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Full text of "Gerhart Hauptmann"

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Gerhart 



Hauptmann 




Ulrike Caroline 
Woerner 



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)Ogle 



Forschungen 

zur neueren Litteraturgesohiohte. 

Herausgegeben von 

Dr. Franz Muncker, 

o. ö. Professor an der Universität MUnchon. 



IV. 



Gerhart Hauptmann. 

Von 

U. C. Woerner 

— 



Carl HaK«*Ke^ 



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Vorwort. 

Im Hinblick auf die verschiedenen Bedürfnisse verschie- 
dener Aufgaben und Vorwürfe gewährt der Herausgeber dieser 
„Forschungen zur neueren Literaturgeschichte" den einzelnen 
Verfassern vollkommene Selbständigkeit und selbst die Frei- 
heit, gelegentlich einmal statt der strengsten philologisch- 
historischen Methode eine mehr ästhetisch - psychologische 
Betrachtungsweise zu wählen. Wenn irgendwo, ist es gerecht- 
fertigt, sich dieser Freiheit bei der Beurteilung eines lebenden, 
in voller Schaffenskraft stehenden Dichters zu bedienen. Ja 
in solchem Falle wäre jede andere Behandlungsart so unstatt- 
haft wie unfruchtbar. 

Freilich verlässt sogleich den sichern Boden, wer sich 
der philologisch-historischen Methode entschlägt. Sie ist die 
bewährte und anerkannte, während es weder eine allgemein 
gutgeheissene Aesthetik giebt, noch einen ohne weiters anzu- 
legenden psychologischen Massstab. 

Da muss sich denn der Beurteiler, um einen festen, 
wissenschaftlichen Standpunkt zu gewinnen, das Verfahren 
der vergleichenden Literaturgeschichte zu eigen machen, muss 
Menschen an Menschen messen, Werke an Werken, Wirkungen 
an Wirkungen. Das Ergebnis solcher Vergleichung kann jeder 
nachprüfen, und nur was sich nachprüfen und nachrechnen 
lässt, ist wirklich wissenschaftliches Ergebnis. Alles andre 
ist Meinung, Mutmassung, Mode, und der Dichter wird zu 
leicht, wie fast täglich in der Presse, das Opfer des persön- 
lichen Geschmackes, ja der Laune seines Richters. 

Für den, der auf philologisch-historische Weise verfährt, 
sind alle Werke eines Autors gleich ergiebige Gegenstände 
der Untersuchung. Nicht so für den, der sie nach vergleichen- 
der Methode ästhetisch-psychologisch betrachtet. Ein Drama 



z. B. wie „Florian Geyer" neben ein anderes derselben Ord- 
nung gestellt wie „Die Weber" — und die Werke eines 
Dicbters unter einander zu vergleichen ist das Nächste und 
Wichtigste — ein solcher Versuch zeigt sich neben dein Vor- 
gänger schlechthin als missraten und ist mit wenigen begrün- 
denden Bemerkungen zu erledigen, wogegen wiederum andere, 
auch weniger geglückte Werke noch durch die Art des Miss- 
lingens zu belehrenden Gegenüberstellungen Anlass geben. 
Dies mag die ungleiche Raumzuteilung an die einzelnen Kapitel 
und innerhalb derselben erklären und, wenn nötig, entschul- 
digen. 

Dass der Verfasser ohne Hass, wohl aber mit viel Neigung 
an seine Arbeit gegangen ist, wird ihr den wissenschaftlichen 
Charakter nicht entzogen, sondern eher gewahrt haben. Denn 
ein liebevolles Sieh-befassen mit den Dingen, wie es Goethe 
in „Hans Sachsens poetischer Sendung 4 * verlaugt, ist die 
Grundbedingung jeder ersprießlichen Thätigkeit, sei es in der 
Kunst, sei es in der Wissenschaft. 

München, im August 1897. 



U. C. Woerner. 



Inhalt. 

Seite 

I. „Promethidenlos". „Vor Sonnenaufgang" 1 

II. „Das Friedensfest' 11 

III. „Einsame Menschen" 20 

IV. „Die Woher'. „Florian Geyer" 20 

V. „Kniloge Crampton". „Der Biberpelz*. Novellen .... 47 

VI. „Hanneies Himmelfahrt" 59 

VII. „Die versunkene Glorien" . , . . . . . , . . . . . , ß9_ 



I. 

„Promethidenlos." „Vor Sonnenaufgang. a 

Ein Dichter will zur Zeit seines Anfangs von einem 
unerschlossenen Gebiet Besitz ergreifen, über dessen Beschaffen- 
heit und Grenzen die litterarischen Landkarten keinen Auf- 
schluss geben. Sogleich erheben die „Kenner", das heisst 
die Kenner des schon Geschriebenen und Beschriebenen, die 
Geographen der Kunst, warnend, ja drohend ihre Stimmen, 
und nur zu oft verstärkt Spott, Hohn und Verwünschung 
den Chor. Strebt er trotzdem unbeirrt weiter in der Richtung, 
die ihm sein innerer Drang geboten, so folgt ihm vorerst nur 
eine kleine Schaar, sei es aus Freude an jedem kühnen, 
Widerspruch erregenden Unternehmen, sei es aus blosser 
Neugierde. Andere drängen nach, um selbst zu schauen. 
Erst sehen sie nur die Mängel, bald linden sie manches Gute, 
manchen Vorzug; mehr und mehr gesellen sich hinzu, sind 
zufrieden und vertragen sich, und wenn „der Wirt des Landes" 
in Wahrheit ein Genius ist, wird er endlich sein ganzes Volk 
zu Gaste haben. 

Gerhard Hauptmann wurde am 15. November 1862 zu 
Salzbrun n in Schlesien geboren. Nachdem er sich in ver- 
schiedenen Berufen als Landwirt, Bildhauer und Student der 
Naturwissenschaften versucht hatte, gab er 1885 seine erste 
Dichtung heraus , „Pro m e t h i d e n 1 o s" , die ungeschickte, 
völlig misslungene Nachahmung eines andern, berühmten 
Jugendwerkes, des „Childe Harold". 

Auch des deutschen Promethiden Pilgerfahrt beginnt mit 
der Einschiffung in der Heimat und geht nach südlichen 
Landen, Portugal, Spanien, Italien. Aber auf dieser ersten 

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Reise ist er nicht in sein rechtes Fahrwasser geraten : steuerlos 
treibt er auf idealen Gewässern, um endlich in Neapel Anker 
zu werfen. Selbst dort wandelt der melancholisch Grübelnde 
nicht auf festem Boden und erfasst kaum ein verwirrtes und 
schwaches Bild der Dinge, an denen er vorü herstreift. Das 
Büchlein verschwand denn auch später auf Veranlassung 
seines Urhebers aus dem Buchhandel und ist jetzt nur in 
wenigen Händen. 

Was uns noch daran interessieren kann, ist die „Feuer- 
seele", die da leidend und kämpfend strebt, der pessimistisch- 
revolutionäre Grundton, der Protest gegen alles Schlechte, 
der sich wie ein Leitfaden durch das Labyrinth der Träume 
und Gedanken zieht. Zu einer Zeit entstanden, wo die Wahl 
zwischen der bildenden Kunst und der Poesie in der Seele 
des Jünglings unentschieden war — denn 1884 lobte Haupt- 
mann noch als Bildhauer in Rom — , trägt dieser erste dich- 
terische Versuch vor allem das Gepräge qualvoller Unsicherheit 
und tastenden Unvermögens. Auch die wahrhaft kindliche 
Verskunst, mit der die achtteilige Stanze, anfanglich in 
strenger Form, dann freier und freier behandelt ist, würde 
den nicht näher unterrichteten Beurteiler ein viel jugend- 
licheres Alter des Verfassers vermuten lassen. Am Schlüsse 
zerschlägt der Held die wenig durchgespielte Leier an der 
Felsenwand, daran verzweifelnd, je das Ideal zu erreichen, 
das in einigen besser gelungenen Versen des letzten Gesangos 
aufgestellt wird: 

„Ein Dichter sein mit Strahlenkranz, und Krone. 
Bei dessen Tönen lauscht die ganze Welt, 
Sein Sessel sehwergebailte VVolkenthrone. 
Am Firmamente leuchtend aufgestellt, 
In seiner Brust die Sprache jeder Zone, 
Von dessen Leier Blitz und Donner fällt". 

Vier Jahre später versuchte er, dem „hehren Bild** auf 
einem andern Wege zu nahen. 1889 erschien zu Berlin sein 
erstes Drama „Vor Sonnen a u f g a n g" . 

Das Stück ist Bjarne P. Hohnsen gewidmet — unter 
welchem nordischen Pseudonym sieh die deutsehen Schrift- 
steller Arno Holz und Johannes Schlaf verbergen — , dem 



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konsequentesten Realisten, Verfasser von ,,Papa Hamlet", in 
freudiger Anerkennung der durch sein Buch empfangenen, 
entscheidenden Anregung. Unwillkürlich sich selbst am besten 
charakterisierend, gebraucht Hauptmann in jugendlich heissem 
Eifer den Superlativ: konsequenter Realismus genügt nicht 
als Losung für sein Drama, es musste der konsequenteste 
sein. Voller Energie und Talent hat er die selbstgestellte 
Aufgabe zu lösen gesucht; aber nicht nur in diesem ersten 
Stücke thut das Prinzip im Superlativ grösseren Schaden als 
die Unzulänglichkeit des Anfängers, es hat auch auf sein 
späteres Schaffen häufig in ungünstiger Weise bestimmend 
gewirkt. In immer neuer Gestalt, immer wieder anders ver- 
puppt, tritt uns dieses Aeusserste in fast all seinen bis jetzt 
erschienenen Werken entgegen. 

Das Stück wird ferner auf dem Titelblatt ein soziales 
Drama genannt. Alfred Loth, ein begeisterter Anhänger der 
sozialistischen Bewegung, ein fanatischer Gläubiger der mo- 
dernen Wissenschaft und Vererbungstheorie, einer von unsern 
Jüngsten, ist, wenn man so sagen will, der Held, der Haupt- 
träger der Handlung. Volkswirtschaftliehe Studien führen ihn 
in ein Dorf der schlesischen Bergwerke. Die Kohle, die unter 
ihren Feldern gewonnen wird, hat die Bauern im Handum- 
drehen steinreich gemacht, der Ueberfluss guckt aus den 
Fenstern und Thüren der Höfe. Moderner Luxus erscheint 
auf bäuerische Dürftigkeit gepfropft, den rohen tierischen 
Instinkten steht kein Hindernis der Befriedigung mehr ent- 
gegen, Völlerei, Trunksucht und die verworfensten Laster 
haben die Goldbauern, nach der Aussage des Arztes im Stück, 
auf der ganzen Linie degeneriert. 

In eine solche Familie hat der Ingenieur Hoffmann, ein 
Gymnasialfreund Loths, aus blosser Geldgier, mit voller 
Kenntnis der Thatsachen hineingeheiratet. Der Bauer Krause 
verbringt seine Tage und Jahre hinter der Schnapsflasche im 
Wirtshaus; seine älteste Tochter, Hoffmanns Frau, ist erblich 
mit Trunksucht behaftet, und ihr kleiner Sohn hat bereits, 
nicht älter als drei Jahre, am Alkoholismus zu Grunde gehen 
müssen. Die Hausfrau, die Stiefmutter der Töchter, ist die 
Gemeinheit in Person; sie offener, Hoffmann unter einem Deck- 

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mantel, fröhnen ehebrecherischen Gelüsten. Allein die zweite 
Tochter Helene erhält sich mit starkem und gutem Gemüte 
unberührt, kämpft verzweifelt, um nicht unterzugehen, von 
der Sumpfluft ihrer Umgebung nicht erstickt zu werden. 
Sie erblickt sofort in dem nüchternen, mit allerlei republikani- 
schen Tugenden ausgestatteten Loth den Erretter aus aller 
Bedrängnis, und er, ebenso rasch von ihrer Lieblichkeit und 
Reinheit bezwungen, ist zum guten Werke bereit. Er glaubt 
in ihr die Gattin gefunden zu haben, mit der er einem hart- 
näckig festgehaltenen Vorsatz Wirklichkeit geben könnte, 
dem Vorsatz, eine ideale Ehe zu gründen, das kostbare Erbteil 
seiner Väter, Gesundheit an Leib und Seele, ungeschmälert 
auf ein neues Geschlecht zu übertragen. Da erfährt er die 
ganze traurige Wahrheit ihrer Familiengeschichte, verlässt 
sie augenblicklich, und das Mädchen giebt sich den Tod. 

Gerade die Schwächen des Erstlings, die künstlerisch 
betrachtet einen verhältnismässig harmlosen Charakter haben, 
riefen bei seinem Erscheinen den grössten Lärm hervor. „Was 
für ein abscheulicher Stoff" — „wir danken für eine solche 
Anhäufung des Schmutzes und der Gemeinheit* — „was für 
eine Verirrung von wahrer Kunst und vom Wege des Schönen" 
— so und derber lauteten die Ausrufe der Gegner, wo die 
Freunde verzückt vor einer neuen Offenbarung standen. 

Hier verrät sich auch bei den „Gebildeten 4 derselbe 
Mangel an historischer Kenntnis und Erkenntnis, der bei der 
Mehrzahl vorausgesetzt werden muss. Die tapfern dichtenden 
Jünglinge unserer Tage sind von den Stürmern und Drängern, 
deren letzter und glänzendster der junge Schiller war, im 
Grunde nicht so sehr verschieden. Damals wie heute wurden 
mit Vorliebe grasse, gewagte Familienszenen zur Darstellung 
gewählt, und rücksichtslose Kühnheit, derbe Deutlichkeit des 
Ausdrucks war die Kegel. Mit einem gewissen Behagen lässt 
Schiller seinen Franz Moor jede moralische Verpflichtung der 
Kinder gegen die Eltern durch cvniseh-medizinisehe Argu- 
mente wegphilosophieren; mit einer naiven Wollust wühlt 
Hauptmann im Moraste des Lasters und macht sich, gleich 
dem Erfinder der „verderblichen Philesophie' 4 des Franz Moor, 
in den Augen des Publikums seelisch so schwarz, als er nur 



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immer vermag. Das verträgt sich nach Umständen sehr wohl 
mit einem unschuldigen Herzen und mit Sanftmut des Cha- 
rakters, beweist nichts, als dass die Jugend zu allen Zeiten 
gerne der Versuchung erlag, Kraft in Brutalität zu übertreiben 
und dem Philister auf sein bestimmtes Nein ohne Prüfung 
nicht bloss ein ebenso bestimmtes Ja, sondern schon mehr einen 
kernigen Fluch zurückzuschleudern, ihn so recht eigentlich 
zum Teufel zu jagen. 

Hauptmann beteuert in der kurzen Vorrede zur dritten 
Aurlage, dass sein Werk aus reinen Motiven heraus entstanden 
sei. Seine spätere Laufbahn bezeugt, was schon hier für den 
Einsichtigen leicht zu erkennen war: die unbedingte Wahr- 
haftigkeit und den Ernst seines Strebens. Nur der Unverstand 
und die litterarische Gehässigkeit konnten seines Stoffes wegen 
persönliche Angriffe gegen ihn richten. Es sind allerdings 
vielerlei Erzeugnisse, mit anscheinend derselben Marke des 
Naturalismus gestempelt, auf den Markt gebracht worden, 
und diese tragen die Schuld, wenn das Talent mit unlautern, 
aller Kunst und allen Geschmackes baren Nachahmern vor- 
wechselt und zusammengeworfen wird. 

Eine andre Frage ist, ob die scenische Vorführung solcher 
tierischen Verirrungen, solcher ausbündigen Verworfenheit 
und Gemeinheit zur Erreichung der künstlerischen Absicht 
wirklich notwendig war. Wir würden ohne Zweifel Helenens 
traurige Lage auch bei einer sparsameren und massigeren 
Schilderung ihrer Umgebung vollständig begreifen. Es würde 
reichlich genügen, wenn ihr Vater früh um vier Uhr, von ihr 
geleitet, sinnlos betrunken aus dem Wirtshaus heimtaumelte; 
der weitere hässliche Vorgang hätte uns erspart werden können. 
Dasselbe gilt von den Scenen mit der Stiefmutter. Eine leichte 
Milderung hie und da hätte den Eindruck nicht geschwächt, 
hätte nichts unklar gelassen, um so weniger, als ja Helene 
selbst ihr ganzes Elend zu Anfang des dritten Aktes ausspricht. 

Fast in allen Kritiken ist die „Macht der Finsternis 44 als 
Hauptmanns Vorbild genannt worden. Nur noch Tolstoi gehe 
so bis an die äusserste Grenze des Widerwärtigen. Diese 
Vergleichung ist oberflächlich. In der „Macht der Finsternis* 4 
ist die Kette der Verbrechen unlösbar, ergiebt sich eines aus 



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dem andern mit zwingender Notwendigkeit. Der Hang zu 
Wohlleben und Wollust erzeugt den Ehebruch, der Ehebruch 
den Mord und wieder Ehebruch und wieder Mord in schreck- 
licher Folge. Nichts ist zu viel, nichts von aussen herein- 
gezogen; alles mit unübertrefflicher Meisterschaft an seinen 
Platz gestellt, alles auf dem langen Weg von der Schuld zur 
Sühne gleich sicher und tief erfasst, ergreifend durch Grösse 
und wahrhafte Innerlichkeit. Die greuelvolle Sünde als herr- 
schende Macht nimmt nach der Anlage des Stückes in aller 
Schärfe und Plastik den Vordergrund ein. In Hauptmanns 
„Vor Sonnenaufgang" ist das Laster nur der Hintergrund, 
liegt das Schrecken nur in den begleitenden Umständen. 
Deshalb wirkt das Stück mehr wie ein Gemälde, auf dem leb- 
hafte, unvermittelte Farbeneffekte gerade die Teile für das 
Auge beleidigend hervortreten lassen, die weiter zurück ein 
stimmungsvoll verschleierndes Halbdunkel mehr ahnen als 
erkennen lassen sollte. Die „Macht der Finsternis" erfüllt 
ihr Gesetz, das sie wie jedes Kunstwerk in sich selbst trägt, 
mit vollkommener Sicherheit und Reinheit. „Vor Sonnenauf- 
gang" ist ein ehrlicher Versuch, aber das jugendlich unreife 
poetische Gefühl unterscheidet noch nicht zwischen rechten 
und unrechten Mitteln zum guten Zweck, zwischen dem echten 
Mut der künstlerischen Thal und herausfordernder Keckheit. 

Hauptmann, in Deutschland ein Vorkämpfer der Realistik, 
verhält sich hier ja auch sonst, im Aufbau der Handlung, in 
der Gruppierung der Personen, in der Verwertung aller Motive 
und des ganzen technischen und dramatischen Apparates, als 
Schüler zu den ausländischen Meistern dieser Richtung. Sie 
haben das dramatische Bereich erweitert ohne allzu gewalt- 
same Verschiebung der Grenzen; er führt schon eine unge- 
messene Fülle novellistischer Einzelheiten — Hobslabär, 
Kutscherfrau, zu viele Dienstboten bei ihren Beschäftigungen 
— in das Drama ein. Ibsen wendet zur feinsten Stinunungs- 
malerei doch immer theatralisch mögliche Mittel an ; bei Tolstoi 
haben sich einige wenige Bemerkungen ins Scenarium verirrt, 
die nur in einer Erzählung angebracht wären, z. B. die, dass 
eine Grille in der Bauernstube des vierten Aktes zirpen soll. 
Unser Dichter hat für die eine Grille schon Lerchen, die 



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1 rillern, Tauben, die aus dem Schlage fliegen, bellende Hunde 
und krähende Hähne. Seine Bühnenanweisungen sind über- 
haupt nicht bloss für den Leiter der Aufführung bestimmt, 
sondern richten sich mit ihren genauen Beschreibungen, mit 
der Schilderung rein seelischer Vorgänge vielmehr an den 
Leser. Anders können Sätze nicht gedeutet werden wie: 
„Loth blickt in den erwachenden Morgen hinaus" — „ist 
in den Anblick des tauigen Obstgartens vertieft" — „der 
Bauer verlässt wie immer (!) als letzter (!) das Wirtshaus" 
— „sie kommt ihm dabei so lieblich \or, dass er den Augen- 
blick benutzen will, den Arm um sie zu legen". — 

In der oben erwähnten Vorrede dankt Hauptmann den 
Leitern der „Freien Bühne", dass sie, kleinlichen Bedenken 
zum Trotz, einem Kunstwerk zum Leben verholfen haben. 
Sein erstes Drama sofort selbst ein Kunstwerk zu nennen, 
erschien vielen eine lächerliche, ungeheuere Anmassung. Aber 
alle Grundbedingungen zu einem Kunstwerke sind gegeben; 
es ist vorhanden, wenn auch noch nicht m völlig schön und 
frei ausgewachsener Gestalt, Vor allem sind die Charaktere 
aller Haupt- und Nebenpersonen vorzüglich durchgeführt. 
Hoffmann, der intelligente, gebildete unter den naiven, dumm- 
rohen Lüstlingen und Ausbeutern ; Helene, in den ersten Akten 
noch ein wenig blass und mehr als gedachter Gegensatz, 
später jedoch desto wahrer und lebendiger wirkend, und in 
den Liebesscenen von hinreissender Unmittelbarkeit, die an- 
mutigste Verkörperung eines jungen, seelenreinen Geschöpfes; 
besonders aber Loth, der sozialistische Pedant, der alles mit 
dem Verstand, nichts mit dem Herzen erkennt und übt, selbst 
nicht die Tugend des Mitleids und der Aufopferung — eine 
völlig neue Erscheinung auf der Bühne. Menschenliebe zu 
verbreiten und zu fördern ist seine selbstgewählte Aufgabe, 
aber bei der ersten Gelegenheit, wo im einzelnen Fall, nicht 
im Allgemeinen, thätlich, nicht theoretisch Menschenliebe von 
ihm gefordert wird, versagt er schmählich um trockener Prin- 
zipien willen und handelt verkehrt und grausam, er, der mit 
so viel Scharfsinn das Verkehrte und Grausame aller gesell- 
schaftlichen Verhältnisse darzulegen weiss. Die genügsame, 
begeisterungsfähige Helene wäre ja sicherlich zur Entsagung 



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bereit, wenn er sie nur sonst retten, von ihrer Familie weg- 
bringen, ihr als Freund erlauben wollte, an seinen Bestre- 
bungen teilzunehmen. 

Recht gesehen weist der Charakter des Sozialisten nicht 
den Bruch auf, von dein in allen Besprechungen des Werkes 
die Rede war. Der selbstbewusste Moralprediger ist eben hier, 
wie so oft im Leben, nur in der Lehre stärker als seine an- 
dächtige Zuhörerin. er steht von vorneherein in der That- 
freudigkeit tief unter dem demütig lauschenden Mädchen. 
Brüchig, weil plötzlich zu sehr heruntergedrückt, erscheint 
Loths Charakter nur an einer einzigen Stelle: wo er dem 
Vorschlag des Arztes und der cynischen Begründung dieses 
Vorschlages beistimmt. Er nennt Helene kurz vorher selbst 
das keuscheste Geschöpf, das es giebt, und müsste wissen, 
dass die wehrlose Beute ihres Schwagers zu werden, keine 
Entschädigung, nur neue Qual für sie wäre. Durch nichts 
giebt sie ihm Grund zu einer so falschen Nachsicht, zu so 
feigem Mitleid. 

Ob sich das Vererbungsgesetz wirklich in jedem Falle 
bestätigt oder nicht, darüber zu streiten hatte eher noch einen 
Sinn beim Erscheinen der „Gespenster**, wo es in den schon 
eingetretenen Folgen vor Augen geführt wird. Hier kommt 
nach des Dichters Absicht allein Loths Glaube daran in Be- 
tracht, nicht was es an und für sich und im Leben für 
Giltigkeit hat. In Tschernuischefskvs berühmtem sozialem 
Romane „Was soll geschehen?" heiratet ein junger Arzt ohne 
jegliches Bedenken die brave Tochter verkommener und ver- 
trunkener Eltern. Zu Anfang der sechziger Jahre wusste man 
eben noch nicht so viel von den unerbittlichen Folgerungen 
der neuen Wissenschaft. Darum brauchte der russische Dichter 
selbst einen Mediziner keine derartigen Bedenken hegen zu 
lassen, wie er auch keine nähere Erklärung für nötig hielt, 
dass Werra, von so schlechtem Stamm und auf so faulem 
Boden entsprossen, dennoch herrlich gediehen ist, während 
sich bei Hauptmann Helenens Reinheit als ein Erbteil ihrer 
verstorbenen Mutter nachweisen lässt, erhalten und gesichert 
durch die sorgfältige Erziehung in Herrenhut. 



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Die Handlung des Stückes ist nach den Grundsätzen der 
realistischen Schule einfach; sie wird interessant gesteigert 
durch die langsame Enthüllung all der Schande und des 
Kummers, die sich auf das Mädchen häufen. Die epische 
Breite stört zwar, aber hindert doch nicht, dass sie stufen- 
weise fortschreitet. Am meisten hat der Schluss, Helenens 
Selbstmord, verstimmt, weil er nicht aus ihrem Thun und 
Charakter, sondern aus dem Charakter und der Handlungs- 
weise ihres Verlobten hervorgeht. Es wurde die Forderung 
aufgestellt, nath ihrem Tode hätte die Handlung noch einmal 
einsetzen müssen, damit wir die Wirkung auf Loth beobachten 
könnten. 

