Gerhart
Hauptmann
Ulrike Caroline
Woerner
VT
)Ogle
Forschungen
zur neueren Litteraturgesohiohte.
Herausgegeben von
Dr. Franz Muncker,
o. ö. Professor an der Universität MUnchon.
IV.
Gerhart Hauptmann.
Von
U. C. Woerner
—
Carl HaK«*Ke^
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Vorwort.
Im Hinblick auf die verschiedenen Bedürfnisse verschie-
dener Aufgaben und Vorwürfe gewährt der Herausgeber dieser
„Forschungen zur neueren Literaturgeschichte" den einzelnen
Verfassern vollkommene Selbständigkeit und selbst die Frei-
heit, gelegentlich einmal statt der strengsten philologisch-
historischen Methode eine mehr ästhetisch - psychologische
Betrachtungsweise zu wählen. Wenn irgendwo, ist es gerecht-
fertigt, sich dieser Freiheit bei der Beurteilung eines lebenden,
in voller Schaffenskraft stehenden Dichters zu bedienen. Ja
in solchem Falle wäre jede andere Behandlungsart so unstatt-
haft wie unfruchtbar.
Freilich verlässt sogleich den sichern Boden, wer sich
der philologisch-historischen Methode entschlägt. Sie ist die
bewährte und anerkannte, während es weder eine allgemein
gutgeheissene Aesthetik giebt, noch einen ohne weiters anzu-
legenden psychologischen Massstab.
Da muss sich denn der Beurteiler, um einen festen,
wissenschaftlichen Standpunkt zu gewinnen, das Verfahren
der vergleichenden Literaturgeschichte zu eigen machen, muss
Menschen an Menschen messen, Werke an Werken, Wirkungen
an Wirkungen. Das Ergebnis solcher Vergleichung kann jeder
nachprüfen, und nur was sich nachprüfen und nachrechnen
lässt, ist wirklich wissenschaftliches Ergebnis. Alles andre
ist Meinung, Mutmassung, Mode, und der Dichter wird zu
leicht, wie fast täglich in der Presse, das Opfer des persön-
lichen Geschmackes, ja der Laune seines Richters.
Für den, der auf philologisch-historische Weise verfährt,
sind alle Werke eines Autors gleich ergiebige Gegenstände
der Untersuchung. Nicht so für den, der sie nach vergleichen-
der Methode ästhetisch-psychologisch betrachtet. Ein Drama
z. B. wie „Florian Geyer" neben ein anderes derselben Ord-
nung gestellt wie „Die Weber" — und die Werke eines
Dicbters unter einander zu vergleichen ist das Nächste und
Wichtigste — ein solcher Versuch zeigt sich neben dein Vor-
gänger schlechthin als missraten und ist mit wenigen begrün-
denden Bemerkungen zu erledigen, wogegen wiederum andere,
auch weniger geglückte Werke noch durch die Art des Miss-
lingens zu belehrenden Gegenüberstellungen Anlass geben.
Dies mag die ungleiche Raumzuteilung an die einzelnen Kapitel
und innerhalb derselben erklären und, wenn nötig, entschul-
digen.
Dass der Verfasser ohne Hass, wohl aber mit viel Neigung
an seine Arbeit gegangen ist, wird ihr den wissenschaftlichen
Charakter nicht entzogen, sondern eher gewahrt haben. Denn
ein liebevolles Sieh-befassen mit den Dingen, wie es Goethe
in „Hans Sachsens poetischer Sendung 4 * verlaugt, ist die
Grundbedingung jeder ersprießlichen Thätigkeit, sei es in der
Kunst, sei es in der Wissenschaft.
München, im August 1897.
U. C. Woerner.
Inhalt.
Seite
I. „Promethidenlos". „Vor Sonnenaufgang" 1
II. „Das Friedensfest' 11
III. „Einsame Menschen" 20
IV. „Die Woher'. „Florian Geyer" 20
V. „Kniloge Crampton". „Der Biberpelz*. Novellen .... 47
VI. „Hanneies Himmelfahrt" 59
VII. „Die versunkene Glorien" . , . . . . . , . . . . . , ß9_
I.
„Promethidenlos." „Vor Sonnenaufgang. a
Ein Dichter will zur Zeit seines Anfangs von einem
unerschlossenen Gebiet Besitz ergreifen, über dessen Beschaffen-
heit und Grenzen die litterarischen Landkarten keinen Auf-
schluss geben. Sogleich erheben die „Kenner", das heisst
die Kenner des schon Geschriebenen und Beschriebenen, die
Geographen der Kunst, warnend, ja drohend ihre Stimmen,
und nur zu oft verstärkt Spott, Hohn und Verwünschung
den Chor. Strebt er trotzdem unbeirrt weiter in der Richtung,
die ihm sein innerer Drang geboten, so folgt ihm vorerst nur
eine kleine Schaar, sei es aus Freude an jedem kühnen,
Widerspruch erregenden Unternehmen, sei es aus blosser
Neugierde. Andere drängen nach, um selbst zu schauen.
Erst sehen sie nur die Mängel, bald linden sie manches Gute,
manchen Vorzug; mehr und mehr gesellen sich hinzu, sind
zufrieden und vertragen sich, und wenn „der Wirt des Landes"
in Wahrheit ein Genius ist, wird er endlich sein ganzes Volk
zu Gaste haben.
Gerhard Hauptmann wurde am 15. November 1862 zu
Salzbrun n in Schlesien geboren. Nachdem er sich in ver-
schiedenen Berufen als Landwirt, Bildhauer und Student der
Naturwissenschaften versucht hatte, gab er 1885 seine erste
Dichtung heraus , „Pro m e t h i d e n 1 o s" , die ungeschickte,
völlig misslungene Nachahmung eines andern, berühmten
Jugendwerkes, des „Childe Harold".
Auch des deutschen Promethiden Pilgerfahrt beginnt mit
der Einschiffung in der Heimat und geht nach südlichen
Landen, Portugal, Spanien, Italien. Aber auf dieser ersten
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Reise ist er nicht in sein rechtes Fahrwasser geraten : steuerlos
treibt er auf idealen Gewässern, um endlich in Neapel Anker
zu werfen. Selbst dort wandelt der melancholisch Grübelnde
nicht auf festem Boden und erfasst kaum ein verwirrtes und
schwaches Bild der Dinge, an denen er vorü herstreift. Das
Büchlein verschwand denn auch später auf Veranlassung
seines Urhebers aus dem Buchhandel und ist jetzt nur in
wenigen Händen.
Was uns noch daran interessieren kann, ist die „Feuer-
seele", die da leidend und kämpfend strebt, der pessimistisch-
revolutionäre Grundton, der Protest gegen alles Schlechte,
der sich wie ein Leitfaden durch das Labyrinth der Träume
und Gedanken zieht. Zu einer Zeit entstanden, wo die Wahl
zwischen der bildenden Kunst und der Poesie in der Seele
des Jünglings unentschieden war — denn 1884 lobte Haupt-
mann noch als Bildhauer in Rom — , trägt dieser erste dich-
terische Versuch vor allem das Gepräge qualvoller Unsicherheit
und tastenden Unvermögens. Auch die wahrhaft kindliche
Verskunst, mit der die achtteilige Stanze, anfanglich in
strenger Form, dann freier und freier behandelt ist, würde
den nicht näher unterrichteten Beurteiler ein viel jugend-
licheres Alter des Verfassers vermuten lassen. Am Schlüsse
zerschlägt der Held die wenig durchgespielte Leier an der
Felsenwand, daran verzweifelnd, je das Ideal zu erreichen,
das in einigen besser gelungenen Versen des letzten Gesangos
aufgestellt wird:
„Ein Dichter sein mit Strahlenkranz, und Krone.
Bei dessen Tönen lauscht die ganze Welt,
Sein Sessel sehwergebailte VVolkenthrone.
Am Firmamente leuchtend aufgestellt,
In seiner Brust die Sprache jeder Zone,
Von dessen Leier Blitz und Donner fällt".
Vier Jahre später versuchte er, dem „hehren Bild** auf
einem andern Wege zu nahen. 1889 erschien zu Berlin sein
erstes Drama „Vor Sonnen a u f g a n g" .
Das Stück ist Bjarne P. Hohnsen gewidmet — unter
welchem nordischen Pseudonym sieh die deutsehen Schrift-
steller Arno Holz und Johannes Schlaf verbergen — , dem
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konsequentesten Realisten, Verfasser von ,,Papa Hamlet", in
freudiger Anerkennung der durch sein Buch empfangenen,
entscheidenden Anregung. Unwillkürlich sich selbst am besten
charakterisierend, gebraucht Hauptmann in jugendlich heissem
Eifer den Superlativ: konsequenter Realismus genügt nicht
als Losung für sein Drama, es musste der konsequenteste
sein. Voller Energie und Talent hat er die selbstgestellte
Aufgabe zu lösen gesucht; aber nicht nur in diesem ersten
Stücke thut das Prinzip im Superlativ grösseren Schaden als
die Unzulänglichkeit des Anfängers, es hat auch auf sein
späteres Schaffen häufig in ungünstiger Weise bestimmend
gewirkt. In immer neuer Gestalt, immer wieder anders ver-
puppt, tritt uns dieses Aeusserste in fast all seinen bis jetzt
erschienenen Werken entgegen.
Das Stück wird ferner auf dem Titelblatt ein soziales
Drama genannt. Alfred Loth, ein begeisterter Anhänger der
sozialistischen Bewegung, ein fanatischer Gläubiger der mo-
dernen Wissenschaft und Vererbungstheorie, einer von unsern
Jüngsten, ist, wenn man so sagen will, der Held, der Haupt-
träger der Handlung. Volkswirtschaftliehe Studien führen ihn
in ein Dorf der schlesischen Bergwerke. Die Kohle, die unter
ihren Feldern gewonnen wird, hat die Bauern im Handum-
drehen steinreich gemacht, der Ueberfluss guckt aus den
Fenstern und Thüren der Höfe. Moderner Luxus erscheint
auf bäuerische Dürftigkeit gepfropft, den rohen tierischen
Instinkten steht kein Hindernis der Befriedigung mehr ent-
gegen, Völlerei, Trunksucht und die verworfensten Laster
haben die Goldbauern, nach der Aussage des Arztes im Stück,
auf der ganzen Linie degeneriert.
In eine solche Familie hat der Ingenieur Hoffmann, ein
Gymnasialfreund Loths, aus blosser Geldgier, mit voller
Kenntnis der Thatsachen hineingeheiratet. Der Bauer Krause
verbringt seine Tage und Jahre hinter der Schnapsflasche im
Wirtshaus; seine älteste Tochter, Hoffmanns Frau, ist erblich
mit Trunksucht behaftet, und ihr kleiner Sohn hat bereits,
nicht älter als drei Jahre, am Alkoholismus zu Grunde gehen
müssen. Die Hausfrau, die Stiefmutter der Töchter, ist die
Gemeinheit in Person; sie offener, Hoffmann unter einem Deck-
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mantel, fröhnen ehebrecherischen Gelüsten. Allein die zweite
Tochter Helene erhält sich mit starkem und gutem Gemüte
unberührt, kämpft verzweifelt, um nicht unterzugehen, von
der Sumpfluft ihrer Umgebung nicht erstickt zu werden.
Sie erblickt sofort in dem nüchternen, mit allerlei republikani-
schen Tugenden ausgestatteten Loth den Erretter aus aller
Bedrängnis, und er, ebenso rasch von ihrer Lieblichkeit und
Reinheit bezwungen, ist zum guten Werke bereit. Er glaubt
in ihr die Gattin gefunden zu haben, mit der er einem hart-
näckig festgehaltenen Vorsatz Wirklichkeit geben könnte,
dem Vorsatz, eine ideale Ehe zu gründen, das kostbare Erbteil
seiner Väter, Gesundheit an Leib und Seele, ungeschmälert
auf ein neues Geschlecht zu übertragen. Da erfährt er die
ganze traurige Wahrheit ihrer Familiengeschichte, verlässt
sie augenblicklich, und das Mädchen giebt sich den Tod.
Gerade die Schwächen des Erstlings, die künstlerisch
betrachtet einen verhältnismässig harmlosen Charakter haben,
riefen bei seinem Erscheinen den grössten Lärm hervor. „Was
für ein abscheulicher Stoff" — „wir danken für eine solche
Anhäufung des Schmutzes und der Gemeinheit* — „was für
eine Verirrung von wahrer Kunst und vom Wege des Schönen"
— so und derber lauteten die Ausrufe der Gegner, wo die
Freunde verzückt vor einer neuen Offenbarung standen.
Hier verrät sich auch bei den „Gebildeten 4 derselbe
Mangel an historischer Kenntnis und Erkenntnis, der bei der
Mehrzahl vorausgesetzt werden muss. Die tapfern dichtenden
Jünglinge unserer Tage sind von den Stürmern und Drängern,
deren letzter und glänzendster der junge Schiller war, im
Grunde nicht so sehr verschieden. Damals wie heute wurden
mit Vorliebe grasse, gewagte Familienszenen zur Darstellung
gewählt, und rücksichtslose Kühnheit, derbe Deutlichkeit des
Ausdrucks war die Kegel. Mit einem gewissen Behagen lässt
Schiller seinen Franz Moor jede moralische Verpflichtung der
Kinder gegen die Eltern durch cvniseh-medizinisehe Argu-
mente wegphilosophieren; mit einer naiven Wollust wühlt
Hauptmann im Moraste des Lasters und macht sich, gleich
dem Erfinder der „verderblichen Philesophie' 4 des Franz Moor,
in den Augen des Publikums seelisch so schwarz, als er nur
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immer vermag. Das verträgt sich nach Umständen sehr wohl
mit einem unschuldigen Herzen und mit Sanftmut des Cha-
rakters, beweist nichts, als dass die Jugend zu allen Zeiten
gerne der Versuchung erlag, Kraft in Brutalität zu übertreiben
und dem Philister auf sein bestimmtes Nein ohne Prüfung
nicht bloss ein ebenso bestimmtes Ja, sondern schon mehr einen
kernigen Fluch zurückzuschleudern, ihn so recht eigentlich
zum Teufel zu jagen.
Hauptmann beteuert in der kurzen Vorrede zur dritten
Aurlage, dass sein Werk aus reinen Motiven heraus entstanden
sei. Seine spätere Laufbahn bezeugt, was schon hier für den
Einsichtigen leicht zu erkennen war: die unbedingte Wahr-
haftigkeit und den Ernst seines Strebens. Nur der Unverstand
und die litterarische Gehässigkeit konnten seines Stoffes wegen
persönliche Angriffe gegen ihn richten. Es sind allerdings
vielerlei Erzeugnisse, mit anscheinend derselben Marke des
Naturalismus gestempelt, auf den Markt gebracht worden,
und diese tragen die Schuld, wenn das Talent mit unlautern,
aller Kunst und allen Geschmackes baren Nachahmern vor-
wechselt und zusammengeworfen wird.
Eine andre Frage ist, ob die scenische Vorführung solcher
tierischen Verirrungen, solcher ausbündigen Verworfenheit
und Gemeinheit zur Erreichung der künstlerischen Absicht
wirklich notwendig war. Wir würden ohne Zweifel Helenens
traurige Lage auch bei einer sparsameren und massigeren
Schilderung ihrer Umgebung vollständig begreifen. Es würde
reichlich genügen, wenn ihr Vater früh um vier Uhr, von ihr
geleitet, sinnlos betrunken aus dem Wirtshaus heimtaumelte;
der weitere hässliche Vorgang hätte uns erspart werden können.
Dasselbe gilt von den Scenen mit der Stiefmutter. Eine leichte
Milderung hie und da hätte den Eindruck nicht geschwächt,
hätte nichts unklar gelassen, um so weniger, als ja Helene
selbst ihr ganzes Elend zu Anfang des dritten Aktes ausspricht.
Fast in allen Kritiken ist die „Macht der Finsternis 44 als
Hauptmanns Vorbild genannt worden. Nur noch Tolstoi gehe
so bis an die äusserste Grenze des Widerwärtigen. Diese
Vergleichung ist oberflächlich. In der „Macht der Finsternis* 4
ist die Kette der Verbrechen unlösbar, ergiebt sich eines aus
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dem andern mit zwingender Notwendigkeit. Der Hang zu
Wohlleben und Wollust erzeugt den Ehebruch, der Ehebruch
den Mord und wieder Ehebruch und wieder Mord in schreck-
licher Folge. Nichts ist zu viel, nichts von aussen herein-
gezogen; alles mit unübertrefflicher Meisterschaft an seinen
Platz gestellt, alles auf dem langen Weg von der Schuld zur
Sühne gleich sicher und tief erfasst, ergreifend durch Grösse
und wahrhafte Innerlichkeit. Die greuelvolle Sünde als herr-
schende Macht nimmt nach der Anlage des Stückes in aller
Schärfe und Plastik den Vordergrund ein. In Hauptmanns
„Vor Sonnenaufgang" ist das Laster nur der Hintergrund,
liegt das Schrecken nur in den begleitenden Umständen.
Deshalb wirkt das Stück mehr wie ein Gemälde, auf dem leb-
hafte, unvermittelte Farbeneffekte gerade die Teile für das
Auge beleidigend hervortreten lassen, die weiter zurück ein
stimmungsvoll verschleierndes Halbdunkel mehr ahnen als
erkennen lassen sollte. Die „Macht der Finsternis" erfüllt
ihr Gesetz, das sie wie jedes Kunstwerk in sich selbst trägt,
mit vollkommener Sicherheit und Reinheit. „Vor Sonnenauf-
gang" ist ein ehrlicher Versuch, aber das jugendlich unreife
poetische Gefühl unterscheidet noch nicht zwischen rechten
und unrechten Mitteln zum guten Zweck, zwischen dem echten
Mut der künstlerischen Thal und herausfordernder Keckheit.
Hauptmann, in Deutschland ein Vorkämpfer der Realistik,
verhält sich hier ja auch sonst, im Aufbau der Handlung, in
der Gruppierung der Personen, in der Verwertung aller Motive
und des ganzen technischen und dramatischen Apparates, als
Schüler zu den ausländischen Meistern dieser Richtung. Sie
haben das dramatische Bereich erweitert ohne allzu gewalt-
same Verschiebung der Grenzen; er führt schon eine unge-
messene Fülle novellistischer Einzelheiten — Hobslabär,
Kutscherfrau, zu viele Dienstboten bei ihren Beschäftigungen
— in das Drama ein. Ibsen wendet zur feinsten Stinunungs-
malerei doch immer theatralisch mögliche Mittel an ; bei Tolstoi
haben sich einige wenige Bemerkungen ins Scenarium verirrt,
die nur in einer Erzählung angebracht wären, z. B. die, dass
eine Grille in der Bauernstube des vierten Aktes zirpen soll.
Unser Dichter hat für die eine Grille schon Lerchen, die
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1 rillern, Tauben, die aus dem Schlage fliegen, bellende Hunde
und krähende Hähne. Seine Bühnenanweisungen sind über-
haupt nicht bloss für den Leiter der Aufführung bestimmt,
sondern richten sich mit ihren genauen Beschreibungen, mit
der Schilderung rein seelischer Vorgänge vielmehr an den
Leser. Anders können Sätze nicht gedeutet werden wie:
„Loth blickt in den erwachenden Morgen hinaus" — „ist
in den Anblick des tauigen Obstgartens vertieft" — „der
Bauer verlässt wie immer (!) als letzter (!) das Wirtshaus"
— „sie kommt ihm dabei so lieblich \or, dass er den Augen-
blick benutzen will, den Arm um sie zu legen". —
In der oben erwähnten Vorrede dankt Hauptmann den
Leitern der „Freien Bühne", dass sie, kleinlichen Bedenken
zum Trotz, einem Kunstwerk zum Leben verholfen haben.
Sein erstes Drama sofort selbst ein Kunstwerk zu nennen,
erschien vielen eine lächerliche, ungeheuere Anmassung. Aber
alle Grundbedingungen zu einem Kunstwerke sind gegeben;
es ist vorhanden, wenn auch noch nicht m völlig schön und
frei ausgewachsener Gestalt, Vor allem sind die Charaktere
aller Haupt- und Nebenpersonen vorzüglich durchgeführt.
Hoffmann, der intelligente, gebildete unter den naiven, dumm-
rohen Lüstlingen und Ausbeutern ; Helene, in den ersten Akten
noch ein wenig blass und mehr als gedachter Gegensatz,
später jedoch desto wahrer und lebendiger wirkend, und in
den Liebesscenen von hinreissender Unmittelbarkeit, die an-
mutigste Verkörperung eines jungen, seelenreinen Geschöpfes;
besonders aber Loth, der sozialistische Pedant, der alles mit
dem Verstand, nichts mit dem Herzen erkennt und übt, selbst
nicht die Tugend des Mitleids und der Aufopferung — eine
völlig neue Erscheinung auf der Bühne. Menschenliebe zu
verbreiten und zu fördern ist seine selbstgewählte Aufgabe,
aber bei der ersten Gelegenheit, wo im einzelnen Fall, nicht
im Allgemeinen, thätlich, nicht theoretisch Menschenliebe von
ihm gefordert wird, versagt er schmählich um trockener Prin-
zipien willen und handelt verkehrt und grausam, er, der mit
so viel Scharfsinn das Verkehrte und Grausame aller gesell-
schaftlichen Verhältnisse darzulegen weiss. Die genügsame,
begeisterungsfähige Helene wäre ja sicherlich zur Entsagung
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bereit, wenn er sie nur sonst retten, von ihrer Familie weg-
bringen, ihr als Freund erlauben wollte, an seinen Bestre-
bungen teilzunehmen.
Recht gesehen weist der Charakter des Sozialisten nicht
den Bruch auf, von dein in allen Besprechungen des Werkes
die Rede war. Der selbstbewusste Moralprediger ist eben hier,
wie so oft im Leben, nur in der Lehre stärker als seine an-
dächtige Zuhörerin. er steht von vorneherein in der That-
freudigkeit tief unter dem demütig lauschenden Mädchen.
Brüchig, weil plötzlich zu sehr heruntergedrückt, erscheint
Loths Charakter nur an einer einzigen Stelle: wo er dem
Vorschlag des Arztes und der cynischen Begründung dieses
Vorschlages beistimmt. Er nennt Helene kurz vorher selbst
das keuscheste Geschöpf, das es giebt, und müsste wissen,
dass die wehrlose Beute ihres Schwagers zu werden, keine
Entschädigung, nur neue Qual für sie wäre. Durch nichts
giebt sie ihm Grund zu einer so falschen Nachsicht, zu so
feigem Mitleid.
Ob sich das Vererbungsgesetz wirklich in jedem Falle
bestätigt oder nicht, darüber zu streiten hatte eher noch einen
Sinn beim Erscheinen der „Gespenster**, wo es in den schon
eingetretenen Folgen vor Augen geführt wird. Hier kommt
nach des Dichters Absicht allein Loths Glaube daran in Be-
tracht, nicht was es an und für sich und im Leben für
Giltigkeit hat. In Tschernuischefskvs berühmtem sozialem
Romane „Was soll geschehen?" heiratet ein junger Arzt ohne
jegliches Bedenken die brave Tochter verkommener und ver-
trunkener Eltern. Zu Anfang der sechziger Jahre wusste man
eben noch nicht so viel von den unerbittlichen Folgerungen
der neuen Wissenschaft. Darum brauchte der russische Dichter
selbst einen Mediziner keine derartigen Bedenken hegen zu
lassen, wie er auch keine nähere Erklärung für nötig hielt,
dass Werra, von so schlechtem Stamm und auf so faulem
Boden entsprossen, dennoch herrlich gediehen ist, während
sich bei Hauptmann Helenens Reinheit als ein Erbteil ihrer
verstorbenen Mutter nachweisen lässt, erhalten und gesichert
durch die sorgfältige Erziehung in Herrenhut.
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Die Handlung des Stückes ist nach den Grundsätzen der
realistischen Schule einfach; sie wird interessant gesteigert
durch die langsame Enthüllung all der Schande und des
Kummers, die sich auf das Mädchen häufen. Die epische
Breite stört zwar, aber hindert doch nicht, dass sie stufen-
weise fortschreitet. Am meisten hat der Schluss, Helenens
Selbstmord, verstimmt, weil er nicht aus ihrem Thun und
Charakter, sondern aus dem Charakter und der Handlungs-
weise ihres Verlobten hervorgeht. Es wurde die Forderung
aufgestellt, nath ihrem Tode hätte die Handlung noch einmal
einsetzen müssen, damit wir die Wirkung auf Loth beobachten
könnten.
