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Full text of "Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge"

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Sammlung 


gemeinveritändlicder 


wiſſenſchaftlicher Vorträge 


herausgegeben von 


Rud. Virchow und Sr. v. holtzendorff. 


XVIII Serie. 
Heft 409 — 432. 


Berlin SW. 1883. 


Verlag von Carl Habel. 
(C. G. Tüderit scht Verlagsbuchhandiung.) 
33, Wilhelm» Strafe 33. 


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Inhalts-Derzeihniß der XVIII. Serie. 


Heft eite 


409/410. Schasler, Dr. M., Die Farbenwelt. Ein neuer 
Verſuch zur Erklärung der Entitehung der Karben jomwie 
ihrer Beziehungen zu einander nebit praftifcher Ein- 
leitung zur Erfindung geſetzmäßiger harmoniſcher Farben: 
verbindungen. Erſte Abtheilung: Die Karben in ihrer 
Beziehung zu einander und 2 us Mit einer 


iqurentafel . 
411. Dithoff, Prof. H., Säriftfprade ar Bollsmundart. 103—142 


412. Bayer, Dr. €., Die en der — — 
ſchaft...— 143 - 190 


413/414. Meyer, Dr. L., Tiur. Eine a e Studie. . 191-270 








415. Schasler, Dr. M., Die Farbenwelt rꝛc. ıc. Zweite 


Abtheilung: Das Geſetz der Farbenharmonie in ſeiner 
Anwendung auf das Gebiet der Kunſtinduſtrie. Mit 





416. Gerland, Dr. €., Der leere Raum, bie Gonfitution 
der Körper und der Nether ee 319358 


417. Saalfeld, Dr. ©. 4., Küche — Keller in Alt: — 359 406 
418. Uffelmann, Prof. Dr. J. Die „onmuitetung der alt: 


407—438 










439 —470 





Stern, Prof. N., Die Socialiften * Reformationgzeit 507 —542 


z Schultz Ferd. Die Zulunnt nach — und Um—⸗ 
en... 543—582 


423. Kollmann, Brof. 3, — geben. 20000. 588—618 


424. Renſch, Dr. Hang, Heber Bulfanismus. Nach dem 
Manuſcript des Verfaflers aus dem ai über: 
tragen von M. Dtto Hermann . . . 2. 619-654 


425. Bezold, Dr. Earl, Ueber Keilinichriften - . . .» . 655-686 





IV 


Heft Seite 

426. Vogel, Prof. Aug., Zur Geſchichte der Liebig'ſchen 
Mineraltheorie.. 

427. Schrader, Dr. D., Thier- und Pflanzengeographie im 
Lichte der Spradforichung. 


428. Neeljen, Dr %., Unfere Freunde unter den niederen 


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429. Sarrazin, Dr. $., Das franzöfifhe Drama in unſerem 


Sabhrhundert . 


687— 730 








731—762 





430/431. Fritſch, Prof. Dr. ©., Die eleftriichen Fiſche im 
Lichte der Defcendenzlehre. Mit 7 Holzichnitten. . . 835-898 
452. Boejch, Oberlehrer, Heinrich I. und Dtto I. oder Die 


olitif der beiden eriten Herricher aus dem jächliichen 





Ich bitte zu beachten, daß die Seiten der Heite eine doppelte Pagi- 
nirung haben, oben die Seitenzahl des einzelnen Heftes, unten — und 
zwar eingeflammert — die fortlaufende Seitenzahl des Jahrganges. 











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Nie Farbenwelt. 


Ein neuer Derjuch zur Erklärung der Entftehung 

und der Natur der Karben, nebft einer praftifchen 

Anleitung zur Auffindung gefegmäßiger harmonifcher 
Sarbenverbindungen. 


Dr. Max Achasler. 


Erſte Abtheilung: 
Die Farben in ihrer Beziehung zu einander und zum Auge. 


Mit einer Figurentafel. 


GH 


Berlin SW. 1883. 
Berlag von Carl Habel. 


(€. 8. Zubderity'sche Berlagsbachhandlang.) 
33, Wilhelm-Straße 33. 





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Das Recht der Ueberfegung in fremde Sprachen wirb vorbehalten. 





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Einleitung. 

—— und Farbenerſcheinung; die „Barbenwelt* 
bedeutet hier „die Welt als Farbenerſcheinung“; Auge und Ohr 
ald Drgane, welche die Welt als Farben- und Eenvortellung ver⸗ 
mitteln; fie find die ſpecifiſch geſthetiſchen Sinne; Taſtſinn, Geruch 
und Geſchmack beziehen ſich auf die materielle Eriftenz der Dinge, 
Geſicht und Gehör auf ihre ideale Eriftenz; die Vorftellung der 
Form ift für den Zaftfinn eine andere als für das Auge. Blind- 
heit und Taubheit in ihrer Wirfung F das menſchliche Xebens- 
* und die geiſtige Entwicklung. Aeſthetiſche Ausbildung des 
Auges: Farbenfreudigkeit und Farbenſcheu. Die Natur in 
ihren Farbeneffekten immer harmoniſch. Worin liegt dieſe Har— 
monie? Formulirung der Aufgabe für die folgenden Erörterungen. 

Um dem Leſer von vorn herein eine Andeutung über die 
beſondere, durch die folgenden Erörterungen zu löſende Auf— 
gabe zu geben, möchte ich vor Allem Das bezeichnen, was er 
davon nicht erwarten darf, nämlich keine Wiederaufwärmung 
des alten Streites zwiſchen der Newton'ſchen und Goethe'ſchen 
Farbentheorie, ebenſowenig weitläufige Erklärungen über die 
Unterſchiede der objektiven Farben als „phyſikaliſcher“ und 
„chemiſcher“, „dioptriſcher“ und „katoptriſcher“, „epoptiſcher“ 
„entoptiſcher“, „paroptiſcher“ ıc. Farben.!) Nicht als ob der 
Berfafjer über die Wahl zwiichen Newton und Goethe ſchwankend 
wäre, und ed wird ſich ihm im Laufe der Unterjuchung mehr: 
fache Gelegenheit darbieten, ſich mit aller Entjchiedenheit darüber 
andzufprechen. Aber nicht in foldhen mehr oder weniger unfrudhte 
baren Erörterungen liegt der Schwerpunft der folgenden Be— 
tradhtungen, ſondern — um den Leſer auch darüber zu unter- 
richten, was er zu erwarten hat —: 

1. in dem Nachweis eined Elements, das bei allen 
bisherigen Unterfuhungen über die Entftehung und 
die Natur der Farben unberüdjichtigt geblieben ift, 
und weldes allein entgültigen Aufſchluß über diefe Fragen zu 
geben vermag; 

2. in der Anfftellung eines aus diefem Clement mit Noth— 
wendigfeit ji ergebenden Princips für die Geſetze der 
Sarbenharmonie; 


XVII. 409, 410, 1* (3) 


4 


3. in der Darjtellung einer praftijdhen, für viele 
Gewerbözweige, welde auf Berwendung von Farben 
angewiejen find, wichtigen Methode zur Auffindung 
jeder Art harmoniſcher Karbenverbindungen. 

Märe der Berfaffer nicht ebenfofehr von der Zuverläfligfeit 
wie von der Neuheit feiner Theorie überzeugt, jo hieße eö bei 
der großen Zahl der verichiedenften Unterjucdhungen über die 
Farben in der That Eulen nach Athen tragen, wenn er diefelbe 
durch eine weitere, aber im Princip nicht welentlid neue, ver- 
mehren wollte. Sm Uebrigen ift, den meilten biöherigen Theorien, 
auch der Newton'ſchen und Goethe'ſchen, gegenüber, zu betonen, 
daß die jog. „objektive Farbe“, d. b. die Farbeneriheinung — 
denn um dieje handelt es ſich vorzugsweiſe, ja ausſchließlich 
immer bei jenen Theorien — für die folgende Unterjuchung zu— 
nächſt nur als die, vorläufig unbekannte, Urjadye der jubjeftiven 
Farbenempfindung des Auges, weldye leßtere dad allein that« 
ſächliche Objekt für uns ift, betrachtet werden muß. 

Aus diefer Auffaſſung der Frage wird nun der Leſer auch 
erfennen, was der für unfer Thema gewählte Titel „Sarbenwelt“ 
bedeuten foll, nämlich nicht jomohl die „Welt der Farben“ ald 
vielmehr nur „die Welt als Farbenerfcheinung“ oder, ſubjektiv 
gefaßt, „als Farbenvorftellung“. Denn die Schopenhaner’iche 
Betrachtung der „Welt ald Wille und Vorftellung” läßt ſich hin— 
fichtlicdy der leßteren Bezeichnung wieder je nady den bejonderen 
Drganen, womit die Welt aufgefaßt und zur Boritellung gebradyt 
wird, im bejondere, durch die Anſchauungsorgane bedingte Vor: 
ftellungsformen zerlegen, deren Summe dann die allgemeine Vor» 
ftelung von der Welt bildet. Unter diefen Anjchauungsorganen 
find ed num aber nur zwei, nämlidy die beiden höchiten Sinne, 
Auge und Ohr, welde jpecifiich-äfthetiicher Perceptionen fähig 
find. Der Grund davon liegt darin, daß durch „Farbe“ und 
„Zon” feine unmittelbare Berührung zwiſchen den Dingen und 
den Sinnen ftattfindet, ſondern dieje Arten von Perceptionen 
durch je ein drittes Clement vermittelt werben, dad befanntlid, von 
den Phyſikern ald „Aether-" und „Luftihwingung“ bezeichnet 
wird, während die anderen Sinne (Gerud, Geichmad und Taft- 
finn) wejentlich die Materie der Dinge jelbft in ihren chemijchen 
und mechauiſchen Dualitäten zum unmittelbaren Objeft der 
Empfindung haben. Deshalb befigen die leßteren drei Sinne 
feine reine äfthetiiche Beziehung im höheren Sinne des Worted 

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5" 


zur Erſcheinungswell, fondern dienen vorzugsweiſe dem materiellen 
Genuſſe. 

Zwar, was den Taſtſinn betrifft, welcher nicht blos die 
Unterſchiede der Wärme und Kälte, ſowie der Beſchaffenheit der 
Oberfläche, des Rauhen und Glatten, Harten und Weichen u. |. w. 
percipirt, jondern fih auch auf die Vorftellung der Form, aljo 
eined ebenfalld, neben Farbe und Ton, weſentlich äfthetiichen 
Perceptionsobjektes bezieht, jo ſcheint diejer übrigens durchaus 
materielle, weil vorzugsweiſe in der unmittelbaren Berührung 
der Dinge berubende Sinn?) jenem Unterjcheidungdprincip 
zwiſchen äfthetijchen und nichtäfthetlichen Sinnen zu widerjprechen. 
Allein diefer Widerjpruch ift nur ein ſcheinbarer. Die Vorftellung 
der Form, welche ausjchließlich durch den Taftfinn hervorgerufen 
wird, bat mit der durch das Auge percipirten Formvorjtellung 
nichts gemein; einen Beweis dafür liefern alle urſprünglich 
Blinden, welche, wenn fie jpäter jehend werden, dad, waß fie 
in ihrem blinden Zuftande ald rund, edig, nah, fern?) ꝛc. richtig 
bezeichneten, zuerft mit dem Auge als ſolche Formen nit ohne 
Meitered wiedererfennen, fondern deren Spdentität erft allmählich 
durch die Erfahrung erlernen, d. h. durch Vergleichung der durd) 
den Zaitfinn bemirften Formvorjtellung mit der durdy das Auge 
bewirften. Thatſächlich ift die Form, die allerdings ald drittes 
äſthetiſches Perceptionsobjeft neben „Farbe“ und „Zon“ zu nennen 
ift, nur eine Abitraction der Farbenperception, d. b. die Anſchauung 
der Formenunterfchiede beruht zunächſt auf der Anfchauung der 
Sarbenunterfchiede — wobei allerdingd der Ausdrud „Farbe“ 
im weiteften Wortfinn, nämlich mit Einfchluß von Weiß, Schwarz 
und Grau, die im fpecifiichen Sinne feine Farben find, ge- 
nommen werden muß. Formen daher, die durch Feine Farben— 
Differenzen ſich unterfcheiden oder nicht durdy ſolche getrennt 
find, beftände die Trennung audy nur in einer Linie, erjcheinen 
dem Auge nicht als verfchiedene, ſondern durchaus als einheitliche 
Formen. Auch die differenten Vorſtellungen des Konfaven und 
Konveren find durch ſolche Farbenunterjchiede, die hier ald Far— 
benabtönung ſich darjtellen, bedingt; wäre ed 3. B. möglich, eine 
Kugel jo gleihmähig zu beleudhten, daß das diejelbe betrachtende 
Auge vor allen Punkten der fichtbaren Hälfte, auch hinſichtlich 
der Intenfität der Strahlen, völlig gleihmäßig afficirt würde, 
fo müßte fie nothwendig ald Fläche erjcheinen. Inſofern aljo 
die Form nur eine Abtraction der Farbe ift — weshalb auch 

(5) 


6 

die Plaſtik eine abſtraktere oder, wenn man will, eine idealere 
Kunſtgattung iſt als die Malerei, obgleich dieſe nur den Schein 
der Formenrundheit auf einer Fläche erzeugt —, reducirt ſich 
thatſächlich die äſthetiſche Perception der erſcheinenden Welt zu— 
nächſt auf die Farben- und Tonempfindungen, ſo daß auch 
nur bei dieſen beiden von „Empfindungen“ als Nervenaffectionen 
die Rede jein fann, während der Ausdrud „Formempfindung“ 
entweder — nämlid wenn er in analoger Bedeutung wie jene 
beiden gefaßt wird — gar feinen Sinn hat, oder aber in ber 
Bedeutung „Empfindung für ſchöne Form“ bereitd dem Gebiet 
des äfthetiichen Urtheild angehört; ein Gefichtöpunft, der bei 
den Ausdrüden „Farben und Tonempfindungen“ als bloßer 
Nervenaffectionen ded Auges und Ohrs jchlehthin zunächſt gar 
nicht in Betracht fommt, obſchon diefe natürlich weiterhin dann 
auch in höherem, künſtleriſch-äſthetiſchem Sinne gefaßt werden 
fönnen. 

Zwar findet auch beim Zaftfinn und ebenſo audy bet 
den beiden anderen niederen Sinnen, Geihmad und Gerud, 
ein dem äfthetiichen Gegenjat ded „Schönen" und „Häßlichen“ 
analoger Gegenſatz der Empfindung Statt, den man als den des 
Angenehmen und Unangenehmen oder ded Wohlgefälligen 
und Mipfälligen bezeichnen fann. Aber die höhere, nämlich 
rein äjthetifche Bedeutung des erfteren Gegenjabes liegt darin, 
daß er — um mit Kant zu reden — „ohne Intereſſe“ iſt, d. h. 
daß er über die blos finnliche Empfindung hinaus in das Gebiet 
der reinen Anjchauung ſich erhebt, auf weldyer das äſthetiſche 
Urtheil beruht. Für die niederen Sinne hat der analoge Ge- 
genſatz daher vorzugäweije die praftiiche Bedeutung, dab danad) 
die Dinge für den Genuß und die Erhaltung ded Lebens als 
nüßlihe und ſchädliche unterichieden werden, was bei jenem 
höheren Gegenjaß gar nicht in Betracht fonımt. Der Ausdrud 
„Ihredlich ſchön“, z. B. für den Eindrud eined Gewitterd auf 
Auge und Ohr, enthält daher einen nur jcheinbaren Widerſpruch, 
nämlicd die Hindeutung darauf, daß diefe Einne, eben im Ge— 
genfag zu der blos natürlihen Empfindung, einer höheren 
äfthetiichen Perception fähig find, indem fie foldhen wilden Kampf 
der entfefjelten Naturelemente, troß des Schreckens, den er auf 
die blos natürlihe Empfindung hervorruft, in feiner Erhabenheit 
und Schönheit aufzufaffen und zu genießen vermögen. Der 
analoge Ausdrud „ichredlich angenehm“ dagegen wäre einfach 

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Unfinn, weil bier der Widerſpruch ein wirklicher ift, der als 
jolcher ungelöft bleibt, da die niederen Sinne fidh über denjelben 
zu erheben außer Stande find. — Selbftverftändlich fünnen aber 
Auge und Ohr neben diejer höheren Perceptiondfähigfeit als 
äfthetiicher Sinne aud an den auf dem materiellen Gegenſatz 
des Wohlgefälligen und Mibfälligen beruhenden Cindrüden 
participiren; und gerade bei unferer Betrachtung ift zunädhft 
von diefem Standpunkt audzugehen, um von diefem aus dann 
zu dem höheren der äfthetiichen Anjchauung fortzugehen. 

„Die Farbenwelt“ alfo, d.h. die Welt unter dem Ge- 
ſichtspunkt der farbigen Erſcheinung: dies ift unfer nächſtes 
Objekt; und es ift ohne Zweifel ein inhaltsvolles Objekt. Wie 
wenige und wie jelten geben diefe Wenigen fid) Recyenjchaft von 
der allumfafjenden Bedeutung, weldye die Farbenfülle der und 
umgebenden Welt nicht nur für dad erfennende Bewußtjein, 
jondern auch für die heitere Mannigfaltigkeit des Lebensgenuſſes 
befigt. Man ftelle fih nur einmal den Fall vor, daß wir zwar 
jehen, aber feine Farben, fondern nur die Helligfeitögrade unter: 
ſcheiden könnten, mit anderen Worten: daß die ganze Natur und, 
ald ob fie plößlich ein Trauerkleid angelegt hätte, farblos ers 
ſchiene: daß dad Grün der Bäume und Wiejen, die Farben- 
pracht der Blumen, die milde Bläue des Himmeldgemölbes, das 
Rojenroth und der orangefarbene Saum der Wolfen bei unter- 
gebender Sonne mit einem Male einer nüchternen grauen Tone 
leiter zwiſchen Hell und Dunfel, d. b. zwiichen Weiß und Schwarz, 
Pla machte. Die Wirkung auf das menjhlihe Lebendglüd 
müßte eine geradezu fürchterliche jein. Man kann ſich von der» 
jelben eine annähernde VBorftellung machen, wenn man fich die 
Wirfung vergegenmwärtigt, welche eine Sonnenfinfterniß oder 
auch das Mondlidht auf die Natur hervorbringt, obgleich hier 
keineswegs ſchon völlige Entfärbung eintritt. Das in dieſer 
Wirfung für die Empfindung liegende Beängftigende, ja Ges 
Ipenftige ſolcher Beleuchtung liegt nicht etwa in der bloben 
Dämpfung des Lichts; im Gegentheil, die volle Lichtwirfung 
würde bei abjoluter Farblofigkeit, ftatt wie beim Mondlicht den 
Eindrud des Geheimnißvollen auf die Phantafie auszuüben, 
vielleicht nüchterner fein, aber fie würde in dieſer profaijchen 
Nüchternheit wahrjcheinlich noch ein Element ded Schredens, 
nämlih das der Langweiligfeit, mehr befiten. Es wäre ein 
Irrthum, wenn man dagegen einwenden wollte, dab diefe Wir- 

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fung nur auf der Borausfegung beruhe, daß wir vorher die 
Natur ald farbige kennen gelernt hätten, daß dagegen, wenn 
die Farbe überhaupt nicht eriftirte, wir aljo von ihrem Reich— 
thum und von ihrer Schönheit feine Vorftelung hätten, auch 
der Mangel daran von und nicht empfunden würde. Soll es 
doch wirklich Menſchen geben, welche die Karben überhaupt nicht 
ald joldye zu ſehen, jondern alle Kichtdifferenzen nur als eine 
farblojfe Skala zwilcdyen Weiß und Schwarz zu unterjheiden im 
Stande find. Bekanntlich bezeichnet man ſolchen Mangel mit 
dem Ausdrud „Farbenblindheit”, verfteht darunter aber nur die 
Unfähigkeit, gewiſſe Farben, z. B. Roth und Grün, von einander 
zu unterfcheiden, nicht aber die Unfähigkeit, überhaupt Farben 
zu ſehen. Es möchte überhaupt zweifelhaft fein, ob ſolche 
totale „Farbenblindheit” überhaupt vorfommt, da fie fich nicht 
fonftatiren läßt, weil, wenn Semand wirklich total farbenblind 
geboren ift, er auch ebenjomwenig eine Vorftellung davon haben 
fönnte, wad man eigentlich meint, wenn man mit ihm von 
„Farben“ fpricht, wie ein Taubgeborener fi eine Vorftellung 
von „Zönen" zu machen im Stande iſt; dagegen iſt jener mildere 
Fall von „Farbenblindheit”, nämlich die Verwechslung gemifler 
Farben mit einander, durchaus nicht felten, jo daß man um Un- 
glüd zu verhüten, auf den Eifenbahnen die Einrichtung getroffen 
bat, die Zofomotivführer, Weichenfteller u. |. w. gewiffen Prüfungen 
hinfichtlich der Korrektheit ihred Sehens zu unterwerfen, weil 
ed mehrfach vorgefommen, daß einige diejer Beamten die rothen 
mit den ;grünen Gignallaternen, weil fie diejelben nicht zu 
unterfcheiden vermochten, verwechlelten. 

Sarbenwelt und Tonwelt, d.h. die Welt des Auges 
und die Melt des Ohrs, find aljo die beiden höchſten Vor— 
ftellungdformen, deren der fubjeftive Geift ald anfchauender und 
empfindender dem erjcheinenden Univerfum gegenüber fähig ift; 
und wenn auch die Srage, ob ed für den Menfchen jowohl hin— 
fichtlich feiner geiftigen Entwidlung wie feiner Lebensfreudigkeit 
trauriger jei, blind» oder taubgeboren zu fein, ohne Zweifel da- 
bin zu beantworten jein möchte, dab das lettere Unglüd als 
das größere zu betrachten ift, weil der Taubgeborne zugleich 
ftummgeboren ift und damit des Hauptmitteld menſchlicher Ent- 
widlung, der Sprache, entbehrt, jo kann ed wohl ebenjowenig 
zweifelhaft fein, dab umgefehrt dad Erblinden bei jchon vor- 
gefchrittener geiftiger Entwidlung ein unendlich größerer Berluft 

8) 


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ift, ald dad Zaubwerden. Ich fann an dieſer Stelle auf die 
Erörterung diejed interefjanten Punktes, welche übrigens feines» 
wegs jo einfach ift wie fie fcheint, nicht näher eingehen; jeden- 
fall3 folgt aud dem Gefagten, dab dad Auge für und das koſt— 
barjte und unentbehrlichite Organ ift, auf deſſen Erhaltung und 
äſthetiſche Ausbildung wir alle Urjadye haben die größte Sorg— 
falt zu verwenden. 

Die „älthetiiche Ausbildung des Auges“: hiermit nähern 
wir und bereitö dem eigentlichen Gegenstand unferer Unterjuchung, 
weshalb diejer Punkt etwas näher in's Auge zu fallen ift. Daß 
derjenige, welder für die Harmonie der Farben und Formen in 
der Natur eine größere Feinfühligfeit befit, ungleidy mehr in 
ihr fieht und ihre Schönheiten tiefer empfindet, als derjenige, 
welchem diefelbe mangelt, bedarf feiner bejonderen Begründung. 
Allein man darf nicht glauben, daß joldye Feinfühligfeit noth— 
wendig mit der jog. höheren Bildung verfnüpft ift, oder daß 
der Mangel folder Bildung zugleich den für die Schönheit der 
Farben einjchließt. Gegen leßtere Anficht ſprechen z. B. die oft 
jehr maleriichen Volkskoſtüme mit ihrem reichen Farbenichmud, 
namentlich bei jüdlichen Nationen. Charakeriſtiſch aber ijt, daß 
der Mangel an Empfindung für Harmonie der Farben fid) nach 
unten in ganz emtgegengejepter Weije äußert als nad) oben; 
dort im niederen Volk ift derjelbe faft immer mit einer naiven 
Farbenfreudigfeit verbunden, die fich allerdings oft im der 
Neigung für jchreiende Kontrafte und für dad, was man in der 
Malerei „giftige” Farben nennt, offenbart, während in den 
höheren Regionen der ſog. gebildeten Gejellichaft ſich im Gegen- 
theil jener Mangel als Farbenſcheu, d. h. ald die Tendenz kund— 
giebt, möglicyft unbeftimmte Farben ald bejonders elegant und 
fein zu bevorzugen. Leider verjchwindet jene naive Farbenfreudig— 
feit des „niederen Volks“, weldye ſich nothwendig mit einer tieferen 
Kulturftufe im modernen Sinne ded Worts verbindet, in dem- 
jelben Grade, in welchem die Kultur bei ihm ſich ausbreitet, 
wozu die ungeheure Vervielfältigung der modernen Kommuni— 
fationdmittel in neuerer Zeit durdy Eiſenbahnen u. ſ. w. bedeutend 
mitwirft: und jo werden mit den echten Volfäliedern und den 
ausdrudsvollen Nationaltänzen auch die ebenfo charakteriſtiſchen 
wie maleriſch intereffanten Volks koſtüme allmählich zu Grabe 
getragen, um — ein biftoriiched caput mortuum — nur nod) 
ald antiquarifche Kuriofität in den Mufeen aufbewahrt und von 

0) 


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gelehrten Forſchern als ſchätzbares Material für Eulturgefchicht- 
liche Unterfuchungen betrachtet zu werden. 

Aus dem äußerlichen Zufammenhang jener volksthümlichen 
Sarbenfreudigfeit mit dem Mangel höherer Kultur und Gefittung 
erklärt ſich zugleich auch die in der Sphäre der gebildeten Klafjen 
der Gejellihaft mehr und mehr ſich geltend machende Neigung, 
diefe höhere Bildung auch durch möglichſt nühterne Farb— 
lofigfeit im Modekoftüm zu manifeltiren; als ob das Ges 
fallen an lebhaften Farben an ſich ſchon ein Symptom der Un- 
kultur wäre! — ein Trugihluß der allerplumpeften Art, der als 
folder durch die farbenprächtigen Koftüme der vornehmen Welt 
in früheren Zeiten, namentlid der Nenaiffanceperiode, aufs 
gededt wird. Wenn daher ſchon öfterd, namentlid, von Malern, 
mit Bedauern darauf bingewiefen worden ift, dab an Stelle 
der allen Menſchen natürlicherweife innemwohnenden Freude an 
Ihönen und reinen Farben in der Kleidung wie in Tapeten, 
Drapperien, Möbeln, Hausgeräthen u. |. w. im neuerer Zeit in 
zunehmendem Grade eine entgegengejehte Neigung zu jener Un- 
entichiedenheit der Farben, weldye in der Malerei ald „Sebrochen- 
heit des Tones“ bezeichnet wird, Pla greift, jo ilt einerfeits 
zwar nicht zu verfennen, daß jolde Tendenz zum Theil aus 
dem richtigen Gefühl der Abneigung gegen jchreiende Sarben- 
fontrafte entipringt, und daß injofern dieje Gebrodyenheit des 
Tons, welche wejentlic in einer Abjchwächung der reinen Farbe 
durh Miſchung mit Grau befteht, einen Anſpruch auf höhere 
Feinheit der Modefarben erheben darf, weshalb fie denn auch 
vorzugsweiſe ald „elegant“ gilt; andererjeitd aber ijt entſchieden 
zu behaupten, daß ſolche Abſchwächung der Karbe, wenn fie aud) 
ihres unbeftimmten Charafterd halber die jchreienden Kontrafte 
ausſchließt, doch nur ein jehr furrogatives Erjagmittel für die 
wahre Harmonie der Farben darbietet. Man giebt dabei jo 
zu fagen, das Kind mit dem Bade aus. Denn fonjequenter 
Meile müßte der höchſte Grad folder Feinheit darin zu finden 
fein, wenn in diefem Modegrau überhaupt gar fein Anklang 
mehr an eine beftimmte Farbe enthalten wäre. Und in ber 
That jcheint die heutige Modefarbe, menigitend der eleganten 
männlichen Kleidung — da8 weibliche Geſchlecht hat ſich noch 
immer ein natürliche Gefühlfür Farbenſchönheit zu bewahren ges 
mußt?) — diejem nüchternen Ideal der Modefarbenfeinheit 
ziemlich nahe gefommen zu fein, da fie wejentlich in einer Skala 

(10) 


1l 





von Farben befteht, welche zwijchen der indifferenten Farbloſigkeit 
ded trodenen Chauſſeeſtaubs und der trüben Dunfelbeit von 
nafjem Straßenihmuß auf und abläuft, und deren Ertreme 
Schwarz und Wei, d. h. die abjolute Farblofigfeit, bilden. 
Im Grunde offenbart ſich in dieſer modernen Farbenichen, 
wenn auch nach entgegengejeßter Richtung hin, derjelbe Mangel an 
Empfindung für Farbenharmonie wie in der naiven Farben- 
freudigfeit des Volks, die an fchreienden und disharmoniſchen 
Barbenzujammenjtellungen Gefallen findet. Es iſt nun zwar 
nicht zu leugnen, daß durdy die letteren das äfthetiich gebildete 
Auge — ähnlich wie durdy disharmoniſche Tonverbindungen das 
mufifaliich gebildete Ohr — oft ftarf verlegt wird. Dennod 
ericheint die darin ſich offenbarende Farbenfreudigfeit immer noch 
wohlthuender und in ihrer Wirkung für dad Auge erfrijchender 
als die allmähliche, bis zur Ertödtung alle Farbenreizes fort- 
gehende Abſchwächung der Karben in den eleganten Modes 
couleuren. Denn — um dieje Parallele noch einmal heranzu— 
ziehen — wie das echte, Schmudloje Volkslied trotz mancherlei 
Härten und troß ſeiner Negellofigkeit in der Form oft viel 
poetiſcher ift als der forrefte Versbau unjrer eleganten Mode- 
dichter, und wie der in freier Ungebundenheit ſich bewegende, 
aber ſtets ausdrudsvolle Volkstanz eine ungleidy höhere Schön- 
heit und Bedeutjamfeit befit ald die marionettenhafte Mechanik 
der zu gleichſam mathemathiſcher ISnhaltölofigkeit herabgejunfenen 
Modetänze unferer Salons, bei denen alle Grazie plaftijcher 
Bewegung einem nondalanten Schlendern und langweiligem 
Sich-im-Kreiſe-Drehen gemwichen ift: jo macht auch die naive 
Lebhaftigkeit der von der Kultur noch nicht beledten VB olföfarbe 
einen entjchieden poetiſcheren Eindrud als unjere moderne Karben: 
icheu, die eigentlich den Namen „Farbenfeigheit“ verdient. Die 
Maler beachten died auch jehr wohl, wenn fie ihre Landſchaften, 
ftatt mit englichen Zourijten und modernseleganten Damen, 
lieber mit wendifchen Bäuerinnen, ungarifchen Zigeunern und 
italienifhen Banditen in ihren bunten Koftümen ftaffiren?), 
oder wenn fie in ihren architektoniſchen Interieurs zu gothijchen 
Kapellen mit ihrem reichen Altarfhmud und ihren bunten Glas— 
gemälden oder zur farbenfreudigen Nenaiffance der venetianijchen 
Paläfte zurüdgreifen, ftatt die mit nüchternen Tapeten ausge 
ftatteten Wohnräume unferer modernen Villen darzuftellen. 
Daß übrigens ſolche Neigung zu nüchterner Farblofigkeit 
(11) 


12 





hinſichtlich der Förderung der Lebensfreudigkeit ihre bedenkliche 
Seite hat, ergiebt fih fjchon daraus, daß nicht ohne Grund 
Schwarz und in Verbindung damit auch Weiß, jowie ihre 
Miſchung Grau ald Farbenzder Trauer und Langenweile gelten‘), 
und dab wir auch von der Natur jagen, fie „traure” oder 
„Iterbe ab”, wenn ſich das Blau des Himmeld und der Glanz 
der Sonne unter einer grauen Nebelhülle, oder dad Grün der 
Wieſen und Wälder unter farblojer Schneedede verbirgt; 
während die Natur zu neuer Lebendfreudigfeit zu „erwachen“ 
Iheint, wenn im Frühling der Schnee fortichmilzt und die 
Nebel ſich zerftreuen, um der bunten Farbenpradyt der Erde 
und dem jonnigen Glanz des Himmeld ihren belebenden Ein- 
fluß auf dad menſchliche Gemüth wieder einzuräumen. Sollte 
nun in diefer allgemeinen Sarbenfreudigfeit der ganzen Natur, 
die fih im Winter nur deshalb in einen todesähnlichen Schlaf 
verjenkt, um friiche Kräfte für die Entfaltung eines neuen, 
warmen, farbenglühbenden Lebens zu gewinnen, für uns nicht 
ein Fingerzeig liegen, daß auh der Menſch in der Ge- 
ftaltung feines, durdy die Kulturverhältnijje bedingten, 
fünftli geordneten Lebens diejem für die Glüdö- 
empfindung des Dafeind jo wichtigen und geradezu 
unentbehrlihen &lemente möglichſt Redhnung zu 
tragen, d. h. feine Empfindung für Farbenſchönheit 
und Farbenharmonie zum höchſtmöglichen Grade der 
Feinheit auszubilden verpflichtet jei? 

Und gerade die Natur ift ed, welche fi für den Menſchen 
in jeinem Streben nad) äfthetiiher Bildung des Auges ald die 
befte Zehrmeifterin erweiſt, da fie jelbit in ihren ſtärkſten Farben— 
effeften ſtets harmoniſch bleibt, weil fie — um mid) malerijch 
audzudrüden — immer mit reinen Örundfarben und deren 
zarteften Mifchungen arbeitet und niemald SKontrafte duldet, 
welche fie nicht auf harmoniſche Weije zu vermitteln weiß. Man 
wird in den farbenreichiten Blumen und in dem bunteften 
Schmetterling vergebli nad) unharmoniſchen Farbenverbin— 
dungen juchen und in den glänzendften Sonnenuntergängen 
ebenfowenig wie in den farbenprädtigften Mujcheln und 
Zoophyten auf dem Grund des Meered eine Nüance entdeden, 
die einen unvermittelten Kontraft in der Zujammenitellung der 
verijchiedenen Töne enthielte: überall, wo die Natur nicht 
künſtlich entftellt, jondern in normalem Zuſtande ericheint, 

(13) 


13 


offenbart jie Harmonie und darum Schönheit, überall frifche, 
glühende Reinheit der Farbe und daher in diejer Beziehung 
Freudigfeit und Glüdsempfindung. 

Auf welchem Princip beruht nun dieje der Natur imma— 
nente Harmonie der Farben: dieje Frage ilt ed, welche beant- 
wortet werden muß, wenn ed fi) darum handelt, die Lehren, 
welche fie mit ewigem Finger auf die Erde und an den Himmel 
Ichreibt, für die Welt der menfchlichen Kultur zu verwerthen; 
mit anderen Worten: giebt ed ein Geſetz und läßt fich dafjelbe 
in jo Elarer Weife formuliren, daß man auf Grund defjelben 
für jede Farbe die entiprehenden harmoniſchen Farben finden 
fann? 

Es ift einleuchtend, daß, wenn diefe Frage auf Grund that« 
jächliher Beweije bejaht werden fann und es möglich ift, dies 
Geſetz der Farbenharmonie in jo flarer Weifen darzuftellen, daß 
Zeder dafjelbe bei der Wahl der Karben, die er für irgend 
einen beliebigen Zwed verwenden will, zu befolgen im Stande 
ift, died nicht nur in vieler Beziehung von großer praftijcher 
Wichtigkeit, jondern auch für die harmoniſche Geftaltung des 
menſchlichen Lebens überhaupt von unberechenbarer Tragweite 
fein würde. Die folgenden Erörterungen enthalten den Verſuch, 
dies Geſetz nit nur in jeiner Nothwendigfeit theoretiſch zu 
begründen, jondern es auch in praktiſcher Weife zur Darftellung 
einer einfachen Methode für Auffindung jeder Art harmoniſcher 
Farbenverbindungen zu verwerthen. Zur Erreichung dieſes Re— 
jultats ift ed aber nothwendig, auf die Natur — nicht ſchon 
der Farbe felbit, jondern — des Sehens, d. h. der Thätigfeit 
ded Auges bei der Farbenempfindung zurüdzugehen. 


I. 

Die Nephaut (Retina) und * Thätigkeit; der Augennerv 
als Vermittlungsorgan mit den Bewußtſein; objektive und ſub— 
jektive Farbe (Farbenempfindung und Farbenerſcheinung); Weiß 
und Schwarz, die Extreme der Farbloſigkeit, als Surrogate des 
reinen Lichts und der reinen Finiterniß; Unterjchied zwijchen der 
Qualität und Intenfität in der Farbenempfindung; abitrafte 
Natur den Intenſitätsſkala. Analogie zwijchen den Lichtſchwin— 
gungen und Nervenſchwingungen als Erklärung des Unterjchiedes 
zwiichen Dualität und Sntenfität der Karben. Was ift „Ur- 
farbe”, was „Grundfarbe”, was Miichfarbe*? — Der Farben- 
freis und jeine Erflärung; das Phänomen der Komplementarität, 
nur aus der Natur der phyſiologiſchen Farbe erflärbar. Die 
Verfchiedenheit der Erſcheinungswelt gründet fi nur auf bie 

(13) 


14 


Berjchiedenheit der Sinnesorgane. Die Neghaut des Auges 
enthält als Perceptionsorgan den gefammten arbenfreis als 
latente Donamis, ſowohl binfichtlih der Qualitäts wie der In 
tenfitätsdifferengen der Karben. Verhältniß der drei Urfarben 
(Roth, Gelb, Blau) zu einander; Kontrajt zwiſchen Gelb und 
Blau; Roth, der Herriher im Farbenreidh; fein Komplement 
Grün, die einfachſte und wirkungsvollſte fomplementäre Grund» 
farbe. Genauere Beitimmung der Sntenfitätöverhältniffe; Nüan- 
cirung, Scattirung, Temperirung; Dualität der Sarben bin- 
fichtlich der Intenfitätsdifferenzen. 

Um die Natur des Sehend ald Thätigkeit des Auges zu 
harafterifiren, ift es nicht nöthig, den anatomiſchen Bau 
defjelben in allen feinen Theilen zu bejchreiben, da es fich dabei 
wejentlih nur um eine der verfchiedenen zarten Häute?) handelt, 
welche den jphäroidifchen, wie eine Camera obscura fonftruirten 
Körper ded Augapfeld einſchließen, nämlidy um die ſog. Retina 
(Netz⸗ oder Nervenhaut). Sie befteht, ald Ausläufer des auf 
der hinteren Seite ded Auges ſich anjeßenden und diejed mit 
dem Gehirn verbindenden Augennerven, theils aus Nervenmarf 
jelbft, theild aus jehr zarten Gefäßen und Zellgeweben und ſetzt 
ſich nad vorn bis zu einem Fleinen runden Loch fort, welches, 
der Achſe des Augapfeld, aber nicht dem Anja des Augen» 
nerven, der etwas ſeitswärts nad) innen liegt, entiprecdhend, dem 
Eintritt der Lichtitrahlen ind Innere ded Auges ermöglicht. 

Gründet ſich aljo dad Wefen der Farbe, in der fubjektiven 
Bedeutung ded Wort, auf die Natur ded Sehens, diejes aber 
wieder auf die jpecifilche Nerventhätigfeit der Nebhaut, jo er- 
giebt fidy ald nothwendige Forderung für die Erfenntniß des 
Weſens der Farbe, dat die Natur der Nebhaut hinfichtlidy der 
Art und Weiſe ihrer Nerventhätigkeit ſowie hinfichtlich der 
daraus folgenden befonderen Wirfungsformen zu unteriuchen ift. 
Aber auch wenn die Natur diejer Thätigkeit und ihrer Wirkungs— 
formen erfannt ift, bleibt für die Erklärung des Sehens, im 
Einne bewußter Anfhauung, immer nod eine Lüde, die fid 
der Unterfuhung völlig entzieht, weil es unmöglich ift, die 
Frage zu beantworten, in welcher Weiſe die Uebertragung 
diejer Thätigfeit der Netzhaut mitteft des Augennerven auf die 
entiprechenden Gehirnnerven, bejonderd aber die der le&teren 
auf das Bemwußtfein fidy vollzieht, oder mit anderen Worten: 
wie wir und die Art und Weife zu denfen haben, in weldyer 
der Berftand bei der Function deö Sehens betheiligt it. Daß 
diefe Betheiligung eine ſehr weſentliche ift, weil die Nerven— 

(14) 


15 





empfindung der Netzhaut dem Berftande durch Vermittlung der 
Gehirnnerven nur das Material zum bewuhten Sehen liefert, 
darüber fann fein Zweifel beftehen und wird 3. B. durch die 
Jedem bekannte Thatjache bewiejen, daß man oft, in Gedanken 
vertieft, eine beftimmte Stelle firirt, etwa an die Dede hinauf— 
blidt und dann, plößlicdy durdy irgend eine Urſache davon ab 
gelenkt, nicht im Stande ift, zu jagen, wad man eigentlich dort 
gejehen hat. Die Wirkung diejer Stelle hinfichtlich ihrer Form 
und Farbe auf die Netzhaut ift, da fie rein phyſikaliſch⸗mecha— 
niſcher Natur ift, offenbar immer diefelbe, d. h. das Bild hat 
fih auf ihr unter allen Umftänden abgejpiegelt, ob wir und nun 
deſſen jpäter erinnern oder nidyt; aber die Uebertragung auf das 
Bewuhtjein blieb unterbrochen, weil der Berftand nach einer 
anderen Seite hin mit übermwiegender Kraft in Anjpruch ges 
nommen war®). 

Hier ftehen wir aljo vor der Grenze unjered Erfennens 
überhaupt — einer Grenze, die troß aller philoſophiſchen 
Hypotheſen deshalb niemald überjchritten werden kann, weil eben 
das Weſen des Erfennend, womit wir allein das Geheimniß 
zu entdeden vermöchten, jelber das Geheimniß ift, defjen Inhalt 
erfannt werden jol?). Wir Fönnen daher nur aus Analogie 
auf die Wahrjcheinlichkeit jchließen, dab jener Uebertragung des 
Vorgangs in der Nethaut auf die Ihätigfeit ded Augennerven, 
welche letztere wejentlidy die Natur einer Schwingungsform bat, 
ein analoger ideeller Vorgang in der MUebertragung dieſer 
Schwingungen auf die bewuhte Anſchauung entipriht. Wo 
daher, wie beim neugeborenen Kinde oder beim Blödfinnigen, der 
Verſtand unentwidelt ift, bleibt aud) die Uebertragung des von 
Außen in dad Innere ded Auges projicirten Bildes auf die be= 
wußte Anſchauung aus, daher der Blick bei beiden ſtets den un— 
verfennbaren Ausdrud bewußtloien Stierend zeigt. Dieje noth— 
wendige Mitwirkung des Berftandes erklärt auch allein den 
jonft höchſt auffälligen Umftand, dab das auf die Netzhaut be- 
kanntlich in verfehrter Stellung!) projicirte Bild der Gegenftände 
aufrecht gejehen wird. Die Annahme, daß bei der Hebertragung 
des Bilded der Netzhaut durch die Augennerven auf die Gehirn: 
nerven (durch Kreuzung jener) eine abermalige Umkehrung ftatt- 
finde, jo daß dadurd die erfte Umkehrung reftificirt werde, ift 
— abgejehen davon, dab. die Kreuzung nicht von oben nad 
unten, fondern von linf3 nad) rechts und umgekehrt geht, — 

(15) 


16 


vollkommen unnöthig; jondern die Reftificirung erfolgt, ald rein 
ideelle, einfach dadurd, dab der Verftand die rein materielle 
Sinnedempfindung, im welder die Vorftellungen von oben und 
unten, links und rechts überhaupt nody nicht eriftiren, durch das 
ihm immanente Gejeß der Kauſalität auf ihre äußere Urſache 
bezieht, indem dad Subjeft die Lage der Gegenftände durch 
die Stellung jeines eigenen Leibe zu ihnen beftimmt; eine 
Stellung, die ihm durch anderweitige Momente als eine aufs 
rechte zur Erkenntniß gelangt. Wenn man daher jeinen Leib 
jelbft umfehrt, 3. B. zwiſchen den Beinen hindurdy die Gegen- 
ftände hinter ſich betrachtet, oder ſich auf den Kopf ftellt, fo 
fieht man auch Alles übrige verfehrt, obgleich dann gerade die 
Bilder auf der Netzhaut aufrecht jtehen. 

Nah diejen orientirenden Vorbemerkungen kann ich nun 
näher auf den beim farbigen Sehen ftattfindenden Vorgang ein- 
gehen, wobei nochmals zu betonen ift, daß, wenn im Folgenden 
von „Farben“ und „Farbenunterſchieden“ die Rede ift, hierunter 
zunächſt nur die fubjeltive Nervenempfindung der Nebhaut vers 
ftanden werden muß, weldye nicht weiter ift ald die Wirkung 
einer ihrem Weſen nach unbekannten Urfacdhe, die dem Objekt 
unter Einwirkung des Lichts anhaftet. Wenn wir daher die 
Roſe roth, die Wieſe grün nennen, jo bedeutet died nichts 
anderes, ald daß die beleuchtete Roſe die Eigenſchaft hat, auf 
unſere Nethaut dieſe durdy den Ausdrud „roth“ bezeichnete 
Empfindung hervorzurufen, welche fich ſpecifiſch von der durch 
„grün“ bezeichneten unterfcheidet!!). Die Vorftellung der Farbe 
als objektiver entipringt aljo, wie jede objektive Borftellung, 
daraud, daß der Berftand die Anihauung, deren Inhalt ihm 
durch die Empfindung der betreffenden Organe vermittelt wird, 
auf die objektive Erſcheinung, ald deren Urjache, bezieht und 
dadurch gleihiam nad außen projicirtt. Es ift mithin ganz 
falj, wenn man, jtatt zunächſt von der Wirkung auszugehen 
und die in diejer jtattfindenden verjchiedenartigen Vorgänge zu 
unterjuchen, um damit einen Schluß rückwärts auf die Urjache 
zu machen, von dieſer leßteren, die und erſt durch ihre Wirkung 
erfennbar ift, ausgeht, um darand die Wirkung erklären zu 
wollen, wie tie Newtonianer ed thun; mit anderen Worten: 
Das Weſen der Farbe ift nur auf phyfiologiidhem, 
durchaus aber nidht auf phyſikaliſchem Wege richtig 
zu erfennen!?). 

(16) 


17 





Was zunächſt den in der abjoluten Farblojigkeit auftretenden 
Gegenjag zwiſchen „Weib“ und „Schwarz“, vder richtiger, 
zwilhen reinem Licht und reiner Finſterniß betrifft, jo 
bildet derjelbe ald Empfindung der Netzhaut denjelben abfoluten 
Gegenſatz, indem vom reinen Licht die volle Thätigfeit der— 
jelben hervorgerufen wird, während die reine Finſterniß ihre 
Thätigfeit überhaupt nicht mwedt. In der Wirklichkeit treten 
aber dieje beiden ertremen Fälle niemals ein; könnten fie jedod) 
eintreten, jo würde ihre Wirfung völlig diejelbe jein, d. h. das 
Auge ift ebenjowenig im Stande, das reine Licht wie die reine 
Finiterniß zu ſehen. Die lettere Annahme enthält nämlich 
einen Widerſpruch, infofern die abjolute Finſterniß das Sehen 
überhaupt als Thätigkeit des Auges ausfchliegt, oder: reine 
Finfterniß jehen, heißt nichts anderes ald Nichts oder vielmehr 
nicht ſehen. Was die andere Annahme, nämlid das Sehen 
des reinen Lichts betrifft, jo bedeutet Died — wie Jeder, der 
einmal verjucht hat in die volle Sonnenjcyeibe zu bliden, ob— 
ſchon bier bereit5 durdy die Atmofphäre eine Trübung des 
Lichts verurjadht wird, weiß — nichts anderes als Blendung; 
Blendung aber ift eine derartige Ueberjpannung des Nerven- 
reized, daß fie einem völligen Außer Thätigfeitjeßen der Netz— 
baut gleid) fommt; weshalb das Auge denn auch nad) einer 
ſolchen Blendung eine Zeitlang — wenigjtend mit der Gtelle 
der Netzhaut, welche von der Blendung getroffen war — nidytö 
fieht, d. b. nur ein dunkles Spektrum (Nadybild) behält, das 
man oft längere Zeit nicht loswerden fann. Thatſächlich jehen 
wir aljo weder jemals das reine Licht, noch die reine Finſterniß, 
fondern nur ihre durdy Trübung bervorgebradyten Surrogate: 
Weib und Schwarz. Morin jene Trübung, d. h. die Ent: 
ftehung des Weißen beſteht, ift nicht leicht zu jagen. Man 
kann ſich den Borgang, der durchaus nicht ald Strahlenbrechung 
aufzufafien ift, etwa dadurch veranjchaulien, dab man die 
Weiße des Schnees mit der Durdyfichtigfeit des Eijed vergleicht, 
oder ſich an die weiße Farbe deö pulverilirten Glaſes erinnert: 
das Weihe entiteht nämlidy hier wahrjcheinlid in Folge einer 
in's unendlidy Kleine gehenden, gleichſam punftuellen Zerftreuung 
der Lichtſtrahlen, die als joldye einen analogen Eindrud im fich 
fontinuirlicher, aber nicht mehr jtrahlender Lichtmenge hervor— 
bringt. Das Licht wird dabei gleichſam wie das an fid) 
durchſichtige Weite des Eies zu Schnee geſchlagen und erfcheint 


xvm. 403. 410. 2 (17) 


ö 18 





dadurch, indem es, wie diejed jeine Iranöparenz, jo feine 
Strahlung einbüßt, weiß!?). Diejed Weiß, als einfady getrübtes 
Licht, bildet mithin das nächſte Surrogat des letzteren für das 
Auge und bewirkt daher, wenn eö hinreichend intenfiv ift, die 
relativ vollite Thätigkeit der Netzhaut; ed iſt diejenige Farbe 
(wenn man ed jo nennen will), weldye das Auge am empfind- 
lichften berührt, ed am leichteften blendet, während das Schwarze 
die Thätigfeit der Netzhaut bis zum relativ geringften Grade 
anregt. Ich fage „relativ“; denn vollkommen ift, wie Schopen- 
bauer will, die Nethaut weder beim Weiten in, noch beim 
Schwarzen außer Thätigfeit; jondern dies ift fie nur beim 
Licht und bei der Finfterniß; für unferen Zwed aber können 
wir immerhin — unter diejer Verwahrung — aud beim Weiß 
und Schwarz von voller Thätigkeit und Unthätigfeit der Neb- 
baut jprechen!*#). 

Der Gegenjat zwiſchen Weiß und Schwarz, ald Surrogaten 
des Gegenfages von reinem Licht und reiner Finfternig, ift, als 
Empfindungsgegenſatz der Nerventhätigkeit der Neghaut, noch 
nicht qualitativer Natur, jondern lediglich ein Gegenjat quanti- 
tativer Sntenfität; er umfaßt Diejenigen durch Miſchung mit 
Weiß, bez. Schwarz bewirkten Abtönungen einer Farbe, welche 
man ald „Nüancirung“ — im Unterjchied von der „Schattirung“, 
welche diejelbe Farbe, nur in ftärferer oder ſchwächerer Be— 
leuchtung darjtellt — bezeichnet. Beide Differenzen, zu denen 
dann noch andere (wovon fpäter) hinzutreten, fallen, ald we— 
jentlich quantitativer Natur, unter den gemeinfamen Stenfitätd- 
unterichied der Helligkeit nnd Dunkelheit, d. h. fie abſtrahiren 
von der Qualität der Farbe als jolder. 

Gegenüber der abftraften Natur diejer quantitativen In— 
tenfitätsjfala in der Nervenempfindung der Netzhaut fann man 
nun die qualitativ = differente Ihätigkeit derjelben ald Tonfret 
bezeichnen. In diejed Gebiet gehört nun die Entitehung der 
Farben überhaupt, d. h. die Empfindung für die qualitativ- 
differente Wirkung der von einem Gegenftande refleftirten Licht- 
ftrahlen! >). 

Zwilchen den ertremen Graden der quantitativen Inten- 
fität!6), die oben — weil fie farblos find, d. h. von der Farben» 
erjcheinung überhaupt abjtrahiren — als „abftraft“ bezeichnet 
wurden, liegen num die Farben in der Mitte. Zwar ge- 
hört dieſe Mitte nicht der reinen Sntenfitätsijkala als joldyer an, 

(18) 


19 


mag man die Grtreme derjelben ald Wei und Schwarz 
faffen oder als Licht und Schatten. Bei der eriteren Faſſung 
nämlich liegen nur die verjchiedenen Abftufungen von Grau 
zwiſchen den Grtremen, bei der zweiten die Abftufungen des 
Schattend (Halb- bis Kernfchatten). Wie iſt num jened „in der 
- Mitte Liegen” der Farben zwilchen den Extremen der reinen 
Helligkeit und der reinen Dunfelheit, an denen, wie bemerft, 
beide Arten von Intenfitätsgegeniäßen (Schwarz und Weiß 
ſowohl wie Licht und Schatten) participiren, zu denken? Schopen- 
bauer bezeichnet den Unterjhied der Empfindung für die Inten- 
fität von der für die Qualität der Farben als verjchiedenartige 
„Theilbarkeit der Thätigfeit der Netina”; ein Ausdrud, der feiner 
wejentlich quantitativen Bedeutung halber den Vorgang als einen 
allzu mechanischen vorftellig macht. Inden er nämlich Licht mit 
„Weiß“ und Dunkel mit „Schwarz“ identificirt — mas, wie 
gejagt, inkorreft ift —, bebauptet er, daß bei den erfteren Er: 
tremen die Retina in voller Thätigfeit, bei den lehteren in 
völliger Unthätigfeit, bei den dazwiſchen liegenden Abftufungen 
von Helldunfel und Grau in entiprehend partieller Tchätigkeit 
fih befinde. Von diejer Art der Thätigfeit jei num aber die- 
jenige, ebenfalld theilbare Thätigfeit der Retina, weldye als 
Farbenempfindung zur Anſchauung gelange, jpeciftich verjchieden; 
er nennt fie daher, zum Unterjchiede von der „intenfiven Theil— 
barkeit" die „qualitative Xheilbarfeit der Tchätigfeit der 
Retina". Es ift dies aber jchon deshalb ein ungeſchickter Aus— 
drud, weil „Sntenfität" und „Dualität” gar feinen Gegenjaß 
bilden; vielmehr handelt ed fidy in beiden Mopdififationdarten 
um Sntenfitätöunterjchiede, nur find Diefelben einmal quantita= 
tiver, dad andere Mal qualitativer Art. Ohnehin gebt aus 
feiner Erörterung in feiner Weije hervor, worauf fid), phyfio- 
logiſch gejprochen, dieſer Unterichied begründet und wie der— 
ielbe, da doch "beide Mopdififationsweilen der Tchätigfeit der 
Retina ſich ſchließlich auf Nervenſchwingungen defjelben Drgans 
zurückführen laſſen, überhaupt denkbar iſt. Nun liegt aber auf 
der Hand, daß gerade in der Erkenntniß der phyſiologiſchen 
Urſache und Form dieſer Differenz die eigentliche Löſung des 
Geheimniſſes der qualitativen Farbenempfindung liegt. Es iſt 
ſogar noch die Frage, ob bei der einen oder anderen Thätigkeits— 
form des Auges blos die Netzhaut und nicht vielleicht nody eine 
oder mehrere andere Häute mitbetheiligt find. Der Vorgang 


2° (19) 


20 


iſt vielmehr ein ganz verfchiedener, und will ich verfuchen, dens 
jelben jeinem Wejen nad) deutlicy zu machen. 

Zunädjft kann darüber wohl fein Zweifel obwalten, dab es 
fi in beiden Fällen lediglich um Nervenbewegung — mag 
man diefe nun ald Schwingung oder als ein innerliches Er— 
zittern denken — handelt; und zwar um eine Nervenbewegung, 
weldye mit der Bewegung des Lichts im direkter Be— 
ziehung und Analogie ftehben muß, da dad Auge ja dody 
darauf hin organifirt ift, die Lichtſchwingungen als Licht, bezw. 
Sarben-Empfindungen dem Gehirn zu übermitteln: gerade 
wie die gleich Drgelpfeifen von verfdyiedener Größe und Etärfe 
aneinander gereihten Sehörnerven auf jene Schwingungsdifferenzen 
der Luft hin organifirt find, die wir al& verjchiedene „Töne“ 
empfinden. Nun ift ed aber durch vielfadhe Unterjuhungen als 
feftgeftellt zu betrachten, dab das Licht ganz verjchiedenartiger 
Bewegungen fähig iſt, d. bh. dab die Schwingungen bdefjelben 
ipecifiich differenter Natur find: in ſolchem Sinne jpridyt man 
von „ftrahlendem“, von „zeritreutem“, von „refleftirtem*, von 
„gebrochenem“ u. ſ. f. Licht. Diefelben, oder vielmehr ganz 
analoge Bewegungsdifferenzen müfjen nun offenbar audy den 
- Nerven der Nebphaut eigenthümlicy fein. Um die Möglichkeit 
einer foldhen gleichzeitigen, einheitlihen und doch differenten 
Bewegung in der Nerventhätigkeit der Netzhaut durdy ein Bei— 
jpiel zu veranjchaulichen, das, weil es einer viel materielleren 
Sphäre entnommen ilt, um fo beweisfräftiger jein dürfte, ift 
an die Erjcheinung zu erinnern, weldye die Oberfläche eines 
Waſſers darbietet, wenn ein Stein hineingemworfen wird, 
während zugleidy ein Windzug darüber ftreidht. Die koncen— 
triihen Wellenfreije, die der hineingeworfene Stein hervor: 
bringt, werden durd die Wirkung des Windes Feineöwegd auf: 
gehoben (und umgefehrt), jondern nur mobdificitt; jene gehen 
ruhig weiter und können ald regelmäßige Kreije verfolgt 
werben; aber auch die Bewegung, welche der Wind bewirkt, kann 
unabhängig von jenen Kreifen für fi beobachtet werden. Auf 
welche Weile die Moleküle ded Wafjerd bei diejer einheitlich 
fombinirten und doch als different erkennbaren Bewegung 
materiell betheiligt find, fommt für und nidht in Frage. Wenn 
nun aber jchon bei diejer wejentlich ftofflichen Bewegung ein 
folder Unterjchied in der Bewegung ſelbſt möglidy ift, wie follte 
dem unendlich feineren Elemente des Lichts und in Folge defjen 

(%0) 


21 

auch tem auf die Empfindung deijelben organifirten Auge die 
Möglichkeit verfagt fein, analoge Differenzen in den Licht», bezw. 
Nervenihwingungen zu bethätigen. Nur darf man dabet nicht, 
wie Schopenhauer, an eine „Iheilbarfeit der Thätigfeit der 
Retina" denken; vielmehr ift dieſe TIhätigfeit, ald zwar diffe— 
rent afficirt, doch ebenfalld eine durchaus ungetheilte, weil eine 
aus differenten Affectionen einheitlich kombinirte. Korrekter als 
der Ausdruck „Iheilbarfeit" wäre daher die Bezeichnung 
„Schwingungs richtung“; und in diefem Sinne Fönnte man 
jagen, daß die Differenz zwiichen der abitraften Intenfitätsjfala 
und der Fonfreten Farbenſkala fi auf eine Differenz in der 
Richtung der Nervenihwingungen der Nehhaut gründe. 
Hieraus würde ſich auch die Leichtigkeit einer Kombination beider 
Efalen erflären, nämlich dab die verschiedenen Intenfitätsftufen 
derjeiben Karbe von dem Auge durdhaus als einfache, in fich 
identtjche Farbenerſcheinungen empfunden werden, während die 
Borftellung ciner verjchiedenen „Iheilbarfeit* eigentlich einen 
Widerjprud enthält, indem, wenn die Thätigfeit auf eine Art 
„getheilt” wird, eime gleichzeitige, anderartige „Zheilung“ der: 
jelben nicht gut denfbar ift. Nimmt man den Ausdrud „Theil: 
barfeit” aljo beim Worte, jo würde dadurdy eine Kombination 
der beiden Efalen nicht möglich fein. 

