielle Schwierigkeiten. Die Eiſenbahngeſellſchaft 
verlangt eine Bürgſchaft von etwa 14000 Fr. für den Kilometer. Bor dieſer hohen Be— 
laftung fcheut man in Stonitantinopel zurück, wird aber wahrjcheinlich zugreifen, wenn 
die Gefellichaft der türkischen Regierung mit Vorſchüſſen aus ihrer gegenmärtigen be: 
jonders großen Berlegenheit hilft. Unter allen Umftänden wird der Bau der Bahn bis 
Bagdad nur langjam von ftatten gehen. Was die Gefellihaft fich ſonſt noch aus- 
bedingen will, insbejondere ein Vorredht auf den Bergbau innerhalb einer Zone von je 
20 km auf beiden Seiten der Bahn, ferner ein Vorrecht für die Einrichtung von 
Dampferverbindungen auf den jhiffbaren Streden des Euphrats und Tigris und für 
die Anlage von Binnenhäfen dajelbft ift vorläufig Zufunftsmufif. Von Wert wäre nad) 
Vollendung der Bahn, vielleicht jchon vorher, für Deutichland die Ermöglichung einer 
unmittelbaren Dampferverbindung zwiichen den deutichen Häfen und den Küftenplägen 
des Perfilchen Meerbufens. Bisher vollzog ſich der Verkehr jener Gegenden mit Deutſch— 
land über London oder Marfeille mit Umladung in Port Said oder Bombay. Nach 
dem Ausbau der Bagdadbahn wird der Verfiiche Meerbufen an Bedeutung gewinnen. 

Aus gewiſſen deutjchfeindlichen Streifen Englands heraus machte die „National 
Review“ Vorſchläge über eine engliich-ruffifche Verftändigung in Aſien. Rußland und 
England jollten darnach gemeinichaftlid; Eifenbahnen in der Richtung vom Kaſpiſchen 
Meere zum Berjiihen Golf bauen und fich zugleich verpflichten, am Perſiſchen Meere 
feine politiichen Veränderungen vorzunehmen. Was die Engländer mit dieſem Bor: 
ſchlag beabfichtigen, haben einige ruffische Blätter zutreffend gekennzeichnet, nämlich die 
Bedeutung der deutihen Bagdadbahn zu untergraben, indem fie Kapital zum Pau fon: 
furrierender Linien zur Verfügung ftellen. Für die Engländer jei es ein verführerifcher 
Gedanke, die Deutichen mit ruſſiſcher Dilfe zurüdzudrängen. Allein für Rußland ſei es 
wichtiger, eine Vorzugsftellung am türkiichen Küftengebiet des Schwarzen Meeres zu er- 
langen. Sonjt würden die Deutichen auch nad) dorthin ihre Hände ausftreden. Der 
Gedanke eines ruffifchengliihen Zufammengehens gegen die Deutſchen rückt weniger die 
Klugheit al8 den Deutjchenhaß gewiſſer engliicher Kreiſe ins Licht. 


* * 
* 


Ein Blick auf die Karte Afrikas zeigt, daß die Erſchließung des dunklen Weltteils 
dur Eifenbahnen mit Hilfe europäifcher Unternehmer, Techniker und Kapitalien bereits 
beträchtliche Fortfchritte gemacht hat. Ende 1896 zählte Afrika nahezu 15 000 km Eiſen— 
bahnen und Ende 1%00 rund 18000 km. Berhältnismäßig die meiften Gijenbahnen, 


432 Paul Dehn, Weltwirtſchaftliche Umfchau. 


rund 8200 km, befigt Südafrika, wo nad) der Entdeckung der Diamant- und Goldfelder 
ein großer wirtichaftliher Aufijhwung eintrat. In Algier und Qunefien haben die 
Franzoſen bereits 4500 km Gifenbahnen gebaut und im Oftober den erſten Abjchnitt der 
fünftigen Saharabahn bis Zubia eröffnet. Die eghptiiche Nilbahn mit ihren Zweig— 
treffen im Nildelta umfaßt 3400 km. Daneben find nod; andere Eifenbahnen zu er: 
wähnen, die meift, wie die Ugandabahn, von der Hüfte aus ins Innere gehen, vielfad 
zu einem Ichiffbaren Fluß oder See, wodurd ihr Verfehrögebiet erweitert wird. Leider 
haben die begonnenen deutichen Bahnbauten entiveder, wie in Weitafrifa, auf folchen An- 
ſchluß nicht zu rechnen oder aber, wie in Oſtafrika, weite Streden zurüdzulegen, bevor 
fie ihn erreichen. 

Weitaus am günftigften liegen in diefer Hinficht die Berhältniffe der Kongobahn. 
Als König Leopold von Belgien Ende 1878 die Anlage diefer Bahn plante, wurde er 
von der Hodfinanz im ftillen verhöhnt, und der Baron Hirſch, der mit den Türfen- 
looſen ein glattes und glänzendes Geſchäft gemacht hatte, meinte jpöttiih, man möge 
immerhin am unteren Kongo Gleiſe legen, aber die Wagen nicht durch Lokomotiven, 
jondern „Durch die Herren Neger ziehen lajien*. Unter großen finanziellen und tech— 
niſchen Schtwierigfeiten wurde die Kongobahn gebaut. Als fie aber fertiggeftellt war, 
zeigte ſich jogleich ihre verfehrspolitifche Wichtigkeit. Die Kongobahn verbindet das 
Meer mit dem Slongogebiet, d. h. mit einem weiten Dinterlande, das von jchiffbaren 
Waſſerſtraßen in einer Gejamtlänge von über 10000 km durchzogen wird und nunmehr 
aufgeichloffen dalag. Bor Eröffnung der Kongobahn hatte ſich der Verkehr mit dem 
Ktongogebiet nicht entmwiceln fünnen, da der Strom bon der Mündung bis zu Stanley: 
pool in einer Fänge von 400 km nicht ſchiffbar war, fo daf der gejamte Verkehr durch 
Träger bewirkt werden mußte, was durchfchnittlich drei Wochen erforderte. Nach der 
Eröffnung der Kongobahn vollzog fich ein gewaltiger Umſchwung. Der Stongoftaat 
wurde mit einem Schlage eine überaus wertvolle Befitung und bot für die belgifche 
Unternehmungsluft ein weites Feld, jo daß die Brüffeler Börienfpefulation ſich in 
Kongo-Gründungen überftürzte. 

Was die Gründer des Kongoftaates außerdem ſchon von Anfang an ins Auge 
gefaßt hatten, was damals phantaftifch zu fein fchien, ſoll nunmehr hergeftellt werden, 
nämlid eine Verbindung von einem Ozean zum andern durch Bahnanjchlüffe vom 
oberen Kongo zunächſt nad) dem Albert-Nyanza-See und dem oberen Nil und jodann 
unter weiterer Benugung von Wafferftraßen nad; dem Tanganpifa-See. Auch nad) Voll- 
endung diefer Zufunftsbahnen wird eine afrifanifche Ueberlandverbindung von Ozean zu 
Ozean noch nicht vorhanden fein. Am Tanganyika-See fehlt ein Verkehrsweg zum 
Niaffa-See. Dagegen wird die engliihe Ugandabahn (936 km lang, Gejamtfojten 
rund 100 Mill. Mark) vorausfichtlid Mitte 1902 eröffnet werden und ihre Fortjegung 
nad) dem Albert-Nyanza (260 km) bereit3 geplant. Somit ericheint die Weiterführung 
der eberlandverbindung nicht fern zu fein. Wäre es nicht im hohen Grade erwünjcht, wenn 
ſie durch Deutſch-Oſtafrika geführt werden könnte, wo man jchon jet die Ableitung des 
früheren Verkehrs nad) dem Biktoria-Nyanza merklic; empfindet? Die Bedenken gegen den 
foftjpieligen Bau einer deutſch⸗oſtafrikaniſchen Hauptbahn an die beiden Seen find vielfach 
begründet und durchaus nicht zu unterjchägen, aber fie treten doch einigermaßen zurüd, wenn 


Baul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umschau. 433 


man fi vor Augen hält, daß die deutſch-oſtafrikaniſche Bahn feine Sackbahn werden, 
ſondern Anſchluß erhalten wird an ein weites Gebiet, das Spielraum für unüberfehbare 
Unternehmungen gewährt. Grfüllen die Leiter des SKongoftaates ihre Pläne, woran 
faum zu zweifeln ijt, dann fann das Deutiche Reid) faum noch zurücdbleiben, dann 
wird ed mit Notwendigkeit dazu gedrängt, auch die deutjch-oftafrifanifche Hauptbahn zu 
bauen, will es nicht allen Binnenverfehr von feinem Schupgebiet abziehen und Deutic- 
Oftafrifa veröden laſſen. Dagegen würde fih mit Hilfe des Bahnanjdjluffes der 
deutiche Unternehmungsgeift von Deutid-Oftafrifa aus mit beſſerer Ausficht auf Erfolg 
auh an der Erſchließung des Kongo-Hinterlandes beteiligen fünnen. Angefichts der 
großen Eongoftaatlihen Berfehrsunternehmungen gemwinnt der deutich:oftafrifanifche Eiſen⸗ 
bahnplan doch ein ganz anderes Geſicht und erheiſcht nochmalige Erörterung auch von 
einem höheren Standpunkt aus. Gerade gegenüber Verkehrsunternehmungen haben die 
Berechnungen im kleinen oft zu ganz falſchen Anſchauungen geführt, wie vor zwanzig 
Jahren den Baron Hirich, als er über die geplante Kongo-Eiſenbahn jpottete. 

Im Intereſſe des Deutfchen Reiches und feines oftafrifanifchen Schußgebietes 
liegt ein Zufammenmwirfen mit dem Stongoftaat bei den geplanten Eijenbahnbauten. Es 
handelt fi auf beiden Seiten des Tanganyifa um die Anlage von Eijenbahnftreiten 
von annähernd gleicher Yänge, von je 1200 km. Was der Kongoſtaat will, jollte aud) 
das Deutjche Reich fünnen. Dagegen wäre eine Anlehnung an den Rhodesihen Eifen- 
bahnplan Hap— Kairo bedauerlic; und nachteilig geweien. Diefe Bahn, die nunmehr in 
abjehbarer Zeit wohl nicht gebaut werden wird, hätte niemals eine Dafeinsberechtigung 
gehabt, da fie von der überlegenen Konkurrenz des Seeweges erdrüdt worden wäre. 
Und hätten die Engländer wirklich aus politiichen Gründen durchgeführt, was wirt- 
ſchaftlich nicht gerechtfertigt gewefen wäre, jo wilrden fie das neue Verkehrsmittel nur 
benugt haben, um das kecke Rhodesſche Wort „Afrika enaliih vom Kap bis zum 
Nil!“ durchgufeßen und die Deutichen aus ihrem oftafrifanifshen Schutgebiet zu 
verdrängen. 


* * 
* 


Eine weltwirtichaftlihe Neuheit ift die Abwicklung des chinefiihen Kriegsent- 
ihädigungsgefchäftes. China hat ſich in Artikel 6 des SFriedensprotofolls verpflichtet, 
an die Mächte eine Entjchädigung von 450 Mill. Taels (rund 1350 Mill. Mark) zu 
zahlen innerhalb 39 Jahren, in halbjährlihen Raten mit 4 pCt. verzinslid. Um dieje 
Zahlungen zu ermöglichen, willigten die Mächte ein, daß China feine Zölle auf 5 pCt. 
des Wertes der Waren erhöhte, auch die zollfreien Grzeugniffe mit einem fünf: 
progentigen Wertzoll belegte und endlich einzelne Eleine Binnengolleinnahmen abtrat. 
Wenn fein Zmifchenfall eintritt, wird vorausfidhtli das Geihäft glatt abgemidelt 
werden, denn die überwieſenen Einnahmen werden von der chineſiſchen Seegollverwaltung 
erhoben, die eine ziemlich jelbjtändige europäifche Behörde ift, allerdings überwiegend 
unter engliſchem Einfluß fteht. Diefe Behörde erhebt, was fie jchon bisher gethan hat, 
die chineſiſchen Seezölle, vereinnahmt auch die übrigen ihr überwiefenen Steuern und 
führt die eingehenden Beträge an die berechtigten Staaten nah Maßgabe ihres An- 
teils an der chinefifchen Sriegsentfchädigung ab. Auf Deutichland entfallen etwa 
20 Mill. Mart. 

28 


434 Baul Debn, Weltrirtfchaftliche Umſchau. 


Die geldbedürftige franzöfiiche Regierung will den franzöfiichen Anteil in Höhe 
von 267 Mill. Francs benugen, um auf Grund der chinefiichen Annuitäten eine neue 
dreiprozentige Rente in Höhe von 210 Mill. Francs auszugeben. Wahricheinlich wird die 
Volksvertretung diefen Vorſchlägen zuftimmen, denn es wird dadurd die Ziffer der 
öffentlihen Schuld nicht erhöht und der Steuerzahler nicht belaftet. Stoden die 
chineſiſchen Zahlungen, dann allerdings ändert ſich die Sache, und die franzöſiſche Kaffe 
muß für die Berziniung aud; der neuen Renten einftehen. Dieje eigentümlidhe 
Operation ift ein Zeugnis für die Höhe der Finanzkunft, nicht für die Höhe der 
Finanzpolitik der republifanischen Regierung. Das Deutjche Reich wird diefen Weg 
nicht betreten. Dagegen verlautet von Rukland, dat es feinen Anteil an der hinefiichen 
Kriegdentfchädigung auf dem Barijer Markt flüffig madjen möchte. 

Bei genauerem Zuſehen ergiebt fich übrigens, daß es die Europäer in den 
hinefiihen PVertragshäfen find, die den mwejentlichen Teil der chinefiichen Kriegsent— 
ihädigung aufzubringen haben werden. Denn gerade die europälfhen Waren, die fie 
mit Vorliebe bezogen und verbrauchten, waren bisher zollfrei, wie Mehl, Biskuits, 
präjerviertes leifh und Gemüſe, Käſe, Butter, Zuckerwaren, Kleider, Juwelierwaren, 
Parfümerien, Seife, Kerzen, Tabak und Zigarren, Wein, Bier und Spirituoſen, Haus— 
geräte, Papier, Tapiſſerie, Meſſerſchmiede- Glas- und Kriſtallwaren und endlich 
Arzneien. Die genannten Waren gingen bisher zollfrei nach China, weil fie gar nicht 
in das Land famen, fondern von den Europäern in den Bertragshäfen verbraudt 
wurden. Dieje Annehmlichkeit hört nun auf. Auch die Europäer in den Bertragshäfen 
müjfen 5 p&t. Zoll zahlen und hierdurd einen fehr erheblihen Beitrag leiften zur 
Abzahlung der chineſiſchen Kriegsentihädigung an die europäifhen Mächte einfchließlich 
der Nordamerifanifhen Republif. 


herbſtſtimmung. 


PHerbſttriſch die Lutt; im kahl gewordnen Wald 
Mit bleichem Glaſt gebäufte Blätter glänzen, 

Ein bauch ftreift drüber wie von Totenkränzen, 
Dies bimmelblau wie matt, wie Aimmernd halt! 


Verfchüchtert fpielt Kanincbenbrut am Pfad: 
Die Welt im Sterben zeigt fo fremde Züge! 
Sie merkt verwirrt: Die Sommerluft war Lüge, 
Und weıifz3 noch nicht, daſz einmal Frübling nabt. 


Aus „Bedichre* von Biktor Blüthgen. Neue vermehrte Ausgabe. 
(Berlin, G Grote'fche Verlagebuchhandlung 1901 ) 


DIdIaiedi 





SSIESILSIL SIT SIT SIE DIE >17 21721727) 





Deutictum im Auslande. 


Von 
Paul Dehn. 
Deutjche Schulen im Auslande. — Sparlaffen für Deutiche im Auslande — Nationale In— 
duſtrie⸗ und Handelsſchulen in Amertfa und fonft im Auslande. — Vom Deutichtum in 
Rordamerifa. 


Deutſche Schulen im Auslande. Der Reichszuſchuß für die Erhaltung deutſcher 
Schulen im Muslande betrug vor einigen Jahren nur 60000 M. jährlih und wurde 
dann auf Antrag des Abg. Hafle wiederholt erhöht, zuerſt auf 100000 M., 1898 auf 
150000 M. und beläuft ſich gegenwärtig auf 300000 M. Das ift verhältnismäßig 
wenig, wenn man in Betradht zieht, dah Italien für diefen Zweck jährlic) 800 000 M. 
und Frankreich 640 000 M. verwendet. Dabei find unzweifelhaft im Auslande weit mehr 
Deutiche als Italiener und Frangojen anzutreffen. 

Die Berwendung des gedachten Zufchuffes hängt von dem Ermeſſen der Reid)s- 
regierung ab. Doc wird hoffentlich bald die Notwendigkeit erkannt werden, daß die 
Reichöregierung die Oberaufficht über die deutjchen Schulen im Auslande übernimmt, 
Fachmänner zur Inſpektion diefer Schulen entjendet und einen Beirat geeigneter Sad): 
verftändigen beruft, um das Bedürfnis nad) Unterftügung deutſcher Schulen im Aus: 
lande im allgemeinen und jodann von Fall zu Fall einer Prüfung zu unterziehen, 
Spitem in die Sache zu bringen, eine Zeriplitterung der Kräfte zu vermeiden und nötigen: 
falls auch eine weitere Erhöhung des Zuſchuſſes in Vorjchlag zu bringen. Die Grund» 
lage der Erhaltung des Deutichtums im Auslande befteht in der Schaffung und För— 
derung deutjicher Schulen. Auch der Verein für deutiche Auswandererwohlfahrt hat eine 
ausgiebigere dauernde Unterſtützung folder Schulen durch das Reich befürwortet. Das 
deutihe Schulweſen im Auslande iſt von jolcher Bedeutung, daß es nicht nur vom Neid), 
jondern aud) von den Ginzelftaaten und nicht zuletzt aud) durd) freie Opfermilligfeit der 
Deutichen im Reiche wie im Auslande unterftübt werden jollte. 

Wie unterftügungsbedürftig jelbjt verhältnismäßig günftig gelegene Schulen find, 
zeigt das Budget der deutihen Schule in Brüffel. Im Jahre 1900 betrugen die Ein- 
nahmen diejer Schule an Schulgeldern 22984 Fr., an freiwilligen Spenden 17311 Fr. 
an Beiträgen der 287 Schulvereinsmitglieder 11149 Fr. und an Reichszuſchuß 
12340 Fr. Dagegen belaufen fih die Ausgaben einichlieklich 47000 Fr. für Lehrer: 
gehälter insgeiamt auf 73118 Fr., jo daß troß all der Unterftügungen noch immer ein 
Fehlbetrag von mehr als 8000 Fr. verblich. 

8* 


436 Paul Debn, Dentichtum im Auslande. 


Auf ähnlicher Grundlage wurde 1898 Die deutſche Schule in Athen errichtet. 
Freiwillige Spenden erbrachten 45 000 M. und der dortige Schulverein mit 108 Mit- 
gliedern fteuerte 1800 M. dazu bei. Das Deutiche Reich giebt einen Zuſchuß von an- 
nähernd 3000 M., der aber jedes Jahr neu erbeten werden muß und wie ein Almojen 
ericheint. Iſt es nicht geradezu eine Pflicht des Neiches, derartige Anftalten mit aus: 
reihenden Mitteln zu verjehen? 

Anfang September wurde in Schanghai das Gebäude der deutichen, 1894 be- 
gründeten Schule eingeweiht, die gegenwärtig iiber 40 Schüler zählt. Die Eröffnungs- 
rede hielt der Vorſitzende des Schulvorftandes, der Generalfonjul Dr. Knappe. Für 
diefe Schule hat das Dffizierforps der deutichen Beſatzungstruppen eine jährliche Bei- 
hilfe von 1200 M. bewilligt. 

Es kann nur eine frage der Zeit fein, dak für die wachjende deutiche Bevölkerung 
aud in Tientfin, Singapore, Penang, Nagaſaki, Tokio, Kobe u. |. w. deutiche Schulen, 
und zwar aud) höhere, Schulen errichtet werden, da es für die betreffenden Eltern doch 
zu unerwünfcht und fojtipielig werden würde, ihre Kinder zur Ausbildung nach Deutich- 
land zu jenden. 

Nach einer Mitteilung aus Buenos Aires hat fich daſelbſt ein Allgemeiner 
deutſcher Schulverband für Argentinien gebildet mit der Aufgabe, das Deutichtum da- 
durch zu erhalten, daß er die deutjche Sprache pflegt, deutſchen Geift und deutihe Er- 
aiehung fürdert. Außerdem will er jämtliche Tonfeffionslofe und paritätifche deutjche 
Sculvereine Argentiniens wie der übrigen Länder Südamerikas zuſammenſchließen und 
einen Lehrerpenfionsfonds gründen, damit diejenigen Erzieher, die an den deutſchen 
Schulen in Südamerifa mitgewirkt haben, für den Berluft ihrer Penſionsanſprüche in 
der Heimat entfhädigt werden fünnen. 

Da in der Regel die deutichen Lehrer im Auslande nicht genügend fichergeftellt 
find und nad) wenigen Jahren in die Heimat zurüdfehren, jo verdient die Anregung 
von Heinrich Lemde in Merifo Beachtung, den deutſchen Schulen im Auslande die Er- 
laubnis zu erteilen, daß deutjche Lehrer Stellungen an den Schulen deuticher Kolonieen 
im Auslande annehmen dürfen, ohne ihre Penſionsrechte im Deutjchen Reich zu verlieren. 
Hierdurdy würde der leidige Lehrerwechſel an den deutfhen Schulen im Auslande ver- 
mieden und ihnen in einem wichtigen Punkte Förderung zu teil werden. 

Inzwiſchen hat der preußijche Kultusminifter angeordnet, daß im Intereſſe der Er: 
richtung und Erhaltung deutjcher Schulen im Auslande Anträgen auf Uebermweifung von 
Yehrern dahin thunlichft entgegenzufommen jei. Doch ſollen nur tüchtige und zuverläffige 
Vehrfräfte ausgewählt werden. Wird der betreffende Lehrer nur beurlaubt, fo ift ihm 
die Zeit bei feinem Rücktritt in den heimifchen Ecyuldienft anzuredinen. Erſcheint die 
Beurlaubung nicht angängig, fo kann dem betreffenden Lehrer die Wiederzulaffung zum 
preußiichen Schuldienft nach der Rückkehr aus dem Auslande in Ausficht geftellt werden. 
Doc gilt diefe Verordnung nur für die öffentlihen Schulen in den deutjchen Kolonieen 
jowie für die vom Reiche unterftüsten Schulen im Auslande, während die übrigen 
deutichen Schulen im Muslande als Privatichulen anzujehen find. Infolge diefer Ver— 
ordnung werden naturgemäß alle deutichen Schulen im Auslande beftrebt fein, vom 
Reiche eine Unterjtügung zu erlangen, ſchon um tüchtige Lehrkräfte aus dem Reiche 


Baul Debn, Deurfchtum im Auslande. 437 


heranziehen zu können. Das mag die Verordnung des preußifchen Kultusminiſters nicht 
beabjichtigt haben, wird fie aber bewirken. 

Notwendig ift aud die Errichtung einer Auskunftsftelle für die deutichen Schulen 
im Auslande, etwa im Anſchluß an den angeregten Beirat in Berlin. Wenn irgendimo 
im Yuslande, namentlih in überjeeiihen Gegenden, die Deutfchen fih zufammenthun 
und eine Schule gründen, dann ift e8 in der Regel für die betreffenden Herren feine 
leihte Sache, die erforderlichen Lehrmittel und Schulbücher zu beihaffen. An gejchäft- 
lihen Anpreijungen fehlt es zwar niit. Aber man wünjcht doch überall und gerade in 
joldhen deutjchen Schulen das Zweckmäßigſte und Praktifchfte zu haben, man möchte in 
diefer Hinficht Fragen ftellen und von einer vertrauenswürdigen und befugten Seite 
‚Auskunft erhalten. Iſt eine ſolche Auskunftsftelle eingerichtet, jo wird ſich bald heraus: 
ftellen, wie vieljeitig und erſprießlich fie wirfen kann. 

Im italieniihen Minifterium des Auswärtigen beiteht ein Generalinfpektorat 
der italienischen Schulen im YAuslande, das ſummariſche Berichte iiber die Verwendung 
des Zujchuffes erftattet. Darnach wurden im Jahre 1900 aus dem Zuſchuß 79 italienijche 
Schulen im Auslande ganz erhalten und unterjtehen der genannten nipeftion, außer: 
dem wurden 320 unterſtützt. Die meiften diefer Schulen befinden ſich in der Levante, in 
der europäiichen und aſiatiſchen Türkei, in Eghpten, Tripoli8 und Griedjenland, einige 
auch in Amerika. 

Sparfafien für Deutfhe im Auslande. Die Verwaltung der franzöfifchen 
Poſtſparkaſſe bejitt Zweigstellen auch bei den franzöſiſchen Poftämtern im Nuslande, 
insbejondere in Alerandria, Bort Said, Smyrna, Beirut, Konftantinopel, Salonifi und 
Tanger. Ende 1899 betrugen die Einlagen in Port Said 435 000 Fres. und in Alerandria 
254 000 Fred. Selbitverjtändlich bejtchen auch ſolche Zweigſtellen bei den Boftämtern 
in den franzöfiihen Kolonieen. Unter Hinweis darauf hat Dr. Schachner in der 
„Sozialen Praxis“ angeregt, ähnliche Einrichtungen aud für die Deutfchen im Auslande 
zu jchaffen. Das Deutjche Reich hat nun zwar ebenfalls Boftämter in jeinen Stolonieen, 
auf türfiichem Gebiet und in Oftaften, farın aber dieje nicht ohne weiteres zu Annahme- 
jtellen für Spareinlagen maden, da es befanntlih zur Schaffung von Reidhspoftipar: 
kaſſen in Deutichland noch nicht gekommen ift. Zu erwägen wäre vielleicht die Ein- 
richtung von Annahmeitellen für Spareinlagen bei deutichen Konfulaten in geeigneten 
Bezirken des Auslandes etwa, wie Schachner vorjchlägt, unter Mitwirkung der anſäſſigen 
Deutjchen im Auslande nad dem Syſtem der deutichen Gemeindeiparfafien. Jedenfalls 
ift die Schaffung von Sparfaffen für die Deutichen im Auslande mwünfchenswert und 
würde geeignet fein, die Beziehungen zwiſchen dem Deutjchen Reiche und jeinen Ange: 
hörigen im Wuslande feiter zu fnüpfen. Nachahmenswert it ferner die franzöſiſche 
Einrichtung von Zweigſparkaſſen an Bord der franzöfiichen Kriegsſchiffe. Die Ange: 
hörigen der franzöfiichen Flotte fünnen ihren Zold diejen Kaſſen übergeben, die nad 
Auftrag gewiffe Beträge in die Heimat übermitteln. Die Einzahlungen bei den franzö- 
ſiſchen Marineſparkaſſen beliefen ji) ım jahre 1899 auf 887 000 res. 

Nationale Induſtrie- und Handelsſchulen in Amerika und jonft im 
Auslande. Beachtensmwert ericheint der Plan des franzöſiſchen Handelsminifters 
Millerand, in einer geeigneten Stadt der Nordamerifanischen Republif eine franzöftiche 


438 Paul Dehn, Deutfhtum im Auslande. 


Induſtrie⸗Akademie zu ſchaffen ähnlich denjenigen, die in Rom für frangöfiiche Künftler 
und in Athen für franzöfifche Gelehrte beftehen. Es follen nicht mehr einzelne Send: 
linge nad} den Vereinigten Staaten zur Ausbildung geſchickt werden, jondern Zöglinge 
der verfchiedenen techniichen Hochſchulen FFranfreichs in größerer Zahl und gemeinjam 
in die geplante Induſtrie-Akademie. Nach ihrer Ausbildung würden dann dieje Zöglinge 
in ihrem Vaterlande verwerten fünnen, was fie in Nordamerika gelernt und beobachtet 
haben. Der frangöfiiche Handelsminifter fol jogar die Einrichtung franzöſiſcher 
Handelskurſe in den veridhiedenen Dauptjtädten des Auslandes erwägen, damit Die 
jungen frangöfiichen Kaufleute Gelegenheit haben, die Fortichritte des Handels und der 
Anduftrie in den betreffenden Staaten und Städten eingehend zu jtudieren. Dieje 
Gelegenheit jelbft zu fuchen und ſich über die Dandelsverhältniffe des Auslandes zu 
unterrichten, find die deutichen Kaufleute erfreulichermeife im allgemeinen aus eigenem 
Antrieb beflifien. 


Vom Deutſchtum in Nordamerifa. Schon jeit Nahren zeigt fid) unter den 
Deutichen Nordamerikas das Beftreben, alle Stammesgenofjen in der Republif zu einer 
aroßen, Achtung gebietenden Vereinigung zufammen zu faffen. Im Frühjahr 1899 hielten 
Vertreter und Mitglieder von mehr als 300 deutjchen Vereinen und Gejellihaften zu 
Chicago eine Berfammlung ab und beauftragten den Organifationsausihuß, eine fefte 
Vereinigung aller Deutjch-Amerifaner zu jchaffen. Damals war in Nordamerifa eine 
bedenkliche Deutichenhete zu beobachten, angeftachelt von englifher Seite und betrieben 
von den nordamerifanifchen Smperialiften und Chauviniſten. Diefe Kreife juchten Un— 
frieden und Feindſchaft zwiſchen Deutschland und Nordamerika hervorzurufen. In Chi— 
cago wendete man fich zunächit gegen diefe Feinde und Neider der Deutfhen. Wilhelm 
Bode wies darauf hin, daß Preußen und fpäter das Deutjche Reid) ftet3 treu zu Amerika 
hielten, während England geradezu als der Erbfeind der Union zu betrachten jei, Wil: 
helm Rapp erhob Einſpruch gegen den Verſuch, das amerifaniiche Volk zu einem angel: 
jächfifchen zu ftempeln und zu einem Helfer Englands zu machen. Nicht England, 
fondern ganz Europa, jagte man, ift dad Mutterland aller weißen Bewohner der Ber- 
einigten Staaten. „Wir wollen deshalb nicht nur mit Deutichland, das ſeit 120 Jahren 
unfer Freund war, gute Beziehungen unterhalten, jondern mit allen Bölfern Wir 
wollen weder mit England noch mit irgend einem anderen Staate ein Bündnis fließen.“ 
Mitte 1900 wurden auf einer Beiprehung in Bhiladelphia die Grundfäte des „Deutſch— 
amerifanifhen Nationalbundes der Vereinigten Staaten“ aufgeftellt, und nadı 
längeren Verhandlungen fchritt man am 6. und 7. Oftober 1901, an dem deutichen 
Tage, dem Jubeltage der Gründung der erjten deutichen Niederlaffung in der neuen 
Melt zu Germantomwn, zur Bildung des Deutich-amerifanischen Nationalbundes. Nach 
den bereit früher vereinbarten Grundfägen will der Bund das Einheitögefühl in der 
Bevölkerung deutichen Urfprungs weden und fürdern, die Deutjchen zentralifieren und 
organifieren, jo daß fie ihre Macht ausüben können zum Schuge ſolcher berechtigter 
Wünſche und Intereffen, die dem Gemeinwohl der Republif und den Rechten und 
Pflichten guter Bürger nicht zuwider find. Der Bund will die nativijtiichen Uebergriffe 
abmwehren und die Pflege und Sicherung guter und freundichaftlicher Beziehungen Amerikas 
zu dem alten deutichen Vaterlande anftreben. Im Wdoptivvaterlande will der neue 


Paul Dehn, Deutfchtum im Auslanbde. 439 


Bund feinen Staat im Staate gründen, jondern er erblidt in der Zentralifierung der 
deutichen Bevölkerung die beite Gewähr für die Erreichung feiner Ziele. Der Bund 
forderte zugleich alle deutſchen Vereinigungen, dieje organifierten Vertreter des Deutfch- 
tums, zur Mitwirkung auf und befürmwortete die Neubildung von Vereinigungen zur 
Wahrung der Intereſſen der Deutich-Amerifaner in allen Staaten der Union und zu 
ihrer ſchließlichen Zentraliftierung in einem großen deutjch-amerifaniichen Bunde. Allen 
deutichen Bereinigungen wurde die Ehrenpflicht auferlegt, der Organijation in ihrem 
Staate beizutreten. 

Unter den bejonderen Beitrebungen des Bundes find hervorzuheben die Einführung 
des deutjchen Unterrichts in allen öffentlichen Schulen, die Erwerbung des amerifanifchen 
Bürgerrechts ſeitens aller Deutjchen, damit fie ſich möglichit rege am öffentlichen Leben 
beteiligen können, die Gründung deutjcher Fortbildungsvereine und Veranftaltung deuticher 
Vorträge. Außerdem mill der Bund mit Hilfe deuticher Theatervereine in den Haupt: 
ſtädten des Yandes eine deutſche Schaubühne fihern. Die nächſte Verſammlung foll 1903 
in Baltimore abgehalten werden. 

Bon großer Wichtigkeit ift die Forderung nad) Einführung des deutjchen Unterrichts 
in allen dffentliden Schulen. Nah der Statiftit des „Deutich-amerifanifchen Lehrer 
bundes“ ift der deutjche Unterricht in den nordamerifanifchen Schulen durchaus un- 
genügend. Dazu tritt nod) die beflagenswerte Gleichgiltigfeit der eingewanderten Deut: 
ſchen gegen ihre Mutterſprache. In Chicago meldeten ſich 1899 40000 Schüler zum 
deutichen Unterricht, darunter 15000 Finder von deutichen Eltern, 12200 Slinder von 
anglo-amerifanifhen Eltern und 12800 Kinder anderer Nationalitäten. Dagegen bilden 
die Deutichen rund 37 pCt. alfo mehr als ein Drittel der Gejamtbevölferung GChicagos. 
Unter den 304000 Schulkindern Chicagos mußten daher mehr als 100000 deuticher 
Herfunft fein. Und dennod) meldete ſich nur ein Siebentel diefer Zahl zu den deutſchen 
Vehrjtunden, jo daß annähernd ſechs Siebentel der deutſch-amerikaniſchen Kinder in Chi: 
cago ohne deutichen Unterricht aufwachien! In anderen Gegenden dürfte dies Ber: 
hältnis noch trauriger fein. Im Nerv York-Brooklyn nahmen 1898 unter 186 000 Schul: 
findern nur 8100 am deutichen Unterricht teil! 

Es ift ſehr verdienftlich, dat fich in Nordamerika endlich ein deuticher National: 
verein zur Urganijation und Vereinigung der zeriplitterten deutichen Kräfte gebildet hat. 
Man darf annehmen, dat 8 Millionen Bewohner der Republif deutjcher Geburt find 
und etwa doppelt jo viel deuticher Herkunft. Hoffentlich gelingt e8 dem neuen Bunde, 
zunächft die führenden Geiſter umfich zu fammeln und jodann das nationale Bewußtſein in den 
Deutichen Nordamerifad wieder mehr zu erweden. Welhe Wege der Bund zu be: 
ichreiten hat, um dieſes höchſte Ziel zu erreichen, werden feine Leiter jelbit am beften 
wiffen. Nur in einem Punkte jei eine Mahnung von reihsdeuticher Seite geftattet. Die 
Einführung des deutjchen Unterrichts in allen öffentlichen Schulen ift gewiß als Ziel 
auf innigfte zu wünſchen, aber ein fernes Ziel, in abjehbarer Zeit vielleicht unerreic- 
bar. Aus diefem Grunde möchten wir den Yeitern des neuen Bundes anempfehlen, fich 
nicht mit einer bloßen politiihen Agitation zu begnügen, jondern diefer Agitation 
vorzuarbeiten durh Schöpfungen aus eigener Kraft, durch Gründung und Unterftüsung 
von deutichen Schulen überall da, wo eine ausreichende deutiche Bevölkerung vorhanden 


440 Baul Dehn, Deutjhtum im Auslande. 


ift, durch die Bopularifierung diefer Schulen bei den Bewohnern deuticher Herkunft, alles 
in allem durch die Organiſation deutjch-amerifanijcher Schulvereine, die fich diefer 
überaus wertvollen leinarbeit unterziehen. 

An der Wiege des Deutfchtums in Nordamerika, in Philadelphia, wo eine Piertel- 
million Deutiche wohnen, wurde am 1. Dftober das Deutiche Theater mit „Egmont“ 
eröffnet. Es fteht unter dem Schuß des Deutichen Theatervereind, der Abonnements 
im Gefamtbetrage von 14000 M. monatlich und einen Grundftod von 24000.M. zu: 
jammenbradite. Unter den 1225 Abonnenten befinden ſich 40 deutiche Vereine. An der 
Spite des Deutſchen Theatervereins fteht Dr. Heramer, der Borfigende der Deutjchen 
Geſellſchaft von Pennſylvanien. 

R 


Kinderlos. 


lein Almet ist ein füfses Ping, 

Ein fcböner Kind gabs nie. 
So flattrig ift Rein Schmetterling 
Und fo ſchwebend zterlich wie fie, 


Sie fpringt durch die Zimmer im 
weifzen Rock, 

keine Schneeflocke tanzt fo bold; 

Im Macken wufcelt ibr Blondgelock, 

Und die Sonne beftäubt es mit Gold. 


Sie bat ein Geſichtchen wie MWilch und 
Blut 

Und lächelt fo lieb und fo fchlau, 

Und das Räschen zuckt ibr vor Ueber= 
mut; 

Ihre Augen find kornblumblau. 


Sie bat eine Stimme wie beimchben im 
Gras, 

Wie der Wach über Kieſel rinnt. 

Und fagt fie dies, und frägt fie das — 

Drauf käme kein ander Kind. 


Wir wandeln die Straſzen auf und ab; 
Klein Almet braucht vielerlei, 

Das Biedlichite, was es zu kaufen gab, 
Wir fuchtens ibr aus, wir zwei. 


Zu Weihnacht bekommtfiederkleidchen 
zwölf — 

Und Zäckcben! — und Pütchen! — und 
Schub! 

Und Spielzeug giebts für die kleine EI — 

Drei Wagen braucht cs Dazu. 


Und kommt uns ſolch blondes Wunder 
kind, 

Dafz alles ficb umdrebt und lacht, 

Danntreffenfich unfere Augen gefb wind 

Und wir baben an Almet gedacht ... 


klein Almet ift unfer Glück und Sram; 

Kein Auge fonft wird fie febn, 

Ihr Stimmilein kein andrer Wenſch ver⸗ 
nabm, 

Es kann kein Wunder gefcbebn. 


Mur wenn das Zimmer im Zwielicht liegt, 
Und die Stille atmet im Raum, 
Und eins fi ſchweigend ans andere fchmiesgt, 
Dann fpielt fie Durch unfern Traum. 
Aus: Viktor Blütbgen. Gedichte. G. Brote'fhe Sammlung von Werken zeitgenöſſiſcher Schriftfteller. Band LXXIV. 





Litterariihe Monatsbericte. 
Von 
Carl Bufie, 


Ei" ftarfes Talent muß jeder Mann haben, der zum Volke jpriht — das Talent 
„ an Gott und Menjchen zu glauben und den Sieg der Gerechtigkeit und Freude zu 
erhoffen. Hätte jemand alle Talente, aber dieſes nicht, dann müßte er jchmeigend ſich 
zurückziehen in eine dunkle Höhle, um zu grollen und zu verzagen. Die irdiihe Wahr- 
heit ift ernft genug, aber fie verträgt es recht gut, von dem Sonnenſchein der Poefie 
beleuchtet zu werden, ohne daß fie unmahr wird. Die Welt iſt rei an Niedertradht 
und fie ift reih an Größe und Schönheit. Nur darauf kommt es an, was wir Poeten 
liegen laffen oder auflefen.“ 

Beter Rofegger, der alte Waldbauernbub, jpricht fi) aljo in feinem neueften Buche 
aus. ALS er anno 1900 ftatt Waldſonnenſchein und der üblichen „fteierifchen, bahrifchen 
Diandl juchheiraffa“ feinen Freunden religiöfe Belenntniffe und Geftändniffe be- 
icherte, gab es, wie er erzählt, einiges Kopfichütteln, dat der mweltfrohe Waldgejchichten: 
mann ein Schwärmer und Stopfhänger geworden fei. Da fühlt er gleichjam die Ver- 
pflihtung, ſich zu rechtfertigen. Und er verſpricht: „So lange Gott mir mein Himmel- 
reich bewahrt, joll es in meinen Büchern feine Kopfhängerei geben, fondern möglichit 
viel Freude und Sonnenſchein.“ 

In alledem ſteckt ein matürliches und gejundes Empfinden, das litterariich noch 
nicht verfränfelt ift. Wir haben jo fehr wenig Dichter, die Freudenbringer find, mas 
zuletzt doch eigentlich alle Poeten jein follten; es ift jo jelten, daß eine große Begabung 
auch eine glücdliche ift. An den Kleinen lebt das fichere Gefühl dafür, daß echte Kunſt 
das Lebensgefühl nicht vermindern, jondern fräftig erhöhen müſſe. Es lebt im Volke. 
Es ift nur em Ausflug diefes Gefühle, wenn jo und jo viele, gerade der im Bolfe ver: 
breiteten Zeitjchriften und Zeitungen „gute, befriedigende Schlüffe“ der Erzählungen zur 
Bedingung mahen. Man wird gewiß vom litterarifchen Standpuntt darüber jpotten 
können. Aber auch diefe Medaille hat eine gute Kehrſeite. Sie lehrt und erzählt, daß 
in unfern Volksſchichten noch ein jo — ich möchte jagen: moralifch ficheres naives Gefühl, 
nod jo viel Kraft und Glauben lebt. Und das ift doch jchliehlich mehr wert als alles 
andere. Man muß diefes Gefühl im Wolke ftärken, und jeder Volksbildungsapoftel, der 
nicht in erfter Linie darauf ausgeht, hat von vornherein verjpielt und jchadet mehr, als 
er nüßt. Es giebt furiofe Leute darunter, die das Volk durhaus zu Hebbel erziehen 
wollen oder ihm — das ift Thatfadhe! — an „Bolksbildungsabenden“ Dehmel, Mombert 


442 Carl Buſſe, Litterariſche Monatsberichte. 


und moderne Symboliften vorfegen. Aber ich hatte ſtets den fegeriichen Gedanken, dak - 
etwa der alte Hadländer für die vom Tagewerk Müden nicht nur viel unterhaltender, 
jondern auch viel wichtiger, nüßlicher und beffer zu lejen fei als der dunfle, ftetö auf der Jagd 
vor ſich jelbit begriffene Hebbel. Je kleiner und dürftiger die Hütte, um jo mehr Eonne 
muß hinein! Der geringite Strahl iſt beffer als der gewaltigfte Schatten. Das wird 
gerade jetzt, wo taufende bei der Arbeit find, die Kunſt ins Volk zu tragen, viel zu jehr 
überfehen. Wir haben nur wenig, was den Hütten ebenjoviel Freude macht wie uns. 
Zu dem Wenigen gehören die Bücher des Krieglacher Poeten. 

Schon deshalb mühte man dem Himmel für Rofegger dankbar jein, ob man auch 
jonft dies und jenes wider ihn auf dem Herzen hat. Was der Wald ihm zugeraufcht, 
das hat wie der Wald felbit etwas Freies und Befreiendes, etwas Friſches und Herz: 
fröhliches. Tannengerucd und Waldjonnenichein ift immer nod) was Belferes als die feinjte 
Seelenanalyje, und dafür macht die FFenfter der Armen auf! Licht und Gejumdheit 
fommt mit den beiden in die Stuben, ein ferniger Frohſinn, der jtählt und das Yebens- 
gefühl erhöht. „Nur mit ein bischen Freude,“ fingt Conrad Ferdinand Meyer, „heilt 
man ein zerrifines Herz.“ 

„Sonnenſchein“ jchlehthin nennt der fteieriihe Volksdichter fein neueftes Bud). 
(Leipzig, Staadmann 1901.) Eine Geichichtenjammlung, wie Rojegger deren viele her: 
ausgegeben — nicht die befte, aber erfreulich wie jede. Man fennt feine Art, man 
fennt ungefähr die Geftalten, die er am liebften hat, aber wenn er ein paar dieſer 
Prachtkerle von neuem herausholt, erftaunt man immer wieder. Die kräftige Art, wie 
er zupadt, die gemütvolle Treuberzigkeit und Eigenheit, mit der er plaudert, der goldne 
Humor, der plöglich dagwiihen aus einem Sabe wie rechter Himmelsſonnenſchein her- 
ausichaut — — es ift fchwer, den Waldbauernbuben da nicht lieb zu haben. Wenn 
man dieje Geſchichten lieft und das Bud zuflappt, weiß man faum, was man da 
eigentlich gelejen hat, aber man weiß, daß es jchön war und daß im Herzen eine 
Wärme zurücdblieb. Grad’ wie man durd den Wald geht und froh wird, ohne zu 
wiſſen warum. Es ift auffallend, dat die Rojeggerichen Skizzen immer jchöner werden, 
je weniger Dandlung drin ift. „Die Komödie des Todes“, ftofflich vielleicht die reichfte 
des Bandes, ift gleichzeitig dichteriich die ſchwächſte. Ganz herrlich aber ift im „Wald— 
jonnenjchein“ der Holzfnecht Riedel mit jeiner „Lebensjühigfeit“, der einäugigen Slellnerin 
im Interthal. Und lange hält das Herz die Geſchichte von den drei Kreuzhütten— 
Buben“ feit, die ihre alte Mutter pflegen — das Hohelied der Kindesliebe, das getränft 
voll ift von ſchlichteſter Schönheit und Poeſie. Was thuts, wenn daneben auch mal ein 
Pflänzchen Unkraut gedeiht? Ich jagte jchon, die ftofflich ärmften Erzählungen feien 
die beiten; Roſegger muß nit eine oft wenig glaubwürdige Fabel vorwärtstreiben 
wollen, er muß „plaujchen“ fünnen. Manchmal giebt® dann wohl eine Verlegenheits: 
ifigze, jo als ob er nicht recht gewußt hat, was er eigentlich jchreiben fol. Aber dann 
erfreut eine artige Wendung mitten drin oder eine feine Bointe am Schluffe. Ob man 
hintereinander gerade viel jolcher Rojeggerihen Waldbücher leſen kann, iſt eine andere 
Frage. Und eine zweite: ob der alte Waldbauernbub nicht manchmal ein ganz, ganz 
Hein bischen gar zu ſehr „Waldbauernbub” jein will gegenüber den „Hölljafra, den 
Herriſchen“ und leife übertreibt und unterftreicht, wie der Tiroler, der vorm Publikum 


Carl Buſſe, Yitterarifche Monatöberichte. 443 


fteht, der der bewußte Tiroler wird und immer zu jagen jcheint: Bin ich nicht ein gang 
prächtig treuherziger Bub, holdrio? Aber die Worte find für die leile Empfindung 
ihon zu fchmer; fie jollen aud; niemandem die Freude verfümmern an diefem „Sonnen 
ihein“ und an dem fteierifchen Dichter, der weltfreudig die Höhen liebt und die Tiefen 
fennt, der heiter ift, ohne feicht zu fein, der in Schönheit und Harmonie ſchafft, aber 
auch Kraft und Knorren hat. 

Die Knorren hat Adolf Wilbrandt nicht; er hat nichts Bäuerifches; er ift dem 
Waldbuben -gegenüber der Kulturmenſch; er ift mehr Bildungs- als Volksdichter. Ein 
feiner, ftiller, einfamer ®oet, den man ungerechtermweile immer an Paul Heyſes Rod: 
ihöße hing, ob jeine ganze Art in vielem auch der Heyſeſchen entgegengefekt ift. Um 
ihn als Romanfchriftiteller fennen zu lernen, muß man ben „finger“, mehr noch „Die 
Ofterinjel“ und „Die Rothenburger* gelejen haben. Darin zwingt er zur liebe. Es 
geht ein Zug durch die „Rothenburger“, dem fein warmes Herz widerfteht, ein jugend» 
liher Schwung, der mitreißt. Es fcheint immer, als babe Wilbrandt, bevor er ih an 
den Schreibtifch fette, einen feuerblütigen Wein getrunfen, der ihm das Blut noch rollen 
madt. Seine Helden haben meift „furchtbar viel Glanzlicht in den braunen Augen, 
einen tönenden Hammer in der ſchönen Stimme“; es find NAusnahmenaturen, Schwärmer, 
Genies, Renaiffancemenjchen, ein bischen ſchwankend und verbummelt zuerft, dann aber 
vom Schmerz (Berluft der Geliebten!) zum Ritter geichlagen. Und gern läßt man ſich 
mit ihnen vom Dichter in die Höhen reißen aus der ftaubigen Niederung. 

Ih weiß nicht, ob es ſchon jemandem auffiel, wie wenig Medlenburger der 
Medlenburger Wilbrandt eigentlih if. Das Obotritenländchen hat aus allen Jahr— 
hunderten immer einen ganz beitimmten Schlag von Dichtern gezüchtet. In die große 
deutijche Yitteratur find ein paar davon eingezogen, die ald gleiche Brüder immer die 
gleiche Kappe tragen. Bon Herrn Peter Kalfs Redentiner Ofterjpiel (15. Jahrhundert) zu 
Johann Paurembergs vier Scherzgedichten, von Liscows Satiren zu Vojjens Quije, von 
Fritz Reuter zu Heinrich Seidel — es ift immer dasjelbe. Ueberall ein nüchterner 
Wirklichkeitsiinn, ein derber Humor, ein fräftiger niederdeuticher Realismus. Die 
Magenfrage ift vielfach die Hauptſache. Es it etwas ganz Prächtiges um diejen 
Medlenburger Schlag, ob in allen Dichtern des Landes auch eine gewiſſe topfgucderijche 
Gutbürgerlichfeit alias Philiftrofität lebte. Wilbrandt hat nichts von alledem. Er hat 
weder den nüchternen Wirklichfeitsfinn, noch den derben Humor. Er ift ein Schönheits— 
ihmärmer, er hat Feinheit, Grazie, Form, er hat Höhenjehnjucht — kurz, er hat alles, 
was ihn in direkten Gegenjat zu den Medlenburgern und ihren Dichtern ftellt. 

Wenn man fich das vorhält, jo wird man feinen neuen Roman etwas erjtaunt in 
die Hand nehmen, denn er heit „Ein Medlenburger* (Gotta, Stuttgart 1901). 
Entweder, jagt man ji, iſt Wilbrandt unter Berziht auf jein Temperament nur 
Schilderer, oder er bringt einen wunderlichen Mecklenburger zu ftande. Mag's mir der 
Dichter nicht verübeln: der Medlenburger ift wirklich wunderlich, und ich bezweifle, daß 
ed einen Menjdyen im ganzen Obotritenländchen geben wird, der in diefem Ewald Haider 
einen Stammesgenofjen erfennt. Es ift zwar von feinem Humor die Rede, aber er hat 
ja gar feinen. Er ift ein Schmärmer, ein Bhantaft ohne einen Funken des Bäuerlichen, 
das den Obotriten auszeichnet. Melancholiſches Feuer, jeeliich-ernites Träumen, arijto- 


444 Carl Buffe, Litterariiche Monatöberichte. 


fratijch-cdle8 Ausſehen wird ihm zugeſprochen; im Mondſchein ſchwärmt er von Schön: 
heit; als er die Schönheit fteht, Laufen ihm die dicken Thränen runter; er will ein Märchen 
leben, fich dann totſchießen — — — „nu hür up“, fagte ein echter „Medelnbörger“ 
Junge zu mir, als ich ihm diefen Landsmann gejchildert hatte. Der Roman jelbit iſt 
eigentlich ein Theaterftück in fünf Alten und ganz als foldhes komponiert. Es fcheint 
als hätte der Dichter ſchon das Schaufpiel im Kopfe fertig gehabt, e8 aber im letzten 
NAugenblide al8 Roman geichrieben. Eine Inhaltsangabe läßt ſich nicht gut machen. 
Genug, dab Perjonen, die im erjten Akt bei Kroll auf dem Maskenball tanzen, ſich im 
dritten in der Sierra Nevada zum Goldgraben treffen. „Er griff ſich mit beiden Händen 
an den Kopf: er verjtand es nicht”, heißt es im dritten Bud. Und jelbft Wilbrandts 
große Kunft hat die Fülle von Unglaublichkeiten, die im Stoffe felbft liegen, nicht mweg- 
ichaffen und glaublich machen fünnen. Er felbft hat das audy empfunden. Braud id) 
zu jagen, daß tro& alledem in dem Buche, ob Homer darin auch geichlafen hat, viel 
Schönes, echt Wilbrandtiches ftedt? Daß man ganze Abſätze wieder mit Freuden lieft 
und ſich bereitwillig der lebendigen, ſchwungvollen Art des Erzählers hingiebtt? Wenn 
‚er wortreich fchreibt, jo fchreibt er doch auch mwortfein. Sein Stil blitzt und funtelt 
manchmal, und jedes feiner Bücher ift ein Dichterbuch, fo verjchieden man die einzelnen 
werten mag und muß. 


Eine bittere Enttäufchung hat mir, und waährſcheinlich vielen im Lande, die neue 
Romandichtung von J. E. Heer, Felir Notveft, gebradt (Kotta, Stuttgart). Beter 
Rojegger hat in heller Begeifterung feiner Zeit den erften Roman des jungen Schweigers, 
„An heiligen Waſſern“, neben die beften Werke Jeremias Gotthelfs geftellt. „Der König 
der Bernina“ mochte auch noch gefallen. in J. C. Heer war wieder einmal ein ur: 
echter Erzähler erftanden, dem man in atemlofer Spannung folgte und der doch auch 
hohen dichteriichen Anforderungen genügte. Bejonders hatte er ſtets grandisje Stoffe. 
Wer nur die erften Kapitel von „An beiligen Waflern“ gelejen hat, fommt nicht mehr 
los von dem Bude. Daneben gab es in diefem Werke jedocdy an manchen Stellen eine 
gewiſſe Marlitterei und teilweife wohl auch eine Stoffanhäufung, die zu groß war, als 
daß fie im Rahmen eines Bandes ganz durchgearbeitet werden konnte. Aber nur dem 
nachprüfenden Sritifer fielen diefe Bedenken ein, der Leſer ward einfach mitgeriffen. Und 
nun bat X. E. Heer in „Felir Notveft” ein Werf gejchaffen, das feinem jungen Ruhm 
fait den Todesſtoß verjeken fann. Auch bier ift die Anlage zwar grandios; der gebotene 
Stoff hätte qut und gern für einen Fünfbänder gereicht, und drei Bände gehörten 
wenigitens dazu, den Roman aus dem Rohſtofflichen heraus zu arbeiten, die jeeliichen 
Wandlungen vorzubereiten und durchzuführen. Der Schweizer Dichter hat das nicht 
gethan. Er mwirft uns einfach eine Unmenge rein äußerlicher Geſchehniſſe an den Kopf, 
läßt alles, was pſychologiſche Entwidelung heißt, zwiſchen den Kapiteln liegen und haftet, 
ftoffhungrig wie ein Senfationsichriftiteller, drauf los. Es ift nicht möglid, aud nur 
anzudeuten, was in diefem Roman alles paifiert. Die Ereigniſſe überftürzen fi, von 
einem wird man zum andern gehett, man begreift jchließlich garnicht? mehr, meil alles 
umgefehrt auch geichehen konnte, und fommt atemlos und evihöpft and Ende. Nicht 
nur im Tempo der Erzählung, auch in der Charafteriftif der Perfonen und im Stil 
zeigt fi) das Ueberhaftete. Keine Gejtalt fommt plaftiich heraus — dazu ift nicht Zeit 


Carl Buffe, Litterariihe Monatsberichte. 445 


genug — flach wie Zeichnungen liegen fie da. Die Intriguantin, der Schuft, der edle 
Volksmann, der Haustyrann, der keuſche Backfiſch, der geniale Künftler — e8 find wohl: 
befannte Typen, durch feinen eigenen Stridy gehoben und verlebendigt. Mit vollen 
Segeln fteuert J. E. Heer ins Fahrwafier der Marlitt. Auch feine Sprache wird 
blumig. Er entihuldigt ſich ſchon, wenn er — in einer Bauerngeſchichte — das Wort 
„Dung“ ausipridt. Blumig und fonventionell werden jeine Vergleiche. Sigunde Fürft 
ift immer „ichön wie ein Märchen“; Chriftli ift immer wie „unberührter Frühling“, it 
immer „Maililie”. Er fchildert fie Seite 138 folgendermaßen: „Dunkle Yugen unter 
jeidenen Wimpern, janftgerötete Wängelchen, ein feingebogenes Näschen, ein herbes 
Mündchen, über dem ſchmalen Geficht ein Hauch wie unberührter Frühling“. Seite 271 
wiederholt er divie Schilderung wörtlid. Mir will darnad und nach anderen Beob- 
achtungen fcheinen, ald ob der Roman aud) jehr flüchtig geichrieben ift. Charakteriftiich 
ift e8 auch, daß das Präfens wie in den eriten Romanen der Oſſip Schubin vorherrſcht. 
Daß ferner viele Perjonen gleihjam matte und fleinere Abzüge von großen Geitalten 
der Weltlitteratur und Geſchichte find, dak fie Heer wenigftens an das mädjtige Vorbild 
heran erhöhen will. So wird der „Kommandant“ zu König Lear, das greije Elternpaar 
Felix Notveſts zu Philemon und Baucis, Sigunde Fürft zu Königin Agnes von Ungarn 
in Parallele gejegt. Aber um fo kraſſer tritt das Mikverhältnis hervor. Man glaubt 
auch nicht an den Helden, der fi in allen enticheidenden Augenbliden wie ein fentimen- 
taler Schwädling benimmt; man glaubt nicht an die Yeidenfchaft, in deren Ausdrud fich 
der Dichter ſtets vergreift, in der die Leute gleich immer wie Betrunfene taumeln, 
ſchwanken, rafen, ftöhnen, weinen, knirſchen. Das alles ift nur aufgepeitichte Phantafır, 
der das Maß fehlt. 

Emanuel Geibel, der Vielverfannte, hat von einem noch lebenden Poeten gejagt, 
ein Uebermaß an nicht genug gezügelter Phantafie verhindere ihn, die Schönheitslinie 
inme zu halten. Das ift ganz der Fall Heer. Wenn er fich nicht fehr mäßigt, werden 
fih die Hoffnungen, die ſich an ihn fnüpften, nicht erfüllen. Er fteht jetzt am Sceide- 
wege, ob er ein beliebter Autor der Gartenlaube ohne litterariihe Prätenfionen oder 
ein Künftler werden will. Der eine mißlungene Roman will ja noch garnichts bejagen. 
Erft die nächſten Bücher werden enticheiden. Gerade dieſer nächſten Bücher wegen ift 
der Felix Notveft hier jo jcharf angefaßt worden. Talent verpflichtet. Hoffen wir, daß 
der Dichter ſich jelbft wieder findet, und er feine gar zu ertenfive Phantafie zu Gunſten 
einer mehr intenfiven zügeln lernt. 

Bon Gabriele Reuter liegt ein neuer Novellenband unter dem Titel „Frauen: 
jeelen“ vor (S. Fiſcher, Berlin 1902). hr berühmter Erftling „Aus guter Familie“ 
hat es inzwiſchen jchon zur zehnten Auflage gebracht. Die Novellen find delifat — man 
fann es nicht anders nennen. Sie find jehr fein, manchmal jogar mit einem Stich ins 
Hyſteriſch⸗ Ueberfeine; jeder Sat behauptet ſich mit einer gewiffen Eigenheit; jeder Ber- 
gleich ift Gabriele Reuters eigenfte8 Eigentum. Sie greift nie zu einer gangbaren, 
vielleicht gar ſchon abgenutten Münze; fie würde ein gejchmadlofes neues Bild unbe- 
dingt einem trivial gewordenen vorziehen. Ihre Stoffe find dürftig; was an Stofflichent 
vorhanden ijt, fommt faum in Betracht. Die Stimmung, das feine Detail find durchaus 
die Hauptſache. Die flüchtigften, ſeltſamſten Empfindungen, die kaum die Bewußtſeins— 


446 Carl Buſſe, Pitterarifche Monatöberichte. 


ſchwelle überjchreiten, fängt ſie am liebften ein. Sie vingt darnach, Unjagbares, für das 
alle Worte jchon zu ſchwer find, zu jagen, geheimftes Sehnen jo auszudrüden, dab es 
troß der Worte nod fern und geheim bleibt. Feinheit und Ueberfeinheit hat fie von 
Jens Peter Yacobjen gelernt, dem zarten Dänen. Aber fie hat nicht jeine leuchtende 
Farbenglut, fie malt am liebften in Grau. „Graue Stunden“ heikt ein Stimmungsbild 
in den „Frauenſeelen“, das meifterhaft gemadt if. Ueberhaupt muß man vom 
litterariihen Standpunft aus das Buch rühmen. Der artiftifche Feinſchmecker wird 
eine jeltene freude daran haben. Es hat etwas jo Apartes. 

Und doch — in diejem Buche der Feinheit lieft man mit Vergnügen eine Fleine 
Geſchichte, die weniger apart ift, aber mehr Körper hat: das Opernglad. Ein jchnurriger 
Einfall — mehr nicht; gewiß hält Gabriele Reuter diefe Skizze, die fie ans Ende geitellt 
bat, für die billigfte des ganzen Buches. Das ift fie aud. Aber man behält fie, 
während man die andere nicht behält; man iſt mehr in unferer aller Welt, man kann 
die Dinge anfaflen, ohne daß fie gleich zerbrehen oder wie ein Hauch verjchiweben. Und 
von hier fann man weitergehen. Was Gabriele Reuter fehlt, das ift ein wenig Robuft- 
heit, ein wenig bichteriihe Uriprünglichfeit, ein wenig natürliche Kraft. Was fie der 
Heldin ihrer Novelle „Treue“ zuſpricht: ein nerbös-fenfibles Temperament und damit 
vereint das Kalt-Grüblerifche, die lauernde Beobachtungsgabe — das dharafterifiert fie 
jelbjt. Sie zerfajert alles und jedes. Es reicht nie zu einem Bollgefühl, zu ganzer 
Freude, zu ganzem Schmerz. Es ift nie Tag oder Nadıt bei ihr — immer Dänmmerung. 
Sie ift nie harmlos unbefangen, immer apart. Und die jchönfte Seelenanalyje wiegt 
die kräftige Urfprünglichkeit einer ungebrodhenen Natur nit auf. Freudenbringer joll 
nad) Rofegger der Dichter fein. Gabriele Reuter ift fein FFreudenbringer. Und das ijt 
traurig, weil ihre Bücher bei alledem jo voll feiner Kunft und ftiller Schönheit fteden. 
Was ihr fehlt, Hat Clara Viebig im UWeberfluß, und fie entbehrt gerade etwas von 
Sabriele Reuters FFeingeiftigfeit. Es würde eine wundervolle Mifhung jein, wenn 
man dieſe beiden Dichterinnen harmoniſch verbinden Fünnte. Aber da diejes Kunſtſtück 
nicht zu ermöglichen ift, muß man halt jede für fi nehmen und fie gelten laſſen. 

Gleichzeitig mit der zweiten Auflage jeines etwas matten Romans „Liebe ift ewig“ 
hat Wilhelm von Polenz ein Bändchen Dorfgefhichten, „Quginsland“ bei Fontane 
und Go. in Berlin ericheinen laffen. Die Steine, die ſchwer ins Rollen kommen, werfen 
meift jeden Widerftand, den fie auf ihrem Wege finden, am wudhtigften nieder. Ich habe 
vor Polenz ftet3 das Gefühl einer Schwerfälligkeit, die manchmal nichts mit ſich anzu— 
fangen weiß, aber, einmal auf dem richtigen Wege, mit unbeirrbarer ruhiger Sicherheit 
zum Biele geht. Auf dem richtigen Wege war er mit feinen großen Bauernromanen. 
Scheint er mandjmal zu jchwanfen, jo fann man ihn nur immer wieder auf das Land 
weijen, darin er mwurzelt. Wenn er zähe und unbefümmert von jeiner Scholle aus jafft, 
werden ihm Kränze blühen, ob er aud) für den Augenblick von leichtfüßigeren Gefährten 
überholt wird. Das Beite in ihm ift das Zähe, Bäuerifche, recht eigentlih Germaniſche. 
Es giebt im ganzen Umkreis der jegigen Dichtung faum jemanden, der in der Fürnigen 
Geſtaltung bäuerifcher Art mit ihm wetteifern fünnte. Somie er das enge — und doch 
wie weite! — Gebiet verläßt, ift es mit jeiner ruhigen Sicherheit, die felbft ſicher macht, 
aus. Er bleibt dann immer noch ein guter Schriftiteller, aber nicht der Polenz, den 


Carl Buſſe Litterarifche Monatsberichte. 447 


wir lieben. Seine Dorfgeihichten, jo Flein und anſpruchslos fie ericheinen, zeigen ihn 
von der guten Seite. „Mutter Mauffchens Liebfter“ ift ein ganz prächtiges Stüd, 
derbfräftig, ohne grob und Flobig zu fein, ſparſam mit Gefühlsausdrüden, aber um jo 
padender. Die Geſchichte ift nicht leicht erzählt, aber das Schwere, faſt Schmwerfällige 
wirft bei diefem Stoff ald das Notwendige und Natürliche. Der deutſche Bauer, den 
die Litteratur bald zu einer komischen Figur madte, bald jentimental verbrämte, ift 
hier mit einem gejunden Realismus in feinem innerften Weſenkern gepadt, in allem 
Guten und Böfen auf die Beine geftellt. ch meine: wer das kann, wer Kraft genug 
dazu hat, der fann viel. 

Die „Lehrervereinigung zur Pflege der Fünftlerischen Bildung in Hamburg“ hat 
Liliencerons Gedidte in einer Auswahl für die Jugend bei Schufter und Loeffler 
in Berlin herausgegeben. Mit wenigen Ausnahmen ftammen die beiten Gedichte dod) 
aus den „Adjutantenritten“, jo die Perle des ganzen Bandes: „Wer weiß wo" (Schlacht 
bei Kolin, 18. Juni 1757). Das ift ein großes, herrliches und jo unſagbar ſchlichtes 
Gedicht, wie ed nur wenigen Dichtern gelang. Und „Mit Trommeln und Pfeifen“, 
Kleine Ballade, die Schladht: und Bimalgedichte, die Heidebilder — adj, wenn man 
die allbefannten wieder Lieft, paden und jchütteln fie, man vergißt gern alles, was Die 
Liebe zu Pilieneron trübte, man hält nur fein Reinjtes und Beſtes feft und fagt danadı 
in alter Freudigkeit und Begeifterung, ein wie föftlicher, kräftiger, deutfcher Poet diejer 
holfteinifche Baron doch iſt. Das Leben hat ihn zerzauft, die allerfüngfte Jugend ift 
viel zu nervös und jenfitiv, um das Kraftvolle an ihm zu fcdhäten, die älteren ftehen 
ihm zum Zeil noch fern, jogar aufs Ueberbrettl hat man ihn gezerrt — aber bei alle 
dem ift etwas Unverwüſtliches in ihm. Er bleibt mohl in feinem Beften der bedeutendite 
lebende Lyriker. Die enge Auswahl zu dem beftimmten Zmed, gegen die ſich mandjes 
jagen ließe, bringt daS naturgemäß nicht ganz heraus. Doc verfteht man, wie gerade 
Pilieneron der Sugend vorgeführt wird, der ihr mit feinem Eräftigen Nationalbewußtfein 
und feiner allem Abſtrakten abholden friichen Gegenftändlichfeit entgegentommt. Leber 
den ganzen Lilienceron vielleicht ein anderes Mal... hier wollt’ ich nur die Eleine Uus- 
wahl ftreifen. Und es fehien mir daneben Pflicht, wo fo viel Anderes, Kurzlebiges ge: 
nannt wird, auf einen Poeten hinzumeifen, von dem die8 und das all uniere meit- 
berühmten Romane überleben wird. 

Noch an einem anderen Iyrifchen Poeten, einem vielgeliebten und vielgejungenen, 
möchte ich nicht vorübergehen, ohne ihn zu grüßen und ihm die verdiente Ehre zu geben. 
Viktor Blüthgen hat eine neue, vermehrte Ausgabe feiner „Gedichte“, die lange 
ihon ſchmerzlich vermißt wurde, herausgegeben; fie bildet den 74. Band der Groteſchen 
Sammlung von Werfen zeitgenöffifher Schriftfteller. Mit erlefenem Geſchmack ift das 
Bud) ausgeftattet; Robert Engels, der Bierleiften dafür gezeichnet, war nicht immer jo 
disfret und glüdlih. Mit noch größerer Freude darf ich von den Gedichten jelbjt reden. 
Sie ftrahlen eine herzliche Wärme aus, fie geben fi jo gläubig vertrauend, jo offen 
und ehrlich, daß man ‘bald von dieſer Offenheit der Seele gewärmt und entzüdt iſt. 
Was der Dichter aus der Fülle des Herzens geftammelt, dad nahm der Künftler in 
ftrenge Zucht, bis es Form erhielt und jene feine Iyrifche Melodie, in der es fich nun 
vor una liegt. Piele Töne werben angefchlagen, und dem fräftigen Anfchlag folgt eine 


448 Carl Buffe, Yitterariihe Monatsberichte. 


gleidy kräftige Durchführung, wie fie nur der jeiner jelbjt fichere Poet hat. Und wunder: 
lich verichlingen fi) Nugend und Alter in dem Buche: Jugend, die feft zupadt, friſch und 
freudig loslegt, begeifterungsfräftig ſich aufſchwingt; das Alter, das diefem Poeten über 
jede mwohlfeile Liebensmwürdigfeit hinaus eine jchönmenjcliche Güte, eine Güte des 
Herzens gab, die nun wärmt und wohlthut. 

Viktor Blüthgen ift eine feine, anjcdjmiegiame Poetennatur. Es kommt vor, daß 
man andere Dichter leife hier und da heraushört, aber immer drüdt er doch jelbit dieſen 
Yiedern jeinen eigenen Stempel auf. Das hat ihn auch vor Einfeitigfeit bewahrt und 
ihn die verichiedenften Töne finden lajjen. Da find prächtige Liebesgedichte, gefühlsftarf, 
aus überftrömendem Herzen geboren; da find ganz außerordentlid) feine Naturftimmungen, 
wie 3. B. in dem auch formell jehr aparten Gedicht „Auf Schwarzwild“, das die un- 
beitimmten Geräufche der Sommernadt, das Yeben und Weben in Wald und Feld fein 
wiedergiebt; da find zierliche poetische Nippfachen, etwas ſüß oft, aber voll reigender 
Scjelmerei und Grazie; da find Phantafieftüde und Rhapfodien voller Verve und 
lebendiger Kraft der Darftellung. Die entzückenden, weitberühmten $inderlieder fehlen; 
fie werden wohl einen Band für ſich allein bilden. Leider fehlen auch — außer einem 
Gruß an Bismard — die nationalen und oft jehr wuchtigen Klänge und Wedkrufe, die 
der Dichter in glüdlider Stunde fand. Das energijche Flottengediht: „Zu Hamburg 
ſprach der Kaiſer“ wird mancher ungern vermiffen. Mögen fi) viele Hände nad) dem 
ſchönen Buche ausftreden, das feinen Blat behaupten wird. 

Ich komme nun zu einem Roman, der ſich von allen eben beiprochenen jehr unter: 
icheidet. Nicht nur äußerlich, durd) die Größe feines Umfangs — er ift 825 Seiten 
ftart —, fondern aud) durch die Größe des Ziels. Ein Roman, der unjere Gegenwart 
mit allen ihren Problemen, ihrem Suchen und Streben, ihren Kämpfen und Zielen in 
einen gewaltigen Rahmen fpannen, der eines der „großen epifchen Bücher unferer 
Yitteratur”, ein Zeit: und Erziehungsroman großen Stils jein will. Gewiß heißt das, 
Gewaltiges wollen. Und die ‚Voſſiſche Zeitung“, die Zeitung von Staats: und gelehrten 
Saden, hat diefes Werk aus allen herausgehoben und es neben, ja faft über den 
„grünen Heinrich“ von Gottfried Keller geftell. Der Mann, der jo Großes gewollt 
und nad) mander Meinung erreiht hat, heißt Felir Holländer, jein Bud „Der 
Weg des Thomas Truck“ (S. Fiſcher, Berlin 1901). 

Felix Holländers frühere Romane hatten bei vielen Vorzügen immer etwas 
Stnalliges, fie waren immer mit Rattengift verjegt und auf Senjation zugefchnitten. Der 
feinere Geſchmack wandte ſich oft traurig von ihnen ab — traurig, weil ausgezeichnete 
Eigenjchaften und Fähigkeiten fih darin ausprägten, aber durch das Arbeiten mit 
ichreienden Anilinfarben und durd) eine unfünftlerifche Effetthajcherei wieder aufgehoben 
wurden. Offenbar hat Felir Holländer nun in „Ihomas Truck“ alles Gute, was in 
ihm war, zufammenfafjfen wollen. Er griff glei nad der ſchwerſten Aufgabe. Und 
man fol einem fo großen Wollen und einer Energie, die ein jo umfangreiches, nad) 
fünftlerifchen Zielen ftrebendes Werk durchführt, feine Anerkennung nicht verjagen. Das 
erzwingt Achtung. Man wird ferner gern zugeben, daß der Roman im ganzen mit 
glängender Technik geichrieben ift, daß viel ehrliches Ringen darin ftedt, dab ein paar 
gut gefehene und treffend mwiedergegebene Figuren daraus herbortreten. Es wäre Fleinlich, 


Carl Buſſe, Fitterarifche Monat&berichte. 449 


ih dadurd; an diefem Werk zu reiben, daß man ein paar fchledhtgebaute Säge, ein 
paar Unmahrjcheinlichkeiten oder dergleicden daraus hervorſuchte. Diejes Vergnügen 
mag anderen überlaffen bleiben. 


Uber was man joll, wozu dieſes Bud geradezu nötigt: man joll den Geift wägen, 
der daraus jpridt; man ſoll ſich fragen, ob hier ein Dichter, indem er ein großes Zeit— 
bild einfängt, die Zeit auch dichteriich durchdringt und von uns entfernt, ob er den 
Irrenden ein Licht anzündet und die Wege meift, ob er die Erlöftjeinmollenden erlöft, 
ob er die Gegenwart und ihre Berriffenheit bezwingt und fich und andere damit zugleich 
frei madt. Wir wollen jchauernd erkennen, dat die Perfünlichkert, die im Mittelpunft 
fteht, Fleiſch iſt von unjerem Fleiſch und Geift von unferem Geift; wir wollen mit ihr 
an alle Pforten Elopfen, mit ihr wandern und irren, fuchen und finden, wachſen und 
werden, und mit ihr endlich reif und frei fein. 


Ans Leben und Ringen der Zeit werden wir auch wirflicd ausgiebig geführt. Es 
läßt ſich nicht aufzählen, was der Roman alles ausſchüttet. Sozialismus und Indivi— 
dualismus, Zionismus und Antifemitismus, Heildarmee und Egidyſche Verföhnung, 
Ehriftentum und Buddhismus, Stirner, Marr, Niegiche, Chriſtus — es pufft von allen 
Seiten. Und an alledem zerbeißt fid ein Streis feltiamer Menjdyen im Schweiße des 
Angefichts die Zähne — voran Thomas Trud, der Held, den wir auf feinem Wege von 
frühefter Kindheit an bis zum reifen Mannesalter verfolgen, in dem wir uns jelbjt 
wiedererfennen follen. 


Ich möchte mit feinem Worte jagen, weshalb diejes letztere nicht gefchieht, weshalb 
diefes ganze Werf und nie und nimmer etwas werden fann: weil nämlich Thomas Trudf 
fein deutſcher Typus, fondern ein jüdifcher ift, wie der Roman, der von ihm handelt, 
überhaupt. Gerade meil das Bud ernſt und ehrlich gedacht ift, ſei das hier auch ruhig 
und ehrlich ausgeſprochen. Felix Holländer, jelbjt von jüdischer Herkunft, hat in 
dem Weg des Thomas Truck ganz natürlich feinen Weg nad) beitem Gewiſſen geftaltet, 
nach beitem Wiſſen hat der Referent der ‚Voſſiſchen Zeitung“ dieſes Werk gepriefen und 
als den Zeitroman anerfannt, denn aud er ift Nude und hat jeine Freuden und 
Schmerzen, feine Kämpfe und Wandlungen in diefem Werk poetifch verflärt wieder: 
gefunden. Nun fei aber mir erlaubt zu jagen — e8 foll feine Wertung, fondern eine 
bloße Konftatierung fein, — daß mir andern in diefem Thomas Trud jo gut wie nichts 
bon uns erfennen, daß unier Weg, jelbft wenn er diefelben Stationen berührt, ein fo 
weſentlich verichiedener ift, daß wir dem Denken, Fühlen, Handeln diefes Thomas Trud 
manchmal Eopfichüttelnd, manchmal adjfelzudend, manchmal ohne jedes Verſtändnis 
gegemüberftehen, daß wir uns niemals mit ihm identifizieren und deshalb nie im tiefften 
Innern ergriffen und bereichert werden fünnen. Es mag fein, daß diefer Roman ein 
„Grüner Heinrich“ ift, aber er ift ein jüdijcher „Grüner Heinrich“, wie Jakob Wailer- 
manns bielgepriejene „Renate Fuchs“ eine jüdiiche „Marie Grubbe“ ift. Und weil Felir 
Holländer gerade verjchleiert hat, was er hätte hervorheben müffen, jo klafft ein Riß 
durd) das ganze Gebäude. Wir wären dankbar geweſen, wenn er ung die Entwidelungs- 
geichichte eines modernen Juden gegeben hätte; wir würden, wenn er unter diefem Ge: 
ſichtspunkte die Stindheit des Thomas Trud geſchildert hätte, Vieles begreifen, was wir 

29 


450 Earl Buffe, Yitterarifche Monatsberichte 


jegt nicht begreifen, und Vieles, was jett in der Luft ſchwebt, hätte jeine natürliche 
Bafıs gehabt. 

Ich habe das anſchneiden müfjen, weil es das entjcheidende Urteil über das ganze 
Werk erſt ermögliht. Es ift ein ganz fpezififch ungermaniihes Bud. Die Menfchen 
darin find alle auf einer rajenden Jagd nad ſich jelbft, nad Begriffen und Welt- 
anſchauungen, fie drehen fi fortwährend im Kreiſe, bis fie jelbft und alle, die fie an- 
jehen, ſchwindlig werden, fie entwideln fi alle fortwährend feuchend, als lägen jie in 
Geburtswehen, fie juchen gleichjam fportämäßig nah einer Weltanihauung, und wenn 
fie eine haben, fchleppen fie fie, jedem fichtbar, mit fich herum, wie Atlas die Weltkugel, 
bis fie plötzlich ihre Kugel fortwerfen und ächzend eine neue aufladen. Das alles gejchieht 
mit einer wahren Wut und Freude, geſchieht im Schweiße des Angefihts. Sie find alle 
fo hohe Sbealiften, daß fie fid) durd; den ganzen Kuchenberg der Probleme durchejien, 
fie fauen immerzu daran, fie thun immer das Entgegengeiekte, was ein normaler Menjd) 
thun mürde, fie übertreiben alles maßlos, zerfafern fich ewig jelbjt, läuten ſchwitzend 
große Gloden” und benehmen fi) jo, daß man manchmal unter lauter Arrfinnigen zu 
fein ſcheint. Eigentlid) muß man laden, wenn man ihnen zuſieht. Andererjeits habe 
ich mir bei der Lektüre immer wieder gejagt, mie feicht, philifterhaft und bejchränft 
meines Vaters Eohn doc eigentlich fein müffe. Denn ich befenne beihämt, daß ich in 
ſolchen erſchrecklichen Weltanſchauungs-Geburtswehen niemals lag, daß ich auch meine 
Freunde nie wie rotgeheigte Lokomotiven dampfen ſah, daß ich mir ſtets einbildete, eine 
Entwidelung gehe meift im ftillen vor fi, eine Weltanfhauung blühe auf und mache 
wie Blume und Schmetterling, die fein Gejchrei machen, wenn fie die Kelche erjchliegen 
reip. die Puppe brechen. Aber dieje bedeutenden modernen Perjönlichkeiten hier befördern 
ſo vft Weltanfhauungen zu Tage, wie das Huhn ein Ei, und gadern nicht minder bei 
jeder glüdlichen Legung. 

Man wird danach verftehen, wie fern und fremd uns das Bud it; man wird 
verjtehen, daß man es für ernft und ehrlih — vom Autor aus — halten und es dod; 
bon uns aus als oft verlogen und unnatürlid; empfinden kann. Was heilige Herzens: 
gloden für Felix Holländer jein mögen, das fühlen wir als Phrajenglödlein, die bimmeln, 
bimmeln, bimmeln und fi am eigenen Klang beraufhen. Wer fann dafür? So glaube 
ich, daß dieſer Roman, ob er aud) einen nod jo lauten Tageserfolg haben mag, nod) 
viel jchneller verjchwinden wird als die Zeitromane des jungen Deutſchlands. Dodı 
aber war es nötig, ſich mit ihm auseinandergujegen, nicht nur, weil da8 Bud; viel von 
fich reden macht — es hat in wenigen Wochen mehrere Auflagen erlebt —, jondern aud), 
weil es großen Zielen zuftrebt und bejtechend geichrieben ijt. Es jei daneben noch einmal 
anerfannt, daß es auch eine Reihe jehr feiner Nebenfiguren zeigt, etwa Fründel, den 
Volksſchullehrer Heinfius und vor allem den ruffifchen Juden Liffauer, in dem ein präch— 
tiger Typus mit jicherer Kunſt geichaffen ift. 

Thomas Truds Mutter heist mit Bormamen Tamara. Bon einer Tamara it 
jeltjamermweife auch in einem etwas früher erjchienenen Buche des Cottaſchen Verlages 
die Rede: in Lou Andreas: Salomes „Ma“. Es mag daS legte jein, wovon id) 
heute rede. Es ift auch ‚das beſte. Es ift ein Bud) fo voll inneren Reichtums, von 
iolcher Feinheit und Innigkeit, daß ich es jelbitändigen, Lejern nicht genug empfehlen 


Carl Bulle, Pitterarifche Monatsberichte. 451 


fann. Stoffhungrige Hyänen kommen bei diefer pfychologifchen Studie allerdings nicht 
auf ihre Koften. Allen anderen aber jei e3 ans Herz gelegt. Ma, die Mutter, die 
langjam ihre Slinder verliert, die dieſen lindern alles opfert, ijt mit einer verjchwenderiichen 
Fülle intimfter Züge ausgeftattet, die alle von feiner Künftlerhand geordnet find. Mit 
behutiamen und vorfichtigen Fingern ift alles angefaßt, dad Bud wächſt gleichjam mit 
und vor einem, bis das Ganze in wundervoll feiner Schönheit dafteht. Wie die handelnden 
Perfonen auseinander gehalten find, wie über der ganzen Erzählung die goldenen Kuppeln 
des heiligen Kreml leuchten, wie fich Anfang und Ende ſymboliſch verichlingen, die Iberiſche 
Gottesmutter und jene andere Mutter, die aud) heilig iſt — das ijt ganz einzig. Es 
wollte mir manchmal vorkommen, als jei das Geſicht der Dichterin gar zu flug, als 
wären die feinften Züge den Berfonen manchmal nur aufgelegt — aber ic) geitehe, dat 
ih am Schluffe ganz bezwungen war. Lou Andreas:Salom& hat fi eine Zeitlang 
etwas erzentrifch gegeben. Doc ein Bud) wie es „Ruth“ war, ein Bud, wie es jest 
„Ma“ ift, joll ihr nimmer unvergeffen bleiben. Sie ift heute fchon die tieffte und feinste 
der modernen Erzählerinnen. Wenn fie der Broblem:Gefahr entgeht und ſich zu immter 
fräftigerer Gegenftänblichkeit durcharbeitet, wird fie bald auch unbeftritten die erfte jein. 
So wollen wir das biesmalige Kapitel Ichliegen mit einer Hoffnung. 


® 
Es raucht ein berd.... 


Es raucht ein berd nach Often zu, Und wenn’s im baufe Mittag Tchlug 
Das beimcen fingt im ftillen Baus, Und raffelnd fiel das Ubrgewicht, 
Dort ging ein’ fcböne ftille Frau Bach unfrem Vater fabn wir aus 

Zn alten $abren ein und aus. Und wichen nicht und wankten nicht. 
Kein Bettler kam den Wleg entlang, Mir iſt, ich bing die ganze Zeit 

Er 309 denn fort mit Gruſz und Dank. Wlie eine Klett’ an ibrem Kleid. — 
Die Diele war fo weils gefegt, Ich weifz nicht, ob der berd noch raucht 
So gaftlicb war der Tifch beftellt, Und noch am berd das beimcben fingt, 
Aus Ddiefen blanken Fenstern fab ©b beut noch jeder Bettler gern 

3b einft das erfte Stückchen Welt. Wie fonft an unfer Tbürlein klinkt. 
Da lag ich lang auf Adutters Tuch Bur Sonntags mein’ ich Dann und wann, 
Und fprach mit meinem Bilderbuc, Ich träf’ fo alles wieder an. 


Die Adutter ftünde vor der Tbür, 
Die Augen fchattend mit der band, — 
Wlie wenn ich von der Reife käm’, 
Und alles bätt’ den alten Stand. 
Ich bör' das Zirpen durch den Raum — 
Seid still, — es iſt mein Sommntagstraum, 
Aus „Bagabunden“ Reue Dieber und Gebihte von Garl Buffe (Stuttgart, Gotta 11.) 


20* 


ERETREZREFTIEZREZRIERERER 


Vom deutiden Theater. 
Don 
Max Marteriteig. 


1. 


Antike Dramen. — Björnftierne Biörnfon. — Ueber unjere Kraft. — Yaboremus. — 
Paul Lange und Tora Parsberg. — Heyermanns' Die Hoffnung. 


De Klage über ungehobene Schätze der dramatiſchen Dichtung iſt nicht ohne Berechtigung, 
und einem ſtrebſamen Bühnenleiter hängen an kaum mehr betretenen Pfaden noch 
Kränze, die nur herunter zu langen ſind. Sollen jedoch Wert und Glück auf einige 
Dauer ſich vermählen, ſoll namentlich einem Theater der Großſtadt klingender Gewinn 
aus ſolchen Verſuchen erwachſen, jo müſſen dieſen Wiederbelebungsverſuchen gewiſſe 
Bedingungen entgegenkommen: es muß etwas in dem „ausgegrabenen“ Werk der 
Maſſenſtimmung der Zeit entſprechen. Ein geſchickter Dramaturg wird darum ebenſo 
achtſam zurück wie vorwärts blicken, denn er erkennt, daß es am Theater faſt mehr noch 
als in der Induſtrie Konjunkturen“ giebt. Die Berliner Theaterleiter waren in den 
legten Jahren, von der Not ums tägliche Theaterbrot getrieben, nicht ohne glücklichen 
Spürjinn und verdantten diefem einige überrajchende Erfolge. 

Während bis vor etwa fünf Jahren die Rolle der Tragödie gänzlich ausgejpielt 
eridien, und man uns bejonders vom Drama der Griehen im Bruftton ftärkiter lieber: 
zeugung berficherte, daß ed dem modernen Empfinden unerträglid) jei und keine lebendige 
Kraft mehr habe, zeitigte die während derfelben Jahre jo bemerkbar gefräftigte Sehn: 
ſucht: den naturwiſſenſchaftlichen und ſoziologiſchen GErfenntniffen, die ald Erzeugnis 
eined halbhundertjährigen geiftigen Entwickelungsganges ernfthaft nicht mehr wegzu— 
bemweifen waren, wieder eine befriedigende ethiiche Spite zu ſuchen, eine neue Bereitichaft 
in den Geiftern. Die neuerfannten Gejege unter ein oberftes, alle und alles umfaffen- 
des, zu ordnen, vermöge einer dem modernen Willen angepakten Weltanſchauung wieder 
zum Begriff einer Weltidee zu fommen, rief man die ernfte, die hohe Kunſt wieder zu 
Hilfe. Die tragiichen Probleme der Weltdichtungen in ihrem Ewigkeitswert famen neu 
zu Ehren, und felbft von der neugeitlichen tragischen Dichtung verlangte man wieder mehr 
als nur einen trodenen, zur ironiſchen Selbftaufhebung hinneigenden Beilimismus. 
Dieje „Konjunktur“ brachte dem deutichen Theater im vorigen Winter die nicht geringe 
Merkwürdigkeit der Oreftie-Aufführungen in Berlin, in Wien und in verjchiedenen anderen 
deutſchen Städten; aud) die Wiederbelebungen altgriehiicher Dramen in Frankreich hängen 
mit ihr zuſammen. 

Man wird kaum behaupten fünnen, daß eine in unferen Tagen befonders hervor: 
gefehrte Neigung zu der jchönen Form der hellenifchen Tragifer diefe Welle des Geſchmacks 
veranlaßt hätte. So dantenswert und der fajt unbejchränften Bewunderung würdig Die 


Mar Marteriteig, Bom beutichen Theater. 453 


Aeſchylos- und Sophoflesübertragungen, die Ulrich von Willamowig-Moellendorif uns 
darbot, und die den Berliner Aufführungen zu Grunde lagen, auch fein mögen, fie allein 
würden nicht zu ftande gebradjt haben, was in früheren und hellenischer Kultur enger 
verwachſenen Tagen jo oft geicheitert war. 

In den vierziger fahren mutete Ludwig Tied, der Yeib-Dramaturg des romantifchen 
Preußenkönigs, den Berlinern zu, an Sophofles und Euripides auf der modernen Bühne 
fih zu ergögen. Der heilige Zorn des vormärzlichen Liberalismus beftrafte eine ſolche 
„Rüdmwärtserei" — zu der Mendelsjohn die Mufif gefchrieben hatte! — in den heftigften 
Ausdrüden. Der fnatterige Heinrih Laube hat dann dieſes PVerdammungsurteil in 
feinem „Norddeutichen Theater“ verewigt. Die antike Tragödie ift tot — ganz tot, jchrieb, 
Laubes Geifte fich gefellend, ein hochangefehener Berliner Kritiker, als vor etwa fünf 
Jahren die Antigone bier wieder gefpielt wurde. Und nun erleben wir das Wunder, 
wir die gejcholtenen Defadenten, denen die Kraft, eine Zeit Schillers, ja ſelbſt nur die 
eines Laube zu leben, jo häufig abgeiprochen worden ift, daß der „ſüße“ Sophofles, wie 
die Griehen ihn nannten, und der eherne Aeſchylos taufend und abertaufend von Hörern 
in tieffte Bewegung jeten! Ich glaube mich nicht zu irren, wenn id) darin ein Zeugnis 
jehe für die behauptete Sehnſucht, das Leben wieder unter eine höhere Ethik zu rüden, 
als fie und der mehr oder minder nur Nützlichkeitsidealen nachſtrebende radikale 
Liberalismus in feinem Daß gegen alle metaphhfifchen Werte zu bieten vermochte. 

Aber hüten wir uns, der vor kurzem hier dargelegten Gründe eingedenf, deshalb 
von einem „Wendepunkt“ zu fprechen. Bezeichnend ift jchon, daß nicht dem öffentlichen 
Theater das Berdienft jener Aufführungen zufiel: die frische Nugend der Berliner 
Studentenihaft hat e8 fi erworben, und nur durch eine außergewöhnliche Anfpannung 
der Kräfte, deren unfere Gejchäftstheater gar nicht fähig find, wurde das Greignis 
ermöglicht. Dier hatten wir wirflid; einmal ein Stüd Feiertagskunſt an der „Feſtſtraße 
des Lebens“ ... einen Ausnahmefall. Als folcher wäre er auch abgethan gewejen, 
wenn jchneller Eifer nicht die hier entftandene Wirkung bedeutfjam zu verfnüpfen verjucht 
hätte mit dem raujchenden Erfolg, der gleichzeitig einer durchaus modernen Tragödie zu 
teil wurde, nämlich Björnftjerne Björnfons Doppeldrama „Leber unfere Kraft”, das — 
gleichfalls ein jhon vorhandener Schag — von dem Berliner Theater aus dem ans Bud) 
gefeifelten Dajein ins Leben des Bühnenlichtes gehoben wurde. 

Nicht wenigen dünkte der Mut, den Baul Lindau, der zur Rettung dieſes der 
fünftlerifhen und geichäftlichen Agonie beinahe jchon ganz verfallenen Theaters herbei: 
gerufene Leiter, dadurd; beiwies, ganz außerordentlich. Denn ehedem war das Berliner 
Theater die ausgeiprocdhene Yieblingsftätte des bürgerlichen Mittelftandes, und auch unter 
der neuen Yeitung jollte e8 den Hausfreunden einen von jeglichem Bacillus ſozialer 
oder politifcher Natur forgfältig fauber gehaltenen Aufenthalt bieten. Wie ftimmte zu 
diefer Abficht nun gerade dieje Tragödie Björnſons? War fie nicht die ausgejprochene 
Revolution? Iſt Björnſon, der Mann mit dem Stiernaden und den bufchigstrogigen 
Brauen, nicht der moderne Danton des norwegiihen Stortbings, der unermüdlide und 
wirffamfte Rufer in jeglihem Streit, wo es radifalen Fortichritt gilt? 

Weil es fo jcheint, ſchien auch der tiefe Eindrud, den „Ueber unfere Kraft” hervor- 
brachte, auf einer Linie zu ftehen mit der gewaltig erjchütternden Wirfung des griechiſchen 


454 Mar Marteriteig, Pom beutfchen Theater. 


Tragifers, die uns Die Tod verachtende Tapferkeit im SNampje up des Yebens höchſte 
Werte und unerihütterlihe Standhaftigkeit im Ertragen tieffter Schmerzen lehrt. Die 
Probleme jelbft fcheinen die gleichen: könnte die Aeſchyleiſche Triologie, die Oreſtes, 
des unfeligen Muttermörders, Schickſal Ichildert, nicht treffend aud) „Ueber uniere Kraft“ 
heigen? Ueber unjere Kraft ift ein dem Menjchenfinne miderftrebendes, unfaßbares 
Prlichtgebot, das der Seele fih mit der Madıt des Schickſals auferlegt und zu der 
That fie zwingt, der unentrinnbare Perdammmis mit eherner Notwendigfeit folgt. 
Selbit die Löſungen fcheinen nicht merflich verichieden. Üreftes wird vor dem Areopag 
frei ‚gefprohen — mit fnapper Majorität würden wir heute jagen —, und die den 
Ausichlag gebende Motivierung beruft fid) darauf, daß nur aus ungeheuerer Schuld ein 
fiheres, von ehrfurditspoller Scheu mit Heiligkeit umkleidetes Geſetz der Sitte ſich ent- 
wirkt. Rache wird zur Gerechtigkeit: die fluchdürſtenden Erinnyen wandeln ſich zu den 
ernften, da3 Heiligtum neu gegründeten Rechtes hittenden Eumeniden — und mildes 
Berzeihen der allwaltenden Götter entfühnt mit jegnender-Dand die gebrandmarfte Stirn. 
Unjelige Thaten auszulöfchen durch werfthätige Yiebe — iſt das nicht der Sinn aud) der 
Björnſonſchen Didtung? Der in furchtbaren Anterefiengegenjägen wurzelnde Haß joll 
entwurzelt werden durd das erichütternder Tragik ſich entwirfende VBerftändnis für die 
in unjerem Lebenskampſe zu Tage tretenden und in maßloſen Peidenfchaften fich ent- 
ftellenden Sträfte. Gin Alford reinfter, auch aus furchtbarem Yeid geborener Menſchlich— 
feit zittert dem gräßlichen Todesſchrei nad, der die Luft Ddurchgellte, als die ver: 
zweifelnden Streifenden, zum Verbrechen des Wahnfinns getrieben, das Schloß durd) 
Dynamit vernichteten, worin die Arbeitgeber in höhniicher Verftoctheit tagten. Und 
diefe Stimmung verflärt der Dichter zur tragiihen Erhebung. Dennod) aber Elafft ein 
nicht zu überbrüdender Unterſchied zwiſchen diefen beiden Dichtungsarten, dennoch ift es 
im Grunde ganz etwas Anderes, was der grichiiche Tragifer aus goldenen Wolfen uns 
ertönen läßt und was Björnftjerne Björnjon lehrhaft uns lehrt. Der Grieche würde 
zu dein Borjchlag lächeln, feiner Oreftie den Untertitel der Björnſonſchen Dichtung zu 
geben. Mit trüber, jchmerzlicher Berwunderung würde er den Banaujen, der ihn etwa 
machte, betrachten: Ueber unjere Kraft? — Aber verjteht Ahr denn nicht mehr, — fo 
würde er fagen — daß es im meiteren Ring des Menſchlichen nichts giebt über unjere 
Kraft und dat das Linterliegen der unerhört Wollenden und darum unerhört auch 
Veidenden der Menichheit Gmigfeitsberuf uns borempfinden läßt, . . . hört hr in den 
Stlagen des an den Felſen im Kaukaſus geichmiedeten Feuerbringerd nicht das die 
Weltenſtürme überbraujende ewige Siegeslied der heldenhaften Seele? Den unfterblichen 
Menfchen, jeht Ahr ihn nicht in Prometheus, in Dreftes, in Oedipos — und fühlt Ahr 
nicht mit beiligem Schaudern die Hände, die viel verbradjen, jegnend heute noch auf 
Eueren Scheiteln, Ihr Ur-Urenkel der Unbefiegbaren, der Götterüberdauerer . . .? 
„Wenn etwas iſt, gewalt'ger ald das Schickſal 

So tits der Menfch, der's umerichüttert trägt” . . . 

Bon joldrem Menfchenwert Zeugnis abzulegen, ift aller Tragödie Ziel und Zweck. 
Iſt das auch Björnfons Meinung, auf den durch den bedeutendften Erfolg der vorigen 
Spielzeit und durch die Anfänge der diesjährigen alle Hoffnungen, als auf den ftärfjten 
modernen tragiichen Dichter fich vereinigen? — 


Mar Marterjteig, Bom deutfchen Theater. 455 


Björufijerne Björnjon, einer der jcharjjichtigjten, eifrigiten Verwalter der vom 
vergangenen Jahrhundert uns vererbten fortfchrittlichen Gedanken, wird auch — tie 
wir alle — gelernt haben und feft davon überzeugt fein, daß wir über den rohen Be- 
griff des Schickſals der Griechen weit hinaus gewachſen find. Das ift ein Fundamental: 
jat moderner Moral und moderner Xejthetil. Der Stolz auf die großen Errungen- 
ichaften des neuzeitlihen Menjchentums läßt es nicht mehr zu, das in uns wirkende 
Geſetzmäßige in einem außer uns mwahrmehmbaren oder geahnten Unbegreiflicen zu 
iymbolifieren; er verlangt auch bei der poetijchen Behandlung feelifher Vorgänge, daß 
wir den „Dämon“ in uns, der unſer Schidjal ausmadt, über den übrigens ſchon 
Dedipus jo beweglich fich beflagte, Elarlegen als die Wirkſamkeit gang beftimmter Ber- 
anlagung. Das Seeliſche betrachten wir auch nur als eine chemiſche Formel, die 
unter den und den Umftänden die durdjaus beitimmbare Wirkung herborbringen oder 
erleiden muß. Und auch die Umftände jelbjt haben wir heute an der Schnur als be» 
ftimmt abgemwertete Größen, als welche Staatswiſſenſchaft, Volkswirtſchaft, Soziologie 
und andere Disziplinen fie uns fennen lehrten. Des Stolzes über foldhen Beſitz darf 
vor vielen Bijörnjon froh fein. Denn ganz gewiß hat er an diefe Fragen ein viel- 
bemwegtes, ftrebensrelches Leben hingegeben. Was ihm da Erkenntnis wurde, dem hat 
ein ftarfes, impulfives Temperament, ein nicht geringes Genie der Sprache jederzeit 
eine glückliche Formel gefunden. Wann und mo diejer jtarffnochige und heikblütige 
Normandjohn zu uns jpricht, hören wir ihn gem, oft bingeriffen und immer mit jenem 
Intereſſe, das ſonſt nur Bollnaturen uns abgewinnen fünnen. Er mwägt gerecht, fieht 
alle Seiten der Dinge mit ungewöhnlidder Schärfe; und wo das Gewebe der Gharaftere 
ohne Schwierigkeit fi) entwirren läßt, die Konflikte durchfichtig find, zeichnet er und 
baut er auf mit fait immer einwandfreier Sicherheit. Das deutiche Theater auf feinem 
Wege zu neuen Formen iſt auch ihm zu Dank verpflichtet: „Das Falliſſement“ und „Die 
Neuvermählten“ waren Bereicherungen unjeres „nützlichen Vorrats“, um mit Gottjched zu 
reden. Die Nachbarſchaft aber, in die ihn fein großer Erfolg der letten Spielzeit 
brachte, verträgt er nidt. Die Dämmerung nod der jeit zwei Jahrtaujenden ver- 
glühten wirklichen tragifchen Größe läht das Kanal, das feine tragische Problemdihtung ° 
entzündete, nur in blaſſen Flammen leuchten. Er darf nicht neben Aeſchylos zu ftehen 
fommen; und ſelbſt neben jedem wirklichen Seher der Dichtung ſchrumpft er zufammen. 
Dan merkt dann, daß der Eindrud eines ungemein durchgeiftigten Auges vielleicht nur 
auf Rechnung der jcharfen Brille zu ſetzen ift, die er trägt — phhfiognomifch und 
pſychologiſch. Die geiftige Brille nämlich jest ihm der politifche Doftrinär auf, der er 
im innerften Weſen und vorwiegend iſt. Ihn beherricht, wenn man Fechners Unter: 
iheidung anmenden will, doc die „Nactanficht“ der Welt, wenn er fie auch durd) 
fünftlihe Flammen zu illuminieren weiß, — und nidt die „Tagesanficht“ des an- 
ichauenden Genies, das ſich ſelbſt Lichtquelle ift. Dinter dem Neden aus Norrland 
aber jtedt dennoh — ein Philifter. Nicht im übelen Sinne des Wortes natürlih; nur 
in dem, der den meiften, aud) der großen Söhne de3 vorigen Jahrhunderts diefe Signatur 
aufprägt, weil fie die Idee der Welt wiſſenſchaftlich erichöpfen zu können meinten. 


Das verrät eigentlich ſchon mit aller Ehrlichkeit, die bei Biörnfon überhaupt nie 
in Zmeifel zu ziehen ift, der Name feiner tragiichen Dichtung: Ueber unfere Kraft. 


456 Mar Marieriteig, Rom deutichen Theater. 


So dürfte eben feine tragijche Dichtung heigen! Das Zugeftändnis: das ift über unjere 
Kraft, bricht jedem Problem die Spike ab, die in die tragiiche Sphäre ragen könnte. 
Wollte man hier mit dem Ginwand „Damlet“ fommen und auf Goethe fich berufen, fo 
müßte id) jo unbotmäßig fein, in diejem Falle Goethe eines Mikverjtändniffes zu zeihen. 
Fragen wir die Dichtung Björnjons jelbft: — es ift gar nicht das mit der Skepſis in 
Seelenqualen vingende religiöfe Genie, das uns hier das Wunder als über unjere 
Kraft tragisch erfennen läßt, — es ift der Rationalift, der treue Sohn des neungehnten 
Jahrhunderts, der bei aller großen Klugheit jo thöricht ift, den Glauben an das Wunder 
an die Handlung zu fnüpfen — ftatt an das Sein überhaupt. An dem Wunder, das 
den Tod felbjt überwindet, ift der echte Fromme, wie der echte Philoſoph nie irre ge 
worden. Weil es für ihn feinen Tod giebt, braucht der Gotrfchauende gegen ihn fein 
Wunder. Das Wunder aber, das Sang erbetet, tritt ja ein! Und wenn er, nachdem 
es fich ihm erfüllt, um des Todes willen an der Kraft jeines Glaubens irre wird, jo 
war diefer Glaube ein überheizter Wahn, — ohne jede fittliche Bedeutjamkeit für das 
Problem, alfo auch fein tragifches Motiv. Der Rationaliſt Björnjon ftreift bier, wo 
er ganz poetifcher Weisheit voll zu fein wähnt, jehr nahe an eine große Trivialität. 
Ebenfo ift es nidht der mit Ewigkeitsmaßen wägende Ethifer, der das foziale 
Problem, — den Inhalt des zweiten Teils der Dichtung, — im Sinne einer modernen 
Weltidee zu löjen ſich anjchiekt, jondern der Politiker, der die „Kunft des Möglichen“ — 
jein Metier — von jeinem Standpunftte aus in Dichtung umſetzt. Auch hier freilich 
überrafcht er durdy den Reichtum an ganz objektiv fcheinenden Beobachtungen und ſcharf— 
fuhtigen Schlüffen und wie er die Einzelheiten zu plaftiihen Gedanfenbildern formt. 
Wir begegnen wahren Menfchen in diefem großzügigen Werk; die einzelnen Gedanken 
darin find faft immer von jchlagender Wahrheit, aber der Gedanke der Dichtung jelbit, 
ihre Idee, ift chief; die poetiich-fonjequente Schlußfolgerung zu ziehen, dazu fehlt es 
Björnfon zu ſichtlich am echten tragifchen Geiſt. So hat denn der blaffe, verſöhnende 
Zchimmer, den er aus dem dunfelen, von blutigen Bliten wild durchzückten Gewölk der 
Nataftrophe wie eine janfte, zur Verjöhnung ftimmende Abendröte heraufführt, auch 
feine erlöfende, feine tragische Kraft. Björnſon meint, die heute jo bedrohlich zugeſpitzten 
Gegenſätze in geiftigen, religiöjen und jozialen Fragen würden von überfpannten Phan— 
tafieen, von überſpannten ®illen ergriffen, in denen jtets etwas „über unfere Kraft“ jei: 
das iſt mohl im wejentlichen nie anders gemwejen, — und die Tragödie des fozialen 
Problems ift wahrlich nicht die neuejte, ift vielmehr die allerältejte Form des Dramas. 
Nur ift ed gerade diefer Kunſt höchftes Biel nicht, das an fich Yöbliche zu bewirken; und 
ihre tragifchen Gebilde bezweden nicht, Mitgefühl für die Yehre des Martyriums zu 
werden oder zu mahnen, daß „einer den Anfang machen muß mit dem Vergeben“. Das 
iſt qute, tugendhafte VBernunftweisheit, aber nicht tragiiche Gefinnung, die, nach dem 
immer noch zuverläffigen Ariftoteles, Furcht und Mitled in uns reinigen, — das heißt 
etwas freier überjekt, ur Tapferkeit umſchweißen joll. Nach politiicher Opportunität 
hat der Dichter nicht zu fragen, und befonders nicht der Tragifer. Er fieht, was ift 
und war und auf welchen Wegen die Menjchheit zu neuen fittlihen Werten fam. Da 
trifft er aber immer gerade Menſchen von ungewöhnlich gehäufter Willenskraft am 
Werke: den ungeheuerlichen Unmenfchen jo gut wie den in ftrablender Reine dur die 


Mar Marterfteig, Bom beutfchen Theater. 457 


Niederungen jchreitenden Dradjentöter, den Hagens Speer von rückwärts niederftredt, — 
fie find alle „über die Kraft“ hinausragend und nur dadurch erft äfthetiich intereffant. 
Der Dichter betrügt fi ja um jeinen hödjften Triumph: das Notwendige zu zeigen, 
das immer auch das Geiftbemwältigende ift, — wenn er feinen Helden ſelbſt fritifiert und 
aus den vom Sturme des Schickſals umjchütterten Höhen in die Niederung der Hojpital- 
luft und nad; Ausgleichung juchender Sentimentalität herunterleitet. Dieſen Mangel 
enthüllte gerade die Bühnenwirfung des Dramas, und für — Augen war Björnjons 
großer Sieg eine Niederlage und eine Enttäufhung. 

Die auch im Reiche hoher Kunſt finfter waltenden Vergelterinnen forderten Sühnung 
für den den echten Tragifern fe entriffenen Kranz. In der unberechenbaren Wandelbar: 
feit der Theatermenge, die den Lorbeer von geftern heute mit dem Nutenbündel ver: 
taufcht, leben die Erinnhen weiter. Unter dem Stern Björnſons war die vorige Spiel- 
zeit zu Ende gegangen, jollte auch die neue beginnen; aber ftatt eines neuen Sieges 
wurde dem nordiſchen Dichter diesmal eine nun allen erfennbare glatte Niederlage. 
Zwei Stüde fielen unter dem jchaudervollen Hohngelädhter der Immerwachen: „Labo— 
remus” und „Paul Yange und Tora Parsberg“. Fielen, — das erjtgenannte Drama 
gleichzeitig in München, Stuttgart und Berlin; das Tettgenannte kürzlich am deutſchen 
Schaufpielhaus in Hamburg. 

Waren fie jo unendlich viel jchlechter al3 das mit Aeihylos um den Preis ringende? 
Hatte den Dichter plöglich die Kraft verlaffen? — Gewiß nicht: auch in ihnen famen 
alle feine Vorzüge, aber auch alle jeine Fehler zur Geltung. Nur daß die Fehler hier, 
wo die Hypnoſe durch den großen Gegenftand ausblieb, augenfälliger zu Tage traten. 
„Laboremus“ fiel, weil die tugendhafte Lehrmoral bier unverhüllt zu Tage trat und ihr 
jo gar fein entjprechender Reiz des Glementaren, des Yeidenjchaftlichen, des Chaotifchen 
des Lebens das Gegengewicht bot. Man modjte an die männlihe Hauptfigur, den Zu— 
funftsfomponiften einer recht unflar ſtizzierten Oper „Undine* nicht vecht glauben und 
hielt e8 am Ende nicht für fo gar mefentlich, wenn das angefangene Werk ein Jahr 
länger im Schreibpult liegen würde, weil der junge Mann mit fichtlihem Gefallen in den 
Netzen einer leiten Dame ſich berauſchte. Diefe Dame freilich ift nicht nur leicht, — 
fie ift auch eine Hochſtaplerin der Kunſt, eine Mörderin jogar und foll, nad) des Dichters 
eben leider nicht ganz gelungener Abficht, ein berüdender Dämon jein. Sie muß den 
Furien anheimfallen, fie hat es taujendfältig verdient; und bis hierher ift der Dichter in 
jeinem Rechte. Aber wenn der fomponierende Antonius, wie alle dem Weibe gegenüber 
nur erleidenden Männer, wenig Anteil gewinnt, hätte die Kleopatra einem wirklichen 
Dichter doch ein reigvolliter Vorwurf fein fünnen. Das aber leidet der eifervolle Moralift 
in Björnfon nicht: ihm liegt vor allem daran, daß das Yafter beitraft, das Scheufal 
in die Wolfsichlucht geworfen werde, die Tugend aber an dem nicht mehr ganz unbe- 
fannten Tiſch der Pflicht fich mit dem jalbungsvollen Ausruf niederjege: „Yaboremus!“ 

„Arbeiten wir weiter!” jagte Goethe, als ihm feines Sohnes Tod gemeldet wurde, 
nad) einem langen Schweigen verwundenen Schmerzes. An anderen Orten aber, da, 
wo nicht der Pflichtmenjch, der zur Kälte ſich zwingende Bemeifterer des Lebens fpricht, 
läßt der „Dichter“ den Herzen feiner Menichen frei entftrömen, was jie leiden. Und das 
ift, troß der Achtung, die wir alle vor dem „Laboremus“ haben — mehr! 


458 Mar Marterjteig, Bom deutfchen Theater. 


Dagegen jcheinen mir die Hamburger etwas ungerecht gegen den Dichter geiwejen 
zu fein. Sein Drama mit dem doppelten Syamiliennamen fünnte fürzer „Das politifche 
Gewiſſen“ heißen: denn um diefes und um den ungemein fubtilen Begriff der politischen 
Ehre handelt es fih in ihm. Das tragiihe Maß, deſſen Biörnjon ſich hier bedient, ift 
ihm zuftändiger und zutreffender, als dies bei den vorher beſprochenen Stüden gefunden 
werden fonnte Sein Held muß fterben, ſowie er mit jeinem ſchwachen Gemiffen, das 
einzig bon der politischen Wahrhaftigkeit feine Stärfe leiht, in Widerjprud) geräth; und 
gut ift ihm, dem blutlojen Zögling des parteipolitiichen Zeitgeiftes, die auf die Stärfe 
des individuellen Menſchen pochende Frau mit ihrem Anipruch auf Leben gegenüber: 
gejtellt. Aber auch hier verlegt uns im poetischen Sinne die Schwäche des nur Unter— 
liegenden, der uns taujendmal näher rüden würde, wenn feine Tugend wirklich die 
Kraft hätte, jelbit auf Koften des Verbredhens die Tyrannei der Meinung zu brechen. 
Wir willen, daß „feiner lebet, der aus diefem Kampf die Seele rein zurückgezogen hätte”; 
und es fjcheint uns als neuer fittlicher Wert bedenflid), wenn die mimojenhafte Empfind- 
lichkeit des Gewiſſens fich dem leidigen Doktrinarismus bvermählen jollte. Das Bedenken 
teilt erfichtlich auch der Dichter; nur jchade, daß aud hier wieder jeine Schwingen zu 
ſchwach find, einen Aufſchwung zu innerer Freiheit aus der Niederung des mehr traurigen 
als tragiihen Verzichtes nehmen zu können. In diefem Werke neigt der Dichter aller: 
dings erfichtlich dahin, von Heilmitteln gegen den tragiichen Charakter des Lebens ab- 
aufehen; und das fann als Vorzug gelten. Nur foll und kann darin nun nicht das ge: 
fehen werden, was wir von einer modernen Tragödie verlangen. Das wäre die An: 
ihauung des Peſſimismus. Und Schopenhauer allerdings erflärt die Tragödie als den 
in allen Zeiten erbrachten fünftleriichen Beweis vom Unwert, von der Ungeheuerlichkeit 
des Lebens. Ihm waren darum die meilten griehiihen Dramen „widerlich“, — weil 
er den in ihnen troß aller Härte der Scidjalsentiheidungen waltenden tapferen 
Optimismus in feiner Lehre nicht brauchen konnte. 

Ein Dihter nah) Schopenhauerd Herzen wäre der Holländer Hermann Heher— 
manns gemwejen, defjen „Seeſtück“, Die Hoffnung, nachdem es im Frühjahr jchon im 
Neuen’ Theater erfchien, nun auf der Bühne des Deutjchen Theaters vortrefflich gefpielt 
wird. Zwei Beitftrömungen finden hier einen vollendet zu nennenden künſtleriſchen Aus— 
druck: der philofophiichen Einfiht in „dem finnlo8 graujamen Charakter des Lebens“ 
gefellt fich der trübfte Skeptizismus in der Auffajiung der fozialen Frage; und daneben 
ift die Wirflichkeitsjchilderung der naturaliftiihen Schule wohl faum je in einem Drama 
jo ohne Abweichung, ohne Zugeftändnis an irgend welche Eonventionelle Forderung der 
Bühne durchgeführt worden wie hier. So ſcheint es wenigftens; fieht man aber genauer 
au, jo findet man gerade einen in unferer Zeit jehr jeltenen Aufwand von fünftleriicher 
Form, der den Naturalismus äfthetiicy adelt. Und jo ijt das Drama tro& der ber: 
hängnisvollen irrtümlihen Weltanihauung als die Frucht eines feinften Künſtlergeiſtes 
zu begrüßen. Eine Dichtung, bei der die Freude an dem Wie die von dem Was 
ſchmerzlich verlette Seele aufrichtet. 


Ö 


WBEWEEWEEWEELELELE Tedınik. 151515 1515 1814 1615 1516 


Ueberlicdıt über den augenbliklidten Stand der Elektrotechnik. 


Von 
Paul Hey. 


D“ wiſſenſchaftliche Erforihung und technifche Ausnugung der Elektrizität hat im Laufe 
der legten drei Jahrzehnte eine jo hervorragende Rolle in Wifjenihaft und Induſtrie 
aller Kulturländer gejpielt, die Anwendung derjelben im täglichen Leben ift eine fo 
umfangreiche geworden, daß fie fi in das Intereſſe der ganzen gebildeten Welt hinein- 
gedrängt hat. Die Kraft, mit der am Anfang des vorigen Jahrhunderts die gebildete. 
Welt fpielte, ift ſchnell herangewachſen, und aus dem Epielzeug ift ein Werfzeug geworden, 
das faft auf allen Gebieten des Ermerbes und Verkehrs fi) jo bedeutungsvoll bewährt, 
daß von der Weiterentwidlung der Elektrotechnif für das gejamte wirtichaftliche und 
joziale eben ungemein viel abhängen wird. 

Dieje Weiterentmwidlung kann nad) zwei Seiten hin betradhtet werden. 

Der Fortgang der Entwidlung nad) innen hin mwird ſich neben dem ftetigen wiſſen— 
Ihaftlihen Fortichritt auf die immer größere Ausarbeitung und PVervolllommmung des 
ganzen Syſtems, fomit aljo der Erzeugung der Elektrizität, ihrer Fortleitung und An— 
wendung erjtreden. Dierher gehört die oft angeregte Frage: Wird es möglich fein, die 
Elektrizität und deren Erzeugung unabhängig von der Dampffraft zu machen? Es fünnte 
einmal an einen Erfah der Dampfkraft dur Waſſer- oder Windkraft gedacht werden, 
aber dieje Möglichkeit wird natürlich zu fehr durd) die Abhängigkeit vom guten Willen 
der Natur eingejchränft, als daß fie die ftet3 dienftbereite und von der Dertlichfeit un: 
abhängige Dampfkraft erjegen könnte. Es bliebe daher faum ein anderes Mittel, als 
daß man die Eleftrizität direft durch chemische Vorgänge gewönne oder, anders aus: 
gedrückt, daß man chemiiche Energie direkt in eleftriiche Energie ummwandelte. In kleinem 
Umfange fann man das befanntermaßen; ift doch der Prozek in allen jogenannten 
galvaniihen Elementen, die für Telegraphie und Telephonie lange benugt werden, nichts 
Anderes, als eine Umjekung chemiſcher Energie in Elektrizität. Der Grund, weshalb 
man diejes Verfahren nicht in großem Maßſtabe zur Erzeugung von Elektrizität benugt, 
liegt in der Unwirtſchaftlichkeit dieſes Verfahrens gegenüber der durch rotierende 
Maſchinen erzeugten Elektrizität. Erſt mit der Erfindung des eleftro-dynamifchen Prinzips 
durh Werner v. Siemens beginnt der Aufſchwung der Elektrotechnik, nicht mit der 
Erfindung des galvaniichen Glementes. Die Entdeckung eines Verfahrens, das dem 
jegigen Syſtem der Eleftrizitätserzeugung überlegen wäre, ift auch heute nicht zu er: 
warten. So ift denn bislang und waährſcheinlich aud) jernerhin die Elektrizität mit der 
rotierenden Maichine (der Dynamo oder dem Generator) an eine Kraftquelle gebunden, 


460 Paul Hend, Ueberficht über ben augenblidlichen Stand der Elektrotechnik. 


jei 8 eine Wärmefrafımajdine, wie Dampfmaſchine oder Gasınotor, oder eine durd) 
Waſſer bezw. Wind betriebene Kraftmaſchine. 

Die Rentabilität diefer Umfegung der Kraft liegt in der Möglichkeit, diefelbe in 
der Form der Elektrizität leicht und billig fortzuleiten, und in der meitgehenden und 
vielfeitigen Verwendbarkeit derjelben. Mit diejen beiden Eigenfchaften ift die Möglichkeit 
zur Gentralifation gegeben, und hierin liegt der auszeichnende Vorteil der Elektrizität 
vor anderen Energieformen. Das ift denn auch der Weg, auf dem die innere Entwid: 
fung fortgefchritten ift, zu immer größeren Mafchinen und Mafchinenfägen geführt hat, 
zu räumlich immer umfafjenderen Abjatgebieten, aljo größerer Entfernung der Ueber- 
tragung, damit zu höheren Spannungen und anderen Formen der Elektrizität. Die bei 
Gleichſtrom verwendeten Spannungen find nad) und nad) von 65 auf 110 Bolt, 2> 110 
und neuerdings auf 2 > 220 und 500 Volt geftiegen; neben dem Gleichftrom ift der 
Bechfelftrom, befonders in der Form des Dreiphajen- oder Drehftroms, eingeführt worden, 
der weit höhere Spannungen und leichtere Transformierung derjelben zuläßt und ſich 
darum befonderd zur MWebertragung auf weite Entfernungen eignet. Damit ift die 
wichtige Möglichkeit gegeben, die Elektrizitätswerke größerer Städte an den Rand 
derjelben zu legen, wo Baugrund billig zu haben ift und auch fonft durd; Kanäle oder 
Schienenftränge günftige Lage fich bietet, fowie ferner aud) die fogenannten Ueberland— 
Gentralen anzulegen, die von einem befonders geeigneten Orte aus einen größeren 
Bezirk von Ortichaften mit Kraft und Licht verforgen. 

Dieje weitgehende Gentralifierung der eleftrifchen Energie ift ferner möglich und 
augleih mwirtjchaftlich wichtig wegen der ungemein vieljeitigen Verwendbarkeit derfelben. 

In der eleftrifchen Beleuchtung ift neben der wachjenden Verbreitung auch größere 
Bervolllommnung und damit größere Wirtfchaftlichkeit zu erwarten. Auf dem Gebiete 
der Bogenlampentechnif find neben Doppelbogenlampen und Dauerbrandlampen, die fid) 
durch Vereinfachung der Bedienung auszeichnen, neue Konftruftionen geſchaffen, wie 3. B. 
die Bremer Lampe, die eine mwejentliche Berbilligung des eleftrifchen Lichtes verſprechen. 
In der Glühlampentechnik ift ed vor allem die Nernſt-Lampe, bei der ein neues Prinzip 
mit. Erfolg durchgeführt ift, das fich befonders durch größere Dekonomie auszuzeichnen 
fcheint. Darauf aber wird man bei der elektriihen Beleuchtung ein Hauptaugenmerf 
richten müffen, auf noch beffere Lichtausnutzung der Energie, größere Defonomie und fomit 
größere Billigfeit, jo fie neben der Gasbeleuchtung beftehen fünnen. 

Anders bei der eleftriichen Kraftübertragung. Hier wird in nächſter Zukunft eine 
Berbilligung der direkten often faum zu erwarten fein, denn die Syſteme der eleftrifchen 
Majchinen und Motoren jowie Transformatoren find in kurzer Zeit der höchftmöglichen 
Bervolllommnung in Bezug auf rationelle Ausnutzung der Kraft jo nahe gekommen, wie 
auch die letzte Pariſer Ausftellung dargethan hat, dat eine größere Wirtichaftlichkeit 
faum zu erreichen jein wird. Dabei hat die elektriiche Kraftübertragung viel weniger 
Konkurrenz als die eleftrijche Beleuchtung. Cine Uebertragung mitteld Dampf oder 
Drudluft bezw. Druckwaſſer auf große Entfernungen ift überhaupt ausgeſchloſſen, und 
auf furze Entfernungen ift die Straftübertragung auf elektriihem Wege mindeftens ebenjo 
billig wie irgend eine andere Art und weiſt in vielen Fällen große Vorteile auf. Hier 
liegt der Fortichritt in der Erichliegung neuer VBerwendungsgebiete. 


Paul Heyd, Ueberficht über ben augenblidlichen Stand der Elektrotechnif. 461 


Die Großinduftrie hat fi ſchon heute in großem Umfange der Elektrizität be 
mädtigt und damit, neben dem Vorteile, durch Fortfall der vielen Transmiffionsriemen 
helle, überjichtlichere Fabrifationsräume zu haben, durch fogenannten Gruppenantrieb 
größere Betriebsficherheit bei geringeren Betriebsfoften erlangt. Der Kleininduftrie ift 
durch den Elektromotor, der überall ohne bejondere Schwierigkeiten und Koften auf: 
geftellt werden fann, ein unſchätzbares Betriebsmittel gegeben. Auch die Landwirtichaft 
wird ſich vorausfichtlich der Elektrizität in größerem Maße bedienen, die gemachten Er: 
fahrungen berechtigen durhaus zu diejer Annahme und die verhältnismäßig geringe 
Verwendung zur Zeit hat ihren Grund nicht in der Ummirtichaftlichfeit des Syſtems, 
fondern im Mangel an Straftquellen, an Ueberland-Gentralen, denn die eigene Einzel— 
anlage rentiert oft nicht oder wird nicht gewagt, wo ein Anſchluß an ein beftehendes 
Leitungsnetz ohne weiteres erfolgen würde. Bergbau und Marine find neue aufblühende 
Berwendungsgebiete der Elektrizität, bei denen befonders die ungemelne Anpaſſungs— 
fähigkeit bei geringftem Raumbedarf wichtige und auszeichnende Eigenſchaften bes 
Syſtems find. Auf Kriegsfchiffen ganz bejonders hat neben der Beleuchtung und Ver— 
forgung mit Kraft zu Zwecken der Dunitionshebung und Gejhügbedienung vor allem 
das Signalifierungsmwejen dur Einführung der Elektrizität eine Vervolllommnung er- 
fahren, die auf feinem anderen Wege zu erreichen gewejen wäre. Cine der wichtigſten 
und wmweitgehendften Aufgaben aber ber Elektrizität liegt im Bahnmefen. Die umfaffende 
Einführung der elektriihen Straßenbahnen hat die abjolute Ueberlegenheit diejes 
Traktions-Syſtems ſchon vollauf bewiefen, und die fünftige unabweisbare Entwidlung 
der Eijenbahnen zu Schnellbahnen wird höchſt wahrſcheinlich der Elektrizität ein großes 
neues Feld erjchliegen. 

Während fo die Starkftromtehnik dur Verbolllommnung ihrer Mittel und Er- 
meiterung ihres Gebietes auf der ganzen Linie vorwärts drängt, bleibt die Schwach— 
ſtromtechnik nicht zurück. Hier find es die VBerbefferung der vorhandenen Spfteme und 
Entdeckung neuer Erjcheinungen, die auf dem Gebiete der Telegraphie und Xelephonie 
in neuefter Zeit zu fo wejentlichen Fortichritten geführt haben durch Erfindung der Schnell- 
telegraphen, der Telegraphone, der drahtlojen Telegraphie, daß hier bedeutende praftifche 
Neuerungen zu erwarten find, die mit dem wachjenden Bedürfnis des Sicherheitsdienftes 
und Verkehrs überhaupt Schritt halten und der Elektrizität im täglichen Leben eine 
immer größere Rolle zumeijen. 

So find denn überall die techniichen VBorbedingungen für eine gefunde Weiter: 
entwicklung der Elektrotechnif im neuen Jahrhundert gegeben, und bleibt zu hoffen, daß 
die Geſamtentwicklung des mwirtichaftlichen Lebens eine ſolche fei, daß fie die zahlreichen 
Hilfsmittel, die durch die Elektrizität gegeben find, ausnusen fann. 


© 





Bũucherſchau. 


Rudolf Eudien, Der Wahrheitsgehalt der Religion. Leipzig, Veit & Comp. 1901. 48 ©. 

Die Zeit der fait ausjchliehlichen Herrichaft des Materialismus ift vorüber. Wenn je 
dann wird die Menfchheit gerade unferer Tage von einem immer ftärferen Bedürfnis nad 
höheren Idealen, nach einer Neubelebung der ethiichen und religiöfen Mächte durchzogen. Die 
Religion ift, wie Euden in obigem Buche ©. 43 ff. auseinanderfegt, unter uns nicht wie ein 
mattes Licht erlofchen, fondern im 19. Rahrhundert mit frifcher Kraft emporgeftiegen. Das 
zeigt ſowohl die Machtentfaltung der Kirchen als auch das Wachstum der religiöfen Mächte 
außerhalb derjelben. Wie ift diefe Wendung zu veritehen, zumal die Gegenbewegung gegen bie 
Religion nicht aufgehört hat? Zunächſt hat die Religion neue Vermögen gezeigt, indem fie nach 
Erjehütterung ihrer alten Grundlagen neue fuchte durd) eine Aufmweifung ungerftörbarer Wurzeln 
im tiefiten Wejen des Menjchen; fie hat fich ferner inmitten des modernen Lebens durch große 
praftifche Yeiftungen bewährt, befonders durch eine großartige Hilfsthätigkeit gegenüber 
wachfenden moralifhen und fozialen Schäden. Aber der Hauptgrund ihres Erſtarkens tit 
indirefter Art. er liegt in ſchweren inneren Verwidlungen derjenigen geiftigen Macht, deren 
Bordringen die Religion am härtejten bedrohte, er liegt in der Erfchütterung bes Glaubens an 
die Allgenugfamkeit der modernen meltfroben und ſelbſtbewußten Kultur. Wir beginnen zu 
empfinden, daß die Welt nur fo lange als ein Shitem der Vernunft erjchten, als noch die Idee 
einer Uebermelt ihren Glanz auf fie warf. Wir fühlen die innere Verarmung in aller äußeren 
Bereicherung, den Mangel eines feiten Haltes gegenüber der ſtürmiſchen Lebensflut, das Fehlen 
eines großen, ben ganzen Umkrels des Lebens beherrichenden, die Menfchheit zuſammenhaltenden, 
jeden einzelnen über feine Heine Natur erhebenden BZieles. Und zugleich beginnen die uralten 
Nätfel des menſchlichen Dajeins mit frifcher Kraft twieder aufzufteigen: das tiefe Dunkel über 
unfer Roher und Wohin, unfere Abhängigkeit von undurchſichtigen Mächten, die Gegenfäre in 
unferem eigenen Innern, bie Schranten unſeres geiſtigen Vermögens, der Mangel an Liebe und 
Gerechtigkeit, Furz der jchroffe Widerfpruch der geijtigen Anlage und der wirklichen Yage des 
Menſchen. Diefe Rätfel können zur Verzweiflung führen, aber jie treiben zugleich am Punkte 
äußerjter Verzweiflung eine Gegenwirkung hervor. Mögen alle Begriffe verfagen, alle Aus— 
fichten auf Rettung zu entſchwinden fcheinen, — im tiefiten Grunde beharrt ein unzerſtörbarer 
Lebensaffelt und giebt dem Menichen die umerfchütterliche Ueberzeugung, daß Tieferes in ihm 
wirkt, daß binter feiner Feſthaltung am Sein mehr jtedt als ein ſelbſtiſches Glüdöverlangen, 
daß es jich bei bem Lebenskampf nicht um das bloße Erreichen des Punktes, jondern um unab— 
weisbare Aufgaben handelt, die das Ganze angehen und über alle fichtbare Ordnung hinaus— 
weiſen, auf welche dev Menfic daher weder verzichten kann noch darf, Damit aber verwandelt 
ich auch mit einem Schlage die Stellung der Religion: es wird uns Har, daß bei dem Kampf 
um die Religion unfer ganzes Glück auf dem Spiele fteht. Bei Empfindung deſſen fommt über 
die Menfchheit wieder eine große Sehnſucht nach Religion, ein Verlangen nad ewigen Wahr: 
heiten, nach inneren Zufammenbängen, nad) Rettung eines geiltigen Weſens, nach Verjekung 
aus kleinmenſchlicher Enge in ein übermenfchliches Leben. Deutlich genug fehen wir inmitten 
aller Verwirrung der Zeit eine neue Woge bes Lebens ſich anfündigen, die andere Kräfte mit 
fi Bringt und nad) ganz anderer Richtung zieht als die ben Beginn der Neuzeit bezeichnende 
Gebensflut. Diefe Bewegung muß auch die Vhilofophie ergreifen, fie muß einen wiſſenſchaft⸗ 
lihen Ausdrud für die inneren geiftigen Bewegungen juchen, melde ſich in ber Menſchheit neu 


Bücherfchau. 463 


aufringen. Da iſt benn nun unjere Freude eine fehr große, dat Euden als der Berufeniten 
einer der allgemeinen Zeitlage entgegengefommen ift und eine neue wiſſenſchaftliche Fundamen- 
tierung des religidfen Problems verfucht hat. Sein Bud iſt feine Religionsphilofophie; eine 
folche zu fchreiben tft, wie er richtig bemerkt, die Lage der Gegenwart zu verworren. Aber um 
fo eindringlicher hat er jich bemüht, ausgehend vom gefamten Lebensprozeſſe, unter Aufweis ber 
Thatfache eines allumfafjenden Geiſteslebens die Wahrheit der Religion zu ermeifen und fie 
zumal in ihrer Ausprägung durch das Chriftentum, über alle Angriffe zu erheben. Wir geben 
bier feine Inhaltsangabe des hochbebeutenden Buches, das weit über die neuejte philofophifche 
und nichtphilofophifche Litteratur hinausragt. Wir wollen nur die Leſer unferer „Monatsſchrift“ 
auf eine Arbeit aufmerkſam machen, von der wir überzeugt jind, daß fie Bewegungen wachrufen 
wird, welche jo bald nicht wieder verlaufen werben. 
Fermersleben. Otto Siebert. 


Heinrich von $ybel, Die Begründung des Deutſchen Reiches durch Wilhelm I. Vornehmlich nach 
ben preußifchen Staatsakten. Neue billige Ausgabe in 7 Ganzleinenbänden. Berlag von 
N. Oldenbourg, München und Berlin. 


Das Urteil über Heinrich von Sybels „Begründung des Deutjchen Reiches“ jteht längſt 
feſt. Am beiten formuliert hat es wohl Schmoller in der „Sedächtnisrede auf Sybel umd 
Treitjchte”, die er 1896 in der Berliner Akademie der Wifjenichaften bielt. Er nennt Sybel den 
„feinften und klarſten politiſchen Erzähler” und urteilt, daß „viele Teile des Werles, mie die 
Schilderung des Feldzuges von 1866 und der Bismardichen Staatöfunft von 1863—1866, für 
alle Zeiten zu den Perlen der bijtorifchen Yitteratur zählen“ werben. Dabei verhehlt Schmoller 
freilich nicht, daß, feit im Jahre 1894 Sybel den fiebenten Band feiner Geſchichte abſchloß, unfere 
Kenntnis der von ihm gejchilderten Zeit (1855—1870) nach allen Seiten bin an Umfang und 
Vertiefung gewonnen hat. Er bat auch die Schranken der Begabung Sybels hervorgehoben. 
Trotzdem können wir fein anderes Buch nennen, das uns den Subel erjegen fann. Nach wie 
vor wird, wer einen lebendigen Einbrud jener großen Jahre gewinnen will, auf ihn zurüdgreifen 
müſſen. 

Es iſt bekannt, daß Bismarck an der Sybelſchen „Begründung des Reiches“ in gewiſſem 
Sinn als ein Mitarbeiter beteiligt if. Er bat ihm den Zugang zu den Aktenmaterialien des 
Auswärtigen Amtes eröffnet, mündliche Erläuterungen gegeben, bie und da wohl auch am 
Manufkript geitrihen und zugefügt. Auch der Titel des Werkes „Begründung des Deutfchen 
Reiches durch Wilhelm J.“ dürfte nicht ohne fein Zuthun entitanden fein. Er wußte, daß er 
ohne feinen edlen König und Kaifer fein Werk nimmermehr hätte vollführen Fönnen. Dennoch 
gehört die „Begründung des Reiches“ als hiſtoriſche Telftung ganz dem Genius Sybels. Die 
Richtung feines Talentes, feine Weltanfchauung, fein polittfches Denken und Empfinden fommen 
überall zu voller Geltung. Nicht Bismard, jondern er redet und urteilt. Es ift nun aber hödhit 
merkwürdig, wie Bismard in feinen „Bedanten und Erinnerungen” ſich die Sybelſche Darftellung 
zu eigen gemacht hat. Wo er nicht Belanntes wiederholen will, vermweiit er auf ihn, er bat 
gleichſam Spbels Erzählung in einen dauernden Zufammenbang mit dem großartigen Rückblick 
geſetzt, den er auf fein politifches Yeben wirft. Beide Bücher lafjen ich nicht von einander 
trennen, und gerade der ungehenere Unterjchied der Naturen des großen Staatsmanns und des 
Hiftoriters, der die heroiſche Periode jeines Lebens jchildert, bietet dem Bergleichenden immer 
neue Anregung und Belehrung. 

Die neue, für weite Kreiſe berednete billige Ausgabe des Sybel giebt uns einen unver: 
änderten Abdrud der letzten, von Sybel felbit durchgejehenen Edition. Nur ein Namens und 
Sachregiſter ijt neu hinzugefommen, und das bedeutet einen Vorzug. Daß feine Beränderungen 
des Tertes vorgenommen wurden, können wir nur billigen. Das Bud, fo wie es iſt, hat fich 
feinen Platz nicht nur in unferer hiſtoriſchen Litteratur, ſondern aud im weiten Streifen ber 
Nation gefichert, weil es genau die Auffafjung mwiedergiebt, welche in der Generation lebendig 
war, bie bad Werk ber „Begründung des Reiches" erlebte und es erſt mwiberitrebend, dann in 
thatfräftiger Mitarbeit, zu dem Ausgang führen half, ben wir kennen: Die Erziehung bes 


464 Bücherfchau. 


deutfchen Volkes zu nationaler Einheit: das mar das Lebenswert Bismards und des Königs, 
es ift zugleich der Grundgedanke, der durch Sybels „Begründung bes Deutfchen Reiches” geht. 
Theodor Schiemann. 


Ediermann, Geſprache mit &oerbe. Neue Ausgabe in zwei Bänden von Adolf Bartels. Eugen 
Diederichs Verlag, Leipzig. 


Eckermanns Geſpräche mit Goethe ſind in den letzten Jahren ſeines Lebens erſchienen, 
wie erwähnt, zuerſt im Jahre 1835, und zwar in zwei Bänden. Ein dritter Band mit Nach— 
trägen folgte im Jahre 1848. Hier waren auch Aufzeihnungen des Schweizer Soret, ber 
ebenfall8 Erzieher des Erbprinzen Karl Alerander geweſen war, benußt. Die Original-Ausgabe 
ber Geſpräche bat dann, zuletst von Heinrich Dünzer herausgegeben, ſechs Auflagen erlebt. 
Seit 1884 find billige Ausgaben entitanden. Die Bartels-Diederichiche will vor allem auc eine 
äußerlich mwürdige fein; ein Lebend- und Bildungsbuch mie den Edermann will man in einer 
Geftalt befiten, die lieb und vertraut werden fann. Der Drud geht jelbftverftändlich auf Die 
OriginalsAusgabe zurüd, und es tt dem Herausgeber gelungen, eine ganze Reihe von Fehlern, 
bie fich nach und nach in den Tert eingeichlichen batten, wieder zu entfernen. 

Die Einteilung des Werkes erfolgt im ziwei Bänden ftatt der üblichen drei. Möge das 
teure Werk, dieſes „Dauptbuch der ganzen GoethesPitteratur”, eins der berrlichften und 
bedeutendften Bücher bes ganzen deutjchen Yitteraturfchates, noch viel breitere Kreiſe in Deutich- 
land erobern und „ein geliebtes Hausbuch werden, mo es irgend möglich iſt!“ 3. 8. 


Platon von Wilhelm Windelband. (Mit Bildnis.) Dritte, durchgeſehene Auflage. 191 Seiten. 
Stuttgart, Fr. Frrommanns Verlag (E. Hauff) 1901. 


Unter ben Dentern ber Vergangenheit iſt fein zweiter, ber jo fortwährend die Gemüter 
bewegt und über die gelehrten reife hinaus Intereſſe erweckt wie Platon. Aber ein richtiges 
und anfchauliches Bild von ihm zu geben, ift überaus fchwer; feine zahlreichen Schriften und 
feine lange Entwidelung enthalten eine folche Fülle von Problemen, daß die gelehrte Arbeit oft 
gänzlich dadurch feitgebalten wird. In der öffentlichen Meinung überwiegt aber, nicht ohne 
Schuld ber hoöchſt einfeitigen Schilderung Platons in Goethes Frarbenlehre, ein arg berzerrtes 
Bild bed großen Philoſophen, indem er als eine befonders ruhige, geflärte, fanfte Perfönlichkeit 
erſcheint. Gegenüber folchen Gefahren und folchen Irrungen tft es befonders dankenswert, 
wenn ein hochgefchäßter Denker und Forſcher wie Profefior Windelband in großen und marfigen 
Zügen, ſowie in gelitvoller, allgemeinverftändlicher Daritellung uns ben großen, von allen 
menjchlichen Problemen aufs tiefite erregten und mit Aufbletung böchiter Sraft neue Bahnen 
brechenden Bhllofophen nabebringt. Er thut das, indem er in fnappen, aber ſehr inhaltreichen 
Abfchnitten ben Mann, den Lehrer, den Schriftiteller, den Philoſophen, den Theologen, den 
Soztalpolitifer, den Propheten jchildert. Weber verichtedenes Einzelne wird ſich jtreiten Laffen, 
wie überhaupt alle Berichtigung der Begriffe nicht wird verhindern können, daß von einem fo 
perfönlichen Denker, wie Platon es tft, fich jeder fein eigenes Bild macht, daß jeder feinen eigenen 
Platon hat. Aber der Platon Windelbands follte allen Freunden bes großen Mannes gegen- 
märtig fein; daß er vielen etwas zu fein vermag, das zeigt ſchon die rafche Folge der Auflagen, 
ficher wird diefe dritte Auflage nicht die letste fein. n. 


Weltgeichichte, herausgegeben von Bans F. Helmolt. Leipzig und Wien. Bibliograph. Anftitut 
189 ff. Erichienen find bislang Bb. 1, 8, 4 und 7. 


Wieder eine neue Weltgeichichte, fo wird mancher jfeptiich ausrufen, wozu die ewigen 
Wiederholungen und neuen Anläufe, uns den gefamten Berlauf der menſchlichen Entmwidelung 
in einem anfcheinend fortlaufenden und doc; thatſächlich durch vielfache Lücken unterbrochenen 
Bufammenbang zu jchildern? Hier liegt aber wirklich Neues vor, Neues ſowohl binfichtlich der 
Peripektive als auch bezüglich ded Materiald. Selbtverjtändlich können wir Bier nicht 
ausführlich den Standpunkt und die Methode des ganzen Werkes begründen, es muß 


Bücherſchau. 465 


genügen, wenn wir uns auf einige Andeutungen beſchränken. Maßgebend iſt zunächſt der un— 
verbrüdjliche Zujammenbang der Geographie und Ethnographie mit der Geſchichte etwa In dem 
Sinne, wie der geniale Karl Ritter denfelben (menn auch etwas phantaſtiſch) aufgefaßt bat. 
Dadurch verfteht es fich von felbit, daß auch die Naturvölker, die Vertreter der niederen Ge— 
fittungsitufen, mit in den Bereich der Darftellung gezogen find, felbjtredend fomeit bei ihnen 
von einem gefhichtlichen Leben die Rede fein kann. Dies ift in pfuchologifcher Beziehung eine 
nicht zu unterfchäßende Bereicherung; im übrigen jtedt ſelbſt in Bentralafrifa mehr fortlaufende 
fozial = polttifche Entwidelung (mie das fchon Baftian fagte), als man auf ben eriten Blick 
meinen follte. Auf jeden Fall tft mit diefer Erweiterung ber früher fo unvollitändige Rahmen 
der Weltgefchichte einigermaßen überfichtlich und einheitlich geordnet. ine wirkliche, induftiv 
aufgebaute Kulturlehre läßt fich erit auf diefem umfaffenden Material errichten, und fo gelangen 
wir zu einem erichöpfenden Berjtändnis der Menſchheit. Ja die Meiiterhand eines Joh. Nante 
läßt uns noch einen abnungsvollen Blid in die Vorgefchichte, In den Dämmerungsmorgen der 
eigentlich; fozialen Differenzierung deö Genus homo sapiens thun. Sodann ift ftreng der 
ernfte. empirifche Charakter in der Unterfuchung gewahrt; fo verfübrerifch fich der Betrachtung 
die Teleologie nahen mag, jo fanı doc) die nüchterne Wiffenfchaft fich nicht mit der vorgeblichen 
Erkenntnis in einen verborgenen Weltplan brüften und darnach ihre Beurteilung des Details 
bemejjen. Hier herrfcht lediglich die Kaufalität und für unfere Reproduktion jomit die forgfältige 
Aufjuchung dieſes logifchen Leitfadens, ber uns durch alle Wirren und Dunkelheiten fiegreich 
zum Licht führt, Wir wiſſen noch nichts von der Zukunft, und gleichfalls in diefer Beziehung 
jollten wir und Beicheidenheit und Zurüdhaltung auferlegen. Die bisherige Darftellung ums 
faßt den folgenden Stoff: Band I: Allgemeines (Grundlegung). Vorgeſchichte. Amerifa. Der 
Stille Ocean. Band TI: Weftafien. Afrita. Band IV: Die Mittelmeervölfer. Band VII: 
Weiteuropa bis 1800. Eine fait unüberfehbare Fülle des Materiald thut jich vor unjeren 
Bliden auf; auch hier mögen einige Hinmelfe auöreichen. Daß dem Stillen Ocean eine felbit- 
ftändige, geographifchekulturgefchichtliche Studie gewidmet it. darf al8 ein befonderer Vorzug 
bezeichnet werben. Die Bedeutung ber mweitafiatiichen Kultur für die Entwidelung Europas ift 
forgfältig nachgewieſen, die geijtige Einheit, weldhe die Mittelmeervblker in Sitte und Weltans 
jchauung und in der gegenjeitigen Wechfeltwirfung mit einander darjtellen, vortrefflich gefchildert 
und endlich ber Eroberungszug unferer weſteuropäiſchen Zivilifation über den Erdball bin, der 
ſich unter unferen Augen jebt vollzieht, im VII. Band nach den verfchiebenen dabei in Betracht 
fommenden Faktoren erklärt. Einzelne, befonders wichtige Gricheinungen find babei einer 
fpeziellen Unterfuchung unterzogen, fo die Entjtehung des Ehrijtentums, feine Ausbreitung durch 
die Miſſion, die große ſoziale Frage, die Kolonialpolitik u. f. w., und zwar alles bis hinab auf 
die legten Ereigniſſe. So erleben wir noch den Burenfrieg oder die llebergabe Kubas an bie 
Vereinigten Staaten. Ein jchöner und auch zum Berjtändnis des Textes dfter nicht uns 
weſentlicher Schmud ift die fait verichwenderiiche Fülle vortrefflicher Alluftrationen, mit denen 
das Werk ausgejtattet iſt. Troß aller mwiflenjchaftlichen Gediegenheit, wofür außer dem Heraus: 
geber auch die Namen der Weitarbeiter bürgen, ift die Daritellung für jeden Gebildeten ohne 
weiteres verjtändlich und ansprechend, jo daß mir die erfreuliche Thatjache wohl begreifen, daß 
das Unternehmen, das übrigens auch ins Englifche übertragen wird, bei uns eine weitgehende 
Beltebtheit genteft. 
Bremen. Th. Adhelis. 


Diplomatenleben. Bunte Bilder aus meiner Thätigfeit in vier Weitteilen. Von Sir Edward 
Malet, früherem Britifchen Botichafter am Berliner Hof. Einzig autorifierte Ueberſetzung 
von Heinrich Conrad. Frankfurt a. Main. 1901. Neuer Frankfurter Verlag, ®. m. b. 9. 
3 6 ©. 

Sir Edward Malets „Diplomatenleben” in der mujterhaften Leberfegung von Heinrich 
Conrad iſt ein in jeder Hinficht zu empfehlendes Bud. Es tft ihm umfomehr Perbreitung zu 
wünfchen, als unferer öffentlichen Meinung das gerechte und vubige Urteil über englifche 
Dinge verloren zu gehen droht. In Str Edward Maletö anipruchslofen Erzählungen finden 


30 


466 Bücherfchau. 


wir aber gerade die durch ein langes, ehrenhaftes und ehrenvolles Leben praktiſch bethätigten 
Eigentümlichteiten ‚der englifhen Natur, die mir hochſchätzen und lieben. Mannhaft, Far im 
Urteil, von edler, Menfchlichkeit und ſicherem Plichtgefühl erfüllt, fo tft er durchs Peben ge 
gangen, von feinem 16. Jahre an, da er als Attachs in Frankfurt a. M. feine Laufbahn begann, 
bis zum Abſchluß feiner Thätigkeit als Botſchafter in Berlin, ohne jede Unterbrechung im 
Dienite feines Landes thätig, fait immer an demjenigen Punkt des Erdballs, wo ſich gerade die 
interefianteiten und wichtigften Dinge abjpielen. Während des Sezeſſionskrieges finden wir ihn 
in Wafbington, 1870 und 1871 in Paris, wo er mit dem jetigen englifchen Botjchafter in Berlin 
Sir Frank Lascelles die bbſen Tage der Kommune durchmacht, 1878 in Konjtantinopel, während 
der kritiſchen Aahre 1879 bis 1882 in Egypten, dann 11 Jahre lang in Berlin. Er it 1840 in 
Paris, alß die Ugberreite des erſten Napoleon in den Döme des Invalides übergeführt werden, 
und hat teilgenommen an der Beerdigung von Wellington und von Moltte; er bat gefeben, wie 
Bismard um den Kaifer Friedrich weinte, er hat Yincolm und drei deutfche Kaiſer gekannt. 
Das alles erzählt er uns in der bumeriftiichen Umkleidung eines Trauminterviews, im Tone 
liebenswürdigſter Plauderei, durchwoben von farbenreichen, perjönlihen Grinnerungen, Cha— 
rakterzeichnungen, Aneföoten, gelegentlich auch von wirklich neuen hiftorifch bedeutfamen That: 
fachen. Wie Lord Lyons nad dem Sezeifionsfriege einen Bruch zwifchen England und den 
Rereinigten Staaten verhinderte, wie in Wirklichkeit ſich die engliſche Offupation Eguptens 
vollzogen hat, wie Evelyn Baring beinahe türkifcher Finanzminiſter geworden wäre und ber: 
gleichen mehr. Es find nicht wichtige diplomatifche Geheimniſſe, die und aufgededt werden, und 
doch wird gerade derjenige, welcher die Befchichte der jüngiten Vergangenheit verjtehen will, aus 
dem Buch Sir Edw. Malets die reichite Belehrung ſchöpfen, weil dieje leicht hingeworfenen 
Erinnerungen, die, wie wir einmal beiläufig erfahren, in ihrem Fundament auf gleichzeitige 
Aufzeichnungen zurüdgehen, die Zeitgefchichte mit ſouveräner Sicherheit beherrichen. 

Endlich fet noch erwähnt, dat Malet dem Deutſchen Reid) und unferen großen Männern 
eine freundfchaftliche Gejinnung entgegenbringt, die in dem Satze gipfelt, „daß die Entwidelung 
des Deutfchen Reiches für England fehr wohlthätig geweſen jei“. Aber das Buch will geleien, 
nicht ercerptert fein. Es wirkt als Ganzes und foll deshalb ald Ganzes genojjen werben. 

Theodor Schiemann. 


Finländifche Runaſchau. Bierteljahrsſchrift für das geiftige, foziale und politifche Leben Fin- 
fonds. Herausgegeben von €, Braufeweiter. Verlag von Dunder & Humblot in Leipzig. 
Preis des Jahrgangs 6 Mare. 

Die bekannten politifchen Wendungen in Finland, melde die nationale Selbftändigfeit 
eines tüchtigen und eigenartigen Volkes ſchwer bedrohen, haben aud in Deutichland die Aufr 
merkfamfeit und das Intereſſe für jenes Land ehr gefteigert. So wird es vielen willkommen 
fein, aus beiter Hand eine fortlaufende Orientierung über finländifches Leben und finländifche 
Schidjale zu erhalten Die Finländifhe Rundichau berichtet ſowohl alles Wefentlihe aus den 
aktuellen Vorgängen als fie die bleibende Art jenes Volkes und feine Leiſtungen auf den vers 
ichiedenen Yebensgebieten in anfchaufichen Bildern vorzuführen fucht. Jenes gefchteht in voller, 
männlicher Offenheit, aber in durchaus ruhiger und mürdiger Weife, bei diefem tft fehr aner- 
dennenswert das Gefchid, mit dem die verſchiedenen Seiten der Arbeit gleihmäßig zur Ent- 
faltung gebracht, werben. So enthält 3. B. das kürzlich erjchienene dritte Heft Artikel über 
finntjche Tertilornamentit (mit Zlluftrationen fehr wertvoller Art), über Studentenleben in 
Finland, über den Dichter Lars Stenbäd, ber in der refigiöfen Bewegung jenes Landes eine 
große Rolle fpielte, es bringt ferner eine Erzählung des bekannten Schriftjtellers Juhani Abo, 
u. f. w. Dabei bejchränkt fich die Finländifche Rundſchau nicht ausfchliegli auf Finland, fie 
erörtert aud) allgemeinere Fragen, welche mit den Schidfalen und den Idealen bes finländifchen 
Volkes in irgendwelchem Bufammenbange ftehen. In diefer Hinficht find befonders die Beiträge 
des ausgezeichneten holländiſchen Staatörechtälehrers Prof. W. van der Blugt beachtenswert, 
das dritte Heft enthält einen Artikel von ihm über „Expanſionsethik“. Nach dem allen Tann 
die Finländiſche Rundſchau dem deutſchen Publikum marm empfohlen werden. n. 


* 


Bicherfchau. 467 


Aus $pätherbittagen. Erzählungen von Marie von Ebner-Eichenbah. 2 Bbe. Berlin 1901. 
Gebr. Baetel. 


Köjtliche Früchte eines Haren, fonnenwarmen Spätherbfte8 Bat und Marie von Ebner: 
Eihenbad mit ben neun Erzählungen bdiefer neueften zwei Bände gefchentt. Sie fügen nicht 
mwefentlich neue Züge bem Bilde der greifen Dichterin binzu, aber zeigen die Kunſt der Siebzig— 
jährigen in ihrer vollen Reif: und in ungefchwächter Kraft. Das Herz der Dichterin, diefes 
reiche Herz voll Mitleid und Licbe zu allem Lebendigen, ift noch immer ber tiefiten Eindrücke 
fäblg und ftrömt feine erwärmenden, befebenden Fluten auf Bilder und Geftalten, Erichautes 
und Erbachtes aus. Marie Ebner befist durchdringende Welt: und Menjchentenntnis, von treuer 
Beobachtung der Wirklichkeit geht ihre Kunſt aus, aber fie bleibt nicht dabei jtehen; jie hat mehr 
zu geben als die gemeine Wahrheit und grobe Deutlichkeit der Dinge: fie gebt dem Kern und 
Weſen der Erfcheinungen nah und giebt in ihrer Daritellung zugleich die Beftaltung ıhrer 
eigenen Anichauung, mit einem Wort fie bringt künjtlerifcheorganifhen Zufammenhang in bie 
bunte Mannigfaltigfeit und Wirrnifje des Vebend. Der Genius ihres gütigen Herzens erjchaut 
mit dem Blid der Liebe im Dunkel und im trüben Wahn aud; das Licht, die Sterne ber Hoffe 
nung, die aus der Finſternis hinausleuchten. Die alte Forderung, dat die Novelle einen Wende- 
punkt haben müjfe, entfpricht demnach dem innerjten Wefen diefer Dichterin: mögen ihre Menſchen 
noch fo ſehr in Schuld und Leiden fich verjtriden, einmal ſehen fie doch dev Wahrheit und dem 
Sinn ihres Lebens auf den Grund, mit anderen Worten; alle Menfchen und alle Dinge haben, 
wie Raabe dies einmal ausbrüdt, in diefer Welt einen Augenblid, in welchen ihnen das letzte 
Recht gegeben wird. Die Menfchen der Ebner machen darum eine Entwidelung durch, aus 
Schuld und Schidfal wächſt ihnen eine Erkenntnis zu. Aber jedes Leben bat feine eigene Lehre; 
Sache der Künftlerin ift es, bdiefe „Moral” mit innerer Notwendigkeit aus dem individuell be— 
ſtimmten Menihenichidjal heraus zu begründen, werden und wachſen zu lajjen. „in diejer Ber- 
ihmelzung von fittlihem Idealismus und poetifchem Realismus liegt das Eigentümliche ber 
Ebnerſchen Kunst. Jede der neun Erzählungen hat ihren eigenen Ton, ihre eigene „Moral”, 
alle fpielen auf deutſchem und ſlaviſchem Boden und behandeln Fragen, Menjchen und Dinge der 
unmittelbaren Gegenwart. Die einzelnen Erzählungen zu dharakterijieren, verbietet mir ber 
Raum. Am höcdjten jtelle ich „Maslans Frau“, eine bäuerliche Ehetragödie, und die an das 
„Gemeindelind“ und „Srambambuli” erinnernde, gemürvolle Hundes und Menjchengefchichte 
„Die Spigin“, dann die das Thema „alter Mann — junge Frau“ behandelnde Novelle „In 
legter Stunde” und vor allem die nad) Form und Anhalt ebenjo kunſt- wie Icbensvolle 
Problennovelle und Rahmenerzählung „Die Reifegefährten”. Giebt es für befondere 
Menjchen in befonderen Fällen ein „Drüberjtehen“ über der „ganz orbinären, deutlich vorge— 
zeichneten Pflicht?“ das iſt hier die Frage. Die Dichterin läßt einen alten, in harter Lebens» 
ichule gereiften Arzt einem jungen, harmloſen Ruffen, den jener kaum kennen gelernt hat, er— 
zählen, wie und warım er in einem beftimmten Falle die „orbinäre” Pflicht aus höherem 
Pflichtgefühl verlegt und einen Mord auf fein Gewijjen geladen habe. Mit vollendeter Kunſt 
it Bier alleö vorbereitet und motiviert: daß der Doktor fein Geheimnis gerade diefer barmlofen 
Reiſebekanntſchaft auf einer nächtlichen Fahrt anvertraut, wie beide SKontraitgeitalten ſich in 
Rede und Gegenrede jpiegeln, Stellung zu der Trage nehmen und gegenjäßlich aufeinander 
wirken, wie aus ber vollen Gejtaltung eines ganz bejonderen Stüdes Menjchenlebens zugleich 
die Löſung einer fozialsethifchen Frage ſich ergiebt, ohne dat die Beantwortung den Anſpruch 
allgemeiner Gültigkeit macht, aber doch den Einzelfall wahr und überzeugend bdarftellt, — das 
alle8 und einiges mehr ijt mit einer Kunſt entiwidelt und geitaltet, die an Feinheit und Uns 
mittelbarfeit nicht übertroffen werden fann. Un den übrigen Erzählungen mit tragifchem Aus— 
gang („Der Borzugsichüler‘, „Uneröffnet zu verbrennen“, „Ein Original”) ließe ſich das eine 
ober andere ausjegen, doch im ganzen find auch fie Zeugen einer abgellärten Erzähler und 
Darſtellungskunſt. Bol köſtlichen Humors find „zräulein Sujannes Weihnachtsabend“ 
und „Die Bifite*, diefe mit fatirifhen Spotte auf bildungsbeuchelnde Blauftrümpfelei gewürzt. 


Worms. Karl Berger. 
30* 


468 Bücerjchau. 


Kleine Romane aus der Völkerwanderung. Band XIU: Der Bater und die Söhne. 
Hiſtoriſcher Roman aus der Völkerwanderung von Fellx Dahn. Leipzig. Drud und Berlag 
von Breitfopf & Härtel. 1901- 

Diefer Roman iſt eine Gefchichte aus der zweiten Hälfte bes ſechſten Nabrhunderts n. Chr. 
in beren Mittelpunft der Gotenlönig Zeovigild jteht und feine beiden unähnlichen Söhne, 
Hermenigild der ſchwache, der ſich von den römifchekatholifchen Prieftern umgarnen läßt, und 
Relared, ber jüngere, ein tapferer Krieger und echter Gote, der nach dem Tobe des Bruders fich 
die Srone aufs Haupt ſetzt und freiwillig das Fatholifche Belenntnis annimmt, um den ewigen 
Religionskämpfen ein Ende und Sueben, Franken, Byzantiner aus Feinden zu Glaubens- 
genoflen zu machen. So jichert er jein Reid. Starke Konflikte, eine große Stofffülle find in 
das ſchmale Bändchen zufammengedbrängt, das denjenigen Streifen, die nicht nur ben Meifter der 
Ballade, fondern auch dem Erzähler Dahn gern laufchen, gewiß willtommen fein wird. 

Earl Bufie. 


Uagabunden. Neue Lieber und Gedichte von Garl Buſſe. Stuttgart 1901. 9. G. Cotta'ſche 
Buchhandlung Nachfolger. 

Es ift die dritte Inrifche Sammlung fchon, die ber eben Wjährige Dichter erfcheinen läßt. 
Seine erften „Gedichte“ Tiegen zur Zeit in vierter, feine „Neuen Gedichte” in zweiter Auflage 
vor. Die „Bagabunden“, die den Ertrag von ſechs Jahren des Schaffens zufammenfafien, 
werben gewiß Hinter diefen Erfolgen nicht zurüdbleiben. 

Da ſchilt man unfere Zeit noch ald materiell gefinnt und allem Poetiſchen abhold. Frei⸗ 
(ih muß man es verjtehen, an alles das zu rühren, was ihr zu tiefft im Herzen ruft. So war 
es früher und fo wird es auch bei diefem Buche fein, don dem ich vermeine, daß es fir Buſſe 
einen guten Schritt vorwärts bedeutet: Sah aus feinen früheren Büchern noch manchmal das 
große Vorbild Storms, an dem er emporgemwachlen iſt, hervor — bier tft auch diefer Einfluß 
mehr und mehr überwunden, hier hat Buſſe feine ureigene Handfchrift gefunden, die er mit 
kräftigen Zügen fchreibt. Mit unendlicher Liebe hängt er vor allem an der herben Schönheit 
feiner märkifchen Landſchaft, und ihr Erdgeruch jteigt würzig aus manchen Abfchnitten des 
Buches empor. 

Ob der Kritiker Buſſe fi auch nie auf das Programm „Heimatkunſt“ feitgelegt bat — ein 
Heimatödichter ift er felber durch und durch. Durch die Luft Schießen die Belaffinen, der Kiebik 
ftelat im Graſe, die Graugans fchreit, ber Nebel zieht überm Fluſſe, die Kiefern knarren — bas 
Landichaftöbild ift ſpezifiſch norddeutſch. Und norbdeutich die Menichen darin. „Es raudjt ein 
Herb nadı Dften zu.” Das find Strophen von ergreifender Schönheit, die unfere Leſer als 
Probe in diefem Hefte finden. 

Daneben ftehen ernfte Zeitflänge, fteht jene Stubdentenfahrt nach Friedrichsruh, das be— 
fannte Flottenlied und vor allem das Gedicht auf Bismards Tod. Unwillkürlich fühlt man 
bier dem Dichter nach: Diefe Bere durften nicht in Reimen enden! Aber auch die übermütigften 
Töne werben angeſchlagen, und glüdlicher als in „Sieben Wochen fagt die Alte”, als in „Das 
Mädchen fingt” u. a. kann der Vollston nicht leicht getroffen werben. „Schöne Nacht“, „Emige 
Liebe" find daneben Perlen beutfcher Lori. 

„Bagabunden” heißt das Bud. Warum? Nicht jo, weil der Dudelfad einmal durch die 
Seiten bläjt, nicht nur, weil Iuftige Zechbrüber barin bie Becher läuten laſſen. Hier find Paga- 
bunden im höheren Sinne gemeint: AU’ Boll, das da wandert, Pilger zur irdifchen und mehr 
beinahe noch zur ewigen Helmat. Bon emwiger Heimat redet die letzte Abteilung bes Buches, bie 
„Sterne”. Da werben tiefe religidfe Sehnſuchtsklänge angefhlagen vom großen Sabbat, beiten 
Kerzen fo wunderbar leuchten... . 

Noc eine ganze Reihe des Schönen und Schönften ließe ſich anführen, und mag man 
auch bier und dort an Bers und Strophe etwas auszufeken haben: wer den Sinn für reine 
Schönheit nicht verloren hat, ber wird das Buch mit jtiller Freude lefen und immer wieder und 
wieder zu Ihm zurüdfommen. 

Berlin. Oskar Horn. 


Bůcherſchau. 469 


Das Frommelgedenkwerk. Frommels Lebensbild. I. Band: Auf dem Heimatboden. TI. Band: 
Vom Wupperthal zur Ratferftabt. Bon Dr. Otto Frommel, Pfarrer. Verlag von €. S. 
Mittler & Sohn, Kgl. Hofbuchhandlung, Berlin. | 

Ein köſtliches Buch, eine fprubdelnde Lebensquelle. Wir empfangen bier das Bild eines 
großen, reichgefegneten Dafeins, das mie eine Sonne lebendig vLebenswirkung ausftrahlt; das 

Bild eines Menſchen, deifen Elemente Picht und Wärme, Menfchenliebe und Ewigkeitsbegeiſterung, 

Milde und Güte waren; eine Perfönlichkeit tritt und entgegen von dem Zauber herzeranidender 

Yiebenswürdigfeit, die, wo fie erjcheint, unmittelbar ſieghaft wirkt, die uns in ihrer Lebensweis— 

beit und Yiebeswirkung oft an Männer mie Gellert und Yavater erinnert. Ein ganzer Mann 

und ein ganzer Chriſt jteht vor uns, der, die Hand im Himmel, der ganzen Welt unverzagt Troß 
bieten konnte und in feiner friichen DGerzenstapferkeit, feinem zomiprübenden Dazmwifchenfahren, 
der Derbheit und Schlagkraft feines Humors, auch als ternhafter Volkdfähriftiteller, geradezu 
an Züge in Luthers Eharafterbilde erinnert. Emil Frommel, der, wie Karl von Hafe fagte, „ein 
jeltener Dann von zugleich fünjtlerifcher und religidjer Naturanlage” war, fonnte jeiner ganzen, 
poetifchfünjtlerifchen Eigenart fein eigentlicher Kirchenmann im engbegrenzten Sinne dieſes 
Begriffes jein, aber ein Prieſter war er, ein Prieſter voll Liebeshoheit, der uns mit feiner Dichter- 
fraft in großen Stunden oft wie auf Wdlerflügeln zu Gott und Emigfeit emportrug, der bei 
aller ehrlichen Strenggläubigkeit doch voll in feiner Zeit ftand und aus ber Gegenwart heraus 
das Emige verfündete. Jener „Notanter”, von dem er uns erzählt, erfcheint er uns jelbft zu fein, 
ber Taufenden und Wbertaufenden aller Stände in jeiner umerfchöpflichen Fülle, oft bis zu 
eigener Vebenserfhöpfung, Halt und Stüße, Yabe und Erauidung wurde. Alles, was er erlebie, 
ſah und erfuhr, wurde ihm babet zum höchſten Symbol. Sein Humor quoll aus einer tief- 
harmonischen Seelenjtimmung voll Mitleid und Menfchenliebe, aus allverfühnender Weisheit. 

Dabei gab ihm dieſe Liebeskraft die jeltene Fähigkeit, ben im Leben am höchſten Stehenden und 

in gleicher Weiſe den Mermiten und Bedrüdteften, ja auch dem dem kirchlichen Leben völlig 

Fernſtehenden ein allveritändlicher Weg- und Himmelsweiſer zu werden. Man muß in breifig- 

jähriger freundichaftlicher Verbindung diefes gejegnete Leben verfolgt haben, um das Maß vor» 

nehmer Zurüdhaltung, zarten Taktes, das der Verfaſſer diefes Vebensbildes, der Sohn Frommels. 
in feiner Darftellung walten läßt, voll würdigen zu können. Set biejes echte Yebens- und 

Hausbuch, ſowie der immerdar frifch-fprudelnde Gefundguell von Emil Frommels Volks— 

ichriften jedem chriftlich empfindenden deutſchen Haufe auf das Wärmite empfohlen. 

Julius Yohmener. 


Die Kunft des Pfeudonyms von Edwin Bormann. Mit 83 autbentifchen Illuſtrationen. Leipzig 
1901. Edwin Bormann’d Selbitverlag. 

Bur weiteren Beweisführung für die Anſchauung, daß als Berfafier der Shafefpeare- 
Dichtungen Francis Bacon, der ebenjo gelehrte wie geiitvolle Lordkanzler anzufehen fei, tritt 
Bormann mit dieſem Werke, das fich feinem ‚Shafefpeare-Geheimnis‘, ‚Bacon-Shakefpeare's 
Benus und Abonis‘, der hiitorifche Beweis der ‚Bacon-Shafefpeare-Theorie‘ auf das engite an« 
fchließt, wiederum vor die Schranken. So vielerlei auch die Gegner der Bacon-Theorie vor: 
braditen: fie aus der Welt zu fchaffen maren fie nicht im jtande. Im Gegenteil. Ihre Ein- 
wendungen bienten nur zur Belebung der Forſchung auf diefem @ebiete, deffen Quellen um ſo 
mehr Scharfſinn erfordern, je unzulänglicher fie erſchemen. In der Kunſt des Pſeudonyms“ 
kommt Bormann auf die auch von Preyer und Werckmeiſter verfochtene Anſicht, daß Bacon 
feine Autorſchaft in den Titeln und Widmungen der Shakeſpeare zugeſchriebenen Werke geheim— 
ſchriftlich niedergelegt habe, zurück und zeigt an klaſſiſchen Beiſpielen, wie der Brauch des 
Pſeudonyms und Anonyms von jeher gang und gäbe war, zumal aber zur Zeit Bacons. 
Zwiſchen ben Tagen eines Hutten, Luther, Melanchthon, Calvin und der Zeit Goethes gab es 
Scharen von beutfchen, franzdfifchen, italifchen, englifchen Gelehrten und Dichtern, die ihren 
Namen verftedten. Selbft wer fich der Bacon-Theorie gegenüber gleichgiltig verhält, wird großes 
Vergnügen an diefer litterarhijtoriichen Abhandlung über das Pfeudbonym finden, deren zabl- 
reiche Fakſimiles direkt in die Masferade ber Dichter und Gelehrten führen und das Studium 


470 Bůcherſchau. 


ber Originale unnötig machen. Schon allein hierin liegt anerkennenswertes Berbienft. In 
vielen Fällen überläht es Bormann bem Lefer, nabeliegende Schlüffe felbft zu ziehen, und das 
mit Recht, denn er wendet fich nicht an bie breite Maffe, fondern an Leer, deren Selbſtdenken 
eine Notwendigkeit ihres Lebens tft, und denen die frage nicht überjlüffig vorfommt: ob bie 
meiſterhafte Bereinigung von poetifher Schaffensfreiheit mit Treue gegen ben bermeiligen Stand 
der Wiſſenſchaft, wie fie fih in den Dramen des großen Briten offenbart, einem Manne eigen 
geweſen ift, der wie Goethe Poet, Forſcher und Staatdmann mar, oder ob ein Schaufpieler 
jene gewaltigen Monumente menfchlichen Geiſtes verfaßte, um Stüde für das Publitum zu 
haben und ſich und feinen Kollegen Brot zu fchaffen. Sulius Stinde. 


Monoaraphien zur deutihen Kulturgeihichte. Bd. 8. Der Handwerker in der deutichen UVer- 
gangenheit. Mit 151 Abbildungen und Beilagen nad) den Originalen aus dem 15. bis 18. 
Jahrhundert. Bon Ernſt Mummenhoff. Leipzig, 191. ug. Diederiche. 

Den bereits im erjten Heft erwähnten Monographieen reiht fich würdig die Daritellung 
bes „Handwerkers in der deutfchen Vergangenheit“ von Ernſt Mummenhoff an. Zeitlid) 
zerfällt die Gefchichte des Handwerts in drei Abfchnitte: Das Handwerk in der vorftäbtifchen 
Beit, in der jräbtifchen Zeit und dann bie Berfalläperiobe des Handwerksweſens. Wachstum, 
Blüte und Verfall des Handwerks find innig verknüpft mit der Entwidelung des Zunftweſens. 
Deshalb werben dem Werben und Wefen diefes Organismus und der Luft und Umgebung, 
worin die Zunft gebieh, aber viel mehr noch verfümmerte. bier eingehende Betrachtungen gewidmet. 
Die DOrganifation ber Handwerker im Lehrlings-, Gefellen- und Meiſterweſen wird nach allen 
Seiten bin behandelt,-wab der materiellen Lage und dem Bildungsitand bes Handwerkers ein 
eigener Abjchnitt gewidmet. in reicher Bilderfchmud ift auch diefen Bande beigegeben; man 
braucht nur Künftlernamen, wie Hans Schäuflein, N. Ummann, Jacob v. d. Heiden, Abraham 
Boſſe, Le Cloud, J. Eollaert, Jan Yoris von Bliet, Hans Brofamer, Chodomiedi, FF. Halm zu 
nennen, um bem Stenner einen Begriff von bem Sunftreichtum diefes Bandes zu geben. Wer 
aber fein Kenner ift, der fann auf die einfachfte und glüdlichite Weife durch die Abbildungen 
biefer Monographieen auch eine Anſchauung von ber alten Steh: und Schneidefunft erhalten. 


Worms. Karl Berger. 
Volkstum und Weltmacht in der Geſchichte. Von Albrecht Wirth. München, 1901. F. Brud- 
mann WU.-ß. 


Der befannte Weltreijende und Gefchichtöichreiber Albrecht Wirth fucht hier von der 
Seite weltgeſchichtlicher Betrachtung und Vergleihung die Bedeutung von „Volkstum und 
Weltmacht in ber Gefchichte” zu ergründen. Mit Gobineau, Ehamberlain, Ammon u. a. tjt der 
BVerfaffer von der ungeheuren Bedeutung der Rafle für die Entwidelung der Menſchheit 
und ber Einzelvölfer überzeugt, mit ihnen teilt er die Erkenntnis von unvergleichlihem Werte 
bes Ariers und Germanentums. Bon Raſſe verjchieden iſt Vollsſtum! Volksbünde laffen fich 
nur auf gemeinfames Bollstum begründen, nicht auf gemeinfame Raſſe; Allromanentum, All 
germanentum, Panflavismus find undurchführbare Ideen, während ein Alldeutfchtum, Allbriten- 
tum und ähnliche Bünde ausfichtsvoll find. Aber Wirth läßt eine Hare Begründung und 
Durchführung der Begriffe „Raffe” und „Volkstum“ vermiffen, und fo fehlt e8 dem geiftreichen 
und gedbanfenvollen Buch an einem feiten Fundament und Gerüft; es bat feine rechte Einheit 
und zeitigt feine Haren, überfichtlihen Ergebniſſe. Wirth durchzieht die Weltgefchichte wie ein 
Reifender in flottem, fedem Tempo. Die Daritellung ift beweglich, ſprunghaft, voll geiftreicher 
Beziehungen und Parallelen, Beifpiele und Folgerungen. Für den heutigen Deutfchen am 
wertvolliten find die Schlufabichnitte, in denen die Beziehungen des Pollstums zur Entvolfs 
lihung, zum Boden, zum Staat und Ermwerb, feine Bedeutung für die Weltmacht und Bolls- 
bünde behandelt werden. Neuland und Bauernanfiedelungen, nicht bloß neue Abjatgebiete für 
Dandel und Induſtrie brauchen wir, eine neue überfeeiihe Heimat für unferen Volksüber— 
ſchuß, fagt Wirth mit Recht: denn „Weltmacht joll in Wahrheit eine Förderung, Bertiefung und 
Verklärung deutichen Bollstums fein“. 

Worms. Karl Berger. 


Bücherſchau. 471 


Geldhichtliche Lieder und Sprüche Württembergs. Im Auftrage der württembergiſchen Kommiſſion 
für Landesgefchichte gefammelt und herausgegeben von Profeſſor Dr, Karl Steiff, Bibliothefar 
an der kgl. ff. Bibliothek in Stuttgart. Stuttgart. Drud und Verlag von W. Kohlhammer. 
1899/1901. 

Ein koſtbarer, geichichtlich, fultur= und litteraturgefchichtlich fat gleich wertvoller Schatz wird 
durd) diefes Buch aus dem Württemberger Boden gehoben. Was irgendwie an volkstümlichen 
Yiedern und Sprüchen, die auf geichichtliche Borgänge innerhalb der Grenzen des jetigen 
Württemberg Bezug baben, in Bibliotheken und Archiven vorhanden ijt, joll bier geiammelt 
werden, und zwar von den älteiten Zeiten bis in die neuere Zeit herein. Dieje Fortführung in 
die neuere Zeit iſt ebenjo verdienjtlich tie die Ausgrabung der Lieder aus älterer Zeit. Bis 
jetst jind zwei Lieferungen erjchienen mit 66 Nummern. Das erjte Lied, aus dem Unfang des 
fünfzehnten Jahrhunderts, behandelt die ‚Fehde zwiſchen der Stadt Rottweil md Graf Friedrich 
von BZollern und die Zeritörung der Burg Hohenzollern; weitaus die Mehrzahl befchäftigt fich 
mit dem württembergiſchen Fürſten, der von allen am tiefiten in den Herzen der Schwaben lebt, 
mit Herzog Ulrich. Noch hängen in vielen Dorfwirtöhäufern und Bauernhäufern als ein von 
den Bätern ererbter Schaß jene Fleinen verräucherten Bilder, auf welchen Herzog Ulrichs Leben 
und Thaten veretwigt find, oft ein halbes Dutend aneinander gereiht; noch fingen unfere Kinder 
ben inderreim von 1584: Bide, bide, pomp! — Der Herzog Ulrich kommt — Er Ttegt nicht 
weit im Feld, — Er bringt en Sad voll Geld. — Tedenfalls haben wir ihn mit der gefamten 
Dorfiugend noch in den jechziger Jahren des vorigen Yahrbunderts gefungen. Nach ber 
Bemerkung des Herausgebers, Seite 355, ſcheint er indeſſen wenigſtens in der Hauptjtadt ver— 
flungen zu jein. Damit fommen wir auf die Thätigfeit des Herausgeberd. Er Hat jedes 
Gedicht mit ſprachlichen und geichichtlichen Fußnoten verjehen und genaue Erläuterungen bei» 
gegeben über den gefchichtlichen und poetifhen Wert, den Anlaß, den Verfaſſer, die Quelle 
u. ſ. w. Welch eine Summe von Fleiß und Forfhung in diefen Anmerkungen ftedt, das wird 
felbft der Laie auf diefem Gebiete beim eriten Blid in das Buch erfennen. 


‚sch weiß nicht, ob andere Länder jchon mit einer derartigen Sammlung vorausgegangen 
find; wenn nicht, werben fie vielleicht dem württembergiſchen Beifpiele nachfolgen. Solche Ver- 
öffentlichungen find in ihrer Art auch Beiträge zu der Heimatkunſt und trefflich geeignet, die 
Anhänglichleit an den Mutterboden, bem einer entfproffen it, zu pflegen und zu fördern. Wenn 
man fich in ein foldhes Buch vertieft, jcheint man in einer ganz anderen Welt zu leben, und 
wird doch auf Schritt und Tritt daran gemahnt: es ift deine Welt, und die Fäden fpinnen fich 
ganz von jelbjt von der deutichen Vergangenheit in bie deutiche Gegenwart. 

Richard Weitbredt. 


Raabenweisheit. Zum 70. Seburtstage des Dichters aus den Werfen Wilhelm Raabes ausge— 
wählt, zufammengeitellt ımd herausgegeben von Hans von Wolzogen. Berlin 1901. Perlan 
von Dtto Janke. 


Eine Geburtstagshuldigung für dem Lüngitgefeierten, mit feiner Zujtimmung vorbereitet. 
„Eine Feſtgabe, die des Gefeierten würdig ift”, jagt der Gerausgeber felber in der Borrede, 
„denn ſie trägt ja durchaus den Stempel jeines Getites; und die zugleich feinem Volke, hoffent: 
lih recht vielen feines Nolfes, ihn noch im 70. Pebensjabre in einem neuen, bellen Licht zeigt, 
oder doch einen alten Zauber, den er ausgeübt, den perfönlichen Zauber feiney- geijtigen Macht, 
feiner Weltanfchauung ihnen zu vollen, klarem Bewußtſem bringt”. Dans von Wolzogen bat 
eine Reibe von Gedanfen-Erfurjen und gelegentlichen infällen aus Naabefchen Nomanen 
berausgegriffen und in die Gruppen: Menfchenfeben und Schidjal, der Menſch, der Menſch 
unter Menfchen, Idealismus und Kunſt, deutiche Art geordnet. ine geichlofiene Welt- 
anſchauung kann uns aus diejen Cinzelitellen nicht wohl entgegentreten, aber die Sammlung 
gewährt einen Einblid in die Art, wie der geiitvolle und liebensmürdige Humorlit eine Reihe 
wichtiger Lebensiragen höchſt perfönlich ftreift, und fo bat das Werkchen al® Beitrag zur 
Charalteriſtik Raabes jeinen ganz befonderen Wert. PRictor Blütdgen. 


472 Bücerjchau. 


Triftan und TIolde von Gottfried von Straßburg. Neu bearbeitet von Wilhelm Herb. Dritte 
Auflage. Stuttgart und Berlin 1901, 3. G. Eotta’fche Buchhandlung Nachfolger. 

Die Haffifche Triftan-Ausgabe von Hertz liegt bier in dritter Auflage vor. Nicht bie 
Originaldichtung Gottfrieds von Straßburg, fondern eine neuhochdeutſche Bearbeitung von ber 
Hand eines unferer ausgezeichnetiten Dichter, der fich bemüht, eine der ſchönſten mittelalterlichen 
Litteraturfhöpfungen für die Gegenwart voll geniegbar zu machen und mit peinlicdy jorgfältiger 
willenfchaftliher Quellenforſchung in das rechte Licht zu rüden. Zu dem Zweck tft mandıe 
ftörende Länge im Tert bejeitigt; jtatt des fehlenden Schluffes in der Dichtung Gottfrieds von 
Straßburg der Schluß jenes Werles angefügt, aus dem Gottfried feinen Stoff geſchöpft, der 
Dichtung des Troudere Thomas; endlich eine Fülle kritifchen Materials beigegeben, ein Mufter 
fitterargefchichtlicher, erfchöpfend gründlicher FForfcherarbeit. Kür den bloß genießenden Leſer 
wird mohl die‘ Bearbeitung von Herb zufammen mit deilen wahrhaft fongenialer Weiter- 
dichtung immer im erjter Linte Wert behalten. Die Ausftattung des Buches iſt muftergiltig, 
modern und vornehm zugleich. Victor Blüthgen. 


Margarete Stern. Gin Sünftlerinnenleben. Von Adolf Stern. Mit 2 Photogravüren. Dresden 
und Leipzig. G. A. Koch's Verlagsbuchhandlung (9. Ehlers). 1901. 

Ein ganz eigenartiged Buch, ein Denkmal zarteſter Pietät, das uns „bie Erfahrungen, 
Beglüdungen und Yeiden eines deutfchen Künitlerinmenlebens in der zweiten Hälfte des 19ten 
Jahrhunderts“ fchildern foll und „mit dem Namen aud; das Gedächtnis eines reinen und uns 
ermübdlichen Strebens” zu bewahren beftimmt ift. 

Margarete Stern, geb. Herr, die früh dabingegangene Gattin des Verfaſſers, des hochan— 
gejehenen Litterarhiftorifers, war bekanntlich eine der ausgezeichnetjten Pianiftinnen aus der Schule 
vLiszts. Wir erleben bier den Werdegang einer überaus fumpathifchen, poctifch feinveran- 
lagten, befcheiden-vornehrhen, reinen Stünftlernatur und verfolgen ihr fehnfuchtsvolles, raftlojes 
Aufwärtöringen auf einem Dornenmwege von Enttäuſchungen und Triumphen, von Glüd und 
Leid, auf einer reichen Künftlerlaufbahn, die fie in unbeirrtem Drange durchmißt, um jich endlich 
zu höchſter Freihelt und Metjterfchaft emporzuarbeiten. Und mir bfiden dabei zugleich in ein 
entzüdendes Eheverhältnis zmeier echter Künftlerfeelen, die in rührenditer Zuneigumg und Vers 
ehrung fich ergeben, gegenfeitig in bingebender Sorglichkeit fich den Lebenspfad zu ebnen und 
zu erhellen fuchen, und verfolgen dieſen ergreifenden Lebensroman bis zu dem allzu frühen 
Bingang ber ammutsvollslauteren Künſtlerin, bis zu dem erjchütternden Posreifen aus einem 
Dafein voll Liebe und reinftem Glück und endlich errungener Meiſterſchaft. Das Buch hinterläßt 
jeder finnigen Natur unvergehliche Eindrüde und hebt fie zu edleren Yebensentichliefungen. 

Sulius Lohmeyer. 
rin Lienbard: Gelammelte Gedichte. Verlag von Georg Heinrich Mener, Berlin SW. 46. 
— Wasgaufahrten. Gbenba. 

Erit in lekter Stunde wird uns die erfreuende Mitteilung von dem demnädjitigen Er: 
fcheinen ber geſammelten Gedichte von Fritz Lienhard, melhe Sammlung aud die „Lieder 
eines Elſäſſers“, „Nordlandölieder”, „Burenlieder” umd viel Ungedrudtes zufammenfaflen wird. 

Fritz Lienhards „Wasgaufahrten”, dieſes herrliche Wanderbud), das zugleich ein 
modernes Weltanſchauungsbuch iſt und „Jung Elſaß und Jung Deutſchland“ gewidmet wurde, den 
Verehrern des Dichters längſt ein herzerquicklicher Schatz, erſcheint gleichfalls in neuer Auflage. 
Wir freuen uns, der großen Gemeinde des Dichters dieſe Nachricht geben zu fünnen, und be— 
halten uns vor, eingehender auf die Sammlungen zurüdzulommen. J. L. 
Schlaglihter auf Oftafien und den Pacific von Otto Wachs, Major a. D. Berlin 1901. Richard 

Schröder, Verlagshandlung. 

Die vorliegende PBrojchüre verdient ihres intereflanten und zeitgemäßen Inhalts 
wegen eine weitgehende Würdigung, fie ift eine ſehr geſchickt, Scharfiinnig und gut gefchriebene 
militärsgeographifhe Studie. Sie lehnt ih an Helmolts Weltgefchichte Bd. 1 Kap. 6, die 
neichichtliche Bedeutung des Ztillen Meeres, an und zeigt uns, dab der fogenannte Stille Ocean 
durch die neue Weltpolitit feine „Stille” völlig verloren hat. —r. 


Bücherſchau. 473 


Intermezzo. Gedichte von Frida 3chanx. Mit Buchſchmuck von M. Stüler-Walde. Verlag 
% U. Lattmann, Berlin, Goslar, Leipzig. 

Wer ben Werdegang biejer innig empfindenden Dichterin mit unbefangener Anteil 
nahme verfolgt bat, fieht fie von Jahr zu Jahr, von Sammlung zu Sammlung zu Immer 
größerer Sicherheit des künſtleriſchen Könnens und zu einer Höhe der Lebensanſchauung 
gelangen, die nur die Ergebniffe eines fehr ernten Fünftlerifchen und feelifchen Ringens 
jein können. In ihrem vor einigen Jahren erfchienenen Buch „Unter dem Efchenbaum‘ über» 
raſchten uns bereits eine hohe Gehaltenheit der Empfindung, eine Macht realiftifchen Ausdrucks, 
eine Energie der Daritellung, die uns ganz neue Züge in dieſem früher beinahe allzuzarten 
Dichterbilde offenbarten. In diefer neueiten Sammlung „Intermezzo“ ringt aber eine Glut 
und Kraft bes Gefühls zum Ausdrud, gewinnen bie Bilder eine leuchtende Plaftit, bie Form 
eine Prägnanz und Vollendung, die uns Har erfennen laffen, daß Hier in ber That eine echte 
Meifterin ausreift Frida Schanz darf in Wahrheit von fid) fanen, was Meijter Geibel von 
ber gebanfenlos dahbintrottenden Kritik feiner Tage jagen konnte: 


„Ste Hopft noch ftet3 bie abgetrag’nen Kleiber, 

Die ich vor zwanzig Jahren trug.” 
Aber eine einfichtsvolle Kritif beginnt ber Dichterin von Jahr zu Jahr gerechter zu erben. 
— Der Buchſchmuck von M. Stüler-Walde und die Ausjtattung des neuen Werkchens find fehr 


reizvoll und eigenartig. Jullus Lohmeyer. 
Eine Dienftreife nach dem Orient. Erinnerungen von Staatsminiſter Dr. R. Boſſe. Leipzig, 
F. W. Grunom. 


Am Gefolge der Kalſerreiſe nach Paläſtina im Spätjahr 1898 find eine ganze Reihe von 
itattlichen Prachtwerken und leichteren Schriften erſchienen. Wuch ber inzwifchen verftorbene 
preußifche Kultusmintiter Bofje hat jeine zuerſt, wenn ich nicht irre, in den „Grenzboten” ver» 
öffentlichten Berichte in Buchform herausgegeben. Der Hauptreiz des Büchleins befteht in 
feinen anſchaulichen Schilderungen des Lebens an Borb und im Morgenland, von Land und 
Leuten in Nord-Afrifa und im heiligen Lande, der Reifegefellichaft u. j. w. Boſſe giebt ſich 
immer ſchlicht, liebensmürdig, mild — chriſtlich; wo er jein Volk voranfchreiten fieht, hat er feine 
echte Freude. Es ift eine Dienftreije, aber reich an menfchlichen Eindrüden, Stimmungen und 
Erlebniffen, an Beziehungen zu mancherlei Menfhen und an bunten Erfahrungen. Wer das 
Büchlein Tieft, wird fi) angezogen und erwärmt fühlen von der fenntnisreichen, edlen und vor: 
nehmen Berfönlichkeit feines Verfaſſers. 9. Montanus. 


Aus Frig Reuters jungen und alten Tagen. Neues über des Dichter Leben und Werben auf 
Grund ungebrudter Briefe und Dichtungen mitgeteilt von Karl Theodor Gäders. Mit zahl: 
reihen Abbildungen nad Originalen von Theodor Schlöpfe und Fritz Reuter. Dritter 
(Schluß) Band. Wismar, Hinftorffiche Hofbuchhandlung. 1901. ; 

Wo man Neuters Werke kennt und liebt, und wo man über biefes fernigen Humoriften 
Leben und Schaffen mehr erfahren will, ald die befannten Lebensbdaritellungen geben, wird 
man in biefem Werf, das nun vollftändig vorliegt, eine reizvolle Gabe auch für den Weihnadhts- 
tifch finden. Meift wird bei ſolchen Nachlahfchriften der Stoff von Band zu Band magerer und 
bleibt faum vollwertig. Bier bat indeſſen das außerordentliche Finbdertalent von Gfädertz immer 
neuen anziehenden Stoff zu entdeden gewußt, und wahrlich, feine Spürfraft ift zu bemunbern. 
Sefchmadvoll weiß er feine Funde von bisher unveröffentlichten Dichtungen, Briefen und Er- 
innerungen aneinander zu reihen. Der erite Band erregte vor einigen Jahren bei allen Reuter- 
Freunden ein freudiges Auffehen durch die Darbietungen mancher reizvollen Dichtungen und 
Epiiteln aus jener NReuter-Trube, die die Witwe Reuter ber Schillerftiftung vermacht hatte, 
beſonders durch den zurüdgehaltenen Teil feines Schwanengefanges „DE 'ne lütte Gaw för 
Dütſchland“ 1870/71. Am zweiten Bande feilelten vorzüglich die fehr originellen Enthüllungen 
über den Sommandanten Oberjt von Bülow und feine Familie auf ber Feſtung Dömltz, uns 
ſchätzbare Beiträge zu Reuters „Feſtungstid“. Der Schlußband Frönt die Sammlung durch bie 


474 Bücherſchau. 


eigenartigen, auch kulturgeſchichtlich hochintereſſanten Aufklärungen über den alten Amtshaupt: 
mann Weber, feine rau „Neiting“, über des Dichters Eltern, über Onfel und Tante Herſe, 
Mamjell Weftphalen, Fritz Sahlmann und andere und vertraute Perfönlichkeiten aus der Fran— 
zoſenzeit. Dazu fommt eine Fülle durchaus mitteilenswerter, meiſt fehr Luftiger Epijteln, 
Gedichte, Erlebniſſe und Gharakterzüge umferes teuren Humoriſten und feiner Geftalten, bar: 
unter auch Onfel Bräfigs. Die zahlreichen Originals lluftrationen, die 3. T. von Reuter ſelbſt 
herrühren und ein gewiſſes eichentalent beweiien, betrachtet gewiß jeder wieder mit Ver— 
gnügen. Der Preis für diejes allen Reuter-Freunden werte Werf iſt ein verhältnismäßig niedriger, 
und wurde wohl nur durch eine befonder& ftarfe Auflage ermöglicht, die im Hinblick auf die 
jedenfalls große Verbreitung, welche auch bei diefem neuejten Bande vorauszufehen tft, nadı- 
dem der erite jchon drei Auflagen erlebt bat, veranftaltet twerben fonnte. Gädertz bat in dieſer 
Sanımlung ein deutſches Volksbuch im beiten Sinne des Wortes geſchaffen und damit unferem 
Fritz Reuter ein neues Ehrendenfmal geſetzt. Paul Debn. 


franz Mad, Das Religions- und Weltproblem. Dresden. 1902. E. Plerfon. 2 Bde. 

Der Verfaſſer biefes jehr zeitgemähen Werkes ift ein aus der römifchen Kirche zum Alt 
fatholizismus übergetretener Theologe. Er iſt ſchon vielfach auf Fatholifch « apologetifchem 
&ebiete litterarifch thätig gewefen, hat aber ſchließlich in der bloßen Berteidigung blinden Kirchen— 
und Dogmenglaubens feine Befriedigung mehr gefunden und fi zu einer geläuterten Welt- 
anfhauung durchgerungen. Wir heben aus dem reichen Inhalt des Buches folgende Kapitel 
heraus: Mas iſt Glauben und mas ift Riffen? Wie gelangt der Menjchengetit zur Wahrheit? 
väßt ih das Dafein einer perfönlichen, vor: und übermeltlichen Gottheit bemeifen? Welcher 
willenfchaftliche Wert fommt dem von den pofitiven Religionen aufgeitellten Gottesbegriffe zu? 
Welches iſt das Weſen der Religion? Läßt fich der meſſianiſche und göttliche Charakter Jeſu und 
die Göttfichleit jeines Werkes erweifen? Wie verbält fich die biblifchetheologifche Lehre von ber 
Erichaffung, dem Alter des Menjchen ſowie der Einheit des Menfchengefchlehts zu Bernunft, 
Erfahrung, Wiffenfchaft? Läßt fih die Subjtanzialttät und Unsterblichkeit der Menſchenſeele 
bemeijen? it die menfchliche Willensfreiheit Thatſache oder Fiktion? u. f. mw. Alle dieſe und 
ähnliche Fragen behandelt Mac; mit eindringlicher Schärfe und Klarheit. Seine große Belejen- 
beit tritt in jedem Kapitel deutlich hervor. Wenn man von jeder größeren litterarifchen Arbeit 
fagen fann, fie biete in gewiſſer Hinficht einen Teil des inneriten Ichs des Verfaſſers, fo gilt 
das auch von diefem Werke; es repräfentiert nah M.’S eigenem Geftändnis die Summe feines 
Denkens und FForfchens, feines geiitigen Vebens, Strebens und Ningens und trägt jo recht den 
Charakter eines ſeeliſch-geiſtigen Permächtniffes an fih. Auch diefes Buch iſt ein beredtes 
Zeugnis dafür, daß die jittlichereligiöfen Mächte in unferer Zeit im Steigen begriffen find. Da 
eö in unferer kirchlich-konfeſſionell jo zerriffenen Beit dem hoben deal einer religiöfen Einigung 
der Menfchbeit rejp. unferes deutichen Bolfes zuftrebt, muß es unſererſeits trotz vielfacher prin- 
zipieller Ablehnung in Einzelfragen den Gebildeten unſeres Volles warm empfohlen werden; 
die das ganze Buch durchziebende Aufrichtigkeit und Gewiſſenhaftigkeit leiten zu ernitem Nadh- 
denfen über bie tiefften ragen an. Eine genaue inbaltsangabe der einzelnen Kapitel ſowie 
ein alphabetifches Regiſter erleichtern das Studium des Buches. Dem Werk ift eine eingebende 
Biographie feines Verfaſſers vorangefett. 

Fermersleben. Otto Siebert. 


Meyer’s Hiſtoriſch · ßeographiſcher Kalender, Sechſter Jahrgang (1902). 

Gediegen wie alle Veröffentlichungen des Bibliographifchen Inſtituts bietet auch dieſer 
Jahrgang des hiſtoriſch-geographiſchen Kalenders eine Fülle von bildlichen Darſtellungen — es 
ſind deren mehr als fünfhundert. Das Intereſſe der weiten Kreiſe, für deren Gebrauch ber 
Kalender bejtimmt iſt, dürften vorwiegend bie geographrichen Abbildungen in Anſpruch nehmen, 
zu deren Serjtellung der Meyerſchen Berlagähandlung ja jo reichhaltige Sammlungen von 
Vorlagen zur Verfügung jichen wie wohl keiner andern curopäifchen Anjtalt ihrer Art. Dabei 
zeichnet fich die Ausführung der Bilder vor vielen ähnlichen vorteilhaft aus, und dies Lob gilt 


Bücher ſchau. 475 


nicht allein von den unmittelbar nach Photographieen, ſondern auch von ben nad älteren Dar— 
jtellungen gefertigten Anſichten. Bielleiht gerade durch die anfpruchslofe und einfache Art, 
auf welche die einzelnen Bilder hier dem Beichauer allmählich vorgeführt werden follen, haften 
fie beſſer als beim Durchblättern eined Buches. Jedenfalls werden fie bei fehr vielen einen 
höheren Zweck alö den der bloßen Unterhaltung erfüllen, denn bie lebendige Anfchauung tit 
namentlich in allem, was mit der Erdkunde irgendwie zufammenhängt, wirkſamer als ausführ- 
liche Schilderungen. Selbſtverſtändlich iſt den einzelnen Blättern eine das Verſtändnis erleich- 
ternde, ganz furz und allgemeinveritändlid, gehaltene Erläuterung beigefügt. K. Dove, 


Talchenbuch der deutichen und der tremden Krieasflotten. Mit teilmeifer Benutzung amtlichen 
Materiald. III. Jahrgang 1902. Herausgegeben von B. Weyer, SKapitänleutnant a. D. 
München, 3. F. Lehmanns Verlag. 

Das Taſchenbuch bat infolge feines reichhaltigen praftifchen Inhalts, feiner handlichen 
Form und feines billigen Preifes die mweltefte Verbreitung gefunden. In der deutfchen Marine 
wird es ganz allgemein benutt und es jteht nach dem Urteil der deutichen, engliichen und 
franzöſiſchen Fachpreſſe an erfter Stelle unter ben feemännifchen Handbüchern. Neben ben aus— 
führlichen Schiffsliften aller Kriegäflotten der Welt und den Bildern aller wichtigen Schiffstypen 
enthält der Kalender alles Wiſſenswerte über die Organifation der Seeftreitfräfte, die Flaggen, 
die Kommandobehörben, bad DOffiziersforps, den Eintritt als Seefabett und die Offizierslauf- 
bahn, Deutichlands Seeintereifen und Seegefahren zc. zc. Für Fachleute von größtem Antereife 
find die ganz neuen Bergleichstabellen der Geſchoßwirkungen aller Seegefchüte der Welt, woraus 
die Ueberlegenheit der Kruppſchen Geſchütze glänzend hervorgeht. Won allgemeinem Intereſſe 
find einige hervorragende Abhandlungen wie „Kann Großbritannien feine Uebermacht zur See 
dauernd behaupten?“ „Die Marinebudgets der Seeftaaten”, „Die allgemeinen Tendenzen für 
die Armierung, Panzerung und Konftruftion der Linienfhiffe und großen Kreuzer”. Eine große 
Zahl von Tabellen über Schiffbau, Stärke der Flotten, Leiftungen der Werften ꝛc. x. machen 
das Bud, für jeden, der fich für die Flotte intereffiert, zu einem unentbehrlihen Vademecum. 


Beimatklänge aus deutichen Gauen, ausgewählt von Oskar Dähnhardt. I. Bd. Aus Marſch 
und Haide II Bd. Aus Hochland und Schneegebirg Mit Buchſchmuck von 
Robert Engels. Leipzig, 1901. Zeubner. ' 

Die einzelnen deutſchen Stämme fünnen durch nichts, glaube ich, fich gegenfeitig näher 
gebracht werden al& durch wechfelmeifes Vertrautwerden mit ihren Eigentümlichkeiten und Be— 
jonberheiten, tie fie am beutlichiten in ber munbartlihen Stammeslitteratur ſich ſpiegeln. 
Fri Reuter und Klaus Groth haben fo viel zur Annäherung ber Oberbeutfchen an nieder: 
deutjches Wefen beigetragen, und den umgekehrten Dienst haben gewiß auch fchon Dichter mie 
Rofegger, Anzengruber u. a. dem Norden geleiftet. Ohne es direkt zu erjtreben, baut bie 
Dichtung auf dieſe Weiſe auch heute noch Brüden zwiſchen den Stämmen, fie verrichtet nationals 
politifche Arbeit. Aus doppelten Gründen tft daher eine Sammlung mie die Dähnbarbtfche 
zu begrüßen. Bis jet liegen die Bände für den nieberbeutfchen und ben oberbeutfchen Sprach— 
bezirf vor. Die Sichtung und Sammlung der mundartlichen Scherzgedichte und Schnurren, 
der beiteren und finnigen Gejchichten und Humoresken ift nach vollstümlichen Geſichtspunkten 
unter Berüdfichtigung ibrer nationalen, Fulturellen, fozialen, ſprachlichen und litterarifchen Be- 
deutung vorgenommen; ber Herauögeber hat bamit für Schule und Haus, zur Belehrung und 
Unterhaltung ein gleichverdienitliches Wert gefchaffen. Der dritte Band wird das mitteldeutfche 
Spradjgebiet behandeln. 

Worms. Karl Berger. 


Das „Jahrbuch des Deutichen Flotten-DVereins“‘, herausgegeben vom „Präfidium des 
Flotten⸗Bereins“ iſt foeben in feinem dritten Nahrgange — für das Jahr 1902 — erjchienen. 
Der zweite Jahrgang des Flotten-Jahrbuches fcheint bahnbrechend für die lange vermißte 
internationale Finanzſtatiſtik gewirkt zu haben; als Vorzug des neuen Jahrganges darf die 
außerordentliche Neichhaltigkeit in der Beibringung von neuem Material gelten. Auf die 


476 Bücherſchau. 


folgenden neuen Aufjäge ſei beſonders hingewieſen: „Die Marineausgaben im Staatshaushalt 
der Großmächte“, „Niefenumternebmungen ber Seeſchiffahrt und des Schiffbaues“, „Strikes im 
Handel und in der Schiffahrt“, ſowie auf den Auffat über „Die Kriegsflotten der Welt”, 
welcher dadurch an Wert gewinnt, daß er durch Beifügung von Gefchüttabellen bereichert iſt. 
Neu find 15 Skizzen von Kriegsſchiffen aller Nationen. Weber „Welthandelsländer und Welt: 
handelsartikel“, „Deutichlands Handelöverfehr mit den Freihäfen und mit Helgoland“, „Zollfreie 
Schiffbaumaterialien”, „Seeverfehr in beutfchen Häfen’, „Deutichlands große Rhederelen“, 
„Deutichlands Werften”, „Rentabilität der großen Schtffahrtögefellfchaften und Werften Deutjch- 
lands", „Die Sciffbautechnifche Geſellſchaft“, „Schiffsklaffififationsinftitute”, „Seeverficherung“, 
„Die biologifhe Station auf Helgoland“, „Unfallverfiherung der Seeleute”, „Die überfeeifche 
Auswanderung” ift reiches Material beigebracht. Vieles Material mird dur das FFlottens 
Jahrbuch in der beutfchen Yitteratur wohl überhaupt zum eriten Male dargeboten, jo bie 
zuſammenfaſſende Veröffentlichung über die „KRoblenjtationen in der ganzen Welt, die 
Preije, Bedingungen für Koblenübernahme zc.”, ferner die „Zujammenftellung der 
Marinesfitteratur der Neuzeit”, die eingehende Beſprechung der „Weltichiffahrtslinien in 
Gegenwart und Zukunft“. Das „Flotten-Jahrbuch 1902 bildet einen ftarfen Band von 490 
Seiten und ift vorzüglich geeignet, das deutſche Volk über Wejen, Ziele, Zukunft ꝛc. von Flotte, 
Danbel und Verkehr aufzuklären. 


An empfeblenämerter Lyrik und Epik bieten fich u. a. drei Bändchen dar: 

Von Weib und Welt. Gedichte von Karl Vanfelow. Berlin-Tempelhof, Sculhaus-Perlag 
1901. 

Gemmen und Palten. Tagebuchblätter aus Italien von Heinrid Vierordt. Heidelberg 1902, 
Earl Winters Univerfitätsbuchbandlung. 

Balladen von Wilhelm Brandes. Zweite vermehrte Auflage. Wolfenbüttel, Verlag von Zulius 
Bmißler 1896. 

Karl Banfelom gehört mit feiner ganzen Art der jungen Generation an. Er führt die 
vollmundige, blumen= und farben- und Fangreiche Sprache, melde die jüngite Technif als Er- 
rungenfchaft der Modernen fordert. Es ift nicht ſchwer, fich diefe Sprache anzueignen, die leider 
fo bequem über den wahren [yrifchen Gehalt täufcht, mie eine pifante Sauce über das eigent- 
liche Gericht. Zu feinem Glück ift Vanſelow auferdem ein Dichter, der recht hübfche Inrifche 
Werte findet, ein Ich⸗Poet, weich, weiblich, jugendlich, aber von bemerfenäwertem nitinft für das, 
was ein gutes Gedicht macht. 

Auh Heinrich Pierordt iſt ein gefchnadvoller Boet, friſch und farbig, aber mehr ein 
finniger Beobachter der Außenmelt, ber er eine Fülle gefälliger Eindrüde abgeminnt, Bier fpeziell 
italienifcher, die wie gute Momentaufnabmen eines mit feiner Camera bewaffneten Bergnügungs- 
reifenden ausfehen und die er gern mit einer Gloſſe retouchiert; manchmal etwas troden und 
nüchtern, nie wertlos. 

Wilbelm Brandes, der fein Buch feinem „Freunde Raabe gewidmet bat, Liefert 
Balladen, die zwar Ublandfche und Fontaneſche Wege geben, aber in diefer Art ausgezeichnet 
jind, fo kraftvoll und jo glänzend pointiert, vorwiegend ältere hiſtoriſche Balladenitoffe behandeln, 
dat Liebhaber von Balladen ſich das Buch nicht entgehen laffen follten. Unter den neueren 
Balladendichtern wüßte ich außer dem größeren Börries von Münchhauſen feinen, der es 
bejier fünnte. Victor Blüthgen. 


Hoffmann von Fallersieben. Unſere volkstümlichen Lieder. Vierte Auflage. Bon K. 9. Prahl. 
Leipzig. Verlag von Wilhelm Engelmann. 1900. 

Wer die Schwierigkeiten fennt, die das Forschen nad Autor und Komponiſt fogenannter 
„Bolfslieder” mit ſich bringt, der erſt wird die vorliegende Arbeit, die Erneuerung, Ummandlung 
und Bervollitändigung des Hoffmannfchen Werkes durd; den Dr. K. H. Prahl voll zu mürbdigen 
wiſſen. Hunderte von diefen Volksliedern bat er auf ihren Urſprung und im ihren Wandlungen 
verfolgt, und nicht nur ihren Perfaffer und Bertoner ermittelt, fondern auch, menigiten® in den 


Büherfhau. 477 


meiſten Fällen, Entjtehungs: und Kompoſitions-Jahr nachgewiejen, mobei der überrafchende 
Umftand zu Tage tritt, daß die Wer, 80er und 40er Jahre bes 19. Jahrhunderts ganz aufer- 
ordentlich fruchtbar an vollstümlichen Liedern geweſen. Erſt mit den 50er Jahren läßt ber 
Segen, und zwar gleich jehr bedeutend nad), um meiterbin, bis in unfere Tage, fait ganz zu 
verfiegen. Dies giebt zu denen und läßt recht Har erkennen, wie jehr dad Naive in der 
dichterifchen Produktion gefchtwunden. Denn dieſes allein, das behaupten wir, giebt dem Liebe 
die Bürgichaft auf Volkstümlichkelt. Aber auch aus den früheren Jahrhunderten bat der fleikige 
überaus belefene und ımermüdlich forfchende Verfaſſer manche Liebes-Autorfchaft, manchen 
Komponiiten vielgefungener Verſe aufgefpürt und manches, was frühere Forſchung verrüdt hatte, 
richtig geftellt, wenn auch, wie natürlich, die Quellen für diefe älteren Geſänge weit fpärlicher 
fließen und deshalb eine Aufllärung in manchen Fällen, trog aller Bemühungen, nicht erzielt 
werben konnte. Aber des Ermittelten iſt fo viel, daß fein Kommers- oder Lieberbuch-Deraus- 
geber fortan das Prahliche Buch übergehen fann: er wird ihm eine Fülle von FFeititellungen und 
Notizen zu verdanken haben, wenn er anders feiner Publikation die relativ höchſte Vollſtändigkeit 
geben will. Die Geſchichte diefer Lieder, ihrer Scidfale, Wandlungen, Verballhornung und 
Wiedergeburt, wie fie uns Prahl in feinen Anmerkungen erzählt, ift ſehr amüfant, intereflant 
und lehrreich, und macht allein jchon das hübfche, von der Verlagshandlung vornehm ausge» 
jtattete Buch zu einem höchſt lefenöwerten. Ein gutes Stüd Kulturgefchichte entrollt ſich dabei 
unferen Bliden. Und nicht ohne Staunen wird ber Laie vernehmen, tote biefes und jene an= 
geblich neue Liedchen fchon uralt, mie hier fich zwei, ja drei Perfönlichkeiten um die Autorfchaft 
eines Liedes jtreiten, wie ein alter ehrwürdiger Herr ſich als Verfaſſer eines vielgefungenen 
Kantus proflamiert, aber von der wumerbittlihen Forſchung mit feinem Anfpruche abgewleſen 
‚und ad absurdum geführt wird, wie andere wieder ihre Verfaſſerſchaft verſchämt verfteden ober 
gar abzuleugnen verfuchen und mie erbitterte Kämpfe um die Vaterfchaft einer Melodie ent- 
brennen. Auf 1350 Lieder und ihre Weifen erjtredt fich die Unterfuchung des Verfafjers, und es 
ift als merkwürdig hervorzuheben, daß, wie das Berzeichnis der Wort- und Tondichter biefer 
Lieder erweiſt, bier, wo es fich lediglich um Volkstümlichkeit handelt, unfere Poeten und 
Komponiften ganz anders rangieren wie ſonſt in den Litteratur- und Kunſtgeſchichtsbüchern. 
Manch einer, der fonit nur nebenbei mitläuft, hat bier eine erjte ober doch zweite Stelle und 
umgefehrt. Zwar jteht der große Wolfgang auch bier an der Spige (mit 51 Liedern); aber nicht 
ganz gerechterweife, mie wir glauben. Wenigitens jcheint eö uns zweifelhaft, ob Lieder, mie 
„Burgen mit hoben Mauern und Binnen‘, „Zwiſchen dem Alten, zwiſchen dem Neuen“ u. a. 
wirklich je vom Volk gefungen worden find, unzweifelhaft aber, dat fie heutzutage nicht mehr 
gejumgen werden. Hier bat wohl ein zwar begreiflicher, aber doch allzu hoher Reſpekt des Guten 
zu viel getban. Auch an den 52 Liedern (noch eines mehr dern Goethe!) Hoffmanns von 
Fallersleben ließe ſich mäfeln, obwohl dieſer unbejtreitbar zu ben im Bolfe meift gefungenen 
Dihtern zählt. Eine neue Auflage Fünnte wohl noch manches in der Sammlung vergefjene Lieb 
berüdfichtigen: „Es blinkt der Tau”, „eins Liebchen unter dem Rebendach“, „Wer hat das erfte 
Lied erdacht“, „Nähe nicht, lieb Mütterlein“ (der rote Sarafan), „Fiſcherin, du Heine”, „Herr 
Dietrich, der Ritter vom durftigen Stein” u. a. Georg Bötticher. 


Guftav Renner, Ahasver. Eine Dichtung. Verlag von Julius Werner, Leipzig. 

Eine jtarle Ausnahme⸗Erſcheinung in unferer heutigen Litteratur! Da iſt jeder Sat 
inneres Erlebnis, da find auf jeder Seite Gedanken und Bilder von Fräftigem und perfönlichen: 
Gepräge, da iſt Herzblut und Fünftlerifches ſowie fprachliches Können zugleich! Nenner hat ſich 
bereit3 durch feine „Gedichte“ und „Neuen Gedichte" (Selbftverlag: Wilmersdorf bei Berlin, 
Preußiſche Straße 8) einen geachteten Namen geihaffen. Er bat fi aus ſchweren Berhältniffen 
emporgearbeitet; viel bitter-ernfter Unterton klingt immer in feinem Weſen durch; aber alles in 
allem herrſcht vor ein männlicher und unfentimentaler Geift mit einem Zug ind Große. Die 
vorliegende Dichtung, teils lyriſch⸗epiſch, teils Iprifchedramatifch, faßt Ahasver als jenen trogigen 
und bewußten Diesfeitsmenfchen, der fih und die Menfchheit aus irdiſchem ſozialen Leid erlöfen 
will zu einer jelbitbewußten, erdbewußten Gemeinde. Ausgehend von Perufalem umfaßt bie 


478 Bücherfchau. 


Dichtung in gut gewählten Bildern und in bedeutjamer Gefamtlompofition den Entmwidelungs: 
kampf dieſes unjteten Ahasver, und mit ihm eines wefentlichen Stüdes Kultur, getaucht in eine 
oft büftersphantaftifche Stimmung, endigend in einem neuen Bethlehem. — Dem Bud) ift das 
vortrefflic; ausgeführte Bild des Berfaſſers beigegeben. Wir wmünſchen ſehr, daß folche ernften 
und einfamen Talente von Renners Art endlich wieder zu Worte kommen. —). 


Erait Wachler, Schiefiihe Brautfahrt. Schaufpiel in 5 Akten. Berlin, Verlag von G. H. Meyer. 

Friſch und edel, von ſchönen und weiten Geſichtspunkten fpricht bier deutſcher Geiſt ein 
poeſievolles Einigungsmwort zu den öfterreichifchen Deutichen hinüber. Das Stüd ift in Jamben 
geichrieben von einer wohltbuenden Natürlichkeit, die es jtreng vermeidet, fi vom Vers tragen 
zu laffen und in bloßer Schönreberei zu gleiten. Ein Sohn des fchlefifchepreußifchen Geſchlechtes 
der Donun kommt unbetannt in das feindliche Haus der, öfterreichtich und katholiſch geitimmten, 
böhmifchen Donyns; es iſt da ein günftiger alter Freiherr, es iſt da ein Tüchterlein Giſela, es 
ift da auch ein werbender Tſcheche — kurz, zu menſchlich und volktspfuchologiich bebeutfamen 
Berwidelungen ift Anlaß genug. Aber alles verläuft behaglich: der fchlefiiche Donyn gewinnt 
Herz und Hand der Dejterreicherin. Das fit in ungefährer Andentung der Inhalt. Wie man 


fieht, ein überaus zeitgemäßer Stoff, Heimatkunſt im edlen Sinne des Wortes. —d. 
A. Einz-Godin, „Dora Reval.“ Erzählung für junge Mädchen. Berlag von Guſtav Weiſe, 
Stuttgart. 


Die vortrefflihe Märchenerzählerin und Freundin der Zugend giebt in diefem meuen 
Werke für junge Mädchen eine umfangreiche Novelle, die auch der Erwachſene mit Luſt und 
Forderung lefen wird. Im Grunde eine einfache Geſchichte, aber fo glüdlich komponiert und _ 
fo vortrefflich erzählt, jo voll warmen und reichen Lebens, die verfchiedenartigen Perjönlichkeiten 
in ihrer gegenfeitigen Einwirkung auf einander fo plaftiich und lebendig dargeftellt, dat fich ber 
Lefer faum der Einfachheit der Handlung bewußt wird. Eine reiche Lebenserfahrung, ein edler 
hoher Sinn fprechen aus dem lieben Buche, deifen Lektüre für feine jugendlichen Leſerinnen 
gewiß nicht ohne tieferen Nuten für ihr Gemütsleben bleiben wird. Karl Emmrid. 


Otto Felfing, „Gert Tanlien’s China - Fahrten.‘ Reiſe⸗ und Sriegserlebnifie eines jungen 
Deutihen. München, Verlag von J. F. Lehmanır. 

Diefem 14. Bande von Julius Lohmeyers,Vaterländiſcher Jugendbbücheret” hat ber 
BVerfafler eine bemerkens⸗ und befolgenswerte Borrede vorangeftellt. Er verlangt darin kurz— 
weg für bie reifere Jugend eine ganz andere Art von Büchern, als die übergroße Mehrzahl der 
bisher für fie gefchriebenen ift, nämlich Werke, welche die Erwachſenen ebenfo intereffieren jollen 
wie die reifere Nugend. Bücher, die vom gereiften Menſchen nicht mit berechtigter Mißachtung 
bei feite gefchoben werden follen. Es märe in der That vom litterarifchen wie pädagogifchen 
Standpunkte aus „ein Ziel, aufs Innigſte zu münfchen“, wenn ber Haffende Riß zwifchen der 
„Litteratur” für die reifere (Jugend und der für das Publitum im allgemeinen endlich auöges 
füllt würde durch Werke, an denen die ‚jungen wie die Alten ihr Genüge haben könnten, durch 
„wirkliche Litteratur”, alfo auch für die Jugend. Was an diefen Werdenden unſeres Volks 
gefündigt wird durch eine „nur für die Jugend“ zurechtgemachte unlitterarifche Pitteratur — — 
wir willen es alle! Daher iſt e8 an ſich jchon ein Verdienſt, da der Verfaſſer diefer „Ehina- 
Fahrten“ jo Hipp und Har auf eine neue Bahn hinweiit, ein neues Ziel vor all denen aufs 
richtet, die Bücher für die reifere Jugend fchreiben, mie all denen, die welche kaufen mollen! 
Denn was hüffen felbjt die beiten Bücher, wenn fie nicht gekauft werden! Das Publikum 
muß dad Ziel erkennen; an ihm iſt es, allmählich das unter der Flagge „Jugendlitteratur“ 
gebende, oft mittelmäßige, noch dfter jammerbafte Zeug zu erſetzen durd) Bücher, die ihren 
Wert auch dann behalten, ja gefteigert zeigen, wenn der jugendliche Befiger ein Yabrzehnt älter 
geivorben ift. Wenn fich nur die Käufer dafür finden, bie Schriftjteller dafür haben ſich ſchon vielfach 
gefunden, u. a. in Lohmeyers „Batertändifher Bücherei”! — Was mın im befonderen 
Felfings „Chinas Fahrten” anbelangt, vie erfichtlich von einem Manne gefchrieben find, der bieje 


Bücherſchau—. 479 


Fahrten zu Waſſer wie zu Lande ſelber unternommen bat, jo iſt das ein außerordentlich inter— 
eſſantes Buch; ſogar für den, der „China ſchon über hat“. Es gipfelt natürlich in der Dar— 
ſtellung des letzten Chinakrieges, giebt aber nicht nur einen für jung und alt höchſt anziehen— 
den, gerabezu dramatiſch lebendigen zeitgenöſſiſchen Roman („ohne Liebe”) auf dieſem Kriegs— 
untergrunde, fondern auch, was viel mehr iſt, eine mit erjtaunlicher Detailfülle ausgeitattete, 
aus ber „Handlung“ herborquellende Darjtellung von Land und Leuten in Ebina, Eingeborenen 
und Fremden. Wer diejes Bud; lieft, erfennt — oft in atemlofer Spannung — mie die große 
Gewitterwolke dräuender und bräuender beranzieht umd wie fie fich endlich über der Ebene von 
Berichili mit der Notwendigkeit eines gemaltigen Narurereignifjes entladen mußte. Der Vejer 
macht dabei die Bekanntſchaft einer Menge fcharfgezeichneter PBerfonen, darüber hinaus aber die 
des eigentlichen chinejifchen Volkes im Thun und Denken, Arbeiten und Handeln. Und 
das iſt es, was den bleibenden und jich jteigernden Wert des Felſingſchen „Jugendbuches“ aus 
macht: denn erjt jebt eigentlich beginnt unjere „Beziehung zu China”; die junge Generation 
der alten Kulturwelt wird weit mehr und twichtigeres mit China zu fchaffer haben als wir, — 
und aus diefem Buche kann fic in der That, wie da8 Vorwort jagt, „Ehina kennen lernen, 
wie es iſt, zu einer Zeit, wo Deutjchland und die ihm verbünbdeten Nationen mit dem 
Schwerte das erfte Thor brachen in die geiftige Grohe Mauer des Altchinefentums. Es ift 
ein Buch, das die Jugend entflammen und belehren, die gereiften Leſer von der erjten bis zur 
legten Beile interejjieren muß. — Daß biefes 30 Drudbogen ſtarke Werk trefflich ausgejtattet ift 
— es enthält außer vielen Pollbildern und Zeichnungen des fenntnisreichen und talentvollen 
Malers U. Hoffmann in Münden eine große Anzahl von Reproduktionen nach Originale 
photographieen — bedarf bei einem Buche des trefflichen Verlages %. 5. Vehmann in München 
faum einer befonderen Hervorhebung. Dr. Otto Conrad. 


Unter dem Dreizack. Neues Marine und Kolonialbuch für Jung und Alt. Herausgegeben von 
Julius Lohmeyer. Berlag von Velhagen & Klaſing, Bielefeld u. Leipzig. 

Wenn ein deutfchgefinnter Mann einem Buche wünfchen möchte, daß es unter jedem 
Welhnachtsbaume liegen ſollte, fo gälte diefer Wunfc gewiß dem „Dreizad"! Es wäre 
das ein Feſtgeſchenk für die ganze Familie, derm es handelt ſich hier in Wahrheit um ein 
Marine und Kolonialbuch „Für jung und alt’; jeder Leſer, auch die Leferin findet in diejem 
höchſt ftattlichen, mit einer Menge Zeichnungen, farbigen Bildern und Frarbentafeln ausge: 
ftatteten, nahezu 500 Seiten umfaflenden Werfe eine Fülle des Intereſſanten, Unterhaltung 
und Belehrung. Aber nicht das ft es, was den eigentlichen Wert diefes Buches ausmacht; 
der liegt vielmehr darin, daß es den Leſer fürmlich umſchlingt mit der Liebe zum Meere, die in 
dem Buche lebt und webt, daß es uns vertraut macht mit dem Waſſer, auf dem in Wahrheit 
„unfere Zukunft liegt“, uns zeigt, mit welch’ entſchloſſenem Willen fchon die jegige Generation 
daran arbeitet, uns das Meer untertban zu machen, uns verdeutlicht, was jchon geichaffen und 
erworben, und ſehen läßt, um mie viel uns bie anderen großen Bölfer darin ſchon zuvorge— 
fommen find! Und das wird nicht etwa im bdozierenden Tone vorgetragen; nein, in leichter, 
aber darum doch fehr gehaltvoller Plaubderei belehren die einen unter den Mitarbeitern, in 
Form ber Rüderinnerung an vergangene Tage jchildern die andern, die nämlich, die felber 
mit haben fchaffen und erwerben helfen, was wir auf dem Meere an Schiffen, jenfeitö bes 
Meeres an Belitungen haben! Wie auf den „beutichen Schiffswerften“ gearbeitet wird, be= 
richtet Lehmann⸗Felskowski, vom „Hochieepanzer und feinem Gefolge" Ernſt Förfter, wie und 
mit Hilfe welcher Inftrumente der Seemann über den pfadlofen Ozean findet, ſchildert 
Dr. Schulze-Lübeck — der ſelbſt einſt Seemann war und nun Seeleute ausbildet ald Direktor 
der Lübecker Navigationsfhule —, und wie die Schiffe unter fich auf See oder nach dem Lande 
zu „reden“ mittels der Flaggenſprache, das erzählt unter Heranziehung vieler eigener Erlebniſſe 
aus ihren Fahrten um den Erdball die frühere Hapıtänsgattin Helene Pichler-Felſing, deren 
Darlegung des Syſtems wie der Geſchichte der Flaggenſprache die PVerlagshandlung eine 
farbige Flaggentafel, ſowie 24 Illuſtrationen in Farbendruck beigegeben hat. Eine bildlich ver- 
anfhaulichte Statiftif giebt das Verhältnis von Deutichlands Sriegsflotie, Schiffahrt und See 


480 Bücerfchau. 


handel im Vergleich zu den der anderen Staaten. Wie fi Leben und Treiben an Bord ab» 
ſpielt, das ſchildert flott und friſch John Wilmers; die Laufbahn des Seeoffizierd und die des 
„Marine⸗ Ingenieurs“ wird dargeftellt, das fegensreiche Wirken ber „Deutfchen Gefellfchaft zur 
Rettung Schiffbrüchiger“ kommt in Form einer Babeplauberei von Otto Felfing unter dem 
Titel „2717, Menjchen gerettet” zur Darjtellung; furzum, wenn man noch binzufügt, da unfere 
Lyriker, wie 3. B. Julius Wolff, Felix Dahn, Graf Bernitorff und Prinz Emil Schönaidh- 
Garolatb, Reinhold Fuchs und Karl Bulle, Julius Lohmeyer, dad Meer und das Leben auf 
bem Meere bejingen, dat; Eugenie Rofenberger mit einer Novelle „Jens Tillers“ und Helene 
Pichler zelfing mit einer Schiffsjungengefchichte „Der Tugendipiegel” uns das Leben an Bord 
ber Kauffahrer lebendig vor Augen jtellen, Baul Dehn das Reifen zur See in unferen großen 
Dzennpafjagierdbampfern behandelt und auch ber Segelfport jeine Daritellung findet — — je 
muß man zugeben, daß das Yeben auf dem Meere kaum eingehender zur Beranſchaulichung 
fommen fonnte! Wber aud das Leben des Meeres felber findet feine Würdigung: ein reich 
illuftrierter Artikel jchildert das Meeresleben „an ber Schwelle des Nordpols”, und das rätfel- 
baftefte Meergefchöpf wird in einem ebenfalls iluftrierten Artikel „biftorifch” behandelt, wenn⸗ 
gleih ... . feine Exiſtenz noch nicht einmal zweifellos erwieſen ift: die „große Seeſchlange“! 
&o iſt denn dem Leſer das Meer nach allen Richtungen bin im „Dreizad” nahe gebracht, und 
nicht minder anziehend, ja oft mit glänzenden Farben mird vom Yeben jenfeits des Ozeans, in 
den jungen deutichen SKolonieen erzählt, wo immer Deutichland feinen „Bla an der Sonne“ 
endlich einzunehmen trachtet. So bat P. F. Norbenfel® die Thaten umferer twaderen blauen 
Jungen unb bes ojtafiatiichen Erpeditionstorps bei der Eroberung Tientfins wie die Befreiung 
ber Pelinger Eingeichloffenen in einer lebendig gehaltenen Erzählung „Nur ein Ehinefenjunge” 
behandelt, jo erzählt 9. v. Wilimann aus oftafrilantichen Kampfestagen den Tob des Stabö- 
arztes Schmelzkopf, U. Leue die „Safari” (oftafrilanliche Karamanenreife) und die ehrenvolle 
„Niederlage“ einer Erpebition gegen die Mafiti: Graf Pfeil fchildert einen Reifetag im ſüdweſt⸗ 
afrilanifhen Ochfenwagen, Seidel die „Sötterlaunen” (und das Prieftergefindel!) im Togolande, 
während Reinhold Werner eine Jagd auf Sklavenfahrer, Dr. Finſch, dem Deutjchland einen 
zufunftsreichen Befig in der Südfee verdankt, von feinem nach Europa gebraditen Schüßling 
Tapinowanne Torondoluan erzählt und uns Julius Stinde in einer Humoreste das Strand« 
volf fchildert. Füge ich, um die Liite nicht gar zu lang zu machen, nur noch hinzu, daß das 
Bud; auch eine mit fehr Haren Karten verfehene Ueberficht der deutichen Kolonieen am Beginn 
bed 2. Jahrhunderts enthält und daß es tlluftrativ geradezu glänzend ausgeftattet iſt, fo kann 
das Endurteil nur lauten: Der „Dreizad” ijt ein Buch, wie wir noch feines hatten, es lit „das“ 
uns bislang fehlende Flotten⸗ und Kolonialbuch für unfere Jugend. Dr. € ©. Fels. 


Chodowicki und Lichtenberg. Daniel Chodowieckis Monatskupfer zum „Göttinger Tafchen- 
Kalender” nebft Georg Chriftoph Lichtenbergs Erklärungen. Mit einer kunſt- und litterar- 
gefchichtlichen Einleitung, herausgegeben von Dr. Rudolt Foke, Oberbibliothelar an der 
föniglichen Univerfitätsbibliothet zu Greifswald. 1778—1788. Leipzig. Dieterichiche Berlags- 
buchhandlung (Theodor Weiher). 

Höchit intereffantes Denkmal aus dem Gebiete ber deutfchen Kunſt und ber deutſchen 
Litteratur des achtzehnten Jahrhunderts. Sie bilder eine wejentliche Ergänzung jomohl zu den 
bisherigen Vervielfältigungen Chodowieckiſcher Werke, ald auch zu den Ausgaben der Schriften 
Lichtenbergs. 











Deuerichienene Bucher für die Bücderichau bitten wir an die Derlagsbuchhandiung einienden zu 
wollen. Beiprehungen behält ih die Redaktion vor. 


Uahdrud verboten. — Alle Rechte, insbefondere das der Heberfegung, vorbehalten. 











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Berlag von Alexander Duncker, Berlin W.35. — Druck von 9. S. Hermann in Berlin. 
frär bie Redaktion verantwertfid: Dr. Julius Bobmener, Berlin» Gharlottenburg. 


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der Kenntniffe über uniere und fremde 
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waltige Idee verwirklicht: die Entwicklung und Industrie geht hier in mächtig leben- 
des Menschengeschlechts, in welthistorischen — dem Auge des Beschauers 
Perioden aufgefasst, zur Darstellung zu Ein Gesamtbild der Kulturgeschichte 
Yeiasens der Menschheit, wie es der Buchstabe dar- 

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Alexander Dunder, Verlag, Berlin W.35, Lükowsir. a3. 








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Deutfche Monatsichrift 


für dassesamteLeben der Gegenwart 










HERAUSGEGEBEN Vor 
JULIUS LORMEYER 





BERLIN 
| VERLAG VnALEXANDER DUNCKER 





Jahrgang 1901/2. Inhalt des Fanuarheftes. Heft A. 


Deutſche Monatsichrift 


für das geiamte keben der Gegenwart. 
Berausgegeben von YJullus kLohmeyer. 





Seite 


keitiprud von Gerzog Johann Albredtvon Mecklenburg: Mahnrufan Jung-Deutihland 481 


Wilhelm Jensen: Der Tag von Stralsund. Ein Bild aus der Bansezelt . » . : 481 
Ausiprühe aus dem „Goldenen Bud“ . . : 2: 2 2 nee ren 510, 575 und 582 
Friedrih Birth: China Im Zeichen des Forischrittes - » + + 2 nn ne nenne 511 
Karl Dove; Totensonntag am Meere. . © 2 2 20 m Er rn 535 
M. Wilhelm Meyer: Die gemeiniamen Züge Im Weltenbau (Schluhhß. 536 
Ribert Klein: Kaisers Geburtstag auf Fheeee.. 548 
Frig kienhard: Perlönlickelt und Kultur. © 2 20 0 0 m m nenn 549 
9. Trojan: Weihnactserinnerung- - > = 200 m m m rn 553 
Freiherr ©. von Zedlitz und Neukirdi: Zolltarif und Reichssteuerreform . » x»... 554 
Auipruche Blemachs ı - 0 00000000 568 
Karl Peters: Die Weltitellung Englands - » > » 2 2 un 2 nn en een 569 
W. von Maliow: Deutikhes Land und polniihe Flut — — 376 
5. von Wißmann: Meine Kämpfe In Ostafrika. III. Das Gefecht gegen Sunda . . . . 583 
Aphorismen von Wilhelm von Polenz . . 2 2 2 20 m nn nn 5% 
Theodor Schiemann: Die auswärtige Politik Im Jahre WI . x» 2» 2 2 an nenn 591 
W. von Maliow: Monatsichau über Innere deutihe Poliik. » © 2 2 2 2 en nn ana 5% 
Pay! Dehn: Weltwirtihaftlihe Umkhau - - 2 2 2 2 2 nun nn 604 
Paul Dehn: Deutichtum Im Huslande.. — 613 
Carl Bulle: Istterarikhe Monatberictte. IV. . . . . a ee ee een ee en ———— 618 
Epigramme von S. Kagerloß - » - 2 2 2 0 0 0 u 1 e a ı I E 0 a 625 
Max Marteriteig: Dom deutihen Theater. II. » 2» 2 0 0 u mr en nen 626 
Leopold Schmidt: Mulikalikhe Rundihau. II, 2 2200 m nn — 634 


Büdericau von Friedrih Raßel, Karl Berger, F, klenhard, H. Schurß, Eduard Geyk, 
Sermann von Blomberg, Oskar Weißenfels, Martinus, Sans Schliepmann, 
Victor Blüthgen, 


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zu Beginn jeden Monats. Der Abonnementspreis beträgt: 

vierteljährlict im deutichen und Öölterr.-ungar. Poitgebiet . . . . Mk. 5,— 
er im Weltpoitvereins-Gebit . . 2: v2 2 2 0 20 635 
jährlicdı im deutichen und öfterr.-ungar. Poftgebiet . » 2 2 22 u 9, - 
„ Im Weltpoitvereins-Gebiet . » : 2: 2 2 2 nr ar 25— 
Der Preis einzelner Seite Mk. 2,—; im Weltpoitvereins-Gebiet „ 2,50 
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und Auslandes, die Poitanitalten (Poltzeitungsliite für 1901 Ilo. 18464) oder die 

Expedition, Alexander Dunder, Berlin W. 35, Lüßowitr. 43. Prospekte gratis. 


Mahbnrufan Jung-Deutjchland, 


Wil du deinem Vaterlande wahrbaft treu und nunbringend dienen, 
ſo achte und liebe vor allem deines Volkes Sitte und Eigenart; lerne feine 
groben Eigenjchaften und Vorzüge verfieben. 

Auf diefer Grundlage betrachte nüchtern und unbelangen die Uölker 
der Erde in dem, was fie für fich geleitet haben und was [ie für uns 
leiten können, verachte fie michi, aber erniedrige dich auch nicht vor ihnen 
und dir felbft, indem du ihnen nmachäffft. Lerne von ihren guten und 
fchlechten Erlabrungen zum Nuten der eigenen Heimat. Im ihr, In deinem 
eigenen Volkstum gründe fejt dein innerltes Sein und gewinne dir [teis 
neue Lebenskralt, um an deinem Celle zur Erhaltung und Entwicelung 
deiner geiftigen Schäne deines befonderen Stammes beizutragen, aber fteis 
im Binblik aut die gejegnete Entfaltung aller Kräfte des gemeinfamen 
deutfchen Vaterlandes. 

Schwerin, im Januar 1899. 

Johann Albrecht, Aerzog zu Mecklenburg. 
Aus dem „Goldenen Buch“. 





Der Tag von Stralfund. 


Ein Bild aus der Banlezeit* von 
Wilhelm 3ensen. 


$: den letten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts fieht die ſkandinaviſche Welt 
eine Frau von überragenden Geift und ungewöhnlicher weiblicher Thatkraft. 
Waldemar Atterdag hat zwei Töchter, Ingeborg und Margarete hinterlafjen, die 
erfte, ältere ift mit dem Herzog Heinrich von Medlenburg, die zweite mit dem 
König Hakon von Norivegen vermählt. So fällt rechtgemäß dem Sohne Inge— 
borg3 die Thronfolge in Dänemark zu, doc) ihre jüngere Schwefter handelt mit 
rüdjichtslofer fchneller Energie und gewinnt für ihr fünfjähriges Söhnlein Olaf 
die dänifche Krone. Dies Ziel erreicht fie durch die mächtige Unterftügung der 
Danfa, die, von den ihr gemachten vorteilhaften Verſprechungen vorbedadtlos 
verblendet, ihr Beihülfe leiſtet. Nach dem Tode jeines Baters ift Dlaf König 
von Norwegen und Dänemarf, für den unmündigen Snaben führt feine Mutter 








* Die Weltgefchichte iſt ein ſeltſames Buch, zugleich von unerfchöpflidhem und von einfachem 
Inhalt. Wuf jeder feiner zahllofen Seiten bringt c8 Neues, zuvor noch nicht Geweſenes, und 
bod) wiederholt es auch immer nur Altes, jchon früher Geſchehenes. Seine Berichte find mehr 
trübe als freudig, dienen dem Leſenden feltener zu einer Emporhebung, als zu einer Bebrüdung 
bes Gemüts. Nicht Häufig erfüllen fie ihn mit einem Stolzgefühl, der Menfchbeit anzugebören, 
von deren Trachten und Thun das Buch Zeugnis ablegt. Denn kaum findet fich ein Blatt darin, 
das nicht mit Blutfleden bebedt wäre. So meit Ueberlieferungen zurüdreichen, verfünden fie 
nleihmäßig bei allen Völlern der Erde, den geiſtig vorgefchrittenen, wie den niebrigititebenben, 
wenig von einem goldenen Beitalter des Friedens, der Eintracht und Freundſchaft, genügfamer, 
geredhter und menfchlicher Sinnesart. Faſt überall vernehmen wir nur von eiferner Zeit unter- 
laßloſer Kämpfe und Kriege, der Gemwaltthat, Herrſchſucht und Willfür, des Haſſes, der Habgier 
und Grauſamkelt. In ftille Verborgenheit bes Einzelbafeins zieht das Edlere, dad Milde und 
Schöne ſich zurüd; auf der weiten Schaubühne des Lebens toben mit feltener Unterbrechung bie 
Amtetracht, der Streit, von ber Eigenfucht erzeugt und die Rohheit nährend. 


31 


442 Wilhelm Kenfen, Der Tag von Stralfund. 


die Herrichaft. Noch kaum jechzehnjährig aber jtirbt er, und unmittelbar danach 
wird die bisherige ftellvertretende Negentin nicht nur zur Königin von Nortvegen, 
auch zur „Fürftin des Neiches Dänemark” erwählt. 

Eine mit dem König Albrecht von Schweden zerfallene ftarfe Mdelspartei 
ruft fie gegen diefen zum Beiſtand über den Sund und jagt ihr auch die ſchwe— 
diiche Krone zu. Nafch folgt fie der Aufforderung, das Kriegsglüd ift ihr günftig, 
und im Jahre 1389 vereinigt fie in ihrer Hand die Herrichaft über ſämtliche 
drei ſkandinaviſchen Reiche. Ahr mannhaft fühnes Wejen damit bezeichnend, 
giebt man ihr dort den Beinamen „Margarete Sprengeheit”, im übrigen Europa 
benennt man fie die „Semiramis des Nordens". Die deutihe Hanſa hat einen 
gewaltigen, nicht wieder wett zu machenden Fehlgriff begangen, daß fie in den 
Pündern ihrer Hauptgegner die Vereinigung der drei Kronen auf einem Haupt 
nicht nur geduldet, ſondern ſelbſt dazu behülflich gewejen ift. 

Um diefe Zeit fpielt, ummeit von der Hanſeſtadt Rügenwalde im üftlichen 
Pommerlande, mandjmal am einiamen Oſtſeeſtrand ein jiebenjähriger Knabe mit 
farbigen Steinen und Mufcheln, die ihm die Wellen vor die Füße jpülen. Er 
wandert dorthin von einer nah der Hüfte belegenen Burg, die, obwohl von Wall 
und Graben umgeben, mehr nur einer großen ländlichen Hofftätte gleicht als 
einem fürſtlichen Schloß, obwohl der Herzog Wratislam von Pommern:Wolgaft 
drin hauft, der Pater des Eleinen Snaben. 

Dieſem bläft der Seewind dunfelbraunes Daargelod um die Schläfen, zu- 
weilen läßt er von feinem Spieltreiben ab und ſieht eine Zeitlang unbeweglich 
aus großaufgeweiteten, hell und jcharfgeiternten Augen über die uferlofe Waſſer— 
fläche bin; in feinen Zügen liegt dann ein horchender Ausdrud, als laufche er 
auf eiwas durch die Luft über die See Herfommended. Doch gemeinigli nur 
immer das Gleiche iſt's: Summen des Windes und ein leis fingender Ton der 
Wellen. Nur wenn der Sturm von Norden her brauft, wirft er zornig vaujchende 


Lernen wir etwas aus ber Betrachtung diejer Weltgefchichte, oder führt jie ums mur 
millionenfache Auftritte eines ſinnlos vertvorrenen Pärmftüdes vorüber? Faſt will's fo ericheinen, 
daß die Nachfolger äußerſt geringen Erfahrungsnugen aus der Dinterlafienfchaft ihrer Vorgänger 
siehen. Bei allen Wandlungen der Seiten bleiben die Bedingungen des Menfchheitlebend die 
nänlichen, und aus ihnen ermachfen die gleichen Triebe und Thaten. Einen Bejferungsvorfchritt 
haben die letten Jahrhunderte wenigitens in der Mehrzahl der Yänder Europas, die ſich 
„Rulturländer” benennen, gebracht, innerhalb beöfelben Volles den mittelalterlidhen Kämpfen 
aller gegen alle ein Ende geſetzt. Daß es möglich fei, dem Drängen dev felbftändigen Völker 
wider einander jemals durch Schiedsfprüche ein gleiches Ende zu bereiten, ijt eine Thorbeit, die 
nur in einfichtslofen Köpfen ihr Eindliches Wefen treiben Fan. 

Tenn Eines lernen wir doch ald unabänderlich aus der Weltgefchichte, die Wahrheit des 
Ausſpruchs Spinozas: „Unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valet“. Dem 
verlieh der große Friedrich mit anderem Wort Musdrud, als ev feinen Kanonen die Inſchrift 
eingraben ließ: „Ultima ratio regis*; in unferen Tagen würden wir fie in „Ultima ratio 
nasionis“ umwandeln. Die Gefchichte lehrt, daß es ſtets fo mar, als eine Naturnotwendigfeit, 
die man beffagen, doch nicht ändern lann, jo iſt amd in alfer Zukunft fo bleiben wird. Prägen 


Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 483 


und fnatternde Wogen ans Ufer; das ſind Stimmen des Aufruhrs, die den 
Horchenden wie in einem Bann zu felleln fcheinen. Er mag fühlen, daß der 
mwütende Nord ihm wie mit Dorngerten ins Geficht peitfcht, daß die Eochende 
See Gicht und Schaum bis über feine Kniee herauffchleudert, doch er achtet nicht 
darauf, es thut ihm wohl, und ein Funkeln fprüht zwilchen jeinen Lidern, als 
höre er jett das, wonad) fein Ohr ſich geipannt. 

Ein ungewöhnlich ſchöner Knabe iſt's, mit eigenartigem, kühnem Schnitt des 
Antliges, drin die Mugen ſich unter eine ftark vorgewölbte Stirn zurüdziehen, 
bei dem Sinde jchon von einem jchweren Bogen dichter, Schwarzer Brauen über: 
ſchattet. Bald um ein Kahrhundert zuvor hat drüben jenfeits der Dftiee der 
Strand ber Inſel Seeland das nämliche Knabenbild gewahrt, gleich und doch 
verjchieden. E3 hat auch fo mit Mufcheln und Steinen gefpielt, auch mit folchen 
Augen und Zügen aufs Meer binausgeblidt, doch nicht mit dunfel umrahmten, 
denn König Waldemar Atterdag hatte däniſch blondes Haar. Sonſt aber gleicht 
ihm auffällig fein Nachkomme, der Enkel feiner älteften Tochter, der fchönen 
Ingeborg, Eric von Pommern. Nur hat bei diejem fid) das „wendiſche“ Blut 
der alten pommerſchen Fürften binzugefellt, fein anderer Ahnherr Swantibor, der 
beidnifche wilde Todfeind des Chriftentums, ihm das dunkle Sceitelgelod über: 
madt. Das erhöht die Snabenichönheit Erich von Bommern noch über die 
weitberufene, alle Frauenaugen bezwingende feines däniſchen Urältervaters hinaus. 

Er ift ein Fürſtenſohn, doch nicht von fürſtlichem Prunk und Reichtum um— 
geben, die jchmudlofe Burg bei Rügenwalde bezeugt'3. Trotz einen ausgedehnten 
Landgebiet find die Herzöge von Pommern-Wolgaft, unter brandenburgijcher 
Lehnshoheit ftehend, nur karg geftellt, durch unglüdliche Fehden mit ftreitbaren 
Nachbarn herabgefommen; im Annern troßt ihnen auffäffiger Adel hinter feftem 
Gemäuer, und noch mehr thun's die faſt ausnahmslos dem Hanfabund beigetre- 


auch die Kulturvöller ihrem Staatsgebäude die goldene Inſchrift auf: Jus fandamentum eivi- 
tatis, die Gefchichte aller Zeiten, und nicht am twenigften die der meneiten lehrt, daß zwiſchen 
Bölkern einzig die Kraft das Recht behauptet. 





* 


— 

So ſahen auch die erſten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts faſt alle Länder Europas von 
Stürmen und Ungewittern übertobt, in manchem noch wilderer Art, als das vergangene fie 
nefannt. Im Weiten marf der König Heinrich V. von England feine Heermaſſen über den 
anal, dem jchwadhfinnigen König Karl VI. von Frankreich Krone und Reich zu entreißen; 
jahrelang durchwütete und verwüſtete der Krieg die franzöfiichen Yande. In Heinerem Maße 
vollbrachte gleiches der Herzog von Burgund, „Philipp der Gute” benannt, bemächtigte ſich 
gewaltfam der Bejittümer Jacobäas von Bolland, trennte dies, den Hennegau und Luremburg, 
alte deutiche Lande, vom deutichen Reich ab, das bald danach auch das Herzogtum Lothringei 
an einen Verwandten des franzöfifchen Königshauſes verlor. Eroberungsſucht und Beutegier 
ſchwangen von den Thronen herab die Brandfadel über Städte und Erntefelder; neben dem im 
Tageslicht fich rotfärbenden Schwert des Soldfnechts fchlic im Dunkel dev Dolch des Mteuchel- 
mörderg, von Fürſten genen Fürſten abgefandt. Die Blutthaten der Hochſtehenden verzeichnete 


317 


484 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Straltund. 


Greifswald gehören. Sid) das reichsfreie Kübel zum Vorbild nehmend, erhöhen 
fie in immer wachſendem Maße ihre Selbftändigfeit, verfagen dem Landesherrn 
die Steuern, verfchließen ihm nad Gutdünfen ihre Thore. Dieſe Unbotmäßigkeit 
muß er ſchweigend dulden, zu einem Kampf mit der Macht der Hanfa reichen 
feine Kräfte weitaus nicht bin. Der Herzog von Pommern:Wolgaft führt in 
feinem Lande nur eine Scheinherrichaft, feine wirkliche. 

Das weiß oder fühlt der am Strand fpielende Knabe. Auch auf die Rede— 
führung in feiner Väterburg bat er mit frühreifem Verſtändnis gehorcht, weiß, 
daß er ein Nachkomme des großen Waldemar Atterdag ift und daß nad) feiner 
Abkunft rechtmäßig die Königskrone von Dänemark ihm gehört hätte, nicht feinem 
Better Dlaf von Norwegen. Aber die dudefche Hanfa hat diefem zu ihr verholfen. 

Nicht nur das Äußere Bild des Königs Waldemar bat die Blutserbichaft 
in dem Knaben Erich von Pommern wiederholt, aud das innere Weſen desjelben 
hat fie ihm mitgegeben. Seine pommerſchen Vätervorfahren lafjen ihn gleich— 
gültig, er fühlt ſich als ein Sproß feines mütterlihen Ahnherrn, deſſen Bild 
immer bor der Borftellung feiner Augen und Gedanken fteht. Begehrlid) Taufcht 
er, wenn von diefem gejprochen wird, von dem unfchredbaren Mut, der Tapfer: 
feit und verfchlagenen Klugheit, dem hochfahrenden Königsftolz Waldemars; von 
feiner beherrichenden Macht im ganzen Norden, feinem Sturz und Untergang, 
jeiner Berjagung von Thron und Neid. Das hat die dudeſche Hanſa gethan. 

In der Bruft feines Urenkels lodert, von Jahr zu Jahr ftärfer genährt, ein 
ohnmädhtiger tiefer Grimm gegen die dudeſche Hanſa. Bor allem ein wilder Haß 
gegen feines Vaters Stadt Stralfund. Sie hat mit Lübeck zufammen am meiften 
die Erniedrigung des großen Dänenfönigs ind Werk gefett, und fie ift’3, bon der 
er täglich hört, daß fie, auf ihre Mauern und Wehrbürger, ihre Stellung im 
Städtebund und ihren Reichtum pochend, am trogigiten, faft mit unbemänteltem 
Hohn die Gebote ihres Oberherrn mißachtet. Die Welt hat fich verwandelt jeit 


die Gefchichte, den Untergang und Jammer der Niedrigen begrub fie mie immer unter dem 
Bahrtuch des Schweigens und der Vergeſſenheit. 

Eine Zeit der tiefiten Schwäche des „Seiligen römifchen Reichs deutſcher Nation“ iſt's, von 
den Namen ber drei Kaiſer Wenzel, Ruprecht von der Pfalz und Sigismund gekennzeichnet. 
Die Ffatferlihe Macht bat fich zur Ohnmacht, zum Spott und Spielzeug ihrer Gegner vers 
wandelt, ber Eleinen, wie der großen. Im Innern des Reiches fpracdhen ihr Hunderte von un— 
botfamen Kurfürften, Herzögen, Grafen, Bifchöfen und Herren aller Arten Hohn, ſich bald fo, 
bald jo untereinander und gegeneinander verbündend. in rajtlofen Kämpfen unterliegt ber 
Schwächere, erbeutet der Stärfere Gewinn; als felbjtwerftändlich fiebt die Zeit es an. Denn 
ber „Yandfrieden” ſteht als Satung nur auf dem Blatt, überall fehlt die Kraft, ihm Geltung 
zu erzwingen. Sowohl dem Großen gegenüber, wie dem Heinen Fauſtritter, dem gemeinen 
Buſchklepper. Wie auf den Schlachtfeldern entfcheiden auch auf den Straßen und Wegen nur 
die bejieren Waffen, behüten ben einzelnen vor Ueberfall und Raub. Das Recht hängt allein 
von ber Kraft ab; Hilf dir felbit! ift der Wahlfpruch aller. 

Bon außen ber drohen die Türfen, freien unterlaßlos am ſiechen Körper des Neichs, 
beilen Heerfräfte angleich mehrfach in der lombarbifchen Ebene ihr Grab finden. Doch das 


Wilhelm Aenfen, Der Tag von Straliund. 485 


den Tagen, in denen Waldemar mit ftolzer Beratung auf die „Peberſwende“ 
berabgeblidt, jest zuden die Pfeffergefellen geringihäßig über die Fürſten ihre 
Schultern. Sn dem Knaben Erid; von Pommern jchwillt und kocht das Blut 
feine Urältervaters gegen den „gemeinen Kaufmann“ auf bei der einbildnerischen 
Borftellung, an den Städtebürgern, der dudeſchen Hanfa, der Stadt Stralfund 
Rache üben zu können. 

König Waldemar hat feinen Beinamen nad einem oft von ihm im Munde 
geführten Wort erhalten: „Morgen ift wieder — atter — ein Tag"; ein Tag, 
deffen Kluge Benutung zu ftande bringen wird, was heute fehlgeichlagen, und 
in der Handhabung diefes „morgen" ift er ein Meifter geweſen. Sein Urenfel 
baut am Strand aus Tang und Steinen eine Mauerrundung auf — das iſt die 
verhaßte Stadt Stralfund — und er gräbt von ihr eine breite Rinne im Sand 
bis zum Waſſer. Dann ruft er dies an und befiehlt den Wellen — das find 
feine Heertruppen — vorzurüden, die Wälle von Stralfund zu erftürmen und 
niederzureißen. Dod; fie folgen dem Gebot nicht, plätjchern nur leis |pielend in 
den Graben hinein; es wird Abend, er muß zur Burg zurüd, feine Hand droht 
der Stadt noch einmal zum Abjchied — und er fagt dazu: „Morgen ift wieder 
ein Tag“. Aber er ift nicht Waldemar Atterdag und fein Herrſcher über die Gee. 
Das „morgen und die nachfolgenden Tage beweifen es ihm in gleicher Weije. 
Er kann feine Ungeduld, die das Warten nicht länger verträgt, nicht zügeln, und 
weil er Stralfund vernichtet fehen will, zerftört er e8 wieder. Doc) feine eigene 
Hand muß es thun; jemand ift Zeuge des finderhaften Treibens oder vernimmt 
davon, und in der Hanfeftadt Rügenwalde dient den Bürgern der Sohn ihres 
Herzogs zu ſpöttiſcher Beluftigung. 

Wie die Jahre weitergegangen, fieht die Oftiee Erich von Pommern feine 
Snabenfpiele mehr am Strand anftellen, doch gewahrt ihn dafür eines Tages, 
ungeführ fünfzehnjährig, auf einem Eleinen Fahrzeug weſtwärts der pommerſchen 





furchtbarſte Brandgeſchwür an — gelbe bildet Bbohmen, vom Huſſitenaufſtand durchtobt, 
den die Verbrennung des Reformators Johannes Huß, trotz Fatferlicher Geleitszuſicherung, ins 
Ungeheure entzügelt. Ein Krieg, jo voll an Greueln, mit ſolchem Lodern des Haſſes, des In— 
grimms, der Todesverachtung und tieriſcher Wut geführt, wie's die Welt noch ſelten geſehen. 
Die rächenden Vergelter des Treubruches Kaiſer Sigismunds begnügen ſich nicht mit ſeiner 
Demütigung, ſondern tragen in verheerenden Kriegszügen den Schrecken ringshin weit in die 
deutſchen Lande hinein. Mit beſonderer Gewandtheit bedienen ſie ſich des ſchon ſeit mehr als 
einem Jahrhundert bekannten, doch bisher noch wenig zu erfolgreicher Anwendung gelangten 
Schießpulvers, und ihr grobes Gefchüt erböht überall das Entfeten ihrer wilden Anſtürme. 
* * 


Ei 
Aus diefer Zeit der Zerfpaltung, Ohnmacht und Erniedrigung des Reiches, der ſcheu— 
(ofen Gemwaltthat, Recht» und Treulofigfeit hebt fich eine neue, feltfame und doch menfchlich wohl 
begreifbare Ericheinung auf. Schon feit zwei Jahrhunderten fit fie in ihren Anfängen hervor: 
getreten; die bebeutenditen Städte des Reiches find Hinter feiter Ummanerung durch dad An— 
wachſen ihrer Bevölkerung und ihres Wohlftandes eritarkt, fühlen fich gleicherweiſe von der 
Unfiherheit aller Zuſtände, der Willkür fürftliher und abdliger Herren bedroht und bie Not— 


486 Wilhelm Nenjen, Der Tag von Stralfimd 


Küfte entlang jegeln; heimlich hat er die Schloßburg verlaffen, als ein gewöhn- 
licher Bauernjunge verkleidet, die Neigung dazu fcheint ihn auch als ein Erbteil 
von Waldemar Atterdag überfommen zu jein, wie nicht minder ein anderes. Hoch— 
aufgewachſen hat er ſich früh zum Jüngling entwidelt, nad) dem die Augen der 
Mädchen gehen; ebenjo aber richten die feinigen ſich nad) ihnen, finden mit raſchem 
Blick aus einer größeren Anzahl die am meilten mit Neizen Begabte heraus. 
Die Phantafie ift mächtig in jeinem Kopf, fie treibt ihn heut’ übers Waſſer fort; 
ihm ift zu Gehör gekommen, am Rand der Anfel Wollin in der Dderausmündung 
jei in grauer Vorzeit eine große Stadt Julin, eine urbs Venetorum, der Wenden, 
danadı auch Bineta benannt, von der Eee verſchlungen worden, doch bei heller 
Luft Eönne man ihre Trümmer noch drunten unter den Wellen gewahren. Das 
hat in jeinem Kopf gezündet, ev verwendet feinen geringfügigen Geldbeſitz dazu, 
einen Schiffer zu dingen, der ihn in feiner Schute dorthin bringt und noch anderes 
zu erzählen weil. Auf dem Dünenhang neben der veriunfenen Stadt haben noch 
vor diefer die Komsvifinger die Jomsburg erbaut gehabt und der däniſche See- 
fünig Palnatofe drin gehauft, der Schreden aller Yänder und Völker ringsum an 
der ganzen Dftjee. Als der nach unzählbaren Heldenthaten gefühlt, dat der Tod 
die Hand nad ihn jtrede, ijt er im Bollmondichein zur höchſten Dünenfuppe auf: 
geftiegen, hat eine weiße Yode von feinem Sceitel gefchnitten und in die See 
drunten hinabgeworfen. Da raufchen wie fturmgepeiticht die Wogen auf, Schiffe 
mit blutroten Segeln fteigen aus der Tiefe, ihre goldenen Schnäbel flammen, 
auf den Kaftellen Elirren und rafjeln taujend Schwerter, Speere und Schilde, 
und von taufend Lippen hallt's: „Du haft uns gerufen, Derr, aus unfrer Meer- 
rast!" Die Kriegsfahrtgenoſſen Palnatofes ſind's, die vor ihm von Sturm und 
Flut verjchlungen worden; nun grüßt er fie, und jeine Hand winkt. Da birft 
der Waſſerſchlund auseinander, das Bilingichiff des Seekönigs hebt ſich aus ihm 
empor, er tritt hinein, und die Segel umbaufchen ihn wie ein Purpurmantel. Mit 





wendigfeit eines Schutzes dagegen aus eigener Kraft. So haben jie, befonders am Rhein und 
in Oberbdeutfchland, ji) in mannigfacher Richtung von ihren Oberherren unabhängig zu machen 
gefucht, zur Erreichung diefes Ziels Bündniſſe untereinander geichlofien. Fraglos find dieſe 
jtädtiichen Gemeinschaften die hervorragenditen, wenn zu der Zeit nicht die einzigen Bertreter 
des Nechtöfinnes und vorjchreitender Bildung; aus dem Bürgertum bebt fih der Beginn einer 
langjam aufdämmernden neuen Weltanfchauumg empor. Doch verfolgen fie bei ihrem Zufammen= 
ſchluß nicht ideale Zwecke, fondern Lediglich praktifche, vor allem die Sicherung und Förderung 
ihres Handels, des Fundaments ihres Wohljtandes und ihrer Kraft. Unbewußt aber bahnen 
fie damit auch einen getftigen Fortfchritt an, werden zu Hufbellern der mittelalterlichen Finſternis, 
gleichwie der Genuefer Colon wejtwärts den Scemweg nad) Indien fuchte und eine neue Welt 
entdedte. 

Diefe Beitrebungen der größeren Städte rechen mit ibren Anfängen fchon bis ins 
12. Jahrhundert zurüd, jedoch erſt die zweite Hälfte des 13. gewahrt die Entjtehung eines Bundes 
an den nordifchen Deerufern Deutichlands, der, mählich fi ausdehnend, ungefähr mit dem 
Beginn des 15. Jahrhunderts zur böchiten Stufe feiner Entwidelung aufiteigt. Eine Bereinigung 
der ſeehandeltreibenden Ztädte an der Nord» und Oſtfee it's, die nad) der gleichen Sicherung 


Wilhelm Nenfen, Der Tag von Stralfumbd. 487 


Waffenklang und Jubelgeſang feine Heldenthaten und feinen Ruhm preifend, um— 
ringen ihn jeine Bafallen und geben dem alten Reden da8 Totengeleit zum 
Meeresgrund hinunter. 

Auch eine Mondnacht iſt's, in welcher der Schiffer während der Fahıt an 
der pommerſchen Küfte entlang feinem jungen Begleitgmann davon erzählt, und 
am andern Tag gegen Sonnenuntergang landen fie am einjamen ®ejtade der 
Inſel Wollin. Der phantajtiihe Sinn Erich von Pommern hat reiche Nahrung 
eingejogen; unter dev ruhigen Waſſerfläche ftellen die abendlichen Goldftrahlen 
ihm Elar die Trümmterrefte von Bineta vor Augen. In Wirklichkeit ſind's nicht 
jolche, fondern ein abſonderlich geformtes Steingerippe aus alten Findlings- 
blöden am Seegrund, doch die Einbildungsfraft geftaltet dein jungen Bejchauer 
daraus Weberbleibfel von verjunfenen Mauern, Türmen und Paläften. Dann 
jteigt er im Dämmern allein zu der „Silberberg” benannten Diünenhöhe hin: 
auf, wo die Jomsburg des Seekönigs PBalnatofe geftanden. Nur wenig Geitein- 
rejte geben noch Kunde davon, daß hier einmal ein Bau geweſen; er fett ſich 
und hängt Boritellungen nad, die ihm aus dent einfallenden Nachtdunkel herauf: 
fommen. Drüben im Wejten, wo den Himmelsrand noch ein rotbrauner Saum 
färbt, liegt die verhafte Stadt Stralſund — wäre er der Seekönig Palnatofr, 
jo zöge er mit feinen Bilingichiffen zu ihr hinüber, fie zu erftürmen und in 
Trümmer zu legen, wie dort unten Julin. Bon DOften her fteht der Nadıtwind 
auf, und unter den Dünen beginnen Wellen murrend auf den Vorſtrand zu 
raufchen, doch dabei auch zu blinken und hellere Schaumkämme zu zeigen, denn 
die Bollmondfheibe redt fih aus der See empor. Eine Zeitlang wie ein 
glühender Feuerball, dann wird fie filbern, übergießt die jtille Ferne der Sand- 
Euppe mit weißem Licht. Eric, jteht auf, vom langen Sißen iſt's ihm fühl ge: 
worden und überfröftelt ihn, jo geht er, am nbgeredeten Pla den Schiffer 
iwieder zu finden. Aber wie er an den Rand der Düne fommt, hebt ſich vor 








auf dem Waſſer trachten wie auf den Yandiwegen. Die Schiffe jeder einzelnen find hülflos der 
Uebermacht fremdländifcher Fürſten und hobnlachender, wilder Sceeräuber preisgegeben; fo haben 
fie beſchloſſen, mit vereinten Kräften fich Recht und Schuß zu erzwingen. Zuerjt nur wenige 
der größeren, zu einem taitenden Berſuch, doch raſch verdoppelt, verzehnfacht fi die Zahl. 
Auch die kleineren erfennen ibr Seil in dem Anfchluß, erböben durch zahlreichen Beitritt dic 
Stärke der Geſamtheit; nicht nur am Meere belegene, ebenjo die handeltreibenden Städte im 
niederbeutichen Binnenland, dte nicht durch gewappnete Schiffe und Waffenträger, doch durch 
Seldbeiftener die Macıt des Bundes vermehren und dafür ſich unter jeiner Obhut bergen. 
Jetzt erjtredt er ſich von der eſthländiſchen Küfte bis zur niederländiichen au der Grenze Frank— 
reichs, mehrfach fogar bis gegen Oberdbeutichland hinauf. 

Es ijt ein ftolzkflingendes Wort, das zu jener Zeit die ganze Nordwelt Europas durchs 
hallt: „De dudefche Hanſe“ — die deutiche Hanfa. Der Urfprung des Namens liegt im Dunlel; 
„Hans“ oder „Danfa” bezeichnet jchon im Gotifchen und Althochdeutfchen eine Genoſſenſchaft, 
eine Kaufmannsgilde Und als foldhe tritt die deutiche Danja ins Leben, al8 ein Bund bes 
„gemeinen Kaufmanns”, wie die Zeit ihn nennt, das heißt, der vereinigten Allgemeinheit der 
Staujleute. 