Dieser Wunsch hängt mit der Erwägung zusammen, dass
allein der unschuldige Teil zu Grunde geht, dann aber auch
damit, dass man in Loth einen Menschen mit zwei Seelen
erkennen wollte. So, wie er uns, ganz einheitlich, vorgeführt
ist, wird er seine Hände in Unschuld waschen, völlig über-
zeugt, dass er nicht anders handeln konnte und durfte, und
Helene wird als bedauernswertes Opfer der Verhältnisse in
seiner Erinnerung fortleben, nur ein wenig stärker und unan-
genehmer als der Arbeiter, der auf dem Fabrikhof zusammen-
gestürzt ist. An seinem Vorsatz, weiter zu leben und zu
kämpfen, wird ihr tragisches Ende kaum etwas ändern — er
spricht allzu nüchtern und überlegt von der „bewussten
Kugel' 4 — , sein Streben wird nur noch öder und maschinen-
artiger werden, als es, nach seinem eigenen Geständnis, schon
vor dem kleinen Anflug von Verliebtheit und W T ärme war.
Herecht igter wäre der Vorwurf, dass Helenens Tod nicht
so gut und schlichtergreifend dargestellt wird wie so mancher
Ausbruch ihres Schmerzes vorher. Wiederum ist zu viel in
die Anmerkungen geraten und läs.st sich auf der Bühne durch
das beste Spiel nicht ersetzen. „Auf diese Laute hin u —
das Geschrei ihres trunkenen Vaters — „wie auf ein Signal,
springt sie auf u. s. w." Ein wenig Nachhilfe, vielleicht ein
einziger, auf den Vater sich beziehender Ausruf, erschlösse
das Verständnis für den Ideengang der Allerärmsten , ganz
Verlassenen.
Fast überall rühmenswert ist der Dialog, die Personen
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scharf charakterisierend. Zuweilen wäre eine kleine Ver-
schiebung, Steigerung und für manchen überflüssigen, unge-
lenken Satz der streichende Rotstift erwünscht. Der ganz
getreu wiedergegebene Dialekt wird lästig, besonders, wo
mehrere Personen um den Tisch sitzen, von denen die eine
Hälfte hochdeutsch, die andere fast unverständlich redet. Er
hätte etwas übertragen werden müssen. Selbst die lebensechte
Gestalt des alten Hofarbeiters Beibst wäre dadurch nicht not-
wendig geschädigt worden, die Bäuerin vielleicht weniger
drastisch herausgekommen, die Gefahr, durch gar zu grosse
Plumpheit ans Komische zu streifen, leichter vermieden worden.
Eine Hoffnung, eine Erwartung, ja eine gewisse Zuver-
sicht drückt der Titel dieses Dramas aus. Wenn erst die
Sonne voll aufgeht, werde sich alles erhellen und klären,
werden solche Thaten des ungewissen Zwielichts für immer
mit den weichenden Schatten verschwinden. In Bezug auf
ihn selbst, auf sein künstlerisches Streben hat sich die Hoff-
nung des Dichters auf den kommenden Tag nicht betrogen.
In seinen folgenden Dramen ist alles heller, lichter, klarer
geworden als in diesem Werke der Dämmerung, geschrieben
— vor Sonnenaufgang.
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IL
„Das Friedensfest. "
Schon das nächste Jahr, 1890, brachte ein zweites Drama,
„Das Friedensfest, eine Familienkatastrophe". Das Motto
ist aus Lessings Abhandlungen über die Fabel gewählt. „Sie
finden in keinem Trauerspiel Handlung, als wo der Liehhaber
zu Füssen fällt. — Es hat ihnen nie beifallen wollen, dass
auch jeder innere Kampf von Leidenschaften, jede Folge von
verschiedenen Gedanken, wo eine die andre aufhebt, eine
Handlung sei ; vielleicht weil sie viel zu mechanisch denken und
fühlen, als dass sie sich irgend einer Thätigkeit dabei bewusst
wären. Ernsthaft sie zu widerlegen, würde eine unnütze Mühe
sein. 4 ' — Mit denselben ästhetischen Grundgedanken, nur all-
gemeiner, nicht polemisch gefasst, leitet auch Schiller seine
Besprechung von Goethes „Egmont* ein. „Entweder es sind
ausserordentliche Handlungen und Situationen, oder es sind
Leidenschaften, oder es sind Charaktere, die dem tragischen
Dichter zum Stoffe dienen; und wenn gleich oft alle diese
drei als Ursache und Wirkung in einem Stücke sich beisammen
linden, so ist doch immer das eine oder das andre vorzugs-
weise der letzte Zweck der Schilderung gewesen.* 4 Wenn
Hauptmann also des Hei falls des grössten Kritikers für seinen
Kampf von Leidenschaften, seine Folge von Gedanken sicher
zu sein glaubte, hätte er auch Schiller -dafür beim Wort
nehmen können.
„Oder es sind Leidenschaften, oder es sind Charaktere."
Es sind Charaktere und Leidenschaften, Leidenschaften der
ursprünglichsten Art, Hass, Neid, Eifersucht, und Charaktere,
die trotz moderner Bildung und Gesittung, diesen Leiden-
schaften völlig hingegeben erscheinen. Zum zweitenmale
werden wir an die Sturm- und Drangzeit erinnert. Ihr Lieb-
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lingsthema, das auch Schiller so reizte, dass er ihm in seinen
spätem Jahren noch eine antik-klassische Gestalt zu geben
versuchte, feindliche Brüder, ihre Versöhnung und ihr wieder
ausbrechender Streit, wird uns aufs neue vorgeführt in dem
schlichtesten, alltäglichsten Lebenskreise, und dennoch die
strenge Forderung der alten Kunstansehauung erfüllend, Furcht
und Mitleid im höchsten Grade erregend. „Aus unbekannt
verhängnisvollem Samen" ist in der „Braut von Messina" der
Bruderhass hervorgewachsen, vergebens vom Vater mit allen
Mitteln der Strenge, von der Mutter mit unermüdlicher Liebe
bekämpft. Auf ganz andern Voraussetzungen beruht die
moderne Fassung der alten Fabel. In scharfer Beleuchtung
hellt sich das dunkle Verhängnis auf, erweist sich das Unheil
dem ungleichen Bunde, dem von allen guten Genien gemie-
denen Zusammenleben der Eltern entsprossen.
Dr. med. Scholz, seine Frau, zwei Söhne und eine Tochter
sind seit Jahren und Jahren entzweit. Jedes Mitglied der
Familie erkennt im andern seine eigene Natur wieder, hasst
im andern seine eigenen Fehler, eines wird durch das andre
zu Grunde gerichtet. Der Vater und die Söhne haben das
Haus verlassen — ohne Nutzen, denn mit dem eigenen, unge-
zähmten Ich tragen sie den Fluch des Unfriedens mit sieh
fort. Sie trennen sich äusserlich und hängen innerlich nur
um so fester zusammen: Erinnerung und Reue giebt sie
nimmer frei. Die Eltern, einst der schuldige Teil, sind nun-
mehr der leidende, sie ernten die Frucht ihrer traurigen Saat.
Reichlich haben ihnen die Kinder das empfangene böse Bei-
spiel, die zerstörte Jugend, die Frevel einer geradezu ver-
derblichen, bald übermässig strengen, bald ganz nachlässigen
Erziehung vergolten. Trotzdem lebt in den Missleiteten noch
das Gefühl für das Niedrige, Unwürdige ihres Zustande*, regt
sich noch Scham und Sehnsucht, weise vom Dichter auf die
Einzelnen verteilt, je nach dem Grade, in dem sie unser
Mitleid erwecken sollen.
Der Schuldigste, Wilhelm, ist zugleich der Edelste und
der Rettung am nächsten. Er ist der Kämpfer und Büsser,
er steht im Vordergrund der Handlung. Den zweiten Platz
neben ihm nimmt Robert, der ältere Bruder, ein. Scheinbar
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fest gewappnet mit kaltem Cynismus gegen alle Gefühls-
regungen in und um ihn, mit scharfem Verstände die Mensehen
und Handlungen zerlegend — ihm ist alles Ursache und
Wirkung, alle sind gleich schuldig und gleich schuldlos! -—
wird er dennoch aus einer echten, heissen Empfindung heraus
im Stücke seihst zum eigentlichen Unheilstifter. Die Tochter
dagegen, immer zu Hause weilend, ist am meisten dem Einfluss
der erschlaffenden Gewohnheit unterlegen und greift am
wenigsten in die Handlung ein. Ihr ist das Erbteil mehr von
der Mutter, den Söhnen vom Vater geworden.
Vom Beginn der Ehe an hat der positiven Schuld des
Vaters, seiner Tyrannei, Ungerechtigkeit und pflichtvergessenen
Selbstsucht, die negative Schuld der Mutter gegenüber ge-
standen, ihre verächtliche Schwäche, geistige und sittliche
Armut. Der ununterbrochene Kampf hat seine Höhepunkte
gehabt und besonders einen: Dr. Scholz verleumdet einmal
in seiner unsäglichen Missachtung, in einem Anfall boshafter
Laune die eigene Frau, zeiht sie, ohne den Schatten eines
Grundes, im Gespräch mit dem Stallknecht eines unsittlichen
Verhältnisses. Wilhelm belauscht ihn, und er, in dem immer
ein warmes, ursprüngliches Gefühl gelebt hat, der besonders
zu jener Zeit geneigt gewesen, die Schwäche der Mutter im
Gegensatz zu der Härte des Vaters als Güte zu deuten, glaubt
sich zu ihrem Rächer berufen, stürmt auf den Vater ein und
straft ihn mit beiden Händen, mit seinen ungestümen, freveln-
den Sohneshänden. Dies ist die menschlich und dichterisch
gleich interessante Vorgeschichte.
Wer den eigenen Vater schlägt., begeht eine gemeino,
niedrige Handlung, und wir sind gewohnt, eine solche Selbst-
vergessenheit nur bei der rohesten, auf der untersten mora-
lischen Stufe stehenden Menschenklasse zu erwarten und
erklärlich zu linden. Eine niedrige Handlung aber gilt nicht
als tragisch und nicht für würdig eines ernsten Stückes,
weder in unmittelbarer Darstellung noch als hereindräuende
Vergangenheit, So lehrt eine alt überkommene Theorie, aber
die Erfahrung lehrt zuweilen anders, so dass das Problem
sclion den klassischen Aesthetiker beschäftigte. -Schiller führt
aus, dass in wenigen seltenen Fällen auch im Ernsthaften und
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Tragischen das Niedrige angewendet werden könne. „Alsdann
muss es aber ins Furchtbare übergehen, und die augenblick-
liche Beleidigung des Geschmackes muss durch eine starke
Beschäftigung des Affektes ausgelöscht und also von einer
höhern tragischen Wirkung gleichsam verschlungen werden. u
In gewaltthätigen Zeiten, und einer heissblütigen Nation
angehörig, hätten sich die Glieder dieser Familie gegenseitig
nicht bloss seelisch vernichtet ; Wilhelm hätte einen Vatermord
begangen, Robert, den Vater rächend, den Brudermord hinzu
gefügt, und den Frauen wäre die Rolle zugefallen, den
Untergang des Geschlechtes zu beweinen. Am Ende des
neunzehnten Jahrhunderts, in einem Landhaus auf dem
Schützenhügel bei Erkner in der Mark Brandenburg, unter
Mitbürgern mit gesänfteten Sitten, wo allüberall die Aeusse-
rungen der im Grunde immer gleichen Leidenschaften mühsam
gedämpft sind durch die Erziehung der Jahrhunderte, — jetzt
kann wohl schon der unblutige, aber die Ehre raubende, das
Schamgefühl aufs höchste erregende Schlag ins Gesicht zur
tragischen Schuld werden und die geforderte höhere Wirkung
hervorbringen. Treffender als die Kritiker dieses Dramas
spricht sich hierüber der Volksmund aus, dessen kräftiges
Urteil Frau Scholz mit den Worten wiederholt: „Die Hand,
die sieb gegen den eignen Vater erhebt, aus dem
Grabe wachsen solche Hände." Die niedrige Handlung geht
hier ins Furchtbare über, weil für unser zärtlicheres Gewissen
die Furien dem Sohne so nahe sind wie ehedem dem Mutter-
mörder auf Tauris, weil wir auch ihn aus edlen Motiven
schuldig geworden wissen, ihm den stärksten Anreiz zum
Verbrechen zuerkennen müssen, und weil sich endlich —
überraschend und ergreifend! — auch der Vater unvermutet
bemitleidenswert zeigt, als ein Mensch, dem Gefühl und Güte
nicht fehlen, in dem sie nur unlebendig geschlummert haben.
Viele grosse und kleinere Künstler haben das Bild des
Lebens im historischen Rahmen entrollt, haben die Zeichnung
auf dem Hintergrund einer wilden Vergangenheit mit freien,
kühnen Strichen entworfen, aber nur sehr selten ist es versucht
worden und gelungen, den Massstab richtig für unsere Ver-
hältnisse zu verkleinern. Rings um uns hadern und kämpfen
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noch immer Familien, ringsum morden noch immer Eltern
die Kinder und Kinder die Eltern, wenn auch mit kleinlichen,
unschein hären Mitteln. „Hier ist ein Verbrechen geschehen'*,
sagt Wilhelm, „um so furchtbarer, weil es nicht als Ver-
brechen gilt."
Nach geschehener That sind einst Vater und Sohn am
selben Tage noch in die Fremde gezogen, und wiederum am
selben Tag, am Weihnachtsabend, kehren beide nach sechs-
jähriger Abwesenheit zurück. Der Vater getrieben von
Krankheit und Todesahnung, der Sohn geführt von einer
neuen Lebenshoffnung, einem lieblichen Glücke. Er will sich
von seiner schlimmen Jugend loslösen , um gerettet einen
eigenen Herd zu gründen. Seine Braut und ihre Mutter
haben die Aufgabe der guten, helfenden Geister übernommen.
Durch einen vortrefflichen Expositionsakt werden wir zu den
bei aller Einfachheit der Mittel und des Baues meisterhaft
gesteigerten Vorgängen des zweiten Aktes geführt. Wilhelm
sinkt dem Vater zu Füssen und erhält Verzeihung. Im
Uebermass der Erregung befällt ihn eine Ohnmacht, die Ueb-
rigen eilen hinzu, und verschieden nach den verschiedenen
Charakteren, aber mit gleich ausserordentlich wahr beobach-
teten Einzelheiten bricht bei allen die lang unterdrückte
Empfindung hervor, des Vaters krankhaften Wahn und unver-
ständigen Ilass besiegend wie der Mutter wehleidige Arm-
seligkeit, Roberts Frivolität wie der Schwester beständig
nörgelnde Unzufriedenheit. Robert übernimmt die Wache
beim Kranken, und Wilhelm findet im Bruder nicht mehr
bloss den halben Mitschuldigen und ganzen Mitwisser aller
bösen Geschehnisse wieder, sondern den Freund, der zuerst
von Liebe und Achtung spricht und um Vergebung bittet.
Aber plötzlich, und doch schon länger vorbereitet und gut
motiviert, steigert sich Roberts verhaltene Eifersucht: weshalb
dem Bruder alles, dem zum mindesten nicht Bessern und
Klügern? Weshalb vor allem ihm gerade der Besitz Idas, -des
fremden süssen Mädchens? Unter den brennenden Lichtern des
Weihnachtsbaumes, halb absichtlich, halb unwillkürlich, kränkt
er des Bruders Verlobte, die andern mischen sich ein, Wilhelm
hält noch beherrscht an sich, aber die Leidensehaften sind wieder
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— 1(> -
entfesselt, und während die Geliebte im Nebengemach das
Weihnachtsliod singt, erhebt sich der Aufruhr mit alter Gewalt.
Vorwürfe und bitterscharfe Worte fliegen in rascher Folge
hin und her, bis die allgemeine Erregung masslos wächst.
In ausbrechendem Verfolgungswahn flieht Dr. Scholz vor
Wilhelm, mit aufgehobenen Händen bittend, ihn nicht wieder
zu züchtigen, und sinkt, von einem Schlaganfall getroffen,
sterbend zusammen.
Der dritte und letzte Aufzug dient hauptsächlich der
Schilderung von Idas rührendem, ausdauerndem Kampfe mit
allen finstern Mächten, die den Geliebten von innen und aussen
bedrohen. Wiederum ist es Hauptmann gelungen, dem reiz-
vollen Wesen eines liebenden Mädchens einen besonderen
Stempel aufzudrücken, ohne die köstliche Frische, die sehlichte
Natürlichkeit im geringsten zu zerstören. Aber wo Helene
unterging, bleibt Ida wenigstens zunächst Siegerin. Ungefähr
gleichmässig stark erscheinen am Schlüsse die Nöten und
Schwierigkeiten, die sie zu bestehen hat, und die dagegen
aufgebotene Kraft ihrer Liebe und Gesinnung. Wo solche
Fähigkeiten ins Spiel gesetzt werden, wie sie Wilhelms Braut
zu eigen sind, ist dem Manne eigentlich alles von Glück und
Trost nahe, was der leidverfolgte Erdenpilger überhaupt erhoffen
und erringen kann. Mehr wird ihm die aufrichtig pessimi-
stische Weltanschauung, in der das Stück wurzelt, nicht in
Aussicht stellen. Ja, für den Zweck des Dichters, Spannung
und Teilnahme in der Gegenwart zu erregen, bleibt es sich
beinahe gleich, wer in einer spätem Zukunft recht behalten
werde: Robert, der Unbegnadete, der sich den mit gleichen
Naturanlagen gebornen Bruder nicht besserungsfähig vorstellen
kann, oder Wilhelm, der den Kuss der weihenden Liebe
empfangen hat und ehrlich darnach ringen will, eines fried-
lichen, reinen Daseins an Idas Seite würdig zu werden. Das
erste lähmende Entsetzen vor dem neu hereingebrochenen
Unglück weicht unter ihrem sanften Zuspruch von ihm, und
während Robert vom Schauplatz flieht, ehe der Vater für
immer die Augen geschlossen hat, tritt er gefasst, Hand in
Hand mit der Braut, vor die Leiche hin.
Während die Vererbungslehre in dem sozialen Drama
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„Vor Sonnenaufgang" nur als Motiv, als vorherrschende, den
Helden bestimmende Ueberzeugung verwertet ist, hat sie hier
durchaus als Grundidee wirken sollen. Aber in der Handlung,
im Dialog siegt die Anschauung über den blassen Gedanken,
der Dichter über den Theoretiker. Alles, was wir sehen und
hören, ist nichts als die dramatische Erläuterung des alt-
bewährten Sprichwortes „Der Apfel fällt nicht weit vom
Stamm". Anders freilich verhält sichs mit dem, was wir
lesen, mit den Bühnenanweisungen. In ihnen macht sich die
Tendenz, die bloss konstruierende Wissenschaft breit, die
immer wieder die Willensfreiheit durch rein physische Ursachen
beschränkt zu zeigen, alle unschönen Regungen und wilden
Ausbrüche auf eine krankhafte Veranlagung zurückzuführen
strebt.
Allein auf metaphysischem Gebiete lässt sich eine Lösung
der Frage versuchen, wieso wir denn frei und unfrei zugleich
sein können. Dass wir in der Empirie in einem gewissen
Sinne frei sind, das muss vor allem der Dichter anerkennen,
der es nicht mit dem transcendentalen Wesen des Menschen,
der es mit dem Menschen in seiner irdischen Hülle und Er-
scheinung zu thun hat. „Die Schuld ist ein Kind der Frei-
heit" (Otto Ludwig). Nur wenn wir an sittliche Freiheit
glauben dürfen, wird er uns ergreifen und erheben, wie es
Hauptmann thut mit der Gestalt des Sohnes, dessen Gewissen
so wach, dessen Reue so tief und aufrichtig ist. Ja selbst
der Vater, der im Banne der Krankheit gezeigt wird, muss
die gewichtigen Worte aussprechen: „Auf Schuld folgt Sühne,
auf Sünde Strafe." Sein körperliches Leiden kann ebenso
gut als eine Folge seines Seelenleidens, des nagenden Schuld-
und Schamgefühles angesehen werden wie urngekehrt. Und
Wilhelms ausbrechender Zorn, die Anschuldigungen, die er
dem Bruder entgegenschleudert, wären, auch wenn die ver-
erbte Neigung zum Verfolgungswahn gar nicht angedeutet
würde, schon durch die Umstände und durch das Benehmen
seiner Angehörigen gegen ihn sehr wohl zu erklären.
Die Vergangenheit und Gegenwart dieser „handelnden
Menschen" ist das notwendige Ergebnis nicht bloss ursprüng-
licher Anlagen, sondern auch der bestimmenden äussern Ver-
2
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hältnisse. Dr. Scholz hat als Arzt in türkischen Diensten
gestanden und «Japan bereist, aber seit seiner Verheiratung
übt er seinen Beruf nicht mehr praktisch aus; nur in der
Studierstube mit zwecklosen, halbwissenschaftlichen Spielereien
beschäftigt, versumpft sein ehedem kluger und unternehmender
Geist. Seine Frau, die Tochter eines wohlhabenden Empor-
kömmlings, ist erst sechzehnjährig gewesen, als sie von dem
vornehmeren, um zweiundzwanzig Jahre altern Sonderling aus
der behaglich bürgerlichen Umgebung in die Einsamkeit eines
weltvergessenen Winkels versetzt worden. Von der neuen
Generation ist Wilhelm künstlerisch veranlagt — Musiker;
er wird also schon durch seinen Beruf in eine bessere Welt
empor gehoben, empfängt schon aus der Hingebung an seine
Kunst vorbereitende, stärkende Kräfte für sein Verhältnis zu
Ida und für den Kampf mit der angestammten Natur. Robert,
verstandesmässig angelegt und gut begabt, aber infolge der
fehlenden Erziehung „so eine Art seif made man", sitzt in
einem Fabrikkomptoir fest und schreibt Reklamen. Dort hat
er seine „Lebensweisheit" erworben, dort stellt er sein „Gleich-
gewicht" nach den häuslichen Erschütterungen wieder her.
Die Schwester endlich, ohne regelmässige Beschäftigung, ohne
jegliches feste Ziel, ist das alternde, in Selbstsucht verlorne,
verbitterte Mädchen.
Wie sich die Personen gebahren, wie sie sich gegenseitig
schildern, darin ist genau das Rechte, nicht zu viel und nicht
zu wenig geschehen. Um so überflüssiger erscheinen bei so
treffender Charakterzeichnung die Seiten und Seiten in kleinem
Druck. Weder dem Leser noch dem Schauspieler wäre zu
helfen, der jetzt noch derselben Stützen für seine Einbildungs-
kraft bedürfte, die dem Verfasser nützlich gewesen sein
mögen, als erst alles wurde. Wäre es z. B. nicht gelungen,
den Gegensatz im Wesen der vier Frauen sinnenfällig heraus-
zuarbeiten, was würde es dann nützen, dass in den Vor-
schriften von Frau Buchner zu lesen ist : ,,Ein Hauch der
Zufriedenheit und des Wohlbehagens scheint von ihr auszu-
gehen'*, oder von Augusta Scholz, dass sie mit der Aufge-
regtheit der Mutter ein pathologisch offensives Wesen ver- w *
binde, und dass diese Gestalt gleichsam eine Atmosphäre
von Trostlosigkeit und Missbehagen um sich verbreite.
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Viel schlimmer noch macht sich jenes übertriebene Prinzip
des ersten Dramas im Dialog geltend. Was gesagt wird, ist
echt, jeder Gedanke, wie er aus dem Herzen kommt; aber
die Form ist häufig so zerrissen und zerstückelt, dass man
sich die durch viele Gedankenstriche und Punktreihen ge-
trennten Redeteile erst sorglich zu Sätzen ergänzen und
zusammenstellen muss. Zum Heile der Mitmenschen ist die
Zahl derer, die nicht messend und abgerundet zu sprechen
vermögen, doch nicht allzu gross, und wenn alle Personen
eines Dramas, auch in leidenschaftslosem Zustande, mehr oder
weniger an solchem Gebrechen leiden, so geht das weit über
die Natur hinaus, und der Dichter, der um keinen Preis stili-
sieren wollte, verfällt in störende Manier. Aber: „Ein kleines
Würmchen ist noch keine Schande für einen hübschen Apfel"
sagt das russische Sprichwort, — und in diesem Werke ist
das schädliche Prinzip thatsächiieh nicht in den Kern ein-
gedrungen, es hat nur die angenehme, glatte Schale zerstört.
Die Handlung steigt mit vielen feinen, ungezwungenen
Uebergängen allmählich bis zum Höhepunkte, Wilhelms Fussfall
vor dem Vater, und senkt sich von da, ebenso sicher und
stetig, bis zur Katastrophe, dem plötzlichen Tode des Vaters,
bewirkt durch das lieblose Benehmen der Kinder. Graphisch
könnte der völlig regelrechte Aufbau des Dramas durch ein
gleichschenkeliges Dreieck symbolisiert werden. Die ausser-
ordentlich geschickte Benutzung dos für alle drei Aufzüge
gleichen Raumes, einer grossen Eingangshalle im Erdgeschoss
des Landhauses, ist musterhaft für moderne Einfachheit und
Einheitlichkeit der Komposition. In keinem seiner späteren
Werke hat Hauptmann das für jedes besondere Drama vom
Dichter selbst aufgestellte Ideal je wieder so vollkommen
erreicht.
2*
III.
„Einsame Menschen."
In der kurzen Frist von anderthalb Jahren hatte Haupt-
mann drei Dramen vollendet. Davon erwarb sich das dritte.