Die Einheitlichfeit und Einfachheit der Farbenempfindungen 
ald Fombinirter Nervenfchwingungen differenter Richtung iſt nun 
aber für das aus praftiiher Erfahrung abjtrabirte, aljo recht 
eigentlich auf erafte Beobadytung ſich gründende Princip der 
fomplementären Farbenerjheinungen eine unbedingt noth— 
wendige Vorausſetzung. Che ich zur Betrachtung diefes Princips, 
dad mit jeinen Konjequenzen die Grundlage für die Ge- 
feße der Farbenharmonie bildet, übergehe, muß idy zuvor eine 
allgemeine Borbemerfung über die Unterjchiede der Karben, hin: 
fihtlih ihres qualitativen Werthes vorausſchicken, d. b. erklären, 
was unter „Urfarben“, „Srundfarben”, „Mifchfarben (erfter, 
zweiter und :c. Ordnung)“ zu verjtehen ſei. Diele Ausdrüde 
find nämlich keineswegs willfürlibe Bezeichnungen, jondern 
gründen fih auf die Natur der Zarbe felbit. Unter „Urfarben“ 
verftehe ich nämlich nur ſolche Karben, welche durchaus urſprüng— 
lihen Weſens find, d. b. durch feine Miſchung irgend welcher 
andrer Farben entitehen und erzeugt werden fünnen. Solcher 
Urfarben aber giebt ed befanntlich nur drei, nämlich reined Rotb, 

ı (21) 


22 





reines Gelb und reines Blau!?). Werden von diejen Urfarben 
nun je zwei zu verhältnikmäßig (nämlid im Verhältniß ihrer 
an ſich differenten Intenfität 3) gleichen Theilen gemiſcht, jo 
entiteht jedesmal die entiprechende Komplementärfarbe der dritten, 
bei der Miſchung unbetbeiligten Urfarbe: jo giebt „Blau“ und „Gelb“ 
gemilcht Grün d. h. dad Komplement zu Roth, „Blau“ und 
„Roth“ gemiſcht Bivlett d. bh. das Komplement zu Gelb, 
„Roth“ und „Gelb* gemiſcht Orange d. h. das Komplement 
zu Blau, 

Dieje 6 Farben, d. h. die Urfarben mit ihren Komplementen, 
nenne ich nun „Örundfarben”; tieje find es, welde die New: 
ton’iche Theorie, zu Gunften der Analogie der jieben Töne einer 
Dftave, um eine (nämlih außer Blau nody Indigo!) vermehrt 
hat, um die fieben prismatiſchen oder Negenbogenfarben dar— 
zuftellen, wovon fpäter. Wenn übrigens hier von einer „Miſchung“ 
zweier Urfarben behufs der Erzeugung des Komplements zur 
dritten Urfarbe die Nede ift, jo darf diejer Ausdruck nicht im 
blos ftofflidyen Sinne veritanden werden, jondern das Nejultat 
ift zunächſt ein rein phyſiologiſches; d. h. wenn diejelbe Stelle 
der Netzhaut zugleid von zwei differenten FBarbenerjcheinungen 
getroffen wird — etwa durch Lebereinanderlegen zweier trans: 
parenten verfchiedenfarbigen Gläfer — jo entjteht die entſprechende 
gemijchte Farbenempfindung; jo giebt ein blaues Glas mit einem 
gelben Glaſe fombinirt Grün, ein blaues mit einem rothen Violett, 
ein rothes mit einem gelben Drange. Zwiſchen diejen 6 Grund: 
farben, die auch als „einfache“ bezeichnet werden fünnen, jofern 
fie eine fefte in fich abgejchlofjene Skala bilden, liegen nun die 
eigentlihen Miſchfarben, weldye, wenn fie aus einer Kome 
binirung zweier aneinandergrenzenden reinen Grundfarben, zu 
verhältnigmäßig gleichen Theilen gemifcht, entipringen, „Mifch- 
farben erfter Ordnung” oder primäre Mijchfarben heißen; 
geht die Mifchung weiter, d h. wird eine reine Grundfarbe mit 
einer daran grenzenden primären Mijchfarbe fumbinirt, jo ent» 
fteht eine ſekun däre Mijchfarbe oder „Miſchfarbe zweiter Ord— 
nung“; aus der Milchung einer Grundfarbe mit der ihr an— 
grenzenden ſekundären Mijchfarbe oder audy aus der Miichung 
einer primären mit einer jefundären Mijchfarbe entiteht eine 
tertiäre Miichfarbe ıc. quartäre, quintäre u. |. f. Zur deutlicheren 
Veranſchaulichung diejed Verhältniffed der verjchiedenen Farben 
zu einander mögen die beigegebenen Figuren 1 und 2 dienen, 

(22) 


23 


welche, troß ihrer Einfachheit bereit3 die weſentlichſten Elemente des 
auf das Princip der fomplementären Farbenericheinungen fich 
gründenden Gejeted der Karbenharmonie enthalten, joweit dies 
durch die bloße farblofe Zeichnung darzuftellen möglidy ift. 
Zuvor ift jedoch noch eine Zwijchenbemerfung über die 
Kreiösform zu madyen, weldye in diejen wie in den andern Figuren 
(mit Ausnahme von Fig. 12) für die Darftellung der Farben 
gewählt werden mußte. Da jomohl im prismatifchen Spektrum 
wie im Regenbogen die Karbenftreifen eine parallele Reihenfolge 
mit geradlinigem Durchſchnitt bilden, fo ſcheint die Freisförmige 
Anordnung zunächſt willfürlih und nur etwa zu Guniten der 
Theorie erfunden zu fein; fie bedarf alfo nicht nur der Recht: 
fertigung überhaupt, fondern ift auch, und zwar auf Grund der 
Natur der Farben felbft, ald nothwendig nachzuweiſen. Im 
prismatilchen Spektrum beginnt die Reihe der Farben befanntlidy 
mit Roth, dann folgen: Drange, Gelb, Grün, Blau, und endlid, 
Violett !?). Nun liegt aber auf der Hand, dab, wie „Drange” 
der Uebergang von Roth zu Gelb, und „Grün“ der Uebergang 
von Gelb zu Blau, ebenjo „Violett“ dem Uebergang von Blau 
zu Roth bildet, d. bh. daß auf Violett, ebenfo wie auf Grün 
das Blau und auf Roth das Drange, nothwendig wieder das 
Roth folgen muß, um ed alö Uebergang von diefem zu Blau zu 
fennzeichnen; d. h. Roth müßte nicht nur den Anfang, jondern 
auch dad Ende der ganzen Reihe bilden, weldye jo in fidy wieder 


zurückkehren würde. Eine Linie aber, die in ihren Anfangspunft 


zurücfehrt, ift nicht anders als frumm und, joll fie alö regel» 
mäßig vorgeftellt werden, nicht anders als freiöförmig zu denfen. 
Ferner, wenn man die vervollitändigte Reihe: 


Roth Gelb Blau Roth 
Drange Grün Violett 


worin die Urfarben durch gejperrten Drud hervorgehoben find, hin» 
fihtlih deren Stellung betrachtet, jo erfennt man, da zwijchen je 
zweien immer eine Mebergangäfarbe liegt, dab fie in gleichen Ab- 
ftänden von einander ſich befinden. Stellt man ſich aljo die Reihe 
ald Kreis vor, in deijen Peripherie die Farben einzutragen wären 
jo müfjen die drei Urfarben an drei Punkten zu ftehen fommen, 
die die Spitzen eines gleichfeitigen Dreiecks bilden, um bie 
gleichen Abftände zu marfiren. Naturgemäß bilden dann bie 
zwiſchen ihnen liegenden Uebergangsfarben ebenfalls ein gleicy- 
(23) 


24 





jeitiged Dreied, nur in umgekehrter Stellung (j. Fig. 2), alle 
6 Grundfarben zujammen aber ein regelmäßiges Sechseck. Es 
ergiebt fid) hieraus (wie aud andern, Später zu erörternden 
Gründen), daß die Kreidform die einzige, die Natur der Karben 
entiprechende Darjtellungsform des Farbenſyſtems ift. Was num 
die Erklärung der Figuren betrifft, jo bezeichne ich der Kürze 
halber, mit Beziehung auf Fig. 2, die 6 Grundfarben mit 
den Bucdhftaben R (Roth), O (Drange), G (Gelb), N (Grün), 
B (Blau) und V (Violett), deren Kombinationen die Mijchfarben 
darftellen; jo bedeutet z.B. vrv die aus Violett und Rothviolett 
entitehende jefundäre Miichfarbe Violett: Roth-Biolett ıc. 
Fig. 1 dürfte an fich Mar fein: die an den Spißen des in den 
Kreid gezeichneten gleichjeitigen Dreiedd ftehenden Farben find 
die drei Urfarben; zwiſchen ihnen liegen die andern drei 
Grundfarben, welche mit ihren entjprehenden Komplementen, 
da dieje zu jenen die Gegenjähe bilden, durch Kreisdurchmefjer 
verbunden find. Im jeder Grundfarbe mit ihrem Komplement 
it nämlich immer der ganze Farbenfreid enthalten, d. h. es find 
darin nicht nur die ſämmtlichen ſechs Grundfarben, jondern aud) 
alle zwilchen ihnen liegenden Nüancen vertreten. E8 geht dies 
ihon aus der Thatjache hervor, daß jede beliebige Farbe, mit 
ihren Komplement gemifcht, fic zur Farblofigfeit, d. h. entweder 
zu Schwarz oder in gewiljen Fällen zu Weiß aufbebt. 

In Fig. 3, welche die fonfrete Durdführung der in den 
eriten beiden Figuren veranjchaulichten verichiedenen Berhältnifje 
zwijchen den Farben darftellt, und welche in ihrer Eintheilung mit 
Fig. 9 derderzweiten Abtheilung beizugebenden Sarbentafel überein- 
ftimmt, find — der bequemeren Ueberficyt halber — die Bezeichnun— 
gen der Zonen, der beiden Intenfitätödurchmeljer jowie der Mari- 
mal- und Minimalpunfte der Helligfeitö-, und Wärmeintenfität, 
deren Erklärung erſt jpäter erfolgen kann, fortgelaffen, um an einem 
Beiipiel (Violett) 3 Helligkeitäjtufen, zunächſt der ſechs Grund: 
farben, ſodann an einem anderem Beijpiel (Rothviolett) 2 Ab- 
tufungen der dazwifchen liegenden primären Miſchfarben durch 
entiprechende Schraffirungen zu veranjchaulichen. Selbſtverſtänd— 
lich hätten ftatt 3, reſp. 2 Abftufungen, durdy Vermehrung der 
Zonen, deren eine beliebig größere Zahl, ebenfo zu der einen 
Klaffe Miſchfarben, nach die der jefundären, tertiären ıc. hinzu- 
gefügt werden fünnen. Für die Drientirung des Leſers dürfte 
aber dad Gegebene völlig hinreichen, da alle weitere Ausführung 

(24) 


25 
lediglich die nothwendige Konjequenz dejjelben wäre und den 
Ueberblick nur erſchweren fünnte. Giner weiteren Srflärung be— 
darf dieſe Figur ebenjowenig wie die erfte: fie ift das abitrafte, 
nämlich von den Farben ald ſolchen abjtrahirende Abbild des 
großen Sarbenfreijed, giebt daher auch nur die Niüancirungds 
unterjchiede, keineswegs aber die Unterjchiede, jei ed der Hellig- 
feitö= jei ed der MWärmeintenfität der Farben am ſich, in ihrem 
Verhältniß zu einander wieder. In dem äußeren Umfreis geht 
die lichte Nitancirung (in den Spiten) zu Weib, im Centrum 
ded Kreijed die dunkle Nüancirung zu Schwarz über. 

Der Ausdrud „Komplement“ (von complere, ausfüllen) 
bedeutet wörtlich die Ausfüllfarbe, d. h. eine Farbe, welche, zu 
einer andern, ihr entgegengejeßten hinzugejeßt, den ganzen 
Farbenfreis ausfült; fie ift daher genau genommen, d. h. im 
Verhältniß zu ihrem fomplementären Gegenjag, Ergänzungds 
farbe. Dies läßt ſich auch mathematiſch beweiſen. RBG re- 
präſentiren den ganzen Farbenkreis, da alle andern Farben durch 
Miſchung dieſer drei Urfarben entſtehen. Inſofern nun aber das 
Komplement zu einer Urfarbe ſchon aus der Miſchung der andern 
beiden beſteht, alſo beide in ſich enthält, ſo iſt der ganze Farben— 
kreis auch bereits durch je eine Urfarbe mit ihrem Komplement 
repräſentirt und in dieſen vollſtändig enthalten. Daß dies Geſetz 
aber ein ganz allgemeines iſt, d. h. auf jedes beliebige „Farben— 
paar” — wie je.zwei einander ergänzende Farben zu bezeichnen 
find — Anwendung findet, ergiebt ſich aus folgender Erwägung: 
In Fig. 2 find z.B. die beiden ſekundären Mifchfarben ggn — 
vrv als fomplementäred Farbenpaar verzeichnet. Löſt man dieje 
Farben in ihre Urbeftandtheile auf, jo ergiebt fih, da N = gb 
und V=rb iſt, die Formel gggb + rbrrb = 3g -+ Ir + 3b 
=3(G +R-+B) d.h. Gelb, Roth und Blau find je drei 
Mal zu verhältniimäkig gleichen Theilen in jenem fomplemen- . 
tären Gegenjaß ggn + vrv enthalten. Db nun aber der Far— 
benfreiö, der ja durch RGB repräfentirt wird, ein» oder mehrere 
Mal durchlaufen wird — voraudgejegt, dab dabei weder eine 
Farbe übergangen noch eine audgelaffen wird —iſt jelbitverftändlic) 
ganz indifferent. 

Es wurde oben bemerkt, daß Schwarz das Reſultat der 
Miihung aller Karben jei. Hier find drei Fälle möglid: 1. 
Miſchung aller 6 Grundfarben; 2. Mifchung der drei Urfarben, 
3. Miſchung einer beliebigen Urfarbe mit ihrem Komplement, 

(25) 


26 


aljo a. Roth mit Grün, b. Gelb mit Violett, c. Blau mit Drange. 
In allen dieien Fällen wird das Rejultat immer dafjelbe, näms 
ih Schwarz, fein. Died wird jpäter — in der zweiten Ab» 
theilung diefer Unterjudung — näher erläutert und durch ent» 
iprechende Figuren der Karbentafel veranjchaulicht werden. Von 
der Entjtehung des Weiß aus denjelben Farbenfombinationen 
fann ebenfalld erjt jpäter die Rede fein. 

Nach diejer orientirenden Erläuterung über die fomplemen- 
tären Beziehungen der Ur-, Grund: und Mijchfarben zu einander 
fönnen wir nun dad Phänomen der Komplementarität 
jelbit, in der phrfiologiihen Bedeutung des Worts, in näheren 
Betracht ziehen. Phyſikaliſch nämlidy läht fi) diefe Erſcheinung 
weder auf Grund der Newton'ſchen nody der Goethe'ſchen Farben— 
theorie anders ald durch eine Hypotheſe erklären, weil das 
Weſen der objektiven Farbenerſcheinung ald folder — das 
Kantiſche „Ding an fich“ derjelben — unerfennbar ift und nur 
durch einen Rückſchluß von der Wirkung auf die Urjadhe, d. h. 
von der Farbenempfindung auf die Erſcheinung, erflärt 
werden kann. Das wahre Objekt aller Farbentheorie ift daher, 
wie jchon bemerkt, zunächſt nicht die Erjcheinung, d. h. die phyfi— 
faliiche $arbe, fondern die Farbenempfindung oder die phyſio— 
logijche Farbe. Hat man das Weſen diejer erkannt, dann 
mag man durch Analogie, aljo nur mit Wahrjcheinlichkeits- 
gründen, auf das Weſen der Eriheinung zurückſchließen. Alle 
objektiven Daten der auf Grund der Newton’ihen Theorie an— 
gejtellten Berechnungen über die angebliche Länge und Zeitdauer 
der verjchiedenen Aetherſchwingungen, melde die Verſchiedenheit 
der farbigen Lichtſtrahlen erflären jollen, find thatſächlich nichts 
weiter als aus der Luft gegriffene Hypotheſen, die nur dur 
die überfolloffale Größe ihrer Zahlen im Erftaunen jegen. Ich 
. weiß nicht, ob die Herren Phyſiker jelbit daran glauben, wenn 
fie ganz ernfthaft in ihren Lehrbüchern für das Roth die Menge 
der Mether - Schwingungen in der Sekunde durdy die Zahl 
481 000 000 000000 (481 Billionen!), für das Violett jogar 
durch 764 Billionen beftimmen, und wenn fie, unter der will» 
fürlihen Annahme, daß fih alle farbigen Lichtftrahlen mit 
gleicher Geſchwindigkeit, wie das einfache Licht jelbft, nämlich 
42 000 Meilen iu der Eefunde, bewegen, daraus folgern, daß 
die rothe Lichtwelle nody nicht den fünfzigtaufendften Theil, die 
violette nur den hunderttaufenditen Theil eines Zolles (!) lang 

(26) 


27 





jei. Dem Laien, der ſolche Beredynungen nicht zu prüfen, d. h. 
die hypothetiſche Grundlage, auf welder fie aufgebaut find, 
ihrem wifjenjchaftlihem Werth nach nicht zu beurtheilen vermag, 
imponirt natürlicy ſchon die Ungeheuerlichfeit der Zahlenwerthe; 
ohnehin fommt er ſchon aus dem Grunde nicht zu einem Zweifel 
an deren Nichtigkeit, weil er ſich daran erinnert, mit welder 
Zuverläjfigfeit die Aftronomen das Eintreffen der Sonnen- und 
Mondfiniterniffe, ja jogar von Kometen, auf Grund von jchein« 
bar ganz ähnlichen Berechnnngen, vorauszubeltimmen ver» 
mögen,?°) und daher nicht einmal zu vermuthen wagt, daß jene 
Berechnungen feinen andern Werth als den einer matbhematijchen 
Spielerei haben.?!) 

Laſſen wir indeß dieje der echten Wiſſenſchaft wenig würdigen 
mathematiſchen Kunſtſtückchen der Herren Phyſiker bei Seite, 
um dad Phänomen der Komplementarität, um das es 
ih bei der Frage nad einem „Geſetz der Farbenharmonie“ 
in erjter Linie handelt, ind Auge zu fallen, jo iſt zunächſt daran 
anzufnüpfen, was oben über die verjchiedenartige Affection der 
Netzhaut gejagt wurde. Findet zwijchen der Natur der Lichte 
bewegungen und der Natur der Nervenjchwingungen der Neb- 
baut eine beftimmte Analogie jtatt — und died dürfte ſchon dar— 
aus zu jchließen jein, dab, wie bemerkt, das Auge auf das 
Sicht (wie das Ohr auf den Ton) ald auf jein jpecifiiches 
Perceptiondobjeft organifirt ift —, fo folgt, dab allen Licht: 
erjheinungen — mögen dieje in Aetherihwingungen oder font 
worin ihren Grund haben — analoge Borgänge in der, Nerven- 
thätigfeit der Neghaut entiprechen müfjen. Ja, man fann das 
Verhältniß zwijchen beiden Seiten — zwiſchen der objektiven 
Lichterſcheinung und der jubjeftiven Lihtempfindung —, 
die im Grunde diefelbe Suche, nur eben von zwei Geſichts— 
punkten betrachtet, bezeichnen, noch allgemeiner faſſen. Es ift 
mit einer faft an Gewißheit grenzenden Wahrjceinlichfeit anzu— 
nehmen, daß die geſammte Erſcheinungswelt eine weſentlich eins 
beitliche ift, d. h. daß fie von und nur deshalb verjcyieden, nämlid) 
ald Duft, Form, Zon, Farbe, Licht, Wärme, Elektrizität u. j. f. 
percipirt wird, weil unjere Organe jpecififch auf die differenten 
Thätigfeitöformen der einheitlichen Subjtanz durd) ihre Kon— 
ftruction bezogen find.?2?) Daraus folgt aber zugleich mit 
Nothwendigkeit, daß, weil eben jeded Sinnedorgan ſpecifiſch auf 


eine oder mehrere von diejen verjchiedenen Thätigfeitöformen 
(87) 


28 








organifirt ift, zwifchen der legteren und jener Drganijation eine 
fonftante Analogie herrſchen muß. 

Auf das Sehen angewendet, ift aljo zu behaupten, dab 
das Auge in feiner Thätigkeit durchaus und bis in die minus 
tiöjeiten Details hinein derjenigen Ihätigfeitöform der Subitanz 
entipricht, welche wir als „Licht“, bezw. ald „Farbe“ empfinden. 
Was nun die „Farben“ betrifft, die nicht weiter als bejondere 
Modifikationen des Lichts find, gleichviel ob fie aus Brechung 
defjelben oder jonit wie entipringen, fo fünnte dad Auge die— 
jelben als Farben nicht percipiven, wenn nicht die Nerventhätig- 
feit der Netzhaut ald ſolche eine der Modififationsfähigfeit des 
Lichts analoge Modififationsfähigkeit befähe, oder wenn nicht 
der ganze Farbenfreis fozufagen forrelativ im Auge 
jelbit enthalten wäre.?3) Hieraus, aber auch nur hieraus 
allein, erklärt ſich auch die Entitehung des komplementären 
Spektrums. Denn nur, wenn der ganze Farbenfreis — im 
Sinne der totalen Perceptionsfähigkeit — latent im Auge ent- 
halten it, kann eine roth gejehene Farbe, fobald ihre Wirkung 
auf die Netzhaut aufhört, fi in Grün verwandeln, weil der 
durdy die ſpecifiſche Empfintung ded Rothen gejtörte latente 
Farbenfreis ſich durch die gleichſam jpontane Erzeugung des 
Korrelatd, d. bh. ded Komplements zu Roth, wieder herzuftellen 
beftrebt ift, um dadurch den neutralen Zuftand der fotalen 
Perceptionsfähizfeit wieder zu gewinnen. Es findet aljo dabei 
im Auge diejelbe Ergänzung (Komplettirung) ded Farbenfreijes 
als latenter d. h. negativer Einheit ftatt, wie man fie im poſi— 
tiver Form bei der Nücbrehung der prismatiichen Farben in’s 
reine Licht bemerkt; nur daß, weil im Auge tiefe Komplettirung 
zur Ruhe des Organs führt, bier das Reſultat = O iſt; d. h. 
wenn das aus der Betrachtung des Rothen entftandene grüne 
Spektrum nad allmälig erfolgtem Ausgleich zwiichen den beiden 
Gegenſätzen verſchwunden ijt, fieht dad Auge weder Roth noch 
Grün, jondern Nichts, oder ed erhält vielmehr die Empfänglic)- 
feit für die befondere Farbe der Flädye, auf der das grüne 
Spektrum erſchien, zurüd. Selbſtverſtändlich fann dies Erperis 
ment — auf Grund des oben gefundenen Geſetzes — aud) mit 
jedem andern Karbenpaar angeftellt werden, und zwar nicht nur 
in Bezug auf die Dualität, fondern audy auf die Intenfität der 
Farben, weil aud bier der Kontraft auf Ausgleichung drängt. 
Beiſpielsweiſe führe ich folgende Paare an, wobei zu bemerfen, 

(28) 


29 


dab, weil die fomplementären Gezenfübe ſich gegenieitig be— 
dingen, d. h. Grün nicht nur dad Komplement von Roth, fondern 
diejes audy) dad Komplement von jenem ift, überall audy die 
Umkehrung ftattfindet: hHR-+dN?*), dR-+hN, hB-+-dO, 
dB+h0O, h&+dV, d&+hV, hHRV--dGN, dRV-+hGN 
u. ſ. f. Indem nun nicht nur die Mijchfarben zweiter, dritter u. ſ. f. 
Drdnung, jondern auch die verfchiedenen Abftufungen von licht 
und jhattig in die Kombinationsreihen hineingezogen werden, 
entwidelt fi eine unendliche Reihe von fomplementären Farben» 
gegenfäten, die ftet3 feit beftimmte Farbenpaare bilden, d. h. 
immer den ganzen Karbenfreid enthalten. — Hiermit haben 
wir ein weitered wejentlicyes Element für das Gejeh der Farben: 
harmonie gefunden. 

Bisher ericheint dad ganze durdy den Farbenfreis repräjen- 
tirte Syſtem der Farben in ihrer Beziehung zu einander — 
und zwar jowohl hinfichtlicdy der Dualität: (Roth, Grün, Blau, 
Gelb u. ſ. f.), wie der Sntenfitätd- (Rofa — Schwarzroth, beleuch— 
teted — ſchattiges Roth) Differenzen — ziemlich einfady und von 
gleichſam mathematiſch genauer Beitimmbarkeit. Nunmehr ift 
aber ein Element zu berüdfichtigen, welches dieſe Einfachheit 
wejentlidy modificirt, nämlich die Verjchiedenheit der Urfarben, 
und folglih auch der andern Grund- jowie der Mijchfarben 
binfichtlich ihrer Sntenjität an ſich; oder — um zunächſt bei 
den Urfarben zu bleiben — Roth, Gelb, Blau (alle drei als 
volllommer rein vorausgeſetzt) befiten jedes an fidy eine graduell 
verjchiedene Wirkungsintenfität auf das Auge. Wenn daher oben 
unter „Sntenfität“ ſchlechthin nur der allgemeine Gradunterichied 
von „Hell* und „Dunkel“ verftanden wurde, jo iſt nunmehr zu 
bemerken, daß, weil offenbar in diefem Sinne Gelb die hellite, 
Blau die dunkelfte der drei Urfarben repräjentirt, während 
Roth zwiſchen beiden die Mitte hält, in dieſem Sinne Gelb 
au die größte, Blau dagegen die geringfte Intenfität an ſich 
befißen muß. Im Unterſchied von der quantitativen Intenjitäts- 
Ifala, an weldyer jowohl der Gegenjag der Nüancirung wie der 
der Schattirung theilmimmt, ift diefe Art der Intenſität ald die 
qualitative zu bezeichnen, und zwar umfaßt fie, wie wir jehen 
werden, ebenfalld zwei bejondere Arten von Gegenjägen, nämlich 
außer dem zwijchen Helligkeit und Dunkelheit aud den 
zwiſchen Wärme und Kälte Betrachten wir zunädft die 
erftere Art. 


(29) 


20 


Daß Gelb die „hellſte“, Blau die „dunkelſte“ der drei 
Urfarben iſt, bedeutet nidytö Anderes, als dab von ihmen Gelb 
dem reinen Licht, Blau der reinen Finſterniß am nädjften 
fommt. Hieraus folgt erftens, daß diefe beiden Farben unter 
den drei Urfarben den ftärkiten Kontraft zu einander bilden; 
jodann, daß ihre Komplemente Violett und Drange umgefehrt 
ebenfalld einen, wenn audy nicht jo ſtarken Kontraft bilden; einen 
nicht jo Starken, weil in ihnen beiden Roth enthalten it, das 
einerjeitö weniger intenfiv ald Gelb, andrerjeits intenfiver ald Blau 
ift. Man jollte nun denken, dab — wie Drange durch das 
in ihm enthaltene, gegen dad hellere Gelb gehalten, dunflere 
Roth verdunfelt wird — jo andrerjeit8 Violett, durch das eben- 
falld in ihm entbaltene, gegen das dunflere Blau gehalten, 
bellere Roth erhellt werden müßte. Died ift aber keineswegs 
der Fall; jendern Violett ift, wie jchon daraus hervorgeht, 
dab es den fomplementären Gegenjat gegen die hellite Farbe, 
Gelb, bildet, die allerdunfelite Farbe. Der Grund hiervon liegt 
darin, daß die bei jeder Miſchung — und Drange und Violett 
find nebſt Grün, gegen die drei Urfarben gehalten, Mifchfarben 
— ftattfindende Trübung?’) zugleidy eine Berdunfelung ein: 
tritt, weöhalb die ftärkite Verdunfelung, d. h. völlige Schwarz, 
dann bervorgebradyt wird, wenn die Miſchung den ganzen 
Barbenfreis enthält, aljo wenn Roth, Blau und Gelb, die doc 
jedeö heller find, oder audy, wenn je zwei Komplementärfarben: 
Roth und Grün, Blau und Drange, Gelb und Violett, zu ver: 
bältnigmäßig gleihen Theilen gemijcht werden. — 

Bon diefer „Trübung“ — einem Wlement der Farben- 
wirkung, deſſen Geltendmahung mir Goethe verdanfen — 
wird jogleih die Rede fein. Gegenüber dem zwijdyen Gelb 
und Blau herrſchenden Kontraft — ich fage „Kontraſt“, nicht 
Gegenjaß, denn diejer findet nur zwiſchen Komplementen, d. h. 
zwilhen Gelb und Biolett einerjeitd und zwiſchen Blau und 
Drange andrerſeits ftatt — nimmt nun Roth eine mittlere 
Stellung ein, d. h. es fteht jeinerjeitS weder zu Gelb nody zu 
Dlau in einem Kontraft, jondern ift darüber erhaben, gleichſam 
ald der autonome Herriher im Bereich ded gefammten Farben 
freijes. Als folcher verdient ed den Namen „Urfarbe” im emi- 
nenten Sinne: es ift die Farbe par excellence. Dies ift auch 
der Grund, weshalb Grün, das Komplement zu Roth, nicht 


nur die reinfte und intenfivfte unter allen drei fomplementären 
(30) 


31 


Grundfarben ift, weil ed den Kontraft zwiichen Gelb und Blau 
vollfommen aufhebt, jondern dab ed auch, ald Gegenjaß zu dem 
„brennenden”, d. b. dad Auge ald Farbe am jtärkiten afficiren— 
den Roth, zugleidy die mildeite, wohlthuendfte Wirkung auf die 
Sehnerven ausübt. 

Während daher weder Violett noch Drange, weil fie 
feine Miichung Eontraftirender Farben enthalten, den in ihnen 
vorhandenen Antheil ded Roth verbergen können, ilt im Grün, 
eben der völligen Aufhebung des Kontraftes zwiſchen Gelb und 
Dlau wegen, weder von jenem noch von diefem etwas zu 
jpüren; vorausgejegt natürlih, dab es ganz rein ift, d. h. dab 
darin Gelb und Blau zu verhältnikmäßig gleihen Theilen 
gemijcht find. Ferner folgt daraus, dab Roth und Grün den 
Farbenkreis am intenfinften und daher in der Wirkung auf das 
Auge am energiichiten vertreten. Kein andrer Fomplementärer 
Gegenjat, weder der von Gelb und Violett, noch der von Blau 
und Drange — gejchweige denn die Komplemente im Bereich 
der Mijchfarben — bringt die mächtige umd zugleich jo voll» 
fommeu befriedigende Farbenempfindung hervor ald Roth und 
Grün.?6) — 

Neben der bier betrachteten Art der qualitativen Inten— 
fität fommt nun zweitens, wie oben bemerkt, noch eine andere 
Art der Intenfität in Betradht, weldye ih ald den Unter: 
ihied zwilhen Wärme und Kälte der Farben bezeichnete. 
Diefe Betrachtung ift von um fo größerer Wichtigkeit, als 
damit das Eingangs der Einleitung erwähnte, bis jet un— 
berüdjichtigt gebliebene Element zur Sprade kommt, 
weldyes allein ſicheren Aufſchluß über die Entitehung 
der Karben zu geben vermag; es tft dies, mit einem Worte: 
da8 differente Verhältniß, in welchem die Farben an 
ſich Hinfihtlid ihrer qualitativen Helligkeits- und 
MWärmeintenfität zu einander ftehben. Zwar iſt jchon 
früher von „warmen“ und „falten“ Farben gejprochen worden, 
und in der Malerei jind dies ja ganz befannte Ausdrüde; allein 
man hat dieje Eigenfcdyaften biöher immer nur ald beiläufige 
und nicht wejentliche Zugabe zu den allein in Betracht zu ziehenden 
Unterjchieden der Helligkeitöintenfität angejehen. Nun werden 
wir aber jehen, daß die MWärmeintenfität nicht nur denjelben 
Rang in der differenten Dualität der Farben einnimmt wie die 
Helligfeitöintenfität, fondern daß fie im eminenten Sinne die 

(31) 


32 


Grundbedingung für die Entftehung der Farben über- 
haupt ift, d.b. daß ohne fie, durch Beichränfung auf die bloße 
Helligfeitöintenfitäts-Sfala, nur eine Stufenleiter zwiſchen Weiß 
und Schwarz, aber feine Farbenunterſchiede eriftiven Fünnten. 

Der Unterjchied zwijdyen dem Gegenjat der „warmen“ und 
„kalten“ Farben und dem der „hellen“ nnd „dunfeln” Farben 
Ipricht fidy Schon hierin aus, daß der erftere wejentlich die Seite 
des jubjeftiven Wohlgefallend in der Farbenempfindung ausdrückt, 
während der leßtere mehr die Seite der bloßen Qualität, alfo 
etwas Objektived, in der Farbenempfindung bezeichnet. Aller: 
dings herrſcht — auch für die Empfindung — eine jehr innige 
Berwandtichaft zwijchen Licht und Wärme, wie andrerſeits 
zwischen Finfterniß und Kälte, da das Licht ja audy Duelle der 
Wärme it, wenngleidy diefe es nur in ſekundärer Weiſe be: 
gleitet. Da nun die Wärme ebenjo durdy ein der freien Be— 
wegung des Lichts fich entgegenftellended Medium entfteht wie 
die Farbe felbft, jo ift die Uebertragung der Wärmeempfindung 
auf die Farbenempfindung durchaus naturgemäß. Wenn ed aber 
hiernady den Anfchein bat, ald ob der Unterjchied zwijchen 
warmen und falten Farben nicht, wie der zwilchen hellen und 
dunfeln, objeftiver Natur jei, jondern gleichſam nur durch 
ſymboliſche Mebertragung des Ießteren auf die Empfindungs— 
ſphäre entftanden fei, d. h. bloß fubjektive Bedeutung babe, jo 
widerjpricdht dem der Umftand, dab die Helligfeitäjfala 
feineöwegö mit der Wärmeffala identifch ift, jondern 
daß die beiden Skalen auseinanderfallen: Gelb z. B. ilt zwar 
die hellfte, aber Feineömegs ſchon die wärmſte Farbe, jondern 
dies ift Drange; ebenfo ift Violett zwar die dunfelfte, aber 
nicht Schon die Fälteite Farbe, jondern Blau. Aber ed giebt 
aud) einen andern Beweid für den objektiven Wärmeunterjchied 
der Farben, nämlih die Thatſache, daß die prismatiſchen 
Farben verjhiedene Wärmegrade, in der materiellen 
Bedeutung des Worts, zeigen, — 

Wie verhalten fih nun dieje beiden Sfalen zu ein- 
ander, und läßt ſich ihr gegenjeitiges Verhalten in ein 
feiteö, mit mathbematifdher Genauigfeit zu beſtimmen— 
des Spyitem bringen? — Hierin liegt das eigentliche Problem, 
defien Löſung biöher vergeblidy verſucht worden ift; einmal, weil 
man fid) eben immer weſentlich auf die Unterſchiede der Helligfeits- 
intenfität bejchränft hat, jodann, weil man (audy Goethe und 

(82) 


33 
Schopenhauer) dieſe Helligfeitsintenfität jelber falſch auf- 
faßte, indem man den Gegenjaß zwiſchen Licht und Finfterniß, 
worauf fie beruht, irrthümlid; mit dem zwiſchen Weiß und 
Schwarz identificirte, ald ob eine Mifchung, 3. B. des Roth mit 
Weiß, dafjelbe Refultat hätte, ald wenn reines Roth nur ftärker 
beleuchtet wird. Diefer Irrthum aber ftammte bei Goethe, 
der im Uebrigen inftinftiv den richtigen Punkt herausfühlte, von 
welhem aus dad Problem anzugreifen war, offenbar daraus, 
daß er die Farbe — was übrigens ganz richtig ift — als „ein 
Schattiged" (oxısogv) definirte, woraus er den Rückſchluß 
ziehen zu müfjen glaubte, dab „das Trübende”, durch welches 
das Licht zum „Scyattigen” wird, nur eine Vermittlung des 
abfoluten Lichts mit der abjoluten Finfterniß bewirke, zwiſchen 
denen er (ebenfalld irrthümlich) einen „polariichen Gegenjaß“ 
ftatuirte. Sein genialer Gedanke, daß durch dieje Vermittlung 
des Trübenden das abjolute Weiß der Sonne ſich zu Gelb, 
das abjolute Schwarz des Himmels zu Blau färbe, oder, wie 
er fi) ausdrüdt, dab Gelb „getrübtes Licht”, Blau „getrübte 
Finſterniß“ jei — das jogenannte „Urphänomen” — mußte durch 
jenen Grundirrtbum unfruchtbar bleiben; auch Schopenhauer, 
jo viel er zur Aufklärung der Sache beitrug, befindet fi im 
Irrthum, wenn er das Problem wirklich gelöft zu haben ver- 
meinte, da er, obichon die Unrichtigfeit des Ausdrucks „pola= 
riſcher Gegenjag* in der Anwendung auf den Unterſchied von 
Licht und Finſterniß erfennend, doc an der ebenjo unrichtigen 
Soentificirung dieſes Gegenjaged mit dem von Weiß und 
Schwarz feithielt. „Polariſch“ ift nämlich der Gegenjag von 
Licht und Finfterniß deshalb nicht, weil leßtere nur die einfache 
Negation, d. h. die bloße Abmwejenheit des Lichts oder jein 
Nullpunkt iftl, während zwiſchen polariſch Entgegengefegten der 
Nullpunkt, in welchem fie fidy neutralifiren, zwijchen ihnen im 
der Mitte liegt. Uebrigens fällt auch Schopenhauer troß jeined 
Protefted gegen Goethe in diejelbe jchiefe Vorftellung einer 
Polarität zwiſchen Licht und Finfterniß zurüd, wenn er jogar 
von einer „Vermählung“ beider ſpricht. Pofitive und negative 
Glectricität, der Nord- und Südpol ded Magneten u. ſ. f., ebenfo 
die fomplementären Farben bilden echte polariſche Gegenjäße, 
aber nicht Licht und Finfternig. — Kehren wir nad diejer 
nothwendigen Zwijchenbemerfung zu der oben aufgemworfenen 
Stage über die Differenz der Helligfeitd- und Wärme- 


XVII. 409, 410. 3 (33) 


34 


— — — — 


intenſität zurück, unter der ausdrücklichen Verwahrung, daß, 
wenn im Folgenden von Licht und Finſterniß als entgegen- 
gejegten Glementen, zwiſchen denen ſogar ein Ausgleidy ftatt- 
finden fönne, die Rede ift, dies immer nur jo zuverjtehen ift, 
daß es ficy dabei lediglid um eine Stufenleiter zwijchen 1 und 
0, aber nicht zwiſchen +1 und —1 handelt, d. h. dab der 
Ausgleich zwifchen Licht und Finfterni nicht O, fondern '/, ift. 

Demgemäß ift zunächit zu bemerfen, daß in der Stufen- 
leiter der Farben, von der hellften (Gelb) an, die Helligfeits- 
intenjität bis zu einem Punkte ftetig abnimmt, den man als 
"2, d. h. ald Ausgleich zwiſchen Licht und Finſterniß bezeichnen 
fann. Diejer Punkt muß in der Reihenfolge Gelb, Drange, 
Roth, Violett, zwiſchen Drange und Roth in der Mitte, d. h. 
am Ende eines Durchmefjerd liegen, der den Durchmefjer 
Gelb-Biolett, welche alö fomplementäre Ertreme einen polaren 
Gegenſatz bilden, rechtwinklig jchneidet: dies ift Rothorange; 
in der Reihenfolge Gelb, Grün, Blau, Violett wird er zwiſchen 
Grün und Blau, d.h. in Blaugrün fallen, weldyes (j. Fig. 2) 
am andern Ende jened Durchmefjerd liegt, der aljo alö „Durdy- 
mefjer der Helligfeitöintenfität” zu bezeichnen ift. Unter diejem 
Geſichtspunkt kann man die Reihenfolge von ro bis bn mit 
dem Marimum der Helligkeit (Gelb), die „pofitive”, die Reihen— 
folge von ro bis bn mit dem Minimum der Helligkeit (Violett), 
die „negative“ Seite ded Farbenfreijed nennen. 

Nehmen wir dagegenden Wärmeunterjchied als Kriterium 
für eine Vergleichung der Farben, jo erhalten wir nur eine analoge, 
aber nicht identijche Halbirung des Kreijed in eine pofitive 
und eine negative Seite. Denn da nidyt, wie vorhin, Gelb und 
Violett, jondern nunmehr Drange und Blau ald Marimum 
und Minimum der Wärmeintenfität fungiren, jo fällt auch der 
betreffende Begrenzungsdurchmefjer, weil er ebenfalls rechtwinklig 
auf ob (wie der erjtere auf gv) ftehen muß, anders, nämlich 
nah rv —gn; woraus folgt, daß auch die Bezeichnungen 
„pofitiv“ und „negativ“ hier für wejentlich andere Reiben von 
Farben gelten müffen, nämlidy auf der pofitiven Seite für Gelb, 
Drange und Roth (mebft den zwilchen ihnen liegenden Miſch— 
farben), mit dem Marimum Drange, auf der negativen für 
Violett, Blau und Grün (mebit den Mifchfarben) mit dem 
Minimum Blau. Da nun die beiden Begrenzungsdurchmeſſer 
(für die Helligfeitöintenfität ro—bn, für die Wärmeintenfität 

(4) 


35 





rv—gn) ganz auseinanderfallen, jo fann aud) von einer Iden— 
tität der beiden Sfalen feine Rede jein.?”) Es ift aber aus— 
drüdlich und wiederholt dabei zu betonen, daß bei diejer Ver— 
gleihung die Farben immer als „reine” angenommen find, und 
ed verfteht fih, daß dieſe Grundverhältniſſe fi) weſentlich 
modificiren, ſobald der Gegenjat von Hell und Dunkel nicht im 
Sinne der quantitativen Intenfität der Farbe, jondern jei es 
ald Gegenfaß der „Nüancirung* (durch Miſchung mit Weiß 
oder Schwarz), jei e8 als Gegenja der „Schattirung“ (durdy 
ftärfere oder jchwächere Beleuchtung) gefaßt wird. Roth z. B., 
das am fich intenfiver ift, ald jein Komplement Grün, wird 
durch Abtönung zu Roja zwar heller als reines Grün erjcheinen, 
aber zugleich auch fälter. Ferner find Roſa, Roth und Schwarz- 
roth thatjächlich verjchiedene Karben, oder genauer geiprocdhen: 
Farbennüancen, wie beilpielöweile die Farben der verjchiedenen 
Rofenarten beweijen, während jede diejer lofalfarbenen, d. h. 
fonftanten Nuancen durch ftärfere oder jchwächere Beleuchtung 
nur ihren quantitativen Intenfitätögrad ändern, ohne die Farbe 
in ihrer Qualität zu modificivren. Dennod haben beide Inten- 
fitätsarten, wie ſchon bemerft, etwas Verwandtes, injofern ſo— 
wohl die Nüancirung wie die Schattirung an dem gemeinſamen 
Gegenjaß von Hell und Dunkel theilnehmen, oder: Roſa und 
lichtes (reines) Roth find gleicherweije heller, Schwarzroth und 
ichattiges (reines) Roth dunkler ald ihre Gegenſätze. An der 
Skala zwiihen Wärme und Kälte dagegen nehmen fie, wie 
oben gezeigt, nicht in gleicher Weije Theil, und dieſem Tempe— 
raturgegenjat gegenüber können fie daher unter Dem gemein- 
jamen Begriff des Gegenjaßes von Hell und Dunfel zu- 
fammengefaßt werden; man darf aber dabei keineswegs (wie 
Schopenhauer) vergefjen, daß im diejem Gegenſatz immerhin 
zwei differente Intenfitätöjfalen enthalten find. 

Was den Ausdrud „Eonjtante” Farbe betrifft, jo ift der- 
jelbe injofern cum grano salis zu nehmen, alö ftreng genommen 
die Farbe niemals ſich felbft gleidy gejehen wird, jondern ftetö, 
ſei es durdy jpecifiihe Beleudytung, jei ed durdy Neflerwirkung, 
jei ed durch den Einfluß der benachbarten Farben u. ſ. f. für das 
Auge — und zwar für jedes Auge, je nad) dem Standpunfte deö 
Sehenden — verjchieden modificirt ericheint; nur daß wir unbes 
mußt, indem wir 3. B. eine Roſe roth nennen, um damit ihre 
fonitante Farbe zu bezeichnen, von den Modificationen, die Dies 

3° (35) 


36 

ſes Roth durch jene Einflüfje erleidet, abjtrabiren, jo daß e& 
und immer als dafjelbe Roth ericheint, obſchon dieſes weſentlich 
verſchieden iſt, z. B. wenn die Roſe zwiſchen grünen Blättern 
oder (wie bei hochſtämmigen Roſen) auf dem Hintergrunde des 
blauen Himmels betrachtet wird. Im erſteren Falle wird es 
nämlich nicht nur intenſiver überhaupt, ſondern auch heller er— 
ſcheinen. „Konſtante“ Farbe bedeutet alſo für uns nur diejenige 
Farbe, welche allen dieſen unvermeidlichen Modifikationen zu 
Grunde liegt, d.h. welche unter denſelben Einwirkungen wie 
Yicht, Nefler, Kontrait u. j. f. ftetö denjelben Farbenton zeigt.?®) 
Uebrigens ijt hierbei von Intereſſe zu bemerfen, daß die 
Spraden nur für die eigentlihen Grundfarben in ihrer 
Reinheit feite Namen befien, über die Niemand in Zweifel 
ift: was „Roth“, „Gelb“, „Grün“, „Blau“ u. ſ. f. fei, weiß 
Seder, der nicht farbenblind iſt; die fpecifiihen Tönungen 
derfelben dagegen zu Roſa, Lila, Karmin und andrer Nüancen 
in ihrer Reinheit zu beftimmen, it ſchon jchwieriger; am ſchwie— 
rigften, wenn dazu noch die Differenzen der Mifchfärbung bin: 
zutreten. — Kehren wir nach diejer Zmwijchenbemerfung zu der 
näheren Betradytung des Unterſchiedes zwiſchen der Hellig- 
keits- und der Wärmejfala zurüd. 

Hier ift zunächſt das auf Erfahrung ſich gründende Geſetz 
zu formuliren, daß beide Intenſitätsformen ſowie audy die 
quantitativen der „Nüancirung” und der „Schattirung“ an der 
Komplementarität Theil nehmen, d. h. daß nicht nur eine helle 
Nüance ein dunkles, jondern aud eine beleuchtete Farbe ein 
ichattiged, endlich ein Falter Ton ein warmes Spektrum und 
umgefehrt hervorrufen. So wird z. B. nit nur 1. einem 
reinen Roth: ein reines Grün, 2. dem Roſa: Dunfelgrün, 
3. einem beleuchteten reinen Roth: ein ſchattiges Grün, ſon— 
dern aud) 4. einer warmen Farbe eine Falte und umgefehrt ala 
Spektrum folgen. (Letzteres iſt übrigend jelbitverftändlich, da 
dies in der Natur des polariichen Gegenjages liegt und aljo 
mit Nr. 1 zufammenfällt.) Aus diefen Kombinationen ent- 
wicelt fi) num eine außerordentlic große Zahl von fomplemen= 
tären Sarbentönen, die ſämmtlich mit Hilfe des ſyſtematiſchen 
Farbenkreiſes hinfichtlicy ihrer ſpecifiſchen Tonwirkung mit mathe- 
matiſcher Genauigfeit zu bejtimmen find. 

Wenn man in den Farbenkreis (i. Fig. 2) zwei foncens 
trifche Kreije einzeichnet, weldye die Kreiöfläcdye in drei Zonen 

(36) 


37 


von verjchiedener Helligkeit theilen, wovon die mittelfte Zone 
die reine Farbe, die äußere die hellfte, die innere die dunfelite 
Nüance enthält, jo mürde aljo 3. B. dad Komplement der 
jefundären Mijchfarbe vrv (Violett-Roth-Violett) in der mitt- 
feren Zone (aß) der mittleren Zone (de) der jecundären Miſch— 
farbe ggn (Gelb-Gelb-Grün), dagegen das Komplement der 
äußeren Zone, welche an Weiß grenzt, der inneren Zone (50), 
welhe im Mittelpunkt y in Schwarz übergeht, entſprechen. 
Soldyer koncentriſchen Kreiſe, bezw. folder Zonen hat man fidh 
nun aber unendliche vorzuftellen, d. b. der Uebergang vom abjo= 
Iuten Licht zur abjoluten Finfterniß, oder, wenn man will, von 
dem außer der Peripherie des FBarbenfreijes liegend gedachten 
Weiß bis zu dem im Mittelpunft liegend gedachten Schwarz, 
zwilchen welchen Ertremen die Nüancen aller Farben liegen, 
ift ein durchaus Fontinuirlicher und deöhalb bereit3 auf jedem 
Durchmeſſer die Zahl der fomplementären Gegenſätze eine 
unendliche. Rechnet man hierzu nody die ebenfo fontinuirlichen, 
auf der Peripherie des Farbenfreifes liegenden Uebergänge von 
einer Farbe zur andern, jo fann man fi) von dem Rejultat 
einer Kombinirung diejer zwiefadhen Unendlichfeiten faum noch 
eine Vorftelung machen, Für den Zweck der Yufftellung eines 
Geſetzes für harmonijche Farbenverbindungen reicht ed indefjen 
vollfommen hin, einerjeitö die Peripherie des Farbenkreiſes durch 
Theilung bis einjchlieglidy zu der Firirung der Mifchfarben 
erfter Ordnung, andrerjeitd durch foncentrifche Kreije die Kreid- 
fläche in eine befchränfte Anzahl von Zonen zu zerlegen, weil 
ſchon durdy die Kombination diefer beiden Elemente eine ſehr 
große Zahl von Farbennüancen ſich entwidelt. 

Nach diefen orientirenden Vorbemerkungen über die Inten- 
fitätöverhältniffe der Farben können wir nun zu der Betrachtung 
des oben erwähnten Goethe’ihen Urphänomend über: 
geben, wobei idy bemerfe, dab die Erklärung des Unterſchieds 
der differenten MWärmeintenfität von der differenten Helligkeits— 
intenfität — in Bezug auf ihren wahrfcheinlichen (phyſikaliſchen) 
Uriprung — erft weiter unten erfolgen kann. 


I. 

Das „Scattige* der Farbe, im Vırhältnif zum Licht (Goethe's 
arıepov), iſt nicht blos phyſikaliſch, fondern aud phyfiologiich zu 
betrachten. Das Goethe'ſche Urphänomen: „Gelb“ als dur 
Zrübung gedämpftes Licht, „Blau“ als durch Trübung erhellte 

(37) 


38 


Finſterniß, bilden (nicht einen „polaren“ Gegenjag, jondern) 
einen Kontra. Schema der Helligfeitsintenfitatsjkala. Unter 
ſchied der Helligfeits- von der MWärmeintenfität der Farben, von 
Goethe und Scopenhauer nicht berückſichtigt. Schema der 
MWärmeintenfität; erceptionelle Stellung des Fomplementären 
Gegenjages „Rotl»Grün“; Roth nod einmal als der Herrſcher 
im Farbenreich. rfahrungsbeweije für die Wahrheit des Ur 
phänomens: Morgen: und Abendröthe, Alyenglüben u. ſ. f. Die 
Erwärmung dur die Trübung, ihr Kortgang und ihre Abnahme. 
Duantitative und qualitative Modififation des Lichtes durd die 
Irübung: Schwächung des Lichts und — einer 
Bewegung als differente Erſcheinungsformen deſſelben. Ihr Ver 
hältniß zu einander. Wektififation des Goethe'ſchen Urphäno» 
nomens, durd Schopenhauer verjucht, aber nicht erreiht. Ger 
nauere Definition des Ausdruds „Audgleichpunfte* für Roth 
und Grün. Zurücdführung dieſer verjchiedenen Verbältniffe in 
der Farbenerſcheinung auf die Rarbenempfindung, d. b. auf 
die Farbenerzeugung als phyſiologiſchen Prozeß. Betrachtung 
des Farbenkreiſes unter diefem Geſichtspunkt. Mathematiſchet 
Nachweis für die Beftimmung der 6 Grundfarben als feiter 
Punkte im Farbenkreiſe: ihre fyitematijche Beziehung zu einander 
iſt die einfache Grundlage für die Entwicdlung eines Geſetzes der 
Farbenharmonie. erg der Farbenwirfung zu Weiß und 
Schwarz durd Verbindung fomplementärer Farben zur Einheit; 
Urſachen der Differenz zmijchen Weiß und Schwarz; die Farben. 
drehſcheibe bloßer Humbug. 


In den bisherigen Erörterungen handelte es ſich nur um 
Darſtellung der thatſächlichen Verhältniſſe zwiſchen den Farben 
ſelbſt; nunmehr aber iſt die Frage über die Entſtehungsweiſe 
derſelben in Betracht zu ziehen. Bekanntlich war es Goethe, 
der zuerſt auf die Jedem bekannte, aber als ſelbſtverſtändlich 
kaum beachtete Thatſache aufmerkſam machte, daß die Farbe 
immer heller als Schwarz und immer dunkler als Weiß (rich- 
tiger: als reines Licht bezw. reine Finſterniß) ſei, und darin ein 
principiell wichtiges Moment für die Erklärung der Natur der 
Farben überhaupt nachwies, indem er die Farbe als ein oxıeoor, 
d.h. ald ein „weſentlich Schattenartigeö“ bezeichnete. Dieſes 
Element des Schattigen ift nun aber von zwei Seiten zu 
betrachten, einmal von Seiten der Farbenempfindung, alfo phy— 
fiologifch, und zweitens, von Seiten feiner Urſache, aljo phyfi— 
faliih. Newton, der fih um die erfte Seite, welche dody die 
Hauptjeite ift, da nur von der Empfindung auf die Urſache 
zurüdgejchloffen werden fann, überhaupt nicht fümmerte, juchte 
die Urſache im Licht felbft, nämlidy in feiner Brechbarfeit, und 
gründete hierauf feine wunderliche Hypotheſe, daß das Licht aus 
fieben verfchieden brechbaren (icyattigen) Strahlen „zufammen- 

(38) 


39 


geſetzt“ ſei, weldhe ald Farben erjcheinen. Um dies zu bewei- 
jen, genügte ed ihm nicht, den Sonnenftrahl behufs feiner 
„Zerlegung“ einfach durch ein Prisma fallen zu lafjen, jondern 
ed war dazu ein „fleines Loch“ oder eine „enge Spalte” erfors 
derlich, durd; melde der Sonnenftrahl in ein im Webrigen 
dunfled Zimmer auf eine gegenüberliegende Wand fiel. Dies 
feine Zoch ſpielt noch heute in den heutigen phufifaliichen 
Lehrbüchern jeine lächerlihe Rolle, denn die Beicdhreibung jedes 
Erperimentd mit dem Prisma beginnt mit den Worten: „Man 
laffe einen Lichtitrahi durch ein Feines Loch in ein dunkles 
Zimmer fallen, jo wird derjelbe, durch ein Prima aufgefangen, 
auf der gegenüberliegenden Wand u. ſ. f.“ Warum aber died 
„Leine Loch“ nothwendig Sei, wird nirgends gejagt, weil 
die Herren Phyſiker nicht wiſſen oder ed wiſſen wollen, 
daß die Ränder ded „Loches“ oder der „Spalte“ durch 
Trübung des Lichitrahld ſehr mejentlich bei der Erzeugung 
der Farbenerjcheinungen betheiligt find. Da dieſe Thatſache, 
weldye der Newton'ſchen Hypotheſe von der Zujammenjegung 
ded reinen Licht aus fieben farbigen Strahlen — abgejehen 
von allen andern Gründen dagegen — jeden Boden entzieht, 
bereitö von Andern (Goethe??), Schulte, Schopenhauer, Graevel 
u. ſ. f.) zum Theil mit mathematifcher Strenge bewiejen und 
durch zablreiche Erperimente zur zweifellofen Evidenz erhoben 
it — was freilid die Herren Phyſiker nicht hindert, den 
reinen Lichtftrahl noch immer an den Rändern des kleinen Loches 
fich ſcheuern zu lafjen, ehe fie ihm den Eintritt in das Pridma 
geftatten — fo fann ich mich bier um jo mehr einer Prüfung 
derjelben entichlagen, ald fie für unfer Thema nur jefundäre 
Bedeutung bat. 