488 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 


ihm ein dunflerer Schatten vom gelblihen Grund ab, dort fit etwas am 
Boden, ein Menfch, eine weibliche Geftalt mit lang auf Rüden und Schulter 
niederfallenden, tief dunklem Haar. Raſch überhellt fie das Mondlicht fo deutlich, 
daß aud ihr Geficht erkennbar wird, mit Schönen Zügen und von einer weißen 
Farbe, die im Strahlenauffall ein eigenartiger perlender Glanz überriejelt. Sie 
bat dadurh etwas von einem aus dem Waſſer heraufgeftiegenen Meermeib; 
offenbar ift’3 eine Wendin, ein noch bfutjunges Mädchen, an Jahren wohl unge- 
fähr dem auf fie Zutretenden gleih. Verwundert fragt er: „Wer bift Du? 
Kommiſt Du von Julin hier herauf?" Sie fieht ihn aus auch dunfelglimmenden 
Augenfternen antwortlo8 an, nur ein fonderbar halblahender Ton, an einen 
Waffervogelruf erinnernd, fommt ihr vom Mund, dabei bliden zwifchen den 
Lippen ihre Zahnreihen noch weißer perlend als die Gefichtöfarbe hervor. Er 
wiederholt: „Wer bift Du? Wie heißt Du?" Mit feiner bäuerifchen Kleidung 
nicht übereinftimmend, Elingt etwas Befehlendes aus den Worten, und nun er: 
widert fie: „Geſa“. Er weiß nicht, warum ihm dabei ein anderer Gedanke 
duch den Kopf fährt, dem er Ausdrudf mit der Frage giebt: „So ftammft Du 
vom König Palnatofe ab?" Dazu lacht fie abermals, doch begleitet dies mit 
einem Niden. Jetzt faßt er nach ihrer, im Mondliht auf dem Gewand über 
den Knieen wie eine Eleine Schaumwelle gliternden Hand und fagt: „Komm mit 
mir zurüd in feine Burg, dort erzähl’ mir von ihm!" Cie leiftet keinen Wider: 
ftand; beim Aufrichten fteht fie ſchlankwüchſig höher da, als ihre Geftalt in der 
figenden Haltung erfchienen. So gehen beide miteinander dem Plat der ehe- 
maligen Jomsburg zu, laffen fi zufammen dort auf dem Dünenfand nieder. 
Unter ihren Füßen murren die Wellen, der Wind, ftärfer anfchwellend, ftiebt 
ihnen das Haar an den Schläfen auf, und fühl liegt der weiße Nachtglanz um 
fie. Doch Erich fröftelt’3 nicht mehr, feine Blutwellen drängen fih raſch; mit 
mancherlei Fragen dringt er jprunghaft ungeftüm auf Gefa ein, und ihre fonder: 














Eine jeltfame, nur aus den wirr⸗ſchwankenden Zuftänden jener Jahrhunderte erflärbare 
Genoſſenſchaft. Mit wenig Ausnahmen feine Verbündung freifelbftändiger Städte, die große 
Mehrzahl kit Landesherren unterthan, jede einzelne, diefer Angebörigfeit gemäß, dem ibrigen 
verpflichtet, jeinem Geheiß unterworfen. Und doch jtehen in der Gefamtheit ber „Hanfe” alle 
unabhängig, jeldjt ihr Wollen und Thun bejtimmenb, ba; es entipringt ber Sraft des Zufammen- 
ichluffes, den die Herrſchſucht und Habgier der unter ſich zerfpaltenen Fürften nicht anzutaften 
wagt. Sie haben es bei dem Berjuch einer Gemwaltthat nicht mit „ihrer Stadt zu thun, 
iondern mit den Bündnis bes „gemeinen Kaufmanns” im ganzen dbeutjchen Norden. Mit den 
webhrhaften Bürgern, der Geldmacht und Mauerfeftigkeit, den mit Feuergeſchützen ausgerüfteten 
Kriegskoggen aller zu Schub und Truß vereinigten Städte. 

Es fit ein hochtönendes, viel Schreden wachrufendes, viel heimlichen Ingrimm zum Lodern 
ihürendes Wort: de dudiſche Hanfe. Mit niederdeutſchem Namen nennen fie fi, denn platt- 
deutfch iſt ihre Sprache. 

Gewaltiges umfchließt das Wort an Hugem Natfchlag, Kraft und zielbewuhter That, an 
Ausdauer und Vergangenheit, doch, der Unbeftändigkeit aller tröifchen Dinge unteriworfen, bleibt 
die Hanfa auch während ihres höchſten Glanzes von inneren Zwiſtigkeiten, Berwürfnifien, Neid, 


Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 489 


bare Stimme, aus der helltönig etwas Elingt, wie wenn das Waſſer mit Eleinen, 
Eirrenden Strandfiefeln fpielt, antwortet nun drauf. 

Wie der junge, flüchtige Befuher Julins und der Jomsburg, der den 
Fahren nad) nod) ein Knabe, doch in Wirklichkeit ſchon weiter vorgeichritten  ift, 
um zwei Tage fpäter wieder bei Rügenwalde anlandet, hat fi) ganz ein Ge- 
danfe feines Kopfes bemädtigt. Er will ein Seefönig werden, obgleich man ihm 
heute nur den Namen eines Seeräubers beilegen wird, jobald er's vermag, ein 
Vikingſchiff ausrüſten und damit gegen Kauffahrer der dudefhen Hanſa, vor 
allem gegen die von Stralfund ausziehen. Die will er überfallen, entern, ihrer 
Waren und Reihtümer berauben, zu Orlogskoggen umwandeln, um fi) aus 
ihnen eine Flotte zum offenen Kampf wider die Hanſa zu”ichaffen. Sein Schiff 
foll nicht gleich denen der „Pfefferfnechte" einen Erzengel: oder Heiligennamen 
führen, fondern das Bildnis eines jungen Meerweibes am Bugfprit tragen und 
„Geſa“ heißen. Ein Einderhafter Plan ift’3, eines ohnmächtigen Wunfches; zur 
Ausführungsmöglichkeit gebricht ihm alles, nicht am wmenigften der Geld— 
befit. Es fpielt damit nur eine Einbildung, die ſich noch als die eines Sinaben 
kundthut. 

Da erwacht mit fünfzehn Jahren eines Morgens Erich von Pommern als 
der König von Dänemark, Norwegen und Schweden. 

Die Semiramis des Nordens beſitzt keinen Erben ihrer drei Kronen mehr, 
alternd hat ſie ſich erinnert, daß noch ein letzter Abkomme ihres Vaters unter 
den Lebendigen iſt, und mit plötzlicher Entſcheidung erwählt ſie den Enkel ihrer 
Schweſter zu ihrem Nachfolger. Mit der männlichen Kraft ihres Willens ſetzt 
ſie ſofort den gefaßten Entſchluß ins Werk und um ein paar Wochen nachher 
wird auf dem alten Schloß Kalmarhus an der Südküſte Schwedens der Sohn 
des kleinen Pommernfürſten mit gewaltigem Feiergepränge zum König der drei 
nordiſchen Reiche gekrönt; eine Untrennbarkeit derſelben ſetzt zugleich der Ab— 





Wankelmut und Abfall nicht frei. Oft durchtobt auch die Straßen der Städte lauter Aufruhr, 
Parteien, Geſchlechter und Zünfte bekämpfen ſich in ihnen auf Leben und Tod; hier und dort 
wird das beſtehende Regiment der Burgemeiſter und Ratsherren geſtürzt, ein neues aufgerichtet. 
Das Blut ber Unterliegenden färbt ben Richtpla&, oder nod) rechtzeitig entkommen, vufen fie fich 
Beihelfer von auswärts, um ihre Derrfchaft zurüdzugerwinnen; Beſtechung, Verrat und Ver— 
fhwörung drängen ſich ein, lähmen nicht felten von ben erfranften Bliedern aus die Kraft des 
Geſamtkörpers zu fchwerer Schädigung für ıhn auch nach augen. Und dem bewußten Unrecht, 
mit dem bie fürftlichen Machthaber überall die Zwecke ihrer Eigenfucht verfolgen, ihrer Härte, 
Wildheit und graufamen Unmenfchlichkeit fegen die trogigen Bürger der Hanfejtädte mannigfach 
ebenfo bewußt das Gleiche entgegen. Denn die mweichmütige Schwäche büht Recht und Beſitz 
ein, einzig bie eiſerne Fauſt verbürgt Sicherung und Gewinn. 

Aber trot folcher Wechfelfälle fteht im Beginn des 15. Jahrhunderts die deutſche Hanſa 
als beherrſchende Macıt auf der Dit: und Nordjee von der ruſſiſchen Küſte bis zur englifchen 
da, Bat ihr Hauptziel, fi) die drei ftandinaviichen Reiche. Dänemark, Norwegen und Schweden, 
botmäßtg zu machen, erreiht. Sie bat nach langem Kampf ihren größten Gegner, ben Dänen 
fönig Waldemar Utterbag, zu Boden gebrochen, von Thron und Neid) verjagt, daß der ehebem 


490 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Straliund. 


ichluß der „Kalmariſchen Union“ feit. In Wirklichkeit jedoch führt der Gekrönte, 
auch nachdem er ins Männlichkeitsalter gelangt, nicht die Herrichaft, Margarete 
Sprengeheft ift nicht die Frau, fo lange fie lebt, das Szepter in andere Hand 
zu legen; wie die aſſyriſche Semiramis einftmals für ihren Sohn Ninyos bis zu 
ihren Tode fortregiert hat, thut ſie's für ihren Großneffen, der gleich jenem nur 
den Schein der Majeftät vor der Welt trägt. Erſt um fünfzehn Jahre fpäter, 
als das zweite Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts Icon ein Weilchen begonnen, 
icheidet die merkwürdige Frau aus dem Leben, und Erich von Pommern it 
wirklich der König der von ihr vereinigten, aus früherer vielfacher Gegenſätzlich— 
feit zur Eraftuollen Eintracht emporgeförderten nordiihen Welt. 

Auf ihrem Thron fitt ein dem Blut Waldemars Atterdag entiprofjener 
Herricher. Wie er diefem im beftridenden Menferen ähnelt, ift er von hod)- 
fahrendem Selbftbewußtfein, leidenfchaftlich, wild-verwegen, treulos und faljch wie 
Waldemar Atterdag, noch mehr als diefer ein haferfüllter Todfeind der dudeſchen 
Danfa. Nur mangelt feinem heißgblütigen Ungeftüm, nicht die Verſchlagenheit, 
do die überlegene Klugheit, der kühl rechnende Verſtand und das Gemaltige, 
der im Edlen und Unedlen bezwingende Zug, mit dem fein Urältervater feine 
Ziele ind Auge gefaßt und Jahrzehnte lang als Obſieger erreicht hat. 

Laut und lärmend nad) älteftem Herfommen ging's auch im Weitervorjchritt 
de3 15. Jahrhunderts in den Länderfüften un die Dftjee, wie an der von Nor: 
ivegen zu. Zwiſchen mandjerlei alten Widerfachern tobte der offene Kampf, dod) 
nicht minder lohten die Flammen des inneren Haders bald hier, bald dort in den 
Hanfaftädten auf, zehrten an der Gejundheit und Kraft ihres Gemeinweſens. Als 
ichlimmftes Uebel aber war, gleihjam zu einem Widerfpiel der Hanfa, das See: 
räuber-Unweſen der „VBitalienbrüder" aufgediehen, das feinen Anfang während 
der Belagerung Stodholms durch Margarete Sprengeheit genommen. Damals 
verſah eine Anzahl kuhner Schiffer von der wendiſchen Ktüfte die bebrängte Stadt 





auf feine Allmacht Ueberſtolze landflüchtig, fruchtlos um Beihilfe bettelnd, in die Fremde — 
Sie ſchreibt den ſtandinaviſchen Ländern Geſetze vor, fett dort Könige ab und ein. Denn die 
beutiche Hanſa, nur aus Handeltreibenden, den verjchiedenften Oberherren angebörigen Städten 
zufammengefügt, der „gemeine Kaufmann“ iſt die gebietende Großmacht des Nordens geworden, 
weil er die See beherrict. 

An der Spite des Bundes als alljeitig anerlanntes Haupt ſteht Yübed, neben ihm treten 
von Anfang ber vier feiner Nachbarn an der Oſtſee hervor, Wismar, Roitgd, Greifswald und 
Stralfund, das letztere nach Lübeck die zweite Nangjtelte einnehmend. Dieje fünf tragen den 
Namen der „wendiichen Städte‘; mit allen übrigen zum Ojftfeegebiet gehörigen bilden fie die 
„Dfterlinge“, auf denen die Hauptkraft der Danfa beruht. Doc ftehen ihnen im Weſten, als 
die wichtigiten Bımdesglieder an der Nordfee, die „Weiterlinge” Hamburg, Bremen und Emden 
nicht nad), vor allem das niederländifche Brügge, das an Schiffzahl und Reichtum hervorragt; 
die „Brüggelinge” gelten al3 die feinften unter den „Hanſen“, geben lange Zeit hindurch in 
der Mleidung und im Benchmen den „guten Ton“ an. Im ganzen haben jchon an den Sriegen 
gegen Waldemar Atterdag weit über hundert Städte direkt oder indireft Anteil genommen. 

Das äußere Bıld der Hauptbedeutenden unter ihnen zeigt ſich, troß den weiten räumlichen 





Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 491 


vom Meer aus mit Lebensmitteln, danach erhielten fie den Namen Pitalien- 
das hieß BViktualienbrüder. Zugleic jedoch rüfteten die Städte Roftod und Wis- 
mar fie ohne Borwiljen der „gemeinen" Hanja mit „Stehlbriefen" aus, bänifche 
und norwegiihe Kauffahrzeuge aufzugreifen und als Beute wegzufchleppen; in 
einen ficheren Hafen verteilten fie ihren Raub gleihmäßig nad) der Kopfzahl 
unter ſich, benannten ſich felbit danach „Lifedeeler”. Daraus war im Weiter: 
gang Bitterböfes großgewachſen, denn ungezählt ftrömte den wildvermegenen 
Abenteurern waghaljig:gieriges Volk zu, das nichts zu verlieren, nur zu gewinnen 
hatte, Unedle und Edle, vorm Rad und Galgen davongelaufene Schelme. So 
Ihwollen fie zu einer Macht an, die jich fredd an der Hanfa felbft vergriff, das 
Comptoir derjelben in Bergen, die „deutjche Brüde”, überfiel, plünderte, beraubte, 
verwüſtete, die alte Danfeftadt Wisby auf Gotland völlig in ihre Gewalt bradite, 
darin ihr Hauptquartier aufichlug und auf der Oft: und Nordfee gleichen Schreden 
unter den deutfchen Schiffen ausbreitete wie unter den ſkandinaviſchen. Ihre 
Dauptanführer, die geraubte Heiligengebeine zum Feſtmachen auf der Bruft bargen, 
waren zwei hünenhafte Gejellen, Godeke Michelsfon, der eine Eifenfette wie Bind- 
faden zerriß, und Claus Störtebefer, der an Stelle feines abgelegten Adels— 
namens diefen davon trug, daß ihm kein Humpen zu mächtig war, ihn nicht auf 
einen Zug binunterftürzen zu können. Die beiden zwar hatte ſchließlich eine 
gegen fie ausgerüftete Hamburger Flotte, vor allem „die mit jtarfen Hörnern 
durch die See braufende „Bunte Kuh“, das Drlogihiff des Flottenhauptmanns 
Simon von Utrecht, auf der Nordjee erjagt, und tagelang hatte auf dem Gras: 
broof in Hamburg der „Meifter" Rojenfeld mit feinen „Schobanden” in ge- 
fhnürten Schuhen bis an die Knöchel im Blut von anderthalb Hunderten ge: 
£öpfter, gevierteilter und aufs Rad geflochtener Lifedeeler gewatet. Als er jeine 
„Arbeit* zu Ende gebradt, trat ein Ratsherr zu ihm heran mit den Worten, 
er müfje wohl zu Tod müde von der Anftrengung fein. Doch mit einem 


Entfernungen, der Verfchiedenartigkeit der Himmelsjtrihe merkwürdig übereinftimmend; bie 
nämliche Bauart, bie „hanſiſche“, hat es geitaltet. Dorpat und Riga an der livländiſchen Küſte, 
Wisby auf der fchmwedifchen Anfel Gotland, Amſterdam, Brügge, Köln, Soeſt und Münjter 
bieten im allgemeinen dtejelbe Erfcheinung dar wie Bremen, Hamburg, Lübed, Stralfund und 
Danzig. Ueber ihre troßige, von breiten Gräben oder Waſſerläufen umgürtete Mauerumwallung 
ragen, weithin jichtbar, hohe, nadelförmige Spitztürme der Kirchen empor, bliden auf ein Gewirr 
zumeiſt ſchmaler Gaſſen nieder, deren Häufer ſämtlich hoch aufgetreppte, ſich nur wenig unters 
icheidende Giebel in die Luft ftreden; vielfach juchen überfragende Stodwerfe nad) oben bie 
Wohn: und MWarenräume zu erweitern. Mächtige Rathausgebäubde jtechen daraus hervor, ges 
waltige Kirchen, jtolzblidende Batrizierhöfe und Gildehäufer. Alle Städte erfüllt dasjelbe 
hanſiſche“ Leben, das Gleiche an Brauch und Tagesgemohnbeit, Handels- und Gewerkbetrieb; 
überall, in Ejthland wie in Holland, herrfcht im Verkehr die nieberdeutfche, die hanſiſche Sprache 
bor. Der große Verband befitt vier Hauptniederlaffungen, „Kontore”, zur Wahrung und Bes 
treibung feiner gemeinfamen Handelsinterefien, zu Nomgorod, Bergen in Norwegen, Brügge und 
London. Doch noch an vielen anderen Orten jpricht ein „beuticher Kaufhof”, felbit im fernen 
Venedig im Fondaco dei Tedeschi, von der jtolzen Macht der „dudeſchen Hanfe”. 


492 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralſund 


grimmigen Laden verjegte der Befragte: Ihm ſei's nie wohler gewejen und er 
babe noch Kraft genug, um den ganzen wohlwürdigen und ehrfamen Rat ebenfo 
abzuthun. Für einen Spaß folder Art jedoch war diefer nicht empfänglic, 
fondern gab ſchleunig Auftrag, den Kopf des zu wißigen Meifterd denen der 
Likedeeler auf dem Boden nadjrollen zu lafjen. Mit ihnen aber war die ſchlimme 
Saat nicht ausgerodet worden, der Wellenboden der See trieb ihr Gewucher 
immer neu herauf, und in den erſten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts flößte 
der Name Bartholomas Voet nicht minder Entjegen im ganzen Norden ein, 
als vordem Claus Störtebefer und Godefe Michelsfon. Seine feitgegliederten 
Raubbanden hüteten jich vor offenem Kampf mit den großen, gewappneten Or- 
logsfoggen der Seeftädte, aber fie bargen ſich noch überall da umd dort in un: 
zugänglichen Schlupfwinfeln und Klippenlöchern, brachen bei Nacht und Nebel 
mit ihren jchnellfegelnden Schniggen daraus hervor. Und nicht nur an manden 
Fürſten und Herren befaßen fie einen verſchwiegenen Rüdhalt, der Berdadjt ging 
um, daß heimlich aud) die Urheber der Vitalienbrüderjchaft, Wismar und Roftod, 
ja gelegentlich noch andere hochftehende Hanjejtädte den Seeräubern zur Er- 
reihung von Sonderzweden und Vorteilen durd die Finger fähen. 

Eine blutige Fülle an Parteifämpfen durchwogte um diefe Zeit die Bundes- 
bauptftadt Lübeck, doch kaum minder wilde Gejchehniffe folgten fich in dem von 
jeher leicht zu Aufftand und Gemwaltthätigkeiten entflammten Straljund. Mehr: 
fach wurden die Burgemeifter geftürzt und nad) dem Brauch der Tage von den 
Siegern fofort auf den Richtplatz gebradit; das Geſchlecht der Wulflam ragte 
am mächtigiten duch Anjehen und Reichtum hervor, eine Mordverfhwörung fällte 
das Haupt desjelben, und feine Wittib jaß als die „arme reiche Frau“ vor ben 
Kirchentüren, Almojen in einer filbernen Schüffel erbettelnd. Am glühendften 
aber loderte da Blut der Bürger Stralfunds gegen prieiterliche Herrſchſucht und 
Habgier auf. Ihr kirchlicher Oberherr Hurt von Bonow wies geringmwertige neue 
Pfennige als Opfergeld zurüd, verließ vor der darüber ausgebrochenen all: 
gemeinen Empörung die Stadt, überfiel diefe mit einer großen Schar adliger 
- Genofjen und verheerte, da er fie nicht zu erftürmen vermochte, aufs graufamite 
die ihr angehörigen Dörfer und das Land um die Mauern. Da ftand, zu blindefter 
Wut geftachelt, im Innern das Volk auf, drang in die Kirchen und Pfarrhäufer 
ein, fchleppte die drin zurüdgebliebenen jechzehn „Pfaffen“ heraus auf den Neuen 
Markt, wo e8 die drei oberften von ihnen „zu weißer Aſche verbrannte*. Huffiti- 
cher Geiſt lag jchon in der Luft, und der Rachedurft forderte „Aug’ um Auge, 
Zahn um Zahn”. Bon Rom her traf aus dem Munde des Biſchofs von Schwerin 
der Bannflud; Stralfund, in feiner Bevölkerung berrichte durch die weltlichen und 
kirchlichen Gegenſätze tiefe Entzweiung; von außen her lauerten Feinde darauf, die 
Stadt zu überfallen, deren Wehrkraft völliger Zerrüttung entgegen zu gehen jchien. 

Der König Erih von Dänemark, Norwegen und Schweden aber glaubte 


Wilhelm Jenſen, Der Tag von Straliunb. 493 


die Zeit zur Stillung auch jeines von Knabentagen her angejammelten Rade- 
durftes gefommen und brad; mit einem ftarfen Kriegsheere in die Lande feines 
BVetterd, des Grafen von Holitein, ein. Nicht dem galt’8 im eigentlichen Grunde, 
jondern dem Hanſabund, und diefer fühlte es, rüftete fich, dem Angegriffenen 
Beiftand zu leiften. Auch Stralfund follte, feiner Hanfapfliht gemäß, daran 
teilnehmen, doc; erjchienen in ihn feine Randesfürften, die drei Herzöge Wratislam, 
Barnim und Kafimir von Pommern: Wolgaft und Stettin, die auf dem Rathaus 
eine Anjprade an Burgemeijter und Rat richteten, mit der Mahnung, ‚nicht 
ohne Urſach einen mutwilligen Krieg gegen König Erich, füglich einen mitgehul- 
digten Herzog von Pommern zu beginnen. Nacddrüdlihen Wort3 redete der 
weißköpfige Altburgemeiiter Nicolaus von der Lippe mit feiner mächtig über die 
weit vorgejchobene Unterlippe hallenden Stimme wider dies fürftlihe Anfinnen, 
ftellte al3 oberfte Aufgabe Straljunds dar, daß es feine Bundespflicht erfülle, 
wie's feine eigene Wohlfahrt ald Notwendigkeit fordere. Doch die Parteien- 
zerjpaltung der Stadt hatte auch den Mat in zwei gegnerische Hälften geteilt, 
verhinderte da8 zu Standefommen eines einmütigen Willens. Zwar erhob 
niemand laute Einjprache gegen die Nede des Burgemeifters, doch ohne Beſchluß— 
fafjung nahm die Tagung im Ratsjaal ihr Ende. 
* * 
* 

Einem ungeheuren Seekraken ähnelnd, ſchwamm der pommerſchen Küſte bei 
Stralſund gegenüber, von ihr nur durch einen ſchmalen Meeresarm abgetrennt, 
die Inſel Rügen, nach allen Richtungen polypenartige Arme ausreckend. Ihr 
ſüdlicher Teil enthielt Adelsburgen und Ackerbau treibende Dorfſchaften, faſt alles 
übrige lag, nur äußerſt ſchwach beſiedelt, zumeiſt unfruchtbar; die öden, von 
Sandriffen umgürteten Dünenufer waren, als der Schiffahrt gefährlich, verrufen 
und gemieden: bejonder3 die Halbinjel Jasmund im Norden, deren Hüfte an 
mehreren Stellen mit langhingeftredten, ſchwindelnd hohen Kreidefelswänden zum 
Geeftrand Hinunterfhoß. Die ftanden im übeljten Ruf; ihre weißen Abftürze 
idimmerten im Abendlicht weit, wie in einem geifterhaften Gewande auf die 
See hinaus und wohlbegründet, denn arge Geifter gingen dort von jeher in der 
einfamen Wildnis um. Wenig Leute nur gab's, die von Sturmdrängnis hin- 
verjchlagen, die unheimliche Welt in der Nähe geiehen, kaum folche, deren Fuß 
ein Stüf in fie eingedrungen, mit Ausnahme der vor Gott und Teufel, Kobolden 
und Gefpenitern nicht zurüdichredenden Seeräuber, denen ſich hier zu aller Zeit 
bei Verfolgungen die jicherfte Unterkunft geboten. Als die Königin Margarete 
einmal im Verein mit der Hanſa eine große Waflerjagd auf fie angeftellt, hatte 
ih auch Claus Störtebefer mit einer Anzahl feiner Genofjen in den Klüften 
und Schluchten der ‚Stubbenfammer‘, der mächtigſten Kreidewand auf Jasmund, 
geborgen, deren ſlaviſcher Name den geftuften Fels bedeutet. Hierher in ihre 
Schlupflöcer war ihnen niemand nachgefeßt, und von ihrem Aufenthalt rebeten 


494 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfunbd. 


da und dort noch in den weichen Kreidefels eingegrabene Zeichen, die gleichen, 
die fie zum Hohn auf ihren Kleidern getragen, Rad und Galgen. Im Volk lief 
nod ein von ihnen im Mund geführter Reimſpruch um, durch den fie ſich mit 
nicht minderem Hohn gekennzeichnet hatten, als 

‚Der Dänen Berheerer, 

Der Bremer Berteerer, 

Der Holländer Krüz und Belenger, 

Der Damborger Bedrenger‘. 


Nun aber mußte an einem Sommerabend dod ein Schiff an der Sasmunder 
Nordfüfte Zuflucht juchen, eine fchnelllaufende Snigge, die aus dem großen Belt 
berfommend durch den Strelafund nad) Stralfund gewollt, doch von heftig 
aufgejtandenem Weit ojtwärts verichlagen worden. Ein Dandelsfahrzeug ohne 
Borderfaftell wars, mit leihtem Bau jeinem Namen ‚Schwalbe‘ entiprechend, 
allein wie foldhe fonnte e8 gegen den zum Sturm angefchwollenen Wind bie 
Flügel nicht behaupten, und der Schiffer ließ mit kurzem Entſchluß den Mann 
am Ruder geradbaus unter die Dedung der Stubbenfanmer zuhbalten. Seine 
Mannſchaft that'3 nicht gern, die übel berufene weiße Hochwand glimmerte ihnen 
durchs einfallende Zwitterliht wenig verlodend vor den Augen, und wie die 
Seeleute aller Zeiten und Länder waren fie böfer Geiftergeidichten voll. Putte 
Kod, der ‚Bubsenmaler‘, der Pofjenreißer an Bord, meinte: „Herr Jürgen, glöwt 
Ki, wi bruft unfe Knaken noch günt an de Steenfant, fünft kunn id min gliks 
bier vör de Döſch laten“. Doch der angeſprochene Schiffer ermwiderte mit troden 
ernithaften Ton: „Nee, Putte, dat geit nich, wovun fchulln wi denn Haſen— 
poten to Nach kaken?“ Darüber grinfte den andern ein breitmäuliges Lachen 
um die weißen Gebißreihen, die Zunge ihres Sciffsführerd Eriegte die des 
Putzenmakers doch noch unter, oder eigentlich feine ein bischen vorgejchobene 
Lippe. Die Anrede an ihn mit vorgejegtem ‚Herr‘ hatte, zumal da er erit in der 
Mitte der Zwanziger ftand, Ungewöhnliches, zumeift pflegte die Mannjchaft auch 
mit dem Schiffer in der Sprache auf gleihem Fuß zu verkehren. Doc ließ ſich 
diefem anmerfen, er ſei nicht von allgemeinem Seemannsſchlag; über dem hohen 
Wuchs und fraftvoll gewölbter Bruft ſaß der Kopf mit einem feineren Gejicht#- 
Ichnitt, al3 ihn die See bei der großen Mehrzahl der auf ihr Umtreibenden 
wahrnahm. Wer einmal den Stralfunder Altburgemeiiter Nicolaus von der Pippe 
gejehen, Eonnte deifen Züge bei dem Schiffer wieder herausfinden, nur jugendlicher, 
und die ftarfe Unterlippe, die mutmaßlich von einem Vorahn her dem Gefchlecht 
den Namen eingetragen, trat bei dem Sohn nicht jo augenfällig vor wie beim 
Alten. Doch einen kühn-trogigen Willensausdrud und die großen, blaue Strahlen 
werfenden Augen an den Seiten der Hakennaſe hatte Jürgen oder Jörg von der 
Lippe ohne Abihwächung vom Vater zum Erbteil befommen. 

Augenſcheinlich ebenſo auch die fichere Entfchlofjenheit bei der Ausführung 
eined Vorſatzes, denn vom niedrigen Dinterfaftell aus griff er jett ſelbſt nad) 


Wilhelm Nenfen, Der Tag von Stralſund. 495 


den Steuerruder, hielt die Snigge grad auf die unheimliche Kreidewand Los, 
Wie aber in Stralfund niemand fid) eine offene Widerrede gegen das Wellen- 
gedonner der Worte des Burgemeifterd getraute, fo verhielt aud die Sciffs- 
mannichaft fich fchweigend bei dem Thun des ungen; fie wußte, an feinem 
Willen war nicht3 zu biegen, und fein Anfehen hatte er ſich durch unfchredbaren 
Mut, Tüchtigkeit und Klugheit bei allen gleicherweife erzwungen wie der Alte, 
Die Eigenfhaften bewährte er voll auch hier, durchdrang mit der Schärfe von 
Mövenaugen das Dämmerlicht, fand eine Schmale Zugangrinne zum drohenden 
Felsufer auf; fein Geheiß lieg im richtigen Augenblik die Segel fallen, und 
fturmgeborgen jchmiegte das leichte Fahrzeug fid) wie ein die Flügel zufammen- 
flappender Bogel ins Geklipp und Geflüft hinein. Daß er's fo fertig bringen 
würde, hatte eigentlich feiner anders erwartet und nahm feine Leute im Grund 
garnicht wunder, denn dafür war er Yörg vun de Lipp, der befte und Eedite 
Schiffer an der Wendlandfüfte; nur daß fie die Nacht unter dem üblen Geifter- 
treiben um die Stubbenfammer verbringen jollten, überlief ihnen mit einem 
Grufeln die Haut. Aber es aus dem Mund herauszulafien, verging jedem; ihr 
junger Schiffsführer hatte zu oft feinen Unglauben an Nachtgeſpenſter ohne Kopf 
Leichenlichter, Erbmänner und Meermweiber, Kobolde und Heren bezeugt, und 
dem Spottklitichen feiner Zunge wollte ſich Feiner bloßlegen. 

So braditen jie auf einem pafjenden Borjtrandplag ein euer zum 
Brennen, ſich Nadtkoft daran warm zu machen; eine Kleine Tonne mit Eräftigem, 
in allen Ländern de3 Nordens hochgeſchätztem Hamburger Bier war noch übrig 
geblieben, die gab Herr Jürgen zum beiten. Es beluftigte ihn, bei dem 
Scmaufen in den Geſichtern der Kerle, die der grimmigften See, dem wildeſten 
Sturmgeheul und Brandungsgekrach Tachende Zähne wieſen, die verhohlene 
Beilterfurcht zu lefen und daneben die Anftrengung, nichts von ihr merfen zu 
lafjen; aus ihrem Gerede Eonnte er berausfühlen, daß fie einen gemeinjamen 
Troſt in fi) hegten. Der abnehmende, doch nocd ziemlich; gutgerundete Mond 
mußte Eommen, der „fra die Wolken“, und dann ließ ſich wenigſtens mit 
Augen fehen, was auf unhörbaren Geifterfüßen beranichlid. Der Mond mar 
überhaupt etwas viel Nütlicheres al83 die Sonne, denn er machte die Nacht: 
finfternis hell, während fie bei Tag am Himmel ftand, wenn Fein Licht nötig 
hl. So hielten die Blide fih nah) Often gerichtet, und dort ſchob ſich auch 
pünftlid die rote Kugel aus der Waſſerfläche am Horizont herauf. Daraus goß 
ji einige Beruhigung aus, die das gute Hamburger Bier weiter unterftüßte. 
Der und jener legten den Kopf auf den weichen Sreidefand zurüd und die 
Augdedel fielen ihnen zu; der Sturmtag hatte Fäufte und Füße tüchtig im 
Tauwerk gerüttelt und gefchüttelt, und Seeleute waren von jeher begnadet, 
wenns nichts zu thun gab, in jedem Nugenblid auf der Holzdiele feit wie 
Hamſterratten einschlafen zu können. Ginige bielten noch das Mundwerk im 


496 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 


Gang, riefen ab und zu nad) den am Ded gebliebenen Wachen hinüber, fich zu 
vergemwijjern, daß dort offene Augen jeien. Erfreulich kam jedesmal die Antwort 
zurüd, das ließ am Land die noch auseinander gehaltenen Wimpern allmählich 
auch zublinzeln. Das teuer loſch aus und die Kohlen verglühten; dafür ftand 
der Mond, der in der That nach feiner Pflicht die Wolken gefreſſen hatte, jett 
als Silberfceibe da, jtrahlte beinahe blendend von der weißen Stubbenfammer: 
wand wieder, und ein vielfältiges Schnarden überjpann heute den fonft tonlofen 
Strand mit unbefanntem Geräufh. Das fette an ihn alteingefeffene Anwohner 
in Berwunderung, jo daß jie hier und da ſich aus dem Waller am Klippengeftein 
als dunkle Schatten in die Höhe redten. Wie aufhordende und umlugende 
Menjchenköpfe nahmen fie ſich aus, doch hurtig wieder untertauchend, wo etwas 
ſich Bewegendes zu nahe an ihnen vorbeifam. 

Dies war die am Strand entlang wandernde Geftalt Jörgs von der Lippe, 
der noch feinen Schlaf zwifchen den Lidern hatte, jondern einen Trieb in fid, 
zur Höhe des Steilufers hinanzufteigen, um von dort in der hellen Nadt auf 
die See niederjcdjauen zu können. Ein abjonderes Gelüſt war's, das nicht viele 
mit ihm geteilt hätten, doch ihn überfam’s jo, die Natur mußte ihm eine Anlage 
dazu mitgegeben haben. So ſcheuchte jein Schritt die hufchenden Schatten, die 
feine ruhloſen Geifter hier im Gang der Zeiten ertrunfen ausgeworfener See: 
fahrer, vielmehr nur neugierige Seehunde waren, von dem Geflipp ins Waſſer 
zurüd, und ihm geriet’S feinen Augenblid in den Sinn, fie für etwas Anderes, 
Uebernatürliches zu halten, denn dazu trug er feinerlei Anlage in fih. Mit dem 
Aufwärtskommen aber wollte e3 eine ziemliche Strede weit nicht gelingen, die 
weite Wand verblieb dabei, gleichmäßig, faſt jcheitelredht abzufallen; dann indes 
zerjpaltete ji) die Felsmaſſe einmal, ein Einfchnitt Eaffte in fie hinein, und der 
junge Schiffer bejann ſich nicht lange, drin aufzußlettern. Recht fteil zwar 
ging's aud) hier noch in die Höh, doch für rüftige Kräfte field möglich, bis 
beinah plößlich der leuchtende Nachtglanz um den Aufgeftiegenen ausloſch, daß 
er nichts mehr vor fi) ſah, nur noch halb erfannte, hohe Laubbäume jchlugen 
ihre Schatten über ihm zufammen. Aber von feinem Borhaben ließ er fich nicht 
leicht durch ein Hindernis abbringen, jondern jeßte den Fuß weiter bormwärts, 
obwohl er unverkennbar in völlig lichtlos dichten Wald geriet. In einer Hin- 
ficht freilich machte ſich's jett leichter ald vorher, weil der Boden eben geworden; 
merktbar war er auf die Höhe der Stubbenkamer hinaufgefommen, ob aud) 
nutzlos, denn ein freier Ausblid ließ ſich bier nicht erwarten oder wenigftens 
nicht finden. Da er gleichfall3 eine gefunde Mitgift von Bernunft im Kopf 
herbergte, wollte er von weiterem abjtehen und zum Strand zurüd umfehren; 
das erwies ſich jedoch als nicht jo leicht ausgeführt, wie beabfichtigt: ihm Eonnte 
bald nicht viel Zweifel bleiben, er habe aud) die Richtung, aus der er herge— 
raten, nicht wieder gefunden. Hier oben war's nicht ftill, wie drunten unterm 


Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 497 


Windfang, oder mindejtens nicht in der Höhe; ein Saufen durchfuhr die Luft, 
al3 jage das Heer des wilden Jägers droben, oder ald donnere eine Brandungs- 
welle um die andere durch die Wipfel der mächtigen Bäume; der noch andauernde 
Weftfturm jchleuderte fie frachend in einander. Endlich, nad) geraumer Zeit 
glaubte der im Dunkel Umpertaftende doc an den Ausgang zurüdgefommen zu 
jein, ein Schimmer fiel ihm entgegen, auf den er zwiichen alten Buchenftänmen 
hindurch zufchritt. Wie er in der That fo ins Freie hinausgelangte, lag aber 
völlig anderes vor feinem Blick, ald das Erwartete, nur eine Eleine, nicht mehr 
al3 einige hundert Schritt lange, rundum von Baumriefen umgebene Lichtung, 
die nur eben unterjcheidbar ein Schwarzer Waſſerſpiegel ausfüllte. Diefen zu er- 
hellen, ftand der Mond noch nicht hoch genug, erjt am weftlihen Rand begann 
er über die Wipfel her einen ſchmalen Flimmerftrih entlang zu ziehen, das 
übrige bedte tiefer Schatten. Hier herunter vermochte der Wind nicht zu ftußen, 
die Fläche des winzigen Waldgewäſſers dehnte ſich reglos und lautlos im Dunkel 
bin. Nur ein leicht plätjchernder Ton ſcholl von ihr her, drüben mußte fid) ein 
Fiſch aufſchnellen, und aud ein ungemwifjes Geflimmer wie von filbernen Schuppen 
deutete die Stelle. 

Aber da überlief'3 doch auch Jörg von der Lippe einmal ähnlich den Rüden, 
wie feinen vor Nachtunholden grauelnden Leuten drunten am Strand. Der 
Mond verbreiterte raſch feine Bahn auf dem Kleinen See, und in ihr nahm der 
jest deutlicher wiederum auftauchende Filch etwas Menfchenartiges an. Beim 
eriten Draufblid zwar hielt der Hinüberjchauende es nur für ein Täufchungs- 
bild in feinen Augen, doch fchnell kounte fein Zweifel bleiben, e3 jeien weiße 
Sdultern und Arme, die blinkernde Wellenkreife um ſich erregten, fich daraus 
bervorhoben und niederjenften. Dann auch ein Gefidht wie der offene Kelch 
einer großen Wafjerrofe, über die fi ihre Blätter dunfel zufammenzufalten 
ſchienen; indes die Helligkeit nahın fo zu, daß fie ſich als dunkles, ausgebreitet 
und langfließendes Haar erfennen ließen. Alles umgab wie mit leichtem Schleier- 
gewebe ein Gerinnfel gligernder Tropfen, als ob Silberfunfen die Luft durch— 
ſprühten; fo hielt ſich's in der anwachſenden Glanzgarbe des Gewäſſers, trieb 
gleihfam mit diefer näher der Seite zu, wo der junge Beobachter nicht wahr: 
nehmbar im tiefen Schattenfall ftand. Körperlich bewegte er fich nicht, aber im 
Innern durchging ihn eine fremdartige, ftarfe Erregung, halb jchredhaft und 
halb mit einem reizvoll überfließenden Schauer. Das Gerede des Volksmundes 
hatte aljo doch recht, es gab in Wirklichkeit Weſen von äußerer menſchlicher Er- 
ſcheinung, doch nicht menſchlicher Natur, die nädhtlih an einfamen Orten aus 
Erdgründen und Wafjertiefen herauffamen, bis zum Morgengrau beim Mond: 
oder Sternenlicht Luft in fich einzuatmen. Mitternacht mußte ungefähr über 
dem See liegen, und die aus ihm herauf Gekommene Eonnte nichts Anderes 
jein al3 ein Meerweib, dejien Fiſchſchwanz ſich unfichtbar unter dem Wellen: 


32 


498 Wilhelm Denfen, Der Tag von Stralfund. 


glimmern barg. Erkennbar war nur, an Öejtaltung und Antlıg ſei's feine Un- 
holdin, jondern eine noch ganz junge Seejungfer mit mädchenbaft gebildeten 
Geſichtszügen. 

Da that Jörg von der Lippe unwillkürlich etwas, was er gleich nachher 
bereute. Doc) ihn überfiel'8 mit einem Schred, fie fumme mit der Mondbahn 
bis dicht vor feine Fühe ans Ufer heran, und ihm flog ein Ausruf vom Mund, 
fie davon abzuhalten, unbedadht, er wußte nicht warum, denn er hätte fie 
eigentlich gern noch näher und deutlicher gejehen. Bei dem Ton aber jchlug ein 
Rauschen des Waflers auf, unter das, bligfchnell verſchwindend, das weiße Gebild 
niederihoß. Ein glimmerndes Wallen an der Oberfläche zeigte, daß es ein Stüd 
weit eilig unter diejer fi ſcwwimmend fortbewegte; danach tauchte noch ein paar: 
mal nur augenblidkurz ein ungewiß blinfender Schein auf, entfernte ſich hurtig 
weiter und lofch, wie in den Grund verfinkend, unter ſchwarzem Schatten am 
Nordrand des Sees aus. Dorthin fuchte der Veranlaffer diefes raſchen Vor— 
gangs mit einiger Schwierigkeit ſich num auch durch jperrendes Unterholz einen 
Durchweg, doch, als er an das Wafjerende gelangte, lag alles ohne Regung und 
Laut, und fjonderbar war auch jein Mund, der einen Ruf ausftoßen wollte, 
außer ftande, diefen laut hervorzubringen. Nur der Sturm rohrte über feinem 
Kopf in den Baummipfeln; ihm kam's vor, als träume er nur davon, daß er 
umblidend und aufhorhend bier in der nächtigen Einjamfeit ftehe. Dann jedod) 
bejann er fih auf die Wirklichkeit; der Mond war inzwifchen hoc) genug aufge 
ftiegen, auch den Waldgrund mit einem Dämmerjchein zu durchſetzen, und £undig, 
jih nach den Himmelsrichtungen zurecht zu finden, fehrte er ziemlich geraden: 
wegs an die Felskluft, durch die er emporgeklettert, zurüd, fam zum Strand 
hinunter und ftredte fich, von der Nachtwanderung jchlaffüchtig geworden, neben 
feinen ſchnarchenden Sciffsleuten auf den Sand. Beim Aufwachen mußte er 
jich erit etwas beſinnen; die Sonne fiel ihm ins Geficht, doch er meinte, es fei 
der Mond, und zwijchen feinen aufgeichlagenen Lidern lag ein eigentümlicyer 
Ausdrud, daß einer von der Mannſchaft dem bei ihm Stehenden ins Ohr 
raunte: „Kiek fin Oogen, he bett vun Nach wat ſehn.“ Im übrigen waren alle 
jet im Tageslicht ihrer Geijterfurdht ledig und warteten auf das Geheiß, die 
Segel der Snigge wieder loszumadhen; der Sturm hatte fi) augenſcheinlich 
draußen auf der See joweit gelegt, daß Fein Bedenken mehr vom Auslaufen 
abhalten konnte. Zur allgemeinen Berwunderung aber zeigte der junge 
Sciffer fich heut’ morgen überbehutfam; er ftand eine Zeitlang nachdenklich 
über das ruhige Wafjer ausblidend, jagte dann Kurz, draußen ftehe die See noch 
body mit widrigem Wind, es ſei nötig, noch bis zum Mittag zu warten, und 
nach dieſer Aeußerung ging er davon, am Strand entlang, anfänglih ab 
und zu anhaltend, als ob er ſich an dem Treiben der Seehunde beluftige. Aus 
den Augen der Nachichauenden gelangt, beichleunigte er indes den Schritt und 


Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 499 


ftieg wieder durch den Felseinichnitt, den das Mondlicht ihm gedeutet, aufwärts. 
In feinem Kopf lagen zwei Dinge miteinander im Widerftreit, die gejunde Ber: 
nunft, mit der er immer über den Glauben feiner Schiffsgenofjen an Wafferalben 
und Meerweiber geipottet hatte, und die Erinnerung an das, was ihm in der 
Nacht droben vor Augen geftanden. Daran mußte, wenns im wachen Zuftand 
auch aus jeinem Gedächtnis weggeſchwunden war, vermutlich während des Schlafs 
ein Traum noch fortgejponnen haben, denn feiner hielt jich eine unbefannte Ge- 
walt bemächtigt, über die er zum erftenmal im Leben mit vernünftiger Ueber: 
legung und Willenskraft nicht auffommen konnte. Gin wunderliches Gefühl 
ließ ihn nicht 108, in dem Wald über der Stubbenfammer fei gar fein See vor: 
handen, jondern jeine Einbildung habe ihm den mur vorgejpiegelt und etwas 
Weißes hineingefest, dad er von der mondbeichienenen Sreidewand in feinen 
Augen mit hinaufgebradt. 

Darüber ins Klare zu geraten, trieb’3 ihn nochmals durch die Kluft in 
die Höh’, und jetzt im Morgenlicht fiel's ihm leicht, die Richtung, die er gejtern 
genommen, wieder zu finden. Unerwartet fchnell lichteten ſich die alten, wohl 
mandhundertjährigen Buchen, und da lag wirklich das dunffe, ringsum dicht von 
hohem Laubgürtel umſchloſſene Wafjerbeden vor ihm, bei Tage noch meniger 
umfangreich ericheinend als in der Unficherheit des Mondlichts. Den Hinzu: 
tretenden rührte es wie mit einer befreienden Empfindung an, daß er ſich nicht 
thöricht von einem Gaufelipiel in feinem eigenen Kopf habe betrügen laffen, und 
er fah durch die Eleinen Lichtungswände umher. Böllig lautlos war’3 überall, 
und ganz unbewegt breitete das Gewäſſer fi wie ein großes, nachtſchwarzes 
Auge aus, nur an den Rändern jpiegelten die alten Baumfronen aus ber Tiefe 
zurüd. Drüben am Weftrand hob die Ufereinfafjung fich beträchtlich höher auf, 
doh wie's erichien, nicht von der Natur jo geichaffen, Menfchenhände mußten 
dran thätig gewefen fein. Aber vor langen Zeiten, denn auf einem fi) im Halb- 
kreis rundenden, mauerartigen Erdwall jtanden die Buchenſtämme zu gleicher 
Mächtigkeit emporgewachſen wie un den übrigen Seiten; zerftreut lagen einige 
große Steinblöde, halb übermooft und grasummuchert, da und dort, wie einmal 
von der Wallhöhe niedergerollt. 

Nun jedoch faßte den Umberblidenden ein entgegengejettes Gefühl an; un- 
gefähr inmitten des Sees nahm er etwas Weißes gewahr, das fich zweifellos 
als etwa ein halbes Dugend nahe zuſammen gedrängter blühender Waſſerroſen 
ergab. Daraus befiel's ihn mit einem Unmut, denn ihm ging Erkenntnis auf, 
er habe fich doc) felbit einbildnerifch bethört. Der Sturm war von oben herunter: 
gefahren, Wellen erregend, von denen die weißen Blumen bin und wider ge- 
jhaufelt worden, und jeine, vom erhigenden Aufitieg mit Blut überfüllten Augen 
hatten im Mondliht aus den auf und nieder bewegten Blüten ein Geficht, 
Schultern und Arme erihaffen. Diefe einfache Erhellung feines Selbftbetrugs 

32* 


son Wilhelm Nenfen, Der Tag von Stralſund. 


verdroß ihn zwar, lieh ihm indes doch auch ein Lachen vom Mund Elingen, auf 
das aber jeltfam ein anderes erwiderte. Stutzend horchte er; jett verftummte 
es, und unmillfürlich rief er laut: „Wer lacht da?" — ‚Lacht da,“ fam eine Ant: 
wort zurüd. Da ging's ihm auf, daß er fi abermals einer Täufhung nicht 
erwehrt habe; nur ein Eco feiner eignen Stimme von der Laubwand drüben 
überm See war's geweſen. Doch trogdem konnte feine Vernunft nidt Herrin 
über die Vorftellung ıwerden, der Nüdklang jei aus dem Waſſer heraufgefommen, 
von dorther, two in der Nadıt die Geftalt feiner Einbildung zum Grund hinunter: 
getaucht war. Er begriff ſich nicht, die einfame Waldftelle trug verfchwiegen 
SGeheimnisvolles in fi, das ihm fein felbftficheres Weſen fremd verwandelte. 
Von einer Furcht vor etwas Unjichtbarem durchlaufen, ftand er, vermochte am 
lichten Tag nicht Herrichaft über das Trugfpiel feiner Sinne zu behaupten. 

Dann fuchte Jörg von der Lippe mit einem gewaltfamen Rud dieje Fremd— 
berrichaft abzumwerfen und fegte den Fuß weiter. Doc nicht oftwärts zurüd, 
er fagte fi, wenn er die Richtung nad Norden einihlage, müſſe er, die Wand 
der Stubbenfammer umbiegend, ebenfall3 an den Strand hinunter und diefem 
entlang zu feinem Schiff fommen. Das bewährte ſich, eine Strede weit dauerte 
der Wald noch an, danach gab Freidiger Steingrund feinen Wurzeln mehr Nab- 
rung, und vor freiem Ausfchau dehnte fi drunten die See. Nicht fteil ging's 
bier abwärts, fondern mählich, nur bin und wieder einmal jprang eine Felsrippe 
vor, in die augenscheinlich zur Herjtellung eines Pfades von Menſchenhand Stufen 
eingeferbt worden, wohl in ſchon ferner Vergangenheit, denn fie waren ausge— 
Ihürft und vom Regen verwafhen. Damals mußten alfo menfchliche Bewohner 
hier gehauft haben, nicht nur Alben und Meermweiber; wider feine Verſtandes— 
einficht blieb der Hinunterfteigende von diefer Vorftellung der letteren umjponnen. 
Nun jedoch gewahrte er Unenwartetes; nicht allein in Borzeiten hatten Menſchen 
hier gelebt, fondern thaten’3 noch. Linkshin zog ſich, die offene See von einem 
Binnenhaff, einem „Bodden“ abjcheidend, eine lange, ganz ſchmale Sandnehrung, 
und an ihrem Beginn hoben fich aus der weiten Dede ein paar niedrige Hütten 
vom Boden auf; offenbar trachteten dort Fiſcher auf diefem nie befuchten Erd— 
fled€ ihrer Nahrung nad. Beträchtlich weit noch war's zu ihnen hinüber, und der 
niederfallende Pfad bug jegt von ihrer Richtung zur Rechten ab an den Strand 
hinunter, wo fchon der nördliche Abfturz der Stubbenfammer dicht herzutrat. Da 
hielt der Schiffer überrafht vor einem unerwarteten Anblif den Fuß an. 

Auch bier, in völliger Einjamfeit lag ein Haus, erſt ganz in der Nähe zu 
gewahren, zur See hinaus durd einen Dünenmwall gededt, an den Geiten von 
zerklüftetem Felsgeſtein umfaßt und überragt, wie zu diefem gehörig erjcheinend. 
Mit feiner Farbe hob ſich's in nichts davon ab, denn ed war aus losgebrochenen, 
nur roh behauenen Stüden der weißen Kreidewände aufgebaut, nur das Dad 
war von breitübergelegten, dien, mit Seetang ausgefugten Baumftämmen ge: 


Wilhelm Jenſen, Der Tag von Straljund. 501 


bildet, und die Zugangsthür war aus Holzbohlen gezimmert. So lag's abſonder— 
(ich da, breitgeftredt, Feiner Filcherhütte gleichend, wie eine für die Anfammlung 
von vielen hergerichtete, zum Schuß gegen Unwetter überdedte Halle; noch ver: 
wunderfamer aber ftellte fi ein Bierat an den Wänden dar. Wo bis zu 
Manneshöhe aufwärt3 ein Stück ebener Fläche e3 möglich gemadjt, waren in 
das weiche Geſtein Bildumrijfe von Rad und Galgen eingeritt, neben der Thür 
einer, der einen Mann in Scarfrichtertradht mit hoch aufgehobenem Schmert 
wiedergab. Der jeltfjame Bau jchien leblos verlaffen zu fein, nur eine große 
Möwe mit breitklafterndem Flügelichlag zug drüber hin. Doch wie fie beim 
Anblid des von der Waldhöhe Herabgefommenen einen jchrillen Ruf ausftieh, 
ging die breite Thürbohle auf, und ein Weib trat in die Deffnung. Sichtlich eine 
Wendin, das dunffe Haar fiel ihr, leicht graudurdjiprenfelt, lang bis über die 
Hüften herunter und darunter ein wunderliches Gewand vom Hals zu den Füßen 
nieder, denn fein baummrindengrauer Stoff war ebenjv wie das Haus mit Fleinen 
Abbildern von Galgen und Rädern bejteppt. Sie heftete die ſchwarzen Augen- 
fterne mit einem fcharf eindringenden Blik auf den unweit vor ihr Stehenden, 
betrachtete ihn kurz und fragte dann in der Sprache des niederdeutſchen Nordens: 
„Bon wo kommſt Du hierher?" Auch ein paar fchattenhafte Furchen auf ihrer 
Stim thaten kund, daß fie für eine Frau nicht mehr jung jei, doch in ihrer 
Stimme lag noch etwas Helltöniges, an den Klang von Eleinen Strandgeftein 
erinnernd, wenn die Uferwellen dazwijchen bineinjpielten. 

Berwundert hielt auch der Befragte den Blid in ihr Geficht gerichtet und 
antwortete: „Wohnft Du in dieſem Streidehaus? Du trägit ein fonderbares 
Kleid.“ 

Nun 309 fie die Oberlippe zu leichtem Lachausdruck über die weißen Zähne 
herauf und gab zurüd: „Solces Kleid webt der Wind hier. Kennſt Du’s nicht? 
Da kommſt Du nicht mit rotem Segeltuch.“ 

Es regte den Eindrud, daß er ihrer Augenprüfung nicht mißfalle, denn fie 
jegte hinzu: „Haft Du Hunger? Das Haus fteht offen. Iß und trink!" 

Sich umfehrend, trat fie ins Innere zurüd, das ungeteilt nur einen einzigen 
großen Raum enthielt. Er ſah aus, als diene er einer beträdtlihen Anzahl von 
Männern zum Aufenthalt, doch befand fidh niemand drin. Auf Gefimjen ftanden 
erzene Beher und Humpen, Schilde und mandjerlei Gewaffen hingen an den 
Wänden, die von Bänfen umlaufen waren; ein riefiger Tiſch aus Cichenholz mit 
dien Kolbenbeinen nahm fait eine der Uuerfeiten ein. Gegenüber lag Die 
gleihfall3 aus geſchwärztem Sreidegeftein aufgerichtete Herbftatt, zwei Lager- 
ftätten erhoben fich kaum fußhoch über dem Boden, doch zeigten fie ji) auffällig mit 
prädtigften ‚Buntwerf‘ aus Nowgorod überdedt, wie die Pelzichauben der vor: 
nehmften Ratsherren in den großen Danjeftädten es nicht Eoftbarer aufweiſen 
fonnten. An mehreren Stellen waren in die Wandungen runde Fenſteröffnungen 


502 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 


bineingebrochen, durch die Licht in den eigentümlichen Raum des Baues fiel, der 
wohl kaum irgendwo an der Dftiee feinesgleichen haben modte; Jörg von der 
Lippe wußte ihn fich nicht zu deuten. Er ſaß an dem Tifch, wo die Bewohnerin 
de3 weißen Haufes auf einer Erzichüffel einen Ealten gebratenen Buttfiſch vor 
ihn Hinfegte und Brot daneben legte; da er in der That von Hunger befallen 
worden war, griff er unmillfürlich zu und af. Nun holte fie einen Krug, nahm 
einen gewaltigen Humpen vom Sims, den fie mit goldgelbem Met anfüllte und 
dazu jagte: „Kannft Du den mit einem Zug zwingen?" Das Riejengefäß an- 
jehend, jchüttelte er den Kopf: „Das fann ein Menſch nicht.“ Sie flug ein 
Laden auf: „Einer war, der hat’3 gefonnt. Aber Du haft nicht von jeinem Blut 
in Dir. Was hat Dich hergebracht? Sag, wer Du bift?" 

Eie jette fich neben ihn, und er gab ihr Auskunft; während er jprad), 
juchte jein Sopf vergebens umber, was er aus ihr und ihrer Behaufung machen 
follte. Wer hatte die jo gebaut, jo ausgerüftet und lebte mit ihr drin? Steine 
Fiſcherhütte war's und fie fein Filcherweib; in ihrem Behaben und Geficht lag 
ganz Andres, nicht Benennbares, fie mußte jchön geweſen fein, wars noch jett. 
Aber auf Fragen, die er vorbradte, antwortete jie nicht, jondern lachte. Nur 
wie er von dem Eleinen See droben im Wald redete, erwiderte fie: „Willft Du 
jung bleiben, ſchwimme drin. Herthas Wafler giebt Jugend und Kraft.” Ihre 
Art erregte ihm den Eindrud, als ob fie nicht ganz rediten Sinnes jei; das 
mußte jie ihm aus dem Blid lejen, ihr fam vom Mund: „Du denkſt, was war; 
aber was war, ijt gewejen. Im Herbſt werden die Früchte reif und die Menſchen 
flug. Das thut die Sonne, die ift ftärfer al3 der Mond. Nur über junges 
Blut hat er mehr Gewalt als fie. Wareft Du im Mondlicht an Herthas Wafjer? 
In Deinen Augen fteht's. Der Mond hebt die Wellen aus dem Grund, daß fie 
ichwellen und reifen. Ach bin nicht mehr thöricht, aber Du bift noch zu jung 
und mußt in die Sonne.“ 

War das Irrſinn oder was? Der Hörer vermodhte ſich's nicht zu erflären, 
doch fühlte er, jein Kopf ſei Heute in einem fonderbaren Zuftand, der ihm längeres 
Verbleiben in dem wunderlichen Raum nicht rätlich made. Aus den Reden des 
Weibes kam etwas ihn wie mit einem Schwindel Anfajjendes; er Stand auf, 
dankte für die Bewirtung und zog ein Geldftüd hervor, um es auf den Tiſch zu 
legen. Doc die Frau jagte mit einer geringichätig abmweilenden Handbewegung: 
„Behalt’3, das haft Du nötig, nicht wir.” Den Sinn ſchien's zu haben, dat 
Geld Hier in der Einöde wertlos fei, da ſich nichts dafür kaufen laſſe. Aber wie 
fie hinterdrein fagte: „Wir haben genug an der Ehre, die ein Burgemeiſterſohn 
von Stralfund uns angethan,“ nahm fein vermwirrter Blid zum erjtenmal gewahr, 
die Schwere Schüfjel, aus der er gegejien, jei von getriebenem Silber. Lachend 
feste fie nochmals Hinzu: „Vielleicht kommt aud einmal ein König zu uns zu 
Saft, dem müſſen wir auf goldnem Gerät aufwarten." Zugleich jedoch regte 


Wilhelm Jenſen, Dev Tag von Stralſund. 303 


fi etwas unter der offen gebliebenen Thürmwölbung, die Augen Jörgs von der 
Lippe gingen ummillfürlich dortbin, und plößlich ftieß er befinnungslos hervor: 
„Du warft e8 — Du biſt's —“ 

Ein Mädchen trat herein, auf den erjten Blid als die Tochter des MWeibes 
erfennbar. Die Antlitzüge waren die gleichen, und das gleiche jeltiame Gewand 
umgab ihren fchlanfen Wuchs; nur jahen zwei grauperlend helle Augenfterne aus 
dem Geficht, und fie trug das lange, Schwarze Haar zu einem lojen Knoten ver: 
ichlungen über dem mweißleuchtenden Naden. Ihre Hand hielt in einem Rohr: 
gefleht am Strand gefammelte Mömeneier, die bloßen Füße fetten ſich jchmal, 
doch zu vollfommener Schönheit ausgebildet unter dem Kleidſaum vor. Höchſtens 
jiebzehnjährig mochte fie fein, blickte erjtaunt den unerwarteten Fremdling an. 

In feinem Gedächtnis war aus den Worten der Mutter undeutlich etwas 
einmal Bernommenes aufgewacht, ein Name, den er als Sind von einem Schiffer 
aus Olde Behr, dem Dorf auf Rügen Stralfund gegenüber, nennen gehört. Das 
ließ ihm ungemwiß jett die frage vom Mund kommen: „Bilt Du Hertha — und 
gehört Dir der See dort oben im Wald?* 

Die Frau fah ihn kurz, wie nad) einem Verſtändnis fuchend, an, dann gab 
fie, wieder lachenden Tons, Antwort: „Sa, Hertha gehört er, meiner Tochter. An 
feinem Grund fteht ihr Schloß, und alles Hier ift ihr zu eigen, Waffer und Land. 
Ich bin ihre Dienerin nur und darf über ihrem Schlaf waden, wenn die Nacht 
kommt. Willſt Du fchon fort von uns, Jörg von der Lippe? Setze Did nod) 
wieder, ich jehe, Hertha erlaubt Dir's, noch zu bleiben.“ 

Die Sprecherin holte ein Eoftbares Zobelfell herbei, das ſie über eine Banf 
zum Sit für ihre Tochter dedte; darauf ließ diefe ſich nieder, und ſinnverworren 
jeßte auch der junge Schiffer ſich zurück. Er wußte nicht, was ihm feinen erjten 
jähen Ausruf entriffen habe; zu unficher hatte das Mondlicht der Nacht den See 
überfponnen, um die Geſichtszüge der weißen Erfcheinung zwiſchen den glimmernden 
Wellen untericheiden zu laffen. Aber trotzdem erfüllte ihm gleichjam Leib und 
Seele eine Ueberzeugung, die dort vor ihm Sitende ſei's geweſen, durchfloß ihn 
mit einem unbekannten, zugleich jchredhaften und Eöftlihen Graujen. War's ein 
Menſchengeſchöpf oder eine Seejungfer? Ahr Schloß, Hatte das Weib geredet, 
jtehe drunten am Wajfergrund, und alles umher gehöre ihr zu eigen; jo ſprach 
das Wolf von der Hertha, die droben auf der Inſel bei der Kreidewand hauje. 
Wortlos fitend, richtete er den Bli unter niedergefchlagenen Lidern auf ihre 
Füße hinab. Die erichienen al8 ungewöhnlich Schöne Füße eines jungen Mädchens, 
faft noch wie die eines erit halbwüchſigen Kindes. Doc er traute feinen Sinnen 
nicht, fie ungaufelten ihm feit gejtern Muge und Ohr mit Täufchung. Freilich 
auf einem Fiſchſchwanz hätte fie nicht durch die Thür hereingehen fünnen, aber 
wie die Hüter von etwas Geheimnisvollem umichlofien die Wände des weißen 
Steinhaufes den Raum, und feine Luft atınete ſich ein, als jei Betänbendes im ihm. 


504 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Ztraliund. 


Mit einem Ausdrud von Verwunderung hafteten die hellen Augen der Hertha 
auf dem Gefiht des jungen Gaftes, wie wenn fie bis heute noch nichts feiner 
Urt geſehen habe. Doch mehr noch ftaunte er bei ihrem Anblid; war fie ein 
Menichenkind, fo gab's fein ihr ähnliches, das ihm irgendwo begegnet. Das 
Gewand mit den abftoßenden Bildzeihen fiel an ihr nieder, als ſei's ein Fürften- 
mantel, und fie faß auf der Holzbanf wie auf einem Thron. Oder lag eine Be- 
rüdfung über feinen Augen, die ihm nur ein folches Bild vorjpiegelte? Er hatte 
noch feinen Ton aus ihrem Munde gehört und Eonnte ſich ihre Stimme nicht 
vorftellen; endlich gelang's ihm, Mut und Sprache zu finden, die Frage von den 
Lippen zu bringen: „Bift Du heut Nacht droben in dem See geihwommen ?“ 

Nun antwortete fie: „Sa. Ich thu's immer, wenn der Mond body am 
Dimmel it." Die Stimme Elang hell gleich ihrem Blid, dem Hörer war's, als 
ihimmere auch aus ihr ein Glanz. Doch ganz einfach hatte ſie's erwidert und 
fügte nad: „Woher weißt Du's?“ 

„sh ſah Di) und rief Dir zu. Bift Du ein Mädchen?" 

Bedachtlos und unbewußt flog'3 ihm hervor, er erichraf, wie er's in feinem 
Ohr gehört, und widerrief'3 haftig: „Nein, nur etwas im Wafler ſich bewegen 
ſah ich, doch konnt’ es nicht erkennen, ich glaubte, ein Fiſch ſei's.“ 

Seinem Gefühl war auf einmal doc zweifellos aufgegangen, ein Menjchen- 
find jige vor ihm, cin Mädchen, dem jeine Augen Unziemliches angethan, das er 
unverhohlen fundgegeben. Furcht hatte ihn befallen, ſie werde fich beleidigt von 
ihm abfehren und davongehen, doch ihr Geficht zeigte nichts von Unmillen, fie 
blidte ihn an wie zuvor und verjegte: „Ward Deine Stimme, die id hörte? 
Alfo redeft Du mit Fiſchen bei Nacht?“ 

Dazu lachte fie fröhlich, und ihm ward's, als ſei zugleich Mondlicht und 
Sonnenglanz um ihn. Vom blintenden Wellenfpiegel gewiegt ſah er fie, und fie 
faß da in dem rätfelhaften Kleid; nicht Begreifbares ummob fie mit einem 
Schleier, doch ein junges Menichenbild, wie er noch feines gelehen. Nicht an dem 
Map anderer Mädchen in Städten und Dörfern war fie zu mefjen, denn ihr 
Gleichendes gab's nicht zum andernmal; wie ein lebendiges Abbild des weißen 
Kreibdefeljend mit dem dunflen Waldfranz auf jeinem Scheitel erjchien fie, aus 
ihm zum Licht unter Sonne und Mond heraufgefommen. Auch der junge Schiffer 
mußte jest lachen, über ſich felbjt, daß er zur Nacht mit einem Fiſch gefprochen 
haben follte. Ihm war's nicht mehr unheimlich in dem Kreidehaus mit der felt- 
jamen Ausftellung von Waffen und Scilden, Eoftbarem Pelzwerk und filbernem 
Gerät; für fein Empfinden gebührte das alles der Hertha, deren Dienerin fi 
ihre Mutter benannt, und er ſann nicht darüber nach, wie es in diefe Strandöbde 
bergeraten jei. In feinem Kopf war für fein Denfen Plaß, er jah und hörte 
nur die hellen Augen und die helle Stimme vor fi. Denn fie redeten jet weiter 
mit einander; die Frau ging am den Herd, Mittagskoft zuzurüften, und die beiden 


Wilhelm Jenfen, Der Tag von Stralſund. 505 


blieben, hin und ber fprechend, jcherzend und lachend, als wären fie ſich altbefannt, 
an dem großen Eichentiſch fiten. Der mußte manderlei befahren und 
gefehen haben; runde Krüge hatten ſich vielfach in feine Platte eingedrüdt, wie 
vom Niederftoßen fchwerer Erzhumpen, und quer drüberhin lief ein Schnitt, ala 
ob einmal ein Schwerthieb auf ihn heruntergefahren fei. 

Als Jörg von der Lippe unter dem Steilhang der Stubbenkamer weiter 
am Strand entlang fchritt, war die Sonne aus ihrer Himmelshöhe jchon wieder 
ein Stüd abwärts geitiegen, und ihm lag’3 um die Ginne, er habe die Tages- 
bälfte in einem Traum verbradt, aus dem er noch nicht zum Wachwerden ge- 
fommen. An dem Ankerplag jeiner Snigge zurüdgelangt, ſprach er faum, gab 
nur Eurz Befehl zur Abfahrt; Putte Kod, der Pugenmafer, zerrte mit einer 
Grimaffe feine Mütze vom ftruppigen Kopf und blies mit aufgepumpten Baden 
hinein. „Wat heit to puften?" fragte einer, und er antwortete: „Güſtern to 
veel, hüt to münner; id verjöf, dat wine Mütz vull Wind kriegt." Doc Herr 
Jörgen fchürzte die Lippe nicht zu einer Abfertigung der anzüglichen Rede, ließ 
fie ganz unbeadhtet, fchaute nur mit abwejendem Blid vor fi hin. So feinem 
Wejen zumider, daß die Mannjchaftsleute ſich ins Ohr tufchelten: „De löppt 
nid; wedder an de Hriedfant an, de hett wat ſehn.“ Am übrigen verhielt ſich's 
draußen mit der Windlofigkeit nicht allzu ſchlimm, aus der Stille unter der 
Stubbenfamerwand herausgebracht, blähte die „Schwalbe ihre Linnenflügel 
doch genügend auf, um, füdwärt® davonziehend, nach ein panr Stunden die 
menſchenlos öde, vielzerriffene und zerflüftete Halbinfel Möndgut zu umkreiſen. 
Der Sommertag erhielt lange feine Helligkeit, geleitete die Snigge durch den 
Greifswalder Bodden bis in den fehmalen, den Südrand Rügens vom Feitlande 
abtrennenden Strelafund, und als fie an der Fleinen Inſel Strela vorüberlief, 
hoben ſich unmweit hinter diefer in erſt beginnendem Dämmerlicht noch deutlich 
unterfcheidbar die hohen gotifchen Türme der Jakobi- und Nikolaikirche jenfeits 
der mächtigen Ummallungsmauer Stralfunds in die Luft; die gewaltige Marien: 
Eirche, die vordem alles überragt gehabt, befand jic, gegen den Ausgang des 
letten Jahrhunderts mit ihrem Hauptteil zufammengeftürzt, noch erft im Wieder: 
aufbau. Ueberaus feftgefichert lag die Stadt, ringsum vom Wafjer des Sundes 
und drei Feiner Yandjeen oder großer Teihe umfdlofjen, auf einer Inſel, nur 
über drei ſchmale Dämme durch ftarfe Thore vom Land her Zugänge verftattend. 
Das Schiff legte neben dem außerhalb der Mauer belegenen Kloſter und 
Siehenhaus „Sankt Jürgen am Strande" an und der heimgefehrte Schiffer 
erhielt, dem Wächter aus Snabenzeit her befannt, durch das bereit nächtlich mit 
niedergelaffener Zugbrüde wohl verwahrte, ſchon manches Jahrhundert alte 
„Knieper Thor” Einlaß. Eine Straße mit bochgegiebelten Häufern durch— 
fchreitend, trat er bald auf den „Alten Markt‘ hinaus, über den fich als dunkle 
Scattenmafje die Nifolaifiche emporhob, daneben breit hingelagert das viel: 


506 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Straljund. 


betürmte Rathaus. Dem gegenüber ragte ein befonbders ftolger Giebelbau auf, 
ehemals der Wohnfig des Burgemeifters und Flottenhauptmanns Wulf Wulflam, 
der „der reichite Mann an der ganzen Oſtſee“ gemwefen, vor der Königin Marge: 
rete felbit wie ein Fürſt geitanden hatte, und als er feine Braut zum Altar in 
der Nikolaikirche geführt, mit ihr über den Alten Markt ganz auf Eoftbarften, 
lündiſchem Tuch dorthin gefchritten war; nun aber lag fein Haus lange verwailt, 
da er während der blutigen Wirrfale im Innern der Stadt vertrieben worden 
und in der Fremde geftorben. Nah vor der Thür war bald danad der Kopf 
feines Hauptgegners, des Burgemeifters Karſten Sarnow auf dem Marktplat 
unterm Richtichwert gefallen. Heute jedoch lag alles ftill und friedlich im ein- 
fallenden Nachtdunkel, die Angehörigen der „Geſchlechter“ ſaßen bei den Wein— 
fannen in der Trinkſtube des Rats, die Zünfte beim Hamburger Bier in den 
Gildeituben verfammelt, und unter einem alten, den Markt begrenzenden, pfeiler: 
getragenen Yaubengang mit gotiihem Gewölbe hindurch trat der junge Führer 
der Snigge in einen weitgeräumigen Dausflur und, die breite Treppe ans 
ſchwediſchen Granitfteinen hinanfteigend, in ein großes, von Bechpfannen erheliies 
Gemach. Doch auf einem Tisch brannten zwei dide Wachskerzen, davor ſaß, ein 
Schriftftüf überlejend, en Mann von madtvollen Wuchs mit vollem, faft weiß 
den Kopf bededendem Haar. Das war der jegige Altburgemeifter Stralfunds, 
Herr Nikolaus von der Lippe; von dem Pergamentblatt weg richtete er jeine 
fcharf eindringenden Augen auf den Ankömmling, erhob fi) und fagte, diefem 
die wuchtige rechte Hand binftredend: „Bilt Du zurüd? Steht's zurecht auf der 
Schufterbrüde in Bergen?" 

So hieß das wichtige Hanfakontor droben in der norwegiſchen Stadt, deren 
deutiche Kaufleute und Gewerbtreibende unter dem Sammelnamen „Scuiter” 
zufammengefaßt wurden. Es zeugte von jtarfem Bertrauen in die Tüchtigkeit 
und Einfichtigkeit des jungen Mannes, daß er nach Bergen gejchidt worden war, 
die dortigen, vielfach unliebfam zerfahrenen und vermwilderten Zuftände zu begut- 
achten und Bericht davon abzulegen. Das that er jett und offenbar mit Elugent 
Einblid zur Befriedigung des Hörerd. Doc ſeltſam ftach fein Berhalten von 
dem ab, das er auf dem Schiff gegen die Mannichaft gezeigt. Nichts Kühnes 
und Selbſtbewußtes lag darin, gefchweige denn Troßiges; unficher, beinahe ſcheu 
ftand er, die Augenlider halb niederfenfend. Man ſah, bier fühlte er fich nicht 
al3 den Herrn, nur al3 der Junge vor dem Alten, war der Sohn des Haufes 
noch wie in Knabenzeit ohne eigenen Willen; ihn jchredte fein Sturm und feine 
Gefahr, aber vor dem auf ihm haftenden Blid des Vaters ſtrich er die Segel 
feines Muts und feiner Zuverfiht. So bradte er den Bericht zum Ende, und 
Herr Nikolaus nidte: „Gut, id bin mit Dir zufrieden. Du haft die Augen offen 
gehabt. Das Salzwaſſer macht Hunger und Durft; ſetz Dich an den Tiich"- 
Weiter, nad) der langen Fahrt, ob fie an den nordifchen Schären oder fonit in 


Wilhelm Jenſen, Der Tag von Straljund. 507 


den dänischen Waſſern bedrohlich geweſen fei, fragte er nicht; felbftveritändlich 
war's, daß fein Sohn über jeden Widerftand Herr geworden. Dann ſaßen fie 
zujammen beim Nacdtmahl, daran aud) Adelheid und Landhill, die Hausfrau und 
Tochter, mit teilnahmen, und, aus gefülltem Pokal dem Heimgekehrten den Will- 
fomm zutrinkend, ſprach Nikolaus von der Lippe danach: „Richlint Wulflam 
wird morgen warten, daß Du ihr von Deiner Bergenfahrt erzählit“. Eine Nach— 
fommin des großen Geſchlecht war's, und ſchon feit einiger Zeit war in der Stadt 
Rede gegangen, um langjährigen Zwijt zur Ruh zu bringen, trage der Burge— 
meijter eine Berbindung zwiichen ihrer Sippe und der feinigen tm Sinn. Das 
fiel dem Angefprochenen nicht ein und gleichgültig, mit hellem Lachen gab er Ant- 
wort: „Da wird Ridhlint Wulflam umfonft warten, denn ich weiß zu thun, was 
mir lieber if.” Doch fein Vater verjegte drauf: „Ach denke, dem Werber kann 
nicht$ lieber fein, al3 Rede mit der Jungfrau zu pflegen, die er fich zur Braut 
füren will" Nun nahm Jörg gewahr, daß die buſchigen Brauen des Alten ſich 
etwas auf die Augenhöhlen herabzogen; ablentend erwiderte er: „Meßt Ihr mir 
jolcherlei Vorhaben zu? Dafür halt’ ich mid) zu jung noch und gedenfe Eurem 
Borbild nachzufolgen, exit reifer an Einfiht Euch eine Schwäherin in’3 Haus zu 
führen.” — „Defjen bedarfit Du nicht, da meine reife Einficht Dir beihilft. Mit 
der habe id) die Wahl für Dich getroffen; Richlint Wulflam bringt Deiner Zukunft 
das Anſeh'n ihres Gefchlecht3 zu und reichere Brautgift, ald eine zweite Tochter 
unjerer Stadt." — Bedadhtlos flog dem Jüngeren heraus: „Um Geld brauch’ ich 
nicht zu freien, defjen hab ich jelbit genug“. Sekt aber ſchob Herr Nikolaus die 
breite Unterlippe vor und entgegnete fcharftönig: „Du haft Geld, weil Dein 
Bater es jeinem Sohn giebt. Wäre meine Lade Div zugeichloifen, hätteft Du 
feines". Ein jchredhafter Ausdrud befiel die Gefichter der Dlutter und Schweſter 
Jörgs, ängſtlich fahen ihre Augen auf ihn Hin, denn er jtand vom Sit auf, und 
über feiner Stim jchien mit einer roten Flamme als fein väterliches Erbteil 
auch der Willenstrog emporzufchlagen. Doch vor dem ftählernen Blid des Alten 
verſtummte der Junge, die Antwort, die fic ihm aufgedrängt, ftodte auf feiner 
Zunge, und er entgegnete nur: „ch habe in letter Zeit nicht Schlaf gefunden 
und bin müde; verargt mir nicht, Herr Vater, daß ich Euch für heute jchon 
verlaffe und in meine Sammer gebe." Das Blut derer von der Lippe 
fennzeichnete fi in feinem Geficht, aber aus feiner Stimme wagte es fidh 
nicht hervor. 

In das Haus Richlint Wulflams jedod, ging Jörg von der Lippe am andern 
Tag nicht, dagegen fuchte er eines auf, das an der Papengajje in einem Hinter: 
winfel der Jakobikirche belegen war und jtieg darin, zuleßt mehr auf einer Reiter 
als einer Treppe, hoch bis zum vierten Stodwerf hinan. In enger, dürftiger 
Biebelfammer haufte hier ein Mann mit langem, afchengrauem Haupthaar, der 
von der Mehrzahl der Bevölkerung Stralſunds gemieden wurde. in gelehrter 


308 Wilhelm Fenfen, Der Tag von Stralſund. 


Magifter war's, des Namens Bertram Wigbold, er jtand im Auf, der Geijter- 
funde und ſchwarzer Künfte mächtig zu fein; hauptfächlich aber flößte er Scheu 
ein als ein noch lebender Bruder Cord Wigbolds. Der war an der neuen Hoch— 
ſchule der Nachbarſtadt Roftod gleichfalls Magifter der Weltweisheit gemejen, 
doch Hatte er eines Tags fein Lehrkatheder mit dem Schiffskaſtell vertaufcht, um 
als Genoſſe Elaus Störtebefers und Godefe Michels einer der wildvermegeniten 
und am meiften gefürditeten Lifedeeler zu werden, bis jchließlich der Meifter 
Rofenfeld auch ihm auf dem Grasbroof im Hamburg den Kopf vom Rumpf 
abgeichlagen und jeine Gliedmaßen aufs Rad geflochten. Das beſonders umgab 
Wigbold mit Unheimlichkeit, doch nicht für den Burgemeifterfohn, der fi) vor 
nichts auf der Welt fürchtete al3 vor feinem Vater. Außerdem fannte er den 
Magifter feit langem ber, denn er hatte ala Knabe Unterricht in der lateinischen 
Sprade von ihm befummen; fo fette ben Alten der Beſuch heute nicht in Ver: 
wunderung. Nur kam's ihm bald zum Gefühl, daß feinen ehmaligen Schüler 
eine Abficht hergebracdht habe, mit der er unfchlüffig zurüdhalte, nicht recht wiſſe, 
wie er fie ausführen ſolle. Dann indes jagte Jörg von der Lippe, wie er geitern 
an den hoben Sreidefelfen von Rügen vorlibergejegelt, fei ihm dunkel in der 
Erinnerung aufgewacht, daß der Magifter einmal davon geſprochen, der römifche 
Geſchichtsſchreiber Tacitus rede in einer feiner erhalten gebliebenen Schriften von 
der Inſel; da habe ihn danach verlangt, zu erfahren, was dies fein möge. Den 
Wunfd konnte Wigbold ihm befriedigen, denn er hatte als koſtbaren Schatz eine 
Abſchrift der „Bermania” des Tacitus in feinem Befit, aus der er jene Kunde 
geihöpft, und legte die hervorgeſuchte mit der aufgeichlagenen Stelle vor Jörg 
von der Lippe hin. Go weit aber reichte defjen Kenntnis der alten Sprache doch 
nidht, er mußte nad) einem fruchtlofen Berfud den Magifter um eine Berdeutfchung 
bitten, und diefer übertrug ihm den kleinen Abfchnitt: 

„Sonft ift nicht3 bei diejen Völkerftämmen anzumerken, als daß fie gemein- 
fanı die Göttin Nerthus, das heißt die Mutter der Erde verehren, die nad; ihrer 
Ausfage hier erfcheint. Auf einer Anfel des Ozeans ift ein heiliger Wald und 
in ihm, mit einem Gewand bededt, ein geweihter Wagen, den nur der Priefter 
berühren darf; er erfennt die Anmwefenheit der Göttin in ihrem Heiligtum und 
begleitet in tiefer Andacht ihren von weiblichen Nindern gezogenen Wagen. 
Dann find frohe Tage und Feſte an den Stätten, die fie ihres Kommens und 
Aufenthalt würdigt; feine Kriege finden ftatt und Feine Waffen werden ergriffen, 
alles Eiſen liegt verjchloffen; danı allein ift Frieden und Ruhe befannt und nur 
dann geliebt, bis derjelbe Priejter die ihres Umgangs mit den Sterblihen fatt 
gewordene Göttin in ihren Tempel zurüdführt. Alsbald werden dann der 
Wagen, das Gewand und — wenn man dem Glauben fchenken darf — die Gott— 
heit felbft in einem geheimen See gebadet; Sklaven find dabei behülflich, die 
gleich danadı dieſer Eee verſchlingt. Deshalb umgiebt ein verfchiwiegener 


Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralſund. 509 


Schauer und heilige Unkundigkeit jenes Wejen, das nur foldhe, die dem Tode 
anheimzufallen beftimmt find, erbliden.“ 

Bertram Wigbold fügte dem Borlefen nah: „Es fteht wohl in Zweifel, 
ob damit wirklich die Inſel Rügen gemeint ift. Doch habe ich vernommen, daf 
von Leuten, die dort am Nordrande leben, ein Waldgemwäfjer heutigen Tags der 
See der Hertha benannt werden ſoll.“ Unbewußt flog Jörg hervor: „Sa, 
Hertha — und Geheimnisvolles liegt um ihren See — aber fie ift eine Jung— 
frau von Menfchenart, nicht die Göttin, von der Tacitus berichtet." FForfchend 
bielt der Magifter jeine Elugen, mit grünlihem Schimmer flimmernden Augen- 
fterne auf den Sprecher gerichtet, bevor er entgegnend jagte: „So waret Ahr 
am Lande bei dem Kreidefelfen der Stubbenfamer und habt jelbft das mit 
Augen gejehn, wovon hr redet." Nun erft geriet dem jungen Mann zum 
Bewuhtwerden, dat ihm diefe Kundgabe vom Mund gefommen fei; er zauderte 
kurz, doch ftand dann auf und ſprach: „Ahr Habt mir die lateinifhe Schrift 
überfetst, weil mein Berjtändnıs dafür nicht ausreichte. Aber es mangelt mir 
noch für anderes, vielleicht finde ich auch zu deſſen Aufhellung an Eud einen 
Beirat. Gelobt mir mit Eurer Hand, Ihr wollet vor jedem Ohr verfchtwiegen 
halten, was ich Euch Eundthue.“ 

Der Magiiter gewährleiftete die Anforderung mit feiner Hand, und Jörg 
von der Lippe berichtete ihm ausführlich von dem rätjelhaft Unbegriffenen, das 
er auf Jasmund angetroffen. Wortlos gab der Zuhörende auf die Erzählung 
acht, erwiderte nad} ihrer Beendigung: „Was Ihr zu wiſſen begehrt, kann ich 
Euch fogleich zur Stelle nicht fagen, doc; Ahr feid mit Eurem Wunfd zu mir 
nicht fehlgegangen. Mein Gedächtnis bedarf der Unterftügung, die ich in einigen 
Schriftftüden nachſuchen will. Wollet Ihr, der Sohn des Burgemeifterd dem 
noch am Leben verbliebenen Bruder des ehemaligen Seeräubers die Ehre an- 
thun, heute gegen den Abend wieder bier vorzufehren, fo hoffe ih, Euch 
wenigftens in einigem die Auskunft, nad der Ihr Verlangen tragt, geben zu 
können.” 

Als die Abenddämmerung herankam, trat Jörg von der Lippe zum andern- 
mal an biefem Tag aus der Behaufung des Magifters hervor; fein Geficht 
überzog eine ftarf rote, von innerer Erregung zeugende Färbung, ein Ausdrud 
jelbftändigen, entichloffenen Willens füllte ipm die Augen. Er begab fi nicht 
zum Alten Markt in fein Vaterhaus zurüd, fondern vors Thor an die lange 
Ladebrüde der Stadt hinaus, rüftete dort eine Fleine, ihm gehörige einmaftige 
Schute für eine Fahrt zu. Mit der jegelte er ein Stüd weit nordwärtd am 
Hafenrand entlang, landete an und nahm eine hier wartende Gejtalt auf. Raſch 
ftieß das Fahrzeug wieder vom Ufer ab, lief bei günftigem Wind Hurtig dem 
„Bellen“, der nörblihen Fortſetzung des Strelafundes, zu; über Rügen ber 
ftieg der Mond in die Höhe und machte dem am Steuer figenden jungen Schiffer 


510 Wilhelm Nenfen, Der Tag don Stralfimbd. 


gegenüber die Züge des Magiſters Bertram Wigbold erkennbar. Unter der 
langen Inſel Hiddensö hin durchzog die Schute den Gellen in die offne Oſtſee 
hinaus, umbog im anbrechenden Morgenlicht das öde, nur von zahllofen Ufer: 
Ihwalben überfhwärnte Vorgebirge Arcona an der Nordfpite Rügens, von der 
wendijchen Urbevölferung jo ald „am Ende der Welt“ benannt; ragend fahen 
von dem fteilen Hang die Trümmer des zerftörten Tempels herüber, in dem die 
Slaven vordem das ungeheure Standbild ihres oberjten Gottes Swantewit 
verehrt hatten. Nun legte Jörg voh der Lippe das Ruder herum, und das 
vollgebaufchte Segel flog durd die breite Bucht der „Tromper Wiek“ ſüdwärts 
der im Frühſonnenſtrahl weiß aufichimmernden Sreidefeljenfüfte von Jasmund 
entgegen. (Schluß folgt.) 


16 


Ausiprücde aus dem „Boldenen Buch“.“ 


Ichles Biel der Politik if, den Einzelnen dahin zu bringen, daß er [einen Egoismus 
mit Bewußtlein unter die für die Mllgemeinheit als nüklicdh erkannten Zwecke beugt. 
Bernbard von Bülow, Reichskanzler. 


Je Härker die Wogen des Materialismus branden, je ärker [oll aud das Bemwußt- 
fein des Peuffchen werden, daß feine Beimat das Baterland des Idealismus if. 
Pbilipp Braf zu Eulenburg«-berteteld, Kaiferl, Botſchatter. 


o 
Deutſche Rulfur und deutſche Willenfchaft find dev Sauerteig ruropäilcher Bivilifation. 
Theodor von bolleben, Kaiferl. BSotſchalter. 
o 


Das kommende Yahrhunderi wird weniger unler dem Zeichen innereuropäilcher 
Kämpfe als unfer dem Zeichen überſeeiſcher Weltwirtichaftspolitik ſtehen, und Deutſchland 
if unter allen Kontinenfalmählen Europas an rrfier Stelle befähigt und berufen, dank 
feiner Bevölkerungszunahme, feiner militärifchen und geifligen Begabung, dank feiner 
nationalen Energie, in diefem Bonkurrenzkampfe um Erfchliefung neuer Ablahgebiefr, 
um das Erbe altersfchwacer aftatifher Staatengebilde und um den Hebergang von Rolonieen 
aus ſchwachen in Närkere, kulfurfähigere Bände ſich durch Sicherung der Sregewalt die 
ihm gebührende Weltmadhtllelung zu erwerben und zu erhalten. Hnd der jugendliche Recke 
wird diefe Aufgabe löfen, went er nur der Leidenfchaflen im Innern Bert zu werden weiß. 

Grat bDermann von Arnim, Wuskau. 
o 

*, „Boldenes Bud bes dbeutihen Bolles an ber Jahrhundertwende” Bb.]. Heraus— 

gegeben von Julius Lohmeyer. Berlag von 3.3. Weber, Leipzig. 


TNHTENTNTNTENTNTNTHTHTNTNTNTNTL 


China im Zeichen des Fortschrittes. 


Von 


Friedrih Hirth. 


r stina lente, das ijt jegt die Lofung des von einem janguinifchen Kaiſer 
und jeiner weltklugen Erzieherin gehaltenen Drachenbanners. Die vor drei 
Jahren durd den Staatöftreich derjelben Kaiſerin-Witwe, von der jet die Fühnften 
Pläne Kuang-ſüs gut geheigen werden, fo jäh unterbrochene Wera der Reformen 
bat nun wirklich eingejegt, diesmal unter Mitwirkung vieler- Elemente, die damals 
noch fich recht fühl verhielten, wenn nicht offenen oder verjtedten Widerftand 
leifteten.. Die Gründe, weshalb die Aufpizien, unter denen fi) die neuefte Reform— 
bewegung vollzieht, weit günftigere find als diejenigen des Jahres 1898, treten 
Har zu Tage, wenn wir und die Umftände vergegenmwärtigen, unter denen fie ſich 
damals entfaltete, gegenüber der heute jo gänzlich veränderten Lage. 
Neformanläufe waren ja in einzelnen Zweigen des dhinefiiden Stants- 
lebens ſchon feit Jahrzehnten gemacht worden, zum Teil mit Erfolg. Man denke 
nur an den GSeszolldienft und an die Ausbildung einzelner Truppenteile nad) 
europäifchem Mufter. Aber der Gedanke an diefen Umſchwung in den Grund» 
lagen des gejamten Negierungsfyitems, der den Reformplänen des Kaiſers zu 
Grunde lag, war erit die Folge der gänzlichen Niederlage der Chineſen im japa- 
nifchen Kriege. Nur die Eraffefte Berblendung, wie fie leider bei den chineſiſchen 
Konjervativen alten Schlages noch oft zu finden ift, fonnte ſich der Einficht ver- 
ichließen, daß Japan, das ja früher ähnlich wie Ehina ſich vor dem Eindringen 
weftlicher Kultur ängftlich abgeſchloſſen hatte, erft dur; die gänzliche Umkehr von 
feinen alten Vorurteilen groß und ftark geworden war. Die nächſte Folge war, 
daß einige dentende Politiker alles Heil für China in der Nahahmung des von 
Japan gegebenen Beiſpiels ſuchten. Diefer Gedanfe beherrjchte nicht nur den 
Kaifer Kuang-fü und feine unmittelbaren Berater, den gelehrten Reformtheoretifer 
Rang Yu⸗wel und feine Freunde; aud die Kaiferin-Witwe, die ja nad allem, 
was fie bis dahin gethan Hatte, gegenüber den Stod-Stonjervativen faft liberal 
genannt werden durfte, war von der Notwendigkeit gewiſſer Reformen überzeugt. 
Ein feitenlanges Eaiferliches Editt vom 17. Januar 18%, das — wie man 
zwijchen den Zeilen lefen fann — unter ihrem Einfluß entftanden ift, legte ſchon 


512 Friedrich Hirtb, China im Zeichen bes Fortſchrittes. 


damals Zeugnis davon ab. Endzweck diefer Reformen war freilich nicht der 
freundliche Verkehr mit anderen Völkern, jondern dad, was er zweifellos aud 
jegt noch ift, die Erhöhung der Leiftungsfähigkeit des Reiches in militäriicher 
Beziehung, um nötigenfall® einem nationalen Unglüd, wie es der japanijche 
Krieg geweſen war, vorzubeugen. Der Kaijer, in deſſen Namen das Edift aus: 
gefertigt ift, befchwert ich darin, daß infolge des Krieges mit Japan zwar zahl: 
reihe Vorſchläge zur Wiederherftellung und Aufrechterhaltung der chinefiichen 
Macht aus Mandarinenkreifen eingelaufen jeien, daß jedoch, jo oft wirkliche 
Schwierigkeiten mit den fremden Mächten in Ausficht ftänden, gerade die Urheber 
jolher Vorfchläge fi als unfähig in Nat und That erweijen, da das Land 
militärifch den von allen Seiten drohenden Gefahren nicht gewachſen jei. Deshalb 
jei die Reform der VBerteidigungsmittel in eriter Linie geboten. Als Haupthindernis 
dabei ſei die jchlechte Finanzwirtſchaft zu betrachten, hervorgerufen dur die 
Unterjchleife der Lifinbeamten, die heimlich ihre Tafchen mit Staatögeldern an- 
füllen, und die Unterhaltung zwedlofer Truppen in den Provinzen. Trotz des 
Eaijerlihen Befehls, in diefer Richtung Abhilfe zu fchaffen, jeien gerade dieſe 
beiden Punkte von den Gouverneuren in ihren Denkfchriften nicht berührt worden. 
Nur der Yuftizminifter Kang J (berüchtigten Angedenfens) habe die Reform des 
Heerweſens und der zu diefem Zwede nötigen Finanzwirtichaft empfohlen. In 
feinen Vorſchlägen hatte Hang J vor allen Dingen die Abftellung gewiffer Un- 
fitten befürmortet, namentlid; die Anmwerbung minderwertiger Mannſchaften für 
die Armee, der Unterfchleife in den Lifinämtern, gewiffer Eoftipieliger Einrichtungen 
in der Salzjteuereinnahne, der Sinefuren für Günftlinge, überflüffiger Ausgaben 
bei den an fremden Höfen beglaubigten Gejandtichaften, bei den Arfenalen und 
Schiffäwerften und verfchiedenen vom Staat ernannten Körperichaften. 

Es Elingt wie Sronie, doch geht es aus dem ſoeben genannten Edikt 
Har hervor, daß Kang J, der Erzfeind aller Fremden, einer der erften geweſen 
ift, die den Kaifer oder in diefem Falle wohl die Kaiferin-Witwe von der Re— 
formbedürftigkeit des chinefiichen Staatöwefend zu überzeugen ſuchte. Zwar 
“handelte es ſich damals nicht um fo weitgehende, alles Herkommen umftürzende 
Pläne, wie fie der Kaifer im Sommer desjelben Jahres zur Ausführung bringen 
wollte; aber man würde doch zu weit gehen, wollte man den als ultrasfonfervativ 
bekannten Staatdmännern lediglih auf Grund ihrer perjönlichen Abneigung 
gegen die fremden jedes Berjtändnis für ſolche Reformen abſprechen, die ſich in 
der Abftellung fchreiender Mißftände äußern. Dasjelbe darf man von der Kaiferin: 
Witwe fagen. Wenn fie, die während eined Menſchenalters die Laſt der höchſten 
Verantwortung getragen hatte, ed nur ungern ſah, daß der Kaiſer, ihr Zögling, 
fih ganz in die Hände von zwar gelehrten, aber erfahrungslojen Theoretikern 
begab, fo ift dies mindeftens erflärlih. Ihre augenblidlihe Ohnmacht, daran 
etwas zu ändern, mag ihre Leidenjchaft angefacht und aufs äußerſte getrichen 


Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortſchrittes. 13 


haben. Bielleiht hätten die fortichrittsfreundlichen Beftrebungen des Kaiſers bei 
ihr größeres Entgegentommen gefunden, wären fie von altbewährten, buchgeitellten 
Staat3männern ausgegangen und in gemäßigterem Tempo betrieben worden. 
Die Abenteurer jedoch, die, wie fie glaubte, ihren wohlerzugenen Pflegejohn ver- 
führt hatten, wurden für fie Gegenftand glühenden Hafjes; eine Zeit der Ver- 
folgungen ſetzte ein; die Reaktion der Reformfeinde gewann die Oberhand, und 
fie, die es verftanden hatte, fich bei den Aufgeklärten ihres Volkes wie bei 
Fremden in den Ruf der Piberalität zu ſetzen, fchloß fi) den Führern der Gegen: 
partei an. 

Die Erinnerung an das nad unjeren wie nach allgemein menſchlichen Be- 
griffen ungejegliche Eingreifen der Kaijerin-Witwe durch die befannte Palaft- 
intrigue im September 1898 und ihre fpätere Begünftigung der mit verbrecherifchen 
Mitteln arbeitenden Partei des Prinzen Tuan läßt uns jelbft jetzt noch überfehen, 
daß fie bei allem Hafje gegen die vermeintlichen Urheber der rüdfichtslojen Leber: 
ftürgung der £aiferlihen Neformpolitif doc augenjheinlid aus eigenem Antrieb 
mancherlei Reformmaßregeln begünftigt hat. Lieft man heutzutage, wo die Leiden- 
Schaft des Parteiintereffes einer ruhigeren, mehr geihichtlihen Auffaffung Platz 
macht, wiederholt die dem Staatäftreid folgenden Edikte der nunmehr wieder 
allein regierenden Kaiferin durch, jo erhält man den Eindrud, daß fie durchaus 
nicht gefonnen war, den Wünfchen der Ultra-Konfervativen nachgebend, die Re: 
formbewegung gänzlich zu unterdrüden. Wie im Reiche die höchſten Memter 
zwijchen Fortjchrittlern und Rüdjchrittlern, Freunden und Feinden der Fremden 
und ihrer Intereſſen nad) wie vor geteilt blieben, fo verraten auch die in ihren 
Edikten ausgeſprochenen Anfichten durchaus nicht den einfeitig konſervativen 
Standpunkt, den mir von der erbitterten Feindin der Reformtheoretifer K'ang 
Yu⸗wel und Genofjen erwarten follten. Zwar ift der Zwed vieler unter der 
Rubrik „Reformen“ zu verzeichnender Maßregeln ein ziemlich durchſichtiger, da 
alles, was 3. B. für die Verftärkung der Armee, die Ausbefjerung der Stadt- 
mauern von Peling u. f. mw. gethan wird, dem wohl ſchon jetzt ins Auge gefaßten 
Plane zu einem großen Kampfe gegen die Fremden dienftbar war. Aber es 
finden fich doch auch Zeichen eines tieferen Reforminterefjes auf anderen Gebieten. 
Während einesteild viele von den durchgreifenden Aenderungen des Kaijers, wie 
die Abſchaffung der als Wön-tihang bekannten Eramenarbeit, des „Lateinischen 
Auffates der Chineſen“, rüdgängig gemacht werden und namentlid; das Er- 
ziehungsſyſtem auf feine urfprünglihen Grundlagen zurüdgeführt wird, weiſt die 
Kaiferin mit Entfchiedenheit den Antrag des Minifteriums der Geremonien auf 
Abschaffung der von dem Kaiſer ins Leben gerufenen Schulen für europätiche 
Wiffenszweige zurüd. Das genannte Minifterium, das ja ber Natur der Sade 
entjprechend in der Aufredhterhaltung des Beftehenden gewiſſermaßen eine Eriftenz- 
frage erbliden muß, hatte befürwortet, daß in diefen Schulen, wie ehedem, aus- 

38 


514 Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortichrittes. 


ichließlid; die Yehren des Eonfucius vorzuiragen fjeien. Die Haiferin war jedoch 
der Meinung, dad Ajtronomie, Geographie, Militärwiſſenſchaften, Mathematik u ſ. w. 
für den modernen Chineſen unentbehrlich find. 

So laſſen fi) aus den in der chinefiihen Staats-Zeitung veröffentlichten 
Aktenftüden nicht wenige Beweife dafür beibringen, daß die Kaiſerin troß ihrer 
zeitweiligen gänzlichen Unterordnung unter die tenflifchen Pläne des Prinzen - 
Tuan, fo lange fie einigermaßen jelbjtändig enticheiden fonnte, der Neformidee 
nicht ganz abgeneigt war. Daß die Univerfität felbjt während der Zeit, als die 
Neforumot am größten war, wenn auch nicht unterftüßt, jo doch twenigftend am 
Leben erbalten wurde, darf ihrem Einfluß zugeichrieben werden. Ebenfo kann 
e3 nur ihre über den Parteien ſtehende Macht geweſen jein, durch die troß aller 
Anfeindungen eines Yü Hien oder Kang J die liberalen Satrapen der mittleren 
Provinzen, Liu Kunz, Tſchang Tichr:tung und K'ui-tſün feit im Sattel blieben. 
Sie hatte zweifellos gute Gründe dazu und mochte aus der innerften Seele des 
reformbedürftigen und nad; Reform düritenden Volkes mehr herausleſen als ihre 
fonfervativen Berater. Pielleicht jah fie den unvermeidlichen Umſchwung vor- 
aus, in der Stille hoffend, dat die Eonjervative Bartei doch noch die Oberhand 
behalten würde. Für den Fall, daß e3 anders kommen follte, mochte fie es für 
geboten halten, fich zwei Wege offen zu halten. Wie die meiften ihrer Yeute ift 
die Kaiſerin Opportuniftin. Ihre Sympatbien wenden ſich nach einer Zeit des 
Schwanfens nicht auf einmal, aber langſam und ſicher der Partei zu, die den 
Sieg errungen hat, und dies ift, dank der Intervention der fremden Mächte, die 
Reforinpartei. Sonnte fie doch dem Drängen eines großen und mächtigen Teiles 
des Volkes nicht widerftehen und musste fie doch zu der Erkenntnis fommen, daß 
die Waffenerfolge der Japaner lediglich die Folge des auch im Nahbarvolfe er- 
kämpften Sieges einer Reformpartei geweſen find. 

Kurz nad) der Flucht des Hofes lauteten die Nachrichten aus der neuen 
Dauptitadt Siran-fu noch wenig günftig. China jagt nicht gern „peccavi“; das 
beweifen die verjchiedenen, als Friedensbedingung auf Beranlafjung der fremden 
Mächte erlajjenen Edikte. Was die Kaiſerin tm Intereſſe des Friedens that, 
joll den Anjchein des jpontanen Entichlufjes tragen. Auch die neueften Reform- 
edikte, in deren Nusfertigung fie mit dem Kaiſer wetteifert, find der Form nad) 
der Ausfluß ihrer innerjten Ueberzeugung. Und jest kommt es ihr zu ftatten, 
daß fie Ichon lange vor Ausbruch der Wirren, kurz nach dem Staatsjtreich, ſich 
bier und da als liberale Landesmutter gezeigt hat, die mit der linken Hand den 
Lehren des Weſtens Schulen gründet, während die Nechte jchütend über den 
Tempeln des Confucius ruht. 

Noch ift das Reformwerk nicht vollendet, und im Intereſſe des Friedens iſt 
ein langjames Tempo mit möglichfter Schonung althergebradhter Vorurteile jehr 
zu wünſchen. Aber wir befiten für das Vorhandenſein des Fräftigen Einſetzens 


Friebrich Hirth, China im Zeichen des Fortſchrittes. 515 


diejer Das Kuliurwerk mehrerer Jahrtauſende umftürzenden Bewegung ſchon jeßt 
unzählige greifbare Beweiſe. 

Die durch den japanifchen Krieg 1895 gemachten Erfahrungen, die ja den 
Anftoß zur Neformidee großen Stil8 gegeben haben, find durch die Ereignifje 
des Jahres 1900 felbftredend doppelt und dreifach beftätigt worden. Das Gefühl 
der Ohnmacht und das verzweifelte Suchen nah Mitteln zur Hebung der 
politiichen und militärischen Leiftungsfähigfeit, das fchon bald nad dem Frieden 
von Schimonvfefi bei den Aufgeflärten des Volkes an die Nahahmung des von 
Japan gegebenen Beifpield denfen ließ, bat fi) nad; der Straferpedition der 
verbündeten Truppen nun auch bei der großen Maſſe des Volkes geltend gemadıt. 

Die Leichtigkeit, mit der die für uneinnehmbar gehaltenen Bälle an der 
großen Mauer beim eriten Anfturm Eleiner fremder Truppenabteilungen ge- 
nommen wurden, hat dazu viel beigetragen. Man glaube nicht, daß die lügneriſche 
Straßenlitteratur mit ihren fingierten chinefischen Siegen und den blutigen Borer- 
Bilderbogen ihren Zwed, die Täufchung des Volkes über den wahren Sad): 
verhalt, erreichen wird. Worauf es in erfter Linie ankommt, ift die Aufklärung 
der Gebildeten, und diefen fteht die durchaus nicht jchlecht bediente chineſiſche 
Preffe zur Verfügung. Die Prefje aber ift zum großen Teil in den Händen von 
Anhängern der Reformpartei. Dasijelbe läßt fid) von dem über das ganze Reid 
verbreiteten Xelegraphendienft jagen, deſſen Beamte meiſt etwas engliich ver: 
ftehen und aus halbeuropäifchen Schulen hervorgegangen find. Wer in hinefischen 
Städten tief im Anmern des Neiches gelebt hat, wird die Erfahrung gemadıt 
haben, daß wichtige politiiche Nachrichten zunächft durch die Andiskretionen der 
Zelegraphenbeamten in die Kreiſe der Mandarinen, Litteraten und Notabeln 
dringen, und daß bald darauf die Peitartifel der chinefiihen Zeitungen aus 
Schanghai, Hongkong oder Tientfin in den Comptoiren der wegen des Handels 
mit den Küſtenplätzen felten fremdenfeindlichen Kaufleute und Bantiers befprochen 
werden. Auch durd; die Mifftionare und ihre Anhänger werden Nachrichten ver: 
breitet, die dem verderblichen Wirken der Heplitteratur entgegenwirken. Daß dieje 
viel Schaden anrichten kann, foll hier nicht bejtritten werden, allein es jcheint, 
daß das fchlieklihe Bekanntwerden des wahren Sachverhalts in den Sreijen der 
Gebildeten, auf die es ja hauptſächlich ankommt, dadurd nicht verhindert werden 
fann. Mehr als Preije und Telegraph wird jedoch auf das Bulf das Ver: 
halten der Spiten des Staates einwirken, obenan der Kaiſer und die Kaiferin- 
Witwe. 

Die Teilnahme der leßteren an den Regierungsaften des Kaiſers ift uns 
Europäern an und für ſich nicht ſympathiſch. Lieft man die feit der Flucht des 
Hofes als Ausflug der höchſten Machtvollkommenheit veröffentlichten Edikte, fo 
weiß man nicht, wer eigentlich in China regiert. Ein folder Dualismus jelbft 
in der äußeren Form bürfte in der Gefchichte Europas feinesgleichen nicht 

gae 


516 Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortſchrittes. 


finden. Man darf unter den in der letzten Zeit erſchienenen Edikten drei Arten 
unterſcheiden: ſolche, in denen der Kaiſer allein in ſeinem Namen ſpricht; ferner 
ſolche, in denen er feine Befehle als nach Einholung des mütterlichen Rates er— 
laſſen mitteilt, und endlich Edikte, die ausſchließlich im Namen der Kaiſerin-Witwe., 
bisweilen mit ihrem vollen, aus 19 Schriftzeichen beſtehenden Ehrentitel ausge— 
fertigt find. Sie ſchließen ſämtlich mit den Worten K'in-tz', d. h. „mit der 
dem Kaiſer ſchuldigen Ehrfurcht (erhielten wir) dies“, die von dem Kollegium 
des Staatsrats als Beweis der Authenticität hinzugefügt werden; es wird alſo 
vorausgefetzt, daß die von der Kaiſerin-Witwe emanierenden Kundgebungen denen 
des Kaiſers gleich find. Die Kämpfe in Tſchleli haben alſo gegenüber der ihnen 
vorausgehenden Zeit in diefer Beziehung feinen Wandel geichaffen. 

Und doc ijt das Verhältnis zwiſchen Kaiſer und Kaiſerin-Witwe ein gänz: 
lid) verfchiedenes geworden. Bon einer Abdanfung Suang-füs oder feiner durch 
Krankheit verurſachten Regierungsunfähigkeit iſt ſchon lange nicht mehr die Nede. 
Der laut Edift vom 24. Januar 1900 von dem invalid erklärten, angeblich 
regierungsmüden Kaiſer zum Thronfolger erklärte Sohn des Prinzen Tuan 
namens B’ustfün, der fid} von allen in Frage kommenden Prinzen von Geblüt 
durch bejondere „Tugend und Nüchternheit“ auszeichnen jollte, rechtfertigte diefen 
ihm angedichteten Ruf in feiner Weile. Seine in Si-an-fu Aufſehen erregende 
Liederlichfeit wurde nur nod) von der Frechheit übertroffen, mit der er niemand 
in feiner Umgebung verjchonte; namentlich joll er e3 dem Kaiſer Kuang-fü 
gegenüber durchaus an dem nötigen Reſpekt haben fehlen lafjen. Bier zeigt ſich 
nun ein großer Wechſel in den Anſchauungen der Kaiferin. Daß der junge 
Pustfün feiner Anmwartichaft auf den Thron für verluftig erklärt, zum Herzog 
degradiert und enterbt wurde, ſpricht deutlich dafür, daß der in der Berbannung 
bei Verwandten in der Mongolei lebende Prinz Tuan thatſächlich feinen Einfluß 
mehr am Hofe befigt. 

Veberhaupt icheint ji in der Politik der Kaiſerin-Witwe infolge des gänz- 
lichen Scheiterns aller fremdenfeindlichen Anſchläge allmählih ein volltommener 
Umſchwung vollzogen zu haben. Die in Tientfin ericheinende chineſiſche Zeitung 
JII-jn-ſin-wön berief fi im Auguſt auf eine einem Freunde gegenüber ge- 
machte Mitteilung des zum Arbeitsminilter ernannten Tſchang Po-bi,*) wonach 
diefer bei feinem Abichied vom Doflager in Siſan-fu den Eindrud gewonnen 


*) Dies tft derfelbe Beamte, der im Februar d. J. zum Spezial-Geſandten in England 
ernannt werben follte, von der englifchen Regierung jedoch laut Telegramm der „Times vom 
11. Februar als eine ihr gänzlich unbefannte Berjönlichkeit abgelehnt wurde Tſchang Po-bi 
wird fchon, wie ich feiner Zeit den „Münchener Neueiten Nachrichten” mitteilte, im chineftichen 
Staatähandbud vom März 1900 als Ardiv-Direftor im Groß-Sekretariat (neistoshio=-fhi) 
angeführt und batte als folder den Rang eines Unteritaatsfefretärs im Minifterium der 
Geremonien. Zein ummittelbarer Mollene, deſſen ame im Ztaatähandbuch neben dem feinigen 


‚rriedrich Hirth, China im Deichen des Fortſchrittes. 517 


habe, daß Kaiſer und Kaiferin-Witwe feit einiger Zeit in friedlicher Eintracht 
leben, wie man es früher nicht gefannt habe, und daß man dort allgemein an- 
nehme, dies hänge mit der gefamten Lage der Dinge zufammen; die Ungnade, 
in der ſich Prinz Tuan befinde, äußere fi in unüberwindlichem Haß gegen den 
Thronfolger, der fich öfter Vergehen gegen die Hofetifette zu jchulden kommen 
laſſe und von der Saiferin ftreng gemaßregelt werde, jo oft der Sailer fich über 
ihn beſchwere. Der Kaiſer fei gegenüber feiner früheren ſchweigſamen Art feit 
einiger Zeit geradezu gejprädig geworden. **) 

Su wenig Glauben derartige Berichte in vielen Fällen verdienen, jo darf 
man doc diejen Mitteilungen deshalb ein gewiſſes Bertrauen jchenfen, weil ſich 
jeitdem die Folgen der veränderten Geſinnung der Saiferin bereit8 gezeigt 
haben: der Thronfolger ift abgejett und zu feinem Water in die Berbannung 
geichidt worden, und die neueften Edikte, von denen fchwerlih ein vernünftiger 
Menjc behaupten wird, daß fie nur auf die Täufchung der Fremden berednet 
find, beweilen, daß das chineſiſche Staatsjchiff nunmehr nad) dem vom Kaiſer 
beliebten Kurſe gefteuert wird. 

Sähen wir auch lieber den Sailer ſelbſt als Steuermann, jo ift es doch 
immerhin ein großer Erfolg des Eingreifend der fremden Mächte, daß die un— 
förmige Barfe nun endlich im richtigen Fahrwaſſer fegelt, ein Erfolg, deſſen 
Tragweite erit durch die Zukunft in das rechte Licht getellt werden wird. Denn 
niemand kann daran zweifeln, daß die Reformfrage für Ehina auf den Schladt- 
feldern in Tichi-li entfchieden worden ift. Von der Löfung der Neformfrage im 
Sinne der europäiſchen Kultur hängen alle übrigen Defiderata ab, die den in 
manden Kreiſen ganz mit Unrecht als abenteuerlid; verichrieenen Feldzug rvecht- 
fertigen, namentlich die Bürgichaft für die Sicherheit der fremden Gefandten, die 
für die Entfaltung des Handels erforderlichen geordneten Zuftände im Lande, der 
Schuß der Miffionen, die programmmähige Amortijation der Entſchädigungsſchuld. 
Diefe und viele andere Fragen gehen gewiffermaßen in der Reformfrage auf, 
deren Yölung zweifellos das vornehmfte und alle anderen Fragen in den inter: 
grund ftellende Ergebnis der jüngften Anftrengungen der verbündeten Mächte 
bildet. Daß an einzelnen Schuldigen ein Erempel ftatuiert worden ift, war ficher 
nicht überflüffig; ob jedoch unter den ehemaligen Fremdenfeinden wirflid er: 
ihöpfend aufgeräumt wird, ob jeder der vor Jahr und Tag infolge confucianifcher 


itand, war der zum Spezial-Gefandten in Japan ernannte und dort anftandslos empfangene 
Na Yung. Da feine notorifche Reformfreundlichkeit nicht erit mit dem neuen Kurs entitanden 
ift, verdient er alles Vertrauen. Er batte vor dem Staatsftreich den nunmehr,verfemten Hang 
Yusmwer zu einem Gefandtfchaftspoften empfohlen und wurde dafür durch Edikt vom 8. Oftober 
1898 dem Minifterium des Berfönlichen zur Beitrafung übergeben. Bor feiner am 3. Juli 1901 
erfolgten Ernennung zum Arbeitäömimiter war er Präſident des Genforenamtes. 

*) Nach dem in Shanghat erfcheinenden Tihungswaisjispau vom 31. Juli 1901. 


518 Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortfchrittes. 


Befangenheit an dein verbrecheriichen Treiben Beteiligten jett noch dafür zur 
Rechenſchaft gezugen wird, Scheint mir weit weniger wichtig zu fein, ald das end— 
gültige Eindringen von Anschauungen in die Mafje des Volkes, die geeignet find, 
die ehemaligen Borerfreunde zur Bernunft zu bringen. Es hat zu allen Zeiten 
Nenegaten gegeben, und wenn ehemalige Gegner der Reformidee jet, vb aus 
innerer Ueberzeugung oder aus Klugheit, bereit find, Arbeitskraft und perfünlichen 
Einfluß der herrichenden Strömung unterzuordnen, jo iſt die Amneſtie, die wir 
als ferne, jedoch durch Tebhaftes Intereſſe beteiligte Zujchauer ihnen im Geijte 
gewähren, wohl am Plate. Es wird, wie mir jcheint, mit dem in vielen Fällen 
nicht einmal begründeten Wort „Borerfreund” in der anglo—chineſiſchen Preſſe 
bei Gelegenheit von Ernennungen zu hohen Memtern gern Mißbraud) getrieben. 
Bedenken wir, daß Ueberläufer doc; recht oft zur Stüße einer früher geimiedenen 
Bartei geworden find. Wenn es in der nächſten Zeit recht viele folcher Leber: 
läufer geben wird, jo liegt dies zum großen Teil an dem von der Kaiferin: Witwe 
gegebenen Beilpiel. 

Ein Blick auf die in den legten Monaten erlajienen Eaiferlichen Edikte genügt, 
um felbjt dem Mißtrauifchiten zu beweilen, daß an dem Exnfte, mit dem von 
oben herab der große Kulturichub gefördert wird, nicht zu zweifeln ift. Den 
Anfang einer bereits anfehnlichen, wenn aud noch lange nicht beendeten Reihe 
von faiferlichen Willensäußerungen zu Gunſten der großen Umwälzung bildete 
die im April d. Is. von Si-an-fu aus befohlene Gründung eines bejonderen 
Amtes, einer Art „Gejetsgebenden Körpers", dein jämtliche von den Staats: 
männern des Neiches gemachten Vorſchläge zur Begutachtung vorgelegt werden 
follten.*) 

Die neue Körperſchaft ift aus Slonfervativen und Reformfreunden zufammen- 
gejeßt. Dies ift für chinefiiche Berhältnifje, wie jie nun einmal find, eine Not- 
wendigfeit. Wie die Kaiſerin-Witwe genießen auch gewifje hohe Beamte Eonjer: 
vativer Richtung im Reiche großes Anſehen; und da die Eonfervativen Elemente 
für die von ihnen verabjcheuten Umwälzungen viel leichter günftig gejtimmt 
werden, wenn ſie von Gefinnungsgenofjen geprüft worden jind, als wenn jie 
ausjchlieglich von ihren Gegnern vorgeichlagen und gutgeheißen werden, jo kann 
ein aus Vertretern verjchiedener Richtungen beitehendes Kollegium der Sache nur 
fürderlich fein. Die chinefiiche Reformpreſſe war freilich mit der Zuſammenſetzung 
des SKollegiums wegen einzelner Namen wie Yung Lu umd Lu Tſch'uan-lin nicht 
ſonderlich zufrieden; es ſoll auch hier nicht in Abrede geftellt werden, daß das 
ihnen entgegengebracdhte Mißtrauen durch ihr früheres Auftreten nicht ungeredt- 


*) Der Verfaffer verweiſt bier auf die von „Nauticus“ im „Jahrbuch für Deutfchlands 
Seeintereſſen für 1901” in dem Artikel „Die chinefiiche Frage” ausgeiprochenen, fich mit den 
feinigen deckenden Anfichten. Der „Geſetzgebende Körper” und feine Zufammenfetung findet fich 
dort auf ©. 141 ff. bejprochen. 


Friedrich Hirtb, China im Zeichen des Fortſchrittes. 519 


fertigt ift. Dennoch darf jet darauf Hingewiefen werden, daß jene vor ſechs 
Monaten von „Nauticus" ausgeiprodene Anficht*) ſich infofern bewährt bat, 
als verjchiedene höchſt wichtige, im Sinne des Kaiſers vorgejchlagene Ummälzungen 
zum Geſetz geworden find, ohne daß die Gegenwart Eonjervativer Mitglieder im 
gefeßgebenden Körper daran etwas geändert hätte. Der fich aus Klugheit, der 
fo gänzlich veränderten politifchen Lage Rechnung tragend, den Beftrebungen des 
Kaiſers anbequemende Wille der Mitregentin fcheint hier allein maßgebend zu jein. 

Nächſt der Konftituirung eines „Bejeßgebenden Körpers" mit der befonderen 
Befugnis die neu zu Ichaffenden Staatseinrichtungen in Vorſchlag zu bringen, 
ift für den Verkehr mit den fremden Regierungen von befonderer Wichtigkeit die 
Abſchaffung des Tſung-li Yamen, an deſſen Stelle laut Edikt vom 24. Juli ein 
beſonderes Minifterium unter dem Namen Wai-wu-pu, d. h. Minifterium der 
äußeren Angelegenheiten, getreten it. Das alte Tjung-li Yamen hatte befannt- 
lich nidyt den Rang eines Minifteriums. Da die bis dahin vorhandenen „ſechs 
Minifterien" (Liu-pu) eine uralte Ginrichtung bildeten und die ihnen ent- 
Iprechende Sechs-Teilung der Staatsgefchäfte (Perfönliches, Finanzen, Ceremonien, 
Militär, Juſtiz und öffentliche Arbeiten) auc die Grundlage aller Verwaltungs 
ämter in den Provinzen bildete, jo läßt es ſich erflären, weshalb man troß der 
zunehmenden fremden Beziehungen bisher jo wenig geneigt war, den durch alte 
Ueberlieferung Janktionierten jechs Kategorien, in welche die Staatsgeichäfte jeder 
Art gezwängt zu werden pflegten, noch eine jiebente hinzuzufügen. Das im 
Jahre 1885 eingerichtete Hai-pu oder Marineamt, dem feiner Zeit Prinz Tſchun, 
der Vater des Kaiſers, vorjtand, kann bei jeiner ephemeren Bedeutung kaum als 
Minifterium im Sinne der dinefiichen Ueberlieferung angejehen werden. China 
wird fich num aber dody daran gewöhnen müfjen, fich in unzähligen Fragen des 
öffentlichen Lebens von der bisher heilig gehaltenen Tradition zu trennen. Im 
übrigen würde eine bloße Veränderung des Namens nicht viel bedeuten, wenn 
nicht im Edikte des Kaiſers der Grundfaß ausgeſprochen wäre, daß im Gegen- 
lag zum alten Tſung-li Yamen, einer Kommiſſion von Mitgliedern anderer 
Minifterien, die ſich mit feinen Gefchäften nur int Nebenamt befaßten, das 
Wai-wu-pu aus Miniftern ad hoc zu beftehen babe. Wird Schon dadurd) 
dem Amte ein erniterer, die prompte Erledigung feiner Obliegenheiten mehr als 
bisher fürdernder Charakter gegeben, fo ift vor allen Dingen die moraliiche 
Wirkung nicht zu unterfchägen, die in der ferneren Beftimmung liegt, daß das 


*) In dem angeführten Werfe ©. 147: „Sollen die fonfervativen Elemente in der 
Beamtenwelt wie im Volke einigermaßen verföhnt, follen fie für die Reformidee allmählich ge— 
wonnen werben, jo ift es nicht nur Fein Nachteil, fondern fogar in hohem Grade mwünjchens- 
wert, daß im geietgebenden Körper auch konſervative Elemente vertreten find. Ein lediglich 
aus umſtürzleriſchen Reformleuten bejtehendes Kollegium Hätte von vornherein bei Eunjervativen 
ſowohl mie bei ben gemäßigt fortfchrittlichen Parteien Mißtrauen erregt.“ 


520 Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortichrittes. 


Wai-wu-pu allen übrigen Minifterien an Rang voranftehen ſoll. Nad 
dem chineſiſchen Staatshandbud; folgten ſich die „ſechs Minifterien“ bisher in der 
oben mitgeteilten Reihenfolge, d. 5. an der Spite ftand das aus begreiflichen 
Gründen in den Mugen der Mandarinen wie des Volkes höchſt angefehene 
Minifteriun des Perjönlichen (lispu), dem die Ernennung der Beamten des 
Meiches obliegt. Das mit den gleichen Funktionen betraute Amt behauptete 
ſchon zur Zeit der Dynaftie Tſchoöu (1122 bis 255 vor Chr.) den höchften Rang 
unter den „ſechs Minifterien“, deren Reihenfolge die nämlihe war mie die 
heutige. Nacd dem Tſchéöu-li, einem Werke, das (ob mit Recht, thut Hier 
nicht8 zur Sache) von den meiften Gebildeten in China feiner Entitehung nad) 
in das 12. Jahrhundert vor Chr. verlegt wird, ftand als Chef des damaligen 
Minifteriums des Berfönlihen der T’ien-fuan, d. b. „ber Mandarin des 
Dimmel3 oder des Kaiſers“, über allen anderen Beamten des Reiches, und daß 
der erſte Minifter des Perfönlichen nod) heute jo heißt, zeugt von dem 
hohen Einfluß, der diefem Amte zuerfannt wird. Wenn aud die Emennungen 
zu den höheren Beamtenitellen vom Kaiſer oder von der Saijerin-Witwe aus- 
gehen, fo liegt e8 doch auf der Hand, daß ein Beamter wie der moderne 
„Mandarin des Himmels“, wenn aud nur auf Grund feines Rechtes, über die 
Beamten des Reiches Beriht zu erftatten, auf die Zufammenfetung des 
Mandarinen-Perfonals den größten Einfluß ausüben kann. Die in vielen Fällen 
auf feinen Vorſchlag erfolgende Berjegung fremdenfeindlicher Gebietsverwalter 
in Gegenden, deren Bevölferung zu Gewaltthätigfeiten gegen fremde Mifftonare, 
Ingenieure oder Kaufleute geneigt ift, kann beifpieläweife ungemein viel Schaden 
anrichten; umgefehrt kann der Minifter des Berfönlichen fehr viel zur Aufredht- 
erhaltung guter Beziehungen mit den Fremden beitragen. Es iſt daher für 
Europa durchaus nicht gleichgültig, wer hier am Ruder figt. Daß im Früh— 
jahr 1900 ein Mann wie der berüchtigte Starrfopf Sü Tung, neben ſich die 
nicht minder fanatifhen Minifter zweiter Klaſſe Hi King und Sü Fu, an der 
Spite gerade dieſes Minifteriums ftehen mußte, hat der fremdenfeindlichen 
Strömung im Reiche großen Vorſchub geleiftet. Sie haben es alle drei, jeder 
auf feine Art, mit dem Leben büßen müſſen. 

Es bedeutet alfo einen nicht zu unterfhäßenden Yortichritt im Sinne 
Europas, wenn den fremden Beziehungen im Gegenſatz zu der früheren Gering- 
ihäßung nunmehr die erfte Stelle im Staatdleben zugewielen wird. Es iſt 
vielleicht als ein Zeichen der Zeit anzujehen, wenn der Staatsanzeiger furz nad) 
der Gründung des neuen „höchſten“ Minifteriums eine Reihe für die Reform- 
intereffen durchaus günftiger Ernennungen bringt: Tſchang Bo-hi, ein mwohlbe- 
fannter Anhänger der Reformpartei,*) wird zum Arbeitäminifter, der bisherige 


2) Sr wurde nad; bem Staatsitreich durch Ebift vom 8. Dftober 1898 dem Miniftertum 
des Verfönlichen zur Bejtrafung übergeben, weil er e8 gewagt hatte, ben Reform-Pbilofophen 


Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortichrittes. 521 


Gejandte in Berlin Lü Hai-huan zum Bräfidenten des Zenjorenamtes, ber 
militäriſch ehrgeizige ehemalige Generaliffimus Yung Lu, zulett Kriegsminiſter, 
wird zum Chef des Finanz-Minifteriums, der bisher mehr in Zivilämtern er- 
fahrene K'un Kang ftatt feiner zum Sriegäminifter ernannt, die Minifter des 
alten Tſung⸗li Yamen Tihung Li, Kui Tſch'un, Na T’ung und P'u-hing werden 
von der Mitwirktung im neuen Auswärtigen Amt ausgeichlojfen. Ueberhaupt 
darf man neuerdings ſchon aus der Bejegung Hoher Beamtenjtellen mit notoriſch 
reformfreundlihen Männern jchließen, daß in China ein anderer Wind weht. 
Der Bufenfreund des berüchtigten Kang J, ein gewilfer Ho Naisying, wurde im 
Auguft als Vize-Präfident des Zenforenamtes abgeſetzt. Man wird mehr und 
mehr zu der Erkenntnis fommen, daß ſolche Leute in hohen Stellungen fidy mit 
der herrichenden Richtung nicht mehr vertragen. Europa ſoll nur Geduld haben, 
wenn ſich die erwünfchten Veränderungen in der Stellenbefetgung nicht fo plöß: 
lich vollziehen, al3 ob es ſich um einen Präfidentenwechfel in den Bereinigten 
Staaten handelte; auch müfjen wir bedenken, daß unter den ehemaligen Reform: 
feinden ſich viele Renegaten befinden, die fich bei dem großen Geilziehen der 
Parteien neuerdings bereitwilligft auf die Seite ftellen, die am kräftigiten zu 
ziehen im ftande ift; dies ift augenblidlich, wie hoffentlich für alle Zukunft, die 
Partei des verftändigen, gemäßigten Fortichrittes, die fich hüten wird, zum 
zweiten Male den Zorn der als ftarf und einig erfannten fremden Welt auf 
da8 fchwergeprüfte China heraufzubefhmwören. Es ift daher recht oft übel 
angebracht, wenn europäilche Zeitungen nad dem Vorgang der dinefifchen 
Reform-Preffe wegen der Ernennung eines ehemaligen Fremdenfeindes zu einem 
hohen Amte Lärm ſchlagen. Es wird noch mandes Sündenregifter verbrannt 
werden müfjen, wenn die Reformbewegung nicht vieler wertvoller Stüßen be— 
raubt werden ſoll. Unter diefen werden die von der Macht der Ereignijje zu 
anderen Anfichten befehrten Renegaten nicht zu entbehren fein. 

Der Umfhwung in ber Politit des Hofes von Si⸗an⸗-fu, der in jenem 
erften wichtigen Schritt, der Organijation des neuen Waistwuspu, zum Ausdrud 
fommt, fällt in die Zeit, in welcher die von den Mächten genehmigten Friedens— 
bedingungen zur Enticheidung vorlagen. Am 25. Mai 1901 wurde dem Staats: 
rat der vom Prinzen King und Li Hung-tſchang befürwortete Plan der Um— 
wandlung des Tſung-li Namen in ein neues Minifterium mit dem Befehle 
vorgelegt, daß der für die Begutachtung aller Reformvorſchläge im April er- 
nannte „Geſetzgebende Körper" (tihöng-wurtich’u) gemeinſchaftlich mit dem 


Fang Yusmwei zu einem Gejandtichaftspoften zu empfehlen. Trotz feiner hoben Stellung als 
Arhiv-Direltor im Groß⸗Sekretariat mit dem Range eıned Unterſtaats-Sekretärs und jeiner 
durchaus günftigen Antezedentien, wurde er tm Februar 1901 von der englifchen Negierung als 
Spezialgefandter abgelehnt, da er gänzlich unbelannt jei. Seitdem ift er wieder in hoher Gunſt 
beim Kaifer und ber Satjerin- Witwe. 


522 Friedrich Dirtb, China im Zeichen de& Fortſchrittes. 


Miniſterium des Perjönlichen ein Regulativ für das neue Minifterium auszu— 
arbeiten und zur Beftätigung vorzulegen habe. Der Wortlaut dieſes Regulativs 
it durch die chineſiſchen Zeitungen im September v. J. befannt geworden. 
Danad) beiteht das neue Amt aus vier Abtheilungen, nämlid) 

1. der politifhen Abtheilung (ho-hui-ſſiy) für alles, was mit den 
fremden Gejandten zuſammenhängt; dazu gehören die Audienzen beim Sailer, 
Borihläge für Ordensauszeichnungen, die Berfonalverbältnifie des diplomatischen 
Dienftes (Gefandtichaften und Stonfulate im Auslande), Zivil- und Militärichulen, 
jowie Beförderungen, Verſetzungen und Belohnungen innerhalb des Minifteriums; 

2. der Abteilung für öffentlidhe Arbeiten k'au-kung-ſſ, insbe 
jondere für Eifenbahnen, Bergwerfe, Telegraphenanlagen, Arjenale, Engagement 
von fremden Generälen und Offizieren, die Kuli-Auswanderung und Entfendung 
Studierender ind Ausland; 

3. der Finanz: Abteilung (küesfuan:fir) für das Seezollweſen, 
Handel und Schiffahrt, Staatsanleihen, Münzweſen, Boftverwaltung, die 
Minifterial: und Geſandtſchaftskaſſe, und 

4. der Mbteilung für diverfe Angelegenheiten (ſchu-wu—ſſH, 
inöbefondere Grenzregulierung, Küftenvertheidigung, Miſſionsweſen, Reijepäjle, 
Fremdenſchutz, Entfhädigungen, Verbote und Warnungen, Anflagen. 

Nicht aufgeführte Fälle follen der Abteilung zufallen, in die fie gehören. 
Die perfönlichen Verhältniffe find denen der Minifterien des Auswärtigen in 
europäiſchen Staaten nachgebildet, ein regelrechter diplomatifcher Dienft ift ein- 
gerichtet mit feften Normen für Rang, Gehalt und Beförderung der Beamten. 
Was jedoch befondere Beachtung verdient, ift die vollftändige Unabhängigkeit 
dieſes Dienftes von den übrigen Minifterien, insbejondere dem des Perfönlichen: 
das neue Auswärtige Amt veguliert jein Perſonal unabhängig vom letteren, 
bat jein eigenes Budget, obgleich wegen der Verwendung der mit den fremden 
Seezöllen erhobenen Tonnengebühren, von denen früher ein Teil dem Tſung-li 
Yamen zufloß, neuerdings Schwierigkeiten zu bejtehen jcheinen, und iſt hödjite 
Inſtanz für eine Neihe wichtiger Bermwaltungszweige. Es unterliegt wohl 
feinem Zweifel, daß ſchon damit ein Teil des Erfolges aller Reformanftrengungen 
gefichert it. Das ganze Programm, ein Vermächtnis Li Hungstichangs, ift 
durchaus nüchtern, und da es ſich in allen Hauptpunften an bereit3 Borhandenes, 
aus der Praxis des Staatslebens Herausgewachlenes anlehnt, vorausfichtlid, 
feinen Schwierigkeiten in der Ausführung ausgefegt, folange die Leiter von dem 
Geifte ihres Kaiſerlichen Herrn durchdrungen find. 

Auch mit der Auswahl der leitenden Miniſter darf Europa zufrieden fein. 
Zum Präfidenten wurde Prinz Ming* ernannt, zum Bize-Präfidenten der 


*) Ming beißt er in newöhnlichem Cbinefifch, da das bdiefem Namen zu Grunde liegende 
Schriftzeichen dem Ping in den Städtenamen Tſchung-k'ing und Ngans-Fing unferer Yandfarten 


Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortſchrittes. 523 


Groß-Sefretär Wang Wönsfhau, zu Mitgliedern der bisherige Arbeit3-Minifter 
K'ü Dung-fi, vor dem Staatsſtreich ein eifriger Förderer der Reformbewegung, 
ferner der ehemalige Gejandte in Korea Sü Schöu-p'öng und der zu dieſem 
hohen Amte befürderte Hofamts-Direktor Lien Fang. Laut neuerdings einge: 
troffenen Meldungen ift Sü Schöu=p’öng veritorben und die dadurch eintretende 
Vakanz durch den joeben frei werdenden bisherigen Gefandten in Berlin 
Fü Daishuan befegt worden. Man darf bei einem derartig zufammengefetten 
Stollegium immerhin tieferes Verſtändnis für europäifche, beſonders auch die 
deutjche Politit vorausfegen als bei dem ehemaligen Tſung-li Namen, das zur 
Zeit der Wirren von reformfeindlichen Bolititern wie dem Prinzen Tuan und 
Tſchau Schu-k'iau terrorifiert wurde. 

Infolge der Grrichtung diefes neuen Amtes wurden die überlebenden 
Minifter des alten Tſung-li Damen, ſämtlich Mandſchuren und zum Zeil von 
zweifelhafter Vergangenheit, ihrer Funktionen enthoben; ebenfo wurde eine 
frühere Verordnung aufgehoben, wonad die Provinzial-Chef3 und ZTartaren- 
generäle ex officio Mitglieder des genannten Inſtituts waren. Es wurde jedod) 
diefen Beamten ausdrüdlich anbefohlen, den Beziehungen zu den Fremden be- 
jondere Sorgfalt zuzumenden. 

Das Giegel des Tiung:li Yamen, mwodurd jo mande Staatsfiinde 
janftionirt tworden ift, wurde vor kurzen auf Antrag des Prinzen K'ing feierlich 
eingejichmolzen, und ein neues Petſchaft aus Silber, nad) Form und Material 
gleichwertig dem der übrigen ſechs Minifterien, mit der Legende „wai-wu-pu“ 
bat die Eaiferliche Bejtätigung erhalten. 

Da die Umwandlung des Tfung-li Yamen in ein Minifterium erften 
Ranges als eine der Friedensbedingungen erit auf fremde Anregung bin erfolgt 
it, kann man darin an und für fi) faum ein Symptom freiwilligen Reform: 
eifers erkennen. Es ift zwar anzunehmen, daß die chinefifchen Staatsmänner 
das Nützliche diefer Neuorganilation volllommen einfehen; allein das Zuge: 
ftändnis, daß der Gedanke dazu fein ganz fpontaner gewefen ift, wird in einer. 
dem gejamten Volke vorzulegenden Kundgebung jv wenig Plaß finden, wie die 
wahren Gründe für die Aufhebung der Staatsprüfungen an beſtimmten Pläßen, 


entipricht. Tſching iſt die Aussprache derielben Silbe im Dialekt von Peking, der allerdings 
als Gefchäftsiprache unter Beamten meit verbreitet fit, aber von der in Europa nun einmal 
anerkannten traditionellen Art der Umfchreibung chinefifcher Namen in gewijien Punkten jo bes 
trächtlich abweicht, daß er jidy nicht als Grundlage zur Wiedergabe folder Namen eignet. 
Wollte man nach Analogie der Schreibart Tſching ftatt Ping, Tſchihſiu jtatt Ki Stu oder 
Hfütichingticheng statt Hü Kiing⸗tſch'öng verfahren, jo müßte man Fonfeguenterweile auch 
Futſchlen für Fuskien, Rantiching für Nanling, tihiang für Kiang (Fluß) fchreiben. So ſehr 
ſich daher die Umfchreibung im Pelinger Dialekt für dienftliche Zwecke in China jelbit, z. B. im 
chineſiſchen Zolldienft, im diplomatifchen Dienft der verfchiedenen Bertragsmächte oder Im 
Schukgebiet von Kiautfchou, bewähren mag, fo ungeeignet iſt fie für die Bmede ber China— 
Litteratur in Europa, namentlich auf Yandfarten und in wiſſenſchaftlichen Werten. 


524 Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortichrittes. 


die der Hof am liebften in ein allgemeines Prüfungsverbot verwandelt hätte, 
um der Sade den bitteren Beigeſchmack des politifhen Zwanges zu nehmen. 
Dazu ift es zwar nicht gefommen, doch dürften ähnliche Gedanken fih an die 
Gründung der Wai-wu-pu knüpfen. Jetzt, wo die bisher geheiligte Sechszahl 
der Minifterien doch einmal überfchritten ift, wird man nicht anftehen, um der 
Minifteriengründung den Anschein des freimilligen Entichluffes zu geben, nod 
mancherlei Beränderungen diefer Art vorzunehmen. Die chineſiſchen Zeitungen, 
insbejondere das in Tientjin ericheinende Sejl-finewön, brachten bereit3 im 
Dftober die Nachricht von einer geplanten Ausdehnung der jet beitchenden 
fieben auf zehn Minifterien, darunter ein Minifterium des Innern (nel: 
wu-pu) und im Anfchluß an die Akademie der Wiſſenſchaften ein bejonderes 
Minifterium der Litteratur-Gelehrfamfeit (wön-hiau-pu). Die verichiedenen 
jetzt nod außerhalb der Minifterien ftehenden fleineren Metropolitan: 
änter würden in Geftalt von Abteilungen jener oberjten Behörden in denjelben 
aufgehen. Als Eritifierendes Gegengewicht, gemwiljermaßen die Stelle eines 
Barlamentes vertretend, ftand bisher der gejamten Regierung das Anftitut der 
Zenforen gegenüber, dem neuerdings ebenfalls eine Nenorganifation zugedacht 
fein foll. Da weitere Nachrichten abzuwarten find, gehe ich auf das Nähere 
hier nicht ein. Jedenfalls darf man jchon jest darauf rechnen, daß die Gründung 
eines Auswärtigen Amtes den Ausgangspunkt zu einer Reihe hochwichtiger 
Reformen in der gefamten Staatsverwaltung in nächſter Zukunft bilden wird. 

Bon diefen Hoffnungen abgejehen, hat die Reformberwegung zuerit deutlich 
greifbare Geftalt angenommen in zwei Edikten vom 29, Auguft, von denen das 
erſte eine völlige Umgeftaltung der für die Ausbildung der Zivilbeamten hoch— 
wichtigen Eramina, das zweite eine nicht minder durchgreifende Aenderung in 
den Militärprüfungen anordnet. 

Die Umgeftaltung der Staat3-Eramina war fchon im Sommer 1898 einer 
der hauptfächlichften Reformpunfte des Kaiſers geweſen. Am 11. uni jenes 
denfwürdigen Jahres erichien unter feinem Namen ein langes Edikt, worin er 
in großen Umrifjen feine Gedanken über die Reform des chineſiſchen Er- 
ziehungs:-Syftem3 im allgemeinen niederlegt. Man darf jagen, daß Die 
Weltgefchichte kaum einen Fall kennt, in dem der Wille eines fo patriotifchen und 
weit in die Zukunft blidenden Monarchen einem für feine Gedanken fo wenig 
empfänglichen Volke gegenüber ftand. Welcher Mut mußte dazu gehören für 
ihn, der feine Leute wohl kannte, mit joldhen Plänen vor das dinefiiche, das 
£onjervativfte, Eulturftolzefte aller Völker zu treten! Und wie jehr fteht diejer 
Mut im Widerfprucd zu jener Unterwürfigkeit, zu der ihm übertriebene kindliche 
Liebe drängte, die Frucht derjelben althergebracdhten Erziehungsmethode im 
Familienleben, die er, der Vater des Volkes, im Staatsleben bekämpfen wollte! 
Ein pfychologifches Nätfel, wie es der Welt nur jelten aufgegeben worden ift. 


Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortſchrittes. 525 


Der Kaifer argumentierte in jenem Edikte etwa folgendermaßen: „Männer, 
die in der Sorge um das PVaterland alt geworden find, halten dafür, daß das 
alte Syitem als Mufter aufrecht zu erhalten, der Neformgedanfe zu verwerfen 
jei, worauf hin eitle Schwäßer gern viel Worte maden, ohne daß man Thaten 
ſieht. Da fühlt ınan fich verſucht zu fragen: wenn wir bei der heutigen Welt: 
lage und bei der Berfafjung, in der unfer Baterland fich befindet, fortfahren, 
unfere Truppen nicht zu drillen, um Unkoften zu jparen, wenn wir unjere Be— 
amten ohne folides Willen, unjere Arbeiter ohne Lehrer laffen, während dod) 
unjere Stärfe zu unferem Reichtum in jo ungleihem Verhältnis fteht, werden 
wir dann wirklich im ftande fein, mit Knüppeln gegen harte Panzer und fcharfe 
Waffen vorzugehen?*) Wenn id al3 Kaiſer das Neich nicht in Ordnung Halte 
und infolgedejien meine Befehle nicht zur Ausführung gelangen, fo 
müjfen jchreiende Webelftände diefer Art zu einem Streit der verjchiedenen 
Meinungen führen, die fi) miteinander vertragen wie Waller und Feuer. 
Da die Gepflogenbeiten der Dynaftieen Sung (%60—1278 n. Chr.) und 
Ding (1368—1644 n. Chr.) gegenüber den NRegierungsgrundfäßen unferer Zeit 
auch nicht den geringften Fortſchritt bezeichnen, fo befinden wir uns, da doch die 
Staatsphilofophie Chinas nicht von den Kaifern der Urzeit übernommen fein 
kann, gewiljermaßen in der Lage eines Menfchen, der, angejicht3 der Thatjache, 
daß man im Winter Pelzwerf, im Sommer leichte Stoffe benötigt, nicht mit 
beiden verfehen it. Wir geben e3 daher allgemein Eund und zu wijlen, daß in 
Zufunft die Staatsbeanten aller Rangklaſſen vom Prinzen und Herzog bis 
herab zum Eleinen Mann mit Anfpannung aller Kräfte und mit hochitrebendem 
Eifer ihr Möglichites thun follen, um zur Erwerbung vollkommener Staats: 
weisheit einen feiten Grund zu legen; fie follen ſich umfafjende Kenntniſſe in 
allen Zeitfragen aus dem Wifjensichage des Weftens aneignen, und zwar durch 
fleigiges Studium, um ſich gegen die Gefahren hohler Falſchwiſſerei zu ſchützen; 
fie follen mit ganzem Herzen und mit feften Willen bei der Sade fein, dann 
wird der Geift immer wieder nad; mehr Geiſt verlangen, man wird nicht äußeren 
Dingen nachgehen, noch den Schall der Worte nacplappern. Um es Eurz zu 
lagen, jie follen Nutlofes in Braucdhbares umwandeln, um fich zu Beamten aus: 


*, Der Kaiſer entlehnt bier ein Bild vom Philofophen Mencius, der einem im Kampfe 
genen feine Feinde unglüdlichen König folgenden Rat erteilte: „Wenn Euere Majejtät dem 
Rolle ein wohlwollendes Regiment bejcheren, mit Geld» und Yeibesjtrafen fparfam umgeben, 
mäßig Steuern erheben, wenn der Bürger nad) gründlichem Pflügen und Jäten in freien 
Stunden die Tugend der kindlichen Liebe, die dem jüngeren Bruder zukommende Ehrfurdt und 
Treu und Blauben übt, indem er im Daufe dem Pater und älteren Bruder, außer dem Haufe 
den Volksführern und Vorgeſetzten dient, dann werden wir gegen die harten Banzer und 
die jharfen Waffen unjerer Feinde mit Knüppeln angeben fünnen” Die Edikte 
des Kaiſers find voll von Anfpielungen auf die Pitteratur und Gefchichte des chinefifchen Alter: 
tums, ein ftiliftifches Reizmittel, deſſen gefchidte Verwendung zur Eroberung ber in philologifchen 
Lieb habereien aufgehenden Litteratenherzen von befonderer Wichtigkeit fit. 


526 Friedrich Hirth, China im Reichen des Fortfchrittes. 


zubilden, die wohl ihren Confucius auswendig können, dabei aber auch am 
Reformwerk mitzuarbeiten befähigt jind.”* Mit dem Tage, an dem dieſes 
Edikt erichien, dem 11. Juni 1898, ſtürzte eine viertaufendjährige Kultur, brach 
für China eine neue Nera an, fo fagt der Reformtheoretifer Liang K'i⸗tſch'au. 
In der That wird China nod) in fernen Kahrhunderten Grund haben, diejen 
Aubiläumstag in Ehren zu halten. Wenige Tage fpäter, am 23. Juni, begann 
die eigentliche Neformarbeit. Der Eaiferliche Pionier legt die Art glei) an die 
Wurzel des morſchen Baumes, den er fällen will, indem er allen anderen Re- 
formen die Ummwandlung der Staatderamina vorausfchidt, die den Beamten des 
Neiches bis dahin eine beitimmte Erziehung vorgejchrieben und damit den mit 
dem Geifte der Neuzeit unverträglichen altchineſiſchen Stempel aufgedrüdt hatten. 

„Zur Zeit der Dynaftieen Sung und Ming”, jagt der Kaiſer, „wurde bie 
Auswahl der Beamten auf Grund eines Nuflates über ein Thema aus den 
Schriften des Confucius vorgenommen. Unter dem Kaiſer K'ang-hi (1662 bis 
1723) wurden die Prüfungen in diefem Aufiag (den fogenannten pa-ku, d. h. den 
‚acht Beinen‘ oder ‚Artikeln‘, aus denen jeder Aufſatz beftehen mußte, der auch 
unter dem Namen Wön-tſchang befannt war) abgeschafft, und durch Ichriftliche 
Fragen und Antworten erjeßt. Dies dauerte jedoch nicht lange, denn es wurde 
bald darauf zu dem alten Syitem zurüdgefehrt." Der Kaifer ſchildert num, wie 
gerade in jener Zeit unter feinem Vorfahren K'ang-hi die beiten Beamten aus- 
gebildet und wie infolge der Rüdkehr zu dem alten Schlendrian die Beamten— 
wirtichaft das geworden fei, ald was wir fie heute kennen, ein Dindernis für jede 
gefunde Entwidelung des Staatsweſens. Er befieblt deshalb, daß der Wön- 
tichang abzufchaffen und, wie unter K'ang-hi, durch die Beantwortung gewiſſer 
ragen zu erſetzen ift. Zwar jollen die alten chineſiſchen Klaſſiker als Grunb- 
lage der Pitteratur nicht vernadhläffigt werden, aber die Themata follen den 
Graminanden Gelegenheit zur Entfaltung zeitgemäßen Wiffens geben. 

Einen Monat fpäter, am 19. Juli, erichien ichlieglih ein Edikt, worin die 
Regelung der Staatderamina endgiltig bejchloffen wird, und zwar nad) einen 
vom PVizefönig Tihang Tichi-tung gemeinfam mit dem Gouverneur von Human 
Tſch'ön Pau-tichön**) dem Sailer vorgelegten Plane, bejtehend in einem ge- 


*) Nach dem Wu-ſü⸗-tſchöng-piéèn-ki, d. h. „Sefchichte der Neformfrage im jahre 1898, 
des Reformtbeoretiters Liang Firtich'au, wo die Originalterte der auf die Reform bezüglichen 
Edikte abgedrudt find. 

++), (Fine der treuejten Stüßen deö Kaiſers in feinen Neformbejtrebungen, der ihn in einem 
feiner Reformedifte, worin die verrottete Beamtenwirtichaft als die Wurzel alles Uebels in China 
nebrandmarkt wird, aller Mandarinen als Muster binftellt. Nach dem Staatöftreich, als ber 
Reformtheoretiter Hang Yuswer ald der Schuldigfte aller Schuldigen in der Berführung des 
Kaiſers dazu verurteilt wurde, lebendig in Stüde geichnitten zu werden, welchem Scidfal er 
ſich mit feinem Freunde Liang K'i-tſch'au durch die Flucht entzjog, wurde Tſch'ön Pau—tſchön 
dafiir berantivortlich gemacht, daß er dem Staifer die ibm mit ihren Irrlehren umftridenden 


Friedrich Hirth, China im Zeichen bes Fortſchrittes. 597 


miſchten Syſtem, wobei neben den alten chinejijhen Fächern namentlid) aud) 
Kenntnifje in der Gefchichte, Geographie und Verwaltung fremder Ränder ver: 
langt werden. Die nad unferen Begriffen rein mechaniſche Kunſt des Schön- 
ichreibens, die jeit 1500 Jahren unter den dinefiichen Geiſteswiſſenſchaften eine 
geradezu herrichende, mancherlei wichtigere Dinge in den Hintergrund fchiebende 
Stellung eingenommen hatte, wird ihrem wahren Werte nach gewürdigt, d. h. nicht 
mehr zu den obligatorischen Erfordernijjen gezählt. 

Die Reform der Staatsprüfungen jollte zunähft nur ein kurzer jchöner 
Traum bleiben. Nac dem Staatsſtreich wurde jelbjtredend das Gegenteil der 
meiften Beränderungen des Kaiferd in Szene gejett. Das Edikt betreffend 
die Abjchaffung des Wön-tſchang mit dem damit verbundenen Befehl, der 
Regierung in den Zeitfragen erfahrene Kandidaten zu empfehlen, wurde am 
9. Oktober 1898 förmlich widerrufen. 

Dabei wäre es geblieben, zweifellos auf lange Zeit hinaus, Hätte nicht die 
Leidenfchaft der Parteien nad einer Entjcheidung in dem jeit Jahren ent- 
brannten Kampfe gedrängt. Die Neformfrage war infolge einer gänzlich unbe- 
gründeten Panik, die einen Teil des chineſiſchen Volkes glauben ließ, Europa 
gehe darauf aus, China allmählich zu zeritüdeln,*) in den Vordergrund getreten 
und in hohem Grade aktuell geworden. Dies hatte die Energie ihrer Gegner 
zu verdoppelten Anftrengungen gereizt. Die beiden Ertreme, die Partei K'ang 
Yu-mweis und feiner Freunde, die das Ohr des Kaiſers für ſich gewonnen hatten, 
md die fogenannte Mandſchu-Partei unter der Führung des Prinzen Tuan, 
Hang 33 und anderer Obftruftioniften, denen es gelungen war, die Saiferin- 
Witwe auf ihre Seite zu bringen, ftanden ſich immer feindlicher gegenüber. War 


Staatsphiloſophen zugeführt habe, und nebjt feinem Sohne auf ewige Zeiten aus dem Staats» 
dienft entlaifen. Die Ungnade ber Kaiferin- Witwe ging fo meit, daß ſelbſt ihr eigener Neffe 
Yung Pu, der jpätere Generalifiimus, dafür in Strafe genommen wurde, daß er feiner Zeit 
Tih’ön Paustfchön, den Neformfreund, für den Gouverneurpojten in Hunan empfohlen hatte. 
Eine ausführlihe Würdigung feiner Reformthätigkeit ijt in einem Nefrolog dev chinefiichen 
Zeitung Tſchung-wai-jr-pau vom 8 bis 18. Oktober 1901 enthalten. 


*) Lang Kicetſch'au betrachtet dieje Zerftüdelungsfurcht neradezu als cine der baupttäch- 
lichiten Triebfedern zur Reformbewegung Nach dem großen Siege ber Japaner mußte es 
fheinen, als ob dem ohmmächtigen Reiche ein Zugeftändnis nach dem anderen ohne großen 
Widerjtand abgerungen werde, da fich die Abtretungen von Kiautſchou, Port Arthur, Tasliens 
war, Weihaitvei, Kuangstichöuswan und Kaulung, verichiedene Eiſenbahn- und Bergwerks-Kon— 
zefftonen, die den Engländern gegebene Zuficherung, daß das Wangtie-Thal an Feine andere 
Nation „vergeben“ werden dürfe, ſowie ähnliche Verſprechungen bezüglich anderer ‘Provinzen, 
die als „Einflußfphären” gewiſſermaßen zwangsweife vergeben wurden, in auffallend kurzen 
Zwiſchenräumen folgten. Der bei den Patrioten aller Richtungen erwachende Wunfd, das 
Reich in feiner Integrität zu erhalten, erzeugte bei den liberalen Parteien den Gedanken an die 
Reform nach japanifchem Muſter als den einzigen Doffnungsanfer, bei den ultrasfonfervativen 
den wahniinnigen Blan der Fremdenaustreibung. 


528 Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortſchrittes. 


auch der Endzweck beider Ertreme der gleiche, nämlich die Emanzipation Chinas 
von den angeblichen Zerftüdelungsgelüften der Fremden, fo verhielten ſich doch 
die Mittel, mit denen fie diefen Zweck zu erreichen fuchten, um das vom Kaijer 
gebrauchte Bild anzumenden, zu einander wie Feuer und Waſſer. Die Reform- 
bewegung war ihrer Natur nad) auf die Fremden, ihre Lehrer, angewielen; ehe 
man dieſe mit ihren eigenen Mitteln bekämpfen Eonnte, mußte man ihnen die 
Geheimnifje ihrer Ueberlegenheit in Güte abzugewinnen fuchen. Die Gegen: 
partei des Prinzen Tuan wollte e8 mit der Gewalt probieren. So prafjelten 
Waſſer und Feuer nad) dem Staatsſtreich auf einander los. Tuan rief die 
Borer, den Reformleuten kamen die Fremden zu Hilfe. Der Ausgang ift befannt. 

Die Kämpfe der verbündeten Truppen in Tichl-li bedeuten den endgültigen 
Sieg der Reformbewegung in China. Die Kaiferin-Witwe, immer nod die 
mächtigſte Perfönlichkeit im Reiche, ift durch den Zwang der politiihen Lage zu 
einem Kompromiß gedrängt worden. Wie fie früher, folange man noch nidt 
recht wiſſen konnte, welche der beiden feindlichen Richtungen fchließlih das Feld 
räumen müfje, hin und her ſchwankte, indem fie fi) den Bizefönigen und 
Gouverneuren beider Richtungen ald Gönnerin erwies und gelegentlich auch ge- 
willen Reformen gegenüber als Beſchützerin auftrat, jo ift fie jeit dem gänzlichen 
Fiasko des Tuanjchen Anfchlages allmählich auf die Seite des Kaiſers getreten 
und unterftügt nun nad Kräften alle jeine Lieblingsideen, jedoch, wie es ſcheint, 
. unter der einen Bedingung, daß er ſich von dem ehemaligen Spiritus rector 
der Reformvorfchläge, dem in Singapore in der Berbannung lebenden K’ang 
Yuswer, vollftändig losfagt. Daß der Stein jet thatfählich ins Rollen gekommen 
ift, dafür find die fchon jet vorliegenden, mit Unterftüßung der SKaijerin- Witwe 
veröffentlichten Edifte der beite Beweis; an der Spite die am 29. Augujt 1901 
aufs neue erfolgte Abſchaffung des Wön-tichang. 

An die Reform der Staatöprüfungen für den Zivildienft Schloß fi un— 
mittelbar die der militärifden Eramina an. Der Gedanke dazu lag ja 
bereit nach den handgreiflichen Mißerfolgen im japaniichen Kriege nahe, und 
jelbft Eonfervative Berater der Krone, wie der ehemalige Generaliffimus Yung Lu, 
hatten lange vor dem großen Reformanlauf des Jahres 1898 darauf bezügliche 
Borjchläge gemadt. Daß die Nefourmleute nicht zurüdjtanden, beweiſen die 
bereits im Februar auf die Militärprüfungen gerichteten Vorſchläge Hu Yü-füng, 
des um die Entwidelung des Eiſenbahnweſens hHochverdienten damaligen 
Gouverneurs von Peking, und der von Tſchang Yinshuan, dem fpäter in der Ber- 
bannung bingerichteten ehemaligen Gefandten, im September gemadte Vorſchlag, 
die bis dahin geplante Ausbildung einzelner Truppenteile nach europäiichem 
Mufter auf die gefamte Armee auszudehnen. Zweifellos hatte der Kaifer fchon 
damals die Abjchaffung jener unnützen Akrobatenkünſte ind Auge gefaßt, mit 
denen fich die zukünftigen Offiziere der Armee bis in die neuefte Zeit quälen 


Friedrich Hirtb, China im Zeichen des Fortſchrittes. 599 


mupßlen.*) Trotzdem war bei allem Neformeifer in jenem denfwürdigen Sommer 
nod feine Enticheidung getroffen worden; der Kaiſer hatte, wie ein Edikt vom 
12. September andeutet, die bis dahin eingelaufenen VBorjchläge für ungenügend 
befunden. Wa3 er im Sinne hatte, war vielleiht auf die für Ende Oftober 
befohlene große Truppen-Revue aufgefpart worden, bei welder Gelegenheit er 
ſich perſönlich von der Gefchidlichkeit jeiner Dffiziere zu Pferde und zu Fuß, wie 
auch im Schießen mit Pfeil und Bogen überzeugen wollte. Der 21. September 
1898 machte befanntlich allen Reformplänen vorläufig ein Ende. 

Anzwilchen haben die den Ehinefen aufs neue beigebradhten Beweiſe für 
ihre militäriſche Ohnmacht ihre Wirkung ausgeübt. Es ift daher nicht zu ver- 
wundern, daß man diesmal, anftatt fic mit der Anſchaffung Eoftipieliger Waffen 
für einzelne Truppenteile zu begnügen, dem Uebel in feinen primären Urſachen 
auf den Leib geht. Dies ift in erfter Linie die ganze frühefte Ausbildung des 
hinefiihen Offizier und aller, die den Ehrgeiz haben, es werden zu wollen. 
Gleich in der Einleitung dieſes erften neuerdings auf die militärische Erziehung 
gerichteten EdiktS werden die Prüfungen im „Bogenipannen, Schwertichwingen, 
Steinheben und Pfeilfchiegen zu Fuß wie zu Pferde" als „von der 
Ming: Dynaftie überfommene alte Mißbräuche“ Hingeftellt, deren Uebung mit 
den ntereffen der Armee nichts gemein habe, und deren Beibehaltung 
heutigen Tags nicht den geringften Nuten mit fi bringe. Alle Militärprüfungen 
diefer Art ſeien deshalb ein für allemal abzuftellen; die nach dem alten Syitem 
geprüften Kandidaten der verjchiedenen Grade jeien in ihre Regimenter einzu- 
jtellen, um fic) an den Beruf des Soldaten zu gewöhnen, desgleichen joll es 
tüchtigen jungen Leuten, die bereitS ftudiert haben, erlaubt fein, bis zur Ber- 
einbarung von Regulativen für die Afpiranten-Prüfungen der demnächſt in allen 
Provinzen einzurichtenden Milttärjchulen einftweilen in das Heer einzutreten. 

Diefe beiden an einem Tage ausgegebenen Edikte bedeuten für China und 
feine ganze Kultur eine Ummälzung, wie man fie fid) in Europa nur ſchwer vor- 
ftellen fan. Hätten wir vor dreißig Jahren dem erjten beiten wohlerzogenen 
Bürger des Mittelreiches prophezeien wollen, daß er die Abſchaffung des altehr- 
würdigen Wön-tihang zu Gunften folder Schnurrpfeifereien, wie Mathematik, 
Aftronomie, Länderfunde Europas u. j. w., erleben könne, er hätte uns ins 








*) Mährend meines Aufenthalts in Tſchungking im äußerften Weiten hatte ich Ge— 
fegenheit, auf dem meiner Wohnung nahe gelegenen Paradepla täglich di: kindiſchſten mili— 
tärifchen Uebungen mit anzufehen. Die jungen Offiziere übten ſich alles Ernſtes im Schießen 
mit Pfeil und Bogen, im Heben großer Gewichte A la Monfieur Herkules und mandvrierten 
mit einer Art Donnerbüchfe, die an die Zeit des Dreigigjährigen Kriegs erinnerte und von vier 
oder ſechs Soldaten auf den Schultern getragen wurde; und dies alles zu einer Zeit, ald im 
Dften des Reiches Kruppſche Kanonen und Panzerſchiffe den Japanern gegenüberjtanden (es 
war im Jahre 1894) und gut die Truppen bes Weſtens als Erſatz für verlorene Regimenter 
nerechnet wurde! 

34 


sn Friedrich Hirth, China im Zeichen des FFortfchrittes. 


Geſicht gelacht. Die Aufregung, die ſich unſerer gebildeten Kreiſe jun dann 
bemächtigt, wenn von verhältnismäßig geringen Veränderungen in der Er: 
ziehung unſerer Jugend die Rede ift, mag als Maßſtab für das dienen, was 
augenblidlich ein Teil des chineſiſchen Volkes empfindet. Wäre die Loſung bei 
und plößlich: alle bumaniftiihen Gymnafien find innerhalb eines Jahres zu 
ichließen, um als Handels- und Gewerbefchulen wieder eröffnet zu werden, fü 
würde die dadurch hervorgerufene Erregung nur einen ſchwachen Begriff von den 
Gefühlen geben, die augenblidlich unzählige Chineſen von altem Schrot und 
Korn bewegen. Wäre das dhinefische Volk nicht To leicht von feinen Führern, 
den Mandarinen, zu leiten, und wäre für diefe nicht das Beifpiel der höchſten 
Spigen des Staates maßgebend, ſo dürfte man den nach jenen Umwälzungen 
im Erziehungsfyften ſicher nicht ausbleibenden Unruhen mit Beforgnis entgegen- 
fehen. Um den leßteren entgegenzuiwirken, wird bei dem Uebergang zu den 
neuen Zuftänden mit der größten Vorſicht zu Werke gegangen werden müfjen. 
Zaufende von jugendlichen Braufeköpfen, die feit Jahren nach dem alten Syſtem 
ftudiert und darin Hervorragendes zu leilten verfprechen Fonnten, werden fich in 
ihren Hoffnungen getäufcht jehen, da Konkurrenten ganz anderer Art, auf die fie 
mit dünkelhafter Verachtung herabzuſehen gewohnt waren, ftatt ihrer in den 
Vordergrund treten werden. Soll die Arınee nur annähernd die ihr vom Kaiſer 
gefteten Ziele erreichen, jo müfjen jelbjtredend unzählige in ihrer Art und von 
alten Standpunkt betrachtet nicht untüchtige Offiziere „abgefägt” werden. Ein 
ganzes Heer von Mißvergnügten wird bemüht jein, dem guten Willen der mit 
ſo großen Opfern für die Reformidee gewonnenen Regierung Schwierigkeiten in 
den Weg zu legen. Schon jet äußert fi) die Reaktion in Bittfchriften und 
Proteften, mit denen die Bizefönige und Gouverneure der Provinzen bejtürmt 
werden. Man bittet um Aufſchub. Man müſſe den nad dem alten Syſtem 
ausgebildeten Kandidaten Zeit zur Borbereitung geben. Mander, dem der neue 
Kurs ein Dorn im Auge ift, mag nad) echt chinejifcher Art erwarten, daß Zeit 
gewonnen, alles gewonnen jei. Aber die Kaijerin-Witwe, deren Autorität das 
früher Unmögliche jet durchgeſetzt hat, da die mächtigen Satrapen in den 
Provinzen, Männer wie Liu K'un⸗i, Tihang Tichrstung, Hui Tfün und Tau 
Din, die früher ohne fie den Plänen des Staifers einen ſchlecht verhohlenen 
paffiven Widerftand entgegenjegten, nunmehr mit ihr Feuer und Flamme für 
die fchleunige Umgeftaltung Chinas nah japanifhem Mufter find, hat bereits 
ihre Antwort auf alle Einwände zu Protokoll gegeben. 

Am 2. Oktober erjhien ein im Namen der Sailerin mit ihrem vollen 
Titel und allen Formalitäten der Eaiferlihen Autorität erlaffenes Edikt folgenden 
Inhalts: 

„Wir Tz’iehi, u. f. w., thun kund und zu willen: Seit Jahr und Tag, 
vom Ausbruch der Unruhen bis jet haben Wir, dem guten Geift Unferes Haus: 


Friedrich Hirth, China im Zeichen des FFortichrittes. s31 


altares vertrauend, dem Tag Unſerer Rückkehr nad Peking entgegengejehen. 
Die Zeit, da Wir auf Neifig fchliefen und Uns von Galle nährten,*) wird Uns 
ewig unvergeßlich jein. Die unferer nationalen Schwäche zu Grunde liegenden 
Urſachen maden e3 nicht leicht, die glüdlichen Zeiten von ehedem zurüdzurufen. 
Bor einiger Zeit ift zu Ddiefem Zwecke ein „gefeßgebender Körper" gefchaffen 
worden, um Ideen ſammelnd und eriweiternd unter der Menge ber einlaufenden 
Vorſchläge diejenigen auszumählen, die jpäter allmählich in Kraft zu fegen find. 
Indem Wir das Gute unter den Methoden des Weſtens auswählen, wird es 
Uns nicht jchwer, mit Hintanfegung der eigenen Berfon der Gefamtheit 
zu dienen, und indem Wir den Mängeln der Methoden Chinas zu Hülfe 
kommen, thun Wir im Grunde weiter nichts, als das Nichtige anftreben dadurd, 
daß Wir den Imftänden gerecht werden. Seit einigen Monaten find Edikte er- 
laſſen worden, nach denen die Gründung neuer Einrichtungen, fowie die Ab- 
ihaffung früher beftehender in Kraft treten fol. Darımter find jedoch einige, 
die wegen der Zahl der daran zu knüpfenden Einzelbeftimmungen weiterer 
Prüfung bedürfen, bei anderen hinwiederum wird man ſich ſchwer über die 
Art der Ausführung einigen können. Es wird ſich daher empfehlen, nach der 
Rückkehr Unjeres Hofes je nach Dringlichkeit das Geplante zu Ende zu führen. 
Die Minifter des geſetzgebenden Körpers Yung Lu und Genoſſen haben in einem 
Uns gehaltenen Vortrag in Anbetracht der großen Verantwortung, die mit der 
Reform Unferes Regierungsiyftens verfnüpft jei, beantragt, daß eine nachdrück— 
lihe Ermahnung in Geftalt eines Manifeftes an das gefamte Volk erlafjen 
werde, worin angejichts des vom Saiferlihen Hofe getroffenen unabänderlidhen 
Entſchluſſes und der Ernennung eines gejeßgebenden Körpers Unferen Organen 
in und außerhalb der Hauptitadt dringend anheimzugeben fei, einmütig und mit 
ganzer Kraft Uns in der Ausführung des Werkes beizuftehen. 

„Wir erlafien daher hiermit diefes außerordentliche Edikt,**) indem wir eud), 
den Miniftern und Beamten ***) in und außerhalb der Hauptftadt die ftrenge 
Berpflichtung auferlegen, davon Kenntnis zu nehmen, daß der unglüdlichen 
Lage, in die unfer Vaterland geraten ift, nun und nimmermehr durd 


*, Ein dem Dichter Su Tungspo (11. Jahrh.) entlehntes Bild für ſchwere Entbehrungen 
und tiefen Kummer. 

*) i=tjcht, ein „Saiferinnen»Ebilt,” zum Unterfchiedb von den vom Saifer ſelbſt erlaflenen 
Edikten. 

**) Es iſt kaum möglich, die in jedem Satze aller dieſer von höchſter Stelle ausgehenden 
Dokumente eingeſtreuten Anſpielungen auf die ältere Litteratur in der Ueberſetzung wiederzu— 
geben. Der hier gebrauchte Ausdruck für „Miniſter und Beamte,“ tſch'ön-kung, bildet den 
Anfang einer allen Gebildeten in China wohlbekannten Strophe in dem nralten „Buch der 
Lieder,” bei Biltor von Strauß (Schi-king, S. 477): „Auf, auf, Minijter und Beitallte, 
nehmt wahr, was eured Amtes iſt!“ Beſſer als durch jedes andere Mittel wird durch diefen 
ſtillſchweigenden Hinweis auf die patriarchalifchen Berhältniffe bes grauen Altertums die loyale 
Sefinnung der Beamten angerufen. 

34* 


539 Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortſchrittes. 


nadläjjiges Flidwerk abgeholfen werden fann. Das einzige Mittel 
zu Wohlfahrt und Gedeihen liegt für Uns in der Reform Unferer 
Negierung. Der Lebenspuls, der die Negierung in den Stand ſetzt, ber 
Gefahr mit Ruhe entgegenzufehen,*) beſteht in der eigenen Gtärfe, 
mit ihr wird fi ein Wendepunkt im Leben des chinefischen Volkes einjtellen. 
Tür Mid) und den Kaifer find die Intereſſen Unieres Haufes identifch mit denen 
des Volkes, ohne diejes Verhältnis giebt es kein Heil für und. An euch, den 
Miniftern des Reiches, die ihr fo ſchwerwiegende Gnadenbeweife von Uns er: 
halten habt, ift ed nummehr, mit der Reform Neues ind Leben zu rufen und 
Altes abzulegen, Eräftig die daraus erwachſenden Schwierigkeiten zu ertragen und 
nit alten Gewohnheiten zu brechen, denn nur dadurd ift der Not der Zeiten 
abzubelfen. 

Bor einiger Zeit erhielten Wir von Liu K'un-i und Tchang Tchr-tung 
eine gemeinfchaftlihe Denkichrift**) „über die Neuordnung des dhinefiichen 
Regierungsiyftens nad dem Borbild des weftlichen.“ Wir haben diejelbe Punkt 
für Punkt forgfältig in Betracht gezogen und das Wichtigfte, für den praftijchen 
Gebrauch Geeignete, daraus Uns angeeignet. Ich habe mit dem Slaifer früh und 
jpät raftlo8 gearbeitet, doch nun find Mutter und Sohn eines Herzens in dem 
brennenden Wunfche für die Wiederfehr glüdlicher Zeiten. Damit diefe Unſere 
Gedanken bei Minijtern und Beamten aller Rangklafjen thatkräftige Aufnahme 
finden, haben Wir dieſes Manifeft zur allgemeinen Kenntnisnahme erlaffen. 
Kin=g'r." 

Ich habe verjucht, eine möglichjt ſinnentſprechende Ueberſetzung diefes mir 
in dinefiichen Urtert vorliegenden Ediktes herzuftellen, weil unter allen öffent- 
lichen Kundgebungen der Kaijerin-Witwe feine fo geeignet ift, die augenblidliche 
Lage der Dinge in China zu beleuchten. Die zahlreichen Privatmitteilungen, die 
meift durch die Korrefpondenten reformfreundlicher chinefiicher Zeitungen in die 
anglo:-hinefiihen Blätter und von da durch oft nur dem Senfationsbedürfnis 
des Publitums dienende Telegramme in die europäifche Prejje gelangen, leiden 





*) Wieder ein Gedanke des Philoſophen Mencius. Derfelbe fagt von einem Füriten, 
dem nicht zu raten und zu Helfen ift: „in der Gefahr erblidt er volllommene Sicherheit, im 
Unglüd einen Borteil.” 

*) AS Antwort auf einen vom Kaifer am 29. Januar 1901 an die hohen Mandarinen 
bes Reichs gerichteten Befehl, jich über die bevorftehenden Aenderungen im Regierungsfyiten 
gutachtlich zu äußern. Diefe Gutachten find in einer befonderen Publikation in vier Heften 
erfhienen, von denen die oben erwähnte Denkfchrift der Vizeköntge von Nanking und Wuetichang 
in drei Abſchnitten etwa die Hälfte bildet. Es finden fi) fonft noch darin die Borfchläge von 
Tan Mu und Hü Yingsfui, den Vizelönigen von Canton und Foochow, von Yüan Sci-Fai, 
Gouverneur von Schantung, fowie feinen Kollegen in Anbut und Tichöfiang. Dat fo viele 
unter den Satrapen auf die Aufforderung des Kaiſers nicht reagiert haben (vgl. „Nauticus” für 
1901, ©. 143) wird der Sache nicht fchaden, da die meiften wohl ſchwerlich viel zu fagen gehabt 
baben würden. 


Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortichrittes. 533 


oft an der Einſeitigkeit des Barteiinterejjes, dem fie entipringen. Dagegen 
handelt es fich bei den Aftenftüden der Staatszeitung um Thatſachen, die nicht 
jo bald dementiert werden können, die zwar aud) bisweilen cum grano salis 
zu lejen find, aber immerhin das beſte Material zur Beurteilung der Berhält- 
nifje abgeben, wenn man zwifchen den Zeilen zu lefen verfteht. Was nun die 
vorliegende Kundgebung betrifft, fo kann ich die Beforgnis des Pekinger Kor— 
refpondenten des „North China Herald“ vom 30. Oktober nicht teilen, der die 
Aufrichtigkeit der darin ausgefprochenen Reformfreundlichfeit anzmweifelt, wenn er 
jagt: „we need not suppose that the Dowager is sincere in her noble 
and correct utterance.“ Im Gegenteil jcheint es mir, daß der Gedanfengang 
des Manifejtes den Stempel der Echtheit in fich trägt. Wird e8 doc offen an— 
gedeutet, daß ein perjönliches Opfer im Aufgeben alter Borurteile zum Beſten 
des Gemeimvohls nötig war, um den nunmehr als einzige Rettung ertannten 
Plänen des Kaiſers beizuftimmen. Mag die fo gänzlich veränderte politifche 
Lage das Ihrige gerhan haben, um dieſen Wechfel in den Anfchauungen der 
Kaiſerin hervorzubringen; Hauptiache bleibt immer, daß die Reformbewegung 
in ihr eine mächtige Gönnerin erhalten bat, ohne deren Mitwirkung fie möglicher: 
weife zum zweitenmal Schiffbrud gelitten hätte Wir müſſen das chinefische 
Volk nehmen wie es ift, nicht wie wir ed ums wünſchen. Die Geſchichte des 
Staatsftreihes hat gelehrt, daß die Gnadenbeweife, auf die fich neuerdings die 
ehemalige ®ebieterin, nunmehr die Egeria des Numa Kuang-ſü, den Miniftern 
gegenüber beruft, thatſächlich ſchwerwiegende geweſen fein müſſen. Den fchönen 
Plänen des Kaiſers wurde von Anfang an jelbit bei den fortfchrittlich gefinnten 
Bizefönigen höchftens akademische Würdigung zu teil; an die Ausführung wagte 
niemand zu denfen, jo lange die Slaijerin nicht Beifall nidte, der fo ziemlid) 
jeder ältere Beamte im Neiche feine Karriere verdankte. Dies ift felbftredend 
auch heute noch der Fall. Man darf e8 daher mit Freuden begrüßen, daß die 
Erzieherin des Kaiſers, gleichviel, ob aus Klugheit oder aus Neigung, ihm jetzt 
wieder eine Stüße umd Freundin geworden ift. Mit der Enterbung bed Thron- 
folgers P’ustfün ift ein großer Strid) durch ein dunkles Blatt im Buch der 
hinefiihen Gejcdichte gemacht worden: wenden wir uns zu einem neuen Blatte, 
da8 den Ruhm patriotischer Entjagung verfündet! Ob die Reformen des Kaiſers 
zu ftande kommen oder nicht, ift für China jest Lebensfrage; den Chinefen felbft 
muß daher jedes Mittel willtommen fein, das dazu beiträgt, einen Schiffbrud) 
zu vermeiden, um wieviel mehr ung, den wohlwollend Zufchauenden! Hoc über 
dem Parteihader jteht jet die Lebensfrage; wer bereit ijt zur Mitarbeit, follte 
nicht durch Mißtrauen abgejchredt werden, mag er auch einft zu den Berführten 
des großen Staatöverbrechens gehört haben, das Prinz Tuan und feine Leute 
durch die zweifellos dauernde Ungnade des Hofes büßen, denn aufrichtige Rene: 
gaten find oft die eifrigften Verfechter einer guten Sache. 


534 Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortſchrittes. 


Mit der Reform der Staatsprüfungen und dem unumwundenen Glaubens— 
bekenntnis der Kaiſerin-Witwe iſt der Würfel gefallen, der über Chinas Zukunft 
entſcheidet. Es giebt kein „Zurück“ mehr, alles übrige mag kommen, wie es 
will und wann es will, aber es muß kommen. So ſehen wir denn heute, nach 
wenigen Monaten, alles in fieberhafter Thätigkeit. Den erſten, das Signal zur 
Arbeit gebenden Edikten find in unglaublich kurzer Zeit die Befehle zum weiteren 
Ausbau des neuen Gebäudes gefolgt: amı 11. September werden die liberalen 
Satrapen Li Hungstichang, Liu Punsi, Tihang Tihl:tung und Yüan Sci-Fai, 
die Dauptftügen der Bewegung, mit der Niederichrift von Regulativen für die in 
ihren Provinzen bereits bejtehenden Militär-Mfademieen beauftragt. Diefelben 
follen als Mufter für die zahlreichen, auch in anderen Teilen des Reiches zu 
gründenden Inſtitute diefer Art dienen. An demjelben Tage verbietet der Kaijer 
auf Antrag der Kaiferin-Witwe den bisher, je nad; den Erforderniſſen des 
Budgets, bald erlaubten, bald wieder abgejchafften Berfauf von Beamtenftellen 
ein für allemal. Am 13. September folgen die erften Auftruftionen für die 
Einrihtung von Reformſchulen. Jede Provinz foll ihre nad) dem Mufter ber 
Pelinger Univerjität eingerichtete Hochſchule Haben, während in den Bezirks: und 
Diftriftshauptftädten allerorten Mittel» und niedere Schulen int modernen Sinne 
einzurichten find. Setzt ift felbitredend große Nachfrage nach ſolchen Chineſen, 
die im ftande find, in den neuen Schulen zu lehren; wer weiß, wie lange es 
dauern wird, daß die Nachfrage durd; das Angebot gededt wird. Schon jett 
werden viele unter den weiland verjtoßenen Neform:Agitatoren willlommen ge: 
heißen. Neuige Schafe werden mit offenen Armen aufgenommen, wenn fie 
verjprechen, ruhig und befcheiden ihre Pflicht zu thun, darunter hervorragende 
„alte Sünder”, wie der bisher in der Berbannung lebende Redakteur der 
chinefifchen Reform: Zeitung „Lat-pau“ namens K'iu Schu:yüan. Derjelbe war 
mit den immer noch als Hochverräter behandelten Hauptführern der Refornibe— 
mwegung vor dem Stantöftreih K'ang Yuswel und Liang K'itſch'au eng be- 
freundet und daher verbannt, und niemand hat in der Verfolgung jener angeb- 
lihen Verführer des Kaifers größeren Eifer gezeigt als der Vizekönig Tſchang 
Zichi-tung, der, jelbjt eine der mächtigften Stüßen des neuen Kurſes, damit 
blinde Ergebenheit gegen jeine Wohlthäterin, die Kaiſerin-Witwe, verbindet. Der 
ehemalige Redakteur hat nun feierlich widerrufen und feine Loyalität durd ein 
zur Unterjtügung der Hungersnot in China beftimmtes Geſchenk von 10 000 Taels 
bekräftigt. Tſchang Tihr-tung felbft beantragt infolgedejlen feine Begnadigung, 
die zugleich mit feiner Ernennung zum Minifterial-Sefretär unter Verleihung 
von Knopf und Rang erfolgte. Nachdem die Vizekönige von Nanking, Wu⸗tſchang 
und Tſch'öng-tu auf eigene Snitiative junge Leute ind Ausland, namentlich nad 
Japan, zum Studium fremder Einrichtungen entfandt hatten, erließ der Kaijer 
anı 17. September ein Edikt, worin diefes Beilpiel zur allgemeinen Nachahmung 


Friedrich Hirth, China im Zeichen des Fortichrittes. 535 


empfohlen wird. Wie feit Jahren ſich Japaner in Europa und Amerika überall 
einfanden, wo es etwas Nützliches zu lernen giebt, jo werden wir bald jungen 
Chineſen in unferen Hörſälen, unferen Werkftätten, unjeren Regimentern be- 
gegnen, die, auf Regierungskoften ausgebildet, fremde Givilifation in die Heimat 
zurüdbringen. Da fie gleichzeitig hohen Anforderungen in der Kenntnis ihrer 
eigenen Litteratur entfprechen müfjen, wenn ihnen höhere Beamtenftellen in China 
zufallen jollen, jo fteht ihnen eine leichte Aufgabe bevor. Schon während bes 
Sommers wurden dur die Kaijerin-Witiwe die Gejandten im Muslande aufge- 
fordert, ihr Augenmerk auf die im Auslande ftudierenden jungen Ehinefen zu 
fenfen und befunders begabte Kandidaten, wenn fie Zeugnifje, Diplome u. f. w. 
aufzumweifen haben, auf Staatsfoften in die Heimat zurüdzufchiden, wo fie nad 
weiterer Prüfung zu verwenden jeien. 

Es ift Schon jet kaum möglich, ohne weitläufige Auseinanderjegungen die 
aus allen Kundgebungen der Regierung hervorgehenden Beweile für den Ernft, 
mit dem jeit Monaten vorgegangen wird, aufzuzählen. Europa darf mit diefem 
Erfolg feiner Waffen zufrieden fein. Ohne den Zwang ber Ereigniffe wäre es 
nie dahin gekommen, und der Berfajfer eines mir vor furzem zu Geficht ge— 
fonmmenen Leitartikel einer chineſiſchen Zeitung ſtellt nicht mit Unrecht die 
paradure Behauptung auf, daß niemand zu diefer glüdlihen Wendung im 
chineſiſchen Staatsleben mehr beigetragen hat als Prinz Tuan uud feine Borer. 
Ein hoher, blutiger Preis für eine Errungenfhaft, von der man eines Tages 
jagen wird: fie Eonnte nie zu teuer erfauft werben. 


— 


Totenſonntag am leere. 


Wenn fich die Mebel fenken ” Schlaft wobl au ibr und träumet 

Buf Gräber im Blumenkleid, In ftolzer Mogen But, 

Dann will ich eurer gedenken, ESs fteigt empor und fcbAumet 

Der Toten im Weere weit; Poch über euch die Flut. 

Giebt auch kein Bügel die Kunde, Auch euch wie euren Brüdern 

Mennt auc kein Denkſtein das Ziel, Tönt beut ein beiliger Klang, 

Doc fchlummern tief unten im Grunde Euch fingt gleich Kindbeitliedern 

Der Eichenberzen fo viel. Zur Rub des Sturmes Befang. 
Rarl Dove. 


5 


OO O9OO 


Die gemeinfamen Züge im Weltenbau. 


Von 


M. Wilhelm Meyer. Schluß) 


Ww das Tagesgeftivn bei Gelegenheit einer totalen PVerfinfterung vom 
Monde joweit für unfer Auge verdedt wird, daß fein Glanz feine nächſte 
Dimmeldumgebung nicht mehr überftrahlt, jo bemerkt man häufig ungeheure rote 
Flammen über den Sonnenrand fich erheben. Man hat diefe jogenannten Protu— 
beranzen inzwifchen mit Hilfe des Spektroſkops auch zu allen Zeiten außerhalb 
einer Sonnenfinfternis wiederfehen fünnen. Mit Staunen und geheimem 
Schauder bemerkte man, daß dieje Flammen oft in wenigen Minuten bis über 
einen Raum emporzüngelten, der den unjerer ganzen Erdenwelt um ein Mehr: 
faches übertrifft. Am September 1893 zum Beifpiel ſah man eine Protuberangz, 
die in einer PViertelftunde bis zu einer Höhe von 500000 km emporjclug. 
Solche Gejchmwindigfeiten von 350 km in der Sekunde zeigt nur unter gemwifjen 
ertremen Berhältnijjen ein materieller Körper, und nur die Fortpflanzung von 
Wirkungen der Naturfräfte, wie die des Lichtes und der Elektrizität, übertrifft fie. 
Troß der ja zweifellos ganz unvorjtellbar gewaltigen Vorgänge auf dem Sonnen: 
balle konnte man es doch faum für möglich halten, daß materielle Teile des 
Sonneninnern wirklich mit folder Kraft ausgeſchleudert werden könnten, ganz 
befonders, da man den Sunnenball als eine große Nebelmafje aufzufafjen bat, 
in der wohl die Materie im Innern ftarf verdichtet fein muß, aber doch nicht 
ſolche furchtbaren Spannungen bervorbringen fönne, wie ie derartigen Erplofionen 
vorangehen müßten. Man hat denn auch gefunden, daß man die Protuberanzen 
als rein optiihe Ericheinungen anzujehen hat, als abnorme NRefrattionen, 
Strahlenbredungen in vorher dort fchon vorhandenen Gajen, deren brechende 
Kraft fi) nur durch Vorgänge, die allerdings aud im Sonneninnern entfpringen 
müffen, fo fchnell ändert. Die lichtbrechende Kraft eines Gaſes ſchwankt 
namentlich) mit feiner Temperatur. Diefe muß alfo hier fo enormen Aenderungen 
unterworfen fein, und wir ſehen hieraus, wie mächtig die Wärmekraft hier im 
Gentralherde des Planetenreiches arbeitet. 

Ungemwöhnlihe Strahlenbredungen müflen auch fonft noch auf der Sonne 
eine eigentümliche Rolle fpielen und uns wahrjcheinlic ein ganz faljches Bild von 


M. Wilhelm Meyer, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau. 537 


ihrer äußeren Umgrenzung vorjpiegeln. In je dichtere Gaje die Lichtftrahlen ein- 
dringen, je mehr werden fie von ihrem geraden Wege abgelenkt. Deshalb be- 
Schreibt ein Sonnenftrahl auf feinem Wege von den äußerften Grenzen unjerer 
Atmofphäre bis zu unferm Auge eine Erumme Linie, weil ja die Luft immer 
dichter wird, je näher fie fich der Erdoberfläche befindet. Das Bild der Sonne 
wird dadurch jo viel gehoben, daß fie für unfer Auge bereits etwa fünf Minuten 
früher aufgeht, ald e3 nad den rein geometrifchen Geleßen geichehen müßte. 
Ganz Mehnliches muß auch auf der Sonne jelbft mit ihren eigenen Strahlen 
gefchehen; fie werden gekrümmt, und da ift num ausgerechnet, daß in einer ganz 
beftimmten Entfernung von ihrem Mittelpunfte die Größe diefer Krümmung 
gerade derjenigen gleihfommt, die die Oberfläche der Sonne an derfelben Stelle 
befiten müßte. Die Strahlen müjjen alſo bier immer in demfelben Abftande von 
der Sonnenoberflähe bleiben, wenn ſich dort etwa eine folche befände, und nun 
immer um diejelbe herumlaufen, ohne fich jemals von ihr zu entfernen. Dieſes 
Gebiet, in welchen: ſich eine große Anzahl von Sonnenftrahlen fangen, wird dem— 
nad) beſonders hell erjcheinen, wenn es ſich auch phylifalifch garnicht von unter 
oder über ihm liegenden unterſcheidet. Dies bedeutet aber nichts 
Anderes, als dat bier eine ftrahlende Oberfläche zu fein fcheint, wo in Wirklich: 
keit gar feine bejondere materielle Abgrenzung vorhanden ift. Es iſt deshalb 
jehr wohl möglich, ja ſogar höchſt wahrjcheinlic), daß die Sonne feine irgendwie 
feft umgrenzte Kugel, jondern eine ſich ganz allmählid in den Weltraum ver: 
lierende, nad) ihrem Mittelpunfte bin verdichtete Gasmaſſe it. Wir fennen der- 
artige Gas: und Nebelmafjen in allen Abjtufungen der Verdichtung, die das 
Weltgebäude überall in großer Zahl bevöltern, und uns noch befchäftigen 
werden. 

Wir haben jedenfalld die Sonne als einen Gasball Fennen gelernt, bei dem 
man keinerlei Anzeichen dafür bemerkt, daß er etwa unter den Atmojphären: 
ſchichten, die wir direkt fehen künnen, eine flüffige oder gar feite Hülle bejäße. 
Troßdem muß durch den Drud der überliegenden Maſſen die Materie der 
Sonne in ihrem Innern viel dichter zufammengedrängt fein als bei und in den 
dichteften und feiteften Stoffen, die wir kennen. Die enorme Temperatur der 
Sonne hält jedoch ihre Materie in einem Zuftande, den wir immer noch als ein 
Gas im phyſikaliſchen Sinne bezeichnen müſſen, denn es giebt, ſoweit wir 
wenigftens auf der Erbe fehen, für alle Stoffe eine beftimmte fogenannte kritiſche 
Temperatur, von der ab fie fich erſt in einen anderen Nggregatzuftand über: 
führen lafjen, gleichgiltig, unter weldhem Drud dies geihieht. Su kann man 
beijpielöweije Luft fo ftark zufammendrüden, wie man will, fie wird bei gewöhn— 
fiher Temperatur fi) doch niemals in den flüffigen Zuftand zwingen lafjen, 
während dies bei 200 Grad unter Null ganz leicht ift, felbft bei dem gewöhn— 
lihen Drud unjerer Atmofphäre. 


5338 M. Wilhelm Meyer, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau. 


So jehen wir aljo in unferem Sonnenfyftem alle Abftufungen von Aggregat- 
zuftänden der Weltförper. Die Sunne felbit ift noch ein Gasball, in welchem 
fi die Materie in denjenigen Regionen, die wir feine Oberfläche nennen, ivgend- 
wie vorübergehend zu fondenfieren beginnt, dadurch die Erjcheinungen der Sonnen- 
flede2c. erzeugend. Es grenzt ſich hier etwas wie eine erjte Atmofphäre von den 
übrigen Schichten des Gasballes ab. Aupiter ift jedenfall von einer fehr hohen 
Atmoſphäre umhüllt, unter der ſich wohl eine glühend flüffige Oberfläche befinden 
kann. Indes gejtattet die ftetS mit ſchweren Wolfen behangene Dunfthülle des 
Planeten nicht, einen Blid in diefe tieferen Negionen zu werfen. Mehnliche Ber: 
hältnifje herrſchen audy auf Saturn. Unfere Erde hat eine fejte Oberfläche und 
eine Atmofphäre darüber, die abwechſelnd mit Wolfen verhüllt oder durchfichtia 
ift, um unfern Blick zu jenen anderen Welten ſchweifen zu laſſen, mit denen wir 
unfern Wohnfig nun vergleichen fönnen. Auch im Innern der Erde wird fi 
durch den Drud der überlagernden Gejteinsmafjen die Teinperatur in genügender 
Tiefe ſoweit jteigern, daß wir ihre dicht zufammengepregten Maffen doch gas: 
förmig nennen müſſen. Auf dem Mars it der Wandel der Aggregatzuitände 
noch mehr nad) der feiten Seite hin vorgejchritten. Sein Yuftmantel ift bereits 
fehr dünn und zeigt nur äußerſt jelten etwas wie einen leichten Nebeldimft, der 
uns feine feſte Oberfläche zuweilen teilweije verjchleiert. Wenn das, was wir 
die Meere des Mars nennen, wirkliche Waſſerbecken find, jo müſſen fie jedenfalls 
ſehr flach fein und bejißen eine relativ viel geringere Ausdehnung gegenüber den 
Pandmaffen, ald es auf der Erde der Fall ift. Unſer Mond endlich beit über- 
haupt feine merflihe Atmojphäre und ficher feine Meere; er ift, abgejehen 
von feinem unbekannten Innern, ein völlig fejter Körper geworden. Es ift ſehr 
auffällig und bedeutfam, dat diefe Abftufungen in den Aggregatzuftänden, die 
wir bier verfolgten, parallel laufen mit den Größenverhältniffen der bezüglichen 
Weltkörper. Die Sonne, als der größte, ift noch ganz gasförnig, Jupiter, der 
nächitgrößte, ift jchon weit mehr verdichtet, die Erde, abermals weſentlich Fleiner, 
hat es längſt zu einer feften Oberfläche gebracht, auf dem noch Eleineren Mars 
jehen wir die Atmofphäre fich noch deutlicher flären und verdünnen, wie auch der 
Wafjergehalt feiner Oberfläche jelbit relafiv zu feiner Größe ein viel geringerer 
geworden ift. Auf dem Monde endlich find Luft und Waſſer jo qut wie ver- 
ſchwunden. Dieſer Parallelismus ift nicht zufällig, und ınan hat die vermutliche 
Urſache bald gefunden. Der Uebergang der Aggregatzuftände ineinander ift in 
eriter Linie von der Temperatur abhängig. Ein kleinerer Körper verliert aber 
feine Wärme leichter al3 ein größerer. Wir können alſo aus den gegenwärtigen 
Zuftänden der Slörper unferes Syſtems ſchließen, daß fie zu einer gewiſſen Zeit 
einmal alle ungefähr die gleiche Temperatur beſaßen und ſich inzwifchen wejent: 
lich abfühlten, jeder nah) Maßgabe feiner Größe mit verfchiedener Geſchwindig— 
fett. Nur bei der Sonne ſelbſt fcheint hier ein bedenfliches Fragezeihen gemacht 


M. Wilhelm Meyer, Die gemeinjfamen Züge im Weltenbau. 539 


werden zu müffen, deren ganz enorme Temperatur kaum die Annahme einer 
jeit Millionen Jahren ftattgehabten Abkühlung zuläßt. 

Außer den Planeten umkreift die Sonne nod eine Schar von Myriaden 
anderer Dimmmelskörper, die Kometen, die Meteoriten ımd die Gtern- 
Ichnuppen. Die Bewegungen all diefer Körper haben ihren gemeinfamen Brenn- 
punft in dem gewaltigen Gentralgejtirn, das fie noch bis in die unbefanntejten 
Weiten jenjeit3 der Bahn des legten Planeten beherrjct. 

Bon diejen Himmelsweſen nehmen die Kometen die hervorragendite Stelle 
ein. Sie waren jeinerzeit jehr gefürdtet, al$ man ihre kosmiſche Natur nod) 
nicht erkannt hatte, fondern fie für Erfheinungen in den höheren Luftichichten der 
Erde hielt, die allerlei Einflüffe in materieller wie auch feeliicher Hinficht als 
„Zuchtruten Gottes" zu üben im ftande wären. Dieje Kometenfurdt ſchwand 
aber keineswegs fugleid, als man erfuhr, daß dieje Himmelsweſen weit außer: 
halb des irdiſchen Dunſtkreiſes, meift viele Millionen Meilen von ung entfernt, 
ihre feft vorgefchriebenen Straßen ziehen. Sa, während man früher ihnen 
höchſtens den Ausbruch einer Peſt oder eines Krieges zuzufchieben trachtete, 
fürdtete man nun von ihnen nichts weniger als den Untergang der 
Welt jelbft. Man hatte ja erfahren, daß folch eine Kometenbahn gelegentlich die 
der Erde freuzen könne, man hatte ſelbſt beftiunmte Kometen entdedt, die diefe 
Durchkreuzung der Erdbahn in der That bei jedem ihrer Umläufe um die Sonne 
an einer beftimmt anzugebenden Stelle ausführten. Wenn alſo beide Körper 
bier einmal zufammenträfen, müßte es doch zu einem Zufammenftoß Eommen, 
der zum mindeften unfere menschliche Weltordnkng völlig über den Haufen werfen 
könnte. Die Weltuntergangspropheten haben ſich deshalb immer mit Vorliebe 
an dieje fürchterlichen Kometen gehalten, die ihren fchredlichen Leib vft int Laufe 
weniger Tage über das halbe Himmelsgewölbe gejpenfterhaft ausbreiteten, und 
die unerwartet famen wie Sendboten einer jenfeitigen Welt, und wieder fo 
geheimmisvoll verſchwanden, wie fie gefommen waren. 

Wir willen, daß die Kometen aus einem verhältnismäßig kleinen und hellen 
Kopf beftehen, der allein niemals ein auffälliges Objekt am Himmel fein würde, 
an ben fi) aber, wenigftens bei den mit freiem Auge ſichtbaren Geitirnen, der 
oft ungeheuer lange Schweif hängt. Diefer ift das eigentlich Geheimnisvolle an 
der Erjcheinung. Er dehnt fich oft jo weit in den leeren Raum hinaus, daß er 
den Weg von einem zum andern Planeten vder ſelbſt zwijchen uns und der 
Sonne überbrüden fünnte. Wir fehen danı den Raum an diefen Stellen auf: 
leuchten und doch it der Anhalt der Kometenſchweife für alle unſere feinften 
Beubadhtungsmethoden ein vollkommenes Nichts, das außer auf das Auge Feinerlei 
Wirkung ausübt, die wir doch ſonſt von jeder Materie ausgehen fehen. Das 
volllommenfte Vakuum, das wir in unfern phyſikaliſchen Yaboratorien noch er: 
zeugen können, ift eine die Luft gegen den Anhalt der Kometenſchweife. Denn 


40 M. Wilhelm Meyer, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau. 


wären die ungeheuren Räume derfelben itberall auch nur mit fo viel Materie an- 
gefüllt, wie fie beifpielsweife in unfern Röntgenröhren zurüdbleibt, fo müßte dies 
im ganzen immerhin fo viel ausmachen, daß die Anziehungskraft diefer Maſſe 
auf die anderen Weltkörper bemerflich würde, was dennoch bei den genaueften Beob- 
achtungen niemal3 wahrgenommen wurde. Man neigt deshalb in neuerer Zeit 
immer mehr zu der Ueberzeugung hin, daß die Kometenſchweife überhaupt nichts 
Reelles, Sondern nur ein optifch-elektriiches Phänomen feien, wie wir fie ja auch 
in den möglichft von jeder Materie entleerten Groofefchen oder Hittorfichen 
Nöhren zu erzeugen vermögen. Hierfür fpricht ja auch namentlich der befannte 
Umftand, daß die Kometenſchweife fich von der Sonne beftändig abwenden, gleich: 
viel wie fi) der Kometenkopf, von dem der Schweif ausgeht, beiwegen mag. 
Die Sonne entwidelt zweifellos jehr große elektriiche Kräfte, die ſolche Fern— 
wirfungen wohl hervorzubringen im ftande find. Freilich Eönnten ſolche Ent- 
ladungen im völlig Iuftleeren Raume doch nicht vor fi) gehen. Entweder jtrömt 
alfv doch eine zwar ganz auferordentlid geringe Menge von Materie vom Kopfe 
in den Schweif, oder der überall im Weltraum vorhandene Staub fpielt die ver- 
mittelnde Rolle; auch beides fann zugleich wirken, was wohl das Wahrſchein— 
lichfte ift. 

Der Kometenkopf aber ift ganz fiher etwas Materielles; er könnte ja ſonſt 
nicht von der Sonne angezogen werden, das heißt, gegen die Sonne eine Yall- 
geſchwindigkeit befigen, die fich von genau derjelben Größe erweift, wie die, durch 
welche alle Blaneten ihre Bahnen um die Sonne befchreiben. Außerden fehen wir 
bei Annäherung der Kometen an die Sonne leuchtende Stoffe ihrem Innern 
entftrömen, deren dyemifche Natur wir durch das Spektroſkop mit aller Sicher: 
heit beftimmen Können. Wir wiffen deshalb, daß die Kometenkerne namentlich 
die vier überall in den Mafjenanfammlungen des Weltall anzutreffenden 
Elemente Waflerftoff, Kohlenftoff, Eifen, Natrium enthalten, fo daß wir annehmen 
fönnen, die Materie der Kometen fei im imefentlichen von der der übrigen 
Dimmelsförper nicht verichieden. 

Die meiften Kometen fommen aus unbekannten Fernen des Weltgebäudes 
und fallen fait geradlinig gegen die Sonne hin. Nur eine kleine jeitliche Be- 
mwegung, die fie mitbringen, verhindert bei den meilten den Sturz in die Sonne; 
fie rafen dann oft mit Geſchwindigkeiten, die man an feinen andern Dimmels- 
förpern wahrgenommen bat, an dem mächtigen Geftirn vorüber, daß fie zum 
Umfehren zwingt, und eilen num mit beftändig abnehmender Geſchwindigkeit 
wieder in den unbefannten Weltraum zurüd. Alle diefe Bewegungen entfprechen 
völlig genan den Fallgeſetzen, durch welche ſich auch die in unfern Händen be- 
findliche Materie dem Erdmittelpunfte entgegen bewegt. Während fid) aber die 
Planeten in nahezu kreisförmigen Bahnen bewegen, fo daß ihr Abftand von der 
Sonne ſich nım wenig ändert, kommen dagegen die Kometen aus dem falten 


M. Wilhelm Mever, Die gemeinfamen Züge im Weltenban. 541 


Weltraum, in weldem fie fi) meist Sahrtaufende lang träge bewegten, wie ſchon 
gefagt, in faft gerader Linie auf die gewaltige Wärmequelle zu, und ftreifen fie 
oft fo nahe, daß fie jedenfalls im ihre oberften Atmofphärenidichten eindringen. 
Diefe ungeheueren QToemperaturdifferenzen, denen die merkwürdigen Himmels— 
förper oft innerhalb weniger Wochen ausgefett find, geben fich bei ihrem Anblide 
im Fernrohr durch offenbar jehr vehemente Vorgänge zu erkennen, die die Materie 
des Kernes zum Teil zur VBerdunftung bringen. Dampfitrahlen brechen aus der 
der Sonne zugewandten Seite hervor und ſcheinen zunächſt gegen dieſe hinftürzen 
zu wollen. Aber nad) einiger Zeit wenden diefe leuchtenden Fontänen von Welt: 
förpergröße in großem Bogen unı; fie werden offenbar von der Sonne abgeſtoßen 
und gehen nun in den Schweif über. Auch in unfern Laboratorien ſehen wir 
heftig austretende Dampfitrahlen eleftrifch werden. Auch plößliche Lichtſchwan— 
ungen verraten die gewaltigen Revolutionen, welche in den Kometen während 
ihrer Annäherung zur Sonne ftattfinden müſſen. Erſt dann entwidelt ſich 
ihr Schweif zu fo ungemeiner Länge, während das Geltim früher überhaupt 
feinen gehabt hatte und ihn fpäter auf dem Rückwege in den Weltraum jtet3 
wieder allmählich verliert. 

Während wir aljo offenbar von den Kometenjchweifen nichts zu fürdten 
haben, find doch die Stometenferne ficher materielle Körper, deren Zuſammen— 
treffen mit der Erde doch vielleicht bedenkliche Folgen haben könnte. Es hat ſich 
gezeigt, daß die Kometen ji unter Umftänden in Sternfchnuppenwolfen auf: 
löſen, die fich längs der früheren Kometenbahn ausbreiten, einen jogenannten 
Sternfhnuppenring bildend, den die Erde durchfliegen muß, wenn er ihre Bahn 
freuzt. Dadurch entjtehen dann die jtet3 an bejtimmten Jahrestagen wieder: 
£ehrenden periodiihen Sternihnuppenfälle, weil ja die Erde alljährlih zum 
jelben Datum fi) auch an derjelben Stelle ihrer Bahn um die Sonne befindet. 
Die Sternfhnuppen find alſo Stüde von Kometen, die bis in unfere Atmo- 
iphäre gelangen und dort durch die Reibung an der Luft plößlich in fo große 
Hitze verjeßt werden, daß fie augenblicklich verpuffen, das heißt in Gasform über- 
gehen. Waren fie vorher als größere Weltftäubchen immerhin felbftändige Körper, 
jo werden fie num in ihre Atome aufgelöft und hören auf, als Himmelsförper zu 
eritieren. Rings um die Erde herum fallen in jeder Nacht Millionen von Stern: 
Ihnuppen, und Millionen von Weltuntergängen finden aljo damit ftatt in unferer 
nädjten Nähe. Wir haben uns zu fragen, ob außer diefem Weltftaub nicht auch 
größere Körper, deren Dimenfionen etwa zwijchen denen der Sternfchnuppen und 
der Eleinjten befannten permanenten Himmelskörper liegen, den Weltraum durch— 
eilen und mit und zufammenftoßend eine Sataftrophe herbeiführen fönnten. 

Solde Körper find zweifellos vorhanden. Wir fehen häufig genug mit 
furdtbarem Donnerkrachen Feuerkugeln aufleuchten und über unjern Häuptern 
in Stüde zerjpringen, die dann auf die Erdoberfläche herabfallen als Meteor: 


542 M. Wilhelm Diener, Die gemeinfamen Rüge im Weltenbau. 


Steine. Seit Menjchengedenten find deven Hunderte vor unferen Augen gefallen, 
wenngleich feiner derjelben fo groß war, daß er erheblidhen Schaden anrichten 
fonnte. Das Größere ift immer feltener wie das Sleine, im Weltgebäude ſowohl 
wie auf der Erde. Deshalb fehen wir in jeder Nacht fo viele Sternfchnuppen 
fallen, aber nur wenige Meteorfteine im Jahre. Da es feinen Grund giebt, 
weshalb in der Stufenfolge der Größe der Himmeläförper ein Sprung vorhanden 
wäre, es aljo deren innerhalb beitimmter Dimenfionen überhaupt nicht geben 
follte, jo ift eine Wahrfcheinlichkeitsrechnung darüber aufzuftellen, innerhalb 
welcher Zeitläufte von Hunderttaufenden oder vielleicht Millionen Jahren einmal 
ein Himmelskörper mit uns zufammentreffen müffe, der der irdiſchen Weltordnnung 
gefährlich werden könnte. 

Die Meteoriten werden immer erft fihhtbar, wenn fie in unfere Atmofphäre 
eingedrungen und dadurch weißglühend geworden find. Die Bahnen, melde fie 
dort über unſern Häuptern befchreiben, beweifen, daß diefe Körper in den bei 
weitem meiften Fällen aus den fernften Räumen des Univerfums zu uns gelangen, 
wo das Reich der Sonne und ihre anziehende Kraft längft aufgehört haben. 
Dies fann man von den Kometen nicht mit gleicher Sicherheit jagen, die wahr: 
Icheinlich doc; Teile des Sonnenſyſtems jind, welche nur bis an defjen lekte 
Grenzen hinauseilen, um dort umwendend mit einer Anfangsgeſchwindigkeit gleich 
Null wieder gegen die Sonne zurüdzufallen. Die Meteoriten dagegen dringen 
mit einer relativ großen Anfangsgefchwindigfeit, die fie irgend wo anders, aljo 
nicht durch die Anziehungskraft der Sonne, erworben haben, in ihr Gebiet ein 
und vergrößern diefe Geſchwindigkeit noch durch jene Anziehungskraft. Diefer 
Unterjchied ift für uns jehr wichtig. 

Diefe vielleiht von anderen Sonnenfyitemen zu uns herüberfliegenden 
Materieproben beitehen aus feinen anderen chemifchen Elementen wie die Gefteine 
unferer Erde, nur daß die Mifchungsverhältniffe andere find. Man kann Die 
Meteorfteine in zwei Klaſſen teilen, die Steinmeteorite und die Meteoreifen. 
Die eriteren haben Nehnlichkeit mit den Eryftallinifchen Gefteinen unjerer tiefften 
Erdfchichten, doch find fie in ihrer Zuſammenſetzung deutlich” von ihnen unter- 
fchieden. Die Meteoreifen dagegen haben auf der Erde gar feine Repräfentanten, 
denn es giebt bei und fein gediegened Eiſen, aus dem diefe Himmelskörper be- 
ftehen; das Eifen ift vielmehr auf der Erde bereitö überall mit dem Sauerftoff 
und anderen Elementen in Berbindung getreten. Diejes Metall ift ja bekanntlich 
dem Einfluß des Sauerſtoffs fehr zugänglich; es voftet leicht. Das himmliſche 
Eifen kann aljo mit jenem auf der Erde faſt allgegenwärtigen Sauerſtoff noch 
nicht in dauernde Berührung gefommen fein; e3 hat unter wejentlid anderen 
Bedingungen eriftiert wie die Materie der Erdoberfläde. Freilich in den tieferen 
Schichten der Erdfrufte, die uns bisher nit zugänglich geworden find, Fönnte 
jeher wohl gediegened Eifen vorkommen, und auch die Eigenart der Gtein- 


M. Rilhelm Mener, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau. 543 


mieteoriten fpricht dafür, daß fie einft den tieferen Schichten eines Welttörpers 
angehört haben könnten, der von unferer Erde nicht ſehr verſchieden auf: 
gebaut war. 

Die Metevriten leiten uns in die Regionen außerhalb des Sonnenſyſtems 
hinüber, aus denen fie Eommen. Sie jagen uns, daß aud in diefen unendlichen 
Fernen Weltförper eriftieren, deren Materie eine überrafchende Nehnlichfeit mit 
der unferes heimatlichen Planeten hat. Alle anderen bezüglichen Thatfachen der 
Beobachtung befeftigen Ddiefe Heberzeugung. Richten wir das Spektroſkop auf 
einen jener Firfterne, die da8 Himmelsgewölbe zu Millionen bevöltern, und von 
denen der nächſte fo weit von uns abjteht, daß das Licht, in einer einzigen 
Sekunde dreihunderttaujend Kilometer zurüdlegend, mehrere Jahre gebraudt, 
um von dort zu uns herüberzuflimmern, jo jehen wir diefelben Linien wie im 
Spektrum der Sonne in derjelben Anordnung und Stärke, daß man ein 
ſchwächeres Sonnenſpektrum vor ſich zu haben meint. Dieje Linien beweijen, 
daß die gleichen Stoffe unter nahezu der gleihen Temperatur und überhaupt den 
gleichen phyſiſchen Bedingungen dort vorhanden find wie auf unferm 
Gentralgeftirn. 

Freilich zeigen wohl die meiſten, aber doc nicht alle Sterne diejes Spektrum. 
Wie es in der Planetenwelt verichiedenartige Himmelsweſen giebt, fo auch unter 
den Firſternen. Aber es handelt fich dabei ebenfo wie bei den Planeten immer 
nur um Abftufungen einer im weſentlichen gleichen Beichaffenheit. Es giebt 
Sterne, die offenbar viel heißer, und andere, die erheblicd; kälter find als unfere 
Sonne. Erftere geben ſich auch meift jchon dem bloßen Auge dur ihre mehr 
ins bläuliche fpielende Farbe zu erkennen, während die kälteren Sterne rot find, 
ganz entiprechend der Rotglut erhigter Körper. Unfere Sonne ift in einem 
Mittelftadium, das ja überall die zahlreichjten Vertreter hat; man muß fie einen 
gelblicdyen Stern nennen. 

Zroß ihrer unvorjtellbar großen Entfernungen, die nur in den wenigiten 
Fällen noch für und ausmeßbar find, hat man die Größen einiger weniger Fir: 
jterne beftimmen können, und fand fie ftetS größer als die unferer Sonne, wenn 
auc nicht um ein jehr Bedeutendes. Unſere Sonne gehört alfo zu den Eleineren 
Geſtirnen ihrer Art. 

Die Sterne find jehr ungleich über das Himmelsgewölbe verteilt, wie fchon 
der bloße Anblid desjelben zeigt. Bei näherer Unterfuhung ergiebt ſich troß 
aller jcheinbaren Regelloſigkeit, mit welcher die Sterne verftreut find, daß ihre 
Zahl nad) der Milchftraße in beſtimmtem Berhältnis zunimmt, und in der Milch: 
ftraße jelbft drängen fie ſich bekanntlich fo dicht zufammen, daß fie dadurch für 
das bloße Auge jenen myfteriöfen Schein erzeugen, der al3 ein ungeheuerer 
Ring die ganze Welt von Sonnen zufammenfaßt, in welcher unfere Sonne als 
eine unter Millionen gänzlich) verjhwinden würde, wenn wir uns außerhalb 


544 M. Wilhelm Meyer, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau. 


diejes Sonnenſchwarmes ftellen könnten. Dieje, wenn auch nur ungefähre regel- 
mäßige Verteilung zeigt auf jeden Fall, daß die Materie aller diefer Sonnen 
einmal in gemeinfamen Beziehungen zu einander ftand oder nod) fteht, daß ein 
Milchſtraßenſyſtem exiftiert, wie wir ein Sonnenſyſtem fennen. Auch die 
Sonnen diefer größeren Gemeinfamkeit führen Bewegungen aus, die eine all- 
gemeine Gejeglichkeit vermuten lafjen, wenngleid; erafte Unterjuchungen hierüber 
vielleicht erit nad) Jahrhunderten ausgeführt werden fünnen, bi die wegen ihrer 
Entfernung jehr klein erjcheinenden Eigenbewegungen der Sterne genauer zu 
überbliden find. Man kennt indes fchon heute einige Sterne, die fo große Eigen: 
bewegungen befigen, daß die Anziehungskraft aller anderen Sterne des Mild;- 
ftraßenfyftems auf dieſe nicht genügen würde, um die rafende Gejchwindigkeit, 
mit der fie durch den Raum eilen, zu erklären. Arkturus, jener befannte vötliche 
Stern im Bootes, bewegt fi; um mindeftens 3—400 km in der Sekunde durch 
den Raum. Wir müſſen deshalb annehmen, daß die Fixſterne ſich wohl im all: 
gemeinen unter dem Einfluß der Gejamtichwerkraft, die ſich im Mittelpunfte des 
Syſtems vereinigt, bewegen, daß fie aber außerdem wirkliche Eigenbewegungen 
beſitzen, die fie diefer Schwerkraft nicht verdanfen, und die fie von Syſtem zu 
Spften treiben müſſen, ebenfo wie wir die Meteoriten im Gegenfat zu den 
Kometen und den Planeten mit Eigenbewegungen in unfer Sonnenfyitem ein- 
dringen jahen. Auch diefe müffen ja den Bereich der Sonne wieder verlaffen, 
wenn fie nicht zufällig mit einem Planeten zufammenftoßen und von diefem 
feitgehalten werden, wie bei einem Sturze auf die Erde. Dieſe Meteoriten find 
irrende Sterne wie jene großen Sonnen; fie gehören feiner Bereinigung dauernd 
an, wie fonft der größte Teil der Weltmaterie, der ſich ſtets zur Schöpfung 
größerer und jchönerer Weltorganifationen durch die Gemeinfamkeit gejeglicher 
Berbindungen zufammenschließt. Wir dürfen aus diefem Vergleich jener irrenden 
Sonnen mit den Meteoriten von vornherein vermuten, daß die erfteren ebenjo 
wie diefe gelegentlich mit anderen Weltkörpern zufammenftoßen können, da ihre 
Bewegungen nicht durd) feſte Bahnen an ein beitimmtes Syſtem gebunden find, 
wenngleich die3 wohl in Anbetracht der ungeheueren leeren Räume, welche zwiſchen 
den Firfternen bejtehen, jehr jelten ftattfinden wird. 

In der That beobadjtet man am Dimmel gelegentlid; Ereigniffe, die man 
gar nicht anders al3 duch einen Zuſammenſtoß von Weltförpern erklären kann, 
ich meine das Aufleuchten fogenannter neuer Sterne. Erſt im Februar 1901 
ift befanntlich ein foldher im Perſeus erichienen, der das hellite derartige Objekt 
jeit dem berühmten tychonifchen Sterne von 1572 war. Diefe Sterne leuchten 
plöglih auf; man hat noch niemals einen wirklich erjcheinen jehen; fie find immer 
nur ald vorhanden entdedt worden. In einigen Fällen zwar konnte man noch 
während kurzer Zeit nad) ihrem Aufleuchten ein geringes Hellerwerden beobachten, 
aber jedenfalls ſchon nad) wenigen Tagen begannen fie ftet3 wieder ſehr allmäh— 


M. Wilhelm Meyer, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau. 545 


ih zu erblafjen, viel langjamer als fie an Glanz zunahmen. Gelegentlid) be- 
merkte man wohl aud ein Schwanken der Helligkeit, ein geringes Auf- und 
Niederfladern; aber immer find diefe Sterne wieder nad Wochen oder Monaten 
verfchwunden. 

Es ift fein Zweifel, daß fi) auf diefen Sternen gewaltige Kataftrophen 
ereigneten, und alle Ergebnifje der Beobachtung deuten darauf hin, daß es fich 
hier in der That um Zufammenftöße handelt, durch welche ungeheuere Mengen 
von Wärme in jehr kurzer Zeit freigemadht werden. Ein Teil der betreffenden 
Weltkörper wird dadurch in glühende Gafe verwandelt, von denen man fie dann 
nad) einiger Zeit deutlich umgeben fieht. Aber in den bisher beobadjteten Fällen 
fann e3 fich doch nicht etwa um Zufammenftöße von Sonnen miteinander handeln. 
Es find alles verhältnismäßig fleine Ereignifje gewefen, da ſchon nad) wenigen 
Monaten ein fo großer Teil der entwidelten Wärme wieder auögeftrahlt war, 
daß die Sterne und entfchwanden. Für den neuen Stern, der 1892 im Fuhr—⸗ 
mann erjchien, ift ed ſehr wahrjcheinlich gemacht, daß er dur einen Schwarm 
von Sternfhnuppen oder Meteoriten flog, die beftändig auf ihn niebderftürzten, 
zuweilen in größerer umd dann wieder geringerer Menge und dadurch feine Glüh— 
bige mit Schwankungen lange anhalten ließ, bis er den Schwarm verließ und 
dann ziemlich jchnell erblaßte. An der Meteoritenmwolfe hatten fich dabei glühende 
Safe angejammelt, wodurd; diefelbe als eine leuchtende Nebelmafje fichtbar 
wurde. Aehnliches beobachtet man augenblidlichh wieder an dem neuen Stern 
von 1901, der noch immer in den Fernrohren fichtbar if. Es wurde ſchon 
oben gejagt, daß Zufammenftöße von Körpern im Weltraume um fo feltener 
fein müffen, je größer diefelben find. Deshalb haben wir bis jegt nur ſolche 
Eleineren Ereigniffe zwijchen Sonnen und den häufiger vorkommenden Meteoriten 
glüdlicherweife aus jener großen Entfernung erlebt. Aber wir müſſen doch aus 
dem Vorangegangenen fliegen, daß der Zufammenfturz zweier Körper von 
Sonnengröße nur eine Frage der Zeit fein kann, und Zeit fteht ja der Ent- 
widelung der Weltförper in auf und abfteigender Linie in unendlicher Menge 
zur Verfügung. 

Es ift ſehr auffällig, daß alle neuen Sterne in der Mildftraßengegend 
aufleuchteten, alfo dort, wo die Materie jened großen Syſtems von Sonnen 
augenſcheinlich am dichteften ausgeftreut ift, Zufammenftöße alfo auch am 
leichteften ftattfinden fünnen. Ein folches Ereignis fand fogar einmal mitten im 
Sternhaufen der Andromeda ftatt, wo die Sterne fi wie eine Saat von 
Diamanten zufammendrängen. Unfer Sonnenfyftem befindet ſich dagegen in dem 
inneren, vom Ringe umfchlofienen Teile de8 Sonnenfhmwarmes, wo die Zahl der 
figtbaren Sonnen fich wieder wefentlich vermindert. Die Wahrfcheinlichkeit eines 
weltzerftörenden Zufammenftoßes wird alfo hier geringer wie in jenen äußeren 
Partieen des eigentlichen Milchſtraßenringes. 

36 


545 M. Wilhelm Miever, Die gemeiniamen Züge im Weltenbau. 


Dieſe Milchſtraße beiteht indes, wie auch jchon der bloße Anblid zeigt, nicht 
aus ciner gleihmäßig zufammenhängenden Anfammlung von Sternen; fie zeigt 
bellere und dunflere Schattierungen, wird in ihrem Zuge breiter und jchmaler 
und verziveigt. ſich fogar an einer Stelle, fo daß die beiden Züge eine dunkle 
Inſel zwiſchen ſich laſſen. ingehendere Unterfuchungen ftellen uns die Mild- 
ſtraße als eine Gruppierung einzelner Sternenwolfen dar, die einen etwa linfen- 
fürnigen Raum ziemlich unregelmäßig erfüllen. Die Materiezentren jcheinen 
aljo auch in diefen größeren Syſtem einitmals in ganz ähnlicher Weife ange- 
ordnet geweſen zu fein wie in unferm Sonnenreiche, wo fich ja die Planeten 
auch innerhalb eines linjenförmigen Raumes bewegen. Später aber ſcheinen die 
Sonnen fi) in befondere Gruppen geordnet zu haben, die gemeinfame Eigen- 
bewegungen befiten und dadurch den Ring allmählich auflöfen. Es fcheint ferner, 
daß die eigentliche Figur dieſes ungeheuern Weltgebildes gar nicht die eines 
Ringes, jondern vielmehr einer Spirale fei, deren einzelne Windungen ſich nur 
für unfern Standpunkt im Innern derjfelben perjpeftiviich zu einem Ringe ver- 
einigen. Die vorerwähnte PVerzweigung der Milchitraße deutet namentlich 
hierauf hin. 

Soldye fpiraligen Gebilde kommen am Himmel noch jehr vielfad vor. 
Einige unter ihnen zerfallen im Fernrohr in einzelne Sterne, wie die Milch— 
ftraße, andere dagegen erteilen ſich als gasfürmige Körper; man nennt die 
leßteren Nebel, die eriteren find Sternhaufen. Die meilten dieſer Körper 
icheinen flach, linfenförmig, zu fein. Sie würden entitehen, wenn eine vorher 
fugelige Maſſe von einem fie durchdringenden zweiten Körper getroffen wird; 
diefer reißt dann die Materie des erfteren mit ſich fort, und es entiteht eine 
Wirbelbewegung darin, durch welche ihre Materie längs der Ebene, in der der 
Stoß ftattfand, jich fpiralig anordnen muß. Much hier fehen wir alfo überall 
am Himmel Spuren, die auf Zufammenftöße zwiichen Weltförpern hindeuten. 

Die Nebel find, wie Schon erwähnt, gasförmig. Man findet in ihnen den 
allgegemwärtigen Wafferitoff, dann Stidftoff und ein unbefanntes Gas. Oft 
jind mitten in ſolche Nebel wirkliche Sterne verjtreut, und es giebt alle denkbaren 
Uebergänge von diejen zu jenen. Man hat deshalb angenonmen, daß die Nebel 
die Bildungsftätten für die Sterne jeien, inden dieſe durch die Verdichtung der 
Nebelinajie allmählich entitanden. In neuerer Zeit hat man durch die Bhoto- 
graphie Nebelmafjen von ungeheuerer Ausdehnung entdedt, die ganze Sternbilder 
mit einem allerdings außerordentlich mattleuchtenden Schleier überziehen. Durch 
das Spektroſkop hat man die Natur diefer Gebilde nicht unterfuchen können; es 
ift indes wahrfcheinlid, daß wir es bier mit ungeheueren Wolfen Eosmijchen 
Staubes zu thun haben, der jonjt leere Weltenräume erfüllt. Damit find wir 
an den äußerften Grenzen ſowohl des Weltenraumes wie der feinften Verteilung 
der Materie in demjelben angelangt. 


M. Wilhelm Mever, Die gemeinfamen Züne im Weltenbau. 547 


Bir haben in der Auordnung wie der Bejcyaffenheit diejer weltbildenden 
Materie überall einheitliche Züge entdeckt. In den fernften Nebeln, in denen 
noch fein Sleim zu einer werdenden Welt zu erfennen ijt, begegnen wir dem 
Waſſerſtoff, dem Leichteften aller Gaje, das überall auch am Aufbau unferer Erde 
beteiligt ift. Wo fich diefe Nebel zu Sonnen verdichten, zeigen diefe auch im 
wejentlihen die Zufammenfeßung der unferigen. Wir jehen, wie alle die mäd)- 
tigen, ftrahlenden Wirkungen, mit denen die Sonne über ihr Reich herricht, auch 
von jenen fernen Leuchten des Univerfums ausgehen. Denn auch die ftrahlende 
Wirkung der Anziehungskraft regiert dort die Maſſen wie bier. Wir fennen 
Doppel: und mehrfahe Sonnen, die ſich nad; genau denfelben Gefegen um 
ihren Mafjenmittelpuntt bewegen wie die Planeten um die Sonne, nur daß 
jene Körper in der Regel beide jelbftleuchten, dev bewegte wie der beivegende. 
Solch ein Doppeljternigften bildete auch einftmals die Sonne mit Jupiter und 
wohl auch mit den anderen Planeten, ala diefe nod eine glühende Oberfläche 
beiaßen. Dunkle Begleiter diefer fernen Sonnen, alfo wirklide Planeten, find 
ohne weiteres von unferm Standpunkt nicht mehr zu erkennen, dagegen haben 
jich folche dadurch verraten, daß fie fich gelegentlich, wie unfer Mond bei einer 
Sonnenfinfternis, vor ihre Sonne ftellten, und dadurch das Licht jenes Sternes 
periodijch teilweife von ung abhielten. Es giebt aljo zweifellos dunkele Himmels- 
förper, welche die Sonnen jenſeits der unfrigen begleiten, und auf denen wir 
eine Lebensentwidlung ähnlich der unfrigen wohl als vorhanden vermuten dürfen. 

Auch Lichtſchwankungen von der Art hat man wahrgenommen, wie fie 
unfere Sonne durch die Periodizität ihrer Fledenericheinungen beſitzen muß, nur 
find diefe Schwankungen bei diefen fogenannten veränderlichen Sternen viel 
intenfiver, weil wir fie fonft ja auch überhaupt nicht mehr erfennen könnten. 
Dasfelbe Spiel der Naturkräfte, welches die Sonnenflede hervorbringt, findet alfo 
auch auf jenen Sternen ftatt. Dasielbe helle Aufleuchten unferer Atmoſphäre, 
welches eine plötzlich eindringende Feuerkugel hervorbringt, ift in entiprechend 
verjtärktem Maße die Urjache des Erjcheinend der „neuen Sterne". Es giebt 
auch in jenen fernen des Weltgebäudes Meteoritenwolfen und Weltftaub wie 
bei und. Und wie viele verwandtichaftlihe Züge befiten die Planeten unter ein- 
ander! Wir haben vorhin nur die interejjantejten derjelben aufgezählt. Sie 
beftehen wie die fernften Sterne aus denfelben Stoffen, die unfern Erdkörper 
bildeten; fie drehen fi alle um eine Achſe und ordnen ihre Bahnen um das 
Gentralgeftirn in einem flach linjenförmigen Raume an, wie die Milchftraße ihre 
Sonnen und Nebelmajjen ihre Spiralen. Alle Materie, die wir darauffin prüfen 
fonnten, bewegt ſich um fich jelbjt und fortichreitend, entweder um ein gemein- 
james Majlencentrum oder geraden Weges von Syſtem zu Syftem irrend. 
Durch die Drehung um fich ſelbſt wird auf den Planeten der Wechjel von Tag 
und Nacht erzeugt, der in der irdiichen Weltordnung eine jo bedeutende Rolle 

35* 


548 M. Wilhelm Mever, Die gemeinfamen Züge im Weltenbau. 


jpielt. Die meijten Planeten befigen ficher Atmojphären, zwar wohl in fehr ver» 
ichiedenen phyſikaliſchen Zuftänden, denn es zeigt jich überall bei der wunderbaren 
Mebereinftimmung allgemeiner Züge eine unerſchöpfliche Mannigfaltigfeit, ganz 
ebenio, wie wir es an unferer irdifchen Natur wahrnehmen. 

Es iſt nicht daran zu zweifeln, daß dieſe gemeinjamen Züge aus gemein: 
jamen Urſachen entipringen, die den Entwidlungsgang aller Weltkörper leiteten, 
wie verjchiedene Wege fie auch jpäter gehen modten. Beobadhtungen, die wir in 
diefer Hinfiht an anderen Weltförpern maden, können uns deshalb auch über 
das Schidjal unferer Erde unter gewiſſen Einſchränkungen Auskunft geben. 

Und diefe gemeinfamen Züge, diefe große Einheit der Weltordnung erfüllt 
uns mit geheimnisvollem Ahnen eines Weltgeiites, der, wie unfer Geiſt über 
unjeren Slörper, über die Materie aller Weltgebäude erhaben ift und dieje 
Ordnung denkend ſchuf. 


S 


Railers Geburtstag auf Ber. 


‚Still ziebt mein Schift auf blauer Flut £s beult der Sturm, es brüllt die See, 


Fern meinem trauten Vaterland, Auffchwanker Rab’ in Racht und Graus 
Am Bimmel Abendfonnenglut — Auf meinem Poften bier ich fteb 
Dein Auge beimatwärts gewandt: Umtobt von Sturm= und Wogenbraus, 
Gott gruͤſz Dich, liebe Abutter fern, Schwer iſt der Dienft an Schiffes Bord, 
Wie wär’ ich jetzt bei Dir fo gern! Der Tod, er lauert bier und dort! 
Doch meinem Kaifer ſchwur ih ja — Doch meinem Kaifer dien ich ja — 
Burra mein Kalffer, mein Raiſer burra! burra mein Kkalfer, mein Kaifer burra! 


Und fteigt die Flagge einft blutrot 
Am Maſt empor, beifst’s: an den Feind! 
Ziebt mich die Woge in den Tod — 
Sterb' fern ich einfam, unbeweint — 
Süfz ift Das Leben jungem Blut, 
Schwer ift Das Sterben frobem Mut, 
Doch meinem Kaifer fterb’ ich ja — 
burra mein Kaiffer, mein Kkalfer burra! 
Albert klein. 


Geſprochen bei dev Staiferaeburtstandicier an Pord S. M. ©, „Moltte” 11. 


ESENSESESESESESESESESESESESSONS 


Periönlichkeit und Kultur. 


Von 
Fritz kienhard. 


Ww man ſich in die gefteigerte Aufregung und folglich jeelifche Unruhe und 
geiftige Unfeftigfeit der Mehrzahl unferer Zeitgenofjen im Kleinkram des 
Tages gelegentlich verliert, fo kann man Stunden jchwerfter Verzagtheit erleben. 
Die Preſſe trägt uns jeden Tag eine Fülle von Trivialitäten in Haus. Dede 
Ueberbrettl-Gründung — die neuejte Heißt „die zudende Seele" — jedes 
Interview wird ebenjo wie jeder Mord und Unfall befprochen. Als neuefte That 
des Geiltesbundes, der ald „Goethebund“ ins Leben trat, wird ein Rundſchreiben 
an die Einzelverbände mitgeteilt, man möge — gegen das Duell Stellung nehmen. 
Sleichzeitig wird, in offenbarem Gegenjaß zum Eatferlichen Schillerpreis, ein 
Bolf3:Scillerpreis von derjelben Stelle aus vorgefchlagen. Das find Kleinig— 
feiten, aber Kleinigkeiten, wie fie faft jeder Tag bringt, Kleinigkeiten, die und 
das eine Wefentliche bezeugen, daß ein Mangel an großer und Elarer Führung 
unjerer jetigen Geiftesfultur das Gepräge giebt. 

Gerüchtweiſe vernimmt man demgegenüber, daß in etlichen Sreifen ein 
Lieblingsgedanfe Herman Grimms, ein Gedanke, den auch Freytag und Treitichke 
gelegentlich erwogen haben, wieder in Erwägung gezogen werde. Und ich glaube 
in der That: die Gründung einer deutichen Akademie, die für unfer Litteratur- 
und Theatertvefen ebenfo wie für unfere Sprache einen würdigen, anregenden 
fürdernden Hof bedeutender Männer daritellte, die endlich, endlich den Unfug des 
Theater-Spefulantentums zu Gunften einer groß und bedeutfam eingegliederten 
Nationalbühne aufhöbe, die durch Preisverteilungen, Unterftügungen, Aufgaben, 
Anregung eine lebendige Macht würde — ich glaube, daß gerade in dieſen zer- 
fahrenen Tagen eine ſolche Gründung ein außerordentlicher Appell an die Männer 
von der Litteratur wäre, ſich als Glieder eines Bollsganzen zu fühlen und dem 
geiftigen Zigeunertum, das unſere Dichtung nur mit ziellofen Einfällen bereichert, 
endgiltig zu entjagen. 

Dazu wären aber allerlei Vorbedingungen nötig. Wir müßten vor allen 
Dingen erft wieder wiljen und in Mark und Seele aufgenommen haben, was 
eigentlich Kultur ift. 


550 Arie Lienhard, Perſönlichteit und Kultur, 


Wir ſtehen, von außen betrachtet, auf ungewöhnlicher Kulturhöhe. In Handel 
und Induſtrie, in Naturwiſſenſchaft, Kriegswiſſenſchaft, Heilwiſſenſchaft, in der 
Raſchheit und Bequemlichkeit des Verkehrs, im Zeitungs- und Zeitſchriftenweſen, 
in tauſenderlei kleinen Luxusdingen des täglichen Lebens — überall rund um 
uns her ſehen wir eine ſtarke, eine faſt glänzende Produktivität in Entfaltung. 
Und Deutſchland ſteht darin nicht zurück und ſoll auch nicht zurückſtehen. Das 
„made in Germany“ hat auf allen Gebieten einen guten Klang, und wir haben, 
denke ich, auch hier wieder bewieſen, daß wir nicht nur das Volk der Dichter und 
Denker ſind, ſondern ebenſo das Volk der That. 

Dies iſt das Gepräge des Bismarckiſchen Zeitalters. Und etliche ganz feine 
Köpfe haben ſogar gemeint, der Gegenſatz der Tage Caprivis gegen den Alten 
vom Sachſenwald ſei auf ein Bemühen zurückzuführen, den feineren ſeeliſchen 
Stimmungen des öffentlichen Lebens, gegenüber ſo viel That und Temperament, 
wieder zu beſſerer Geltung zu verhelfen, eine Meinung, die nur den Wert einer 
geiſtreichen Spielerei beanſpruchen darf. Denn jene Entwickelung zu einem 
„Deutſchland der That“ iſt eine geſamteuropäiſche Entwickelung, die wir mitmachen 
mußten. Für immer dahin find die Tage des gemütlichen Partikularismus. 
Es fragt ſich jeßt, ob nicht auf fo breiter und großer Grundlage eine neue, 
größere, tiefere Gemütskraft num erft recht fiegreich durchbrechen und das Eroberte 
nun auch verflären und wahrhaft beherrichen könne. Es fragt fich ferner, ob 
nicht gerade wir Deutihe vor allen anderen Völkern Europas berufen ſeien, 
ſolche größere Seelenkraft im größeren Deutfchland weltüberleuchtend zu ent- 
falten. Zum militärifhen Führerberuf, den wir durchaus nicht fahren zu laſſen 
gewillt find, nunmehr aud) den ſeeliſchen Führerberuf! Neben das Schwert den 
Balmzmweig hoher Gemütskraft, neben den Blitz den leuchtenden und mwärmenden 
Sonnenihein und den erquidenden Regen! 

Das ift es, was ich kürzlich in die Forderung zujammenfaßte: dem großen 
Reiche die große Seele! Mit dem Deutjchland der That gilt e8 zu vermählen 
das Deutfchland des alten, nunmehr auf breiter Grundlage frifcher und ftärfer 
wieder zu entfaltenden Idealismus. 

Gelingt uns dies, jo find wir wahrhaft, und dann erft ganz, das Führer: 
volk der Welt. Nichts haben wir dann poetischen Träumereien geopfert, wohl 
aber haben wir eine neue und wahrhafte Durdjleuchtungsfraft echt deutfcher Art 
gewonnen. 

Und wie denn das? Ich will auf die gefamt-europätichen Sorgen, die ich 
uns in der Sozialdemokratie entgegenftellen, auf die Unbehaglichkeit des Ultras 
montanismus, auf die noch nicht feit und modern-national geregelten Erziehungs: 
fragen nicht eingehen. Darüber werden in jedem Jahre Bücher gefchrieben. Der 
Fachmann lieft und beurteilt fie, das Volksganze fauft daran vorüber. Wir 
fönnen zunächſt nur jeder in feinem Bezirke eine neue Kultur leben. Bon diejem 


Fritz Pienbard, Berföntichkeit und Kultur. 351 


geſammelten Punkt aus ſtrahlt das dann weiter. Und jo werden durch dieje 
anftedenden Nusjtrahlungen von Menſch zu Menſch neue Lebensitimmungen 
übertragen, bis ein ganzes Netzwerk friſcheren In-die-Welt-Sehens allmählich 
hergeſtellt iſt. Füge man alſo den allgemeinen Theorieen, deren Notwendigkeit 
freilich nicht beſtritten werden ſoll, eine noch notwendigere Ergänzung bei durch 
Selbſtbeſinnung auf die eigene Perſönlichkeit und deren machtvolle Durch— 
wãrmungsbkraft. 

Mit anderen Worten: vergeſſe man neben fo viel Kopf-Theorieen nicht den 
noch michtigeven Madtfaktor: das Herz! Ach meine nicht das fentimentale 
Derz, das in Couplets und Liebesgejchichten eine Nolle fpielt: nein, jene Kern— 
fraft des Menjchen, die mit der zeugenden, jchaffenden, raftlo8 werbenden Liebe 
vor allen Dingen den geflärten Willen verbindet. Diefe Art Liebe, von der das 
Neue Teftament ſpricht, deren Weſen in jedem großherzigen Menfchen die 
treibende Kraft ift, die in Sinderaugen ebenfo blüht wie im Genie: fie it die Macht, 
die Heere beflügelt, die den Denker rajtlos ringen läht um jein Ideal, die dem 
religiöfen Menſchen Kräfte ewigen Lebens giebt. Diele Art Liebe ijt der Kern— 
punkt einer wahrhaft lebendigen Perjünlichfeit. Sie müßte auch das jeelen- 
bildende Element in einem Volksganzen fein. Sie müßte leuchten aus unferer 
Kunft und Dichtung, fie müßte unfere Kirche nach) wie vor als Sauerteig wirken 
laffen, fie müßte unfere Wiſſenſchaft verflären und uns alle vor Materialismus 
und Vernüchterung bewahren. 

Dieje weltumfpannende und weltverflärende Gemütsfraft, größten Auf: 
ihwungs fähig und doch gütig im Eleinen — ſie müßte gerade von und Deut: 
chen, im Gegenjag zum „Sahrhundert-Niedergang“ (fin de siecle), nunmehr im 
Jahrhundert-Aufgang der ganzen Welt gepredigt, geftaltet und vorgelebt werden. 

Kt das etwas Neues? Nur für die neuefte Zeit, die den Menſchen ſelbſt 
und jeinen beiten Herzendfern verjchütten ließ unter Hulturballaft. Für alle guten 
und Starken Zeiten der Weltgeſchichte iit das aber nichts Neues. Noch am Anfang 
des verfloffenen Jahrhunderts wuchſen in unferem geiftigen Deutichland, wie zwei 
Edelbäume, Männer von echten und großen Kulturidealen: Goethe und Schiller. 
Ihnen war das Wefentliche aller Kultur die Perſönlichkeit. Site ift das Weite, 
fagt Schiller, was ein Dichter geben fann, fie muß es alfo auch wert fein, vor 
der Deffentlichkeit ausgeftellt zu werden. Und Goethe nennt fie fchlehthin 
„höchſtes Glüd der Erdenfinder" und hat demgemäß Telber gelebt, ohne Raft, 
aber auch ohne Haſt, Ring an Ringe ſetzend mie der gefund wachſende Baum, 
an dem der himmlische Gärtner feine Freude hat. 

Nehmen wir dazu noch einige gefchloffene Eharakterfüpfe wie Stein, Treitichke, 
Lagarde, in England Earlyle und in jpäterer Beit den herrlichen Rustin, nehmen 
wir hinzu Bismards Vollkraft, Wagners Schaffen, auch fonft allerlei einzelne 
philofophiihe Schriftiteller und Hochfchullehrer, fogar den ſcheinbar jo negativen 


552 Fri Lienhard, Perfönlichkeit und Kultur. 


Niegiche: — jo bemerfen wir zwar, baß jener Kerngedanke vom Mittelpunktswert 
der Perfönlichkeit auch in diefem erregten Jahrhundert nicht erloſchen, daß er aber 
auch nicht der fchlechthin führende, national:erzieheriihe Machtfaktor geworden ift. 

Und nun meinen mit Necht die Beften von und, jene andern und in ihrer 
Wichtigkeit nicht zu unterfchägenden Organe unferes Volkskörpers, ſoweit es fi 
um technifche und wiſſenſchaftliche Errungenschaften unferer Kultur handelt, hätten 
fich bisher genügend mit einfeitiger Kraft bethätigt: wir meinen, daß unfer Gejamt- 
Organismus nunmehr einfach aus dem Gleichgewicht gerät, wenn das fo einieitig 
fortgeht. Gegen die vielen Pofaunen und Blehinftrumente kommen die feineren 
Gaiteninftrumente einfach nicht mehr auf. Das Orcefter hat folglich feine Har- 
monie mehr oder vielmehr, zukunftsfreudiger geiprochen: es bat nod feine Har- 
monie. Wir müfjen fie ihm erft wieder fhaffen. 

Und fo fei es denn wieder in aller Schärfe betont: das A und 3 aller 
Kultur ift der Menſch felbit. Der Menſch ala Berfönlichkeit. Sei es ein 
Schulmeifterlein Wuz, fei ed eine Chamifjoihe Wafchfrau, jei e8 Bismard oder 
Goethe — nicht die Begabungsftärkfe und Wirkungsweite ift an ſich das Wejent- 
liche. Das Wejentliche von hier aus ift, daß ein Menſch in fid felber, im Gött- 
lichen, das in und allen lebt und uns führen will, den Sammelpunft gefunden 
babe, jo daß er num eine Welt für fich bildet, nicht zwar troßig abgefondert, wohl 
aber in fi geichloffen und freiwillig fich eingliedernd ins Ganze, in die Nation, 
in die Menfchheit. 

Es ift etwas Köftliches um folchen echten Menſchen! Es giebt keinen höheren 
Gewinn als eine echte Perjönlichkeit, und fei fie fchließlich nur ein Steinklopfer- 
hans in geflidtem Aelplerkleid. Nicht „Rückkehr zur Natur” fordern wir mit 
Rouffeau, nein, „Heimkehr zum Menfhentum!" — das ift heute unfer Lodruf. 
Perfönlichkeit hat der Menſch, der gewiffermaßen durhdrungen ift von arditel: 
tonifhem Gefühl, weil er alles ſchön in fich und feine Welt einfügt oder energiſch 
ausfcheidet, je nachdem geläuterter Inſtinkt und geflärte Kopf- und Herzensbildung 
ihn leiten. Ein Gärtner ift die Perfönlichkeit: er fucht die Edelpflanze Menſch 
möglichft reich zum Wachſen und Blühen zu bringen auf natürlichem Boden, mit 
liebevoller Benutzung natürliher Begünftigungsumftände. Wenige haben die 
Gottesgabe, Kunſtwerke zu ſchaffen: alle aber haben wir die gleichiwertige Mög: 
lichkeit, Kunſtwerke zu fein. 

Wahre Kultur hat jomit nur ein Bolt — mit Austin zu ſprechen —, das 
möglichft viele Berjönlichkeiten hat. Der Menſch ift das Centrum der Kultur. 
Und das Göttliche im Menfchen ift das Centrum des Menjchen. Die freien 
Schmeizerbauern der Zeiten von Sempach, Murten oder St. Jakob hatten nichts 
von der fogenannten Kultur, die man eher Barbarei oder mindeftens Hyperkultur 
nennen follte, des Neronifchen Roms; aber fie hatten kraftvolles und würdiges 
Menfhentum, und darum erft blüten ihre Kantone. Nicht anders in Athen, 


Fritz Lienhard, Berfönlichkeit und Kultur. 553 


Süämtlidye Kulturgaben und noch mehr als früher waren auch im jpäteren Griechen- 
fand reichlich vorhanden, aber die innere Kraft der Menjchen war nicht mehr 
diefelbe. Diefe innere Kraft, die jeden von uns zu einer gejchlofjenen Welt mit 
eigener Atmofphäre und umleuchtender Wärme machen kann, droht und verloren 
zu gehen. Darum immer wieder: wo find denn bie Dichter, die wahren Welt- 
verklärer, in deren Schaffenscentrum dieſer Gefichtspunft mächtig ift, Geftalten 
Schafft, Worte prägt? Wo ift dies inftinktive Gefühl für Menfchenwert, durch 
alle Formen bindurd, zu einer fondierenden und Rang anweifenden Macht ge: 
worden? Sind wir ein „Volt von Genies" oder find wir ein innerlich freudlofes 
Volk von eiferfüchtigen oder verdroffen in Sachlichem erjtidenden Ständen, Kaften 
und Sonkurrenten? 

Wer einmal von hier aus in unfere Kultur jchaut, der wird ordentlich er- 
ihreden. Er wird bei Seite treten, um den Strom zunädjft an ſich vorbeitreiben 
zu laſſen und feine Zeitgenofjen, wie bereit3 von hiftoriichem Standort aus, zu 
überfchauen. Dann wird er das ewig Bleibende in dem allem und hinter dem 
allen ſuchen und darin Anker werfen für Zeit und Ewigkeit. Nun beginnt er, an 
jih jelber und feiner Welt zu arbeiten, von Hohen, bleibenden, göttlichen 
Gefihtspunften aus, mit unerjchütterlicher Gelafjenheit und Erfolgs-&leichgiltig- 
feit, in fih und Gott beruhigt, feiner Mode mehr unterworfen, immer mehr 
bineinwachfend in Freudigkeit. Andere gefellen fich zu ihm, fie werden allmählid) 
und faft ungewollt eine wärmende und erhellende Macht, durch einfaches Aus— 
ftrahlen ihres Weſens in Wort und Werfen. 

Das find dann die „Beiten einer Zeit”, das find die wahren $Sulturträger. 


1% 


MHeihpnadjtserinnerung. 


Das war Doch eine gute Zeit, 

Als manchmal fich zu mir verirrt 

Ins Zimmer eine Kleinigkeit, 

Wie fle geſchenkt den Kindern wird. 


iDerkwürdig war es wirklich Doch 
Und Iuftig, was fich bei mir fand, 
His zwiſchen meinen Büchern noch 
Manchmal ein bölzern Schäfcben ftand, 


Als, wenn ich beimkam, dann und wann 
Gemäütlicb eine Puppe fal3 

Huf meinem Sopba - denkt nur an!— 
Und mich mit grofzen Augen maſz; 


Als noch auf meinem Tifch fogar 
Mitunter — wie nur ging das zu? — 
Ein kleiner Strumpf zu finden war, 
MBitunter au ein kleiner Schub. 


Beim Schreiben ward ich oft geftört 
Durch kleiner Weſen WUebermut, 
Wlenn ich ibr bell Befchrei gebötrt, 
Und dennoch, mein’ ich, klang cs aut. 


Wlas klein war, ift emporgedicbn, 
Und jene Tage liegen weit. 
Als noch die kleinen Stimmen fchrien, 
Das war doch eine gute Zeit! 

3. Trofaln. 


MCHHEHCHENCHEH HEHE N: 


Zolltarif und Reidsiteuerreform. 


Von 


Freiherr ©. von Zedliß und Neukird. 


W: immer die Ordnung der Finanzen des Reiches und ihres Verhält- 
nijjes zu den Finanzen der Bundesitaaten ſich nah der formellredhtlichen 
Seite gejtalten mag, jo kann jedenfalls von einem dauernd befriedigenden Zu: 
ſtande nur dann die Nede fein, wenn einerjeitS das Reich in der Hauptſache 
als Regel jelbit für die Dedung feines Ausgabebedarfs forgt, und wenn ander: 
jeit3 dem lawinenartigen Anfchwellen der Reichsſchuld wenigftens für die Zukunft 
vorgebeugt wird. 

Die Finanzen aller Bundesftaaten find in ihrer feiten Ordnung bedroht, 
wenn fie nicht vor im Betrage ſchwankender, in ihrer Höhe im voraus nicht 
überjehbarer Inanſpruchnahme für den Aufwand des Reiches bewahrt werden. 
Die finanziell minder Leittungsfähigen Bundesftaaten können aber auch einen 
einigermaßen feften Beitrag von einiger Erheblichfeit zu den Stoften des Reiches 
nicht ohne ſchweren Druck aufbringen, weil fie die Steuerfraft ihrer Angehörigen 
zur Dedung des Landesbedarfs ohnehin ftark in Anſpruch nehmen müffen. Daß 
es im Intereſſe des Reiches liegt, e3 nicht zu einer drüdenden Laſt für den 
Ihwäderen Zeil feiner Glieder werden zu lajjen, liegt auf der Dand. Die 
Berpflihtung gegenüber dem nationalen Gemeinweſen und das nobile officium 
des Stärferen gegenüber dem Schwächeren weiſen ſonach gleihmäßig die finanz- 
kräftigen Bundesftaaten darauf bin, einer Ueberlaftung der Landesfinanzen durch 
das Reich vorzubeugen. Dasſelbe gilt in noch; höherem Maße von dem Reiche, 
der Reichsregierung, wie dem Reichstage. 

Die Reichsſchuld erreicht troß ihres ſtarken Anwachſens im legten Jahrzehnt 
and annähernd nicht die Höhe der preußiichen Staatsfchuld. Während aber 
diefe ganz überwiegend zur Vermehrung des werbenden Staatövermögeng, 
namentlid) des StaatSbahnbejiges aufgenommen ift und der Bedarf zur Ber- 
zinfung und Tilgung derjelben aus den Neinerträgen des mittelft Anleihen er: 
worbenen oder erweiterten Staatseigentums voll gededt wird, ja ein erheblicher 
Ueberihuß für allgemeine Staatsausgaben übrig bleibt, find von den Reichs— 
ihulden nur wenig über 10%, zur Vermehrung des erwerbenden Vermögens auf: 


Freiherr O. von Zedlitz und Neukirch, Zolltarif und Reichsſteuerreform. 555 


genommen. Davon entfallen nod 109 Millionen auf den Kaiſer-Wilhelms— 
Kanal, welcher wenigſtens bis jet Feine entiprechende Rente abwirft. Der Reft 
der Reichsſchuld ift ganz Überwiegend für Landesverteidigungszwede erwadjien. 
Der Aufwand für die Neihsichuld, welcher für das laufende Jahr auf über 
88 Millionen veranfchlagt ift, findet daher nur zu einem verſchwindenden Bruch— 
teile einen Ausgleich; in dem Reinertrage mit Anleihen erivorbener oder ver- 
bejjerter Bermögensitüde, muß in der Hauptſache vielmehr aus anderen 
Einnahmen beftritten werden. Wenn es daher ganz unbedenklich erjcheint, daß - 
in Preußen alljährlich Eiſenbahnkredite bewilligt werden, weil in normalen 
Beiten der Reinertrag der Bahnen ftärfer fteigt als der Aufwand für die 
Eifenbahnfchuld, ift die Steigerung des Bedarfs für die Reihsichuld im legten 
Jahrzehnt von über 55 auf über 88 Millionen Mark finanziell ſehr bedenklich. 
Wenn das Anwachſen der Reichsſchuld in deinfelben Tempo fortginge, wäre nad) 
10 Jahren mit einem Bedarf von über 140, nad) 20 Yahren mit einem folchen 
von über 220 und nad einem Menfchenalter mit einem folchen von über 
350 Millionen Mark zu vechnen. Das jtarke Anfchwellen der Reichsichuld rührt, 
abgejehen davon, daß man anfänglich jehr viele einmalige Ausgaben für Heer 
und Flotte, welche nach den Regeln jolider Finanzwirtichaft aus ordentlichen 
Einnahmen zu beftreiten geweſen wären und feit einer Reihe von Jahren in der 
Dauptjache auch aus ſolchen beitritten werden, auf Anleihen übernommen hat, 
vornehmlich davon her, daß auc für die rechtzeitige Tilgung derjenigen Anleihen, 
* welche zur Beftreitung von perivdifch wiederfehrenden Ausgaben dienen, wie die 
mit der von Jahrfünft zu Jahrfünft eintretenden und der durch die Fortſchritte 
der Waffentechnik bedingten einmaligen Ausgaben, nicht geforgt worden ift. Es 
entfpricht zwar durchaus der Billigfeit, daß ſolche einmalige Ausgaben nicht 
ausschließlich demjenigen Redinungsjahre, in dem fie zu leiten find, zur Laft 
bleiben, Sondern unter Mithilfe des Reichskredits auf längere Zeit verteilt 
werden. Aber der Zeitraum, auf den die Verteilung ohne unfolide Belaftung 
der Zukunft erfolgen darf, dedt fich mit demjenigen bis zur regelmäßigen Wieder: 
fehr einer Ausgabe bderjelben Art. Die einmaligen Ausgaben infolge eines 
Quinquennatsgeſetzes müſſen alfo von dem Kahrfünft bis zu deifen Ablauf, die 
Koften eines neuen Gemwehrs von den Jahren, in dem es im Gebraud ift, ab- 
getragen werden. Wenn bis in die letzte Zeit nur zu häufig aud) bei Ausgaben 
diefer Art der Gegenwart nur der Bedarf zur Verzinfung der Anleihen auferlegt, 
damit aber auch die Zukunft voll belaftet worden ijt, obwohl diejer doch in ab— 
fehbarer Zeit diefelben Ausgaben blühen, jo ift das eine völlig unzuläffige Ent- 
faftung der Gegenwart auf Koften der Zukunft. 

Andere Ausgaben, welche nicht fo mwiederfehren wie die Koſten der erften 
Erbauung unferer Flotte nebft den dazu gehörigen Anlagen und Einrichtungen, 
fönnen aud) nad) ftrengen Finanzgrundſätzen auf eine lange Reihe von Jahren 


56 Freiherr O. von Zeblig und Neukirch, Zolltarif und Reichsiteuerreform. 


* 


verteilt werden, allein man wird, um die Zukunft für die ihr zweifellos bevor- 
ftehenden weiteren Aufgaben leiftungsfähig zu erhalten, diefer nicht dauernd die 
volle Zinslaft aufbürden dürfen, fondern für eine angemeffene Tilgung der Anleihen 
ſorgen müſſen. In den letten Kahren ift durch Heranziehung von Mehrerträgen 
der Ueberweifungsfteuern über den Etatsanſatz zur Schuldentilgung zwar etiwas 
in der vorbezeichneten Richtung gefchehen, und die Beſchränkung des Zufchufes 
aus Anleihen zu den Koften des Baues und der Ausrüftung der Sriegsiciffe 
. auf den 69, des jeweiligen Kapitalwerts der Flotte überjteigenden Teil der 
Schiffsneubaufoften im Etat für 1901 erjcheint fogar als ein bedeutungsvoller 
erfter Schritt auf dem Wege zur richtigen Behandlung der Reichsſchuld. Allein 
beide Maßnahmen reichen zur Verhütung eines ungefunden Anwachſens berjelben 
nicht aus, haben auch die Probe jchledhter Jahre noch nicht beftanden, jcheinen 
nad) dem Entwurf des Reichsetats für 1902 diefe Probe vielmehr nicht beftehen 
zu follen. 

Die BVBorbedingung für eine Behandlung der Reichsſchuld, wie fie not— 
wendig ift, um die Zukunft nicht ungebührlic; zu belaften, ift eine ſolche Ent- 
widelung der ordentlichen Einnahmen des Reiches, daß die Reichsanleihen in dem 
ihrer Zwedbeftimmung ent|prechenden Tempo getilgt werden können. 

Wenn alſo eine den Intereſſen des Reiches wie der Bundesftaaten gleich— 
mäßig entiprechende Ordnung ihres beibderfeitigen finanziellen Verhältnijjes an 
die Vorausjegung geknüpft erfcheint, daß die ordentlichen Einnahınen des Reiches 
ausreichen, um der Regel nad) die dauernden und die ihrer Natur auf fie anzu: 
weifenden einmaligen Ausgaben zu beftreiten, jo werden fie darüber auch noch jo 
viel liefern müffen, um die vechtzeitige Tilgung der Reichsſchulden zu 
gewährleiſten. 

Daß die jetzigen Einnahmequellen des Reichs nicht reich genug fließen, um 
die Erfüllung dieſer Vorausſetzung einer befriedigenden und ſicheren Ordnung 
der Reichsfinanzen auch in mageren Jahren ſicher zu ſtellen, iſt leider kaum zu 
bezweifeln. 

Der Etat des laufenden Jahres macht allerdings einen entgegengeſetzten 
Eindruck. Denn die ordentlichen Einnahmen reichen zur Dotierung des Extra— 
ordinariums mit der bisher nie dageweſenen hohen Summe von 213,5 Millionen 
Mark aus; eine jo hohe Bemeſſung der für einmalige Ausgaben aus ordentlichen 
Einnahmen verfügbaren Mittel dürfte für jet zur Erfüllung der Vorausfegung 
nad; allen Richtungen befriedigender Ordnung des Finanzweſens des Neiches 
genügen. Aber die Dauer eines fo günftigen Verhältniſſes zwiſchen ordentlichen 
Einnahmen und Ausgaben ift nichts weniger als geſichert. Es war ſchon für 
das laufende Jahr nur dadurd möglich geworden, daß die Einnahmen desjelben 
durch den veichen Ueberſchuß des Rechnungsjahres 1899 im Betrage von mehr 
als 32 Millionen ergänzt wurden. Aber auch abgejehen davon, dürften, wenn 


Freiherr O. von Zedlitz und Neukirch, Zolltartf und Reichöjteuerreform. 557 


das legte Drittel des Etatsjahres nicht eine ungleich günjtigere Entwidlung ber 
Einnahmen aufweift als die erften zwei Drittel desfelben, das Iſtergebnis der 
fteuerlihen Einnahmen ſchwerlich das Etatöfoll erreichen. Bei den Reichöftempeln 
ift ein ſehr beträchtlicher Ausfall jo gut wie fiher, und ein Ausgleich durch Mehr- 
erträge anderer Steuern troß des Steigend der Getreideeinfuhr nach den bis— 
herigen Ergebnifjen wenig wahrſcheinlich. In Wirklichkeit reichen daher auch die 
ordentlichen Einnahmen des laufenden Jahres weitaus nicht hin, um fo viel an 
einmaligen Ausgaben zu beftreiten, als der ordentliche Etat aufweift. Der Etat 
für 1902 liefert aber ein ungleich ungünftigeres Bild: die ordentlichen Einnahmen 
bleiben fo weit hinter dem Bedarf zurüd, daß man vor der Wahl fteht, entweder 
die Bundesitaaten mit Matritularumlagen zu überbürben oder nad) dem Bor- 
ichlage des Bundesrats Schulden zu maden, um bie ordentlichen Ausgaben 
zu bejtreiten. 

Man wird fi, auch wenn man voll in Betracht zieht, was an vorüber: 
gehenden Urfachen zu der augenbliklichen fchlechten Finanzlage beiträgt, und 
aud fonft fi vor unberechtigtem Peſſimismus hütet, daher doc zu der Ueber: 
zeugung bequemen müſſen, daß man mit fo hohen und fo raſch fteigenden Er- 
trägen der Reichseinnahmen, wie im lebten Kahrfünft, nicht auf die Dauer 
rechnen kann. Aladann aber ift auch die Schlußfolgerung nicht abzumeifen, daß, 
wenn es notwendig ift, aus den eigenen ordentlichen Einnahmen des Reiches 
mehr als 200 Millionen Mark im Jahre zur Beftreitung einmaliger Ausgaben 
verfügbar machen zu können, eine beträchtliche Vermehrung der eigenen Ein- 
nahmen des Reiches unabweisbar ift. 

Eine ſolche Vermehrung der ordentlihen Dedungsmittel jteht dem Reiche 
mit dem Inkrafttreten des dem Reichstage vorliegenden neuen Zolltarif3, be— 
ziehungsweife der auf Grund desfelben abgejchlofjenen Handelsverträge in Aus— 
fiht. Wie hoch die zu erwartende Mehreinnahme zu veranfchlagen fein wird, 
läßt fich natürlich audy) nicht annähernd überjehen, bevor nicht Tarif: und Ber: 
tragszollfäße und ihre Geltungsbereiche feitftehen. Soviel aber fteht ſchon jet 
feft, daß dabei die Erhöhung der landwirtfchaftlihen Zölle eine Hauptrolle fpielen 
und von deren Höhe, namentlich von den Zollfäten für Getreide, der Betrag der 
Mehreinnahme aus den Zöllen abhängen wird. Die Getreidezölle ſtehen ſchon 
jet weitaus an der Spite der Zolleinfünfte; fie brachten felbft in den Jahren 
reicher Sinlandsernten 1899 und 1900 über 25%/, des gejamten Zollertrages auf, 
im Durchſchnitt des vorangehenden Jahrvierts aber 28—29 %/,, und durchſchnittlich 
etwa das Doppelte des an zweiter Stelle ftehenden Petroleumzolles. Die im 
Bollgefegentwurfe vorgefehenen Minimalzollfäte bedeuten für Weizen eine Zoll- 
erhöhung von rund 57, für Noggen eine joldhe von rund 43%,. Daß die Getreide: 
einfuhr infolge der Erhöhung der Zollfäge erheblich zurüdgeht, ift kaum zu er- 
warten. Nach dem jekigen Stande der Iandwirtichaftlihen Technik ift zwar eine 


558 ‚Freiherr ©. von Zedlis und Neufirch, Zolltarif und NeichKiteuerreform. 


erhebliche Steigerung unferer Getreideproduftion jehr wohl möglich, und ebenio 
ift eine Vermehrung der Anbaufläche infolge von Einſchränkung des jegt über: 
mäßig ausgedehnten Anbaues von Hadfrüchten denkbar. Beides aber nur unter 
der Borausfetung, daß der Getreidebau wieder rentabel genug wird, um den 
Mebergang vom Anbau von Hadfrüchten und Eoftipielige Meliorationen oder 
Kulturarten wirtichaftlich zu rechtfertigen. Eine jo günftige Wirkung ift aber von 
den geplanten Mindeftzolljägen im allgemeinen ficher nicht zu erwarten. Man 
wird daher auch nur mit einer jehr mäßigen Hebung des heimijchen Getreide: 
baues rechnen dürfen. Dagegen fteht in den zwölf Jahren der nächſten Handels- 
vertragsperiode eine Bermehrung der Bevölkerung um mehr als 15%, in ziemlich 
jiherer Aussicht, jodak, wenn die Inlandsproduktion von Getreide ſich nicht ver: 
mebrte, mehr als Verdoppelung der Getreideeinfuhr eintreten müßte. Die 
Setreidezölle dürften daher nad) 1903 an Bedeutung unter den Einnahmen des 
Reiches noch erheblich gewinnen; ihre Erhöhung bildet jedenfall ein beſonders 
harakteriftiiches Merkmal der in Ausficht ftehenden Vermehrung der Boll 
einnahmen des Reiches. 