Dieser Wunsch hängt mit der Erwägung zusammen, dass 
allein der unschuldige Teil zu Grunde geht, dann aber auch 
damit, dass man in Loth einen Menschen mit zwei Seelen 
erkennen wollte. So, wie er uns, ganz einheitlich, vorgeführt 
ist, wird er seine Hände in Unschuld waschen, völlig über- 
zeugt, dass er nicht anders handeln konnte und durfte, und 
Helene wird als bedauernswertes Opfer der Verhältnisse in 
seiner Erinnerung fortleben, nur ein wenig stärker und unan- 
genehmer als der Arbeiter, der auf dem Fabrikhof zusammen- 
gestürzt ist. An seinem Vorsatz, weiter zu leben und zu 
kämpfen, wird ihr tragisches Ende kaum etwas ändern — er 
spricht allzu nüchtern und überlegt von der „bewussten 
Kugel' 4 — , sein Streben wird nur noch öder und maschinen- 
artiger werden, als es, nach seinem eigenen Geständnis, schon 
vor dem kleinen Anflug von Verliebtheit und W T ärme war. 

Herecht igter wäre der Vorwurf, dass Helenens Tod nicht 
so gut und schlichtergreifend dargestellt wird wie so mancher 
Ausbruch ihres Schmerzes vorher. Wiederum ist zu viel in 
die Anmerkungen geraten und läs.st sich auf der Bühne durch 
das beste Spiel nicht ersetzen. „Auf diese Laute hin u — 
das Geschrei ihres trunkenen Vaters — „wie auf ein Signal, 
springt sie auf u. s. w." Ein wenig Nachhilfe, vielleicht ein 
einziger, auf den Vater sich beziehender Ausruf, erschlösse 
das Verständnis für den Ideengang der Allerärmsten , ganz 
Verlassenen. 

Fast überall rühmenswert ist der Dialog, die Personen 



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scharf charakterisierend. Zuweilen wäre eine kleine Ver- 
schiebung, Steigerung und für manchen überflüssigen, unge- 
lenken Satz der streichende Rotstift erwünscht. Der ganz 
getreu wiedergegebene Dialekt wird lästig, besonders, wo 
mehrere Personen um den Tisch sitzen, von denen die eine 
Hälfte hochdeutsch, die andere fast unverständlich redet. Er 
hätte etwas übertragen werden müssen. Selbst die lebensechte 
Gestalt des alten Hofarbeiters Beibst wäre dadurch nicht not- 
wendig geschädigt worden, die Bäuerin vielleicht weniger 
drastisch herausgekommen, die Gefahr, durch gar zu grosse 
Plumpheit ans Komische zu streifen, leichter vermieden worden. 

Eine Hoffnung, eine Erwartung, ja eine gewisse Zuver- 
sicht drückt der Titel dieses Dramas aus. Wenn erst die 
Sonne voll aufgeht, werde sich alles erhellen und klären, 
werden solche Thaten des ungewissen Zwielichts für immer 
mit den weichenden Schatten verschwinden. In Bezug auf 
ihn selbst, auf sein künstlerisches Streben hat sich die Hoff- 
nung des Dichters auf den kommenden Tag nicht betrogen. 
In seinen folgenden Dramen ist alles heller, lichter, klarer 
geworden als in diesem Werke der Dämmerung, geschrieben 
— vor Sonnenaufgang. 



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IL 

„Das Friedensfest. " 

Schon das nächste Jahr, 1890, brachte ein zweites Drama, 
„Das Friedensfest, eine Familienkatastrophe". Das Motto 
ist aus Lessings Abhandlungen über die Fabel gewählt. „Sie 
finden in keinem Trauerspiel Handlung, als wo der Liehhaber 
zu Füssen fällt. — Es hat ihnen nie beifallen wollen, dass 
auch jeder innere Kampf von Leidenschaften, jede Folge von 
verschiedenen Gedanken, wo eine die andre aufhebt, eine 
Handlung sei ; vielleicht weil sie viel zu mechanisch denken und 
fühlen, als dass sie sich irgend einer Thätigkeit dabei bewusst 
wären. Ernsthaft sie zu widerlegen, würde eine unnütze Mühe 
sein. 4 ' — Mit denselben ästhetischen Grundgedanken, nur all- 
gemeiner, nicht polemisch gefasst, leitet auch Schiller seine 
Besprechung von Goethes „Egmont* ein. „Entweder es sind 
ausserordentliche Handlungen und Situationen, oder es sind 
Leidenschaften, oder es sind Charaktere, die dem tragischen 
Dichter zum Stoffe dienen; und wenn gleich oft alle diese 
drei als Ursache und Wirkung in einem Stücke sich beisammen 
linden, so ist doch immer das eine oder das andre vorzugs- 
weise der letzte Zweck der Schilderung gewesen.* 4 Wenn 
Hauptmann also des Hei falls des grössten Kritikers für seinen 
Kampf von Leidenschaften, seine Folge von Gedanken sicher 
zu sein glaubte, hätte er auch Schiller -dafür beim Wort 
nehmen können. 

„Oder es sind Leidenschaften, oder es sind Charaktere." 
Es sind Charaktere und Leidenschaften, Leidenschaften der 
ursprünglichsten Art, Hass, Neid, Eifersucht, und Charaktere, 
die trotz moderner Bildung und Gesittung, diesen Leiden- 
schaften völlig hingegeben erscheinen. Zum zweitenmale 
werden wir an die Sturm- und Drangzeit erinnert. Ihr Lieb- 



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lingsthema, das auch Schiller so reizte, dass er ihm in seinen 
spätem Jahren noch eine antik-klassische Gestalt zu geben 
versuchte, feindliche Brüder, ihre Versöhnung und ihr wieder 
ausbrechender Streit, wird uns aufs neue vorgeführt in dem 
schlichtesten, alltäglichsten Lebenskreise, und dennoch die 
strenge Forderung der alten Kunstansehauung erfüllend, Furcht 
und Mitleid im höchsten Grade erregend. „Aus unbekannt 
verhängnisvollem Samen" ist in der „Braut von Messina" der 
Bruderhass hervorgewachsen, vergebens vom Vater mit allen 
Mitteln der Strenge, von der Mutter mit unermüdlicher Liebe 
bekämpft. Auf ganz andern Voraussetzungen beruht die 
moderne Fassung der alten Fabel. In scharfer Beleuchtung 
hellt sich das dunkle Verhängnis auf, erweist sich das Unheil 
dem ungleichen Bunde, dem von allen guten Genien gemie- 
denen Zusammenleben der Eltern entsprossen. 

Dr. med. Scholz, seine Frau, zwei Söhne und eine Tochter 
sind seit Jahren und Jahren entzweit. Jedes Mitglied der 
Familie erkennt im andern seine eigene Natur wieder, hasst 
im andern seine eigenen Fehler, eines wird durch das andre 
zu Grunde gerichtet. Der Vater und die Söhne haben das 
Haus verlassen — ohne Nutzen, denn mit dem eigenen, unge- 
zähmten Ich tragen sie den Fluch des Unfriedens mit sieh 
fort. Sie trennen sich äusserlich und hängen innerlich nur 
um so fester zusammen: Erinnerung und Reue giebt sie 
nimmer frei. Die Eltern, einst der schuldige Teil, sind nun- 
mehr der leidende, sie ernten die Frucht ihrer traurigen Saat. 
Reichlich haben ihnen die Kinder das empfangene böse Bei- 
spiel, die zerstörte Jugend, die Frevel einer geradezu ver- 
derblichen, bald übermässig strengen, bald ganz nachlässigen 
Erziehung vergolten. Trotzdem lebt in den Missleiteten noch 
das Gefühl für das Niedrige, Unwürdige ihres Zustande*, regt 
sich noch Scham und Sehnsucht, weise vom Dichter auf die 
Einzelnen verteilt, je nach dem Grade, in dem sie unser 
Mitleid erwecken sollen. 

Der Schuldigste, Wilhelm, ist zugleich der Edelste und 
der Rettung am nächsten. Er ist der Kämpfer und Büsser, 
er steht im Vordergrund der Handlung. Den zweiten Platz 
neben ihm nimmt Robert, der ältere Bruder, ein. Scheinbar 



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fest gewappnet mit kaltem Cynismus gegen alle Gefühls- 
regungen in und um ihn, mit scharfem Verstände die Mensehen 
und Handlungen zerlegend — ihm ist alles Ursache und 
Wirkung, alle sind gleich schuldig und gleich schuldlos! -— 
wird er dennoch aus einer echten, heissen Empfindung heraus 
im Stücke seihst zum eigentlichen Unheilstifter. Die Tochter 
dagegen, immer zu Hause weilend, ist am meisten dem Einfluss 
der erschlaffenden Gewohnheit unterlegen und greift am 
wenigsten in die Handlung ein. Ihr ist das Erbteil mehr von 
der Mutter, den Söhnen vom Vater geworden. 

Vom Beginn der Ehe an hat der positiven Schuld des 
Vaters, seiner Tyrannei, Ungerechtigkeit und pflichtvergessenen 
Selbstsucht, die negative Schuld der Mutter gegenüber ge- 
standen, ihre verächtliche Schwäche, geistige und sittliche 
Armut. Der ununterbrochene Kampf hat seine Höhepunkte 
gehabt und besonders einen: Dr. Scholz verleumdet einmal 
in seiner unsäglichen Missachtung, in einem Anfall boshafter 
Laune die eigene Frau, zeiht sie, ohne den Schatten eines 
Grundes, im Gespräch mit dem Stallknecht eines unsittlichen 
Verhältnisses. Wilhelm belauscht ihn, und er, in dem immer 
ein warmes, ursprüngliches Gefühl gelebt hat, der besonders 
zu jener Zeit geneigt gewesen, die Schwäche der Mutter im 
Gegensatz zu der Härte des Vaters als Güte zu deuten, glaubt 
sich zu ihrem Rächer berufen, stürmt auf den Vater ein und 
straft ihn mit beiden Händen, mit seinen ungestümen, freveln- 
den Sohneshänden. Dies ist die menschlich und dichterisch 
gleich interessante Vorgeschichte. 

Wer den eigenen Vater schlägt., begeht eine gemeino, 
niedrige Handlung, und wir sind gewohnt, eine solche Selbst- 
vergessenheit nur bei der rohesten, auf der untersten mora- 
lischen Stufe stehenden Menschenklasse zu erwarten und 
erklärlich zu linden. Eine niedrige Handlung aber gilt nicht 
als tragisch und nicht für würdig eines ernsten Stückes, 
weder in unmittelbarer Darstellung noch als hereindräuende 
Vergangenheit, So lehrt eine alt überkommene Theorie, aber 
die Erfahrung lehrt zuweilen anders, so dass das Problem 
sclion den klassischen Aesthetiker beschäftigte. -Schiller führt 
aus, dass in wenigen seltenen Fällen auch im Ernsthaften und 



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— 14 - 

Tragischen das Niedrige angewendet werden könne. „Alsdann 
muss es aber ins Furchtbare übergehen, und die augenblick- 
liche Beleidigung des Geschmackes muss durch eine starke 
Beschäftigung des Affektes ausgelöscht und also von einer 
höhern tragischen Wirkung gleichsam verschlungen werden. u 

In gewaltthätigen Zeiten, und einer heissblütigen Nation 
angehörig, hätten sich die Glieder dieser Familie gegenseitig 
nicht bloss seelisch vernichtet ; Wilhelm hätte einen Vatermord 
begangen, Robert, den Vater rächend, den Brudermord hinzu 
gefügt, und den Frauen wäre die Rolle zugefallen, den 
Untergang des Geschlechtes zu beweinen. Am Ende des 
neunzehnten Jahrhunderts, in einem Landhaus auf dem 
Schützenhügel bei Erkner in der Mark Brandenburg, unter 
Mitbürgern mit gesänfteten Sitten, wo allüberall die Aeusse- 
rungen der im Grunde immer gleichen Leidenschaften mühsam 
gedämpft sind durch die Erziehung der Jahrhunderte, — jetzt 
kann wohl schon der unblutige, aber die Ehre raubende, das 
Schamgefühl aufs höchste erregende Schlag ins Gesicht zur 
tragischen Schuld werden und die geforderte höhere Wirkung 
hervorbringen. Treffender als die Kritiker dieses Dramas 
spricht sich hierüber der Volksmund aus, dessen kräftiges 
Urteil Frau Scholz mit den Worten wiederholt: „Die Hand, 

die sieb gegen den eignen Vater erhebt, aus dem 

Grabe wachsen solche Hände." Die niedrige Handlung geht 
hier ins Furchtbare über, weil für unser zärtlicheres Gewissen 
die Furien dem Sohne so nahe sind wie ehedem dem Mutter- 
mörder auf Tauris, weil wir auch ihn aus edlen Motiven 
schuldig geworden wissen, ihm den stärksten Anreiz zum 
Verbrechen zuerkennen müssen, und weil sich endlich — 
überraschend und ergreifend! — auch der Vater unvermutet 
bemitleidenswert zeigt, als ein Mensch, dem Gefühl und Güte 
nicht fehlen, in dem sie nur unlebendig geschlummert haben. 

Viele grosse und kleinere Künstler haben das Bild des 
Lebens im historischen Rahmen entrollt, haben die Zeichnung 
auf dem Hintergrund einer wilden Vergangenheit mit freien, 
kühnen Strichen entworfen, aber nur sehr selten ist es versucht 
worden und gelungen, den Massstab richtig für unsere Ver- 
hältnisse zu verkleinern. Rings um uns hadern und kämpfen 



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- 15 - 

noch immer Familien, ringsum morden noch immer Eltern 
die Kinder und Kinder die Eltern, wenn auch mit kleinlichen, 
unschein hären Mitteln. „Hier ist ein Verbrechen geschehen'*, 
sagt Wilhelm, „um so furchtbarer, weil es nicht als Ver- 
brechen gilt." 

Nach geschehener That sind einst Vater und Sohn am 
selben Tage noch in die Fremde gezogen, und wiederum am 
selben Tag, am Weihnachtsabend, kehren beide nach sechs- 
jähriger Abwesenheit zurück. Der Vater getrieben von 
Krankheit und Todesahnung, der Sohn geführt von einer 
neuen Lebenshoffnung, einem lieblichen Glücke. Er will sich 
von seiner schlimmen Jugend loslösen , um gerettet einen 
eigenen Herd zu gründen. Seine Braut und ihre Mutter 
haben die Aufgabe der guten, helfenden Geister übernommen. 
Durch einen vortrefflichen Expositionsakt werden wir zu den 
bei aller Einfachheit der Mittel und des Baues meisterhaft 
gesteigerten Vorgängen des zweiten Aktes geführt. Wilhelm 
sinkt dem Vater zu Füssen und erhält Verzeihung. Im 
Uebermass der Erregung befällt ihn eine Ohnmacht, die Ueb- 
rigen eilen hinzu, und verschieden nach den verschiedenen 
Charakteren, aber mit gleich ausserordentlich wahr beobach- 
teten Einzelheiten bricht bei allen die lang unterdrückte 
Empfindung hervor, des Vaters krankhaften Wahn und unver- 
ständigen Ilass besiegend wie der Mutter wehleidige Arm- 
seligkeit, Roberts Frivolität wie der Schwester beständig 
nörgelnde Unzufriedenheit. Robert übernimmt die Wache 
beim Kranken, und Wilhelm findet im Bruder nicht mehr 
bloss den halben Mitschuldigen und ganzen Mitwisser aller 
bösen Geschehnisse wieder, sondern den Freund, der zuerst 
von Liebe und Achtung spricht und um Vergebung bittet. 
Aber plötzlich, und doch schon länger vorbereitet und gut 
motiviert, steigert sich Roberts verhaltene Eifersucht: weshalb 
dem Bruder alles, dem zum mindesten nicht Bessern und 
Klügern? Weshalb vor allem ihm gerade der Besitz Idas, -des 
fremden süssen Mädchens? Unter den brennenden Lichtern des 
Weihnachtsbaumes, halb absichtlich, halb unwillkürlich, kränkt 
er des Bruders Verlobte, die andern mischen sich ein, Wilhelm 
hält noch beherrscht an sich, aber die Leidensehaften sind wieder 



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— 1(> - 



entfesselt, und während die Geliebte im Nebengemach das 
Weihnachtsliod singt, erhebt sich der Aufruhr mit alter Gewalt. 
Vorwürfe und bitterscharfe Worte fliegen in rascher Folge 
hin und her, bis die allgemeine Erregung masslos wächst. 
In ausbrechendem Verfolgungswahn flieht Dr. Scholz vor 
Wilhelm, mit aufgehobenen Händen bittend, ihn nicht wieder 
zu züchtigen, und sinkt, von einem Schlaganfall getroffen, 
sterbend zusammen. 

Der dritte und letzte Aufzug dient hauptsächlich der 
Schilderung von Idas rührendem, ausdauerndem Kampfe mit 
allen finstern Mächten, die den Geliebten von innen und aussen 
bedrohen. Wiederum ist es Hauptmann gelungen, dem reiz- 
vollen Wesen eines liebenden Mädchens einen besonderen 
Stempel aufzudrücken, ohne die köstliche Frische, die sehlichte 
Natürlichkeit im geringsten zu zerstören. Aber wo Helene 
unterging, bleibt Ida wenigstens zunächst Siegerin. Ungefähr 
gleichmässig stark erscheinen am Schlüsse die Nöten und 
Schwierigkeiten, die sie zu bestehen hat, und die dagegen 
aufgebotene Kraft ihrer Liebe und Gesinnung. Wo solche 
Fähigkeiten ins Spiel gesetzt werden, wie sie Wilhelms Braut 
zu eigen sind, ist dem Manne eigentlich alles von Glück und 
Trost nahe, was der leidverfolgte Erdenpilger überhaupt erhoffen 
und erringen kann. Mehr wird ihm die aufrichtig pessimi- 
stische Weltanschauung, in der das Stück wurzelt, nicht in 
Aussicht stellen. Ja, für den Zweck des Dichters, Spannung 
und Teilnahme in der Gegenwart zu erregen, bleibt es sich 
beinahe gleich, wer in einer spätem Zukunft recht behalten 
werde: Robert, der Unbegnadete, der sich den mit gleichen 
Naturanlagen gebornen Bruder nicht besserungsfähig vorstellen 
kann, oder Wilhelm, der den Kuss der weihenden Liebe 
empfangen hat und ehrlich darnach ringen will, eines fried- 
lichen, reinen Daseins an Idas Seite würdig zu werden. Das 
erste lähmende Entsetzen vor dem neu hereingebrochenen 
Unglück weicht unter ihrem sanften Zuspruch von ihm, und 
während Robert vom Schauplatz flieht, ehe der Vater für 
immer die Augen geschlossen hat, tritt er gefasst, Hand in 
Hand mit der Braut, vor die Leiche hin. 

Während die Vererbungslehre in dem sozialen Drama 



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17 - 



„Vor Sonnenaufgang" nur als Motiv, als vorherrschende, den 
Helden bestimmende Ueberzeugung verwertet ist, hat sie hier 
durchaus als Grundidee wirken sollen. Aber in der Handlung, 
im Dialog siegt die Anschauung über den blassen Gedanken, 
der Dichter über den Theoretiker. Alles, was wir sehen und 
hören, ist nichts als die dramatische Erläuterung des alt- 
bewährten Sprichwortes „Der Apfel fällt nicht weit vom 
Stamm". Anders freilich verhält sichs mit dem, was wir 
lesen, mit den Bühnenanweisungen. In ihnen macht sich die 
Tendenz, die bloss konstruierende Wissenschaft breit, die 
immer wieder die Willensfreiheit durch rein physische Ursachen 
beschränkt zu zeigen, alle unschönen Regungen und wilden 
Ausbrüche auf eine krankhafte Veranlagung zurückzuführen 
strebt. 

Allein auf metaphysischem Gebiete lässt sich eine Lösung 
der Frage versuchen, wieso wir denn frei und unfrei zugleich 
sein können. Dass wir in der Empirie in einem gewissen 
Sinne frei sind, das muss vor allem der Dichter anerkennen, 
der es nicht mit dem transcendentalen Wesen des Menschen, 
der es mit dem Menschen in seiner irdischen Hülle und Er- 
scheinung zu thun hat. „Die Schuld ist ein Kind der Frei- 
heit" (Otto Ludwig). Nur wenn wir an sittliche Freiheit 
glauben dürfen, wird er uns ergreifen und erheben, wie es 
Hauptmann thut mit der Gestalt des Sohnes, dessen Gewissen 
so wach, dessen Reue so tief und aufrichtig ist. Ja selbst 
der Vater, der im Banne der Krankheit gezeigt wird, muss 
die gewichtigen Worte aussprechen: „Auf Schuld folgt Sühne, 
auf Sünde Strafe." Sein körperliches Leiden kann ebenso 
gut als eine Folge seines Seelenleidens, des nagenden Schuld- 
und Schamgefühles angesehen werden wie urngekehrt. Und 
Wilhelms ausbrechender Zorn, die Anschuldigungen, die er 
dem Bruder entgegenschleudert, wären, auch wenn die ver- 
erbte Neigung zum Verfolgungswahn gar nicht angedeutet 
würde, schon durch die Umstände und durch das Benehmen 
seiner Angehörigen gegen ihn sehr wohl zu erklären. 

Die Vergangenheit und Gegenwart dieser „handelnden 
Menschen" ist das notwendige Ergebnis nicht bloss ursprüng- 
licher Anlagen, sondern auch der bestimmenden äussern Ver- 

2 



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hältnisse. Dr. Scholz hat als Arzt in türkischen Diensten 
gestanden und «Japan bereist, aber seit seiner Verheiratung 
übt er seinen Beruf nicht mehr praktisch aus; nur in der 
Studierstube mit zwecklosen, halbwissenschaftlichen Spielereien 
beschäftigt, versumpft sein ehedem kluger und unternehmender 
Geist. Seine Frau, die Tochter eines wohlhabenden Empor- 
kömmlings, ist erst sechzehnjährig gewesen, als sie von dem 
vornehmeren, um zweiundzwanzig Jahre altern Sonderling aus 
der behaglich bürgerlichen Umgebung in die Einsamkeit eines 
weltvergessenen Winkels versetzt worden. Von der neuen 
Generation ist Wilhelm künstlerisch veranlagt — Musiker; 
er wird also schon durch seinen Beruf in eine bessere Welt 
empor gehoben, empfängt schon aus der Hingebung an seine 
Kunst vorbereitende, stärkende Kräfte für sein Verhältnis zu 
Ida und für den Kampf mit der angestammten Natur. Robert, 
verstandesmässig angelegt und gut begabt, aber infolge der 
fehlenden Erziehung „so eine Art seif made man", sitzt in 
einem Fabrikkomptoir fest und schreibt Reklamen. Dort hat 
er seine „Lebensweisheit" erworben, dort stellt er sein „Gleich- 
gewicht" nach den häuslichen Erschütterungen wieder her. 
Die Schwester endlich, ohne regelmässige Beschäftigung, ohne 
jegliches feste Ziel, ist das alternde, in Selbstsucht verlorne, 
verbitterte Mädchen. 

Wie sich die Personen gebahren, wie sie sich gegenseitig 
schildern, darin ist genau das Rechte, nicht zu viel und nicht 
zu wenig geschehen. Um so überflüssiger erscheinen bei so 
treffender Charakterzeichnung die Seiten und Seiten in kleinem 
Druck. Weder dem Leser noch dem Schauspieler wäre zu 
helfen, der jetzt noch derselben Stützen für seine Einbildungs- 
kraft bedürfte, die dem Verfasser nützlich gewesen sein 
mögen, als erst alles wurde. Wäre es z. B. nicht gelungen, 
den Gegensatz im Wesen der vier Frauen sinnenfällig heraus- 
zuarbeiten, was würde es dann nützen, dass in den Vor- 
schriften von Frau Buchner zu lesen ist : ,,Ein Hauch der 
Zufriedenheit und des Wohlbehagens scheint von ihr auszu- 
gehen'*, oder von Augusta Scholz, dass sie mit der Aufge- 
regtheit der Mutter ein pathologisch offensives Wesen ver- w * 
binde, und dass diese Gestalt gleichsam eine Atmosphäre 
von Trostlosigkeit und Missbehagen um sich verbreite. 



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Viel schlimmer noch macht sich jenes übertriebene Prinzip 
des ersten Dramas im Dialog geltend. Was gesagt wird, ist 
echt, jeder Gedanke, wie er aus dem Herzen kommt; aber 
die Form ist häufig so zerrissen und zerstückelt, dass man 
sich die durch viele Gedankenstriche und Punktreihen ge- 
trennten Redeteile erst sorglich zu Sätzen ergänzen und 
zusammenstellen muss. Zum Heile der Mitmenschen ist die 
Zahl derer, die nicht messend und abgerundet zu sprechen 
vermögen, doch nicht allzu gross, und wenn alle Personen 
eines Dramas, auch in leidenschaftslosem Zustande, mehr oder 
weniger an solchem Gebrechen leiden, so geht das weit über 
die Natur hinaus, und der Dichter, der um keinen Preis stili- 
sieren wollte, verfällt in störende Manier. Aber: „Ein kleines 
Würmchen ist noch keine Schande für einen hübschen Apfel" 
sagt das russische Sprichwort, — und in diesem Werke ist 
das schädliche Prinzip thatsächiieh nicht in den Kern ein- 
gedrungen, es hat nur die angenehme, glatte Schale zerstört. 

Die Handlung steigt mit vielen feinen, ungezwungenen 
Uebergängen allmählich bis zum Höhepunkte, Wilhelms Fussfall 
vor dem Vater, und senkt sich von da, ebenso sicher und 
stetig, bis zur Katastrophe, dem plötzlichen Tode des Vaters, 
bewirkt durch das lieblose Benehmen der Kinder. Graphisch 
könnte der völlig regelrechte Aufbau des Dramas durch ein 
gleichschenkeliges Dreieck symbolisiert werden. Die ausser- 
ordentlich geschickte Benutzung dos für alle drei Aufzüge 
gleichen Raumes, einer grossen Eingangshalle im Erdgeschoss 
des Landhauses, ist musterhaft für moderne Einfachheit und 
Einheitlichkeit der Komposition. In keinem seiner späteren 
Werke hat Hauptmann das für jedes besondere Drama vom 
Dichter selbst aufgestellte Ideal je wieder so vollkommen 
erreicht. 



2* 



III. 

„Einsame Menschen." 