Das der Farbe als ſolcher anhaftende Element des „Schat= 
tigen“, jagte ich, jei von zwei Seiten zu betradyten. Nach der 
phyfiologiſchen Seite hin gründet es fich auf Das, was Schopen— 
bauer „qualitative Theilbarkeit der Thätigkeit der Retina” nennt, 
ein Ausdrud, der zwar den Vorgang, wie ſchon bemerft, zu 
mechaniſch auffaßt, ihn aber für die Borftellung hinlänglich 
verdeutlicht. Indem nämlich die Netzhaut, gleichviel durch welche 
Modifikation des Lichts, in einer beitimmten Richtung der Nerven- 
ſchwingungen afficirt wird, entfteht in den Augennerven eine 
diefer Modifikation entiprehende Empfindung, die wir „Farbe“ 
nennen. Es ift num die Frage, welcher Art diefe Modififationen 


(39) 


40 





des Lichts find, um foldhe differenten Empfindungen — different 
jowohl binfichtlicy der Qualität (Roth, Blau, Gelb), wie hin: 
fichtlih der Sntenfität (Hell und Dunkel, Wärme und Kälte) 
u. ſ. f. — zu bewirken. Dieje Frage führt und eben auf daß 
erwähnte Goetheihe „Urphänomen“ der Farbener— 
zeugung. Gr erklärt nämlich, wie ſchon oben bemerkt, die 
Farbe ihrer Entftehung nah ald ein Produft von Licht 
und Finfterniß, indem durd die Vermittlung eines „Zrüben“ 
— mad offenbar nichtd andered ald die die Erde umgebende 
Atmosphäre fein kann — das Licht ald Gelb, die Finſterniß 
ald Blau erjcheine. „Gelb“ ift demnach das verdunfelte oder 
durch die Trübung gedämpfte Licht, „Blau“ die erhellte oder 
dur die Trübung gedämpfte Finſterniß. Das reine Licht iſt 
abfolut weiß, die reine, Finfternig abjolut jhwarz?0), was 
offenbar nichts anders bedeutet, ald daß abſolutes Weiß und 
abjoluted Schwarz ebenjowenig für dad Auge vorhanden find 
wie reined Licht und reine Finiterniß; oder, um das Verhältniß 
genauer zu bezeichnen: reines Licht würde, wenn ed gejehen 
werden fönnte, abjolut weiß, reine Finiterniß in demjelben 
Falle abjolut ſchwarz erfcheinen. 

Die ebenfo wahre wie geniale Erklärung Goethe's 
von der Entjtehung des Gelben und Blauen wird übrigens 
nach beiden Seiten hin durdy die thatſächliche Erfahrung be— 
jtätigt. Jeder weiß, dab die Sonne und der Mond in der 
Nähe des Horizontd gelber ald im Zenith erjcheinen, weil fie 
durch die dort ftattfindende größere Dide und Dichtigfeit der 
Erdatmoſpäre mehr getrübt werden; ebenjo ift ed bekannt, daß, 
wenn man ſich — etwa im Luftballoen — in die weniger dich— 
ten Schichten der Atmoſphäre erhebt, das Blau des Himmels 
fi immer tiefer färbt, d.h. dem Schwarz fih immer mehr 
nähert. Ueber die Erdatmoiphäre hinaus muß mithin ſowohl 
Sonne und Mond abfolut weiß, ald audy der Himmel abjolut 
Ihwarz ſich darftellen, weil bier jede Trübung fowohl nad) der 
einen wie nady der andern Seite (damit freilich aber auch die 
Möglichkeit ded Sehens) aufhört. Gelb und Blau, die aljo 
den Kontraft von Licht und Finfternig für dad Auge repräfen- 
tiren, enthalten mithin beiderjeitd Licht und Finfterniß, nur 
daß dieje Elemente darin in einem verjchiedenen, nämlich ums» 
gefehrten quantitativen Verhältniß zu einander ftehen, weil im 


Gelb das Licht, im Blau die Finſterniß dominirt. Man kann 
(40) 


41 


fi dad Verhältniß durch beftimmte Zahlenwerthe veranjchau- 
lichen, obſchon dadurch natürlich das wirkliche Trübungsverhält— 
niß, da es ſich der genauen Meſſung und Berechnung entzieht, 
keineswegs beſtimmt wird; ſchon deshalb nicht, weil dieſe Farben 
ſelbſt, das reine Gelb und das reine Blau, auch in der prisma— 
tiſchen Scala, außerordentlich ſchwer nachzuweiſen ſind. — Setzt 
man nämlich die Finſterniß = O, das Licht aber = 1 und erwägt 
man, dab dad quantitative Verhältniß, in welchem beide Ele: 
mente in allen Farben zu einander ſtehen, zugleid den Grad 
ihrer Intenfität an ſich repräjentiren, jo folgt, dab alle Farben 
durch je einen bejtimmten, aber verichiedenen Zahlenbrucdh, worin 
das Licht durch den Zähler, die Finfternig durch den Nenner 
vepräjentirt wird, dargeltellt werden fünnen. Nehmen wir für 
joldye Darftellung nur die 6 Grundfarben in Betracht, jo muß 
da feine = 1, d. h. gleich dem reinen Licht, ift, zu den 6 Zäh— 
lern ein Nenner genommen werden, der größer iſt als 6, etwa 
alfo 7. Ferner, da, wie oben gezeiat, Violett die duntelite 
Sarbe it, jo muß diefe die kleinſte Duantität Licht enthalten, 
aljo etwa 4, während fein Komplement Gelb, ald die hellite 
Farbe, $ enthielt. Die zwiſchen diejen Extremen liegenden 
Farben würden fi mithin in die übrigen Zähler 2, 3, 4, 5 
zu tbeilen haben. Hieraus würde fich folgende Reihe ent: 
wideln für die 
Stala der Helligfeitd-Intenjität: 

Finfternig — Biolett — Blau — Roth — Grün — Orange — Gelb — Licht. 

— —— 3 3 * Me 

7 7 7 7 7 7 7 7 

Prüfen wir die aprorimative Nichtigfeit diejer Reihe auf 
Grund der oben angeftellten Unterſuchung über die Natur diejer 
Farben hinfihytlih ihrer fomplementären und Miichungöver: 
bältnifje, jo ift zunächſt einleuchtend, daß ihre relativ wachjende 
Sntenfität — von Violett bi8 Gelb — thatjädhli den wach— 
jenden Zahlenwerthen entipricht; ferner, daß die zuſammenge— 
gehörigen Komplemente (Violett und Gelb — ++ $, Blau und 
Drang — +}, Grün und Roth — ++) je=t d. h. gleich 
dem reinen Licht find oder, was dafjelbe bedeutet, je dem gan 
zen Farbenkreis repräfentiren. Für die weitere Betrachtung der 
durch die Brüche angedeuteten Intenfitätöverhältniffe brauchen 
wir übrigens, den indifferenten Nenner fortlafjend,?!) blos die 
Reihe der Zähler in Rechnung zu bringen, weldye die Intenfitäts- 

(41) 


42 





ffala von der abfoluten Finfternik durch Violett (1), Blau (2), 
Roth (3), Grün (4), Orange (5), Gelb (6) bis zum abjoluten 
Licht repräjentiren. Es kann biebei auffallen, daß Roth als 
Urfarbe und noch dazu ald Herrjcher im Farbenfreije eine ges 
ringere Helligfeitöintenfität befigen joll als fein Komplement 
Grün, das doch nur aus Miſchung zweier Urfarben, Gelb und 
Blau, entitanden ift; aud scheint dies der unzweifelhaft 
größeren Wirfungdfraft ded Roth zu widerſprechen. Mir wer- 
den jpäter jehen, worauf fich dieje auffallende Thatſache grüne 
det; am diejer Stelle genüge ed darauf hinzumeijen, da Roth 
(wie ein Blid auf den Farbenfreid (Fig. 1) der übrigens — 
wie beiläufig zu bemerfen iſt — durchaus der Aufeinander- 
folge der prismatiſchen Naturfarben entipricht, zeigt) zwijchen 
Violett und Drange, d. h. zwijchen der dunfelften und der nur 
zweithelliten Grundfarbe in der Mitte jteht, während Grün 
zwijchen der helliten (Gelb) und der nur zweitdunfeliten Urfarbe 
(Blau) feinen Pla bat. Der eine Grad der Berdunfelung 
daher, weldye Grün durd die Milhung von Blau und Gelb 
erleidet, wird durch zwei Grade Erhellung, die es durch feine 
Stellung zwiſchen diejen beiden Farben gegen Roth gewinnt, 
nicht nur aufgewogen, fondern um 1 Grad gejchlagen, denn 
Violett bezw. Drange find um je 1 Grad dunfler ald Blau 
bezw. Gelb. Uebrigend wird die aus meiner Theorie — zu— 
nächſt alſo abitraft — fidy ergebende Behauptung, dab Roth 
um einen Intenfitätögrad dunkler ald Grün ift, in auffallender 
Weiſe durdy genaue photometriſche Mefjungen beftätigt, die 
u. A. R. Adams?) hinfichtlich der Helligfeitöintenfität der 
von ihm angewandten Farben angeftellt bat. Er will 
nämlih gefunden haben, daß von einer weißen (Pa— 
pier-) Fläche 10000 Strahlen vrefleftirt werden, von einer 
gelben 6400, von einer rothen 2304, von einer blauen 
1444, was ziemlidy den Verhältnißzahlen des obigen Schemas 
entjpricht, nur dab die erfte Zahl von Adams zu body gegriffen 
ſcheint. Weiter hat er num gefunden, daß zwifchen Gelb (6400) 
und Roth (2304) Drange 3364, zwiſchen Blau (1444) und 
Gelb (6400) Grün 2704 Strahlen refleftirte; wonach fi 
Roth zu Grün binfichtli” der Helligkeit wie 2304 zu 2704, 
d. h. etwa wie 24: 33 verhalten würde, was ebenfalld nicht 
nur dem Berhältnig im obigen Schema ziemlidy nahe fommt, 
jondern audy den Beweis liefert, daß thatſächlich Roth dunkler 
(42) 


43 


ift als Grün. Daß aber Roth troß feiner größeren Dunfelheit 
dennoch wirfungsvoller erſcheint ald Grün, liegt wieder darin, 
daß ed eine größere Wärme befitt, daher es auch ebenjo nahe 
an die wärmfte Farbe, Drange, grenzt, wie Grün an die fältefte, 
Blau. Auf diefe mejentlihe Differenz zwiichen den beiden 
Sfalen der Helligfeitd- und MWärmeintenfität wird unten näher 
zurüdzufommen jein. 

Welche Bedeutung man übrigend diefem Schema beilegen 
mag — idy ftelle fie, wie bemerft, feineöwegs ald ein dem wirklichen 
Verhältniß der Farben zu einander völlig entiprechendes hin, als ob 
dadurdy die Betheiligung der beiden Elemente, des Lichtö und 
der Finfternig, an den Farben mit mathematiſcher Genauigfeit 
beftimmt miürde3®), jo wird dadurh doch die Wahrheit des 
Goethe'ſchen „Urphänomens“ im feiner Weile berührt. Denn 
diefe Wahrheit beruht einfach auf der Thatjache, dab dad Auge 
ohne das die Finfternig mit dem Licht vermittelnde und beide 
modificirende Trübende nur reine Finfternik und reines Licht, 
d. h. im Grunde, wie ſchon dargethan, Nichts, am wenigften 
aber Farben jehen würde, und daß ihm eben durch diejed ver- 
mittelnde &lement die Finfterniß als erleuchtet, d. bh. als Blau, 
das Licht dagegen als verdunfelt, d. h. ald Gelb, erjcheint. 
Indem aber Goethe diejen Gegenfaß, der rein phyſiologiſcher 
Natur ift, weil er fih ausſchließlich auf die Meizbarfeit der 
Nerven der Nebhaut durdy die Einwirkung des Lichts gründet, 
ald „Polarität" im phufifaliichen Sinne fahte, jo fam er, wie 
ihon erwähnt, zu dem falihen Schluß, daß Gelb und Blau 
einen diametralen oder, was daſſelbe ift, fomplementären 
Gegenjaß bilden, was befanntlidy nicht der Fall ift, da zu Gelb 
Diolett, zu Blau Drange den fomplementären Gegenjat bilden. 

Der Ausdrud „Polarität“ würde übrigens, wenn er hier über: 
haupt anmendbar wäre, auf jedes fomplementäre Farbenpaar 
pafjen, fofern dadurch, ähnlich wie bei der negativen und pofi— 
tiven leftricität oder bei den Polen des Magneten, die un- 
bedingte Zujammengehörigfeit der ein Rarbenpaar bildenden 
Komplemente audgedrüdt wirds«“). Mill man bier den Aus— 
drud „Polarität” anwenden, jo muß man, da die Halbirungse 
linie für die Helligfeitsffala eine andere ift ald für die Wärme 
ifala, von einer doppelten Polarität ſprechen, nämlich von 
einer „Polarität der Helligfeitö-" umd einer der „Wärme-Inten« 
fität”. Unter diefer Beichränfung fann man aucd von einem 

(43) 


44 


doppelten pofitiven und negativen Pol und, in Beziehung darauf, 
in doppeltem Sinne von „pofitiven” und „negativen“ Farben 
Iprehen, fo dab alfo in Bezug auf Helligkeit Roth zu den 
„negativen“, Grün dagegen zu den „pofitiven“ Farben gehören 
würde, während umgefehrt in Bezug auf Wärme Roth zu den 
„pofitiven“, Grün zu den „negativen“ zu redynen wäre. Dies 
bedeutes aber nichts Anderes, ald daß Roth zwar dunfler, aber 
auh wärmer ald Grün, Grün dagegen zwar heller, aber audy 
fälter ald Roth ift. 

Snterefjant ift hierbei übrigens die Bemerkung, melde 
meine frühere Charakteriftit dad Roth, ald des Herrichers im 
Farbenfreije, beftätigt, daß nur dieje Urfarbe mit ihrem Kom— 
plement, der Grundfarbe Grün, ed ift, melde gerade in die 
Mitte zwiſchen die Endpunfte der beiden Grenzlinien fallen, 
nämlich zwijchen rv und ro, bezw. bn und gn; nur daß Roth 
auf der warmen und dunklen, Grün dagegen auf der falten und 
hellen Hälfte des Farbenkreiſes liegt. Hierin zeigt fih num auch 
nad) doppelter Seite bin die entgegengeſetzte Natur der beiden 
Farben, wie fie in diejer Eigenthümlichkeit bei feinem anderen 
fomplementären Grundfarbenpaar vorlommt. Denn in dem 
Gegenſatz „Blau-Orange“, ebenjo wie in dem „Gelb-Biolett“ 
nehmen die Urfarben (Blau und Gelb) an beiden Skalen Theil, 
oder: Blau ift ſowohl dunkler ald auch fälter ald Drange, Gelb 
ebenjowohl heller ald auch wärmer ald Biolett. Durdy dieje 
doppelte, gleihlam, wie die Grenzlinien jelbit, zwiſchen denen 
dad Farbenpaar Roth: Grün liegt, fich kreuzende Gegenjäßlichkeit 
der Intenfitäten nimmt dafjelbe unter allen anderen fomplemen- 
tären Farbenpaaren eine ganz erceptionelle, wejentlicy ver: 
mittelnde Stellung im gejammten Farbenkreiſe ein und gewinnt 
zugleich für ſich ſelbſt durch gegenfeitigen Ausgleich des Wärme: 
und Helligfeitsüberjchuffes eine Würde und Wirkungäfraft, die 
fih ebenfall8 in feinem anderen Paar vorfindet. Denn was 
Roth an Wärme mehr befigt, erießt das kältere Grün durd 
einen entiprechenden Ueberſchuß an Helligkeit, und was Grün an 
Helligfeit mehr befigt, erjeßt das dunflere Roth wieder durch 
einen einen entjprechenden Ueberihuk an Wärme. Daher aud 
— nämlih auf Grund diefed, nur in diefem Farbenpaar nadys 
weisbaren, gegenjeitigen Ausgleidyed der beiden Intenfitätsjkalen 
— erflärt fi) ſowohl die eminente Schönheit und Energie der 
beiden Farben, als, in ihrem Berhältniß zu eimander, der 

(44) 


45 





Kontraſt von Lebhaftigkeit und Milde, von Feuer und Sanftheit 
zwijchen ihnen. Fände diejer Ausgleich nicht ftatt, wäre mit 
anderen Morten Roth nicht blos wärmer, jondern auch heller 
ald Grün und Grün nidyt blos Fälter, jondern auch dunfler als 
Roth, jo würde der Kontraft zwijchen ihnen eine Schärfe er- 
halten, melde ihre Schönheit wejentlich beeinträchtigen und 
ihrer Wirfung für das Auge einerieitö dad Freudige, anderer 
jeitd dad Wohlthuende rauben müßte. Wäreu fie dagegen an 
Helligkeit und Wärme identiſch, jo fielen fie überhaupt zu— 
fammen, d. h. fie bildeten diejelbe Farbe, oder fie würden viel» 
mehr, da fie theoretijcy immerhin einen fomplementären Gegenjaß 
bilden, ſich zu O aufheben, d. h. entweder zu Weiß oder Schwarz 
fidy neutralifiren. 

Ehe wir zur Betrachtung des Goethe'ſchen Urphänomens 
jurücfehren, ift noch — behufs der nothwendigen Vervoll— 
jtändigung defjelben — die obige Sfala der Helligkeits— 
intenjität durch die von ihr abweichende Stala der Wärme: 
intenjität zu ergänzen, weil die Farben jelber nur ald Produkt 
beider, der Helligfeitd- und Wärmeintenjität, Beitand 
haben. Folgendermaßen geftaltet fih nämlich die Reihenfolge 
in der 

Sfala der Wärmeintenjität: 


Abjolute Abjolute 
Kälte — Blau — Biolett — Grün — Roth — Gelb — Drange — Wärme 
0) 1 2 3 4 5 6 7 
7 7 7 7 7 7 T 7 


Vergleicht man dieReihenfolge der Farbe in diefer Skala mit der 
in der obigen der Helligfeitöintenfität, jo erfennt man, daß einer: 
jeit8 Blau und Violett, andererjeitd? Gelb und Drange 
und, zwiichen beiden Paaren, Roth und Grün ihre Stellen 
gemwechjelt haben; d. h. Violett ift zwar dunkler als Blau, diejes 
dagegen fälter als jenes; ebenſo Drange zwar dunkler als Gelb, 
aber zugleich wärmer als dieſes. Dafjelbe Verhältniß beiteht 
nun auch zwijchen Roth und Grün, d. h. Roth ift um eben- 
foviel wärmer ald Grün, als dieſes heller ijt als jenes; aber 
der jehr weſentliche Unterihied dieſes Farbenpaard von 
den anderen beiden befteht eben darin, dab Roth und Grün 
einander fomplementärergänzen, was beiden anderen 
nicht ftattfindet; denn Violett wecjelt nicht mit jeinem 


Komplement Drange, fondern mit Blau, Gelb nidyt mit jeinem 
(45 ) 


46 


Komplement Violett, jondern mit Drange die Stelle. Wir 
werben jehen, von welcher großen Wichtigkeit diefe Ausnahme 
ftelung von Roth und Grün für die nähere Beitimmung der 
jpecifiichen Dualität der Farben und in Folge dejjen für die Er- 
fenntniß der Gejeße der Farbenharmonie ilt. . 
Es murde vorhin bemerkt, daß die Farben das Produft 
ihrer Helligkeit» und Wärmeintenfität feien; juchen wir Died 
durch die Kombination der beiden Skalen zu veranichaulichen 
und nehmen wir, die nunmehr überflülfig gemordenen Nenner 
der Brüche fortlafjend, nur die Zähler beider Reihen ald maß— 
gebende Faktoren, jo erhalten wir die 


Kombination der Helligfeitd- und Wärmeintenjität: 
für Violett und Blau — Roth und Grün — Drange und Gelb 
1-2=2-1 3.4=4-3 5-.6=6-5 

d. h. 2 12 30 
woraus fich ergiebt, daß wenn man nur die „Farbigkeit“ als ſolche, 
d. h. dieje ſpecifiſche Eigenſchaft, welche die Karben einerjeitd 
im Gegenſatz zum reinen Licht, andererjeitö zur reinen Finfterniß 
beſitzen, als Kriterium der Werthbeitimmung ſetzt, das Farben» 
paar Roth-Grün den höchſten Rang einnimmt, da Violett und 
Blau zu wenig Helligkeit und Wärme, Gelb und Drange zu 
viel davon bejigen. 

Es ijt abfichtlidy bei dieſer ſyſtematiſchen Betrachtung etwas 
länger verweilt worden, weil fie — obgleidy nur von ganz all= 
gemeiner und abftrafter Bedeutung — in Hinficht der praftis 
ſchen Anjchaulichkeit für die auf den beiden Skalen beruhende 
Methode zur Auffindung von harmoniſchen Farbenverbindungen 
von großem Werth ift. Begnügt man fidy dagegen, wie bisher 
ftetö geſchehen, mit einer Skala, nämlich mit der der Helligfeitd- 
intenfität, jo ift eine Erfenntnig der wahren Natur der Farben 
und in Folge defjen eine genaue Beitimmung ihrer relativen 
MWürdigfeit ald Farben unmöglid, dadurdy aber wiederum die 
Aufitelung eined allgemein gültigen Gejeßed der Farben 
barmonie undenkbar. Kehren wir nunmehr zu dem „Urphäs 
nomen“, d. h. zu Goethes Erklärung der Entftehung des Gelb 
und Blau, als einerſeits der durdy die Vermittlung eined Trüben 
bewirkte Dämpfung des Lichts, andererſeits der durd) dies 
jelbe Bermittlung bewirften Dämpfung der Finfterniß, 
zurüd, um daran die Frage zu fnüpfen, wie fich dieſem Kontraft 

(46) 


47 


gegenüber die dritte Urfarbe, Roth, binfichtlich ihrer Entftehungs- 
urjadhe verhält. 

Daß das Goethe’ihe Urphänomen die Wahrheit enthält, 
jofern es fih um den Kontraft von Gelb und Blau handelt, 
davon fann man fich leicht durch vielfache tägliche Erfahrungen 
überzeugen. Wenn man beifpielömweije grauen, d. h. farblojen 
Rauch, der etwa aus einem Schornftein auffteigt, oder Gigarren- 
dampf beobachtet, jo wird man erfennen, daß er, vom Lichte 
durchſchienen, eine gelbliche, gegen einen dunklen Hintergrund 
geſehen, eine bläuliche Farbe zeigt. Hier fungirt mithin der 
Rauch als trübendes Clement, das einerjeitd das Licht, anderer: 
ſeits das Dunkel modificirtt. Sit daher der Himmel bezogen, 
d. bh. ift an ihm Dunkelheit und Helligkeit nicht gejchieden, 
jondern verbreitet fich die Trübung gänzlich über denfelben, jo 
findet auch feine ſolche Modificirung ftatt und der Rauch er— 
icheint grau, d. h. er bleibt innerhalb der Skala zwiſchen Weiß 
und Schwarz, wodurd fi feine Farben erzeugen 35). Bei 
flarem Himmel fommt ed freilidy wejentlid) auf die Stellung 
der Sonne als Lichtquelle zu der die Erde umgebenden Atmo— 
ſphäre an, ob ſowohl das Gelb des Lichtd, wie das Blau 
der Finfternig mehr oder weniger getrübt erjcheint, d h. jenes 
einen Stich in's Drange, diejed einen Stich in’d Violette erhält. 
Steht die Sonne in der Nähe des Horizontd, in welchem Falle 
ihr Licht aljo eine ftärfere Schidyt der Erdatmojphäre durdy- 
dringen muß, jo erjcheint fie umſomehr orangefarben, je tiefer 
fie jteht, während das Blau des in entgegengejegter Richtung 
gejehenen Himmeld um jo violetter gefärbt wird. Sft fie im 
Untergehen oder im Aufgehen begriffen, jo entjteht jene Farbe, 
die man mit „Abend“-, bezw. „Morgenröthe" bezeichnet, d. h. 
ed iritt zu der objektiven Dide der Erdatmoſphäre nody eine 
weitere Trübung dur die Abend und Morgens zuweilen 
auffteigenden Dünfte hinzu, weldhe das Drange bis zu Roth 
jteigert. Das fogenannte „Alpenglühen“ hat diefelbe Urjache, 
nur daß die durch die Trübung roth erjcheinende Farbe der 
Sonne hier nicht Direkt, jondern ald Reflex auf den hoch— 
ragenden Felfenwänden der Bergipigen gejehen wird. Daß das 
Alpenglühen jogar intenjiver (oft geradezu ald brennended Roth) 
erjcheint ald die Morgen: und Abenpröthe, davon liegt der 
Grund einerjeitd darin, daß bei letzteren Erſcheinungen das 
Licht einen großen Raum am Himmel beherricht, wodurdy es 

a7) 


48 


weniger fontraftirend wirft, amdererjeitd darin, dab umgekehrt 
das Alpenglühen nicht nur auf dem dunfelblauen Himmel fid 
abhebt, jondern aud die tiefer liegenden Bergpartieen, Thäler 
u. ſ. f., wie überhaupt die ganze Landſchaft, eben nur mit 
Ausnahme der refleftirenden Feldwände, im Schatten liegen, 
weil die Strahlen der bereit unter dem Horizont. gejunfenen 
Sonne dieje Partien nicht mehr erreihen. Es ijt daher ledig- 
li der Kontraft gegen die allgemeine, fidy beim Untergang 
der Sonne oder vor ihrem Aufgang über die Erde breitende 
Dunfelbeit, weldyer dem Auge eine um jo größere Empfänglich— 
feit für die rothe Farbe der im Alpenglühen ſich geltend 
machenden Reflerwirkung verleiht und allein die größere Intenſität 
defjelben im Vergleich mit der Abend» und Morgenröthe bee 
gründet. Diejeibe Urjadye wirft auch bei der orangefarbenen, 
bezw. rothen Färbung der Wolfen beim Auf» und Untergange 
der Sonne mit; und hierbei wird man — um dies beiläufig 
in pbyfiologifcher Beziehung zu bemerken — öfters die Beobach— 
tung machen fönnen, daß, wenn zwijchen ſolchen orangerothen 
MWolfenrändern ein Stüd Klaren Himmels zu erbliden ift, das 
Blau defjelben in Folge des Geſetzes der Komplementarität ge: 
wöhnlich einen Stidy in's Grünliche und nicht in’s Violette er- 
hält, und zwar umjomehr, je ftärfer das Drangeroth der Wolfen 
nah dem Rothen tendirt, während ein mehr in's Gelbliche 
fallendes Drange der Molfen jenem Stüd blauen Himmels 
einen Stich in’3 Violette verleiht. Ebenſo färbt fid) der Theil 
ded Himmels, auf dem dad Alpenglühen erfcheint, zu einem 
dunfelblaugrünlien Hintergrund, und nur auf der entgegen- 
gejegten Seite — vorausgejeßt, daß die Sonne tief genug unter 
den Horizont gejunfen ift und dort klarer Himmel ift — ericheint 
diejer rein blau, ja unter Umftänden, nämlidy durdy einen 
Reflex der rothen Gluth, mit einem Stich in's PViolette. 

So augenfällig und beweiskräftig alle diefe und zahlreiche 
andere Erjcheinungen für die Wahrheit des Gioetheichen Ur- 
phänomens ſprechen, und jo klar ſich daraus die Nothwendigfeit 
ergiebt, dab durch die wachjende Trübung des Lichts von Gelb 
über Drange hinaus zu Roth, und von Roth über Violett hinaus 
zu Blau fi) die Farben gerade im diejer Stufenleiter entwideln 
müfjen, jo erklärt fi dod die Erjcheinung an fi, d. h. die 
Thatiache, dat überhaupt Farben — ftatt etwa eine einfache 
Skala zwiſchen farblojem Weiß und Schwarz; — entitehen, 


(48) 


49 


weder durch das Goethe’ihe Urphänomen, jo richtig ed die That» 
ſache jelbft jchildert, noch durdy die angebliche Vervollitändigung 
deſſelben durch Schopenhauer; im Gegentheil wird durdy den 
Lebteren die Sahe nur verwirrt?s). Um die Entftehung 
der Farbenſkala zu erklären, ijt offenbar der Rückſchluß noth— 
wendig, daß fidy mit derjenigen Wirkung des „Trüben“ 
oder richtiger Trübenden, welde ald Abnahme an 
Helligkeit, bezw. Zunahme an Dunkelheit zur Er— 
Iheinung gelangt — einer Wirkung, weldye die Farbenfkala 
mit der Sfala von Grau gemeinfam hat — noch eine andere 
Art der Wirkung verbinden muß, melde in jpecifiicher 
Weiſe die Entitehung der Farben verurfadht: und dieſe andere 
Art von Wirkung kann mit einem Worte nur darin beruhen, 
dab das Licht dur die Trübung außerdem in feiner 
Bewegung verlangjamt und in Folge defjen erwärmt 
wird, gleichviel ob man leßteren Ausdrud in blos äſthetiſchem 
oder auch im rein finnlichen Sinne nimmt, da dieſe beiden 
Bedeutungen in jehr naher Beziehung zu einander ſtehen. 

Dies ift ein biöher meines Wiſſens noch nicht geltend ge 
machter, principiell höchſt wichtiger Punkt, der abermals beweift, 
wie nothwendig die ftrenge Untericheidung der Helligfeitd> von 
der Wärmeintenfität für die Betrachtung der Natur der Farben 
iſt — eine Unterjcheidung, auf die weder Schopenhauer nod) 
Goethe den geringiten Werth legten. — Denn es liegt auf der 
Hand, daß — wenn, wie ich behaupte, und zu zeigen verſucht, 
nicht die Werjchiedenheit der Helligkeitsgrade die jpecielle 
Urjahe der Farbenericheinungen ift, weil an diejer die farbloje 
Skala zwifchen Wei und Schwarz mit Theil nimmt — ed 
allein die Verſchiedenheit der Wärmegrade fein fann, 
wodurh, in Verbindung mit der Helligfeitäjfala, die 
Farben als folcye ihren jpeeifiichen Charakter erhalten. In der 
Beantwortung der Frage nun, von weldyer Art dieje ander- 
weitige Wirkung des Trübenden jei, d. h. auf welche Weije das 
Licht durh das Trübende, neben der Verdunfelung, 
auch noch eine Erwärmung erleiden könne, aus welder 
die Farben ſich erzeugen, liegt die wahre Löſung des 
Problemd und in Folge dejjen die richtige Ergänzung des 
Goethe’ichen „Urphänomens.” 

Wenn auch jelbftverftändlich hier die Ausdrüde „Wärme“ 
und „Kälte” in Beziehung auf die Farben nicht in dem gewöhnlichen 

XxvIu. 409. 410. 4 (49) 


50 





materiellen Sinne, der ſich auf die Empfindung des Taſtfinns 
oder ganz allgemein der Hautnerven bezieht??), jondern in dem 
von diefem auf die Empfindung ded Auges übertragenen 
äfthetiichen Sinne zu verftehen find, jo lafjen ſich beide Em— 
pfindungsarten, die rein finnliche und die äſthetiſche, doch auf 
diefelbe Urſache zurüdführen, nämlih auf die Hemmung, 
welche dad trübende Element, d. h. die Erdatmoſphäre, 
der freien Bewegung des Lichts entgegenftellt. Im der 
That würde audy das Sonnenlicht ohne die dazwiſchen liegende 
Erdatmoiphäre die Oberflädye der Erde weder in dem einen noch 
in dem andern Sinne „erwärmen“, d. b. ed würden nicht nur 
feine Farben, ſondern aud feine materielle Wärme erzeugt 
werden. Es ift befannt, dab, je weiter man ſich in die höheren 
Schichten der Atmoſphäre erhebt, nicht nur der Himmel ſchwärzer, 
d. h. weniger blau, und die Sonne weißer, d. h. weniger gelb, 
ericheinen, jondern daß auch die materielle Wärme in demjelben 
Grade abnimmt. Dies ift allein der Grund, warum ed auf den 
höchſten Bergen, die dody der Sonne näher und folglich ihrer 
Lichtwirfung mehr audgejeßt find ald Die tiefer liegenden 
Ebenen, am fälteften ift, jo dab dort den ganzen Sommer 
hindurch Schnee liegt. Außerdem giebt ed für die abjolute 
Kälte ded reinen ungetrübten Lichts vielfach andere Beweiſe. 
Menn man durd ein Stückchen Eis in Form eines Brenn- 
glaſes einen Sonnenftrahl auf die Kugel eines Thermo- 
meters fallen läßt, jo fteigt in diefem das Duedfilber ſofort 
auf einen hoben Zemperaturgrad, ohne daß die Kislinje 
Ihmilzt; ja man kann ein Stüdhen Schwamn, in den 
Fokus dieſes aud Eid geformten Brennglafeö gehalten, ent- 
zünden, ohne daß das Eid jelbft eine Veränderung zeigt. 
Wäre das Sonnenlidht aljo an ſich warm oder wären den Licht: 
ftrahlen, wie die Phyfifer in ihrer ſtets plump materiellen Vor— 
ftelungöweije annehmen, bejondere „Wärmeitrahlen” beigemifcht, 
fo müßte ſchon das Eisſtück dadurch jchmelzen, während in dem 
erwähnten Erperiment nur die Brechung der Lichtftrahlen, jowie 
ihre Koncentration auf einen Punkt, in welchem ein widerftands- 
fähiger Körper die Weiterbewegung verhindert, die Urjache der 
MWärmeentwidelung if. Aus demjelben Grunde bededt man 
Pflanzen in einem hölzernen Kaften mit Glas, damit ſich darunter 
Wärme entwidele, weil das Licht, an dem Boden und den 
Wänden im Innern Widerftand findend, fih in Wärme ver- 
(50) 


BIER... 0 


wandelt, die nun, weil Holz und Glas ſchlechte Wärmeleiter find, 
diefe nicht entweichen laſſen. Auch Scyopenhauer hat dies 
richtig erkannt, indem er (S. 77) ſehr gut bemerkt, daß die 
Art und Weije, wie ein Körper das auf ihn fallende Licht 
in Wärme verwandelt, für unjer Auge feine chemiſche 
Sarbe fei. Nur irrt er darin, daß er dieje Erjcheinung auf 
die chemiſche Farbe bejchränft, während die Erzeugung der 
Farbe überhaupt in dem Widerjtand der Materie ihre Erklärung 
findet. Der Grund feines Irrthum liegt aber darin, daß er die 
„Erwärmung“ nur im materiellen und nicht aud) im äfthetijchen 
Sinne faßt, daher er auch fäljchlicher Weije in dem Farbenfreife 
nur eine Helligfeitö- und feine davon differente Wärmeſkala 
erfennt. 

Die BVerjchiedenheit der beiden Wirfungsarten des Lichts 
ſcheint num weſentlich darauf zu beruhen, daß die Helligkeits— 
intenjität, an der die farblofe Skala zwiſchen Weiß und 
Schwarz Theil nimmt, lediglich eine quantitative Be— 
deutung bat, d. b. dab das Licht in diefer Wirkungsart nur 
eine Abnahme an Leuchtkraft erleidet, während die Wärme: 
intenjität, weldye die verfchiedenen Farben erzeugt, offenbar 
qualitative Bedeutung bat, d.h. aufeiner qualitativen 
Modifikation des Lichts felbit, in Folge der Berlang: 
jamung jeiner Bewegung, beruht. In der quantitativen 
Wirfungsart geht nämlich nur Lichtſubſtanz verloren, im der 
qualitativen muß dagegen das Licht, neben dem Helligfeitöverluft, 
auch nody ald Subſtanz ſelbſt eine Veränderung erleiden, die 
mit jenem Berluft nur in äußerliher Verbindung ſteht. Das 
Zrübende ift zwar ald Hemmungsdelement die Urſache beider 
Veränderungen; allein ed nimmt zu beiden eine wejentlidy ver- 
Ichiedene Stellung ein, indem ed dort nur Theile des Lichts 
abforbirt und es dadurd zu einem „Schattigen“ abſchwächt, 
während bier die Wirkung zunächſt in einer Verlangfamung _ 
feiner Bewegung befteht, wodurch — gleichviel ob man ſich dieje 
Bewegung ald Aetherſchwingung, Undulation oder ſonſt wie 
vorftellen mag — jeine urjprüngligye Natur ſelbſt modificirt wird. 
Sowohl diefe Modifikation der Lichtſubſtanz ald jene Schwächung 
derjelben muß aber gleicher Weiſe im Verhältni zu der Dide 
und Dichtigfeit des Trübenden ſtehen; identiſch find jedoch dieje 
beiden Wirkfungdarten keineswegs, jondern fie ftammen nur 
aus einer umd derjelben, aber in differenter Weiſe wirkenden 

4° (51) 


52 


Urſache; und dieje differente Wirkung erflärt fi) daraus, daß 
das Trübende dabei nur der eine Faktor der Wirkung ift, wäh— 
rend der andere in der Natur des Lichts felbit liegt, nämlich in 
jeiner nicht nur quantitativen, fondern auch qualitativen Modi» 
fifationsfähigfeit. Laffen wir jegt die quantitative Modifikation 
— aus der, wie bemerkt, nur Lichtſchwächung, d. h. die Skala 
von Kell und Dunfel oder von Weiß bi8 Schwarz hervorgeht — 
bei Seite, da dieje eigentlich feiner Erklärung bedarf, um die 
qualitative Modifikation des Lichts näher in’d Auge zu 
fafjen. 

Daß mit einer Brechung des Lichts, deren Nothmwendigfeit 
auf einem einfachen, als befannt vorauszufegenden, phyfifaliichen 
Geſetze beruht, auch ftet8 eine Verlangfamung feiner Bewegung 
verbunden jein muß: dies ift, glaube ich, wohl noch von Feiner 
Seite angezweifelt worden. Zum Ueberfluß erwähne id), dab 
die Phyſiker — obſchon ich auf deren Berechnung wenig Werth 
lege — die Thatjadhe der Verlangfamung des Lichts, jobald es 
in ein dichtered Medium tritt, felber Eonftatirt haben, indem — 
wie Dome in jeiner „Darftellung der Farbenlehre“ S. 88 mit- 
theilt — nad) Biot's Verſuchen das Licht in derjelben Zeit, da 
ed in der Luft eine Million Meilen durchläuft, im leeren Raum 
294 Meilen weiter fommt. Wenn alfo der Eintritt in ein 
dichtere8 Medium überhaupt jchon eine Verlangſamung bemirft, 
jo muß dieelbe bei der Brechung, die nur durch joldyen Eintritt 
in ein Dichtered Medium möglich ift, unter allen Umſtänden und 
je nach der Stärfe der Dichtigkeit deffelben in gefteigertem Grade 
ftattfinden. Die Newtonianer glauben nun, die jpecifiiche Urſache 
der Farbenerzeugung nur in der Bredhung des Lichts finden 
zu müfjen, indem fie die Hypotheſe aufftellen, daß diefe Brechung 
zugleich eine Zeriplitterung des einfachen weißen Lichtftrahls in 
fieben farbige Strahlen bewirkte, Goethe dagegen fieht im Gegen- 
ſatz dazu als fpecifilhe Urjadye nur die „Trübung“, d.h. die 
Berdunfelung - des Lichts an. Beides ift meiner Anficht nicht 
richtig, Was die lettere Anficht betrifft, jo ift bereit wieder: 
holt bemerkt, dab, wenn die „Zrübung“ nur Verdunfelung ded 
Lichts zur Folge hätte, feine qualitative Modifikation, d. h. 
feine Farbenerzeugung, jondern nur eine quantitative, d. h. eine 
graduelle Schwächung des Lichts, ftattfinden könnte. Anderer- 
jeitö ift aber auch nicht abzufehen, warum die bloße „Brechung“, 
wenn fie nicht zugleidy mit einer Berlangiamung der Be- 


(52) 
N 


93 


wegung ſich verbände, Farben erzeugen könnte. Sondern, wenn 
überhaupt eine von den drei durch die Trübung bemwirften Modi— 
fifationsweijen: die „Verdunfelung”, die „Bredyung“ und die 
„Verlangſamung“, als die jpecifiiche Urjache der Farbenerzeugung 
gelten darf, fo kann die nur die Berlangjamung fein. 
Wäre nimlidy die „Brechung“ die Urjache der Farbenerzeugung, 
jo müßte jeder gebrodyene Strahl — gleidhviel ob er durch daß 
famoje „Eleine Zoch“ mittelft ded Pridmas in die dunkle Kammer 
fällt oder frei durch ein Brechungsmedium bindurchgeht — ge— 
färbt erſcheinen, was befanntlidy nicht der Fall it; läge dagegen 
die Urjache, wie Goethe und mit ibm Scopenhauer annahm, 
in der bloßen „Verdunfelung”, jo wäre nicht abgejehen, warum 
fi das Licht nicht mit der bloßen Schwächung begnügen, d. h. 
eine Skala des Grauen durchlaufen Fönnte. 

Wenn aber die VBerlangjamung der Bewegung de 
Lichts die eigentliche Urfache der Farbenerzeugung ift — wobei 
es vorläufig dahingeftellt bleiben mag, von welcdyer bejonderen 
Art die Modifikation ift, welche die Lichtjubitanz dadurch erleidet, 
ob etwa dabei eine chemiſche oder ſonſt weldye Veränderung 
derjelben ftattfindet — fo ſcheint zu folgen, daß, jemehr das 
Licht durch das Trübende in feiner Bewegung gehindert wird, 
d. h. je langjamer es fich bewegt, e8 auch um jo mehr an 
Helligkeit ab», aber an Wärme, d. h. an Zarbigfeit, zunehmen 
müſſe. Hiernady würden die Farben mit der wachjenden 
Dunkelheit der Skala audy in demjelben Verhältniß an Wärme 
gewinnen; Helligfeitäintenfität und Wärmeintenfität der Karben 
werden demnad in einem umgekehrten Verhältni zu einander 
ftehen, d. h. die helfte Farbe (Gelb) mußte die geringfte, die 
dunfelfte (Violett) die höchfte Wärme zeigen. Dies ift nun 
aber nicht der Fall, fondern Gelb ift zwar noch nicht Die 
wärmjte Farbe, aber bereitö in der ihr zunächſt folgenden 
Grundfarbe (Drange) erreicht die Wärmeſkala ihren höchiten 
Grad, von weldem ab die Temperatur der Farben wieder finkt. 
(Vergl. Fig. 12.) Bis zu einem gemwifjen Punkte findet aljo 
in der That ein umgefehrtes Verhältniß zwiſchen der Helligfeitö- 
und Wärmeintenfität ftatt, jofern die erftere von Gelb zunächſt 
abe, die zweite dagegen zunimmt; dann aber findet (von Drange 
ab) eine gleihmäßige Abnahme beider ftatt, bis abermals (von 
Violett ab) eine Umkehrung und zulegt wiederum (von Blau 
ab) eine gleichmäßige Zunahme eintritt. Wie ift nun diefer 

(58) 


54 


ſcheinbare Widerfprudy gegen das aus dem Princip der Verlang- 
ſamung folgende Geſetz zu erklären? Diefe Frage, welche das 
eigentliche Geheimniß der Farbentheorie enthält, indem ihre be— 
friedigende Beantwortung nit nur Aufſchluß über das eigent— 
liche Wejen der verjchiedenen Farben, fondern auch über den 
Urſprung der Farbe überhaupt giebt, hat und daher vor allen 
Dingen zu bejcyäftigen, theild weil diejelbe troß ihrer prin- 
eipiellen Wichtigkeit bisher weder von Goethe nod) von feinen 
Nachfolgern (von den Phyfifern zu fchweigen) beachtet worden 
ift, theild weil fich nur aus ihrer Beantwortung das an fich 
richtige Urphänomen Goethe’s ergänzen und zu wiederſpruchsloſer 
Klarheit erheben läßt. 

Wenn daher die vorliegende Unterfuchung überhaupt einen 
berechtigten Anſpruch auf Förderung der Farbentheorie erheben 
darf, jo gründet fich derfelbe einerfeitö darauf, daß fie überhaupt 
dad Moment der MWärmeintenfität, in deren weſentlicher Diffe- 
renz von der Helligfeitsintenfität, für die Erklärung der Farben— 
erzeugung zur Geltung zu bringen jucht, andererieitö darauf, daß 
fie die Urjachen diejer Differenz, jowie die daraus fid) ergebenden 
Konjequenzen, welche für die Erfenntnig der wahren Natur der 
Farben von maßgebender Bedeutung find, mit gleichiam mathe- 
matiſcher Genauigfeit zu beftimmen vermag. Es ift daher an 
diefer Stelle zu betonen, dal hinficytlih der Frage nady dem 
wahren Urjprung und Weſen der Sarben bier der 
Schwerpunft meiner Unterfuhung liegt. 

Zunächſt liegt es felbft für den Laien auf der Hand, dab 
die helliten Farben, weil fie dem Licht am verwandteiten find, 
auch die fchnellfte Bewegung haben müfjen und umgefehrt die 
dunfelften die langfamfte?s). Wenn man nun aber, da Licht 
und Finfterniß feinen polaren Gegenjaß, ſondern nur eine 
Skala zwiſchen 1-0 bilden, die Farbe auf ihre Helligkeits- 
intenfität bin prüft, fo erfennt man jogleih, dab in dem Forte 
gang von der helliten zur dunkelften Farbe ein Grenzpunft 
liegen muß, in welchem das Licht bis zur Hälfte jeiner Inten— 
fität herabgemindert erjcheint. Ich nenne diejen Punkt, der — 
wie ſchon erwähnt — in die Mifchfarbe Drange-Roth fällt, den 
Audgleihpunft zwiſchen Licht und Ainfternik, jedod 
immer mit der ausdrüdlihen Beſchränkung, dab dabei die 
Finfterniß nicht ald negativer Pol, ſondern als bloße Negation 
des Lichts gefaßt wird. Bid zu diefem „Ausgleichpunkt“ hat 

(54) 


95 


alſo das Licht dominirt, d. h. es befißt bis zu ihm mehr als 
die Hälfte feiner Helligfeitsintenfität, jenſeits defjelben beginnt 
die Finfterniß zu dominiren, d. h. das Licht finft unter die Hälfte 
jeiner Helligfeitsintenfität. Der Ausgleichpunft für die Skala 
der MWärmeintenfität dagegen fällt, wie gezeigt, in einen 
anderen Durchmeſſer, nämlich in rv— gn, d. h. die Grenze 
zwijchen den warmen und falten Karben ift nicht Rothorange 
ſondern Nothviolett. Die Erklärung diefer Differenz der beiden 
Durchmeſſer ergiebt fidh aber einfach daraus, dab das trübende 
Mittel, weldyes einerjeitd durdy die Schwächung des Lichts die 
Helligfeitd-, amdererfeitd dur die Verlangiamung feiner Be— 
wegung die Wärmejfala bewirkt, im diejer zweifahen Wirkung 
zum Licht eine durchaus verjchiedene Stellung einnimmt, indem es 
dafjelbe dort nur quantitativ, hier dagegen qualitativ modiftcirt. 
Dies gebt ſchon daraud hervor, daß, während hinfichtlidy der 
Helligkeit das Licht — 1, die Finſterniß = O ift, binfichtlich 
der Wärme Licht und Finſterniß vollfommen gleidy, nämlich 
gleich falt, d. b. beide — O find, wie bereitö früher nachgewiejen 
wurde. Die Helligkeit nimmt mithin vom erſten Augenblid 
an — d. b. ſchon in Gelb und weiter — konſtant ab bis 
zum Marimum der Dunfeiheit (Violett), nach weldhem, da bier 
der Halbkreis durdlaufen ift, die Helligkeit, nah Gelb hin, 
wieder zunehmen muß; die Wärme dagegen nimmt, da die 
Hemmung bier (in Gelb) nody zu gering ift, um ſchon hin— 
reichende Verlangſamung, d. h. höchſte Wärmeerzeugung zu be— 
wirfen, anfangs zu bis zu ihrem Marimum (Drange), dann 
aber, da nun die fortichreitende Berdunfelung die an 
fänglide Wirfung der Berlangfamung zu paralpjiren 
anfängt, wieder ab, und zwar über den Audgleichpunft 
(Rothoiolett) fort bid zum Marimum der Kälte (Blau), von 
wo ab, durdy die bier jchon wieder ſich geltend machende 
Erhellung auch die Wärme wieder zunimmt, bid dieje einen 
neuen Audgleichpunft (in Gelbgrün) erreicht, über den hinaus 
die Wärmeerzeugung wieder pofitive Korm annimmt. Man er: 
fennt alſo, daß die jo außerordentlid wichtige Verſchiedenheit 
des Antheild, welcher einerjeitd die Helligfeitö-, andererjeits Die 
MWärmeintenfität nicht nur am der jpecifilhen Natur der Karben, 
jondern auch an ihrer Entftehung überhaupt befiten, lediglich 
darauf beruht, daß, wenn man die beiden Wirfungsdarten ald 
verichieden aufs und abfteigende Linien ſich vorftellt, die Kombi» 
(55) 


56 


nation dieſer beiden Linien ungefähr die Form zeigen würde, 
welche ich in Figur 12 zu veranichaulichen verſucht habe. 

Die Bedeutung der theild parallelen, theils ſich durch— 
freuzenden, niemald aber identischen Linien, weldye in diejem 
Schema die auf: und abfteigenden Skalen der Helligfeitö- und 
der Wärmeintenfität darftellen, dürfte unjchwer zu erfennnen fein. 
Die „Helligfeitslinie" beginnt von der Marimalgrenze in 
Gelb, fällt jtetig bis zur Minimalgrenze in Biolett und fteigt 
dann wieder bis zur Marimalgrenze in Gelb, die „Wärme: 
linie” dagegen beginnt von einem etwas unterhalb der Marimal- 
grenze liegenden Punkt, fteigt zuerjt bi8 zur Marimalgrenze in 
Drange und fällt dann bis zur Minimalgrenze in Blau, um 
dann wieder bis zur Marimalgrenze in Drange zu fteigen. 
Aus Ddiejer differenten Nichtung der beiden Linien ergeben fidy 
nun folgende Konjequenzen: 

1. daß die zwifchen den Linien der Marimal- und Minimal- 
grenze in der Mitte liegende, mit beiden parallele Linie der 
Ausgleihung (xz) ſowohl die beiden Ausgleichpunkte der Hellig 
feitö- (ro und bn) als die der Wärmeintenfität (rv und gn) 
— (die eriten find durch H, die zweiten durch W bezeichnet — 
enthält, d. b. daß beide Linien,aber nur in ihrem mittleren 
Theil (ro—bn), zufammenfallen. 

2. da die beiden Punkte, worin fid) die Linien der 
Helligkeit und Wärmeſkalen jchneiden (go und bv), ebenfalld 
zwei Ausgleichpunfte darftellen, die aber nicht, wie die vier oben 
erwähnten, je ein Paar die Helligkeit für fi und die Wärme 
für ſich als ausgeglichen bezeichnen, jondern vielmehr einen 
diametralen Gegenjat bilden, indem go, ald zwilchen dem 
Marimum der Helligkeit und dem der Wärme liegend, beide 
Marima zur relativ höchſten Helligkeits- und Wärmeintenfität, 
bv dagegen, als zwifdhen dem Marimum der Dunkelheit und 
dem der Kälte liegend, diefe beiden Marima zur relattv höchſten 
Dunfelbeitö- und Kälteintenfität fombiniren; d. b. Gelborange 
ift ebenjo hell wie warm, während die Farben, aus denen ed 
beiteht, nämlich Gelb zwar heller ald Drange aber. audy Fälter, 
Drange zwar wärmer als Gelb, aber audy dunkler iſt. Der- 
jelbe Intenfitätsausgleich findet ſelbſtverſtändlich auch auf der 
negativen Seite in Blauviolett zwijchen Violett und Blau ftatt. 

3. ift begreiflih, warum dieje beiden Auögleichpunfte, da 
der eine nur der pofitiven, der andere nut der negativen Kreid- 

(56) 


57 


hälfte angehört, nicht in die Ausgleichlinien xy fallen können, 
jondern jener (m) der Marimalgrenze, diejer (n) der Minimal: 
grenze näher liegen muß. 

Diefe in Form eined gradlinigen Bandes dargeftellte 
Konftruction der Helligfeitd- und MWärmeintenfität läßt fi nun 
auch auf dem Farbenfreis jelbft übertragen, indem — wie in 
Figur 13 gejhehen — die beiden Intenſitätslinien ald Kreile 
dargeftellt werden, welche zwijchen die beiden die Marimal- und 
Minimal:Grenzlinien repräjentirenden Eoncentrifchen Kreife fallen, 
und zwar derart, dab einerjeitd die Marimalpunfte jowohl der 
Helligfeitö-, wie der Wärmeintenfität (b und f) in die Peripherie 
deö großen Kreijed, andererfeitd die Minimalpunfte der beiden 
Intenfitäten (s und u) in die Peripherie des kleinen Kreiſes 
fallen. Auch dieje Konftruction ift ebenjowenig wie die An- 
ordnung der Farben im Kreile überhaupt 3?) willkürlich, 
jondern beruht durhaus auf den Beziehungsverhältnifjen der 
Farben jelber. Sie entjteht auf folgende Weife: Zwiſchen den 
beiden Foncentriihen Streifen, melde die Maximal- und 
Minimalgrenze der Helligfeitö-, bezw. der Wärmeintenfität dar- 
ftellen und die man in beliebigem Abftand von einander nehmen 
fann, müſſen felbftverftändlich alle Farben liegen. Wenn man 
nun in dem Durchmeſſer G—V, der den Gegenjaß der helliten 
und der dunfelften Farbe darftellt, den Marimalpunft b mit 
dem Minimalpunft s verbindet, jo erhält man den Durdmefjer 
des Helligfeitöfreifed, den man aljo nur zu halbiren braudyt, um 
den Mittelpunkt zu finden, in dem man den Girfel einzujegen 
bat. Ebenfo erhält man in dem Durchmeſſer O—B, der den 
Gegenſatz zwiichen der wärmften und Fälteften Farbe repräjentirt, 
durch Berbindung des Marimalpunfteö f mit dem Minimal: 
punft u den Durchmefjer des Wärmefreijed. Dieje beiden Kreije 
müfjen fich, da ihre Durchmefjer nicht zujammenfallen, aber ihre 
Radien gleich find, nothwendig jchneiden (nämlich in n und m) 
und ftellen zugleich, in dem Verhältniß ihrer ſich dedenden zu 
den ſich nicht dedenden Theilen, die Differenzen zwijchen ber 
Helligfeitd- und Wärmeintenfität für jede Farbe dar. Man 
erkennt aljo, daß die gegenfeitige Lage der beiden Kreije durchaus 
durch die in den foncentrijchen Kreifen liegenden Marimal- und 
Minimalpunfte jowohl der Helligkeit wie ber. Zürme „beitinemnt 
und gefordert ijt. 

Um die Beziehung der-beiden ‚A teiteie beenden 

N‘ ‚m 


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58 


Kreißjegmente der Helligfeitd- und Wärmeintenfität deutlicher zu 
veranfchaulichen, find die außer- und innerhalb fallenden Partien 
durch Schraffirungen abgetönt, jo daß für jede Farbe die bes 
treffende Breite der fichelförmigen Fläche jowohl den Grad ihrer 
allgemeinen Intenfität als zugleich dad quantitative Verhältniß 
zwiichen ihrem Helligfeitd- und Wärmegrade darftellt. Bei- 
ipielöweile haben Gelb und Drange gleiche allgemeine Inten- 
fität, weil ab = df, aber hinfichtlich der Helligkeit und Wärme 
jtehen fie im umgefehrten Verhältniß, d. h. Drange gehört nur 
mit dem Streifen de der Helligfeitsiphäre, Gelb nur mit dem 
Streifen ac der Wärmeſphäre an; ebenjo ftehen Roth und 
Grün in folhem umgekehrten Verhältuiß, d. h. die Wärme 
von Roth reiht von g—i, die Helligkeit nur von g—h, wogegen 
bei Grün die Helligkeit von p—k, die Wärme nur von I—k 
reicht. Vielleicht wird ed dem Lefer hierbei auffallen, daß das 
quantitative Verhältnig zwifchen der Wärme- und Helligfeitö- 
intenfität bei diefen beiden Farben, wie ed fich bier in den 
rejpeftiven Längen der die Segmente durchichneidenden Linien 
darftellt, nicht unbeträchtlich von den in dem früher aufgeftellten 
Schema??) gemachten Angaben (4:3 und 3:4) abweicht. Es 
ift aber dabei zu erwägen, daß in diefem Schema ald Grenze 
der Gegenſatz zwiſchen Licht und Kinfterniß (1:0) in Rech— 
nung gebradht war, fo daß aljo dort alle Farben innerhalb 
defjelben fallen, während hier Gelb und Violett einerſeits in die 
Peripherie der Helligfeitögrenze, Drange und Blau in die der 
MWärmegrenze fallen. Hierdurd muß felbftverftändlih eine 
Differenz; gegen das Schema entitehen, da die Lichtgrenze in 
diejem eine abfolute, hier dagegen (das Licht in der Form 
relativer Helligkeit) nur eine relative ift. 

Nod auf zwei Punkte ift bei unferer Figur 13 aufmerkſam 
zu machen, weil in ihnen die Genauigfeit der mathematifchen 
Konftruction in Beziehung auf die dadurch ausgedrüdten kon— 
freten Beziehungdverhältniffe zwiſchen den Farben auf höchſt 
prägnante Weije zum Abdrud fommt, nämlidy: 

1. die polarijch entgegengejete Stellung der beiden Farben 
Gelborange und Blauviolett, melde je das Produft der 
pofitiven, bezw. negativen Marima find, fofern Gelborange aus 
der hellften und wärmften, PBlauviolett aus der dunfeliten und 
fälteiten Farbe beſteht; daher bei Gelborange die fombinirte 
Helligfeit und Wärme beiderjeitd vonm—o reicht, während bei Gelb 

(58) 


die Wärme nur von a—c, bei Drange nur die Helligkeit von d—e 
ſich ausdehnt, fo daß ſich Gelborange von beiden nur durch das 
fleine Minus my unterfcheidet. Das Umgefehrte findet bei Blau: 
violett ftatt, das fi) nur durch das fleine Plus nq von Blau 
und Biolett unterjcheidet, während ed ald Produkt der höchiten 
Dunkelheit und der höchſten Kälte nad) beiden Seiten intenfiver 
wirkt, da es zwar etwas kälter ald Violett, aber dafür um 
ebenfoviel dunkler als Blau ift. 

2. Der in jeinen Konjequenzen höchſt bedeutungsvolle Umftand, 
dat die beiden Punfte x und z, in denen einerjeitö der Helligkeits-, 
andererfeitS der Wärmedurchmefjer (ro—bn, rv—gn) von den 
beiden, die Helligkeit: und MWärmeintenfität repräjentirenden 
Kreijen gejcnitten werden, (entiprehend den gleichnamigen 
Punkten x und z auf der Wequatoriallinie in Fig. 12) genau 
jowohl in die Mitte des nicht jchraffirten Theild von Figur 13 
wie (in Fig. 12) in die Mitte zwijchen die Marimal- und 
Minimal: Grenzlinien fallen; d. h. dab in dieſen beiden Ae— 
quatoren Helligkeit und Wärme einander die Waage halten. 
Es it dies ein jchlagender Beweis von der Nichtigkeit der durch 
die Konftructionen veranjchaulichten Verhältnifje der beiden Ele— 
mente, die fich demgemäß jeder jubjeftiven Willfür entziehen 
nud injofern die objektiv fidyere Grundlage für eine durchaus 
gejehmäßige Barbentheorie bilden. 