Die Tandwirtichaftlihen Zölle find reine Schutzölle; für ihre Einführung 
jind wirtichafts- und nicht ftenerpolitifche Gefichtspuntte entjcheidend. Gleichwohl 
darf ihre Geringwertigfeit als Steuerquelle nicht unbeachtet bleiben, wenn es fid) 
um die jachgemäße Beichaffung der notwendigen Einnahmen für das Reich 
handelt. Insbeſondere die Brotkornzölle entbehren, weil fie ein notmwendiges 
Lebensmittel treffen, de3 Hauptvorzuges richtig gewählter indirefter Steuern: 
der Anpafjungsfähigkeit an die finanzielle Leiftungsfähigfeit. Der Getreidezoll 
fann nicht oder wenigitens nicht annähernd fo, wie 3. B. Tabak: und Getränke— 
fteuer, durch Einichränfung des Verbrauchs ausgeglichen werden. Er beſchwert 
den Haushalt auch der breiten, minder wohlhabenden Klaſſen wenigitens an- 
nähernd mit dem vollen Betrage der dur ihn bewirkten Preiserhöhung der 
Brotfrudt. Käme, was nur bei fnappen Welternten eintreten wird, die geplante 
Zollerhöhung im Preife derjelben voll zum Ausdrud, jo würde fi) die Mehr: 
belaftung auf ziemlich genau 3 Mark auf den Kopf der Bevölkerung belaufen. 
Bei befieren Welternten wird fie niedriger fein, namentlich wenn damit eine gute 
Inlandsernte zufammentrifft. Immerhin bedeutet fie eine vom Standpunkt jteuer- 
licher Gerechtigkeit, wie im Intereſſe der Lebenshaltung der großen Majjen gleich 
bedauerliche Mehrbelaitung aud der ſchwächeren Schultern, und es ift daher nur 
zu erflärlich, daß von wohlmeinenden Spzialpolitifern nach einem Ausgleich 
gefucht wird. An Centrumskreiſen denft man daran, den Mehrertrag der Getreide: 
zölle für neue foziale Aufgaben, namentlich für die VBerjorgung der Witwen und 
Waifen der Arbeiter mit Beſchlag zu belegen. Profeſſor Sering ſchlägt in dem 
trefflichen Aufſatze „Die deutſche Bauernichaft und die Handelspolitik“ im No— 
vemberheft dieſer Zeitichrift die Aufhebung des Kaffeezolles und der Salziteuer 


Freiherr ©. von Zedlitz und Neufirch, Zolltarif und Reichsitenerreform. 559 


vor, wodurch eine Erleichterung um mehr als 2 Mark für den Kopf der Be: 
völferung und fomit ein ausreichender Ausgleich für die Erhöhung des Zolles auf 
Brotfrucht gewährt werden würde. 

Beiden Vorſchlägen fteht entgegen, daß fie die von dem Zolltarif erhoffte 
Beſſerung der Finanzlage vereiteln würden. Der Gentrumsplan würde den 
größten Teil de3 Mehrertrages aufzehren, Profeſſor Serings Vorſchlag ſogar die 
Einnahmen erheblich ftärfer vermindern, als fie durch den Zolltarif erhöht werden 
würden. Ohne eine weitere beträchtliche Vermehrung der Einnahmen des Reiches 
wäre daher feiner von beiden ausführbar, am wenigften der Seringiche. Gleich— 
wohl beruht der lettere auf einem richtigen Grundgedanken, während dem Gen- 
trumsplane, auch abgejehen von der finanziellen Seite der Sache, die erheblichiten 
Bedenken entgegenftehen. Ach lege dabei das Hauptgewicht nicht auf den mehr 
formellen Einwand, daß es mit dem Grundſatze der Einheit des Reichshaushalts 
unvereinbar jein würde, eine beftimmte Einnahme für einen bejonderen Ver— 
wendungszwed fejtzulegen. Der Grundjag der Einheit der Yinanzen ift ſchon 
öfter durchbrochen worden, und zwar bei der lex Huene und in den llebergangs- 
beftimmungen des Einkommenſteuergeſetzes jehr zum Nuten der preußijchen Steuer: 
reform. Allerdings handelte es ſich dabei in der Kegel um Maßnahmen vor- 
übergehender Natur behufs Erleichterung ipäterer organifcher Neformen, während 
es ſich bei den jett in Rede ftehenden fozialpolitiihen Maßnahmen um dauernde 
Einrihtungen, und zwar um ſolche handelt, deren Wiederbejeitigung einfach un— 
denfbar ift. Mit diefer Natur der mit den Mehrerträgen der Getreidezölle zu 
finanzierenden fozialpolitiichen Maßnahmen berührt man den ſchwerwiegendſten 
Einwand gegen den Gentrumsvorichlag: den unlösbaren Widerfprudy zwiſchen 
der unbedingt dauernden Natur des Verwendungszwedes und dem Charakter des 
Dedungsmitteld als vorübergehender Notbehelf zur Ueberwindnng eines zeit: 
weiligen wirtichaftlihen Notitandes. Nur als ein ſolcher Notbehelf find die Ge: 
treidezölle gedacht, und wenn Profeſſor Dr. Julius Wolff in Breslau mit der 
Auffafjung recht hat, daß im zweiten Viertel des Jahrhunderts der Weltmarkt: 
preis des Getreides wieder eine Höhe erreichen wird, bei der in Deutichland der 
Setreidebau ſich ausreichend lohnt, erjcheint ſogar die Zeit nicht mehr allzu fern, 
wo auf diefen Notbehelf ganz oder zum Teil wieder verzichtet werden kann. Für 
die Witwen- und Wailenverforgung der Arbeiter bildet daher der Mehrertrag der 
Getreidezölle feine ausreichend fichere und deshalb auch Feine geeignete finanzielle 
Grundlage. Umgekehrt aber enthielte die Gründung jener hochwichtigen jozialen 
Einrichtung auf die Getreidezölle die Gefahr, daß dieje aus finanziellen Gründen 
aufrecht erhalten werden müßten, aud wenn ſie zur Erhaltung des heimischen 
Setreidebaues nicht mehr notwendig jind. 

Schliefli denkt man doch auch nicht daran, die Koften der Witwen: und 
Raifenveriorgung dem Reiche ganz aufzuerlegen. Ohne erhebliche neue Belaftung 


560 Freiherr O. von Zedlitz und Neufich, Zolltarif und Reichsſteuerreform. 


der Arbeitgeber und Arbeitnehmer würde e8 dabei nicht abgehen Fönnen; eine 
folhe aber erjcheint bei der gegenwärtigen wirtichaftlihen Lage ausgefchlofjen. 
Auch wer die Verforgung der Witwen und Waifen der Arbeiter als eine ebenjo 
wichtige wie dringliche fozialpolitifche Aufgabe anfieht wie ich, wird ſich mit der 
Verſchiebung ihrer Löſung bis zu einem günftigeren Beitpunfte befcheiden müfjen. 

Wird man daher dem Centrumsplane bei einer ſachlichen Beurteilung nicht 
zuftimmen Eönnen, jo erkennt man andererfeit3 unſchwer, daß dem Seringſchen 
Vorſchlage der richtige Gedanfe zu Grunde liegt, es fei die Aufgabe richtiger, auf 
das Leitmotiv der Gerechtigkeit geftimmter Steuerpolitik, für die Schattenfeiten 
der Getreidezölle ald Steuerquelle in der Ordnung der Befteuerung felbft einen 
Ausgleich zu gewähren. Thatfählih ift auch niemals bei uns anders verfahren 
worden. In urfählihem Zufammenhange mit dem Bolltarif von 1879, durch 
welhen eritmalig ein Zoll von 1 Mark für den Doppelzentner Getreide ein: 
geführt wurde, ftand die Befreiung der Einkommen bis 900 Mark von Klafjen- 
fteuer und die Steuerermäßigung für die Eintommen bis 3600 Mark durd die 
preußiichen Steuergefege von 1881 bis 1883. Hand in Hand mit der Erhöhung 
der Getreidezölle im Jahre 1885 ging dann die beträchtliche Erleichterung der 
Kommunallaften durch die lex Huene, und auf die lette Erhöhung jener Zölle im 
Fahre 1887 folgte die Erleichterung der Volksfchullaften, insbefondere die Auf: 
hebung des Kopfichulgeldes. Letteres betrug zumeift rund 5 Mark für das Schul» 
find; feine Aufhebung entlaftete daher den Haushalt kinderreicher Arbeiterfamilien 
allein fchon ftärfer, als ihn die Zollerhöhung ſchlimmſtenfalls belaftet hätte. 
Den Abſchluß diefer fteuerpolitiihen Ausgleihsmaßregeln bildete die Miquelfche 
Steuerreform mit ihrer ftarfen Entlaftung der ſchwächeren Schultern von Staats- 
und namentlid; von Kommunalfteuern. 

Allerdings ift diefer Ausgleich nicht im Reiche, nicht durch dejjen Geſetz— 
gebung und nicht auf dem Gebiete der Reichsſteuern, ſondern durch die Geſetzgebung 
Preußens und auf dem Gebiete der Landes: und Kommunalſteuern erfolgt. Das 
ift aber für die fteuer- und fozialpolitiihe Wirkung belanglos; auch wird man, 
wenn man eine möglichjt gerechte Verteilung der gefamten Steuerlaft erreichen 
will, neben dem Reiche auch Staat und Gemeinde und ihre Befteuerung zu be 
rücdfihtigen haben. Diefe Vorgänge weijen daher mit beinahe zwingender Ge- 
mwalt darauf hin, bei weiterer Erhöhung der Getreidezölle ſich nicht bei dem 
finanziellen Erfolge für die Reichskaſſe zu beruhigen, jondern in eine Nach— 
prüfung der ganzen Beftenerung in Reid, Staat und Gemeinde einzutreten, um 
die Durchführung des Grundfaßes der Befteuerung nad) der Leiftungsfähigkeit 
gegenüber der entgegengefegten Wirkung jener Zölle ficher zu ftellen. Dabei 
wird neben der in eriter Linie zu erörternden Frage, wie zweckmäßig einer 
Ueberlaftung der ſchwächeren Schultern vorzubeugen fein wird, die andere 
menigiten® zu ftreifen fein, ob die ftärferen Schultern an der Geſamtlaſt nad 


Freiherr O. von Beblik und Neukirch, Zolltarif und Reichsiteuerreform. 561 


dem Maße ihrer Leiſtungsfähigkeit mittragen helfen, und was gegebenenfalls nach 
dieſer Richtung noch erforderlich iſt. 

Betrachtet man das Zoll- und Steuerſyſtem des Reiches unter dem Ge— 
ſichtspunkte, wo zweckmäßig zu einer wirkſamen Entlaſtung des Haushaltes der 
breiten Maſſen die Hand angelegt werden kann, ſo hat man von vornherein 
eine Reihe wichtiger Zweige desſelben von der Erörterung auszuſchließen. Die 
Stempelſteuern müſſen außer Betracht bleiben, weil ſie für die große Maſſe der 
Bevölkerung ohne Bedeutung, vielmehr gerade zu einer angemeſſenen Belaſtung 
der ſtärkeren Schultern beſtimmt ſind. Dasſelbe gilt von den Luxuszöllen. 
Ferner ſcheiden aus ſämtliche Schutzzölle, weil bei ihrer Bemeſſung nicht finan— 
zielle, ſondern wirtſchaftliche Geſichtspunkte und zwar ausſchließlich die Intereſſen 
der Produktion und nicht die des Konſums maßgebend ſind. Endlich auch 
Tabak- und Getränkeſteuern, weil dieſe Abgaben wegen ihrer Ertragfähigkeit 
und wegen ihrer leichten Anpaßbarfeit an die Leiltungsfähigfeit zu den weitaus 
beiten indirekten Steuern zählen. 

Bon den Zöllen bleibt, da aud) der Petroleumzoll feiner handelspolitifchen 
Bedeutung wegen nicht in Frage kommt, fomit, wenn man von Nebenjädhlichem 
abfieht, in der That nur der von Profeſſor Sering in Ausfiht genommene 
Kaffeezoll übrig. Mir ſcheint e8 aber mehr als zweifelhaft, ob der Nutzen einer 
Bejeitiguug desfelben in richtigem Berhältnis zu dem Einnahmeausfall von etiwa 
64 Millionen Mark brutto ftehen würde. Der Kaffee gehört nicht zu den not- 
wendigen Lebensbedürfnifien, der Kaffeezoll entbehrt daher nicht der Anpaſſungs— 
fähigkeit an den Beutel des Verbrauchers. Der Kaffee hat feinen Nährwert, 
fein Genuß erfolgt öfter auf Koften Eräftigerer Nahrung. Auch ift der Groß— 
handel3preis des unverzollten Kaffees im legten Jahrzehnt auf nahezu die Hälfte 
gefunfen. 

Ungleich mehr eignen ſich Zuder- und Salziteuer zum Ausgleich für die 
Mehrbelaftung des Haushalts der breiten Mafjen durch die Getreidezölle. Der 
Zuder ift ein Nahrungsmittel von großem Nährwert und hat, wie die ftarfe 
Zunahme des Zuderverbrauds zeigt, längit aufgehört, für die großen Mafien 
bloßes Genußmittel zu fein. Es wird vielfach Schon jett unter die notwendigen 
Nahrungsmittel gezählt. Die Berbilligung des Zuderverbrauds erfcheint daher 
al3 ein bejonders geeignetes Ausgleihungsmittel gegenüber der Belaftung des 
Konjums mit Getreidezöllen. Die davon zu erwartende Hebung des Inlands— 
verbrauchs würde der Zuderinduftrie jehr nüglich fein und die Unficherheit ihrer 
Lage in erwünfchter Weiſe vermindern. Die vertraggmäßige Aufhebung der 
Ausfuhrprämien, welche doch wohl nur noch eine frage Eurzer Zeit ift, würde 
die Ermäßigung der Berbrauchsabgabe um rund 35 Millionen Markt oder 0,63 
Mark auf den Kopf der Bevölkerung aud) finanziell möglich machen. Eine ſolche 
Ermäßigung der Verbrauchsabgabe vom Zuder würde wirffamer und auch ſonſt 

36 


562 Freiherr DO. von Zedlit und Neukirch, Zolltarif und Reichsiteuerreform. 


zweckmäßiger fein als die Aufhebung des Kaffeezolls, und ijt daher jedenfalls in 
ernite Erwägung zu ziehen. 

Mit vollem Recht weilt Profejior Sering fodann auf die Yufhebung der 
Salzabgabe als geeignetes Musgleichmittel gegenüber den Getreidezöllen hin. 
Die Salgfteuer trifft ein notiwendiges Nahrungsmittel und wirft Eopfiteuerartig, 
wenn nicht gar progreifiv nach unten. Sie beträgt ungefähr 1 Mark brutto 
auf den Kopf; ihre Befeitigung würde daher eine merkliche Entlaftung gerade 
des Haushalts der ärmeren Bevölkerung bedeuten, zumal bei ihrer Höhe im 
Bergleich zu dem Preije des Salzes jelbft anzımehmen ift, daß die preisermäßi- 
gende Wirkung nicht vom Zwiſchenhandel aufgezehrt, jondern ſich bis zum Konfu- 
menten geltend machen wird. 

Aufhebung der Salz: und Erleichterung der Zuderjteuer bedeuten zuſammen 
eine Entlajtung von etwa 1,63 Mark; die Belaftung der hauptſächlich Roggen 
verbrauchenden ärmeren Bevölkerung durch die erhöhten Zölle auf Brotfrucht 
fteflt fi in Mißerntejahren auf höchſtens 2,7 Mark auf den Kopf, bei bejjeren 
Ernten auf weniger. Ein großer Teil der Mehrbelaftung würde daher durch 
jene Steuerermäßigungen und Aufhebungen ſchon feinen Ausgleid finden. Etivas 
kann, wie jpäter dargelegt werden wird, wenigſtens in Preußen auf dem Ge— 
biete der Landesfteuern nachgeholfen werden. Erwägt man fchlieklidh nod, ein 
wie großes Intereſſe alle Teile der Bevölferung an der Erhaltung einer leiſtungs— 
fühigen Landwirtichaft, namentlich des Bauernftandes haben, jo wird man den 
Schluß nicht unberechtigt finden, daß mit jenen Steuerleiftungen gefchehen wäre, 
was billigerweile vom Standpunkte fteuerlicher und jozialer Gerechtigkeit zu ver: 
langen und demzufolge von weifer Staatdkunft im Sinne wahrhaft jtaatser- 
haltender Politif auch zu gewähren ift. 

Die Frage ift freilich, ob dem Neiche der Verzicht auf die Salziteuer ohne 
Erjat finanziell möglid ift. Sie wird zu verneinen fein. Die Mehreinnahme 
aus den Zöllen infolge der Neuregelung unjerer Zull- und Handelsverhältnifje 
entzieht fich zur Zeit zwar nody der Schäßung. Allein daß fie nicht ausreichen 
wird, zugleich dem Reiche die nötigen Mehreinnahmen und vollen Erjag für den 
Ausfall von etwa 50 Millionen Mark bei der Salziteuer zu liefern, läßt ſich 
ſchon jett mit Sicherheit überjehen. Ohne Bermehrung der Reichseinnahmen 
wird es daher bei Bejeitigung der Salzfteuer feinesfalls abgehen; nur der Um: 
fang des Vermehrungsbedürfniſſes, nicht diefes felbft, ift noch zweifelhaft. 

Der Gedanke liegt nahe, zur Erzielung der notwendigen Einnahmever— 
mehrung einen Weg zu wählen, bei dem auch ein Ausgleich gegenüber der Be- 
laftung der großen Mafje der Bevölkerung durch die Agrarzölle vermittelft 
jtärferer Beiteuerung der wohlhabenden Minderheit ftattfindet. Was nad) dieſer 
Richtung auf dem jegigen Gebiete der Reichsbeſteuerung gejchehen kann, ift aber 
ſo ziemlich bereit3 bei Gelegenheit des Flottengeſetzes verwirklicht. Cine mweitere 


Freiherr DO. von Fedlis und Neukirch, Zolltarif und Reichsiteuerreform. 563 


Erhöhung der Yuruszölle verjpricht feinen Mehrertrag, und bei den Stempel: 
jteuern jcheint die vom finanziellen Standpunkt zuläffige Höchſtgrenze ſelbſt be- 
reits überjchritten zu fein. Es bleibt faum noch etwas übrig, al3 eine Steuer 
auf die inländischen ſtillen Luxusweine. ine folhe iſt allerdings fchon geboten, 
wenn auch die billigen Schaumweine bejteuert werden. Aber der Ertrag würde 
nur gering jein. 

Bon den anderen, zur Ergänzung der Reichseinnahmen vorgeichlagenen 
Steuern kommt eine Reichseinfommenfteuer nicht ernftlih in Betracht. Cine 
joldhe ift ohne eine Ausdehnung der Einrichtungen und YZuftändigkeiten des 
Reiches, wie fie mit der verfafjungsmäßigen Souveränität der Bundesjtaaten und 
dem föderalen Charakter des Reiches völlig unvereinbar fein würde, nicht durch— 
führbar. Der entihiedene Widerſpruch der verbündeten Regierungen gegen einen 
folhen Vorſchlag iſt ſomit nicht nur geradezu jelbitverftändlich, ſondern auch voll- 
beredhtigt und daher unüberwindlid). 

Damit ift zugleich) der Gedanfe einer Neichsvermögensfteuer gerichtet; denn 
eine Steuer nach dem Vermögen ift in einem nad dem Grundjage der Geredh: 
tigkeit eingerichteten Steuerfufteme nur deshalb am Plage, weil fie die beite 
Art der Deranziehung der befonderen Steuerfraft des fundierten Einkommens 
iſt. Sie bildet daher ihrer Natur nad lediglich eine Ergänzung der allgemeinen 
Einkommenfteuer; die Gejeßgebung Preußens bezeichnet die Vermögensſteuer 
auch ausdrücklich als Ergänzungsfteuer und bringt fie in untrennbare Verbin- 
dung mit der Einkommenſteuer durch die Beſtimmung, daß beide nur zugleicd) 
und in gleihen Maße ermäßigt oder erhöht werden dürfen. Die Vermögensfteuer 
muß daher fo gut Landesſteuer bleiben wie die Einkommtenfteuer. 

Auch der Gedanke einer Wehrfteuer ijt fchon deshalb ausſichtslos, meil 
eine ſolche, da ſie doch unmöglich als Kopfiteuer gedacht werden kann, nad Art 
der Einfommenfteuer veranlagt, verwaltet und erhoben werden müßte und des- 
halb denjelben ausjchlaggebenden, grundjäßlichen und praktifchen Bedenken unter: 
liegt wie eine Reichseintommenfteuer, 

Eine Reichserbichaftsfteuer würde allerdings dieſen durchſchlagenden Einwen- 
dungen nicht begegnen. Sie ift der Form nad) eine Berkehröfteuer, wurde in Preußen 
früher zu den Stempeliteuern und wird auch jet noch zu den indirekten Steuern 
gezählt. Kamphaufen wollte die Erbichaftsfteuer dem Reiche überweifen, und eine 
folche Ueberweiſung würde aud) technisch unſchwer durchführbar fein. Die Gegen: 
gründe liegen auf anderem Gebiete. Die Umwandlung der Erbichaftäfteuer in 
eine Reichsiteuer würde tief in die Finanzen einiger Bundesftaaten eingreifen. 
Preußen könnte die 8-9 Millionen Markt Einnahme aus diefer Steuer freilich 
leicht entbehren und dürfte gern bereit fein, mit einem folcdhen Opfer ein im 
übrigen befriedigende finanzielles Verhältnis zum Reiche zu erfaufen. Aber 
bei einigen Staaten, Hamburg, Bremen, dem Reichslande u. a., bildet der Ertrag 

36* 


564 Freiherr O. von Zedlitz und Neukirch, Zolltarif und Reichsſteuerreform. 


derſelben einen weſentlichen Teil der Staatseinnahmen, und der Verluſt dieſer 
Einnahmequelle müßte das Gleichgewicht in ihrem Haushalte empfindlich ſtören 
und fie zu einem ftarken Anziehen der Steuerfchraube nötigen. Bor allem aber 
fällt dagegen ind Gewicht, daß die Erbichaftäftener, wenn aucd der Form nad) 
Berkehrsabgabe, ihren Wefen nad nichts Anderes ift ald eine Form der Steuer 
nad dem Vermögen. Sie unterfcheidet fi) von der Vermögensfteuer nur durd 
die abweichende Art der Erhebung und fpielt in einem rationellen Steuerſyſteme, 
wie diefe, auch nur die Rolle einer Ergänzung der allgemeinen Einfommenftener 
behufs Erfaffung der größeren Steuerfähigkeit des fundierten Einfommens. Die 
Erbichaftsfteuer wird daher auch aus grundfäglicen und praftiichen Gründen 
ftet3 der Einfommenfteuer folgen, d. h. Zandesiteuer bleiben müſſen. Zu dielen 
fachlichen Öegengründen kommt noch der grundſätzliche Widerſpruch, auf den im Reichs: 
tage, wie im Landtage die Belteuerung der Erbanfälle an Defcendenten und 
Alcendenten ſtößt. Mit dem Plane einer Neichserbichaftöfteuer ift daher auch 
praftifch nicht3 anzufangen, und man wird fich wohl dazu bequemen müfjen, der 
Landesbefteuerung nad) wie vor die Aufgabe zu überlafjfen, für die angemeſſene 
Deranziehung der wohlhabenden Minderheit zu forgen. Der Landesgeſetzgebung 
erwächſt damit die Ehrenpflicht, diefer Nufgabe gerecht zu werden. Die Erfüllung 
diefer Ehrenpflicht ift zugleich ein Gebot politifcher Klugheit; namentlich da, wo 
das Wahlreht nad) der Steuerleiftung abgeftuft ift wie in Preußen. Bier ift 
man aud in der That bei der Neuordnung des Staatöfteuerfyftems unter Miquel 
fi diefer Ehrenpflicht voll bewußt gewejen; man ift ihr namentlich durch die ftarf 
nad unten abfallende, nad) oben progreifive Steuerjfala der Einfommenfteuer 
gerecht geworden. Man wird fich, wenn das, was bisher nad diefer Richtung 
geichehen ift, als genügend angefehen werden kann, auch jet der Prüfung nicht 
entziehen können oder wollen, was zweckmäßig zum Ausgleiche der Mehrbelaftung 
der breiten Maſſen durch die Agrarzölle weiter nad} diefer Richtung zu unter- 
nehmen wäre. Bei diefer Prüfung ſtößt man auf den erften Blid auf zwei 
Punkte, in denen die Gefeggebung in Bezug auf die Befteuerung nad) der 
Leiftungsfähigfeit gerade betreff$ der Fräftigften Schultern auf halbem Wege ftehen 
geblieben ift. Die Progreffion der Steuerfäße hört bei 100 000 Mark Eintommen 
mit 4 Prozent auf; alle größeren Einfommen, felbft die Millionen-Eintommen, 
find gleihmäßig mit 4 Prozent bejteuert. Das ift formell unfyftematifch, fachlich 
unlogifh und ungeredt. Der Antrag der Sonfervativen, die Progreffion über 
100 000 Mark Einkommen bis zu dem Satze von 5 Prozent fortzufegen, ift 1891 
aud nur aus dem taftiihen Grunde abgelehnt worden, um den ohnehin ftarfen 
Widerſpruch gegen die Progreijion über 3 Prozent hinaus nicht noch zu verſtärken. 
Diejed Verfahren war angefichts der Thatfache, da das Herrenhaus diefe Pro- 
greffton zunächſt abgelehnt hatte und erft unter dem Drude einer Wiederholung 
des bezüglihen Beſchluſſes des Abgeordnetenhaufes mit fehr ftarfer Mehrheit 


Freiherr D. von Zedlig und Neulich, Bolltarif und Reichsitenerreform. 565 


nachgab, damals durchaus berechtigt. Nett hat fich die Progrefjion über 3 Prozent 
völlig eingelebt; Sachſen ift mit dem Beifpiel des Hinaufgehens bis zu 5 Prozent 
bereit3 vorangegangen. Der Zeitpunkt, mit jener Unebenheit in der Steuerffala 
aufzuräumen und die Steuerjäge der Einfommen von über 100000 Mark fyite- 
matifch bis zu 5 Prozent auffteigen zu laffen, ift daher gekommen. 

Daß die Bermögenzfteuer nad) dem gleichen Safe von 1/, auf das Taujend 
erhoben wird, ijt nicht minder ungerecht und unlogiſch, denn die Steuerfraft der 
großen Vermögen ift relativ jehr viel ftärfer al3 die der Eleinen. Der Thaler: 
millionär fann in der Regel 1500 Mark jehr viel leichter entbehren als der 
Kleinkapitalift von 10-20 000 Mark Vermögen feine 5 oder 10 Marf Ergän- 
zungsiteuer. Man hat 1893 von einer Abftufung der Vermögensſteuer aud nur 
deshalb abgejehen, um die Schwierigkeiten nicht noch zu vermehren, welden das 
Zuftandefommen des Ergänzungsfteuergefeges ohnehin in beiden Häufern des 
Landtages begegnete. Auch dieſes Gejet hat fich inzwiichen ausreichend eingelebt, 
um ohne Gefahr die bejjernde Hand anlegen zu fünnen. Bei der Niedrigfeit des 
Steuerjages wird man von der Einführung einer vollftändigen, ſtufenweiſe auf- 
fteigenden Steuerffala abjehen und fich mit der Feſtſetzung eines zweiten höheren 
Einheitsjates für die großen Bermögen begnügen können. Den Uebergang von 
dem niedrigeren zu dem höheren Einheitsjage würden einige wenige Steuerftufen 
zu vermitteln haben. Ohne Zweifel wird diefer Plan auf fcharfen Widerſpruch 
ftoßen. Wie ein im Herrenhaufe eingebradter Antrag beweilt, wird in manden 
Kreifen mit Rüdfiht auf die niedrige Rente der meiften großen ländlichen Be- 
figungen ſchon der jetige Betrag der Vermögensfteuer ſchwer empfunden, ihre 
Erhöhung würde daher jicher chart befämpft werden. Allein es ift in Anbetracht 
der Bortheile, welche dem Großgrundbejig aus den Getreidezöllen erwachſen, ein 
nobile officium und ein Gebot politiiher Klugheit zugleich, diefen Widerfprud) 
gegen eine Maßnahme aufzugeben, welde nicht nur an ſich einer Forderung 
fteuerlicher Gerechtigkeit entipricht, jondern auch mit dazu beitragen joll, einen 
weiteren Ausgleich für die Belaftung der minder wohlhabenden Schichten der 
Bevölkerung durch die Getreidezölle auf dem Gebiete der Randesfteuern zu er- 
möglidien. Denn die Mehreinnahme aus der höheren Befteuerung der großen 
Eintommen und Vermögen wird zwedmäßig zu einer weiteren Entlajtung der 
ſchwächeren Schultern zu verwerten fein. Man wird zwar ſchwerlich die Be- 
freiungsgrenze noch weiter hinaufrüden oder die Degreifion der Steuerfäge fteigern 
können. Wohl aber läßt fich, was übrigens auch Miquel empfahl, der Gedanke 
der Berüdfichtigung bejunderer, die Steuerfähigfeit bejchränfender Verhältniſſe 
bei der Veranlagung noch weiter ausgejtalten, al3 dies in dem Einfommenfteuer- 
gejege vom 24. Juni 1891 gefchehen ift. Insbeſondere wird dabei darauf Bedacht 
zu nehmen fein, daß die Zahl der Kinder bei den minder Wohlhabenden in ungleich 
höherem Maße, als zur Zeit der Fall ift, zu einer Erinäßigung des Steuerſatzes 


566 Freiherr O. von Zedlitz und Neukirch, Zolltarif und Reichsſteuerreſorm. 


führt. Und zwar natürlich auch des fingierten Steuerſatzes für die Einkommen 
unter WO Mark, damit dieſe ärmſten Schichten der Bevölkerung wenigſtens einer 
Ermäßigung der Kommunalſteuer bei größerer Familie teilhaftig werden. Unter 
dem Gefichtspunfte des Ausgleiches gegenüber der Belaftung des Haushalts durch 
Getreidezoll ift eine mit der Zahl der Brotefjer im Hausftande wachiende Er- 
mäßigung von Staats: und &emeindeftener von bejonderem Wert. Diefer 
Entlaftung der ärmeren Steuerzahler mit zahlreicher Familie wäre in Berbindung 
mit der höheren Belteuerung der großen Einfommen und Bermögen, durch weld)e 
namentlich auch die an den Getreidezöllen am ftärfiten interefjierten Latifundien- 
befiter betroffen werden, eine wichtige Ergänzung des im Neichsfteueriyiteme zu 
gewährenden Ausgleichs gegenüber den Getreidezöllen; die preußiſche Landes: 
gefeßgebung würde damit ihrer Aufgabe nad) deren beiden Richtungen gerecht 
geworden fein. In Preußen würde alsdann von einer ernftlihen Mebrbelaftung 
der wirklich bedürftigen Haushaltimgen durch die erhöhten Getreidezölle nicht 
mehr die Rede und einem ungünftigen Einfluffe derielben auf die Lebenshaltung 
und damit auf die Gejundheit und Kraft der Bevölkerung wirkſam vorgebeugt fein. 

Folgten die anderen Bundesstaaten dem Beilpiele Preußens nad) Maßgabe 
ihrer Steuerverfaffung, fo würde dasfelbe für ganz Deutjchland erreicht fein. 

Läßt fi jo auf dem Gebiete der Yandesbeiteuerung den Forderungen aus: 
gleichender Gerechtigkeit genügen, jo verſchafft man doch auf diefem Wege dem 
Reiche nicht die zur Durdführung der in feiner Befteuerung zu gemährenden 
Kompenfationen notwendige Vermehrung der Einnahmen. Dafür wird aljo im 
Reiche felbft gejorgt werden müſſen. Kann dabei weder eine Erhöhung der Reichs 
ftempelabgaben und Luruszölle noch die Einführung einer Reichs-Einkommens-, 
Vermögens-, Erbichafts: und Wehrſteuer eruftlich in Frage kommen, fo beſchränkt 
fi) der Umfang der diskutablen Eteuerquellen auf Verfehrsabgaben anderer Art 
und auf Getränke: und Tabaffteuern. 

Abgeſehen von der 1887 erſt neugeordneten Branntmweinfteuer ift eine ftärfere 
Ausnußung aller diefer Steuerquellen von den verbündeten Regierungen im Zus 
fammenhange mit dem Heeresgeſetze von 1893 vorgefchlagen worden. Duittungs-, 
Frachtſchein- und Checkſtempel jollten 15— 16 Millionen Mark einbringen. Daneben 
war eine Erhöhung der Braufteuer und nach dem Fallenlaſſen diefes Planes 
durch Graf Eaprivi bei den Verhandlungen über das Heeresgeſetz von 1893 eine 
Tabakfabrifatfteuer in Ausfiht genommen Sie follte einen Mehrertrag von 
45 Millionen Mark, nah Ermäßigung der Steuerſätze in der zweiten Vorlage 
von 1894 immer noch einen ſolchen von 33 Millionen Mark bringen. Die Brau- 
fteuer wird in Bayern, Württemberg, Baden und dem Reichslande nicht erhoben, 
dieſe Länder beiteuern das Bier für eigene Rechnung und zahlen dafür nad) dem 
Matrikularfuße Ausgleihungsbeträge an das Neid. Durch Verdoppelung des 
Ertrages der Brauftener würde einſchließlich dieſer Ausgleichungsbeträge dem 


Freiherr O. von Zedlitz und Neukirch, Zolltarif und Reichsitenerreform. 547 


Reiche eine Mehreinnahme von rund 40 Millionen Mark zugeführt werden, aljv 
nahezu ebenfoviel, wie ihm durch den Verzicht auf die Salzfteuer an Reinein- 
nahme verloren ginge. Die Bierfteuer ift in den füddeutichen Staaten durchweg 
ehr viel höher als bei uns, und zwar nidyt bloß auf den Kopf, jondern aud) auf 
das Hektoliter. Das Reich erhebt auf diejes 0,75, Bayern dagegen 2,44, Wirt: 
temberg 2,17 und Baden fogar 2,61 Marf. Dabei fpielt der Bierverbraud in 
Süddeutſchland eine ungleich größere Nolle ald bei und. Er ift namentlich in 
Bayern nahezu 21/,;mal fo groß als in der Brauftenergemeinfchaft. Tabakſteuer 
und Tabafzoll betragen jet ungefähr 1,17 Mark auf den Kopf und bleiben 
weit binter den zurüd, was die andern großen Hulturftaaten aus dem Tabak 
herausſchlagen. 

In Süddeutſchland ſieht man die Tabakfabrikatſteuer, auf welche kürzlich 
ja auch der bayeriſche Finanzminiſter bei der Finanzdebatte in der Kammer der 
Abgeordneten hingewieſen bat, als das kleinere Uebel an. Das iſt ſehr erklärlich. 
Eine Erhöhung der Brauſteuer würde für die ſüddeutſchen Staaten nur die ent— 
ſprechende Steigerung der ihnen ſo ſchon ſehr unangenehmen Ausgleichungsbeträge 
bedeuten, dazu wahrſcheinlich eine Erſchwerung des Mitbewerbs der bayeriſchen 
Biere in Nord- und Mitteldeutſchland. Der Druck der Tabakfabrikatſteuer würde 
dagegen in ungleich größeren Maße den Verbrauch, die Fabrikation und den 
Dandel Norddeutichlands treffen. In Norddeutichland ift die Beurteilung natür- 
fi eine wmwefentlich andere. Befonders ſcharfem Widerfpruche find die Tabaf- 
jteuervorlagen von 1893 und 1894 in den Hauptſitzen der Cigarrenfabrifation 
und der Tabakeinfuhr begegnet. Ihre Verwerfung ift indejjen feineswens allein 
oder auch nur hauptjächlic aus fachlichen Bedenken, fondern in erfter Linie des 
halb erfolgt, weil die Mehrheit, und zwar mit Necht, angelichts des raſchen 
Steigend aller Eiynahmen ohne neue Steuern auszufommen glaubte. Der 
Führer des Gentrums hat ausdrüdlich die Ablehnung als nicht präjudiziell für 
die Zukunft bezeichnet. In der That würde die Sachlage doch jett eine weſent— 
lic) andere fein, wenn es fi) darum handelte, durch höhere Belaftung eines reinen, 
bauptjächlich allein von den Männern verbrauchten Genußmittel die Abſchaffung 
der Steuer auf ein notwendiges Nahrungsmittel, von der die Finderreichen 
Familien am ſchwerſten betroffen werden, zu ermöglichen. 

Es kann nicht die Aufgabe diefer Zeilen fein, pofitive VBorfchläge zur Deckung 
des Einnahmebedarfs des Reiches zu machen. Das würde erſt möglich fein, wenn 
ji überleben ließe, wie had) die Mehreinnahme ift, welche außer dein Mehrertrage 
aus dem Zolltarife noch bejchafft werden muß. Für jett genügt es, darzulegen, 
daß das Reich noch; Reſerven in feinen Einnahmequellen in ausreihendem Maße 
belitt, um bei der Neuordnung feines Steuerſyſtems nach Abſchluß der Zoll: 
fampagne neben dem Gefichtspuntte der Einnahmevermehrung auch den einer 
fteuerlichen Kompenfation für die Agrarzölle voll zu berüdjichtigen. Das zu thun 


568 Freiherr O. von Zedlit und Neulich, Zolltarif und Reichsiteuerreform. 


aber ijt die foziale Brlicht der gejetsgebenden Faktoren des Neiches, welche um 
des höheren Gefidhtspunftes des Wohles des Ganzen willen einer Erhöhung des 
BZolles auf Brotfrudht zugeftimmt haben. Es ift zugleich eine Forderung jtaats- 
erhaltender Bolitif. Daß mit der Gewährung von Kompenfationen für die Erhö— 
bung der Agrarzölle den Agitationen aus Anlaß diefer Erhöhung gefteuert wer: 
den würde, ift zwar nicht zu erhoffen; denn dieje Agitationen find zum Zeil 
Selbſtzweck und Sampfnittel in dem Ringen um politiihe Macht. Aber bie 
vergiftende Wirkung diefer Agitationen wird zu einem guten Teile jchwinden, 
wenn einer Benachteiligung des Haushalt und der Lebenshaltung der großen 
Maſſe der Bevölkerung durd die Zölle auf Brotgetreide in der Hauptjache vor- 
gebeugt ift. Diefes Moment praftifcher Politik verftärkt daher noch das Schwer- 
gewicht der Gründe, welche unter dem Gefichtspunfte des Gemeinwohls und der 
Staatöraifon ohnehin für die Verhütung jeder nicht völlig unabweislichen Ver— 
ſchlechterung der Lebenshaltung der großen Mafje des Volkes ins Gewicht fallen. 


16 


Ausſprüche Bismardis. 


Zwiſchen befreundeten großen Staaten, die keine ſtreitigen Intereffen mit einander 
haben, giebt es unzählige Fälle, wo fie nafurgemäß miteinander gehen, weil ihre Intereflen 
diefelben find, ohne dafi man deshalb den Verſuch zu machen braucht, die Beziehungen da- 
durch zu Hören und zu verbilfern, dah man dem einen die Rolle der Mnferordnung, dem 
andern die der Leifung zumenbet. (9. Dezember 1867.) 


Pie Politik zweier Großflaaten neben einander kann man vergleihen mit der Tage 
zweier Reifenden, die einander nicht kenmen, in einem wüflen Walde, von denen keiner dem 
andern frauf: wenn der eine die Band in die Tafıhe ſteckt, dann [panni der andere Icon 
feinen Revolver, und wenn er den Bahn des erfien knacken hört, feuert er ſchon. So if 
es bei Mächten, von denen jede Einfluß auf die Entfcheidungen der andern hat; da muß 
man Mißfrauen und die erſte Berflimmung der andern ſehr Jorgfälfig vermeiden, wenn 
man die Freundfchaft bewahren will. (11. Januar 1887.) 


Die Grengen zwiſchen Slaat und Rirce lallen ſich nicht fefllegen, weil beide Teile 
von Baule aus von verfchiedenen Ueberzeugungen dabei ausgehen. Die Grenze. die der 
Staat für eine geredite hält, if nofwendig, und immer nicht nur im Chriflentum, fondern 
auch in heidniſchen Yändern, auch in jüdifchen Staalen — wo immer Priefler und König 
mileinander gekämpft haben — Mreitig geweſen und geblieben, und wird es auch immer in 
der Cheorie bleiben. &s handelt ſich nur darum, ob es ums gelingen wird, das Gefühl, 
dah wir alle Peutfche und Jandsleute find, höher und flärker in uns lebendig zu machen 
als das Gefühl, daß wir verichiedenen Konfeflionen angehören. (4. Mai 1886.) 


S 





Die Weltitellung Englands. 


Von 


Karl Peters. 


Ww: berrlih jah sich diefe jchöne Erde vor einem halben Rahrhundert von 
den Sreidefelfen Albiond aus an. Damal3 war England noch im wahren 
Sinne des Wortes ein Inſelreich und die Herrin der Meere. Es gab feine 
Flotte in der Welt, welche neben der britifchen auch nur genannt zu werden ver: 
diente, und in ihr war der Nimbus der Nelfonfchen Heldenthaten noch wirkſam. In 
der Mitte von Europa zankten ſich Preußen und Oeſterreich um den Vorrang 
in Deutjchland und neutralifierten dadurch die gewaltige Waffenkraft der germa- 
niihen Welt. An Stalien rang die Einheitsbewegung gegen die reichlich jo 
ftarfen reaftionären Mächte, und auch diefes Land fiel für den Wettbewerb um 
die Reichtümer unferes Planeten einfach aus. In Frankreich aber etablierte ſich 
gerade da3 englandfreundliche zweite Empire Napoleons IIl., der eben von 
King Street, St. James Street nad Paris übergefiedelt war und feine 
Schulden im Café Royal, Regent Street, noch nicht bezahlt hatte. Das zweite 
Empire richtete feine Spike gegen Rußland. Der Welten und Often des Kon— 
tinent3 neutralifierten ſich aljo ebenfalld. Inzwiſchen ſahen die StaatSmänner 
von Albion wie die Geier über die Erde Hin, und ungeftört von Eontinentaler 
Konkurrenz griffen fie fi an Beute, wonad) ihnen gelüftete. Das „Goldene“ 
Zeitalter der Königin Viktoria 309g herauf. Noch ftand die engliiche Induſtrie 
unbeftritten an der Spie der Nationen, England vermittelte den Schiffsverkehr 
auf den Weltmeeren, die Bank von England war das große Kreditinſtitut der 
Erde. Throgmorton und Lombard Street fommandierten die internationalen 
Kurſe; Birmingham und Mandefter verjorgten die Menfchheit mit ihren Be: 
darfsartifeln! Truhen und Kaften füllten fih. Ya, e8 mar eine herrliche Zeit. 
Wir finden ihren Refler in Thaderayd und auch in Dickens' Romanen. Ad, 
wenn es doch immer fo bliebe! 

Wenn wir billig urteilen, müfjen wir zugeben, daß diefe Vorherrſchaft des 
Angeliachfentums um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ihre fittliche Beredhti- 
gung hatte. In England, und allein in England, hatte ſich der Gedanke der 
bürgerlichen Freiheit durch die Krifen der drei Kahrhunderte von der Reformation 


570 Karl Peters, Die Weltitellung Englands. 


bis auf die franzöfifche Revolution gerettet. In England war die Habeas— 
Corpusakte immer in Geltung geblieben, bier hatte fid) die power of the purse 
der Commons in der Crommell:Revolution behauptet und war zur Grundlage 
für die parlamentarische Verfaffung des Anfelftaates geworden. Die Entwide: 
lung der freien, vornehmen Männlichkeit hatte nirgendwo auf unferem Planeten 
bejjere Vorausfegungen. Bis in die entfernteften Teile der Erde trug die eng: 
liche Eroberung bürgerliche Freiheit, und der Union ad war das Symbol der 
Selbitbeftimmung der neu entjtehenden Gemeinweſen. Auch die Revolutionen 
in den Staaten des Kontinents fnüpften immer wieder an engliiche Inſtitutio— 
nen und Grundanſchauungen an, Der germanifche Gemeindefinn, germaniiches 
Recht, ſelbſt germanifches Familienleben mit feinem „my house is my castle“ 
fanden ihre reinfte Entwidelung auf den nebelumbüllten Inſeln Großbritanniens, 
während die germaniiche Welt im Herzen von Europa römisches Recht und 
römische Staatäformen annahm. 

Damals herricdte in England nod das „Little England“Weſen vor, wie 
es jo reizend in einzelnen Erzählungen von Didend aufbewahrt geblieben ift. 
Noch war die Landwirtichaft nicht völlig durd; Cobdens Freihandelspolitik zer: 
ftört, und die Werte jchaffende Induſtrie begann gerade ihr Monopol auf der 
Erde auszuüben. England war damals noch nicht auf die Wirtjchaftsftufe des 
reinen Kapitalismus herabgejunfen. Die Börje von London war noch nicht der 
weientlichfte Ausdruck der Erwerbsthätigfeit diefes Landes. 

Nun trat die Umformung des Kontinents von Europa ein. In Deutfch- 
fand ſchuf Bismard mit feiner Politit von „Blut und Eifen” die ſtärkſte Mili- 
tärmonarchie, welche die Gefchichte der Menfchheit gejehen hat. Schlimmer — 
für England — den Gegenfag gegen das ebenfalls f£riegeriiche Defterreich 
wandelte er in ein feftes Bündnis zu Schutz und Truß um. Dadurch wurde 
die vielenhafte latente wirtichaftliche Kraft des Deutichtums aktuell. Schnell 
entridelte fich die deutiche Induſtrie, der deutiche Handel, die deutfche Reederei. 
Aus dem ehemaligen bequemen „armen Vetter" wurde ein höchſt unbequemer, 
ja geradezu gefährlicher Konkurrent. Eine ähnliche Entwidelung fette in Frank: 
reich ein. Much hier begann eine ungeahnte Entwidelung des Anduftrialismus, 
und ber Gegenjat gegen Rußland ſchlug ebenfalls in eine begeifterte Allianz um. 
Dazu Fam, dat auch die „angelfähjischen Vettern“ in den Bereinigten Staaten 
mit in die Schranfen traten und ihren europäifchen Bettern einen Handelsmarkt 
nad) dem anderen wegnahmen. Die alten jchönen Zeiten des ungeftörten 
Monopolismus auf der Erde verfanfen unter dem Horizont geihichtlicher Erinne— 
rungen. 

Indes, gegen allen diefen Auffchwung von rechts und links hält Groß— 
britannien bis auf den heutigen Tag noch feine vwirtfchaftliche Vorherrſchaft 
feft. Zwar iſt jein Aderbau ruiniert, zwar verliert fein Handel einen Markt 


Karl Beters, Die Weltitellung Englands. 571 


nad) dem anderen. Aber nah immer beherricht feine Meederei mehr als die 
Dälfte des gefamten Verkehrs auf den Ogeanen und, wo die britijche Anduftrie 
nicht mehr fonfurrenzfähig ift, kauft britiiches Kapital fremde Betriebe auf der 
ganzen Erde auf und zieht in Form von Dividenden den eigentlihen Profit in 
feine Tajchen. Dem engliihen Kapitaliften ift es am Ende gleichgiltig, ob er 
feine Einnahmen aus Eifenfabrifen in Birmingham und Quchfabrifen in 
Mancheſter, oder aus Spinnereien in Sachſen, Brauereien in Münden, Eifen- 
bahnen in Chicago, Goldminen am Rand, Weinhäufern in Oporto bezieht. 
Durch Dividendenzahlungen find alle Länder unferes Planeten tributpflichtig 
nad) London. Dies wird bei der Behandlung diefer Frage in der Negel ganz 
überjehen. Der engliihe Kapitalismus, wie er in der Eity von London fid) 
äußert, produziert feine Werte heute da, wo er fie am billigften fjchaffen kann, 
fo lange er nur die Gewinne daraus für fich fichert. Er geht nad) Rußland, 
Ehina oder Brafilien ebenfo gern, wie er fi) in London, Birmingham oder 
Glasgow engagiert. Englands Reichtum fteht und fällt heute mit dem Syſtem 
des internationalen Sapitalismus, ift aber völlig unabhängig von feiner 
nationalen Landwirtſchaft und Induſtrie. 

Dies nun ift alles jo lange ſchön und gut, als es fih um friedlichen 
Lebensgenuß und Lurus handelt. Aber e3 wird zu einer furdtbaren Gefahr für 
einen Staat, wenn es zu Krifen auf Leben und Tod kommt. Ein Volk, welches 
den Schwerpunkt jeines gefamten Wirtfchaftslebens in die Fremde verlegt, wird 
damit abhängig von allen Schwankungen dieſer Fremde. Es ijt berechnet 
worden, daß Großbritannien, wenn es nur ſechs Wochen lang von einer anderen 
Macht blodiert werden könnte, durch Hungersnot zur Ergebung gezwungen werden 
müßte. Wenn das Ausland ſich vereinigte, Dividendenzahlungen nad) England 
zu verhindern, würden alle Jahreseinnahmen bier bis in die Eleinften Familien 
hinein einen ruinierenden Ausfall erleiden. 

Auch das antite Rom war in feinen Bebürfniffen abhängig von den 
übrigen Ländern des Mittelmeerbedens. Es war direkt für feine Tagesmahl- 
zeiten angewiejen auf überfeeiiche Zufuhren. Aber es hielt die Welt, welche es 
ausplünderte, umklammert mit dem ehernen Wall feiner Pegionen; niederge- 
ftampft waren die Nationen, welche ihm dienen mußten. Dies ift nicht der Fall 
mit Großbritannien, welches zwar immer noch über die mädhtigite Flotte unferes 
Planeten verfügt, aber ſchon nicht mehr im ftande fein würde, einer Koalition 
von drei Großmächten auf der See ftand zu halten, militärisch dagegen die 
ſchwächſte der europäifchen Großmächte iſt. Man erkennt den Unterfchied zum 
Weltreich des alten Rom und die drohende Gefahr, in welder England fich 
fortdauernd befindet. Einmal im Kriege gründlich niedergeworfen, würde Groß— 
britannien die Grundlagen für fein Wirtichaftsleben überhaupt verlieren. Von 
den 42 Millionen Menfchen, welche heute auf den britiichen Inſeln leben, würd‘ 


73 Karl Peters, Die Weltſtellung Englands. 


en 


mindeftens die Hälfte auswandern müfjen; denn dieje Inſeln jelbjt, auch wenn 
England die Rüdwandlung vom Kapitalismus zum Anduftrialigmus und Ader: 
bau durchführen könnte, würden aus fich felbft höchſtens 20 Millionen Menfchen 
ernähren können. 

Indes trifft diefe Bemerkung auf Großbritannien nur zu, wenn man das 
europätfche Mutterland für ſich betrachte. Auf „Greater Britain“ paßt fie 
niht, da das MWeltreih, als ein Ganzes angefehen, volle wirtjchaftliche 
GSelbftändigfeit hat. England mit jeinen Kolonieen und Befigungen ift im 
ftande, alle jeine Bedarfsartifel jelbjt zu produzieren, und hat das Ausland 
überhaupt nicht nötig. Ein Biertel der Erdoberfläche ift unter britifchem Scepter. 
Bon den Bolen bis zu den Tropen ift jedes Klima der Erde vertreten, und 
im britiſchen Weltreih ift jeden Augenblidt Morgen und Abend, Mittag und 
Mitternadt. Bon der Großartigkeit diefer impofanteften Macdtbildung der 
Weltgefhichte macht fich der Eontinentale Europäer niemals eine ganz Klare Vor- 
ftellung. Unendlich weit bleibt die Römerwelt an Ausdehnung und Vielgeftaltig- 
feit hinter dem „Größeren Britannien" zurüd. 

Aber es ift doc außerordentlich fraglich, ob es der britiichen Staatskunft 
jemals gelingen wird, dieje gewaltigen Ländermafjen in ein einheitliches Wirt- 
ſchaftsſyſtem zufammen zu ſchweißen. 1897 ließ es fich gar fehr an, als ob die 
Kolonieen fid) als entfernte Provinzen ein und desfelben Staates fühlen lernten; 
und daß fie eventuell auch die erforderlichen zollpolitiichen Opfer bringen würden. 
Der ſüdafrikaniſche Krieg hat möglicherweife auch diefen Zuſammenwachſungs— 
prozeß geitört. Die Schwädhe der britiihen Landarmee hat fi) zu deutlich 
offenbart, als daß fie nicht auch den Jingos in Kanada, Auftralien und Neu— 
Seeland zu denken geben ſollte. Es wirft direft lächerlich, wenn man die That- 
fache, daß Großbritannien mit Aufwand aller feiner Kräfte den Burenkrieg nicht 
beendigen fann, neben die Brahlereien ftellt, weldhe hier vorher gang und gäbe 
waren und in dem Ausruf gipfelten: „let them all come“. Ende der neunziger 
Fahre machte in England ein Roman Auffehen: „The final war“, in weldem 
Großbritannien gleichzeitig Deutichland, Frankreich und Rußland fchlägt, Stral- 
jund und Paris befegt. Heute gehört e8 bier nicht zum guten Ton, an folde 
Rodomontaden zu erinnern. Auch ift das übliche Prahllied au den music halls, 
welches früher ſyſtematiſch die Verachtung alles Ausländifchen in die breiten 
engliichen Volksmaſſen trug, heute völlig verfchmwunden. Ich vermute, daß eine 
ähnliche Abkühlung in den Köpfen der Kolonialen eingetreten ift, und dab man 
weder in Auftralien nod in Kanada 1902 fo begierig fein wird, nur Provinzen 
von „Greater Britain“ zu jein, wie man dies 1897 war. Es ift nun ein- 
mal auf allen Gebieten jo: e3 wird in diefem Erdendafein niemandem etwas 
geſchenkt, und ein Volk, welches ein Weltreich feithalten will, muß aus ſich her- 
aus aud) die lebendigen Machtmittel Schaffen, um die Mitbewerber jeden Augen- 


Karl Peters, Die MWeltftellung Englands. 573 


blid niederichlagen zu fünnen. Die britiiche Bolitit aber hat im 19. Jahrhundert 
im wefentlihen mit „bluff‘ (Preftige) gearbeitet. England könnte in diefer 
Richtung fehr vieles aus Carlyle lernen. 

Ich bin leider fein Prophet und demnach nicht in der Lage, den Schleier 
der Zukunft zu lüften. Aber es erfcheint mir heute immerhin zweifelhaft, ob die 
Menfchheit jemal3 den Ausbau des britifchen Weltreiches erleben wird. Wenn 
dies nicht gelingt, dann befindet fi England in der oben gekennzeichneten 
großen Gefahr, welche jede unnatürlihe Berlegung des wirtjchaftlihen Schwer: 
punftes außerhalb der Grenzen des eigenen Landes mit ſich bringt. Cine große 
politiihe Kataftrophe muß die Eriftenz von vielen Millionen Staatsbürgern in 
unmittelbare Gefahr der Vernichtung bringen. Meine Lejer werden einjehen, 
welch vitales Intereſſe aus diefem Grunde Großbritannien bat, daß der Kon— 
tinent von Europa in ſich gefpalten, die fogenannte „europäifche Balance“ er- 
halten bleibt; und wie unbedingt erforderlid die Ueberlegenheit der britifchen 
Flotte, womöglich über alle anderen vorhandenen, für die Aufrechterhaltung diefes 
Syftems ift. Denn wir dürfen nicht vergefien, daß auf der Vorherrfchaft in 
der überjeeifchen Welt recht eigentlich die Rebensbedingungen für bie meiſten 
Bewohner Großbritanniens und Srlands Tiegen. Deutihlands Zukunft wird 
ftet3 nur aucd über See fein; Großbritanniens liegt dort ausſchließlich. Ich 
möchte bemerfen, daß mich Erwägungen wie die ausgeführten, für Deutſchland, 
in die Reihen der Agrarier geführt haben. Ach halte es für eine Lebensbedin- 
gung des Deutſchen Reiches, feinen wirtfchaftlichen Schwerpunkt möglichſt inner- 
halb der Neichögrenzen zu ſuchen und hierzu vornehmlich eine blühende Land: 
wirtihaft, daneben eine kräftige Induſtrie fich zu fihern. Die zentraleuropäifche 
Militärmonardie, mit den Ruſſen zur Nechten, den Franzoſen zur Linken (vom 
Standpunkt der Landkarte aus) könnte fi waghalfige wirtichaftlihe Experi— 
mente wie das ftolze, unnahbare Inſelreich in der That nicht geftatten. Bon 
folcher feften Grundlage aus ift freilih eine möglichſt energifche Entwidelung 
unferer überfeeifchen Sntereffen, von denen etwa 10 Millionen Deutjcher direkt 
oder indirekt leben, eine weitere Aufgabe der deutfchen Bolitik. 

An der Verfolgung feiner überfeeischen Bolitit kann Deutfchland mit den 
Intereſſen Großbritanniens in Eriegerifchen Konflift geraten. Cine derartige 
feindliche Politit hat Sinn und BVerftand, wenn es feinerfeit3 glauben darf, im 
ftande zu fein, fich felbft an die Stelle Englands zu fegen. Nun wird fein 
deutjcher Staatdmann im Ernft annehmen, daß das Deutfhe Reich jemals 
Auftralien oder Indien oder Kanada annektieren könnte. Sollte Großbritannien 
zujammenbrechen, fo würde Kanada den Bereinigten Staaten von Amerika zu- 
fallen, Auftralien und Indien aber würden vermutlich unabhängig werden, wobei 
das lettere dem Chaos zutaumeln würde. Auch wird die deutiche Politit kaum 
jemals direkt nad) Südafrika oder Aegypten greifen wollen. Aus diefem Grunde 


574 Karl Peters, Die Weltitellung Englands. 


iſt nicht recht erjichtlich, welchen Borteil das Deuiſche Neid) aus der Zertrümme— 
politif beibehält, welche dem deutichen Handel volle Gleihberechtigung mit dem 
englifchen in den weiten Ländern unter dem Union Jack garantiert. Wenn denn 
doc einmal Aegypten oder Kanada einer fremden Großmacht gehört, ift es für 
den deutjchen Dandel immerhin bejjer, daß England fie beherricht als das ſchutz— 
zöllneuifche Frankreich oder Nordamerika. 

Ein Krieg gegen England kann nur den einen Sinn haben, einen gefähr: 
lichen Mitbewerber, der fortdauemd einen großen Teil der deutſchen Auswande— 
rung ſich aneignet, zu befeitigen. Non diefem Standpunft aus fann ich es ver: 
ftehen, wenn die pangermaniſtiſche Bewegung ſyſtematiſch auf foldhen Krieg hin— 
arbeitet. Aber ich nehme nicht an, daß die Führer diefer Bewegung diejen 
Krieg Schon im Jahre 1902 wollen. Wenn dies jo ift, bafte ich es für falfch, 
ja für geradezu gefährlich, die Anglophobie heute in Bahnen zu treiben, welche 
jeden Augenblid zu einem Konflikt führen können. So lange die deutjche Politik 
England in Afrika freie Hand läßt, ja ihm den Nüden deckt, ijt mir die Eng— 
länderhege im deutichen Volke unverſtändlich. Denn eine folde Bewegung muß 
ſich doch ein praftiiches Ziel ftellen; bloße Kundgebungen ohne einen reellen 
Endplan find niemal® nad meinem Geſchmack gemwejen. Oder hofft man bei 
und, die Regierung zwingen zu Eönnen, für die Unabhängigkeit der Buren- 
republiken im letzten Augenblid doc nocd das Schwert zu ziehen? Und ift man 
bereit, ein ſolches Opfer an Gut und Blut für ein fremdes Volkstum zu bringen? 
An dem Fall — A la bonheur, Das ift ein Ziel, über welches ſich reden ließe. 
Wenn aber all der Yärm um nicht? gemacht wird, dann halte ich es für min- 
deſtens unklug, die Empfindungen des englijchen Volkes in jo maßlofer Weile 
zu reizen und die Beziehungen zwifchen den beiden Nationen endgültig zu ver: 
giften. 

Großbritannien it heute fein bloßes Inſelreich mehr. Es ift eine euro- 
päifche, eine amerifanijche, eine afrifanijche, eine auftralifche, vor allem aber eine 
afiatifche Großmadt. Es ift demnach nicht mehr unangreifbar für. kontinentale 
Militäritaaten. Selbft das Deutiche Reich, im Bunde mit Defterreich und der 
Türkei, könnte es unter Umftänden in Aegypten, vielleicht jogar in Indien an: 
greifen. Aber ich glaube nicht, daß der Staatsmann jchon geboren ift, welcher 
unfer Volk in eine jo phantaftiiche, ja geradezu abenteuerliche Politik hinein- 
führen möchte. ch nehme aud an, dat England im Berlauf eines jolchen 
Krieges unter allen Umftänden Bundesgenoffen auf dem Stontinent finden 
würde; vielleiht auch in den Bereinigten Staaten von Amerika. ‚Wie der 
nächſte Seekrieg ausfallen wird, das ift vollftändig unberechenbar. Ein $rieg 
mit England ift für Deutfchland in jedem Fall ein äußerſt gefährliches Rifiko; 
zunächit würde das überfeeifche deutjche Geichäft dabei in die Brüche gehen. Che 


Karl Beters, Die Weltſtellung Enylande. 575 


ein Volk in eine ſolche neue Bahn einlenkt, muß es ſich ganz klar ſein über das 
Maß ſeiner Kraft und alle möglichen Folgen. Wenn unſere Staatsmänner 
aber einen Krieg mit Großbritannien nicht wollen, werden ſie weiſe daran thun, 
den Strom der Verbitterung und Verhetzung zur Zeit zurückzudämmen. 

Eines läßt ſich mit Beſtimmtheit heute behaupten, daß, auch wenn das 
britiſche Weltreich in Trümmer ginge, die gemäßigten Zonen der überſeeiſchen 
Welt dennoch im weſentlichen engliſch bleiben würden. Nordamerika und Auſtralien 
wenigſtens können nicht wieder entnationaliſiert werden. Nur würde die leitende 
Macht der angelſächſiſchen Menſchheit nicht mehr in Europa, ſondern in Nord— 
amerika ſitzen. Was hiermit für Deutſchland gewonnen wäre, iſt kaum erſicht— 
lich. Das iſt der großartigſte Zug in der Weltſtellung Englands, daß es über— 
all da, wo es aufgetreten iſt, tief und unauslöſchbar den Ländern den Stempel 
feiner nationalen Eigenart aufgeprägt hat. Was immer jein Ende fein mag, in 
diefer Beziehung fteht es unbeftritten an der Spite der großen weltgeichichtlichen 
Nationen. Auch ift e8 heute noch nicht in Entartung begriffen, jondern es birgt 
in den Tiefen feines Volkstums genug lebendige Kraft, un die Krifis, in welcher 
es ſich gegenwärtig befindet, fiegreich zu überwinden. 


— 


Aussprüche aus dem „Goldenen Buch“.“) 


Wie ernfi war doch das Streben jener deulſchen Männer, die vor Beginn deuffcher 
Rolonialgefdhichte, ohne das erhebende Gefühl der Arbeit für ein großes und geeintes 
Baterland empfinden zu können, der afrikanilchen Welt ihre Geheimnille entrilfen! Möchten 
wir, das jüngere Gefchledt, ihren Spuren folgen, und möchte die Bafion fich bewußt fein, 
dafi jeder Buadratfuß Erde, dem deutſches Welen aufgeprägf wird, einen Forffchritt in der 


Gefittung der Menſchheit bedeutet! _ 
Bdolf Grafvon Götsen 


o 


Das vaterländilce Machtbewuhlſein, welches Aelig Meigender Bolkswohlfland und 
nationales Anfehen bis zur nächlten Jahrhunderfmwende in uns wacgerufen haben werden, 
wird es kaum begreiflich finden lalſen, dal gegen Ende diefes Jahrhunderts das Inter- 
elfe für den ethiſchen und Berlländnis für den wirtfchaftlihen Wert unferer Rolonieen 
nicht Icon ein allgemein vegerer war; und mißbilligendem Erflaunen werden die Aurj- 
ſichtigen überliefert werden, die heute öffentlich und mit Bachdruck ſich ala Gegner unferer 
überſeeiſchen Politik bekennen. 

O 


*) Boldenes Buch des deutfchen Bolfes an dev Jahrhundertwende.“ Bd. I. Herausgegeben von Julius Poßincver, 
Berlag von J. J. Weber, Leipzig. 


3oabim Graf von Pfeil. 


AIDINIBIBIDIBIBIBIBIBIBIBIBI 


Deutichhes Land und polniihe Flut. 
Von 


W. v. Maiflow. 


S: ihaffen in der Provinz Poſen ein preußifches Irland! — fo rief in der 
Polendebatte im deutſchen NReichätage am 10. Dezember ein Mitglied der 
Polenfrattion, der Poſener Rechtsanwalt Dr. v. Djiembowsti-Pomian, in das 
Daus hinein. Er hatte mit diefer Parallele ſchon darin unrecht, daß er außer 
acht ließ, wieviel die preußifche Negierung in den Hundert Jahren ihrer Herr: 
Ichaft für die Provinz Poſen gethan hat. Wenn England in mehr als fieben- 
hundert Jahren für Irland aud) nur annähernd jo viel gethan hätte, jo gäbe es 
heute Eeine irifche Frage. Eine Polenfrage aber würde es für und aud dann 
geben, wenn die preußifche Regierung das Doppelte und Dreifache für die Polen 
gethan hätte; ja ed würde uns dann aus dem Polentum die doppelte und drei- 
fache Gefahr erwadjen. 

Die Erkenntnis diefer Gefahr arbeitet fi in nationalgefinnten Kreiſen 
langfam durch, aber ihre Verbreitung entipridt noch nicht entfernt der Größe 
der Gefahr. Unkenntnis der wahren Berhältnifje, ein mißleitetes, unklares Ge- 
rechtigkeitägefühl, allerhand Nebenrüdfichten und Parteidoftrinen lafjen die volle 
Würdigung der Lage des Deutfchtums in den Oftmarfen nicht auftommen. So 
fann fi) immer noch die Borftellung erhalten, als ob die Mehrheit der Deutfchen 
in den Oftmarfen aus bloßen Haß gegen das Polentum und aus brutalem 
Nationaldünkel die fremdartige Minderheit unterdrüden und ihrer Mutterfprade 
berauben wolle. Die Polen dagegen werden dargeftellt als Leute, die weiter 
nichts wollen, als an ihrer Mutterfprache und ihren nationalen Erinnerungen 
fefthalten, und die nur durch den deutfchen „Ehauvinismus“ zum Widerftande 
und zur Feindſchaft gegen das Deutjchtum gereizt werden. Und jelbft wenn bier 
und da zugegeben werden muß, daß die Polen ihre nationalen Wünfche lebhafter 
betonen, al3 fi) mit dem Intereſſe des preußifchen Staats verträgt, fo finden 
ſich unter uns Verteidiger diefes Standpunfts, die fich vollftändig bei dem Ge: 
danken beruhigen, den Polen könne man doch die Anhänglichkeit an ihre Natio- 
nalität nicht verübeln, und ſomit ſei es eine Forderung der Gerechtigkeit, die 
Polen wegen eines ſolchen Borgehens nicht zu tadeln. 


WR dv. Mafjom, Deutfches Land und polnische Flut. 577 


Merkwürdige Verirrung, die einen Mangel an nationalem Pflichtgefühl als 
einen Ausfluß des Gerechtigkeitsſinns hinzuſtellen ſucht! 

Es iſt aber auch völlig falſch, von den Verfechtern einer entſchiedenen 
Kampfpolitik gegen das Polentum anzunehmen, daß ſie den Polen nicht Gerech— 
tigkeit widerfahren liegen. Sie wiſſen fie in Wahrheit beſſer zu verſtehen und 
zu würdigen al3 jene anderen, die jo fchnell mit dem Urteil bei der Hand find, 
daß die Polen recht und die Deutfchen unrecht haben. Denn die Meinung 
diefer ſcheinbaren Polenfreunde ift doch im Grunde die, daß die Polen, wenn fie 
nur einigermaßen anftändig von den Deutſchen behandelt werden, fih gern in 
die Berhältniffe fchiden und gegen das Zugeftändnis der Pflege ihrer Mkutter- 
ſprache und Nationalität ebenfo treu ihre Staatsbürgerpflichten erfüllen werden 
wie die Deutfchen. Und damit — fo meint man — können wir zufrieden fein, 
wenn ſich aud) die Liebe zum deutfchen Vaterland bei den Polen garnicht oder 
erit ganz allmählich einftellt. Mit andern Worten: gerade in den Augen biefer 
angeblichen Freunde find die Polen eigentlich recht jämmerliche Gefellen, An- 
gehörige eines in Wahrheit abgeftorbenen, aus dem Buche der Gefchichte aus- 
geftrichenen Volks. 

Es ift eine feineswegs zu Scharfe Behauptung, wenn man feftjtellt, daß ſich 
in diefer Meinung nicht nur eine große Unkenntnis der Berhältniffe, fondern 
aud eine arge hiftorifche Unbildung ausfpricht. Gerade wer die Polen Eennt, 
wer vor allen Dingen neben ihrer jetigen Art und Entwidelung aud ihre Ge— 
Ihichte kennt, läßt ihnen Gerechtigkeit widerfahren, und diefe Gerechtigkeit zwingt 
zu der Erkenntnis, daß das polnifche Volt troß des Verluſtes feiner ftaatlichen 
Eriftenz do alle Merkzeichen einer lebenden Nation trägt. 

Denn fo wertvoll für eine Nation aud die ftaatliche Selbftändigkeit ift, 
das allein Entjcheidende für den Begriff der Nation fann fie nicht fein. Eine 
durch Sprade, Sitte, Gejhichte und Glauben verbundene Gemeinihaft ift dann 
eine Nation, wenn alle diefe Güter 'als lebendiges, geiftiges Befigtum und als 
jelbftändig wirkende Kraft mit Bewußtjein von Generation zu Generation über- 
liefert werden. Es kommt dabei nicht darauf an, wie groß die geiftige Wirkung 
ift, die von einer foldhen Nation auf andere und auf die ganze Menjchheit aus- 
geht; es genügt, daß jene gemeinfamen Güter innerhalb der Gemeinfchaft eine 
ftarke Wirkung ausüben. Gegenüber manchen oberflählichen Urteilen erfordert 
es die Wahrheit, feftzuftellen, daß die als barbarifch verfchrieene polnische Sprache 
reich, bildungsfähig und wohlklingend ift, daß fie als heiliges Gut jorgfältig ge- 
pflegt wird, daß fie eine Litteratur erzeugt hat, die fich als Ganzes freilich nicht 
mit den geiftigen Leiftungen der großen Kulturvölker meſſen kann, die aber 
innerhalb ihres Volkes ein mächtiges Bildungsmoment und ein achtungswerter 
Hebel de3 Nationalgefühl® geworden ift. Und ebenfo ift zwar das polnische 
Bolt in Kunft und Wiſſenſchaft bei Fremden in die Schule gegangen, aber es 

37 


578 W. v. Maſſow, Deutfches Land und polntiche Flut. 


bat dem Gelernten ein nationales Gewand angezogen und es zu einem Gegen- 
ſtand gemeinjamer Begeifterung und eifrigen Strebens gemadjt, das wir nur zu 
unſerm Schaden unterichägen können. Die polnische Geſchichte ift dem Polen 
ein heilige Vermächtnis, und man würde fich ſchwer täufchen, wenn man an— 
nehmen wollte, daß die Erinnerung an die Demütigungen, die diefes Volk durd 
eigene ſchwere Schuld erlitten, auf daS Gemüt eines Polen eine andere Wirkung 
haben fönnte, als die eines jtarfen Anfporns, in der Zukunft erfüllen zu helfen, 
was die Vergangenheit verfagt hat. Wir wollen nicht Vogel Strauß-Politif 
treiben, jondern wollen uns bemühen, dieſes Volk, jo wenig ſympathiſch es 
manchem von ung fein mag, in feiner Eigenart ehrlich zu ftudieren und es zu 
verjtehen. Dann aber können wir zu feinem anderen Ergebnis kommen, als zu 
der fiheren Erkenntnis: das polnische Volk ift troß Teines politiichen Zuſammen— 
bruchs, den es vor hundert Jahren erlebt hat, eine wirkliche Nation. 

Man könnte ja nun der Anficht fein, daß eine Nation, wie dieje, am beften 
thäte, ji) an ihrem idealen Befit genügen zu lafjen und ſich nicht in politiiche 
Abenteuer zu ftürzen. Um zu erkennen, wie ſich die Polen zu diejer Frage 
ftellen, ift e8 nicht nötig, den theoretifchen Streit um die Bedeutung des foge: 
nannten Nationalitätsprinzips zu erneuern. Wir fünnen uns auch jo überzeugen, 
daß es für die Polen nur eine Antwort auf diefe Frage giebt. Denn das 
polnische Volk ift nicht einer jener Volfsiplitter, der nur in der Anlehnung an 
ein anderes Volkstum oder in Verbindung mit einem ſolchen zur Geltung ge- 
langt ift und plößlich auf den Einfall fommt, auf der einzigen Grundlage der 
Iprachlichen Verhältniſſe eine politifche Berüdfichtigung zu fordern, die in ſchroffem 
Gegeniat zu feiner Bedeutung fteht. Nein! Die Polen haben eine wirkliche 
nationale Geſchichte und wenn im Verlauf derfelben ſogar die furdhtbarite 
Kataftrophe, die ein Volk treffen kann, die Kraft des felbitändigen 
nationalen Lebens nicht zu brechen vermodt hat, fo folgt daraus mit umerbitt- 
licher Notwendigkeit, daß die Polen die Wiedererlangung ihrer ftaatlichen Selbit- 
jtändigkeit alö eine notwendige Ergänzung ihres nationalen Daſeins anfehen. 
Wer diefe unbequeme Wahrheit bejtreiten will, wird fic) vergebens nad) einem 
Beweis umfehen. Einen ſolchen Beweis giebt es eben nicht, weder in der Ge: 
finnung der Polen, — fofern man fi) nur die Mühe giebt, unter der Schale 
gewohnheitSmäßiger Dinterhaltigkeit den Kern zu erkennen, — noch in irgend- 
welchen gefchichtlichen Erfahrungen, fei e8 an den Polen jelbjt, oder an einer 
anderen Nation. Es ift eine ungemein Eindliche Auffaffung, die ſich die einzelnen 
Polen daraufhin anſieht, ob fie heute oder morgen Nevolution machen wollen. 
Darüber allerdings find die führenden Kreiſe des polniſchen Bolfs hinaus, daß 
jie in vollftändiger Berfennung der internationalen Lage und der Machtver— 
hältnifje zur Unzeit die Thorheiten wiederholen wollen, die ihnen 1830, 1848 
und 1863 teuer genug zu ftehen gefommen find. Sie haben gelernt, daß — 


W. v. Maſſow, Deutiches Land und polnische Fylut. 579 


in für fie günftigiten Falle — eine Erfüllung ihrer nationalen Hoffnungen erft 
von einer vorausfichtlich noch fernen Zukunft erwartet werden kann, daß fie 
aber aud dann nur möglich ift, wenn das polnische Volk in einem Gebiet von 
ausreichender Größe eine herrfchende Stellung erlangt hat, nicht nur in Bezug 
auf die Stärke der nationalen Gefinnung, ſondern auch durd ein foziales 
und wirtichaftliches Lebergewicht, das nur die Frucht einer langen vorbereitenden 
Arbeit jein fann, beftehend in der Unterwerfung aller erdenklichen Berufs: 
interefjen unter die Intereſſen des PBolentums. 

Diefe Arbeit ift es, die jet von den Polen gethan wird. Unter dem 
Schuß der Staatsgeſetze, die fie äußerlich erfüllen, benugen jie jedes Mittel zur 
Ausbreitung des Polentums innerhalb des preußifchen Gebiets, und zugleich er- 
füllen fie jedermann, der ihnen durd; Geburt oder Propaganda angehört, mit 
der Begeifterung für polnifches Volkstum, ebenjo aber auch mit dem Geift rück— 
fichtslofen fanatiihen Deutſchenhaſſes. Wenn jene Begeifterung vielleicht aus 
den allgemeinen Beitrebungen zur Erhaltung der Nationalität zu erklären ift, 
diefer Hat erklärt ji) nur aus dem Hinblid auf die fünftige Stunde der Befreiung. 

Dazu Hat unfer nationale® Gemwilfen Stellung zu nehmen. Aber das 
fann nicht geichehen, indem wir fragen, ob wir das Thun der Polen für recht 
oder unrecht halten, oder wie wir an ihrer Stelle handeln würden. Wir haben 
nur zu fragen: Welde Folgen hat diejes Treiben der Bolen für unfer 
Baterland? Sind es Ichädliche Folgen, jo haben wir das Unſrige zu thun, 
um dieſen Schaden abzuwenden. Das Ziel der polnischen Nationalbeitrebungen 
aber richtet fi gegen Beftand und Anterefjen des preußifchen Staates, gegen 
deutfches Gebiet und gegen die Sicherheit der Reichsarenze. Unfere Pflicht 
fteht aljo feft, und daran kann nichts dadurch geändert werden, daß wir das 
Berhalten der Polen von ihrem Standpunkt aus begreiflic finden. Niemand, 
der ein Befittum zu verwalten hat, wird einem andern gejtatten, Teile dieſes 
Beſitztums für fi in Anſpruch zu nehmen. Er wird ein ſolches Borgehen aud 
dann abwehren, wenn er von dem guten Glauben des andern überzeugt ift. So 
wird er verfahren, jelbjt wenn er großmiütige Neigungen und freie Verfügung 
über feinen Bejit hat, wievielmehr nicht bei Gütern, für die er andern verant 
wortlih ift. Für unfer Baterland aber tragen wir eine folde Ber: 
antwortung im bödften Maße; wir tragen fie vor Gott, vor der 
Geihichte, vor unfern Volksgenoſſen, vor unſern Sindern umd 
Kindesfindern. Wir haben bier fein Recht, großmütig und weid- 
herzig zu fein. 

Hätten wir ein Richteramt zwiſchen unjerm eigenen Volt und dem fremden, 
felbft dann würde es feine Gerechtigkeit fein, die nur das Recht der Bolen 
kennt. „Gerechtigkeit“ bedeutet, daß jedem das Recht werde, das er ohne 
Beeinträchtigung gleichwertiger Rechte anderer genießen kann; fie bedeutet aber 

37* 


580 W. v. Maſſow, Deutſches Land und polniſche Flut. 


nicht die Verſchleuderung wohlerworbener Rechte an die Anſprüche anderer. 
Wenn wir überhaupt den polniſchen Rechtsſtandpunkt bei der Beſtimmung 
unferes Verhaltens mitfprecjen lafjen wollen, dann muß es in ganz anderem 
Sinne gefhehen. Dann müfjen wir uns jagen: Je mehr die Polenfrage ein 
Konflikt berechtigter Intereſſen ift, je ſtärker unſer Gegner infolgedejlen ift, defto 
energifcher, zäher, pflichtbewußter und unerbittlicher müfjen wir den Kampf zum 
Shut unferer nationalen Stellung und unſeres Staatögebiet3 führen. Gerade 
deshalb dürfen wir uns nicht von Mitleid und allerhand ſchwächlichen und ver: 
zagten Erwägungen leiten laffen. 

So jteht die Sache, wenn wirklich einige unter uns glauben, daß die Bolen 
ein gutes Recht haben, fo zu handeln, wie fie es thun. Aber wir müſſen vor 
allem Eins betonen: Wir ſelbſt haben ein unbeftreitbares Recht auf dieſe 
Bebietöteile, die uns die Polen entfremden wollen. Es wird immer nod von 
dem „Unrecht“ der Teilungen Polens geſprochen. Gewiß können wir ruhig zu: 
geben, daß die überlieferte, noch in vielen Unterrichtsbüdjhern enthaltene Be: 
gründung dieſes geſchichtlichen Vorgangs anfehtbar it. Wan hört da ſehr 
häufig die Theorie eines Interventionsrechts vertreten, das in veralteten Vor: 
jtellungen aus der Zeit der Kabinettspolitit und des beichränften Unterthanen- 
verjtandes wurzelt und unſern weiter entwidelten, gefchichtlihen und politifchen 
Grundjägen nicht mehr zufagt. Lafjen wir aber überhaupt jede faliche Frage— 
ftellung nad) Recht oder Unrecht und ſuchen wir die politifche Motwendigkeit aus 
den gejchichtlich feſtſtehenden Umſtänden zu begründen, fo wird uns Elar werden, 
daß Friedrich der Große nicht anders handeln durfte. Nicht um der inneren 
Unruhen in Polen, jondern um der Bolitif Rußlands willen durfte er die gegebene 
Gelegenheit nicht verpafjen, um feine Hand auf Weftpreußen zu legen. Es war 
altes deutjches Land; die Polen felbft hatten es erft dem deutfchen Orden ab» 
genommen, deflen Rechtönacdhfolger der König von Preußen war. Friedrich 
gefährdete Dftpreußen, einen wertvollen Teil feiner Monarchie, an dem der 
Nechtstitel feiner fouveränen Königskrone haftete, wenn er der ruffifchen Politik 
freien Lauf lie und nicht dafür jorgte, daß an der unteren Weichjel ein Zus 
ſammenhang zwilchen den getrennten Teilen des Staatsgebiets hergeftellt wurde. 
Die Politik feines Nachfolgerd bei der zweiten und dritten Teilung Polens 
entſprang weniger Elaren und unanfechtbaren Gefihtspuntten. Sie war formell 
eine Nahahmung und Fortfegung der Politik Friedrich des Großen und dod 
etwas Andered. Sie war erflärlic, bei den Anfchauungen der Zeit über Volks— 
rechte und Nationalität und bei der damaligen Ueberihägung des Wert? von 
Gebietserweiterungen, aber es gereichte jedenfalls zum Heil Preußens und 
Deutichlands, daß diefed Gebiet in den Stürmen der napoleonifchen Zeit wieder 
verloren ging — bis auf die heutige Provinz Poſen. Wenn diefer Befig von 
Preußen fetgehalten wurde, fo lagen dafür befondere Gründe vor. Die ſchon 


W. v. Maſſow, Deutiches Land und polnische Flut. 581 


zu Zeiten der polnischen Könige vorhandene jtarfe Durchſetzung dieſes Landes» 
teil8 mit deutſchen Bevölferungselementen lie feinen Beſitz unbedenklich erjcheinen, 
feine Lage zwiſchen Weftpreußen und Scleften, die Entwidelung der wirtſchaft— 
lihen Beziehungen, die Sicherheit der preußifchen Oftgrenze forderten ihn. Nicht 
auf Grund feines alten BefigrechtS von der zweiten Teilung Polens her, fondern 
auf Grund befonderer neuer Berftändigung mit Rußland hat Preußen im 
Wiener Kongreß 1815 diefe Provinz wiedererlangt. Weftpreußen aber war ihm 
fogar von Napoleon gelaffen worden. Unter ſolchen Umftänden war es ein 
Fehler der preußijchen Diplomatie, daß fie fi bei den Verhandlungen des 
Wiener Kongreſſes über die polniſche Frage al3 Grundlage den status quo von 
1772 und demzufolge die Rolle al3 eine der fogenannten „Teilungsmächte“ auf- 
drängen ließ. Aus diefem Fehler, deſſen Vermeidung durchaus im Bereich der 
Möglichkeit lag, — darauf einzugehen, würde natürlich hier zu weit führen, — 
find alle Unklarheiten über das Verhältnis des preußifchen Staates zu feiner 
polniſchen Bevölkerung entjtanden, die den Wiener Verträgen von 1815 vorzumwerfen 
find und den Polen Anlaß geben, ich noch heute auf fie zu berufen. Eines ift aber 
aud nad) dem Wortlaut der Abmachungen von 1815 Klar, daß die Provinzen Weft- 
preußen und Poſen ein untrennbarer Beftandteil des preußifchen Staates find, dem 
feinerlei Sonderredhte zugeftanden find. Diejenigen Rechte, die die Polen inner: 
halb des preußifchen Staates auf Grund der Zufiherungen des Königs wirklich 
zu fordern haben, find ihnen, obgleich fie durch Aufftandsverfuhe und offene 
Teindjeligfeit gegen den Staat eigentlich verwirft waren, dennoch dadurd) gewähr- 
feiftet worden, daß die Polen mit vollftändig gleihem Recht Bürger des 
preußiſchen Berfajjungsftaates geworden find. Die Pflicht, die ihnen dadurd 
gegen den preußiihen Staat auferlegt wird, war auch bereit3 die VBorausjegung 
der Zufiherungen von 1815, und es ift bei leßteren niemals beabfichtigt gewefen, 
den Polen Sonderrechte oder ein größeres Maß von Rechten zuzumeifen als 
andern Staat3bürgern. 

Wenn es fu ftaatsrechtlich und verfaffungsrechtlich feftfteht, daß es inner: 
halb des preußiihen Staates niemals ein polnifhes Sondergebiet irgendwelcher 
Art oder eine andere Rechtsgrundlage als die preußifche Verfaffung geben kann, 
fo muß auch darauf bingewiefen werden, daß das Deutſchtum ein moralifdhes 
Recht auf diefes Land hat. Alles, was an Kultur dort vorhanden ift, ift deutfchen 
Ursprungs; aud die Polen wandeln in den Fußftapfen der Deutfchen. Deutjcher 
Fleiß hat das Land zur Blüte gebracht, ift der Lehrmeilter der Polen geweſen; 
deutiches Kapital von höchſtem Wert ftedt darin; das Land it zur Sicherheit 
des Reichs notwendig, und deutfches Blut ift dafür gefloſſen. Iſt es nicht 
ehrlos, diefes Land im Stich zu laffen und zuzufehen, wie fich Fremde 
in argliftiger Abfiht darin ausbreiten und unfer Volkstum an die 
Wand drüden? 


582 W. v. Maſſow, Deutiches Yand und polntiche Flut 


Es ift nicht Aufgabe dieſes Auffages, die Mittel zu erörtern, mit denen 
wir uns gegen das Polentum zu verteidigen haben. Nur ein verbreiteter Irrtum 
mag bier noch mit kurzen Worten erörtert werden. Ich meine den Irrtum, als 
ob es einzelne beftimmte Maßregeln geben könnte, die uns in verhältnismäßig 
furzer Zeit an das Biel unferer Wünfche bringen würden. Mindeftens die 
Hälfte von allem, was über die Polenfrage von Deutichen gejchrieben, gedrudt 
und geredet wird, ift Sritif an dem, was andere Deutjche oder die Regierung 
gegen die Ueberhandnahme der polnischen Gefahr thun oder vorfchlagen. Der 
Anhalt diefer Reden und Auffäte läuft immer darauf hinaus, daß es Heißt: 
„Made es nicht jo, ſondern anders, und zwar jo, wie ich fage!" Ueber gewiſſe 
Maßregeln allerdings, namentlich ſolche, die durch einen Akt der Gejetgebung 
feftzulegen find, ift ein Meinungsaustaufch nötig, aber es ift tief bedauerlich, 
wenn unfere deutjchen Volksgenoſſen weiter nichts thun können, als jich 
gegenfeitig nadıweifen, daß fie in diefer oder jener Einzelheit Fehler begehen und 
Mißerfolge gehabt haben. Das wahre Rezept zur Löſung der Polenfrage ift 
viel allgemeiner und einfacher als die meiften denfen. Es lautet: Jeder denke 
in feinem Wirkungskreiſe daran, daß er ein Deutfcher ift und den Be— 
ftrebungen des Polentums Widerftand zu leiten hat! Er mag jelbit über die 
Mittel nachdenken, mit denen er das thun kann; er joll aber aud jedes Be— 
jtreben achten und unterftügen, das in feiner Sphäre nad dem gleichen Ziel 
tradtet. So lange das nicht oberfte Richtſchnur aller Deutihen im Kampfe 
gegen das BPolentum ijt, werden uns weder Anſiedlungskommiſſion, noch 
Spradjenverordnungen, noch fulturelle Hebungsverſuche erheblich vorwärts 
bringen. Aber alle diefe Mittel können uns mit der Zeit ans Ziel bringen, 
wenn neben ihrer beharrlichen und ftetigen Anwendung zugleich auch in den 
kleinen und Eleinften Beziehungen des Alltagslebens jeder Deutiche nad feiner 


Art auf dem Poſten ift. 


Aus dem „Goldenen Budy‘“.*) 


Gelehrte und Schrififteller bilden keine Gegenſähe. Sie ergänzen ſich gegenlritig, 
auch wenn ihre Funktionen nicht in einer Perſon vereinigt find. Pie Wahrheit erforfchen 
und fie der Menfchheit kundthun find gleidı notwendige und heillame Leiſtungen fir den 
Fortfchritt der Rulkur. Die Einwirkung ernlter Schriftfieller auf die Gefiftung, auf die 
Erweckung geifigen Interefles, auf das Gemülsleben des Polkes verdient wohl eine 


größere Würdigung, als ie ihr bisher in Peuffchland vielfach zu teil geworden if. 
Miguel. 


*”, „Bolbenc& Bud bes deutſchen Bolkes an ber Jahrhunbertwende“. 9.I Herne 
negeben von Julius Lohmeyer. Berlag von 3.3. Weber, Leipzig. 


SEE eae9aaeaaaaoO 


Meine Kämpfe in Ostafrika. 


Don 
Bermann von Wissmann. 


III. Das Gefecht gegen Sunda. 


I: als 8000 Trägerlaften, darunter Teile des Dampfers für den Nyaſſa— 
See, waren vermittelft aller nır denkbaren Transportmittel von der 
Küfte am Südende des Sees angelangt. 

Ach Hatte, nachdem ich den Transport gejichert jah, eine geeignete Werft 
eingerichtet, übergab einem Teil meiner Erpedition den Aufbau des Dampfers, 
begab mid) nad dem Nordoftufer des Nyafja, ſuchte und fand einen für die 
Station Langenburg geeigneten Küftenplaß mit Hafen, befeitigte denjelben und 
teilte aberınal3 mein Expeditionskorps, indem ich zur Befeßung und für den Muf- 
bau der Station einen Teil zurüdließ, fo daß ich für die weiteren Aufgaben der 
Erpedition nur noch fünf Europäer und adıtzig Soldaten übrig behielt. 

Der ganze Süden Deutſch-Oſtafrikas hatte von unſerer Befigergreifung 
noch nicht3 veripürt. Die Häuptlinge der zahlreichen dort befindlichen Stämme 
waren mit uns nod nicht in Verbindung getreten; vor allen aber war hier im 
Süden des Tanganyfa:- und im Norden des Nyaſſa-Sees noch lebhafter 
Sklavenhandel im Gange. Diefen hier zu vernichten und die Eingeborenen mit 
unferer Oberhoheit befannt zu machen, ich möchte jagen, politifch Ordnung zu 
Ichaffen, war nun meine Aufgabe während der Zeit, die der Bau des Dampfers 
und der Station in Anjprucd nehmen würde. 

In Etappen marfchierte ich vom Nordende des Nyaſſa längs der Grenze 
des Schußgebietes nad Welten, indem ich während meiner verjchiedenen Auf: 
enthalte mit den Eingeborenen verhandelte. 

Zwei Tagemärfche nördlih von meiner Straße, unweit der ſüdöſtlichen 
Ede des Rikwa-Sees, herrihte ein Häuptling Sunda über eine Anzahl gut be: 
mwohnter und wohl befeftigter Dörfer. Auch ihm hatte ic) wegen vieler Klagen, 
die mir zuıgingen, eine Warnung und Einladung zukommen lafjen und ihm, da 
ih hoffte, friedlich mit ihm auszukommen, unfere” Flagge zugejandt. Meine 
Boten hatten aber vor dem übermütigen Häuptling, der die ihm überreichte Flagge 
in den Kot trat, nur fnapp ihr Leben gerettet. 

Sp beſchloß ih, Sunda in feinem eigenen Lande unjere Macht zu zeigen, 


584 Hermann von Wißmann, Meine Kämpfe in Oſtafrika. 


bielt für diefe Aufgabe jedoch einen Teil meiner Truppe fchon für genügend und 
fandte, da id; überdies zur Zeit mit einigen größeren Häuptlingen in Unter: 
handlung ftand, einen meiner Offiziere mit vierzig Mann ab, um Sunda mit 
Güte oder Gewalt zu holen. 

Merere, der bekannte große Häuptling der Warori, der früher aud die 
Wahehe beherricht hatte, und der gleichfall3 unter den Näubereien des ihm be- 
nachbarten Sunda gelitten, veritärfte meine Truppe durch dreihundert, nur mit 
Gemwehren bewaffnete Krieger, jämtlic) in rote Turbane und Mäntel gefleidete 
ruga-ruga, unter der Führung feines älteften Sohnes, des heutigen Merere, fo 
daß die Kleine Straferpedition doch ein ganz eindrudsvolles, Friegerifches Aus: 
fehen gewann. 

Dr. Bumiller, der Führer diefer Straftruppe, wurde ſchon bei feinem An— 
marſch in unüberfichtlihem Gelände bier und da befchoffen. Alle Dörfer, die 
am Wege lagen, zeigten fich gejchlofien und zum Kampfe fertig beſetzt. Bor 
Sundas Hauptdorf angekommen, wurde der Verſuch, mit den Cingeborenen 
Berhandlungen anzufnüpfen, mit Schüflen beantwortet. Dr. Bumiller bezog, 
fünfhundert Schritt vom Dorfe und etwas höher gelegen, ein Lager, das er noch 
am eriten Tage mit einem dichten Aftverhau umgab. 

Da der Weg der Verhandlungen durchaus abgefchnitten war, jo verfuchte 
Bumiller gleih am nädften Tage, das Dorf im Sturm zu nehmen. Er leitete 
den Angriff durch ein kurzes Gemwehrfeuer ein, das natürlich, da der Feind hinter 
dichten Pallifaden ftand, wirfungslos blieb, und ging dann mit Hurra auf die 
Pallifaden los. Der Angriff wurde jedoch hart abgeſchlagen. 

Die Truppe gelangte bi3 an einen vier Meter tiefen Graben, deſſen 
Böſchung fteil und deifen Sohle weich und ſumpfig war. Auf der anderen Geite 
zwifchen den Ballifaden und dem Grabenrand war nit Fuß zu faflen; die 
Ballifaden waren neu und feit gefügt. SYedenfalld befanden fih im Dorfe 
einige gute Schüßen, denn jchon beim Anlauf wurden einige Leute von Merere 
zu Boden geftredt. Troß diefer Erfahrungen aber machte Bumiller mit feinen 
Sudaneſen den Berjuch, fi mit der Art einen Weg zu bahnen. Mein ahnen: 
träger, ein Sudanneger, eine Hüne von mehr ala ſechs Fuß Höhe, eine herfu- 
liſch gebaute, Eriegerifche Erfcheinung und ein Mann von unbeftreitbarem Mute, 
ja von Tollkühnheit, der allerdings auch leicht zum Meutern neigte, im Gefecht 
aber unübertrefflid war, wurde durch die Stim geſchoſſen. Ein ſchwarzer Offi- 
zter, ein vermegener und gewandter Sudanele, erhielt einen Schuß in den Mund; 
die Kugel mußte ſich jedoch ſchon beim Durchgang durd die Pallifaden matt ge- 
ſchlagen haben, fie durchſchlug nur die rechte Wange, jchlug zwei Zähne des 
Unterkiefer mit einem Stüd des Kiefers heraus und ward nicht mehr gejehen. 
Der Mann behauptete fpäter, er habe die Kugel verfchludt; jedenfalls fehlte der 
Ausſchuß. 


Hermann von Wißmann, Meine Kämpfe in Oftafrika. 585 


Noch einer meiner Leute fiel; zwei wurden verwundet; auch einige Leute 
von Merere blieben liegen. Die Ballifaden gaben nicht nad), die Leute konnten 
fih an dem glatten Hang nicht halten, mußten in den Graben zurüdjpringen 
und wurden, als Mereres Leute fich zur vollen Flucht wandten, mitgerifjen. 


Im Lager ſammelten fi) die Leute wieder. Aus dem Dorf Sundas er- 
tönte Hohngefchrei, Spottgefänge und das Rühren der großen Sriegstrommel, 
dad von allen Seiten her von anderen Dörfern beantwortet wurde. 

Es mußten jest, um die Sunda-Leute abzuhalten, das Lager Bumillers 
von allen Seiten anzugreifen, ftärfere Patrouillen ausgehen, welche mehrfach 
auf Trupps des Feindes ftießen, die fich bereit3 auf dem Wege nad) dem Lager 
befanden. Dieje wurden überall geworfen und bis zu ihren Dörfern verfolgt, 
jo daß eine Beunruhigung des Lagers bei Tage wenigstens nicht mehr ftattfand. 

Jetzt erhielt ich, der ich an der Tanganyfa-Straße lag, von Bumiller 
Meldung, das Dorf ſei ohne Geſchütz nicht zu nehmen, er erbäte dementfprechende 
Unterftügung. Ich fandte einen Offizier mit dem Eleinen Geſchütz (6 cm 
italienifche8 Berggefhüt) ſowie dem maxim gun und einigen Dann Be- 
defung ab. Nad Eintreffen diefer Verftärkung verfuchte Bumiller, der moralischen 
Wirkung der Geſchütze vertrauend, gegen bie fcheinbar ſchwächſte Stelle der 
Befeftigung abermals einen Sturm, der ausgiebig von Granaten und von dem 
Feuer des maxim gun eingeleitet wurde. Auch diefer Angriff wurde aber ab- 
geichlagen, wieder mit Berluft von einigen Soldaten und Merere-Leuten, welche 
letzteren ſich dieſes Mal jchon ſchlechter fchlugen, bereit8 vor dem Befeftigungs- 
graben ftußten und zurüdprallten. 

Die Granaten waren zu Elein, um die noch frifchen Pallifaden aus Palmen» 
ftämmen zerftören zu können. Der Feind hatte überdies, wie wir ſpäter fahen, 
böhlenartige Erddedungen ausgehoben. Dffenbar mußte ein Führer im Dorfe 
fein, der fchon an der Hüfte gegen mid; gefochten Hatte, und es verftand, den 
Mut der Eingeborenen aufrecht zu erhalten, denn die Verteidiger benahmen ſich 
auffallend gejchiet und fchneidig.. Zu den Schwierigkeiten der Lage kam noch, 
daß die Merere-Leute jich zu „verfrümeln“ begannen, teilweije dejertierten, teils 
fih von gefährlicher Arbeit drüdten, und daß der Feind durch feine Erfolge fo 
dreift geworden war, daß er num begann, Bumillers Lager nachts zu beunruhigen. 

Bumiller ließ Patrouillen aus je zwei feiner beiten Leute mit 1020 
Merere ruga-ruga die ganze Nacht hindurch die in der Nähe gelegenen Dörfer 
umſchwärmen. Trupps der Eingeborenen wurden mehrfach überrafcht und mit 
Verluſt zerftreut. Aber Bumiller machte fi) doch Elar, daß, um Erfolg zu er- 
zielen, vor allem gegen das Hauptdorf Sundas eine bedeutend ftärfere Truppe 
oder längere Zeit nötig wäre, um ein völliges Einfchliegen zu ermöglichen 
und fi) an die Befeftigung heranzuarbeiten, und fo bat er mid, daß ich ſelbſt 


586 Hermann von Wirmann, Meine Kämpfe in Oſtafrika. 


kommen und mich von der Lage überzeugen möchte. Sch brach jofort auf und 
marfchierte mit dem Reſt meiner Leute nah) Sundas Dorfe ab. 

Als ich mich Bumillers Lager näherte, riefen uns die Sunda-Leute aus 
dem Dorfe höhnend zu: „Jetzt kommt nun endlich der bwana mkubwa, nun 
wollen wir jehen, ob er es bejler kann. Verſuche nur deine Kunſt, kitschoa 
tanu!" (Fünfkopf!“ einer der mir von den Eingeborenen beigelegten Namen.) 
Schon dieſe Zurufe bewiejen, daß die Berteidiger mit der Außenwelt in Ber: 
bindung ftanden und wußten, was bei uns vorging. Später fanden wir Beweiſe 
dafür, daß die Sunda-Leute von den uns begleitenden Merere-Leuten genaue 
Nachrichten über unfere Abfichten erhielten. 

Das Dorf ftieß mit etwa den dritten Teile feiner Umfaſſung an einen un— 
durchdringlich dichten, grundlos jumpfigen Galerie-Urwald, deſſen Boden unter 
Waſſer ftand, und der ſich längs des Baches ftellenmweife in ziemlicher Breite 
ausdehnte und auch anderen feindlichen Dörfern oberhalb unferer Stellung An- 
lehnung bot. Der Vorteil, den ein folder Wald, der bis auf wenige Schritte 
an die Ballifaden des Dorfes heranreicht, dem Angreifer, wie man meinen follte, 
bieten müßte, geht durd) feine abjolute Unpaffierbarfeit für Fremde verloren. 
Die Eingeborenen legen in ſolchen Sümpfen ſchmale Snüppeldämme an, meiſt 
von zwei neben einander liegenden Baumjtämmen gebildet, die im Zidzad ſich 
an einander reihen und fußhoch mit Moraft oder Wafjer bededt nicht zu er: 
fennen find. Die Eingeborenen finden jedoch vermöge nur ihnen erfennbarer 
Zeihen an den Bäumen und Lianen den bededten Weg. 

Eine Unterbrechung der Verbindung des Verteidigers mit außerhalb wäre 
nur mittelft eines breiten Durchhaues durd) den Urwald und eines viele Arbeit 
erfordernden Knüppeldammes zu erreichen geweſen. So beſchloß ich, um meiner 
Eleinen Truppe dieſe unberechenbar langwierige und fchwierige Arbeit in dem 
unüberfichtlihen Gelände, mit einem an Zahl meit überlegenen Feinde, zu er- 
iparen, zunächft andere Mittel zu verfuhen. Auf eine Wiederholung der Ber- 
juche, durch einen gewaltjamen Angriff an das Ziel zu gelangen, verzichtete id); 
denn die bereits erlittenen Berlufte waren für meine ſchwache Truppe jchon 
recht fühlbare geiwefen. Es blieben mir nur noch ungefähr ſechzig Mann, unter 
der Führung von zwei Offizieren und zwei Unteroffizieren, und Merered Sohn 
mit noch annähernd zweihundert ruga-ruga, die jedoch in ihrem kriegeriſchen 
euer jo herabgeftimmt waren, daß auf fie nur mehr als Statiften zu 
rechnen war. 

Die Sunda-Leute hatten Elugermweife die größte Zahl ihrer mit Stroh be 
dedten Häufer abgededt und nur in der Mitte des Dorfes einige Hütten unter 
Dad) gelajjen. Immerhin mußte bei etwas Wind das Aufflammen diefer Hütten 
ihnen den Aufenthalt in einem Teile des Dorfes unmöglich machen und ſomit 
für den Angriff Chancen bieten. 


Hermann von Wihmann, Meine Kämpfe in Ojtafrifa. 587 


Alle in der Umgegend liegenden Dörfer ließ ich Tag und Nacht beunrudigen, 
auf allen Plägen ringsum Hinterhalte legen, ja durch Scheingefechte größerer 
Patronillen den Glauben erweden, als wollte id) demnächſt andere Dörfer an: 
greifen. Einen Teil des eigenen Lagers lieh ich al3 Neduit befonders befejtigen, 
um mit dem größten Teil der Truppe frei vperieren zu können, und auf einer 
dicht beim Yager gelegenen Höhe, von der aus man Sundas Hauptdorf fait ein- 
fehen Eonnte, einen befejtigten Poften einrichten und mit 20 Mann bejegen. 
Bon bier aus fonnte man über den Urwald hinweg das ganze Gelände weit 
umber beobachten. 

In der nädjiten Nacht wollte ich, da jchlechtes Wetter und Wind eingetreten 
waren, verſuchen, die vorhin erwähnten Häufer im Dorf anzuzünden, um in der 
durch das Feuer entftehenden Unordnung die Pallifaden zu überfteigen. 

Es wurden alle nur denkbaren Arten von Brandern hergerichtet. Fauſt— 
große Steine wurden mit Baft und Zunder umwickelt und diefe Umhüllung mit 
an beiden Seiten angelpisten Hölzern durchſtochen, ſo daß das Ganze einen 
Igel ähnlich ſah. Der Zunder wurde mit Petroleum, das ich von der englijchen 
Station an der Tanganyfa-Straße erhalten hatte, geträntt. An einer Eurzen Schleife 
jollte dann diejer Brandigel gejchleudert werden. Die Spitzhölzer follten fi) in dem 
Stroh der Däder feitbohren. Die beiten Speeriwerfer der wenigen Somali, 
die ich bei mir hatte,*) erhielten Speere, deren Spiten hinter den Widerhafen 
mit getränftem Zunder umwidelt waren. Auf diejelbe Weije ließ ich jonjt von Bogen 
abzufchießende Brandpfeile und Brandftöde berftellen, die aus den großen glatt: 
läufigen Gemwehren der Merere-Leute — mit geringer Pulververladung — ab— 
gefeuert werden follten. Die Träger der Brander jullten von Schüßen begleitet 
werden, um die Löſchverſuche der Belagerten zu ſtören. Da dies alles bei vor: 
ausfichtlich jehr dunkler Nacht vor fich gehen würde, denn der Himmel blieb 
bededt, verteilte ich an die Schüßen mit Schrot geladene Borderlader, wie fie ſtets 
die Laftträger auf meinen Zügen als Waffe trugen. 

Noch vor Eintreten der Dunkelheit wurde das Geſchütz und dag maxim 
gun nad dem Dorfe eingerichtet. Um Mitternacht Eamen die Branderabteilungen 
unbenerft bis an den Graben heran. Troßdem man das Anzünden der Brander 
durch vorgehaltene Deden abblendete, war der Verteidiger doch aufmerfjam 
geworden. Ohne Berlufte gelang jedoch das Anzünden der Brander und das 
Schleudern derjelben, aber... die Brife jegte in diefem Augenblid aus, und, obwohl 
die Schügen nad; den gededten Hütten zu ein lebhaftes Feuer unterhielten, blieb 
dort alles dunfel. Der Feind Hatte jchnell die Pallifaden bejegt und beant- 
wortete den mißglüdten Brandverſuch mit Hohngefchrei. Später nad) der Ein- 


*) Diefe Leute find faft alle wunderbare Speerwerfer, Ein Wettwerfen, das ich zwiſchen 
ihnen und PBantu-Negern meiner Erpebttion abhalten ter, zeigte deutlich, wieviel höher bie 


Somali aud) ın diefer Kunſt jrehen als jene. 


ABB Hermann von Wißmann, Meine Kämpfe in Oſtafrika. 


nahme de3 Dorfes fahen wir, daß der Feind uffenbar von dem ganzen Borhaben 
Kenntnis gehabt haben mußte. Ueberall zeigten fi Waſſerkübel aufgeftellt, und 
der größte Teil der noch unter Dach geweſenen Hütten fchien gleich nad Ein- 
bruch der Dunkelheit abgededt worden zu fein. Beſchämt, wie das NRaubtier 
nad) verfehltem Sprunge auf fein Opfer, zog ſich meine Truppe in das Lager 
zurüd. — Ich ließ nun die Befagung Tag und Nacht beunruhigen. Mit Ablöfung 
lag ftet3 ein Europäer mit dem Gewehr fertig, um auf alles, was fich im Dorfe 
zeigte, zu feuern. Während früher einzelne Leute des Tyeindes fich im Innern 
bliden ließen, um uns Spottworte zuzurufen, lag nun das Dorf wie verlafjen. 

Ich mußte in erfter Linie die Verbindung de Dorfes mit der Außenwelt 
abichneiden. In der Nacht ließ ich, nur 150 Schritt vom Dorfe, diht am Rande 
des Waldes, einen Schütenftand für fünfzehn Mann ausheben, um am nächſten 
Tage, denn bei Nacht war diefe Arbeit unausführbar, von da aus durch den Sumpf 
einen Damm zu legen, deſſen entgegengefegtes Ende am Rande des Waldes ebenfalls 
befeftigt werden follte. Vom Damm aus beabfichtigte ich, möglichft während der 
Dunkelheit und zulett hinter beiveglihen Dedungen fo dicht als thunlich an das 
Dorf heran und zulegt in das Dorf felbft zu gelangen. An dem erwähnten 
Shütenftand lag ftet3 ein Europäer fehußbereit, jo daß auf diefe nahe Ent- 
fernung auf das Eleinfte Ziel gejchoffen werden Eonnte. Zweimal ſchien es, daß 
Leute des Feindes, die auf Leute meiner Truppe gefhoffen und fid dabei gezeigt 
hatten, getroffen worden waren. 

Das Benehmen unfere3 Gegners änderte fi) von jetzt an in auffallender 
Weiſe. Höhnifche Anrufe, ja Spottlieder, die bisher ein Zeichen feines Gelbft: 
vertraueng gewejen waren, verftummten ganz. 

Am nächſten Morgen begann die Arbeit im Sumpfwald. Nur ein Schuß 
war von dem bereit liegenden Offizier gefallen, und fofort waren Klagerufe und 
große Unruhe im Dorfe vernehmbar. Als eben wieder mit der Arbeit begonnen 
worden war, fanı die Beſatzung meines Beobadhtungspoftens von der Höhe 
hinter meinem Lager in fliegendem Lauf herabgerannt und rief uns fchon von 
weiten zu, das Dorf würde vom Feinde verlaffen. Man habe fchon jenjeits 
des Waldftreifens Krieger in voller Flucht gefehen. 

Ach ließ nun fofort zum Angriff blafen, und in Trupps, wie gerade die 
Leute zufammen zu raffen waren, liefen wir an das Dorf heran, halfen uns 
gegenfeitig Über den Graben und über die Ballifaden und fanden in der That 
das Dorf verlaffen. Eilig fandte ich Trupps von Merere-Leuten, von je fünf 
Mann meiner Truppe geführt, zur Verfolgung aus, ſowie zur Beobachtung der 
anderen Dörfer. Nad einigen Stunden famen die Batrouillen zurüd; fie hatten 
nur noch den flüchtenden Feind verfolgen können und alle Dörfer verlaffen ge: 
funden. Alle brachten Herden von Groß- und Kleinvieh mit. 

Es beftätigte fich jpäter, daß der am frühen Morgen von meinem Offizier 


Hermann von Wihmann, Meine Kämpfe in Ojitafrika. 589 


erfchofjene Mann der Führer einer Wanderobofchar*), gewejen war, der offen- 
bar den zähen Widerftand geleitet hatte, der mit feinem Tode aufhörte. 

Große Mafjen von Getreide, im Dorfe angebundenes Vieh und aufge- 
ftapeltes Viehfutter zeigten, daß fich die Sunda-Leute auf eine zähe Verteidigung 
gefaßt gemacht hatten. Das Dorf war in einer für Neger bewunderungs— 
würdigen Art befeftigt. Die ftarfen Pallifaden waren tief eingegraben und ge: 
ftüßt. An der Krone derjelben waren fpiße Hölzer und Dornenbündel ange: 
bradt. Der Graben jchloß ſich auf beiden Seiten an Sumpfland an und war, 
da er tiefer ald das Niveau des Sumpfes lag, auf feiner Sohle tief moraftig, 
außerdem aber nod in den letten Tagen überall, wo man hätte Fuß faffen 
fönnen, mit eingegrabenen Dornenbüfchen dicht befetzt. Ueberall ftanden Löſch— 
vorridhtungen bereit und waren Erddedungen aufgeworfen, ja fogar ſolche, bie 
von oben her Dedung boten. Der Bulverraum war ein fefter Keller. Rückwärts 
im Urwald fanden wir hoc in einem Baume eine Kanzel, von der aus man 
unfer Rager einfehen Eonnte. 

Die Beute an Vieh war reihlih. Ich gab ein Drittel der Beute an 
Mereres Sohn und nahın die übrige fpäter mit nad) Langenburg, al3 einen 
guten Anfangs-Viehbeitand für die junge Station. 

Unfer endliher Erfolg wurde durch reiche Fleifch- und Kornverteilungen 
und ftundenlange Kriegstänze der Merere-Leute gefeiert. Dieſe erhigten ſich im 
Tanze jo ehr, daß fie fich zulegt für die Haupthelden des Tages hielten und 
nicht müde wurden, ihre Thaten zu preifen. Mit etwas fpöttifchem Selbitbe- 
wußtfein ſahen ſich meine Soldaten die nadhträglichen Heldenthaten der Tanzenden 
niit an. 

Als fih einen Monat fpäter Sunda unterwarf und um die Flagge bat, wurde 
ihm ausdrüdlich mitgeteilt, daß wir auf weitere ihm in Ausficht geftellte Straf: 
zahlungen verzichteten, weil fi feine Leute fo gut gejchlagen hätten, und daß 
wir hofften, aus fo tüchtigen Feinden verläßliche Freunde werden zu fehen. 
Sunda erhielt fogar einige Gefchenfe, die in Afrika ſtets eine eindringliche 
Sprade reden. 

Sundas Macht, fein Reichtum war befonders in der geographiichen Lage 
feiner Dörfer begründet. Viele Elefantenfadaver wurden alljährlich beim Ab- 
brennen der Schilf-Didungeln des Ritwa-Sumpfes (denn einen See kann man 
diefen kaum nennen) gefunden und lieferten jährlich eine gute Elfenbein-Ausbeute. 
Es ſcheint, daß von den Eingeborenen Frank gejchoffene oder überhaupt 
kranke Elefanten von weit im Umkreis her fich in diefe durchaus unwegſamen 
Schilfwildniſſe zurüdziehen, um dort ungeftört einzugehen. 


*) Wanderobogefellichaften durchziehen als Elefantenjäger Oſtafrika und jtehen im Rufe 
guter Schüßen. 


590 Hermann von Wißmann, Meine Kämpfe in Oſtafrika. 


Infolge der den Eingeborenen durch diefes Gefecht erteilten Lehre und der 
bald darauf folgenden Beitrafung der Sklaven jagenden Wawemba, ſowie durch 
die gut gelegene und ſtark befeftigte Station Langenburg und nicht zum wenigſten 
durd; den den Nyaſſa-See beherrihenden Dampfer war unjer Anfehen im 
Süden Deutih:Oftafrifas in kurzer Zeit derart begründet, daß dem Gouverne- 
ment fortan und bis heute hier keinerlei ernite Schwierigfeiten mehr erwuchſen. 

Leider wurde meinem Wunfche, die Erpedition des damaligen Gouverneurs 
gegen die Wahehe, zur Strafe für die Vernichtung der Zelewskiſchen Erpedition 
vom Nyaſſa aus, mit vielen Tauſenden mir bier zur Berfügung ftehender 
Krieger zu unterftügen, nicht entiprochen. Sind auch Hülfstruppen, wie fie mir 
von den dortigen großen Stämmen in großer Anzahl zu Gebote ftanden, zum 
eigentlich entjcheidenden Angriff nicht viel wert, jo find fie gerade für den Teil 
des Gefechtes, der den Gegner am meiften fchädigt, zur Verfolgung, weit beſſer 
verwendbar als unfere regulären Truppen, und abgejehen von Ddiefem Borteil 
bringt uns die Eingeborenen nichts näher als Waffenbrüderfchaft gegen einen 
gemeinfamen Feind. Die Erfüllung meines Wuniches hätte, davon bin ich über- 
zeugt, nicht allein die Wahehe viel nachhaltiger niedergeworfen, fondern aud) 
mit den drei größten Stämmen der Eingeborenen im Süden des Schußgebietes, 
den Warori, Wakwangwara und Wakonde, ſchneller ein vertrauliches Verhältnis 


angebahnt. 
ng 


Aphorismen. 


Die Menſchheilskultur aus der Ferne gelehen, gleicht einem mädtigen Gebirgsfioch 
mit einzelnen einfam ragenden Baden, Schroffen und Grafen. Einmal il alles das ein 
Bochplateau gewelen, dellen Biveau das der jehigen hödften Spiken war. Pas, was das 
Gerippe des Gebirges ein! umgab, bedechfe und verhüllte, ift weggeſchwemmt — wohin ? 
Als Pünger in die Chäler, oder audı als unfrudtbarer Sand in das Welfmeer. Ber 
leichte Boden und das lockere Geröll find abgerutfcht, wurden unreltbar mr Giefe 
geriflen, während der edle Fels aus dem Urgrund aller Binge emporpuwachſen [cheint 


und die Jahrtauſende üiberdanerf. 
Milbelm von Polen; 


o 


Ad fah neulich einen gefällten Eichbaum auf einer Kichfung im Walde liegen. Ich 
betrachtele mir die Schnitifläche, um zu taxieren, wie alf der Riefe wohl gewelen fein 
könne Pa ergriff mid; wirkliche Bewunderung für die freue Arbeit, die der Baum im 
Laufe der Jahrhumderfe geleitet halle. In aller Stille, Jahr um Jahr, einen Ring nadı 
dem anderen angeleht! Bun er gefchlagen dalag erlt offenbarte er fein Geheimnis, mie 
er hatte fo groß und Aol; und alles überragend werden können. 

So follte der Menſch, der Rünftler, ſich ſelbſt aufbauen! Alle guten Eigenfchaften, 
alles Talent, muß lo im Rerborgenen pllangenhaft fill und zäh am Werke fein, um Früchte 


zu reifigen. 
mWilbelm von Polen; 


KOLILILILILILILILILILILILILILILOLILILITILILILITILILI 92 


Die auswärtige Politik im Jahre 1901. 


Von 
Theodor Schiemann. 


we" dieje Zeilen dem Leſer vor Augen treten, liegt das erfte Jahr des neuen Jahr: 
hunderts ald Vergangenheit hinter und. Wir bliden zurüf und fragen wohl, was 
es uns gebracht hat, welche Wünſche und Hoffnungen es erfüllt, welche anderen es ſich 
verjagt hat, welche Aufgaben es uns für die Zukunft feßt, die verhüllt vor uns liegt? 
Wie weit endlid; wir vorbereitet find, fie zu löſen? 

Es ift nicht gar fo lange her, daß der politische Gedankenkreis, in dem wir uns 
heute zu beivegen gewohnt find, als ein Neues, faſt Verpöntes, nur das Achjelzuden 
„beionnener“ Männer hervorrief. Wer wollte von Weltpolitif für Deutichland hören” 
Die Aera des Minifteriumsd Caprivi bewegte fich in politiichen Anſchauungen, wie fie 
etwa das Minifterium Gladftone zu Anfang der 70er Jahre für England vertrat. Die 
Kolonieen galten ihm als ein Uebel, da8 man hinnehmen mußte, weil es eben da war, 
von dem fich vielleicht die Hand langſam zurücdziehen ließ, das man aber zu eriveitern 
keineswegs gefonnen war. Für Deutichland fam hinzu, daß alle Ueberlieferungen unjerer 
Bergangenheit vor allem auf Behauptung unferer Stellung als eriter Militärmacht des 
Kontinents hinzuweiſen fchienen. Zugleich zu Yande und zur See eine Rolle fpielen zu 
wollen, erjchien faft wie ein SFrevel. Wer durfte der Nation, die ohnehin durch ihre 
ſchwere Sriegsrüftung genug belajtet war, zumuten, noch weitere Opfer über ihre Kräfte 
hinaus zu bringen? 

Es gehörte außerordentliher Mut dazu, dem gegenüber das fühne Wort zu finden 
und auszusprechen: unfere Zufunft liegt auf dem Meere! 

Aber noch das alte Kahrhundert brach den Bann. Danf der Initiative des Kaiſers 
und dank dem richtigen politifchen Inſtinkt des deutichen Volkes thaten wir in raſcher 
Folge die entjcheidenden Schritte. Die deutſche Kriegsflotte als ein Drgan der 
wachſenden Volkskraft wurde Wirklichkeit, und heute dürfen wir mit aller Zuverſicht 
jagen, fie bleibt Wirklichkeit, denn es giebt feine politiſche Kombination, die ung ver: 
anlaffen könnte, auf dem eingejchlagenen Wege ftehen zu bleiben. 

Stillftand ift Rüdjchritt, und der Maßſtab des VBorwärtsichreitens, der dadurch 
geboten wird, bedingt fid; aus der Kombination unjerer Yeiltungsfähigfeit mit dem Ber: 
hältnis, in welchem wir uns zu den Leiftungen der anderen jeßen. 

Wir find, darüber kann kein Zweifel fein, in ein neues Stadium unjerer natio— 
nalen Entwicklung getreten, das zunächſt noch den Charakter einer Vorbereitung trägt, 
und eben deshalb uns nötigt, jehr genau in jedem einzelnen Fall mit uns zu Rate zu 
gehen, wenn Zeitumftände oder eine jener leidenjchaftlichen Empfindungen, wie fie die 
Volksſeele oft ergreifen, zu fühnem Wagnis drängen. Erft mägen, dann wagen! ift in 


592 Theodor Schtemann, Die auswärtige Politit im Jahre 1901. 


Perioden des Ueberganges eine bejonders ernite Pflicht, und, wenn wir recht fehen, it 
hierin der Schlüffel zu der Politik zu finden, die wir im Jahre des Herrn 1901 ver- 
folgt haben. 

Zwei große politische Fragen haben im Laufe des Jahres die ganze Welt in 
Spannung gehalten. Der Konflikt in Oftafien und die Tragödie in Sübdafrifa. 

In beiden Fällen ift die Politif unferer Regierung nicht die geweſen, die den 
Winfchen der meiften entjprad. Die Erpedition nad) China war zunächſt höchſt un- 
populär, und wenn das heute, nach dem ehrenvollen Ausgange des Krieges, fo gut wie 
vergeffen ift, jehen wir darin nur einen Beweis mehr für die alte Wahrheit, daß nichts 
uns leichter aus dem Bewußtjein ſchwindet ald der Wechſel der Stimmungen, der id 
in uns felber vollzieht. 

Wir dürfen aber jekt ohne jeden Rückhalt jagen, dab, wenn Mikgriffe in der 
äußeren Inſzenierung der chineſiſchen Erpedition ftattgefunden haben, ihre Notwendigkeit 
doch nicht mehr beftritten werden fann und die Rolle, die uns dabei zugefallen iſt, in 
jeder Hinfiht als eine ehrenvolle bezeichnet werden muß. Wir haben auf deutichen 
Schiffen, ohne jeden Unfall, ein Heer von Freiwilligen übers Meer geſchickt und, von 
Erfolg zu Erfolg jchreitend, ſiegreich das vorher geſteckte Ziel erreichen jehen. Wir haben 
unter der bewunderungswürdigen Leitung des General-Feldmarſchalls Grafen Balderjee 
militärijch die Führung einer Koalition behauptet, wie fie fo vielföpfig noch niemals an 
einem Werk zufammen gewirkt hat, und troß der nationalen Rivalitäten und Intereſſen— 
gegenjäge die Eintracht zwiſchen all diefen englifchen, ruffiichen, frangzöfifchen, amerifa- 
nischen u. ſ. w. Kontingenten aufrecht erhalten. Als infolge der Streitigkeiten über die 
Beſetzung der Eifenbahn von Tientfin Engländer und Ruſſen einander fo erregt gegen- 
über jtanden, daß ein Konflıft fajt unvermeidlich ſchien, hat deutiche VBermittelung den 
Ausgleich gefunden, mit dem fich beide Teile zufrieden gaben, und Deutſchland ift es 
gewejen, das im März durch jein Mangtje-Abfommen mit England die handelspolitiiche 
Erſchließung Chinas, jo wie fie heute zu recht befteht, erjt möglich gemacht hat. Und 
doc) hatte England ziemlich genau zwei Jahre vorher das Thal des Yangtjefiang für fein 
ausichliegliches Handelsgebiet erklärt (April 1899). 

Wir find aus dem dinefischen Konflikt wejentlich geftärkt hervorgegangen, im Orient 
angejehener, in Kiautſchou weiter gefeftigt und doch jo geitellt, daß wir bei fünftigen Kon— 
fliften nicht genötigt werden können, einzugreifen, two nicht direkt deutſche Intereſſen ge 
ichädigt find. Das Wejentlihe aber bleibt, daß wir die erfte Probe auf die Leiſtungs— 
fähigkeit unſerer improvijierten Transportflotte und unferer impropifierten Kolonialarmee 
gemadt haben. Unjere Kriegsmarine aber hat unter höchſt jchwierigen Verhältniſſen 
gezeigt, daß fie an Kraft der nitiative, an zähem Mut und kühler Geiftesgegenmwart 
ebenbürtig der Armee zur Seite fteht. Endlich joll auch nicht vergeffen werden, daß die 
Abſetzung des defignierten chinefischen Thronfolgers Pu-Tſchun einen Bruch des offiziellen 
China mit der fogenannten Borerbemegung bedeutet. Pu-Tichun ift der Sohn jenes 
Prinzen Tuan, der als der eigentliche Urheber der Frevel zu betradjten ift, die das 
Einjchreiten der Mächte zur unerläßlichen Notwendigkeit machten. 

Das alles hat denn aud) eine Wandlung in der öffentlichen Meinung Deutjchlands 
zur Folge gehabt, vor der die Verleumdungen der fogenannten Hunnenbriefe madtlos 


Theodor Schiemann, Die auswärtige Politif im Jahre 1901. 593 


abgeprallt find. Die verhegenden Führer unferer Sozialdemokratie mußten ihr Rückzugs— 
gefecht antreten, um die moralifche Niederlage zu deden, die fie erlitten haben. 

Es ift nicht zu hoffen, daß unfere öffentliche Meinung gleich raſch ihr Urteil über 
die Politik der deutfchen Regierung in der jüdafrifaniichen Frage ändert. Wir wundern 
uns darüber nicht und fünnen es nicht einmal beflagen, obgleich wir der Meinung find, 
daß eine andere Politik in diefem außerordentlich ſchwierigen Problem nicht möglich war. 
Eine Regierung muß auch Unpopularität und Tadel ertragen können, wo fie ſich bewußt 
ift, im Intereſſe des Reiches gehandelt zu haben, für deffen Politik fie die Verantwortung 
auf ihren Schultern trägt. 

Uber das Mitgefühl für die Buren hat unjer Volk bis in feine Tiefen erregt. Das 
nod) lebendige Bemwußtjein der Blutsverwandtſchaft, die VBorftellung, daß hier ein bitteres 
Unredjt gewaltfam durchgeführt wird, die natürliche Neigung, dem Schwächeren beizu- 
Ipringen, endlich das rein menſchliche Mitempfinden mit all den Unglüdlichen, die in den 
Konzentrationslagern Südafrikas oder in den Imfelgefängniffen Englands, auf St. Helena, 
den Bermudas, Ceylon, fich in Sehnſucht nad) den Ihrigen verzehren, die Greuel einer 
Kriegführung, die immer mehr den Charakter rahedürjtigen Raffentampfes annimmt. das 
alles hat eine Stimmung großgezogen, die das Mitgefühl fat bis zu phyfiichem Mit- 
empfinden gefteigert hat. Wir alle wollten helfen, und das eiskalte „Nein“, das unjere 
Regierung den leidenſchaftlichen Wünſchen nad) einer Intervention zu Gunften der Buren 
entgegenjegte, rief erbitterten Widerfprudh und rüdjichtslofe Kritik hervor. 

Nun zeigt jede Prüfung der Frage, daß die beiden Wege, die ſich für eine inter: 
bention zu bieten fchienen, verlegt waren. Ein moralijher Druck hätte fih ausüben 
fafjen, wenn ein Zujammenwirfen der großen Mächte zu diefem Zwecke erreicht wurde. 
Aber Rufland, das durch jeine bejondere Lage am eheften die Führung hätte übernehmen 
fünnen, hatte ſich im voraus verpflichtet, keinerlei Schritte zu thun, Frankreich folgte 
wie immer der in Petersburg gegebenen Parole, die Vereinigten Staaten von Nord— 
amerifa, deren moralijche Autorität in England aus naheliegenden Gründen das meifte 
Gewicht hat, lehnte beharrlich alle Verſuche ab, die nad) diefer Richtung gemacht wurden, 
und von den Mächten des Dreibundes waren Oeſterreich-Ungarn und Stalien nicht in 
der Lage, mit Nachdrucd über eine Frage zu reden, die völlig außerhalb des Kreiſes ihrer 
Antereffen lag, und die nicht annähernd in gleicher Weife die öffentliche Meinung diejer 
Reiche erregt hatte. Wenn Deutſchland troßdem fid; zum Wortführer unjerer Em— 
pfindungen England gegenüber gemacht hätte, zog es fich mit Sicherheit eine hochfahrende 
Abweiſung zu, die entweder einzuftreichen oder damit zu beantworten war, daß Deutich- 
land jenen anderen Weg einichlug, aus feiner neutralen Stellung hinaustrat und den 
Burenfrieg als eigene Sache auf die Schultern der deutſchen Nation ablud. 

Wir glauben nun, aus Gründen, die im Detail darzulegen überflüffig find, daß ein 
folder Schritt nichts Anderes gewejen wäre als eine zwar großmütige, aber höchſt ver- 
derbliche Thorheit, deren Ergebnis ein Weltkrieg fein mußte, deſſen Ausgang zweifelhaft 
erjcheint, defjen Rückwirkung auf unjere foloniale Stellung aber unter allen Umftänden 
höchſt verderblicd; werden und uns in unferer nationalen Entwidlung um Generationen 
zurüctwerfen konnte. Ein Volk darf feine Eriftenzg nur da einjegen, wo jeine eigenen 
Lebensbedingungen in Frage geftellt werden, und Deutſchland hatte in diefer Kriſis vor 


594 Theodor Schiemann, Die ausmärtige Politif im Jahre 1901. 


allem die Bilicht, dafür Sorge zu tragen, daß es die Spanne Zeit, weldye diefe Bindung 
Englands ihm bot, ausnußte, um tweiterzuarbeiten in jener borbereitenden Thätigfeit, 
die beftimmt ift, für die Zufunft uns eine Stellung zu fidyern, in welcher es leichter 
möglich fein wird, berechtigte Empfindungen der Nation in Einflang zu jegen mit den 
Notwendigkeiten der großen Politik. 

Wie ſehr eine befonnene Erwägung des Möglicden geboten war, haben die kom— 
binierten Angriffe gezeigt, welche von englischen, franzöfiichen, ruſſiſchen, ungarijchen und 
tſchechiſchen Publiziften durch das ganze Hinter uns liegende Jahr hindurch in Büchern 
und Kournalartifeln gegen uns gerichtet waren und nichts Minderes bezwedten, als einen 
Weltbund gegen das Deutiche Reich zu Schmieden, um es zurückzuwerfen auf die Etuje, 
die wir vor 1866 einnahnten. Die in ihren Bielen noch weiter zurüdgreifende polnische 
Ngitation hat diefen Chor durch ihre geräufchvollen und vom giftigften Deutſchenhaß 
getragenen Stundgebungen noch verjtärft. Auch heute find diefe Anſchläge nicht ad acta 
gelegt, und wenn fie nicht Wirflichfeit geworden find, lag das an den politiichen Berhält— 
niffen des Augenblid8, die mehr oder minder auch die Politif der anderen Mächte banden, 
nicht an dem böjen Willen, dem Neid und der Eiferjucht, mit denen wir als mit einer 
wirfjamen Realität zu rechnen haben. 

Deutichland hat in dieſer latenten Kriſis jeine politischen Beziehungen zu allen 
Mächten in offizieller Freundihaft mit Freftigfeit behauptet. Zu Rukland hat die 
Danziger Zuſammenkunft eine immer erwünſchte Erneuerung der perſönlichen Be 
ziehungen zwifchen beiden Monarchen zur Folge gehabt. Der wirtſchaftliche Kampf, 
der nebenher geht, ift nur ein Zeil der jchwierigen Neuregelung, die nadı allen 
Richtungen Hin ſich eben jegt vorbereitet und einen Ausgleich zwiſchen den bereditigten 
ntereffen der überall dem eigenen Borteil nachgehenden Völker anitrebt. Je Elarer 
dabei die Grenzen gezogen werden, um jo befjer werden alle mitwirfenden Faktoren dabei 
gedeihen. In betrefi Rußlands, das als größter Nadjbarftaat für uns von hervor: 
ragenditer Bedeutung ift, gilt diefer Sap ganz bejonderd. Die Formel, nad) welcher der 
Ausgleich zu finden ift, mag nod) jo jehr umjtritten werden, es ift eine Notwendigkeit, 
dab fie gefunden wird, und fie wird deshalb auch gefunden werden. Rußland hat im 
verfloffenen Jahr fein ungeheures Gebiet durch die faftiiche Annektion der Mandjchurei 
noch weiter vergrößert, feine Stellung am Stillen Ozean militäriich und politijch gejtärkt 
und fo unzweifelhaft aus den chinefifchen Wirren den größten Vorteil gezogen. Ihm zumal ift 
aud die Bindung der engliihen Macht durd) den jüdafrifanischen Krieg zu gute gekommen. 
An Perſien dominiert fein Einfluß, der Tod des Emird von Aighaniftan hat auf dem 
Boden diejes Pufferftaates die Lage zum Vorteil Rußlands geändert, Tibet wird immer 
mehr in die ruffiiche Einflußiphäre hineingezogen; in Turfeftan fteht ein allezeit marich- 
bereites Heer und auf der Balfanhalbinel find heute Serbien, Bulgarien und Monte: 
negro und mit gewilfen Vorbehalten auch Griechenland näher an Rußland herangerüdt. 
Es Liegt thatfächlich jo, daß ein Signal Rußlands die orientalische Frage jofort wieder 
lebendig machen fönnte. 

Daß Rußland heute eine ſolche Politif nicht verfolgt, hat es durch feine maßvolle 
Haltung in dem jüngſten türkifch-frangöfiichen Konflikt gezeigt. Die franzöſiſche Erpedition 
nach Lesbos, die türkischen Zugeftändniffe, der raſche Abichluß der ganzen Angelegen— 


Theodor Schiemann, Die auswärtige Politik Im Jahre 1901. 595 


heit, die jegt durch die Audienz des franzöſiſchen Botjchafters Conftans beim Sultan 
endgültig erledigt ift, das alles ift gleihfam unter ruffiiher Stontrole geichehen. 
Nur in einem Punkte hat die frangöfifche PVolitif die von Rußland beliebten Grenzen 
überfchritten, indem fie nämlih für die fatholijch-frangöfiihen Schulen und Miffionen 
weſentliche Vorteile ausbedang, und das ift in Petersburg fehr unangenehm empfunden 
worden. Die Wahricheinlichfeit fpricht jedoch dafür, daß Frankreich mit Rüdfiht auf 
die nation amie et allice einen jehr mäßigen Gebrauch von feinen neuerivorbenen 
Vorrechten machen wird. Es ift mehr eine Maßregel zur Stärkung des Minifteriums, 
das einen Erfolg braudite, um fi) zu behaupten, als ein ernft gemeinter politifcher 
Schadzug gegen die ruffiichgriehifhe Kirche im Drient. Aber in Zukunft einmal, 
wenn neue politifche Kombinationen aufgefommen find, kann dieſe Beſtimmung aller: 
dings von höchſter Wichtigfeit werden. 

Frankreich ift, abgefehen von diefem coup de theätre, nur an einer Stelle aftiv 
vorgegangen. Es hat, unter Benutzung der engliijhen Schwierigkeiten, feine Grenzen 
gegen Marokko weſentlich ausgedehnt und fteht im Begriff, eine jener periodifch 
wiederkehrenden Grenzregulierungen zu vereinbaren, die erfahrungsmäßig ſehr bald 
den Anlaß bieten, neue Forderungen geltend zu machen. Die maroffaniiche Frage 
fommt aber nicht zur Ruhe und muß in Zukunft einmal eine ähnliche: Bedeutung 
gewinnen, wie fie fich die orientalifche durch den Lauf der Jahrhunderte bewahrt hat. 
Die eigentlihe Sorge Frankreichs aber war während des letzten Jahres die Wendung, 
die fi) in den inneren Angelegenheiten zu vollziehen beginnt. Das Minifterium Waldeck— 
Rouffeau » Delcafje » Millerand hat fich gegen alle Wahrfcheinlichfeit behauptet, obgleich 
die Zahl jeiner Gegner täglich wächſt. Die Sogialiften beginnen fi der Führung 
Millerands immer mehr zu entziehen, und nicht ihm gebührt das Verdienft, daß 
der geplante Mafjenausftand der Grubenarbeiter nicht erfolgt ift. Der franzöfifche 
Sozialismus in all feinen zu Kommunismus und Anardhismus hinüberleitenden 
Schattierungen hat aber während des Regiments der Waldeck-Rouſſeau und Genojjen 
ftetig an Macht und Begehrlichkeit zugenommen, ganz wie auch die unter dem Namen 
Nationaliften zufammengefaßten Gegner des Minifteriums ftärfer geworden find. Daß 
e8 ſich trotzdem behauptet hat, Liegt an der Unmöglichkeit, beide Gruppen zu alliieren, und 
an der Furt vor den Erichütterungen, die das Greifen ins Unbekannte immer nad) ſich 
ziehen kann. In fich folgerichtig ift eigentlich nur die auswärtige Politif Frankreichs 
gemwejen, fo meit fie mit der zähen Politit Rußlands verbunden ift, aber an einzelnen 
Mißgriffen und Inkonſequenzen, wie fie der Mangel an Disziplin herbeiführte, hat es 
auch auf diejem Felde nicht gefehlt. Das Merkwürdigite ift wohl, daß es fo völlig un— 
möglich ift, fich eine klare Borftellung von den durch die Armee gehenden Strömungen 
zu machen. Einer einheitlichen Gefinnung ftehen wir jedenfall® nicht gegenüber, und es 
erjcheint nicht undenkbar, daß einmal auch von diejer Seite her Ueberraſchungen fommen. 

England verlor zu Anfang des Jahres jeine greile Königin, und es ift nod in 
frifcher Erinnerung, wie Kaifer Wilhelm zur Beitattung nad) London fuhr, und melde 
wechjelnden Stimmungen fi hüben und drüben an diefen Bejucd geknüpft haben. Es 
liegt in dem Weſen der englifchen Berfaffung, daß mit dem Thronwechſel ein Wechiel 
der Politik nicht verbunden war. Der neue König muß die Wege der regierenden 

38* 


596 Theodor Schtemann, Die auswärtige Politik im Jahre 1901. 


Bartei gehen, und jo kam es, dat feinerlei Wandlung in der inneren oder in der äußeren 
Politik die beginnende Aera König Eduards VII. bezeichnet hat. 

Bon mwejentliher Bedeutung war die noch zu Lebzeiten der alten Königin erfolgte 
Konftituierung des common wealth von Auftralien. Die autonomen Kolonieen 
Auftraliend haben fich zu- einer gemeinjamen Bertretung in einem Parlament mit einem 
gemeinfamen Minifterpräfidenten zufammengethban. In Anweſenheit des künftigen 
Herrſchers des Greater Britain hat die feierliche Smaugurierung diefer auftralifchen 
„Republik“ — denn das heißt common wealth — mit dem überfeeijchen Könige als 
Oberhaupt ſich vollzogen: ein politifches Rätjel für die Zukunft, deſſen Schlüffel gefunden 
zu haben wir uns nicht vermeifen. In England veripridt man fi von der konzen— 
trierten Macht Australiens eine weitere Stärfung des imperialiftifchen Gedanfens, wie 
er im Haupte Chamberlains fi) zu einem Traum von Macht und Reihtum und alles 
beherrichendem Einfluß geftaltet hat. Ein Widerfprud ift dagegen ebenjo wenig an- 
gebradjt wie etwa die Behauptung, daß alle jene Herrlichkeiten nun wirklich in die Er- 
icheinung getreten find, und die goldenen Tage der angelſächſiſchen Raſſe auffteigen. 
Wenn Belfimiften und Optimiften mit einander ftreiten, geht die hiſtoriſche Entwicelung 
ihre bejonderen Wege, und nur zu häufig führt fie zu einem Ausgang, den niemand er- 
wartet hat. - Die Entwidelung des engliichen Ktolonialfyftems trägt aber unverkennbar 
die Keime zu einer centrifugalen Tendenz in fich, die bisher freilich nur in den Vereinigten 
Staaten von Nordamerifa ihre legten Konjequenzen gezogen hat, deren Anzeichen wir 
aber ebenfo jehr in Nuftralien, wie im Dominion of Canada, und wie in Südafrika 
deutlich zu erkennen meinen. 

Was nun die große Republik zwiſchen den beiden Dceanen und dem Merikanijchen 
Golf betrifft, jo hat fie die beijpielloje Gunft ihrer Lage gerade im Verlauf des letzten 
Jahres mit all der Rüdfichtslofigkeit geltend gemacht, die zu einer faft ſprichwörtlichen 
Eigentüntlichfeit der Wanfee-PBolitit geworden ift. Das Auftreten Amerifas auf den 
Bhilippinen, die bejondere Rolle, die es mährend des chinefiihen Konflikts jpielte, die 
Bereinigung der MilliardentruftsS zur wirtfchaftlichen Beherrfhung der Welt, die Un- 
befangenheit, mit der der Kongreß in Wafhington ſich iiber Verträge hinmwegzujegen pflegt, 
und die Naivität, mit der die jog. Monroe-Doktrin gleichjam zu einem oberiten Grund: 
jag der Weltpolitif erhoben worden ift, alle dieje Ericheinungen haben mit Recht in der 
nichtamerifanischen Welt Beunruhigung und Befremden hervorgerufen. Der durch Ver: 
brederhand gefallene Präfident Mac Kinley galt für den Hauptvertreter diefer Richtung, 
und nod) unter feiner Megide ift der panamerifaniiche Kongreß in Mexiko zufammen- 
getreten; was der neue Präfident Roofevelt an bejonderen, aus jeiner fraftvollen und 
lauteren Perjönlichkeit entipringenden Elementen hinzubringen wird, läßt ſich noch nicht 
abjehen. Seine Botichaft rechnet offenbar mit den Machtfaktoren der Nepublif und bat 
die Schlagworte, die jeder Amerikaner zu hören verlangt, in ftattlicher Folge vorgebradt. 
Daraus auf die Praris der Politit zu fchließen, die er vertreten wird, erfcheint uns 
verfrüht. Grundfäte, namentlidy aber politifche, treten niemals jo in die Erjcheinung, 
wie fie fi theoretifch formulieren. Die Wirklichkeit fordert ihr Necht, und die Wirk: 
lichkeit der politischen Sintereffen der gejamten Welt jest ſich der Theje entgegen, die 
deutlich erkennbar im Dintergrunde der Botichaft liegt; weder Europa noch Afıen darf 


Theodor Schiemann, Die auswärtige Politit im Jahre 1901 597 


ein großes GErploitationsfeld für amerifaniihe Milliardäre oder zum Verjuhsboden für 
die Erperimente des rüdjihtslojen Egoismus der Trufts werden. 

Ueber die Bolitif der anderen Mächte fünnen wir rajcher hinweggehen. Sie ift, 
abgejehen von den ſchon erwähnten gemeinfamen Aktionen, überall durch die Bedürfniffe 
beftimmt worden, melde das Leben im engeren Streije der eigenen Grenzpfähle brachte. 
Das Jahr 1901 ift überall ein ſchweres und forgenvolles Kahr geweien. In Rußland 
Mikernte und Hunger, Studentenfrawalle und anarchiftiiche Attentate. Die durd den 
Nachfolger Bogolepows, des ermordeten Minifterd der Volksaufklärung, den alten 
General Wannowski, verfuchte Reform des Erziehungs- und Unterrichtsweſens in Schule 
und Univerfität jcheint die erwünſchten Früchte nicht tragen zu wollen. Als höchſt be- 
denkliche Ericheinung ift da8 Zuſammenwirken der Arbeiter mit den Studenten hinzu: 
gekommen, es gährt überall, und die autoritative Nichtung, welche die Regierung zu 
behaupten bemüht ift, ftößt auf den zwar verhaltenen, aber um fo leidenjchaftlicheren 
Widerſpruch der liberalen Intelligenz. Auch der nationale Chaupinismus beginnt fich 
wieder ſehr fühlbar zu regen. Finland Fällt ihm zum Opfer, ganz wie früher die drei 
baltiſchen Provinzen, gewiß nicht zum Heile des Neichs, ihm geopfert worden find. Was 
wird geichehen, wenn es nichts mehr zu verderben und zu vernichten giebt? 

In Oeſterreich-Ungarn verichlingen fic) die vergifteten nationalen Gegenſätze, ohne 
dak bis zur Stunde eine Ausficht auf eine Wendung zum Beſſeren ſich erkennen ließe. 
alien, unjer zweiter VBerbündeter, hat nad) den ſchweren Reinigungsarbeiten im Süden 
unter dem Minifterium Zanardelli-Giolitti-Prinetti eine jehr erfreuliche Wendung zur 
Geſundung feines Staatshaushalt3 gemadht; in Spanien hat am 11. Juni König 
Alfons XIH. nad) erreihter Mündigfeit feine erften Cortez ſelbſt eröffnen fünnen. Gewiß 
zu hoher Genugthuung feiner vortrefflichen Mutter, die ihn in forgenreihen Jahren 
erzogen und für feinen fchweren Beruf herangebildet hat. Aber noch fteht Spanien in den 
alten Kämpfen zwiſchen Klerikalen, Radikalen, Sogialijten, und es wird viel Entichloffen- 
heit, Zähigfeit und Weisheit dazu gehören, die Nation allmählich in die Bahnen einer 
gejunderen Entwidelung zurüdzuführen. 

Die Bermählung der jugendfhönen Königin Wilhelmina von Holland mit dem 
Prinzen Deinrih von Medlenburg ift in Deutichland mit teilnehmender Freude begrüßt 
worden. Das holländische Volk, das, wie begreiflich ift, noch mehr als unjer Bolf von 
dem jüdafrifaniichen Kriege erregt ift, wird hoffentlich in der Gemeinſamkeit der nationalen 
Empfindungen und in der neubegründeten dynaftiichen Verbindung Deilung finden von 
dem thörichten Miktrauen, das es bisher dem Deutjchen Reiche entgegentrug. Wir 
wünſchen eine wirtichaftlihe und politifche Verftändigung mit Holland, wie fie beiden 
Teilen niüglich fein muß, wiffen aber genau, daß fie nur aus holländiicher Initiative 
hervorgehen Fann, und haben Geduld und alle Möglichkeit zu warten. 

Die Kriftlihen Staaten der Balfanhalbinfel beginnen allmählich fi; von dem 
politiihen SFieber zu erholen, an dem fie alle litten. Das mafedoniiche Komitee in Sofia 
ift glücklich geiprengt; nad) dem Tode König Milans und nad) der Vermählung des 
Königs Alerander mit Frau Draga und nad den damit verbundenen fonderbaren Irrungen 
ift e8 auch in Serbien ftill geworden. Griechenland ift politifch näher an Rumänien heran: 
gerückt und hat zugleich jein Berhältnis zur Türkei wefentlich gebeffert. Der alte 


598 Theodor Schtemann, Die ausmärtige Politik im Jahre 1901. 


Wunſch der griehiichen Nation, Kreta mit dem Mutterlande vereinigt zu jehen, iſt troß 
mehrfadher Bemühungen nicht erfüllt worden, wohl aber ijt das Proviforium, das die 
Stellung des Prinzen Georg ald Gouverneur der Inſel bedeutet, auch für die nächiten 
drei Jahre gefihert. Damit haben die Griechen fich zufrieden zu geben, da ohne große 
Erihütterungen, die wahrjcheinlih in Makedonien anheben würden, eine Wandlung nicht 
eintreten kann. Alle großen Mächte find aber darin einig, gerade das zu verhindern. 
Bon den türfifchen Provinzen der Halbinjel macht das unruhige Albanien am meiften 
Not. Seine Grenzftreitigfeiten mit Montenegro, das immer mehr eine Entwidelung 
nimmt, die in ihm das fünftige Savoyen des Balkan vorahnen läßt, die halbe Unab— 
hängigfeit, die der Stamm der Albanejen behauptet, die politiichen Kombinationen, die ſich 
an jeine italienischen Beziehungen fnüpfen, geben diefer Landſchaft einen bejonders un- 
ruhigen Charakter. Es ift das am menigften europäifche Gebiet der Halbinfel, zugleich 
aber das friegerifchfte und dasjenige, daS am treueften zur hohen Pforte fteht. 

Bosnien und die Herzegowina leben fich immer mehr in die öfterreichiiche Ober: 
herrlichfeit ein, danf der energiihen und klugen Verwaltung des Barons Kalay. Es 
kann wohl für fiher gelten, daß diefe Provinzen für immer öſterreichiſch bleiben. 

In der islamijchen Welt, die im Sultan ihr Haupt verehrt, hat es fih im Laufe 
des verflofjenen Jahres vielfad) geregt. Die engliſch-ruſſiſche Herrichaftsfonfurrenz hält 
Border: und Mittelafien in Atem, während gleichzeitig auf afrifaniih:mohammedanijchem 
Boden England und Frankreich einander als Rivalen gegenüberitehen. An der wirt: 
Ihaftlihen Erichliegung Vorderafiens hat aud) Deutichland fich zu beteiligen begonnen, 
aber mit dem linterfdjiede, dat es gleichzeitig bemüht ift, auf diefem Boden die Autorität 
des Sultans aufrecht zu erhalten. Es hat fich daraus für uns eine feite Grundlage 
quter Beziehungen zur Pforte entwicelt, deren Dauer wir lebhaft wünſchen. Die Duelle 
aller Uebel in der Türkei ift nad) wie vor die jchlechte Finangwirtihaft und die lin: 
zuverläffigfeit gerade der höchſten Finanzbeamten; beides die Urſache fteter Verlegen- 
heiten, die jelbft durch die jehr hervorragende diplomatische Begabung des Zultans nur 
jchwer ausgeglichen werden können. Somohl der Roftftreit, als die ſchon ermähnte 
franzöſiſch-türkiſche Vermidelung haben diefen Urſprung gehabt. Weit bedenkflicher it es 
aber, daß durd) den gejamten Islam, von Marokko über die Oaſen der Sahara nad) 
Eghnpten und darüber hinaus bis in den Bundichab und bis China hinein, eine religiöfe 
Bärung geht, die als panislamitifche Bewegung ohne Zmeifel eine Gefahr daritellt. 
Der Islam kennt feine nationalen Ehranfen, darin liegt die Möglichkeit, daß er ſich 
plöglicd; zu einem Ganzen zujammenballt und allen denen die höchſten Verlegenheiten 
bereitet, die für fi die Vormundſchaft über diefe Völfer und Stämme beanipruden. 

Doch aud) das ift ein Problem der Zukunft, und uns liegt fern, den Propheten 
zu jpielen. Vielleicht giebt das Nahr 1902 ſchon die Antwort auf dieje Frage wie auf 
andere, deren Löſung noch ferner zu liegen jcheint, vielleicht gehen Generationen darüber 
hin, ehe diefe Antwort fommt. 

Aber, um mit einem Wort Bismards zu jchliegen, „wie Gott will, es iſt ja alles 
doch nur eine Zeitfvage, Völker und Menſchen, Thorheit und Weisheit, Krieg und Frieden, 
fie kommen und gehen wie Waffermogen, und das Meer bleibt“. 


@ 





SIBIBISIBIBIBIBIBIRLNIRIBIRIRIPIRIPIRIPIPIPIPI 





Monatsichau über innere deutiche Politik. 


Don 


W. v. Mallow. 


IV. Der Fall Spahn. 


[8 „ausichlaggebende* Partei läßt fid) das Zentrum gern bezeichnen, und in der 

That deuten viele Ericheinungen in unſerm öffentlichen Leben darauf hin, daß 
unjere Regierungsfreife mehr als wünſchenswert zu einer gefährlichen Nadjgiebigkeit 
gegen dieſe Bartei geneigt find. Die zahlenmäßige Stärke ihrer Vertretung im Parla- 
ment fann nicht als einzige Erflärung dieſes unerwünſchten VBerhältniffes gelten. Es 
fommt auch eine große Unkenntnis der fatholifchen Kirche in evangelifchen Kreiſen hinzu, 
wo man immer noch zu glauben jcheint, e8 handle ſich bei Beurteilung diejer Frage um 
eine perjönlihe Stellungnahme zu dem katholischen Bekenntnis. Daß eine ſolche 
Stellungnahme auch auf evangeliiher Seite übertwiegend im Geifte der Verſöhnlichkeit 
und Duldung gefchieht, könnte als eine Thatfache, die unſerm deutfchen Volk zur Ehre 
gereicht, mit Stolz und Befriedigung verzeichnet werden, wenn fich nicht hinter diefer 
Verjöhnlichkeit zugleich ein gut Teil Gleichgiltigkeit und nod; mehr lnfenntnis der 
politischen Bedeutung der frage verbergen würde. Jeder verftändige Deutjche muß wünschen, 
daß fih die verichiedenen chriftlichen Bekenntniſſe in unjerer Nation in Frieden und in 
gemeinjamer Piebe zum Baterlande vertragen, und das kann auch geichehen, foweit cin 
folches Berhältnis auf gegenfeitige Achtung der lleberzeugungen in Glaubensfragen 
gegründet ift. Aber es iſt offenbar, daß, wenn die Befenner eines beftimmten Glaubens 
fi; zu einer politiichen Bartei zufammenthun, allermindeitens ſchon eine aufmerkſame 
Prüfung notwendig ift, welche Tragweite dieſe Hineinbeziehung eines Glaubensitandpunfts 
in politifche Beftrebungen haben mul. Dieje Prüfung wird leider von vielen evange— 
liſchen Bürgern des Reichs unterlafjen, und jo fann es kommen, daß häufig ein politisches 
Bufammengehen mit dem Zentrum unter den Gefichtspunft eines Kampfes des Glaubens 
gegen den Unglauben geftellt wird. Damit gejchieht genau das Gegenteil von dem, mas 
geſchehen müßte: aus dem Geift der religiöfen Umduldjamfeit heraus einigt man ſich auf 
politifchem Gebiet gerade da, wo die Geifter im nationalen Intereſſe ich ſcheiden follten, 
während man lieber umgefehrt auf religiöjem Gebiet fid) vertragen, aber in der Politik 
niemand paffteren lafjen follte, der nicht Loſung und FFeldgefchrei giebt. Die Exiſtenz 
einer Partei wie das Zentrum fönnte auch den, der es aus der Geſchichte noch nicht 
weiß, darauf hinlenfen, daß die Fatholifche Kirche nicht nur eine Glaubensgemeinidaft, 
fondern auch eine weltumjpannende politische Organifation ift, die als folche der äußern 
Machtfülle bedarf und Schon um deswillen es garnicht vermeiden fann, zu den Lebens— 
intereffen der einzelnen Nationen vorübergehend oder dauernd in Gegenfaß zu treten. 


600 W. v. Maſſow, Monatsſchau über innere deutfche Politik. 


So entiteht jenes furdtbare Syſtem, das feine Macht über die Gemwifjen zu einer abjo- 
futen Herrihaft über das gejamte Geiftesleben crmweitern, die Glaubenstreue der 
Glieder der Kirche zu Machtzwecken ausbeuten und mit den Schlüffeln des Himmelreichs 
auch die Thüren zu den irdiihen Behaufungen der Völker aufichließen will. Diejen 
Bmeden des Ultramontanismus, der eine der ſchwerſten Gefahren, wenn nicht überhaupt 
die Schwerfte Gefahr für unjer Deutiches Reich bedeutet, muß natürlich jede Organijation 
dienen, die im Namen des Katholizismus politisch thätig ift, aljo auch unjere Zentrumspartei. 

Dennod) würde es nicht richtig fein, die gefamte Anhängerichaft des Zentrums für 
bewuhte VBorfämpfer des Ultramontanismus im ftrengften Wortfinne zu halten. Unter 
den Angehörigen des Zentrums gieht e8 viele gläubige Katholiken, die ihrem religiöjen 
Standpunft entfprehend überzeugt find, daß die Kirche in jeder Beziehung nur das 
wahre Wohl ihrer Belenner zu fördern vermöge, und die daher auch in der geijtigen 
Unterwerfung Deutſchlands unter den Ultramontanismus feinen Schaden jehen. Da- 
neben aber find fie doch ſoweit gute Deutiche, daß fie der vatifanifchen Politik die 
Pflicht zuerfennen, die gleihberechtigte Eriftenz der Völker, alſo auch das nationale 
Recht des deutichen Volkes zu achten. Diefen Vorbehalt erkennt der echte Ultramonta= 
nismus nicht an. Er ift bereit, der Machtpolitik der römischen Kurie aud) die Eriftenz 
der Völker zu opfern, und da dad Deutihtum mit feinem religiöfen Ernft und mit 
jeiner Vertiefung in alle großen Lebensfragen einer mit dem Anſpruch göttlicher Autorität 
auftretenden irdifhen Machtpolitik vorzugsweife unbequem ift, fo findet es grundſätzlich 
nirgends die Unterſtützung der Kirche, wo es in feiner Eriftenz bedroht iſt. So arbeitet 
die römische Kirche im Often für das Polentum, in den Reichslanden für die franzöſiſchen 
Intereſſen. Das Zentrum folgt auf diefem Wege zwar ein guted Stüd, aber nicht ganz. 
Am Often entziehen ſich die deutfchen Katholiken, obwohl aud) fie politiicy dem Zentrum 
anhängen, mehr und mehr der ultramontanen Führung. Auch die Haltung des 
führenden rheinischen Zentrumsblattes, der „Kölnischen Volkszeitung“, in der Polenfrage 
darf uns nicht irreführen. GErftens beruht diefe Haltung wenigftens zum Teil auf 
Unkenntnis der Verhältniffe, und zweitens findet die fchroff ultramontane Behandlung 
der Polenfrage, wie fie Dr. Bachem in diefem feinem Blatte übt, durchaus fein Echo in 
zahlreichen gutfatholiichen Streifen, die nur deshalb dieje Behandlung nicht öffentlich miß— 
billigen, weil fie teils die Verhältniffe nicht genügend kennen, teils andere Nachteile für 
die Sache des Katholizismus und des Zentrums fürdten. Thatſache ift, daß es doch 
noch einen Unterfchied giebt zwiſchen vatifanischer Politik und deutſcher Zentrumspolitif. 

Man kann einwenden, daß diejer Unterjchied injofern wenig Bedeutung hat, als 
die ultramontanen Ziele durch das eine jo gut gefördert werden als dur das andere. 
Hat erit der ultramontane Geift die Herrſchaft erlangt, jo ift auch das äußere Schickſal 
unjeres Volkstums in Frage geftellt, und es bleibt dabei gleichgiltig, ob einzelne Ver— 
treter des Klerikalismus heute noch nationale Anmwandlungen haben und dem Batifan 
gegenüber ihre Vorbehalte machen. Der einmal zur Herrihaft gelangte Ultramontanismus 
wird auch über diefe Schranfe leicht hinmwegfchreiten. 

Diejer Einwand iſt gewiß richtig, ſoweit er die Notwendigkeit darthun joll, das 
evangeliihe Gewiſſen gegen die ultramontanen Einflüffe aufzurütteln. Ohne den fatho= 
liſchen Glauben anzutaften, jollte doch jeder Evangelifche zunächft einmal einen offnen 


W. v. Maſſow, Monatsſchau über innere deutfche Politik. 601 


Blif gewinnen für die politiihen Konjequenzen, die in der Oryanijation und dem Lehr: 
gebäude der katholiſchen Kirche enthalten find, und fodann auch bereit fein, in die 
Schranken zu treten, wenn Glaubens: und Gemiffensfreiheit bedroht find. Organijationen, 
die in dieſem Geifte wirfen, wie der Evangelifche Bund, find daher eine Notwendigkeit. 
Die Regierungen aber ftehen diefer Frage dod) etwas anders gegenüber. Sie haben nicht 
Stimmungen zu pflegen und nicht unmittelbar und direkt die Gefinnungen zu beeinflufien, 
iondern fie haben pofitive gejeßgeberifche und adminiftrative Arbeit zu leiften. Sie müffen 
daher auch den vorhin gekennzeichneten Unterfchied beachten und es verftehen, auch die 
ſchwachen nationalen Anſätze des deutjchen Stlerifalismus für ihre Zwecke auszunutzen. 

In den Reichslanden ftügen fid; die Elemente, denen die Pflege franzöſiſcher Inter— 
eflen und Sympathieen vorzugsweife am Herzen liegt, vornehmlich auf die Kirche. Wenn 
ed jchon im allgemeinen der ultramontanen Politik entfpricht, das Franzoſentum gegen 
das Deutſchtum zu unterftügen, jo kommt hier noch im bejonderen dazu, daß die Welt: 
politif des Vatikans hauptſächlich Anlehnung an Frankreich fucht. Der gegenwärtige 
Kardinal-Staatsfefretär Rampolla ift ein überzeugter Anhänger diefer Politik, die durch 
die Berufung des franzöſiſchen Erzbiſchofs Mathieu nad; Rom nod) verftärkt worden iſt. 
Bon der Kurie ift aljo nichts zu eriwarten, was dem franzöfiichen Einfluß in den Reichs» 
landen irgendwie entgegenwirfen könnte. Was joll nun die deutfche Negierung thun? 
Sih im Antereffe des Deutſchtums auf den Proteftantismus ftüten fann fie nicht in 
einem Lande, deſſen deutiche Bevölkerung fait zu vier Fünfteln fatholifch ift. Sie muß 
alfo die Hilfe des Katholizismus annehmen, ſoweit er deutſch fein will und den deutjchen 
Einfluß zu ftärfen bereit ift, jelbjt auf die Gefahr hin, dak auch ultramontanen Be- 
ftrebungen bi8 zu einem gewiflen Grade die Thür geöffnet wird. Das geht nun einmal 
nicht anders. Wer auf diefem Boden und unter diejen Berhältniffen eine beſſere 
Politik weiß, der mag es jagen; nur möge er ſich bewußt bleiben, daß bloßes Scelten 
auf die Nachniebigfeit gegen den Ultramontanismus uns nicht um ein Daarbreit näher 
an das Biel bringt, das uns in den Neichslanden zunächft geitedt ift, nämlich die Be— 
feftigung des Deutichtums. Da das Zentrum bereit war, die Regierung hier auch gegen die 
Beitrebungen der vatikaniſchen Bolitif zu unterſtützen, jo war es unter den gegebenen 
Berhältniffen Pflicht der Regierung, die gebotene Hand anzunehmen. Aus diefer Sad: 
lage entitand der Plan, an der Straßburger Univerfität eine Fatholifch-theologiiche Fakul— 
tät zu errichten. Uber befanntlich jcheiterten bisher alle Bemühungen in diefer Richtung 
an der Zähigkeit Rampollas und der anderen Franzoſenfreunde im Batifan. Der deutiche 
Klerikalismus empfand über dieſes negative Ergebnis ein ftarfes Mißvergnügen, das 
notwendig zu dem Beitreben führen mußte, in anderer Weife einen geiftigen Stütpunft 
für den deutjchen Katholizismus in den Neichslanden zu ſchaffen. Dieje Wünjche ver: 
Dichteten fich zu dem Vorfchlage, in Straßburg „katholische Profeſſuren für Geſchichte 
“ und Bhilofophie zu ſchaffen. 

Dhne Zweifel barg diejer Vorichlag in ſich einen ſchweren Konflikt. Die Regierung 
hatte das dringende politische Intereſſe, darauf einzugehen; andererjeitö verhehlte fie fich 
nicht, daß die Erfüllung der Elerifalen Wünſche in wiſſenſchaftlichen Kreifen einen über: 
aus ſchlechten Eindruf machen müſſe. Denn wenn auch an manden alten Univerfitäten 
einzelne oder auch ſogar alle Profefjuren fonfejfionell gebunden waren, fo fonnte doc 


02 W. v. Maſſow, Monatsichau Über innere deutſche Politik. 


die Neueinführung des konfeſſionellen Prinzips an einer modernen Hochſchule nicht nach 
diefem Mapftabe gemeſſen werden. Wie in einem Konflikt zwiichen den Bedürfniffen der 
Wilfenihaft und den Forderungen der praktischen Politit zu enticheiden ift, darüber 
werden natürlich die Meinungen auseinandergehen. Es jollte aber anerfannt werden, 
daß die Regierung doch den beftmöglichen Ausweg aus dem Sonflift gewählt hat, indem 
fie ich zwar pflichtgemäß dafür entichied, den Forderungen der praktischen Bolitif gerecht 
zu werden, ſich aber auch zugleich ihrer Pflicht gegen die Wiſſenſchaft bewußt blieb. Das 
zeigte die Wahl des Profeſſors Spahn, der einerfeit3 ein anerfannt glaubenstreuer 
Katholif und als Eohn eines einflußreichen Zentrumspolitifer8 auch bei dem polititchen 
Katholizismus qut akkreditiert war, andererjeits ein tüchtiger, ernithafter Gelehrter und 
fern von ultramontanen Neigungen war. Daß nad der von Kaiſer und Statthalter 
getroffenen grundjäglichen Entfcheidung über die Errichtung katholischer Profeifuren in 
Straßburg die Perfonenfrage fo, wie geichehen, gelöft wurde, legt nur Zeugnis ab von 
der Geſchicklichkeit und Einficht der preußiichen Unterrichtsverwaltung, die dabei zu Rate 
gezogen wurde. Ihr kann es nicht zur Laſt gelegt werden, wenn nachher durch un— 
geſchickte „Enthüllungen“ von evangelischer Seite Profeſſor Spahn bei feiner Kirche die- 
freditiert und fo in eine jchiefe Stellung gebracht wurde — natürlich auf Koften des 
nationalen Gewinns, der jonft dabei herausgeiprungen wäre. 

Die gerehte Würdigung des Standpunftes der Regierung und der Art, mie fte 
den Schwierigfeiten der Page zu begegnen wußte, ſchließt nicht aus, dak auch die Berechtigung 
einer ftarfen Beunruhigung in den Kreiſen der Wiſſenſchaft volllommen anerkannt wird. 
Auch bei voller Einſicht in die politische Notwendigkeit, den Elerifalen Wünjchen an dieier 
Stelle und in diefer Art entgegenzufommen, bleibt doc immer die Erwägung zurüd, 
daß damit ein nicht unbedenklicher politiicher Bräcedenzfall geichaffen worden ift, auf den 
man fic vielleicht dereinft anderwärts berufen kann, two feine befondere Notwendigkeit, 
jondern wirflih nur Shwächliche Nachgiebigkeit gegen ultramontane Anſprüche vorliegt. 
Eine einmütige Kundgebung der Vertreter deuticher Wiſſenſchaft über ihre allgemeine 
Auffaffung der aus dem Straßburger Fall ſich ergebenden Prinzipienfrage war nicht nur 
vollbereshtigt, jondern Ffonnte auch den Regierungen im Grunde nur erwünſcht fein. 

Verſucht hatte das jchon die philofophiiche Fakultät von Straßburg im ummittel- 
baren Anſchluß an die Berufung Spahns durd; eine Art von Protefteingabe. Der 
Schritt war injofern verfehlt, als er erftens in formalrechtlicher Beziehung anfechtbar 
war, — denn die Beſetzung der Profeffuren ift geieglich nicht an die Vorichläge der 
Frafultäten gebunden — und als er zweitens in Bezug auf die Auffaffung des Falles 
verichiedene Mikverftändniffe enthielt. Dagegen fand man nun eine andere Form, um 
die grundiägliche Stellung der deutichen Wiffenichaft zum Ausdruf zu bringen. Bro: 
feffor Mommien veröffentlichte jeinen bekannten offenen Brief gegen die konfeſſionelle 
Bindung des Yehramts an deutichen Hochſchulen, und nun war für die Pehrkörper ber 
deutichen Univerſitäten die Gelegenheit gegeben, durch Zuftimmungsadreffen an Mommien 
ihre grundjätliche Stellung zu der wichtigen Frage der freien Forichung und Lehre zu 
befunden. Die große bedeutungspolle Bewegung ift nicht ganz fo verlaufen, wie fie geplant 
war und erhofft wurde. Ron den preußiichen Univerfitäten folgte nur ein Teil, und 
auch diefer jpät und zögernd. Die Urfachen davon find hauptfächlich in drei Umftänden 


W. dv. Mafjow, Monatsſchau Über innere deutfche Politilk. 60, 


zu juchen. Erjtens nahm eine beträchtliche Anzahl von fehr bedeutenden Gelehrten Anſtoß 
an der viele Angriffspunfte bietenden Ausdrucksweiſe Mommfens, der, wie fpätere Er: 
klärungen zeigten, jelbjt zu fühlen ſchien, daß er fich in einzelnen Wendungen vergriffen hatte. 

Zweitens wurde der Sade eine politiſche Spite gegeben, die von den in den 
Dergang näher eingemweihten Profefforen, namentlich der Berliner Univerfität, nicht gut: 
geheigen wurde. Sehr deutlich fam das in Münden zum Ausdrud, wo auf die 
Forderung des Profeflors Brentano hin die dortige „Allgemeine Zeitung” von der Ver: 
öffentlichung der Profefforen:Adreife ausgejchloffen wurde mit der befonderen Be 
gründung, daß die „Behandlung des Falles Spahn“ in dem genannten Blatte die Ver: 
anlaffung diefer Bonfottierung fei. Die „Allgemeine Zeitung“ hatte nun in diefem Falle 
genau ebenijo im Kampfe gegen die Ultramontanen geftanden wie die anderen fübd- 
deutſchen Blätter, aber fie hatte allerdings noch ein Zweites gethan, nämlich) — den 
Kaijer verteidigt gegen die thörichten Nörgeleien und Mißverftändniffe, die an fein Tele: 
gramm an den Statthalter von Elſaß-Lothringen anläklih der Ernennung Spahns 
gefnüpft worden waren. An München wollte man aljo der Bewegung der Profefforen 
ausdrüdlid eine Spite gegen den Saifer und die Regierung geben. In Berlin kannte 
und wirdigte man aber den Zujammenhang beffer und wußte daher aud), daß es ein 
Fehler fein würde, der Stellungnahme für die freie Wiflenichaft eine politische Epite 
gegen eine Negierung zu geben, die in einer politifhen Zwangslage immer nod) das Befte 
für die Wiffenichaft gethan Hatte und überdies noch formell im Rechte war. So verging 
zahlreihen Mitgliedern der Berliner Fafultäten die Luft, ſich an der Sache zu beteiligen. 

Und nun fam nod ein dritter ftörender Umftand Hinzu. In einer Wochenſchrift 
erichien ein maßlojer Ausfall des Straßburger Profeſſors Michaelis gegen die preußifche 
Unterrihtsvermwaltung und ihren spiritus rector, den Minifterialdireftor Dr. Althoff. 
Diejer von ftarfen Vebertreibungen wimmelnde Ausbruch verletzter perjönlicher Eitelfeit 
mußte einen fehr iiblen Eindruck bei allen denen machen, die, wie fie auch ſonſt über 
diefe und jene Maßnahme der preußifchen Unterrichtsverwaltung denfen mochten, doc) 
das Unberechtigte eines ſolchen Angriffs voll erfannten. Diefe wußten ja überdies auch 
ganz genau, daß gerade in diefem Falle Dr. Althoff alles nur Mögliche gethan hatte, 
um neben den ihm auferlegten politiichen Rückſichten die Würde der Wiffenjchaft zu 
wahren, und daß aus Gründen des allgemeinen und politiihen Taktes gerade der Fall 
Spahn fo ungeeignet wie nur möglich jei, um jubjeftiven Empfindlichfeiten über die 
Wirkſamkeit des preußifchen KNultusminifteriums Raum zu geben. Es war ein voll- 
ftändig verfehlter Gedanke, die Wucht einer allgemeinen Kundgebung von grundfäglicher 
Bedeutung mit dem Kleinkram perfönlich gefärbter Beichwerden zu verquidfen. 

So hat die deutiche Profefforenbeiwegung für die Freiheit dee Wiſſenſchaft nicht 
ganz das gewirkt, was bei allfeitiger Klarheit über die wirkliche Bedeutung der Kund— 
gebungen zu erreichen gemwejen wäre. Darum bleibt fie aber doch ein bedeutiames 
Wetterzeichen in der deutfchen Geiftesgeichichte und enthält die gewichtige Mahnung, dat 
die deutiche Wiffenihaft ihr Wächteramt hodyhält und eine Gewähr dafür fordert, daß 
fie nicht zur Magd der Politif wird. Dieje Feititellung ift das Ergebnis, mit dem man 
immerhin zufrieden jein kann. 

1) 





Weltwirtichaftlihe Umſchau. 


Don 
Paul Dehn. 


Kommende Handelsvertragspolitif. — Der Rüdgang der Seefrachten. — Deutſche Kohlennieder- 
lagen in Ueberfee. — Die Freiheit der Meeresſtraße. — Nationale Kapitalien im Auslande. — 
Der mittelamertfanifhhe Seekanal. 


D“ Buftandefommen neuer Handelsverträge nad Ablauf der beftehenden ift 
faum zu bezweifeln. Alle Völker find dabei in gleihem Maße intereifiert. Alle 
Staatsregierungen mollen Dandelsverträge. Somit liegt fein Grund vor, ein „handels— 
politiiche8 Chaos“ zu befürchten. Zu einer nicht unfreundlihen Auffaffung der handels- 
politischen Page fommt man auch, wenn man die Frage erörtert, welcher Zuftand nad 
Ablauf der beitehenden Handelsverträge eintreten würde, falls neue Tarifverträge nicht 
zu ftande fommen follten. Werden die Verträge nicht gekündigt, fondern laufen fie 
vorläufig ungefündigt weiter, jo bleibt allerdings der alte Bertragszuftand beftehen, 
fann aber jeden Tag gekündigt werden und ericheint alsdann fo unficher, daß er 
allerieitö beanstandet werden dürfte. 

Denkbar ift ſodann eine vertragsmäßige Verlängerung der beftehenden Verträge, fei 
es nun auf ein Nahr oder auf längere Zeit. Diefe Löfung würde das Deutiche Reich 
in eine jehr ungünstige Page gegenüber Nordamerifa verfegen, das feine fo raſch ange 
wachſene Ausfuhr nach Deutfchland unbehindert weiter entwickeln, dagegen in feiner 
Gemwaltpolitit gegen die europäiſche Einfuhr fortfahren könnte, ohne ernftere Gegen- 
mahregeln befürchten zu müſſen. 

Nicht ausgeichloffen, aber in hohem Grade unmahricheinlich ift ferner ein allge 
meiner Zollkriegszuftand, wie ihn phantaftiihe Handelspolitifer als unvermeidlich ver- 
kündigen, ein Kampf unter den wicdhtigften der in Betracht fommenden Staaten durd 
Bollzufchläge gegen die fremde Ginfuhr. Da nun ein derartiger Zollfrieg alle Be 
teiligten fchädigt, jo werden alle Staaten bemüht fein, daß Aeußerſte zu vermeiden, um 
den gewohnten Güteraustauſch nicht fperren zu müſſen. 

Möglich und wahrjcheinlich ift endlich ein Zuftand, mie ihn Graf Kanik in feiner 
Mohrunger Nede über die Dandelöverträge angedeutet hat, ein Zuftand bewaffneten 
Bollfriedens. in jeder Staat wirde feinen autonomen Bolltarif in Kraft jegen und 
die übrigen Staaten fo behandeln, wie fie ihn behandeln, entweder nad) dem Grundjas 
der Meiftbegünftigung, ftillichtweigend oder vertragsmäßig, oder aber durch Anmendung 
des Hödjittarifs, je nadı Umftänden auch durch Zollzuſchläge. Diefer Zuftand würde 


Baul Dehn, Weltwirtfhaftlihe Umſchau. 605 


aber nur ein Brovijorium jein und über furz oder fang wieder zu inhaltvolleren Ver: 
trägen führen, jobald die Staaten erfennen, daß fie Dabei beſſer fahren. 

In jenen Freifen, die neue Dandeldverträge jozujagen um jeden Preis abjchliegen 
wollen, denft man zunädjft immer an Berhandlungen mit denjenigen Staaten, die bei 
Abſchluß der mitteleuropäiichen Verträge von 1891 in Betracht gezogen wurden, alfo an 
Berhandlungen mit Dejterreich = Ungarn, Stalien, Schweiz, Belgien, Rußland und 
Rumänien. Mit diefen Staaten ſchloß das Deutſche Reid; damals Tarifverträge ab, 
und mit diefen Staaten joll es wiederum zuerit verhandeln. Wer diejer Meinung ift, 
überſieht, was auch damals überjehen wurde, daß mindeftens gleichzeitig die nordameris 
kaniſche Republit berücdfichtigt werden muß, will man nicht wiederum in die Zwangslage 
fommen, ihr ohne Gegenzugeftändniffe gewähren zu müfjen, was man den genannten 
mitteleuropäifchen Ländern einräumt. Das Deutſche Reich hat damals empfindlich 
darunter gelitten, aber auch die mitteleuropäiichen Bertragsftaaten, vor allem Dejterreich- 
Ungarn. Damals war man in Oeſterreich-Ungarn der Meinung, daß die erwirfkten 
Getreidezollermäßigungen deuticherfeit8 der öſterreichiſch- ungariichen Ausfuhr haupt- 
fählich oder allein zugeftanden wurden und nicht aud) der nordamerifanifchen Konkurrenz. 
Man konnte nachträglich gegen die Gewährung der Meijtbegünftigung deutjcherieit3 an 
Nordamerika feinen Einſpruch erheben, aber man wurde von der Einbeziehung Nord» 
amerifas in das VBertragsverhältnis unangenehm berührt und man mußte bald erfennen, 
daß die Vorteile der deutichen Getreidezollermäßigungen nur in verjchwindendem Make 
und ſchließlich gar nicht der öſterreichiſch-ungariſchen Ausfuhr zu gute famen, jondern 
ganz Überwiegend der nordamerikaniſchen Konkurrenz. Wollte man in Berlin wiederum 
zuerft mit Wien in Dandelövertragsverhandlungen treten und in Wien gewifle Boll: 
ermäßigungen anbieten, fo würde man in Wien nicht wie damals dieje Zollermäßigungen 
als vollgiltig und wertvoll ohne weiteres annehmen, ſondern zunächit die Frage ftellen, 
ob diefe Zollermäßigungen aud dem überlegenen überjeeiichen Konkurrenten eingeräumt 
werden würden und erft darnach ihren Wert für Defterreich: Ungarn bemejfen. Damals 
erwirfte Defterreidh-IIngarn Zollermäßigungen nicht nur auf Getreide, jondern aud auf 
Holz, Sohlleder, Baraffın, Baummolljamenöf u. |. w., und alle diefe Bollermäßigungen 
find nad) der Berficherung des Generalfekretärs des nduftriellen Klub in Wien 
A. G. Raunig, nur in verjchwindendem Maße für Defterreih-Ungarn, in der Hauptſache 
für Nordamerika von Nutzen geweſen, obwohl diejes keinerlei Gegenzugeftändniffe gewährte. 
Dadurd wurden dieje Zollermäßigungen für Oeſterreich-Ungarn nahezu wertlos, und, 
wenn man fie von Berlin aus aufs neue anbieten jollte und nicht hinzufügen könnte, 
dab Nordamerifa davon ausgeſchloſſen bleibe, jo würden fie in Wien als nahezu wertlos 
erachtet werden und feinesfalld als hinreichend für die Gewährung entjpredjender 
Gegenzugejtändnifie. 

Aus diefer Erwägung heraus find in Wien neuartige Borjchläge laut geworden. 
Darnach jollen fid) Defterreihellngarn und Deutichland bei Vereinbarung eines neuen 
Dandelövertrages verpflichten, die Vereinigten Staaten von der Meiltbegünftigung aus- 
zufchließen, auf melde Bedingung das Deutiche Reid; feinesfalld eingehen fann. Ein 
anderer Vorſchlag will, daß beide Reiche ich verpflichten, wenn fie durch handelspolitiiche 
Maknahmen eines Dritten (Nordamerifas) gemeinfchaftlich bedroht ericheinen, gemeinjam 


606 Baul Dehn, Weltwirtfchaftlihe Umſchau. 


gegenüber diejem Dritten vorzugehen. Selbſt wenn eine joldhe Beſtimmung in etwaige 
neue Verträge mit den mitteleuropäifchen Staaten aufgenommen werden jollte, würde 
das Deutiche Reich dabei den kürzeren ziehen (mindeftens, jo lange England ſich davon 
ausſchließt und England wird ſich davon ausſchließen), denn der Güteraustauſch des 
Deutſchen Neiches mit den Pereinigten Staaten ift unverhältnismäßig größer als der 
Güteraustauſch der mitteleuropäifhen Bertragsjtaaten. Nach der nordamerifaniichen 
Statiftit bezugen die Vereinigten Staaten im Jahre 1899/1900 aus Deutichland für 185, 
aus Holland für 89, aus Frankreich für 82, aus Italien für 33, aus Spanien für 13, 
aus Rußland und Defterreih-Ungarn für je 7, aus Portugal für 6 und aus der 
Schweiz für ’/, Mill. Dollars Waren. 

Wenn die Neichsregierung nicht aus eigenem Antriebe zu der Erfenntnis fommt, 
daß fie zuerft mit Nordamerika verhandeln muß, jo wird fie durd) das Verhalten 
Defterreich-Ungarns dazu gedrängt werden. E8 läßt fid) num freilid) einmenden, daß 
der Abſchluß neuer Dandelsverträge noch mehr erfchwert wird, wenn gleichzeitig die 
Vereinigten Staaten in die Verhandlungen einbezogen werden jollten, daß infolge der 
erhöhten Schwierigfeiten der Abjchluß neuer Verträge jcheitern könnte. Diejes Bedenken 
mag zutreffen. Aber wichtiger für das Deutſche Reich als der Abſchluß von Handels: 
berträgen um jeden Preis ift die Notwendigkeit, gegenüber Nordamerifa nicht in eine 
BZwangslage zu fommen, wie nah dem Abſchluß der Verträge von 1891, nicht Zu- 
geitändniffe machen zu müſſen ohne Gegengugeftändniffe und nicht eine weitere unabjeh: 
bare Schädigung jeiner Intereſſen im Verkehr mit Nordamerifa zu erdulden. Gelingt 
es jchließlich nicht, neue Handelsverträge unter Einbeziehung von Nordamerifa zu ver: 
einbaren, fo wäre der vertragslofe Zuſtand für die deutichen Intereſſen noch immer viel 
weniger jchädlich als eine Amangslage mit dem Dilemma, entweder der nordamerifanifcyen 
Republif die Meiftbegünftigung zu gewähren oder mit ihr in Zollfrieg zu geraten. 

ES * 
* 

Nachhaltig wurde die weltwirtſchaftliche Entwickelung begünſtigt durch den ſteten 
Rückgang der Frachtſätze auf dem Seewege im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. 
Bemerkenswerte Tabellen darüber veröffentlichte die Hamburger Handelskammer in einem 
Gutachten über die Koſten der Beförderung von Getreide im jahre 18%. Darnad) 
ftellten ſich die durchichnittlichen Frachtſätze für Weizen und Mais von New-York nad 
Liverpool im Jahre 1873 auf 33 Mark für die Tonne und janfen von Jahr zu Jahr 
bis auf 6 Marf für die Tonne im fahre 1894. Nach einem Bericht der „Nem-Vorter 
Dandelsfommijfion“ über den relativen Rüdgang des New-Yorker Ausfuhrhandels fielen 
die Frahtiäte auf dem Hauptverfehrswege zwifchen Nordamerifa und Europa für den 
Dentner Getreide von 1,52 Markt in 1870 auf 0,32 Mark in 1895, für Waren nad) 
Kubikfuß in der gleichen Zeit um die Hälfte Getreide von der unteren Donau wurde 
nah Hamburg im Jahre 1870 um 37 Mark für die Tonne verfrachtet und hatte im 
Jahre 1895 nur noch 11 Mark zu zahlen. Die Koſten für die Berfrahtung einer Tonne 
Neis von Rangoon nad Hamburg beliefen fich im Jahre 1872 auf 73 bi8 80 Mark, im 
Nahre 1895 aber nur noch auf 25 bi8 26 Marf. Inzwiſchen find unter ftarfen 
Schmwanfungen nad Eintritt des wirtichaftlihen Nüdganges die Frachten noch weiter 
gefunfen und haben einen erjtaunlihen Tiefftand erreicht. Im Herbft 1901 wurde die 


Paul Dein, Weltwirtfchaftliche Umſchau. 607 


Tonne Getreide von New-York nad) Hamburg für 5 Mark gefahren. Und das ift nod) 
der gezahlte Durchſchnittspreis. Je nad) Angebot und Nachfrage ermäßigen ich diefe 
Sätze noch jehr bedeutend. Als im Mai 1899 die offiziellen Säbe New: Nort— Hamburg 
awiichen 15 und 17 Mark ſchwankten, zahlten Berliner Getreidehäufer für die Tonne 
Mais von Bofton nad) Hamburg 4,40 und von Portland noh Hamburg 2,48 Marf. 
Um nicht ganz leer zu fahren oder eine genügende Ballaftichwere zu erlangen, nehmen 
die großen Perfonendampfer Getreide von New-York zu den billigjten Preiſen, ja zu: 
weilen foftenlos mit. Auf diefe Weife Eonnten die Händler Weizen von New-VYork nad) 
Yiverpool in diefem fahre zeitweitig um 0,75 Mark für die Tonne abfertigen. Im laufenden 
Jahre find die Frachtſätze von Amerika deshalb jo billig, weil die nordamerifaniicheMaisernte 
ichleht ausgefallen und auch Roggen, Hafer, Gerjte und Baummwolle in geringeren 
Mengen verfügbar find. Wenn einmal der Rhein-Mejer-Elbefanal erbaut fein wird, ſoll 
nad den angeitellten Berechnungen die Fracht für die Tonne Getreide von Bromberg 
bis Herne i. W. nur 13,70 Mark betragen. Gegenwärtig zahlt eine Tonne deutjchen Ge— 
treided, um bon Oftpreußen nad) Mannheim befördert zu werden, auf der Eifenbahn 
48 Mark, von Anfterburg nad) Berlin 32 Mark. Nach Anlage des neuen Kanalnetzes 
würde fic) diefer Sag auf 15 Marf ermäßigen. Wie unverhältnismäßig hoch find dieje 
Frachtſätze, die das deutjche Getreide auf dem heimischen Markt zu überwinden hati 
gegenüber den niedrigen Seefradhtiägen und gegenüber den ebenfalls niedrigen Rhein, 
Weſer- und Elbefradhtiägen! Ehedem bejaß die deutjche Yandwirtichaft einen natür- 
lihen Schu auf dem heimiſchen Markt gegen die fremde Nonfurrenz, deren Erzeugnis 
größere Entfernungen zu durchlaufen hatte und dadurch verteuert wurde. Infolge des 
Nüdganges der Seefradhtjäge ift diefer Schuk verloren gegangen, ja, es ift geradezu das 
umgefehrte Verhältnis eingetreten. Mit Hilfe des billigen Seeweges und der deutichen 
Stromjtraßen überjpringt das fremde Getreide die aufgerichteten Zollichranfen und macht 
der deutſchen Landwirtſchaft eine Konkurrenz, die vernichtend werden müßte, wenn die 
Seefradhtfäge andauernd auf ihrem niedrigen Stande bleiben und feine anderen Maß— 
regeln dagegen ergriffen werden jollten. 


* 4 * 

Einen wichtigen Schritt nach vorwärts auf dem Gebiete des Weltverkehrs bedeutet 
die Errichtung einer deutſchen Kohlenniederlage in Port Said zur Verſorgung der 
deutihen Handels- und Kriegsſchiffe mit Bunferfohlen. Port Said ift ein vorzüglich 
geeigneter Plag, weil alle Schiffe, die den Suezkanal benugen, dort Bunkerkohlen ein- 
nehmen. Im Jahre 1900 fuhren 462 deutiche Schiffe durch den Suezkanal. Die deutiche 
Schiffahrt macht ſich unabhängig von den englischen Kohlenniederlagen und fürdert dabei 
auch ihre finanziellen Intereſſen, da fich wiederholt die deutichen Schiffe am Suezfanal 
bedenkliche Uebervorteilungen von Seite der engliihen Händler gefallen laſſen mußten. 

Die Errichtung deutfcher Stohlenlager empfiehlt fi) auch an geeigneten Punkten der 
ftrategifch wichtigen Beſitzungen Deutjchlands im Stillen Meer, zunächſt im Bismarck— 
Ardipel, auf den Karolinen, auf den Marſchall-Inſeln und in Samoa. Anfang 1902 
wird die deutihe Schantungbahn die Kohlenlager bei Weihfien erreicht haben, Kiautſchou— 
Steinfohlen ausführen und die geplanten Stohlenlager im Stillen Meer mit deutichen 


608 Raul Dehn, Weltwirtfhaftliche Umfchau. 


Schantung-Kohlen verjorgen können. Allmählid dürften dieje Kohlenlager zu Kohlen: 
ſtationen mit fejten Stügpunften für die Flotte entwicelt werden. 


* * 
* 


Inmitten einer politiſchen Erörterung Hat ein engliſches Blatt, die „National 
Review“, eine wichtige Weltverfehrsfrage angeichnitten, die in Zukunft noch zu großen 
Reibungen Anlaß geben wird, nämlich die Freiheit der Meeresitraße. Gewiſſe 
engliihe Bolitifer wollen den Glauben erweden, als ob durch die deutjchen FFlottenver: 
ftärfungen Frankreich, Rußland und andere Länder auf dem Meere bedroht würden. 
Deutjchland bedroht niemanden, am alleriwenigften auf dem Meere. Nach bdeuticher 
Auffaffung joll das Meer eine freie Straße für den Weltverfehr fein und bleiben. 
Dagegen kann nad engliſcher Auffaffung der Ozean nur einen einzigen Herm haben 
und diefer Herr muß England fein und bleiben. Begründen läßt ſich eine fo jeltiame 
Theorie nicht im mindejten, aber fie befteht gegenwärtig nod) in der Praris. Das hat 
der Feldzug der Engländer gegen die Buren aufs neue gezeigt. Ungehindert fonnten 
fie ein Heer von nahezu 300 000 Dann nebjt 225000 Pferden und 100000 Mtaultieren 
10 000 km weit auf dem Seewege entjenden ohne Bedeckung, ohne Bejorgnis, ernſtlich 
dabei gefährdet zu werden. Steine zweite Macht würde ſolches Wagnis gegenwärtig 
unternehmen können. Die Oberherrihaft Englands auf dem Meere ift vorläufig nod) 
unbeftritten, aber die Theorie, daß es fo fein und bleiben müſſe, wird von feiner anderen 
Macht anerkannt, fie fteht im jchroffften Gegenfag zu den Beſtrebungen der Großmädte, 
ihre SFlotten derart zu verftärfen, daß der Ozean thatfächlich zu einer freien Welt: 
verfehrsftraße wird, daß nicht mehr eine einzige Macht in der Yage ift, wenn fie es in 
ihrem Intereſſe findet, die notwendige Freiheit des Seeverfehrs zu beeinträdtigen oder 
gar zu bejeitigen. 

Für alle Yänder, auch für die Eleineren Staaten, hat das Meer als Weltverkehrs- 
ftraße an Bedeutung zugenommen und nachdrücklicher als je müfjen alle Staaten darauf 
bedacht fein, die Freiheit derfelben zu fichern. 


* * 
* 


Unter dem Einfluß des modernen Weltverfehrd und der vielfachen Berbindungs- 
fäden, die er von Land zu Land fpannt, find in großem, noch nicht überjehbarem Umfange 
aus den höher entwidelten Staaten neben Menichen (Unternehmern und Arbeitern), 
neben Waren und Gütern aller Art auch Kapitalien in andere Yänder gegangen, um 
dort gewinnbringendere Anlage zu juchen, als fie im Inlande zu finden war. Dieie 
Wanderungen nationaler Kapitalien nach anderen Ländern waren zeitweilig 
jo bedeutend, daß fie in einzelnen der empfangenden Länder eine Gegenbewegung gegen 
die Einfuhr fremder Kapitalien hervorriefen, zunächſt da, wo die fremden Kapitalien 
allaugroßen Einfluß ausübten oder wenigftend auszuüben ſchienen. Dieſe SKapital- 
wanderungen find bisher noch nicht genügend unterjucht worden, erheilchen aber wegen 
ihrer zunehmenden Wichtigkeit für die nationale Volkswirtſchaft die größte Aufmerkſamkeit 
der aftiven wie der paffiven Intereſſenten. 

Großbritannien, Franfreih und Deutihland, Holland und Belgien, feit einigen 
Jahren aber aud; mit an allereriter Stelle die nordamerifanifsche Republik find 


Baul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umſchau. 609 


Släubigerjtaaten, fie führen die Ueberſchüſſe ihres SKapitalreichtums aus und laſſen 
diefe Ueberjchüffe in anderen Ländern arbeiten, indem fie entweder Schuldverjchreibungen 
geldbedürftiger Staaten anfaufen oder Privatunternehmungen begründen, Verkehrs— 
anlagen, Bergwerfe, Fabriken und dergl. 

Nach einer Schäkung von R. Giffen befanden ſich 1885 fremde Effekten im Werte 
von 42,3 Milliarden M. in engliihem Befit. Percy Rudolf Broemel bat in feiner 
„Geſchichte des englifchen Handels" (London 1899) das im Auslande angelegte englische 
Kapital auf 40 Milliarden M. veranſchlagt und die jährlichen Zinfen daraus mit 41/, 9%, 
auf 1800 Mill. M. An der Londoner Börſe berechnete man" Mitte 1896 den englifchen 
Beſitz an fremden Anleihen auf 60 Milliarden M., an fremden Eifenbahnpapieren auf 
12,3 Milliarden M., an fremden Bergmwerfspapieren auf 0,8 Milliarden M. Diefe 
Schätzungen dürften eher zu niedrig als zu hoc) gegriffen fein. Schon feit Nahrzehnten 
haben die Engländer mit Wagemut und Unternehmungsgeift nach diejer Richtung Hin 
eine umfaffende Thätigfeit ausgeübt, im Laufe des 19. Jahrhunderts auch in Deutſchland 
durch Gründung der Eifenbahn:, Kanal: und Bergmwerksunternehmungen, von Gasan: 
ftalten u. |. w. Ebenſo in Defterreih-Ungarn, vor allem auch in Nordamerifa, mo 
nad) englifchen Berechnungen am Ende des vorigen Jahrhunderts mindeitens 2,8 bis 
3,2 Milliarden M. engliiches Kapital arbeiteten. 

Rad) der Wiederaufrichtung des Neiches wurde auch Deutſchland fapitalfräftig 
genug, um ſich im Auslande bethätigen zu fünnen. Doch iſt ed troß vorübergehender 
Ueberſtürzung freilich noch weit hinter England zurüdgeblieben. Nach den Schägungen 
Schmollers und GChriftians in der Börjenenquete von 1892 waren damals etwa 
10 Milliarden M. deutichen Kapitals in fremden Werten angelegt, zu einem nicht ge- 
ringen Teil allerdings in zweifelhaften Werten wie in Argentiniern, Griechen, Portu- 
giefen, Northern Pacific, Serben u. j. w., bei denen die beutjchen Beteiligten jehr 
empfindliche Verlufte erleiden mußten. Ende der neunziger Jahre, bei Erörterung der 
Flottenvorlage, wurde der Gejamtbetrag der in deutichen Händen befindlichen aus— 
ländifchen Wertpapiere auf mehr als 12!/, Milliarden M. geihätt. Damals waren die 
deutichen Konfuln über die deutichen Kapitalanlagen im überjeeifhen Ländern bei 
induftriellen und kommerziellen Unternehmungen einjchlieglic; der Eifenbahnen befragt 
worden. Nach den Eonfulariihen Zujammenftellungen jollen damals 6'/, bis 7 Mil- 
liarden M. deutfchen Kapitals in folchen Unternehmungen angelegt geweſen jein, und 
zwar 2 Milliarden M. in Südamerika, je 1 Milliarde M. in Nordamerifa und Afrika, 
3/, Milliarden M. in Auftralien, 2/; Milliarden M. in Mittelamerika, 1/, Milliarde M. 
in der Türkei 0,3 Milliarde M. in Dftafien und 0,1 Milliarde M. in Indien. Das 
geſamte im Auslande arbeitende deutiche Kapital hätte demnach rund 20 Milliarden M. 
betragen. 

Sm Frankreich finden fi) Anhaltepuntte über die Anlage nationalen Kapitals 
im Auslande in der Steuerftatiftil. Fremde Wertpapiere unterliegen dort einer Eins 
tragungsgebühr. In der Zeit von 1884 bis 1900 wurden in Frankreich mit diejer 
Gebühr fremde Wertpapiere in Höhe von 16,7 Milliarden Fr. belegt. Davon entfielen 
6,5 Milliarden Fr. auf ruffifche Werte, 1'/, Milliarden Fr. auf türkische, 1 Milliarde Fr. 
auf portugiefifche und je 0,8 Milliarden Fr. auf öſterreichiſch-ungariſche, italienische und 

39 


610 Baul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umfchau. 


jpanische Werte. Der Bejamtbefig Frankreichs an fremden Werten ift thatfädhlich er 
heblich höher als 16,7 Milliarden Fr., weil in diefer Zahl nur die Eintragungen von 
1884 bis 1900 berücfichtigt find und nicht auch die Erwerbungen fremder Werte vor 
dem fahre 1884. 

Vielfach hat franzöſiſches Kapital im Auslande mit großem finanziellen und poli- 
tiihen Erfolge gearbeitet, vor allem in Nordafrifa und im Gebiet des türkischen Reiches. 
Bon Tunis konnte Frankreich leichter Beſitz erareifen, nachdem diefer Staat ſelbſt mit 
jeinen leitenden Streifen in franzöfiiche Schuldfnechtfchaft geraten war. In Marofto 
verrichtet franzöſiſches Kapital ähnliche Pionierdienſte. Moraliſch betrachtet waren die 
franzöſiſchen Geldgeichäfte mit dem Bey von Tunis wie mit dem Vicekönig Ismail von 
Egypten ebenjo wie mit dem früheren Sultan Aldul Mziz in hohem Grade anftögig, 
Wuchergeichäfte im jchlimmften inne des Wortes, aber jehr einträglicd für die Inter— 
ejfenten und für Frankreich von politiihem Wert. Mit den Bau des Guezfanals er- 
zielte dagegen Frankreich aud einen moralifchen Erfolg und jchuf fich mit Hilfe weiterer 
großer franzöfifcher Unternehmungen in Egypten eine einflußreiche Stellung, die es aller: 
dings infolge feiner unſchlüſſigen Politik an die Engländer abtreten mußte. In der 
Türfei haben die Franzoſen mehr Eijenbahnen gebaut als irgend eine andere Nation, 
insgefamt 1778 km mit einem Slapital von 366,4 Mill. Fr. Die Dafenanlagen der 
wichtigften türkiſchen Plätze Nonftantinopel, Salonifi, Smyrna und Beirut find in 
franzöſiſchen Händen. Glänzend fteht die franzöfifche Leuchtturmgefellihait in Son 
Itantinopel da, die an den türkischen Küften den Yeuchtturmdienit vorzüglid organifiert 
bat. Die erfte und wichtigfte Banf in der Türfei, die Ottomanbanf in Ronftantinopel, 
wirft überwiegend unter franzöſiſchem Einfluß. Erheblich iſt die Zahl der franzöfiichen 
Dandelöhäufer in den türfiihen Städten. Mit Dilfe des frangöfiichen Kapital wurde 
der Ntorinthfanal gebaut, allerdings mit großen Berluften für die Aktionäre und ohne 
Bedeutung für den Mittelmeerverfehr. Frankreichs andauernder Einfluß in Defterreich: 
Ungarn und Italien beruht nicht zulett auf den franzöfiichen Kapitalanlagen in Eijen- 
bahnen, Banken und zum Teil in Zeitungen. Und das Bündnis mit Rußland wurde 
unzweifelhaft feſter gefittet durd) das franzöftiche Kapital. Noch ift es freilich nicht 
ganz ficher, ob die franzöſiſchen Kapitalien auf die Dauer ihre Nechnung dabei finden werden. 
Rußland hat zwar bisher ſtets mit größter Pünktlichkeit feine Zinjen gezahlt, aber jeine 
Finanzlage iſt gegenwärtig nichts weniger als günftig. Immerhin zwingt fie zum 
rrieden. Dagegen haben die fremden Kapitalien, joweit fie in neuefter Zeit in rufftichen 
Anduftrieunternehmungen angelegt wurden, zu einem beträchtlichen Teil die erhofften 
Gewinne nicht gebracht. Nach einem Bericht der franzöfiihen Botjchaft in Petersburg 
jollen in rujfifchen Anduftrieunternehmungen 734 Mill. Fr. belgifches (darunter viel fran- 
zöftiches), 702 Mill. Fr. franzöfiiches, 261 Mill. M. deutjches und 236 Mill. M. engliiches 
Kapital angelegt jein. Die beteiligten deutichen Napitaliften fcheinen verhältnismäßig am vor— 
fichtigften vorgegangen zu jein und dürften beträchtliche Gewinme gemacht haben. Won 148 
belgijchen Unternehmungen mit einem Gejamtfapital von 495 Mill. Fr. die Ende 1899 be- 
Standen, haben nur 73 Rechnung abgelegt und davon nur 56 mit einem Reingewinn von durd)- 
ſchnittlich 5 9%, abgejchloffen, der durchaus nicht genügt. Die Baummoll- und Kohlen: 
Frifis in Süd-Rußland, zahlreiche Arbeiterausftände, das Aufhören der großen Be: 


Paul Dehn, Weltwirtſchaftliche Umſchau. 611 


jtellungen durdy den Staat und andere Urſachen haben das Gedeihen vieler fremder 
Unternehmungen in Rußland empfindlich geftört und gezeigt, daß die Anlage nationaler 
Kapitalien im Auslande, wenn fie übereilt und übertrieben erfolgt, auch ihre Schatten- 
jeiten hat und von Fall zu Fall jorgiam bedacht werden muß. 


* * 

Seiner Verwirklichung nahe gerückt iſt ein lang geplantes Verkehrsunternehmen 
von weltwirtſchaftlicher Bedeutung, der Bau des mittelamerikaniſchen See— 
fanals zur Verbindung des Stillen und des Atlantiſchen Meeres. Nach Erwerbung 
der Hamaii-Änjeln, nad) Beendigung des Krieges gegen Spanien, nad) Angliederung der 
Antillen und Philippinen erkennt man in Nordamerifa zwingender als zuvor die Not- 
wendigfeit des Sanalbaues, um der Republik eine breitere Grundlage für ihre neue 
Weltmadtitellung im Stillen Meer und in der Richtung nady Oftajien jchaffen, zunächſt 
um die Kriegsflotte nötigenfalls vajcher zuiammenfajlen zu fünnen. Europa erjtrebte 
einen mittelamerifanifchen Nanal jchon lange zur Erleichterung feines Verkehrs, zunächſt 
mit der Weſtküſte Südamerikas. Bisher fehlte es an den erforderlichen Mitteln, deren 
Beihaffung in Nordamerifa nunmehr feinen bejonderen Scmierigfeiten unterliegen 
faın. Fraglich iſt es, ob ein Banamafanal oder ein Nicaraguafanal angelegt werden 
wird. Die Entjcheidung darüber dürfte bei dem „Sina Dollar” liegen, der wenigſtens 
im Senat zu Waihington allmächtig ift, d. h. bei der „großen Stapitalsaffociation“, die 
nad) einem Ausſpruch des verjtorbenen Bankdireftors und Abg. Dr. Georg von Siemens 
in den künftigen Kämpfen an Stelle der Diplomatie und Generalität die Führung 
übernehmen wird. 

Bon Anfang an neigte man in Nordamerifa dem Bau eines Nicaraguafanals zu 
und es verftärfte fid) noch diefe Neigung, als der Bau des Panamafanals mit Dilfe 
von europäiichem, insbefondere bon franzöfiichem Kapital begonnen wurde. Der 
Nicaraguafanal (301 km, Koftenaufmand 760 bis 800 Mill. M.) ift länger und teurer 
als der Panamafanal (70 km, Stojtenaufwand 570 Mill. M., dazu angeblich 440 Mil. M. 
Stonzejlionsfoften) und bereitet der Durdfahrt (Nicaragualanal 33 Stunden, Banama= 
fanal 12 Stunden) größere Schwierigkeiten. Aber er liegt den nordamerifanifchen 
Häfen günftiger, er verkürzt die Entfernung zwifchen New-York und San Franzisko 
um 680 km mehr ald der Banamafanal, er iſt für die nordamerifanischen Kriegsſchiffe 
leichter erreichbar und eröffnet der nordamerifaniichen Republik die Möglichkeit, ihre 
unmittelbare Intereſſenſphäre bis zu diefem Kanal auszudehnen. Bereits hat die nord» 
amerifaniiche Republik von Nicaraqua für alle Zeiten einen Streifen von 10 km Breite 
zu Kanalzwecken gepachtet. 

Als das Nicaragualanalprojeft zum eritenmale in den Vordergrund trat, er: 
zwang ſich England durch den jogen. Bulmwer-Clayton:Bertrag von 1850 eine Mit- 
wirfung an dem Bau und der Verwaltung des Kanals, der außerdem einen neutralen 
Charakter erhalten jollte.e Darüber verjtimmt, liegen die Nordamerifaner den ganzen 
Plan in den Hintergrund treten. In dem Hay Pauncefote-Bertrag von 1899 verzichtete 
England auf feine Mitrechte und trat fie an Nordamerika ab, fette indeſſen die Be: 
jtimmung durch, daß im Kriegsfall der Kanal völlig neutral bleiben und eine dauernde 

39* 


612 Baul Dehn, Weltivtrtfchaftliche Umſchau. 


Belegung ausgeichloflen jein jollte. Diefem Abfonımen erteilte der nordamerifaniidhe 
Senat jeine Zuftimmung nicht, er verlangte für die Nepublit das Recht, den Kanal zu 
befeitigen, zu beiegen und im Striegsfalle nach Bedarf zu jchliegen oder zu blodieren. 
In Erkenntnis feiner Schwäche und zugleich in dem Beftreben, mit Nordamerifa ein 
gutes Ginvernehmen zu erhalten, gab England jchlieglich nad, verzichtete durch das 
Abkommen vom November 1901 auf alle Nedte und begnügte fich mit der Meift- 
begünftigung, die Nordamerifa gern bewilligte, da eine möglichjt umfangreiche Benutzung 
des Kanals durch Schiffe aller Völker im eigenften Intereſſe der Kanalverwaltung liegt. 
Nordamerifa hat nunmehr freie Hand, den Nicaragualanal zu bauen oder nad Er: 
meſſen auch den Panamakanal. Der Nicaraguafanal fol unter dem Schuße der Neu- 
tralität ftehen wie der Zuezfanal. Solches vereinbarten England und Nordamerifa, 
ohne die europäifchen Mächte heranzuziehen. Thatſächlich kann Nordamerifa Troden: 
docks, Neparaturmwerfftätten und Slohlenniederlagen am Nicaraguafanal errichten und 
auch ohne eigentlichen Kriegshafen und ohne Yandbefeftigungen fich dort für den Kriegsfall 
jo vorbereiten, daß bei Ausbruch erniter Zerwürfniffe mit England Nordamerifa am 
Nicaraguafanal fi) alsbald eine ftarfe und nahezu unangreifbare Stellung zu jchaffen 
vermag, während England fid) Darauf beichränfen muß, den Kanal zu blodieren. Nord» 
amerifa hat eine große Errungenjchaft zu verzeichnen, zunächſt auf Stoften Englands, aber 
aud) der übrigen, an dem Kanalverkehr beteiligten Völker. Es hat, wie man jagt, dieje Er- 
rungenschaft durchgeſetzt als Entgelt für feine Neutralität in dem Burenkriege. Wenn 
man die langwierigen Verhandlungen zwifchen den beiden Weltreichen über den Nicaragua: 
fanal überblidt, jo muß man erftaunt fein über das jchlieglihe gänzliche Zurückweichen 
Englands, das vor dem Ausbruch des Burenkrieges nicht denkbar gewejen wäre. Aller: 
dings haben fi) aud die VBerhältniffe geändert. Das Nordamerika von 1850 ijt eine 
Weltmacht geworden und behauptet zunächſt in Mittelamerifa Vorredhte, die England 
nicht mehr zu beftreiten wagt. Thatſächlich hat in den amerikanischen Gemwäflern England 
jeine bis dahin behauptete VBormadhtitellung auf dem Meere aufgegeben. 

Wie verfihert worden ift, joll die engliihe Regierung verſucht haben, andere 
europäiiche Mächte, zunächſt Deutichland und Frankreich, zu einem Proteſt gegen die 
monopolifierenden Nanalpläne der nordamerifanijchen Republik zu veranlaffen, doch ohne 
Erfolg. Europa ift eben gegenüber Amerifa noch nicht einig und wird es nicht werden, 
fo lange eine jo unguverläjlige Regierung wie die englijche die Führung beanſprucht. 
Stände Europa einig und ftarf da, fo würde es den Ausbau des Panamakanals be: 
wirken ohne Rüdfiht auf die nordamerifaniihen Klagen, daß die „Baggermaſchinen“ 
auf der Pandenge von Panama „die Monroedoktrin durchlöchern“. Aber an ein ſolches 
Vorgehen Europas ift unter den obwaltenden Berhältniffen nicht zu denken. Uebrigens 
fommt für den Verkehr Europas mit Oftafien der Nicaraguafanal faum in Betradt, 
da der Weg von London nad Yokohama über den Nicaraguafanal 1450 km und nad) 
Hongkong 7200 km länger ift al$ durch den Suezfanal. 


© 


ERETIETRETIETRTETRERIERE 


Deutidtum im Auslande. 


Von 
Paul Dehn. 


Das Erwachen des Nationalbemwußtfeins unter den Deutichen in China. — Zur Förderung der 

deutihen Austandsichulen. — Deutfche Lehrervereine im Auslande. — Berein beutfcher Lehrerinnen 

in England. — Fortſchritte der beutichen Sprache in England. — Ungarn. — Rumänien. — 
Ruſſiſch⸗Aſien. — Nordamerifa. — Zur Nacjeiferung. 


Das Erwachen des nationalen Bewuhtjeins unter den Dentjchen in China. 
In Schanghai ift die erſte deutſche Gemeindefirche Chinas fertiggeftellt und am 27. Oktober 
feftlich eingeweiht worden, im Beifein der deutichen Kolonie, von Abordnungen der deutichen 
Belagungstruppen und der deutſchen Kriegsichiffe. Bei der Feier ſagte Generalkonſul 
Dr. Stnappe: „Es ift noch garnicht fo lange her, und ich erinnere mich noch jelbft, obwohl 
ich erft im erjten Jahre hier draußen bin, der Tage ganz gut, in denen die Mehrzahl 
unjerer Yandsleute dem Nationalbewußtjein erft dann eine Berechtigung einräumte, wenn 
es mit anderen Intereſſen nicht follidierte. Man gab Sitten und Epradje auf, nur um 
in dem großen internationalen Chaos aufzugehen, ja fogar in manchen Fällen fonnte 
man beobadten, daß man nicht umgern jah, wenn man für einen Angehörigen eines 
anderen Staates gehalten wurde. Die Erziehung der Familie entſprach der der wäjlrigen 
Lebensauffaffung. Baterlandsgefühl fonnte fich nicht bilden, zumal häufig die deutſche 
Sprache garnicht einmal gelehrt wurde, und dieje ift doch die notwendige Vorausſetzung 
des eriteren. Das ift Gott jei Dank hier in China und bejonders in Shanghai anders 
geworden. Die Gründung der deutjchen Kirchen- und Schulgemeinde war das erfte äußere 
Zeichen des auffeimenden Batriotismus und mit ihrer Hilfe find dann im Paufe weniger 
Jahre rapide Fortichritte gemacht. Andere weitere Kreiſe einjchliegende Korporationen 
mit Speziell deutichenationaler Tendenz folgten; ich nenne die Deutjche Vereinigung und 
den Flottenverein, und im täglichen Leben fann man beobadjten, wie jeder Einzelne ſich 
als Deuticher fühlt und mit Stolz jeine Nationalität bekennt. Ich darf bei diefem Anlaß 
unsere deutiche Zeitung nicht unerwähnt laflen, die jeit wenigen fahren einen ganz anderen 
Charakter angenommen hat und uns in unferem Streben nadı Bethätigung nationaler 
Gefinnung eine fefte Stüge iſt. Die Einweihung unferer Kirche hat einen ſchönen Abſchluß 
gebildet, und die Beteiligung bei derjelben legte ein beredtes Zeugnis dafür ab, daß das 
geſamte Deutihtum Schanghais fi) einig und als ein zufammengehöriges Ganzes fühlt. 
Die Teilnahme, die wir bei den übrigen deutjchen Gemeinden Dftafiens gefunden haben, 
läßt hoffen, daß wir einer Konzentration aud) diejer- weiten reife entgegengehen.“ 


614 Paul Dehn, Deutfchtum im Austande 


Zur Förderung der deutſchen Auslandsjchulen. Bisher hatte nur die deutiche 
Schule in Konstantinopel die Berechtigung, Zeugnifle für den einjährigsfreiwilligen Dienft 
auszustellen. Dieje Berechtigung iſt nunmehr auch der deutihen Schule in Brüjfel erteilt 
worden, nahdem Provinzialiculrat Nelfon aus Koblenz die Schule wiederholt eingehend 
befichtigt hatte. Die Brüffeler Schule wurde Mitte 1901 von 186 Kindern bejucht, wovon 
68 auf das Realprogymnaſium entfallen. Die Reifezeugnijfe diefes Realprogymnaſiums 
berechtigen zum einjährig-freiwilligen Dienft. In dem Bericht über das lette i9.) Vereins: 
jahr bittet der Borfitende des Deutichen Schulvereins in Brüffel, Th. Momm, um Beihilfe 
zum Neubau der deutichen Schule durch Hebernahme einer Anzahl „Baublöde*. Dringend 
ift zu wünſchen, dat nod) viele andere deutiche Schulen im Auslande die gleiche Berechtigung 
erhalten, entweder nad) genauer Würdigung ihrer Yeiftungsfähigfeit oder nad) ihrer Hebung 
mit Hilfe des Deutichen Reiches. Dann werden die deutjchen Schulen im Auslande nicht 
nur größeres Anfehen genießen als bisher, jondern auch nod) größere Anziehungsfraft 
ausüben und zugleich wird der junge Nachwuchs der Deutichen im Auslande feiter an 
das Reich gefittet werden. 


Deutſche Zehrervereine im Auslande. Inter den Lehrern an den deutichen 
Schulen im Auslande wird das Gefühl der Zujammengehörigfeit lebendig, und ver: 
ichiedene Tehrervereine find in Bildung begriffen. Schon feit geraumer Zeit wirft in 
England der Berein deutfcher Lehrer jehr erjprieklih. Ende 1900 wurde in Ant» 
werpen der Berein begründet und im Frühjahr 1901 ein folder in Argentinien. Am 
18. Dftober erlieg Direktor von Haſſel in Genua einen Aufruf zur Begründung 
eines Yandesvereins der deutichen Lehrer in Stalien. Anfcheinend werden allmählich 
in allen Ländern Bereine deuticher Lehrer entitehen und ſich jchlieglich zu einem Geſamt⸗ 
verband vereinigen, wie er jchon lange angeftrebt wird. Bereit8 hat Hans Amrhein in 
Antwerpen-Hobofen (nicht der dortige Verein deutſcher Lehrer) an die deutichen Yehrer 
im Auslande einen Aufruf erlaffen, um fie zu einem geichlofienen Ganzen zu organi: 
fieren im Intereſſe des deutihen Schulweiens wie der deutichen Yehrerichaft des Aus: 
landes. Nach der Angabe des Aufrufs beftehen im Auslande 1000 deutihe Schulen. 
Als Vorort für die Geihäftsführung eines ſolchen Gejamtverbandes wird Antwerpen 
vorgeichlagen. 

An Verbindung mit dem Aufruf ift das erite Heft einer neuen Monatsſchrift 
„Die deutihe Schule im Auslande“, herausgegeben von Hans AUmrhein in 
Untwerpen:Hobofen erſchienen mit der Aufgabe, die Gejamtintereffen der deutichen 
Schulen und Lehrer im Auslande zufammenzufafien, an der Erhaltung deutjchen Lebens 
durch die Förderung der deutichen Schulen im Auslande und ihrer Yehrer mitzumirfen 
und Erfahrungen über die bejondere Art des Unterrichts unter den eigentümlichen Ber: 
hältnijfen der verfchiedenen Yänder zum Austauſch zu bringen. Dieje Bejtrebungen 
erheifchen die mwerfthätige Unterftübung aller nationalen Kreiſe, insbejondere auch der 
deutichen Lehrer im Neiche felbit. 

In dem eriten Heft der neuen Monatsjchrift werden einige taftloje Angriffe der 
Hamburger „Pädagogischen Reform“ von hervorragenden Vertretern deuticher Schulen 
im Auslande zurückgewieſen, insbejondere von Dr. X. P. Müller, dem Direftor der 
Allgemeinen deutihen Schule in Antwerpen, von A. Kaufmann, Paſtor und Rektor 


Paul Dehn, Deutfchtum im Auslande. 615 


der deutichen Schule in Alerandrien, von Pfarrer P. Eichler, Borfigenden der Diakonie: 
Schulkommiſſion in Antwerpen, von Dr. Richard Jahnke, Direktor der Deutichen Schule 
in Brüffel, von Dr. Franz Schmidt, Direktor der Deutichen Schule in Bufareft, von 
Baltor E. Wedemann von der Deutihen Schule in Kairo, von Friedrich Kleber, 
Direktor der Deutihen Schule in Neapel, von A. Sigmund, Direktor der Deutjchen 
Schule in Salonif u. a. 


Verein Dentjcher Lehrerinnen in England. Am 6. November feierte dieſer 
Verein in Yondon jein 25. Stiftungsfeft. Er iſt der erjte Verein feiner Art und aus 
einem pädagogiichen Vejezirkel hervorgegangen, den Frl. Adelmanı, die noch heute an 
der Spike des Vereins fteht, ſchon im Jahre 1869 begründet hatte. Deute zählt der 
Verein 700 Mitglieder, beiitt drei Häujer und anjehnliche Mittel. „Mit Genugthuung 
fönnen Sie“, jo jchrieb die Frau Großherzogin von Baden an Frl. Adelntann, „auf die 
vielen Schußbefohlenen blicken, die Rat und Unterftüßung und ein Hein bei Ahnen 
aefunden und dadurch; eine Erleichterung für den vft mühevollen Beruf, den Ddiejelben 
ſich erwählt.“ Zu der Feier waren Vertreter verwandter Vereine aus der Ferne 
erihienen, jo Frl. Schultze von Allgemeinen deutichen Yehrerinnenverein, Frl. Raabe 
für den Berein deuticher Lehrerinnen in Italien, Frl. Böttcher für den Verein deuticher 
Vehrerinnen in Frankreich, Frl. Diel für den Verein zu New-York, Frl. Keuck für den 
Verein in Buenos Aires, Fri. Rother für den Berein in Sonftantinopel. Pon der 
Gründung des Vereins erzählte Frl. Adelmann jelbjt: „Es hieß mit Menjchen (Agenten) 
brechen, die im Bemwußtjein ihrer unbeftrittenen Macht die Yehrerin, beſonders die aus: 
ländiiche, fnechteten, weil fie vereinzelt ftand im fremden Yand. Manch bange Scele 
wollte uns von unferm Vorhaben abhalten, — ja, aus unſerm Leſezirkel jchloffen ſich 
damald nur 5 dem Berein an. Seine Behörde, nicht einmal ein deuticher Geiſtlicher 
wollte etwas von uns willen; überall ftarrten uns die Worte: „Unsinn!“ „Vächerlichfeit!“ 
„Unmöglichkeit!” entgegen. Ja, eine Anzahl jogenannter deutjcher „Pehrerinnen“ ver: 
band ſich mit gewiſſen mächtigen Agenten, um uns zu erdrüden; feine von uns jollte 
je wieder zu einer Stelle gelangen! Es waren harte Zeiten, harte Kämpfe, von denen 
die heutige Generation feine Ahnung bat.“ Schließlich mahnte Frl. Adelmann die 
deutichen Yehrerinnen, aud) in Zukunft treu bei der Fahne zu bleiben, ſich jolidariich ver: 
bunden zu fühlen, feinen Stein des Baues gering zu erachten, der Deutichlands wan— 
dernden Töchtern Schuß und Halt verleiht, „weil Ihnen die bitteren Erfahrungen und 
Kämpfe der Alten eripart geblieben, weil Zie fi) vom erften Augenblif im fremden 
Yand geborgen fühlen dürfen. Wer nie gedarbt hat, fennt den Hunger nicht. Ich jage 
Ihnen, wenn heute der Verein auseinander geht, dann toben die Gefahren und die alten 
Feinde, die wir niedergegiwungen haben, aufs neue und eben jo ftarf. Nehmen Sie fidh 
ein warnendes Beiſpiel am Yehrerverein, der bald nad) dem unjrigen gegründet und 
nad 10 Jahren wieder aufgelöft wurde. Für die Herren Tiegt jebt alles mie zubor. 
Erhalten Sie das, wofür wir gekämpft, gearbeitet haben, feien Sie einig, einig, einig!” 


Fortichritte der deutſchen Sprache in England. In der Erkenntnis, daß die 
deutihe Konkurrenz auf dem Weltmarkt erfolgreicher befämpft werden fann, wenn auf 
britifcher Seite das Studium der deutichen Sprade gründlicher betrieben wird, hat ſich 


616 Paul Debn, Deutfchtum im Auslande. 


in den legten zehn Jahren auf den engliichen Hauptichulen, wo Deutich und Franzöſiſch, 
beides aber nicht obligatorisch, gelehrt wird, die Zahl derjenigen Schüler, die freiwillig 
deutfch lernen, mehr als verdreifacht. Und in demfelben Maße ift die Zahl der deutjchen 
Spradjlehrer an den engliihen Schulen gejtiegen. Auf den wichtigften Univerfitäten 
giebt e3 bereits ebenfoviel Studenten für die deutfche wie für die franzdfiiche Sprade 
Diefer Umſchwung zu Gunften des deutichen SpracdunterrichtS bedeutet zwar nicht ein 
Anwachſen der englifchen Sympathieen für das Deutiche Neich, wohl aber eine bemer: 
fenswerte Steigerung des Anfehens des deutichen Volkes und feiner wirtichaftlichen 
Entwidelung. Bei der Eigenart der Engländer ift dieje Ericheinung in hohem Grade 
erfreulid. Beruhen die Beziehungen der beiden Völker auf Achtung, jo ift Aussicht 
vorhanden, daß die bejtehende Abneigung, die nun einmal vorhanden it, fih in den 
Schranken einer nicht immer maßgebenden Gefühlspolitif erhält und die Möglichkeit 
eines Zufammengehens in großen weltpolitiichen Fragen nicht ftört. 

Inzwiſchen haben verichiedene deutiche Vereine in England dringende Warnungen 
vor Zuwanderung ergehen laffen. Der füdafrifanifhe Feldzug hat in England eine fo 
große Geſchäftsnot hervorgerufen, daß viele Leute aus anscheinend ſicheren und guten 
Stellen entlaffen werden. Niemand ahnt in Deutſchland, jchreibt der deutiche chrift- 
lihe Verein junger Männer in London, welche Scharen von gebildeten Yeuten hier 
(arbeitslos) umhergehen, die gern jede Handarbeit verrichten würden und die, von 
Dunger getrieben, betteln müſſen! Häufig ftehen nach 10 Uhr abends harrende 
YandSleute vor unferer Thür, die nicht einmal ein Nachtlager haben! Befonders feien 
Kaufleute gewarnt, die fchlecht bezahlt werden und felbft bei bejcheidenen Anſprüchen 
oft nod) zuſetzen müſſen. 


Ungarn. Nach einem VBortrage des höchſt verdienftvollen Schulrats Dr. Ro hmeder 
in der Münchener Ortsgruppe des „Bereins zur Erhaltung des Deutihtums im Aus: 
lande* zählt UIngarn unter feinen 16 Millionen Einwohnern 7Y/, Mill. Magyaren, 3 Mill. 
Rumänen, 21/, Mill. Slaven und 21/, Mill. Deutiche. Die Deutſchen figen hauptſächlich: 
im Weiten an der öfterreichiich-ungariichen Grenze (300 000 bayerischen Uriprungs), im 
Nordmweiten in der Zips (80 000 mitteldeutichen Urfprungs), im Südojten in Siebenbürgen 
(225 000 rheinfränfifhen Urjprungs), im Süden im Banat (500000 ſchwäbiſchen Ur— 
jprungs), in der Bacska (250000) und in der „Ichwäbifchen Türkei“ (250 000), ferner in 
und um Ofen und zeritreut in ganz Ungarn. National und politiih am geichlofjenften 
ftehen die Siebenbürger Sachſen da. Im Banat beginnen neuerdings die Deutjchen 
ih ihrer nationalen Art bewußt zu werden; in Ddiefem Sinne wirken einige Organe, 
wie das „Deutiche Tageblatt für Ungarn“ (Temesvar), die „Groß-Kikindaer Zeitung“, 
das „Ungariſch-Weißkirchner Bolfsblatt” und die „Torontaler Zeitung”. Trotzdem die 
Deutſchen in Ungarn, insbeiondere in Siebenbürgen, nichts Anderes anjtreben als die 
Erhaltung ihrer nationalen Eigenart, vor allem ihrer Eprade, wie fie durch das 
Wationalitätengejeg von 1868 verbürgt worden ift; trogdem im ungariichen Abgeordneten: 
haufe der fiebenbürgifche Abgeordnete Melzer Ende November erklärte, als er gegenüber 
unhaltbaren Anſchuldigungen das Wirken des Gujtad Adolf-Vereins in Ungarn ver: 
teidigte, daß die Bande, die das fiebenbürgifhe Sachſenvolk kraft feiner Sprache und 
feines Glaubens mit Deutjchland verknüpfen, lediglich dem Gebiete des geiftigen und 


Paul Dehn, Deutichtum im Auslande. 617 


veligiöjen Yebens angehören; trogdem er aufs neue verficherte, was durd die Thatjachen 
längft erhärtet worden ift, daß das Dafein der Siebenbürger Sachſen als Volksſtamm 
mit dem einheitlihen Beitand des ungariihen Staates untrennbar verbunden fei; er: 
heben fi in Ungarn immer wieder neue Befürdtungen über angeblich pangermaniftifche 
Beftrebungen und wenn aud; die ungariiche Regierung diefe Befürchtungen nicht zu 
begen icheint, jo zeigt fie ſich dennoch beitrebt, die deutiche Sprade nad Möglichkeit 
zurüdzudrängen, zunädit in der Schule, neuerdings auch durch die Unterdrüdung 
deutſcher Schaufpielunternehmungen in der Hauptſtadt wie in der Provinz. Die Be- 
jeitigung der deutichen Spradhe aus den Volksihulen von Peſt u. j. w. fteht mit dem 
mitteleuropäiichen Bündnis, an dem die ungarische Regierung ungmeifelhaft feithält, 
formell nit in Widerjpruch, wohl aber mit dem ®eilte, aus dem heraus dieſes 
Bündnis gejchaffen wurde, und die deutichfreundlichen VBerfiherungen der ungarischen 
Regierung beziehen fi nur auf das Deutiche Reid) und werden faltblütig verleugnet, 
wo es ſich um die Intereſſen, ja jelbft um die Rechte der Deutihen in Ungarn handelt. 


Aumänien. Wertvolle Beiträge zu der auffteigenden Entwidelung der deutſch— 
evangelifchen Gemeinden in Rumänien, aber auch in Serbien und Bulgarien finden ſich 
in zwei angiehenden, kürzlich erichienenen Büchern. Pfarrer H. Meyer war fieben 
Jahre in Rumänien thätig und giebt in jeinem Werte „Die Diajpora in Rumänien, 
Serbien und Bulgarien“ (Potsdam 1901), einen Ueberblick über die Gejchichte der 
dortigen deutich-evangelifhen Gemeinden auf Grund genauer Kenntnis ihrer Verhältniffe. 
Eine willlommene Ergänzung dazu bildet das Buch „Erinnerungen eines Dia: 
ipora-Geiftlihen* von R. Neumeifter (Botsdam 1901), der 21 Yahre Pfarrer in 
Bulareft war. Man erjieht daraus, welche großen Erfolge mweitblidende und opfer— 
freudige Deutſche im Auslande erzielen fünnen, wie fie der frühere Generalkonful 
Karl Freiherr von Meuſebach, der Rentner Friedrid Hötſch und Pfarrer Neumeifter in 
Bukareft felbft, aber aud) in anderen rumänijchen Gemeinden gehabt haben. Friedrich 
Hötſch ift dad Vorbild eines edlen und freigebigen deutichen Mannes im Auslande, fein 
Andenken wird nod) lange beftehen und hoffentlid) anderwärts zur Nachfolge anregen. 


Niederlande. Nach der Volkszählung vom Dezember 1899 wohnen in den Nieder: 
landen 31 865 deutſche ReichSangehörige, davon rund 10000 in den bier Grofftädten 
und rund 18000 in den Grenzprovinzen. 


Auffiich:Oftafien. In dev Fremdenkolonie von Wladiwoſtok übt das deutiche 
Element einen von Jahr zu Jahr mwachjenden Einfluß aus. Im auswärtigen Handel 
ftand der deutiche weit voran, faft ein Drittel der Einfuhr fam aus Deutichland. An 
der Spite der deutichen Kolonie fteht der Inhaber des erften Handelshaufes von Wladi- 
woſtok Kunft & Albers. Näheres über Wladiwoftot und die militärgeographifche und 
handelspolitiihe Bedeutung ſeines Hinterlandes veröffentlichte Generalmajor a. D. 
von Bepelin in der „Marine-Rundihau“, Jahrgang 1901. 


Ö 


EEOOEEEEOEEREEOEOO 


kitterariihe Monatsbericte. 
Don 
Carl Buiie. 
IV. 
E. v. Wildenbruch, Unter der Geißel; Lachendes Land. — Zohannes Schlaf, Die Suchenden. 
— Mar Kretzer, Die Madonng im Grunewald. — Wilhelmine von Hillern, Der Gemaltigite. — 


Riecarda Huch, Aus der Triumphgaſſe. — Hermine Billinger, Aus dem Kleinleben; Binden 
Bimber. 


Es ijt eine alte Klage unjerer Univerjitätslehrer, daß unjere Doftorarbeiten feine 
Nejultate mehr ergeben. Es werden auch die jeltiamften und merfwürdigiten Themata 
aus purer Berlegenheit dafür geitellt. Da ift es doppelt verwunderlid), daß noch nie: 
mals eine der interellanteiten und aud; dem bloßen Fleiß zugänglichen Aufgaben ergriffen 
ward, die nämlich, an der Dand der Geichichte etwas über die Pinchologie des Erfolges 
zu jagen. Es jollte an den Dichtern eines Jahrhunderts unterfucht werden, in welchem 
Alter, mit weldem d. h. dem mievielten Buche fie ihren größten Erfolg errangen, 
welche Gründe, Zeitverhältniffe und dergl. dabei mitjpielten, wie fih der Rückſchlag, 
die Reaktion dagegen zeigte u. ſ. w. Das alles ließe fih ja faft ziffernmäßig belegen 
und fönnte uns wertvolle Aufjchlüffe geben. Wir willen ja faum mehr, daß Goethe 
niemals auch nur annähernd wieder den Erfolg des Werther und Götz erreichte; wir 
jehen an allen Lyrifern, dat immer das erjte Buch das mahgebende und erfolgreichite 
ift, daß Heine und Geibel, um nur zwei zu nennen, vergeblich durch Beileres und 
Tieferes ihre Eritlinge in der allgemeinen Schätung zu bejiegen tradhteten; daß mohl über: 
haupt jedem Lyriker zu mißtrauen iſt, der die Welt nicht mit jeinem erften Buche befiegt ; dat 
fein Aquis submersus den dauernden Erfolg des Immenſee beeinträchtigen Eonnte, jo ſehr 
Storm darunter litt; daß ganze Dichtertragddien — ich denfe an Roquette — fid 
daran fnüpften. Es fcheint faft, wie auch Jens Beter Jacobſen bemerft, ein Geſetz zu 
fein, daß nad einem erjten erfolgreichen Werfe das zweite, ob es tiefer, beſſer, reicher 
und feiner jei, abfalle. Den verichiedenen Gründen nachzuforfchen, ift hier nicht der Ort. 
ch wollte nur auf das Thema aufmerfjam machen, das der Fleiß einmal möglichit aften- 
und ziffernmäßig darftellen follte. Und es ift charakfteriftiich, da&, wenn ich fragte, von 
welchem modernen Poeten aus ich auf diefe Einleitung und dieſe Gedankenkette ge- 
fommen bin, nicht eine, fondern zehn, zwölf verichiedene Antworten bereit mären. 
Der befte Beweis, daß nicht Zufälle, ſondern Gejeke hier verborgen wirfen. 

Es ift in diefem Falle Ernft von Wildenbrud, der mid; auf dieje allgemeinen 
Auslaffungen führte Man hat ihn unter die Heiligen erjter Ordnung in den Himmel 
verfest und ihn hohnladyend zur Hölle geriffen; man hat ihn mit Shafefpeare ver: 


Earl Buſſe, Litterariſche Monatsberichte. 619 


glichen und boshaft über ihn aus der Sceffelihen Dichtung citiert: „Er iſt nur 
ein Trompeter, und doc; bin ich ihm gut!“ Er hat gewiß zuerit des Danfes zu viel ge- 
erntet, aber es war nicht nötig, daß der Musgleid; durd) jo viel Hohn und Undant 
herbeigeführt werden ſollte. Geradezu empörend iſt diefer Dichter oft behandelt worden, 
und jeder journaliftiiche Zeilenichinder glaubte fich al große moderne Perfünlichfeit zu 
ermweifen, wenn er einen jchlechten Wit über ihn rip. Man hat jeinen lautern Patriotismus 
verdächtigt, man hat ihn den Stabstrompeter der Hohenzollen genannt, ihn als 
Tendenzpoeten verklagt, aber diejelbe Ktritift erhebt den „Stabstrompeter von Waldeck 
und Manaffe“ in den Himmel, einen um 50 Jahre in der Beitentwidelung zurücgebliebenen 
Hamburger Scyulmeifter, der grob zuredtgehauene Tendenzjtüde zimmert und deffen 
dichteriiche Qualitäten, wenn fie überhaupt vorhanden find, zu denen Wildenbruchs ftehen 
wie dad Mäuslein zum Elefanten. Ich halte ed mehr nod) für Dichter» als für Kritiker: 
pflicht, das auszusprechen. Der Kritiker, befonders der moderne, veriteht eine Ericheinung wie 
Wildenbruch leichtlich nicht; er ift auf jo beitimmte Poeten und eine jo beftimmte Poeſie 
dreiliert, da er alles anders Geartete gern ablehnt und in feiner Einjeitigfeit über 
einzelne Sünden garnicht zum Ganzen vordringt. Der Dichter aber muß Wildenbrud) 
lieben und ehren. Denn feine Fehler find ganz ſpeziell Dichterfehler, das heikt: 
Fehler, die mit dem Beſten zufammenhängen, was der Dichter hat: mit feinem 
Temperament. Wir aber find fo überſchwemmt mit Kniffligem und Ausgetifteltem, „Bincho- 
logiichem* und Gifeliertem, daß wir Gott danfen jollten, wenn mal einer in Sturm und 
Feuer fommt Statt in zarten Windchen, wenn einer mal nicht jchulreitet, jondern ventre ä 
terre dabinfegt, ob er auch wirflid) dabei hin und wieder aus dem Sattel fliegt und 
ihm der Atem ausgeht. Ein Dichter ift doc nicht dazu da, die flugen Köpfe mit 
Problemen zu verjorgen — er ſoll die Herzen füllen und hinreißen! Das hat Wilden: 
bruch gethan, er hat uns oft herrlich begeiftert, er ift der Kugend, der guten deutfchen 
Jugend, die noch helle Augen und den Drang nad dem Schwert und frischer Kraft— 
bethätigung hat, entgegengefommen. Die Herren allerdings, die am liebften das Welt- 
friedensfeft unter Bertha von Suttnerjchen Unterröcken feiern möchten, werden die 
Achſeln zucken und lächeln. Aber ich glaube nicht, daß fie jemand um diejes Lächeln 
und ihre fühle Nuhe beneiden wird. 

Doc find e8 nicht Wildenbruchs Dramen, die mid) hier angehen. Wie der wilde 
Trompeter der Revolution, Georg Herwegh, neben feinen voten, tyrannenmordleczenden 
Sturmrufen jeine faft weichlicherührieligen Strophen aus der Fremde dichtete, jo hat auch 
Wildenbruch neben feinen lauten, wohl gar lärmenden Dramen ganz jchlichte, ftille und 
feine Gejchichten gejchrieben, die mit ficherer Hand ans Herz fallen und es tief ergreifen. 
Seine Kindergeichichten, die „Sinderthränen* und „das edle Blut“, jind ganz einzig 
ihön; jeine Novellen und Romane Stets bedeutend angelegt, ob auch ungleih. Er ver- 
greift ſich auch bier oft, aber ich kenne fein Bud) von ihm, das nicht mit glänzenden 
Zug gejchrieben wäre, jo daß man folgt, wie jeltfame Wege das Phantaſieroß auch ein= 
Ichlägt. Aber — e8 galoppiert diefe Wege wenigftend und fjchleppt fic nicht mühjam 
als Karrengaul dahin. 

Das Galopptempo ift auch in Wildenbruchs neuejter Erzählung „Unter der 
Geißel“ (Berlin, G. Grote), Doch um es gleich zu jagen: es ift diesmal wirklich nur 


620 Carl Buſſe, Litterariſche Monatsberichte. 


ein Galopp „unter der Geißel“. Die Phantafie ſchwingt die Peitſche und hetzt. Wir 
jagen dahin und werden gejagt auf romantifch-abenteuerlicdher Fahrt, auf der es am 
beiten ift, fich nicht weiter zu befinnen. Wenn der Ausdrudf erlaubt ift: eine falte Hitze 
jtet in dem Buche, das ich bei aller Energie der Darftellung doch zu den ſchwächeren 
Leiftungen Wildenbruchs zähle Ein reiner tragifcher Eindrud will nicht auffommen. 
Die Menschen bleiben uns jamt und fonders fern; die beiden, auf die das vollite 
Licht fällt, Vater und Tochter, find uns von Anfang an unheimlich, find vom Bahnfinn 
belauert. Das Herz fommt nicht auf jeine Rechnung, tiefere Hergenstöne werden faum 
angeichlagen, alles fteht von vornherein gleihfam unter einem Drud und Zwang, der 
ein freies Aufridhten garnicht mehr erlaubt, und das Ende hat nichts Erlöjendes, der 
Drud bleibt. Man fieht einem ſeltſamen Schauspiel zu, das man im Tiefften nicht ganz 
veriteht, fatalen und beinahe fataliftiich genommenen Geſchehniſſen, denen alles Typiſche 
fehlt und damit zugleidh auch alles wirklich Tragiiche. Es wird einem unbehaglic zu 
Mute, ja, diefe Unbehaglichfeit fteigert fi) manchmal aud bis zu leifem Grauen, aber 
weiter geht es nicht. Man legt das Bud) mit dem Bewußtſein zur Seite, dat man es 
nicht fefthalten wird und daß man fich nicht des Ganzen freuen fann, jondern nur 
einiger Scenen, die groß und wirkungsvoll geichildert find, mie etwa der Abend von 
Königaräg, wie vor allem der Tanz der Johanna Margarethe... . 

Ganz anders wirft desjelben Dichters „Lachendes Yand“, eine dierzehnte ver: 
mehrte Auflage der „Humoresken“ mit Hirzelicher Titelzeichnung. Hier wird mit derb- 
fräftigen Mitteln gearbeitet, der prächtige „Onfel aus Pommern“ bringt einen dazu, 
dak man Thränen ladjt, und auch das übrige ift fo liebenswürdig, daß man gern eine 
freie Stunde daran wenden mag. Daß diejes „Lachende Land“ eigentliche litterarifche 
Prätenfionen nicht erhebt, beweift auch der neu hinzugefommene Anhang: „Julius Roden- 
berg als Berlin-Bummler“, in dem — mertwürdig genug — Wildenbrud eine Lanze 
für Berlin einlegt, faft hätte id; gejagt: Für Berlin als Heimatsftadt. Ob er mwirflich 
jemanden befehren wird? 

Ernft von Wildenbrud) und die „Modernen“ ftanden einst, in den achtziger Jahren, 
dicht beiiammen. In dem Buche, das heute als erites Dokument Nüngftdeutichlands in 
den Pitteraturgeihichten aufgeführt wird, in Arents „Modernen Dichtercharakteren“, itt 
als einzigfter Aelterer neben Arent, Hendell, Conradi, Hart, Holz u. j. w. der Dichter der 
„Karolinger“ vertreten, den die Jugend für ſich reflamierte. Heute liegt zwiſchen Wilden 
bruch und den Modernen eine ungeheure luft. Allerdings: die heutigen Modernen 
find auch jchon wieder andere als die von 1884. Dieſe lekteren find teils tot, oder 
lang: und Flanglos verichollen, oder in den Hintergrund gedrängt. Wildenbruch 
jpielt aber immer noch mit leidlih vollem Orcheſter. Wie dünn und piepfig Flingt 
daneben, was Arno Holz’ einitiger Freund, Johannes Schlaf, vorzutragen hat! Es 
war ein merfwürdiges Paar, die beiden! Arno Holz männlicher, wuchtiger, der Fuge 
Oftpreuße mit einem Schuß Berlinertum, immer etwas überlegen, etwas fatiriih. Und 
neben ihm, jeine „beflere Hälfte“, der faft weiblich-weihe Schlaf, Stimmungsmenfch mit 
etwas jentimentalem Anhauch, Eraftlos jedem Eindrud nachgebend, ein Nitancenpoet. 
Seit fich die beiden getrennt haben, erperimentiert jeder erfolglos. Holz will eine neue 
Lyrik und Dramatik erfinden, wie er ſ. Zt. die laufende Maus erfand, vertrödelt ſich 


Garl Buſſe, Litterariiche Monatsberichte. 621 


dabei gang, wird verbittert und jchweigt. Schlaf jhreibt Romane, Dramen und Ge 
dichte, die alle von peinlicher Kraftlofigkeit find und — was jchlimmer ſcheint — eine 
gewilfe innere Haltlofigkeit zeigen. 

„Die Sudenden“ heißt Johannes Schlafs neuefter Roman (F. Fontane u. Eo., 
Berlin). Es ift ein fatales Bud — fatal, weil es fih als etwas Bejonderes und 
Eigenes aufipielen möchte, und weil es doch an feiner Stelle verbergen kann, daß es 
ein Buch dichterifcher Impotenz ift. Ich mähle diejes harte Wort, weil der Roman 
täujchen will und Ddiefen und jenen wohl aud täujchen wird. Die beſte Kritik 
Darüber war die Parodie, die im „Ulf ftand. Das Thema ift abgedrojchen: der 
Mann zwilchen zwei rauen. Doc giebt es eine neue Nüance in diefem dreiedigen 
Berhältnis: Der „Mann“ (der üblihe Wafchlappen aller modernen Romane) eritrebt 
ein... jagen wir: mormonifches Ideal. Er möchte jeine Frau behalten, die er aus 
Gewohnheit, alter Liebe und ald Mutter feiner Kinder braucht, und möchte doch auch jeine 
neue Geliebte in fein Daus nehmen. Den zwei Frauen möchte er klar machen, daß er 
jie beide nötig hat, und fie follen fi) hineinfinden und fi in ihn teilen als gleich: 
berechtigte. Da dieje bitter ernſt behandelte Lächerlichkeit nur halb zur Ausführung 
gelangt, und da es mit der neuen Form der Ehe nichts wird, jo läßt „der Held“ feine 
Frau figen und lebt irgendwo in der Welt mit „Slona*, der freien Berjönlichkeit, 
aujammen, die feine Mannheit endlich dadurd; erfannt hat, daß er wütend fie einft 
prügelte. Diefe beiden treiben nun, wie der Schlußſatz des Romans lautet, „ferneren 
Bollendungen entgegen“. Der unfreimwillige Humor diejes Schluffes iit föftlich; der ganze 
Roman läherlid. Man braudte fein Wort mehr daran zu verjchwenden, wenn nicht 
auch hier eine bittersernfte Seite vorhanden wäre. 

Johannes Schlaf hat ih mit dem Papa Hamlet, der auf Hauptmann den ent- 
iheidenden Einflug ausgeübt, und mit der „Familie Selicke“ eine litterarifche Pofition 
geihaffen. Er hat jpäter bewiejen, daß er eigentlid) eine ſchöne Seele ift und daß er 
ausgezeichnet ein paar feine Fleine Naturftimmungen geben fann. Sein „Frühling“ (irre 
ih ridt: im Mufenalmanad) von Bierbaum) war wirklich föftlih. Dann jchüttete er 
ſolche Naturnippesfachen gleich bandweiſe aus, und da wirkten fie — vide „in Dingsda“ 
— jchon langweilig. Zuletzt trug er Geftalten und Probleme in diefelben Naturftudien 
und -ftunmungen hinein und nannte fie Romane Wär der Laubfrojch ein Laubfroſch 
geblieben, hätt! man fich jeiner gefreut. Nun wollt er fi) aufpuften, daß er groß 
würde mie ein Dchje, aber da plagt er, wenn man ihn anfaßt. 

Der Roman „Die Sudenden“ hat 321 Seiten. Ach glaube mit qutem Gewiſſen 
jagen zu können, daß davon 200 Seiten völlig überflüfige Naturjcdilderungen und 
Neflerionen enthalten. Wenn man billig Bogen füllen will, madt man dergleichen 
immer. Gleich das erite Kapitel zeigt, wa8 man zu erwarten hat. Und dann quält 
fih Schlaf mühjelig weiter. Es wirft zulegt nur noch humoriſtiſch, wenn er jedes 
nebenjädhliche Kiffen, auf dem irgend einer ruht, des Langen und Breiten befchreibt; 
wenn er ein ganzes Kapitel von 9 Drudfjeiten dazu braucht, um zu erzählen, wie der zu 
einer Kranken gerufene Arzt zu ihr hingeht. Humoriſtiſch wirkt es, weil man es als Tric 
empfindet, als eine Schwäche jondergleichen, die Angit hat vor der Handlung, die trotzdem 
wohl noch als Stärfe genommen fein möchte. Es wäre ein Leichtes, diefe große gallert- 


622 Gar! Buſſe, Pitterariiche Monatöberichte. 


artige Maffe, die einen Roman vorftellen joll, zuſammenzuquetſchen, dat nur ein Kleiner 
Heft übrig bleibt. Aber ſelbſt dazu gehört ein bischen Straft. Won den Perionen, die 
in diefem Brei ſchwimmen, ift dasjelbe verftärft zu jagen, was Julian Schmidt den 
Tieckſchen Helden nachgeſagt hat: es fehlt ihnen die fittlihe Schwere. Deshalb glaube 
id weder an „Die Suchenden“ noch an Johannes Schlaf, den Suchenden, überhaupt. 
Er ſucht, aber er ift zu fteuerlos, ala da man glauben fünnte, er würde jemals finden. 

Segen dieſe Shwächlichfert wirft Mar Kretzer wie ein Athlet, troßdem er gerade 
in feinem Neueiten faft zu viel von Nervenzufällen und phyſiſcher und pinchiicher Schwäche 
redet. Ich ſchätze die großen jozialen Romane von Kretzer jehr; man joll ihm „Die 
Verkommenen“ erjt nachſchreiben. Er iſt mandmal nüchtern, aber von unerbittlicher 
Sadjlichkeit und Stonjequenz. Er mengte weiter wohl Nattengift fir Dienftmädden: 
geſchmack in jeine erften Romane, aber er hatte auch grandioje Partieen darin, die von 
großer realiftiicher Geſtaltungskraft und Phantaſiemacht zeugten. Seitdem hat fich fein 
Geſchmack wohl mehr geläutert, doch leider find auch die grandiojen Partieen zugleid; mit 
dem Wattengift mehr und mehr gefhwunden. Gr hat fich zum Bourgeois entwidelt, 
zum guten Erzähler für die weiteften Volkskreiſe. Das joll fein Vorwurf fein, jo vor- 
wurfspoll es klingt. Gin Dichter ift fein Automat, der immer die gleiche Ware liefert. 
Und es ift ganz verftändlich, daß man als Pierziger anders ſchreibt, wie ald Zwanziger 
und Dreißiger. „Die Madonna im Grunewald“ (Baul viſt, Yeipzig) ift ein Bud) 
des jchon behäbiger gewordenen Kretzers. Statt der repolutionierenden Arbeiter giebt 
es Darin Erzellenzen und Yandgerichtsräte, Direktoren und Hofphotographen; ftatt des 
Sturmmwindes des Sozialismus Gejprähe über Kunſt und Nerven; und aus dem 
Dunfel des Rieſenneſtes wird man immer wieder in den grünen freundlichen Grunewald 
geführt, in dem ſich ein Pärlein findet. Zögernd und unfräftig fett die Geichichte diejes 
Paares ein; man fürdhtet bereits, Kretzer wäre ganz farblos geworden und hätte feinen 
Wein bis zur Untenntlichkeit verdünnt. Aber allmählich hebt ſich die Erzählung, man 
lieft aufmertjam und Elappt das Bud befriedigt zu. Der bekannte Name dedt zwar 
nur Unterhaltungslettüre, doc immerhin eine, die ihm nicht Unehre madt. Es ift im 
Guten und im Böſen nicht mehr darüber zu jagen. 

Drei Feminina mögen den Reigen diesmal beichliegen: Wilhelmine von Dillern, 
Riecarda Huch und Hermine Billinger. Das typiſche Frauenbuh hat davon Wilhel- 
mine von Dillern, geb. Bird, in ihrem Roman „Der Gemwaltigfte* (Gotta, Stutt- 
gart) geichrieben. Sie hat ſeit der jeligen Geier-Wally nichts gelernt und nichts ver- 
geilen. Es ift wieder eine gewaltige Gonliffenichieberei mit großen Stnalleffeften und 
alpinem Hintergrund. Man meint, die Erzählerin müßte in letter Zeit X. E. Heer 
gelejen haben, denn genau wie der Schweizer Dichter, von dem der vorige Yitteratur- 
bericht iprach, in jeinem beiten Buch „An heiligen Waflern“, fchildert fie den kühnen 
Zohn der Berge im Kampf mit den Elementen, mit der Natur, die er als ingenieur 
ichließlich beftegt und bändigt. Auch ſonſt kann ich vieles, was über X. E. Heer gejagt 
ward, bier wiederholen. Cine bewunderungswiürdig ausgiebige, nur nicht gezügelte 
Phantaſie erfindet eine jich überftürgende Handlung. Der Theaterinftinkt, der weibliche 
Inſtinkt für das, was padt und feilelt, feiert Triumphe. Mit atemlojer Spannung 
lieft man, das Intereſſe am Noh-Stofflichen ift jo aroß, daß ein anderes garnicht auf: 


Carl Buſſe, Pitterarifche Monatöberichte. 623 


fommt. Auch aus diejen Roman liegen fic) bequem drei Bände maden. Als vetar: 
dierende8 Moment in diejer Flucht der Ereigniffe wirken Naturicilderungen und Be- 
tradhtungen, die reichlich eingeftreut find. E8 genügt Wilhelmine von Hillern nicht, 
irgend einen feinen Zug ausgeftaltet zu haben. Sie muß immer, damit er nur ja nicht 
überjehen wird, einen Trumpf draufiegen. So erhält Veit Kollander, der ingenieur, 
einen Brief von feiner Geliebten, während jeine Braut zugegen ift. Soll er ihn öffnen? 
Da jhlüpft die Braut aus dem Zimmer. Und Wilhelmine von Hillern fügt tieffinnig 
hinzu: „D Bildung — und Herzenstaft, welch eine wundervolle Sache!“ Was an fid 
fein gewirkt hätte, wird dadurd) grob und komiſch. Eine ganze Blütenleje ähnlicher Be: 
trachtungen, die von merfwürdiger Trivialität find, fünnte ich hier zum Kranze winden. 
Braude ich hinzuzufügen, daß die 400 Seiten des Romans durchweg im Präjens ge- 
chrieben find? Die Unraft und Erwartung, die durd) das fortwährende Niederpraffeln 
der Ereigniſſe jchon ermedt ift, wird dadurch; noch weiter genährt. Man jcheidet von 
dem Roman mit halber Trauer. Man muß ihn ablehnen, und doch muß man fid) 
jagen, da& hinter dem vielen Theaterdonner aud) ein Teilchen echter Donner jtedt, um 
den es ſchade ift, daß eine unruhige und fahrige Kraft fich bier im ganzen ergebnislos 
vergeudet, die, wenn jie zu gelaſſener Ruhe käme, viele erfreuen fönnte. 

Ungleich bedeutender, überhaupt eine der eigenartigiten Erjcheinungen der modernen 
Frauenlitteratur, ift Riccarda Hud. Bor vielen Jahren bekam ich ein Bändchen 
Lyrik in die Dand von Nihard Hugo. ES gab darin ein paar ganz wundervolle 
Gedichte, beionders eins aus dem 3Ojährigen Kriege, das an marfiger Schönheit mir 
noch heute fast unübertrefflich jcheint. Aus dem „Richard Hugo“ ward eine Riccarda 
Huch. Die merkwürdige Frau wandte fi vom Vers ab und jchrieb ihren erften und 
bisher einzigen Proſaroman, die „Erinnerungen von Yudolf Ursleu dem Nüngeren“ — 
ein Buch, deiien erjte Hälfte befonders von erftaunlicher Kunſt if. Es dauerte nicht 
lange, fo brachte die „Deutiche Rundſchau“ Litterarhiftorifche Arbeiten der Dichterin — 
Charatteriftifen einiger frühromantifcher Dichter. Die erfte Romantik ift mein jpezielles 
Arbeitsgebiet, ich darf aljo ein Urteil darüber fällen, und diefes Urteil kann nur lauten, 
daß faum ein anderer vor ihr die Männer und Frauen jener Zeit in ihrer Fülle und 
Wejenheit fo tief erfaßt und gekennzeichnet hat. Der Yitterarhiitorifer zog die Umriſſe, 
der Dichter trug Leben und Farbe hinein. Nun ift — mit Buchausſtattung von Mediz- 
Pelikan — ein neues poetisches Werk von Riccarda Huch da: „Aus der Triumph: 
gafie*. Lebensſtizzen. (Eugen Diederichs, Leipzig 1902.) Wiederum ein Bud) von 
ſeltſamer Eigenart, ein Ich-Buch wie die Erinnerungen von Ludolf Ursleu. Auch iſt 
diejes erzählende Ich wieder ein Mann, aber es entiteht dadurd fein Widerjpruch, weil 
die Art und Vortragsweiſe Niccarda Huchs eher als männlich, denn als weiblid) 
empfunden wird. Wie in ihren Verſen, fo ift fie auch in ihrer Proſa durch die Schule 
Conrad Ferdinand Meyers gegangen, an deifen Seite Gottfried Keller tritt. Sie hat 
mit den beiden die große fünftlerifche Ruhe des Erzählens gemein, aber es fehlt ihr 
die reine goldne Herzlichkeit Kellers. Es ift weit mehr etwas Dunfles und Schweres 
in ihr, das fogar manchmal zur Schwerfälligfeit werden kann; daneben etwas jeltjam 
Fremdes. Man hat den Eindrud, als fchreibe diefe Riccarda Huch auch ſchwer und 
langiam, jorgfältig jedes Wort drehend und mendend, immerdar bemüht, jedem Tape 


624 Earl Buſſe, Litterariſche Monatäberichte. 


Fülle und Eigenheit zu geben. Deshalb liegt ihr auch der Dialog gamidt. Sie faht 
ihn lieber nacherzäblend zufammen. Und wenn fie die Leute reden läßt, ſeien es nun 
Dirnen und Mörder oder Söhne vornehmer Familien, fo läßt fie jeden einzelnen 
dod) in ihrer gewählten Sprache jprechen. Nur leife Niiancen und das, was er fagt, 
harakterifieren ihn. An der Rch- Erzählung wirkt das auch weniger befremdend, als 
fonft wohl. 

Bom Leben und Sterben erzählt diefe Chronik der Triumphgaffe, wie davon einft die 
Ehronif der Eperlingsgaffe erzählt hat. Schickſale werden ausgebreitet, aber fie find 
nicht die Hauptjache, jondern die Perjonen find es, die fie fich Zimmern und fie tragen. 
Es werden Fäden geſponnen und abgerifjen, Menſchen gehen und vergehen, die Gaſſe 
bleibt, die abſchüſſige dunkle, in der dies alles fich ereignet. Das Bud hat feinen Anfang 
und fein Ende. Die liebevolle NAusmalung der Charaktere ift die Hauptiache, und äußere 
Begebniffe jelbit der ungewöhnlichften Art werden wie etwas Nebenjädliches und Gewöhn— 
liches abgethan. So pajfieren ſeltſam viel Morde und Totſchläge — Riccarda Hud 
erzählt davon immer beiläufig, wie etwa, daß ein Knabe in der Triumphgafle einen 
Milchtopf ausgeichüttet Hat. Es find auch nicht eigentlich die Handlungen, durd) die fich 
die Menſchen uns darftellen und aus denen uns fcharf und jicher ihr Bild erwächſt; 
fondern jede Perſon befommt eigentlid; ihr Täflein, auf dem in wundervoller Feinheit 
ihr Wefen und ihre Art notiert iſt. 

Wir fommen hier auf den fpringenden Punkt. Nämlich, es fcheint manchmal, als 
jeien diefe Menichen nicht aus dem Vollen geſchaffen, fondern nur nachgeſchaffen. Um 
es in ſcharfer Deutlichfeit zu jagen, die allerdings etwas Ungeredhtes hat: als wäre das 
ganze Bud) die außerordentlich feinfühlige Nacherzählung eines großen herrlichen Romans, 
als hätte ein dem Dichter fongenialer nterpret die einzelnen Figuren herausgeholt, 
fie bis in das Innere ihres Weſens verfolgt und vieles, was ſich als Handlung dort 
gab, hier als Neflerion aufgenommen. Es ift fein großer Unterfchied zwiſchen der Art, 
wie Riccarda Huch das Porträt von Friedrih Schlegel und wie fie etwa das eines von 
ihr jelbjt erfundenen Romanhelden ſchafft. Leberall ein gewiſſes verftändiges Rai— 
jonnement, eine bewunderungsmwürdige Abhandlung über einen Menſchen, die ihm ganz 
gerecht wird und eine runde fertige Geftalt vor uns hinftellt. Aber ein letzter Neft geht 
nicht rein auf. ch hoffe, mich Far genug ausgedrückt zu haben, daß verftändlich wird, 
was id; meine. Im Grunde geht doch wohl Riccarda Huch die äußerjte Urſprünglichkeit 
ab, ift jehr viel bei ihr bewußte und vielleicht gar gewollte Kunſt. Sie wird uns nie 
binreißen, aber zur Bewunderung wird fie uns zwingen. Bejonders im fiebenten Kapitel 
find hier Partieen, die man immer wieder lejen fann (S. 126 ff.). Die Künftlerin in ihr 
ift viel ftärfer als die Dichterin. Darin liegt ſchon, daß fie niemals auf breitere Schichten 
einwirken, aber einem Kreiſe litterarifcher Feinichmeder ftetS zu Dante ſchaffen wird. Ich 
muß befennen, daß mic noch jedes Bud der merhwürdigen Frau begierig gemacht hat 
auf das folgende. 

Muß man bei Riccarda Huch von einer dunklen Klarheit reden, fo bei Hermine 
Billinger von einer hellen, goldenen. Jene macht nachdenklich), diefe fröhlich. Es giebt 
noch fo viel Leute in Deutjchland, denen die Eöftliche Schulmädelgefhichte „Anöpfche“ 
unbefannt ift. Sie willen nicht, was fie damit verlieren. Daß daneben jedoch ein großer 


Carl Buffe, Fitterarifche Monatsberichte. 625 


Kreis die Dichterin nad) Gebühr ſchätzt, das beweift die ſoeben ausgegebene vierte Auf— 
lage der Geihichten „Aus dem Kleinleben“. (Morig Schauenburg, Lahr.) Zwanzig 
Skizzen, eine Anzahl prächtigſter Volkstypen, alle jo überaus ficher gegriffen, daß fie gar nicht 
anders fein und daftehen fünnen. Wer Wärme braucht — dieje Dichterin, die Die Liebe 
der armen Vieh-Marie zum Beſen-Jean foverflärt hat, fann allen Frierenden davon mitteilen. 
Die eigentliche Neuheit des Jahres ift aber „Binden Bimber“. (Bonz, Stutt- 

gart 1902.) Eine gräßlich illuftrierte Geihichte, aber das Bud), daS mir von allen am 
meisten geeignet und wert erjcheint, unter deutichen Weihnachtsbäumen zu liegen, das 
jelber ein fröhlich und felig Licht in deutichen Herzen entzünden fann. Reinſte Herzens— 
güte, die ſich auch zu den verlorenſten Pflänzchen in der Schattenecke hinabbeugt, über— 
ſtrahlt es; ein echter körniger Humor macht uns das Herz weit — kurz, ein ſo liebes 
gutes reines Buch, daß die böſe Kritik gern und ganz davor kapituliert. Prachtgeſtalten 
wie der Packer Simſon und die Näherin Sätchen gehen da durch die Seiten — dieſes 
Sätchen, das von fabelhafter Natürlichkeit iſt, das mit ficherer Kraft bis an jeine Sterbe- 
ftunde durchgeführt ift. Die Sterbejcene ift — gerade weil jede Spur von Sentimentalität 
fehlt — tief ergreifend, ift der Höhepunkt der Darftellung. Biel andere Herzensfreuden 
und «Leiden find außerdem noch erzählt, das Heidelberger Schloß blickt von Anfang bis 
Ende auf diefe „P'älzer Leut'“ hinab, die Studenten fingen durd) die Gaſſen: 

„Nun werde geſprochen das legte Wort. 

Balet, Gefelle, Balet! 

Was bier vermelfet, das blühet dort, 

Und einmal wird alles wett.” 


Mer will hingehen und dieſes herzerquidende Bud) lieben lernen? 
1% 
Menlſchenmacht. 


Menſch, dein Schitt auf dem Strome vermagſt du beliebig zu lenken, 
Aber die Stromflut felbft meifterft du nimmer nach Wunfc. 


Pflanzenleben. 
Wohlig gebettet auf fchwellendem 28008, fo hab’ ich gar manchmal 
Träumend ins Blättergewirr ragender Buchen geſtarrt. 
Als ureigenftes Rei fdpllifchben Fricdens erfbien mir’s; 
Amſel und Buchfink auch zollten ibm jubelnden Dank. 
Nichbtiger Traum! Ihr Kronen, in jeglichem Zweiglein und Blättchen 
Fübrt Lichtbunger zumal ſchweigend den beifzeften Kampf. 
Alles ja drängt zur Sonne; den Schwächeren mordet der Schatten, 
Doc fein zeitiger Tod tördert des Ganzen Gedeihn. 


Fin die Qugenderzieher. 
Von des Achilleus Lanze berichtet beilenifcher Tieffinn, 
Wunden, die felbige ſchlug, babe fie wieder gebeilt. 
Yünger der beiligen Kunft wabrbaftiger ABenfcbenerziebung, 
Wäblt fie zu eurem Symbol! Alfo beglückt ibr die Welt. 


Salzwedel im Dezember 1901, G. Legerlot;. 


40 





Vom deuticten Theater. 


Don 


Max Marteriteig. 


III. 


Die rote Robe. — Hedwig Niemann-Raabe. — Madame Rejane. — Unſere Schauſpieltunſt. — 
Die Japaner. 