„Einsame Mens eben" (1891), den meisten Beifall. Man
schien es dankbar zu empfinden, dass ein Dichter, dessen
Talent nun einmal anerkannt war, in diesem Stücke den
Genuss durch keine besondere Rücksichtslosigkeit mehr störte.
Eine rein äusserliche Brutalität hatte notwendig seinem ersten
Drama sehr geschadet; dass es allzu wahr und aufrichtig ge-
sehene Natur ist, unberechtigter Weise dem zweiten Abbruch
gethan; dieser zahme und zahm behandelte Stoff endlich ver-
söhnte die Gemüter. Man glaubte hier dieselbe Wahrheit
und Treue der Beobachtung in geläuterter Form zu erhalten,
Hess für moralisch gelten, was nicht grob das Gegenteil aus-
sagt, und nahm auch diesmal die umständlichen Einzelheiten
aus dem täglichen Leben gnädiger hin als berechtigte Klein-
malerei und fein empfundenes Milieu. Von der „Freien Bühne"
gingen die „Einsamen Menschen* 4 alsbald auf das „Deutsche
Theater 44 über, eroberten noch im selben Jahre das Burgtheater,
und viele deutsche Bühnen, wenn auch nicht alle, die Suder-
mann geben, haben es nachher mit ihnen versucht. Das
Schauspiel wurde so allgemein gelobt, dass es wohl berechtigt
sein dürfte, in der Beurteilung nicht wiederum die schon be-
kannten Vorzüge, sondern manche bisher nur wenig beachtete
Mängel geltend zu machen.
Ein junger Gelehrter, Johannes Vockerat, ist mit sich
und seiner Umgebung zerfallen. Von leicht erregbarem Wesen,
eine von den Naturen, die trotz höherei- Bildung niemals in
sich selbst das Heil suchen, sondern stets von aussen alle
Kettling erwarten, hat er das unbezwingliehe Bedürfnis, sich
in einem ihm geistig ebenbürtigen Kreise auszuleben. Jedoch
er entbehrt gleichgestimmte Freunde und steht auch in der
Familie einsam zwischen seinen gütigen, beschränkten Eltern
und seiner liebenden, sanften, aber herzlich unbedeutenden
jungen Frau, fühlt sich in seinem Berufe, seiner Arbeit gehemmt,
findet nie Hube und Selbstbeherrschung genug, seine treibenden
Ideen festzuhalten und zu gestalten. In diesem Zustande
nervöser Unlust und Unzufriedenheit befindet er sich schon,
ehe die entscheidende Wendung in seinem Leben eintritt, ehe
er die Frau kennen lernt, die durch Naturanlage und eine
der seinen ähnliche philosophische Schulung befähigt, ist, ihm
vollkommenes Verständnis entgegen zu bringen, Fräulein Anna
Mahr, Studentin der Philosophie aus Zürich. Die beiden finden
sich in enger, geistiger Gemeinschaft, aber ihrem Verhältnis
lässt sich kein rechter Name, keine gebräuchliche Form geben.
Die Konvention ist gegen sie, Johannes sieht sich vom Argwohn
der Seinigen verfolgt und muss in feierlichem Versprechen
Verzicht leisten auf den täglichen Verkehr und Gedanken-
austausch mit Fräulein Mahr und damit, wie er meint, auf
alles, was seinem Leben erst Zweck und Weihe verliehen.
Der Müggelsee, der, an das Landhaus anstossend, einen
stimmungsvollen Hintergrund für die Leiden und Freuden der
Bewohner bildet, der der Vertraute war von Sehnsucht und
Erfüllung, der Zeuge der herrlichen Spazierfahrten zu zweien,
nimmt den Verzweifelnden in seine Wellen auf.
Wiederum eine Familienkatastrophe, obwohl das Titelblatt
diesmal die Bezeichnung Drama trägt, Eine Familienkata-
strophe, die, der Kritik zu folgen, höher, menschlicher, zarter
und reiner gefasst wäre, als die erste, primitiv und roh abge-
schilderte. Macht sich nun diese Verfeinerung mehr im Inhalt
geltend, oder mehr in der Form? Erweist sich dieser Fort-
schritt im gesteigerten Gedanken- und Gefühlsgehalt, in einer
erhöhten, sittlicheren Lebensauffassung, oder nur in einer
bessern Führung der Handlung, in einer bühnenmässigeren
Technik? Ist Hauptmann aus dem frischen, unbekümmerten
Naturburschen ein bewusster Nachfolger des selbstbeherrschten,
tiefsinnig grübelnden, zuweilen beinahe künstlichen, nordischen
Dramatikers geworden?
- 22 ~
Die Wahl des Stoffes und der Hauptpersonen würde eine
solche Stil Verfeinerung begünstigt, ja gefordert haben. Ein
Gelehrter aus der modernen naturwissenschaftlichen Schule
und eine von den noch vereinzelten Studentinnen und Pio-
nieren der Frauenbewegung, Menschen, die die beste Bildung"
ihres Jahrhunderts besitzen sollten, die an verfrühten idealen
Forderungen scheitern, sie müssten sich wenigstens zuweilen
merklich über das Alltägliche erheben, müssten uns den Ein-
druck grosser geistiger Ueberlegenheit machen. Sonst werden
wir den Gegensatz zu der geringeren Umgebung nicht em-
pfinden, der Handlung bis zu dem unglücklichen Ausgang
nicht mit stetig wachsender Teilnahme folgen können.
Johannes Vockerat soll, der Idee nach, jene erhabene
Unzufriedenheit verkörpern, die nicht aus Trägheit und Er-
schlaffung seufzt, sondern wohl einsieht, dass wir uns trotz
der Ungewissheit des Erfolges, ja trotz der erkannten Nich-
tigkeit aller menschlichen Bestrebungen dennoch niemals der
Mühe und Arbeit, des Kampfes ums geistige Dasein ent-
sehlagen dürfen. Ihm zur Seite, als sein Gegensatz, wurde
der Maler Braun in das Stück eingeführt, jene andere, ver-
ächtliche Art von Misszufriedenheit darzustellen, aus der
heraus ein verbummelter Künstler bequem blasiert und nörgelnd
alles Streben und alle Strebenden verachten zu dürfen glaubt.
Nur ist eben leider in der Schilderung der edel sein sollenden
Unzufriedenheit das Uebergewicht durchweg vielmehr auf die
Wirkung, die grössere Nervosität, als auf die Ursache, die
grössere Begabung, gelegt worden. Johannes macht nicht
den Kindruck einer genialen, wenn auch noch unfertigen
Persönlichkeit, er macht nur den eines Xeurasthenikers von
sitzender Lebensweise, wie sie zu Dutzenden in Nervenheil-
anstalten zu finden sind. Nirgends gewinnt man die Ueber-
zeugung, dass er unter günstigen Umständen das Beste leisten
würde. Denn er ist nicht anders, wo kein Grund zur Zurück-
haltung vorläge, in den Scenen mit Anna, die nach seiner
Meinung alles weckt, was in ihm schlummert, löst, was ge-
fangen liegt, stützt, was schwankend ist. „Ist es denn ein
Verlust für Kitern, wenn ihr Sohn besser und tiefer wird,
ein Verlust für eine Frau, wenn ihr Manu wächst und zu-
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nimmt geistig?" fragt Johannes selbst im vierten Akt. Aber
es ist die Schuld des Dichters, dass wir mit den Eltern und
Frau Käthe nur zunehmende Reizbarkeit und Unruhe, sonst
keinen Gewinn wahrnehmen können.
Die Darstellung geistvoller Weiblichkeit ist gerade in der
modernen Litteratur schon wiederholt vortrefflich gelungen,
im Drama sowohl wie im Roman und in der Novelle. Halb aus
Tendenz, halb zufällig überragt die Frau, wie die Neuern sie
zu schildern lieben, an Verstand durchschnittlich den männ-
lichen Gegenspieler. Ibsens weibliche Gestalten, die Frau
Alving der „Gespenster", Hedda Gabler und Rebekka West,
ferner Björnsons Leonarda, die Gabriele in Kiellands Novelle
„Schnee", sie alle überzeugen uns, gleichsam ohne ihr Zuthun,
auf die einfachste, natürlichste Weise von ihren ausgezeich-
neten Geisteskräften. Dabei stehen diese Frauen im prakti-
schen oder gesellschaftlichen Leben, sind nicht geistige Arbeiter
von Beruf, haben nicht, wie Anna Mahr, den Vorzug einer
geordneten Ausbildung und wissenschaftlichen Schulung. Mit
Recht hat aber von ihr schon Georg Brandes in seinem kurzen
Aufsatz über die ersten Dramen Hauptmanns in „Menschen
und Werke" (1893) bemerkt, dass wir wohl hören, sie sei
Studentin und sei sehr gescheit, dass aber ihre Klugheit
nirgends so rocht zum Ausdruck komme. Ihr Verstand bewährt
sich so wenig wie der ihres Partners, weder in der Theorie,
in den Gesprächen mit Johannes und Braun, noch in der
Praxis, wenn sie sich ihrer schwierigen Lage in der Familie
Vockerat gewachsen zeigen und wenigstens den Versuch
machen sollte, eine Lösung des Konfliktes herbeizuführen.
Hier allerdings mangelt ebenso sehr wie die klare Einsicht
ein klares Gefühl für das Schickliche. In der Anmerkung
heisst es von ihr: ,,Eine gewisse Sicherheit im Auftreten, eine
gewisse Lebhaftigkeit andrerseits ist durch Bescheidenheit und
Takt derart gemildert, dass sie niemals das Weibliche der
Erscheinung stört." Schon ihre Einführung, wie sie einem
Bekannten, ohne dessen Vorwissen, in eine fremde Wohnung
nacheilt, ist Wenig geeignet, diesen Satz zu bewähren. Noch
viel schlimmer wirkt aber auf jede feine Empfindung ihr
späteres Benehmen. Anna Mahr, die in der Familie Vockerat
— 24 —
auch dann noch über die Gebühr lange verweilt, als sie seihst
schon fühlt, dass ihr die Mehrzahl der Mitglieder im Stillen
die Gastfreundschaft aufgekündigt hat, ist keine echt weib-
liche Erscheinung. Sie nimmt uns eher gegen die studierte
Frau ein, was doch der Absicht des Verfassers gerade zuwider-
läuft. Gerade das Gegenteil ist hier erreicht worden von dem,
was der Verfasser wollte. Schon im dritten Akt fragt sie in
aufdämmernder Erkenntnis: „Bist du nicht auch ein wenig
froh, Käthe, dass ich nun gehe?" und auf Frau Käthes aus-
weichende Antwort bestätigt sie: „Ja, ja! Es ist gut, dass
ich gehe. Auf jeden Fall. Mama Vockerat sieht mich auch
nicht mehr gern." Trotzdem kommt sie, nachdem sie von
allen unter grosser Rührung Abschied genommen, mit Johannes
wieder von der Bahn zurück und nistet sich aufs neue da
ein, wo sie unter keinem Vorwand mehr etwas zu suchen
hätte, bis im vierten Akt derselbe Braun, der so tief unter
ihr steht, moralisch recht gegen sie behält, bis sie sich von
der alten Frau Vockerat ohne weitere Umschweife bitten
lassen muss, augenblicklich, noch in dieser Stunde, zu gehen.
r Sie erniedrigen mich so sehr", erwidert sie, „mir ist zu Mut,
als ob ich geschlagen würde' 4 , — eine recht schwache Abwehr
der verdienten Kränkung! Und wenn Johannes im fünften
Aufzug, beim letzten endgültigen Lebewohl, versichert: „Nichts
Hohes, nichts Stolzes ist mehr in mir. Ich bin ein anderer
geworden. Nicht einmal der bin ich in diesem Augenblicke,
der ich war, ehe Sie zu uns kamen", und auch'gegen sie die
Absicht verrät, seinem Leben ein Ende zu machen, wirkt sie
nur sehr schwach mit allgemeinen Vorschlägen dagegen, misst
sich aber — mit einer ähnlichen, eigentümlichen Unempfind-
lichkeit wie der Sozialist Loth — keinen Augenblick irgend
welche Schuld bei. Sähe Johannes die geliebte Freundin von
Selbstvorwürfen gepeinigt, so könnte das ein stärkerer Antrieb
für ihn werden, sich zusammenzuraffen, sie die Folgen ihres
unüberlegt aufdringlichen Benehmens nicht tragen zu lassen,
als jenes unbestimmte Lebens- und Leidensgesetz, das sie für
die Zukunft aufzustellen versucht.
Bei der Aufführung im „Deutschen Theater" am 21. März 1891,
unter der Leitung von Adolf LArronge, blieb mit Hauptmanns
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Einwilligung der ganze dritte Akt weg und damit zum guten
Glück die erste Abschiedsscene. Sehr viel wurde indessen
für den beleidigten guten Geschmack durch die Kürzung nicht
gewonnen. Fräulein Mahr erscheint im vierten und fünften
Aufzug nicht als ein Eindringling in gutem Sinne, wie Frau
Büchner und Ida, die sich nie ihrer Würde begeben und über-
dies der nötigen Berechtigung, einzugreifen, nicht ermangeln.
Es wäre so schwer nicht gewesen, auch Anna mit irgend
einem Rechte auszustatten. Hätte sie nicht kommen können,
mit Johannes zu arbeiten, im Auftrage eines Dritten, z. B.
eines Verlegers, gemeinschaftlichen Lehrers und dergleichen?
Braun ausgenommen, sind alle Personen dieses Stückes
mit viel Empfindung begabt; Johannes ist ein sogenannter
Gefühlsmensch, seine Eltern, seine Frau fliessen über von
Güte und Zärtlichkeit, und auch Anna ist. durchaus nicht als
kühle Verstandesnatur gedacht. Aber wenn wir von einem
Werke sagen, dass es innig gefühlt sei, so gründet sich dieses
Urteil nicht auf den Gefühlsüberschwang aller oder einzelner
Personen, sondern wir meinen, dass es von Anfang bis zu Ende,
unbeschadet der Grenzen und Eigentümlichkeiten der ver-
schiedenen Charaktere, vom durchwirkenden, sichern, reinen
Gefühl des Dichters getragen wird.
In der geschickten Zeichnung im Einzelnen verleugnen
Johannes und Anna die besondere Begabung ihres Urhebers
nicht, und auch für die Nebenpersonen ist in dieser Hinsicht
viel Vorzügliches geleistet worden. Braun vor allen gibt sehr
treu die Anschauung seines — wie seine Kleidung trefflich
bezeichnet ist — „modern schäbig gentilen" Wesens. Ihm
kommt dabei eine natürliche Wortkargheit zu statten, während
die Wirksamkeit der Uebrigen unter allzu grosser Redseligkeit
leidet. Auch Schwatzhaftigkeit darf auf der Bühne nur
markiert werden — glissez, n' appuyez pas — ; sonst zeigen
sich nicht die Personen geschwätzig, sondern der Dichter.
Im „Friedensfest" wird von Frau Buchner als besonderes
Kennzeichen und im Gegensatz zu Frau Scholz angegeben,
dass sie rein und gewählt spreche, und Frau Buchner ist doch
von verhältnismässig einfacher Bildung. Hier berührt es nun
sonderbar, dass Johannes, der Gebildete, Gelehrte, der Strebende,
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denselben Dialekt redet wie die Seinigen und Braun und kaum
an herausgehobenen Stellen einer vollständigen Satzbildung-
und Aussprache fähig ist. Man fühlt durchgängig im Dialog
das Bestreben des Naturalisten heraus, platt und alltäglich zu
bleiben, und zwar aus Prinzip und im allgemeinen, selbst im
Gegensatz zu der jeweiligen Anforderung, dem geistig höhern
Stand des Redenden.
Das nämliche Zuviel, denselben auch im dritten Drama
noch nicht abgeworfenen Superlativ, weist ausserdem wiederum
der äussere Apparat auf. Diese Personen leben nicht im
luftleeren Raum, hat ein bewährter Kritiker geschrieben.
Wäre nur hier nicht der gute Fortschritt des zweiten Dramas
zu Mass und Beschränkung wieder aufgegeben worden! Aber
Hauptmann geht hier in der allzu genauen, lästigen Schilderung
des täglichen Lebens auf seine anfängliche Arbeitsweise („Vor
Sonnenaufgang") zurück. Frau Lehmann und die Amme, die
Grünfrau und die Wespe — all das sind unnötige Hemmungen
des Ganges der Dinge. Wenigstens der Kleiderständer hätte
auf dem Vorplatze bleiben sollen. Die Familie Vockerat hat
ihn im Ess- und Wohnzimmer stehen, wo dann durch das
ganze Stück beständig jemand etwas aufhängt oder herab-
nimmt, so dass er bei mehreren Aufführungen in den Ernst
der Handlung hinein störende Heiterkeit erregte. Ebenso
wirkte es komisch, dass das Zimmer — die einzige Scenerie
des Stückes — allzu oft leer bleibt.
Die „Einsamen Menschen" haben ihren Autor in den
Augen vieler erst zu einem moralischen Dichter erhoben, weil
das Anstössige und Gefährliche des Verhältnisses verschleiert
wird, weil es sich durchweg nur um Gedankensünden handelt.
Zwar bezeichnet Johannes die Auslegung, die seine Eltern
dem intimen Verkehr mit Fräulein Anna geben, als eine Pro-
stitution seiner Gedanken. Allein Anna sagt ausdrücklich im
vierten Aufzug: „Wenn es Käthe gelänge — zu leben —
neben mir, dann .... dann würde ich mir selbst doch nicht
trauen können. In mir .... in uns ist etwas, was den ge-
läuterten Beziehungen, die uns dämmern, feindlich ist, auf die
Dauer auch überlegen." Darauf hat er keine Antwort; der
Dichter erspart sie ihm, indem er die Mutter dazwischen treten
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lässt. E.s ist jedoch entschieden in den beiden etwas Sinnlieh-
Uebersinnliches da, etwas Halbes, Verstecktes, Undeutlich-
Unlauteres. Dies beständige Spielen auf der Grenze des
Erlaubten und Unerlaubten liegt in den Charakteren" und in
der Fabel. Verwerflich aber ist, dass der Dichter selbst hier
die scharfe Grenze nicht sieht und nicht zieht. Tolstoi ist
moralisch, wenn er in „Anna Karenina" die Sünde und ihre
notwendigen Leidon zeichnet, ebenso moralisch wie Björnson,
wenn er in „Leonarda" die Entsagung aus Liebe und Rücksicht
auf ältere Rechte vor Augen führt.
Nähmen wir indessen thatsächlich ein rein geistiges Ver-
hältnis an, so wäre Johannes ein Mann ohne Leidenschaft,
der ins Wasser geht , lediglich weil die an seinen Arbeiten
Anteil nehmende, wahlverwandte Freundin sich entfernt.
Allein zu stehen ist für den geistig Schaffenden eine schwere
Entbehrung; wird aber schon dadurch das gewaltsame Ende
genügend begründet und glaubhaft? Der Dichter selbst weist
auf einen andern, viel wahrscheinlicheren Schluss hin, wenn
er dies Drama, in seiner Widmung, in die Hände derjenigen
legt, die es gelebt haben - also dem Müggelsee entgangen sind.
Nichts verstimmt so sehr auf der Bühne wie solch ein
Abschluss, nur damit das Stück seinen Abachluss findet.
Günstiger noch wäre die Auslegung, dass sich Johannes aus
allzu grosser Nervosität und Ueberreizung töte. Allgemein
wird es ja laut, zunehmende Nervenschwäche sei die Krank-
heit des Jahrhunderts und besonders des Endes des Jahr-
hunderts. Das Pathologische ist allmählich ein fast notwen-
diger Bestandteil des modernen Kunstwerkes geworden. Und
der gefälligen Ratgeber sind denn auch reichlich vorhanden,
die uns überreden wollen, alles und uns selbst aufzugeben,
weil wir nun doch einmal mit geschwächten Nerven gestraft
seien, wie Robert den Bruder halb hämisch, halb wohlwollend
ermahnt, nicht an sich selbst zu arbeiten, nichts zu unter-
nehmen, was er seiner ganzen Natur nach nicht leisten könne.
Etwas Herrliches ist es gewiss um Gesundheit und unge-
brochene Jugendkraft.; aber auch die Krankheit an sich kann
mir noch niemand zum Vorwurf machen, wenn ich verstehe,
trotz ihr zu leben, sie zu bezwingen, wenn ich aus der Not
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eine Tugend mache und die Fähigkeiten ausbilde und ins
Grosse entwickle, die sie nicht zu rauben vermag, wenn meine
Weltanschauung durch sie zwar verändert, aber nicht weniger
erhebend sein wird als die eines innerlich Ruhigen, jugendlich
Geniessenden, heiter Befriedigten.
Völlig unbeherrschte Nervosität aber ist entweder heftige,
den Willen ganz aufhebende Krankheit und als solche drama-
tisch unbrauchbar, oder sie ist Charakterschwäche und als solche
an einer Hauptperson ebenso tragisch untauglich. Hauptmann
hat die vererbte, krankhaft schlimme Anlage im ,, Friedensfest"
vorzüglich verwendet, indem er sie zu einem Hindernis, aber
zu einem zu bekämpfenden Hindernis machte. In den „Ein-
samen Menschen" herrscht die Nervosität als unbezwingliche
Macht, als Fatum.
IV.
„Die Weber. a „Florian Geyer. a
„Des Dichters Grossvater noch hatte täglich zwölf Stunden
geweht und vierundzwanzig gehungert, wie es gerechter
schlesischer Weberbrauch ist seit mehr als hundert Jahren",
berichtet Paul Marx in seinem Aufsatz „Der schlesische Weber-
aufstand in Dichtung und Wirklichkeit."*) Dort sind auch
zeitgeschichtliche Quellen nachgewiesen, aus denen Haupt-
mann für die Dichtung seines „Schauspiels aus den vierziger
Jahren" (1892) die lebendige Ueberlieferung unter den Webern
und in seiner Familie ergänzt hat, nämlich „Ueber die Not
der Leinen weber" von Schneer, Regierungsassessor und Sekretär
des Vereins zur Unterstützung der Webernot, der im kritischen
Jahre 1844 gegen fünfzig Dörfer und kleinere Städte besuchte,
und „Blüte und Verfall des schlesischen Leinengewerbes" von
Alfred Zimmermann, dem das Verdienst gebührt, das Weber-
lied aus dem Aktenstaub ausgegraben zu haben. Zwar mit
künstlerischer Auswahl, aber sonst unverändert, d. h. ohne
jegliche Uebertreibung, sei es in der Schilderung des Elends,
sei es in der Charakterisierung der Schuldigen, der Fabrikanten
und Behörden, sind die Geschehnisse aus diesen getreuen Zeit-
bildern in „Die Weber" Hauptmanns herübergenommen
worden.
Der Verein zur Unterstützung der Webernot war lediglich
Privatunternehmen mit Gustav Frey tag und den Grafen Dyhrn,
York und Zieten an der Spitze; denn der Oberpräsident von
Schlesien, Merkel, leugnete, dass ein Notstand bestehe, und
die Regierung stellte sich, die Thätigkeit der Vereine miss-
billigend, auf seim? Seite. Erst drei Jahre später, als der
*) Magazin der Litteratur des In- und Auslandes. Jahrgang 1892.
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Hungertyphus in den sehlesischen Gebirgen wütete, musste
man sich auch in den Amtsstuben von der wahren Ursache
des Aufruhrs von 1844 überzeugen, und in der ersten Herren-
kurie des ersten vereinigten Landtages wurde durch den
Fürsten Lipnowsky bestätigt, dass keinerlei revolutionäre und
kommunistische Ideen, dass nur die bitterste Not die Weber
zu ihren Ausschreitungen verführt hätte. „ Solange sie satt
zu essen gehabt, haben Aufwiegler bei ihnen nie Gehör ge-
funden. u Willkürliche Lohnschmälerungen und Abzüge unter
allerlei Vorwänden, die besonders die Parchentweber im Eulen-
gebirge gerade in der schwersten Zeit erdulden mussten,
hatten den letzten, unmittelbaren Anlass zur Empörung gegeben.
Dieser Anlass, wie der ganze Verlauf der Unruhen, dass
die Aufständischen, das Lied absingend, am Hause des am
meisten gehassten Fabrikanten Zwanziger in Peterswaldau
(Hauptmann nennt ihn Dreissiger j vorüberziehen, dass er einen
der Männer herausgreifen lässt und der Polizei übergiebt, dass
sie wiederkommen und die Fenster einwerfen, dass der
Fabrikant mit der Familie flieht und die Eingedrungenen
alles im Hause zerschlagen und zerstören, dass sich derselbe
Vorgang in Langenbielau bei einem zweiten Ausbeuter wieder-
holt, bis zwei Kompagnien Infanterie aus Schweidnitz ein-
rücken und den kleinen Aufruhr ebenso rasch, wie er ent-
standen war, wieder dämpfen, das alles entwickelt sich im
Drama genau wie in der Geschichte. Hier wie dort ist im
Gefühls- und Gedankenleben der Weber nichts zu entdecken,
weder von vormärzlich politischer Strömung noch von sozia-
listischen Anschauungen, alles ist persönlich, das Leid und
der Kampf gegen einzelne hartherzige Brotherren, nichts orga-
nisiert und planvoll vorbereitet, alles nur plötzlich aufflackernd,
schwach und armselig. „Aus individuellem Leid und indi-
vidueller Grausamkeit 0 , schliesst Marx seinen Aufsatz, „wird
sich keine Partei und kein System nutzbringende Regeln
ableiten können." Dass dies trotzdem, besonders in Berlin,
geschah, dürfte die Behörden da und dort bestimmt haben,
die Aufführung des Stückes aus „ordnungspolizeilichen Grün-
den" zu untersagen. Fehlt doch leider auch heutzutage noch
nicht jeder Anlass zur Unruhe in den sehlesischen Bergen.