Auf diefe Erörterung, die deshalb bis in die verhältniß— 
mäßig unbedeutenditen Detaild fich vertiefen mußte, weil bier 
der eigentlihe Schwerpunft meiner Erklärung der Farbener- 
zeugung überhaupt und der differenten Natur der Farben im 
Bejonderen, gegenüber allen bisherigen Erklärungsverſuchen, 
liegt, gründet fih nun die Konfequenz, das Goethe'ſche 
Urphänomen, d. bh. die Entitehung des Kontraft3 „Gelb — 
Blau“, nicht als eine einfache Wirkung, den das Licht durd) 
dad Trübende erleidet, fondern ald einen aus zwei diffe- 
renten Mopdififationsarten deſſelben fombinirten 
Prozeß aufzufaffen; ferner aber die, dab die beiden Skalen, 
was damit nothwendig fidy verbindet, micht identiſch, aber aud) 
nicht konträr entgegengejeßt find, ſondern fich nur theilmeife 
deden, indem die wärmjte Farbe erjt durch ftärfere Trübung 
aus der hellften (Drange aus Gelb) entjteht, während die käl— 
tefte (Blau) ebenfalld erſt durch ftärfere Trübung*°) aus der 
dunfelften (Violett) hervorgeht. 

(59 


60 


Es ift vorhin von zwei verichiedenen „Ausgleichpunkten“ 
— richtiger Ausgleichdurchmeſſern — die Rede geweſen, 
in denen einerjeitö Licht und Finfternib, andrerjeitd Wärme und 
Kälte einander gleichſam die Waage halten. In diejer Hinficht 
it nun eine erflärende Zwijchenbemerfung darüber zu machen, 
aus welchem Grunde dieje Ausgleiche nicht in dem edeliten 
fomplementären Farbenpaar, „Roth Grün“, ſich vereinigen, 
fondern in zwei getrennte fomplementäre Miſchfarbpaare (ro- 
bn, rv-gn) audeinander fallen müſſen. Dieje Frage jcheint an 
fi) wenig bedeutfam und doc liegt im ihr die wahre Ur» 
lade der Farbenerzeugung überhaupt audgedrüdt, d. h. 
ihre Beantwortung enthält die thatſächliche Vervollftändis- 
gung des Goetheſchen Urphänomend. 8 liegt nämlidy 
auf der Hand, daß, wenn der Ausgleich für die Helligkeits— 
wie für die Wärmeintenfität in einen und denſelben Durch— 
mejjer, nämlih eben Roth-Grün, fiele, d. h. wenn fid) 
Roth weder an Helligkeit noh an Wärme von Grün unter: 
Ihiede, dieje beiden Farben überhaupt ſich nicht unter: 
Iheiden Fönnten. Denn welder Unterſchied könnte nody 
zwilchen zwei Farben eyiftiren, die einander völlig gleich 
wären, infofern jede die Hälfte ſowohl der Helligfeitd- wie 
der Wärmeintenfität repräjentirte? Hierin beruht audy der 
Irrthum Schopenhauerd, der, weil er die Berjchiedenheit 
der MWärmeintenfität ald unmejentlih ignorirt, Roth und 
Grün beiderſeits hinſichtlich der Helligkeit = } jebt, oder, 
wie er ſich ausdrüdt, beide dahin beftimmt dab fie „die 
Thätigfeit der Retina genau halbiren“ (j. fein Schema im 
Anhang Nr. 33). Eben weil die Farben fidy nicht blos durdy 
ihren Helligfeitögrad, jondern zugleich, aber in davon differenter 
Weiſe, durch ihren Wärmegrad unterjdeiden, find fie allein 
qualitativ verjchieden, d. b. überhaupt erft ald Farben mög— 
lih. Es giebt daher unter den vielen Taufenden von Farben 
und Farbenüancen nidyt eine einzige, die einer andern an Hellig- 
feit und zugleich an Wärme gleid, wäre. Wo der Helligfeitö- 
grad, wie 3. B. zwiſchen Rothorange und Blaugrün, derfelbe 
ift, ftehen fie hinfichtlicy der Wärme, wo der Wärmegrad, wie 
in Rothviolett und Gelbgrün, verjelbe ift, ftehen fie hinficht- 
lich der Helligkeit im Gegenſatz, (j. Fig. 2.) Läge aljo der totale 
Ausgleich in Roth-Grün, d. h. bejühen dieje beiden Farben den— 
jelben Helligfeitd- und Wärmegrad, jo würden fie überhaupt 
(60) 


6l 


nicht mehr „Roth-Grün“, jondern beide ein zwijchen Weit und 
Schwarz die Mitte haltendes Grau darftellen, d. h. ſowohl 
Wärme: wie Helligfeitsintenfität würden fich in ihnen neutrali- 
firen und, da jede von ihnen in beiden Beziehungen die Mitte 
zwiſchen O und 1 bildet, beide = } fein, wie Schopenhauer will, 
der aber feine Ahnung davon hat, daß damit überhaupt die 
Eigenſchaft der Farbigfeit vernichtet würbde. 

Es find überhaupt in dem Verhältniß von Helligfeit und 
Wärme in den Farben nur vier Fälle denfbar, die wir — um 
die Frage endgültig zu erledigen — einzeln in Betracht ziehen 
wollen: 

1. es eriftirten nur Helligfeitd- (aber feine Wärme-) Unter: 

ſchiede; 

2. es eriftirten nur Wärme (aber feine Helligfeitö-) Unter» 

ſchiede; 

3. ed exiſtirten zwar Helligkeits- und Wärmeunterſchiede, 

aber die beiden Skalen wären identiich, d. h. die hellfte 
Farbe wäre zugleich die wärmfte, die dunfelfte zugleich 
die fältefte, woraus folgen würde, daß die dazwilchen 
liegenden ftetö denjelben Bruchtheil an Helligkeits— 
und MWärmeintenfität repräjentirten; 

4. es eriftirten zwar SHelligfeitd- und Wärmeunterjchiede, 

aber in Differentem Miſchungsverhältniß bei jeder 
Farbe. 

Am eriten Fall würden, wie ſchon erörtert, überhaupt 
feine Farben, jondern nur eine monotone Skala von Grau mög» 
lich fein, weil das Licht durch das Trübende nur eine quanti« 
tative Modifikation, d.h. eine einfahe Schwächung, erlitte. 
Der zweite Fall ift überhaupt nicht denkbar, weil die Wärme 
unterjchiede nothwendig die Helligkeitdunterfchiede einjchließen 
und bedingen. Was den dritten Fall betrifft, jo wurde oben 
bereit? an dem Farbenpaar Roth-Grün gezeigt, dab bei diejem 
wenigftend dann die Farbigfeit überhaupt aufhören müßte. Dar- 
and aber würde auch für die andern Farbenpaare dafjelbe Rejultat 
fid) ergeben. Wenn nämlich, wie gezeigt, die Urfarbe Roth ganz 
ausfiele, jo würde, da aud Grün, jein Komplement in Fortfall 
fommen müßte, nur Gelb und Blau übrig bleiben, weil Violett 
und Drange ja erft durch Mifchung von Roth mit Blau bezw. 
Gelb entitehen. Eriftirte aber nur Gelb und Blau, jo bedeutete 


das nichtd Anderes, ald es eriftirte — wie Goethe fein Urphä- 
(61) 


62 

nomen definirt — nur „verbunfeltes Licht” und „erhellte Finfter- 
niß“, d. h. thatjächlich nur Weiß und Schwarz, nämlich eine nur im 
Grade verichiedene Schwächung des Lichts, mit andern Worten: die 
Farben hörten überhaupt als ſolche auf zu eriitiren. Auch bier 
zeigt fich wieder die eminente Wichtigfeit des Roth, da in der 
That der von Goethe fälſchlich ald polarer Gegenjat gefaßte 
Kontraft zwiichen Gelb und Blau erft durdy das hinzutretende 
Roth zur Möglidykeit, aber auch zur Nothwendigkeit der Farben» 
erzeugung geführt wird. Im diejen unvermeidlihen Konje- 
quenzen liegt mithin der unmiderlegliche Beweis für die oben 
aufgeftellte Behauptung, dab die Differenz der Hellig- 
feitö- und der Wärmeintenjität die nothwendige 
Bedingung der Farbenerzeugung und folglid Die 
einzige Erflärung des Urjprungs der Farben enthält. 

Roth und Grün ftehen alfo, obgleidy fie ſich nach beiden 
Seiten hin nahe berühren, doch hinfichtlidy der Helligfeits- und 
der Wärmeintenfität in einem differenten Werhältniß zu einander; 
und zwar iſt died Verhältniß — wie früher duch die reſpek— 
tiven Schemata veranſchaulicht ift — ein umgefehrted, indem 
Roth um joviel wärmer ald Grün, wie diejed heller als jenes, 
und umgekehrt jenes um jo viel dunkler ald Grün, wie diejes 
fälter alö jenes ift; oder — wie das Schema ed bezeichnet: 
Roth verhält fi zu Grün hinſichtlich der Wärmeintenfität wie 
4:3, hinſichtlich der Helligfeitsintenfität wie 3:4. Die That: 
ſache jelbft, nämlidy der Grund dieſes doppelten Verhältniſſes, 
bafirt darauf, daß Roth zwiſchen Drange und Violett liegt, die 
beide bezw. wärmer, aber auch dunkler als Gelb. und Blau find, 
zwilchen denen Grün die Mitte bildet. — Indefjen repräientiren 
Roth und Grün troß diejer doppelten Differenz oder vielmehr 
auf Grund derjelben, da die beiden VBerhältniffe einander die 
Waage halten, in ihrer fomplementären Zujammenge- 
hörigkeit als Sarbenpaar, wenn aud feinen gemeinjamen 
Ausgleihdurcdymeifer, jo doch eine gemeinfame Ausgleich. 
fläche, d.h. fie liegen zwijchen den beiden differenten Durd)- 
mejjern der Helligkeitö- und MWärmeintenfität in der genauen 
Mitte, während alle andern Farbenpaare in die fich dedenden 
Partien der beiden Skalen fallent!), daher jene audy (j. das 
Schema auf ©. 45) bei ihrem Umtauſch nur gegenjeitig ihre Stelle 
wechſeln, während weder Blau mit feinem Komplement Drange, 


jondern mit Biolett, Gelb nicht mit dem jeinigen, Violett, 
(62) 


63 


jondern mit Drange die Stellen wechſeln: wiederum ein Be— 
weis dafür, dab dad Karbenpaar Roth-Grün (und in diefem 
wieder vorzugsweiſe Roth, als Urfarbe) die wahrhafte Herrichaft 
im ganzen Farbenfreife behaupten und in demjelben, gegemüber 
allen andern Furbenpaaren, eine ganz erceptionelle Stellung 
einnehmen. — | 

In einer fpeciellen Beziehung jedody faun audy Roth Grün 
ald Ausgleichdurchmefjer betrachtet werden, nämlich in ihrem 
Verhältniß zu dem Durchmeſſer Gelborange-Blauviolett, weldyer 
— wie oben gezeigt — den polaren Gegenjaß der fombinirten 
Marima einerjeitö der Helligkeitd- und Wärmeſkala, andrerjeits 
der Kältes und Dunfelbeitöffala darſtellt. Wenn man daher, 
ftatt die beiden Skalen getrennt in Rechnung zu bringen, die 
Frage dahin ftellt, weldhe Farben es find, die einerjeitd die 
relativ höchſte Helligkeit mit der relativ höchſten Wärme, andrer- 
jeitö die relativ größte Dunkelheit mit der relativ größten 
Kälte verbinden und man dieje Farben ald diejenigen bejtimmt, 
welche (eben durch joldye Kombination) den ſtärkſten Intenfi- 
tätsgegenjat überhaupt repräjentiren — und dieje Farben find 
eben audjchließlih Bv und Go — dann kann man dieſem 
polarijhen Intenſitätsgegenſatz gegenüber Roth— 
Grün allerdings ald Ausgleichdurchmeſſer betradyten. Hieraus 
erklärt ſich au die Thatſache, daß Roth-Grün auf jenem kom— 
binirten Sntenfitätödurchmejjer Bv-Go rechtwinklich fteht. Abe 
gejehen aber von dieſem Verhältniß ift e8 forrefter, ftatt von 
„Ausgleihpunften” nur von Ausgleihfläcden zu reden, weldye 
durdy die ſich ſchneidenden Durchmeſſer der Helligkeitö- und 
Wärmedurchmeſſer (Rv-Gn, Ro-Bn) begrenzt werden, und in 
denen Roth-Grün in der Mitte liegt. 

Nach diefer Beſchränkung ded Ausdrucks „Audgleichpunfte“ 
auf den einer doppelten, durdy die beiden Durchmeſſer der 
Helligfeitö- und der Wärmeintenfität begrenzten Ausgleich: 
fläche, in welder das Farbenpaar Roth» Grün liegt, ift zu der 
obigen Darlegung des Verhältniſſes der quantitativen zur qualis 
tativen Modififationsfähigfeit des Lichts, d. h. zur Differenz 
feiner Helligfeitdös und Wärmeintenjität, noch rejultatoriich zu 
bemerken, daß durch die Verbindung dieſer beiden Elemente alle 
Requifite gegeben find, welche zur Erklärung des Phänomens 
der Farbenerzeugung erforderlid find; und zwar jowohl im 
phyſiologiſchen wie im phufifaliichen Sinne. — Im Grunde 


(63) 


20ER 


ift nämlich — wie ſchon früher bemerft — zulett doch, wenn 
ed fi um die Erklärung der Farbenerſcheinungen handelt, 
immer auf die Natur der Farbenempfindungen zurüdzugehen. 
Es fann ja zugegeben werden, daß die Empfindung durdy Die 
Erſcheinung bedingt ift, daß aljo in der phyſikaliſchen Natur 
des Lichts der Grund auch für die Empfindung liegt. Da wir 
aber nur durch dieſe etwas von der Natur der Erjcheinung 
erfahren, weil ohne ein eriftirended Auge’weder für und noch 
überhaupt Licht und Farben, jondern nur etwa Das, waß die 
Phyſiker mit „Aetherichwingungen“ bezeichnen, eriftiren würden 
(wie ohne ein Ohr fein Ton, jondern nur Luftichwingung): jo ift 
ichließlich dad Auge und dejjen Nerventhätigkeit, ald Organ der 
Farbenempfindung, immer die lete Inftanz für die Enticheidung 
über die $rage nad) der Natur der Erjcheinung jelbft. Won diejem 
Standpunkt aus ift alfo hinfichtlidy der Erklärung der Farben- 
erzeugung zu jagen, dab, wenn von einer quantitativen und 
einer qualitativen Mopdififationsfähigfeit ded Lichts die Rede 
ift, diefer Unterfchied — d. h. der zwiſchen der „Helligkeits-“ 
und „Wärmeintenfität“ der Farben — thatlählih ald ein 
jolher in der Nerventhätigfeit des Auges aufzufaflen 
ift. Denn ob das Licht überhaupt aus Netherjchwingungen 
befteht oder darauf beruht, das wifjen nur die Herren Phyſibker, 
die, obicyon fie ftet3 mit einer gewiffen Emphaſe das „Erperi- 
ment”, d. h. die thatjächlihe Erfahrung, ald Hauptbeweid- 
mittel für ihre Schlußfolgerungen behaupten, doch mit allen 
möglihen Hypotheien leicht bei der Hand find (oder fie reden 
es fich wenigftend ein, daß fie ed wiljen); vom Standpunkt der 
ftrengen Wiſſenſchaft dagegen ift nur zu behaupten, dab, weil 
wir mit dem Auge den Unterjchied zwiſchen Helligfeitd- und 
Wärmeintenfität der Farben empfinden,*?) daraus zunächft 
nur zu schließen ift, daß die Nebhaut verfchiedener Arten von 
Nervenſchwingungen oder, wie ich mich früher ausdrüdte, diffe- 
renter Schwingungsrichtungen der Nerven fähig ift, welche wir, 
indem wir fie auf ihre an fich unbekannte gegenftändliche Ur- 
lachen beziehen, gleichfam nad) außen projiciren, indem wir diefe 
ald „differente Aetherſchwingungen“ bezeichnen. 

Dieje Differenz in den Schwingungsridhtungen kann fogar, 
ohne irgend eine äußerliche Urſache, alſo rein phyſiologiſch, 
verſchiedene Theile der Netzhaut in eine Art fomplementärer Bes 
ziehung bringen; fomplementär jedoch nicht im Sinne qualita- 

(64) 


65 


tiver Polarität, jondern in rein quantitativem Sinne ald Aus— 
gleich abftrafter Intenfitätdempfindung. Wenn man 5.82. feine 
Blide einige Zeit auf einen grauen Fußweg gerichtet hält, der 
eine beleuchtete Grasfläche durchjchneidet, und dann von dem 
Wege fort ſeitwärts auf die Grasfläche blidt, jo wird fidy auf 
diefer die Form des Weges ald quantitativ Fomplementäres 
Spektrum durch höhere Sutenfität der grünen Farbe der Art 
bemerkbar maden, daß die dad Spektrum begrenzenden Theile 
der Grasfläche gleichlam ftaubig dagegen erjcheinen. Dies erflärt 
fi) daraus, daß diejenigen Theile der Netzhaut, welche vorher 
durch das Bild des grauen Weges afficirt wurden, mehr in Ruhe 
waren, d. h. eine geringere Nervenſchwingung erlitten, dadurch 
aber empfänglicher für den jpäteren Anblid des Grün blieben, 
während die andern Theile, weldye durdy die intenfive Farbe 
der Graöfläche bereitö afficirt waren, dieſe Empfänglichkeit beim 
Sortbliden nicht mehr beſaßen. Daß dieje rein ertenjive, d. h. 
Iofale Theilbarfeit der Netzhaut mit der jog. „qualitativen Theil- 
barkeit der Thätigleit der Retina” Schopenhauer’d nichts zu 
thun bat, braudyt wohl nidyt erft erläutert zu werden. 

Bleiben wir daher bei der jubjeftiven Seite der Erſcheinung 
ftehen, welche allein für und etwas Thatſächliches ift, jo ergiebt 
fih die Erklärung des Goethe'ſchen „Urphänomens“, mit der 
von mir ald nothwendig erachteten Reftififation und Vervoll- 
ftändigung, ziemlich einfach auf folgende Weile: Wenn — wie 
von diejfem Standpunkt aus anzunehmen ift — die Empfindung 
für Helligfeits- und für Wärmeintenfität auf der Verjchiedenheit 
der Schwingungdrichtungen der Nerven der Netzhaut beruht, jo 
fönnte die Netzhaut, fall fie nur einer Schwingungdrichtung 
fähig wäre, nur Helligkeits-, aber Feine Farbenunterjchiede 
empfinden. — Diejer Fall findet in ftärferem oder ſchwächerem 
Grade bei der jog. „Farbenblindheit“ ftatt. Der umgefehrte 
Fall dagegen, dab das Auge wohl Farben, aber nicht ihre 
Helligfeitögrade unterjcheiden Fönnte, ift — abgejehen davon, 
dab dafür fein Erfahrungsbeweis vorliegt — deshalb überhaupt 
undenkbar, weil die Empfindung für Wärmeintenfität die für 
Helligfeitsintenfität einjchließt, da jchon die Farben jelbft ala 
jolde fi hinfichtlich ihres Helligfeitsgrades unterjcheiden. — 
Hiernach — d.h. den normalen Zuftand ded Auges voraus: 
gejeßt — entwidelt fid) der Prozeß, der ald „Barbenerzeugung” 
bezeichnet wurde, im der Art, dab das Licht zunächjt durch Die 


XVIIT. 409. 410. 5 (65) 


66 


leichtefte Trübung jene Empfindung hervorruft, die wir als 
die hellſte Farbe, d. b. alö „Gelb“, bezeichnen, d. h. ed wird 
diejenige Schwingungsrichtung der Nebhautnerven überwiegen, 
welche der quantitativen Mopdififationsfähigfeit des Lichts 
entipricht. Denn wenn auch das „Gelb“ neben feiner inten- 
fiven Helligfeit bereitö einen gewiljen Grad von Wärme befitt, 
aljo audy bereit? die andere Schwingungsrichtung der Netz— 
hautnerven hervorruft, welche der qualitativen Mopdififationd- 
fähigkeit des Lichts entjpricht, jo hat das Trübende, weldyes 
beide Mopdififationen hervorruft, do im Bezug auf die Ber- 
langfamung der Bewegung ded Lichts, d. h. auf feine Ermär- 
mung, noch zu wenig Einfluß, ald daß jchon ein hoher Grad 
von Wärme erzeugt werden, d. bh. daß jene zweite Schwingungs— 
richtung der erjten gleicdhfommen oder fie gar an Stärfe über- 
treffen könnte. Diejer hohe und zwar hödfte Grad der Er 
wärmung, d. b. der Berftärfung der (wie man fie der Kürze 
halber nennen. kann) „qualitativen” Schwingungsrichtung der 
Nebhautnerven wird nun durch verjtärfte Trübung, d. h. 
Hemmung des Lichtd, in „Orange“ erreicht, dad mithin aus dem- 
felben Grunde eineum jo geringere Lichtintenfität zeigen muß, als ed 
Zunahme an Wärme zeigt, mit anderen Worten: die „quanti= 
tative" Schwingungdrichtung nimmt bei diejer Farbenempfindung 
um foviel an Stärfe ab ald die „qualitative” gewinnt. Der 
weitere Fortgang in diefem Prozeß ergiebt fich hiernah — 
analog der obigen, vom objektiven Standpunkt aus angeftellten 
Betrachtung — von jelbit, indem nur den Ausdrüden „Hellig- 
feitö-" und „Wärmeintenfität“ der Farben die die ſubjektive 
Seite des Prozefjed bezeichnenden Ausdrüde: „quantitative” und 
„qualitative Schwingungsrichtung der Netzhautnerven“ jubftituirt 
werden, umd ift eine Fortführung des Prozeſſes bis zu Ende 
in diefem jubjeftiven Sinne überflüffig.*?) Der leichteren Ver— 
ftändlichfeit halber werde ich midy daher für die weitere Dar— 
ftelung wieder der objektiven Ausdrüde bedienen. 

Durd die Auffaffung dieſes Fortganges ald eines phyfio— 
logiſchen Prozeljes gewinnt nun der Ausdrud „Ausgleichpunkt“ 
noch eine neue Bedeutung, die von der obigen Definition einer 
Ausgleihfläcde, in der ausſchließlich das Farbenpaar Rothe 
Grün liegt, verichieden ift, infofern an derfelben alle komple— 
mentären Farbengegenjäge Theil nehmen. Dieſer Ausgleich ift 
nämlich nichts anderes ald der Begriff der Komplementarität 

(66) 


67 





oder — was daſſelbe iſt — der „Ergänzungsfarbe“ ſelbſt. Das 
Phänomen der Komplementarität iſt bereits früher beſchrieben 
und dabei die Schopenhauer'ſche Auffaſſung derſelben, wonach 
fie auf einer „Theilbarkeit der Thätigkeit der Retina“ beruhen 
fol, als zu mechanischer Art zurüdgewiejen worden.**) Biel: 
mehr gründet fi) das Phänomen offenbar auf einer zwar 
quantitativ totalen Affection der Nebhaut, die aber wejentlich 
in der Anſpannung der Nerventhätigfeit nach einer beftimmten 
Richtung hin befteht. Indem nun mit dem Fortfallen der 
Urjahe — nämlidy beijpielöweife der Firirung der rothen 
Gardine oder ded hellbeleuchteten grünen Wieſenflecks — auch 
die Wirkung auf die Nethaut plöglich aufhört, jo können die 
nad; einer beftimmten Richtung hin angeipannten Nerven nicht 
jogleich wieder in den Imdifferenzpunft (den die graue Wand, 
worauf man jeßt blidt, repräfentirt), d. h. zu O zurüdfehren, 
fondern fie müffen zunädft über diefen hinaus, eben des 
„Ausgleichs“ ihrer Schwingungsrichtung halber, in den Gegen- 
ja hinüberjhwingen, fo daß die rothe Gardine ein grünes, 
der grüne MWiefenfled ein rothed Spektrum erzeugt, die beide 
rein fubjetiver Natur find. Man kann ſich die Natur diejed 
Prozefjed dadurch veranjchaulichen, daß man die angejpannten 
Nerven mit einem gejpannten Seile vergleicht, welches, wenn 
ed in der Mitte nad) einer beftimmten Richtung hin gezogen und 
dann plößlidy lodgelaffen wird, nicht ſogleich in die frühere ruhende 
Lage zurückehrt, jondern zunächſt darüber hinaus in die ent- 
gegengejehte Richtung jchwingt und fo in immer Fleineren 
Schwingungen erft allmälig zur Ruhe kommt. Wer ein in 
diefer Hinficht empfindliche Auge befitt, kann leiht — nament» 
lich unmittelbar nad) dem Erwachen, wo die Nethaut die größte 
Empfindlichkeit befitt — an ſich jelbft die Beobachtung machen, 
dab nad ſcharfer Firirung z. B. eines hellbeleudhteten rothen 
Flecks zuerit ein grünes Speftrum erjcheint, das nach einiger 
Zeit ſich von felbft wieder in ein rothe8 und dann wieder in 
ein grünes verwandelt, bis die Schwingungsdurdhmefjer jo klein 
werden, daß die Spektren überhaupt aufhören und die Ruhe, 
d. h. Abjpannung der Nerventhätigkeit, eintritt; ein Moment, 
der nun erit die Zofalfarbe der grauen Wand erkennen läßt. 
Diefes Phänomen der rein fubjeftiven Verwandlung der Speftra 
felbft — ohne jede objektive Urſache — iſt einer der ſchlagendſten 
Beweife gegen die Newton'ſche Theorie, wonad die Entftehung 
5* (67) 


68 


der Komplementärfarben lediglich durch Abjorption der übrigen 
farbigen Strahlen, aus denen angeblidy das Licht zujammen- 
gejett fein joll, erklärt wird. Dieje Art des „Ausgleiches” 
haftet alfo jedem Farbenpaar, nicht blo8 dem von Roth» Grün, 
an, weil er dad Wejen der Komplementarität jelbit ausdrüdt, 
ift mithin mit der früheren Bedeutung dieſes Ausdruds nicht 
zu verwechjeln. — Ein Vergleich mit einem gejpannten Seil 
oder auch mit einem von einem feften Punkte frei herabhängen- 
den, mit einer Bleitugel am andern Ende bejchwerten Faden 
veranschaulicht auh die Kombination der oben erwähnten 
doppelten Schwingungsrichtung der Nebhaut. Wenn man 
nämlich den Faden, indem man die Kugel in die Hand nimmt, 
zuerft in Schwingung verjett und dann die Kugel nady einer 
Seite hin jchleudert, jo entjteht eine doppelte Bewegung, indem 
einmal die Kugel den Faden wie ein Pendel von einer nad) der 
andern Seite zieht und außerdem die Wellenihwingungen des 
Fadens jelbft fortdauern. Es entitehen dadurdy die jog. Inter: 
ferenzen in der MWellenbewegung, indem dad Marimum der 
einen Bewegung entweder mit dem Marimum oder mit dem 
Minimum der anderen zujammentrifft, wodurch — im erften 
Falle — Beichleunigung, im anderen Verlangjamung der Be— 
wegung bezw. Verjtärfung und Verminderung der Wellenhöhe 
eintritt. Analog kann man fih auch den Vorgang in den 
fombinirten Nervenfhwingungen der Netzhaut vorftellen. Die 
Phyſiker, weldye alle Ericheinungen nicht als die unbefannte 
Urſache fubjektiver Empfindungen, ſondern ald objektive 
Thatſachen behandeln, verlegen diejes rein fubjektive Moment 
der Interferenz in das Licht felbft, wobei fie die verjchiedenen 
Wellenlängen und deren Durchmeſſer auf bundertiaujendftel 
Theile eines Zolled berechnen zu fönnen glauben und jogar 
genau nachweijen, an weldyen Punkten die Marima und Minima 
der Lichtinterferenzeu zufammentreffen! — Kehren wir jedoch zu 
unjerem Thema zurüd. 

In dem früher gejchilverten Fortjchritt von Gelb über 
Drange nad Roth und von diejem über Violett zu Blau, end- 
ih von dieſem über Grün zurüd zu Gelb, wodurd der 
Farbenkreis in fi zum Abſchluß fommt, habe ich nur deshalb 
die Grundfarben namhaft gemacht, weil dieje gewifjermaßen 
fefte Knotenpunfte der Entwidlung bilden: wir fommen nämlich 
von der hellften Farbe (Gelb) zunächſt zur wärmften (Orange), 

(68) 


69 


dann zu der edelften unter den Urfarben (Roth), dann zur 
dunkelſten (Violett), endlidy zur Fälteften (Blau), und von diejen 
über die wiederum edeljte der drei fomplementären Grundfarben 
(Grün) zurüd zur hellſten (Gelb). Selbſtverſtändlich ift aber 
diefer Fortjchritt nicht ald eine Reihe von Sprüngen aufzufafien, 
fondern ald durchaus Fontinuirlich; denn da die Zunahme der 
Trübung jelbft als eine ftetige zu denfen ift, jo muß aud) ihre 
Wirkung jowohl auf die Veränderung der Helligfeitd- wie der 
MWärmeintenfität eine ftetige jein, oder: zwiichen Gelb und Drange 
— und ebenfo zwijchen Drange und Roth u. j. w. — liegt eine 
unendlihe Reihe von Abftufungen, die ſämmtlich ald befondere 
Farbenericheinungen vom Auge empfunden werden. Hierin, d. h. 
in dieſer Stetigfeit der Uebergänge von einer Farbe zur andern, 
jowie auch, innerhalb derjelben Farbe, von einer Nuance zur 
andern, befit die Farbenffala eine gewiſſe Aehnlichfeit mit der 
mufifalifchen Tonleiter. Denn auch die Töne ſcheiden ſich nicht 
feftbegrenzt von einander ab, jondern bilden eine fontinuirliche 
Neihenfolge, wovon man fich leicht überzeugen fann, wenn man 
z. B. auf einem Saiteninftrument, das fein abgetheiltes Griff: 
breit hat, wie die Violine, eine Saite anſchlägt und dann mit 
dem Finger vom Ende des Griffbretts herunterftreichend, fie 
allmälig verkürzt, wodurch ein fontinuirlich fid) erhöhendes Heulen 
bervorgebradht wird; auch die menſchliche Stimme vermag einejoldye 
fontinuirlihe Zonfolge bervorzubringen. — Gleihwohl haben 
die fieben Töne der Leiter und innerhalb diefer wieder einzelne 
beftimmte (Zerz, Duinte, Dftave) ihre Berechtigung, in ſpecifiſcher 
Weiſe ald „Töne“ bezeichnet zu werden, weil ihre Beziehung 
zu einander auf einem bejtimmten Zahlenverhältnit ihrer Schwin- 
gungen beruht. Se rationeller diejed Verhältniß ift, deſto har— 
monijcher Fündigt fi) ihre Beziehung an. Aber der große 
Unterſchied zwifchen der Farbenſkala und ZTonleiter iſt der, dab 
bei der letteren jeder Ton ald „Urton“, d. h. ald Bafis für die 
Erzeugung einer joldyen Leiter fungiren kann — hierauf beruhen 
die verjchiedenen jog. „Tonarten“, — während in der Farben: 
jfala die Urfarben ein Eonftante® und identifhes Syſtem 
bilden. In der mufifaliihen Zonleiter z. B. kann der Ton g, 
der doch eine ganz bejtimmte Schwingungszahl hat, einmal als 
Quinte in der Tonart Cdur, ein anderes Mal als Oktave bei 
der Zonart Gdur fungiren, während reined Roth immer dafjelbe 
Roth bleibt und niemald die Stelle deö Gelb oder Blau ein- 


(69) 


70 


nehmen fann. Auf diefer fundamentalen Differenz zwiſchen 
Farben und Tönen beruht auch die Unmöglichkeit, die beiden 
Stalen — troß mandyer Analogie zwiichen Farbe und Ton — 
in einen widernatürlichen Parallelismus hineinzuzwängen.“*) 
Daß dad auf die Natur der Farben jelbit, d.h. auf das 
feftbegrenzte Verhältniß, welches zwiſchen ihrer Helligfeitö- und 
ihrer Wärmeintenfität herrſcht, fidy gründende Syitem der Farben 
nur durch jene fech8 feften Punkte, die ich ald „Grund-⸗ oder ein- 
fahe Farben“ bezeichnet habe, repräfentirt wird, läßt ſich ge— 
wifjermaßen mit matbhematifcher Strenge beweijen, nämlich auf 
folgende Art: bezeichnet man die Helligfeit mit H, die Wärme 
mit W, ihre beiderjeitigen Minima an Intenfität mit m, ihre 
Marima mit M, jo find zwiichen beiden, fich, wie gezeigt, nur 
theilweije dedende Skalen, folgende Kombinationen möglid: 
MH (Gelb)— MW (Drange) — mH (Biolett) — mW (Blau) 
größte Helligkeit — größte Wärme — größte Dunkelheit — größte 
Kälte. Diefe vier Farben fallen aljo in die ſich dedenden Partien 
der beiden Skalen, während nun die beiden Ausgleichfarben, welche 
in die ſich nicht dedenden Theile derjelben fallen, Roth und Grün, 
noch binzutreten, wovon Roth etwas dunfler, aber auch wärmer 
ald Grün, diejes etwas heller, aber auch fälter ald Roth ift, 
jo daß fie durch diejen gegenfeitigen Audgleih zujammen das 
einzige fomplementäre Farbenpaar ‚bilden, defjen Theile genau 
in die Mitte zwijchen beiden Skalen fallen. Damit haben fich 
diefe 6 einfachen Farben ald die wahren Grundfarben, d. h. als 
diejenigen erwieſen, auf deren ſyſtematiſche Beziehungen zu 
einander der ganze Farbenfreid mit feinen vielen Millionen von 
Farbenuancen fi gründet. Es ergiebt fich died auch ſchon 
daraus, dab zu allen Zeiten und, joweit mir befannt, bei allen 
fultivirten Völkern nur für diefe ſechs Farben beftimmte und feite 
Benennungen eriftiren, über deren jpecifiihe Bedeutung Feinerlet 
Zweifel herrſcht: „Gelb“, „Drange”, „Roth“, „Violett“, „Blan”, 
„Grün“, während die Namen der dazwilchen liegenden Miſch— 
farben entweder durh Zufammenjeßung dieſer Benennungen 
(„Blaugrün“, „Gelbgrün“, „Rothviolett“ u. |. w.) oder durdy 
Namen, die von beftimmt gefärbten Naturdingen entlehnt werden, 
z. B. Purpur, pensee u. ſ. w. bezeichnet werden. Ja, der ſprachliche 
Inſtinkt unterjcheidet jogar zwijchen Urfarben und Grundfarben, 
da nur jene (Gelb, Roth, Blau) jpecifiihe Farbenbenennungen 
find, während „Orange“ und „Biolett”" ebenfalld von der Farbe 
(70) 


71 


beſtimmter Naturdinge entnommen ſind.““) Nur zwei Farben 
machen hiervon eine Ausnahme, nämlich „Grün“, das, obwohl 
nicht Urfarbe, dennoch eine ſpecifiſche Farbenbenennung iſt, und 
„Braun“ dad, obwohl nur eine Nuance von einer Grundfarbe 
(dunkle Drange) diefe Ehre mit Grün theilt. Dies erklärt fidy 
daraus, daß „Grün“, wie oben ausgeführt, feines vollflommenen 
Ausgleichs zwilchen Blau und Gelb halber und ald Komplement 
zu der edelften Urfarbe (Roth), ald Grundfarbe jelber den edeliten 
und reinften Charakter und daher faft den Werth einer Urfarbe 
befigt, während „Braun“ unter allen dunklen Nuancen allein 
die höchite Wärmeintenfität behauptet. Wir werden indeh [päter 
jehen, daß auch die drei primären Mijchfarbenpaare ihre be— 
flimmten Functionen in dem Syſtem des Farbenfreifes befiten, 
jofern fie theild (wie ro-bn und rv-gn) an den Endpunften 
der Halbirungddurdmefjer für die Helligfeitd- und Wärme: 
intenfität liegen, theild (wie bv und go) die ertremen Produkte 
einerjeitd der höchften Kälte und Dunfelheit, andererjeitö der 
höchſten Wärme und Helligkeit im Farbenfreife repräjentiren. 
Demzufolge können wir die fämmtlichen 12 Farben unieres 
Sarbenfreijes ald „Hauptfarben“ bezeihnen, unter 
denen fihb 6 Grundfarben und unter dieſen wieder 
3 Urfarben unterjheiden lajfen, welche aljo ein drei» 
faches Rangverhältniß zwijhen den Farben daritellen. 

Daß fi aus der Differenz zwilchen der Helligfeitö- und der 
Wärmeintenfität der Farben wichtige Konjequenzen ſowohl für die 
genauere Beitimmung ihrer harmonijchen Beziehungen zu einander, 
wie für die Formulirung eined Geſetzes der Farbenharmonie 
ergeben müfjen, dürfte jchon jetzt einleuchten, da wir jene bei- 
den Elemente jelbft in ihrer Beziehung zu einander ald durch— 
aus gejegmäßig und nothwendig erfannt haben. Ehe ich jedod) 
auf diefe Konjequenzen übergehe, ift noch ein Punkt zu erledigen, 
der bereitö mehrmals beiläufig zur Sprache gefommen ift, aber 
bisher nicht genauer erörtert werden konnte, nämlich die That- 
Jade, daß die durd Verbindung fomplementärer Far: 
ben eintretende Aufhebung jeder Farbenwirkung, alfo 
Sarblofigkeit, in dem einen Falle als „Weiß“, ineinem 
andern ald „Schwarz”, die hier die Surrogate für reined 
Licht und reine Finfterniß bilden, zur Erjcheinung gelangt. 

Dieje Erjheinung ift, da Schwarz und Weib dody offen- 
bare Gegenfäße bilden und zwar binfichtlid der Helligkeit in 


1) 


72 


viel ertremere Weile als irgend ein Farbenpaar des Farben- 
freijed, jo auffallend, dab Göthe gegen allen Augenfchein die 
Thatfache, wenigſtens binfichtlid der Erzeugung des Weißen, 
geradezu leugnete, indem er behauptete, ſelbſt fomplementäre 
prismatiſche Farben, wenn fie übereinander geführt werden, 
fönnten nur ein „niederträchtige8 Grau“, aber fein Weiß her— 
vorbringen, alle andern aber nur Schwarz, weil bei Neutrali- 
jation ded Farbengegenſatzes durch Miſchung fomplementärer 
Farben nur das jeder Farbe anhaftende Schattige (dad axıep0v) 
übrigbleiben fünnte. Schon Schopenhauer beftreitet die, ver- 
mag aber die Ericheinung felbft nur in ſehr gezwungener und 
ungenügender Weiſe durch feine Auffafjung der dabei in Frage 
kommenden Affection der Augennerven ald „voller Thätigfeit und 
voller Unthätigfeit der Retina“ zu erklären, während dieſe Er- 
flärung auf Grund meiner Theorie von der Fähigkeit der Neb- 
baut, divergirende Nervenfchwingungen zu fombiniren, ſehr ein- 
fach und jo zu jagen durch ſich felbft ewident ift. Betrachten 
wir zunächft das Thatſächliche, wobei e8 ſich empfehlen wird, 
die beijpielöweije anzuführenden Fälle in einer gewiſſen Ord— 
nung, vom Materiellen zum relativ Smmateriellen aufiteigend, 
porzubringen. Auch ift zu bemerken, daß, wo im Folgenden von 
zwei Farben die Rede ift, ftetd nur fomplementäre und 
aud vollfommen reine zu verftehen find, da nur bei diejen 
die Erſcheinung vorfommt. 

A. Hiernady entjteht Schwarz: 

1. Wenn zwei nicht transparente farbige Körper 
(Pigmente) troden, in pulverifirter Form, aljo 
rein mehanifh mit einander gemifht werden. Da 
die Bulverifirung indeß niemals bis zur atomiftifchen Punktualt- 
tät gehen kann, jo wird auch nicht völlige Farblofigfeit, d. h. 
reined Schwarz, erzeugt werden, und nur der Totaleindrud 
wird, mamentli) wenn man die Miſchung nidt aus zu 
großer Nähe betrachtet, ein fchwärzlicher, aber ohne Anklang an 
Farbigfeit, fein. — 

2. Wenn diefe beiden Pigmente, z. B. Karmin 
und Saftgrün, in flüffigem Zuftande gemifcht werden. 
Obwohl auch hier nur eine mechaniihe Verbindung ftatt- 
findet, wird die Miſchung doch viel vollftändiger, daher das 
Refultat, die Erzeugung ded Schwarzen, ziemlich volllommen 
fein. — 

(72) 


73 


3. Wenn eine nicht ganz paftofe, alfo etwas durch— 
jheinende Farbe über eine andere, paftofe, gedrudt 
wird. Auch bier iſt das ſich ergebende Schwarz, ſoweit dies 
überhaupt bei ftofflihen Farben möglich ift, ziemlich voll 
fommen farblos. — 

4. Wenn ein Lidhtftrahl dur einen transparenten 
farbigen Körper, 3.8. ein gefärbtes Glas, auf eine in 
polarem Gegenjaß zu diejer Färbung ftehende nicht 
durchſichtige Farbenfläche fällt. Hier erjcheint die letztere 
ebenfalls ſchwarz, obwohl der Lichtitrahl, welcher troß jeiner Fär- 
bung durch das Glas immer einen verhältnigmäßigen Grad von 
Helligkeit behält, der von ihm getroffenen Farbenfläche und folglich 
dem Schwarz einen Theil diejer Helligkeit mittheilt. So erjcheint 
eine rothe Fläche durch ein grüned Glas, eine blaue durch ein 
orangefarbenes, eine violette durch ein gelbed gejehen — oder 
umgekehrt — ſchwärzlich, während nicht fomplementäre Farben 
nur die betreffende Miſchfarbe geben, aljo z. B. eine blaue Fläche 
durch ein gelbe Glas (oder umgekehrt) gejehen oder beleuchtet 
— denn die Wirkung ift diejelbe, ob man das Glas vor das 
Auge hält und das Licht direft auf die Farbenfläche fallen läßt, 
oder ob man das Licht durdy das Glad auf die Fläche jcheinen 
läßt und diefe unmittelbar betradytet — Grün gefärbt erjcheinen 
wird. — 

5. Wenn zwei durdhfichtige Körper polarer Fär— 
bung mit einander verbunden werden und der Licht— 
ſtrahl durch beide auf eine neutrale Fläche fällt; 3. 8. 
bei Anwendung von zwei hinlänglich und gleidy ftarfen Gläfern, 
wovon dad eine roth, dad andere grün ift. Sa, eine hinter 
joldye Gläjer gehaltene Flamme verjchwindet faſt gänzlich dem 
hindurch jchauenden Auge, während dad Sonnenlicht nur einen 
ſehr geſchwächten, farblojen und jchwärzlichen Schein zeigt. 
Dergleichen kombinirte Gläfer kann man fich daher in zwed- 
mäßiger Weile bei Beobadytung einer Sonnenfinjterniß be— 
dienen, weil fie die direkte Betrachtung der vollen Sonnenſcheibe 
geftatten. Verbindet man dagegen zwei grüne mit einem rothen 
Glaſe oder umgekehrt, oder hat das eine von beiden Gläjern 
die doppelte Stärfe, jo hebt fich das einfache Grün, bezw. Roth, 
mit dem andern einfachen Roth, bezw. Grün, auf, jo daß die 
Flamme in der quantitativ überwiegenden Farbe, d. h. in dem 
einen Falle tiefdunfelgrün, im andern dunfelroth erjcheint, ob— 

(3) 


174 





wohl doch hier noch ein weitered Farbenquantum, d. h. ein ver» 
mehrtes Schattiged, hinzugefügt wird. — 

6. Sogar wenn man eine prismatiſche Farbe mit 
einem trandparenten Körper von polarer Färbung, 
d. b. den rothen Streifen eines pridmatijhen Spek— 
trumö mit einem grünen Glaſe bededt oder durd 
dajjelbe betrachtet, oder aud, wenn jie durch das— 
jelbe bindurdy beleuchtet wird, erjcheint die Stelle eben— 
falls ſchwarz. Das Erperiment ift ein abermaliger Beweis 
gegen die Newton'ſche Theorie von der Zujammenjeßung des 
reinen Licht aus fieben homogenen farbigen Lichtern; denn 
biernady müßte die Stelle weiß ericheinen, da ja durdy das hin- 
zugefügte Komplement die fieben Farben wieder vereinigt find. 

Möglicher Weiſe giebt ed nody verjchiedene andere Kombi» 
nationen, weldye Schwarz hervorbringen, 3. B. die Verbindung 
farbiger Spiegelgläfer mit den Farben undurdyfichtiger und 
transparenter Körper u. |. mw.; immer aber — und dies be- 
gründet allein den Unterſchied zwijchen der [hwarzen und 
weißen Farblojigfeit — wird im erften Falle ald wejentlich 
bejtimmender Faktor der Wirkung die Materialität der Färbung 
eine Rolle jpielen, d. h. es wird nicht — wie bei der gegen: 
jeitigen Dedung rein prismatiicher Farben polarer Färbung — 
eine durdy doppelte Reflerion bewirkte Rückbrechung des Lichts 
in die urjprünglide Richtung des Lichtftrahls . ftattfinden und 
in Solge deſſen Weib erzeugt werden, fondern ed wird eine 
Refraction ftattfinden, weldye durdy einen — fei ed, wie bei 
transparenten Körpern partiellen, ſei ed, wie bei undurdyfichtigen 
Körpern, totalen — Widerftand der Materie nothwendig 
auch zu einer, jei es partiellen, jei ed totalen Ertödtung des 
Lichts, d.h. zu Schwarz führen muß. — 

Als jcheinbarer Gegenbeweis dagegen — nämlidy ald angeb— 
licher Beweis dafür, daß auch die Verbindung oder Miſchung ftoff- 
licher Farben den Eindrud des Weißen hervorbringe — pflegt die 
befannte Drehſcheibe angeführt zu werden, auf welcher ſämmt— 
liche Grundfarben in der durch den Regenbogen vorgezeichneten 
Drdnung aufgetragen find, jo daß fie einen in ſich abgejchloffenen 
Sarbenfreis bilden. Dieſer Farbenkreis hat aber nicht blos 
ein ſchwarzes Gentrum, jondern ift auh — dies ijt wohl 
zu bemerfen! — mit einem breiten ſchwarzen Streifen 
umgeben. Dreht man nun diefe Scheibe, die in der Mitte 

(74) 


75 


auf einem Stift befeftigt ift, mit möglichfter Gejchwindigfeit um 
dieſen Mittelpunkt, fo ſoll, weil dabei angeblidy die Neghaut in 
annähernder Gleicyzeitigfeit von ſämmtlichen Farben getroffen 
wird, der Eindrud der des Weißen fein. Daß dies famofe 
Erperiment nichts ald ein findijcher, ad majorem Newtoni 
gloriam erfundener Humbug ilt, kann indeß fo leicht nachge— 
wiejen werden, dab es wahrhaft erftaunlich ift, wie noch heute 
in den phufifaliichen Lehrbüchern die lernbegierige Jugend damit 
im eigentlichen Sinne des Worts hinter’8 Yicyt geführt werden 
darf; ja, man ift verjucht, diefe Täufchung geradezu ald perfide 
Unverjhämtheit zu bezeichnen, wenn man bedenkt, dab jchon 
Göthe vor länger ald einem halben Sahrhundert in jeinen 
Xenien ſich darüber luftig gemacht hat.““.) Was nämlich 
den Eindrud des jcheinbaren Weib hervorbringt, das Göthe 
bei einer andern Gelegenheit mit vollfommenem Recht ein „nieder- 
trächtiged Grau“ nennt, ift nicht die Vermifchung der Farben, 
d. h. ihre Neutralifation zum weißen Licht, fondern — was 
aber niemals hervorgehoben wird, und darin liegt die Perfidie 
— lediglih der Gegenjab zum Schwarz des Gentrumdß 
und der Umpgrenzung. Hierdurdy allein erjcheint das thate 
jählih erzeugte umbeftimmte Grau weißlich. Läßt man daher 
das jchwarze Gentrum und die jchwarze Umgrenzung, die ja für 
das angeblich zu erzielende Reſultat indifferent find, fort, oder 
audy nur eins von beiden, jo demasfirt ſich das angebliche 
Weiß jofort ald das, was ed wirklich ift, nämlich als Schmuß- 
farbe; und zwar am ftärfjten in der Nähe der Peripherie, wenn 
der breite ſchwarze Rand fehlt, dagegen in der Nähe des 
Gentrums, wenn died nicht ſchwarz ift, und gerade hierin liegt 
der Beweis für die Täufchung. 

B. Weiß entfteht ausjchließlich nur bei Verbindung von 
Farben polarer Natur, weldye aus einer Reflerion (nicht Refraction) 
entftehen; eine Bedingung, die am vollfommenften bei Dedung 
primatifcher Farben durdy ihre polaren Gegenjäße erfüllt wird. 
Hierauf beruht audy die von Newton ald möglich geleugnete 
Erfindung ded achromatijchen Refraktors. Da bei der Brechung 
(durdy dad Prisma) immer zugleih aud eine Trübung und 
in Folge deſſen jowohl eine Schwächung wie eine Verlang— 
jamung des Lichtes ftattfindet, jo werden diejenigen Strahlen, 
welhe mehr und öfter gebrodyen werden, auch mehr getrübt, 
d. h. fowohl geſchwächt wie verlangjamt, aljo zugleich verbunfelt 


(75) 


76 


und erwärmt werden müffen. Bei konvex gejchliffenen Gläjern 
werden die Strahlen am Rande nothwendig ftärfer gebrochen 
und zwar zweimal, beim Ein- und beim Austritt. Es folgt 
nun aber aus dieſem Geſetz der Brechung als nothwendige 
Konfequenz, daß, je weiter fidy ein Strahl von feiner urjprüng- 
lichen Richtung entfernt, er auch um fo dunfler erjcheinen, je 
mehr er aber durdy Rüdbrechung in feine urfprüngliche Richtung 
zurüdgeführt wird, er um fo mehr an Helligkeit wiedergewinnen 
muß. Nun find aber die beiden Wirkungen der Trübung, näm- 
ih Schwächung und VBerlangiamung, ald quantitative und 
qualitative Modiftcationen des Lichts, nicht identiidh, d. h. Ver— 
dunfelung und Erwärmung ftehen, wie oben ausführlich erklärt, 
nicht in parallelem Berhältniß, daher auf die Marima, be— 
ziehungsweife die Minima der Helligfeitd: und der Wärme— 
intenfität nicht zufammenfallen. Hieraus folgt, daß die durch 
die Brehung am Rande ded Konverglajed entftehende Farbe 
nicht einfach fein Fann, jondern ſich in eine warme und eine 
belle Nüance theilen muß; daher erklärt ed ſich, daß zunächſt 
bei dem Konverglafe ein gelbrother Rand mit gelbem Saum 
ericheint. Bei dem Konfavglad findet nun aber die Brechung 
in entgegengejeßter Richtung ftatt, in Folge defjen die polaren 
Farben, nämlih ein blauer Rand mit violettem Saum, ent- 
ftehen. Werden nun beide Gläfer mit einander verbunden, je 
entjteht eine doppelte Dedung, bei welcher jedesmal eine Kom— 
bination von Helligfeitö- und Wärmeintenfität ftattfindet, indem 
das belle und warme Gelbroth des Konverglafed auf dad dunkle 
und falte Blau des Konfavglajed und zugleich das helle und 
falte Gelb des SKonverglajes auf das dunkle und warme Violett 
des Konfavglajes fällt. Es findet alfo eine doppelte Neutrali= 
jation ftatt: nämlih von Wärme und Kälte einerfeitd und von 
Helligkeit und Dunkelheit andrerfeitd, welche ſich gegenfeitig zu 
0, d. b. bier zu Weiß, aufheben müffen.*®) 

An fi ift die Thatfache, dab je zwei Tomplementäre 
Farben, als Einheit gejebt, vollkommene Farblofigfeit und zwar 
in ertremer Weiſe: entweder ald Weiß oder Schwarz, erzeugen, 
auch injofern von Intereffe, als damit der augenſcheinliche Ber 
weis von der Fdentität diefer beiden „Farben“ im Gegenſatz zu 
den Farben im eigentlichen Sinne geliefert wird. Als Surrogate 
von Licht und Finfternig bethätigen fie zugleich, daß abfolutes 
Licht und abjoluter Mangel defjelben in gleicher Weije farblos 


(76) 


17 


und kalt find; ein Beweis, daß nicht die Helligkeitsdifferenz, 
d. h. das „Schattige” Göthes, den wejentlichen Character der 
Farben und ihre Entjtehungsurjache begründet, jondern lediglich 
ihre Wärmedifferenz, allerdings in Verbindung mit der Hellig- 
keitsdifferenz. Der Grund aber, aus welchem in einem Falle 
Weiß, im andern Schwarz aus der Vereinigung fomplementarer 
Farben entfteht, und die oben ald Unterfchied von Reflerion und 
Nefraction bezeichnet wurde, beruht einfady darin, dab Weiß 
nur dad Rejultat eines phyfiologiichen, Schwarz dagegen außer— 
dem das Reſultat eined materiell phufifaliihen Prozeſſes ift. 
Mit andern Worten: Die pridmatifchen Farben, jowie alle 
Reflerericheinungen überhaupt, haften nicht an den Dingen, 
jondern eriltiren nur im Auge als differente Nervenjchwingungen, 
wogegen die den Körpern ihrer Natur nad) anhaftenden Farben 
(die ſog. „hemijchen" Farben Goethes, die ich Eonftante Farben 
nenne) zwar im Auge ebenfalld ald beftimmte Nervenſchwingungen 
eriftiren, zugleich aber auch objektive Bedeutung haben, jofern 
fie die Fonftantsmaterielle Urfache der Farbenempfindung find. 

Die prismatifchen Farben find deshalb ausſchließlich phyſiolo— 
giicher Natur, weil fie auf einer reinen, nur durch abjtrafte Trübung 
bewirften Modifikation der Lichtjubftang beruhen, welcher eine 
analoge Modifikation der Nervenjubitanz der Nethaut — mag 
man dieje nun ald Schwingung, Undulation oder fonft wie bes 
zeichnen — entſpricht. Da nun diefe Nervenjchwingung — 
wie die Entjtehung des fubjeltiven fomplementaren Spektrums 
. nad Firirung einer bejtimmten Farbe beweift — eine Gegen 
jäßlichkeit der Richtung involvirt, melde durch das Bedürfniß 
des Ausgleichs gefordert wird, jo ift einleuchtend, daß, wenn 
ein ſolcher Ausgleich von vornherein, d. h. durdy Vereinigung 
der Gegenfäbe, oder — was dafjelbe ift — durch gleichzeitige 
Gegenwirfung zweier Schwingungsrichtungen der Neghautnerven 
ftattfindet, eö überhaupt gar nicht zur Schwingung fommt, jo 
daß nicht die eine oder die ihr entgegengejegte Farbe, jondern 
ihre Neutralijation zum indifferenten Lichteindrud bewirkt werden 
muß. Bei der Eonftanten Farbe dagegen fann eine ſolche Neu- 
tralijation zur reinen Helligfeit nicht ftattfinden, weil fie eben 
fonjtant ift, d. h. nicht durdy die Vereinigung mit ihrem Gegenjat 
verihwindet. In Folge deffen wird zwar auch eine Indifferenz 
hervorgebracht, weil es fich doch immer um ein polared Farben» 
paar handelt, aber fie kann ald Ausgleich der Gegenſätze nicht 

(m) 


78 


zu reiner Lichtempfindung führen, welche nur aus einer gegen- 
feitigen Verzehrung der polar Entgegengejeßten hervorzugehen 
vermag, jondern, da die fonftante Farbe eine bleibende ift, jo 
fann fie audy nicht verzehrt werden, und es kann höchſtens, 
durch die Einwirkung der ihr polar entgegengejeßten, eine nega— 
tive Neutralijation des Lichts, d. h. eine Ertödtung defjelben, 
aljo der Eindrud des Schwarzen, die Folge jein. 

Der Unterjchied zwilchen der Erzeugung ded Weißen und 
Schwarzen, die beiderjeitd auf einer Neutralijation des polaren 
Gegenſatzes beruht, ift aljo kurz einerfeits ald Reftitution des 
Lichts, andererfeitd ald Ertödtung defjelben zu faffen, und er 
beruht, wie bemerft, lediglih auf der Differenz zwiſchen der 
rein phofiologifchen Farbenempfindung und der phufifalifchen, 
oder, wenn man will, materiellen und Eonftanten, nämlich der 
Materie der Körper konſtant anbhaftenden Farbenerjcheinung. 
Wo daher irgendwie bei der Farbenerzeugung die ftoffliche 
Natur der Körper eine Rolle jpielt, kann bei der Verbindung 
fomplementärer Gegenfäge immer nur Schwarz ftatt Weiß ent- 
ftehen. Wenn bier von einer „Reftitution” und „Ertödtung“ 
des Lichts die Rede ift, jo braucht wohl nicht hervorgehoben zu 
werden, dab dieje Auödrüde cum grano salis, d. h. nicht im 
abfoluten Sinne zu nehmen find; jondern da in allen Fällen 
immerhin eine Trübung, d. h. eine Bejchränfung, ſowohl nad) 
der pofitiven wie nach der negativen Seite hin jtattfindet, jo 
entjtehbt weder völlige Reftitution noch völlige Ertödtung des 
Lichts, d. b..Finfterniß, jondern nur Weib und Schwarz, d. h. 
die Surrogate von Luft und Finfternißt°). 