In der kurzen Frist von anderthalb Jahren hatte Haupt- 
mann drei Dramen vollendet. Davon erwarb sich das dritte. 
„Einsame Mens eben" (1891), den meisten Beifall. Man 
schien es dankbar zu empfinden, dass ein Dichter, dessen 
Talent nun einmal anerkannt war, in diesem Stücke den 
Genuss durch keine besondere Rücksichtslosigkeit mehr störte. 
Eine rein äusserliche Brutalität hatte notwendig seinem ersten 
Drama sehr geschadet; dass es allzu wahr und aufrichtig ge- 
sehene Natur ist, unberechtigter Weise dem zweiten Abbruch 
gethan; dieser zahme und zahm behandelte Stoff endlich ver- 
söhnte die Gemüter. Man glaubte hier dieselbe Wahrheit 
und Treue der Beobachtung in geläuterter Form zu erhalten, 
Hess für moralisch gelten, was nicht grob das Gegenteil aus- 
sagt, und nahm auch diesmal die umständlichen Einzelheiten 
aus dem täglichen Leben gnädiger hin als berechtigte Klein- 
malerei und fein empfundenes Milieu. Von der „Freien Bühne" 
gingen die „Einsamen Menschen* 4 alsbald auf das „Deutsche 
Theater 44 über, eroberten noch im selben Jahre das Burgtheater, 
und viele deutsche Bühnen, wenn auch nicht alle, die Suder- 
mann geben, haben es nachher mit ihnen versucht. Das 
Schauspiel wurde so allgemein gelobt, dass es wohl berechtigt 
sein dürfte, in der Beurteilung nicht wiederum die schon be- 
kannten Vorzüge, sondern manche bisher nur wenig beachtete 
Mängel geltend zu machen. 

Ein junger Gelehrter, Johannes Vockerat, ist mit sich 
und seiner Umgebung zerfallen. Von leicht erregbarem Wesen, 
eine von den Naturen, die trotz höherei- Bildung niemals in 
sich selbst das Heil suchen, sondern stets von aussen alle 
Kettling erwarten, hat er das unbezwingliehe Bedürfnis, sich 



in einem ihm geistig ebenbürtigen Kreise auszuleben. Jedoch 
er entbehrt gleichgestimmte Freunde und steht auch in der 
Familie einsam zwischen seinen gütigen, beschränkten Eltern 
und seiner liebenden, sanften, aber herzlich unbedeutenden 
jungen Frau, fühlt sich in seinem Berufe, seiner Arbeit gehemmt, 
findet nie Hube und Selbstbeherrschung genug, seine treibenden 
Ideen festzuhalten und zu gestalten. In diesem Zustande 
nervöser Unlust und Unzufriedenheit befindet er sich schon, 
ehe die entscheidende Wendung in seinem Leben eintritt, ehe 
er die Frau kennen lernt, die durch Naturanlage und eine 
der seinen ähnliche philosophische Schulung befähigt, ist, ihm 
vollkommenes Verständnis entgegen zu bringen, Fräulein Anna 
Mahr, Studentin der Philosophie aus Zürich. Die beiden finden 
sich in enger, geistiger Gemeinschaft, aber ihrem Verhältnis 
lässt sich kein rechter Name, keine gebräuchliche Form geben. 
Die Konvention ist gegen sie, Johannes sieht sich vom Argwohn 
der Seinigen verfolgt und muss in feierlichem Versprechen 
Verzicht leisten auf den täglichen Verkehr und Gedanken- 
austausch mit Fräulein Mahr und damit, wie er meint, auf 
alles, was seinem Leben erst Zweck und Weihe verliehen. 
Der Müggelsee, der, an das Landhaus anstossend, einen 
stimmungsvollen Hintergrund für die Leiden und Freuden der 
Bewohner bildet, der der Vertraute war von Sehnsucht und 
Erfüllung, der Zeuge der herrlichen Spazierfahrten zu zweien, 
nimmt den Verzweifelnden in seine Wellen auf. 

Wiederum eine Familienkatastrophe, obwohl das Titelblatt 
diesmal die Bezeichnung Drama trägt, Eine Familienkata- 
strophe, die, der Kritik zu folgen, höher, menschlicher, zarter 
und reiner gefasst wäre, als die erste, primitiv und roh abge- 
schilderte. Macht sich nun diese Verfeinerung mehr im Inhalt 
geltend, oder mehr in der Form? Erweist sich dieser Fort- 
schritt im gesteigerten Gedanken- und Gefühlsgehalt, in einer 
erhöhten, sittlicheren Lebensauffassung, oder nur in einer 
bessern Führung der Handlung, in einer bühnenmässigeren 
Technik? Ist Hauptmann aus dem frischen, unbekümmerten 
Naturburschen ein bewusster Nachfolger des selbstbeherrschten, 
tiefsinnig grübelnden, zuweilen beinahe künstlichen, nordischen 
Dramatikers geworden? 



- 22 ~ 



Die Wahl des Stoffes und der Hauptpersonen würde eine 
solche Stil Verfeinerung begünstigt, ja gefordert haben. Ein 
Gelehrter aus der modernen naturwissenschaftlichen Schule 
und eine von den noch vereinzelten Studentinnen und Pio- 
nieren der Frauenbewegung, Menschen, die die beste Bildung" 
ihres Jahrhunderts besitzen sollten, die an verfrühten idealen 
Forderungen scheitern, sie müssten sich wenigstens zuweilen 
merklich über das Alltägliche erheben, müssten uns den Ein- 
druck grosser geistiger Ueberlegenheit machen. Sonst werden 
wir den Gegensatz zu der geringeren Umgebung nicht em- 
pfinden, der Handlung bis zu dem unglücklichen Ausgang 
nicht mit stetig wachsender Teilnahme folgen können. 

Johannes Vockerat soll, der Idee nach, jene erhabene 
Unzufriedenheit verkörpern, die nicht aus Trägheit und Er- 
schlaffung seufzt, sondern wohl einsieht, dass wir uns trotz 
der Ungewissheit des Erfolges, ja trotz der erkannten Nich- 
tigkeit aller menschlichen Bestrebungen dennoch niemals der 
Mühe und Arbeit, des Kampfes ums geistige Dasein ent- 
sehlagen dürfen. Ihm zur Seite, als sein Gegensatz, wurde 
der Maler Braun in das Stück eingeführt, jene andere, ver- 
ächtliche Art von Misszufriedenheit darzustellen, aus der 
heraus ein verbummelter Künstler bequem blasiert und nörgelnd 
alles Streben und alle Strebenden verachten zu dürfen glaubt. 
Nur ist eben leider in der Schilderung der edel sein sollenden 
Unzufriedenheit das Uebergewicht durchweg vielmehr auf die 
Wirkung, die grössere Nervosität, als auf die Ursache, die 
grössere Begabung, gelegt worden. Johannes macht nicht 
den Kindruck einer genialen, wenn auch noch unfertigen 
Persönlichkeit, er macht nur den eines Xeurasthenikers von 
sitzender Lebensweise, wie sie zu Dutzenden in Nervenheil- 
anstalten zu finden sind. Nirgends gewinnt man die Ueber- 
zeugung, dass er unter günstigen Umständen das Beste leisten 
würde. Denn er ist nicht anders, wo kein Grund zur Zurück- 
haltung vorläge, in den Scenen mit Anna, die nach seiner 
Meinung alles weckt, was in ihm schlummert, löst, was ge- 
fangen liegt, stützt, was schwankend ist. „Ist es denn ein 
Verlust für Kitern, wenn ihr Sohn besser und tiefer wird, 
ein Verlust für eine Frau, wenn ihr Manu wächst und zu- 



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nimmt geistig?" fragt Johannes selbst im vierten Akt. Aber 
es ist die Schuld des Dichters, dass wir mit den Eltern und 
Frau Käthe nur zunehmende Reizbarkeit und Unruhe, sonst 
keinen Gewinn wahrnehmen können. 

Die Darstellung geistvoller Weiblichkeit ist gerade in der 
modernen Litteratur schon wiederholt vortrefflich gelungen, 
im Drama sowohl wie im Roman und in der Novelle. Halb aus 
Tendenz, halb zufällig überragt die Frau, wie die Neuern sie 
zu schildern lieben, an Verstand durchschnittlich den männ- 
lichen Gegenspieler. Ibsens weibliche Gestalten, die Frau 
Alving der „Gespenster", Hedda Gabler und Rebekka West, 
ferner Björnsons Leonarda, die Gabriele in Kiellands Novelle 
„Schnee", sie alle überzeugen uns, gleichsam ohne ihr Zuthun, 
auf die einfachste, natürlichste Weise von ihren ausgezeich- 
neten Geisteskräften. Dabei stehen diese Frauen im prakti- 
schen oder gesellschaftlichen Leben, sind nicht geistige Arbeiter 
von Beruf, haben nicht, wie Anna Mahr, den Vorzug einer 
geordneten Ausbildung und wissenschaftlichen Schulung. Mit 
Recht hat aber von ihr schon Georg Brandes in seinem kurzen 
Aufsatz über die ersten Dramen Hauptmanns in „Menschen 
und Werke" (1893) bemerkt, dass wir wohl hören, sie sei 
Studentin und sei sehr gescheit, dass aber ihre Klugheit 
nirgends so rocht zum Ausdruck komme. Ihr Verstand bewährt 
sich so wenig wie der ihres Partners, weder in der Theorie, 
in den Gesprächen mit Johannes und Braun, noch in der 
Praxis, wenn sie sich ihrer schwierigen Lage in der Familie 
Vockerat gewachsen zeigen und wenigstens den Versuch 
machen sollte, eine Lösung des Konfliktes herbeizuführen. 

Hier allerdings mangelt ebenso sehr wie die klare Einsicht 
ein klares Gefühl für das Schickliche. In der Anmerkung 
heisst es von ihr: ,,Eine gewisse Sicherheit im Auftreten, eine 
gewisse Lebhaftigkeit andrerseits ist durch Bescheidenheit und 
Takt derart gemildert, dass sie niemals das Weibliche der 
Erscheinung stört." Schon ihre Einführung, wie sie einem 
Bekannten, ohne dessen Vorwissen, in eine fremde Wohnung 
nacheilt, ist Wenig geeignet, diesen Satz zu bewähren. Noch 
viel schlimmer wirkt aber auf jede feine Empfindung ihr 
späteres Benehmen. Anna Mahr, die in der Familie Vockerat 



— 24 — 



auch dann noch über die Gebühr lange verweilt, als sie seihst 
schon fühlt, dass ihr die Mehrzahl der Mitglieder im Stillen 
die Gastfreundschaft aufgekündigt hat, ist keine echt weib- 
liche Erscheinung. Sie nimmt uns eher gegen die studierte 
Frau ein, was doch der Absicht des Verfassers gerade zuwider- 
läuft. Gerade das Gegenteil ist hier erreicht worden von dem, 
was der Verfasser wollte. Schon im dritten Akt fragt sie in 
aufdämmernder Erkenntnis: „Bist du nicht auch ein wenig 
froh, Käthe, dass ich nun gehe?" und auf Frau Käthes aus- 
weichende Antwort bestätigt sie: „Ja, ja! Es ist gut, dass 
ich gehe. Auf jeden Fall. Mama Vockerat sieht mich auch 
nicht mehr gern." Trotzdem kommt sie, nachdem sie von 
allen unter grosser Rührung Abschied genommen, mit Johannes 
wieder von der Bahn zurück und nistet sich aufs neue da 
ein, wo sie unter keinem Vorwand mehr etwas zu suchen 
hätte, bis im vierten Akt derselbe Braun, der so tief unter 
ihr steht, moralisch recht gegen sie behält, bis sie sich von 
der alten Frau Vockerat ohne weitere Umschweife bitten 
lassen muss, augenblicklich, noch in dieser Stunde, zu gehen. 
r Sie erniedrigen mich so sehr", erwidert sie, „mir ist zu Mut, 
als ob ich geschlagen würde' 4 , — eine recht schwache Abwehr 
der verdienten Kränkung! Und wenn Johannes im fünften 
Aufzug, beim letzten endgültigen Lebewohl, versichert: „Nichts 
Hohes, nichts Stolzes ist mehr in mir. Ich bin ein anderer 
geworden. Nicht einmal der bin ich in diesem Augenblicke, 
der ich war, ehe Sie zu uns kamen", und auch'gegen sie die 
Absicht verrät, seinem Leben ein Ende zu machen, wirkt sie 
nur sehr schwach mit allgemeinen Vorschlägen dagegen, misst 
sich aber — mit einer ähnlichen, eigentümlichen Unempfind- 
lichkeit wie der Sozialist Loth — keinen Augenblick irgend 
welche Schuld bei. Sähe Johannes die geliebte Freundin von 
Selbstvorwürfen gepeinigt, so könnte das ein stärkerer Antrieb 
für ihn werden, sich zusammenzuraffen, sie die Folgen ihres 
unüberlegt aufdringlichen Benehmens nicht tragen zu lassen, 
als jenes unbestimmte Lebens- und Leidensgesetz, das sie für 
die Zukunft aufzustellen versucht. 

Bei der Aufführung im „Deutschen Theater" am 21. März 1891, 
unter der Leitung von Adolf LArronge, blieb mit Hauptmanns 



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- 25 - 



Einwilligung der ganze dritte Akt weg und damit zum guten 
Glück die erste Abschiedsscene. Sehr viel wurde indessen 
für den beleidigten guten Geschmack durch die Kürzung nicht 
gewonnen. Fräulein Mahr erscheint im vierten und fünften 
Aufzug nicht als ein Eindringling in gutem Sinne, wie Frau 
Büchner und Ida, die sich nie ihrer Würde begeben und über- 
dies der nötigen Berechtigung, einzugreifen, nicht ermangeln. 
Es wäre so schwer nicht gewesen, auch Anna mit irgend 
einem Rechte auszustatten. Hätte sie nicht kommen können, 
mit Johannes zu arbeiten, im Auftrage eines Dritten, z. B. 
eines Verlegers, gemeinschaftlichen Lehrers und dergleichen? 

Braun ausgenommen, sind alle Personen dieses Stückes 
mit viel Empfindung begabt; Johannes ist ein sogenannter 
Gefühlsmensch, seine Eltern, seine Frau fliessen über von 
Güte und Zärtlichkeit, und auch Anna ist. durchaus nicht als 
kühle Verstandesnatur gedacht. Aber wenn wir von einem 
Werke sagen, dass es innig gefühlt sei, so gründet sich dieses 
Urteil nicht auf den Gefühlsüberschwang aller oder einzelner 
Personen, sondern wir meinen, dass es von Anfang bis zu Ende, 
unbeschadet der Grenzen und Eigentümlichkeiten der ver- 
schiedenen Charaktere, vom durchwirkenden, sichern, reinen 
Gefühl des Dichters getragen wird. 

In der geschickten Zeichnung im Einzelnen verleugnen 
Johannes und Anna die besondere Begabung ihres Urhebers 
nicht, und auch für die Nebenpersonen ist in dieser Hinsicht 
viel Vorzügliches geleistet worden. Braun vor allen gibt sehr 
treu die Anschauung seines — wie seine Kleidung trefflich 
bezeichnet ist — „modern schäbig gentilen" Wesens. Ihm 
kommt dabei eine natürliche Wortkargheit zu statten, während 
die Wirksamkeit der Uebrigen unter allzu grosser Redseligkeit 
leidet. Auch Schwatzhaftigkeit darf auf der Bühne nur 
markiert werden — glissez, n' appuyez pas — ; sonst zeigen 
sich nicht die Personen geschwätzig, sondern der Dichter. 

Im „Friedensfest" wird von Frau Buchner als besonderes 
Kennzeichen und im Gegensatz zu Frau Scholz angegeben, 
dass sie rein und gewählt spreche, und Frau Buchner ist doch 
von verhältnismässig einfacher Bildung. Hier berührt es nun 
sonderbar, dass Johannes, der Gebildete, Gelehrte, der Strebende, 



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- 26 - 

denselben Dialekt redet wie die Seinigen und Braun und kaum 
an herausgehobenen Stellen einer vollständigen Satzbildung- 
und Aussprache fähig ist. Man fühlt durchgängig im Dialog 
das Bestreben des Naturalisten heraus, platt und alltäglich zu 
bleiben, und zwar aus Prinzip und im allgemeinen, selbst im 
Gegensatz zu der jeweiligen Anforderung, dem geistig höhern 
Stand des Redenden. 

Das nämliche Zuviel, denselben auch im dritten Drama 
noch nicht abgeworfenen Superlativ, weist ausserdem wiederum 
der äussere Apparat auf. Diese Personen leben nicht im 
luftleeren Raum, hat ein bewährter Kritiker geschrieben. 
Wäre nur hier nicht der gute Fortschritt des zweiten Dramas 
zu Mass und Beschränkung wieder aufgegeben worden! Aber 
Hauptmann geht hier in der allzu genauen, lästigen Schilderung 
des täglichen Lebens auf seine anfängliche Arbeitsweise („Vor 
Sonnenaufgang") zurück. Frau Lehmann und die Amme, die 
Grünfrau und die Wespe — all das sind unnötige Hemmungen 
des Ganges der Dinge. Wenigstens der Kleiderständer hätte 
auf dem Vorplatze bleiben sollen. Die Familie Vockerat hat 
ihn im Ess- und Wohnzimmer stehen, wo dann durch das 
ganze Stück beständig jemand etwas aufhängt oder herab- 
nimmt, so dass er bei mehreren Aufführungen in den Ernst 
der Handlung hinein störende Heiterkeit erregte. Ebenso 
wirkte es komisch, dass das Zimmer — die einzige Scenerie 
des Stückes — allzu oft leer bleibt. 

Die „Einsamen Menschen" haben ihren Autor in den 
Augen vieler erst zu einem moralischen Dichter erhoben, weil 
das Anstössige und Gefährliche des Verhältnisses verschleiert 
wird, weil es sich durchweg nur um Gedankensünden handelt. 
Zwar bezeichnet Johannes die Auslegung, die seine Eltern 
dem intimen Verkehr mit Fräulein Anna geben, als eine Pro- 
stitution seiner Gedanken. Allein Anna sagt ausdrücklich im 
vierten Aufzug: „Wenn es Käthe gelänge — zu leben — 
neben mir, dann .... dann würde ich mir selbst doch nicht 
trauen können. In mir .... in uns ist etwas, was den ge- 
läuterten Beziehungen, die uns dämmern, feindlich ist, auf die 
Dauer auch überlegen." Darauf hat er keine Antwort; der 
Dichter erspart sie ihm, indem er die Mutter dazwischen treten 



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— 27 — 



lässt. E.s ist jedoch entschieden in den beiden etwas Sinnlieh- 
Uebersinnliches da, etwas Halbes, Verstecktes, Undeutlich- 
Unlauteres. Dies beständige Spielen auf der Grenze des 
Erlaubten und Unerlaubten liegt in den Charakteren" und in 
der Fabel. Verwerflich aber ist, dass der Dichter selbst hier 
die scharfe Grenze nicht sieht und nicht zieht. Tolstoi ist 
moralisch, wenn er in „Anna Karenina" die Sünde und ihre 
notwendigen Leidon zeichnet, ebenso moralisch wie Björnson, 
wenn er in „Leonarda" die Entsagung aus Liebe und Rücksicht 
auf ältere Rechte vor Augen führt. 

Nähmen wir indessen thatsächlich ein rein geistiges Ver- 
hältnis an, so wäre Johannes ein Mann ohne Leidenschaft, 
der ins Wasser geht , lediglich weil die an seinen Arbeiten 
Anteil nehmende, wahlverwandte Freundin sich entfernt. 
Allein zu stehen ist für den geistig Schaffenden eine schwere 
Entbehrung; wird aber schon dadurch das gewaltsame Ende 
genügend begründet und glaubhaft? Der Dichter selbst weist 
auf einen andern, viel wahrscheinlicheren Schluss hin, wenn 
er dies Drama, in seiner Widmung, in die Hände derjenigen 
legt, die es gelebt haben - also dem Müggelsee entgangen sind. 

Nichts verstimmt so sehr auf der Bühne wie solch ein 
Abschluss, nur damit das Stück seinen Abachluss findet. 
Günstiger noch wäre die Auslegung, dass sich Johannes aus 
allzu grosser Nervosität und Ueberreizung töte. Allgemein 
wird es ja laut, zunehmende Nervenschwäche sei die Krank- 
heit des Jahrhunderts und besonders des Endes des Jahr- 
hunderts. Das Pathologische ist allmählich ein fast notwen- 
diger Bestandteil des modernen Kunstwerkes geworden. Und 
der gefälligen Ratgeber sind denn auch reichlich vorhanden, 
die uns überreden wollen, alles und uns selbst aufzugeben, 
weil wir nun doch einmal mit geschwächten Nerven gestraft 
seien, wie Robert den Bruder halb hämisch, halb wohlwollend 
ermahnt, nicht an sich selbst zu arbeiten, nichts zu unter- 
nehmen, was er seiner ganzen Natur nach nicht leisten könne. 

Etwas Herrliches ist es gewiss um Gesundheit und unge- 
brochene Jugendkraft.; aber auch die Krankheit an sich kann 
mir noch niemand zum Vorwurf machen, wenn ich verstehe, 
trotz ihr zu leben, sie zu bezwingen, wenn ich aus der Not 



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- 28 — 



eine Tugend mache und die Fähigkeiten ausbilde und ins 
Grosse entwickle, die sie nicht zu rauben vermag, wenn meine 
Weltanschauung durch sie zwar verändert, aber nicht weniger 
erhebend sein wird als die eines innerlich Ruhigen, jugendlich 
Geniessenden, heiter Befriedigten. 

Völlig unbeherrschte Nervosität aber ist entweder heftige, 
den Willen ganz aufhebende Krankheit und als solche drama- 
tisch unbrauchbar, oder sie ist Charakterschwäche und als solche 
an einer Hauptperson ebenso tragisch untauglich. Hauptmann 
hat die vererbte, krankhaft schlimme Anlage im ,, Friedensfest" 
vorzüglich verwendet, indem er sie zu einem Hindernis, aber 
zu einem zu bekämpfenden Hindernis machte. In den „Ein- 
samen Menschen" herrscht die Nervosität als unbezwingliche 
Macht, als Fatum. 



IV. 



„Die Weber. a „Florian Geyer. a 

„Des Dichters Grossvater noch hatte täglich zwölf Stunden 
geweht und vierundzwanzig gehungert, wie es gerechter 
schlesischer Weberbrauch ist seit mehr als hundert Jahren", 
berichtet Paul Marx in seinem Aufsatz „Der schlesische Weber- 
aufstand in Dichtung und Wirklichkeit."*) Dort sind auch 
zeitgeschichtliche Quellen nachgewiesen, aus denen Haupt- 
mann für die Dichtung seines „Schauspiels aus den vierziger 
Jahren" (1892) die lebendige Ueberlieferung unter den Webern 
und in seiner Familie ergänzt hat, nämlich „Ueber die Not 
der Leinen weber" von Schneer, Regierungsassessor und Sekretär 
des Vereins zur Unterstützung der Webernot, der im kritischen 
Jahre 1844 gegen fünfzig Dörfer und kleinere Städte besuchte, 
und „Blüte und Verfall des schlesischen Leinengewerbes" von 
Alfred Zimmermann, dem das Verdienst gebührt, das Weber- 
lied aus dem Aktenstaub ausgegraben zu haben. Zwar mit 
künstlerischer Auswahl, aber sonst unverändert, d. h. ohne 
jegliche Uebertreibung, sei es in der Schilderung des Elends, 
sei es in der Charakterisierung der Schuldigen, der Fabrikanten 
und Behörden, sind die Geschehnisse aus diesen getreuen Zeit- 
bildern in „Die Weber" Hauptmanns herübergenommen 
worden. 

Der Verein zur Unterstützung der Webernot war lediglich 
Privatunternehmen mit Gustav Frey tag und den Grafen Dyhrn, 
York und Zieten an der Spitze; denn der Oberpräsident von 
Schlesien, Merkel, leugnete, dass ein Notstand bestehe, und 
die Regierung stellte sich, die Thätigkeit der Vereine miss- 
billigend, auf seim? Seite. Erst drei Jahre später, als der 



*) Magazin der Litteratur des In- und Auslandes. Jahrgang 1892. 



- 30 - 



Hungertyphus in den sehlesischen Gebirgen wütete, musste 
man sich auch in den Amtsstuben von der wahren Ursache 
des Aufruhrs von 1844 überzeugen, und in der ersten Herren- 
kurie des ersten vereinigten Landtages wurde durch den 
Fürsten Lipnowsky bestätigt, dass keinerlei revolutionäre und 
kommunistische Ideen, dass nur die bitterste Not die Weber 
zu ihren Ausschreitungen verführt hätte. „ Solange sie satt 
zu essen gehabt, haben Aufwiegler bei ihnen nie Gehör ge- 
funden. u Willkürliche Lohnschmälerungen und Abzüge unter 
allerlei Vorwänden, die besonders die Parchentweber im Eulen- 
gebirge gerade in der schwersten Zeit erdulden mussten, 
hatten den letzten, unmittelbaren Anlass zur Empörung gegeben. 