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Erst 1890, im schlechten Erntejahr, waren aufs neue die Auf-
rufe und Bitten um Unterstützung durch die Zeitungen ge-
gangen.
Indessen, ist auch die Grundlage des Schauspiels geschicht-
lich und wahrheitsgetreu, so mochte die politische Tendenz
doch in der Wahl des Stoffes zu suchen sein. Schon in
seinen früheren Werken hatte Hauptmann die soziale Frage
aufgegriffen oder wenigstens gestreift. Aher Loth sowohl wie
Braun, „der gewisse sozial-ethische Ideen imputiert erhalten
hat", sind ganz unparteiisch, mit scharfer Kritik und feiner
Gerechtigkeit gezeichnet. Mehr noch, wenn es gälte, den
Verfasser der „Weber" gegen solche Vorwürfe zu verteidigen,
würde das „Promethidenlos" zu seiner Entlastung dienen
können. Als der junge Seefahrer in dieser Dichtung nach
Neapel kommt, verschliesst er seine Augen zaghaft vor der
„Schönheit holdem Gruss", weil der nicht wert sei, den Himmel
zu empfangen, dem hier, an der Stätte des Elendes, der
Armut und des Lasters, nicht jeglicher Genuss vergällt würde.
Derselbe Geist des Mitleides, der das Gemüt des warmherzigen,
noch so jugendlichen Dichters selbst in Italien ergriff, wo alle
seine Vorgänger zu Freudengesängen begeistert worden, hat
ihm, durch pietätvolle Familienerinnerungen bestärkt, die
Geschichte von der Webernot zum lebendigen Stoff werden
lassen, hat ihn angetrieben, „die Seufzer viel 4 ' zu zählen dieser
Armen und Tausende aufzurufen „als Zeugen von dem Jammer".
Die Exposition führt in einen grossen Raum im Hause
des Fabrikanten Dreissiger in Peterswaldau, wo die Webers-
leute gegen Mittag angesammelt sind, um die fertigen Gewebe
abzuliefern und von den Beamten prüfen zu lassen. „Wie
vor die Schranken des Gerichtes gestellt, wo sie in peinigender
Gespanntheit eine Entscheidung über Tod und Leben zu er-
warten haben", harren sie auf die Anweisung des Hunger-
lohnes. Die wenigen W T orte, die die Manipulation begleiten,
weihen uns in die ganze Abhängigkeit und Not der Arbeit-
nehmer ein und kennzeichnen ebenso kurz und treffend die
Beamten als Leute aus demselben Stand, die nun, zu sicherem
Verdienst gekommen und geschützt, auf alle Bitten und Klagen
nur mit rohem Spott antworten. Ob die Weber mit Namen
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aufgeführt werden, Heiber, Reimann, der alte Baumert, oder
nur als erste Weberfrau, erster alter Weber u. s. w., jeder
ist das bestimmt unterschiedene Individuum in der beim ersten
Anblick gleichartigen Menge, jeder erhielt neben den typischen
noch seine besondern, ihm allein gehörigen Züge. Der eine
ist verzagter und bitterer, der andre in derselben Lage ge-
fasster; ein alter Weber redet noch Mut zu, wo Baumert und
Heiber jeden Widerstand meinen aufgeben zu müssen. Hier
schon revoltiert Bäcker, der spätere Anführer des Aufstandes,
und das Personal der Geschäftsstube holt den Fabrikanten
gegen ihn zu Hilfe. Er meint, dass es ihm egal sei. ob er
am Webstuhl verhungere oder im Strassengraben. Der junge
Bursche kann eher etwas wagen als die von den qualvollsten
Sorgen um das blosse, nackte Leben ihrer Angehörigen ge-
ängstigten Familienväter.
Ein kleiner Knabe, der indessen im Gedränge wie tot
umfällt und erwachend haucht „Mich hungert*', giebt Anlass
zu einer lügenhaften, schönfärbenden Anrede Dreissigers und
zu Aeusserungen der Weber, die verraten, wie es überall in
den kinderreichen Familien beschaffen ist. Bäcker entfernt
sich höhnend und aufstachelnd, aber jetzt folgt ihm noch
keiner; noch hoffen sie in Güte, über die Köpfe der Ange-
stellten hinweg, vom Herrn selbst ein paar Groschen Vorschuss
oder wenigstens den ungeschmälerten Lohn zu erlangen. Und
da ihnen dieser in naiver Habgier und Gefühllosigkeit seine
Güte und Hilfsbereitschaft rühmt, da er fragt: „Ist das wahr,
bin ich so unbarmherzig?" antworten viele Stimmen: „Nee,
Herr Dreissiger!" Und auf die weitere Frage: „Kann ein
Arbeiter, der seine Sachen zusammenhält, bei mir auskommen
oder nicht? 44 antworten sehr viele: „Ja, Herr Dreissiger. 44
Die erste Weberfrau putzt ihm mit kriechender Demut den
Staub vom Rocke: „Sie haben sich a brinkel angestrichen,
gnädiger Herr Dreissiger", und alle drängen sich ihm schüch-
tern und doch verzweifelt, mit Klagen über die Beamten, mit
Schmeicheleien und stotternden Bitten in den Weg. Er stellt
ihnen neue Aufträge, aber bei noch geringerem Lohnsatz, in
Aussicht und entweicht vor den Hilflosen in seine Schreibstube.
Die Not, die sich im ersten Bilde, in der Oeffentliehkeit,
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noch hinter einem gewissen, mühsam aufrecht erhaltenen
Anstand zu verbergen sucht, tritt uns im zweiten Aufzug, in
dem kleinen, von sechs Personen bewohnten Weberstübchen
der Familie Baumert in Entsetzen erregender Gestalt vor
Augen. Jeder hier geäusserte Gedanke entspricht der Fas-
sungskraft dieser Aermsten, jede gewählte Wort- und Satzform
giebt ihr Gefühl ausdrucksvoll, schlicht und ergreifend wieder,
ihre bestimmte, treuherzige Anschauung von Moral, Recht-
schaffenheit und Religion. Neunzehntel aller Leser und Hörer
haben gewiss niemals Einblick gehabt in solche Hütten, wo
der Mensch nicht leben und nicht sterben kann.
Am späten Feierabend pochen noch die Webstühle und
summen die Räder. Kein Körnchen Salz oder Stäubchen Mehl
ist mehr im Hause, als die Nachbarin für ihre verhungernden
Kinder betteln kommt, und der alte Baumert hat ein zuge-
laufenes Hündchen mitgenommen, um es zur Nahrung ab-
schlachten zu lassen. Er kommt von Peters Waldau, wo er
mit den andern abgeliefert hat, und bringt Besuch mit, den
Moritz Jäger, einen strammen Burschen, der in Berlin Soldat
gewesen. Er hat ganze Kleider auf dem Leibe, besitzt einige
Thaler Erspartes und sogar eine silberne Uhr, und ungemein
rührend ist nun die kindliche Bewunderung seiner armen Ver-
wandten für diese Herrlichkeiten und der Gegensatz ihrer
Dürftigkeit zu seinem Reichtum. Der Häusler, der alte Korb-
flechter Ansorge, findet sich ein, den Zurückgekehrten zu
begrüssen, von dem Branntwein mitzutrinken, den Jäger
spendet, und mit ihm, der „Bildung hat und weiss wie's in
d'r Welt draussen zugeht", über die Gründe ihrer hoffnungs-
losen Verarmung und den Uebermut der Reichen zu philo-
sophieren. Der Branntwein und Jägers aufreizende Worte
erregen allmählich die Gemüter, und als er das neue Weberlied,
das ,,BIuttgericht", schülerhaft buchstabierend, schlecht be-
tonend, aber mit unverkennbar starkem Gefühl vorliest, werden
alle fanatisiert, die Frauen weinen, die Männer sind zu einem
ohnmächtigen, zitternden Ingrimm aufgestachelt.
Alle bestätigen, in natürlicher und geschickter Abwechs-
lung, die Wahrheit der unbeholfenen , aber ausserordentlich
eindringlichen und echten Verse des Liedes, die 1844 von
3
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Mund zu Mund gingen, ohne dass jemand den Verfasser zu
nennen gewusst hätte, sie wiederholen einzelne, besonders
packende Worte wie „Satansbrut", und Verszeilen wie:
„Hier werden Seufzer viel gezählt
Als Zeugen von dem Jammer"
oder:
„Ihr fresst der Armen Hab' und Gut,
Und Fluch wird euch zum Lohne", —
bis der alte Baumert hingerissen zu deliranter Raserei auf-
springt und, seine abgemagerten Arme vorreckend, alle zum
Zeugen anruft, dass er sein Leben lang ein braver Mensch
gewesen, und wie es ihm nun gelohnt werde, und Ansorge,
seinen Korb in die Ecke schleudernd, am ganzen Leibe vor
Wut bebend, hervorstammelt: „Und das muss anderscher wern,
Sprech ich, jetzt uf der Stelle. Mir leidens nimehr, mag kommen
was will."
Der Schauplatz des dritten Aufzuges ist das Gasthaus zu
Peterswaldau, wodurch wieder eine bewegtere Scene zu schaffen
Gelegenheit geboten wird. Nach und nach finden sich in der
Wirtsstube, wie von ungefähr, Vertreter aller Parteien ein,
die an der Not der Weber und dem neu eingezogenen rebel-
lischen Geiste näheres oder entfernteres Interesse haben. Die
Unterdrückten selbst treten in grösserer Anzahl auf, alte und
junge Weber; die besitzende Klasse ist durch ihre Untergebenen
und Anhänger vertreten. Zwischen den beiden Parteien steht
der Wirt, gleichmütig und phlegmatisch, beschwichtigend und
zur Ruhe mahnend. Ungezwungen erhält das Gespräch durch
jeden Neuhinzukommenden eine andre Richtung, bald rück-
wärts führend zu weiterer Aufklärung über die allgemeine
Lage, bald vorwärts mit Drohung auf die Zukunft weisend.
Jeder trägt nach Stand, Auffassung und geistigem Vermögen,
zur rechten Zeit und an der rechten Stelle, zur innern und
äussern Bewegung der Scene bei, so dass trotz aller Lebhaf-
tigkeit nirgends Unruhe und Verwirrung entsteht.
Mit kluger Erfindung wird hauptsächlich der Lumpen-
sammler Hornig als Sprecher für die Industriearbeiter benutzt,
und der kleine, O-beinige Alte mit dem Ziehhund um Brust
und Schulter macht zudem eine prächtig originelle Figur. Das
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Land auf- und abwandernd, kennt er wie keiner die trost-
losen Zustände, ist klug, gutmütig, neugierig, mitleidig,
schwatzhaft. Weniger breit, aber ebenfalls sehr charakteristisch
ausgeführt, stellt sich ihm später der Schmied Wittig zur
Seite. Dieser, ein schon Aufgeklärter, der von „Robspiir"
und der Revolution redet, ist jähzornig und, wie es sein
Geschäft mit sich bringt, in allem gewaltsamer als die zahmen
Weber, hat aber doch das Herz auf dem rechten Flecke. Er
und Bäcker binden mit dem Gensdann Kutsche an. Wittig
hält ihm höhnisch und zornig sein reiches Sündenregister vor;
Kutsche erwidert mit Drohungen und verbietet vor seinem
beschleunigten Rückzug allen im Namen des. Polizei Verwalters,
ferner noch das Weberlied zu singen. Da erhebt sich Bäcker,
stimmt an, und selbst die alten Weber, die kurz vorher noch
abgewehrt haben, folgen den Singenden durchs Dorf. Und
der Lumpensammler mit dem natürlich-scharfen Verstände und
der feinen Beobachtungsgabe findet als Deutung der allgemein
wachsenden Gärung das in seiner treffenden Kürze nun schon
geflügelte Schluss wort: „A jeder Mensch hat halt 'ne Sehnsucht !"
Die Vorgänge des vierten Aufzuges im Prunkzimmer
Dreissigers, wo Herr und Frau Pastor Kittelhaus als Gäste
anwesend sind, schliessen sich unmittelbar an die des dritten
an. In der Wirtshausscene bespricht der fremde Konfektions-
reisende die auffallend grossen Begräbnisfeierlichkeiten der
Weber und meint, das müsse doch der Pastor den Leuten
ausreden. Darauf erwidert der Tischler, dass das so ein
„Aberglaube und Unverständlichkeit" der hiesigen armen
Bevölkerungsklasse sei, dass aber auch die Herren Pfarrer,
den alten Gebräuchen folgend, die stillen Begängnisse, wo
keine „Ollertorien" tliessen, nur widerstrebend duldeten. Das
wirft im Voraus Licht auf die Stellung des Pastors zur
Gemeinde. Zwar aus Amtsgewohnheit und Temperament
freundlich und milde gegen jedermann , aber- stumpf vom
Alter und nicht sehr scharfsinnig von Natur, auf die Gebühren
des Einzelnen angewiesen und durch den dreissigjährigen
Anblick an das Elend um ihn so gewöhnt, dass er, seiner
Meinung nach, nichts weg-, wohl aber durch unberufene Ein-
mischung noch hinzuthun könne, verurteilt Pastor Kittelhaus
3*
gleich zu Anfang des Aktes im Gespräch mit dem Kandidaten
und Hauslehrer Reinhold den sozialen Eifer mancher Seel-
sorger. Die wollen thatkräftig eingreifen, verfassen Aufrufe
und gründen Vereine; er ist nicht nur ruhig geworden und
lässt den lieben Gott walten, sondern hält sich auch instinktiv
zu den wenigen Wohlhabenden seines Sprengeis. So fällt,
von ihm im Stiche gelassen, hier oben als erstes Opfer des
Aufstandes der Kandidat. Er hat es gewagt, die Weber, die
sich wiederum vor dem Hause angesammelt haben und das
Lied absingen, schüchtern zu entschuldigen, und verliert, selbst
ein Armer, sofort sein Brot bei dem Fabrikanten.
Eine Strophe des verpönten Gesanges beginnt:
„Die Herr'n Dreissiger die Henker sind,
Die Diener ihre Schergen",
ja er wird auch direkt das Dreissigerlied genannt. Der traurige
Held ist ein Mann in den besten Jahren, aber fettleibig und
asthmatisch. Er hat es nur gehalten wie alle, seine Vorfahren
und die andern Fabrikanten ringsum, hat sich auch nicht
allzu viel dabei gedacht, als er, die schlechten Zeiten und
die grosse Anzahl der verfügbaren Arbeitskräfte nutzend,
immer reichern Profit für sich herausgeschlagen. Da nun der
Hunger die sonst so demütigen und geduldigen Weber zu
Widersetzlichkeiten treibt, ist er anfänglich äusserst verwundert,
dass ihm nicht hingehen soll, was so viele ungestraft gethan
haben, verteidigt sich naiv bei den Webern, ja bei dem
Tischler, der seine Doppelfenster herausnimmt, besonders aber
jetzt vor dem Pastor und fragt noch in der Stunde der Be-
drohnis ängstlich und betroffen: „Bin ich denn ein Tyrann,
ein Menschenschinder?" Selbst ein gewöhnlicher Durchschnitts-
mensch, im Guten wie im Bösen, ist er mit einer ungebildeten,
hübschen Wirtstochter verheiratet, die ihm durch ihre Launen
das Leben sauer macht und sich in der Gefahr völlig fas-
sungslos zeigt.
Dass diese eigentlichen Urheber der ganzen Bewegung
so nichtsbedeutende Menschen sind, erbärmlich und ohne Halt
in jeder ausserordentlichen Lage und unfähig, einen seelischen
Konflikt zu erleben, verschuldet die geringe dramatische
Spannung des Aufzuges im „Vorderhause", obwohl auch hier
Haupt- und Nebenpersonen bis hinab zum Kutscher physio-
gnomisch fein unterschieden sind und die Ereignisse, von der
versuchten Festnahme Jägers an bis zur Flucht der Familie,
sich rasch genug abspielen. Sie rettet sich vor den das Haus
stürmenden Aufständischen durch die Hinterthüre in den bereit
stehenden Wagen.
Einige Sekunden bleibt die Bühne leer. Dann kommen
die Weber herauf, erst leise und schüchtern, junge Burschen
und Mädchen, ärmliche, kränkliche, zerlumpte Gestalten, und
verteilen sich im Zimmer und Salon, zunächst alles neugierig
scheu betrachtend. Bald stürzen Jäger, Bäcker, der Schmied,
Baumert und viele alte und junge Weber herein, auf der
Suche nach dem Menschenschinder und seinen Schergen.
Weil sie ihn nicht rinden, soll er wenigstens arm werden wie
eine Kirchenmaus: wild drängen sie in alle Räume, das Zer-
störungswerk zu beginnen. Aber so gut auch in dieser Scene
anfänglich Armut und Zaghaftigkeit der Eingedrungenen mit
dem kalt überladenen Prunke der Einrichtung, dann ihre Wut
und Entschlossenheit mit dem feigen Gebaren der kurz vorher
geflüchteten Besitzer kontrastiert: der geschickt eingeleitete
Massenauftritt verläuft matt und dünn in einer geschwätzigen
Betrachtung des alten Ansorge, wie er daher komme und ob
er verrückt geworden sei — ohne jegliche Steigerung, ohne
zusammenfassende kräftige Schlusswirkung.
In dem alten Weberliede wird den Reichen Unglaube
vorgeworfen und mit der Gerechtigkeit des ewigen Richters
gedroht:
„Wenn ihr dereinst nach dieser Zeit,
Nach euerm Freudenleben,
Dort, dort in jener Ewigkeit
Sollt Rechenschaft abgeben . .
Hauptmann hat diese, wie manche andre Strophe, die er nicht
vorlesen und singen lassen konnte, in Prosa aufgelöst und
an die einzelnen Ankläger im Stücke verteilt. Schon im
zweiten Aufzuge giebt Ansorge als eine der Hauptursachen
der schlechten Zeiten an , dass der hohe Stand an keinen
Herrgott und Teufel mehr glaube und von Geboten und Strafe
nichts wisse. Und in der Wirtsstube erhebt sich ein alter
— 38 —
Weher, um vom (leiste getrieben zu sprechen von einem
Gericht in der Luft und vom Herre Zebaot, wörtlich die Zeilen
anführend :
„Doch ha, sie glauben keinen Gott,
Noch weder Holl noch Himmel —
Religion ist nur ihr Spott "
Im fünften Akte nun sind diese vorbereitenden Züge
gesammelt und verstärkt zu dem Bilde eines Bekenners, ist
der fromme, gläubige Sinn unter den Webern, ihre zum
Mystischen neigende religiöse Richtung verkörpert in dem
seltsamen Dulder und Grübler, dem einarmigen Veteranen mit
den tiefliegenden, wunden Weberaugen, dem Ehrfurcht ge-
bietenden Vater Hilse. Während seine Brüder stürmisch
Gerechtigkeit und Menschlichkeit verlangen, erreicht der Geist
der frommen Entsagung und Ueberwindung in dem von Arbeit,
Krankheit und Strapazen aufgezehrten Greise die Kraft zur
äussersten Selbstaufopferung, ja zum Martyrium. Vierzig und
mehr Jahre hat er die bitterste Mühsal Tag für Tag geduldig
auf sich genommen, als patriarchalisches Oberhaupt der Familie
den Seinigen in Hunger und Kummer mit tröstlichem Beispiel
voranleuchtend, und im Gefühl unverschuldeter Leiden und
erlittenen l'nreehts nur den einen Gedanken hegend, der
Reiche habe seinen Teil hier, er in jener Welt, und die Rache
sei des Herrn. Er ist gleichsam das Höchste, was diese Klasse
anner Arbeiter hervorzubringen vermag, geläuterter ethischer
Gehalt im bescheidensten Gefässe. Die hier notwendig sehr
einfach, ja einfältig zu haltende Ausdrucksweise erschwert
die dichterische Darstellung eines so eigentümlichen, alle
Merkmale seines Geschäftes und niederen Standes an sich
tragenden und dabei so versonnenen und schon ganz von
dieser Welt abgelösten Glaubenshelden. Aber Hauptmann hat
die Schwierigkeit, glänzend überwunden; sein Weber Hilse
wirkt ebenso lebensvoll und wahr wie Tolstois volkstümliche,
vom Evangelium überwältigte und geführte Heilige hinter
dem Pfluge, am Werktisch oder im Gefängnisse.
Hilse und seine Frau, die ihm treu folgt auf dem schmalen
Weg, wollen ihr ewiges Erbe nicht noch in letzter Stunde
verlieren. Der Armen sind die „Lichtadern" vertrocknet vom
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Staub und Weben bei Licht. Blind und schwerhörig versteht
sie nur halb, was un> sie vorgeht, verschmäht jedoch sofort
das erbeutete Huhn, das ihr Baumert bringen will. Das greise
Paar allein erweist sich stark in der Versuchung, während
ihr Sohn Gottlieb nach längerem Schwanken zwischen den
Ermahnungen des Vaters und dem aufreizenden Hohn seiner
jungen Frau zuletzt mit der Axt in der Hand forteilt, sich
den Aufständischen anzuschliessen. Durch die junge Frau,
eine heftige, mutige Natur, wird hier zum erstenmale im
Stück ein eigentlich dramatischer Konflikt hervorgebracht.
Sie ist Mutter, sie hat vier Kinder begraben müssen, hat sich
den Kopf zerklaubt, wie sie „so ein Kindel könnt um den
Kirchhof rumpaschen'*, hat sich die Füsse blutig gelaufen um
ein einziges Neigel Buttermilch, wenn die Männer gebetet
und gesungen haben. Dass sie nicht um ihrer selbst willen,
sondern aus Kummer um ihr« toten und aus Sorge um ihr
lebendes Kind, voller Grimm und Rachgier ist, dem Fabrikanten
die Hölle und Pest in den Rachen wünscht und Mann und
Schwiegervater, „die Gebetbichelhengste, die Kerle, die dreimal
dank schön sage für eine Tracht Prügel*', mit frechem Spott
und Schimpfreden überhäuft, diese trefflich gezeichnete wilde,
gekränkte Mutterschaft mildert für uns die Roheit ihrer
Gefühlsausbrüche und erhebt die Gestalt ins Tragische. Die
Scene ist Hilses enges, niedriges Weberstübchen in Langen-
bielau. Durch die offene Thür erblickt man den Hausgang
mit einer baufälligen Holztreppe zur Dachwohnung, und gegen-
über das ähnliche, ebenfalls offene Stübchen des Sohnes.
Beim Aufgehn des Vorhangs hat Vater Hilse die Seinigen,
ein selbstverfasstes Gebet vorsprechend, zur Morgenandacht
um sich vereinigt. Aber kaum hat sich jedes an die Arbeit
begeben, als Pfornig und kurze Zeit darnach Chirurgus Schmidt,
erscheinen, um, jeder in seiner besonderen Art, vom Aufstande
in Peterswaldau zu schwatzen und anzukündigen, dass die
Rebellen, an fünfzehnhundert Mann stark, auf dem Wege hieher
seien, auch in Langenbielau Gericht über die Brotherren zu
halten. Man hört fernes und bald darauf nahes Glockenläuten
und das vielhundertstimmig gesungene, wie ein dumpfes,
monotones Wehklagen klingende Weberlied. Es kommt Leben
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ins Haus; an der Zimmerthüre haben sich die übrigen Be-
wohner gesammelt, die den Neuigkeiten begierig lauschen,
und ein wenig später, als die Aufruhrer beginnen, die Besitzung
des Fabrikanten gegenüber zu stürmen, entsteht ein lebhaftes
Hin-und-her. Erst kommen und gehen bloss die Neugierigen,
zuletzt die Beteiligten und Anführer selbst — Jäger, Bäcker
und andere — , die, von Hütte zu Hütte laufend, alle „Hunger-
leider'* auffordern, sich ihnen zuzugesellen. Wie in der Wirts-
hausscene, giebt das wechselnde Auftreten vieler Personen,
neben dem Eindruck der äussern Geschehnisse und der
wachsenden Rebellion, immer wieder Anlass zur Entwicklung
des Wesens und der Anschauungen eines jeden Einzelnen,
besonders des alten Hilse und der jungen Frau. Die Stimmen
der Hausbewohner, die von draussen hereindringen, bilden
eine Art Chor, vermitteln dem Vater Hilse und zugleich dem
Zuschauer das Bild und den Fortgang aller Ereignisse. Als
der Einzug des Militärs gemeldet wird, entfernen sich die
Kampflustigen und drängen sieh die Zurückgebliebenen im
Hause zusammen. Eine Salve kracht; Hilse betet mit aufge-
hobenen Händen für seine armen Brüder — ein Verwundeter
wird durchs Haus getragen, Angstgeschrei und Hurrahrufen
ertönt. Aller Warnung zum Trotz beharrt Vater Hilse am
Fenster im Webstuhl: da wo ihn sein himmlischer Vater hin-
gesetzt hat, da bleibt er sitzen und thut, was er schuldig ist.