Diefer Erklärung des Phänomens, namentlich hinfichtlich 
der Entjtehung ded Weiben, die oben ausſchließlich einem 
phyfiologiichen Prozeß zugeichrieben wurde, jcheinen num einige 
Beobachtungen zu wideriprechen, die ich auch deshalb anführen 
will, weil fie an fidy von hohem Intereffe find, injofern fie das 
Geſetz der Neutralifation in augenjcheinlicher Weije beftätigen. 
Der obige Sat nämlich, daß, wo irgend die Materialität der 
förperlihen Sarbenericheinung ſich an der Wirkung betheiligt, 
niemald im gegebenen Falle Weiß, jondern immer Schwarz daß 
Refultat der Verbindung polar entgegengejegter Farben jein 
müfje, erleidet anfcheinend durch folgende Thatſachen eine Be— 
Ihränfung: 1. Eine hellviolette Blume, aljo ein Gegenftand von 
fonftanter Farbe, z. B. die Blüthe des jpanifchen Flieders, er- 


(78) 


icheint bei gelbem Lampenlicht, ja felbft ſchon im Mondlicht, 
weiblich entfärbt (nicht ſchwarz). Die Farbenveränderung felbft 
erfärt fi aus der Neutralifation des Violetts durdy feinen 
fomplementären Gegenjat (Gelb). 2. Wenn man auf einen 
Spiegel von blauem Glaſe ein orangefarbened Licht fallen 
läßt, wo aljo offenbar eine Berbindung einer ftofflichen 
Sarbenerjcheinung mit einem farbigen Licht ftattfindet, ent» 
ſteht ebenfalld nit Echwarz, fondern ein ſchwaches Weiß. 
3. Bejonders interefjant aber ift die jchon von Schopenhauer 
angeführte Heritellung des weißen Glaſes aus Grün und 
Roth. Urſprünglich ift nämlich, wie befannt, aller Glasfluß 
grün, wovon der Eijengehalt dejjelben die Urſache ift. Um dieſes 
Grün nun herauszubringen, d. h. um ed zu Weiß zu neutralifiren, 
bat man in empiriicher Weile das Mittel gefunden, dem grünen 
Glasfluß Braunftein, d. h. ein Manganoryd, hinzuzujegen, 
welches, wenn ed zum bereitö weißen Glaje hinzugefügt wird, 
dafjelbe rothviolett färbt, während ed den grünen Glasfluß 
entfärbt, jo daß dad Glas wei erjcheint. Sein Roth nämlich 
neutralifirt, wenn ed im richtigen Verhältniß dem grünen Glas» 
fluß beigemifcht wird, das Tomplementäre Grün des lehteren, 
und das Glas erfcheint farblos, d. b. ald durchſichtiger Körper 
gewährt ed nun dem Licht freien Durchgang, ohne ferner 
jeine Subftanz zu modificiren. — Man fieht aber leicht, worin 
der Grund diejer jcheinbaren Abweichungen von der Regel liegt: 
in allen diejen Fällen handelt es fidy nämlid um Kombination 
von transparenten oder jpiegelnden Körpern oder do um 
ſolche, worin die Helligkeit des Lichted zwar gedämpft, aber nicht 
völlig aufgehoben wird. Die daraus entitehende Farblofigkeit 
fann daher nicht zur Lichtintenfität, aber audy nicht zur völligen 
Ertödtung feiner Helligkeit führen. — Hiermit können wir dieje 
Erörterung über den Grund des Unterfchieded zwiſchen der Ent: 
ftehung ded Weißen und Schwarzen aus der Verbindung kom— 
plementarer Farben und damit über die wahre Urfache der Ent: 
ftehung der Farben überhaupt abjchließen, um und zu dem 
zweiten Theil unfrer Aufgabe, nämlich zur Darlegung der aus 
dem entwidelten Princip fidy ergebenden Konlequenzen für die 
Aufitellung eined Gejehes der Farbenharmonie zu werden. 


— — — — — 


(79) 


Die zweite Abtheilung: „Das Gejet der Farbenharmonie in 

feiner Anwendung auf das Gebiet der Kunjtinduftrie. 

Mit einer Farbentafel.” befindet fih in Heft 415 dieſer 
Sammlung. 





Anmerkungen. 


1. (zu Seite 1.) Kür diejenigen 2ejer, welche wenigftens nach 
einer allgemeinen Vorftellung von dieſen Unterjchieden Verlangen tragen, 
bemerfe ih, daß zunächſt der Unterjchied zwiſchen „fubjeftiver* und 
„objektiver* Farbe darin beruht, dat die erftere Bedeutung fih durchaus 
auf die Nervenempfindung des Auges beſchränkt, d. h. die Wirkung 
einer (vorläufig unbekannten, wenn überhaupt erfennbaren) Urſache ift, 
welche ſich ai die Natur des Lichts gründet, während dieſe Urſache 
jelbft, auf welche aus jener Wirfung geichloffen wird, objektive Farbe 
genannt wird; kurz: die jubjeftive Farbe ift Barbenempfindung, bie 
objektive — — Beide find übrigens nicht immer iden— 
th, wie das ſog. fomplementäre Spektrum beweift, d. h. diejenige 
Farbenempfindung, weldhe im Auge hervorgebradt wird, wenn daſſelbe 
eine Zeitlang eine beftimmte Farbenerſcheinung betrachtet (z. B. ein 
ein Stück ſcharf von der Sonne heleuchteter Grasfläce) und dann plöß- 
ih auf eine neutrale Fläche (3. B. eine graue Wand) blidt, in welchen 
Falle dann dafjelbe Stüd, aber in dem — — Farbenton, 
(alſo hier roth) ſich darſtellt. Das Grün der Wieſe iſt daher zunächſt 
als Erſcheinung objektiv, ſodann als direkte Augennervenempfindung 
—— das Roth des darauf folgenden Spektrums dagegen wur 
jubjeftiv. 

Außer diefem allgemeinen Gegenjag zwiſchen ſubjektiver und objef- 
tiver Farbe verfteht man dann unter „Karben“ aud die materiellen 
Farbftoffe jelbft, 3. B. Zinnober, Indigo, Ultramarin u. f. f., welde 
theils mineralijcher, theild vegetabilifcher Art find und „Pigmente“ ge- 
nannt werden. Was nun die im Text erwähnten Unterſchiede der objef- 
tiven Farbe — und zwar zunächſt zwijchen hemijcher und phyjifa- 
liſcher Farbe — betrifft, fo verfteht man unter der erfteren die einem 
Gegenftande als diejem beftimmten ftofflihen Dinge ad» oder inhärirende 
Farbe, in welche Kategorie alfo nicht nur die erwähnten Farben der 
— ſondern auch die der Blumen, überhaupt was man unter 

aturfarben der Dinge begreift, gehören. Phyſikaliſche dagegen 
heißen dieſelben Farben, man ſie unter dem Geſichtspunkt 
ihrer qualitativen Differenzen betrachtet, 3. B. wenn man das Grün als 
eine Miihung von Blau und Gelb oder ald Komplement von Roth 
definir. Das Verhältniß zwiihen der chemiſchen und phyſikali— 
iben bezw. phyſiologiſchen Farbe (d. h. der phofifaliichen in ihrer 
Beziehung auf die Nervenempfindung des Auges) bildet den mejent- 
lihften Differenzpunft zwijchen der Theorie Newton's und Goethe's. — 
Letzterer unterjcheidet dann weiter die letzteren noch 1. als dioptriſche 
oder ſog prismatifche (Regenbogen-) Karben, 2. als durch Abiorption 
und damit verbundene partielle Reflexion entftehende katoptriſche, 
3. ald durch ſog. „Interferenz des Lichts“ bei der Reflexion ent» 
ſtehende epoptiſche, 4. als im gleichem Kalle bei der Beugung 
des Lichts entftehende paroptifche, 5. endlich als im gleihem alle 
duch Polarifirung des Lichts entftehende entoptijche Farben. 

2. (zu ©. 3.) Geruch und Gejhmad fann man, im Unter- 
ihiede von der mechaniſchen Natur des Taſtſinns, chemijche Sinne 

XVII. 409. 410. 6 (81) 


82 


nennen. Ihre Empfindung beruht auf der Auflöjung ter Materie; 
namentlich findet dies beim Geſchmack ftatt, der daher auch weſentlich 
der für die Emährung, d. h. Transjubftantiation der Stoffe in dem 
Organismus des ſchmeckenden Subjekts, wirkende Sinn ift. 

3. (u ©. 3.) Das Weihe und Harte, das Warme und Kalte 
n. S. f. bat ohnehin mit der Kormvorftellung, die durch dad Auge ver- 
mittelt wird, nichts zu thun; ein Beweis, daß dieje leßtere, im Ver— 

leid mit der durch den Taſtſinn vermittelten, abftrafter Natur ift. 

ndrerjeits ijt die durch den Zaftiinn vermittelte Formvorſtellung, gegen- 
über der durch das Auge vermittelten, in jo * un eingelchle en, 
daß fie auch im äſthetiſcher Beziehung gar feinen Vergleich zuläßt. 
Welche Vorftellung kann ſich —— der Blinde von der Form 
überhaupt und dem Formenreichthum insbeſondere eines Cölner Doms, 
I von der Geitalt nur eines gewöhnlichen Hauſes durch das Betaften 
einer Flächen, Eden u. ſ. f. madhen? Abgejehen davon, daß alle über 
den unmittelbaren Bereich jeiner Hände hinausgehenden Gegenitände für 
ihn überhaupt nicht eriftiren, entgehen ihm aud da, wo er fie wirklich 
berühren fann, die nothwendigiten Requifite für die äfthetiiche und 
überhaupt optiſche Formanſchauung, nämlidy außer der perjpektivijchen 
Erjcheinung der Dinge auch der Ueberblid über ihre Theile, die nur 
in ihrem Zuſammenhang die Vorftellung ihrer Einheit ald eines Ganzen 
ewähren fönnen, und die mit der peripeftiviichen Grideinung zujammen- 
ängenden Unterjdiede der Nähe und Ferne. Und gerade in leßter 
Beziehung wird es ihm, wenn er wieder jehend wird, unmöglich jein, 
ohne en allmälige Erfahrung über die Identität des Getafteten mit 
dem Gejehenen belehrt zu werden, die blos gejehenen Formen jogleich als 
foldye zu erfennen und auf die Zajtvorjtellung zu beziehen. 

4. (zu ©. 10.) Dies mag aud Schiller vorgejchwebt haben, als 
er den Frauen die Ichöne Aufgabe zuerfannte, „himmliſche Roſen in’s 
irdijche Leben zu Flechten.” 

5. (zu & 11.) Allerdings liegt die Berechtigung folder Staf- 
fagen nicht ausſchließlich im Koſtüm; jonft könnten ja als figürliche 
Staffagen für Yandichaften auch venetianiſche Nobili uud Hofcavaliere 
im Rokokokoſtüm gewählt werden, die an Buntheit der Farben nichts zu 
wünjchen übrig laſſen. In der That ſuchen auch mandye Dialer hierin ihre 
bejondere Specialität — ob mit äftbetijcher Berechtigung, ift eine andere 
Frage —. Vielmehr gründet fih die Wahl der im Xert beifpielöweije 
angeführten Staffagen wejentlih darauf, daß joldye Individuen gleichjam, 
wie die Natur feibit, zeitlo8 find, weil fie allen Zeiten — und 
deshalb — nämlih durch den unmittelbaren Zuſammenhang mit der 
Natur — gegen diefe für das Gefühl des Anjchauenden feinen Wider. 
ſpruch enthalten, was bei allen durd die Zeit einer beftimmten Kultur- 
ftufe angehörenten Koftümfiguren immer der Fall jein wird. Aus dem- 
— Grunde eignen ſich auch zu ſolchen Naturſtaffagen Bauern, Hirten, 

äger u. ſ. f, überhaupt alle an keine beſtimmte Zeitkultur erinnernden 
Geſtalten, bei denen ja das Koftüm hinſichtlich des Farbenreichthums oft 
wenig oder gar nicht in Betracht fommt. Dagegen paſſen antike, mittel- 
alterliche, Renaifjance- und Rokokokoſtũme, troß ihres oft glänzenden Farben⸗ 
reihthums, nicht zu Naturftaffagen, wenn die dargeftellte Landſchaft nicht 
ſelber jolchen künftlich gemachten Zeitcharafter (wie z.B. in den franzö« 
ſiſchen Rofofogärten) trägt; andrerfeits paffen fie durchaus naturgemäß 
als Staffage Für biftorijh beitimmte architektoniſche Interieurs. 

(82) 


83 


6. (zu ©. 12). In jeinen Xenien zur Farbenlehre charakteriſirt da- 

ber Goethe diefe „Sarben* durd folgenden Bers: 
‚Schwarz und Weiß, eine Todtenjchau, 
Geben, vermijcht, ein niederträcdtig Grau.* 

7. gu ©. 14.) Für diejenigen Leſer, denen ein phyſikaliſches 
Lehrbuch nicht zu Gebote fteht, bemerke ih, daß außer der Retina, 
welde das jpecielle Organ für die Empfindung der Licht- und Barben- 
unterjchiede tjt, jofern ſich auf ihr das Bild des gejebenen Gegenftandes, 
und zwar, aus optijchen Gründen, in umgefehrter Stellung, abjpiegelt, 
um dann dur die, gleichſam telegraphiiche, Vermittlung des Augen- 
nerven in’d Gehirn und damit fchliehlid in die bewußte Voritellung 
übertragen zu werden, noch folgende Häute unterjchieden werden: 1. die 
Bindehaut, welche eine jehr zart und durchſichtig werdende Fortſetzung 
der Augenliderhaut ift und den äußeren Weberzug des Auges bildet. 
Unter ihr und mit ihr durch ein äußerſt feines Ana verbunden 
liegt zunächſt 2. die weiße Haut, als ſehnige Fortiegung der geraden 
Augenmusfeln, welche als das Weite des Augapfels durdichimmert; 
ferner 3. die Hornhaut, eine durchſichtige Augenhaut, die, durch die wäfſtige 
Feuchtigkeit des Auges gnejpannt, ein fleineres Kugeljegment vor dem 
Augapfel bildet und am Rande defjelben 4. in bie J harte Augen- 
baut gewiſſermaaßen eingefalzt iſt. Letztere, welche Alec Natur ift 
und dem Augapfel jeine runde Sorm verleiht, erſcheint vorn Freisförmig 
ausgefchnitten und hinten durch den Augennerven durchbrochen. Dann 
folgt als weitere innere Schicht 5. die Gefäh- oder Aderhaut, welde 
eine ähnliche Geſtalt hat; ferner 6. die jog. Iris oder Regenbogenbaut, 
welche die Farbe des Auges (Augenftern) bildet und die Erweiterung 
und DVerengerung der Pupille bewirkt. Außer diejen Häuten beiteht das 
Innere ded Auges weſentlich aus dem fog. Glasförper, einer klaren, 
nit gerinnbaren Feuchtigkeit und der darin vorn eingejenkten Kryjtall- 
linje, welde durch ihre konvere Form die Bredung der in's Auge fal« 
lenden Lichtftrahlen regulirt und diejelben mit der Netzhaut vermittelt. 
Dieje Linje ift für das Sehen infofern ein wichtiger Körper, als z. B. 
ihre Trübung jene Augenfrankheit hervorruft, die man „grauen Staar“ 
nennt. Dies dürfte im Weſentlichen Alles jein, was zum Verſtändniß 
des im Text über das Sehen Vorzubringende erforderlich iſt. 

8 (wu ©. 15) Ganz ähnlid verhält fi der Verftand zur 
Nerventhätigkeit des Ohrs, 3. B. wenn wir bei mehrftimmigem Gejange 
oder wenn zwei oder mehr Perjonen gleichzeitig reden, unjre Aufmerf- 
jamfeit nur auf eine Stimme richten; ja, mas das Sehen betrifft, jo 
it man im Stande, einen Gegenftand zu firiren, d. b. die Achſe des 
Auges auf ihm zu richten, zugleich aber nicht diejen, jondern andere 
in jeiner Nähe befindliche Gegenftände zu jehen, ohne die Stellung der 
Achſe zu ändern. Wenn man nun bei diefem Verſuche genau beobadıtet, 
fo wird man leicht erfennen, daß in dem Augenblick — jo verſchwindend 
flein er jein mag —, in weldhem man die feitlihen Gegenitände be» 
tradhtet (ohne ß zu firiren), der fixirte Gegenſtand von uns nicht 
gejeben, d. b. daß fein Bild in diefem Augenblid vom Bewußtjein 
nicht erfaßt wird. Man erkennt hieraus die unbedingte Nothwendigkeit 
der Verftandesthätigkeit für das Sehen, wie für die Sinneswahrnehmung 
überhaupt. 

9. (zu ©. 15.) Dies richtet ſich nicht blos gegen den abjtrakten 
Idealismus, fondern aud gegen den abftraften Materialismus. Wenn 


6* (81) 


84 


das Bewußtſein, dad Erkennen überhaupt, nichts weiter als das unbe- 
dingt nothwendige Rejultat äußerlicher Wirkung auf die Sinne wäre — 
„wie find ein Spiel von jedem Drud der Luft“, jagt der Materialift 
Haedel —, wenn aljo der Verjtand in feiner Weiſe autonom fungiren 
fönnte, jo würden die angeführten Thatſachen durchaus undenkbar jein, 
d.h. ed wäre unmöglich, die innere Anſchauung von ber äußeren zu 
trennen; wir müßten 3. B. einen Gegenftand, auf den wir unjern Blid 
richten, unter allen Umftänden, und nur ihn, ſehen, während wir doch, 
mit völliger Abjtraction von joldyer —— Wirkung auf das Auge, 
an etwas ganz Anderes zu denken, ja ſogar ein anderes Bild lebendig 
vor der inneren Vorſtellung hervorzurufen vermögen. 

10. (zu S. 15.) Der Grund der Umkehrung liegt darin, daß die 
Strahlen, welche von oben durch die Pupille einfallen, nad unten und 
umgefehrt, die von rechts nad links und umgefchrt auf die Neghaut 
treffen. Wenn übrigens Schopenhauer, deſſen Auffafiung des Vor— 
gangs ich im Weſentlichen zuftimme — wie wenig Werth ich im Uebri— 
gen auf jeine Aefthetit im engeren Sinne des Wortes legen kann — 
ge en die Annahme, das auf der Netzhaut fih ein wirkliches (umge- 
ehrtes) Bild des Gegenftandes projicire, proteftirt und nur im Allge- 
meinen von einem ‚Cindrud, den die Lichtftrahlen auf die Nervenjub- 
in der Retina machen”, wifjen will, ja binzuiegt, daß, wenn joldes 
(bbild wirklih auf der Neghaut ſich projicirte, died dann nothwendig 
verfehrt gejehen werden müfje, jo fteht nicht nur letzterer Schluß mit 
jeiner eignen Theorie von der Mitwirkung des Verſtandes, jondern fein 
Brotejt auch mit der thatjächlihen Beobadhtung, die man mit anato- 
mijh.-präparirten Augen, 3. B. von todten Kälbern, gemacht hat, in 
Widerſpruch. Gr verwecjelt offenbar das Sehen dieſes Bildes durch 
das betreffende Auge ſelbſt mit dem Gejebenwerden defjelben durch ein 
fremdes Auge. Wenn daher auch der Anatom das Bild im Kälberauge 
— ſieht, ſo würde doch das Kalb ſelbſt dies Bild aufrecht geſehen 
aben. 

Uebrigens findet eine ganz analoge, ebenfalls nur auf ideelle Weiſe, 
nämlich durch Mitwirkung der Verſtandesthätigkeit, erklärbare Rektifika— 
tion bei der Einfachheit des doppelten Sehens, d. h. des Sehens 
mit zwei Augen, ſtatt. Denn daß thatſächlich von einem Gegenſtande 
auf den wir die beiden Augenachſen richten, zwei verſchiedene Bilder auf 
die beiden Neghäute fallen, ergiebt fih aus der leicht zu machenden 
Beobachtung, daß bei der Firirung eines fernen Gegenftandes die 
zwiſchen ihm und dem Auge liegenden näheren Gegen fände doppelt 
und umgefehrt: bei der Firirung eines nahen Gegenftandes die ferneren 
Gegenftande ebenfalls doppelt ericeinen. Man halte z. B. einen 
Singer etwa einen Fuß entfernt aufrecht vor die Augen und firire 
dann, dabei nahe vorbeijehend, einen mindeſtens 5—6 Fuß entfernten 
Gegenfiand, der in derjelben Richtung liegt, jo wird der Finger doppelt 
erſcheinen. Firirt man, ohne die Stellung des Fingers zu ändern, diejen 
legteren, jo wird der entferntere Seenian doppelt erſcheinen, weil, 
wenn der optijhe Winfel in dem einen firirten Punkte geſchloſſen wird, 
der andere nothwendig in die beiden divergirenden Augenachten fällt, 
welche die Schenkel des Winkels bilden, d. h. für jedes Auge ein jelbft- 
zen Bild giebt. Erſt durch dieſe Schließung des optiichen 

infeld in einem Punkte kann daher eine gegenjeitige Deckung beider 
Bilder ftattfinden. Hierauf beruht aud das ws ſtereoſtopiſche 


(84) 


85 


Sehen, weldes darin beiteht, daß jedem Auge ein — Bild vor 
geführt wird und die Augen (durch verichiedene Höhren) genöthigt 
werden, je eind von den beiden Bildern zu betradpten. Hierdurch decken 
fi diejelben für die Vorftellung, d. h. fie fließen zu einem Bilde 
zulammen; zugleich findet eine jcheinbare Vergrößerung ftatt (ohne 
daß hierzu VBergrößerungsgläfer erforderlich find), und zwar deshalb, weil 
die Augenachjen in parallele Stellung gebracht werden, was beim gewöhn- 
lihen Sehen nur annäherungsweije bei Firirung jehr entfernter Gegen- 
ftände geſchieht. Der Vorftellung wird alſo die Sllufion erregt, daß der 
Gegenftand der beiden identiichen Bilder entfernter und folglich größer 
fei als er im Wirklichkeit ſich darftell. Tritt nun, um den Vorgang 
beim jtereoftopiichen Sehen, nämlich hinfichtlidy der plaftifhen Wirkung 
defielben, zu vervolljtändigen, noch hinzu, daß das für das rechte Auge 
beitimmte Bild den Gegenitand etwas mehr von der rechten Geite, 
das für das linfe Auge bejtimmte denjelben etwas mehr von der linken 
Seite zeigt, jo decken ſich die beiden Bilder in ihren jejeitigen Haupt- 
artien. Dagegen jcheint man J beiden Seiten etwas um den Gegen— 

tand herumzubliden, d. h. man fieht ihn, obwohl er nur flächenhaft 
dargeitellt iit, plaftijch, wie dies in der MWirklichfeit nur bei förper- 
lihen Gegenjtänden jtatıfindet. Die umgekehrte Illuſion findet beim 
Sehen von Flähendarftellungen mit einem Auge ftatt: bier 
ericheinen die Gegenftände größer und aud gewiſſermaßen plaftijcher als 
beim Sehen mit beiden Augen, weil im leßteren Falle das beim Sehen 
wirklicher Gegenftände ftattindende plaſtiſche Sehen fehlt, während es 
beim Sehen mit einem Auge nicht entbehrt wird. Namentlich ift dies 
auffallend bei Betrachtuug von Holzſchnitten, die archetiktoniſche Anfichten 
darftellen: dieſe ericheinen einem Auge meift nicht nur größer, fondern 
auch plaftijcher, als wenn fie mit beiden Augen betrachtet werden. — 
Die oben erwähnte Einfachheit des doppelten Sehens in Verbindung 

mit dem Aufrechtiehen läßt fih, was auch Schopenhauer erwähnt, 
mit einer analogen Erfahrung beim Taſten vergleichen, die darin 
befteht, daß, wenn man mit gefreuztem Zeige- und Mittelfinger auf 
einer Fugelförmigen Fläche bin- und herfährt, der Vorſtellung die 
Illuſion erregt wird, ald ob man zwei verjchiedene Kugeln be 
rühre. Die Vorftellung von der Einheit des Gegenftandes hat nämlich) 
die gewöhnliche Lage der Finger zur Vorausjegung; wird dieſe Lage 
nun verändert, d. h. die Finger jo geftellt, daß nicht die rechte Seite des 
Zeigefingerd die linfe des Mittelfingerd, jondern umgekehrt die linfe des 
Zeigefingerd die rechte des Mittelfingerd berührt, jo empfinden die Finger 
Denfelben Gegenftand nothwendig als einen verjchiedenen; nämlich der 
Zeigefinger empfindet ihn, jtatt links, von ſich rechts, der Mittelfinger 
ftatt rechts, links: dies ift aber bei richtiger Kingeritellung nur dann 
möglih, wenn fih ein Gegenftand in Wirklichkeit jowohl für den 
Zeigefinger linfs wie für den Mittelfinger recht befindet. — Auch 
wenn bei jchon entwideltem Verſtande — etwa durch Verletzun 
einer Augenmuskel, Schielen eintritt, findet der gleiche Fall ftatt, bab 
dann alle Gegenjtände doppelt gejehen werden, bis durch allmälige Ge— 
wöhnung daran der Verſtand die Rektificirung dur Beziehung auf 
diefelbe Urſache ermöglicht. Gerade dieje letztere Möglichkeit aber iſt der 
Ichlagendite Beweis für die wejentlihe Mitwirkung des Verſtandes beim 
bewußten Sehen, da, wenn dad Schielen jpäter furirt wird, jo daß die 
Augen wieder ihre normale Stellung erbalten, fett wieder zuerft ein 
(85) 


86 





Doppelfehen eintritt, weil dem Berftande nunmehr die Ueberwindung 
jener durch das Schielen hervorgerufenen Gewöhnung ebenfo jchwer wird 
wie die frühere Aneignung derjelben. 

11. (zu ©. 16.) Um bier beiläufig einen, foviel mir befannt 
bisher noch nicht geltend gemachten Umftand zu erwähnen, der entſchieden 
gegen die Newton'ſche Theorie von der Zuſammenſetzung des Lichts durch 
die fieben Negenbogenfarben jpricht, will id) darauf hinweiſen, daß nad 
diejer Theorie die Roſe vielmehr grün und die Wieſe roth genannt 
werden müßte. Nach diefer Theorte nämlich ericheint ein Gegenftand 
roth, wenn er nur die im Licht befindlichen rothen Strahlen refleftirt, 
alle anderen aber, deren Summe befanntlid das Komplement zu Roth, 
alio Grün, bilden, einſchluckt. Behält er aljo die rothen Strahlen 
nicht, jondern nur die grünen, jo ift er jelbit offenbar, feiner eigenen 
Natur nad, grün, und ebenjo wäre umgekehrt die Wieſe, welde alle 
grünen Strablen von fih abſtößt, objektiv betrachtet, eigentlich roth: 
ein jo eflatanter Widerſpruch, wie er eben nur in der materialiftifchen 
Phyſik unbejehen beibehalten werden fann. Die Anfiht übrigens, der 
einfadhe weite Kichtjtrahl müſſe als „zufammengejegt” aus fieben ver- 
ſchiedenen Karben, von denen doch jede dunkler ijt als er felbit, betrachtet 
werden, hat ungefähr den Werth, als wenn Semand behaupten wollte, 
eine Wahrheit jei aus fieben Irrthümern oder ein klarer Gedanke aus 
fieben unklaren Vorftellungen zufammengejeßt. Denn iſt dies etwas 
Anderes ald die Vorſtellung einer aus jieben Dunfelheiten zu— 
jammengejegten Helligkeit? Goethe macht fi daher mit Recht 
in jeinen „Zahmen Xenien* über diefe Vorjtellung in einem Epigramm 
luftig, das er den „Triumph der Schule” betitelt: 

„Es lehrt ein großer Phyſicus 
Mit feinen Sculverwandten: 
„Nil luce obscurius** 

Fa wohl! Kür Objkuranten!” 

12. (zu ©. 16.) Es ift das große Verdienſt Schopenhaners, 
diefen Weg zur Erkenntniß der Natur der Karben mit Entſchiedenheit 
als den allein richtigen angedeutet und eingeichlagen zu haben; und wenn 
ih auch binfichtlic der Specialifirung der Shätigfeitsformen der Nephaut 
von feiner Auffafjung abzuweichen nenöthigt bin, jo muß ich doch aud- 
drüdlic anerkennen, daß er durch feine Theorie der phyfiologiichen Farbe, 
die im Princip unbedingt richtige Farbenlehre Goethe's, die übrigens 
auch er als die allein richtige betrachtet, wenn nicht zum wifjenjchaftlichen 
Abſchluß gebracht, jo doch weſentlich gefördert hat. 

SIntereffant ald Belag für die rein phyfiologiſche Natur der Farbe 
ift, beiläufig bemerkt, eine Beobachtung, weldye der Infektologe Lübbod 
gemacht hat, daß die Ameijen zwar ebenfalls Farben unterjceiten, aber 
in einer von der menſchlichen Wahrnehmung ganz verjchiedenen, ja ent 
gegengejekten Weife, indem ihnen Violett, für und die dunfelite Farbe, 
als hell, Gelb dagegen, für uns die hellite, als dunfel erſcheint. Er hat 
dies durch die Beobachtung herausgebracht, daß er, geftügt auf die be- 
kannte Thatſache, daß Ameifen, wenn fie in ihrem Bau geftört werben 
und man Licht in denjelben fallen läßt, fi, mit ihren Eiern belaftet, 
ſtets und moͤglichſt ſchnell dunkle Stellen aufſuchen, um fie in Sicherheit 
u bringen, in jolhem Falle das Licht durch gelbe und violette Glaͤſer 
ea ließ; in Folge deſſen die Ameijen ſich nicht unter bie 
eriteren, jondern unter die legteren flüchteten — ein Beweis, daß für fie 

(#6) 


87 





das gelbe Licht einen dunkeln, das violette einen hellen Eindrud machte. 
Es dürfte alio aud hieraus mit Evidenz hervorgehen, daß die Empfin- 
dung für den Unterjchied zwijchen Dunkel und Hell oder, was nody wahr- 
ſcheinlicher ift, für warm und Falt, lediglich im Auge liegt und nicht an 
den Gegenjtänden haftet. 

13. (zu ©. 18.) Schopenhauer nennt e8 daher pafjend „biffun- 
dirted Licht“, während Goethe das auf phyſiſchem Wege erjcheinende 
Weite ald „die vollendete Trübe“ bezeichnet. Genau betrachtet, würde 
aber diefe Bezeichnung richtiger oder wenigjtend ebenjogut auf das 
Schwarze paflen. Die „punktuelle —— der Lichtſtrahlen“ — wie 
im Text dieſer Vorgang bezeichnet wurde — kann übrigens verſchiedene 
Urjahen und Sormen Er Beim Schnee, der befanntlid aus einer 
mmendlihen Menge kleiner Kryftalle beiteht, jowie beim pulverifirten 
Glaſe erfolgt die Zerftreuung offenbar durch unendliche Kreuzung der 
refleftirten Strahlen jedes einzelnen Partikelchens, beim Eiweiß wie 
auch beim Seifenjchaum, weldye beide aus einer unendlichen Menge 
Heiner Zuftblajen beftehen, dadurch daß dieſe Bläschen durch gegenjeitigen 
Drud ihre fugelfürmige Form verlieren und fih in Folge defjen der 
Form des Pulvers nähern. Wenn daher, was namentlid beim Seifen- 
ihaum zu bemerken ift, eine Blaje aud der ganzen Maffe heraus zu 
ihrer natürlihen Form ſich entwidelt, erjcheint He nicht mehr weiß, 
jondern durchfichtig und in Regenbogenfarben jpielend. Webrigens er- 
flären fih aus jolder Diffundirung des Lichts noch andere Erſchei— 
nungen, 3. B. dat nicht vollfommen glatte (aljo nicht jpiegelnde) Flächen 
von irgend einer Farbe, wenn fie angefeuchtet werden — 3. B. wenn 
man mit einem naffen Singer über eine helle Wand jtreiht — 
an den feuchten Stellen jofort viel dunkler erjcheinen, während glatte 
Flächen, 3. B. weißer polirter Marmor, wenig oder gar feinen Unter: 
ſchied zwifchen dem feuchten und trodnen Stellen zeigen. Der Grund davon ift 
lediglich der, daß die glatten (jpiegelnden) Flächen das Licht nicht zer- 
fireuen, jondern refleftiren, was durch die Anfeuchtung nicht verhindert 
wird, da bier nur ein trandparentes Mittel hinzutritt, während diejes 
jelbe transparente Medium die rauhe Fläche jelber transparent macht, 
d. b. das Eindringen des Lichts er die Oberflüche des Körpers in 
jein Inneres vermittelt, das, weil es jelber dunkel ift, die feuchte Stelle 
ebenfalls dunkel ericheinen läßt, jo daß man an dieſer gewiſſermaßen in 
das Innere ded Körperd hineinfiebt. Cine auf demjelben Grunde be 
rubende analoge Erſcheinung ift folgende: Wenn man theilweiſe geöltes 
Papier dicht auf eine glatte helle Fläche legt, jo erjcheint tas Papier 
an der geölten Stelle ebenfalld hell; hebt man dagegen das Papier 
einige Zoll darüber empor, fo erſcheinen diejelben Stellen dunfel, weil 
der Luftraum zwijchen dem Papier und der hellen Fläche jelber dunkel 
if. — Uebrigens bedarf es wohl feiner bejonderen Crinnerung, daß der 
Ausdruck „Zerftreuung” oder „Diffundirung* des Lichts nichts zu thun 
bat mit dem von den Newtonianern — in Folge der Erfindung bes 
(von Newton als möglich geleugneten) achromatiſchen Refraktors — 
hypothetiſch eingeführten gleichlautenden Auedruck, worunter fie feine 
Diffuffion in obigen Sinne, jondern ein Audeinandertreten der einzelnen 
farbigen Lichter verftehen, um daraus auf bequeme Weiſe die Berlänge- 
rung des Spektrums zu erklären. 

14. (zu Seite 18). Es ift daher eigentlich nicht zutreffend, wenn Scho- 
penhauer die Einwirkung des Lichts mit der des Weißen auf eine Stufe ftellt, 

(87) 


indem er zwijchen dem Weißen oder dem Licht einerjeitd und dem 
Schwarzen oder der Finfternig andrerſeits Grade der Intenfität an- 
nimmt. Die Sntenfitätsgrade des Lichts find mit denen des Weißen 
keineswegs identijch, was ſchon daraus hervorgeht, daß das Licht immer 
Licht bleibt, wenn ed aud weniger hell erjcheint, während das Weihe 
durch Annäherung an das Schwarze aufhört, Weiß zu jein, und Grau wird. 

15. (zu ©. 18.) Schopenhauer unterjcheidet außer der — wie er 
ed nennt — „intenfiven Theilbarfeit‘ der Retina“ eine „ertenjive”, die 
mit der in unjerm Tert als qualitativ-different bezeichneten Thätigkeit 
nicht identiſch iſt. Der Ausdruck „Iheilbarkeit“ ift übrigens ungeſchickt- 
weil er immer, was er doch nicht joll, an rein quantitative Unter, 
ſcheidung erinnert. Unter „ertenjiver Iheilbarkeit der Thätigkeit der 
Retina“ verfteht er die — Ewpfindungen an verſchiedenen Stellen 
der Netzhaut zu gleicher Zeit. 

16. (zu ©. 18.) Der Ausdruck „Intenſität“ iſt zwar in der obigen 
Erörterung, wie man bemerkt haben wird, für zwei verſchiedene Arten 
von Abflufungen gebraucht, nämlich einmal für die Sfala zwijchen „Weiß 
und Schwarz“ und fodann für die zwiichen „Licht und Schatten“, 
welche Sfalen, wie ſchon bemerft, nicht identiſch find; indefien können 
fie beide füglih unter einen gemeinjamen höheren Begriff jubjumirt 
werden, nämlich unter den von „Hell“ und „Dunkel“, da fie an diejem 
allgemeinen Gegenjaß beide yparticipiren. Wo aljo jene Differenz ber 
beiden Gegenjäße nicht in Trage fommt, ift unter „Dell und Dunkel“ 
— das Eine wie das Andere, oder auch Eins von Beiden zu ver— 
tehen. 

17. (u ©. 22). Unter „rein” in Verbindung mit Farbe ift hier 
überall derjenige Ton derielben zu verftehen, weldyer weder hell oder 
dunfel nüancirt noch durch ftärfere oder jchwächere Beleuchtung modifi- 
cirt gedacht wird. Es ift diejenige uriprüngliche Qualität der Farbe, 
wie be in Fig. 2 unjerer Tafel durch die mittlere Zone angedeutet wird. 
Vergl. auch Fig. 3. 

18. (zu ©. 22). Gelb ijt nämlich an jich intenfiver als Roth, dieſes 
wieder intenfiver ald Blau, jo daß eine gleichmäßige Mijchung feined- 
wegs eine Mifchung zu gleichen Theilen ift. Auf diefe für die Farben- 
barmenie wichtige Differenz in den Mijchungsverhältniffen, welche das 
an ſich einfache Brineip in feinen Konjequenzen wejentlih kompliciren, 
wird unten näher eingegangen werden. Beijpielsweije iſt in dem reinen 
Violett, d. b. in dem Violett, welches zwiſchen Blau und Roth die 
genaue Mitte hält, Roth nur etwa bald jo ſtark wie Blau betheiligt, 
d. h. in reinem Biolett ift etwa ’/, Roth und nur ?/, Blau enthalten, 
7— se gr doppelte Intenſität wie Blau befigt, aljo auch doppelt 
o ſtark färbt. 

19. (zu ©. 23). Daß Newton (und ihm folgend alle Phyſiker) zu Liebe 
einer angeblichen Analogie mit den fieben Tönen der mufitaliichen Tonleiter 
noch eine fiebente Farbe im prismatiſchen Spektrum hat entdecken wollen, 
welche er ald „Indigo“, d. h. als ein etwas dunfleres Blau (!) zwijchen 
Blau und Violett einſchob, ift durchaus willfürlich und beweiit nur den 
Mangel an Erkenntniß der wahren Natur der Farben. Dies wird 
jpäter deutlicher nachgewiejen werden. 

20. (zu ©. 27.) Der Unterjchied zwijchen beiden Berechnungsarten 
iſt aber ein ſehr weientliher; jene nämlich über die Zeit- und Raum- 
längen der angeblicyen — — beruhen auf einer bloßen 

(88) 


89 


Hypotheſe, wie der Aether jelbit; die aftronomiichen Berechnungen da- 
gegen auf pofitiven, aus der Grfahrung geihöpften Daten; fo z. B. 
it man auf Grund der Meſſung der Sonnenparaladje, d. b. des 
Unterjchieded der beiden Winkel, unter denen die Sonne von zwei ein« 
ander diametral entgegengejegten Punkten der Erde ericeint, in Ver— 
bindung mit der aus entfernt von einander liegenden Punkten der Erd 
oberfläche angeftellten Beobachtungen des ſcheinbaren Durdgangs der 
Venus durch die Sonnenjdeibe, im Stande gewejen, nidyt nur die 
Entfernung der Sonne von der Erde (nämlich durchſchnittlich 20'/, Million 
Meilen), jondern aud ihren Durchmeſſer (faft 200000 Meilen) ſowie 
ihren Kubifinhalt (3742 Billionen Kubikmeilen) zu beftimmen und, 
daran anfnüpfend, alle anderen Berechnungen mit annähernd mathemati« 
ſcher Genauigkeit anzuftellen. Auch die — der Geſchwindigkeit 
des Lichts (ca. 42 000 Meilen in der Sekunde), welche bei der obigen 
Berechnung feiner angeblichen Wellenlänge und »dauer zu Hilfe genommen 
wird, beruht befanntlich ebenfalld auf der erfahrungsmähigen 3 
die ſchon Ende des 17ten Jahrhunderts gemacht wurde, daß das 
rechnete Eintreten der Verfinſterung des erſten Jupitermondes eine 
Differenz von ca. 16'/, Minuten gegen die wirklich geſehene Erſcheinung, 
welche nämlih um joviel jpäter eintraf, aufwies; eine Differenz, die 
jpäter — namentlich dur Enke — auf Grund anderer Beobachtungen 
beftätigt wurde. Da nun die Entfernung der Sonne von der Erde, wie 
oben gezeigt, befannt war, jo bedurfte ed nur eines einfachen Divilions- 
erempeld, um die Gejchwindigfeit der Lichtitrahlen zu finden. Es iſt 
übrigens merkwürdig, wie leicht fi die Herren Phyſiker mit den — 
aufftoßenden Widerſprüchen, zu denen fie durch ihre Hypotheſen gelangen, 
abzufinden veritehen. Sie halten noch heute an der Newton’ichen 
Farbenlehre feit, obichon jie die von Newton aufgeftellte Emifjions- 
theorie, worauf jeine Farbenlehre beruht, längit aufzugeben genöthigt 
waren, um dafür die Undulationstheorie zu acceptiren. Beifpielswete 
behauptet Newton die Unmöglichkeit, einen achromatijchen Refraktor her« 
zuftellen, weil nad jeiner Theorie bei einer Brechung des Lichtſtrahls 
ſtets auch Farbenerſcheinungen eintreten müfjen. Als nun nach jeinem 
Zode, befanntlid dur Verbindung von fonveren Kron- und konkaven 
Flintgläjern, der achromatiſche Rerraftor erfunden worden war, wuhte 
man anfangs nicht, wie man dies mit der Theorie vereinigen jollte, bis 
man auf eine neue Hypotheſe gerieth, von der Newton nod nichts 
wuhte, nämlich, daß neben der Farben brechung auch noch eine „Karben. 
erftreuung” ftattfände, wodurd fich die Farblofigfeit der Gläſer des 
efraftord erkläre — eine Ausflucht, die jchon Goethe als „finnlojen 
Wortkram“ — hat. 
21. Gu S. 27). Es klingt daher ſonderbar genug, wenn die Herren 
hyſiker ihrerſeits — wie Herr Dubois-Reymond in jeiner Berliner 
eftoratörede zu thun fich herausgenommen — von den auf tiefiter An- 
ſchauung vom wahren Wejen der Farben beruhenden „Beiträgen zur Farben- 
lehre* — wie Goethe beicheidentlidh fein Werk betitelte — als von der „todt- 
— Spielerei eines Dilettanten“ zu reden wagen. Dilettare heißt 
efanntlih „eine Sache mir Liebe betreiben”, und dies wäre den Herren 
rer für ihre Sade jehr zu empfehlen. Denn wenn fie auch die 

iffenichaft als ihre Privatdomäne betradhten zu dürfen meinen, to ift 
ed deshalb noch nicht nöthig, fie wie einen todten Mechanismus zu be 
handeln und dabei einen Mangel an Kenntniß der nöthigſten ideellen 


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Grundlagen zu offenbaren; ein Mangel, der höchſtens durch die Kühnheit 
übertroffen wird, ‘womit fie über die dorſchungen Anderer, die nicht zu 
den berufsmäßigen Kathederprofeſſoren rechnen, von oben herab abzu- 
iprechen berechtigt zu jein fich einbilden. 

22. (zu ©. 27.) Hinſichtlich der Einheitlichkeit der Subftanz in 
den verjchiedenen Erſcheinungen ftellt ſchon Schopenhauer (Vom Sehen 
©. 9) die meiner Anficht völlig berechtigte Anficht auf, daß, weil „bie 
Subitanz der Nerven (abgejehen vom ſympathiſchen Nerven) im ganzen 
Leibe eine und diejelbe ijt*, ... . der Umftand, daß die Nerven, „vom 
Liht durch das Auge, vom Schall durd das Ohr getroffen, jo ver- 
jhiedene Empfindungen erhalten, nur abhängig jei von der Art, wie 
fie afficirt werden.” ... „Daß im Ohr der Nerv des Yabyrinths und 
der Schnede, im Gehörwafler ihwimmend, die Vibrationen der Luft 
durch Vermittlung dieſes Waſſers, erhält, der Sehnerv aber die Ein- 
wirkung des Lichts, durch die im Auge es bredhenden ———— und 
die Linſe: dies iſt die Urſache der ſpecifiſchen Verſchiedenheit beider Em- 

findungen, nicht der Nerv ſelbſt; demnach könnte auch der Gehörnerv 
* und der Augennerv hören, wenn der äußere Apparat beider ſeine 
Stelle vertaufchte”. — Man könnte aber auch umgekehrt behaupten, daß 
Das, was das Auge als Licht, das Ohr ald Ton, der Taſtſinn als 
Wärme u. j. f. empfindet, im Grunde ebenfalls dafjelbe ift und fidy 
nur durch die unterjchiedliche Konftruction der Sinne für die Empfindung 
differenzirt. — Ein intereffanter Belag für die thatſächliche Einheit der 
von den Phyſikern als verſchieden — nämlid als bejondere „Fluiden“ 
(3. B. Wärmefluidum, Lichtfluidum, eleftrijches, magnetifches u. ſ. f. $lui- 
dum) — betrachteten Modififationsformen der Grundjubitang wird durch die 
Erfindung des fogenannten „Photophons* von Graham Bell, dem Er- 
finder ded Telephons geliefert. Selbit der befannte Naturforiher Ernft 
Krauſe (Garus Sterne) äußert fi darüber in der Gartenlaube 1880 
Nr. 48), nachdem er dafjelbe bejchrieben, folgendermaßen: „Es wird ſchwerlich 
ein Snftrument geben, durch weldes die Uebertragungsfähigkeit 
der Naturfräfte in einander wirfjamer vor Augen gerührt werden 
könnte, ald dur das Photophon: Tonſchwingungen werden in Licht- 
wogen, dieje in Schwanfungen eleftrijcher Ströme, dieje in magnetijche 
Schweigen und leßtere endlich wieder in Tonjchwingungen verwandelt, 
jo daß der Cyklus beinahe aller uns befannten phyſikaliſchen Kräfte dabei 
durchlaufen wird.” Zwar jegt er hinzu, „natürlich dürfe man dies Et 
jo verjtehen, als ob die Tonſchwingungen in Yichtätherjchwingungen u. |. f. 
vennvandelt werden, fondern der Rythmus der in der verfchiedenjten Weije 
wiederholten Schwingungen bleibe immer berfelbe: es ſei leuchtendes, 
eleftrijches, magnetiiches Tönen, nichts Anderes u. f. f.* — Allein was 
fann „leuchtendes, eleftrijched Tönen“ u. j. f. Anderes bedeuten, als daß 
Licht, Glektricität u. S. f. in Töne umgeſetzt werden. riftirte feine 
jubftanzielle Verwandtichaft zwiichen ihnen, d. h. ftammten fie als be 
jondere Erſcheinungen nicht aus derjelben Grundquelle, wie wäre dann 
ſolche Umjegung möglich? 

23. (zu ©. 28.) Diejer Gedanke liegt offenbar auch dem bekannten 
ſchönen Goethe'ſchen Sprub zu Grunde: 

Wär’ nicht das Auge jonnenhaft, 
Die Sonne könnt’ ed nie erbliden; 
Läg’ nicht in und des Gottes eigne Kraft, 
Wie könnt' uns Göttliches entzücken? 
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24. (zu ©. 29). h bedeutet „helle“, d „dunfle” Nüance, 

25. (zu ©. 30.) Wenn audy daher Schopenhauer (Vom Sehen u. |. f 
©. 29) darin Recht hat, daß er „Violett unter allen Farben die 
weſentlich dunfelfte* nennt, jo ift doch feine Erklärung nicht richtig, da 
fie auf der ſchon öfter urgirten Stentificirung des Gegenſatzes von 
„Licht und Schattig” mit dem von „Weiß und Schwarz” beruht, die 
zwar beide an dem Gegenjaß von „Hell und Dunkel“ theilnehmen, aber 
doch, wenn von der bejonderen Art der Sntenfität die Rede ijt, nicht 
verwechjelt werden dürfen. 


26. (zu ©. 31.) Dieje eneryijchere und einheitlichere Wirkungs- 
fraft, welche die fomplementäre Grundfarbe Grün ihren Schweftern, 
dem Drange und Violett, gexenüber ebenjo befigt, wie die Urfarbe 
Roth den ihrigen, Gelb und Blau, gegenüber, ift auch offenbar der 
Grund gewejen, warum irrthümlidy noch heute in den phyſikaliſchen 
Lehrbüchern nicht 3, ſondern 4 jog. „einfache“ Farben aufgezählt werden, 
namlih Roth, Blau, Gelb und Grün. Denn in der That nähert fi 
Grün, obgleih eine Mifchfarbe, eben durch feine Energie und Einheit. 
lichkeit faft der Wirkungskraft einer Urfarbe. Ja, jelbft Schopenhauer 
S 39) jagt, im völligen Widerſpruch mit jeiner und ter Goethejchen 

beorie, indem er die angeblichen 7 yrismatifchen Farben Newton's 
fritifirt: Daß er (Newton) dabei die Siebenzahl einzig und allein der 
„Zonleiter zu Liebe gewählt hat, iſt nicht dem mindeſten Zweifel unter 
„worfen: er durfte ja nur die Augen aufmachen, um zu jehen, daß im 
„prismatiichen Spektrum durdaus nicht fieben („einfache“) Farben find, 
—— „blos vier, von denen” — ſetzt Schopenhauer allerdings 
„hinzu — „die zwei mittleren, Blau und Gelb, bei größerer Ent 
„rernung des Prismas, übereinandergreifen und dadurch Grün bilden”. 
Allein, wenn er jelbft „die Augen noch etwas weiter aufgemacht” hätte, 
fo würde er gejehen haben, daß, ebenjo wie Grün, jo auch Violett und 
Drange im Spektrum vorfommen, nur daß dieje, aus den gie per 
Gründen, nicht jo energiſch und bejonders nicht jo einheitlich wirken wie 
Grün. Dies ift jeitens Schopenhauer eine Inkonſequenz, weldye die 
Unterjuhung über die Natur der Farben nur zu verwirren geeignet ift. 
Denn daß, wie Grün durdy „Uebereinandergreifen* von Gelb und Blau, 
jo Drange und Violett aus einem ganz ähnlichen „Uebereinandergreifen“ 
von Roth und Gelb, bezw. von Roth und Blau entjtehen und folglich 
auch im Spektrum geſehen werden müffen, liegt ja auf der Hand; zur 
Noth bemeift es jeder Regenbogen. 

27. (zu ©. 35). Das verichiedene Auf- und Abfteigen in der Skalv 
der Helligkeits und MWärmeintenfität ift in Fig. 13 unjrer Tafel veran« 
ſchaulicht, deren nähere Erklärung zwar erjt jpäter erfolgen fann, die aber 
doch an ſich ziemlich verſtändlich M 

28. (zu ©. 36). Die von Goethe gewählte, von Schopenhauer accep- 
tirte Bezeichnung für diefen Unterfchied zwijchen ‚konſtanter“ Farbe und 
„Ton“ als chemiſche und phyſikaliſche Farbe verjchiebt die richtige 
Stellung der beiden Begriffe zu einander. Die konftante Farbe mag mit 
der chemiſchen Beichaffenheit der Körper in Zufammenhang ftehen; ß. iſt 
aber ebenſo an ihre mechaniſche Natur gebunden, da bei manchen farbigen 
Körpern ſich die Farbe durch bloßen Druck, alſo durch bloße — * 
Einwirkung, ändert, und es fogar fraglich iſt, ob die bei ſtattfindender 
Erwärmung — 3. B. bei Eijen, das zum Rothglühen gebradht wird — 

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eintretende Veränderung der Farbe mit einer hemijchen Veränderung bes 
Stoffs zujammenhängt. 

29. (zu ©. 39.) Nicht nur in feiner „Farbenlehre”, jondern vielfach 
in jeinen Zenien und Epigrammen eifert Goethe gegen diefe mechanijche 
Auffafjung der Farbenerzeugung. Ich laffe hier aus den leßteren einige 
Stellen folgen: 

Spaliet nur immer das Licht! Wie öfters ftrebt ihr zu trennen, 
Was eud allen zum Trotz Ein und ein Einziges bleibt. 

Neu ift der Einfall ja nicht; hat man doch fiber den hödjiten, 
Einzigiten reinen Begriff Gottes in Theile zerlegt! 

Uebrigens wird die Anficht der Nemtonianer, daß durch das „Eleine 
Loch” ein bejonderes Strahlenbündel des Sonnenlichts einfalle, ftatt, wie 
Goethe behauptete, ein Feines Zotalbild der ganzen Sonnenjcheibe, durch 
die mehrfach beobachtete Thatſache widerlegt, (die Goethe'ſche Anficht alfo 
beftätigt), daß, wenn bei einer nicht totalen Sonnenfinfternig nur ein 
jhmales Segment von der Sonne zu jehen ijt, das Erperiment des 
feinen Loches infofern mißlingt, ald nicht ein Kreis, jondern ebenfalls 
nur ein Kreisjegment auf der Wand fih zeigt, d. b. dat eben die 
Sonne nur ein Xheilbild von fih auf die Wand wirft, trogdem das 
Loch rund ift. Goethe jpridt daher mit Nedt die „Warnung” aus: 


Freunde, flieht die dunfle Kammer, 
Wo man euch das Licht verzwict 
Und mit fümmerlihem Sammer 
Nah verichrobenen Bildern büdt. 
Abergläubifche Verehrer 

Gab's der Jahre her genug, 

In den Köpfen eurer Xehrer 

Laßt Gejpenft und Wahn und Trug. 


Wenn der Blid an heitern Tagen 
Sich zur Himmelöbläne Ienft, 
Beim Siroc der Sonnenwagen 
Purpurroth ſich niederjenft, 

Da gebt der Natur die Ehre, 
Froh, an Aug’ und Herz gejund, 
Und erfennt der Sarbenlehre 
Allgemeinen ewigen Grund, 


30. (zu ©. 40.) Hier zeigt fih recht deutlich der Unterſchied des 
Gegenjages zwijchen „Licht und Finſterniß“ von dem zwiſchen „Weiß 
und Schwarz“, welche Gegenjäge von Schopenhauer identificirt und auch 
von Goethe nicht auseinandergehalten werden. Denn jener bemerkt, daß 
die Miſchung von Licht und Finſterniß nur deshalb fein Grau erzeuge, 
weil viejelbe nicht „unmittelbar” — wie wäre denn dies möglid? — 
jondern durch das Dazwijchentreten eines dritten Elementes, welches er 
eben ald „Xrübe” bezeichnet, geichehe. Allein abgejehen von der in dem 
Ausdrud „Miſchung von Yicht und Finſterniß“ Tiegenden faljchen Vor- 
ftellung, da eine jolche ganz undenkbar ijt, liegt es auch auf der Hand, 
daß jelbjt bei der Abtönung von Weiß, bezw. Schwarz zu Grau eine 
Zrübung durd ein drittes Element — denn anders ift eine Miſchung 
von reinem Licht mit abjoluter Finfternig überhaupt nicht denkbar — 
ftattfinden muß. Wenn reines Licht mit Weit und abjolute Finfterniß 

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93 





mit Schwarz identifch gedacht werden, jo ift dabei doch auch ſowohl Weiß 
als Schwarz abjolut vorausſetzt. Diefen De entipricht aber feine 
reale Farbe: es giebt weder ein abfolutes, d. h. abjolut reines Weiß, 
noch ein ſolches Schwarz; fondern Weiß und Schwarz find immer nur 
Abtönungen einer beftimmten Sarbe, die bis zu einem jolhen Iutenfitäts« 
minimum gehen, dat das Auge die Dualıtät der Farbe darin nicht 
mehr zu unterfcheiden vermag. Am deutlichſten ift dies bei Schwarz 
zu erfennen; denn wenn man Schwarz durch eine farbloje Flüſſigkeit 
verdünnt oder wenn man durch ein jchwarz gefärbtes Glas in’s Licht jchaut, 
wird es ftets, fei ed nach Blau, fei e8 nach Braun tendiren, d. h. es ift 
Blauſchwarz oder Braunſchwarz, oder was bafjelbe ift, es ift entweder 
ein falte® oder warmes Schwarz. Weiß ift ebenfalls ſtets entweder 
warm oder falt, je nachdem es beleuchtet ift oder im Kontrajt zu 
Nahbarfarben fteht, d. h. ed hat immer einen Stich jei es in's Gelbe 
jei ed ind Blaue, wenn diefer Stich aud jo ſchwach ift, daß das Auge 
dafür feine merkliche Empfindung befigt. 

31. (zu ©. 41). Es ift dies fchon deshalb zu empfehlen, weil die 
Zahl 7 unwillfürlih an die Newton’sche Siebenzahl erinnert, wovon hier 
natürlich nicht die Rede ift. Newton erklärt zwar auch die Farbe — aber 
NB. jede Farbe — als '/, des reinen Lichte, weil er, auf dem faljchen 
Princip der fieben Karben fußend, eine mechaniſche Zufamntenjegung des 
reinen Lichts aus fieben gleichen Theilen (Sarbenitrahlen) annimmt. 
Bei Newton bedeutet mithin 7 die Zahl der von ihm angenommenen 
Grundfarben (ftatt 6), in meinem Schema dagegen die durch eine be- 
liebige Ziffer ausgedrüdte Intenfität des Lichte. Ich hätte ebenjo gut 
13 (d.h. 2.6+ 1) oder 19 (d.h. 3.6+ 1) jeßen fönnen, denn dadurd) 
würde ſich das Verhältniß von Licht und Finfternif in den Farben nicht 
geändert haben. Nur die Zähler würden bei 13 zweimal, bei 19 brei- 
mal jo groß zu nehmen gewejen jein. Unjere 7 bat aljo mit ber 
Neimton’fden Siebenzahl nit das Geringſte gentein. 

32. (zu ©. 42). In jeinem verdienftlichen Werke „Theorie der Barben- 
barmonie und Farbengebung”, wovon mir leider nur die erjten beiden Liefe- 
rungen befannt geworden find. Uebrigens will ich auf dieſe Nebereinftimmung 
feinen allzugroßen Werth legen, da es feines bejonderen Nachweiſes 
bedarf, daß foldhe photometrijhen Unterjuchungen materieller Sarben- 
pigmente faum Anjprud auf Genauigfeit machen können, weil die ftoff- 
licen Eigenſchaften der legteren dabei allzu jehr mitiprechen. Daraus 
erflärt ed ſich aud wohl, dag Adams nicht für Violett, das entichieden 
die dunfeljte Farbe ift, jondern für Blau die geringfte Anzahl reflektirter 
Strahlen gefunden hat, nämlich 1444 gegen 1764 des Violetten. Ohne— 
* reflektitte ſein Schwarz, was, wenn es echt iſt, nothwendig = U 
ein mußte, d. h. gar feine Strahlen reflektiren durfte, immer noch 
1024 Strahlen, —— ſein Weiß, das als glänzende Fläche dem 
abſoluten Licht gleichwirken mußte, noch nicht die doppelte Anzahl von 
Gelb, nämlich 10 000 zeigte. — Beweiies genug für die Unzuverläjlig- 
feit foldyer Mefjungen. 

33. (zu ©.43) Schopenhauer ftellt ald Refultat feiner Theorie folgendes, 
von dem meinigen abweichended Schema auf, das hier jeine Stelle finden. 
mag,um den Leſer in denStand zu feßen, eine Vergleihung mit der von 
mir aufgeftellten Reihe der Sntenfitätöverhältnifje der Farben zu einander 
anzuftellen. 

(93) 


Schwarz, Violett, Blau, Grün, Roth, Drange, Gelb, Weiß 
0 Ye a a hl ’ı 1 


— — — — 











Hier ſind alſo Grün und Roth als völlig gleich geſetzt, was, wie 
ſpäter gezeigt werden wird, zur Aufhebung ihrer Farbigkeit überhaupt 
führen müßte. Sehr richtig ift dagegen jeine —— daß man 
chromatologiſch“ immer nur von Farbenpaaren reden dürfe, da jedes 
Paar immer den ganzen Barbenfreis oder, wie er ſich feiner Theorie 
gemäß ausdrüdt, „die ganze, in zwei Hälften Bm: Thätigkeit der 

etina enthält“. Noch willfürlier und der Natur der Karben wiber- 
eat verfährt Graevell in jeinem Bude „Goethe im Recht gegen 
lewton“, indem er die Theilungszahl 12 zu Grunde legt und dadurd) 
zu wejentlid anderen Rejultaten gelangt als Schopenhauer; wobei er 
freilich jeinerjeits den Fehler begeht, nit nur Wei ud Schwarz, 
(die Echopenhauer ausdrüdlich nicht ald Farben, jondern nur ald „Grenz- 
pfoften der Farbenreihe“ betrachtet wiffen will) jondern jogar Grau in 
die Rechnung mit einzumifchen, indem er ed, weil es zwiſchen O (Schwarz) 
und 1 (Weiß) in der Mitte liege, = '/, ſetzt; jo erhält er für: 
Schwarz, Biolett, Blau, Grün, Gelb, Drange, Roth, Grau, Weit 
0 Ya “ia %/ 3 E E 1T 1 a1 
was von dem wirklichen Verhältnis jowohl der Urfarben, wie der dazu 
gehörigen Fomplementären Grundfarben — und zwar nidht nur in qualita- 
tiver, aber aud in quantitativer Beziehung — nody viel weiter ab- 
weicht als die Echopenhauer'ihe Skala. Blau z. B., das entjchieden 
viel dunkler iſt ald Grün, ift bier durch ’/,, Grün nur durd '/, reprä- 
fentirt, während Grau gar = "/, fein joll. Dergleichen abftrafte, d. h. 
rein in die Yuft bineingebaute Berechnungen follte man doch den Herren 
Phyſikern überlafjen. 