Dieser Anlass, wie der ganze Verlauf der Unruhen, dass 
die Aufständischen, das Lied absingend, am Hause des am 
meisten gehassten Fabrikanten Zwanziger in Peterswaldau 
(Hauptmann nennt ihn Dreissiger j vorüberziehen, dass er einen 
der Männer herausgreifen lässt und der Polizei übergiebt, dass 
sie wiederkommen und die Fenster einwerfen, dass der 
Fabrikant mit der Familie flieht und die Eingedrungenen 
alles im Hause zerschlagen und zerstören, dass sich derselbe 
Vorgang in Langenbielau bei einem zweiten Ausbeuter wieder- 
holt, bis zwei Kompagnien Infanterie aus Schweidnitz ein- 
rücken und den kleinen Aufruhr ebenso rasch, wie er ent- 
standen war, wieder dämpfen, das alles entwickelt sich im 
Drama genau wie in der Geschichte. Hier wie dort ist im 
Gefühls- und Gedankenleben der Weber nichts zu entdecken, 
weder von vormärzlich politischer Strömung noch von sozia- 
listischen Anschauungen, alles ist persönlich, das Leid und 
der Kampf gegen einzelne hartherzige Brotherren, nichts orga- 
nisiert und planvoll vorbereitet, alles nur plötzlich aufflackernd, 
schwach und armselig. „Aus individuellem Leid und indi- 
vidueller Grausamkeit 0 , schliesst Marx seinen Aufsatz, „wird 
sich keine Partei und kein System nutzbringende Regeln 
ableiten können." Dass dies trotzdem, besonders in Berlin, 
geschah, dürfte die Behörden da und dort bestimmt haben, 
die Aufführung des Stückes aus „ordnungspolizeilichen Grün- 
den" zu untersagen. Fehlt doch leider auch heutzutage noch 
nicht jeder Anlass zur Unruhe in den sehlesischen Bergen. 



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- 31 - 



Erst 1890, im schlechten Erntejahr, waren aufs neue die Auf- 
rufe und Bitten um Unterstützung durch die Zeitungen ge- 
gangen. 

Indessen, ist auch die Grundlage des Schauspiels geschicht- 
lich und wahrheitsgetreu, so mochte die politische Tendenz 
doch in der Wahl des Stoffes zu suchen sein. Schon in 
seinen früheren Werken hatte Hauptmann die soziale Frage 
aufgegriffen oder wenigstens gestreift. Aher Loth sowohl wie 
Braun, „der gewisse sozial-ethische Ideen imputiert erhalten 
hat", sind ganz unparteiisch, mit scharfer Kritik und feiner 
Gerechtigkeit gezeichnet. Mehr noch, wenn es gälte, den 
Verfasser der „Weber" gegen solche Vorwürfe zu verteidigen, 
würde das „Promethidenlos" zu seiner Entlastung dienen 
können. Als der junge Seefahrer in dieser Dichtung nach 
Neapel kommt, verschliesst er seine Augen zaghaft vor der 
„Schönheit holdem Gruss", weil der nicht wert sei, den Himmel 
zu empfangen, dem hier, an der Stätte des Elendes, der 
Armut und des Lasters, nicht jeglicher Genuss vergällt würde. 
Derselbe Geist des Mitleides, der das Gemüt des warmherzigen, 
noch so jugendlichen Dichters selbst in Italien ergriff, wo alle 
seine Vorgänger zu Freudengesängen begeistert worden, hat 
ihm, durch pietätvolle Familienerinnerungen bestärkt, die 
Geschichte von der Webernot zum lebendigen Stoff werden 
lassen, hat ihn angetrieben, „die Seufzer viel 4 ' zu zählen dieser 
Armen und Tausende aufzurufen „als Zeugen von dem Jammer". 

Die Exposition führt in einen grossen Raum im Hause 
des Fabrikanten Dreissiger in Peterswaldau, wo die Webers- 
leute gegen Mittag angesammelt sind, um die fertigen Gewebe 
abzuliefern und von den Beamten prüfen zu lassen. „Wie 
vor die Schranken des Gerichtes gestellt, wo sie in peinigender 
Gespanntheit eine Entscheidung über Tod und Leben zu er- 
warten haben", harren sie auf die Anweisung des Hunger- 
lohnes. Die wenigen W T orte, die die Manipulation begleiten, 
weihen uns in die ganze Abhängigkeit und Not der Arbeit- 
nehmer ein und kennzeichnen ebenso kurz und treffend die 
Beamten als Leute aus demselben Stand, die nun, zu sicherem 
Verdienst gekommen und geschützt, auf alle Bitten und Klagen 
nur mit rohem Spott antworten. Ob die Weber mit Namen 



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aufgeführt werden, Heiber, Reimann, der alte Baumert, oder 
nur als erste Weberfrau, erster alter Weber u. s. w., jeder 
ist das bestimmt unterschiedene Individuum in der beim ersten 
Anblick gleichartigen Menge, jeder erhielt neben den typischen 
noch seine besondern, ihm allein gehörigen Züge. Der eine 
ist verzagter und bitterer, der andre in derselben Lage ge- 
fasster; ein alter Weber redet noch Mut zu, wo Baumert und 
Heiber jeden Widerstand meinen aufgeben zu müssen. Hier 
schon revoltiert Bäcker, der spätere Anführer des Aufstandes, 
und das Personal der Geschäftsstube holt den Fabrikanten 
gegen ihn zu Hilfe. Er meint, dass es ihm egal sei. ob er 
am Webstuhl verhungere oder im Strassengraben. Der junge 
Bursche kann eher etwas wagen als die von den qualvollsten 
Sorgen um das blosse, nackte Leben ihrer Angehörigen ge- 
ängstigten Familienväter. 

Ein kleiner Knabe, der indessen im Gedränge wie tot 
umfällt und erwachend haucht „Mich hungert*', giebt Anlass 
zu einer lügenhaften, schönfärbenden Anrede Dreissigers und 
zu Aeusserungen der Weber, die verraten, wie es überall in 
den kinderreichen Familien beschaffen ist. Bäcker entfernt 
sich höhnend und aufstachelnd, aber jetzt folgt ihm noch 
keiner; noch hoffen sie in Güte, über die Köpfe der Ange- 
stellten hinweg, vom Herrn selbst ein paar Groschen Vorschuss 
oder wenigstens den ungeschmälerten Lohn zu erlangen. Und 
da ihnen dieser in naiver Habgier und Gefühllosigkeit seine 
Güte und Hilfsbereitschaft rühmt, da er fragt: „Ist das wahr, 
bin ich so unbarmherzig?" antworten viele Stimmen: „Nee, 
Herr Dreissiger!" Und auf die weitere Frage: „Kann ein 
Arbeiter, der seine Sachen zusammenhält, bei mir auskommen 
oder nicht? 44 antworten sehr viele: „Ja, Herr Dreissiger. 44 
Die erste Weberfrau putzt ihm mit kriechender Demut den 
Staub vom Rocke: „Sie haben sich a brinkel angestrichen, 
gnädiger Herr Dreissiger", und alle drängen sich ihm schüch- 
tern und doch verzweifelt, mit Klagen über die Beamten, mit 
Schmeicheleien und stotternden Bitten in den Weg. Er stellt 
ihnen neue Aufträge, aber bei noch geringerem Lohnsatz, in 
Aussicht und entweicht vor den Hilflosen in seine Schreibstube. 
Die Not, die sich im ersten Bilde, in der Oeffentliehkeit, 



- 33 - 



noch hinter einem gewissen, mühsam aufrecht erhaltenen 
Anstand zu verbergen sucht, tritt uns im zweiten Aufzug, in 
dem kleinen, von sechs Personen bewohnten Weberstübchen 
der Familie Baumert in Entsetzen erregender Gestalt vor 
Augen. Jeder hier geäusserte Gedanke entspricht der Fas- 
sungskraft dieser Aermsten, jede gewählte Wort- und Satzform 
giebt ihr Gefühl ausdrucksvoll, schlicht und ergreifend wieder, 
ihre bestimmte, treuherzige Anschauung von Moral, Recht- 
schaffenheit und Religion. Neunzehntel aller Leser und Hörer 
haben gewiss niemals Einblick gehabt in solche Hütten, wo 
der Mensch nicht leben und nicht sterben kann. 

Am späten Feierabend pochen noch die Webstühle und 
summen die Räder. Kein Körnchen Salz oder Stäubchen Mehl 
ist mehr im Hause, als die Nachbarin für ihre verhungernden 
Kinder betteln kommt, und der alte Baumert hat ein zuge- 
laufenes Hündchen mitgenommen, um es zur Nahrung ab- 
schlachten zu lassen. Er kommt von Peters Waldau, wo er 
mit den andern abgeliefert hat, und bringt Besuch mit, den 
Moritz Jäger, einen strammen Burschen, der in Berlin Soldat 
gewesen. Er hat ganze Kleider auf dem Leibe, besitzt einige 
Thaler Erspartes und sogar eine silberne Uhr, und ungemein 
rührend ist nun die kindliche Bewunderung seiner armen Ver- 
wandten für diese Herrlichkeiten und der Gegensatz ihrer 
Dürftigkeit zu seinem Reichtum. Der Häusler, der alte Korb- 
flechter Ansorge, findet sich ein, den Zurückgekehrten zu 
begrüssen, von dem Branntwein mitzutrinken, den Jäger 
spendet, und mit ihm, der „Bildung hat und weiss wie's in 
d'r Welt draussen zugeht", über die Gründe ihrer hoffnungs- 
losen Verarmung und den Uebermut der Reichen zu philo- 
sophieren. Der Branntwein und Jägers aufreizende Worte 
erregen allmählich die Gemüter, und als er das neue Weberlied, 
das ,,BIuttgericht", schülerhaft buchstabierend, schlecht be- 
tonend, aber mit unverkennbar starkem Gefühl vorliest, werden 
alle fanatisiert, die Frauen weinen, die Männer sind zu einem 
ohnmächtigen, zitternden Ingrimm aufgestachelt. 

Alle bestätigen, in natürlicher und geschickter Abwechs- 
lung, die Wahrheit der unbeholfenen , aber ausserordentlich 
eindringlichen und echten Verse des Liedes, die 1844 von 

3 



- 34 - 



Mund zu Mund gingen, ohne dass jemand den Verfasser zu 

nennen gewusst hätte, sie wiederholen einzelne, besonders 

packende Worte wie „Satansbrut", und Verszeilen wie: 

„Hier werden Seufzer viel gezählt 
Als Zeugen von dem Jammer" 

oder: 

„Ihr fresst der Armen Hab' und Gut, 
Und Fluch wird euch zum Lohne", — 

bis der alte Baumert hingerissen zu deliranter Raserei auf- 
springt und, seine abgemagerten Arme vorreckend, alle zum 
Zeugen anruft, dass er sein Leben lang ein braver Mensch 
gewesen, und wie es ihm nun gelohnt werde, und Ansorge, 
seinen Korb in die Ecke schleudernd, am ganzen Leibe vor 
Wut bebend, hervorstammelt: „Und das muss anderscher wern, 
Sprech ich, jetzt uf der Stelle. Mir leidens nimehr, mag kommen 
was will." 

Der Schauplatz des dritten Aufzuges ist das Gasthaus zu 
Peterswaldau, wodurch wieder eine bewegtere Scene zu schaffen 
Gelegenheit geboten wird. Nach und nach finden sich in der 
Wirtsstube, wie von ungefähr, Vertreter aller Parteien ein, 
die an der Not der Weber und dem neu eingezogenen rebel- 
lischen Geiste näheres oder entfernteres Interesse haben. Die 
Unterdrückten selbst treten in grösserer Anzahl auf, alte und 
junge Weber; die besitzende Klasse ist durch ihre Untergebenen 
und Anhänger vertreten. Zwischen den beiden Parteien steht 
der Wirt, gleichmütig und phlegmatisch, beschwichtigend und 
zur Ruhe mahnend. Ungezwungen erhält das Gespräch durch 
jeden Neuhinzukommenden eine andre Richtung, bald rück- 
wärts führend zu weiterer Aufklärung über die allgemeine 
Lage, bald vorwärts mit Drohung auf die Zukunft weisend. 
Jeder trägt nach Stand, Auffassung und geistigem Vermögen, 
zur rechten Zeit und an der rechten Stelle, zur innern und 
äussern Bewegung der Scene bei, so dass trotz aller Lebhaf- 
tigkeit nirgends Unruhe und Verwirrung entsteht. 

Mit kluger Erfindung wird hauptsächlich der Lumpen- 
sammler Hornig als Sprecher für die Industriearbeiter benutzt, 
und der kleine, O-beinige Alte mit dem Ziehhund um Brust 
und Schulter macht zudem eine prächtig originelle Figur. Das 



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Land auf- und abwandernd, kennt er wie keiner die trost- 
losen Zustände, ist klug, gutmütig, neugierig, mitleidig, 
schwatzhaft. Weniger breit, aber ebenfalls sehr charakteristisch 
ausgeführt, stellt sich ihm später der Schmied Wittig zur 
Seite. Dieser, ein schon Aufgeklärter, der von „Robspiir" 
und der Revolution redet, ist jähzornig und, wie es sein 
Geschäft mit sich bringt, in allem gewaltsamer als die zahmen 
Weber, hat aber doch das Herz auf dem rechten Flecke. Er 
und Bäcker binden mit dem Gensdann Kutsche an. Wittig 
hält ihm höhnisch und zornig sein reiches Sündenregister vor; 
Kutsche erwidert mit Drohungen und verbietet vor seinem 
beschleunigten Rückzug allen im Namen des. Polizei Verwalters, 
ferner noch das Weberlied zu singen. Da erhebt sich Bäcker, 
stimmt an, und selbst die alten Weber, die kurz vorher noch 
abgewehrt haben, folgen den Singenden durchs Dorf. Und 
der Lumpensammler mit dem natürlich-scharfen Verstände und 
der feinen Beobachtungsgabe findet als Deutung der allgemein 
wachsenden Gärung das in seiner treffenden Kürze nun schon 
geflügelte Schluss wort: „A jeder Mensch hat halt 'ne Sehnsucht !" 

Die Vorgänge des vierten Aufzuges im Prunkzimmer 
Dreissigers, wo Herr und Frau Pastor Kittelhaus als Gäste 
anwesend sind, schliessen sich unmittelbar an die des dritten 
an. In der Wirtshausscene bespricht der fremde Konfektions- 
reisende die auffallend grossen Begräbnisfeierlichkeiten der 
Weber und meint, das müsse doch der Pastor den Leuten 
ausreden. Darauf erwidert der Tischler, dass das so ein 
„Aberglaube und Unverständlichkeit" der hiesigen armen 
Bevölkerungsklasse sei, dass aber auch die Herren Pfarrer, 
den alten Gebräuchen folgend, die stillen Begängnisse, wo 
keine „Ollertorien" tliessen, nur widerstrebend duldeten. Das 
wirft im Voraus Licht auf die Stellung des Pastors zur 
Gemeinde. Zwar aus Amtsgewohnheit und Temperament 
freundlich und milde gegen jedermann , aber- stumpf vom 
Alter und nicht sehr scharfsinnig von Natur, auf die Gebühren 
des Einzelnen angewiesen und durch den dreissigjährigen 
Anblick an das Elend um ihn so gewöhnt, dass er, seiner 
Meinung nach, nichts weg-, wohl aber durch unberufene Ein- 
mischung noch hinzuthun könne, verurteilt Pastor Kittelhaus 

3* 



gleich zu Anfang des Aktes im Gespräch mit dem Kandidaten 
und Hauslehrer Reinhold den sozialen Eifer mancher Seel- 
sorger. Die wollen thatkräftig eingreifen, verfassen Aufrufe 
und gründen Vereine; er ist nicht nur ruhig geworden und 
lässt den lieben Gott walten, sondern hält sich auch instinktiv 
zu den wenigen Wohlhabenden seines Sprengeis. So fällt, 
von ihm im Stiche gelassen, hier oben als erstes Opfer des 
Aufstandes der Kandidat. Er hat es gewagt, die Weber, die 
sich wiederum vor dem Hause angesammelt haben und das 
Lied absingen, schüchtern zu entschuldigen, und verliert, selbst 
ein Armer, sofort sein Brot bei dem Fabrikanten. 

Eine Strophe des verpönten Gesanges beginnt: 
„Die Herr'n Dreissiger die Henker sind, 
Die Diener ihre Schergen", 

ja er wird auch direkt das Dreissigerlied genannt. Der traurige 
Held ist ein Mann in den besten Jahren, aber fettleibig und 
asthmatisch. Er hat es nur gehalten wie alle, seine Vorfahren 
und die andern Fabrikanten ringsum, hat sich auch nicht 
allzu viel dabei gedacht, als er, die schlechten Zeiten und 
die grosse Anzahl der verfügbaren Arbeitskräfte nutzend, 
immer reichern Profit für sich herausgeschlagen. Da nun der 
Hunger die sonst so demütigen und geduldigen Weber zu 
Widersetzlichkeiten treibt, ist er anfänglich äusserst verwundert, 
dass ihm nicht hingehen soll, was so viele ungestraft gethan 
haben, verteidigt sich naiv bei den Webern, ja bei dem 
Tischler, der seine Doppelfenster herausnimmt, besonders aber 
jetzt vor dem Pastor und fragt noch in der Stunde der Be- 
drohnis ängstlich und betroffen: „Bin ich denn ein Tyrann, 
ein Menschenschinder?" Selbst ein gewöhnlicher Durchschnitts- 
mensch, im Guten wie im Bösen, ist er mit einer ungebildeten, 
hübschen Wirtstochter verheiratet, die ihm durch ihre Launen 
das Leben sauer macht und sich in der Gefahr völlig fas- 
sungslos zeigt. 

Dass diese eigentlichen Urheber der ganzen Bewegung 
so nichtsbedeutende Menschen sind, erbärmlich und ohne Halt 
in jeder ausserordentlichen Lage und unfähig, einen seelischen 
Konflikt zu erleben, verschuldet die geringe dramatische 
Spannung des Aufzuges im „Vorderhause", obwohl auch hier 



Haupt- und Nebenpersonen bis hinab zum Kutscher physio- 
gnomisch fein unterschieden sind und die Ereignisse, von der 
versuchten Festnahme Jägers an bis zur Flucht der Familie, 
sich rasch genug abspielen. Sie rettet sich vor den das Haus 
stürmenden Aufständischen durch die Hinterthüre in den bereit 
stehenden Wagen. 

Einige Sekunden bleibt die Bühne leer. Dann kommen 
die Weber herauf, erst leise und schüchtern, junge Burschen 
und Mädchen, ärmliche, kränkliche, zerlumpte Gestalten, und 
verteilen sich im Zimmer und Salon, zunächst alles neugierig 
scheu betrachtend. Bald stürzen Jäger, Bäcker, der Schmied, 
Baumert und viele alte und junge Weber herein, auf der 
Suche nach dem Menschenschinder und seinen Schergen. 
Weil sie ihn nicht rinden, soll er wenigstens arm werden wie 
eine Kirchenmaus: wild drängen sie in alle Räume, das Zer- 
störungswerk zu beginnen. Aber so gut auch in dieser Scene 
anfänglich Armut und Zaghaftigkeit der Eingedrungenen mit 
dem kalt überladenen Prunke der Einrichtung, dann ihre Wut 
und Entschlossenheit mit dem feigen Gebaren der kurz vorher 
geflüchteten Besitzer kontrastiert: der geschickt eingeleitete 
Massenauftritt verläuft matt und dünn in einer geschwätzigen 
Betrachtung des alten Ansorge, wie er daher komme und ob 
er verrückt geworden sei — ohne jegliche Steigerung, ohne 
zusammenfassende kräftige Schlusswirkung. 

In dem alten Weberliede wird den Reichen Unglaube 
vorgeworfen und mit der Gerechtigkeit des ewigen Richters 
gedroht: 

„Wenn ihr dereinst nach dieser Zeit, 
Nach euerm Freudenleben, 
Dort, dort in jener Ewigkeit 
Sollt Rechenschaft abgeben . . 

Hauptmann hat diese, wie manche andre Strophe, die er nicht 
vorlesen und singen lassen konnte, in Prosa aufgelöst und 
an die einzelnen Ankläger im Stücke verteilt. Schon im 
zweiten Aufzuge giebt Ansorge als eine der Hauptursachen 
der schlechten Zeiten an , dass der hohe Stand an keinen 
Herrgott und Teufel mehr glaube und von Geboten und Strafe 
nichts wisse. Und in der Wirtsstube erhebt sich ein alter 



— 38 — 



Weher, um vom (leiste getrieben zu sprechen von einem 
Gericht in der Luft und vom Herre Zebaot, wörtlich die Zeilen 
anführend : 

„Doch ha, sie glauben keinen Gott, 
Noch weder Holl noch Himmel — 
Religion ist nur ihr Spott " 

Im fünften Akte nun sind diese vorbereitenden Züge 
gesammelt und verstärkt zu dem Bilde eines Bekenners, ist 
der fromme, gläubige Sinn unter den Webern, ihre zum 
Mystischen neigende religiöse Richtung verkörpert in dem 
seltsamen Dulder und Grübler, dem einarmigen Veteranen mit 
den tiefliegenden, wunden Weberaugen, dem Ehrfurcht ge- 
bietenden Vater Hilse. Während seine Brüder stürmisch 
Gerechtigkeit und Menschlichkeit verlangen, erreicht der Geist 
der frommen Entsagung und Ueberwindung in dem von Arbeit, 
Krankheit und Strapazen aufgezehrten Greise die Kraft zur 
äussersten Selbstaufopferung, ja zum Martyrium. Vierzig und 
mehr Jahre hat er die bitterste Mühsal Tag für Tag geduldig 
auf sich genommen, als patriarchalisches Oberhaupt der Familie 
den Seinigen in Hunger und Kummer mit tröstlichem Beispiel 
voranleuchtend, und im Gefühl unverschuldeter Leiden und 
erlittenen l'nreehts nur den einen Gedanken hegend, der 
Reiche habe seinen Teil hier, er in jener Welt, und die Rache 
sei des Herrn. Er ist gleichsam das Höchste, was diese Klasse 
anner Arbeiter hervorzubringen vermag, geläuterter ethischer 
Gehalt im bescheidensten Gefässe. Die hier notwendig sehr 
einfach, ja einfältig zu haltende Ausdrucksweise erschwert 
die dichterische Darstellung eines so eigentümlichen, alle 
Merkmale seines Geschäftes und niederen Standes an sich 
tragenden und dabei so versonnenen und schon ganz von 
dieser Welt abgelösten Glaubenshelden. Aber Hauptmann hat 
die Schwierigkeit, glänzend überwunden; sein Weber Hilse 
wirkt ebenso lebensvoll und wahr wie Tolstois volkstümliche, 
vom Evangelium überwältigte und geführte Heilige hinter 
dem Pfluge, am Werktisch oder im Gefängnisse. 

Hilse und seine Frau, die ihm treu folgt auf dem schmalen 
Weg, wollen ihr ewiges Erbe nicht noch in letzter Stunde 
verlieren. Der Armen sind die „Lichtadern" vertrocknet vom 



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- 80 - 



Staub und Weben bei Licht. Blind und schwerhörig versteht 
sie nur halb, was un> sie vorgeht, verschmäht jedoch sofort 
das erbeutete Huhn, das ihr Baumert bringen will. Das greise 
Paar allein erweist sich stark in der Versuchung, während 
ihr Sohn Gottlieb nach längerem Schwanken zwischen den 
Ermahnungen des Vaters und dem aufreizenden Hohn seiner 
jungen Frau zuletzt mit der Axt in der Hand forteilt, sich 
den Aufständischen anzuschliessen. Durch die junge Frau, 
eine heftige, mutige Natur, wird hier zum erstenmale im 
Stück ein eigentlich dramatischer Konflikt hervorgebracht. 
Sie ist Mutter, sie hat vier Kinder begraben müssen, hat sich 
den Kopf zerklaubt, wie sie „so ein Kindel könnt um den 
Kirchhof rumpaschen'*, hat sich die Füsse blutig gelaufen um 
ein einziges Neigel Buttermilch, wenn die Männer gebetet 
und gesungen haben. Dass sie nicht um ihrer selbst willen, 
sondern aus Kummer um ihr« toten und aus Sorge um ihr 
lebendes Kind, voller Grimm und Rachgier ist, dem Fabrikanten 
die Hölle und Pest in den Rachen wünscht und Mann und 
Schwiegervater, „die Gebetbichelhengste, die Kerle, die dreimal 
dank schön sage für eine Tracht Prügel*', mit frechem Spott 
und Schimpfreden überhäuft, diese trefflich gezeichnete wilde, 
gekränkte Mutterschaft mildert für uns die Roheit ihrer 
Gefühlsausbrüche und erhebt die Gestalt ins Tragische. Die 
Scene ist Hilses enges, niedriges Weberstübchen in Langen- 
bielau. Durch die offene Thür erblickt man den Hausgang 
mit einer baufälligen Holztreppe zur Dachwohnung, und gegen- 
über das ähnliche, ebenfalls offene Stübchen des Sohnes. 
Beim Aufgehn des Vorhangs hat Vater Hilse die Seinigen, 
ein selbstverfasstes Gebet vorsprechend, zur Morgenandacht 
um sich vereinigt. Aber kaum hat sich jedes an die Arbeit 
begeben, als Pfornig und kurze Zeit darnach Chirurgus Schmidt, 
erscheinen, um, jeder in seiner besonderen Art, vom Aufstande 
in Peterswaldau zu schwatzen und anzukündigen, dass die 
Rebellen, an fünfzehnhundert Mann stark, auf dem Wege hieher 
seien, auch in Langenbielau Gericht über die Brotherren zu 
halten. Man hört fernes und bald darauf nahes Glockenläuten 
und das vielhundertstimmig gesungene, wie ein dumpfes, 
monotones Wehklagen klingende Weberlied. Es kommt Leben 



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40 — 



ins Haus; an der Zimmerthüre haben sich die übrigen Be- 
wohner gesammelt, die den Neuigkeiten begierig lauschen, 
und ein wenig später, als die Aufruhrer beginnen, die Besitzung 
des Fabrikanten gegenüber zu stürmen, entsteht ein lebhaftes 
Hin-und-her. Erst kommen und gehen bloss die Neugierigen, 
zuletzt die Beteiligten und Anführer selbst — Jäger, Bäcker 
und andere — , die, von Hütte zu Hütte laufend, alle „Hunger- 
leider'* auffordern, sich ihnen zuzugesellen. Wie in der Wirts- 
hausscene, giebt das wechselnde Auftreten vieler Personen, 
neben dem Eindruck der äussern Geschehnisse und der 
wachsenden Rebellion, immer wieder Anlass zur Entwicklung 
des Wesens und der Anschauungen eines jeden Einzelnen, 
besonders des alten Hilse und der jungen Frau. Die Stimmen 
der Hausbewohner, die von draussen hereindringen, bilden 
eine Art Chor, vermitteln dem Vater Hilse und zugleich dem 
Zuschauer das Bild und den Fortgang aller Ereignisse. Als 
der Einzug des Militärs gemeldet wird, entfernen sich die 
Kampflustigen und drängen sieh die Zurückgebliebenen im 
Hause zusammen. Eine Salve kracht; Hilse betet mit aufge- 
hobenen Händen für seine armen Brüder — ein Verwundeter 
wird durchs Haus getragen, Angstgeschrei und Hurrahrufen 
ertönt. Aller Warnung zum Trotz beharrt Vater Hilse am 
Fenster im Webstuhl: da wo ihn sein himmlischer Vater hin- 
gesetzt hat, da bleibt er sitzen und thut, was er schuldig ist. 
Eine neue Salve — und zu Tode getroffen, fällt er vornüber 
auf den Webstuhl, erlöst von dem „Häufchen Himmelsangst 
und Schinderei, was man Leben nennt:'. 