Eine neue Salve — und zu Tode getroffen, fällt er vornüber
auf den Webstuhl, erlöst von dem „Häufchen Himmelsangst
und Schinderei, was man Leben nennt:'.
Die poetische Berechtigung einer so grassen Schilderung
der Wirklichkeit ist ebenso heftig, ja fast noch mehr ange-
fochten worden als die Berechtigung, soziale Fragen auf der
Bühne zu entscheiden. Was unsere Brüder und Schwestern
im Leben erdulden müssen, das wollen auch heutzutage noch
viele nicht in der ungemilderten Nachahmung ertragen. Von
unsern Vorfahren erzählt Gustav Freytag*), dass die Gebil-
deten unter ihnen, ungefähr gerade vor hundert Jahren, in
der frohen Empfindung eines idealen Inhaltes dem Volke
*) „Aus neuer Zeit", Seite 319 ff.
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gegenüberstanden. „Freilich im stillen Herzen empfanden sie
selbst ein Missbehagen. Die Thatsachen des Lebens, welches
sie umgab, standen oft in schneidendem Gegensatz zvi den
idealen Forderungen, welche sie stellten. Wenn der Bauer
wie ein Lasttier arbeitete, der Soldat vor ihren Fenstern Spiess-
ruten lief, dann blieb, so schien es ihnen, nichts übrig, als
das Studierzimmer zu schliessen und Auge und Sinn in Zeiten
zu versenken, wo solche Barbarei nicht verletzte. " — Bald
darauf drangen Schrecken und Greuel aller Art bis in diese
stillen, bisher sorgsam gehüteten Studierwinkel, geriet fast
jeder in eine Lage, die praktischen Widerstand erforderte und
nicht mehr gestattete, in die Vergangenheit zu flüchten. Schon
Goethen erschien, als er aus dem französischen Feldzug 1702
zurückkehrte, die Kluft zwischen dem wirklichen Leben, wie
er es nun erkannte, und jenen stillen Idealen unüberbrückbar.
Er selbst bezeichnet seinen Sinn um diese Zeit gegen Kunst,
Natur und Welt gewendet, durch eine schreckliche Kampagne
verhärtet. Und aufs bestimmteste fühlte er, dass es sich in
dieser Welt „etwa bloss so mit der Leier in der Hand" nicht
leben lasse. Goethe war kein Dichter mehr, fügt Heinrich
von Stein*) diesen seinen Ausführungen hinzu. Das heisst:
für den Augenblick kein Dichter mehr. Wie aber, wenn
Apollos Gaben einem Sterblichen zu teil werden, in dessen
Dasein die «lüstern, ja die widrigen Eindrücke andauernd
überwiegen? Und wenn dadurch sein Talent eine Richtung
auf das Wirkliche erhält, nicht auf poetische Weltüucht und
optimistische Verklärung der Dinge? Soll ein Dostojewski
verstummen, weil er seine Jugend, nach fürchterlichen seeli-
schen Erschütterungen und körperlichen Peinigungen, hat in
einem sibirischen Gefängnisse verbringen müssen? Und wird
es nicht immer wieder Menschen geben, die, künstlerisch ver-
anlagt, aber durch körperliche Leiden, durch Armut und
schwere Schicksale gepeinigt, ihr ästhetisches Bedürfnis am
liebsten an den Schöpfungen eines Gefährten in der Trübsal
befriedigen? Ihnen dürften, wenigstens zu Zeiten, glücklichere
*) Goethe und Schiller. Beiträge zur Aesthetik der deutschen
Klassiker. Leipzig, Reclam. S. 13.
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— 42 —
Sänger aus denselben Gründen Stimmen einer fremdartigen
Welt sein, aus denen Goethe 1792 kein Dichter mehr war
und sein konnte.
Aber Dostojewskis Schilderungen der sibirischen Ver-
brecherwelt, des gestörten Seelenlebens, der bittersten Armut
u. s. w. sind alle in epischer Form, in der selbst die scho-
nungslose Darstellung von Jammer und Elend, von Greueln
und Grausamkeiten weniger stark und aufregend wirkt als
im Drama die blosse Andeutung. In einigen Scenen der
Weber wird das Mitleid beeinträchtigt durch Ekel — auch
bei dem gerechten und tapfern Zuschauer, der gewohnt ist,
im Leben dem Schlimmen unerschrocken entgegen zu blicken.
Andere erscheinen thatsächlich geeignet, die Leidenschaften
der Massen zu erwecken, wenigstens da, wo schon Gärung
vorhanden ist. Zu diesen beiden äussern Gründen für die
Wahl der erzählenden Form hätte sich als dritter, ästhetischer,
die spröde Art des Stoffes gesellen können. Die Fabel des
Weberaufstandes an sich ist nicht dramatisch, und sie wurde
vom Dichter nicht, zum dramatischen Zweck um- und auf-
gebaut. Er giebt fünf ziemlich los zusammenhängende Bilder,
jedes mit vielen neuen Personen. Zwar den einzelnen dieser
vorzüglichen Kapitel aus dem Volksleben lässt sich Mittelpunkt
und Hundung nicht absprechen. Allein das Ganze ist ein
blosses Nacheinander; es sind fünf aufgereihte Kreise, die
sich nur an den Peripherien berühren oder leise schneiden.
Das genügte für eine epische Schilderung.
Auch lesen sich schon die umfangreichen Bühnenanwei-
sungen wie sehr gute Stellen aus einer Erzählung. So anschau-
lich und erschütternd kann uns die Erscheinung der Weber
auf der Bühne niemals nahe gebracht werden, seien die
Masken noch so treu gewählt, wie sie der Dichter beschreibend
der Einbildungskraft lebendig zu machen versteht. „Allen",
heisst es da, „haftet etwas Gedrücktes, dem Almosenempfänger
Eigentümliches an, der, von Demütigung zu Demütigung
schreitend, im Bewusstsein, nur geduldet zu sein, sich so
klein wie möglich zu machen gewohnt isi. Dazu kommt ein
starrer Zug resultatlosen Grübelns in aller Mienen. Die Männer,
einander ähnelnd, halb zwerghaft, halb schulmeisterlich, sind
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in der Mehrzahl flach brüstige, hüstelnde, ärmliche Menschen
u. s. w. . . . Ihre Weiber zeigen weniger Typisches auf den
ersten Blick; sie sind aufgelöst, gehetzt, abgetrieben, während
die Männer eine gewisse klägliche Gravität noch zur Schau
tragen" u. s. w. Bestimmter und plastischer kann die eigen-
tümliche Gestalt der „Geschöpfe des Webstuhles mit den ,
gekrümmten Knieen und der schmutzig-blassen Gesichts-
farbe" nicht bezeichnet werden. Das ist ihr ganzer physio-
logisch-psychologischer Habitus, der jeden, dem sie zum
erstenmale im Leben begegnen, so sonderbar anmutet, Mitleid
und Achtung und Vertrauen zugleich erregend. So sind auch
die Merkmale aller übrigen Personen, Tracht, Haltung, Gang
u. s. w., dann alle Nebenumstände, die Räume und Umge-
bungen u. s. w. so vollständig gegeben, dass kaum noch
einige verbindende Striche fehlten, noch ein wenig Landschaft
und Dorfleben als Hintergrund etwa, und wir besässen ein
modernes episches Werk, wenn nicht vom gleichen Umfang
wie Tolstois grosse Romane, so doch von gleicher künst-
lerischer Kraft. Der meisterhaft geführte Dialog, die drama-
tische Kürze und Schärfe (1er einzelnen Vorgänge würden zur
Gewalt und Schönheit des Romanos der Weber unendlich
beitragen. Denn die epische Gattung vermag von der höhern
dramatischen mit Vorteil zu borgen , nicht aber umgekehrt.
Die jungen Deutschen aber wollen alle mit dem Baumeister
Solness nur noch Türme bauen und teilen Ibsens Gering-
schätzung der erzählenden Form, der im Gespräch mit einem
deutschen Freund, auf Gottfried Kellers Bedeutung aufmerksam
gemacht, zuletzt nur die trockene Frage hatte: „Schrieb dieser
Dichter auch Dramen?"
Jedoch, in die geeignete Form gegossen oder nicht, die
„Weber" sind ein Werk, das trotz der angeführten Mängel kein
Freund der Litteratur mehr vermissen möchte. Noch niemals
hat man in Deutschland einen so ausgezeichneten Kenner des
Volkes gehabt, einen so fähigen und gewissenhaften Schilderer
des einzelnen Arbeiters sowohl wie der grossen Menge in
ihrer Gruppierung und Bewegung.
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44 -
In den Berichten über das vier Jahre später erschienene
Drama „Florian Geyer" wurde Hauptmann häufig schlecht-
weg der Verfasser der „Weber 4 * genannt. Und das neue
Drama könnte auch ebenso gut „Die Bauern" heissen wie
Florian Geyer. Für Thomas Carlyle ist die Universal-
t geschiente*) nur die Geschichte der grossen Männer, der
Führer, der Bildner, der Begründer; ihm ist alles Bedeutende,
was in der Welt erreicht worden, nur die Verwirklichung der
Gedanken , die in grossen Männern lebten. Er befand sich
in vollkommener Uebereinstimmung mit den Dichtern seiner
Zeit, den Dichtern des Heldenlebens. Mittlerweile hat eine
ganz andere Auslegung der Geschichte Einfluss auf die Kunst
gewonnen. Der Herrenkultus ist seines Schimmers verlustig
gegangen, die Begeisterung in nüchternste Abwägung umge-
schlagen; keiner soll sich mehr eines besondern Vorrechtes
erfreuen, das Genie darf kaum hervorragen — als glücklicher
Emporkömmling, als kluger Benutzer dessen, was eigentlich
die Menge gedacht, gewollt und geleistet hat. Tolstoi zer-
sprengt den Rahmen seines Romans Krieg und Frieden", um
ein langes, weitausschweifendes Beweis verfahren gegen alle
sogenannten Volkshelden einzuleiten. Wie es sein Stoff, die
Befreiungskämpfe, mit sich bringt, überträgt er den Prozess
auf das kriegerische Gebiet; aber die Nutzanwendung auf alle
andern Gebiete liegt nahe. Es giebt und hat niemals grosse
Feldherren gegeben; sie alle und besonders Napoleon sind
lediglich Günstlinge des Glückes, die bei einer grossen Völker-
bewegung zufällig an die Spitze geschleudert wurden. Sie
bilden sich ein, die Massen zu leiten, und werden in Wahrheit
von ihnen geleitet. Wie gefährlich eine solche Anschauung
für den Dichter, besonders aber für den Dramatiker ist, der
immer etwas von einem guten Feldherrn in sich haben muss,
das hat Hauptmann im „Florian Geyer" in höchst unglück-
licher Weise an den Tag treten lassen. In den „Webern"
bewährt er sich noch als Beherrscher und Führer seiner
Massen; im „Florian Geyer" herrscht die traurigste, jegliche
Wirkung zerstörende Anarchie. Die Massen rennen ihm davon
*) On Heroes, Hero-Worship etc. Leet. I, p. 1.
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und reissen ihn mit hinein in eine namenlose Verwirrung.
Die „Weber" sind eine That, ein Erfolg, die „Bauern" — ein
misslungenes Experiment.
Nur das Publikum bei der ersten Aufführung am „Deutschen
Theater in Berlin (Januar 1896) war ganz dasselbe, zum
grössten Teil aus sozialdemokratischen Elementen bestehende,
wie bei der ersten Aufführung der „Weber" und versuchte,
mit noch weniger Recht als damals, eine politische Tendenz
in das Stück hinein zu demonstrieren. Es geht ja nicht sehr
viel klar hervor aus dem Drama, so viel aber doch, dass die
Bauern, die anfänglich ungerecht Unterdrückten und Gequälten,
später im Besitze der Macht denselben Lastern, derselben
scheusslichen Grausamkeit fröhnen wie die Ritter, dass auch
sie „christliche Lieb' auf türkische Art beweisen", trotz des
Pochens auf die gereinigte evangelische Lehre, und dass sie
endlich alles Gewinnes wieder verlustig gehen, weil die un-
einigen, eifersüchtigen Hauptleute im entscheidenden Augen-
blicke den allein fähigen Feldhauptmann, den als frühern
Ritter verhassten Florian Geyer, von der Führung entfernen.
So ist das Drama geradezu ein neuer Ausspruch gegen jedes
vielköpfige Regiment, gegen die schlimmste aller Tyranneien,
die Volkstyrannei, nur ein neuer Beweis dafür, „dass ein
oberster Wille, ein Haupt sein muss, dass das unein Gespann
den Pflug umwirft, dass ein Wille oft meh denn tausend, eine
Hand oft meh denn hundert ist", — wie Geyers Feldschreiber
vergebens die bäuerischen Brüder zu überreden sucht. Man
konnte allerdings auf der Bühne leicht übersehen und über-
hören, was man übersehen und überhören wollte; denn auch
der willigsten Aufmerksamkeit wird es schon beim Lesen
schwer genug, zu erfassen, was sich eigentlich in dem über-
langen Stücke abhandelt.
Im Vorspiel und den ersten zwei Akten leuchtet zuweilen
noch ein Strahl auf, sind noch Spuren von des Dichters Kraft
und Kunst der Charakterisierung zu bemerken, z. B. in der
Einführung des tapfern Tellermann. Bei stark nachhelfender
Kürzung und Zusammenfassung wären hier wohl ausserdem
noch eine oder zwei Gestalten herauszuheben. Aber nicht
die des Titelhelden. Er schreitet als schwarzer, leerer Harnisch
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durch das Stück, unfassbar und unerkennbar, trotz häufigen
Auftretens und vieler polternden Worte. Und vom dritten
Aufzug an gehen Handlung und Charakteristik vollends unter
in langen Reden — gehalten im unverständlichen, ermüden-
den Stil alter Chroniken 1 — in Geschrei, Flüchen, Waften-
gerassel. Eine Widerwillen erregende Brutalität tritt überall,
und besonders gegen das Ende, an die Stelle der Tragik.
Ja, der fünfte Akt ist der schwächste von allen, verdorben
auch die Schlussscene mit dem Tode des Florian Geyer.
Das Ganze aber macht den Eindruck jener alten Bilder,
wo unzählige Gestalten mit steifer Gewandung, unter der kein
Körper lebt, ohne alle Perspektive auf verwirrende Haufen
zusammengedrängt sind, wo aber bei aller Kindlichkeit der
Ausführung der ein und andre realistische Kopf, eine und die
andre charakteristische Stellung und Bewegung echtes Talent
verraten.
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V.
„Kollege Crampton." „Der Biberpelz. a
Novellen.
Die Jahre 1892 und 1893 waren für Hauptmann ungemein
fruchtbar: die „Weber" und „Kollege Crampton" gehören dem
einen, der „Biberpelz 44 und „Hanneies Himmelfahrt" dem
andern an. „Kollege Crampton" soll in sehr kurzer Zeit —
man spricht von vierzehn Tagen — vollendet worden sein.
Im Hinblick darauf eine ausserordentliche Leistung, macht
das Werk, als Bühnenstück betrachtet, doch mehr den Eindruck
einer Talentprobe, einer Studie, denn einer ausgereiften Arbeit.
Die Hauptperson, der dem Alkohol ergebene Crampton,
Professor an der Kunstakademie einer grössern schlesischen
Stadt, bietet virtuosen Charakterdarstellern eine gern gewählte
Paraderolle. Es ist eine lohnende Aufgabe, Sprache und
Bewegung des gebildeten Trunkenbolds naturgetreu mit tausend
feinen Schattierungen wiederzugeben, zuweilen aber durch
Laster und Krankheit, wie durch einen Schleier, die ursprüng-
lich edleren Züge durchblicken zu lassen. Jedoch so, wie
der Charakter entworfen ist, wird er dem Darsteller leichter
zu Kunststückchen als zu wirklicher Kunst verhelfen; denn
weder der Mensch noch der Künstler in Crampton ist je gross
genug gewesen, um nun durch die lasterhafte Gewohnheit
und Verkommenheit, in packenden Momenten, zu entschiedener
Wirkui ig durchzubrechen. Ein wenig Gutmütigkeit, ein wenig
sehr bequeme Vaterliebe für eine gute Tochter, ein wenig
ganz gescheite Witzelei und der Hinweis auf frühere, in der
Zeit weit zurückliegende künstlerische Erfolge, das ist alles,
was Professor Crampton aufzuweisen hat, um nicht als gemeiner
Trinker vor uns zu stehen. Er scheint vielmehr an unbe-
gründetem Grössenwahn zu leiden. Selbst da, wo man geneigt
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ist, seine scharfe Kritik der Akademie und der Kunstgenossen
für zutreffend zu nehmen, hört sich sein stets damit ver-
bundenes Seihst rühmen wie schwache Rechtfertigungs- und
Beschönigungsversuche an. Kein fremder, glaubwürdiger
Mund bestätigt sein Talent, nirgends drängt sich die Ueber-
zeugung auf, dass derselbe Mann unter andern Verhältnissen,
ausserhalb der Akademie, der Dressur, des spanischen Stiefels,
des Blockes, der Uniform, der Antikunst, wie er die Schule
mit grosser Zungenfertigkeit nacheinander betitelt, ein grosser
Künstler geworden wäre. Die Akademie und besonders auch
sein häusliches Elend, eine unglückliche Ehe, sind zu sehr
als unbedeutende Nebenumstände behandelt, als dass sie viel
erklärten und entschuldigten. Ja, das unerquickliche Ver-
hältnis, in dem er zu seinen Vorgesetzten und der Familie
steht, ist augenscheinlich mehr die Wirkung seines Lebens-
wandels als die Ursache. Es berührt uns wohl im allgemeinen
traurig, wenn ein Mann von besserem Stande und besserer
Bildung sich und die Familie durch Trunksucht zu Grunde
richtet; aber vor der Bühne und für den vorliegenden be-
sondern Fall ist diese Empfindung nicht ausreichend. Wir
müssten vom Anfang bis zum Ende das Gefühl haben, wie
sehr es gerade für diesen Einzelnen schade sei ; sonst erweckt
uns weder sein Verderben herzliches Mitleid noch seine Rettung
herzliche Freude.
Das Personen Verzeichnis ist reich, aber von all diesen
Personen des Spiels wie des Gegenspiels ist keine einzige sehr
interessant. Die Freunde des Helden, seine Tochter, der
Schüler, die Verwandten des Schülers und der Dienstmann
als Faktotum, treten auf und ab. ohne zu erfreuen und Teil-
nahme zu erregen; die gleichgültigen und die sehr schwachen
Gegner, wie der Pedell und der Schankwirt, greifen noch
weniger ein, vermögen noch weniger zu reizen und Unheil
zu stiften.
Die Handlung ist sehr dürftig; sie besteht aus jenen
Rettungsversuchen, die die Gruppe der Freunde unternimmt,
und nebenher läuft eine konventionell gehaltene Liebes-
geschichte zwischen der Tochter und dem Schüler. Und fast
nur durch das gute Ende wird die Bezeichnung Komödie
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gerechtfertigt. Allzu wenig Humor liegt in diesen Situationen
und Menschen; höchstens noch wirkt der dritte Akt ein
wenig komödienhaft, wo hauptsächlich der Fabrikant Adolf
Strähler, der Bruder des Schülers, die Scene beherrscht, der
dicke Krämer, wie ihn der Professor nennt, der in heiterer
Lebensanschauung alles von der leichten Seite nimmt und
auch den ernstesten Dingen einen humoristischen Anstrich
giebt. Er und seine Geschwister, er aus Optimismus, die
Schwester aus Güte, der Schüler aus Verliebtheit, glauben
an die Rettung, d. h. an die Besserung des Vaters Crampton,
im Zuschauerraum aber gewiss niemand. Zu gewissenhaft
und genau sind alle Merkmale des tief eingewurzelten Lasters
gegeben, allzu treu nach dem Leben ist der Gewohnheits-
trinker, und zwar auf einem schon hohen Entwicklungsgrad,
beobachtet. Im Leben endet denn auch wohl die Komödie
solcher angeblichen Genies in der Kegel ganz anders.
Nicht der Stoff an sich wäre als gemein zu verwerfen;
denn er hätte zu eigentlich komischer Wirkung gehoben
werden können. Dagegen wird die von Hauptmann gewühlte
Art der Ausführung durch ein scharfsinniges Wort Schillers
über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst
verurteilt, das sich gleich im Eingange des vorerwähnten
Aufsatzes (vgl. S. 13) findet. „Ein Dichter 4 ', heisst es, „be-
handelt seinen Stoff gemein, wenn er unwichtige Handlungen
ausführt und über wichtige flüchtig hinweggeht." Die ganze
Komödie vom Kollegen Crampton besteht nur aus solchen
unwichtigen Handlungen, die wichtigen sind übergangen.
Und ferner: „Das Gemeine ist etwas Negatives (im Gegen-
satz zum Positiven , der Hoheit des Gefühls im Niedrigen),
es zeugt bloss von einem fehlenden Vorzug, der sich wünschen
lässt. u „Kollege Crampton" ist etwas Negatives, nichts direkt
Gutes und nichts Schlechtes, aber ohne alle Vorzüge, die sich
wünschen lassen. Unendlich weit steht er zurück hinter der
zweiten, der wirklichen, echten Komödie, dem „Biberpelz 1 '.
Als diese bekannt wurde, herrschte grosse Freude unter
den Liebhabern feinerer litterarischer Genüsse. Et was, woran
die Deutschen sehr arm sind, sollte durch den „Biberpelz"
4
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50 -
einen Zuwachs erhalten haben, die Charakterkomödie. Treffende
Satire und Ironie und köstlicher Humor über einen modernen
volkstümlichen Stoff ausgegossen, dazu die streng realistische
Ausführung, was konnte man Besseres von der neuen Richtung
wünschen?
Das Werk hat einen einzigen klassischen Vorgänger, mit
dem sich zu seiner Ehre der Vergleich beständig aufdrängt,
Kleists „Zerbrochenen Krug". Allgemein bekannt ist die
ungünstige Aufnahme dieses berühmten Genrebildes, sein
Missgeschick im Jahre 1808 auf der Weimarer Bühne. Es
sollte die Feuerprobe bestehen vor einem litterarischen Kreise,
für den es eine neue, fremdländische Welt bedeutete mit
anderer Sprache, mit ungewohnten, anstössigen Sitten. So
verhielten sich denn die Zuschauer heftig ablehnend, während
Hauptmanns Diebskomödie bei einem an solche Art und Kunst
nunmehr gewöhnten und darnach begehrenden Publikum eine
warme, ja vielfach begeisterte Aufnahme fand. Wenn trotz-
dem heute, kaum einige Jahre nach seinem Erscheinen, der
Ruhm und vor allem der Theatererfolg schon bedenkliche
Einbusse erlitten haben, so werden wir nach der Ursache
dieses widerwärtigen Schicksals forschen müssen.
Im älteren Werke wird das entscheidende Delikt vor dem
Beginn des Spieles verübt, und wie es sich nach und nach
enthüllt, wie sich der Dorfrichter Adam in der eigenen Ge-
richtsstube in sein Unglück hinein verhört, das bildet die sehr
gemächlich sich vorwärts bewegende Handlung.*) Sie leidet
denn auch einigermassen darunter, dass sie nur geringe Span-
nung zu erregen vermag, dass man schon allzu genau weiss,
wie sich alles zum guten Ende klären und auflösen muss.
Im neuen Drama geschehen die Diebesstreiche und Schelmen-
stücke in der Komödie selbst. Im ersten Akt wird der gewil-
derte Rehbock verkauft und zum Schluss auf den Holzdiebstahl
ausgezogen, und zwischen den zweiten und dritten fällt die
für die Verwicklung des Stückes noch folgenschwerere Ent-
wendung des Biberpelzes. Allein im „Zerbrochenen Krug"
wird selbst das stofflich Undramatische höchst dramatisch vor-
geführt, im „Biberpelz" selbst das Dramatische durchaus
*) Vgl. Otto Brahm, Heinrich v. Kleist. S. 181 ff.