D“ draußen jo unfrudtbare und von allen Monaten des ahres jchier unange: 
nehmfte, der November, pflegt jeinen üblen Ruf fonft in der bunten Welt 
der Theaterlampen wenigitens etwas aufzubeflern; gewöhnlich bringt er die ſtärkſten 
Neuheiten regſamen Dichterfleiges zur entjcheidenden Probe und höchſtens noch in der 
ersten Dezemberwoche empfangen wir weitere Gewißheit, was wir für die Spielzeit in 
das Gewinnfonto der dramatiihen Buchführung eintragen dürfen. So war es auch 
heuer: im November gab es die von Frankreich herübergeholte „Rote Robe* und der 
Dezemberanfang bradıte uns den lange borausverfündigten „Roten Dahn“ unjeres 
Gerhart Hauptmann. Vom „Roten Hahn“ und jeinem wieder allen Heilsglauben an 
die Entwickelung des naturaliftiihen Dramas verleugnenden Krähen joll erſt im nächſten 
Monat hier berichtet werden, obſchon von der „Roten Robe“ an ſich nur wenig zu 
jagen iſt. Immerhin hat das mit ftarfen Theatermitteln gebaute Stüd des Herrn 
Eugen Brieur, das fi) ja ganz ehrlich als ein Senſations- und Tendenzdrama giebt, 
weit weniger hohnvolle und hochmütige Abfertigung verdient, als ihm zuteil geworden 
und wenn man fi) Schon an feinen aller Welt fihtbaren poetiihen Schwächen jchadlos 
halten wollte, jo hätte dodh am Ende in einem Yand, in dem große Kreiſe über feine 
Nechtöpflege in jo tiefe Beunruhigung verjett worden find, wie es in den lekten Jahren 
der Fall bei uns war, gerade der tendenziöfe Anhalt des franzöfiichen Stüdes etwas 
Nachdenken verdient. Es ift ja überhaupt von unjerer dramaturgiichen Weisheit noch 
lange fein feites Gejeg über das im Drama zuläffige und ihm vielleicht durchaus not- 
wendige Tendenzidje gefunden worden. Herr Brieur war aud) feineswegs jo geihmadflos 
wie zum Beijpiel Herr Felir Bhilippi, der der Reihe nad alle berühmten Fälle unjerer 
heimiſchen jüngſten Geichichte dramatiſch ausichladhtet, jonft hätte er es fich ebenjo Leicht 
machen und friichtweg die Dreyfusaffaire auf die Bühne bringen fünnen. Wer weiß, ob 
ihm das bei uns nicht mit noch jtärkerem Safjenerfolg gelohnt worden wäre. So 
hat er ſich die allerdings nicht ganz geglücdte Mühe gegeben, für feinen ſtark empfundenen 
jozialfritiichen Vorwurf eine Handlung fünftlich zufammenzubauen. Wir aber fchreien 
num über grobe Tendenz. Uns dünft das, was er von der Schwäche und Erbärmlichkeit 
franzöfiicher Nechtspflege meiner Anficht nad) in durchaus redlich pſychologiſch begründeter 
Weile jchildert, als kraſſe Uebertreibung. Herr Brieur hat den bei ums leider faft 


Mar Marterjteig, Yon deutichen Theater. 627 


garz aus der Lebung gefommenen Mut, den Balken, den er jeinen Yandsleuten im 
Fleiſche firen fieht, einen Balfen zu nennen, wofür er, was wieder bei uns undenkbar 
wäre, aud) wenn wir ein folches Inſtitut — vielleicht an Stelle unſerer Schillerftiftung — 
hätten, von der Acad&mie francaise mit einem Preis bedacht murde. Ich kann aud 
nicht finden, daß er auf dem gejpannten Drabtjeil der entrüfteten Bhraje rhetorijche Seil- 
tängzerei vollführte, wozu der Stoff reizen mochte; ich meine vielmehr, daß er als tief: 
bliefender Kenner geiellichaftliher Krankheitszuftände mit jehr viel würdigem Ernft und 
jehr viel objektiver Kunſt die Urjachen jucht, in die Seelen der Bonzen und der Streber 
hinableuchtet und die halb oder ganz Unglüdlichen, die ausübend oder erleidend in Die 
Käder der modernen Rechtsmaſchine geraten find, mit viel Herz begreift und jchildert. 
Das ift immer fein geringes Verdienit. Es war daher ſicher ungerecht, den Franzoſen 
Brieux totzufchlagen, wenn man mit mildlächelnder Nachſicht ſich mit den Thatjachen 
abzufinden bereit war, daß an der der Nanglifte nach oberften deutichen Bühne Herr 
Felix Philippi fein „Großes Licht“ Leuchten laſſen durfte und daß im Berliner Theater die 
alferältefte Gartenlaubenjentimentalität in Gejtalt des Meyer-Förfterichen „Alt:Deidelberg“ 
wieder zu hohen Ehren gebradjt wurde. 

Die „Rote Robe“ war vor etwa Kahresfrift jchon, unter Ausfchluß der breiteren 
Oeffentlichfeit, in der Berliner Freien Volksbühne geipielt worden; die Aufnahme in den 
Epielplan des Berliner Theaters aber gewann den Charakter eines großen Ereigniffes, 
da fie dem Wiedererjcheinen einer unſerer ftärkften Schauſpielerinnen auf der Bühne 
Gelegenheit bieten follte, der faft nur der Erinnerung noch angehörigen Hedwig Nie: 
mann-Raabe. Ich würde in der Vorfreude, die diefe Ausficht mir erwedt hatte, auch 
feinen Anftand genommen haben, zu jagen: eine unferer größten Künftlerinnen! Denn 
immer dürfte Dediwig Raabe als eine jolche in unjerem Gedächtnis leben, wenn — ja, 
wenn wir jeit nicht mehr zu gewahrenden oder vielleicht auch wirklich nie dageweſenen 
Zeiten von großer Kunſt auf der deutichen Bühne überhaupt reden dürften. Wie gern 
möchte man das. Und faft nie lieber, al$ wenn man der Tage fid) erinnert, da Hedwig 
Raabe mit hinreißender Gewalt und allem Liebreiz einer Bollnatur die Marianne Goethes 
uns vor Augen ftellte, als fie dann in der Folge das zunächit fremdartig, krankhaft und 
verworren jcheinende fomplizierte Gebilde einer Nora mit der urwüchſigen Kraft ihres 
Temperamentes und flar legte, — und jelbjt ipäter noch, als fie endlid) einmal die 
unjere Seelen im Ziefften bewegende tragiiche Gewalt und Bedeutung, das moderne 
joziale Heilandserleben der wundervollen Tiichlerstodhter, der Klara in Hebbeld Maria 
Magdalena, mit tieffter Empfindung erſchöpfte. Wie vielen deutjchen Dichtern, hat fie 
auch Hebbel und jeinem über all unjer dramatiſches Schaffen des nadjklaffiichen Deutſch— 
lands fo hoc) ragenden Gebilde die volle Gewalt der Gegenwartswirfung verliehen. — 

Aber war es die unit, der Hedwig Raabe ſolche Siege verdantte, war es ihre 
Kunſt, die jo tief in unfere Herzen griff? der nicht vielmehr ihre Stärke, ihr Naturell, 
ihr unerhört leicht beiwegliches Temperament, das jett ein Feuerwerk von Sonnenfunfen 
um uns jprühen ließ, jett in einen Strudel fchmerzlichiter Empfindung und wirklicher 
Thränen uns hinabriß, ihre föhtliche Uriprünglichkeit? Ahr anſteckendes Koboldlachen, 
die immer loder hinter den Wimpern haftende Thräne, die, gehorfam jeder leiſen Regung, 
jo leicht dem jeelenvollen, blauen Auge entperlte, — ficher, das vergigt man nie! Und 

40* 


628 Mar Marterfteig, Bom deutichen Thenter. 


Hedwig Naabe hat ſich der Jugend, die ihr jolche Kraft verlieh, lange erfreut; bis in 
reifite Jahre hinein blieb ihr die Stärke jugendlichen Frauenempfindens eigen; durch fie 
wußte fie zu gewinnen und zu behaupten. Aber wie jehr fie dabei von dem großen 
Glückskapital ihres Talentes lebte und wie wenig fie je zu fünftleriiher Bollendung 
der Form, zur Meifterichaft des Handswerfs aus Eigenem gethan hat, — das offen- 
barte zu aufrichtigem, tiefem Schmerz der fie body Schägenden und faft mehr nodı 
Liebenden ihr Auftreten als Yanetta im Stüd des Herrn Brieur. Daran ändert das 
fauftdide und für einen Franzoſen faft plumpe Kompliment nichts, das der Dichter ihr 
fir den großen äußerlichen Erfolg feines Stüdes zu machen ſich gemüßigt fühlte! 

Was hierzu nun gejagt werden joll, gejagt werden muß, jelbft wenn es dem 
nationalen Empfinden weh thut, das geht nicht Frau Hedwig Raabe perjünlich an; das 
trifft die Schul- und Stilfrage unferes deutjchen Theaters überhaupt, von der einmal 
wieder geredet werden mu. Nicht nur bei Frau Naabe fonnten wir e8 ſtets beobachten, 
es fpringt fait bei jeder ftärferen jchaufpieleriihen Wirkung auf der deutichen Bühne 
in die Augen, daß unſere Schaufpielerei fait ganz auf den Auftand der Perſönlich— 
feiten, der Begabungen und jo betrübend wenig auf die unit des Berufs geftellt it. 
Mit wenigen Ausnahmen finden wir überall jene FFormlofigfeit in Haltung, Gang, 
Spiel und Sprade, die man aud) bei der jungen Frau Hedwig zu tadeln und zu be 
dauern ſchon reihlih Anlaß hatte Daß fie aber, auf ihre naturaliitiihen Macht— 
mittel pocyend, mit dieſen Mängeln jo leicht ſich abgefunden bat, das rächt fih nun an 
der von feinem Jugendreiz mehr unterftüsten Daritellerin, wie es ſich früher oder jpäter 
bei allen nur impulfiven Talenten rächt. Dieje Sleichgültigkeit gegen die Form, dieje grenzen: 
(oje Verwahrlojung alles Techniichen hat unjere Schaufpielfunft auf ein Niveau herab: 
gedrückt, wie es kunſtloſer kaum bei einer anderen Kulturnation anzutreffen iſt. Auch 
bei den engliichen und amerikaniſchen Vettern nicht: jo Ichlimm deren Bühnenzuftände im 
Hinblid auf die Dichtung find, — der Dandwerfschrgeiz ihrer Spieler ift größer, 
gediegener, ihr Fleiß ausdauernder und ihre Regiſſeure find Bühnentechnifer eriten 
Ranges. Hätten wir eine feſte Ueberlieferung in diefer Kunft, jo dürfte es eben nicht 
erlebt werden, daß eine gefeierte Daritellerin, jelbft wenn fie eine ihren Jahren nicht 
mehr zuftändige Rolle jpielt, durdy automatenhafte Fechterbewegungen der Arme und 
Hände, durch den auffälligen Mangel an Beherrichung des Körpers in Haltung und 
Gang fat den Eindrudf einer noch vor allen Anfängen der Nunftausbildung ftehenden 
Dilettantin madt. Wir dürften auf einer deutichen Bühne nicht die ärgfte der Qiualen 
erleiden müſſen, eine über alle Möglichkeit des Ausdrucks gefteigerte, in häßliches Schreien 
ausartende Sprade, die die Kraft der inneren Bewegung geradezu parodiert, bon 
einer „Meifterin“ diefer Kunſt zu hören. Wenn das ein Beftes oder auch nur ein Gutes 
deuticher Schaufpielkunft ift, jo fteht e$ in der Ihat übel um fie! 

Hedwig Raabes Entwidelung und noc ein Teil ihres reifen Wirkens fiel in die 
Zeit, die der Gefchichtsichreiber unjerer Schauipieltunft, Eduard Devrient, die des 
Birtuojentums nennt, die nach jeiner Meinung eben daran krankte, daß an den deutjchen 
Bühnen fein Werkftattgefeß mehr galt, daß feine fachgemäße Entwidelung des einzelnen, 
feine Pflege des Zuſammenſpiels ftattfand, dafür aber ein Dutend Sterne, die gaftierend 
umberzogen, die alle Wirkung auf fich zu fonzentrieren, von fid) ausgehen zu machen 


Dear Drarteriteig, Bom deutfchen Theater. 29 


verftanden, die ohnehin erſt in den Anfängen jtehende Stilentwidelung zu nidjte 
machte. Diefe lehrhafte Warnung ftüßte ſich freilich auf den Grundirrtum, daß am 
modernen Theater ein Stilgefet aus dem Willen und der Einficht einzelner Meifter und 
Berater der Kunſt ſich jchaffen ließe: Derrient rief das Gewiſſen des Staates wach, dat 
er helfe, er appellierte an die Ehre des Standes, an die Dichter, — aber er madıte die 
Augen zu vor der furdtbaren Grundurſache dieſes Verfalls der Bühne, über den, wenn 
man genau binfieht, in Deutichland zu allen Zeiten geklagt worden ift. Der irrt aud) 
als geiftvollfter Meifter der Bühne, der da glaubt, unfer Theater jei aus dem Geſetz einer 
Kunſterkenntnis herausgewachſen, es ließe an folche Geſetze fich binden. In unferen modernen 
Staaten, wo da3 Volk, das doch eine Kultureinheit fein müßte, wenn man eine Volks— 
funft ihm bereiten wollte, aus bier, fünf, ſechs oder mehr riefigen Geſellſchaftsklaſſen fich 
zufammenfekt, die eine geradezu troftloje Verjchiedenheit der Kultur und des Bedürfniffes' 
nach Kultur aufweiſen, wird das Theater niemals mehr das Ergebnis einer fünftleriichen 
Erkenntnis, eines fünftleriichen Willens fein. Saum die individuellften und nur von 
einzelnen für einzelne geübten Künfte können ſich noch einer ſolchen Entwidelungsfreiheit 
rühmen. Das Theater aber ift eine Gefellfchaftskunft: es kann, feinen Zweck erfüllend, 
nur gedeihen, wenn es die großen fittlichen Fragen der ganzen Volkheit zum tief bervegenden 
Gegenſtand feines Schaffens und Bildens nimmt. Davon fann bei uns auf unabjehbare 
Zeit nicht die Nede fein. Will man für unfere modernen, in Nationen zufammengefchloffenen 
Geſellſchaften und für ihre politischen, wirtschaftlichen, wiſſenſchaftlichen und künſtleriſchen 
Strebungen das Bild einer ftetig in hohen Wogen gehenden See geftatten, jo ift die 
theatraliiche Kultur diefer Geſellſchaft dem allerlegten Anbranden der hohen und ſtürmiſch 
betvegten Wellen an den öden Strand der fpielerischen Refignation, des nach Täufchungen 
lüfternen Ruhebedürfniffes, der Genußgier zu vergleihen. Mit breiten ſchäumenden, ein 
lärmendes Schauspiel vorjpiegelnden Wellenkronen ſpülen die Wogen an diefen Strand, 
was der Sturm draußen im ernfthaften Kampf der Elemente aus den Tiefen wurzellos 
gemacht und aufgewühlt hat. Das Reſultat chaotiſcher Vorgänge mit künſtleriſch 
icheinendem Aufpug, — faum mehr! Es ijt heute über die Kraft aud) eines dramatiſchen 
oder nur theatraliihen Herakles, Ordnung und Spitem in diefes Werk des Zufalls zu 
bringen. Aber da das Scaujpiel trogdem noch Millionen immerwieder anzicht, 
auch immer noch ein Heerbann foftbarer Kräfte diefem Siſyphosmühen ſich weiht, 
jo fann gar nicht oft und eindringli genug darauf hingewieſen werden, daß 
nur die jorgfältigfte und konſequenteſte Arbeit wenigftens Negel und Harmonie in diejes 
chaotiſche Treiben bringen könnte. Dieſem modernen Theater fanıı fein zu dreifacher 
Shafejpearifcher Kraft gefteigerter Genius der Dichtung helfen, wenn es fich ſelbſt nicht 
zuvor die Kultur einer handwerksmäßigen Schulung erwirbt. Daher war e8 nur das 
Urteil der immer gerecht waltenden Notwendigkeit, das auch über die köſtliche Hedwig 
Raabe feinen furchtbaren Spruch fällte: Vae victis. 


Es giebt faum noch Eiferer, die nicht einräumen, daß der legte Anfturm des Na— 
turalismus den europäijchen Künften allen eine heilſame Strifis bedeutete; die hohl ge- 
mwordene Form des Epigonentums mußte zerichlagen, das dürre Laub durch einen 
Sturmwind von den Bäumen gefchüttelt werden, damit die von lange angefammelter 
Kraft geichwellten neuen Triebe zu Blatt und Blüte ſich entfalten fonnten. Auch div 


630 Dar Marteriteig, Vom deutfchen Theater. 


Scaufpielfunjt waren Zöpfe von beträchtlicher Länge gewachſen; fie mußten abgejchnitten 
werden. Aber, dak man hier bei diefem löblichen Beginnen nad) Art der Sansculotten ver: 
fuhr, jtatt umgumandeln, zu veformieren, die abjolute Regellofigkeit auf den Thron erhob, 
das war die jchlimme Folge der vorher jchon herrſchenden Etillofigfeit, des Mangels an 
feften Handwerksgeſetzen. Noch jcheint mir freilich die Einficht nicht reif zu fein, daß 
die Kunſt, die uns die jüngere, unter den Einflüffen des Naturalismus herangewadjiene 
Schaujpielergeneration jekt auftiicht, ſchon einfach unerträglih ift! Noch immer gilt es 
als etwas ganz Außerordentlicyes, wenn uns die Derren und Damen auf der Bühne 
ihre innerlich und äußerlic) nıchtöfagenden „Individualitäten“ mit möglichiter Treue, das 
heit eben, mit dem möglichſten Verzicht auf alle künſtleriſche Arbeit an fi, entfalten. 
Um durd) jeine Individualität zu wirken oder gar zu entzüden, muß man erjt eine jolche 
jein: eine Perfönlichkeit! Die freilih fann nach Goethe höchſtes Glück der Erdenfinder 
ausmaden und auch Glüc verbreiten. Das war der Fall bei Hedwig Raabe! Von 
den neunundneunzig Prozent aber der wenig oder gar nicht Beglücten jollten wir uns 
das endlich enjthaft verbitten. Wir jollten immer mit aller Deutlichfeit betonen, dab 
es uns ganz und gar nicht intereſſiert, den Herrn X. 9), der weder gehen, jtehen noch 
ſprechen gelernt hat, dafür aber feine fchlechten, unerzogenen Manieren als Kunſt uns 
zumutet, fennen zu lernen. Wir wollen die Gejtalt des Dichterd und wollen vom Schau— 
fpieler ein irgendwie fihtbares Beltreben, dieſe Geftalt zu fein, fie unter möglidhftem 
Abftreifen der Zivilperjönlichfeit jo Forreft und jo charafteriftiich wie möglich darzu: 
ftellen. Nur das fann doch überhaupt der Schaufpielfunit Sinn jein. 

Es war für die Darfteller des Berliner Theaters, für den Regiſſeur der „Noten 
Nobe* und für den lleberjeger des Stüdes ein vernichtendes Verhängnis, daß gleich: 
zeitig das nämliche Drama von Madame Nejane und ihrer Truppe im Leſſingtheater geſpielt 
wurde. Sch weiß nicht, ob Frau Niemann:-Raabe, ob einer ihrer Kollegen, mit denen 
ſie jpielt, die frangöfiichen Stunftgenofien fich angejehen hat. Wäre es der Fall, jo würde 
ich es für geboten gehalten haben, daß fie freimütig zu Dr. Baul Yindau gegangen 
wären und ihn gebeten hätten, ihnen aus Gründen nationalen Stolzes — oder nationaler 
Scham — weiterhin zu eriparen, einen Vergleich ſich ausfegen zu müſſen, der die deutiche 
Kunſt nur verächtlich zu machen geeignet war. Aber ich fühle nicht den Beruf, die Moral 
des Schaufpieleritandes zu verbejlern; id; halte mic; nur an das bei dem Vergleich der 
franzöfifchen und der deutſchen Borftellung desielben Etüdes in die Augen jpringende 
fünftleriihe Ergebnis: und das darf, das muß für den Etand unferes Könnens be- 
ihämend genannt werden. An jeder Stelle, in jeder Rolle, ftand der Ordnung, der 
Harmonie, der jtrengen Schulung dort, bier die Pälfigkeit, die Karikatur, die übertreibende 
Willfür gegenüber. Dort überall fichtbar die Zucht einer als innere Verpflichtung em: 
pfundenen und mit moraliicher Anfpannung dargelegten Tradition, bei jedem die äußerfte 
Anftrengung, den bejonderen Charafter bedeutjam für fih und das Ganze in der größt— 
möglichen Storreftheit darzuftellen, — und hier — nun ungefähr das platte Gegenteil 
von dem allen! 

Yohnt es nun, an diefem Falle wieder einmal, vielleidyt zum taufendftenmal, die 
grundjägliche Verichiedenheit zu entwideln, um die der Streit der Anhalt unferer ge: 
ſamten theatraliihen Gntwidelung feit mehr als hundert Jahren gemwejen it? Im 


Mar Marterjteig, Bom deutjchen Theater. 631 


Grunde ift es ja immer wieder nur diejelbe Erfahrung, die Schon um 1780 herum gemacht 
wurde, ald das von der Sturm: und Drangdiditung angeregte junge Scaufpieler: 
neichledjt, beionders das der „Mannheimer Schule“, den franzöfiihen Darftellungsftil, 
den bis dahin das deutſche Theater einzig kultiviert hatte, über den Haufen rannte, — 
den dann Goethe, nach lang abgemwarteter Erfahrung, jorgiam und der triftigiten Gründe 
dazu ſich wohl bewußt, als Heil- und Hilfsmittel wieder aufrichtete. Wohin der Na: 
turalismus dieſe noch fo undisziplinierte Kunst führe, das hatte er als Theaterdireftor 
am eigenen Leibe erfahren: wie es ihm ganz unmöglid) war, auf diefem Wege der Bühne 
etwas von jeinem Wejen einzuflößen. Der immer wieder hevvorbrechenden Verwilderung 
mußten Dämme gezogen werden; und da fich fein national eigenes Geſetz entmwidelt 
hatte, entwideln wollte, griff er zu dem der Tranzöfiichen Bühnenüberlieferung. Diefer 
Borgang Hat ſich in größeren BZeitwellen jeitdem dreimal mit merfbarer Wirfung wieder: 
holt; und lokal beſchränkt, von raicher wechjelnden, flüchtigeren Richtungen veranlaßt, 
hält er die Oberfläche unjerer Theaterkunſt eigentlid) immer in Bewegung. Früher 
nannte man die Gegenftände des Streites „Idealismus“ und „Realismus“. Aber viel 
früher ſchon hätte man anfangen jollen, diejfer hochtrabenden Namen fich zu entwöhnen 
und gute deutiche, jedermann verftändlihe an ihre Stelle zu jegen. Denn allmählid) 
und nun namentlich, nachdem zwanzig Nahre hindurd; fee, mit dreier Semeſter Gelehr: 
jamfeit beladene Dilettanten, die in die Bühnenleitungen und auf die Regieftühle fich 
drängten, die vorerwähnte legte und mächtigfte naturaliftifche Epoche deuticher Schaufpiel- 
kunſt eingeflüngelt und heraufgeführt haben, wird es immer flarer, daß es fich nicht um 
Idealismus und Realismus, fondern einfah um „Können und Nichtkönnen“ handelt. 
Um Yernen und Nichtlernen! Um Sunftbegriffe oder Dilettantismus! Cinftweilen, wie 
gejagt, behaupten das Nichtfönnen, das Nichtgelernthaben, der Dilettantismus das Feld. 
Und fo war es nur natürlich, daß eine franzöfiiche Schaujpielerin, mit einer raſch zu— 
ſammengeworbenen Truppe, wie fie mitten in der Winterjpielzeit cben zu haben iſt, — 
alfo feineswegs, von der großen Miinftlerin, Frau Rejane, abgejehen, mit Sternen der 
franzöfiichen Bühne, die im Winter aud in Paris Beichäftigung finden, und [ohnendere, 
als fie ein Gaftipiel in Berlin verjpricht, — mit guter Mittelmare wollen wir aljo jagen, 
eine doch auch zu vornehmer Echaufpielkunft verpflichtete deutjche Bühne in Grund und 
Boden fpielte. 

Ein andermal mag davon gejprochen werden, wie Mangel an Sac)fenntnis, Ueber: 
hebung, Gemifienlofigfeit und Frivolität im Weſen unjerer mit dem Theater ſich be: 
faffenden Bubliziftif viel gelündigt haben, foldhe traurigen Nejultate zu zeitigen. Man 
prüfe nur die allgemeine und dann gar die Kachbildung nad), die gemeinhin der junge 
Mann, der an deutjchen Zeitungen „das Theater hat“, aufweilt. Es läuft eben aud) 
da darauf hinaus, daß man zwiichen Können und Nichtfönnen feinen Unterichied zu 
machen verfteht; daß bei den Wertungen immer ganz falſche Forderungen unterjchoben 
werden; dat das Wejen der Sache nit erfannt wird. Mit diefer Art äußerlicher Maß— 
ftäbe wurde von einem jehr großen Teil der Berliner Preſſe auch das merkwürdige Er 
eignis behandelt, das dur das Gaſtſpiel der Japanerin Sada Yacco der Reidyshaupt: 
ftadt, zulett in Wolzogens Buntem Theater, geboten wurde. 

Bor einigen vierzig Nahren überwanden zuerit franzöſiſche Künstler umd Kunſt 


632 Mar Marterfteig, Bom deutichen Theater. 


freunde den natürlich aud) unſeren Nachbarn hinter den Vogeſen im Blute figenden 
europäiichen Kulturdünkel fo weit, daß fie in Werfen der bildenden Kunſt den entzüdenden 
Reiz eines Stiles empfinden lernten, den wir heute ganz allgemein als Japonismus kennen 
und ſchätzen. Was bis dahin als Kurioſität angejehen worden war, erfannte man 
num als das Ergebnis einer fast taujendjährigen, immer von der feinften Empfindung 
geleiteten Eünftleriichen Begabung und Schulung. Wir begriffen endlidy die geradezu 
eritaunliche Naturbeobahtung und den aus ihr abgeleiteten Nealismus, der doch 
wieder in Formen von intimfter Stilifierung ſich auflöſt. Der ganze Zauber 
lebendiger Beweglichkeit, — und dod) wieder ſymboliſierende Kunſt in ſchier unerjchöpf: 
licher Mannigfaltigfeit. Diejes liebevoll zärtliche Verſenken in die Natur hatten wir 
in diefem Mare ſelbſt nicht gefannt und darum auch nicht empfunden. Und an unjerer 
ftaunenden Bewunderung lernten wir dann weiter zu jehen: diefem genialen Ergreifen 
der bewegten Geſtalt gejellte fich eine wie Willkür erjcheinende Farbenharmonie, die bei 
näherem Aujehen doch wieder nur von dent liebevollen Erfaffen empfangener Eindrücde 
und deren innerlicher Verarbeitung zu künſtleriſcher Sprache, zu einer Art gemalter 
Poefie, Zeugnis gab. Aber wir lernten nod) mehr: es offenbarte diefe Kunft uns ein 
Geſetz der Technik don weittragender Bedeutung für alle Bildwirfung. Diejes Neben- 
einanderjtellen farbiger Flächen, das uns ehedem jo naiv erichien, erinnerte und nun 
daran, daß einige der größten Maler auch unjerer Kultur eigentlich nur dadurch ſchon 
ihre gewaltigen, aber zeitweile in Mißkredit geratenen Wirkungen erzielt hatten. Diejer 
endlich in jeinem ganzen Werte empfundene Japonismus wurde der Anftoß zu der 
erfreulichen Gntwicelung, die unfere Malerei im legten Drittel des vorigen Jahr— 
hundertS durchlaufen hat. 


In Paris eriverfte deshalb bei der vorjährigen Weltausstellung das Auftreten der 
Kapanerin Eada Pacco ein für die Theaterkunſt fait nicht minder hoch bewertetes 
Intereſſe, ald dies vierzig Jahre früher die japanischen Bilder und Drucke vermodt hatten. 
Und wirklich, wen einmal der Sinn aufgeichloffen ift für diefen Stil der Innigkeit, der 
Schönheit, der Grazie und der jo unendlich fein begriffenen Wahrhaftigkeit im Naponis: 
mus, der wird die nämlichen Vorzüge an den Schaufpielern des gelben Zwergenvolkes 
faum verfennen. Vielleicht findet er fie nicht in derfelben Neife, nicht in der nämlichen 
fünftleriichen Abgeklärtheit wieder; und das wäre nur natürlich. Es ift da der Abbruch 
einzuichägen und abzuziehen, um den eine von vielen gemeinfam geübte Kunſt immer 
zuriücjtehen wird gegen das Werf einer einzelnen, ihre eigene Darmonie dem Scaffen 
aufprägenden Berjönlichkeit. Auc jagen Stenner Japans, daß die Truppe, mit der Sada 
Nacco reift, noch nicht entfernt erften Aniprüchen ihrer Yandsleute genügen wirde und 
zu genügen brauche; daß nur der Stern der Gejellihaft von japanischer Schaufpielfunft 
einen mahgebenden Begriff gebe, daß jchon Sadas Gatte, Kawakami, der uns doch recht 
bedeutend ericheinen will, in Japan von Auliffenreißerei nicht ganz freigeiprocdhen werde. 
Trotzdem empfing id) von der ganzen Darftellung, mit Einfchluß der grotesfen, alſo 
vielleicht nicht einmal funftreifen Elemente, einen außerordentlihen Eindrud. Der 
Reihtum an Ausdrudsfähigfeit und wieder, wie bei der bildenden Kunſt, die unerſchöpf— 
lihe Mannigfaltigfeit in den zu Tage gebraditen inneren Vorgängen, Stimmungen, 
Motiven ift jo groß, daß man getroft von einer bei uns unerreihten Meiſterſchaft reden 


Mar Maxterjteig, Vom deutſchen Theater. 033 


darf, wenn man nämlich diejes technische Können europäischer Kunſtauffaſſung vermählt 
fi) denkt. In diefer uns faſt wie die Naivität reizender kleiner Tiere anmutender Ge- 
ſchicklichkeit — welche Hunftfertigfeit und wirklich welche Kunſt. Welche Innerlichkeit und 
auf welden Ausdruck gebradt. Und mit welchen feinen, feine Grenze des Natürlicjen 
überichreitenden, aber immer mit haaricharfer Genauigkeit bis an die äußerften Pinien 
des Ausdruds gehenden Mitteln. Weit, weit mehr als früher ſchon Ruſſen, Italiener 
und im lekten Grade erjt die Franzojen bringen die Japaner zur ehrenvollen und über: 
zeugenditen Geltung, da& dieſe Kunft, die auch wir mit ihnen gemeinjam üben, doch aud) 
im Deutſchen Schauipielfunft heißt — und nicht Schaufprechfunft! 

In der ganzen Natur, bei allen Organismen jind die Glieder zu wichtigen 
Funktionen beftimmt; und je höher wir die Neihe der Lebendigen hinauffteigen, ſehen 
wir immer mehr dieje Funktionen auf die Formgebung, das heißt, darauf gerichtet, daß 
innere AZuftände in Gricheinung treten. Am Menfchen endlich will feine Seele im 
Körper ſich ausſprechen. Wie fonnte es nun fommen, fragt man ſich angejichtS ſolcher Schau— 
jpielfunft, daß unjer Körper, unjere Organe — bis auf die Sprache — fast nur nod) ſtümper— 
hafte, plumpe und meift ungejchiete Außerungen über unfere inneren Zustände ausjagen? 
Iſt e8 nicht eben dieje Ungeichieflichkeit, Ddiefe aus Mangel an Uebung eingetretene Ver: 
ftummung des Störperlichen, woran unfere Schaujpielfunft leidet? Beim Anfänger diejer 
Kunſt fällt uns das am meiften auf. Aber wie unfere ganze Nafje und namentlich die 
modernen Generationen leiden auch unjere Meifter der Bühne an diefem Mangel 
an Formbegabung, an dieſer Unfreiheit des körperlichen Daſeins. Es ift fein Vorzug 
des Europäertums, daß wir diefe fürperliche Beredſamkeit hintangejtellt haben; ihre 
freie Entfaltung würde zurüchvirfen, wie alles in Wechſelwirkung fteht, auf unfere auch 
verbogenen Temperamente und wirde das eingeborene Gefühl für Schönheit, das durch 
tauſend doch eigentlich lächerliche Uebereinfünfte unterbunden wird, zur Entfaltung 
bringen. Ob die Chinefin ihre Füße in Bandagen legt, um ihnen eine unnatürlic 
fleine, uns verfrüppelt anmutende Form zu geben, oder ob wir unjeren Körper, diejes 
berrlide von der Natur uns verliehene Anftrument, unter konventionellen Vorſchriften 
guten Guropäertums abjichtlid verfümmern und verfümmern laſſen, ift im Grunde 
doh ein und dasſelbe. Wer aber gar Meilter werden will der Schaufpielfunft, der 
hat — das eben lehren die Japaner — diejes Inſtrument feines Körpers als Pirtuos 
au beherrichen. 

Bon der leifen, immer nur brodenmweife in Dialogjtüccen hingeworfenen Epradje 
berftehen wir hierzulande nichts; aber dieſer geiprochene Text jcheint mir an fich auch 
das Nebenſächliche zu fein. Die durch eine eintönige, aber doch ganz eigen rhythmiſch 
bewegte Mufif begleitete Haupthandlung, das Reichſte und Ausdrudsvollite der inneren 
Vorgänge ift dem plaftiihen Spiele zugewiefen. Und hier wird man nicht müde, ſich 
an dem wunderbaren harmonijchen Ineinander von üußerftem Realismus und graziöfer 
Form zu entzüfen. „Auch anderswo giebt3 eine Welt“; — und jelbjt von dem der 
europäilchen Kultur erft aufzujchliegenden Often dürfen wir in Dingen, denen wir leider 
jo wie jo feinen allaugroßen Lebensernſt zumeſſen, doc; vielleicht auch etwas lernen. 


BES 





DIIIDIDIIDIIDIDIIDIDIIDIDIDIDIDIDIDIDIDIDIDIEIVA 


Mufikaliihe Rundſchau. 


Von 
. Leopold Schmidt. 
1. 


De erſten drei Monate der muſikaliſchen Saiſon liegen nun hinter uns. Vünktlich 
mit dem Beginn des Dftober hat fie eingejett und der fritiichen Betrachtung ein 
reichere8 Material denn je geliefert. Dabei ift feitzuftellen, daß im allgemeinen beſſer 
mufiziert wurde als in den legten ‚Nahren. Die unreifen Anfünger und Anfängerinnen 
nehmen die Slonzertjäle nicht mehr jo häufig in Anspruch, wie es ſonſt der Fall ge— 
wejen, wenn ſie auch noch nicht ganz aus ihnen verſchwunden find. Vielleicht fommt 
doch die Zeit, wo jelbit in der Provinz mit der bloßen Thatſache, daß jemand in Berlin 
aufgetreten, fein Gejchäft mehr zu machen ift, und dann wird das öffentliche Kunſtleben von 
einer feiner unerfreulichiten Erjcheinungen befreit werden. Einftweilen madt die Berliner 
Mufikkritit ziemlich geichlofien Front gegen die Zumutung, als ob alles, was fidh hier 
an die Oberfläche drängt, auch bejprochen werden müßte. Derrjchte num auch im all- 
gemeinen das Gute in der Fülle der Darbietungen vor, jo hat uns doch bisher der Winter 
noch fein Ereignis von ungewöhnlicher Bedeutung gebradjt; wir müffen unſern Blick nadı 
Dresden wenden, um bon einem jolchen zu berichten. Dort wurde am 21. November 
eine Oper zum erjtenmale gegeben, die verdient, daß wir ihr größeres Intereſſe ſchenken. 

Bis vor furzem war die Schar der deutjchen Komponiſten ohne eigentliches Ober— 
haupt. Nach dem Tode von Johannes Brahms ſah man fich vergeblid) nad) einer 
Beriönlichkeit um, der man die Führung hätte zuerfennen können; ftets waren es nur 
begrenzte reife, die fi) um dieſen oder jenen jcharten. Das beginnt jet anders zu 
werden. Seit etwa zwei oder drei Nahren taucht immer erfennbarer in Richard Strauß 
die eriehnte Perjönlichkeit auf, der die Maſſen ſich zuwenden, deren Name in aller 
Munde ift, für die man fich wieder einmal begeijtern fann. Der im beiten Mannesalter 
ftehende Komponiſt ift zwar noch keineswegs losgelöft von der Partei, aus der er hervor: 
gegangen; in ihr hat er noch feine überzeugteften und lauteften Anhänger, mie es ihm 
andererjeits nicht an erbitterter Gegnerichaft fehlt. Aber ſchon iſt jeine Anerkennung 
cine jo allgemeine, daß das große Publikum ihn zu feinen Pieblingen zählt, und auch die 
ibm nicht Bedeutung und Gigenart abſprechen, die in mander Dinfiht von dem von 
ihm vertretenen Standpunft abweichen. Am Rhein wird er geradezu vergättert; in 
Berlin hat er in der furzen Zeit feines Wirkens feiten Boden gewonnen, und im 
Auslande ift vor allen deutichen Namen der feine mit Bewunderung genannt. Nur 
jeine Vaterftadt München verhält fich, wie es fcheint, jfeptifch, nachdem hier ſchon das 
Emporfonmen des jungen Meifters nicht gerade durd; liebevolles Berftändnis gefördert 
worden ift. Dieſer Umstand hat den ftetS zu allerhand Eulenipiegeleien aufgelegten 
Mufifer auf einen boshaften Gedanken gebracht. Münden, das einft einen Richard 
Wagner aus jeinen Mauern ziehen ließ, das durd die Erfahrung unbelehrt, aud in 


Leopold Schmidt, Muſikaliſche Rundicau. 635 


dem fühnen Neuerer Rihard Strauß nicht den fommenden Mann gemittert hat, München, 
und mit ihm der weite Kreis aller ähnlich empfindenden und handelnden Kunſtphiliſter, 
jollte einmal tüchtig verfpottet werden, und zwar in einem dramatiſchen Scherzipiel. 

Für die Ausführung feiner dee konnte Strauß feinen geſchickteren Poeten finden 
als den launigen, jprachgewandten Ernſt von Wolgogen. Den Stern der Handlung gab 
die Sage vom Liebhaber im Korbe her, wie fie fich in einer niederländiichen Leber: 
lieferung aus Dudenarde borfindet. Die Perfafler verlegen die Gedichte auch ins 
Mittelalter, aber laffen jie in München fpielen, zur Beit der Sonnenwende, wo das 
junge Volk einer alten Sıtte gemäß durchs Feuer fpringt. Kinder jammeln Scheite von 
Haus zu Daus und fommen jo aud vor die Wohnung des Kunrad, deifen einfames 
und jonderbares Treiben den Bürgern unverftändlih und unheimlid if. Der an 
irdiichem Beſitz Arme zögert nicht, alles hinzugeben, was dazu dienen kann, Licht und 
Wärme zu verbreiten. Wir erfahren, daß ein alter Zauberer (mir erkennen ihn an den 
Nibelungen: Motiven im Orcheiter), der einſt aus der Stadt vertrieben worden, ihm 
Haus und geheime Rünfte zum Erbe vermadht hat. Die Liebesgeihichte Kunrads 
mit der jchönen Bürgermeifterstocdhter entwidelt fi dann ganz nad dem Vorbild 
der Sage. Das Mädchen kann fi) dem Eindruck von Kunrads Auftreten nicht 
entziehen, aber Stolz und Kränkung über feine ftürmifhe Werbung ftadheln fie an, 
ein mutmwilliges Spiel mit ihm zu treiben. Scheinbar auf jeine Wünſche eingehend, 
zieht fie ihn in einem Korbe nachts zu ihrem Fenſter herauf — doch nur big zu halber 
Höhe. Dort bleibt er dem Hohn der Hinzufommenden Freundinnen und Nachbarn aus: 
geſetzt. Im Märchen löſcht ein gewaltiger Zauberer alle Yichter der Stadt, die nur an 
dem entblößten Rüden des Mädchens wieder entzündet werden fünnen, um den Ge: 
foppten zu rächen; in der Oper übt der Licbhaber jelbft diefe Rache. Der alte Zauberer 
verleiht ihm die Kraft dazu, das Feuer verlöfchen zu laffen. Und nun erfolgt aus dem 
Korbe heraus die Strafpredigt, in der den Bürgern ihre Sünden wider den heiligen 
Geiſt der Kunſt vorgehalten werden. Zerknirſcht erfennt die Menge, wen fie verlacht 
hat; das Mädchen aber zieht inzwifchen reuevoll den Verſchmähten zu fich empor. Ein 
ausdrudsvolles Orcheſterſpiel jchildert das Eichfinden der Yiebenden während das 
Volk unten in der dunfelen Gaffe verharrt. immer bewegter, immer leidenjchaft: 
licher jchwellen die Tonwogen an, bis mit einem Schlage die hell erleuchtete Bühne 
Kunde von der erfolgten Sühne giebt. Während auf dem Balkon oben die in Yicbe 
Bereinten ihr Glück befingen, freut fich alles des wiedergegebenen Elenentes. So klingt 
die Satire in eine Inrifche, echt muſikaliſche Stimmung aus: 

„All Wärme quillt vom Weibe, 
„All Licht von Liebe ſtammt —“ 

Dies iſt der Inhalt der neuen Oper, die unter dem Titel „Feuersnot“ in Dresden ihre 
erite Aufführung erlebte. Der Eindrud war ein ftarfer, obgleich das Publifum durch den 
jonderbaren Anhalt des Stückes, nicht minder durch die teilweile ganz neue Sprache der 
Muſik einigermaßen verblüfft war. Der Eindrud wurde durd) eine geradezu glänzende 
Wiedergabe noch gehoben; im bejonderen feierten Schuchs Direktionskunſt und Sceide- 
mantel Gejang und Darftellung Triumphe. Trotz mancher Bedenken hatte man fofort 
das Gefühl, einem feinen und bedeutjamen Kunſtwerke gegenäberzuftchen. Die Fabel 


036 Leopold Schmidt, Muſikaliſche Rundichau. 


des Stüdes ift unterhaltend, bon eigenem Humor; die hineingedicdhtete Polemik verleiht 
ihr nod) im Moment einen jchärferen Reiz. Ob diefe Berquidung, diejes Dineinziehen 
des Berjönlichen dem Werke zum Vorteil gejchab, darf freilich fraglich ericheinen. Dentt 
man an die Zufunft, jo muß man es beflagen, daß die Perjon des Schöpfers (auf Die 
im Orchefter in nicht mißzudeutender Weife angefpielt wird) nicht völlig von feinem 
Werke losgelöft ift; denn wer möchte ſolchen Scherz verewigt wiſſen? Wie flug vermied 
dergleihen Wagner, der doc) in den Meifterfingern einen ähnlichen Zweck verfolgte, 
aber wohlmweislich für Allgemeingiltiges eintrat. Indeſſen, da die Polemik nun einmal 
der Ausgangspunkt des Ganzen war, müffen wir und wohl damit abfinden und den 
Wert der Oper mehr in ihren muſikaliſchen Schönheiten juhen. Strauß, der ſchon in 
feinen legten Orcheſterwerken das Beftreben befundet, leicht, graziös, durchſichtig zu fein 
und dem Humor in der Mufif ein weiteres FFeld zu erobern, hat in der „zreueränot“ 
mit Bemußtfein von dem jchweren Wagnertum ſich abgewendet. Ohne die Einflüjfe des 
Bayreutherd zu verleugnen, ohne die ja fein moderner Dramatiker mehr denkbar it, 
geht er in Wahl und Behandlung des Stoffes neue Wege. Am auffälligiten tritt dies 
in der Anftrumentation der erſten Szenen hervor, aber auch im Aufbau der Enjembles, 
in vielen reizvollen melodiſchen Gebilden, forwie in der Verwendung der Tanzrhythmen 
und volfstümlicher Münchener Weifen. In einzelnen Szenen liegt eine Anmut und Be 
weglichfeit, daß man faſt an franzöſiſches Weſen erinnert wird. Manches dagegen Elinat 
recht bizarr, und andererjeits finden ſich Stellen, die faft das Triviale ftreifen. Je weiter 
jedody die Handlung fchreitet, zu defto grüßerem Pathos erhebt jich auch die Muſik. Das 
Liebesduett und der folgende Gejamtchor reißt Durch die Wärme und die blendenden Klang— 
wirfungen fort, iiber die der Melodiker, im bejonderen der Lyrifer Strauß gebietet. 


Der Erfolg der „Feuersnot“, die inzwilchen auch in Franffurt a. M. gegeben 
worden ift, wird vorausfichtlic Richard Strauß enger mit der Bühne verfnüpfen, als 
es feine erfte Oper „Guntram“ gethan hat. An der Hauptjache aber ift doch die reine 
Sfnftrumentalmufif und das einftimmige Lied feine eigenfte Domäne Seine großen 
Orcheſterwerke kommen in allen Symphoniefonzerten zu Gehör, und ganz bejonders jeine 
Lieder erobern ihm die Herzen immer meiterer Kreiſe. Nicht nur die Gattin des Kom— 
poniften und jeiner Richtung naheftehende Gejangsfünftler geben ganze Strauß-Abende; 
faum nocd eine der zahlreihen vofalen Veranjtaltungen verjäumt es, das eine ober 
andere jeiner Pieder auf das Programm zu jeßen. Dieje allgemeine Teilnahme iſt erflärlid), 
denn in den Liedern zeigt fi) Strauß von jeiner liebenswürdigften Seite. Celtener als 
in den reinen Snftrumentalformen bricht bier ein burlesfer Humor hervor, meift find 
jie von tiefftem Ernſt und weihevoller Stimmung erfüllt; daneben macht ſich, namentlich 
neuerdings, ein anmutiges, zumeilen tändelndes Weſen bemerkbar. Seine jtärfiten 
Wirkungen aber erreicht der Tondichter, wo er Ueberfinnliches, Efftatifches oder Wild: 
feidenschaftliches zu jchildern hat. Dem Fadımann ftellt die Harmonif feiner Lieder, der 
oft eine vollfommen neue Art, mufifaliich zu denken, zu Grunde liegt, die interejlanteften 
Brobleme. Für die Ausführenden bietet die in ungewöhnlichen Intervallen ſich bewegende 
Stimmführung wie der fomplizierte Klavierjag der Begleitung oft enorme Schwierigkeiten, 
die wohl der Verbreitung mancher Geſänge dauernd im Wege ftehen werden. 

Ein Nücdblif auf die vergangenen Wochen zeigt und, daß Richard Strauß nidıt 


Leopold Schmidt, Muſikaliſche Rıundihan. 637 


nur als Komponift, jondern auch als Dirigent von wadjjendem Einfluß it. Nicht das 
Alltagstreiben an der Oper, in dem feine Kapellmeifterrolle oft mehr eine pajlive als 
eine aktive ift, kommt dabei in Betracht, obgleich Vorftellungen, die ihm, wie beiſpielsweiſe 
„Zriftan“, am Herzen liegen, meift den Stempel jeines Geiftes tragen. Viel wichtiger find die 
Anregungen, die von ihm im Stonzertjaal ausgehen, feitdem er durd) die Begründung von 
befonderen Abonnementsabenden des Berliner Tonfünjtlerordefters fi) ein neues Ar: 
beitsfeld geichaften hat. Dieſe Abende, deren für den Winter zehn geplant find, finden 
im Saale des ehemals Krollichen, jet Königlichen Theaters ftatt; das Orcheſter iſt an 
ihnen mejentlich verftärft und leiftet an ficherem, forgfältig vorbereitetem Zujammenfpiel 
Ueberrajchendes. Zweck diefer Unternehmung, die ſich bald in die vorderjte Reihe ftellen 
wird, ift die Vorführung moderner Werke, joldher, die zu unrecht vernadjläffigt find, und 
aller neuen, die eines Verſuches würdig fcheinen. An diejer Berhätigung kommt die 
propaganditische Seite von Strauß’ Natur zum Vorſchein, die ihn für alles Neue ein- 
treten läßt, und um fo lieber, je fühner es ſich gebärdet. 

So verichieden die zum eritenmale in Berlin aufgeführten Kompoſitionen auch waren, 
eins ift den Orchefterwerken unter ihnen gemeinfam: die Zugehörigkeit zur programmatijchen 
Mufif. Wir können hier gleich die beiden anderen Serien von Abonnementskongerten 
anfügen, die durd; ihre künstlerische Bedeutung im VBordergrunde des öffentlichen Intereſſes 
jtehen, die Symphonie-Abende der Königlichen Kapelle unter Felir Weingartner und die 
von Nikiſch dirigierten Philharmoniſchen Konzerte. Was fie neues brachten, war gleichfalls 
vorwiegend Programmmufif. Während die Form des Konzertes, jei es für Klavier, Violine 
oder ein anderes Inſtrument, noch immer im älteren Stile gepflegt wird, war auf dem Ge: 
biete der Symphonie die abjolute Tonkunſt lediglicd durch Variationen des Engländers 
Elgar vertreten. Auf der anderen Seite ftanden die ſymphoniſchen Dichtungen „Elaine und 
Lancelot* von Anton Averkamp, „Es waren zwei Königsfinder* von Fritz Vollbad), „La 
for&t enchautde“ von Bincent d'andy, „Der Woywode“ von Tſchaikowsky, die Barbaroſſa— 
Symphonie uud Dionyſiſche Fantafie von Hausegger, zum Teil aud) die E-moll-Symphonie 
bon Dans Huber, die wenigjtens in ihrem Schlußſatz durd) den Hinweis auf beftimmte 
Böcklinſche Bilder fih zu außermufifaliihen Anregungen befennt. An anderer Stelle 
führte ein gajtierender Kapellmeifter die Arbeit eines böhmiſchen Komponiſten, Eduard 
Naprämnif, vor, die eine Wiedergabe in Tönen des Yermontoffihen Gedichtes „Der 
Dämon“ in feiner ganzen Ausdehnung verjucht. 

Es fteht mithin außer Frage, daß die lebenden Komponiiten die freie Form der 
ſymphoniſchen Dichtung gegenüber dem durch die Alaffifer feftgeießten Tonſpiel der mehr: 
jägigen Symphonie bevorzugen, daß fie glauben, ihre Empfindungen beiler an der Hand 
eines poetiichen Vorwurfs, als nad) rein muſikaliſchen Gefegen übermitteln zu können. 
Obgleich das BVerftändnis für den daraus erblühenden neuen Orcheſterſtil fi) ſchon 
größeren Streifen mitgeteilt hat, fan man die Wahrnehmung machen, dab das Publitum 
vorläufig jeine Anhänglichkeit an die ältere Symphonieform keineswegs verloren hat. 
Die bedeutendften Flaffiichen und romantischen Schöpfungen find nod) lange nicht ver: 
braucht, ja ihre Wirkungskraft überitrahlt meist ftegreich alle Reize der modernen Runit, 
und jo erklärt es fich, daß die Dirigenten, die doch ſelbſt zu den KFortjchrittsmännern 
gehören, gern immer wieder auf die Vergangenheit zurückgreifen. Die im legten Trimefter 
borgeführten neuen Werfe waren allefamt nicht dazu angethan, der Programmmuſik 


638 Leopold Schmidt, Muilaliiche Rundichau. 


Freunde zu erwerben; es fehlte ihnen das jtarfe, perjönliche Element, die überzeugende 
Erfindungskraft. Aber wenn fte auch vrigineller und mufifaliich bedeutender wären, 
würden fie die Entartung eines an ſich richtigen Brinzips darſtellen. Die von Yiszt und 
Berlioz begründete freie iymphoniiche Form hat gewiß ihre Berechtigung, jobald fie in 
allgemeiner Weile an ein poetiiches Programın ſich anlehnt, im übrigen aber aus fich 
heraus mufifaliich erflärbar bleibt. Sie fommt dem heutigen Geihmadf entgegen und 
bedeutet in gewifler Beziehung ein Dinausgehen über die bis dahin erreichte Ausdruds- 
täbigfeit der Muſik. Richard Strauß hat gezeigt, wie weit man in der Darftellung von 
Einzelheiten und in äußerlichen Tonmalereien gehen fann, wenn man ein wirklich er- 
finderiicher Geift und ein jtarfes, innerlides Temperament iſt. Aber auch er verliert 
über der Zymbolif nicht die mufifaliiche Geftaltung und die muſikaliſche Logik aus 
dem Auge. Die ſymphoniſche Dichtung muß, auch wenn ihr Programm verloren ginge 
ein in fich begründetes, geniegbares Tonſtück jein, jonjt würden wir den Verluſt der 
ſchönſten Früchte zu beklagen haben, die ein jahrhundertlanges Ringen dem jelbitändigen 
\nftrumentalftil abgewonnen hat. Das vergeiien unfere Jüngſten, wenn fie die natür- 
lihen Bedingungen diejes Stiles außer adıt lafjen und ihre Anregungen lediglich aus 
der Dichtung ichöpfen, die fie Schritt für Schritt, oft dazu noch in recht äußerlicher 
Weile, in Töne umzuſetzen ſuchen. Die Zuhörer aber meijen, bewußt oder unbemuft, 
die Zumutung von fich, fortgeiett ihre Phantafie mit Dingen zu beichäftigen, die, anftatt 
etwas zu jein, immer nur etwas voritellen jollen. Gin Riüdgang der ganzen Bewegung 
jcheint unausbleiblich, und daß er nicht zu fern ift, dafür bürgen jhon mandye Anzeichen. 


Bei den erwähnten Beranftaltungen, in denen hauptſächlich Orcheſtermuſik genofien 
wird, interejlieren fi) unjere Mufiffreunde oft nicht weniger für die Dirigenten, als für 
die aufgeführten Werte. Auch diefer Kapellmeifterfultus wird vorübergehben, und 
man wird fid) wieder mehr an die Sache halten. Das Auftreten Bülows hatte 
jeinerzeit das Gute, da die Hörer mehr, als es bis dahin der Fall war, 
nach dem Wie fragten; mun iſt es nötig geworden, die Frage nad dem Was als 
dem Endzweck alles Mufizierens wieder energiih in den Vordergrund zu rücken. 
Wir haben das Glück, drei ndipidualitäten an den Direftionspulten unferer 
Stonzertjäle walten zu jehen. Richard Strauß ijt bei allem Temperamente die größte 
Objektivität zu eigen; fo fehr in der Zufammenftellung des Programms jeine Perjönlich- 
feit hervortritt, in der Darjtellung läßt er nur das Werk felbjt wirfen, das er in 
großen Zügen zu geben liebt. Im Gegenjat zu ihm erwächſt dem Yeiter der Bhil- 
harmonischen Slonzerte, Arthur Nikiich, aus feiner technischen Meifterichaft nicht jelten 
eine Gefahr. Wie kaum ein anderer beherricht er die Mittel der Dirigierfunft, und es 
ift ihm ein Bedürfnis, stets fein perjönlichites Empfinden zum Ausdruck zu bringen. 
Das fteigert den Eindrud, wo, wie bei Tſchaikowsky oder Schumann, feine ndividualität 
fich völlig mit der des Komponisten dedt; es jtört und regt zum Wideripruc an bei Beethoven 
und anderen Meiftern, bei denen es ohne einen leifen Zwang nicht abgeht. Auch Wein: 
gartner ift viel zu ſehr Birtuoje, um nicht ungleich zu jein. Er befigt von allen die 
größte Anmut, und die natürliche Art jeines mufifaliihen Empfindens hat für den 
Hörer viel Ueberzeugendes. Wo es ſich nicht um die tiefiten und ernfteften Dinge 
handelt oder um eime ihm weniger inmpathifche Richtung, folgt man ihm unbedingt, 


Leopold Schmidt, Mufitaltiche Rundſchau. 639 


zumal rine enthuſiaſtiſche Sugendlichkeit allem, was er darjtellt, einen eigenen Glanz 
verleiht. Zwei andere Kapellmeiiter von Ruf find mit ihren Kapellen in diefem Herbſt 
als Gäfte zu und gefommen. Der Meininger Generalmufitdireftor Frig Steinbach ift 
den Berlinern ſchon eine vertraute Erjcheinung; man ſchätzt die außergewöhnlich tüchtigen 
Bläjer jeines Orcheſters und freut fich der ehrlichen Begeifterung und FFriiche feines 
Weſens, die freilich mandmal in Derbheit ausartet. Steinbach giebt unjerm Muſikleben 
injofern eine bejondere Nuance, als er ausichlieglid das klaſſiſchromantiſche Programm 
von Bad) bis Brahms unter Einjchluß weniger, mit diejer Richtung verwandter neuerer 
Komponiften pflegt. Der andere Gajt war ein Franzoſe. Bon der Orcheſterkunſt 
jeiner YandSleute hat Edouard Golonne nicht die rechte Vorftellung gegeben, weil 
die Stapelle, die ihm gefolgt war, nur zum Teil aus Mitgliedern des berühmten Pariſer 
Ehätelet-Orchefters beitand; immerhin führte er fich in dem im Opernhauſe gegebenen 
Konzerte als tüchtiger und gewiffenhafter Dirigent ein und machte uns mit einigen 
bier noch nicht gehdrten franzöſiſchen Werfen befannt. ine Enttäufchung bereiteten die 
„Impressions d’Italie“ von Charpentier allen denen, die in dem Komponijten der er: 
folgreihen Oper „Louiſe“ einen erniten, wahrhaft bedeutenden Mufifer vermutet hatten. 
Die Arbeit erwies ſich als erfindungsleer und nur auf den frajfen Effekt zugeſpitzt; 
originell war zuweilen die äußerliche Kombination der Klänge. 

Daß ganze Orcheſter auf Reifen gehen, ift längjt nichts Neues mehr; auch bei 
Ehorvereinigungen zeigt ſich, wenn auch feltener, eine Neigung dazu. Der Kattowitzer 
Singverein hatte e8 nicht zu bereuen, daß er eine Fahrt nach Berlin unternommen. 
Man erkannte freudig die Reinheit und Präziſion feiner Vorträge an und feierte feinen 
Dirigenten Oskar Meifter als einen ausgezeichneten Pfleger de3 A cappella-Gefanges. 
Bon uniern einheimischen großen Chorvereinen hat bisher nur die Singafademie neues 
gebradit. Georg Schumann, der Nachfolger des Fürzlich verjtorbenen und von den 
mufifalifchen Streifen aller Barteifchattierungen ehrlich betrauerten Martin Blumner, er- 
fennt es, mie es jcheint, als jeine Aufgabe, das ihm anvertraute Inſtitut in engere 
Fühlung mit der lebendigen, modernen Kunſt zu jeßen. Vielleicht hat er diejen Weg 
etwas zu heftig befchritten, als er jchon jegt an die Einftudierung eines Werkes wie die 
B£atitudes von Céſar Frand mit einem Chor ging, der bisher nur in den Traditionen 
der Stlaffiter erzogen war. Die wenig gelungene Aufführung wiegt indeſſen nicht ſchwer, 
da Herr Schumann fih jchon bei andern Gelegenheiten nicht nur als gejchmadvoller 
und vielgewandter Mufifer, jondern aud als jehr befähigter Dirigent erwiejen hat. 
Der Philharmoniſche Chor unter Siegfried Ochs und der Sternjche Berein unter Friedrid) 
Gernsheims Leitung veranftalteten Wiederholungen der Bachſchen H-moll:Mejje bezw. 
des „Elias" von Mendelsiohn, die ſich den beiten früheren Wufführungen dieſer 
Werke ebenbürtig anreihten. 

Während der in Mede ftehenden Zeit hat die Opernbühne in Berlin durch nichts 
die Aufmerkiamfeit in höherem Grade auf ſich gelenkt. Der November bradıte die hundert: 
jährige Wiederkehr von Albert Yorkings Geburtstag; man ehrte das Gedächtnis des 
volfstümlichften Opernfomponiften durd eine eykliſche Aufführung jeiner beiten Werke. 
Ein anderer Meifter, Bellini (geb. 3. November 1801), wurde übergangen, wohl weniger aus 
Mangel an Pietät, als aus Mangel an geeigneten Sängern, die des genialen Italieners 
Dpern auszuführen vermöchten. Eine neue Oper brachte nur das Theater des Weftens. Hein: 


640 Leopold Schmidt, Muſikaliſche Rundſchau. 


rich Zöllners Zweiakter „Der Ueberfall“ iſt eine Dramatifierung der Wildenbruchſchen 
Novelle „Die Danaide"; die im franzöfiichen Feldzuge ipielende Handlung hat bei der 
Uebertragung auf die Bühne faft alle ihre Reize eingebüßt, und Zöllners Mufif fonnte 
ihr aud) zu feinem Erfolge verhelfen. Günftiger geftaltete fich für die Charlottenburger 
Opernbühne das Gaſtſpiel d'Andrades, der feine intereffante Andividualität noch immer 
mit ungeichwächter Kraft einguiegen vermag, und die Aufnahme des „Figaro“ in der 
nad); dem Münchener Borbilde inizenierten Rococo:-Einrihtung. Die Bearbeitungen der 
Mozartichen Opern von Poſſart und Yeni, die vor einigen Jahren in Münden Aufjehen 
erregten, beginnen überhaupt jegt Schule zu machen. So hat das Opernhaus neuerdings 
den „Don Juan“ einftudiert und fich dabei die Münchener Auffaffung, in der vor allem 
das „dramma giocoso“ betont ift, zu eigen gemacht. In diefer Geftalt, mit den Ne 
citativen und dem Originalichluß, gewann aud) das Werf bei uns wieder an Friſche 
des Eindruds, obwohl der Mangel einer Drehbühne und eines kleinen, intimeren Raumes 
die beiten Abfichten zu jchanden machte. Im Intereſſe der älteren Pitteratur ift es fehr 
zu beflagen, daß nicht wie früher das Schaufpielhaus zuweilen für Opernvorjtellungen 
benutt wird, denn für vieles ift das Opernhaus zu weit und anjprudjsvoll. 

Werfen wir noch einen kurzen Rückblick über die allabendlich jtattfindenden Soliſten— 
fonzerte, jo drängt fich die Wahrnehmung auf, daß der Sinn für Kammermuſik ſich gegen 
früher erheblid; entwidelt bat. Was jonjt nur ausnahmsweile geboten werden durfte, 
daran finden jegt immer weitere Kreiſe Geihmad, und in jedem Winter wächſt die Zahl 
ber ftändigen Trio: und Quartettverbände An der Spike fteht nad mie vor das 
Joachimquartett, unerreicht in der Wiedergabe der Klaſſiker, in der Reinheit des Stils 
und der intimen Vornehmheit feiner Darbietungen. Einen ganz individuellen Zug bat 
das Quartett der Böhmen; Temperament und Streben nad Entfaltung möglichſter 
Klangfülle beherrichen ihr Spiel und geben ihm da, wo es zur Erihöpfung der fünft- 
leriichen Aufgabe feiner anderen Mittel bedarf, eine hinreigende Wirkung. Zu einer viel- 
verheigenden Vereinigung bat fic) das neue Trio: Schumann, Halir, Dechert zujammen- 
gethan. An ihrem erjten Abend führten die Herren ein jehr interejlantes Quintett von 
Thuille vor; die Novität des zweiten Abends war ein Stlavierquartett don Georg 
Schumann, ein ernftes und ausgereiftes Werf des Stomponiften, der übrigens ein ebenjo 
ausgezeichneter Bianift wie Dirigent ift. Endlich jei noch das Henri Marteau-Uuartett 
aus Bajel erwähnt; es leitete an Klangſchönheit und fein abgetöntem Zujammenipiel 
ganz augerordentliches. Auch eine Bläjervereinigung für Kammermuſik hat fich gebildet, 
die einmal unfere Konzerte um eine wertvolle Spezies bereichern fann. 

Wie Schon eingangs erwähnt, haben die zahllojen Yieder- und Klavierabende dies: 
mal überraihend viel Gutes geboten. Nun ruhen die Waffen. Das Weihnadhtsfeit 
bringt eine furze Bauje; dann hebt das Treiben von neuem um jo reger wieder an 
und veripricht noch vieles, das uns aud) hier zu weiteren Betrachtungen anregen joll. 





Neuerfienene — für die Bücerfhau bitten wir an die Verlagsbuchbandiung einfenden zu 
ien. Beiprehungen bebält fih die Redaktion vor. 
Naddrud — — Alle Rechte, Insbefondere das ber Ucberfeung, vorbehalten. 


Berlag von Alesonder Dunder, "Berlin W.35. — Drud von O. ©. Hermann in Berlin. 
fyür die Hebattion verantwortlih: Dr. Aulius Bohmener, Berlin: Charlottenburg. 














1% % 


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Abonnement: 
3 Mk. 25 Pig. 


Einzelheft 


=. ——— 


1% 
—— 
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Aufgabe der Zeltſchrift ift die Verbreitung 
der Kenntnilfe über unſere und fremde 
- Armeen » - - Marinen » » + Kolonleen +» 


känderkunde und überleeilde Ynterelien, 
ferner Waller-, Reit- und Jagdiporf usw. 


Reich Br Probehefte Skizzen, 
illuftrierte Auflätze koitenfrel Novellen, Romane 


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Boll & Pidtardt, Verlagsbuchhandlung, Berlin NW. 7, Georgenstr. 23. 


Diefericiche Verlagsbuchandlung, Theodor Weidter, Leipzig 


Auf weiter fabrt. 


Selbsterlebnisse zur See und zu Lande. 
MitOriginalbeiträgen deuticher Seeottiziere, Kolonialtruppenführer u. Weltreifender. 
Herausgegeben von Julius Lohmepyer. 

20 Bogen ftarf mit 12 Vollbildern. 


Titelzeihnung von Marinemaler hans Bohrdt. 
Geheftet WIE. 3,80, gebunden Mk. 4,50, 





In der „Täglichen Rundſchau‘““ vom 13. Dezember beipricht Dr. Otto Conrad 
das Buch wie folgt: 

Yohmener hat aus feinem tieiglügenden Batriotismms hberans, der mit freiem Blide die 
Weite umfanßt umd doch fo feft bäft am Engeren, wieder einmal den Ruf ergeben laſſen: „Hierher 
zu mir, Woniere des Größer-Deutſchlands! Hierher, durch das Tiduht eine Ausſicht geichlagen 
in die ferne zutunft, damit wir tie Leichter erreichen!” Wahrlich, es thitt not, ſolche Belſpiele 
den vi-len zaalınr beileite Stehenden vorzuführen, ihnen die Erkenntnis deſſen beizubringen, 
was unserer Seit in der Arbeit am Naterlande zu them obliegt, nachdem das abgelaufene 
Jahrhundert in dieſer Arbeit das feinige gethan! Tre beiten Namen finden fich unter den 
Mitarbeitern, manche Namen. die der ganzen Kulturwelt vertraut ſind und dem Neger Afrikas 
nicht minder. Ich venne von ihnen Wiimanı, der eine gefahrvolle Nyaſſa-Tour erzäblt, 
Graf Pfeil, der Jagderlebniſſe aus der Zeit berichtet, wo die Dratensberge noch jungfräuliches 
Gebiet waren. Zu Unrecht Vergeſſenes führt Nontveandmiral Kühne der heutigen Generation 
wieder vor! die erite Ruhmesthat der jungen preußtjchen Marine, nämlich das Gefecht ihrer 
braven Yandıenrstruppen gegen die nordmarokkaniſchen Piraten. In das jüngite Nolontalgebiet 
führen Heſſe-Wartegg md Yindenberg hinein, der erſtere mit einer ſehr auſchaulichen und 
wohl nor lange Jeit richtig bleibenden Schilderung von Weg und Steg, Reijes und „Hotel” 
Berhältwiiien in Schantung. Südſee-Erinnerungen erzählt von Gjenbed, oſtafrikaniſche 
Konrad Weidmann, und mit Dumor berichtet Nanigationsihul- Direttor Dr. Schulze 
über die des Humors ganz md gar ermangelude ct, ats er, noch newöhnlicher Matrofe, an 
der Eidameritnfüite Guano laden mußte. — Aus allen Weltteilen wird berichtet, wo beutfche 
Hände ſich regen, von allen Meeren, die ein deuticher Miel durchfurcht, und alle, die hier von 
„weiter Fahrt“ erzählen, wiſſen die ‚Feder fo gut zu führen, ats ob dieſe zeitlebens das aus— 
ſchließliche Haudwerkszeug der Erzähler geweſen jet! Auch zwet Frauen finden twir unter den 
Mitarbeitern, die als Mapitänsgattimmen jahrelang an Bord anf tweiter Fahrt geweſen jind und 
das Pordleben wie das Leben an fremden Küſten künſtleriſch zu geftalten willen. Helene 
Pichler-Felſing, die in plaſtiſcher Darſtellung das Enttommen aus einer Doppelkataſtrophe 
in der Erzählung „Gerettet ans Eis und Feier” erzählt, und Fugente Rofenberger, die in 
ihrem „Falſchen Nadja” einige flott gezeichnete Tupen aus der Dandelsmwelt des birmaniichen 
Rangun ſchildert. — Ziehen wir die Summe: es iit das nicht mur em qutes Buch, es iſt ein 
notwendines: unfer Publikum muß fehen, wo überall in der Welt gearbeitet wird für 
Deutichlands Zukunft, bis der Drang, felber mitzuarbeiten daran, unwiderſtehllch geworden. 
Und dazu wird „Huf weiter Fahre“ ganz gewiß mithelfen: 


Base vom Een wann Krim 


Airzer 
I VLS< 


Deutfche Monatsichrift 


für dasgesamteLeben der Gegenwart 


\\ 
HERAUSGEGEBEN Vor 
JULIUS LORMEYER 


RLIA 


BE 
| VERLAG WnALEXANDER DUNCKER | 





— —— — 





Jahrgang 1%1/2. Inhalt des Februarheftes. | Beit 5. 


Deutihe Monatsicrift 


für das geiamte Leben der Gegenwart. 
Herausgegeben von Zullus kohmeyer. 


mn 





Seite 


keitiprud. Aus einer Rede von Erih Marks . . . — 
Wilhelm Zensen: Der Tag von Stralsund. Ein Bild aus der Banfezelt (Schluß) Er 641 
Ausiprüce aus „Geiltige Wollen“ . . . — 671. 688, 702 
Oito Bine: Weltgefhithte und ARE Ein hlitorlicher Beitrag zum Deritändnis der gegen- 
wärtigen lage. . . . : 672 
Emil Prinz von Shönald-» Earolath: "leber die Msore a . 685 
Hermonn Muthellus (London): Die moderne Umbildung unierer dithetifhen Anfhanusgen .. 686 
Marius: Die moderne Entwickelung der Kriegsflotten. nn en. 705 
3. Trojan: Ein Grub an uniere Söhne auf der ee . 2» 2 2 2 nn nenn. 115 
Hans Sctliepmann:, Unier keiefjammer. Eine Zeitpredit . -» > 2 22 nun neun. 116 
Rudolph Sohm: Das größere Deutfhland und die innere Politik . . . 123 
Aus dem „Anhang zu den Gedanken und Erinnerungen von Otto Fürit von ı Bismardı“ 130, 337, 172 
Wilhelm von Kardorii#Wabnit: Ein Geipräd mit einem Nordamerikaner . . ». ... 0.31 
Erih Marcs: Neues aus Bismarks Werkstatt. Ein Beriht . . . . ee rn: 
Cornelius Gurlitt: Zur Heidelberger Schlohfrage -» >» = > 2 2 on rennen 703 
Bans von Wolzogen: In medio veritus . . .- 746 
Peter Jeiien: Die Knabenhandarbeit u. die volkswirikhafilicen u u. —— — unierer Zeit 747 
Theodor Shlemann: Monatsidhau über auswärtige Politik . © » » 2 2 2 2 m anne. 7% 
Bismarde-Aphorismen. . . Da Bez. Des — 
W von Mallow: Monatsichau über Innere deutiche Politik . a ea A a 
Paul Dehn: Weltwirtihaftlihe Umihau . . . ne Decke ee ce a 
Paul Dehn: Deutihtum im Auslan de.2773 
Earl Buife: kitterariicher Monatsbericht. ..773 
Max Marteritelg: Vom deuticen Theater. IV. . 2 2 2 2 m nen 2736 
keopold Schmidt: Mufikallihe Rundihau. Ill... 2» 2 2 m m nn nn 2792 
Paul Geyk: Die neuen elektrlihen Schnellbahnwaogen -. - » » > 2 u nennen. 79 


Bücderlicdau von Earl Weitbredit, Richard Weitbredt, Otto Siebert, W. Golther, 
Garl Vorepich, DO. ötzich, Oskar Weihentels, £d. Bey, ©. Finke, Martinus. 





Die „Deutikhe Monatsicırift“ erſcheint in Heften von 160 Seiten Umfang 
zu Beginn jeden Monats, Der Abonnementspreis beträgt: 

vierteljährlich im deutichen und öfterr.-ungar. Poitgebiet . . . . Mk. 5,— 
= im Weltpoftvereins-Gebiet . . » 2 2 2 2 een 6,25 
jährlich im deutichen und ölterr-ungar. Poitgebiet . . x 2» 2.200. 9,- 
„ Im Weltpoftvereins-Gebiet . . » : 2 m m m an 285,— 
Der Preis einzelner Befte ITMIk. 2,—; im Weltpoitvereins-Gebiet „ 2,50 
Die „Deutiche Monatsichrift“ ift zu beziehen durdı die Bucdıhandlungen des In- 
und Auslandes, die Poftanitalten (Poitzeitungsliite für 1902 lo. 1895) oder die 

Expedition, Alexander Duncker, Berlin W. 35, Lütowitr. 43. Prospekte gratis. 





„Wirfpüren beuie dankbar und frob den ganzen Flügeljchlag des nationalen 
$tolzes, der unfere Seele Ireier und weiter und größer macht, die unend«» 
liche Debnung und Adelung unferer deutſchen Welt, unferer Weliftellung, 
unferes MWeltgetühls; wir preifen in unferem nationalen $taate die unaus- 
Iprechlich fegensreiche Vorausfenung aller inneren Kraft und aller inneren 
@efundbeit, wir fpüren es, ein jeglicher in [ich felbit, daß wir nicht mehr 
zu leben vermöchten, daß wir nicht mehr atmen könnten obne diefes Reich 
und jein Kaljertum.‘‘ 


Erihb Mars (in feiner Rede über „Wilhelm 1, bei der 
Enthüllung des Kaiferdenkmals zu Beldelberg am 5. Dezember 1901.) 


Der Tag von Straliund. 


Ein Bild aus der Saniezeit von 
Wilhelm Fensen. (Schluf.) 


Il“: ſah die nordiihe Welt und doc Altbefanntes; als ob die Toten aus 
ihren Gräbern aufgeftanden jeien, erjchienen die Tage der Großväter bei den 
Enkeln und ihren Söhnen wiedergefehrt. Einft hatte der Dänenkönig Waldemar 
Atterdag fih dort zur höchſten Macht aufgefhtwungen, die Herrichaft rings um 
die Dftjee behauptet, bis fiebenundfiebzig Städte der düdeſchen Hanfe ſich ver- 
bunden, ihm Abjage gethan umd ihn nad) langen, blutigen Kämpfen aus jeiner 
ftolzen Höhe zu Boden geworfen. Jetzt faß auf dem Thron der vereinigten 
ſtandinaviſchen Reiche fein Urenfel Erich; von Pommern, gegen ihn lag die Hanſe 
unter der Führung ihrer Oberhäupter Lübeck, Hamburg, Stralfund, Roitod und 
Wismar im Krieg, und ähnliche Ereignijje wie ehemals, Glückswechſel, Fehlichläge 
und Mißgefchide, erneuten jih. Um die Lande Schleswig und Holftein, in die 
der König eingebrochen, ſchien fich’3 zu handeln, doch die Städte erfannten, auf 
jte ſei's abgeſehen, und leifteten den Angegriffenen Beijtand. Eine mädtig von 
ihnen ausgerüftete Flotte verbreitete wilden Schreden in allen deutichen Gewäjlern 
bis zum Sattegat hinauf, viel Unbegreifbares aber folgte danad). Bei einem 
näcdtigen Anſturm gegen die Mauern der Stadt Flensburg verlor der junge, 
ſchon weit als Striegsheld berufene holſteiniſche Graf Heinrich fein Leben; die 
Schuld daran trug Trunfenheit des Hamburger Flottenführers Johannes Kletze, 
der nad diefem Unheil mit feinen Schiffen heimſegelte. Doch in Hamburg em: 
pfing ihn die wild aufgebradhte Stadt, wie Lübeck einft feinen Flottenhauptinann 
Johann Wittenborg, als er bei Helfingör der Liſt König Waldemars und jeiner 
Ihönen Tochter Ingeborg unterlegen war. Taujendfältig tobte die Volkswut, 
ein Verräter gleich jenem ſei er gemwefen, und, wie einjt der Kopf Johann Witten: 
borgs fiel der Johannes Kletzes unter dem Henkerſchwert. Auch in Wismar traf 
gleiches Geſchick den Burgemeifter Yohann Bankskow, der des Anteils an dem 
Berrat befchuldigt ward; die Burgemeifter von Roftod retteten ihr Leben nur 
durch fchleunige Flucht. Und Schlimmeres noch, dazu faft Rätfelhaftes, begab 
A 


642 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 


fi) nicht lange nachher. Eine neue Hanfemadt, aus gewaltigen, mit vielen 
Feuergeſchützen befegten Orlogſchiffen beitehend, lief unter dem „gemeinen Haupt: 
mann“ Tiedemann Steen, einem Burgemeifter Lübeds, in den Sund aus, um 
einer von Hilpanien her heimfehrenden, reichbeladenen Handelsflotte ficheres Ge: 
leit zu geben. Doch der Ortöverhältniffe unfundig, wurden die Hamburger 
Scdiffe unter ihrem Führer Heinrich Höper von ſchwächeren dänischen in feichtes 
Wafler verlodt, dort überwältigt, vernidjtet oder erobert, während Tiedemann 
Steen jchwediiche Gegner ſiegreich in die Flucht trieb. Trotzdem verließ er danadı 
unerklärlicherweife den Sund, fehrte zur Trave zurüd, und die vertrauens: 
voll anfegelnde Handelsflotte fiel beinahe gänzlid) in die Hände der Feinde. Weil 
er Sieger in der Seefchlacht geblieben, entging er in Lübeck dem Richtichwert, 
ward nur zu lebenslanger Haft in einen Turm gejegt; über die reiche Beute 
froblodend aber weidete fi) König Erich am Schimpf, der Ohnmadt und dem 
Niedergang der Hanfe. Sie mußte dafür büßen, daß fie die Bereinigung der 
drei Reiche in einer Hand zugelaflen; doch der innerfte Grund des jchweren 
Uebels entſtammte daher, daß ihre eigene Kraft nicht in einer Hand vereinigt lag. 
Viele Städte und viele Köpfe führten die Leitung der „gemeinen" Sache; Mißgunſt 
und Zwielpalt, Eigenwille und Unbotmäßigfeit ſchwächten und lähmten ihren Erfolg. 

In Straljund hatte Herr Nikolaus von der Lippe mit feiner Herrſchaft über 
die Gemüter die Vermahnung der pommerſchen Landesfürften niedergerungen 
und die Beteiligung der Stadt an dem Hanfafrieg gegen den König burchgeiegt. 
Doch wenn er allein in feinem Gemach ſaß, brannte zumeilen ein düfterer Glanz 
zwifchen feinen Augenlidern; das Mißgeſchick der hanfischen Flotten fraß in feinem 
Innern, und mehr als genugfam war ihm befannt, daß heimlich im Rat und 
unter den Bürgern gar mande auf einen Anlaß lauerten, ihn zu Fall zu bringen. 
Dann aber wußte er, fiel auch fein Kopf auf dem Alten Markt gleich dem feines 
Borgängers Karften Sarnow und wie die Johannes Kletes in Hamburg, Johann 
Bankskows in Wismar. Dem fah er für ſich zwar unfchredbar furdtlos ent- 
gegen, aber mit ihm brach jein Haus in Nichtigkeit und Elend zufammen, Weib 
und Tochter, vor allem jein Sohn, für deſſen Zukunft als bereinftigem Burge- 
meifter von Stralfund er ſchuf und baute. Noch zwar hielt er den Jungen unter 
unbeugjamer Hand; das Ehebündnis mit Richlint Wulflam konnte er ihn gegen 
jeine Weigerung nicht aufzwingen, doch Jörg wußte, der Alte werde niemals be- 
willigen, daß er fich nad) eignem Gefallen eine Frau wähle, die jein Vater des 
Gefchlechtes von der Lippe nicht würdig adjte. Einmal hatte er taftend daran 
zu rühren gewagt, aber Herr Nikolaus darauf erwidert: „Bring' mir den König 
Erih mit gebundenen Armen vor mich hierher, dann magft Du mir eine 
Schwäherin ins Haus führen, die Du willft." Daß fein Sohn derartiges im 
Sinn tragen könne, hielt er merklich überhaupt nicht für denkbar, jo wenig ala 
die Erfüllung ener Borbedingung, mit der er nur der Unbezwinglichkeit feines 


Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 643 


Willens ftärkften Ausdrud gegeben. Das ließ Jörg feinen Verſuch nicht zum 
andernmal wiederholen; jelten auch nur war er zu Haus anmwefend, führte mit 
feiner hurtigen Snigge ihm aufgetragene Handelsfahrten nad) Danzig und bis 
Reval hinauf aus. Doch wenn er auf dem Hin- und Herweg zum Geſchäfts— 
betrieb Greifswald anlief, verſchwand er dort ftet8 im Abenddunfel und ſchoß 
allein in einem Segelboot pfeilfchnell nordwärts, durch den Greifswalder Bodden 
der Rügenſchen Halbinfel Mönchgut und weiter den weißen Streidefelfen von 
Jasmund entgegen, um erft in der folgenden Nacht zu feinem Schiff zurückzukehren. 
* * 
* 

Nicht gar weit von Stralſund gegen Nordweſt über die Oſtſee erhob ſich 
am Guldborgſund, der ſchmalen Meerenge zwiſchen den däniſchen Inſeln Falfter 
und Laaland, auf der erſteren eine der ſtolzeſten und feſteſten Schloßburgen 
ganz Dänemarks, das Städtchen Nykjöbing überragend, „Nykjöbingſchloß“, Schon 
im zwölften Jahrhundert erbaut. Hier hatten von je die Könige, auch Waldemar 
Atterdag, mit Vorliebe zu Sommerzeiten Hoflager gehalten, und fo that's jekt 
Erich, dev Beherricher der drei jfandinavifchen Reiche. Unbezwinglich troßte das 
Schloß ſicher jedem Angriff, doch wenige Schladtidiffe genügten außerdem, die 
Zugänge des engen Sundes aller feindlichen Annäherung zu fperren; Orlogs- 
Eoggen benannte die Zeit fie nach dem niederländiichen Wort „Dorlog“, indes hatte 
auch jchon das angelſächſiſche ‚orlege‘ ebenjo „Krieg“ bedeutet. Sehr Klein 
zufammengerüdt aber war hier die Schaubühne, auf der feit Jahrhunderten 
unabläjlig die wellengefchaufelten Kämpfer von hüben und drüben gegen einander 
auftraten; bei heller Luft reichte der Blid von der Südſpitze Falfters bis an die 
Küfte von Roſtock und Wismar hinüber. 

Laut und lärmend ging's nun an einem Hochſommerabend beim noch ſpäten 
Tageslicht in einer der großen Hallen von Nykjöbingfchloß zu. Dort ſaß König 
Erich an langem Tiſch mit feinen Hof- und Hauptmännern beim Bankett; Wein, 
Met und Hamburger Bier, an dem bie gut kaufmänniſch rechnende Hanfeftadt 
auc den ſchlimmſten Gegner nicht darben ließ, troff über die Ränder der großen, 
flirvenden Erzhumpen: feit geraumer Zeit ſchon hatte die ſchöne Königin Philippa, 
des englifchen König Heinrichs des Vierten Tochter und Erich8 noch jugendliches 
Gemahl, das wildwerdende Gelage mit den mählich in der Trunfenheit ſcheulos und 
zuchtlos berausfahrenden Zungen verlafjen. Auf erhöhten Armfig thronte der 
König, von purpurnem Mantel umfleidet, mit einem fteinfunfelnden Goldreif am 
Stirmrand des dunklen Haares; vor den Bliden anderer ftellte er ſich ftet3 in den 
Abzeichen feiner Macht und Hoheit zur Schau. Nicht mehr der Knabe von der 
färglihen Bäterburg bei Rügenwalde war's, ein hoc und breitbrüftig gewachſener 
Mann; nad) nordifhem Brauch umgab ein voller Bart, doch Eurz an den Seiten, 
nur unter dem Sinn fich verlängernd, fein Geſicht. Aus dem fprühten nad) 
Genuß und Befriedigung der Sinne begierige Mugen, trugen etwas von fladernd 

4ıt 


944 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 


nad einem Nährftoff umzüngelnden Flammen in fih. Sie Hatten auch }o 
zwijchen den Lidern Waldemars lodern gekonnt, im Rachdurſt, beim Trunk, vor 
allem, wenn ein jchönes Weib fremd zum eritenmal vor jeinen Blid geraten; 
doch er war Herr über ſich gewejen, wo wichtigeres in Rechnung ftand, die aus 
jeinem Innern hervorfpringenden Funken zurüdzubändigen. Das vermochte fein 
Urenfel nicht, unverhohlen und unköniglich offenbarte er fein Gelüft, überließ fich 
ihm beherrſchungslos; feiner jungen, jhönen Gemahlin indes war fein heißer 
Blick feiner Augen nachgefolgt, als fie aus der Halle davongegangen; er liebte 
blondes Gelock nicht, und fie teilte jchon feit zwei Jahren den Thron mit ihm. 
Doc befand er ſich heute in beiter Laune, eine große Anzahl gleichlautender Briefe 
war ihm aus Deutichland her zugegangen, Abfageichreiben der „oberheidilchen“ 
Danfejtädte im Binnenland zwiſchen Elbe und Rhein, und, ein herbeigebrachtes 
Pergamentblatt aufrollend, las er die Schrift drauf lautftimmig vor. Die 
richteten „Burgemeifter, Nat und gemeine Bürger” der Städte an den „body: 
geborenen Fürften, Herrn Erich, der Reiche Dänemark, Schweden und Norwegen, 
der Wenden und Goten König und Herzog von Pommern”, und in den Fehde— 
briefen erklärten ſämtliche fid) als Feinde feiner Reiche und aller Unterjajfen um 
ihrer Freunde, der ſechs führenden Städte willen, daß aud) fie ald Glieder der 
deutichen Hanſe ihn mit Krieg überziehen würden und „fid) ihrer Ehren ver: 
wahrten“. Ungezählte Schriftftüde waren’3 von Bundesangehörigen, die nicht 
an der See belegen, feine Schiffe beſaßen, mit ihnen an dent Kampf teilzunehmen, 
doch Geldbeiträge zu diefem leiften wollten, damit fie nicht „ſchwerlich beſchädigt 
würden"; die Abjage erinnerte faft genau an diejenige, welche vor drei Ge- 
Iihlehhtern Waldemar Atterdag von den fiebenundjiebzig Hanfeftädten behändiat 
worden war. Deſſen gedachte aud König Erich, der mit einem Ton höchſter 
Beluftigung die Kundgabe verlejen, und fpöttiich lachend fügte er für die Zuhörer 
um den Tiſch hinterdrein: „Wiſſet ihr no), mas mein Ahnvater den Pfefferfrämern 
zur Antwort gab? Er ließ ihnen erwidern: 

„Söben und föbentig Henuſen 

Hefft ſoben un ſöbentig Genfen, 

Wenn mi de Genſen blot nich biten, 

Na de Henfen frag’ ich nich em ſchiten.“ 

Ein wieherndes Gelächter Scholl aus allen Kehlen der mehr oder minder 
Trunkenen zurüd, in das der König auf plattdeutfh — denn der däniſchen 
Sprade war er nie ausreichend mächtig geworden — Hineinrief: 

„De füben un föbentig Genfen maft wedder Gefnater, 
Denn dudt wi fe mal wedder in't Water.” 

Unter laut ballendem Beifalldgejaudjz ftand er auf, wandte den Blid 
zweien Mitgliedern der Runde zu, die erft feit dem Morgen im Schloß zu Gait 
waren, und ſprach fie an: „Junker Henning und Junker Hanns, ihr wolltet mir 


Milhelm Penfen, Der Tag von Stralfund. 6453 


al3 guten Schlaftrunf eine Iuftige Ausricht machen; begleitet mich noch in mein 
Gemach dazu." Die Angeredeten erhoben ſich gleichfalls, dem Heren zu folgen; 
er brach heute früher als fonft von Bankett auf, etwas Bebeutfames mußte ihm 
im Sinn liegen oder eine junge Schöne auf fein Kommen warten. Dem ging 
zwar zumider, daß er die Begleiter mit ſich nahm; die Zurüdbleibenden fprachen, 
ſoweit der Rauſch es zuließ mit gedämpften Stimmen, ihre Meinungen darüber 
durcheinander. Man Fannte die Namen der beiden von auswärts her in Nykjö— 
bing Eingetroffenen, Deutiche waren es, Abkommen alter Gefchlechter, der eine 
Henning Manteuffel aus Pommern, der das lange Haar an der rechten Schläfe 
eigentümlid; zufammengefrauft trug, jo daß nichts dort von der Obrmufcel 
drunter hervorſtach; der zweite hieß Hanns Moltke, feine Väterburg Stridfeld 
ſtand in Medlenburg. Ihre Züge boten auch ein adliges, doch vermwildertes Aus: 
fehen, und heimlich ging ein Zuraunen um, fie führten anderswo andere Namen, 
auf der See, am Schiffäbord, ald zwei der tollfühnften und beutelüfternften 
Lifedeeler des jetzigen Vitalienhauptmanns Bartholomäus Voet, der noch im 
Vorjahr wieder einen verwegenen Raubanfall auf Bergen ins Werk gefett hatte. 
Im gegenwärtigen Srieg hielt er zwar Bundesgenofjenfchaft mit den holfteinifchen 
Grafen und der Hanfa, aber unter den Seeräubern jagten von jeher mande 
auf eigene Hand ihrem Gewinn nad), und der Sinnesart des Königs lief's nicht 
zuwider, mit ſolchen für einen wichtigen Zweck in Berbindung zu treten; ein 
Gerücht befagte von ihm, ehe er der Beherricher der drei Reiche geworden, fei er 
jelbft mit dem Gedanken umgegangen, ein Seeräuber zu werden. Dazu ftanden 
Henning Manteuffel und Hanns Moltke als deutfche Landsleute, der erftere 
obendrein als pommerſcher Unterthan, feinem Zutrauen befonders nahe; Sicheres 
wußte freilich niemand von ihnen, nody um was ſich's handeln möge. Dod auf: 
fällig war's, daß er fie derartig zu fich befchieden hatte, und ward's noch mehr 
dadurch, daß die halbe Nacht verging, bevor die beiden wieder aus feinem Schlaf: 
gemach heraustraten. 

Und feltfam wiederholte ſich Nehnlihes am folgenden Tage. Abermals 
war ein deutſcher Fremdling, diesmal ſchon grauhaarig, vorgerüdten Alters, im 
Schloß eingetroffen, hatte auf fein Anſuchen Vorlaß beim König gefunden und 
jaß am Abend als Gaft mit beim Trinfgelage. Bon den um den Tifch An- 
gefammelten Eannte ihn niemand, auch die beiden deutfchen Junker nicht; er be- 
nannte fih auf Anfrage Marten Wollweber aus Danzig, war auc) ficherlich nicht 
vom Model, fondern ein Stadtbürger und madte den Eindrud, ein feinerer 
Gewerfsmann zu jein, vielleicht ein Eumftfertiger Goldfchmied, der bier bei dem 
prunffüchtigen Fürften Abſatz für einen befonderd wertvollen Schmud erhoffte. 
Nur wenig fih am Trunk beteiligend und felten einmal mitredend, jaß er ftill 
da, im Gefühl ſchien's, daß er nicht unter die ritterbürtige Tafelrunde paßte, 
hörte nur den Geſprächen zu und ließ dann und wann furz die Mugen auf einem 


646 Wilhelm Renfen, Der Tag von Stralfund. 


Gejicht verweilen. Doc als König Eric) jid) ebenjo wie geftern ungewohnt früh: 
zeitig erhob, jagte er wiederum: „eleitet mich, Herr Wollweber, und thut mir 
noch den Preis für Euren £oftbaren Schat fund." Offenbar hatte die Mut- 
maßung fich nicht getäufcht, ein Schhmudhändler war's, der die Begier des Königs 
zu reizen veritanden, und er fchritt Hinter den fadeltragenden, reichgewandeten 
Hoffnappen drein. Es ergab ſich alsbald, daß zwiſchen beiden dasjenige, um 
was e3 jich handelte, bereitS ausführlicher zur Rede gelangt fei, fowie daß Erich 
bejjer al3 fein Hof über Herkunft und Stand des Fremden unterrichtet war, 
denn unter vier Augen mit diefem fagte er: „Setzet Euch nieder, Magijter, und 
feiet ohne Sorgnis, ich könne Euch minder an Wert achten, weil die Schwert: 
Ichneide des Hamburger Meiſters Roſenfeld Eures Bruderd Kopf auf die Erde 
gelegt hat. Bielmehr jchäte ich Euch bejonders, des gleichen Blutes wegen, das 
er in ſich getragen, fowie al3 grimmigen Feind der Pfefferfnechte, und bin Eud) 
gut dafür zu Dank, da Ahr hierhergefommen feid, mir von dem Enkelkind des 
tüchtigen Mannes Bericht zu geben, der wohl verdient, daß unter dem Bolt 
Ruhmlieder von feinen großen Thaten auf der Oft: und Nordjee umgeben. 
Sein Angedenfen zu ehren in dem, was er hinterlafjen, bin auch ich gern mill: 
fährig; faſſet mir noch einmal zufammen, in welcherlei Weife es jo gejcheben iſt. 
Berhält fi) die jondere Art des Mägdleins nad) Eurer Ausfage, da wäre id 
bereit, fie bierherbringen zu lafjen, in den Dienft meiner Gemahlin aufzunehmen 
und nad) dem Verdienſt ihres Aeltervaters für fie Sorge zu tragen.“ 

Eine glimmernde, von thätiger Einbildungskraft zeugende Erwartung redete 
aus den Mugen König Erichs, und der Magilter Bertram Wigbold gab Antwort: 
„Wie ich e8 Eurer hochgeborenen Durdjlauchtigkeit heute Morgen geiprocdhen, ift 
mir Hunde davon aus Scriftftüden meines vom Hamburger Rat mit Schimpf 
gerichteten Bruders zu teil worden. Drin fteht angemerkt, daß Claus Störte- 
befer einmal durch den Liebesverband mit einer ſchönen Filcherstochter an unferem 
Seeftrand zum Urheber des Lebens eines Mädchens geworden ſei, das, in die 
Jahre der Neife gekommen, wiederum eine Tochter empfangen, von welchem 
Vater vermag ich nicht zu jagen. Doch als zu fpäterer Zeit der große Seeheld 
fi) oftmalig mit feinen Schiffen auf der Anfel Rügen im Hinterhalt geborgen 
und dort zu guter Weile am Land unter der Stubbentammer aus Kreideftein 
einen Bau aufrichten laffen, den fein Nuge von der See her wahrnehmen gefonnt, 
da bat er feine Tochter ausfindig gemacht, fie mit ihrem Kinde zu fich in das 
weiße Haus genommen und, als er wieder auf die Nordfee davon gezogen, ihrer 
Dbhut alles übergeben, was er auf feinen Umfahrten in der Oſtſee während 
jener Zeit erbeutet und in. den Kreidefelfen vergraben gehabt. Sie hat aber 
vergebens auf jeine Wiederfunft geharrt, weil die „Bunte Kuh” ihn beim Hilligen 
Land mit ihren Hörnern niedergerannt; fo ift fie mit ihrer Tochter in dem 
Klippenhaus verblieben und hat Nahrung von einigen wendiſchen Fildern 


Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 647 


empfangen, die dort in der Wildnis an einer Nehrung haufen; von den ver— 
borgenen Schäßen, die ihr al3 Erbteil zugefallen, vermodte fie alles überreich 
zu entgelten. Davon ftand nicht mehr in meines Bruders Bericht, jondern ich 
hab's erjt mit meinen eignen Augen gefehen und aus ihrem Munde vernommen, 
al3 mich's vor kurzem einmal angetrieben, dorthin zu fegeln; es Elopft, wie's 
Eure hochgeborene Durcjlauchtigkeit gefprochen, das Blut meines Bruders auch 
in mir auf3 Salzwafjer hinaus. So habe ich die Aungfrau gewahrt, die jetzt 
fiebzehn Jahre zählen mag, und mich bedünkt, ihre Schönheit wäre einer fürft- 
lihen Krone würdig, denn fo lang mein Leben gedauert, fam nichts ihr Gleiches 
an wunderbarem Liebreiz mir zu Geſicht. Es jammerte mich, daß ſolche junge 
Herrlichkeit eines Weibes in der Verlaffenheit hinaltern und vergehen follte, des— 
halb fuhr ich hierher, einen Beiftand, der fie daraus befreie, für fie zu werben. 
Denn ich befand mich fonder Zweifel, der hochgemute Sinn Eurer Durchlauchtig— 
keit nähme Anteil an Claus Störtebefer, dem vormaligen Todfeind der deutjchen 
Hanſe, und werde, fo hoffte ich, fi auch zu einem Mitgefühl für fein hülfloſes 
Enkelkind bewegen laffen. Dod will id; mich nicht ruhmredig als jelbftjuchtlos 
emporheben; mein altgewordenes Leben verfümmert unter Dürftigfeit und Mangel, 
da um meine Namens willen die Bürger Stralfunds ſich feindjelig von mir 
abfehren. Drum fnüpfte ich auch für mid die Hoffnung daran, Eure königliche 
Durdjlauchtigkeit werde hochgefinnt meiner Objorge für da3 ſchöne Tochterkind 
des großen Seehelden gleihfall3 mit einem Kleinen Lohne gedenken.“ 

Unter den wohlgefügten Worten Ichimmerte aus dem letsten doch der eigent- 
lihe Zwed der Reife Bertram Wigbolds, die Geldgier des verhohlenen alten 
Kupplers hervor. In des Hörerd Augen hatte während der Erzählung ich der 
brennende Glanz noch mehr verftärkt, er verſetzte jett: „Dörtet Ihr je, daß 
König Erichs Hand fi karg wies, eine edle That zu entgelten? Bringt mir 
die Enkeltochter Störtebeferd hierher, und wenn ich erkenne, daß die Wirklichkeit 
Eurem Bericht gleichtommt, feid des verdienten Lohnes gewiß.“ 

Dazu jedoch jchüttelte der Magifter den Kopf und antwortete: „Das würde 
mir nicht gelingen, ihre Mutter bewacht fie mit den Mugen, die dem Argus der 
alten Mythe zugemefjen werden, und ohne deren Zumilligung vermöchte ich fie 
nicht fortzubringen, denn auf ihr Geheiß würden die Fiſcher fich ihr zum Beiftand 
gefellen. Doc es ift nicht weit bis an die öde Nordküfte von Rügen hinüber, 
binnen wenigem will der Mond jich füllen, und in einer hellen Naht könnte 
Eure königliche Durchlauchtigkeit leichtlich ficy mit eignen Mugen überzeugen, ob 
ih von foldem Wunder der Schönheit mit zu hohen Worten geredet habe. Es 
erſchiene das fürwahr gleich einer Wiederkunft des oberften der alten olympifchen 
Götter, daran gemahnend, wie unerkannt, in vermwandelter Geſtalt der höchſte 
Jupiter feinen gnadenreihen Blick auf der ſchönen So, des Inachos Tochter, 
verweilen ließ, und meinem Bemühen gelänge es wohl, die Wachſamkeit des 


648 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Straliund. 


weiblihen Argus durch Einjchläferung unſchädlich zu machen. Der Täuſchung 
unterliegen zwar die Augen gewöhnlicher Menſchen, darum könnte es auch meine 
betroffen haben; dagegen würde ſicherlich für den Blick Eurer königlichen Durch— 
lauchtigkeit eine Stunde der Nacht zur Erkenntnis genügen, ob die Jungfrau 
würdig ſei, hierher in den Dienſt Eurer Gemahlin überführt zu werden.“ 

Bekannt war's, daß König Erich oftmal3 ein Bergnügen daran fand, 
nächtlich in Verkleidungen ihn anreizenden Abenteuern nachzugehen — aud) das 
hatte er von feinem Urältervater überfommen, der einft fo durd die Liebjchaft 
mit einer Bürgerstocdhter von Wisby die feite Stadt liftig in feine Hand gebracht — 
und in feinem Gelicht ftand zu leſen, daß ihm's nicht mißfallen habe, mit dem 
oberiten der Götter des Altertums verglichen zu fein. Mancherlei jchmeichelhafter 
Bewunderung hatte die Rede Wigbolds Ausdrud verliehen und zum Schluß eine 
Hindeutung angefügt, die von höchſt verftändiger Auffafjung der Angelegenheit 
zeugte. Beipflihtung ließ fi) der Miene des Königs entnehmen, und ein Zug 
begehrlicher Borjtellung umfpielte feinen Mund, wie ev entgegnete: „Euer Rat 
mag das Richtige getroffen haben, es wird wohlgethan fein, daß ich mich zuvor 
felbft darüber vergewillere, ob das Enkelkind Claus Störtebeferd mir für den 
Dienft bei meiner Gemahlin geeignet erjcheint. Mondnächte, jagt Ihr, itehen 
bevor, mir iſt's noch im Gedächtnis, die machen fi hübſch drüben am Seeftrand, 
und ich hätte wohl Luft, auch einmal die Kreidemwände von Jasmund beim Mond: 
Ichein zu fehen. Ihr feid ein gelehrter Mann, Magifter — drei Königreiche 
machen viel zu jchaffen und aus meinem Kopf iſt's etwas weggeraten — weckt's 
auf und erzählt mir noch einmal, wie ſich's mit Yupiter und Jo zutrug. Cine 
luftige Gefchichte war's, mir ift’S dunkel, eine Kuh kommt drin vor — nicht die 
bunte Kuh, die Euch den Haß auf die Pfefferfnechte ins Blut geftoßen — aber bie 
Gemahlin Jupiters war von Daß gegen fie entbrannt. Das war fie vermutlich 
nicht ohne Grund, denn ein häßliches Geſchöpf haflen die Ehefrauen nicht — 
laßt mich die Gejchichte wieder hören, Magifter, vielleicht träumt ſich's gut in der 
Nacht darauf." 

König Erich ſprach's lachend, Iehnte den Kopf zurück und ließ die Lider auf 
die Augen fallen. Doc unter ihnen überblinzelte er dur die Wimpern un: 
merkbar das Gejicht Bertram Wigbolds, wie man einft von Waldemar Atterdag 
gejagt hatte, „at han blinkede med Oiene“, wenn er jemand vor ſich ſprechen 
ließ, um ihm zubörend in feinem Innern zu lefen. 

* + 
* 

Schon jeit einem Kahrhundert war durch die Hanfe auf dem Gebiet der 
Seefahrt eine Umänderung bewirkt, die bis dahin allgemein in Europa bräuchlich 
gewejene, noch von Altertum übernommene fpanifche „Galeere“ durd) die nieder: 
ländiſch-hanſiſche „Kogge“ verdrängt worden; Telbft die Venetianer und Genueier 
hatten diefe Schiffsbauart, als zweckmäßiger fowohl für den Handel wie für die 


Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 649 


Kriegführung, angenommen. Die „Kogge” ftellte das größte Fahrzeug der Zeit 
dar; breitgebaucht und hochgebordet, trug ſie an der Border- und Nüdjeite auf: 
getürmte „Kaftelle*, die im Kampf den hohen Standplat der Waffenträger bildeten 
und mit Bliden und Mangen, Schleudergeräten zum Werfen großer Steine, 
fowie mit Brennftoffen angefüllter Fäffer ausgerüftet waren; dieſe Wurfmafchinen 
hatten fich vielfah auch nad; dem Aufkommen der Feuergeſchütze, der „eld- 
ichlangen“ und „Bombarden“ noch forterhalten. Zumeift führte die „Kogge“ einen 
Großmaft und einen Befan- oder Hintermaft, bei den mächtigſten trat noch ein 
Fockmaſt Hinzu. Der erftere enthielt auf dem „Mars“, dem Maftkorb um feine 
Mitte, von der fich feine „Stenge“ weiter aufhob, ein „Topkaſtell“, deſſen runder, 
von einer Brüftung umgebener Ausbau den Schügen zum Aufenthalt diente, vor- 
dem den „Armbruftern”, nunmehr den Handhabern der nad) und nach zur An— 
wendung gelangten „Knallbüchſen“, „Haken“ und „Arkebufen“, Eleinerer, nur jehr 
umftändlih noch benußbarer Dandfeuerwaffen. Ueberaus ftolz aber zug bei 
günftigem Wind folche hanfische Vollkogge mit ihrer gebaufchten Segelfülle, dem 
tiefigen lateinifchen Großjegel, den Fock- und Befan:, Mars-, Klüver- und Spriet- 
fegeln über die Wellen dahin; unter dem langen Bugipriet blidte gemeiniglich, 
aus Holz geichnigt oder in Erz gegoflen, das Bruftbildnis des Erzengels vder 
Heiligen auf, deſſen Namen das Schiff trug. Für den Krieg vollbemannt, führte 
dies bis zu anderthalbhundert „Wappner”, ein halbes Dutend „Bombarden” mit 
den dazu gehörigen „Kraut“-Tonnen, den Bulverfäflern, und daneben noch eine 
Anzahl der alten Bliden an Bord. 

Um ein paar Tage nad) der Zwieſprache des König Erichs und Bertram 
Wigbolds lief in noch dämmeriger Morgenfrühe eine derartige „Kogge“, doch nur 
mittlerer Größe, von der Nykjöbinger Ladebrüde ab und nahm ihren Weg durch 
den Guldborgfund nad) Süden. Als fie zur freien See hinausfam, war der Tag 
voll angebrochen, guter Wind füllte bier ihre Segel, denn er ließ am Dünenrand 
von Gjedferodde, der einfamen Südſpitze Falfters, an einer dort im Sand auf: 
gepflanzten Fichtenftange ein Stüd Flaggentuch luftig gen Often flattern; ein 
Deutungszeichen der Untiefe vor der Inſel jchien’3 zu fein. Sichtlih war das 
Schiff ein Handelsfahrzeug, wenn auch breitbaudig, doch für leichtere Beweglich- 
feit gebaut, als die ſchwerfälligen Vollfoggen. Zwar mit einer ſchmalbrüſtigen 
Snigge, die fchon etwas Vorſprung vor ihr hatte, vermochte es nicht zu wetten; 
fie erweiterte, ſich gleichfalls oftwärts haltend, bald den Abftand noch mehr, ver: 
Ihwand vor Mittag völlig aus dem Geficht. Merkbar indes lag der Kogge aud) 
nicht dran, ihr durch größere Schnelligkeit den Borrang abzulaufen, fie hielt nur 
die Hälfte der Segel beigelett und trieb gemächlich dahin; an ihrem Hintermaft 
mwehte eine Flagge, von der zu mutmaßen ftand, daß fie ihr zu Recht nicht zu— 
fomme. Dod war von feinem Auge geliehen worden, dat fie die Flagge der 
Stadt Danzig erjt nad) ihrer Ausfahrt aus dem Guldborgfund gehißt hatte; Die 


650 Wilhelm Jenfen, Der Tag von Stralfund. 


dänifche zu zeigen, wäre bier im Bereich der hanſiſchen Dfterlinge für einen wehr— 
lofen Sauffahrer bei den Kriegsläuften nicht ratfam gewefen. So aber verbürgte 
der trügerifche Anfchein der Kogge ziemliche Sicherung, zumal da fie ſich längere 
Zeit in der Nähe von Faliter hielt und im Notfall an diefem Schub fuchen 
konnte. Doch im Beginn des Nachmittags änderte fie plögli den Kurs, lief 
aus der Höhe der Kreidefelfen von Möen quer über die See gegen die pommeridhe 
Küfte zu, jeßt unter Vollfegeln, mit denen fie rafch einigen ihr begegnenden, 
mühjam wider den Wind Ereuzenden Eleineren Hanfejdhiffen vorbeigelangte. Dann 
ftieg vor ihr der ödverlaſſene Uferkamm vor Arkona mit feinem dunklen Trümmer: 
reft auf; an der Brüftung des Borderkaftelld jtand neben dem Magifter Wigbold 
ein Mann, der mit lang ihn umhüllender Schaube aus lündishem Tuch das Aus: 
jehen eines reifenden Kaufmanns but. Seine Hand deutete nad) dem Worgebira 
hinüber und er fprad dazu: „Ein Eric bat die Burg niedergelegt und ein 
Waldemar den Tempel Smwantewits zu Aſche gemadt. Heute find beide in Einem 
beiſammen, der das Hanje-Gößenbild in Stüde fchlagen wird, und Eud zu Dant, 
Magifter, gedenk' ich einen Kohlenhaufen rauchen laſſen, wo Eure Stadt Stral- 
fund fteht. Ich babe ihr eine lange Rechnung aufgekreidet, an der Zeit ift's, fie 
einzutreiben. Glimmert da drüben fon die Kreide von Jasmund? Zur Nadt 
liegt mir noch andere Dankſchuld auf für Claus Störtebefers Hinterlafjenihaft, 
und Ihr jeht, ich habe Bertrauen in Euch gefett, Magifter, daß mir in feinem 
weißen Fuchsftollen keine Täufchung vor Augen gerät." König Grich fchlug 
über dem Kaufmannsrod ein luftiges Lachen zu den Worten auf, bereits erfennbar 
ſchimmerte die helle Wand der Stubbenfamer aus Süden her über der Waſſer— 
fläche, und die nur mit der gewöhnlichen Mannſchaft eines Handelsjchiffes befette 
Kogge nahm jegt geraden Lauf gegen die verrufene Küfte hin. Das Abend: 
dunkel fiel ein, doc; ehe fie in zu bedrohliche Nähe des Ufers kam, ftieg der in 
Nehnung gezogene Mond herauf und gab Helligkeit genug, um eine Zufahrt und 
geficherten Landungsplag ausfinden zu laſſen. Die Abenteuerluft des Beherr- 
ſchers der nordiichen Reiche hatte ihn zu einem nicht unbedenkflichen Unterfangen 
verlodt; wie einft Waldemar Atterdag als Bürger verkleidet an der Hüfte von 
Gotland gelandet war, durch Liebesbethörung einer Tochter der reihen Stadt 
Wisby ſich diefer zu bemächtigen, jo ftieg bei nächtlicher Weile fein Urenkel an 
dem einfamen Nordftrand Nügens aus. Doch nicht von der Sucht bergetrieben, 
eine Stadt an ſich zu bringen, jondern nur um fich mit eigenen Mugen zu ver: 
gewifjern, ob ein junges Mädchending würdig fei, von ihm für den Dienft feiner 
Gemahlin mit nad) Nykjöbingſchloß geführt zu werden. 

Nur ein mäßiger Wind ging, doch im Verein mit dem Anraufchen der Wellen 
an den Strand jchuf er ein rohrend die Luft durchſpinnendes Geräuſch, das den 
Schall von Fußtritten im Elirrenden Geftein nur kurzhin vernehmen ließ. Wie 
diejes murrende Gejumme das Ohr, umgab ein ungewifjer Schein die Augen, 


Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 651 


denn der Mond war noch nicht über die Stubbenkamer heraufgerüdt, ihr 
Schatten reichte noch bis dahin, wo die nächtlichen Ankömmlinge ans Land ge- 
treten, jo daß der Blid kaum auf einige Schritte in der Runde das umher Be- 
findliche unterfchied. Bertram Wigbold drehte einmal, ohne recht zu willen, 
weshalb, mechaniſch den Kopf zurüd, doch gleichzeitig faßte der König ihn unterm 
Arm und jagte: „Führt mich, Magifter, Ihr feid bier die Kate, die im Dunkeln 
ſieht. Wo ift das Maufeloch mit der weißen Maus drin? ch ſehe nichts vor 
mir als Nabengefieder." Der Befragte erwiderte: „Eurer Eönigliden Durd)- 
lauchtigkeit wird fih das Dunkel bald aufhellen, hier Eommen wir gleich an’s 
Ziel." Seinen Begleiter führend, umbog er eine vorjpringende Gefteinmafle, und 
hinter diefer fiel ihnen ſchon von nahe her ein roter Lichtftrahl ins Geſicht. 
Wandfadeln warfen ihn aus dem Innern des weißen Kreidehaufes hervor, deſſen 
Thür offen ftand, als ob es die Ankunft von Gäften erwarte, und ein paar 
Augenblide fpäter fetten die Weitergefchrittenen den Fuß in die ſeltſame große 
Halle hinein. Sie war leer wie damals, al3 Jörg von der Lippe auf feiner Wanderung 
zu ihr geraten, nur am Herd ftand eine weibliche Gejtalt in dem wunderlichen, mit Rad 
und Galgen anblidenden Gewand, unerfennbaren Gefichts, denn ein ſchwarzes 
Scjleiergewebe hielt es überdedt. Wigbold ſprach gedämpft: „Die Frau iſt's, 
von der ih Eurer Durchlauchtigkeit kundgethan,“ und der König fragte, fie an— 
redend: „Biſt Du Claus Störtebeferd Tochter? Wo ift Deine Tochter?" Nun 
Elang antwortend ihre Stimme: „Sa, Du fennft mid. Ach habe lange auf 
Deinen Bejucd gewartet, Eric von Pommern. Sete Did) an den Tifh. Das 
Nachtmahl ſteht Dir bereitet, fo gut ich’S vermodht, und meines Vaters Humpen 
für Dich gefüllt." Beim legten zog fie den Schleier ab und ſprach hinterdrein: 
„Wieder Mondnacht iſt's. Kommſt Du, Deine Tochter auf Dein Schloß zu holen 
und ihr eine Krone aufs Haar zu jeßen? Ach will fie rufen.“ 

Ein helltöniges Gelächter brad) dazu aus ihrem Mumd, den Augen König 
Erich entgegen, der ungewiß auf ihre enthüllten Züge gejtarrt und jeßt hervor- 
stieß: „Sch kenne Did; — wir fahen uns ſchon — Du hießt Gefa —“ 

Sie ging der Thüröffnung zu, und nun lachte auch der König jchallend auf, 
ſprach danad), feinem verftändnislos dreinfchauenden Führer mit der Hand auf 
die Schulter fchlagend: „Das habt Ahr Iuftig angeftellt, Magifter! Ach fagte 
Euch guten Lohn zu —" 

Etwas Drohendes lauerte aus dem Klang der Worte herauf, ein fchriller 
Mövenruf durchſchnitt fie, mit dem die zur Thür Getretene ein Zeichen nad) 
außen gab. Dem antwortete ein Ruf von dorther: „Dinunter, und bindet 
ihm Arm und Bein!“ Die Stimme Jörgs von der Lippe war’, aus einem 
Felſenverſteck erſcholl das hurtige Niederdröhnen eines Dußend von Fußtritten. 
Dod gleich danady ftürmten andere Töne durcheinander, Getöfe, Waffengeklirre, 
wilde deutjche Seemannsflühe und Hohngeſchrei in dänischer Zunge. Dann 


652 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 


abermals ein Befehlsruf Jörgs: „Umfonft! Zurüd!" Der Mond ſchoß die 
erite Silberzinfe über die Stubbenfamer, und fein Licht zeigte den weißen Bau 
rundhin von einem halben Hundert ſtark Gewaffneter umringt, die der breite 
Bauch der Kogge nicht wahrnehmbar verborgen gehalten; ungejehen und ungebört 
waren jie ihrem Gebieter nachgefolgt. Der trug die Begier Waldemar Atter: 
dags in fich, doch auch feine Berjchlagenheit und hatte mit den blinzelnden Augen 
Unrat gewittert. Der Fuchs war nicht nach dem Köder in die Falle gegangen, 
ohne fi) den Rückweg ficher offen zu halten. Die lange Schaube abwerfend 
aber ſtand König Eric in gligerndem Settenpanzer mit gezogenen Schwert, 
ichlug dem verdugten Magifter nochmals mächtig auf die Schulter und fagte 
unter einem grimmigen Laden: „Du ſollſt es bei mir befjer haben, als Dein 
Bruder beim Meifter Rofenfeld, und morgen früh zuerſt am Maft die Sonne 
aufgehn jehen.“ 

Faſt gedankenfchnell war das Ueberraſchende geihehen, doc blikgeichwind 
auch Hatte Gefa den Borgang begriffen, riß eine Fackel von der Wand, mit 
der andern Hand Bertram Wigbold binter fi, wies ihm: „Da hinunter!“ und 
ftand mit dem brennenden Kienholz vor dem König. Ihre dunfelglimmernden 
Augenſterne blidten ihn furchtlos an und lachend ſprach fie dazu: „Du wollteft 
mein Geficht deutlicher als im Mondichein jehen, Erih von Pommern. Gefällt 
Deine Braut Dir jo? Du braucht Dich ihrer nicht zu ſchämen, fie ift nicht 
mehr ſchwach von Sinnen und eines Seefönigs Tochter, wie Du's gemeint. 
Deine Tochter hält Hertha in Hut, denn Du fannft fie nicht zu Dir nehmen, 
wie Du's gedacht. Aber mir gefällft Du, mein Liebfter, Du bift kein Bauern- 
junge mehr, jondern ein fhöner Mann geworden, und ich will mit Div nad 
Deinem Schloß gehen und Dir helfen, Deine Kronen zu tragen. Mir gehören 
fie zu Recht, nicht der Engländerin, denn die it nur Dein Kebsweib. Aber id 
bin von Deiner Wahl die Königin in Deinen Reichen. Bis heute hat's mur 
der Mond gewußt, jett jol’3 aud) die Sonne jehn! Komm, mein Gemahll“ 

Dörbar zu Spott und Hohn war's gemeint, doch aus der Stimme der 
Tochter Claus Störtebeferd fam nod einmal ein Nahhall des halbirren Tons 
herauf, mit dem fie in der Mondnadht auf Wollin zwifchen den Trümmerreiten 
der alten Balnatofe-Burg auf die Fragen des verfleideten Fürftenfohns geant- 
wortet hatte. König Erich aber fiel da8 Blut aus dem Geficht, als ob ein aus 
dem Boden aufgewadlenes Geſpenſt vor ihm ftehe und die Hand nah ihm 
ftrede. Faſſungslos übermannte ihn die Einbildung mit einem Hirngeſpinſt, fie 
habe die Macht, auszuführen, was fie drohe, könne ihn zu Schimpf und Schande 
zwingen, fie mit ſich vor aller Augen ins Königsfchloß zu führen. Verworrenen 
Sinns, Ichredbetäubt wich er vor ihrer Hand zurück; fie folgte ihm nach, drängte 
ihn mit der Tadel, dem vorgejtredten Arm, mit Eofenden Liebesworten Schritt 
um Schritt weiter zur Thür, feinen draußen harrenden Kriegsmännern entgegen. 


Wilhelm Jenfen, Der Tag von Stralfund. 653 


Nun bis über die Schwelle, daß fie die Bohlenthür zufchlagen und den Riegel: 
balfen vorftoßen Eonnte. Hindurh Ichlug ihm noch einmal ein geifterhaftes 
Laden ihres Mundes wie ferne Kindheitserinnerung and Ohr, dann warf Geſa 
die Fackel auf den Herd und tauchte an der Stelle noch in den Boden hinunter, 
wo Bertram Wigbold aus der Halle verfhwunden war. Die Seeräuber hatten 
durch den weichen Sreidegrund Stollen nad) Höhlungen gegraben, in denen fie 
ihre Beute verborgen gehalten, und ein heimliches Schlupflod führte weiter 
auch ins Freie hinaus. Das wußte Erih von Pommern nicht, mußte glauben, 
er halte die beiden im umſchloſſenen Haus in feiner Gewalt. Doch er dachte 
nicht mehr davam, ſich des Magifters zu bemäcdhtigen, Furt vor dem Mond: 
nachtsgeſpenſt von Wollin rüttelte und fchüttelte ihm noch die Glieder. Wie dort 
lag die weiße Nacht unheimlich hier um ihn, er gab, haftig davoneilend, Befehl, 
wieder mit dev Kogge in See zu ftechen, und als die aufgehende Sonne das 
Schiff Ihon im Angefiht der Südſpitze Falſters begrüßte, jah fie Bertram 
Wigbold nicht vom Maſt herabhängen. Doc flatterte auf der Düne von 
Gjedferalde an der Fichtenftange noch die Linnenflagge, die der Snigge Jörgs 
von der Lippe das Zeichen gegeben, daß der König gewillt fei, in der Morgen- 
frühe die Abenteuerfahrt nach Rügen zu unternehmen. 

Anders als erhofft aber hatte der Tag geendet, den Anfchlag Jörgs, feinem 
Vater König Erich mit gebundenen Armen ins Haus zu bringen, zericheitern 
laffen. Den Grund, der ihn zum Entwurf diefes mißglüdten Planes getrieben, 
gab die Mondnadht in der Fleinen Waldlihtung an dem dunklen Wafjer- 
jpiegel de3 Hertha-Sees zu erkennen. Dort, wo nur noch der alte Erdwall von 
einem Bauwerk verichollener Vorzeit Kunde forterhielt,, hatten alle, die drunten 
der Uebermadht weichen gemußt, fich zufammengefunden, und auf einem der be= 
mooften Trümmerfteine jaß Yörg von der Lippe, die junge Geja, die nicht Hertha 
hieß, fondern den gleihen Namen ihrer Mutter trug, auf feinen Knieen haltend. 
Nicht zum erjtenmal that er’3 fo, und fein Arın lag um ihren Naden gefchlungen, 
denn er wußte jchon feit mancher Wiederkehr ficher, dat fie Feine Seejungfer, 
vielmehr ein gar wunderfam ſchönes Menjchenkind fei, und in diefer Naht nun 
war ihm dazu fund geworden, fie ſei eine Tochter des Beherrfchers der ffandi: 
navifchen Reiche. Aber er wußte auch, das nütze ihm nicht gegen den Wider: 
ftand feines Vaters, deſſen Einwilligung zu gewinnen, daß er fich ein Weib feiner 
eigenen Wahl heimführe, wenn der Alte dies des Gejchlechtes derer von der Lippe 
nicht gleihbürtig achte. Wohl einverftanden zwar war Geſa, die Mutter, den 
Burgemeifterfohn von Stralfund zum Eidam zu erhalten, doch nur unter der 
Sicherung, er bringe ihre Tochter als anvermählte Ehefrau in jein Haus, und 
in Wirklichkeit wie mit den Augen des Argus wachte fie darüber, daß ſich die 
Mondnadht von Wollin nicht auf Rügen zum andernmal wiederholen fünne. Ihr 
Kind trug als Erbteil das Blut Claus Störtebefers und Waldemar Atterdags 


654 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 


in fi, fie wußte, von einem ungeftümen Wellenjchlag ſei's, und felbft haltlos 
auf wilder See des Lebens umgeworfen, wollte fie die Tochter in ruhigem 
Hafenſchutz bergen. Eine Beihülfe Eonnte fie dazu leiften, und die Nadıt hörte 
anı Hertha-See Ratichlagung, an der auch der Magifter Wigbold fich beteiligte, 
Hin- und Hergehen, wie vielleicht anderes ſich an die Stelle des mißlungenen 
Verſuchs jeten lafje. Denn Jörg entftammte nicht minder dem Blut derer 
von der Lippe, als Herr Nicolaus, und wenn er nicht als unge vor dem 
Alten daftand, kam feine Willensbeharrlichkeit der des Altburgemeifterd ebenbürtig 
gleich. Biel an Zuverficht zwar gab ihm nicht Geleit, als er im Morgengrau 
von feiner Auserkorenen Abjchied nahm und enttäufcht feine Snigge vom Ge: 
Elipp der Stubbenfamer wieder in die See auslaufen ließ. Mit einer Föniglichen 
Ladung hatte er fie nach Straljund zu bringen gedacht; nun ftand er vorderhand 
von zwedlojer Rückkehr dorthin ab, ſchlug entgegengejegte Richtung gen Oſten 
ein und landete um einige Tage fpäter, vom Magifter Wigbold begleitet, an der 
Lndebrüde von Danzig. 
* * 
* 

Hin und her ſchwankend nahm der nordiſche Krieg zu Land und zu Waſſer 
Fortgang. Den holſteiniſchen Grafen gelang's, erfolgreich gegen die Uebermacht 
des Königs Widerftand zu leiften, der Hanſe dagegen fiel nur wenig an Ruhm 
und Gewinn zu. Wohl rüftete fie eine an Zahl gewaltigere Flotte, denn je 
zuvor, über drittehalb Hundert große und Feine Schiffe mit zmwölftaufend Ge- 
waffneten, die in die Meerenge zwifchen Seeland und Schweden, von den Sfan- 
dinaven „Eyrarfund*, von den Deutfchen „Noreſund“ benannt, einliefen, um die 
dänische Schiffsmacht zu vernichten und Kopenhagen zu erobern. Dod) der Sund, 
der ſchon mehr als eine jchwere hanfische Niederlage gefehen, nahm auch diesmal 
wieder einen kläglichen Mißerfolg gewahr. König Eric hielt das Fahrwajler 
mit ftarfen Bollwerfen verfperrt, Hinter denen jeine Flotte fih in Sicherung 
barg; vergeblich ftrengten die Hanfen fi an, in das „Ravenhol”, den Ravelin, 
einzubrechen, fuchten umfonft, aus zu weiter Entfernung mit ihren auf Flöße 
gefeßten zahlreihen Bombarden die feindlichen Fahrzeuge zu zerftören. Nach 
mancher Woche Eehrten fie im Frühlingsanfang unverrichteter Sache an die 
deutiche Küſte zurüd, zertvennten fich, und jeder Gefchwaderteil fegelte jeiner 
Heimatftadt zu. Der Mangel einheitlicher Leitung, eines ftraff zufanımenfafjenden, 
gebietenden Oberbefehls machte fich, wie fchon gar mandmal, geltend; geheime 
Unterftrömungen in dem großen Städtebund traten jhädigend hinzu. Während 
des ganzen Krieges bereit3 hatte die Beteiligung Lübecks, des Oberhauptes, ſich 
als eine fchwächliche gezeigt, es ftand im Verdacht, mehr zu hemmen als zu 
fördern, im Holftenland kam die Nede auf, die von Lübeck führten ftatt des 
Schwertes einen Badequalt. Ob der Grund dafür in dänifchem Gold oder 
Sonderzufagen des Königs zu ſuchen war, mochte diejer allein wiſſen, aber un— 


Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfumbd. 655 


verfennbar kam er feinem Ziel, das Angedenten Waldemars an der düdefchen 
Hanſe zu rächen, feinen eigenen Haß an ihr zu befriedigen, näher. Triumphierend 
laß Erich von Pommern auf der Schloßburg feiner nun zur königlichen Refidenz 
erwählten Stadt Kjöbenhavun, die allmählih aus einem Fiicherdorf zum „Kauf: 
mannshafen“, dem Dauptort des däniſchen Reiches emporgewachſen war. Hier 
verbrachte er feine Zeit unter dem eifrigen Entwurf von Plänen, dem Empfang 
geheimer Botichaften und dem kaum oberflächlich bemäntelten jchöner Frauen, an 
deren abendliden Beluchen im Schloß feine Gemahlin nicht Anteil nahın. Doc 
er übte eine bezwingende Gewalt auf weibliche Sinne, der fih auch Philippa 
von England, trogdem fie feinen Zutritt zu jenen Empfängen erhielt, nicht ent- 
ziehen Eonnte. Die ihr zugefügte Schmach außer Acht lafjend, fann fie beftändig 
nad Mitteln zur Gewinnung der Gunft ihres hohen Gemahls einher, die fie 
freilich dur ihre eigene Naturmitgift an Schönheit und einnehmendem Behaben 
jo wenig wie dur Eöniglihde Schmüdung ihrer ſchlanken Geftalt bei dem neue- 
rungsfüchtigen Nachkommen Waldemars Atterdag zu erringen vermodte. Aber 
als Tochter des Königs von England bejah fie noch eine andere Mlitgift, reich: 
baltiges engliſches Gold, und wie Erich jet von einem längeren Aufenthalt 
in Stodholm zurüdfehrte, empfing Philippa ihn mit einer eigentümlichen, für 
ihre Nebenbuhlerinnen nicht herftellbaren Ueberraſchung. Denn während jeiner 
Abweſenheit hatte fie eine mächtige, mit zwölfhundert Kriegsleuten befekte Flotte 
ausgerüftet und die Zahl der Schiffe genau nad) derjenigen, den fiebenundfiebzig, 
bemefjen, mit denen die Hanſe einftmals feinen UWrältervater überzogen und zu 
Boden geftürzt Hatte. Mit welchem Dank er ihr dieje deutungsvoll finnige 
Gabe gelohnt habe, entzog ſich der Mitteilung durch Augenzeugen, doch fein un: 
gewohntes Verhalten gegen fie wenigftens in den nädjitfolgenden Tagen bewies 
zweifellos, daß fie diesmal auf ein wirkſames Mittel geraten und einem in ihm 
brennenden Verlangen entgegengefommen fei. 

An den mannigfachen Wechlelfällen des nun bereit3 zwei Jahre andauernden 
Krieges nahm Jörg von der Lippe Eeinerlei Anteil, betrieb jcheinbar in gleich: 
mütiger und gleichgültiger Weife nur den Seehandel jeines Vaters als Schiffs: 
führer weiter. Ihn drängte nicht Ehrgeiz, jih in Kämpfen hervorzuthun, die 
ihm feine Ausficht boten, den an der Küfte von Jasmund mißratenen nächtlichen 
Anſchlag beſſer zum Gelingen zu bringen, und aud nad) dem Sreidehaus unter 
der Stubbenfamer fpannte er nicht mehr bei heimlicher Nachtfahrt die Segel. 
Dod in ihm ſah's anders aus, als ſich's in feinem Thun und ruhigen Gefichts- 
ausdrud Eundgab. Er hatte vordem nicht nur über den Glauben feiner Mann- 
Ihaft an Seeweiber geladjt, auch die Macht verjpottet, die ein menfchliches Wefen 
des andern Gejcjleht3 über einen Mann gewinnen fünne; nur Schwädhlinge 
vermöge ein Weib mit Liebesthorheit zu berüden. Aber wie feine fichere Ver— 
nunft in der Mondnacht am Hertha-See doch eine Weile lang zum Schwanken 


656 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralſund. 


gekommen, war in noch jtärferen Maß feine andere Selbitzuverficht zu voll- 
ftändigem Zufammenbrud geraten. Ob ihm der Sinn durch Zauberfünfte oder 
vom Klopfen des Blut3 in feinem eigenen Innern behert worden, er jah nichts 
mehr vor Augen, ala das Antlit‘ Gejas, der jungen, hörte nur noch den Klang 
ihrer Stimme im Ohr, fie war das Denken feine Tages und das Traumbild 
jeiner Nächte. Bertram Wigbold8 Schilderung von ihr auf Nykjöbingichlog war 
zutreffend gewefen, etwas Wundervolles, dem nichts Anderes gleichfam, hatte die 
Vereinigung ihrer Abkunft vom Blut der jchönen Ingeborg und dem Claus 
Störtebeferd vollbracht; fie regte den Eindrud, als ob Sonne und Mond an ihr 
geichaffen Habe, da glanzperlende Meer und der geheimnisvolle Laubwald um den 
dunklen Herthba-See. Und ob fie fraglos nichts von der mythiſchen Germanen: 
göttin an diefem an ſich trug, von der Tacitus berichtete, hatte der römilche Ge: 
Ichichtsjchreiber fie doch in Einem für Jörg von der Lippe richtig gekennzeichnet: 
Wer fie mit Augen erblide, fei dem Tode verfallen, dem Hinfterben an ver- 
zehrender Sehnjudjt, wenn ihm nicht gelinge, fie al3 die Seinige in fein Haus 
zu führen. Daß fie dies nur als anvermählte Ehefrau betrete, hielt aber ihre 
Mutter untrügbare Wadıt, und Herrn Nicolaus’ Augen waren wider weiblichen 
Zauber mit Diamanthärte gepanzert; ihm galt die Schönheit jo wenig, als die 
königliche Abftammung, für den Burgemeifterjohn bedünften beide ihn gewichtlos 
gegen eine Tochter aus ftralfundifchem Batriziergefchleht. Das wußte der Junge 
genau, daran war nicht3 zu rütteln; nur der gebundene ffandinaviiche König 
hätte ihm als Brautwerber bei dem Alten dienen gekonnt, oder etwas Ungeheures 
mußte vom Himmel fallen, defjen Starrjinn zu übermeiftern. Etwas Derartiges 
von oben herunterzureißen, war aber Jörg troß feinen zwei kräftigen Armen und 
dem feiten Willen außer ftande, vermochte nicht weiter zu thun, als den Winter 
hindurch auf der Danziger Helling einen Schiffsbau zu betreiben, nicht vom 
Gelde feines Vaters, fondern aus dem Erlös für die in der Kreide der Stubben- 
famer verborgene Binterlaffenihaft Claus Störtebeferde. Die ſah Geſa, die 
Mutter, al3 einen Brautichaß ihrer Tochter an, für dieje aufgejpart, daß fie, 
nicht mit leerer Hand kommend, ihn einem Freier zubringe, und die nächtliche 
Ratichlagung am Hertha-See war zum Schluß gelangt, das Vorhaben des jungen 
Schiffers damit zu ermöglihen. Sonderliche Zuverficht trug zwar die Hoffnung, 
die er auf feinen SKoggenbau feßte, nicht in fi; im Oſten gab's ein Sprud- 
wort: „Wer kann gegen Gott und Groß-Nowgorod?" und wider dies leßtere 
hätt’ er’s, wäre damit zu helfen gewejen, mutig auf einen Verfuh ankommen 
laſſen. Doch in feinem Innern Fang das Wort in einer anderen Faſſung: „Wer 
fann gegen den Alten?" wenn er den Mugen, der vorgefchobenen Unterlippe und 
der Stimme desjelben gegemüberftand. Bei der Vorftellung kroch aller Willens- 
troß des Jungen zu Kreuz, war fein Wolf oder Bär, ſondern dudte ſich ſcheu 
wie ein Dafe beim Rüdengebell mit niedergebogenen Ohren in eine Bodenrille 


Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 657 


zujammen. Und jo wußte Jörg von ber Lippe feinen Rat, als ſich, jo viel ſich's 
machen ließ, vor den gefürchteten Augen des Altburgemeifters geborgen zu halten 
und heimlich feine Beranftaltung auf der Helling von Danzig weiter zu betreiben. 

Der Magifter Bertram Wigbold war nad) Stralfund zurüdgefehrt, wo er, 
ohne guten Gejhmad daran zu finden, an der Erinnerungsfoft zehrte, daß Erich 
von Pommern ihn an verhohlener Klugheit überboten hatte. Auf ein Haar wär's 
ihm obendrein dabei oben am Maft um den Hals gegangen; das bejchwerte ihn 
indes in der Vorftellung nur wenig, es hätte ihm zu Recht drauf geftanden, und 
wenn er aud fein Seeräuber geworden, wie fein Bruder, trieb ſich dejjen 
furdhtloS verwegenes Blut dod auch in feinen Adern um. Wahrheit aber war 
ihm auf Nykjöbingichloß vom Mund gekommen, daß er bei feiner Bemühung um 
Claus Störtebefers Enkelkind Hoffnung auf einen kleinen Lohn auch für ſich ſetze, 
freilich nicht aus der Hand König Erichs, doch aus der Jörgs von der Lippe. 
Denn er friftete in der That jein Dafein unter kärglichſten Umftänden, und das 
über ihn heraufgerüdte Alter ließ ihm etwas Verbeſſerung und Sicherung vor 
dem jchlimmften Darben als recht wünſchenswert ericheinen. Dafür hatte der 
Fehlichlag am Jasmunder Strand zwar die Ausficht verdorben, doch fein Kopf 
drüben auf Falſter etwas in fi) aufgenommen und mit herübergebradt, das er 
eigentümlich eingehaft drin bewahrte. Zwei Gefichter aus der Bankettrunde 
im Schloß waren's, die der zwei Sımker Hanns Moltke und Henning Manteuffel, 
befonders da3 des lekteren mit dem an der rechten Scläfe wunderlich über's 
Ohr niedergefrauften Haar, und ihn hielt fih daran gefnüpft, in dem Aufenthalt 
der beiden am Hoflager des Königs habe etwas Berborgenes, der deutjchen 
Danfe Geltendes geftedt. Was dies fein möge, wußte der Magifter ſich aller: 
dings nicht zu fagen, doc) trug er ein Gefühl in fid, er werde ihnen noch einmal 
wieder begegnen, und im Gang des Winters zeigte fid), daß diefe Mutmaßung 
ihn in der That nicht getäufcht hatte. Jm Dämmern eines mit dichtem Schnee- 
geftöber über Stralfund einfallenden Märzabends führte der Zufall ihm nahe 
einen Mann vorüber, deſſen Neußeres durchaus feine Aehnlichkeit mit einem 
jener beiden darbot, die lange Bärte und im Gejicht Fredy funfelnde Augen ge— 
tragen hatten. Diefer war glatt gejchoren, dabei lag ein halb blöder Ausdrud 
in feinem Blid, ein fi) kümmerlich nährender Kleiner Gewerbtreiber jchien’3 
zu fein. Nur fein ungewöhnlid, al3 halte es etwas verborgen, tief über die 
rechte Schläfe niederhängendes Kopfhaar lieg Wigbolds Augen ftugen, jo daß er 
unvermerft dem in der engen Waflergafje in die Metichanfjtube zum Slannen- 
hals Eintretenden nacfolgte. Hier brachte er vom Wirt unauffällig in Er: 
fahrung, ein „Paternoftermacher”, ein Bernfteinfucher und =Dreher ſei's, der 
ſchon jeit dem Winterbeginn in der Stadt dem Abſatz feiner Waren nachgehe, 
Karſten Jeſup heiße und abends gemeiniglich zu einem Trunk in der Schenke 
vorfehre. Das nutte der Magifter zu weiterer Elug angeftellter Beobadtung, 


42 


658 Milhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 


aus der fich ihm bald als zweifellos ergab, er habe in dem Karſten Jeſup den 
Junker Henning Manteuffel wieder angetroffen, und diefer trage fein Daar jo 
abfonders, weil ihm an der Seite dad Ohr fehle, das ihm mutmaßlih einmal 
irgendwo am „Kaak“, dem Schandpranger, vom Büttel abgefchnitten worden fei. 

Als Bertram Wigbold diefe Erkenntnis aufgegangen, entwidelte er eine 
außerordentliche Befähigung zum Kundſchaftern, heftete jich, ebenfalls jeine äußere 
Erſcheinung zur Unerkennbarfeit verändernd, an die Ferſen des verdächtigen Gaſtes 
und Landsmanns Erichs von Pommern und entdedte, daß jener feinen Bernſtein— 
handel nad) Einbruch der Dunkelheit bei den wenigen, in der vom päpftlichen 
Bannfluch betroffenen Stadt noch verbliebenen Pfaffen betrieb. Nicht minder 
jedoch in den Häufern der Ratsherren, die heimlich den früheren Regiment und 
dem aus Gtralfund vertriebenen kirchlichen Oberhaupt Hurt von Bonow an- 
Dingen, und daneben bejuchte der Paternoftermacher allnädtlich die Gildeftuben 
mehrerer Zünfte, befonder3 die der Brauer, unter denen verhohlene Erbitterung 
über den Krieg herrſchte, weil diefer ihnen die höchſt einträglide Bierausfuhr 
nad) den ffandinavischen Ländern aufgehoben. Durch eine Reihe von Wochen, 
bis zum Frühlingsanfang, feßte der Magifter behutſam und ſchweigſam feine 
Ausipürung fort, aber dann im Maibeginn erbat ev plöglich einmal noch ſpät 
abends dringlid” Vorlaß bei dem Altburgemeifter Nicolaus von der Lippe, und 
das ihm verftattete Gehör zog jählings Überrajchende Folge nad) fih. Denn um 
faum eine Stunde nachher durchhellte vielfaches Fackelgeloder die nachtdunklen 
Straßen der Stadt, Hunderte von jchwer gewaffneten Bürgern drangen da und 
dort in die Gildeſtuben ein, erbrachen die verichlojjenen Thüren vieler, aud 
mancher vornehmer Häufer und nahmen über hundert Ratsherren, Bfaffen und 
Zunfthäupter aus ihren Betten in Berhaft, um fie fonder Rüdficht auf Stand 
und Namen ohne Seid und Schuh in den „Turm“ zu werfen. Befunde ftellten 
klar heraus, daß für die nächſtfolgende Nacht ein Aufruhr geplant worden, bei 
welchem dem draußen mit feinem medlenburgijchen Nittergefolge harrenden Kurt 
von Bonow die Thore geöffnet und das Stadtregiment niedergemadht werden 
follte. Doch durd) die noch rechtzeitige Auskundung Bertram Wigbolds und die 
blitichnelle Entjchlofjenheit des Herin Nicolaus war dies Borhaben zum Gegen- 
teil, dem Berderben der Aufrührer ausgefchlagen; nun fuchte, wer von dieſen 
nod) zeitig eriwachte, über die Stadtmauer davon zu kommen, aber nur wenigen 
gelang's, vder die ins Freie hinaus Geflüchteten ertranfen draußen in den großen, 
überall Stralfund umgürtenden Teichwaſſern. Giner derer, die fi) zu retten 
vermochten, war der Seeräuber Henning Manteuffel; ev ſchwamm wie eine Ratte 
und entfam, bloß und nadt, ans andre Ufer, um feinem Genoſſen Hanns Moltke 
im Lager der Medlenburger die unmwillfonmene Botichaft zu bringen, daß der 
Anſchlag König Erich gegen die Pfefferfrämer mißraten und fein reichlich aus— 
geitreutes Gold nutzlos vergeudet worden jei. Der Magiiter Wigbold Hatte fid 


Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 659 


an ihm eine Genugthuung für das auf Rügen verlorene Spiel verihafft und 
diesmal fich felbft einen wohlverdient nicht karg bemejjenen, für jeinen Yebensrejt 
voll ausveichenden Lohn eingefcheuert. Anderer Lohn ward dagegen jchon am 
nächſten Tag einem halben Dußend der Hauptverichwörer zu teil, denen die 
breite Schwertflinge des „Meifterd Hans“ Hurtig die Köpfe vom Rumpf ab- 
trennte. Nicolaus von der Lippe hielt ein langwieriges Nechtsverfahren durchaus 
überflüffig, eracdhtete vielmehr eine derartige jchleunige Vollſtreckung als äußerſt 
förderlich, ſowohl für das allgemeine Beite, wie auch für eine nüßliche Einwirkung auf 
eine mehr oder minder große Anzahl von Köpfen, die noch in der Stille ähnlichen 
Umpfturzgedanten nachhängen modten, und er machte jid) nichts draus, daß bei der 
Dinrichtung der Boden des Alten Marfts fi vor feinem Haufe einmal wieder jehr 
(ebhaft rot färbte. Sein Gemüt litt fo wenig an empfindfamer Schwäche, wie 
das feiner Zeit überhaupt, der die von überwältigten Gegnern herrührende Blut: 
farbe nur eine erfreuliche Augenweide bereitete. 

Das hatte ſich am dritten Maitage zugetragen und infolge davon Stral- 
funds Bevölkerung ſich erft jpät über Mitternacht hinaus zur Ruhe gelegt. Doch 
in der Erwartung eines jet friedfertigen und ausgiebigen Schlafs ſah fie ſich 
übel enttäufcht, ward vielmehr bereits nad) furzen Stunden im erften Morgengrau 
durch ein dumpf-verworrenes Getöfe, dann lautes Mlarıngefchrei, Hörnerrufe und 
das Krachen von Donnerbüchjen wieder aufgefchredt. Bon der Hafenmauer her 
icholl da3 wilde Gelärm, und als die haftig mit Waffen hinzuftürzenden Bürger 
dorthin gelangten, trafen fie noch gerade rechtzeitig ein, um der £leinen Schar von 
Mauerwächtern Hülfe zu leijten, einen auf Leitern anftürmenden dichten Feindes— 
ſchwarm von den oberjten Sproijen in die Tiefe zurüdzumerfen. An der großen 
Ladebrüde entlang aber drängte ſich Maft an Maft, Kaftell an- Kaſtell der fieben- 
undfiebzig Schiffe, mit denen das Liebesverlangen der Königin Philippa um die 
Gunſt ihres Gemahls geworben hatte; bei Nacht und Nebel war die Flotte un- 
bemerft durch den Bellen herangekommen, um endlich den Lieblingswunic Erichs 
von Pommern aus Sinabenzeit der zur Ausführung zu bringen. Heute trug er 
die fihere Zuverfiht in ſich, Stralfund zu einem Kohlenhaufen zu machen, aber 
er hatte mit dem für die Nacht feſtgeſetzten Aufitand in der Stadt, dem gleich: 
zeitigen Angriff Kurt von Bonows von der Landfeite her gerechnet und von dem 
in letter Stunde hereingebrochenen Mißgeſchick der Anftiftung Henning Manteuffels 
auf der See feine Kunde erhalten. So drohte die Gefahr der Leberrumpelung 
nur während der kurzen Zwijchenzeit, bis die mannhaften Stadtbürger zahlreich) 
genug zur Abwehr herbeigeeilt waren; dann blieb bald außer Zweifel, daß die 
Angreifer troß ihrer großen Ueberzahl gegen die gewaltige Mauerftärte nichts 
auszurichten vermöchten. Zwar jchleuderten von den Schiffskaſtellen die Bliden 
und Mangen einen Hagel von jchiweren Steinen, Füſſern mit Brennftoffen und 
Tonnen mit dänifchem Stinfpulver herüber, dat die Verteidiger ſich die Naſen 


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660 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralſund. 


mit Tiihern verbinden mußten, doc im Erfolg ähnelte aller Kraftaufwand nur 
dem Sinderjpiel, da8 Eric) von Bommern einftmals am Strand bei Hügenmwalde 
gegen die von ihm aus Tang aufgebaute Stadt Stralfund betrieben hatte. 
Barhaupt, vom mwehenden weißen Haar umflattert, befeuerte der Altburgemeifter 
mit Donnerftimme feine Leute, und den dänischen Wappnern blieb nichts, als von 
dem ausficht3lofen Anfturm ablafjend, in ohnmächtiger Wut alles, was ihre Hände 
an der Ladebrüde erreihen Eonnten, zu zerhauen und zerftüdeln, das Sankt 
Jürgen-Kloſter und die fonftigen Bauwerke draußen vor der Mauer auszuplündern 
und in Brand zu feßen. Dazu fchrieen fie den Bürgern ein ſchon uraltes 
Schimpfwort ins Gefiht hinauf: „Tydſke Garper!" nicht gerade finnvoll und zu- 
treffend, denn das zweite Wort bedeutete „Läufe“, und mit ſolchen war das 
dänische Volk von jeher ausnehmend viel reichlicher begabt als das deutſche. 
So tobten die Abgewiefenen in machtlofem Grimm, wie einft die griechiichen 
Helden um die Mauern Troja, mit berausfordernden Maulwerf und Hohn: 
geichrei bis gegen Mittag umher, dann ging ihnen allmählicd) die Zwedlofigkeit 
ihres Treibens auf, daß fie eigentlich fich felbft veripotteten, fie jegten Segel bei 
und verſchwanden, da der Wind fie nicht in den Gellen zurüdfieß, bald durch den 
Strela-Sund nad) Süden. Ein ungeheures Gelärme im Grund um nichts war's 
gewejen; die rauchenden Trümmer am Hafen entlang bezeugten wohl die That- 
fächlichkeit des vergeblichen, wie ein Nachtſpuk abgeſunkenen Ueberfalls, indes der 
zugefügte Schaden hatte für die reiche Stadt Stralfund fraglo8 nur geringe 
Bedeutung. Doch Nicolaus von der Lippe jtand noch auf der hohen Mauer, 
ſtarrte mit weitaufgerifjenen Augen Hinter den davonziehenden Segeln drein umd 
ballte ihnen eine Fauſt nad. An feine Seite war durch Zufall der Magiſter 
Wigbold geraten, dem von Mund kam: „Die find gut nad) Haus geſchickt umd 
fönnen fih am Norefund die Köpfe bepflaftern laſſen.“ Abbrechend aber jekte 
er verwundert hinzu: „Was habet Ihr, Herr Burgemeifter?" 

Deſſen breitmäcdhtiges, ſonſt jederzeit eine wie fteinerne Unbeweglichkeit 
wahrendes Geficht zeigte einen fremdabjonderlihen Ausdrud, und wunderlid 
laut mit fich ſelbſt redend, ftieß er jeßt iiber die vorgefhobene Unterlippe: „Dalt 
ie! Wer hält fie feit? Sie haben mich einen Laufeferl genannt — mit Eijen 
will ich ihnen das Maul zuftopfen! Schid mir den Teufel aus der Hölle ber 
dazu und er joll dafür verlangen, was er will—" 

Augenscheinlih hatte bei den wilden Vorgängen der beiden legten Nächte 
und Tage die eiferne Kraft im Kopf des Herrn Nicolaus doch nicht ftandgehalten. 
Leiblih ſtand er hod) aufrecht da, aber fein Gehirn war von Erſchöpfung über: 
wältigt, und fein Mund ſprach wirre Dinge vor ſich hinaus. 


* + 


Ein glanzvoller Maitag war's, Eühl nach feiner norddeutichen Art, unter 
wolfenlofem Himmel blies kräftig der Nordwind, der die Dänenflotte durch den 


Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 661 


Gellen hereingebracht hatte, für Schifferaugen indes lag etwas in der Luft, als 
babe er vor, nad) Oſten umzufpringen. Nun war der Burgemeifter mit den 
Ratsherren und vielföpfigem anderen Geleit zur Ladebrüde hinuntergeftiegen, 
dort den Schaden zu befichtigen, doch nur mit einem fchweifend fladfernden Blid 
gingen feine Augen über die Verwüftung hin; ungefähr feit einer Stunde mochte 
die Sonne ihren Mittagsftand durdfchritten haben. Da fuhr plötzlich von einem 
Mund der Ruf: „Nu fmiet de Düwel fin Grotmoder vun de Trepp dal! Hefft 
fe dat med de ſwatte Kunſt nu famt do günt wedder t'rügg?“ 

So ſah's aus, jeder Blick ging in die Richtung, weiß im Lichtglang bligend, 
flog vom Gellen her wie ein Schwarm von Riefenmöven eine Anzahl mächtig 
gebaufchter Segel gegen die Brüde zw. Schnell drauf aber rief eine andere 
Stimme: „Nee, dat ſünd Hanfen, de vörfte bett de Danziger Flagg.“ 

Und binnen kurzem litt's nicht mehr Zweifel, ſechs hanſiſche Handelskoggen 
von der größten Art waren’3, die ſich draußen auf der See angetroffen und, 
wie's Brauch, zufammengehalten, da alle nah Straljund wollten. Sie famen 
aus Dften her, doch für die Fahrt durch den Strela-Sund ftand der Wind ihnen 
entgegen, fo hatten fie den Kurs nordwärt3 von Rügen genommen, liefen jet 
unter vollften Segeln fluggefhwind aus dem Gellen hervor, ohne eine Ahnung, 
was ſich jeit dem Morgenbeginn vor der Stadt zugetragen. Als vorderfte ſchnitt 
die Kogge mit der Danziger Flagge durch's Wafferblau; fie zeigte am Bug 
unterm Vorderkaſtell fein Erzengel- oder Heiligenbildnis, jondern das Bruftbild 
eines jungen Weibes, eine Seejungfrau ſchien's darzuftellen. Mit lebensvollem 
Antligausdrud war es fidhtlich von der Hand eines guten Künftler8 aus ver- 
ichiedenen Holzarten angefertigt, da3 lang auf die Schultern niederfließende Haar 
aus morgenländiihem Ebenholz, während das des Gefichtes ein Farbe wie 
Elfenbein darbot; die Augen unter den dunkeln Brauen warfen einen fternartig 
filbernen Glanz, über dem Scheitel ſah von einem Halbrundbogen mit weithin 
erfennbaren weißen Buchſtaben der Name „Gefa" herab. Ungewohnt und auf: 
fällig waren Bildnis und Name, doc die an der Ladebrüde angefammelten 
Stralfunder hatten gegenwärtig feinen Blick noch Verwunderung dafür übrig; 
eher weitete es ihnen etwas die Lider auseinander, daß auf dein Borderfaftell 
des ſtadtfremden, augenfcheinlihh nagelneu gebauten Schiffes der Sohn ihres 
Altburgemeifter ftand und hart neben ihm eine blutjunge Magd von unver: 
fennbarer Aehnlichkeit mitt dem gefchnigten Bild unterm Bugfpriet. Nur hatte 
ihr der jcharfe Wind, oder was fonft, Stirn und Wangen mit friſchblühendem 
Not gefärbt, ein langes feeblaues Gewand aus Eoftbarftem Brüggener Samt 
umfloß wie weiches Wellenfpiel die hochichlanfe Geftalt drunter, und über ihrer 
Bruft leuchtete, dem Krönungsihmud einer Königin gleich, ein goldenes, 
funfelnde Gejteine umfaffendes Halsgejchmeide. 

Das nahm aud, vornan ftehend, Nicolaus von der Lippe gewahr, doch nur 


662 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 


mit dem abwejend halbirren Blid, der ſeit ein paar Stunden in jeine Augen 
gefahren. Jörg dagegen fiel das Blut aus dem Geficht; fo ſchnell, hier beim 
Anlanden fchon, hatte er nicht vor feinem Vater dazuftehen erwartet; mühlam 
nad) Luft fchöpfend, ftieg er von Kaſtell zur Ladebrüde herunter. Ihn über: 
ſchwoll's jählings mit der Wollerfenntnis, daß feine VBeranftaltung und feine 
draufgeftellte Hoffnung nichts als eitel Blendwerf fei, mit dem er ſich felbit die 
Sinne betrogen; ohne daß ihm die feltfame Anhäufung der erregten Bürger: 
gelichter am Hafenrand zum Bewußtwerden kam, trat er, kaum ein Schlottern 
feiner Kniee beherrfchend, auf den Alten zu und ftotterte, den breitfrämpigen Süd: 
weiter vom Kopf abziehend, ſcheu niedergeichlagenen Blids hervor: „Nehmt's 
nicht mit Unwillen an, Here Bater — id habe die Stogge in Danzig bauen 
lafjen — fie gehört meiner — der Name dran ift der von meiner — ſie Iteht 
dort oben — wenn Ihr einen Blick nad) ihr richten mögt — für die ich Eure 
Zuftimmung erbitten wollte, Herr Vater — daß id) fie mir zur Braut erwähle." 


Erit nad) zwei vergeblichen, jchredhaft abgebrochenen Anläufen hatte der 
Sprecher das geicheute Wort über die Lippen geftammelt, und zu Tode beftürzt, 
unfähig, weiteres beizufügen, wid) er einen Schritt zurüd, ftand wie glieder: 
gelähmt. Denn nun Schoß ihm aus den Mugen des Alten der gefürdhtete Blitz 
entgegen, und Herr Nicolaus ftieß dazu aus: „Du? Wer bit Du? Heikt Du 
Jörg von der Lippe? Sieh mich an! Hab’ ich Läufe im Bart? Das läßt Du 
mir ins Geficht werfen? Bift Du mein Sohn oder bift Du der Teufel, den ich 
gerufen? Heißt Du Jörg von der Lippe, da zeig's und hol fie mir! Bringit 
Du fie ber, da wähl' Dir des Teufel Tochter zur Braut, wenn Du willft! Da 
hinunter find fie!” 

Er redte den Arm ſüdwärts nad) dem Strela-Sund. Der Junge begriff's 
nicht, Jah wortlos verdußt in die wirrfladernden Augen des Alten. Einiger Zeit 
bedurft' es, ch’ ihm auf fein ragen aus den durdjeinander redenden Antworten 
der Umhergedrängten zu deutlichem Verftändnis geriet, was bier erſt eben gefchehen 
jei; abfonderlid; nahm ſich's aus, als wachfe dabei die bisher haltlos vorgebüdte 
Geſtalt des jungen Schiffer Zoll um Zoll aufwärts. Seine Bruft weitete fi 
zu befreitem Atemzug, feine Schultern dehnten fich breit; in die Augen kam's 
ihm, als ſchnaube eine weiße Brechſee vor ihnen auf und feine Fauſt pade nad) 
dem Ruder, reiße ed herum, um Kopf und Kragen mitten durch fie hindurch. 
Nun fpannte er die Nüftern und witterte in die Luft; zwiſchen feinen Zähnen 
flog's hervor: „Der Nord greift um — fie fommen nicht hinaus —“ 

Da Stand er, voll verwandelt vom Kopf bis zum Fuß, hoch aufrecht, umd 
ebenfv Klang jetzt auch feine Stimme auf, furdhtlos, feft, wie aus einer Stahl: 
fehle: „Herr Bater, iſt's Euer Wort?" 

„Was Wort? Was Wort?" wiederholte der kopfwirre Alte. 


Wilhelm Jenſen, Der Tag von Straliund. 663 


„Wenn ih Euch den Schinpf wett mache — daß ich Euch als Tochter die 
Braut ins Haus führen darf, die ich will?" 

Wie zwei Wellen, die vom Wirbelfturm gepeiticht, fi mit den Schaum: 
mähnen wider einander aufbäumen, ftanden die Beiden ſich gegenüber. Aud) 
Herrn Nicolaus’ Nüftern ſchnoben, er ftieß heraus: „Brahlhans! Schlägt Du 
nit der Zunge drein? Einer von der Lippe zeigt'S mit der Fauſt!“ 

„Bier, Bater! Handſchlag auf Euer Wort!” 

Der Junge trete ihın die jehnige Hand entgegen, und um einen Augen: 
blick jpäter überhallte es, fonderbar täufchend, die Ladebrücke. Die Donner: 
ftimme des Altburgemeifter war's, aber fie kam nicht aus feinem Mund, fondern 
aus dem Jörgs von der Lippe: „Wer fteht mit mir? Mein Schiff holt die 
Dänen, oder mid fieht Feiner mehr! Düdefche Hanfje! Seid ihr Lübecker in 
Straljund und klopft mit dem Badequaft? Da wartet unfere Flotte! Drauf! 
Macht fie flott!" 

Ein ungeheure Stimmengetöfe aus taufend Kehlen braufte gegen feinen 
Ruf zurüd, wälzte ſich weiter, in die Stadt hinein, durch alle Gaſſen: „Auf die 
Dänen!" Er hatte das Wort ausgeftoßen, und e3 zündete wie ein Blitfunfen 
in einem Strohdach; die von den lebten Tagen wilderregten Gemüter der Bürger 
Ichlugen zu feuerlodernder Flamme empor. Ringsum tobte es gleid; donnernder 
Brandung: „Aufs Deck! Alle Mann! Schüten heraus! Bombarden! Kraut!“ 
ein Ameifengerwwimmel, vennend und fchleppend, ergoß fih aus den Hafenthoren. 
Die Hanfeftädte waren daran gewöhnt, in bdringlichen Fällen Kauffahrzeuge zu 
Kriegsichiffen umzumandeln, doc mit fo unglaublicher Gefchwindigfeit hatte dies 
nod feine ins Werk gefeßt. Saum drei Stunden vergingen nah dem Einlauf 
der ſechs Koggen, da fpannten diefe, al3 Orlogſchiffe gerüftet, wieder die Segel. 
Hundert gewaffnete Bürger drängten ſich auf jedem zufammen, von den Sajtellen 
vedten fich die Rohrſchlünde der Feldfchlangen und Bombarden vor, dicht ftanden 
die Topfaftelle am Mars mit Sinallbüchfen- und Hakenſchützen, von Armbruftern 
unternengt, gefüllt. Steinem kam die mehr als zehnfache Ueberzahl der Dänen— 
Ichiffe in den Sinn, die außerdem ftundenlangen Borfprung durch den Strela— 
Sund hatten, doc verftärkten die Anzeichen fich, dat draußen vor jeinem Ausgang 
der Wind ungünftig für fie umlaufe. Die Stralfunder aber hielt's wie mit einem 
Rauſch gepadt, fait jeder von ihnen nahm mehr oder minder an der Kopf— 
betäubung teil, die ihren Altburgemeifter zum erftenmal in feinen Leben über- 
fallen. Nur Jörg von der Lippe zwang feine Trunfenheit in3 Herz zurüd, hielt 
den Kopf wanklos feit und Elar, die Augen Scharf wie die eines Sturmvogels. 
So ftand er ald Führer feiner Kogge auf dem Vorderkaſtell der voranziehenden 
„Geſa“ und neben ihm das lebende junge Menschenbild, deſſen Antlit der Schiffs: 
Ihmud am Bug nachahmte. Er hatte fie am Land zurüdlaffen wollen, doc 
hatte fie fid) mit unbeirrbarer Willensfraft dagegen geweigert. Seeräuberblut 


664 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 


war in ihr, das feine Furcht kannte; um fie für fich zu erringen, zog er in den 
Kampf, und beim Sieg oder Untergang wollte fie nicht von feiner Seite. Einer 
Silbermöve, die aud; Blaumantel benannt ward, ähnelud, ftand fie neben ihm; 
wie das weiße Bruftgefieder derjelben ftrahlte ihr Angeficht Glanz aus, und gleich 
blauen Flügelichwingen umfchlang ihren Leib das Gewand. Sekt hafteten 
ftaunend und bewundernd mande Augen auf ihr, wie das Schiff ji vom Ufer 
Löfte und fie dicht an der Brüde entlang forttrug, denn auch die Frauen und 
Mädchen der Stadt waren auf die Mauer hinausgeftrömt, den fahrtgerüfteten 
Koggen nachzublicken, und eine von ihnen konnte fich den Mund nicht verhalten, 
ſondern rief laut aus: „Is dat en Königin, oder fümmt je vun Hewen dal, de 
Hanſen to helpen?" 


* * 
* 


Da hatten die jähen Ueberraſchungen der beiden letzten Tage noch nicht ihr 
Ende genonmmen, noch eine neue gejellte fich Hinzu. Nur um ein weniges jübd- 
wärts von Stralfund lag im Sund die Eleine Inſel Strela, die ihm den Namen 
gegeben, und wie die hanſiſchen Koggen eben auf dieje zuzulaufen begonnen, 
umzog ihren Borderrand eine dichte Segelmenge. Die dänische Flotte war's, ſie 
fam zurüd; als fie and Ende des Strela-Sunds gelangt, hatten der heftig nadı 
Dften umgeſchlagene Wind und grobe See ihr wie mit Riegeln den Ausweg in 
den Greifswalder Bodden verjperrt, und fie war umgekehrt, ihren Rüdlauf wieder 
an der Stadt vorüber dur den Gellen zu nehmen. Wie man im Morgengrau 
in Stralfund nichts von ihrem Herannahen bemerkt gehabt, fo zog fie jet obne 
Ahnung von dem inzwifchen Geſchehenen in langer Reihe achtlos daher, und fait 
urplößlich, beinahe unvorgefehen erſt ward's ihrem vorderiten Teil offenbar. 

Eigen war der Borgang in der Luft wie auf dem Waſſer, audy der Wind 
fämpfte wider den Wind. Vom Gellen her kam nod; der Nord und füllte die 
banfifchen Segel, doch gleicherweife that3 den dänischen fchon der Oſt. So über- 
flogen beide wie im Nu die zwiſchen ihnen Eaffende Lücke. Mande ftattliche 
Schiffe hatte die Königin Philippa ausgerüftet, und nur ein halbes Dutzend 
hanſiſcher Koggen lief gegen die fiebenundfiebzig an. Aber Berichte von Augen: 
zeugen fprechen, fie hätten neben den Fahrzeugen der Feinde ausgefehen „wie 
Kirchen neben Kapellen“. 

Denn Augenzeugen waren zu Tauſenden da, Kopf an Kopf drängten ſich 
auf der Stadtmauer Greije, Weiber und Kinder. Solches Schauſpiel, wie heute 
Straljund, hatten die Jahrhunderte noch nicht gewahrt. Im Hafen, faum auf 
eine Biertelmeile weit, entbrannte an der Inſel Strela vor den Zufchauern eine 
Seeſchlacht. Doch kurz nur blieb ihnen der deutliche Anblid, nach wenigen 
Minuten lag alles von wogendem Pulverrauh umballt, aus dem nur da umd 
dort geifterhaft weiße Linnen hervortaucdhten und zurüdichwanden. Und fo aud 
Ichlugen Flammen auf, lofchen, von fchwarzem Qualm überjchnoben, aus, 


Wilhelm Nenfen, Der Tag von Straljund. 665 


Geradaus war die „Geſa“ als erfte auf das vorderfte Dänenjchiff losgerannt, 
hatte dies, wie ein wütender Stier feinen Gegner mit geſenkten Hörnern anfällt, 
mit dem eijernen Schnabel niedergerannt, ohne daß es eine Gegenwehr zu leiften 
vermodt. Bon ihren Kaftellen krachten die Feuergefchüge, vom Mars herunter 
die Haken und Arkebufen zwifchen die nächften Feindesfahrzeuge hinein; Enter: 
haken, fünfarmige Anker an leiten Stetten, flogen nad ihnen aus, hielten fie 
gepadt, und die Stralfunder ftürzten über die Brüftungen, bieben und ftießen 
die noch wie betäubt dreinftarrenden Dänen nieder. Ehe deren nachfolgende 
Schiffe begriffen, was vorn geſchah, war faft ein Dutzend an der Spike zum 
Sinken gebradt, übermannt oder in Brand gejett. Dann erkannten fie nur die 
eine „Geſa“ als die VBerberbenbringerin vor fi), drangen mit kochendem Grimm 
auf fie ein. Doc nun brauften die fünf anderen Soggen heran, fielen ihnen in 
die Flanken; das Waffengeklirr und Donnern der Bombarden noch überhallend, 
Ichrie'3 von allen Kaftellen: „Düdeiche Hanfe!" An dichten Gedränge und Hand: 
gemenge entftand unter den eng zufammengefeilten dänifhen Schiffen eine un— 
geheure Verwirrung; unfähig, die Zahl der Gegner zu bemejjen, von den Enter: 
haken gefaßt, von den hanfifchen Koggen überragt, wie ſchwimmende Häufer von 
Türmen, ſuchten fie fi zur Flucht zu drehen, verfingen fi) mit den vom Wind 
hinter ihnen dreingetriebenen. Ihre Holzleiber Erachten mit zerberjtenden 
Planken, in das hülflos verftridte Rieſenknäuel ftießen ringsum wildjauchzend 
die fchonungslos erbitterten Hanjen hinein, jchleuderten brennende Pechkränze 
auf die verflochtene Maffe, die Hurtig wie zu einer einzigen Flamme empor: 
loderte. „Dat weer'n Mandel,” ſchrie der Putzenmaker Putte Kod mit ſchorn— 
jteinfegerfhwarzem Rauchgeſicht, „nu lat us dat Schod vullmaken! Da krupt 
noch to veel vun de Garpers up't Water, fünft aifft dat Niſſe.“ Wilde Späße 
waren’3, die da und dort aus einem Mund die blutige Abrechnung des gemeinen 
Kaufmanns mit feinen nordifhen Widerfahern begleiteten; auch manch einer 
unter den zu Kriegern umgewandelten Stadtbürgern griff, von Spieß, Bolz und 
Kugel tödlich getroffen, umjchlagend noch einmal mit den Händen in die Luft, 
taumelte, das Wafjer drunten rot färbend, über Bord. Aber für jeden von ihnen 
verjanfen zehn Dänen in den Wellen oder dedten ald Leichen die Wradtrümmer 
ihrer vielfältig zerichellend auf die Sandbänfe der Inſel Strela geworfenen 
Schiffe. Bei dem Ringkampf in der jchmalen Meerenge war der anjtürmende 
banfifche Nord dem dänischen Oft über und, noch ehe eine Stunde verfloffen, der 
Ausgang nicht mehr zweifelhaft. Was fi von dem großen, zur Erftidung zu— 
fammengepreßten ſkandinaviſchen Geſchwader nod zu rühren vermochte, ließ jede 
Hoffnung auf den Sieg fahren, tradhtete einzig noch nad} Rettung aus demllntergang. 

An diefem unermeßlichen Getümmel war’3 Yörg von der Lippe gelungen, 
fi) mit der „Geſa“ eine freie Bahn zu brechen; als die Schlacht begonnen, hatte 
er für zwei Wugenblide das Kaſtell verlaffen, plötlich bligjchnell und wortlos die 


666 Wilhelm Renfen, Der Tag von Stralfund. 


Arme um feine Braut gefchlagen, fie wie eine eingefangene Taube zur Najüte 
hinuntergetragen und dort in fiiherndem Käfig verwahrt. Nun fah er, aus der 
Einengung frei geworden, auf furze Strede weit das größte der feindlichen 
Schiffe vor fich, eine Kogge, fajt der jeinigen gleichfommend; an ihrem Haupt: 
maft flatterte ein mächtiges "laggenbanner mit dem Wappen der drei jfandi: 
naviſchen Reiche, und zwilchen ihnen in der Mitte fpreizte der pommerjche Greif 
feine Fänge. Augenicheinlich war's das Admiralſchiff der däniihen Flotte, und 
jett ward auf dem Borderfaftell aud) fein Befehlshaber erfennbar. In gold: 
blinfender PBanzerrüftung ſtand er hochaufgerichtet, ein nad) rückwärts ſchwer— 
befederter Goldhelm dedte ihm den Kopf, auch als Kleinod den Greif tragend. 
Jörg war in der Mondnacht nicht bis in's Innere des Streidehaufes am Jas— 
munder Strande gelangt, hatte den vom Magifter Wigbold dorthin geführten 
Haft nicht mit Mugen wahrgenommen, doch im Nu ward's ihm bei dem Anblid 
zur Gewißheit, der drüben mußte König Erich ſelbſt fein, und mit weithallender 
Stimme ſchrie er diefem entgegen: „Düt heff id Di beter, Eridy vun Pommern, 
un min Tiweerns tövt up din Arms!“ Mit der Linken zu Boden greifend, bob 
er deutend einen dien Ankerftrid in die Luft; fein Befehlsruf ließ das Steuer 
gerad’ auf das Admiralſchiff zuhalten. 

Biel Unmwürdiges, bejjerem Menfchenfein Verächtliches lag in der Bruſt 
König Erich3 zulammengehäuft, aber Feigheit war nicht in ihr. Ihm kam's 
nicht in den Sinn, dem drohenden Anprall auszumweichen, von Dutenden feiner 
gepanzerten Ritter umgeben, ließ er tollfühn den Zufammenftoß aufnehmen. Der 
mußte auch die „Geſa“ led Schlagen und kampfunfähig machen; mit klugem Gefchid 
vermied Jörg ihn im letzten Augenhlid, ließ feine Kogge leewärts an die Geite 
der feindlichen gleiten. Trotzdem krachten und fnatterten die Wandungen beider 
bei dem Gegendrud, die Ketten der bereitgehaltenen Enterhafen raffelten; 
„Düdeſche Hanfe!” und „Iydife Garper!" tobte Gefchrei hinüber und herüber. 

Da nahmen Jörg von der Lippe und Eric von Pommern gleichzeitig etwas 
plöglich Auftauchendes gewahr. Bei den hallenden Ruf des erfteren hatte Geia, 
die junge, fich nicht von ihrem Käfig halten lajfen, war wieder heraufgeflogen, 
ftand auf dem Kaftell da, und wie feitgebannt blieb des Königs Blick auf der 
wunderfamen Erfcheinung des jungen Weibes haften; in feinen Augen glimmerte 
eine brennend aufglühende Begier. Doc ein dänischer Schüge mochte fie für ein 
Seeweib anfehen, das mit Wind machender Zauberfunft den Hanſen zum Bei: 
ftand gefommen; er fpannte feine Armbruft, und von der Sehne jchwirrte fein 
Gijenbolzen gerad’ gegen ihre Bruft. Zu Tod getroffen, hätte fie niederichlagen 
müffen, allein Jörg hatte im letzten Augenblid die ihr drohende Gefahr auf: 
gehaicht und eben noch Zeit gehabt, dedend vor fie binzuftürzen. So traf Ibn 
der Pfeil unter dem rechten Schulterblatt und durchbohrte jein Lederkoller: er 
taumelte von der Wucht des Anfchlags, ſchwarz zog's ihm über die Mugen, und 


Milhelm Jenſen, Der Tag von Stralſund. 667 


gelähmt fiel fein Arm fchlaff herunter. Beftürzung überfam feine Leute um ihn, 
drüben brach ein Freudengeheul aus den Wappnerfehlen. 

Mit dem Mädchen zugleich aber war nod) ein Weib von drunten herauf: 
gekommen, der Wind jtob ihr langdunfles, graugemengtes Haar um Schläfen und 
Schultern, und eine jchallende Lache aufichlagend, rief fie jetzt: „Kommſt Du heut’ 
mit Deiner ganzen Flotte, mich in Dein Schloß heimzuführen, Eric) von Pommern? 
Dier iſt Dein Schiff „Geſa“, das Du bauen wollteft, mich zu holen, und hier fteht 
Geſa, Deine Braut. Sie givrt nad ihrem Tauber — Deine Taube fliegt zu 
Dir. Die Sonne geht herunter, und die Mondnacht kommt. Yang’ mich) auf 
mit Deinen Armen!” 

Die Gefa aus den Trümmern der Bilingburg über Julin breitete ihre Arme 
wie zwei Flügel weit auseinander und eilte der Brüftung des Kaſtells zu, als wolle 
te über diefe nad) dem Admiralſchiff Hinüberfliegen. Aus ihrem Laden, den 
Worten und dem Klang der Stimme war das Sunderbare hervorgefommen, das 
Claus Störtebefer jeiner Tochter mit jeinen vergrabenen Schäten als Erbteil 
übermacht; nicht Geiftesichwäche, denn für ihr Kind war fie mit kluger Vernunft 
bedacht, und was fie ſprach, zeugte auch nicht von Sinnverrüdung. Doch etwas 
rrtönendes lag drin, wie vom Munde einer in halbem Traumzuſtand Redenden; 
jo als eine mondjüchtig auf der verlaffenen Diine Umgehende hatte Erich von 
Pommern einft das blutjunge Ding in der Nacht angetroffen und, ſelbſt auch 
faft ein Knabe noch, lüſtern mit liftiger Bethörung umftridt, daß fie ihm nicht 
Widerſtand geleiftet. Und fo war's bei feinem Anblid in dem Kreidehaus wieder 
über fie geraten und geriet es jeßt in gleicher Art. Jahre um Sahre hatte fie 
auf jeine Rückkehr, die er ihr beim Fortgang zugejchtvoren, gewartet, bis jeder 
Blutstropfen in ihr fich mit glühendem Haß gegen ihn angefüllt. Der jchleuderte 
ihm ihr ierflingendes Lachen, die mit bitterem Spott getränften Worte in's Geficht, . 
und dennoch zitterte durch den grimmigen Hohn noch etwas Wahres, feit jener 
Mondnadt mit unaustilgbarer Sehnſucht in ihrer Bruft Zurüdgebliebenes hervor. 
Totes und doch noch Fortlebendes mifchten fi in ihrem Hohnruf zufammen, 
das vor allem gab ihm den jeltiamen, geifterhaft wahnwißigen Klang. 

Denn fo lange diefer ericholl, übte er auf alle Hörer eine wunderhafte, wie 
feftbannende Wirkung, daß mitten in der Schladht ein paar Augenblide jede zum 
Kampf auf Tod und Leben emporgeredte Hand ihre Waffe unbeweglich anhielt. 
Erih von Pommern aber war jchredvoll erblaßten Gefidyt3 zurüdgefahren; wie 
Jörg von der Pippe nichts mit Furcht überwältigte, als die Mugen jeines Vaters, 
jo entfiel dem Herrn der drei nordiſchen Reihe Blut und Mut vor der jähen 
Wiederericheinung des ihn mit Koſeworten höhnenden und wie mit Stetten 
umjchlingenden Weibes vom Jasmunder Strand. Ungezählte ihres Geichlechts, 
in jeinem Gedächtnis ausgelöfcht, hatte er in den Armen gehalten, aber fie war 
die erite jeines Lebens gewejen, und ob er aud) nie etwas von einer Gewiſſens— 


668 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 


icheu gekannt, padte es ihn aus ihrem Anblid mit einer knabenhaften Angft an. 
Als ein Mondnachtögefpenft redte fie fich heute am lichten Tag vor ihm auf, 
ftredte die Arme aus, fic) feiner zu bemächtigen. An den Ehriftengott und deijen 
Erzengel glaubte er fo wenig, als es feine Ahnherren Smwantibor und Waldemar 
Atterdag gethan, doc; vor Dämonen und aus Gräbern rüdfehrenden Getitern 
fchüttelte e3 ihm wie dem niedrigften Sciffsfneht das Blut, und als eine Rache: 
furie hatte der Höllenfchlund die Gefa von Wollin wider ihn ausgefhidt. Wahn 
durdhkreifte feinen Kopf, fie fliege dur die Luft zu ihm berüber, und jie fam 
auf dem Schiff, das er als Knabe bauen gewollt, um Geeräuber zu werden, der 
Name Gefa flammte dran über ihrem Bild. Nicht aus Holz und Leinwand, ein 
Geifterfchiff war's, gegen das fein MWiderftand möglich fiel. 

König Erid; von Dänemark, Norwegen und Schweden jchrie plötzlich, von 
Graufen übermannt, auf: „Macht los! Der Teufel! Los!" 

Ein Innehalten des Kampfes auf beiden Seiten war's geiwefen, wohl kaum 
von der Dauer einer Biertelminute, denn aud auf der „Seja* hatte Beftürzung 
über das Zurückſchwanken des vom Geſchoß getroffenen jungen Führer unwill— 
fürli dem Hinüberdringen feiner Mannſchaft nad) dem Admiralſchiff fo lange 
Einhalt gethan. Indes nur während drei oder vier ſchwerer Atemzüge bielt die 
Betäubung Yörg von der Lippe gefaßt, dann ftredte er ftatt des rechten den 
linfen Arm auf und rief: „Dat's blot Sinnerfpeel — los up den Garpenvagel!” 
Dod die Enterhafen hatten unter dem pommerjchen Greifen noch nicht feit gepadt, 
auf das Gebot des Königs war es blitfchnell gelungen, jie mit Arthieben zu 
fappen und mit Klüverſtangen die däniiche Kogge von der „Geſa“ abzudrängen. 
Eine Waſſerlücke Eaffte zwifchen beiden auf, und jett kam der Wind, der Dit, 
der den Nord niedergerungen, der eriteren zur Hülfe, entriß fie aus der tödlichen 
Umarmung. hre geichwellten Segel retteten fie davon, während ihre Gegnerin 
ſich befchwerlich gegen den Widerwind drehen mußte, um ihr nachfolgen zu können. 
Als fies ins Werk geſetzt und aud) ihre Segel ſich wieder baujdhten, zog der 
pommerjce Greif haftig an Stralfund vorüber. Nun lief die „Geſa“ Hinter ihm 
drein; wie ein gehettes Wild floh Eric von Bommern über die ſchäumenden 
Wellen, jein eignes Blut machte Jagd auf ihn. So ging’s nordwärts durch den 
Strela-Sund in den Kubitzer Bodden hinaus, dod) der Greif hatte zu weiten 
Borfprung geivonnen, ließ fich nicht zum andernmal fajjen. Das Admiralſchiff 
allein entkam durch den Gellen in die See, die ſechsundſiebzig andern der dänischen 
Flotte waren von ſechs hanfischen Koggen niedergerannt, verbrannt, geentert, als 
Beute weggeichleppt. Das war der größte Tag, den Stralfund je gefehen; an 
ihm verlor die Inſel Strela ihren alten Namen und erhielt den neuen „Dänholm“. 

Sonnenuntergang nahte heran, als die „Geſa“, nachdem fie von der vergeb- 
lichen Jagd abgelaffen, mit vielen Sreuzfchlägen nur mühfam und langſam gegen 
den Dft zur Ladebrüde heranfam. Doc auf diefer ftand nod die ganze Stadt: 


Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfund. 669 


bevölferung wartend zufammengedrängt, empfing das anlegende Schiff mit uner- 
meßlihem Aubelgejchrei; unter den vorderiten leuchtete des Altburgemeifters 
weißer Kopf, von dem er den Hut abgezogen. Jörg von der Lippe ftieg vom 
Kaftell herab, diesmal begleitete ihn die junge Gefa, ihre Mutter blieb am Ded 
zurüd. Wie die beiden ang Land traten, fielen die Frauen und Mädchen umher 
auf die Kniee und riefen: „Se is vun'n Heven dalfamen un bett u3 bolpen!“ 

Aus Herren Nicolaus’ Augen war das irre Geflader vom Mittag weg— 
geihmwunden; die Menge um Kopflänge überragend, ftand er mit ftolzem Geficht3- 
ausdrud. Als der Junge an ihn herangeſchritten, ftredte er ihm ohne Wort die 
Dand entgegen, doc) Jörg fagte: „Mit de geiht dat hüt bi mi nich, Herr Vadder, 
Ji möt mit de Luchterhand vörleef nehm. Awers de Garpers bett fe Jüm bröcht.“ 

Er faßte mit der Linken die Rechte des Vaters, der nichts erwiderte, als: 
„Du büft min Söhn." Nun drehte der Alte die Augen nad Gefa, jah fie an 
und fette hinzu: „Is dat min Dochter?“ 

„Wenn up dat Wort vım Niclas vunne Lipp to ftahn i8, denn ward fe dat.” 

Ohne Troß, doch auch ohne Scheu, von fihrem Augenaufichlag begleitet, 
kam's dem jungen Sieger vom Mund. Sein Bater hielt den Blid noch auf das 
Mädchen gerichtet und fragte: „Wat is Din Nam?" 

Ihn gleichfalls furchtlos anfehend, antwortete fie: „Geſa“. Schmweigend 
holte der Alte noch einmal Atem, dann fagte er: „Jörg vunne Lipp mutt dat 
weeten. Kumm in min Hus, Gefa.“ 

* * 
* 

Ein Junitag ſah feſtlichen Aufzug auf dem Alten Markt, von deſſen Boden 
die Blutfarbe weggeſcheuert worden; die ganze Stadt drängte ſich Kopf an Kopf 
auf dem Platz und in den anſtoßenden Gaſſen zuſammen, um dem Hochzeitsgang 
de3 Siegerd vom Dänholm beizuwohnen, Glodengeläut wogte von allen Türmen. 
Herr Nicolaus war ein ſparſam beflifjener Hausvater, doch er hatte für feinen 
Sohn und defjen Braut bis zur Sankt Nicvlaificche lündifches Tuch legen laſſen; 
darauf führte er feine neue Tochter hinüber, und ihr Vergleichbares hatte Stral- 
fund niemals gefehen. Nicht Aehnliches an fönigliher Pracht, in der das Enfel- 
find Claus Störtebekers dahinfchritt, doch noch weniger an zauberifcher Schönheit 
einer Braut. Menfchenalterlang neideten Bolf3lieder auf den Gaflen Jörg von 
der Rippe um fein junges Weib. 

Anders ſah's um die gleiche Zeit drüben am Noreſund aus, dort bewegte 
ſich durch die Straßen Kopenhagens ein fpärliches Totengeleit, das die Königin 
Philippa zur Gruftftatt brachte. Ihre Hoffnung, ſich die Gunft ihres Gemahls 
zu gewinnen, war von der düdefchen Hanſe zerichlagen worden; in Grimm und 
Wut als Flüchtling heimgefehrt, Hatte er ihr den Dank für die fiebenundfiebzig 
Schiffe mit wilder Mißhandlung entrichtet, und zehrender Gram legte die nod) 
jugendliche Plantagenettochter früh in den Sarg. So erlebte ſie's nicht mehr, 


670 Wilhelm Jenſen, Der Tag von Stralfimd. 


daß Schweden ſich gegen den Unionskönig auflehnte, raſch danadı Norwegen das 
Gleiche that und dann auc Dänemark ihn durch einen Abjagebrief feiner Reichs— 
räte vom Thron hinabftieß, den fie feinem Scmejterfohn, dem Bfalzgrafen 
Ehriftoph von Baiern, darboten. Der Tag von Stralfund war's, der jein Geſchick 
entfchieden und die Hanfe zum alten Glanz, zu feitem Zuſammenſchluß wieder 
emporgehoben hatte; auch das lau gewordene Lübeck trachtete jett danach, ich 
jeines Ruhms und Ranges als Bundeshauptitadt aufs neue würdig zu erweiſen, 
um nicht, von der mächtig an Anfehn aufgeftiegenen Nachbarftadt am Strela- 
Sund überflügelt, Borrang und Führung der Hanſe einzubüßen. 

Erich von Pommern aber führte jetzt aus, was er als Knabe abenteuerlid 
im Sinn getragen. Bei Nacht und Nebel verließ er mit den Sirongejteinen feiner 
verlorenen Reiche und den von ihm angejfammelten Neichtümern feine Kopen- 
bagener Schloßburg und fuhr nach der Inſel Gotland hinüber. Dort jette er 
fich in der verfallenen, einft von feinem Urältervater Waldemar Atterdag durch 
Trugliſt eroberten und zerftörten Stadt Wisby feft, rüftete Schiffe, für die er 
tollverwegenes Bolt anwarb, und ward zum Seeräuber; Henning Manteuffel und 
Hanns Moltfe jcheinen ihn mit ihrer reichen Erfahrung dabei als Hauptleute 
unterftügt zu haben. Seine Hand war gegen alle, mit gleichem Rachedurſt über- 
fiel er jeden hanſiſchen und ſtkandinaviſchen Stauffahrer, den er übermwältigen Eonnte, 
Ichleppte ihn als Beute in feine Felsfchlupflöcher an der verrufenen Inſelküſte heim. 

Eine Anzahl von Fahren verbrachte Geſa, die Mutter, im Stralfunder Haufe 
Jörgs von der Lippe, jchaufelte, anjcheinend rubig-befriedigt, fi) mehrende Enkel 
auf ihren Knieen, jpielte mit ihnen und lachte dazu mit dem eigenartig hellen 
lang. Doch eines Morgens war fie über Nacht verichwunden, hatte binter- 
lajjen, fie wolle das Kreidehaus auf Jasmund nod) einmal auffuchen, Eomme von 
dort zurüd. Sie fehrte aber nicht wieder, blieb verſchollen, und erſt nad) Jahren 
ward durch Zufall Eund, daß jemand fie auf Gotland gejehen habe. Von unbe: 
zwinglihem Drang getrieben, war die Seeräubertocdhter zu dem Seeräuber 
gegangen, der fie einft in der Mondnacht auf Wollin zwiichen den Trümmerreiten 
der Palnatofeburg angetroffen. Das Alter mochte die Erinnerung daran wie 
ichwellende Flut in ihr wieder aufgewedt und den Haß aus ihrem Blut weg: 
geichwemmt haben; jo hatte ſie's zu dem früh gealterten und verwitterten Nadı: 
fahren der alten Bilinger hinübergedrängt, im Gefühl, daß fie unlösbar zu ihm 
gehöre, das Mißgefchid feines Ausgangs teilen müffe. Denn übel erging's ihm 
mehr und mehr; auf dem „Hanſetag“ war ſchon öfter gefordert worden, man 
jolle zurüften, mit Gewalt das NRaubneft auf Wisby auszunehmen, doch Kübel 
hatte halb jpöttiich, Halb aus einem Mitleid mit der gefallenen Größe gegen- 
gehalten: der arme König müfje doch etwas haben, wovon er ſich nähre; jeltfame 
Widerſprüche vereinigte die Zeit in fi. Dann aber handelte Karl Knudſon, der 
neue König von Schweden, mit weniger Schonung, verjagte den Seeräuber aus 


Wilhelm Jenſen, Der Tag von Straliund. 6A 


feinem gotlandijchen Felſenhorſt, und über das baltiihe Meer floh Erich von 
Pommern in die ärmliche Bäterburg bei Rügenwalde zurüd, von wo einſt Mar- 
garete Sprengebeft ihn vor einem halben Jahrhundert auf den Thron der nordiichen 
Reiche berufen. Dorthin foll ihn ein weißhanriges Weib mit nod) jchön erhaltenen 
Antlißzügen begleitet und am Strande, der feine Knabenſpiele geliehen, ihn 
mandmal ala ſchwach auf den Füßen einherihwantenden Greis mit ihrem Arın 
geftüßt haben. Die legte Hıumde aber von Eric von Bommern berichtet, daß er, 
auch darin feinem Ahnherrn Waldemar nadjgeartet, am Schluß feiner Tage mit 
dem Gleihmut eines Weifen auf fein vielberwegted Leben zurüd und auf die 
Eitelkeit alles vergänglichen irdiſchen Hoheitsglanzes niedergefehen. — — — 

Die Macht der düdejchen Dane ift feit langem von den nordifchen Meeren 
weggeihwunden, die jie nicht mehr mit ihren Orlogskoggen beherriht. Jahr— 
hunderte hindurch ging der reiche Handel der Seeftädte und mit ihm ihre Blüte 
zurüd, abhängig von der Ueberfraft und Willfür Derer geworden, denen fie ebe- 
mal3 ihre Gebote vorgefchrieben. Vom zerriffenen römischen eich deuticher 
Nation im Stich gelaffen, wurden die DOfterlinge und Wefterlinge zum Spielball 
und Spott der Holländer und Engländer, jelbft des Eleinen Völkchens der Dänen. 

Lernen wir etwas aus der Betrachtung der Vergangenheit, der Geſchichte 
des Hanjebundes? Eines gewiß, die unumftößliche Wahrheit des Wortes von 
Spinoza, daß jeder nur fo viel Recht beſitzt, als er Kraft hat, es zu behaupten. 
Und die Hanje lehrt, daß dazu nicht allein die Herrihaft auf der See gehört, 
fondern zu ihrer Forterhaltung aud) die feite Zuſammenfaſſung der Kraft unter 
einen Willen, eine gebietende Führung. 

Die hanſiſchen Koggen wären heute troß ihrer ftolzen Kaftelle ohnmächtige 
stinderjpielzeuge. Unſere Tage fordern zu dem eijernen Willen auch eijern ge— 
panzerte Schiffe. Die zu Schaffen, jedem Widerfacher an Zahl und Kraft eben- 
bürtig, ift die oberjte, die dDrangvollite Pflicht des neuen deutſchen Neiches, und 
dann: „Pier wieder düdeſche Danje rund um den Erdball!* 

u 


Ausſprüche aus „Geiltige Uaffen.‘*) 


Dir Pellimiften find durdyweg elwas zu klein geratene Seelen, unfähig die höchflen 
Güler des Lebens mit Mut zu erfireben und mit Kraft und Ausdauer zu erreichen, 


welche dazu erhört. bilty. 
Wer die ungeljeure Bedeufung der Religion unterfchäkt, arbeitet Iroß aller Auf- 
klärung mur dem Aberglauben in die Bände. Leibniz. 


Pie Zeichen der Zeit find deutlich genug, mit den Problemen des innerſten Welens 
des Menſchen frefen audı die der Religion immer mächtiger hervor, fie werden im kom- 
menden Jahrhundert nodı mehr die Gemüler erfüllen. Und in diefen Wandlungen wird 
ſich — vielleicht durch ſchwere Rataſtrophen hindurdd — erweilen, daß das Chriflenlum 
nicht nur eine große Bergangenheit, fondern auch eine große Zukunft hal. R. Euken. 


®) Geiftige Waften. Gin Aphorismen:Lerrton. Zuſammengeſtellt von E. Schaible, Oberft a. D. Freibwigi ®. 
und Yeipyig. Berlag von Paul Waehhel. 





ERSTIEZREZTIEZRETREZFELER 


Weltgeiciidte und Weltpolitik. 


Ein hiltorlicher Beitrag zum Verltändnis der gegenwärtigen lage, 


Ton 


Otto Hintze. 


D: Wort und der Begriff „Weltpolitik” ift nicht neu. Wer Nantes Werte 
fennt, wird ſich erinnern, dieſem Ausdrud für die Vorftellung einer univerfalen 
politifchen Tendenz oft begegnet zu fein, und zwar in allen Jahrhunderten. 
Wenn wir dennoch heute beim Gebrauc des Wortes die Empfindung haben, daß 
es fih um etwas Neues, noch nie Dagewejenes handelt, jo liegt das in dem allge: 
meinen Fortichritt der Weltgefchüchte begründet,in der jede Epoche ein anderes Geficht 
zeigt, und infonderheit in der Veränderung und Erweiterung ihres Schauplaßes. 


Weltgefhichte und Weltpolitik find Begriffe von relativer Bedeutung. Für 
jedes Zeitalter ift das Gebiet, das fein politifcher und Kulturhorizont umfpannt, 
feine Welt. Es ift eine der bemerkenswerteſten Erfcheinungen in der allgemeinen 
Geſchichte, daß diejer Horizont fih für unferen Kulturkreis im großen und ganzen 
ftetig erweitert hat; wo immer vom „Fortſchritt in der Geſchichte“ die Rede ift, 
fullte diefe fundamentale Thatſache nicht überfehen werden. Auf ihr beruht die 
ganze Idee einer „Weltgejchichte” überhaupt in dem Sinne, in dem wir gewohnt 
find, das Wort zu brauchen. Weltgefchichte ift der Prozeß der Fortpflanzung und 
Ausbreitung einer eigentümlichen, ſich innerlich fteigernden und äußerlich fiegreich 
fortichreitenden Kultur, deren Träger im Anfang einige hochentwickelte Stämme 
der weißen Raſſe in Weftafien und Nordafrita gewejen find, die ſich dann über 
alle europätichen Völker verbreitet hat, die heute faſt die gefamte weiße Raſſe 
umfaßt und im Begriff ift, fi) aud die übrige Menſchheit, ſoweit fie dazu fähig 
ift, zu affimilieren. Ursprünglich getrennte Kulturkreife fließen ineinander; mannig- 
fache Einflüffe von außen verändern und bereichern die fortichreitende Kultur; 
aber der bleibende, unzerftörliche innere Zuſammenhang durd alle Völker und 
Zeiten hindurch verleiht diefem Kulturprozeß im ganzen doch den Charakter einer 
großen Einheit. Neben dem oft bezweifelten inneren Fortſchritt der Kultur jtebt die 
ganz unzweifelhafte Thatfache ihrer äußeren, geographiſch-ethnologiſchen Ausbreitung. 


Dtto Hinke, Weltgeichichte und Weltpolitik. 673 


Für die ägyptiſche und babyloniſche Kultur waren die großen Oaſen des 
Nil- und Euphratthales inmitten von ausgedehnten Wüſten oder Steppen eine 
in ſich abgeſchloſſene Welt, bis in der Perſerzeit der Horizont ſich auf das 
geſamte vorderaſiatiſche Gebiet erweiterte. Für das griechiſch-römiſche Altertum 
bildeten die Randländer des Mittelmeeres den orbis terrarum; für das romaniſch— 
germaniſche Mittelalter waren Weft- und Mitteleuropa der abgegrenzte Schauplaß; 
für die neueren Jahrhunderte wurde es das Beden des Atlantifhen Ozeans; in 
der Gegenwart treten die Inſeln und Küftengebiete des Großen Ozeans unter 
jih und mit der übrigen Kulturwelt in immer nähere Berührung, und wir ftehen 
ſchon an der Schwelle einer Zeit, für die das eine allgemeine Weltmeer als die 
Hochſtraße des Völkerverkehrs ericheint: Dampferlinien und Telegraphentfabel 
umjpannen in immer dichterem Net die ganze Oberfläche unferes Planeten, und 
die Zeit ift nicht mehr fern, wo der alljeitige Kontakt mannigfaltiger Kultur: 
zuſammenhänge unter den Bölfern der Erde hergeftellt ift und die „Welt” als 
Schauplatz der wirtichaftlihen und politifchen Beziehungen unter den Gliedern 
der Menjchheit ein innerlich verbundenes Ganzes darftellt, daS Feiner weiteren 
Ausdehnung mehr fähig ift. 

In diefem Zuftand der Weltverhältniffe liegt das Eigentümliche und 
Bejondere der gegenwärtigen politifhen Lage. Es ijt ein Weltverfehr und eine 
Weltwirtichaft entftanden, deren Einwirkungen für alle zivilifierten Völker und 
Staaten immer ftärfer und empfindlicher werden; der Politiker muß heute feinen 
Blick gleichzeitig nach Oftafien, nad) Süd-Afrika, nad; Amerika, nad allen Teilen 
der Welt richten. In unjerer Weltpolitit kommt es auf Handel und Kolonieen, 
auf Lloyddampfer und Panzerfreuzer, auf überfeeiiche Kabel und Kohlenftationen 
an. England ift heute das allgemeine Mufter der großen Politik, wie es früher 
Frankreich und noch früher Spanien gewejen ift. 

In allen den Epochen der Weltgeichichte, wie ich jie eben Eurz angedeutet 
habe, hat es auch Weltpolitif gegeben; ich verftehe darunter eine Politik, die den 
ganzen Kreis der jeweiligen zivilifierten Welt in den Bereich ihrer Wirkſamkeit 
und ihrer Berechnungen zieht. Aber der Stil der Bolitif in den einzelnen Welt- 
altern ift allerdings ein jehr verschiedener. In den alten Zeiten erichöpfte fich die 
Weltpolitit meift in der Tendenz zur Begründung großer Weltreidye, die das 
ganze Gebiet, über das der Kultur: und Berkehröhorizont der Zeit ſich ausdehnte, 
auch unter einer einheitlichen politifchen Herrichergewalt zuſammenfaſſen wollten; 
die weltpolitifchen Höhepunkte find da die Momente, wo die geeinte Kraft einer 
BZivilifation gegen eine fremde angeht, wie in den Perjerkriegen und den Drient- 
zügen Aleranderd oder in den Kämpfen des Islam gegen das Frankenreich 
Karl Martell3 und in den Kreuzzügen der abendländiichen Chriftenheit. Dieier 
univerſal⸗monarchiſche Stil der Weltpolitif hat fich erft im Musgang des Mittel- 
alters der romanifch-germanifchen Völker verwandelt; und zwar infolge des langen, 

43 


074 Dtto Dinge, Weltgeichichte und Weltpoluit. 


unentjchiedenen, aber beide Teile erihöpfenden Kampfes zwiſchen Kaiſer- und 
Papfttum — zwiſchen den beiden großen Mächten alſo, in denen weltliche und 
geiftliche Gewalt, die früher nicht deutlich getrennt gewejen waren, ſich ihre befonde- 
ren, untereinander rivalifierenden Organijationen gegeben haben. Es entjteht num, 
etwa jeit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts, etwas Neues: das europätiche 
Stantenfyitem: ein Syſtem mehrerer Eoordinierter Mächte, die ſich gegenjeitig als 
gleichberechtigt anerkennen, anitatt jener früher vorherrfchenden univerjaliftifchen 
Tendenz, die nur den Gedanken der Einheit und der Ilnterordnung gekannt Hatte. 
Ein Weltreich mit exkluſiven Herrihaftsanfprüchen im Stile des römischen Reiches, 
deſſen dee ja das ganze Mittelalter hindurch feitgehalten wurde, war im Rahmen 
diefer neuen Staatenordnung nicht mehr möglid. Die alte Borftellung von 
der politifchen Einheit der abendländiichen Chriftenheit, die nod) Dante in feinem 
Buch über die Monarchie als etwas Selbjtverftändliches zu Grunde gelegt Hatte, 
jeßte fi) nun allmählich um in die moderne Anſchauung von der Eriftenz eines 
natürlihen WVölterrechts, das auf dem Grunde einer gemeinſamen chriſtlichen 
Gefittung und einer gemeinfamen taufendjährigen Geſchichte beruht. Die Welt: 
politif der großen Kaifer und der großen Päpſte des Mittelalterd hatte nad) der 
einheitlichen Leitung aller chriſtlichen Nationen geftrebt; jet traten die Nationen 
durch den großen Prozeß der modernen Staatenbildung auseinander, und die 
Weltpolitif wurde im Rahmen des europäiichen Staatenfyftems zu einem fort 
währenden Kampf zwiſchen den mächtigſten Staaten um den voriwiegenden Einfluß, 
um die Führerrolle in Europa und zugleid; auch um die Beherrfchung und Aus: 
beutung der neuentdedten außereuropäiichen Welten. Das Eigentümliche ift da- 
bei, daß diefer Kampf ſtets ein unentjchiedener blieb, daß kein Staat auf die 
Dauer eine übermäcdhtige Stellung zu behaupten vermochte, daß jeder Anmaßung 
einer ſolchen alsbald eine verftärfte Kraftanjtrengung von anderer Seite erfolg: 
reich gegenübertrat, furz, daß ji) der Zuftand ausbildete, den man als das 
Gleichgewicht der Mächte bezeichnet hat. In der unaufhörlic; abwechjelnden 
Störung und Wiederherftellung des europäifchen Gleichgewichts bewegt ſich Die 
Weltpolitit der neueren Fahrhunderte. 

Die Form des europäifchen Gleichgewichts ift Dabei feinestwegs immer ein 
und diefelbe geblieben. Sie veränderte fich mit der Zahl der großen Mächte, mit 
dem fortichreitenden Prozeß der Ausbildung und Bergeiellihaftung der Staaten. 

Zu Anfang, im 16. und 17. Jahrhundert, beobachten wir die einfachite 
Form: das Gleichgewicht zweier großer Mächte, an die alle übrigen, joweit jie 
an der Weltpolitik teilnehmen, fich angliedern. Es beruht auf dem Gegenjak 
zwiſchen dem nationalsgeichlofjenen Frankreich und der über halb Europa ver: 
breiteten jpaniich-burgundiihen Macht des Hauſes Defterreih. Bon Karl V. bis 
zum Dreitigjährigen Kriege ift diefer Gegeniaß der Grumdzug der europätichen 
Politik, das beherrichende weltpolitiſche Moment. 


Dtto Dinge, Weltgeichichte und Weltpolitik. 675 


In diefem ſäkularen Kampf, der mit der Zurüddrängung des habsburgiichen 
Uebergewichts, mit der beginnenden Gefahr eines franzöfischen Prinzipats endigt, 
it England als eine dritte Macht von Bedeutung emporgefommen. Verglich 
man im 16. Jahrhundert gern die Häufer Frankreich und Habsburg mit den 
Gewichten in den beiden Schalen der europäiſchen Wage, fo hat fchon der 
Geichichtichreiber der Königin Elifabeth im 17. Jahrhundert England das 
Zünglein an der Wage genannt, das den Ausichlag gebe. Andem nun unter 
Yudwig XIV. das Uebergewicht Frankreichs zum empfindlichen Schaden jeiner 
Rivalen ſich immer ftärfer geltend madjte, hat es England unternommen, mit dem 
Dranier Wilhelm III. an der Spige, eine europäifche Koalition gegen Frankreich 
zu bilden, von der die franzöftfche Uebermacht in dem Spanifchen Erbfolgekriege 
gebrochen worden iſt. Der Friedensſchluß zu Utrecht (1713) Eonftruierte das 
europäiſche Gleichgewicht auf die vorwaltende Stellung der drei großen Mächte: 
Frankreich, Oeſterreich, England. 

Es iſt die fortgeſchrittene, ſüdweſtliche Hälfte Europas, die ſich bis dahin 
vornehmlich in der Weltpolitik bethätigt hatte. Die nordöſtliche Hälfte hatte ſich 
bisher meift in Kämpfen bewegt, die keinen inneren Zufammenhang mit jenen 
weltpolitifhen ntereffengegenfägen hatten. Noch im Anfang des 18. Jahr— 
bunderts hatte es der englifchen Diplomatie gelingen künnen, das Ineinander— 
greifen der beiden großen Kriege, die damals im Weften und im Diten Europas 
geführt wurden, des Spaniichen Erbfolgefrieges und des Nordifchen Krieges gegen 
Karl XII, zu verhindern. Erſt in dem Feuer des Siebenjährigen Krieges find 
diefe beiden Hälften zu einem Ganzen verſchmolzen. Das Bindeglied wurde die 
neue Großmacht, die Friedrich) d. Gr. im Herzen Europas begründet hatte: 
Preußen; im Gegenfat zu ihr hat die Schöpfung Peters d. Gr., Rußland, 
das feit dem Nordiichen Kriege als eine Militärmacht erften Ranges hervortritt, 
den näheren Anfchluß an die alten europäifchen Mächte gefunden. 

Der Siebenjährige Krieg hat eine neue Form des europäifchen Gleichgewichts 
feftgeftellt: das Syſtem der fünf Großmächte, die jid nun gruppenweife in 
Allianzen gegenüberitehen: Frankreich jetzt mit Oeſterreich verbündet, Preußen 
zunächit mit Rußland, England lange in unfreiwilliger, aber dod; im Grunde feinen 
Intereſſen entiprechender Iſolierung. 

Zugleich aber iſt durch den Siebenjährigen Krieg ein anderes großes Welt— 
verhältnis begründet worden, deſſen Wirkungen ſchon über Europa hinausreichen: das 
Uebergewicdht Englands als See- und Kolonialmadıt. Das führt uns auf den 
eigentlihen Inhalt der Kämpfe, deren formale Reſultate wir uns fveben ver: 
gegenwärtigt haben. 

In allen diefen Kämpfen handelt es fi ja im Grunde um die Frage der 
Macht; aber die weltpolitiichen Tendenzen, die in diefem Streben nad) der Ueber: 
madt Sich offenbaren, find doch nach Zeiten und Völkern Sehr verichieden 

13% 


576 Otto Hinte, Weltgeichichte und Weltpolitik. 


geweien. Anfangs wirkt noch die theokratiſch-univerſaliſtiſche dee des Mittelalters 
nad): Karl V. hat jie wieder aufgenommen und gegenüber der kirchlichen Spaltung, 
die die Reformation brachte, zu behaupten verjucht; Philipp II. als das inter: 
nationale Haupt der Gegenreformation, hat fie in feiner fchweren und düſteren Art 
vertreten: es ift fatholifche Weltpolitik, die das Haus Habsburg in feiner großen 
Zeit getrieben hat. hr tritt eine evangelifche gegenüber, deren glänzendfter 
Vertreter Guſtav Adolf gewejen ift. Aber in diefen Gegenjat der Konfeſſionen 
erihöpft fich die Tendenz der ſpaniſch-habsburgiſchen Politit nicht. Will man 
ihre Bedeutung für die Welt recht veritehen, jo muß man jich erinnem, daß ſie 
es geweſen ift, der das Abendland die Abwehr und die allmählide Zurüd- 
drängung der lange jo furditbaren osmanishen Macht verdankt. An den andert- 
halb Sahrhunderten, die zwilchen den Schlachten von Lepanto und von Belgrad 
liegen, ift diefe große weltpolitifche Arbeit geleiftet worden, in der die religiöjen 
Impulſe des Mittelalter8 nod) lange zu ſpüren jind. 

Bon diefer religiöfen {dee ift auch die Gewinnung und Beherrſchung des 
ungeheuren Kolonialreih8 beeinflußt tworden, das Spanien, namentlich) zur Zeit 
der Bereinigung mit Portugal, befaß. Es ift ja befannt, daß ſchon die großen 
Entdeckungen, oder wenigſtens ihre Unterftügßung durch Spanien, mit der Idee 
zufammenhingen, die ‘Feinde der Chriftenheit, die Osmanen, die Damals aud) den 
Levantehandel verjperrten, von Indien aus im Rüden zu faffen: eine dee im 
Stile mittelalterlicher Weltpolitik, erfüllt noch von dem Geift der Kreuzzüge, der 
in den fpanifchen Maurentriegen lebendig geblieben war. Der Bapit war es 
gewefen, der dann die nene Welt der Entdefungen zwiichen Bortugal und 
Spanien geteilt hatte; das jpanifche Kolonialmonopol hing fo mit den alten 
weltpolitiichen Anfprüchen der Kurie zufammen. Anquifition und Sefuiten haben 
in den ſpaniſchen Kolonieen inımer eine große Rolle geipielt; die wirtichaftlichen 
Gefichtspunfte traten hinter denen einer fisfalifchen Ausbeutung für die Zwecke 
der katholiſchen Weltpolitif durchaus zurüd; und vor allem bat fi Spanien 
jelbft — mit feiner ungefunden Ueberfülle an Mönchen und Rittern, mit feinem 
Fanatismus gegen Mauren und Juden, mit feiner Verachtung gewerblicher 
Arbeit — niemals zu einer veritändigen und erſprießlichen Wirtichafts- und 
Sozialpolitif zu erheben vermodt, die ihm zu fteigender Bevölkerung und zur 
Entwidelung einer erportierenden Induſtrie verholfen und damit exit die vechte 
Ausnugung feiner Kolonieen ermöglicht hätte. 

Ganz im Gegenfag dazu haben die proteftantifchen Mächte England und 
Holland und bald aud im Wetteifer mit ihnen Frankreich, nachdem das anfäng- 
lihe Goldfieber, die Kinderkrankheit aller Kolonialmächte, überwunden war, eine 
verjtändige, planmäßige, wirtichaftlihe Ausnugung ihrer im Kampf mit Spanien 
begründeten Kolonieen begonnen, und der Kolonialbefiß bat bei ihnen meiit an- 
regend und fördernd auf die wirtichaftlihe Entwidelung der Mutterlande zurüd: 


Otto Hintze, Weltgeichichte und Meltpotitif. 677 


gewirkt. In dem Maße, wie ſie Spanien überflügeln und zurückdrängen, ver— 
blaßt auch mehr und mehr die düſtere Pracht jener alten, katholiſch-imperia— 
liſtiſchen Weltpolitik. Seit dem Ende des Dreißigjährigen und des damit verbundenen 
ſpaniſch-franzöſiſchen Krieges gewinnen die weltlichen, die wirtichaftlichen Anter- 
ejjen die Oberhand. Die Kriege des 17. und 18. Jahrhunderts find fait alle 
als Handelskriege zu betrachten. Am Kampf um die Ktolonieen, um die großen 
Borteile des beginnenden Welthandels, un die Herrihaft zur See maßen vor 
allen die beiden wejteuropäiichen Großmächte ihre Sträfte, deren Gegenfab im 
18. Jahrhundert die Weltpolitif beherricht: Frankreich) und England. Innerlich 
£onfolidiert, benußen fie ihre finanzielle und £riegerifche Macht, um fie zu Gunsten 
ihrer Handelgpolitik in die Wagfchale zu werfen. Eben deshalb hat Holland ſich 
zwiichen ihnen troß jeiner anfänglichen heroiſchen Anftrengungen nicht zu bes 
haupten vermocht, weil es doch am Ende zu Klein war, um einer ftarfen und 
nachhaltigen Machtentwidelung fähig zu fein. Die innere Wirtichaftspolitit mit 
ihrer Tendenz zur Beförderung der Anduftrie, zur Begünftigung der Volks— 
vermehrung, zur Belebung des Verkehrs, zur Befreiung des inneren Marktes, 
kurz zur Erwedung und Steigerung aller produftiven Kräfte, verbindet ſich mit 
einem jchroffen Abſchluß nach außen, mit den Streben nad) einer günftigen 
Dandelsbilanz, mit einer rückſichtslos brutalen internationalen Konkurrenz, die 
ebenjo mit Kanonen wie mit Zolltarifen das Ziel der wirtfchaftlichen Ueber— 
legenheit verfolgt; die möglichfte Schädigung des Rivalen gilt al3 VBorbedingung 
für die möglichfte Profperität der eigenen Flagge. Die Weltpolitif tritt fo in 
das Zeichen des Merfantilismus, der in der Epoche des Giebenjährigen Krieges 
einen feiner Höhepunfte erreicht. 


Der internationale Konkurrenzkampf zwifchen Frankreich und England iſt 
damals ſchon vorläufig zu Englands Gunjten entjchieden worden. Der Ring der 
franzöſiſchen Kolonieen, der die Neu-Englandftaaten Amerikas von der Mündung 
des St. Lorenzftroms bis zu der des Mififfippi umgab und fie vom Binnen- 
lande abzufchneiden drohte, war geiprengt; Kanada und Rouifiana gingen für 
Frankreich verloren; und auch in Oftindien behauptete England das Uebergewicht. 
Damals bat fi entichieden, daß der angelfählischen, nicht der romaniſchen Rafje 
die Zukunft in Nordamerika und in Indien gehöre. Und wenn dann England 
aud die nordamerifanifchen Kolonieen nicht feftzuhalten vermocht hat, fein Handel 
und feine Seemadt blieben im Steigen; und in der großen, gewaltigen Kriſis der 
napoleonifchen Kriege ift der alte Rivalitätstanıpf zwiichen ihm und Frankreich 
ausgefämpft, ift die unbedingte Meberlegenheit Englands als Handels-, See- und 
Kolonialmadht für mehr als ein Jahrhundert Feftgeftellt worden. 


Es ift ein bemerfensiwerter Unterfchied in der Bofition, die die beiden großen 
Gegner in diefem Weltfampfe, der das Jahrhundert von 1713—1815 erfüllte, 


678 Dtto Hintze, Weltgeichichte und Weltpolitik. 


eingenommen haben. England ijt jeit den Zeiten Eliſabeths und vollends ſeit 
der Mitte des 18. Jahrhunderts zur reinen Seemadht geworden; es bildet 
gewiffermaßen nur ein Außenglied des europäiſchen Staatenſyſtems; es treibt 
feine eigentliche Kontinentalpolitif, oder vielmehr, es betrachtet die Eontinentalen 
Verwidelungen lediglich vom Standpunkt der engliichen Handels: und Seemacht— 
politik, wie das ſchon bei der Begründung der großen Allianz gegen Ludwig XIV., 
wo England das Schlagwort des europäiſchen Gleichgewichts ausgiebt, deutlich 
bhervortritt. Frankreich dagegen führt ein fozufagen amphibiſches Dajein in der 
Weltpolitit: es kämpft mit doppelter Front: einmal gegen England um die See: 
berrichaft; auf der anderen Seite gegen die europäifhen Mächte um die Vor: 
berrichaft auf dem Kontinent. Bon der Mitte des 18. Jahrhunderts ab und bis 
zur Revolution bin fcheint es, ald ob es feine traditionelle Kontinentalpolitif, die 
Bolitit Heinrichs IV., Richelieus, Ludwigs XIV., aufgeben oder abſchwächen wolle 
zu Gunften feiner überjeeifchen Bolitit gegen England. Bei der Teilung Polens, 
bei den Anfängen der orientalischen Frage hat es Feine maßgebende Rolle geipielt. 
Aber in der Revolution treten dann die alten, dem franzöfifchen Staat und Bolt 
zu tief eingeimpften Tendenzen auf die Beherrichung des Kontinents wieder ber: 
vor, und fie finden in Napoleon einen gigantifchen Vorkämpfer. Der große Korfe 
war doch mehr als eine „Eroberungsbeftie”, die aus unbezähmbarem Madt: 
inftinkt alles zu unterwerfen juchte, was irgend Wideritand leiftete; feiner Bolitik 
Ichwebten Ziele vor, die heute, in der Perſpektive moderner Weltpolitif, wieder 
aufzutauchen beginnen: fein Verſuch, den Stontinent handelspolitiich zufammen- 
zufafien gegenüber dem feegewaltigen England, beruht auf einer dee, die in 
allgemeinerer Faſſung unter veränderten Weltverhältniffen ficherli nod eine 
Zufunft bat. Ach möchte allerdings nicht behaupten, daß der Gegenſatz gegen 
England einzig und allein das beherrfchende Prinzip der napoleonifchen Bolitit 
gewefen fei; das Streben nad) der Unterwerfung des Kontinents hat daneben 
eine jelbftändige Bedeutung: auch Napoleon kämpft, wie die franzöfiiche Politif 
feit Ludwig XIV. mit zwei Fronten: gegen die englische Seeherrihaft und für 
die franzöfifche Kontinentalherrichaft; alte und neue Ideen verbinden fich in feiner 
Politik zu einem komplizierten Syftem, das erit aus einer gemifjen hiftorifchen 
Entfernung richtig gewürdigt werden fann. Die Engländer haben immer baupt- 
fädhlich den Rivalen um die See- und Handelsherrichaft in ihm gefehen; auf dem 
Stontinent bat die nationale Geichichtichreibung, namentlich in Deutichland, vor 
allem das Streben nad) der Univerialmonarchie, die alte Gefahr im europäischen 
Staatenfyften, hervorgehoben. 

Es ift merkwürdig, welchen bejchränft-funtinentalen Horizont namentlid) bei 
uns in Deutjchland, aber auch bei unfern Nachbarn, die hiltoriich-politifche Tages- 
anichauung jeit 1815 gewonnen bat. Die fommerzielle und Eoloniale Erpanfion 
Englands war während der napolevniichen Kriege eine fo gewaltige gemejen, 


Otto Hinke, Weltgefchichte und Meltpotitik. 679 


jeine Seemacht ftand fo imponierend und überlegen da, daß auf lange hinaus 
feine europäifhe Macht daran denken Eonnte, mit diefer unbeltritten erften See— 
und Handelsmacht der Welt zu Eonkurrieren. Dazu kam, daß die Politik der 
Kontinentalftaaten auf Rahrzehnte hinaus durch innere Fragen vollauf beichäftigt 
war. Es handelte fid) um den Kampf für oder wider die Ideen der franzöfiichen 
Revolution, die ja mit ihren Wurzeln tief in das gemeinjchaftliche Leben der 
europäifchen Staatengejellichaft binabreichten,; vor allem um die großen Fragen 
der nationalen Staatenbildung und der Eonftitutionellen Berfaffung. Napoleon, 
der Erbe der Revolution, hatte das europäifche Staatenfyitem, als es gerade zu 
einem relativen Abichluß in feiner Entwidelung gelangt war, vollftändig umge: 
ftürzt; die Meftauration erfolgte num im bewußten Gegenjfaß zu den verjchwifterten 
Prinzipien der Revolution und der Aufklärung. An der Weltpolitif fand wieder 
eine Stilmandlung ftatt, die freilich nicht ganz allgemein und aud; nur von kurzer 
Dauer und epifodenhafter Bedeutung geweien ift. Die heilige Allianz, in der fie 
ihren Ausdrud findet, war gleichſam eine Rüdbildung zu den geiftlihen Ten— 
denzen, wie fie in der europäiichen Politit bis zum 30jährigen Kriege geherricht 
hatten, nur daß die Färbung der neuen Politik, zu der jegt eine Fatholifche, eine 
evangeliiche und eine griechiich-orthodore Macht ji verbanden, nicht mehr wie 
früher eine £onfejfionelle, fondern eine allgemein chriftliche fein ſollte. Die Pentarchie 
der fünf Großmächte, wie fie fi dann auf dem Kongreß von Aachen (1818) 
Eonftituierte, faßte vor allem die Bekämpfung der revolutionären been ins 
Auge. Sie war etwas ganz Anderes ald das alte Gleichgewicht3-Syitem 
der fünf Mächte. Sie wollte eine Dligardjie der Großmächte begründen, die 
die Autonomie der Eleineren Staaten vernichtet hätte. Aber von vornherein 
war eine große Kluft vorhanden zwiſchen den Kontinentalmächten und England. 
England hat das Prinzip der ntervention der Mächte bei den inneren 
Berhältniffen anderer Staaten nie anerfannt; es hat vor allem einer Ein- 
miſchung Europas in die Angelegenheiten der abgefallenen ſpaniſchen Kolonieen 
in Mittel- und Süd-Amerika wirkſam entgegengearbeitet. Aber auch unter 
den Kontinentalftaaten war das realpolitifhe Eigeninterejje der einzelnen doc 
ftärfer als das antirevolutionäre Intereſſe der Gefamtheit. Schon bei der 
Frage der Unterſtützung des griechiſchen Aufftandes ging die Harmonie verloren; 
die Aulirevolution von 1830 ftellte Frankreich in erklärten Gegenfat zu dem Syſtem 
von 1818, und in den Stürmen des Jahres 1848 ging dies Syftem vollends zu 
Grunde. Der Sirimkrieg teilte Europa in ein liberales weſtmächtliches und ein 
reaktionäres ruffiiches Pager; nad) feiner Beendigung fand auf dem Pariſer 
Kongreß von 1856 eine Rekonſtruktion des europäiichen Staatenfyftems auf der 
Baſis der Bleichberechtigung und Autonomie aller Staaten und unter Ausſchluß 
des Prinzips der Intervention ftatt. Das ift der Anfang defjen, was man heute 
als das Konzert der europätichen Mächte bezeichnet. Die dee einer exkluſiv⸗ 


680 Otto Hintze, Weltgeichichte und Weltpolitif. 


chriſtlichen Gemeinihaft war völlig aufgegeben: die Türfei iſt damals in den 
völferrechtlihen Verband der europäischen Mächte in aller Form rezipiert worden. 

War mit der Kriſis von 1848 der Schwerpunft der Eontinentalen Bolitif 
von Wien nad Et. Petersburg verlegt worden, ſo rüdte er nun feit 1856 für 
ein Jahrzehnt nach Paris hinüber; auf Metternicy und Nicolai folgte Napoleon IIL., 
der Berfünder des Nationalitätsprinzips. Dies Schlagwort follte für Frankreich 
das Mittel werden, dur gönnerhafte Einmiichung in die Beftrebungen der 
Mächte, die nach einer nationalen Staatenbildung tradhteten, fein Uebergewicht auf 
dem Kontinent dauernd zu begründen. Aber wenn das bei Stalien einigermaßen 
gelang, jo ift es bei Deutichland völlig mißlungen: die überlegene Staatskunft 
Bismard3 hat die Einigung Deutfchlands im Gegenfag zu Frankreich vollendet 
und an Stelle des franzöfiichen Uebergewichtes auf dem Stontinent für ein 
Menfchenalter das deutſche gefett. 

An diefen inneren Kämpfen des Kontinents hat England nur ein unter: 
neordnetes nterefje genommen. Es benußte diefe Jahrzehnte, in denen es fait 
ohne Konkurrenz auf dem Weltmarkt daftand, um feinen Handel, feine Induſtrie, 
jeine Schiffahrt auf eine Höhe zu bringen, die aud) für die Zukunft jeden Wett: 
bewerb auszuschließen fchien. Im Bemwußtfein feiner Ueberlegenheit ging es zu 
dem Syitem eines vollftändigen Freihandels über und bemühte fich mit jteigendem 
Erfolg, die Kontinentalftaaten auf diefer Bahn nad; fich zu ziehen. Seit 1860 
begannen die freihändlerifchen Prinzipien auf dem Kontinent durchzudringen; der 
Merkantilismus galt als ein überwundener Standpunkt; die Manchefterichule und 
nit ihr die engliiche Intereſſenpolitik triumpbierten: man glaubte an die Harmonie 
der Intereſſen aud im Verkehr der Nationen untereinander. 

Nur einen Punkt gab es in den europäiſchen Streitigkeiten, der Englands 
Intereſſen empfindlich berührte: das war die orientalifche Frage, die ſchon zum Krim: 
Erieg geführt hatte, die Frage, welche Macht der Haupterbe des fichtlicy abſter— 
benden türkifhen Reiches werden follte. Hier jtießen die Intereſſen Englands 
mit denen Rußlands zufammen, und diefer Intereſſenkonflikt gewann alsbald nod 
eine viel weiter greifende Bedeutung. 

Seit den Tagen der großen Kaiferin Katharina bat die rufjische Politik ihre 
begehrlichen Blicke nicht bloß auf Ktonftantinopel, jondern auch auf Indien ge- 
richtet. An den Jahren 1838—1840 war es in Afghaniftan fchon zu blutigen 
Kämpfen gefommen; feitdem hat fi ein immer fchärferer und umfafjenderer 
Gegenfat zwifhen England und Rußland herausgebildet, der allınählich zu einen 
die ganze Weltpolitik beherrichenden Berhältnis herangewacdjen ift. 

Zweimal ift e8 im Paufe des 19. Jahrhunderts der englifchen Bolitif ge 
lungen, das fiegreihe Vordringen Rußlands gegen die Türkei zu hemmen: das 
eine Mal im Krimkrieg, mit Hülfe Napoleons III. das andere Mal auf den Ber: 

liner Songreß 1878, mit Hülfe Bismards. Ungefähr um diejelbe Zeit, wo 


Dtto Hintze, Weltgefchichte und Weltpolitik. 681 


Disraeli in Berlin die Revifion des Friedens von ©. Stefano durchjeste, iſt es 
in Ajien den Engländern gelungen, gegenüber dem erneuten Vordringen der 
Ruſſen ihren Einfluß in Afghaniftan zu begründen und ihn weiterhin in fchweren 
Kämpfen von 1879—83 zu befeftigen; damit war ein wichtiges Bollwerk für Indien 
geihaffen. Das hat indejjen Rußland nicht abgehalten, in zäher, unermüdlicher 
Kolonifationsarbeit feine Pofitionen in Zentralafien immer weiter vorzufchieben, 
feine transfaspiichen Bahnen bis an die Grenzen von Mfghaniftan auszubauen. 
In wenigen Wochen kann e3 dort eine große Armee verfammeln. it vielleicht auch 
nicht Indien ſelbſt heute das direkte Ziel feiner Politik, fo würde doch die rufjiiche 
Beſetzung von Afghaniftan und Beludichiitan und eine ruffische Pofition am In— 
difchen Ozean die englische Herrfchaft in Indien zu einer Schattengemwalt herabfeßen. 

Aber auf Indien beichränft ſich der Gegenjaß der beiden Mächte in Aſien 
Ichon längft nicht mehr. Auch in China ftehen vor allem ruffiihe und englifche 
Intereſſen fich gegenüber. Schon während des engliſch-franzöſiſchen Krieges gegen 
Ehina 1857—60 hat e3 Rußland verjtanden, auf diplomatifchem Wege das Amur: 
gebiet und wichtige Zugeftändnifje im Handelsverkehr für ji) zu gewinnen. Der 
Bau der fibiriichen Bahn, die damit verbundene Stolonifation Sibiriend, das 
Streben nad) völlig eisfreien Häfen anı Großen Ozean drängte dann fpäter zu 
weiteren Abmachungen mit China, wobei der hinejisch-japanifche Krieg den Ruſſen 
ebenjo zu ftatten kam wie die neuefte allgemeine Erpedition; es gewann die 
Däfen, die e8 brauchte, es legte jeine Hand auf die Mandſchurei, es befeftigte 
feinen Einfluß in dem ganzen Küftengebiet und wird heute von China als die 
Schutzmacht gegenüber den anderen fremden Mächten angejehen. Bon den 
europäiſchen Mächten iſt feine jo empfindlich durch diefe ruſſiſchen Fortſchritte 
berührt worden wie England. 

Dazu fommt das handelspolitiihe Moment. Seit dem Krimfriege hat 
Rußland, in dem Beftreben, feine wirtfchaftlichen Hülfsquellen zu entwideln, eine 
zufunftreiche Induſtrie geichaffen und ein planmäßiges prohibitives Schußzoll- 
ſyſtem eingeführt. Im 18. Kahrhundert war Rußland in handelspolitiicher Be- 
ziehung für England nod) fo gut wie eine Kolonie geweſen: ein billiger Einfaufs- 
markt für viele Rohſtoffe und ein ſicherer Abſatzmarkt für die englifhen Manu: 
fafturwaren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat Rußland begonnen, 
fih abzuſchließen mit dem Plane, jich wirtjchaftlich möglichit jelbft zu genügen. 

Ganz ähnlich ift es mit Amerika gegangen. Die Bereinigten Staaten hatten 
nad ihrer Befreiung zunächft fortgefahren, in alter Weife mit England zu ver: 
ehren; der britiiche D,andel nach Amerika hatte ſogar nod) bedeutend zugenommen. 
Aber der unerhörte wirtichaftlihe Aufihwung der Union, der im Laufe des 
19. Jahrhunderts eingetreten ift, das Anwachſen feiner Bevölkerung und feiner 
Anduftrie, da8 Streben nad) politischer Macht und nach abjoluter Selbitändigfeit 
auf allen Gebieten des Lebens hat auch hier, nachdem im Sezeſſionskriege der 


682 Otto Hintze, Weltgeihichte und Weltpolitik. 


induftrielle Norden über die Sklavenbarone des Südens gejiegt hatte, zu einer 
fteigenden Schußzollpolitit geführt, die den Europäern und infonderheit den Eng- 
ändern den amerikanischen Markt mehr und mehr verdorben hat. 

Der Borgang Amerikas und Rußlands hat in demfelben Sinne auf Europa 
zurüdgewirkt, zuerjt auf Frankreich, dann, feit 1878, auch auf Deutichland. Das 
englifche Freihandelsideal verlor feinen magiichen Reiz. Man begann wieder die 
heimische Induſtrie zu ſchützen, ſoweit e8 irgend thunlich ſchien; man faßte jetst den 
Gedanken, mit England ſelbſt auf dem Weltmarkt zu konkurrieren; man fuchte mit dem 
Handel zugleich die Edhiffahrt in großem Maßſtabe zu heben und begann an eine 
ftärfere Seemadt und an Ktolonieen zu denfen. Frankreich hat ſeit 1871 ein aniehn- 
liches Kolonialreich in Oftafien und namentlich in Nordweft-Afrifa erworben und hat 
eine ftarfe Kriegsflotte geichaffen; Deutfchland ift langfam, und, was die Solo- 
nieen anbetrifft, bisher mit minderem Glück nachgefolgt. Um fo bedeutender haben 
fi fein überjeeifcher Handel und feine Anduftrie entwidelt; und die fortfchreitende 
Berftärkung der Flotte ift ein nationales Ziel geworden, das nid)t wieder aus 
dem Geſichtskreis unſerer Politik verfchwinden wird. 

England ift heute nicht mehr ohne Konkurrenz auf dem Gebiete des Handels, 
der Schiffahrt, der Stolonieen. Es iſt aus der kosmopolitiſchen, friedensfeligen 
Stimmung des Eonkurrenzlofen Profperierens aufgefchredt worden; es hat gewaltige 
Anitrengungen gemacht, feine Madtftellung auszunuten und zu verftärfen, jo 
lange es noch an erjter Stelle fteht. 

Es hat feinen Kolonialbefiß feit 1866 in allen Weltgegenden jtarf vermehrt 
und deſſen einzelne Teile in fich fortichreitend Eonfolidiert; es hat ſeit 1889 feine 
Kriegäflotte gewaltig verftärkt; es hat den Plan in Angriff genommen, Afrika von 
der Nilmündung bis zum Kap der guten Hoffnung feinem Einfluß zu unterwerfen. 

An dem auffteigenden Bemwußtfein, daß es mit feiner Monopolftellung zu 
Ende gehe, hat es mit großer Energie jene Summe von politiihen Maßregeln 
und Tendenzen entwidelt, die man mit dem Schlagwort des britiſchen 
Imperialismus zulammenfaßt. Die Idee des Greater Britain ift entftanden 
und die Imperial Federation League bemüht ſich feit einem Menichenalter, 
das oder zufammenhängende Konglomerat der Kolonieen zu einem feitgefügten, 
wohlorganijierten Kriegs- und Dandelsbunde zufammenzufchliegen, mit dem aud 
wohl das immer noch feitgehaltene engliiche Freihandelsprinzip erheblichen Modi- 
fifationen entgegengehen würde. 

Eine neue Mera des Merkantilismus ift jo in unfjeren Tagen über die 
Welt gekommen. Wiederum gehen Handels- und Staatsmadht Hand in Hand. 
War der alte Merfantilismus des 17. und 18. Jahrhunderts die wirtichaftliche 
Begleitericheinung jenes großen Prozeſſes der Staatenbildung, aus dem das 
europäiſche Staatenfyftem mit den fünf großen Mächten hervorgegangen ift, To 
jehen mwir in dev Gegenwart eine ähnliche große Umbildung der politifchen Welt- 


Otto Hintze, Weltgeſchichte und Weltpolitik. 683 


verhältniſſe ſich vollziehen. Das europäiſche Staatenſyſtem iſt heute nicht mehr 
wie ehemals, die politiſche Welt. Seine peripheriſchen Glieder, England und 
Rußland, find weit über die europäiſche Baſis hinausgewachſen und finden den 
Schwerpunkt ihrer Intereſſen heute faft mehr in Ajien und Afrika als in Europa. 
Die Berührung mit den oftafiatifhen Reichen ift eine intenfivere geworden al3 
je vorher; Japan hat ſich bereit3 den europäifhen Mächten ebenbürtig an die 
Seite geftellt; vor allem aber ift Amerika hinzugetreten. 

Die nordamerifanifche Union hat fait das ganze 19. Jahrhundert hindurch 
die Politik verfolgt, fi) abjeitS von dem europäiſchen Staatenfyften zu einer 
auf den amerifanijchen Kontinent zugleich ausgedehnten und befchränften politischen 
Welt zu entiwideln. Die Monroedoktrin, die urfprünglid” nur den Sinn hatte, 
die Einmifhung Europas in die Angelegenheiten der abgefallenen ſpaniſchen 
Kolonieen in Mittel- und Siidamerifa auszufchliegen, hat fih zu dem Grundſatz 
umgewandelt, daß niemand al3 die Union ein Recht auf politiichen Einfluß im 
Bereich des amerikanischen Kontinents habe. Bon den ehemal3 ſpaniſchen Be- 
figungen find Teras und Kalifornien längjt annektiert, in Merico ift die Ein- 
milhung Napoleons III. mit Erfolg befämpft worden, und der neuefte Krieg 
von 1898 hat Cuba und das ſpaniſche Weftindien überhaupt dem Gebiete der 
Union hinzugefügt. Weitere Erwerbungen werden folgen. Die panamerikanifche 
ee, die zunächſt einen großen Zollbund unter der Leitung der Union im Auge 
bat, — dem die politifche Föderation wohl bald folgen würde, — ift allerdings 
bei dem Gegenſatz der angelfähfiihen und der lateiniſchen Rafje noch nicht zu 
greifbaren Erfolgen gelangt; aber jie ift rüftig an der Arbeit und macht in der 
Stille ihren Weg. Haft in allen Staaten des amerikanifhen Kontinents hat die 
Union heute ihre Partei; aud) in Kanada befteht in einflußreichen Sreifen eine 
unverhohlene Dinneigung zu der amerifaniihen Vormadt. Aber die Union ijt 
heute nicht mehr willens, fich auf den amerifanischen Kontinent zu bejchränfen; 
die Erwerbung Hawaiis, der Anfprud auf Samoa, vor allem die Eroberung der 
Philippinen beweilt, daß die amerifanijche Politik auch den Großen Ozean mit 
feinen Inſeln und Küften zum Schauplaß ihrer Thätigkeit zu machen gedentt; 
an der chineſiſchen Erpedition haben die Amerikaner an der Seite der euro: 
päilchen Nationen und der Japaner teilgenommen. 

Das europäiſche Staatenfyftem iſt im Begriff, fi) zu einem Weltftaaten- 
joftem umzubilden, deſſen Glieder über die ganze Erdoberflähe verteilt find. 
Die maßgebende Rolle darin beginnen Schon jett jene Niefenreiche zu fpielen, die 
ih um den zufammengedrängten Stern de3 alten Europa herum ausgebildet 
haben: England, Rußland, Amerika. Diefe modernen „Weltreihe” find nicht 
mehr, wie die alten vrientalifhen oder wie das römifche, Univerjalftaatsbildungen, 
die für ſich in abgefonderter Kulturſphäre eriitieren, jondern es find die neuen 
Großmädte, Großmädte von dem Typus, wie ihn das werdende Weltitaaten- 


684 Otto Hinte, Weltgefchichte und Weltpolitik. 


ſyſtem erzeugt und fordert. Unter diefen Mächten ſich zu behaupten und die 
eigenen Intereſſen zu fördern, das ift es, was wir heute unter Weltpolitif ver: 
ftehen. Weltpolitit ift nichts Anderes als Großmadtpolitif auf der breiteren 
Bafis der neuen Weltverhältnifie. Darum ift moderne Weltpolitit unmöglid) 
ohne eine ftarfe Seemadt; die politifchen Reibungsfläcdhen beichränfen ſich nicht 
mehr auf die Landgrenzen, fondern fie liegen vor allem heute auf den Meeren. Das 
Weltmeer it das große Verbindungsmittel unter den Völkern der Erde; es ift aud 
der Schaupla&, auf dem in Zukunft die Intereſſenkonflikte der Großmächte ausge— 
fampft werden müflen. Jede Großmacht muß in Zukunft auch Seemadt jein. 

Großmachtpolitik zu treiben aber ift eine Notwendigkeit für alle Staaten, 
die nicht der wirtichaftlihen Musbeutung und der politiichen Abhängigkeit ver: 
fallen und damit auf die Dauer verfümmern wollen. Es ift eine ungeheuere 
Aufgabe für die Staaten des alten Europa, die Schon ſchwer an ihrer 
Kriegsrüſtung tragen und bei der Stleinheit ihres Gebietes, bei der Beichränftheit 
ihrer Urproduftion den wirtfchaftlichen Kampf mit ſolchen Riefenreichen wie Amerika 
und Rußland ſchwerlich mit Ausficht auf Erfolg unternehmen, die merfantiliftifche 
Abſchließung ihnen nicht nachmachen können. Aber jo ſchwer die Aufgabe fein 
mag, fie ift notwendig für diefe Staaten, wenn fie ihre Geltung in der Welt 
behalten wollen. Ob fie fie vereinzelt oder nur im Zufammenjchluß werden 
löfen können, das muß die Zukunft lehren. Bon ihnen allen hat jedenfalls 
Deutjchland die günftigjten Ausfichten, infolge feiner fteigenden Bevölkerung, 
feiner industriellen Erpanfion, feiner militärifchen Erziehung, feiner ftarfen mon— 
archiſchen Führung. An eine europäifche Union ift für eine abfehbare Zukunft 
nicht zu denken. Sollte ſie einmal zu ftande fommen, fo wird ihr Schwerpunft 
da liegen, wo das ſtärkſte Machtcentrum und die größte politiſch-moraliſche Kraft vor- 
handen ijt. Für die Gegenwart und für die nächſte Zukunft Eommt es darauf 
an, alle Kräfte zu entwideln, deren die Nation fühig ift. Nicht mit Jubel und 
eitlen Hoffnungen ziemt es ung, der anbrechenden neuen Weltepoche entgegen 
zu gehen, aber mit unverzagtem Mut, mit gefammelter Kraft und mit dem fejten 
Entihluß der Selbitbehauptung. Fortes fortuna adjuvat! 


16 


Indem wir durch die Anſchauung mannigfacer Perhältniffe die Erfahrungen ver- 
gangener Beilen uns aneignen, fremde Gedanken und Anlichten zu verftehen, zu prüfen, 
zu behalten oder zu verwerfen, die eigenen Anſichken zu bilden und zu befefligen fireben, 


wird die Geſchichte unfere Kehrmeifferin. 
von Clauſewitz. 


Aus: Beiftige Raffen Gin Aphoriſsmen-Lexikon zuſammengeſtellt 
von C. Schaible, Berlag von Paul Waehel, Freiberg i. Br. 


XXXXXEXEEEVVEIVV 


Gerber die Moore. 


Ein beidemoor fabl wie der Tod. 
Riedgras auf dürft’gem Schollenfod, 
Ein ftockendes Wagengeleife, 

So jäb in Glut und Staub verwebt, 
Als fpräch’ es: Wlandrer, wobin gebt 
Zinft Deine letzte Reife? 


Die Reife gebt fo weit fie mag, 

Sie fübrt in den Himmernden bochmittag. 
Es ftanden am borlzonte 

Zwei Birkenftämmchen fchwach und weifs, 
Darüber die Sonne, fo jac, fo beifsz 

Sie brennen konnte. 


Verfunken ift Das letzte Dort, 

Poch über einer Stapel Torf 

Kreift, goldig, ein Schwarm von Immen. 
Vom bügelfaum, dürr beftockt 

Der [hwefelgelbe Ginfter flockt, 
Fernber verfchollene Stimmen. 


Ein kiebitzrut die Luft Durchfchrilit, 
Weit binterm Knick ein Bauer fcbilt 
Auf feine trägen Pferde; 

Er beffert Zaum und Sattelgurt, 
Dann ſchaͤlt fein Pflug zu Meugeburt 
Den Scorf der Erde. 


Aus einer Furce fpäbte klar 

Von Reinckes Stamm ein Ebepaar, 
Dach Mücken fchnappten fie beide, 
Die Füchfin trug ein rotes Kleid, 
Das leuchtete Durch die Einfamkelt 
Der beide. 


Die Sonne fank verglübend, fern. 
Sacht ftieg Der groſze Venusftern, 
Vom Dorf begann zu klingen 

Der Ton der Ziebbarmonika, 

Ein zitternd Dünnes Gloria, 

Die Freude der Geringen. 


Der Dächerraucd fpann feinen Flor, 
Gutnactruf ſcholl von Tbor zu Thor, 
Der Vollmond fchlug die Brücke 

Vom Lebenskampf zur Feierzeit, 

Den Weg, der ftrablend propbeseit 
Von ew’gem Ernteglücke. 


Emil Prinz von Shönaihb=-Carolathb. 


S 





Die moderne Umbildung unlerer älthetildıen Anfchauungen. 


Von 
Hermann Mutheilus (London). 


D: Wort, daß auf der Welt nichts dauernd fei als der Wedel, findet jeine 
Anwendung aud) auf unjere äftbetiichen Anſchauungen — wobei diefer Begriff 
micht nur in feiner Beziehung zur „Kunft“ gebraucht werden foll, fondern in 
Beziehung zum menſchlichen Seftalten überhaupt. An der Beurteilung desjelben und 
in der Art dieſes Geſtaltens jelbit findet ſeit Menfchengedenfen eine ununter— 
brochene Umbildung jtatt, und zwar find die Beränderungen teils ſolche, die den 
Bewegungen eines Pendels ähneln, das aus feiner Ruhelage abwechſelnd links 
und rechts herausſchwingt, teils joldhe, die ſich als Weiterentwidelung nad) einem 
bejtimmten Ziele hin zu erkennen geben. Die erjte Art von Bewegung ift jedermann 
ohne weiteres aus dem fteten Wechjel der Mode geläufig. Die Mode liebt es 
befanntlich, aus einem Ertrem ins andre zu fallen und man Eönnte die pſycho— 
logiſchen Urſachen für diefen Wechſel vielleicht daraus erklären, daß gewiſſe 
Organe, welche bei der Bewunderung der einen Form in Thätigkeit geſetzt werden, 
auf die Dauer ermüden und dann der Bethätigung andrer Platz maden, welche 
auf andre Formen eingeftellt find. Die Mode ift nicht auf Kleider befchräntt, 
ed giebt auch Kunſtmoden. Auf Perioden einer monumentalen Sunft: 
gefinnung folgen naturaliftifche Strömungen (mie in der Malerei des neunzehnten 
Jahrhunderts), auf das Kumplizierte und Verfeinerte pflegt das Einfahe und 
Primitive zu folgen (auf das Rokoko der Klaſſizismus, beginnend mit doriſchen, ja 
ägyptiichen Architefturformen). Ja, ſogar unjre Beurteilung der hiftorifchen Kunſt 
ſchwankt bin und her; die eine Generation berauſcht ſich an Raffael und findet zu 
Michelangelo kein Verhältnis, die folgende hebt das Michelangeloſche auf den Schild. 

Die andre Bewegung, die nach einem beftinnmten Ziele hin, liegt nicht 
fo offen zutage. Da, betrachtet man lediglich die jogenannten reinen oder freien 
darftellenden Künfte, nämlich Bildhauerfunft und Malerei, jo ift fie aus dem 
geichichtlichen Verlauf derjelben vielleicht überhaupt nicht Elar zu entziffern. Dieſe 
Künfte mit ihrer beftändigen Grundlage der Natur, von deren Boden fie ſich 


Hermamı Mutheſius, Moderne Umbildung unſerer äfthetifchen Anichauungen. 687 


garnicht Toslöfen fünnen, find von dieſem bejtimmten Geſichtswinkel aus durchaus 
unfrei, d. 5. an die Natur gebunden. Wir jehen daher in ihrer Geſchichte wohl 
eine Art einheitlicher Bewegung, die fich in gewiffen Sinne als ein fortlaufend 
Ichärferes Erkennen der Natur betrachten läßt (jo brachte erjt das neunzehnte 
Jahrhundert das Erkennen der atmoiphäriichen Werte in die Malerei), aber diefe 
Bewegung ift mehr äußerlicher als innerlicher Art. 

Anders mit den nicht von der Natur abhängigen, ganz bejonderd den 
teftonifchen Künſten. Die Formen, um die es ſich hier handelt, find fchöpferifche 
des menschlichen Anftinktes, fie find an nichts Gegebenes gebunden. Es ijt wahr, 
jie werden einerſeits durch die Rückſicht auf die Gebraudjsfähigkeit diktiert. Aber 
nur bis zu einen gewiſſen Grade, der Gebrauch lehrt uns nicht, ein Zimmer in 
die Form eines geometrifchen Körpers zu bringen, es fünnte dafür unregelmäßig 
jein wie eine Höhle. Eine zu ftüßende Dede verlangt eine Säule, aber die Form 
diefer Säule ift durchaus ein Erzeugnis des menjchlichen Geiftes. Er kann fie 
fo oder jo bilden, und warum fie hier fo und dort fo gebildet wurde, diefe Frage 
ift zunädjft als ganz offen zu betrachten. Das Geheimnisvolle, was dieſe menjd)- 
lihe Bildungsthätigfeit an ſich Hat, ift fo verlodend, daß es den Denker in be: 
fonderm Maße anziehen muß. Die auftaudenden Fragen führen auf 
die tiefften Gründe der pſychologiſchen und phyſiologiſchen Forſchung. Sie 
in abstracto zu beantworten, dürfte jo bald noch nicht möglich fein. Die Ant- 
worten, die gegeben worden jind — wir haben ein ganzes Zeitalter der abjtraften 
Aeſthetik hinter uns — find zumeist unbefriedigend geweſen, nicht felten haben fie 
geradezu ins Abjurde geführt. 

Nicht die Fäden folder Spekulationen jollen hier weitergefponnen werden. 
Hielte ſich die Aeſthetik mehr an die Beobachtung als an die philofophiiche 
Spekulation, jo würde fie einen fruchtbareren Ader bearbeiten. Und es iſt ange» 
ſichts des riefigen Aufwandes, der bisher an die ſpekulative Aefthetik gejetst worden 
ift, vielleicht am Plage, die Aeithetif einmal ganz und gar auf die Erfahrung 
hinzuweiſen, derart, daß fie zunächſt verlucht, eine Art Statiftit des bisher von 
Menſchen Geſchaffenen zu liefern, und allein aus den fo aufgeitellten Thatfachen 
ihre Schlüffe zieht. Die Anfänge ſind gemacht; und namentlich die Erforſchung 
der Bildungen der Naturvölfer und der frühen Kulturen bat hier bereits viel 
Licht ausgebreitet. Und es fteht zu hoffen, daß auf diefem Wege endlich wirklich 
brauchbare Ergebnifje erlangt werden, daß die ficheren, wenn auch engen Wege 
der Empirif dazu führen werden, den geheimnisvollen Geſetzen, nad denen wir 
Menſchen bilden und menſchliche Bildungen beurteilen, auf den Grund zu kommen. 
Jedenfalls werden fi) dann mit der Entwidelung auch die Wandlungen unfrer 
äfthetifchen Anfchauungen Ear überjehen laſſen. 

Daß ſolche Wandlungen auf dem teftonijchen Gebiete der menſchlichen 
Thätigfeit vor fi) gehen, lehrt uns ein Blick nicht nur auf den Verlauf der 


688 Hermann Mutheſius, Moderne Umbildumg unferer äfthetiichen Anſchauungen. 


Geſchichte, ſondern felbft auf die allerlekte Vergangenheit derjelben. Ja, was 
dieſe legte Epoche anbetrifft, jo find die Veränderungen hier jo hedeutend, daß 
es den Anjchein hat, als gingen wir geradezu grundlegenden Umwälzungen in 
unferm Gejchmadsurteil entgegen, Ummvälzungen, die die kommende Zeit in 
einen ausgefprochenen Gegenjag zur alten Zeit ftellen werden. Dabei wird hier 
garnicht an die gegenwärtige Revolution im Kunftgewerbe gedacht, von der fid 
noch nicht jagen läßt, was an ihr Mode und was dauernder Entwidelungsanteil 
it. Es handelt fid um einen weit größeren Zeitabjchnitt, denjenigen, von dem 
aus das moderne Leben überhaupt feine Entwidelung genommen bat: die Zeit 
jeit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts. 

Wer ſich des enormen Umſchwunges bewußt werden will, den unfre 
äſthetiſchen Anſchauungen im Verlaufe diefer Zeit durchgemacht haben, der be- 
trachte die Männerfleidung des achtzehnten und die des neunzehnten Jahrhunderts. 
Damals der jeidene, mit Eoftbarer Stiderei befeßte Rod, die Puderperüde und 
das Krauſenhemd, heute jelbft als Staatskleid der einfache ſchwarze Fradanzug 
mit der jchlichten weißen Sramwatte über dem jchmudlofen, weiß gebügelten Hemd. 
Welher Mann wirde ſich heute in dem Anzug des achtzehnten Jahrhunderts 
wohlfühlen? Und betradjten wir die uns umgebenden Gebrauchsgegenftände, fo 
finden wir diefelben Wandlungen. Ein Gang durd) das Zeughaus zeigt uns die 
Schußmwaffen des fiebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts mit köſtlicher Zier- 
arbeit verfehen; die heutige Yagdflinte, der heutige Revolver find ganz ſchmucklos 
und verkörpern nur die nadte Gebrauchsfähigkeit. Am jchlagendften tritt uns 
vielleicht der Gegenjat zwiſchen einft und jetzt an jenen alten Kanonenrohren 
entgegen, die über und über mit prächtig modelliertem Akanthusblattwerk verjehen 
in unſern Mufeen aufbewahrt werden, während der Gedanke, unfre heutigen 
Kanonenrohre mit Ornamenten zu ſchmücken, geradezu etwas Kindliches Haben würde. 

Schon die angeführten Thatjahen genügen, um den Grundfag abzuleiten, 
daß die Zeitentwidelung auf Mblegung des Schmudes hindrängt. Freilich ift 
diefer Grumdfaß noch nicht überall und bisher jelten ganz rein durdgeführt zu 
beobachten. Unſre Damen pflegen noch heute den Schmud in der Kleidung in 
ausgedehntejtem Maße. Man denke an den vom Standpunkte der Nützlichkeit 
ganz überflüfjigen phbantaftiichen Aufwand auf ihren Hüten, an den Bejat ihrer 
Kleider, die von ihnen fo jehr geliebten Schmudjahen in Gold und Silber. Hier 
waltet noch ganz die Phantaſie und der Wunſch, durch Schmuck zu gefallen, vor, 
denen wir in früheren Kahrhunderten auf allen Gebieten menschlichen Bildens 
und Geftaltens begegnen. 

Und do find auch hier bereit3 merflihe Wandlungen eingetreten. Gie 
begegnen uns am auffallendften in England, dem Lande des tailor-made-Frauen- 
anzuges. Die Engländerin, auch die vornehmfte, trägt diefen Anzug immer und 
überall, außer bei Geiellichaften und feierlichen Gelegenheiten, und dieje Sitte 


Hermann Mutbefius, Moderne Umbildung unſerer äjtbetifhen Anichauungen. 689 


findet auch auf dem Kontinent überall Anklang. Diefer Anzug ift genau fo 
ſchmucklos wie unjer gegemwärtiger Männeranzug, er verkörpert genau das» 
felbe Prinzip. Das Gebiet des weiblichen Anzuges ift aljo von der modernen 
Auffaſſung bereit8 betreten, wenn aud noch nicht erobert. Selbit der Damenhut 
mit all feiner Phantaftit weicht dem auf das ganz Schmudlofe abftrahierten 
fogenannten Matroſenhute, der in England die Alltagskopfbedekung für alle 
Stände und alle Lebensalter geworden ift. Die Frau tritt mit alledem langſam 
in das Stadium ein, in dem wir Männer uns jchon jeit lange befinden: das der 
im wejentlihen ſchmuckloſen Kleidung. 

Bedenft man, ein wie wichtiges Gebiet die Kleidung für jeden Menichen ift, 
jo nimmt es wunder, daß den an ihr beobadıteten Entwidelungsvorgängen nicht 
größere Beachtung geichenkt zu werden pflegt. Die Kleidung ift nicht nur das 
erite Objekt aller menſchlichen Kunſt geweſen, jondern fie ift noch heute die täg- 
liche Sorge jedes einzelnen menjchlichen Wefens. Sie jpielt in unferm Denken 
und Fühlen die allergrößte Rolle, wir machen in Bezug auf Kleidung die aller: 
feinften Unterfchiede. Alt umd jung, hoch und niedrig, arm und reich betrachtet 
fie nächft dem täglichen Brot als den wicdhtigften Umftand des äußern Lebens. 
Selbſt der Zerlumpte hat noch Eitelfeitspunfte in Bezug auf feine Erfcheinung. 
Das, was fi alfo in unfrer Kleidung entwidelt hat, muß gewiß ein Niederſchlag 
dejien fein, was fi) überhaupt in Bezug auf die Geſchmacksbildung entwidelt. 
Und man ann eigentlich hier am ficheriten fein, daß man über alle Schwankungen 
und Täuſchungen hinaus — deren wir im Verlauf diefer Betrahtung mande an- 
treffen werden — bier wenigitens ein untrügliches Zeichen der Zeit vor ſich hat. 

Diefes Zeichen der Zeit ift, wie bereit3 erwähnt, die Ablegung des Schmudes, 
eine ganz ausgeſprochene Bewegung auf die ſchmuckloſe Form hin mit entichiedener 
Hervorhebung des rein Zmwedmähigen. Wir finden es in anderen Gebilden in 
faft ebenfo umverfennbarer Geftalt ausgeprägt al3 in unſrer Kleidung: in unfern 
Wagen, unfern Schiffen, unſern Maſchinen. Ya, die legteren erzählen am deut- 
lihften von dem Zuge unſrer Zeit, denn fie jind traditionslos in ihr entftanden, 
während die heutige Form der jchon früher gebrauchten Dinge, etwa eines 
Landauers oder eines Segelbootes, nur durd) eine Art Häutung aus der früheren 
Form umgebildet worden ift. Nun kann man aber einwenden, daß es fraglich 
fei, ob eine frühere Zeit Dinge wie Maſchinen geſchmückt haben würde. Es gab 
früher die heutige Mafchinenwelt nicht, aber es gab doch Werkzeuge, aftronomifche 
Inſtrumente, Fahrzeuge jeder Art, und alle diefe Dinge zeigten Schmudformen, 
zum Teil traten fie in reicher Ausbildung auf. Sein Scloffer bildete ein Schloß 
ohne einigen ornamentalen Aufwand, kein Tifchler einen Tiſch ohne irgend einen 
Zribut an die Phantafie. 

Alle diefe Dinge waren, nah unfrer heutigen Auffafjung, „Eünftlerijch“ 
gebildet. Nach der damaligen Auffafjung dachte bei ihnen aber gewiß 

4 


6% Hermann Mutheſius, Moderne Umbildung unſerer äſthetiſchen Unihammgen. 


fein Menſch an „Kunſt“, man bildete eben fo, wie der naive innere Trieb es 
diftierte. And dies führt fogleih auf eine jehr widtige Bemerkung. 
Seit der Zeit, da ſich die moderne Welt plöglich in den neuen ſchmuckloſen 
Zuftand getrieben?jah, wo ſich die neuen Kinder der Zeit, bar alles zeremoniöfen 
Auftretens, in größerer Menge um den noch halb in romantifhen Träumen 
ſchwebenden Menjchen anfammelten, jeit jener Zeit erhob ſich der Aufichrei nad 
Kunſt, der für die legten fünfzig Jahre jo bezeichnend geworden ift. In Eeiner 
Zeit der menfchlichen Entwidelung ift wohl das Wort Kunſt jo oft im Munde 
geführt worden, als von jener Zeit bis heute. Ein Heißhunger nach Kunſt 
durhwühlt gerade heute wieder die Menjchheit, und man experimentiert gerade 
jet wieder mit dem Begriffe Kunft hin und ber. 

Diefer Schrei nach Kunſt hat zweifellos feine Berehtigung am Ende eines 
Sahrhunderts, das in Wiffenfchaftlichfeit förmlich erftarrt war, und er ijt nichts 
Anderes al3 die natürlihe Reaktion gegen ein Syftem der Einſchränkung umd 
Einjchnürung, die diefe Zeit gegen diejenigen höheren Geiftesgüter ausgeübt hatte, 
die mehr auf dem Gefühl ald dem Berftand der Menfchen fih aufbauen. So: 
weit man aber diefe „Verkunſtung“ auf dasjenige menfhliche Bilden, das die 
Bedürfnifie des täglichen Lebens dedt, ausgedehnt hat, ſoweit fie unfere teftonifche 
Thätigkeit beeinflußt hat, ift fie durchaus nicht glüdlich gemweien. In diejem 
Jahrhundert, das al3 das Geburtsjahrhundert der neuen jchmudlofen Formen 
bezeichnet werden kann, jind gleichzeitig die bedenklichſten Aufpfropfungen auf die 
neuen Gebilde im Sinne einer vergangenen Kunſtauffaſſung vorgenommen 
worden. Sie jchufen eine Art Zwittergebilde, eine Art Afterkunit, die uns nun 
erit vecht in den Abgrund der Kunftlofigkeit hinabreigen mußte Man verfah 
nämlid) die jest zumeiſt majchinenmäßig hergeftellten Dinge mit ſolchem Schmud, 
den man von den früheren, handwerklich erzeugten Dingen ber kannte. Denn es 
war nichts leichter, als alle die Herrlichkeiten auch ihrerfeit3 majchinenmäßig ber: 
zuftellen. So entftanden unfere geitanzten Blechornamente in Nahahmung der 
früheren Treibarbeit, unfere ganze Goldarbeiterkunjt ging an diefem Maſchinen— 
werk zu Grunde. Das Gebiet des Edelmetall-Schmuds wurde jo total ruiniert, 
wie wir es vor einigen Jahren antrafen. So entjtanden alle die den Tifchlern 
für Spottpreiie gelieferten, maſchinenmäßig hergeftellten Holzornamente, die fait 
unſer gefamtes, feit 1870 entitandenes Mobiliar zum Schund jtempeln, jo entftanden 
alle jenen omamentalen Phantafieen in Gußeiſen und Papiermaché, die als Zeugen 
des fünftlerifchen Verfalles unferer Zeit der Nachwelt beredt berichten werden. 

63 lag bier der fundamentale Irrtum vor, Ornament mit Kunſt zu 
verwechſeln. In Wahrheit haben beide fo wenig mit einander zu thun, 
wie das Mehgewand mit der Religion. Und da diefer Bergleih einmal an- 
gefchnitten ift: genau fo wie das Ritualweſen in der Religion, genau jo ſteht 
das eigentlich Formale und Ornamentale in der Kunſt da. Genau jo, wie ſich 


Hermann Muthefius, Moderne Umbildung unferer äjthetifchen Anfchauungen. 691 


eine Religion ganz in diefes Ritualwejen verlieren fann, fo daß man vergeblid) 
nach Geift und Leben ſucht, genau jo kann ſich die Kunit in das Formale ver: 
irren und dadurd) zur Mumie werden. 

Diefe Mumifizierung it im Berlaufe der legten hundert Jahre unter der 
Flache der Kunft mit einem großen Bruchteil unjerer teftonifchen Künfte vor ſich 
gegangen, ganz bejonder3 mit der Arditeftur. Die Architektur, von ftroßender 
Lebenskraft im griechifchen, römischen und gotiihen Zeitalter, wo fie mehr oder 
weniger der nbegriff der gejamten bildenden Kunſt war, ließ jchon zur Zeit 
der Renaifjance Zeichen organischer Störung erkennen. Denn man über: 
nahm jeßt „Formen“ und machte dieje fortan zum Wefentlichen in ihr. Mit dem 
Klaſſizismus, der es fertig befam, dorifche Tempelfronten vor Bedürfnishäuschen 
zu bauen und — mie ed am Wiener Parlamentshaus geichehen ift — den 
Schornftein einer Gentralheizung in die Form eimer rauchausfpeienden ioniſchen 
Säule zu verkleiden, mit diefem Klaffizismus begann die große Narretei der 
Architektur des 19. Jahrhunderts. Im Verlauf des tollen Treiben gelangte 
man fchlieglih Bis zu der befannten Durchrafung aller Stile der VBergangen- 
heit, wobei man das Bewußtſein des eigenen Lebens ganz verlor und mit derjenigen 
Kunft, die eigentlich die Führerin aller andern Künſte jein follte, Fangball jpielte. 

Dabei handelte es ſich nicht um die Architektur allein, fondern um das 
ganze Handwerk, das jetzt der Hiftorifch gebildete Architekt in Pacht nahm. Auch 
das Handwerk wurde der QTummelplat formaler Phantaftereien, auch an das 
Kleingerät wurde der ganze Masferadenaufwand angeflebt, den ſich die Werke 
der Arditektur gefallen laffen mußten. Die Kunſt des Architekten endete aud 
hier im Berfleiden in einen beftimmten „Stil”, wobei Ornament und Formen: 
wejen die Hauptrolle jpielten. Und wenn er es auch nicht jelbft war, der bie 
oben gejchilderte fabritmäßige Herftellung von Ornamenten beforgte, fo fchuf er 
doc; die Vorbedingungen dazu, indem er das geiftige Band zwifchen alten 
Drnamenten und neuen Dingen knüpfte Die Derftellung diefer Masteraden- 
ausftattung nad) der neuen Methode, d. h. durch die Mafchine, war dann nur 
ein vorauszufehender, jehr natürlicher Schritt. 

Durch diefes Dazwifchentreten des gebildeten Architekten ift in die natürliche 
Weiterentwidelung der menſchlichen Gejtaltungsart eine eigentümlicdhe Verwirrung 
gekommen. Will man diejer Weiterentwidelung auf den Grund fommen, fo bleibt 
daher nichts übrig, als fein Wirken auszuſchalten. Das iſt aber deshalb ſehr 
ſchwer, weil er thatjächlich den allergrößten Einfluß ausgeübt hat. Denn gerade 
er fchien der berufene Kunſtwart zu fein, der die Fahne der Fkünftlerifchen 
Beitrebungen mitten in einer vollkommen funftlofen Zeit bochhielt, gerade 
er wurde al der Helfer in jener Zeit erblidt. Was er als Heilmittel verzapfte, 
nämlich den Aufguß der geweſenen Stile, konnte feinem Menfchen helfen. „Bier 
war die Arzenei, die Patienten jtarben” kann man heute mit Fauſt jagen, der 

4* 


692 Hermann Mutheſins, Moderne Umbildung unſerer äftbetiichen Anschauungen. 


gegen die Peſt mit Latwergen und Schwarzfunit ankämpfen wollte. Dieie 
gewollte, ji) in Meußerlichkeiten erichöpfende Kunſt, die jeit fünfzig Jahren in 
das teftonische Bilden getragen worden ift, war ein Schwimmen gegen den Strom 
der Zeit, da8 den Schwimmer nidht vorwärts brachte und die Thorheit ver- 
förperte, die Richtung der eigenen Zeit negieren zu wollen. 

Nun bat fi die Einwirkung diefer gewollten Kunſt aber troßdem nicht auf 
alle Gebiete menjchlichen Geftaltend erftredt, einige abgelegene Provinzen find 
unbeadjtet liegen geblieben und in diefen Eonnte ſich die Weiterentwidelung naiver 
Kunſtanſchauungen vollziehen. Dahin gehört die Kleidung mit den ſchon vben 
betrachteten Entwidelungsergebniffen. Dahin gehören ferner die Erzeugniſſe des 
Maſchineningenieurs und des Bauingenieur, joweit in die legteren nicht „Kumit‘ 
zu tragen verjudht worden ift. Und fchließlich gehören dahin diejenigen örtlichen 
Induſtrieen, wie Töpferei, Weberei, ländliche Baukunft, deren alte Tradition ſich in 
direkter Fortpflanzung des einft Gemwefenen und ohne welcde höhere Einmifchung 
bis in unjere Tage herüber gerettet hat. Die Zahl der letteren ift gering. Und 
da ſie mehr Nefte eines alten Zuftandes darjtellen, als Kinder einer neuen Zeit 
jind, jo fallen fie gegenüber den anderen Zeichen des naiven Gejtaltens unjerer 
Zeit, der Kleidung, den Mafchinen, den Angenieurbauten, nicht jehr ins Gewidit. 