Die poetische Berechtigung einer so grassen Schilderung 
der Wirklichkeit ist ebenso heftig, ja fast noch mehr ange- 
fochten worden als die Berechtigung, soziale Fragen auf der 
Bühne zu entscheiden. Was unsere Brüder und Schwestern 
im Leben erdulden müssen, das wollen auch heutzutage noch 
viele nicht in der ungemilderten Nachahmung ertragen. Von 
unsern Vorfahren erzählt Gustav Freytag*), dass die Gebil- 
deten unter ihnen, ungefähr gerade vor hundert Jahren, in 
der frohen Empfindung eines idealen Inhaltes dem Volke 

*) „Aus neuer Zeit", Seite 319 ff. 



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- 41 - 



gegenüberstanden. „Freilich im stillen Herzen empfanden sie 
selbst ein Missbehagen. Die Thatsachen des Lebens, welches 
sie umgab, standen oft in schneidendem Gegensatz zvi den 
idealen Forderungen, welche sie stellten. Wenn der Bauer 
wie ein Lasttier arbeitete, der Soldat vor ihren Fenstern Spiess- 
ruten lief, dann blieb, so schien es ihnen, nichts übrig, als 
das Studierzimmer zu schliessen und Auge und Sinn in Zeiten 
zu versenken, wo solche Barbarei nicht verletzte. " — Bald 
darauf drangen Schrecken und Greuel aller Art bis in diese 
stillen, bisher sorgsam gehüteten Studierwinkel, geriet fast 
jeder in eine Lage, die praktischen Widerstand erforderte und 
nicht mehr gestattete, in die Vergangenheit zu flüchten. Schon 
Goethen erschien, als er aus dem französischen Feldzug 1702 
zurückkehrte, die Kluft zwischen dem wirklichen Leben, wie 
er es nun erkannte, und jenen stillen Idealen unüberbrückbar. 
Er selbst bezeichnet seinen Sinn um diese Zeit gegen Kunst, 
Natur und Welt gewendet, durch eine schreckliche Kampagne 
verhärtet. Und aufs bestimmteste fühlte er, dass es sich in 
dieser Welt „etwa bloss so mit der Leier in der Hand" nicht 
leben lasse. Goethe war kein Dichter mehr, fügt Heinrich 
von Stein*) diesen seinen Ausführungen hinzu. Das heisst: 
für den Augenblick kein Dichter mehr. Wie aber, wenn 
Apollos Gaben einem Sterblichen zu teil werden, in dessen 
Dasein die «lüstern, ja die widrigen Eindrücke andauernd 
überwiegen? Und wenn dadurch sein Talent eine Richtung 
auf das Wirkliche erhält, nicht auf poetische Weltüucht und 
optimistische Verklärung der Dinge? Soll ein Dostojewski 
verstummen, weil er seine Jugend, nach fürchterlichen seeli- 
schen Erschütterungen und körperlichen Peinigungen, hat in 
einem sibirischen Gefängnisse verbringen müssen? Und wird 
es nicht immer wieder Menschen geben, die, künstlerisch ver- 
anlagt, aber durch körperliche Leiden, durch Armut und 
schwere Schicksale gepeinigt, ihr ästhetisches Bedürfnis am 
liebsten an den Schöpfungen eines Gefährten in der Trübsal 
befriedigen? Ihnen dürften, wenigstens zu Zeiten, glücklichere 



*) Goethe und Schiller. Beiträge zur Aesthetik der deutschen 
Klassiker. Leipzig, Reclam. S. 13. 



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— 42 — 



Sänger aus denselben Gründen Stimmen einer fremdartigen 
Welt sein, aus denen Goethe 1792 kein Dichter mehr war 
und sein konnte. 

Aber Dostojewskis Schilderungen der sibirischen Ver- 
brecherwelt, des gestörten Seelenlebens, der bittersten Armut 
u. s. w. sind alle in epischer Form, in der selbst die scho- 
nungslose Darstellung von Jammer und Elend, von Greueln 
und Grausamkeiten weniger stark und aufregend wirkt als 
im Drama die blosse Andeutung. In einigen Scenen der 
Weber wird das Mitleid beeinträchtigt durch Ekel — auch 
bei dem gerechten und tapfern Zuschauer, der gewohnt ist, 
im Leben dem Schlimmen unerschrocken entgegen zu blicken. 
Andere erscheinen thatsächlich geeignet, die Leidenschaften 
der Massen zu erwecken, wenigstens da, wo schon Gärung 
vorhanden ist. Zu diesen beiden äussern Gründen für die 
Wahl der erzählenden Form hätte sich als dritter, ästhetischer, 
die spröde Art des Stoffes gesellen können. Die Fabel des 
Weberaufstandes an sich ist nicht dramatisch, und sie wurde 
vom Dichter nicht, zum dramatischen Zweck um- und auf- 
gebaut. Er giebt fünf ziemlich los zusammenhängende Bilder, 
jedes mit vielen neuen Personen. Zwar den einzelnen dieser 
vorzüglichen Kapitel aus dem Volksleben lässt sich Mittelpunkt 
und Hundung nicht absprechen. Allein das Ganze ist ein 
blosses Nacheinander; es sind fünf aufgereihte Kreise, die 
sich nur an den Peripherien berühren oder leise schneiden. 
Das genügte für eine epische Schilderung. 

Auch lesen sich schon die umfangreichen Bühnenanwei- 
sungen wie sehr gute Stellen aus einer Erzählung. So anschau- 
lich und erschütternd kann uns die Erscheinung der Weber 
auf der Bühne niemals nahe gebracht werden, seien die 
Masken noch so treu gewählt, wie sie der Dichter beschreibend 
der Einbildungskraft lebendig zu machen versteht. „Allen", 
heisst es da, „haftet etwas Gedrücktes, dem Almosenempfänger 
Eigentümliches an, der, von Demütigung zu Demütigung 
schreitend, im Bewusstsein, nur geduldet zu sein, sich so 
klein wie möglich zu machen gewohnt isi. Dazu kommt ein 
starrer Zug resultatlosen Grübelns in aller Mienen. Die Männer, 
einander ähnelnd, halb zwerghaft, halb schulmeisterlich, sind 



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in der Mehrzahl flach brüstige, hüstelnde, ärmliche Menschen 
u. s. w. . . . Ihre Weiber zeigen weniger Typisches auf den 
ersten Blick; sie sind aufgelöst, gehetzt, abgetrieben, während 
die Männer eine gewisse klägliche Gravität noch zur Schau 
tragen" u. s. w. Bestimmter und plastischer kann die eigen- 
tümliche Gestalt der „Geschöpfe des Webstuhles mit den , 
gekrümmten Knieen und der schmutzig-blassen Gesichts- 
farbe" nicht bezeichnet werden. Das ist ihr ganzer physio- 
logisch-psychologischer Habitus, der jeden, dem sie zum 
erstenmale im Leben begegnen, so sonderbar anmutet, Mitleid 
und Achtung und Vertrauen zugleich erregend. So sind auch 
die Merkmale aller übrigen Personen, Tracht, Haltung, Gang 
u. s. w., dann alle Nebenumstände, die Räume und Umge- 
bungen u. s. w. so vollständig gegeben, dass kaum noch 
einige verbindende Striche fehlten, noch ein wenig Landschaft 
und Dorfleben als Hintergrund etwa, und wir besässen ein 
modernes episches Werk, wenn nicht vom gleichen Umfang 
wie Tolstois grosse Romane, so doch von gleicher künst- 
lerischer Kraft. Der meisterhaft geführte Dialog, die drama- 
tische Kürze und Schärfe (1er einzelnen Vorgänge würden zur 
Gewalt und Schönheit des Romanos der Weber unendlich 
beitragen. Denn die epische Gattung vermag von der höhern 
dramatischen mit Vorteil zu borgen , nicht aber umgekehrt. 
Die jungen Deutschen aber wollen alle mit dem Baumeister 
Solness nur noch Türme bauen und teilen Ibsens Gering- 
schätzung der erzählenden Form, der im Gespräch mit einem 
deutschen Freund, auf Gottfried Kellers Bedeutung aufmerksam 
gemacht, zuletzt nur die trockene Frage hatte: „Schrieb dieser 
Dichter auch Dramen?" 

Jedoch, in die geeignete Form gegossen oder nicht, die 
„Weber" sind ein Werk, das trotz der angeführten Mängel kein 
Freund der Litteratur mehr vermissen möchte. Noch niemals 
hat man in Deutschland einen so ausgezeichneten Kenner des 
Volkes gehabt, einen so fähigen und gewissenhaften Schilderer 
des einzelnen Arbeiters sowohl wie der grossen Menge in 
ihrer Gruppierung und Bewegung. 



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In den Berichten über das vier Jahre später erschienene 
Drama „Florian Geyer" wurde Hauptmann häufig schlecht- 
weg der Verfasser der „Weber 4 * genannt. Und das neue 
Drama könnte auch ebenso gut „Die Bauern" heissen wie 
Florian Geyer. Für Thomas Carlyle ist die Universal- 
t geschiente*) nur die Geschichte der grossen Männer, der 
Führer, der Bildner, der Begründer; ihm ist alles Bedeutende, 
was in der Welt erreicht worden, nur die Verwirklichung der 
Gedanken , die in grossen Männern lebten. Er befand sich 
in vollkommener Uebereinstimmung mit den Dichtern seiner 
Zeit, den Dichtern des Heldenlebens. Mittlerweile hat eine 
ganz andere Auslegung der Geschichte Einfluss auf die Kunst 
gewonnen. Der Herrenkultus ist seines Schimmers verlustig 
gegangen, die Begeisterung in nüchternste Abwägung umge- 
schlagen; keiner soll sich mehr eines besondern Vorrechtes 
erfreuen, das Genie darf kaum hervorragen — als glücklicher 
Emporkömmling, als kluger Benutzer dessen, was eigentlich 
die Menge gedacht, gewollt und geleistet hat. Tolstoi zer- 
sprengt den Rahmen seines Romans Krieg und Frieden", um 
ein langes, weitausschweifendes Beweis verfahren gegen alle 
sogenannten Volkshelden einzuleiten. Wie es sein Stoff, die 
Befreiungskämpfe, mit sich bringt, überträgt er den Prozess 
auf das kriegerische Gebiet; aber die Nutzanwendung auf alle 
andern Gebiete liegt nahe. Es giebt und hat niemals grosse 
Feldherren gegeben; sie alle und besonders Napoleon sind 
lediglich Günstlinge des Glückes, die bei einer grossen Völker- 
bewegung zufällig an die Spitze geschleudert wurden. Sie 
bilden sich ein, die Massen zu leiten, und werden in Wahrheit 
von ihnen geleitet. Wie gefährlich eine solche Anschauung 
für den Dichter, besonders aber für den Dramatiker ist, der 
immer etwas von einem guten Feldherrn in sich haben muss, 
das hat Hauptmann im „Florian Geyer" in höchst unglück- 
licher Weise an den Tag treten lassen. In den „Webern" 
bewährt er sich noch als Beherrscher und Führer seiner 
Massen; im „Florian Geyer" herrscht die traurigste, jegliche 
Wirkung zerstörende Anarchie. Die Massen rennen ihm davon 



*) On Heroes, Hero-Worship etc. Leet. I, p. 1. 



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und reissen ihn mit hinein in eine namenlose Verwirrung. 
Die „Weber" sind eine That, ein Erfolg, die „Bauern" — ein 
misslungenes Experiment. 

Nur das Publikum bei der ersten Aufführung am „Deutschen 
Theater in Berlin (Januar 1896) war ganz dasselbe, zum 
grössten Teil aus sozialdemokratischen Elementen bestehende, 
wie bei der ersten Aufführung der „Weber" und versuchte, 
mit noch weniger Recht als damals, eine politische Tendenz 
in das Stück hinein zu demonstrieren. Es geht ja nicht sehr 
viel klar hervor aus dem Drama, so viel aber doch, dass die 
Bauern, die anfänglich ungerecht Unterdrückten und Gequälten, 
später im Besitze der Macht denselben Lastern, derselben 
scheusslichen Grausamkeit fröhnen wie die Ritter, dass auch 
sie „christliche Lieb' auf türkische Art beweisen", trotz des 
Pochens auf die gereinigte evangelische Lehre, und dass sie 
endlich alles Gewinnes wieder verlustig gehen, weil die un- 
einigen, eifersüchtigen Hauptleute im entscheidenden Augen- 
blicke den allein fähigen Feldhauptmann, den als frühern 
Ritter verhassten Florian Geyer, von der Führung entfernen. 
So ist das Drama geradezu ein neuer Ausspruch gegen jedes 
vielköpfige Regiment, gegen die schlimmste aller Tyranneien, 
die Volkstyrannei, nur ein neuer Beweis dafür, „dass ein 
oberster Wille, ein Haupt sein muss, dass das unein Gespann 
den Pflug umwirft, dass ein Wille oft meh denn tausend, eine 
Hand oft meh denn hundert ist", — wie Geyers Feldschreiber 
vergebens die bäuerischen Brüder zu überreden sucht. Man 
konnte allerdings auf der Bühne leicht übersehen und über- 
hören, was man übersehen und überhören wollte; denn auch 
der willigsten Aufmerksamkeit wird es schon beim Lesen 
schwer genug, zu erfassen, was sich eigentlich in dem über- 
langen Stücke abhandelt. 

Im Vorspiel und den ersten zwei Akten leuchtet zuweilen 
noch ein Strahl auf, sind noch Spuren von des Dichters Kraft 
und Kunst der Charakterisierung zu bemerken, z. B. in der 
Einführung des tapfern Tellermann. Bei stark nachhelfender 
Kürzung und Zusammenfassung wären hier wohl ausserdem 
noch eine oder zwei Gestalten herauszuheben. Aber nicht 
die des Titelhelden. Er schreitet als schwarzer, leerer Harnisch 



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durch das Stück, unfassbar und unerkennbar, trotz häufigen 
Auftretens und vieler polternden Worte. Und vom dritten 
Aufzug an gehen Handlung und Charakteristik vollends unter 
in langen Reden — gehalten im unverständlichen, ermüden- 
den Stil alter Chroniken 1 — in Geschrei, Flüchen, Waften- 
gerassel. Eine Widerwillen erregende Brutalität tritt überall, 
und besonders gegen das Ende, an die Stelle der Tragik. 
Ja, der fünfte Akt ist der schwächste von allen, verdorben 
auch die Schlussscene mit dem Tode des Florian Geyer. 

Das Ganze aber macht den Eindruck jener alten Bilder, 
wo unzählige Gestalten mit steifer Gewandung, unter der kein 
Körper lebt, ohne alle Perspektive auf verwirrende Haufen 
zusammengedrängt sind, wo aber bei aller Kindlichkeit der 
Ausführung der ein und andre realistische Kopf, eine und die 
andre charakteristische Stellung und Bewegung echtes Talent 
verraten. 



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V. 

„Kollege Crampton." „Der Biberpelz. a 

Novellen. 

Die Jahre 1892 und 1893 waren für Hauptmann ungemein 
fruchtbar: die „Weber" und „Kollege Crampton" gehören dem 
einen, der „Biberpelz 44 und „Hanneies Himmelfahrt" dem 
andern an. „Kollege Crampton" soll in sehr kurzer Zeit — 
man spricht von vierzehn Tagen — vollendet worden sein. 
Im Hinblick darauf eine ausserordentliche Leistung, macht 
das Werk, als Bühnenstück betrachtet, doch mehr den Eindruck 
einer Talentprobe, einer Studie, denn einer ausgereiften Arbeit. 

Die Hauptperson, der dem Alkohol ergebene Crampton, 
Professor an der Kunstakademie einer grössern schlesischen 
Stadt, bietet virtuosen Charakterdarstellern eine gern gewählte 
Paraderolle. Es ist eine lohnende Aufgabe, Sprache und 
Bewegung des gebildeten Trunkenbolds naturgetreu mit tausend 
feinen Schattierungen wiederzugeben, zuweilen aber durch 
Laster und Krankheit, wie durch einen Schleier, die ursprüng- 
lich edleren Züge durchblicken zu lassen. Jedoch so, wie 
der Charakter entworfen ist, wird er dem Darsteller leichter 
zu Kunststückchen als zu wirklicher Kunst verhelfen; denn 
weder der Mensch noch der Künstler in Crampton ist je gross 
genug gewesen, um nun durch die lasterhafte Gewohnheit 
und Verkommenheit, in packenden Momenten, zu entschiedener 
Wirkui ig durchzubrechen. Ein wenig Gutmütigkeit, ein wenig 
sehr bequeme Vaterliebe für eine gute Tochter, ein wenig 
ganz gescheite Witzelei und der Hinweis auf frühere, in der 
Zeit weit zurückliegende künstlerische Erfolge, das ist alles, 
was Professor Crampton aufzuweisen hat, um nicht als gemeiner 
Trinker vor uns zu stehen. Er scheint vielmehr an unbe- 
gründetem Grössenwahn zu leiden. Selbst da, wo man geneigt 



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ist, seine scharfe Kritik der Akademie und der Kunstgenossen 
für zutreffend zu nehmen, hört sich sein stets damit ver- 
bundenes Seihst rühmen wie schwache Rechtfertigungs- und 
Beschönigungsversuche an. Kein fremder, glaubwürdiger 
Mund bestätigt sein Talent, nirgends drängt sich die Ueber- 
zeugung auf, dass derselbe Mann unter andern Verhältnissen, 
ausserhalb der Akademie, der Dressur, des spanischen Stiefels, 
des Blockes, der Uniform, der Antikunst, wie er die Schule 
mit grosser Zungenfertigkeit nacheinander betitelt, ein grosser 
Künstler geworden wäre. Die Akademie und besonders auch 
sein häusliches Elend, eine unglückliche Ehe, sind zu sehr 
als unbedeutende Nebenumstände behandelt, als dass sie viel 
erklärten und entschuldigten. Ja, das unerquickliche Ver- 
hältnis, in dem er zu seinen Vorgesetzten und der Familie 
steht, ist augenscheinlich mehr die Wirkung seines Lebens- 
wandels als die Ursache. Es berührt uns wohl im allgemeinen 
traurig, wenn ein Mann von besserem Stande und besserer 
Bildung sich und die Familie durch Trunksucht zu Grunde 
richtet; aber vor der Bühne und für den vorliegenden be- 
sondern Fall ist diese Empfindung nicht ausreichend. Wir 
müssten vom Anfang bis zum Ende das Gefühl haben, wie 
sehr es gerade für diesen Einzelnen schade sei ; sonst erweckt 
uns weder sein Verderben herzliches Mitleid noch seine Rettung 
herzliche Freude. 

Das Personen Verzeichnis ist reich, aber von all diesen 
Personen des Spiels wie des Gegenspiels ist keine einzige sehr 
interessant. Die Freunde des Helden, seine Tochter, der 
Schüler, die Verwandten des Schülers und der Dienstmann 
als Faktotum, treten auf und ab. ohne zu erfreuen und Teil- 
nahme zu erregen; die gleichgültigen und die sehr schwachen 
Gegner, wie der Pedell und der Schankwirt, greifen noch 
weniger ein, vermögen noch weniger zu reizen und Unheil 
zu stiften. 

Die Handlung ist sehr dürftig; sie besteht aus jenen 
Rettungsversuchen, die die Gruppe der Freunde unternimmt, 
und nebenher läuft eine konventionell gehaltene Liebes- 
geschichte zwischen der Tochter und dem Schüler. Und fast 
nur durch das gute Ende wird die Bezeichnung Komödie 



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gerechtfertigt. Allzu wenig Humor liegt in diesen Situationen 
und Menschen; höchstens noch wirkt der dritte Akt ein 
wenig komödienhaft, wo hauptsächlich der Fabrikant Adolf 
Strähler, der Bruder des Schülers, die Scene beherrscht, der 
dicke Krämer, wie ihn der Professor nennt, der in heiterer 
Lebensanschauung alles von der leichten Seite nimmt und 
auch den ernstesten Dingen einen humoristischen Anstrich 
giebt. Er und seine Geschwister, er aus Optimismus, die 
Schwester aus Güte, der Schüler aus Verliebtheit, glauben 
an die Rettung, d. h. an die Besserung des Vaters Crampton, 
im Zuschauerraum aber gewiss niemand. Zu gewissenhaft 
und genau sind alle Merkmale des tief eingewurzelten Lasters 
gegeben, allzu treu nach dem Leben ist der Gewohnheits- 
trinker, und zwar auf einem schon hohen Entwicklungsgrad, 
beobachtet. Im Leben endet denn auch wohl die Komödie 
solcher angeblichen Genies in der Kegel ganz anders. 

Nicht der Stoff an sich wäre als gemein zu verwerfen; 
denn er hätte zu eigentlich komischer Wirkung gehoben 
werden können. Dagegen wird die von Hauptmann gewühlte 
Art der Ausführung durch ein scharfsinniges Wort Schillers 
über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst 
verurteilt, das sich gleich im Eingange des vorerwähnten 
Aufsatzes (vgl. S. 13) findet. „Ein Dichter 4 ', heisst es, „be- 
handelt seinen Stoff gemein, wenn er unwichtige Handlungen 
ausführt und über wichtige flüchtig hinweggeht." Die ganze 
Komödie vom Kollegen Crampton besteht nur aus solchen 
unwichtigen Handlungen, die wichtigen sind übergangen. 
Und ferner: „Das Gemeine ist etwas Negatives (im Gegen- 
satz zum Positiven , der Hoheit des Gefühls im Niedrigen), 
es zeugt bloss von einem fehlenden Vorzug, der sich wünschen 
lässt. u „Kollege Crampton" ist etwas Negatives, nichts direkt 
Gutes und nichts Schlechtes, aber ohne alle Vorzüge, die sich 
wünschen lassen. Unendlich weit steht er zurück hinter der 
zweiten, der wirklichen, echten Komödie, dem „Biberpelz 1 '. 

Als diese bekannt wurde, herrschte grosse Freude unter 
den Liebhabern feinerer litterarischer Genüsse. Et was, woran 
die Deutschen sehr arm sind, sollte durch den „Biberpelz" 

4 



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einen Zuwachs erhalten haben, die Charakterkomödie. Treffende 
Satire und Ironie und köstlicher Humor über einen modernen 
volkstümlichen Stoff ausgegossen, dazu die streng realistische 
Ausführung, was konnte man Besseres von der neuen Richtung 
wünschen? 

Das Werk hat einen einzigen klassischen Vorgänger, mit 
dem sich zu seiner Ehre der Vergleich beständig aufdrängt, 
Kleists „Zerbrochenen Krug". Allgemein bekannt ist die 
ungünstige Aufnahme dieses berühmten Genrebildes, sein 
Missgeschick im Jahre 1808 auf der Weimarer Bühne. Es 
sollte die Feuerprobe bestehen vor einem litterarischen Kreise, 
für den es eine neue, fremdländische Welt bedeutete mit 
anderer Sprache, mit ungewohnten, anstössigen Sitten. So 
verhielten sich denn die Zuschauer heftig ablehnend, während 
Hauptmanns Diebskomödie bei einem an solche Art und Kunst 
nunmehr gewöhnten und darnach begehrenden Publikum eine 
warme, ja vielfach begeisterte Aufnahme fand. Wenn trotz- 
dem heute, kaum einige Jahre nach seinem Erscheinen, der 
Ruhm und vor allem der Theatererfolg schon bedenkliche 
Einbusse erlitten haben, so werden wir nach der Ursache 
dieses widerwärtigen Schicksals forschen müssen. 

Im älteren Werke wird das entscheidende Delikt vor dem 
Beginn des Spieles verübt, und wie es sich nach und nach 
enthüllt, wie sich der Dorfrichter Adam in der eigenen Ge- 
richtsstube in sein Unglück hinein verhört, das bildet die sehr 
gemächlich sich vorwärts bewegende Handlung.*) Sie leidet 
denn auch einigermassen darunter, dass sie nur geringe Span- 
nung zu erregen vermag, dass man schon allzu genau weiss, 
wie sich alles zum guten Ende klären und auflösen muss. 
Im neuen Drama geschehen die Diebesstreiche und Schelmen- 
stücke in der Komödie selbst. Im ersten Akt wird der gewil- 
derte Rehbock verkauft und zum Schluss auf den Holzdiebstahl 
ausgezogen, und zwischen den zweiten und dritten fällt die 
für die Verwicklung des Stückes noch folgenschwerere Ent- 
wendung des Biberpelzes. Allein im „Zerbrochenen Krug" 
wird selbst das stofflich Undramatische höchst dramatisch vor- 
geführt, im „Biberpelz" selbst das Dramatische durchaus 

*) Vgl. Otto Brahm, Heinrich v. Kleist. S. 181 ff. 