34. (zu ©. 43.) Schopenhauer fonfundirt diefe doppelte vo. 
ebenjowie Goethe, dem er daraus einen ungerechtfertigten Vorwurf 
macht, daß er „Gelb und Blau” als phyſiſchen Gegenſatz aufitellt, 
weil diejelben aus entgegengeiegten Urſachen entftehen, Gelb dudurd, 
daf ein Trübes dem Auge das Licht hemmt, Blau, indem das Auge dur 
ein beleuchtetes Trübes in die Finſterniß fchaut. Ungeredhtfertigt ist 
diejer Vorwurf deshalb, weil die Sache an fi richtig und nur der 
Ausdrud „Gegenſatz“ falich ift, es jollte Kontraft heifen. Indem er 
aber hinzuſetzt, . „es mit dieſem phyſiſchen Gegenſatz auch ſeine 
voͤllige Richtigkeit habe, ſo lange man ihn als allgemeinen Ausdruck für 
zwei Hauptverhältniſſe aller phyſiſchen Farben verftcht und Blau und 
Gelb hier gleihjam als NRepräjentanten zweier Klaffen, der kalten 
und warmen Farben, anfieht*, befindet er fich jeinerjeits in dem 
Srrthbum, dag er den Kontraft „Blau-Gelb" als MWärmeertreme be- 
trachtet, da Blau wohl die fältefte, aber Gelb nicht die wärmſte Farbe 
ift, jondern Drange. Er quält ſich redlich mit der Löſung des Räthſels 
ab, ohne damit zu Stande zu fommen, weil er, mit einem Worte, die 
beiden Begriffe „Gegenſatz“ nnd „Kontraft* konfundirt. 

35 (zu ©. 47). Intereſſant ift die mehrfache Beitätigung des UIr- 
hänomens, binfichtlich der Entjtehung der blauen Farbe des Himmels, jelbit 
eitens der Phyſiker, jofern deren Unterſuchungen den thatjächlihen Beweis 

geliefert haben, daß die Blaue Farde des Auges ebenfalls nicht, wie 
man früher angenommen hat, lofaler, jondern rein phyſikaliſcher Natur 
(9) 


9 


— — — — 


iſt, d. h. daß die Iris kein blaues Pigment enthält, ſondern auf ihrer 
hinteren Wand bei normalem Auge immer mit einer ſchwarzen Materie 
bekleidet ift, welche bei ſchwarzen Augen umnittelbar, d. h. ohne trüben. 
des Medium vermittelt zu jein, durchſcheint, während bei blauen 
Augen das Gewebe der Iris weißlih ift, alio als Trübendes das 
Schwarz zu Blau abdämpft, indem es dem Cintritt des Lichte 
bemmend entgegenwirkt. Dieje Beobachtung ift zuerjt von Magendie 
in jeinem Precis elementaire de Physiologie et 1 p. 60 ff.) mit= 
etheilt mit den Worten: Dans les yeux bleus le tissu de Iris est 
a peu pres blanc; c'est la couche noire posterieure, qui 
arait à peu pres seule et determine la couleur des yeux —; 
* wurde ſpäter von Helmholtz „Ueber das Sehen des Menſchen“ 
©. 8 beftätigt. — ine zweite Betätigung wird durch die vom Pater 
Sechi angejtellten aftronomijchen Beobadytungen über die Beichaffen- 
beit des Planeten Neptun geliefert, wonach bderjelbe dunſtförmig 
(nebuleux) ijt, weshalb jeine Farbe meerblau (couleur de mer 
bleuätre) erſcheine. Denn da er jelbjt dunkel ift, jo muß das von der 
Sonne auf ihn fallende Licht zu Blau getrübt werden. Diejelbe Er- 
ſcheinung bietet num aud der an fich finitere, aber uns blau erjcheinende 
Himmel dar. (Bergl. Schopenhauer S. 81.) Diejer will jogar ſchon im 
Ariftoteles eine Andeutung über das Goethe'jhe Urphänomen finden; 
er bezieht ſich dabei auf die Stelle in den meteorologiichen Unterſuchungen, 
die in der Meberjegung etwa lantet: „Alle Helligkeit (ro Aauumpev) er- 
ſcheint, durh Schwarzes oder in Schwarzem (gejehen) purpürfarben 
(dowixoüv)“. Ariftoteles führt ald Beijpiel das Feuer an, weldyes eigent- 
lih weiß jet, aber durch den beigemijchten Rauch fih roth färbe, und 
fügt hinzu, daß deshalb auch die Sonne felbft durch die Dunkelheit und 
den Rauch purpurfarben erjcheine. 

36. (zu ©. 49.) Schopenhauer jagt nämlih (S. 73): „Die 
Sceidewand eines zwiſchen Licht und Finfternig eingejchobenen Trüben 
bringt, unter entgegengejeßter Beleudtung“ (mas heißt das?) 
allezeit zwei fi) phyliologiich ergänzende Farben hervor, welche, je nad) 
dem Grade der Dide und Dichtigteit diejes Trüben verjchieden aus- 
fallen” (inwiefern aber? das 5 die Frage), „zulammen aber immer zum 
Weißen, d. h. zur vollen Thätigfeit der Ketina, einander ergänzen“. 
Die Einmiſchung der Komplementarität ift hier gar nidt am Orte und 
verwirrt nur die Sade. Hier handelt es fi ausſchließlich nur um die 
Entftehung der Urfarben und zwar zunächſt des Gelb und Blau, 
weiterhin das Roth. Er fährt jodann fort: „Bei der größten Dünne 
des Trüben werden dieje Farben die gelbe und violette jein; bei zu- 
nehmender Dichtigfeit defjelben werden fie allmählih in Drange und 
Blau übergehen und endlich, bei nod) größerer, Roth und Grün werden.“ 
— Hier zeigt fih ſchon die Inkonſequenz, die in folder Einmiſchung 
der Komplementärfarben liegt. In dem erften Gegenſatz iſt die Ur- 
farbe „Gelb“ mit ihrer fomplementären Grundfarbe „Violett“, ebenjo 
in dem dritten die Urfarbe „Roth“ mit ihrer fomplementären Grund» 
farbe ‚Grün‘, im zweiten dagegen zur Grundfarbe „Drange‘ die 
Urfarbe „Blau als Komplement gejegt. Vollends aber geht er irre, 
wenn er binzufü t: „Wird endlich die Trübung vollendet, d. bh. bis zur 
Undurchdringlichkeit verdichtet, jo erjcheint bei auffallendem Licht 
(wo kommt das her?) Weiß, bei dahinter (!) befindlichen, die Finſterniß 
oder Schwarz." Dies macht die Konfufion vollftändig. Die Ertreme 


96 


Weiß und Schwarz werden nämlich nicht durh Vollendung ber 
Trübung, fondern im Gegentheil durch vollftändig” Aufhebung alles 
Trübenden hervorgebracht; denn dann erjcheinen — zwar nicht Weiß 
und Schwarz in der phofllaliichen Bedeutung der Worte jondern — 
abjolut reines, d. h. umgetrübtes Licht und abjolut reine, d. h. un- 
—— Finſterniß. „Undurchdringlichkeit des Trübenden“ iſt geradezu 
nfinn, nämlich ein Widerſpruch an ſich ſelbſt, denn der Begriff des 
Trüben als eines ſolchen beruht offenbar eben darin, dat fi in ihm 
Licht und Finſterniß miſchen, daß folglich immer aud Licht darin jei; 
wie kann das Trübende aber dann „undurchdringlich“ dagegen jein? 
Uebrigens folgt gerade daraus, daß Schopenhauer EA die Ertreme als 
Weiß und Schwarz, ftatt als reines Licht und reine Finiterniß, dent, 
d. h. aus der Art, wie er fi die „Zrübung” in ihrer Wirkung vor- 
jtellt, daß eigentlich feine FSarbenjkala, jondern nur eine Stufenleiter von 
Grau ſich erzeugen müßte. Seine angeblihe Berbefferung der Goethe. 
ichen Theorie hat daher nicht den mindeften Werth. 
37 (zu ©. 50). Uebrigens ift auch dieje materielle Bedeutung nicht 
ausgeiiofen, wie nicht nur durch die Thatjache, daß die prismatiſchen 
Farben auch verſchiedene Wärmegrade befigen, jondern auch durch bie 
befannte Erfahrung beftätigt wird, daß beim Photographiren von 
Gemälden die Falten Farben, z. B. Blau, verhältnißmäßig immer heller, 
die warmen, 3. B. — und Roth, immer dunkler wiedergegeben 
werden, als ſie in Wirklichkeit ſich zu einander verhalten; womit alſo 
die Sonne ſelbſt den augenſcheinlichen Beweis von der Nichtidentität der 
Helligkeits und Wärmeintenſität liefert. 
38. (zu ©. 54). Auch für dieſe Thatſachen find die Phyſiker ge- 
nöthigt gewefen, den Beweis zu erbringen, dadurch nämlich, daß He 
Eonftatirt haben, daß im- prismatifchen Spektrum das Violett die am 
weiteiten abgelenkte, lichtſchwächſte Farbe ift, auf welche völlige Finiternif 
folgt. Um fo merfwürdiger ift es daher, daß fie troßdem, auf Grund 
der Newton'ſchen Theorie, hinfichtlih der Geſchwindigkeitsunterſchiede der 
jog. farbigen Strahlen gerade das Gegentheil herausgerechnet haben; 
ein Rejultat, das allein jchon hinreichen würde, um die Theorie als 
völlig verkehrt zu charakterifiren. Danach nämlich joll (in der Sarben- 
reihe der jog. Frauenhofer'ſchen Linien) Gelb, d. h. die hellfte, weil 
dem Licht am nächſten fommende Farbe, nur 523 Billionen Schwin- 
gangen in der Sekunde maden, Grün dagegen, welches viel dunkler ift, 
85 Billionen, Blau, was noch dunkler ift, 718 und Violett, die dunkelfte 
Farbe, gar 784 Billionen! Da nun nothwendiger Weije die Menge 
der Schwingungen in einer und berjelben Zeit mit ber Gejchwindigfeit 
der Bewegung in direftem Verhältniß fteht, jo folgt, daß die hellften 
Farben die langjamfte, die dunkelſten die ſchnellſte Bewegung haben 
müßten, was offenbar ein contradicetio in adjecto if. &8 wäre in 
der Ihut umerflärlih, wie Männer der jog. „eraften" Wiſſenſchaft — 
und ed find ja berühmte Namen darunter, wie, außer dem großen 
Newton jelbit, beijpieldweife Dove, Helmholtz u. U. m. — zu ** 
aller geſunden Logik in's Geſicht ſchlagenden Reſultaten gelangen könnten, 
wenn für fie die Farben eine andere Bedeutung hätten, als bloße Zahlen- 
werthe. Allerdings kommt bei Berechnung der Geichwindigfeit der Be— 
wegung der Lichtitrahlen noch ein andrer Faktor in Betracht, nämlich 
die Länge der Wellen, denn auch dieje ift, wie fchon früher erwähnt, 
von den Phyſikern berechnet worden. — Dieje beiden Faktoren jollen 
(9) 


#7 


nun, da nach Anſicht ber Phyffer alle farbigen Strahlen gleiche 
Geſchwindigkeit bejigen, im umgekehrten Verhälmig zu einander 
ftehen, jo dat durch dieſe gegenfägliche Betheiligung der Faktoren 
immer tdafjelbe Produkt herausfommen müßte. Sn aber die Be» 
rechnung der Wellenlinge mit auf der Berechnung der Undulations- 
geſchwindigkeit beruht, r ift das Rejultat — nämlich die Beftätigung 
der Vorausſetzung, daß alle farbigen Strahlen gleihe Geſchwindigkeit 
befigen — nur ein fcheinbares. Ueberdies ift es nicht einmal richtig. 
Die Wellenlänge von Roth z. B. (in den Frauenhofer'ſchen Yinien) 
wird auf 0,0006 878 mm, feine Schwingungsgejchwindigfeit in der 
Sekunde anf 480 Billionen angegeben, bei Violett dagegen die erftere auf 
0,0 003 945 mm, die legtere auf 784 Billionen. Hun braudt man 
aber blos die betreffenden Faktoren mit einander zu multipliciren, um 
fih zu überzengen, dat das Refultat nicht völlig identisch ift, jontern 
dag ſich die Geſammtgeſchwindigkeiten wie 311: 315 verhalten, folglich 
der bupothetiiche Satz, daß alle farbigen Strahlen gleiche Gejcbwindig- 
feiten haben, falſch ift. Uebrigens läpt fi, die Richtigkeit der Be— 
rechnungen vorausgejeßt, gerade hieraus der Beweis führen, daß dieſe 
ganze Theorie mit fich jelbit in Widerjpruch fteht. Denn die Annahme, 
dat alle farbigen Lichtſtrahlen von gleicher Geſchwindigkeit find, ift zwar 
verzweifelt naiv, denn fie beruht auf der nicht abzuleugnenden That . 
fache, daß das reine Licht, das ja aus allen fieben einfachen Farben zu- 
ſammengeſetzt fein foll, als einheitliches erſcheint, daß folglich alle darin 
enthaltenen Farben gleihen Schritt halten müfjen, weil, wenn eine auch 
nur um 1 Billionftel Sekunde hinter der andern zurüdbliebe, fofort die 
übrigen Farben fih ald Komplementärfarben zu der fehlenden geltend 
machen würden; 3.3. wenn Roth zurückbliebe, würde der Lichtftrahl fo- 
feih grün ausjehen müffen Wenn nun aber die verjchiedenfarbigen 

trahlen nicht aud gleiche Bewegung, d. h. ſtets verichiedene Wellen- 
längen baten jollen, jo muß nothwendig in jedem Augenblick eine 
Differenz im Licht jelbit eintreten, d. b. e8 muß fortwährend eine 
Spaltung des reinen Lichts in die fieben Karben ftattfinden; es könnte 
mithin von einfachem Licht überhaupt gar nicht die Rede jein, fondern 
nur von einem fortwährenden Schillern deffelben in den Regenbogenfarben. 
Die Newtonianer werden zwar hierauf entgegnen, dies Scillern möge 
allerdings itattfinden, da es aber jo raſch — daß es für das Auge 
unmöglich ſei, die einzelnen Farbenerſcheinungen feſtzuhalten, ſo komme 
es — wie die bekannte, mit den ſieben Farben bemalte Drehſcheibe be— 
weiſt, welche bei ſchneller Umdrehung nur den Eindruck des Weißen 
(Goethe nennt es ein „niederträchtiges Grau“) hervorbringe — fchlieh- 
lich auf daffelbe heraus, ob das eich als einheitliches oder als znjammen- 
geſetztes percipirt werde. Es ift hier nicht am Plage, dies berühmte 
&rperiment, meldyes nichts weiter als eim trügeriſches Iafchenipieler- 
kunftſtück ift, mäher zw beleuchten; wir werden aber ſpäter jehen, daß 
der darans bergenommene Beweis durchaus hinfällig it und vielmehr 
das Gegentheil von dem, was bewiejen werden foll, beitätigt. Und jo 
“ verhält es fi auch mit der Hypotheſe der gleichen Gejchwindigfeit der 
fieben farbigen Fichtftrahlen. 

39. (zu S. 57). Siehe ©. 23. 

40. (u ©. 59). Um die Grläuterung diejer eg im Xer- 
nicht allzumweit im die Länge zu ziehen, may an dieſer Stelle die Er 
Härung der dort gebrauchten Worte „ebenfalld durch ftärfere Trübung“ 

Xxviti. 409. 410. 7 (97) 


98 


ihre Stelle finden. Es könnte dem Lejer nämlich auffallen, daß die an 
fih dunfelfte Farbe, das Violett, durch noch ftärfere Trübung heller, 
nämlich zu Blau werben müſſe. Im erften Falle nämlich, bei der Ber- 
dunfelung des Gelb zu Drange, findet eine Verminderung des Lichts, aljo 
ein negativer Kortjchritt, im zweiten, bei der Erhellung des Violett zu Blau, 
eine Verminderung der Finſterniß, d. bh. ein poſitiver Fortichritt, ftatt, 
oder, was dafjelbe ift, die Trübung wirft bei dominirendem Licht negativ, 
bei dominirender Finſterniß pofitiv, d. h. erbellend. Uebrigens kann 
man fi) von der ſchwächenden Wirkung der Trübung jowohl gegenüber 
der Dunkelheit wie gegenüber der Helligkeit durch eine einfache Beob- 
achtung in jehr anihaulicher Weife überzeugen: Wenn man an einem 
Senfter, deſſen Scheiben „beichlagen“, d. h. mit Fleinen, die Transparenz 
des Glaſes aufhebenden Bläschen bededt find, die aljo recht eigentlich 
die Rolle eines „Irübenden” ſpielen, mit dem Finger einen vertikalen 
Strid über das Glas zieht und durch diefen dem Glafe die Transparenz 
zurücdgebenden Strich jo hindurchblickt, daß man durch die obere Hälfte 
auf den hellen Himmel, durd die untere auf die dunkle Straße, blidt, 
fo erfennt man, daß die noch trüben, an den durdfichtigen Strich an- 
ftoßenden Stellen jowohl den hellen Himmel dunkler wie die dunkle 
Straße heller zeigen, als fie durch den transyarirenden Strich erjcheinen. 
Geht die Trübung des Glajes bis zu dem Grade, daß überhaupt Nichts 
dadurch zu erfennen it, jo hört fogar jeder Unterſchied zwiſchen Hell 
und Dunfel in ihm auf und es erjcheint eine gleichtönige und zwar, wenn 
die Sonne darauf jcheint, gelbliche, etwas blendende Fläche, weil die 
Hemmung, welde das Licht durd die Trübung erfährt, es zugleich 
erwärmt, während bei nicht direftem Sonnenlicht die Fläche weißlich, 
d. h. kalt erjcheint. Cine ähnliche Urſache liegt in dem Umftande, daß 
Wafjerfarben, wenn fie trodnen, heller ericheinen als im feuchten Zu- 
ftande, während Delfarken durch das Trocknen ihre Farbe nicht ver- 
ändern. Iene nämlid verlieren durch das Trocknen ihre Transparenz, 
erjcheinen aljo dadurdy getrübt, während die Delfarben ihren Glanz, d. h. 
ihre Transparenz, behalten. Nur im Kalle des fogenannten „Ein» 
ſchlagens der Farbe“ (meldes durch Firnifjen gehoben werden fann) 
verlieren fie die Transparenz und werden ftumpf, d. h. ebenfalld getrübt. 
41. (zu ©. 62). Dieje erceptionelle Stellung der beiden rad 
welche zujammen die Mitte beider Sntenfitätöffalen bilden, ift wahrſchein⸗ 
ih aud der Grund, weshalb die Verwechslung von Roth und Grün 
oder — was baffelbe ift — ihre Nichtunterjcheiduug zu ben häufigſten 
Fällen von Farbenblindheit gehört, obgleich dem Anjchein nad) die beiden 
Farben doch gar feine Aehnlicyfeit mit einander haben. Es erklärt ſich 
died eben daraus, daß fie ſowohl in Dinficht der Helligfeits. wie der 
MWärme-Intenfität, wiewohl das Verhältniß beider in ihnen ein um« 
—— iſt, ſo nahe an einander grenzen, daß die Differenz nach beiden 
eiten hin von einer nicht ganz normalen Netzhaut leicht unempfunden 
bleibt. Dies „Nichtempfinden“ des Unterſchiedes iſt aber nichts anderes 
als Nichtunterfcheidung. — Beiläufig liegt gerade in dieſer Differenz 
der beiden Intenfitätsverhältnifje der ftritte Beweis gegen die Richtigkeit 
des Schopenhauer'ihen Schemas und überhaupt gegen feine Theorie 
von ber angeblichen „Theilbarkeit der Thätigkeit der Retina”, da fi aus 
legterer gerade die Identität von Roth und Grün ergeben eur weil 
jeinem Schema zufolge in beiden die Retina genau balbirt fein fol: 
zwei ſolche Karben aber wären eben nur eine und diefelbe. 
(98) 


99 


42. (zu ©. 64). Schon Descartes (in feiner Dioptr. cap. 1) 

und nad ihm Looke haben austrüdlich die Behauptung aufgeftellt, dat 
die Farben, worin die Gegenjtände und erjcheinen, durchaus nur in 
unferm Auge eriftiren. Ein auffallender Beweis für die rein phyfiologijche 
Natur diejes Unterjchiedes liegt 3. B. in der Thatjache, dat die Empfindung 
für die Helligfeit bezw. Deutlichkeit der gejehenen Gegenftände durchaus 
nicht mit der Empfindung für die Wärmeintenfität ihrer Barben zu 
jammenfällt. Der Unterjchied zwijchen EUER und Weitjichtigkeit 
berubt befanntlid darin, dar im erften Falle durch eine anormale Ver— 
größerung des Augapfels, im zweiten durch eine anormale Berkleinerun 
defjelben der normale Focus verrüdt wird, welcher daher auf — 
Weiſe — im erſten Falle durch konkave Brillengläſer, im zweiten durch 
fonvere — wieder hergeſtellt werden muß. Wäre nun die Empfindung 
für Helligkeit bezw. Deutlichfeit identijh mit der für Wärme, jo mühten 
in beiden Fällen auch die Farben Fälter erjcheinen, was nicht der Fall 
ift; vielmehr findet oft das Gegentheil ftatt. Schreiber diejes befigt im 
jeinen Augen den thatjächliben Beweis dafür. Er iſt Furzfichtig und 
zwar in bedeutend verjchiedenem Grade hinfichtlic beider Augen; und 
erade das Auge, welches einer um etwa 5 Nummern jchärferen Brille 
edarf, alſo um joviel furzfichtiger ald das andere ift, fieht die Farben 
merkli wärmer als das legtere ftärfere Auge, gleichviel, ob diejelben 
mit oder ohne Brille betrachtet werden; ein Beweis, daß die Empfindung 
für Wärmeintenfität nichts mit der Schärfe des Sehens zu thun hat. 
Ob dabei neben der Neghaut noch eine andere Augenhaut eine Rolle 
jpielt, ift eine Trage, die meines Wiſſens bis An nicht aufgeworfen ift 
und die zu beantworten meinerjeitd? wegen Mangeld an Iinreichender 
anatomijch-phuftfaliicher Kenntnig nicht gewagt werden darf. 

43. (zu ©. 66). Gegenüter diejer einfachen Darjtellung des Prozeſſes 
ber Barbenerzeugung, auf Grund der Unterfdeidung der Helligfeits- und 
MWärmeintenfität, machen nun die Erklärungen der Karben in den phyſika⸗ 
lichen Lehrbüchern einen kurioſen Eindrud. Auch zu Goethe's Zeiten muß 
in diejer Beziehung Merkwürdigee geleiitet worden fein, denn es findet fich 
in Bezug auf die „meufte Farbentheorie nah Wunſch“ — die mir 
nicht befannt iſt — in jeinen Xenien folgendes ergötzliche Diſtichon: 

„Selbrotd und Grün madt das Gelbe, Grün und ee das 

laue! 

So wird aus Gurfenjalat wirklich der Ejfig erzeugt.“ 
Allerdings liegt Gelb zwijhen „Gelbroth“ (d.h. Drange) und Grün, 
ebenſo Blau zwijchen &rün und Violett; der Unfinn beruht nun darin, 
daß Wunjc eine Urfarbe (Gelb bezw. Blau) aus „Milhung* fom- 
plementärer Grnndfarben entjtehen läßt, während nur das Umgefehrte 
ftattfinden faun. Auch Pouillet in — El&menets de Physique 
(vol. II p. 223) jagt in berjelben abjurd-plumpen Weije: „l'orange 
et le Vert donne du Jaune“! — Man verjuche doch, aus Drange und 
Grün Gelb zu fahriciren! 

44. (zu ©. 67). Dieje Auffaffung der Nerventhätigkeit der Neb- 
baut wiberipricht übrigens auch der eignen Theorie Schopenhauer'd, da 
er diejelbe wejentlih (S. 22) auf die Thatſache gründet, dab „alle 
Senfibilität nie reine Paſſivität, jondern Reaction auf empfangnen 
Reiz ift“. Gr bezieht fi dabei jogar auf Ariftoteles, indem er aus 
deffen Abhandlung „über die Träume“ die Stelle citirt: od uövor mdeyen, 
dlka xal ayrınas 73 rWv Ypwudrwe aisdurycuor („dad Senforium, 

7 (29) 


100 


wodurd die Natur der Farben percipirt wird, verhält ſich nicht blos 
leidend, ſondern ijt dabei zugleich wirkend'). Wie fann aljo dabei von 
einer Theilbarfeit, d. b. einer theilweiſen Aktivität und theilweiien Baflivi- 
tät die Rede jein? Sa, aus diefer Auffaffung der Farbenempfindung 
würde fich grade ein Beweis für die von ihm jo heftig angegriffene 
Newton'ſche Lehre von der Zujammenjegung des Lichts aus fieben 
farbigen Strahlen ergeben. Er jagt nämlih (S. 39): „Demnad wären 
wir auf diefe Weiſe von einer Theilung des Sonnenftrahls zu einer 
Theilung der Thätigfeit der Retina zurücgeführt.* Da nämlich, wie ich 
nachgewieſen, die jubjeftive Empfindung mit der objektiven Qualität des 
Lichts in Analogie jtehen muß, oder vielmehr: da Beides, Licht. 
Empfindung und Licht-Erfcheinung, nur die beiden Seiten defjelben 
identiſchen Prozeſſes darjtellen, jo müßte einer angeblihen „Iheilbarfeit 
der Retina” audy eine Theilbarfeit des Lichts entipredhen. Nichts 
ſpricht aljo mehr gegen dieje mechaniſche Auffaſſungsweiſe Schopenhauer's 
von der Nerventhätigkeit der Neghaut als gerade der Irrthum der 
Newtom'ſchen Theorie. 

45. (zu ©. 70). Ueber diejen jhon von Newton — auf Grund feiner 
Ssebenfarbentheorie — behaupteten Paralleliomus zwijchen der Farben» und 
Zonjfala handelt ausführlich ein Artikel in den „Grenzboten* (Nr. 12. J.) 
worin ic die Unwahrheit defjelben nachgewieſen. Für unſern Zwed 

enügen die obigen Andeutungen, deren jpäter bei Betrachtung der fon- 

— Verhältniſſe der Farbenharmonie noch einige andere hinzugefügt 
werden. 

46. (zu ©. 71). Dies hat ſogar Geltung bei den antiken Farben- 
benennungen, objchon hier im Uebrigen ziemlidye Unficyerheit herrſcht — d. h. 
für uns binfichtlid der beftimmten Farbenvorftellung, welde die Alten 
mit einem Ausdrud verbanden. — Der Ueberſichtlichkeit halber führe 
ich folgende Namen an: „Gelb“ heißt im Griechijchen Eavdes in der 
Nünnce „blond“, lat. flavus; daneben eriftiren aber noch jefundäre 
(meift von Naturdingen entlehnte) Namen: mußßes (von möp) feuergelb, 
anhwos (von uäAos) quittengelb, xıdfcc —— (lat. gilvus« „gelb“), 
Xhwpss grüngelb und wypos weißlich gelb (pallidus); Rothe epußpdg, 
ruber, daneben jefundär: dowixds (von der Purpurjchnede) purpurroth, 
mubdes (auch in der Bedeutung braunroth); „Blau* yAauxos (caeru- 
leus) meerblau; daneben ſekundär aeEwos (luftblau, aber auch dunfel 
ſchlechthin, daher lat. caliginosus, ja obscurus — was injofern inter- 
efjant ift, als dadurch die Goethe'ſche Theorie von der eigentlich ſchwarzen 
Farbe des Himmels beftätigt wird: 


Verdoppelte fi der Sterne Schein, 
Das AN wird ewig finfter jein.” (Xenien.) 


ferner xuaveos (ftahlblau, cyaneus, auch von jhwarzen Augen gebraudt). 
— Neben diejen Benennungen für die Urfarben finden ſich nur noch für 
die anderen Grundfarben: „Orange“ wyAwocöys, color meli punici, 
.Violett“ ioBayns, iavdwos (von iov Veilchen) violaceus, „ Grün * 
mpacıyos, porraceus er ig 1 wuös (Farbe des unreifen Obſtes, 
daher neben viridis mit dem Mebenbegriff des Friſchen, Sugenblid- 
kräftigen, auch erudus (roh); endlih „Braun“ foveus, ebenfalld von 
der Farbe des punijchen Apfeld doa, malum punicum, granatum u. 1. f. 

Die Thatſache übrigens, daß bei den alten Völkern die Farben. 
begeichnungen jehr unbeftimmt waren, jo daß 3. B. für die Farbe des 

(100) 


101 


Himmels derjelbe Ausdrud (xvavos) wie für die ſchwarzen Haare ge 
braucht wurde, erflärt Dr. E. Krauje (Carus Sterne, in der „Garten- 
laube 1880“ Nr. 144) in feinem Aufſatz „über die Sntwidlung bes 
Sarbenfinnd*, daraus, daß genauere Bezeichnungen für die Unterfäjiche 
der Karben erit mit der Ausbildung der Kärberei ſich eingebürgert hätten. 
Er macht auf ein durch Athenäus aufbewahrtes Fragment von Sophofles 
aufmerfiam, worin diejer fih über die Schulmeifter luſtig macht, die von 
Homer und anderen Dichtern behaupteten, fie hätten die Karben nicht 
unterjcheiden können. Wichtiger noch für die Widerlegung der Behaup- 
tung, daß, mo — wie bei unfultivirten Bölfern — für mandye Farben 
die Ausdrüde überhaupt fehlen, deshalb audy die Empfindung für bie 
betreffenden Unterjchiede mangele, ift folgente von Garus mitgetheilte 
Thatſache: Der Premierminifter Gladitone hatte auf Grund jeiner 
riechiſchen Studien die Behauptung aufgeftellt, daß die Griechen der 
ur; sd Zeit nur ein geringes Unterjcheidungsvermögen binfichtlid) 
der Farben gehabt hätten; eine a die der Phyſiologe Geiger 
auf alle alten Kulturvölfer ausdehnen wollte, und die ven einem andern, 
Dr. Magnus, zu einer förmlichen Theorie ausgebildet wurde. Carus 
jhrieb im „Kosmos* dagegen und wies darauf bin, dat fidh eine ganz 
ähnliche Unficherheit im Gebrauch noch nicht hinlänglich firirter Farbfiof 
namen, wie beim Homer, auch bei jegt lebenden afrikaniſchen Naturvölkern 
finde, und forderte Reijende und Ethnologen auf, darüber Unterſuchungen 
anzuftellen, ob dieje Nichtunterjcheidung auf ein unausgebildetes Unter 
iheidungsvermögen oder blos auf eine In diefer Richtung unausgebildete 
Sprache zurüdzuführen je. Darwin hatte diefen Artikel des „Kosınos* 
an Gladſtone und diejer ihn wieder an Grant Allon gejandt, welder 
nun eine Menge Fragebogen an zahlreiche Mijfionäre, Konjuln u. j. f. 
in fremden Ländern mit dem Erſuchen jandte, feitzuitellen, ob die Ein 
gebornen die Farben unterjheiden und benennen fünnten. Allon berichtete 
Ipäter in einem bejonderen Buche („Der Karbenfinn. Sein Urjprung 
und jeine Entwidlung” u. j. f. überjegt von Dr. Krauje), und theilt 
darin das Rejultat jener Unterjuchungen mit, welches dahin geht, daß 
aud die am niedrigften ftehenden Menjchenracen die Farben unterjcheiden 
fönnen, daß fie aber meift nur für diejenigen bejondere Bezeichnungen 
baben, die HB auch färben fönnen, während fie von den andern — grade 
wie bei Homer — oft nur ein Wort für zwei Farben haben. — Auch 
die berühmten Berliner Autoritäten der anthropologiihen Wiffenichaft, 
Virchow und Hartmann, baben durch ihre Prüfung des Farbenfinns 
afrifanijcher Naturvölker dafjelbe Rejultat erhalten, wodurch die Frage 
wohl als erledigt zu betradyten fein dürfte. 

47. (zu ©. 75). Als nämlich dies Kunſtſtückchen durd den Phyſiker 
Mollmweide für die Newton’ihe Theorie geltend gemacht wurde, jchrieb 
Goethe: 

Newtoniſch Weiß den Kindern vorzuzeigen, 

Die pädagog'ſchem Ernſt ſogleich ſich neigen, 

Trat auch einſt ein Lehrer auf mit Schwungrads Poſſen: 

Auf ſelbem war ein Farbenkreis geſchloſſen. 

Das dorlte nun. — „Betracht' es mir genau! 

„Bas fiehft du, Knabe?" — „„Nun, was jeh' ih? — Grau.““ 

„Du fiehft nicht recht! Glaubft du, daß ich das leide? 

„Weiß, dummer Junge, Weiß! So ſagt's Mollweide.“ 

48. (zu ©. 76). Scopenhauer, der died Erperiment (S. 56) 

(101) 


102 


ebenfalld beichreibt, ergeht fih — durch jeine irrthümliche Nichtberüd- 
fihtigung des jo außerordentlich wejentlichen Unterſchiedes der Helligfeits- 
von der Wärmejfala der Farben genöthigt — in jehr weitläufigen und 
unbeftimmten Erflärungen, die jchlieglih immer wieder auf feiner faljchen 
Vorftellung von einer angeblihen „Iheilbarfeit der Thätigkeit der 
Retina“ fuhen, während in Wahrheit die bei der Verbindung zweier 
verjchieden gejchliffenen Gläjer ftattfindende Achromalie nur eben durd) 
je Differenz der Helligkeits und MWärmeintenfität der Farben verftänd- 
ih wird. Daß bei der Auffangung der jog. fieben prismatiichen Farben 
durch ein zweites Prisma, wodurch befanntlich ebenfalls Weiß entiteht, 
derjelbe Prozeß der Rückbrechung in die urjprüngliche Richtung der 
Strahlen ftattfindet, bedurf hiernach feines Beweiſes. Findet dagegen 
bei diejem Experiment feine volljtändige Rüdlenfung in die gerade 
Richtung Statt, jo entfteht auch fein Weiß, jondern, da in diefem Kalle 
nicht fomplementäre Barben einander deden, erzeugen fih nur Miſchfarben; 
jo giebt 3. B. ein rother Streifen, von einem blauen gedeckt, oder um 
gefehrt: Violett, ein gelber, von einem rothen oder umgekehrt: 
Drange ui. f. 

49. (zu ©. 78). Wenn daher Goethe — in Folge jeiner übrigens 
von Schopenhauer getheilten Nichtbeachtung des Unterjchiedes wit en 
der Helligkeits und Wärmeintenfität — der, wie ich gezeigt, von princi- 
pieller Bedeutung für die Erklärung der Farbenerzeugung ift — behauptet, 
daß die Ergänzung prismatiſcher Komplementärfarben zu Weiß nur 
Augentäujchung jei, und daran fefthält, day daraus nur ein „nieber- 
trädtigeß Grau“ entjtehen fönne, jo geht er darin entichieden zu weit. 
Grade, weil dur die Rückbrechung die urjprüngliche Parallelität der 
Strahlen wiederhergeitellt wird, muß auch nicht mur die jubftanzielle 
Modifikation des Lichts, d. h. die Farbenerſcheinung, wieder aufgehoben, 
fondern auch dem Licht jeine neutrale Eigenſchaft, nämlich die Helligkeits- 
intenfität, wiewohl felbjtverftändlicher Weije in einem durdy die Wirfung 
des trübenden Mittels geihwächten Grade, rejtituirt werden. Daß daher 
das dadurch entftehende Weit nicht gleih dem vollen Licht jein kann, 
ift erflärlich, aber ed Grau zu nennen, liegt dennoch feine Beranlafjung 
vor. Würde das Richt völlig reftituirt — wie Schopenhauer, der immer 
Weiß mit reinem Licht identifieirt, annimmt (©. 45) — jo würde es 
einfah Blendung, aber nit Weiß erzeugen: Dieſes Weit iſt alſo 
bereits das getrübte Richt. 


(102) 


Shriftfprade und Volksmundart. 


Vortrag, 


gehalten im Mufeum zu Heidelberg am 14. December 1878 


von 


Prof. $. Oſthoff 


in Heidelberg. 


GP 





Berlin SW., 1883. 


Berlag von Gar! Habel. 
(C. ©. Züderiti’sche Berlagsbuchhandlung. 
33. Wilhelm. Straße 33. 


Das Recht der Ueberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Dem üppigen Waldeöboden, aus dem vieler Bäume 
Wurzeln ihre Nahrung faugen, entjprießen in dichter Nacıbars 
Ihaft zwei edle Stämme. Es grünen und treiben fie beide 
eine Reihe von Sahren heran. Ein jeder verfpricht, nidyt minder 
dereinft als der Genofje eine jtattlihe Zierde des Forfted zu 
werden. Gleicher Urjprung und gemeinfame Jugend verbinden 
ja des Waldes lebensfriſches Kinderpaar und jcheinen fernere 
gemeinjame Scidjale für das jpätere Alter hoffen zu laffen. 
Aber es ift weit anders beſchloſſen. 

Der Kunftgarten der benachbarten Stadt braudyt zu jeinem 
Zierrath einen Baum von gerade der nämlidyen Gattung wie 
unjere zwei jugendlichen Stämme, Da naht fidy eined Tages 
ded Kunftgärtnerd Hand dem einen derjelben, weiß ihn geſchickt 
zu entwurzeln und giebt ihm feinen Plaß unter den Zierpflanzen 
des Parks. Beftändiger und forgjamer Pflege genießt der ver: 
pflanzte Baum fortan vollauf. Es wird gerade an ihm gezogen 
und gebogen, was irgend Miene macht frumm zu wadjen. 
Es wird gejcheitelt und gejchneitelt, wo irgend an unerwünjchter 
Stelle ein dad Ebenmaß ftörended Zweiglein anzujeßen droht. 
Umgefehrt weiß an Stellen, wo das natürliche Wahsthum aus— 
bleibt, aber aus lünſtleriſchen Rüdfichten erforderlih zu fein 
icheint, der Parkgärtner durdy Deulieren und Aufpfropfen nach— 
zubelfen und bedient fi) zu ſolchem Zmwede auch jogar der 
Reijer der gattungsverwandten Waldbäume. So wird durd) 
forgjame Hut und zwedbewußt pflegende Mühewaltung nad) 


xvur 41. 1° (105) 


4 


und nad diefer Baum zu einem Kunftbaum und jenem jehr 
unähnlich, der als fein ehemaliger Sugendgeipiele im friſchen 
Walde weiter gedeiht, von Feiner pflegenden Menjchenhand 
berührt, nichts befitend ald was ihm die Natur jelbit verliehen, 
durch die reichen Gaben biejer aber, troß des weniger eben- 
mäßigen Wuchjed, troß ded rauheren Gejammteindrudes, nicht | 
minder eine Augenweide dem Sehenden und an echter natur= 
wüchfiger Entfaltung ſich Erfreuenden. 

Dem aus dem Walde frühzeitig verpflanzten, aus einem 
Naturerzeugniß zum Kunftproduct umgeichaffenen Baume ver: 
gleicht fih die Schriftipradhe. Die Volksmundart ift 
ber vom heimathlihen Mutterboden nicht lodgetrennte, feiner 
fünftlichen Pflege anheimgefallene, darum in feiner natürlichen 
Entwidelung verbliebene Waldesiprößling, ein Gleicher unter 
Seineögleichen im Baummalde, d. i. der von den mannigfaltigen 
Formen mundartlier Rede gebildeten Geſammtvolksſprache. 

Unfere neuhochdeutſche Schriftijprahe und ihren 
Gegenfab zu den heutigen deutſchen Volksmundarten 
fchildert einer der neueren Sprachforſcher mit einem ganz ähn- 
lichen Bilde. Schleicher fagt von ihr: „fie ift fein am lebendigen 
Baum der deutſchen Spradye unbemwußt und naturgemäß bervor- 
geſproßtes Reid, fondern vielmehr etwas in vielen Stüden 
durdy Einfluß des menſchlichen Willend abſichtlich gebildetes 
md zujammengemürfelted."?) Und ein Blid auf den Ur- 
ijprung und die Entitehung unjerer Schriftiprache beftätigt 
diejed Urtheil. 

Bekanntlich ift die Sprache, die wir heutzutage fchreiben 
und der wir ımd in der gebildeten Rede zu bedienen pflegen, 
im Mejentlihen diejenige Sprade, welche der Bibelüberjegung 
Luthers und feinen fonftigen mächtig an's Volk fi) wendenden 
Schriften ihre Einführung in den allgemeinen Gebrauch ver- 
dankt. Auf die Frage, woher Luther diefe Sprache entnommen, 


bat er jelbft die befannte Ausfunft gegeben, er bediene fich 
(106) 


5 

nicht einer „gemwillen fonderlidhen eigenen Sprache im Deut- 
ſchen“, d. h. aljo nicht einer fpecielen Mundart, fondern ber 
Sprache der „ſächfiſchen Kanzlei, welcher nachfolgen alle Fürften 
und Könige in Deutſchland.“ Noch heute find über die Frage, 
woher denn wiederum dieſe kurſächſiſche Kanzleiſprache ftamme 
und wie fie ihrerjeitS zu Stande gekommen, die Acten wicht 
völlig geſchloſſen. Doc, Folgendes dürfte feftitehen. 

Nachdem in der eriten Hälfte des 14. Jahrhunderts der 
Gebrauch der lateiniihen Sprade in den officiellen Urkunden 
abgejchafft war, nachdem dann noch eine Zeit lang der Verſuch 
gemacht war, in den Kanzleien der Fürftenhöfe und des Reiches ih 
der jedbeömaligen Heimathſprache des regierenden Fürſten zu be» 
dienen, machte ſich doch bald darauf aus Zweckmäßigkeitsgründen, 
nämlich behufs Erleichterung des officiellen jchriftlichen Verkehrs im 
Reiche, dad Bedürfniß nach einer Nivellierung der Sprache geltend. 

Es ward enticheidend für den Charafter der ſich nieder: 
jegenden Schriftiprache, daß mit Karl IV. (1347—1378) und 
Wenzel (1373—1400) eine genügend lange Periode böhmiſch- 
luremburgijcher Herrſchaft eintrat: anf der Grundlage des 
böhmijcheöfterreihifchen Dialektö, wie er damals in Prag 
geſprochen ward, conjolidierte ſich in der Prager Kanzlei eine 
gewiſſe conventignelle Schreibweiſe der die Zukunft, zunächſt als 
einer Art Schriftipradye für Ober: nnd Mitteldeutichland, ange- 
hören follte.e Die Kanzleien der nächften Kaijer verblieben, 
obwohl die Herricher ja zumeift anderen Geſchlechtern ald dem 
luxemburgiſchen angehörten, bei der unter Karl und Wenzel 
genügend erſtarkten böhmiſch-deutſchen Urkundenſprache oder 
wandten ſich ihr wenigſtens nach geringen vorübergehenden 
Schwankungen immer wieder zu. 

Und vollends Marimilian I. (1493—1519), in deijen 
ganz bejonderem Interefje es lag, bei feinen über ganz Deutjcy- 
land zeritreuten Beſitzungen möglichfte Einheit und Feftigfeit 
des jchriftipradhlichen Herfommend zu befördern, bat ein nicht 

(a0) 


6 


geringed Verdienſt, um die Durdführung einer allgemeinen 
nah und nad über die Mundarten ſich ftellenden und von 
Defterreih bid zu den Niederlanden in gleicher Weile ver- 
ftandenen deutſchen Sprache ſich erworben. 

Wie auf der bleibenden böhmijchedeutichen Grundlage dieſe 
Schriftſprache allmählich jo weit fich verändern mußte, daß fie 
Accomodationen an den Sprachgebrauch der einzelnen Dialekte 
erlitt, und durch Aufgaben provencieller Eigenthümlichkeiten Con— 
ceffionen an die Sprache und Redeweiſe der übrigen Reichstheile 
machte, braucht faum bejonderd hervorgehoben zu werden. Der 
vornehmlichfte Factor, mit welchem eine Audgleichung der Faijer- 
lichen böhmijch » öfterreichiichen Kanzleiſprache zu erfolgen hatte, 
war die mittlerweile gleichfall® zu Stande gefommene, auf 
mitteldeutjcher (nach Anderen binnendeutſcher) Dialekt: 
grundlage erwachlene kurſächſiſche Kanzleilprache. 

Indem mit diefer in den getheilten Erneſtiniſchen und 
Albertiniichen Landen mit Ueberwindung anfänglidyer localer 
Schattierungen durchgedrungenen mitteldeutjchen Urfundenfpradye 
die Sprache der kaiſerlichen Reichöfanzlei zu pactieren hatte, 
war aber dody im Weſentlichen jene erftere der verlierende und 
Zugeftändniffe madende Theil: aus der jädhfiihen Kanzlei» 
ſprache verjchwanden in der zweiten Hälfte des 15. Sahrhunderts 
die rein und erclufiv mitteldeutfchen Spraceigenthümlichkeiten, 
bevorzugt wurden die dem Mitteldeutichen und Dberdeutichen 
gemeinfamen Formen. 1485, den Zeitpunkt des Regierungsan- 
trittes Sriedrichd des Weiſen, beftimmen die neueften For— 
Ihungen auch ald den Zeitpunkt, wo jene Annäherung der fur: 
jähfiihen an die kaiſerliche Kanzlei vollzogen war. Die 
Sprade alfo, die Luther ald die der ſächſiſchen Kanzlei in den 
allgemeinen litterarijchen und privaten Verkehr einführte, war 
von der durch Kaijer Marimilian und feine Schreiber über alle 
Theile des Reiches verbreiteten Urfundenjprache nicht mehr ver« 


ſchieden. 
(108) 


7 


Mit Luther aber ift dennody nicht die deutſche Sprachein— 
beit wie auf einen Schlag geichaffen gewejen. Nur der erite 
fihere und bleibende Grund dazu ift durd ihn und die Refor- 
mation gelegt. Noch lange Zeit hindurch find in plattdeutichen 
Landen Kanzel, Schule und Gerichtöftube plattdeutich geblieben, 
Bibel, Katechismus und Geſangbuch jogar aus Luthers Sprade 
in die heimifche Mundart überjegt worden. Auf das katholiſche 
Deutſchland, die größere Hälfte, blieb überdies die Wirkung wie 
der Reformation jelbft jo auch der Sprache derjelben gering. 
Und Luthers Sprache war auch troß aller ihrer univerjalen 
Tendenz immer noch zu provinciell, ja zu individuell’ gefärbt, 
um als allgemeined Verkehrsmittel, als gemeindeutiche Schrift» 
und Buchſprache fi ohne weiteres zu eignen. Wie dieje und 
andere Kräfte der Schöpfung unjerer Spradeinheit, die ebenjo 
wenig wie jpäter die politiiche Einheit ohne Kampf zu Stande 
fam, entgegenftrebten, hat redyt anziehend Klaus Groth in 
jeinem hübſchen Schhriftchen „über Mundarten und mundartige 
Dichtung” geichildert. ?) 

Was ein allgemein brauchbares Geräth werden joll, das 
will zuvor erft probiert und handwerfömäßig zugeftußt fein. An 
unjerer werdenden Schriftſprache haben neudeutjche Poeten und 
Reimer, jowie ftubengelehrte Grammatifer und Spradymeifter 
dieje nothwendige Zuftugung vollzogen. Nachdem der Schlefier 
Martin Dpig durch fein 1624 erjchienened Epoche machendes 
Büdlein über „die deutjche Poeterei” die Regeln der neueren 
Verskunſt gegeben, ward die Poefie, die man hinfort als eine 
erlernbare Fertigkeit betrachtete, dad Tummelfeld der mittel- 
mäßigften und unberufenften Geiſter. Um Opitz ſammelte fich 
die jogenannte erfte jchlefiiche Dichterſchule. Im ihr namentlich 
entipann fi) eine reimende Thätigkeit, welche zwar unjerer 
nationalen Dichtung nicht viele werthuollen Früchte eingetragen 
hat, immerhin aber für unfere Sprache und die Befeftigung 
der Spracheinheit bedeutend geworden if. Man band fih an 


(109) 


8 


fefte Normen des Sprachgebrauch8, verpönte Ausfchreitungen gegen 
die vereinbarten Regeln der Wortftellung, verbannte und ver: 
folgte die Provincialißmen im Ausdrud und hielt auf „Reinig- 
feit und Dignität der Sprache“, wie Opitz jelber es nannte. 
Don Opitz' Zeiten auch fchreibt ſich der verächtliche Nebenbegriff 
ber, den man vielfach mit dem Worte „Mundart“ verbunden 
bat. Das Beijpiel der ſchlefiſchen Dichterlinge aber im Sprechen 
und Keimen fand Nahahmung in der an wahrer Poelie armen, 
an dichtende Kunit feine großen Anſprüche ftellenden Zeit. 

Hundert Jahre nad Opitz war es Gottſched, der als 
Profefjor der Beredtjamkeit im Leipzig großen Einfluß in weiten 
Kreijen der gebildeten deutichen Melt gewann. Gottſched hat als 
Dichter, Kritiler und Sprachmeiſter, ald Gejeßgeber und Richter 
in deuticher Grammatik feiner Zeit eine wahre Dictatorrolle zu 
jpielen gewußt. Ihm gelang ed, alles Mundartlidye endlich 
erfolgreich zu befämpfen, Provinzialiömen und Fdiotiömen in der 
Schriftſprache mit der Macht der Autorität niederzuhalten. Und 
dad war nöthig. Dieje Unterdrüdung von Natur und Freiheit 
tonnte leider unjerem Volke nicht erjpart bleiben, damit es zur 
Einheit der Sprade gelangte. 

Und wenn auch wahrhaft geniale und jchöpferiidhe Geifter 
fih aufbäumen mochten gegen den Dictatorzwang, wenn aud 
ein Herder die volle Schale feined Spottes und Hohned aud- 
giebt „über die Wortgrübler, Schulmeijter, Regelnjchmiede, über 
die Pedanten der Reinigfeit und des Meblichen, über die Groß- 
fiegelbewahrer der Keujchheit der Sprache, die in der Sprache eine 
ſolche Langweile, ſolchen Büdyer-, Katheder- und Studierftubenton, 
jolchen Profeſſor- und Paragraphenftil eingeführt haben“ 3): es 
balf alles nichts und Gottjched bleibt das große Verdienft, „auf 
die letzte Einübung und Ausübung einer ſolchen gemeingiltigen 
hochdeutſchen Schrift» und Buchſprache im ganzen deutfchen Reich 
mit jtrenger Hand gehalten und fie endlich, aljo Mitte erit des 
vorigen Jahrhunderts, durchgejegt zu haben.“ *) 


(110) 


9 





Unſerer hochdeutſchen Schriftſprache haftet nun immerdar 
von dieſem ihrem Urſprunge her der zwiefache Charakter an, 
daß ſie einerſeits ein auf conventionellem Wege gebildetes und 
noch ſtets ſich bildendes und darum der fortdauernden Aus— 
gleichung mit den Volksdialekten geradezu bedürftiges Verkehrs- 
organ iſt, dab fie andererſeits aber auch, um das zu bleiben 
was fie ift, nothwendig in einem gewiſſen Abftand von der 
Volksſprache fih halten, alle Gontagion mit ihr nicht ange- 
meilenen volföthümlichen Glementen forgfältig vermeiden muß, 

Wohin audy immer die Schriftipradhe, der Volfärede ſieg— 
reich Terrain abgeminnend, dringt, überall Jah und fieht fie fich 
noch heute wie zu Kaijer Marimiliand und Luthers Zeit genöthigt 
Gompromijje mit der volföthümlichen Sprechweiſe zu ſchließen. 
Nicht nur, daß ſich die Schriftipradye je nach den verſchiedenen 
Gegenden Deutſchlands, wo fie geiprodhen wird, bald ftärfer 
bald ſchwächer mundartlidy fürbt; das fünnte und möchte der 
einjeitige Verehrer des gebildeten Hochdeutſch für einen zu ver- 
pönenden Mibitand halten wollen. Nein, eine binlänglicye 
Menge von in der Schriftipradye jetzt durchaus feft eingebür- 
gerten Wörtern und Wortformen können genannt- werden, 
welche diefe nachweislich aus dem Wortſchatz der Volksmund— 
arten zu jchöpfen nidyt umhin gefonnt hat. 

Unfer Wort sacht z. B. entitammt dem Niederdeutichen, 
nach defjen jpeciellen Lautgejegen es die Entwidelung defjelben 
altdeutichen Wortes ift, das im Hochdeutſchen ſchon ald sanft 
vorhanden war. Wer aber fcheute ſich heutzutage wohl des 
Gebrauches der Form sacht ald einer der gemeinen Bolfs- 
ſprache entjtammenden, und welcher unjerer Spradhreiniger 
würde die Pedanterie jo weit treiben, im Ernſte an die Ent- 
fernung und Audmerzung diejed MWorted aud dem jchriftipradh- 
lichen Hochdeutjch zu denken? Sa, zumeilen find die der Volks— 
mundart entlehnten Wörter unſerer Schriftipradye jogar ein 
poetiiher Schmud derfelben. Wir reden vom Odem Gotteß, 


(a1) 


10 


vom Born feiner Gnade: Odem, Born find die niederdeut- 
ihen Scwefterformen der hochdeutſchen Athem, Brunnen, 
welche letzteren wir aber nicht in derjelben Weije ald die edleren 
in getragener Rede anwenden. >) 

Dennody handelt der deutjche Schulmeifter auch heute noch 
in feiner Weiſe unrecht, jondern übt eine Pflicht aus, wenn er 
in der Weiſe der Opitz und Gottjched auf Reinigfeit der Schrift: 
ſprache hält, wenn er darüber wacht, daß die Grenze zwijchen 
diefer und der Volksſprache fich nicht verwildht. Es giebt Be- 
ftandtheile in den Volfsdialeften, welde man mit gutem Grunde 
nicht in die Schriftiprache eindringen läßt. Mit gutem Grunde, 
jage ich und meine damit, dab nicht etwa die angebliche Ge— 
meinheit oder Rohheit volfämundartliher Wörter ein ſolcher 
Hinderungdgrund fei, mochte dad auch immerhin für die Vers— 
fünftler und Spracdhmeifter ded vorigen und vorvorigen Jahr— 
hunderts der allein maßgebende Gelichtöpunft fein. Nein, 
darım eignen fi) mandye Formen der Mundart, einzelne 
Wörter jomohl wie funtaftiihe Wendungen, nicht für das 
Schriftdeutſche, weil auf beiden Gebieten in Folge verichiedener 
hiftorifcher Entwidelung verjchiedene Geſetze herrichend geworden 
find. Dad hier zu Lande (in der badifchen Pfalz) übliche 
seller wo 3. ®. für derjenige welcher ift im Schrift— 
hochdeutſchen deshalb unangebracdht, weil ed dem Satzgefüge 
des letzteren bei jeiner total abweichenden Ausbildung der rela= 
tiven Sätze geradezu widerftrebt, ein genau entiprechendes 
selber wo oder audy selbiger wo im Sinne von derselbe 
welcher zu jegen. Das Zuftugen und Feilen aljo an unjerer 
Schriftipradye, dad bewußte Aufrechthalten der Scheidewand 
zwijchen ihr und der vulgären Schweſter müfjen wir jchon als 
berechtigt anerkennen; ed gehört einmal mit zu dem Wejen der 
Scriftipradye, ift bedingt durch die ganze Art und Weiſe ihres 
Lebens und Beftehend. 

Nach der Weile ihrer Entitehung und nad dem Zwecke, 


(112) 


11 


den fie und erfüllt, dem Dienjte, den fie ung leiltet, bemißt 
fi aud die Werthſchätzung unferer Schriftiprache. Sie iſt das 
bervorragendite geijtige Bindemittel zwiſchen den vers 
ſchiedenen Gliedern und Stämmen deutſcher Nationalität. Ein 
Hort und Unterpfand der nationalen Einheit und Zujammen- 
gehörigfeit ift den Deutjchen zu Theil geworden zu einer Zeit, 
da fie deſſen am nothwendigſten bedurften. 

Zur glüdlichen Stunde, in einem Zeitpunfte, in welchem 
die letzten noch zufammenhaltenden Fugen des mittelalterlichen 
Reichöverbandes ſich zu lodern begannen, in welchem die centris 
fugalen Kräfte und Beftrebungen auf politiicdhem Gebiet noch 
durch eine hinzufommende religiöje Gejpaltenheit Nahrung 
erhielten, in diefem Zeitpunfte ward die deutſche Schriftipradye 
geboren. Dies föftliche Erbtheil aus dem Nachlaſſe des heiligen 
römijchen Reichs deuticher Nation muthig und entichieden ange— 
treten zu haben, dankt dem großen Reformator Luther heute 
in unferm Wolfe jelbft der und weilt ihm mit König Ludwig 
einen Ehrenplaß in der Ruhmeshalle deuticher Geiſtesheroen am, 
welcher fich des firchlichereformatoriichen Lutherwerkes zu erfreuen 
feine Beranlafjung hat. Und gefihert ward unſerm Bolfe der 
dauernde Befit dieſes angetretenen Erbtheils wiederum zur 
glüdlichen Stunde: dab und die Männer wie Opitz und Gott» 
ſched unſere Spra cheinheit befeitigten, war etwa gleichzeitig mit 
den Stürmen des dreißigjährigen und des fiebenjährigen Krieges, 
welche ja bekanntlich nur noch tiefere Zerflüftungen über unjer 
Vaterland brachten. 