Man wird einmwenden, daß es ſich bei diefen Dingen nidt um unit 
handele, die Aeſthetik alfo nicht in Betracht fomme. Ein großer Irrtum. Wo 
fängt im Leben die Kunſt an und wo hört jie auf? Wo will man das „reine 
Gefallen”, das wir Menichen bei taufend Gelegenheiten empfinden, nach der 
Eünftlerifchen oder nicht Fünftleriihen Seite hin begrenzen? Man kann ja nichts 
dagegen haben, wenn man den Begriff Kunft auf Poeſie, Malerei, Skulptur, 
Mufit und Tanz befchräntt, diejenigen Künste, in denen ſich der Menjch im freien 
Spiel feiner Phantaſie ergeht, die mit einem Nußzwede in feiner Weije ver: 
bunden find. Sobald man aber die Baufunft einfchliegt — und wer wollte es 
unternehmen, ihr den Zutritt zu verfagen — giebt es eigentlich überhaupt Keine 
Grenze für den Begriff Kunft mehr, denn diefe Kunft dient zunächſt und im 
Grunde ihres Weſens Nüslichkeitäzweden. Bereit3 ijt es denn auch alltäglid 
geworden, auch das fogenannte Kunftgewerbe in die Kunſt einzufchliegen. Was 
ist nun aber Kunſtgewerbe und was gewöhnliches Gewerbe? Wollte man einen 
Zaun zwifchen beiden aufrichten, jo wäre gerade dem Sunftgewerbe am aller: 
wenigften gedient, denn die Definition desjelben würde dann wahricheinlidh — wie 
ed wirklich häufig gefchieht — darauf hinauslaufen, daß das zum Kunſtgewerbe 
Gehörende irgend etwas nicht unbedingt Notwendiges enthalten mühe, irgend 
einen „künſtleriſchen“ Zufaß, wodurd wieder eine ganz gefährliche Tendenz, die 
des unfachlichen Anklebens von Nebendingen, unterjchrieben wäre. Thatſächlich 
ift das fogenannte Kunſtgewerbe eine fange Zeit nichts Anderes geweien als das 
fachliche Gewerbe mit unſachlicher Kunftanflebung. Der Zulammenleimung der 


Hermann Mutheſius, Moderne Umbildung unſerer äſthetiſchen Anſchauungen. 693 


Begriffe Kunſt und Gewerbe zu einem Worte entſprach die Zuſammenleimung 
von Sachform und Drnament, die man in Gewerbe der zweiten Hälfte 
des neunzehnten Kahrhunderts jehr zum Unheil der Sache vorgenommen hat. 

Unfer äfthetifches Gefallen erſtreckt fich im Leben auf viel weitere Gebiete, 
al3 die der eigentlichen Kunftwerke. Abgejehen von der Natur, die und immer 
das größtmögliche äfthetifhe Gefallen abnötigt, gefällt uns in unferer von 
Menſchen geichaffenen Umgebung alles Mögliche, eine Eijenbahnbrüde, ein 
Zweirad, eine Hutform, eine Krawatte. Und der geftaltende Menſch bildet 
anderjeit3 immer nad) gewiſſen Gejegen, einfach infolge feiner ihm eingepflanzten 
piychologiichen Bedingungen, mag er ‚künſtleriſch“ bilden oder nit. Der Schufter 
beim Anfertigen eine Stiefeld, der Tifchler beim Fügen eines Schranfes, der 
Arditeft beim Bau eines Haufes, der Wagenbauer beim SKonftruieren eines 
Wagens, der Maſchinenbauer beim Entwurf einer Mafchine, fie alle handeln 
nach den uns von der Natur eingegebenen Geftaltungsgefegen, deren wir Menjchen 
uns gar nicht entäußern können. Wir haben alfo, wenn wir von äjthetiichen 
Anſchaunngen reden, durhaus ein Recht, das menſchliche Bilden in feiner Ge— 
jamtheit zu betrachten. Und wir können Veränderungen in der Art diejes 
Bildens ebenfogut an Brüden, an Maſchinen, an der Kleidung, an Fahrzeugen, 
wie an den unter „Kunft” rangierenden Werfen menſchlicher Thätigfeit ftudieren. 
Am übrigen ift die Abficht des modernen Geftalters keineswegs immer lediglid) 
die, dem bloßen Gebrauchszwed zu genügen, in fein Geftalten mifcht ſich zumeiſt 
unbewußt der Trieb ein, auch gefällig zu geftalten. Beim Entwurf einer Brüde 
jpielen in der Wahl der Form aud äfthetiiche Nüdjichten eine Rolle. An 
Mafchinen polieren wir gewiffe Teile blanf, um die Mafchine ſchmuck erjcheinen 
zu laffen, in unferem jonft ganz fchmudlofen Herrenanzuge jprechen doch der 
Gylinder, die Srawatte, das gebügelte Hemd noch den Wunſch aus, mehr als das 
unbedingt Notwendige zu thun. Und ſchließlich kommt in allen Fällen noch etwas 
jehr Wichtiges, die Wahl der Farbe, in Betradht, in der ein breiter Raum zur 
freien äfthetiichen Bethätigung von ſelbſt gegeben ift. 

An Bezug darauf, wieweit fi die Möglichkeit der Umbildung unferes 
äfthetifchen Empfindens erftredt, muß bier noch ein Hauptumftand hervorgehoben 
werden: die Macht der Gewohnheit. Selbit wo reine Nugformen bervorgebradt 
werden, gewöhnen wir ung in kurzer Zeit an fie, ja finden fie mit der Zeit gefällig, 
auch dann, wenn ſich unfer Empfinden zunächft dagegen jträubte. Wer erinnert ſich 
nicht der zuerit häßlich erfcheinenden diden Luftreifen an unfern Zmweirädern? Heute 
nimmt niemand an ihnen Anftoß, unjer Empfinden bat jich angepaßt. Und 
fanden wir nicht einige englifhe Neuerungen im Anzug, wie den weiten lleber- 
zieher, die Qederbeinfchienen, die vorn am Schienbein zugefnöpft werden, unjchön? 
Kaum find fie eine Reihe von Jahren in Gebraud, und der Widerſpruch hat ſich 
nicht nur gelegt, jondern fie werden auch überall nachgeahmt. Die Gewohnheit 


694 Hermann Mutheſius, Moderne Umbildung unſerer äfthetiichen Anfchanungen. 


beeinflußt alle unfere äfthetifchen Urteile in allerbreiteiter Ausdehnung. Wie 
fönnten fonjt jene phantaftifhen Bauten Indiens dort als Gipfel der Hunt 
gelten, zu denen wir Europäer doc) nicht das geringfte Verhältnis finden können! 
Es find eben Generationen in den dort üblichen Kunſtformen erzogen worden 
und die heutige nimmt fie als etwas durchaus Natürliches, ihrem deal Ent: 
ſprechendes von felbft hin. Die Gewohnheit kann umd wird aud den in unfern 
modernen Bildungen vor ſich gegangenen Wandel mit der Zeit äſthetiſch billigen. 


* = 


* 


Wie iſt es gekommen, daß ein ſolcher Wandel im Verlaufe von hundert 
Jahren Platz greifen konnte? Welches find die Bedingungen und Urſachen 
dieſes Wechſels? Man kommt diefer Frage, wie fo vielen menſchlichen Kultur: 
fragen näher, wenn man den fozialen und wirtfchaftlichen Untergrund der Zeit: 
entwidelung betrachtet. In dieſer Beziehung liegt für die europätfche Welt ein 
großer Wendepunkt am Ende des 18. Jahrhunderts vor. Es handelte ſich um den 
Auftrieb des dritten Standes, der damals ftattfand, um den Sieg des Bürgertums 
über die Ariftofratie. Mit diefem Siege, der eine vollftändig neue Schihtung der 
Geſellſchaft einleitete, fiegte aud; eine neue Kunftanfhauung über eine alte: die 
bürgerliche über die ariftofratifche. Es ift erfichtlich, daß der ganze Sunftapparat, 
den wir vom Zeitalter der Renaiffance an bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts 
in den führenden Ländern herrfchend finden, der einer recht eigentlich ariftokra- 
tiſchen Kunft ift. Die Stile der Ludwige in ihrer glänzenden Entwidelung find 
die reinſte Verkörperung derjelben. Dieje Kunft gab fo fehr den Grundton für die 
ganze Zeit an, daß die damalige bürgerliche Kunft als eine Abjtraktion der ariſto— 
Eratifchen aufgefaßt werden muß. Erit als die Säulen diefer ariftofratifchen Kultur 
zu wanfen begannen, konnte fich diefe bürgerlich reduzierte Kunſt felbftändig zu 
entwideln beginnen. 

In England und in Holland hatte fih das Bürgertum weit früher entfaltet 
als in allen übrigen Ländern, hier fteht auch die Wiege einer felbjtändigen bürger- 
lihen Kultur. In England ift die Stimme des Volkes jeit dem Mittelalter her 
ftet3 durch einen geregelten Anteil an der gejeßgeberifchen Gewalt zur Geltung 
gefommen, und die Grundfeften eines mächtigen und einflußreidyen Bürgertums 
wurden bier bereit3 unter der Regierung der Königin Elifabeth gelegt. Deshalb 
ift von der ganzen höfifchen und ariftofratifchen Kultur, mit der Frankreich durch 
Jahrhunderte für das Feſtland führend wurde, nur ein ſehr ſchwacher Abglanz nad) 
England gedrungen, hier blieb z. B. die ganze Barod- und Rokoko-Kunſt fern. 
Auf die jehr lange anhaltenden mittelalterlihen Traditionen wurden zwar durd) 
einen direkten Uebertragungsprozeß die wuchtigen aber fchlichten Formen Palladios 
aufgepflangzt und etwa 150 Jahre geübt; um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts 


Hermann Mutheſius, Moderne Umbildung unferer äfthetifchen Anichauungen. 695 


ſproſſen aber bier bereit3 die erften Blüten der Romantik empor, die Geſänge 
Oſſians begeifterten bald darauf ganz Europa. Damit begann der große Um: 
Ihmwung der Stimmung, der eine neue Zeit einleitete. 

Ein Sehnen nah Natur, Reinheit und Einfachheit erfüllte damals die 
Welt. E3 war die Gegenluft gegen die Hofatmojphäre, die drüdend auf der 
Mehrheit der Menfchen gelaftet hatte. Das Unberecdtigte der dazu vielfach 
mißbraudgten Borrechte der oberen Stände drang zum Bewußtſein des Volkes 
durch; in tyrannos feßte Schiller al3 Motto auf fein erites Litteraturwerf. In 
diefem Ringen nad) dem neuen Zeitalter vereinigten ſich die gefamten @eiftes- 
fräfte der europäilhen Kultur, die franzöſiſche Revolution war nur eine Teil: 
erplofion der überall herrichenden Spannung. Auch künftleriih trat damals eine 
vollfommene Aenderung ein, die aber in der hohen Kunſt zunärhft eine eigen- 
tümlide Richtung einfchlug. Als Gipfel des Einfah-Schönen und der höchften 
fünftlerifchen Reinheit wurde die eben neu entdedte griechiſche Antike erkannt. 
Da die neue gegen-ariftofratiihe Zeitbewegung rein negativer Natur war, fo 
war für die Kunſt, die nur mit pofitiven Werten arbeiten kann, zunächit Eein 
Ergebnis aus dem neuen Zeitgeift zu verzeichnen. Sie umklammerte dafür die 
Antike mit Inbrunſt als den Inbegriff alles dejien, was man erjehnte. Und fo 
fladerte denn jenes Feuer der antiken Begeifterung empor, das in allen Künſten 
einen jo eigentümlichen Wiederfchein hervorrief, am dauernditen aber die Baukunſt 
beeinflußte. Hier führte fie in der Form des Hlaffizismus zu jenen Sinnwidrigfeiten, 
die jchon weiter vorn berührt find, fie brachte Erzeugniffe hervor, die nur aus einer 
völligen Verblendung, aus einer Art hypnotiſcher Beeinflufjung zu erklären find. 

Und troßdem Eryitallifierten fih auc unter der Dede diejer Verirrungen 
die dem Geifte der Zeit wirklich entfprechenden Beftandteile einer geſchmack— 
lichen Weiterentwidelung ab. Die bürgerlihde Schicht der Gefellichaft, die 
jett an das Oberwaſſer gelangte, bildete z.B. ihre Möbelformen in einem Sinne 
aus, daß fie grundlegend für die ganze folgende Zeit wurden. England mit 
feiner breiten, jelbjtbewußten und geldkräftigen Bürgerfchicht verrichtete hier 
Pionierdienfte für die ganze europäifche Welt. Es entwidelte fhon am Ende 
des 18. Jahrhunderts in feinen Chippendale-, Hepplewhite- und Sheraton- 
Möbeln das moderne Möbel überhaupt. Bier wurden echt bürgerliche Formen 
geſchaffen, einfach, faft ohne Schmud, gediegen, eine verfeinerte Behaglichkeit atınend, 
die fern von jeder ariftofratifhen Repräfentation ihr Genügen im häuslichen 
Leben findet. Thatſächlich Hat England mehr oder weniger durch das ganze 
neungzehnte Jahrhundert an diefen Möbeln, bejonders denen der Sheraton-Form 
feftgehalten. Um die Mitte desfelben, ald die Architekten auch hier „ſtilvolle“ 
Möbel zu zeichnen begannen, tauchten fogenannte gotijche Möbel auf, die aber 
ihren Beruf, die Welt zu beglüden, völlig verfehlten. Heute jtehen fie als voll- 
Eonımene Sarifaturen da. An der Herrichaft des Sheraton-Möbels hat felbit die 


696 Hermann Muthefius, Moderne Umbildung unjerer äſthetiſchen Anichauungen. 


neue Kunſtbewegung nicht ändern fünnen, deren neu eingeführte Möbelfurmen 
fih nicht Haben behaupten Eönnen. In Deutjchland, das freilich unter 
wirtfchaftlih ganz andern Bedingungen arbeitete, entwidelte fih in der 
erften Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts das, mas wir heute Biederrmeierftil 
nennen: ebenfal® der Niederichlag ſchlichter Bürgerlichkeit. Aber bier 
wurden die gefunden Anfänge bald durch die Stilmut der zweiten Hälfte des 
neunzehnten Jahrhunderts weit gründlicher hinmweggefegt als in England, es 
blieb faft nichts von der jchlichten Biedermeierkfunft übrig. Die deutfche Rengaiſſance 
der fiebziger Jahre füllte dafür unfere Zimmer mit jenem übel überladenen 
ſchweren Hausrat, der ung bereitö nach zwanzig Jahren unerträglich werden mußte. 

In der Biedermeierzeit entitand auch der moderne Anzug, die volllommene 
bürgerliche Schlichtheit verförpernd. Von ihm läßt fi wohl mehr als von 
irgend einem andern SHulturerzeugnis unferer Zeit jagen, daß er nicht wieder im 
Sinne einer Ormament- oder Stilkunſt „verfchönert" werden fann. Die 
Gründung von Bereinen zur Fünftlerifchen Umgeftaltung der Männcrkleidung 
fann hieran nichts ändern. Der heute herrjchende Anzug zeigt aber zugleich aud, 
wie in unjerer Zeit das bürgerliche Lebensideal ganz und gar zum berrichenden 
geworden ift: auch Fürften find, wenn fie ihre Militäruniformen ablegen, ge 
nötigt, ihn zu tragen, e8 giebt jeldft für fie feinen anderen Anzug als den bürgerlichen. 
Dabei ijt es amüſant zu beobadjten, wie nod) einige foſſile Reſte der alten arijto- 
Eratiichen Tracht in die Gegenwart gefchleppt worden find, 3.3. in unfrer Gebeim- 
ratsuniform. Sie zeigt in ihrer Goldftiderei und ihrem Zufchnitt nody den ganzen 
Apparat der alten Shmüdenden Kunſt, wirkt aber gerade dadurd heute ſeltſam, 
faft komiſch. Sie wird auch nur bei ganz feltenen Gelegenheiten hervorgeholt und 
faum öfter angezogen al3 ein Masfenanzug, mit dem fie vom Standpunkt des 
modernen Menjchen große Aehnlichkeit hat. Als noch mit Elementen der alten 
Kultur durchſetzt muß auch unfere heutige Militäruniform betrachtet werden, die 
nod viel von der alten gefhmücdten Form behalten hat. Aber es läßt ſich 
Schon heute behaupten, daß aucd ihre Tage gezählt fein werden. Bereits 
fteigt die praftiiche Felduniform am Horizont empor, die abfolut ſchmucklos fein 
wird. Eine englifhe Erfindung, bat fie in der englifchen Kolonialarmee zuerit 
volle8 Bürgerredt erlangt und wird heute im füdafrifanifchen Kriege fchon von 
Hunderttaufenden von Soldaten getragen. England ift in der Entwidelung 
derartiger rein praftifcher Sonderanzüge führend vorgegangen. Die mannig- 
fahen Sportanzüge, die von England aus ihren Weg durd die ganze Welt 
nehmen, jind ein englifche® SKulturerzeugnis. Sie zeigen zugleich die über: 
mwältigende Beweiskraft, die das rein Praftifche heute hat: einmal in die Welt 
gelett, wird e3 nicht nur allgemein angenommen, jondern — wie das z. B. 
bei der Felduniform der Fall ift — mit der Zeit fogar Schön gefunden. 

Aber die bürgerlihe Schichtung der Gejellihaft war es nicht allein, die in 


Hermann Mutheſius, Moderne Umbildung unjerer äfthetifchen Anschauungen. 697 


unfern äfthetiihen Anſchauungen umgeftaltend wirkte. Es fam noch ein wirt: 
ſchaftliches Ereignis hinzu: der Anbruch des Mafchinenzeitalters. Es fällt mit 
der Oberichichtung des Bürgertums ungefähr zufammen. Die Mafchine, früher 
nur in geringem Umfange und in unvolllommtener technifcher Ausbildung dem 
Menſchen bekannt, wurde vun jeßt an einer der wichtigften Begleiter der Menfchheit. 
Eifenbahnen und Dampfichiffe verdrängten bald die Poftkutfche und das Segel— 
boot. Fabriken entitanden, in denen Taufende von Spindeln jehnurrten und 
Triebräder jauften, und Maſſen von neuen Waren wurden auf den Markt ge: 
worfen. Unſere gefamten äußern Lebensverhältnifje änderten ſich innerhalb eines 
halben Jahrhunderts in einer geradezu revolutionären Weiſe. Ungeheure Eijen- 
maſſen wurden der Erde entzogen und der menſchlichen Geftaltung dienftbar 
gemadt. Es entiwidelte fi) ein neuer Stand, der fie geftaltete: der Ingenieur. 

Der Ingenieur hat den Erdball mit Verkehrswegen überzogen, die Ver: 
fehrsfahrz euge geihaffen, Flüffe und Thäler überbrüdt, gewaltige Eifen- und 
Glashallen gebaut, er hat Mafchinen Eonftruiert und mit diejen die Mehrzahl 
ımjerer Gebrauchsgeräte in Millionen von gleichen Eremplaren fabritmäßig her: 
geftellt. Lohnt es da nicht, die und auf Schritt und Tritt umgebende über- 
wältigende Anzahl von Schöpfungen des Ingenieurs einmal auf ihre äußere Er- 
ſcheinung zu betrachten? Wir entdeden die reine, ſchmuckloſe Gebrauchsform, ohne Or: 
nament, ohne irgend eine Spur der Bethätigung der alten ſchmückenden Aeſthetik. Und 
wieder finden wir, daß wir uns bereit3 an diefe Formen gewöhnt haben, ja fie 
zum Zeil jchön finden. Iſt nicht ein fchmuder Ogeandampfer ein Werk, das 
fih Eünftlerifch betrachten läßt? Berdient nicht die mweitgefpannte Bahnhofshalle 
aus Eilen und Glas mit denjelben Augen betrachtet zu werden, wie im alten 
Rom das Kolofjeum betrachtet wurde? Wer kann fich dem Reize einer in fühner 
Schwingung gelpannten, aus zierlichen Eijenftäben gebildeten modernen Brüde ent- 
ziehen? Und hat nicht felbft der Einblid in eine moderne eleftriiche Kraftitation mit 
den reihenmäßig aufgeftellten elektriſchen Rieſenmaſchinen einen eigenartigen Reiz? 

Vielleicht giebt es viele, die hier noch nicht ganz mitfühlen fünnen. Es 
ift un3 in ben legten fünfzig Jahren zu oft vorgepredigt worden, daß alle dieſe 
modernen Erzeugnifje häßlich feien, und. daß die Mafchine ein Fünftlerifches Unheil 
für die Menfchheit bedeute. Alle diefe Urteile wurden vom Standpunkte der alten 
Schuläſthetik gefällt. Sie aufrecht zu erhalten widerjpricht ebenfo den Geſetzen 
des vernünftigen Dentens, wie es trojtlos iſt. Es giebt nichts abſolut 
Schönes, die Begriffe ſchön und häßlich drüden nur die Wirkung aus, die 
irgend eine Erjcheinung auf uns ausübt, Es bliebe aljo höchſtens abzu— 
warten, ob eine ungewohnte Erjcheinung nicht mit der Zeit doch noch eine ge- 
fallende Wirkung auf uns ausüben wird. Diefes Stadium ift bei vielen der 
neuzeitlichen Werfe, mit denen der Ingenieur uns bejchenkt hat, bereit erreicht. 
Berhielten wir und gegen die Werke des Ingenieurs ſtets ablehnend, jo wäre es 


698 Hermann Mutheſius, Moderne Umbildung unferer äſthetiſchen Anſchauungen. 


Ihlimm um uns beſtellt. Denn der Ingenieur wird nicht aufhören zu bauen, 
wie feine Mafchinen nicht aufhören werden zu produzieren. Es bleibt uns 
angejicht3 der fich täglich mehrenden Maſſe diefer Werke gar nichts Anderes 
übrig, als ſie äſthetiſch einzureihen, nicht aber fie ald außerhalb der Aeſthetik 
itehend rundweg abzulehnen. 

Freilich eins folgt aus dem bisherigen Gang der Entwidelung mit voller 
Klarheit: diefe neuen menſchlichen Bildungen wollen nit nur vom Standpuntte 
einer neuen Aefthetif gewürdigt werden, ſondern verlangen auch eine von einem 
neuen äfthetiichen Empfinden diktierte Geſtaltung. Auf das Fruchtloſe der Ber- 
juche, mit dem Nüftzeug der alten Ornamentik an fie heranzutreten, ift ſchon bin- 
gewiejen worden: das Leberipinnen mit majchinenmäßig hergeftellten Ornamenten 
hat nur zu Ergebnijjen der Eläglichiten Art geführt. Ein wichtiges negatives 
Nefultat, das für die Zukunft nicht außer acht gelaffen werden darf, jcheint aber 
bier dennoch bereit3 gewonnen zu fein: eine fabrizierte Schmudfurm wirft ab: 
ftoßend. Der Schmud ift eine Art Weihe, die man über das Alltägliche gieft, 
und es ſcheint durchaus erforderlich, daß man die weihevolle Stimmung aus ihm 
heraus erfennt, mit der er hervorgebracht iſt. Bei Betradhtung eines getriebenen 
Silbergefäßes empfinden wir das Wirken des Treiberd nad, wir erleben feinen 
Eifer, jeine Freude an der Arbeit gewiffermaßen noch einmal mit, wir ſehen, wie 
er bier glüdfich bildete, da fehlte, kurz es fpricht aus dem Werfe „ein Geift zum 
andern Geift“. Dasjelbe Ornament mit der Blechſtanze ausgejchlagen wirt: 
trivial und vermag nur dem äfthetifch rohen Gemüt Eindrud zu maden. Es 
wirkt wie eine auswendig gelernte Riebesbeteuerung und iſt im Grunde wie dieir 
nicht nur platt, ſondern unmoraliih. Daher vielleiht der Widerwille gegen 
DOrnament überhaupt, der fich heute bei äfthetiich fein empfindenden Maturen 
geltend macht. Jedenfalls iſt Maſchinenornament ein Irrtum. Die glatte, auf 
dag Nützliche reduzierte Form ift das, was wir von dem Mafchinenerzeugnis 
erwarten. 

Im übrigen find die Formen, die fih aus den neuen Bedingungen ent: 
iwideln müflen, weder heute jchon al3 feititehend zu betrachten, noch können fie 
ihrem Wefen nad) auf ein beſtimmtes Endziel bejchränft fein. Für einige neue 
Bedingungen, wie 3.B. für die raumüberdedenden Materialien Eifen und Glas, 
iſt ein Typus bereits entwidelt, der jich in dem Pflanzenhaus und der Bahnhofe 
halle ausſpricht. Für den Eifenbau iſt das Eiſenfachwerk der natürlich gegebene 
Grundbejtandteil; man hat wohl alle Verfuche, die alte Ornamentik auf die Eiſen— 
ftäbe zu übertragen, heute aufgegeben. Die Geftaltung des eifernen Bauwerks felber 
ift dagegen zum großen Teil ein Produkt der freien Wahl des Ingenieurs, bei 
der ihn die Berechnung in den Einzelheiten leitet, aber in der Gefamtanordnung 
nur unterftügt. Much in der Gejamtanordnung find zwar gewiſſe mathematiſche 
Grundanſchauungen maßgebend, allein e8 wäre falfch, anzunehmen, daß diefe für 


Hermann Mutbeiins, Moderne Umbildung unferer äſthetiſchen Anſchauungen. 69 


jeden Einzelfall nur auf eine einzige Löſung führen fünnten. Die Formenwelt 
der neu entftandenen Geftaltungen ift in den bis jet hervorgebrachten Reiftungen 
nur angedeutet, denn wir haben das neue Gebiet kaum betreten. Alle Formen 
find noch in einer heftigen Umbildung begriffen, ein allgemeines Gären und 
Brodeln macht ſich geltend. Eine neue definitive Geftaltungsform für neue Ge- 
ftaltungsbedingungen zu finden, kann nicht das Werk eines Einzelnen fein, bier 
müſſen Generationen in ununterbrochenem Eifer in die Schranken treten. Der 
bisherige Gang der Entwidelung ift zumeift der geweſen, daß die erften Verſuche 
der Neugejtaltung an Bekannte anfnüpften. So zeigten die erjten eifernen 
Brüden (fie waren aus Gußeifen) eine Nahbildung der Wölbfteine, die erjten 
Eifenbahnwagen eine Nachbildung der Boitkutichen, die erſten Gas- und felbft die 
eriten elektriichen Beleuchtungsförper eine Nachbildung der Wachskerzenform, die 
eriten Motorwagen eine Nachbildung der Droſchken. Das Taftende diefer Ver— 
ſuche zeigt die Schwierigfeit des Problems am deutlichjten. Die heutigen eifernen 
Brüden, Eifenbahmwagen und elektrischen Lichter haben eine einigermaßen 
äſthetiſch klare Form bereit angenommen, beim Motorwagen können wir das 
Ringen mit der form nod deutlich beobachten, wahrfjcheinlic; wird feine end: 
gültige Geftalt noch ganz anders als jeine jeßige werden. In allen Fällen dieſer 
Wandlungen aber geht die Entwidelung ftet3 mit Entichiedenheit vom Kom— 
plizierten zum Einfachen, eine Abſtoßung alles nicht direkt zur Sache Gehörenden 
ift der Wandlungsprozeß, eine Läuterung der Form bis zur reinen fachlichen Ver: 
geiftigung das Endziel. 

In diefer ſozuſagen wiſſenſchaftlichen Vereinfachung der aus den wirtichaft- 
lihen Gegenwartöbedingungen entfprofjenen Neugeftaltungen und der bürgerlid)- 
ſachlichen Vereinfachung aller Lebensformen, die die Neufhichtung der Gefellichaft 
mit fi) gebracht hat, find die zwei parallel verlaufenden Strömungen zu er- 
kennen, die unſere teftonifchen Bildungsgefege ſowohl als unfern Geſchmack nad) 
der Richtung des Einfahen und Schmudlofen feit dem Ende des 18. Jahrhun— 
dert3 umzugeftalten begonnen haben. 

* * 
* 

Dieſe Betrachtung kann nicht geſchloſſen werden, ohne einen Blick auf das— 
jenige tektoniſche Gebiet zu werfen, das wir recht eigentlich als zur „Kunſt“ ge— 
hörend zu betrachten gewohnt find und auf das man vielleicht gewohnheitsgemäß 
eine äfthetiiche Deduftion zuerit oder jogar allein ausdehnen würde: das der 
Arditeftur und des Hunftgewerbes. Weshalb fie zunächſt hier ausgelafjen worden 
jind, ift weiter vorn hervorgehoben: hier hat ein verblendetes Streben ver: 
wirrend gewirkt, zum Zeil das Oberſte zu unterjt verfehrt, ſodaß das 
Kulturbild des neunzehnten Jahrhunderts mehr einer Verwickelung als einer 
Entwidelung gleiht. Es kommt Hinzu, daß es fich hier zumeiit um Gegen: 


700 Hermann Mutheſius, Moderne Umbildung unserer äſthetiſchen Anſchauungen. 


ſtände handelt, bei denen die heutigen Bedingungen nicht ſo weſentlich 
verſchieden von den früheren ſind, als daß draſtiſche Ergebniſſe erſichtlich ſein 
könnten. Eine Kirche iſt eine Kirche wie früher, ein Wohnhaus in ſeinen Erforder— 
niſſen gegen früher zwar etwas, doch nicht grundſätzlich verändert, ein aus Stein 
errichtetes Gebäude unterliegt heute noch denſelben ſtatiſchen Geſetzen wie früher. 
Hier konnten allzugroße Umbildungen nicht erwartet werden. 

Nun Hat ſich aber neuerdings gerade in diefen Gebieten, vor allen im 
Kumftgewerbe, eine mächtige Bewegung geltend gemacht, fo ftarf, daß unjere 
ganze augenblidliche Kunftlage von ihr aus aufgefaßt werden muß. Was mill 
fie, wie ift fie zu erklären, wieweit begründet? Die Notwendigkeit eines Neu: 
anfanges ergab fich aus der gänzlichen Hoffnungslofigfeit der Lage, in die ums 
das arditektonifche Stiltreiben gebradt hatte. Die entitehende Bewegung war 
eine Fortfeßung des Wellenfchlages, der in England durch die an den Prä- 
raffaelismus anfnüpfende neue Kunftbewegung aufgerührt worden war. Diele 
Bewegung hatte dort bereits dreißig Jahre früher begonnen und war gerade 
auf ihrem Höhepunkte angelangt, als der Stontinent einfeßte. England war aljo 
führend auc hier. Die Bewegung begann und verlief in England jedod grund: 
verichieden von dem Stontinent. Dort ftand nichts von einem Umſturz der be- 
ftehenden Yormen auf dem Programm, auf dem Ktontinent wurden die „neuen 
Formen” zum Leitfage erhoben. Troßdem kam jedoch die Entwidelung in Eng: 
land von felbjt auf einen neuen Ornamentftil, der ſich hauptſächlich in einer neuen 
eigentümlichen Art der Pflanzenftilifierung zu erkennen gab. Abgejehen davon 
bildete fi eine neue Auffaſſung des Haufes und befonders von deſſen Innenräumen 
aus, die mit Eintichiedenheit auf das Schlicht-Gemütliche, Einfache und Saubere 
hindrängte und jo durchaus moderne Grundſätze in dem weiter vorn erwähnten 
Sinne verkörperte. Die Bewegung hat ſich aud) im allgemeinen einen Charakter 
bewahrt, in welchem man diefe modernen Grundfäße Ear ausgeprägt findet. 
Auf dem Kontinent löſten fi aus dem anfänglichen Tumult bald zwei von ein- 
ander verjchiedene Hauptrichtungen ab: die belgische und die Wiener, die erftere 
in Verſchmähung jeder Naturform in einem eigentümlichen Linienſchwung jchwel- 
gend, die andere mehr in heiter fpielender Art die engliichen Motive weiter jpinnend. 
In Deutichland ift das heftige Ringen nod nicht zu einer Einheit geklärt, worin 
übrigens fein Nachteil zu jehen ift. 

Betrachtet man die treibenden Kräfte diefer plötzlich ausgebrochenen Bewe— 
gung, fo find diefe zweifacher Art: ein phantaftifches und ein realiftifches Element 
ift bemerkbar. In dem legteren jehen wir die Fortjegung oder vielleicht die 
Parallelbewegung zu der modern-fahlihen Richtung, die den Gegenjtand diefes 
Auffages bildet, in dem andern aber eine diefer Richtung fremde, anfcheinend 
fogar entgegengejegte Bewegung. Woher kommt das phantaftiihe Element? 
Bei näherer Prüfung wird man finden, daß es mit der in der Malerei ſich Elar 


Hermann Mutheſius, Moderne Umbildung unſerer äftbetifchen Anjchauungen. 701 


zeigenden Bewegung des Neu-dealismus zujfammenhängt. (Unter diefem Namen 
find diejenigen Strömungen zufanımengefaßt, die fich als Reaktion gegen die neueren 
naturaliftiichen Strömungen unter verjchiedenen Namen, wie Symbolismus, 
Myftizismus, Primitivismus u. f. w., zu erkennen gegeben haben und ihren Aus: 
gang von den engliichen Präraffaeliten, im bejonderen von Rofjetti nahmen.) 

In dem bisherigen Verlauf der Eontinentalen neuen Bewegung überwog nun 
bei weitem das phantaftiiche Element. Es überwog jo fehr, daß es anfangs 
das Sächliche faft noch mehr überwucherte, als dies die hiftorifhen Stile gethan 
hatten. Ganz bejunders war dies der Fall bei derjenigen Gruppe, die jeltjamer- 
weije am meiften auf ihre fachlichen Beitrebungen pochte: der belgifchen unter der 
Führung von van de Velde. Ka, die Werke diejes letteren Meifterd find ganz 
befonders charakteriftiich für den eigentümlichen Widerftreit, den die Bewegung 
in fich Ichließt. In feinen Beröffentlihungen erkennt er aufs Elarfte die modernen 
Bildungsgefege an: fachliche Geftaltung, wifjenjchaftlich begründete Entwidelung 
jedes einzelnen Teiles des zu bildenden Dinges, ja er verfteigt ſich im Eifer des 
Verfolges diejer Grundſätze bis zu dem ganz unhaltbaren Leitfage: Ausſchließung 
der Phantaſie bei der Bildung. Blidt man dann auf das, was er in Erfüllung 
der felbft gegebenen Vorſchriften Schafft, To erkennt man ein Ueberſchäumen nad) 
der phantaftifchen Seite hin, das in ſchroffem Gegenfaße zu diefen Vorichriften 
fteht. Linienfhwung und wieder Linienſchwung, dem fich alles opfern muß, der 
vor feinem Material Halt macht, der weder die Holzfafer kennt, noch die werk: 
mäßige Fügung. — In den Wiener Leiftungen macht fich im Gegenfat dazu viel- 
mehr ein gemwilfer Primitivismus der Form geltend. Von den deutichen Künftlern 
verfolgen einige das fachliche Programm anı Elarften, und im allgemeinen kann 
man wohl von bier aus das Befte erwarten. Es iſt jogar eine Abklärung nad) 
der ſachlichen Seite bereit3 im Gange. 

Das bisherige Ueberſchäumen der Eontinentalen Bewegung nad) der phan- 
taſtiſchen Seite hin wäre nun — aud) in Betracht gezogen, daß es nicht dem Zuge 
der Zeit entipricht — noch nicht jo Ichlimm, wenn die Führer der Bewegung die 
Zügel auf der ganzen Linie in der Hand behalten hätten. Ihr Beiſpiel hat aber 
in der Unterfchicht der Induſtrie eine mißveritandene Nachahmung der „neuen 
Formen“ hervorgerufen, die geradezu verhängnisvoll geworden iſt. Eine ganze 
induftrielle Kunftproduftion ift plößlich üppig ins Kraut gefchojjen, die man im 
Publitum mit „Jugendſtil“ oder „Sezeſſionsſtil“ bezeichnet. Sie fennt von Sach— 
lichfeit3grundfägen überhaupt nichts, fieht das Wejentliche der neuen Mode nur 
in den phantaftiichen Mätchen, die fie den Großen abgegudt hat, und überſchwemmt 
unfern Markt wieder mit einem Wuft von Albernheiten, die unfere Situation gegen 
früher keineswegs verbefjern. Ja vergleicht man den Durchſchnitt diefer Leiftungen mit 
denen, die etwa die Flutwelle der deutſchen Renaiffance vor ziwanzig Jahren auf 
den Markt warf, fo iſt er fogar entichieden Ichlechter al3 damals. Vor fünf 


702 Hermann Muthefius, Moderne Umbildung unferer äfthetifchen Anſchauungen. 


Jahren glaubte man allgemein, zunächſt die Nachahmung der Etile überwinden 
zu müfjen, und heute ftehen wir vor der betrübenden Thatſache, daß wir nun 
zunächſt wieder diefen „Jugend- und Sezefltonsftil" überwinden müſſen, um in 
gerader Richtung weiterzufommen. 

Diefe gerade Richtung kann nur im PVerfolg einer gejunden Sachlidkeit 
liegen, die der Schmud, wenn er als Hauptjache aufgefaßt wird (und das pflegt 
leicht zu gejchehen), zunächft nur beeinträchtigen kann. Je mehr ſich unfere Führer in 
der neuen Bewegung zu diefer Sadlichkeit befehren, umfomehr werden jie wirklich 
modern jein, d. b. dem allgemeinen Zuge unferer Zeit entſprechen, aus dem Geijte 
diefer Zeit heraus ſchaffen. Unſere Sadlichkeitäbeftrebungen, die jih in den 
Geftaltungswandlungen der leßten 100 bis 150 Jahre jo deutlich beobadıten 
laſſen, werden fich durch feine Stimmungswelle wieder dauernd aus der Welt 
verbannen lafjen. Unfere Mafchinen und Fahrzeuge, unſere Brüden und Bahn- 
hofshallen werden der Sacdhlichkeit treu bleiben, ebenfo wie fie jih in untere 
Kleidung nur nod; mehr Geltung verjchaffen wird. Soll der Unterjchied zwiſchen 
diefen, bisher als „unfünftlerifch”" verjchrieenen Bildungen und den als 
„tünftleriich" gelobten im Kunſtgewerbe und der Architektur fortdauernd aufredt 
erhalten werden? Wollen wir nicht vielmehr eine einheitliche Betrachtung aller 
unſerer menjchlihen Bildungen erftreben, wie ſie thatfählih in allen früheren 
Kulturen vorhanden gewefen it? — Dann fann die Zukunft nur auf der Seite 
der Sadlichkeit liegen, der unjere ausgereifte Kultur, unfere wirtichaftlichen und 
jozialen Bedingungen und der allgemeine nüchtern-wiljenfchaftliche Zeitgeift das 
Wort reden. Für die Pflege des Phantaftischen verbleibt in den fogenannten freien 
Künften noch Raum genug. In dem teftonijchen Gebiet gilt es heute zunädhit, 
die Arbeit des Augiasftallfäuberers zu verrichten, es gilt, alle überflüjiigen Or- 
nament- und Stilmätschen, mögen fie dem gotijchen, dem Nenaifjance-, dem 
Rokoko: oder dem „neuen Stil" angehören, auszumerzen, um dann auf den 
einzig gegebenen und modernem Gmpfinden entjprecdhenden Bedingungen, den 
fachlichen, den Ausbau der neuen Formenwelt zu vollenden. 


em 


Es ilt eine rohe und barbariſche Anfchauung, wenn man die Kumfpfiege des Staates 
als Tuxus auffaßt. Die Runſt iſt dem Menſchen fo nötig wie das kägliche Brof, und Der 
Staat if da, um der Runſt monumentale Aufgaben zu ſehen. 

von Trcitfichke. 


Aus: Geiſtige Waifen, Gin ApborismenLerilon von E. Schaible. Verlag von Paul Wactel, freiburg i. Pr. 





Die moderne Entwikelung der Kriegsflotten. 


Von 
Marius. 


II: hört in unferen Tagen wenig von Anftrengungen der Großjftaaten, die 
auf erhebliche Berftärfungen ihrer Landheere gerichtet wären. Die Zeiten 
find vorüber, als mit fieberhafter, von kriegeriihem Ddem durchwehter Spannung 
die Entjcheidung in der Septennatsvorlage erwartet wurde, als hüben und drüben, 
jenjeit3 der Vogeſen und der Weichjel, gewaltige Sadres von Neuformationen 
aus dem Boden wuchſen. Die Großmädte des Kontinents befinden fich ſeit 
Mitte der neunziger Jahre Hinfichtlich der Stärke ihrer aktiven Feldarmeen ge: 
wiflermaßen im Stadium der Sättigung. Nicht als ob deshalb bei uns und 
unjeren Nachbarn ein abfoluter Stillftand in der Vermehrung und Bervoll- 
fommnung des Landheeres eingetreten wäre. Aber die VBermehrungen in ber 
Zahl und die Vervolllommnungen der Bewaffnung vollziehen ſich allmählich, faſt 
geräufchlos und ala etwas Selbftverftändliches, bei uns in Deutihland in einem 
unferer jährlihen Volksvermehrung angepaßten, von den gejeßgebenden Faktoren 
wohl erwogenen Tempo. Die einzigen Großmächte, welche fich gegenwärtig mit 
ftarfen Deeresverftärfungen befaljen oder in naher Zukunft befafjen werden, liegen 
außerhalb de3 europäilchen Kontinents: Nordamerifa und England, die damit 
frühere Verfäumnifje auszugleichen gedenken. 

In einer anderen Richtung bewegen ſich jegt die militäriichen Rüftungen 
der Bölfer. Es gilt für fie, den zweiten Arm ihrer Landesverteidigung zu 
wappnen, in fchimmernder Wehr hinauszutreten auf das Element, über das zu 
gebieten jeit Beginn des vergangenen Jahrhunderts faſt als das Privilegium 
eines Bolfes, des angeljähjischen, galt. Es ift für die jegige Zeitepoche geradezu 
charakteriſtiſch, dieſes allerorts, bei jämtlichen Kulturvölkern mächtig hervor: 
quellende, jtürmifche Begehren nad Seegeltung, das in einem fürmlichen Wett: 
lauf in der Vermehrung des Flottenmaterials jeinen Ausdrud findet. 

Welcher Art die inneren Urfadhen diefer eigenartigen Bewegung unjeres 
Kulturlebens jind, wie fie fich Lediglich als die logische Stonjequenz des Leber: 
gangs von Freftlandftaat zur Kolonialmacht, von der Europapolitik zur Welt- 


704 Marius, Die moderne Entwidelung der Sriegsflotten. 


politif, von heimifchen Markt zur Weltwirtichaft darjtellt, fol bier nicht näher 
erörtert werden. Zweck diejer Skizze ift, die moderne Entwidelung der Kriegs— 
flotten ſelbſt in ihrer materiellen Beeinfluffung durch die Marinepolitif der Staaten 
und durch die Tendenzen des Striegsichiffbaues einer kurzen Betrachtung zu 
unterziehen. 

Aus dem langjährigen Ringen der napoleonifchen Kriege ging England al 
unbeftrittener Sieger zur See hervor. Die franzöfifche Kriegsflotte war vom 
Meer verfhmwunden, ebenfo aber aud) die Marinen aller anderen Feftlanditaaten, 
mit Ausnahme Rußlands, defjen Flotte indeffen auf die Ditfee befchränft blieb. 
Ohne Rivalen daftehend vermochte das Inſelreich die Früchte feiner blutig er: 
ftrittenen Seegeltung zu ernten, in langen friedlichen Jahrzehnten ein über: 
ſeeiſches Weltreich zu begründen und den ganzen Erdball den Intereſſen feines 
Handels und feiner bis in die Mitte de3 Jahrhunderts allmächtigen Induſtrie 
dienftbar zu machen. Niemand trat England hierbei hindernd in den Weg. Die 
Feſtlandſtaaten bluteten unter den Wunden der langen Kriegäzeit, und als dieſe 
zu vernarben begannen, erhoben ſich Berfaffungstämpfe, traten nationale Ein- 
heitöbeftrebungen hervor, welche den Gedanken an eine überfeeifhen Intereſſen 
dienende Marinepolitif nicht aufkommen ließen. 

Erft zur Regierungszeit Napoleons III. trat Englands alter Nebenbubler, 
Frankreich, mit einer adhtungswerten Kriegsmarine auf den Plan, die wunder: 
barerweije zunächſt al3 treuer Verbündeter Englands im Krimkriege Bedeutendes 
leiftete und dabei an Stärke nur wenig der englifchen nadjftand. Frankreich ver- 
wendete damals, gelegentlich der Beichießung von Kinburn, als erſte Seemadit 
gepanzerte Batterieen und baute bald darauf das erfte Banzerjciff „Sloire*. In 
England, dejjen Kriegsmarine auf die Hälfte ihrer früheren Stärfe herabgejunten 
war, erfannte man die Gefahr der neuerftandenen feemächtigen Gegnerſchaft, und 
von diefem Zeitpunfte ab datiert die zielbewußte, durd; Miniftermechfel nur zeit- 
weilig beeinflußte Marinepolitit des Inſelreichs, welche die Feithaltung der un- 
umfchräntten Seeherrichaft als ihre Aufgabe betrachtete. Schwer wurde ihr die 
Erfüllung diefer Aufgabe zunächſt nicht, da Frankreich nad feiner Niederwerfung 
im deutſch-franzöſiſchen Kriege lange Jahre hindurch nicht an energiiche An- 
ftrengungen zur See denken fonnte, außer Frankreich aber feine nennenswerte 
Marine eriftierte, die England hätte gefährlid; werden können. 

Ein entichiedener Umſchwung in diefer für England günftigen Lage trat 
Mitte der achtziger Jahre ein, als Frankreichs Kriegsmarine aufs neue erftarkt 
war, Rußland bedeutende Seeftreitkräfte im Schwarzen Meer wie in der Oſtſee 
zu entwideln begann und die Haltung beider Mächte gegen England einen be- 
drohlichen Charakter annahm. ALS weitere ftarfe Seemacht war Stalien auf den 
Plan getreten. Man kann wohl jagen, daß Englands GSeegewalt damals am 
ftärkiten bedroht war, zumal die ſchwöchliche Staatsleitung Gladftones fih aud 


Marius, Die moderne Entwidelung der Mriegäflotten. 705 


auf die Marinepolitit ausdehnte und den weiteren Ausbau der Hriegsflotte be— 
denklich ind Stoden bradte. Hätte Frankreich auch zu jener Zeit nicht ängſtlich 
auf das Vogeſenloch geftarrt, jo wäre der Handſtreich Englands auf Megypten nicht 
möglich gewefen, der Suezkanal vielleicht heute noch ein neutraler Kanal.“) Allein 
nicht Tange dauerte die Schlaffheit der engliichen Marinepolitil. Im Jahre 1889 
erfolgte unter dem Drud der öffentlichen Meinung die Annahme der Naval de- 
fence act, welche der englifchen Admiralität die ſofortige Inbaulegung von 
10 Linienfdiffen, 42 Kreuzern und 18 Torpedobootzerftörern ermöglichte. Da— 
mals tauchte aud) die Forderung des Two Power Standard auf. England follte 
nicht nur die abfolut ftärffte Seemadht bleiben, jondern auch jederzeit der Koalition 
zweier beliebiger Semächte (Frankreich und Rußland) gewachfen fein. Zu jener 
Zeit nur im Munde einiger Fachleute, ift diefe Forderung jeßt jeit einem Jahr— 
zehnt gewiffermaßen das Flottengeſetz der engliſchen NAdmiralität, das den Umfang 
der jährlichen Bauprogramme beftimmt. — Seit der Naval defence act im 
Sabre 1889 bis auf den heutigen Tag ift die engliihe Marinepolitik, getragen 
von der Öffentlihen Meinung und einem geradezu fieberhaften Bewilligungseifer 
des Parlaments, in wahrhaft erftaunlicher Konfequenz und unermüdlicher That: 
kraft ihrem großen Ziele treu geblieben. 

Die gewaltigen Rüftungen Englands im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahr— 
hundertS wurden von dem Zweibunde, Frankreich und Rußland, zunächſt nicht 
in gleicher Energie erwidert. Während im Jahrzehnt 1881—18% die Schiffbau- 
feiftung Englands von der des Zweibundes um ein Beträchtliches — 233 144 
Tonnen gegen 196440 Tonnen — übertroffen wurde, zeigt das letzte Jahrzehnt 
1891 —19%00 eine Sciffbauleiftung Englands von 715 150 Tonnen gegen 495 611 
Tonnen des Zweibundes. Die Folge war eine ungemeine Stärkung der Madıt: 
ftellung Englands zur See, die im Sahre 1898 gelegentlich der Faſchoda-Kriſis 
grell in die Erjcheinung trat. Die britifche Kriegsmarine hatte Ende der Wer 
Jahre den Two Power Standard nicht nur erreicht, fondern erheblich überfchritten. 
Sie war damal3 ihrer erbitterten Nebenbuhlerin jenſeits des Kanals um das 
Doppelte, Rußland gut dreifach, jeder anderen größeren Seemacht mindeftens 
vierfach überlegen. 

Seit dieſer, nur wenige Jahre zurüdliegenden Zeit, welche unbeftreitbar den 
Höhepunkt der englischen Macht zur See darftellt, beginnt ſich ein allmählicher 
Wandel in der Gruppierung der Geeftreitfräfte vorzubereiten. Im Jahre 1898 
beſchloſſen fast gleichzeitig Rußland, Deutichland und die Vereinigten Staaten 
die Ausführung umfafjender, zum Teil langfriltiger Flottenbauprogramme, Fran: 
reich folgte im Jahre 1900. Der ruffifche Flottenbauplan des Jahres 1898 nahm 


*) Der Stanal iſt thatfächlich feit der Offupation Aegyptens nicht mehr neutral. Im 
Jahre 1898 wurde gelegentlid) des fpanifchenmerifaniichen Krieges dem Geſchwader Kamarras 
von Lord Cromer die Paſſage durch den Suezkanal formell verweigert. 


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706 Marius, Die moderne Entwidelung der Sriegsflotten. 


in Ausſicht, den Schiffsbeftand der ruffiihen Flotte durch den Neubau von 
8 Linienfhiffen, 6 großen Kreuzern, 10 Kleinen Sreuzern und 30 Torpedoboot- 
zerftörern mit einem Softenaufwande von 3% Millionen Mark zu verftärfen. 
Bon den Linienſchiffen befinden ſich fämtliche, zum Teil auf ausländifchen Werften, 
im Bau, einige nähern fid) ihrer Fertigſtellung. Diefe gewaltige maritime An- 
ftrengung des Zarenreichs gefchieht hauptſächlich im Hinblid auf feine oftafiatiiche 
Bolitif, die in Japan einen zur See ftreitbaren Widerpart findet. Thatfächlic 
wird der neue Flottenzuwachs nicht zur Verſtärkung der baltiichen Flotte ver: 
wendet, jondern ſeit Jahren geht jedes neuerbaute Linienshiff und jeder neue 
Kreuzer nad) Oftafien ab, um in das dortige Geſchwader eingereiht zu werden. 
— Die Vereinigten Staaten begannen jofort im Anſchluß an den Krieg gegen 
Spanien mit beträchtlichen Flottenrüftungen. Der entfcheidende Schritt vorwärts 
erfolgte jedoch erft im Jahre 1900, als der Kongreß die fofortige Inbaulegung 
von 5 großen Linienſchiffen und 6 großen Panzerfreuzern genehmigte. Für das 
kommende Jahr fteht die Neubewilligung von 3 weiteren Linienjdiffen und 
2 Banzerkreuzern in Ausficht. Thatſächlich wird die öffentliche Meinung in den 
Bereinigten Staaten von dem Wunfche beherrfcht, in Bälde eine Seemadt zu 
ihaffen, die jeder anderen, mit Ausnahme der englifchen, gewachſen oder über: 
legen je. Das ift auch der Plan des neuen Bräfidenten Roofevelt. — 

Deutfihland begann im Jahre 1898 mit dem damaligen Flottengefet den 
ſyſtematiſchen Ausbau feiner Flotte, der durch das jet gültige Flottengefet von 
190 in der Weiſe erweitert wurde, daß für eine Reihe von Jahren jühr- 
lich 3 Linienfchiffe oder 2 Linienfchiffe und 1 Panzerkreuzer neben dem fonftigen 
Beiwert vun Kleinen Kreuzern und Torpedobooten auf Stapel zu legen find. — 

In Frankreich endlid) gelangte 1900 ein Tylottengefeg zur Annahme, das 
den Golldeftand der Flotte bis zum Jahre 1906 um 5 Linienfhiffe, 6 Panzer: 
Ereuzer, 25 Torpedobootzerftörer und eine große Zahl von Torpedo- und Unter: 
feeboten vermehren joll. 

Wenn wir an der Dand der vorftehend ſkizzierten Flottenbauprogranmıme,*) deren 
twirkliche Ausführung außer allem Zweifel fteht, einen Blid in die Zukunft thun und 
nur Pinienichiffe von 10 000 Tonnen und darüber, Panzerfreuzer von 8000 Tunnen 
und darüber, beide nicht früher als 1890 vom Stapel gelaufen, berüdfichtigen, 
jo ergiebt ich für das Jahr 1906 das Bild folgender moderner Flottenftärken: 


Frankreich . » -» . 18 Linienfchiffe, 17 Panzerkreuzer 
Bereinigte Staaten. . 20 5 10 R 
Deutfhland . . . . 18 * 5 < 
Rußland . . .. . 16 B 3 z 


* Wir haben die Flottenrüftungen Italiens und Japans nicht in ben Kreis unferer Be 
trachtung gezogen, weil Italiens Meachtftellumg zur See vorwiegend auf das Mittelmeer be: 
ichräntt bleiben wird, Japan mur für Oftafien ald Großmacht in Betracht kommt. 


Marius, Die moderne Entwidelung der Kriegsflotten. 707 


Naturgemäß ermöglicht die obige Tabelle keine abjolut richtige Abwägung 
der vier Kriegsmarinen gegeneinander. Sie giebt indefjen das Ylottenmaterial 
wieder, das man im Jahre 1906 noch als modern und für die erfte Schlad)t- 
linie geeignet wird bezeichnen fünnen. Daneben verfügen namentlich Frankreich 
und Rußland über erhebliche Reſerven großer Linienfchiffe, die auch noch im 
Fahre 1906 einen gewiſſen Gefechtöwert befiten werden, 3. B. frankreich die 
Linienichiffe „Neptune”, „Marceau”, „Hoche“, „Formidable“, „Admiral Baudin“, 
Rußland die Linienfchiffe „Sinope”, „Tſchesme“, „Sekaterina IL." u.a. Gegen 
diefe kommen die in der deutfchen Marine als Referveformationen noch ver- 
mwendbaren Schiffe der „Sachſen“⸗ und „Siegfried"-Hlaffe wegen ihrer geringen 
Größe und Gefechtäftärke kaum in Betracht. Andefjen hält es ſchwer, das ältere, 
an Größe und Gefechtswert fehr vartierende Linienfhiffsmaterial der Seemächte 
fachgemäß in Vergleich zu ftellen, es ift daher in der Tabelle nicht berüdfichtigt 
worden. Immerhin fällt für die Bewertung der Kriegsmarine der Vereinigten 
Staaten mindernd ind Gewicht, daß fie, außer der „Teras”, über Reſerve— 
formationen überhaupt nicht verfügen wird. 

Bei weiterer Betrachtung der Tabelle füllt das Zurüdbleiben Frankreichs 
auf, das bisher wohl doppelt jo ſtark war als jede der drei anderen Seemächte, 
im Sabre 1906 indejjen Feine ausfchlaggebende Ueberlegenheit mehr behaupten 
wird. E83 zeigen fich bier fo recht die Folgen einer in ihren Zielen ſchwankenden 
Sdiffbaupolitif, welche eine Reihe von Fahren den Linienfchiffbau gänzlich ver: 
nadläffigte und erft jeit dem Jahre 1900 wieder fich zu energifchen Anftrengungen 
nad) diefer Richtung aufrafft. Die Bereinigten Staaten werden im Jahre 1906 
ein MUebergewiht an modernen großen Linienfhiffen und Panzerkreuzern 
gegen Deutichland und Rußland befigen, vorausgefekt, daß ed der Marine- 
leitung gelingt, in jo kurzer Zeit das zur Beſetzung der neuen Flotte 
erforderliche Perſonal bereitzuftellen und Erieggmäßig auszubilden.*) Im all: 
gemeinen ift die Borausficht berechtigt, daß im Jahre 1906 die vier Seemädhte 
Frankreich, Nordamerika, Deutichland und Rußland in wirklicher Gefechtökraft 
nicht erheblich verfchieden fein werden. Die weiteren Chancen Deutjchlands 
in diefem Wettftreit der Seerüftungen erjcheinen nicht ungünftig, wenn wir, ohne 
in tadelnswerte Erfchlaffung zu verfallen, mit ſyſtematiſcher Zähigkeit und eiferner 
Energie den organischen Ausbau unferer Kriegsflotte fortjeßen. 

Es bleibt noch die Frage zu beantworten, ob und in weldem Grade Eng- 
land gegenüber den Rüſtungen der vier oben behandelten Großmächte im Jahre 


* Gegenwärtig iſt gerade in der amerifaniichen Marine die Perjunalfrage ſchwierig und 
brennend. Es fehlt ſowohl an Offizieren, Ingenieuren und Unterperfonal, wie auch an Aus— 
bildungsmitteln, um die zahlreichen, namentlich aus der Pandbevölferung angeworbenen Rekruten 
kriegsſchiffmäßig zu ſchulen. Der foeben veröffentlichte Jahresbericht des Marineminifters 
Vong ſchätzt die Anzahl der im Jahre 1904 dvorausfichtlich fehlenden Offiziere auf 600. 


45" 


708 Marius, Die moderne Entwidelung der Sriegsflotten. 


1906 feine Vormachtſtellung zur See behaupten wird, Unter der Vorausſetzung, 
daß die in Bau befindlichen und neu bewilligten Schiffe progranımmäßig fertig: 
geftellt werden, wird England im Jahre 1906 über 43 moderne Linienidiffe 
und 26 Banzerfreuzer verfügen, alfo immer noc weitaus an eriter Stelle 
fein und den Two Power Standard behaupten. Indeſſen ift doc; die Geſamt— 
fituation im Jahre 1906 für England nicht mehr jo günftig wie bisher. Zur 
Zeit giebt e8 neben England immer erit eine ftarfe Seemadt, nämlich Frankreich, 
im Kahre 1906 werden es, wie wir gezeigt haben, vier fein, die zufammen ein un: 
gleich Ichwereres Gewicht in die Wagfchale der Seebeherrſchung werfen werden. — 

Nachdem vorftehend eine kurze Ueberſicht über die Marinepolitif und die 
fi) aus ihre ergebenden Flottenrüftungen der Hauptjeemächte gegeben ift, geben 
wir dazu über, die gegenwärtige Zuſammenſetzung des Kriegsſchiff— 
materials, wie fie durch militärische Grundfäße bedingt umd durch eine höoch— 
entwidelte Technik ermöglicht ift, einer vergleichenden Betrachtung zu unterziehen. 

Den Kern der modernen Flotte bilden die Linienſchiffe. Sie find redt 
eigentlich die Träger der Seegewalt, denn in ihnen vereinigen fich alle Faktoren, 
welche die Entwidelung höchſter Kampfkraft im Angriff und der Berteidigung 
ermöglichen. Namme und Torpedo, mächtige Artillerie und ein ausgedehnter 
Panzerihug, Gefchwindigfeit und gute Manövrierfähigfeit machen fie für alle 
Aufgaben der Seefriegführung vortrefflich geeignet. — Gerade die vielleitige Ver— 
wendungsfähigfeit ift das Charakteriftifun des modernen Linienfhiffs. Sem 
Vorgänger, das Segellinienſchiff zu Zeiten Nelfons, ftellte eine unbehilflihe Maſſe 
dar, die ſich mit geringer Gefchwindigkeit durchs Waſſer bewegte, mangelhaft 
manövrierte und in der Seeſchlacht ihren Zweck erfüllte, wenn ſie ſich auf 
BViftolenfhußweite dem Gegner näherte und das Artillerieduell aus ihren 
fanonengeipidten Batterieen eröffnete. Damals repräfentierte das Linienſchiff 
lediglich die rohe Kraft, die nur ſchwer zur Geltung gebracht werden konnte und, 
einmal in Thätigkeit gefeßt, ihren Gegner weder wechſeln, noch ſich überlegener 
Kraft entziehen fonnte. Das moderne Linienjchiff trägt alle Mittel, um feine 
Waffen fchnell und erfolgreich zur Geltung zu bringen, in ih. Mit hoher Ge— 
ſchwindigkeit fucht es feinen Gegner auf, kann ihn umfreifen oder das Paſſier— 
gefecht wählen, ihn im Fernkampf oder Nahgefecht erfchüttern, dem überlegenen 
Gegner rechtzeitig ausweichen oder den flüchtenden Feind bis zur Vernichtung 
verfolgen. Aber nod in einer anderen Richtung ift die Entwidelung des modernen 
Linienichiffes bemerkenswert. Während noch vor wenigen Jahrzehnten das Linien: 
Schiff vermöge feines geringen KohlenvorratS und mangelnder Seefähigkeit an 
die heimischen Küſten gefejjelt war, hat ihm die Technik jett einen großen Kohlen— 
vorrat und ein hohes Maß von Seefähigkeit gegeben, jodaß es nunmehr die 
Dzeane mit Leichtigkeit durchkreuzen kann und beveit3 vielfach in überjeeiichen 
Gewäſſern ausgedehnte Verwendung findet. 


Marius, Die moderne Entiwidelung der Nriegstlotten. 709 


Mit der Erkenntnis der ausfchlangebenden Wichtigkeit des Yinienjchiffs für 
die Seefriegführung zeigt ſich bei allen großen Seemädten in den lebten Jahren 
das Beitreben, das Linienichiff nad; Größe, Bauart, Panzerung und Armierung 
einheitlich zu entwideln. Die frühere Mufterkarte der Linienſchiffe, Batteriefchiffe, 
Kafemattichiffe, Turmſchiffe, ift geſchwunden, an ihre Stelle tritt ein Einheitätyp, 
deſſen Grundprinzipien bei faft allen Nationen die gleihen find und nur duch 
die raſtlos fortichreitende Technik in ſich modifiziert werden. 

Was nun zunädft die Schiffsgröße anbetrifft, fo hat man die Kleinen 
Deplacements unter 10000 Tonnen endgiltig verlaffen, weil ſich mit ihnen nicht 
mehr dasjenige Maß von Stampfeskraft und SKampfesausdauer erreichen läßt, 
dejjen das Linienfchiff bedarf. Unſere Kriegsmarine ift in allmählicher Steigerung 
von 11000 Tonnen der „Kaiſer“Klaſſe und 12000 Tonnen der „Wittelsbad)": 
Klaſſe mit den neuelten Linienichiffen H und I zu einem Deplacement von 
13000 Tonnen übergegangen. Etwa den gleichen Weg ift Rußland gegangen, 
während Frankreich ſprungweiſe von 12500 Tonnen auf 15000 Tonnen gelangt 
it. Stalien, das Mitte der 80er Jahre die Welt mit den Riefenidiffen „Italia“ 
und „Lepanto“ überrafchte, ift bei feinen neuen Linienfdiffen auf 13000 Tonnen 
herabgegangen. Die engliihe Marine, welche bereit3 vor einem Jahrzehnt mit 
der „Royal Sovereign":Klajfe ein Deplacement von 15000 Tonnen annahm, 
ift hierbei mit geringfügigen Schwankungen bis jet geblieben, wird jedoch mit der 
Anbaulegung der neu bewilligten Linienfchiffe „King Edward", „Dominion“ und 
„Commonwealth“ auf 16500 Tonnen gehen. Auch die Marine der Vereinigten 
Staaten fcheint mit ihren neuejten Projekten das Deplacement von 15 000 Tonnen 
überjchreiten zu wollen. 

Angefihts dieſes erneut hervortretenden Strebens nad; Deplacementsver: 
größerung liegt die Frage nahe, ob eine ſolche Vergrößerung berechtigt und 
damit auch für unfere Marine notwendig iſt. Wir möchten das verneinen. Als 
Nachteile eines übermäßigen Deplacement3 kommen in Betracht: weſentlich 
höhere Koften, ſchwerfälligere Manövriereigenichaften, Schwierigfeiten der Navi- 
gierung in der Nähe flacher Küften, Mangel an Dodgelegenheiten im Auslande. 
Demgegenüber erjcheint die Erhöhung des Gefechtswerts nicht jonderlich be— 
deutend. Sie beſchränkt ſich auf eine Verſtärkung der Panzerung um wenige 
Gentimeter (3), Bermehrung der Artillerie um einige Geſchütze, Vergrößerung 
des SKohlenvorrat3 um einige hundert Tons. Hierduch wird indejlen das 
17 000 t-Schiff dem modernen 13000 t:-Schiff noch nicht fo überlegen, daß ihm 
der Sieg in der Seeſchlacht fiher wäre. Vielmehr gewähren die außerordent- 
lihen Fortichritte in der Waffen: und Panzertechnif heutzutage viel eher wie 
früher die Möglichkeit, einem Schiff von mäßigem Deplacement große Gefechts- 
Eraft zu verleihen. Ehe weitere Erfahrungen vorliegen, wird man jedenfalls 
einen Linienſchiffstyp, der nicht unter 12000 t bleibt, als vollwertig aneriennen 


710 Maris, Die moderne Entwidelung der Kriegsflotten. 


müſſen. Nicht Schiffe, fondern Menfchen fechten, und befjere Ausbildung des 
Perſonals wird im Seefriege noch weit größere Iinterfchiede des Materials 
wettzumachen willen, als zwifchen dem 17000 t:Schiff und dem 13000 t:Sciff 
beftehen. 

Die Hauptwaffe des Linienfhiffs bildet nad) wie vor die Artillerie. Die 
Entwidelung diefer Waffe in ihrer Verwendung an Bord hat in wenigen De- 
zennien ganz ungeheure Fortſchritte gemacht. Schnellladefanonen von 5 bis 
28 cm, automatifc feuernde Maſchinenkanonen und Maſchinengewehre (0,8 bis 
3,7 cm Kaliber), Brifanzgranaten, großfalibrige Schrapnels, Hydraulifche Lade: 
einrichtungen, elektriich bewegte Türme und Mumnitionsförderwerte, — wer hätte 
nod) vor 15 Jahren an derartige Wunderwerfe des menfchlidhen Erfindungs: 
geiftes gedacht, weldye gegenwärtig das Gemeingut faft aller Marinen geworden 
find! Ungeachtet ſolcher Bielfeitigkeit herrichen im allgemeinen einheitliche Grund: 
füge in der Aufftellungsart der Gefchüge und in der Wahl der Kaliber. Die 
ichwere Artillerie, aus vier ſchweren Gefhüten von 28 bis 30,5 cm Kaliber be- 
jtehend, wird paarweile in Türmen im Vorſchiff und Hinterfchiff untergebradht, 
die Mittelartillerie, für deren Kaliber 15 cm ald Mindeftmaß gelten, findet zum 
Teil in zentraler Batterie-$lafematte, zum Zeil in Einzelfafematten oder in 
Türmen auf dem Oberded Aufftellung. In der Verwendung zahlreicher, ſchnell— 
feuernder Mittelartillerie ift gerade unjere Marine bejonderd energiich vorge: 
gangen. Die Schiffe der „Kaiſer“ und „Wittelsbach“Klaſſe verfügen über 18 
15 cem-Schnellladefanonen in getrennter Aufftellung, während die 4000 t größeren 
engliſchen Linienfchiffe vom alten „Royal Sovereign" bis zu dem neuelten Top 
„Duncan“ nur 12Geſchütze desfelben Kalibers ins Feuer zu bringen vermögen. Dieſe 
zweifelloje artilleriftifche Ueberlegenheit unferer Schiffe entipringt dem Geift ber 
Dffenfive, zu dem ſich unfere Marine rüdhaltlos bekennt. Allerdings haben wir 
dafür auf der „Kaiſer“Klaſſe einen nur wenig genügenden Schuß der Unterbauten 
der Mittelartillerie in den Kauf nehmen müflen, während die „Wittelsbach“Klaſſe 
dank ihrem größeren Deplacement auch in diefer Hinficht günftigere Bedin- 
gungen aufweilt. — Bei den neueften Linienfchiffsentwürfen macht fich durch— 
gängig ein Streben nad) Erhöhung des Kaliber der Mittelartillerie geltend, 
weil die 15 cm-Slanone gegen moderne Nideljtahlpanzerung auf weitere Ent: 
fernungen madtlos ift. Frankreich wählt neuerdings ein Kaliber von 16,4 cm, 
die Vereinigten Staaten und Ftalien 20 cm, England fogar 23 cm, doch dürfte das 
letere Kaliber eher eine Verniehrung der ſchweren Artillerie ald eine Bergröße- 
rung der Mittelartillerie bedeuten. Aud) das 20 cm Kaliber fcheint den Anfor- 
derungen, welde man vor allen Dingen an die Mittelartillerie ftellt, — Be: 
mwegung mit der Hand, hohe Feuergefchtwindigkeit und großer Munitionsporrat, 
— nicht mehr zu entipreden. 

Für die Panzerung findet durchweg Nidelftahl, in Deutfchland, England, 


Marius, Die moderne Entwidelung der Hriegsflotten 71 


Nordamerika und Rußland nad) dem Kruppſchen Verfahren gehärtet, Verwen— 
dung. Abgejehen von einzelnen Abweichungen erjtredt ſich im allgemeinen die 
Panzerung auf einen ftarfen Gürtel (200 bis 250 mm) in der Waſſerlinie, 
darüber ein zentrales Reduit von mittlerer Panzerftärke (140 bis 150 mm), das 
die Mittelartillerie famt Unterbauten jchütt, und ftarfe Panzerung (250 bis 
300 mm) ber ſchweren Artillerie und der Kommandoelemente. 

Die Torpedboarmierung ift mit Ausnahme des Dedrohres auf allen 
neueren Linienjchiffen unter Wafler aufgeftellt und auf diefe Weife dem feind- 
lichen Artilleriefeuer entzogen. Site hat durch Einführung des neuen Geradlauf: 
apparates an Furdhtbarfeit gewonnen und wird in der zukünftigen Seeſchlacht 
das Nabgefecht unter 1000 m auf Ausnahmefälle beſchränken. 

Die Gefhwindigfeit ift bei allen neueren Linienichiffen auf 18 bis 19 
Knoten normiert.* Zu einer weiteren Geſchwindigkeitsſteigerung ift feine Neigung 
vorhanden, vielmehr mehren fi) die Stimmen in der Fachwelt, welche die 
Kampffraft des Linienfchiffes nicht zu Gunften der Gefchwindigfeit gejchmälert 
willen wollen. — 

Neben den Linienjchiffen bilden Kreuzer das unentbehrliche Beiwerk jeder 
Flotte. Sie leiften im Frieden wichtige Dienfte in Vertretung der überjeeifchen 
Intereſſen der Nation und verfehen im Kriege den Aufllärungs: und VBorpoften: 
dienst bei der Schlachtflotte. Außerdem ift ihnen die Aufgabe zugemwiejen, im 
Seefriege den eigenen Handel zu ſchützen und den des Feindes zu jchädigen. 
Werden die beiden erftgenannten Dajeinsziwede der Kreuzer allgemein als be: 
rechtigt anerkannt, fo wird die Lösbarkeit der letteren Aufgabe vielfad) ange— 
zweifelt und, wie ums fcheinen will, mit Redt. Ein Staat, der über bedeuten- 
den GSeehandel verfügt, wird diefen, foweit er fich in überozeaniſchen Gewäſſern 
vollzieht, nur jchügen fönnen, wenn er die an Ort und Stelle vorhandenen 
feindlichen Kreuzer niederfämpft oder verjagt. Hält er hierzu feine Kreuzerflotte 
nicht für ftarf genug, jo thut er befier, fie in die heimischen Gewäſſer zurüdzu- 
ziehen zur Berftärtung der Scladtflotte. In den meiften Fällen wird der 
Feind jedoc weniger verfuchen, den Seehandel in fernen Gewäſſern zu fchädigen, 
fondern an der Stelle, wo er in dichten Maffen zufammenftrömt, vor den 
Häfen des Gegners. Hier wird er ihn mittelft enger Blodade zu unterbinden 
und damit der Volkswirtſchaft des Gegners empfindliche Schläge beizubringen 
verſuchen. Und zur Verhinderung einer ſolchen Blodade braucht der angegriffene 
Staat nicht Kreuzer, Sondern in erfter Linie eine Schladtflotte. Wir können 
daher auch im Intereſſe unferes Seehandel3 nur wünfchen, daß unfere Marine: 


) Eine Ausnahme macht ‚italien mit feinen neuejten Projekten „Regina Elena” und 
„Vittorio Emanuele”, für die 22 Snoten Geſchwindigkeit vorgefehen find. Man wird indeifen 
dieſe Schiffe eher der Klaſſe der Panzerkreuzer zuzählen müſſen. 


71: Marius, Die moderne Entwickelung der Kriegsflotten. 


verwaltung ihrem Grundfage, den Dauptteil der jährlihen Schiffbauguote zum 
Bau aefechtöftarfer Linienfchiffe zu verwenden, auch in Zukunft getreu bleibt. 

Der Sreuzerkrieg ift und bleibt ein viel umftrittenes Problem. Frankreich 
hat ſich feiner aud in den letten Kahrzehnten mit Vorliebe angenommen, troß: 
dem e3 die Erfahrungen der napoleonifchen Kriege eines Befleren belehrt haben 
follten. In der heutigen Zeit der Kohlen und Kabel, wo ein Kreuzer nicht länger 
als 4 bis 6 Wochen die See halten kann, ohne der Auffrifchung feines Lebens: 
nervs, der jchwarzen Diamanten, zu bedürfen, wo Bewegungen von Kriegsſchiffen 
faum länger als 14 Tage verborgen bleiben können, ift ein Kreuzerkrieg unendlich 
viel ſchwieriger als in den verflofjenen Jahrhunderten der Segelſchiffszeit. 
Thatſächlich iſt England, das mit befeftigten Fylottenftüßpunften, Kabeln und Kohlen- 
ftationen den Erdball umgürtet bat, heute die einzige Macht, die überhaupt einen 
thatkräftigen Kreuzerkrieg zu führen in der Lage ift, wie es andererſeits jeder 
Bedrohung feines Seehandels, jedem Berfuc eines „guerre de course“ auf das 
nahdrüdlichfte entgegentreten fann. 

Indeſſen find, wie gefagt, Kreuzer für jede Kriegsflotte nötig. Im Gegen: 
lag zum Linienſchiff hat jedoch die Entwidelung des modernen Kreuzers bei 
den Hauptſeemächten noch nicht zu einheitlihen Grundfäten geführt. Nach wie 
vor herrſcht bier große Unficherheit in der Wahl des Deplacementö und der Be: 
waffnung. Nur in einem Punkte dürfte ziemliche Uebereinftimmung herrichen: 
große Kreuzer über 5000 t werden meilt als Panzerkreuzer gebaut, d. h. mit 
Panzerung der Waflerlinie, eines Teild der darüber liegenden Breitjeite, ber 
Geihüsftände und Kommandoelemente. Man giebt hiermit das Prinzip, daß 
Geſchwindigkeit und Nktionsradius die Haupteigenfhaften des Kreuzers feien, 
teilweife auf zu Gunften der Gefechtäftärfe. Eine Berechtigung kann diefen Bor- 
gehen nicht abgeiprodhen werden, weil der große Kreuzer nicht nur ſpähen, jeben 
und weglaufen, ſondern häufig auch Fechten foll. Hierzu muß er durd) eine an- 
gemefjene Geichütarmierung und eine Seitenpanzerung, die ihn vor allem gegen 
die verheerende Wirkung der Brifanzgranaten ſchützt, befähigt werden. Anderer— 
jeits führt das Beftreben, höchſte Geſchwindigkeit, großen Kohlenvorrat, ftarfe 
Panzerung und kräftige Armierung in einem Schiff zu vereinigen, in jeiner 
logiſchen Konfequenz zu Monftrefreuzern, wie fie England in der „Drake“-Klaſſe 
(14000 t), Nordamerika in der ‚California“-Klaſſe (14000 t), Frankreich in der „Leon 
Gambetta“-Klaſſe (12500 t) gegenwärtig auf Stapel haben. Demgegenüber be- 
Ichränfen ſich Deutichland, Stalien und Japan auf ein Deplacement von 9000 t 
für Panzerfreuzer und fcheinen hiermit das Richtige zu treffen.*) 

Wir ftimmen in diefer Frage durchaus Nauticus zu, welcher in feinem Fahr: 
buch 1901 jagt: 


*) Auch England baut nur 4 Schiffe des „Drake“⸗Typs und 6 Schiffe des „Ereifu"- Typs 
‘12000 t), während die neueiten 10 Streuzer des ‚Kent“Typs unter 10600 t bleiben. 


Marius, Die moderne Entwidelung der Kriegsflotten. 713 


„Das Deplacement des großen Kreuzers darf ſich dem des Linienſchiffes 
nicht jo weit nähern, daß man vor die Frage geftellt wird: baue ich zweckmäßiger 
ein vollwertiges Linienfhiff oder ein Schiff von geringerem Gefechtswert aber 
größerer Geſchwindigkeit? Sobald dieſe Frage akut werden würde, würde bie 
Entſcheidung zweifellos zu Gunften des Linienſchiffes ausfallen müffen, da man 
bei zu großem Deplacement des’ großen Sreuzers, d. h. bei der Notwendigfeit, 
erhebliche Mittel zu Gunften der Kreuzerflotte auf Koften der Linienjchiffflutte 
zu veriwenden, den Geſamtgefechtswert der Flotte zu jehr herabjegen würde." 

Treten ſchon in Ausbildung des großen Sreuzertyps grundfäßliche Ver— 
Ichiedenheiten bei den einzelnen Seemädten zu Tage, fo find bezüglich des kleinen 
Kreuzertyps die Anfchauungen gänzlich ungeklärte. England und Frankreich haben 
in den leßten Jahren überhaupt Feine Eleinen Kreuzer auf Stapel gelegt, ver- 
mutlich, weil ihre Marinen zur Zeit noch über eine genügende Zahl leiftungs- 
fähiger Schiffe diefer Klaſſe verfügen. Die Vereinigten Staaten bauen nur 
Stationsfreuzer von geringer Geſchwindigkeit, wollen alſo ſcheinbar die Auf: 
Härung der Schladtflotte lediglich Panzerfreuzern und armierten Schnelldampfern 
überlaffen. Die einzigen großen Seemädhte, die den Bau Eleiner Kreuzer gegen- 
wärtig eifrig betreiben, find Nußland und Deutjchland, und mit Recht, denn diefe 
Schiffe find die leichte Kavallerie des Meeres, deren feine Schladtflotte zur 
eigenen Sicherung und zur Eripähung des Feindes entraten kann. Bei dem 
kleinen Kreuzer, defjen Deplacentent zwedmäßig 3000 nicht überfchreitet, tritt die Ge— 
ſchwindigkeit voll in ihre Rechte, der Panzerſchutz beichränft ſich auf ein leichtes 
Panzerded, gepanzerten Kommandoſtand und Schugichilde für die Geſchütze, die 
Armierung auf leichte, aber zahlreiche Schnellladeartillerie. Daneben wird ein 
möglichft großes SKtohlenfaffungsvermögen vorgefehen. Unfere neueften Eleinen 
Kreuzer („Niobe“-Klaſſe) erreihen faft 22 Knoten Gefchtwindigkeit, bei weiteren 
Neubauten wird die Geſchwindigkeit noch mehr gefteigert, jo daß die Schiffe für 
Erfundungszwede vortreffliche Dienste leiften und imftande fein werden, ich der 
Verfolgung duch feindliche Panzerkreuzer zu entziehen. Auch die Verwendung 
diefer Schiffe auf außerheimifchen Stationen dürfte Schwierigkeiten nicht begegnen, 
da fie vollauf feefähig und wohnlich eingerichtet find. 

Der Ausbau der Zorpedoflotte vollzieht fich bei den verjchiedenen Marinen 
ziemlich gleihmäßig. England baut Torpedobootzerftörer von 300 t, da= 
neben Zorpedoboote von 175 t, Frankreich, Rußland und die Bereinigten 
Staaten haben gleichfalls fich zur Annahme zweier Typen entichloffen, während 
Deutfchland bereits feit einigen Jahren nur noch große Torpedoboote baut, welche 
bei einem Deplacement von ca. 300t den XTorpedobootzerftörern der anderen 
Marinen gleichwertig find, fie an Feſtigkeit des Rumpfes und Seefähigkeit wahr- 
fcheinlich übertreffen. England hat mit feinen neueften Torpedobootzeritörern 
in Bezug auf Seefähigkeit derartig Schlechte Erfahrungen gemacht, — wir erinnern 


714 Marius, Die moderne Entwickelung der Kriegsflotten. 


an das Auseinanderbrechen der „Eobra® —, daß man den wirklichen Gefechtswert 
feiner 110 Fahrzeuge zählenden Flottille nicht allzuhoch anfchlagen darf. 

Es erübrigt noch, einer Seekriegswaffe, die in jüngfter Zeit die öffentliche 
Meinung vielfach befchäftigt hat, einige Worte zu widmen, den Unterfeebooten. 
Die Unterjeebote find ein befonderes Stedenpferd der franzöfifhen Marine. Erft 
nachdem diefe Dußende von Booten in Bau gegeben hatte, gingen auch andere 
Marinen, namentlih England und Nordamerika, zu einer energifchen Erprobung 
diefer an fich keineswegs neuen Waffe über, während fich unſere Marinever- 
waltung nach wie vor abwartend verhält. Bisher haben die Unterjeeboote nur 
eine gewijle Kriegsbrauchbarkeit für Zwecke der lokalen Küftenverteidigung erwieſen. 
Ihre Hauptnadteile find: Sehr geringe Geſchwindigkeit (8 Knoten), Mangel an 
Stabilität, geringes Gefichtsfeld und daher große Unficherheit des Schuffes. Wohl 
faum einer unferer Geeoffiziere würde eins der jegigen Unterjeeboote einem modernen 
Torpedobonte von 25 Knoten Geſchwindigkeit vorziehen. Einen offenfiven 
Wert fann man den Unterfeebooten bisher nicht beimeffen troß aller optimiftifchen 
Nachrichten, welche franzöfiiche Fachblätter über die Verwendung der Boote auf 
hoher See bringen. Jedenfalls bietet der Angriff des gegenwärtigen Unterjee- 
bootes gegen ein in Fahrt befindliches Schiff feine Ausfiht auf Erfolg; Chancen 
hat es nur gegen einen zu Anker liegenden Gegner, der ihm außerdem den Ge— 
fallen thut, jein Standquartier in unmittelbarer Nähe der feindlichen Küfte und 
ohne jedwede Vorficdhtsmaßregel aufzufchlagen. — Borausfihtlic wird die Er- 
probung der neuen englifchen Unterfeebote zu eingehenderen Schlüffen über die 
Kriegsbrauchbarkeit der Waffe führen, da man dem nüchtern denfenden, praftifchen 
Briten ein gefunderes Urteil zutrauen darf als feinem etwas phantaftifd) veran- 
lagten Vetter jenjeit3 de3 Kanals. — 

Wir haben uns in Vorftehendem auf eine kurze Schilderung der modernen 
Flottenentwidlung bejchränft, foweit fie im Rahmen einer derartigen Skizze 
überhaupt zur Anſchauung gebradit werden fann. Dabei ift die perfonelle 
Entwidelung der Kriegsmarinen nicht zu ihrem Rechte gefommen, troßdem gerade 
fie für die Leiftungen der Flotten im Ernftfall von ausfchlaggebender Wirkung 
ift. Allein, man kann wohl Flottenprogramme, Schiffstypen, Kanonen 2c. mit 
einander vergleichen, aber es ijt außerordentlich jeher, über die Leiftungen eines 
fremden Marineperfonals Urteile abzugeben, ohne fich damit in das Gebiet der 
Hypothefe zu verlieren.*) Auf dem Papier war die ſpaniſche Flotte der ameri- 
kaniſchen faft gleich, aber daß fie fo unglüdlich fechten würde wie bei Manila 
und Santiago, hatte wohl auch derjenige nicht erwartet, dem die Mängel der 
ſpaniſchen Marine bekannt waren. — Für uns erwächſt aus dieſen Kriegsereig— 

Bei derartigen Betrachtungen gelangt man nur zu leicht zu einer verkehrten Ein— 


fhätung anderer Nationen, mie 3. B. die deutſche Tagespreſſe in jüngjter Zeit fich in 
abfälligen, aber direkt falihen Beurteilungen des englifhen Marineperfonals gefiel. 


Marius, Die moderne Entwickelung dev Nriegstlottent. 715 


niffen die ernfte Lehre, daß auch die beiten Schiffe in der Hand unfähiger Be- 
faßungen nußlos find, daß andererjeitd die Sompliziertheit der Waffen und die 
Fülle mafchineller Einrichtungen an Bord moderner Schiffe noch in viel höherem 
Grade eine auf organiſatoriſchen Grundſätzen beruhende, jurgfältigfte Schulung 
des Perjonald notwendig machen als zu früheren Zeiten. Nur eine Marine, die 
nad; diejer Richtung energisch und ſyſtematiſch fortarbeitet, wird ihr Eoftbares 
Ihmwimmendes Material im Ernftfalle erfolgreich) verwerten und aucd gegen 
Uebermadt mit Ehren fid) behaupten können. Das dürfen wir von unferer 
noch jungen, aber mächtig emporftrebenden Kriegsmarine in voller 
Zuverfidt erhoffen. 


16 


Ein Gruß an unfere Söhne auf der Bee. 


Euc, brave Jungen, folg’ Das Glück Lafzt AMButterauge bei euch fein 
Bit lieber beimat Grüfzen! Auch draufzen in der Ferne, 

Von deutfbem Boden auch ein Stück Erbaltet euch die Berzen rein 
It unter euren Fülzen, Huch da, wo andre Sterne, 

Und, wo ibr feid, mit Lieb' umfpannt Als über eurer beimat ftebn, 
Eucd überall das Vaterland. Von oben auf euch niederfebn, 
Die ibr befabrt die graue Flut Dem lieben dDeutfcben Vaterland 
Huf deutfeben Schiffes Planken, Bleibt treu auf weitem Meere! 
Bewabret euch den feften ABut, Wo ibr betretet fremden Strand, 


Wie auch Das Schiff mag fchwanken. KBebütet Deutfchlands Ebre, 
Was auch aus böb’ und Tiefe drobt, Und als ein Kleinod wobl bewabrt 
Bleibt unverzagt in Sturm und Mot! von euch fei echte deutfche Art. 


Eud, Deutfchlands Kindern auf der See, 
Erflebn wir Gottes Segen: 

Er fchaff’, Daf3 es cuch wohl ergeb’ 

Auf allen euren Wegen, 

Als unfern Stolz und unfer Glück 


Fübr’ er zur beimat euch zurück. 
3. Trojan. 


O 





DITDIEDIEDIEDIEDIEDIEDIE DI DIT DIE DIT DIFDIEDITDI ED >17 31 


Unier keiejammer. 
Eine Zeitpredigt von 
Hans Schliepmann. 


8 ift kurz vorm Ghriftfeft, und meine neunjährige Tochter fit mit heißen 

Bäckchen über einem Weihnachts-Katalog. „Bater,” ruft fie begeiftert, „Die 
Bernfteinhere muß ein feines Buch fein! — Ah und hier: Der Teufel in Sala- 
manca!" — Und jo gehts weiter. In ihrem Kinderköpfchen ftehen hinter den 
grufeligen Titeln alle Geſchichten auf, die fie gern verichlänge, und wie Sean 
Pauls Schulmeifterlein Wuz möchte fie fich felbjt die Bücher zu den Ueber— 
ſchriften Hinzudichten! 

Ich lächle und denke mich in die gleichen Jahre zurüd. O, was war mir 
das Bud! Endlofer ſüßer Schauder, endlojer Hunger, endloſes Weiterträumen, 
unendliche Befruchtung! — Und für wen hätte es nicht ein Alter gegeben, da er 
den Zauber des Buches mit ähnlicher Kraft empfand? — 

Gewiß, es giebt Thatlachenmenfchen, die in der „unfrucdhtbaren Schmöferei“ 
eine weſentliche Urfache unjerer deutſchen Berträumtheit und Unpraktifchkeit er- 
bliden, die niemals eigentlichen Leſehunger bejeffen haben; und es jcheint, daß 
unjere gegenwärtige Allgemeinentwidelung diefen Naturen recht gäbe. Die Zeit, 
da Gedanken auch Thaten waren, als Thaten bewertet wurden, jcheint vor: 
über; Maſſen ummwälzen, feien es joziale vder phyſikaliſche oder aud nur 
Warenmaſſen: das wird bewundert und — verdient auch feine Schätung, wohl 
abgewogene freilich. Wir find aber gar jo weit, daß die That, die fchnelle That 
A tout prix, ohne lange Gedanken, unter dem neuen Begriffsmäntelden „Schneidig: 
keit" bereit3 eine verhängnispolle Rolle in unjerem öffentlihen Reben zu fpielen 
beginnt. Den Schneidigen beirrt feine Buchmeinung; er greift zu, denn er hat recht, 
natürlich, unzweifelhaft vecht. Fühlt ers doch wie eine Armee in feiner Fauft! 

Pradtvoll ift das, unſchätzbar für uns einft verträumte Deutfchen, dies 
Gefühl der GSelbftficherheit; denn es giebt fein Wirken auf die Welt um uns 
herum ohne fie, ohne ein ehernes: Hier fteh ich, ich kann nicht anders! 

Aber der Herrliche, eine höchſte Blüte deutfchen Wefens, der diejes Wort 
geprägt, er fügte Hinzu: Gott helfe mir, Amen! 

Er ſah etwas über fi, nicht nur jich, und das erſt gab ihm das Red, 
fi zu fühlen. Er maß fih am Göttlichen, glaubte nicht ohne innere Selbft- 
prüfung an fi und fein Wollen. Und da fehlt e8 uns oft genug empfindlich! 
Der Rückſchlag der Entwidelung, die ja jo vielfach zwiſchen Gegenfägen pendelt, 
aus der Berträumtheit in das Draufgängertum muß durch neue Kräfte, oder neue 
Stärke urewiger Kräfte wenigftens, aufgehalten werden. 


Dans Scliepmann, Unſer Pefejammer. 717 


Die Selbjtüberzeugtheit aus kritikloſer Selbftliebe kann äußere Macht werden, 
fann Länder oder Millionen erraffen; beide zu halten bedürfte es aber innerer 
Mächte, der Kraft, das Erlangte aud ſich „anzueignen”, d. h. ins eigene Leben 
binüberzuführen, es fich zu affimilieren und nit nur als toten Befit zu wahren. 

Das Alfimilieren aber vermag nur, wer fi) mit taufend Elammernden 
Organen an die Welt anzufchließen gelernt hat, wer durd inneres Erleben, 
Nacdleben anderer und Prüfen feine Perfönlichkeit erweitert hat. Das ifts, 
was not thut, wie ja kürzlich erſt an gleicher Stelle Fritz Lienhard überzeugend 
und warmherzig dargethan hat. 

Nichts aber vermag uns gleich ficher aus der Enge ins Weitere, aus der 
Selbitjicherheit der Befchränktheit zur Reife der Weltüberficht zu leiten als das 
Bud. Ach fage „Jicherer". Große Scidjale bewirken Größeres als ein großes 
Bud. Aber wir find doc eben nicht immer vorm Unterliegen unter folchen 
Schidjalen fiher. Ein Bud; aber, das Erlebnis wird, ein Buch mit Lebens: 
inhalt — und nur von fulchen rede ich hier und in der Folge, — ein Werk alfo, 
das an fi) eine zufammengeraffte, verdichtete Perfönlichkeit ift, geht in ung über 
und wird ein Teil unſeres Selbft; es kann ums erſchüttern, aber nicht zerftören, 
denn der Gejunde nimmt nur jo viel von ihm auf, al3 er zu affimilieren vermag; 
diefe Erfahrung dürfte jeder aus feiner Entwidelungszeit beftätigen Eönnen; und 
es bleibt uns Zeit, jelbjt mit Erjchütterungen und auseinanderzufeßen. 


Gelbft das minderwertige Buch giebt ung nod) ein Stüd Leben und ftärft 
daneben unfere reifende Kraft in Abftogung des Gewöhnlichen; auch bleibt ein 
farger Gewinn immerhin noch im Kennenlernen banaufiisher Auffaffung: Wir 
lernen richtig bewerten, was uns allen immer wieder — jo nahe liegt! — 


Es ift eigentlicy arg, daß man verſucht ift, unjerer Generation den Wert 
des Schrifttums erjt noch zu bemweifen. Aber wer die thatfächlihen VBerhältniffe 
überfieht, muß entiweder glauben, daß diefe Wertung überwunden ift — was 
weiß ich, durch welch Neues? — oder daß wir überhaupt Lebenswerte nicht mehr 
zu erkennen vermögen. Und letzteres ſcheint mir in der That der Fall. Iſt es 
jo arg übertrieben, wenn ein Spottvogel fagt, die meiften Männer hielten ihre 
Kenntnis der gedrudten Buchftaben nur noch durd) die Lektüre ihres Leiborgans 
und etwa nocd irgend eines Verordnungsblattes aufreht? a, man muß weiter: 
gehen und fagen, daß gerade in den fogenannten gebildeten Streifen das eigentliche 
Leſen fo ziemlich aufgehört hat. Ich rede nicht von unbejchäftigten Damen; aber 
ich darf aus meinem nicht engen Befanntenfreife auf zahllofe, im Berufsleben 
ftehende Männer fchließen. 

„Ja, können Sie denn noch zum Lefen kommen?“ fragt man mich mit 
naivem Erftaunen. Ach, die Frage ift verftändlih! Es giebt Zeiten, da aud 
mich der Beruf bis auf die Neige aller Kräfte beanfprucdjt, wo der abgehekte, 


718 Hans Schliepmann, Unfer Lejejammer. 


abgeipannte Geift nicht einmal mehr — überbrettlveif ift, fondern geradezu eine 
ftumpffinnige Musfpannung nötig hat. Und es giebt Taufende, die in der Frone 
des Lebens nicht einen Mugenblid aufrecht ftehen, aufatmen und den Himmel 
droben betradjten fünnen. Das moderne Leben ift ein Moloch — wenn man 
an Molod glaubt! 

Das aber unterfcheidet die Spiten der Menjchheit — um die es fi für die 
Weiterentiwidelung immer nur handeln kann — von der Menge der Froner, der 
Bielzuvielen und der „guten Leute“, daß fie nicht an Molod glauben, Sondern ſich 
nicht „unterkriegen“ lafjen, daß ſie nicht nur den leiblichen Hunger kennen, fondern 
auch den geiftigen, daß fie fi) zulett immer wieder eınporraffen und jagen: ih muß 
täglich einmal in einer gebenden Geſellſchaft fein, eine halbe Stunde haben, die 
mich binaushebt über mich, damit ich auch einmal wieder gleihfam von außen 
her mich felbft und meine Tagesgejchäfte überjehe, in jte von neuem Geilt hin— 
eintrage oder doch mich für fie ftärfe durch neue Lebenskraft anderer. Das 
bin ich im letzten Grunde mir, den Meinen und der Menſchheit mehr fchuldig, als 
die Daß nad dem Groſchen und das Rädchen-fein im fozialen Uhrwerk. 

Das wenigftend müfjen wir erringen, daß wir uns [hämen, wenn wir 
nicht täglich einmal ein gutes Buch) zur Hand nehmen, daß wir uns fcheuen, 
ganz unter die Philifter zu geraten, die bei Eſſen, Trinken und Fronen mit 
dem Bollbewußtfein ihrer „Gebildetheit" und drum ihres Urteildrechtes durchs 
Leben fommen. Als eine nationale Schmah müßte es uns erjcheinen, wenn 
unser Volt dahin käme, die einzige geiftige Nahrung aus der — Zeitung zu ziehen. 
Sind wir noch weit von diefem AZuftande entfernt? Wie viele „Gebildete“ 
fühlten fih nicht beleidigt, wenn man behauptete: wer nichts als die Zeitung 
lieſt, ift, bleibt oder wird ungebildet? 

Die Zeitung! Notwendigftes Uebel, übelfte Notwendigkeit. Weld ein Kultur: 
bild entrollt unfer Zeitungsweſen! — Aber ftill, übertreiben wir nit! Es ift 
fein Kulturbild. Denn die Kultur lebt immer nur in den Gipfeln der Nation; 
die Niederungen ergaben von je nur den „Kulturdünger". Nicht die Heloten 
haben Griechenlands Größe gemadht oder vernichtet! Die Zeitungen aber — 
von rühmlichen Ausnahmen abgefehen — jpiegeln nichts als die Macht ber platten 
Majoritäten. Der dummfte Menſch noch gewinnt im modernen Leben eine 
gewilje öffentliche Macht; er wird — Abonnent! Dadurch ſchwillt das Blatt, es 
fängt Anferenten, ſchwillt noch mehr und wird eine Madt, eine Macht, 
die meift nichts als — Geſchäft ift, Gefhäft in dem modernen Sinne, daß 
eine Sache unbedingt zwanzigmal bejjer ift als eine andere, wenn jene zwanzig: 
mal mehr einbringt al3 diefe bei redlihem Verdienſt, ganz gleich, welche und 
weſſen Zwecke fie fördert. — Bier Abonnenten und Inſerate, dort Partei, die 
oft genug auch nicht viel mehr als Geſchäft ift: Das diftiert für die Menge der 
Nation die öffentlidye Meinung und beftärkt immer mehr die Anficht, daß alles 


Hans Schliepmann, Unjer Leſejammer. 719 


im Leben Gefchäft ift, eine Anjicht, die — fie faft ganz ausschließlich, — die Entjitt- 
lichung unferes öffentlichen Lebens herbeigeführt hat. 

Aber ic) will an diefer Stelle nicht von der „Preſſe“ reden; jte erforderte allein 
ein Buch — das natürlich tot bleiben würde. Ach mußte nur wenigftens kurz auf fie 
hinweifen, wenn ich unferen „Lefejammer” uns ganz zum Bewußtfein bringen will. 

Wie nämlich die Berhältniffe einmal liegen, kann auch die aufrecht gebliebene 
Zeitung unter der Laft der Konkurrenz nur bejtehen, wenn fie einer Partei dient, 
ſei e3 der einfichtsvollften, idealften. So ideal find wir aber leider noch nicht, 
daß wir verftänden, vor den Werfen der großen Einjamen, der Befruchter der 
Zukunft, den Parteiftandpunft zu vergejfen. Ach, greifen wir an unfere Bruft: 
fennen wir nicht alle irgend welche Namen, die wie eine Beleidigung auf uns 
wirken, ohne daß wir die Werke der Gehaßten kannten? Haben wir uns nicht faft 
alle längft gewöhnt, nur über Bücher zu leſen, ftatt Bücher jelbft? Wer aber 
bat Zeit, diefe Buchbeſprechungen aus fieben Zeitungen verfchiedener Richtung 
zu lefen; und wer fie hätte: follte der nicht lieber das Werk ſelbſt leſen? 

So kommt e3 aber, daß ſelbſt der Wohlgelonnene, der ein Inſeratenfang— 
blatt zu lefen unter feiner Würde Halten würde, doc allmählich über alle Fragen 
auf einen Barteiftandpunft eingeftellt wird. Der muß aber allem Neuen gegen- 
über faljch, allem wahrhaft Lebendigen, allem Menfchheit-Angehenden gegen- 
über zu kurzſichtig fein! 

Aber zugegeben, daß es Hervorragende Blätter giebt, die außerhalb des 
politifchen Teils ſehr weitblidend und unpartetiic find: Sind wir nit alle ſchon 
jo verwöhnt durch die Parteizeitung, daß wir den Widerfpruh nicht mehr zu 
ertragen vermögen und mindeftens auf den Redakteur fchelten, wenn ein wirklich 
Freier und Aufrechter einmal eine jelbftändige, aber ungewöhnliche Meinung 
äußert, anftatt diefe Meinung nadzuprüfen? Und dann andererjeit3 wieder: 
Wer braut uns oft die Meinung, die uns fertig geliefert werden muß? O, wenn 
Ihr die Leute ſtets perfönlich Eenntet! Iſt e3 nicht an der Tagesordnung, das 
Ungeheuerlihe, daß der junge Schriftjteller aldö Nezenjent jeine Spuren zu 
erwerben fucht, daß ſomit günftigjtenfalls eine werdende Intelligenz das Urteil 
über Neuerjcheinungen prägt? 

Man blide da nur einmal auf unfere Kunſtkritik, wo die Sache noch mehr 
im Argen liegt, weil gerade der gewiflenhafte Redakteur ſich Hier nicht für ſach— 
verftändig hält und demnach für feinen Berichterftatter kaum einen anderen 
Befähigungsnahweis kennt, ald den einer interejlanten Schreibweife und Des 
Beifall3 jener wenigen Abonnenten, die das Bedürfnis haben, ihrem Aerger oder 
ihrer Billigung fchriftlich Musdrud zu geben. Soll id) erft nod daran erinnern, 
wie Wagner, Bödlin, Klinger dem Publikum durch die Zeitungen gefchildert und 
bewertet worden find? 

Das find notwendige Uebel, müſſen wir zugeben; das Zeitungsiwejen trägt 


720 Dans Schliepmann, Unſer Pefejammer. 


daran feineswegd die Hauptihuld; man wird es nicht ändern können, daß 
Zeitungen Geichäftsunternehmungen, daß Hritifieren ein Broterwerb ift, und zwar 
einer, den nur die Jugend noch mit der Selbftficherheit ihrer Unerfabrenheit ohne 
innere Zweifel ausüben kann. Das Volk hat die Zeitungen, die es verdient; 
es ift ja — Abonnent. 

Nur ein prinzipielles Mißtrauen gegen die Kritik, oder bejjer eine Nach— 
fritif, die aus des Kritikers Anfichten feine Perfönlichkeit zurüdkonftruiert und 
danad) abwägt, wo fein Urteil Beachtung verdient und wann es, wie jedes Urteil 
irgendwo, verjagt: nur Selbftändigfeit der Lefer alfo könnte diefe Zuftände in 
etwas bejjern. Die Folge wäre: weniger Zeitungen, mehr Bücher leſen! 

Aber eine neue Schwierigkeit thut fir) auf: Wo ift die Spur, die aus der 
Menge der litterariichen Erzeugnifje und zu den wenigen wertvollen Büchern 
weilt? Steht doch auch die Bucherzeugung durchaus unter dem Zeichen des 
modernen „Geſchäfts“-Begriffes, wozu noch eine lleberproduftion feitend der 
Schriftiteller fommt, die es felbjt dem ideal gefonnenen Berleger ganz unmöglich 
macht, ohne Ware für die breiten Maffen, ohne Reklame bis zu der litterarifchen 
Brunnenvergiftung der „Waſchzettel“, d. 5. der Irreführung des Publikums durch 
ſcheinbar unbeteiligte, doc vom Verleger gelieferte Kritiken im Nedaftionsteil der 
Beitungen, durchzufommen! — 

Wie denn aber: ich behaupte, daß erftens nicht genug gelefen wird, daß 
zweitens alle Welt nur nocd auf das Geſchäftmachen abzielt: und dann follte es 
doch eine Ueberproduftion geben, eine Leberproduftion in Maffen? Wenn fein 
Bedarf ift, wird doch Fein Geihäftsmann etwas hervorbringen! Das ift dod) 
ein Widerſpruch! 

Es ſcheint leider nur fo; wir kommen hier zur zweiten Seite unjeres Leſe— 
jammers, vielleicht der weniger beflagenswerten. Wenn bei ernfteren Menfchen, 
voriviegend Männern, das Lefebedürfnis unter Tageslaft, Abſpannung, Parteigeift, 
Einjeitigfeit, Zeitungsvormundichaft immer mehr zurüdgeht, fo ift doch andererjeits 
ein Trieb zum Lejen in außerordentlich weiten, und zwar nun hauptſächlich in 
weiblichen, reifen vorhanden. Aber dies Bedürfnis ift faft nichts ala ein 
Berftreuungsbedürfnis, nicht ein Bildungs-, ein Erhebungstrieb. 

Wie unfer Theater unter der Herrichaft des Gefchäfts und der Forderung 
nad „Amiüfement” (mehr als ein welches Wort ift der Begriff nicht wert) von 
den Wohlhabenden = „Gebildeten" zu einer Vergnügungsanftalt, ins Barieteartige 
hinabgedrüdt wird, jo rüdt die Fitteratur, bis in ernfter ftrebende Kreiſe hinein, mehr 
und mehr nad) der Seite des Spannenden, des „Hübſchen“, des oberflächlich Lujtigen. 

„Ich will mich freuen," heißt es da immer im Tone äfthetiicher Weber: 
zeugung, „wenn mich das Leben den Tag über hin- und bergeworfen bat. Ich 
will das Schöne. Gegrübelt hab’ id) genug." Das heißt aber auf gut Deutid) 
eigentlich: ich will feine ‚Freude mehr am Nachichaffen haben (das jedes echte 


Hans Schliepmann, Unfer Lejejammer. 71 


Kunftwerk verlangt), ich will feine neuen Gedanken; man foll mir nur etwas 
„vormacen“, wobei ich bleiben kann, was ih bin, oder was mid; angenehm 
erregt. Nur feine Erjchütterungen meines Innerſten! Dies Eennen zu lernen, 
wäre am Ende ziemlich fatal für meine Selbftzufriedenheit! 

Wie diefe Leute aber vornehmlich Theaterbillets kaufen, jo kaufen fie auch 
am eheften Bücher — wenigftens, wenn fie fie durchaus nicht von guten Freunden 
oder ſchnell aus der Leihbibliothet geliehen oder vom Autor gefchenft befommen 
fönnen, was allerdings ein deutſcher Nationaltrieb zu fein fcheint! — ebenfalls 
„gehen" nur ſolche Bücher, die den gejchilderten Bedürfniffen dienen. 

Dean könnte das achjelzudfend mit anfehen und ſich tröften, daß ja aud) das 
Konfitürengefchäft ein ehrliches Gewerbe ift, daS feinen Mann nährt, ohne anderen 
fonderlih den Magen zu verderben. AU’ dieſes „Bücherfutter” ift nur Zuder- 
zeug für Unbejchäftigte und fpricht für die Höhenkultur ja doch nicht mit. Aber 
aus der Amdifferenz der Männer gegen die Litteratur und dem ungemeinen Leſe— 
bedürfnis der frauen, gerade der „mondainen", unbejchäftigten, tändelnden, ernft: 
lofen, in Modebegriffen aufgehenden — auch foldhen männlichen Gejchlechts 
übrigend — aus diefen beiden Urſachen entwidelt ſich doch eine fehr bedenkliche 
Folge: eine allmählihe Berweiblihung unferer Litteratur. Unſer neueftes 
Schrifttum zeigt das auch da, wo es ernſt genommen zu werden verdient, ganz 
abgejehen von der Flutwelle fchriftftellernder Frauen, deren natürliche Gabe des 
leihten Fabulierens, „geihmadvollen” Darftellens, „aktuellen“ Zufchauens fie zur 
Beliebtheit beim Bublitum im voraus geeignet machen. Iſt nicht unfere ganze 
Decadence mit ihrem Wichtigthun um äfthetifche Fragen und „differenziertefte” 
Empfindungen beim Mangel eigentlihen Lebensinhalts eine effeminierte Kunft? 
Es foll nicht beftritten werden, daß in äfthetifcher Beziehung auch neue Werte 
durch fie hervorgehoben wurden; für die Allgemeinentwidelung der Kunft war fie 
immerhin von einer gewiffen Notwendigkeit; aber dem reifen deutjhen Manne, 
der immer wieder den Anhalt über die Form ftellt und auch nur gerubig ftellen foll, hat 
die Decadence nicht3 geboten, ja fie hat ihn erſt recht der Litteratur entfrenidet. 

Nur eine männlide Kunft — wozu übrigen auch 3. B. die der Ebner: 
Eſchenbach zu rechnen ift, damit Fein Mißverftändnis obwaltet! — fann uns 
wieder ein männliches Lefepublitum zuführen, nur ein männliches Leſepublikum 
eine Stüße neuer, wahrhafter Nationallitteratur werden; nur eine nationalen 
Idealismus erzeugende Litteratur aber endlich fann ein Gegengewicht abgeben 
gegen die abwärts ziehenden Kräfte der Geldjagd und Streberei, der Vergötte— 
rung des „Geſchäftes“. 

Es giebt aber nun doch noch breite Schichten, die wirklichen Lejehunger 
haben, die ſich ernftlich aus ihrem Tagesgefchäfte hinauffehnen an das Licht. 
Die Volks- und Arbeiterbibliothelen ſprechen davon, die Bolksunterhaltungs- 
abende, der Erfolg aller billigen Bücher. Und damit tritt noch ein neuer Janımer 

46 


722 Dans Schliepmann, Unfer Yejejammer. 


vor uns: die Gejchäftsverhältuiffe im Buchhandel. Die Unficherheit des Kunſt— 
geihmades, das geringe Kaufbedürfnis des Publikums, der jeit langem hödjit 
reformbedürftige Gejchäftsbetrieb zwiſchen Verlag und Sortimenter bedingen ganz 
unverhältnismäßige Kaufpreiſe für unfere Bücher, jo daß dadurd wieder der 
Leihunfug und die Lejeunluft gefteigert wird, ohne daß doch der Schriftiteller, er 
jei denn ein Tagesgöße, vom Ertrage feiner Feder angemeſſen leben könnte, wen 
er nicht nebenbei noch für Zeitungen jchreibt, was dann wieder eine Produktion 
unter äußerem SZwange bedeutet. 

Daß eine allgemeine wejentliche Berbilligung unferer Bücherpreife mit einer 
wejentlihen Hebung unjerer Kultur gleichbedeutend wäre, ift ganz offenbar. 
Unfere Klaſſiker leben nod, Gottlob, dank der billigen Ausgaben. Nur ein 
Sammer, daß unjere edelften Nationalgüter, die Gedanken unferer Bejten, exit 
bis dreißig Jahre nach deren Tode nichts als Eoftbare Ware find, deren Erfolg 
nur im feltenften Falle dem Berfaffer zu gute kommt, da der wahrhaft Große 
erit nad) Jahrzehnten zur Anerkennung zu kommen pflegt, bis die billigen Aus- 
gaben dieje Gedanken ins Volk tragen! Womit natürlich nicht3 gegen den Urheber— 
vehtsfhuß, jondern nur etwas gegen die ungefunde Stalfulation im geſamten Buch— 
verlag nefagt werden joll. — Der Dann, der zum erftenmale wagemutig den 
Maffenumjag guter neuerer Schriftwerfe zu billigem Preife ins Auge faht, 
wird eine Umwälzung unferes ganzen Buchwejens herbeiführen! 

Allerdings, eine gründliche Befjerung aller angedeuteten Trübjeligfeiten wird 
damit aud) nicht erreiht. Es ergäbe nur eine gewilje Gefundung von unten ber, 
und von der ift freilich no am eheiten etwas zu hoffen. Denn von oben her 
kommen noch die weiteren Schädlinge, überreizter Gefhmad und Mode, dazu, 
von denen vielleicht ein anderes Mal gefpruchen werden joll; hier würde dies 
Thema einen zu breiten Raum einnehmen müfjen. 

Aber was Eönnte ſonſt geichehen, um unferem Lejejammer abzuhelfen, der 
dem „Volke der Dichter und Denker" jo ganz bejonders gut zu Gefichte jteht? 

Ich fürchte, verzweifelt wenig! 

„Sein Schiejal ſchafft fich jelbjt der Mann!” und 

„Wollen Sie nur, und Sie haben eine unit.“ 

In diefen beiden Süßen liegt die einzige volle Hilfe: Einficht in die 
Schäden und fefter Wille bei jedem Einzelnen, wahrhaft geiftige Intereſſen zu 
pflegen, troß aller Abſpannung und Zerftreuung, ſich verantwortlich fühlen als 
Glied unferes Volkes, nicht völlig im Philiftertum zu verfinken. 


8 


Das größere Deutſchland und die innere Politik. 


Don 


Rudolph Sohm. 


Ui« Zeit „steht unter dem Zeichen des Berfehrs", des Weltverkehrs. Die 
Weltwirtfchaft, die uns in ihre reife gezwungen, bat uns zugleich mit 
Naturgewalt auf die Bahnen der Weltpolitif geführt. Gerade nod in leßter 
Stunde ift das Deutfche Reid) gegründet worden, die Kraft des deutſchen Volkes 
zufammenfafjend, damit es den Anforderungen einer neuen Zeit gewachfen jei. 
Seit erft drei Jahrzehnten hat die große Ummälzung fich vollzogen. Die Thore 
des alten Europa haben fid) geöffnet. Das Meer erglänzt im Morgenjonnen- 
ſchein. Thalatta! Thalatta! Das Meer ift die Bölferftraße, die zu dem Welt- 
markt führt. Auf dem Meere wohnt die Herrjchaft über die irdiichen Güter. 
Unfere Teilnahme am Weltverfehre fordert Teilnahme an der Herrſchaft über die 
wogende See. „Unfere Zukunft liegt auf dem Waſſer“. 

Das größere Deutfchland beruht auf unjeren Schiffen. Der Bau der 
Flotte ift Ausbau des Reichs. Eine neue Reichsgründung müffen wir unter: 
nehmen: die Erftredung der Reichsgewalt auf den Ozean. Was nidjt wädhlt, 
geht unter. Das blühende Reich muß ein wachjendes Reich fein. Wir werden 
nicht gefragt, ob wir wollen. Wir müfjen, — bei Strafe de3 Niedergangs! 
Das Deutſche Reid muß größer fein. 

Nicht fo, als ob wir die Welt erobern müßten. Die Menfchheitsgefchichte 
will Gemeinjchaft der Völker, nicht Alleinherrichaft eines einzigen. Aber wir 
müffen uns ſelbſt behaupten inmitten einer größer gewordenen Welt. In der 
Selbftbehauptung durch Steigerung unjerer Kräfte dienen wir nicht nadter 
Machtpolitik, Sondern der Idee der Gerechtigkeit, weld)e uns einen Anteil an der 
Weltherrihaft der Kulturvölfer zuſpricht. 

Die äußere Bolitik ift um der Machtinterefien des Volkes willen da. Sie 
hat dem eigenen Volke die weltgefhichtlih gerechte Machtftellung zu erobern: 
Die Madhtftellung, welche ung gebührt (suum cuique), welche dem Dienft ent- 
fpricht, den wir der Menfchheit leiſten können. Soweit unfere Politik fich dies 
Ziel jegt, wird fie fiegen. Weiter nicht. In welchen Grenzen Macdtforderungen 
der Nation zugleich Gerechtigfeitäforderungen find, darüber enticheidet eine höhere 

46* 


724 Rudolph Sohm, Das größere Deutfhland und die innere Bolitit. 


Dand. Sie wägt die Völker je nad) ihren Leiitungen für die Emporentiwidelung 
der Menfchenwelt. Die Weltgefchichte ift das Weltgeridt. 

Mit der äußeren ift die innere Politik unzertrennbar verbunden. Auch die 
innere Politik ift um des Staates, des Volkes, der Macht des Volkes willen 
da. Damit das Volk nad) außen jtark fei, muß es nad) innen richtig gegliedert 
fein. Die richtige Gliederung aber ift die gerechte Gliederung. 

Auch die Entwidelung der inneren Politik vollzieht fi) durch Machtkämpfe 
Den berrichenden Klaſſen treten neue Schichten gegenüber, Anteil an der Herr: 
Ichaft begehrend. Der Kampf um die innere Politik ift der Kampf um die Madır 
im Staate. Im Kampf der Klaſſen entjcheidet das gleiche Gejeg, wie in dem 
Kampf der Völker. Den Staat beherricht nur, wer dem Staate dient. „Ach 
diene” ift die Devije, mit welcher aud) diefer Kampf gewonnen wird. Nicht das 
Machtintereſſe einer Partei, fondern die Leiftung, die jie für die Emporentiwide: 
lung des Staates, des ganzen Volkes zu vollbringen im ftande ift, wird über 
den Erfolg enticheiden. Der Sieg einer Partei foll niemals der Sieg bloß einer 
Klaſſe, ſondern der Sieg des Gefamtinterejfes über blinde Selbftiucht fein. 
Auf weſſen Seite die FFeldzeichen des Volkes, des Neiches wehen, da ift der Sieg. 

Weshalb find die auffteigenden Arbeitermaffen troß ihrer Millionenzab! 
dennoch heute noch ohne entſcheidenden Einfluß auf den Staat? Weil ihre Fahne 
die rote Fahne ift. Weil fie den Machtintereffen und damit den Dafeinsinterefien 
des Reiches fich verfagen. Weil fie gegen Heer und Flotte find. So lange fie 
den nationalen Intereſſen ſich entziehen, jo lange entzieht fich ihnen die Nation. 

Weshalb übt umgekehrt die Landwirtfchaft jo mächtigen Einfluß auf das 
Reich? Obgleich die wirtjchaftlihe Leiftungsfähigkeit der Landwirtichaft zurüd: 
geht, obgleich das Lebensinterefje unferes Volkes täglich mehr an daS Gedeihen 
von Handel und Induſtrie geknüpft ift, dennoch diefe Wucht, mit welcher die 
Macht des Landmanns einhergeht! Weshalb? Weil innerhalb der agrariichen 
Kreije der nationale Gedanke lebendig wirkſam ift. Die deutſche Landwirtſchaft 
geht mit dem Neiche. So geht das Reich mit ihr. 

Und das Centrum? Zwiſchen den Gedanken des Gentrums und den Ge: 
danken, in denen Macht und Kraft des Reichs beruht, ift eine tiefe Kluft 
befeftigt.. Der Katholizismus will im Grundfaß das Staatskirchenrecht des 
Mittelalters: die Verfügung des Papfttums über die Machtmittel des Staates 
zum Zweck der Alleinherrichaft der „allein jeligmachenden” Kirche. Das Reid 
aber mwurzelt in dem liberalen Staatäreht der Gegenwart, welches die Souve— 
ränetät de3 nationalen Staates und feine Freiheit von jeder Kirche fordert. 
Zroßdem ift das Centrum feit dem Abgange des Fürſten Bismard zur aus— 
ichlaggebenden Partei im Reiche geworden. Warum? Weil es für Lebens: 
interefjen des Meiches, für das Bürgerliche Gefegbuch, für Heer und Flotte 
eingetreten ift. Much in den Männern des Gentrums ift die Liebe zum deutichen 


Rudolph Sohm, Das gröhere Deutfchland und die innere Politik. 725 


Baterlande von führender Gewalt. Darum hat die katholifhe Partei in den 
entfcheidendften Fragen dem Deutjchen Reiche den Dienft geleiftet, den die Arbeiter- 
partei verweigert hat. In diefem Dienfte ruht ihre Macht. 

Troß alledem ift Elar, daß der gegenwärtige Stand unferer innerpolitiichen 
Machtverhältniſſe den thatfächlihen Kräfteverhältniffen innerhalb des Deutfchen 
Neiches nicht entipridt. Am deutſchen Volksleben überwiegt die protejtantijche 
‘ee. Desungeadhtet fitt eine Eatholifche Partei am Steuerruder des Neiches 
und beftimmt nicht bloß über die Gefeßgebung, fondern in mweitgehendem Maße 
auch über die Verwaltung, das letztere insbefondere im preußifchen Staate. 
Ebenſo unnatürlich ift, daß der Stand der Großgrundbefiter, der den Bund der 
Landwirte beherrfcht, feine Intereſſen mit Hochdruck zu vertreten vermag, während 
Handel und Induſtrie nur mit Mühe zu Worte fommen. Der Fall der 
preußijchen Kanalvorlage hat erit foeben die Uebermacht des agrarischen Deutjch- 
lands über das industrielle dargethan. Und doch ift das agrariiche Deutjchland 
außer ftande, auf die Dauer die Lajt des wachjenden Reiches zu tragen. All 
jährlich fteigt unfere VBolfämenge um mehr denn eine halbe Million. Im Ader- 
bau finden die neuen Antömmlinge feinen Platz. Der wachſenden Volkszahl 
wird nur ein nad außen durch unfere Schiffe wachlendes Reid; gereht. Das 
Wahstum des Reiches hängt nicht an den großen Gütern, jondern umgekehrt 
an Handel und Induſtrie. 

Dem Reiche dienen nicht die Kräfte, die ihm an eriter Stelle dienen follten. 
Die auffteigenden Mächte, auf denen die Zukunft unſeres Volkes ruht, fommen in 
der beitehenden innerpolitiihen Mactverteilung nicht zu naturgemäßer Entwidelung. 

Es ift etwas krank in unferem Volkskörper. Die Krankheit ift die Sozial— 
demokratie. Durd) die Sozialdemokratie fteht die Arbeiterpartei, die Partei mit 
der größten Wählermaffe, in Gegenfat zum Neid. Sie hat zwar mitgewirkt, die 
Handelsvertragspolitit des Grafen Eaprivi zum Siege zu führen. Sonft aber 
fett fie allen Lebensforderungen des Reiches ein jchroffes Nein entgegen. Darum 
muß das Reich bei der katholiſchen Partei Zuflucht juhen. Darum führen die 
Intereſſen des Großgrundbefiges jo überlaut das Wort. In dem Dafein der 
Sozialdemokratie wurzelt der Mißſtand unjerer politiihen Verhältnifje: die Ueber— 
macht des Centrums und des Bundes der Landwirte. Eine große Bolf3partei 
ift den Intereſſen des deutfchen Volkes feindlih! Das iſt es, was ung Frank madıt. 

In den beftehenden politifchen Mactverhältniffen waltet die Gerechtigkeit, 
aber die Gerechtigkeit, welche Strafe für begangene Schuld bedeutet. Gewiß 
liegt ein Teil der Schuld bei der Arbeitermenge, die dafür mit politiicher Einfluß- 
lofigfeit büßen muß. Ebenſo gewiß aber liegt ein großer Teil dev Schuld bei 
der herrjchenden Klaſſe. Bon oben, aus den herrichenden Kreifen, kommt alles: 
fommt Segen und Unfegen für das Bolf. Die Verantwortung für die Ent: 
widelung der Nation fällt immer an erfter Stelle auf die Gebildeten, die 


726 Rudolph Sohm, Das grökere Deutfchland und die innere Bolitif. 


Herrichenden. Die Herrichenden haben ihre Pfliht gegen die Niederen nicht 
gethan. Insbeſondere gilt das von den herrſchenden Kreiſen des Protejtantismus. 
Ihre Strafe ift zugleich das Webergewicht der Fatholiihen Partei und die Ent- 
ftehung der Sozialdemofratie. 

Der wirtfchaftliche Lebenskampf der niederen Menge ift ein Kampf um die 
Bedingungen des Arbeitsvertrages, um Gteigerung des Arbeitälohnes, um 
Kürzung der Arbeitäzeit. Das Mittel des Kampfes mußte die gewerfichaftliche 
Drganifation des Arbeiterftandes fein, eine Organifation, welche die Arbeiter in 
den Stand fette, bei Abſchluß des Arbeitövertrages als freier Vertragsteil ein 
enticheidendes Wort mitzufprehen. Zum Arbeitävertrage gehören zwei Teile, 
der eine, der die Arbeit anbietet, der andere, der die Arbeit nimmt. Der ver: 
einzelte Arbeiter muß die Arbeit fo nehmen, wie fie ihm angeboten wird, bei 
Strafe des Hungerns für fi) und feine Familie. Der organifierte Arbeiter will 
die Arbeit nur jo nehmen, wie fie mit feinen Lebensinterefjen vereinbar ift. Er 
will die Mitherrfchaft über den Arbeitsvertrag. Das ift von geltenden Gejekes 
wegen fein Recht. Denn er ift von Rechts wegen ein freier Arbeiter. Die Mit: 
herrſchaft über den Arbeitsvertrag jchließt aber in ihren Folgen eine gewiſſe Mit- 
berrichaft über den Arbeitsbetrieb in fich, über den Betrieb des Unternehmens, 
welches der Unternehmer geichaffen hat. 

Es war Elar, daß die Intereſſen des Unternehmers dadurch auf das em- 
pfindlichfte betroffen wurden. Die ſo lange allein geübte „Herrſchaft im Haufe” 
follte der Unternehmer genötigt werden, mit dem aufiteigenden Arbeiterftande in 
gewiſſem Maße zu teilen. Daraus entbrannte der Kampf. Das war naturnotwendig. 
Ya, es war naturnotwendig, daß der Unternehmerftand ebenfo wie der Arbeiter- 
ftand mit rüdfichtslofer Einfeitigkeit und mit allen Mitteln ausjchlieglid das auf 

‚feiner Seite liegende Intereſſe verteidigte. Das Berhängnis aber war, daß die 
gefamte herrfchende Klaſſe und mit ihr der Staat fi) auf die Seite des Unter— 
nehmerftandes gegen den Arbeiter ftellte. Das einfeitige Unternehmerinterefie 
ward als mit dem öffentlichen Intereſſe zufammtenfallend geachtet. Das Intereſſe 
der Unternehmerklaffe galt für das Intereſſe der herrichenden Klaſſen überhaupt, 
ja für das Staatsinterefje. Die ganze beftehende Ordnung der Gejellihaft ward 
für bedroht angefehen, wenn der freie Mrbeitövertrag des bereits geltenden Rechts 
fich verwirklichte. Es bildete ſich der Begriff der vereinigten „Ordnungsparteien”, 
deren Aufgabe fei, dem Unternehmerftande gegen die „Auflehnung‘ des Arbeiter 
ftandes beizuftehen. Der Beftand der ganzen Staatsordnung ward für bedroht 
ausgegeben, wenn die Forderungen der Arbeiterichaft in Bezug auf den Arbeits- 
vertrag, in Bezug auf Arbeitslohn, auf Arbeitszeit, auf Mitbeftimmung der Ar: 
beitSbedingungen fich verwirklichten. Die praftiihe Durchführung des bereits 
geltenden Rechtes vom freien Arbeitsvertrage erſchien als „Umſturz“ der ganzen 
bejtehenden Rechtsordnung und ward demgemäß behandelt. 


Rudolph Sohm, Das grörere Deutichland und die innere Potitif. 727 


Die Arbeiterfchaft that allerdings alles Mögliche, um diefe Art der Ber- 
teidigung der beftehenden „Ordnung“, ber Ablehnung aller Arbeiterforderungen 
als gerechtfertigt erfcheinen zu laffen. Die Arbeitermenge ward von ihren Führen 
dahin belehrt, daß es in der Natur des beftehenden Staates liege, das einfeitige 
Intereſſe der herrichenden Klaſſe zu verteidigen, daß von diefem Staate daher 
niemal3 Rettung zu erwarten fei, daß diefem Staate, auch dem Deutichen 
Reiche, ald einem bloßen SKlafjenftaate, Lediglich der Haß der Arbeiterklaſſe 
gebühre, daß Heer und Flotte nur ein Mittel zur Unterdrüdung der niederen 
Menge, zur Befeftigung der Herrſchaft der „Ausbeuter“, daß der nationale 
Gedanke nur ein Borwand ſei für die Unterdrüdung der Arbeiterichaft, daß 
darım dem nationalen Staate jedes Mittel feiner Machtentfaltung verweigert 
werden müſſe. So ftellte die deutſche Arbeiterfchaft unter fozialdemokratiicher 
Führung fih in Schlahtordnung gegen das Reich auf. 

Der Wahn, daß Erfüllung der Arbeiterintereffen nur von einem durch das 
Proletariat zu ſchaffenden Zufunftsftaate, nicht aber vom beftehenden nationalen 
Stante zu erwarten fei, machte allerdings die Arbeiterpartei zu einem grundfäß- 
lichen Feinde, nicht bloß der beftehenden Gejellichaftsordnung, fondern des 
beftehenden Staates. Die Berquidung der wirtfchaftlichen, in dem geltenden 
Nechte wurzelnden Arbeiterforderungen mit ganz irre gehenden politijchen Forde— 
rungen mußte notivendig das größte Hindernis für die praftiiche Durchlegung 
der Arbeiterbewegung fein. Die der Freiheit des Wrbeitävertrages dienenden 
Gewerkſchaften wurden infolge ihres politifchen Charakters zugleich das Mittel 
für die Ausbreitung einer politifchen, der fozialdemokratifchen Partei, welche mit 
aller Macht dem Reichsintereſſe widerftrebte. Die Berbindung bes Arbeiter: 
programms mit dem politiihen Programm der Sozialdeınofratie mußte notwendig 
den Anfchein erweden, daß die ganze Arbeiterbewegung als folche ſtaatsfeindlich 
jet. Sie mußte den Staat auf die Seite des IInternehmertums drängen. Gie 
mußte den herrichenden Klaſſen die Unternehmerintereffen als die gemeinfamen 
Intereſſen aller erfcheinen lafjen. Wer die Arbeiterinterefjen vertrat, war not» 
wendig ein „Suzialdemofrat". 

Bon beiden Seiten ward der gleiche Fehler gemadt. Sowohl die herrichen- 
den Kreiſe wie der Arbeiterftand gehen grundjäglid von dem Zufanmenfallen 
der NArbeiterforderungen mit den jozialdemokratifchen Forderungen aus. Die 
Arbeiterbewegung foll unterdrüdt werden, damit die Sozialdemokratie vernichtet 
werde. Das iſt der Standpunkt der herrſchenden Parteien noch heute, ins: 
beiondere der Parteien, die überwiegend aus proteftantiichen Kreiſen hervorgehen: 
der konfervativen und der nationalliberalen Partei. Der Proteftantisiınus ift in 
feiner großen Mehrheit ohne volles Beritändnis für die foziale Frage, d. h. ohne 
volles Berftändnis für die berechtigte Arbeiterbewegung, die hinter der Sozial: 
demofratie fich verbirgt. Darum hat den deutſchen Proteftantismus die Strafe 


728 Rudolph Sohm, Das größere Deutfchland und die innere Politik. 


getroffen, daß gegenwärtig der Katholizismus in der Vorherrſchaft ift. Alles 
Eifern der Eonjervativen und der nationalliberalen Organe gegen den Ultra— 
montanismus und feine Gefahren ift ganz umfonjt und bloße Qufterfhütterung, 
fo lange jene Parteien den Preis nicht zahlen wollen, um den allein die Ueber: 
windung der Macht des Centrums zu haben ift: die Anerkennung des Rechtes 
der Arbeitnehmer, den freien Arbeitsvertrag zu begehren. Die politiihde Macht 
des Proteftantismus wird erft in dem Augenblid wieder hergeftellt jein, in 
welchem die Sozialdemokratie verfchwindet, um einer nationalen Arbeiterpartei 
Plag zu madhen. In dem Mugenblid, in welchem eine national gefinnte Arbeiter: 
ſchaft die Pläße der ſozialdemokratiſchen Reichstagsabgeordneten bejeßt, wird Die 
Macht des Centrums gebrochen jein. Centrum und Sozialdemokratie find gleich- 
zeitig gefommen und werden gleichzeitig gehen. Der Weg zur Bekämpfung der 
Uebermacht des Katholizismus führt mitten durch die ſoziale Frage. 

Aber nicht bloß das Lebensinterefje des Proteftantismus, ſondern ebenio 
das Lebensinterefje des Reiches fordern gebieteriih die Trennung der Arbeiter- 
bewegung von der Sozialdemokratie. In der Arbeiterbewegung vollzieht ſich die 
Erhebung eines Mittelftandes neuer Art. Die gelernten, die beſſer geftellten 
Arbeiter find es, bie ihn bilden. In diefen höheren Arbeiterkreifen aber berricht 
gerade die Sozialdemofratie. Um diefe Sreife Handelt es ſich. Sie müſſen 
dem Reiche gewonnen werden. Sie müfjen mit nationaler Gefinnung 
ſich erfüllen. Der einzige Weg, der zu diefem Biele führt, iſt die 
Erweckung des Gefühle, daß das Reich und fein Recht nicht bloß den 
Intereſſen der herrichenden Klafjen, fondern gerade jo den Intereſſen der auf: 
fteigenden Arbeiterkflaffen dient. Es handelt fih um ein ganz Einfaches und 
zugleich um ein ſehr Großes und Mächtiges, — um Geredtigfeit. Die auf: 
fteigenden Arbeiterkreife find bis jet von unbedingtem Mibtrauen gegen den 
Staat und alles, was von oben fommt, erfüllt. Dies Mißtrauen ift unier 
Feind. Dies Mißtrauen ift die Krankheit unferes Volkskörpers. Dies Mih- 
trauen muß überwunden werden. Das wird der innere Sieg fein, der allein 
auch äußere Siege ermögliht. Das Mißtrauen der Arbeiterkreife wurzelt in der 
vom Staate und von den herrichenden Klaſſen geübten Ungerechtigkeit. Es 
wurzelt darin, daß der Arbeiterbewegung, weil fie mit ſozialdemokratiſchen Ideen 
verfnüpft war, überall der entjchiedenfte Widerftand ſeitens der Staatsgewalt 
entgegengefegt wurde. Großes ift vom deutfchen Staate auf dem Gebiete der 
Arbeiterverficherung, überhaupt des Arbeiterfchuges im Intereſſe des einzelnen 
Arbeiterd gejhehen. Der auf Freiheit, auf Macht über den Arbeitävertrag 
gerichteten Bewegung der Arbeiterflaffe aber ward, weil fie im fozialdemo- 
kratiſchen Gewande auftrat, der Krieg erklärt. Die Staatögewalt wollte die 
Gedanken der Sozialdemokratie durch ihre äußeren Mittel binden. Sie er 
veichte natürlich das Gegenteil. Noch mehr, fie verbitterte die ganze Arbeiter: 


Rudolph Sohm, Das größere Deutichland und die innere Politik. 729 


bewegung, weil der ftaatliche Widerftand gegen die Ausbreitung der jozialdemo- 
kratifchen Lehre im Erfolge zugleich Widerftand gegen die Geltendmahung der 
praftifchen Arbeiterforderungen war. In dem Kampf um ihre wirtfchaftlichen 
Dafeinsbedingungen wurden die Arbeiter von der Staatögewalt gehemmt, weil 
in den Köpfen der Kämpfenden ſozialdemokratiſche Arrlehren lebendig waren. 
Die Arbeiterihaft fühlte jich nicht ohne Grund der gleihen Bürgerrechte mit den 
übrigen Staatsgenofjen beraubt. Sonne und Wind der Staatögewalt waren 
auf feiten ihrer wirtfchaftlihen Gegner. Notivendig mußte der Staat der 
Gegenwart ihnen als bloßer Klaſſenſtaat erfcheinen. 

Das Heilmittel liegt auf der Hand. Die fozialdemokratifche Theorie muß, 
jo lange fie bloße Lehre ift, — und das ift fie — von Staats wegen gerade fo 
frei fein wie jede andere Lehre. Gedanfenfreiheit! Wenn der Staat in dieſen 
Kampf eingreift, macht er das Uebel nur um fo fchlimmer. Die Wahrheit fiegt. 
Die fozialdemokratifche Irrlehre wird ſich von ſelber auflöfen. Sie ift ſchon auf 
dem beiten Wege dazu. Um fozialdemokratiicher Anfichten willen darf niemand 
in feinen Bürgerredhten zurüdgefegt werden. Um der jozialdemofratifchen Lehre 
willen darf niemals der Arbeiterftand in feinen Verfammlungen, in feinem Ber: 
einöwefen, in jeiner Organijation, in der Geltendmachung feiner Intereſſen 
gehemmt werden. Nur wenn die fozialdemofratifche Theorie volle Freiheit hat, 
fi felber auszuleben und ſich felber zu widerlegen, wird fie eine „vorüber- 
gehende Erſcheinung“ fein, wird fie verjchwinden wie ein Raud. Die Gleich— 
behandlung aber des Arbeiterd, auch des ſozialdemokratiſch geſinnten Arbeiters 
niit allen anderen Bürgern unjeres Reichs wird das innerfte Begehren der 
Arbeiterbewegung erfüllen. Denn darum handelt es fih. Der auffteigende 
Arbeiterftand will nicht Liebeserweifungen, jundern das gleihe Recht. Das iſt 
es, um was er fümpft. Wenn ihm das gewährt wird, jchwindet der Stadel 
aus feinem Herzen. Sobald das Reich feine Rechte ſchützt gleid wie die der 
übrigen, wird er das Reichsintereſſe, wie wir alle, zugleich als fein perjönliches 
Intereſſe begreifen lernen, wird er allmählih aus einem Sozialdemokraten in 
einen nationalgefinnten Bürger unferes Reiches ſich verwandeln. 

Eine nationale Arbeiterpartei ift die Löfung aller unferer inneren Schwierig: 
feiten. Eine folche Arbeiterpartei fteht naturnotwendig auf der Seite des Handels 
und des Gewerbes. Sie muß für unfere Schiffe, für unfere Flotte fein. Sie 
ift die Volksmaſſe, die mit dem Reiche hinausgeht auf das Meer. Sie giebt 
unferer Weltverkehrspolitif den notwendigen Riefendrud einer nationalen Gejamt- 
bewegung. Sie wird wie den Proteftantismus von der politijchen Uebermacht 
des Katholizismus, fo Handel und Anduftrie von der politifchen Uebermacht des 
Großgrundbefites befreien. Nod mehr. Sie giebt dem Neiche innere Macht, 
auf welcher allein dauernde äußere Macht beruht. 

Das aufiteigende Deutfche Reich fordert ein auffteigendes deutjches Volk. 


730 Rudolph Sohm, Das größere Deutſchland und die Innere Politik. 


Das Volk, welches die Kraft des Neiches darftellt, ift immer nur die Zahl der- 
jenigen, die bewußt und aus allen ihren Kräften zum Reiche ftehen, um an der 
Emporentwidelung unjeres Volkes mitzuarbeiten. Die übrigen find nur Maffe, 
nicht Voll. Das Volk aber, das wahrhaft lebendige, mitarbeitende, mit- 
wirkende Bolt muß wachſen, damit das Reich wachſe. In alten Zeiten war 
das Volk in diefem Sinne nur der hohe Adel: die führenden Herrengeſchlechter. 
Dem trat dann im Mittelalter der niedere Adel zur Seite. Seit dem 16. Jahr— 
hundert ift auch das Bürgertum in die Reihen des Volkes, des lebendigen Volkes 
eingetreten. Die ganze neuere Geſchichte beruht in diefer Thatſache. Heute will 
und muß das deutiche Volk aufs neue wachſen. Aus den Reihen des Arbeiter: 
ftandes fteigen neue Schichten empor, verlangend, auch bewußten, mitwirfenden Anteil 
an dem Gang der deutjchen Bolksgeichichte zu nehmen. Um die Erfüllung diefes Be- 
gehrens handelt es ſich. Das ift der politifche Inhalt der fozialen Frage. Es fommt 
darauf an, die neu zuwachſenden Glieder mit dem nationalen Geifte zu erfüllen, 
der allein dem Ganzen Lebenskraft verleiht. Es kommt darauf an, den Arbeiter: 
ftand dem deutfchen Volke zu gewinnen. Das deutihe Bolt muß größer fein. 

Das größere Deutfchland verlangt gebieteriich ein größeres deutfches Volk. 
Die ganze gefammelte deutiche Volkskraft muß hinter dem Reiche ftehen in dem 
Augenblid, da das Reich auf den Ozean hinausfchreitet. Die äußere Politik des 
größeren Deutichlands fordert die innere Politif des größeren Volkes. Die Macht 
nach außen kann nur duch Freiheit im Innern gewonnen werden. Aus der 
reiheit der Arbeiterbewegung, aus der Handhabung voller Gerechtigkeit wird die 
Stärkung der Monarchie und die Gefundung des Neiches, wird die innere Eini- 
gung hervorgehen, die allein gegen alle Feinde ftarf macht. Gerechtigkeit erhöht 
ein Bolf. Gerechtigkeit giebt Macht. 

127 


Aus dem ‚Anhang zu den Gedanken und Erinnerungen 
von Btto fürſt von Bismarck“. 


„Mit der heutigen Eröffnung des erlten deuffchen Reichslags nadı Wirderherfiellung 
eines Peutfchen Reiches beginnt die erfe öffentlide Thätigkeit desfelben. Preußens 
Gefchichte und Gelchichke wieſen leit längerer Beil auf ein Ereignis hin, wie es ſich jeht, 
durch deſſen Berufung an die Spike des neugegründelen Reiches, vollgogen haft. Preußen 
verdankt dies weniger feiner Ländergröße und Mac, wenngleich Beides ſich mehrte, als 
feiner geilligen Entmwirkelung und feiner Beeres-Proanilation. In unerwartet [chneller 
Folge haben fidh im Xaufe von ſechs Jahren die Geſchickhe meines Tandes zu dem Glanr- 
punkte entwickelt, auf dem es heute ſtehet. In diefe fällt die Chätigkeit, zu welcher ich Sir 
vor zehn Jahren zu mir berief. In welhem Maße Sie das Bertrauen gerechtfertigt haben, 
aus welchem idı damals den Ruf an Sie ergehen lieh, liegf offen vor der Weit, Ihrem 
Rat, Ihrer Umlicht, Ihrer unermüdlichen Thätinkeit verdankt Preußen und Peulfchland 
das weligefcichllicde Ereignis, welches ſich heute in meiner Relidenz verkörpert.“ 


Aus: Anhang au den Gedanken und Erinnerungen von Dtto Fürſt von Bismard, Bd, I. Kaiſer Wilhelm I. 
und Bismard, Aus dem Briefe Er, Majenät de Kaiſers an Otto von Bismard vom 21. März 1871. 


ESESESESESESESESBSESESESDSES 


Ein Geiprädı mit einem Tlordamerikaner. 
Von 
Wilhelm von Kardorff-Wabnitz. 


9 den Tagen, an welchen die Nachricht von dem tragiſchen Ende des Präſi— 
denten Mectinley hierher gelangte, erhielt ich den Beſuch eines mir aus- 
der bimetalliſtiſchen Bewegung bekannten Herrn, der ſeit länger als einem 
Dezennium, geſchäftlicher Unternehmungen halber, regelmäßig die Hälfte des Jahres 
im Weſten der Vereinigten Staaten zuzubringen pflegt. 

Mr. M. zögerte nicht, unſer Geſpräch auf das uns geläufige Thema der 
Währungsfrage zu bringen, entwidelte dabei aber Anfchauungen über den Zu— 
fammenhang der Währungsfrage mit den Vorgängen in der internationalen 
Weltpolitik, die mir eine Wiedergabe zu verdienen fchienen, welche ich mit feiner 
Genehmigung hierdurch verfuche. 

„Mit der eriten Niederlage Bryans bei der Präfidentenwahl,“ 
fo beduzierte Mr. M., „war der Sieg der Goldwährung auf der ganzen 
Linie entjchieden. Ich Hatte niht Mr. Bryans Theorieen über die Zweck— 
mäßigkeit eines felbjtändigen Vorgehens der Bereinigten Staaten mit Aufrich— 
tung der Doppelwährung geteilt. Am Gegenfaße zu ihm und feinen Anhängern 
hielt ich, wie Sie, die Wiederheritellung des Silberd zum Münzmetall, unter 
Feſtlegung der Wertrelation zwiſchen Gold und Silber, nur möglich auf Grund 
umfafjender internationaler Vereinbarungen. Aber auch unjere währungspoliti- 
chen Freunde haben großenteil3 tapfer für Bryan agitiert und geſtimmt. Sie 
fagten fid), daß, wenn ein &emeinmwefen von der Macht und Bedeutung der Ver— 
einigten Staaten einen jo energifchen Borftoß zu Gunften des Silberd made, 
wie er in dev Wahl Bryans zum Präfidenten gelegen hätte, die ganze Währungs: 
frage damit ind Rollen gebracht werden würde. Die Steigerung des Silber: 
wertes, welche eine jolche Politit nad) fich gezogen hätte, die hierdurd hervor— 
gerufene Veränderung in dem Preisniveau aller Produfte, hätte — fo fagte man 
ſich — aud) die anderen großen Kulturftaaten darauf binführen müffen, die 
kulturelle, die wirtfchaftliche, die finanzielle Bedeutung der Währungsfrage Elarer 
zu erkennen, als fie es bisher vermocht haben.“ 

Ego: €3 war vielleicht von vornherein ein Kardinalfehler, die Währungs: 
frage in Gemeinfchaft mit England regeln zu wollen, ftatt in derfelben das einzige 
Mittel zu erbliden, um die finanzielle, durd; Berallgemeinerung der Goldwährung 
verdoppelte Uebermacht Englands zu brecden. 





732 Wilhelm von Kardorff-Wabnitz, Ein Gefpräch mit einem Nordamerifaner. 


Mr. M.: „Der trügeriiche Anſchein, als ob England felbft, wegen jeiner 
indiihen Valutafchwierigfeiten, oder im Intereſſe feiner gewaltigen Induſtrieen, 
für eine bimetalliftiiche Regelung der Währungsfrage gewonnen werden könne, 
wurde verftärft durch die bekannte, von der Majorität des Unterhaufes angenom: 
mene Nejolution, welde die Wiederherftellung de3 Silber zum Münzmetall 
befürwortete. Aber heute regiert nicht mehr Lancajhire in England, ſondern die 
Chamberlain und Cecil Rhodes, d. h. die Intereſſen der Londoner Börfe, des 
großen internationalen Geldverleiherd. In diefen Intereſſen liegt e3 Tediglich, die 
Schuldnerländer durch die Goldwährung zu nötigen, zur Begleihung ihrer Gold: 
zinfen das doppelte Quantum an Produkten zu liefern, wie die dauernde Steige: 
rung der Kaufkraft des Goldes dies mit fich führt.“ 

Ego: Wie die Dinge heute liegen, ift es überflüffig, darüber noch ex post 
zu pbilofophieren. Die Goldwährung hat, wie Sie felbft fagen, heute auf ab- 
ſehbare Zeit auf der ganzen Yinie gefiegt, und die Welt muß ſich mit diefer That- 
fache abfinden und die Konſequenzen tragen. — Aber wie ed mir fcheinen will, 
war jeit feinem erſten Wahljiege die Popularität MeKinleys in demfelben Mae 
gewwachlen, wie die Bryans ſich vermindert hatte? Und das, obſchon MeSkinlen, 
wie man behauptete, mit Hilfe englischen Goldes gewählt war. 

Mr. M.: „Diefe Behauptung halte ich für unbegründet und unmwahrjcein- 
ih. Engliſche Kapitaliften mögen bin und wieder mit der Zurüdziehung und 
Kündigung ihrer in Amerika angelegten bezw. arbeitenden Stapitalien gedroht haben, 
fall3 Bryan den Sieg davontrüge — eine Drohung, die man Goldwährungs:- 
anhängern nicht verübeln kann —: im übrigen verfügten aber die Parteigenofjen 
Mesinleys im Verein mit den Goldwährungsdemofraten über fo reiche Mittel, 
dab fie auswärtiger Unterftügung nicht bedurften. Ich kann nur wiederholen, 
die Londoner Börfe gab natürlich der Wahl eines prohibitiven Schutzzöllners wie 
Mestinley vor der Wahl eines Silbermannes wie Bryan den Vorzug. Sie war 
fiher, daß das quod non, weldes fie dem loyalen Berfuhe MeKinleys ent- 
gegenfeßte, die internationalen Verhandlungen über Regelung der Währungsfrage 
fortzufeßen, eben den definitiven Sieg der Goldwährung in fich ſchließen würde. 
Vergeſſen Sie auch nicht, daß in jene Wahlzeit der Beginn des kubaniſch-ſpani— 
ſchen Konflikts fiel. Auch Bryan, fall er gewählt wäre, würde zum Kriege, zur 
Annerion Kubas und der Philippinen gedrängt worden fein. Ob aber feiner 
Präfidentfchaft gegenüber England diefen Annerionen jo ruhig zugejehen haben 
würde, wie e3 fie zuließ, nachdem MeKinley vor der Goldwährung fapituliert 
hatte, ift mir ſehr zweifelhaft.“ 

Ego: Sie fcheinen mir anzudeuten, daß die Pafjivität Englands in dem 
ſpaniſchen Konflikte gewiſſermaßen der Preis war, den es ben Vereinigten Staaten 
für die Ueberwindung der Bryanichen Silberpolitif zu zahlen genötigt war? 

Mr. M.: „Ungefähr ja! Und die Popularität, die wachlende Popularität 


Wilhelm von Kardorff-Wabnitz, Ein Gefpräcd mit einem Norbamerifaner. 733 


Meinleys verdankte er zum guten Teil der imperialiftiichen panamerifanifchen 
Politik, die er verfolgte, einer Politik, die fo unmittelbar auf dem ſich von Tag 
zu Tag fteigernden Selbſtändigkeits- und Machtgefühle der gefamten Bevölfe- 
rung ber Vereinigten Staaten beruht, daß eben auch Bryan feine andere Politik 
hätte treiben können. Garlyle führt bei Beiprehung der Teilung Polens, um 
die innere Notwendigkeit jener Kataftrophe nachzuweiſen, gelegentlich) aus, daß 
eine Nachbarſchaft unerträglich fei, in deren Behaufung ununterbroden Feuer 
ausbreche. Eine folhe Nahbarichaft war Kuba für die Bereinigten Staaten, an- 
gejicht3 der durch die ſpaniſche Mißregierung unaufhörlid, hervorgerufenen Aufftände." 

Ego: Und die Philippinen? 

Mr. M.: „Singen dann fo mit — ein fo verrotteter Staat, wie Spanien, 
kann feine Stolonieen beherrſchen.“ 

„Aber Meslinleygg wachſende Volkstümlichkeit beruhte auch nicht zum 
geringften auf dem gewaltigen Aufſchwunge, den unter feiner Präſidentſchaft die 
Vereinigten Staaten politiſch, wirtichaftlih und finanziell genommen haben. 
Prüfen Sie einmal die Statiftit des auswärtigen Handels Nordamerifad während 
der leisten zehn Jahre, und Sie werden über das geradezu phänomenale Steigen 
diefer Ziffern erftaunen. Das gleiche gilt von der Entwidelung der Gejamt- 
induftrie: Eifen- und Textil-Induſtrie, Bergbau in allen ſeinen Zweigen, bejon- 
der3 die Kohlenproduftion, Schiffbau und Landwirtichaft zeigen ein Wachstum, 
das nahezu unglaublich ift. Wir haben in der Weltgefchichte kaum ein Beifpiel 
eines ähnlich fchnellen Aufblühens in jo verhältnismäßig kurzer Zeit." 

„Mefinley zog dann rüdjichtslos die von Wolowski, Seyd, Laveleye vor: 
bergejagten Konſequenzen der Verallgemeinerung der Goldiwährung, indem er die 
Ihußzöllnerifchen Theorieen der Careyſchen Schule durch Aufftellung nahezu pro- 
hibitiver Zolltarife verwirklichte, mit dem Erfolge, daß heute die Vereinigten 
Staaten eine kräftige, aktive Handelsbilanz befigen, daß ihr Barſchatz an Gold 
beträchtlich ftärfer ijt als jelbft der franzöfifche, daß gleichwohl eine ftarfe Tilgung 
der Staat3fchulden hat ermöglicht werden fünnen. Liegt hierin nicht eine prak— 
tiiche Widerlegung der Manchefterfchule mit ihren Freihandelstheorieen, wie fie 
beweisfräftiger faum gedacht werden kann? Die Vereinigten Staaten weiſen 
während diefer Periode ein rapides Steigen der Bevölferungsziffer auf, fie haben 
bei einem beijpiellofen induftriellen Aufſchwunge eine finanzielle Machtſtellung 
errungen, die fie zum Konkurrenten Englands auf dem großen Geldmarkte der 
Welt gemacht hat, und ihre Stimme tünt in dem Konzerte der Großmächte heute 
weit vernehmlicher als je zuvor." 

Ego: Nur verdirbt leider böſes Beijpiel gute Sitten: Die ohne jeden Ein: 
ipruch anderer Mächte vollzogene Einverleibung Kubas und der Philippinen hat 
vielleicht dazu beigetragen, die Gewaltspolitit Englands Transpaal gegenüber 
mit bervorzurufen! 


734 Wilhelm von Kardorff-Wabnis, Ein Gefpräch mit einem Nordamerifaner. 


Mr. M.: „Selbft wenn man dies zugeben wollte, müßte man anerkennen, 
daß die Vereinigten Staaten den Beitpunft der Löſung der Hubaner Frage rid): 
tiger wahrnahmen. Diefe Frucht war reif, fie mußte bei energifhem Scütteln 
des Baumes den Amerikanern in den Schoß fallen. Aber die Transvaalaftion 
war meines Erachtens eine voreilige. Bei der ftarfen engliihen Einwanderung 
nad Südafrika, der Macht des dort arbeitenden englifchen Kapital wäre Trans- 
vaal — jelbft bei formeller äußerer Unabhängigkeit — in nicht allzulanger Zeit 
völlig von engliichen Intereſſen beherrfcht worden. Die Frucht wäre von felbit 
England in den Scho gefallen. Aber Cecil Rhodes und Genoffen konnten die 
Zeit nicht erwarten, und fo wurden dem engliichen Volke die Gefahren des Afri— 
fanderbundes und die Notwendigkeit der Sicherung bes Seeweges nad) Djftindien 
vorgefchwindelt, um die Einverleibung Transvaals ald eine notwendige, hoch— 
politifche Aktion rechtfertigen zu können, während Kapſtadt fi, auch bei etwaiger 
Verwirklichung der Afrifanderpläne, für die völlige Unabhängigkeit Südafrikas, zu 
einem zweiten Bibraltar hätte herftellen lafjen, das den Engländern die Sicherung 
des indiichen Seeweges fo gut verbürgt haben würde, wie das ſpaniſche Gibraltar 
ihnen den freien Zugang zum Mittelländifhen Meere fichert.“ 

Ego: Bei allen Sympathieen für die Boeren, die ich mit der ganzen deutfchen 
Bevölkerung teile, kann ich doch nicht umhin, das ftarfe englifche Nationalgefühl 
zu bewundern, welches, nachdem der Krieg einmal begonnen, das ganze englifche 
Volk ohne Murren die Opfer tragen läßt, welche diefer ihm auferlegt. Ach 
wünfchte, wir wären in Deutichland erjt fo weit! 

Mr. M.: „Ich ſtehe diefer Ericheinung doc etwas ffeptifcher gegenüber. 
Wir haben in Preußen eine für ein zivilifiertes Yand etwas rüdftändige Inſtitution 
in der Staatälotterie. England befitt eine ſolche nicht, dafür fpielt man dort in 
ſüdafrikaniſchen Goldfhares, die in Eleineren Beträgen bis zu 1 Pfund herunter 
unter der Bevölkerung vertrieben werden. Dieſe Shares befizen alle Volks-. 
fhichten von den upper ten thousands, den Lords und Herzögen herunter bis 
zum Haushälter und der Köchin. Und dieſer Beſitz ift deshalb ein Hazardipiel, 
weil die Shares außerordentlich verfchieden in ihrem reellen Werte find. Sie 
haben Shares von den guten Goldminen, die bis zu 70 oder 80 Prozent pro Jahr 
gebracht haben und noch weitere hohe Dividenden in Ausficht ftellen, aber es giebt 
aud) eine Anzahl Shares ſehr zweifelhafter Natur, Shares von Minen, die noch 
längft nicht in Betrieb gejeßt find oder bei denen die Wahrfcheinlichkeit dafür 
befteht, daß fie wegen Armut der Erze oder befonderer Betriebsfchwierigkeiten 
niemals Dividenden geben können. Solche minderwertige, von Schwindelfirmen 
in Kurs gefette Shares laufen in großer Anzahl um, und der Krieg bietet den 
unlauteren Gmittenten die willfommene Entjchuldigung, daß von Dividenden 
natürlich feine Rede fein könne, bis die damned boers endgültig zu Boden ge- 
worfen fein würden. Die große Menge der Inhaber ift thöricht genug, dies zu 


Wilhelm von Kardorfi-:Wabnik, Ein Geipräh mit einem Nordamerifaner. 735 


glauben, oder optimiftilch genug, um anzunehmen, daß gerade die Shares, die in 
ihrem Befige find, noch auf eine glänzende Zukunft rechnen künnten. Diefe alle 
glauben alfo, ein großes Intereſſe an der fiegreichen Durchführung des Krieges 
zu bejigen. Ohne die durch die Aechtung des Silber hervorgerufene ftetige 
Steigerung der Kaufkraft des Goldes würde meiner Meinung nad) die gute Hälfte 
der ſüdafrikaniſchen Minen überhaupt feine Dividenden geben.“ 

Ego: Aber gerade diefe unfere alte Theorie von der durch Verallgemeine- 
rung der Goldwährung ftetig fteigenden Kauffraft des Goldes, id est eines an- 
baltenden auf alle Rohprodufte und Stapelartifel ſich erftredenden Preisdrudes, 
war, wie Gie wiljen, die angefochtenfte aller unferer Behauptungen, mochten wir 
ung auf die Autorität von Goldwährungsanhängern wie Giffen oder auf die Un- 
fehlbarfeit der Sauerbedihen Preisftatiftit berufen. Und fchließlich ift der Gold- 
reihtum Südafrikas ein jo großer, daß er die Gier ber Cecil Rhodes und Kom— 
plizen gereizt haben würde, auch wenn durch die Konkurrenz des Silberö als 
Münzmetall der jpezifiiche Wert des Goldes in den alten Grenzen geblieben wäre. 

Mr. M.: „Vielleicht ja; — ic) beabfichtigte nur, Ihrer zu idealen Auffaffung 
von der nationalen Opferwilligkeit des englifchen Volkes einen Kleinen Dämpfer 
zu geben. Wäre diefe jo groß, jo könnte es nicht mit fo großen Schwierigkeiten 
verbunden fein, Refruten für den Krieg anzuwerben.“ 

Ego: Troß diefer Schwierigkeiten fürchte ich, werden die Boeren ſchließlich 
der Uebermacht unterliegen. 

Mr. M.: „Weshalb? Die Lage der Amerikaner im Unabhängigkeitskriege war 
jahrelang aud eine jehr ſchlechte; und Yriedrih der Große hatte nach dem 
ihlinmen Jahre der Schladht von Hunersdorf eine größere Uebermacht gegen 
fi, wie fie heute den Boeren gegemüberfteht! Ach bin noch fo altfräntifch, an gewiſſe 
Imponderabilien in der Weltgefchichte — unter anderen an eine göttliche Welt: 
regierung — zu glauben, deren Abfichten und Ziele ung ja verborgen bleiben, deren 
Beftehen aber menfchlihe Wahrfcheinlichkeitsberechnungen ziemlich wertlos macht.“ 

„Jedenfalls hat das Preftige Englands einen ftarfen Stoß erhalten, es muß 
heute mit gebundenen Händen zufehen, was Rußland in Afien, die Bereinigten 
Staaten in Amerika und dem Stillen Ozean ins Werk ſetzen, um ihre Macht— 
ftellung zu befeftigen. Mag der Transvaalkrieg auslaufen, wie er wolle: nad) 
feiner Beendigung wird England ſchon in den Vereinigten Staaten in finanziellen 
und wirtfhaftlichen Fragen einen Rivalen vorfinden, deſſen Bedeutung täglich 
wächſt — ganz abgejehen davon, daß die Amerikaner, die Yranzofen, die Ruffen, 
die Japaner und nicht an leßter Stelle unfer deutfches Vaterland inzwifchen in 
den Belit von Kriegsflotten gelangt fein werden, die auc für England dann um 
fo weniger eine quantite nögligeable fein dürfen, als doch eine Koalition ein- 
zelner diefer Mächte nicht zu den Unmöglichkeiten gehört!” 

Ego: Darf ich mit einer Zwifchenfrage kommen? Nach den amerikanischen 


736 Wilhelm von Kardorff-Wabnitz, Ein Geſpräch mit einem Nordamerifaner. 


Zeitungen ſcheint in den Vereinigten Staaten eine mir nicht recht verftändliche 
Animofität gegen Deutichland zu beftehen. Wodurch ift diefe hervorgerufen? 

Mr. M.: „Nur duch Preßpiraten, welde in engliſchem Intereſſe Deutjch- 
land und die Vereinigten Staaten an einander zu hetzen ſuchen. Man fucht den 
Glauben hervorzurufen, daß Deutſchland darauf verjejjen fei, in Südamerika 
Kolonieen zu erwerben, um den Strom deuticher Auswanderer dorthin zu kon— 
zentrieren, und nad) der heute etwas erweiterten, ganz Amerifa umfpannenden 
Monroödoftrin leitet man daraus Eünftige Konflikte zwiichen Deutfchland und den 
Bereinigten Staaten ab!“ 

Ego: Beftrebungen, deutiche Auswanderer nad) den dort fchon beitehenden 
deutjchen Anfiedelungen in Südbrafilien zu dirigieren, beftehen unzweifelhaft, von 
einem Wunſche, dort deutfche Stolonieen wie in Oft: und Weftafrifa zu erobern, 
ift mir bis heute noch nichts befannt geworden. Wenn irgend melde deutjche 
Kolonialſchwärmer vielleicht einmal ſolche Ideen haben laut werden laffen, fo 
fann man diefe doch unmöglich fofort ernfthaft nehmen. Daß die deutjche Reichs: 
regierung und der deutjche Reichstag fehr geneigt jein follten, zu unferen Eolo- 
nialen Engagements in Oft: und Weftafrifa, China und dem Sunda-Ardipel 
noch folde in Südamerika hinzuzufügen, ift fo außerordentlih unmwahrjcheinlich, 
daß es mir doc kaum erflärlich ift, wie man ſolchen Konjekturen und Phantafieen 
in den Vereinigten Staaten irgend eine Beadhtung ſchenken kann. 

Mr. M.: „Sie ziehen nicht in Betradht, daß nad meinen Wahrnehmungen 
die Amerikaner das leichtgläubigfte Wolf der Erde find, ſtets bereit, auf alle 
möglichen Flunkereien einer gewiſſenloſen, fenfationsfüchtigen Preſſe hineinzufallen. 
Es befteht für die amerikaniſchen Staatdmänner eine Hauptfchwierigkeit darin, 
daß fie fortwährend mit populären Strömungen rechnen müſſen, deren Unver- 
nunft ihnen nicht entgeht, deren fie aber gleichwohl nicht Herr zu werden ver- 
mögen, denn der Einfluß der Brefie ift in den Vereinigten Staaten doch ein weit 
größerer als in den europäiſchen Ländern. Glüdlicherweife befteht aber auch das 
Gegengewicht gegen antideutfche Agitationen in der zahlreihen und einflußreichen 
deutfchen Bevölkerung Amerikas, die noch mit taufend Banden am alten Heimat: 
lande hängt! Aber meine Zeit drängt. Auf Wiederfehen im nächften Jahre!“ 

Ego: Hoffen wir zum mindeften, daß die grundlofe Animofität gegen 
Deutſchland fid) bis zum Beginne der Berhandlungen über einen neuen Handels- 
vertrag gelegt haben wird, die ohnehin Schwierigkeiten genug bieten werden. 

Mr. M.: „Für diefe Verhandlungen ift es für Deutfchland von Vorteil, daß 
bei den gegenwärtigen Handelsbilanzen, welche fehr zu unferen Ungunften und 
zu Gunſten der Vereinigten Staaten ſtehen, die letteren fi) nicht wundern dürfen, 
wenn wir ihr eigenes Syftem felbjtändiger ſehr hoher Schußzölle adoptieren, um 
einen billigen Ausgleich der Ein- und Ausfuhrwerte zu finden. Ob die Ver: 
bandlungen aber überhaupt ein Ergebnis haben werden, ift mir zweifelhaft. Die 


Wilhelm von Kardorff-Wabnitz, Ein Gefpräch mit einem Norbamerifaner. 737 


Yereinigten Staaten bedürfen einer Einfuhr vom Auslande kaum, denn fie können 
alle notwendigen Konſumartikel jelbft produzieren und machen in der Fabrikation 
aller Waren riefenhafte Fortfchritte. Bei der in Deutfchland vorherrfchenden 
agrariichen Strömung ift e8 mir andererfeits nicht wahrfcheinlich, daß in Getreide- 
und Fleifchzöllen nennenswerte Konzeffionen an die Vereinigten Staaten gemadıt 
werden fünnen." 

Ego: Der deutjche Reichätag wird für ſolche allerdings kaum zu haben fein 
und wird fich jedenfalls durch die lächerliche Bedrohung mit einem Baummoll: 
ausfuhrzoll nicht einjchüchtern lafjen. Andererfeit3 aber ftehe ich perjönlich noch 
heute zu dem Bismardihen Grundfage, die Verquidung wirtfchaftlicher und 
politiiher Fragen nit für zuläffig zu halten und das Erfaufen politischer 
Bundesgenofjen durch wirtfchaftlihe Konzeffionen für einen groben Unfug und 
eine große Thorheit zu erachten. 

Mr. M.: „Sie denfen an die Handelspolitit des Grafen Caprivi und ihre 
Motivierung, und ich bin geneigt, Ihnen im ganzen in Ihrer Auffaffung über die 
Notwendigkeit des Auseinanderhaltens wirtfchaftliher und politischer Intereſſen 
in der hohen Politik zuzuftinmen, und ganz in&befondere bezüglich unferer Politik 
den Bereinigten Staaten gegenüber. So wenig diefe fih in ihren wirtfchaftlichen 
Intereſſen durch irgend welche Nüdfichten auf das Ausland beeinfluffen laſſen, 
jo wenig braudyen wir in unferer Wirtfchaftspolitik ihnen gegenüber ängftlich zu fein.” 

„sn der übrigen Politik eriftieren zwifchen Deutfchland und den Vereinigten 
Staaten gar feine Reibungsflächen, es wäre daher wunderbar, wenn die Bezie- 
bungen zwiichen den beiden großen Kulturländern ich nicht dauernd zu immer 
näheren und freundichaftlicheren gejtalten follten.“ 

Ego: Möchten Sie recht behalten! 


9. 
Aus dem „Anhang zu den Gedanken und Erinnerungen 


von Btto Fürft von Bismard“. 


„Ic danke Gott, da er mein Ber; lo geflimmt haf, denn Eurer Majeflät Buirieben- 
heit habe idı eriwerben können, den Beifall der Andern aber Jelten und vorübergehend. 
Id danke aber aucd Eurer Majefläf für die UHnmwandelbarkeit, mit welcher Allerhöchſt- 
diefelben mir in dem langen Beilraum von mehr als pwanzig Jahren, unbeirrt durch die 
Angriffe meiner Gegner und durch meine eigenen mir mohlbehannien Fehler, in den 
ſchwieriglſen und in den ruhigen Zeiten Mets Ihr Bertrauen bewahrt und mir ein huld- 
reicher Berr geblieben find. Weiler bedarf ich auf diefer Welf, neben dem Frieden mit 
dem eigenen Gewiſſen vor Gott, nicht mehr. Gofles Segen ift mit Eurer Majellät 
Regimen! gewefen und haft Eurer Majellät, vor anderen Wonardıen, die Großen ausge- 
führt haben, den Borzug gegeben, dak Allerhöhftdern Piener mit Pankbarkeif gegen Eure 
Majefläf auf ihre Pienflleiflungen zurückblicken. Pie Treue des Berrſchers erzeugt und 
erhält die Treue feiner Piener.“ 


Aus: Unhang zu den „Gedanken und Erinnerungen’ von Otto Fürft von Bismard. Bd. l. Kaiſer Wilhelm 1. 
und Pismard, Mus cineın Briefe Bibmarcks an Kaiſer Wilhelm ]. vom 25. Dezember 1889. 


47 


Telieiie 





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Nleues aus Bismarks Werkitatt. 
Ein Beridıt 
von Eridı Mardks. 


1. Anhang zu den „Bedanfen und Erinmerungen” von Otto Fürſt von Bismard. 
I. Ratjer Wilhelm I. und Bismard. 360 ©. TI. Aus Bismards Briefmechfel. 567 ©. Stutt- 
gart u. Berlin, Gotta. 

2. Robert von Keudell, Fürft und Fürſtin Bismard. Erinnerungen aus den Jahren 
1846 -1872. Berlin u. Stuttgart, Spemann. 497 ©. 


D* der Genius auc über das Grab hinaus fein Volk immer von neuem beichentt, 
das lient im feinem Wefen begriffen; es gilt vom großen Staatsmann ebenjo wie 
etwa vom großen Dichter; es wird von Otto von Bismard gelten, wenn jemals von 
einem Früheren: feine Thaten und jeine Art bleiben lebendig und fchaffen und wirken 
unabläffig fort. In diefen erften Zeiten nad) jeinem Tode hat er uns überdies noch in 
befonderem Sinne, fat alljährlid), mit ganz greifbaren Gaben feiner Hand überrajdt. 
1898 find die „Gedanken und Erinnerungen“ herausgetommen, als fein unmittelbares 
biftorifch-politiiches Vermächtnis; zwei Jahre darauf hat fein ältefter Sohn die uner- 
ſchöpflich ſchönen Briefe an die Braut und Gattin veröffentlicht, die in Bismarcks perſön— 
lichites Leben und Fühlen hineinblicen liegen wie nichts fonft; jekt bietet er aus dem 
Nachlaſſe des Vaters über 700 Stüde von deffen Briefwechſel als „Beläge und Er: 
gänzungen* der „Gedanken und Erinnerungen” dar, Stüde, deren Derausgabe der alte 
Fürft noch jelber angeordnet hatte. Wir dürfen dem Fürften Herbert Bismard herzlich 
dankbar fein, daß er jene Anordnung fo reich und jo bald verwirklicht hat. Er hat die 
technifche Arbeit des Herausgebers diesmal, wie einjt bei den Denkwürdigfeiten jelbit, 
in die zuverläffigen Hände Horit Kohls gelegt. Die Berdienfte all diefer Aus- 
gaben, wie der früheren Kohlichen Publikationen, find oft und mit gutem Rechte 
gerühmt worden; man braudt, um ihre Vorzüge, ihre ganze Bornehmheit angudeuten, 
nur auf die bedauerliche Maffenproduftion hinzuweijen, an die der Name des Herren 
von Poſchinger erinnert. Kohl hat Verweifungen und Erläuterungen beigefügt, die den 
meiften Lefern nur etwas gar zu fparfam und gar zu fnapp erfcheinen werden; er hat 
jedem Bande ein dankenswertes Negifter angehängt. Die Verlagshandlung*) hat dieje 


*) Sie bat jett auch die 6 Bände des (feit 1899 erlofhenen) Bismard » Jahrbuches in 
ihren Berlag übernommen. it es wohl erlaubt, ihr da den lebhaften Wunſch zu unterbreiten, 
fie möge auch für die ‚Fülle der dort zerjtreuten Aftenftüde ein gemeinfames Regifterheft druden 
laffen, das bie koftbare Sammlung erit in bandlicher Weife vermwertbar machen und das ihr 
jeder Benutzer hoch anrechnen würde? Kohl, der ja den „Gedanken umd Erinnerungen‘ 1900 
ein gleiches bat folgen laifen, wäre jicherlich bereit, auch fein Jahrbuch auf diefe Weile erit 
völlig aufzufchliegen ! 


Erich Mards, Neues aus Bismards Werkitatt. 739 


neuen Bände, wie den vorjährigen, ganz vortrefflich ausgeftattet; an die Klagen, zu denen 
das Aeußere der Memoiren i. J. 1898 Anlaß gegeben hatte, gemahnt bei diefem „Anhange“ 
nichtö mehr als der Einband, den man nun freilich wohl gezwungen war, dem Mufter 
des einmal vorhandenen Einbandes der „Gedanken und Erinnerungen“ anzupaffen. 

Der Wert des neuen Geſchenks ift außerordentlid) groß. Es wird nicht aus- 
bleiben fünnen, daß diefes oder jenes Stüd, diefes oder jenes Urteil hier oder dort 
Mipfallen erregt; dafür ift Bismarck nun einmal Bismard. Der Hiftorifer nimmt 
Alles, was ihm Hier geboten ift, mit ungemifchtem Wohlgefallen als einen reinen Gewinn 
entgegen — aber das, jo meine ich, darf auch der Patriot. 

Als „Beläge und Ergängungen der jelbjtbiographiichen Darftellung” bezeichnet das 
Vorwort die neuen Aktenſtücke. Einen in ſich gefchloffenen Charakter trägt mit feinen 
359 Nummern des Briefmechjeld zwiſchen Kaiſer Wilhelm I. und feinem Kanzler der erſte 
Band; der zweite enthält in zeitliher Neihenfolge ein buntes Allerlei; in engeren Be— 
iehungen zum Texte der Denfwürdigfeiten ftehen fie beide nicht. Man weiß ja, wie 
zwanglos und teilweije zufällig die Kapitel der „Gedanken und Erinnerungen” entjtanden 
find; zwanglos fügen ſich auch diefe Briefe, fei es in die Erzählungen, fei es in die Lücken 
des älteren Werkes ein. Vieles Hauptjählihe natürlidy fehrt hier wieder. Im 
Einzelnen erhält die Forjchung, die fih der Geſchichte Bismards ja früher, reichlicher 
und ernfthafter hat bemächtigen dürfen, als wohl jemals der Gejchichte eines noch 
Lebenden oder eben erſt Verftorbenen, eine Fülle von Stoff und zugleich von Aufgaben. 
Sie wird dazu eingeladen, die Dokumente mit der Darftellung zu vergleichen, fie, bis 
in die feinen Züge hinein, mit allem Befannten kritiſch zuſammenzuhalten und in Ber- 
bindung zu ſetzen. An diefer Stelle handelt e8 fid) um ſolche Verarbeitung nicht; Streit- 
fragen habe id; nur dann und wann im Vorübergehen zu berühren; ich wünſche hier 
lediglich auf den allgemeinen Sfnhalt der Bände hinzumeifen. 

Am unmittelbarjten erinnert der erjte an bejtimmte Abfchnitte der „Gedanken und 
Erinnerungen”, zumal an das berühmte Kapitel 32: Kaiſer Wilhelm I. Fürft 
Bismard hat gewollt, daß „das einzigartige Verhältnis, in dem er zu feinem Aller: 
höchften Herrn ftand“, jo greifbar wie nur möglich veranschaulicht würde; es ift ja für 
beide Männer das politifch entjcheidende und eines der perſönlich wichtigsten ihres ganzen 
Lebens. Wir haben diefem Bewußtſein Bismard3 bereits früher, zu Kaiſer Wilhelms 
100. Geburtstage, eine reiche Auswahl feiner Klorrefpondenz mit dem Kaiſer zu danfen 
gehabt; auf Grund ihrer habe u. a. auch ich feit 1897, feit der erften Ausgabe meines 
„SKaifer Wilhelm J.“, mid; immer von neuem bemüht, dieſes Verhältnis in feinem 
Weſen und feinen Wandlungen zu erfaflen Jetzt haben wir an Einer Stelle den ge- 
famten Briefwechſel — vollftändig oder doc faft vollftändig, wird man vermuten dürfen 
— bor ung, wenigſtens joweit er in Bismards Händen geblieben ift, foweit er etiwa 
nod) als ein „perfünlicher” Briefwechjel bezeichnet werden fann; das Bild, das wir und 
bisher machen fonnten, wird bereichert, aber es wird beftätigt. 

Ein ausgezeichnetes Bildnis des alten Herrſchers von 1863 — wenn ich nicht irre, 
nad) einer Photographie aus Bismards Arbeitszimmer zu Friedrichsruh — ift dem Bud) 
vorgejest, etwa 20 feiner Briefe, von 1852 bis 1887, und 3 von Bismard, find ihm, in 
autographiicher Wiedergabe, eingeheftet worden: Blätter, die man glücklich ift, fo zu 

47* 


740 Erich Mards, Neues aus Bismards Werkitatt. 


befigen. Man erftaunt, zu beobadıten, wie ungewöhnlich lange ſich Kaifer Wilhelms 
Handſchrift ihre flüffigen und kühnen Züge faft ungeſchwächt bewahrt hat, bis tief in 
die 80er SYahre hinein; noch der erite Brief des Mers fällt auf durd verhältnismäßig 
große Friſche, und erft der leite, vom Dezember 1887, jpiegelt unmittelbar das jähe 
Sinfen der Sträfte: der Schwung der älteren Zeiten dringt da nur noch eben hindurd). 
Die meiften der Briefe find offenbar raſch hingeichrieben; man jpürt ed an Wieder: 
bolungen und Fleinen Entgleifungen, zumal nad) dem Seitenwechſel: ein Zeugnis des 
lebhaften innerlihen Auges, der dieje Feder leitete, und dem der Kanzler jelber 
(G. u. €. II. 290) jo treffende Worte gewidmet hat. Das geiftige Bild des Monarden 
vollend8 gewinnt durd) die neuen Briefe, wie es jeit langem durd jede Bereidherung 
unjeres Willens immer nur gewonnen hat. Wieder tritt es auch hier in einer Menge 
lebendiger, Eleiner Züge voll Menjchlichkeit, Liebenswürdigfeit und Heiterkeit vor den 
Leſer hin; zumal aber jeine perſönliche Größe und die Stärfe und der Umfang feiner 
politiichen Intereſſen zeichnen fich, manchmal überraihend, ab. Der König erfaßt 
Inneres und Aeußeres mit jelbjtändigem und eindringendem Anteil: das gilt für alle Zeit: 
räume, in die wir hineinbliden, beinahe gleihmäßig; und die Grundzüge feines politijhen 
Fühlens und Urteilens find fräftig und pofitiv. Wie lebendig jpriht er in dem 
Schreiben vom 21. März 1871, das den Stanzler in den Fürftenftand erhebt, in jeiner 
ganz perjönlichen, altfräntifc umftändlichen und doch, wie Bismard gejagt hat, „ge 
winnenden, ja begeifternden“ Art feinen Glauben an die Berufung feines Preußens und 
an deſſen leitende Kräfte, „geiltige Entwidelung und Heeres-Organifation“, aus! Wie 
ftark betont er feine proteftantifche und (im Gegenſatz zum Polentume) feine ſtaatlich 
preußiſche Anjchauung! Und wie lehrreich und padend ift der Anblic von grundlegender 
Uebereinftimmung und dod) immer neuer Abweichung, Nuseinanderfegung, von Zuſammen— 
ftoß und Zuſammenwirken, in jeinen Beziehungen zu feinem gewaltigen Minifter! 
Bismard ift und bleibt da überall der „Herbeiführer der mächtigen Ereigniffe“, wie ihn 
der Saifer in einem Einzelfalle nennt: aber auch deffen Rolle ift, perfünlicd und ſachlich, 
recht groß. 

Ich zähle die Stadien der Yaufbahn nur auf, die hier beſonders erhellt werden: 
in den 50er Jahren Gemeinfamfeit der Richtung gegen Defterreich, bald freilich ein 
weites NAuseinandergehen in den Zeiten des Krimkrieges; doch hilft Bismard zwiſchen 
König Friedrich Wilhelm IV. und dem Prinzen von Preußen, nad) ihrem heftigen 
Konflikte im Frühjahr 1854, die Berfühnung vermitteln. Dann die Anfänge des großen 
Minifteriums, 1863 und 1864 zumal, die Blütetage des Verfaſſungskampfes und die 
Borbereitung und Durhführung des dänischen Krieges. In Alles greift König Wilhelm 
da ein, Sleines und Großes, Formfragen und Lebensfragen; jeine Aufträge, Erkundi— 
gungen, Bedenken, Mahnungen find ebenfo zahlreid; und fpeziell, wie lebhaft, ja erregt; 
der Ton im erjten Jahre oft kurz und befehlend, faft militärisch; der Gegenſatz der 
Tendenzen und Perſonen in der jchleswig-holfteinifchen Angelegenheit ift jchneidend: der 
König deutich und auguftenburgiich, voller Sorge und Nergernis; der Minifter preußiſch— 
anneftioniftiih. Und ebenfo im Frühjahr 1866 ein dramatifches Ringen, ein Drängen 
und Wibderftreben, heftiges Aufbraufen und banges Ueberlegen; großartig hebt ſich in- 
mitten diefer Kämpfe die Klarheit heraus, mit der der Minifter, dicht vor der Ent- 


Erid; Mards, Neues aus Bismards Werfitatt. 741 


icheidungsftunde, (2. Mai), die Yage Europas, die Menge der Gefahren und der Möglich- 
feiten ütberichaut und darlegt. Schon 1864 ift der Abſchluß ein voller und großherziger 
Dank an Bismard gewefen; feit dem dänischen Kriege hat fi überhaupt der Ton in 
König Wilhelms Aeußerungen verändert. Amt 16. Juni 1866 folgt, nadı allen Schwan: 
fungen, auf den Kriegsausbruch ein tiefes Aufatmen, ein raſch und frei auf das Papier 
gerworfener Ausruf: „Jo find denn die Würfel geworfen! Gott allein fennt den Ausgang 
diefes Anfangs! Entweder wir fiegen oder werden mit (Ehren ertragen, was der 
Himmel über Preußen bejchliegt!!“ Und den einfach tapferen Worten, die in diefem 
Munde einen lebendigen Sinn befigen, entfprady die That. — Aus den Jahren nad) 
1866 hebe ich die Meinungsverfchiedenheiten über die Behandlung der neuen Provinzen 
(1867) und über die Art der Bekämpfung des Defizits (1868) hervor. Die langen Briefe, 
die der König dieſer zweiten Frage widmet, gehen in unerwartetem Make in das 
politische, faft in das technifche Detail ein und bemühen ſich mit rührender Beicheiden- 
heit, den Minifterpräfidenten fachlich) zu überzeugen. Als Bismard dann nachgiebt, 
dankt ihm der König in überftrömenden Wendungen, die man (S. 183) nadjlejen und 
auf fich wirken laffen muß, jo gang königlich und doch fo ganz herzlich und freundichaft- 
lih: man begreift an ſolchen Stellen erft jo recht von innen heraus die Piebe des großen 
Dieners zu diefem Herrn und weshalb er (1869) „die Kämpfe gegen den König gemütlich 
nicht aushalten konnte“. Den Schriftenwecjel, in dem die Kämpfe diefer Jahre gipfeln, 
der an Ujedoms Entlaffung anfnüpft und Bismards eigenen Rüdtritt diskutiert (S. 189 bis 
19), haben wir bereit3 früher gefannt: beide Männer erjcheinen in ihm in ihrer, vollen 
Eigenart. Die Briefe aus den 70er und 80er Jahren enthalten manderlei Neues für 
die Weife, wie innerhalb des immer zarter und perjönlicher gewordenen Verhältniffes zum 
Reichskanzler der Kaijer fi doch auch jett noch ftet3 wieder zur Geltung bradite in 
Fragen der forgfältig verfolgten parlamentarifhen und der großen europäiſchen Politik 
und auch des jpeziellen diplomatifchen Dienstes; wie Bismard ihm die Dinge vortrug und 
flug nahebrachte und feinen eigenen Stand mwahrte, aber auch wie der König jelber in 
fie hineinſprach. Da wird, neben bezeichnenden Korreſpondenzen über Falk und die evange- 
liche Kirche, jenes „ungewöhnlich ungnädige* Schreiben vom Ende Dezember 1877 ab— 
gedrudt, das fo fchroff in die Verhandlungen über Bennigjens Eintritt in das Minifte- 
rium bineinfuhr; da aber auch ein eindringliches Mahnmort des Kaiſers gegen die Auf: 
hebung des Eiſenzolls (Juli 1876), das zu den überrafchenditen und wichtigften Stüden 
des Werkes gehört. Aus den ſchon anderwärts (bei Buſch, Diary III) vollftändiger, 
aber in Ueberſetzung gedrudten Akten über die ruffiihe Kriſe und das öſterreichiſche 
Bündnis von 1879 erhalten wir im 2. Bande einige der bedeutfamften im urfprünglichen 
Wortlaute; es ift alfo von dem, was Saifer und Kanzler auch in diefer Zeit nod) 
gegeneinander trieb, nichts unterdrüdt. Dennoch überwiegt in immer jteigendem Maße 
der Eindrud der Einigkeit und Einheit; und man lieft, in diefer vervollftändigten 
Sammlung, mit erhöhten Genuffe, ja ih darf jagen mit Erbauung und fajt mit 
Andacht, die wundervollen Briefe, in denen fich ung, feit jener erften Publikation im 
Fahre 1897, das innerliche Zufammenleben der beiden hohen Männer im letzten Jahr— 
aehnt ihres gemeinfamen Dafeins jo reich und jo ergreifend enthüllt hat, Zeugniffe wahr: 
haftiger Größe im Ausdrudfe des Dankes, der Liebe, der freien und ftolzen Hingabe, 


742 Erich Mards, Neues aus Bismards Werfitatt. 


der durchaus gegenjeitigen Treue, Zeugniffe eines reinen und heroiſchen Verhältniſſes, 
das in den Yubiläumsbriefen vom Herbſt 1887 eine lekte große Weihe und in dem 
rührenden Schreiben des bereit8 hinfterbenden Greifes über Sohn und Enkel vom 
23. Dezember feinen wehmütigen Ausklang erhält. Ich kann nur glauben, daß, ganz 
abgejehen von aller Einzelbelehrung, diejer erjte Band durch feinen fittlich-perjünlichen 
Sefamtinhalt, bei voller hiftorischer Wahrheit, harmonisch und erhebend wirkten muß: 
man darf fich feiner, in jeglichem Sinne und ohne irgend eine Trübung des Gefühles, 
freuen. — 

Berhältnismäßig wenig und kaum etwas wirklich Neues erfahren wir von Bis: 
mards Stellung zur Kaijerin; ftark in den Vordergrund tritt dagegen, ganz im Sinne 
der „Gedanken und Erinnerungen‘, aber mit mehr Details als dort, diejenige zum ron: 
prinzen, Friedrih Wilhelm. 

Wir jehen die fühle, immerhin noc höflich abwartende Haltung des Prinzen aus 
der erſten Minifterzeit bereits 1863 in eine jcharfe Oppofition übergehen, die in den 
Auseinanderjegungen nad Friedrich Wilhelms Danziger Proteftrede die Grenzen der 
Höflichkeit ſchon beinahe überjpringt; 1864 folgt die Abweichung über das Scidjal 
Schleswig-Holjteins; nach dem glänzenden Siege der Bismarckſchen Politik ſchreibt ihm 
der Kronprinz am 18. November den vielfagenden Sag: „mit unjerem Könige freue ich 
mich über feine und feines tapferen Heeres Erfolge, und mache Ihnen mein Kompliment 
über das Glück, welches Sie in der Herzogtümer- wie in der Zollvereinsfrage auf Ihrer Seite 
hatten“! Der fo ironifh Gelobte hat darum nicht aufgehört, dem Thronerben mit 
vielfältiger Rüdficht zu begegnen; der Krieg von 1866 führte fie dann einander näher, 
und nad) dem Friedensichluffe fanden fie ji (Anfang 1867) in dem gemeinfamen Hin— 
ftreben auf die deutiche Einheit. Bon da ab drlüden die Briefe Friedrich Wilhelms 
zwar nicht immer unbedingte Zuftimmung, wohl aber Vertrauen und Freundlichkeit aus; 
nad) 1871 ein paar Empfehlungen perjünlihen Inhalts; die eine davon hat jüngst den 
Proteſt der Söhne des von Bismard in feiner Antwort an Friedrid Wilhelm jcharf 
beurteilten Geffdten im Gefolge gehabt. Im übrigen berichtet der Bring von Eindrüden, 
die er im In- und Auslande in fi) aufgenommen hat, deutet jeinen Wunſch an, Statt- 
halter des Reichslandes zu werden, tritt 1885, als der Kaiſer ſchwer erkrankt, unmittelbar 
und durch General von Albedyll mit dem leife zurüdhaltenden Kanzler in nähere Be— 
ziehungen, in Beiprehungen über ein Zuſammenwirken in der Zufunft ein. Das Bild, 
das diefe Briefe von dem Fürſten erkennen laffen, der abberufen wurde, ehe er jein 
eigentliches Peben beginnen durfte, ift nicht jo farbig und fo plaftifch, wie das feines 
Vaters in den Alten des 1. Bandes. Seine Sprade ift meiftend furz, felbft da, wo er 
freundlicher redet; es ift nicht die ganze Perjönlichkeit, die ſich enthüllt, es find nur die 
Beziehungen zu Bismard, und auch diefe nur eben, foweit er fie in feinen Briefen an 
jenen zum Ausdruck kommen läßt. Selbſt über diefe Beziehungen aljo geftattet das uns 
bier vorliegende Material wohl ein jo volles und Flares Urteil wie über die Kaiſer 
Wilhelms 1; aber das ift wohl wahr, daß eine nicht nur Äußerlie Annäherung, und 
zwar von beiden Seiten, im Laufe diefer Beziehungen ftattgefunden und daß ſich auch 
der Kronprinz in jo mandhem zu Bismard hin entwicelt hat. 


Schlufartifel folgt.) 


SO EOO9O9OS 


Zur Heidelberger Schloßfrage. 
Don 
Cornelius Gurlitt. 


D: Frage, ob der Dtto Heinrichs:Bau des Heidelberger Schloffes, wie die badifche 
Negierung beabfichtigt, mit einem Dad) verfehen und reftauriert werden oder ob 
er als Ruine ftehen bleiben foll, beihäftigt viele Kreife unjeres Volkes. Die Anfichten der 
Techniker ftehen fich gegenüber. Für beide Richtungen find Fachleute eriten Ranges 
eingetreten. Zunächſt ein paar Worte über die technische Frage: 

Seit 350 Jahren fteht die Faſſade des Otto Heinrichs-Baues, feit 200 Jahren als 
Ruine — und troßdem wird ihr Zuitand noch für jo gut befunden, daß man auf fie 
14 Meter hohe Giebel zu bauen beabfidhtigt. Die Freunde der Reftaurierung machen 
die Welt damit bange, daß der Wind die Faſſade umwerfen werde, daß fie fich nad) vorn 
ausbiege. Sie hat fi) infolge des letten Brandes ausgebogen, jeit 200 Jahren aber 
den Winden Troß geboten, ohne jid) zu rühren. Der Friedrichs-Bau im felbigen Heidel— 
berger Schloß, obgleich er jünger ift und ſtets bedacht war, ift eben erſt reitauriert 
worden! Ihm hat das Dad aljo nicht viel genükt. 

Was ift denn an einer Faffade überhaupt zu ſchützen? Einesteils die Mauermajfe, 
andererjeit3 deren Außenanficht, die Haut der Mauer. An der Maife jelbft liegt nichts, 
nur die Art der fünftlerifhen Behandlung der Außenjeite giebt dem Ganzen Wert. Der 
Reiz diefer Behandlung liegt in den Feinheiten des Meikeljchlages, in der individuellen 
Behandlung des Steined. Die Fafjade des Dtto Heinrichs-Baues ift genau aufgemeffen, 
fo daß man fie, wenn fie verfchwindet, wieder neu aufbauen könnte und zwar derartig, 
daß ihre neue Geftalt ſich vollftändig zwar nicht mit dem urjprünglichen Buftand, wohl 
aber mit dem Bilde deden würde, das die reftaurierte Faſſade bieten wird. An diejer 
— der Friedrichs-Bau beweiſt es deutlich — wird man nicht mehr erfennen können, was 
alt und was neu ift; die Faſſade hat ihren Wert als arditektonische Urkunde ebenfo 
jehr eingebüßt wie den Reiz des Alters. Wieviel alte Steine noch in dem Gefüge 
der Mauer belaffen find, ift ebenjo gleichgültig, al8 ob fid) unter einem ganz übermalten 
Bilde noch einige Mefte des alten befinden: Das Werk ift Kopie — fo oder jo! 

Das ift eben die ungeheure Verfündigung der Reftauratoren, daß fie einen Bau 
„erneuern, fo lange er im alten Zuftand noch zu halten ift, daß fie es jo erichredlich 
eilig haben, das Alte in ihrer Weije zu idealiiieren. Man halte den verfallenden Bau 
feit, jo lange als möglich, bereite die Möglichkeit vor, ihn durch eine Nachbildung zu 
erjegen, aber bilde ihn nicht nach, jo lange er nicht wirflih völlig verfallen if. Zur 


744 Gornelius Gurlitt, Zur Heidelberger Schloffrage. 


Erhaltung des Ganzen dede man die Mauerfrone mit Platten ab, bejeitige man ſolche 
Steine, die dur; ihren Zerfall den Beftand des Baues gefährden, und jege an ihre Stelle 
gefunde, in den urjprünglichen Formen nadjgebildete, aber nur dort, wo der Verfall in 
die Mauerförper eingedrungen ift, nicht dort, wo bloß das Aeußere beſchädigt iſt. Ab— 
brödelungen einzelner Ornamente und Gefimsteile find nicht zu erjegen; dem alten Bau 
find feine Runzeln zu laſſen. 

Ach kenne zahlreiche, von Männern der Praxis und der Kunſt an Behörden erftattete 
Gutachten über die Mittel, wie der Stein öffentliher Bauten und Denkmäler gegen 
Witterungseinfluß zu ſchützen jei, aber von einer abichliegenden Beantwortung der Stein- 
fonfervierungsfrage find wir noch weit entfernt. Der zum Ausbeflern empfohlene Gement 
greift die Nachbarſchaft an, das Anftreichen mit Delfarbe, Waflerglas u. j. mw. hat fait 
immer den Nachteil, daß der Bau in feinen Formen ftumpf ericheint, daß man den 
Schlag bes Steinmeken nicht mehr erfennt. Man fieht den Bauftoff nicht mehr, das 
Werk fieht aus wie ein Abguß feiner ſelbſt. Damit geht ein wejentlicher Teil feiner 
Wirkung verloren. Dies geihieht auch durd) das beliebte Mittel der Reitauratoren, 
das „Abjcharrieren“, das heift das Mbarbeiten des morſch gewordenen Eteines 
bis auf feinen noch gejunden Kern. Dan ermwedt den Anjchein der Gejundung des 
Steins, zerftört aber die feineren Reize der uriprünglichen Bearbeitung, erjett fie durch 
moderne Arbeit. 

Bei diefer Bedenklichkeit der Reftaurierungsmittel ift e8 vor allem nötig, fich darüber 
flar zu werden, was benn eigentlid an einem alten Bau des Erhaltens wert ift, der 
einen geiftigen Wert, aber feinen Zweckmäßigkeitswert mehr hat. Diefer Wert kann 
entweder ein Fünftleriicher oder ein Funftgefchichtlicher oder ein fulturgefchichtlicher fein, 
auch oft in allen drei Richtungen gefunden werben. 

Hat das Werk noch einen derartigen Zweckmäßigkeitswert, daß zwingende 
Gründe dazu führen, ihm eine neue Beftimmung zu geben, jo ift die neue Zeit im Recht, 
wenn fie den Bau nad) ihren Bedürfniffen umgeftaltet, das alte Baumefen zwar foviel 
als möglich erhält, aber mit dem gejunden Beitfinn vergangener Nahrhunderte ſich nadı 
ihrem Geſchmack darin einrichte. Dem Künſtler ftellt fi) die Aufgabe, die Härte der 
Gegenſätze zu jchönheitlicher Wirfung aufzuldien. Der Reiz der meiften alten Bauten 
befteht ja in der Mifchung verjdjiedener Stile, in dem klaren Bekennen des geichicht: 
lihen Werdeganges. Nie ift es einem alten Meiiter eingefallen, im Stil eines ver- 
gangenen Jahrhunderts zu fchaffen. Und fie veritanden doch auch etwas bon Kunſi! 
Und ihre Werke find doch fo übel nicht! 

Um jo mehr foll man endlich mit den „Itilvollen” Anbauten und Ausbauten bei 
Baumonumenten aufhören, die lediglich einen geiftigen Wert befiten. Man belügt mit 
ihnen die Zukunft, verleugnet die Gegenwart und fälfcht die Vergangenheit. Man 
verfündigt fi) am Geift der alten Meifter, die eine folche Selbfthingabe einfach verhöhnt 
hätten. Man mendet dagegen ein, daß unjere Zeit eigenen Stil nit habe. Diejer 
Einwand kommt aber ftet3 zuerft von jenen, die Zetermordio jchreien, wenn irgendivo 
eine moderne Kunftbewegung den Kopf zu erheben verſucht. Wären dieſe ftarren 
Stiliften nicht, vielleicht hätten wir jchon einen eigenen Stil, der keineswegs in grund- 
jäglicher Ablehnung alter Stilformen zu bejtehen braucht. 


Eornelius Gurlitt, Zur Heidelberger Schlohfraye. 745 


Unſere Stiliften bauen ihre Kirchen und Schlöffer fo „echt", daß fie von einem 
reftaurierten alten Bau ſelbſt von Kennern oft nicht zu unterjcheiden find. Und fie find 
nod) jtola darauf, wenn man auf ihre arditektonifchen Unmahrheiten bineinfällt, ftatt 
fich in tieffter Seele zu ſchämen, wie dies etwa ein Fälfcher eines Murillo oder Tizian 
thun würde Ein Künſtler follte do ein Mann fein, der der Welt etwas Fünftlerifch 
Eigenes zu jagen hat. Nun fpridht er aber nur die Weisheit eines anderen, längft Ver— 
ftorbenen nad und freut fich, mit deſſen Geift und Sprache zu reden. Ich möchte das 
Gelächter eined ins Leben zurüdgerufenen alten Steinmegen mit anhören, wenn ber 
moderne gelehrte Herr Geheime Baurat ihm erklärte: Herr Kollege, glauben Sie nicht, 
daß ich mit meinem Geift fchaffe, jondern ic) arbeite mit dem Ihrigen. 


Dieje Kunſt aus der vierten Dimenfion fängt nachgerade an herzlich langweilig 
zu werden. Alle Kinjtler der Welt haben fie abgelegt, nur die ftilvollen Architekten 
boden noch auf ihren altertümelnden Grundjägen. 


Das Heidelberger Schloß hat feine Geſchichte. Dieje brachte es zu Fall. Die 
Geſchichte ift nicht rühmlich — nicht für Deutichland und nicht für Frankreich. Aber in 
zwei Jahrhunderten ift die Ruine als furdhtbare Anklage gegen Deutſchlands Zerriffenheit 
zur Urkunde geworden, die laut und eindringlich zur Welt ſpricht. Baut man das 
Schloß aus, jo wird es zu einem Denkmal Eurpfälziiher Fürften, deren Staat nicht . 
mehr bejteht, und zum Denkmal der rüdftändigen Kunſtanſchauungen von 1902. Mit 
vielen Koften wird ein fchlechtes Tauſchgeſchäft gemacht, große ernſte, weltgeichichtliche 
Erinnerungen werden gegen zweifelhafte Werte umgeſetzt. 


Inzwiſchen find die Pläne für den Umbau veröffentlicht worden, die auch Die 
umbaubegeiitertften Arditeften ernüchtern müffen. Die Faſſade des Otto Heinrichs: 
Baues hat in ihren zwei Obergeſchoſſen 20 etwa gleichwertige Feniter. Nun jollen durch 
die beiden Geſchoſſe der neuen Giebel die Zahl jolcher Fenfter auf 32 vermehrt werden. 
Dede Langeweile gähnt uns aus dem Entwurfe an, die Stilgerechtigfeit offenbart ſich 
in einfahem Nahahmen der Motive der Untergeſchoſſe. Die Faffade wird mit den 
Giebeln etwa 35 Meter hoc), hat aljo Abmeffungen, die zur Hofbreite fich fo verhalten, 
daß die Baupolizei fie mit Recht beanftanden müßte, wo für Luft und Licht reichlich 
Sorge zu tragen ift. In einer veröffentlichten Perjpeftive, in der der Hof nad) den 
neuen Entwürfen dargeftellt wird, find wohlweislich diefe Giebel etwa 31, Meter 
niedriger eingezeichnet als in dem zur Ausführung empfohlenen Plan, der alle übrigen 
Bauteile rings um den Bau künſtleriſch maufetot ſchlagen würde! 


Nun ſtützen ſich die Reftauratoren darauf, daß ſolche Doppelgiebel auf Ab— 
bildungen vorhanden find, die 50 Nahre nad) Fertigftellung der gegenwärtigen Faſſade 
entitanden. Aber felbjt wenn fie vom eriten Architekten geichaffen worden wären, — 
was mir jehr unwahrſcheinlich ericheint — To lag eben die Sade für ihn ganz 
anderd. Damals, um 1550, bejtand der Friedrichs-Bau noch nicht, war das Verhältnis 
der einzelnen Hofflügel zum Otto Heinrich3:Bau ein anderes als heute. Ein jpäterer 
Architekt, der im 17. Jahrhundert unter ähnlichen PVerhältniffen wie heute den Dtto 
Heinrihs-Bau geftaltete, brach daher die jett wieder beabfichtigten hohen Doppelgiebel 
ab und jeßte zwei beicheidene, zum Ganzen pajjende Giebel an deren Stelle, von denen 


746 Cornelius Gurlitt, Zur Heidelberger Schlohfrage. 


ſich noch Reſte erhielten. Das war höchſt verftändig und echt fünjtleriich von dem 
Manne, und id; rate, wennſchon ein Dad) mit itilvollen Giebeln auf den Bau gebradjt 
werden joll, „im Geiſte“ diefes Meiſters zu jchaffen. 

Das Richtigſte ift, jo wenig als irgend möglich Neues hinzuguthun, was geeignet 
fein könnte, den Gejamteindrud des Beltehenden zu verändern. Sobald ein Bau fertig 
geitellt ift, beginnt jein Verfall. Mit diefer Thatſache müßten wir uns, wie mit unferer 
eigenen Vergänglichkeit, abfinden, womöglich mit einiger Würde. Iſt e8 nun verftändig, 
das vorhandene köſtliche Kleinod, wie es Hunft, Geſchichte und Natur geftaltet haben, 
durd; Zmeifelhaftes zu erjeßen, da dieſer Erjag vielleicht noch ein, zwei Jahrhunderte 
hinausgeijhoben werden fann? Nur die fichere Erkenntnis würde gewonnen werden, 
dak der Eingriff voreilig war, der uns Nahahmung für das Echte gab. 


© 


In medio veritas. 


Ausgang. Zielpunkt. 
Wenn Wlabrbeit in der Mitte läge, Im Aittelpunkte brennt das Welten« 
gingt ibr nach rechts nur oder links, teuer: 
und jedem läge fie am Wege Wer's in ficb bat, dem glückt das 
als eine Schenke, nicht als Sphynx. Abenteuer. 


Ulegweiler. 
Die Welt ift Reine Mache Schnitte: 
„Die Welt ift rund und mufs fich dDreb’n‘‘; 
fucht ibr die Wabrbeit in der Bitte, 
müfzt ihr zum Adittelpunkte geb’n. 


Irrung. 
Wo ift der ABittelpunkt der Welt? 
gedwer dafür fich felber bält: 
er drebt fich ber, er drebt ficb bin 
und meint, die Welt dreht fich um ibn, 


$bn brennt es nicht, was ibm zur 
Leucte frommt, 

wenn folcher einmal zu ſich felber 
kommt. 


Beimkehr. 


Wobin ibr nach der Wlabrbeit gafft, 
das Wort des beilands bleibt in Kraft: 
„Es Ift nicht dort, nit da, nicht bier, 
Das bimmelteich, es ift in Dir.“ 


Nachwink. 
Doc nicht im Adeinen und im Scheinen, 
im Zeitlich=Vielen, Selbftig- Kleinen: 
nur im Unendlichben der Bruft, 
das Bott ergreift in Glaubensluft. 


hans Freiberr von Wolz3ogen. 


GAEEOEAEEODO 


Die Knabenhandarbeit und die volkswirtichaftlihen und fozialen 
Aufgaben unierer Zeit. 
Von 
Peter 3essen. 


Ww heute den deutfchen Knaben zum Manne erziehen will, der muB auf die Stimme 
der Beit laufchen. Denn es gilt, die Jugend nicht nur für die Gegenwart zu be: 
reiten, jondern auc für die Zukunft, für Aufgaben, die wir noch nicht im einzelnen 
fennen, Die wir aber im ganzen doch ahnen und vorausjehen mülfen. Der Erzieher 
muß fich fragen: wohin wird fich die Arbeit unferes Volkes richten, welde Gefahren 
werden und drohen, und wie werden fie in das Leben des Einzelnen einjchneiden? 

Bon dem politiihen Werk der Nation ift das erite, jchwerfte Stück gethan. Heute 
ringen wir unter und und mit unferen Nachbarn um wirtjchaftliche und joziale Güter. 
Was wir erleben, find nur Borpoftengefechte; wir fühlen, daß die großen Schladten 
fid) vorbereiten, in denen das Wohl und Wehe des deutihen Volkes auf dem Spiele 
ftehen wird. Die Zeichen mehren fid) mit unheimliher Schnelle. Noch eben jubeln mir 
über den ungeahnten Auffhtwung unſeres Wohlitandes; da reckt ſich drohend die junge 
Rieſenmacht jenjeits des Ozeans und leuchtet im fernen Djten die „gelbe Gefahr” auf, die 
fürdhterliche Konkurrenz der Hunderte von Millionen, deren Handgeſchick und Kunſtfertig— 
feit wir von je bewundert haben. Für uns giebt es fein Ausweichen mehr; wir müſſen 
fümpfen, um unferem Volke Wohljtand und Macht, unferen Arbeitern Brot zu jchaffen. 

Es liegt auf der Hand, wie ſchwer bei diefem Wettbewerb die technifchen Fähig— 
feiten, das manuelle Geſchick der Völker ins Gewicht fallen werden. Die Intelligenz 
allein kann den Sieg nicht erzwingen. Der findige, gelenfe, flinfe Arbeiter bildet die 
Truppe, auf die e8 anfommt. Wir brauchen um unferer Zukunft willen ein handfertiges 
Bolf, und um eines ſolchen Volkes willen eine handfertig geübte Jugend. In den 
Händen, die bis zum Beginn der Werkftattarbeit, bis zum 14. Lebensjahre, brad) 
liegen, ftumpfen ſich die feinjten Organe ab, — das weiß ein jeder von der Mufif her. 
Und zudem mwerden der jugendlihe Arbeiter und der Handwerkslehrling heute meift jo 
einfeitig bejchäftigt oder gedrillt, daß ihre Hand und ihr Auge für die vielfeitigen An- 
jprüche ihrer Lebensarbeit faum vorbereitet werden. Da iſt es Pflicht, bei den Stnaben 
einzujeßen, ihnen, den Willigen, Arbeitsfrohen, Gelegenheit zu ernſthafter praktischer 
Bethätigung zu ſchaffen, ihre angeborenen Werkzeuge zu üben, von denen im harten 
Leben und im erbitterten Wettlampf ihre Zukunft abhängen wird. 


748 Peter Zeilen, Die Knabenhandarbeit und die Aufgaben unferer Zeit. 


Aber wir brauchen noch mehr. Entſcheiden wird für den Einzelnen nicht nur jeine 
Geſchicklichkeit, ſondern aud) fein Schaffendmut, die Kraft und Luft zur That. Die Luft 
zur That, fie tet ja in jedem Knaben. Der Erzieher fieht mit Wehmut, wie dieje 
köſtlichſte Mitgift der Jugend heute — vor allem in unjerem unfeligen Stadtleben — er: 
tötet oder mißleitet wird. Diefe Luft zu erhalten und zu ftärfen, fie zu leiten zur 
nüglichen, erfrifchenden Arbeit, das ift ein innerfter Berveggrund für die Freunde der 
Dandarbeit. Dieje Luft leuchtet uns entgegen aus den Augen aller Knaben, denen wir 
in den Schülerwerfftätten und Unterrichtsftuben ein Werkzeug in die Hand gegeben 
haben. Die Jugend bringt uns einen gewaltigen Schatz von Thatkraft zu. Dielen 
Schatz müſſen wir heben und pflegen, ehe e3 zu ſpät wird. 

Daran ift nit nur die Nation als Ganges beteiligt, jondern ein ungeheurer 
Brudteil unjered Volkes auch mit feinem perſönlichſten Weſen. Am deutichen Volke 
leben 86 Brozent in produftiven Berufen, von ihrer Hände Arbeit. Und 40 Prozent 
der Gejamtheit gehören der Anduftrie oder dem Handwerf an. Alle diefe Millionen 
verdienen ihr tägliches Brot mittelft der Organe, die die heutige Erziehung noch unent- 
widelt läßt, und die der Arbeitsunterricht in ihr Recht einzuſetzen tradjtet. Hand und 
Auge find die Inſtrumente für alle diefe Millionen, für alle Schichten und Grade dieſes 
gewaltigen, ſchaffenden Heeres. Die Führer, die Peiter der Betriebe, die Ingenieure, die 
für die Wohlfahrt der Taufende verantwortlich find, follen die Arbeit des Einzelnen nicht 
nur beauffihtigen, fondern auch vormachen und praftiich beherrichen können. Jeder 
einzelne Soldat oder Rekrut der großen Armee fteht mit Auge und Hand für fi ein. 
Die Mafchine hat diefe Anfprüche nicht herabgedrüdt, jondern erheblich gefteigert. Wer 
mit der Hand den Hobel führt, kann ſich gemächlicyer gehen laffen, als wer das rajtlofe, 
gefahrvolle Meſſerwerk bedient. Ihnen allen ift die frühe Uebung gleich fegensreih und 
nötig. Das haben einfichtige Großinduftrielle längſt erkannt, indem fie für ihre Betriebe 
eigene Schülermwerfftätten errichtet haben. 

Nocd mehr muß fid) der jelbftändige DHandwerfer auf jeine Hand und jein Auge 
verlaſſen fünnen. Will er nicht zum Flickarbeiter herabfinfen, fo muß ihm alles daran 
liegen, feine praftiihen Anlagen frühe geübt zu haben. Heute behauptet fi) nur der 
tüchtige Meifter, der durch feine befonderen Fähigkeiten, durch hervorragende Peiftungen 
in der Einzelarbeit oder im Künſtleriſchen es mit der Maffenware aufnehmen ann. 
Aufgeflärte Handwerker jehen deshalb in dem Arbeitsunterricht eine ftarfe Stütze für 
fih und ihren Nachwuchs. Sie wiffen lange, daß dieſer Unterricht ihnen feine Kon— 
furrenz macht, da er nirgends für den Berfauf arbeitet, und daß er ihnen nicht etwa 
Pfuſcher erzieht, da er nie für ein beftimmtes Gewerbe fchulen till, jondern die fachliche 
Ausbildung des Lehrlings mit ihren ganz anderen Anſprüchen durhaus der Werfitatt 
und dem Meifter überläßt. 

Aber das Handwerk zieht noch einen tieferen Gewinn. In den Schülerwerfftätten, 
vor feiner Schnit« oder Hobelbanf und feinem Schraubftod, wird der künftige Käufer 
und Beiteller, der Konfument, mit den Schwierigkeiten und dem Wert der Sandarbeit 
vertraut, lernt die Stoffe und Techniken kennen und gute Arbeit fchägen und von 
Pfuſcherei untericheiden. Das fogenannte Bublitum gilt heute als der Feind der ehr- 
lichen Arbeit ; dieſes Publikum zu beſſern ift eines der fefteften Ziele des Dandarbeits- 


Peter Feilen, Die Knabenhandarbeit und die Aufgaben unjerer Zeit. 749 


unterrichts. Wie jehr dies vor allem dem Kunftgewerbe zu gute fommt, wird jpäter im 
Zuſammenhang mit der Kunſt beiprocdhen werden. 

Aber nicht allein im Gewerbe find die praftiichen Anſprüche an den Einzelnen jo 
mächtig gewachſen. Auch der Kaufmann muß heute nit nur feine Ziffern oder die 
Rohftoffe kennen, jondern aud) die oft jo Fünftlichen Fabrifate, die er zu Gunſten unferer 
nduftrie vertreibt. Im Verkehrsweſen tritt überall die mechanische Kraft, von kundiger 
Hand geleitet, an die Stelle der alten, behaglichen Betriebsmittel; man braucht nicht zu 
fragen, wer feiner Sinne ficherer fein muß, der Lofomotivführer oder der Laftfuhrmann. 
Selbft in der Landwirtichaft find mit dem intenfiven Betrieb, den Maſchinen und der ge- 
werblidhen Nebenarbeit die mechanijchen Anfprüche von Tag zu Tag gewachſen; der ein: 
fichtigfte Landwirt ift ohnmächtig ohne technifch fähige und geſchickte Helfer. 

Wer dieſe wirtfchaftlihen Mahnungen unferer Zeit verfteht, wird nicht ohne Be— 
denfen hören, mit welcher Energie und mit welchen Mitteln gerade unjere Konkurrenten, 
die Frangofen, die Engländer, die Amerikaner, den Arbeitsunterricht aufgegriffen und 
gefördert haben mit dem ausgejprocdhenen Zweck, die Ermwerbsfähigkeit ihrer Nation zu 
jteigern. Wollen wir unfere Niederlage abwarten, ehe auch wir uns rüften? 

Zu dem wirtfchaftliden Gewinn aber gejellt fid) ein weiterer, der fi) nicht nur 
in den Biffern der Handelsbilang ausdrücden wird. Es handelt fid um ein noch köſt— 
liheres Gut, um den Frieden in unferem Bolfsleben. Wir jehen es täglih: es klafft 
ein Abgrund zwiſchen denen, die mit ihrer Hände Arbeit ſich ernähren, und den geiftigen 
Arbeitern. Die in der Schreibftube ſitzen, haben faft die Sprache derer verlernt, Die 
in der Werkſtatt ſchaffen; der Arbeiter ballt feine Fauft gegen den feinen Mann, den er 
für einen Faulenzer hält. Einen Teil diefer Mikverftändniffe wird die gemeinjame, 
fröhliche Werfkthätigfeit der Sinaben zu heben vermögen. Der Sopfarbeiter lernt dort 
frühe die Handarbeit üben und ehren; der Handarbeiter wird es willen und empfinden, 
wie man aud in den geiftig leitenden Streifen feinem Berufe die Ehre giebt und die 
Schreibſtube nicht für den einzig würdigen Arbeitsraum hält. Aus den Beſuchern der 
Schülerwerkftätten werden dem Handwerk und der Induſtrie Kräfte zuwachſen, die bis- 
ber nur von gelehrten oder jchreibenden Berufen mußten. 

Aber der eigentlihe Fluch unjerer Tage ift doch der, daß die Arbeit nur als 
Ware bewertet und als Bein empfunden wird, fie, die für jeden Glücklichen die Quelle 
höchſten Glückes und Genuffes bilden, die für jeden Schaffenden zum mindejten ein Stolz 
und eine Freude fein follte Wenn wir in der weidhen Seele des Knaben, diejes In— 
begriff fröhlicher Thatenluft, der Freude am praftiihen Schaffen Raum gewinnen, jo 
wird ein Hauch dieſes Frohmuts, eine Erinnerung an den Segen der Urbeit aud) in die 
Manneszeit hinüberwehen. Und es mag dann wohl hie und da die Luſt an freier 
Werfthätigkeit, wie einft in unferer Vorzeit, aud) in dad Haus und die Familie ein- 
ziehen, eine weitere Frucht der Knabenhandarbeit, deren wir für unſere Volkswirtſchaft 
wie für unfere jozialen Aufgaben fo dringlich bedürfen. 


S 


LOLILILILILILILILILILILILILILILILILILILILILILILILILITIT9 


Monatsichau über auswärtige Politik. 
Von 
Theodor Scdiiemann. 


30. November. Demonitration polnifher Studenten vor bem beutfchen Konſulat in Lemberg. 
— 1. Dezember. Abſetzung des chinefiihen Thronfolgers Putſchun. — 2 Botichaft des 
Präfidenten Roojevelt an den Kongreß in Wafbington. — 5. Angriff polniiher Studenten auf 
das bdeutiche Konfulat in Warfchau. — 9. Miniiter v. Körber deutet im öfterreichiichen Abgeord- 
netenhaufe an, daß die Ausichreitungen und die Arbeitsunfähigkeit des Öfterreichiichen Barla- 
mentarismus ben Bejtand der Verfaſſung gefährden. — 10. Reichsfanzler Graf v. Bülow weiſt 
im Reichstage die Ausichreitungen ber polnifchen Agitation zurüd. — 13. Mobilmadung in 
Chile und Argentinien. — 14. Der chineſiſche Hof tritt die Rüdreife nach Beling an. — 16. Rede 
Yord Roſeberys über die Politik des englifchen Kabinett. — 17. Rüdtritt des bulgarischen 
Minifteriums. — M. Enthüllung des Baudindenktmals in Paris. — M. Sieg Dewets bei Twee— 
fontein. — 3. Berftändigung zwifchen Chile und Argentinien. — 27. Eintreffen der deutſchen 
Kreuzers „Binela’ in Ya Guayara. — 27. Die am panameritanifchen Kongreß in Merifo teil- 
nehmenden Staaten treten der Haager Konvention bei. — 30. Rußland lehnt jede Veränderung 
des Bertrages über die Mandfchurei ab. — 30. Deklaration des Fürften Czartoryski im galizifchen 
Yandtage, Zurückweiſung derjelben durd bie „N. U. 3." — 1. Januar 102. Rede des 
franzöfifhen Botichafters am Quirinal Barröre über die Verjtändigung zwijchen Frankreich 
und Ftalien. — 3. Revolutionäre Arbeiterunruben in Barcelona. — 3. Enthüllungen der „Times“ 
zur Vorgeichichte des Gefandtenmordes in Peking. — 7. Rückkehr des chinefifchen Hofes nach 
Beling. — 8. u 10. Reben des Grafen v. Bülow im Reichstage. — 11. Rede Chamberlains in 
Birmingham. — 12. Abfahrt der „Gazelle“ nach Venezuela. — 13. Rede Graf v. Büloms über die 
Polenfrage im preußifchen Abgeordnetenbaufe. 


D“ Uebergang vom alten Jahre ind neue ift unter den zwiſchen den Souveränen 
Europas üblihen Höflichkeitd: und Frreundichaftsbezeugungen vollzogen worden 
Eine weite Deffentlichkeit haben dabei nur die zwijchen dem Zaren und dem Präfidenten 
der franzöfifchen Republit, ſowie zwiſchen den Sriegäminiftern beider Staaten aus— 
getaufchten Telegramme gefunden. Gewiß Tiegt darin ein Zugeſtändnis, das dem 
politiſchen Bedürfnis der öffentlihen Meinung Frankreichs gemacht wird, die durch die 
fühle Haltung, welche Rußland in dem Konflikt Frankreichs und der Türkei zeigte, unan— 
genehm berührt war. Aber jene orientaliſche Kriſis en miniature ift, nachdem der 
unternehmende franzöfiihe Botſchafter Conſtans offiziell in Jildiz-Kiosk empfangen 
worden ijt, endgiltig beigelegt, und es läßt fih mit Sicherheit annehmen, daß die 
politifc; überaus wichtigen BZugeftändniffe, welche Frankreich für feine katholiſchen 
Schützlinge zu nicht geringem Aerger der Anhänger der orientalifchen Kirche ſich hat 
machen lajjen, für abjehbare Zeit ungenütt ruhen werden. Sind diefe konfeſſionellen 
Eiferfudhtsfragen doch der eine wunde Punkt in der alliance Franco-Russe, über den 


Theodor Schtemann, Monatsichau über ausmärtige Politik, 751 


ein Kompromiß nicht möglich ift. Die fortbeftehenden Differenzen müffen durch gegen» 
feitige Dienftleiftungen auf anderem Felde verdeckt merden und laute Freundſchafts— 
verfiherungen find in ſolchen Verlegenheiten immer noch das billigfte Ausfunftsmittel. 

Wir fchäken übrigens an fich jene Pflege guter perfünlicher Beziehungen zwiſchen den 
regierenden Häuptern keineswegs gering. Die Zeiten haben ſich darin merkwürdig geändert. 
Eine Kabinettspolitif, in welcher der Ehrgeiz des Staatsoberhauptes dieNationzufriegeriichen 
Aktionen fortreißt, fann es heute nicht mehr geben. Die zu feindfeligen Aktionen 
treibenden Kräfte tauchen aus den Leidenjchaften der Maffe auf und die Herricher find 
überall das zügelnde und den Frieden erhaltende Element. Durd) die Völker, und in weiterer 
Faſſung durd die Raffen, geht ein unruhiger und feindjeliger Geift, wie er kaum je vorher 
jo jchroff zum Ausdrud gekommen ift. Der angeljächfifche Imperialismus, der von 
Frankreich gefahte Gedanke der zu erftrebenden Einigung der Romanen, die unermüdliche 
jlavifche Propaganda, die aus den politischen Zielen des Panflavismus fein Hehl madıt, 
das find Thatfachen, mit denen das geeinte Deutſchland zu rechnen hat und denen 
unjere Gegner einen politijch nicht eriftierenden Pangermanismus als Gegenſtück an die 
Seite ftellen. Daß diefer Bangermanismus nicht als politischer Faktor fonftruiert werden 
fann, ergiebt fi) aus dem eigentümlichen Gang unjerer Hiftorifchen Entwidelung, 
welche die Einigung des Neiches nur auf Berzichten und Kompromiffen aufbauen Eonnte, 
die fchmerzlich genug von denen empfunden wurden, die dadurch betroffen worden find, 
in die wir als Staat uns aber ehrlich gefunden haben. Schon das Errungene zu be: 
haupten und in den Grenzen des Möglichen zu entwideln, nimmt unjere volle Kraft in 
Anspruch, e8 wäre thöricht, darüber hinauszugehen. 

Wir ſchicken dieje allgemeinen Bemerkungen voraus, um zu der frage überzugehen, 
die in den legten Monaten bei uns und darüber hinaus eine, wenn man genauer zu: 
ſchaut, künſtlich gefteigerte, aber dod) unverkennbar tiefgehende Erregung hervorgerufen 
hat. Der Wreichener Prozeß iſt durd) die von Galizien aus geleitete polniiche Agitations— 
um nicht zu jagen Nevolutionspartei zu einer Mobilifierung gegen die Polenpolitif 
Preußens benußt worden, die zu feindjeligen Demonstrationen vor den deutſchen Konſu— 
laten in Lemberg und Warfchau, zu einer Kundgebung im galiziihen Yandtage, einer 
Voleninterpellation in unjerem Reichstage und allerlei geringeren Aeußerungen ent: 
ichloffenen Haſſes gegen die Deutſchen geführt hat. Wenn nun aud infolge der Er— 
flärung des Reichskanzlers im Reichstage und einer jehr energiſchen Abweiſung, die durch 
das Medium der „Norddeutichen Allgemeinen Zeitung“ an die Adreſſe des Fürſten Czar— 
torpsfi und über ihn hinaus ging, neuerdings in Galizien jcheinbar abgemwiegelt wird, 
liegt doch feinerlei Anlaß vor, anzunehmen, daß damit etwas Anderes als ein Manöver 
von zweifelhafter Gejchieflichkeit vorliegt. Die Herren Polen haben ihrem Herzen Luft 
gemadjt und meinen, nun jolle alles wieder in Ordnung fein. Daß dem nicht jo it, 
zeigt das Verhalten der polnifchen Preſſe, die herausfordernder iſt als je, und das 
ſchließt, bevor eine wirkliche Aenderung nicht nur in der Haltung, fondern in der Ges 
finnung der Polen eintritt, jede Berftändigung aus, 

Das führende Organ für den Gejamtpolonismus hat jic darüber Schon ım November 
des vorigen Jahres folgendermaßen formuliert. (Przeglad wszechpolski Wr. 11): 

„Der Kampf zwiichen den Deutjchen und uns ift ein Kampf, der jede Möglichkeit 


752 Theodor Schiemann, Monatsihau über ausmärtige Politik. 


gegenjeitiger Annäherung ausjchliegt, ein Kampf auf Leben und Tod. Wenn wir 
denjelben aus einer bejtimmten Entfernung betrachten, jo iſt leicht zu erfennen, daß es 
fidy hier nicht um gewöhnliche Eroberungen, um irgend eine kleine Landitrede, jondern 
um eine Million von Menſchen handelt, die entweder Polen oder Deutiche werden 
jollen. Das ift ein Kampf um die Herrſchaft über eine riefige Fläche, um die deutjchen 
Ausfihten auf dem baltiihen Meere, endlich darum, ob Berlin die Hauptſtadt 
Deutjhlands bleiben, ob Preußen die Hegemonie des Reiches gewahrt werden 
jol. Wenn wir aus diefem Kampfe fiegreich hervorgehen werden, jo werden die 
Deutihen nit nur das Großherzogtum Bojen, jondern auch das ganze polniich 
iprehende Schlejien und das baltiihe Pommern, mithin eine Fläche verlieren, auf 
welcher heute 7 Millionen Menſchen leben; gleichzeitig werden fie ihre ganze 
Macht auf der Oſtſee und alle Ausfichten auf die jemalige Befikergreifung der 
beltiichen Provinzen Rußlands (das letztere eine liebenswürdige Verbädtigung nad) der 
ruffiihen Seite hin!) verlieren. Dann wird das Uebergewicht Preußens im Reiche 
ſehr fallen und Berlin, nad) feiner geographiichen Yage an der Grenze des Staates 
liegend, wird ald Hauptftadt unmöglidy werden.” 

Der Paſſus ift lehrreich, denn er zeigt deutlich, dak das polnische Programm dahin 
geht, die Hiftorische Entwidelung der letzten 800 Jahre rüdgängig zu machen; Anfang 
des 12. Jahrhunderts wurde Pommern deutih, Sclefien hat fi 1278 endgiltig von 
Polen getrennt, Preußen endlid, auf das jener Artikel an anderer Stelle gleichfalls 
Anſpruch erhebt, iſt im 14. Jahrhundert germanifiert worden. Poſen ift nunmehr 
hundert Jahre unfer, und da die Polen es als ihre hiftoriihe Miffion betrachten, die 
7 Millionen Deutſche diefer Gebiete uns zu nehmen und dann zu polonifieren, wird 
uns nicht8 übrig bleiben, als die Alternative anzuerkennen, die fie ftellen, d. h. entweder 
die Million Deutſcher, die in Polen lebt, von ihnen polonifieren zu laffen, oder unjerer: 
feits die Million Polen des Landes zu germanifieren. Der Prz. Wszechp. verfichert 
uns, daran hänge die Zufunft des Deutichen Reiches. 

Nun wohl, wir wollen es ihm glauben und danad; handeln! Nur werden fte 
dann weiter fein Recht haben, ſich darüber zu beflagen. 


E83 ift nun außerordentlich intereffant, daß im Zufammenhang mit diefer Diskuſſion 
über die polnischen Zufunftsphantaftereien und offenbar nicht ohne Beeinfluffung von 
polnischer Seite das Gerücht in die Welt gefett worden ift, daß der Dreibund ins 
Schmwanfen geraten ſei. Eine Rede des italienischen Minifters der ausmärtigen Ange: 
fegenheiten und eine andere Rede des franzöfiichen Botjchafters in Rom Barrere, die 
von frangöfiich-italienifcher Freundichaft und von der Befeitigung aller Gegenſätze ſprach, 
die bisher beide Mächte im Mittelmeer getrennt hätten, endlid ein Interview durd) 
den Berichterftatter einer italienischen Zeitung, dem der ſonſt wenig zugängliche franzöfifche 
Minister der Auswärtigen Angelegenheiten Delcafje, fich unterziehen ließ, das alles fteigerte 
das Miktrauen, und bald waren inländifche und ausländische Blätter voller Kommentare 
über die große, für Deutjchland unheilvolle Wandlung, die unmittelbar bevorftehe. Ein wenig 
ruhige Ueberlegung zeigt nun fofort, daß eine Auflöfung des Dreibundes als eine gegen 
Deutichland gerichtete Mapregel das Gegenteil ihres Zweckes erreichen und nicht Deutſch— 
land, fondern unfere beiden Alliierten, denen man diefe Thorheit zumutet, treffen würde. 


Theodor Schiemann, Monatsichau über auswärtige Politik. 753 


Die deutſch-öſterreichiſche Allianz, aus welcher der Dreibund hervorwuchs, iſt be- 
fanntlich gejchloffen worden, um einen rujfisch=öfterreihifchen Krieg zu verhindern und 
Deutihland nicht den gegen Defterreih-Ungarn gerichteten ruffiihen Balkanintereſſen 
dienftbar zu maden. Die in dem Anhang zu den „Gedanken und Erinnerungen“ ver: 
öffentlichten Briefe Bismards an Andrafjy geben ja darüber die merfwürdigften Auf: 
ſchlüſſe. Will Oeſterreich-Ungarn fih vom Dreibunde löſen, fo ift die Berftändigung 
Deutichlands mit Rußland leicht gefunden, da mir jederzeit ſchon durch unjer Still 
ftehen den ruffiichen Triumph auf der Balfanhalbinjel und die Feitlegung feines über: 
wiegenden Einflufles auf die flavifchen WVölferichaften der habsburgiſchen Monardie 
fihern fünnen. Freilich wäre damit aud) die Stellung der Ungarn in der Monarchie 
endgiltig gebrochen, und das bedeutet für uns einen Nachteil, der eine andere politische 
Orientierung notwendig machen müßte. 

Die damals von Bismard angeftellten Erwägungen, die, wie er jelbjt in den „Ges 
danfen und Erinnerungen“ erzählt, ihn veranlaßten, in der Wahl zwiſchen rufltiher und 
öfterreihifcher Allianz für Defterreich zu optieren, fünnen unter veränderten politijchen 
Verhältniffen genau zu dem entgegengejegten Rejultat führen, was eine Gefamtlage 
ergiebt, welche Defterreich-Ungarn in eine unhaltbare Stellung verjegen müßte. Das 
dann zunächft getroffene Ungarn zumal kann eine ſolche Wandlung nicht ertragen, 
ed müßte jehr bald politifch und national abdanfen. Wie fann daran gedadjt werden, 
daß ein öſterreichiſcher Staatsmann ſich freiwillig in eine fo bedrohliche Yage verjegt ? 

Ganz analog aber liegen die Verhältniſſe für Italien. Für diefen Staat bietet 
die Zugehörigkeit zum Dreibunde eine doppelte Aſſekuranz. Einmal bedeutet fie eine 
Sicherung der Dynaſtie gegen die bon Franfreih her anrücdenden republifaniichen 
Tendenzen, dann aber hängt von ihr die politische Selbftändigfeit Italiens, das unter 
dem Schutz des Dreibundes feinen Antereffen nachgehen fann, ſoweit fie nicht in 
Widerſpruch treten mit den Lebensbedingungen der beiden anderen Alliierten. Italiens 
Stellung ift heute gleich feiner eigenen Macht plus dem Schub feiner Bundesgenofjen 
gegen einen immerhin denkbaren franzöfiichen Angriff und der abfoluten Sicherheit vor 
einem öfterreichifchen Kriege. Bringen wir diejes Plus in Abzug, jo bleibt bei der for- 
midablen Machtentwicdelung der größten Mächte außerordentli” wenig nad), und es 
läßt ſich mit faft apodiktifcher Sicherheit vorherjagen, daß das Endergebnis ein Bajallen- 
verhältnis zu Frankreich und in weiterer Berfpeftive die romanische Republik fein muß. 

Wer dieſe ſchwer zu mwiderlegenden Eäte durchdenkt, wird fid) fagen, daß damit 
die Gerüchte von dem Zufammenbrud des Dreibundes in fid) zerfallen. Auch wir 
glauben nicht an die Ewigkeit der Kombination, daß fie aber gerade jegt fich löſen 
jollte, ericheint uns allerdings im Lichte eines politifchen Nonfend. Was Graf Bülow 
jeither in feinen glänzenden Reden am 8. und 10. im Reichstage über den Dreibund und 
am 13. Januar im preußifchen Abgeordnetenhaufe über die polnijche Agitation in Bofen gejagt 
hat, kann uns zur Rechtfertigung unjerer Auffaffung dienen. Ganz bejonders angenchm 
fiel die Kordialität auf, mit der er nähere Beziehungen zu Italien anfaßte und Die 
Eicherheit, mit der er von der Öfterreichifch-deutichen Intereſſengemeinſchaft redete. Die 
Bolenrede, die längite, die Graf Bülow unferes Willens je gehalten hat, bedeutcte ein 
klares Programm, mit dem wir uns bis in die geringften Einzelheiten hinein identifizieren 

48 


754 Theodor Schiemann, Monatsichau über auswärtige Politik. 


möchten. Er ſchloß mit der Berfiherung „daß unjere Oftmarfenpolitit verharren wird 
in den nationalen Gleiſen, weldye ihr der größte deutiche Mann, welche ihr Fürft Bis- 
mard vorgezeichnet hat. In Schwankungen, in Nachgiebigfeit werden wir nicht ver: 
fallen“ und Mmüpft daran den warmen Ruf an die Deutjchen im Dften, daß es für fie 
nur eine einzige Parole geben dürfe und das jei die nationale! Damit ift nach den 
beiden enticheidenden Seiten hin die Richtung angegeben, und wir find der guten Zuver— 
ficht, daß es dabei auch in Zukunft bleiben wird. 

Zu Ende des Jahres hat es ein Wetterleuchten in Südamerifa gegeben. Chile 
und Argentinien jtanden fich bewaffnet gegenüber, und jeder Tag jchien einen Zuſammen 
ftoß bringen zu fünnen. Schließlich aber haben fich die drohenden Wolfen verteilt, und 
es jcheint wieder hell zu werden, was freilich nicht ausichließt, daß über Nacht das 
Gewitter wieder aufziehen kann. Much zwiſchen Deutichland und Venezuela haben die 
Beziehungen fich jo zugeſpitzt, daß wir einige Schiffe nad) Ya Guayara haben jenden 
müffen. Es handelt fich dabei um die folgenden Differenzen: Vor etwa einem Jahre 
ftellte der Präfibent de Gaftro (d. h. der von den Liberalen anerkannte Bräfident) den 
Grundſatz auf, daß alle infolge der politiihen Wirren und Revolutionen von Ein- 
heimischen oder Ausländern zu erhebenden oder bereits erhobenen Anſprüche auf Ent— 
Ihädigung von einem bvenezolaniichen Regierungskommiſſar geprüft und feftgeftellt werden 
jollten. Gegen diefe keinerlei Sicherheit bietende Beltimmung proteftierten jofort alle 
Gropmächte, deren Unterthanen zu den Geichädigten gehörten, d.h. Frankreich, England, 
Stalien, die Vereinigten Staaten und Deutihland. Sie alle teilten der venezolanijchen 
Regierung mit, daß fie die Forderungen ihrer Unterthanen diefer Regierung jelbft vor- 
legen und ihr gegenüber vertreten würden. 

Bräfident de Gaftro hat darauf im vorigen Frühjahr mit einer in der Form 
unpajienden Proteftnote geantwortet. Nun jammelte unfere Regierung alle Forderungen 
deutiher Etaatdangehöriger, prüfte fie, ftellte den Betrag feft.und präfentierte fie dem 
BPräfidenten. Da er auf feinem Standpunkte beharrte, blieb jchlieglich nichts Anderes 
übrig als die Entjendung von Kriegsihiffen, und dies ift das Stadium, in dem wir 
uns gegenwärtig befinden. 

Schon dieſe rajche Ueberſicht zeigt, daß in dieſer Angelegenheit jeder Konflikt mit 
einer anderen Macht ald Venezuela ausgeichloffen ift. Deutſchland vertritt im Grunde 
das Intereſſe aller Beteiligten und ift vorgegangen, weil die Forderungen der anderen 
im Vergleich zu den deutichen minimal find. Damit erledigt ſich auch das von der 
gelben Breffe New-⸗Yorks aufgebradhte Gerücht von dem mwahricheinlihen Einſchreiten 
der Vereinigten Staaten gegen unfere Schiffe. Daran ift nicht zu denken, vielmehr 
handelt Deutſchland im Einverftändnis mit Amerifa, und auch die bevorftehende Be- 
feßung einiger Bollhäfen bis zur Erledigung unjerer Forderungen geſchieht im Einver— 
nehmen mit den StaatSmännern in Wajhington. Gerade jett find unfere Beziehungen 
zu der großen überfeeijchen Republit befonders freundliche, und es Liegt nicht der geringfte 
Anlaß vor, eine Wandlung zu erwarten. 

Das große Ereignis in England ift trog aller Verſuche der minifteriellen Preſſe, 
ed in feiner Bedeutung herabzudrüden, die Mede geweſen, in welder Lord Rojebery 
am 16. Dezember feinen politifhen Standpunkt dargelegt hat. Das Wefentlihe läßt 


Theodor Schiemann, Monatsſchau über auswärtige Politik. 755 


fi) dahin zufammenfaffen, daß er fich mit voller Beftimmtheit vom Home-Rule-Brogramm 
losjagte, das auch er einft vertreten hatte, daß er fi) zum Amperialismus befannte und 
endlich, daß er zwar die Unterwerfung der Burenftaaten unter die Oberhoheit Eng- 
lands als Biel des füdafrifanifchen Krieges billigte, aber diefe Unterwerfung auf Grund 
von Verhandlungen mit den Buren, d. h. mit dem Präfidenten Krüger erreichen will. 

Wir hätten noch vor kurzem auch dieſes Roſeberyſche Programm für eine 
Utopie gehalten, da die Widerftandskraft der Buren noch feineswegs gebrochen ift, und 
ihr Berluft an Menjchenmaterial dur den Zuzug aus der Kapkolonie mehr als aus- 
geglichen wird, wenn wir nicht aus dem Munde eines einwandfreien Gewährsmannes 
müßten, daß die große Maffe der Buren für die Fortſetzung des Kampfes in das Un- 
beftimmte hinein nicht zu haben ift, ſobald England bereit ift, beftimmte Zugeſtändniſſe 
zu machen. Die Dinge, für melde die Buren weiter zu fümpfen entichloffen find, aber 
find: die Herjtelung ihrer Verfaffung (menngleid) unter engliicher Oberhoheit), die Ge 
währung einer billigen Entihädigung für die ihnen von den Engländern zerftörten 
Farmen und Derftellung des früheren Grundbefites der einzelnen Farmer, Amneſtie 
für die zu ihnen übergegangenen Afrifander, und endlih Entwaffnung der von den 
Engländern bewaffneten Kaffern und Berzicht Englands auf bürgerlide Gleichſtellung 
der Kaffern mit den Weißen. 

Das alles find Forderungen, die Kitchener in feinen Verhandlungen mit Botha 
bereit zugeitanden hatte und die dann an dem Widerſpruch Chamberlains jcheiterten. 
Zur Beit ift aber nod) feine Ausficht, daß das gegenwärtige englifche Kabinett feine 
Haltung ändert. ES hat ſich auf den Gedanken der bedingungslofen Unterwerfung 
verbiffen und kann, ohne fi) jelbft zu desavouieren, von ihm nicht frei fommen. So 
wird denn der unheilvolle Krieg noch weitergehen, und jeit Dewet am Weihnachtsabend 
feinen Sieg bei Tweefontein errungen hat, haben die Ausfidhten der Buren fich merklich 
gebejlert. In England erwartet man eine Wendung von den neuen Verſtärkungen, die 
eben jest nach Afrika unterwegs find, und Chamberlains jüngfte Reden haben in Eng: 
land die Hoffnungen auf einen nahen fiegreihen Abſchluß des Krieges wieder hoch auf: 
flammen laffen. Aber wie oft jchon find ſolche Hoffnungen zu Schanden geworden. 

In Oftafien beginnen allmählich die äußeren Spuren des legten Krieges ſich zu 
verwiſchen. Der chineſiſche Hof ift am 7. Januar in Peking eingetroffen, und vorläufig 
hat es den Anſchein, als jollte wirklich eine den Fremden günftige politische Richtung 
behauptet werden. Nur die Verhandlungen mit Rußland über die Formulierung des 
Bertrages, der die Mandichurei dem Zaren ausliefert, wollen nicht zum Abſchluß ge- 
langen und fpigen fich faſt zu einer fritiichen Wendung zu. Unter dieſen Umſtänden 
erregen die Enthüllungen um fo größeres Aufjehen, die der Parijer Korrejpondent der 
„Times“, der befannte Herr von Blowit, in die Deffentlichfeit geworfen hat. Sie find 
erftaunlid genug, Gin aus der Mandichurei nad) Paris heimgefehrter Reiſender 
Namens Ular, alias Uhleman, hat Dokumente mitgebradht, die, wenn fie fi) als echt er- 
weiſen jollten, Rußland mit der ungeheueren Berantwortung belaften würden, die Borer- 
erhebung veranlaßt zu haben. Sie fei zunächſt gegen die Kaijerin-Witwe und die Mandſchu— 
Dynaſtie gerichtet gemwejen, um dieje einzufchüchtern. Dann habe Rußland ſich erboten, 
mit Hilfe des Dalai Lama die Bewegung gegen die fremden Nationen abzulenten und 

48* 


756 Theodor Schiemann, Monatsfchau über auswärtige Politik. 


darüber jeien zwiichen Lihungtſchang und dem befannten Fürſten Uchtomski, als Agenten 
der ruffiihen Regierung, Vereinbarungen getroffen worden. Der Aufſtand in Pefing, 
die Ermordung des Freiherrn von Setteler und alles, was fid) daran ſchloß, wären die 
Folge diejer Politik geweſen. Es ift wohl die ungeheuerlichite Beichuldigung, die je 
gegen eine Großmacht erhoben worden ift, und Herr von Blowig wie Herr Ular 
werden die Echtheit ihrer Dokumente über allen Zweifel ficheritellen müſſen, wenn fie 
Glauben finden wollen. 

Aber was ift nicht alles in jenem fernften Often möglich? 

Wir bemerken zum Schluß, daß der jcheinbar beigelegte Konflikt zwijchen England 
und der hohen Pforte über Koweit leicht in anderer Gejtalt wieder lebendig werden 
fann. An jedem Streitpuntt, der das Gebiet des Perſiſchen Golfes umfaßt, hängt der 
Begenjat der engliſch-ruſſiſchen Intereſſen, der trog aller Berjuche, die in dem lebten 
Halbjahr von engliihen Publiziften gemacht worden find, fi nicht in gegenleitiges 
Wohlwollen auflöfen läßt. Beide Mächte wollen dasjelbe, nämlid die ausichließliche 
Herrichaft in diefen Gewäſſern, und England hat bereit eine recht aniehnliche Flotte 
beijammen, um hier zu behaupten, mas es jeinen legitimen Einfluß nennt. Die von der 
Gruppe der Sfournaliften der „National-Revue“ mit großer Zähigfeit, wenn auch etwas 
plump aufgenommene Agitation fir ein ruffiich-engliihes Bündnis läßt fich heute wohl 
als endgiltig gejcheitert bezeichnen. Die Berhältniffe find ftärfer als die auf gemiffe 
nationale Gegenſätze aufgebauten SKonftruftionen für eine Zukunftspofitif, die, recht 
betrachtet, den Intereſſen beider Mächte in gleichem Grade widerfpridt. 


2} 


Bismark-Flphorismen. 
Ye mächtiger die parlamenfarifchen Einflüe auf das Staalsleben einwirken, defto 
notwendiger ilt eine firaffe Pisjiplin dem Beamtenflande. (28. Wär; 1867.) 
o 


Es giebt viele Pinge, die ein Staat dulden kann; er kann Nie ignorieren, aber etwas 
Anderes if es, fie gelehlich zu Janklionieren. (29. März 1867.) 


o 
Eine fefle Grenze der römilden Anfprühe an die parifätifchen Sfaaten mit 
evangelifcher Pynaftie läßt fich nicht herflellen. Licht einmal in rein katholifchen Staaten. 
Der uralfe Kampf wilden Prieflern und Rönigen wird nicht heute zum Abſchluß gelangen, 
namentlich nicht in Peutfchland. („Gedanken und Erinnerungen“. II 135.) 
oO 
Die Entfchlüfe und Abhängigkeiten, die das praktiſche Leben der Wenſchen mit ſich 
bringf, find goffgegebene Realitäten, die man nicht ignorieren kann und fol. Wenn man 
ea ablehnt, fie auf das politifche Ieben zu überfragen, und im Ießfern den Glauben an die 
geheime Einfiht aller um Grunde legt, Jo gerät man in einen Widerſpruch des Staals 
rechts mit den Realitäten des menſchlichen Xebens, der prakfilch zu Mehenden Zrikfionen 
und Ichließlic; zu Explolionen führt und theorefifch nur auf dem Wege forialdemohrafifcher 
Berrücktheiten lösbar if, deren Auklang auf der Chakſache beruht, daß die Einficht großer 
Ballen hinreichend fumpf und unentwickelt if, um ſich von der Rhetorik gefchichter und 
ehrgeisiger Führer unter Beihilfe eigener Begehrlichkeit Neis einfangen zu lallen. 
(„Gedanken und Erinnerungen“. II. 59.) 


OOGOGOGGGGGGCGCCC 


Monatsichau über innere deutſche Politik. 
Von 


W. v. Maliow. 


V, 
Die parlamentarijhe Rage um die Jahreswende. 


D: deutjche Reichstag hat in der Zeit vor Weihnachten 15 Situngen abgehalten. 
Davon waren 4 der zweiten Beratung der Seemannsordnung gewidmet; zwei beicdhäf- 
tigten fi) mit der Beſprechung von Sfnterpellationen (Duellfrage und Bolenfrage), und 
neun waren durd) die erfte Beratung des Bolltarifentwurfs ausgefüllt. Das ift die 
trodene, kurze Ueberficht über die Arbeit, die der Reichstag vor Beginn des Jahres 1902 
noch geleiftet hat. Dabei mußte die zweite Beratung der Seemannsordnung noch dor 
ihrem Abſchluß abgebrochen werden; auch die Volendebatte wurde nicht zu Ende geführt; 
die Duell:$nterpellation aus Anlaß des unglüdlihen Snfterburger Falles bradıte 
mwenigitens das eine Ergebnis, daß die Auffaffung des Kaiſers von diefer Sadje be 
fannt und die Sicherjtellung einer zutreffenderen Auslegung der kaiſerlichen Drdre vom 
1. Januar 1897 angekündigt wurde. Die Prinzipienfrage jedoch, der die Ynterpellation 
gewidmet war, wurde in diefer Belprehung aus fehr natürliden Gründen um nichts 
gefördert. So ift es denn allein die Bolltariffrage geweſen, die in dem erwähnten 
parlamentarishen Tagungsabſchnitt um ein Stück gefördert worden ift. 

Was ift nun mit diejer Arbeit bis jet erreiht und wie hat fich die politiiche 
Lage in Bezug auf diefe Hauptfrage bisher geitaltet? Die Frage ift recht ſchwer zu 
beantworten; denn gerade die allgemeine Klärung, die man von der erſten Lejung einer 
parlamentarifchen Vorlage erwartet, ift nicht ganz in dem erwünſchten Make gebradjt 
worden. Die Meinungen der gemwiegteften Bolitifer find gang und gar perſönlich ge: 
färbt und bewegen fich zwiichen den beiden Polen eines jehr gedämpften Optimismus 
und des ſchwärzeſten Beifimismus. 

Um zu einiger Klarheit über die Yage zu gelangen, wird es vor allem nötig fein, 
den Gejamteindrudf diefer allgemeinen Ausſprache der Parteien über die Zolltariffrage 
einigermaßen feitzuftellen. Wer aber zu diefem Zmede nad) den Berichten der Tages: 
zeitungen griffe, der würde bald zu feinem Schreden gewahr werden, daß er in ein 
wirbelndes Chaos geraten ift, in dem es feinen Drientierungspunft für objektive Feſt— 
ftellungen zu geben ſcheint. Schon die Thatjache, daß ein Parlamentsredner irgend eine 
Meinung äußert, genügt der ihm gefinnungsverwandten Preſſe in der Regel, um zu ver: 
fündigen, daß die Leute entgegengejegter Meinung „glänzend abgeführt“ jeien. Wie ſich 
der Vorgang wirklich abgefpielt hat, davon erfährt der geduldige Beitungslefer jehr 
häufig nichts. Bei dem redlichen Bemühen, als Augen: und Obrenzeuge der parlamen- 
tarifhen Verhandlungen fih möglichft unbefangen zu vergewiffern, wie es denn nun 
wirklich mit dem Erfolg oder Mißerfolg ausfieht, kann man oft die merfwürdigften Er- 


758 W. v. Mafiow, Monatsſchau über innere deutiche Bolitif. 


fahrungen maden. Es hat ja einen eigenen Reiz, unabhängig von jeder politiichen 
Meinung lediglich die rednerifche Wirkung, die ein Parlamentarier erzielt, zu beobachten. 
Als ſehr bald nach Beginn der Zolltarifdebatten die fozialdemofratiihe Fraktion ihren 
Genoſſen Molkenbuhr als Redner vorjchidte, mußte man annehmen, daß der Stand- 
punkt der Oppofition hier jehr wirfungsvoll zur Geltung fommen werde. Ein Rebner, 
der vor allem zum Fenster hinausspricht und ſich an die Maffen wendet, hat ja gerade 
in dieſer bejonders verwidelten volkswirtſchaftlichen Frage, in der von ber breiten 
Deffentlichfeit doc nur die allergemöhnlichften Schlagwörter und einige handgreifliche 
Behauptungen verftanden werden, feinen fo bejonders ſchweren Stand. Troßdem war 
die Rede Moltenbuhrs, rein oratoriich genommen, volljtändig verfehlt. Sie war un— 
Mar disponiert und taftete unficher an dem Gegenftande herum, als ob das Gefühl, 
nur mit Phrafen und Entjtellungen operieren zu fünnen, den Redner jelbft erdrüde. 
Auch Gegner der Regierungsvorlage ftanden nad) der Nede jelbft unter dem deutlichen 
Eindrud, die Sozialdemokratie ſei diesmal recht unglücdlich vertreten gewejen. Am 
folgenden Tage aber las man im „Vorwärts“: 


„Erft mit der großen Rede unjeres Genofjen Molkenbuhr befam die Verhandlung 
Würde und Ernft. In ruhigem Ton, aber mit vernichtender Logik zerzaufte er das 
ganze agrariiche Gewebe. Ihm gelang ſogar die nicht ganz leichte Aufgabe, nad all 
den monatelangen Diskuffionen noch neue Gedanken zu finden, originell zugeipiste Ar- 
gumente voll jchlagfräftiger Anjchaulichkeit in die Debatte zu merfen.“ 

Es wird vorausfichtlih ewig Geheimnis des „Vorwärts“ bleiben, welches die 
neuen Gedanken des Herm Molfenbuhr waren. Uns intereijiert bier auch nur die 
Feititellung, wie unbefümmert das Barteiintereffe über die thatſächlichen Ergebniſſe der 
Debatte hinweggeht. Bier fann man aljo direkt feinen geeigneten Maßſtab gemwinnen; 
es lohnt fi aber vielleicht, Erjcheinungen diefer Art noch weiter zu verfolgen. Daß 
Bebels von Leidenschaft jprühende Rede, die ja im Reichstage auch einen jtürmijchen 
Tag berbeiführte, in dem Zentralorgan der Partei außerordentlich beifällig beſprochen 
wurde, verjteht fich von jelbft, und derjelbe Lohn wurde aud der Rede Singers zu 
Teil, die aber in Wahrheit das Haus mehr ermüdete, als zur Aufmerkjamfeit zwang. 
Einger gab fich die erdenflichjte Mühe, nad) dem Borgang Bebels die Rechte heraus: 
aufordern, aber es glüdte ihm nicht, außer wenigen BZurufen, den Widerſpruch feiner 
Gegner hervorzuloden. Man hörte ihm ruhig, ja beinahe gleichgiltig zu. Wiederum 
nahm fi der Berlauf der Sache im Bericht des „Vorwärts“ diametral entgegengejekt 
aus, aber zwei Tage jpäter fam es zu Tage, dab der Eindrud der Debatten doch ganz 
anders empfunden war, als ihn die Tagesberichte wiedergaben. In dem Schlußwort, 
das dem in die Weihnachtsferien gegangenen Neidystag am 14. Dezember nachgeſchickt 
wurde, ließ das jozialdemofratiihe Organ die Masfe fallen. Am fichtliher Wut fchrieb 
e3 „dem Parlament der Beute” fein Zeugnis. Grimmig wurde da die Frage auf- 
getvorfen: „Was ift nun das Ergebnis des neuntägigen Kampfes? War e8 denn über: 
haupt ein Kampf? Oder haben Regierung und Zollwucherfreunde eigentlich nicht darin 
ihre Tapferfeit bewieſen, daß fie mit himmliſcher Geduld alle die-Hiebe binnahmen, die 
neun Tage lang hageldicht auf fie niederfauften?“ Dann ergeht ſich das Blatt in 
bitterer Kritit an den Reden der Regierungsvertreter, um zu der Behauptung überzu- 


RW. dv. Maſſow, Monatsfchan über innere deitfche Politik, 759 


gehen, die Freunde der Vorlage wollten nicht kämpfen, da fie fürdhteten, ſich um ben 
Beuteanteil zu entziweien. Und weiter tönt das wütige Echelten: „Das Niveau des 
Reichstags ift wirklich gefunfen; das Parlament ift fein Kampfplatz mehr, in dem Geiftes- 
richtungen, Weltanfhauungen um die Borherrichaft kämpfen; es ift nur noch der Tröbel- 
markt der Intereſſen. ... . . An diefem Eumpf der Intereffenvertretung ift natürlich 
der helle, friiche, fröhlihe Kampf verpönt ...... Dod dürften die Herren ſich 
täufchen, die Herren auf den Seffeln des Bundesrats und die auf den Klappfiken im 
Saal. Sie mögen nod) jo fehr dem Kampf aus dem Wege gehen wollen — fie werden 
dem Kampfe nicht entrinnen ..... Aus dem Parlamente werden wir den Kampf und 
die Agitation wieder hinaustragen in die Mafien.“ 

&o haben wir denn aljo dod) aus Gegnermund, und darum um jo unanfechtbarer, 
das Zeugnis, daß die Oppofition ſich als unterliegender Teil fühlte. Daß die Vorlage 
an eine Kommiffion verwieſen werden würde, ſtand längft feft, und die Sozialdemokraten 
haben jelbft dafür geftimmt. Die einzige Partei, die dagegen ſtimmte, die freifinnige 
Volkspartei, that dies auch nur, um ihre grundjägliche Stellung zu einer Frage be- 
züglich der Art der Kommiffionsberatung zu wahren. Alfo nicht die Abftimmung er: 
regte den Zorn der Sozialdemokratie, fondern die Berhandlung jelbft. Nachdem zu 
Anfang der erfte Fraktionsredner das Zeugnis erhalten hatte, daß er Würde und 
Ernſt in die Berfammlung gebracht habe, lautet zum Schluß die Klage an derjelben 
Stelle ganz anders: die Sozialdemokratie hatte ſich um friichen, fröhlichen Kampf be: 
müht; die Regierung und die Mehrheit — nad) fozialdemokratiicher Arithmetik wird fie 
„Minderheit” genannt — hat diefen Kampf nicht aufgenommen. Wozu foll denn num aber 
durchaus gekämpft werden, wenn es um die Sache fo traurig fteht, wie die jozialdemofratijche 
Preſſe fortgefegt behauptet hat? Dieje Frage liegt Doch eigentlich recht nahe, und man follte 
von den „Genoſſen“, die nach den Berichten ihrer eigenen Blätter ihre Gegner völlig 
mundtot gemacht haben, eher frohlodenden Triumph als zornigen Unwillen erwarten. 
Aber die Sache Tiegt eben in Wahrheit nicht fo; die Sozialdemokratie fühlt jehr genau 
und gefteht es in der erwähnten Form aud) ein, daß jenes Nichttämpfen ihrer Gegner 
ein Zeichen der Stärfe if. Man ift vergeblich und erfolglos gegen ein feſtes Bollwerk 
angerannt; man hat mit untauglihen Mitteln gekämpft und ift nun auf das hödhfte 
entrüftet, daß der Gegner fich nicht auch zum Gebrauch diefer untauglichen Waffen be: 
quemt hat. Das ift der wirflide Sinn der Klage, daß die Freunde der Regierungs— 
vorlage den Kampf fcheuen. Dem phrajenreichen Gezeter der Oppofition hat namentlid) 
die Regierung die Wucht der leidenichaftslojen, dabei aber zufolge der innewohnenden 
Klarheit und Sicherheit keineswegs wirfungslojen fachlichen Erörterung entgegengeiert, 
und das hat der Dppofition das Konzept gründlich verdorben. 

Die Regierung batte bei der Verteidigung der Vorlage über ihre Kräfte fehr ge: 
chieft verfügt. Im Gegenjat zu mancher andern gejekgeberiihen Borlage der ver: 
bündeten Regierungen handelt es fi hier nicht um eine politiiche Frage, die nad) den 
Erfahrungen und Anjchauungen einer Zentralitelle, alſo nach einheitlihen Grundjägen 
ausgearbeitet werden fonnte, um dann in den gejebgebenden Faktoren des Reichs die 
nötigen weiteren Stadien zu durchlaufen; hier mußte vielmehr von vornherein die Arbeit 
darauf angelegt werden, daß die mittlere Yinie zwischen den verjdhiedenen, zum Xeil wire 


760 W. v. Maſſow, Monatsfchau über innere deutſche Politik. 


durcheinanderlaufenden Intereſſen der deutſchen Länder und Erwerbsgruppen möglichſt 
ſicher feſtgeſtellt wurde, bevor die parlamentariſchen Parteien ſich damit befaßten. 

Die Verteidigung des Zolltarifentwurfs durch die Regierung brachte das klar zum 
Ausdruck. Es ſollte eben hervortreten, daß in dieſen Fragen der Norddeutſche anders 
urteilen mußte als der Süddeutſche, der Oſten anders als der Weſten, daß für Preußen 
andere Geſichtspunkte galten als für Bayern, Sachſen, Württemberg, daß aber alle 
dieſe verſchiedenen Intereſſen ihr Gemeinſames, ihren Einigungspunkt fänden in den 
Sätzen des Zolltarifentwurfs, wie er aus dem Bundesrat hervorgegangen war. Darum 
begnügte ſich der Reichskanzler ſelbſt mit einer fnapp gehaltenen Einführung der Vor— 
lage, in der nur ihre allgemeine politiiche Bedeutung hervorgehoben und zugleich ange- 
deutet wurde, daß es ſich hier eben um ein mühfames, forgfältig vorbereitetes Kompromiß- 
werk handle. Die eingehendere Begründung der Eigentümlichfeiten der Vorlage über- 
lic er dann demjenigen Staatsmann, in deifen Hand die legten Jahre hindurd der 
Dauptteil der vorbereitenden Arbeit gelegen hatte, dem Grafen Poſadowsky. Der 
Kanzler felbft griff nur noch einmal in die Debatte ein, um in fehr geſchickter und 
glücklicher Form die Angriffe desjenigen Redners der Oppofition abzuwehren, der — 
wenn auch nicht mehr mit dem früheren Temperament — doch unftreitig am bebeut- 
jamjten jeine Sadje vertreten hatte, de Herrn Eugen Richter. Graf Poſadowsky 
bewies in den beiden Neden, in denen er das große Zolltarifiwerf verteidigte, wiederum 
die außerordentliche Kenntnis und Beherrihung jeines Stoffs, die ihm ftet3 von 
fundigen Bolitifern nachgerühmt worden ift, und es darf wohl faum bezweifelt werden, 
dat, falls es gelingt, die agrarische Oppofition gegen die Vorlage zur Nachgiebigfeit zu be— 
wegen, dieö auf den ſtarken und überzeugenden Eindrud der Gründe zurüdzuführen fein wird, 
die von dem Staatsjekretär des Innern ins Feld geführt wurden. Neben diefer aus: 
gezeichneten Vertretung der Bentralleitung famen die zum Teil jo jehr verſchiedenen 
Sintereffen der einzelnen Bundesregierungen zum Wort. Die territorialen Intereſſen 
traten bei den Vertretern des größten deutjchen Bundesftaats, des Königreichs Preupen, 
naturgemäß mehr zurüd. Man fünnte aber vielleiht jagen, dat Herr v. Podbielski 
als Landwirtichaftsminifter mehr vom Standpunkt der öftlihen Provinzen, Herr Möller 
als Handeldminifter, der jelbft aus der mweftlihen Großinduftrie hervorgegangen ift, 
mehr vom Standpunkt der mweftlihen Provinzen geiprochen, Herr dv. Rheinbaben als 
Finanzminister hauptjächlich das finanzielle Intereſſe des Gefamtjtaates vertreten hat. 
Beionders bemerkenswert aber war das Auftreten der Minifter der größeren außer: 
preußiihen Bundesftaaten. Hier zeigte fich deutlich die große Berichiedenheit in der 
wirtichaftlihen Eigenart der deutjchen Bundesitaaten, aber gerade für den Kenner 
deutichen Weſens wirkte e3 ungemein anregend und zugleich erfreuend und erwärmend, 
zu jehen, wie dieſe bunte Mannigfaltigfeit doch zulekt immer in den einen Gedanken 
ausmündete, daß die Zolltarifarbeit gewiffenhaft die Summe aller mit einander verein- 
baren nterejjen gezogen und genau das Maß von Opfern erwogen habe, das von 
ben einzelnen Snterefjenfreifen der Gejamtheit gebradt werden müſſe. So fprad 
Frhr. dv. Riedel für Bayern, Herr v. Piſchek für Württemberg, Herr v. Metzſch für 
Sadjen, Herr v. Schrait für Elfah-Lothringen, und gerade diefer Symphonie der 
deutichen Wirtihaftsintereflen, wie fie von idenler Vaterlandsliebe und Opferwilligkeit 


W. v. Maſſow, Monatöfchau über innere deutfche Politik. 761 


getragen wurde, erzeugte in der gegenwärtigen, veriworrenen und von Sonderintereflen 
beherrichten Lage eine größere Wirkung, als fie die Beredfamkeit eines leitenden Staats- 
mannes in feiner Eigenihaft als Träger einer beftimmten Wirtjchaftspolitif auszuüben 
vermocht hätte. Das weiß und fühlt auch die jozialdemokratifche Preffe jehr wohl, und 
darum zitiert fogar der „Vorwärts“ die Schatten Bismards und Caprivis, um auszu— 
führen, daß früher die Vertretung der Bollpolitit der Regierung groß und gedanfen- 
reich, jet aber jämmerlih und zeriplittert gemwejen fei. In Wahrheit ift damit bewieſen, 
wie jehr fi die Oppofition mit ihren Gründen in die Enge getrieben fühlt. 

Diefer Eindrud wird noch verftärkt, wenn man die Haltung der Reichstagsmehr- 
heit der Minderheit gegenüber beobachtet hat. Von der rechten Seite des Hauſes bis 
zu den Nationalliberalen überwog die Stimmung, in der die Eozialdemofratie Kampf— 
ſcheu“ fieht, in der wir aber das Gefühl der ficheren Ueberlegenheit, die auf redneriiche 
Fechterfunftftüde verzichten kann, erfennen. Man könnte es vielleicht als eine gewiſſe 
Bequemlichkeit deuten, die, ihrer Abſtimmung fiher, den Kampf der Regierung überließ; 
diefe Deutung würde aber nur dann anzunehmen jein, wenn alle diefe Parteien mit der 
Regierung volllommen einverftanden wären. Das iſt aber durchaus nicht der Fall, 
fondern e8 find überall noch recht erheblihe Schwierigkeiten und Sonderwünſche zu 
überwinden. Nein, es ift eben ganz und gar nicht zu leugnen, daß die Ruhe und Sad): 
Tichkeit in den Reden der Mehrheitsparteien zu einem Teil auf der Sicherheit und 
GEntjchiedenheit der verbündeten Regierungen, zum andern Teil aber auf dem offenbaren 
Fiasko der Oppofition beruhten. 