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novellistisch behandelt. Der „Zerbrochene Krug" ist mit 
bedächtiger Steigerung doch zu einem entschiedenen Schlüsse 
geführt; der „Biberpelz" hat keinen Schluss, nicht einmal ein 
Ende. Der „Zerbrochene Krug" ist ein Ganzes, der „Biber- 
pelz" knapp Dreiviertel. Und wenn Kleists Lustspiel ebenfalls 
Längen und zu viel Aufenthalt hat und bei jeder Vorstellung 
der Kürzung bedarf, so verdient es dennoch sicherlich das 
Prädikat „planvoll ineinander gefügt und aufgebaut"; das 
Hauptmanns ist willkürlich da und dort zusammengefasst 
oder auseinandergezogen, lässt jegliches feste Gerüste ver- 
missen. Goethe hat seinerzeit den lärmenden Misserfolg des 
jüngem Dichters mit verschuldet, indem er dessen problema- 
tisches Stück, wie er es nannte, in drei Akte zerlegte. Haupt- 
mann hat sich eine ähnliche Schädigung selbst zugefügt. Er 
hat zu viel eingeteilt und dadurch zweimal Parallelakte ge- 
bildet. Parallelakte wirken zumeist ermüdend. Wären sie 
noch durch eine gemeinschaftliche Schlusskrönung verbunden, 
so wäre das Ganze und sein Erfolg vielleicht weniger „proble- 
matisch" geworden. So aber fallen immer mehr gewichtige 
Stimmen ein, wie kürzlich bei der ersten Autführung im 
„Deutschen Theater" zu München, die bestätigen: „Ja, es ist 
eine wertvolle Dichtung, eine Bereicherung der deutschen 
Litteratur, aber keine Bereicherung der deutschen Bühne". 

Es ist eine wertvolle Dichtung. Wenn Otto Brahm den 
Dorfrichter Adam von Huisum den ergötzlichsten Sünder der 
deutschen Bühne nennt, so hat ihm nun Hauptmann in Frau 
WoIfTen, der Wäscherin aus irgendwo um Berlin, eine nicht 
minder ergötzliche Sünderin an die Seite gestellt, Wie jener, 
beherrscht sie das Ganze in unglaublicher, den besten Humor 
erzeugender Frechheit. Sie ist aber die Tochter ihrer fort- 
geschrittenen Zeit, wie er der Sohn seiner naiveren; verglichen 
mit ihrer Verstandesschärfe und Geistesgegenwart, ist er nur 
ein Anfänger und von kindlicher Harmlosigkeit. Seine Lügen 
sind durchsichtig, imponieren nur im Augenblicke durch die 
Unverschämtheit, mit der sie gerade auf einem Richterstuhl 
vorgetragen werden; die ihrigen, mit derselben Kaltblütigkeit 
erfunden, sind so raffiniert, dass Frau Woltfen wohl imstande 
erscheint, es für eine gute Zeit auch noch mit andern Leuten 

4* 



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— 52 - 



aufzunehmen als mit dem Amtsvorsteher von Wehrhahn. In 
drolligem, aber ungeschicktem Bemühen sucht unser älterer 
Freund den Verdacht auf das eifrigste von sich ab und auf 
irgendwen zu lenken, während die wackere Frau — ein ganz 
geistreicher Zug — die unschuldig Verdächtigten und der 
Behörde Missliebigen warm in Schutz nimmt. Sie widerspricht 
sich niemals zu ihrem Nachteil, wie er so oft; er ist eben 
doch nur Adam, und sie — Eva. 

Sie lässt von ihrer Tochter ein Paket finden, als ob es 
die Pelzdiebe verloren hätten, bestätigt aber sofort die Ansicht 
des Zeugen Fleischer, dass die Sache mit dem Paket nur 
angelegt sei, die Polizei irrezuführen. Und wenn der Amts- 
vorsteher „auf Grund seiner langen Erfahrung" behauptet, 
die Möglichkeit , dass der Dieb im Orte selbst sein könnte, 
käme gar nicht in Betracht, so erwidert sie: „Na, na, masoll 
nischt verreden, Herr Vorschteher a , und bald darauf, wenn er 
meint: „Da müsst ich ja bei jedem Einzelnen haussuchen", 
hat sie auch schon den frechen Rat bereit: „Da fangen Se 
ock gleich bei mir an, Herr Vorsohteher." Von ihrer eigenen 
Schlechtigkeit erleuchtet, übertrifft sie alle andern Personen, 
auch den klugen und gebildeten Fleischer, weitaus an Menschen- 
kenntnis und Scharfsinn. Bald kehrt sie die arme, unwissende 
Frau hervor, der jeder, auch der hohe adelige Vorsteher, 
wohl ein gerades, einfältiges Wort zu Oute hält, bald zeigt 
sie sieh gerührt und voller Gemüt, oder sie versteckt sich 
mit einennnale hinter ihren Mann, als ob lediglich dessen Wille 
im Hausstände massgebend wäre. Kurz, sie versteht je nach 
Bedarf jeden möglichen und auch den unscheinbarsten Vorteil 
auszunützen, und weiss die zwei sieh untereinander wider- 
strebenden Parteien beide für sich einzunehmen und durch 
Gefälligkeiten sich zu verbinden. 

So viel genial aufgewandte Mühe erringt denn auch den 
gewünschten Erfolg. Sie bringt es fertig, unter amtlicher 
Assistenz auf den Holzdiebstahl auszuziehen; sie wird beehrt 
durch den Besuch des bestohlenen Kentiers Krüger, der — 
in ihrer Wohnung — mit seinem eigenen Holze wütend in 
der Luft herumschlägt, beschwörend, dass das seinige eben 
so „chutes, teueres Holz war", und dass er siehs tausend 



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— 53 - 



Thaler kosten lassen wolle, die Diebe ins Zuchthaus zu bringen; 
und schliesslich legi ihr, zur vollen Anerkennung ihres Strebens, 
der Amtsvorsteher wohlwollend die Hand auf die Schulter 
mit der Versicherung: so wahr sie eine ehrliche Haut sei 
so wahr sei der Zeuge Fleischer ein lebensgefährlicher Kerl. 
In der Frau Wolffen hat der Dichter wirklich das Non plus 
ultra von lebenswahrer, gescheiter, aufs höchste belustigender 
Nichtswürdigkeit geschaffen. 

Seltsam, dass von allen Nebenpersonen eine Beschreibung 
ihres Aeussern, die Angabe ihres Alters u. dgl. mitgeteilt 
wird, während es der Darstellerin überlassen bleibt, sich zu 
dieser schönen Seele die passende Maske zu ersinnen. Da 
die beiden Töchter hübsch genannt werden, und alle ohne 
Ausnahme die Wolffen so sehr freundlich behandeln, wird 
sie sich wohl ganz angenehm präsentieren müssen. Ausge- 
zeichnet ist auch die Psychologie der übrigen Familie: der 
Gatte, ein Schiffszimmermann, sittlich ebenso wertvoll wie 
seine geriebene Hälfte, aber mit blöden Augen, geistig schwer- 
fällig und furchtsam, und wo er sich nicht eigensinnig ver- 
rennt und von der Frau durch einen Extraschnaps erst wieder 
willig gemacht werden muss, durchaus passiv. Dann die 
Töchter des würdigen Paares, die ältere ganz dem Vater 
nachfahrend, während die jüngere, erst vierzehn Jahre alt, 
aber frühreif, an Verstand und auch an Verderbtheit das 
Ebenbild der Mutter zu werden verspricht. 

Ausser der Familie weist das Verzeichnis noch achl 
Personen auf: Amts Vorsteher, -Schreiber und -Diener, den 
Hehler Schiffer Wulkow, den bestohlenen Rentier Krüger, 
seinen Freund und Zeugen den Privat gelehrten Dr. Fleischer, 
ferner den Schützling des Gerichtes, den Schriftsteller und 
dunklen Ehrenmann Motes, und dessen Frau — alle mit unver- 
gleichlicher Kunst und Anschaulichkeit abgeschildert. Den 
wichtigsten Platz unter ihnen nimmt der Herr Anitsvorsteher 
von Wehrhahn ein, der Baron tituliert wird, wie ein Land- 
junker aussieht und ein Monocle trägt. Im „Zerbrochenen 
Krug" ist der Richter selbst der Uebelthäter; im „Biberpelz" 
ist er halb und halb der Mitschuldige durch die Lässigkeit, 
mit der er die Untersuchung führt, durch die Anmassung, 



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54 - 



mit dor er gegen unbescholtene Männer vorgeht, weil sie im 
Gerüche des Freisinns stellen, und durch die eigensinnige 
Beschränktheit , mit der er sich vom Gesindel, von der 
Wöhren und Mutes hinters Licht führen lässt. Aber, wie viel 
schärfer beurteilt nicht der moderne Dichter seinen unwür- 
digen Vertreter der Gerechtigkeit, mit welcher Bitterkeit 
werden hier die Schwächen einer bloss unfähigen und kurz- 
sichtigen Behörde geott'enbart! Ja, dieser Bitterkeit ist es 
hauptsächlich schuld zu geben, dass das Stück um seinen 
guten, richtigen Schluss gekommen ist. Der „Zerbrochene 
Krug" schliesst gemütlich und versöhnlich in demselben wohl- 
wollenden Humor für alle, Adam eingeschlossen, in dem er 
beginnt; im „Biberpelz" erhält die Komik gegen das Ende 
statt des feinen, pikanten Aromas mehr und mehr einen 
galligen Beigeschmack. Das Lustspiel wird zur unnachsich- 
tigen, strafenden Satire. Seht, ihr, scheint der Dichter mit 
schwerem Ernste zu sagen, so sind sie, unsere preussischen 
Beamten, und so wird Recht gesprochen in deutschen Landen; 
die Schlechtigkeit geht frei aus, und der harmlose, aber 
politisch nicht nach offiziellem Geschmack gesinnte Bürger 
wird schikaniert. Auch die Zeitangabe „Septennatskampf!" 
deutet auf eine politische Verstimmung hin. 

Von der lachenden Muse werden wir etwas Moralpredigt 
gerne mithinnehmen, aber nur nicht zu viel und nicht ohne 
spielende Grazie. Der Fall Wolff als einzelner Fall, wie er 
sich immer und überall zutragen kann, ist eine sehr gute 
Fabel; tendenziös verallgemeinert, verliert er künstlerisch 
unendlich und beweist nur die Ungerechtigkeit der Verall- 
gemeinerung. Vor der Bühne scheidet das Gefühl schnell 
und sicher aus, was lebensecht ist und was übertrieben; denn 
klarer als in einer einzelnen Lebenserfahrung tritt die Wahrheit 
in zusammenfassender Nachbildung hervor. Frau WolfT kann 
heute und morgen stehlen und betrügen, ohne entdeckt zu 
werden; jedoch richtig sagt der Volksmund und Kleist und 
Gogol im „Revisor": Der Krug geht nur so lange zum Brunnen, 
bis er bricht. Und in Deutschland geht er wohl noch früher 
in Scherben als in Russland, ja als sonst wo in Europa. 
Hauptmann lässt da eine Anregung, die er selbst im ersten 



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— 55 - 



Akte zur spätem Lösung giebt, wieder vollständig fallen. 
Motes und seine Frau sind die einzigen, die Verdacht gegen 
die schlaue Wäscherin hegen und diesen Verdacht zu kleinen 
Erpressungen benützen. Der Amtsvorsteher wird schliesslich 
selbst misstrauisch gegen seinen Gewährsmann. In einem 
Schlussakt dürften also nur die Schwindeleien des Forstschrift- 
stellers aufkommen; der Staatsanwalt, mit dem ihm gedroht 
wird, müsste eingreifen, und wie leicht und wahrscheinlich 
könnte dann die Wolffen mit in die Untersuchung verstrickt 
werden und sich vor einem fähigeren Richter in ihren eignen, 
allzu sorglos gelegten Schlingen fangen! So ist das Muster 
im Gewebe angesponnen; warum nun die Fäden plötzlich 
verloren und un verknüpft hängen lassen? 

Wenn bei Kleist die manierierten Verse und die gesuchten 
Wortspiele und Witzeleien, die so schlecht zu der derben 
Gefühlsweise der Personen wie zu den drastisch erzählten 
Vorgängen passen, unsere modernen Ansprüche an Stileinheit 
nicht befriedigen, so entspricht der grösstenteils im Dialekt 
gehaltene Dialog des „Biberpelzes" durchaus dem gewählten 
Genre und Stil und dem ganzen Inhalt der Komödie. Freilich 
wird durch den mehr und mehr um sich greifenden Gebrauch 
des Dialektes, wie ihn die streng naturalistische Richtung 
mit sich bringt, auch ein bedenklicher Nachteil für den 
Dichter herbeigeführt. Das Gebiet seiner Wirksamkeit wird 
enger begrenzt: er spricht nicht mehr zum ganzen deutschen 
Vaterlande. Gar manche Ausdrücke, Redewendungen und 
Witze im „Biberpelz" sind dem Süddeutschen unverständlich, 
und selbst in der Uebertragung der „Weber" aus der Dialekt- 
ausgabe ist immer noch viel stehen geblieben, was für den 
Nichtsohlesier einer Uebersetzung bedürfte. Da wäre an 
Goethes abmahnendes Wort zu erinnern, dass unbedingte 
Natürlichkeit die Kunst, selbst wider Willen, oft an eine 
beschwerliche Wahrhaftigkeit bindet. 

Im Jahre 1892 kamen auch die zwei einzigen Werke 
Hauptmanns in erzählender Form heraus, novellistische Studien, 
wie er sie nennt, „Bahnwärter Thiel", geschrieben 1887 — 
also nur zwei Jahre nach der Dichtung „Promethidenlos" — 



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- 50 - 



und „Der Apostel", geschrieben 1S0O. „Bahnwärter Thiel" 
geht, über den technischen und geistigen Umfang einer Studie 
hinaus und kann mit Fug und Kecht eine Novelle, d. h. die 
Hrzählung einer merkwürdigen Begebenheit genannt werden. 

Das ausserordentliche Geschehnis, der von einem fried- 
lichen, frommen Mann im Wahnsinn begangene Mord an 
Frau und Kind, ist psychologisch erklärt aus den dunkelsten 
Trieben des Menschenherzens. Langsam wird der schreckens- 
volle Vorgang entwickelt und ergreifend erzählt, wie die ge- 
heimen Mächte bekämpft werden und endlich doch alle Gewalt 
erlangen, vier Leben vernichtend. In dem meisterhaft erfassten 
Verhältnis des Bahnwärters zu den zwei Frauen, der ver- 
storbenen und ihrer Nachfolgerin, erweist sich — schon so 
früh! — Hauptmanns überraschende Kenntnis des gemeinen 
Mannes in seinen einfachen Gewohnheiten, mit seinem be- 
schränkten Gesichtskreis, seinen ursprünglichen, heftigen 
Leidenschaften. Ausgezeichnet beobachtete realistische Züge 
unterstützen die Schilderung der Geinütskämpfe des Wärters, 
so dass sein mystisches Innenleben in der Vergangenheit und 
Gegenwart klar an dem Leser vorüberzieht. Nichts ist ausser 
Acht gelassen, keine Kleinigkeit, die eine Seite seines Wesens, 
sei es die pedantische Gewissenhaftigkeit oder die kindliche 
Kinfalt, der wirre Mystizismus oder die starke, unterjochende 
Sinnlichkeit, ins Licht zu rücken geeignet ist, und doch 
erfahren wir alles bei der passenden Gelegenheit, wie zufällig 
und unabsichtlich. 

So ist der innere Stil rein und schön; aber die äussere 
Form, den Wort st il, entstellen mancherlei Unarten, besonders 
einige Keporterausdrücko und schiefe Satzstellungen. Die 
Landschaftsbilder sind zum Teil sehr stimmungsvoll und echt 
empfunden, zum Teil sind sie nicht einfach genug, sondern 
mit jugendlicher Verschwendung überladen, wie z. B. die 
Schilderung des Sonnenaufgangs (S. 30) und des Sonnenunter- 
gangs ('S. 54). Fbenso ist wohl in der Lautmalerei der an- 
kommenden und weiterrasenden Bahnzüge, des Donners u. s. w. 
allzu viel geschehen. 

Allein, im ganzen und grossen beurteilt, hat diese Novelle 
schon alle Vorzüge der spätem Werke und keinen ihrer 



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— 57 — 



Mängel. Sie hat innere Schlichtheit, Kraft und Leben wie 
die spätem, sie hat aber auch Fluss, energische Vorwärts- 
bewegung, Steigerung und ein wirkliches, abschliessendes Ende. 

Für den „Apostel*' passt die Bezeichnung „novellistische 
Studie". Fr ist die mit vollendeter Technik und fein nach- 
empfindendem Verständnis geschriebene Analyse des Seelen- 
lebens eines jener sonderbaren modernen Apostel, wie man 
sie in den achtziger Jahren, aus der Schule Diefenbachs 
stammend, in den Strassen der Städte, hauptsächlich in 
München und Wien, sehen konnte. Der Schilderung des 
gewaltt hat igen Ausbruches mörderischer Tobsucht in der vor- 
hergehenden Novelle wird hier die des allmählich sich ein- 
schleichenden, friedlichen , mystisch-religiösen Grössenwahnos 
gleichsam als Gegenstück hinzugefügt. Der Apostel erschafft 
sich zuletzt in seiner überschwellenden kranken Phantasie 
direkte Gottähnlichkeit. Knapp und äusserst geschickt werden 
wir in der Exposition, ganz im Vorübergehen, mit den Ellern 
dieses seltsamen Schwärmers und seiner Entwicklung bekannt 
gemacht, so dass wir erraten können, was für vererbte An- 
lagen und äussere Einflüsse sich verbunden haben, ihn so 
weit zu bringen, den Lieutenantsroek gegen die weisse Kutte 
zu vertauschen, Sandalen anzulegen und das Haar mit einer 
Schnur zusammenzuhalten, die aussieht wie ein Heiligenschein. 
Die Naturbeschreibungen der Umgegend Zürichs, wo er, von 
Italien kommend, diesmal den Wanderstab für kurze Zeit 
niederlegt, sind reich ausgeführt, aber in massvoll künst- 
lerischer Besonnenheit immer mit den Augen des Helden 
gesehen. Geradezu fühlbar wird dem Leser die Einwirkung 
des wundervollen Pfmgstmorgens in der Schweiz auf die 
übergrosse Empfänglichkeit dieser vom Willen nicht mehr 
beherrschten Psyche. 

Als eine so besondere und ausgezeichnet studierte Art 
eines Seelenkranken ist der „Apostel" interessanter als Dosto- 
jewskis „Doppelgänger" oder Gogols Wahnsinniger in den 
„Phantasien und Geschichten." Fast erscheint es aber wie 
ein gefährliches Spiel, dass die neueren Dichter mit ihrer oft 
quallvoll regen Phantasie, mit ihren angespannten Nerven und 
den unaufhörlichen Gestaltungssorgen, dass sie sich gerade 



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- 58 - 



mit der peinlich genauen Erforschung und Beschreibung des 
Abnormen und Krankhaften im Gemüts- und Geistesleben so 
gerne befassen. Hauptmann, nur dieses einemal als Erzähler 
hervortretend, wollte vielleicht Muster aufstellen für die zwei 
Arten der modernen Novelle, die in den letzten Jahren am 
häufigsten geflegt worden sind, die düster-realistische voller 
Elend oder voller Schrecken und die aus lauter Stimmungs- 
klängen und Seelenakkorden zusammengesetzte, die zuweilen 
so vergeistigt ist, dass kein Bild im Gedächtnis zurückbleibt, 
während er auch ihr eine plastisch-künstlerische Gestalt ver- 
liehen hat. 



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VI. 



„ Hanneies Himmelfahrt. a 

Aus einem .schönen, ganz eigentümlichen und ursprüng- 
lichen Gedanken heraus empfing die Traumdichtung „Han- 
ne 1 e s H i m m e 1 t'a h r t u (181)3) ihr Lehen und gestaltete sich 
wiederum an der Wärme des innigsten Gefühles, des Mit- 
leidens mit den Armen, Niedrigen und Verfolgten. Das vier- 
zehnjährige Hannele ist von ihrem Stiefvater, dem Maurer 
Mattem, grausam vernachlässigt und misshandelt worden, so 
dass sie endlich in verzweifelter Todesangst in den Dorfteich 
springt, noch gerettet, wird, aher bald darauf in ein hitziges 
Fieber verfällt und im Armenhause verscheidet. 

Die Dichtung hatte einen grössern, allgemeinern Erfolg 
als selbst die „Weber*. Auch diejenigen, die viele Gründe 
finden, einem hungernden Arbeiter ihr Erbarmen zu ver- 
sagen, — einem Kinde, dem Leiden in seinem rührendsten 
Bilde, wenden sie es willig zu. Der Weberaufstand von 1844 
ist, wie Marx richtig sagt, durch die Grausamkeit einiger 
wenigen hervorgerufen worden ; indes, wo eine ganze Bevöl- 
kerungsklasse duldet, was durch menschliche Gerechtigkeit 
zu bessern wäre, hört sich manches Wort auf der Bühne wie 
ein Vorwurf an für alle. In „Hanneies Himmelfahrt" dagegen 
ist es unbestreitbar ein einzelner, niemand belastender Fall. 
Wäre der Stiefvater kein verkommener Trunkenbold, so müsste 
das arme Kind nicht Misshandlung und den Tod erleiden. 
Der zweite Grund des wärmeren, freudigeren Beifalls dürfte 
dann in der hier zum erstenmale von Hauptmann versuchten 
Verschmelzung des romantischen mit dem streng realistischen 
Element zu suchen sein. Diese beiden zu vereinigen, ist ein 
merkwürdiges Bestreben, das durch unsere ganze moderne 
Kunst geht und besonders auch in der bildenden schon grossen 
Einfluss und weite Ausbreitung erlangt hat. 



- 60 — 



Sudermann, der Realist, ist in seinem Roman „Frau Sorge" 
phantastisch bis zum Unwahrscheinlichen und arbeitet mit 
Symbolen und Allegorien. Fliegegen erweist sich Hauptmann 
als der reiner fühlende Künstler, insofern er in der Traum- 
dichtung' die Schemen und Träume nicht als romantische 
Zuthat, als blosse überflüssige Verbrämung anbringt, sondern 
sie im innersten Zusammenhange mit dem Seelenleben der 
kleinen Heldin in die reale Welt einführt. Manuele liegt 
besinnungslos im Todeskampf, und alle Erscheinungen und 
Gesichte, die die Scene füllen, sollen nur die Gebilde ihrer 
Fioberphantasien sein und uns ihre kindlichen Gedanken, ihre 
irdische Furcht, ihre himmlische Hoffnung, ihr Erlebtes und 
Ersehutes mitanschauen lassen. So ist die Vereinigung des 
Verschiedenartigen psychologisch begründet. 

Die Dichtung zerfällt in zwei Teile. Der erste gehört, 
fast bis zum Ende der Wirklichkeit des Armenhauses an, 
eines notdürftigen, baufälligen Armenhauses, gegen das am 
spülen Dezemborabend der Sturm wütet. Zu dem kahlen 
Räume passt die Staffage, die zerlumpten, zankenden und 
johlenden Gemeindearmen eines schlesischen Gebirgsdorfes. 
Die Handlung beginnt mit dem Auftreten des Lehrers Gott- 
wald und des Waldarbeiters Seidel, die Manuele hereinbringen. 
Dann werden der Amtsvorstelier und -Diener, der Arzt und 
die Diakonissin nacheinander eingefühlt. Jede dieser Per- 
sonen, so viel oder so wenig sie eingreifen mag, zeigt ausser 
der Physiognomie ihres Standes noch eine bestimmt persön- 
liche, und jede verhält sich dem entsprechend charakteristisch 
in der kurzen Stunde, wo wir sie, durch Pflicht oder Güte 
gerufen, um ein krankes Kind bemüht sehen. Manuele, die» 
schon fiebert, als man sie auf ein Bett legt und zu wärmen 
und zu beruhigen sucht, verfällt gegen den Sellins.? des Auf- 
zuges vollständig in Phantasien. Während sich die pflegende 
Schwester einen Augenblick entfernt, hat sie in einem fahlen 
Lichte die Erscheinung ihres Stiefvaters. Und später, da die 
Kranke ruhig liegt und die Kerze gelöscht ist , so dass man 
auch die Wärterin schlafend wähnt, zeigt sich in dämmernder 
Beleuchtung das Bild der verstorbenen Mutter, und da dieses 
verblasst, stehen in goldgrünem Schein drei Engelsgestalten 



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— 61 - 



vor dem Lager. Mit Musik, Gesang und gesprochenen Versen 
der Himmelsboten schliesst das erste Bild. 

Bis dahin ist Wirklichkeit und Traum für den Zuschauer 
klar auseinander gehalten und keine Verwechslung möglich. 
Nicht so im Anfange des zweiten Teiles. Wenn der Vorhang 
sich hebt, ist alles wie vor den Visionen. Die Diakonissin 
zündet die Kerze wieder an, und Hannele schlägt die Augen 
auf. Aber nun begiebt sich das Sonderbare, Verwirrende, 
dass Schwester Martha, die natürlich von der Traumwelt 
nichts gesellen und gehört, und die sich bei Hanneles Erzählung 
davon nur gläubig stellt, als nun plötzlich der Engel des Todes 
gross und mächtig im Zimmer sitzt, ihn ebenfalls zu bemerken 
scheint, erst andächtig mit gefalteten Händen steht und sich 
dann langsam hinausbegiebt. Und noch schädlicher wird 
diese technische Ungeschicklichkeit dem Verständnis, wenn 
gleich nachher eine Gestalt in der Kleidung der Diakonissin, 
aber schöner, jugendlicher und mit langen weissen Flügeln 
hereintritt. Die irdische Schwester dürfte im zweiten Aufzug 
nicht mehr gegenwärtig sein, oder nicht mehr sprechen bis 
ganz zum Schlüsse, wo sie und der Arzt wieder bei gewöhn- 
licher Beleuchtung über das Bett gebeugt stehen und Hanneles 
Tod erkennen. Soll sie aber da sein, um sich Hanneles erste 
Gesichte erzählen zu lassen, so müsste sie sich entfernen, oder 
in Schlaf versinken, schon ehe der Engel des Todes die lange 
wechselnde Flucht der nun folgenden Erscheinungen einleitet, 
die den ganzen zweiten Teil bis zu Hanneles Tod erfüllen. 
Die geschickteste; Beleuchtung, der sorgsamste Wechsel zwi- 
schen himmlischem und irdischem Licht vermag den Fehler 
nicht mehr gut zu machen, Traumwelt und Wirklichkeit an 
dieser Stelle nicht genügend zu sondern. 