Einmüthiges Zufammenmwirfen des deutichen Geifted aller 
Orten, gleiches vereintes Streben nad) den höchſten Zielen und 
idealen Gütern der Menichheit, wo und fo weit es ſich in den 
Zeiten der politijchen Zerrifjenheit aufrecht erhalten und bethätigt 
bat, da ift ed als Frucht des gemeinfamen Befited der Schrift: 
Iprache anzufehen. Dank der Schriftipradhe find in der Wiljen- 
ſchaft, Kunft und Litteratur die Deutfchen niemald in den letzten 


(118) 


12 


Zahrhunderten geipalten geweſen. Danf der Schriftipradye 
wußten fi auf diejen Gebieten die Stämme in Nord und 
Sid, in Oſt und Welt jederzeit ald Brüder, ald Genofjen 
eined Bluted und eined Geiſtes zujammenzufinden. Danf ber 
Schriftſprache erlebten wir wie wenige Völker dad Glüd einer 
zweiten großen Blütheperiode unferer nationalen Dichtung, bat 
an den Geiftesihöpfungen unferer Leffing, Herder, Goethe, 
Schiller jeder Deutſche ohne Unterjchied des Stammes und der 
ber Provinz jeinen Antheil, jeder, der ſich daran Antheil ver- 
ſchafft. Ja, die Einigkeit in der Schriftiprade und mittels 
derjelben auf dem ganzen Gebiete geiftigen Schaffens und 
Genießens, war fie es nicht vorzugsweije, weldye dad Bedürf— 
niß nad) äußerer politiiher Einigung allezeit wach erhielt und 
die edleren Elemente unjered Volkes ſtetig anjpornte, unabläffig 
nad) der Verwirklihung des nationalen Gedankens zu ftreben? 
In diefem Sinne ift ed fein Paradoron und midyt zu viel 
gejagt, wenn einem Kenner germanijcher Sprache und germani— 
ſchen Geiſteslebens die Geſchichte unſeres Volkes zu lehren 
ſcheint“): „unſere Schriftſprache iſt ein Erzeugniß des altdeut— 
ſchen Kaiſerthums und umgekehrt: das neudeutſche Kaiſerthum 
iſt ein Erzeugniß der deutſchen Schriftſprache und ihrer Litteratur.“ 

Die großen Dienſte, welche die Schriftſprache unſerem 
Volke, als das weſentlichſte und lange Zeit einzige Band ſeiner 
nationalen Einheit, zu leiſten berufen war, ſind aber umgekehrt 
auch ihr ſelbſt zu Gute gekommen. Alle Vortheile, welche unſere 
neuhochdeutſche Sprache durch ihre praktiſche Anwendung in 
Wiſſenſchaft und Litteratur und als Verkehrsmittel der die 
geiſtige Elite bildenden Geſellſchaftskreiſe erfahren fonnte, die 
find ihr in vollftem Mae zu Theil geworden. Im der Voll: 
fommenheit jeines ſyntaktiſchen Gefüges, dem genügenden, nicht 
übertriebenen Reichthum an Wörtern und Formen für die man- 
nigfaltigften und feinft differenzierten Begriffäverhältniffe nimmt 
es unjer Schriftdeutich getroft mit den Spraden der hödhft 


(104) 


13 





entwidelten Eulturvölfer alter und neuer Zeit auf. Mit Unrecht 
werden Klagen laut über Vernachläſſigung unferer Schriftſprache. 
Mit Einfeitigfeit wenigftens dringen namentlidy Verehrer und 
Kenner umjerer jprachlichen Vergangenheit auf eine bejondere 
und bewußte Pflege der formalen Seite der neuhochdeutſchen 
Sprade. Was an alten, abyeftorbenen Formen, an altfränfi« 
Ihen Wörtern, an ardaiftiihen Satz- und Redewendungen 
dahin ift oder dahin zu ſchwinden droht, das laffe man ruhig, 
unmiederbringlich und unbejeufzt, dahin fein. Wird ed ja doch 
feinem gegen den Strom ſchwimmenden Einzelnen gelingen, 
den Strem der Gejammtentwidelung in jeinem Laufe aufzus 
halten, und ift e8 ja der Sprache nicht minder wie aller orga= 
nifchen und hiſtoriſchen Inftitutionen unvermeidliched, weil natur: 
gemäßes Loos, fi emig zu verändern und jo eine Geſchichte 
zu befommen, alte8 Beſitzthum einzubüßen und — neuen Erjaß 
dafür im Wechſel der Zeiten und Berhältniffe einzutaujchen 
Freuen wir und, daß auch unſerer Schriftipradye der neue 
Erſatz und zwar fo reichlich zugefallen. Die Sprache Leſſing's 
und Goethe's darf wahrlich nicht einfeitig zu Gunften der Spradye 
Wulfila's, des Gotenbiichofs, und Otfrid's, ded Weißenburger 
Mönchs, heruntergeſetzt, dieſe nicht einſeitig auf Koſten jener 
erhoben werden. Lautliche Unverſehrtheit und etymologiſche 
Durchſichtigkeit, welche den Formenbau zu analyfieren erleichtern, 
verleihen einer Sprache unjhäßbaren Reiz. Aber Gejchmeidig- 
feit des Sprachſtoffes und Gefügigfeit deijelben im Dienfte 
jeined Hauptzwedes, des Gedanfenausdrudd, ift fürwahr ein 
nicht minderer Vorzug. Es fommt eben auf den Standpunft 
der Betrachtung an: wer der Architectur befliffen ift, dem ift 
dad Baumaterial, die Art und Weiſe feiner Ineinanderfügung 
und dergleihen dad Lehrreichite und Betrachtenswürdigite am 
einem Hausbau. Wer aber in dem Haufe wohnen mill, der 
fieht auf möglichſt zwedmäßige innere Einrichtung. An leß- 
terer hat das Gebäude unjerer deutihen Mutterjpradye in ihrer 


(115) 


4 





Ichriftipradylichen Gejtalt entichieden nur ftetd zunehmend ge- 
wonnen. Hinſichtlich des Comfortd der inneren Einrichtung 
und der davon abhängigen Wohnlidykeit für den in der Sprache 
herbergenden Gedanfeninhalt kann fidy feine Entwidlungöftufe 
der deutſchen Sprache, weder das Alt»: oder Mittelhochdeutjche, 
nody irgend eine der heutigen Volksmundarten, mit der neu— 
hochdeutſchen Schriftipradde meſſen. Sit doch auch feine der 
früheren und der jeßigen volfömundartlidden Sprachphaſen jo 
ſehr wie dieje geübt und erprobt worden in dem Dienfte, bei 
den tiefiten Fragen wiſſenſchaftlicher Forſchung ſowohl wie bei 
dem höchſten Schwunge der Poefie und Phantafie die Dol— 
metſcherin menſchlichen Denfens und Empfindens zu ſein. 

Wir haben aljo freilih wohl vollen Grund, unjere Schrift: 
ſprache in Ehren zu halten. Aber wen ihr Werth in ihrer 
Anwendung und gefteigerten Anwendbarkeit liegt, durch ihren 
Zwed, ald gemeindeuticyes Verkehrsmittel nod) heute zu dienen, 
durdy ihren nationalen hiſtoriſchen Beruf, ald geradezu einziged 
Bindemittel zwilhen Deutſchlands Bölferftämmen langehin 
gegolten zu haben, beftimmt wird, jo muß hinzugefügt werden, 
dab damit audy zugleib die Grenze ihrer Werthihäßung ges 
geben ift. 

Id fnüpfe nochmals an mein eingangs gebrauchtes Bild 
an. Melden der beiden brüderlidyen, zu verjchiedenem Ge— 
ſchick auserſehenen Waldbäume würde mein verehrier Lejer 
für den wiürdigeren Bertreter der Gattung Baum halten, 
den im freien Walde gebliebenen, durch die jegnenden und 
hemmenden Einflüffe der Mutter Natur und nur durch Diele 
in feiner Entwidelung beftimmten oder den zum Kunftbaume 
frühzeitig erforenen, den ziehender und züchtender Menjchen- 
wille in jeine Pflege nahm, dem bildende und nicht jelten ver» 
bildende Menicyenhand andere Bahnen der Entwidelung als 
die von der Natur vorgefchriebenen anwiede? Dort aljo Frei» 


beit, bier Drefjur! Wir werden eriterem Baume den Preis 
(116) 


15 


zuerkennen, daß er und das wahre Weſen des Baumes beſſer 
darftellt, eine vollfommenere Anſchauung der Baumnatur giebt. 
So muß auch die Schriftiprahe, als Sprache betrachtet, 
unzweifelhaft zurüdftehen an Werthe gegenüber der Bolf3- 
mundart. 

Mir wollen wiffen, wie menjchlihe Sprache überhaupt 
ſich entwidelt, welche Gelee bei der Veränderung der Sprache 
zu walten pflegen und ihre Gejchide bejtimmen; wir wünſchen 
jo den richtigen Begriff von dem allgemeinen Wejen der 
Spradye zu gewinnen. Da ift ed mit nicdhten die Schrift» 
ſprache, die uns auf alle unjere wißbegierigen Fragen nach 
diefer Richtung hin die treffenden Antworten giebt, da ift es 
einzig umd allein der Volksmund, deſſen ungefünftelter umd 
unverfälichter Rede wir aufmerfjam und bingebungsvoll zu 
laufcyen haben, um über das geheimnißvolle Walten und We— 
ben des Spradhgeifted ungeahnte Wahrheit zu erfunden. 

Man fürdtet faft trivial zu fein, und doch thut man noch 
nicht8 Ueberflüffiges, indem man vor der wahnwißigen Anſchau— 
ung warnt, welche alles hiſtoriſchen Sinned baar in ven 
Spradylauten und =formen der Volksmundarten nur rohe Ent» 
jtellungen und Berzerrungen des jchriftgemäßen Hochdeutſch 
fieht. Bemißt fid) das Vornehmjein nach dem Alter des Adels 
und nad) der Ahnenreihe, die Semand aufzumweilen hat, fo jteht, 
was der gemeine Mann in der Stadt, der Bauer auf dem 
"Lande jpricht und die Art und Weije, wie er ed jpricht, unver: 
gleichlih viel höher ald dad Hochdeutſch der Schriftiprache. 
Die Bolldmundarten verfolgen ihren Stammbaum in ununter- 
brodyener Reihe bis auf die biftoriichen Anfänge ded germani- 
Ihen Volksthums zurüd; in den Adern der Volksſprache fließt 
reines, jeit Sahrtaufenden unvermijchted Blut. Die Ueberlie- 
ferung der Schriftipradye bricht dahingegen verhältnißmäßig 
jehr frühzeitig nady rüdwärtd bin ab. Ihr ift felbit in den 
wenigen drei bis vier Jahrhunderten ihres Beſtehens bie 

am 


16 


Kreuzung der Rage und die Miſchung mit fremdartigem Blut 
nicht erſpart geblieben. 

Mit zahllofen Beilpielen weiß aud der halbwegs leidliche 
Kenner der Geſchichte unferer Sprache die elende Prüderie derer 
mundtodt zu machen, melde die volfdmundartliche Rede im 
günftigeren Falle wie eine mehr oder weniger harmlofe Garrica= 
tur des Schrifthochdeutichen auf fich wirken lafjen, bei etwas 
größerer Nervenfenfibilität aber eine unangenehme Berührung 
ihres zarten Trommelfelles bei den Lauten des Patoid ver- 
jpüren. Wer ed gemein findet, dad t unferer Plattdeutichen in 
dat, wat, in Faut Fuß', in Tunge Zunge', der zeibt nicht nur 
die Sprache des Engländerd und des Holländers derjelben Roh— 
beit der Ausiprache, woran er vielleicht feinen Anſtoß nimmt, 
der vergißt aud, daß zu einer, jehr frühen Zeit einftmals alle 
germaniſchen Völker, auch jeine eignen Borfahren, jo „roh“ 
auszuſprechen pflegten. Der Mann in der Palz, der von feinem 
Paif, jeinem Parrer jpricht, benennt dieje Gegenitände mit dem 
Anlaute p in alterthümlicherer Lautform, melde aljo nichts 
weniger ald die Entftellung, vielmehr die hiftorijche Vorſtufe 
ded an Urfprung jüngeren ober: und ſchrifthochdeutſchen pf tft. 
Anftatt zwei, drei (auögejprochen mit ai: zwai, drai) zählt 
derjelbe Pfälzer zwe, drai, ähnlich der Frankfurter zwäi, drai, 
der Schwabe in Württemberg aber zwai, drei (ſprich reines 
ei, nicht ai), der Niederdeutiche Weſtfalens twä, drai. Das 
ift nicht müßige Laune und Gorruption der hochdeutichen For» 
men aus Unveritand. Nein, ed hat jein gutes hiſtoriſches Recht, 
ed jcheiden die Volksmundarten falt alle dem alten Herfommen 
getren noch genau die zwei Zahlwörterformen, melde von 
allem Anfang an im Bocale lautlid) gejchieden waren, weldye 
im Gothifchen als twai, threis (jpridy thris mit engliſchem th), 
im Alt: und Mittelhochdeuticdyen ald zwei, dri, auch im heuti— 
tigen Engliſch ald two, three begegnen, weldye aber die jchrift- 


(118) 


17 





hochdeutſche Sprache mit ihren Vocalen unterjchiedlos hat zu- 
jammengerinnen lafjen. 

Doc es ift das am fich fein Vorzug, dad Bewahren des 
älteren Lautftandes nämlich, und es lafjen ſich auch Fälle an- 
führen, wo. andererjeitö die Schriftiprache das urjprünglichere 
Berhältniß treuer gewahrt bat. Es jollte damit audy, nur zum 
Ueberfluß gleichſam, dem thörichten Vorurtheil vieler Halbgebil« 
deten von der lautlihen Unvollfommenheit oder gar Verkom⸗ 
menbeit der volksmundartlichen Lautformen begegnet werben. 

Begründet die größere oder geringere Urjprünglichkeit im 
Lautftande feinen Vorzug oder Mangel einer Spradye, jo it 
ed dagegen jehr wohl die Conſequenz der Lautgeitaltung, 
von deren Grade Weſen und Charakter einer Sprache abhängt, 
der Werth derjelben ald Sprache beftimmt wird. Und in diejem 
Punkte nun erweiſen fid) die Volksmundarten ald bei Weitem 
der Schriftiprache überlegen. 

Die Spradhlaute zeigen fidy in der Bolldmundart ganz im 
Allgemeinen reiner und ungeftörter entwidelt ald in der Schrift- 
ſprache. Es ift ein Erfahrungsſatz der neueften jprachwilien- 
Ichaftlidyen Forihung, dab alle Beränderungen des Laut— 
beitandes der Sprache, joweit diejelben auf phrfiologifchen Ur- 
ſachen beruhen, d.i. aus einer allmählich erfolgenden Umbildung 
der Ausfprabhe der Wörter entipringen, nad) unverbrüdlichen 
und ausnahmlos wirkenden Gejeßen eintreten. Innerhalb des» 
jelben Dialekts — wobei man die Grenze für den Ausdrud 
Dialekt jo eng ald möglich, wo möglidy nicht über eine Stadt, 
ein einziged Dorf hinaus zu ziehen hat — innerhalb folcdyer 
Iocalen Beichränfung pflegen zu derielben Zeit die dem Dialekt 
eigenen Zautgeitaltungen derartige zu jein, daß fie mit volliter 
Gonjequenz und Ausnahmsölofigkeit durch den ganzen Sprad): 
itoff durchgeführt ericheinen. An einem romaniſchen Beifpiele 
erläutert: wenn es dem franzöſiſchen Organ mundgerecht war, 


dad lat. j ald z (weiches oder tönended sch) auszuſprechen, fo 
xviii. 411. 2 (119) 


18 


tritt diefe verwandelte Ausſprache des j in der franzöfifchen 
Spradye jo auf, daß nicht nur einige jenen Laut enthaltende 
Wörter, wie etwa jeter aus lat. jactare, juste aus lat. justus, 
jondern indgefammt alle, in denen j in der nämlichen Stellung 
und Verbindung mit andern Nachbarlauten vorfam, ſich davon 
ergriffen zeigen. Daß die für died Methode aller ſprachwiſſen— 
Ichaftlichen Forſchung ein höchſt wichtiger Gefichtöpunft ift, liegt 
auf der Hand.?) Diefen Gefichtöpunft gewinnt aber der Spradh- 
foricher nur, oder menigftend am beiten und ficyerften durch 
dad Studium der Volksrede, ded litterariih unbeeinflußten, 
naturwüchfigen, reflerionslojen Alltagsſprechens des gemeinen 
Manned. Die Fünftlich großgezogene Schriftipradye ift am un- 
geeignetften, um auf derartige Beobachtungen hinzuleiten. Da 
fie, wie wir gejehen haben, das Product vieler Compromiſſe 
und Ausgleichungen einer Mehrzahl von Dialekten ift, jo müſſen 
fih jelbjtwerftändlich die Spuren mehrjpaltiger Zautentwidelung 
eined und deſſelben Lautes oder Lautcomplexes in derjelben 
vorfinden. Es ift gleihjam eine Disharmonie, weldhe das Ohr 
des Kırmdigen, ded um den Uriprung und die Sdentität der 
beiden jchriftjprachlichen Wörter sanft und sacht Wiffenden und 
darüber Reflectierenden bei dem einen derjelben zu vernehmen 
glauben fann. Denn in den Accord hochdeutſcher Lautgeftal- 
tung paßt die eine Form sacht nidyt. In dem niederdeutjchen 
Dialekte, dem fie entitammt, fteht fie völlig unter dem Geſetz 
und folgt einer weiter greifenden Lautregel, ſtimmt gleichjam, 
um bei dem gewählten Bilde zu bleiben, zu der Tonart de 
ganzen Laut und MWortftoffed. Denn in diejem Dialekt fagte 
oder jagt man auch regulär Locht (Lucht) ftatt Luft, achter 
ftatt after, Schacht ftatt Schaft u. f. w. 

An Schriftipradhen aljo wie unjere neuhochdeutiche hat ſich 
der Sprachforſcher nicht zu menden, wenn er den richtigen 
Standpunkt gewinnen will für die Beurtheilung der in der 


Sprachgeſchichte fich vollziehenden Lautummandlungen, wenn ed 
(120) 


19 


ihm um den wahren Einblid in die formale Entwidelung von 
Sprache überhaupt zu thun if. Wohl aber find die Volks— 
dialefte und ihr Studium hierzu unentbehrli und auch dazu 
fpeciell, um aud dem Mirtum Gompofitum der Schriftipracdhe 
und ihres zufammengewürfelten Laut» umd Bormenbejtandes die 
einzeldialektifchen Beftandtheile genau auszufcheiden und Jedem 
das Seine zu geben. 

Aber, wird man mir weiter entgegnen, jei e8 auch um die 
Laute wie ed fei, mag in Hinfidht ihrer fein Unterjdyied der 
Mundarten von ter Scriftipradhe oder gar ein Vorrecht jener 
vor diejer beitehen: die vielen grammatifchen Fehler, von 
denen der volksmundartliche Sprachgebrauch wimmelt, rüden 
den Vulgärdialeft doch wohl fiher um einen beträchtlichen Grad 
tiefer ald dad grammatiſch correcte Schrifthochdeutſch. 

Ein echted Heidelberger Kind mag man wohl nad einer 
Feueröbrunft erzählen hören: Im helle Middag, wo de Sunn 
g’schaint hot, do hot's mit de Glocke gelidde, un des hot 
ebbes bedidde, der Fahne uffem Dorn is hausg’schtocke, un 
do sin mir hingloffe, wo’s gebrennt hot. Schauderhaft vom 
grammatiichen Standpunft, geradezu ein Gewimmel von faljdy 
gebildeten Formen, wird man jagen: g’schaint ftatt geschienen, 
gelidde, bedidde, g’schtocke ftatt geläutet, bedeutet, gesteckt, 
gebrennt für gebrannt. „Wie fannft du nor jo nedar= 
ſchleimig ſchprechen“, möchte man mit Nadler, dem Dichter von 
„Fröhlich Palz, Gott erhalt's!“s) den Heidelberger vom reinften 
Waſſer durch einen anderen ſchon ein wenig von der Gultur 
der Schriftſprache beledten corrigieren lafjen. 

„Mein Herr, Sie haben genossen", jagen wir Schrift— 
hochdeutſchen doch nur zum Spaß; aber der Pfälzer huldigt 
diejer Sprachverdrehung ja immer und Fennt das ridytige geniesst 
gar nicht, jondern nur fein genosse. 


In Frankfurt am Main, wenn wir und dorthin von 
* (121) 


u A 
Heidelberg aud menden, erzählt und wohl ein eingebornes Frank— 
furter Rind dieſes Idyll in feiner Mundart: Uffm Dach hat 
e Katz gesotze. Der hawe als die schene Bratwerscht 
in der Nas geschtocke, wo da owe im Dachferscht gehonke 
un ihr gewunke hawe. Hier werd als net lang gebitt, hat 
se bei sich gedenkt un is druff zu geschprunge. Welch' 
ein Gemwimmel von grammatifchen Fehlern, ruft auch dazu der 
ſchriftſprachliche Pharifäer aus. Auch bier ein geschtocke; 
ferner gesotze jtatt gesessen, gewunke ftatt gewinkt; für 
gedacht gedenkt, für gehangen gehonke! 

Es mird vielleihyt manden meiner verehrten Lejer in 
Erſtaunen ſetzen, bier von mir zu hören, mad dem hiftoriichen 
Sprachforſcher längft fein Geheimni mehr ift: jehr viele, ju 
die allermeiften unferer vermeintlid) jo jchönen und reinen 
Ichriftgemäßen Spradyformen find um fein Haar befier ald jene 
„nedarichleimigen” Kinder der Pfälzer Mundart oder ald die 
Spradhfehler in der Frankfurter Probe; oder vielmehr, dieſe 
leßteren find in ihrer Art ebenjo untadelig und gut wie unfere 
ſchriftſprachlichen Formen. 

Der erfte, der in der jchrifthochdeutihen Nede von den 
Zeitwörtern preisen, weisen die $ormen ich pries, gepriesen, 
ich wies, gewiesen bildete, hat fi, vom Standpunkte der 
älteren, mittelhochdeutſchen Sprachſtufe betradytet, genau des— 
jelben Schnigerd jchuldig gemadyt, den man dem Heidelberger 
und dem Frankfurter übel vermerfen will, wenn fie geschtocke 
für gesteckt jagen, wenn ferner jener der vom Standpunfte 
der Schhriftiprache fehlerhaften Kormen gelidde, bedidde, ge- 
nosse, diejer eined gewunke jtatt gewinkt fid bedient. Die 
Regel der älteren hochdeutſchen Sprache erforderte nämlich ich 
preisete, gepreiset, ich weisete, geweiset — noch Luther ſpricht 
ſo —, aljo die fogenannte ſchwache Bildung anftatt der jebigen 
ftarfen. Der Uebergang zu den jüngeren Formen pries geprie- 
sen, wies gewiesen gejchah jo, daß man preisen, weisen mit 

(129) 


21 


bleiben, steigen, meiden und anderen von Alterd her jtarf 
conjugierten Zeitwörtern wegen des gemeinjamen Laute ei im 
Präſens auf eine Stufe ftellte und jo nach dem Mufter von 
blieb geblieben u. ſ. w. pries gepriesen, wies gewiesen erbielt. 
Mau nennt pries, gepriesen darum Analogiebildungen 
nach blieb, geblieben, stieg, gestiegen. Genau ebenjo verhält 
ed fi im Heidelberger und Frankfurter Dialeft mit dem lr- 
Iprung jener und fehlerhaft erjcheinenden Formen. Es heißt ja 
in pfälziiher Mundart laide, bedaide, was jchrifthochdeutich 
läuten, bedeuten ilt. Der Gleichklang nun von laide, bedaide 
mit schraiwe, paife, schlaiche, graife, bejonderd audy mit laide 
‘leiden’ läßt die uriprünglihe Verſchiedenartigkeit jener Verba 
von diefen vergejjen; daher treten denn aud die Participien 
jener unter Annahme der Kormen gelidde, bedidde in das Ge- 
feife von g’schriwwe, gepiffe, g’schliche, gegriffe über. Pfälz. 
genosse von niese anltatt geniesst haf fi g’schosse von 
schiesse oder gegosse von giesse zum Mufter genommen. 
Frankfurt. gewunke, das auch zugleich heidelbergijch ift, ent— 
ftand, indem winke der Bahn des Ablauts von sinke, trinke 
folgte. Aehnlich ift in beiden genannten VBolfödinleften das 
geschtocke anftatt gesteckt von schtecke eine Analogiebildung 
etma mach geschtoche von steche, gebroche von breche, ge- 
schproche von schpreche, getroffe von treffe. 

In allen diejen Fällen jehen wir urſprünglich ſchwache 
Berba in die Bahnen ftarfer Verba einlenfen. Es fommt au 
vor, dab von der Analogie eines jtarfen Verbs ein anderes 
ftarfe8 Verb ergriffen wird und jenem zu Liebe in eine ihm 
urjprünglicy nicht gebührende Ablautsreihe übergeht. Ehemals 
conjugierten die beiden jchrifthocdhdeutichen Verba heissen und 
scheiden völlig einander gleich: wie heisse, hiess, geheissen, 
jo jagte man scheide, schied, gescheiden; in dem Abdjectiv 
bescheiden, daß dad eigentlihe Particip von ich bescheide, 


beschied tft, ift die leßte Spur diejer älteren Ablautung be— 
(123) 


22 


wahre. Wenn wir nun heute geschieden jagen, jo hat aud) 
bier der verführerijche Einfluß von meiden gemieden, schrei- 
ben geschrieben u. .w. gewirkt und dad Berbum scheiden 
aud jeiner alten Bahn geriſſen. Dem jetzt völlig iſolierten 
heissen droht übrigens ganz das nämliche Scidjal, wenn die 
aud Schon im Munde ſchriftſprachlich Gebildeter häufiger gehörte 
Form gehiessen nur noch ein wenig mehr im Gebraude er- 
ſtarkt. Was macht denn nun der Pfälzer Schlimmed, wenn 
bei ihm g’hiesse bereitö Regel ift? Was ift dem Frankfurter 
vorzuwerfen, wenn er jein sitze in die Ablautdreihe von giesse, 
fliesse, schiesse hinüberführt und ſich alſo eine neue Particip— 
form gesotze bildet oder wenn er jowie auch der Heidelberger mit 
helfe, geholfe jein Berbum henke, gehonke gleichformig macht? 

Noch weit häufiger anzutreffen iſt die Neuerung in der 
deutſchen Gonjugation, daß vielmehr ein uriprünglidy jtarfes 
Verb jpäterhin durch Analogiebildung zu einem ſchwachen wird. 
Auf dieſe Weife gilt bei und in der Scriftipradye jept ich 
hehlte, verhehlt von hehlen (verhehlen) an Stelle der früheren, 
noch mittelhochdeutichen Bildungöweije ich hal, verholn, auf 
weldye audy noch unjer unverholen hindeutet. Es gilt ferner 
beneidet ftatt des ehemaligen benitten von beneiden. Genau 
jo viel ſprachſündigt der Heidelberger mit jeinem die Sunn hot 
g’schaint für ſchriftſprachliches die Sonne hat geschienen, 
der Frankfurter mit jeinem gebitt (d. i. gebittet) gegenüber 
ſchrifthochdeutſchem gebeten. Genau jo viel, jage ich; richtiger 
wäre: genau jo wenig. 

Den Borwurf der grammatijchen Fehler aljo würde die 
Heidelberger und die Frankfurter jowie jede andere Volksmund— 
art dem Schrifthochdeutſchen jederzeit, unter Umftänden jogar 
mit dem Gleichniß von dem Balfen im eigenen und dem 
Splitter in des Nächſten Auge, zurüdzugeben wiſſen. Wie 
wenig unjere Schriftiprache ihrerjeitd gefeit war gegen das 
Eindringen folder vermeintlich tadelhaften Bildungen wie der 
(124) 


in Rede ftehenden, läßt fi auch leicht auf folgenden Wege 
zeigen. Gerade einige von den aus dem Phälziichen und 
der Frankfurter Mundart berbeigezogenen Neubildungen find 
hie und da auch in dem ſchriftſprachlichen Gebrauch ſporadiſch 
emporgetaudht. Im Fiſchart's Gargantun begegnet ein Vesper 
wol eingelitten ftatt eingeläutet; in einem anderen Denf- 
male der älteren neuhochdeutichen Zeit, dem fogenannten fran» 
zöfiihen Simpliciſſimus, treffen wir dad beditten von bedeuten 
an.?°) Bei Goethe jogar leſen wir: „Wo stickst Du?“ 
„Stickt fie denn nirgends?" „Das stickt Dir gewaltig im 
Kopfe.“®) Du stickst, er stickt find aber nicht minder 
Formen eined ftarfen Verbs wie dad volksmundartliche Par— 
ticip gestocken; man bdenfe au stichst, sticht von stechen, 
sprichst, spricht von sprechen im Gegenjat zu weckst, weckt 
von wecken, neckst, neckt von necken. Ferner wird Mancher 
von und, der ſelbſt einem Goethe das du stickst nit nadı= 
ahmen möchte, doch an feinem Theile den Gebraud) von ich, 
er stak, du stakst in der Bergangenheitäform ganz unanftößig 
finden. Nun frage ich aber: wo ift mehr Regel? auf Seiten 
der Bolfsmundarten, die faft ſämmtlich das urjprünglich ſchwache 
Berb stecken zu einem ftarfen umgeformt haben und nun con= 
jequent in der neuen Weiſe abwandeln, oder auf Seiten der 
Schriftipradhe, die zum Theil denjelben Weg betritt, aber mit 
ihrem Schwanken zwiſchen alter Präteritumöform ich steckte 
und neuer ich stak noch nicht wieder zu einer fejt normierten 
Flexionsweiſe durchgedrungen ift? Man kann andererſeits auch 
wol ſagen: es iſt nur Zufall, der es gefügt hat, daß ſolche 
Formen, wie etwa gestocken von stecken, in der Schriftſprache 
und ihrem Gebrauche nicht auf die Dauer durchgedrungen find. 
Das ift aber ebenjo wenig der Schriftſprache zum Vorzug an» 
zurechnen, wie eö ihr zum Nachtheil gereicht, anfänglich fehler— 
bafte Formen wie gepriesen, geschieden, beneidet, verhehlt 
jpäterhin janctioniert zu haben, und, fügen wir hinzu, wie es 
(1257 


24 


dem Volksdialekt zum Vorwurf zu machen ift, daß er Formen 
wie geschtocke, gelidde, bedidde ſich bat feſtſetzen lafjen. 

Um nody ein andere® Gebiet der Grammatik furz zu be: 
rühren, wie vulgär emfindet nicht in der Frankfurter und 
Hanauer Gegend das Ohr manches fchriftdeuticdh Gebildeten die 
jo überaus geläufige volksmundartliche Bildung von Ber: 
Heinerungdmwörtern in der Mehrzahl durch angehängtes -cher 
oder gar -ercher, 3. B. in diefem Product der Frankfurter 
„Baflenadıts"-Poefie: 

Die Sachsehäuser Weiwercher 
die drage rode Häuwercher 

un drage gehle Schickelcher 
un danze wie die Gickelcher! 

Um zu einem Subftantiv neutralen Geſchlechts, das jeinen 
Plural mit -er bildet, dad Verfleinerungswort im Plural zu 
gewinnen, giebt ed zunächft die eine Weile: man deminuiert den 
Plural des Grundwortes. Diejed Bildungdprincip kennt aud) 
die Schriftiprache: Formen nämlidy wie Kinder-chen, Bilder- 
chen, Eier-chen, Dinger-chen, jelbft Mäder-chen, jowie anderer- 
jeit8 mit -lein Bilderlein haben und darum ald durchaus cor— 
recte zu gelten, weil unfere beften Schriftiteller und Claſſiker fie 
nicht geicheut haben, Kinder-chen 3.8. fih u. 9. bei Leſſing 
und Uhland 11) gebraucht findet. Offenbar ift nun Kinder-chen 
nicht eigentlid der Plural zu dem Deminutivwort Kind-chen, 
jondern vielmehr dad Deminutivum zu dem Plural Kinder. 
Soldyen Volksmundarten nun, die einer in vielen mitteldeut- 
ihen Gegenden durchgreifenden Lautregel gemäß von jeder wort« 
Ichliegenden Silbe mit ftummem -en dad -n abwerfen, aljo im 
Singular Kindche, Mädche fagen wie lewe, genomme, ge- 
schriwe u. ſ. w., folhen Mundarten bietet ſich in Folge defjen 
nod eine andere Möglichkeit dar: fie können auch den Plural 
zu dem Deminutivum bilden. So gibt ed am Niederrhein und 


anderdwo Mädcher,!?) in #ranffurt Bredcher, Leffelcher, 
(126) 


Sunneschermcher, Geschäftcher, nad) einem Bildungsprincip, 
welches der da8 -n von Mädchen, Brödchen nicht abwerfenden 
Schriftſprache nothwendig abgehen muß. Zu dem -ercher nun in 
Kinnercher, Mädercher gelangen diefelben Dialekte oder einzelne 
von ihnen auf diefem Wege: die Bildung nad) dem erſten Princip, 
Deminuierung des Plurald in Kinner-che, Mäder-che, combi- 
niert fid) mit derjenigen nach dem zweiten Princip, Plurali— 
lifierung des Deminutiv8 in Kindche-r, Mädche-r. Nach 
diefer Ausbildung eined neuen, dritten Principd kann dann 
gelegentlich eins der beiden vorhergehenden, die ihm zum Auf— 
bau dienten, ald entbehrlich in Wegfall kommen. Im Frankfurt 
und Hanau find die Kinnerche, Mäderche ausgejtorben, nach— 
dem fie zu Kinnercher, Mädercher herangewadjen. Dann 
bleibt nach diefem feinem Uriprunge das -ercher hinfort nicht 
auf Subftantive von neutralem Geſchlecht beichränft, jondern 
wird ein jelbftändiges und in fich einheitliches Bildungämittel. 
Obwohl in Frankfurt und Hanau fein Menidy Fiesser hat und 
Niemand Körwer verfauft, befiten doch dortlands die Mäder- 
cher zierlihe Fiessercher und theilen hie und da Körwercher 
aud. Der verehrte Lefer möge aber wohl aud, hier einjehen, 
Daß ed nur auf ein willenfchaftliches Berftehen der Eigen: 
thümlichfeiten der Volksmundart anfommt, um diejelben nicht 
nur nit als Sprachfehler und Wunderlichfeiten geringichäßig 
zu belädyeln, fondern in ihnen jogar mandymal Vorzüge vor 
der Schriftjprache und einen diejer leßteren verjagten Bildungs: 
reihthum zu erfennen. 

Es giebt überhaupt, died kann nicht genug betont werden, 
in dem Auge unbefangener, echt hiſtoriſcher Sprachbetrachtung 
fein Richtig und Falſch einer Sprachform. Die WVifjenichaft des 
Völkerrechts verdankt dem Rechtshiſtoriker Savigny den wichtigen 
Grundjaß, daß auf alle geichichtliche Entwidelung die Begriffe 
von Recht und Unrecht nidyt anwendbar find, dat etwas geichichtlich 


Gewordened eben darum, weil ed geworden ift, zu Rechte befteht, 
(127) 


26 
dab ihm dies Recht des Beftehend nicht darum abzufprechen ift, 
weil es ſich auf Koften eines vorher beftehenden Anderen empor» 
gefhwungen hat. Mag auch Napoleon III. immerhin ſich durch 
einen Staatäftreich und ſonſtige moraliſch verwerflihe Mittel an 
die Spitze des Staates drängen, ſowie ed ihm gelingt, ſich in 
der Macht feftzufegen, ift er legitimer Kaijer der Franzoſen und 
ed werden mit ihm völferrechtägiltige Verträge abgejchlofjen. 
In dem Augenblide, wo durch Eedan Bonaparted Dynaftie 
dahinfinft, hat fie ihr hiftoriiches Recht verloren, und mit Thiers’ 
und Favre's Septemberregierung, dem nunmehr hiftorijdy be= 
rechtigten Factor, ſchließt Deutichland den Frankfurter Frieden. 
Jakob Grimm, der Altmeifter deuticher Grammatik und Begründer 
aller hiſtoriſchen Epradforihung, war der Schüler Savigny's 
und in vielen Etüden der Erbe jeiner Anjchauungen und 
gejammten hiftoriihen Auffaffungsmeife. Und Jakob Grimm ver: 
danfen wir in der Sprachwiſſenſchaft die gejündere, erſt in 
unjern Tagen fi) ganz befeftigende Stellung zu der Frage von 
der grammatifchen Richtigkeit oder Nidytrichtigfeit der Sprach— 
formen. An die Stelle von Sprachmeijterung und unbiltoriichem 
Schablonenthum, wie ed noch vor Grimm jich breit machte und 
von einem Adelung und Andern geübt ward, tritt heut in Theorie 
und Prarid die Idee der Toleranz gegen alles gejcdyichtliche 
Werden in der Epradye, wie id) ed furz nennen möchte. Was 
heißt überhaupt Recht und Unreht? Zu andern Zeiten gelten 
andere Bräuche, andere Gelee. Mefjen wir die Erſcheinungen 
der neuhochdeutſchen Sprache am Althochdeutjchen oder Gotiſchen 
ald einer Norm, fo ift wahrhaft jchredenerregend das zahlloje 
Heer von grammatiichen Ungejegmäßigfeiten und Regelver— 
legungen in unjerer jeßigen Sprechweiſe. Wiederum würden 
Althochdeutſch und Gotiſch ſchlecht befteben vor dem Richterftuhl 
der Normen, welde ehedem in der indogermanifchen Grundſprache 
ihre Geltung hatten. Und wie feine Zeitftufe der Sprache für 


eine andere maßgebend ift, jo ift auch feine locale Barietät an 
(128) 


__ 2 

der anderen, nicht die Bolldmundart an der Schriftiprache, nicht 
diefe an jener zu mejjen, fondern einer jeden das Recht ihrer 
eigenen geichichtlihen Entwidelung zu lafjen. Wenn in einer 
Volksmundart die Form gestocken anitatt gesteckt auffommt 
und fidy feitzufegen weiß im Eprachgebraudy, fo it fie die einzig 
richtige in diefer Mundart und bleibt ed jo lange, bis es einer 
anderen gelingt, fi an ihre Stelle zu drängen. Und das 
pfälziſche gelidde, bedidde, die mitteldeutjche Deminutivbildung 
die Kinnercher ijt keineswegs etwa darum falſch, weil das 
Schrifthochdeutſche geläutet, betäutet, die Kindchen oder 
höchſtens Kinderchen hat, ebenjo wenig wie in Frankreich die 
Nepublif darum zu einer rechtöwidrigen Inſtitution wird, weil 
in Deutichland die Monardyie die legitime Staatöform ift. 

Einer grammatijchen Regellofigfeit will id mit dem Be: 
merften nicht das Wort reden und feineöwegs in der Sprade 
alle beliebige Neuerung für erlaubt erklären. Ich ſage ja aus— 
drüdlidy nur, daß fidy die Nichtigkeit der Formen einer Spradye 
nicht nad) dem in ihren vergangenen Lebensperioden herricyend 
gewejenen, noch auch nach dem in einem Seitendialeft bejtehen- 
den Sprachgebrauch bemißt. Wol aber hat eine jede Spradye 
und Mundart ihre grammatiſchen Normen in ſich jelbft. Den 
Begriff des Sprachfehlers will ich nicht abichaffen, jondern 
halte ihm aufrecht, glaube ihn aber anders, als jeither gejchehen, 
definieren zu müjjen. Ein Sprachfehler ift nicht, was gegen 
die überfommenen Regeln und Bildungdgejege der Sprache ver: 
ftößt — denn die find allezeit wandelbar — jondern unter Sprad)= 
fehler müfjen wir datjenige verjtehen, was nicht, nicht mehr oder 
noch nicht, in den allgemeinen Gebrauch aufgenommen und in 
der Anerkennung der gejammten Sprachgenoſſenſchaft befeftigt 
ft. Nicht mehr, denn mande ehemals für richtig geltende 
und gebraudte Form ift jet veraltet und heute darum ein 
Spradjfehler. Noch nicht, denn manche jegt nody ald Spradı- 
fehler geltende neue Form kann unter günftigen Umſtänden ſich 

(129) 


28 


einbürgern und zu einer alddann guten umd richtigen werden. 
Wer für den Zwed des Lehrens und Lernens der Schriftiprache auf 
den Schulen dies zur Richtſchnur nähme, der würde, glaube ich, 
einerjeitd die nach und nad doch abfterbenden alten Formen, 
wie etwa ich stund, wir stunden, wie ich ward und du fleuchst, 
er fleucht, mit ſchonender, nicht gewaltjam ausrottender Hand 
behandeln und fie ihre letzte Nolle ruhig ausſpielen laflen; der 
würde andererfeitö nicht im blinden Verkennen des durch uniere 
Spradentwidelung gehenden Zuges gegen aufftrebendes Neue 
ſich erfolglos fperrbeinig verhalten, nidyt 3. B. das jchon unferen 
beiten ZTagesjchriftftellern wie Guftav Freytag und Paul Heyſe 
geläufige ich frug ftatt fragte ald Fehler beanftanden. Ein 
joldher alfo würde meined Erachtens nach beiden Seiten hin die 
richtige Mitte treffen. 

Sollen wir nun noch einen furzen Blid auf die Verſchie— 
denheit der Darftellungdmittel und der allgemeinen ftiliftijchen 
Befähigung werfen? Dürfte fit) und vielleiht von diejer 
Geite die Volksmundart in irgend welchem Nachtheil vor der 
Schriftſprache zeigen? Es ift wahr: die Schriftſprache genügt 
Anforderungen der Gultur und alled höheren geiftigen Lebens, 
welde wir an den in dieſer Beziehung ohne Uebung und 
Durchbildung gebliebenen Volksdialekt nimmermehr jtellen dürften. 
Es iſt wahr: eine parlamentarijche Rede darin zu halten oder 
eine philoſophiſche Abhandlung darin zu ſchreiben, kann unſeren 
Stammſprachen nachgerade nicht mehr zugemuthet werden. Es ijt 
Uebertreibung, wenn begeifterte Verehrer der mundartlichen Rede 
wie Klaus Groth auf Berfuche diefer Art zu dringen fein Bedenken 
trugen. Seder ſolche Verſuch ded Gebrauchs der Volksmundart 
wird nicht umhin können, bei der Schriftipracdhe leihen zu gehen, 
dadurch aber der Mundart Stoffe zuzuführen, welche ihr noth« 
wendig fremdartig zu Gefidyte ftehen, im jchlimmeren Falle ihre 
ganze angeborene ſprachliche Eigenart mit Verfälſchung bedrohen. 
Aber man lafje der Bolldmundart ihre Gebraudyäiphäre, und 


(190) 


8 

fie wird Vorzüge zeigen, einen Reichthum an Mitteln der 
Darftellung, eine Fülle des Wortvorraths und der Redewendungen 
entwideln, welche in gleihem Grade der Schriftſprache nidyt zu 
Gebote ftehen. 

Unfere Schriftipradhe hat nämlidy neben den Vortheilen, 
welche ihr durch langjährige Hebung ald Sprache der Wifjenfchaft, 
Kunft und Litteratur zu Theil wurden, unleugbar auch ihre 
Nachtheile durch eben diejed gehabt. Mit Recht ift ihr vorge- 
worfen, daß fie immer abjtracter, immer farblojeren und abges 
blaßteren Ausjehens geworden jei. 

Einem wahren Stelzengange gleicht der über die Maßen 
verijchränfte und verjchnörfelte Periodenbau, wie er vom Schreib» 
pult der Philoſophen und Gelehrten aud dem ganzen Charakter 
unjerer Schrift und Gebildetenſprache nunmehr leider allzu tief 
aufgeprägt ift. Sehr treffend jagt hierüber Klaus Groth: „Wir 
begründen, vermitteln, bejchränfen, wenigſtens in unjerer ge= 
ichriebenen Rebe, auch wo fein Grund dazu vorhanden ift, 
insofern, obgleich, dennoch, freilich, zumal wenn, es sei 
denn, unter der Bedingung dass u. |. w. — joldye und hundert 
ähnlihe Gonjunctionen werden faft durchſchnittlich unnöthiger- 
weile geichrieben, fordern heraus Gründe zu denfen, wo feine 
nöthig oder vorhanden find, und maden Gedanken und Rede 
ichwerfällig.“ 13) 

Mächtig angeichwollen und nod) immerfort anjchwellend ift 
in der neubhochdeutihen Schriftipradye die Schaar der Wörter 
für abftracte Begriffe. Was wir in der alltäglidyen Rede an 
Subjtantiven auf -ung, -heit, -keit, -schaft, -niss u. dergl. ver- 
brauchen, ift wahrhaft erftaunlid. Man braudıt nicht in Logiken 
und willenichaftliche Abhandlungen zu jehen, um fidy davon zu 
überzeugen: das erfte befte Zeitungsblatt liefert Beiſpiele in 
Menge. Daß unfer Stil dadurdy plaftifcher werde oder dabei 
plaftijch bleiben könne, wird niemand behaupten; im Gegentheil.!*) 

Fa, noch weiter geht die Neigung zum Verblaſſen des 


(131) 


30 





Ichriftiprachlichen Gedanfenausdrudd. Selbſt was und anfangs 
Mittel Iebensvoller Darftellung war, Bild und Metapher in 
der Sprache, jelbit dies hört vielfach auf, feine Dienite zu thun 
und deutihe Schönheit der Rede zu erhöhen. Wie mandher, 
der vom Abend des Lebeus, vom Fluss der Rede, dem 
Band der Freundschaft, dem Wink des Schicksals ſpricht, 
pflegt fidh wohl noch defien bewußt zu fein, daß er damit in 
Bildern jeine Gedanken offenbart?!5) Eben dad abiterbende 
Bewußtſein für den Bilderjchmud unferer Rede ilt ed, wad und 
beim Sprechen jo häufig aus dem Bilde fallen läht, was einem 
unjerer Parlamentsredner den Einfall ermöglichte, den Strom 
der Geschichte bei der Stirnlocke fassen zu wollen. Und 
mandher von und, der den Grafen BethufirHuc darob auslacht, 
wird ed wohl faum inne, wie oft er jelber diesen oder jenen 
Gesichtspunkt als Massstab anlegt, einen anderen bewegen 
will, still zu stehen!) und noch andere dergleichen logiſche 
Ungereimtheiten im Eprecdhen begeht, die ihm im praftijchen Le— 
ben nit in den Sinn fommen. 

An allen folhen und ähnlichen Gebrehen fränfelt num die 
Redeweiſe der Volksmundarten nicht im geringften. Redet die 
Buchſprache in verfetteten, oft alzu künſtlich verichlungenen 
Perioden, jo ift dagegen der Stil der Mundart einfady und 
zwanglos. Ihre Süße reihen ſich leichthin aneinander. Der 
Gebrauh übermäßig vieler abftracter Begriffswörter ift mit 
dem reflerionslojen, ungefünftelten Alltagsfpredyen des Volkes 
unvereinbar. Bilder wendet auch die mundartliche Nede reichlidh 
an; aber ihre Bilder haben den Borzug der friichen Sinnlichkeit, 
find noch nidyt abgegriffen und zur leeren Phraſe geworden wie 
fo vielfady die unferer. Schriftiprade geläufigen. Die Mund- 
art ſpricht noch geradezu und meint, was fie jagt. Greift fie 
darum zu einem bildlichen Ausdrud, jo empfindet fie dad Bild 
auch ftetd als das, mas ed if. Das Bild ift ihr eben unver- 


braudyt und nicht durdy taufendfältige Wiederkehr im Schrift: 
(132) 


gebrauch alltäglidh und abgeblaßt geworden.1?) Das fommt 
aber daher: die Volförede ift immerfort, da fie feine Tradition 
in der Art des conventionellen fchriftiprachlihen Gebrauches 
hinter fich bat, auf die Urproduction angewiejen; in Folge defjen 
erlahmt ihr auch die Kraft diefer Urzeugung weit weniger, als 
der dad Mittel der Reproduction oft zu bequem und zu ihrem 
Schaden verbraudhenden Schriftiprade. Klaud Groth bemerft 
einmal!8), der hochdeutſche Gab die Schüler hiengen ihm am 
Munde jei im Plattdeutfchen einfacdy unmöglidh: „De Schöler 
hungn em ann Mund, das fönnte der Plattdeutiche nicht jagen 
ohne fie bangen zu fehen, er denkt an Blutegel oder mad weiß 
ich.“ Es leuchtet aber ein, daß diefe Eigenthümlichkeit der 
mundartlichen Gedanfendarftellung einen hohen Grad von Pla- 
ftieität verleihen muß. 

Schon Anderen iſt der große Gontraft aufgefallen: der 
ſchrifthochdeutſche Redner, Schriftfteler und Dichter ringt mit 
vieler Mühe, fidy einen friichen fraftvollen oder gar originellen 
Stil zu wahren oder zu verichaffen; die Volksmundart produ— 
ciert tagtäglich ein großes Maß lebensvoller Kraft und gefunder 
Driginalität des Gedanfenausdrudd, und zwar mühelos, ohne 
Ringen und Suchen.1?) Kann es fraglich jein, an weldye Duelle 
fih der Scrifthocdydeutiche zu wenden hat, dem ed um den 
Befib eines über dat Niveau der jchalen Gemöhnlichkeit umd 
Alltäglichkeit ſich erhebenden Stild zu thun ift? Der Odem 
von Lutherd kerniger Ausdrudömeiie weht und an wie nerven— 
ftärfende, herzerfriichende Landluft. Seine Sprade ift natürlidy 
zunächſt der Ausflug feiner marfigen Perſönlichkeit. Aber 
gerade von Zuther wiſſen wir auch, wie er es nicht verjchmähte, 
im Gegentheil eifrig beflifjen war, bei der volföthümlichen Rede 
in die Schule zu gehen um deutſch zu lernen, wie er nad 
eigenem Geftändni ed für nöthig eradhtete, „die Mutter im 
Haufe, die Kinder auf den Gaffen, den gemeinen Mann auf 
dem Markte zu fragen und denfelben auf das Maul zu jehen, 


(133) 


2 


wie fie reden." Es find die Mundarten, „welche unberührt 
von dem litterariichen Getriebe im engen Anſchluß an die Natur, 
in fteter Beobadytung des Einfachenatürlichen dem Sprachkörper 
gejundes Blut zuführen und ihm fort und fort erfrijchen.* 2°) 
Nah Mar Müllerd, des geiftvollen Sprachforſchers, Urtheil find 
die Dialekte „tet mehr Duellbäche ald Nebencanäle der Litte- 
raturſprache geweſen,“ die Zuleiter aljo, nicht die Ableiter der 
Buchſprache, die Producenten, während die Schriftipradye der 
Conſument ift.2!) Der ſprachſchaffende Volksgeiſt und der 
Ipradybildende der Litteratur jollten ald gleichberechtigte Fac- 
toren neben einander hergeben; das ift ihr richtiged Verhältniß. 

An wen man aber einen joldyen Schatz befigt, joll man 
den geringihäßig behandeln, ihm wol gar dad Recht zur Eriftenz 
itreitig machen? Er ift ein Zeichen der Zeit: blafierte Halb- 
bildung wendet den derben Klängen der Volförede najerümpfend, 
efelempfindend den Rüden, mander im Dialekt Aufgemachjene, 
dem die Volksmundart ald die Sprade feiner Kindheit und 
jugendlichen Spiele, als feine traute Mutterfprache lieb und werth 
fein follte, ſchämt fich ihrer — Schande über ihn jelber! — 
und gleichzeitig macht die Spradwiflenichaft vollen Ernft mit 
dem eindringlidien Studium der Dialekte, wie die Wiflenjchaft 
überhaupt mit der Erforſchung aller Seiten und unmittelbaren 
Lebendäuferungen des Volksgeiſtes, gleichzeitig entfaltet in der 
Volksmundart die Poefie ihre Schwingen und erreicht durch Die 
‚Hebel, Klaus Groth, Fritz Reuter eine Höhe, melde bemeilft, 
dat fie nicht aus Guriofität, jondern dem Bedürfni der Natur 
und des Herzens folgend dad neue ſprachliche Gewand fi) an- 
gezogen. Wem ed immer bejchieden war, in den Tagen feiner 
Tugend eine Bolfömundart zu jprechen und durdy und durd) 
ihre Laute und Formen und ihren gejammten Redeſtil ſich an- 
zueignen, der hat Grund, ſich darob glüdlic zu ſchätzen. Um 
Vieles in der Welt möchte ich perlönlidy ed nicht mifjen, daß in 
meinen erften Lebensjahren bis zum Eintritt in die Volksſchule 

(134) 


33 


noch fein jchriftyochdeutiches Wort über meine Lippen gekommen, 
daß ich ald Plattdeuticher von Geburt von dem Boden meiner 
plattdeutjchen Heimat weniger entwurzelt bin ald ich im anderen 
Falle es jein würde, daß meine jprachvergleicherifchen Neigungen 
ihre erjte und jet nody andauernde Nahrung finden konnten an 
dem mir frühzeitig entgegentretenden Verhältniß volldmund- 
artlihen Mutterlautes und in der Schule erlernter Schriftipradhe. 
Wer einen Bolködialeft, eine „Stammſprache“, wie Klaud Groth 
lieber jagen möchte, ganz beherricht, der hat dadurch vor Andern 
einen Borjprung voraus auf dem Wege zu dem jchönen Ziele, 
in das Verſtändniß der Volksſeele und ihres Lebens und Webens 
einzudringen. Thöricht aljo handeln diejenigen von unjeren 
„gebildeten“ Eltern, weldye da meinen, ihren Kindern eine Wolthat 
zu erweijen, wenn fie fie vor jeder Berührung mit der Sprache 
deö gemeinen Mannes, ded Handwerfers in der Werfitatt, des 
Bauerd auf dem Ader hermetiſch abſchließen. 

Iſt ed denn etwa auch zu billigen, wenn unjere Ausſprache 
des Schrifthochdeutichen eine mundartlidhe Färbung befommt? 
Es giebt Leute, die fidy aufs eifrigfte beftreben, es ja in ihrer 
hochdeutſchen Sprache zu verleugnen, wes Landes Kinder fie 
find und wo ihre Wiege geftanden. 

Verzeihlich, meine verehrten Lejer, oder zu rechtfertigen 
finde ich died Bemühen nur in einem einzigen Falle: der Schau«- 
ſpieler auf der Bühne thut recht daran, feinen angebomen Dialekt 
abzuftreifen. Warum? 

Die Mundart ift untrennbar von der Scholle, auf welcher 
fie erwachſen if. In der Mundart hat jedeömal der einzelne 
Volksſtamm auch jeinen Charakter ausgeprägt. Es iſt nicht 
möglich, die Laute einer Mundart zu vernehmen, ohne an den 
Volksſchlag, der fie fpricht, erinnert zu werden. Dies iſt der 
Grund, warum „der Gebraud) der Mundart für die Charafteriftif 
jo jehr nahe liegt,“ warum dem Localdichter und Schriftfteller, 
der ein Bild von einem ie Jeiner Ecbend- und Denf- 


XVIIL 411. 8 (135) 


— 


weiſe zeichnen will, die Mundart feine Aufgabe jo ſehr erleichtert: 
er findet gleichſam die Farben für das zu entwerfende Gemälde 
ſchon gemijcht vor.? 2) Aus demfelben Grunde aber muß begreiflicher 
Weile dem Schaufpieler der Nationalbühne mundartliche Aus» 
ſprache etwas zu Vermeidendes fein. Hieße ed nicht nothwendig 
beftändig unfere Illuſion ftören, wenn wir bei der Darftellung 
einer Theaterrolle einen Dialekt zu hören befämen, der zu der 
betreffenden Rolle gar nicht paßte? Wäre ed nicht geradezu 
ein immermwährended Audderrollefallen, wenn und etwa eim 
Alemanne im Hebelſchen „Schwizerdütſch“ auf der Bühne Friedrich 
den Großen vorführen würde, wenn ein anderer Acteur mit dem 
nicht zu verfennenden breiten „Königsbarger Dialakt“ im Schiller: 
ſchen Wilhelm Tell und immer nur an die fladhen Ufer der 
Dftjee und des Pregel anitatt in die Berge des Vierwaldſtädter 
Sees verjegen würde? Die Ideenafjociation zwijchen der Mund- 
art und ihrer engeren geographifchen Heimath ijt eben un- 
vermeidlih. Für die Bretter aljo, die die Welt bedeuten, erkenne 
man einzig — wo fern es fidy nicht etwa um Aufführung von 
Localpoſſen handelt — der Schriftiprache und zwar der möglidjit 
von allem dialektiſchen Beigejchmad gereinigten die Berechtigung 
zu. Sie Hebt an feiner Scholle, fie vermag darum ein Gefäß 
für fosmopolitijcheren Gedanfeninhalt zu jein und fidy je nady 
Bedürfnig der zu jpielenden Rolle bald hier bald anderwärts 
zu localifieren. 

Aber warum foll denn, jo fragen wir, ein Menſch im 
gewöhnlichen Leben nicht in derſelben Weije wie der Schau- 
Ipieler jeine hochdeutſche Rede von den Scyladen der mundartlichen 
Ausſprache reinigen? Die Antwort lautet jehr einfach: darum 
nicht, weil er fein Schaufpieler ift noch jein fol. Im gewöhnlichen 
Leben agiert ein Jeder nur in feiner eigenen Role. Wie fol er 
es da vernünftiger Weije jcheuen, feine Sprache in dem für ihn 
jelber und jeine nächften Landsleute charakteriftiichen Klange er- 
tönen zu lafjen? Erachten wir es fonft für einen Fehler, origi- 

(136) 


85 

nales Wejen zu befihen und eigenen Charakter zu zeigen? Doc 
wohl nicht. Und fo ift ed eine Ungereimtheit, in der Sprache 
eine Ausnahme madyen, da fich lieber der allgemeinen Schablone 
fügen und dad allgemeine Nivellement über fidy ergeben lafjen 
zu wollen.?3) Neune idy mit Stolz mid) einen Sohn der rothen 
Erde, Weltfalend, rühmt ein anderer mit „Fröhlidy Palz, Gott 
erhalt's“ das Land jeiner Geburt und Kindheit, jo ftinmt es 
doch Schlecht damit, wenn ich meine weitfäliiche, der Pfälzer jeime 
pfälziiche Zunge von dem heimiſchen Mutterlaute Frampfhaft zu 
entwöhnen ſucht. 