Wie erklärt fi) nun aber der auffallende Peſſimismus, der fi) in den Neujahrs- 
betrachtungen über die Ausfichten des Bolltarifs jo ftarf bemerkbar madte? Man 
würde ſich allerdings einer leichtfertigen Täuſchung hingeben, wenn man nur aus dem 
günftigen Eindrud, den der erjte Akt Hinterließ, überfchnell auf das gute Ende der 
ganzen Handlung ichlöffe Der den Ereignifjen gewijlenhaft folgende Politiker mwird 
im Gegenteil aud) darauf achten müfjen, daß im Verlauf der erften Leſung des Zoll» 
tarifs zugleich die erite Gelegenheit gegeben war, alle Verſchiedenheiten in den Auf: 
fajfungen der parlamentariihen Fraktionen recht deutlich zu machen und zu zeigen, tie 
weit entfernt auch die der Vorlage im Ganzen freundlich gegenüberftehenden Parteien 
nod von einer einigermaßen glatten Annahme des Entwurfs find. Und dann hat die Paufe in 
den Verhandlungen allerlei kritiſchen nadhträglidyen Betrachtungen Raum geſchafft, die in der 
Debatte jelbft ſich aus äußerlichen Gründen nicht recht hervorwagen konnten. 

Da find zunädft die Wünſche und Forderungen der ertremen Agrarier, die darauf 
beftehen, die Höhe der Getreidezölle auf ein für den Abſchluß von Handelsverträgen ges 
fahrdrohendes Maß hinaufzufhrauben oder den Minimaltarif auf die Viehzölle auszu— 
dehnen. Ob die Regierung jemals darauf eingehen fönnte, dafür liegt noch feine wirk— 
lich offizielle Meinungsäußerung vor; aber aud) ohne eine befondere amtliche Aeußerung 
wird jeder, der die Heden der Herren Graf Poſadowsky, Frhr. v. Riedel und v. Piſchek 
aufmerfjam ftudiert hat, erfennen, daß die Negierungen die Verantwortung für folche 
Umgeftaltung des Tarifs nicht übernehmen fünnen. Es würde übrigens gleichgiltig 
fein, ob die Regierung die agrariiche Drohung, den Tarif in ſolchem Falle abzulehnen, 
berüdfichtigen wollte oder nicht. Schon die Aufrechterhaltung der agrarischen Forderungen 


762 W. v. Maſſow, Monatsfhau Über innere beutfche Politif. 


allein mwirde die Sprengung der Mehrheit für den Tarif bedeuten und das Scheitern 
der Vorlage unfehlbar zur Folge haben. Dies haben inzwischen aud die Parteien er- 
wogen, die von Haufe aus geneigt waren, der Regierung Deeresfolge zu leiften, und es 
ift nur ganz natürlich, dat die Nachwirkung der Eonjervativen Erklärungen in ber erften 
Leſung — denn die fonfervativen Fraktionen haben fich menigitend im Prinzip die 
agrariichen Forderungen zu eigen gemadt — allmählih aud; im Zentrum und bei den 
Nationalliberalen diejenigen Parteielemente gefräftigt hat, die jchon der Regierungs— 
borlage nur widerwillig und nicht ohne Bedenken und Vorbehalte gefolgt waren. Inner— 
halb der nationalliberalen Partei gab es fchon längft eine ftarfe Strömung gegen die 
Minimalzölle für Getreide. Ye mehr mit einer Niederlage der verbündeten Regierungen 
infolge der agrariſchen Forderungen zu rechnen ift, deſto ſchwerer wird es fein, die 
Nationalliberalen auf dem Boden einer gerechten Berüdfichtigung der Intereſſen der 
Landwirtichaft zuſammenzuhalten. Und ähnlich geht es mit dem Zentrum. Das Maß 
der von der Regierung geforderten Bugeftändniffe können auch die Merifalen verant- 
worten und fie heimfen dafür wiederum den Vorteil ein, als Regierungs: und ausichlag: 
gebende Partei zu glänzen. Was aber darüber hinausgeht, würde auf often der Volks: 
tiimlicheit des Zentrums gehen; e8 würde die radifaleren Elemente innerhalb der Partei 
bor den: Kopf ftoßen, e8 würde die jozialpolitiiche Stellung der Partei erſchweren und 
gefährden. Ein folches Opfer bringt das Zentrum nicht ohne weiteres der Regierung. 
Und weil nun die Gefahr beiteht, daß von Fonjerbativer Seite ein Drud auf die Re- 
gierung im Sinne weiterer Erhöhung der Getreidezölle ausgeübt wird, weil ferner 
dadurch die allgemeinen Ausfichten der Vorlage wejentlich verjchlechtert find, jo jehen 
wir nun während der Weihnachtsferien auch das Zentrum plöglich vorfichtiger werden. 
Man hört, die Partei fei noch feineswegs einig; man wolle fi) die Sache nody einmal 
überlegen u. dergl. 

So erflärt es fid), dak wir wieder einmal in einem Wellenthal der politijchen Be- 
wegung angelangt find, und daher die pejlimiftiiche Richtung der Preſſe. Trotzdem be: 
fteht noch fein Grund, an ein Scheitern des Zolltarifentwurfs zu glauben. Es beftätigt 
fih nur einftweilen, daß dem Tarif die eigentlihe Gefahr von der rechten Seite her 
droht. Aber vielleicht kann man eben daraus die Hoffnung jchöpfen, daß die Gefahren 
glüdlich überwunden werden. Denn jo fanatisch auch einzelne ertreme Agrarier jein 
mögen, die entfcheidenden Elemente auf diefer Seite find doch ausnahmslos ftaatätreue 
Männer, vor allem Männer von Staatsgefühl und Bewußtſein politiiher Verant— 
wortung. Wenn die Lage foweit geklärt iſt — und dahin muß e8 unbedingt fommen —, 
daß deutlich zu erjehen ift, wie die Wahl gegeben ift zwifchen den maßvollen Vorteilen, 
welche die Regierung bieten fann, und dem bisherigen Zuſtand, verihärft durch eine 
offenbare Bloßftellung des eigenen Yandes vor dem Auslande, wie fie ein Scheitern des 
Tarifs mit fich bringen würde, — wenn das alles in voller Schärfe und Nadtheit ſich 
dem politiſchen Gewiſſen der Konferbativen darjtellt, dann wird ficher ihr heutiges Wort 
nicht ihr legtes Wort fein. Man braudt alfo troß aller Schwierigkeiten noch nicht das 
Vertrauen zu verlieren, daß die Sadje doc noch zu gutem Ende gelangt. 


1% 


Weltwirtichaftlihhe Umſchau. 


Von 
Paul Dehn. 


Maßnahmen gegen zahlungsunfähige oder zahlungsunmillige Staaten. — Rückwirkungen des 
fübafrifanifchen Krieges auf Europa und England. — Der Rüdgang Konftantinopels. — Die 
allamerifanifche Eifenbahn. — Japans wirtſchaftliche Lage. — Das unterfeeifche Kabelnetz. 


u einer wichtigen, in den letzten Jahren wiederholt erörterten internationalen Frage 
ſoll Präfident Roofevelt eine bemerkenswerte Aeußerung gethan haben. Im Hin- 
bli auf die Abficht der Reichsregierung, den Staat Venezuela zur Erfüllung feiner 
geldlihen Verpflidtungen gegenüber deutjhen Reichsangehörigen nötigen- 
falls durch eine militärische Erefution zu zwingen, äußerte Präfident Rooſevelt nad) 
Angabe englifcher Blätter, daß er die Verwendung von Flotten und Heeren zum Ein: 
treiben von Privatichulden gegenüber Fleinen Staaten nicht bewundere. Diejes Schwingen 
des gnejchliffenen Schmwertes über Feldmäufe fei ein wenig unwürdig. Präfident Roofevelt 
hat hier eine FFeinfühligfeit verraten, wie fie die nordamerifanijchen StaatSmänner der 
Neuzeit bisher vermiffen liegen. Am Grunde genommen empfand Roofevelt richtig. Seine 
Auffaffung läßt ſich auch formal rechtlich begründen. Wenn ein Kaufmann oder ein 
Unternehmer oder eine Bank im Auslande Kredit gewährt oder Kapitalien anlegt, 
jo geichieht e3 auf eigene Rechnung, und vom formal-vechtlichen Standpunkt aus ift nicht 
abzujehen, weshalb die Gejamtheit die Gefahr, die aus ſolchen Geſchäften im Auslande 
entjpringen fann, auf ſich nehmen fol. Aus welden Gründen werden im Auslande 
Geichäfte unternommen oder Kredite gegeben? Einzig und allein deshalb, weil daraus 
höhere Gewinne und Binjen zu erwarten find. Mit höherem Gewinn ift jelbftverftändlich 
ein höheres Wagnis verbunden. Kann wirklich die Gejamtheit diefes Mehr-Wagnis 
übernehmen, das der ausländiihen Zuftändigfeit des Unternehmens entfpringt? 

Bon der praktischen Politik ift diefe Frage bisher faft immer bejaht worden. Nur 
über die Mittel und Wege zur Beitreibung der Forderungen ihrer Angehörigen an aus: 
ländifche Staaten beftanden Unterſchiede, und aud) diefe Unterjchiede vührten nicht von 
grumdjäglihen Meinungsverjchiedenheiten her, jondern waren Ergebniffe der politischen 
Stonftellation wie der Eigenart des Schuldnerftaates. 

Welche Mahregeln kann ein Staat ergreifen, wenn er rechtögültige Forderung feiner 
Angehörigen an einen anderen zahlungsummilligen oder zahlungsunfähigen Staat fo wirkſam 
unterftügen will, daß fie erfüllt werden müffen? Haben diplomatische Verhandlungen, 
Vorftellungen und Brotefte nichts gefruchtet, jo müſſen jchärfere Maßregeln ergriffen 
oder zunächſt wenigftend angedroht werden. Als im Herbft 1895 die Inhaber griechiicher 


764 Paul Dein, Weltwirtfchaftliche Umſchan. 


Staatsſchuldverſchreibungen nicht in Deutfchland allein um Schub baten gegen die 
BWillkürlichkeiten der griehiichen Regierung, verficherte ein halbamtliches Berliner Blatt, 
es jei die Annahme durchaus unzutreffend, daß dem Deutihen Reiche wie den übrigen 
beteiligten Staaten gegenüber dem banferotten Griechenland fein anderes Einwirkungs— 
mittel zu Gebote ftehe als BVorftellungen und Protefte. Zwiſchen papiernen Proteften 
und der Anwendung von Gerwalt beftehe ein fehr breiter Raum für wirkſames Handeln. 
Vorftellungen und Protefte find in der Regel nur dann erfolgverheißend, wenn ihnen 
durch ernitere Maßnahmen der erforderliche Nahdrud gegeben werden kann. Welche 
Maßnahmen liegen nun zwifchen den papiernen Proteften und der Anwendung von Waffen: 
gewalt? Zunächſt kann der Gläubigerjtaat den böswilligen Schuldnerftaat mit dem Ab- 
bruch aller diplomatischen Beziehungen drohen, ferner mit der Aufhebung des Handels— 
vertraged, mit der Ausweiſung der Angehörigen des Schuldnerftaates, ohne indeflen 
deren Vermögen antaften zu dürfen. Ferner mit einer Bohkottierung des Schuldner: 
ftaates im Schiffahrtsverfehr. Allein alle diefe Mapregeln find zweiſchneidig, fie 
jhädigen ebenfo jehr die Intereſſen des Gläubigerjtaates wie des fremden Schuldner: 
Staates, fie veriprechen überdies wenig Wirkung, wenigjtens jo lange fie nur von einem 
einzigen Staate ausgehen. Soll ihr Erfolg gefichert fein, jo müßten fie von mehreren 
Großmächten vereinbart und durchgeführt werden, jo daß der betreffende Schuldnerfiaat 
von dem internationalen Berfehr ausgeichloffen und in eine Art friedlicher Blofade ver: 
jeßt werden würde, die er auf die Dauer nicht ertragen kann. Bisher ift es zu einer ſolchen 
Gemeinſamkeit des Handelns unter den Mächten nicht gefommen, weil die finanziellen, vor 
allem aber die politischen Intereſſen vielfach zumiderliefen und weil diefe Gegenjäte von dem 
Schuldnerftaat nad) Kräften verfchärft wurden. An der Regel bildeten die Intereſſen— 
gegenjäte der Mächte den wirkſamſten Schuß der banferottierenden Staaten. 

Am zweckmäßigſten hat ſich bisher das Borgehen gegen bösmwillige oder zahlungs- 
unfähige Schuldnerftaaten ermwiejen, wenn es planmäßig und im Einvernehmen der 
Mächte erfolgte, wie im Berliner Friedensvertrage von 1879 gegenüber der Türkei und 
den neuen Balfanftaaten und im Jahre 1897 im türfifch-griehifchen FFriedensvertrage. 
Im Berliner Frieden befundeten die Mächte allerdings feine glüdliche Hand; fie fchufen 
bejondere Beitimmungen zu Gunſten unberedhtigter und unmoralifher Anſprüche, fie 
wollten die neuen Balfanftaaten zwingen, die Wucherforderungen des Barons Hirſch und 
der englifch-frangöfiichen Geldmänner mit zu übernehmen, fie verpflichteten aber gleich: 
zeitig die Pforte, fi) mit ihren Gläubigern auszugleichen, was diefe denn auch im 
Jahre 1880 durch die Einſetzung des europäiſchen Verwaltungsrates für die türfifche Staats 
ihuld, annähernd nad) ägyptiſchem Vorbilde, that. In dem türkiſch-griechiſchen Frieden 
bon 1897 wurde die Organifation eines internationalen Ausichuffes in Athen, wiederum 
nad) äghptiichem Borbilde, vereinbart. Diefem Ausihuß werden von der griedhiichen 
Regierung ausreihende Einnahmen für den griehiihen Staatsjchuldendienft überwieſen, 
er verwendet fie zmedentiprechend und hat jeine Aufgabe bisher zur vollen Zufriedenheit 
aller Beteiligten gelöft. 

Alle weiteren Maßnahmen gegen zahlungsunfähige oder zahlungsunmillige Staaten 
ieben die Androhung oder die Anwendung von Waffengewalt voraus, zunächft eine 
bloße Flottendemonftration, jodann die Beſetzung einzelner Häfen, Zollftellen oder Ge— 


Baul Dehn, Weltwirtichaftliche Umfchau. 765 


bietsteile behufs Gintreibung der Zölle und Etenern zur Befriedigung der Gläubiger, 
nad Umftänden nnter gleichzeitiger Beichlagnahme der Zollfafien. Nod) jchärfere Maß— 
regeln wären eine Blodade der Häfen und Hüften, eine Beichlagnahme der Handels- 
flotte und vielleicht auch der Striegsflotte des Schuldnerftaateds. Manche Staaten find 
gelegentlich allerdings unter mehr oder minder geſchickter Verdunflung des Thatbeitandes 
noch weiter gegangen. Mexiko und Aegypten, jagte Moltke, find von europäifchen 
Heeren heimgejucht worden, um die Forderungen der hohen Finanz zu liquidieren. 

An Staaten, die ihre Verpflichtungen nicht erfüllen konnten oder nicht erfüllen 
wollten, hat es in der Neuzeit nicht gefehlt. Portugal, Argentinien und Griechenland 
fürzten ihre Schuldverpfliddtungen empfindlid. Im Jahre 1895 jehte Serbien die ver— 
tragsmäßigen Zinfen um 20 Proz. herab. An allen diefen Fällen war deutſches Kapital 
fehr erheblich beteiligt. In jedem einzelnen Falle bemühte ſich die Reichsregierung, die 
geihädigten deutichen Gläubiger nad) Möglichkeit zu ſchützen, ohne jedoch zu jchärferen 
Maßregeln zu greifen. Als der Reichsregierung von intereffierter Seite zum Vorwurf 
gemacht wurde, daß fie gegenüber der portugiefiichen Regierung nicht thatkräftig genug 
aufgetreten jei, ließ fie halbamtlidh auf das Berhalten Englands hinweifen, wo im all- 
gemeinen der Gelichtspunft feftgehalten werde, daß, wer fein Geld in fremden Anleihen 
anlegt, auch das Wagnis für den höheren Zinsjag zu tragen habe. In erfter Reihe jei 
es Sache des nterefjenten, zu einem Abfommen mit der fremden Regierung zu gelangen. 
Ein Blick auf Aegypten zeigt, daß man in England den Grundjag der Nichteinmiſchung 
in ſolche Angelegenheiten ohne wmeiteres aufgiebt, wenn höhere Intereſſen in frage 
ftehen. Auch das Vorgehen der Neichsregierung gegen Venezuela deutet darauf hin. 
Vermutlich haben die deutjchen Intereſſenten, bevor fie fid auf das erotifche Geichäft, 
auf den Bau der Venezuelabahn gegen entjprechende Binsbürgichaft, einliegen, bei der 
Reichsregierung angefragt, ob fie nötigenfall® auf ihren Schub rechnen könnten, und 
dabei beruhigende Zuficherungen erhalten. Unter diefen Umftänden hätte allerdings die 
Reichsregierung eine moralifhe Berpflidtung, fih für die Forderungen ihrer Staats- 
angehörigen an Venezuela mit ganzer Kraft einzufeßen und auch äußerte Maßnahmen 
nicht zu fcheuen. In derjelben Lage würde Frankreich waährſcheinlich ebenjo 
handeln, mie jein Vorgehen gegen die Türkei beweiſt: feine Belegung Mütilenes 
im Intereſſe zweifelhafter Forderungen levantinifcher Spekulanten franzöfiiher Staats: 
angehörigfeit. Nach Argentinien, Portugal und Griechenland wurden deutjche Kriegsschiffe 
nit entjendet, obwohl dort weit höhere Forderungen deutiher Angehöriger in Frage 
ftanden und jchlieglih verloren gingen. Eine Flottenexekution gegen einen diefer drei 
Staaten hätte allerdings jchärfere politiiche Neibungen hervorrufen können, als fie 
von einer Erefution gegen Benezuela zu befürdten waren. Bei Mahnahmen gegen 
zahlungsunfähige oder zahlungsunmillige Staaten laffen fid) beftimmte Grundjäge nicht 
aufſtellen. Ausichlaggebend find dabei von Fall zu Fall neben politiihen Rüdfichten 
der Hulturzuftand, die Größe und jelbjt die Lage des Schuldnerftaates. 

In jedem Fall find die Forderungen, die Deutjchland gegenüber Venezuela ver: 
tritt, ehrlich erworben und nicht annähernd jo zweifelhaft als die Entichädigungs- 
anjprüche, die Nordamerika zu Gunften der während der armenischen Unruhen zerftörten 
Miffionsanftalten jeiner Staatsangehörigfeit erhob und mit der Androhung einer 


766 Baul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umichau. 


GErefution durch nordamerifaniiche Kriegsschiffe unterftügte. Daran wird fi Präfident 

Roojevelt erinnern laſſen müffen, wenn er jeyt die Verwendung von FFlotten und 

Heeren zum Gintreiben von Privatichulden gegenüber Eleineren Staaten bemängelt. 

Uebrigens giebt er jelbjt zu, dab die nordamerifaniiche Republik diefes Mittel von Zeit 

zu Beit in beiden Erdhälften zur Anwendung gebracht hat, und fie wird gegebenenfalls 

aud in Zukunft ficherlich davor nicht zurückſcheuen. 
4 


= 
* 


Wo immer auf der Erde heutzutage ein Kanonenſchuß fällt, allerwärts erregt er 
Alarm, alle Kulturjtaaten werden davon berührt. Ein Krieg jelbft in entlegener Gegend 
wirft jofort audy auf Europa zurüd. Mehr oder minder madjt er das Geſchäft un: 
jiher, dämpft die Internehmungsluft, verichlechtert den Gelditand und bringt den Ber: 
fehr ins Stoden. Inter den jüdafrifanifhen Kriegswirren leidet aud Europa. 
Diejer Krieg hat die rüdgängige Konjunktur hervorgerufen oder doch mindeftens be- 
jchleunigt und verjchärft. Der ſüdafrikaniſche Abſatzmarkt ift verjchlojfen. Am Jahre 1898 
nahm er für Y/, Milliarde M. fremde Waren auf. Die Epannfraft des englijchen 
Marktes läßt nad. Bisher hat in England die Tagespreffe im Dienfte der Gold- und 
Diamanteninterefjenten die Öffentlihe Meinung in Bezug auf Südafrika gemadt. Viel— 
leicht bricht aber der vielgerüihmte gelunde Menjchenverftand der Engländer durch, wenn 
fie die Koftenrechnung ihres Kriegszuges aufftellen. Bis Mitte 1901 hatte die englijche 
Deeresverwaltung bereit3 über 3 Milliarden M. verausgabt. Selbſt im Falle eines 
baldigen Friedens wird der Strieg den Engländern 5 Milliarden M. Eoften und ihnen 
noch weitere empfindliche Opfer auferlegen bei der Deckung der Kriegsſchäden und für 
das künftige Bejagungsheer in der Kapkolonie. Englands Ausfuhr nimmt ab; fie war 
bis 1900 auf 5,8 Milliarden M. geitiegen und ging in 1901 auf 5,6 Milliarden M. 
zurüd, fie wird übertroffen von der nordamerifanijihen mit 5,8 und faft erreicht 
von der deutfchen mit 5,1 Milliarden M. An der Londoner Börſe find die Kurſe der 
wichtigſten Papiere empfindlich zurüdigegangen, fo die Kurfe der 2°/,progentigen englijchen 
Konfols feit Beginn des Krieges von 111%/, auf 93°%,.. Der Kurswert der Staats: und 
Eifenbahnpapiere ift in diefer Zeit von etwa 24 auf 20 Milliarden M. geſunken. In 
325 wichtigen Papieren belief fich jeit 19. Dezember 1899 der Kursverluft auf nahezu 
3 Milliarden M. Bon diejer Entwertung wurden hauptjächlich britiiche und indische Staats: 
papiere, ferner britiiche Eifenbahnpapiere betroffen, während die Spekulanten in ſüd— 
afrikaniſchen Anteilfcheinen die Kurje hochhielten, zum Teil mit Hilfe falfcher Nachrichten, 
Gewiſſe Meldungen aus Südafrika, jo 3. B. über das Wiederaufblühen der Minen: 
induftrie, wie des Handels, ferner die Gerüchte über Verwundung und Tod der Generale 
Botha, Dewet und dergl. waren zweifellos ausgeftreute Grfindungen beteiligter 
Londoner Börjenkreife. 

Bei der Aufbringung der neu erforderlichen Mittel wird ſich zeigen, ob die eng: 
Liihen Staatsmänner wirklich entichloffen find, von dem Freihandelsprinzip nidyt weiter 
als bisher abzugehen. Neue Einnahmequellen müffen erjchloffen, die beftehenden Steuern 
erhöht oder neue gejchaffen werden. Da eine weitere Anziehung der direkten Steuern 
nicht8 weniger als volkstümlich ift und einem Minifterium wenig zweckmäßig erjcheinen 
fann, das jeine einzige Stüge in der wanfenden Bolfsgunft findet, jo ift zu verinuten 


Paul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umfchau. 767 


dab man die erforderlichen Mehreinnahmen aus BZollerhöhungen oder neuen Zöllen zu 
beihaffen ſuchen wird, vielleicht durch eine Erhöhung des Zucerzolles oder des Kohlen— 
ausfuhrgolles oder gar durd) die Einführung niedriger Getreidezölle. Anfang Dezember 
1%1 beflagte der engliiche Aderbauminifter Hanbury den unbefriedigenden Stand der 
engliſchen Landwirtſchaft. Der Getreideanbau und ſelbſt die Viehzucht feien im Rück 
gange. Großbritannien müſſe der Yandwirtichaft ein ftärferes Antereffe zuwenden umjo- 
mehr, als die britifche Induſtrie jett, da fich ihr die Weltmärkte verichliegen, zu erfennen 
haben werde, daß fie in Zukunft in den ländlichen Bezirken der Heimat Abjak für ihre 
Erzeugniffe ſuchen müſſe. Wenn Schugzölle dem Staate neue Einnahmen jhaffen, der 
Landwirtſchaft helfen und der Anduftrie nügen können, weshalb foll man da an dem 
freihändlerifhen Brinzip noch weiter fejthalten? Cobden hat einft gejagt: „Schafft die 
Kormgölle ab, in einem Jahrzehnt folgt die ganze Welt nad) und der Freihandel herricht 
allmächtig.“ Cobden hat falſch prophezeit. Die ganze Welt ift jchutzöllneriich, jelbit 
der neue auftraliiche Einheitsſtaat troß feines englifchen Gepräges. Der Freihandel, 
Tagen viele Engländer, hat bereits die befte unferer Induftrieen, die Landwirtichaft 
zu Grunde gerichtet. Unfere Ausfuhr finkt, unfere Induſtrie fieht fich mehr und mehr 
durch die fremde Konkurrenz bedroht. Wir find nicht mehr die Banfiers der Welt, jeit- 
dem wir unfer Kapital verfchleudern, um die unnötigen Einfuhren zu bezahlen, die 
unfere eigene Induſtrie verdrängen. Wenn wir zu der. welterobernden Schutzzoll 
politif zurücffehren, dann werden wir auch durchjegen fünnen, was dem erjchütterten 
Reiche gerade jekt von höchſtem Wert wäre, die Schaffung eines größerbritiichen Zoll- 
verbandes, wie fie nur auf jchußzöllneriiher Grundlage möglih iſt. Werden Die 
leitenden Staatdmänner Großbritanniens diefen PVerlodungen folgen und ſchutz— 
zöllneriſche Bahnen einjchlagen zur Hebung eines Neiches, das durch jeine Freihandels- 
politif in der Weltwirtichaft lange Zeit die erfte Stelle behauptet hat? 
* * 

Zwiſchen zwei Meeren und zwijchen zwei Erdteilen liegt Konftantinopel. Jahr— 
hunderte hindurch war diefe von der Natur fo begünftigte Stadt der Mittelpunft der 
MWeltgefchichte und des Kulturlebens. Seine frühere Bedeutung hat Konftantinopel 
längjt verloren. In allerneufter Zeit ift es auch mwirtjchaftlih immer mehr zurück— 
gegangen. Eijenbahnen und Dampfichiffe haben eine ganze Reihe erfolgreich aufftrebender 
Konkurrenzhäfen emporgebradt, u. a. Odeſſa, Galat, Piräus, Smyrna, Beirut, ferner 
Saloniti, Dedeagadſch, Barna, Burgas u. ſ. w. Auch Binnenhandelspläte find entjtanden 
und haben Stonftantinopel wirtfchaftlic; beeinträchtigt. Für die Entwidelung des Berfehrs 
lagen in all diefen Städten die Verhältniffe günftiger als gerade in Sonftantinopel. 
Noc bis vor wenigen Jahren war die türfiihe Hauptitadt fo gut wie ohne Hafen- 
anlagen, und der Verkehr zmwijchen den großen Dampfern und dem Lande mußte durch 
fleine Fahrzeuge vermittelt werden. Im Jahre 1895 vollendete eine franzöſiſche Gefell- 
Schaft mit großem Kapitalsaufwande die Hafenanlagen am goldenen Horn. Indeſſen 
hatte fie nicht mit dem wirtichaftlichen Rüdgang Konftantinopel3 gerechnet, den ich ſchon 
in einer feinen Schrift vom Jahre 1886 „Land und Leute der Balfanhalbinjel“ be- 
rührte. So entipraden die Ergebnijfe nicht annähernd den Erwartungen, und als 
Sultan Abdul Hamid der Anatoliihen Eilenbahngejellihaft die Erlaubnis erteilte, 


768 Baul Dehn, Weltmirtfchaftliche Umfchau. 


große Hafenanlagen gegenüber von Stonftantinopel in Haidar-Paſcha zu bauen, erhob 
die franzöfiiche Gejellihait Proteft und verlangte eine Minderung ihrer Berpflihtungen. 
Bereits ift in Haidar-Paſcha ein proviforisher Dafendamm durd Erdaufſchüttungen 
hergeftellt worden. Im Sommer joll der neue Hafen teilmweife und Anfang 1903 ganz 
dem Betriebe übergeben werden. In dem Konkurrenzkampf zwiichen den Dafenanlagen 
zu beiden Seiten des Bosporus wird borausfichtlid) die afiatifche Seite fiegen und 
Konitantinopel im engeren Sinne zwiſchen Stambul und Pera weitere Berkehrseinbußen 
erleiden. Die wirtichaftlihe Entwidelung der türkiſchen Hauptftadt mit ihren afiatifchen 
Vierteln läßt ſich nicht vorherfehen, da fie weſentlich von den politiihen Berhältnifien 
abhängig ift. 


* * 
* 


Schon auf dem erſten allamerikaniſchen Kongreß wurde von nordamerikaniſcher 
Seite der Bau einer großen allamerikaniſchen Eiſenbahn angeregt, um eine Ber: 
bindung zu Lande zwiſchen Nordamerifa und den mittel- und ſüdamerikaniſchen Etaaten 
zu Schaffen und hiermit die amerifaniihen Staaten einander näherzubringen. Nunmehr 
hat der zweite allamerifanijche Kongreß einen Ausſchuß eingejegt, um den Bau diejer 
großen Bahn vorzubereiten. Man eradjtet ihre Rentabilität bei fortfchreitender Ent: 
widelung der Hilfsquellen Mittel- und Siüdamerifas nicht für zweifelhaft. Cine 
allamerifaniihe Eiſenbahn würde ein michtiger Fortichritt fein für die Verwirklichung 
des allamerifanifchen Gedankens und der nordamerifaniichen Republik eine greifbare 
Stütze bieten, um ihre Vorherrichaft zu entwiceln. 

Theoretiſch betrachtet ericheint der Blan ſehr verlodend. Allein vom praktiſchen 
Geſichtspunkt aus ift joldhe Bahn, ganz abgejehen von ihrer gewaltigen Länge (Alaska: 
Südchile etwa 15000 km), von der Höhe der erforderlihen Kapitalien, von den 
techniihen Schwierigfeiten des Baues etc., durchaus überflüffig und unrentabel, jo daf fie 
vorausfichtlih niemals gebaut werden wird. Cine nord-mittel-füdamerifanifche Ver: 
bindungsbahn würde von vornherein gegenüber der Konkurrenz des Seeweged nicht 
auffommen fönnen. An den meilten Beziehungen ift der Seeweg fürzer, für den 
Perſonenverkehr bequemer und nad allen Richtungen hin für den Güterverkehr jehr 
erheblich billiger, jo daß die geplante Bahn auf irgend welchen nennenswerten Durch— 
gangsverfehr nicht zu rechnen hätte. Selbft im örtlichen Verkehr würde fie auf lange 
Streden von dem überlegenen Seeweg konkurrenziert werden. 

Es ift ja nun richtig, daß mehr oder minder alle internationalen Eijenbahnen 
bom Geewege konkurrenziert werden. Diefe Konkurrenz wird von den Eijenbahnen 
Südoft: und Mitteleuropas empfindlich veripürt, fie macht ſich ſchon jett geltend gegen: 
über der fibiriichen Eifenbahn, deren Gedeihen fie erheblicy beeinträchtigen dürfte, und 
fie wird befürchtet von den nordamerifaniichen Weberlandbahnen, die den Bau eines 
mittelamerifanifchen Kanals nadydrüdlid und zähe befämpfen, um die Konkurrenz des 
Seeweges fernzuhalten. Allein nirgends würde diefe Konkurrenz eine jo unmittelbare 
und überlegene jein, als gegenüber einer allamerifanijchen Eifenbahn, ausgenommen 
etwa für die geplante Eifenbahn Kap— Kairo, die der überlegenen Konkurrenz des See 
weges am empfindlichiten ausgeſetzt jein würde. 

Allem Anfcheine nad ift der Plan einer allamerifanifshen Eijenbahn dem Kopfe 


Baul Dehn, Weltwirtſchaftliche Umschau. 769 


eines ſchlauen Realpolitifers entiprofjfen, der angefichts3 der zahlreihen Meinungsver- 

ichiedenheiten und Gegenſätze auf dem allamerifaniichen Kongrei einen Vorſchlag in den 

Vordergrund rüden ‚wollte, über den fi die Vertreter aller amerikanischen Staaten 

ohne Bedenken einigen fonnten. Bon diefem Standpunft aus erjheint der Plan 

einer allamerifaniihen Eifenbahn wohl ausgefonnen. Weiter hat er wohl feinen Zweck. 
* 


* 
* 


All zu raſch europäiſiert hat ſich der jüngſte in die Kulturwelt eingetretene 
japaniſche Staat, der China beſiegte und die militäriſche Ohnmacht dieſes Reiches 
zuerſt enthüllte. Die Japaner haben Erſtaunliches geleiſtet und von allen Nationen, 
was ihnen zweckmäßig erſchien, übernommen, von den Deutſchen die Grundzüge der 
Geſetzgebung und Verwaltung, wie des Heerweſens, von den Engländern die Schiff— 
baufunft, von den Holländern die Wafferbautechnif, endlich von allen Snduftrieftaaten 
die technifche Praris. Nichts war für die Japaner verlodender, ald die Vermehrung 
des beweglichen Kapitals durch Schaffung von Bapierwerten, wie fie von den europäifchen 
Börfen aus noch immer, je nad) der Konjunktur ftärfer oder ſchwächer, betrieben wird. 
An diefer Dinfiht ift Japan feinen Vorbildern am nächſten gekommen. Nah dem 
Finanzjahrbud von Japan, das der Sefretär Minobe vom japanischen Finanzminiſterium 
in Tofio ericheinen läßt, waren Ende 1895 bereit$ 2107 Brivat-Aktiengejellfchaften mit 
einem Sapital von rund 540 Mill. M. eingetragen worden. Ende 1899 zählte man 
nicht weniger als 5543 Gejellichaften mit 2730 Mill. M. Nenntapital, wovon 1756 Mill. 
Mark eingezahlt. Darunter befinden fih 58 Gijenbahngejellihaften mit 342 Dill. M. 
eingezahltem Kapital, 2031 Banken mit 576 Mill. M., ferner 2518 Handelsgejellihaften 
mit 590 Mill. M. und 873 induftrielle Gejellichaften mit 248 Mill. M. eingezahltem 
Kapital. Diefe Zahlen find erftaunlic; hoch und befunden zur Genüge die Ueberſpeku— 
lation. Wie weit die japanifchen Geldverhältniffe hinter denen der europäifchen Länder 
noch zurückſtehen, zeigten die Zinsſätze. Im Jahre 1900 ſchwankten in Japan die monat: 
lihen Durchſchnittsſätze für Darlehen zwischen 14,10 und 11,50 Proz., für feite Depofiten 
zwiſchen 7,50 und 6,80, für Disfontierung zwiſchen 14,60 und 12,23. Im Jahre 1899 
waren diefe Säke nur unerheblich niedriger. Unter jolhen Umftänden werden die Be 
mühungen der Japaner um Aufnahme einer Anleihe in Europa faum Erfolg haben, 
felbft in England nicht, wo man aus politiihen Gründen jonft geneigt wäre, den 
Japanern entgegenzuflommen. 

* * 
* 

Zu Anfang und Ende der neunziger Jahre wurden die unterſeeiſchen Tele— 
graphenverbindungen erheblich erweitert und hatten Anfang 1901 eine Länge von etwa 
355 000 km aufaumeifen, wovon etiwa *, in englischen Händen waren. Auch Deutſch⸗ 
land hat begonnen Berfäumtes nachzuholen, und die Yegung eines eigenen Kabels nad) 
Nordamerika (7612 km), durchgeführt. Indeſſen zeigt das internationale Ne nod) eine 
erhebliche Yüce, zu deren Ausfüllung nunmehr gefchritten wird. Noch durdhquert fein 
Kabel das Stille Meer. England bereitet die Legung eines allbritiihen Kabels vor, 
das von Vancouver an der Weftfüfte Nordamerikas ausgeht, die Inſel Fanning (6766 km), 
Fidichiinfeln (4039 km), die Inſel Norfolt (1887 km) berührt, und bon da einerfeits 
nad Queensland (1678 km) und andererfeitS nad) Neu-Seeland (950 km) mweiter ge: 

49 


770 Paul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umfchau. 


führt wird. Diejes Kabel wird insgefjamt 15320 km lang fein, aus ftaatlihen Mitteln 
gebaut werden und 40 Mill. M. foften. Ein zweites Kabel dur das Stille Meer will 
die nordamerifanische Republik von San Franzisko über Honolulu nad Manila führen. 
Das engliihe Kabelmonopol bringt den Engländern unberechenbare Vorteile, e8 be- 
deutet ein Monopol der überſeeiſchen Nachrichtenvermittelung in Krieg und Frieden und 
jegt die englijche Negierung wie den engliihen Handel in den Stand, ſich rafcher und 
zuverläjfiger ald andere Regierungen und utereffenten über die Vorkommniſſe an 
irgend einem Punkt der Erde unterrihten zu können. Schon um fi von dieſer Ab: 
hängigfeit im Nacdhrichtenverfehr zu befreien, follten die europäifhen Mächte, eine jede 
für fi) oder noch beſſer gemeinſam, dazu jchreiten, ein fonfurrierendes Kabelneg anzu— 
legen, zunächſt nach Südamerika und Südafrifa und jodann nad dem fernen Diten. 
Mit der Fertigitellung jeines Kabels von Borkum über die Azoren nad; New-York hat 
fi) Deutſchland im Verkehr mit Nordamerika eine eigene Berbindung geſchaffen, bei: 
läufig als vierzehnte zu den beftehenden 13 Kabellinien. Das englihe Kabelmonopol 
ift alfo befeitigt worden, joweit e8 ſich um den Verkehr zwifchen dem feftländifchen 
Europa und Nordamerifa handelt, und es wird im Stillen Meer von den Nordameri- 
fanern durdhfreugt werden. 

Mitte 1901 vereinbarten Deutichland und Holland ein Kabelabkommen mit der 
Beitimmung, daß bei anzulegenden Stabellinien zwiſchen holländiſchen und deutfchen 
Ktolonien einerjeitS und Europa andererjeitd engliſche Linien umgangen werden jollen. 
Bu dieſem Zweck werden die geplanten beutjch-holländischen Kabellinien von Manila 
nad) den deutſchen Befigungen in der Südjee, nad Niederländiich-ndien und nad) 
Shanghai an das nordamerifanifche Kabel anfchließen, jo daß ſchon in abjehbarer Zeit 
das engliſche Kabelmonopol im Verkehr mit jenen Gegenden durchbrochen werden wird. 
Das iſt ein großer Fortichritt, wenn aud) nicht ſehr erwünfcht für die Intereſſen Englands, 
wo man den Slabellinien einen jo hohen Wert beimißt, daß Charles Dilfe jagen fonnte, 
fie feien wichtiger al8 Befeftigungen. In einem großen Seefrieg würde England, wenn 
fein Kabelmonopol noch nicht befeitigt wäre, ſich unberechenbare Vorteile fihern fünnen. 

* * 
* 

Neu in ihrer Art iſt eine Monatsſchrift, die ſeit dem 1. Auguſt zu Berlin in 
deutſcher Sprache erſcheint und nach ihrer eigenen Angabe ganz überwiegend nordameri— 
kaniſche Intereſſen zu vertreten bezweckt. „Columbia“ heißt dieſe „Monatsſchrift 
zur Förderung des amerikaniſchen Ausfuhrhandels und zur Pflege freund— 
ſchaftlicher Beziehungen zwiſchen Deutſchland und den Vereinigten Staaten 
von Nordamerika“, und ihr Herausgeber iſt Joſef Brucker, ein Deutſch-Amerikaner, 
zuletzt Redakteur der „Illinois Staatszeitung“ in Chicago. Das Blatt erſcheint nur 
äußerlich in deutſcher Sprache und im Deutſchen Reihe und ift nahezu ausſchließlich 
ein Organ fiir die Intereſſen des nordamerifanifchen Ausfuhrhandels. Nah der Ber- 
fiherung der neuen Monatsihrift braudt Deutfchland nordamerikaniſche Maſchinen und 
Rohftoffe, dagegen wird Nordamerikas Bedarf an deutjchen Amduftrieerzeugniffen auf 
Kunſt- und Yurusartifel, Chemikalien und feinere Erzeugniffe beihränft. Die „Columbia“ 
will die Einfuhr von gefunden und billigen Nahrungsmitteln für das arbeitende Bolt, 
für Städte und Amduftriebezirke in Deutichland fördern, ferner die Einfuhr von ver: 


Baul Debn, Weltwirtſchaftliche Umſchau. 7 


befferten nordamerifanishen Maſchinen, Werkzeugen und Gerätihaften zum Nuten der 
deutſchen Induſtrie und Landwirtichaft, endlih die Einfuhr von billigen Rohjtoffen 
für die deutſche Amduftrie im Intereſſe Deutjchlands, dagegen nur die Ausfuhr folcher 
deutihen Erzeugnifje nad) Nordamerika, die dort bisher noch nicht hergeftellt oder über: 
haupt niemals hergeftellt werden können! 

Die Grundtendenz des nordamerifanishen Organs tritt in folgenden Säßen 
(Kr. 5 Seite 3) am unverhüllteften hervor: „Die Weltgefhichte bleibt nirgends hängen, 
nit in Rom, nicht im Reihe Karl V., nicht im Frankreich Ludwig XIV.; fie jchritt 
weiter nad) England und nad; Deutfchland und jchließlich hat fie den Sprung über den 
Ozean gemacht; der aufgehende Stern des zwanzigften Jahrhunderts, das find 
die Bereinigten Staaten von Amerifa. Man thut nicht gut, fich mit demjenigen zu 
verfeinden, den das Schickſal zur Macht beftimmt hat. Das gilt für Perjonen 
und für ganze Völfer.“ 

„Es giebt auf beiden Seiten Heßer, die gern einen unausgleihbaren Konflikt her- 
aufbeſchwören möchten“, jagt diefed Organ, und mill ein freundfchaftliches Berhältnis 
zwiſchen Deutichland und den Vereinigten Staaten pflegen. Dieje Aufgabe ift aner: 
fennenswert. Aber mit welcher Cinfeitigfeit wird fie von dem deutſch-a merifanischen 
Organ angefagt! Nicht auf beiden Seiten giebt es Hetzer, wie e8 verlichert, jondern 
lediglich in Nordamerika, wo die fog. gelbe Preſſe, aber auch andere deutichfeindliche 
Kreiſe in ſchroffem Widerſpruch mit den Thatjachen fortfahren, gehäffige und grundloje 
Berdädtigungen und Berleumdungen gegen das Deutiche Reich zu fchleudern. Nad) der 
Auffaffung des deutſch-amerikaniſchen Organs ift in Deutſchland jchon ein Heßer, wer 
den Dingleytarif bemängelt und die BZolljcherereien bei der Einfuhr deutfher Waren in 
New-York beklagt, wer auf die nordamerifanische Gefahr hinweiſt und fie ſachlich er- 
örtert. Dabei läßt fid) das deutich-amerifanifche Blatt jelbft eine Illoyalität gegen 
Deutichland zu Schulden fommen, wenn es meint, die Engländer hätten viel mehr Ur- 
ſache, von einer deutichen Gefahr zu iprechen, als die Deutſchen von einer nordameri- 
fanijchen. Sin Deutihland lächelt man über die Phantaftereien der nordamerifaniichen 
tmperialiften, die ihrer Republik eine „göttliche Miffion” zujchreiben und ſich als „Meifter: 
organifatoren der Welt“ gebärden, „um allerwärt3 Drdnung zu jchaffen und in der 
Wiedergeburt der Welt die Führung zu übernehmen“. Allein Heter gegen Nordamerika find 
in Deutjchland nicht vorhanden. Deutichland hat gewichtige Intereſſen in den mittel und 
ſüdamerikaniſchen Staaten und würde mit feinem Außenhandel bi zur Unerträglichkeit 
geihädigt werden, wenn die nordamerifaniichen Bolitiker ihre allamerifanifchen Beitrebungen 
bethjätigten, um die mittel- und ſüdamerikaniſchen Staaten zunächſt in ein politifches Un— 
abhängigfeitsverhältnis zu bringen und fie dann zum Abſchluß von Gegenjeitigfeitöver- 
trägen zu drängen, die den europäichen und bejonders den deutfhen Handel in Mittel: 
und Südamerika erjchweren oder ganz unmöglich machen jollen. Die engere wirtichaft- 
liche Angliederung von Mittel: und Südamerifa an den Norden ift das Biel der all- 
amerikaniſchen Beftrebungen, und die Erreihung dieſes Zieles rückt allmählich in greif- 
bare Nähe. Als größtes Hindernis erjcheint hier den nordamerifaniihen Chauviniſten 
das Deutiche Reich, dem fie, um die öffentliche Meinung aufzuhesen, immer wieder 
unterftelien, es wolle deutjche Kolonien in Brafilien oder ſich mindeſtens deutſche Stütz— 

498 


772 Paul Debn, Weltwirtfchaftliche Umſchau. 


punkte oder Flottenftationen in Südamerika jchaffen. Außerdem erbliden induftrielle 
Kreife Nordamerikas in dem auffteigenden Deutfchen Reich mit feiner induftriellen 
Leiftungsfähigkeit einen gefährlichen Konkurrenten auf dem Weltmarkt, insbefondere in 
DOftafien, den fie mit allen Mitteln zu befämpfen fuchen. 

Unter diefen Umftänden wäre es jehr zeitgemäß, wenn ein amerikanisches Organ 
fi) die Aufgabe ftellte, das freundichaftliche Verhältnis zwifhen Deutfchland und den 
Vereinigten Staaten zu pflegen. Aber diefes Organ jollte zweckmäßiger in Norbamerifa 
ericheinen und nicht in Deutfchland. So wie die „Kolumbia“ ihre Aufgabe auffaßt, gewinnt 
man beinahe den Eindrud, als wollten nordamerifanische Intereſſenten mit Hülfe des 
neuen Organs auf deutfchem Boden gegen deutjche Intereſſen antämpfen. 

Mit ſchlecht verhehltem Unbehagen räumt die „Columbia“ ein, daß die Berfafler 
des deutſchen Bolltarifentwurfs bei Nordamerifa in die Schule gegangen find. Was 
im übrigen die „Columbia“ behauptet, daß man in Nordamerifa eine Milderung 
der Bollfüke vorbereite und eine auf Gegenfeitigfeit beruhende Handelspolitif in 
Ausficht nehme, ift von der Botichaft des Präfidenten Roofevelt und von fpäteren amt- 
lihen Rundgebungen nicht im mindejten beftätigt worden. Nicht ein grober Fehler, wie 
die deutich-amerifanische Monatsichrift behauptet, würde es fein, fondern es ijt geradezu 
eine Notwendigkeit, daß im deutichen Reichstage die Anficht die Oberhand gewinnt, es 
wollen die Vereinigten Staaten auf der Höhe ihrer Tarifjäße verharren und ſich auf 
feine Gegenſeitigkeitspolitik einlaffen. 

Die Fahrt des Prinzen Heinrid; von Preußen nad Nordamerika wird ſicherlich 
die deutichfeindlichen Treibereien der dortigen Chauviniſten und ihrer Organe eine 
Beit lang in den Hintergrund drängen, fie wird vorausfichtlidy die überlieferte Freund- 
Schaft zwiichen dem Deutichen Reiche und der nordamerikaniſchen Republif, die in den 
national bewußten Deutſch-Amerikanern eine feſte Stüte findet, ftärfen und auf die 
beiderjeitigen Beziehungen einen nadhaltig günftigen Einfluß ausüben. 


% 


„Auch ohne diefe neuen Gnadenbeweiſe war das Gefühl, mit welchem ich den 
25. Yahresiag meiner Ernennung zum Minifler begrüßte, das Geſühl dee herzlichfien 
und ehrfurdisvolllen Pankes gegen Eure Wajefläf. Minifier ernenni jeder Tandesherr, 
aber es ifl in neuerer Breit kaum vorgekommen, daß ein Monarch einen Winiflerpräfi- 
denfen 25 Jahre hindurch in bewegten Zeilen, wo nicht alles gelingf, grgen alle Feind- 
Ichaften und Intriguen hält und det. Ach habe in diefer Brit manden früheren Freund 
m Genner werden fehen, Eurer Majelät Gnade und Berfrauen find für mid aber 
unmwandelbar gleich geblieben. In dem Gedanken daran liegt fir mich reicher Tohn für jede 
Arbeit und Erofi in Krankheit und Einſamkeit. Ich liebe mein Paterland, das Deutſche wie 
das Preußilche, aber ich hätte ihm nicht mif Freuden gedient, wenn es mir nicht vergönnt 
geweſen wäre, es jur Bufriedenheif meines Rönigs zu ihun. Pie hohe Stellung, welche 
ich der Gnade Eurer Majefläf verdanke, haf zur Mnterlage und um umerförbaren Bern 
den Brandenburgifchen Lehnamann und Preußifchen Pffigier Eurer Wajeflät, und deshalb 
beglückt mid; Eurer Majeflät Bufriedenheil, und wäre jede Popularität ohne Diefelbe für 
mich wertlos . . .“ 


Aus: Anhang zu den „Gedanken und Erinnerungen” von Otto Fürſt von Bismard Pb. 1, Kaiſer Wilhelm 1. 
und Bismard, Aus einem Briefe Pismardd an Kalſer Wilhelm ], vom 26. September 1887. 





Deutictum im Buslande. 


Don 
Paul Dehn. 


Eine deutjchsevangelifche Kirche in Florenz. — Zur Ausbildung deutfcher Mädchen im Auslande. 
— Deutfhe und franzöfifhe Schulthätigkeit in Rumänien. — Levante. — Havana... Nor: 
wegen. — Samoa. — Auſtralien — Nordamerika. — Zur Nacjeiferung. 


ine dentichsenangelifche Kirche in Florenz. Am 1. Dezember konnte die deutſch⸗ 
evangeliiche Gemeinde in Florenz, die erft vor zwei Jahren entftand, ihre Kirche 
einweihen. In der reformierten Kirche der franzöfifchen Schweizer wurde nur gelegentlich 
deuticher Gottesdienft abgehalten. Die Kirche zeigt eine ſtattliche Faſſade im romanijchen 
Stil mit einem Säulenvorbau und über dem Bortal die Inſchrift: „Ein feite Burg ift 
unfer Gott!” 

Zur Ausbildung der dentjchen Mädchen im Auslaude. In nationalen 
Dingen hat das weibliche Geichleht fich bei allen Völkern einen bedeutenden Einfluß 
gewahrt. Zumeiſt bejtimmt in national gemiſchten Ehen die Frau die Nationalität der 
Familie Wo die Frau eine Engländerin oder eine Franzöſin ift, wird die ganze Familie 
meift englifch oder franzöfifch fein; und der jchönen Augen der PBolinnen, Ruffinnen und 
Kreolinnen wegen giebt es heute viele Feinde der Deutſchen mit echt deutſchen Namen! 
Diefen Erfahrungen gegenüber iſt es betrübend, daß eine ähnliche Beeinfluffung 
durch deutjche Frauen nur in jeltenen Fällen ftattfindet. Mit ftaunensmwerter Ge- 
wandtheit werden viele an fremde Volksgenoſſen Verheiratete zu Engländerinnen, Fran— 
aöfinnen, Amerifanerinnen und Rumäninnen, und ihre Kinder lernen gewöhnlich nicht 
die deutihe Mutter:, jondern die fremde Vaterſprache. In feinem inhaltvollen und an- 
regenden Bud) „Die Erziehung der deutfchen Sfugend im Auslande* (Leipzig 1900 bei 
Raimund Gerhard) weift Erdmann A. Schaefer, Leiter der deutichen Schule in Gala, 
auf die bisher allaufehr vernadläffigte Ausbildung der deutſchen Mädchen im Auslande 
hin und beflagt, daß infolge der ungureichenden Organifation der meiften deutjchen Aus: 
landsichulen diefe nationale Schwäche bisher nod in feiner Weife befämpft werden 
fonnte. Biele deutiche Mädchen werden noch immer zum Teil aus Mangel an weiter 
gehender Unterrichtsgelegenheit in den franzöfiihen Penſionaten und Miffionsidyulen er: 
zogen, wo fie in der Regel deutiches Weſen verlieren. Schaefer hat e8 nur zu oft erlebt, 
daß dort erzogene deutfhe Mädchen die Naje über ihre Erzeuger rümpfen, weil dieſe 
nicht einmal frangöfiich verftanden! Und viele verblendete Väter bildeten ſich auf joldhe 
Ergebniffe noch etwas ein und opfern gern die jehr hohen Schulgelder auf dem Altar 
fremdländiicher Propaganda. In bdiefer Hinſicht Abhülfe zu fchaffen, gehört zu ben 
oberjten Aufgaben der Deutſchen Schulvereine im In- und Auslande. 


774 : Paul Dehn, Deutfchtum im Auslande. 


Deutſche und franzöfifche Schulthätigfeit in Numänien. In Galatz zählt 
die deutjchredende Bevölkerung nad) vielen Hunderten; fie beſteht aus Neichsdeutichen, 
Deutſch-Oeſterreichern und Schweizern. Alljährlich müffen von der dortigen deutjchen 
Schule viele deutiche Kinder zurücdgemwiefen werden, weil ed noch immer nicht gelungen 
it, die Koften für die Errichtung eines Schulhaufes aufzubringen. Mehr als 9% Kinder 
fönnen nicht aufgenommen werden. In derjelben Stadt befteht aber, wie Erdmann 
A. Schaefer, der Leiter der deutichen Schule zu Galak, in dem oben genannten Buche her- 
vorhebt, eine franzöſiſch-katholiſche Mifftonsichule, fie befikt ein ganzes Stadtviertel mit neuen 
palaftähnlichen Gebäuden und bietet für 800 Kinder Raum. Und dabei leben in Galatz 
faum ein Dugend Franzofen! Aus diefem draftiichen Beifpiel, das nahezu typiſch für 
den ganzen näheren Orient ift, läßt fi eriehen, was franzöſiſcherſeits angeſtrebt 
und deuticherfeit8 verfäumt wird. 


Levante. In eriter Neihe dienen die deutfchen Schulen im Auslande den Inter: 
eilen deutfcher Familien im Auslande und fünnen für die Verbreitung des Deutfchen 
in der Yandesbevölferung wenig ausrichten. Häufig werden die deutihen Schulen auch 
von türkiſchen, griechifchen und anderen fremden lindern beſucht, aber ihre Zahl ift ver: 
hältnismäßig gering. Neben diefen deutſchen Schulen finden fich vielfach in der Levante 
deutſche Miffionsichulen mit der Aufgabe, der einheimifchen Bevölferung zu dienen, jo in 
Nlerandrien, Jeruſalem, Beirut und Smyrna die mohlbefannten Mäddhenichulen des 
Kaiſerswerther Diakoniffenhaufes. In Nerufalem ift das ſyriſche Waifenhaus bei weiten 
die einflußreichfte Erziehungsanitalt des heiligen Pandes. Daneben find in Bethlehem, Bebef, 
Urfa, Diarbefir, Amalia, Bruffa und anderwärts deutſch-evangeliſche Waiſen- und Er- 
siehungshäufer entitanden. Dieje Anftalten kommen, wie gefagt, für die Erhaltung des 
Deutihtums im Auslande nicht in Betracht, aber fie leiften eine nationalpolitijche 
Arbeit von nicht zu unterihäßender Wichtigkeit und wenn fie, was zu hoffen ift, gedeihen 
und zunehmen, jo werden fie gegenüber der weit umfaflenderen Miffionsthätigkeit der 
fatholifchen Kirche unter franzöfiicher Flagge wie gegenüber der englifchen, amerifanijchen 
und ruffiihen Miffionsarbeit ein wertvolles Gegengewicht bilden können. 

In fünf Jahren kann die deutſche Stolonie von Nlerandrien das 5Ojährige 
Nubiläum der evangelifchen Kirche feiern und zugleid; den Jahrestag ihres engeren 
Zuſammenſchluſſes. An die Kirche, die deutfche, ſchweizeriſche und franzöfiihe Pro: 
teftanten vereinigt, hat fid; jeit 1883 die deutſch-evangeliſche Schule angejchloffen, die 
vorzüglich geleitet und auch von anderen Nationen geihägt wird. Man darf, jagt 
Rudolf Hermes in jeinen intereflanten Bildern aus dem Nildelta („Täglihe Rundſchau“, 
Beilage 1902 Nr. 1 u. ff.), ohne zu übertreiben, behaupten, dab kaum eine andere Schule 
in Alerandrien der deutjchen an gutem Auf gleich kommt. Piele Verdienfte, namentlich 
um die Eingeborenen, hat ſich das deutiche Diakoniffenipital erworben, das 1857 von 
Kaiferswerth aus gegründet wurde. Außer einigen Beamten wohnen zerftreut im Nil: 
delta noch Deutiche als Mechaniker und Schloffer, die die großen Baummollreinigungs: 
majchinen überwachen, ferner an den beiden Eijenbahnen nad) Kairo und Ismailia als 
kaufmännifche Gehülfen bei der äghptiichen Baummwollausfuhr. 

Havanna. {m Jahre 1897 wurde eine deutfche Schule gegründet, die gegenwärtig 
7 Pehrer und in fünf Klaffen 67 Kinder zählt. Ein Ausſchuß von 36 Herren unter dem 


Paul Dehn, Deutfchtum im Auslande. 775 


Borfig des Konſuls von Brück forgt für den weiteren Ausbau diejer Schule, der aud) 
ein Zufhuß aus der Reichskaſſe gefihert worden ift. 

Norwegen. Als Prinz Heinrid) von Preußen Anfang Dezember an der Spike 
eines Geſchwaders Chriftiania bejuchte, veranftaltete die dortige „Deutſche Gejellichaft“ 
einen feftlihen Empfangsabend. Auf die Begrüßung des Borfitenden der Gefellichaft, 
Großfaufmanns Scheller, antwortete Prinz Heinrich und fprad) feine freudige Genug— 
thuung darüber aus, auch in Norwegen eine große Niederlaffung jeiner Yandsleute vor: 
zufinden. Prinz Heinrich rechnete es zu einer wichtigen Aufgabe der Flotte in Friedens: 
zeiten, vege Verbindungen zwiichen der Heimat und den Deutichen im Auslande aufrecht 
zu erhalten. 

Samoa. Seit vergangenem Frühjahr ericheint in Samoa eine deutſche Halb- 
monatsjchrift unter dem Titel „Samoaniſche Zeitung“, mit Rückſicht auf die eng: 
liche Bevölkerung teilweife aud) in englifher Sprade. Eine derartige Rückſichtnahme 
würden die Engländer jelbjtverjtändlich niemals genommen haben. Nach einem Rund» 
ichreiben des Gouverneurs foll fortan in den Schulen von fremden Spraden zuerſt die 
deutiche gelehrt werden. 

Anftralien. Auf einer Rundreiſe durch Queensland unterrichtete ſich der deutiche 
Generalfonjul Buri über die zahlreichen deutſchen Niederlaffungen aus eigener An— 
Ihauung und fjprad feine Anerkennung darüber aus, daß die Finder der dortigen 
Deutichen jede Anfrage in gutem Deutſch beantworten konnten. In Queensland leben 
etwa 20000 Deutjche. Leider hat jic bisher nur eine fehr geringe Zahl durch Eintragung 
bei den Konſulaten die deutſche Reichsangehörigkeit gefichert. 

Nordamerika. lm die deutſche Sprache ift e8 auch in den deutſch-katholiſchen 
Pfarrichulen Nordamerikas übel beftellt. Bon Zeit zu Zeit tauchen darüber Klagen 
in den nordamerifanifchen Zeitungen auf. Einzelne fatholifche Pfarrer erklären, wie 
fich die „Kölnische Volkszeitung“ berichten läßt, daß fie das Deutfche deshalb immer 
ftiefmütterlicher behandeln, weil die beutfchen Leute (größtenteild hier geborene Nad)- 
fommen deutjcher Eltern) felber darauf beftänden und der Wunſch der Eltern in der 
Schule maßgebend fei. Neben diefen Pfarrern giebt e8, wie der Pfarrer Enzlberger im 
Herold des Glaubens behauptet, aber auch andere, jogar in Deutjchland geborene, die 
den deutfchen Unterricht in ihren Schulen gegen den Willen der Eltern auf den Aus- 
jterbeetat gefett haben. Thatſache ift und bleibt, daß viele von unferen deutjch-fatho- 
liſchen Pfarrſchulen gar keine deutſchen Schulen mehr find und von Yahr zu Jahr 
mehr verengliihen. Der ganze Elementarunterricht ift engliſch. BPfarrgeiftliche und 
Schulſchweſtern find durchweg geborene Deutfche, aber die Verhältniffe liegen fo, daß fie 
das Deutſche in die Ede jchieben und auf die höheren Klaſſen befchränfen müffen, wenn 
fie ihre Zöglinge behalten wollen. So liegen die Dinge faft in allen größeren Städten. 
Auf dem Lande giebt es dagegen noch viele Gemeinden, in denen faft ausschließlich 
deutſch geiprochen wird und die Schulen fo deutich find, wie man nur irgend erwarten 
fann. Hier Abhülfe zu fchaffen ift die vornehmfte Aufgabe der deutfchen Vereine in 
Rordamerifa. 

Die Entwidelung der deutſch-amerikaniſchen Preſſe in den letzten Jahrzehnten läßt 
auf einen bedenflihen Rüdgang des Deutſchtums in Nordamerika fchliegen. Nicht 


776 Paul Dehn, Deutjchtum im Auslande. 


nur die Zahl der deutſchen Beitungen hat empfindlid abgenommen, fondern ihr 
Niedergang ift auch in qualitativer Hinficht zu Tage getreten. Nur wenige Zeitungen, 
wie die „Newyorker Staatözeitung“, der „Philadelphiaer Demokrat“, bie 
„Weftlihe Poſt“ in St. Louis und andere haben fi auf der alten Höhe gehalten. 
Zahlreiche, früher viel gelejene Blätter, vor allem kleine Wochenzeitungen, find ver- 
ſchwunden. Selbſt in den großen Städten des Weftens, die man ald Hocburgen des 
Deutihtums anfieht, hat die deutiche Prefje feine Zunahme aufzumweifen. Sn dem Aus: 
jterben des alten eingewanderten Gejchlechtes erblickt man die gewichtige Urfache diefes 
Nüdganges. Die Nachkommen diejes Gejchlechtes haben für die deutfche Sprache und 
für deutſche Zeitungen nur ein geringes Intereſſe, englifh ift den jüngeren Leuten 
geläufiger als deutſch, und nicht zuletzt verfteht die engliſche Senfationspreffe mehr 
zu reizen als die deutichen Tageszeitungen, die vergleichsweiſe nüchtern gehalten jind. 
Die die „Leipziger Neuefte Nachrichten“ mitteilen, haben William Steinway 
und Oswald Dttendorfer, lekterer befannt als Gründer der „Newyorker 
Staatdzeitung”, wiederholt jchon vor Jahren den Rückgang der deutſchen 
Preſſe und des Deutfhtums in Nordamerika erörtert und erwogen, mit welchen 
Mitteln dieſem Rückgang gefteuert werden könne. Dod jeien fie der betrübenden 
Erfcheinung rat- und hilflos gegenüber geftanden. Die deutihe Einwanderung hat 
quantitativ und qualitativ nmachgelaffen. Viele deutfche Einwanderer kehren überdies 
nad) der Heimat zurüd. So erführt das Deutfchtum in Nordamerika im Ganzen kaum 
eine weitere Stärkung. Nach dem erfreulihen Wiedererwachen des Gefühle der natio- 
nalen Zufammengehörigfeit unter den Deutſchen Nordamerifas darf man indejien an- 
nehmen, daß der Rückgang der deutich-amerifaniihen Preffe doch aud noch anderen 
Gründen entjpringt, vor Allem der Konkurrenz durch die engliſch-amerikaniſche Senjations- 
preſſe. Sicherlich wäre es voreilig, wollte man aus dem Rückgang der deutſch-amerika 
niichen Preſſe folgern, daß nun auch die deutfch-amerifanifche Bevölkerung zuſammen⸗ 
ſchmelzen und vielleicht Schon in wenigen Jahrzehnten verſchwunden fein müßte. 

In einem Öffentlihen Park zu St. Franzisfo wurde eine getreue Nachbildung 
des Goethe⸗-Schiller-Denkmals zu Weimar aufgeftellt und feierlich enthüllt. In einer 
Anſprache an die vieltaufendköpfige Volksmenge fagte nad dem „Kalifornia Demokrat“ 
Herr Bundſchu zu den Vertretern der deutfchen Vereinigungen und der deutſchen Preſſe 
gewendet: „Zeitgenoffen und fommende Geſchlechter unſeres Gemeinweſens werden 
danfbar anerkennen, daß Ahr das hohe ideale Streben — dem deutſchen Geift, in 
alter, treuer Erinnerung an unfere Abftammung, an den Geftaden des Stillen Ozeans 
ein Denkmal zu errichten — mit freudiger Genugthuung einmütig gefördert habt. — — 
— Und jo möge es ftehen in diefer freien, friedlichen Gottesnatur als eine herrliche 
Traumerjcheinung der alten Welt, al8 eine Erinnerung an eine gemweihte Stelle in- 
mitten der deutichen Yande — als ein Gedächtnis an eine bedeutungsvolle Zeit, in der 
Deutichland im verflärenden Licht feiner großen Dichter und Denker ftrahlte — als 
eine Mahnung an Biele, die den Geift und die Sprade ihres Mutterftammes in ihren 
Kindern verfiechen laſſen, und dann zulekt als eine würdevolle Zierde und kunftgeweihte 
Zugabe zu diefer herrlihen Umgebung.“ 


Zur Nadheiferung. Noch viel lebhafter als im Inlande bethätigen im Auslande 


Paul Dehn, Deutſchtum in Auslande. 777 


die Angehörigen aller Nationen, aud) derjenigen, die in der Kultur noch zurüditehen, 
ihre nationale Bufammengehörigfeit. Sie finden, fördern und unterftügen fich im freien 
Berkehr oder durch Vereinigung. Jedermann weiß, mie die Schweizer im Auslande zu- 
fammenhalten, dasjelbe gilt in noch höherem Grade von den Engländern, Franzoſen, 
Spaniern, Stalienern u. f. w, wenn aud die Formen des Zuſammenhaltens verfchieden 
find. In neuefter Zeit bethätigen aud) die Nordamerifaner diefe nationale Zufammen- 
gehörigkeit, fie haben fi) in Berlin verbunden und einen Führer für die herüber- 
fommenden Landsleute herausgegeben, der ihnen in englifcher Ueberſetzung bietet, was 
zu willen von befonderer Wichtigkeit hier für ihre Landsleute fein fünnte, jo die Be- 
ftimmungen über das Berhältnis zwiſchen Mieter und Vermieter, die Borjchriften über 
polizeilihe Anmeldung, die Bedingungen über den Eintritt in die Lehranftalten u. f. w. 
Bei den nordamerifanifhen Vertretungen foll jedem Nordamerifaner, der fi dort 
meldet, der neue Führer ausgehändigt werden. Diefes Vorgehen hat lediglich praftijche 
Zwecke, zeigt aber auch die Rührigfeit, mit der die Nordamerifaner im Yuslande ihre 
gemeinfamen Intereſſen erkennen und wahrnehmen. Sie können infolge diefes ihnen 
gebotenen Rüdhalts gegenüber den Angehörigen anderer Nationen mit größerer Sicherheit 
und mit einem Selbftbewußtfein auftreten, das der Deutjche im Auslande zumeift nicht beſitzt 
und nicht befigen kann, weil es ihm an dem erforderlichen Rüdhalt, an entfprechenden 
kräftigen Organifationen, an einem nationalen Zufammenhang nod) immer fehlt. Anders 
ift die Stellung der Deutihen im Auslande geworden feit der Wiederaufrichtung bes 
Neiches, aber diejer erhöhte Aniprud auf die Achtung in der Fremde fcheint manchen 
Deutihen noch nicht recht zum Bewußtſein gefommen, und noch vielfadh gilt, 
wenngleich; Gott fei Dank, ſchon in erheblich abgeſchwächter Weife, mas einft in tiefem 
Unmut über die unmwürdige Stellung feiner Landsleute im Auslande Karl Julius Weber 
in feinem „Demofrit” fchrieb: „Wenn mir im Ausland ein Mann aufftößt, zu uns 
behilflich für einen Franzoſen, zu zeremonidös für einen Briten, zu treuherzig für einen 
Italiener, zu biegfam für einen Spanier, zu lebhaft für einen Niederländer, zu beicheiden 
für einen Ruſſen — ein Mann, der mit fchiefen Büdlingen fich andrängt und mit un: 
beichreibliher Entjagung allen Huldigt, die er für vornehmer hält als ſich, fo fagt mir 
mein Herz und mein Blut im Geficht: Das ift dein Landsmann!“ 

Wer etwa behaupten wollte, daß diefe Süße heute ganz und gar ungutreffend ge 
worden mären, wird fih daran erinnern laffen müflen, daß Ende November in der 
Londoner „Times“ ein Geheimer Kommerzienrat Tuchmann ein Schreiben veröffentlichte, 
in bem er die Beichuldigungen einer inhumanen Sriegführung, wie fie von der deutfchen 
Preſſe gegen das engliiche Heer erhoben waren, als „nichtswürdige Angriffe“ - bezeichnet 
und die jeltiame Meinung äußerte, man könne den britifchen Generalen eher zu große 
Milde als zu große Härte zum Borwurf machen. Diefer Deutſche beabfichtigte fogar, 
eine Proteftverfammlung der in London lebenden Deutichen gegen die Angriffe der 
deutfchen Preffe einzuberufen. Beftätigt er nicht noch heute jene Beobachtungen, denen Weber 
in feinem „Demofrit“ empörten Ausdrud gab? 


EDS 


HH HEHE HIEH NUN; 


Litterarliche Monatsberichte. 


Von 
Carl Bulle. 
V. 


Paul Heyſe, Ninon und andere Novellen. — Wilhelm Jenſen, Die fränkiſche Leuchte. — Henrik 
Sienkiewiez, Ums liebe Brot — Gabriele d'Annunzio, Die Jungfrauen vom Felſen. — 
Guſtav Frenſſen, Jörn Uhl. 

r ſechs, ſieben Jahren durfte ich einmal des längeren mit Herman Grimm plaudern. 

Der alte Herr war damals gerade in der „Deutichen Rundichau“ für Johanna 
Ambrofius, die jentimentale und heut faft jchon vergeffene Bäuerin, eingetreten und 
hatte fie unfern erften Lyrikern angereiht, während ich mit vielleicht gar zu großem Un— 
geftüm gegen fie Sturm lief. Vergeblich bemühte ich mid, Herman Grimm zu über- 
zeugen, daß diefe Naturdichterin durchaus Feine originelle Dichternatur fei, jondern eine 
bloße Epigonin der jelber ſchon epigonenhaften Gartenlaubenpoeten. Ach führte Lilien— 
eron an — aber der alte Herr jagte lächelnd: „Den fenn ich nicht. Ach fenne nur, 
was in der „Deutihen Rundſchau“ und in der „National»Zeitung“ ſteht!“ Darauf war 
nichtS mehr zu antworten, und das Geſpräch kam auf ältere Poeten, darunter auch auf 
Paul Heyſe. „Er ift mein Freund, und ich liebe mandes von ihm“, jagte Herman 
Grimm, „aber viel, ſehr viel von ihm läuft auch wie mohlriehendes Waſſer an mir ab, 
geht zu diefem Ohr hinein und zu jenem hinaus. Das brauchen Sie aber, jo lange ich 
febe, nicht zu jagen.“ 

&o oft mir jeitdem Neues von Paul Heyſe in die Hände fiel, mußte ich diejer 
Worte denken. Sie find jehr fcharf — wohl viel zu jcharf, wenn fie nit in einer 
ehrlihen Hochſchätzung des Dichters, zu der ich mich gern befenne, die notwendige Er: 
gänzung und Abſchwächung finden. Aber unter diefer lekteren Vorausſetzung enthalten 
fie eine Wahrheit. Daß Herman Grimm gerade jo urteilte, mag für den Pitteraturfenner 
beionders pifant jein. Denn er unterftrid eigene Schwächen, als er Baul Hehfe Fritijierte. 
Sie ftammen beide aus einem Geheimratsmilieu, der Wind ift ihnen niemals bitterſcharf 
um die Obren gefahren, Form und Geſchmack erfuhren feinjte Ausbildung, aber etwas 
Wurzelechtheit und ftärke, die wohl nur in Kampf und Wetter fich erprobt und ent: 
wickelt, geht ihnen ab. Im Grunde find fie feinfte Yurusichriftfteller, Dichter für bie 
gebildete und befigende Klaffe, jehr aparte und vornehme Menfchen, die e8 nur ſchwer 
begreifen, dat man auch in der Kunſt nad) Brot fchreit und das feine Schaumgebäd 
manchmal unwirſch bei Seite jchiebt. 


Carl Buſſe, Litterarifche Monatäberichte. 779 


Dabei joll gewiß nicht verfannt werden, wie viel hervorragend Schönes wir Heyſe 
verdanfen. Er hat ein gutes Recht darauf, von uns allen geehrt zu werden. Cine 
Handvoll entzückender Lieder — feine, graziöfe, ſich melodifch wiegende Klänge — hat er 
geihaffen, und ob er aud; garnicht damit in die Entwicelung der Lyrik eingriff, hat er 
dadurch unfern poetiſchen Hausſchatz doc) vielfach, bereihert. Wir könnten feinen Namen 
aus der Bejchichte der deutfchen Lyrik wegdenken, ohne daß irgendwo eine Lücke Elaffte — 
was wir bei Geibel, Storm, Yilieneron nicht könnten —, aber feiner von und möchte 
darum feine ſchönſten Lieder mijfen. Noch nachhaltiger hat er litterarifch durch feine 
Novellen gewirkt. Es finden fich herrliche Kleine Kunſtwerke darunter, die in ihrer 
ſtrengen Gefchloffenheit Zierden unferer Novelliftif bleiben werden. Und wenn vieles 
andere nicht meifterhaft it, jo ift e8 doch in den meiften Fällen mufterhaft, d. h. 
two die dichterifche Fülle und Tiefe fehlt, waltet noch immer die fichere Künftlerhand. 

Sechs Erzählungen aus den Jahren 1898—1900 vereinigte Baul Heyſe zu einem 
neuen Bande „Ninon und andere Novellen“ (%. G. Cottafhe Buchh., Zmeigniederl. 
Berlin 1902.) Sie haben manches Gemeinfame. Sie enden alle tragiih. Ein gewalt- 
jamer Tod jteht fat am Scluffe jeder einzelnen. Aud in der äußerlichen Anlage 
gleichen fich die meisten. Es ift jelbjtverjtändlich, daß fie denjenigen, der Heyſes frühere 
Novellen kennt, nicht überrafhen. Aber es joll daneben herzlich anerfannt fein, daß 
bon einem Sinfen der jchöpferifchen Kraft nicht das Geringfte zu merfen ift. Diejenige 
Erzählung, die den ftärfften Eindruf auf mich machte, ftammt aus dem Jahre 1900. 

Mit Vorliebe find aud hier piychologifch-Enifflige Probleme behandelt. Es werden 
ein paar jeltfame, brüdige Frauencharaktere dargeftellt, frauen mit zwei Seelen, Die 
zwiſchen Sinnenluft und Seelenfrieden etwas haltlos hin und her pendeln. Man 
begreift danad) wohl den Borwurf, den Moraliften gerade gegen diefen Dichter jo oft 
erheben, daß er das fittliche Gefühl vermwirre und dem innerlich Ungefaulten noch ein 
fünftlerifches und pinchologiiches Mäntelhen umhänge Ein Kom Wahrheit findet ſich 
auch in diefen Worten — allerdings eben nur ein Korn. Der feine, den interefjanteften 
Problemen nachſinnende Geift und der geichmadvolle Künftler werden mandmal vom 
Herzen nicht korrigirt — das ift alles. Die Kunſt hat über Hehe zu viel Macht ge 
wonnen, er lebt zu jehr nur in ihr, er fühlt gar zu äſthetiſch und fieht alles zu ſehr 
vom äfthetischen Standpunft an. So pajfiert es, daß ein gefund-fittliches Empfinden 
ſich manchmal gegen die rein äfthetifche Betrachtungsweiſe auflehnt. Hehe identifiziert 
ihön und gut und häßlich und fchlecht. Das ift die Gefahr jedes Poeten, die feine 
befondersd. Deshalb iſt er auch fein jozialer Dichter, deshalb hat man ihn einen 
Bourgeois- und Lurusfchriftfteller genannt. Deshalb auch wirft er niemals aufwühlend. 
Man weint nicht bei ihm, man wird nidht im Tiefften erichüttert, jondern man läßt ihn 
erzählen und bewundert ihn darin. Und es fommt vor, daß man, wenn man dem Bann 
feiner Runft entflohen ift, ihm nicht glaubt, daß man über fo viel fniffliges und überreiztes 
Feingefühl den Kopf jchüttel. So geht es mir hier mit der erften Novelle, fo geht es 
mir auch halb und halb mit der beften des Buches, mit „Fräulein Johanna.“ 

Es erübrigt ſich zu jagen, daß alle ſechs Novellen virtuos erzählt find. Man 
langweilt fi bei Henfe nit. Die Ich-Form wird bevorzugt, doch hab’ ich mich ge 
wundert, daß mehrmals eine verhältnismäßig lange und faum nötige Einführung den 


180 Earl Buſſe, Litterarifche Monatsberichte. 


Geſchichten voraufgeht. Turgenjeff machte das in wenigen Säßen ab. Der Stil ift flüſſig, 
aber von der „marmornen Formſchönheit“, von der die Tageskritifer in einer rührenden 
Uebereinftimmung reden, wenn fie Heyſe beiprechen, ift nicht viel zu merfen. Ya, er 
ipinnt manchmal recht ſchwerverdauliche Perioden und jchreibt — Seite 11, 25 — hin und 
wieder jogar den „papiernen Stil“. Doch verleugnet er niemals ein hohes d. h. rein 
fünftlerifches Streben und bleibt in der Energie, mit der er ein Thema durchführt, der 
alte Meifter. Er felbft erzählt in feinen Erinnerungen, daß er jede begonnene Arbeit, 
felbft eine ſchwache und mißlungene, zu Ende führe Ein guter Grundſatz, aber einer, 
der zeigt, wie ſehr der arbeitende Künftler in Heyfe dem Dichter überlegen ift. „Der 
Blinde von Dauſenau“ mag eine jo vom bloßen Willen diftierte Erzählung fein. 

Im Grunde wiederholt fich bei den Großen jo gut wie bei den Kleineren biejelbe 
Gedichte. Das berufsmäkige Echriftjtellem und „Dichten“ verführt jeden dazu, auch 
des öfteren invita Minerva zu ſchreiben. Man jchreibt, weil man einen guten Stoff 
hat oder weil man doch einmal Schriftjteller ift oder weil man mit Theodor Fontane 
empfindet, daß Honorar auch Poefie fei. Im günftigften Falle entjtehen dann äußerlid) 
tadelloje Werke, aus denen erworbene Künſtlerſchaft redet. Das ift der Fall bei Heyſe. 
Was der Beift, der finnende, Fünftleriich geichulte Geift ergriff, weil ihn das Problem 
reizte, fpricht aber wieder nur zum Geiſt. Es entiprang feiner Hergensnotwendigfeit; 
es ift eine Kombination. Deshalb möcht ich jeden preifen, der in einem Amt oder 
praftiihen Beruf ein Gegengewicht gegen die ewige Yitteratur befigt, der auf das lieber: 
Itrömen des Herzens und die gejegnete Stunde warten kann. Wohl ift fraglos, daß 
aud die mit Gewalt eroberte Mufe fich oft gnädig erweift und von eines Dichters ſtarkem 
Scöpferwillen bezwungen wird. Aber nicht oft geichieht das, und nur wenige Herzen 
find fo reich, daß fie in einem fort fpenden können. 

Wenn das für Paul Heyſe gilt, jo gilt es nicht minder für Wilhelm Jenſen. Sie 
willen es beide, fie miffen, daß fie zu viel fchreiben, wie ja fchliehlich wir alle, ob wir 
nun viel oder wenig bedeuten. Es ftünde mir deshalb ſchlecht an, den Stein diejerhalb 
aufzuheben. Doc joll die Elare Erkenntnis auch nicht verfchlucdt oder vertufcht werben. 
Gerade Wilhelm Jenſen ift ſich über alle dieje Zufammenhänge Ear. Bor Jahren 
hatte ich die undanfbare Aufgabe, einen ſchwachen Roman von ihm zu beipreden. 
Ich mußte böfe Worte jagen. Und wieder Jahre nachher hatte ich den Dichter um 
etwas zu bitten, hielt es aber für meine Pflicht, mid) ihm vorher als den Berfaffer 
jener Kritik vorzuftellen. Er erfüllte meine Bitte und machte daneben die Bemerkung, 
daß er den angeregten Roman eben jo wenig ſchätze wie ih. Das ehrt den Menfchen, 
und darin ehrt fich in gleicher Weiſe der Dichter: denn eine ſolche Kritik wird nur derjenige 
Poet über ſich fällen, der da weiß, daß er Andres und Befleres geben kann, geben wird 
und gegeben hat. 

Wilhelm Henjens neuer Roman „Die fräntifhe Leuchte“ (Dresden, 
C. Reißner 1901) erzählt eine Geſchichte aus dem Dreißigjährigen Kriege. Aber Teile 
bon großer Schönheit retten das Ganze nicht. Dichten heißt doch dicht machen, feftigen 
durch Ausscheidung alles Nebenjächlichen, das Wejentliche der Dinge erkennen und heraus: 
heben. Das ift in der „Fränfifchen Leuchte“ nicht in erhofften Maße der Fall. Eine 
breite Umftändlichkeit erlaubt den großen Grundlinien nicht, eindrudsvoll hervorgujpringen. 


Carl Buffe, Fitterarifche Monatsberichte. 781 


Und gar zu Üppiges Geranf ift vom Uebel. Trotdem liegt gerade in dem Beimerf, das 
über Gebühr aufhält, das Schönfte des Buches. Denn darin entfaltet Jenſen wieder 
die alte Kunft der Stimmung. Da ift Stoffel, der Schäfer, der wunderliche Gefichte hat, 
bon den alten Göttern noch raunt, und meift in jo ſeltſam dämmriger Beleuchtung gehalten 
wird, daß aud) die merfwürdigften Worte, die er fpricht, nur an fi) befremden — nicht 
als von ihm geſprochen. Und da läuft weiter eine ergögliche Figur von Hungerpaftor 
herum. Auch von Hexenprozeſſen, den englifchen Komödianten, der fruchtbringenden 
Gejellihaft und der Acad&mie des vrais amants ift die Rede, und der Herzog Bernhard 
von Weimar wird redend und handelnd eingeführt. So hat an vielen Stellen der Roman 
die Tendenz, fich zu einem großen Zeitbild zu entwideln. Wäre das gelungen, fo hätte 
man die Breite auch gern mit in den Kauf genommen. Doch immer wieder jcheint der 
Dichter zu erjchreden, jagt fi), daß er einen Roman fchreibe und daß Hans Hardung 
alias Conz Hoffmann doc feine Trudberga Schmid befommen müfje. Mit Hilfe der Frau 
von Gleihberg und des Herzogs Bernhard, der einen richtigen Theaterfoup ausführt, 
gelingt das auch. 

Mir mill immer fcheinen, als ob Jenſen ſich jelbft die vollſte Ader unterband, 
als er die nordiihe Heide verlief. Es fließt mir noch immer wie eine jtarfe herbjühe 
Duftwolfe an, wenn id an feine „braune Erika“ denke. Wohl möglich, daß fie, wie jo 
vieles, mich heut nicht mehr ſonderlich berühren würde. ch mar ein halber Knabe, 
als ich mich dafür begeifterte, al8 id von Eddyſtone und Karin von Schweden mid) 
nicht trennen fonnte. Hat Wilhelm Jenſen damals mit mehr Licbe gefchrieben? Iſt es 
der Heimatsboden, der Norden, der ihn fo ſtark madte? Hat er die Rückkehr ver- 
jäumt? Ich fand kürzlich) ein Gedidt von ihm, „Die Thürme von Lübeck“, in deffen 
ſchönen Strophen ein ſeltſames Weh raunte, eine dunfle Trauer, daß er fi fo meit 
von den fieben Thürmen entfernt hatte. Oder legt’ ich jelber das nur in die melandho- 
lichen Berje hinein? Wie dem auch jei: wenn Traum und Sehnfucht einmal überftarf 
find nad) der Jugend, nad der Heide, dann möcht ich diefen Dichter wieder einmal 
lefen. Wir warten noch auf diefes Buch aus Traum und Sehnfudt .. . 

Der große hiftorifche Roman hat feinen befannteften und erfolgreidhften Vertreter 
unzweifelhaft jet in Henrpf Sienfiewicz gefunden. Aus dem polnischen Erzähler ward 
iiber Nacht eine Weltberühmtheit. In faft alle europäiichen Sprachen ift „Quo vadis **, find 
feine übrigen großen Romane überjegt. Auch der deutfche Markt ward von Uebertragungen 
feiner Werke förmlich überſchwemmt, und nur die neueste ruffiiche Berlihmtheit, Marim Gorfi, 
wetteiferte darin mit ihm. Es fei flipp und klar hier ausgefprochen, daß beider Welt- 
ruhm wohl dod; in feinem Berhältnis zu ihren Peiftungen fteht. Man muß fid) nur nicht 
verblüffen lafjen. Gewiß, für nicht® und wieder nichts ift auch Henryk Sienkierwicz 
nicht zu dem gefeierten Autor gervorden. Er hat am Anfang feiner Laufbahn ein paar 
prädtige Keine Gejchichten gejchrieben, realiſtiſche Skizzen, unter denen „Janko, der 
Mufitant” obenan fteht. Und zweifellos find feine großen hiftoriihen Romane jehr 
lebendig, jehr kräftig, jehr farbenreich. Flott charakterifierte Geftalten, einen guten 
Humor, vor allem eine zwar breite, aber nie langweilige Erzählungskunft findet ınan 
darin. Dazu, was die Begeifterung feiner Landsleute fo erflärlich macht, einen glühenden 
Patriotismus, ein ewig waches nationales Bewußtſein. Aber die rechte Tiefe fehlt, jo 


182 Carl Buſſe, Litterarifche Monatsberichte. 


daß dieje weltberühmten Werke doch eben nur wie Dumas „Drei Musketiere“ inter: 
haltungsleftüre find, ob auch eine ſolche der vortrefflichiten Art. Das haben jelbit Ver— 
ehrer des Dichters eingejehen und haben die großen Romane till bei Seite gelegt, um 
dod) wieder zu den Keinen Skizzen des jugendlichen Poeten zu greifen. 


Da bat jett fold; ein Berehrer des Dichters, Jonas Fränfel, eine noch aus den 
fiebziger Sahren ftammende Erzählung von Henryk Sienkiewiez: „Ums liebe 
Brot“ überjegt (Bern, A. Benteli 1902). Ach glaube allerdings nicht, daß er dem 
polnischen Dichter damit genügt hat, obwohl auch ic für Schöpfungen der erften 
Periode, für „Hania“ und „Janko“, die meiften jpäteren Arbeiten hingebe. Diejes 
„Ums liebe Brot“ ift nämlich durhaus fein Meiſterwerk. Es erzählt die Schidjale 
eines nad) Amerifa auswandernden polniihen Bauern und jeiner Toter; es erzählt, 
wie die beiden jenſeits des großen Waffers fterben und verderben. Aber das alles 
ift zwar ſehr traurig, doch nicht tragisch, denn wir jehen von vornherein, daß diejer 
Untergang unvermeidlich ift. Es iſt, als wenn man ein Kätzlein in einen Teich wirft. 
Es paddelt wohl eine Zeitlang, aber dann ertrinft ed. Das erfhüttert nicht, fondern 
drückt bloß. Die Waffen find nicht gleich und gerecht. Die beiden Menjchen können fid) 
garnicht wehren und wehren fi) nidt. Das tiefere Intereſſe mangelt deshalb, und die 
ganze Erzählung erhält etwas Kraffes und gleichzeitig etwas Sentimentales. Sie hat 
feine Höhe und feine Tiefe. Sienkiewiez bleibt immer der Oberfläche gar zu nahe. 


Aber Eins kann diefer Dichter, und das foll ihm nicht beitritten werden: er kann 
ihildern. Wo er da aud) anfekt, zeigt er den Poeten. Sturm und Waffernot find 
glänzend gegeben, und noch jchöner und reiner, erfüllt von heißer Liebe zum vater: 
ländifhen Boden, find die Naturftimmungen aus der polniihen Deimat. Die Worte 
icheinen zu zittern vor der Leberfülle des Gefühls, das in fie gebannt ift, wenn 
Sienkiewicz vom polnischen Yand ſpricht, von den Kreuzen, die am Wege ftehen, von den 
Bäumen und Störhen und fchwarzen Wäldern, von den weißen Herrenhöfen und den 
ichimmernden Strohdächern der Bauern. Dieje VBaterlandsliebe ift immer rührend und 
herrlich, fie hat auch die überſchwängliche Begeifterung der Polen gewedt, die in allen 
Ländern für ihren Henryk Sienkiewiez Bropaganda machten und die, wie wir es ja bei 
den Wrefchener Vorfällen jahen, lungenkräftig genug find, alle Welt für oder gegen 
etivas aufzuregen. Stein Wunder, daß ſich Sienkiewiez auch immer und überall an die 
Spitze der national-polniihen Propaganda ſtellt. Wir follten deswegen nicht jchelten, 
londern nur für uns jelbjt daraus lernen und aud uns bon Baterlandsliebe und 
nationaler Begeifterung gang durdhglühen laffen. Und wenn Sienfiewicz, der die 
Deutjchen nicht liebt und den uns unfere Ueberjeger ewig von neuem faft aufdrängen, 
uns den Fehdehandſchuh hinwirft — man fagt, er benüte feine Einnahmen aus Deutſch— 
land zur Unterftügung der antideutichen polnischen Beitrebungen — — gut! Außer den 
Polen wird es niemanden geben, der da glaubt, dat wir mit Henryk Sienfierwicz irgend 
welche bedeutjamen Kulturwerte verlieren würden. 

Die Ueberjegung erhebt große Anfprüche, ohne fie recht zu erfüllen. „Ganz jo 
wie fie im Original ausfieht”, nicht gekürzt und nicht geändert, mag ja die Erzählung 
in deutiher Sprache wiedergegeben fein. Aber es ift fraglos, daß Sienkiewiez ein 


Earl Buſſe, Litterarifche Monatöberichte. 783 


gutes Polnifch fchreibt, während ich dem Ueberjeger ein gutes Deutjch nicht nachrühmen 
fan. Auf den Seiten 58, 114, 158 erſchreckt einen der Stil fürmlid). 

It Sienfiewicz der National-Bole, jo Gabriele d'Annunzio der National: 
Staliener. Er iſt fo durch und durch Romane, daß germanifche Völker niemals in ein 
Verhältnis zu ihm kommen können. Unſere Tageskritik natürlich bat fi) vor Hurrahs 
und vor Ehrfurdt und vor Begeilterung bei feinen Werfen überfugelt. Wer fi) aber 
aud vor Weltberühmtheiten das gelaffene Urteil wahrt, wird, ſofern er Deutſcher it, 
zugeben, daß diefer blumige Bombaſt uns allenfalls krank maden kann, aber die 
Wirkungen, die wir Deutiche von der Kunſt verlangen, nit ausübt. Der Italiener 
beraujcht fih an d’Annunzios Sprache, die wundervoll klangreich fein fol. Das fällt 
in der deutichen Ueberjegung naturgemäß fort. Was übrig bleibt, ift ein großer Wort- 
reichtum, ein überſchwängliches Pathos, dem gerade das geraubt it, was es ſchön und 
genießbar machte: der Klang. So fteht es da und friert und ift hohl. Nur manchmal 
laſſen lyriſche Stellen eigentümlicher Art uns erraten, weshalb und warum d’Annungio 
nicht ein, fondern der moderne Poet Italiens ward. 

Es fommt bei ihm dasjelbe Motiv Hinzu, wie bei Sienfiewicz: auch fein Herz ift 
durchglüht von feines Vaterlandes großer Vergangenheit und träumt von der größeren 
Zukunft. D’Annunzio glaubt an die Zukunft der Romanen, wie wir an die Zukunft 
der Germanen glauben. Und wenn unjere StaatsSmänner fich einmal mit ihm, dem 
gelejenften, berüihmteften und gefeiertiten Romandichter Italiens befchäftigten, fo erhielten 
fie vielleicht in Manchem über die Stimmungen auf der Stiefelhalbinjel beffer Beicheid als 
durch die Berichte ihrer Diplomaten. 

Es wäre vermefjen, wenn ein Deutſcher über d'Annunzio's Bedeutung jchlehthin 
aburteilte. Wir können nur jagen, was er für uns bedeutet. Er mag den Stalienern 
ein Klaffifer jein, das verftehen wir nicht. Aber was wir verftehen ift: daß er für uns 
nichts, aber auch garnidhts ift. Wir ftehen vor feinen Büchern, wie unjre braven 
Pommern einft vor der Proflamation Bitter Hugo's. Dafür fehlt uns völlig das 
Organ. „Die Jungfrauen vom Felſen“, das neuejte überjepte Werk des göttlichen 
Gabriele (Berlin, S. Fiicher, 1902), hinterlaffen uns beiten Falles die Ahnung, daß der 
Italiener ein echter Dichter von fpezifiich-Iyrifch-pathetifcher Art ift und daß wir, wenn 
wir dieſelbe Mutterfprache redeten, ihn vielleicht als einen Großen erfännten, ihn in jeinem 
Weſen erfaßten. Wie in der reinen Lyrik fcheint auch bei ihm das Befte jo jehr im 
Worte zu ſchweben, daß eine Ueberjegung allen Neig des Driginal® vernichtet. Wenn 
ein deutjcher Dichter diefen Yungfrauenroman fo geichrieben hätte, ſpräche die gefamte 
Kritik fiherlicd; von einem aufgeblajenen und verftiegenen Pathos. Handlung, Anhalt 
— das fcheint hier völlig Nebenſache. Hauptjache ift da8 weite Prunkgewand der Form, 
ift die unerhört pretiöſe Spradje, die jede Kontur, jeden charakteriſtiſchen Zug verwiſcht. 
Das erſcheint uns und muß nad) unferer ganzen geidichtlihen Entwidelung uns als 
Schwäche erjcheinen. Wir beraufhen uns nicht an der bloßen Form, wir wollen mehr. 
D’Annunzio, jo hat ein Kritiker einmal gejchrieben, ift „in feinem ganzen Leibe mit 
Kunst infiziert, welche die Stelle des Blutes vertritt”. Der Mann hatte recht, aber 
er empfand wohl nicht ganz das Schredliche, was in jeiner Eharafteriftif liegt. Geradezu 
funftverjeucht find aud) die „Jungfrauen vom Feljen“, die wie die übrigen Werfe des 


784 Carl Buffe, Litterarifche Monatöberichte. 


Italieners die Bezeichnung „Roman“ tragen, aber eine Inriichspathetiihe Rhapjodie 
find, eine große blumige Eunftverjegte Suppe, in der ab und zu ein magerer Bilfen 
Fleisch jchwimmt. Es beginnen damit die „Romane der Lilie“; die vorangehenden Ar: 
beiten: „Luft“, „Der Unfchuldige* und der „Triumph des Todes“ find als „Romane der 
Roſe“ zufammengefaßt. Und inzwiſchen hat fchon ein neuer Nomanchklus vom „Granat: 
apfel“ eingefeßt. Lange werden fich diefe Blumen und Früchte in unferem harten und herben 
Klima nicht halten. Sie vertragen ſchon die Reife nicht, und jo wollen wir uns doch 
lieber zu unjeren heimiſchen Gewächſen niederbeugen! 

Bu unferen heimiſchen Gewächſen —! Das Glüd will es, daß ich da grade eines 
gefunden hab’, wie es fräftiger, förniger, fruchtreifer nur ſelten unſerem Boden entiprof. 
Ueber viele Bücher hab ich in den Monatsberichten ſchon geredet, faft alles Bücher 
unſerer beften Autoren. Aber Hand aufs Herz: wenn diefe Bücher nit da mären, 
jo würden wir zwar mandjes feine Kunſtwerk weniger haben, doch e8 braudte fi 
feiner darum fonderlid zu grämen und zu ſchämen. Nun aber will ich denen, bie 
mir zuhören, von einem Buche reden, das nicht für heut und morgen nur geichrieben 
ift, fondern das auch ein kommendes Geichleht noch erquicken und ftärfen wird. Und 
wer Buch und Dichter ſich Heute nicht merfen will, der wird fich beide bald merken 
müſſen. Es giebt Werfe, die jeden Widerftand der Gleichgültigfeit oder VBoreingenommenheit 
breden. Sol ein Werk ift der Roman „Jörn Uhl” von einem bislang unbefannten 
Dichter Guſtav Frenjjen. Der Grote'ſche Verlag in Berlin verjendet dad Bud). 

Es ift ein Meifterwerf, für das fein Wort des Lobes mir zu ftarf wäre, wenn 
ic; aud) die lauen Herzen dadurch einfangen fünnte. Ich ſegne den Zufall, der es mid 
leſen ließ; ich jegne den Zufall, der es fügt, daß ih Guſtav Frenſſen gerade neben 
Sienkiewicz und d’Annungzio nennen kann. Der Deutſche verträgt die Nähe diefer Welt- 
berühmtheiten nicht nur, fondern er ift für uns, die wir mit ihm Kinder des gleichen 
Bodens find, hundert Mal mehr als fie. Er ift jo ganz Deutjcher, wie die beiden Polen 
reip. Italiener. Er ftellt fi) dur den Jörn Uhl mit einem Schlage neben uniere 
beiten Erzähler. Dies eine Buch genügt, um ihm langen Ruhm zu verjchaffen. 

Nur mit Einem der Lebenden läßt er fid; vergleichen: mit Wilhelm Raabe. Wie 
ein Schüler von Wilhelm Raabe beginnt er jein Bud. Das ift ganz der Stil, den wir 
fennen. Aber Leonardo da Vinci jagt: ein ſchlechter Schüler, der den Meifter nicht 
übertrifft! Und wenn man den Jörn Uhl weiter und bis zu Ende lieft, dann weiß man, 
daß diefer Guſtav Frenſſen fein fchlechter Schüler ift. Ich brauche den Leſern der 
Monatsſchrift nicht zu jagen, wie jehr id; Wilhelm Raabe liebe und ehre. Er ftand 
gleihjfam am Anfang diefer Berichte; er hat uns allen ja das Herz erfüllt. Aber nun 
fommt da einer, ein Unbefannter, der es mit ihm aufnimmt. Nur die großen drei 
Romane: der Hungerpaftor, Abu Telfan und vor allem der „Schüdderump”“ können fich 
gegen das Bud Frenſſens behaupten. Das Jahr 1901 ſei uns diejerhalb gefegnet. Es 
fing dod) nod) eine große Kanone zu donnern an... 

Bis vor wenigen Tagen hatte ich den Namen Guſtav Frenſſen noch nicht gehört. 
Stein homo literatus wußte etwas von ihm. Er ſoll als Pfarrer, ein echter Frieſe, in 
einem holfteiniichen Dorfe leben. Er bringt gleihfam alle Kraft, Fruchtbarkeit und 
Fülle der Mari mit. Er fann zu einem unferer größten Humoriften werden, da er den 


Earl Buſſe, Litterarifche Monatsberichte. 785 


tiefen Ernſt, die gewaltige Tragif hat. Und man muß unmillfürlid an das Wort Yean 
Paul's denken: dat an Völkern und Individuen der Ernft fi) immer als Bedingung 
des Scherzes erweift, daß die ernften Britten und die gravitätiſchen Spanier den höchiten 
und innigften Sinn für das Komifche hatten, daß der ernſte geiftliche Stand die größten 
Humoriften hervorbradite: Rabelais, Swift, Sterne, Abraham a Santa Clara, Sean 
Paul felbit. Daß weiter ein Hungerpaftor unferem Wilhelm Raabe den Stoff zu 
feinem großen Werk gab, und der geborene Erbe des Raabe'ſchen Geiſtes wieder auf einer 
Pfarre figt. Aber nicht diefen Zufammenhängen will ich hier nachforſchen, fondern mic 
wieder zu Jörn Uhl wenden und ihn preifen. 

Seine Spradie? O, fie ift noch kräftig, noch nicht abgegriffen; fie hat aus dialeft- 
reicher Volksſprache ihre gefunde Stärke gewonnen. Sie erzählt Märchen und raunt 
wie die Frau Viehmännin der Grimm’s, wenn fie auf dem Felde oder beim Herdfeuer 
die halbvergeffenen Sagen vorholte. Aber fie ift nicht nur zart für junge Mädchen und 
deutiche Märchen, für erfte Liebe und anderes Süße — fie ift auch ſtark für Männer, 
trogig und wild für den Daß, graufam und gewaltig für die Schladjt. Alles Leichte 
und Schwere fann fie ausdrüden; alles Leichte und Schwere ift in dem Bude. Es er- 
zählt von Geburt und Tod, von zäher deuticher Treue und feigem Berlaffen, vom Frieden 
der Felder und vom Brüllen der Schladht, vom Säen und Ernten, von Glück und 
Not. Trunfenbolde und nachdenkliche Menfchen, Bauern und Händler, Weihföpfe und 
helle Jugend ftellt e8 neben einander. Und wunderbare Mädchengeftalten ftehen dazwiſchen, 
herrlich lebensecht, voll gefundheiger Sinnlichkeit — eine immer lebendiger, Eräftiger, plaftifcher 
wie die andere. Ich kann hier nicht ausführen, wie man oft gerade aus einem Zuge, der 
ſcheinbar nicht zu der Geftalt paßt, den großen Meifter erfennt. Aber die, welche das 
Bud leſen — left es alle! — möcht ich darauf aufmerffam machen, wie durch die Er- 
zählung des Striegöfameraden (S. 473) von jeinem Kußerlebnis mit der jpröden 
Lisbeth Junker die Geftalt des Mädchens, das „Tipp“ (ipröde) ift und nicht fipp ift, be: 
jtrahlt und blutvoll wird. Und Lena Tarn — Herrgott, man möchte diefe Dirne aus dem 
Roman heraus an feine Bruft reißen, den Rotkopf, der dann jterben muß, der ftirbt in 
einer Szene, wie Wilhelm Raabe faum eine größere geichrieben hat. 

Es ift genug: einem Buche von foldyer Fülle und Schönheit gegenüber fühlt man, 
wie ohnmädhtig die Worte dem Eindruck nadtaften. Ich weiß, daß id) den Jörn Uhl 
nicht vergeffen werde, jo lange meine Zeit mir geftedt ift. Und hat diejes kraftſtrotzende, 
gemütstiefe, wunderbare, finnenfräftige Bud) wirklich ein Paftor geichrieben? 

Dann joll man Viktoria jchiegen bis an fein holjteiniich Pfarrhaus! 


1% 





Vom deutichen Theater. 


Don 


Max Marterfteig. 
IV. 


Die Komödie innerhalb der riftlichen Kultur. — Der Biberpelz und der rote Hahn. — Lebendige 
Stunden von Arthur Schnitler. 


H" Wurft, der Stammvater und spiritus rector aller deutjchen Komödie, wer 
immer auf Seiten der Schelme, Gauner, Betrüger und Diebe, wenn es galt, die Büttel 
der Obrigkeit, der weltlichen und der geiftlichen, zu nasführen. Viele hundert Jahr 
war das jo, wo liebe Einfalt des alten Thespis jchediges Gewerbe betrieb. Später 
haben die geiftlihen Herren den Unband zwar etwas erzogen; in den Balffionen, 
Weihnachtsſpielen und Müfterien mußte er fein ehrbar tun. Nur konnte er auf die 
Dauer von jeiner Art nicht laffen; und wenn fich jonft im Gange der Dandlung feine 
Gelegenheit zu glänzen bot, bändelte der Unhold ſogar, Zoten reigend, mit den heilige 
Frauen an, wenn fie den Weg nahmen gen Golgatha. .. 

Eine unendlich verichlungene Bahn der Entwidelung ift e8, auf der, jehr langiam 
und immer wieder verwirrt und entjtellt, ein Sunftbegriff des Dramas, des Theaters, 
bei den germaniſchen, von der antiken Bildung übertündten und zu chriſtlicher Kultur 
erzogenen Bölfern fi) herausbildete. Das darf jchlieglih nit Wunder nehmen 
die Ideale, die über das Leben der Griehen geftellt waren, die das Wunder: 
werk der fozialen Ordnung im alten Indien inmerlich befeelten, und die darım eingiz 
bei diejen beiden Völkern der älteren Kultur eine eigengewachſene dDramatiiche Kımt 
ermöglichten, taugten den ſpäteren mittelalterlihen Bölfern nit. ihnen wurd 
ein neues deal errichtet, leider aber eines, das nicht ihren eigenen Anlagen fi entwirt: 
hatte, fondern ein fremdes, aus der Fremde herbeigcholtes, ein feiner heiligenden Wahr: 
haftigfeit, feiner bejeeligenden Innigkeit bereits vielfach ſchon entfleidetes: das dei 
firchenväterlichen, des Elerifalen Ghriftengeiftes. Mit diefem vermählte jich die Phile 
fophie in der Scholaftif, von diefem entlieh ſich die Aefthetit ihre Leitjäge; und an: 
diefer derart verquicdten neuen Auffafiung der Weltidee, der Lebens: und Bildungszielr 
heraus wurden für viele Jahrhunderte aud das Fünftlerifche Bedürfnis und die fünir 
lerifhen Anlagen der Völker befriedigt oder unterdrücdt, gefördert oder gehemmt, jeder 
falls aber zu beftimmen verfudht. Die bildenden Künſte zogen daraus den denkber 
größten Vorteil und gaben ihren Anregern mehr und Köftliheres zurüd, al — 
empfingen: in die lebendigere Ericheinung des menſchlich Rührenden, Innigen, de 
leiblihen Schönheit zurückverwandelt dargeboten, erichien der hrijtliche Geift, das neue Aber. 





Mar Marterjteig, Bonr deutſchen Theater. 787 


frei von jedem logischen Widerſpruch, in ungetrübter Wahrhaftigkeit und immer fiegreich in 
dem Ausdruck der weltüberwindenden Verzückung, der gotterfüllten Begeifterung und 
Dingabe. In taufend Jahren wird man noch die Schönheit und Innigkeit einer 
Holbeinfhen Madonna empfinden. 

Weit ungünftiger beeinflußte der neue Weltgeift die Dichtumg und bejonders die 
dramatiihen Anläufe Hier ftand das Weſen der Kunftform und das Ziel, dad von 
der geltenwollenden Weltanſchauung ihr geſteckt wurde, nur zu oft in einem unheilbaren 
Gegenjag. Der meite fittlihe Horizont des griehiichen Tragikers und des griechiſchen 
Komiferd war verbaut durch die Leidensbilder der chriftlichen Legende. Und wie die 
neuzeitliche Tragödie von vornherein ftatt auf den heroiſchen auf den leidenden Charakter 
gejtellt wurde, mußte auch die Komödie, ftatt in lichte, Tachende Höhen der Phantafie, 
der Laune emporzuflattern, am Gängelband der Moral glatte Philifterfteige entlang- 
wandeln. Diejer beftimmende Gingriff in die noch jugendlichen und unentwicelten 
Kunſttriebe der neugeitlihen Völker hat das Theater der riftlichen Kultur in feine relative 
Unreife feftgebannt. Und bis in die allerneuefte Zeit, in der Gegenwart noch, leidet es 
an dem Mangel einer fünftleriih brauchbaren und das Drama allein ermöglichenden 
Weltanfchauung, eines Bildes vom Leben über dem Leben, das nicht asketiſche Tugenden 
fordert, und nicht den Menfchen als einen willenloſen Spielball in der Hand eines 
fühllofen Schikjals zeigt. Nicht der Mangel an Anftrengung oder an Begabung hat 
verurjacht, daß wir feine deutiche Komödie Haben, ſondern der nun ein Jahrtauſend fühlbare 
Mangel einer einheitlicd und ftarf empfundenen Idee vom Leben, die dad Leben freudig 
betont, bejaht, rechtfertigt und e8 in die Sphäre einer erhabenen Heiterkeit zu rüden erlaubte. 
Die fittlihe Grundlage der europäifchen Chriftenkultur ift im Grunde dod über eine 
erhabene Refignation — troß des lebendigen Beiſpiels ihres Begründers, der die Er- 
füllung des göttlichen Reiches in uns lehrte und forderte, — nicht hinausgefommen. 
Diefe aber ift fein Boden, aus dem gerade die Blume der Komödie wachjen könnte. 
Wie jedoch falfche Erziehung einmal vorhandene Anlagen nie ausrottet, jondern 
immer nur verfümmert, entftellt und ſchließlich böſe macht, jo hat aucd auf diefem 
Gebiet der Drud der Bildung, der vielfach) in ſich unwahren und künstlich gezüchteten Kultur, 
von Zeit zu Beit immer wieder Ausbrüche der Unreife und der Roheit veranlaßt. Die 
Einengung ber fünftlerifchstheatralifchen Bedürfniffe auf der einen Seite, wie fie ſich — 
wenige Ausnahmefälle, wie einige geniale Würfe Molieres, wie Shafejpeares und einige 
ipanische Komödien abgerechnet — in der neuzeitlichen Komödienlitteratur darftellt, und die— 
mangel3 anderer Lebensziele, in unverſchämter Rüpelhaftigfeit fi außernde Luft, der 
Wirklichkeit Laftenden Druck abzufhütteln, auf der anderen Seite, das find die 
eigentlihen Grundurſachen für die unverföhnlich neben einander laufenden Entwicelungs: 
linien: die des europäiichen Kunſttheaters und die der Volkstheater, der Straßen: und 
Bretteltunft. Der Brettelfunft nebenbeibemerkt, al3 fie noch urwüchſig und nidht 
befadent=perver8 war. 

Dieſe ziemlich troftlofe Lage unferes komischen Theaters follte, jo hieß es, Gerhart 
Hauptmann überwunden haben. Manchen mag zwar — um ein berühmtes Wort auf ein 
anderes Gebiet angumenden — der Beruf unferer BZeitgenofjen, Litteraturgefchichte zu 
jchreiben, zweifelhaft ericheinen, — nicht zu bezweifeln aber ift die Thatſache, daß 

bu* 


788 Mar Marterfteig, Vom deutſchen Theater. 


Gerhart Hauptmann’s „Biberpelz“ von ſolchen unberufenen Berufenen leichten Herzen: 
Stleiftens „Zerbrochenem Krug“ an die Seite geftellt wurde. Ein Wert, dem Diele 
Ehre zu Teil ward, darf Anſpruch auf gründliches Hineinleben maden. Wie nun gar, 
wenn dieſem jelben Werke fein Dichter einen zweiten Teil nachzubichten ſich verpflichtet 
fühlt! "Das Borurteil gegen „zweite Teile“, das feit Goethe'8 Fauft immer jchnell bei 
der Hand ift, darf uns nicht abhalten, der weittragenden Bedeutung dieſer That 
Dauptmanns nachzuſpüren. Wie es Unverftand der Banaufen war, bon Goethes 
altem Fauſt verächtlich zu reden, wie wir längſt wiffen, daß nur beide Teile der Welt— 
dichtung zufammen ein dichteriiche® Ganzes ausmachen, fo werden wir auch den „Biber 
pela“ und den „Roten Hahn“ als ein äſthetiſches Ganzes zu begreifen lernen müſſen. 
Nietzſche macht briefli einmal zu jeinen Anti:Wagnerjchriften die geiftvolle Be: 
merfung, daß es zu gejchmadlos gewejen wäre, Wagner etwa an Beethoven abzu 
meilen, daß er darum Bizet, den Komponiſten der Carmen, herangezogen habe. Ich möchte 
dem guten Geſchmack Nietzſche's nadeifern und davon abjehen, ernſtlicherweiſe das 
Doppeldrama Fauft gegen die Doppel-Diebs-ftomödie Gerhart Hauptmann zu ftellen. 
Zumal fie wirffih nah Dugenden herzuzählen find, alle die Spaßmacher, die in 
taujenden von jchlecht und recht gezimmerten Theaterjtücden Gerhart Hauptmann die 
Mufter gegeben haben zu den ganz unleugbar gelungenen Momenten ironiicher Stomik. 
Unfere Großmütter ſchon haben ſich immer entzüct, wenn bei dem jett jo jehr verachteten 
Scribe im „Damenkrieg“ der Präfekt Montrihard den als Diener verfleideten und 
von ihm gejuchten Verſchwörer Flavigneul bejticht, ihm die Geheimniſſe des Hauſes zu 
verraten und ihm beim Ergreifen des Verräters behilflich zu fein. Bei Gerhart Hauptmann 
ift aber diefer Effekt zu einer Kühnheit jonder Beijpiel ins „Sozial-Ethifche” geiteigert: 
— der Amtsdiener — man denfe! ein Füniglicd) preußifcher Amtsdiener vom Müggelſee 
oder „irgendwo um Berlin“, wo der Biberpelz jpielen joll, hält der fauberen Familie 
Wolff das Licht, als fie zu nächtlicher Diebesfahrt den Karren rüftet. Und dieſer das 
Weltweſen bis in jeine myftifchen Tiefen hinab gründlich beleuchtende Witz, der in den 
verjchiedenjten Variationen immer woiederfehrt, ift e8 eben, der Hauptmann neben 
Deinrih Kleiſt den Pla anweiſen joll. Der fümmerlihe Scribe freilih hatte nur 
gerade Geift genug, diefen Wig einmal zu machen. Immerhin erträgt man im Biberpel 
die Hermlichkeit der dee und das Unvermögen, fie an irgend einem Punkte zu vertiefen, 
um des, twie früher immer bei Hauptmann, forgfältig geichilderten Milieus, um der paar 
Menſchen willen, die er mit jeiner liebevollen Objektivität auch für das Unſympathiſche, 
Freche, Banale und jonjtwie eigentlich Unausſtehliche jchildert oder richtiger abjchreibt. 
Und damit ift das Beſte gelagt, was von Hauptmann überhaupt zu fagen ift: er iit im 
Einzelnen, ijt in der Zeichnung von Charakteren anſchaulich in jo hohem Grade, daß allein 
diefer Vorzug die fonft überall zu Tage tretende Unzulänglichkeit für alle die Leute zu 
beritecfen vermag, die vom Theater nicht mehr als angenehme finnlihe Unterhaltung 
verlangen. Angenehm zwar ift vielen die Art diejer Unterhaltung deshalb nicht, weil fie 
fi in diefen Stücken um eine Klaffe unferer lieben Menſchengemeinſchaft dreht, — bei der 
die Annehmlichkeit gemeinhin ihr Ende erreicht, um Leute, denen man im Leben lieber 
zehn Schritte vom Leibe bleibt. Dem Dichter daraus jedoch einen äfthetiichen Vorwurf 
zu machen, mag denen überlafjfen bleiben, die verächtlid von aller Armeleutekunft denken 


Mar Marteriteig, Bom deutſchen Theater. 789 


und ſprechen. Hauptmann wäre trotdem in der That ein ftarfer dramatijcher Dichter, 
wenn er nur überhaupt den Kernpunkt des dramatiichen Schaffens je erfannt hätte. Noch 
nicht die weſentlichſte, aber eine wichtige Seite diefer Kunftthätigfeit ift der Sinn für Diftanz 
und die Fähigkeit, das Andividuelle jo zum Typiſchen zu erheben, daß es dennoch nichts 
von feinem Realismus einbüßt. Dazu muß man fich beim Schaffen von jeinen Geftalten 
löſen fönnen; und Hauptmann Elebt an ihnen feſt. Er fann fich nicht von ihnen fort 
auf eine weitere Entfernung ftellen, fonft müßte er gewwahren, wie er Gefahr läuft, 
felbft den guten Willen feiner Zuhörer zu ermüden. Im „SFriedensfeit“, im „Biberpelz“, 
in „Fuhrmann Henſchel“ fchüst davor die fnappe Form; im „Roten Hahn“ gerät er 
unerträglich in’3 Breite. In jenen Stücken fteht jede Perſon wenigftens auf ihrem 
Platz, ift jede doc notwendig: e8 ftet in diefen früheren Dramen, jedem erfennbar, cin 
Stüd ehrlicher Arbeit. Und da früher Hauptmann auch nod) flug und beicheiden genug 
war, fich immer an die erprobten Stüde ftarfer, wirklicher Dramatifer bei der Linien: 
führung angulehnen, mochte e8 gehen und gelten, jelbft bi8 zum Ausrufen Hauptmanns 
als einen neuen Kleiſt. Hier aber im „Roten Hahn“, bleibt nur noch ein Zweifel 
darüber beftehen: ob e8 das Produft der Angjt, der Not und der Erſchöpfung, — oder 
das de3 Größenwahns ift. Wenn man jo gar nichts mehr zu jagen hat, jollte man 
fchmeigen. Das bekommt jelbft ftarten Dichtern zumeilen vortrefflih. Schiller ſchwieg 
acht Jahre, — dann gab er uns den Wallenftein und damit einen neuen Stil. 

Stleift zürnte dem großen Goethe fein Lebenlang und warf ihm mit vollem Rechte 
die gewiß irrige Dramaturgenthat vor, feinen Zerbrochenen Krug, der auf die einheitliche, in 
einem Atem, möchte man fagen, fi) vollziehende Abwickelung der Handlung geftellt ift, 
in drei Akte und damit den Lebensnerv der Dichtung zerichnitten zu haben. Hauptmann 
aber mutet und zur Auseinanderſetzung eine® auf den erften Blick durchlichtigen 
Charakters, der in einem kurzen Einafter völlig zu erichöpfen geweſen wäre, acht lange Akte 
zu! „Dan langt... man langt nad) was“, find Mutter Wolff-Fieligens legte Worte: fie 
jcheinen mir ein Bekenntnis des Dichterd. Man langt... man langt nach was. Und 
jchreibt da3 Leben ab und wieder ab: das giebt immer diefere Bücher, giebt in jedem 
Jahre eine Aufführung — mit oder ohne Durchfall, aber es giebt im Peben fein Drama 
und feinen Dramatiker. 

War es nicht genug, Frau Wolff und ihre edele Kumpanei als Lüger, Trüger, 
Hehler, Diebe, und fie die wackere Stütze des Ganzen als „ein Weib wie auserlefen zum 
Kuppler: und Zigeunerweſen“ kennen gelernt zu haben? Welchen neuen Strid bringt 
nun im „Roten Hahn“ das bischen Brandftifterei zu dem ſchon überjatten Gemälde 
wohl noch Hinzu? Wenn wir einen nur halbwegs dem Guten überhaupt noch zugäng- 
lihen Menſchen in dem inneren Stampfe fähen: den Anblic des armen, blödfinnigen 
Knaben, auf den klüglich aber auch durch täppiichen Zufall ber Verdacht des Verbrechens 
abgelenft werden konnte, und den feines rohen aber von diefem Jammer doch gebrochenen 
Baters zu ertragen, — oder über den Fluch menschlich = Eurzfichtigen Vergeltungswahns 
in fich zu gehen: — es wäre mwenigftens ein äfthetifcher Inhalt gegeben. Davon ift aber gar 
feine Rede; e8 ift im Gegenteil, und namentlich; im zweiten und dritten Aft ganz erfichtlich, 
daß der Dichter durch das Herbeigerren von Motiven, die ganz bedeutungslos find, von Per: 
foren, die gar nichts mit der inneren oder äußeren Handlung zu thun haben, einen Gedanken 


7% Mar Marterfteig, Vom deutſchen Thenter. 


ausdehnte, bis er, jo gut und jo ſchlecht ed gehen mochte, die vier vorſchriftsmäßigen 
Akte ausfüllte. Hauptmann nimmt meined Erachtens aud) gar feinen Anlauf zur Dar: 
fegung irgend eines zwingenden Zufammenhangs der zeitlihen Erjcheinung mit irgend 
einer dee vom Yeben. Er jchreibt ab; aber aus der Abichrift der Mutter Wolffen 
vom Müggeljee würde auch ein genialerer Dichter nicht entwiceln fünnen, was eine 
moderne deutjche Komödie innerlich beleben müßte: das Ziel eines Lebens über dem Leben. 


Diejes Ziel, von den Religionen uns gewiejen oder offenbart, oder von der Philo— 
ſophie ald GErfenntnis des Weltweſens uns gelehrt, kann in der Kunſt einen Ausdrud 
finden, mächtiger als jene beiden ihn geben fünnen; denn was beim religiöjen Empfinden 
den Glauben vorausfegt und in der Wiflenfchaft der Erkenntnis die Abftraftion, das 
jeßt die Kunſt in den vollen farbigen Schein de3 Lebens wieder um. Mber nicht 
das Yeben, wie es an und für fich ift, bietet die Kunft: nicht die Blume, den Duft der 
Blume giebt fie, der in der nachſchaffenden Bhantafie die Blume förperlicd und doch 
unförperlih nocd einmal ins Leben ruft. Und diefe Schöpferfreude fteigert fih in den 
Schaffenden, wie ein Abglanz von ihr noch den ärmlichiten Kunftempfangenden 
beglücdt, bi8 zu dem Gefühl, daß die Welt etwas ift, was von uns dichteriich neu ge- 
ichaften werden fann, wenn wir die Kraft aufbringen, uns inmitten ihrer Seele zu ver— 
fegen. Den Weg dazu zu mweijen, ift die hohe Aufgabe namentlich de Dramas. 

Und aud die Kunſt zu leben, die glüclicherweife zwar nicht von einem bejonderen 
Talent abhängig, in unferer verichobenen und jo durd; und durch unwahrhaftigen Kultur 
aber äußerst jchwer zu üben ift, fennt ſolche Stunden des Lebens über dem Leben. 
Helljehende find wir dann, elyſiſch Geniegende oder von Dämonen Befejfene — aber 
immer find fie bedeutiam, außerordentlich, diefe Stunden, und wir fühlen in ihnen, dat 
wir einmal mit unferen menſchlichen Organen an das Ewige reichen und mit ihm 
uns berühren. Eo etwa dürfte man den Gefamttitel erläutern, den Arthur Schnitler 
über feine vier im Deutichen Theater zur Aufführung gebrachten Einakter fegt: 
„Lebendige Stunden“. Stunden, in denen wir fühlen, daß wir jelbit unſer Schidjal 
find: die gezwungen-freiwilligen Geftalter unferes Erlebens. Der Anlauf Schniglers, 
jelbft dieje Fleinen Gebilde, an denen er mit liebevoller Sorgjamkeit und fein 
ftimmender Kunſt gearbeitet hat, unter eine dee zu ftellen, die ihnen nicht wie ein 
Stempel aufgedrüdt, oder wie ein Etiquette angeflebt wird, die fie vielmehr hervor: 
getrieben hat, wie alles eigentlich Schöne in der Kunft, das nad) Hebbels Wort „inneres 
Yeben and Licht getreten” ift, muß erfreuen; und beffer, taufendmal beifer thut er, dieje 
feine und aufrichtige Kunft feinem Können gemäß auf beicheidene Einafter zu beichränten, 
feinem Talent die Zeit zu gönnen, bis aud) ihm die „Lebendige Stunde“ zu einer größeren 
That Schlägt, ftatt wie Hauptmann entweder ein zufammengetragenes buntes Märchen: 
gewirre mit allenthalben entliehenen, halb empfundenen Weltanfchauungsfragmenten zu 
galvanifieren, oder aber ein Stück Natur wie einen Eierfuchenteich in die Breite und 
die Länge zu dehnen. Möglich aber ift auch, daß dieje lebendige Stunde ihn ausbleibt 
und daß es dabei jein Bewenden hat, wenn er uns von Zeit zu Zeit geihmadvoll 
unterhält und die grellen Diffonanzen des wirklich gelebten Lebens zu feingeftimmten 
fleinen Walzern, Scherzos und Nokturnos künſtleriſch umkomponiert. Sein Wiener Stück 
„Liebelei“, obſchon es gewiß nichts Neues der dee nach bradte, nachdem das „Alles 


Mar Marterfteig, BYom beutfchen Theater. 79 


verftehen ift alles verzeihen“ nachgerade ein äfthetiicher Gemeinplag geworden ift, durfte 
ihon Hoch eingeihätt werden, weil eine jeltene Kunſt hier nicht das Gefehene ängitlich 
abgeſchrieben hatte, fondern das der Empfindung entftammende, dichterifch erfonnene 
Gebilde mit fo viel reigvoller und in den beicheidenften Linien und Farben gehaltener 
Natur umkleidet war. Schnitler kann uns wieder einmal auf das neidiich machen, 
was Defterreih, was Wien jchon einmal in einer bei und recht toten Zeit in feinem 
Grillparzer vor den anderen Volksſtämmen voraus hatte: das finnliche Element in den dar: 
jtellenden Künften, das Vermögen, auch über die fünftlihen Früchte den Reif zu breiten, 
als wären fie eben vom Stamme gegriffen. Cine joldje, im Volksweſen beichloffene Kraft 
hätte in Defterreich, unter den Kriſen feines nationalen, wirtfchaftlihen und £ulturellen 
Lebens ficher nicht jo Tange lebendig ſich erhalten, wenn nicht trog alledem die Ueber— 
lieferung gerade der fünftlerifchen und beionders der theatraliihen Kultur in Wien eine 
fo reihe und durch mehr als ein Jahrhundert ununterbrocdhene Pflege erfahren hätte. 
Nach dem Fiasko des neureihsdeutichen Naturalismus, trotz des Sturmläutens und 
Klügelns jo vieler halb oder gar nicht talentierten Qeute, bewährt ſich auch hier der 
Eonjervativere Zug der Wiener Schule, die auf Schnikler ftolz fein darf, wie Schnigler 
auf fie ftolz fein fann. Ihre ‚Früchte haben den Reif der friihen Natürlichkeit — 
aber fie. haben auch meijt ein Merkmal der Ueberreife, der beginnenden böfen Fäulnis 
an fih. Man muß fie jo legen. daß man das nicht fieht. Und das trifft ein wenig aud) 
auf Schnigler zu. Einen nur bis jegt, den man von allen Seiten betradten kann, und 
der an allen Stellen gejund ift, haben die Deiterreicher gehabt: Anzengruber. Anzen— 
grubers fittlihe Robuftheit zu Scniglers feinem Talent und wir befämen vielleicht den 
modernen deutſchen Dramatiker, den wir jo ſehnlich erhoffen. 

Den Handlungsinhalt der Schnigler'ichen Einafter joll man nicht erzählen wollen. 
das Was ift da faft gar nichts; das Wie ift alles. Es find eigentlih nur Situationen. 
Im eriten (und ſchwächſten) Stüd ift es der Augenblick, wo der Sohn erfährt, daß feine 
Mutter freiwillig aus dem Leben gegangen ift, um ihm, dem nach Freiheit durftenden 
Künftler die Bahn frei zu machen. Im zweiten Stüd ift es der durch ein Bild blik- 
artig juggerirte Traum eines großen, leidenihaftlichen und tragiihen Erlebens, der ſich 
ſchickſalbeſtimmend für eine unverftandene Frau erweiſt, die nun aud die Tragödie mit 
der heißen Leidenſchaft einem frierenden Leben vorzuziehen fich vafch entichliekt. Im 
dritten Stüd find ed die wie von höherer Macht herangerüdten ftarten, Eonzentrierten 
Empfindungen, die das Yeben bejtimmt, beglüdt oder entjtellt haben, die nun vor der 
Todesſtunde noch einmal in ganzer Kraft lebendig werden. Es find hier die Sole, die 
falichen, die unjeligen Hänge, nad; denen der Menſch als nad) den „legten Masten“ 
(fo heißt das Stück) nochmals mit erjterbender Hand greift. Und im vierten lujtigen 
Satyripiel ift es die unfreimillige Komik, die das Leben als mwitiger Künftler oft dann 
zur Verfügung hat, wenn leichtjinnige, recht Fehlerhafte, aber im Grunde doc moraliſch 
gar nicht zu belangende Menſchen — aus der Bohöme-Welt jenfeits von Gut und 
Böſe — eine übelfte Suppe fid) eingebrodt haben. Yujtiger und mit leichterem be- 
freienden Humor ift die Zigeunerei der Allerneueiten, ift ihr der Moral fich entwindendes 
Flägliches Uebermenſchentum noch nicht verjpottet worden. 


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AREA e88898 


Mufikaliihe Rundſchau. 


Von 
Leopold Schmidt. 


II. 


DD: heurige Stonzertfaifon hat uns in ihrem weiteren PBerlaufe nichts eigentlich 
Neues, Ueberraihendes gebracht. Es waren mwohlbefannte Künftler, die ſich hören 
ließen, wenigſtens ſoweit fie als von Bedeutung hier in Frage fommen, und erft die 
zweite Hälfte de3 Januar verfpricht wieder einige bemerfenswerte Novitäten. Und 
dennoch find gerade die legtvergangenen Wochen in einer Beziehung jehr anregend ge 
wejen, weil in ihnen die klaſſiſche und die moderne Richtung ſich ſcharf gefreuzt und zum 
Nachdenken herausgefordert haben. Die Spannung zwilchen den reaftionären und den 
fortfchrittlich gefinnten Elementen unjerer mufiftreibenden Kreiſe wird immer fühlbarer, 
die Klärung der Anſchauungen über gemwiffe Grundprinzipien immer unerläßlicher, und 
die Auseinanderiekung darüber wird, wie es fcheint, bald wieder in den Bordergrund 
des öffentlichen nterefjes treten. Schon heut fann man wahrnehmen, daß im Publikum 
das Mißbehagen wächſt. Wer viel Gelegenheit hat, Konzertbefucher zu beobadjten und 
zu fprechen, fommt zu einer Sammlung von Urteilen, die oft in jchroffem Gegenjat zu 
dem äußeren Erfolg der Aufführungen ftehen. Die Sehnſucht nad den nerven— 
berubigenden Genüſſen, die der alten Meifter Mufif gewährt, wird immer bewußter mad, 
und gar mancher, der eine Zeitlang ehrlih „mitgemacht“ hat, jchüttelt das Verlangen, 
fi) in die neuefte Tonkunſt zu vertiefen, wie einen läftigen Zwang ab und atmet befreit 
auf, wenn es ihm gelungen ift, fich zu entjchloffener Stellungnahme durdjguringen. Das 
find trübe Anzeihen! Wir müffen uns geftehen, daß wir in einer wenig erquidlichen 
Reit leben, und ſchwer hat es die Kritik, die ja die fommende Entwidelung fördern, 
allem Neugearteten Yiht und Raum erfämpfen joll, deren Stolz es wäre, in auf: 
richtiger Begeifterung für eine große That, eine große Perfönlichkeit eintreten zu fönnen! 
Die Furt vor der Blamage, vor dem Urteil einer jpäteren Zeit und die Erinnerung 
an die zur Vorfiht mahnenden Irrtümer voraufgegangener Epochen dürfen nidjt jeder 
neuen Erſcheinung zu gute kommen; fie verlieren fchließlich auch ihre Macht, wo 
wiederkehrende Eindrüde und Thatſachen ſich geltend machen, die wir uns glauben 
erflären zu fünnen, und jo wird aud; der Wandlungsfähigfte unter Umständen, wenn: 
gleich widerwillig genug, zum laudator temporis acti. 

Wohin die Tendenzen führen, die fich für das Schaffen der jüngeren Symphoniker 
als maßgebend erweilen, zeigte der dritte Strauß:Abend im Neuen Königlichen Opern: 
theater, an dem Guſtav Mahler feine vierte Symphonie dirigierte. Mahler ift zweifellos 


Leopold Schmidt, Muſikaliſche Rundichau. 793 


ernjt zu nehmen; ex ilt einer von den großen Könnern, an denen unfere Zeit jo merk— 
würdig reich ift. Mit Begriffen wie Routine, Technik und dergleihen kommt man ihm 
gegenüber nicht aus; es liegt in feiner Art, ſich mufitalifch zu äußern, eine geniale Be- 
gabung. Was für ein hervorragender Mufifer er ift, hat ja Mahler auch in feiner 
Kapellmeifterthätigkeit zu Hamburg und Leipzig bewiejen, und feine Leitung der Wiener 
Hofoper zeugt von einem organijatoriihen Talente, das mehr als Achtung abnötigt. 
Seine Bearbeitung der von Weber unvollendet hinterlaffenen Oper „Die drei Pintos“ 
ließ erkennen, ein wie entwidelter Sinn für Intimität ihm innewohnt. Diejer feine und 
fluge Kopf verliert fi) nun in feinen ſymphoniſchen Wrbeiten in ein abjtrujes Ton— 
geipinft, deifen Fäden abfichtlid) verworren erjcheinen, das vor lauter interefjanten 
Einzelheiten es zu feiner großen, einheitlichen Wirkung bringt. Man fünnte annehmen, 
wir feien noch nicht reif, diefe Sprache zu verftehen, wenn fie nicht überall da, wo fie 
etwas geradeheraus jagt, zu trivialen Gemeinplägen herabjänfe. Und hier haben wir 
den wunden Punkt, an dem all jene Mufif Eranft, für die Mahlerd Symphonie, 
wenn fie auch ihr Ertrem darftellt, typiſch ift: der Gedanfengehalt fteht in feinem Ver— 
hältnis zu den aufgewendeten Mitteln. Nicht das Neue, Komplizierte an ſich ftört uns; 
wir würden uns daran gewöhnen, uns hineinleben, wenn die Herren uns wirklich Eigen: 
artiges, Hörenswertes zu fagen hätten, wenn ſich aus dem krauſen Wellenmeer der 
Töne ein Harer, großer Gedanke Loslöfte! Dann würde auc der Bergleid; mit der 
Bergangenheit ftimmen, dann künnten fi die Neuerer auf Wagner und Beethoven be— 
rufen, deren neue Epradje ja auch nicht von allen gleich verftanden wurde. Was aber 
gleich verſtanden oder doc) geahnt wurde, war die majeftätiiche Pracht ihrer Gedanken— 
welt, der zu Liebe fich die Art de8 Empfinden und der PVorftellung einer ganzen 
Generation allmählich umgemodelt hat. In wie einfachen, faft Elaffiihen Linien zeichnen 
jih die Wagnerjchen Gebilde ab, vergleicht man fie mit den krauſen Federzeichnungen 
unferer Modernen! Bei den wirklich großen Meiftern findet fi) nie Abfonderliches: 
exit der unerhörte, formiprengende Gedanke jchuf fich neue Ausdrucdsmittel, die durch 
ihn gerechtfertigt find. Yautete doc; ein Ausſpruch des Bayreuthers: man folle fo lange 
in einer Tonart bleiben, bis ein zwingender Grund vorläge, fie zu verlaffen. Sieht man 
dem gegenüber, wie mancher moderne Komponift fein Heil lediglich in dem Wechjel von 
Ton, Takt und Farbe fucht, wie nichts übrig bliebe, entkleidete man jeine Gebilde diejer 
äußerlicyen Reize, jo fann man nicht mehr an eine glückliche, oder auch nur konſequente 
SFortentwidelung glauben. Worauf wir unter feinen Umftänden verzichten, ift und bleibt 
die Erfindung. Ich fage abſichtlich: „Erfindung und nicht „Melodie. Frühere Zeiten 
fahen den Erfindungsmwert eines mufifaliihen Kunftwerfes allerdings vorwiegend in 
feiner melodifhen Linie; das hat ſich injofern geändert, al3 wir aud für die Wir- 
fungen der Harmoniefolgen, der Polyphonie und der thematischen Verarbeitung empfäng— 
licher geworden find. Immerhin muß es etwas Gedankliches fein, das die Phantafie, 
je prägnanter deſto unmiderftehlicher, gefangen nimmt. Man hat gejagt, um den Gehalt 
einer Orcheiterfompofition zu erkennen, müffe man fie auf dem Klaviere jpielen ; alle 
großen Meiſterwerke vertrügen diefe Uebertragung, wie ein inhaltreihes Gemälde noch 
als Photographie wirft. Nun made man die Probe mit der neueften Orcheftermufif, 
und es wird fich zeigen, daß wir fie — wenige Werfe vielleiht ausgenommen — in 


794 Leopold Schmidt, Muſikallſche Rundſchau 


Bezug auf ihren Erfindungsgehalt nit allzuhoch einzuihäten haben. Schwerer jedoch 
wiegt noch der Umftand, daß mir bei den Nachfolgern Liszts wie bei diefem jelbit jo 
häufig auf eine fühliche, im Grunde wenig originelle Melodif oder, wie bei Mahler, auf 
eine durch billige Mittel zu erreichende Volkstümelei ftoßen. Die fonjequente Ber: 
brödelung des mufifalifhen Gedanfens in Fleine, phnfiognomieloje Motive Fönnte 
immerhin noch als die letzte Folgerung des berrichenden Prinzips gelten, wenngleich fie, 
wie auch das übertriebene Spiel mit Orchefterfarben und die Ausnutung der äußerften, 
dem Ohre faum noch erträglichen Klangfülle einem Hauptariom aller Aefthetif wider: 
ftreitet, nach dem das Maßvolle ein notwendiges Attribut des Schönen ift. 

Am gleihen Abend führte Rihard Strauß drei neue Gefänge von Friedrich Röſch 
vor, die Fräulein Plaichinger, die neue Vertreterin des dramatifchen Faches an unjerer 
Dofoper, mit volltönender, aber nicht gerade zu beträchtlicher Feinkunſt erzogener Stimme 
fang. Die Lieder find, ohne fonderlicd originell zu fein, hübſch inftrumentierte, wirkungs— 
volle Tonſtücke. Und doch mußten fie Bedenken erregen, weil das ganze Genre eine 
wenig glüdlihe Bereicherung der Geſangsmuſik darftell. Das mit Orcheſter begleitete 
Lied droht fich einzubürgern wie alles, was der Sucht nad Neuem entgegenfommt, 
aber hoffentlid nicht auf lange. Wenigstens dürfte fich nur felten ein Tert finden, der 
einen jo reichen Begleitungsapparat aus innerer Notwendigkeit verlangt. Die meiften 
Gedichte verlieren dabei ihr Beſtes und werden Fünftlich zu etwas aufgebaufcht, das fie 
doch nicht vorstellen können. Unwillkürlich wird der Komponift beeinflußt und arbeitet 
auf den Effekt, der Sänger aber fieht fich genötigt, feinem Vortrag ftarfe Lichter auf: 
äufegen, und beides ift, zumal bei einfachen Inrifchen Ergüffen, vom Uebel. Bier zeigt 
fi offenbar der Fluch der böfen That, dag man überhaupt angefangen hat, Lieder in 
die Programme großer Orcefterfongerte aufzunehmen. Die Sänger bemerften gar bald, 
daß es eine undanfbare Sache ift, zwiichen einer modernen Tondihtung und einer 
Beethovenihen Symphonie Einzelgefänge am Klavier vorzutragen, und griffen natürlich 
gern nach der effeftvolleren Neuerung. 

Wir jehen aus diefen und ähnlichen Borgängen, daß es um das Stilgefühl nicht 
nur des Bublifums, ſondern aud der Künſtler eigentlih ſchwach beftellt ift. Sonſt 
wäre auch eine andere Neuerung nicht zu erklären, die fait ſchon an äſthetiſche Ber: 
wilderung grenzt. Ich meine die fogenannten „Lebenden Lieder“, die erft unlängft in 
dem neu eröffneten Trianon-Theater Otto Bierbaums wieder auftaudhten und vermutlich 
das Furzlebige Unternehmen überdauern werden. FFranzöfiiche Komddianten (gelegentlich 
des Baftipiels der Pariſer „Roulotte*) haben die dee nach Deutichland getragen. E3 
fiel ihnen zwar nicht ein, Gounod'ſche oder Mafjenet’iche Lieder „lebendig“ machen zu 
wollen, aber nicht ohne einen gewiſſen charme ftellten fie Feine lyriſche Szenen dar, 
deren Sentimitalität gewöhnlich jo unwahr, wie die Art der Wiedergabe war. Man 
hätte ihnen das gelegentlid) ohne Schaden nachmachen fünnen, vorausgefett, daß ſich 
ebenjo paſſende Sachen dafür vorgefunden hätten oder gedichtet wurden. Leider ent: 
widelte fi) aber aus diejer Anregung in unklaren Köpfen die Theorie, daß überhaupt 
das Lied ſzeniſch dargeitellt werden könne und dadurch an Eindrudf gewänne. Cine neue 
Kunftgattung jchien gewonnen und wurde denn auch fofort geichäftsmäßig ausgenukt. 
Unvergeklich ift mir die erfte Probe, die ich davon zu jehen befam. Belannt ift das 


Leopold Schmidt, Mufitalifche Rundſchau. 795 


Bungert'ſche Lied nad) einem Terte der Carmen Splva, in dem uns der Schmerz eines 
einfam in der Nacht vergeblich ihres Gatten harrenden Weibes geichildert wird. Nun 
denfe man ſich auf der Bühne eine Dame in Schwarz, die auf einer Bank fitend mit 
allerhand Körperbewegungen dieſes Lied fingt! Giebt es etwas Lächerlicheres? ein 
größeres DVerfennen der intimften, eigenften Reize einer Sunftgattung? Mas 
uns der Vortrag des Sängers ergreifend vor die Seele führen könnte, ericheint förmlich 
parodiert, und das, worin die geheimnisvolle Kraft aller Lyrik ruht, die Mitthätigkeit 
der Phantafie, wird lahmgelegt. Verwunderlich ift es nur, daß in einer geijtigen Metro: 
pole, in einer Stadt, in der doch fo reichlich) und doch auch fo ernithaft der Kunſt ge- 
opfert wird, dergleichen möglich ift, ja daß fogar ein gewiſſes Intereſſe für folche 
Darbietungen fich regen Fonnte. 

Man braudıt übrigens nicht fo weit herabzufteigen, um den Mangel deſſen zu em: 
pfinden, was wir unter „Stilgefühl” zu begreifen pflegen. Er zeigt fi) jchon häufig 
genug im vornehmen Konzertfaal. Und auch hier wieder ift e8 das Lied, das am meiften 
darunter zu leiden hat, das Lied, das eigentlic) garnicht in den Konzertſaal gehört, das 
jeinen Heimatboden in der Familie, im Haufe hat. Um es in die Deffentlichfeit verpflangzen 
zu können, bedarf es eines feinen Empfindens für die Grenzen, in denen ſich der poetifche, 
Ausdruck zu bewegen hat. Das Lied, im Befonderen das Lied der deutſchen Meifter 
verträgt feine Schauftellung, weder auf der Bühne, noch als Paradeftüdk des Vortragenden 
im Konzerte. Wie wenige aber der unzähligen Liederfänger befiten fo viel dichteriiche 
Kraft, fo ficheres Geftaltungsvermögen, um reine Wirfungen zu erzielen. Die üblichen 
„Liederabende*, in denen irgend eine unintereflante Perjönlichkeit von Zeit zu Zeit aufs 
Bodium tritt, um fi) in mehreren, von einander unabhängigen Stimmungen, womöglich 
in zwei oder drei verfchiedenen Spraden zu produzieren, find ein fünftleriiches Unding, 
find wohl der ſchlimmſte Auswuchs unjeres Konzertlebens. Wir find freilih fo daran 
gewöhnt, daß wir das kaum noc empfinden. Meift ift es ein Zuwenig an Darftellungs- 
fraft, das eine öde Langeweile im Saale verbreitet; in einzelnen Fällen wirft wiederum 
ein Zuviel abftogend auf den feinfühlenden Hörer. Früher waren in diefer Beziehung 
mit Recht die Bühnenfänger im Konzertjaal gefürchtet, jett haben wir auch Liederſänger 
von Beruf, die die Grenzen ihrer Sonderfunft nicht einhalten wollen oder fünnen und 
jo den Geſchmack ungünftig beeinfluffen. Bei aller Berehrung, die man dem ewnften 
Streben und der ehrlichen Künftlerfchaft Ludwig Wüllners ſchuldet, kann man gerade 
ihm nicht von dem Vorwurf freifprechen, ein irreleitendes Beifpiel zu geben. Sein letztes 
Konzert, in dem er vom Slomponiften begleitet ausjchlieglich Lieder von Richard Straufz 
jang (mie er in dem vorhergehenden joldhe von Brahms gewählt hatte), berechtigte aufs 
neue zu diefem Ausſpruch. Wüllner will meift zu viel geben. Bei ihm ift es, obgleich 
aud) er von der Bühne gekommen, nicht die Sucht, drantatifch zu wirken, was ihn 
zur llebertreibung des Ausdrudes verleitet; es ift vielmehr ein Uebermaß an Leiden: 
Ichaftlichkeit, das ihn beherricht, das Verlangen, das im Yiede Schlummernde reſtlos zu 
enthüllen, und nicht zum wenigſten fein ftimmliches Unvermögen. In dem vergeblichen 
Ringen mit feinem Organ, dem er das Möglichite abzutrogen fucht, fieht er fich genötigt, 
zu den Ausdrudsmitteln der Deflamation und des Minenfpieles zu greifen. Im Liede 
aber ift es doch immer nur der innerlid; belebte, bei aller Charakterifti frei und ſchön 


79% Leopold Schmidt, Mufikalifche Rundſchau. 


gebildete Ton, der dem Hörer den vollen, ungetrübten Genuß erſchließt. Selbft die 
bedeutende Suggeftionskraft, die Wüllner unleugbar ausübt, vermag nur zuweilen dar— 
über hinwegzutäufchen. Geradezu unleidlich aber wirfen diejenigen, die es ihm nachmachen 
möchten, ohne die gleiche nnerlichkeit, das gleiche tiefpoetiihe Empfinden zu befiten. 

Unter den Sängern, die in diefem Winter an uns vorbeigogen, waren es bisher 
wiederum Lilli Lehmann und Raimund von zur Mühlen, denen man die Palme zu— 
ſprechen muß, die, troßdem fie ftimmlich fich nicht mehr auf der Höhe befinden, die 
echtefte Liederkunft vertreten. Eine junge Sängerin ift auf dem beftem Wege, fich ihnen 
als Lyriferin im großen Stile an die Seite zu feten. Therefe Behr hat an zwei 
Abenden, die fie im Beethovenfaal gab, gezeigt, daß fie jomwohl an Bertiefung des Aus— 
druds wie an Selbftändigfeit des Geftaltens noch bedeutend gewonnen hat. hr edler, 
weicher, freilich in Umfang und Fülle des Tones etwas beſchränkter Alt ift ein gefügiges 
Drgan, dem es nur bei Sraftftellen an dem wünfchenswerten Glanz gebridt. Ahr 
Bortrag ift bis ins Einzelne durddadt; aber die Antelligenz, mit der fie ihre Mittel 
verwendet, würde nicht halb den Eindrudf machen, wenn ihr Gejang nicht zugleich auch 
die mufifalijch-poetiche Seite fo lebendig hervortreten ließe. Die Wiedergabe der Schu: 
mannſchen „Dichterliebe* war in diefer Beziehung meijterhaft. Ausdrucksvoll bis zum 
Ergreifenden und dabei doch maßvoll, jo geftaltete Thereje Behr den Bortrag und wahrte 
dem Liede das, wodurd; ed am tiefiten auf uns wirft. Cine andere Altiftin, Lulu 
meiner, darf in demjelben Sinne gerühmt werden. Aus ihrem Gejange, der fich einer 
wacjenden Beliebtheit erfreut, jpricht ein lebhaftes Temperament; ob fie Ernftes oder 
Deitered, Stlaffiihes oder Modernes giebt, es ift alles von einem geläuterten 
mufifaliihen Geſchmack geleitet. Starke, aber verhaltene Empfindung, die zu 
dem jeltfam verjchleierten Klang feines ungefügen Baſſes paßt, die aber gelegentlich um 
jo gewaltiger hervorbricht, verleiht dem Liedgejange Hermann Guras jeine Wirfungsfraft. 
Aud er gab einen Ridard Strauß: Abend und machte und mit einigen der felten 
gejungenen Lieder diejes Stomponiften befannt. Als Vertreterin des Ziergefanges feierte 
in einem Nikiſch-Konzerte die Dresdener Primadonna Erifa Wedekind Triumpbe. Ihre 
phänomenale Höhe und Koloraturgewandtheit, vor allem der tadelloje Triller erregten 
die Bewunderung und den Neid der Berliner. 

Unter den Inſtrumentiſten waren die hervorragenden Geiger diesmal nicht jo 
zahlreich wie im vergangenen Winter. Zwei Franzoſen, der elegante Henri Marteau 
und Joſeph Debrour find als die Bedeutendften zu nennen, abgejfehen davon, daß man 
die Freude hatte, Joachim außer an feinen Uuartettabenden auch mehrmals joliftiich 
in Konzerten zu hören. Debrour interejfierte hauptfächlicy durch feine Programme, in 
denen er eine Reihe jonft nie gehörter Biolinfonaten des 17. und 18. Jahrhunderts von 
franzöfifchen und italienischen Meiftern zu Gehör bradıte. 

Um fo reiher waren die Darbietungen auf flavieriftiichem Gebiete. Unter den 
Pianiften diejer Saiſon finden wir die glängenditen Namen, wie Eugen d’Albert, Emil 
Sauer, Terefa Carreño u. A. Leopold Gödomwsty, der ſich gleich bei feinem eriten Auf: 
treten in die vorderite Reihe geftellt hat, befeftigte feinen Ruf ſowohl als Solift eines 
der großen Philharmonifchen Konzerte, wie in zwei eigenen Klavierabenden. Godowski 
ift jo zu jagen eine Spezialität. Das enorme techniſche Können, in dem er wohl feinen 


Leopold Schmidt, Muſikaliſche Rundichau. 797 


lebenden Rivalen befigt, ift bei ihm von allem Sraftmeiertum befreit. Die zierlichen 
fleinen Hände gleiten über die Taften und überwinden die raffinierteften Schwierigfeiten 
mit unfehlbarer Sicherheit und dabei ganz unauffällig. Diejer wahrhaften Eleganz 
des Spieles entipricht ein feinfühliges mufifalifches Naturell, das alle frafjen Wirkungen 
ängftli” vermeidet. Godowsky ift feiner von den genialen Interpreten, die durd) 
Temperament und kraftvolle Darftellung hinreißen; aber jein Klavierſpiel feſſelt durch 
Vollendung und Geihmad. Cine rege Phantafie befundet fi) in den ganz originellen 
Kombinationen Chopinſcher Etüden. Iſt dies mehr Spielerei als eigentliche Kunft, jo 
find Bearbeitungen wie die der Weberfchen „Aufforderung“ als geradezu unfünftlerifch 
aus dem Sonzertfaal zu weilen. Man darf nidyt daran denfen, wenn man des fonft jo 
geſchmackvollen Mannes froh werden will. 

Einen vortreffliden Eindrud binterliegen die Konzerte, mit denen fi der in 
Frankreich und Belgien hochgefchätte Arthur de Greef bei uns einführte. Seine Stärke 
liegt in der Darftellung moderner, im bejonderen frangöfiiher Werke. Saint Sa&ns 
G-moll-Konzert von ihm zu hören, war eine wirfliche Freude, jo ſauber und glänzend 
war die techniiche Ausführung, fo geiftreidh und ſchwungvoll zugleid; der Vortrag. Aus 
der Schar der übrigen feien ſchließlich noch zwei Anbdividualitäten herausgegriffen, die 
den denkbar größten Gegenjag zu einander bilden. Die Münchener Pianiftin Frau 
Langenhan-Hirzl kann ihr Temperament nicht bändigen, jobald fie den Flügel berührt; 
mit einer Leidenjchaftlichkeit, die nie ihren Reiz verfehlt, ſtürmt fie dahin und darf ſich 
dabei auf ihr ficheres Können verlajjen. Arthur Schnabel im Gegenteil wei ſich troß 
feiner jungen Jahre jo völlig zu beherrichen, daß ihn ſelbſt die Deffentlichkeit nicht in 
jeinem Hang zur Grübelei ftört. Mit einer föftlihen Zurüdhaltung führt er feine Ab- 
fihten am Flügel aus, bereitet er alle Effekte vor und ſchwelgt in dem Zauber jeines 
Jammetweichen Anfchlages. Sein Können, das muſilaliſche wie das technifche, ift ſchon 
jet ein ungewöhnliches. Man hegt nur den Wunfch, daß er mehr aus fich heraus: 
treten, fich mehr gehen laffen möchte. Gelingt ihm dies, fo wird Arthur Schnabel nod) 
bon fich reden machen. Es ſteckt Schöpferfraft und finniges Poetengemüth hinter diefer 
Berichloffenheit, das fühlt man aus jedem Ton heraus und aus dem Ernst, mit dem der 
junge Künſtler fi in feine Aufgaben vertieft. 

Während die Berliner Hofoper von den angekündigten Novitäten bisher nur Alfred 
Sormanns ſchwächliche „Sibylle von Tivoli” herausgebradt hat, im Friedrih Wilhelm: 
ftädtiichen Theater dagegen eine luftige Operette von Bictor Holländer („Der rote 
Koſak“) fich eines freundlichen und, wie es jcheint, nachhaltigen Erfolges erfreut, hat 
inzwiſchen in Hamburg die vielbeiprochene Oper „Louife“ von Charpentier ihren Einzug 
gehalten. Bielleiht haben mir ſchon bald Gelegenheit, und mit dem Werfe, das jeiner 
Zeit in Paris fo viel Auffehen herborrief, näher zu beichäftigen. 


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Der elektrildie Schnellbahnwagen. 


Von 


Paul Beyck. 


De Studien-Geſellſchaft für elektriſche Bahnen hatte den Firmen Siemens & Halske 
und der Allgemeinen Elektricitäts-Geſellſchaft die Aufgabe geftellt, je einen eleftrijchen 
Schnellbahnwagen zu bauen, um damit die erften grundlegenden Verſuche auf der König: 
lichen Militärbahn Marienfelde—Zoffen bei Berlin zu maden. 

Bereitd im Jahre 1899 hatte die Firma Siemens & Halske auf ihrer Probeſtrecke 
an der Teltowerjtraße die für die Entwidlung der eleftriidhen Fernbahnen ungemein 
wichtige Erfahrung gemacht, daß es möglid) jei, hochgeſpannten Wechſelſtrom durd 
Schleifbügel direkt dem fahrenden Wagen zuzuführen. In Deutſchland war man bislang 
zu dieſer Frage noch nicht gedrängt worden, denn die üblichen Straßenbahnen mit ihren 
kleinen Entfernungen fommen mit Gleichſtrom von 500 Bolt Spannung aus, und wo 
ein foldhes Straßenbahnnek weiter ausgebaut ift und bon mehreren Sraft-Gentralen 
aus gefpeift wird — wie z. B. in Hannover — benugt man zwar hochgeipannten Wedel: 
ftrom in Form von Drehftrom zur Fortleitung der eleftrijchen Energie längs der weiten 
Außenftreden, formt diefe aber in paflend gelegenen Unterjtationen mitteld laufender 
Maſchinen in Gleichſtrom von 500 Volt um und führt fie in diefer Form durd) den Fahr: 
draht und Scleifbüigel den Wagenmotoren zu. Bei langen Bahnjtreden, wie dieje für 
die Schnellbahnen in Betracht fommen, würde diefe Ummandlung in Gleichſtrom zu 
umſtändlich und Eoftjpielig werden, und jo waren denn die erfolgreichen Verſuche mit 
direkt zugeführtem hochgeipannten Drehſtrom ungemein wertvoll und bewirften, daß 
diefe Form der elektriichen Energie von der Studien:Gejellihaft dem Betriebe der neuen 
Probewagen zu Grunde gelegt wurbe. 

Drehftrom (dreiphafigen Wechfelftrom) wählte man, weil die Drehftrommotoren 
große Vorzüge vor den mit ein- oder zweiphafigem Wechſelſtrom gejpeiften Elektromotoren 
haben. Ferner war leitender Grundjag, einzelne jelbftändig fahrende Wagen zu bauen, 
alfo nicht Lokomotiven mit Anhängern, jondern Wagen, die nad) Art der Straßenbahn: 
wagen neben den Motoren und Apparaten die Räume für die Pafjagiere enthalten. 

Die von der Studien-Gefellihaft geftellte Aufgabe lautete etwa: Verlangt wird 
ein Wagen, der bei einem Faſſungsraum von etwa 50 Perſonen und einem Höchſtgewicht 
von 96 t eine Fahrgeichtwindigkeit von 200 bis 220 km in der Stunde erreicht; die 
eleftriiche Straft wird in den Fahrleitungen als dreiphafiger Wechielftrom mit einer 
Spannung von 10000 Volt zwiſchen je zwei Leitungen zugeführt. Der Wagen erhält 
zwei dreiachfige Drehgeftelle und muß von jedem Ende aus bedient werden fünnen. 

Beide Firmen haben diefe Aufgabe unabhängig don einander gelöft und haben, wo 
die Unterlagen und Erfahrungen für eine Stonftruftion fehlten — und wo fehlten dieſe 


Paul Heyd, Der elektrifche Schnellbahntwagen. 7% 


bei dem durchaus neuen Projekt etwa nicht — umfangreiche Verſuche und Studien 
gemacht, um zuverläffige Unterlagen für die Berechnung und Konftruftion zu erhalten. 

Da ift zunächſt der Kraftbedarf des Wagens. Nach den im Eifenbahnbetriebe 
geiammelten Erfahrungen war von vornherein anzunehmen, daß der Luftwiderftand, den 
das Fahrzeug bei voller Fahrt zu überwinden hat, den Hauptteil des gejamten Be- 
wegungswiderftandes ausmachen würde. Die im Eifenbahnmwefen dafür benugten Formeln 
fonnte man für diefe hohe Gejhwindigkeit nicht mehr anwenden. Es wurden darum 
Berjuche über die bei ſolcher Geſchwindigkeit auftretenden Luftwiderftände gemacht mit 
im Kreiſe bewegten Flächen und Körpern und daraus ein Hraftbedarf von etwa 1000 PS 
berechnet. Dieje Leiftung wurde der Beredinung der Motoren zu Grunde gelegt und 
dabei gefordert, daß diefelbe bis auf 3000 PS vorübergehend gefteigert werden kann. 

Zum Vergleich ſei erwähnt, daß eine Schnellauglofomotive der Staatsbahn bei 
einer Gejchwindigfeit von 90 km in der Stunde etwa 600 bis 700 PS entwidelt. 

Durch die gejtellte Aufgabe und das technifch Gegebene ſowohl als auch durch die 
Rückſicht auf abjolute Sicherheit der Paſſagiere, ſowie die Notwendigkeit, bei geringftem 
Materialgewicht und Raunbedarf große Kräfte zu entfalten und zu regeln, haben beide Aug 
führungen des Wagens eine gemeiniame Grundidee erhalten, die etwa die folgende iſt: 

Der hochgeipannte Drehitrom, der in drei übereinander angeordneten, etwa 11 mm 
jtarfen Kupferdrähten an der Strecke jeitlih entlang geführt ift, wird dem Wagen 
mitteld Schleifbügeln vom Dache aus zugeführt. Diejer hochgeipannte Strom ift zur 
Arbeitsleiftung diveft nicht geeignet, jondern wird durd Transformatoren — ruhende 
(nicht rotierende) Apparate aus Eifenblechen mit zwei Kupferdrahtwidlungen — in Dreh 
ftrom von niedriger Spannung umgeformt und in diefer Form den vier Motoren zu: 
geführt. Diefe find direft auf die vier äußeren Achfen der beiden dreiachfigen Dreh: 
geftelle aufgejegt und treiben jomit ohne jede Uebertragung die Laufräder des Wagens 
an. Entſprechend der geforderten Gejamtleiftung bon 1000 bis 3000 PS hat jeder Motor 
250 bis 750 PS zu leiften. Die Gejchwindigfeitsregelung der Motoren und damit aljo 
die der Fahrgeſchwindigkeit erfolgt durch Widerftands-Regulatoren, jog. Anlaffer, die von 
jedem Ende des Wagens aus bedient werden fünnen. Alle Teile find möglichjt leicht 
ausmechjelbar und jedes Drebgeftell ift unabhängig vom anderen zu bethätigen, ſodaß 
beim Schadhaftwerden eine Teiles der Ausrüftung der andere noch betriebsfähig bleibt, 
aljo zwei Süße von Apparaten, mithin zwei Stromabnehmer (Scleifbügelfyfteme), zwei 
Transformatoren, zweimal zwei Motoren mit je einem Anlafier. Alle Apparate find 
gegen das Berühren von feiten des Publikums gefichert, find mithin entweder in einem 
bejonderen Upparatenraum und unter dem Wagen angebracht oder fämtlih unter dem 
Wagenboden und hinter den Siten in den Längswänden des Wagens angeordnet mit 
möglichft gleihmähßiger Verteilung der Gewichte. Da die Transformatoren, Motoren 
und Anlaffer mit Rückſicht auf geringes Gewicht jo klein wie möglich gemacht wurden, 
jo erwärmen fie ſich ftarf und müfjen gefühlt werden. Es lag nahe, hierzu die durch 
die Fahrt entitchende Zugluft zu benugen, und dies ift auch in ergiebiger Weife durd) 
Anbringung von Kühlſchlitzen und Windfängen geichehen. 

Auch die Äußere Form und Größe der ganzen Wagen, deren mechanischer Teil 
von der Firma van der Zypen und Eharlier in Cöln geliefert wurde, und die im ganzen 


800 Paul Heyck, Der elektrifhe Schnellbahnwagen. 


einem D-⸗Zug Wagen gleichen, iſt einander ziemlich ähnlich; der Wagenkaſten iſt etwa 
22 m lang und 2,6 bezw. 2,8 m breit und hat für 50 Perſonen Sitzplätze. Er hat ver— 
ichiedene Abteilungen, die durch einen Längsgang mit einander verbunden find. Für gute 
Ventilation ſowie für reichlihe Erhellung durd viele Fenſter an den Seiten und 
Stimmänbden und elektriſche Beleuchtung ift gejorgt. 

In allen Konftruftionseinzelheiten, vom Stromabnehmer an bis zur Federung der 
Uintergeftelle hinab find die beiden Wagen durchaus verichieden. Wejentliche Unterjchiede 
liegen in der Höhe der den Motoren zugeführten elektriihen Spannung, die bei dem 
einen Wagen 435 Bolt, bei dem anderen je nad) der Schaltungsart 1150 bezw. 1850 Bolt 
beträgt, und in der Art der Regelung der Motoren. Während die eine Firma leicht 
bewegliche Anlaffer mit umlaufender Flüffigfeit benust, die vom Wagenführer durch ein 
Dandrad eingeftellt werden, benußt die andere Firma eine eiwaß ſchwerere Konftruftion, 
Anlaffer mit Widerftandsbleden und Schaltwalzen, deren Bethätigung von Hand für 
den Führer auf die Dauer eine zu große Anftrengung fein würde. Da nun für die 
Bremjung der Wagen neben der mechaniſchen und elektrischen Bremſe eine Yuftdrud- 
bremfe (wie bei den Staatsbahnen) vorgejchrieben ift, jo wird bier dieje Luftdrudanlage 
zugleih zur Schaltung der Anlaffer benugt mit Hülfe von Preßlufteylindern und 
Bahnftange. 

Bei beiden Ausführungen find alle zur Steuerung des Wagens erforderlichen 
Apparate am FFührerftande am jeweild vorderen Wagenende vereinigt. 

Für die Erfahrungen, die man an dieien beiden, unter gleihen Bedingungen und 
für die gleihen Anforderungen mit fonftruftiv gänzlich verfchiedenen Mitteln erbauten 
Wagen wird machen fönnen, ift diefe VBerjchiedenheit und die Möglichkeit des Vergleichs 
von hohem Werte. 

Die Fahrverfuche felbft find laut Mitteilung der Studien-Geiellihaft an die 
Elektrotechniſche Zeitichrift feit Anfang September auf der obengenannten 23 km langen 
Probeſtrecke Marienfelde—Zoffen im Gange. Yängs der Strede find die drei Hoch— 
fpannungsleitungen in einer Höhe von 5,5 bis 7,5 m über dem Boden gezogen, durd) 
hölzerne Maften geftügt. Die elektriihe Energie wird ihnen vom Elektricitätswerk Ober: 
Schöneweide zugeführt. Die Verſuche fanden zunächſt unter Vorſpann einer Yofomotive 
ftatt, um die Wagen einzufahren. Dann wurde mit dem eleftriichen Fahren begonnen 
und, anfangend mit 60 km pro Stunde, nad und nad) eine Geſchwindigkeit von 160 km 
pro Stunde erreicht. Die Verſuche find bislang durchaus günftig verlaufen, und alle 
elektriſchen Apparate ſowie die Wagen jelbft haben ſich vorzüglich bewährt, ſodaß in 
diefer Beziehung die Anwendung noch höherer Geſchwindigkeit ganz unbedenklich ericheint. 
Dagegen wird ber übrigens gute Oberbau der Probeſtrecke für eine ſtärkere Inanſpruch— 
nahme nicht für genügend widerftandsfähig erachtet und eine Verſtärkung des Gleijes 
und Berbefferung der Bettung ift erforderlich, bevor die Fahrverſuche mit höherer Ge 
ſchwindigleit fortgeſetzt werden können. 


Neuerfcienene Büer für ai Büceridbau bitten wir an die Verla agsbudbandiung einfenden zu 
Beiprehungen behält ſich die Reda 
Aachdruck vert u. _ ade Redite, in insbefondere bas ber Ueberſenung, vorbehaltın. 


Berlag von Alerauder "Dunder, Berlin W.35. — Drud von vn d. ©. ©. Hermann in Berlin. 
Für die Rebaktion verantwertlih: Dr. Aulius Lohmener, Berlin: Charlottenburg. 





Eine gute Zeitschrift dürfte nicht an« 
steben auch entgegengefetzte heinungen 
patriotischer fBänner verschiedener Partei- 
richtung einem gebildeten Leser zu bieten. 


Paul Pfitzer, 1851. 


Inbalt des Märzbeftes. 


(Motgcdrungene Benderungen vorbcbalten,) 


Julius Lohmeyer: Den Deutschen in Nordamcrika. 

Dermann Beiberg: Die beiden Hakes. Novelle. 

Julius Stinde: Schwester Rain. Pumoreske. 

Wilhelm Münc: Nationale Erziehung. 

Adolf Stern: Ibsens Weltanschauung. 

felix Dabn: Drei Weihnachten. 

Karl Tanera: Wie müssen wir mit den Chinesen verkehren? 

Erich Mards: Neues aus Bismarck’s Werkstatt. 

Karl Scheffler: Bildende Kunst der Gegenwart. 

Carmen Sylva: Dichtung. 

€. von der Brüggen: finanzielle Nöthe in Russland, 

Wilhelm Bode „Öoethe’s Lebenskunst“, besprochen von Herm. von Blomberg. 

Dans Schliepmann: Deutscher Geschmack und die Mode. Eine Zeitpredigt. 

R. H. Ziese: Betrachtungen über die Entwicklung der Industrie und über Ingenieur- 
Erziehung. 

Theodor Schiemann: Monatsbericht über auswärtige Politik. 

Xlilhelm von Massow: Monatsbericht über innere Politik. 

Paul Debn: Wleltwirtschaftliche Umschau. Monatsbericht, 

" Deutschtum im Auslande. Monatsbericht. 

Max Martersteig: Die deutsche Bühne. Monatsbericht. 

Karl Busse: Neuere deutsche Dichtung. Monatsbericht. 

Leopold Schmidt: Musikalische Rundschau. ’ 

Bücherschau: Besprechungen von Oscar Wleissenfels, Bauaf. Delmolt, Otto 
Siebert, Carl Berger u. a. 





18 16 
Einzelheft Abonnement: 
30 Pfge. 3 MIR. 25 Pig. 

% 16 

Bufgabe der Zeitichrift iit die Verbreitung 

der Kenntnilfe über uniere und fremde 

« Ärmeen - - - Marinen · - - Kolonieen - 

Länderkunde und überleeilhe Intereiien, 

ferner Waller-, Reit- und Jagdiport usw. 
Reich Probeheite Skizzen, 

Ilhufteterte Buflätze koitenfrel * Novellen, Romane 


Boll & Pickardt, Derlagsbudihandlung, Berlin NW. 7, Georgenstr. 23, 


— 





Deutfche Monatsichrift 


für dasgesamteLrben der Gegenwart 


/ \\ 








7 
HERAUSGEGEBEN VOR 
JULIUS LOAMEYER 


BERLIN 
VERLAG ALEXANDER DUNCHER 


I. Jahrgang. März 1902, Heft 





Jahrgang 1901/2. Inhalt des Märzheftes. Beit 6. 


Deutſche Monatsichrift 


für das geiamte Leben der Gegenwart. 
Berausgegeben von Jullus kohmeyer. 





keitiprucd von Friedrich, Großherzog von Baden . » 2 2 2 m nenn nen. BI 
Bermann Belberg: Die beiden Bakes » - : 2 m m nn ne rennen. 
Zulius Stinde: Scweiter Kain .. . en a ge —— san; 27808 
Zulius kohmeyer: Den Deuticen in Nordamerika a ee u re ne, I 
Wilhelm Monch: Nationale Erziehung . . N a a ee are we wen —— 
Ausiprüde aus „Gelitige Walfen“ . . . rn 333, 863 
Erlch Marcdes: Neues aus Bismarcks Werkstatt. Em Bericht Gchiuh DEE BE . 84 
Bismark-Ausiprühe . . . » : en nn. 849, 880, 948 
Adolf Stern: Iblens Weltankhauung. erh De Ra ET at 
Carmen Sylva: Weltminiter Ubbe. .. 86 
fellx Dahn: Drei Weihnehlen. - - » > ce 2 a sa aan er 3882 
kudwig Shemann: Franz Xaver Kraus . . . 864 
Beinrih Dade: Die Probleme der deutichen Wirtihaftspolttik für "Landwirtichaft und Induftrie 871 
Karl Tanera: Wie müllen wir mit den Chineien verkehren?! . . .. » er BE 
Iohannes Trojan: Dütichen. . . En re ee ee ee van es, ee are re 
Hans Schliepmann: Seſchmack und Mode ig a ee 6 
3ohannes Trojan: kadende Armut. . . ae a re ee rare OR 
Wilhelm Bode, Goethes Lebenskunit. Beiprodien von Bermann von Blomberg . . . . . 895 
Theodor Schiemann: Monatsihau über auswärtige Politik -» » 2 nr nn nn MR 
W. von Maflow: Monatsikhau über innere deutiche Politik. - > = 2 2 m en nun. 8 
Paul Dehn: Weltwirtichaftlidie Umihau . . . RE || 
Paul Dehn: Deutihtum Im Huslande... 27 
Earl Buife: kitterariiche Monatsberihte. VL. . a ee ee 
Georg kang: Sprüche aus „Tand für Künltterhand“ TE EEE 669 
fritz blenhatd: Dom deutſchen Theater. © > 2 2 2 m m nenn 
keopold Schmidt: Mulikaliihe Rundihau. IV. . . a 99 
Rudolph Sohm: Ein Wort der Abwehr. Der „Kreuzzeltung" und der "„Kölnlichen Volkszeitung“ 
gewidmet . . 220.0. 955 
Büdierihau von ono Siebert, Karl Berger, 8 . Selmolt, Ernit Franke ud... 97 





Die „Deutidıe Monatsichrift” ericheint in Heften von 160 Seiten Umfang 
zu Beginn jeden Monats. Der Abonnementspreis beträgt: 

vierteljährlich im deutichen und öfterr.-ungar, Poitgebiet . . ». . Mk. 5,— 
u im Weltpoitvereins-Gebiet . © 2 2 oe ee em 625 
jährlich im deutichen und ölterr.-ungar. Poitgebit . x 2 2 22 u D,— 
„ Im Weltpoitvereins-Gebit . - © 2 2 2 2 sn es 28,— 
Der Preis einzelner Seite Mk. 2,—; im Weltpoitvereins-Gebiet „ 2,50 
Die „Deutiche Monatsichrift“ iit zu beziehen durdı die Buchhandlungen des In- 
und Auslandes, die Poitanitalten (Poitzeitungsliite für 1902 Tlo. 1895) oder die 

Expedition, Alexander Dunder, Berlin W.35, kütowitr. 43. Prospekte gratis. 


äEAAEECEEAGĩBSGäALAGSESEE 


Jedwedes Dartetweſen muſz vermieden 
werden, Das nicht auf nationaler Grundlage 
tubt, und Diefe beift; Erbaltung Des 
Reihbs, Unterftützung des Kaifers, 
Einbeitlibkeitdes bDeeresunddamit 
Erbaltung der Kraftder Bation. 


Friedric, Grofsberzog von Baden. 


Die beiden DHakes. 


Don 
Hermann Beiberg. 


con dadurch unterjchieden jich die Zwillingsbrüder, die beiden Herren Amts» 

gerichtsrat Karl von Hake und der Regierungsrat Wilhelm von Hafe in 

der Provinzialregierung3-Hauptitadt Wisborg von anderen Yunggejellen, daß 

fie nicht gerade dann etwas Anderes, jehr Wichtiges vorzuhaben erklärten, wenn 
man ihre Mitwirkung bei irgend einer Gelegenheit erbat. 

Es jei nämlich, hatte einjt die unverheiratete Baronejje Ernejtine von Euler 
erflärt, eine bei unverehelichten, über die gewohnte Heiratszeit hinausgetretenen 
Herren allgemein zutreffende Erjcheinung, daß fie eine ganz außerordentliche 
Scheu davor bejäßen, ſich irgendwie zu binden oder ſich die einmal von ihnen 
vorgenommenen Pläne ftören zu lafjen. Es bilde ſich bei den Junggeſellen all- 
mählih nicht nur eine gewaltige Scheu vor einem Zwange heraus, fondern fie 
übertrügen jie in einer Weile in die Praris, daß man an ihrer Bekanntichaft 
mit guter Lebensart wirklid; bisweilen zweifeln könne. 

Alfo, wie gejagt: Die beiden Herren von Hakes machten eine rühmliche 
Ausnahme, und jo war e3 aud; verjtändlich, daß bei den Weberlegungen von 
feiten der Familien, wer eingeladen werden folle, der Sat faft ein geflügeltes 
Wort geworden war: „Natürlich die beiden Hakes!“ 

Auf fie rechnete man ficher, und man Eonnte ihrer Zufage gewiß fein. Und 
„die beiden Hakes“ hießen fie nun ſchon feit der Zeit, wo Mütter von jungen 
Töchtern noch auf einen Antrag der beiden liebenswürdigen, feingebildeten, alle- 
zeit eine angenehme Atmoiphäre um fich verbreitenden Herren gewartet hatten. 

Auch diefe Bemerkung über Hafes ftammte von der den Perfonen und 
Dingen ftet3 den richtigen Namen gebenden Baronefje von Euler. 

Auch Ermneftine, Baroneffe von Euler hatte die übliche rechte Zeit zum 
Heiraten verpaßt. Doch gehörte fie, ebenjo wie die beiden Hafes, nicht zu denen, 

51 


802 Hermann Heiberg, Die beiden Dates. 


die ſich infolgedeilen allerlei unliebjame Eigenjchaften aneignen. Sie ſchaute mit 
Elarem Auge in die Welt, war gütig und nachfichtigen Sinnes und äußerte jcherzend, 
daß ihre Füße zu Klein geraten feien, um in die Ehepantoffeln zu jchlüpfen. 

Es war allerdings garnicht verjtändlich, daß die Männer fie gerade über: 
jehen hatten. Sie war die Tochter des verftorbenen Hofchefs des Herzogs von D., 
bejaß ein jehr anfehnliches Bermögen, ein reizendes, eigenes Haus an der Ede des 
Schloßgartens, und war, wie alle Welt beobachtete und auch ihre Dienftboten 
bervorhoben, niemals übler Yaune. Das deutete außerdem auf eine vortreffliche 
Sefundheit hin, denn Menichen, die Launen hatten, — fo hatte fie ebenfalld ge: 
äußert — ſäße der Magen im Gehirn, ftatt am rechten Plat. 

Die beiden Hakes waren die Söhne des in Wisborg verftorbenen Klofter- 
ſyndikus von Hake. Der alte Herr war nicht nur äußerlich ein vollendeter Kavalier 
geweſen, fondern auch ein Mann mit einer ungemein vornehmen Gefinnung. 

Die beiden Söhne gliden ihm, und glichen in ihrer äußeren Ericheinung 
Mitgliedern der Diplomatie. Ihre glatten Gefichter zeigten Antelligenz und 
Bonhomie. Sie trugen tadellos fiende Anzüge und blendend weise Wäſche; nie 
jah man fie ohne jogenannte Beinfleiderftege. So wurden die jchmalen Leder: 
oder Stoffriemen genannt, die zu der Zeit Mode waren, in der fich dieſe Ge- 
ichichte zutrug. 

Karl von Hake war ein Meifter auf dem Klavier. Er jpielte wie ein 
Künftler, während Wilhelm, wie Fräulein von Euler einmal gejagt hatte, un- 
mufifalifcher fei als ein alter Teichfroſch. Aber in der feinen Art ihrer Lebens- 
führung, in ihren Grundfägen, fich niemals unberufen in die Angelegenheiten 
ihrer Nebenmenschen zu mifchen, in ihrem ſtets gleichbleibenden Maß und ihrer 
ausgefuchten, aus dem Herzen kommenden Höflichkeit waren fie fid) völlige Eben- 
bilder. Nur in einer einzigen Hinficht unterjchieden fie fih von einander. Der 
Amtsgerihtsrat Karl von Hake war ein vorzüglider Daushalter, während 
Wilhelm nichts weniger ald auf den Grofchen adhtete. 

Er würde es, wie es ihm noch kürzlich die Baronefje von Euler ins Geficht 
gejagt hatte, ſtets wie der einſtige König von Dänemarf machen. Als diejer 
nach einem enormen Spielgewinn in einem fremden Fürftenhof aufitand, um 
nunmehr zum Souper zu jchreiten, geriet der Tijch durch Anftoßen eines der Mit- 
glieder derartig in Schwanken, daß die von dem König noch nicht eingeftedten 
Haufen goldbligender Kouisdors ſämmtlich auf die Erde vollten. 

Aber jtatt deren Aufheben zu befehlen, jchritt der König ohne Aufenthalt 
weiter, und fchnitt alle Erörterungen über den Borfall durch die nachläſſig bin- 
geworfenen Worte: Pour le gargon! ab. 

Auch Wilhelm von Hafe würde es bei feiner erhabenen Veranlagung unter 
feiner Würde halten, ſich nad ſolchem hinabgefallenen Gelde zu büden, es viel: 
mebr dem Diener überweijen. 


Hermann Deiberg, Die beiden Hates. 803 


Bei der Baronefje von Euler in der Schloßftraße in dem jpitgegiebelten, 
von grünem Epheu und rotblühenden Roſen umzingelten Patrizierhaus verkehrte 
die Geiellihaft ganz wie bei den Familien. 

Sie [ud zu Thees, Mittag und Abendejjen ein und veranftaltete im Sommer 
Landpartieen, bei denen man ich ſtets wundervoll amüjierte. Aber fie empfing 
auch Herren abends, mehrere oder einen einzelnen aus dem Kreiſe ihrer Freund— 
ſchaft und Bekanntichaft. Zu folchen gehörten insbejondere die beiden Hakes. 
Karl phantafierte oft bis in die jpäte Nacht hinein. Im heißen Sommer gejchahs 
nicht jelten bei offenem Fenſter, und die aus Gefellichaften vorüberfommenden 
Perjonen hörten es und madten wenigſtens injofern ihre Bemerkungen, als fie 
äußerten: es fei merkwürdig, daß die beiden Leute noch immer fein Paar ge 
worden jeien, 

Sie paßten jo vortrefflih zujammen, fie bejonders, weil die Baronefje 
gleichfall3 Mufik liebte und übte und mit einer äußerit ſympathiſchen Stimme 
Lieder vortrug. 

Aber der Amtsgerihtärat trat jo wenig als Bewerber auf wie Wilhelm, 
der, beiläufig bemerkt, niemals bier mit feinem Bruder zufammen traf, während 
fi) die Brüder fonft überall gleichzeitig begegneten. Mit Wilhelm plauderte die 
Baronefje Erneftine ftundenlang, und beiden verflog die Zeit. Sie befaßen fehr 
viel Sinn für Humor und hatten nicht nur die gleiche Auffaffungsrichtung, fondern 
auch ihre eigene Art, fi über die komiſchen Seiten der Menfchen zu äußern. 

Wilhelm warf zum Beifpiel zur Charafterijierung einer Berfönlichkeit hin: 

„Der Sanitätsrat Hamerling fieht aus wie ein Wafchbär, der jich feines 
Standes ſchämt.“ 

Wenn man dann den Genannten auf der Straße einherjchreiten jah und 
ihn auf diefe Bemerkung prüfte, fand man fie ungemein zutreffend. Und wiederum 
äußerte fich die Baronefje über einen vielbejprochenen, etwas zweifelhaften, jehr 
verichuldeten Lebemann, den Kammerjunfer von Wahrenftedt, mit den Worten: 

„Wahrenftedt wäre eine Ausnahme unter den Menfchen, wenn nicht jede 
feiner Tugenden ein Zoch beſäße und er überdies die Schneider zum Ausfliden 
derjelben bezahlen könnte.“ — 

Als die beiden Brüder eines Abends, aus einer Gefellichaft zurüdfehrend, 
zufammen nad) Haufe gingen, warf der Regierungsrat Wilhelm in feiner leichten, 
über den Dingen ftehenden Art hin: 

„Sch kann immer weniger auskommen. Ich babe Schulden, und wenns fo 
weiter geht, werde ich einen Eleinen fröhlichen Konfurs erklären müfjen.“ 

„Heirate doch, Wilhelm!” fiel Karl ein. „Es find bier ja fo viele begehrens- 
werte Weiblein, die auch Vermögen befißen.” 

„Ums Dimmelswillen auch das noch! Nein, Karl! Diejes Wagnis will ic) 
nicht auch noch beginnen. Jetzt habe ich eine jilberne Laft, die ich doch irgendiie 


51* 


804 Hermann Beiberg, Die beiden Hakes. 


mal wieder abjichütteln kann, dann entiteht eine eiferne, für deren Entfernung es 
feine Mittel giebt. ch werde niemals heiraten!” 

Und er fang aufgeräumt, mit luftig gedämpfter Stimme: „Freiheit, die ich 
meine, die mein Herz erfüllt —“ 

Aber er kam nicht weiter, weil ihm fein Bruder in die Rede fiel und 
ſeufzend erklärte: 

„sreilih! Wenn Du ſelbſt eine jo bekannte Melodie ſo falſch fingit, 
Wilhelm, werde ih Dir wenigftens nicht raten, eine muſikaliſche Dame zu 
heiraten! Sie läßt ſich nad) adıt Tagen wieder von Dir ſcheiden!“ — 

Als Karl nad) PVerabiciedung von feinem Bruder an diefem Abend in 
feine Wohnung gelangte, rüftete er ſich nicht zum Schlafengehen, jondern 
wanderte noch eine Stunde nachdenklich auf und ab. 

Er hatte ſoeben etwas gehört, das ihn ganz außerordentlich befchäftigte. 

Wilhelm hatte ihm erklärt, daß er nie heiraten werde. Daraus war der 
Schluß zu ziehen, daß er auch nicht daran dachte, Erneftine von Euler einen 
Antrag zu madıen. | 

Und wiederum ging Karl feit zwei Jahren und bejonders in den legten 
ichs Monaten der Gedanke nicht aus dem Kopf, die Baronefje zu bitten, ihr 
Leben mit dem feinigen zu vereinigen. 

Wenn er aber zu einem wirklichen Entſchluß und zur Musführung hatte 
gelangen wollen, dann war ihm Wilhelm eingefallen. Er würde, wie er ſich vor: 
ftellte, Wilhelm ganz ficher ind Gehege kommen, denn Wilhelm hatte für die 
Baronefje immer nur die beiten Worte. 

„Sie ift eine fuperbe, unvergleichlihe PBerfon!" „Die Euler hat mehr Ber: 
ſtand als zehn Unteritaatsjekretäre!" „Die Euler bat ein Herz wie ein Gott!" 
„Die Euler ift heute noch jünger an Körper und Geift als alle einunddreigig 
Konfirmandinnen bei der letten Einfegnung zuſammen.“ — 

Solche und andere Neußerungen hatte er gemadt, und dann war Karl mit 
feiner Selbitlofigfeit innmer wieder von feinen Liebesplänen zurüdgetreten. 

Bisweilen hatte er den Anlauf nehmen wollen, einmal offen mit Wilhelm 
über diefen Gegenitand zu reden. Aber gerade, weil er die Baronefje Erneftine 
liebte, und weil tiefe Liebe ſich allezeit zu verjteden pflegt, hatte er feine Abficht 
nicht zur Ausführung gebradt. 

Eine förmliche Furcht hatte ihn beherricht, jemals daran zu rühren. Wenn, 
fo hatte er fich gejagt, doch noch Hoffnung für ihn vorhanden fein Eonnte, fo 
wollte er Wilhelm doch nicht gerade auf Baronefje von Euler aufmerkſam madıen. 

Wie es denn jo gebt! 

In feiner Angelegenheit hätten die Menjchen, wie von Erneftine auch einmal 
bemerkt worden war, fo ſehr den Inſtinkt zum Berfehrten, wie in Liebesfachen. 


Hermann Heiberg, Die beiden Dates. 805 


Ein nicht gefanntes, gehobenes Gefühl erfüllte den Amtsgerichtsrat in dieſen 
Abendftunden. Faſt ftürmifch ergriff er die Lampe und Lichte, ftellte fie vor den 
Spiegel und betrachtete ſich. 

Konnte er e8 mit einem ſolchen Aeußern wagen, um ein Wejen zu werben, 
das immer nod als eine Schönheit gelten Eonnte! Ahr Kopf beſaß den edlen 
Schnitt bevorzugter Perfonen. Die Züge waren von einer Eafjiichen Regel: 
mäßigfeit, ihre Augen blidten je nachdem ernft und finnend, gütig und ſchelmiſch. 
Ihr Lächeln hatte etwas Bezauberndes, und ihr Wuchs war von einen vollendeten 
Ebenmaß. 

Und würde fie nicht dod, Wilhelm bevorzugen? Wilhelm mit feiner teten, 
Aufgeräumtheit, feinem Ejprit und feinem erhabenen Sinn? 

Er, Karl, Elebte zu fehr am Stoff. Wo Wilhelm mit Siebennteilenftiefeln 
über die Dinge hinwegſchritt, maß er jeden Schritt ab. Er war bedädhtiger, 
mwägender, jchon etwas pedantifch gar, obſchon er es zu verbergen fuchte, deshalb, 
weil er es jelbit tadelte. 

Jedenfalls mußte er, das war das Ergebnis feiner Ueberlegungen, die 
Baronefje vorher noch genau ausforfchen. Die Vorftellung, er könne ſich ein Nein 
holen und jomit auch die Gelegenheit verlieren, bei ihr Efünftig die überaus an- 
regenden Abende zuzubringen, bewirkte, daß es ihm förmlich durch die Glieder 
fuhr, daß ihn jett wieder ein Gefühl völliger Hoffnungslofigkeit befiel. Auch der 
Gedanke an Wilhelm erfaßte ihn von neuem, Unſchlüſſigkeit und Zweifel ftellten 
fih abermals ein, und erft, als er fich feines Bruders Worte nochmals ind Ge- 
dächtnis zurüdrief, Eehrte die heute gewonnene Hoffnungsfreudigfeit zurüd und 
befeftigte fich der Entihluß in ihm, nunmehr mit jeinen Plänen Ernft zu machen. 

Der Zufall fügte es, dat Karl der Baronefje am nächiten Mittag gerade 
in dem Augenblide begegnete, als fie aus ihrem jchönen, ſonnenbeſchienenen 
Haufe trat und er, der vom Amtsgericht den Weg durch den Schloßgarten ge: 
nommen, ſich nad) Haufe zu begeben im Begriff ftand. 

Gleich fchritt fie, warmherzig grüßend, auf ihn zu, ftredte ihm ihre be- 
handſchuhte, einen reizvollen Duft verbreitende Hand entgegen und ſagte: 

„Das iſt ja ein herrlicher Zufall, lieber Herr von Hafe! Eben habe id) 
einen Boten an Sie gefandt und Gie gebeten, heute Abend eine Leſerolle bei 
mir zu übernehmen. Ihr Bruder hat mir heute morgen abgefagt. Er foll bei 
Graboms auf Hoffhagen dinieren, hatte das bei neulicher Zufage vergeſſen. Ich 
hätte Sie natürlich” auch aufgefordert, aber ich weiß ja, daß Sie nicht gern 
beide zugleich bei mir erfcheinen. Wollen Sie jo freundlich fein? Ich will gleich 
bemerfen, daß Sie nicht zu fehr gequält werden. Wir lefen Donna Diana von 
Moretvo. Das Drama nimmt faum eine Stunde in Anſpruch. Nad dem 
Abendefjen mufizieren wir noch etwas! Sie erfreuen uns, wie immer, durch Ihr 
Spiel! Nicht wahr?" 


806 Hermann Heiberg, Die beiden Hakes. 


Nichts Eonnte Karl willfommener jein als dieſe Einladung. Er verbeugte 
jich, führte der Baronefje Rechte an feine Lippen, als ob er ſie berühren wollte, 
und verſprach, ſich präziſe jieben ein halb Uhr — wegen des Vorlefens etwas 
früher als ſonſt — einzufinden. 

Unterwegs malte er ſich aus, daß ſich vielleicht an diefem Abend alles nad) 
jeinen Wiünfchen vollziehen könne. Wenn ſich die übrigen Gäfte entfernt haben 
würden, wollte er noch bleiben, Baronefje Erneftine nod einmal ausforſchen 
und dann reden. 

Und wenn es ihm dann gelang, war der 3. Juni des Jahres 1850 der 
ichönfte Tag feines Dafeins, und wenn Erneſtine denken würde wie er, dann 
ſchoſſen ſie nach Jahr und Tag zufammen und bezahlten Wilhelms Schulden. 
Was war Geld? Geld-Hergabe war für vomehme Naturen nichts Anderes als 
auch nur eine, wennſchon eine größere Selbftverleugnung erfordernde Ausdrucks— 
form der Freundſchaft. 

Das bequeme Wort der Selbitlinge: In Geldfahen höre die Gemütlichkeit 
auf, veracdhtete eine Natur wie Karl von Hake. 

Zu Haufe angelangt, durchichritt er feine Gemächer mit prüfendem Blid. 
Gr überlegte, was fünftig in den gemeinfamen Dausjtand mit hinübergenommten 
werden fonnte, und was des Trödlers Händen zu übergeben jein werde. 

Und auf dem Wertvolleren ruhte fein Auge mit befonderem Wohlgefallen. 
Es würde auch ihr, Erneftine, die jo viel Gefhmad und feinen Kunſtſinn bejah, 
hoffentlich gefallen, fie würde Freude daran empfinden. 

Die Teppiche, die die Fußböden noch bededten, pahten ficherlih in das 
Daus am Schloßgarten. 

Schon überdachte er auch, wo er ſich künftig feine Gemächer drüben ein: 
richten, wo er mit ihr täglich an einem Tiſche fien werde. Schon fah er jidh, 
wie er mit ihr am Arm jpazieren ging, und wie er aller Menfchen Neid über 
jein großes Glüd erregen würde! 

So glücklich, fo gehoben fühlte er fich, und fo vielfach wanderten feine Ge— 
danken hin und ber. Sa, es gab nod etwas, was im Dafein herrlich war, das 
nicht nur infolge gehobener Vorjtellungen einen Inhalt beſaß. Es waren die 
Augenblide, wo das Gemüt Nahrung empfing, wo fi das Ich in Einklang 
befand mit der Umgebung, mit der Außenwelt, wo die Seele nicht nur feine 
Sorge drüdte, jondern alles ein lichtes Angeficht beſaß. 

Bei jeinen lleberlegungen trat hinzu, dat Wilhelms Abjage bei der Baronejje 
als ein neuer Beweis angelehen werden Eonnte, daß er an eine Verbindung mit 
ihr nicht dachte. Menjchen, die lieben, bejeitigen alle Hinderniffe, um mit dem 
Segenitand ihrer Neigung in Berührung zu gelangen. Weil er jelbft vom 
Liebesfieber erfaßt war, machte er diefe Auffaſſung zu feiner eigenen. 

Am Abend murde oben im Eulerſchen Haufe gefpeift und bei der 


Hermann Deiberg, Die beiden Hakes. 807 


Gelegenheit fam Karl ein Bild von Erneftine aus ihrer Mädchenzeit wieder vor 
Augen, das er bisher niemals jo recht betrachtet hatte. Es zog ihn dermaßen 
an, daß er gegen feine Tiſchdame äußerte: „Das Gemälde ift wahrhaft vollendet! 
Sch muß geftehen, ich würde es als einen Schat anjehen, wenn ed mein 
Eigentum wäre. Man fchöpft aus dem Anfchauen guter Gemälde, jeien es 
Porträts oder Landichaften, etwas, das einen feelifch zu heben vermag! 

„Diejes atmet einen jolchen jtillen Schönheitsfrieden, daß alle reinen Sinne 
angefacdht werden, daß man jich davon nicht zu trennen vermag!“ 

„Herr von Hafe! Herr von Hake! Wie Sie aber ſchwärmen!“ ließ ſich 
gleih darauf die Stimme eines Herrn vernehmen. Sie fam aus dem Munde 
des Oberftleutnants von Mayen, der als älterer und vornehmfter Herr des 
Kreiles Erneftine führte. 

Karl ſchaute empor, und unmillfürlich trat ein Zug von Berlegenheit in 
jeine Züge. 

Und als ſich dann auch feine Blide mit denen Erneftinens trafen, jchüttelte 
fie ladyend den Kopf und jagte halb zu ihrem Heren, halb zu Karl gewendet: 

„sa, ja, unfer lieber Herr von Hake hat bisweilen kleine fentimentale An— 
wandlungen. Zum Glüd findet er immer bald wieder den Boden der Realität." 

Diefe Aeußerung gefiel Karl durchaus nicht. Was er zu feiner Nadjbarin 
gejprochen hatte, war auf feine Zuhörerfchaft berechnet, und es war lediglich der 
Ausdrud der Freude über das gelungene Kunftwerf gewejen. Erneſtine faßte 
aber jeine Worte als perjünliche auf und fnüpfte daran Bemerkungen, die ihn 
gewifjermaßen herabjegten. 

Als ſich nad; Leſen, Speifen, Spiel und Gefang die Gäfte entfernt hatten, 
als Karl, zurüdgelehnt in einen Stuhl des nad dein Park belegenen Garten: 
ſalons, Ernejtine gegenüberjaß, jagte er: 

„Aus welchem Grunde, verehrteite Baronefje, äußerten Sie heute bei Tijch, 
daß es ein Glüd für mich fei, daß ich mit meinen fentimentalen Anwandlungen 
immer bald wieder auf den Boden der Realität gelange?" 

Erft ſchwieg fie auf feine Frage. Dann, nachdem jie dem Diener, der noch 
beim Aufräumen der Gemächer beichäftigt war, mit einem: „Nachher, Alfred!” 
abgewinft hatte, erwiderte fie: 

„sch äußerte mich nur 'ſo, weil ich; von jeher eine unüberwindliche Ab: 
neigung gegen Somplimente gehabt habe. Sie jagten von dem Bilde jo viel 
Rühmendes, daß es mich nicht erfreute, jondern — verzeihen Sie, lieber Freund — 
abitieß. Ich mag feine Lebertreibungen und, wie erwähnt, feine jolche 
Reden. Bielleicht bin ich deshalb auch ledig geblieben.” 

„Es thut mir aufrichtig leid, daß ich Ihnen unangenehme Empfindungen be— 
reitet Habe, Baronefje," entgegnete Karl, geichlojjen in jeinem Wejen. Er war 
betroffen, da er ihre Worte nicht anders deuten konnte, als daß fie ihm ein für 


808 Hermann Heiberg, Die beiden Hafes. 


allemal zu veritehen geben wollte, daß fie für Kiebeserklärungen nicht zu haben fei. 

Weshalb ſonſt folche Kritik feiner Perſon bei Tiſch, weshalb jonit jetzt 
diefe Erörterungen? 

Mit einem Nud hatte fie in ihm alle Hoffnungen und Erwartungen, mit 
denen er heute ind Haus getreten war, niedergeichlagen. 

Und ein folder Eindrud blieb in ihm zurüd, daß er, wennjchon er nod) eine 
Weile weiterplauderte und aud) das artige Benehmen beobachtete, das von 
feinem Naturell unzertrennlid; war, doch die fonftige Wärme abjtreifte und 
in der Folge mehr zubörte, ald daß er bemüht war, dem Gefpräd den ge- 
wohnten freien und belebenden Fluß zu verleihen. 

„Ste find heute garnicht der Alte, verehrter Freund!“ ſtieß Erneftine heraus, 
als fie, im Begriff von einander Abfchied zu nehmen, einander gegenüberjtanden. 

„Sie find offenbar empfindlich wegen meiner Meußerungen bei Tiich und 
vorhin, während ich Sie doc ‚nicht verlegen, vielmehr nur ehrlid; ausdrüden 
wollte, wie es in mir ausfiebt. Ach ſprach vornehmlich aud) jo der Umgebung 
und insbefondere Ihrer Tiihdame halber. Sie wiſſen, wie medifant Fräulein 
von Galen ift! Sie bringt die Menjchen allzu gern ins Gerede, und wozu dazu 
unnötig Anlaß geben?" 

Diefe Sätze beftärften Karl noch mehr in jeiner ſchmerzvollen Annahme, 
daß Erneſtine ſich mit irgend etwas Anderem beichäftige als mit Eheplänen, 
und daß ſie ed auch verhindern wollte, daß er fich mit „ſolchen Thorbeiten” ihr 
gegenüber befaſſe. Es unterlag feinem Zweifel, daß er ſich nicht irre; zumal 
fie ihm, als der leßte Händedrud zwifchen ihnen ausgetauscht wurde, mit durd- 
aus unbefangenem Blid ins Auge ſchaute und nur ftarf betonend um die alte 
gute Kameradſchaft bat! 


* * 
% 


Und dann wanderten die Tage wie fonft. Sie wechjelten ab mit prangendem 
Sonnenſchein und befruchtendem Regen, aber auch mit dunflen Wolfen und 
ftürmenden Winden, mit frohem Herzen beim Aufſtehen und mit nicht jeltenem 
Rückſchlag auf das Gemüt beim Niederlegen, mit Hoffnungen und zügernden 
Erfüllungen, mit Sorgen und Warten auf bejjere Zeiten wie immer und allezeit. 

Und während dieſes Abſchnitts hatte Karl von Hake nicht einmal wieder 
das Batrizierhaus am Schloßgarten betreten. ‘Er ließ verbreiten, daß er leidend 
fet und nicht in Gefellichaften gehe, und wenn man ihn troßdem einlud, ent- 
fchuldigte er fich in der verbindlichen Art, die feiner Natur eigen war. 

Und fobald er, was oft geichah, von der Baronefje gewohnter Lebhaftigkeit, 
Liebenswürdigfeit und Gaftlichkeit hörte, von ihren vielen Vorhaben, bei denen 
ihr reger Sinn für alles Cigenartige und Wertvolle zum Ausdrud gelangte, 
wenn er vernahm, welche angejehenen, auch auswärtigen Perſönlichkeiten fie be- 
fuchten, ihr Aufmerkfamteiten ermwiejen und wie ſie dieſe mit ihrer ftetS zum 


Hermann Heiberg, Die beiden Hakes. 809 


Geben bereiten Hand erwiderte, dann ergriff ihn nad) ihr eine förmlich krank— 
bafte Sehnſucht. Und indem er in feinen Vorftellungen ihren Wert noch erhöhte, 
fchrumpfte jein eigenes GSelbftgefühl völlig zufammen. Hoffnungslofe Schwer: 
mut nahm in nod ftärferem Maße von ihm Bejit, und was er dagegen anzu— 
wenden beftrebt war, verfing nicht. Nur, wenn Wilhelm ihn befuchte, wenn der 
mit feinem ſouveränen Gleichmut plauderte, Geſchichten und neuefte Erlebnifje 
erzählte, luftige Bemerkungen über Bekannte und ferner Stehende machte, jedoch 
gleichfalls teilnahmsvoll auf ihn einfprad, fragte, wie e8 mit dem rebellifchen 
Magen gehe, den Karl auch ihm gegenüber ald Grund feiner Einhäufigfeit vor- 
ſchob, und baldige Befferung verhieß, ftreifte er die Berdüfterung zeitweilig ab 
und nahm fich fogar vor, die Dinge, wie einft, leichter und freier zu nehmen. 

Aber dann geihah etwas, das doch wieder einen ftarfen Aufruhr in ihm 
bervorrief. 

Mit Beginn des Herbftes erichien eines Tages Wilhelm bei ihm abends. 
Er war offenbar durch irgend etwas innerlich jehr bejchäftigt und jchritt, — gegen 
feine Gewohnheit einfilbig, — im Zimmer auf und ab. Auch ſchenkte er ſich 
wiederholt fräftigen Liqueur in ein Glas ein und fenfte wiederholt die Finger in 
feine goldene Dofe, aus der er jonft nur „zur Stärkung des Gehirns", wie er 
ſich ausdrüdte, hin und wieder einmal eine Brife zu nehmen pflegte. Zulekt 
ließ er jid) neben Karl nieder und jagte: 

„Höre einmal, Menjchenkind, und gieb mir Deinen Rat und jage mir un— 
ummunden Deine Meinung. Sch habe in den letten Tagen ernitlich überlegt, 
ob ich nicht doch noch heiraten foll. 

„sch bin in der neueften Zeit fo gut wie täglicher Gaft im Haufe am Schloß— 
garten geweſen und finde alle die Borausjeßungen, daß die Euler ein wahrhaft 
vollendetes Geſchöpf ift, jo ſehr beftätigt, daß ich entichlofien bin, ihr einen 
Antrag zu machen! Notabene! Wenn Du fie nicht willft, wenn ich Dir, befter 
unge, nicht in den Weg trete.“ 

„Mir? Wie Eommft Du darauf, Wilhelm?” fiel Starl, dem zwar das Herz 
ftoden wollte, mit äußerlich ruhiger Miene ein. 

„sa, das will ih Dir erklären, es ift ganz zweifellos, daß ſich die Euler 
für Dich intereffiert! 

„Bor acht Tagen äußerte jie: ‚Ach, ich bin ganz traurig, daß ich Ihren 
Herrn Bruder garnicht mehr ſehel Und daß es ihm immer nocd nicht gut gebt, 
thut mir fo weh. ft er denn noch nicht bejier und ift er denn fo leidend, daß 
er feine alten freunde nicht einmal mehr beſuchen fann? Bitte, erinnern Sie 
ihn, daß ed noch ein Haus in der Schloßſtraße giebt, wo eine wohnt, die ihn zu 
ihren beften Freunden zählt —‘ 

„Ich denfe, deutlicher vermag man fein Intereſſe nicht an den Tag zu legen. 
Und da babe ich mir, obichon id) das liebe Frauenzimmerchen für mein Leben 


810 Hermann Heiberg, Die beiden Hafes. 


gern heimführte, denn vorgenommen, Dir das vffen mitzuteilen und Dich um 
Dein ehrliches Wort zu bitten, ob Du irgend welche Enttäufchung erleideft, wenn 
ih um fie anhalte. Natürlich — ob fie mich nimmt, weiß ich nicht ſicher. Ich 
hoffe es aber!” 

Karl wurde durd) die Meußerungen, die Ernejtine über ihn gemadt batte, 
derartig gehoben, daß er jich zunächſt nur einem Gefühl höchſter Befriedigung 
hingab. Erit jpäter kam ihm der Gedanke, daß er troß diefer Mitteilungen auf 
Erneſtine verzichten jollte! 

Er mußte doch verzichten, wenn fein Bruder fie zu feinem Weibe maden 
wollte. Ein ungeheurer Kampf entjtand in feinem Innern. Das zum Entſagen 
gedrängte und das von endloſer Sehnſucht nach Beſitz erfüllte Ich ftritten gegen 
einander, bis dann doc der felbitlofe Menſch in ihm fiegte. 

Er jagte: 

„sch Freue mic jehr, Wilhelm, da Du nun zu dem Entichluß gelangt biſt, 
zu heiraten, und daß Du folche Wahl getroffen haft. Wenn Du mir Freund- 
lihe3 von der Baronejje Euler über mich berichteit, jo kann ich nur jagen, 
daß ich ihr mit denjelben Gefühlen gegenüberftehe. 

„Du kommſt durch diefe Partie dann aud) aus den Sorgen heraus! Das 
Wenige, was ich für den Fall ungünftiger Zwiichenfälle und mit Rüdjicht auf 
mein Alter mir eripart habe, wird wohl kaum ausreichen, Deine Berpflichtungen 
zu begleichen. Wie hoch belaufen ſich eigentlih Deine Schulden, wenn ic 
fragen darf?" 

Wilhelm nannte eine Summe und fügte dann gleich, jorglos im Ton, Hinzu: 

„Keiner kommt zu kurz, da ich mein Leben doppelt jo hoch auf eine be 
ftimmte Zeit verfichert habe. Und von Dir das Geringfte zu nehmen, beiter 
Karl, würde mir nicht beifallen fönnen. Das fpricht weniger für meinen Ent- 
ichluß! Geldheiraten: ſchlechte Heiraten! 

„Es giebt kaum etwas Unglüdlicheres, als mit dem Teufelsſchmutz von 
jeiner Frau abhängig zu fein! — Nun aber wieder zur eigentlihen Sache! Du 
haft mir auf meine Trage feine Antwort gegeben. 

„Störe ich alfo nicht Deine Pläne, liebiter Menih? Wir können uns dud 
ganz frei und unumwunden ausſprechen. In unferem Alter — bei mir trifft es 
wenigitens durchaus zu — find die Gefühle nicht mehr jo flammender Natur, 
daß wir zu Sterben glauben, wenn uns nicht gerade ein Gretchen oder eine 
Erneitine ihre Huld ſchenkt. Mädchen wachlen wirklich oleih Brombeeren auf 
den Bäumen.“ 

Wilhelm hielt einen Augenblick inne, und der arıne Karl, deſſen Hoffnungen 
wieder emporgeichnellt waren, weil Wilhelm weder wegen feiner Geldforgen, noch 
wegen eines überheftigen Liebesdranges einen jo bedeutiamen Entſchluß zur Aus: 
führung bringen wollte, wollte ſchon die Wahrheit wenigitens halbwegs bekennen. 


Hermann Deiberg, Die beiden Hafes. 811 


Aber dann fügte Wilhelm noch einige Sätze hinzu, und dieje gaben doc) 
den alten Ausfchlag. 

Wilhelm fagte rajch und enthuſiaſtiſch: 

„Alfo ſprich! Liebſt Du fie nicht, jo bin ich natürlich jehr glücklich. Ich 
erftrebe ja nichts zufolge einer augenblidfichen Yaune, jondern infolge reif: 
(icher Heberlegungen. 

„Möchteft Du fie aber zu Deiner Lebenstameradin machen, dann jchnupfe 
ic) einige Priien Robillard, Eneife die Lippen zufammen und jage: ‚Wohlan, To 
erhalte ich wenigftens eine Schwägerin, wie ic; mir feine beſſere wünjchen Eann.‘“ 

Wilhelm ſah feinen Bruder forichend, aber zugleich mit einem Ausdrud 
von Bonhomie an, der bewies, daß er garnicht daran zweifele, dat Karls 
Antwort zu feinen Gunjten ausfallen werde. 

Und dem edelmütigen Karl, dem die Worte: ‚Dann bin id) natürlich 
ehr glücklich!“ noch in den Ohren Elangen, entgegnete, alle inneren Kräfte zu— 
jammenraffend: 

„Du ſollſt glüdlich werden, lieber Wilhelm! Sch erhebe feinen Anſpruch 
auf die Hand der Baronefje von Euler. Ach thue es ſchon deshalb nicht, weil 
ih den beftimmten Eindrud habe, daß fie nicht entfernt daran denft, meine Frau 
zu werden. Was ſie von mir gejagt bat, thut mir jehr wohl, aber eben, es iſt 
doch nur der Ausflug jogenannter freundichaftlicher Gefühle.” — 

„fo es glühen doch allerlei Eleine Lämpchen für fie in Deinem Amts: 
gerihtsbufen, Du Böſewicht?“ — fiel Wilhelm mit hochgezugener Stirn ein und 
jah jeinem Bruder ind Angeſicht. 

„Hu, Hm! — Das thut mir recht leid, ich meine um Deinetwillen! Und 
deshalb — und deshalb — made Du erit den Verſuch. Oder nein, da das 
nicht geht, — laſſe uns fie fondieren, und wen fie dann den Vorzug giebt, — 
wenn fie uns überhaupt die Hand reichen will, — dein joll fie eben werden! 

Bilt Du damit einverjtanden, Karl? — Ich ſpreche aufrichtig, ich made 
feine Worte. Denn Schon der bloße Gedanke, daß ich Dir trefflichem Menfchen Dein 
Lebensglüd jtören könnte, jagt mic Summer und Unruhe in die Bruft.“ 

Aber Karl jchüttelte den Kopf. Er thats ſchon deshalb, weil die bloße 
Borftellung, Erneitine könne ihm auf feinen Antrag einen Korb erteilen, bereits 
die denkbar unangenehmite Empfindung in ihm hervorrief. 

Dem wollte er ſich nicht ausfeßen, — nicht abermals ausjegen! — — Die 
Erinnerung erfaßte ihn, da er nad) jeiner Schäßung ja ſchon eine Abfage von 
ihr erhalten hatte. 

Er ſprach rafch und beitimmt: 

„Rein, nein! Es bleibt dabei! Du führft jie heim! Es wird Dir hoffent- 
lich gelingen. Sch verjichere Dich nochmals, daß ich einen allerdings einmal 
früher gefaßten Gedanken in diefer Richtung gründlich von mir abgeitreift habe.” 


812 Hermann Heiberg, Die beiden Hafer. 


„Alſo alles in Ordnung!” fchloß Karl, jtredte feinem Bruder die Hand mit 
liebevoller Gebärde entgegen und ſah ihm jo frei und gleichmütig ins Angeſicht, 
daß fih Wilhelm volllommen täufchen lieg. — — 

Ein paar Tage waren feit diefer Unterredung verftrihen. Der Herbit 
hatte den Sommer rückſichtslos vertrieben. Wohin man ſah, funfelte entweder 
gelbes Laub, cder es fpreizten ſchon entblätterte Bäume ihre ſchwarzen Zweige 
in die ftahlgraue Luft. Aftern, Dalien und Gladiolen hatten ſich ihrer Herrſchaft 
lange begeben. Am wilden Wein zitterten nur noch wenige, vom Herbſtwind 
verſchonte jcharfrote Blätter, und fiel das Auge auf die Wälder, jo rubten fıe 
entweder ſchwarz und ſchweigſam, gleichfam in Agonie verjunfen, oder über ihren 
erjtorbenen Leibern wallten düftere Nebel, die ihre Bernichtung befchleunigten. 

Auch aus dem Erdreich drang ein Ealter Hauch, und der jcharfe Duft ver: 
modernder Pflanzen vermählte ſich mit dem dumpfen Atem der Pilze. 

Und in den Wohnhäufern büdte ſich in der Frühe fchon das Gejinde zu den 
Defen hinab, um erwärmende Feuer anzufadhen. Das graufalte Angeficht der 
Natur verdüfterte die Gemüter, und auch Karl von Hafe, ohnehin in alter Be 
drüdung, hodte in feinen Räumen und fuchte durch Arbeiten in den Aften, die 
er fih von feinem Gefchäftszimmer aus dem Amtsgericht hatte nach Hauie 
bringen lafjen, der Dede feines Sinnern und dem Gefühl der Spannung befler 
Herr zu werden. 

Denn von Wilhelm hatte er nichts wieder gehört. Aber jeden Tag war er 
gewärtig, die Nachricht zu erhalten, daß deſſen Werben gelungen jei, dat für 
ihn, Karl, die verloren jei, die er jo heiß liebte! 

Am vierten Tage, in der Dämmerftunde, als er abermals in jeinem einfamen 
Gemach hodte, und nun eben müde und langjam die Lampe entzündete, trat feine 
Wirtichafterin ind Zimmer und übergab ihm ein ſoeben für ihn abgelieferte: 
Schreiben. Es war von Wilhelm und es lautete: 

‚Liebiter Karl! 

Heute Abend acht Uhr möchte ich gern bei Dir jpeifen, jogar vortrefflid 
fpeifen! Bitte, laſſe junge Rebhühner nad unjerm Geſchmack braten und late 
den Geft gut temperieren. Alles weitere dann von Deinem 

alten Wilhelm.‘ 

Zu derjelben Zeit, während Karl diefes Schreiben empfing, öffnete Wilhelm 
die Thür in dem Haufe an der Ede des Schloßgartend. Er fragte den jogleid 
erfcheinenden Diener, ob die Baronefje zu Haufe und fpredhbar fei, und betrat, 
nachdem dieſer bejaht und fortgeeilt war, um feine oben im Haufe bejchäftigte 
Gebieterin zu benachrichtigen, einftweilen allein die von dem Wiederichein der 
Ofenfeuer ſchier myſtiſch erhellten, aber von einer unendlich wohligen Wärme 
durchſtrömten Vorgemächer. Sie reihten fi mit offenen Thüren aneinander, 
waren mit weichen Teppichen belegt und fuchten an Bequemlichkeit und geſchmack 


Hermann Heiberg, Die beiden Hakes. 813 


voll gediegener Einrichtung ihresgleihen. Nur im leßten Zimmer, das die 
Baronefje vorzugsweiſe bewohnte, brannte eine auf dem Tiſch ftehende, mit einem 
mattgrünen Schirm verjehene und eine janfte, eine gleichſam träumerifche Helle 
verbreitende niedrige Lampe. Faſt wie ein Fremder fchritt Wilhelm heute bis 
and Ende der Stuben, ſſchaute jih um und betrachtete die Gegenftände mit 
Augen, als ob er Umriffe und Farben bisher nie habe auf fich wirken Lafjen. 

Ein Haud von Erneftinens Wejen glaubte Wilhelm zu fpüren. Ein Etwas 
drang auf ihn ein, das ein Teil war von ihr und ſich vermählt hatte mit der 
Atmoſphäre des Zimmers. Alles heimelte ihn an, worauf fein Blid fiel. Ueberall 
gelangte ihr DOrdnungs- und Schönheits-Sinn zum Ausdrud, überall ihre Pietät 
für das, woran ihr feiner Sinn hing. 

Schon jah ih Wilhelm in ſehnſuchtsvollem Hoffen hier ſitzen, ſah zu, wie 
ſich Erneftinend nie müßige Hände rührten, beraujchte ſich an dem Aufblid 
ihre3 Auges, in dejjen Ausdrud ſich allezeit Güte mit Klugheit mifchte, in denen 
eben das zum Vorſchein gelangte, was ihn jo widerjtandslos zu ihr hinzog. 

Endlih ließ er ſich, da Erneftine immer noch nicht erjchien, nieder, prüfte 
die auf dem Sophatiich liegende Lektüre, nahm ein kleines Etui in Form eines 
Fiſches mit filberglatten Schuppen und beweglichen Schwanz in die Hand und 
betrachtete, abgemwendet, das Eleine Kunſtwerk. Die ganze Wohnung war voll 
von alten jchönen Sachen, deren Fülle man erjt allmählich; gewahr wurde. 

Eben drang, durd; die Ofenwärme ftärfer gefördert, aus einer alten 
Potpourri:Bafe der Duft von getrodneten Roſen und Lavendel hervor. Durch 
ihn gewedt, gingen Wilhelms Gedanken wieder drängender zu ihr, der Befiterin 
des Hauſes. 

Eine heftige Sehnjucht ergriff ihn jeßt nad) ihr, eine ftarfe Unruhe, ein 
Drängen nad) Entiheidung, das er faum mehr zu bemeiftern vermochte, kam 
über ihn. 

Er jprang empor und jchritt auf und ab, fette fich wieder nieder und 
erhob ſich abermals. Plötzlich bedrüdte ihn die’ Atmofphäre des Gemadjes un- 
erträglich, und ſchon wollte er im Nebenzimmer ein Fenfter öffnen, um durch 
Einatmen frifcher Luft Bruft und Sinne frei zu machen, als drüben ein Geräufch 
vernehmbar wurde, und Exrneftine, von dem Flurlicht reizvoll jcharf beleuchtet, 
drüben in der Thür des Eingangszimmers fihtbar wurde. 

„Wie? Was? Bier im Halbdunfel figen Sie, lieber Freund!” rief fie, 
ihm mit gewohnter, vertraulicher Liebenswürdigfeit die Hand hinftredend. 

„smmer nacläffiger wird mein Diener Alfred! Ich hatte ihm gejagt, in 
° allen Zimmern Licht zu entzünden, und doch hat er es nicht gethan! 

„Und verzeihen Sie, lieber Herr Regierungsrat, daß ich Sie fo lange warten 
ließ. Ich Hatte unſerm früheren Mädchen, einer braven Perfon, die feit acht 
Jahren verheiratet ift und es Sehr ſchwer hat, veriprochen, allerlei Kleider und 


814 Dermann Heiberg, Die beiden Dates. 


andere Nüblichkeiten berauszufuchen. Dabei war ich gerade beichäftigt, und 
wollte die Paderei gern hinter mir haben." — 

„So habe ich eigentlic; geftört, Baronefie! Das ift mir aufrichtig leid!“ 
fiel Wilhelm ein. 

„Nein, nein! Durdaus nicht! Alles ift jet beiorgt und morgen it ja 
auch nod ein Tag. Bitte, ſetzen Sie fih!" — Sie Elingelte nad) dem Diener, 
während fie ſprach. — „Sie bleiben doc den Abend? Nein? Sie haben eine 
Abrede? Ad, wie Schade! Ach eriwarte die Familie Leſſör und den Aſſeſſor von 
Mehden um adıt. Sie wollen einen Fiſch bei mir fpeiien.” 

Wilhelm geriet in Schwanfen, ob er bei foldyen Umftänden ſprechen follte. 
Die Stunde, die Umstände fchienen ihm nicht qut gewählt. 

Aber als ſich Erneftine, nachdem fie dem eingetretenen Diener Anmweifungen 
erteilt, ihm mit einer Stiderei und mit der Miene eines Menfchen, der ſich ſo 
recht anſchickt, eine gemütliche Plauderei zu beginnen, gegenüberfette, fchlug er 
alle Bedenken nieder und fagte, einen leichten Ton annehmend, troß des Ernites 
des Gegenitandes: 

„Willen Sie, teuerite Baronefie, weshalb ich heute in der Dämmerjtunde 
bei Ihnen erichienen bin?" 

„Nein“ — gab Erneftine aufgeräumt zurüd. „Aber da Sie immer nur 
Gutes mir bringen, jo bin ich ſchon im voraus über Ihre Mitteilungen erfreut!“ 

Und rezitierend fuhr fie fort: 

„Alfo, bitte, redet, Don Fernando! Deffnet gütigft Euren weifen Mund.“ 

Und dann ſagte Wilhelm ohne Einleitung, gleich gerade aufs Ziel gehend: 

„sch Eomme als Heiratswerber, Baroneſſe. Es ift jemand da, der Ahnen 
gut ift, der Sie gern zu feiner Frau machen möchte.“ — 

Während Erneftine ſich noch eben mit gleihmütig wohlgelauntem Geſichts— 
ausdrudf über ihre Stiderei — ein Rofenbouguet, das fie auf Stramin ftidte — 
gebüdt hatte, fchnellte fie nun den Kopf empor, zog ein wenig die Stim und 
fagte, als fie doch einer gewiſſen Freierlichkeit in Wilhelms Angeficht begegnete, 
in fichtlicher ftarfer Spannung: 

„Run? Was ift das? Sprechen Sie im Ernjt? Wer hat Sie gejandt?* 

„Raten Sie, ich bitte —“ entgegnete Wilhelm, nedijch im Ton. 

Sie fchüttelte fait ein wenig geitört das Haupt, dann aber fagte jie, offenbar 
das Geſpräch in feinem tieferen Anhalt nicht ſchätzend: 

„sch wüßte nur einen, der jich mit folchen Gedanken tragen könnte, Ihren 
Bruder, und der, der zeigt ja deutlich, daß ich ihm überhaupt nicht mehr bin.” 

Wilhelm erichraf bei diefen Worten fo fehr, daß er ſich unwillkürlich verfärbte. 

Was fie ſprach, ſah ihr jo wenig ähnlich! Ahr feiner Sinn vermied fonft 
Aeußerungen folder Art in folhem Zufanmenhange ftets! 


Dermann SDeiberg, Die beiden Dafes. 815 


Ihre Worte konnten alfo nur in dem Sinne gedeutet werden, daß, wenn 
fie ji mit Heiratsplänen trug, ſich ſolche nur auf Karl richteten. 

Wilhelm bedurfte feiner ganzen Faſſung, nicht merken zu laſſen, wie jehr 
er ſich enttäufcht fühlte, einer wie ftarfen Mufbietung feines Willens es bedurfte, 
um von Sich ſelbſt abzujehen. 

Aber er ſah nad diefem Vorgang jchon im voraus, welche faft fichere 
Rolle er fpielen würde, wenn er ſelbſt als Bewerber auftreten würde. Nichts war 
ihm jo entſetzlich, als ſich lächerlich zu machen, insbejondere in den Augen einer Frau. 

Es gab nur zweierlei: Er mußte nachträglich die Sache ins Leichte ziehen, 
fid) geben, als ob er fie bloß habe nediich prüfen wollen, oder Karl, der fie, 
obihon er es leugnete, nur zu gem zu feiner Frau machen wollte, mit allen 
Mitteln die Wege zu bahnen. 

Und richtige Divination und Bruderliebe jchlugen alle Einwände, die jich 
noch melden wollten, nieder. 

„Und wenn es nun wirklich ein Hake wäre? Wenn —“ ſetzte Wilhelm, ab- 
fichtlich ſich ſo fallend, an, weil ſich doch noch ein Fünkchen Hoffnung in ihm 
regte, deshalb regte, weil ihm der Berzicht fo unendlich ſchwer ward. — „Würden 
Sie ihn erhören, liebe, teure Baronefje?“ 

„Jal“ ermwiderte fie feft. Und jehr weich fprecdhend, ergänzte fie: „Ach würde 
ihm meine Hand reichen, weil er in meinen Augen die Summe eines redjt- 
ſchaffenen, lieben, edlen Menfchen ift! Sch kenne feinen Zweiten!“ 

„Darf ich ihm denn das jagen?“ 

Sie jah ihn erft raſch und prüfend an, dann ftieß fie in deutlicher, jehr 
ftarfer Erregung heraus: 

„gaben Sie denn in der That den Auftrag, für ihn zu werben?“ 

„sch glaube bis zur Gemißheit, daß mein Bruder die Erde in einen Himmel 
verwandelt jehen wird, wenn Sie feine Lebensgefährtin werden wollen, Baronefje 
Erneftine. Die beiden Hakes leiden ja unglüdlicherweife beide an der Liebes- 
franfheit für Sie! Und der Eine konnte es nicht mehr ertragen und wollte es 
Ihnen heute jagen: Es ift der Negierungsrat Wilhelm. Aber er fieht ein, daß 
jein Bruder Karl weit größere Anrechte befitt, und da Ahr Mund verriet, was 
in Shrem Herzen ruht — haben Sie Dank, taufend Dank dafür, daß Sie 
meinen lieben Karl glüdlih machen wollen, liebe, verehrte Baronefje — fo 
trete ich zurüd! 

„Er wird Sie bitten, ihm, wie bisher, eine gütige freundin zu bleiben, und 
aud in der Ferne freundlich feiner zu gedenken. Der Regierungsrat Wilhelm 
Hake will fi) nämlich verjegen laſſen!“ ergänzte Wilhelm, dem fich vordem, 
troßdem er fi) mannhaft dagegen aufgelehnt hatte, die Augen gefeuchtet hatten, 
nun wieder mit völliger Beherrſchung jeiner jelbit, nun wieder jich gebend in der 
gleichhmütigen, überlegenen Art, die ihm eigen. 


816 Hermann Heiberg, Die beiden Hakes. 


„Ah — Sie jelbitlofer, guter Menſch“ — drangs aus der Bruft des 
Mädchens, während jie mit einem unvergleichlihen Ausdrud von Warmherzig— 
feit nach jeiner Rechten griff. 

Wilhelm aber berührte ihre Hand mit feinen Lippen und jugte: 

„Yaflen Sie mid; jett, ich bitte, zu Karl eilen! Ich jchrieb ihm, er möge 
ein Abendejjen berrichten und guten Wein bereit ftellen. Ich hätte ihm etwas 
mitzuteilen! Und nun babe ich ihm ja auch etwas zu jagen, das ihn im Nu 
wieder gejund maden, das ihn morgen zu Ihnen führen wird als einen Glüd- 
beraufchten auf diefer armjeligen Welt!” 

„Und Sie — Sie — lieber Wilhelm?“ ſtieß das Weib heraus, bolte tief 
Atem in ihrer Bedrüdung um ihn und fuchte fein Auge. „Babe ich Ahnen jehr 
weh gethan?” 

„Nein, Baronejje, da ed mein Bruder ift, den Sie vorziehen! Ich fage 
mit Ihnen, er it ein vollendeter Menſch, nur vielleicht zu gut für dieje Welt. 
Seinem wünſche ich nicht nur ein jo großes Glüd wie ihm, ich weiß auch, daß 
er Sie — die Sie das Allerbeite verdienen — nicht enttäufchen wird! 

„Kümmern, jorgen Sie ſich garnicht um mid. Sch bin ja von anderer 
Art, mich ichlägts nicht zu Boden, wie es ihn vernichtet hätte. 

„Alles ift mir in diefer Stunde offenbar geworden; jetzt erit weiß ich, mas 
Karl wirklich fehlte! 

„sch erfülle nur die rechte Bruderpflicht, wenn ich ihm half, zu erringen, 
was ihm jchon gehörte! 

„Leben Sie wohl! — Ad! Ich ſehe ſchon im Geifte die Sonnen, die über 
Karls Angeficht ziehen, wie überjelig er jein wird! 

„Und noch eines, ich bitte! Wann darf er morgen kommen?“ 

„Zu jeder Stunde! Er wird die rechte Zeit wählen!" Sie jprad; weich, 
mit warın belebtem Auge. 

„So leben Sie denn wohl, teure Baronejje, teure Erneftine!“ 

„sa, fo iftS recht, Danf, mein lieber Freund, mein lieber Wilhelm!” ſprach 
das ergriffene Weib, erhob ſich und lehnte unmwillfürlich für Sekunden ihr Haupt 
an Wilhelms Schulter. Und dann jah fie ihm, während er, ſanft nidend, das 
Gemach verließ, mit ftillen, von dem Wiederichein ihrer Bewegung erfüllten 
Augen nad). 

Als fih aber draußen die Thür ſchloß, ald er das Haus verlaffen, wuhte 
fie die Gedanken an ihn, den Abgewiefenen und Enttäufchten, von ſich abzu- 
Ichütteln, trat vor den Spiegel, betrachtete ihr Bild und rief mit ftrahlenden 
Augen und glüdfelig belebten Mienen: 

„lo doch Du — Du wirft mein, Du vielerfehnter Mann!“ 

Und dann fchritt fie im Zimmer auf und ab und warf das Haupt zurüd 


Hermann Heiberg, Die beiden Hafes. 817 


und breitete die Arme aus wie ein Menjch, der nur jo der Fülle feiner über: 
mächtigen Gefühle Herr zu werden vermag. 
* * 
* 

In Karls gemütlichem Speiſegemach, an dem mit Silber und Kryſtallgeſchirr 
und mit Speiſenreſten und geleerten Flaſchen beſetzten Tiſch ſaßen die Brüder. 

Im Kamin knatterte und kniſterte ein eben noch wieder von der Wirt— 
Ihafterin angefachtes Holzfeuer, das jeinen fcharfen Duft in den Raum fandte, 
während das Aroma der von den Brüdern entzündeten Eigarren ſich nicht minder 
bemerkbar machte. 

An den ſeitwärts zurüdgefchobenen Stühlen lehnten fie fi) bequem zurüd, 
und ein Ausdrud ruhiger, innerer Harmonie lag auf ihren glatten, intelligenten 
Gefichtern. 

Und dann fagte Karl: 

„Sp, nun erzähle aber aud, weshalb Du von einer Werbung um die 
Baronefje definitiv abgejehen haft. Du begreifft, daß ich nach Deiner neulichen 
Erklärung überaus neugierig bin. Haft Du fie etwa fundiert?" 

Wilhelm nidte und entgegnete mit luftig pathetifchem Ernft: 

„Sa, ich habe fie fondiert und da fagte fie: 

„Wenn ich überhaupt einen Mann beirate, fo heirate ich nur den Amts- 
gerihtsrat Karl von Hafe, obſchon er ein ungewöhnlich ſchlechter Kerl ift, deshalb, 
weil er mich behandelt hat, al3 ob ich gar nicht mehr auf der Welt wäre! 

„Und wenn er morgen zwilchen elf und zwölf um mid; anhält, dann gebe 
ih ihm erſt, darauf kann er ſich ficher verlafjen, einige Straftüffe, dann aber 
einen fo herzhaften Verlobungskuß, wie in der Welt nod) nie einer ausgeteilt 
ift. Und weiter habe ich dann aud) nichts zu fagen, er aber hat fi männiglich 
danach zu richten!” 

„Wilhelm! Wilhelm!" rief der Mann, der diefe Worte gehört hatte, und 
fchnellte von feinem Eit empor, al3 ob hundert Liebesgötter ihm einen Freuden— 
rud gegeben hätten. — 

„Zreibft Du einen umverzeihlichen Scherz mit mir, oder —" 

„Rein, nein, teurer Karl!" fiel Wilhelm ihm in die Rede. „Sch ſprach im 
Ernft, und ein taufendfältiges Glüf bleibt ja auch mir, da ich Baronefje Erneftine 
von Euler Bruder werde. Der Weife nimmt vom Guten die Hälfte, wenn er 
den ganzen Teil nicht erhalten kann!“ 

Und nad) diefen Worten folgte in zartfühlender Weije alles ausführlich, was 
zu hören Karl verlangte, und was er aufjog wie eine nad) Honig ſpähende Biene. 

Als aber Wilhelm nad) dem Abjchied von feinem Bruder in fpäter Mitter- 
nacht ernft, nachdenklich und finnend durch die menfchenleeren Gafjen nad) Haufe 


fchritt, flüfterte jein Mund: 
52 


818 Hermann Heiberg, Die beiden Hakes. 


„Es ift ja nun alles gut jo, und wenn ich mir vorftelle, wie überfelig ich 
meinen alten, guten Karl gemacht habe, jo ſchmelzen Schmerz und Enttäufhung 
raſch dahin, und es erfüllt mich lediglich die Befriedigung, daß er zufrieden ift! 

„Aber morgen ift ein anderer Tag, und dieſer andere Tag hat faſt immer 
nah den Abendfreuden des vorigen die jehr üble Eigenſchaft, außerordentlich 
nüchtern, Eahl, grau, ſchwer und ernft zu fein, bejonderd für verwöhnte Lebe- 
männer, die des Gilber8 und Goldes bedürftig find, und die von ungeduldigen 
Släubigern gedrängt werden. 

„Was ſoll ich nun Iſidor Meyer, dem Sicherhoffenden jagen? — Ach werde 
ihm jagen: ‚Lieber Meyer, der Sie aus einem der edelften und älteften Stämme 
der Vorzeit ftammen! Ich babe mich dod) wieder befonnen! Ich fann eine weit 
vorteilhaftere Partie machen! Sorgen Sie fih nit! Sie erhalten Ihr Geld, 
und weil Sie noch länger warten müffen, ſchenke id; Ihnen meine Photographie 
in Slabinettform!‘ 

Ein ironiſch überlegenes Lächeln trat in Wilhelms Züge bei diefer Be- 
trahtung. Dann aber ein jehr ernfter und ein trübe verjchlofjener gar, als er 
nun an der Schwelle feines Haufes anlangte. 

Er gedachte des Weibes, das er liebte, des einzigen, für das er unter den 
vielen frauen, mit denen er im Leben gefcherzt und gelacht, eine wahrhaft tiefe 
Zuneigung befaß, mit nagender Sehnſucht, und er ftand lange, ein Zerftreuter, 
Bedrüdter, unbeweglich auf der Gafje. 

Erit al3 des Nachtwächters Schritte drüben vom Ende der Gaſſe herüber- 
tönten, als defjen Geftalt in dem fchweren, langen Mantel unter dem Laternen- 
licht fihtbar wurde, raffte er ſich auf, ſtrich mit der Hand feſt und energiſch 
über fein Angefiht und ſetzte den unabänderlichen Willen ein: zu vergeſſen, ſich 
alle Gedanken an fie aus dem Gehirn zu jagen! 

Und als er bereit3 auf feinem Lager rubte, fi) feine Erinnerungen noch 
einmal auf die Gefchehniffe des Tages lenkten, als er noch einmal feines, von 
ihm warm geliebten Bruders gedachte, und er fi) defjen glüdjelige Mienen vor: 
ftellte, da gings ihm, dem jonft fühlen Lebemann, durch die Bruft, daß die Ent- 
äußerung feiner ſelbſt nicht zu den jchlechteften Lebensbefriedigungen eines 
Menichen gehöre! 


S 


Scdweiter Kain. 
Don 


Julius Stinde. 


S: war die Sorgfalt ſelbſt, die Heine runde behäbige Dame: fo pflichttreu, jo 
umfichtig, fo zartfühlend, jo ängftli in allem, was das Wohl und Wehe 
ihrer Mitmenfchen betraf, und für ihre nächſten Anverwandten die Aufopferung 
in eigener PBerfon, ein menjchgewordener Schußengel. Und nun ſaß fie da, in 
ftummer Anklage und nagender Reue. Das Gewiſſen jprad. Es fprah und 
ſprach und ließ fich nicht zum Schweigen bringen. 

„Mörderin“ fagte ed. „Kain erjchlug feinen Bruder, und du ... du bift 
Kains Schweiter — Mörderin auch du, deines Bruderd. Kains Schwefter!" Go 
zifchelte das Gewiſſen. Sie jpähte durch das Fyenfter auf die Straße. Nach 
dem Sanitätsrat fpähte fie aus. Der war ihr Mitichuldiger. Er kam nidt. 
Wie ihre Augen ihn auch unter den Daherwandelnden fuchten: fie fanden ihn 
nicht. Und fie hätten ihn aus der weitejten Ferne unter Hunderten erfannt, 
ihn, den Sanitätsrat. 

Wie beim Durchblättern eines Albums Handſchrift und Bild geliebter 
Weſen gar raſch und ficher angehalten werden, ſo bedarf es zum Erkennen der 
in dad Buch unjerer Seele Eingetragenen nur geringer Zeichen, um fie deutlich 
zu erfchauen. So erfennt die Mutter ihr Kind am leifeften Ton, der Liebende 
die Geliebte an Schritt und Gang, und Fräulein Henriette Müller hätte den 
Hetrn Sanitätärat ganz ſicher fchon von weiten erfannt, wenn er gefommen wäre: 
ſei e8 an dem nicht ganz modernen Eylinderhut oder an dem dunklen VBollbart, 
in den fich leider ſchon einige graue Fäden mijchten. Schade um den Bart; 
Ichade um die Jahre. Aber die Zeit vergeht und mit ihr die ungebleichte Jugend. 

Als Student trug er einen Schnurrbart; mit der wachjenden Praris ließ 
er auch jeinen Bart wachſen. Wie harmlos hatten fie in der Frühlingszeit des 
Lebens mit einander verkehrt, als weder an Praris noch an Bart gedacht wurde, 
fondern höchſtens an den nächſten Tag, nicht einmal an die kommende Wode, 
viel weniger an die ferne Zukunft! Die Jugend ift zufrieden mit der Stunde, 
und die forglos zu genießen, ift ihr Recht. Nun aber erdrüdten die Sorgen alle 


Gedanken der Wartenden bis auf den einen: Mörderin. 
32* 


820 Julius Stinde, Schweſter Kain. 


Und der Sanitätsrat kam immer noch nicht. 

Sie ſtand von ihrem Fenſterſitze auf, ging leiſen, unhörbaren Schrittes an 
die zum Nebenzimmer führende Thür und horchte. Alles ſtill. 

„Ob er ſchon tot iſt?“ fragte fie fi bang. — „Warum hat er mic weggeſchickt 
von feinem Sterbelager? Mit fehr heftigen Ausdrüden fogar. Die Krankheit 
macht ihn reizbar. Sonft iſt er fo gut, das reine Gold. Er thut Gutes, viel 
Gutes, doch leider nicht mit dem rechten Sinn. In feinem Herzen ift er ein 
Heide. Schlimmer als ein Heide. Er ift ein Freidenfer geworden. Ein Glüd, 
daß die Mutter das nicht mehr erlebte. — Ob ich Hineingehe? Er wollte Elingeln, 
wenn er etwas bedinfe. Wie kann er aber Flingeln, wenn er hinüber- 
Ihlummert, ohne wieder zu erwahen. Wenn doch nur der Sanitätsrat käme! 
Der geht zu ihm, der ift jo mutig; der fagt fogar, der berühmte Profejjor rede 
Blaak — Wie mag er das mır wagen? Gin Profeſſor, der für jeden Kranken— 
beſuch dreißig Mark anfchreibt, kann doch unmöglich Blaaf reden? Und wenn 
der Profeffor recht bat, ift mein armer Bruder unrettbar verloren. Aber ich 
überleb’ ihn nicht lange; jelbft wenn ich nur da8 gehorjame Werkzeug war. Die 
Schuld bleibt und ich werde vergehen wie ein Schatten.” 

Vorläufig war von einem Scattenhaftwerden nichts zu merken. Das 
rundlihe Antlig der Eleinen behäbigen Dame erſchien troß des obmwaltenden 
Kummers jo mädchenhaft friich wie das Leben felber. Sie war bis dahin aud) 
glüdlich gewejen, glüflih in der Entfagung. 

ALS die Mutter geftorben war, blieb fie dem Vater eine treue Stüße des 
Alters, den zu verlajjen ihr unfaßbar gewejen wäre, hätte man fie genötigt, fich 
mit dem Gedanken daran zu befchäftigen. Der Einzige, der verjucht haben könnte, 
ihr die Frage vorzulegen, ob fie fich nicht einmal mit Trennungsgedanfen ver: 
traut machen möchte, war der Dr. Wimm, aber der fannte fie zu gut, um ohne 
Ausfiht auf Erfolg ihr Gemüt in Unruhe zu verjegen. Der wußte von vorn: 
herein, daß fie jagen würde: „Mein Plaß ift bei meinem Bater, ich bin feine von 
Gott beftimmte Hülfe. Berlangen Sie nidjt, daß ich twider das vierte Gebot 
ſündige.“ Und die Tochter heiraten und mit dem Alten zufammen eine fogenannte 
glückliche Familie bilden ... das ging nicht. Der alte Müller war ein Quer: 
£opf, jo im gefchäftlichen Leben wie im häuslichen. Der Sohn hatte es nicht 
aushalten können — der Doktor verjtand das Warum — und war auf und davon 
gegangen, dahin, wo meift die verlorenen Söhne hingehen, nach Amerika. Der 
Bater fagte nämlich, er jei ein verlorener Sohn. Der Doktor war anderer 
Meinung und äußerte etwas von verftudten Bätern. Das aber gefiel dem Alten 
durchaus nicht, und die Gaftfreundichaft hatte ein Ende. 

Ob der alte Müller gelegentlid; fein Unrecht einfah, muß dahingeſtellt 
bleiben, aber er betrug ſich ſo wie einer, dem klar wurde, daß er ſich ſelbſt zum 
Eſel machte, und der nun erſt recht auf ſeinem Nück beſteht, denn er ergrimmte nicht 


Julius Stinde, Schweiter Kain. 821 


nur gegen den Doktor Wimm perfönlich, jondern warf feinen ganzen Haß auf alles, 
was Medizin und Wiſſenſchaft hieß, und ließ fich in Krankheitsfällen ausschließlich 
mit Naturheilfundigen ein. Der töchterlichen Pflege gelang es allerdings oft, 
wieder wett zu machen, was Unfunde dem alten Herrn zufügte, aber ſchließlich 
mußte auch er der Natur feinen Tribut zahlen, und die Tochter ftand allein. 
Eine Kleine Rente jegte fie in den Stand, bei vorfichtiger Einteilung ihre geringen 
Anſprüche zu befriedigen und auch nod für andere zu forgen. Sie mußte 
wohlthun und helfen, und fie dankte Gott, daß fie es konnte in ihrer Art. 


Sie Fleidete ſich mit reizlofer Genügfamkeit, thörichte Vergnügungen mied 
fie. Arme und Kranke waren ihre Welt, und da fie nad) und nad anfing, ihr 
Geelenheil eingehender in Betracht zu ziehen, Eapfelte jie ſich immer mehr ein. 
Mas ſich draußen begab, war ihr eher ſchrecklich als wiſſenswert, und wenn fie 
in der Beitung die Unglüdsfälle gelefen Hatte und was fih an Gräßlichem er: 
eignet, legte fie das Blatt mit dem Bemwußtfein weg, daß, wenn foldhe Greuel 
das jüngfte Gericht demnächſt notwendig machten, fie den Ausgang mit Ruhe 
abwarten könne, denn wenn auch nicht ohne Fehl, — welcher Menſch dürfe fich 
wähnen, frei von Günde zu fein — habe fie doch mit jenen VBerbrechern und 
Berworfenen keinerlei Gemeinfchaft, deren Thaten ihr Gutenbergs Kunft als 
traurige Botſchaft vom Berfall der Menfchheit allmorgendlih zum Kaffee 
auftifchte. 

Wo aber war heute der Stolz auf ihre Gegenfäglichkeit zu den Kindern 
des Abgrundes? Gelbft ihre guten Werke konnten fie nicht retten, obgleich fie 
ftet3 in Demut, ohne Hintergedanfen auf jenfeitige Belohnung gewirkt hatte. 
Mord blieb Mord. 

Er jchlief immer noch. Sein Zeichen des Erwachens. Das war der 
Todesſchlaf. 


„Hätte ich ihm das Mus doch nur nicht gegeben!“ klagte ſie reuevoll. „Mein 
armer, unglücklicher Bruder.“ Der im Nebenzimmer ſo unheimlich Schlafende 
war in der That der Bruder, der einſtige Familientaugenichts, der aus Amerika 
mit einem großen Vermögen zurückgekehrt war, das er ohne den Segen und 
allerdings auch ohne die Anleitung des alten Müllers erkämpft hatte. Es war 
ihm hart ergangen, aber, nachdem er ſelbſt hart geworden und vollauf gelernt 
hatte, ſeinen Mann zu ſtehen, griff er thätig mit in das Ringen um den all— 
mächtigen Dollar ein und ſchlug ein hübſches Kapital zuſammen. Von der alten 
Heimat wollte er nichts wiſſen. Die neue Welt war ſeine Welt geworden. Er 
ſchrieb ſich Miller, redete nur engliſch, kleidete ſich mit amerikaniſcher Eleganz, 
aß amerikaniſch, trank amerikaniſch und ſchwur auf alles, was einen Stich ins 
Amerikaniſche hatte. 


Da aber kam die Stunde, in der ſein Gemüt erwachte. 


822 Julius Stinde, Schweiter Kain. 


An den Romanen und Rührſtücken wird das Gemüt des PVaterlandäver: 
geffenden gewöhnlich durch ein Lied erwedt, von dem ein liebliches Kind fo viel 
Strophen fingt, bis die Thräne quillt; oder eine Photographie, eine Haarlode, 
ein vergilbte8s Buch find die Talismane, die den Seelenjchrein öffnen, worin 
der patriotische Kern feſt verfchlojfen ruhte. Hier in der Wirklichkeit, bei Mr. Miller 
war es jedoch der Magen, der feinen Befiger zu der Einficht bradite, daß er 
eigentlid) Müller heiße und in Deutfchland daheim fei. Die ſcharfen Würztunfen 
drüben, die ftrengen Getränke, das ewige Eiswaſſer hatten jeine Verdauung ae 
Ichädigt, und als der Arzt ihm Karlsbad zur Kur anriet, als er fi) mit dem 
Gedanken beichäftigen mußte, daß fein Heil nur in Europa zu finden jei, da 
tauchte die Heimat mit dem Zauber der Erinnerung auf, der fchöner malt als 
alle Maler zufammen. So ſchön waren die Bilder, die fie ihm in jchlaflofen 
Nächten zeigte, daß ihm Amerika plötzlich greulic vorfam, und als er jein Gut 
geordnet hatte und endlich jo weit war, einen Plaß auf dem Dampfer zu belegen, 
da ſchrieb er ſich als Müller in die Paſſagierliſte ein. 

Der Zurüdfehrende kannte Deutjchland kaum wieder. E3 war alles größer, 
volfommener und fchöner geworden; freilih war er amerikaniſches Städte- 
wachstum gewohnt, aber was ihn Hier überrafchte, war die Menderung des 
Alten. Er trug die Bilder der Vergangenheit in fich, und die dedte ſich nicht 
mehr mit dem, was die Nugen jahen. Es war die Heimat, und doch war jie 
es nicht. „Berlin ift nicht mehr Berlin” fagte er, „aber es gefällt mir.“ Dem 
Andenken der Eltern trug er Rechnung in jeiner Art. „ES war mein Glüd, dat 
der Alte und ich nicht hHarmonierten“, fagte er, „bier hätte ich es zu nichts gebradıt. 
Und doc hätte ich den alten Herrn gern wieder geſehen.“ Bon der Mutter 
ſprach er nicht, aber er beorderte einen Grabftein für die Doppelgruft draußen 
mit reichitem Schmud. Groß und golden. So wollte er ihn haben. Darauf 
follte eingegraben werden mit großen goldenen Lettern: „Die Liebe ftirbt nimmer.” 

„Und wir wollen leben," ſprach er zu der Schwefter. „Von Deiner puri- 
tanischen Einfachheit will ich nichts wiſſen. Wir haben es, und das Teuerfte, 
was es an Samt und Seide giebt, ſuchſt Du Dir aus. 

Die Schweiter wehrte ab. 

sh will,” fagte der Bruder. „Und Diamanten follit Du haben, große.“ 

„sch nicht. Ich halte.es für Hoffart, jo vielen Prunk zu machen.“ 

„Wenn wir ins Theater gehen, will ih Staat mit Dir machen.“ 

„Theater halte ich für Sünde.‘ 

Ich nicht, mit Ausnahme fchlechter Komödie. Ich habe drüben zu viel 
entbehren müfjen, das erfenne ic) jeit der kurzen Zeit meiner Rüdfehr. Es giebt 
eine Majje Sünde, von der ich erſt wenig genießen Eonnte." 

„Aber Dein Seelenheil?" 

„Laſſe das!" 


Julius Stinde, Schweiter Kain. 823 


„Du weißt doch, daß Hoffart und Weltlichkeit die Schlingen find, mit 
denen der Teufel den Menſchen nachſtellt.“ 

„Mein Kind, ich bin fo viel älter als Du und babe mehr Teufelei gefehen, 
als Du Dir träumen fannft. Die Menjchen find die Teufel; an den ſchwarzen 
Belzonfel mit Hörnern und Klauen glaube id nicht." 

„Slaubft Du an Engel?“ 

„In Menjchengeitalt? Ya. Ich brauche nur Dih anzufehen, dann habe 
ich einen.” 

„Du läfterft. Glaubft Du?" 

„Rein!“ 

„Wie traurig. Du mwarft zu lange unter den Wilden.“ 

„Oh, ich habe Wilde getroffen, die ſich rühmten, ebenfo trinken zu können 
wie die Weißen, die ihnen die Kultur brachten.” 

„Das war fündhaft." 

„Bon den Wilden oder von den Weißen? Thu’ mir den Gefallen und laß ab 
von Befehrungsverjuhen. Ich habe an fo frommen Orten gelebt, daß es 
Sonntags nichts Anderes gab als Ealtes Fleiſch und die hölliſchen Pfefferfaucen, 
mit denen ich meinen Magen gerade ruiniert hab’. Ad kenne die Frömmigkeit 
nad) dem Buchſtaben zur Genüge und bin viel zu ug, als daß ich menjcliche 
Beſchränktheit für göttliches Geſetz hielte.“ 

„Glaubſt Du denn ...“ 

„Borläufig nur an Karlsbad. Aerzte können auch irren. Wenn mir der 
Brunnen geholfen bat, will ich gern an feine Heilkraft glauben. Wir reifen 
fobald als möglich dahin, und wenn wir gefund und munter zurüdfehren, wird 
die Wohnung eingerichtet und das Berfäumte nachgeholt. Du ſowohl wie id), 
wir haben noch viel Gutes vor und. Und ich bin noch lange fein Invalide des 
irdiſchen Vergnügens.“ 

Es war aber mit der Geſundheit des Bruders nicht auf das Beſte beſtellt. 
Er begann zu kranken und die Schweſter wurde beſorgt. Sie ſchlug ihm einen 
ihr bekannten Arzt vor. 

Da fagte der Bruder: „Wie ift es mit meinem ehemaligen Freunde, dem 
Dr. Wimm? Er nahm dem alten Herrn gegenüber meine Partei und ich rechne, 
daß er als Arzt und Freund mich doppelt in Obacht nimmt, obgleich Freunde 
in ihrer Pflicht oft faumfeliger find als Fremde, weil fie ſich auf die Nachſichtigkeit 
des Freundes ftüßen. Ich habe da jo meine Erfahrungen.” 

„Dr. Wimm ift nicht nur praftifcher Arzt. . .* 

„Das finde ich vernünftig. Ein praftifcher Arzt ift in meinen Augen ein 
Doktor, der eine reiche Yrau nimmt. Und er war immer praftijch.“ 

„Sp viel ich weiß, iſt er noch ledig. Aber er ift auch Sanitätsrat.“ 


824 Jullus Stinde, Schweiter Kain. 


„Das beweift, fo viel mir erinnerlid, daß er fich nichts Hat zu ſchulden 
kommen laffen. Alfo her mit ihm; ich kann aud) Sanitätsräte bezahlen. Die 
Hauptſache ift, gefund werden.“ 

Der Herr Sanitätsrat fam. Die Freude des Wiederjehens war gegen- 
feitig. Nach genauer Prüfung ftedte der Arzt feinen Patienten ins Bett, verjchrieb 
eine Mirtur und gab Verordnungen, die Henriette auf das gewifjenhaftefte zu 
erfüllen, gerade die rechte war. „Berhehlen wir uns nicht, daß Ahr Herr Bruder 
nicht unbedenklich erkrankt ift,“ jagte er. „Verlangt er nad Nahrung, jo geben 
Cie ihm Tegierte Suppe mit Eleinen Spargelföpfen und nur leichte Speifen. 
Der Wechſel der Verhältniffe, vielleicht auch etwas Unmäßigfeit bei angegriffenen 
Berdauungsorganen fcheinen mir die ſchädigende Urfache.“ 

„Es fchmedte ihm fo gut. Ach mußte ihm die Gerichte kochen, wie die 
Mutter fie bereitete, namentlid; Eisbein mit Erbfen und Gauerfraut. Und 
Batenhofer dazu.“ 

„Für meinen Sarlöbader Kandidaten wohl etwas zu fchwer. 

„Hat unſer Patient wieder ähnliche Gelüfte, verweigern Gie ihm das 
Berlangte. Die Diät ift bei jeder Behandlung wichtig, bier aber muß fie ganz 
befonder8 berüdjichtigt werden. Am übrigen Hoffe ih auf baldige Wendung 
zum Beſſeren.“ 

Ob nun der Kranke eigenfinnig war oder die Krankheit, das muß dahin- 
geftellt bleiben; die Anzeichen der Geneſung meldeten fich nicht. Im Gegenteil, 
die Berichlimmerung wurde merklicher und merkficher, und der Schlaf, der wohl- 
thuende und Heilung fördernde, blieb aus. 

„Auf dem Grabftein ift noch Pla für meinen Namen,” fagte der Kranke, 
„der Steinmeg kann ihn gleich mit einhauen.“ 

Solche Rede befümmerte die Schwefter fehr. Noch mehr aber betrübte fie, 
daß er heftig wurde, als fie die Gelegenheit wahrnahm, ihn bei den Grabgedanfen 
auf fein Seelenheil aufmerffam zu machen. 

Sie Flagte dem Sanitätsrat ihr Leid. Diefer war der Vertraute ihrer 
Not geworden. Die lange Zeit der Trennung war rein ausgelöfht. Dr. Wimm 
war twieder der Jugendfreund. Er beruhigte fie und fagte: „Die Aufwallung hängt 
mit feiner Leber zufammen. Schonen Sie ihn, geben Sie nah; Widerjprud 
ift gefährlid. Er bedarf ſowohl der körperlichen wie der geiftigen Nuhe. Und 
dann ... . legierte Suppe.“ 

Der Kranke aber ward wild über die legierte Suppe, jo wild, daß er nod 
eine Schattierung gelber wurde, al3 er bereits war. Unb in feinem Zorn begehrte 
er einen anderen Arzt. „Bolt mir den größten Mebdizinmann, der aufzutreiben 
tft," — ‚rief er, „ich kann ihn bezahlen.” 

„Was meinft Du zum Profefjor Traber,“ fagte die Schwefter in ihrer 
Angft, „er ift jehr berühmt und nimmt dreißig Mark für die Viſite.“ 


Julius Stinde, Schweiter Kain. 825 


„Ob Zraber oder Rennpferd ift mir einerlei,“ antiwortete der Bruder jpit- 
giftig, „Habt Ihr nicht noch einen teureren? Auf den Preis kommt e3 mir nicht 
an. Ich will das Beite haben.” 


Die Schmweiter geftand dem Hausdoktor unter peinlihem Zagen, daß ein 
Zu-Arzt gewünſcht twerde, aber da der Sanitätsrat ein weiler Mann war, 
billigte er die Dinzuziehung einer berühmten Spezialität, erlaubte fic jedoch zu 
bemerfen, daß das Rizinusöl, das er bei einem Dreimark-Beſuch verordne, nicht 
eine Spur anders wirkte ald das bei einem Dreißigmark-Beſuch verſchriebene. 

„sch vermochte nicht, ihm zu widerſprechen,“ Elagte Henxiette „und Gie 
hatten mich ja auch vor jedem Widerjpruch gewarnt." 

Profejjor Traber kam. Er fand die bisherige Behandlung durchaus richtig, 
fagte jedoch, daß unter den obwaltenden Berhältnijjen ein Erfolg ſchwer zu 
erlangen fei. „Das Haus liegt gegen Norden," erflärte er, „ich halte einen 
Wohnungswechſel für unbedingt geboten.“ 

„Der Mann gefällt mir," jagte der Kranke, „verfchreibt gleich eine ganze 
Wohnung Der würde in Amerika fabelhaftes Glüf machen. Aber ich ziehe 
niit um, ich habe in meinem Zimmer bier gerade Sonne genug.“ 

Db es nun das Anfehen des großen Mannes machte, oder ob des Sanitäts- 
rat3 Träne allmählich anjchlugen, das zu entfcheiden iſt ſchwierig. Thatfache 
aber war, daß die bedrohlichen Erfcheinungen abnahmen und auch der Patient 
wieder Mut faßte wie feine Umgebung. 

Die Schweiter lobte die Aerzte und ihre Mühemwaltung. 

„Du haft noch Eeinen Medizinmann der Indianer gejehen,“ jagte der Bruder. 
„So ein Kerl madıt ſich zu einem Maskenteufel, daß der Kranke entweder vor Schred 
ftirbt oder aus Angft gefund wird. Und dabei jchreit und tanzt und trommelt er.“ 

„Das thun unfere Aerzte aber nicht." 

„Sie trommeln dod) zuweilen,“ 

„Das babe id) nie bemerft.” 
„Es giebt verfchiedene Arten zu trommeln; mit der Wiſſenſchaft läßt ſich 
gehörig raſſeln.“ — „Du läſterſt.“ 

„Halt mie nicht ein. Für mich iſt Medizinmann Medizinmann, ob rot 
oder weiß . . . einerlei.” 

„Warum willft Du mid kränken?“ 

„Komm, Kind, fei gut. Ich Did kränken? Nicht wahr, wir begraben das 
Kriegsbeil und Du mußt mir ein Labſal bereiten. Weißt Du, die Mutter Eochte 
fo ein delifates Apfelmus . . .“ 

„Bon grauen Reinetten ...“ 


„Banz recht. Daran habe ich immer denken müfjen während der letzten 
fchlaflofen Nacht und das möchte ich eſſen. Kannſt Du es ebenfo bereiten?“ 


826 JZulius Stinde, Schwefter Kain. 


„Gewiß. Aber .. ." 

„Was für ein Aber ift dabei? Und wenn jede Reinette einen Dollar Eoftet, 
ich will es haben." — „Erjt muß ich die Aerzte fragen.“ 

„Belorge mir das Mus. Die Aerzte werden nicht3 dagegen einmenden. 
Soldes Mus kann ein Säugling vertragen. Es ift jo fanft und erfrijchen). 
Ich wollte, ich hätte es gleich, fo gelüftet mid) danach.“ 

Froh, dem geliebten Bruder einen Wunfc erfüllen zu Eönnen, eilte die 
Schweſter in die Küche und kochte eigenhändig das Mus, und als es fertig war, 
fam gerade der Profejjor. So konnte der ohne Zeitverluft gefragt werden. 

Wenn auch der Profefjor ftet3 ein Geficht machte, als könnte er nur eriter 
Klafje fahren, jo nahm er jeßt den Ausdruck an, als hätte ein Göttlicher ſich 
zu den Gterblichen niedergelajjen, wie er ji über die Zulafjung des Apfelmuſes 
zu entjcheiden hatte. 

„Unter feinen Umſtänden,“ jagte er. „Sch übernehme die Verantwortung 
für das Apfelmus nicht. Hat der Patient jedoch unmiderftehliche® Verlangen 
nad; Wpfelartigem, jo dürfen Sie ihm einen Bratapfel geben.“ 

Henriette blidte den Profeſſor fragend an. Sie hatte ihn fichtlich nicht begriffen. 

„sh bin Ihnen die Erklärung meines Verbotes ſchuldig,“ fuhr er fort. 
„Das Apfelmus als folches ftellt nämlich eine breite Fläche dar, auf die fich ım- 
zählige Keime niederlaffen, die in eben diefem Apfelmus einen Nährboden zu 
üppigfter Entwidelung finden, und diefe Keime vermögen derartig zu intervenieren, 
daß Komplikationen eintreten, für deren Ausgang zu bürgen, außer umferer 
Macht ftände. Der Bratapfel als folder jtellt dagegen eine von einer Cutis 
eingejchloffene Maſſe dar, in welcher etwa vorhandene Keime durch die erhöhte 
Teınperatur des Bratens abgetötet, alfo unjchädlich gemacht werden, voran: 
gefett, daß der Apfel nicht platt. Bratäpfel, die einen Riß zeigen, find ebento 
verwerflich wie das Apfelmus, das ich unter obwaltenden limftänden geradezu 
für Gift anzufprechen mich durchaus berechtigt Halte.“ 

„sch fürchte, mein Bruder wird ſich damit nicht zufrieden geben.“ 

„Er wird doch nicht an den Ergebnifjen der Wiflenfchaft zweifeln ?* 

„Ad, Herr Profejjor, er it ein Freidenker geworden da drüben in dem 
Amerika. Er will Apfelmus haben.“ J 

„Leider find bakteriologiſche Kenntniſſe noch zu wenig verbreitet, als daß 
der Laie wüßte, von welchen Gefahren er täglich, ſtündlich, nicht nur an Seuchen: 
pläten, jondern ſelbſt im gewöhnlichen Hausftande umgeben ift. ch habe eine 
Kleine Schrift bei mir, die ich Ahnen zum Studium gebe, damit Sie erfeben, zu 
welchen wunderbaren Refultaten die Wiffenfchaft gelangte. Sie werden erfabren, 
daß in dem Waſchwaſſer einer gewöhnlichen Wäſche in einem Kubikzentimeter, alio 
noch nicht einmal einen Fingerhut voll, fünfzehn Millionen Keime gefunden wurden; 
das Gramm Wäſche enthielt im Mittel dreiundfechzig Millionen Keime.“ 


Julius Stinde, Schmweiter Kain. 827 


„Das ift ja gräßlich,“ rief Henriette. 

„Und doch nicht übertrieben, denn Manfredi wies in einem Gramm frifchen 
Straßenihmutes von Neapel Sechstaufendfehshundertahtundjechzig Millionen 
Keime nad.” 

„Leben denn überhaupt nody Menjchen in Neapel.“ 

Der Profeffor überhörte den Einwurf und belehrte weiter: „Auf jedem 
Duadratzentimeter Bodenflähe eines Schlafzimmers wies die Wiſſenſchaft durch— 
fchnittlich fünfzigtaufend Keime nad.” 

„Die Wiſſenſchaft?“ fragte Fräulein Henriette zuftimmend „Die Wiffen- 
ſchaft ift doch folch mefjingenes Rohr, durd das man fieht?” 

„Sie meinen das Mikroſkop; allerdings ein durchaus unentbehrlicher Apparat der 
Forſchung. Aber auch das Waſſer der Morgenwafchung wurde unterfucht. Denken 
Sie fi: ein Kubikzentimeter enthielt zwei Millionen viermaldunderttaufend Keime. 
Genaue Meffungen haben ergeben, daß Geficht, Hals, Naden, obere Bruft, Arme 
und Hände annähernd eine Fläche von einem halben Quadratmeter darftellen. 
Somit wären von jedem Duadratzentimeter Hautfläche eine Million dreimal» 
hunderttaufend Keime beruntergewafdhen worden. Der jchlimmite Bafterien- 
fänger aber ift der Bollbart. Sie künnen die geradezu grauenerregenden Zahlen 
in dem Schriftchen felber nachlefen. Ich halte daher das Tragen eines Boll- 
bartes von einem Arzte zum mindeften für — unwiſſenſchaftlich.“ 

Der Sanitätörat Dr. Wimm trug einen Vollbart. Henriette errötete über 
die Unmiffenschaftlichfeit des befreundeten Arztes. Sie war jo beftürzt über 
diefen unmiderlegbaren Vorwurf, daß fie ſchwieg. 

„sch hoffe, Ihnen wird jett die Gefährlichkeit des Apfelmufes hinreichend 
klar fein!“ Schloß der Profeffor den Vortrag und gab ihr die Schrift, von der er 
geſagt hatte. Dann ging er zu dem Patienten. Nach einer Weile erichien er wieder. 

„Hat er fi in das Apfelmusverbot gefunden?" fragte Henriette. 

„Er fprad) nicht davon,“ entgegnete der Arzt, „und da jede unnötige Auf— 
regung zu vermeiden ift, berührte ich den Punkt nicht weiter. Im übrigen find 
Sie, mein Fräulein, zumal, wenn fie die Schrift eingehend ftudieren, völlig unter» 
richtet, Ihrem Herrn Bruder die Gründe darzulegen, weshalb ihm nur der Brat- 
apfel geftattet iſt. — Und damit empfahl fich der gelehrte Mann. 

Der Bruder aber verlangte fein Mus. „Wo ift es?“ fragte er. „Wo 
bleibt e8? In Amerika hätte ich nicht fo lange zu warten gehabt.“ 

„Lieber Bruder," begann die Schweſter milde und noch fanfter als fonft, 
„glaubft Du an feinen... .“ 

„Berfchone mich mit religiöfen Fragen,“ begehrte er auf. „Ach will mein 
Mus haben." — „Du meinft wohl Bratäpfel?" 

„Dummes Zeug. Wie kommſt Du darauf? Die Tante Minna gab uns 
Kindern immer Bratäpfel, die fie in ihrem Bett aufbewahrte. Bett und Brat- 


828 Zulius Stinde, Schweiter Rain. 


äpfel hielten jich gegenjeitig warm. Seitdem ich das entdedte, find mir Brat- 
äpfel ein Greuel. Wo bleibt mein Mus?“ 

„Es kocht noch," ftotterte fie, „und dann muß es erft abkühlen.” 

„Setz' es auf Eis. In Amerika wird alles mit Eis gefühlt. Wundervoll 
dies Amerika.” 

„Du fagteft aber doch, daf das viele Eiswafler Deine Verdauung geltört hätte." 