In allem Uebrigen ist die scenische Anordnung klar und 
vortrefflich. Leicht, wie die Gedanken und Vorstellungen in 
der Phantasie des Kindes, gehen auch die Vorstellungen vor 
unsern Augen in einander über, und doch herrscht Ordnung 
bei allem Reichtum und raschem Wechsel und sind die 
helfenden Stufen und Uebergänge da von dem einen dieser 
scheinbar so unstäten, dichterisch so bedeutungsvollen Vor- 
gänge zum andern. Die im Geist geschaute Diakonissin schützt 



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- 62 - 

ihre kleine Kranke vor dem Engel des Todes, dass er sanft 
und schnell seines Amtes übe. Aber vorher, als Halinde 
hört, sie müsse nun sterben, geht die gehobene Stimmung erst 
noch einmal in die naiv weltliche, Leben und Tod kindlich 
verbindende Stimmung des Märchens über. Hannele meint, 
dass sie doch nicht zerlumpt im Sarge liegen könne, und 
sogleich trippelt der Dorfschneider herein und werden die 
anmutigen Motive aus dem Aschenbrödel verwendet. Dann 
erfolgt der eigentliche Todeskampf, noch ein kurzes, schweres 
Leiden, bis sie sich in der letzten, sanften Betäubung schon 
gestorben wähnt, erst die Trauer aller guten Menschen um 
sie erfährt und endlich das Gesicht ihres herrlichen Triumphes 
hat. ihrer Himmelfahrt, wie der Herr Jesus selbst mit allen 
seinen Engeln sie heimholt. Unter dem Gesang der Engel 

„Wir tragen dich hin, verschwiegen und weich, 

Eia popoia in's himmlische Reich* — 
verdunkelt sich die Scene wieder und wir haben noch einmal 
den Blick in das öde Zimmer des Armenhauses, wo das Kind 
in all seiner Armut und Dürftigkeit nun wirklicli tot auf dem 
schlechten Lager liegt und statt des ganzen Himmels nur der 
Arzt und die Pflegerin daneben stehen. 

Wenden wir uns nun der innern Gestaltung zu, so ist 
zunächst die beide Elemente, das sinnliche und das übersinn- 
liche, mit grosser Kunst zusammenfassende Exposition zu 
betrachten. Wir erfahren des Kindes traurige Geschichte zur 
Hälfte aus dem Bericht des Waldarbeiters Seidel, der die 
Ertrinkende gerettet hat, und aus den daran sich knüpfenden 
Gesprächen des Vorstehers, Lehrers, Arztes, und erfahren die 
andere, intimere Hälfte aus der Art und der Wirkung der 
Visionen auf das Kind : ob sie ihr furchtbares Grauen erregen, 
wie die ihres Vaters, ob sie Trost bringen, wie das erbarmungs- 
würdige Bild der Mutter, oder ihr kleines Herz entzücken, wie 
die verklärte Erscheinung des gütigen Lehrers. Die Mutter 
ist dein armen Hannele vor sechs Wochen gestorben; „das 
übrige weess man ja von alleene", meint Seidel. Um neun 
Uhr des Abends hat sie der Vater oft in Wintersturm und 
Kälte zum Hause hinaus gejagt, sie solle ihm einen „Finf- 
beemer* bringen zum Vertrinken. Da ist sie die halben Nächte 



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— m — 



im Freien geblieben; denn wenn sie kommt und bringt kein 
Geld, laufen die Leute zusammen bei ihrem Geschrei. So hat 
sie sich endlich keinen Rat mehr gewusst und die verzweifelte 
That begangen. Bei der Untersuchung findet der Arzt ihren 
Körper mit Schwielen bedeckt, und die einfache Antwort 
Seidels, dass die Mutter auch so im Sarge gelegen habe, mit 
seiner kurz vorher gemachten Andeutung, dass der Amts- 
vorsteher selbst der Vater des Mädchens sei und deshalb den 
Maurer nicht zu strafen wage, enthüllt in zwei Worten die 
Tragödie von Mutter und Kind. 

Auf ebenso einfache und überzeugende Weise gewinnen 
wir Einblick in den Charakter und das Seelenleben des Kindes 
bis in die verborgensten Fältchen hinein, sowohl während 
ihrer kurzen lichten Augenblicke, wie während des Spieles 
ihrer Phantasie. Hannele ist ein herzensgutes, frommes und 
kluges Kind. Sie hat fleissig gelernt und auch erfasst, was 
sie gelernt hat. Besonders die religiösen Lehren haben auf 
sie gewirkt, sie hat Zuflucht und Trost in ihnen gefunden. 
Da die Verzweiflung über sie kommt, meint sie in unschul- 
digem Vertrauen, die Stimme des lieben Herrn Jesus im 
Wasser nach ihr rufen zu hören, aber später, bei grösserer 
Klarheit, fällt ihr ein, was in der Religionsstunde über den 
Selbstmord und die nicht zu vergebende Sünde wider den 
heiligen Geist vorgetragen worden ist, und sie bestürmt die 
Diakonissin mit ängstlichen Fragen, ja im zweiten Teil kehrt 
derselbe Ideengang noch einmal zurück. Dann aber träumt 
sie sich schon gestorben, hat voll Zuversicht auf die göttliche 
Barmherzigkeit schon die Lösung aller Zweifel gefunden und 
den Eingang zum ewigen Leben schon überschritten. Die 
von ihrer Phantasie hervorgerufenen Gestalten der leidtragen- 
den Dorfbewohner erzählen sich, beim Pfarrer, der sie nicht 
habe einsegnen wollen, sei ein schöner Herr gewesen und 
habe ihm gesagt: „Das Mattern Hannele ist eine Heilige", 
und Engel seien durchs Dorf gegangen, und im übrigen 
wisse man auch wohl, wer das Mädchen umgebracht, denn 
sie hätten ja die Beule gesehen an ihrem kranken Leib, so 
gross wie eine Faust. Wie sie in ihrem noch ganz kindlichen 
Sinne die Vorstellungen aus der Märchenwelt mit den religiösen 



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- 64 - 



vermengt, so vereinigt sie auch eine unschuldig verliebte 
Schwärmerei für den Lehrer Gottwald mit den erhabensten 
Gedanken von Schuldvergebung und Erlösung. Hannele steht 
gerade auf der Schwelle des jungfräulichen Alters. Schon 
im ersten Teil nennt sie den Lehrer einen schönen Mann, 
mit dem sie Hochzeit machen werde, und sagt ein Verslein 
auf, das nach einem Volkslied klingt. Im zweiten erschaut 
sie ihn dann im Geiste. Zu ihrem Begräbnis schwarz gekleidet 
und Blumen in der Hand haltend, kommt er mit all seinen 
Schulkindern, Abschied von ihr zu nehmen. Die zwei Veilchen, 
die er in seinem Gesangbuch hat, das seien die toten Augen 
seines lieben Hannele; er bittet sie, ihn nicht ganz zu ver- 
gessen in ihrer Herrlichkeit, und schluchzt, das Herz wolle 
ihm zerbrechen, weil er von ihr scheiden muss; ja zuletzt 
verwandelt sich seine Gestalt vollständig in die des Herrn 
Jesus selbst. Das Bild des gütigen Mannes, des einzigen, der 
immer freundlich gegen sie gewesen ist, hat sich ihrem ein- 
samen, liebebedürftigen Gemfi te so unauslöschlich eingeprägt, 
dass ihr die innige Verehrung für ihn jetzt in der Todesstunde 
den schwersten Kampf erleichtert, dass sich diese reine Neigung 
zuletzt steigert zur religiösen Ekstase. Keine andern Züge 
kann für sie die Erscheinung des Heilandes glaubwürdiger 
tragen, in keiner andern Gestalt mag er sich ihr tröstender 
nahen, um sie in das erbetene und ersehnte Himmelreich zu 
führen. Sie will nichts mehr von der Erde, will nicht ge- 
sunden, will zu ihrer Mutter kommen, selig werden in uner- 
schütterlichem Glauben. Aber doch ist sie keine blasse, 
unkindliche Heilige, sondern echt menschlich, schlicht und 
ergreifend. Das Gefühl der erfahrenen Verachtung wie der 
erlittenen rohen Grausamkeit ist noch brennend stark in ihr, 
als sie sicli schon von aller Erdenpein erlöst wähnt. Sie, die 
den Besuch von Engeln gehabt hat, die vom Märchenschneider 
mit weisser Seide und gläsernen Schuhen bekleidet worden, 
und nun in solcher Pracht vor aller Augen im gläsernen Sarge 
ruht , lässt sich von den beschämten Schulkindern auf die 
Aufforderung des Lehrers hin zerknirscht alle Kränkung ab- 
bitten: dass sie sie Lumpenprinzessin genannt haben, wo nun 
offenbar wird, dass sie eine wirkliche Prinzessin gewesen u. s. w. 



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— 65 — 



Wie herzlich lässt sie sich zu voller Genugthuung von allen 
bedauern und herauslohen, lässt sich allen Kindern als Beispiel 
und Muster aufstellen und lässt es den alten Armenhäusler 
Pleschke zweimal feierlich verkünden: „Das Mädel war eine 
Heilige." Und endlich muss mitten im Winter ein Gewitter 
heraufziehen als göttliche Drohung für ihren Mörder,. der sich 
verschwört, der Blitz solle ihn erschlagen, wenn er an ihrem 
Tode schuld sei, und das liebliche Wunder, dass der Strauss 
Himmelsschlüssel in ihren gefalteten Händen helle Glut aus- 
strahlt, muss den Ruchlosen überzeugen, so dass er, ein zweiter 
Judas, von der Stätte ihrer Verklärung flieht, um sich zu 
erhängen. 

Wir haben es als den grossen Vorzug dieser Traumdichtung 
vor allen ähnlichen empfunden, dass die Phantome ausschliess- 
lich in der Seele der kleinen Heldin selbst erzeugt werden 
und teils von ihrer Erfahrung, teils von ihrem eigenen 
Charakter und sehnsüchtigem Gemüte Umriss und Farbe 
empfangen. Folgerichtig entspricht auch der grösste Teil der 
Visionen der Umgebung und dem Gesichtskreis wie der mög- 
lichen Einbildungskraft und Erfindungsgabe eines vierzehn- 
jährigen Dorfmädchens. Jedoch zuweilen überschreitet Haupt- 
mann den gewählten, nicht zu erweiternden Rahmen und 
spricht durch den Mund der Erscheinungen Bilder und Ge- 
danken aus, die nur ihm, niemals dem armen Hannele zukommen 
können. 

Diese Stellen sind der einzige künstlerische Makel des 
schönen Werkes. Besonders störend drängt sich der Dichter vor, 
wo sich im zweiten Teile der Heiland, noch vor aller Augen 
durch einen braunen Mantel verhüllt, dem Mattern-Maurer als 
Fremder naht und viele dunkle symbolische Worte spricht mit 
dem Sinne, dass der Erlöser als ein Bote, Arzt und Arbeiter 
ohne Lohn auch zu dem Unbussfertigen komme, ihn zu heilen 
und zu erquicken. So theoretisch und abstrakt wird ein Kind, 
das sich kurz vorher in seinen religiösen und ethischen Be- 
griffen, bei aller Frömmigkeit, als ganz naiv und ungebildet 
erwiesen hat , den Vermittler niemals autfassen. Für sie ist 
er in erster Linie praktisch, d. h. der unendlich gütige und 
unendlich harmherzige Erretter aus aller Not, und weiterhin 

ö 



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- W — 



der strenge Richter und Rächer an ihrem Peiniger. An dieser 
Stelle entspinnt sich ein Gespräch mit rohen, unpassenden 
Reden des Maurers, und nrt Spitzfindigkeiten, die weit, über 
einen unschuldigen Sinn hinausgehen. Gewiss ist Hannele 
nicht in der Harmlosigkeit glücklicher Kinder vierzehn Jahre 
alt geworden; gewiss hat ihr der Stiefvater — wie auch 
schon in seinor ersten Erscheinung -~ alle Tage vorgerückt, 
dass sie ihn nichts angehe, nicht sein Kind sei. Aber dies 
hier noch einmal und mit Verwechslung des irdischen und 
himmlischen Vaters hereingezogen, ist. nicht geschmackvoll 
und stört die Stimmung der Scene. Die einfachen Sätze: 
„We»sst du, was du im Hause hast?" — und weiter: „deine 
Tochter ist krank", — und: „du hast eine Leiche im Hause**, 
würden schon das wahre Amt des Fremden bei seinem Ein- 
gänge genügend bezeichnen, wie die Antworten des Maurers 
darauf schon genügend se*nen störrichen Sinn erkennen 
he^sen. Alles andre ist nicht einfältig genug, oder zu künstlich 
einfältig. Eist ein wenig später, wenn da: eigentliche Straf- 
gericht über den Mörder hereinbricht, alle Anwesenden sich 
gegen ihn wenden und sich dramatisch beteiligen, das Gewitter 
heraufzieht u. s. w., da wächst auc h d ; e Gestplt des göttlichen 
Lehreis auf dem Hintergrunde von Wundern, und von himm- 
lischem Abglanz umstrahlt, in wahrer und einfacher biblischer 
Grösse empor, die Scene beherrschend und die Stimmung bis 
zum Ende in machtvoll feier'icher Erhöhung bähend. 

Der gesteigerte Ge.f'ils- und Gedankenausdruck dieses 
Kindes, all se'ne Poesie muss ja notwendig Fo.mehi der 
Schrift entlehnen. Wenn der Gei^t der M löter ?us einer 
andern We't zurückkommt, haben ihre Worte ebenfalls An- 
klang an die Bibel und die Psalmen. Am Schlüsse des ersten 
Teiles werden von den Engeln und am Schlüsse des Ganzen 
vom He ;i ande Ver^e gesprochen. Das erschien vielen a's 
unwahr, auch wenn man annähme, dass Krankheit und Nähe 
des Todes alle Fähigkeiten und alles innere Leben w anderbar 
erhöhe und stärke. Es handelt sich aber bei einer solchen 
Dichtung stets nur um die poetische, nicht um die gemeine 
Wahrscheinlichkeit. Dieser widerspräche ja von vorneherein 
der ganze Aufbau und die künstliche Ordnung eines Fieber- 



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traumes, von dem alles Gemeine und Zufällige, das sich in 
Wirklichkeit immer eindrängen wird, ausgeschieden ist. Ihr 
widerspräche schon der kleine Umstand, dass Hannele auch 
im wachen Zustande nicht Dialekt spricht, offenbar mit Absicht, 
damit ihre Sprache während der Visionen nicht allzu sehr 
absteche. 

Die poetische Wahrheit wird durch dergleichen kleine 
Freiheiten nicht verletzt, und wird es auch nicht durch eine 
gegen das Ende zu innigere, metrisch gesteigerte Form. Die 
Verse haben hier nur das Amt der Musik mit übernommen; 
auch die rhythmisch bewegten, klangvollen Worte sollen das 
Unirdische, Verzückte, den Ueberschwang des Vorgangs zu 
reicherem Ausdruck bringen. Aber wohl kann der Inhalt der 
Verse die poetische Wahrheit verletzen. Auf der Bühne, wo 
das einzelne kältere Wort, die weniger gelungene Zeile in 
einer längern Versreihe nicht auffällt, vermögen die beiden 
Gedichte nichts zu verderben; beim Lesen dagegen hat man 
den Eindruck einer ziemlich schwachen und wenig originellen 
Lyrik, einer Art modern-romantischer Scheinpoesie. Sowohl 
wenn die Engel dem Mädchen die Herrlichkeit der Erde 
schildern, die für sie nicht bestanden hat, wie wenn der Herr 
ihr zum Gegensatz die Herrlichkeit der himmlischen Stadt 
beschreibt und den Engeln befiehlt, sie ins Paradies zu tragen, 
finden sich in beiden Gedichten leere, reflektierte Zeilen, und 
sind geringwertige, unplastische Bilder in stellenweise manie- 
rierter Sprache aufgezählt. 

Zu einer Sammlung von Urteilen bekannter Schriftsteller 
über die Zukunft der deutschen Litteratur im „Magazin der 
Litt erat ur des In- und Auslandes u 1892 hat Hauptmann fol- 



gendes Schema eingesendet : 




Himmel, 


Erde, 


Ideal, 


Leben. 


Metaphysik, 


Phvsik, 

• 


Abkehr, 


Einkehr, 


Prophetie 


Dichtung 



Zwei Lager; 
wird das eine fett, wird das andre mager. 
Nichts ist im allgemeinen — und für die heutige Litteratur 
im besondern! — zutreffender. Ihm selbst war es aber dies 

5* 



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einemal vergönnt, die beiden Lager zu vereinigen, den Himmel 
und seine Gefolgschaft dazu zu erobern, ohne dass Erde und 
Leben Einbusse erlitten hätten. Für die Trauindichtung ist 
ihm denn auch der Grillparzerpreis zu Teil geworden, und der 
Preis der Schillerstiftung wenigstens theoretisch, als eine 
unparteiische Anerkennung, die dem allgemeinen Urteil im 
Lande entspricht. Denn „Hanneies Himmelfahrt u ist that- 
sächlich das wertvollste Bühnenwerk, das in den letzten 
Jahren in deutscher Sprache erschienen ist. 



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VII. 

„Die versunkene Glocke. a 

So wäre, uns das Mädchen aus der Fremde, Romantik 
geheissen, denn wiederum am Ausgang des Jahrhunderts 
zurückgekehrt. Im hochgefassten Kleide bringt sie die Früchte 
einer andern Flur, Märchen, Allegorie, Symbolik. Sie neigt 
sich vor allen den Bühnendichtern, giebt dem eine orienta- 
lische Frucht, jenem die blaue Blume, fern von seinem Thal 
im Märchenwalde aufgesprossen. Ein jeder geht beschenkt 
nach Haus, und das Publikum teilt, wie der Erfolg beweist, 
die dankbare Gesinnung gegen die schöne, wundersame Be- 
glückerin. 

Auch bei dieser neuen Wendung des Geschmackes hat 
Hauptmann seine Mitbewerber überholt, ja diesmal in der 
Gunst der Menge fast unbestritten den Preis davon getragen. 
Sein jüngstes Werk „Die versunkene Glocke, ein 
deutsches Märchendrama" , gegeben zum erstenmale Anfang 
Dezember 1896 auf dem „Deutschen Theater" zu Berlin, hat in 
wenigen Monaten den Ruhm des Dichters von einer grossen 
Anzahl von Bühnen aus durch ganz Deutschland verbreitet. 

Schon in den metrischen Stellen im „Hannele" erwies 
sich der Lyriker Hauptmann dem Realisten und Charakter- 
darsteller nicht ebenbürtig. In der „Versunkenen Glocke" 
ist die Form ganz lyrisch ; ein Versdrama, in ähnlichen, zum 
grössten Teil reflektierten, mehr poetisierenden als poetisch 
gefühlten Versen, wie sie dort der Heiland und die Engel 
sprechen. Ganz lyrisch und ganz romantisch ist der Dichter 
nun geworden, so dass sich die Märchendichtung äusserlich 
als ein Schritt weiter darstellt auf der Bahn, die er mit der 
Traumdichtung eingeschlagen hat. Aber nur äusserlich, nur 



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formell; in der hinein Gestaltung entfernt er sich auf jede 
Weise von jenem ersten Versuch in romantischer Richtung 
und nähert sich um so mehr einem weit zurückliegenden 
naturalistischen Werke seiner ersten Zeit: zu unsrer Ueber- 
raschung erlehen wir hier die Wiederkunft der „Einsamen 
Menschen". Dieselbe Fabel, nur veränderte Darstellungs- 
mittel, dieselben Hauptcharaktere, nur in fortgeschrittener 
Entwicklung, und endlich dieselbe schwerdüstere Stimmung, 
die die wirkliche Welt des Landhauses am Müggelsee so tief 
überschattet. Der gleichen Sehnsucht, der gleichen Herzens- 
wallung, der gleichen Weltanschauung scheint das neue 
Drama seine Entstehung zu verdanken. 

Heinrich, der Glockengiesser, wird unablässig von einem 
unruhigen Geiste angetrieben, von einem rastlosen Drange des 
Willens beherrscht, in seiner Kunst das Herrlichste zu voll- 
bringen. Wohl verkünden schon an hundert Glocken die 
Ehre Gottes und den Ruhm des Meisters im Lande; aber sie 
klingen nur im Thal, nicht auf der Höhe, und nicht mit dem 
reinen, vollen Klang, mit dem das noch ungeschaffene Meister- 
werk in seinem Innern ertönt. Empor zur Höhe strebt er: 
sein jüngst vollendetes und nach aller Meinung bestes Werk 
soll von der Bergkirche über dem steilen Abhang erschallen. 
Aber er scheitert an den feindlichen Naturmächten, die jedem 
Schaffenden auflauern und schadenfroh alles Menschenglück 
mit Vernichtung bedräuen. Der Waldgeist stürzt die Glocke, 
die mühsam den Berg hinaufgezogen wird, über den Abgrund 
hinunter in den tiefen Waldsee, und der Meister stürzt ihr 
nach: auf die Halde vor die Hütte hin, wo Rautendelein, ein 
elbisches Wesen, bei der Buschgrossmutter wohnt. Alles wird 
hier von selbst zu ungesuchter Symbolik. Heinrich ist krank 
an Leib und Seele, als er so tief fällt; er weiss nicht, geschah's 
willig oder widerwillig, weiss nicht, ist die Glocke ihm nach- 
gestürzt oder er ihr; er weiss nur, dass sie seine Hoffnung 
nicht erfüllt hatte und schon von ihm verworfen war, ehe sie 
versank. Weder die Liebe seines Weibes, das ihm mit leiden- 
schaftlichem Herzen anhängt, noch die Achtung der Mit- 
bürger und Freunde gewähren Trost und Hilfe; sie sind ihm 
nur die, die im Dunst und Qualm des Thaies mit Wohlbehagen 



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wohnen und einen aufwärts Strebenden hinabzuziehen, bald 
in Liebe, bald in Hass stets von neuem sieh bemühen. Und 
da nun, wie in dem realistisehen Drama so auch hier, im 
ersten Akte die Wendung eintritt, sein Schicksal, seine Muse, 
Rautendelein, auf der ßergwiese sich ihm naht, gehört ihr der 
Meister vom ersten Augenblicke des Sehens an. 

Sterbend wird er seinem verzweifelnden Weibe ins Haus 
getragen; aber Rautendelein folgt nach, als Magd verkleidet, 
heilt ihn und bringt ihn zurück in ihr Reich, das Hochgebirge. 
Ein Verjüngter, mit Maienkräften ausgestattet, steht er nun, 
von der Hand der Liebe geleitet, auf dem Gipfel seines Da- 
seins. Alle Naturmächte werden ihm dienstbar. Von Zwergen 
unterstützt, in der Werkstätte aus natürlichem Felsgestein, 
sehen wir ihn am Schmiedeherd mit Hammer, Zange und 
Blasebalg thätig, endlich das stets ersehnte, im Geiste schon 
empfangene Werk, den Sonnentempel mit dem wunderbaren, 
aus sieh selbst erklingenden Glockenspiel, in die Erscheinung 
zu rufen. Jedoch die Welt des Thaies giebt ihn nicht voll- 
kommen frei. Er widersteht ihr, da sie warnend mit der 
Stimme des Priesters zu ihm spricht, widersteht und nimmt 
den Kampf auf gegen die früheren Freunde, die mit Steinen 
und Bränden ausziehen wider ihn, das Aergernis der Gemeinde. 
Aber seine Stunde ist gekommen, das vom Pfarrer vorher 
verkündete Strafgericht bricht über ihn herein; denn „er ist 
voll Makel, blutig starrt sein Kleid" — verraten und verlassen 
hat Frau Magda den Tod gefunden im Waldsee, wo die Glocke 
begraben ruht. Die Schemen seiner Knaben tauchen vor ihm 
auf, das Thränenkrüglein der Mutter heranschleppend, und: 

„Eines toten Weibes starre Hand 

Die Glocke suchte und die Glocke fand; 

Und wie die Glocke, kaum berührt, begann 

Ein Donnerläuten brausend himmelan 

Und rastlos brüllend, einer Löwin gleich, 

Nach ihrem Meister schrie durch's Bergbereich." 
Unter der Macht des tosenden „Droheschalls' 4 aus der Tiefe 
verflucht Heinrich in jähem Zornesschmerz Rautendelein, die 
Hexe, die Verführerin. „Vorbei, vorbei", — denn die Elbe, 
vom ungetreuen Buhlen Verstössen, ist nach einem alten 
Märchenglauben den Gesetzen ihrer Welt wieder unterthan. 



Rautendelein muss hinab in den Brunnen, des Wassermannes 
Beute zu werden. Alsbald sucht Heinrich voll heissen Ver- 
langens sein verlornes Lieb, wähnt, noch einmal auffliegen 
zu können in die Sonnennähe, auf die Höhe, wo der Tempel, 
das Werk, in das er alles geworfen, was er war und was ihm 
wurde, der Vernichtung verfallen, in lohenden Flammen steht. 
Doch die Schwingen sind ihm gebrochen, in unaufhaltsamem 
Niedergang schwindet, sein Leben dahin, und Rautendelein, 
durch die Kunst der Buschgrossmutter für eine kurze Weile 
auf die Erde zurückgerufen, tötet ihn mit ihrer letzten 
Umarmung, während eines neuen Tages Morgenröte den 
Himmel färbt. 