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- 51 —
novellistisch behandelt. Der „Zerbrochene Krug" ist mit
bedächtiger Steigerung doch zu einem entschiedenen Schlüsse
geführt; der „Biberpelz" hat keinen Schluss, nicht einmal ein
Ende. Der „Zerbrochene Krug" ist ein Ganzes, der „Biber-
pelz" knapp Dreiviertel. Und wenn Kleists Lustspiel ebenfalls
Längen und zu viel Aufenthalt hat und bei jeder Vorstellung
der Kürzung bedarf, so verdient es dennoch sicherlich das
Prädikat „planvoll ineinander gefügt und aufgebaut"; das
Hauptmanns ist willkürlich da und dort zusammengefasst
oder auseinandergezogen, lässt jegliches feste Gerüste ver-
missen. Goethe hat seinerzeit den lärmenden Misserfolg des
jüngem Dichters mit verschuldet, indem er dessen problema-
tisches Stück, wie er es nannte, in drei Akte zerlegte. Haupt-
mann hat sich eine ähnliche Schädigung selbst zugefügt. Er
hat zu viel eingeteilt und dadurch zweimal Parallelakte ge-
bildet. Parallelakte wirken zumeist ermüdend. Wären sie
noch durch eine gemeinschaftliche Schlusskrönung verbunden,
so wäre das Ganze und sein Erfolg vielleicht weniger „proble-
matisch" geworden. So aber fallen immer mehr gewichtige
Stimmen ein, wie kürzlich bei der ersten Autführung im
„Deutschen Theater" zu München, die bestätigen: „Ja, es ist
eine wertvolle Dichtung, eine Bereicherung der deutschen
Litteratur, aber keine Bereicherung der deutschen Bühne".
Es ist eine wertvolle Dichtung. Wenn Otto Brahm den
Dorfrichter Adam von Huisum den ergötzlichsten Sünder der
deutschen Bühne nennt, so hat ihm nun Hauptmann in Frau
WoIfTen, der Wäscherin aus irgendwo um Berlin, eine nicht
minder ergötzliche Sünderin an die Seite gestellt, Wie jener,
beherrscht sie das Ganze in unglaublicher, den besten Humor
erzeugender Frechheit. Sie ist aber die Tochter ihrer fort-
geschrittenen Zeit, wie er der Sohn seiner naiveren; verglichen
mit ihrer Verstandesschärfe und Geistesgegenwart, ist er nur
ein Anfänger und von kindlicher Harmlosigkeit. Seine Lügen
sind durchsichtig, imponieren nur im Augenblicke durch die
Unverschämtheit, mit der sie gerade auf einem Richterstuhl
vorgetragen werden; die ihrigen, mit derselben Kaltblütigkeit
erfunden, sind so raffiniert, dass Frau Woltfen wohl imstande
erscheint, es für eine gute Zeit auch noch mit andern Leuten
4*
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— 52 -
aufzunehmen als mit dem Amtsvorsteher von Wehrhahn. In
drolligem, aber ungeschicktem Bemühen sucht unser älterer
Freund den Verdacht auf das eifrigste von sich ab und auf
irgendwen zu lenken, während die wackere Frau — ein ganz
geistreicher Zug — die unschuldig Verdächtigten und der
Behörde Missliebigen warm in Schutz nimmt. Sie widerspricht
sich niemals zu ihrem Nachteil, wie er so oft; er ist eben
doch nur Adam, und sie — Eva.
Sie lässt von ihrer Tochter ein Paket finden, als ob es
die Pelzdiebe verloren hätten, bestätigt aber sofort die Ansicht
des Zeugen Fleischer, dass die Sache mit dem Paket nur
angelegt sei, die Polizei irrezuführen. Und wenn der Amts-
vorsteher „auf Grund seiner langen Erfahrung" behauptet,
die Möglichkeit , dass der Dieb im Orte selbst sein könnte,
käme gar nicht in Betracht, so erwidert sie: „Na, na, masoll
nischt verreden, Herr Vorschteher a , und bald darauf, wenn er
meint: „Da müsst ich ja bei jedem Einzelnen haussuchen",
hat sie auch schon den frechen Rat bereit: „Da fangen Se
ock gleich bei mir an, Herr Vorsohteher." Von ihrer eigenen
Schlechtigkeit erleuchtet, übertrifft sie alle andern Personen,
auch den klugen und gebildeten Fleischer, weitaus an Menschen-
kenntnis und Scharfsinn. Bald kehrt sie die arme, unwissende
Frau hervor, der jeder, auch der hohe adelige Vorsteher,
wohl ein gerades, einfältiges Wort zu Oute hält, bald zeigt
sie sieh gerührt und voller Gemüt, oder sie versteckt sich
mit einennnale hinter ihren Mann, als ob lediglich dessen Wille
im Hausstände massgebend wäre. Kurz, sie versteht je nach
Bedarf jeden möglichen und auch den unscheinbarsten Vorteil
auszunützen, und weiss die zwei sieh untereinander wider-
strebenden Parteien beide für sich einzunehmen und durch
Gefälligkeiten sich zu verbinden.
So viel genial aufgewandte Mühe erringt denn auch den
gewünschten Erfolg. Sie bringt es fertig, unter amtlicher
Assistenz auf den Holzdiebstahl auszuziehen; sie wird beehrt
durch den Besuch des bestohlenen Kentiers Krüger, der —
in ihrer Wohnung — mit seinem eigenen Holze wütend in
der Luft herumschlägt, beschwörend, dass das seinige eben
so „chutes, teueres Holz war", und dass er siehs tausend
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— 53 -
Thaler kosten lassen wolle, die Diebe ins Zuchthaus zu bringen;
und schliesslich legi ihr, zur vollen Anerkennung ihres Strebens,
der Amtsvorsteher wohlwollend die Hand auf die Schulter
mit der Versicherung: so wahr sie eine ehrliche Haut sei
so wahr sei der Zeuge Fleischer ein lebensgefährlicher Kerl.
In der Frau Wolffen hat der Dichter wirklich das Non plus
ultra von lebenswahrer, gescheiter, aufs höchste belustigender
Nichtswürdigkeit geschaffen.
Seltsam, dass von allen Nebenpersonen eine Beschreibung
ihres Aeussern, die Angabe ihres Alters u. dgl. mitgeteilt
wird, während es der Darstellerin überlassen bleibt, sich zu
dieser schönen Seele die passende Maske zu ersinnen. Da
die beiden Töchter hübsch genannt werden, und alle ohne
Ausnahme die Wolffen so sehr freundlich behandeln, wird
sie sich wohl ganz angenehm präsentieren müssen. Ausge-
zeichnet ist auch die Psychologie der übrigen Familie: der
Gatte, ein Schiffszimmermann, sittlich ebenso wertvoll wie
seine geriebene Hälfte, aber mit blöden Augen, geistig schwer-
fällig und furchtsam, und wo er sich nicht eigensinnig ver-
rennt und von der Frau durch einen Extraschnaps erst wieder
willig gemacht werden muss, durchaus passiv. Dann die
Töchter des würdigen Paares, die ältere ganz dem Vater
nachfahrend, während die jüngere, erst vierzehn Jahre alt,
aber frühreif, an Verstand und auch an Verderbtheit das
Ebenbild der Mutter zu werden verspricht.
Ausser der Familie weist das Verzeichnis noch achl
Personen auf: Amts Vorsteher, -Schreiber und -Diener, den
Hehler Schiffer Wulkow, den bestohlenen Rentier Krüger,
seinen Freund und Zeugen den Privat gelehrten Dr. Fleischer,
ferner den Schützling des Gerichtes, den Schriftsteller und
dunklen Ehrenmann Motes, und dessen Frau — alle mit unver-
gleichlicher Kunst und Anschaulichkeit abgeschildert. Den
wichtigsten Platz unter ihnen nimmt der Herr Anitsvorsteher
von Wehrhahn ein, der Baron tituliert wird, wie ein Land-
junker aussieht und ein Monocle trägt. Im „Zerbrochenen
Krug" ist der Richter selbst der Uebelthäter; im „Biberpelz"
ist er halb und halb der Mitschuldige durch die Lässigkeit,
mit der er die Untersuchung führt, durch die Anmassung,
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mit dor er gegen unbescholtene Männer vorgeht, weil sie im
Gerüche des Freisinns stellen, und durch die eigensinnige
Beschränktheit , mit der er sich vom Gesindel, von der
Wöhren und Mutes hinters Licht führen lässt. Aber, wie viel
schärfer beurteilt nicht der moderne Dichter seinen unwür-
digen Vertreter der Gerechtigkeit, mit welcher Bitterkeit
werden hier die Schwächen einer bloss unfähigen und kurz-
sichtigen Behörde geott'enbart! Ja, dieser Bitterkeit ist es
hauptsächlich schuld zu geben, dass das Stück um seinen
guten, richtigen Schluss gekommen ist. Der „Zerbrochene
Krug" schliesst gemütlich und versöhnlich in demselben wohl-
wollenden Humor für alle, Adam eingeschlossen, in dem er
beginnt; im „Biberpelz" erhält die Komik gegen das Ende
statt des feinen, pikanten Aromas mehr und mehr einen
galligen Beigeschmack. Das Lustspiel wird zur unnachsich-
tigen, strafenden Satire. Seht, ihr, scheint der Dichter mit
schwerem Ernste zu sagen, so sind sie, unsere preussischen
Beamten, und so wird Recht gesprochen in deutschen Landen;
die Schlechtigkeit geht frei aus, und der harmlose, aber
politisch nicht nach offiziellem Geschmack gesinnte Bürger
wird schikaniert. Auch die Zeitangabe „Septennatskampf!"
deutet auf eine politische Verstimmung hin.
Von der lachenden Muse werden wir etwas Moralpredigt
gerne mithinnehmen, aber nur nicht zu viel und nicht ohne
spielende Grazie. Der Fall Wolff als einzelner Fall, wie er
sich immer und überall zutragen kann, ist eine sehr gute
Fabel; tendenziös verallgemeinert, verliert er künstlerisch
unendlich und beweist nur die Ungerechtigkeit der Verall-
gemeinerung. Vor der Bühne scheidet das Gefühl schnell
und sicher aus, was lebensecht ist und was übertrieben; denn
klarer als in einer einzelnen Lebenserfahrung tritt die Wahrheit
in zusammenfassender Nachbildung hervor. Frau WolfT kann
heute und morgen stehlen und betrügen, ohne entdeckt zu
werden; jedoch richtig sagt der Volksmund und Kleist und
Gogol im „Revisor": Der Krug geht nur so lange zum Brunnen,
bis er bricht. Und in Deutschland geht er wohl noch früher
in Scherben als in Russland, ja als sonst wo in Europa.
Hauptmann lässt da eine Anregung, die er selbst im ersten
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Akte zur spätem Lösung giebt, wieder vollständig fallen.
Motes und seine Frau sind die einzigen, die Verdacht gegen
die schlaue Wäscherin hegen und diesen Verdacht zu kleinen
Erpressungen benützen. Der Amtsvorsteher wird schliesslich
selbst misstrauisch gegen seinen Gewährsmann. In einem
Schlussakt dürften also nur die Schwindeleien des Forstschrift-
stellers aufkommen; der Staatsanwalt, mit dem ihm gedroht
wird, müsste eingreifen, und wie leicht und wahrscheinlich
könnte dann die Wolffen mit in die Untersuchung verstrickt
werden und sich vor einem fähigeren Richter in ihren eignen,
allzu sorglos gelegten Schlingen fangen! So ist das Muster
im Gewebe angesponnen; warum nun die Fäden plötzlich
verloren und un verknüpft hängen lassen?
Wenn bei Kleist die manierierten Verse und die gesuchten
Wortspiele und Witzeleien, die so schlecht zu der derben
Gefühlsweise der Personen wie zu den drastisch erzählten
Vorgängen passen, unsere modernen Ansprüche an Stileinheit
nicht befriedigen, so entspricht der grösstenteils im Dialekt
gehaltene Dialog des „Biberpelzes" durchaus dem gewählten
Genre und Stil und dem ganzen Inhalt der Komödie. Freilich
wird durch den mehr und mehr um sich greifenden Gebrauch
des Dialektes, wie ihn die streng naturalistische Richtung
mit sich bringt, auch ein bedenklicher Nachteil für den
Dichter herbeigeführt. Das Gebiet seiner Wirksamkeit wird
enger begrenzt: er spricht nicht mehr zum ganzen deutschen
Vaterlande. Gar manche Ausdrücke, Redewendungen und
Witze im „Biberpelz" sind dem Süddeutschen unverständlich,
und selbst in der Uebertragung der „Weber" aus der Dialekt-
ausgabe ist immer noch viel stehen geblieben, was für den
Nichtsohlesier einer Uebersetzung bedürfte. Da wäre an
Goethes abmahnendes Wort zu erinnern, dass unbedingte
Natürlichkeit die Kunst, selbst wider Willen, oft an eine
beschwerliche Wahrhaftigkeit bindet.
Im Jahre 1892 kamen auch die zwei einzigen Werke
Hauptmanns in erzählender Form heraus, novellistische Studien,
wie er sie nennt, „Bahnwärter Thiel", geschrieben 1887 —
also nur zwei Jahre nach der Dichtung „Promethidenlos" —
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und „Der Apostel", geschrieben 1S0O. „Bahnwärter Thiel"
geht, über den technischen und geistigen Umfang einer Studie
hinaus und kann mit Fug und Kecht eine Novelle, d. h. die
Hrzählung einer merkwürdigen Begebenheit genannt werden.
Das ausserordentliche Geschehnis, der von einem fried-
lichen, frommen Mann im Wahnsinn begangene Mord an
Frau und Kind, ist psychologisch erklärt aus den dunkelsten
Trieben des Menschenherzens. Langsam wird der schreckens-
volle Vorgang entwickelt und ergreifend erzählt, wie die ge-
heimen Mächte bekämpft werden und endlich doch alle Gewalt
erlangen, vier Leben vernichtend. In dem meisterhaft erfassten
Verhältnis des Bahnwärters zu den zwei Frauen, der ver-
storbenen und ihrer Nachfolgerin, erweist sich — schon so
früh! — Hauptmanns überraschende Kenntnis des gemeinen
Mannes in seinen einfachen Gewohnheiten, mit seinem be-
schränkten Gesichtskreis, seinen ursprünglichen, heftigen
Leidenschaften. Ausgezeichnet beobachtete realistische Züge
unterstützen die Schilderung der Geinütskämpfe des Wärters,
so dass sein mystisches Innenleben in der Vergangenheit und
Gegenwart klar an dem Leser vorüberzieht. Nichts ist ausser
Acht gelassen, keine Kleinigkeit, die eine Seite seines Wesens,
sei es die pedantische Gewissenhaftigkeit oder die kindliche
Kinfalt, der wirre Mystizismus oder die starke, unterjochende
Sinnlichkeit, ins Licht zu rücken geeignet ist, und doch
erfahren wir alles bei der passenden Gelegenheit, wie zufällig
und unabsichtlich.
So ist der innere Stil rein und schön; aber die äussere
Form, den Wort st il, entstellen mancherlei Unarten, besonders
einige Keporterausdrücko und schiefe Satzstellungen. Die
Landschaftsbilder sind zum Teil sehr stimmungsvoll und echt
empfunden, zum Teil sind sie nicht einfach genug, sondern
mit jugendlicher Verschwendung überladen, wie z. B. die
Schilderung des Sonnenaufgangs (S. 30) und des Sonnenunter-
gangs ('S. 54). Fbenso ist wohl in der Lautmalerei der an-
kommenden und weiterrasenden Bahnzüge, des Donners u. s. w.
allzu viel geschehen.
Allein, im ganzen und grossen beurteilt, hat diese Novelle
schon alle Vorzüge der spätem Werke und keinen ihrer
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Mängel. Sie hat innere Schlichtheit, Kraft und Leben wie
die spätem, sie hat aber auch Fluss, energische Vorwärts-
bewegung, Steigerung und ein wirkliches, abschliessendes Ende.
Für den „Apostel*' passt die Bezeichnung „novellistische
Studie". Fr ist die mit vollendeter Technik und fein nach-
empfindendem Verständnis geschriebene Analyse des Seelen-
lebens eines jener sonderbaren modernen Apostel, wie man
sie in den achtziger Jahren, aus der Schule Diefenbachs
stammend, in den Strassen der Städte, hauptsächlich in
München und Wien, sehen konnte. Der Schilderung des
gewaltt hat igen Ausbruches mörderischer Tobsucht in der vor-
hergehenden Novelle wird hier die des allmählich sich ein-
schleichenden, friedlichen , mystisch-religiösen Grössenwahnos
gleichsam als Gegenstück hinzugefügt. Der Apostel erschafft
sich zuletzt in seiner überschwellenden kranken Phantasie
direkte Gottähnlichkeit. Knapp und äusserst geschickt werden
wir in der Exposition, ganz im Vorübergehen, mit den Ellern
dieses seltsamen Schwärmers und seiner Entwicklung bekannt
gemacht, so dass wir erraten können, was für vererbte An-
lagen und äussere Einflüsse sich verbunden haben, ihn so
weit zu bringen, den Lieutenantsroek gegen die weisse Kutte
zu vertauschen, Sandalen anzulegen und das Haar mit einer
Schnur zusammenzuhalten, die aussieht wie ein Heiligenschein.
Die Naturbeschreibungen der Umgegend Zürichs, wo er, von
Italien kommend, diesmal den Wanderstab für kurze Zeit
niederlegt, sind reich ausgeführt, aber in massvoll künst-
lerischer Besonnenheit immer mit den Augen des Helden
gesehen. Geradezu fühlbar wird dem Leser die Einwirkung
des wundervollen Pfmgstmorgens in der Schweiz auf die
übergrosse Empfänglichkeit dieser vom Willen nicht mehr
beherrschten Psyche.
Als eine so besondere und ausgezeichnet studierte Art
eines Seelenkranken ist der „Apostel" interessanter als Dosto-
jewskis „Doppelgänger" oder Gogols Wahnsinniger in den
„Phantasien und Geschichten." Fast erscheint es aber wie
ein gefährliches Spiel, dass die neueren Dichter mit ihrer oft
quallvoll regen Phantasie, mit ihren angespannten Nerven und
den unaufhörlichen Gestaltungssorgen, dass sie sich gerade
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mit der peinlich genauen Erforschung und Beschreibung des
Abnormen und Krankhaften im Gemüts- und Geistesleben so
gerne befassen. Hauptmann, nur dieses einemal als Erzähler
hervortretend, wollte vielleicht Muster aufstellen für die zwei
Arten der modernen Novelle, die in den letzten Jahren am
häufigsten geflegt worden sind, die düster-realistische voller
Elend oder voller Schrecken und die aus lauter Stimmungs-
klängen und Seelenakkorden zusammengesetzte, die zuweilen
so vergeistigt ist, dass kein Bild im Gedächtnis zurückbleibt,
während er auch ihr eine plastisch-künstlerische Gestalt ver-
liehen hat.
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VI.
„ Hanneies Himmelfahrt. a
Aus einem .schönen, ganz eigentümlichen und ursprüng-
lichen Gedanken heraus empfing die Traumdichtung „Han-
ne 1 e s H i m m e 1 t'a h r t u (181)3) ihr Lehen und gestaltete sich
wiederum an der Wärme des innigsten Gefühles, des Mit-
leidens mit den Armen, Niedrigen und Verfolgten. Das vier-
zehnjährige Hannele ist von ihrem Stiefvater, dem Maurer
Mattem, grausam vernachlässigt und misshandelt worden, so
dass sie endlich in verzweifelter Todesangst in den Dorfteich
springt, noch gerettet, wird, aher bald darauf in ein hitziges
Fieber verfällt und im Armenhause verscheidet.
Die Dichtung hatte einen grössern, allgemeinern Erfolg
als selbst die „Weber*. Auch diejenigen, die viele Gründe
finden, einem hungernden Arbeiter ihr Erbarmen zu ver-
sagen, — einem Kinde, dem Leiden in seinem rührendsten
Bilde, wenden sie es willig zu. Der Weberaufstand von 1844
ist, wie Marx richtig sagt, durch die Grausamkeit einiger
wenigen hervorgerufen worden ; indes, wo eine ganze Bevöl-
kerungsklasse duldet, was durch menschliche Gerechtigkeit
zu bessern wäre, hört sich manches Wort auf der Bühne wie
ein Vorwurf an für alle. In „Hanneies Himmelfahrt" dagegen
ist es unbestreitbar ein einzelner, niemand belastender Fall.
Wäre der Stiefvater kein verkommener Trunkenbold, so müsste
das arme Kind nicht Misshandlung und den Tod erleiden.
Der zweite Grund des wärmeren, freudigeren Beifalls dürfte
dann in der hier zum erstenmale von Hauptmann versuchten
Verschmelzung des romantischen mit dem streng realistischen
Element zu suchen sein. Diese beiden zu vereinigen, ist ein
merkwürdiges Bestreben, das durch unsere ganze moderne
Kunst geht und besonders auch in der bildenden schon grossen
Einfluss und weite Ausbreitung erlangt hat.
- 60 —
Sudermann, der Realist, ist in seinem Roman „Frau Sorge"
phantastisch bis zum Unwahrscheinlichen und arbeitet mit
Symbolen und Allegorien. Fliegegen erweist sich Hauptmann
als der reiner fühlende Künstler, insofern er in der Traum-
dichtung' die Schemen und Träume nicht als romantische
Zuthat, als blosse überflüssige Verbrämung anbringt, sondern
sie im innersten Zusammenhange mit dem Seelenleben der
kleinen Heldin in die reale Welt einführt. Manuele liegt
besinnungslos im Todeskampf, und alle Erscheinungen und
Gesichte, die die Scene füllen, sollen nur die Gebilde ihrer
Fioberphantasien sein und uns ihre kindlichen Gedanken, ihre
irdische Furcht, ihre himmlische Hoffnung, ihr Erlebtes und
Ersehutes mitanschauen lassen. So ist die Vereinigung des
Verschiedenartigen psychologisch begründet.
Die Dichtung zerfällt in zwei Teile. Der erste gehört,
fast bis zum Ende der Wirklichkeit des Armenhauses an,
eines notdürftigen, baufälligen Armenhauses, gegen das am
spülen Dezemborabend der Sturm wütet. Zu dem kahlen
Räume passt die Staffage, die zerlumpten, zankenden und
johlenden Gemeindearmen eines schlesischen Gebirgsdorfes.
Die Handlung beginnt mit dem Auftreten des Lehrers Gott-
wald und des Waldarbeiters Seidel, die Manuele hereinbringen.
Dann werden der Amtsvorstelier und -Diener, der Arzt und
die Diakonissin nacheinander eingefühlt. Jede dieser Per-
sonen, so viel oder so wenig sie eingreifen mag, zeigt ausser
der Physiognomie ihres Standes noch eine bestimmt persön-
liche, und jede verhält sich dem entsprechend charakteristisch
in der kurzen Stunde, wo wir sie, durch Pflicht oder Güte
gerufen, um ein krankes Kind bemüht sehen. Manuele, die»
schon fiebert, als man sie auf ein Bett legt und zu wärmen
und zu beruhigen sucht, verfällt gegen den Sellins.? des Auf-
zuges vollständig in Phantasien. Während sich die pflegende
Schwester einen Augenblick entfernt, hat sie in einem fahlen
Lichte die Erscheinung ihres Stiefvaters. Und später, da die
Kranke ruhig liegt und die Kerze gelöscht ist , so dass man
auch die Wärterin schlafend wähnt, zeigt sich in dämmernder
Beleuchtung das Bild der verstorbenen Mutter, und da dieses
verblasst, stehen in goldgrünem Schein drei Engelsgestalten
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vor dem Lager. Mit Musik, Gesang und gesprochenen Versen
der Himmelsboten schliesst das erste Bild.
Bis dahin ist Wirklichkeit und Traum für den Zuschauer
klar auseinander gehalten und keine Verwechslung möglich.
Nicht so im Anfange des zweiten Teiles. Wenn der Vorhang
sich hebt, ist alles wie vor den Visionen. Die Diakonissin
zündet die Kerze wieder an, und Hannele schlägt die Augen
auf. Aber nun begiebt sich das Sonderbare, Verwirrende,
dass Schwester Martha, die natürlich von der Traumwelt
nichts gesellen und gehört, und die sich bei Hanneles Erzählung
davon nur gläubig stellt, als nun plötzlich der Engel des Todes
gross und mächtig im Zimmer sitzt, ihn ebenfalls zu bemerken
scheint, erst andächtig mit gefalteten Händen steht und sich
dann langsam hinausbegiebt. Und noch schädlicher wird
diese technische Ungeschicklichkeit dem Verständnis, wenn
gleich nachher eine Gestalt in der Kleidung der Diakonissin,
aber schöner, jugendlicher und mit langen weissen Flügeln
hereintritt. Die irdische Schwester dürfte im zweiten Aufzug
nicht mehr gegenwärtig sein, oder nicht mehr sprechen bis
ganz zum Schlüsse, wo sie und der Arzt wieder bei gewöhn-
licher Beleuchtung über das Bett gebeugt stehen und Hanneles
Tod erkennen. Soll sie aber da sein, um sich Hanneles erste
Gesichte erzählen zu lassen, so müsste sie sich entfernen, oder
in Schlaf versinken, schon ehe der Engel des Todes die lange
wechselnde Flucht der nun folgenden Erscheinungen einleitet,
die den ganzen zweiten Teil bis zu Hanneles Tod erfüllen.