„hu mir den Gefallen und verwechjele nicht Eiswaſſer mit Apfelmus. Ihr 
Frauenzimmer habt eben feine Logik.” 

Zum Glüd fam der Sanitätsrat. — Der erlaubte dem Patienten Apfelmus. 

„Um Gotteswillen, wie konnten Sie meinem Bruder das Mus geitatten,“ 
jammerte Fräulein Henriette, al8 fie mit dem Arzte allein war. „Das ift ja 
Gift.“ Und nun erzählte fie, was fie wußte. 

„Wer hat Ahnen denn den Blaak aufgebunden?“ fragte der Sanitätsrat. 

Da gab fie ihm die Schrift. Er blätterte prüfend darin. „Die Unter: 
ſuchungen find mit großem Fleiß angeftellt,“ fagte er, „und mit den Keimzahlen 
wird es feine Richtigkeit haben, aber ob die Keime giftige Krankheitäfeime find, 
darüber fteht nichtS in der Arbeit. Wären alle die Keime todbringende, würde 
da überhaupt noch ein Menfd) eriftieren?" — „Aber die Wiſſenſchaft ...“ 

„Es ift ihr Necht, ſich mit vielen Dingen zu beichäftigen. Aber trog aller 
Keimzählungen würde ich meinen Bart do nicht abrafieren lafjen. Oder 
wünſchten Sie es vielleicht auf Grund der bakteriologijchen Forſchungen?“ 

„DO nein, nein... . wenn er Ihnen nicht jchadet." 

„Sie fürdten noch am Ende, er könnte mich vergiften?“ 

„Das wäre jchredlich!" 

„Sie nehmen wirklich Anteil an meinem Wohlergehen? 

Henriette antiwortete nicht, ward aber jehr verlegen. 

Der Sanitätörat lächelte vergnügt. „Geben Sie unferın Patienten fein 
Apfelmus,“ fagte er. „Am Nachmittag jpreche ich wieder vor.“ 

Nun hatte der Amerifabruder fein Mus mit großem Behagen gefpeift. „Die 
Mutter Eochte es nicht befjer,” lobte er die Schweſter, die mit wachiender Be- 
jorgnis zufah, wie das Mus aus dem Napfe ſchwand. „Wenn e8 doch Gift 
wäre?" Mußte fie nicht glauben, was ein jo berühmter Mann gejagt hatte? 
Und die wiſſenſchaftliche Schrift? Wie, wenn der Sanitätsrat die Keime nur 
fo leiht nahm, um jeinen Bollbart zu retten? Mit innerer Angjt beobachtete 
fie den Patienten und wartete auf den Ausbruch beunrubigender Symptome, bis 
ber Bruder fie wegjchicte, weil er zu) Schlafen gedachte. Als fie zögerte, fich zu 
entfernen, ward er heftig. Sie ging und las das Balteriendeft, und je mehr fie 
fi) darin vertiefte, um jo gewiſſer ward ihr die Einficht, daß fie ihrem Bruder 
Gift gereicht hätte. Allerdings unter der Anleitung des Ganitätsrats. 

Diefer Schlaf war ein unnatürliher. Vergebens hatte der Bruder Schlaf 


Julius Stinde, Schweiter Kain. 829 


erfehnt. Nun war er gefommen nad) dem Apfelmus mit den unzöhligen Sleimen. 
Das war Todesſchlaf. — „Mörderin!" raunte ihr Gewiſſen. Und gelogen hatte fie aud). 

Wenn nur der Ganitätsrat käme. Bielleiht daß rechtzeitig angewandte 
Gegenmittel da8 Unvermeidlihe abwendeten? Ob fie zu dem Profeſſor jchidte? 
Was würde der große Mann fagen, deifen Berbot fie übertreten? Er künnte nur 
wiederholen, was fie jich felbit fagte: „Mörderin. Kains Schwefter." — Da endlid). 

„Sie kommen vielleicht ſchon zu fpät,“ rief fie den Sanitätsrat entgegen. 

„Zu jpät?" fragte der Rat erichroden, „wie wäre das möglich?“ 

„Das Mus! DO, hätten wir es ihm nicht gegeben. Mein armer Bruder. 
Er regt ſich nid;t mehr.” — Der Sanitätsrat ging in das Sranfenzimmer. Henriette 
folgte ihm. „Wie geht es?“ flüfterte fie angiterfüllt. — „Er ſchnarcht,“ fagte der 
Sanität3rat und taftete vorfichtig den Puls des Schlummernden. Der erwadite. 

„sh glaube, ich habe einen vernünftigen Nick gemacht," fagte der Kranke. 
„Wie das erquidt, ſich einmal ordentlich wieder auszufchlafen. Ich fage Dir, 
Henriette, Dein Apfelmus ift gut. Mehr davon.“ 

„Nicht fo viel auf einmal,“ warnte der Sanitätsrat. — „Aber ich Habe Appetit.“ 
„Borzügliches Zeichen. Wie wäre es mit etwas Hühnchen?" „Mit Apfelmus? Ya.“ 

Henriette war wie erlöft, ald der Sanitätsrat ihr verficherte, daß eine er- 
freulihe Wendung zum Beſſeren eingetreten fei, und doc) brad) fie in Thränen 
aus, als fei das größte Unglüd gefchehen. Sie war aus ihrem feelifchen Gleich: 
gewicht geraten. Sie hatte bis jett alles feit geglaubt, was ihr mit Ueber- 
zeugung gejagt worden war, und nun hatte der Zweifel fich ihrer bemächtigt. 
Wus follte fie glauben, wen follte fie glauben? Einer aber hatte recht gehabt, 
und das war der Ganitätsrat; der ftand wie ein Feld in tobender Brandung. 

Er ſprach ihr Troft zu und fie gab ihm nach und nad) Gehör. Und dann 
plauderten fie von alten Zeiten und von der Zukunft und wie es ratfam wäre, 
daß der Bruder ſtets einen Arzt zur Seite hätte, und wie herrlich ji ein Heim 
einrichten ließe, in dem ſie alle drei bei einander wären, der Patient, der Arzt 
und die Pflegerin. Dieſe als die Gattin des Arztes. — Und fo fam es, daß fie 
dem Sanitätsrate troß jeines Bazillenbartes den Verlobungskuß gab. 

Der Profejjor hat nie erfahren, daß fein Apfelmusverbot nicht innegehalten 
worden war, ja, Henriette ließ ihn bei der Meinung, daß diefes den Bruder vor 
jähem Ende bewahrt hätte. Sole offenbare Berfcjleierung der Thatfachen lief 
fie fi auf Betreiben des Sanitätsrats zu jchulden kommen, deffen Anſchauung, 
‚man muß nie zu viel glauben‘, auch bei ihr allgemad) zur Geltung gelangte. 
Herner ift fie der Auficht, daß felbft Freidenfer, wie ihr Bruder, doch wohl nicht 
ganz verworfen fein fünnen, da doch an ihm ein fichtliches Wunder gefchehen. Sie 
fängt an, ſowohl über den Teufel wie über Keime ihre eigenen Gedanken zu haben. 


© 





Ben Beutichen in Alordamerika. 


Dur allen Kampflärm und Bader der Zeit, 
Durc der Parteien und Völker Streit 

Tönt eine köftlihe Freudenkunde, 

Wlebt eine feftlibe Wleibeftunde, 

Die hoch über den ftürmenden Wlogen 
Strablt wie ein leuchtender Friedensbogen, 





Weber die See grüfzt fich Deutfches Blut, 

Ueber die weltweite Abceresflut, 

Vom Stromesriefen am Urwaldsrand, 

Von Salzfcee und Steppe, vom Wleideland, 

Bus der Riefenftädte Gewübl und Gebraus, 

Aus Brbeitsballe und Farmerbaus, 

Wo deutfcber Fleiſz nur wirkt und ſchattt 

Bit Dem Beil, mit dem Pflug, mit des Geiftes Kraft: 
Wo deutſch nur ein Herz fchlägt, beut feiert die band, 
Denn ein Grüfsen fchwingt ſich vom Vaterland! 





Schon ſchwillt es berüber wie Glockenfturm, | 
Von des Rbeinftroms Borden, vom Abdünfterturm, 

Vom Beckar, vom ZBain, von des Schwarzwalds Böb’n, 

Von Beimatsglocken cin ſchwingend Getön, 

Bus Franken und Schwaben, aus Sachfen und Abark, 

50 febnfuchtberückend, fo wonnig und ftark, 

| Wie Eichwaldraufchen, Zabrtaufende weit, 

| Ertönts, wie Gedanken der Welt-Ewigkeit, 

Daſz fchauernd Das berz in der Bruſt fich befinnt: 

Die uralte Mutter grüfzt wieder ihr Kind. 


— En 








Aus dem Lande der Väter, der Jugend, erfchallts, 

Aus dem Lande der Wartburg, des Sachfenwalds, 

Bus dem einigen Reich, aus dem BDeutfchland der Tbat, 
Dem Bbüter des Friedens im Völkerrat, 

Ueber Beer, über Zand, über Bergwald und Fluß — 
Und der Kaifer fendet den Friedensaruf:. 


Der Kaifer! Der Kaifer auf Deutfchlands Thron, 
Er fendet den Bruder, den Katferfobn; 

Des Siegers von Wiörtb, Des Tilgers der Schmach, 
Der dem Reich, der der Einbeit die Gaffe einft brach; 
Moc glänzt uns fein Auge fo kübn und fo mild: 

Doch grüfzt euch im Sobne fein Beldenbild! 


Und grüfst Euch des Kaifers Abajeftät, 

Alldeutfchland an feiner Seite ftebt, 

Alldeutfchland grüfzt feine Söhne aufs Meu, 

Unterm Sternenbanner der beimat getreu. 

Euc alle, die Ihr uns deutfcbe Art, 

Den Schatz unfrer Sprache in Treuen uns wabrt, 

Die der Lüge Ihr webrt, und ein Schild für Das Recht 
Von Lande zu Land, von Geflecht zu Geflecht. 

Der beimat, der neuen, zu Rubm und zu Wlebr; 

Für Deutfchlands Ebre: die Wacht am Abcer. 


Gefegnet Das Land, Das Euch Scholle und Brot, 

Das beimat und Arbeit und Freibeit Euch bot, 

Deif "Wildnis dereinft Euer Blutſchweiſz getränkt, 

Def’ Schlachtfeld dereinft Euer Berzblut befprengt — 
Das Wleltreich, das MWacht Euch und Gröfze nun ſchenkt! 


Und ein Braufen fcbwillt an, und ein Klingen wird wach, 
Und Millionen von berzen entringt fibs gemach! 

Und zurück über’s Adeer wogt das Fricdensgeläut: 
Allewig ein Volk und ein berz fo wie beut! 


Berlin, den 22. Februar 1902, Zulius Lobmever 





MCHEHEH TH HHEHELEH HN NT 


Nationale Erziehung. 


Don 
Wilhelm Münch. 


D* fann man ſich feiner Täuſchung bingeben: einen jo fchönen Klang, wie 
für und vor einigen Jahrzehnten, hat das Wort „national“ für das heutige 
Geſchlecht ſchon nit mehr. Schuld daran iſt einmal die rollende Zeit, die 
immer wieder abwärts gleiten läßt, was auf der Höhe der Kraft und Wirkung 
war; dann aber doch auch menſchliches Ungejdid, das in dem Wunfche der mög» 
lichiten Pflege des Nationalgefübls jih in den Mitteln vielfach vergriffen bat. 
So ift eine gewijje Ermüdung weithin eingetreten, in verhältnismäßig kurzer 
Zeit, oder doc) eine jehr merkbare Wandlung in der Beichaffenheit diefes Gefühle. 
Starke Gefühle gleihmäßig zu bewahren, wird einer Gemeinfhaft von vielen 
vielleicht noch fchwerer als dem einzelnen: es wirft da zu viel natürliches Schwer- 
gewicht leife verjchiebend. Am Blute liegt ja und Deutfchen ein leidenfchaftliches 
Nationalgefühl nicht; es finkt leicht tief in den Boden des Gemüts ein, es muß 
durch Erfahrungen belebt, durch Einficht gehalten, durch Berhältniffe aufgerüttelt 
werden; und jo gewinnt es auch unter wechjelnden Verhältniſſen ein verfchiedenes 
Gepräge; in einer Periode der Hebergänge unterliegt es eigentümlidyer Schwan: 
tung. Zwar ift uns die ideal-heroiiche Form des Nationalgefühls nicht verloren 
gegangen: daß man das Vaterland als eins der höchſten Güter im Herzen trägt 
und ſich wohl bewußt ift, wie viel man ihm zu opfern jchuldig fei, daS Bewußtfein hat 
unter uns ja nicht aufgehört. Aber mehr in den Vordergrund tritt eine andere Aus— 
prägung, mit der Richtung auf nüchtern aktive Sicherung des nationalen Wohl: 
ergehens, des wirtjchaftlidhen Beitandes, des Raumes zur Entfaltung, des Er- 
folges im Wettbewerb der Nationen. Scelten wird man diefe Erſcheinung nicht 
dürfen, denn die Zeit erfordert fie wirflid. Dod wie nahe die Gefahr Liegt, 
daß hier das Edle überhaupt aufgehe im Unedlen, follte niemanden entgehen. 
Die Gefahr der Bergröberung fteht eben neben derjenigen der Ermattung, wie 
die der Verirrung nahe bei derjenigen der Neberreizung. 

Es bedurfte nicht erit folcher Unficherheit, um den Begriff nationaler Er— 
ziehung zu einem ſchwankenden zu machen; aber umjoweniger ift man zur Zeit 
darüber eines Sinnes. Daß fich zwiſchen Nationalität und Erziehung ein enges 


Wilhelm Münch, Nationale Erziehung. 833 


Berhältnis von ſelbſt einjtellen müjje, das anzunehmen liegt nahe, und die An- 
nahme trügt auch nicht ſchlechthin. Indeſſen, wie ungleich ift die Beziehung in 
Wirklichkeit von jeher geweien! Wie jtarf haben äußere und innere Einflüfje 
gewirkt, lodernd, zerteilend, ummmandelnd und auch verfehrend! Bildungsideale 
haben fich übertragen von Nation auf Nationen, Ueberlieferung wirkt weithin in 
Raum und Zeit; daß man ji) recht auf ſich ſelbſt bejinnt, ift Schon nicht allzu 
häufig; daß man auf fich jelber ftehen will, noch feltener. Auch iſt's mit dem 
Wollen jchlechthin nicht gethan: natürliche Bedingungen müſſen entgegentommen, 
natürliches Werden ift am ſtärkſten. Die Griechen bejagen nationale Erziehung 
in einem vollen Sinne, Sparta noch mehr al Athen. Es war Erziehung für 
die Nation durch die Nation, für die nationalen Lebensziele durd) den nationalen 
Seift, in Formen, die diefem Geift und diejen Zielen entſprachen. Dennoch ftellte 
Plato für diefe Erziehung ein noch viel jtrengeres deal auf und verlangte defjen 
Verwirklichung. Das jpätere Hellenentum gab jeine Normen mindeftens für die 
intellektuelle Erziehung allen den Bölfern, die in die Reihen der Kulturnationen 
hineinftrebten, doch ohne daß nationale Unterichiede ſchlechthin jich verwiſcht hätten. 
Das fo entitandene jpätere römische Erziehungsideal — wenn es ein Seal genannt 
zu werden verdient — ward dann weithin maßgebend für die Ummelt, und in- 
zwifchen folgte dem Hellenismus das Ehriftentum mit feinem mädjtigen, feinem 
fait unbedingten Einfluß auf die Erziehung in allen ihm geöffneten Ländern, all: 
mäblic in der klerikal-ſcholaſtiſchen Form des Mittelalters, um jpäter abgelöft 
zu werden von dem ganz ähnlich allerwärt3 normgebenden Humanismus, zunächſt 
in feiner lebendig flüfjigen Gejtalt und dann in der erftarrenden. 

Was unter der ftraffgewordenen, gemeinjamen Dede der Erziehung von 
nationaler Eigenart verblieb, war nicht geradezu verichwindend, aber doch weit 
weniger nod) entjcheidend. Sicherlich ift der Geilt der Familienerziehung niemals 
gleich gewejen, in deutihem Land zum Beiipiel und in wälſchem, abgejehen etwa 
von der höfiſch gerichteten, oberſten Schicht; ficherlich ift eine englifche Jugend 
unter anderen Hausregeln gehalten worden als eine franzöfifche oder ſpaniſche; 
aber man darf doch nicht altbefannte Unterfchiede von heute beliebig weit zurüd- 
datieren. Den tiefjten Unterjchted auch für den Geift der Erziehung mußten die 
ſich allmählich) feſt und endgültig von einander löfenden Konfeffionen hervorbringen, 
natürlich auch ihrerjeits nicht ohne Wechſelwirkung mit dem nationalen Blute. 
Dazu kamen aber, und wiederum nicht ohne diejelbe Wechfelwirkfung, die befondere 
Kulturrihtung des einen und ded anderen Bolfes, u. a. die künſtleriſche der 
Staliener, die joziale der Franzoſen, die politifche der Engländer, und — wenn 
auch nicht gleichzeitig, fondern mehr einander folgend und beinahe ablöjend — die 
nationalen Litteraturen! Bielleicht befitt nichts jo viel Bedeutung für die Bes 
wahrung oder Herausbildung nationaler Eigenart in der Erziehung und durd) die— 
jelbe, als die Elafliihe — das heißt hier die beite und typiiche — Litteratur 

53 


834 Wilhelm Münd, Nationale Erziehung. 


eines Volkes, die ja aber bei unjern Kulturvölkern nur duch ein Zujanımen- 
wirken der von auswärts aufgenommenen Bildungselemente mit dem eigenen 
Volksgeiſt entftanden ift und darum nicht jchlechthin national im Sinne des 
Ausſchluſſes und Abſchluſſes fein kann. Ueberſchätzen freilih fann man dod 
auch diejen Einfluß; auch feine Kraft fcheint periodenweije zu verjagen, wie jte 
periodenweife fich beſonders voll bewährt. 

Aeußere und innere Verhältniſſe haben bewirkt, daß ſich im neunzehnten 
Kahrhundert die Nationen mehr als vordem auf ſich ſelbſt beſannen. Wenn jte 
damit innerlid) mehr als vordem aud; auseinander traten, jo wirkten dod) wiederum 
innere Antriebe zufammen mit äußeren Wandlungen, um fie gleichwohl ftet3 neu 
einander zu nähern. Ueber das mwünfchenswerte Maß von Abſchluß und An- 
gleichung, über erlaubte oder verwerfliche Nahahmung, flüffige oder unmandel- 
bare Erziehungsideale können die Anfichten Schwerlich zufammenfallen: hier wird 
immer das Gefühl enticheiden, und die ſich mannigfach wandelnden Berhältnijje werden 
fprechen. Ueber bejondere Ausartungen als ſolche verjtändigt man ſich ziemlich 
leicht; aber damit ift die rechte Linie, die gefunde Norm noch keineswegs gegeben. 

War es gejunde Norm, was im eriten Jahrzehnt des Jahrhunderts Fichte 
aufftellte, als er in feinen Reden an die deutjche Nation eine Nationalerziehung 
forderte, die die männliche Jugend ganz früh den fyamilien entzöge, um jie in 
gemeinjamem Leben ausdrüdlicd für ihre nationale Beſtimmung vorzubilden? 
So rüdjichtslos Erhabenes hatte ſeit Plato niemand zu fordern gewagt, wenn 
auch das Verlangen, durch eine nationale Erziehung eine ſolche zu erjeßen, die 
diefen Charakter allzu fehr entbehre, bald in deutſcher, bald in franzöſiſcher 
Zunge wiederholt vorgetragen worden war (3. B. von Nouffeaus nicht unver: 
ächtlichem Zeitgenofjen de la Chalotais). Für Fichte galt es nicht bloß Er: 
ziehung in nationalen Anftalten, nad ftaatlic; beftimmten Normen, aud nicht 
bloß Tühtigmahung für die äußeren nationalen Zwede und Bedürfniffe, für die 
Selbjtbehauptung mit Schuß und Truß, für ein gedeihliches Yunktionieren des 
gemeinfamen Lebens vermittelt gejunder und ftrenger Organijation; jondern es 
galt Aufgehen des einzelnen in den höheren Intereſſen der Gemeinjchaft, Er- 
füllung mit dem Geift der Dingebung und Aufopferung gegenüber dem Ganzen, 
Erhebung des Ich über alles natürlihd Schwächende und Einengende zu einem 
jelbftlos idealen Wollen. Und jo bat man unferm Philofophen auch niemals 
das Ungeheuerliche feiner Forderung übel genommen: man fühlte mit Recht mur 
den Aufflug des idealiftiichen Geiltes. Indes ift Verwirklichung doch auch nicht 
gänzlich ausgeblieben. Wenigſtens brachte und das neunzehnte Yahrhundert 
nationale Schulen mit fefter Organifation nach einheitlichen und ftaatlichen Ge— 
fichtspunften, mit einem Bildungsinhalt, in dem das nationale Element allmählich 
breiten Raum gewann, und aud) eine gewijje Berbindung der Schulerziehung mit 
dem nationalen Deeresdienit, der feinerfeit3 an der Volfserziehung mitzuarbeiten 


Wilhelm Münch, Nationale Erziehung. 835 


immer deutlicher beftimmt wurde. Im höheren Schulwejen bradite die Herrfchaft 
des Neuhumanismus, wenn auch nicht glei von Anfang an, allmählich dod) 
ausdrüdlich die Verbindung zwifchen antiker und chriftlichedeutjcher Gedanfenmwelt, 
eine ebenmäßige Würdigung diejer beiden, ehedem gegen einander fo gleichgültigen 
Welten, eine Aufrichtung der einheimifchen edlen Dichtung zur Seite der hellenifchen; 
und allmählid errang auch die vaterländiihe Geſchichte ſich den anfehnlichiten 
Raum im Lehrplan, wo ſie lange vor der Breite der antiken oder der Fülle der fremd: 
Jändifchen nicht zu ihrem Recht gelangt war. Alles dies nicht ohne Zufammenhang 
mit den Erlebnifjen, mit der Entwidelung der Geſchichte: mit dem jehnfuchtsvollen 
Zurüdbliden nad) vergangener Herrlichkeit zuerit, dann mit dem fich vertiefenden 
Bewußtſein des wahren nationalen Bedürfnifjes, und ſchließlich mit der im großen 
Kampf erwiejenen Ueberlegenheit, mit der erworbenen neuen Madtitellung im 
Kreiſe der Nationen. 

Dennod, wie vieles jteht dem Glauben entgegen, daß die rechte Organilation 
der nationalen Erziehung für uns gefunden ſeil Ja, wird fie jemals gefunden 
werden können, zu allgemeiner Befriedigung und al3 dauernde Norm? Dieje 
Frage liegt nahe genug im Hinblid auf die innerhalb des nationalen Geſamtlebens 
verbleibenden tiefen Unterjchiede der Weltanfchauungen und Ueberzeugungen, neben 
den immer fortwirfenden Gegenfäßen der Stammesart und neben fo manchem andern, 
was unfere von aller Einfachheit jo weit entfernte Kultur hier Erſchwerendes mit fich 
bringt, im Hinblid aud) auf den jteten leifen Wandel der inneren wie der äußeren 
Verhältniffe. Und die Frage fo aufwerfen und begründen, heißt ſchon fie beant- 
mworten. Aber daß immer wieder VBorfchläge dargeboten und Formulierungen 
verfucht werden, ift ebenſowohl begreiflih. Sie gehen zum Teil ins Aeußerliche, 
oder ins Willfürliche, Eigenfinnige, Einfeitige und mitunter aud) ind Krankhafte; 
man fann ihrer manche auf jid) beruhen lafjen. Halten wir uns auf fchlichten 
Linien. 

Zu den vollen Gedanken Fichtes ftrebt wohl niemand unter uns wieder 
zurüd. Eine praktiſche Berwirklihung hätte immer weit unter dem bleiben 
müfjen, was Fichte erhoffte. Durch erzieheriiche Einrichtung nicht bloß die innerfte 
Gelinnung einer Nation überhaupt wandeln, fondern ihr eine allgemeine und zu— 
verläffige Richtung auf das Ideale geben, den Egoismus austilgen wollen, das 
heißt für alle Zeiten Unmögliches finnen. Wir bejcheiden ung jegt im allgemeinen 
mit viel Einfacherem. Zum Teil bejcheiden wir uns offenbar allzu fehr. Es 
giebt gute Baterlandsfreunde, die doch meinen, daß unfere nationalen Erziehungs: 
einrichtungen nun einmal als ſolche bewährt feien, daß fie, jo wie fie find, fich aus 
den vorhandenen Bedingungen entwidelt hätten und die normale Ausprägung 
nationaler Erziehung darftellten, daß namentlich auch unfere großen Erfolge und 
Fortſchritte Zeugnis ablegten für die Güte der erzieheriichen Unterlagen. Man 
hört diefe Anfchauung zumeilt von befonderen Freunden der humaniſtiſchen 

58* 


836 Wilhelm Münch, Nationale Erziehung. 


Studien, etwa des Gymnafiums in derjenigen Geftalt, wie fie um die Mitte des 
abgelaufenen Jahrhunderts vorhanden war. Jene ſchon erwähnte Verbindimg 
der deutſchen mit der altklaffiichen Geiftesmwelt, die ftete Nährumg des deutjchen 
Geiſtes ausdrücklich durch den antiken, ift den Vertretern diefes Standpunfts die 
ideale und unablösbare Verwirklichung des echt Nationalen. Und ficher ift es 
ganz verkehrt, mit dem oberflächlihen Spott modernen Selbjtbewußtfeins darüber 
abzuurteilen; aber halten läßt ſich gleichiwohl der Standpunkt nit: wie viel wir 
ihm für die Vergangenheit verdanken, fo ift feine Kraft eben nicht auf der alten 
Höhe geblieben, nach Geſetzen alles menschlichen Lebens oder doch Gemeintchafts- 
(lebens und unter dem Einfluß nicht zu mißachtender äußerer Verhältniſſe. Nicht 
bloß die äußeren Formen und Einrichtungen des Lebens erfordern, foweit fie ſich 
nicht von ſelbſt fortbilden und umbilden, immer wieder in gewiſſen Zeitabitänden 
Prüfung und Anpafjung, fondern aud) die inneren Wege Eönnen nicht dauemd 
ganz die gleichen bleiben; die Söhne fühlen nicht genau wie ihre Väter oder 
Großväter, ihr Inneres empfängt nicht die gleichen Reize und erwidert darauf 
nicht in gleicher Art. Auch bleibt zweifelhaft, wie eng der Zujammenbang 
zwifchen den äußeren nationalen Erfolgen und den Grundjäßen oder Gepflogen- 
heiten der AJugendbildung der höheren Stände angenommen werden muß, und 
fiherlid; fann man diefen Zuſammenhang jehr überſchätzen. 

So wenig nun, wie das einfache Beharren bei dem „Bewährten“ (was oft 
doch nicht viel mehr ift ald das Gemwohnte), jo wenig kann es befriedigen, wenn 
andere erklären, die nationale Erziehung vollziebe fi als ſolche immer von felbit 
und mit Notmwendigfeit, fofern wejentlich durdy) Sprache und Litteratur die Denk: 
weile beftimmt fei, durch Boden und Abftammung die Sinnes- oder Gefühlsart, 
durch Sitten und Einrichtungen die Form des Lebens und Sichdarftellens aud 
für den einzelnen. Das alles reicht in der That weit, aber doch nicht weit 
genug; es bildet die unentbehrliche Grundlage, aber wie wenig hat dieſe jich 
gerade bei uns in der Vergangenheit als ausreichend erwiefen! Wir find damit 
vor einer Ausländerei nicht bewahrt geblieben, die für ein Volk von oberflädhlicher 
Begabung und beicheidener Entwidelung nicht beſchämend geweſen wäre, aber für 
ung gerade um dejjen willen, was wir fein Eonnten und follten, um jo mehr. 
Und hat man gegenwärtig etwa wirflid aufgehört, fi über Gebühr nachahmend 
und huldigend zu bezeigen? Man denke 3. B. an die Rolle, welche das fran: 
zöfiiche Sittendrama bei uns doch wieder jpielt, um von der fouveränen Herrichaft 
englischer Lebensformen zu Schweigen. Der Unterichied von ſonſt und jett ift weſentlich 
der, daß wir, ehemals fchlehthin uns unterordnend und uns mißachtend, jett eber 
zwifchen den Ertremen hin und her ſchwanken, den Ertremen der Unterichäßung 
und der Ueberſchätzung unjeres Wertes, unjerer Kraft. Mit dem bloßen Gehen: 
laffen der natürlichen Bewegung ift es alfo doch wohl nicht gethan. 

Diefem ganzen Standpunkt tritt man mit Beltimmtheit gegenüber, wenn 


Wilhelm Münd, Nationale Erziehung. 837 


man zu bewußt nationalem Leben durd) die Erziehung binführen will, zu be- 
mwußter und gewollter Bermirklihung deutichen Wefend und Fühlens. In der 
That kann eine planvolle Erziehung nicht darauf verzichten, diefes Ziel als folches 
mit aufzunehmen. Gerade die höher geführte Erziehung, diejenige, welche den Nach— 
wuchs von „Bebildeten“ liefern fol, muß ein in vollerem Maße bewuhtes Leben auch 
nach diefer Seite pflegen und fichern: „unbewußt“ und „ungebildet“ berühren ſich doch 
eine ganze Strede weit. Doch freilich, ein jehr verſchiedenes Gewicht kann man 
dieſem Ziel neben andern Zielen der Bildung geben, man fann es fi in 
mannigfach abweichender Ausprägung denfen, und kann mit ebenfo mannigfad 
verichiedenen Mitteln es zu erreichen ſuchen. So hat jid) im Gegenfaß gegen 
jenen humaniftifchen Standpunkt bei manchen die Ueberzeugung gebildet, daß nur 
eine möglichjt breite, andauernde und alljeitig eindringende Bejchäftigung mit 
deuticher Sprache und Litteratur, unter Dintanfeßung oder Ausſchluß anderer 
und namentlich der alten Spraden, das rechte Deutjchtum der Zöglinge fichern 
werde. So joll aud) der möglichft vollftändigen und präzifen Kenntnis der vater: 
ländiſchen Gejchichte diejenige anderer Nationen oder Zeitgenofjen mehr und mehr 
aufgeopfert werden. So glaubt man ferner, durch ftet3 wiederholte Erinnerung 
an alle vaterländifch wichtigen Ereigniſſe, Handlungen, Erfolge, Namen und 
Daten das Intereſſe am ficherften lebendig zu erhalten, und namentlich durd) 
rühmende Erinnerung das nationale Selbjtbewußtjein und durch unermüdliche 
Empfehlung der Vorbilder die Nahahmung und Nachfolge. Und jo gewiß gute 
Wirkung von all diefen Mitteln ausgehen kann, jo wenig tft jie doch zuverläflig 
und fo viel Gefahr heftet fih aucd daran, Gefahr der Ermüdung und Ab: 
ftumpfung, Gefahr der Enge und Befangenheit, Gefahr der inneren Reaktion, 
des jpäteren Umſchlags, wie das alles ſich bereitS oft genug wirklich eingeftellt 
hat. Wie man von größerer Höhe aus einen weiteren Umblick bat, fo jtellt ein 
weiterer Umblick uns auch auf größere Höhe, und es darf dod wohl im beften 
Sinne nationale Eigentümlichkeit für uns bleiben, zu folder Höhe des Stand: 
punkts nebſt dev Weite des Umblicks zu ftreben. 

Mehr als einmal haben wir num auch jchon die Forderung zu vernehmen 
gehabt, es müſſe das nationale oder patriotiiche Element für das deal und das 
Programm der Erziehung von nun an geradezu diejenige Stellung erhalten, 
welche dem religiöien Lebensprinzip jo lange angehört habe. Das lettere jei 
nun einmal in unjerev Generation nicht mehr wie ehedem lebensfräftig, und das 
Nationalgefühl ſei zum Erſatz berufen. Das Baterland, das irdiiche, das ums 
ja ein heiliges in der That heißt und heiten darf, könne und jolle das Heilige 
für uns werden, die Gefinnung der Mufopferung und Dingebung an dasfelbe die 
höchſte ethische Konzentration bedeuten. Man Scheint zum Teil fogar zu meinen, 
daß man damit obfiegen fünne über die trennende Wirkung der veligiöfen Konfeſſionen. 
Alle diefe Erwartungen könnnen fo wenig einfichtsvoll heißen, wie fie an ſich 


838 Wilhelm Münch, Nationale Erziehung. 


ſelbſt wenig erfreulich find. Berzweiflung an einer fortdauernden Macht wirklichen 
religiöjen Empfindens foll uns nicht überfommen: man müßte damit an vielem 
verzweifeln, was zu dem Beſten des Lebens gehört. Nichts Diesjeitiges, Greif: 
bares, Wandelbares fann in den Rang des Höchften eintreten, kann zum Heiligen 
im unbedingten Sinne werden. Nur nähern fann es fich diefem, und eine ähnlich 
volle Herrichaft über die Seele erlangt es mit Necht namentlich in den großen 
Zeiten der Not und Gefahr. Aber darum fteigt das Patriotiſche nicht wirklich 
auf in den Rang des Religiöfen. Das eine und das andere au nur allzu eng 
und allzu dauernd verbinden zu wollen, ijt vom Uebel: es fommt dabei auf eine 
fünftlije Ueberfteigerung der nationalen Gefühle hinaus, oder auf ein Derab- 
ziehen des Neligiöfen. Schon das gleichzeitige Gebet der ftreitenden Nationen zu 
dem einen Lenker der Schladten um Sieg über den Gegner wird dem nicht 
mehr ganz naiv Fühlenden faft peinlich. Aber jedes Vaterlandsgerfühl, das nicht 
ohne Geringichäßung oder Abſcheu oder Haß gegen das fremde lebendig bleibt, 
ift in Wahrheit ein ziemlich unheiliges Ding. Es ijt in diefer Mifchung oder 
Legierung doc; nur eine Art von Surrogat für die jchöne freudige Liebe, ein 
Surrogat zum Gebrauch der Eleinen Seelen, die wie „die Kleinen Börſen“ echte 
Werte nicht erichwingen fünnen. 

Eine andere, und jehr wohlbefannte Verbindung ift das Baterlandsgerühl 
da eingegangen, wo e3, jo zu jagen, zu viel Erdcharafter trägt, wo die heimiſche 
Erde in einem allzu Eonfreten und engen Sinne ſich geltend macht. Durften 
wir Deutichen vor einiger Zeit glauben, davon, nachdem wir fo lange darunter 
gelitten hatten, nun befreit zu fein, uns im ganzen und endgültig über den 
Partikularismus erhoben zu haben, jo iſt daS leider eine große Täuſchung ge: 
wejen, denn die Anzeichen des Gegenteil find gegenwärtig überreihlid. Das zu 
fehen fchmerzt doch nicht nur um der praftiichen Seite willen, wegen der Ge— 
fahren, die unjerer Zukunft damit drohen, fondern auch aus idealen Geſichts— 
punft: weil es zeigt, wie viele unferer Landsleute ftärfer von dem ihnen ge- 
wiljermaßen phyſiſch Zugehörigen, dem durch Gleichartigkeit Bequemen beherricht 
werden, als von Tdeenhaften Mit Eigeniinn und Mißtrauen bat der Parti— 
Eularismus doch viel zu thun, und alfo mit innerer Enge; er ift eine Form des— 
jenigen Egoismus, der nicht gerade dem einzelperfönlichen Ach gilt, der aber 
darum doch Egoismus ift. Für die planvolle Erziehung ift es eine ebenfo vor: 
nehme wie felbftverftändliche Aufgabe, auch über diefe Art von Gebundenheit 
hinüber zur Freiheit zu führen, aus der Enge des Fühlens in die Weite. Und 
doch wird eine gefunde Erziehungsweile nimmermehr zur Gleichgültigfeit oder Ge— 
ringihätung gegen die eigene Heimat binführen wollen. Ganz das Gegenteil! 

Es läßt ſich aber das eine Ziel mit dem andern fehr wohl verbinden, nicht 
bloß in mwortmäßiger Formulierung, jondern dadurd, daß man — ebenſo, wie 
auch dem Ausland gegenüber, und noch mehr und voller — den andern Stämmen 


Wilhelm Münch, Nationale Erziehung. 839 


und Landichaften das Ihrige zuerfennt, überall die eigentümlichen Vorzüge willig 
anerkennt, um ſich derjenigen der eigenen engeren Gemeinſchaft defto unbefangener zu 
erfreuen. Es gilt wiederum, die Herzen frei zu halten von all den negativen 
Gefühlen, fie vor allem zu erfüllen mit Freudigkeit und Liebe, welche beiden ja 
näher mit einander verwandt find, als jedermann bewußt ift. Das ift ein zu— 
gleich schlicht natürliches wie vornehmes Ziel, und wer dazu mitarbeitet, treibt 
ein edles Werf, 

Was kann überhaupt jchöner fein auch unter dem Gefichtspunft der nationalen 
Erziehungsaufgabe, ald Werte fühlbar zu machen, die im nationalen Leben vor- 
banden find, und dann: was wäre würdiger und wichtiger, al3 die vorhandenen 
Werte zu erhalten und zu fichern! Aber eins darf diejes Beftreben doch nicht 
ausfchliegen: nämlich die gleichzeitige Sorge um die wünjchenswerte Ergänzung 
oder Läuterung. Schon deshalb, weil alles Menſchlich-Edle dazu neigt, fich all— 
mählich zu vergröbern oder zu verengern, abgejehen davon, daß es immer feine 
Schranken trägt, die zu überwinden der Wille nicht fehlen darf. Uebrigens kann 
bier ja das Erhalten auch nur gefchehen durd ein ftetes Neu-Erzeugen, denn in 
dem erwachſenden Geſchlechte muß es erft wieder entftehen und fich befeitigen. 

Jene „nationalen Werte“ als ſolche fäuberlicdh geordnet aufzuzählen, wird 
nicht angehen; es wäre wohl immer etwas Willkür dabei und wahricheinlich auch 
etwas Beräußerlichung. Jedenfalls darf damit nicht ſchon gefagt fein follen, daß 
jene Werte nun unfer bejtimmter Befit feien, una etwa von andern Nationen 
ihieden. An diefen Punkte ift nicht wenig Selbittäufhung und naiver Hoch— 
mut unter uns zu Haufe gewejen und auch noch feineswegs ganz überwunden. 
Aber eine eigentümliche Färbung und Erjcheinungsform werden ja jelbjt gleich: 
artige Güter oder Vorzüge immerhin bei den einzelnen Nationen gewinnen. Wir 
find gewohnt, uns der Gründlichkeit in geiftiger Arbeit zu rühmen, und der Ge— 
fühlstiefe, und einer allgemeinen Richtung von dem Aeußeren hinweg auf das 
Innerliche, und auch der Stetigkeit und VBerläßlichkeit, der Biederfeit und Treue, 
des Fleißes auch und des Ernites, der Gemifjenhaftigkeit, ja der rechten Art der 
Frömmigkeit, und dazu der Gerechtigkeit gegenüber dem Fremden und Anders 
artigen. Nichts von alledem kann grundlofe Behauptung heißen, aber wie weit 
ift’8 davon entfernt, daß dieſe edlen Eigenjchaften etwa wirklicher Befit deſſen 
wären, der den deutjchen Namen trägt! Es find Vorzüge, die fich bei den Guten 
oder Beiten unter uns oft bewährt und bewiefen haben; oder die in einer be- 
ftimmten, aber nicht etwa idealen, Ausprägung unter ung verbreitet find, während 
fie in etiva8 anderer Ausprägung fic draußen bei den andern finden; oder auch 
Vorzüge, denen in der Wirklichkeit die damit verwandten Fehler fid) fo eng an 
heften, daß fie vielfach als Mängel fajt eben jo gut aufgefaßt werden können 
wie ald Vorzüge. Dder es find Reale, die uns freilich ins Herz leuchten, zu 
denen e3 uns immer in unſern beften Stunden emporzieht, zu denen aber unfer 


840 Wilhelm Münch, Nationale Erziehung. 


Sein und Thun ſich verhält, wie eben menſchliche Wirklichkeit zu Sdealen! Aber 
freilich, da gilt es denn vor allem: diefe ethischen Ideale, die unſer Volk nd 
immer wieder vorgehalten bat und die ihm immer wieder geleuchtet haben, als 
ſolche lebendig zu erhalten, jie in ihrem Adel fühlbar zu machen, ihnen immer 
neue Wirkungskraft zu jihern. Das im Sinn zu halten it namentlich wichtig in 
Zeiten tiefgehender Gärung, ungewiffer Uebergänge, weitreichender Auflöfung, 
trüglichen neuen Straftbewußtfeins, in Zeiten eben wie die unirigen. Als Ber- 
pflichtung der Perfonen, als Ehrenpflicht des deutichen Namens viel mehr denn 
al3 Erbbefig des Blutes muß das der Jugend entgegengebradit werden, und 
aller Hochmut auf vermeintlich angeborene Vorzüge ift Fräftig fernzuhalten. Das 
jene Neigung zur Gründlichkeit mit Schwerfälligfeit ſich leicht verbindet, mit 
Mangel an Bereglichkeit, die Richtung auf das Innerliche mit fehlendem 
Formenfinn, darf nicht überjehen werden, und dal die andersartigen Werte der 
Menjchen draußen eben doch auch Werte find, daß z. B. nicht bloß nachhaltiges 
Gefühl, jondern auch leicht belebtes, fortreigendes Gefühl etwas echt Menic 

liches und Schätzbares ift: das und ähnliches anzuerkennen gehört ja eben zu 
der Gerechtigkeit des Urteils, zu der Fähigkeit, allerlei Werte zu würdigen, deren 
wir und gern rühmen. 

Neben der ſtets neuen Aufrichtung aber unferer ethiichen Ideale in den 
Herzen handelt es fi) doch auch immer wieder um das Hineingewöhnen in wert- 
volle nationale Wejensart und um das Berfchmelzen mit dem nationalen Ge 
famtleben: nur fo wird die im nationalen Sinne wünjchenswerte Richtung redit 
gelichert. Alfo Hineingewöhnung in die wirklich ewnfte, treue Arbeit, um der 
Arbeit willen und der Treue willen, nicht bloß als ein Ringen um perlönlichen 
Erfolg, Gewöhnung an die Gemwijjenhaftigfeit im Kleinen, aus der allein die 
jenige im Großen folgen wird, Pflege der Frömmigkeit in jenem ſchlichten und 
tiefen Sinn, nämlich als Gegenjaß zu allem Frivolen, als legte Grundlage für 
allen Ernft der Gefinnung und Lebensführung, und auch als Hülfe gegen den 
thörichten Hochmut. Neben ſolcher Eingewöhnung dann das Dineintauden in die 
vaterländifche Lebensſphäre: in Kenntnis des Landes, nicht bloß als Gedächtnis— 
bejig von Namen, Maßen und Zahlen, oder auch von Sriegserfolgen umd 
Regentenleiftungen, nicht bloß als Wiffen um ſtaatliche Organifation und wichtige 
öffentliche Einrichtungen (worauf man jett mit Recht doch aud Wert legt), 
fonden als anſchauliche Kenntnis, als eine gewiſſe Bertrautheit des Gemütes, 
Wijfen um Stammesart und Volksnatur, un Kulturleiftungen und Strebungen, 
Ehren und Niederlagen, Schickſale der einzelnen beiten und Los der vielen 
und geringen um Möte und Leiden, aud um Fehler und Sünden und Ver— 
fuchungen, die in unferm Blute liegen oder in der nationalen Lebenslage. Und 
neben diefer Art des Dineintauchens dann die andere: das Eindringen in die 
reiche Welt der beften Gedanken, der edlen Dichtungen, der wohlgepflegten 


Wilhelm Münch, Nationale Erziehung. 841 


Sprade — ein Gejamtgebiet, über das bei wenig Worten ftehen zu bleiben 
ſchwer fällt, daS aber aucd einer bejonderen Betonung und Empfehlung ficher 
am wenigſten bedarf. Daß nur nicht über dem augenblicklich Neizenden in 
Litteratur und Dichtung das Große verblajfe oder fremd werde, das beftimmt 
it, über die Jahrhunderte hinweg zu leuchten und dem unfer Volk doch wejentlic) 
jeinen inneren Adel verdankt, wenn es jich eines jolhen rühmen darf! 

Damit ift natürlich nichts angedeutet, was nicht längſt als der gute Weg 
gegolten hätte. Aber an die bewährten Wege uns zu halten, joll ja eben unſer 
Grundfaß fein. Daß übrigens das Bewährte ſich nicht immer wieder von felbft 
bewähre, darf man nicht vergejfen, und auch nicht, daß es mit dem bloßen 
Schreiten im vertrauten Gleiſe nicht gethan jei. Es gehört das volle Herz des 
Erziehers dazu, nebit einem weiten Gefichtsfreis, um zu wirfen. Und aud) der 
Wunſch, der Trieb, die Sehnfuht darf ihm nicht fehlen, es immer beijer zu 
machen, nicht bloß joweit feine Kunſt und Sicherheit in Betracht kommen, fondern 
auch in Beziehung auf die Zielſetzung. Es heißt eben keineswegs, dem nationalen 
Geifte untreu werden, wenn man auch deſſen Schranken ins Auge faßt, um 
fie wo möglich zu erweitern, zu überwinden. Die Erziehung darf ſich das alljeitig 
Bute zum Biel ſetzen; ergiebt fie fi) von vorn herein in beſtimmte Einfeitigkeit, 
jo ift Gefahr, daß man einen Zerrbild entgegentreibe. Zudem fordern die 
immer neu jid) auferlegenden Lebensfämpfe auch bei den Nationen die Entfaltung 
neuer Seiten der Kraft, eine Art von fteter Selbjtkorrektur, die im großen das 
ift, was im einzelnen die unentbehrliche Selbiterziehung der Erzogenen. Beftimmter 
nod kann man jagen: neben dem Erhalten der nationalen Werte gilt es doch, 
für die nationalen Aufgaben immer wieder tüchtig zu machen. Worauf es da in 
unjerm Falle wohl befonders ankommt ? Biclleicht wird man darüber nicht leicht 
einig werden, ob nicht unfere Richtung auf eine möglichjt breite und alſo weit 
binaufgeführte gleihmäßig allgemeine Bildung eine gewijfe Abwandlung nahe 
lege, ob man fich nicht zu jehr fürchte vor dem Charakter des fogenannten 
Utilitarifchen, das doh im Sinn des nationalen Bedürfniffes mehr und mehr 
unabweisbar wird. Aber das fett jid) ja, wie jehr auc, die Meinungen darüber 
ſich nod) befämpfen, jchon von jelbjt durch, und unfere Aufgabe wird nun fein, 
die utilitarifchen Beftandteile des Bildungsstoffes doch durch die Behandlung 
zugleih zu wirklich bildenden zu machen, was in Wirklichkeit faſt immer 
möglich ift. Cine andere Frage wäre, ob nicht der allzu vorwiegende intellektuelle 
Charakter unferer Bildung eine Verſchiebung verlange nad) der Seite der Willens» 
bildung ; und auch auf diefe Frage giebt eine thatſächlich erftarfende Strömung 
bereits bejahende Antwort. Nur dürfen wir darum nicht jtreben, einfad) die 
bisherige engliſche Erziehung zu Eopieren, die doc, gerade ihrerjeits ſich nun nad) 
der andern, nach unferer Seite hin zu ergänzen trachtet. Damit berührt ſich die 
Frage nad) dem PVerhältnis Eörperlicher Musbildung zur geiftigen ; in der Herbei- 


842 Wilhelm Münch, Nationale Erziehung. 


führung eines bejjeren Gleichgewichts der beiden ift man ja feit einigen Jahr— 
zehnten ſchon begriffen, freilid; ohne daß man das Gefühl des erreichten Bieles 
haben Eönnte. Nur ftellen ſich die meilten die Herbeiführung des erfehnten 
Sleichgewichts viel zu leicht vor, und ob es unter unferen Kulturverhältniſſen 
und in unferen Kulturnöten noch eine rechte Möglichkeit dafür giebt, das bleibt 
wohl eine wirkliche Frage. 

Aber auch von ganz anderer Seite her ergeben ſich Wünſche für eine gemiite 
Umbildung der uns gewohnten, ja der uns natürlichen Ziele. Jene uns gewiſſer— 
maßen angeborene Gleichgültigkeit gegen die Form ift nicht etwas jo Berechtigtes, 
wie die Selbftzufriedenen meinen ; unfere Gründlichfeit ift (um darauf zurüdzu- 
fommen) wirklich mit Schwerfälligkeit viel verbunden, unfere Tiefe mit mangelnder 
Klarheit. Die Fähigkeit zu guter Darftellung, der leichte geiftige Napport mit 
andern find in feinem alle geringwertige Vorzüge, und das Leben erfordert 
mehr und mehr von jedem einzelnen gewandtes Können. Freilich ift das die 
befte Gemwandtheit, die ſich auf feit gelegter Grundlage des Berftändnifjes ent: 
widelt, und nach dergleichen haben wir ja immer gejtrebt ; doch wir find vielfach 
in dem tiefen Untergrund fteden geblieben. Nicht um diefen Punkt, aber doch 
um etwas einigermaßen VBerwandtes handelt es fich, wenn gegenwärtig vielfach 
in einer weit ftärferen Betonung und Pflege des Aeſthetiſchen die zeitgemäße 
Ergänzung oder Korrektur unferer Erziehungsweife erblidt wird, unter der Klage, 
daß diefes Gebiet bis jet über alle Gebühr vernachläſſigt worden ſei. Vielen fällt 
gegenwärtig das Leben im Aeſthetiſchen mit Idealismus ſchlechthin zuſammen; 
äfthetiiche Erziehung oder Erziehung zur Kunſt Scheint ihnen die wahre Seele 
der Erziehung überhaupt, und die Zukunft deuticher Kultur ſoll an diefer Wand- 
fung hängen. Gewiß kann auf diefer Linie Freundliches erjtrebt und Erfreuliches 
geleiftet werden. Aber e3 bleibt doch über alles der ethiiche Idealismus, den 
es der Jugend einzuflößen gilt, und dieſer hat mit dem äjthetiichen, obwohl beide 
nicht ohne Berührung find, feinen irgend notwendigen oder feiten Zufammenhang; 
fie fallen unter Umständen weit auseinander. Zumal in einer Zeit, wo für die 
Kunft der Inhalt eigentlich nichts mehr gelten foll, jondern für fie „als Hunt“, 
al3 Gebiet für das Spiel perfönlicher Kräfte, unbedingte Berechtigung und Würde 
beansprucht wird. Keinesfalls alfo darf es fich bier um etwas wie eine Ablöjung 
handeln follen, fundern eben nur um eine Bereicherung. 

Doch e3 bleiben uns bedeutungsvollere Aufgaben. Von dem alten deutichen 
Individualismus das Wertvolle zu bewahren und dennod) eine Fräftige innere 
Strömung zum Gemeinfchaftsleben hin zu erzeugen, das wäre das Mötigite für 
Gegenwart und Zukunft. Es wäre freilich etwas fehr Großes, aber follen wir 
es uns deshalb nicht zum Ziel fegen? Nicht darin ſchon beiteht die gute nationale 
Gefinnung, dag man ſich nad) außen Hin als zufammengehöriges Ganze fühlt, 
ald Ganzes mit ftarfen Dafeinsrechten, abgegrenzter Eigenart und empfindlicher 


Wilhelm Münd, Nationale Erziehung. 843 


Ehre, auch ſelbſt noch nicht darin, daß man bereit ift, für diefes Ganze und 
jeine Lebensrechte volle Opfer darzubringen: fondern es gehört dazu die andere 
Seite, da man mit den verfchiedenen Arten der Volksgenoſſen wirklich innerlich 
verbunden fein will, an ihrem Leben innerlich teilnehmen, aud ihre Gigenart 
gelten Lafjen, alle Werte fühlen und zu der immer volleren Organifation des 
nationalen Zufammenlebens beitragen. Und wenn das nicht bloß dem Unterjchied 
der Bolfsftämme gilt, jondern auch dem der Stände und Scidten, fo fällt 
dann freilich; da Nationale zufammen mit dem Sozialen, fo ſehr die beiden 
in den Augen mancher auseinander zu ftreben jcheinen. Das iſt aber — darauf 
fönnen wir nun zurückkommen — juft die Art, wie der edle Patriot Fichte feiner 
Zeit die „nationale Erziehung“ verftand. Wird nicht in der Zukunft diejenige 
Nation ſich als die widerftandsfähigfte und erfolgreichite erweifen, die nicht bloß 
für Kampf und Abwehr nad) augen am bejten gerüftet ift, fondern deren Ge— 
meinfchaftsleben am beften organifiert ift, am wenigften auseinanderfallende Kreiſe 
einjchließt? Zwar werden, wo Leben ift, und zwar ein breites, reiches, mannigfaltiges 
Leben, überall auch Gegenjat, Reibung, Kampf nicht fehlen; aber es ift ein 
Unterjchied, mit welchem Ernjte man dem Walten der natürlichen Antriebe gegen- 
über zu organifcher Geftaltung des Gejamtlebens* hinftrebt. Und zum Glüd 
nimmt die auf diefes Ziel hingehende Strömung unter uns doch fichtlich zu, auf 
wie verichiedenen Linien ſie fi) aud) bewegt. Sie wird ſich auch nicht etwa in 
einen fchmalen Kanal einfaffen lajfen, ebenfo wie alle hier berührten Gefichtspunfte 
ganz und gar fein Nezept bedeuten können, duch deſſen Gebrauch die nationale 
Erziehung von aller Unvollfommenheit genejfen müſſe. Daß die zum Erziehen 
Berufenen jich von folhen Gefichtspunften durchdringen laſſen, das ift das Erfte 
und Wichtigſte. Man vergißt aber zu gern, daß zum Erziehen 'nod) ‘viele andere 
berufen find als die berufsmäßigen „Erzieher". Gerade damit eine nationale 
Erziehung erfolge, muß die Nation felbit ihre Erzieherpflicht fühlen, und möglichft 
viele einzelne in ihr müljen fich gern emporziehen lajjen, um andere mit 
emporzugziehen. 
Ö 


Ausſprüche aus „Beiltige Maffen‘.*) 


Pıs bloße Willen erhebf den Menfchen noch nicht auf den Standpunkt, wo er bereit 
ift, das Neben einjuſehen für eine Idee, für Pflicterfülung, für Ehre und Paterland: 
dazu gehört die ganze Erziehung des Menden. 

Grat D. von Moltke. 

Der eigentliche Bwerk unlerer Wilfensarbeit fol danady fragen, was wohl die welf- 

ordnenden Gedanken der göftlihen Bernunft in der menfchlichen Gefchichle gemelen find. 
v. Treitfichke. 

*) Geiſtige Waffen. Ein Aphorisinen Beriton. Zufammengeftellt von C. Schaible, Oberſt a. D. freiburg . B. 

und Leipzig. Berlag von Paul Wargel. 


SIBIBIRIBIBIBIPRIPIRBIBIRIRIBIDIPIPRIRIPIPIPIPIPIPIPIPIPIP) 





Nleues aus Bismarks Werkitatt. 


Ein Bericht 
von Erich Mards. (Sching.) 


m Februarheft (Z. 738 ff.) ift von den Bereicherungen gehandelt worden, die unſer Willen 

bon Fürft Bismards Verhältnis zu feinem Kaiſer und deſſen Sohne aus den neuen 
BVeröffentlihungen gewinnt. Die Ktorreipondenz mit dem Kronprinzen gehört bereits 
dem I. Bande des „Anhangs zu den Gedanken und Erinnerungen“ an. Diefer Band 
faßt im übrigen, nad Art des früheren Bismardjahrbuches, aber doch einheitlicher als 
jenes, das Entlegenfte in fich zulammen: Hunderte don Briefen, vom April 1848 an 
bis in den März 1888, Briefe der verjchiedeniten VYeute, befannter und une 
befannter; und über fie alle ragt, in wuchtigen Schriftftücen, die freilich bier nur eine 
fleine Minderzahl bilden fonnfen, die Sejtalt des großen Führers und Kämpfers empor, 
macdhtvoll und beherridhend wie jtet$, mag er nun jprechen als Gejandter, als Minifter, 
als Kanzler. Echneidende Einfiht und geichlojfener Wille, höchſter ſtaatsmänniſcher 
Ehrgeiz und fichere ftaatsmänniiche Kraft, fiegreiche Kritik und ichöpferiicher Zorn: das 
alles ift, jejt und Stark, über allen anderen, Freunden und Gegnern, in genialer Aus 
geitaltung doch immer nur ihm zu eigen. Und doch ift aud) jeine Umgebung intereffant und 
erheblich genug. Cinige find darunter, denen der lobfarge Mund des Gewaltigen jogar 
offenes Lob gejpendet hat: Fürſt Chlodwig Hohenlohe, Prinz Reuß der Botichafter, und 
in getwiffem Einn zudem der Miniſter Falk. Am übrigen evicheinen, um nur die 
Gewichtigſten zu nennen, Otto von Manteuffel und Friedrich Wilhelm IV., Schleinis, Gort- 
ſchakoff, Andrafin, Albrecht von Noon und Prinz Friedrich Karl, die Könige Ludwig von 
Bapern, Albert von Sachſen, Karl von Rumänien und einige ihrer Minister, Dolnftein und 
Mittnacht, Rudolf Delbrüd, Graf Otto Stolberg und Bernhard von Bülow der Staats: 
jefretär, Dendel von Donnersmard und, im Gefolge und engiten Vertrauen des Vaters, 
Graf Herbert Bismarck — jo mander von ihnen mit bedeutenden, mancher doc wenigſtens 
mit charafteriftiichen Briefen. Dieſer Reibe ift auch Robert von Keudell anzuſchließen. ch 
füge gleich hier ein Wort ein über Keudells Bud.!) Es fommt mir (und wohl aud) 
ihm) nicht in den Sinn, es den beiden Bismardichen Bänden vergleihen zu wollen; 
aber ich) geitehe, daß ich auch Ddiejes Werk nur mit Freuden willkommen beigen ann. 
Vielleicht nicht fo jehr als Bud. Es ift eine ziemlich ſonderbare Miſchung von Brief: 
und Mftenveröffentlihung, Tagebuchnotizen und memoirenartigen Erinnerungen und 
von Seichichtserzählung geworden; es bietet hiſtoriſche Darlegungen, deren Breite, bei 





1) Ich miederhole den Titel: Fürſt und Fürſtin Bismard. Grinnerungen aus den 
Jahren 1846 bis 1872, 1901. 


Erich Mards, Neues aus Bismards Werkitatt. 84 


[1 


allem maßvoll veritändigen Urteile und mancher Tehrreihen Beobachtung, doch in 
feinem Berhältnijje zu ihrem jelbjtändigen Werte fteht: man lernt nur wenig aus ihnen, 
und gar nichts Weberrajchendes. Auch ſtößt man an mander Einzelheit an; einige 
Einwendungen find, offenbar auf Grund intimer Kenntnis, in den „Hamburger Rad): 
richten“ vom 17. Dezember 1901 (Nr. 296) erhoben worden. Ich habe das Gefühl, als 
wenn der Verfaffer überdies der Gefahr einer etwas zu hohen Selbfteinihätung nicht 
immer entgangen wäre. Indeſſen, er hat etwas mitzuteilen, und es iſt allen Danfes 
wert, daß er es mitgeteilt hat. Er iſt von früher Zeit ber mit Frl. Johanna von 
Puttfamer befannt gewejen und hat, mit ihr und durch fie, aud) Herren von Bismard, noch 
vor ihrer Verlobung, fennen gelernt; er hat dann das jungverheiratete Baar in Berlin 
gejehen, hat fie in Frankfurt und Petersburg beſucht und vor ihnen mufiziert; 1863 trat 
er als Hilfsarbeiter in den unmittelbaren Dienft des Minifters, und blieb bis 1872 (bald als 
Rat des Ausmärtigen Amtes) in feiner Nähe. Aus der Zeit feiner Thätigfeit als Gefandter 
und Botichafter (1872—1887) erzählt er leider nichts; jpäter hat er mohl die Fühlung 
mit dem Bismardichen Hauſe verloren. Er ermweilt nit nur unjerm Wiſſen, jondern 
dem Gedächtniffe des Bismardichen Paares einen wirklichen Dienst, indem er eine ganze 
Anzahl von Briefen der Fürftin (1853—1872) abdrudt; er hat auch das Fakſimile ihrer 
lebhaften und charaftervollen Handjchrift beigefügt. Die Briefe find nicht im mindeften 
für die Deffentlichfeit geichrieben, und doch vertragen fie die Deffentlichfeit jehr wohl und 
fönnen ihr etwas leiften. Cine der dringendften unter den Fragen, die ſich an den Reichtum 
der Bräutigams: und Gattenbriefe Bismarcks gejchloffen haben (und dieje Briefe haben 
ja deren faft ebenfo viele angeregt als beantwortet!), ift die gewejen: wie war denn 
eigentlich die Lebensgefährtin beichaffen, der der Größte unferes 19. Nahrhunderts jo 
unendlich viel zu jagen und, wie er bezeugt hat, jo unendlich viel zu danken gehabt hat? 
Ich habe auf diefe Frage die jonderbariten Antworten gehört; viele Leſer oder Leſerinnen 
des Briefbuches haben fih darin gefallen, aus den mandherlei Mahnungen, die Bismard 
feiner Korreſpondentin hie und da zuvuft, die pſychologiſch unzuläffigsten Schlüffe auf den 
Charakter der Angeredeten zu ziehen und fie jede leife Verftimmung und jedes augen: 
bliliche Mikverjtändnis des Bräutigams oder des jungen Ehemanns nod) nachträglich 
recht gründlich entgelten zu laflen. Wer lejen konnte, wußte immer, wie falfch das war; und 
wir haben immer bereitö Zeugniffe von dem wahren Wejen der Fürftin Johanna befejlen. 
Hier aber mögen nun aud) diejenigen Leſer ihre Vorftellung berichtigen, die den unmittelbaren 
Eindruck nötig haben; und jeder Yejer überhaupt wird die Briefe der Fürftin an Steudell 
mit Freuden und Belchrung auf fich wirken laſſen, in ihrer lebhaften Augenblicksſtimmung, 
ihrer frauenhaft, gefühlsmäßig rajchen Art, ihrer ungezwungenen Frömmigteit und ihrer 
alles beherrichenden, unmittelbaren, in Mann und Kindern völlig aufgehenden Liebe, 
ihrem Grolle auf alles, was dem geliebten Manne ſchädlich und im Wege jcheint, ihren 
ſehr beftimmten PAuneigungen und Abneigungen, ihrer, man möchte jagen, eigentümlich 
naiven Verachtung aller Bolitik, ſoweit diefe nicht im allerperjünlichiten Zufammenhange 
mit „Bismard“ fteht. Cingeweiht war fie freilich) und wußte ihrem Gemahl jelbjt als 
Sekretärin zu dienen, und ihr Berftändnis folgte ihm überall hin, wohin jein Leben 
führte; aber Politikerin war fie offenbar gar nicht — nur durch die Vermittelung des 
Berjönlichen, feiner Berjönlichkeit hindurch intereffterte das Sachliche fie. Was fie in ihrem 


846 Eric; Mards, Neues aus Bismarcks Wertitatt. 


ganzen Sein, in dem was fie pflegte und was fie von fich wies, dem Gewaltigen be- 
deutete, den zu behüten ihre Yebensaufgabe war, das ahnt, wer fehen und fühlen kann 
und will, bei diefen Briefen gewiß: obwohl es ebenjo gewiß ift, daß es noch weit ſchönere 
und intimere geben muß, und daß wir, die wir ihren Gatten und ihre Welt mit Liebe 
und Ehrfurcht betrachten und in diefe Welt einzudringen ftreben, wohl wünſchen müffen, 
noch recht viele mehr von ihr fennen zu lernen. 


Außer dieien Briefen aber giebt uns Steudell, offenbar gerade in den mwejentlichiten 
Stücken nad) gleichzeitigen Aufzeichnungen, vielerlei Intereſſantes und Charafteriftiiches 
von dem Kanzler jelbft: Beobachtungen über jein Verhältnis zur Mufif, wenigſtens bis 
1872; Geiprähe Bismards über jeine Kindheit, und Gindrüde Dritter aus feiner 
Jugend; Worte über ihn — darunter bezeichnende — und vor allem, Worte von ihm 
felber, wie das von der ganzen Menge von Eeelen in jeiner Bruft ©. 220, und von der 
Nürlichkeit feines Dienftärgers für das ganze Räderwerk der Regierung ©. 364: das 
giebt ftärferen Dampf in die Maſchine! So mandjes Hübjche, wen aud) nicht eigentlich 
Neue wird von der Arbeitsweile und Urteilsweiſe Bismard3 gejagt, mande Thatfache 
aus Haus und Politik für 1863—1872 verzeichnet; wir erhalten ein paar foftbare 
Bismarckſche Briefe; das allgemein-hiftoriih Wertvollfte jchlieglich find die Diftate aus 
Putbus 1866 über die Bundesverfaflung und das über die jpaniiche Kandidatur 1870 
beides Attenftüde von ungewöhnlicher Bedeutung. — 


Ich faſſe noch zufammen, was ſich aus den Briefen des 2. Bandes des „Anhangs” 
und aus Keudell an hervorſtechenden Thatjachen zur Geſchichte Bismards ergiebt. Noch 
einmal zieht da die ganze Reihe feiner Geſchicke und Yeiftungen von 1850 bis 1888, oder 
doc; zumal bis 1880, an dem Betradhtenden vorüber, wie jchon in der Korreſpondenz mit 
Wilhelm I; nur das Wichtigste ſei hier genannt. 


Räumlich am beiten jind die 50er fahre davon gekommen, die Frankfurter Zeiten, 
über die Bismard wohl am meiften Material bejaß, auf die er ſtets gern zurüd- 
gefommen ift und deren Wert für feine ſtaatsmänniſche Entwidelung und Zukunft, deren 
biographifches Intereſſe ja außerordentlich groß ift. Perſonen und Gegenjäge in Berlin, 
deutihe und europäifche Fragen und in allem die Ueberlegenheit des auffteigenden 
Genius treten auch in diefen Ergänzungsakten höchſt anjchaulich zu Tage. 


Für den Nichthiftorifer wächſt das Anterejje mit der Petersburger und vollends 
der Berliner Zeit. Für Petersburg haben wir hauptjächlich den Briefwechſel mit dem 
auswärtigen Minifter der neuen Aera, Herrn von Scleinig, aus dem wir bisher nur 
das bedeutjamfte Stüd, Bismards Denkichrift über die Page mährend des 1859er 
italienischen Krieges und über Preußens FFeffelung im deutichen Bunde, beſeſſen hatten: 
all dieſe Jahre hindurch ift er voll Ungeduld nad ftärkeren preußiichen Thaten; es ift 
reizvoll, wie fich died und das wachſende Gewicht feiner Perfönlichkeit auch in diejen 
Bruchſtücken, wenngleich immer nur halbverhüllt, wideripiegelt. Wäre es doc) möglich, 
was der erjte Neichöfanzler dem PVernehmen nad) nod) jelber geplant hatte, daß die 
ganze Reihe feiner Petersburger Gefandtihaftsberichte gedruct würde! Cine der ſchmerz— 
lichſten Lücken unferer hiftoriihen und biographiſchen Kenntnis würde damit ausgefüllt 
werden und auch die praftiich-politiiche Ausbeute wäre ficherlich reich genug. 


Erich Mards, Neues aus Bismards Werfitatt. 847 


Ich darf hier über die mannigfachen Einzelheiten hinmweggehen, die dem preußifchen 
Konflitt wie der ſchwierigen europäifchen Bolitif in den Jahren 1863 bis 66, den Jahren 
bon Bismards politiicher Meifterleiftung angehören: zumal innerhalb dieſer Bolitik zeigen 
fie ihn am Werke. Am auffälligften find Keudells, aus einem fpäteren Gejpräd) mit 
Graf Eulenburg geichöpfte Angaben (S. 196) über einen Verſuch des Minijteriums, 
im Jahre 1865 in Preußen nicht nur, unter gewiſſen Bedingungen, die 2jährige Dienft- 
zeit, fondern überdies, nad) franzöfiichem Mufter, die Stellvertretungsgelder für die nicht 
dienenden wohlhabenden Dienftpflichtigen einzuführen: ein Verfucd, der nur an König 
Wilhelms heilfamem Widerſpruch gejcheitert wäre. Es find ſchon anderwärts (in der 
„Sreuzzeitung“ und bejonders den „Hamburger Nachrichten”) Zweifel an der Richtigkeit 
diejer jonderbaren Mitteilung geäußert worden, an der Annahme eines jo unpreußijchen 
Vorſchlages, wie es die franzöfiihen Stellvertretungsgelder geweſen wären, durd) das 
gejamte Staatsminifterium. Auch ich halte ein Mifverftändnis Keudells mindeftens in 
der Auffafjung diefer Gelder für mehr als wahrjcheinlich: daß man damals an Ver— 
jöhnungsvorfchlägen gearbeitet hat, ift allerdings befannt, und daß fie am Könige 
fcheiterten, ebenfalls. Ich verweiſe hier Tediglich auf die „Militäriichen Schriften Kaiſer 
Wilhelms des Großen“ II. 481, und auf Th. v. Bernhardis Tagebücher, VI., 152 ff. — 
Auch das hat man Keudell, wohl mit Recht, nicht glauben wollen, daß Bismard beim 
Ausbruche des deutichen Krieges (14. Juni 1866) noch in fich jelber „Momente ſchweren 
Zweifel“ zu überwinden gehabt habe. Am übrigen hören wir Neues über jeinen guten 
Willen zur innerpolitiihen Verjöhnung nod) vor dem Striegsbeginn; Neues und Inter— 
ejlantes, auf das ich bereits hinmwies, dann zumal über die Vorgeſchichte der Verfaſſung 
für den Norddeutichen Bund. Die Diktate aus Putbus (Dftober—November 1866) be- 
rühren, inmitten glänzender Diskujfion einer Fülle von fchwebenden Fragen, vor allem 
die Grundzüge diejes wichtigften Werkes. Sie zeigen Bismard bereit in Elarer Richtung 
auf die deutjche Einheit, nidht nur die norddeuriche; und die maßgebenden Gedanken für 
den neuen Bau legt er hier, vom Krankenzimmer aus, bereits völlig feſt. Er will einen 
weitgehenden Anſchluß an die alten Formen, die Berüdfihtigung — im voraus! — der 
Süddeutſchen, die Vermeidung des Zentralismus; er umfaßt alle Möglidjfeiten mit feinem 
Adlerblide, und mählt mit genialer Sicherheit und Mäßigung, in der nun zur 
Entiheidung drängenden Lage, faft auf den erften Wurf, feinen eigenen zufunftspollen 
Weg. Wem das Werden unjerer Reichsinſtitutionen in ihrer Bejonderheit (des Bundes» 
rated zumal, auch des Reichstages) wichtig ift, der muß diefe, ganz Bismardjchen 
Weilungen lejen; überrafcht wird man durch das Spiel, das Bismards Gedanken 
(30. Dftober, ©. 327) mit dem Wahlrechte treiben. Er erwägt da eine fonderbare 
Miſchung des Neichstages aus Abgeordneten der wenigen Höchjtbeiteuerten und aus 
jolchen des allgemeinen Stimmrechts. Das lektere aljo war ihm damals nicht die einzige 
und ungmeifelhafte Yöfung, an die er fi) etwa grundſätzlich gebunden gehalten hätte; 
die Spite gegen die Mittelftände, die ihn im preußijchen Konflikte befämpft hatten, ift ganz 
deutlich; der Blik in die Werkjtatt des großen Staatsmannes überaus reizvoll. In— 
tereffant find auch Keudells Sybel beftätigende Angaben (343) über die jchließliche 
fchnelle Aufftellung des Verfaffungsentwurfs durch Bismard und Lothar Bucher am 
13./14. Dezember. 


848 Erich Mards, Neues aus Bismards Werkſtatt. 


Für die folgenden Jahre steht, neben und vor den Aergerniffen der inneren Bolitif, 
die äußere im Bordergrunde unferer Nachrichten, und im VBordergrunde der äußeren 
die franzöfiihe Gefahr. Wir verfolgen, wie Bismarf fie fommen fieht, fie würdigt, 
nit vor ihr zurücichredt, aber faltblütig und Eritifch bleibt, wie er — dafür ergeben 
fi verjchiedene neue Bemweisftellen — den Krieg nicht wünſcht und nicht ſucht und 
immer wieder darauf hofft, ihn doc) vielleicht vermeiden zu können. Die jpanijche 
Kandidatur ergreift er dann freilich mit voller Wucht, und zwar unter politijchen Ge: 
fichtSpunften, im Dinbli auf den franzöjiichen Gegner. Allerdings, den Krieg erwartet 
jeine Dentichrift vom Ende Februar 1870 Keudell 430) durchaus nicht von ihr, und 
Keudell, der im Juli in Barzin bei ihm war, verfihert von neuem, daß ihn der Kriegs— 
lärm der Barijer überrafcht habe. Keudell hat ihn dann ja nad) Berjailles begleitet; 
die friedfertige Art, wie er die vielbeflagte militäriiche Niolierung des Bundeskanzlers 
aus der langen Ausdehnung von Bismards Morgenichlaf erklärt (454), iſt vielleicht nicht 
ganz wertlos, aber fie ift — er ſelber läßt Albedyll auf die Abneigung der Generale hin- 
deuten! — doch offenbar ein wenig allzu harmlos. intereffant find dagegen einzelne 
Ausblide auf das Verhältnis zu Rußland während des Krieges, die wir aus Keudell 
und aus dem 2. Bande des „Anhangs“ gewinnen. 

Für die beiden Jahrzehnte nad) dem Friedensſchluſſe find wir auf die Brief— 
jammlung allein angewiejen. ie gewährt in das Syſtem der auswärtigen wie der 
inneren Thätigfeit des nunmehrigen Reichskanzlers lebensvolle Einblide. Wie klar fart 
die vielbeiprochene Korreſpondenz mit Graf Hendel, in deren Mittelpunft Gambetta ſteht, 
die Grundgedanken Bismards für das Verhältnis zu Frankreich) zuſammen, jeine Ab- 
neigung wie gegen einen Präventivfrieg jo gegen ein ultramontanes Regiment in Baris; 
wie Far läßt fie feine vorfichtige Zurückhaltung und zugleich feine kluge Ausnugung 
ganz perjönlicher Verbindungen hervortreten! Die europäiichen Kriſen von 1875—79 be: 
gleiten wir wenigjtens in einigen dharafteriftiichen Scyreiben; 1875 der befannte Kriegs— 
lärm, deifen Schuld Bismard lebhaft von fich weit; 1876 die engliichruffiihe Spannung, 
innerhalb deren der Fürft in einem zugleich von perjönlicher Ironie und dienftliher Zu: 
rechtweiſung höchſt eigentümlid; gefärbten Schreiben an Graf Münjter feine Stellung 
nimmt: er mahnt England zur Ruhe. Dann wird die Sorge vor Rukland, die Sorge 
zunächſt für Oeſterreich zur berrichenden; den Abſchluß zeigen die Aften über das 
Bündnis von 1879, von denen ich fchon ſprach. 


Im Innern iſt — neben manchem firchenpolitiichen Ausblid — die Behandlung 
der Ginzeljtaaten das Tintereffantefte. Die Sammlung ftellt, von 1864 ab, mit deut: 
licher Abfichtlichkeit Zeugniffe der Art und Wetje zujammtn, in welder Bismarck 
Regierungen und Fürften dort begegnet und in welcher fie reagieren. So feine warmen 
Ktorreipondenzen mit dem Stronprinzen und König Albert von Sadjen; jo den Briefwechſel 
bon 1875 über die Belebung des in der Neichsverfaffung vorgejehenen, aber nicht 
praftiic) gewordenen diplomatiihen Ausſchuſſes im Bundesrate. Es ift jehr lehrreid) 
wie Bismard auf die Wünſche der größeren Bundesstaaten nad Teilnahme an der aus: 
wärtigen Politik eingeht, aber die Zulänglichkeit jenes Ausſchuſſes beftreitet, neue, per: 
ſönlich fichrere Formen für jene Teilnahme notwendig hält und ein Pochen der bayerischen 
Regierung auf das ihr verfagte, verfaſſungsmäßige Necht mit höfliher Beitimmtheit 


Erich) Mards, Neues aus Bismards Werfitatt. 849 


zurücmweiit. Er jelber wünſcht die auswärtige Reichspolitif nur allein mit den leitenden 
Miniftern jener Staaten zu beſprechen und findet die Frage ſchwierig und zart. Wie er 
jeinerjeitS pofitiv vorging, das zeigt der Briefwechiel mit König Ludwig II.: den Künig 
perjönlich jucht er von den Verſchiebungen und Bedürfnifjen der großen Politik zu unterrichten 
und mählt dazu den unmittelbaren Weg der Korrefpondenz oder den mittelbaren durch 
den Grafen Holnftein; durch diefen bringt er ihm auch Fragen der inneren Reichs- 
politit nahe und betont dabei auf das denkbar Stärkfte jein FFefthalten an dem 
„tüderativen Bande des Reichsvertrages“. Sehr charafteriftifch ift das Echo, das ihm 
von dem Könige (S. 532, während der perjönlichen Kriſe vom Mai 1880, die Hamburg, 
aber aud) Bayern berührte), in einem offenbar ftarf diplomatischen Briefe voll majeftätiicher 
Faſſung des Ausdrudes, zurüdhallt: der König verfichert ihn feiner wärmften Ergeben- 
heit und wünfcht fein Verbleiben an der Spike der Geſchäfte auf das Lebhaftefte, indem 
er dod nicht minder lebhaft den ſelbſtbewußt föderaliftiichen Ton anjchlägt. Daß Bismard 
dennoch der Geneigtheit des Herrihers und der übrigen Bundesfürften ftets die reichiten 
thatſächlichen Erfolge verdankt und feine Methode fich ihm bewährt hat, ift befannt. 

Genug des Berichtes. An hundert Stellen eröffnen auch diefe Bände wieder 
die Ausfiht auf untere große Zeit und auf den Reichtum ihrer Gegenftände wie ihrer 
leitenden Menſchen. Es entſpricht nicht nur der Bejonderheit diefer Veröffentlichungen, 
fondern der Wirklichkeit der Dinge ſelbſt, wenn alle Fäden dabei immer wieder aus- 
gehen von dem Einen und wieder zufammenlaufen bei dem Einen, der der Genius diejer 
Zeit war. Ueber alle die Vielen, die auch hier neben ihm ſprechen — das bleibt der 
Endeindrud — hallen feine großen und flaren Worte hinweg. Und jeder Zuwachs 
an hiftorifhem Anſchauen und Begreifen — das zu vermitteln ja das einzige Amt des 
Hiſtorikers als Hiftorifer ift — wird zugleich ganz von felber zu einer Bereicherung der 
praftijcdpolitiichen Lehre, die au) in neuer Zeit und in ſich umbildenden Berhältniffen, 
niemals in jElavifcher Uebertragung, aber in lebendiger Erfaffung des ewig Lebendigen 
an ihm, immer von neuem bon dem großen Erzieher unjerer Nation ausgehen muß. 


© 


Bismark-fluslprüde. 


Daf jedes Individuum, jeder engere Kreis das Mah der Freiheit befikfl, welches 
überhaupt mit der Pronung des Gelamiflaatswelens verfräglid if: das u erreichen, 
diefem Zweck möglichſt nahe zu kommen, halte id; für die Mufgabe jeder vernünftigen 
Staatskunſt. 


° 


Ein großer Staal regiert ſich nicht nach Parteianfichten, man muß die Gefamtheif 
der Parfeien, die im Sfaate find, in Abwägung bringen und aus dem Refulfate diefer ſich 
eine Kinie ziehen, der eine Regierung als ſolche folgen kann. (15. Januar 1867.) 


Ö 





Ibsens Weltanidauung. 


Von 
Adolf Stern. 


[3 vor einer Reihe von Jahren — es mag inzwiichen ſchon ein Jahrzehnt 

geworden fein — unbefangene Hörer, Lejer und Beurteiler der ſpäteren 
Dramen Henrik Ibſens den Eindrud empfingen und ausjpradyen, daß der nor: 
wegiiche Dichter mit einem Teil feiner Lebensfpiegelung und Geftaltenbildung 
heimlich feiner felbft und all der übereifrigen Bewunderer fpotte, die fich wider: 
ftandslos von Problem zu Problem, von einer rätfelvollen und nordiſch ftarren 
Menſchenfigur zur anderen führen ließen, erhoben die Eritifchen Apoftel des Meiſters 
entrüfteten Proteft. Seit letsterer jedocd in dem als dramatijcher Epilog — man 
fieht nicht, ob Epilog zum Schaffen des Dichters, zum letten Afte des aus- 
Elingenden neunzehnten Jahrhunderts, zum Sceiden der dahinfterbenden Kunſt 
oder gar zur Tragödie und Komödie des ganzen Menfchenlebens! — bezeichneten 
Schaufpiel „Wenn wir Toten erwachen“ den Bildhauer Arnold Rubef auf die 
Bühne geftellt hat, den Klünftler, der fich berühmt, „binterliftige Kunſtwerke“ ge- 
Ihaffen zu haben, anfcheinende Menfchenbilder, die „in ihrem tiefften Grunde 
ehrenwerte rechtichaffene Pferdefragen und ftörriihe Eſelsſchnuten, hängohrige, 
niedrigftirnige Hundejchädel und gemäftete Schweinsköpfe, auch brutale Ochſen— 
Eonterfeis find‘, ift es felbft den Unbedingten ein wenig zweifelhaft geworden, ob 
ihr gepriefener Dichter nicht ein ähnliches Weberlegenheitsgefühl veripürt 
habe wie der Bildner. Auf alle Fälle räumt jelbft Paul Schlenther, der ent: 
Ichlofjenfte Vertreter von Ibſens Kunft, ein, daß die Ironie, nach der die einzige 
Geftalt des oben genannten Dramas, hinter deren reinen Zügen feine Tierfratze 
ſteckt, irrfinnig ift, hier graufamer, fürdhterlicher fei als überall dort, wo der 
Dichter die Welt verhöhnt hat und verhaßt gemacht. Und es ift angefichts diejes 
wunderfamen, wahrjcheinlich immer erſt vorläufigen Abfchluffes der Ibſenſchen 
Weltdarftellung nicht nur möglich und erlaubt, fondern nahezu geboten, wieder 
einmal nad der Grundanſchauung des von Hunderttaufenden gepriefenen, und für 
Tauſende vorbildlichen Dichters zu fragen, und den troftlofen Epilog mit der ganzen 
Folge der modernen Schaufpiele Ibſens zu vergleihen. Mag ein fo geiltvoller 


Adolf Stern, Ibſens Weltanfchauung. 851 


Kenner des Altertums wie Wilamowig-Möllendorf im Recht fein, wenn er Ibſen 
einen Geiſtesverwandten des Tragiferd Euripides nennt, weil jener mie diefer 
über den Urfprung des Elends und Leids der Welt tief geſonnen babe, der Zweifel 
an der emportragenden und lebenjpendenden Kraft des Dichter ift nicht minder 
berechtigt. Geht die Sehnſucht der Beften immer unmiderftehlicher, immer ftärfer 
nad; einer Dichtung, in der die innerlich gefeftigte, die überzeugende Anſchauung 
des Dichters den Leib feiner Schöpfungen mit warmem Blut durchſtrömt, in der 
hoch über aller Zweifel Macht eine allmächtige Liebe wirkt, fo kann der gewaltige 
jkeptiiche Nordländer nicht da8 maßgebende Vorbild, nicht der Führer der künftigen 
deutſchen Litteratur fein. Wir brauchen Ibſen die Ehre, daß er troß feiner 
grübelnden Skepſis ein Künftler, ein Geftalter geblieben ift und Kunſtwerke er: 
Ihaffen hat, niht um ein Gran zu mindern, wir dürfen nicht nur feine hoch- 
gefteigerte, zur äußerften Schärfe der Linien und zur höchſten Feinheit in der 
Verteilung von Licht und Schatten durchgebildete „Technik rühmen, fondern auch 
einen guten Teil ihres Gehalts unbefangen auf uns wirken lajjen. Wir fünnen 
jelbft biS auf einen gewifjen Punkt die Virtuofität bewundern, mit der dem er- 
grübelten Unmöglichen nicht Leben, aber der Schein des Möglichen, des Lebens 
geliehen ift. Doch fteht die Frage fo, ob Ibſen über die litterarifhe Würdigung 
hinaus einen tiefen und fortwirfenden Einfluß auf geiftige Entwidelung und 
Geſamtkultur des deutjchen Volkes gewinnen foll, wird gar verfucht, ihm eine 
Wirkung auf unjer Leben zuzufprehen, wie fie durch die homeriſchen epijchen 
Geſänge, durch die Schöpfungen Shafejpeares, Noufjeaus oder Byrons in der 
That herbeigeführt worden ift, jo muß die Antwort lauten, daß Henrik bien, 
was immer er jeinem Volke, vielleicht dem ganzen jfandinaviichen Norden gebe, 
weder der deutichen Dichtung, noch dem deutjchen Leben ein Führer und Pfad: 
zeiger fein kann. 

Wunderlich ift e8 und zu den taufend Widerſprüchen unjerer Tage zählt es, 
daß, jo oft ſichs um eine panegyriihe Würdigung Ibſens handelt, die rätfel- 
volle Berknüpfung feines unerfchütterlichen Idealismus mit der erbarmungslofeften, 
realiftifch-peffimiftifchen Weltfchilderung und Weltkritik, des gemwaltigften ethiſchen 
Pathos mit dem nagendften Zweifel an der fittlihen Kraft menjchlider Natur, 
des ftärfiten Wahrheitödranges mit völligem Verzagen an erfennbarer Wahrheit, 
die feltfjame Milhung von Feuer und Froſt in und bei ihn, als Frucht feiner 
nordiichen Abftammung gerühmt, doch eben diefer Abjtammung jede Bedeutung 
abgefprochen wird, wenn fie gegen Ibſens Beruf zum Haupt und Herricher aller 
germanischen Litteraturen geltend gemadjt werden foll. Der zuftändliche Hinter: 
grund und Untergrund von Ibſens Darftellung modernen Lebens: die einfam 
liegenden Kleinen norwegischen Städte am Meere, mit der jeltjamen Wechſel— 
wirkung von Heimatenge und Weltweite, wird genau fo lange um jeiner ur- 
fprünglichen Eigenart willen gepriefen, ald niemand aus der Fremdartigkeit diejer 

54* 


852 Adolf Stern, Ibſens Weltanſchauung. 


Zuftände den Schluß zieht, daß eben dieje Eigenart der Anihauung des Dichters, 
der Wirkungstraft feiner Schöpfungen erſichtliche Schranken feße. Geſchieht 
jedoch dies lettere, jo find mit einem Mal der echte nordifche Boden und die ge- 
treue Spiegelung der norwegischen Gefellihaft von heute in Ibſens Schaufpielen 
ohne wefentlihe Bedeutung, und die Leute vom Hardangerfjord und Sognefjord 
oder aus den Kauf: und Küftenftädten werden Typen der allgemeinen Menjchbeit. 
Wenn fich ein Verfechter des Dichters wie Roman Woerner auf den Sat be- 
ſchränkt: „als Berfafjer der „Nordiichen Heerfahrt‘' und der „Kronprätendenten”, 
der Dichtungen „Brand“, „Beer Gynt“ und „SKaifer und Galiläer" wäre uns 
Ibſen immer nur ein hervorragender ſkandinaviſcher Dramatiker geblieben, „durch 
die modernen Dramen ift er unleugbar ein Autor von europäifcher Bedeutung 
und europäiſchem Einfluß geworden‘, fo wird er faum einem Widerjpruch gegen 
die ſchwer errungene gejchichtliche Stellung Ibſens begegnen. Wird aber die 
„europäilche Bedeutung”, zu der Ibſen immerhin auf dem Wege natürlicher, 
wenn auch höchſt fubjektiver Entwidelung gediehen ift, dahin ausgedeutet, daß 
unfere deutſchen Dichter ihm zu folgen und ſich das Doppelgeficht des Norwegers 
famt den nervöfen Uebergängen von eiskalter Ironie zur wärmften Gemütser- 
regung anzueignen haben, jo tritt der Widerftand in fein Recht, der nichtS gering 
Ichäßt, was Ibſen ſchuf und geitaltete, allein gewaltig Vieles und viel Ge- 
waltiges vermißt, was der Dichter "haben müßte, der Goethe oder auch nur 
Heinrich von Kleiſt oder Friedrich Hebbel unter ung „ablöfen‘ fol. 

Kein Zweifel ift erlaubt, daß Ibſen troß all feiner naturaliftiihen Studien 
und Bilder ein Idealiſt im Sinne feines Volkes und im tiefften Kern jeines 
Wefens geblieben ift. Die mundergläubige Phantafie der nordiihen Sage, die 
die Natur hinter ich läßt und eine neue Natur fchafft, die die Einherier tag- 
täglih aus Walhall ausziehen, fih im Blachfeld zerjtüden und Todeswunden 
Schlagen und fie abends an Odins goldnem Tijche frifch und heil beiſammen figen 
jieht, die träumt, daß die Helden im Götterfaal in den Armen der jchwanen- 
bufigen Schildjungfrauen ruhen, und daß dennoch diefe Geliebten der Helden ewig 
blühend und jungfräulich bleiben, tft mitten in der Schärfe der Beobachtung, der 
rüdjichtslofen Wahrhaftigkeit Ibſenſcher Gegenwartsfchilderung Eeineswegs er: 
lofhen, Mit einer Art ftillen Ingrimms hält fie Ibſen feft und läßt fie in 
einzelnen Gejtalten und Situationen der modernen Welt ſich ausleben, rüdt eine 
berbe Askeſe hart neben die Verförperung natürlicher leidenichaftlicher Regungen, 
verleiht abjeit3 ftehenden Naturen geheimnisvolle Kräfte, Todesentichloffenheit in 
der Zuverficht auf ein Leben in Schönheit und Sonnenfhein. Zwiſchen den 
Ichneidenden oder unheimlichen Lauten, mit denen der Dichter das klägliche Elend, 
die Lüge und die jeelifche Niedrigkeit der Alltagsmenihen zu Tage bringt, er: 
klingen fehnlüchtige Rufe nad) oben, „zu den Sternen hinauf”, zu „der großen 
Stille" und verraten, daß Ibſen jeit feinem „Brand“ nicht ein fo gar anderer 


Wolf Stern, Ibſens Weltanichauung. 853 


geworden ift, als e8 oberflächlicher Betrachtung jcheinen wollte. Der Idealiſt, der 
ih auf Tod und Leben in den Zweifel geworfen, dem die Wirklichkeit alle ihre 
ichnödeften Geheimnifje erichloffen hat, fißt von Zeit zu Zeit doc; wieder, wie fein 
Bildhauer Rubek, „an einer Quelle, ein fehuldbeladener Mann, der von der Erd— 
rinde nicht ganz loszukommen vermag; taucht und taucht feine Finger in das 
riefelnde Waſſer, um fie rein zu fpülen, und krümmt fi) und leidet bei dem Ge- 
danfen, daß es ihm nie, nie gelingen wird". Es lebt immer etwas von dem 
Skaldentum feiner Heimat in ihm, und wie die fünftlichen Umfchreibungen in den 
Drapas fahrender isländifcher Sänger etwas ganz Anderes bedeuteten, als der 
Hörer zunächſt vernahm, jo birgt fich hinter der höhniſchen Deutlichkeit, mit der 
„Menfchliches, Allzumenſchliches“ in Ibſens Dramen von der „Komödie der 
Liebe" an dargeftellt fcheint, das leidenfchaftlihe Verlangen nad) einem reinen, 
- hellen, unjfagbar jeligen Etwas, das außer der Natur und über der Natur ift. 
Und juft diefer dunkle Idealismus ift es, der und den Dichter Ibſen ferner rüdt; 
unjere Alpenhöhen fteigen nicht fchroff aus dem Meer auf wie die norwegischen, 
und unjer „drittes Reich” iſt ein anderes, als ſich in den Träumen nordifcher 
Seher malt. 

Es gab eine Zeit, in der es leicht jchien, den innerften Drang, der bien 
zu feiner bejonderen Darftellung der modernen Welt geführt, feine „revolutionäre” 
Thätigkeit bejeelt hatte, zu deuten. Klar genug hatte ja Ibſen ald den Grund» 
fern feiner Weltanfchauung die „Revolutionierung des Menjchengeiftes", die 
Löfung des Individuums vom Drud der Allgemeinheit, die Ueberwindung der zu 
„Leichen” gewordenen alten Ideale hingeftellt; die Nede, die er einmal in Stod- 
holm auf das Kommende, das Werdende, auf „die neue Lebensmacht, zu der 
Poeſie, Philofophie und Religion verfchmolzen werden" hielt, eine „Yebensmadht, von 
der wir Sebtlebenden übrigens feine Elarere Borftellung haben können“, hatte 
fein Publitum zur Genüge belehrt, daß er Peljimift fei, der „nicht an die Ewig— 
feit der menfchlichen Kdeale glaube”, daß er fein Mittel für die Leiden der 
Gegenwart babe, daß er „meift frage und antworten fein Amt nicht jei’. Ber: 
glich man alle diefe Schlagworte mit einander und mit den Menfchen und Hand- 
lungen der Ibſenſchen Gefellihaftsdramen, fo ſchien es vollfommen fachgemäß 
und auch erichöpfend, daß may in Henrik Ibſen den erbarmungslofen Analytifer 
einer ſchlechten Wirklichkeit jab, der mit fadenfcheinig gewordenen Idealen wie 
mit den Phrafenlappen, die ihre Löcher und Rifje fliden follen, zugleich aufräumt, 
den Geftalter, der im Namen unbedingter Wahrheit, innerer Freiheit, der 
lebendigen GEinzelperjönlichkeit, des Adels: oder Herrenmenfchen, der jein Gejek 
in fich trägt, die morſchen Schranken verlogener Sittlichfeit und hemmender 
Ueberlieferung niederwirft. Wohl war das Wort „Wollen — heißt mollen 
müſſen“ auch fchon damals geſprochen, und hätte bei einiger billigen Erwägung 
auch den Sklaven des Herkömmlichen zu gute kommen follen. Indes folgte 


854 Adolf Stern, Ibſens Weltanfchauung. 


man der Anſchauung des Dichters, ſoweit man fie zu verjtehen meinte, in großen 
(bei weitem nicht in allen) Yebenskreifen, einerlei, ob willig oder unwillig. Biele 
der Willigen erfchrafen jchon, uns dünft mit Unrecht, als Ibſen in den 
„Sefpenitern” das Gefpenft der erblihen Belaftung beraufbeihwor und Die 
£onjervativen nicht ſowohl UWeberzeugungen, als gedanfenlofen herkömmlichen 
Redensarten des Paftord Mander an dem furchbaren Verhängnis ad absurdum 
führte, das über den unjeligen Oskar Alving hereinbricht. Was aber wurde aus 
der Wahrheit, die um jeden Preis die Lebenslüge hinwegfegen follte, ſeit der 
Wahrheitsapoftel Gregor Werle in der „Wildente” mit der „idealen Forderung“ 
das Jammerglück der Ekdals zerbrodhen, die einzig liebenswerte Perſon des 
Stüdes, die kleine Hedwig, in den Tod gejagt, fich felbit aber als Beitimmung 
zugefprochen hat, der Dreizehnte bei Tifch zu jein? Stand nicht klärlich zwiſchen 
den Zeilen zu lefen, daß es taufendmal beſſer wäre, den Menichen, die fich den troit- 
(ofen Oberboden zum freien „Wald“ geftalten, ihr bischen Lebenslüge zu laffen ? 
Was wurde aus der Freiheit, die in der „yrau vom Meere" Ellida Wangel 
errungen und mit dem Bemwußtjein der Verantwortung ausgeübt, wenn ihre 
Stieftochter Hilde, der free Badfifch der „Frau vom Meere”, zehn Fahre jpäter 
ihre Freiheit dazu mißbraucht, den bewunderten Baumeifter Solneß auf die Thurm- 
[pie und in den Tod zu ſchicken, wenn Hedda Gabler im gleihnamigen Schauspiel 
den armen Eilert Lövborg, den fie „in Schönheit und mit Weinlaub im Haar” 
fterben fehen will, zum Tode treibt und plötzlich jo unfrei ift, daß ein „Ekel“ wie 
Gerichtsrat Brad Ichnödes „Hand und Halsrecht“ über fie gewinnt und ihr 
gleichfall3 nur die Piſtole bleibt? Wie nahm jich die befreite Individualität, der 
einzelne und auserwählte Menfch, der ſich ſelbſt Freifpricht und von den arm— 
jeligen Durchſchnittsmenſchen nicht verftanden werden fann, in der Geſtalt des 
Banfräubers Kohn Gabriel Borkman aus, der jeine Zuchthausjahre verbüßt 
bat, jeitdem als alter franfer Wolf auf die Genugthuung wartet, die ihm niemals 
werden kann, der der Anfchuldigung der geopferten Kugendgeliebten, daß er die 
unverzeihbare Todfünde begangen bat, das Liebesleben in ihr zu töten, ruhig 
jeine „unbezwingliche Machtbegierde" entgegenjegt? ine fchneidendere Parodie 
auf das fubjektive Herventum, auf den „Napoleon, der in der eriten Schladt 
zum Krüppel geichojjen worden iſt“, hätte ja fein noch jo entichiedener Gegner 
des Dichters erjinnen können, als er jelbit im Gegenbild zum Kohn Gabriel, im 
jungen Erhard Borkman erſchuf, der aud fein eigenes Leben leben will, bloß 
leben, leben, leben und im Schlitten, zwijchen einer jchönen, üppigen Frau und 
einem vielverheißenden jungen Mädchen, in die freie Welt hinausklingelt. Alle 
diefe Ueberrafchungen, die Ibſens Mufe jeinen Bewunderern und Erläuterern 
bereitete, erwiejen mindeſtens, daß die Dinge nicht jo Eindlich einfach lagen, als 
die wähnten, die ihn die Miffion zuſprachen, der Heuchelei einer jterbenden 
Kultur die Maske vom Geſicht geriffen zu haben. 


Adolf Stern, Ibſens Weltanichauung. 855 


Wahr ift, daß die Sittenbilder au dev modernen Welt mit ihrer Pebens- 
lüge, die lange Weihe der unerfreulichen, aber jcharf gefehenen, voll belebten Ge- 
ftalten von der „Komödie der Liebe“ und den „Stüßen der Geſellſchaft“ an, die 
ofen hingeftellt hat, eine jtarfe Ueberzeugungskraft in fich tragen. Wer wußte 
es nicht vor Ibſen, daß Tauſende, die ſich als Träger überfuommener und uns 
wandelbarer jittliher Ideale gebärden, im Innerſten umwahre, Ealte Selbftlinge, 
ohne Hauch eines Glaubens an die Dinge, die fie im Munde führen, find? Wer 
bat je auf die jegnende Kraft der Heuchelei vertraut, al3 wer feinen Vorteil bei 
ihr fuchte? Kam jedoch ein Dichter, der nach eigener Anſchauung, mit ent- 
jchiedener Abficht die Kehrſeite unzähliger feierlicher Lebensgrundfäge, geſellſchaft— 
fiher Lügen, hohler Predigten und hohler Reden entfchloffen zufammenrüdte, fo 
ließ fich gegen die Wahrheit aller Hauptſachen der Eharafteriftif, wie der Gejell- 
ihaftsichilderung, in der „Komödie der Liebe’, im „Bund der Jugend“, in den 
„Stüten der Gejellihaft‘, im „Volksfeind' im Grunde nur zweierlei erinnern. 
Erftens, daß die Zufammendrängung ganzer Reihen von bewußten Heuchlern 
und Lügnern, von armfelig Beſchränkten und egoiftifch fich jelbft Täufchenden, 
ohne daß ihnen das entiprechende Gegengewicht von beſſer angelegten, beſſer be— 
währten Naturen gegeben wird, immerhin etwas Gewaltjames, der Mannig: 
faltigfeit des Lebens Fremdes behält, zweitens, daß Dichter vom Gepräge Ibſens 
unabläffig in Gefahr ftehen, der vergiftenden, den Cinzelnen wie die Gefellichaft 
zerjegenden Lüge den unbewußten inneren Widerſpruch des Menjchenlebens 
hinzuzugejellen. Es ift thatjächlic ein wunderlicher Widerſpruch, wenn ein braver 
Schlächtermeifter, der noch) am Morgen des Ehrijtabends feines Amtes gemwaltet 
und Schweine und Kälber halbdußendmweife abgeitochen hat, am Abend bei 
den Lichtern des Weihnachtsbaumes fein Töchterchen auf den Arm hebt und bei 
der jauchzenden Freude des Kindes einen thränenfeuchten Schimmer in die Augen 
befommt. Und es ift ein nod) grellerer Widerjprudh, wenn uns Seume bei 
Schilderung des Sturm der Ruſſen auf Praga einen ruffischen Grenadier vor: 
führt, der beherzt am Blutbad teilgenommen hat und einen geretteten Knaben 
trägt: „Seht nur, was er für ein herrlicher, ſchöner unge ift, wer wollte ihn nicht 
gerettet haben!" Derlei Widerſprüche, die zu taujenden durch die Welt und die 
Menfchennatur gehen, können jehr leicht, aber jollten niemals in der poetiſchen Wieder: 
gabe des Lebens als Lüge aufgefaßt werden. Prüft man die Lebensbilder und 
Einzelgeftalten Ibſens unter diefem Gefichtspunft, jo zeigt fich, daß ihn der Zug 
zur Berftörung, zur Bekämpfung der Ideale, die er für hohl und wurmftichig er- 
achtet, nicht nur die Milde und das Mitleid genommen hat, deren Mangel er in 
jeinem „Brand dem Helden noch zur Schuld rechnet, fondern daß er auch die 
unvermeidlichen inneren Widerjprüche des menjchlichen Daſeins wiederhult al3 Lüge 
erachtet. Die mächtige, ernfte, aber herbe Natur Ibſens ſchließt die Berzichtleiftung 
ein, aber die Nachficht, wie die verſöhnliche Ergründung der Pflichtkonflikte meift 


856 Abolf Stern, Ibſens Weltanſchauung. 


aus. Die Härte, der „Froſtweg, der zum Gejeg führt, brechen immer wieder 
bervor und hängen wohl mit dem umſonſt geleugneten nordiſchen Weſen des 
Dichter zufammen. 

Am Mittelpuntt der Weltanihauung Ibſens jteht das Verhältnis des 
Einzelnen zur Allgemeinheit, der Wideritand gegen den Drud und Zwang, den 
die Allgemeinheit, heiße fie Gejet, Bekenntnis, Weberlieferung, Sitte, öffentliche 
Meinung, pädagogifche oder äfthetiiche Doktrin, gegen die freie Entwidlung des 
Individuums ausübt. Wir haben eben gejehen, daß der Dichter die Zweifelameigenen 
Real: die Anwendung der naturwiſſenſchaftlichen Lehre von der Evolution aud auf 
die geiftigen Lebensfaktoren, feineswegs völlig überwindet. Wie bei ihm vieles ver: 
ſteckt auftritt, jo aud) die erften Neuerungen des Zweifels. Otto Harnad hat 
in feiner Studie „Ueber Ibſens ſoziale Dramen’ und in der Beiprechung des Schau: 
fpiel3 „Rosmersholm“ die Gegenfäte der Lebensanſchauungen Rosmers und 
Rebekkas, die in ſchauerlicher Schroffheit gezeichnet find, mit den Worten charak— 
terifiert: „Die Lebensanſchauung der Rosmers abelt, aber fie tötet das Glüd, die 
Lebenanfhauung Rebekkas gewährt die Lebensfreude, aber fie führt zum Ber- 
brechen. Beiden gegenüber hat der Dichter eine dritte aufgeftellt, die eine volle 
Harmonie von Fähigkeit, Willen und That verlangt. Als ihren Vertreter hätte 
er einen eifenfeften, feiner Kraft wie feiner Schranfen bewußten Mann hin: 
ftellen follen. Statt deſſen läßt er dies deal vor uns durch einen verlotterten 
genialen Charlatan entwideln und will gar als Verkörperung desjelben einen 
ffandalfüchtigen und verlogenen Zeitungsfchreiber ums glaublich machen. Das ift 
nit mehr künftleriihe Objektivität; hierin offenbart fich ein pathologifcher Zug, 
der Zweifel an dein eigenen Gedanken, fchon im Augenblid, da er erit dargeftellt 
werden ſoll“. (Dtto Harnad, Eſſais und Studien zur Litteraturgeſchichte ©. 351.) 
Die Beobachtung ift fein, und fie Eönnte über mehr als eine Scene und Geftalt 
der jpäteren Dramen hinweg erjtredt werden. Die fröhliche Siegesgewißbeit, 
mit der unjere Anardiiten an die Duadratur des Zirkels, den „opferfreudigen 
Egoismus“ glauben, ift Ibſen nicht zu eigen, und auch das ift beachtenswert, daß 
er im Zweifelsfalle immer lieber zu der großen Anſchauung, die das Glüd tötet, 
aber den Menſchen adelt, zurüdgreift. Im Ganzen indeß zieht er mit jeinen 
Marimos in „Kaifer und Galiläer“ aus dem Vorderſatz: „die alte Schönheit it 
nicht länger ſchön und die neue Wahrheit ift nicht länger wahr” doch den hoff: 
nungsvollen Schluß, daß ein Neues, Künftiges kommen müſſe, nur daß wir eben 
nicht wiffen, nicht einmal ahnen können, wie dies Werdende, Kommende ausjeben 
wird. Für die beraufchten Prophetieen revolutionärer Ehiliaften ift der Dichter zu 
fritiich, zu epigrammatifch; daß auf dem Grunde feiner Seele ein Zug auch dazu 
lebt, ward jchon hervorgehoben, er hält ihn in gewiſſem Sinne gewaltfan nieder 
und feine Menſchen bewähren ihn vor allem in der Todestrunfenbeit. 

Die vielumftrittenften Werke Ibſens wie „Die Komödie der Liebe‘, wie 


Adolf Stern, Ibſens Weltanichauung. 857 


„Nora und „Klein Eyolf“ können jo gedeutet werden, als ob der Dichter auch 
die Familie zu dem „Sozialen Begriff‘ rechne, der in den gegenwärtigen Formen 
zu eriftieren aufhören wird. Der Accent fliegt natürlich bier auf den „gegen: 
wärtigen Formen”. Daß es eine volllommene Thorheit iſt, bien, der 
vom Sinnenglüd unendlich geringfchäßiger denft als vom Geelenfrieden, und ber 
ih an diefem einen Punkt dem Ruſſen Tolftoi weiter nähert, als irgendwo 
fonft, als einen Vorkämpfer der freien Liebe anzuflagen, braucht faum erft hervor: 
gehoben zu werden. Im Gegenteil war die asfetiiche Neigung Ibſens, die Blüte 
der Liebe nur in der Entjagung und Erinnerung, nicht in der Bereinigung von 
Mann und Weib zu erbliden, jchon in der Geftalt der Hjördis in der „Nordiichen 
Heerfahrt” verkörpert und überrajchte und erbitterte in der „Komödie der Liebe“ 
nur, weil fie fi) bier unmittelbar einesteil3 gegen das geſellſchaftlich Herkömm— 
[iche, andererjeit3 gegen den Dichtertraum dauernden Glückes wandte. Die 
Scheu Falks und Schwanhilds vor dem Untergang der Liebe in der gemeinen 
Gewohnheit des Alltags fteigert jih aus der Anſchauung des Dichters heraus 
zum Efel vor der Che und, im vollen Gegenjaß zu den anderen norwegifchen 
Dichtern, die der erften noch fo thörichten, noch fo dürftigen Jugendregung allein ein 
Lebensrecht zufprechen, zu einer Art Preis der Vernunftheirat. Da dem Dichter 
die legte Tiefe der Liebe verſchloſſen blieb, in der die innerlicd, zufammengehörigen 
Menichen, über die Gefahren des Leidenichaftsglüds und die größere 
der platten Gemwöhnung Hinaus, zum reinſten Verſtändnis, zur Be— 
feligung der Gemeinſamkeit in Leben und Tod gelangen, fo war er in feinem 
Recht, die jtumpfe Gleichgiltigkeit und den ſchmiegſamen Selbftbetrug, die ſich 
hinter dem Schild einer fozialen Pflicht verfteden, zu Earifieren. Nur daß damit 
gegen den höheren lauteren Pflichtbegriff gar nichts beiviefen wurde. Bei Ibſens 
Ueberzeugung, daß die große Mehrzahl der Ehen auf einer mühſam verftedten 
Lüge berube, Eoftete es den Dichter wenig, im „Puppenheim“ die verzeihende Liebe 
ganz auszuschließen, und Nora auf.den Weg einer einfamen Gelbfterziehung 
zu jchiden, bei dem Konflikt in „Klein Eyolf“ die ſympathiſche Geftalt der Alta 
einer Bernunftehe aufzuopfern, der leidenjchaftlichen Liebe Ritas zu Allmers 
jede Berechtigung abzufpreden, ja das Zufammenleben der beiden Eheleute nad 
der Geburt des eriten Kindes als eine fittliche Verſchuldung hinzuftellen, die mit dem 
Tode des armen Jungen geahndet wird und mit ſchwerer Lebensarbeit und ge- 
legentliher Sonntagsruhe vielleicht gefühnt werden mag. In allen Fällen aber 
ſucht Ibſens Muſe ein ganz anderes Berantwortlichfeitsgefühl in das Familien- 
leben hineinzutragen, indem er das „Herkömmliche“ fchneidig befämpft, ohne immer 
Elar jagen zu fünnen, was an dejjen Stelle treten foll. Doc der Dichter „Fragt 
nur, überläßt das Antworten Anderen". Gerade bier aber ift3, wo wir ber 
grübelnden Stepfis Ibſens und feiner Nahahmer eine unverbrüchliche Forderung 
des deutjchen Gefühle entgegenzuiegen haben. Wir wollen jede, auch die jchärfite 


858 Adolf Stern, Ibſens Weltanfchauung. 


und herbite Kritik unſeres ererbten Familienbegriffs ertragen und jede ethiſche 
Steigerung der Borausjegungen, aus denen fi die Familie aufbaut, berechtigt 
finden. Aber wir werden ung nie überzeugen lafjen, dat die Familie nicht die 
„ſtärkſte Individualität” jei, und daß jemals aus ihrer Auflöfung und Zerſetzung 
eine jtärfere hervorgehen könne. 

In all diefen Dramen handelt es fih um piychologiihe Erperimente, 
die troß ihrer fünftlichen und zum Zeil hart an der Grenze der jeeliichen Ueber— 
reizung und des Wahnfinns bingehenden jagen wir nicht Unmöglichkeiten, aber 
äußerjten Möglichkeiten, troß ihrer das Gefühl verwirrenden Zufpitungen, ſich 
innerhalb jehr einfacher äußerer Vorgänge abipielen. Danf der eigentümlichen 
Technik Ibſens jcheinen die Dinge naturgemäß und logisch ſich zu entwideln, und 
mit dem Dichter wird der Zujchauer meift die fomifche Wirkung, die jo künstlicher 
Tragit wie der in der „rau vom Meere”, in „Rosmersholm“, in „Dedda 
Gabler”, „Baumeiiter Solneß" und „Wenn wir Toten erwachen“ innewohnt, 
meiſt überjehen. Doch jobald fie ihm in die Augen jpringt, ift es um die jeeliiche 
Erjhütterung, die diefe Erfindungen und Geftalten hervorrufen jollen, geicheben. 
Spürt man einmal, daß es nicht tragische Mächte und Notwendigkeiten find, 
die ſich hier gegenüberitehen, daß die grübelnde Willkür einen ftärferen Anteil 
an ihnen hat, als der Eindrud des Lebens auf den Dichter, fo regt ſich auch im 
Lefer und Hörer der grimmige Zweifel oder die Ironie, mit denen der Dichter 
jelbjt einem Teil diejer Bilder gegenüber geitanden hat, ehe er fie in die letste 
unheimliche Beleuchtung rüdte, die der modernen Auffafjung alle Mängel der 
Zeichnung verbergen jol. Das „neugeborene Auge, das die alte That wandelt“, 
ift dem Dichter ſelbſt nicht überall zu eigen, wie kann er es von denen fordern, 
die durch ihn und mit ihm jehen jollen? 

Es ift vollkommene Thorheit, gegenüber einem Dichter jchwerer und dunkler 
Probleme an Poeten zu mahnen, die das Leben leichter nehmen. Erfreulich mag 
eö jein, zu diefen Leichtnehmern zu gehören, aber nur die behagliche Oberfläd- 
lichkeit und die felbitzufriedene Eitelkeit konnten einer Natur wie der Ibſens 
anfınnen, ihre Auffaſſung des Lebens und ihre leichtherzige Wiederholung von 
Borftellungen und großen Worten, zu denen ſie längjt fein inneres Verhältnis 
mehr hatten, zu teilen. „Die düftere und herbe Weltanihauung Ibſens war zur 
Beit, als er fie poetifch zuerit ausfprach, nichts weniger al$ Mode. Und dieſer 
Thatſache gegenüber wird die Berufung darauf, daß beinahe alle größeren und 
vom Kern aus gefunden Dichter die Welt anders und lichter gefehen haben, hin: 
fällig... So lange es nicht Laune und Großmannsjuht find, die das einzelne 
Talent treiben, wird man feinen Poeten von vornherein jchelten dürfen, dem 
Naturanlage oder perfönliches Geſchick nur die Nachtfeiten von Welt und Leber 
offenbarten. Gegenüber Ibſens Dichtungen „Brand“, „Peer Gynt“, „Kailer 
und Galiläer* it es ungzmeifelhaft, daß Ibſen von einem inneren Muß, dem 


Adolf Stern, Ibſens Weltanſchauung. 859 


nicht zu entrinnen war, getrieben wurde. — Wohl aber fällt die Frage ſchwer ins 
Gewicht: „ob der Dichter einen Weg, den er zuerjt mit heiliger Scheu und dem 
rüdhaltenden Ernſt betrat, den der Wahrheitdarfteller mit dem Wahrheitjucher 
gemein haben muß, nicht Schließlich mit ironiſchem Weberlegenheitsgefühl, mit der 
Ueberredungstunft des Sophiften, mit der Bravour des Birtuojfen weiterge— 
gangen it? Da die Berechtigung für die Darftellung der Welt und des 
Menſchenlebens nad deren dunklen Seiten nur in der innerften Ueberzeugung 
de3 Dichter von der Wahrheit feiner Gefihte und Geftalten liegt, jo fteht die 
Gerechtigkeit des großen jchöpferifchen Talents von Schöpfung zu Schöpfung vor 
der frage, ob jene Wahrheit in ihm felbjt noch lebendig, feimkräftig und uner- 
ſchütterlich ſei“ (Adolf Stern, Studien zur Litteratur der Gegenwart. ©. 429.) 
Dieje Frage ift in der That die entjcheidende und wichtige für die Gejamt- 
beurteilung des fpäteren bdichteriihen Schaffen Ibſens. Seine Bemwunderer be- 
jahen fie rüdhaltlos für jede Dichtung, die jchrofferen Gegner verneinen fie für 
die ganze Reihe der Werke, von den „Geſpenſtern“ an bis zum dramatifchen 
Epilog. Die Unbefangenen werben mit uns der Meinung fein, daß fie jedem 
Werke gegenüber neu an den Dichter geftellt werden muß, und fich nicht ver— 
behlen, daß das ja in mehr als einem Falle nur ein Bedingtes fein fann. Doch 
wenn e3 auch ein Unbedingtes wäre, würde daraus noch nicht folgen, daß wir 
uns dem, was für den Dichter zwingende Wahrheit gewejen, auf jede Gefahr hin 
vertrauen müßten. Auch wenn wir meinen follten, daß Ibſens Gejellichafts- 
dramen feine über den einzelnen Fall hinausgehende Löfungen einjchlöjfen, was 
bei ihrer Natur und dem verftärkten Gewicht, das der Dichter feinen Ent— 
ſcheidungen giebt, fchwer zu meinen und was Eeinesfalls Ibſens Meinung ift, jo 
erweijt die Zmwiejpältigfeit des Gefühls, in die uns bald die Handlungen, bald 
die Geftalten der Dramen feßen, daß ihnen die fiegende Kraft, die [uns in die 
Anschauung eines Dichterd widerftandslos hineinzwingt, wenigftens teilweiſe ge- 
bridt. Nicht an Geift und Stärke, aber an Liebe und Wärme fehlt es dem 
Dichter, der fih an die Zerjeßung und Bernichtung der alten Ydeale wagt, ohne 
von den neuen vollftommen überzeugt "zu fein. Soweit Ibſen die Geftalten, die 
er zu Trägern des „Kommenden“ macht, nicht in die Nacht des Todes jcidt, 
entläßt er fie in die Nebel eines höchſt ungewiſſen Schickſals — der Weg ift 
fhlimm, da3 dritte Reich weit, wer faßt ein rechtes Vertrauen, daß Falk und 
Schwanhild, daß Nora und Doktor Stodmann, dat Ellida Wangel, dat Allmers 
und Rita dort anlangen werden? Derer zu geſchweigen, die wie Paſtor Manders 
in den „Geſpenſtern“, wie Hjalmar Ekdal in der „Wildente", wie Erhard Bork— 
man in „Kohn Gabriel Borkman“, wie Frau Maja in „Wenn wir Toten 
erwachen" halbeswegs umkehren und im Sumpf der Gewöhnlichkeit verlinken. 
Wie viel Anteil an diefer jeptifchen Bejonderheit des Dichters die Erſchei— 
nungen des normwegijchen Lebens, wie viel die elementare Zweifeljucht feiner 


860 Adolf Stern, Ibſens Weltanfchauung, 


Natur haben, mag ftreitig bleiben. Gewiß aber it, daß die dichteriſche Ge 
jtaltung unferes eigenen Lebens nicht damit belaftet werden darf, die Typen 
Ibſens in unfere Welt hineinzutragen, für die wir jchlechterdings feine Vergleichs: 
punkte haben. Das Recht des analytifchen oder piychologiihen Dramas mird 
damit nicht beeinträchtigt, doch der irregehenden Nahahmung muß die fchärfere 
Prüfung von Ibſens Weltanfhauung einen Damm jegen. 

Niemand leugnet, daß Ibſens Gejellichaftsdramen, namentlich die älteren, 
auch Gegenfäße, Konflitte und eine Folge von Menfchengeftalten einjchließen, zu 
denen wir die Vergleiche, die verwandten Ericheinungen aus unferem eigenen 
Leben unmittelbar bei der Hand haben. Unzweifelhaft ertöten Lügen, die ſich 
al3 ideale Forderungen gebärden, fchlechte Ueberlieferungen, die man fälſchlich 
Pflichten tauft, und jelbftiiche Regungen, die zu notwendigen Bedingungen des 
altgeheiligten Beſtandes der Gefellichaft aufgebaufcht werden, auch bei uns einen 
guten Teil Lebens: und Thatkraft, viel Lebensfreude. Hierin liegt die gebeime 
Macht, mit der Ibſens Dramen, troß ihrer fonderartigen und rätſelhaft 
fubjeftiven Beimifchungen auf die unbefangen Aufnehmenden und Geniegenden 
wirken. Immer wieder aber gilt e8, die einfachen und unmwandelbaren Lebens- 
güter und idealen Forderungen, zu denen jelbitvergefiene Liebe, Mitleid und 
opferfreudige Hingebung gehören, die einfachen, unmandelbaren Pflichten, die das 
Maß der einzelnen Kraft nie überiteigen, wenn fte richtig erfaßt find, und das 
unentbehrliche Einverftändnis des Einzelnen mit einer Allgemeinheit gegen die 
Vorftellung zu wahren, daß der jchranfenlofe, gewiljenlofe Andividualismus als 
Weltprinzip das dritte Neid; höherer Gerechtigkeit und freudiger Kraft bringen 
fönne. Der norwegische Dichter fucht das Grauen vor einer Zeit umd Kultur 
zu weden, wo die Perfon im wüſten Haufen hinjchwindet, die Menjchen namenlos 
und als bloße Nummern finnen, bauen, fämpfen, laufen, Pyramiden aufricten, 
in die ägyptifch jeder feinen Eleinen Stein fügt, um das Ganze zu erhöhen, er 
ſieht Zwang überall, jieht durch die bloße Forderung der Pfliht und die frei 
willige Mitwirkung an Aufgaben, die fein Einzelner zu löjen vermag, das höhere 
Necht des Einzelnen gefährdet. Wir zweifeln nicht, daß fich in düfterer Stunde 
gewille Erjcheinungen und Gntwidelungen unjeres modernen Lebens mit jeinen 
Augen anfehen lafjen. Die Frage ift nur die, ob es finnlofer Pyramidenbau 
jei, dem alle Kräfte eines Volkes zuftreben, ob der Einzelne verjflavt jei, dem aus 
der willigen Hebernahme von neuen Pflichten neue Rechte erwachſen. Ibſen bat 
und mit der fkeptiichen Prüfung der Fundamente unjeres Lebens, der jopbiitiichen 
Kritik ſittlicher Grundbegriffe, mit feiner Charakteriftit der Schwäde umd 
DHaltlofigkeit moderner Menſchen in der That vor die Aufgabe geitellt, Schein 
und Sein, Phrafe und Weſen ſchärfer al3 je zu unterfcheiden, dem üußerlichen 
Schwung, dem fein innerer entjpricht, dem jittlihen Pathos, hinter dem die 
jelbftfüchtige Rüge fteht, kein Gewicht beizulegen. Aber die „ideale Forderung“ bat 


Adolf Stern, Ibſens Weltanſchauung. 


861 


er darum mit nichten aus unjerem Bolfsdafein und unferer Litteratur ver: 
bannt, wir fühlen angefihts feiner Weltanjchauung, daß jene geläutert, ge: 
fteigert werden mag, aber unentbehrlicher denn je alle Adern unferes Lebens 


durchdringen muß. 


% 


Weltminſter-Abbey. 


Es wurde Bacht im gewaltigen Dom, 
Doch weifzer die Statuen, bebrer, 


Durch Riefenfcbeiben kam weich und bleich 


Die Dämm’rung berein, wie ein ftiller 
Strom 

Der lang verfcholl'nen Gefchichte gleich; 

Der Schatten ward gröfzer und leerer. 


Ich wandeltenoc von Beftalt zu Beftalt 

Die gefpenftifch wurden,verfchwommen, 

Da kam aus der Wöbe ein mächtiger 
klang, 

Die Orgel dDurchbraufte den Dom mit 
Gewalt, 

Dann ift ein filberner Pfeifen Drang, 

Ein einzig Lichtlein erglommen. 


Wollt ibr die Orgel verfucben? ſprach 
Der Kanonikus.— 3ch?— © wiegerne! — 
Die Hände in fünf Klaviaturen, rief 
Ich bimmelsftimmen, Pofaunen wach, 
Die ganze kirche, die ſchwelgend fchliet, 
Das Dämmerlicht in der Ferne. 


Und in den Wöälbungen bat’s gebebt, 
Sch ſaſz, von Tönen umflutet, 

Die Grüfte tbaten ficb feufzend auf, 
Was längft vergangen, Da bat es gelebt, 


Eskam aus Jabrbunderter Tiefen berauf, 


Was bier verklungen, verblutet. 


Der Sünder unter dem Baldacbin, 
Der Genius, von Licht umfloffen, 


© 


Der hunger erlitten, Derkennung, Bein, 

Derbänderingend nach Recht gefchrie’n, 

Sie traten bervor aus Demfchweigenden 
Stein, 

Und baben Tbränen vergoffen. 


Der alte Paſz und der alte Groll 

Bat unverföbnt noch die Bände 
Verzweifelndgeballt, und die Bölle ftand 
Vorden bDimmelsftimmen, dDietrauervoll, 
Wie Tau, binftrömten auf Wöüftenbrand: 
Es bebten die Adauern, die Wände. 


Es bebte die Orgel wie Pulsfchlag laut, 
Wie braufende MBeereswellen, 

Und fchluchzte leife, wie tiefer Gram, 
Es bat den alten Säulen gegraut, 
Wie Martyr und Denker da wiederkam, 
Bindeutend auf blutige Stellen, 


Und Arme umfchlangen die Säulen, wie 
Von bilflofer Qual gewunden, 

Daran gefeffelt vom eigenen Paar. 
Die Orgel klirrte und beulte, ſchrie 
Zum Erdenleid, zu der Jammerfchar, 
Die nächtens einander gefunden. 


Dann ward es wieder fo Still und grofz; 
Das Tönen, das Schludhzen verballte, 
Sie büllten in Borgengewandung fich, 
Sie bargen ſchweigend im Erdenfchofs, 
Was fie erduldet, daſßz feierlich 

Ihr Füblen im Rubm erkalte. 


Carmen splva. 


Brei Heiynadten 


von felir Dabn. 


I. a. 1230 an der Nogat. 


Der Oftnordoft ingrimmig fchnaubt, 
Der Sturmbelm fror mir feft ans baupt: 
Es zittert unter mir der Rappe: 
Ringsum kein Ritter fonft, kein knappe: 
Ich fteb allein auf böfer Wacht! 

Das Eis der Mogat knirfcht und kracht, 
Die Wölfe beulen durch die Macht. 
Bus finftrem Föbrenwald zuweilen 
Zifcht’s um mich ber von Polenpfeilen; 
Bis tief ins Abdark dringt mir ein 

Grauen! 
Auf, Berz! Mach oben mufst du ſchauen: 


II. 1240 am 


Rings WäftensBlutbaucd um mich ber! 
Tot fiel mein Röfzlein — lang ift's ber. 
Wie ftapft es durch den Sand fich 
ſchwer! 
Ich glaube faft, ich kann nicht mebr. 
Wenn ich nur noch die Palme dort 
Erreiche und den Schattenort. — — 
Die beilge Kirche ebr ih febr: — 
Wlenn die nur nicht fo beillg wär’! 
Warum foll das nun Sünde fein, 
Sein Bäslein wunderbold zu frei’n? 
Doch Wlürzburgs Bifchof, unfer Obm, 
Scickt mich bis an den Jordanftrom! 
Den Zug des Kreuzbeers foll ich teilen 
Und trotzen Sarazencenpfeilen, 


Siebft du der Sterne fromme Pracht? 

Auf den Bberrn Cbriftus mufzt Du 
bauen, 

Er bält mit dir getreulih Wacht, 

Zumal in diefer beilgen Macht, 

In der er Wenſch geworden ift. 

Wäbnft du, dafs Dein er je vergilzt? 

Mein, fällft du bier auf deinen Schild, 

bebt er Dich mit der Rechten mild 

Und fpricht: „Tür mich bift Du ge= 
ftorben: — 

Das bimmeclreich baft du erworben!“ 


Jordan. 


Dann,kann ich beil den Rückwegfinden, 

WII des Verbots er uns entbinden. 

Die andern find fchon weit voran, 

Ob ich fie noch erreichen kann? 

© bolde Perrin Irmingard, 

Das Frein um Dich ift beifz3 und bart. 

Ich zweifle febr, ob ich Dich je, 

Dich und Alte Würzburg wieder fcb: 

Weibnachten beut! Bun deckt der 
Schnee 

Abit feierlicbem Glanz Dich zu. 

Mein barrt im Sand die Todesrub 

Und doc, o treu Gelichbte Du, 

Ic fegne dich noch im Verderben: 

Denn felig ift’s, für Dich zu fterben. 


Felix Dahn, Drei Weihnachten, 363 


III. an der Loire 1870. 


don Orleans der grofze Wald, 

wie liegt er finfter, feindlich, kalt! 

Gebt nicht die Macht zu Ende bald? 

Da horch! Ein Schuſz! Mab bat's ge= 
knallt: 

Ich weiſz wobl, wem die Kugel galt. 

berr Franktireur, Das ging Daneben: 

Laf3 mich ein wenig noch am Leben. 

Zwar ift’s ein bartes Leben jetzt, 

Drei Wochen lang umbergebetst, 

Den Rock verwetst, Die Schub zertetzt, 

Die Füſze wund zu guterletszt, 

Drei Wochen lang ftets angefcboffen, — 

beut Macht bätt’s beinab mich ver— 
droffen, 

beut in der beilgen Weibnachtsnacdt 

Ganz einfam ftebn vor'm Walde Wacht! 


$etzt ſchmückt dDabeim am Zfarftrand 
Den Chriftbaum meines Weibes band: 
Dort Tannenduft und Lichterbrand: 
Die blonden Buben jubeln laut — — 
©b fie mein Auge noch mal fchaut, 
Ob mich ein Grab im fremden Land...? 
Bab, einmal muf3 Doch jeder fterben! 
Iſt Schöner Los denn zu erwerben 
Als Tod im Sieg für's Vaterland? 
Bin nur ein fchlichter Landwebrmann, 
Doch Das begreift aub mein Ver= 
ftand: 
Wenn unfer Beer den Sieg gewann, 
Dann wird dabeim ein Reich erftebn, 
Wie keins noch bat die Welt gefebn 
Und trifft mich bier der Todesftreich, 
50 fterb ich für Dies deutſche Reich! 


Ausiprüde aus „Beiltige Maften“. 


Wo immer der MWenſch die überkommenen Bröonungen nicht mehr als innerlid 
bindend empfand und zum Maß aller Pinge fein eigenes Meinen und Behagen machte, 
da enlmwirkelte ſich eine Sophiflik und verwarf alles an fih Gute, alle Bormen als einen 
leeren Wahn und eine Ichädliche Beſchwerung des Lebens. 


Rudolf Eucken. 


Es ill eine eigene Sache im Leben, daß, wenn man gar nid an Glück oder Hnglüd 


denkt, Sondern nur an firenge, ſich nicht ſchvnende Pflichterfüllung, das Glück fih von 
ſelbſt, aud; bei enibehrender, mühevoller Iebensweile einfellt. 
wu. von Pumboldt. 

Das hodhgefleigerie Gefühl der Brirgerehre und DPienfpflicht, die Airenge, unab- 
läffige, ſich ſelblt vergeffende, in keiner Gefahr und Bof ermüdende Sorge um die Anter- 
gebenen; fie find die ausgegeichnefen und unüberiroffenen Cugenden unleres Plfizierkorps. 

©. Frertag. 

Während Monardifien und Liberale ihrem Welen nadı auf nationalem Boden firhen, 
ift es zu allen Beifen die Balur der klerikalen und der radikalen Parlei, welibürgerlid 
zu fein, kein Balerland als ihre Parlei zu kennen, für dieſe die Weltbeherrſchung zu 


fordern. ». von Spbel. 
63) 


SA 99909 


Franz Xaver Kraus. 


Von 
kudwig Schemann. 


RB: 28. Dezember vergangenen Jahres verftarb zu Sarı Remo Franz Faver 
Kraus, jäh und unverhofft jelbit für feine nächſten Freunde und Schüler 
die, nachdem fie öfter zuvor fchon ihn dem Tode verfallen geglaubt, diejen nm 
doch gerade in den allerlegten Tagen, da ihr Meiſter auf Italiens Boden not 
einmal aufzuleben fchien, wieder ferner gerüdt glaubten. Bon einem treuelten 
Freunde geleitet, der e8 nicht ohne Bangen ſehen konnte, wie er „vom Arbeiten 
nicht laſſen wollte”, war er der Stätte genaht, wo er die legten Blide ind Bud 
der Natur, in feinen Dante und in die „Nachfolge Ehrifti" werfen follte, meld 
letzterem Buche anjcheinend fein Abjchiedsblid, fein letztes Sinnen und Sehnen 
gegolten hat. In der ihm heimisch trauten Freiburger Erde iſt er dann am 
Dreifönigstage beftattet worden. Sein Leichenbegängnis war von der Art, wie 
es fonft einem auch hervorragenden Gelehrten nicht fo leicht gewidmet zu werden 
pflegt. Höchſte Vertreter des badiſchen Fürftenhaufes, der geiſtlichen 
bürgerlichen und militärifchen Behörden, die Univerfität in corpore, Deputiet: 

Während bed Drudes des vorliegenden Artikels iſt die offizielle Erinnerungsſchrift da 
Freiburger theologifchen Fakultät „Zur Erinnerung an franz Xaver raus. Im Namen vr 
theologischen Fakultät an der Univerfität Freiburg i. Br. von Dr. Starl Braig, Profeſſor an der 
ſelben Fakultät.” Freiburg i. Br., Herder, 1902, erfchienen, welche unter der Flut von Rat 
rufen in mancher Beziehung immer einen authentifch eriten Rang wird beanfprucen lönnen 
Aus einer Reihe neuer eigener Ausſprüche Krauſens in Briefen, Schriften und fonftigen Aut 
zeichnungen fett fich fein Gefamtbild nochmals unvergleichlich ſympathiſch dem Leter zufammen. 
und auch der Zug echter, ja warmer Würdigung und Verehrung, der tro& fo offenbar vielied 
abweichender Anfchauungen des Verfaſſers und jeiner Kollegen das Ganze durchzieht, muß auf 
jeden mohlthuend wirken und jede Sleinlichkeit der Beurteilung auch auf der andern Seite au“ 
fliegen. Um fo mehr aber erfcheint es mir Pflicht, einer f. 3. f. programmatifchen Yeukenm 
eine andere, ebenfolche, raus’ felbit gegenüberzuftellen. Es Handelt fich um die Spektater 
Briefe, jene firchenpolitifche Zeititinnme, welche neuerdings als hervorragendſtes Spezimen dat 
Kraus’ freierer Anfhauung und Stellung innerhalb feiner Kirche in den Worbdergrund 9° 
treten ijt. An zwei Stellen jeines Buches nun fagt Braig (©. 44 und ©, 49), daß er bieft 
Briefe und verwandte Kundgebungen „nicht zu Kraus’ Lebenswerk rechne“. Dagegen bei 
Kraus einmal, als er in feiner ftolzbefcheidenen Weife fein wunderbar reiches Schaffen vor mt 
entrollt hatte, mit folgenden Schlußworten ſelbſt feinen ſehr entgegengefegten Standpunkt ge 
fennzeichnet: „und dann noc die Speltator-Briefe, die find ſchon für ſich allein 
ein Lebenswerk!“ 


Ludwig Schemann, Franz Xaver Kraus. 865 


auswärtiger Städte und Körperſchaften, zahlreihe Angehörige aller übrigen 
Stände bildeten den Trauerzug, der den edlen Toten von der Leichenhalle 
zum Grabe geleitete. Draußen aber auf dem Friedhofe legten in weiten Umkreiſe 
viele Taufende Zeugnis dafür ab, daß in dem allen nichts Gemwohntes, nichts 
Landläufiges, nichts Zeremonielles und Formelles war. Jeder hatte den Eindrud 
eines durchaus ungewöhnlichen Ereigniffes, einer fpontanen Huldigung, welche dem 
geiftigen Haupte der Liniverjität, einem der reichiten und vornehmften Geifter 
Badens, einem der Erjten und Beſten der deutjchen Gelehrtenrepublif darzubringen 
war, der insbejondere auch, wie die Trauerfeiern in Florenz und Rom bewiejen haben, 
in feltenem Maße den Ruhm und Glanz der deutjchen Wiſſenſchaft im Auslande 
hatte leuchten laffen. Aus den Anſprachen biefiger und auswärtiger Bertreter 
der verjchiedenften Pflegeitätten der Kunſt und der Wiſſenſchaft Elang e8 warm 
und groß heraus, welch’ ein überragender Geilt und Charakter hier, unerjetlich 
auf mehr als einem Gebiete unſeres heutigen Lebens, bat bergegeben werden 
müffen. Und doc waren diefe Klänge wiederum nur ein Schwacher Wiederhall 
der Empfindungen der Taufende und Abertaufende, denen Kraus als Lehrer 
und Schriftfteller, als Führer und geiftliher Berater, ald Menſch und Freund 
unvergängliche Wohlthaten erwiefen hatte. Auf lange hinaus noch wird das 
alles in der Deffentlichkeit weiterhallen, aus nichts aber Kraus’ geiftige Größe 
und Bedeutung gerade auch Flarer zu Tage treten als aus dein Gedämpften und 
Berhaltenen und doch mit widerwilliger Anerkennung Stets reichlich Gemiſchten 
im Zone der ihn Befehdenden. Nicht leicht wohl auch wird wieder eine Geftalt von 
ſolcher Univerjalität, von jolcher Größe und Weite des Blickes unter den Vertretern der 
Wiffenfchaft zu finden fein. Daher die ungezählten Freunde dieſes wohl an Be- 
ziehungen reichten aller deutichen Gelehrten unter Fürſten, Staatömännern, 
Ariftofraten, Prieftern und Gelehrten aller Art. Er ſelbſt hatte und war eben 
von diefem allen etwas, und die Hoheit und Würde feines Wejens verichaffte 
ihm ebenfoviel Verehrung, als ihm feine Dingebung, fein tiefes Wohlwollen 
Freundſchaft und Dankbarkeit eintrugen. Nächſt Deutichland galt dies ganz 
befonders von feiner zweiten Deimat Stalien, wo er neben Jakob Burdhardt 
der meiftgenannte und beftbefannte deutiche Gelehrte war; aber aud in Frankreich, 
wo unter anderem feine SKirchengeichichte in über vierzigtaufend Eremplaren 
verbreitet war, hatte er namentlich mit der Priefterichaft, bei welcher ja be- 
fanntlich die freiere Richtung ſtark vertreten ift, eine Fülle innerlich bedeutjamer 
Berbindungen. 

Es ift nicht diefe8 Ortes, von Kraus’ engeren Fachwerken, feiner Real- 
encyklopädie der chriftlichen Altertümer, feiner Sammlung der Kunſtdenkmäler 
Badens, der der chriftlichen Anfchriften der Rheinlande und anderen eingehender 
zu reden. Um jo mehr aber haben wir denjenigen wiſſenſchaftlichen Haupt— 
leiftungen einige Worte zu widmen, die feinen Namen in die weiteſten Kreiſe 

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866 Ludwig Schemann, Franz Xaver Kraus. 


binausgetragen haben: jeiner Kirchengeſchichte, feiner Gefchichte der chriftlichen 
Kunft und feinem Dante. Gemeinfam ift ihnen allen der riefenhafte Fleiß, die 
ftaunenswerte Fülle der Materialien, die doch nie in toter Aufhäufung, jondern 
ftet3 in lebendiger Durchgeiftigung dein Leſer entgegentreten, gemeinfam die echte 
Gediegenheit, und vor allem eine fchlichte und überzeugende Beredfamfeit im 
Dienfte des jedesmaligen Gegenftandes. Untrennbar vereinigt war bei ihm die 
allgemeine Gejchichte mit der Kirchengeſchichte, die Kirchengefchichte mit der Kunit- 
wie mit der Geijtesgefchichte. Alle dieſe Disziplinen hat er angebaut, um den 
ganzen Gehalt der geiftigsjeeliichen Welt des Chriftentums, wie es jih hiſtoriſch 
in unjerer Welt entwidelt und abgejpielt bat, zu erihöpfen, um alle Schäte 
feiner Religion und Kirche als das Höchfte, was dem heutigen Menfchen zu bieten, 
in der Spiegelung der Wiſſenſchaft darzulegen. Leider iſt das leßte diefer Werte, 
die Kunftgeichichte, nicht vollendet worden. Zwar, die Darftellung der Renatjjance 
ift, wie e3 heißt, im Manuſkript vorhanden und foll noch in diefem Jahre der 
Deffentlichfeit übergeben werden. Auf die neueren Jahrhunderte aber werden 
wir endgültig verzichten müſſen. Vielleicht ift dies infofern weniger zu beflagen, 
al8 bei der Betrachtung beifpieläweife der niederländiichen Kunſt vermutlich die 
Einfeitigfeiten von Kraus’ Natur mehr zu Tage getreten jein würden. Aber 
Ihon allein, daß wir um den Hymnus auf Cornelius gefommen find, mit dem 
er da8 Ganze abzuichliegen gedachte, bleibt tief zu beflagen. 

Die lebte, wenige Tage vor jeinem Tode erichienene Schrift ift die über 
Cavour, welche einen Zeil der „Weltgejhichte in Charakterbildern“ bildet. Sie itt 
jo zu feinem wifjenichaftliden Teftamente geworden und als ſolches vollgültig 
und fprechend, wenn auch die beiden andern Monographieen, die er für die gleiche 
Sammlung noch geplant, die über Franz von Aſſiſi und über Erasmus von 
Rotterdam, feinem Herzensdrange noch mehr entiproden und uns ſomit von dem 
innerften Menjchen noch befjere Kunde gegeben haben würden. 

Eines legten, alle anderen überragenden Hauptplanes aber muß ich bier 
vor allem noch gedenfen, von dem er mir wieder und wieder gefprochen, für den 
er ein gewaltiges Material teild ſchon gefammelt, teil ins Auge gefaßt, und der 
jeit Jahren fein höchjftes Sinnen und Sorgen auf fich gezogen hat: des großen 
Werkes über die innerfirhlihen Reformbewegungen vor der Refor: 
mation. Er dachte darin zu zeigen, daß, während im früheren Mittelalter eine 
Berquidung des chriftlich-Eirchlichen Elemente® mit dem weltlichen durch alle 
Konitellationen geboten war, im fpäteren, aus dem Sinne und Geilte aller inner- 
fichlihen Reformbeftrebungen feit dem dreizehnten Jahrhundert, die Kirche ſich 
ganz auf die Herrſchaft über die Seelen hätte beichränfen, allen politiichen Ge— 
lüften entjagen, den Völkerraſſen gegenüberimehr individualifieren und vor allen 
die nordiihen Völker bei Zeiten geiftig freigeben müfjen. Er bat es nie ver: 
winden fönnen, daß der Verlauf der Neformation diefen Gedanken zu nichte ge: 


Ludwig Schemann, Franz Xaver raus. 867 


macht, der Jeſuitismus ihn endgültig begraben hat. „Was hätte werden können,“ 
jagte er einmal zu mir, „wenn die drei größten Geifter der damaligen Zeit, die 
einander 1511 in der camera della segnatura begegneten, Erasmus, Luther 
und Julius IL, ſich verſtändigt hätten!“ 

Es ift leider zu fürchten, daß ein ſolches Werk, nachdem er es mit binab- 
genommen, nun überhaupt To leicht von feinem anderen mehr gefchrieben werden 
wird. Die BProteftanten können zumeift jo mandes Große und Tiefe der 
katholiſchen Urkirche nicht mehr recht miterleben und mitfühlen, und die Katholiten 
wollen zumeift nicht jehen, wie weit die hiftorifche fatholiiche Kirche von der 
Idealkirche Chriſti abgefommen ift. In diefem einen Manne aber lebte alles, 
dejjen es zum Ausdenken eines folchen Gedankens und zu feinem adäquaten Aus- 
drud bedarf. Er zeigt einerjeit3 eine Vereinigung des echten großen Katholizismus 
und echt reformatoriichen Sinnes wie andererfeit3 ein in unferer Zeit faum mehr 
veritandenes Beilpiel dafür, daß ein großer und reicher Gelehrter zugleich ein 
inbrünftig frommes Gemüt bergen fann; er bedeutet einen lebendigen Proteft 
gegen die Afterlehre, daß freie, unbefangene Forihung nur in der Weife und auf 
den Wegen eines Hädel oder Nietzſche zu erreichen jei. 

Mit Recht ift Schon in der Grabrede und anderwärts darauf hingemwiejen worden, 
daß mir im Kraus einen wahrhaft priefterlihen Mann, einen felten reinen, edlen 
und weihevollen Geiſt gleich jenen auserlejenen Gejtalten aus den ſchönſten Zeiten 
der Kirche und des Möndtums verloren haben. Freilich mußte ev es erfahren, 
daß, je tiefer und echter einer das Chriftentum faßt, defto näher er zu allen 
Zeiten dem Martyrium gefommen tft, wenn aud; die Märtyrer der legten Jahr— 
hunderte des zweiten Jahrtauſends in anderen Formen leiden als die der eriten des 
eriten Jahrtauſends. Dder war ed etwa Fein Martyrium, wenn diefer Mann, 
der in den guten Zeiten der Kirche als ihrer Leuchten eine anerkannt und ge— 
priefen worden wäre, von ihren jüngften Leitern als fchledht Eatholifch beijeite 
geihoben, in ftillen Bann gethban wurde, was dann zur Folge hatte, daß die 
große Meute dejien, was heute fatholifh heißt, ihn nod Bis ins 
Grab hinein verunglimpft bat, und doch aud wiederum den meilten An— 
gehörigen der anderen Kirchen immer nur unter der jammervollen Tagesrubrizierung 
des „liberalen Katholiken denkbar und als folcher allerlei falſchen Beurteilungen, 
ja, am Ende gar der Berwechslung mit charafterlofen Achfelträgern ausgeſetzt blieb, 
während er jein eigentliches Lebensideal, eines über aller Politik wie über aller 
Kirchenfpaltung thronenden Chriftentums, bier wie dort oft genug verfannt 
jehen mußte? 

Immerhin war dafür geiorgt, daß ein Kraus fih nit dauernd als 
Märtyrer zu fühlen braudte. Schon das Gegengewicht feiner Lehrthätigkeit und 
die Üüberreiche Anerkennung, die fein ganzes Wirken bei einer Fülle der Beften 
fand, war geeignet, vielmehr eine Grundftimmung tieffter Befriedigung in ihm 

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368 Ludwig Schemann, Franz Xaver Kraus. 


zu erzeugen. Aber auch dem Kampfe ſelbſt — jo groß umd ernit bat er ihn 
alle Zeit erfaßt — wuhte er Beglüdung und Erhebung abzugewinnen. Veritas 
liberabit vos, das war fein Wahriprudh; mochte er dann auch zeitweilig feine 
Vergewaltigungen durch die Kurie wie blutende Wunden tragen, mochte dieſe 
gelegentlih) mit der brutalen Gewalt ihrer Genforen Franz Xaver Kraus in 
Feſſeln ichlagen, Spectator oder Zevo;, fein befreiter Geift, flog immer von 
friihem auf, um fi hoch über jeine Unterdrüder emporzuheben. An der Hand 
Dantes, der nicht nur als größter Dichter und Denker, fondern vor allem auch 
als der größte aller Katholiken fein eigentlicher Leititern war, hatte er ſich mit 
jeltener Geifteskraft aus den von frühefter Jugend an wirkſamen Eindrüden und 
Einwirkungen der heutigen fatholifchen Kirche das große Ideal der echten alten 
zurüdgewonnen; und um diefes deals willen hielt er aus im geiltigen Heim 
feiner Väter, weil er die Hoffnung nicht aufgab, daß es einft anders darin werden 
fönne. Sein tiefer Kummer war es, dab es feine germanifchen Päpfte mehr 
gäbe: einzig ein folcher hätte nad) feiner Meinung den ungeheuren Heldenfampf 
für die geſamte Chriftenheit glüdlich zu Ende führen fünnen. Inzwiſchen hat er 
jelbft alle Liebe, Begeifterung und Herzenswärme, aber auch allen Unabhängigkeits- 
drang ded Germanen gegen das herzlofe, kaltberechnende Spiel des Romanismus 
und Jeſuitismus ins Feld geführt und den Kommenden als Ziel die Bifion feiner 
glüdlichften Stunden aufgewiejen, die einer neugermanifchen Religion, welche „den 
erleuchteten Katholiten und den erleuchteten Proteftanten von heute als das 
Gleiche vorſchwebe und ſich, vielleiht nad) Jahrhunderten, finden werde, wenn 
die Ueberſchätzung der materiellen Werte einmal nachgelafjen“. 

Noch ein ernftes Wort zu diejer Frage. Kraus hat Schule gemadt; 
es ift ihm gelungen, feinen reinen großen Wiffensdrang, fein hohes Pflichtgefübl, 
feine organische Verbindung warmer Begeifterung für alles Große in der chriſt— 
lichen Kirche — aud) für das, was bei den verfchiedenen Neformationen zu kurz 
gefommen war — mie für germanifchen Geift und deutiches Vaterland einer 
ganzen Schar junger Deuticher, die fo zum beiten Material unjeres 
Bolfes geredhnet werden müſſen, mitzuteilen und zu vererben. Hüten wir 
ung, durch politiiche, Eonfeifionelle oder rationaliftiiche Engherzigfeit diejen unferen 
Brüdern ihren ohnehin dornenvollen Weg nod; mehr zu erfchweren. Es hieße 
ins eigene Fleiſch wüten! ine der legten Arbeiten, über denen Kraus zufanımen: 
gebrochen ift, war eine Artifelreihe über die Tagesfrage „Mommfen-Spahn“. 
Dürfen wir das Wort aufgreifen, das dem Sterbenden entfunfen, jo ließe ſichs 
furz etwa dahin zufammenfaflen: Haltet ein mit dem Lärmen! Die Wiſſenſchaft 
wird ſchon für fich ſelber forgen, fie ift noch nie wirklich unterdrüdt worden. 
Wohl aber ſchickt fie fich heute an, den Glauben zu unterdrüden, auch den 
Glauben, dem ich jelber gelebt habe, der ich doch von mir jagen darf, daß ich ein 
echter Sohn der Wiſſenſchaft wie wenige gewejen bin! Und wahrlid, er würde 


Ludwig Schemann, Franz Xaver Kraus. 869 


recht haben: der Mann hat wie nur Einer dent germanischen Gedanken vor: 
gearbeitet, der dem religiöfen, im Gegenfaß zum politifchen Katholizismus (Kavour, 
©. 94) mit begeiftertem Abjchiedsworte die Zukunft zugewiefen und ihn, d. h. im 
Grunde doc den echten alten Ehriitenglauben, in der Lehre wie im eigenen Reben 
ausdrüdlih auf die Gewifjensfreiheit begründet hat. So erſcheint e8 als eine 
Lebensfrage für das Deutſchtum jelber, daß die Minorität germanifcher Katholiken, 
in denen Kraus’ Geift fortlebt, uns erhalten bleibe. Die dee einer germanifchen 
Nationalkirche, an die ein Treitichke gleichermaßen wie ein Kraus feine höchſten 
germanifchen Hoffnungen anzufnüpfen wagte, wäre wohl für immer zu begraben, 
wenn Rom im £atholiichen Deutfchland alleinherrichend würde. 

Es erjcheint mir wertvoll, die Wahlverwandtfhaft Kraus’ mit unferen 
germanijchen Geiftern par excellence, die ſich mir in intimften Befprechungen 
mit ihm gegen Ende feines Lebens immer mehr erfchloffen hat, aud) weiteren 
Kreifen noch durch einige befonders fprechende Beifpiele nahe zu führen. Dieje 
Wahlverwandtihaft war eine durchaus trandzendente, fie wurzelte in den innerften 
Tiefen des deutichen Wejens; denn Kraus’ ganzer Bildungs: und Entwidelungs- 
gang ift feiner materiellen Ausfüllung, feinen empirischen Thatlachen nad) ein dem der 
großen Hauptgeftalten unferer neueften germanifchen Geiftesentwidelung denkbar ab- 
gefehrter gewejen. Nur verhältnismäßig wenig hat er Wagner kennen lernen können, 
und doch hat dies Wenige genügt, ihm die Ueberzeugung beizubringen, der er in den 
Schlußbetrachtungen jeines leider ungejchrieben gebliebenen letten Bandes der 
Kunftgefchichte die Worte zu verleihen beabfichtigte: „daß jenes tiefe Sehnen 
nad einer höheren Befriedung, das die Seele der modernen Menfchheit durch- 
zittert, feit Cornelius in den bildenden Künften feinen adäquaten Musdrud mehr 
zu finden vermoct, jondern nur noch in Wagners Tönen und Worten fort: 
geklungen babe." Gobineau hat er erit Eurz vor feinem Tode gelejen, aber in einer 
der fetten Stunden, die mich mit ihm vereinte, hat er mir mit einer mich faft er- 
ichredenden Seherflarheit in der Weife von unferer Zukunft geiproden, daß id) 
fagen muß: fein Lebender vielleicht bat wieder jo mit den Augen des großen 
Normannen auf den tiefiten Grund unferer Völkergeſchicke gefhaut. Und endlich 
nod ein Dritter: Baul de Lagarde. Welch' ein himmelmeiter Abftand zunädjit 
zwilchen dem frommen Freidenker von Göttingen, dem „Erzkeger" und Bernichter 
aller lebenden Kirchen, und dem Trierer Priefter und Freiburger Kirchengeichicht- 
fchreiber! Und doch verband eine innige perjönlicde Sympathie die beiden Männer, 
und Kraus bat noch in diefem Sommer Lagarde ein litterariiches Denkmal 
gejeßt, mweil fie beide germanijche Ehriften waren und fich in der Faſſung des 
religiöfen deals ihres Volkes darin begegneten, daß die wahre Kirche aus 
germanifchem Geiſte heraus neugeboren zu werden habe. 

Vielleicht könnte ich ſchon bier dieje kurze Erinnerungsſkizze beſchließen; doc 
jchiene es mir unnatürlich, wollte ich nicht wenigitens einzelnen Seiten des 


870 Ludwig Schemann, Franz Xaver ſtraus. 


Menſchen noch einige kurze Worte widmen. Zwar liegt es in der Natur der 
Sache, daß gerade jeine allerichönften Züge, jene innere Weihe, die den Befucher 
feines Heims aus feiner Hausfapelle, feinen Studien und Wohnräumen jelbit 
nad feinem Tode noch fo ergreifend anmutet; feine tiefe Wahrhaftigkeit, jeine 
echt chriftliche Demut und Beicheidenheit den Fernerftehenden immer nur injoweit 
jich erichliegen werden, als fie eben auch in feinen Schriftwerfen ſich ausprägen; 
um fo mehr aber muß ein Anderes hier noch ganz bejonders betont werden, weil 
es in feinen Werfen nicht im leifeften zu Tage tritt und doch für deren wie für 
des ganzen Mannes Beurteilung jo ungemein ins Gewicht fällt: Kraus war jeit 
Jahren ein körperlich ſchwer leidender, ein gebrochener Dann. In unjeren Tagen, 
wo leider bei nur allzu vielen Gelehrten der leibliche Organismus ihren geiftigen 
Aufgaben gegenüber nicht Schritt hält, hat er uns ein herviſcheſtes Beiſpiel ge- 
geben, wie die Geelenftärfe den verfagenden Kräften des Körpers nachzuhelfen 
vermag. Mit jeiner fontraften Hand, die oft faum die Feder halten Eonnte, hat 
er noh Bud um Bud) niedergeichrieben. Er war die Bewunderung ſeiner 
Aerzte, denen es wohl nicht fo leicht wieder begegnet jein mochte, daß ein Kranker 
noch im Fieber des Gelenfrheumatismus ſich an feinen Geijteshelden aufrecht 
bielt und von ihnen nicht ablafjen wollte Seinem Motto der heroiichen Geduld 
„patiens quia aeternus“ entnahm er jene Deiterfeit und Ergebung, die es ihn 
dem Himmel anheimftellen ließ, wieviel er ihn noch wolle jhaffen lajien, jene 
Bewahrung vor jegliher Umdüfterung im Erleben und im Preiſen alles Großen 
und Edlen der Vergangenheit, in der Pflege aller guten Keime der Gegenwart. 

Nun ift er dahin, und auch feine Biographie wird uns Lebenden nicht mebr 
zu teil werden. Er jelbft hat die Beftimmung getroffen, daß die wichtigjten 
Papiere feines Nachlaſſes erft fünfzig Jahre nad feinem Tode entfiegelt werden 
fjollen. Er hat redt daran gethan, jeinen Namen einer befangenen Zeit- 
genofjenichaft als Stichblatt die Religion entehrender Zänkereien vorzuentbalten. 
Inzwiſchen ift durch feine eigenen Werke dafür geforgt, daß das Andenten 
diefes großen Gelehrten, dieſes Prieſters echten Chriftentums und Belenners 
echten Deutſchtums, dieſes Bannerträgers der Gemifiensfreiheit hei ums nicht 
erlöfchen wird. 


© 





Die Probleme der deuticten Wirtichaftspolitik 


für die kandwirtichaft und YInduftrie. 
Don 
Heinrich Dade. 


s wird eine der jchwierigiten Aufgaben fein, aus der Kette der volföwirtichaftlichen 

Vorgänge in der Vergangenheit und vom legten Glied diefer Kette, dem Standort 
der Gegenwart aus, die fünftige Entwidelung wirtfhaftliher Verhältniffe feſtſtellen zu 
wollen. In der Regel wird man ſich damit begnügen müffen, den Zufammenhang der 
wirtichaftlihen Ericheinungen aus der gejdhichtlihen Entwidelung zu finden und aus 
dem Berhältnis, in welchem der ermittelte Zustand der Wirtfchaft zu dem zu erftreben- 
den oder idealen Zuftande fteht, diejenigen Forderungen abauleiten, welche geeignet 
find, die Menjchheit dem wirtichaftlichen Ideale näher zu bringen. In der beicheidenen 
Erkenntnis, daß es fich ftetS nur um ein Näherbringen, aber wohl niemal® um ein 
Erreihen des Ideals jelbjt handeln wird, liegt der ewige Trieb der Menjchen begründet, 
immer wieder von neuem die nie rajtende Forſchung in dem fteten Fluß der wirt: 
ichaftlichen Berhältniffe zu beginnen. 

Würden die volkswirtichaftlihen Veränderungen, wie in der Natur, nach phyſikaliſchen 
und chemiſchen Gejegen ftattfinden und demgemäß mit mathematiiher Genauigkeit 
ermittelt werden können, jo würde der Blick für die Gegenwart und in die fünftige 
Entmwidelung nicht jo leicht getrübt jein. 

Aber die Bolfswirtichaft bildet in ihrer Gejamtheit nicht ein anorganiiches, jondern 
ein organisches Gefüge, deſſen einzelnes Glied der Menich ſelbſt mit feinem Fühlen und 
Denken und feinen wirtichaftlihen Trieben und Bedürfniffen ift. Auf der einen Seite 
iſt es die fortichreitende Technik, mwelche die Ergebniſſe der Naturwiſſenſchaften den 
Menſchen dienftbar macht und das jahrhundertelang nur wenig bewegte Wirtichaftsleben 
der Menſchen bis in die tiefiten Tiefen aufrüttelt. Auf der anderen Seite ift e8 Der 
Staat mit feiner politischen Verfaſſung, feiner Gejetgebung und Verwaltung, der die 
wirtichaftliche Entwidelung feiner Bevölkerung und feines Yandes auf Grund der ihm 
eigentümlichen geographiichen und ethnographiihen Verhältniſſe, nach jeiner Kultur— 
geihichte und dem politiihen Einfluß der verichiedenen Berufsklaſſen auf die Gejet: 
gebung und Verwaltung regelt, fürdert oder aud hemmt. Die wirtfchaftliche Ent— 
widelung eines Landes ijt deshalb nicht das Produft eines freien Schalten® und 
Waltens der einzelnen Menjchen, fondern das Erzeugnis verichiedener, ſowohl techniicher 
als auch gejeglicher und politiicher Faktoren. So jehr auch ein Yand in die Weltwirt- 


872 Heinrich Dade, Die Brobleme der deutichen Wirtjchaftspolitif. 


ſchaft verflochten ift, und jo jehr auch die FFortichritte der Technik einer internationalen 
Nivellierung der wirtſchaftlichen Verhältniſſe zuftreben, jo jehr bilden die geſetzlichen 
politiihen und natürlichen Unterjchiede der einzelnen Staaten gegen einen jolchen inter: 
nationalen Ausgleich Schranken, die bis jett noch fein Land auf die Dauer ungeitrait 
hat preisgeben oder nicht beachten dürfen. 

Um jo jchmwieriger wird es jein, bei der Fülle der in Betracht kommenden 
Faktoren die Entwidelungstendenzen der deutihen Volkswirtſchaft und insbeionder: 
ihrer beiden woichtigften Exwerbsgruppen, der Yandwirtichaft und Induſtrie, beftimmen 
zu wollen. 

Es fünnte auffällig ericheinen, daß dem in der Negel als dritten Bundesgenoiien 
von Landwirtichaft und Anduftrie bezeichneten Handel hier diefe Ehre nicht ermieien 
wird und damit angedeutet ift, daß die Yandwirtichaft und Induſtrie die beiden grund 
legenden Erwerbsgruppen eines Volkes bilden, von denen wiederum die Yandwirticait 
als die elementare Bafis der Volkswirtichaft zu bezeichnen ift. Das Charakteriſtiſche 
des Handels gegenüber der Landwirtichaft und Induſtrie befteht darin, daß er dir 
Maren mit produziert, jondern vermittelt und jomit unabhängig von de 
Produftionskoften der Waren am Ürzeugungsort und dadurd auch mehr ode 
weniger unabhängig von der inländischen Produftion jelbft it. Die hohe und vielfad 
notwendige Funktion des Handels foll damit feineswegs verfannt werden, fie it 
aber nicht in gleiche Yinie mit der Thätigkeit der Yandwirtihaft und Induſtrie zu 
ftellen, die allein die Koſten der inländifchen Produktion beftreiten und deshalb in ihrer 
Erifteng bedroht find, jobald die Preife auf längere Zeit die Produktionskoſten nid 
defen. So widtig auch der Handel für die Landwirtihafit und Amduftrie und für die 
geſamte Volfswirtichaft ericheinen mag, fo jollte jeine Stellung im ftaatlich organifierten 
Wirtihaftsleben eine jefundäre fein, und hat er fih nad Umfang und Organiſation den 
Bedürfniffen, der Entwidelung und der Eriftenzfähigfeit der beiden primären Emverb* 
gruppen, der Yandwirtichaft und Induſtrie, unterzuordnen. 

Welches find nun die Entwidelungstendenzen von Landwirtſchaft und Amduftrie? 
Ueberblidt man die Geſamtentwickelung beider Erwerbögruppen im Laufeder legten 50.Yabre, 
jo fällt vor allem auf, daß die deutſche Yandwirtichaft im großen und ganzen ſowohl nah 
Bevölkerungszahl als nad) Befitverteilung, aljo in jozialer Hinficht, fich faſt unverändert 
erhalten hat, daß ihre Entwidelung fait ausschließlich auf betriebstechnijchem Gebiete 
liegt, daß dieje technifche Entwicelung erjt langfam, dann immer jchneller fortgeihritten 
ift, und daß die deutſche Landwirtſchaft im Begriffe fteht, wenn die Konjunktur mur 
einigermaßen günftig fich geitaltet, in eine Aera der technischen Entwidelung zu treten, 
welche fie der Induſtrie hinfichtlich der technischen Ausbildung faft ebenbürtig an die 
Seite ftellt. 

Die Anduftrie dagegen hat nicht nur gewaltige Ummälzungen auf techniſchem Gebiet 
erfahren und fteht gegenwärtig in ihrer Geſamtheit auf der höchſten Stufe der techniſchen 
Yeiftungsfäbigkeit, jondern fie hat auch dem im engeren Sinne gewerblichen Yeben in 
der Produktions: und Befigverteilung, in jozialer Hinſicht, ein völlig neues Geprüst 
gegeben und dem deutichen Wirtichaftsförper ein Faſſungsvermögen für die Beſchäftigung 
einer Bevölkerungszahl verliehen, wie e8 vor 50 Jahren nicht für möglich gehalten wurde 


Heinrih Dade, Die Probleme der deutschen Wirtichaftspolitif. 873 


Der Grund für dieje verichiedene Entwidelung der Landwirtſchaft und Induſtrie 
liegt darin, dag der Induſtrie die techniſchen FFortichritte viel früher zu gute 
gefommen find als der Yandwirtichaft, und daß dieje ſowohl nad) der Eigenart ihres 
Betriebes, bei dem der unbemegliche Boden die Grundlage bildet, und nach der Eigenart 
der ländlichen Bevölkerung ſich die techniichen Fortichritte nicht jo fchnell aneignen kann, 
als der bemweglidyere induftrielle Betrieb. Der Unterichied in der fozialen Entwidelung 
it darin begründet, daß der Hulturboden nicht vermehrt werden fann, und daß überdies 
die Agrarverfaffung und die Gejeggebung für einen großen Teil des deutſchen Sultur- 
bodens den geichlojfenen Befiß beftimmt haben, ſodaß für den jährlichen Zuwachs der 
deutihen Bevölkerung in der Landwirtichaft, abgefehen von der Ktolonijation des Oſtens, 
wenig Arbeitsfeld übrig bleibt, während die Anduftrie durch Vervielfältigung der Pro- 
duftion einer wachienden Bevölkerung Arbeit geben kann. 

Mit diefer abweichenden Entwidelung in Landwirtichaft und Anduftrie hängt aud) 
ein weiterer bemerfenswerter Unterſchied zwiſchen beiden zufammen, es ijt dies die 
wunderbare Ericheinung, daß mit Rüdjiht auf die Produftionsfähigfeit in der Induſtrie 
der Sleinbetrieb dem Groß- und Mittelbetrieb hat weichen müjjen, während in der Pand- 
wirtichaft der Kleinbetrieb, jomeit er die volle Ausnugung der Arbeitskraft einer Familie 
geitattet, dem Mittel- und Großbetrieb in der Produktivität gewachien ift. 

Hierbei wird vorausgejett, dat die Inhaber des Klein, Mittel- und Groß— 
betriebes diejelbe Ausbildung für die landwirtichaftliche Praris bejiten. Dies ift bisher 
leider in der Wirklichkeit nicht immer der Fall, doch kann die verjchiedene Ausbildung feine 
prinzipielle Bedeutung für die Beurteilung der Konkurrenzfähigkeit der einzelnen Betriebs- 
grögen beanjprucdhen, bejonders nicht zu Ungunften des Kleinbetriebes, da die intenfiveite 
landwirtichaftlihe Produktion, der Gartenbau, in der Regel Kleinbetrieb und trotzdem 
mit der höchiten Berufsbildung verbunden if. Wenn unjer bäuerlicher Beſitz vielfad) 
noch nicht die erforderliche betriebstechniiche Bildung erlangt hat, jo liegt dies weniger 
an der Kleinheit des Betriebes und noch weniger an einem geiftigen Unvermögen der Bauern, 
jondern einzig und allein darin, daß man dem bäuerlichen Befiß bis in die neuefte Zeit Feine 
Gelegenheit zur betriebstechnifchen Schulung gegeben hat. Es ift dies einer der 
wundejten Bunfte der deutihen Agrarpolitif, und es iſt eine viel zu 
wenig beachtete Thatjache, dat faft ein Drittel des deutfhen Bauernftandes 
und Bauernlandes fih in Oftelbien befindet. Grit jeit etwa 10 Jahren 
hat man in größerem Umfange begonnen, den Bauernitand durd Acderbaufchulen, 
BWinterichulen, Fortbildungsichulen, Haushaltungsichulen, Wanderlcehrer, Prämien, Aus: 
jtellungen zc. auf eine höhere Stufe beruflicher Bildung zu heben. Die hohe Bedeutung 
des größeren Betriebes für die Erfindung und erfte Einführung neuer betriebstechnijcher 
Einrihtungen und für die Saatgut: und Tierzüchtung fol durch dieſe Ausführung in 
feiner Weiſe gejchmälert werden. 

Aber auch abgejehen von der Berufsbildung und der undermindert zu Gunften des 
Stleinbetriebes beitehenden räumlichen Konzentration des Betriebes, jomeit derjelbe nidıt, 
mie leider noch vielfach, in vielen Barzellen über die Gemarkung verteilt wird, ijt in der 
Landwirtſchaft die Konfurrenzfähigfeit des Sleinbetriebes mit dem Mittel- und Großbetrieb 
in den einzelnen Pandesteilen eine verichiedene und vor allen von der Entwickelung zweier 


874 Heinrich Dabde, Die Probleme der deutichen Wirtichaftspolitif. 


Faktoren abhängig jein, von der weiteren Gejtaltung der technifchen Fortichritte und 
der Höhe der Arbeitslöhne. 

Die technifhen Fortſchritte der Yandwirtichaft beftehen in der Anwendung 
landwirtichaftliher Maſchinen und Geräte, welche teils eine Erjparnis an menjchlicher und 
tieriſcher Arbeit, teil$ eine Steigerung der Produktion, teils beides zugleich bewirfen, wie 
der Dampfpflüge, Drillmafchinen, Mähmaidinen, Hadmajdinen, Dampfdreſchmaſchinen, 
Feldbahnen, und in neuefter Zeit in der Benugung der eleftrifchen Kraft, welche für die 
landwirtichaftliche Broduftion vielleicht nod; von epochemadjender Bedeutung werden wird. 

Die ökonomische Ausnugung diefer Majchinen jest zum Teil einen größeren Betrieb 
voraus und fann vom leinbetrieb überhaupt nicht oder nur teilmeiie auf genofien: 
ihaftlihem Wege durchgeführt werden. 

Der weitere techniſche Fortichritt der Yandwirtichaft befteht in der Anichaffung von 
Hilfsmitteln und Rohftoffen zur Vermehrung der Produftion, wie der fünftlichen Dünge 
mittel, jder Kraftfuttermittel und des Saatgutes, welde der Großbetrieb in größeren 
Mengen und deshalb relativ billiger beziehen fann als der Stleinbetrieb, der dieſen 
Vorteil zum Teil erſt durch genoſſenſchaftlichen Zuſammenſchluß mird erwerben können. 

Der größte FFortichritt der Yandwirtichaft liegt aber wohl auf betriebstechniichen 
Gebiet: in der Viehzudt und im Aderbau. Er beiteht in der durch die Natur: 
wiſſenſchaften, wie durd) die Agrifulturchemie, Bakteriologie, Phyſiologie und Veterinär: 
funde geförderten höheren Einficht in die Yebensbedingungen der tieriihen und pflanzlichen 
Produktion und in der Anwendung diefer Mittel ift der Kleinbetrieb, bei zweckmäßiger 
Anleitung, dem Großbetrieb mindeftens gewachſen oder gar überlegen, da es hierbei 
vielfach auf die perjünliche Mitarbeit und Umficht des Betriebsleiters jelbit ankommt. 

Alle diefe Fortichritte der Yandwirtichaft find indes von zwei völlig verichiedenen 
Geſichtspunkten zu beurteilen. So jehr bon privatwirtichaftlihem Standpunft, mit 
Rüdfiht auf die Rentabilität des Betriebes, jede landwirtihaftlihe Majchine, melde an 
menjchliher Arbeit jpart, begrükt werden muß, jo jehr wäre im allgemein volkswir 
ihaftlihen und jozialen Intereſſe zu wünſchen, daß die Arbeitskraft, welche die bi 
herige und weiter fteigende Produktion in der Landwirtichaft erfordert, durch eme 
größere Zahl von Yandarbeitern geleiftet würde, und daß die Majchine nur dort eintritt, 
wo ohne diejelbe die Produktion nicht gefteigert werden fann. Jeder Yandarbeiter, jeder 
Bauersjohn und jeder andere Bewohner der Yandgemeinde, der zur Induſtrie oder in die 
Stadt wandert, trogdem er auf dem Lande ausreichenden Unterhalt und genügende Be 
Ihäftigung hatte oder finden konnte, bedeutet für den Staat einen unmiederbringlichen Ber: 
luft, da hierdurd; der Grundſtock des Volkes jelbft, den die tote Majchine nicht eriegen kann. 
angegriffen oder jeine Vermehrung verhindert wird. Umgekehrt muß im ftaatlichen inter: 
eſſe gewünjcht werden, daß die Steigerung der induftriellen Produktion in eriter 
Linie durch den technijchen oder maſchinellen Fortichritt erfolgt, und daß dieielbe die 
Yandbewohner nur jomweit beanfprudjt, als dies der natürliche Bevölferungsabflug vom 
Yande geitattet. 

Während ſomit auf techniihem Gebiete der landmwirtichaftliche Kleinbetrieb dem 
Sroßbetrieb teils unterlegen, teil$ gewachſen, teils aber auch überlegen ift, hat der 
Ktleinbetrieb mit Rückſicht auf den zweiten, für feine Konfurrenzfäbigfeit enticheidender 


Heinrich; Dade, Die Probleme der deutihen Wirtichaftspolitik. 875 


Faktor, in der Arbeiterfrage, einen bedeutenden Vorſprung vor dem Großbetrieb, ſoweit 
ed dieſem nicht gelingt, durch erhöhte technifche Mittel oder durch den Bezug billiger 
Arbeiter aus dem Auslande die teuren Arbeitöfräfte des induftriellen Inlandes ent 
behren zu können. Dies führt auf ein bedenkliches ſoziales Symptom in der Ents 
wickelung der deutichen Yandwirtichaft, auf welches noch fürzlih Sering nachdrück— 
lich hingewieſen hat. 

Durch die rapide Entwidelung der Anduftrie und der Großjtädte hat die land: 
wirtjchaftlihe Bevölkerung in Deutjchland nicht nur im Verhältnis zur Gefamt- 
bevölferung, jondern, wenn man den über diejen Punkt nicht ganz zuverläifigen Angaben 
der Berufszählung glauben darf, auch abjolut etwas abgenommen. Der Berluft entfällt 
auf die Arbeitskräfte Da die Landwirtichaft ſelbſt durch höhere Geldlöhne die bis: 
herigen Arbeitskräfte nicht immer fefthalten fann, und fie bei fteigender Antenfität des 
Betriebes, namentlich bei vermehrtem Anbau von Hadfrüchten, wie Zuderrüben, Futter: 
rüben und Startoffeln, trog jtärkerer Verwendung von Majchinen, nicht nur eben 
jo viele, jondern zum Zeil noch mehr Arbeitskräfte als bisher, bejonders zur Zeit der 
Beitellung und Ernte, nötig hat, ift fie gezwungen, neben dem Stamm ftändiger 
Arbeitskräfte die nur zeitweiſe erforderlichen Dilfsarbeiter von Jahr zu Jahr aus immer 
öftlicher gelegenen Bezirken zu beziehen, und fie hat hierbei bereits jeit vielen Jahren die 
öftliche Grenze überichritten und die Arbeiter aus Ruſſiſch-Polen und Galizien kommen 
laffen. Die industriellen Bezirke und die Gegenden mit Zuderrübenbau jowie die Haus: 
haltungen der Städte in der Mitte Deutichlands und im Weften entziehen der öftlichen 
Yandwirtichaft immer mehr Arbeitskräfte, jo dat dieje zum Teil auf die ausländifchen 
Arbeiter zurüdgreifen muß. Es wird ſchwer jein, feftzuftellen, inwieweit bei diejer Ent- 
wicdelung die Page der Landarbeiter im Dften und die Höhe der Löhne ausſchlaggebend 
find, und inwieweit die Arbeiterfludht im Oſten auf die rapide Sfnduftrieentwidelung, 
auf die Ausdehnung des Zucerrübenbaues, auf den Anreiz der induftriellen Beſchäftigung 
und des jtädtijcdhen Yebens, auf die Verlegung und Konzentration der Kaſernen in die 
größeren Städte und auf die vielfach unlauteren Mittel der gewerbsmäßigen Arbeiter: 
und Gefindevermittler zuriüdzuführen ift. Es bleibt die bedauerlihe Thatjache beftehen, 
daß ein Teil der öftlichen Großgrundbefiger nidyt mehr ohne den Zuzug ausländijcher 
Arbeitskräfte eriftieren zu fönnen jeheint, und damit feine hiſtoriſche und politische 
Aufgabe im Dften, ein Bollwerk gegen die herandrängende ſlaviſche und polnische Flut 
zu jein, allein nicht mehr erfüllen kann. Diefe Aufgabe wird unter den modernen 
MWirtichaftsverhältniffen nur ein fräftiger und gejchloffener, neben den lebensfähigen 
Zeilen des Großgrundbeſitzes bejtehender Bauernitand aus rein deutichen Elementen 
übernehmen fünnen, und es ift deshalb dringend zu wünjchen, dat die Kolonijation des 
Dftens vom Staate jelbjt in noch größerem Umfange als bisher durchgeführt werde. 
Die bäuerlihe Befiedelung des Oftens ift nicht nur eine preußiiche Angelegenheit, ſie 
ift vielmehr im weiteften Sinne eine berechtigte Forderung des gejamten wirtichaftlich 
und politisch geeinten deutichen Volkes. Auch liegt die Kolonijation, im eigenften 
Intereſſe des lebensfähigen Großgrundbefiges jelbjt, der jeit Jahren im Begriff ift, mit 
der fteigenden Erſetzung inländiicher Arbeiter durch ausländische den Aft abzufägen, auf 
dem er fitt, und der die Grundlage jeiner wirtichaftlihen und politischen Eriftenz bildet. 


876 Heinrich Dade, Die Probleme der deutſchen Wirtjchaftspolitif. 


Allerdings wird eine plögliche Abjperrung der ausländiichen Arbeiter nicht zu 
empfehlen fein, diejelbe wird nur mit fortichreitender Kolonifation nnd beijerer Ge 
ftaltung der allgemeinen Lage der Landwirtichaft, vielleicht durch die Zulaffung einer 
von Jahr zu Jahr geringer bemeſſenen Zahl von Arbeitern erfolgen können. Die 
Befürchtungen, welde ſich an die BZulaffung fremder Arbeiter fnüpfen, fünnen zum 
Teil durch eine jchärfere Kontrole über den regelmäßigen Abzug der Arbeiter zur Ber: 
hiitung einer Seßhaftmachung befeitigt werden. Auch müßte im Falle der Abiperrung 
der ruffiihe und galiziich-polnischen Arbeiter folgerichtig auch der Induſtrie verbotm 
werden, die bisher rein deutichen Bezirke des Weſtens durd) polnijche Arbeiter aus dan 
Dften in nationaler Hinficht zu gefährden. 


Soll aber die Bauernanfiedelung ſowie der bereit3 im großen Umfange vorhanden: 
bäuerliche Befig und der ihnen zur Seite ftehende Großgrundbeſitz, der aus politiihen 
und technijchen Gründen in gewiſſem Umfange nicht entbehrt werden fann, "in dem 
weiten, induftrie- und volfsarmen Diten dauernd lebens- und eriftenzfähig fein, fo iſt em 
ftärferer Anſchluß des Dftens an die fonjumkräftigen Gebiete der Mitte und des Welten! 
unbedingt erforderlich, die8 wird aber nur durch ‚eine mweitfichtige Eijenbahn-, Binnen 
Ihiffahrts- und vor allem Tarifpolitif erreicht werden fünnen. Auch die Beltrebunaen. 
im Oſten durch Förderung der Induſtrie ein Abjatgebiet für die Landwirtſchaft zu 
ihaffen, müffen von diejem Standpunft aus befürwortet werden, joweit die Induſtrie ſich 
den natürlichen Verhältniffen des Oſtens anpaßt und ſich in erjter Linie auf der land 
wirtihaftlichen Produktion, ähnlich wie in Dänemarf, aufbaut. Endlich kann die wett 
Perjpeftive, welche der Spiritus-Induſtrie für Beleuchtung an Stelle von Petrolam 
und Gas und für Strafterzeugung an Stelle der Steinkohle eröffnet iſt, dem 
Diten wie überhaupt der geiamten nationalen Produktion eine neue, noch ungeahnte 
Zukunft bringen, wenn eine energiiche Wirtichaftspolitif dieſe Entwicdelung nod mehr 
als bisher fürdern wollte. 


Aber nicht nur in politiicher, fondern auch in fozialer Hinficht ift die Kolontjatior 
des Oſtens freudig zu begrüßen, da fie eine Vermehrung der jelbftändigen Landwirte auf 
deuticher Scholle zur Folge hat, deren joziales, politiihes und militäriiches Gemidt 
bei der weiter zunehmenden nduftrieentwidelung mehr denn je in die Wagſchele 
fällt. Und hierin liegt die große Bedeutung der landwirtichaftlihen Entwidelung für 
die moderne Volkswirtſchaft, daß fie im Gegenjag zur Anduftrie durch Erhaltung und 
Dermehrung des bäuerlichen Betriebes, welcher zugleich infolge der Eigenart der Landwirt 
Ichaftlichen, mehr organiſch und weniger mechanifch und arbeitsteilig geitalteten Produktion“ 
weije, relativ ebenfo Meiftungsfähig it wie der Großbetrieb, einen wichtigen Stand dr 
wirtſchaftlich jelbitändigen Männer und Familien in Deutichland nicht nur bemabt, 
jondern auch, ohne technische Bedenken mit Rückſicht auf die Broduftion, den ſtaatlichen 
Eingriff zur Förderung diejer Entwidelung geftattet. 


Dies führt zu dem fchwermwiegendften Punkt in der Entwidelung der deutiher 
Induſtrie, zu der Abnahme der wirtſchaftlich jelbftändigen Exiſtenzen und der abjoluten 
und relativen Zunahme, ſowie der räumlichen Stonzentration der abhängigen Elemente 
der Arbeitermaffen, was jomwohl in jozialer als politiicher Hinficht von der gröfte 


Heinrich Dade, Die Probleme der deutichen Wirtfchaftspotitif. 877 


Tragmeite ift. Soweit dies in der rein technijchen Entwidelung, aljo in der Möglichkeit 
der vermehrten und zugleid) billigeren Produktion begründet ift, wird die Entwidelung 
trog ihrer bedenklichen Schattenjeiten in dem tragijchen und erbarmungslojen Untergang 
weiter Bolksicdhichten nicht oder nur wenig geändert, wohl aber für diefe in fozialer 
Dinficht gemildert werden können. Klingt doch die Vernichtung des Kleinbetriebes durch 
die Technif wie ein Hohn auf die Lehre von den ideellen und ethiichen Aufgaben 
des Staates, und grenzt der Gleichmut, mit welchem fid) die Generation der neuen Technik 
über den Untergang der mit der veralteten Technif oder der gewerblichen Handarbeit 
verfnüpften Menjchen hinmwegfest, fait an Eynismus! Iſt es nicht leicht möglich, dak in 
nicht ferner Zeit ein neuer Umjchwung auf techniichem ®ebiete die heute triumphierende 
Arbeiterflaffe verjchiedener Induſtriezweige zu demjelben Schickſal verdammt, zu dem 
Taufende und Abertaujende Eriftenzen des Kleingewerbes bereits verurteilt find und, wie 
jest das Schuhmadjergewerbe, weiter verurteilt werden? Und ift es vom ethifchen 
Standpunkt nicht beſchämend, wenn als einziger Troſt für den Untergang des alten 
joliden Handwerks: und Mittelitandes die größere Beweglichkeit und Anpafjung des 
neuen Fabrifarbeiters hingeftellt werden muß, der bei niedergehender Konjunftur eines 
Induſtriezweiges mit Frau und Stindern heimat: und mwohnungslos wie ein Waggon 
Steinfohlen von einer Grenze des Reiches bis zur anderen befördert werden kann? 
Aber auch diefer Troſt verjagt, wenn bei allgemeiner Kriſis der Arbeiter nirgends im 
Neiche Arbeit findet. 

Etwas anders ift es aber, fomweit die Entwidelung zum Großbetrieb durch die 
Macht des in einer Hand konzentrierten Kapitals hervorgerufen ift, das weniger durd) 
techniſche Fortichritte und Perbilligung der Produktion als durd rückſichtsloſe Aus— 
nutzung und Beherrichung des Marktes und durch andere oft zweifelhafte Mittel den 
Klein: und Mittelbetrieb zu verdrängen ſucht. Es kann wohl jchmwerlid der künſt— 
lihen Erhaltung eines Kleinbetriebes das Wort geredet werden, der jelbit durd) 
genofjenichaftliche Hilfe technifch nicht mehr leiftungstähig ift. Wohl aber fteht in Frage, 
die Mittelbetriebe in jeder Weile zu ftärfen. Muc mit Rüdficht auf die Ueberwindung 
von Abjagfrijen ift ein zahlreicher Mittelbetrieb in der Induſtrie von großer Bedeutung, 
da derjelbe eine Kriſis beffer aushalten fann und auch dem Arbeiter im allgemeinen 
eine ficherere Erifteng bietet als die Großinduftrie, deren einfeitiges fapitaliftiiches Intereſſe 
und deren immer engere Berbindung mit den Banken und Börjen zur Ueberihätung des 
Bedarfs, zur Ueberproduktion, zur Ueberfpannung des Kredits und des Grportes 
und damit zu faft regelmäßig wiederkehrenden Krifen führt, die bei der wachſenden 
Berwendung des Nftienkapitals für immer weitere Kreiſe der Gejamtbevölferung ver: 
hängnisvoll werden. „Die ganze Frage dev NRegelmäßigkeit und Unregelmäßigkeit der 
Arbeit ift,“ wie Schmoller in feinem Grundrig jagt „in ihrem legten Sterne nit von 
der Technik, fondern von der jozgialen Ordnung der Volkswirtſchaft zu löfen.“ 


Allerdings muß man offen befennen, niemand hat bisher den Stein der Weijen 
für die Löſung die ſer fozialen Frage gefunden. Auch der deutichen Dichtung joll nod) 
der Genius erftehen, der unjerem Volke das eigentlihe foziale Drama oder Schaufpiel 
der Gegenwart mit einem glücverheigenden Seherblick jchenkt. Sowohl der zweite Teil 
von Björnſons „Ueber unjere Kraft" wie noch mehr Gerhart Hauptmanns 


878 Heinrich Dade, Die Probleme der deutichen Wirtichaftöpolitif. 


„Weber“ verfagen völlig, wenn der jehnjüchtig wartende Zuſchauer am Schluffe fraat: 
„Was nun?“ 

Als eine gemeinſame Entwickelung der Landwirtſchaft und Induſtrie iſt noch der 
Zuſammenſchluß vieler Betriebe zur Regelung der Produktion und des Abſatzes hervor: 
zuheben. Hierher gehören die induftriellen SKartelle, Syndifate und Truſts und die 
großen genoſſenſchaftlichen Berbände der Pandwirtichaft, insbejondere auf dem 
Gebiet der Zucker- und Epiritusinduftrie und der Getreide, Vieh-, Butter, Milch— 
und Giervermertung. 

Diejem Zuſammenſchluß der Produzenten in Yandwirtichaft und Induſtrie Liegt 
neben der Megelung der Produktion die Abficht zu Grunde, die Macht des Handels auf 
dem Gebiet der Preisbildung zu brechen und durch den direkten Berfehr mit den Kon— 
fumenten und Lieferanten, die ihrerjeitS gleichfalls durch Zuſammenſchluß, wie durd 
Stonfunvereine, einen Teil des Handels auszujcalten juchen, den PBreiszuichlag des 
Bmiichenhandels für ſich oder zu gleichen Teilen mit den Konſumenten und Lieferanten 
zu geminnen. 

Für die Landwirtichaft mit ihrem vorherrichenden Klein: und Mittelbetrieb liegt ir 
diefem Zuſammenſchluß zweifellos das einzige Mittel, ein größeres Kapital zuſammen 
zubringen, das der Macht des Großfapitald im Handel und in der Induſtrie ein Paroli 
bieten fann. Die Erkenntnis bridt fih in der landwirtichaftlichen Bevölferung immer 
mehr Bahn, dat die Yandwirtichaft von der modernen Zeit, d. b. von dem Kapital des 
Handels und der Induſtrie und einer auf die Intereſſen diejes Kapitals zugeichnittenen 
Geſetzgebung verichlungen werden wird, wenn fie nicht mit der nun einmal glücklicher— 
oder unglücklicherweiſe beitehenden fapitaliftiichen Betriebsweile vorwärts geben will und 
die Gefeßgebung für ihre Intereſſen zu geitalten jucht. 

Dieſe Thatjache ift von meittragender Bedeutung. Man kann im Zweifel jein. 
ob für die Beurteilung der Erhaltung und Stärkung des Bauernftandes das rein wirt: 
ichaftliche oder Produftionsintereffe für die Ernährung der Bevölkerung oder der joziale 
Geſichtspunkt mit Rückſicht auf die Volkskraft enticheidend if. Daß die fapitalistiiche 
Betriebsweiſe, welche eine erhöhte geiltige Anſpannung erfordert und den Beſitzwechſel 
fördert, die jeeliihe und phyſiſche Quelle, welche das deutſche Bolt noch in jeinem 
Bauernitande befitt, nicht jo bewahrt wie die früher überwiegende Naturalmirtichait. 
it nach dem Unterjudiungen von Hanjen und Ammon wohl nicht zu leugnen. 
Immerhin wird im Beitalter der Eijenbahnen und der Freizügigkeit und angefichts der 
itarfen Bevölkerung der joziale Standpunft, der früher faſt ausichlieglich für die Pflege 
des Bauernftandes geltend gemacht wurde, allein ſchwerlich aufrecht erhalten werden 
fünnen. Es wird deshalb verjudt, beide wichtigen Intereſſen zu verſchmelzen und der 
obigen Gefahr durch eine Agrargeiekgebung und Hreditorganiiation 
vorzubeugen, welche der mobililierenden und auflöjenden Tendenz des Kapitals entgegen 
wirken und die Erhaltung des Befiges in der Familie und des gejamten Bauern landei 
im Bauern ftande amt beiten fichern. 

Alſo der Kampf des unbeweglichen Kapitals oder des deutichen Bauemitande: 
gegen das bewegliche Kapital und der politiiche Einfluß des einen Kapitals gegen den 
des anderen, ſowie der wirtichaftliche und politische Kampf der Arbeitermaflen gegen du’ 


Heinrich Dade, Die Probleme der deutichen Wirtfchaftspolitif. 879 


gejamte Kapital jcheinen die Devije der Zukunft und mehr ausschlaggebend zu fein, als 
die nummeriche Stärfe der Bevölkerung in Landwirtichaft, Ynduftrie und Handel. Und 
dieje Devife wird und muß, jo parodor es flingen mag, und wenn die mehr als taufend- 
jährige Kultur des deutjchen Volkes nicht zu Grunde gehen joll, zur Verſöhnung und 
Einigung der wirtichaftlicden und fozialen Gegenfäte auf einer mittleren Linie führen, 
welche in der Erkenntnis der jolidarifhen Intereſſengemeinſchaft aller in- 
ländiſchen Produftionszweige, jowohl der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, und in einer 
Wirtichaftspolitif qipfelt, die diefem Gedanken Rechnung trägt. 

Allerdings muß man fich bei jolcher Auffaffung der deutichen Wirtichaftspolitif 
die Frage vorlegen, ob Deutichland in abjehbarer Zeit noch den jährlihen Zuwachs der 
Bevölkerung im Inlande wird beichäftigen können, und ob es für das Geſamtwohl des 
Reiches nicht vorteilhafter ijt, einen Teil des Ueberſchuſſes durd eine weitfichtige Kolonial: 
. politif ins Ausland zu lenken, ftatt für den gejamten Bevölkerungszuwachs in einer auf 
unficherem Erport beruhenden Induſtrie eine entiprechend unfichere Eriftenz zu jchaffen. 
Für die Beantwortung diejer Frage wird in Betracht fommen, daß für den dauernden 
Beitand des Reiches nicht die nummeriiche Stärfe feiner Bevölkerung, jondern in erfter 
Linie die gejunde und fräftige Entwidelung feiner einzelnen Glieder maßgebend ift. 
Und jollte gar die Unterbringung des jährlichen Zumachies der Bevölkerung in Zukunft 
nur dur die Opferung der bäuerlichen Bevölkerung möglich fein, jo ift die Frage, um 
es draſtiſch auszudrüden, ob Deutichland durch 1000 neue Anduftrie » Arbeiterfamilien, 
welche die fapitaliftiiche Großinduitrie jeden Augenblic arbeits: und brotlos auf die 
Ztraße werfen kann, glüdlicher wird, oder durh die Erhaltung von etwa 
1000 Bauernfamilien, die ganz oder zum Zeil für die Gewinnung der 1000 Arbeiter: 
familien geopfert werden müßten. 

Dder mit anderen Worten, die deutiche Wirtichaftspolitit darf nicht im englifchen 
Kielwaſſer jegeln. Die großen englischen Nationalöfonomen, die man auch die klaſſiſchen 
nennt, wie Adam Smith, Robert Malthus, Kohn Stuart Mill, 
jelbftt David Ricardo und mie fie alle heiten, die fämtlih vo x dem großen und 
raditalen Umichwunge der englischen Wirtichaftspolitif geboren find und gelehrt haben, 
würden fi) noch im Grabe umdrehen, wenn fie jähen, was aus dem hoch gelitteten und 
geachteten engliihen Volk, einem früheren Volk der Dichter und Denker, trog aller 
Pracht fchlieglich geworden ift, und was gewiſſe Volkäbeglüder in Deutichland unter 
angeblicher Berufung auf ihre Lehren fich aus den Fingern gefogen haben. 

Nach allem diejen wird für Deutichland eine mittlere, aber zielbewußte Bolitit 
geboten jein, welche die Landwirtichaft und nduftrie in gleihem Mate und nicht die 
eine auf Koften der anderen zu fördern jucht, daneben aber durd) eine fürjorgliche 
Auswanderungspolitif ein Bentil offen hält, durd das erforderlichenfalld ein Teil 
des Volksüberſchuſſes abfließen kann, ſoweit nicht bei fteigendem Wohlftand und wirtichaft- 
liher Einficht der Arbeiterfamilien eine geringere Zunahme der Bevölkerung eintreten 
wird. Auch in politiiher Hinficht ift eine möglichit hohe Volkszahl nicht mehr ein jo 
maßgebender Faktor wie früher, da das Deutfche Reich den europäiichen Kulturjtaaten 
an Volkszahl bereit3 weit überlegen ift und den übrigen Rieſenſtaaten der Erde, wie 
Rußland, den Vereinigten Staaten, China 2c. niemals in der Quantität, jondern 


880 Heinrich Dade, Die Probleme der deutſchen Wirtichaftspolitif. 


nur in der Qualität feiner Bevölkerung und in der Tüchtigfeit jeines Heeres und jeiner 
Marine wird gewachſen und überlegen jein fünnen, wie dies Adolf Wagner in 
jeiner „Srundlegung” und in feinem „Agrar: und Induſtrieſtaat“ treffend dargelegt hat. 

Die Dualität des Volkes und des Heeres wächſt nicht im Verhältnis zur 
Ktopfzahl, fondern hängt davon ab, welcher Schak von unverdorbener phyſiſcher und 
geiltiger Kraft, von fittliher und geiftiger Schulung, von Heimat: und Fyamilien- 
finn, Pflichtgefühl und Religiofität im Volke und in der Volksſeele lebendig geblieben 
und mit in die neue Wirtſchaftsära hinüber gerettet ift und in derjelben erhalten werden kann. 

Dieje Amponderabilien eines Volkes, deren treueite Hüterin von jeher ein fräftiger 
Bauernftand, eine gebildete, feit angeſeſſene und traditionelle Grundariftofratie, ein 
itarfer gewerblicher Mittelftand in Stadt und Land und ein folider Beamten- und 
Gelehrtenitand gemwejen find, fann keine Bevölferungs:, Berufs: und Betriebsftatiitif 
und feine Steuer » Beranlagung erfaffen, fie werden aber ausichlaggebend jein für den 
Beitand des Staated, wenn derſelbe einmal durch große politiihe Ereigniſſe in 
jeinen Grundfeiten erfchüttert werden follte, und glücklich die Nation, die dann die fott: 
bariten Güter eines Volkes nicht verjcherzt hat. 


1% 


Bismarch-Ausſprüche. 


Im vVerfall der Landwirktſchaft ſehe ich eine der größten Gefahren für unſeren 
Raatlichen Berband. = 


Id; lerne vom Xeben, ich lerne, [o lange ich lebe, ich lerne noch heufe. 
— (14. Februar 1885.) 


Die Popularitäf einer Sache macht mich oft zweifelhaft und nötigt mich, mein Ge— 
willen nod; einmal zu fragen: if fie aud wirklich vernünftig? Denn ich habe zu häufig 
gefunden, dah man auf MAkklamation ſtöht, wenn man auf unrichtigem Wege if. 

(1882.) 
o° 


Der Staatsmann gleicht einem Wanderer im Walde, der die Rihfung eines Marſches 
kennt, aber nicht den Punkf, aus dem er aus dem Walde heraustreten wird. Ebenſo wie 
er muß der Staatsmann die gangbaren Wege einſchlagen, wenn er ich nicht verirren fol. 

(1890.) 
Aus „Geiftige Waffen“, Ein Aphorismenleriton, zuſammengeſtellt von E. Shaibie. 


1% 


OGOGOOGGGGOGGGG 


Wie mülſen wir mit den Chinelen verkehren? *) 


Von 
Karl Tanera. 


8 beiteht ein großer Unterjchied zwiſchen dem Verkehr der Regierungen verjchiedener 
Staaten unter einander und den einzelnen Angehörigen diefer Staaten mit 
einander. Für den diplomatischen Verkehr laſſen fich allgemeine Regeln kaum aufftellen; 
diefer unterliegt für alle Regierungen, jeien es Oſt- oder Weitländer, allaujehr den 
jeweiligen Berhältnijfen, und dieſe können ſich durch mandherlei Umftände, vor allem 
Wechſel der Perjönlichkeiten, über Nacht ändern. Wir felbft haben es ja erlebt, daß ſich 
mit dem Auftreten Bismards eine völlig veränderte Art des diplomatischen Verkehrs 
zwischen den Regierungen ſozuſagen im Handumdrehen geltend madte. Die alte Schule 
mit ihren Kniffen, Heimlichthuereien, ihrer Unehrlichfeit und Hinterlift ward von ihm 
aus dem Sattel gehoben, und ein neuer, mweit offenerer und Elarerer Verkehr eingeführt. 
Die hinefiihen Diplomaten aber ſtehen zur Zeit noch auf dem Standpunkt jener 
mackhiavelliftiichen politischen Denkweiſe, welche auf nichts Rüdficht nimmt als auf das, 
was ihnen im gegebenen Augenblik flug und vorteilhaft ericheint. 
So muß man auch dem hineftichen Diplomaten dauernd mit größter VBorficht begegnen. 
Der Berfehr der Angehörigen verihiedener Völker unter einander jedody unter- 
liegt weniger jenen Schwankungen, welche durch Zeit: und Perjonenfragen hervor: 
gerufen werden. Die Art desjelben ift mehr in den langjährigen Sitten und Gebräuchen 
der einzelnen Bölfer begründet, und diejenigen Vertreter von Staaten werden aus dem 
Berfehr ſtets den größten Vorteil ziehen, welche es beifer wie die anderen verjtehen, mit eben 
jenen Eigenheiten der Bölfer, mit denen fie verkehren, zu rechnen und deren Gewohnheiten 
zu berücfichtigen.. Es bedarf daher für folchen Verfehr eines eingehenden vorbereitenden 
Studiums der Zebensgemohnheiten, Denkweiſe und Vorurteile der Völker, mit denen man 
in erfolgreichen Verkehr treten wil. Den Ehinejen gegenüber find aber wir die weſentlich 
Berlangenden. Ahnen wäre es jedenfalls am liebiten, wenn ſich alle Europäer auf den 
Mond oder auf den Mars zurücdziehen wollten. Sie brauchen uns nicht; fie haben uns 
nicht gerufen und dulden unferen Verkehr mit ihnen nur, weil fie es müſſen. Wir 
aber wollen mit ihnen verkehren, weil wir neue Abjatgebiete für unjere Ueberproduftion 


*) Wir geben den intereilfanten Darlegungen des verehrten Weltreifenden gern Raum und 
glauben dem jcharfen Beobachter fremdländifcher Verhältniffe, der felt längerer Zeit alljährlich 
Ehina befucht, getroit die Verantwortung für feine Beurteilungen und Hinweiſe, in befonderem 
in Bezug auf die Wirkſamkeit der Miffionare der verfchiedenen Religionsgefellfchaften und deren 
Einwirkung auf die Chinefen, überlafien zu können. D. Ned. 


56 


882 Karl Tanera, Wie müſſen wir mit den Chineſen verfehren 


gebrauchen, damit wir nicht in unjerem Fett erjtiden; weil wir neue Erwerböquellen für 
einen Teil des Ueberichuffes unjeres Bevölkerungszuwachſes juchen, kurz weil wir uns 
ausdehnen müfjen. 

Unjere Aufgabe ift es alfo, uns um die dhinefiihden Eigentümlichfeiten des 
Näheren zu fümmern, ihre Sitten und Gebräuche zu ftudieren, und uns, ſoweit es an- 
gänglich, an dieſe anzupaffen, um uns dadurch den Verkehr mit ihnen möglichſt er- 
fprießlih zu geftalten. Mit Hilfe der bloßen Macht allein fann man wohl einem Bolf 
einen Berfehr aufzwingen, aber ihn nicht auf die Dauer jo befeitigen, daß er anhaltend 
thatſächlich Nupen gewährt. 

Bei der europäiichen Stonfurrenz in China erfahren die Engländer immer deut: 
licher, wie fehr fie gegen uns Deutiche im Nachteil find, mweil fie in Beziehung auf dieje 
Anpaffung im Verkehr jo viele Unterlaffungsiünden begangen haben und nod) begehen. 

Der erjte Grundjag für einen gedeihlichen, gegenfeitigen Berfehr im Oſten 
müßte lauten: „Achte die Anjchauungen des anderen, insbejondere in politijher und 
religidjer Beziehung!* Diefe muß man daher zunächſt kennen zu lernen fuchen. 

Seit Kahrtaufenden hat ſich in China die autofratiihe Monarchie unangetaftet 
erhalten. Die Ueberzeugung, daß der Kaiſer volljtändig uneingejhränfter Selbſtherrſcher 
fein und bleiben muß, it den Chineſen jo in Fleiſch und Blut übergegangen, daß es 
nicht denkbar wäre, dort je eine Revolution im republifanishen Sinne zu erleben. Die 
chineſiſche Denkweiſe kann wohl einen Kampf gegen die Perjon eines Kaiſers oder noch 
eher einen ſolchen gegen eine Dynaftie, welche fremd ift wie Die jegige, verſtehen und 
verjuchen, nie aber wird fie jich gegen das Syſtem jelbjt wenden, denn diejes ift durch 
uralte Ueberlieferung geheiligt. Dieſes Syſtem beruht im wejentlihen auf der Art und 
Weile der Unantajtbarfeit ‘ihres Familienlebensd. In der Familie ift der Hausherr 
das wahre Familienoberhaupt mit beinahe uneingeſchränkter Machtvolltommenpeit. 
Dafür übernimmt er aud) eine große Verantwortung nicht nur gegen ſich jelbit, fondern 
ebenfo gegenüber feinen Familienangehörigen. Ein Vater wird mit und durd feinen Sohn 
geehrt, hochgeftellt, ja jogar geadelt, wenn 3. B. der Sohn das „große Eramen“ be 
ftanden hat. Der Bater joll dafür belohnt werden, daß er einen jo vorzüglichen Sohn 
erzeugt und erzogen hat. Umgekehrt wird er mitbeitraft, wenn ein Familienmitglied 
ein Verbrechen begeht. Die ganze Familie nimmt aljo am Gedeihen oder Mikraten 
ihrer einzelnen Glieder Anteil. Dagegen erlangen dieje nie eine volle Selbftändigfeit, 
fo lange der Vater lebt. Durch dieſe Unterordnung unter das Yamilienhaupt wird das 
Ashängigkeitsgefühl dem Chinejen jchon in der Slinderjtube anerzogen und in der öffent: 
lihen Erziehung immer mehr, auch in Bezug auf fein politiiches Denken, ausgebildet. 
Ein weiteres Geſetz vermehrt und vertieft diefes Abhängigfeitsgefühl noch, nämlich 
der Umstand, daß fein Chinejfe Eigentümer von Grund und Boden werden kann. Das 
ganze Land gehört dem Mailer und wird durd ihn, d. h. durd die Landesbehörden 
als jeinen Vertretern, an die, welche Yand bebauen wollen, nur verpaditet. Dabei herricht 
noch die beiondere Beichränkung, daß niemand mehr als etwa 380 Ar nad) unjerem 
Maß pachten darf. Wenn man dieje Verhältniffe jtetS gekannt und gehörig beachtet 
hätte, wären manche der entitandenen Schwierigkeiten vermieden und mande unberedhtigte 
Klage über chineſiſche Unzuverläffigkeit, chineſiſche Betrügerei und die aus diejen entjtehende 


Karl Tanera, Wie müſſen wir mit ben Ehinefen verkehren? 883 


Mikftimmung vermieden worden. Denken wir an befondere Fälle! Ein Europäer jchließt 
mit einem Chineſen irgend einen Vertrag ab, 3. B. zur Lieferung von Transportmaterial 
zur Fortjekung feiner Reife. Der betrefjende Chineſe aber ift noch nicht felbftändig, weil 
fein Bater nod) lebt. Lebterer aber hat über die Transportmittel jchon anders verfügt, 
oder will fie dem Europäer nicht gewähren, jo bleibt der Führer mit jeinen Tieren 
troß aller Abmachung am nächſten Morgen aus; der Europäer kann nicht weiter reifen. 
Es erhebt ſich natürlich ein heftiger Unmut über wortbrüchige Chinefen u. |. w. Hätte 
der Europäer den Chineſen gefragt: „Daft Du nod einen Vater oder bift Du ſelbſt 
Chef?” jo wäre der bejtimmte Bejcheid erfolgt: „Ach habe noch einen Vater.“ Darauf 
gehört fi) dann das Geheiß: „Gut, jo jende mir Deinen Bater, damit ic) mit dieſem 
verhandle.“ Bei ſolchem Verfahren wäre wahrſcheinlich alles glatt gegangen. 

Man macht zum Zwecke eines Eijenbahnbaues die Abtretung von Land mit 
dem nächſten Ortsvorftceher ab. Der Mann jagt zu und kann mit diejer Zuſage im 
Grunde nur meinen, daß von feiner Seite fein Hindernis vorliege. Man beginnt nun 
Bermeffungen. Der Taotai des Kreiſes aber tritt mit feinem Verbot dazwiſchen. Alle 
Mühe war umſonſt. 

Warum hat fid) der Europäer nicht an den Taotai oder ſchließlich an den Vize 
könig gewendet! Man muß dod wifjen, daß alles Land Faijerliches Eigentum ift, alſo 
jede höhere Behörde bei folden Landpachtungen mitzureden hat. 

Wir können aber daran nicht3 ändern, und wer meint, erwürdeineinfachen geichäftlichen 
Dingen mit europätjcher Firigfeit und Schneidigfeit allein durcdydringen und Jahrtaufende 
alte Gebräuche ändern künnen, erfährt zu feinem Nachteil, dat er dies nicht kann. 


Wenn wir die Herren würden, 3. B. nad) friegeriihen Erfolgen, dann fönnten 
wir befehlen und einem Volk unjer Syſtem aufzwingen. Wo dies nicht der Fall ift, 
müffen wir ung verftändig in die Yage fügen. Iſt es nicht überall jo? Wer da glaubt, im 
Innern Rußlands ohne jede Beitchung etwas erreichen zu fünnen, oder wer da meint, 
in manchen Ländern Amerifas nod) einen Elaren Broze dann zu gewinnen, wenn er ſich 
nur auf fein gutes Recht verläßt und diejem nicht mit Geldgeſchenken nachhilft, der wird 
feine trüben Erfahrungen machen. Wenn ein Chineje gegen einen Engländer bei englijchen 
Gerichten progeffiert, jo kann er ebenfalls getroft feine Anſprüche auf feine Urenkel ver: 
erben, denn er erlebt wahrfcheinlicd den Ausgang des Prozeſſes nicht. 

Alſo man nehme zuerft auf die einmal beftehenden Verhältniffe des betreffenden 
Landes Nücdficht, ſonſt erleidet man unnadjfidhtlicd nur Nachteile. 

Wie viel aud) wurde und wird damit verdorben, daß manche Derren, befonders 
Engländer, mit unglaublichem Dünkel den chineſiſchen Beamten gegenübertreten. Ob die 
chineſiſche oder die europäiſche Kultur, höher ftehe, ob jeder europäiſch gebildete Menſch 
über einem chinefischen Gebildeten ſteht oder nicht fteht; ob das englifche Syftem in 
Indien, jeden Europäer dem Eingeborenen gegenüber als höheres Wefen hinzuftellen und 
3 B. alle Militärpoften der Eingeborenen zum Caluticren vor Europäern in Civil, aud) 
wenn ſie nicht ffiziere find, zu zwingen, ob das das Nichtige ift, darüber läßt fid) gewiß ftreiten. 

Hohmütig gegen dinefiiche Beamte aufzutreten, wie es oft genug geichieht, ift 
fiher thöricht, denn der hinefishe Beamte gilt in feinem Land als Verkörperung des 

56* 


884 Karl Tanera, Wie müflen wir mit den Chinefen verkehren? 


höchſten Wiffens, der feinften Bildung und des Faijerlichen Anfehens. Er erreicht ja 
ſeine Stelle auch nur, wenn er eine Menge von Beweiſen einer gewiſſen Befähigung 
gegeben hat. Vererbte Rechte, vererbten Adel, mit Ausnahme der kaiſerlichen Prinzen, 
giebt es in China nicht. Stellung, Anſehen, Würde und Macht werden nur durch ſehr 
ſchwierige und ſtrenge Prüfungen erlangt. Dieſe Prüfungen wiederholen ſich in langer 
Reihe. Keine Beförderung findet ohne Prüfung ſtatt. Die Beamten ſind alſo in ihrem 
Amt immerhin Männer von beſonderem Verdienſt. Ariſtokraten ſind nur die Beamten 
und Gelehrten; ſogar ein kaiſerlicher Prinz hat, wenn er nicht ſelbſt ein öffentliches Amt 
bekleidet, kaum Anſehen, gegenüber einem dieſer ſo vielfach geprüften Beamten oder Ge— 
lehrten. Es iſt gewiß weder würdig noch angemeſſen, devot gegen hohe chineſiſche Beamte 
ſich zu benehmen, wie es die Chineſen ſelbſt thun, aber die Formen, welche uns von der Heimat 
her vertraut ſind, z. B. ein freundlicher Gruß, ein höfliches Wort, achtungsvolles 
Betragen, das wir im Verkehr mit älteren Männern verlangen, müſſen wir auch für die 
Vertreter von Bildung, Gelehrſamkeit und kaiſerlichem Anſehen iu China wahren, wie wir 
dies bei uns thun. 

Wenn aber ein Amerikaner oder ein Europäer vor einen Mandarin tritt, ihn mit 
dem Anſpruch fjogenannter „vepublifanischer Gleichberehtigung“, in Wahrheit aber oft 
in der formloien Sordialität der Halbbildung, behandelt und doch zugleich etwas von 
dem hohen Beamten erreidhen will, fo darf es nicht wunder nehmen und man es dem 
Ehinefen gewiß nicht verübeln, wenn er fid fühl ablehnend verhält. Dann wird über 
die chineſiſche Widerwilligfeit geichimpft, während die Urfache diefer das Betragen des 
Europäerd® war. Man muß es verjtchen, diefen Leuten, ohne ſich dabei jedoch 
das Geringfte zu vergeben, höflich, würdevoll und ehrlich entgegen zu treten, dann zeigen 
fie auch das gleiche Wefen, und man fommt gut mit ihnen aus. 

Ich habe bei meinen vielen Bejuchen Chinas aus eigener Beobahtung es kennen 
gelernt, wie ungebildet und grob ſich viele Europäer, bejonderd Engländer, gegen die 
Chineſen betragen. Man fann übrigens auch als Europäer engliicdhe Ungezogenheit und 
Nüdfichtslofigkeit dort draußen überall reichlich erfahren. Daß die Chinefen in uns 
vielfach nur halbgebildete, rohe Barbaren jehen, verdanfen wir zumeift dem Auftreten 
unferer Bettern jenjeits des Kanals. 

Freilich darf man fi) auch den Chinefen gegenüber nie etwas vergeben. Der 
Ehineje ift hochmütig, ſehr hochmütig, denn er hält jein Bolf für das ältejte und erfte 
Kulturvolk der Erde. Er erfennt an uns nur die überlegene techniihe Kultur an, 
keineswegs aber eine höhere moraliſche und ethiiche. Diefe Auffaffung beruht in feinem 
Mejen, jeiner ganzen Lebens- und Rulturauffaffung. Es fehlt dem Chinejen jede Art 
bon aggreifivem, ftrammerem Wejen, das ſich bei uns in der Erziehung für unjere Streit: 
macht und Kampfmittel unmillfürlich ausbildet. „Je gebildeter ein Volk, deito weniger 
hat es Sinn für friegeriihen Ruhm und Eriegeriiche Erfolge“ iſt chineſiſche Meinung. 
Daher jehlt ihnen jede Wertichäßung foldatischer Eigenihaft und Leiftung. Die Krieger 
ericheinen ihnen weniger als Helden, denn als Rauhbeine und ungebildete Händeljucer. 
Da bei ihnen als ein Höchites, Erftrebenswerteftes eine gewiſſe geiftige Arbeit gilt, 
Offiziere aber bisher keinerlei Wiffenichaften trieben, jo geniegen fie auch keinerlei Aniehen. 
Im Gegenteil! Sie galten und gelten als Faulenzer, als Barafiten. Nun müſſen die 


Karl Tanera, Wie müjjen wir mit den Chineſen verfehren? 885 


Ehinejen gezwungenerweife unfere militärijche Ueberlegenheit anerkennen, aber gerade in 
diefem Borzuge ſehen fie eine Unterlegenheit unſerer Kultur. 

Auch ihre Rechtsanſchauung ift eine andere als die unfrige. Sie urteilen etwa: 
der Staat und der menſchliche Körper find ähnlihe Wejen. Den Körper erhält der 
Magen, den Etaat der Kaifer. Am Körper und am Staat giebt e8 kranke Glieder. Es 
find dies im Staatsleben die Verbrecher, Man muß gegen diefe in verjchiedener Weije 
vorgehen, ebenjo wie man Krankheiten des Körpers verfchieden behandelt. Geringe 
Körperleiden heilt man durch leichte Mittel, etwa nur durch Maffieren. Geringe Krank— 
heiten im Staatskörper, aljo leichtere Verbrecher, durd; leichte Strafen. Wer am ganzen 
Etaatsleben ſich verfündigt, muß eben fo aus diefem ausgejchnitten oder vernichtet werden, 
mie ein jhwärender Körperteil, der den ganzen Körper durch Vergiftung des Blutes 
zerftören könnte. Als ſolche Geſchwüre am Staatskörper betradıten fie 3. B. die Aufrührer, 
Empörer, und diefewerden demgemäß ausgefchnitten, vernichtet. Die Chineſen gehen in ihrem 
Streben, die Staatsautorität zu ſchützen, jogar jo weit, daß fie felbft oft diejenigen 
vernichten, d. h. hinrichten, welche im bloßen Verdacht ftehen, ſich gegen die beftehenden 
Einrichtungen auflehnen zu wollen, Sie ſahen bisher jeden Neuerer als eine Art Aufiwiegler 
und Empörer an. Man lajje jie daher mit europäijchen politiichen Neuerungen von unferer 
Eeite aus in Ruhe. Warum ihnen unjere Einrihtungen aufzwingen wollen, fie müfjen 
fich ſelbſt zurechtfinden. Mögen fie ihre ftaatlihen Einrichtungen treffen wie fie wollen, 
bei ihrem Verkehr mit uns müffen wir ung ihrer Anſchauung nun einmal fügen, wenn 
wir etwas von ihnen erreichen wollen, andererjeit8 aber von Staats wegen rückſichtslos 
und nad) unferer Art gegen fie vorgehen, wenn wir im Recht find, ihnen etwas be 
fehlen, oder von ihnen etwas verlangen zu dürfen. 

Noc wichtiger ift es, fie in Bezug auf ihre religiöjfe Auffaffung zu Shonen. Was 
geht es uns an, was ein in feiner Weite immerhin gebildetes Volk mit feiner viertaufend- 
jährigen Kultur wie diejes glaubt?! 

An China beitehen befanntlid) vier verfchiedene Neligionsgemeinjchaften außer 
dem vielfach eingeführten Islam. Die Beamten, Gelehrten und Gebildeten hängen tie 
befannt, der Morallehre des Bhilojophen Konfustfe an. Diefe will nichts von trans: 
cendentalen Dingen willen, weil, wie fie jagt, „man doch nicht genau wiffen könne, wie 
es jenjeit3 ausfieht, und was wahr ift.“ Ihre ganze Morallehre gipfelt in dem Sag: 
„Thue Das, was Du willit, das andere Dir gegenüber und im allgemeinen thun follen.“ 

Eine jolche Lehre ift fo verftändig, daß wir gewiß Feinerlei Urſache haben, gegen 
diefelbe vorzugehen und an ihrer Stelle den Leuten eine uns noch fo heilige Lehre 
aufzuzwingen, deren idealen Geiftund Weſen ſie nicht verftehen, weil ihre ganze Denkweiſe 
ihnen für diefe durchaus feinen Boden bietet. 

Das Volk, das mehr des Sinnlichen und Myſtiſchen für fein religidjes Empfinden 
bedarf, nahm die Lehre des Gelehrten Lao, den jogenannten Taoismus auf. In diejer 
Lehre gab es zuerst nur Vergöttlichungen von idealen und abftraften Begriffen. Es 
wurden Götter der Freude, des Leides, des Friedens, des Strieges u. f. mw. angenommen, 
Bald bildeten ſich Götter realerer Auffaffung heraus, ſchließlich erfüllte fih dic Volks— 
phantafie mit einem Heer von Geiftern und Genien. Der Buddhismus, der jpäter in 
das Land fam, eroberte mit feiner weicheren Art, feiner Nächitenliebe und jeiner Auf- 


886 Karl Tanera, Wie müſſen wir mit den Ehinefen verfehren? 


klärung, aber aud) jeiner Berdammung alles Kaſtenweſens, bald den ganzen Dften. Der 
echte Buddhismus kennt keinen perjonifizierten Gott, nicht, weil er nichts von einem Gott 
weiß, fondern weil es ihm ald Anmaßung gilt, wenn ein Geſchöpf fih von dem Schöpfer 
ein Bild nad) feiner eigenen Art macht. „Eine Maus fann nicht fagen, der Gott, der fie 
geſchaffen, ſähe aus wie eine große Maus. Alſo kann auch fein Menſch wagen, zu 
behaupten, jein Schöpfer fei menjdjenähnlid.“ , 

Die reinen Lehren Buddhas waren der gedankenloſen Maſſe zu hoch, die buddhi- 
ftifchen Prieſter fchufen ihr nad) und nad) rituclle Formen, die denen anderer eritarıter 
Religionen ähneln. Die Buddhifien fennen Himmel, Hölle und SFegefeuer, fie beten knieend 
mit gefaltenen Händen, fie zünden Kerzen zu Gunften der armen Eeelen im Fegfeuer 
an, fie opfern Weihraud), jprengen geweihtes Waffer aus, Elingeln mit dreiteiligen 
Glöckchen, haben Wechjelgebete, die den Litaneien ähneln, ihre Prieſter find Cölibatäre, 
wohnen in Alöftern, betteln um Almojen und tragen bei ihren Amtshandlungen präditige 
Gewänder; fie glauben an die unbefledfte Empfängnis der Mutter Bubdhas, ihre Engel 
werden mit Flügeln, ihre Heiligen mit Heiligenicheinen dargeftellt u. % f. 

Zwiſchen den drei Religionsgemeinfchaften hat immer Friede geherriht. Endlich 
entſtand eine vierte Religion, die eigentlihe Volfsreligion, welche fid) aus den drei 
genannten zufammenjegt und eine Miſchung von Götterglauben, höheren philoſophiſchen 
Lehren und dunklem Aberglauben darftellt. Kaum je haben dinefische Priefter oder Yaien 
eine Propaganda verjudt und ihren Glauben anderen Menſchen beizubringen unter: 
nommen. Sie find dazu zu tolerant, fie halten ein ſolches Aufdrängen für nicht ge 
bildet. Die chriſtliche Miffion aber hat vielfad) Unfricden und Haß in Familien und Ge 
meinden getragen. Die Chinefen wollen vom Chriftentum überhaupt nichts wiſſen, meil 
fie in ihm eine Religion der Unmwahrbeit und des Haſſes ſehen. Eie jagen: „Euere 
Religion Ichrt Berzeihung, rächt aber jeden Widerftand gegen Miffionäre, die wir nie 
gerufen haben, mit Gewehr: und Stanonenjchüffen, mit Mord und Todſchlag. Euere 
Religion [ehrt Sanftmut, und dod) habt hr die barbariihe Sitte des Duells erfunden, 
die wir gamicht fennen. Euere Religion rief von jeher die blutigften Religionskriege 
unter ihren Befennern hervor. Ahr habt die Kämpfe zwiichen Arianern und Neftorianern, 
zwiſchen Katholiken und Proteftanten erlebt, und fein Krieg war jo blutig und jchreflid 
in jeinen Folgen als der dreißigjährige Neligionskrieg in Deutſchland. Wo wir 
mit dem Chriftentum in engere Berührung famen, jo im Zaiping-Aufftand,*) fojtete uns 
der Kampf über zwei Millionen Menjchen und bradıte ricjigen Schaden über unier 
Neih. Wir wollen daher an Stelle unjerer alten Religionen, welche uns Nahrtaujende 
hindurdy den religiöfen Frieden erhalten haben, feine neue Religion einführen, welche 
uns Haß und Krieg bringt.“ 

Dat die Chinefen darin recht zu haben jcheinen, beweiſt ihnen das Auftreten vieler 
Miffionare. Leider giebt es ja im ganzen Dften feine einheitliche chrijtliche Kirche, 
fondern nur fich gegenfeitig befämpfende fonfeffionelle Mijltonen. An Kanton, in 


*, Der Führer der ZTaiping, Namens Sintfuen, hatte durch den Miſſionar Gütlaff da 
Ehriftentum kennen gelernt, lich Taufende von alten und neuen Tejtamenten druden, unterftügte 
überall die Ausbreitung das Chriftentums, erklärte fich für den jüngeren Bruder Chriſti, rief 
das Himmelsfönigreich aus und bewirkte den blutigen Taipingfrieg. 


Karl Tanera, Wie müfjen wir mit den Chinefen verfehren? 887 


Ehanghai ꝛc. zc. jtehen prunfhafte katholiſche Dome. In diefen lehrt der Fatholifche 
Miffionar die Verehrung der Heiligen, die fieben Sakramente u. ſ. f. Daneben ftehen 
die englifchen Kirchen, und in diefen lehren Reverends, das alles fei nicht wahr, es gäbe 
feine Heiligen, e8 gäbe nur zwei Saframente u. ſ. f. 

Dominikaner, Jeſuiten, Methodiften, Bafeler, Leipziger, mormonifche, evangelijche, 
reformierte, Tutherijche, baptiftiiche und andere Miffionare walten in den verichiedenften 
Drten, und jeder lehrt etwas Anderes und verfucht den Chineſen Elar zu machen, fein Kollege 
irre. Endlich ziehen durdy die Mandfchurei die ruffiihen Popen einher mit ihren Prunk— 
germändern, Heiligenbildern 2c. und behaupten, fie allein verfündeten das echte Ehriftentum, 
alle anderen feien überhaupt feine wahren Chriften. Was follen die armen Ghinejen 
nun glauben? 

Die fortwährenden Streitigkeiten und Eiferjüchteleien der Miffionare find in China 
ebenſo beichämend für das Chriftentum, wie zu Jeruſalem das ftreitfüchtige Verhalten 
riftlicher Priefter in der Grabeskirche; doc jteht der Chinefe an Bildung noch weit 
über dem Araber und Türken. Am Dften ſchadet der Ausbreitung des chriſtlichen Ges 
danfens die Uneinigfeit der Priefter chriſtlicher Konfeſſionen noch weit mehr als dort. 
Es erſcheint daher richtig, vorläufig die Chinefen mit unferem Konfeifionshader in Ruhe 
su laſſen, ebenfo wie wir nicht wünjchen, von buddhiftiichen Miffionaren oder Konfuzius— 
prieftern behelligt zu werden. Es darf uns nichts angehen, wie die Chinefen über das 
Jenſeits denken, wir wollen ja nur einen irdischen Verkehr mit ihnen pflegen; wir wollen 
vor allem mit ihnen Handelögejhäfte treiben und bei ihnen Abjak für unjere über- 
fhüffigen Imduftrieartifel, Maſchinen u. j. w. finden 


Am Handelsverkehr muß man die Chineſen jo nehmen, wie fie find, nämlich als 
vollwertige, durhaus ehrliche und verläjfige Gefchäftsleute. Es giebt faum einen fo 
verläffigen Kaufmann auf der Erde mie den dhinefifhen. Das Urteil Elingt hart, ift 
aber wahr. Dieje Zuverläfligfeit hat vor allem ihren Grund in der FFamilienzufammens 
gehörigfeit der Chinefen. Unter dem dhinefiichen Geſetz kann eigentlic, fein Kaufmann 
Bankerott machen. Nicht er allein, jondern feine ganze Familie muß mit all ihrem Hab 
und Gut für die Berlufte auffommen, die der Kaufmann Gläubigern zufügt. Im letzten 
Fall werden ſogar fämtliche Berwandten herangezogen. Außerdem arbeiten die Chinejen 
geihäftlich faft nur in Ringen zufammen, unterftügen einander und find für einander 
haftbar, Im Hinblick auf ihre Zuverläjfigfeit find auch die Kaffierer aller europäijchen 
Banken und größeren Geichäfte im Dften Chinejen. Der chinefische Kaufmann hält es 
für ehrlos, in das neue Jahr mit Schulden zu treten. Daher löjt er vor dem Jahres— 
wechſel jeine Verpflichtungen ein. In Europa find Kaufleute mit derartigen Anfichten 
doc nicht die durchichnittlichen. Am Verkehr mit dhinefischen Kaufleuten muß der Fremde 
ebenfalls ehrlich, vertrauensvoll und pünktlich fein. Die Chineſen halten als Kaufleute 
ihr Verſprechen, daher müſſen die mit ihnen verfehrenden Kaufleute ſich ebenjo ver- 
läffig zeigen. Bor der Abmachung des Gefchäftes vorfichtig, halten fie fich, wenn es 
abgeichloffen, genau an die VBerabredungen. Dem Japaner gegenüber, der im allgemeinen als 
Kaufmann durhausnicht zuverläjjig ift, müffen dagegen ganz andere Maßregeln eingeichlagen 
werden. Diefe Erfahrung lehrt wiederum, daß man in erjter Linie die Verhältniffe 
der Bölfer ftudieren muß, ehe man in näheren Verkehr, befonders mit den Oftländern, tritt. 


888 Karl Tanera, Wie müfjen wir mit den Ehinejen verkehren? 


Die Beobachtung chineſiſchen Weſens ergiebt aljo für den Verkehr mit den Söhnen 
bes Reiches der Mitte etwa die folgenden Erfahrungen und Lehren: „Man möge ihnen mit 
dem Ausdrud der Achtung und Freundlichkeit, aber mit Würde entgegentreten. Man lafie 
fie in Ruhe mit Berfuchen, fie in politifcher und religiöjer Beziehung zu europäifieren; 
man jchäße fie als verläffige Kaufleute, die fie find, man treibe ehrlich mit ihnen Handel 
und lafje fie jonft ihre eigenen Wege gehen, bis fie fich felbft zu einer höheren Kultur 
zurecht finden. Dagegen trete man jedem Ausbruch dinefiihen Hochmutes mit Emit 
und Nachdruck entgegen.“ 

Wenn die europäifchen Völker diefe Erfahrungen nicht benugen und dieſe Lehren 
nicht befolgen und fortfahren, gegen die Starrheit hinefiiher Religionen und Einrichtungen 
vorzugehen, dann öffnen fie nur der gelben Nafje die Augen über das, was fie leiften 
fann, wenn fie einig ift, dann erdrückt jchlieglich ihre Zahl alles, dann beſchwören mir 
felbft die gelbe Gefahr herauf. 


© 


Biltiden. 
Die fchlimmfte Partei. 


Schlimm it mandıe Parfei, doch erfcheint von allen als ſchlimmſte 
Die der Phililter; ihr ſei ewige Fehde gelobt! 
Freiheit hat fie gepachtel und Recht, ale Feinde der Freiheit 
Gelten ihr alle, die nicht ducken fi ihrem Geheih. 

Gewilfe Volksmänner. 


Rehnlich wie vor Beiten einmal ein Beherricher der Franken 
Bagle: „Der Sfaal bin ich!“, achten fie fi für das Polk! 
An den deutfchen Sprachverein. 
Immer nach reinlicher Form vergeblich werden wir fireben, 
Wenn fie nicht reinlidher Sinn bildef von innen heraus. 
Hohe Verantwortlichkeit. 

Wer da waltet der Sprache, bedenk’ Tide wohl, dak ein Teil ihm 
Bun dem Permögen des Bolks if in die Bände gelegl. 

Dem Verftändigen zur Ermunterung. 


Ruhig wandele hin durd alles Gelümmel! Athene 
IA dir zur Seite und führt dic; auf den richtigen Pfad. 


3obannes Troisn 


eeaeeaaeeaeeaa9eae9eee9a9o9098 


Seſchmack und Mode. 


Don 
Dans Schliepmann. 


RB: Baris fommt die Nachricht: Das Problem der Straßenichleppe ift endlich 
gelöft! Rund um den Rod laufen 8—10 dekorativ wirkende, goldene oder 
feidene Schnüre vom Rockſaum bis zu einzelnen Ringen am Gurt, über denen 
fie fich zu einer Zugfchnur vereinigen. Ein Anziehen diefer Schnur fippt ben 
Rod nad außen und oben auf, ſodaß das farbige Seidenfutter in breitem Bauſch 
ſichtbar wird. 

Stände diefe Offenbarung nicht in einer ernften Zeitſchrift, fondern in 
einem Modejoumal: wie läge die Sache alddann? In Paris hätte irgend eine, 
fagen wir milde, „Mondaine“ die Idee ausgehedt. Der „tFarbenfchrei" des 
Futters, die „neue Linie" des Baufches hätte ein Kleines Delirium erzeugt. Mit 
der übliden reservatio mentalis hätte die Modeberichterftatterin für Deutſch— 
land die neue Senfation „leider berichten müfjen“; unfere Damen außerhalb der 
Gefellichaft hätten fie aufgegriffen; jehs Monate hätte fih die gute Gefellichaft 
entrüftet, dann hätte der fortgefchrittene Flügel unferer edlen Weiblichkeit die 
Idee nicht fo übel gefunden, und in anderthalb Jahren würde jede Ladnerin ſich 
das Geld zu einem fichtbaren farbigen Seidenfutter nebjt Schürzgarnitur ab- 
bungern müfjen, denn die Sache ift eben — Mode geworden! — — 

Man fürdte nicht, daß ich an diefe trübjelige, aber leichte und wahrhafte 
Prophezeiung eine neue Yeremiade über die Narrheit der Mode zu den vielen 
anderen anftimmen werde. Sie bliebe nublos gleich allen früheren, wenigitens, 
fo lange fie wie jene, jelbft die noch unvergeßliche Friedrich Viſchers, lediglich die 
Thorheit der Nahahmung und die „Häßlichkeit“ der Modeerfindungen geißelte. 
Denn „Ihön ift häßlich, häßlich ſchön“ ift das eigentliche Prinzip der Mode, 
unter dem fie von einem Ertrem in das andere ftürzt; und gegen die Maſſen— 
fuggeftion nügt die Erklärung eines einzelnen Geſchmacksurteils gar nichts. Der 
Wandel im Modegeſchmack ift eine innere Notwendigkeit, denn alle Reize ftuntpfen 
zulegt in Uebermüdung ab und verlangen eine Auslöfung durch entgegengejeßte 
Erregungen. So ift die Mode das Ergebnis eines piychologifchen Grundgejetes. 

Aber doc nicht ganz! Dies anzudeuten, wählte ich mein einleitendes 
Beilpiel. Wir müfjen — und das wird gemeinhin in allen Betrachtungen zus 
fammengeworfen — noch jehr ſcharf zwiichen Wandel im Geſchmack und Mode 


890 Hand Scliepmann, Gefchmad und Mode. 


unterfcheiden. Letztere ift eben nicht allein Ausdrud des Gefhmades, ſondern 
weit mehr noch blinder Nahahmungstrieb und Sudt zu fcheinen, al3 vornehm 
und modern zu gelten. Und wenn auch der Nahahmungstrieb in der menid- 
lihen Entmwidelung eine gewaltige Rolle Spielt — aber nur in der frühen! — fo 
ift die Sucht zu fcheinen dod ein Trieb der Ohnmacht und des — menſchlichen 
Ausichuffes; von irgendwelhem Wert für die allgemeine Weiterentwidelung der 
Menjchheit kann daher diefe Seite der Mode ficherlich nicht fein. 

Wohl aber bedeutet für jene Entwidelung der Geſchmack jehr viel; es wird 
daher eine fehr mwefentliche Aufgabe fein, die Mode zum Geſchmack hinauf- 
zuläutern. Und was bier zu thun bleibt, möchte ich einmal der Betrachtung 
unterziehen. 

Aber, wird man mir einwerfen, was nütt und der Geihmad, dieſe 
unfaßbare Lurusempfindung, die nicht einmal bei zwei Perſonen diejelbe ift und 
die fchließlicy nur zu phäakiſchem Genießen führt? Unfere Zeit hat wichtigere 
Aufgaben zu löfen, al3 uns zu weichlichen Mefthetifern zu machen! — 

Ad, fie hat feine größere zu löjen, als uns zu Perfönlichfeiten zu machen, 
zu Menſchen, die in ſich *felbft Genüge finden, Befriedigung und Freude! 
Darnad; würde fo gar vieles Andere ganz von felbit Eommen! 

Noch giebt es feine höhere Lebensweisheit ald Goethes 

Wirte! Nur in feinen Werfen 
Kann der Menſch fich felbit bemerken! 

Unter wie viel mißleitetem Wirkungsbedürfnis aber feufzen wir! In Geld- 
machen, in Gründungen, in Unterjocdhungsdrang, in Frauenbethören, in Ruhmſucht 
bethätigt jich der ftarfe Wille, dem ein wahrhaftes Biel fehlt, oft genug, und im 
Genuß verſchmachtet er vor Begierde. Nur der religiös und der äſthetiſch 
fühlende Menfch aber gelangt zu ftetiger Freudigkeit, die alles Edlen Wiege, die 
all fein übriges Handeln durchdringt. Beide aber geftalten, jener in ſich die 
Ahnung des Göttlihen aus der Welt der Erſcheinungen, diefer eine Welt im 
eigenen Innern, ein Teilbild der großen; in ihren Gipfelungen fließen fie in 
eins zufammen; aber auch der Neger, der feinen Fetiſch mit grellen Farben 
bemalt und mit bunten Glasperlen jchmüdt. hat das gefteigerte Gefühl feines 
Selbftes in jenem Wirken, das, ohne anderer zu bedürfen, glüdlih macht 

Darin aber liegt der Wert äjthetifcher Bethätigung, jobald fie von Eitelkeit 
rein ift: fie bedarf nicht der anderen! Sie ftellt die Perjönlichkeit auf ſich felbit, 
giebt Freiheit ihr jelbit und läßt fie den Mitmenſchen. Die brutalite Gejellichaft 
noch müßte daher die äjfthetiichen Menfchen bejonders jchägen: fie find die 
ruhigiten, zufriedenften Bürger; — ftört ihnen nur ihre Kreife nit! — Weichlich 
aber, weibifch wären ſolche Menjchen dann notwendigerweife? — 

Waren fie weibifch, die herrlichiten aller „älthetifchen Menſchen“, die Michel 
Angelo, Dürer, Bach, Shafefpeare, Beethoven? — Es liegt aljo nicht am Schönheits— 


Hans Schliepmann, Gefhmad und Mobe. 891 


kult, daß feine Anhänger oft „weiblich” erjcheinen ; dies ift vielmehr darauf zurüd- 
zuführen, daß in diefen Kult jo viele Unberufene eindringen, die nicht die 
Schönheit, fondern fich felbft und ihre Eitelkeit fuchen. Nicht Erweiterung ihrer 
Perfönlichkeit, fondern einerfeit3 Genußfitel, andererjeit3 Befpiegelung ihres Ichs 
erftreben fie. Wenn wir nur lebhafter empfänden, daß Schönheitsdienft ein 
Wirken, ja, eine Arbeit ift, ein Aufgehen im Höheren, nicht ein Abwägen, wie 
das liebe Ich fi nun zu dem Neuen in fo herrlicher Poſe zu ftellen weiß, fo 
würde der Premierenfer und der Defadent, der Ruhmjäger und der „Senner“ 
bald genug recht tief in der Staffel äfthetifcher Entwidelung ftehend erjcheinen. 
Gerade der männliche Geift aber würde, vom Schönheit3empfinden erfüllt, überall 
fein Harmoniebedürfnis in feinem Thun zur Geltung bringen, eine wahre, von 
allem Gemwaltiamen und Rohen abgewandte Kultur herbeiführen helfen. 

Ein folder Menſch — ich nannte ihn, den weiteften Sinn umfpannend, den 
äfthetifchen — gelangt zu einem ganz perjönlichen Verhältnis zur Kunft und 
Natur; es fpricht fih aus in feinem Geſchmack, der ja nichts iſt als die 
perjönliche Stellungnahme zu den Dingen in Luft und Unluft. Dabei ift ed gar 
nicht erforderlich, daß der äfthetifche Menſch jelber künſtleriſch ſchafft. Ein volles 
Genießen iſt Nachſchaffen, unbewußt aus dem eigenen Ich heraus. In jedem 
wahrhaft äfthetifchen Menfchen entiteht das Kunſtwerk vollftändig neu, oft genug 
bimmelweit von dem Urbild verjchieden, immer aber die Perfönlichkeit bis zum 
Selbftvergefien erfüllend. Jeder hat aljo feinen eigenen Geſchmack — er müßte 
ihn vielmehr haben! Und fo kann diefer fich nur wandeln, wenn die Perfönlichkeit 
felbft ſich wandelt. 

Solch Wandel erfolgt ja nun beftändig; aber er kann doch niemals fo groß 
fein, daß der Geſchmack fich in jeder „Saijon? vollitändig „umkrempelt“, weil die 
Leutchen um uns herum auch eben Luft am Umfrempeln haben. 

Hier nun liegt das Enticheidende. Weil der Geſchmack ein umfajjendfter 
BPerfönlichkeitsausdrud ift, fo muß jeder einzelne, dem fein eigenes Ich Bedürfnis 
und nicht nur Eitelkeit und Spiel ift, zum mindeften an feinen Gejchmad 
glauben und nur ihm gemäß urteilen und wirken. 

Er muß? — Sagen wir lieber: er müßte! Denn erzwingen läßt fich hier 
nichts; e3 handelt fich nicht um ein jchlechterding3 Erziehbares, jondern um etwas 
frei Gewadjjeneds. Der anerzogene Geichmad ift eben feiner, fo lange ihn nicht 
Berfönlichfeit durchdringt, er ift ein Urteilen nad) Vorbildern, nicht nad) inneren 
Bedürfniffen. Nur weil wir uns diefes Unterjchiedes nicht bewußt find, andererſeits 
aber doch inftinktiv fühlen, daß wir ein eigenes Gefchinadsurteil haben müßten, 
um al3 etwas gelten zu können, begnügen wir uns mit dem Gefhmadsjurrogat, 
der Mode, die und unter der Schugmarfe „Vornehmheit“ die leerften Erfindungen 
platter Allerweltsgeifter aufdringt. Nicht nur in der Kleidung, ſondern aud) in aller 
Kunſt. Die Seele aber fehlt, und das merken wir nicht einmal! Dieſer Pfeudo- 


892 Hans Schliepmann, Geſchmack und Mode. 


geihmad bedarf der anderen, ift num der anderen wegen da. Für dieje ſchmücken 
wir uns alddann, ſei es, um ihnen zu gefallen oder um fie neidifch zu maden 
oder um als ihresgleichen oder womöglih, um mehr als fie zu gelten, oder 
mindeftens, um uns jelbjt über alles andere zu gefallen. Das Sind aber, das 
ftil feine Puppe ebenfo gem mit bunten Lappen putt wie ſich felbft, hat mehr 
gefunden Gefhmad, mehr fpezifiich äfthetiiche Empfindung und eigentliche Kunft- 
freude, als jene anderen, die nicht glauben fünnen, daß Putzfreude ganz ohne 
eigentliche Eitelfeit und ohne Rüdficht auf das Geſehenwerden zu beftehen vermag, 
als ein erites Aufdämmern fpezifiich äfthetiicher Schaffensluft. 

Diefe nun durch Erziehung bervorzurufen, fcheint mir nicht möglich; aber 
fie ift fat allen Menfchen angeboren al Scaffenstrieb in Verbindung mit Em— 
pfindlichfeit gegen Sinnenteize. Die Erziehung kann diefe Anlage hödhitens 
Ihügen und nähren, und leßteres auch nur mit Vorficht, wie denn alle Erziehung 
viel mehr auf unverfälfchte Erhaltung des Angeborenen als auf Einimpfung von 
Fremdem ausgehen follte. Dindernifje der Entfaltung hinwegräumen, Nährboden 
zur Verfügung jtellen, nicht ihn oetroyieren: weiter follten wir dem Herrgott nicht 
ins Handwerk pfuſchen; wir bringen doch anders feine Menfchen, fondern nur 
Automaten hervor, Gerade die8 Gebiet der Mode, mein Eingangsbeifpiel, 
beweift e3 ja! 

Nur zweierlei bedürfen wir, um zu wirflihem Gefhmad zu Kommen: 
Wahrnehmenlernen und innere Ehrlichkeit. Das ift freilich viel mehr verlangt, 
al3 man gemeinhin glaubt! 

Nichts ift bei unferer gejegneten Erziehung verwahrlofter geblieben als die 
Schulung unferer Sinne. Man fpähe nur einmal herum, felbjt bei unjeren 
„gebildeten Bekannten: wer unterjcheidet denn feine von groben Farbenaccorden, 
elegante von groben Umrißlinien, harmoniſche von unharmoniſchen Berhältnijfen? 
wer weiß die Seele eines Klavierſtückes wiederzugeben, wer fühlt den ganzen Gehalt 
Soethefher Rhythmen? Wie unter Halbblinden fühlt fi) der Sehende fait 
überall. Ginfältig wie der Fiſch nach der Kunſtfliege ſchnappt die Menge nad 
dem plumpften Surrogat, weil fie die Unterfchiede nidyt wahrnimmt. Das ift, 
nebenbei bemerkt, nicht etwa nur ein Kulturmangel, fondern ein geradezu furdt: 
barfter, wirtichaftlicher Notftand ; denn wenn das Volk ſehen gelemt hätte, 
dann würden die Plunderbazare nicht mehr florieren und dem gejunden Handwerf 
die Kundſchaft entziehen. 

Aber dies nicht jehen und unterjcheiden fönnen, greift in viel höhere Kreiſe 
über; es geht bis zu den Stunfttreibenden jelbft hinauf. In unferem aufreibenden 
Großftadttreiben, das ja die Kleinftadtkultur unterdrüdt hat — und wegen deren 
BPHilifterei auch nicht ohne Verfhuldung — haben wir immer nur einen haftigen 
Blick für jedes Ding; raftlos treibt e8 und weiter. Warum brauchten die Stil- 
wandelungen bei den Vorfahren jo weite Zeiträume, während wir fie in wenigen 


Hans Scliepmann, Gefchmad und Mode. 893 


Jahrzehnten nachgehafpelt haben? Weil jene eindrangen, wir an der Oberfläche 
blieben. Jedem Schnörfel mwidmeten jene noch liebevolles Cingehen; wir 
müffen gleich eine grundftürzende Umänderung de3 ganzen Aufbaues vorgejeßt 
befommen, damit unfere Oberflächenbetradhtung nicht meint, es jei ja alles ſchon 
dageweſen, alfo langweilig; und ein zweiter Blick giebt uns nicht mehr als der 
erjte, weil wir über aller Unraft und Oberflächlichkeit die Sache ja eben längjt 
„erledigt“ haben, nichts in anderer Weile erledigen können. Die Folge diejes 
Hunger nad) immer neuen, grob in die Augen fallenden Unterjchieden, nad 
hautes nouveautes und latest novelties auf allen Gebieten, it dann wieder 
eine Ueberreizung der Newen und damit eine Gier nad noch jchärfer gewürzter 
Koft; das verlogenfte Surrogat für Kunftgenuß tritt auf: die Senfation. Das 
Kunſtintereſſe“ ift dann nur noch das Mäntelchen; gälte es nicht als nötig für 
die Bildung, man würde einen Stierfampf oder eine einfache Hinrichtung einer 
Premierenvorftellung, der gebildeten Form für diefe, jeden Cancan einer Symphonie, 
jeden Riefenfederhut einem Michel Angelo ohne Blödigkeit vorziehen! 

Ja, wären diefe Senfationslüfternen nur ehrlich! Möglich, daß es den 
Künftlern dabei jchlecht ginge, denn deren meijte Werke werden, ſeien wir ehrlich), 
der Genjation, des Brahlens und Scheinens wegen gefauft; der Kunſt aber ginge 
e3 beſſer, denn es fchiede fich ehrlich Geihmad von Ungeihmad, und mein Ge- 
ſchmack bliebe neben deinem in guter Ruh! Man würde endlich ehrlihen Geſchmack 
als ehrlichen Ausdruf einer feiten Berjönlichkeit achten lernen. Nur der Uns 
geihmad wagt e3, den einzelnen Zifcher im Theater mit dem Haß feines Maffen- 
injtinftes zu verfolgen; ihm iſt's ja nicht um Kunft, fondern um die Eitelfeit auf 
fein „Kunfturteil“ zu thun. Steht der Mann nicht unendlich höher, der Wagner 
haßt, aber Mozart voll durchdringt, weil eben feine Perfönlichkeit nur für diejen 
Raum hat, als der Biedermann, der für beide fo jehr zu ſchwärmen vorgiebt, 
daß er fie — verwechſelt? Diefen aber belächelt die Geſellſchaft höchftens; jenen 
würde fie mit Empörung als Störenfried behandeln; er wagt ja eine Sonder— 
meinung zu haben. Geſchmack ift eben nur Sondermeinung. Darum ſchon von 
alter her: de gustibus non est disputandum. Darum ift er aber aud) Be— 
fenntnis. Und die Befenner find jchon jeit älteften Zeiten ungeheuer rar ge- 
weſen. Aber die wenigen confessores haben dem Chriftentum zum Siege 
geholfen, nicht die Millionen Nebenläufer, und fo kann ein Mutiger taujend 
Zaghaften das Rüdgrat ftählen. Darauf aber kommt e3 zulegt einzig an. Wir 
jehen e3 ja wieder augenblidlih. Denn, es ift nicht zu überfehen: glüdlicher- 
weije find die Anfänge einer freieren, individuellen Gefhmadsbildung, namentlich 
in der Frauenkleidung unverkennbar. Noch ſpielt die Senfation eine große Rolle 
dabei, die Sucht nad) dem „Aparten” löſt die Nacjäfferei ab; aber zwifchendurd 
ift doch ſchon viele wirkliche Ueberzeugung vorhanden, die z. B. im Kampf gegen 
die Schnürbruft auf trefflichem Wege ift. 


894 Hans Schliepmann, Geihmad und Mode. 


Die Frau aber, die zu felbftändigem Urteil auch nod) individuellen Schönheits- 
finn befigt und fo ihre Ueberzeugung reizvoll zu verkörpern verfteht, macht 
hundert ſchwächere feft und fehend. Bald genug bleibt diefer Gewinn an eigent- 
liher „Bildung” dann nicht mehr auf das Gebiet der Kleidung beſchränkt. Er 
muß unjerer ganzen Kultur, ja, unferem wirtjchaftlichen Leben zum Segen ge 
deihen, infofern der verfeinerte Geihmad fi} von der Fabrifware wieder der 
Dandarbeit zuwenden und jo die Macht der proletarifierenden Maſchine zu Gunften 
des zum Kunſthandwerker entwidelten Meifterd beichränfen wird. 

Die wejentlichite Frucht ſolcher Entwidelung zu perſönlich jelbjtftändigem 
Geſchmack aber wird der nationale Geihmad fein, der allein ung aud) im 
Ausland Achtung und — Käufer verihafft. Denn nationale Tradt, nationaler 
Stil werden nicht durch Dekrete, nicht durch Deutichtümelei erreiht. Die Seelen: 
ſchwingungen jedes felbftändigen Volksgliedes treten zufammen zu einem großen 
Accord, ganz von jelbjt; denn was in vielen gleichmäßig tönt, wird mächtiger 
Klang, der den abweichenden Einzelton verfchlingt; find die Einzeltöne zeriplittert, 
verivorren, fo giebt es nur ein Geräufch, den internationalen Miſchmaſch, der 
unjerer geihmadlofen Zeit eigentliher „Stil“ ift; je Harer der Einzelne ſich zur 
Gelbftändigfeit herauslöft, defto heller tönt der Gefamtaccord, das nationale 
Fühlen. Wir find Deutfche ganz von felbft. Suchen wir nur, wir jelbft zu 
fein: bald genug wären wir deutich in Tradıt und Kunſt und Leben! 


4 


Cachende Armut. 


Es iſt auf Erden nichts fo bold Das iſt ein Lachen, Das nie entweicht 
Und nichts fo fein gemacht, Aus alter Erinnerung, 

Beſtund' es auch aus reinftem Gold, Wie wenig Drückend, wie gar fo leicht 
Als Aımut, wenn fie lacht. ft arm fein, aber jung! 

So lieblich ift nichts auf der Welt, Doch webe, wenn im Alter dir 

So reizend anzufebn; Entfhbwunden Stern und Glück, 

Bit Thau bedeckt eine Blum’ im Feld Wlienn dann es pocht an deine Tbür, 
Iſt einzig vielleicht fo ſchön. Und die Armut kebrt zurück. 


Sie blieb zwar fonft die alte noch, 
Seit fle von dir entfernt, 
Es teblt ibr aber Das Beſte doch: 


Zu lachen bat fie verlernt. 
3obannes Trojan. 





Wilhelm Bode, Soethes Lebenskunit.*) 


Beiprochen von 
Bermann von Blomberg. 


n'® Werk ift entftanden an der Stätte, da Goethe bei Yebzeiten wandelte — in Weimar. 
Der Berfaffer, der ſich die Aufgabe geftellt hat, uns den ganzen Menſchen 
Goethe Tebendig in die Eecle zu pflanzen, ift liebevoll den Spuren des großen Lebens- 
fünftler8 nachgegangen. Allenthalben fpüren wir jene ®Pietät, die aud, wo uns 
Goethe der Menſch auf den Piaden alltäglicher Gewohnheit begegnet, eindringlid an 
des Dichters eigene Worte mahnt: „Ueberall lernt man von dem, den man lieb hat.“ 

Wir werden in den von der 'plätjchernden Alm umjäumten Garten Goethes ge 
leitet, wo „Alles fo ftill ift rings umher.“ Dort hat Goethes innigfte8 Bedürfnis, mit 
fih in der Natur allein zu fein, ein tiefites Genügen erfahren. Wir fennen den friede- 
erfüllten Ort ſchon aus der wunderbar anjchaulichen Schilderung Eckermanns, des Biel- 
getreuen, der dort mit jeinem greifen Meifter luftwandelte. 

Was das moderne Lurusbedürfnis nur zu gem überfieht, das ift die für Sammlung 
des Geiftes jo notwendige hödjite Einfachheit der Umgebung. Ein Zeugnis hiervon giebt 
diejes ſchmuckloſe Parfhäuschen, das fieben Jahre hindurd) des Dichters einziges Heim 
war, wo er tagsüber Beſuche des Hofes und der Gejellihaft empfing und an jdylummer: 
loſen Nächten auf jeine Art Zwieſprache hielt mit dem Geift der Ewigkeit, der jeine 
ſtürmiſche Seele in andadıtspolle Ruhe verjenfte. 

Hier im grünen Winfel vergaß er der zahlreichen Aergerniſſe und Irrungen, die 
ihm von Unverjtand und Neid bereitet wurden. Er badete in den murmelnden Wellen 
der Ilm „die Ekelverhältniſſe“ der Fleinlichen Menichenwelt ab. 

Auch das von ihm in Weimar felbjt innegehabte „Stadthaus“ zeugt ja von diefer 
genügjamen Anſpruchsloſigkeit "in den täglich bewohnten Räumen; aber auch in dem 
klaſſiſch ftilifierten vornehmen Teile diefes Heims — obſchon alles geräumig und von 
untrüglicdhfter Gediegenheit jein mußte, was ihn umgab — von einem jtilvollen Meublement, 
bis zu den reichen Kunftichägen, die jein vornehmer Sunftjinn erworben, durfte fich 
um ihn nicht jener Luxus ausbreiten, der, wie Goethe meinte, „faul und unthätig“ mache. 
„Unordentlidysordentlich ift für mid) das Rechte; es läßt meiner Natur volle Freiheit, 
thätig zu fein und aus mir jelber zu fchaffen.“ Hier vermochte es Gocthe „jenen reis 
um fid zu zichen, in welden außer Piebe und Freundfchaft, Kunſt und Wilfenfchaft 
nicht8 hereinfam.“ 





*) 2, Auflage. 367 ©. Verlag von E. S. Mittler & Sohn, Berlin. Geh. M.250, gbd. M. 3.50. 


896 Hermann von Blomberg, Goethes Lebenskunſt. 


Im Vorbeigehen läßt der Autor einige nicht unintereflante Aeußerungen über 
Goethes Vermögenslage fallen, ſowie einige Angaben über von Berlegern an ihn gezahlte 
Honorare. . 


Manderlei wertvolle Aeußerungen über des Dichters Perſönlichkeit und den 
Empfang, den er fremden angedeihen lieh, gewähren uns Einblide in die Verfchiedenheit 
der Eindrücde, die jein Weſen bei jeinen Befuchern hervorrief, jo bei Platen, Carus, Grill- 
parzer, Felix Mendelsjohn und anderen. Alles in allem — Goethe konnte gleich anderen 
Sterbliden höchſt wandelbar ſich geben, wobei für Zu: und Abneigung wohl mehr innere 
als äußere Gründe in jedem Falle fein Verhalten beftimmt haben werden. Während er 
die ihm irgendwie Unbequemen mit „tummen Audienzen zur Verzweiflung brachte“ und 
jeine großen „in die Tiefe gerichteten Augen“ den ungebetenen Gaft zu vernichten drohten, 
hatte er dod für die große Mehrzahl ihm vwoilltommener Menſchen — und Goethes 
„Salve“ galt aud) der fimpelften Redlichkeit — jene bezaubernd liebenswürdige Herzens— 
güte, die auch dem Einfachiten im Geifte das pochende Herz bald berubigte und ihm 
hohes Vertrauen zu dem liebevollen Meijter einflöhte, dem „nichts Menſchliches fremd 
mar“; der es wie fein Zweiter verjtanden hat, mit feiner Perſon hinter jolder edlen 
Hilfsbereitihaft zurüdgutreten. 


Weiter betrachtet das Buch Goethes Verhältnis ſowohl zu den Höherftehenden als auch 
au Untergebenen. Die liberale Kritik hat es für nötig befunden, immer wieder auf 
der Dichter-Erzellenz „Devotion“ gegenüber Fürften und Herren als einer Goethe eigenen 
Schwäche hinzumeijen, während doch feine gerechte Natur nur beftrebt war, jedem das zu 
geben, worauf feine Stellung Anfprud; machen durfte. Wie er im Herzen dachte, deuten 
uns feine jelbjtgewilfen Worte an: „ch hatte vor einer bloßen Fürſtlichkeit als ſolcher, wo 
nicht zugleich ein tüchtiger Menfchenverftand dahinter ſteckte, nie viel Reſpekt. Ja, es 
war mir jo wohl in meiner Haut und ich fühlte mich felber jo vornehm, daß, wenn man 
mich zum Fürften gemacht hätte, ich es nicht fonderlich merkwürdig gefunden haben würde.“ 
Sein Berhältnis zu Karl Auguſt giebt diefen Worten den fchönften Wahrheitsgehalt. 
Und was anderjeitS Goethes Verhältnis zu feinen Untergebenen betrifft, jo zeichnet es 
fih am charafteriftischften in jeinen Worten: „Ich habe jeden Untergebenen frei in ge 
mejlenem Kreis fich bewegen lafjen, damit er aud) fühle, daß er ein Menfch fei; es kommt 
alles auf den Geift an, den man einem öffentlichen Wejen einhaucht.“ Das find goldene 
Worte, nicht nur für die damalige, jondern für alle Zeiten beherzigenswert. 


Wie er jelber ein Vorbild des Fleißes und eiferner unentwegter Pflichttreue war, 
jo fand man ihn auch immer bereit, da felber energijch eine Sache anzupaden, wo andere 
mit trogiger oder jchüchterner Schwerfälligfeit das Sfhre nicht prompt erfüllten. Er 
wollte mit jeinem Beilpiel zünden. Gewiß — er hat nie Unbilliges von jeinen Mit: 
helfern verlangt, das bezeugt am beiten die langjährige Treue feiner Diener und 
dad ideale Verhältnis des in pietätvoller Dankbarkeit zu ihm haltenden tüchtigen 
oh. Peter Eckermann. Ein menſchlicher Menſch, ein männlicher Mann war Goethe aud 
in dem Einne. 

Goethe, obwohl er auf eine gute wohlbeſetzte Tafel etwas hielt, war für feine 
Perjon der mäßigften einer. Auch mußte eine „allgemeine, lebendige, nie ftodende Unter- 


Hermann von Blomberg, Goethes Lebenskunſt. 897 


haltung“ oder eine „anmutige Tafelmufif” wie mehrftimmige Gejänge die ‚Freuden 
eines opulenten Mahles vergeiftigen. 

„Nicht wenige feiner beiten Beitgenoifen fühlten ſich von der perfönlichen Bekanntſchaft 
mit ihm emporgehoben und gefördert; einigen half er, drei, vier, ja fünf Jahrzehnte und 
darüber hinaus als ihr guter Genofje das Yeben leichter zu tragen. Wäre er ein 
Egoift geweſen, als den ihn jeine grundjäglichen Gegner jo gern verichreien, jo hätten 
ihn nicht jo viele tüchtige Männer mit danfbarer Yiebe geliebt.“ Auch wo Goethes Liebe 
allmählich erfalten mußte, hat es feine objektive, den inneren Wert einer Perjönlichkeit 
ruhig abwägende Natur nie über fi) vermocdt, lieblos zu verurteilen. 

Wir fünnen nur ahnen, wie weh ihm ums Herz gemwejen fein muß, als Herder, 
der Mann, mit dem ihn feit jeiner Straßburger Studienzeit jo vielfache Fäden ver: 
fnüpften, nicht in feiner Liebe beharrte. Diejes Verhältnis war eines jener Konflikte, jener 
nagenden Kümmerniſſe, an denen Goethes Leben jo reich war. Es lag nicht in des 
tapferen Mannes Art, mit lauten Klagen jein Innerſtes bloß zu legen, denn er trug „ein 
Herz in der Bruft, ausdauernden Mutes“. 

„Bir verjtehen, daß Goethe eine dämoniſche Gewalt über viele Frauen ausübte, 
als Jüngling bezauberte er fie durch feinen Geift, feine Liebensmwürdigfeit und feine 
Schönheit, und bald fchien aud fein Dichterruhm jedem weiblichen =. ein Recht zu 
geben, ihn anzufchwärmen.“ 

Goethe, deilen Gejtalt wir uns faum anders als in jteter Fülle blühendjter 
Geſundheit zu denfen vermögen, war doc) keineswegs von bejonders robuster Konftitution. 
Schon aus feinen Mitteilungen in „Wahrheit und Dichtung“ wilfen wir von Wochen und 
Monaten jchwerften förperlichen Leidens und Duldens. Wir erfahren, daß Goethe 
feinen zu allerhand Befchwerden neigenden Körper zu „erjtarfen” ſuchte durch natur: 
und vernunftgemäße Gejundheitspflege und eine entiprecdhende Lebensweiſe; wie er eine 
„bejtändige geiftige und leibliche überfeine Empfindlichkeit“ Fräftig in die Zucht nahm. 

Seine unerjchöpflihe Perſönlichkeit machte ihn zum glänzenditen Gejellichafter, 
„über den man die ganze übrige Gejellichaft vergeifen konnte”. Wer hätte auch den 
„begeiiterten Goethe” übertönen wollen oder fünnen, wenn er jeinen einzigen Reichtum in 
klangvoller Rede jpendete oder „Die Schöpfungen verwandter Geifter bortragend mit 
Goetheſchem Leben erfüllte”. „Es drückte fi in feinen Zügen bei aller Majeſtät jo viel 
Güte und Wohlwollen aus“, jchreibt der jein Leben ganz mit Goethe ausfüllende junge 
Heinrich) Voß, und wir verftehen es, warum auch der geicheite Eckermann fich jo wider- 
ftandslos von Goethe etwas ausreden ließ oder mit ftummer Bewunderung zuhörte, 
wenn der große Lehrer in einer jener „wunderbar janften Stimmungen“ ihm aus der 
Fülle feiner Seele fpendete. 

Viel liebte er, darum hat er aud) viel gelitten, und viele haben um ihn gelitten. 
Sein feinfinniger Geift aber duldete wie an anderen, jo auch an fich fein Unrechtthun. 
Sein Peben jollte augen und innen von Klarheit erfüllt und von Wahrheit getragen jein, 
das war ihm von früheiter Jugend natürliches Derzensbedürfnis. Darum ftrebte er, 
wieder gut zu machen, wo er glaubte, anderen wehe gethan zu haben. Wohl wird er 
fih in den meiften Fällen bewußt geworden jein, dat er nicht anders hätte handeln 
fünnen, aber auch die, jo jeinetwegen litten, jollten unverbittert jeines guten Wejens 

57 


898 Hermann von Blomberg, Goethes Lebenskumit. 


wieder froh gedenfen fünnen. Nirgends offenbart fi) dieje Föftlihe Einfachheit in 
Goethes Charakter jprechender und menſchlich jchöner, als in der lautlofen Art, wie er 
noch einmal wieder die ehemaligen Geliebten aufjuchte, nur in der Abjicht, ihnen mit 
fi) den ausgleihenden Frieden zu bringen. Dann erjt war er jelber zufrieden. 


Die Zeit war ihm das foftbarfte Element, wie er wußte fie wohl feiner zu nußen. 
wahrhaft auszubeuten. Jede, auch die Eleinjte Thätigkeit, wurde planvoll in peinlichiter 
Ordnung geregelt; jo nur wurde es dem Vielbelafteten möglich, die Fülle übermältigender 
Arbeit gleihmähig abzumideln und dennoch fein Leben zu umgeben mit allem, mas gut 
und ſchön genannt zu werden verdient. Sein Lebenlang ftrebte Goethe nach Belehrung 
und Ermeiterung feines Wiflens. „Oft munderten fid) jeine Gäjte, daß ihm nichts lang- 
mweilig ſchiene.“ Es war ihm Bedürfnis, im belehrenden Sichgeben ſich jelbft über die 
eigene Klarheit zu dieſer oder jener Materie Rechenſchaft abzulegen. „Es giebt nichts 
Unbedeutendes in der Welt!“ war jein grundjäglicher Glaube, der ihm auf der ſchönen 
Sottederde auch das Sleinfte und Geringfügigfte mit eifriger Liebe umfaſſen lien. 
Rührend ift e8, wie noch der alte Herr auf „die Gaſſen acht giebt und zu den Sternen ftehr.“ 

An diefem jeelenvollen Allerfaſſen wurzeln im letten Grunde auch Goethes natur- 
miflenichaftliche Entdeckungen. Der Reſpekt vor der Natur war e8, der Goethes ganzes 
Weſen bis ins Innerſte durchtränkte. 

Goethes Natur war von Herzen demütig und tief von dem unwandelbaren Glauben 
durchdrungen, daß eine Löſung jener ewigen Daſeins-Rätſel nicht unſerer irdiſchen 
Lebensarbeit als Aufgabe eingeflochten iſt. „Ein tüchtiger Menſch aber, der ſchon hier 
etwas Ordentliches zu ſein gedenkt, der täglich zu ſtreben, zu kämpfen und zu wirken 
hat, läßt die künftige Welt auf ſich beruhen und iſt thätig und nützlich in diefer.“ 

Auf die energifche Ausbildung deffen, was entwidelungsfähig im einzelnen Menicer 
ift, fam es ihm vor allem an; unter Hingabe an die erkannten Pflichten um die per: 
ſönliche Fortbildung ftrebend bemüht bleiben, das ſchien ihm der Erdenkinder höchſtes 
Glück in fich zu begreifen, das däuchte ihn Lohnes genug und — aud als Zweck gedadır 
— des Lebens wert. 