Wie im Drama „Einsame Menschen" sind die letzten drei 
Aufzüge um sehr viel geringer als die zwei ersten; hier wie 
dort fallen sie gegen die Expositionsakte ab, weil schwache, 
unselbständige Charaktere, gleich Johannes und Heinrich, 
niemals Träger einer energisch fortschreitenden Handlung sein 
können. Mit merkwürdigem Eigensinn wählt der Dichter zum 
zweitenmale einen Helden, dessen bewegliehe Seele nur durch 
fremden Druck emporgehoben wird. Vergebens sind dann 
alle Mittel der Sophistik angewendet, die Schwäche nicht als 
Schwäche erscheinen zu lassen, sie unter einem erregbaren, 
zuweilen heftig brausenden Temperament zu verschleiern. 
Aber dass auch die heftigste Aufwallung einen Unvermögenden 
noch nicht in einen Starken zu verwandeln vermag, das beweist 
der Verfasser selbst am besten, indem seinen Helden viel mehr 
angethan wird, als sie selber thun, indem ihr Schicksal viel 
mehr in Umstände und Fügungen gelegt wird als in ihr 
eigenes Herz. In welch hohem Grade Johannes mit seinem 
ganzen Gefühls- und Geistesleben sofort von der Geliebten 
abhängig wird, ist schon ausgeführt worden. Desgleichen ist 
Heinrich nur ein Schatten ohne Rautendelein; er empfängt 
alles von ihr, die er die Schwinge seiner Seele nennt, von 
der er sagt: ein Schaffender mit ihr entzweit muss dem Durst 
verfallen — überwindet die Erdenschwere nicht, So sehr sind 
die beiden Frauengestalten zu Musen und Genien verklärt, 
so sehr als notwendige Hilfe für den Gelehrten sowohl wie 
für den Künstler hingestellt, dass den um sie Werbenden, die 



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anders den wahren Zweck ihres Daseins nicht zu erfüllen 
vermögen, so gut wie keine Schuld mehr bleibt, und der 
Treubruch gegen die prosaische eheliche Gefährtin nicht mehr 
als Vorsatz und That, sondern lediglich als Verhängnis 
erscheint. In dem realistischen Drama tritt diese Auffassung 
der Verschuldung als eines Verhängnisses, eines Unglücks 
noch stärker hervor, weil Johannes den letzten Schritt noch 
nicht gethan, die Gattin noch nicht verlassen hat. Dass jedoch 
unser Urteil recht und gerecht war, dass er, trotz aller schönen 
Worte und Verleugnungen, kaum eine Spanne weit davon 
entfernt ist, beweist uns das Märchendrama. Hier vollzieht 
er, worauf er dort zustrebt, nur unter verändertem Namen, in 
veränderter Hülle, aber mit unveränderter trugschliessend 
falscher Art des Denkens und mit unveränderter Weichlich- 
keit des Empfindens. Infolge derselben Gesinnung und Hand- . 
lungsweise haben sich in das spätere Werk dann auch sogleich 
dieselben Widersprüche eingeschlichen. 

Wenn Heinrich keine Schuld trägt, nur der inneren mäch- 
tigen Stimme folgt zu einem reineren, besseren, seiner allein 
würdigen Dasein, wie es auszusprechen sein Dichter sich nicht 
genügt htm kann, so ist die Reue sinnlos, die ihn mit grim- 
miger, niederschmetternder Wut packt und ihn Rautendelein 
Verstössen lässt. Und doch wird die schmerzvolle Einsicht, 
dass er nur einem Blendwerk gefolgt ist, auch im Gefühle 
des Zuschauers schon vor der Stunde der Entscheidung ab- 
sichtlich und sorgfältig vorbereitet. Im dritten Akte rühmt 
Heinrich ja noch mit gar wohltönenden Worten gegen den 
abmahnenden und drohenden Pfarrer das Wunder seiner 
Genesung, die neu gewonnene Kraft seines Armes, und redet 
hohe Gleichnisse: dass Gott Freyr in seine Seele nieder- 
gestiegen sei, wie in jenen Baum draussen im Garten, der 
einer blühenden Abend wölke gleicht. 

„Seht: was ich jetzt als ein Geschenk empfing. 
Voll namenloser Marter sucht' ich es, 
Als ihr mich einen Meister glücklich priosot. 
Nun hin ich beides, glücklich und ein Meister I" 

Doch schon zum Anfang des nächsten Aufzuges, da er mit 
den Zwergen schafft und schmiedet, verraten dunkle Andeu- 



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tungen, noch habe er Stoff und Natur nicht bezwungen, 
trotzdem Hautendeleins Macht das Innere der Erde mit allen 
Schätzen ihm öffnet und die widerspenstigen Elementargeister 
ihm unterwirft, noch sei Werkeltag, noch könne er das Fest 
der Vollendung nicht feiern, so weit wie je entfernt vom 
wonnereichen Ziel. Und den ermüdet Kuhenden beschleicht 
das Grauen im Schlafe. Aus dem Brunnen aufsteigend kündet 
der Wassermann: mit Gott habe der Meister Erdenwurm ge- 
rungen und sei verworfen worden, fruchtlos sei das Arbeits- 
opfer dargebracht, er ertrotze „den Segen" nicht, „Schuld 
in Verdienst, Strafe in Lohn zu verwandeln. 4 ' Erwachend 
bestätigt Heinrich dann selbst mit ausführlichen Bekenntnissen 
die innere Wahrheit des qualvollen Traumge. ichts. Er hat 
nichts erkämpft, und erhalten, ist hier oben „fremd und da- 
heim", wie er es unten gewesen, und der erhabene Rausch, 
dessen er zum Werke bedarf, und den er in der Vereinigung 
mit der Geliebten anfänglich gefunden, versagt nun, wie er 
meint, durch die Macht seiner Feinde, — wie wir fühlen 
durch die Angst, Zerrissenheit und Ohnmacht seiner Seele. 
Vor unsern Augen verflüchtet als Zauberspuk und Verblendung 
all sein ersehntes, zu früh gepriesenes Schaffensglück, wäh- 
rend sich nur das Eine erfüllt : die Prophezeiung des Priesters 
von der begrabenen Glocke, die wieder erkhngen, und vom 
Todespfeil, der ihn unter dem Herzen treffen werde. 

An dieser Stelle gewinnen wir für einen Augenblick 
festen Boden unter den Füssen. Aber der Dichter lässt uns 
nicht in der echten Erschütterung, in die uns die vom „brau- 
senden" Glockenschall begleitete Erscheinung der Kinder 
versetzt. Der fünfte Aufzug, der das gleiche seeihche Bild 
bietet, wie der erste — die Bergwiese, von denselben Elfen 
und Geistern belebt, — kehrt mit seiner ganzen Anlage und 
Stimmung noch einmal zum Anfang zurück. Auch wir stehen 
wieder in jedem Sinne, wo wir zuerst gestanden haben: dieser 
echt romantische, bankrotte Held ist am Ende seiner LauKmbn, 
was er bei ihrem Beginne gewesen. Seine Seele verzehrt sich 
und verhaucht in unfruchtbaren Seufzern, in Wünschen masslos 
gesteigert, aber ohne Kraft des Vollbringens, in schwächlicher 
Selbstrechtfertigung und Anschuldigung Gottes und der Welt. 



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Nach der verschwundenen Elfe umherirrend, wiegt er einen 
F?lsstein in der Hand, ihn hinabzuschleudern auf die Bewohner 
des Thals, die Feinde, die sein Leben zerstört haben sollen. 
Inwiefern dieser Vorwurf trifft, ist nicht einzusehen; denn 
als sie gegen ihn herangezogen, hat er sie niedergeschlagen 
und ist, ein innerlich Gestärkter, einer, den nichts besser zu 
überzeugen vermochte von seines Thuns Gewicht und seinem 
Wert, aus dein Kampfe hervorgegangen. Haben sie sein Leben 
aber dadurch zerstört, dass sie sein Gewissen aufrüttelten, so 
könnte er mit einem Schein von Berechtigung sprechen: Ihr 
stiesst mein Lieb hinunter und nicht ich. Doch der Vers 
lautet merkwürdiger Weise anders, lautet: „Ihr stiesst mein 
Weib hinunter und nicht ich." Diese dreiste, schlecht erfun- 
dene Unwahrheit rächt sieh aber sogleich, sie zerreisst nicht 
nur den ganzen logischen Zusammenhang mit den voraus- 
gehenden Akten, sie drückt auch dem Helden vollends den 
Stempel der Willens- und Thatenlosigkeit auf. Die einzige 
wichtige Handlung, wozu ihm im Verlaute des Stückes Ge- 
legenheit geboten wird, darf er nicht begangen haben, kein 
tragischer Zwiespalt in seinem Herzen zwischen Pflicht und 
Neigung darf unsere sorgende Teilnahme erregen : er ist ebenso 
unschuldig wie erbärmlich und feige. In der Gestalt der 
Buschgrossmutter stellt sich der Dichter neben ihn und ver- 
sichert, dass er ein gerader Spross war, stark, aber nicht stark 
genug, bloss berufen, nicht auserwählt, und endlich lösen sich 
die verwirrten, unklaren Töne dieses Finales in eine volks- 
liedartige, sein Hinsterben schildernde Weise auf. 

Das wahre Volkslied und das wahre Märchen jedoch, wie 
krausgestalt seine Blätter und Blüten, wie phantastisch ver- 
schlungen seine Zweige erscheinen mögen, sprosst stets mit 
festem, aufstrebendem Stamm hervor aus den Wurzeln der 
Gerechtigkeit und Sittlichkeit. 

Heinrich steht als Mittelpunkt im Ganzen und beherrscht 
ausschliesslich die fünf Akte. Alle andern Personen sind 
zurückgedrängt und ihm untergeordnet. Seine Ehefrau, Magda, 
tritt nur in einem einzigen Aufzuge, dem zweiten, ihm zur 
Seite, wir erblicken ihre Gestalt gleichsam nur in einem rasch 
und leicht gezogenen Umriss. Trotzdem ist es nicht zu schwer, 



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Frau Käthe wieder zu erkennen und zu erkunden, dass 
zwischen diesen Gatten genau dasselbe innere Verhältnis 
bestehe, von dem wir aus jener modernen Ehe schon des 
Näheren erfahren haben. Wohl äussert sich Frau Magdas 
Wesen kräftiger und leidenschaftlicher, aber sie ist doch nur 
die mittlerweile um einige Jahre älter gewordene Käthe. Sie 
glaubt den geliebten Mann sterbend und lässt, ausser sich 
vor Schmerz, die hilf bereit zudrängenden Freunde und Nach- 
barn hart an, will allein sein mit ihm im Leben und im Tode, 
wie Käthe sich auflehnt, als die Eltern sich zwischen sie und 
Johannes zu drängen versuchen. Käthe sinnt verwundert, 
was der geistig über ihr stehende Gatte jemals habe an ihr 
schätzen können, sie fühlt, dass die Enttäuschung eintreten 
musste, sobald ein höher geartetes Wesen in sein Leben trat, 
und Magda spricht mit der gleichen Demut: 

„Du nahmst mich, hobst mich, machtest mich zum Menschen. 

Unwissend, arm, geangstet lebt' ich hin 

Wie unter grau bezognem Regenhimmel; 

Du locktest, trügest, rissest mich zur Ffeude — * 
Aber zu der Zeit, wo wir Einblick erhalten in diese Ehen, 
wollen weder Johannes noch Heinrich ferner locken und 
tragen. Verehrend und verlangend blicken die Frauen zu 
ihnen auf, um als lästige, unberechtigte Bettler zurückgestossen 
zu werden. 

In dem Drama „Einsame Menschen 44 trifft die Gattin 
jedoch wenigstens eine gewisse Schuld. Sie versteht den 
Wissensdurstigen nicht, stört ihn in der mühsamen Gedanken- 
arbeit und ist, wie einstens Ladv Bvron, verletzt, wenn er 
ihr den Einbruch in sein eigenstes Reich verwehrt. Sie fragt 
mit Elsa im „Lohengrin" ihn, sich selbst und die andern, bald 
zweifelnd und sorgend, bald erzürnt: wes Narn' und Art der 
Gatte sei. Magda dagegen thut ihrem Meister in Haus und 
Werkstatt alles zu gute, weiss zu sagen von der Mühsal seines 
Schaffens, ist begeistert von seiner Kunst, erfüllt von seinem 
Ruhme. Deshalb wirkt es beinahe roh, wenn er sie, die in 
heisser Herzensangst um ihn zittert, auf die Kinder als auf 
das ihr allein zukommende Glück und Leben verweist, sie so 
klar wissen und fühlen lässt, dass er den Tod auch als Lösung 
des ehelichen Zwiespaltes willkommen heisse. Er ist ihrer 



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müde und erwidert dem Pfarrer, der ihn an die Thränen der 

Verlassenen mahnt, mit dem unschönen, die ganze unschöne 

Darstellung des Verhältnisses zwischen den Gatten noch 

einmal sehr bezeichnend zusammenfassenden Bilde: 

„Soll der, der Falkenklau'n statt Finger hat, 
'nes kranken Kindes feuchte Wange streicheln? 
Hier helfe Gott." 

Wird der dramatische Konflikt schon dadurch sehr abge- 
schwächt, dass Magda, da sie kaum unsere Teilnahme hat 
erregen dürfen, als lebende und handelnde Person aus dem 
Dasein des Gatten verschwindet, so zum andernmale in gleichem 
Grade dadurch, dass Heinrich nicht wie Johannes geliebte, 
gütige Eltern, sondern fremde, gleichgültige Menschen bei 
seinem Thun und Lassen zu Widersachern hat. Das läge an 
und für sich wohl im Belieben des Verfassers, würde der 
Kampf nur nicht ebenso schwer genommen wie dort, wo es 
sich um die dem Herzen des Helden Nächsten und Teuersten 
handelt. Man versteht nicht recht, weshalb beständig unser 
Zorn gegen diese schwächlichen, unbedeutenden Feinde, unser 
Mitleid für den von ihnen verfolgten, aber in Wort und That 
überlegenen Meister angerufen wird. Zudem: eine etwas 
schärfer gezeichnete Physiognomie, als dem Pfarrer, Schul- 
meister und Barbier hier zu Teil geworden ist, hätte auch 
der Stil des Märchendramas sehr wohl erlaubt. Sie sind ganz 
allgemein aufgefasst, sind lediglich die Vertreter ihres Amtes 
und Standes, während doch einer von ihnen, der Priester, 
breitem Raum im Stücke einnimmt als Frau Magda. Diese 
oberflächliche Behandlung einer immerhin wichtigen Neben- 
person ist um so mehr zu verwundern von einem Künstler, in 
dessen früheren Werken, wie besonders im Drama „Vor 
Sonnenaufgang' 4 und in der Traumdichtung „Hannele", jede 
nur zufällig des Weges kommende Person deutlich ausgeprägte, 
eigentümliche Züge aufweist. 

Nicht nur unter den phantastischen Gestalten, die aus 
dem Boden des Märchens erwachsen sind, nimmt die liebliche 
Elfe Rautendelein die erste Stelle ein, sie ist überhaupt die 
am besten gelungene, am feinsten durchgeführte der Dichtung. 
Schon der überaus glücklich erfundene Name schmeichelt sich 



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in Ohr und Gemüt ein. Das schöne „Heidenkind" mit Haaren 
aus eitel Sonnenstrahlen geweht, das nicht weiss, oh es ein 
Waldvöglein ist, oder eine Fee, und auf so leichten Sohlen 
durch die fünf Akte geht, erregt, obwohl seelenlos, lebhaftere 
Zuneigung als der von ihr Erwählte aus dem Menschen- 
geschlechte. Denn das alte Motiv, dass die Wasserjungfrau 
oder Elbe durch die Vereinigung mit dem Geliebten auch 
selbst einer Seele teilhaftig wird, hat der Dichter nicht mit 
aufgenommen. Rautendelein ist dieselbe, nachdem sie Heinrich 
in ihr Reich entführt hat, die sie auf der Bergwiese und in 
der Krankenstube gewesen. Wohl lernt sie, die sich in den 
fremden, totwunden Mann verliebt, zum erstenmale die Thräne 
kennen — eine der schönsten Stellen der Dichtung — , wohl 
weint und klagt sie, als innere und äussere Drangsal ihren 
„Sonnenhelden" befallt, aber es ist doch nur die Art von 
Leiden und Trauer, die wir im Märchen in die Natur hinein- 
legen, mit der wir die verwunschene Unke klagen lassen im 
Teich und die verzauberte Nachtigall schluchzen im Gebüsch. 
Der Elfe gereicht zum Vorteil, was den menschlichen Helden 
so sehr schädigt und hinunterzieht, dass sie nichts weiss von 
Schuld und Sünde, gleichgültig bleiben kann und muss gegen 
alles von ihr ausgehende Unheil. So ist ihr Wesen weniger 
verwickelt, einheitlicher und sympathischer durchgeführt als 
das ihrer Vorgängerin Anna Mahr, der modernen Muse im 
modernen Drama. Nur gegen das Ende verflüchtet auch sie 
sich allzu sehr zum blossen Schemen und sentimental Ivrisch 
dargestellten Vampyr, und eine unwahre, gesucht naive Volks- 
poesie soll für die fehlende dramatische Steigerung und Schluss- 
wirkung entschädigen. 

Rautendeleins Beschützerin, die alte Wittichen, die Busch- 
grossmutter, als böse Hexe unter den Thalbewohnern bekannt 
und verrufen, tritt nur im ersten und letzten Akte auf, greift 
gar nicht in die Handlung ein und scheint lediglich erschaffen 
worden zu sein, um gegen eine bestimmte kirchliche Form 
des Christentums geharnischte Streitreden zu halten. So ganz 
äusserlich, schwach motiviert und. besonders im letzten Aufzug, 
auch an unpassenden Stellen ist ihr die Anschauung und 
Polemik des Verfassers in den Mund gelegt, dass man nur 



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ihn aus ihr sprechen hört, und von ihrer eigenen mehr 
menschen- als geisterartigen Beschaffenheit, von ihrem übrigen 
Treiben und Zweck, ihrer Macht und Zauberkunst kein Bild 
erhält. 

Die armen Hirten, die zu Anfang des Jahrhunderts ihre 
Lämmer über die Weide der deutschen Litteratur getrieben 
haben, würden sich mit Recht einer grössern Frömmigkeit 
rühmen können als unsere Neuromantiker. Wenigstens bis 
jetzt ist die Reaktion noch nicht wie damals als Gefährtin 
und Dienerin der Romantik bei uns eingekehrt. Auch die 
Tendenz der „Versunkenen Glocke" ist durchaus freisinnig. 
Aber merkwürdiger Weise zeigt dieser Freisinn einige ähn- 
liche Eigenschaften wie die oft so seltsame Religiosität der 
allen Romantiker, nämlich Unklarheit und Verschwommenheit 
bei grosser Aufdringlichkeit und einen fühlbaren Mangel an 
wirklicher Ethik und Willensstärke. Es ist eine überaus 
platte, nichtssagende Weisheit, die die alte Wittichen, die 
Rhetorik des Helden unterstützend, im schwerfälligen schle- 
sischen Dialekte vorträgt. Doch werden zwei Drittel von 
ihren und des Meisters Kampfreden bei jeder Aufführung 
gestrichen, ohne vermisst zu werden. Verständlicher und 
natürlicher spricht derselbe Geist der Verneinung aus dem 
Munde des Waldschrats. Ein bocksbeiniger, ziegenhörniger, 
bärtiger Faun bewirkt in unserer Einbildungskraft ja schon 
von selbst die Ideenverbindung mit Heidentum, Cynismus und 
tierischer Sinnlichkeit, so dass uns Spott und Hohn über alle 
Gesetze und Schranken aus solchem Munde zu vernehmen 
nicht befremdet. 

Der Waldgeist ist eine originelle, ganz neue Erscheinung 
auf der Bühne, während der Wassergreis Nickelmann an dem 
Kühleborn der Märchenoper „Undine" schon einen bekannten 
Vorgänger hat. Diese beiden humorvollen, wirksamen Rollen 
tragen sehr viel zum Theatererfolg des Märchendramas bei, 
und durch sie ist auch etwas von der alten romantischen 
Ironie in das Werk gekommen, von jener Ironie und Selbst- 
parodie, unverständlich für die „Harmonisch Platten*', die sich 
in einer trivialen Harmonie beruhigt finden.*) Denn ironisch 

*) Vgl. Brandes, Hnuptstrümungen etc. II, 78 ff. 



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ist es doch wohl aufzufassen, wenn die Muse des hoch- 
trabenden, seufzenden Helden, um die er mit allen Kräften 
seiner Seele ringt, am Schlüsse die Braut des triefenden ,,wie 
ein Seehund lang ausschnaufenden'*, augenzwinkernden, mit 
Brekekekex aus dem Brunnen aufsteigenden Wassermanns wird. 

Wie schon in der Ausgestaltung der Fabel manches an 
fremde Werke, vom „Faust" bis zum „Baumeister Solness", 
erinnert, wurden auch zur Belebung und Ausschmückung 
vielerlei alte Motive aus Märchen und Sage verwendet. Es 
kommt stets nur auf die grössere oder geringere Kunst an, 
mit der ein Schriftsteller neu umbildet, geistreich neu zu- 
sammenschmiedet, und die Klagen über litterarischen Kaub, 
die sich in unsern Tagen mehren, sind vielfach unberechtigt. 
Hauptmann aber hat leider so manchen hübschen, allen 
Märchenbestandteil verdorben, indem er ihn nur als äusser- 
liche, unverständliche Zierrat einsetzte. Die sechs, dem Meister 
am Schmiedefeuer helfenden Zwerge sind eine nicht näher zu 
deutende und darum anmassende Allegorie, ebenso die drei 
Becher, die Heinrich vor seinem Tode auf das Geheiss der 
Buschgrossmutter leert. 

Desgleichen wäre eine blühende, schwungvolle Sprache 
wohl zu unterscheiden von einer bombastischen, reflektiert 
rednerischen, wie sie in der „Versunkenen Glocke 44 an allen 
herausgehobenen Stellen herrscht. Auch verraten die Verse 
überall, dass der Dichter die Feile nur wenig zur Hand ge- 
nommen hat, dass sie im ersten raschen Entwürfe hinge- 
schrieben worden sind. Bei sorgfältigerer Arbeit müssten sie 
geschickter und weniger schwerfällig gebaut erscheinen; 
z. B. dürfte nicht fast überall der Artikel eine, eines in 'ne, 
'nes abgekürzt stehen, und viele unschöne und falsche Bilder 
wären dann wohl verbessert oder ausgemerzt worden. Es ist 
geschmacklos, wenn der Wassermann dem Meister prophezeit, 
dass die Wäscherin nie kommen werde, die sein blutiges Kleid 
waschen könnte; es ist geschmacklos und falsch zugleich, 
wenn Heinrich selbst das Dasein einen Sack voll Gram und 
Reue, voll Wahnsinn, Finstre, Irrtum, GalF und Essig nennt. 
Flüssigkeit in einem Sacke ! Und leider Hesse sich eine ziemlich 
grosse Anzahl solcher Vergleiche und Stilblüten aufführen. 



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Zum Erstaunen so mancher begab sich das Unerwartete, 
dass ein Werk Hauptmanns grössern Bühnen wert als littera- 
rischen aufweist. Nach seiner ganzen Laufbahn, wie wir sie 
bis hieher im Einzelnen verfolgt haben, darf man aber mit 
gutem Grunde annehmen, er habe ebenso wenig absichtlich 
dem oberflächlichen Geschmacke des Publikums und der 
herrschenden Mode geschmeichelt, als er absichtlich Einbusse 
an Kraft und Kunst erlitten. Als dem Dichter der Grillparzer- 
preis für die Traumdichtung „Hannele" zuerkannt wurde, und 
zwar kurze Zeit, nachdem er den Misserfolg mit dem Drama 
„Florian Geyer' 4 hatte erleben müssen, sandte er an das Preis- 
gericht einen tief empfundenen, ausserordentlich schön gefassten 
Dankbrief, in dem er „in ehrfürchtigem Aufschauen zu dem 
Namen Grillparzer" gelobte: das Gute ferner zu wollen, die 
Schönheit zu suchen, die Wahrheit nicht zu verleugnen und 
sich selbst im Tiefsten und Besten treu zu bleiben nach 
Menschenkraft. Muss nun leider der räumlich entfernte, per- 
sönlich unbekannte, aber geistig teilnehmende Freund erkennen, 
dass in diesem nächstfolgenden Werke die aufrichtigen Vor- 
sätze noch nicht in die That umgesetzt worden, so wird er 
sich an das ehrliche Wort halten „nach Menschenkraft'% und 
wird sich ferner erinnern, dass auch ein Heros, wie Haupt- 
mann den österreichischen Altmeister nennt, doch nur über 
Mensehenkraft verfügte und neben unsterblichen grossen 
Dramen lyrisch-romantische Märchendichtungen von verhält- 
nismässig geringem! Werte hervorgebracht hat. Nicht als ob 
das Talent auf „Spezialitäten" eingeschränkt werden sollte; 
aber vielleicht liegt Hauptmanns Begabung doch vor allem 
auf dem Gebiete realistischer Beobachtung und Darstellung. 
Er hat von 1SS9 bis IHM, also in nur sieben Jahren, neun 
Bühnenwerk»* vollendet und hat damit seinen Fruchtacker 
zu sehr ausgenützt. Trotzdem bleiben, die zwei bis drei 
weniger gelungenen Dramen abgerechnet, immer noch die 
Beweise einer außergewöhnlichen, echt künstlerischen Kraft, 
einer üppig und leicht aufspriessenden natürlichen Fülle und 
in seinen besten Erzeugnissen auch die Anzeichen einer 
weisen, verständnisvollen Art, reichliche Frucht in wohlge- 
zimmerte Scheuern zu ernten. Wird der Dichter sich wieder 

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sammeln und sich jetzt nach dem lauten Erfolge noch sorg- 
licher auf sich selbst besinnen, so wird ihm und der deutschen 
Litterat ur noch manche Hoffnung erfüllt, manche Gabe be- 
schert werden. 



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