Die geschickteste; Beleuchtung, der sorgsamste Wechsel zwi-
schen himmlischem und irdischem Licht vermag den Fehler
nicht mehr gut zu machen, Traumwelt und Wirklichkeit an
dieser Stelle nicht genügend zu sondern.
In allem Uebrigen ist die scenische Anordnung klar und
vortrefflich. Leicht, wie die Gedanken und Vorstellungen in
der Phantasie des Kindes, gehen auch die Vorstellungen vor
unsern Augen in einander über, und doch herrscht Ordnung
bei allem Reichtum und raschem Wechsel und sind die
helfenden Stufen und Uebergänge da von dem einen dieser
scheinbar so unstäten, dichterisch so bedeutungsvollen Vor-
gänge zum andern. Die im Geist geschaute Diakonissin schützt
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ihre kleine Kranke vor dem Engel des Todes, dass er sanft
und schnell seines Amtes übe. Aber vorher, als Halinde
hört, sie müsse nun sterben, geht die gehobene Stimmung erst
noch einmal in die naiv weltliche, Leben und Tod kindlich
verbindende Stimmung des Märchens über. Hannele meint,
dass sie doch nicht zerlumpt im Sarge liegen könne, und
sogleich trippelt der Dorfschneider herein und werden die
anmutigen Motive aus dem Aschenbrödel verwendet. Dann
erfolgt der eigentliche Todeskampf, noch ein kurzes, schweres
Leiden, bis sie sich in der letzten, sanften Betäubung schon
gestorben wähnt, erst die Trauer aller guten Menschen um
sie erfährt und endlich das Gesicht ihres herrlichen Triumphes
hat. ihrer Himmelfahrt, wie der Herr Jesus selbst mit allen
seinen Engeln sie heimholt. Unter dem Gesang der Engel
„Wir tragen dich hin, verschwiegen und weich,
Eia popoia in's himmlische Reich* —
verdunkelt sich die Scene wieder und wir haben noch einmal
den Blick in das öde Zimmer des Armenhauses, wo das Kind
in all seiner Armut und Dürftigkeit nun wirklicli tot auf dem
schlechten Lager liegt und statt des ganzen Himmels nur der
Arzt und die Pflegerin daneben stehen.
Wenden wir uns nun der innern Gestaltung zu, so ist
zunächst die beide Elemente, das sinnliche und das übersinn-
liche, mit grosser Kunst zusammenfassende Exposition zu
betrachten. Wir erfahren des Kindes traurige Geschichte zur
Hälfte aus dem Bericht des Waldarbeiters Seidel, der die
Ertrinkende gerettet hat, und aus den daran sich knüpfenden
Gesprächen des Vorstehers, Lehrers, Arztes, und erfahren die
andere, intimere Hälfte aus der Art und der Wirkung der
Visionen auf das Kind : ob sie ihr furchtbares Grauen erregen,
wie die ihres Vaters, ob sie Trost bringen, wie das erbarmungs-
würdige Bild der Mutter, oder ihr kleines Herz entzücken, wie
die verklärte Erscheinung des gütigen Lehrers. Die Mutter
ist dein armen Hannele vor sechs Wochen gestorben; „das
übrige weess man ja von alleene", meint Seidel. Um neun
Uhr des Abends hat sie der Vater oft in Wintersturm und
Kälte zum Hause hinaus gejagt, sie solle ihm einen „Finf-
beemer* bringen zum Vertrinken. Da ist sie die halben Nächte
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— m —
im Freien geblieben; denn wenn sie kommt und bringt kein
Geld, laufen die Leute zusammen bei ihrem Geschrei. So hat
sie sich endlich keinen Rat mehr gewusst und die verzweifelte
That begangen. Bei der Untersuchung findet der Arzt ihren
Körper mit Schwielen bedeckt, und die einfache Antwort
Seidels, dass die Mutter auch so im Sarge gelegen habe, mit
seiner kurz vorher gemachten Andeutung, dass der Amts-
vorsteher selbst der Vater des Mädchens sei und deshalb den
Maurer nicht zu strafen wage, enthüllt in zwei Worten die
Tragödie von Mutter und Kind.
Auf ebenso einfache und überzeugende Weise gewinnen
wir Einblick in den Charakter und das Seelenleben des Kindes
bis in die verborgensten Fältchen hinein, sowohl während
ihrer kurzen lichten Augenblicke, wie während des Spieles
ihrer Phantasie. Hannele ist ein herzensgutes, frommes und
kluges Kind. Sie hat fleissig gelernt und auch erfasst, was
sie gelernt hat. Besonders die religiösen Lehren haben auf
sie gewirkt, sie hat Zuflucht und Trost in ihnen gefunden.
Da die Verzweiflung über sie kommt, meint sie in unschul-
digem Vertrauen, die Stimme des lieben Herrn Jesus im
Wasser nach ihr rufen zu hören, aber später, bei grösserer
Klarheit, fällt ihr ein, was in der Religionsstunde über den
Selbstmord und die nicht zu vergebende Sünde wider den
heiligen Geist vorgetragen worden ist, und sie bestürmt die
Diakonissin mit ängstlichen Fragen, ja im zweiten Teil kehrt
derselbe Ideengang noch einmal zurück. Dann aber träumt
sie sich schon gestorben, hat voll Zuversicht auf die göttliche
Barmherzigkeit schon die Lösung aller Zweifel gefunden und
den Eingang zum ewigen Leben schon überschritten. Die
von ihrer Phantasie hervorgerufenen Gestalten der leidtragen-
den Dorfbewohner erzählen sich, beim Pfarrer, der sie nicht
habe einsegnen wollen, sei ein schöner Herr gewesen und
habe ihm gesagt: „Das Mattern Hannele ist eine Heilige",
und Engel seien durchs Dorf gegangen, und im übrigen
wisse man auch wohl, wer das Mädchen umgebracht, denn
sie hätten ja die Beule gesehen an ihrem kranken Leib, so
gross wie eine Faust. Wie sie in ihrem noch ganz kindlichen
Sinne die Vorstellungen aus der Märchenwelt mit den religiösen
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vermengt, so vereinigt sie auch eine unschuldig verliebte
Schwärmerei für den Lehrer Gottwald mit den erhabensten
Gedanken von Schuldvergebung und Erlösung. Hannele steht
gerade auf der Schwelle des jungfräulichen Alters. Schon
im ersten Teil nennt sie den Lehrer einen schönen Mann,
mit dem sie Hochzeit machen werde, und sagt ein Verslein
auf, das nach einem Volkslied klingt. Im zweiten erschaut
sie ihn dann im Geiste. Zu ihrem Begräbnis schwarz gekleidet
und Blumen in der Hand haltend, kommt er mit all seinen
Schulkindern, Abschied von ihr zu nehmen. Die zwei Veilchen,
die er in seinem Gesangbuch hat, das seien die toten Augen
seines lieben Hannele; er bittet sie, ihn nicht ganz zu ver-
gessen in ihrer Herrlichkeit, und schluchzt, das Herz wolle
ihm zerbrechen, weil er von ihr scheiden muss; ja zuletzt
verwandelt sich seine Gestalt vollständig in die des Herrn
Jesus selbst. Das Bild des gütigen Mannes, des einzigen, der
immer freundlich gegen sie gewesen ist, hat sich ihrem ein-
samen, liebebedürftigen Gemfi te so unauslöschlich eingeprägt,
dass ihr die innige Verehrung für ihn jetzt in der Todesstunde
den schwersten Kampf erleichtert, dass sich diese reine Neigung
zuletzt steigert zur religiösen Ekstase. Keine andern Züge
kann für sie die Erscheinung des Heilandes glaubwürdiger
tragen, in keiner andern Gestalt mag er sich ihr tröstender
nahen, um sie in das erbetene und ersehnte Himmelreich zu
führen. Sie will nichts mehr von der Erde, will nicht ge-
sunden, will zu ihrer Mutter kommen, selig werden in uner-
schütterlichem Glauben. Aber doch ist sie keine blasse,
unkindliche Heilige, sondern echt menschlich, schlicht und
ergreifend. Das Gefühl der erfahrenen Verachtung wie der
erlittenen rohen Grausamkeit ist noch brennend stark in ihr,
als sie sicli schon von aller Erdenpein erlöst wähnt. Sie, die
den Besuch von Engeln gehabt hat, die vom Märchenschneider
mit weisser Seide und gläsernen Schuhen bekleidet worden,
und nun in solcher Pracht vor aller Augen im gläsernen Sarge
ruht , lässt sich von den beschämten Schulkindern auf die
Aufforderung des Lehrers hin zerknirscht alle Kränkung ab-
bitten: dass sie sie Lumpenprinzessin genannt haben, wo nun
offenbar wird, dass sie eine wirkliche Prinzessin gewesen u. s. w.
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Wie herzlich lässt sie sich zu voller Genugthuung von allen
bedauern und herauslohen, lässt sich allen Kindern als Beispiel
und Muster aufstellen und lässt es den alten Armenhäusler
Pleschke zweimal feierlich verkünden: „Das Mädel war eine
Heilige." Und endlich muss mitten im Winter ein Gewitter
heraufziehen als göttliche Drohung für ihren Mörder,. der sich
verschwört, der Blitz solle ihn erschlagen, wenn er an ihrem
Tode schuld sei, und das liebliche Wunder, dass der Strauss
Himmelsschlüssel in ihren gefalteten Händen helle Glut aus-
strahlt, muss den Ruchlosen überzeugen, so dass er, ein zweiter
Judas, von der Stätte ihrer Verklärung flieht, um sich zu
erhängen.
Wir haben es als den grossen Vorzug dieser Traumdichtung
vor allen ähnlichen empfunden, dass die Phantome ausschliess-
lich in der Seele der kleinen Heldin selbst erzeugt werden
und teils von ihrer Erfahrung, teils von ihrem eigenen
Charakter und sehnsüchtigem Gemüte Umriss und Farbe
empfangen. Folgerichtig entspricht auch der grösste Teil der
Visionen der Umgebung und dem Gesichtskreis wie der mög-
lichen Einbildungskraft und Erfindungsgabe eines vierzehn-
jährigen Dorfmädchens. Jedoch zuweilen überschreitet Haupt-
mann den gewählten, nicht zu erweiternden Rahmen und
spricht durch den Mund der Erscheinungen Bilder und Ge-
danken aus, die nur ihm, niemals dem armen Hannele zukommen
können.
Diese Stellen sind der einzige künstlerische Makel des
schönen Werkes. Besonders störend drängt sich der Dichter vor,
wo sich im zweiten Teile der Heiland, noch vor aller Augen
durch einen braunen Mantel verhüllt, dem Mattern-Maurer als
Fremder naht und viele dunkle symbolische Worte spricht mit
dem Sinne, dass der Erlöser als ein Bote, Arzt und Arbeiter
ohne Lohn auch zu dem Unbussfertigen komme, ihn zu heilen
und zu erquicken. So theoretisch und abstrakt wird ein Kind,
das sich kurz vorher in seinen religiösen und ethischen Be-
griffen, bei aller Frömmigkeit, als ganz naiv und ungebildet
erwiesen hat , den Vermittler niemals autfassen. Für sie ist
er in erster Linie praktisch, d. h. der unendlich gütige und
unendlich harmherzige Erretter aus aller Not, und weiterhin
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- W —
der strenge Richter und Rächer an ihrem Peiniger. An dieser
Stelle entspinnt sich ein Gespräch mit rohen, unpassenden
Reden des Maurers, und nrt Spitzfindigkeiten, die weit, über
einen unschuldigen Sinn hinausgehen. Gewiss ist Hannele
nicht in der Harmlosigkeit glücklicher Kinder vierzehn Jahre
alt geworden; gewiss hat ihr der Stiefvater — wie auch
schon in seinor ersten Erscheinung -~ alle Tage vorgerückt,
dass sie ihn nichts angehe, nicht sein Kind sei. Aber dies
hier noch einmal und mit Verwechslung des irdischen und
himmlischen Vaters hereingezogen, ist. nicht geschmackvoll
und stört die Stimmung der Scene. Die einfachen Sätze:
„We»sst du, was du im Hause hast?" — und weiter: „deine
Tochter ist krank", — und: „du hast eine Leiche im Hause**,
würden schon das wahre Amt des Fremden bei seinem Ein-
gänge genügend bezeichnen, wie die Antworten des Maurers
darauf schon genügend se*nen störrichen Sinn erkennen
he^sen. Alles andre ist nicht einfältig genug, oder zu künstlich
einfältig. Eist ein wenig später, wenn da: eigentliche Straf-
gericht über den Mörder hereinbricht, alle Anwesenden sich
gegen ihn wenden und sich dramatisch beteiligen, das Gewitter
heraufzieht u. s. w., da wächst auc h d ; e Gestplt des göttlichen
Lehreis auf dem Hintergrunde von Wundern, und von himm-
lischem Abglanz umstrahlt, in wahrer und einfacher biblischer
Grösse empor, die Scene beherrschend und die Stimmung bis
zum Ende in machtvoll feier'icher Erhöhung bähend.
Der gesteigerte Ge.f'ils- und Gedankenausdruck dieses
Kindes, all se'ne Poesie muss ja notwendig Fo.mehi der
Schrift entlehnen. Wenn der Gei^t der M löter ?us einer
andern We't zurückkommt, haben ihre Worte ebenfalls An-
klang an die Bibel und die Psalmen. Am Schlüsse des ersten
Teiles werden von den Engeln und am Schlüsse des Ganzen
vom He ;i ande Ver^e gesprochen. Das erschien vielen a's
unwahr, auch wenn man annähme, dass Krankheit und Nähe
des Todes alle Fähigkeiten und alles innere Leben w anderbar
erhöhe und stärke. Es handelt sich aber bei einer solchen
Dichtung stets nur um die poetische, nicht um die gemeine
Wahrscheinlichkeit. Dieser widerspräche ja von vorneherein
der ganze Aufbau und die künstliche Ordnung eines Fieber-
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traumes, von dem alles Gemeine und Zufällige, das sich in
Wirklichkeit immer eindrängen wird, ausgeschieden ist. Ihr
widerspräche schon der kleine Umstand, dass Hannele auch
im wachen Zustande nicht Dialekt spricht, offenbar mit Absicht,
damit ihre Sprache während der Visionen nicht allzu sehr
absteche.
Die poetische Wahrheit wird durch dergleichen kleine
Freiheiten nicht verletzt, und wird es auch nicht durch eine
gegen das Ende zu innigere, metrisch gesteigerte Form. Die
Verse haben hier nur das Amt der Musik mit übernommen;
auch die rhythmisch bewegten, klangvollen Worte sollen das
Unirdische, Verzückte, den Ueberschwang des Vorgangs zu
reicherem Ausdruck bringen. Aber wohl kann der Inhalt der
Verse die poetische Wahrheit verletzen. Auf der Bühne, wo
das einzelne kältere Wort, die weniger gelungene Zeile in
einer längern Versreihe nicht auffällt, vermögen die beiden
Gedichte nichts zu verderben; beim Lesen dagegen hat man
den Eindruck einer ziemlich schwachen und wenig originellen
Lyrik, einer Art modern-romantischer Scheinpoesie. Sowohl
wenn die Engel dem Mädchen die Herrlichkeit der Erde
schildern, die für sie nicht bestanden hat, wie wenn der Herr
ihr zum Gegensatz die Herrlichkeit der himmlischen Stadt
beschreibt und den Engeln befiehlt, sie ins Paradies zu tragen,
finden sich in beiden Gedichten leere, reflektierte Zeilen, und
sind geringwertige, unplastische Bilder in stellenweise manie-
rierter Sprache aufgezählt.
Zu einer Sammlung von Urteilen bekannter Schriftsteller
über die Zukunft der deutschen Litteratur im „Magazin der
Litt erat ur des In- und Auslandes u 1892 hat Hauptmann fol-
gendes Schema eingesendet :
Himmel,
Erde,
Ideal,
Leben.
Metaphysik,
Phvsik,
•
Abkehr,
Einkehr,
Prophetie
Dichtung
Zwei Lager;
wird das eine fett, wird das andre mager.
Nichts ist im allgemeinen — und für die heutige Litteratur
im besondern! — zutreffender. Ihm selbst war es aber dies
5*
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einemal vergönnt, die beiden Lager zu vereinigen, den Himmel
und seine Gefolgschaft dazu zu erobern, ohne dass Erde und
Leben Einbusse erlitten hätten. Für die Trauindichtung ist
ihm denn auch der Grillparzerpreis zu Teil geworden, und der
Preis der Schillerstiftung wenigstens theoretisch, als eine
unparteiische Anerkennung, die dem allgemeinen Urteil im
Lande entspricht. Denn „Hanneies Himmelfahrt u ist that-
sächlich das wertvollste Bühnenwerk, das in den letzten
Jahren in deutscher Sprache erschienen ist.
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VII.
„Die versunkene Glocke. a
So wäre, uns das Mädchen aus der Fremde, Romantik
geheissen, denn wiederum am Ausgang des Jahrhunderts
zurückgekehrt. Im hochgefassten Kleide bringt sie die Früchte
einer andern Flur, Märchen, Allegorie, Symbolik. Sie neigt
sich vor allen den Bühnendichtern, giebt dem eine orienta-
lische Frucht, jenem die blaue Blume, fern von seinem Thal
im Märchenwalde aufgesprossen. Ein jeder geht beschenkt
nach Haus, und das Publikum teilt, wie der Erfolg beweist,
die dankbare Gesinnung gegen die schöne, wundersame Be-
glückerin.
Auch bei dieser neuen Wendung des Geschmackes hat
Hauptmann seine Mitbewerber überholt, ja diesmal in der
Gunst der Menge fast unbestritten den Preis davon getragen.
Sein jüngstes Werk „Die versunkene Glocke, ein
deutsches Märchendrama" , gegeben zum erstenmale Anfang
Dezember 1896 auf dem „Deutschen Theater" zu Berlin, hat in
wenigen Monaten den Ruhm des Dichters von einer grossen
Anzahl von Bühnen aus durch ganz Deutschland verbreitet.
Schon in den metrischen Stellen im „Hannele" erwies
sich der Lyriker Hauptmann dem Realisten und Charakter-
darsteller nicht ebenbürtig. In der „Versunkenen Glocke"
ist die Form ganz lyrisch ; ein Versdrama, in ähnlichen, zum
grössten Teil reflektierten, mehr poetisierenden als poetisch
gefühlten Versen, wie sie dort der Heiland und die Engel
sprechen. Ganz lyrisch und ganz romantisch ist der Dichter
nun geworden, so dass sich die Märchendichtung äusserlich
als ein Schritt weiter darstellt auf der Bahn, die er mit der
Traumdichtung eingeschlagen hat. Aber nur äusserlich, nur
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formell; in der hinein Gestaltung entfernt er sich auf jede
Weise von jenem ersten Versuch in romantischer Richtung
und nähert sich um so mehr einem weit zurückliegenden
naturalistischen Werke seiner ersten Zeit: zu unsrer Ueber-
raschung erlehen wir hier die Wiederkunft der „Einsamen
Menschen". Dieselbe Fabel, nur veränderte Darstellungs-
mittel, dieselben Hauptcharaktere, nur in fortgeschrittener
Entwicklung, und endlich dieselbe schwerdüstere Stimmung,
die die wirkliche Welt des Landhauses am Müggelsee so tief
überschattet. Der gleichen Sehnsucht, der gleichen Herzens-
wallung, der gleichen Weltanschauung scheint das neue
Drama seine Entstehung zu verdanken.
Heinrich, der Glockengiesser, wird unablässig von einem
unruhigen Geiste angetrieben, von einem rastlosen Drange des
Willens beherrscht, in seiner Kunst das Herrlichste zu voll-
bringen. Wohl verkünden schon an hundert Glocken die
Ehre Gottes und den Ruhm des Meisters im Lande; aber sie
klingen nur im Thal, nicht auf der Höhe, und nicht mit dem
reinen, vollen Klang, mit dem das noch ungeschaffene Meister-
werk in seinem Innern ertönt. Empor zur Höhe strebt er:
sein jüngst vollendetes und nach aller Meinung bestes Werk
soll von der Bergkirche über dem steilen Abhang erschallen.
Aber er scheitert an den feindlichen Naturmächten, die jedem
Schaffenden auflauern und schadenfroh alles Menschenglück
mit Vernichtung bedräuen. Der Waldgeist stürzt die Glocke,
die mühsam den Berg hinaufgezogen wird, über den Abgrund
hinunter in den tiefen Waldsee, und der Meister stürzt ihr
nach: auf die Halde vor die Hütte hin, wo Rautendelein, ein
elbisches Wesen, bei der Buschgrossmutter wohnt. Alles wird
hier von selbst zu ungesuchter Symbolik. Heinrich ist krank
an Leib und Seele, als er so tief fällt; er weiss nicht, geschah's
willig oder widerwillig, weiss nicht, ist die Glocke ihm nach-
gestürzt oder er ihr; er weiss nur, dass sie seine Hoffnung
nicht erfüllt hatte und schon von ihm verworfen war, ehe sie
versank. Weder die Liebe seines Weibes, das ihm mit leiden-
schaftlichem Herzen anhängt, noch die Achtung der Mit-
bürger und Freunde gewähren Trost und Hilfe; sie sind ihm
nur die, die im Dunst und Qualm des Thaies mit Wohlbehagen
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wohnen und einen aufwärts Strebenden hinabzuziehen, bald
in Liebe, bald in Hass stets von neuem sieh bemühen. Und
da nun, wie in dem realistisehen Drama so auch hier, im
ersten Akte die Wendung eintritt, sein Schicksal, seine Muse,
Rautendelein, auf der ßergwiese sich ihm naht, gehört ihr der
Meister vom ersten Augenblicke des Sehens an.
Sterbend wird er seinem verzweifelnden Weibe ins Haus
getragen; aber Rautendelein folgt nach, als Magd verkleidet,
heilt ihn und bringt ihn zurück in ihr Reich, das Hochgebirge.
Ein Verjüngter, mit Maienkräften ausgestattet, steht er nun,
von der Hand der Liebe geleitet, auf dem Gipfel seines Da-
seins. Alle Naturmächte werden ihm dienstbar. Von Zwergen
unterstützt, in der Werkstätte aus natürlichem Felsgestein,
sehen wir ihn am Schmiedeherd mit Hammer, Zange und
Blasebalg thätig, endlich das stets ersehnte, im Geiste schon
empfangene Werk, den Sonnentempel mit dem wunderbaren,
aus sieh selbst erklingenden Glockenspiel, in die Erscheinung
zu rufen. Jedoch die Welt des Thaies giebt ihn nicht voll-
kommen frei. Er widersteht ihr, da sie warnend mit der
Stimme des Priesters zu ihm spricht, widersteht und nimmt
den Kampf auf gegen die früheren Freunde, die mit Steinen
und Bränden ausziehen wider ihn, das Aergernis der Gemeinde.
Aber seine Stunde ist gekommen, das vom Pfarrer vorher
verkündete Strafgericht bricht über ihn herein; denn „er ist
voll Makel, blutig starrt sein Kleid" — verraten und verlassen
hat Frau Magda den Tod gefunden im Waldsee, wo die Glocke
begraben ruht. Die Schemen seiner Knaben tauchen vor ihm
auf, das Thränenkrüglein der Mutter heranschleppend, und:
„Eines toten Weibes starre Hand
Die Glocke suchte und die Glocke fand;
Und wie die Glocke, kaum berührt, begann
Ein Donnerläuten brausend himmelan
Und rastlos brüllend, einer Löwin gleich,
Nach ihrem Meister schrie durch's Bergbereich."
Unter der Macht des tosenden „Droheschalls' 4 aus der Tiefe
verflucht Heinrich in jähem Zornesschmerz Rautendelein, die
Hexe, die Verführerin. „Vorbei, vorbei", — denn die Elbe,
vom ungetreuen Buhlen Verstössen, ist nach einem alten
Märchenglauben den Gesetzen ihrer Welt wieder unterthan.
Rautendelein muss hinab in den Brunnen, des Wassermannes
Beute zu werden. Alsbald sucht Heinrich voll heissen Ver-
langens sein verlornes Lieb, wähnt, noch einmal auffliegen
zu können in die Sonnennähe, auf die Höhe, wo der Tempel,
das Werk, in das er alles geworfen, was er war und was ihm
wurde, der Vernichtung verfallen, in lohenden Flammen steht.
Doch die Schwingen sind ihm gebrochen, in unaufhaltsamem
Niedergang schwindet, sein Leben dahin, und Rautendelein,
durch die Kunst der Buschgrossmutter für eine kurze Weile
auf die Erde zurückgerufen, tötet ihn mit ihrer letzten
Umarmung, während eines neuen Tages Morgenröte den
Himmel färbt.