Die geheime Sehnjucht des Menſchenkindes nad einer überirdifhen Dauer dei 
Lebens jenjeit3 vom Erdenmwallen erfüllte auch wohl Goethe, denn fie ift bewußt oder 
unbewußt in allen Menjchen der „vuhende Bol“ in der Flucht der ſich jagenden Er- 
iheinungen. Jeder edle Gedanke, jedes erhabene Hoffen fand ein tönendes Echo in 
der Bruft dieſes gejunden Menfchen, den ein Geiſt der Billigfeit auch dieſen Fragen 
gegenüber erfüllte, und der jo viele Wohnungen in feines Allvater8 Haufe mußte. Aber 
wenig jchien ihm diejer heilige Glaube geeignet, Gegenjtand lauter Erörterung zu jein. 
und ſcharf wies er einit Eckermann gegenüber die anmaßenden Prätenfionen jener 
Frömmler von jich, bei deren „Gottjeligkeit“ ihm, dem einfach SFrommen, „bange“ wurde 


Ergebung in das Unerforfchliche des ewigen Allwillens, eine ftete Arbeitsfreudigkeit, 
als ob fie fein Tod zu enden vermöchte, und dennoch die immerwährende harmoniſche 
Bereitung aller Seelenträfte, bis zu einer Rüdfehr in den „Aether“, darauf him zielte 
feine innere Arbeit. Aber weder für fih noch für andere hat Goethe mühtge Be 
trachtungen als heilfräftig geprieſen. 


Hermann von Bloniberg, Goethes Lebenskunſt. 8% 


Goethe wuhte, wie wandelbar die Gejchehniffe von diefer Welt find; allem Starren, 
unbeweglich Berharrenden in dem, was Menſchen verehren, Eonnte feine bewegliche Natur 
feine Andacht zollen. Nichtsdeſtoweniger — für die Ethik des Lebendigen Chriftenglaubens 
und ihren humanen Schöpfer hat er herrliche Worte tiefen VBerftehens gefunden, und von 
fi) durfte er jagen, was jedes wahrhaft Frommen aufrichtiges Bekenntnis werden 
follte: „Redlich habe ich es mein Leben lang mit mir und anderen gemeint, und bei 
allem irdiſchen Treiben jtetS auf das Höchſte geblickt.“ 

Können wir uns aber nod; wundern, daß er, der — Leſſing gleich — „die ganze 
Ewigkeit“ fein eigen nannte, vielleicht nicht immer jenen richtigen Bli hatte für die 
wachſende Bedeutung defjen, was ſich draußen in der von Waffenklirren erfüllten Welt 
allmählich vorbereitete? 

Er 309 fic in jeine gemweihte Stille zurücd, gerade, meil er ein Künftler war, 
„deren wir auch in der höchſten Not nimmer entbehren können.“ 

Seine geiftige Univerjalität führte diefen großen Menjchen immer fidjer zu dem, 
was feiner leiderfüllten Seele zum Labſal wurde Er vermochte ganz in den Werfen 
£ongenialer Geifter aufzugehen und vergaß über dem andädjtigen Genießen eines Moliöre, 
Byron, Shafeipeare oder bejonders feiner Yieblingsleftüre — der Alten — den temporären 
Schmerz. Troit im erhöhten Maße brachten ihm für jedes Leid auch feine naturwiſſenſchaft— 
lihen Studien; „ihnen dankte er es, dar er mehr als über Jahrhunderte ſich zu 
blicken gewöhnte.“ 

Dft kommt Goethe in diefem Buche jelbft zu Wort, und der Autor fnüpft nur leife 
ein geiftige® Band zwiſchen die jeelenvollen Belfenntniffe; jo webt fi alles zum 
Ganzen und aus allem fieht ung ein Menſch an, der Goethe gleich ift und den wir 
lieb haben, denn „wir lemen bon ihm.” 


DBIS 


Monatsichau über auswärtige Politik. 


Von 
Theodor Sciemann. 


14. Januar. Eröffnung der franzöfifchen Sammer. — 15. Wiederwahl des Abgeordneten 
Wolff in den Heichörat. — 17. Gröffnung des fchmwebifchen Reichstages. — Konzeſſionierung der 
Anatolifchen Eifenbahngejellihaft zum Bau der Bagdadbahn. — 18. Aufhebung des Kriegs— 
zuftandes im Amurgebiet. — Erſchießung Scheepers in Graafreinet. — 90. Erfolge der Auf- 
jtändifchen in Panama. — 20. Dementierung der Nachricht von der bevoritehenden Ernennung 
eines Ihronfolgers in Serbien. — Demonitrationen der Polen vor dem ruſſiſchen Konfulat in 
Lemberg. — 24. Unterzeichnung des Vertrages über den Berfauf ber dänifch-mweitindifchen Inſeln 
an die Vereinigten Staaten. — Abreife des Brinzen von Wales von Berlin. — 3. Yuantichifai 
wird mit der Reorganifation der chinefifchen Armee betraut. — 3. Gintreffen einer nad) Rabat 
(Marocco) bejtimmten öjterreichifchen Miffion in Tanger. —27. Kaifer Wilhelm jchenft der Stadt 
Kon eine Soetbeitatue. — 28. Eintreffen des franzöfifchen Befandten in Tanger zur Weiterreife nach 
Rabat. — 20. Rückreiſe des Prinzen von Wales nach England. — 30. Anträge der engliſchen 
Regierung auf Veränderung der parlamentariihen Gefchäftsordnung. — 31. Rückkehr des 
italienifchen Geſchwaders aus China. — Ende Januar. Verfuch einer niederländifchen Vermittlung 
zwischen England und den Buren. — 1. Februar. Empfang der Damen des diplomatijchen Korps 
durch die Haiferin- Witwe von China. — 4. Angebliche Verhandlungen über Tripolis ztwifchen 
Frankreich, italien und der Türkei. — 5. Die franzöfifche Kammer nimmt für die Gruben: 
arbeiter den achtftündigen Arbeitstag an. — Abreiſe des Erzberzogs Franz Ferdinand nad 


Petersburg. — 6. Schluß der Seſſion des italienischen Parlaments. — Grmordung des 
bulgarifchen Unterrichtsmintiter8 Kantſchew. — 7. Nachricht von Aufſtänden im mittleren 


Arabien. 10. England erflärt, dag es Weihaiwei zu einem offenen Plate bejtimmt babe. — 

12. Beröffentlihung des „Neichsanzeigers” in Anlaß des fpanifch = amerikanischen Konflikts 

von 1898. — Beröffentlichung des englifch-japanifchen Offenfiv- und Defenfivbündnifies zur 
Aufrechterhaltung der Integrität Chinas. 


ie Einheitlichfeit in der formalen Ausbildung unjeres politiichen Yebens, mie fie in dem 

Schematismus der parlamentarishen Ordnungen zum Ausdrud kommt, die heute von 
allen Nationen Europas, mit Ausnahme der Ruſſen und der Türfen, jo gut oder jo 
ſchlecht es eben gehen will, gehandhabt werden, läßt die Thatſache noch augenſcheinlicher 
hervortreten, daß es, recht betrachtet, überall diefelben Probleme find, die im Vordergrunde 
des Intereſſes ftehen. Alle Parlamente haben um die Mitte Januar ihre Arbeiten 
wieder aufgenommen und werden um die Zeit der Oftern mit mehr oder minder gutem 
Gewiſſen auseinandergehen, je nachdem fie ihre Aufgaben gefördert haben. Die Vor— 
bereitung zu möglichft günitigen Abjchlüffen, wenn der Augenblid der Erneuerung der 
handelspolitiichen Verträge heranfommt, die Sorgen der Yandwirticyaft wie der Anduftrie 
und das Beltreben, beiden gerecht zu werden, nationale Eiferſuchtsfragen die hier mehr, 
dort weniger aktuell ericheinen, aber überall vorhanden find, die ſtürmiſchen Forderungen 


Theodor Schiemamm, Monatsſchau über ausivärtige Volitif. 901 


und die gehäjlige Kritik der nad Einfluß und Macht ringenden jozialiftiihen Parteien, 
das alles giebt den Rahmen für die das Gejamtintereffe der Staaten, wie die bejonderen 
Intereſſen der politiichen Parteien umfaifenden Verhandlungen. In den großen, national 
geichloffenen Staaten, die zu eigenem Recht und aus eigener Kraft bejtehen, werden 
dabei Form und Würde noch am beften gewahrt, jchon weil eine ftarfe, über den 
Parlamenten ftehende Zentralgewalt für beides eintritt und e8 mo nötig auch verteidigen 
fann. Wo aber dieje Vorausfegung eines gedeihlichen parlamentariichen Lebens fehlt, 
oder nur unvollkommen wirft, und das ift heute in den meiften Eleineren Staaten der 
Fall, jchreitet die VBerwilderung des Parlamentarismus zur Zügelloſigkeit ftetig fort, 
und geht da8 Bewußtſein der fittlihen Verantwortlichkeit jedes Einzelnen und des 
Parlamentes als ein Ganzes immer mehr verloren. Bei Ausfchreitungen, wie fie am 
30. Januar in der belgifchen Kammer jtattfanden, bleibt von der Würde des Barlamen- 
tarismus nichts mehr übrig, und genau jo möchten wir auch das Treiben beurteilen, das 
jeit Jahr und Tag in den Parlamenten der Eleinen Balkanſtaaten fich abjpielt. 


Faſt in noch jchlimmerem Lichte ericheint uns der am 25. Januar von der Kammer 
in Ehriftiania geftellte, zum Glück ausfichtsloje Antrag auf eine Neutralifierung Schwedens 
und Norwegens. Neutralifierung bedeutet einen Berzicht auf politifche Geltung, der hart 
an einen Verzicht auf politifche Ehre streift, und nur zu leicht zu einem ſolchen führen 
fann. Schon daß man fih in Schweden bei Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 
auf eine Dienftzeit von 8 Monaten bejchränfte, erfchien uns im hohen Grade bedenklich, 
und hat die Bindnisfähigkeit diejes Staates, der doch auf eine ftolze Vergangenheit 
zurüdbliden kann, nicht gefteigert, fondern gemindert. Mit der Neutralifierung wäre 
Schweden:Norwegen als politiicher Faktor aus der Welt zu ftreichen, und e8 ließe fid) 
dann mit Sicherheit ein Zeitpunft vorherjehen, an welchem die auf eine trügliche Birgichaft 
der Neutralität bauende Nation in banaufiihem Materialismus und zügelloiem Sozia— 
lismus zu Grunde gehen müßte. Wir denfen aber von den politischen und idealen 
Anlagen der ſchwediſch⸗norwegiſchen Raſſe jehr hoch und hoffen immer noch, daß der Tag 
kommt, an dem fie den von Norwegen ausgehenden Krankheitsprozeß glücklich überwinden 
wird. Aber verfennen läßt fich nicht, daß in den großen nationalen Staaten, troß der 
jehr ernften Pflichten, welche ihnen die Behauptung ihrer Stellung auferlegt, verwandte 
Ericheinungen eines zerjeßenden Geiſtes fich geltend machen. In Oeſterreich-Ungarn läßt 
nach wie vor der Dader der Nationalitäten eine ruhige, den Traditionen Oeſterreichs 
entiprechende Entwidfelung nicht auffommen. Die Zuchtlofigfeit der ſlaviſchen Führer, 
der unduldfame Ehrgeiz der Ungarn, der ſich gegen das unerläßliche Bündnis mit den 
Deutichen auf der Grundlage der Gleichberehtigung jträubt, endlich der Fehler, den 
die Deutjch-Defterreicher dadurch begehen, daß fie fich nicht zu einer dynaftiichen Partei 
fonjtituieren und damit auch die ihnen gebührende leitende Stellung in der öfterreichifchen 
Neichshälfte zurücgewinnen, das alles bedingt die gegenwärtigen, ganz unleidlichen Ber: 
hältniffe und jchließt für die Zukunft die größten Gefahren in ſich. Wir jehen einen der 
bedenflichften Fehler der Deutich-Dejterreicher ſchon in dem Nuffommen des Partei: 
namens „alldeutiche“; dem entweder bejagt er nidjts, oder er jagt mehr, als ein loyaler 
Defterreiher jagen darf; indem einen Fall wirft er aufreizend und herausfordernd der 
Dynaſtie gegenüber, in dem andern giebt jeine Unflarheit den andern Nationalitäten 


902 Theodor Schiemann, Monatsfchau Über auswärtige Politik. 


den erwünjchten Borwand zu haltlojen Verdächtigungen. Pebt, da durch die Wiederwahl 
von Wolff zudem nod ein Zwieipalt in die Partei hineingetragen ift, droht die Verwirrung 
und damit aud) die faktiiche Macht der Partei nicht nur, fondern aud) die des Deutſch— 
tums in Dejterreich immer mehr zufammen zu brechen. Wie fann unter diejen Umftänden 
ein Öfterreichifcher Staatsmann mit den Deutjchen erfolgreich Politik machen? 

In Frankreich, wo die Sammer am 14. Januar wieder zufammentrat, um im April 
ihrer unbefannten Nachfolgerin Raum zu geben, gebietet die Negierung doch über eine 
fihere Majorität von etwa 100 Stimmen, und in allen augenfälligen Fragen des nationalen 
Intereſſes nach außen hin pflegt regelmäßig diefe Majorität ftarf anzujchtwellen. Die merf- 
mwiürdige Zufammenjegung des Minifteriums und der Slammermajorität mit überwiegend 
radikalen und fozialiftiichen Elementen hat aber unverkennbar dem gejamten Staats: 
(eben eine jtarfe Wendung nad links gegeben und die fonfervativen Elemente in die 
DOppofition gedrängt. Wir denfen dabei neben der weiteren Durchführung des gegen 
die Klongregationen gerichteten Gejetes, das in einem ald Hort des Katholizismus auf- 
tretenden Staate doch eine ganz andere Bedeutung befommt ald etwa in Deutichland, 
vornehmlich an das Bemühen des Kriegsminifters Andre, die Armee, jpeziell das Dffizier- 
korps zu demofratilieren, und an die unverfennbare Begünftigung der jozialiftiichen Arbeiter: 
organifationen. Die zu Anfang Februar erfolgte Annahme des vorläufig neunftündigen, nach 
4 Jahren achtftündigen Arbeitstages für die Grubenarbeiter ift einer der bedenflichiten 
Schritte nach diefer Richtung hin, wenn man weiß, daß damit die Feſtſetzung eines 
Tagelohns verbunden ift, der die Grubeninduftrie zu einem nicht mehr lohnenden Geſchäft 
machen muß. Das alles ift in der franzöfiichen Kammer von Aynard in überzeugender 
Weiſe nachgewieſen worden und hätte wohl auch jeine Wirkung nicht verfehlt, wenn 
man nicht unmittelbar vor den Wahlen ftände Es fommt der regierenden Gruppe 
darauf an, fich große Verdienſte um die Maſſe der fozialiftiihen Wähler zu erwerben, 
die nun einmal im heutigen Frankreich unter dem Bann der radikalen und fozialiftiichen 
Schlagworte fteht, und wenn nicht ganz unerwartete Wandlungen eintreten, wird diejes 
Manöver gewiß nicht ohne Erfolg bleiben, Jedenfalls hat das Minifterium Walde: 
Rouffeau-Millerand der Welt das lehrreihe Beifpiel eines jozialiftiichen Miniſters 
in Funktion geboten und wieder einmal die alte Wahrheit beitätigt, daß Kompromifie, die 
in der Praris des politiichen Lebens zwiſchen velativ gemäßigten und ertremen Elementen 
geichlofjen fwerden, zum Vorteil der legteren ausfallen. Herr Millerand ift immer 
derjenige Minifter geweſen, mit deſſen bejonderem Parteiftandpunfte alle übrigen 
gerechnet haben, und ganz Frankreich wird an den Folgen noch lange zu tragen haben. 


Eine verwandte Entwidelung hat fi) auch auf engliichem Boden vollzogen, wenn 
auch im inneren leben des Staates die Folgen weniger fühlbar find. Die Kombination 
Salisbury-Chamberlain ift ſogar vielleiht no unnatürliher ald die Verbindung 
Rouffeau-Millerand. Aber der weſentliche Unterfchied liegt darin, daß der radikale 
Ehrgeiz Chamberlains nad augen hin abgelenft worden ift, und daß infolgedeilen 
die Gejepgebungsarbeit nach innen hinein überhaupt ins Stoden geraten it; wo fie aber 
ſporadiſch jich trogdem geltend macht, wird fie rüclichtlo8 in den Dienft des auf die 
Wirkung nad) außen berechneten Imperialismus gejtellt. Man darf nie vergeiien, das 
Chamberlain feine Yaufbahn als jpefulierender FFabrifherr begonnen hat, und wird jeine 


Theodor Schiemann, Monatsſchau über auswärtige Politik, 903 


auswärtige Bolitit vielleicht am beiten beurteilen, wenn man in ihr eine tollfühne 
Spekulation im größten Stile erfennt. Es läßt fi in dieſer Dinficht eine gewiſſe 
AHehnlichkeit zwiſchen ihm und dem ruffischen Finanzminister Witte nicht verfennen, dem 
jein va banque-Spiel bisher immer nod) geglüdt ift. Denkbar ift es ja, daß dem einen 
wie dem anderen das Glück auch weiter treu bleibt, und daß fie das Spiel im ent- 
icheidenden Augenblid, der die Wendung gebracht hätte, abzubrechen wilfen. Gewiß, das 
ift möglih, aber möglich und auch wahrſcheinlicher iſt das Gegenteil. Jedenfalls 
bedeutet die von der englifchen Regierung vorgeichlagene Aenderung der Gejhäftsordnung, 
die in Zukunft jede Objtruftion unmöglich madjen joll, für Chamberlain eine Berleugnung 
feiner politifchen Vergangenheit. Aber wir zweifeln nicht daran, daß die Vorlage an— 
genommen wird und fünnen nur wünjchen, das auch auf dem Kontinent den Präfidenten 
der Barlamente gleihe Machtbefugniffe übertragen werden wie in Cngland. 
Dort richtet fich die neue Geihäftsordnung des Parlaments heute gegen die ſyſtematiſchen 
Obſtruktionsverſuche der Iren, wie denn die iriſche Frage aufs neue lebendig zu werden 
beginnt und jchon jet Formen angenommen hat, die eine direkte Gefahr für England 
bedeuten, wenn wir der legten Rede Salisburys im Piccadilly Club glauben dürfen. 
Gr hat das irische Domerule jogar die größte Gefahr genannt, die England bedrohen 
fönne, und wenn Domerule zu einem politifch ganz jelbjtändigen Irland führen follte, 
hat er beftimmt recht. Darin aber liegt vielleicht die Uebertreibung, fo daß man aud) 
den Eindruck gewinnen fann, als [handele es fich darum, einem höchſt unbequemen 
Gegner, der mehr als alle übrigen die jüdafrifaniihe Politif des Minifteriums blofftellt, 
einen empfindlichen Schlag zu verfegen, der als Einleitung zu härteren Mafregeln, 
wahrſcheinlich zu einem Ausnahmegejeg gegen Irland dienen joll. 

Was fonft an Debatten über innere Fragen in England vorgemejen ift, madıt, 
wie die jo oft wiederholte Berhandlung über die Freigebung der Ehe mit der Schweiter 
Der verftorbenen Frau, durchweg den Eindrud des nebenſächlichen und gleichgiltigen. 
Alles Intereſſe wird durch den ſüdafrikaniſchen Krieg abjorbiert und neuerdings durch) 
Die große Frage, ob es nicht endlich Frieden werden wolle. 

Es ift wohl nicht genügend beachtet worden, daß die erfte Nammer im Daag den 
Anſtoß zum Vorgehen der niederländiihen Regierung gegeben hat. Am 17. Januar 
jprad die Kammer ihr Bedauern darüber aus, daß die Regierung Ihrer Majeftät der 
stönigin feine Schritte gethan habe, um den Krieg in Südafrika feinem Ende näher zu 
führen. Da nun zudem allbefannt ift, wie lebhaften Anteil die Königin Wilhelmina am 
Schickſal der Buren nimmt, jo ift es wohl verjtändlid, wenn der Minifterpräfident 
Kuyper nad) einem äußeren Anlaß zu einer borfichtigen PVermittelung ausjchaute. 
Vielleiht fand er ihn in der vielbemerkten Rede Lord Roſeberys, die zwar die Not» 
wendigkeit einer Unterwerfung der Buren unter die englijche Oberhoheit nachdrücklich 
betonte, aber ebenjo entichieden hervorhob, daß Verhandlungen mit den Führern der 
Buren angefnüpft werden müßten. Rojebery hatte gemeint, man werde dem Berlangen 
der Buren nach lofaler Autonomie weitgehende Zugeftändnifje machen fünnen. Nun 
war die öffentliche Meinung gerade um jene Zeit durch die Hinrichtung Scheepers hoch— 
gradig erregt, und das hatte aud) im engliichen Parlament lauten Ausdrud gefunden. 
Auch gingen Gerüchte von neuen Mißerfolgen der Engländer un. Es hieß jener General 


904 Theodor Schiemann, Monatsichau über auswärtige Politik. 


Garrington, der wider alles Bölferrecht durch das neutrale portugiefiicdye Gebiet marjdiert 
war, um den Buren in den Rüden zu fallen, jei gefangen genommen worden, furz, der 
Augenblik ſchien günſtig. Möglicherweife hat Kuyper zudem von England aus dur 
Mitglieder der Oppofition Aufmunterung gefunden. Wie dem aud) fei, in der letzten Januat 
woche fuhr er nah England, und am 29. teilte Balfour dem Parlament mit, dat eine nieder: 
Ländijche Friedensnote eingelaufen fei. Sie ift mit der höflich ablehnenden Entgegnung des 
engliichen Kabinetts am 5. Februar veröffentlicht worden. Der Eindrud, den wir aus dieien 
Aktenſtücken gewinnen, ift nit der voller Hoffnungslofigfeit. Das Weſentliche liegt 
darin, daß die engliiche Regierung unter allen Umftänden auf Anerkennung der engliihen 
Flagge beiteht, es aber nicht ablehnt, in Afrika mit den Führern der Buren über die 
Bedingungen ihrer Unterwerfung in Verhandlung zu treten. Es wird num alles daraui 
anfommen, ob die Buren nod) Vertrauen zu engliichen Unterhändlern faſſen fünnen. 
Mit Ford Milner zu verhandeln werden fie jchwerlich bereit fein. Dann käme bie 
Trage nad) den Grenzen der Autonomie, die England ihnen zu laffen hätte, die Frage 
des Kaffernſtimmrechts und der Amnejtie für die Mitlämpfer aus den Neihen der Kap 
folonie. Daß, jobald der König von England als der Yandesherr anerkannt wird, bon Kirieg* 
foften, welche die Buren auf fich zu nehmen hätten, feine Rede jein fann, liegt auf der Hand, 
vielmehr werden die Buren in foldem Fall nicht nur die Nüdgabe ihres Brivat: 
eigentums an Grund und Boden erwarten, ſondern auch Hilfe, um fi in dem gänzlich 
ruinierten Yande wieder wirtihaftlich einrichten zu fünnen. Endli muß als conditio 
sine qua non die jofortige Freigebung der in engliicher Gefangenjchaft Lebenden Buren 
frieger gewährt werden. Daß die Buren in diefen Forderungen ein Minimum erbliden. 
ift aber wohl verftändlich, da fie gewiß im ftande find, ihren Widerftand noch Jahr und 
Tag fortzufeten, und das fünnte für die jehr Erieggmüden englifchen Steuerzahler zu den 
»bereit3 aufgebrauchten Milliarden leicht eine neue bedeuten. Die auferordentlide 
Schärfe der engliſchen Etatsdebatte wird dem Minifterium nad) diefer Richtung bin ge 
zeigt haben, daß es auf neue Nachtragskredite doch nicht ind Endlofe rechnen kann 

Obgleich nun bisher feine offiziellen Mitteilungen an die Deffentlichfeit gedrungen 
find, jcheint der Auftrag, mit den Führern der Buren in Verhandlung zu treten, doch 
bereit3 an Lord Kitchener abgegangen zu fein. Wir glauben aber nicht, daß de Wet 
und Botha ohne Steiin und Schalt Burger bindende Verpflichtungen auf fich nehmen 
werden. Scalf Burger aber ift wieder an Krüger gebunden, und das giebt einen 
eirculus vitiosus, der von Afrika zu dem in Europa weilenden PBräfidenten Krüger 
zurüdführt. 

Der einzig fidhere Weg fir England wäre, wenn es dent Beilpiel folgen wollte, 
das Deutjchland gab, als es zur Feitftellung des Friedens jene Nationalverjanmmluns 
nad) Bordeaur berief, welche als gejegliche Vertretung des frangöfifchen Volkes die Ber 
antwortung für Annahme der deutichen Bedingungen zu tragen ftarf genug war! Aber 
nichts fpricht dafür, daß das Minifterium Salisbury:Chamberlain Neigung hätte, joldt 
Wege zu gehen. 

Militärifch Liegen jewt (Mitte Februar) die Dinge fo, dat Burenjtreitfräfte in 
größerer Zahl im Nordweſten der Kapkolonie ftehen; daß Delaren ſüdlich von Mafeking 
mit mehreren taufend Mann nad) Weiten durchgubrechen jucht, während Smuts, der 


Theodor Schiemann, Monatsichau über auswärtige Politik. 905 


feineöwegs jein Kommando verloren hat, wie ein fürzlid) veröffentlichter Brief wahricheinlic) 
machte, mit 2—3000 Dann von Clan William und Calvinia aus nad; Norden vordringt. 


Der ganze Nordweſten ift, mit Ausnahme der Garnijonen in den fleinen Ort- 
Ichaften, in Händen der Buren, und noch fürzlich ift ihnen, wie wir aus zuverläffiger privater 
Duelle wiffen, gelungen, ein Nemontedepot mit 3000 Pferden in Griquatown zu nehmen. 
Das klingt freilid; anders als die offiziellen Berichte, die das englifche Kriegsminifterium 
publiziert, und mir werden troß\der zahlreichen Kleinen Erfolge Kitcheners dadurd in 
der Vorſtellung beftärft, daß England alle Urjache hat, nicht durch intranfigentes Ber: 
halten den Bogen zu überjpannen. Nehmen wir hinzu, daß der von Kitchener im großen 
Stil angelegte Plan, de Wet zu umzingeln, abermals geicheitert ift, jo fann nicht daran 
gezweifelt werden, daß die Widerjtandskraft der Buren nod) lange nicht gebrochen ift. 
Das jollte in Yondon doc) zur Mäßigung führen. Wir ftehen gerade jet vor der Zeit, 
da die Natur zur Beftellung der Felder in Südafrika ruft. Für ein Volk von Aderbauern, 
tie die Buren es ſind, bedeutet das eine Mahnung zum Frieden. Sie werden jet zugänglicher 
jein, als wenn dieſe Wochen ungenutt bingegangen find; an England ift e8 darum, das 
erlöjende Wort zu ſprechen, das all dem Sammer diejes ungerechten Krieges ein Ende 
machen kann. 

Dan jollte aber meinen, daß auch andere Gründe die Yeiter der englischen Politik 
zu joldyen Erwägungen führen müßten. Seit dem Dezember des vorigen Jahres fpielt 
fih ein blutiger Kampf zwijchen Britiſch Indien und den Baziri im Himalaya ab. Bis 
zu Anfang Februar betrugen die engliihen Berlufte jchon gegen 1000 Mann, das heißt 
mehr als in allen früheren Striegen, die gegen dieſes tapfere Bergvolk geführt wurden. 
Dazu fommen Nadjrichten von aufftändiichen Bewegungen aus Kabul und Kalkutta. 
Der Hadda Mullah tritt wieder mit feinen aufreizgenden Predigten in den Vordergrund, 
und es kann heute faum mehr zweifelhaft fein, daß in dem Wetteifer um den bormwiegenden 
Einfluß in Afghaniftan Rußland das Spiel gewonnen hat. In Petersburg wird eine 
außerordentliche afghaniſche Gefandtichaft erwartet, und in der Mandſchurei hat Rußland, 
auch ohne daß der vielumftrittene Vertrag vom Chinejen unterzeichnet worden wäre, fid) 
jo fejt eingerichtet, daß ein Zurüctweichen fo qut wie ausgeichloflen ift. Nun haben zwar 
England und Japan gegen die weitere Ausdehnung der Privilegien der Ruſſiſch-Chineſiſchen 
Bank proteftiert, und auch die Vereinigten Staaten haben ſich diefem Proteſt angeſchloſſen, 
was zu einem weiteren Aufichub der endgiltigen Regelung der PVertragsangelegenheit 
geführt hatte. An der Thatjache, daß Nukland in der Stellung des beatus possidens 
ift, ändert da3 aber ;garnichts. England ift in Siüdafrifa gebunden, Japan, deſſen 
Parlament ziemlich geräufchvoll auf Räumung der Mandſchurei und auf eine Ber: 
ftändigung in der foreanifchen Frage drang, kann wegen arger finanzieller Schwierig: 
feiten nicht an gefährliche Unternehmungen denken, jo lange England in feiner bisherigen 
Haltung verharrt, und endlich die Hand der Vereinigten Staaten reicht nicht über die 
Tragweite der Geſchütze ihrer VBanzerichiffe hinaus. Der ruffiihe Handel nad China 
hinein aber ift Yandhandel und kann Blockaden feiner Häfen am Stillen Ocean mit aller 
Ruhe tragen. 

In Ehina ift inzwiichen allerlei Bedeutfames gejchehen, feit am 16. Januar der 
Kaiſer im Tempel des Himmels feine Dankopfer für die glücliche Rückkehr nach Peking 


906 Theodor Schiemann, Monatsjchau über ausmärtige Politik. 


gebracht hat. Mantſchikai ift mit der Reorganifation der chineſiſchen Armee (vorläufig 
100000 Dann) betraut worden und hat, was alle Beachtung verdient, japaniſche Offiziere 
zu Inſtruktoren berufen. In Tſchifu wird eine hinefishe Marineſchule eröffnet, für 
welche Lord Charles Beresford fi zum Inſtruktor herbeigelajfen hat. Am 1. Februar 
bat die Kaiſerin-Witwe, nachdem die Audienz der Gejandten vorausgegangen war, auch 
die Damen des diplomatischen Korps mit ihren lindern empfangen und, wohl traftiert 
und beichenft, huldvoll entlaffen, endlidy wird in Beling ein rujfiiches Bistum gegründer 
und ein rujfiiches Mönchskloſter eröffnet werden. Kurz, die europäiſche Kultur hält in 
den berwunderlichiten Formen ihren Einzug in das Reich der Mitte. Auch für Border: 
aften wird bald eine neue Zeit beginnen. Ein Srade des Sultans hat endlich der langen 
Unficherheit über die Zukunft der geplanten Bagdadbahn ein Ende gemadt. Sie wird 
von der Anatolischen Gejellihaft gebaut werden, und troß der entichiedenen Feind: 
jeligfeit, mit der eine offizielle Kundgebung des rufftiihen Finanzminifters Witte dem 
Unternehmen entgegentrat, mit deutſchem und franzöſiſchem Kapital; der Bau 
ſelbſt und die techniiche Leitung aber bleiben der Deutichen Banf. Bekanntlich 
hat Rußland fich gleihjam als Gegengewicht ſchon vorher Privilegien zum Eifenbahnbau 
im nördlichen Kleinaſien gefichert, aber man darf wohl annehmen, dat es mit Der Aus— 
führung diefer Pläne nod) gute Weile hat, da gerade jett die finanziellen Bedrängnirie 
Rußlands troß feines fcheinbar glänzenden Budgets ſich nur als jehr ernite bezeichnen 
laſſen. Das weſentliche bleibt, daß wir unfererjeit$ die Zeit nützen, jobald von der 
Türkei die unerläßlichen petuniären Bürgichaften geboten find. Damit aber jcheint es, 
tvog des lebhaften Änterefjes, das der Sultan aus militärischen wie aus wirtichaftliden 
Gründen dem Unternehmen entgegenbringt, nod) recht übel zu ftehen. 

Die von der „Times“ veröffentlichten Ularſchen Enthüllungen über die Uchtomskiſchen 
ntriguen vor Ausbruc des Aufftandes in Peking haben jih als Fälſchung ermieien. 
Fürſt Uchtomski ift zu der Zeit, aus der die veröffentlichten Briefe ſtammen, gamidt in 
Peking gewejen. So bleibt die ganze Affäre nur als grotesfes Beilpiel dafür beiteben, 
bis zu welder Schamlofigkeit ſich ein gewiflenlojes Bolitifaftern fteigern fann. 

Schr merkwürdig ift die von England aufgebracdhte Kampagne über die von den 
Mächten vor Ausbruch des fubaniihen Krieges eingehaltene Politi. Der Ausgang iſt ein 
für England ungemein beichämender, durch den nicht nur die politiihe Daltung des 
Kabinett Salisbury im Jahre 1898, jondern auch der engliiche Unterjtaatsiefretär Yord 
Granborne in empfindlichiter Weile bloßgeftellt worden tft. 

Unzmweideutige Ausführungen der engliſch-amerikaniſchen Breile und zum mindeiten 
vieldeutige Erklärungen Lord Granbornes, die in die Deffentlichfeit geworfen wurden, 
als die Reife des Prinzen Heinrich nad) New York befannt ward, mußten in Amerife 
die Borftellung ermweden, als habe Deutichland ſich um eine Intervention der Mächte 
in dem fpaniich-amerifanischen Konflift bemüht, und erft die den Vereinigten Staaten 
freundliche Haltung Englands dieje gefährlihen Abfichten lahm gelegt. In Wirklichkeit 
haben nun die Dinge fich genau umgekehrt verhalten, und die Bublifation der Depeiden, 
im ‚Reichsanzeiger“, die damals gewechjelt worden find, hat klärlich gezeigt, daß es der 
direkte Widerſpruch Kaiſer Wilhelms gemweien ift, der die vom engliſchen Botſchafter 
PBauncefoote beantragte ntervention der europäiſchen Mächte unmöglich gemadt hat. 


Theodor Schiemann, Monatsfchau über auswärtige Politik. 907 


Vielleicht jteht es mit der peinlichen Berlegenheit in Zujammenhang, welche dieje 
Dinge in London erregten, daß ein am 30. Januar abgejchloffener Offenfiv- und 
Defenfiv-Traftat zwifchen England und Japan ſchon am 12. Februar veröffentlicht 
worden ift. Er hat durd) jeine ungewöhnliche aktuelle Bedeutung die Aufmerkſamkeit 
von diejen Refriminationen jofort abgelenkt. Auch ift e8 in der That ein Ereignis von 
größter Tragweite. Das engliſch-japaniſche Bündnis ift geichloffen zur Aufrechterhaltung 
der territorialen Antegrität Chinad auf der Bafis der „offenen Thür“ und des 
status quo, d. h., da die Mandjchurei von China nicht an Rußland abgetreten und der 
vielbeiprochene Mandichureivertrag nicht rechtskräftig geworden ift, auch zur Erhaltung 
der Mandichurei bei China. Der casus foederis tritt ein, jobald eine beider Mächte 
mit mehr als einer Macht wegen Chinas oder Koreas in Krieg gerät, und der Vertrag 
joll eine vorläufige Dauer von fünf Jahren haben. 

Nun liegt auf der Hand, daß dieje Vereinbarungen ihre Spige gegen Rußland 
richten, das entweder jeinen Abfichten auf die Mandſchurei zu entjagen hat, oder eines 
Krieges mit Japan gemwärtig jein muß. Sollte, was nicht wahrfcheinlic it, die 
Alliance Franco-Russe aud auf Dftafien Bezug haben, und Franfreih in einen 
ruffiichschinefiichen Krieg eingreifen wollen, jo ift England verpflichtet, an der Seite 
Japans zu kämpfen, während andererjeits fi) annehmen läßt, daß, wenn England am 
Perſiſchen Golf, oder mo jonft feine Intereſſen mit den ruffiihen auseinandergehen, in 
einen Krieg geraten follte, Japan die Gelegenheit nutzen wird, um jeinen Einfluß im 
Drient dort herzuftellen, wo er von Rußland verdrängt worden ift. 

Im engliihen Parlament hat die Oppofition darauf hingewieſen, daß durch diejes 
Bündnis England in Abhängigkeit von der Politik Japans geraten fei, und in der That 
ift nichts unmahrjcheinlicher, als daß Japan jene 5 Jahre, die ihm das Bündnis der 
ſtärkſten Seemacht der Welt fihern, ungenutzt vorüber ziehen laſſen ſollte. Wir haben 
oben die große Stellung gezeichnet, die Rußland im nordöftlihen Aſien einnimmt. 
Damit ift aber die Lage gegeben, wie fie vor Abſchluß des engliich-japaniidhen Bünd- 
niffes beitand. Heute liegt bereit3 alles anders. Rußland ift verwundbarer geworden 
und wird mit äußeriter Sorgfalt jeden Schritt vermeiden müffen, der einem der beiden 
neuen Alliierten die Möglichkeit giebt, das Programm vom 30. Januar zur Ausführung 
zu bringen. 

Fragt man nad) dem Wert, den der engliich-japanifche Bertrag für uns hat, jo 
bedeutet er nad allen Seiten hin eine politiiche Entlaftung für Deutjchland, wie für 
den Dreibund ald Ganzes. Sowohl die engliich-japanische wie die rufftiche Kombination 
find für einen längeren Zeitraum an das oftafiatifhe Problem gebunden. Deutichlands 
Antereffen und jeine politiiche Stellung in China aber liegen nicht nur außerhalb des 
Konflittsfeldes, jondern gehören zu denjenigen Fragen der oftaftatiichen Politik, welche 
von beiden Teilen als zu Recht beftehend anerkannt worden. 


1% 


LOLILILILILILILILILILILILILILILILILILILILILILILILILIL 29 


Monatsichau über innere deutiche Politik. 


Von 
W. v. Mafiow. 


VI. 
Die Zolltariffrage im Januar. 


w"" bereits zu Beginn des neuen Jahres das Bormwalten eines ftarfen Peſſimismus feit- 
geftellt werden mußte, jo ilt das im Yaufe des Januar eher ichlimmer als beſſer 
geworden. Wenn diefe Zeilen in die Hände der Pejer fommen, wird vielleicht ſchon eine 
wichtige Enticheidung gefallen jein; der Rückblick auf den Januar aber kann nur die 
Thatſache verzeichnen, daß die weiteſten Streife, die am politiſchen Leben intereijiert find. 
von der Ueberzeugung, die Zollvorlage fünne nun und nimmer zu jtande fommen, tief 
durchdrungen find. Diefe Erfahrung kann man überall machen, gleichviel welche Em— 
pfindungen diefe Ueberzeugung an ihrem Träger auslöft, jei es Niedergeichlagenheit, ſei 
ed Iriumphgefühl. Dennoch) wird man der horaziihen Mahnung eingedenf bleiben 
müffen, day man in ſolchen ſchwierigen Sachen das Gleichgewicht des Geiftes bewahren 
foll. Es ift allerdings diefe Zolltarifvorlage eine res ardua, aber noch berechtigt nichts 
dazu, Ste verloren zu geben. 

Der Dergang der Verhandlungen im lebten Monat läht ſich mit kurzen Worten 
zuſammenfaſſen. Die Zolltariffommiffton des Neichstages nahm alsbald nach dem Wiederzu- 
jammentritt des hohen Daujes ihre Arbeiten auf, aber fie fam in den erſten Situngen nicht 
weit, da die Tarifgegner jofort mit energifchen Obftruftionsverfuchen einjegten. Mehrere 
Tage hindurch wurde von jozialdemokratiicher Seite Antrag auf Antrag gehäuft, um das 
Frortichreiten der Beratungen zu hindern. Da änderte ſich plögli das Bild. Es 
wurden wirklich die erften Paragraphen des Zolltarifgefeges erledigt, und man fam an 
die Beitimmungen des Gejetes, in denen die Negierungsvorlage die agrariihen Wünjche 
nach Anſicht der Mehrheit nicht genügend berüdfichtigt hatte. Und nun folgte ein 
Abänderungsantrag auf den andern, aber — von der redten Seite! Die Linke fonnte 
hohnlachend die Hände in die Tafchen fteefen und zufehen, wie die Regierung ſich gegen 
die Mechte wehrte; fie braudıte nicht einen Finger zu rühren, da die Gegner viel beſſer 
ihre Geſchäfte bejorgten, als fie es ſelbſt jemals hätte thun fünnen. Denn was von 
der agrariichen Oppofition jett betrieben wurde, war nichts Anderes als die Unbraud- 
barmachung der Vorlage für ihren Zweck; hatten dieſe Beſtrebungen Erfolg, jo blieb 
der Regierung nichts Anderes übrig, als die künftige Zoll- und Handelspolitit nad den 
Winjchen der Yinfen einzurichten, 

Die Frage liegt ſehr nahe, wie es nur möglich iſt, dat eine ſolche Taktik von den 
Veehrheitsparteien, d. b. von den der Vorlage in ihren allgemeinen Grundzügen umd 


M. v. Maſſow, Monatsichau über innere deutſche Politik. 909 


Bielen zuftimmenden Parteien befolgt werden konnte. Es giebt mandjerlei Gründe 
dafür. Zunächſt jprad wohl dabei eine Weberzeugung mit, die fich leider auf Grund 
mannigfacher politiiher Erfahrungen herausgebildet hat, nämlich die Ueberzeugung von 
der jelbjtverjtändlichen Nachgiebigfeit der Regierung gegenüber einem feit befundeten 
parlamentarischen Willen. Man Hat fi) vollftändig daran gewöhnt, wirtſchaftliche 
Vorlagen aus der Hand der Regierung in dem Sinne entgegenzunehmen, daß die par: 
lamentarijche Arbeit daran auf dem Grundjag des gegenfeitigen Aufichlagens und Ab- 
handelns beruht. Es gilt als völlig jelbftverftändlich, dak, wenn die Regierung 5 M. jagt, 
das Parlament 7 M. jagen muß, weil beide Teile 6M. meinen. Oder auch umgekehrt. 
DieMehrheitsparteien glauben, auch beider Zolltarifvorlage unbedenklich dengemäß handeln 
zu fönnen, weil fie unter dem Eindrud ftehen, daß ihnen feine bejondere Verantwortung 
daraus erwächſt. Sie jagen fich: wenn wir die Vorlage nicht nad) unſern Wünſchen 
geftalten, jo ift die Objtruftion da; früher zu ftande kommt die Vorlage darum doch 
nicht. Ferner aber glauben fie aud) nicht daran, daß die Regierung Ernſt machen und 
ji der Yinfen in die Arme werfen könnte; die Regierung hat ja doch verjprochen, der 
Yandwirtichaft zu helfen. 

Allen diefen Erwägungen liegt überdies eine falſche Auffaſſung der Negierungs- 
vorlage zu Grunde Der Bolltarif wird beinahe wie eines der Mittel aufgefakt, mit 
denen der Not der Yandwirtichaft gefteuert werden joll. Daraus wird denn auch das 
Recht der Bertreter der Landwirtichaft abgeleitet, den Entwurf jo zu geftalten, dat 
diefer Zweck in der Hauptſache — und zwar durch die Einwirkung auf die Getreide- 
preife — erreicht wird. Der Zolltarif ift aber in Wirklichkeit nicht das, fondern ein 
Werkzeug der Dandelspolitif, mit dejien Hilfe der Ein: und Ausfuhrhandel im Sinne 
der mwirtfchaftlihen Gelamtintereffen des Deutichen Reiches beeinflußt werden joll. Die 
frühere deutjche Handelspolitif in der Aera Caprivi hatte den Fehler begangen, vorweg 
anzunehmen, daß das Intereſſe des gefamten Handels in der Hauptſache durch die 
Lage der Anduftrie allein bedingt fei, und da das Intereſſe der Ausfuhr von Induſtrie— 
Erzeugniffen fi) damals hauptſächlich auf Länder eritredte, die ihrerſeits auf die Ge— 
treideausfuhr nad; Deutichland den Hauptwert legten, jo ftellte ji) die deutiche Handels— 
politik unbedenklih auf den Boden diefer Auffaifungen und erflärte rund heraus, daß 
die deutiche Landmwirtichaft das Opfer bringen müfje, um der Ausfuhrinduftrie die 
Handelsverträge zu verichaffen, deren fie bedürfe.. Das Fehlerhafte diefer Politik hat 
die jegige Regierung vollfommen eingejehen. Sie erfennt an, daß Induſtrie und Handel 
ihre Sintereffen nicht auf Koſten der Landwirtſchaft verfolgen dürfen, dat vielmehr die 
Yandwirtihaft einen jo hohen Zollihus braucht, wie er irgend mit den Gejamtinter: 
eilen des Landes und mit der Fortführung einer auf Berträgen beruhenden Handels 
politit vereinbar ift. Aber der Zweck des Abſchluſſes vorteilhafter Dandelöverträge 
fteht doch immer im VBordergrunde, und mur innerhalb diefes Zweckes fann für Die 
Landwirtichaft gethan werden, was zur Anerkennung ihrer gleichberechtigt neben Induſtrie 
und Handel ftehenden Intereſſen geichehen fann. Die Regierung fann unter diefen Um— 
ftänden nicht zugeben, dab die Einleitung einer ſolchen Politik — dieje Einleitung ijt 
eben die Aufftellung eines autonomen Zolltarifs — ganz ausichlieklid; unter dem Gefichts- 
punft betrachtet wird, als ob das alles nur geichehe, um die Schäden der Landwirt: 


910 W. dv. Maſſow, Monatsfchau über innere deutiche Politik. 


ichaft zu heilen, und nicht um Dandelöverträge zu ichliegen. Dieſem Vorhalt gegenüber 
pflegen ſich die Agrarier in die Bruft zu werfen und es der Regierung als ein Beichen 
der Schwäche auszulegen, daß fie Dandelöverträge A tout prix abichliegen wolle. „Wir 
wollen den Zolltrieg nicht, aber wir fürchten ihn auch nicht,“ — ſchrieb diefer Tage die 
„Kreuz⸗Zeitung“. Auch diefer Vorwurf trifft an dem Ziel vorbei. Die Regierung will 
nicht Dandelöverträge & tout prix; fie wird feine foldhen Verträge abichliegen, falls das 
Ausland auf Bedingungen beiteht, die mit den wirtichaftlidhen Gejamtintereifen Deutſch— 
lands nicht verträglich find. Sie muß aber denjenigen Beftrebungen im eigenen Yande 
entgegentreten, die durch ungenügende Rüdfichtnahme auf den Zweck eines autonomen 
Tarifs einem einzelnen, wenn auch noch jo wichtigen, Erwerbszweige eine einjeitige Be- 
rüclichtigung verichaffen wollen. Das ift doch ein Unterſchied. 

Wie jehr von landwirtichaftliher Seite der Zolltarif als ein für fich beftehendes 
Schugmittel für die heimische Produktion angejehen wird, ift jchon früher einmal an dieier 
Stelle angedeutet worden, als darauf hingewiejen wurde, daß die agrariihen Wort: 
führer über unparitätiihe Behandlung von Induſtrie und Yandwirtichaft im Bolltarif 
Hagten. Betrachtet man den Zarif als Unterlage für eine zweckmäßige Vertrags 
politik, fo ergiebt ich ganz von jelbit, daß die hohen Anduftriezölle als ein weile gewähltes 
Mittel zur Entlaftung der Yandwirtichaft anzujehen find. Man fann Dandelöverträge 
nicht Schließen, ohne die Zugeftändniffe des anderen Teils entipredjend zu bezahlen. Auch 
die Anduftrie wird die zu erlangenden Borteile bezahlen müſſen; der neue Tarif jest fie 
in den Stand, diefe Vorteile mit Derabjegung der eigenen Zölle zu bezahlen, und nidıt, 
wie bei den Gapriviihen Handelsverträgen, auß der Taſche der Landwirtichaft. Be— 
trachtet man aber freilich den Zolltarif als ein fir und fertig hinzuftellendes Abiperrmittel 
für die unbequeme ausländiihe Einfuhr, jo muß allerdings die Yandwirtichaft der 
Induſtrie gegenüber auf den Standpunft des Fleinen ungen geraten, der fi ärgert, 
daß der große Bruder das größere Stück Kuchen befommen foll. 

Angefichts ſolcher falihen Auffaffungen, die, wenn fie feitgehalten werden, mit 
Notwendigkeit zu einem vollitändigen Fiasco der ganzen neuen Dandelspolitit führen 
müffen, ift e8 nun ſchon von der Weihnachtszeit an in vielen politifchen Kreiſen tief 
beflagt worden, daß die Regierung nicht ſofort eine Erflärung abgab, die den agrari- 
ichen Hoffnungen von vornherein jede Unterlage nahm und haaricharf den Charafter 
der Vorlage feititellte. Wielleidt wäre ſchon damals eine Mahnung in diefem Sinne 
ganz am Plate gemweien; der Reichskanzler hielt es aber für richtiger, wenigitens erit 
den Beginn der Kommiflionsverhandlungen abzuwarten. Inzwiſchen begann ein ftarfes 
Drängen nad; einer joldyen Erklärung gerade aus reifen heraus, deren grundjäglid 
antiagrariiche Tendenzen die Regierung fi) doch nicht zu eigen machen fonnte, ohne fid 
Mipverftändniffen auszujegen. Diefes Drängen ſündigte nad) der entgegengeiekten 
Eeite hin wider die Agrarier: die Negierung follte ji) durchaus in dem Sinne feitlegen, 
da fie unter feinen Umſtänden gewillt jei, über die im PBolltarifgefek enthaltenen 
Mindeitzollläge für Getreide hinaus zu gehen. 

Nun fann man ja überhaupt beftreiten, daß es zwedmäßig war, Minimalzölle 
für die Dauptgetreidearten geſetzlich feitzulegen. Eine folche öffentliche Bindung der 
Regierung, die im Begriffe fteht, mit fremden Staaten in Verhandlung zu treten, fann 


TB. v. Maſſow, Monatsſchau über innere deutfche Politik, 911 


nur als Notmittel gutgeheigen werden. Yeider aber lagen bei der Aufitellung des Zoll: 
tarifs die Verhältnifie jo, daß, wenn die verbündeten Negierungen nicht zu den beftehenden 
gewaltigen Schwierigkeiten noch turmhohe andere häufen wollten, fie fid) entichliegen 
mußten, einerjeitS den Mgrariern eine gewiſſe Gewähr für Erfüllung bereditigter 
Wünſche, andererfeitS den Gegnern einen beftimmten Maßitab dafür, wie weit man 
agrariich fein wolle, zu geben. Nachdem nun aber die Minimalzölle einmal ihren Plaß 
im Bolltarifgejeg erhalten haben, hat eine Erklärung der Negierung, unter feinen Um— 
jtänden darüber hinausgehen zu wollen, doch jehr ihre Bedenken. Das Ausland würde 
fich jagen: „Wenn die deutjche Handelspolitif in jo apodiftiicher Form fich weigert, die untere 
Grenze der Getreidezolliäße aud) nur um ein Stleines hinaufrüden zu laffen, fo folgt 
daraus, daß fie es bon vornherein aufgiebt, bei den Handelsvertragsverhandlungen unter 
Umftänden mehr zu erreihen. Sie muß davon durchdrungen jein, daß fie zu höheren 
Sätzen feine Dandelsverträge abſchließen fann; wir haben aljo von vornherein gewonnen 
Spiel, wenn wir feitbleiben.” Es würde aljo der Nachteil, der ohnehin in der Bindung 
der Minimalzölle liegt, noch verichärit werden. Parteien können wohl eine ſolche 
Stellung einnehmen; fie bringen damit die Wünſche beftimmter Intereſſenkreiſe zu 
Gehör, und die Sache hat weiter feine Bedeutung. Die Regierung aber hat feine 
Beranlaffung, fi) die verantwortungsvolle Pflicht, mit dem Ausland zu unterhandeln, 
durch Wünſche der Parteien erſchweren zu laffen und ihr Gebundenjein bei joldhen Ber: 
handlungen irgendwie weiter zu treiben, als es parlamentarische Notwendigfeiten fordern. 
Sie durfte das namentlich jo lange nicht thun, als die Ausfichten auf eine Verftändigung 
der Mehrheitsparteien im Sinne der Vorlage noch nicht ganz gefchwunden waren. Es 
mußte doch mindeftens erjt der Verfuc gemacht werden, wie weit politische Einficht und 
das Gefühl der Verantwortung im ftande fein mürden, den Parteien die Lage zum 
Bemwuhtjein zu bringen und fie im eigenen Intereſſe zur Unterjtüßung der Vorlage zu 
bewegen. Dazu bedurfte es freilich einer gewiſſen Zeit, denn die wilde Agitation, die in 
der Zeit zwifchen der erjten Veröffentlichung des Entwurfes und dem Beginn der 
parlamentarischen Beratungen getrieben worden war, hatte die Stellung der Abgeordneten 
ihren Wählern gegenüber zu einem großen Teil erſchwert, und außerdem vertraten viele 
Parlamentarier den Standpunftt, daß fie ihre Stellung erft dann endgiltig wählen 
fönnten, wenn die entjcheidende Frage der Getreidezölle in der Kommiſſion jelbit 
genügend geflärt worden jei. 


Aus allen diefen Momenten erklärt fi) die Zurücdhaltung, die von der Regierung 
während des ganzen Januars beobachtet worden ift. Die Erwartungen, die dabei in 
Bezug auf die Haltung der Mehrheitöparteien gehegt wurden, find nun freilich arg ge- 
täufcht worden. Die Konjervativen und Freikonſervativen hatten ſich in dieſer ganzen 
Frage jo jehr vor den agrarifchen Karren jpannen lafjen, daß fte fich dem Terrorismus 
der Bundesführer, die fortgejett die Peitiche ihrer ertremen Forderungen ſchwangen, nicht 
entziehen fonnten. Und da die agrariihe Kampfitimmung auch in nationalliberale 
Wählerfreije eingedrungen war, auch ein Teil der nationalliberalen Abgeordneten mit 
einer Heinen „Berbeiferung“ der Borlage im agrariihen Sinne fympathifierte, jo gab es 
aud in den Reihen diejer Bartei Schwanfungen und Meinungsverjchiedenheiten, die eine 
geichloffene Unterſtützung der Regierung unmöglich machten. Am merkwürdigſten aber 


912 W. v. Maſſow, Monatsfchau über innere deutfche Politik. 


zeigte ich die Gigentümlichkeit der Yage in der Daltung des Zentrums. Für die 
Zentrumspartei, die die verichiedenften politischen Befenntniffe vom Eonjervativen Agrarier- 
tum bis zur radifalen Demokratie in fich birgt und die dabei ftetö die Stellung einer 
ausſchlaggebenden Partei wahren mill, ift in allen ragen, die nichts mit der Konfelfion 
zu thun haben, die Taktik geboten, dak man fich jo lange als möglich abwartend ver- 
hält — möglichſt jogar unter Hervorkehrung starker Bedenken und oppofitioneller 
Neigungen —, um dann zuletst unter Durddrüdung einiger Abſchwächungen auf die Seite 
der Regierung zu treten. Dieje bewährte Taftif muß aber in einem jo verzwidten Falle, 
wie er beim Zolltarif vorliegt, vollftändig verjagen. Jede auch nur vorläufige Stellung: 
nahme nad einer Seite hin bedeutet eine Bindung der Partei, die jehr leicht zum 
ſchnellen Scheitern der ganzen Vorlage führen fünnte, und — was für die Zentrums: 
taftifer noch viel jchlimmer ift — die Verantwortung dafür würde auf die Partei fallen. 
Das Zentrum befindet ſich daher in der peinlichiten Lage und vermag einjtweilen nichts 
Anderes zu thun, als zwar eine allgemeine Geneigtheit zu befunden, die Vorlage durch: 
bringen zu helfen und eine Berftändigung im Sinne einer mäßigen Verbeſſerung des 
Landwirtſchaftsſchutzes herbeizuführen, im übrigen aber möglichit unklar zu lajien, wie 
weit man darin zu gehen gedenft. 

So find in den eriten Wochen nadı dem Zujammentritt des Neihstages im neuen 
Nahre die Parteien und die Regierung um einander herumgegangen, indem jeder 
wartete, daß der andere den eriten Schritt thue. Sie jchienen, wie ihnen Herrn Richters 
„rreifinnige Zeitung“ höhnend vorhielt, nad) der alten Scherzredensart zu handeln: 
„Hannemann, geh Du voran!“ 

Bei diefjem Spiel der Parteien mußten fich die Dinge allgemad jo entwideln, dag 
die Vorlage in der Kommiſſion auf das ernitefte gefährdet wurde. Die Negierung mußte 
fi) nun doch entichliegen, aus ihrer Zurückhaltung mehr herauszutreten, da jedes Fort: 
ichreiten auf dem bis dahin eingefchlagenen Wege die zur Berfjtändigung geneigten 
Elemente nicht ftärfen, jondern ichwächen mußte. Der notwendige Entſchluß der 
Regierung ift dann in erfreulicher Steigerung ausgeführt worden. Zuerſt emite 
Warnungen des Staatsjefretärs Grafen Poſadowsky in der Kommiflion, dann das fchon 
etwas ſchwerere Geſchütz einer offiziöſen Note in der „Norddeutichen Allgemeinen Zeitung” 
und endlid eine jedes Mikverftändnis bejeitigende, klärende Nede des Reichskanzlers 
jelbit beim Feſtmahl des Deutfchen Yandmwirtichaftsrates am 7. Februar. 

Die Aufgabe aller diejer Kundgebungen war, die jogenannten Mehrheitsparteien 
nicht in Zweifel darüber zu laſſen, daß die jorgfältig abgewogenen Feititellungen der 
Regierungsvorlage nicht geeignet jeien, willfürlichen Aenderungen in agrariicher Richtung 
unterzogen zu werden; zugleich aber mußten die Negierungsorgane aud) bei Abgabe joldher 
Erklärungen jede Wendung vermeiden, die fie über das ın der Megierungsporlage ſchon 
enthaltene Maß hinaus binden fonntee Man muß anerkennen, daß dieje ſchwierige Auf: 
gabe gelöjt worden ift. Ueberlegt man ſich das genau, jo braucht man ſich nicht weiter 
den Kopf zu zerbredjen, ob die von einem Teil der Zentrumsprefie erhobene Forderung, 
die Negierung folle fih noch genauer und bündiger ausdrüdfen, auf Argliit oder Ber: 
legenbeit zurückzuführen iſt. Das letztere ift das wahriceinlichere. Denn nichts fann die 
„ausichlangebende* Partei in den Zuftand größerer Dilflofigfeit verſetzen, als wenn die 


W. v. Maſſow, Monatsfchau über innere deutſche Politik. 913 


Regierung ſelbſt zwiſchen der Oppofition von rechts und links hindurch, im Vertrauen 
auf die patriotiiche Einfiht der gemäkigten Klonjervativen und Nationalliberalen, mit 
feftem Schritte die Führung nimmt. 

Nun darf man freilid) den Gewinn aus jolcher Yage vorerjt nicht überjchägen. 
Man darf nicht vergefien, wie viele Klippen troß alledem noch zu überwinden find, und 
man fann hier nicht mit genügender Sicherheit auf den Erfolg einer ultima ratio 
rechnen, wie fie unter Umſtänden der Appell an den Volkswillen darstellen würde. Denn 
wir wollen uns doch nicht täufchen: unpopulär ift der Zolltarif, Das beweiſt nichts 
gegen die Vorlage, denn das Verſtändige und Notwendige ift jehr häufig unpopulär. 
Unpopulär war auch die preußiiche Heeresorganijation in der Konfliktszeit, bis die 
Thaten, die daraus entiprangen, auch dem Berftande der Maſſen einleuchtend machten, 
was damit gewonnen mar. Sn der Bollfrage findet gleichfall3 doftrinäre Verhetzung 
einen danfbaren Nährboden in dem plumpen Alltagöverjtande der Maſſen, der die an- 
geitellten Rechnungen über „Brotverteuerung“ um fo begieriger aufnimmt, je dummer 
und gewilfenlojer fie verfertigt find. Falls aber eine vernünftige Zoll: und Handels: 
politif uns wirtjchaftlichen Vorteil bringt, wird niemand von den jekigen Schreiern zu— 
geben, daß dieſe Vorteile im Zufammenhang mit den zweckmäßigen Tarifaufitellungen 
ftehen; wir haben eben feine Ereigniffe zu erwarten, die, wie die Thaten von 1866 und 
1870, einft dem König Wilhelm und jeinem großen Staatsmann vor aller Welt un- 
beitritten recht gaben. Die komplizierten Vorgänge unjeres Wirtfchaftslebens eignen fich 
dazu nit. Dem Konjumenten wird beijpielämeije eingeredet, daß er ein Quantum 
Yebensmittel, das er jetzt mit 25 Pf. bezahlt, Fünftig mit 30 Pfg. werde bezahlen müffen. 
Diejen Nachteil verjteht jeder zu würdigen. Aber bei der fünftlichen Verjchleierung der 
Verhältniffe macht ihm niemand Elar, daß nur durch dieje VBerteuerung — angenommen, 
daß fie einträte! — die Möglichkeit gegeben ift, feine Einnahmeverhältniffe auf derjelben 
Höhe zu halten oder aud) zu verbeffern. Wenn die Yöhne gedrückt werden, wenn anftatt 
jeder Mark nur 75 Pf. gezahlt werden, jo bedeutet die Beibehaltung der niedrigen 
Yebensmittelpreiie für die wirtichaftliche Lage des einzelnen bereits einen Nachteil. 

Wir würden es als einen ſchweren Schaden anjehen müffen, wenn die Dinge fich 
jo geftalten jollten, daß der Bolltarif nocd vor der Zeit zum Angelpunft einer Wahl- 
bewegung würde. Jedenfalls muß jeder einfichtige Politiker, der in der Lage dazu ift, 
das Seinige thun, um die baldige Erledigung der Bolltarifvorlage durchzufegen. Ob 
die neueiten Kompromißverfuche, die zu der Zeit, mo dieſe Zeilen gejchrieben werden, jo- 
eben an die Deffentlicheit getreten find, zu dem gewünſchten Ziel führen werden, muß 
einer jpäteren Betrachtung vorbehalten bleiben. 


1% 


EREZREREREZREZRERTEZRETR 


, Weltwirtichaftlihe Umſchau. 


Von 


Paul Dehn. 


Das Werden des größerbritifchen Zollbundes. — Deutiches Kapital im Auslande. — Die 
Bagdadbahn. — Zur Ameriktafahrt des Prinzen Heinrich. 

chon vor zwanzig Jahren erhoben ſich in England einzelne Stimmen zu Guniter 

eines größerbritiihen Zollbundes zwiichen Großbritannien und allen feinen Be 
figungen. „Wir follten unjer Getreide,“ jo äußerte im Nahre 1881 Stavely Hill, „unjere 
Brotfrüdte und alles, was in den verjchiedenen Stolonialflimaten gedeiht, nur von 
unferen Stolonieen beziehen und fie jollten ausichließlich von England, ihrem Mutterlande, 
ihren ganzen Bedarf an Induſtriewaren deden.* Diejer Gedanke fand Anklang, als die 
nordamerifaniiche Republif und mit ihr die meiften Sulturftaaten fih immer mehr von 
Ihußzöllneriichen Grundſätzen leiten und wiederholt Zollerhöhungen in Kraft treten liegen. 
Auf der Londoner Kolonialfonferenz von 1887 vegte der Premierminifter von Queensland 
die Bildung eines größerbritiichen Zollverbandes an. Alle Teile des britiichen Reiches 
follten ſich gegenfeitig durch Vorzugszölle begünftigen. Damals machte auch der Sñd— 
afrifaner Hofmeyr den Vorſchlag, von der geſamten ausländiichen Einfuhr in Groß 
britannien wie in den Kolonieen einen Zufchlagszoll zu erheben. Beide Vorichläge waren 
nur zu vertwirflichen, wenn England jeine freihändlerifche Politif aufgab. Ende 18% 
traten die größerbritijchen Zollvereinsbeftrebungen aufs neue hervor. An Beantwortung 
einer Umfrage des Yondoner Kolonialamtes verlangten die Kolonialregierungen zumädit 
das Recht jelbjtändiger Zollpolitif, da fie nicht an Verträge gebunden fein wollten, denen 
fie nicht ausdrüdlich zugejtimmt hatten. Vor allem follten die Meiftbegünftigungsperträge 
Englands mit Belgien und Deutjchland gefündigt werden, weil auf Grund diefer Verträge 
die Kolonieen verhindert wurden, die Einfuhr der fremden Staaten ungünftiger zu be 
handeln als die engliiche Einfuhr. In England fanden diefe Beitrebungen, obwohl fie 
mit den freihändleriichen Ueberlieferungen in ſchroffem Widerfprudy ftanden, vielfade 
Buftimmung, auch in freihändleriichen Kreiſen. Eine fleine Abweichung von der Linie 
des FFreihandels zu Gunften eines großen engliihen Zollbundes erachtete die „Times“ 
für zuläffig. Der Freihandel bleibe zwar für den Verbrauder ohne Frage das Beite, 
doc könne das Intereſſe des Verbrauchers nicht immer allein berücdfichtigt werden. 
Mitte 1894 vereinigten fi) die Vertreter der englischen Kolonieen in Ottawa (Kanada 
zu einer interfontinentalen Stonferenz und befürmworteten Zollermäßigungen zwiſchen Grof- 
britannien und feinen Kolonieen zur Schaffung vorteilhafter Bedingungen im gegenieitiger: 
Verkehr. 


Paul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umſchau. 915 


Ernithaft zu nehmen war der größerbritijche Zollbundsgedante, als Joſeph Chamberlain 
Kolonialminifter wurde und fich vorfekte, diefen Gedanken mit Hülfe des Ymperialismus 
zu verwirklichen. Bei jeinem Amtsantritt hatte er den Gouverneuren der Kolonieen mit- 
geteilt, e3 fei das Ziel der Regierung, dem Mutterlande mehr als bisher den ihm zu— 
fommenden Handelsverkehr mit den Stolonieen zu fihern. Chamberlain machte 1896 jelbit 
eine Reiſe nad) Kanada, wo die hochſchutzzöllneriſche Politif der nordamerifanijchen 
Republif zu Abwehrmaßregeli drängte, und verkündete jodann auf einem Feſteſſen des 
Yondoner Kanadaflubs als das Endziel jeines handelspolitiihen Programms die Her- 
jtellung eines zollgeeinten britiichen Dandelsgebietes, die handelspolitiſche Verſchmelzung 
Großbritanniens mit feinen Kolonieen in allen Weltteilen nad) dem Beijpiel des zoll- 
geeinten Deutichlands. Wie Chamberlain Mitte 1896 bei Eröffnung des Handelsfammer: 
fongreffes andeutete, hoffte er zu diejem Ziele zu gelangen durch Freihandel innerhalb 
des Reiches, durch Zölle gegen das Ausland, die jede Kolonie nad ihrem Ermeſſen auf- 
erlegen könne, mogegen Großbritannien die Maffenerzeugniffe der Kolonieen (Korn, Fleiſch, 
Zuder, Wolle) bei der Einfuhr aus dem Auslande mit Zöllen zu belegen habe. Cham: 
berlain machte fein Hehl daraus, da fein Ziel ohne Abweichung von den „erhabenen 
Grundjägen des Freihandels“ nicht zu erreichen jei. Bald wurde der erfte Schritt gethan. 
Nahdem Kanada im Frühjahr 1897 einen neuen Zolltarif fertig neftellt hatte mit Zoll: 
ermäßigungen für jolche Länder, die kanadiſche Erzeugniffe frei einlaffen, aljo allein für 
engliiche Erzeugnijje, fündigte England die Handelsverträge mit Deutidhland und Belgien 
und befreite dadurch die Kolonieen von ihrer Meiftbegünftigungspfliht. Kanada und 
jpäter Barbados ließen dann Vorzugszölle zu Gunften englifcher Waren in Kraft treten 
und wurden in das jeit 1898 wiederholt verlängerte HandelSvertragspropiforium Englands 
mit Deutſchland u. ſ. w. nicht mehr aufgenommen. 


Yängere Zeit blieb diejer erite Schritt zum größerbritiihen Zollbund der einzige. 
Auf dem Feitlande meinten die Optimiften, Chamberlain habe fein Ziel aufgegeben. 
Noch im Oktober 1900 glaubten freihändlerifche Blätter wie die „Nat.-Ztg.", die Pläne 
Chamberlains als freie Kombinationen „der deutichen Handelspolitiker agrarfonfervativen 
Schlages“, als „handelspolitiiche Angftmeierei* abthun und behaupten zu fünnen, dab 
mit joldhen Bejtrebungen fich deutiche Blätter ungleich mehr bejchäftigten, „als jämtliche 
Unterthanen ihrer britiihen Majeftät zufammen“. Auch Brofeffor Diepel-Bonn erflärte 
in feiner Schrift „Die Theorie von den drei Weltreichen“ im Frühjahr 1900 die Chamber: 
lainichen Pläne für ausfichtslos. Sn der Hauptiadhe wurde die öffentliche Aufmerkſamkeit 
davon abgelenft durch den jüdafrifaniischen Krieg, der in feinem Verlauf zunächſt die 
Madtitellung Großbritanniens erjchütterte. Pielleiht wäre diefer Krieg vermieden, 
ficherlich aber aufgejchoben worden, wenn Ehamberlain in feiner früheren Zeit nit Waffen: 
und Munitionsfabritant, fondern etwa Baummollinduftrieller gemwejen wäre und das 
überwiegende Bedürfnis friedlicher Zuftände für das englifche Erwerbsleben unmittel- 
barer hätte würdigen fünnen. Aber jelbjt inmitten diejes Krieges behielt Chamberlain 
jein älteres und höheres Ziel im Auge. Die Einigung Auftraliens begünftigte er als eine 
Etappe zu dem größerbritifchen Zolbund, und in ftetem Hinbli auf diefen betrieb er 
die Neuregelung der jüdafrifaniihen Verhältniſſe. 

Die Einigung Auftraliens war eine Vorbedingung des größerbritiichen Zollbundes, 

538* 


916 Paul Dehn, Weltmirtfchaftlihe Umſchau. 


fie bejteht jeit 1. Januar 1901. Schon im Frühjahr 1900 erklärte der auftraliihe Dele 
gierte Fyſh, Kanada habe dem Mutterlande einen Vorzugstarif bewilligt und dasielbe 
werde das vereinigte Auftralien thun. Anfang 1901 meinte Barton, der Bremierminifter 
des geeinigten Australiens, die Frage eines Vorzugstarifs für britiihe Waren jet wert, 
gegebenen Falles ermogen zu werden. Er würde fich freuen, wenn es möglid) jei, Gegen- 
jeitigfeit eintreten zu laffen. Von vornherein war man in Auftralien bereit, der engliichen 
Einfuhr Vorzugszölle zu gewähren im Falle 'entiprechender Gegenzugejtändniffe. Mitte 
April 1901 äußerte Bundes-Finanzminifter Turner die Anfiht, daß ein Differentialtarıf 
zu Gunften des Mutterlandes recht und billig jei und ohne Schaden für die heimiſche 
Induſtrie zum Gedeihen Englands beitragen und jchließlid; zur Vereinigung des Reiches 
führen werde. Indeſſen haben die leitenden Kreiſe Auftraliens dod Anjtand genommen, 
dem Borbilde Kanadas zu folgen und Vorzugszölle für die engliiche Einfuhr zu bewilligen. 
Nur ein Drittel der auftraliichen Ausfuhr geht nach England, zwei Drittel finden außer: 
halb Englands Abſatz, vor allem auch in Deutichland, das nächſt England Auftraliens 
beiter Abnehmer ift. Deutichland würde, falls Auftralien der engliichen Einfuhr Vor: 
zugszölle eingeräumt hätte, die auftraliichen Erzeugniffe, die es in Mafjen bezieht, nament- 
fi Wolle, Hartholz, Borke, Sohlleder, Häute, Getreide u. ſ. w., alsbald mit Kampfzöllen 
belegt und feinen Bedarf anderweit gedeft haben. Man will nunmehr in Auftralien 
auf einem Umwege zu dem gewünschten Biele gelangen und zwar nicht Borzugszölle für 
engliihe Waren einführen, wohl aber Borzugszölle für alle Waren ohne Unterichied der 
Herfunft, die auf britiichen Schiffen eintreffen. Der Gedanfe ift nicht ganz neu. Mitte 
1901 jollte in der Kolonie Straits Settlements die Einfuhr chineſiſcher Deckpaſſagiere 
auf nichtengliichen Schiffen verboten werden. Schon Mitte 1900 plante man in Auftralien 
ein Berbot der Küftenichiffahrt für alle nichtbritiihen Schiffe, Nach dem auftraliichen 
Bollgejeß vom 1. Oktober 1901 follen alle nichtauftralifchen Schiffe, die in den auſtraliſchen 
Gewäſſern verfehren, den Schiffsproviant, den fie dort verbrauchen, verzollen. Cinige, 
auch deutihe Schiffe find daraufhin bereits beanftandet worden. Eo lange da3 Handels— 
bertragspropiforium zwiſchen dem Deutihen Reih und Großbritannien nebſt Ktolonieen 
mit der Meiftbegünftigung befteht, kann Auftralien keinesfalls daran denfen, fremde 
Waren, wenn fie auf nichtbritiihen Schiffen anfommen, mit höheren Zöllen zu belegen, 
da nach dem deutſch-engliſchen Handelsvertrage wie nad allen Meiftbegünftigungs: 
verträgen, falls nicht bejondere Vorbehalte gemacht worden find, die Schiffe der Vertrags: 
jtaaten in jeder Hinficht auf demjelben Fuß wie die einheimifchen Schiffe und die Waren 
die diefe Schiffe bringen, nad dem Meiftbegünftigungsredj;t behandelt werden müſſen. 
Am 31. Dezember 1903 läuft das deutjch-engliiche Dandelsprovijorium ab, und Nuftralien 
wäre dann in der Lage, die geplanten VBorzugszölle zu Gunsten von Waren, ohne Rückſicht 
auf ihre Herkunft, wenn fie auf britiſchen Schiffen eintreffen, einzuführen. Diefe Vor— 
zugszölle richten fich nicht gegen fremde Waren, mwohl aber gegen die fremde Schiffahrt, 
und find geeignet, die nichtengliiche Schiffahrt, vor allem auch die deutfche, die fich im Berkehr 
mit Nuftralien erfreulich entwidelt hat, auf das Empfindlichfte zu ſchädigen. Ein derartiges 
Borgehen Auftraliens ift zwar nicht gleichbedeutend mit einem neuen Schritt geradewegẽ 
zum größerbritiichen Zollbund, wäre aber immerhin ein Fleiner Fortſchritt in der Richtung 
zu diefem Biel. Bei der Wichtigkeit, die alle Mächte der nationalen Schiffahrt beimefien, 


Baul Dehn, Weltwirtſchaftliche Umſchau. 917 


und mit Rückſicht auf die Opfer, die ſie zu ihrer Hebung bringen, kann es indeſſen nicht 
zweifelhaft ſein, daß das geplante Vorgehen Auſtraliens zu Gunſten der britiſchen und 
zum Schaden aller nichtbritiſchen Schiffahrt entſprechende Gegenmaßregeln der betreffenden 
beteiligten Staaten hervorrufen wird und zwar vorausſichtlich die nämlichen Gegenmaß— 
regeln, die ergriffen worden wären, wenn Yuftralien Vorzugszölle zu Gunften der 
engliichen Einfuhr beichlofjen hätte. 

Schwieriger jchien es, die jüdafrifaniichen Kolonieen für den Anjchluß an den größer: 
britiihen Zollbund zu gewinnen. Indeſſen hatte Chamberlain auch hier ſchon lange vor: 
gearbeitet. Rhodeſia, die Gründung des Cecil Rhodes, erhielt von Anfang an das Red, 
eine jelbjtändige Zollpolitif zu treiben mit der Bedingung, daß britiichen Waren unter 
feinen denkbaren Umftänden Schußzölle auferlegt werden dürfen. Ob Rhodeſia Schug- 
zölle gegen andere ausländische Waren einführen jolle, wurde der Zukunft überlaſſen. 
Als Chamberlain im englifchen Unterhauje am 6. Mai 1898 diefe Abmacdjung verteidigte, 
hob er die Notwendigkeit hervor, einen freundjchaftlichen Verkehr zwiichen den Gliedern 
des britiichen Reiches Herzuftellen, ohne daß fremde Nationen fi daran beteiligten. 
Zwijchen den verjchiedenen Teilen des britiichen Reiches jolle vollkommene Freiheit herrichen. 
Ghamberlain jah die Zeit gefommen, da es für die Kolonieen Englands Anlaß geben 
fönnte, dem Mutterlande als Entgelt für alle empfangenen Borteile einen Vorzug zu 
gewähren. ‘m Derbit 1900 begann die Agitation von Cecil Rhodes und Genofjen aud) 
in der Kapfolonie. Mitte Dftober liegen fie in der Südafrifa-Liga die Berdienſte Englands 
um die Kapfolonie und zugleich die Vorteile hervorheben, die die Kolonie durch An— 
gliederung der Burenrepublifen erfahren werde. Dagegen eradteten e3 dieſe Agitatoren 
als billig und gerecht, wenn Südafrika zum Schu der engliichen Einfuhr die Erzeugniffe 
anderer Länder mit Zöllen belege. Als Lojung wurde ausgegeben „Zoll auf alle Waren 
mit Ausnahme englischer“. , Kurz vorher hatten englifche Blätter berichtet, daß Kolonial— 
miniſter Chamberlain beabjichtige, die englische Einfuhr in Britiſch-Südafrika durd Ein: 
führung eines „mäßigen“ Differentialzolles auf Waren nichtbritiihen Urfprungs zu be: 
günftigen. Man gedachte demnach, die nichtbritiiche Einfuhr durch befondere Zollzufchläge 
zurüdzudrängen. Südafrika iſt für Deutichland ein wichtiges Ausfuhrgebiet, es bezog 
im Jahre 1898 für mindeltens 35 Mill. ME. deutiche Waren. Der Zentralverband 
Deutſcher nduftrieller lenkte die Aufmerkſamkeit des Reichskanzlers auf die Abjicht der 
engliichen Regierung, bei der Berzollung der Waren in Südafrifa das Ausland ungünftiger 
zu jtellen als das Mutterland, und der Berein lothringiich-luremburgiicher Stahl‘ 
induftrieller bat den Reichskanzler, die Einverleibung der Burenrepublifen nur dann ans 
zuerfennen, wenn England Bürgichaften dafür gebe, dar in Südafrika eine differentielle 
Behandlung der eingehenden Waren weder bei der VBerzollung noch bei der Verfrachtung 
jtattfinden würde. Wenn England die Annerion der Burenrepublifen aufrecht erhält, jo 
fann es ihre Meiitbegünftigungsverträge mit Deutjichland und den anderen Ländern für 
hinfällig erklären und die ſüdafrikaniſche Zollunion in die Wege leiten. 

Im Herbſt 1901 verhandelte auf Veranlaifung EChamberlains Gouverneur Milner 
in Kapjtadt mit dem Miniiterium von Natal über die Grundbedingungen einer ſüd— 
afrifanishen Zollunion. Der Premierminiiter von Natal ſprach jih dabei zu Gunſten 
von Borzugszöllen für engliihe Waren aus, allerdings unter der Porausfegung, dag 


YiB Baul Dehn, Weltwirtfchaftliche Umfchau. 


England Gegenjeitigfeit bewillige. Nach jeiner Anficht ermutigt der gegenwärtige Frei— 
handel in Südafrifa lediglich die auswärtige Konkurrenz. Inzwiſchen waren englüche 
Blätter bemüht, für die Chamberlainichen Beftrebungen gegenüber Südafrifa Stimmung 
zu machen. So ließ ſich Ende SFebruar 1902 der Londoner „Daily Erpreß“ aus Berlin 
berichten, daß man in deutichen Handelskreiſen jehnjüchtig den Abſchluß des Friedens in 
Südafrita erwarte, um die füdafrifanischen Kolonieen für den deutichen Handel zu ge 
winnen. leichzeitig wurden die engliiden Kaufleute ermahnt, die deutiche Konkurrenz 
ſcharf zu überwachen. Die Deutſchen würden nichts unverjucht laffen, jo verficherte der 
Berichterftatter, den Engländern die Früchte des Krieges zu entreigen. Den Engländern 
mögen die Goldminen bleiben, Deutichland wolle jedenfalls den Handel bejigen. Ganz 
Südafrita werde mit deutichen Erzeugniffen überſchwemmt werden. Deutſche Finanzleute 
jolften geneigt fein, Geldmittel herzugeben, damit die Burenfarmen und die Kaufläden 
twieder eingerichtet werden könnten, und in Südafrika werde eine Handelsvendetta eritehen die 
alles unter deutichen Einfluß bringe. Das Yondoner Blatt behauptete ſchließlich, dat; fait 
jeder ausmwanderungsluftige Deutiche feine Augen auf Südafrika gerichtet habe und dort: 
hin auswandern wolle, Die deutihe Einwanderung nad Südafrifa werde noch größer 
werden als die deutiche Einwanderung nad Amerifa um die Mitte des vorigen Jahr— 
hunderts u. ſ. w. Thatſächlich ift nicht® von dem, was das engliche Blatt verjichert, 
richtig. Deutichland mwill durchaus nicht den ganzen Handel Südafrifas an fich reißen. 
deutiche Finanzleute denfen vorläufig nicht daran, den Buren zu helfen, die angebliche 
Dandelsvendetta gegen die Engländer it eine Bhantafie, und ohne jede thatjächliche 
Unterlage it die Behauptung, daß eine deutiche Maffenauswanderung nad Südafrifa 
bevorftehe. Vielmehr macht fid) eine Abwanderung der Deutſchen aus Südafrifa bemerf- 
bar. Die Beziehungen zwifchen den Deutſchen und Engländern in Südafrika find außer— 
ordentlich kühl, die Engländer gebärden fic als die Herren, und die deutichen Firmen 
jehen fich zurüdgedrängt oder verichtwinden ganz. Die Ausfichten für das deutjche Geſchäft 
nad) Beendigung des Krieges find alio nicht annähernd jo günftig, wie man in deutichen 
ntereffententreifen annahm, und nicht unmöglich ift es, daß diefe Ausfichten gänzlich 
durchfreugt werden, wenn Chamberlain in die Yage kommt, bei der Pagifizierung Süd— 
afrifas unter Berufung auf Englands Anſprüche als paramount power auf ſüdafri— 
faniihem Boden jeine größerbritiichen Zollverbandspläne aufzunehmen und wieder einen 
Schritt vorwärts zu bringen. Angeblich führen die Engländer den Krieg um „gleiches 
Recht für alle weißen Raffen in Südafrika“. In Wirklichkeit benugen fie ihn, um alle 
ausländiichen Kaufleute und Waren aus Südafrika zu verdrängen und allen Nicht: 
engländern jede Ermwerbsthätigfeit jo gut wie unmöglich zu maden. Als die Engländer 
diejen graujamen Krieg begannen, gab e8 auch in Deutichland überkluge Gejchäftsleute, 
die mit größtem Nachdruck verficherten, daß gerade im Intereſſe der deutichen Aus: 
fuhr die Annerion der Burenrepublifen durd; die Engländer zu wünjchen je. England 
werde auch dort wie überall und immer die Grenzen feiner Kolonieen dem Handel 
aller Nationen offen halten. Seither find dieſe Verehrer des engliihen Freihandels 
allerdings verftummt. 


Anfangs hegte man in den Kolonieen die naheliegende Meinung, da Englands 
Gegenleiſtung für die Vorzugszölle zu Gunsten der engliihen Einfuhr ebenfalls in Bor: 


Paul Debn, Weltwirtfhaftliche Umfchau. 919 


zugszöllen beitehen müßten und zwar in Borzugszöllen Englands zu Gunjten der Ein- 
fuhr aus den britiichen Kolonieen. England hätte in der Hauptſache auf Lebensmittel 
und Rohſtoffe Zölle erft einführen müffen, wenn aud; nur gegenüber der nichtbritischen 
Einfuhr. Dafür wäre eine parlamentarische Mehrheit aber do faum zu erlangen ge 
weſen. Man jcheut in England davor zurüd, das ganze Zolligftem zu ändern und ins— 
bejondere Eingangszölle auf Lebensmittel und Rohſtoffe zu legen, wenn aud nur für 
jolche nichtbritiicher Herkunft. Die englifchen Freihändler würden fich dagegen auflehnen, 
auch jozialpolitifche Bedenken laſſen fich fgeltend machen. Bor allem aber möchte man 
einen Zollfrieg mit Nordamerifa vermeiden, der unbedingt ausbrechen müßte, falls 
England Erzeugnifie der Bereinigten Staaten von Nordamerifa mit Differentialgöllen 
belegt. Der engliſche Markt ift der wicdhtigfte für die Vereinigten Staaten. Sollte er 
ihnen verjchloffen werden, jo würde man in Wafhington feinen Augenblid zögern, Ber: 
geltungsmaßregeln zu ergreifen und einen Zollfrieg zu eröffnen, den man in England, 
ganz abgejehen von politifchen Bedenken, auch aus wirtichaftlichen Gründen nicht wird 
hervorrufen wollen. Ein Zolltrieg mit Nordamerifa würde dem britiichen Reiche 
größeren Schaden zu fügen, als der Nuten wäre, den es von einem größerbritifchen Zoll- 
bund zu erwarten hat. 

So war man in England bemüht, den Kolonieen Gegenzugeftändnijfe auf anderen 
Gebieten zu gewähren. Kanada erhielt eine neue Reichstelegraphenlinie zugefichert, Die 
quer durch das Stille Meer nad) Auftralien hin verlängert werden joll. Sodann ftellte 
man den Kolonieen auf dem [reichen Londoner Geldmarkt Anlehen zu günftigeren Be- 
dingungen in Ausficht, auch für ftädtiihe und induftrielle Zmede, ferner Zufchüffe für 
Scdiffahrtsverbindungen und Eifenbahnbauten. Von großem Wert für die britiichen 
Kolonieen nad) verjchiedenen Richtungen hin ift jelbitverftändlich die englifche Kriegsflotte. 
Ehedem, ala England noch allein Welt: und Kolonialpolitif trieb, empfanden die britijchen 
Stolonieen fein Bedürfnis nad) Schuß und Hilfe durd die englifche Flotte. Anders jest, 
da faft alle Mächte fih an der Welt- und Stolonialpolitif beteiligen und die Intereſſen 
oder Ajpirationen britiicher Kolonieen zumeilen kreuzen. Da ift auch den .britifchen 
Kolonieen der Wert der engliihen Flotte zum Bewußtſein gefommen und fie erbliden 
darin ein gewichtiged Gegenzugeftändnis für die VBergünftigungen, die fie der englifchen 
Einfuhr gemährt haben oder gemähren wollen. 

Noch ftehen dem größerbritiichen Zollbund große Schwierigkeiten entgegen, aber 
jie ericheinen nicht mehr unüberwindlid, und in greifbare Nähe ift unzweifelhaft ein 
Biel gerüdt worden, da8 man nod vor einem Kahrzehnt für unerreichbar hielt. 
Ghamberlain allein hätte das nicht zu ftande bringen können, wenn nicht wirtichaftliche 
und politische Konjunkturen jeinen Beitrebungen fehr zu jtatten gefommen wären: im all» 
gemeinen die ſchutzzöllneriſche Bolitif der meiften Kulturftaaten, die ſich den englifchen 
Erzeugnifjen mehr und mehr verichloffen, insbefondere die ſchutzzöllneriſchen Vorſtöße Nord- 
amerifas, die nebenbei Kanada näher an England drängten, jodann der induftrielle Auf: 
ſchwung Deutichlands im Schuge einer nationalen Handelspolitif, ferner die imperialiftiiche 
Bewegung in England, die einen politiichen und militäriichen Zuſammenſchluß Groß— 
britanniens mit feinen Kolonieen jchaffen will und einzelnen Kolonieen, wie Auftralien, 
große Vorteile dafür verheißt, nicht zulett der jüdafrifanijche Serieg, der trog aller Oppo— 


20 Paul Dehn, Weltwirtichaftliche Umſchau. 


fition in den Kolonieen doc al3 eine gemeiniame Sache betradjtet wird und den gröger- 
britiichen Reichsgedanken in politiiher wie in wirtichaftlicher Hinficht gefräftigt hat, So 
bewegt ſich die Entwidelung des Verhältniſſes zwiichen England und feinen Kolonieen 
mehr und mehr in der Richtung zu den wirtichaftlichen Zielen der Chamberlainichen 
Rolitif, für die man zur Beſchwichtigung der engliichen Freihändler eine neue blendende 
Etikette gefunden hat. Unbedingter Freihandel zwiihen allen Teilen des britijchen 
Reiches! Man verichliegt fi die Augen vor der jchuszöllneriichen Konſequenz dieies 
Satzes, vor dem jhutzöllneriihen Charakter des angeftrebten größerbritiihen Zollbundes 
und man will fich nicht geftehen, daß diejer größerbritiiche Zollbund der eigenen Schwäche 
Großbritanniens entipringt, das ſich auf dem Geldmarkt zurüdgedrängt fieht und mit 
Hilfe des Schußzolles ſich ſtärken und jeine Stellung behaupten will. 

Bei der Beratung des Dandelsvertragsproviioriums mit England am 16. Juni 
189 im Neichötage hatte Graf Poſadowsky die größerbritiihen Zollbeitrebungen noch 
jehr fühl behandelt und ihre Durchführbarkeit bezweifelt. Die britiichen Kolonieen, jagte 
er, würden es ſich überlegen, die deutiche Einfuhr ungünftiger zu behandeln, da jie mehr 
nad) Deutichland jenden, als von dort beziehen. Sollten fie dennoch dem Deutichen Reich 
die Meiftbegünftigung nehmen, jo würde der Schaden ungmweifelhaft auf ſeiten der 
britiihen SKtolonieen liegen, da Deutichland die meiften britiichen Stolonialerzeugnifie fich 
auch andermweit beichaffen fünne Das ift ganz richtig. Allen man muß dod die 
größerbritiihen Zollverbandsbeftrebungen ernfthaft ins Auge faffen, nachdem fie in 
Kanada feite Geftalt angenommen haben und in Südafrifa wie in Auftralien greifbar 
hervortreten. Chamberlain weiß, was England notthut, diefem Hauptintereſſenten der 
größerbritifchen Zollbundsbeftrebungen, diefem Induſtrieſtaat, nad) Peez einem gewaltigen 
Kompler von Fabriken vergleichbar, der genötigt ift, bei Strafe des Hunger immer: 
während fortzuarbeiten, in Gang zu bleiben und jeine Ausfuhr zu vergrößern. Auf- 
gabe britischer Staatskunſt ift e8, für diefe unverhältnismäßig herangewachſene Riejen- 
anlage Abjag zu jchaffen. Für ihren ungeheuren Ueberfluß an Tertilftoffen, Metall: 
waren u. ſ. w. müſſen die Engländer Abnehmer finden, ftoßen aber in allen Staaten 
auf immer höhere Zollichranfen und wollen fih nun einen ausreichenden Markt fichern 
innerhalb eines größerbritiichen Zollgebietes, indem fie die fremde Konkurrenz verdrängen. 
Ob diefe Politik vorteilhaft auch für die, britiichen Kolonieen jein wird, ift eine Frage, 
die von den anderen Mächten nicht hervorgefehrt werden kann. Das zu entjcheiden, it 
Sache der Kolonieen felbft. Für die anderen Mächte ergiebt ſich zunächſt die Notwendigkeit, 
gegenüber der größerbritiihen Zollbundsgefahr Borbeiprechungen einzuleiten, um ihr 
gemeinfam und wirfiam zu begegnen. Alle Mächte werden durch die größerbritiiche Zoll: 
bundspolitif mehr oder weniger in Mitleidenichaft gezogen, und zwar in erjter Neihe nicht 
etwa Deutſchland, das die engliihen Dandelspolitifer vor allem im Auge haben, jondern 
die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die nächſt England nicht nur im Handel mit 
Kanada, fondern auch mit Auftralien und Südafrifa meiftbeteiligt find, in Kanada mit 
450 Millionen Mark Einfuhr, in Auftralien mit 88 Millionen Mark und in Südafrika 
mit 40 Millionen Mark. Deutjchlands Ausfuhrnad dieſen Ländern ift ebenfalld erheblid), 
nah Kanada 34 Millionen Mark, nad Auftralien 40 Millionen Mark und nah Süd— 
afrifa 35 Millionen Marf. Nennenswert ift ferner der Ausfuhrhandel Franfreihs nad) 


Baul Dehn, Weltwirtichaftlihe Umfchau. 921 


Kanada und Auſtralien, und beteiligt find außerdem Belgien, die Schweiz, Italien, 
Holland u. j. w. Gelingt e3 den engliihen Bolitifern, ihrer Einfuhr aud in Auftralien 
und Südafrika irgend welchen Borjprung zu ſichern, jet es nun durch differentielle Bor- 
zugszölle für die Waren oder durch differentielle Flaggenzölle, jo liegt es nahe, daß alle 
Staaten, die ſich dadurd betroffen fühlen, eine Berftändigung anzubahnen fuchen über 
die zweckmäßigſten Gegenmaßregeln, die dann, wenn fie gemeinjam ergriffen werden, 
nit ohne Wirfung bleiben können. Bon ausichlaggebender Bedeutung wird hier das 
Berhalten der nordamerikaniſchen Republif jein. Nicht ausgeichlofien ift die Möglichkeit, 
daß die englilchen Bolitifer noch in letzter Stunde ihre größerbritiichen Zollbunds: 
beitrebungen zurüditellen, jobald fie jehen, da unter den Mächten, auf die fie Rückſicht 
nehmen müjfen, ein Einvernehmen beiteht, diejen Beitrebungen nachdrücdlich entgegen- 
zutreten und äußerſten Falles die Abwehrmahregeln auf England jelbjt auszudehnen. 

Am 5. März wird der Ausſchuß der Bereinigten Reichshandelsliga in London eine 
öffentliche Beiprehung über die größerbritischen Zollbundsbeftrebungen veranitalten, um 
jeine Bejtrebungen nach einer Entwickung des Handels zwiichen allen Teilen des britiichen 
Reiches auf Grundlage einer Bevorzugung iu den Vordergrund zu rüden. 

* Es 
* 

Als den „ſchlimmſten Feind unſerer wirtſchaftlichen Produktion“ hat der Abg. 
Pingen von der Zentrumspartei Anfang Januar das deutſche Kapital bezeichnet, 
ſoweit es im Auslande produktiv angelegt iſt. Deutſches Geld und deutſche Ingenieure 
errichten, ſagte er, im Auslande Fabriken und Anlagen aller Art. Deutſche Unter— 
nehmer erwerben unüberſehbare Strecken fruchtbarſten Bodens im Auslande und werfen 
ihre Erträgniſſe auf unſere Märkte. In ſolcher Allgemeinheit und Beſtimmtheit iſt dieſe 
Auffaſſung nicht zutreffend. Will man zu einem richtigen Urteil gelangen, ſo muß man 
zunächſt unterſcheiden zwiſchen deutſchen Kapitalien, die im Auslande angelegt werden, 
den Eigentümern Zinſen und Gewinn bringen und ihnen nicht verloren gehen, und 
zwiſchen deutſchen Kapitalien, die mit ihren Eigentümern ausgewandert find und im 
Auslande bleiben. Sodann find für die Nüslichkeit und Schädlichkeit der betreffenden 
deutſchen Kapitalien von Einfluß die PVerhältniffe der betreffenden Auslandsitaaten. 

Vorteilhaft für das Heimatland find, vorausgejegt, daß ein hinreichender Kapital— 
überflug vorhanden it, Anlagen in guten fremden Werten, in Schuldverjchreibungen 
fremder Staaten, in GEijenbahnen und anderen Aktiengeſellſchaften. Solche Anlage 
erfolgt nur, wenn Zinjen und Gewinn höher find als bei gleichen inländijchen Werten. 
Veider haben die deutſchen Banken bei derartigen Anlagen in vielen Fällen mehr Ge: 
winnſucht als Vorſicht bekundet. Durch die maijenhafte Einfuhr argentiniicher, portu— 
giefticher, griechiicher, jerbifcher und anderer Werte find die deutichen Sparer, iſt das 
deutſche Volksvermögen in bedenklihen Grade gejhädigt worden. Und noch eine andere 
Unterlafjungsfünde haben jich die deutichen Banken faſt ohne Ausnahme zu jchulden 
fommen laffen. Fait niemals haben fie fih um die Bermendung der deutjchen Stapitalien, 
deren Ausfuhr fie vermittelten, gefümmert, während die Engländer und Franzoſen ftets 
darauf hielten, daß die betreffenden anleihebedürftigen Staaten fich verpflichteten, bei der 
Berwendung der Anleihen zu Eifenbahnbauten oder fonjtigen Unternehmungen die An 
gehörigen des betreffenden Gläubigerftaates zu bevorzugen. So fonnte das Unbegreifliche 


922 Paul Dehn, Weltwirtichaftliche Umſchau. 


geichehen, daß in Serbien franzöfifhe Unternehmer Eijenbahnen bauten mit Kapitalien, 
die auf dem deutichen Geldmarft beicdyafft worden waren. In Zukunft müffen die deutjchen 
Banken, falls die Anlage deutichen Kapitals in fremden Staatsſchuldverſchreibungen 
nicht ernitlich beanftandet werden joll, größere Borfiht befunden und einen weiteren 
Blick bei der Wahrnehmung nationaler ntereffen. 

Dazu fommen dann Sapitaldanlagen, Berfehröunternehmungen und öffentliche 
Anftalten in Grund und Boden, jomweit die Eigentümer in Deutichland wohnen geblieben 
find. Auch dieje Kapitaldanlagen erweiſen fich in der Regel vorteilhaft für das Heimat- 
land, Thatfächlich find im Auslande beträchtliche Kapitalien in Verfehrsunternehmungen 
und öffentlichen Anftalten angelegt worden, zum fleineren Teil auch in Landbeſitz. Aber 
mit ihren Erzeugniffen machen diefe Unternehmungen durchaus nicht immer der deutichen 
Arbeit Konkurrenz. Wenn deutiche Unternehmer im Auslande mit deutichem Kapital, 
womöglich auch mit deutichen Kräften, mit deutſchen Maſchinen und jonftigem Bedarf 
Eilenbahnen oder Straßenbahnen bauen, Sasanftalten oder Eleftrizitätswerfe errichten, 
wenn fie in tropiichen Gegenden Grund und Boden anfaufen, um Baumwolle oder 
Kaffee oder Südfrüchte zu erzeugen, jo konkurrieren fie feineswegs gegen die deutiche Arbeit, 
befruchten fie vielmehr durch Bezug von deutihen Mafchinen und anderen Erzeugnifien, 
wie durch Beichäftigung von deutichen Kräften meift unter günftigeren Berhältniffen und 
vermehren aud; das deutiche Volksvermögen um den Gründungsgewinn und, bon un— 
günftigen Unternehmungen abgejehen, auch um die höheren Slapitalszinien, die fie in der 
Heimat verbrauchen. Außerdem heben ſolche Unternehmungen auch das Anfehen und 
der Einfluß der Deutichen im Auslande und jchaffen dem Deutichen Reiche Stützpunkte, 
die unter Umftänden von politiihem Wert fein fünnen. Auf derartige Unternehmungen 
trifft unbedingt nicht zu, was der Abg. Bingen allgemein von deutichen Kapitaldanlagen 
im Auslande behauptete. 


Nun giebt es allerdings im Auslande noch andere Unternehmungen deutſcher 
Nlapitaliften, in der Hauptſache Fabriken verjhiedener Art, und diefe mag der Abg. Bingen 
im Auge gehabt haben, als er die deutichen Kapitaldanlagen im Ausland für „den 
Ihlimmiten Feind unferer wirtichaftlihen Produktion“ erklärte. Indeſſen trifft dieſer 
Ausſpruch nicht immer auf das in ausländiihen Fabriken angelegte deutſche Kapital 
zu. Wenn die Wollwarenfabrifanten in Gera oder die Seidenmweber in Strefeld oder 
andere Anduftrielle wahrnehmen, daß ihre Ausfuhr nad) Nordamerika oder nad) Rukland 
zurücgeht und jchliegli ganz ins Stoden gerät, mweil die Einfuhrzölle von nordamerifa- 
niicher oder ruffiicher Seite iibermäßig erhöht wurden, wenn ihnen jede Möglichkeit der 
Ausfuhr durch die hohen Zollihranfen der ausländifhen Märkte genommen wird, follen 
fie da unthätig bleiben und fi) das ganze Geichäft aus der Hand gehen lafjen? In der 
Regel begnügen fie fi damit, ihren Abſatz im Inlande zu erweitern oder fremde Märkte 
heranzuziehen. Aber zumeilen ericheint es ihnen lohnend, Zmweigfabrifen in den betreffenden 
fremden Staaten anzulegen, um von dem Geſchäft zu retten, was zu retten iſt. Solche 
Zweigfabrifen find im allgemeinen nicht vorteilhaft für das Mutterland, fie ſtärken die 
‚induftrie des fremden Staates, fie machen fie leiftungs- und konkurrenzfähig, auch wenn 
einmal die Zölle wieder ermäßigt werden jollten, fie locken nicht jelten tüchtige heimische 
Arbeitskräfte hinaus, die nicht mehr ins Mutterland zurüdfehren. Allein es bleibt ihnen 


Paul Dehn, Weltwirtfchaitliche Umſchau. 923 


immerhin ein Unternehmergewinn, den fie im Inlande verzehren, und diejer Unternehmer: 
gewinn ift immerhin beffer als nichts. Derartige Fälle find feit Jahrzehnten in großer 
Zahl vorgefommen. Als Deutichland feine Eijenzölle erhöhte, Liegen fich engliiche In— 
duftrielle in Deutichland nieder und trugen nicht nur zur Hebung der deutjchen Eifen- 
induftrie erheblich bei, jondern fie wiejen auf die Wege, wie man durd) Schußgzölle die 
engliſche Konkurrenz abhalten konnte. Einer diefer Engländer Namens Mulvanh ift der 
eigentliche Provofator der deutichen Schutzollbewegung am Niederrhein genannt worden 
und er hat ein Seitenftücdf in dem Engländer Skene, der in Oeſterreich den ſchutzzöllne— 
riihen Gedanken lebendig machte. Auch die Deutichen befunden gelegentlich diefes ubi 
bene ibi patria. In den achtziger Nahren hörte ich im Niederöfterreihijchen Gewerbe: 
verein zu Wien, wie ein öfterreichifcher Großinduftrieller reihsdeuticher Herkunft Namens 
Hardt in breiter wejtfälifcher Mundart vor dem Bau der Tauernbahn warnte, weil fie 
nur dem deutfchen Handel zu gute fommen werde, der dem öfterreichiichen Gefchäft 
aefährlih und überlegen jei! In Oeſterreich haben viele deutiche Fabrifanten Zweig— 
geichäfte gegründet, als ihre Ausfuhr dorthin durch Zollerhöhungen erſchwert wurde. 
Bor allem ift der Aufſchwung der Lodzer Anduftrie weſentlich auf deutiche Kräfte und 
Deutiche Kapitalien zurüdzuführen. Auch in Nordamerifa haben deutjche Unternehmer 
zum ‚Aufblühen einzelner Induſtriezweige erheblidy beigetragen. Diefe Unternehmer 
befanden fich zumeift in einer Zmwangslage und fie wählten, vom deutſchen Standpunft 
aus betrachtet, das Fleinere Uebel, fie gründeten im Auslande Zweigfabrifen, fie machten 
der heimifchen Arbeit Konfurrenz, genau betrachtet ihrer eigenen Arbeit, weil fie im 
Auslande feinen Abjag mehr fanden, fie bereicherten aber doc jchlieklih das Ddeutiche 
Volksvermögen, foweit fie in Deutfchland wohnen blieben oder nad Deutichland 
aurüdfehrten. Mit diefen Thatjachen muß man fich abfinden, fie waren und find nad 
Lage der Dinge nicht zu ändern. Wenn deutiche Unternehmer nicht nad) Yodz oder nad) 
Nordamerika gegangen wären, hätten Engländer das Geſchäft gemadt. Schaden erleidet 
Das deutiche Volksvermögen in jolhen Fällen nur dann, wenn der betreffende Unter: 
nehmer im Auslande verbleibt, was ja häufig genug vorgefommen fein mag. Geſchädigt 
werden heimischen Sintereffen unzweifelhaft da, wenn auch oft nur in geringem Maße, 
wo deutiches Kapital ohne Not im Auslande Fabriken errichtet, die gegen deutjche 
Erzeugniffe auf dem Weltmarkt fonfurrieren. Das ift wiederholt geichehen. Deutſche 
Kapitaliſten haben Zucderfabrifen in Ungarn und Rumänien gegründet, deutiche Tertil- 
induftrielle Webereien in Italien u. j. w. Bon diefen Unternehmungen gilt fo ziemlid), 
mas der Abg. Bingen zu allgemein geäußert hat. 


Vielleicht läßt fi) ein Fachmann herbei, die Frage nach dem Nuten und Schaden 
nationaler Kapitaldanlagen im Nuslande eingehend und unbefangen zu unterjuden 
unter Anführung der vorliegenden Thatiachen und Erfahrungen. Wie ſchon angedeutet, 
find auch die Verhältniffe der betreffenden Auslandsftaaten dabei von Bedeutung. Als 
Deutichland Kiautfchou beſetzte, äußerte Freiherr von Richthofen, der ausgezeichnete 
GShinafenner, bemerfenswerte Bedenfen über die zunehmende Mitwirkung Europas an 
der Erichliegung Chinas. Wenn Chinas Kräfte entwicelt werden durd Anlage von 
Eifenbahnen und anderen Berfehrsmitteln, durch die Förderung der Bodenfchäge, durch 
die Einführung der Anduftrie, durch die Heranbildung der Arbeiter, durch die Hebung 


924 Baul Dehn, Weltwirtihaftlihe Umſchau. 


des Ausfuhrhandels, dann erachtete es Richthofen für fraglid, ob nicht China die 
größeren Vorteile davon habe, ob Europa nicht geichädigt, ob e3 nicht durd das Erjtehen 
ded neuen gewaltigen Stonfurrenten gefährdet werde. Bon Europa drängt man den 
Chineſen die europäiſchen Errungenſchaften durch Telegraph und Gifenbahn auf, man 
ruht nicht, bis die ſchlummernden Riejenihäge an natürliden Hilfsquellen und menſch— 
liher Arbeitöfraft entwicelt worden find. Aber man ift unbefümmert darum, ob nid): 
dadurch Europas hohe materielle Macht herabgeiegt wird, ob nicht der Kolok, dem man 
das durch weſtliches Genie jinnreich erdachte Spielzeug in die Hand drüdt, es jo zu 
gebrauchen lernt, daß den Erfindern jelbit ſchwerſte Schädigung droht. Der indujtrielle 
Fortſchritt Chinas fei nicht mehr zu hindern, jei unabweisbares Berhängnis für Europa. 
Jede Kohlengrube, die geöffnet wird, jede Fabrik, die daraufhin für die Chinejen angelegt 
wird, jede Eijenbahn, die man ihnen aufzwängt, iſt ein Teil diejes Selbitmordprogejies. 
Er wird gefördert, wenn man bejtrebt ift, die Wehrfähigfeit von China zu erhöhen. 
Indeſſen fügt Freiherr von Richthofen mit Betonung hinzu: „So lange die fremden 
Mächte hiervon abjtehen und e8 jelbjt übernehmen, von ihren feiten Pläsen an den 
Küſten aus das Land zu ſchützen, werden fie die Fäden der Eritarfung des Reiches der 
Mitte in ihrer Hand behalten.“ 

Abgejehen von einzelnen Ausnahmefällen find die Borteile nationaler Kapitals: 
anlagen im Auslande weitaus größer als die Nachteile. Darnach wird bereits in der 
Praxis jeit geraumer Zeit verfahren: Bon den unmittelbaren \ntereijenten durd; Ein- 
leitung neuer Stapitalsanlagen der verichiedeniten Art im Auslande und durch die Re— 
gierungen, die dieje Beitrebungen fürdern und gerade aud die daraus entitehenden 
nationalen Sntereffenpunfte im Auslande bereitwillig ſchützen. Nach diefer Richtung hin 
werden fich die Dinge auch weiter entwideln und erjt im fozialdemofratiichen Zufunfts- 
ftaat dürfte man dazu fommen, mit dem Sapital überhaupt auch die ausländiichen 
Stapitalsanlagen zu beieitigen, wenn nicht etwa die Zufunftsftaatspolitifer rechtzeitig ver- 
ftändig werden und anftatt theoretische Konſequenzen praftiihe Zweckmäßigkeit 


walten laſſen. — 


Nach langwierigen Verhandlungen, bei denen wie üblich waäahrſcheinlich die Höhe 
des an die türkiſchen Beamten zu zahlenden Backſchiſchs eine große Rolle geſpielt haben 
mag, hat der Sultan durch Iraden die Konzeſſion der Bagdadbahn an die unter 
deutjcher Führung ftehende Geſellſchaft mit dem frangöfiichen Namen „Societe des che- 
mins de fer d’Anatolie“ Mitte Januar auf 99 Nahre endgiltig erteilt. Die Bahn wird 
nicht von Angora aus, wie urjprünglich geplant, jondern von der anderen Enditation 
der anatoliihen Bahn, von Sonia aus, weiter geführt werden, zunächſt nad) Adena, wo 
bereit3 eine Bahn nad) Meriina am Mittelmeer abzweigt, jodann an den Euphrat bei 
Niſib und Biredjif, weiter über Wardin nah Moſſul, der Stadt des Mujlelins, am 
Tigris und von da entlang dem rechten Ufer über den Grengort Danefin, Zmweigitation 
für den Wallfahrtsort Serbela, nad) Bagdad-Basra und KHadhina am Ditende des 
Golfs von Komeit. Die Bahn wird von Konia bis Kadhina 2400 km lang werden, ein- 
ichlieglich der bereits fertigen Strede von Konitantinopel nad) Konia 3000 km. Es 
handelt ji alio um ein Berfehrsunternehmen großen Stils, deſſen Geſamtkoſten aur 


Paul Dehn, Weltwirtichaftliche Umſchau. 925 


600 Millionen FFr., alio 300000 Fr. für den Kilometer, geichägt werden. Freiherr von 
der Golg, diefer hervorragende Stenner des Landes, zweifelt zwar nicht daran, daß es 
dem Geſchick und der Zähigfeit der deutichen Konzeſſionäre gelingen wird, die obwaltenden 
techniſchen, wirtichaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten glüctlich zu überwinden, findet 
aber doch, daß der Wen bis dahin noch fteil und lang ift, und meint, man werde troß 
des Naturreichtums jener Gegenden feine allzu ſanguiniſchen Hoffmungen auf ihr jchnelles 
Aufblühen jeken dürfen. 

Das größte Hemmnis für den Baubeginn liegt in der Zinsbürgichaft, die die 
türfiiche Regierung zu gewähren bat. Vereinbart wurde nun allerdings eine ftaatliche 
Bürgihaft von jährlid; 16500 Fr. für den Kilometer, jo daß die Eifenbahngejellidaft 
fein Wagnis auf ſich nimmt. Indeſſen wird die türfiihe Negierung dadurch mit einer 
jährlichen Bürgichaftsleiftung von 40 Millionen Fr. belaftet. Wenn aber auch diefer 
Betrag nur allmählich fällig wird und annähernd zur Hälfte durd die Betriebseinnahmen 
gededt werden dürfte, jo entiteht doch die Frage: Wer bürgt für die Bürgichaft? 
Welche Unterpfänder fann die türkische Negierung geben als ausreichende Sicherheit für 
die pünftliche Zahlung ihrer Verpflichtungen? Bereits find die regelmäßigen Nahreseinfünfte 
der Türfei, wie Freiherr von der Golt hervorhebt, fo vollftändig in Anſpruch genommen, 
dat ihnen feine neue Yaft mehr aufgebürdet werden fann. Es handelt ſich alſo 
darum, Cinnahmequellen zu ermitteln, die bis jett verfchlofien geblieben find. Frei— 
herr von der Golg irrt indeflen, wenn er glaubt, daß neue Einnahmequellen aus 
dem Abſchluß neuer Sandelöverträge mit der Türkei durch Anwachſen der 
Bolleinnahmen flüffig gemacht werden fünnten. Wohl würde die Türkei ihre Einnahmen 
beträchtlich vermehren, wenn e8 ihr endlich gelingen jollte, ihren alten Zolltarif mit einem 
Wertzoll von 8 Prozent entiprechend zu erhöhen. Aber feit Sfahrzehnten zögern die Mächte 
mit ihrer Zuftimmung, die notwendig ift, weil der Zolltarif auf den alten Stapitulationen 
beruht, die nicht einjeitig von der Türkei bejeitigt werden fünnen. Kommen gleichwohl 
die Verhandlungen endlich zu einem glüclichen Abſchluß, und ift es der Türfei möglid, 
ihre Zölle zu erhöhen, dann tritt Artikel 8 des Ausgleiches der türkischen Regierung mit 
ihren Gläubigern vom Jahre 1881 in Kraft, wonach der Mehrertrag aus den türkiſchen 
Böllen infolge einer Nenderung der Zollfäge durch Revifion der Handelsverträge den 
älteren Gläubigern zu übermweijen ift. Ueber dieje Beitimmung müßte hinmweggegangen 
roerden, und das fünnte jehr wohl geichehen, denn die Anleihen, die mit dem leichtfinnigen 
Abdul Aziz unter mwucherifchen Bedingungen abgeichloffen wurden, werden bereits aus 
anderen Einnahmequellen ausreichend verzinft. So lange diefe Schwierigkeit nicht bejeitigt 
ift, fann mit den Bahnbauten nicht begonnen werden. 

Nadı ‚Vollendung der Bahn werden auch die Engländer unmittelbare Vorteile 
daraus ziehen. Das „indiiche Felleiſen“, das möchentlich in jeder Richtung zwiſchen 
England und Indien verkehrt und angeblicdy acht Eijenbahnmwagen füllen joll, wie der 
engliſch-indiſche Perſonenverkehr, der in den achtziger Jahren auf 35 000 Reilende jährlid) 
geichäßt wurde, werden nicht mehr ihren Weg über Brindifi und den Suezfanal nehmen, 
der nahezu über 15 Tage beanfprudt, jondern die Bagdadbahn benugen, die es ermöglicht, 
die weite Fahrt in 10 bis 11 Tagen zurückzulegen, aljo 4 bi 5 Tage zu eriparen. 


* * 
* 


926 Paul Dehn, Weltwirtichaftliche Umjchau. 


Die Amerifafahrt ded Prinzen Heinrich übt auch in wirtichaftspolitiicher 
Dinficht ihre Rückwirkungen. Hüben und drüben erweckt fie freundlichere Stimmungen. 
Der BZollkrieg, der unvermeidlich zu fein ichien, rückt in die Ferne, und vielleicht kommt 
es zu einer Verftändigung. Dazu drängen nicht nur die unmittelbaren Intereſſen der 
beiden Reiche, jondern auch andere Umſtände, vor allem die näherrücdende Verwirklichung 
der größerbritiihen Zollbundbeftrebungen, die von dem Deutichen Reihe wie von der 
nordamerifaniichen Nepublif, peinlih empfunden werden müjjen. Die nordamerifanijche 
Gefahr befteht allerdings nad) wie vor für das europäifche Feitland, fie wird, durch die 
erftaunliche Entwicelung der nordamerifaniichen Trufts in unberechenbarer Weiſe verichärft, 
und ihre Abwehr bleibt nad) wie vor ein wichtiges und jchwieriges Problem. Allein 
dieſes Problem wird ein wenig zurüdgeftellt. In der That follte man vorläufig alles 
unterlaffen, was geeignet wäre, das geniale Vorgehen des Kailerd gegenüber den Ber: 
einigten Staaten zu jtören, und in Bezug auf Amerika große Zurücdhaltung üben. Von 
dem Geichäftsführer eines Berliner Nnduftriellen-Bereind waren Beiprehungen mit 
öfterreichiichen Anduftriellen über die nordamerifaniiche Gefahr in Anregung gebradt 
worden. Sollten dieie Beiprechungen wirklich zu ftande fommen, was aus verjchiedenen 
Gründen noch zweifelhaft ericheint, jo würde ihre Dinausichiebung einem richtigen Gefühl 
entiprechen. 


S 


GES OOOO 


Deutictum im HAuslande. 


Von 
Paul Dehn. 


Deutfche Arbeit im Auslande. — Deutfchsevangeliihe Miffionen. — Deutſches Schulmejen im 
Auslande. — Ungarn. — England. — alien. — Griechenland. — Nordamerika. — 
Deutihe Schubgebiere. — Burrenitaaten. 


entfche Arbeit im Auslande. Nachgerade wird es Zeit, daß eine Vereinigung 

deutich:nationalgefinnter Männer zufammenftellt, was deutjche Arbeit, deutiche Gelehrte 
und Zechnifer, deutiche Beamte und Offiziere im Nuslande geleiftet haben. Deutiche 
Beicheidenheit und deutiche Zerfahrenheit haben es bisher noch nicht zu einem Werf 
gebradht, das hervorragend geeignet wäre, das Anjehen der Deutichen im Auslande zu 
heben und das Nationalgefühl aller Deutichen zu Eräftigen. Es ift im hohen Grade 
bezeichnend, dat ein Schweiger den eriten Verſuch gemacht hat, auf einem beftimmten 
Gebiet diefe Lücke auszufüllen. In einer Abhandlung über die Fulturfördernde Arbeit 
des deutichen Heerweſens im Auslande tadelt der eidgenöffiihe Hauptmann R. Günther 
die deutihe Gewohnheit, die Kulturarbeit des eigenen Deeres zu verfennen. Alle 
folonifierenden Staaten, ob groß oder Elein, ebenjo die feitländiichen Mächte haben, wie 
Günther heroorhebt, ſchon im 18. Jahrhundert eifrig darnach getradhtet, deutjche Kräfte, 
namentlich deutiche Offiziere, zu gewinnen. Venedig und Portugal machten den Anfang. Seit 
1726 wirkten preußiiche Neformatoren mit dem Ererzierreglement diesjeit8 und jenfeits 
des Weltmeeres, in Portugal Wilhelm von Schaumburg, der jpätere Lehrer Scharn- 
horfts, in Spanien Alvensleben, in Neapel Salis, in Rußland Münnich, Schomburg, 
Manftein, Bruce u.a. In der Schweiz ftand das preußifche Vorbild in höchitem Anjehen. 
Bern übertrug dem General Lentulus die Neorganijation jeines Heeres, ein anderer 
friderigianischer Offizier, Nittmeifter von Orelli, reformierte das Heerweſen in Zürich 
und in Neapel. Der Schöpfer der berühmten jchweizeriichen Scharfihügen Fannte, jagt 
Dauptmann Günther, nur ein Beilpiel, das preußifche. Die Vereinigten Staaten von 
Nordamerika verdanken dem General von Steuben die erfte Organijation ihres Heeres, 
fein Reglement von 1778 galt über 80 Jahre als amtliche Anftruftion. Der Franzoſe 
Gribauval, der von 1764 bis 1789 das frangdfiiche Geſchützweſen reorganifierte, hatte 
vorher 12 Nahre feine Wiffenichaft in Berlin erlernt. Im Soalitionskriege erhielten die 
Dffigiere des franzöfiichen Revolutionsheeres eine Anleitung, die der franzöfiiche Kriegs 
minifter ehrlich als geiftiges Eigentum Friedrichs des Großen bezeichnete. Was der 
Fähnrich Pirich von Potsdam nach Verjailles brachte und dort ald Major lehrte, behielt 
von 1791 bis 1830 amtliche Geltung, ward auch in Fleinen deutschen Staaten als hödhite 


928 Paul Dehn, Deutichtum im Auslande. 


militäriihe Weisheit franzöſiſcher Herkunft gepriefen, war aber in Wirflichfeit, mi 
Günther feitftellt, bis auf den lebten Wuchftaben geiftiges Cigentum Ffriedrid: 
des Großen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts waren deutihe I ffiziere fin 
der Türfei thätig, vor allem Moltfe, dann Grad, Malinomsfy, Wendt, Bluhm, Etreder. 
Drygalski, Grunewald, Rüſtow, Samphövener, von Dobe u. a. und nicht zuleßt 
Colmar von der Golk, der Schöpfer des militäriichen Unterrichtsweſens in 
der Türfei. In Rumänien war es fein Geringerer als König Karl jelbit, der jern 
Heer nad) deutihem Mufter reorganifierte, zum Teil unter Mitwirkung deutjcher Offiziere. 
In dem Buche „Aus dem Leben König Karls von Rumänien“ (4. Band, Seite 414 
wird erzählt, wie König Karl ein befonderes Intereſſe für das neue Befeitigungsipftem 
des preußiichen Majord Schumann gewann, als dejlen Vorjchläge in Deutichland noch 
geringe Beachtung fanden. Während eines Beſuches in Berlin wurde König Karl, als 
er gerade mit dem Major Schumann arbeitete, von dem damaligen Prinzen Wilbelr 
überrafht. Dadurch erhielt Prinz Wilhelm Kenntnis von dem Syſtem Schumann un) 
führte e8 nach jeiner Thronbefteigung in Deutichland ein. Yeider ftarb Ecdyumann ſchen 
Ende 1889. In Rumänien wurden die befeftigten Linien Focihani-Namaloaja-Galar 
nach dem Syſtem Schumann ausgeführt. Hervorragende Berdienfte um die Organifation 
des dhilenifchen Heeres erwarb fich befanntlid; Oberit Hörner. In Japan hat man dir 
Grundzüge des Heerweſens von den Deutichen übernommen. 

Deutſch⸗evangeliſche Miffionen. Im Dienfte von 23 Miffionsgefellicaiten 
ſtehen 884 Milfionare und 103 Miffionsichweftern, davon gehören 200 Miſſionare der 
Brüdergemeinde an und mehr als je 100 der Basler Gefellichaft, der Rheiniſchen und 
Berlin I. Nur im SKongobedfen und den afrifaniihen Gebieten nördlich vom Sudan, 
ferner in Arabien, Birma, Siam und Korea ift die Miffion nicht vertreten. m den 
übrigen Gebieten der Erde beftehen 565 Dauptitationen mit 384000 getauften Heiden 
chriften. Dem Schulmwejen wird befondere Aufmerkſamkeit gewidmet. An 1819 deuticen 
Miſſionsſchulen erhielten iiber 90000 Schüler Unterriht. Der Aufwand belief fih auf 
7 Mil. M. (P. Döhler im Jahrbuch der ſächſiſchen Miffionstonferenz.) 

Dentiches Schulwejen im Auslande. Als Yehrziel der deutichen Auslands 
ichulen jtellt Baftor Kaufmann in Alerandrien im Januarheft der neuen Zeitidhrit 
„Deutih-Evangeliih“ (Marburg bei Elwert) ein Doppeltes auf, einerjeits die Schüler 
zur Grgreifung eines Lebensberufes am Orte zu befähigen, andererjeits fie für den 
Uebergang in die höheren Yehranitalten der Heimat vorzubereiten. In diejer zweifachen 
Aufgabe erblidt Kaufmann das Eigenartige jeder deutihen Auslandsichule, das fie von 
den Heimatichulen mit ihren einfacheren Berhältniffen unterjcheidet. In jeinem Vehr 
beachtenswerten Auffat verlangt auch er einen behördlichen Rüdhalt für die deuticer 
Auslandsichulen in Geſtalt eines Reichsſchulamtes. Zu diefem Zweck fönnten dem 
Auswärtigen Amt ein oder zwei im Auslandsdienfte bewährte Schulmänner als Beamte 
beigegeben werden. Aufgabe diejer Behörde märe die Prüfung und Genehmigung der 
Vehrpläne, die Vermittlung bei Anstellung der Lehrer, die bis jet reine Privat 
fache ift, die zeitweiſe Beſichtigung der Auslandsichulen und, was ebenfalls 
ſehr wünſchenswert wäre, die Perteilung der Reichszuſchüſſe nad folgerichtigen 
Grundſätzen. Dieſe PVerteilung ift gegenwärtig auch beim beiten Willen der 


Baul Dehn, Deutfchtum im Auslande. 929 


mahßgebenden Faktoren ſchwer durchführbar. Mit diefer Frage hängt nad) Kaufmanns 
Auffaffung das Verlangen nad) Beredhtigung zum Einjährigen- Zeugnis für die Auslands» 
ichulen eng zuſammen. Bisher haben nur die beiden deutſchen Schulen in Konſtanti— 
nopel und Brüffel dieje Berechtigung erlangt. Dieje Berechtigung liegt im Intereſſe der 
Eltern, die ſich aus begreiflihen Gründen nicht gern von ihren lindern jo früh trennen, 
aber aud) im Intereſſe des Reiches, da die Ausficht, als Genteiner dienen zu müffen, 
manden jungen Deutihen im Auslande verleitet, fich überhaupt nicht zum Heeresdienft 
zu ftellen und feine Staatsangehörigfeit aufzugeben. Da die jungen Deutichen im 
Auslande zumeift in ſprachlicher Hinficht eine beffere Ausbildung erhalten, jo empfichlt 
fich für geeignete Schulen der Ausweg, den Paſtor Kaufmann vorichlägt, die Prüfungen 
diefer Schulen durch einen Speziallommiffar, oder durch den Konſul, unter Beachtung 
der geltenden Vorſchriften abhalten zu lafjen, und ihre Ergebniffe dem Reichskanzler zur 
Entſcheidung einzufenden. Diejen Weg hat bereits die deutihe Schule in Antwerpen 
mit Erfolg betreten. In Stonftantinopel hofft man die hochangeſehene deutiche Schule 
in eine Ober-Realjchule umwandeln zu fünnen. An der Hebung der deutſchen Auslands— 
ſchulen muß unausgejegt gearbeitet werden und ihr Streben nad) einem höheren Lehrziel 
ift wohlwollend und nahdrüdlich zu unterjtügen. 


Die deutſche Schule in Tfingtau hat ein neues Schulhaus erhalten und ihre 
Schülerzahl auf 29 (17 Knaben und 12 Mädchen) in drei Klaffen vergrößert. 
Der Lehrplan entipricht ungefähr dem einer Mittelfchule. Angeftrebt wird zunächſt die 
Erteilung des Berehtigungsiheined zum einjährig-freimilligen Dienft und jodann die 
Umgeftaltung der Schule zu einem Realgymnafium oder gleichberechtigten höheren Anftalt, 
im Intereſſe der Kolonie wie aud) aus nationalen Rüdfichten zur Förderung deutſchen 
Weſens und deutjcher Bildung in Djtafien. — Apia. Die deutihe Schule wird mit 
5000 M. jährlich unterftügt. Außerdem follen nody 5500 M. aufgewendet werden, um 
intelligente Mifchlinge zur Erteilung des bdeutichen SprachunterrichtS heranzubilden. — 
Genua. Unter Leitung des Herrn von Haſſel hat die deutihe Schule innerhalb 
Jahresfriſt ihre Kinderzahl verdoppelt, zählt jetzt 60 Schüler in vier Klaſſen bei einem 
Etat von 18000 Lire und hat die fonkurrierende „Schmweizerichule“ eingeholt. — Venedig. 
Die deutihe Schule zählt 35 Kinder, darunter 22 deutſche, 13 italienische, 3 normwegifche, 
2 franzöfifche, und 1 armeniſches. Die Schule erhält vom Reich 1300 M. Zuſchuß. — 
Brafilien. Die deutiche Schule des Hilfsvereins in Porto Alegre entwickelt ſich 
unter der Leitung des Direktors Chr. Kleikamp vortrefflicd und zählt bereitS mehr als 
200 Slinder in fieben Slaffen. — In Rio Grande do Sul hat fich ein deuticher Lehrer- 
verein gebildet. — Mexiko. Nach fiebenjährigem Bejtehen erhält die deutiche Schule 
in Meriko, die unter Leitung von Profeffor He fteht, einen Zufhuß aus der Reichskaſſe 
von 4000 M. jährlich. — Korea. An Soul wurde 1899 eine deutiche Schule gegründet, 
die unter Leitung des Deren Bolljahn fteht, aber anjcheinend hauptjädhlicd von Koreanern 
bejucht wird. Herr Edert, der vom König zur Ausbildung einer Militärkapelle nad) 
europäifchem Mufter berufen wurde, hat zu diefem Zweck für etwa 30 Koreaner eine 
Mufitfchule eingerichtet. — Japan. Anfang Dezember 1901 brannte in Tokio die 
Schule für deutſche Sprade nieder, die unter japanijcher Leitung ftand und annähernd 
1300 Schüler zählte. Diefe Schule wurde im Jahre 1883 als Privatanftalt gegründet 

59 


930 Paul Dehn, Deutſchtum im Auslande. 


und erhielt von deuticher Seite viele Zumendungen, namentlih Bücher. Direktor it 
gegenwärtig Profejlor Kato, der frühere Direktor der Univerfität zu Tokio. Man würde 
in Japan erfreut fein, für den Wiederaufbau der Schule neue Zuwendungen von Deutſch 
land in Büchern oder aud) in Geld zu erhalten. 

Ungarn. Im Finanzausſchuß des ungarifhen Abgeordnetenhaujes wurde am 
2. Februar die obligatorische Einführung der deutſchen Sprade als Unterrichtsgegen 
ftand in den Bolksichulen erörtert. Unterrichtäminifter Dr. Wlaffics hob hervor, daß in 
Ungarn fremde Sprachen gelernt werden müſſen, vor allem die deutiche Spradke. 
Darüber war die chauviniftiiche Vreffe nicht wenig aufgebracht. Andeffen trat auch der 
flerifale „Magyar Alam“ entjchieden für die Erlernung der deutfchen Sprache ein, die 
er als eine unbedingte Notwendigkeit erklärte, nicht nur megen des ftaatsrechtlichen 
Berhältniffes zu Dejterreich, Jondern auch weil Ungarn der deutichen Kultur bedarf. Es 
fei unfinnig von den Chaupiniften, frankomaniſche Allüren zur Schau zu tragen und au 
verlangen, Ungarn jolle fi über deutjche Kultur und Wiſſenſchaft hinwegſetzen. Am 
Hinblif auf die Erklärung des Unterrichtsminiſters erjcheint e8 in hohem Grade be 
fremdlidh, daß noch immer von übereifrigen Staatsanwälten Preßprozeſſe gegen ſtaats 
treue deutjchrungariihe Blätter angeftrengt werden. So ftand Mitte Februar Arthur 
Korn, der wadere Schriftleiter der „Groß-Sifindaer Zeitung“ unter der Anklage, „gegen 
die magyariiche Nationalität zum Haß angereizt” zu haben, weil er gegen die gemalt: 
jame Magparifierungspolitit in den Schulen Stellung genommen hatte. Dieje Bolitif 
ſchädigt nur die deutjche Bildung, bedeutet feinen Gewinn für das Magharentum und 
erregt unter den ftaatötreuen Deutihen in Ungarn PVerbitterung. Arthur Korn wurde 
von den Gejchworenen freigeiprocdhen. Ausführliche Berichte über diefen Prozeß bradte 
das „Deutſche Tageblatt für Ungarn“ in Temesvar, das flug und taftvoll geleitet wird, 
unter den Schwaben im Banat heilfam wirft und auch in Deutichland Beachtung ver: 
dient. Dagegen wurde der Advofatursfandidat Franz Ließ in Kronſtadt zu 2 Monaten 
Gefängnis und 100 Kr. Geldftrafe verurteilt, weil er die Anmahung eines Boftamtes, 
das unbefugterweije auf einer Poftkarte die Ortöbezeihnung „Kronftadt“ durchſtrichen 
und jtatt deifen den magharijchen Namen „Braſſo“ geſetzt hatte, in der „Kronftädter 
Zeitung“ als eine „poftaliiche Gemeinheit” bezeichnete. Das Vorgehen der ungariicen 
Berwaltung gegen die durhaus ftaatstreuen Deutjchen läßt fich nicht in Einklang bringen 
mit den deutichfreundlichen Verſicherungen des Unterrichtsminifters. 

Im „Archiv des Bereins für fiebenbürgiihe Landeskunde“ (30. Band 1. Heft) 
findet fich eine Danfrede über den verftorbenen Profeffor von Wattenbadh von D. fr. 
Teutich unter Benutzung des Briefwechſels zwiſchen Wattenbad) und dem Biſchof Teutic. 
In nationaler Treue wird Wattenbad) als derjenige gepriefen, der als einer der Eriten 
feine Schritte nach Siebenbürgen lenfte und die Siebenbürger Sachſen für das deutice 
Volk wie für die deutſche Gelehrtenwelt gleihjam neu entdeckte. 

England. Das Nationalgefühl der Deutichen hat eine ernfte Belaftungsprobe 
beitanden. Einige „Anglo-Germans“, d. h. naturalifierte Engländer deutjcher Herkunft, 
hatten die Abficht, in der City eine große Maffenverfammlung deutfcher Landsleute zu 
veranftalten, um gegen die in Deutichland angeblich folportierten Schmähungen de 
englifchen Heeres zu proteftieren, dem engliichen Könige Treue zu ſchwören und den 


Paul Dehn, Deutichtum im Auslande. 931 


Deutichen Kaifer „aufzufordern“, mit aller Macht der Englandfrejjerei in Deutichland 
Einhalt zu gebieten. Dieje naturalifierten Engländer deutſcher Herkunft befundeten echte 
Nenegatenart, da fie gegen ihr früheres Vaterland eine gehäffige und illoyale Agitation 
einzuleiten gedachten. Wie aus der Entlarbung einiger Leute, die fih an die Spite 
geftellt hatten, zu erjehen war, ftanden die Deutſchen der ganzen Agitation fern. Bon 
vornherein hatten diefe naturalifierten Engländer gar fein Redt, eine VBerfammlung von 
Deutſchen einzuberufen und gegen die öffentliche Meinung in Deutſchland auszufpielen. 
Thatſächlich fam die Verfammlung nicht zu ftande, und im Sande verlief der Uebereifer 
von Leuten, die früher einmal in Deutichland gelebt hatten, aber nun einmal die Ge- 
ſchmeidigkeit befigen, ihre Nationalität nad) Maßgabe ihrer Intereſſen zu wechieln. Im 
großen und ganzen billigen die Deutichen in England die Haltung der öffentlichen 
Meinung in Deutichland gegenüber dem englijhen Raubzug gegen die Burenrepublifen. 
Wäre e3 gelungen, eine große deutſche Volksverfammlung in London einzuberufen im 
Sinne der erwähnten Anglo-Germans und Beſchlüſſe gegen die öffentliche Meinung in 
Deutihland und zu Gunſten der englifchen Sriegspolitif zu erwirfen, fo würde die 
deutiche Kolonie in England auf lange Zeit die Achtung aller ehrenwerten Engländer 
verloren haben aus dem einfachen Grunde, weil ein Engländer es für entwirdigend 
und verächtlic; hält, wenn irgendwo auf der Erde eine größere englifche Kolonie 
proteftieren wollte gegen die Politik der englifchen Regierung oder gegen die öffentliche 
Meinung Englands, fei es ſelbſt mit Recht. Treu der eigenen Nation fein und unter 
‚allen Umftänden zu ihr halten, das ift einer der oberften Grundfäge der Engländer und 
fie verlangen defjen Anerkennung von jedem politiſch reifen Volk. 

In Kapftadt haben 76 „deutfche Einwohner“ eine Erklärung beicjloffen und darin 
die in Europa gegen das britijche Heer, namentlich aud) wegen der Behandlung der 
Burenfrauen, erhobenen Vorwürfe als unbegründet zurücdgeriejen. Unter den früheren 
deutichen Konjuln in Kapftadt follen 2000 Deutſche als NeichSangehörige eingetragen 
gemwejen fein. Die Zahl der Deutſchen in Kapftadt ift ſehr erheblich größer. Vermutlich 
haben fich die 76 deutſchen Verehrer des englijchen Heeres in Kapftadt längft naturalifieren 
laſſen oder aber fie ftehen in dem Dienft der Goldmineninterefjenten und laſſen fich nod) 
naturalifieren. Derartige Leute fünnen nicht als Deutſche angefehen werden, auch wenn 
fie ſich als folche gelegentlich noch ausgeben. 

Italien. Erfreulich ift das Lebendigwerden des nationalen Bewuhtfeins unter 
den Deutichen im Auslande. Das bezeugt eine öffentlihe Erklärung der deutichen 
Kolonie in Florenz gegen die Behauptung polnifcher Frauen, daß polnische Kinder in 
preußiichen Schulen auf das Aergſte mighandelt worden feien. Die deutſche Kolonie 
erklärt diefe Behauptung für ein Lügengewebe und für eine dreifte Spekulation auf das 
Mitleid der Staliener. Die Erklärung der deutichen Kolonie wird in Florenz mie in 
ganz Italien auch auf jene Kreiſe wirken, die geneigt waren, den polniſchen Behauptungen 
Glauben zu jchenfen, und die Meinung zerftören, ald ob die Deutjchen noch immer nicht 
dazu gekommen jeien, mögen fie nun im Paterlande wohnen oder im Auslande, wo es 
fi; um nationale Fragen handelt, feſt zufammen zu halten. 

Griechenland. Lange Zeit galt Patras im ganzen Orient als derjenige Platz, 
wo Solidität, Pünktlichkeit und richtiges kaufmännifches Gebaren am meijten zu finden 

59* 


932 Paul Dehn, Deutſchtum im Auslande, 


waren. Nicht zulegt haben deutſche Slaufleute, überwiegend Damburger und Bremer, 
dazu verholfen. In Handel und Induſtrie gingen fie bahnbrechend voran. An der 
Ausfuhr von Patras in Wein und Korinthen find überwiegend deutſche Häujer beteiligt. 
Anläßlich eines Feſteſſens zu Kaiſers Geburtstag hielt der deutiche Konſul in PBatras 
eine Rede und wies auf die Entwicdelung der deutjchen Kolonie in Patras und auf die 
Berdienfte der deutihen Kaufleute hin. Die deutfche Kolonie war in den vergangenen 
Jahren ziemlich zuiammengeichmolzen, beginnt aber nun tieder zu wachſen. Deutiche 
und Schweizer zeichnen fih in Patras durd gutes Einvernehmen und friedliches Zus 
fammenleben aus. 

Nordamerifa. Schon in der Frühzeit des nordamerifaniihen Buritaner- und 
Duäfertums, im 17. Jahrhundert, begann deutiches Weſen in Nordamerika feiten Fuß 
zu fallen. Zu Ende des 18, und zu Anfang des 19, Jahrhunderts, während des Kajfijchen 
Beitalters der deutichen Litteratur, wurden fruchtbare Anregungen binübergetragen und 
zwar durch junge Amerikaner. Im Jahre 1819 jah fich auch Goethe veranlagt, der Bibliothef 
der Harvard-Univerfität einige dreißig Bände jeiner Schriften zu überjenden „in Ans 
erfennung der Verdienste, die fich diefe Univerfität jeit einer langen Reihe von Jahren 
um die Pflege gründliher und anmutiger Bildung in Neus-England erworben hat“. 
Weitaus am ftärfiten waren die Rüdwirfungen deutſcher Kultur in Nordamerika dur 
die Einwanderung der fog. Achtundvierziger. Unter ihnen befanden ſich auch Gebildete in 
großer Zahl, Aerzte, Juriften, Theologen, Schriftiteller, Gelehrte, Leute von Talent und 
Charafter, die auf das nordamerifaniiche Staatsweien einen tiefgehenden Einflug aus: 
üben mußten, die befonders bei der Ausbreitung wiſſenſchaftlicher und fünjtleriiher Be 
ftrebungen, und bei der Verfeinerung des gelellihaftlihen Tones mitwirkten. Anderer— 
feit8 haben die Millionen Deuticher, die jpäter hinübergingen, dazu beigetragen, dem 
amerikanischen Volk neue Yebensfraft zuzuführen. Sn der Münchener Ortsgruppe des 
Bereins zur Erhaltung des Deutichtums im Auslande hielt Ende 1901 Profeſſor Kuno 
Frande von der Harvard-Univerfität einen Vortrag über deutjche Kulturarbeit in den Ber: 
einigten Staaten. Bon den Deutſch-Amerikanern jagte er, daß fie fich in der großen Mehrzahl 
ihrer Doppelaufgabe, gute Amerifaner und gute Deutiche zu fein, wohl bewußt find, doch 
müßten fie mit der Zeit immer beffere Amerikaner und immer bejfere Deutjche werden. Leider 
beichränften fie fich vielfach auf deutfchen Verkehr und fonderten fid) in viele Eleine lands: 
mannjchaftliche Vereine von dem großen Strome amerifanijchen Lebens ab. So nährten fie 
manche Vorurteile über ihre amerifaniihen Mitbürger. Am grundlojeften jei das Gerede 
von dem Mangel an Idealismus im amerifanifchen Leben. Schuld daran fei hauptſächlich 
die vernunftwidrige Temperenzlerei. Im großen und ganzen wirfe die nordamerifaniiche 
Kirche nidyt im Sinne eines fogenannten Mudertums, Die Müpigfeitsbewegung jei in 
ihrem Kern beredtigt und habe insbejondere dem nordamerifaniihen Studenten eine 
geiftige und Eörperliche Gefundheit, eine Friſche und Unichuld der Lebensauffaſſung, eine 
Empfänglichkeit für ideale Beltrebungen und eine Feinheit der gejellichaftlihen Form 
gebracht, die ihn vielfacd, vorteilhaft von dem deutichen Studenten unterjcheide. Aber 
auch noch beſſere Deutiche jollen die Deutichamerifaner werden, und zur Stärkung ihres 
nationalen Bemwußtjeins will da8 Germaniihe Mujeum an der Harvard-Uni— 
verjität beitragen. Zunächſt ift es berufen, ein Symbol germanijcher Größe zu werden. 


Paul Dehn, Deutfchtum im Auslande. 933 


Gleichzeitig wird es an der Bereicherung de3 amerifanijchen Yebens mitarbeiten. Durch 
feine Verbindung mit einer großen Univerfität (1901: 5000 Studenten) wird es feine 
Wirkungen weithin erjtreden, den Gejchmad, den geihichtliden Sinn und das VBerftändnis 
für geijtige Errungenſchaften fürdern und anderwärts. zu Ähnlichen Unternehmungen 
anregen. Einige deutiche Profefloren von der Harvard:llniverfität gaben die Anregung 
zu diefem Plan, und fie gingen dabei von der Ueberzeugung aus, daß die Stellung des 
Deutſchtums in den Vereinigten Staaten wie die nordamerifanifche Bildung überhaupt 
die Erridtung eines ſolchen weithin leuchtenden Denkmals germaniicher Geſchichte er- 
fordern. Aud) der deutiche Botjchafter von Holleben in Wafhington wies auf die Be- 
deutung des Unternehmens hin und ſprach ihm die Sympathieen der Neichsregierung aus. 
In eriter Reihe find e8 die Deutichamerifaner, die ſich dafür einjeten, aber fie finden 
in Nordamerifa auch andermweite Unterftügung. In den Borftand des Mujeums find 
auch Präfident Roojevelt, Botichafter White u. a. eingetreten. Außerdem hoffen fie aud), 
in der alten Heimat Mitarbeit fir das Unternehmen zu finden, das cin neues Band 
zwiſchen den Bölfern germanijcher Naffe diesfeits und jenfeit$ des Meeres bilden foll. 
Das Mufeum wird in einem Landesteil don vorwiegend angloamerifaniicher Bildung 
errichtet werben, weil es nur dort jeine Beitimmung, ein Bindeglied zwifchen deuticher 
und amerifanijcher Kultur zu fein, in ihrem ganzen Umfange erfüllen fann. Die Harvard: 
Univerfität iſt jeit ihren Gründungstagen die eigentliche Führerin im geiftigen und 
wiſſenſchaftlichen Leben Nordamerifas gemwejen und wefentlid” nach deutjchem Borbild 
organifiert worden. Dort fann das Muſeum dazu beitragen, den Sinn des nord» 
amerikaniſchen Volfes wie der europäiſchen Nationen auf die gemeinfamen Aufgaben des 
Kulturlebens zu richten. 

Mancherlei Anzeichen deuten leider darauf hin, daß das Deutfchtum in Nord— 
amerifa infolge der nationalen Gleichgiltigfeit der deutfchen Auswanderer und ihrer Ab- 
fümmlinge zurüdgeht. Ob die nationalen Beftrebungen der deutſchen Bereine dieje Ent- 
nationalifierung des Deutſchtums werden aufhalten können, iſt abzumwarten, bleibt aber 
immerhin zu hoffen. Eine gewijfe Ermutigung finden die Bemühungen diejer Vereine 
um die Erhaltung der deutjchen Art und Sprache in der Erkenntnis nordamerifanifcher 
Kreiſe, die deutiche Spradje zu erlernen. Bei den Bejuhern der Abendichule in Ein- 
cinnati veranftaltete der dortige Schulrat eine Umfrage über das Bedürfnis nad) Kenntnis 
der deutſchen Sprache. Aus der Antwort ergab ſich, daß nicht weniger als 80 Prozent 
diefer Abendichulen, die überwiegend von Angehörigen der niederen Bolfsklaffen nord» 
amerifanifher Herkunft bejucht werden, das Deutjche zu erlemen mwünjchten. Auch 
Aerzte, Anwälte, Ingenieure und andere Angehörigen der gebildeten Klaffen juchen ſich 
mit der bdeutichen Sprache vertrauter zu machen. Vielleicht werden durd) diefe Wert: 
fchätung der deutſchen Sprache von nordamerifanischer Seite jene Eltern ftugig gemacht 
und eines Befleren belehrt, die ihre Kinder in nordamerifaniihe Schulen ſchicken und 
ihnen den Unterricht in der Mutterfprache geradezu entziehen, auch da, wo wie in New 
Vörk, Chicago u. f. m. deutiche Schulen vorhanden find. 

Der Mufifverein von Milwaukee, 1850 gegründet, hat durd Oskar Burkhardt 
einen Rückblick auf feine halbjahrhundertjährige Thätigfeit veröffentlicht. Als diefer 
Berein im Jahre 1900 feine Sfubelfeier beging, hob Karl Schurz feine Verdienite um die 
Erhaltung des Deutichtums hervor, das er als eine unumgänglicde Notwendigkeit für 


934 Paul Debn, Deutichtum im Auslaude, 


die nordamerifaniiche Kultur bezeichnete. Aus der Beibehaltung und Pflege der deutſchen 
Mutterſprache, jagte Karl Schurz, blühen die anregenden Ünipirationen, die das Deutidh- 
tum in Rordamerifa zu jeiner eigenartigen Miſſion befähigt. 

Deutſche Schuggebiete. Seit Neujahr ericheint unter dem Titel „Die deutichen 
Kolonien“ in Gütersloh eine Monatsichrift für die fittlihe und foziale Hebung der 
Eingeborenen in den Schußgebieten, herausgegeben vom Baitor Guftav Müller in 
Sroppendorf bei Magdeburg. Die neue Zeitichrift trägt das Motto: „Kolonialpolitik iſt 
in der Hauptſache Eingeborenenpolitif* und will fortlaufend darüber berichten, was in 
den deutichen Schuggebieten wie überhaupt in den überjeeijchen Gebieten der Kultur— 
ftaaten zur fittlihen und fozialen Hebung der Eingeborenen geſchieht. In einem ein- 
leitenden Aufiak wirſt der Herausgeber einige wichtige Fragen auf: Wie gelangen wir 
dazu, daß die Eingeborenen der Schutgebiete unjere Herrichaft bereitwillig anerkennen, 
daß fie volles Vertrauen zu unſerem Regiment gewinnen? Wie werden die Stolonieen 
am eheften und im meiteiten Umfange für uns nugbringend, fo daß fie uns nicht nur 
nicht3 mehr koſten, jondern uns vielmehr einen Gewinn abmwerfen? Und wenn der 
größte Reichtum Deutſch-Oſtafrikas in der unerihöpflichen Arbeitskraft feiner Bewohner 
befteht — wie heben wir diejen größten Reichtum unjerer Beſitzungen? Wie gelangen 
wir dazu, daß die Eingeborenen ihre, Arbeitskraft in den Dienft der europäiſchen Unter: 
nehmungen und ıhrer Anlagen ftellen? Baftor Müller verlangt vor allem, da die 
Menjchenrechte der Eingeborenen geadhtet und beobachtet werden, da erziele die Kolonial- 
politif die erfreulichiten Erfolge. Als nächſte Forderung ftellt er die Aufhebung der 
SHlaverei und die Beſchränkung des Spirituojenhandels auf. Dagegen wendet er ſich 
gegen den Borichlag von Dr. Karl Peters, für die Neger einen Arbeitszmwang einzu: 
führen, ähnlicd) wie in Europa jeder Mann zur Ableiftung der Heerespflicht angehalten 
wird, melden Vorſchlag bereit8 Major Boshart Ende 18% gemadıt hat. Inzwiſchen 
ift von dem Kolonialrat die Einführung eines Arbeitszwanges als undurdführbar be- 
zeichnet worden. 

Burenftaaten. An dieſer Stelle (1901, Heft 2, Seite 296) wurde bereits auf die 
deutihe Schule in Johannesburg hingemwiefen, die bei Beginn des unjeligen Krieges 
300 Schüler zählte, von der Reichsregierung wie von der Transpaalregierung unterftügt 
wurde und nun durch den Krieg in ihrem Beſtande gefährdet erjcheint. Direktor 
G. Weidner befindet ſich fchon feit geraumer Zeit in Deutichland, um Intereſſe für dieſe 
deutſche Schule zu erweden, und es haben ſich Hilfſsausſchüſſe in Eiſenach, Gotha, Erfurt, 
Hannover, Straßburg, Münden, Breslau, Dresden, Yeipzig und Bremen gebildet, um 
freiwillige Beiträge zur Erhaltung diejes wichtigen Stüßpunftes für das Deutfchtum in 
Südafrifa aufzubringen. Niemand, der deutjch empfindet, kann darüber im Zweifel 
fein, was die deutiche Schule in Johannesburg bedeutet. Ginge es nad) den Wünschen 
der Engländer, fo bliebe fie geiperrt und würde niemals wieder eröffnet werden. Gerade 
unter den gegenwärtigen Berhältniffen ift die Erhaltung der deutichen Schule in 
Johannesburg eine nationale Pflicht, die jeder gute Deutiche mit bethätigen muß. Die 
Wiederaufrichtung der deutichen Schule in Rohannesburg hat neben ihrem nationalen 
Wert auch politiiche Bedeutung. Der Vorſitzende des Deutihen Schulvereind Profeſſor 
Dr. Alois Brand, Berlin, Haiferin NAuguftaftraße 73, nimmt Zumendungen entgegen. 

EIEN 


LOLILILILILILILITILILILILILILILILITILSLILILILSTILI LI LIH 


kitterariihhe Monatsbericte. 


Von 
Garl Bulſſe. 
v1. 


Noch einmal: Guſtav Frenſſen. — Offip Schubin, Marsla. — Thomas Mann, Buddenbrooks. 
Berfall einer Familie. — Iſolde Kurz, Unfere Carlotta. — 8. von Strauß-Torney, Bauernftolz. 
— Hermann Bang, Das weiße Haus. 

RB dem Lejerkreife der „Deutichen Monatsjchrift” find mir einige anonyme und nicht» 

anonyme Zufchriften zugegangen, die fi alle mit meinem legten fritiichen Artikel 
und insbejondere mit Guſtav Frenſſen beichäftigen. Sie berichtigen und fie fragen. 
Zu beidem möcht ich hier Stellung nehmen. Nicht nur deshalb, weil der dithmarfische 
Poet auf lange Fahre hinaus die Herzen des deutichen Volkes erfüllen wird; auch nicht 
deshalb, mweil ich mich des Wiederhalles freue und weil ich glaube, daß viele im ftillen 
denfen und fragen, was wenige in Briefen ausfprahen. Sondern vor allem: weil ein 
aanz jeltiames Problem dabei berührt wird. 

Ah Hatte in meinem letten Berichte von einem „gang unbefannten” Dichter 
geredet, der plöglich als Stern 'eriter Ordnung am litterarifchen Himmel erſchienen jei. 
Ich durfte das thun, denn ich glaube nicht nur felbit alles Bejondere, was in der deutjchen 
Dichtung kreucht und fleucht, zu fennen, jondern ich fragte auch bei vielen litterariſchen 
Freunden herum, ohne daß ein einziger den Namen Guſtav Frenſſen je gehört hätte. 
Da fünden mir Zufchriften aus dem Publikum, daß dieſer Guſtav Frenſſen „längſt“ 
vielen ein vertrauter Freund jei, daß er bereits zwei Romane vor dem „Jörn Uhl“ 
gejchrieben habe, daß befonders fein Bud; „Die drei Getreuen“ fi) einen Ehrenplag 
in zahlreihen Häufern errungen hätte. Das ift unzweifelhaft auch richtig. Die drei 
Bücher des Dichters find in jekt wohl über zehntaujend Eremplaren verbreitet, ohne 
daß die „mahgebende” Kritik eine Hand gerührt, ohne daß fie von dem Dafein diejer 
Bücher überhaupt gewußt hätte. 

Hier liegt das Seltiame, was zu denken giebt. Die außerordentlich geringe 
Meinung, die Eduard Hanslick, das kritiſche Drafel jo vieler Taufende, über die 
Wirkſamkeit von Kritiken heat, ſcheint hier eine Beftätigung zu finden. In hunderten 
von Blättern, in glänzenden Artifeln werden moderne Romane angepriefen — niemand 
fauft fie. Seine Hand rührt fich für ein anderes Buch, das den Namen eined homo 
novus trägt — und zehntaufend Menichen legen ihr gutes Geld dafür auf den Tiſch. 
Es ift garnicht anders denkbar, ald daß diejenigen, die durch Zufall, aus der Leih— 
bibliothek vielleicht, diefes gute, nirgends genannte Werk nelefen haben, in herzlicher 


936 Garl Buſſe, Litterarifche Monatsberichte. 


Freude es weiter empfehlen. Und jo trägt fich eine Weisheit von Mund zu Mund, von 
der die Fachleute noch garnichts wiſſen. Wan hat mir gejagt, für Frenſſen ſpeziell 
hätten fich ein paar Hamburger Buchhändler eingejegt, während in der Neichshauptftadt 
alles till blieb. Ehre den Wadern, die fich fo in des Dichters Dienst ftellen und durch 
eine jo ideelle Auffaffung ihres Berufes Jan Dichtungs- und Volksgeſundung treu mit- 
arbeiten! Klar ergiebt fich jedenfalls das Eine: alles Große und Lebendige fett ſich 
auch ohne die Beihilfe der Kritik, ja gegen jede Sritif durh. Das Rublitum zwar kann 
man wohl nicht gering genug ſchätzen, aber nicht hoch genug jchägen fann man das Bolt, 
d. h.: die überall verjtreuten Individuen, die unfere hiftoriich gewachſene Art, unjere 
Sträfte, Fähigkeiten, die Eumme der in Rahrbunderten entwidelten ſpezifiſch deutichen 
Eigenichaften ftärfer oder ſchwächer in fich verfürpern‘, die immer, feien fie hoch oder 
niedrig geftellt, den Bolfskern, oder im Gegenjag zum „Publikum“ ſchlechthin das „Bolt“ 
repräjentieren. 

Es ift ferner die frage gethan worden, wie das Schweigen der zünftigen Kritik 
im Falle Frenſſen zu erklären fei. Denn wenn aud) der „Jörn Uhl“ nod) nicht lange 
erjchienen wäre, jo gäbe es doch feit Jahren „Die drei Getreuen“. Nun, jo dankbar ich 
dem Zufall bin, daß gerade ich den eriten kräftigen Trompetenftoß für den dithmarſiſchen 
Meifter ins Land ſchicken konnte — es war eben dod Zufall, nicht Verdienft. Diejenigen 
Kritifer, die ettvas weiter gehört werden, find gewöhnlich jo überlaftet, daß fie garnicht 
zur Lektüre von Werken unbefannter Autoren fommen. Gin Zufall war es, da ich eine 
Seite des „Jörn Uhl” aufſchlug und, von der grandiojen Kraft der Sprache gepadt, weiter: 
las. Stein Zweifel, daß es nur eine frage von Stunden, Tagen, Wochen war, daß ein 
anderer hinter den Roman fam, denn der „Jörn Uhl* bricht jeden Widerftand. 


Ganz anders ſteht es mit den „Drei Getreuen“. Zwar jchrieb mir eine 
„Abonnentin der Deutfchen Monatsichriit”, daß dieſes Werk ſich mit dem „Jörn Uhl“ 
wohl mefien könne. Aber — und dies fei die Antwort auf bezügliche Anfragen — dem 
ift doch nicht jo. Die „Drei Getreuen” find ein Schöner Roman, der „Jörn Uhl“ ift ein 
Lebensbuh. Den „Drei Getreuen” fehlt in der erften Hälfte die Helligfeit, die den 
„Jörn Uhl“ von Anfang auszeichnet. Die „Drei Getreuen" haben noch manches Roman« 
hafte, find lange nicht jo ſchwer, jo wuchtig, jo tief wie der „Jörn Uhl”. Mean foll fie 
lejen, denn fie verdienen es wahrlich, aber man joll fie leſen gleidyjam als Vorbereitung 
auf das nachfolgende Meifterwerf. Nimmt man fie nach diefem vor, jo wird man troß 
herrlicher Szenen, bei denen man tief atmet, doch leije enttäufdht fein. Nach des 
Dichters eigenen Worten find feine drei Bücher — das erite „Die Landgräfin", kommt 
weniger in Betracht — drei gleich große Schritte aus Wolfenhöhen zu den Wohnungen der 
Menjchen. Der „Jörn Uhl" ift alfo um ſolch einen Riefenfchritt den „Drei Getreuen“ voraus. 

In Düffeldorf ericheint eine nur einem fleinen Kreiſe zugängliche Kunſt— 
zeitichrift, der Guſtav Frenſſen eine kurze Selbftbiographie geſchickt hat. Man wird mir 
Dank wiſſen, wenn ich fie hier mitteile. Cie lautet: „Gern erzähle ich Ahnen, daß ich 
in Barlt in Dithmarschen, jüdlid) von Meldorf, ald Eohn eines Tiſchlers geboren bin. 
Bater und Mutter find beide aus alt eingefefjenen Dithmarjchengefchlehtern. Unter 
den Vorfahren find Arbeiter, Dorfbandwerker, Paftoren und Landvögte geweſen, aber 
feine Bauern. Es fit alfo eine jahrhundertlange Sehnſucht in uns nad) ‚Bauer fpielen‘; 


Carl Buſſe, Litterarifche Monatsberichte. 937 


und e8 ift nicht unmöglich, daß ich aus diejer Sehnfucht heraus erzähle. Denn alle 
Poeſie fommt aus Not und Sehnfuht. — Meine Kindheit hat 13 Jahre gedauert und 
ift frei und lujtig gewefen, von wadern Eltern behütet. Mutter war immer in Sorgen, 
Bater war immer voll Hoffnung. — Nachher habe ic 13 Jahre lang um das Pfarramt 
freien müffen, mir nicht zur Freude, denn ich bin ein harmlofer, ummiffenfchaftlider 
Menih. Ich bin immer voll Berwunderung, wie weiland Adam auch geweien ift. 
Endlich habe ich es erreicht. — Nun bin ich ſchon 13 Jahre im Pfarramt. In Hemme, 
in Norderdithmarichen, wohne ic) unter einem uralten Strohdach. Und in diefen 13 jahren 
habe ich wieder freien müffen, zuerft um ein Weib, — das ift raſch und wohl gelungen; 
aber Kinder haben wir niit; — dann um Löjung von den vielen Studienjdulden — 
das ift ein fchweres Stück Arbeit geweſen; — dann endlih um eine Weltanſchauung, 
davon ift in „Jörn Uhl” zu lefen. — Nun bin id) 39 Jahre alt.“ 

Auch in diefer kurzen Selbitbiographie lebt etwas von der großzligigen förnigen 
Art des Dichters. Vielleicht nimmt diefer oder jener ihretwegen das Bud; zur Hand. 
Und für denjenigen, der noch immer zweifelt, will ich hier nod; etwas herjegen. Aus 
dem nächſten Freundeskreiſe des Braunſchweiger Alten ward mir gejchrieben, daß 
Wilhelm Raabe den „Jörn Uhl" gelefen und ihn immer von neuem als „ganz bortreff- 
liche8 Buch“ feinen Freunden empfohlen habe. Es freut, aus ſolchem Munde fein 
eigenes Urteil beftätigt zu hören. 

Alle andern Bücher, die man nach und neben einer jo unvergleichlichen Dichtung 
durchfieht, haben einen jchweren Stand. Der Alltag, der auf große Feſte folgt, ſchmeckt 
feinem. Und gerade das ift ja das Kriterium eines Meiſterwerkes, daß man fich nicht 
porjtellen kann, wie es, ſelbſt vom eignen Schöpfer, jemals übertroffen werden könnte. 
Bujftav Frenſſen wird Über den, Jörn Uhl“ nicht binausfommen, weil das Bud) in feiner 
Art nicht mehr zu überfliegen ift. Ich will verjuchen, die Erinnerung daran vollftändig 
zu bverbannen, ehe ich von anderen Erzählern rede. Und ich möchte mit einem in feiner 
Richtung völlig entgegengejeßten Werke, das jeden Gedanken an den „Jörn Uhl“ ausjchließt, 
beginnen. 

Diefes Werk ift „Marska”, eine Erzählung von Oſſip Schubin (Etuttgart, 
J. Engelhorn 1902). Man kann unmöglich mehr an Sandlung, oder jagen wir beffer: 
an Begebenheiten verlangen, als was auf diefen 156 Seiten zufammengepreßt ift. Dan 
bergegenwärtige fich Folgendes: der fleinen Marsfa it die Mutter geftorben, auf Ge- 
meindefojten wird die Waiſe erzogen, dient dann in einem Bauernhaufe als Gänfemagd 
und wird eine große Schönheit. Um auf eine Hochzeit gehen zu können, wo fie einen 
jungen Bauern wiederjehen will, giebt fie jich, ein halbes Kind, dem „schwarzen Fuhrmann“ 
für ein neues leid hin. Natürlich ftört diefer) ſchwarze Fuhrmann ein ſich entiwidelndes 
Liebesidyll. Da läuft Marsfa in die Welt, irrt herum, bis fie ein verlaffenes Hüttlein 
findet, und flüchtet vor einem furdjtbaren Gerwitter dort hinein. Plötzlich rollt ein Wagen 
heran, ein greller Blig — und als Marsfa die Hiitte verläßt, liegt der ſchwarze Fuhr— 
mann tot neben feinen toten Pferden. E8 giebt feinen Zeugen ihrer Schmad) mehr. Doch 
fie jubelt zu früh. In dem neuen Dienft, den fie antritt, erfennt fie bald, daß ihr 
Vergehen nicht ohne Folgen geblichen ift. Sie läuft wicder fort. Unter einer alten 
Weide gebärt fie ein Kind. Sie erdroffelt e8 und wirft e8 in den Sumpf. Drei Jahre 


938 Earl Buſſe, Pitterarifche Monatöberichte 


vergehen. Sie ijt ein ernites, braves, jchönes Mädchen geworden. Da führt ihr der 
Bufall den jungen Bauern in den Weg, der fie liebte und der ihr treu blieb. Die 
Hochzeit wird vorbereitet; Marsfa leidet furdtbar unter ihrer Schuld. Am Tag vor 
der Hochzeit wird fie von einer irrfinnigen Slindesmörderin, die alles ahnt oder alles 
weiß, dazu gezwungen, am Sumpf mit ihr Blumen zu pflüden. Sie kommen zu der 
Stelle, wo die Eleine Leiche ruht. Mit einem Schrei wirft fi Marsfa hin. „Lang= 
jam .. . langjam ſchloß fi das Moor über ihr.“ 

Ich habe dabei noch nicht erwähnt, daß fich ein Sinecht Marskas wegen aufhängt. 
Wie gejagt, mehr fann man für jein Geld nicht verlangen. Kraß, effeftvoll und ſpannend 
find diefe Morithaten auch erzählt. Es ift eine Art grujeliger Freude für Oſſip Schubin, 
wenn fie die Frage des vom Blitz erichlagenen ſchwarzen Fuhrmanns, die Erdroffelung 
und Berjenfung des Kindes, das Geſicht des erhängten Knechtes, dem die Zunge blau 
zum Munde herausitarrt, jchildern fann. ch wette zehn gegen eins, daß fie jelbft und 
alles, was weiblich ift, das Gefühl einer realiftifchen Kraft davor hat. Aber das iit 
nichts als eine gräßliche Blenderei. 

Im übrigen iſt das Bud) zwar oberflächlich, aber äußerlich glänzend geichrieben, 
jo glänzend, daß man den Wunjc nicht los wird, der Offip Schubin vom erften Wert 
ihrer Feder an begleitet hat: fie möchte einmal alles zufammenfaffen, was an wirklichen 
Können in ihr ift, der angeborenen Effekthafcherei, dem Kraß-Theatraliſchen entjagen und 
in höchſter künftleriicher Ehrlichkeit arbeiten. Aber fie „arbeitet“ immer auf Bhantafie- 
roffen bei Zirkusmuſik und fcheint zufrieden, wenn die Maſſe klatſcht. Dder fürchtet 
fie, daß, wenn fie auf das rafende Tempo und das ganze Brimborium verzichtet, vielleicht 
nichts bejondres mehr übrig bleibt? 

Man kommt von unſolidem FFlitterglanz in die jolidefte Yürgerlichkeit, wenn man 
zu Thomas Manns meitihichtigem Roman „Buddenbroofs, Verfall einer 
Familie“ übergeht. Vor der Raumverſchwendung, mit der alte Häufer gebaut find, 
ihüttelt man heutzutage ftaunend den Kopf; ähnliche Verwunderung erregt diejes Bud), 
das auf über elfhundert Seiten, in zwei gewichtigen Bänden, von dem Glanz; und 
dem Untergang der alten Lübeckſchen Patrizierfamilie der Buddenbroof3 erzählt. Bier 
Generationen erleben wir und jehen wir fterben; nichts Außergewöhnliches begiebt ſich; 
wir empfinden das langjame Seruntergleiten der Familie, ohne doc recht jagen zu 
können, worin es beiteht. Und eine zahllofe Menge fi abwechſelnder Nebenfiguren 
tritt hervor, breitet fich vor uns aus und verſchwindet, wenn ihre Zeit gefommen iſt. 
Faſt eine jede ift dabei in ihren Eden und Kanten, ihren Schidjalen und Eigentümlic- 
feiten glänzend erfaßt; ſie zog an einem fcharfen Auge vorüber, dem nichts entgeht, das 
jede gute und jede lächerliche Sonderart jofort aufnimmt. Und alles gruppiert fi um 
einen Mittelpunft, der es loje zwar, aber jicher aufammenhält. Die Generationen 
wechſeln: es bleibt die Firma, e8 bleibt der Name, für den fie ringen und fämpfen, zus 
fammenhalten und erwerben: der Name Buddenbroof, der doch fchließlid; mit immer 
ſchwächerem Glanze leuchtet und mit einem jcheuen, ſchwächlichen Knaben endlich erliict. 

Es giebt jo außerordentlich Vieles, was man an diefem Romane rühmen muR. 
Manches ift ſchon gefagt; anderes will nod) gejagt werden. Er ift folide und voll von 
fünftlerischer Ehrlichkeit vom eriten bis zum legten Wort. Er verſchmäht alle Mittel 








Carl Buife, Litterariſche Monatsberichte. 939 


gewöhnlicher Spannung, er geht ſtarken äußeren Konflikten eher aus dem Wege, als 
daß er fie auffucht. Er iit fein, ohne blaß; fräftig, ohne plump zu fein. Er iſt troß 
jeines großen Umfanges, troß feines Verzichtes auf alle außergewöhnlichen Geichehniffe 
faft niemals langmweilig — ein Beweis jeltener Kraft. An diefer Art fünnte ich fortfahren, 
von dem Roman zu reden, könnte die Objektivität der Anſchauung rühmen, fünnte die 
bewundernswerte Energie hervorheben, mit der ein Dichter ein jo umfangreiches Werf 
gleichmäßig durchhält, und könnte der vielen Feinheiten gedenfen, die faſt auf jeder 
zweiten Seite den aufmerfjamen Leſer erfreuen. 

Steine Frage alio, daß die „Buddenbroofs* zu denjenigen Büchern zählen, die fich 
weit über die übliche Romanlitteratur erheben. Und faft noch jtärfer denn als Dichtung 
wirfen fie als glänzendes Kulturbild voll überzeugender Kraft. Ach wüßte fein Werf 
zu nennen, das die Kreiſe der hanjeatiichen Kaufmannſchaft, der ſelbſtbewußten Patrizier- 
familien, der reihen Handelsherren und Senatoren fo getreu wiederjpiegelt, ihr Wollen 
und Wirken, ihr äußeres und inneres Weſen jo prächtig auffängt — auffängt beinahe 
ohne Haß und ohne Liebe. 

Dhne Hat und ohne Liebe — vielleicht jtugt diefer und jener bei diefen Worten. 
Sie verlangen wohl eine gewiſſe Einichränfung, denn Thomas Mann ift halt dody ein 
Menjchenkind und fein photographiicher Apparat. Schon in der Wahl des Stoffes, 
der Perſonen, der Schreibmweife bethätigt ſich ja jelbitverftändlidh daS Temperament. 
Doch man veriteht es vielleicht, wenn ich jage, daß ich in diefem gut und glänzend er- 
zählten Buche in ewiger Sehnſucht auf ein Wort, eine Stelle, ein Kapitel gemartet 
habe, durch die fich der Dichter mir menschlich näherte, wo jein heißes Herz oder jein 
Born einmal über die ganze „Objektivität“ fiegte, wo der Poet, der Menjch einmal mit 
dem Künſtler durchginge. Detlev von Pilieneron hat einmal jo jchön davon geiprochen, 
daß er in jedem großen Dichtwerk Stellen finde, in denen die ganz perjönliche Liebe 
oder der ganz perjünlihe Haß des Schöpfers hervorbreche, und daß er dieje Stellen 
befonders lieb habe. Da iſt dann eben das allbezwingende Temperament da. Man 
werje nicht ein, daß die berühmte Objektivität dabei zum Teufel ginge. Die rein 
äußerliche, von Spielhagen geforderte Objektivität allerdings; nicht aber die höchite innere 
Objektivität, die Wilhelm Raabe trog aller Querjprünge und Nandbemerfungen befigt, 
die im Jörn Uhl lebt, troßdem hier Liebe und Zorn gar herrlich und hinreißend reden 
und gejtalten. Wie fteht oben in Guftav Frenſſens Selbftbiographie? „Alle Poefte 
fommt aus Not und Sehnſucht.“ Aber das Bud Thomas Manns iſt nicht aus Not 
und Sehnjucht geboren, oder die Not und die Sehnfucht war zu Elein. 

Deshalb kann diefer Roman nicht hinreigen, deshalb läßt er im legten Grunde 
kalt, deshalb ſinkt er, auf den fo viel bedeutende geitaltende Kraft gewandt iſt, daß er 
einen eriten Plag einnehmen fünnte, doch vor andern Büchern zurück. Wir lieben nicht 
in dieſem Buche und wir halfen nicht. Man jage mir eine einzige Figur, bei der fid) 
Thomas Manns Herz gemeitet hat, als müſſe er Ste, die ſein Reinſtes und Beites trägt, 
fegnen! Man juche mir eine, vor der jein Zorn ich aufredt, in der er züdjtigt, was 
ihn jelbft gequält hat! Hunderte von Perſonen find da, alle gleich ſachlich, mit einer be= 
mwunderungswürdigen, ungeheuren Sadlichkeit behandelt. Nur bier und da fcheint für 
einen Augenblick ein menjchlich wärmeres Antereffe mit dem fünftleriichen Hand in Hand 


940 Garl Buſſe, Pitterariiche Monatsberichte. 


zu gehen. Etwa gerade, wie mich bedünfen will, in der Zeichnung des jungen Grafen 
Kai Mölln. Das berührt eigenartig in diefem Kaufmanns- und Bürgerroman, aber 
man erinnert fi, daß in Freytags Kaufmannsromann „Eoll und Haben“ uns die 
adligen Gegenfpieler zum Teil aud) lieber find. Uebrigens bleibt Graf Mölln eine gar- 
nicht hervortretende Nebenfigur. Und wieder ſcheint es, als ob fid) hier und da etwas 
aufbäumt in Thomas Mann gegen die zahlungsfähige Moral und die fteife Wohlan— 
ftändigfeit der Kreiſe, die er jchildert. Doch nicht ein großer Haß wird daraus, jondern 
ein Kleiner Aerger, der faum ausreicht, einen Nebenjat zu färben. Ein herrlicher Dichter: 
zorn würde diefen oder jenen Typus in feiner ganzen würdigen Menjchlichfeit bhinftellen, 
und das Stonterfei fünnte zum Strafgericht werden. Thomas Manns Aerger farifiert 
dann höchitens leiſe oder äußert fich in einem Wort ironifcher Ueberlegenheit. Alles in 
allem: zu der großen Anſchauungs- und Geftaltungsfraft, die den Roman ausgezeidnet, 
tritt leider nicht eine entipredyend große Gefühlsfraft, die alles durdjdringt und die das 
Bud und uns mit hebt. Und das iſt ein Mangel, den nichts einbringen, ein 
Mangel, der aud) allein nur erflären kann, wie ein Dichter ein jo umfangreiches Werk 
ohne zwingende Not nur aus künſtleriſchem Bethätigungsdrang zu fchaffen vermag. 


Tropdem jei denfenden Leſern der Roman, den ©. Fiſcher in Berlin verlegt hat, 
empfohlen. Etrömt die Wärme hohen Menſchentumes nicht auf uns über, jo erzwingt 
fiheres Künſtlertum in Anlage und Durdführung unfere bewundernde Achtung. Wie 
das Beitmilieu befonders am Anfang gegeben ift, wie die Generationen auseinanderge- 
halten find, wie die verichiedenen Eterbeizenen, denen wir beimohnen, immer eigentümlich 
geichildert werden, wie der materielle Grundzug diefer Lübecker Patrizier, die Freude am 
„deftigen“ Gfien, die Beeffteaffreude, durchgehalten ift — wir jpeijen Eeiten, ja Kapitel 
lang alle Gerichte mit —, mie jorgfältig jede Figur bis zur geringsten ausgemalt wird 
und wie fchließlich, nidyt etwa aus Schuld, jondern teils durch midrige Aufälle, teils 
gleichfam nach dem ehernen Geſetze des Auf: und Abftiegs die Buddenbrooks hinabgleiten 
— — das wird jeden feineren Leſer interejfieren und er wird ein verſtändiges, etwas 
nüchternes, aber folides und doch feines Bud) aus der Hand legen. Allerdings vielleicht, 
um es nicmals wieder aufzunehmen. 

Ein andere Welt thut in ihren jparfamen Schöpfungen Iſolde Kurz auf. Ein 
fühner Vergleich will in Yübed ein nordiiches Florenz jehn; Iſolde Kurz hält ſich lieber 
an das richtige Florenz. Gegenüber den ſchweren Niederdeutichen mit ihrer Verſchloſſenheit 
des Weſens, der Verhaltenheit der Gefühle, die ſich äußerlich nicht frei ausdrücken, bevor: 
zugt fie die einfachen Naturen des Südens, bei denen jede Erregung mit ftarfer Unmittel- 
barfeit den Weg zur Gebärde findet. Doc, auch fie erzählt mit großer fünftleriicher 
Ruhe; wie ein plaftiiches Bildwerk muß fich die Heldin vor ung erheben; ja, id) hatte 
den Gindrud, als wäre fie von Anfang an nad antifen Statuen geichaffen oder mit 
allen Mitteln ficherer Kunſt ihnen genähert. Es liegt nicht in der Art von Iſolde Kurz, 
ftärfer aus fid) herauszugehen. Wie fie ſich vor der Welt und allem Fremden verichließt, 
fo verjchließt fie fich gleichſam auch in ihrer Dichtung. Sie verjchtwindet völlig hinter 
dem Werk ihrer Kunſt. Es ift immer ein voller, ficherer, untadelhafter Anſchlag da, ein 
vornehmes, ftarfes und jelbftbewuhtes Weiterführen und Bollenden, aber jelbit in ihren 
Schönen Gedichten fehlt jeder Schrei aus Not und Sehnſucht, jedes ungeftüme Ausſich— 


Earl Buffe, Yitterarijche Monatöberichte. 941 


herausgeben. Es iſt, als ob die Ummittelbarkeit des Empfindens, gleichjam aus jeelischer 
Scham heraus, vorher gedämpft und abgeſchwächt, jedes Gefühl objektiviert ift. Nur 
einmal Klang ein tieferer Ton, ein zitternder, verhaltener Schrei, da fchuf fie ihr beftes 
Gedicht, das bleiben wird: „Die erſte Nacht“, die erite Nacht im Grab mit der herrlichen | 
Schlußſtrophe: \ 
„Die Stunden fchleichen — ſchläfſt Du bis zum Tag? 
Horchſt Du mie ich auf jeden Glodenfchlag? 
„Wie kann ich ruhn und fchlummern kurze Friſt, 
Wenn Du, mein Lieb, fo fchlecht gebettet biſt?“ 


Die neuefte Erzählung von Iſolde Kurz „Unſere Carlotta“ (Leipzig, Hermann 
Seemann Nachfolger) zeigt die vertrauten, oben vermerften Züge. Ein „menjchgewordener 
Urtrieb“, ein herrliches „Bronzeweib“ ſteigt wie eine „antife Koloffalftatue” vor uns 
auf. „‚stalien“, jagt eine Berjon des Buches und mit ihr wohl Iſolde Kurz, „it und 
bleibt das Land der großen Menjchheitstypen, die ewigen Urbilder wachſen hier immer 
wieder nach . . . Was ſonſt des Dichters Aufgabe ift, das thut hier die Natur felber: 
fie vereinfacht die Geſtalten. Zum Beiſpiel: Verliebte, Eiferfüchtige, Nachgierige giebt es 
in jedem Land; aber die Liebe, die Rache, oder nehmen Sie weldyen Inſtinkt Sie wollen, 
ganz in einer Perſon verkörpert wie in der antifen Tragödie, das finden Sie heute nur 
noch in Stalien.* 

Nun fennt man zwar dieje italienifchen Geichichten zur Genüge, und „Unijere 
Garlotta“ hat rein ftofflic) auch nichts Außergewöhnliches an ſich. Das bäurijche Dienjt- 
mädchen, der ſchöne Koloß, liebt einen Don Juan, aber hält fid) rechtlich, denn fie weiß, 
Daß er fie nie heiraten wird. Sie hat eine tiefe ungeftüme Sehnſucht nad) einem Sind; 
deshalb verlobt fie fi mit einem Krämer, und, um fich jelbft den Rückzug abzujchneiden, 
giebt fie fi) dem Ungeliebten ſchon vor der Hochzeit hin. Aber nun zieht der 
Ehrenmann ſich ſacht von ihr zurüd. Als fie erkennt, daß fie betrogen ift, ſtößt 
fie dem nie Geliebten das Meifer ins Herz. Dieſe Gejchichte läßt Iſolde Kurz von einer 
Dritten Perſon erzählen. Das fteigert die Wirkung gewiß nicht, aber es giebt erwünſchte 
Gelegenheit, auch von Leidenfchaften mit Nuhe zu reden und das Grelle zu dämpfen. 
Ammer und überall fieht man das Beitreben, mit Ausfchaltung alles Nebenfächlichen auf 
die großen Grundzüge zurüdzugehen und das Andividuum zum Typus umzuſchaffen und 
zu erhöhen. Faſt zu oft und faft zu ablichtlih wird an die antifen Tragödien und 
Statuen erinnert, das Stolofjale, Einfache, Mächtige, Unbemwegliche betont. Alle Bergleiche 
bervegen fih in diefer Linie. „Wie das Verhängnis“ fährt Carlotta zur Beitrafung des 
Unmwürdigen aus, und noch in der legten Zeile wird fie ala eine Geftalt angefprochen 
„wie aus den Blättern des Alten Teftaments herausgeftiegen“. 

Neben dem Büchlein der überall mit Hochachtung genannten Dichterin, von der 
man bei ihrer geringen Broduftion jehr wohl alles leſen kann und ſoll, fordert ein 
Bindhen Dorfgeihihten Gehör, das Yuluvon Strauß und Torney, die Enkelin 
bes befannten Liederdidjters, im gleichen Verlage herausgab. Sie hat fid) in litterarifchen 
Kreiſen durd einige Schöne Gedichte Freunde erworben; fie bethätigt fi) nun als Fräftige 
Erzählerin, die jentimentale Klippen meift mit Glück vermeidet und der herben Schönheit 
vor der ſanftſüßen jchon jet gern den Vorzug giebt. Aber man merft es Diejen 


942 Carl Buſſe, Pitterariiche Monatsberichte. 


"„Bauernftolz“ betitelten Dorjgeihicdhten aus dem Weierlande doch ar, dat Lulu von 
Strauß mit Verſen anfıng. An der Erfindung der Fabel hat fie — im Gegenjag zum 
geborenen Erzähler — nicht viel Glüd, dagegen iſt alles ausgezeichnet, was Zuftands- 
ſchilderung iſt. So gefallen mir am beiten die ganz Kleinen Skizzen; am wenigſten etwa 
Erzählungen wie „Dinter Schloß und Riegel" und „Wafler“. Es ift überraichend und 
doch auch wieder ganz verjtändlich, daß dieſe Dichterin, jo lange fie ganz auf Heimats 
boden jteht und ihre Bauern reden läßt, einen kräftigen Realismus, eine gejunde Herbheit 
und ſelbſt Anjäge zu eigentümlicher Art befigt umd daß fie fofort in unglüdliche Halb- 
heit und jchlecht verdeckte Sentimentalität verfällt, wenn fie vom Acker läht, um uns 
etwa ins Zuchthaus zu führen. Die drei erſten Erzählungen wird man mit Vergnügen 
leien. Lulu von Strauß liebt ihre Bauern, ihre harte Art, ihren Etolz, ihre Bräuche. 
Der jo ganz unromantishe Schluß von „Um den Hof“ ift jchr fein, und auch in der 
Titelnovelle wird man durd) die Art, wie die Erzählerin den konventionellen Bahnen 
ausweicht, angenehm berührt. Man wird fih allerdings fragen müfjen, inwieweit das 
„Platt* zu dem Eindrud erdfräftiger Art beiträgt. 

Wir wollen das Bud als ein Verſprechen nehmen. Der Schlag, der da im 
Weferlande fit, entmwidelt ſich ſchwer und langjam, aber geht ruckweiſe vorwärts. Und 
fo befteht die Hoffnung, daß diejen eriten kräftigen Anfägen noch volle Akkorde folgen. 

Den Deutſchen jei zum Schluſſe ein Däne angereiht, bei dem man in guter Ge 
fellihaft ift. Diefer Düne, Hermann Bang, hat allerdings feinem neuen Bude ein 
Motto von Georg Dirichfeld vorangeftellt, dem janften jentimentalen Schwächling; es it 
ferner nicht angegeben, wer dies Buch überjett hat, fo daß man zweifelhaft werden kann, 
ob Bang es nicht jelbft etwa im deutjcher Sprache fchrieb. Aber dieſes Deutſch ift 
andrerjeits wieder jo bvortrefflich, dat ein Ausländer e8 niemals jo bei der Hand hätte. 
Wie dem auch jei: der fleine Roman „Das weiße Haus“, ift aus einer Dichterſehnſucht 
geboren, und in Dichterworte gekleidet. Es iſt gar fein Roman, es ift ein feines 
fchönes Gedicht, in dem die Tage der Kindheit zurüdfehren, in dem durch helle Stuben 
die leichten Schritte der Mutter Elingen, in dem vergefjene alte Lieder wieder aufleben. 


Aber man muß dabei nicht an die fogenannten „Sedichte in Proſa“ denfen, denn damit 
thäte man dem Buche unredht. Diefer übliche poetiiche Miſchmaſch, diefe Stilverwirrung 
ift ja immer ein Zeichen der Schwäche. Wenn die Kraft zur feiten Versbindung nicht 
ausreicht, läßt man das Formloſe als lyriſche Proja laufen. Das thut Bang nicht. 
Aus aller feinen Inriichen Stimmung heben ſich die Perſonen in fiherer Begrenzung 
hervor, ob fie auch heimlich und leiſe wandeln wie in einem fchönen Gedicht. Eine 
traurig ſüße Melodie klingt durd; das ganze Buch, fie löſt fih am Schluſſe nicht, fie 
bricht Still ab und könnte ebeniogut noch eine Weile weiterflingen. Man fieht ſchon 
daraus, wie wenig diefer Roman eben ein Roman ift. An der dämmernden Beleuchtung 
der Erinnerung fteht das weiße Haus, es ift uns allen befannt und es bleibt dod) ein 
Nätjel. Es ift alles ſchon zu lange her, als daß man es genau willen könnte . 
Wie fein ift die Mutter gezeichnet! Und doch müffen wir das Xieffte in ihr erraten. 
Iſt fie nicht glücklich, weil ihr Herz an einem hängt, der ihr für immer verloren ift? 
Auch das wird nicht geſagt. Man kann fich dies oder das jelber dazu träumen. Und 
der Vater fcheint eine Laſt zu tragen und jcheint die Mutter ſehr Lieb zu haben und 


Carl Buſſe, Litterarifche Monatsberichte. 943 


betrübt zu jein, als hätte fie ein reicheres Glück durd) ihn verjäumt, aber aud) das liegt in 
Dämmerung Es iſt alles gleichſam mıt Slinderaugen gejehen und aufgenommen, und 
alle Kombinationen, die der Erwachſene in der Erinnerung an dies oder das Fnüpft, find 
fortaelaffien. So meint man am Schluſſe, ed müßte immer nod) etwas kommen, eine 
Löſung, ein Erklären, aber wie gefagt: die Melodie bricht furz ab, und mit gejchloffenen 
Augen finnt man dem Ganzen nad). 

Eine Empfindung, die mid) beichlich, will id) nicht verhehlen. Ach fühlte einmal 
einen ganz leilen Widerſpruch zwiichen der Kindheits- und Mutterjehnfucht, und der Art, 
wie die Mutter bier gejchildert ift. Gleichſam als ob man fo über feine Mutter 
nicht jchreibe. Aber ſchon diefe Worte find wohl zu laut und zu gewichtig für Die 
Teife Empfindung. 

Es wird SonntagNahmittage geben, wo man gern diefe Seiten umſchlägt. 
Etwa wenn draußen lautlos der Schnee fällt, oder wenn im ftillen Garten die Stodrofen 
blühen. Es muß SFriede ringsum fein, und man muß voll Sehnjucht nad; dem weißen 
Haus der Kindheit Schauen. Das Buch, das man hält, wird dann bald finfen. Aber 
es hat uns etwas von feinem Beſten abgegeben: man dichtet uud träumt dann jelber... 


1% 
Bem deutlichen Künftler. 


Sei, was Du bift, ein Deutfcber Abann, 
Und lafz Dir deinen Wert nicht fchmälern; 
Und wer nicht anders deutſch fein kann, 
Der fei es felbft mit Deutfchen Feblern. 


o 
 Erhalt’s! Blühendes Alter. 
Was andre einft errungen baben, Rote Wangen, weifzes baar, 
ZBimms willig bin als ibre Gaben. Wler fo kommt, er fei willkommen! 
ZErbalts der Welt und forge du, Bat er Doch ein Rofenpaar: 
Daf; noch was Befftes kommt binzu. $n den Winter mitgenommen. 
oO o 
Erbau’ dich! Eine moderne Bieta. 
Zergliedre, wer zergliedern will, Wleich’ ein Bild! ABich Lafzt ein Grauen; 
Ein feines Recbenerempel — Balb verweft das Angeficht! 
Vor wabrer Kunft erbau’ Dich Still, Blaue Hugen möcht’ ich fchauen, 
Sie trägt der GBottbeit Stempel. Aber blaue Lippen nicht. 
o o 


Die wahrhaft Jungen. 
3a, lerntet ibr die „Alten“ beffer kennen, 
$br würdet fie, — nicht eu, — die „Jungen“ nennen. 


Aus: Tand für Künftlerhand Gin» und Ausfälle von Georg Bang. 
Frankfurt a. Main. Berlog von Heinrich Seller. 1902. 


— Date ut — — — 






ERSTE GB IEBHT HIT, 
VENEN 





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Vom deuticen Theater. 


Don 


Fri bienhard. 


Vernüchterung deö modernen dramatifchen Schaffens. — Subermanns „Es lebe das Leben — 
Yucians Satiren. — Henry Bierfon +. 


&" Ueberblif über den deutjchen Bühnenipielplan des verflofienen Jahres regt zu 
bedeutjamen Erwägungen an. An der Epite der Aufführungsziffern fteht Otto Emmi 
mit feinem „Flachsmann“ (951 Vorſtellungen). Dann folgt Sudermanns Johanni— 
feuer* (727), Hartlebens „Rojenmontag“ (715), die „Dame von Marim“ (400), ber erft 
Teil von „Ueber unfere Kraft“ (400), Blumenthals Luftipiel „Die jtrengen Herren“ (388, 
Damit fünnen wir bereits aufhören. Denn auch die nädjitfolgenden Stüde im diejer 
ftatiftiichen Reihe beftätigen nur das, was wir mit diefer Aufzählung jagen wollen. 

Wir wollen mit diefer Aufzählung jagen, daß das deutihe Drama hohen Stils 
weggefegt ift von unjerer Schaubühne. Wir wollen jagen, daß ftatt jeiner überall und 
unbeſchränkt das bürgerliche Theaterſtück herrſcht. Ich fage nit Drama, jondemn 
Theaterftüd; und ich benute den überlieferten Ausdrudf bürgerlid, der einen Gegeniaz 
bildet zum biftoriichen Drama, zum poetiihen Drama. Man hat jenes bürgerlide 
Theaterſtück aud) gekennzeichnet als Stubendrama, als Vierwändedrama (im Gegenfat 
zur Farbenfreude der Landſchaft und ihrer bunten Gejchehniffe, ihres mannigfaltigen 
Szenenwedjjels), als Problemdrama, als vernünftelndes Drama. Als PBater dicjes 
bürgerlichen Rührftüdes oder Tendenzjtüdes kann man bereit3 einen franzöfiihen Ench 
lopädiften des vorigen Sahrhunderts, Diderot, namhaft machen, einen Mann 
von Perdienjten, was Berjtand und Aufklärung betrifft, einen Mann von Be | 
ichränftheit, was höhere und echte Poefie anbelangt, von poetiſcher Bejchränttheit, jage 
ich, wie fein ganzes Zeitalter, das zwar einen Voltaire zeitigen und das überhaupt | 
fcharf „umwerten“ und Eritifch zerfeßen Eonnte, das aber zur Leuchtkraft plaftifcher Dichtung 
nicht genug Sammlung der Gemütsträfte beſaß. Bei uns in Deutihland hat der 
tüchtige ffland, bedeutend als Theatermann, mittelmäßig als Dichtersmann, dieſe Art 
von behaglichem Plauderſtück, das nicht mehr den Aufſchwung entfeflelter Dichterkraft 
fennt, mit Erfolg gepflegt; jodann, nad) trivialerer Seite hin, der bühnengewandte Kotzebut | 
Bon Einfluß auf die Technik diefes Gegenmwartftüdfes wurde der fleitige Franzofe Seribe 
der für die Slompofitionsart der Dumas, Augier, Sardou bereit3 bezeichnend if. Auch 
die erfolgreiche Charlotte Birch: Pfeiffer Liegt in diefer Entmwidelungslinie. Und nun — 
ja, nun fomme ic) zu einem Bunft, in dem ich von den meiften zeitgenöffiichen Beurteilen 
abweiche. Ich erkenne Ibſens Gejamt-Bedeutung, ic unterſchätze nicht feinen Einfluk 


Fritz Lienhard, Bom deutſchen Thenter. 945 


auf die moderne deutiche Dramatik. Aber jelbft beim neueſten Erforfcher der hier 
roirfenden Zufammenhänge, bei Yamprecht in jeinem Ergänzungsband zur Deutjchen Ge- 
fchichte, worin er dem Gewebe der jesigen litterariichen Strömungen methodiſch nachgeht, 
vermiſſe ich eine Aufdeckung der Verbindungslinie zwijchen Ibſen und jenem bürgerlichen 
Drama, das vom moralifierenden Aufflürungsbürger Diderot ausging, juft in der Zeit 
ausging, als das Königtum des Abjolutismus jeinem Untergang entgegentrieb, als eine 
Epoche verhängnisvoll abgeichloffen wurde und das Bürgertum der Neuzeit zu ent- 
Tcheidendem Worte fam. Ibſens Technik, jage ich, mit dem Schwerpunft auf dem Dialog, 
Ibſens langſam-kluges Entwideln der Handlung, Ibſens PBroblem-Stellung: — ift dem 
eigentlihen Kern und Weſen nad) nur ein Höhepunft des bürgerlichen Dramas, vertieft 
durch modernen Gehalt. 


Wenn wir aber das bürgerliche Drama jelber mit der großen Poeſie aller 
Zeiten und Bölfer vergleichen — mie müffen wir jchliegen? Wir müſſen jchließen: Hier 
Liegt eine folgerichtige und bewußte Bernüchterung der dramatiſchen Poeſie vor. 
Eine Vernücterung, bei der unjer Drama zwar an plaftiicher Deutlichkeit, modernem 
Erörterungsgehalt und forgfältig mathematifchem Dialog gewonnen hat, bei der aber in 
gleihem Maße die Leidenschaft, die Flugkraft, die wundervollen Horizonte ſprach— 
gewaltiger und fremdichöner Poefie verdufteten und entwichen. 

So ftellt fih mir dieje Entwidlung dar. Seine Aufmwärtsentwidlung, mas die 
Hauptſache anbelangt, die feelifche und poetiſche Schwungfraft! Unſere beiden Klaſſiker, 
dann noch Kleiſt und Grillparzer, Hebbel und Ludwig ftehen vereinzelt in diefer unauf: 
haltſamen Entwidelungsreihe. Wenn wir nicht — wie viele wollen — Richard Wagner 
als einen Höhepunft des Dramas hohen Stils annehmen, jo it niemand zu verzeichnen, 
niemand, der die Traditionen de8 Dramas großer Form in Europa weitgeführt 
und fortentwidelt hat. Sch unterfchäge nicht die feine Ausbildung des bürgerlichen 
Dramas. Aber daß wir, wie id oben nachzuweiſen fuchte, derart überwuchert find 
mit dieſen einjeitigen Problemen, mit dem faſt ausichlieglichen Tendenz: und Problem: 
ſtück: das ift einer Nation der Dichter und Denker nicht würdig. 

Bon bier aus treten wir nun bei Sudermann ein. Ueber die Wurzeln feines 
Schaffens ift mit Obigem bereit3 unjer Urteil ausgeſprocheu. Mit jeinem hervorragenden 
theatraliihen Talent fteht er etwa in der Mitte zwiichen dem herberen und tieferen 
Geſellſchaftskritiker Ibſen und den glätteren und amüfanteren Franzoſen. Die ganz jpegielle 
Technik Ibſens, deffen eigenartiges und hierin meifterhaftes rückſchauendes Entwideln 
der Handlung auf einem jchmalen Plätchen unmittelbar vor der Kataſtrophe, macht er 
nicht in diefer ftrengebedächtigen Geichloffenheit mit; dazu hat er zuviel Theater-Unruhe. 
Hierin neigt er mehr zu dem breiteren Plauderton der Franzoſen, die ja im übrigen, 
dem Prinzip nad, gleichfalls möglichit knapp auf den einen Ort und in möglichft fnappe 
Zeit die Handlung zufammendrängen, um eine nahe, intimere, lebenswahricheinliche 
Wirkung zu erzielen, um ihre Theaterfiguren vernünftig und glaubhaft zu machen. Auch 
inhaltlich neigt Sudermann zu den höflichen Boulevard-Dramatifern: von der „Ehre“ 
an bis zum „Sohannisfeuer* zieht ev einen gewiſſen Kompromiß der fonjequenten 
Kataftrophe vor. Das liegt wiederum tiefer. Seine gejamte Behandlungsmweije hat 
den rauhen Naturalismus und den rauhen Ernſt fittlicher Forderung gleicherweife 

60 


946 Fritz Lienhard, Bom deutſchen Theater. 


vermieden zu Gunſten eines Salontones, der die Tragif abichleift, aber Bifantener 
nicht verijhmäht. Er verlegt nicht durd) Unbarmherzigkeit, er reißt nidht bin in lade 
ichaftlihem Schwung des tragijchen Genies, der durch eine Welt voll Seelen mandel: 
er verjöhnt nicht durdy wahrhaft reine Herzensheiterfeit: er verlegt vielmehr durd ar: 
unbeftimmte Berlogenheit, durd; da8 Darüber-hinweg-plaudern, die dem Gejellidatt: 
mann eigen find. Es liegt wie ein feiner Batdhouliduft über Sudermanns Geftalter 
Er lebt, alles in allem, in der Welt der poetiſch verbrämten Vernunft. 


Wenn nun Sudermann über ein neues Stüd die ftolgen Worte der Kraft jchret: 
„Es lebe das Leben!“ — mer giebt fih Erwartungen hin? Der poefledurftige um) 
lebensduritige Kenner jeiner Dramen von vornherein nicht. Wie herausfordemd dieie 
Auf! Wenn uns heute ein genialer Yebensfünder quer durd alle Geiellichaftsfloste: 
hindurch, mit der Geiſterſprache der Poeſie und gleihrwohl in feiterem Erdgewand, hinein 
und hinanrifje in die flutende Lichtkraft wahren Lebens! Wie wäre das ein Aufatmen' 
Und was für ein Dinausjubeln! Willen wir denn, wir im Alltag, wir in den volle 
Städten mit den vielen Staatsbürgern, Vorgejekten, Kollegen und NRüdfichtnahmen: — 
wilfen wir denn nod), was volles und großes „Leben“ ift?! Wo fönnen wir denn ie 
„leben“?! An der Gejellihaft nicht, im Staate nicht, im Raume nicht: aber in umferem 
Seelenbereic vermögen wir jo zu leben! Und mit der Sprade der Seele zu dan 
Tiefften und Stärfften in uns zu ſprechen und in unferem Willen und Gemüt em: 
jubelnde Antivort zu weden: das nenne id) Dichterpflicht! So giebt uns der Dichter ir 
jeinen Gejtalten und Worten Yeben von jeinem Leben, jo giebt er uns Yicht, jo befördert 
er unfer Wadhstum! ... 

Sudermann, — wir find wieder bei Hermann Sudermann — erzählt uns in fünf 
jorgjam gearbeiteten Akten, die dem Theatertalent des Verfaſſers wieder alle Ehre machen 
als Gejellihaftsmenid das Schickſal von Gejellihaftsmenichen, in der Sprechweiſe und 
im Bezirt der Gejellihaft. Die Gattin eines fonjervativen Adeligen hat fich vor 
15 Jahren mit dem Freunde des Haufes fträflich vergeſſen; inzwijchen ift die jündige Yiebe 
der Beiden bei ihm zur Freundichaft abgetönt worden, der auch fie jich fügt, obwohl ihr 
Herz dauernd nur dem Einen, dem Freunde, gehört. Und nun, unter allerhand Ber: 
wiclungen gejellfhaftliher und politiiher Natur, droht jenes Bergehen jpät an die 
Deffentlichkeit zu fommen; auch der Gatte erfährt davon. Und damit ift die Frage 
ftellung und die Erörterung in vollem Gange: mas thut jet der Gatte? wie benimmt ſich 
der Freund? wie löſt fich der Sinoten? Kurz, man fieht ordentlich die Herren auf der 
Bühne beifammen ftehen und den Zeigefinger der Rechten bald nachdenklich an die Stirn, 
bald räjonnierend an den linken Daumen legen. Sudermann, der Broblemdramatiter, 
vertieft fi) hier. Ein gemöhnliches Duell wird verworfen, ein amerifanijches gleich— 
falls; der Sohn des Uebelthäters fällt ahnungslos feinem Vater jelbit das Urteil, 
als ihm der Fall, jcheinbar abjtrakt, vorgetragen wird: der Verbrecher muß ſich anftand® 
halber erjchiegen. Aber die Frau erfährt davon, fie fommt diefer That zuvor, fie ver: 
giftet fich ſelbſt. Und plöglih nun — muß er, der Freund, leben bleiben! Wie, 
wiejo, warım? Iſt er denn entjühnt? Hätte fein Selbitmord etwas gefühnt? Sühm 
überhaupt Selbftmord? Er muß nun leben, jagt der Berfajfer. Der Vorbang fällt; 
wir find aus dem dramatiihen Räfonnement entlafjen, deſſen lebenswahre und geſchick 


Fritz Lienhard, Vom deutfhen Theater. 947 


ineinandergearbeitete Einzelheiten hier weiter nicht dargelegt werden können. Bemerkt 
ſei nur der höchſt Sudermannſche Zug: der Sozialdemokrat, der die einzig fompromit: 
tierenden Briefe befitt, giebt fie in einer Regung von Edelmut dem Miffethäter zurück, 
fo daß ein öffentliher Efandal, Gott jei Danf, nicht weiter zu befürchten ift. Nur die 
Privattragödie zwijchen den Dreien fpielt noch weiter; aber auch dieſe wird durch den 
Selbftmord der Gattin, Die, wieder um die Welt zu täufchen, während eines Mahles Gift 
nimmt, erledigt. Die beiden Männer leben weiter zu Nuten der konſervativen Partei. 
Niemand weiß von der Berfehlung. Mag es nun bewußte ſatiriſche Abficht des Liberalen 
Dichters jein, dab er das Vertuſchen vor der Welt eine jo entjcheidende Rolle in diejen 
als defadent gezeichneten, aber gleichtwohl vielfach mwillenszähen, von der bedeutenden Frau 
überragten Kreiſen jpielen läßt: wo ift hier jenes fieghafte, befreiende Reben, dem wir 
aufatmend zujubeln möchten? 

Wir wollen indes nicht die Räſonneure diejes Sittenftücdes durch eigenes Erörtern 
nachträglid; vermehren. Die fejjelnde Darftellung, die Führung des Dialogs, der intime 
Meiz des Salon: und Parteilebens erklufiver Adelskreife wird das Publitum eine gute 
Beitipanne hindurch feſſeln. Aber freimachende Porfie?,... 

Im Berliner Theater hat Lindau, nicht als erfter freilich, mit Erfolg den Verſuch 
unternommen, die jatiriichen Dialoge des ſpäten Griechen (Afiaten) Lucian jzeniich 
Darzuftellen. Man konnte, in umftändlicher Szenerie, gelegentlich von ftimmungfördernder 
Mufit begleitet, „Zimon, den Menſchenfeind,“ „Die Fahrt über den Styr,“ und den „Hahn,“ 
alle drei leiſe modernifiert, mit Behagen anhören. Es ijt ein anmutiges Experiment von 
freilich nicht mehr als jpieleriichem Wert. Lucian, der Epätgrieche, (F 200 n. Chr.) ift 
Sohn einer Verfalläzeit. Die hehren Götter waren aus den Herzen entihront und 
mußten zu Späßen herhalten; ein neuer Glaube war nod) nicht fieghaft in das Gefühl 
eingedrungen. So gediehen Spott und Satire, gedämpft durch eine allgemeine Moral, 
die nicht viel bejagen wollte. Gelegentlich wird nun bier, 3. B. in der Unterwelt, durch 
den Gegenjag der ftimmungsvoll düfteren Szenerie — Totenſchiff, deffen weißer Bug 
als ein riefiges Gerippe nebft Rieſen-Totenſchädel in das Düjter ragt, blaudunfles 
Geklüft, Ankunft der ſpinnwebgrauen Echatten — und der faulen Späße der Sprechenden 
eine groteske Luſtigkeit erzielt, die aber, genau betrachtet, doch nur Offenbachſcher Art 
ift. Ein Dichter von plaftiiher Kraft und Phantafie, vor allem aber von fittlicher 
Hoheit, könnte freilich in diefer Schauweiſe grauenhaft:humoriftiihe Nachtbilder großen 
Stils ſchaffen. Lukianos ift oft geiftreich, aud) wohl wigig und von ſouveräner Meberlegen- 
heit: aber, vor der Bühne betrachtet, bleibt das doch nur modern drapierter Dialog, ohne 
Tiefe, ohne Poeſie. Einen „Unüberwindbaren“ nennt ihn ein Tageskritifer, weil fein Wit 
weder vor Göttern noch Unterwelt Halt macht? Ad ja, ſolche Defadenz-Ericheinungen 
eines blafierten Zeitalter, deren Organe der Erfurdt vor Göttlihem und Ewigem 
abgenutzt und aufgebraudt find, find in der That unüberwindbar. Aber wir beneiden 
fie nigt darum... — — — — — — — — — — — - -—  - - — — — — 

Nod etwas! Diejer Tage wurde der ntendanturdireftor der Königlichen Bühne, 
Geheimrat Pierjon, durd einen Herzſchlag jählings jeiner Thätigkeit entriffen. Das 
bedeutet mehr als den blogen Abſchluß eines Menſchenlebens. Wir erleben das nicht 
ganz reine Schauſpiel, daß ſich die Tagesprefie bei dieſer Gelegenheit, verſteckt oder offen 

60* 


948 Frig Lienbard, Vom deutſchen Theater. 


über das „Syſtem Pierſon“ abſprechend äußert, jogufagen an der offenen Bahre des 
Beritorbenen. Dies Syſtem beitand darin, daß unter Pierſons geſchäftskundiger Leitung 
zunächſt das frühere Defizit gedeckt wurde, daß aber dann der Kaſſenſtandpunkt allerdings 
mehr in den Vordergrund trat und einen Zwieſpalt erzeugte zwiichen den kaiſerlichen 
Forderungen eines ftolgen Idealismus (vgl. des Kaiſers Rede vom 11. Juni 1898!) und 
dem thatfählihen Spielplan bejonders des Schaufpielhaujes, wo leichte Luftipielware 
in nicht erfreulicher Weiſe die Bretter beherrichte. Wieweit hierbei mangelnde Einficht 
einzelner Berjönlichfeiten, Rüdficht auf die Kaffe, auf den Hof und Sonftiges mitiprechen 
modten, geht uns hier nichts an. Nur Eins möchten wir ausfprechen, und zwar in 
Anknüpfung an die oben bedauerte Vorherrichaft des bürgerlichen und jozialen Dramas. 
Wenn wirklich, wie zu hoffen fteht, nad) und nad) eine nationalere und frifchere Dichtung 
die Zeiten des „fin du siecle* ablöft, jo mühte gerade die Königlihe Bühne bier 
hilfreich) und anregend mitwirken. Denn wir haben, feit nun aud) Barnay das „Berliner 
Theater“ verlafien bat, für das nationale, hiftoriihe und Hiftorisch-poetiihe Drama in 
Berlin feine bedeutjame Stätte mehr. Gine Theaterleitung fann zwar feine Talente 
aus dem Boden ftampfen; wohl aber fann manches unentwidelte Talent jelbft durch 
eine nicht ganz erfolgreihe Aufführung neuen Schaffensmut und Klärung finden. Und 
die Entwidelungslinie Kleiſt-Hebbel-Ludwig oder Schiller-Örillparzer wird doc; wenigstens 
verjuchsweife wachaehalten durch Anregung und Ermunterung jüngerer Talente. 


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Diktat Bismarcks über die Bundesverfaffung. 

„An dem vor dem Kriege verkündelen Programm, daß Bundesgefeke durch Heber- 
einſtimmung der Majorität des Bundestages mit der Volksvertretung entfliehen, halten 
wir fell. 

Ie mehr man an bie früheren Formen anknüpft, defto leichter wird ſich die Sadır 
madıen, während das Beflreben, eine vollendefe Minerva aus dem Kopfe des Präfidiums 


entſpringen zu lalfen, die Sadıe in den Sand der Profellorenfireitigkeifen führen würde.“ 
(Aus Fürſt und Fürſtin Bismarck“. Bon Robert von Keudell 


Hus einem Brief an den Grafen Ufedom. 

„Es gehört nadı meiner Auffallung zu den vornehmflen Rufgaben der Piplomatie, 
künftige polififche Bedürfnilfe des eigenen Tandes niemals aus den Mugen zu verlieren, 
künftige Bünbnille nidt als Unmöglichkeiten zu behandeln oder eigenmädtig zu ſolchen 
zu machen.“ (10. Dezember 1868.) 

(Uus ‚Fürſt und Fürſtin Bismar*, Bon Robert von Keubell 


Bismarc zu Keudell und Hbeken. 
„Wenn ich es noch erlebe, daß in Biel ein preußifcher Pberpräfident fit, will ich 
mich aud) nie mehr über den Pienfl ärgern.“ 
„Fauf klagt über zwei Seelen in feiner Brufl. Ich beherberge aber eine ganze 
Menge, die ſich zanken; es gehl da zu wie in einer Republik... Pas meiſte, was ſie Tagen, 
teile ich mit; es ſind da aber audı ganze Provinzen, in die ich nie werde einen anderen 


Menſchen hineinfehen laſſen . . . (Gallein, 16. Mugufl 1864.) 
(Aus „Fürf und Fürſtin Bismard*, Bon Robert von Keubdell, } 


C0OOGOGOOGGOGGOGG 


ITlullkaliſcie Rundſchau. 
Von 
keopold Schmidt. 
IV. 


gJ* der zweiten Hälfte des Januar lenkte neben den Beranftaltungen des Honzertjanles 
auch wieder einmal das Theater das Antereffe der mufifalifchen Kreiſe auf fih. Die 
Königlihe Oper, die bis dahin in befchaulicher Ruhe das alte Repertoire gepflegt hatte, 
entwidelte eine ungewohnte Thätigfeit: zwei neue Werfe erlebten kurz hintereinander 
ihre Eritaufführung, und eine ältere Oper erichien in neuer Befegung und Ausftattung. 
Die eine der Novitäten, Alfred Sormanns „Sibylle von Tivoli“, ift bier ſchon kurz 
erwähnt worden. Die Partitur hat viele Jahre lang im Archiv des Opernhaufes geruht, 
und man that unrecht, fie jegt ans Licht zu ziehen, wo der Geſchmack, wohl auch der 
des Komponisten, fi) geändert hat, wo niemand mehr an den Effekten, denen Mascagnis 
„Gavalleria“ einft ihre Erfolge verdanfte, rechte Freude empfindet. Der Stoff, einer befannten 
Novelle von Richard Voß entnommen, ift ohne Geſchick auf die Bühne gebracht, und 
Schon die Wahl des Tertbuches beweiſt, daß der Komponist fein geborener Dramatiker 
iſt. Sormann hat mancdherlei gelernt, er ift ein begabter umd tüchtiger Mufifer; aber 
auf dem Theater wird er ſich ſchwerlich durchſetzen fünnen. 

Die zweite Novität war Wilhelm Kienzls „Heilmar“. Auch dieſe Oper ift nicht 
neu; fie ift bereitS vor zehn Jahren in Graz aufgeführt, aber der Komponift, der zugleid) 
der Berfajfer jeiner Terte ift, hat fie inzwiichen mehrmals umgearbeitet und wollte 
nun noch einmal fein Glück an entjcheidender Stelle verfuchen. 

Man muß es Sienzl lafien, daß er feine Stoffe geſchickt zu wählen verfteht. 
Schon das der Entjtehung nad) jpätere Werk, das wir aber zuerft kennen lernten — 
fein „Evangelimann* — wirkte durd die dem Leben abgelaufchte, teilweile padende 
Dandlung. Auch in „Heilmar“ haben wir e8 mit einer Erlöjungsidee zu thun; Kienzl 
jteht, wie alle Modernen, in diefem Punkte unter dem underfennbaren Einfluß Wagners 
und deſſen PBarfifal. Aber während im „Evangelimann“ der Held befümmerten Ge: 
mütern prieiterliche Tröftung bringt, bemüht fich Heilmar um das leibliche Wohl feiner 
Mitmenjhen. Ihn drängt es, den Leiden unverjchuldeter Krankheit entgegenzutreten; 
im innigen Umgang mit der Natur erftarkt, und von vifionären Eindrüden beherricht, 
gewinnt er den Glauben an jeine Heilkraft und zieht aus, Elende zu retten, Siehe und 
Sterbende wieder aufzurichten. Mit der Darftellung feiner Heilthaten, die Heilmar 
bald in den Auf eines Wohlthäters der Menjchheit jegen, berührt der Dichter ein hoch— 
modernes Problem, und ficherlich hat der Gedanke, die Theorie der Hypnoſe und Sug— 
geition auf die Bühne zu bringen, dem Stüde jeine ſtärkſte Anziehungskrait verliehen. 


950 Leopold Schmidt, Muſikaliſche Rundichau. 


Der Träumer, der an fich glaubt und diefen Glauben auf andere zu übertragen vermag, 
der arme Schäfer, der halb Narr, halb Uebermenic wie ein Prophet, wie ein Chriftus 
auf Erden wandelt, ift in der Zeichnung wohl gelungen, wenn folche Geitalten auf der 
Bühne auch immer ihr Bedenkliches haben. Ein hübſcher Zug ift au die Einführung 
der Gegenfigur des marktſchreieriſchen Charlatans, des echten „Medizinmannes". Wie 
jede Wunderfraft ift auch die jegenbringende Fähigkeit Heilmars an eine Bedingung 
gebunden: er muß dem irdiichen Glücke, dem Wohlleben und der Liebe entjagen. Damit 
it der tragische Stonflitt gegeben. Ein Mädchen, das durch ihn Heilung von ſchwerem 
Leiden erfahren, jchenft ihrem Retter ihr Herz, und Heilmar unterliegt der VBerjuchung. 
In feſſelnder Weile fchildert der zweite Aktſchluß, wie den Arzt feine Macht verläßt 
gerade in dem Augenblid, wo er an das Sterbelager der Mutter feiner Geliebten 
gerufen wird. Hier könnte die Dper zu Ende fein, Kienzl hat einen verjöhnlicheren 
Abſchluß vorgezogen. Er läßt feinen Helden nod einmal die verlorene Macht wieder— 
gewinnen, und zwar durch das Mädchen jelbit, dem er fie geopfert, und die fih nun 
für ihn opfert und fie ihm fterbend zurüdgiebt. Auch hierin liegt ein feiner poetijcher 
Gedanke, aber diejes Nehmen und Geben, dies Aufheben der tragiihen Schuld Hat 
wenig Ueberzeugendes, und wenn wir Heilmar mit neuer Heilkraft ausgerüftet übers 
Meer zu fernen Inſeln fahren fehen, ift unfere innere Teilnahme an feinen Schickſalen 
merklich erlahmt. Nächit diefer Abſchwächung ift der Dichtung noch ein anderer Vor— 
mwurf zumachen. In der Figur der Maja tritt dem Helden feine ebenbürtig ausgeprägte 
Perfönlichkeit entgegen. Es ift eine verſchwommene Mädchengeftalt, mit der wir nicht 
mitrühlen, und da die pſhchologiſche Entwidlung volllommen überjprungen wird, ver: 
ftehen wir auch nicht recht die Wandlung in Heilmars Denken und Handeln. 


Die Muſik, die Kienzl zu diefer Handlung geichrieben, bringt nichts Ueber— 
raihendes. Sie beftätigt nur aufs neue, daß Kienzl ein jehr geſchickter und geſchmack— 
voller Tonjeger ift, der die Wirkung aller Mittel fennt und fie mit fiherem Inſtinkte 
ausnugt. Wie er diefe Mittel von den Modernen, namentlicd; was den Orcheſterſatz 
betrifft, übernommen hat, jo ift aud) feine Melodie feine ureigene, wurzelt vielmehr in 
wohlbefannten Meiſterwerken, vor allem in denen Wagners. Etwas Perſönliches tritt 
am eheiten dort hervor, two Slienzl einen barmlossgemütlichen Ton anſchlägt, bei der 
Schilderung des Bolfslebens, oder mo eine weiche, innige Stimmung zum Ausdruck 
gelangt. In ſolchen Fällen wird allerdings die Grenze des Banalen, andererfeits des 
Sentimentalen nicht immer forglam genug vermieden, und es zeigt fich, daß die eigent: 
fihe Natur des Mufifers erbeblicd [hinter der jpefulativen Veranlagung des Denkers 
zurückbleibt. Sehr wohlthuend berührt die Fähigkeit Kienzls, gut aufgebaute und wohl» 
Elingende Enfembles zu jchreiben. Seine Mufif jteigt ziwar nirgends in die Tiefe (mie es 
das Sujet wohl geboten hätte), aber fie iſt ſympathiſch, ftütst wirkungsvoll die an ſich 
intereffante Handlung und wird allen Bedingungen der Bühne gereht. So machte das 
Werk einen günftigen Eindrud, um jo mehr, als die von Dr. Mud vorbereitete 
Aufführung bis in alle Einzelheiten vortrefflich ging und bon dem neuen Regiſſeur des 
Dpernhauies, Herrn Dröfcher, ftimmungsvoll injzeniert war. Bon den DHauptdarftellern 
find die Damen Hiedler (Maja) und Goetze (Mutter), befonders aber Herr Hoffmann, 
der den Heilmar aufs Liebevollite ausgearbeitet hatte, hervorzuheben. 


Leopold Schmidt, Muſikaliſche Rundichau. 951 


Neben diejen neuen Werfen brachte die Hofoper Bizets undergängliches „Karmen“ 
in neuem Gewande. „mei Hauptrollen waren neu bejegt: Don Joſé und Micaela. 
Den oje jang zum erjtenmale Ernſt raus. Unſer Heldenfänger ging in Geſtalt 
und Stimmflang in etwas über den Rahmen der Iyrifchen Partie hinaus; andererjeits 
gab er der Figur mehr glaubhafte Männlichkeit, als ihr ſonſt von Tenoriſten verliehen 
wird. Das interejfierte wohl, entſpricht aber doch nicht ganz der in der Dichtung mo— 
tivierten Anlage des Charakters, jo wenig wie die weichen, elegischen Accente des 
Fräulein Deftinn dem Bilde der Carmen zu größerer Echtheit verhalfen. Ganz am Plate 
war Frau Herzog als Micaela. Sie erhob durch ihren meifterhaften Gefang die Nolle 
erjt zu ihrer wahren muftkaliichen, und dramatiichen Bedeutung, Die Neuftudierung 
hatte Herrn Dr. Mud, dem feinfinnigen, gewiflenhaften und in allen Eätteln feiten 
Stapellmeifter, Gelegenheit gegeben, alle Nachläſſigkeiten zu bejeitigen, die ſich im Laufe 
der Zeit eingeichlichen, und ein tadelloſes Enjemble herauftellen. Für den äußeren 
Erfolg beim Publikum jorgte auch nicht wenig die glänzende Ausstattung der Dekorationen 
und Softüme, die man an die Renovierung des Werfes gewendet hatte. Eine ganze 
Neihe älterer Repertoirejtücde jollten in ähnlicher Weife vorgenomntn werden. Das 
wäre für cine erite Opernbühne zu einer Zeit, in der wirklich wertvolle neue Schöpfungen 
jo dünn geſät jind, eine danfbare und rlihmenswerte Aufgabe, zumal wenn dabei be= 
jonders die Regie, mehr als es bisher geichehen, ſich ihrer Pflichten erinnern und mit 
unbaltbaren Traditionen entichlojfen brechen wollte. 

Uns vom Theater zu den Ereigniffen der Konzertſäle wendend, finden wir wiederum 
in den Strauß-Konzerten bei Kroll den ergiebigiten Stoff zur Beſprechung. Tieje Abende, 
die der kühne mufifalifche Neuerer und unerjchrodene Idealiſt mit dem Berliner Ton 
fünftlerorchefter veranftaltet, find gewiß nicht die Gipfelpunfte, weder was die Ausführung, 
noch was die Natur der vorgeführten Werke betrifft; aber fie interejfieren doch durd) das 
viele Neue, das fie bieten, jett unleugbar am meilten. Bollendetere Orcheſterleiſtungen 
treffen wir wohl wo anders, und bis jeßt ift bei dem Unternehmen noch nichts zu Tage 
aefürdert, das eine dauernde Bereicherung der Litteratur bedeutete. Indeſſen man hofit 
und verfucht fein Glück ftets aufs neue. 

Ne ausichlieglicher die Programme Richard Strauß’ der Eammelplag von Novi— 
täten find, je entichloffener jcheinen Nikiich und Weingartner, im weſentlichen an den bes 
währten Schägen unjerer Großmeifter feftzuhalten. Bon modernen Werfen bradten in 
ihren legten Konzerten Nififh nur Strauß! vielbeiprochene fymphoniiche Dichtung „Alfo 
ſprach Zarathuſtra“ und die Suite op. 55 von Tſchaikowsky zur Aufführung, Wein: 
gartner Berlioz' dramatiiche Symphonie „Romeo und Julia“, die jonft nur jelten in 
ihrem ganzen Umfange zu Gehör fommt. Die jüngften beiden Strauß-Abende machten 
uns dagegen mit einer ganzen Reihe von Neuericheinungen befannt. 


Als die wichtigſte von ihnen möchte ich eine Szene aus Ludwig Thuilles Oper 
„Bugeline* voranftellen. Sie füllt den dritten Akt des Werkes und ftellt ſich als ein 
großes, weitausgeiponnenes Liebesduett dar. Soweit man nad einem Bruchſtück urteilen 
fann, fcheint der dramatiiche Gehalt der Oper fein beträchtlicher zu fein; das Lyriſche 
waltet einfeitig vor, und das prägt auch dev Muſik den Charakter auf. Sie ift zart und 
finnig, meijterlicd in der Form und von jenen hellen, leuchtenden Farben, die wir vom 


952 Leopold Schmidt, Mufikaliiche Rundichau, 


„Lobetanz“ her bei Thuille fennen. Mit jeinen Tönen gelingt es dem Mufiker, ſelbſt die 
Dichtung Bierbaums zu vertiefen, die durchaus nicht immer den Eindrud des Echten, 
Ungefünftelten macht. Das jett von den Neuen jo bevorzugte Lied mit Orcheiter war 
durch den Dresdner Walter Rabl vertreten, deſſen „Sturmlieder“, von Emmy Deftinn 
ſchwungvoll vorgetragen, nicht ohne Wirkung blieben. Konnte die Konzertouverture 
„Cockaigne“ des Engländers Edward Elgar noch Intereſſe erweden durd; fließende Arbeit 
und geſchickte Inſtrumentation, ſowie durch die Verwendung englischer Volksthemen, jo 
gehört dagegen die Ode Mascagnis „Yeopardiano” zu jenen Werfen, die beſſer fortgeblieben 
wären. Es ift nicht erfreulich zu fehen, wie wenig der Komponist der „Gavalleria“ die 
einst auf ihn gelegten Hoffnungen zu erfüllen vermag. Mangel an Erfindung und Mangel 
an techniichem Können halten fich in dieier das Pokale und Inſtrumentale ftillos ver: 
mijchenden Arbeit das Gleichgewicht. 


Am legten diejer Abende dirigierte Georg Schumann, der unlängst mit jeinem Chore 
der Eingafadentie eine lebendige Aufführung von Händels „Aeis und Galatea“ bewerk— 
ftelligt hatte, eine Orcheſter-Humoreske jeiner Kompofition, die die beabfichtigte herzhafte 
Wirkung nicht verfehlte Mit viel Kunft und behaglihem Wie it hier in einer Reihe 
Variationen und einer Doppel-zuge ein „Luftiges Thema“ hin- und hergewendet, das in 
feiner burichifojen, fommersbucartigen Fröhlichfeit den Komponiſten zu allerhand 
witigen, zum Teil recht feinen Einfällen verleitet hat. Der Eindruf war ein um jo 
lebhafterer, als die voraufgehenden Novitäten an die Aufmerkſamkeit der Hörer unge 
wöhnliche Anforderungen geitellt hatten. Paul Ertls „Liebesizene”, aus einer „Darald- 
Symphonie“ (im Anfchlug an die Uhlandiche Ballade) zeichnet ſich hauptſächlich durd) 
wohlflingende und eigenartige nftrumentierung aus; im Zufammenhang mit den anderen 
Sätzen würde man wohl mehr Verſtändnis und damit mehr Antereffe für die motiviiche 
Arbeit und die ntentionen des Verfaffers gewonnen haben. Ein etwas bizarres, 
aber nicht ’reizlojes Stimmungsbild bietet Leo Blech in feiner Barcarole „Troſt in der 
Natur“. Am jprödeiten giebt ſich das neue Stlavierfonzert von Otto Neigel, das der 
Komponist mit glängender Bravour jelber vortrug. In jeinem Solopart feiert die virtuote 
Technik wahre Orgien, doch in einer von allem Herkommen abweichenden Weiſe. Dies 
fich überiprudelnde Figurenwerk, dieje frauje und wirre Harmonik ift nicht leicht zu verfolgen; 
man fühlt fich davon beim eriten Dören wenig angezogen, wenn man aud das Walten 
eines regen und eigenartigen Geiſtes ſpürt. Der Beifall galt denn auch mehr dem Bianiiten 
als jeinem Werte. 

Während jo die Ausbeute auf ſymphoniſchem und initrumentalem Gebiete zwar feine 
bedeutende, aber doch eine ziemlic; große war, erjichien die vofale Muſik durch ein einziges 
neues Chormwerf von Anton Uripruch bereichert. Profeffor Siegfried Ochs erwarb ſich in 
einer mit jeinem Bhilharmonifchen Ehore veranitalteten, im Hinblick auf die Schwierigfeiten 
wahrhaft glänzenden Aufführung das Verdienit, des Frankfurter Komponiſten „Frühlings 
feier” zu unjerer Kenntnis gebracht zu haben. Auch Urſpruch ift feiner von den Pfad— 
findern, feine genial veranlagte Eigennatur; was aber fünftleriicher Ernjt und technifche 
Kenntniſſe aus einer Begabung zu machen vermögen, das zeigen jeine reiferen Arbeiten, 
und deshalb gehört die „Frühlingsfeier“ jedenfalls zu den bemerkenswerten Neu: 
ericheinungen. Die tertlich zu Grunde liegende Ode Klopitods hat es mit ihrer bilder- 


Leopod Schmidt, Mufitaliihe Rundichan. 953 


reihen Sprache verjchuldet, da der Komponiſt fich fait nur illuftrierend verhalten und 
vorwiegend zu tonmalerischen Wirkungen greifen mußte. Wie in diefer Dinficht der 
Chor verwendet wird, ijt wohl das Intereſſanteſte an dem ganzen Werke, das vielleicht 
einmal einer der Ausgangspunfte für eine neue Behandlung des Chorjates werden fann. 
Urſpruch ftellt an die Technik Anforderungen, die bisher nur auf das Gebiet des Solo- 
gelanges verwieſen worden find. 

Soll id aus der ſtets noch wachſenden Zahl der Soliftenfonzerte hier einiges 
Wichtige herausgreifen, jo möchte ich diesmal bejonders auf die Franzoſen hinweifen, die 
gerade in den lettvergangenen Wochen jo erfolgreich das Podium betraten. Edouard 
Nisler fpielte mit und ohne Orcheiter, Hit er auch als Mufifer etwas fühl, mitunter 
etwas weichlich in der Auffaſſung, furz nicht gerade der Intereflanteiten einer, als fundiger 
Behandler jeines Anftruments, dem er einen wundervoll fingenden Ton und die feinften 
dynamiſchen Abjchattierungen entlodt, ſteht er fait unerreiht da. An einem feiner 
Abende verband er fich mit dem trefflihen Geiger Henri Marteau zu einem Sonatens 
Vortrag; ein anderes Mal unteritügte er die berühmte Pariſer Soeiete de Musique de 
chambre pour Instruments à vent, Man hatte in den Konzerten dieſer von Taffanel 
gegründeten Kiünftlergenofienichaft, die den Zweck hat, die einst jo hoch entwidelte, jett 
aber vernadjläjligte Kammermuſik für Blasinitrumente (mit und ohne Klavier) zu 
pflegen, Gelegenheit, fi) von den guten Traditionen der franzöfiichen Bläſerſchule und 
der fortgeichrittenen Anitrumentenbaufunit unferes Nachbarlandes zu überzeugen. Ein 
zweiter glängender Vertreter der franzöſiſchen Klavierkunſt iſt Raoul Pugno. Sein 
erites Auftreten im vergangenen Winter war ein Greignis. Noch vielmehr als bei 
Nisler, der fi) von deutſchem Wejen nicht wenig beeinflußt zeigt, finden wir bei Bugno 
fpezifiich galliiche Eigenjchaften ausgeprägt. Von außerordentliher Schönheit iſt der 
Ton diejes Pianiften, und jeine Technik, die jo fiher und elegant und dabei von 
ftaunenswerter Geläufigfeit ift, wird, von einem hinreißenden Temperamente beherrict, 
jelbit zu einem Fünftleriichen Ausdrudsmittel. Man kann über die Auffaffung Bugnos zu: 
weilen ftreiten und wird doc) geneigt jein, ihm im Momente recht zu geben, jo ſympathiſch, 
jo lebendig empfunden ift die Art jeines Mufizierens. Auch) unter den Geigern waren 
die bedeutenditen franzöfiicher Herkunft: der elegante Jacques Thibaud, ein feiner und 
Eluger Kopf, der Jnnerlichkeit und Zurückhaltung wohl zu vereinigen weiß, und Meifter 
Sauret, den wir längere Zeit in deutichen Ktonzertiälen vermiſſen mußten. 


Die freundlicheren Beziehungen beider Nationen, die anderwärts vielleidht nur 
offiziell gepflegt werden, gejtalten fich, wie es jcheint, in der Muſik zu recht natürlichen. 
Um vollitändig zu fein, dürfen wir aud) die Sänger des Montmartre-Viertels nicht 
übergehen, die uns im Gefolge der Wette Guilbert ihren Beſuch abgeftattet haben. Als 
Muftfanten haben fie, wie übrigens Mette jelber, jamt und jonders nichts zu bejagen; 
aber ihre eigentümliche Vortragskunſt hat doch der volfstümlichen mufifaliihen Lyrik 
eine ganz bejtimmte Nüance gegeben. Die bejferen der Chanjons, die in den Pariſer 
Gabaret3 gefungen werden, weilen eine eigene, ungemein grazieufe Miihung von Ernit 
und FFrivolität und oft recht witige fompofitoriihe Einfälle auf. Das ift eine viel 
echtere und behaglichere Kunſt als die entweder jentimentalen oder zotigen Lieder der 
deutjchen Singipielballen. 


654 Leopold Schmidt, Mufitalifche Rundichau. 


Bon heimischen Künstlern müffen wir uns begnügen, diesmal die Elangvolliten Namen 
zu nennen, zumal Neues über feinen von ihnen zu jagen iſt. Ferruccio Buſoni erntete 
die größte Anerkennung mit jeinem Chopin = Abend; aber auch in zwei anderen Kor 
zerten riß er, namentlich mit Alkan und Liszt, die Dörer durch feine ans Märchenhatt 
grenzende PVirtuofität zu begeiiterten Beifallsfundgebungen hin. Gabriele Wietronz 
fefielt jtets durch ihre markige Perjönlichkeit, die fih in Ton und Bogenführung aus: 
fpricht und ihrem Spiel einen gewiſſen herben Reiz verleiht. Sie zeigte auch in ihren 
diesjährigen Konzerte, daß weit über der Birtuofin in ihr noch die ernfte, tiefempfindend: 
Mufikerin fteht, zu der fie ſich unter Joachims Leitung ausgebildet hat. Erfolgrad 
verliefen ferner die Konzerte des geiftvollen Pianiſten oje Vianna da Motta, dei 
Violinvirtuoſen Bronislaw Hubernann, die Liederabende Reimunds von Zur: Mühlen 
und der Mezzojopraniftin Lula Gmeiner. Wenn fich zwei Sndividualitäten wie Wilma 
Normann:Neruda und Friedrich Gernsheim zuiammenthun, dann verliert jelbit em 
„Sonaten-Abend“ jein Schrefhaftes und Fann zur Quelle des Genufjes werden. Sim allge 
meinen aber wird mit der einft aus dem Sonzertfaal verpönten Sonate jegt ein an Mi; 
brauch grenzender Kultus getrieben, ein Zeichen mehr, wie gefliffentlih unjere Zeit nd 
von allem harmlofen Mufizieren mehr und mehr abmwendet. Wie ein Nachklang aus 
längit vergangenen Tagen berührte dagegen das Konzert des Darfenvirtuojen Holy. ir 
fennen die Harfe fait nur noch als Orcheiterinftrument; einft war fie aber viel in dr 
Familie und im Slonzertjaal verbreitet und vertrat dort die Stelle des Mlaviers. Gin 
Meifter wie Spohr hat wertvolle Kammermufif gefchrieben, in der nod) die Harte 
Verwendung findet. 


1% 


Aus Bismarcks Rede vom 28. Mai 1869 im Norddeutfchen Reichstage. 


„Wir haben unverrückt unfer nationales Biel im Muge behalten. Wir haben nidt 
rechts noch links gelehen, ob wir jemandem mwehe Ihalen in feiner innerflen Heberzeugung. 
Meine Berren, aus dieſem Geifte haben wir unlere Kraft, unfern Mut, unfere Mad gr- 
Ihöpft, zu handeln, wie wir gethan. — 

„Im Begriff, Dielen Reichstag feinem Schlulfe entgegenpuführen, möchte ich Sie bitten: 
durchdringen Sie ſich volllländig mif dem Geifle, der die Bundesverfallung arfchaffen hat, 
hinterlaffen Sie ihn ungeſchwächt Ihren Badıfolgern, geben Sie durch ihr Iektes wichtiges 
Votum dem deuflden Polke ein verheifungsvolles Pfand [einer Zukunft, beweiſen fie ihm 
durch Ihre Abflimmung, daß da, wo 28 auf die geheiligfe Sache unlerer nationalen Einhrü 
ankommf, der Peuflche leinen alten Bationalfehlern zu entfagen weiß, beweiſen Sie es, 
indem Sie den Plak vergellen, den Sie in der Hihe des Rampfes als Partei, als Eingelner, 
eingenommen haben, indem Sie über Ihre augenblichlichen Gegner hinweg Ihren Blick 
auf das Große und Game erheben und diefem großen Ganjen einen Dienſt erweilen, 
weldyer für die deuffche Zukunft das Pfand bilden wird, dah die Beubildung umferer Ber- 
fallung frei [ein werde von einem großen Teil der Schlacken, welde den alten Guß [pröbe, 
brüdig gemacht und gerrilfen haben.“ 





DIIIDIIDIIDIIDIIDIDIDIDIDIDIDIDIDIDID) 


Ein Wort der Abwehr. 


Der „Kreuz-Zeitung“ und der „Kölniicten Volkszeitung“ gewidmet von 


Rudolph Sohm, 


Im Februarheft diefer Zeitſchrift habe ich einen Nuffat veröffentlicht, in welchem 
ich das Uebergemwicht des Zentrums und die unverhältnismäßige Uebermacht der agrariichen 
Intereſſen durch das Dajein der Sozialdemokratie erkläre. Ich führe aus, daß die 
Trennung der Arbeiterbewegung von der Sozialdemokratie das Mittel iſt, um die Derrichaft 
des Zentrums und die politiiche Vormachtſtellung des Großgrundbefiges zu brechen. 

Dieje meine Darlegung hat die „Kölnische Volkszeitung“ (vom 19. Februar) zu 
einem Schmähartifel veranlaßt, und die „Kreuz-Zeitung“ (vom 20. Februar) hat fid die 
Ausführungen des fatholifhen Blattes angeeignet. 

Die „Kölnische Volkszeitung” redet jo, und die „Kreuz-Zeitung“ fchließt ſich ihr an, 
als ob fie glaubte, daß die Hauptfache in der fozialdemofratiihen Bewegung der 
republifanische und der atheiftiiche Gedanke ſei. Jedermann weiß aber, da bon den 
Millionen fozialdemofratiiher Wähler nur wenige überzeugte Nepublifaner und noch 
weniger überzeugte Atheiiten find. Hätte die Sozialdemofratie dieje beiden Gedanken 
wirklich zu ihrem SHauptinhalte, jo wiirde fie garnichts für unfer deutiches Volf be 
deuten. Jedermann weiß, daß die Kraft der Sozialdemokratie ganz allein in 
dem Streben der niederen Menge nad einer bejleren Lebenshaltung, an eriter Stelle in 
dem Aufftreben der Arbeiterichaft beruht. Die Arbeiterintereffen haben aber in Wahrheit 
nicht den geringsten inneren Zufammenhang mit den eigentümlich jozialdemofratifchen 
Ideen. Im Gegenteil! Nicht die Nepublif, fondern das Königtum ift der geborene 
Bundesgenofie der Niederen. Und nicht der Atheismus, fondern gerade das Chriftentum ift die 
gemaltige Großmadht, die unmiderftehlich dem fozialen Gedanken immer weitere Bahn jchafft. 
Das liegt jo Klar vor jedermanns Auge, daß auch der Blödefte e8 begreifen muß. Das 
Bündnis zwifchen Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie iſt ein naturiwidriges. Darım 
ift gang zweifellos, daß diejes Bündnis eines Tages aufhören wird. Denn die Wahrheit 
fiegt. Das iſt das allergemwiffeite in der Weltgeihicdhte. Ych habe in meinem Aufiak 
ausgeführt, dat das Bündnis von Sozialdemofratie und Arbeiterbewegung eine Folge 
der Ungerechtigkeit ei, welche die herrichenden Klaſſen (nicht ohne Mitjchuld der 
Arbeiter) gegen die Arbeiterbewegung geübt haben. Das Mittel, welches ich für die 
Trennung der Arbeiterbewegung von der Sozialdemokratie vorjchlage, it: Geredtig- 
feit. Ich fage: Den Arbeitern muß in ihrem Kampf für ihre wirtichaftlichen Intereſſen 
Sonne und Wind ganz ebenjo zugeteilt fein wie ihren Gegnern. Dazu gehört aud), 
daß man die jozialdemofratijche Theorie, jo lange fie bloße Lehre iſt — und das iſt fie — 
von Staats wegen gerade fo freiläßt wie jede andere Lehre. Die „Kölnische Volkszeitung“ und 


956 Rudolf Sohm, Ein Wort zur Abwehr. 


mit ihr die „Kreuz-Zeitung“ meint, den jozialdemofratiichen Führern fomme es nicht auf 
die Lehre, jondern auf die Macht an. Aber worin ruht ihre Macht, wenn nicht in der 
Lehre, d. h. in den Weberzeugungen der Volksmaſſen?! Die jozialdemofratiiche Yehre 
wird aber nur vergehen, wenn man fie frei läßt. 

(53 kommt darauf an, daß die jozialdemofratiichh beeinflugte Volksmenge den 
nationalen Staat nicht als ihren Gegner, jondern als die Grundlage ihres Dajeins 
und Gedeihens begreifen lernt. Das iſt augenblidlih eine Lebensfrage für ums, die 
Frage, von deren Löſung unfere ganze innere und zum Schluß auch unjere augen: 
politiihe Entmicdelung abhängt. Ein folches Umdenken der Menge, aus dem eine 
nationale Arbeiterpartei (an Stelle der Sozialdemokratie) fich langjam, aber mit Natur: 
gewalt entwideln wird, kann nur durd gerehte Handhabung der Staatsgemalt, 
fann nur dann erreicht werden, wenn die Menge praftiih wahrnimmt, daß die Gewalt 
des nationalen Staates ihr gerade jo dient wie jedem andern. 

„Kreuz⸗Zeitung“ und „Kölnische Bolkszeitung” jbotten über das bon mir vor: 
geichlagene Heilmittel. Meine Ueberzeugung ift, Daß Geredtigfeit ein Reid 
erhöht. Diejen Glauben werde ich nur mit meinem Leben aufgeben. „Kreuz- Zeitung” 
und „Kölnische Volkszeitung“ erklären das für „Phantafterei*. Das ift jedenfalls ein 
nicht unerheblicher Beitrag zur Charakteriftit der beiden Blätter. 


1% 


Fitate aus neuen Büchern: 


Ich weiß, irgendwie und irgendwo find wir alle Schablonen. Pas ift gam unner- 
meidbar im EWallenleben. Wir können eben nicht überall ſelbſt urteilsfähig fein. IE 
unfer fittlicher Bern dabei gelund, fo Jagen wir das aud ruhig und ihun nie, als ob 
wir alles begriffen und alles von uns felber hälten. Wo aber jenes eigentümliche Per- 
wilchen und Verſchwimmen in den Seelen beginnt, jenes Purcheinanderfliehen von Eigenem 
und Fremdem, jener eigenfümliche Selbfibefvug, der uns, was mir dreimal nachgelagt, 
beim vierten Male als eigenes Erlebnis empfinden läßt, jene Hnmwahrhaftigkeit, die mit 
halbverflandenen Schlagworten und vierfelsverfiandenen Grundfäken hantiert und dies 
Ragout mit Tagesredensarfen garniert und dabei fhuf, als [ei das alles der glaffe ARus- 
druck eigenſten Penkens und Empfindens — kurz wenn die Schablonilierung jene fiefe 
Unfittlichkeit des Geifles erzeugt, die Eigenes und Fremdes nicht mehr mm ſondern ver— 
mag, Schein für Wirklichkeit ausgiebt, Gefelllhaftsregel für perſönliches Teben nimmt 
und Guf und Böle aus dem Munde der Irufe Haft aus der eigenen Seele Schöpft, dann if 
es endgiltig um Perfönlichkeit, Charakter, Eigenart gefchehen. Da wurde die Malle die 
Möıderin der Individualität. 

(Hus „Im Kampf um Gott und um das eigene Ich.” Eruſthafte PBlaubereien vr 
Karl König. 2. Aufl. Freiburg 1. B. amd Leipzig. Paul Warkel, Berlagstushgendlune; 


—2 


957 


Bucherſchau. 


Richard Faldtenberg, Geſchichte der neueren Philoſophie. 4. Aufl. 1902. Leipzig, Veit 
u. Co. XII, 582 S. Geh. M. 7.50, gbo. M. 8.50. 

Für feine Wiſſenſchaft bat die gründliche Kenntnis ihrer Gefchichte eine jo große Be- 
deutung tie für bie Philofophie. Nirgends giebt es fo lehrreiche Irrtümer, nirgends ift das 
Neue, mag e8 fich auch felbft als das Ganze erfcheinen und ſich feindlich gegen das Beitehende 
gebärden, fo jehr nur eine Ergänzung und Fortbildung des Alten wie auf bem Gebiete ber 
Philofophie. Dabei find Beitjtimmung, Bolksgeiſt und Individualität des Denkers, Gemüt, 
Wille und Phantafie von weit ftärferem Einflug auf die Geftaltung der Philofopbie als auf 
die irgend einer anderen Wifjenfchaft. Werm ein Syitem den geiftigen Gehalt einer Epodhe, 
einer Nation, einer großen Perfönlichkeit zu Haffifchem Ausdruck bringt, wenn es durch bes 
deutende und originelle Konzeptionen, verfeinernde oder vereinfachende Auffafjung, weite Aus— 
blide, tiefe Einblide der Löfung des Welträtfeld näher führt oder ihm von einer neuen Seite 
aus beizufommen fucht, jo hat es mehr geleiftet, als durch Aufitellung einer Anzahl unbeftreitbar 
richtiger Säte. Die Gefchichte der BVhilofophie iſt die Philofophie der Menjchheit, und der 
Dijtorifer der Philofophie fieht in jedem neuen Syſtem einen neuen Stein, ber die Pyramide 
des Wiſſens in die Höhe führen hilft. Muß es darum nicht interefjant fein, diefe Baufteine 
nad) Form und Qualität näber kennen zu lernen? Faldenbergs Gefchichte der Philofophie, 
in ihrer 3. und 4. Auflage den Profeſſoren Euden =» Jena und Bolfelt » Leipzig gewidmet, führt 
uns in 16 Sapiteln das geiftige Ringen der Menſchheit von Nicolaus Cuſanus bi8 zur Gegens 
wart vor Augen. Das 1. Kapitel entiwidelt die philofopbiichen Beitrebungen von Nicolaus 
Eufanus bis Gartefius. Bako, Hobbes, Herbert von Cherbury u. a. finden bier ihre Würdigung. 
Das 2. und 3. Kapitel bringen die Philofopbie des Cartefius und ihre Umbildung in den 
Niederlanden und in Frankreich (Geulinz, Spinoza, Bastal, Malebranche, Banle). Das 
4. Kapitel handelt über Yode, das 5. über die englifche Philofophie des 18. Jahrhunderts 
mit befonderer Berüdfihtigung Berkeleys und Humes. Im 6., 7. und 8. Abjchnitt hören mir 
von ber franzöfifchen und deutichen Aufklärung mit befonderer Darftellung der Philofophie 
Leibniz’. Das 9., 10. und 11. Kapitel machen uns eingehend mit Kant, Fichte und Schelling 
befannt. Das 12. Sapitel bringt Scellings Mitarbeiter, befonders Krauſe, Baader und 
Schleiermader. Das 13. Kapitel entwidelt die Hegeliche Vhilofophie, das 14. die Shiteme 
Fries', Herbarts und Schopenhauers, das 15. die außerdeutichen Beitrebungen und das 16. in 
gedrängter Zuſammenfaſſung die deutſche Philoſophie feit Hegelö Tode. Trendelenburg, Fechner, 
Loge, Hartmann u. a. finden bier ihre Behandlung. Eine Erflärung der wichtigften philofophifchen 
Kunſtausdrücke bildet den Schluß ded Werkes. Faldendbergs Geſchichte der Philofophie, die 
innerhalb 15 Sahren in 4 Auflagen erfchienen it, bedarf feiner Empfehlung; fie gehört zu den 
Hafftfhen Werfen unjerer Vitteratur. Wenn mir auch manchmal, zumal in der nenejten Zeit, 
noch etwas Genaueres über einzelne Philoſophen, 3. B. R. Euden, erfahren möchten, fo bleibt 
doch Fraldendergs Buch ein Buch don eminentem Werte. ES ijt ebenjo unentbehrlich für 
Lernende wie für Lehrende, gleichfam ein standard—work auf gefchichtsphilofophiichem Gebiet. 

Fermersleben. Otto Siebert. 


Schiller von Ludwig Bellermann. (Dichter und Darſteller. Band VII. Herausgegeben von 
Dr. Rudolf Lothar.) Mit 115 Abbildungen. Leipzig, Berlin und Wien. E. A. Seemann und 
Geſellſchaft für graphifche Induſtrie, 1901. VII, 259 ©. Geh. M. 4.—, gbd. M. 5.— 

Der von der Moderne „überwundene” Schiller findet immer neue Biographen, doch wohl 
ein Zeichen, daß es mit feiner Zeit noch nicht jo ganz vorbei ift, mie die „Fortgeſchrittenen“ 
glauben machen möchten. Wychgram, Harnad, dv. Gottfchall (bei Reclam) haben in neuejter Zeit 
das Leben des Dichters neu darzuftellen verfucht, drei große Biographieen harren noch der Voll— 
endung (Minor, Brahm, Weltrich), und nun kommt der um Schiller auch fonft verdiente Ludwig 
Bellermann als neuejter Biograph hinzu. Das vorliegende Schillerbuch reiht fi) den übrigen 





8 Bücerihau. 


Bänden biefer Sammlung würdig an. Auf beichränkten Raum (372 Zeiten, die noch mit 115 
größeren und Feineren Bildern bededt find, wird das eigentlich Biographiſche ziemlich ausführlich 
geboten, die treibenden Kräfte in Schillers Leben und Dichten, fein positiver Idealismus, die 
Kühnheit feines Weiftes und Willens, werben kräftig bervorgeboben und auch die einzelnen Werte 
im BZufammenbang mit jeiner GEmtwidelung betrachte. Das Buch it mit Wärme und ber 
Friſche perfönlicer Teilnahme geichrieben. Mit Recht hebt Bellermann den Wert ber 
Schillerſchen Briefe hervor und belebt die Taritellung durch zahlreiche Anführungen aus zeit- 
aenöfiifhen Berichten, Tagebüchrern, Briefen u. f. w. Nächſt dem veralteten und doch immer 
noch jugendlichen Pallesfe und Wychgrams umfangreicherer, aber auch teurerer Schillerbiograpbie 
wird Bellermanns Buch das für die weiteiten Kreife empfehlenswerteſte ſein. Aber eins! Es 
giebt beut in der That eine „Schillerfrage”, und kein Freund des Dichters follte ihr ausweichen: 
denn gerade das tiefere Eingehen auf die angezweifelten Werte in Schillers Dichtung muß zu 
einer vertieften Auffaſſung feiner Berfönlichkeit, feiner menfchlichen Entwidelung und jeines 
dichteriichen Schaffens führen und es ins hellſte Yicht ſetzen, was Schiller für unfere Zeit, was er 
für das neue Deutichtum bedeutet und an anregenden Lebenskräften beiitt. Die Schäge jeiner 
ethifchen und äfthetiichen Anihauungen find noch zu heben und in Umlauf zu feten, der umver- 
wüſtliche Kern feiner dramatiſchen und tragiichen Größe müßte gerade dem heutigen Geſchlechte 
aus jeinem Leben und Wefen neu aufgededt werden. 

Die Scillerbiograpbie, die zugleich fchillerwürdig, volfstümlich und modern im beiten 
Zinne wäre, ein Werk für die Jugend unſeres Volkes und für die Erwachienen, nicht bloß für 
die Yitteraturmenichen, diefes für unfere Zeit und nach den Bebürfntijen unſerer Zeit und 
unferes Volkes von beute berechnete Buch foll erjt noch geichrieben werben. 

Worms, Karl Berger. 


Deutihe Geſchichte von Karl Lamprecht. Griter Ergänzungsband. (Zur jüngjten deutichen 
Vergangenheit. 1. Band: Tonlunjt — Bildende Kunſt — Dichtung — Weltanschauung.) 
Berlin 1902, R. Gaertner Hermann Heyfelder). 8% XXIII, 471 ©. Preis 6 M. — 


Vom vorchriftlihen Handel mit dem Zinne der Briten und dem Bernftein der Frieſen 
bis zum Weftfälifchen Frieden batte uns Starl Lamprecht die Entwidlung der deutichen Ge— 
ihichte in fechs Bänden (die 2. Hälfte des V. Bandes ward im Juli 1895 abgeſchloſſen) vor 
Augen geführt; nun lefen wir in einem fiebenten Band auf einmal von Richard Wagner, Mar 
Liebermann, Detlev vd. Lilieneron und Friedrich Nietzſche — wie reimt ſich das zuſammen? 
‚sch glaube nicht fehlzugehen, wenn ich annehme, Yamprecht dürfte eö tm Laufe ber Jahre 
ähnlich ergangen fein, wie meinem ehemaligen Geſchichtslehrer Horſt Kohl, der fich von 
Amalafuntha und Athalarich mit einem fühnen Sprunge zu Bismard gewandt hat. Nicht das 
ich damit etwa fagen wollte, Camprecht wolle ſich ganz und gar von dem meijterhaft beherrichten 
Mittelalter und feinen Stoffen ablehren: daran würde ihn fchon fein Lehrauftrag hindern; aber 
die größere Liebe in ihm neigt fich wohl bereits der Neuzeit und ihren Fragen zu. Es wäre ja 
auch jammerfchade, wenn fich ein Gelehrter don feinem Weitblid, feiner Bedeutung ganz umd 
gar der Mitarbeit an der Löfung der Rätſel verfchließen wollte, die uns die Gegenmwart tag: 
täglich aufgtebt; vielmehr iſt unfer Wolf den Profefforen nur von Herzen dankbar, wenn fie zu 
fchwierigen Problemen (‚zlottenvorlage, Mittellandlanal, Zolltarif) in ihrer Weiſe und von 
ihrem Standpunkt aus Stellung nehmen. Deshalb hält Lamprecht ſchon feit mehreren ‚jahren 
ſehr lebhaft befuchte Borlefungen, die den fulturgefchichtlichen Verſtehen der neuejten Zeit ge 
widmet jind; deshalb hat er jett lieber die lekten 50 ober 30 „jahre vorgenommen und zer 
aliedert, als daß er fich mit der noch gähnenden Yüde von zwei Jahrhunderten abgeplagt hätte. 
Es reizte ihn, das Zeitalter der „Reizfamfeit“ — fo nennt Lamprecht unfere gegenmaärtige 
Nervofität in Musik, bildender Kunſt, Dichtung und Philoſophie, Wiffenfchaft und Geſellſchaft — 
bis ins feinſte Fäſerchen bloszulegen; und von den Ergebniffen diefer eingehenden Unterſuchung 
beut der vorliegende 1. Ergänzungsband die im obenftehenden Untertitel nambaft gemachte ent 
Hälfte dar. Aber auch ſonſt hat fich die urſprünglich auf 7 Bände zugefchnittene Einteilung 
etwas verjchoben, Nach der nunmehr giltigen Anordnung bedeuten die fertigen 6 Bände ent 


Bücherſchau. 959 


die Hälfte des Ganzen: Band 1—4 (=I. Abteilung) enthalten die deutſche Urzeit und das 
Mittelalter, d. h. die Zeitalter des jumbolifchen, tupifchen und fonventionellen Seelenlebens; 
Band 5—8 (=II. Abteilung) umfaſſen die neuere Zeit oder das Zeitalter des individuellen 
Seelenlebens; Band 9—12 endlich (= III. Abteilung) werden die neneite Zeit, d. h. das Zeit- 
alter des jubjeftiven Seelenlebens bringen, während der Gegenwart die beiden Ergänzungsbände 
vorbehalten find. Das alles mag auf den eriten Blid ziemlich bedeutungslos erjcheinen oder 
mandem recht äußerlich vorfommen; doch der Verfafjer legt befonderen Wert auf die Feititellung 
diejer Gliederung. Weshalb? Gr ift der Zuverficht, daß fi die von ihm aus der deutichen 
Geſchichte gefchöpfte Stufenfolge eines fumbolifchen, tupifchen, konventionellen, individuellen und 
jubjeftiviftifchen Seelenlebens auch für alle andern, ſelbſt für die oftafiatifchen und altamerifa- 
niſchen Kulturen als maßgebend und richtig berausitellen werde; damit wäre über die geichicht- 
lichen Gejegmäßigfeiten Kurt Brenfigs („Zukunft” vom 18. und &. Januar 1902) hinaus das 
erite wirkliche bijtorifhe Gefet gefunden. Doc das iſt vorderhand nur ein perfönlicher 
Glaubensſatz, den man fic nicht ohne weiteres anzueignen braucht — vielleicht entfchlieit 
fih der verehrte Meifter, auf Grund der in meiner „Weltgefchichte” mühfam zufammen- 
getragenen Stoffmaſſen ein Univerfalgemälde zu enttverfen, das feine Theorie in die Praris 
überjeßt? — Daß der jett ausgegebene Band „in vieler Hinficht ein Wagnis bedeutet”, hat der 
Berfafier zwar ſelbſt deutlich gefühlt; aber wer Lamprecht nur einigermaßen fennt, weiß auch, 
daß er fich nicht, wie jo mancher fürfichtigere Fachgenoſſe, fcheut, die jchwierigiten und jchlüpf- 
rigiten Gegenjtände zu paden, fall8 er ſich von einer ernfthaften Befchäftigung mit ihnen eine 
Förderung der Allgemeinheit verſpricht. Wer fonjt unter den lebenden Hiſtorikern, namentlich 
aus der herrichenden „politifchen” Richtung würde es, Hand auf's Herz, nur der Mühe für wert 
erachten, fih über den Entwidlungsgang der deutfchen Muſik auch nad) der techntichen Seite 
bin Har zu werden? Dabei ift L. nicht einmal das, was man im ftrengen Wortfinne „mufitalifch” 
nennt. Dder: jeden gefchlagnen Sonntag im Stäbdtifchen Mufeum den Idealismus und Impreſſio— 
nismus unfrer modernen Malerei und Bildnerei kennen zu lernen? Das der Bücherei geſetzte 
Budget durch Ankäufe der „Werke von Dtto Julius Bierbaum, Stephan George und Hugo 
von Hofmannsthal (vgl. die köſtliche Zeichnung diefer „Ueberdichter”, ©. 24) zu beichweren? 
Mögen ſich aud) gerade in diefen den Künften und der fünftlerifchen Weltanfchauung (vulgo Philos 
fophie, der damit der Charakter einer Wifjenichaft fozufagen abgeſprochen wird) gewidmeten 
Erörterungen, die ihrer ganzen Natur nach fubjektiv fein müſſen, einzelne jchiefe Urteile, ja Ent: 
gleifungen finden — bewundernswert bleibt auf alle Fälle diefer allererite Verfuch einer auf der 
vertrauenerwedenden Grundlage biftorifcher Erkenntnis aufgebauten und in den feiten Rahmen 
bijtorifcher Anihauung geſpannten Meifterung aller Schwingungen, Saiten und Regungen im 
Seelenleben der jüngjten deutfchen Vergangenheit und Gegenwart. 
Leipzig. s 9. 5. Helmolt. 


UVolks- und Seewirtihaft. Reden und Auffäke von Prof. Dr. €. von Balle. 2 Bände 
550 M., geb. 7 M. Berlin 1902. Ernſt Stegfr. Mittler u. Sohn, Kgl. Hofbuchhandlung. 


Die Sammlung von Reden und Aufjägen, die, entitanden in den Jahren 1877 bis 1900, 
zum Teil ſchon an die Deffentlichkeit gedrungen find, zum andern aber bier zum eriten Mal 
publiziert werden, zerfällt in zwei Abteilungen. Die erite, die den Untertitel „Die deutjche 
Bellswirtihaft an der Jahrhundertwende” führt, bringt Abhandlungen über den Stand ber 
beutjchen Bolkswirtjchaftölehre an der Scheide zweier Kahrhunderte, über die Seeinterefjen 
unſeres Vaterlandes, über Deutjchlands wirtichaftliche Entridelung, wie fie in fremder und 
heimifcher Beleuchtung erfcheint, und einen alle Gebiete unjeres öffentlichen Lebens umjpannenden 
Ueberblid über die mwirtichaftlihen Verhältniſſe Deutjchlands. „Weltwirtfchaftliche Aufgaben 
und meltpolitifche Ziele” ijt die zweite Abteilung genannt. Sie enthält als befonders wertvolle 
Gaben drei Aufſätze über die volks- und jeerwirtichaftlichen Beziehungen zwiſchen Deutfchland 
und Holland, dem als Seitenitüd der Artikel „England als Beichüter Hollands“ dienen kann, 
bann die mirtichaftlicdye Entfaltung Merifos und der Weltmarkt, endlich den gedanfenreichen 
Eſſah „Weltmachtspolitif und Sozialreform”, Kleinere Aufſätze behandeln die deutichen 


960 Bůcherſchau. 


Kapitalintereſſen in der oſtaſiatiſchen Inſelwelt und die politiſche Lage, Englands Weltmacht⸗ 
ftellung auf dem Meere, bie Bedeutung des nordamerikaniſchen Imperialismus und die Ber 
teilung ber Induſtrie auf die Mimatifchen Zonen. Man fieht, es ift ein fehr reichhaltiger und 
vielfeitiger Inhalt, den die beiden Bände bergen. Aber bie einzelnen Teile werben nicht mur 
zufammengebalten durch das Band einer gemeinjamen Grundanfchauung, fondern fie ergeben 
in ihrer Gejamtheit auch ein treues Bild von den Aufgaben und Zielen, die das zu mwirtidhaft- 
licher Blüte und innerer eitigfeit gelangte Deutjche Reich num, Dank der Erpanfionsfraft, die 
jedem gefunden und ſtarken Volke innewohnt, auf dem Weltmarkt und in der Weltpolitit zu 
verfolgen bat, wenn es in der vorberiten Reihe der Mächte bleiben will. Den leitenden Geſichts— 
punft des Verfaſſers drüdt folgende Stelle des NRorworts aus: „Das Deutiche Reich muß eine 
große, innerlich ftarke, wohl ausgeglichene Nation mit rubig gegründetem Kraftbewußtſein 
bleiben; es muß fich feines eigenen Weſens, feines Lelftungsvermögens bewußt fein und abyus 
meſſen lernen, wie es fich in der Gejamtbetbätigung feines materiellen und geiitigen Dafeins, 
feiner natürlichen, gefellichaftlichen, wirtfchaftlihen und politifchen Kräfte gegenüber den andern 
großen, aufiteigenden Mitbewerbern um die Erbbeherrichung in der Zukunft zu verhalten bat.“ 
Hierüber unterrichten uns die Neben und Auffäte Ernit von Halles in ebenfo gründlich 
willenfchaftlicher Weile mie anmutigsedler Form. Wir begegnen überall reichitem Wiſſen und 
umfafiender Erfahrung, einem meiten, auf das Wefentliche gerichteten Blid und einer wohl 
thuenden Kraft nationaler Empfindung. Das Wert ift dem Staatöfefretär des Reichsmarine 
amts, Admiral von Tirpit, gewidmet, dem Manne, der die Bedeutung unferer Seemadt für 
unsere weltwirtichaftlihen und mweltpolitiichen Aufgaben fo kraftvoll und erfolgreich vertritt. 


Ernit Francke 


Alltagsaeihichten, Skizzen von Gotthard Kurland. Berlag von Earl Schlinemann, Bremen. 


Eine feine Feder und eine feine Poetennatur offenbaren fich in diefen „Alltagsgeſchichten“, 
die meijt in den höheren Beamten: und Offizierkreifen fpielen. An Handlung enthalten dieſe 
Skizzen fo gut wie nichts; man merkt, irgend eine Frage, eine Beobachtung in unferem fozialen 
oder gejelligen Leben hat den Berfaffer nicht losgelaſſen, er hat ihr nachgegrübelt und bat fie 
Schließlich in das Gewand eines Fleinen Gefchichtchens gefleidet, wobei freilich zumeilen das 
lehrhafte Element ſtark durchichimmert. 


Fragen mie jene in „Begnadigt”: warum verfchließt die Gefellfchaft dem Verbrecher, 
befjen That durch Strafe gefühnt fit, dennoch ihre Pforten, ſodaß ihm nichts als die Auswanderung 
in einen fremden Erbteil übrig bleibt? find nicht neu, folche wie in „Seheimratstochter”: warum 
muß ein alter müder Pater fich totarbeiten, um eine Exiſtenz für jeine Tochter zu fchaffen, bie, 
jung und thatfräftig, ſelbſt ſchwer unter dem aufgezwungenen Müßiggang leidet? haben ihre 
Löfung vielfach durch die Frauenbewegung gefunden. Dort, wo der PVerfaffer eine fatiriiche 
Behandlung anjtrebt, vgl. „Im Dienit der Menjchheit" — die Wohlthätigleitsbeitrebungen unbe 
ichäftigter und gutfituierter Damen — wird die Schilderung fait zur Karifatur. Immerhin 
bleibt viel, jehr viel zurüd, woran man feine helle Freude haben kann: eine graziöfe und 
individuell gefärbte Art der Schilderung, ein Zufanmentragen Kleiner, Stimmung gebender 
Elemente, eine fhöne Wärme des Gemüt und zuweilen ein glüdlicher Spürfinn für ein Motiv, 
das bei aller Einfachheit feine Wirkung in fich trägt. Skizzen wie „Ausrangiert”, „Ein Hindernis“ 
und vor allem das ergreifende „Auf Abbruch” find Kunſtwerke, die einen guten Pla in der 
Sabreslitteratur beanfpruchen dürfen. C. E—M. 


Nneuerſchlenene Bücher für die Bücherſchau bitten wir an die Verlagsbuchhandlung einfenden zu 
wollen. Beſprechungen behält fi die Redaktion vor. 
Nachdruck verboten, — Alle Rechte, insbefondere das ber Ueberfekung, vorbehalten. 


Berlag von Alexander Dunder, Berlin W.S. — Drud von 9, 8, Hermann in Berlin. 
Für bie Redaktion verantwortlib: Dr. Julius Lohmeyer, Berline Gharlottenbung. 























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