Wie im Drama „Einsame Menschen" sind die letzten drei
Aufzüge um sehr viel geringer als die zwei ersten; hier wie
dort fallen sie gegen die Expositionsakte ab, weil schwache,
unselbständige Charaktere, gleich Johannes und Heinrich,
niemals Träger einer energisch fortschreitenden Handlung sein
können. Mit merkwürdigem Eigensinn wählt der Dichter zum
zweitenmale einen Helden, dessen bewegliehe Seele nur durch
fremden Druck emporgehoben wird. Vergebens sind dann
alle Mittel der Sophistik angewendet, die Schwäche nicht als
Schwäche erscheinen zu lassen, sie unter einem erregbaren,
zuweilen heftig brausenden Temperament zu verschleiern.
Aber dass auch die heftigste Aufwallung einen Unvermögenden
noch nicht in einen Starken zu verwandeln vermag, das beweist
der Verfasser selbst am besten, indem seinen Helden viel mehr
angethan wird, als sie selber thun, indem ihr Schicksal viel
mehr in Umstände und Fügungen gelegt wird als in ihr
eigenes Herz. In welch hohem Grade Johannes mit seinem
ganzen Gefühls- und Geistesleben sofort von der Geliebten
abhängig wird, ist schon ausgeführt worden. Desgleichen ist
Heinrich nur ein Schatten ohne Rautendelein; er empfängt
alles von ihr, die er die Schwinge seiner Seele nennt, von
der er sagt: ein Schaffender mit ihr entzweit muss dem Durst
verfallen — überwindet die Erdenschwere nicht, So sehr sind
die beiden Frauengestalten zu Musen und Genien verklärt,
so sehr als notwendige Hilfe für den Gelehrten sowohl wie
für den Künstler hingestellt, dass den um sie Werbenden, die
- 73 -
anders den wahren Zweck ihres Daseins nicht zu erfüllen
vermögen, so gut wie keine Schuld mehr bleibt, und der
Treubruch gegen die prosaische eheliche Gefährtin nicht mehr
als Vorsatz und That, sondern lediglich als Verhängnis
erscheint. In dem realistischen Drama tritt diese Auffassung
der Verschuldung als eines Verhängnisses, eines Unglücks
noch stärker hervor, weil Johannes den letzten Schritt noch
nicht gethan, die Gattin noch nicht verlassen hat. Dass jedoch
unser Urteil recht und gerecht war, dass er, trotz aller schönen
Worte und Verleugnungen, kaum eine Spanne weit davon
entfernt ist, beweist uns das Märchendrama. Hier vollzieht
er, worauf er dort zustrebt, nur unter verändertem Namen, in
veränderter Hülle, aber mit unveränderter trugschliessend
falscher Art des Denkens und mit unveränderter Weichlich-
keit des Empfindens. Infolge derselben Gesinnung und Hand- .
lungsweise haben sich in das spätere Werk dann auch sogleich
dieselben Widersprüche eingeschlichen.
Wenn Heinrich keine Schuld trägt, nur der inneren mäch-
tigen Stimme folgt zu einem reineren, besseren, seiner allein
würdigen Dasein, wie es auszusprechen sein Dichter sich nicht
genügt htm kann, so ist die Reue sinnlos, die ihn mit grim-
miger, niederschmetternder Wut packt und ihn Rautendelein
Verstössen lässt. Und doch wird die schmerzvolle Einsicht,
dass er nur einem Blendwerk gefolgt ist, auch im Gefühle
des Zuschauers schon vor der Stunde der Entscheidung ab-
sichtlich und sorgfältig vorbereitet. Im dritten Akte rühmt
Heinrich ja noch mit gar wohltönenden Worten gegen den
abmahnenden und drohenden Pfarrer das Wunder seiner
Genesung, die neu gewonnene Kraft seines Armes, und redet
hohe Gleichnisse: dass Gott Freyr in seine Seele nieder-
gestiegen sei, wie in jenen Baum draussen im Garten, der
einer blühenden Abend wölke gleicht.
„Seht: was ich jetzt als ein Geschenk empfing.
Voll namenloser Marter sucht' ich es,
Als ihr mich einen Meister glücklich priosot.
Nun hin ich beides, glücklich und ein Meister I"
Doch schon zum Anfang des nächsten Aufzuges, da er mit
den Zwergen schafft und schmiedet, verraten dunkle Andeu-
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tungen, noch habe er Stoff und Natur nicht bezwungen,
trotzdem Hautendeleins Macht das Innere der Erde mit allen
Schätzen ihm öffnet und die widerspenstigen Elementargeister
ihm unterwirft, noch sei Werkeltag, noch könne er das Fest
der Vollendung nicht feiern, so weit wie je entfernt vom
wonnereichen Ziel. Und den ermüdet Kuhenden beschleicht
das Grauen im Schlafe. Aus dem Brunnen aufsteigend kündet
der Wassermann: mit Gott habe der Meister Erdenwurm ge-
rungen und sei verworfen worden, fruchtlos sei das Arbeits-
opfer dargebracht, er ertrotze „den Segen" nicht, „Schuld
in Verdienst, Strafe in Lohn zu verwandeln. 4 ' Erwachend
bestätigt Heinrich dann selbst mit ausführlichen Bekenntnissen
die innere Wahrheit des qualvollen Traumge. ichts. Er hat
nichts erkämpft, und erhalten, ist hier oben „fremd und da-
heim", wie er es unten gewesen, und der erhabene Rausch,
dessen er zum Werke bedarf, und den er in der Vereinigung
mit der Geliebten anfänglich gefunden, versagt nun, wie er
meint, durch die Macht seiner Feinde, — wie wir fühlen
durch die Angst, Zerrissenheit und Ohnmacht seiner Seele.
Vor unsern Augen verflüchtet als Zauberspuk und Verblendung
all sein ersehntes, zu früh gepriesenes Schaffensglück, wäh-
rend sich nur das Eine erfüllt : die Prophezeiung des Priesters
von der begrabenen Glocke, die wieder erkhngen, und vom
Todespfeil, der ihn unter dem Herzen treffen werde.
An dieser Stelle gewinnen wir für einen Augenblick
festen Boden unter den Füssen. Aber der Dichter lässt uns
nicht in der echten Erschütterung, in die uns die vom „brau-
senden" Glockenschall begleitete Erscheinung der Kinder
versetzt. Der fünfte Aufzug, der das gleiche seeihche Bild
bietet, wie der erste — die Bergwiese, von denselben Elfen
und Geistern belebt, — kehrt mit seiner ganzen Anlage und
Stimmung noch einmal zum Anfang zurück. Auch wir stehen
wieder in jedem Sinne, wo wir zuerst gestanden haben: dieser
echt romantische, bankrotte Held ist am Ende seiner LauKmbn,
was er bei ihrem Beginne gewesen. Seine Seele verzehrt sich
und verhaucht in unfruchtbaren Seufzern, in Wünschen masslos
gesteigert, aber ohne Kraft des Vollbringens, in schwächlicher
Selbstrechtfertigung und Anschuldigung Gottes und der Welt.
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Nach der verschwundenen Elfe umherirrend, wiegt er einen
F?lsstein in der Hand, ihn hinabzuschleudern auf die Bewohner
des Thals, die Feinde, die sein Leben zerstört haben sollen.
Inwiefern dieser Vorwurf trifft, ist nicht einzusehen; denn
als sie gegen ihn herangezogen, hat er sie niedergeschlagen
und ist, ein innerlich Gestärkter, einer, den nichts besser zu
überzeugen vermochte von seines Thuns Gewicht und seinem
Wert, aus dein Kampfe hervorgegangen. Haben sie sein Leben
aber dadurch zerstört, dass sie sein Gewissen aufrüttelten, so
könnte er mit einem Schein von Berechtigung sprechen: Ihr
stiesst mein Lieb hinunter und nicht ich. Doch der Vers
lautet merkwürdiger Weise anders, lautet: „Ihr stiesst mein
Weib hinunter und nicht ich." Diese dreiste, schlecht erfun-
dene Unwahrheit rächt sieh aber sogleich, sie zerreisst nicht
nur den ganzen logischen Zusammenhang mit den voraus-
gehenden Akten, sie drückt auch dem Helden vollends den
Stempel der Willens- und Thatenlosigkeit auf. Die einzige
wichtige Handlung, wozu ihm im Verlaute des Stückes Ge-
legenheit geboten wird, darf er nicht begangen haben, kein
tragischer Zwiespalt in seinem Herzen zwischen Pflicht und
Neigung darf unsere sorgende Teilnahme erregen : er ist ebenso
unschuldig wie erbärmlich und feige. In der Gestalt der
Buschgrossmutter stellt sich der Dichter neben ihn und ver-
sichert, dass er ein gerader Spross war, stark, aber nicht stark
genug, bloss berufen, nicht auserwählt, und endlich lösen sich
die verwirrten, unklaren Töne dieses Finales in eine volks-
liedartige, sein Hinsterben schildernde Weise auf.
Das wahre Volkslied und das wahre Märchen jedoch, wie
krausgestalt seine Blätter und Blüten, wie phantastisch ver-
schlungen seine Zweige erscheinen mögen, sprosst stets mit
festem, aufstrebendem Stamm hervor aus den Wurzeln der
Gerechtigkeit und Sittlichkeit.
Heinrich steht als Mittelpunkt im Ganzen und beherrscht
ausschliesslich die fünf Akte. Alle andern Personen sind
zurückgedrängt und ihm untergeordnet. Seine Ehefrau, Magda,
tritt nur in einem einzigen Aufzuge, dem zweiten, ihm zur
Seite, wir erblicken ihre Gestalt gleichsam nur in einem rasch
und leicht gezogenen Umriss. Trotzdem ist es nicht zu schwer,
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Frau Käthe wieder zu erkennen und zu erkunden, dass
zwischen diesen Gatten genau dasselbe innere Verhältnis
bestehe, von dem wir aus jener modernen Ehe schon des
Näheren erfahren haben. Wohl äussert sich Frau Magdas
Wesen kräftiger und leidenschaftlicher, aber sie ist doch nur
die mittlerweile um einige Jahre älter gewordene Käthe. Sie
glaubt den geliebten Mann sterbend und lässt, ausser sich
vor Schmerz, die hilf bereit zudrängenden Freunde und Nach-
barn hart an, will allein sein mit ihm im Leben und im Tode,
wie Käthe sich auflehnt, als die Eltern sich zwischen sie und
Johannes zu drängen versuchen. Käthe sinnt verwundert,
was der geistig über ihr stehende Gatte jemals habe an ihr
schätzen können, sie fühlt, dass die Enttäuschung eintreten
musste, sobald ein höher geartetes Wesen in sein Leben trat,
und Magda spricht mit der gleichen Demut:
„Du nahmst mich, hobst mich, machtest mich zum Menschen.
Unwissend, arm, geangstet lebt' ich hin
Wie unter grau bezognem Regenhimmel;
Du locktest, trügest, rissest mich zur Ffeude — *
Aber zu der Zeit, wo wir Einblick erhalten in diese Ehen,
wollen weder Johannes noch Heinrich ferner locken und
tragen. Verehrend und verlangend blicken die Frauen zu
ihnen auf, um als lästige, unberechtigte Bettler zurückgestossen
zu werden.
In dem Drama „Einsame Menschen 44 trifft die Gattin
jedoch wenigstens eine gewisse Schuld. Sie versteht den
Wissensdurstigen nicht, stört ihn in der mühsamen Gedanken-
arbeit und ist, wie einstens Ladv Bvron, verletzt, wenn er
ihr den Einbruch in sein eigenstes Reich verwehrt. Sie fragt
mit Elsa im „Lohengrin" ihn, sich selbst und die andern, bald
zweifelnd und sorgend, bald erzürnt: wes Narn' und Art der
Gatte sei. Magda dagegen thut ihrem Meister in Haus und
Werkstatt alles zu gute, weiss zu sagen von der Mühsal seines
Schaffens, ist begeistert von seiner Kunst, erfüllt von seinem
Ruhme. Deshalb wirkt es beinahe roh, wenn er sie, die in
heisser Herzensangst um ihn zittert, auf die Kinder als auf
das ihr allein zukommende Glück und Leben verweist, sie so
klar wissen und fühlen lässt, dass er den Tod auch als Lösung
des ehelichen Zwiespaltes willkommen heisse. Er ist ihrer
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müde und erwidert dem Pfarrer, der ihn an die Thränen der
Verlassenen mahnt, mit dem unschönen, die ganze unschöne
Darstellung des Verhältnisses zwischen den Gatten noch
einmal sehr bezeichnend zusammenfassenden Bilde:
„Soll der, der Falkenklau'n statt Finger hat,
'nes kranken Kindes feuchte Wange streicheln?
Hier helfe Gott."
Wird der dramatische Konflikt schon dadurch sehr abge-
schwächt, dass Magda, da sie kaum unsere Teilnahme hat
erregen dürfen, als lebende und handelnde Person aus dem
Dasein des Gatten verschwindet, so zum andernmale in gleichem
Grade dadurch, dass Heinrich nicht wie Johannes geliebte,
gütige Eltern, sondern fremde, gleichgültige Menschen bei
seinem Thun und Lassen zu Widersachern hat. Das läge an
und für sich wohl im Belieben des Verfassers, würde der
Kampf nur nicht ebenso schwer genommen wie dort, wo es
sich um die dem Herzen des Helden Nächsten und Teuersten
handelt. Man versteht nicht recht, weshalb beständig unser
Zorn gegen diese schwächlichen, unbedeutenden Feinde, unser
Mitleid für den von ihnen verfolgten, aber in Wort und That
überlegenen Meister angerufen wird. Zudem: eine etwas
schärfer gezeichnete Physiognomie, als dem Pfarrer, Schul-
meister und Barbier hier zu Teil geworden ist, hätte auch
der Stil des Märchendramas sehr wohl erlaubt. Sie sind ganz
allgemein aufgefasst, sind lediglich die Vertreter ihres Amtes
und Standes, während doch einer von ihnen, der Priester,
breitem Raum im Stücke einnimmt als Frau Magda. Diese
oberflächliche Behandlung einer immerhin wichtigen Neben-
person ist um so mehr zu verwundern von einem Künstler, in
dessen früheren Werken, wie besonders im Drama „Vor
Sonnenaufgang' 4 und in der Traumdichtung „Hannele", jede
nur zufällig des Weges kommende Person deutlich ausgeprägte,
eigentümliche Züge aufweist.
Nicht nur unter den phantastischen Gestalten, die aus
dem Boden des Märchens erwachsen sind, nimmt die liebliche
Elfe Rautendelein die erste Stelle ein, sie ist überhaupt die
am besten gelungene, am feinsten durchgeführte der Dichtung.
Schon der überaus glücklich erfundene Name schmeichelt sich
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in Ohr und Gemüt ein. Das schöne „Heidenkind" mit Haaren
aus eitel Sonnenstrahlen geweht, das nicht weiss, oh es ein
Waldvöglein ist, oder eine Fee, und auf so leichten Sohlen
durch die fünf Akte geht, erregt, obwohl seelenlos, lebhaftere
Zuneigung als der von ihr Erwählte aus dem Menschen-
geschlechte. Denn das alte Motiv, dass die Wasserjungfrau
oder Elbe durch die Vereinigung mit dem Geliebten auch
selbst einer Seele teilhaftig wird, hat der Dichter nicht mit
aufgenommen. Rautendelein ist dieselbe, nachdem sie Heinrich
in ihr Reich entführt hat, die sie auf der Bergwiese und in
der Krankenstube gewesen. Wohl lernt sie, die sich in den
fremden, totwunden Mann verliebt, zum erstenmale die Thräne
kennen — eine der schönsten Stellen der Dichtung — , wohl
weint und klagt sie, als innere und äussere Drangsal ihren
„Sonnenhelden" befallt, aber es ist doch nur die Art von
Leiden und Trauer, die wir im Märchen in die Natur hinein-
legen, mit der wir die verwunschene Unke klagen lassen im
Teich und die verzauberte Nachtigall schluchzen im Gebüsch.
Der Elfe gereicht zum Vorteil, was den menschlichen Helden
so sehr schädigt und hinunterzieht, dass sie nichts weiss von
Schuld und Sünde, gleichgültig bleiben kann und muss gegen
alles von ihr ausgehende Unheil. So ist ihr Wesen weniger
verwickelt, einheitlicher und sympathischer durchgeführt als
das ihrer Vorgängerin Anna Mahr, der modernen Muse im
modernen Drama. Nur gegen das Ende verflüchtet auch sie
sich allzu sehr zum blossen Schemen und sentimental Ivrisch
dargestellten Vampyr, und eine unwahre, gesucht naive Volks-
poesie soll für die fehlende dramatische Steigerung und Schluss-
wirkung entschädigen.
Rautendeleins Beschützerin, die alte Wittichen, die Busch-
grossmutter, als böse Hexe unter den Thalbewohnern bekannt
und verrufen, tritt nur im ersten und letzten Akte auf, greift
gar nicht in die Handlung ein und scheint lediglich erschaffen
worden zu sein, um gegen eine bestimmte kirchliche Form
des Christentums geharnischte Streitreden zu halten. So ganz
äusserlich, schwach motiviert und. besonders im letzten Aufzug,
auch an unpassenden Stellen ist ihr die Anschauung und
Polemik des Verfassers in den Mund gelegt, dass man nur
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ihn aus ihr sprechen hört, und von ihrer eigenen mehr
menschen- als geisterartigen Beschaffenheit, von ihrem übrigen
Treiben und Zweck, ihrer Macht und Zauberkunst kein Bild
erhält.
Die armen Hirten, die zu Anfang des Jahrhunderts ihre
Lämmer über die Weide der deutschen Litteratur getrieben
haben, würden sich mit Recht einer grössern Frömmigkeit
rühmen können als unsere Neuromantiker. Wenigstens bis
jetzt ist die Reaktion noch nicht wie damals als Gefährtin
und Dienerin der Romantik bei uns eingekehrt. Auch die
Tendenz der „Versunkenen Glocke" ist durchaus freisinnig.
Aber merkwürdiger Weise zeigt dieser Freisinn einige ähn-
liche Eigenschaften wie die oft so seltsame Religiosität der
allen Romantiker, nämlich Unklarheit und Verschwommenheit
bei grosser Aufdringlichkeit und einen fühlbaren Mangel an
wirklicher Ethik und Willensstärke. Es ist eine überaus
platte, nichtssagende Weisheit, die die alte Wittichen, die
Rhetorik des Helden unterstützend, im schwerfälligen schle-
sischen Dialekte vorträgt. Doch werden zwei Drittel von
ihren und des Meisters Kampfreden bei jeder Aufführung
gestrichen, ohne vermisst zu werden. Verständlicher und
natürlicher spricht derselbe Geist der Verneinung aus dem
Munde des Waldschrats. Ein bocksbeiniger, ziegenhörniger,
bärtiger Faun bewirkt in unserer Einbildungskraft ja schon
von selbst die Ideenverbindung mit Heidentum, Cynismus und
tierischer Sinnlichkeit, so dass uns Spott und Hohn über alle
Gesetze und Schranken aus solchem Munde zu vernehmen
nicht befremdet.
Der Waldgeist ist eine originelle, ganz neue Erscheinung
auf der Bühne, während der Wassergreis Nickelmann an dem
Kühleborn der Märchenoper „Undine" schon einen bekannten
Vorgänger hat. Diese beiden humorvollen, wirksamen Rollen
tragen sehr viel zum Theatererfolg des Märchendramas bei,
und durch sie ist auch etwas von der alten romantischen
Ironie in das Werk gekommen, von jener Ironie und Selbst-
parodie, unverständlich für die „Harmonisch Platten*', die sich
in einer trivialen Harmonie beruhigt finden.*) Denn ironisch
*) Vgl. Brandes, Hnuptstrümungen etc. II, 78 ff.
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ist es doch wohl aufzufassen, wenn die Muse des hoch-
trabenden, seufzenden Helden, um die er mit allen Kräften
seiner Seele ringt, am Schlüsse die Braut des triefenden ,,wie
ein Seehund lang ausschnaufenden'*, augenzwinkernden, mit
Brekekekex aus dem Brunnen aufsteigenden Wassermanns wird.
Wie schon in der Ausgestaltung der Fabel manches an
fremde Werke, vom „Faust" bis zum „Baumeister Solness",
erinnert, wurden auch zur Belebung und Ausschmückung
vielerlei alte Motive aus Märchen und Sage verwendet. Es
kommt stets nur auf die grössere oder geringere Kunst an,
mit der ein Schriftsteller neu umbildet, geistreich neu zu-
sammenschmiedet, und die Klagen über litterarischen Kaub,
die sich in unsern Tagen mehren, sind vielfach unberechtigt.
Hauptmann aber hat leider so manchen hübschen, allen
Märchenbestandteil verdorben, indem er ihn nur als äusser-
liche, unverständliche Zierrat einsetzte. Die sechs, dem Meister
am Schmiedefeuer helfenden Zwerge sind eine nicht näher zu
deutende und darum anmassende Allegorie, ebenso die drei
Becher, die Heinrich vor seinem Tode auf das Geheiss der
Buschgrossmutter leert.
Desgleichen wäre eine blühende, schwungvolle Sprache
wohl zu unterscheiden von einer bombastischen, reflektiert
rednerischen, wie sie in der „Versunkenen Glocke 44 an allen
herausgehobenen Stellen herrscht. Auch verraten die Verse
überall, dass der Dichter die Feile nur wenig zur Hand ge-
nommen hat, dass sie im ersten raschen Entwürfe hinge-
schrieben worden sind. Bei sorgfältigerer Arbeit müssten sie
geschickter und weniger schwerfällig gebaut erscheinen;
z. B. dürfte nicht fast überall der Artikel eine, eines in 'ne,
'nes abgekürzt stehen, und viele unschöne und falsche Bilder
wären dann wohl verbessert oder ausgemerzt worden. Es ist
geschmacklos, wenn der Wassermann dem Meister prophezeit,
dass die Wäscherin nie kommen werde, die sein blutiges Kleid
waschen könnte; es ist geschmacklos und falsch zugleich,
wenn Heinrich selbst das Dasein einen Sack voll Gram und
Reue, voll Wahnsinn, Finstre, Irrtum, GalF und Essig nennt.
Flüssigkeit in einem Sacke ! Und leider Hesse sich eine ziemlich
grosse Anzahl solcher Vergleiche und Stilblüten aufführen.
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Zum Erstaunen so mancher begab sich das Unerwartete,
dass ein Werk Hauptmanns grössern Bühnen wert als littera-
rischen aufweist. Nach seiner ganzen Laufbahn, wie wir sie
bis hieher im Einzelnen verfolgt haben, darf man aber mit
gutem Grunde annehmen, er habe ebenso wenig absichtlich
dem oberflächlichen Geschmacke des Publikums und der
herrschenden Mode geschmeichelt, als er absichtlich Einbusse
an Kraft und Kunst erlitten. Als dem Dichter der Grillparzer-
preis für die Traumdichtung „Hannele" zuerkannt wurde, und
zwar kurze Zeit, nachdem er den Misserfolg mit dem Drama
„Florian Geyer' 4 hatte erleben müssen, sandte er an das Preis-
gericht einen tief empfundenen, ausserordentlich schön gefassten
Dankbrief, in dem er „in ehrfürchtigem Aufschauen zu dem
Namen Grillparzer" gelobte: das Gute ferner zu wollen, die
Schönheit zu suchen, die Wahrheit nicht zu verleugnen und
sich selbst im Tiefsten und Besten treu zu bleiben nach
Menschenkraft. Muss nun leider der räumlich entfernte, per-
sönlich unbekannte, aber geistig teilnehmende Freund erkennen,
dass in diesem nächstfolgenden Werke die aufrichtigen Vor-
sätze noch nicht in die That umgesetzt worden, so wird er
sich an das ehrliche Wort halten „nach Menschenkraft'% und
wird sich ferner erinnern, dass auch ein Heros, wie Haupt-
mann den österreichischen Altmeister nennt, doch nur über
Mensehenkraft verfügte und neben unsterblichen grossen
Dramen lyrisch-romantische Märchendichtungen von verhält-
nismässig geringem! Werte hervorgebracht hat. Nicht als ob
das Talent auf „Spezialitäten" eingeschränkt werden sollte;
aber vielleicht liegt Hauptmanns Begabung doch vor allem
auf dem Gebiete realistischer Beobachtung und Darstellung.
Er hat von 1SS9 bis IHM, also in nur sieben Jahren, neun
Bühnenwerk»* vollendet und hat damit seinen Fruchtacker
zu sehr ausgenützt. Trotzdem bleiben, die zwei bis drei
weniger gelungenen Dramen abgerechnet, immer noch die
Beweise einer außergewöhnlichen, echt künstlerischen Kraft,
einer üppig und leicht aufspriessenden natürlichen Fülle und
in seinen besten Erzeugnissen auch die Anzeichen einer
weisen, verständnisvollen Art, reichliche Frucht in wohlge-
zimmerte Scheuern zu ernten. Wird der Dichter sich wieder
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sammeln und sich jetzt nach dem lauten Erfolge noch sorg-
licher auf sich selbst besinnen, so wird ihm und der deutschen
Litterat ur noch manche Hoffnung erfüllt, manche Gabe be-
schert werden.
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