Wer da wühte, in wie ungemein lächerlichem Lichte dem 
Sachkenner oft jein Gebahren, den heimathlichen Dialekt zu ver- 
leugnen und ſich die Sprechweije einer anderen Gegend anzu— 
quälen, ericheinen muß, der ließe ed wohl weidlicy dabei bewenden 
und ſpräche nur, mie ihm der Schnabel gewachſen it. Ein Süb- 
deutjcher bemüht fich, fein sch in schtehen, schprechen abzu- 
gewöhnen, weil er das reine st, sp der Hannoveraner, Braun 
ſchweiger, Mecklenburger, Weſtfalen für feiner, für jchriftdeuticher 
hält. Gleichzeitig verlacht derjelbe Süddeutiche den Weftfalen, 
wenn dieſer nicht nur in stehen, sprechen, fondern aud) in slafen, 
swimmen, sneiden, smecken dad reine s hervorbringt. Was jagt 
die hiſtoriſche Sprachwiſſenſchaft dazu? Ehemals ſprachen alle 
Deutſchen in eben dieſen Wörtern überall das reine s. Der Weſtfale 
verbleibt bis heutigen Tags bei dieſem alterthümlichen Lautzu⸗ 
ſtande. Im Mitteldeutſchen gab es eine Zeit, wo die Wandelung des 
s in sch vor den Lauten |, w, m, n durchgedrungen war, nicht 
aber vor den harten Gonfonanten t und p ftattgefunden hatte; 
died.ilt das Stadium, welches und in unferer hochdeutſchen Schrift 
firiert vorliegt. Oberdeutſch aber, im ganzen Süden, ging früh: 
zeitiger überall im folchen Wörtern wie den genannten das s, 
auch vor t und p, in sch über. Indem nun aljo der Süd— 
deutiche fih abmüht, um auf den Standpunkt des st-, sp- 
Sprechens zu fommen, wagt er ed thörichter Weife, den Weſtfalen 


(137) 


36 


zu böhnen, daß er mit feinem slafen, swimmen u. j. w. dieſen 
Standpunkt nur noch viel conjequenter einnimmt. 

Zu verdammen alfo ift alle bemußte und gefünftelte Nach— 
äfferei der Sprechweiſe anderer Gegenden und anderer Volks— 
ftämme. So ſich Semand aber längere Zeit, Jahre lang, auper- 
halb der Heimath aufhält, fo pflegt erfahrungsmäßig auch jeine 
Sprache von dem Dialekt der Fremde beeinflußt zu werden, fie 
verliert Eigenthümlichkeiten der angeftammten Mundart und 
nimmt andere der fremdartigen an. Und bejonderd in ber 
Jugend geſchieht das nothwendig und leichter, weil in diejem 
Alter befanntlic” überhaupt alle äußeren Eindrüde ſich feiter 
baftend zeigen. Wenn fi jo feine Redeweiſe modifiziert, der 
wird jelbftverftändlich von unjerm Tadel nicht betroffen. Was 
unbewußt gejchieht, das gejchieht von Natur. Natur aber ift 
ed, worauf die hiftoriiche Richtung der neueren Sprachwiſſen— 
ſchaft immer dringt, Natur das Ziel, wohin auch unjere deutjche 
Sprade ihre wahren und fenntnißvollen Freunde wieder führen 
und anleiten möchten. 

Aber die Schrift, jagt man, die Schrift! Fordert nicht fie 
von und gebieterifch, daß nach ihr und ihren einmal getroffenen 
Normen unfjere Ausſprache ſich richte? 

Die Schrift, meine geehrten Leſer, ift allerwärts nur 
die Dienerin der lebenden Sprache. Es hat Sprache gegeben, 
lange bevor fchriftlihe Aufzeichnung derſelben ftattfand. Dazu 
ift die Schrift auch ſogar nur eine unvolllommene Dienerin. 
Alle Orthographie jedes Volkes wird niemals, und fei fie relativ 
noch jo volllommen, ein ganz getreued Abbild des lebenden 
Worted fein. Sie fann ed auch gar nicht fein, denn dazu ift 
dad Material der Schrift viel zu roh, um die feinften Schat- 
tierungen der Lautverhältniffe der Sprache gleichſam mit photo» 
graphiſcher Treue und Genauigkeit darzuftellen, oder gar dem 
allezeit wanbelbaren Spradylaute bei feinen leifeften Beränderun- 


gen jofort auf dem Fuße zu folgen. 
(138 


37 


Bei diejer fo untergeordneten Stellung, dieſem rein acciden⸗ 
tiellen Charakter der Schrift, wer wird ihr die Befugnik 
einräumen wollen, die lebende Sprache, ihre Herrin, zu tyranni= 
fieren? Der Gebraudy der Schrift, unjere herkömmliche Drtho- 
graphie ift das Refultat einer anfangs von wenigen Einzelnen: 
audgebenden, nachher von den vielen Angehörigen der gefammten 
Sprachgenoſſenſchaft ftillfchweigend acceptierten Bereinbarung. 
Da wäre ed aljo, angenommen ſelbſt dab ed überhaupt möglich 
und ausführbar wäre, im Snterefje ded allgemeinen jchriftlichen 
Verkehrs nicht einmal wünſchenswerth, daß die vielen lautlichen 
Beränderungen der Sprache fih allemal fofort audy auf die 
Schrift und Orthographie übertrügen. Lebtere mag aljo ftarr 
bleiben, mag ſogar durdy Atademien, orthographiiche Gonferenzen 
u. dergl. noch jtarrer gemacht werden, als fie ſchon ilt oder war. 
Aber den beweglichen, lebendigen Sprachlaut in diejelben Fefjeln 
zu ſchlagen, die der Schrift und Orthographie theild durch Noth— 
wendigfeit, theild aus praftiihen Gründen anhaften, das ilt 
Unnatur, das heißt vom Wejen der Spradhe und ihrer Ent- 
widelung nody nicht die elementariten Begriffe erfaht haben. 
Darum fort mit der an den Schulmeifterzopf mahnenden, alles 
echten ſprachhiſtoriſchen Sinnes baaren Regel: „Spridy wie 
du ſchreibſt!“ Sie ift eben jo unfinnig und widernatürlich, 
wie die andere, ihr Seitenftüd „Schreib wie du ſprichſt“ praftifch 
unausführbar ift.?*) 

Nah allen Seilen bin alſo müffen wir, glaube ich, für die 
Entfaltung individueller und mundartliher Sprache und Sprech⸗ 
weile den möglichft weiten Spielraum fordern. Es ift ein 
Glück für das geiftige Leben unjered Volkes überhaupt, daß 
ed noch überall, wohin wir bliden im deutichen Sprachgarten, 
der eigenartigen Gewächſe mundartlicher Rede eine ganze Menge 
giebt, .die da grünen und blühen und die Hoffnung geben, daß 
fie einftweilen noch lange nicht vor der uniformierenden, nivellie- 
renden Eichel der angeblichen Eultur dahinfinfen werden. Wehe 


(139) 


— 


unſerer Sprache, wehe eben der Schriftſprache ſelbſt, wenn es erſt 
dahin kommen ſollte, daß neben ihr die Volksdialekte ausgeſtorben 
wären! Dann, ja dann dürfte im wahrhaften Sinne das 
Zeitalter des ſchlechten Deutſch angebrochen ſein, wenn erſt 
Hans oder Kunz, der jetzt ſeine Mundart correct und untadelig 
ſpricht, anftatt deſſen das „Meſſingſch“ radebricht und wenn der 
gebildete Hausknecht auch nur im gebildeten Hochdeutſch parliert 
oder mit ſich parlieren läbt. XTreffend verweift man und auf 
den Jargon, wie er jchon jet an unferen größten Eulturmittel- 
punkten wie Berlin um ſich gegriffen bat, um und damit ein 
Bild, ein grauenerregended, von der deutſchen Sprade nach 
Ertödtung der naturwüchfigen Volksmundarten vorzuführen.?>) 

Für unfere Spracheinheit aber von einer Beibehaltung und 
Pflege der volfäthümlihen Stammſprachen des Baterlandes 
binfüro noch etwelche Gefahr zu befürdten, dad wäre doch 
wohl eine gar eitle und thörichte Furcht. Die Einigfeit der 
deutſchen Volksſtämme, nachdem diejelbe im letzten Jahrzehnt 
auch politiſch geſchaffen worden, nachdem ſie in der Sprache 
ſchon geraume Zeit vorher, ſo weit die deutſche Zunge klingt, 
beſtanden hatte, dieſe Einigkeit ift nun nicht mehr ein fo zart⸗ 
bejaiteted Ding, daß fie nicht die Mannigfaltigfeit neben umd 
in der Einheit, die Originalität und individuelle Bejonderheit 
neben der Univerjalität und Allgemeinheit, den berechtigten Par» 
ticularismuß neben der nothwendigen Gentralifation, dad Heimaths⸗ 
gefühl neben der Vaterlandsliebe, die provinziale Volkstracht 
neben der nationalen Uniform, daß fie nit die Mundarten 
neben der Schrift» und Buchſprache ertragen könnte. 

Fa, ed vermag nunmehr jogar aud die Mundart felbft, 
weit entfernt die Stämme in Deutidlands Gauen nod zu 
trennen, fie vielmehr enger unter fich zu verbinden. Im flachen 
Norden vernimmt der Niederdeutiche die Stimmen feiner äußerften 
jüdlihen Brüder in den Bergen, wenn er die alemannijche 
Innigfeit des Gefühl, wie fie in Hebel’8 Gedichten zum Aus- 


(140) 


39 


drud fommt, mit empfinden lernt. Aus Groth's Duidborn er: 
ſchließt ſich dem Süddeutſchen Denken und Fühlen der ftamm» 
verwandten nordiſchen Meeranwohner in den holfteinjchen Dit» 
marjhen. Und vollends dem unverwüſtlichen medlenburgiichen 
Schalkshumor find ja durch Fri Reuter in allen Theilen des 
Baterlanded warme Freunde gewonnen. Litterarifche Pflege der 
Mundarten vermittelt jo den geiftigen Verkehr zwiichen Deutſch— 
lands Bölkerftämmen, hilft die gegenjeitigen Borurtheile mindern 
und läßt, wie ed Klaus Groth jo jchön fagt, den Bruderftamm 
dem Bruderftamm in's Herz jchauen.?®) 


Anmerkungen. 


1) Aug. Schleicher, Die deutſche Sprache, 2. Aufl. Stuttgart 1869. 
€. 105. 

2) DVergl. Klaus Groth, Ueber Mundarten und mundartige 
Dichtung. Berlin 1873. ©. 5 ff. 

3) Vergl. Klaus Groth a. a. O. ©. 9. 

4) Vergl. Klaus Groth a. a. O. ©. 5. 

5) Bergl. Klaus Groth, Briefe über Hochdeutſch und Plattdeutſch. 
Kiel 1858 ©. 45 ff. Ueber Mundarten und mundartige Dichtung, ©. 33. 

6) W. Scherer, Vorträge und Aufſätze zur Geſchichte des geiftigen 
Lebens in Deutjdyland und Dejterreih. Berlin 1874. ©. 49. 

7) Näheres über den jprachmethodologijhen Grundjag von den 
ausnahmslos durchgeführten Lautwandelungen in meiner Abhandlung 
„Das pbyjiologiihe und ypiychologiihe Moment in der jpracdhlichen 
Formenbildung“ in diejer Sammlung gemeinveritändlicher wiſſenſchaft⸗ 
licher Borträge XIV. Serie, Heft 327. 

8) Carl Goettfried Nadler, Fröhlich Palz, Gott erhalts! Gedichte 
in Pfälzer Mundart. Frankfurt a. M. 1851. 8. Aufl. Heidelberg 1882. 
Nadler führt uns ©. 144 ff. = ©. 112 ff. der achten Aufl. in einem drama- 
tiſchen Schwank zwei , hochdeutſche Nähdersmädle“ vor, von denen eine die 
andere in der obigen Weije zurechtweijt bei ihren Verftößen gegen das 
gebildete Hochdeutſchſprechen. 

9) Vergl. Jak. Grimm, deutihe Gramm. I? 902 des neuen Abdruds. 

10) Bergl. Weigand,. deutich. Wörlerb. II? 804. 

(141) 


40 


11) Bergl. Grimm, deutſch. Wörterb. V 734 f. 

12) Vergl. Weigand, deutſch. Wörterb. IT? 4. 

13) Klaus Groth, Briefe über Hochdeutſch und Plattdeutih S. 10. 

14) Bergl. Klaus Groth, Briefe über Hochdeutſch und Plattdeutich 
©. 13f. 

15) Vergl. Dannehl, Ueber nieberdeutihe Sprache und Literatur 
(Sammlung gemeinverftändlicher wiſſenſchaftlicher Vorträge herausg. von 
R. Virhow und Fr. v. Holgenvorff Heft. 219 u. 220.) ©. 27 ff. 

16) Klaus Groth, Ueber Mundarten und mundartige Dichtung ©. 58. 

17) Bergl. Dannebl a. a. O. Klaus Groth, Ueber Mundarten und 
mundartige Dichtung ©. 59 ff. 

18) Klaus Groth, Briefe über Hochdeutſch und Plattdeutih ©. 15. 

19) Bergl. Dannehl a. a. D. 

20) Vergl. Klaus Groth, Briefe über Hochdeutſch und Plattdeutſch 
©. 96 ff. Ueber Mundarten und mundartige Dichtung ©. 27 ff. 

21) Mar Müller, Borlejungen über die Wiffenfchaft der Sprache. 
Bearbeitet von C. Böttger. Leipzig 1863. ©. 47. 

22) Vergl. Klaus Groth, Ueber Mundarten und mundartige Did 
tung ©. 4. 

23) Vergl. auch Schleicher, Die deutihe Sprade? 111. 

24) Werthvolle und eingehende Erörterungen über das Verhältniß 
von Sprache und Schrift findet der Leſer bei H. Paul, Prinzipien der 
Sprachgeſchichte. Halle 1880. ©. 245 ff. und in beffelben Verfaſſers 
Abhandlung „Zur orthographiichen Frage“. Berlin 1880. (Deutſche 
Zeit- und GStreitfragen, herausgegeben von Fr. v. Holtzendorff Heft 143.) 

25) Klaus Groth, Briefe über Hocddeutih und Plaitdeutſch 
©. 40f.70. Ueber Mundarten und mundartige Dichtung ©. 30. 

26) Vergl. Klaus Groth, Briefe über Hochdeutſch und Plattdeutich 
©. 72ff. Ueber Mundarten und mundartige Dichtung ©. 34 ff., 74. 





(142) 
Drua von Gebr. Unger (Th Grimm), Berlin, Gchönebergerftr. 17a. 


Die 


Enttehung der deutſchen Burſchenſchaft. 


Dr. Edmund Bayer, 
Berlin. 


Artibus ingenuis quaesita est gloria multis. 
Ovid. Pont. 2, 7, 42. 


GP 





Berlin SW., 1883. 


Berlag von Garl Habel. 
(C. 8. Lüderitj’sche Verlagsbuchhandlang. 
33. Wilhelm» Straße 33. 


Das Recht der Ueberſetzung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Burſchenſchaft! Welche Fülle von Gedanken und Ger 
fühlen, von Erinnerungen und Hoffnungen, von Harren und 
Dulden, von Kämpfen und Siegen birgt dad Wort in fidh! 
Don den einen in den Himmel erhoben und mit begeifterter 
Liebe gepriejen, von den andern mit fanatiſchem Haffe verfolgt 
und in den tiefften Abgrund der Hölle verwünſcht, war fie ein 
heller Stern in finftrer Nacht, eine flammende Morgenröthe, 
der ady nur zu bald! ein trüber Tag folgen follte, eine 
Frühlingsblume, die der Nachtfroſt tödtete, ein Edelftein, der 
Ihmählich zertrümmert ward. Ihr weihte fich mit Herz und 
Hand die Blüthe der Nation, für fie ertrugen des deutjchen 
Volkes befte Sünglinge Spott und Hohn, Verfolgung und 
Schmach, Armuth und Irrſal. Die Ideen, welche fie gepredigt, 
die Ziele, nach denen fie geftrebt, find jett zur Wahrheit ge 
worden; ald greifbare Mirklichfeit umgiebt und, die Nach— 
fommen, was ihr ald fühner Traum vorjchwebte: das freie, 
deutiche Vaterland ift geeinigt unter eined milden Herrichers, 
unferd Kaijerd, ftarfer Hand; nicht droht und Zwingherrn- 
wit fürder zum Spielball der Willfür zu machen, und freudigen 
Muthes, getrofter Zuverficht ſchaut Alldeutſchland hinaus in die 
Zukunft. Die Burichenichaft hat fie vorahmend erblidt, Die 
herrliche Zeit; doch wie Moſes follte fie das gelobte Land nur 
von ferne Ichauen; es war ihr nicht vergönnt herabzufteigen 
und in ihm zu wohnen; aber den Grundftein gelegt zu haben 
zu dem ſtolzen Bau, der ſich jet, ein Riefendom, hehr und 
heilig in die Lüfte hebt, das Kleinod der Unfern, da8 Staunen 
der Fremden, des Baterlandes Stärfe und Herrlichkeit bewußt 
und groß erftrebt zu haben — daß ift das ureigene Werk und 
unfterbliche Verdienſt der deutichen Burfchenichaft. 


xviu. 412. 1* (145) 


Ja, noch hebt ſich mit Adlerſchwung 
Der vaterländfhe Beift, 

Und noch lebt die Begeifterung, 
Die alle Ketten reißt! 

&o wie wir bier zufammen fteb'n, 
In Luft und Lied getaucht, 

&o mollen wir und wieberfebn, 
Wenn's von ben Bergen raudt..... 

Theodor Körner (Zroftlieb). 


Die Schlachten bei Dennewit und Yeipzig waren ge- 
Ichlagen. Deutichland hatte nach langen Sahren der Tyrannei 
die Feſſeln zerbrodhen, in welche franzöfiicher Uebermuth es ge- 
ichmiedet; Dank den vereinten Anftrengungen der europätichen 
Völker war Napoleon endlich geftürzt und feines angemaßten 
Purpurs entkleidet worden. Das Ziel war erreidht, nad 
welhem die Beften der deutjchen Nation jo lange geftrebt, für 
welches jo viele Edle Gut und Blut geopfert hatten: das Vater— 
land war frei, eine fchönere Zufunft ftand ihm bevor, umd 
Freudenfeuer flammten von den Bergen. Nody hallte das 
Echo der Körnerihen, Arndtihen und Schenfendorfichen 
Lieder, deren von ächter Baterlandöliebe getragener Inhalt 
nit der legte Grund der anhaltenden Begeifterung der deut: _ 
ſchen Kämpfer gewejen war, den heimfehrenden Siegern nad 
und gemahnte fie daran, daß ein neuer Frühling des deutjchen 
Volkslebens im Anzug begriffen ſei. Und in der That fand 
feit den Befreiungöfriegen ein vollftändiger Umſchwung des 
deutijchen nationalen Lebens ftatt. Die alten monardiichen 
Berfafjungen, die ſich jchon längft überlebt hatten, fielen in 
Trümmer, und andere, freiere traten an ihre Stelle. Die un- 
umfchränfte Herrichergewalt mußte dem Gedanken der Volks— 


vertretung Pla machen, freilidy nicht wie mit einem Zauber: 
(146) 


5 


ſchlage, fondern erft nad langem Kämpfen und Ringen. Auf 
allen Gebieten des Dafeind zeigten fi) neue Gejtaltungen; und 
ed war nicht zu verfennen, daß ein friſches Blut in den Adern 
des Staatöförperd pulſirte. Jedermann nahm an den großen 
Ummälzungen Theil und bemühte fi nad Kräften, jein 
Scherflein zu einer zeit- und vernunftgemäßern Geftaltung des 
deutſchen Vaterlandes beizutragen. 

Was Wunder daher, daß auch unter den akademiſchen 
Bürgern, welche nicht die letzten, vielmehr im vollen Sinne 
des Wortes die erften!) geweſen waren, als es galt, zum 
Kampfe gegen den fremden Unterdrücker auszuziehen, bald nach 
der fröhlichen Heimkehr Stimmen ſich vernehmen ließen, welche 
einen vollſtändigen Bruch mit den alten, faſt noch mittelalterlich 
zu nennenden Formen und eine durchgreifende Um- und 
Neubildung des akademiſchen Lebens verlangten? Nichts war 
natürlicher, als dieſe Forderung. Sind doch, wie fidh der feine 
Kenner aller Kulturentwidlungen, Alerander von Humboldt ?), 
ausdrüdt, die Univerfitäten jeit ihrer Entitehung mit dem deut- 
ihen Volksleben jo innigft verwachſen, daß fie ihren glüdlidyen 
Einfluß nicht blos auf Wiffenichaft und allgemeine Geiſtes— 
fultur, jondern aud auf den Charakter ausüben. Und der 
Charakter des damaligen Geſchlechts war ein weſentlich anderer, 
ald er der Jugend in der Regel eigen zu fein pflegt. Gereift 
an Fahren und Einfiht, im tbeuererfauften Befite eines 
reihen Schatzes mannigfaltiger Erfahrungen, mit ernft ge— 
ftimmten Seelen waren die rüftigen Freiheitöfämpfer auf die 
Univerfitäten zurüdgefehrt, viele ala Dffiziere und die Bruft 
mit dem eijernen Kreuze geihmüdt. Ale hatten dem Tode 
in’8 Auge geſchaut und dem Leben Balet gegeben gehabt; und 
mandyen hoffnungsvollen Kommilitonen ließen fie auf der Wal- 
ftatt zurüd. Ihnen mußte der Eleinliche Sondergeilt, wie er 


— 


6 


im Rahmen wüſten Zreibend und unverhohlener Rohheit auf der 
einen, läcderlihen Dünfeld und abgeſchmackter Modenarrheit 
auf der anderen Seite dur die landsmannſchaftlichen Ver— 
bindungen der Hochſchulen zur Erjcheinung gebracht wurde, ein 
Gegenitand der Beratung jein; und wenn fie auch zumeift 
wieder in die alten Vereine zurüdtraten, jo hatten fie dody alle 
in der ftrengen Schule des friegeriichen Lebens den Geſchmack 
an nichtigem Spiel und Rand mehr oder weniger verloren. 
Die meiften ftrebten einem höhern, edleren Ziele zu: Vater— 
land8liebe und Baterlandötreue, verbunden mit der Wedung 
eined ernten, ſittlichen Geifted, der fich feiner hohen Aufgabe 
wohl bewußt ift, dazu alljeitige Ausbildung der Förperlichen 
und geiftigen Kräfte, dad war ihr Fdeal, ein deal, das griechiſch 
im vollen Sinne des Wortes zu nennen war und die nahe 
Verwandichaft des hellenijhen Volkes mit dem germaniichen 
Stamme auf's Neue beftätigte. Aus der Begeifterung für 
dieſes Ideal, welche ji) an den Reden eined Schleiermacher, 
Fichte, Steffens, Jahn, Arndt und anderer bedeutender Männer 
täglih mehr entzündeie und durch die werfthätige Beihülfe 
diejer trefflihen Jugendlehrer aud in ihren praftiichen Zielen 
immer mehr gefördert wurde, ging die deutſche Burſchen— 
Ichaft hervor. 

Der Grund zu dieſer allgemeinen Bereinigung deutjcher 
Zünglinge wurde auf der Univerfität Sena gelegt. Jena, die 
trauliche Mufenftadt um der Eaale hellem Strande, im Herzen 
des romantifchen, erinnerungsreichen Thüringens, welch letzteres 
mit jeinen zahlreichen Kleinftaaten, jeinen verwidelten, oft im 
jonderbarften Ziczad laufenden Grenzen und mannigfaden, auf 
dad Verſchiedenartigſte bemalten Schlagbäumen ein getreues 
Miniaturbild der geographiichen Geſpalten- und Zerriffenheit 


des großen Ganzen darbietet, ijt, wie von jeher, jo noch heute 
(148) 


7 


der Hort deutjcher proteftantiicher Wiffenihaft und des freien, 
von feiner faljhen Autorität beirrten Denkens, damald aber 
hatte ed außerdem den unbeftrittenen Ruhm, die nationalfte 
deutſche Univerfität, dad Eden des flotten Burſchenthums nicht 
minder, ald der Mittel- und Gipfelpunft. des geiftigen Lebens 
der deutihen Hochſchulen zu fein. Die faft italienische Un- 
gebundenheit, weldhe in den Mauern der Salana berrichte und 
keinerlei geiftigen Despotismus auflommen ließ, gaben der 
Heinen Stadt jenen Hauch lebendinfter Friihe und ihren Be- 
wohnern jenen weltbürgerlichen Zujchnitt, welcher dad Staunen 
Schiller erregte — nannte er doch das damalige Jena eine 
Erſcheinung, wie fie vielleiht auf Iahrhunderte hinaus nicht 
wiederfommen werde; und mit Recht rühmte ihr Goethe nad, 
„daß man dort die verjchiedenartigiten Duellen und Hülfsmittel 
für Studien und zugleich einen jehr gebildeten gejelligen Um: 
gang finde, und daß überdied die. Gegend jo mannigfaltig jei ®), 
daß man wohl fünfzig verjchiedene Spaziergänge madyen fönne, 
die alle angenehm und faft alle zu ungeftörtem Nachdenken ge- 
eignet jeien.” So verfehlte denn die Alma Mater Senenfis 
nicht, ihre Anziehungskraft nad den verjchiedeniten Seiten hin 
auszuüben. Bon allen Richtungen der Windrofe, aus allen 
deutichen Gauen, ja aus ganz Europa, aus Rußland und der 
Schweiz, aus Schweden und Ungarn ftrömten lernbegierige 
Schüler zujammen, um zu den Füßen der größten Lehrer ihrer 
Zeit, eined Reinhold, Fichte, Scelling, Hegel, Fried und 
anderer Meiiter der Wiſſenſchaft dem begeifterten Worten und 
weltbewegenden Gedanken zu laufchen, melde dieje ihrem be- 
redten Munde entitrömen liefen. Ein hochherziger und fein- 
gebildeter Fürft, wohl der freifinnigfte Mann, der je auf einem 
deutſchen Throne gejejjen, Karl Auguft, von den Studenten 


der Geliebte genannt, jorgte dafür, dab die von feinem großen 
(149) 


8 


Ahnherrn Johann Friedrich dem Großmüthigen garantirte 
Lern- und Lehrfreiheit „zur Erhaltung und Fortpflanzung der 
evangeliich-Iutheriichen Lehre und aller guten Zucht und freien 
Künfte”, wie ed in den Statuten hieß, wie unter feinen Vor» 
fahren, jo aud unter feiner Regierung der Afademie un« 
gejchmälert erhalten bliebe, ja, der unvergeblihe Mann, einer 
der wenigen Fürften, weldye ihr dem Lande (im bdreizehnten 
Artifel der deutichen Bundesakte)“) gegebened Ehrenwort ein: 
löften und eine freifinnige Verfaffung einführten, ſetzte jeinen 
bödyften Stolz darein, während ringsherum die Reaktion ihre 
grauen Fittiche regte, dem anderwärts verbannten freien Ge— 
danken in feinem Lande eine Heimftätte zu bereiten, jo daß in 
noch höherem Grade als dereinit in Preußen, in dem Fleinen 
Sachſen-Weimar das ftolze Wort des großen Friedrich °) Geltung 
gewonnen zu haben ichien: „Im meinen Staaten kann Jeder 
nad) feiner Façon felig werden." Nicht jchmeichleriicher Weiſe, 
fondern mit vollem Rechte und aus herzinniger Ueberzeugung 
fonnte daher am fünfzigjährigen Regierungsjubiläum bes Groß» 
herzogs der Generaljuperintendent Röhr dem jeltenen Manne 
nachrühmen: „ . . . Darum hatten an ihm die Freiheit der 
Gedanken und der ungehinderte Audtaufh der Meinungen, 
ohne welchen in dem Gebiete des Geiftigen ftarre Todesſtille an 
die Stelle eines regen Lebens tritt, zu jeder Zeit den groß« 
berzigften Beichüger vor fllaviichen Feffeln, und Beſchränken 
befonnener Prüfung erjchien ihm ſtets ald ein Verbrechen gegen 
die Menſchheit.“ Im ihm war der Gedanke zur That geworden, 
weldhen fpäter Savigny®) mit den Worten ausſprach: „Die 
Univerfitäten find auf und ald ein edled Erbſtück aus früheren 
Zeiten gefommen, und ed ift für und eine Ehrenſache, ihren 
Beſitz womöglich vermehrt, wenigftend unverfürzt den fommenden 
Geſchlechtern zu überliefern ..... . Ob fie fteigen, ob fie finfen 
(150) 


9 


werden, dad ift zumächft in unſere, ded gegenwärtigen Ges 
ſchlechtes Hände gelegt. Das Urtheil der Nachkommen wird 
und darüber Recdenichaft abfordern”. Im Banne diejed er- 
habenen Gefichtöfreijes hielt Karl Auguft feine ſchützende Hand 
über das koſtbarſte Vermächtniß feiner Väter und feiner Krone 
ſchönſten Edelftein. 

So bot denn Jena vor allen einen fruchtbaren Boden dar, 
in welhem das Samenforn der neuen Ideen bald aufzugehen 
und fräftig Wurzel zu fchlagen veriprad. 

Als der Waffenlärm verftummt war und die Heberlebenden 
der großen Schladhtenfcenen zu ihren Studien zurüdfehrten, 
fanden fie in Jena vier Landsmannſchaften vor, melde unter 
dem Namen der Saronia, Franconia, Bandalia und Thuringia 7) 
dad gefellige Leben der Hochſchule beberrichten. Die Lands 
mannijchaften waren ein Weberreft der alten Zeit und ein Krebs— 
ſchaden der Univerfitäten, welche feinen Fortichritt auffommen 
ließen, fi im ausgefahrenen Geleiſe des Althergebrachten be: 
wegten und zur Niederhaltung des Nationalgefühld ungemein 
viel beitrugen. Das Leben und Treiben der deutſchen 
Studentenwelt ift von jeher ein Spiegelbild der volfäihümlichen 
Entwidlung gewejen, nicht weniger in den Tagen der Reforma: 
tion, ald da die Schweden im Reiche hauften, in den jchläfrigen 
Jahrzehnten des jaft: und Fraftlofen politiichen Gleichgewichts jo 
gut, als zur Zeit der reinigenden Völferfrühlingsitürme in den 
Fahren 1830 und 1848 glorreichen Angedenfend — immer hat 
ed in feinem oft recht bunten Wechſel von feinen erſten An» 
füngen an bid zur Gegenwart eine verjüngte Form der All» 
gemeinheit dargeboten. So zeigte ſich denn aud) in den Lands» 
mannjchaften die beklagenswerthe Zwietradyt und Zerriffenheit 
ded heiligen römifchen Reiches deutjcher Nation in ihrer ganzen 
Fämmerlichfeit: indem fie alle Landsleute zwangen, ſich (zunächſt 


(151) 


10 


ald „Renongen“) unter ihren Bannern zu vereinigen und Die 
jogenannte landsmannſchaftliche Maſche d. h. Hutichleife zu 
tragen, ließen fie die Idee einer allgemeinen Berbrüderung 
ebenjowenig auffommen, als fie die Einführung von Inftitu- 
tionen, weldye der freien Entwidelung der Perjönlichfeit einigen 
Spielraum gewährten, ftetd ftreng von der Hand wieſen. Im 
Gegentheil fuchten die einzelnen Landsmannſchaften einander in 
jeder Beziehung den Rang abzulaufen und in glanzuollem Auf: 
treten nach Außen hin zu überflügeln. Im Innern bemübten 
fie fih, durch Fidelität, möglichſt vieljeitigen Lebensgenuf, 
gegenfeitige Aushülfe, namentli im Geldverlegenheiten, und 
fonftiges freundjchaftliches Zujammenhalten die Ausnugung des 
Trienniumd zu einer ununterbroden jprudelnden Duelle des 
Vergnügend zu machen und eine möglichft angenehme Erinne- 
rung an den afademilchen Aufenthalt mit nad) Haufe zu 
nehmen. Ging doch der gerügte Partikularismus jo weit, daß 
nochẽ im Jahre 1811 die Jenaiſchen Landsmannſchaften fürm- 
lie Werbebdiftrifte oder „Kantone“ derart unter ſich ver- 
theilten, daß ohne freundichaftliche Uebereinkunft feine Lands— 
mannjchaft die Angehörigen eined Staates, welcher ihr bei der 
erwähnten Abmahung nicht als Rekrutirungsbezirk zugefallen 
war, ald Mitglieter recipiren (aufnehmen) durfte. Sehr wahr 
jagte daher Ernft Mori Arndt in jeiner Schrift „Ueber den 
deutihen Studentenftaat“ ®): „Durch den engen ®eilt diefer 
Landsmannſchaſten hat ed wohl gefchehen fünnen, daß auf einer 
Univerfität der Scylefier nie mit Andern ald mit Schlefiern 
und der Weitphale nie mit Andern ald Weftphalen zufammen- 
gekommen, und daß die Erfriihung, Erquidung und Belebung 
des allgemeinen deutjchen Geiſtes dadurch geradezu gehindert 
ift, jo daß bei einer jo mangelhaften und engherzigen Einridy- 
tung die Herren ebenjo vernünftig daheim geblieben wären und 
(152) 


11 


dort ihre Studien getrieben hätten“. Zu diejer landsmann— 
ſchaftlichen Sonderbündnerei gejellte ſich eine maßloje Celbit- 
überhebung, weldye fid) namentlidy in der Nichtanerfennung ter 
gefellichaftlihen Gleichberechtigung aller Nidytverbindungs- 
ftudenten im Allgemeinen, aller Nichiſtudenten (jogenannten 
Dhilifter) im Befonderen ausiprad, von ver eigemmädhtig 
gebildeten Gerichtöbarfeit diejer Korporationen, ihrer Kom— 
menttyrannei und dem rohen Vennaliömus?, mit welchem 
fie die jüngeren Mitglieder bebhantelten, ganz zu jchmweigen. 
Bedenft man nun, dab die Landömannjcafter den im 
ihren Berbindungen berrjchenden ſchlechten, einjeitigen und 
gemüthsarmen Geift, den „Geift Ted Egoismus, der Partei— 
ſucht, des ariftofratiichen Hochmuths, ter Edeinehre und Re— 
nommifterei, Geheimnibfrämerei, Furcht vor der Deffentlichfeit, 
furz alle die Erbärmlidyfeiten, woran unjer deutiches Staats— 
und Bolföleben im Großen leidet”, mit ind bürgerliche Leben 
binübernahmen, um in ihm bis zu ihrem Ende in den ver- 
ſchiedenſten Berufdarten, ald Richter, Yehrer und Vertreter des 
Bold zu wirken, jo wird man unjchwer den großen Schaden 
ermefjen können, melden fie, namentlicy mit ihren partifularifti- 
ſchen Neigungen angerichtet haben. Es dürfte vielleicht von 
Snterefje fein, bier im Borbeigehen zu hören, wie ſich über die 
leßteren ein wadrer Mann in jeiner unverblümten Weiſe aus- 
geiprochen hat. Zurnpater Jahn läßt ſich nämlich in feinem „Deut— 
ſchen Volksthum“ (Neue Ausgabe, Leipzig 1813, ©. 118 ff.) 
darüber aljo vernehmen: „Wer fein andered Gefühl hat, ald in 
den Fingeripiten, die er zur Handthierung gebraucht, und glaubt, 
die ganze Welt müfje fid) um feinen Dreifuß drehen — ift ein 
Philiſter. Wem aber der erbärmlidyite Schlammgraben das 
Herz engt, und die jämmerlichfte Ringmauer dem ganzen Ge: 


fichtöfreid verhült; wer nichts Tieferes kennt, als die Vieh: 
(158) 


12 


ſchwemme, und den Ziehbrunnen, nichts Höhered ahnt, als die 
Wetterfahne auf dem Glockenthurm — bleibt ein Kleinftädter. 
Wer endlidy ſchon darum allen Menſchen ausſchließlichen Werth 
beilegt, weil fie mit gleichem Waſſer getauft, mit dem nämlichen 
Stode gezüdhtigt, denfelben Koth durdtreten, oder von Jugend 
auf gleiche Klöße, Fiſche und Würfte mit Salat gegeſſen, die— 
felbe Art Schinken und Jütochſen verjpeijet, oder Pumpernidel, 
Spickgänſe und Mobnftrigel verzehrt; und deshalb nicht mehr 
verlangt, fondern geradezu fordert, daß jedermann echt kloßicht, 
wurfticht, fiſchicht, ſalaticht, ſchinkicht, jütochſicht, pumpernidlicht, 
ſpickgänſicht und mohnſtritzlicht bleiben ſoll — liegt am ſchweren 
Gebrechen der Landsmannſchaft darnieder. Wer indeſſen 
von der Verkehrtheit ergriffen war, ſeine Hufe Land für ein 
Königreich, ſeine Erdſcholle für ein Volksgebiet anzuſehen, und 
die andern Mitvölker und Invölker des Geſammtvolks neben: 
buhleriſch anzufeinden, damit nur ſtatt eines Gemeinweſens das 
Unweſen von Schöppenſtädt, Schilda u. |. w. beſtehe: — hatte 
Theil an dem Unſinn der Völkleinerei, in welcher 
Deutſchland unterging“. So weit Jahn. Derb, aber wahr! 
Zu dieſer „Völkleinerei“ der landsmannſchaftlichen Ver— 
einigungen geſellte ſich der unſinnigſte Duellzwang, kraft deſſen 
das Duell nicht mehr das Mittel zur Wiederherſtellung der 
verletzten Ehre blieb, ſondern Selbſtzweck wurde. Man be— 
leidigte ſich, um ſich zu ſchlagen. Arndt äußerte ſich einmal in 
ſeinem oben erwähnten „Studentenſtaat“, es ſei jo weit ge— 
kommen, daß Eltern, die ihre Kinder zur Pflege der Wiſſen— 
ſchaften auf die Univerfitäten ſchickten, fie faſt im den Krieg zu 
ſchicken jchienen 10): was joll man nun dazu fagen, wenn der 
Zenaijche Profejjor Starf!!) in den Mittheilungen aus feiner 
Studienzeit, welche im die Sahre 1809 bis 1812 fiel, erzählt, 


daß in einem einzigen VBierteljahre, zwiſchen Weihnachten und 
(154) 


13 


Dftern, etwa 134 Duclle ftattfanden und einer feiner Bekannten 
unter 32 Schlägereien nur drei aus perjönlichen Gründen, alle 
andern für landsmannſchaftliche Zwede ausfocht? Zwar ift es 
von jeher eine berechtigte Eigenthümlichfeit des Jenaiſchen Bur- 
ſchen gemeien, jih an blanfen Klingen und am Waffenjpiele zu 
ergeben und die Mufenftadt, mie ed in dem alten Gedenkverſe 
beißt, nicht „ungeſchlagen“ zu verlafjen; allein damald war 
dieje Liebhaberei jhier zur Manie entartet. Trotzdem erjcheint 
eö wenig glaubhaft, was der Burjchenichafter Robert Wefjelhöft 
in feinem Buche ‚„Teutſche Jugend in weiland Burichenjchaften 
und Turngemeinden” (Magdeburg 1828, S. 29) berichtet, daß 
nämlid in der erften Zeit des Beftehend der Burſchenſchaft, im 
Sommer 1815, bei einer Frequenz; von nur 350 Studirenden in 
einer einzigen Woche 147 Duelle ftattgefunden hätten! Wenn man 
auch geneigt wäre, dabei viel auf Rechnung der damals herr- 
ſchenden gegenfeitigen Erbitterung zu ſetzen, jo liegt es doch 
für jeden Kenner der akademischen Verhältniffe auf der Hand, 
daß die von MWefjelhöft angegebene Zahl jtarf übertrieben fein 
muß; und Scheidler, ald Mitbegründer der Burſchenſchaft ge: 
wiß ein Hajfiicher Zeuge, hat Recht, wenn er gelegentlich jeiner 
Beleuchtung diejer Notiz, welche fid durch eine Reihe von maß: 
gebenden Daritellungen der Entwidlungsgeihichte der Burjchen- 
ſchaft fortgepflanzt hat!?), u. a. jagt: „So arg ift’8 ficdher 
nicht einmal in der jchredlichen Periode des dreißigjährigen Krieges 
hergegangen, nod) audy ein Jahrhundert fpäter, ald Jena an die 
3000 Studenten zählte, nody in der Zeit von Zachariä's 
„Renommiften“, in weldyer ed allerdings noch mit Recht hieß: 
„Wer von Jena fommt ungejchlagen, 
Hat von großem Glüd zu jagen“. 

Aber died von der Zeit nad) der Entftehung der Burſchen— 

ſchaft zu behaupten, ift dody gar zu „ftarfer Taback“. — 


(155) 


Eine Zeit lang fchien ed, ald wenn die Drden einen befjern 
Geiſt auf den Univerfitäten einbürgern wollten; doch audy fie 
waren Kinder ihrer Zeit, namentlid der damals herrichenden 
Geheimbündelei, wie fie fi in den Slluminaten, Rojenfreuzern 
und ähnlichen Genofjenfchaften zur Erjcheinung brachte, ftiegen 
und fielen daher mit dem Zeitgeifte, den fie widerſpiegelten. 
Im Gegenjag zu den Landsmannfchaften wählten fie ihre Mit- 
glieder ohne Rücklicht auf ihr engered Vaterland und gelobten 
fi) ewige Freundichaft, ſowie gegenfeitige Unterftüßung für ihr 
dereinſtiges beijered Fortfommen im bürgerlichen Leben: alles 
verhüllt von einem Wufte geheimer Gebräude, Abzeichen und 
Symbole. In SIena hatten diefe Drden anfänglich als 
Schwarze Brüder, Konftantiften, Amiciften und Unitijten einige 
Erfolge zu verzeichnen gehabt; doch allmählich waren fie den 
Landsmannſchaften, auf melde fie in der Folge verſchiedene 
ihrer charafteriftiihen Merkmale, jo beionderd die Geheim- 
thuerei, vererbten, unterlegen und jeit 1809 immer mehr von 
der Bildfläche verſchwunden, jo dab die erjteren fich zur Zeit 
der Kreiheitöfriege als alleinige Herren des Terrains betrachten 
fonnten. Natürlich hatten fie Feine Luft, daſſelbe gutwillig zu 
räumen und ihre einflußreihe Stellung ohne Weiteres auf- 
zugeben, und zeigten fich daher dem neuerwadhten Zeitgeifte, 
welcher in erfter Linie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichfeit 
aller akademiſchen Bürger forderte, vollitändig abgeneigt. 

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichfeit! Im der That 
faffen dieſe drei fo viel berufenen, geichmähten und verpönten 
Worte alle Beftrebungen der Burichenjchaft in fi. Der lange 
Feldzug hatte den Gefichtöfreid der jugendlichen Helden er- 
meitert, ihnen gezeigt, dab das Leben nicht der Güter höchſtes 
it, dab die Idee body über dem armjeligen Menjchendajein 
fteht, und fie im euer einer erhabenen Begeifterung von allen 

(156) 


15 


Schlacken gereinigt, die dem Golde ihres Charafterd vordem 
etwa anflebten. Halbe Knaben nody waren fie in den heiligen 
Kampf binandgezogen, ald Männer waren fie heimgelehrt, und 
mannhaft wollten fie von nun an immer handeln. Die Augen 
waren ihnen darüber aufgegangen, dab die fortgeſetzte Uneinig- 
feit und Eiferfucht der deutichen Fürften und Volksſtämme der 
hauptſächliche Grund ihrer Schwäche und demzufolge auch 
ihrer Niederlagen geweſen war, daß aber dem Anfturme des 
geeinten Deutichlands auf die Dauer fein Feind zu widerjtehen 
vermochte. Durch eigene Kraft hatten fie ſich von der brutalen 
Gewalt und bdiftatoriichen Graufamfeit des Crobererd befreit 
und wollten auch in Zufunft, jo hatten fie fih’8 im Donner 
der Schladhten gelobt, einmüthigen Sinned fein und ftetö die 
Freiheit ald ihr höchites Gut vor Augen und im Herzen haben. 
Die Schranken, welche im Laufe der Sahrhunderte zwifchen den 
verjchiedenen Bevölferungdflaffen emporgeftiegen waren, hatte 
der alles gleichmachende Krieg niedergeriffen; Edelmann, Bürger 
und Bauer hatten wetteifernd um die Palme gerungen, den- 
jelben Boden mit ihrem Blute geröthet und ſich gegenfeitig 
fennen und ſchätzen gelernt. Sollten fie fi daheim wieder in 
den alten Kaſten falt von einander abichliegen? Nimmermehr! 
Dazu kam nody ein dritter Umftand. Schulter an Schulter 
batte der Sachſe mit dem Bayer, der Kranfe mit dem Schwaben 
gefochten und gute Kameradſchaft gehalten, mander Freund» 
Ihaftsbund war beim Brüllen der Gejchüße für das Leben ge: 
ichlofjen worden, dad Bewußtjein der Zufammengehörigfeit hatte 
alle Stammesvorurtheile erftidt und ausgerottet; nie, nie war 
man gejonnen fidy wieder zu trennen, nachdem man erfannt, 
wad man aneinander hatte und was man gemeinichaftlich zu 
leiften im Stande war; man war nicht gewillt, jelbitftändig 
auf ſolche Errungenjchaften des Herzend zu verzichten. So 


(157) 


16 


waren die Ideen, mit welchen die Kommilitonen aus dem 
Felde heimfehrten: wie hätte ein derartiges Geſchlecht, dad mit 
gewöhnlichen Studenten ja gar nicht verglidyen werden konnte 
— Gervinus nannte ed'?) eine „eilerne Jugend“ — noch ferner 
Gefallen an müßigem Tand und Spiel finden jollen? Unbe— 
wußt ftand ilym der Gedanfe, welder zur Zeit der Blüthe der 
Burſchenſchaft, im Fahre 1818, ausgeſprochen wurde, von An— 
fang an in wunderbarer Klarheit vor der Seele, der Gedanke 
nämlih, daß die Herftellung eines in lebendiger Be- 
ziehbung zu den Interejien des Baterlandes geord- 
neten Studentenlebend feine Aufgabe und fein Ziel fei; 
und dieſes Ziel zu erreichen, dieſe Aufgabe vollitändig zu löſen, 
dafür ſetzte e8 das volle Gewicht feiner erprobten Kraft ein. 
Mit einem Worte: der feither auf den deutſchen Hochjchulen 
herrſchende Geift der Unfreiheit, Unfittlichkeit und Lüge follte 
verfchwinten und dem Geilte der Wahrheit, Mäßigfeit und 
Neligiofität auf den Grundlagen der Freiheit und Ehre Platz 
machen. 

Wie jedes große Ereigniß feine Schatten vorauswirft, fo 
war auch diejer Geift nicht über Nacht gefommen, fondern er 
hatte ſich jchon früher im einzelnen Ericheinungen angekündigt. 
und war durdy dad große Drama der Zeit lediglich zur Reife 
gebracht worden. DBereitd zu Anfang des 18. Jahrhunderts 
begann in Folge des Einfluffes der Aufflirungsphilojophie eines 
Thomafius und Wolf in der ftudentiichen Gejellichaft ein 
befierer Ton, als er vorher üblich geweſen war, um fidy zu 
greifen; der mächtige Aufihwung der deutichen Nationalliteratur 
trug nicht wenig dazu bei, diejen Ton zu befeftigen und zu 
verallgemeinern, die Eittlichfeit zu heben und die Gefühlsrohheit 
zu bejchränfen +); vornämlich aber war es die franzöfiihe Re- 


volution mit ihren welterſchütternden Ideen von Völkerwohl 
(158) 


17 


und Bölferfreiheit, welche einen vollitändigen Umjhwung in den 
Anihauungen der jugendlihen Gemüther hervorrief, fie zu 
einem Brude mit dem Beftehenden aufforderte und in ihnen ein 
heftiged Streben nady Erneuerung des mit dem politiichen um 
die Werte dahin jchleichenden, nicht geiftwoll bejeelten, fondern 
dden und dumpfen afademijchen Lebens wachrief. „Das Alte 
ſtürzt; es ändert fi) die Zeit: und neues Leben blüht aus den 
Ruinen” — war die allgemeine Kojung. Das Motto aus dem 
Hippokrates, welches der junge Schiller der Vorrede feiner 
„Räuber“ vorgejeßt, bezeichnete in treffender Weiſe die herr» 
Ihende Stimmung. Auf allen Gebieten des Dajeind zeigten 
fih gewaltſame Wandlungen, weldye tief in dad Fleifch des 
Staatöförperd einjchnitten. Wie ſich nun Alles in ftaatdrecht- 
liher Beziehung verjüngte und vergeiftigte, jo ſollten auch die 
unerträglihen Zuftände auf den bdeutichen Univerfitäten ihr 
Ende, das akademiſche Leben felbft eine vollftändige Umgeftal- 
tung erfahren. Eime Reihe ausgezeichneter und beliebter Lehrer, 
die mit der Schärfe ded Verſtandes in glüdlicher Weiſe die 
Wärme ded Herzend verbanden, vor allen der erfte und be- 
deutendite Apoftel der kritiſchen Philofophie des Königsberger 
Gedanfenmeifterd, der entlaufene Mönch und jpätere Schwieger- 
john Wieland’s, Karl Leonhard Reinhold, durch deffen Berufung 
nad) Sena im Fahre 1787 die Univerfität mit einem Schlage 
an die Spitze aller übrigen trat und die Methode der philo- 
ſophiſch-kritiſchen Behandlung jämmtliher Disziplinen, dieſer 
Signatur der modernen Wiſſenſchaft, damit aber auch eine vull- 
ftändig neue intellektuelle, moraliſche und aefthetiiche Welt- 
anſchauung über die verjchiedeniten Länder, ja über die ganze 
gebildete Welt verbreitete, fein Nachfolger Johann Gottlieb 
Fichte (1794— 1799), der Mann mit der „tapfern“ Perjönlidy- 


keit, dejlen Berufung nad Jena Goethe eine „Kühnheit“ nannte, 
xvm. 412. 2 (159) 


18 


und, der Begeiftertiten einer, Friedrich Echiller, welcher im 
Frühjahr 1789 ald Eichhorn's Nachfolger eine Profefjur der 
Geſchichte antrat, fie alle waren eifrig bemüht, ihre Schüler 
immer mehr zu reiner Menjchlichkeit zu erziehen, die Denkkraft 
in ihren Köpfen zur Reife zu bringen und zur möglidy hödhiten 
Stufe der Bollendung zu befördern, ald alleinige Nicyterin in 
allen Streitfällen ihnen die Vernunft anzuempfehlen und fie 
zum unabläjfigen, unerjchrodenen Kampfe gegen Borurtheil und 
Aberzlauben anzufeuern. Die mwohlthätigen Folgen diefer Be: 
mübhungen follten nicht ausbleiben. So fonnte Fidyte im Jahre 
1795 an den Jenenjer Studenten rühmend hervorheben, „dah 
bei der Mehrheit eine würdigere Denfart über dad Geſchäft 
des Gelehrten herrſche, als man fonft gewöhnlich antrifft, ein 
größerer Trieb, audy das zu lernen, was mit dem Fünftigen 
Amte nicht im unmittelbarer Beziehung fteht, mehr Liebe zu der 
MWiffenihaft um der Wiſſenſchaft willen, mehr Trieb zum 
Selbftdenfen und Selbftarbeiten und überhaupt ein ficheres 
Streben, fih in allen Stüden zur Selbitftändigfeit empor. 
zubeben und nicht mehr Kinder, jondern Männer zu jein.“ 
Hiermit fei ein allgemeiner Eifer für den guten Ruf der Uni- 
verfität verfnüpft, wie er damald „nur noch auf ein oder zwei 
andern Univerfitäten geherrſcht babe.“ Und nicht blos im 
wifjenfchaftlicher Beziehung zeigte fi ein Streben nad) Ber- 
tiefung: die Vorboten einer neuen Zeit madyten ſich aud in 
Bezug auf Moralität und Charafterbildung geltend. Schon im 
Fahre 1792 überreichten dreihundert Landsmannſchafter unter 
Heinrich Stephani's10) Führung dem akademiſchen Senate eine 
in denfwürdigen und für die geiftige Strömung der damaligen 
ftudirenden Jugend überaus bezeichnenden, auch nody heute be» 
herzigenswerthen Worten abgefaßte Schrift behufs Erlaſſes 


eined jcharfen Duellverboted und Einfegung eines ftudentijchen 
(160) 


19 





Ehrengerichtes, ja fie forderten jogar die Kommilitonen der 
übrigen Hochſchulen auf, fih an ihren Beftrebungen zu bethei- 
theiligen. An der Gleichgiltigkeit der Regierungen fcheiterte 
dieie Bewegung, welde man füglih ald eine VBorläuferin bed 
burſchenſchaftlichen Gedanfend betrachten fann; immerhin aber 
ftellte fie dem damals herrſchenden Geiſte das ſchönſte Zeugniß 
aus; das Bedürfniß, aus dem alten Schlendrian heraus— 
zukommen, war da, und der edle Schiller hatte feinen tauben 
Ohren gepredigt, al8 er in feiner Antrittörede vom 24. Mai 
1789 (über dad Thema „Was heißt und zu weldem Ende 
ftudirt man Univerſalgeſchichte?“) feinen Zuhörern die Worte 
zugerufen hatte: „Und welcher unter Ihnen, bei dem fich ein 
beller Geift mit einem empfindenden Herzen gattet, Fönnte 
diefer hohen Verpflichtung eingedenf fein, ohne daß ſich ein 
ftiller Wunſch in ihm regte, an dad fommende Geſchlecht die 
Schuld zu entridhten, die er dem vergangenen nicht mehr ab» 
tragen fann? in edled Verlangen muß in und entglühen, zu 
dem reihen Vermächtniß von Wahrheit, Sittlicyfeit und Frei- 
beit, dad wir von der Vorwelt überfamen und reich vermehrt 
an die Folgewelt wieder abgeben müfjen, audy aus unfern 
Mitteln einen Beitrag zu legen, und an diejer unvergänglicyen 
Kette, die durdy alle Menjchengefchledyter ſich windet, unjer 
fliehended Daſein zu befeftigen. Wie verjchieden auch die Be— 
ftimmung ſei, die in der bürgerlichen Gejellihaft Sie erwartet 
— etwas dazu fteuern fünnen Sie alle! Jedem Berdienft ift 
eine Bahn zur Unfterblichfeit aufgethan, zu der wahren Un— 
fterblichfeit meine ich, wo die That lebt und weiter eilt, wenn 
auch der Name ihres Urheberd hinter ihr zurüdbleiben jollte.” 
Aehnlich den Beitrebungen von 1792 wurde im Jahre 1809 
auf Anregung des verdienten Profejjord der Philofophie und 
Theologie Karl Chriltian Erhard Schmid vom Studiojus 
2* cin 


20 


Deocar Schmid unter der Bezeichnung „Berein der freien 
Studirenden” eine Gefeljchaft von 300 Mitgliedern gebildet, 
welcher ihre Gegner den Spottnamen Sulphurea (Schwefelbande) 
beilegten. Diejelbe verwarf in ihren „Regeln ded Verhaltens“ 
alle provinziellen Vereinigungen und Namen, jowie alle Ziele, 
welche außerhalb des eiyentlidhen Zweckes des akademiſchen 
Aufenthaltes liegen, ſetzte die Ehre ihrer Mitglieder in honetten, 
geſetzlichen Wandel und gebot ihnen, ihre Streitigkeiten auf le— 
galem Wege auszumadyen, aller unerlaubten Selbithülfe aber 
fid) ftreng zu enthalten. Senioren und Beamte wurden nicht 
gewählt, eine Berfafjung für überflüffig erachtet. Doch der 
Mangel an Drganifation und Disciplin, jowie der Abgang des 
Führerd von der Univerfität, vor allem aber die fortgejeßten 
Anfeindungen der Landemannidhaften lieben diefe Vereinigung 
fich ihres Dafeind nicht lange erfreuen. Der Ausbruch des 
Kriegs gegen den Erbfeind drängte dann alle weiteren Reform» 
verfuche für’d erfte in den Hintergrund. 

So war denn unter dem Drude der gejchichtlichen Ers 
eigniffe das Nationalgefühl, welches durch die erbärmlidye 
Politik der Kandeöherren Sahrhunderte lang ſchmählich darnieder 
gehalten war, in feiner ganzen Stärke erwacht und dad Zu- 
fammenbalten aller deutſchen Stämme als die unerläßliche Vor— 
bedingung einer befjern Zukunft erfannt worden. Leider wollten 
dies die zurücdgebliebenen Kommilitonen zum großen Theile 
nicht einjehen und verihhloffen den Forderungen der Gegenwart 
bartmädig ihr Ohr. Wie fie fid) aber audy fträuben nnd hinter 
ihren wurmftichigen Konftitutionen verſchanzen mochten, fie 
fonnten das rollende Rad der Zeit nicht aufhalten. Se heftiger 
der Widerftand war, welchen fie leilteten, um fo fefter hielten 
bie zurüdgefehrten Krieger zufammen nnd beichloffen, in den 


alten, hohlen, abgelebten und durchaus unzeitgemäßen Formen, 
(163) 


2] 


wie fie in den landsmannfchaftlichen Vereinigungen dermalen 
noch im Schwange waren, und denen fie fich nothgedrungener 
Maßen vorläufig noch fügen mußten, nicht mur nicht weiter 
fort zu leben, jondern ſogar auf ihre vollftändige Befeitigung 
und damit auch auf den Sturz der leßten Weberbleibjel des 
barbarifchen Pennalismus hinzuwirken. Bor allen jollte fremd: 
ländifche Sitte und Art aus ihrem Kreije verbannt werden. 
Wie fie einem der akademiſchen Jugend durchaus würdigen Zus 
fammenleben nachſtrebten, jo jollte Alles, der Geift, von dem fie 
bejeelt waren, wie die Formen, in denen fie ſich bewegten, 
deutidy jein; und jo legten fie fi denn auf den Antrieb 
Friedrih Ludwig Jahn's befonderd auf die edle Turn» und 
Fechtkunſt, gemäß den Worten ded alten Dichters Juvenal: 
Orandum est, ut sit mens sana in corpore sano (Geſunder 
Geift in gelundem Körper jei unfer Ziel). Schon im Sommer 
1814, demjelben, in weldhem ein Theil der Nichtverbindungds 
jtudenten (ſ. a. Finfen) unter der Führung der Studioſen 
de Balenti und Wilhelm Schmidt, (beide aus Lobeda bei Jena), 
den bemerfenäwerthen Verſuch machten, fich von der deöpotijchen 
Herrſchaft der Kandsmannichaften, dem Drude ihred Kommentd 
und feiner Erefutivbehörde, dem Seniorenfonvent, zu befreien, 
war auf Anregung Wilhelm Kaffenberger’3 aus Frankfurt a. M. 
durd) das freiwillige Zufammentreten von 123 Landsmannjchaftern, 
zu ihnen gehöriger Nenongen und Finfen eine „Wehrichaft”, 
eine Art afademiicher Landfturm, gegründet worden 16), welcher 
die mannigfachſten militäriichen Ererzitien, ſelbſt Erftürmung 
von Dörfern u. dergl., trieb, wozu jpäterhin noch theoretijche 
kriegswiſſenſchaftliche Studien unter Leitung ded Profeſſors 
von Münchow traten, und den Zwed verfolgte, die im Felde 
erworbene friegerijche Ausbildung und Tüchtigkeit durch fort- 


geießte, planmäßige Hebung zu bewahren und auch den jüngeren 
(163) 


22 


Studiengenofjen mitzutheilen. Ein nicht zu unterichäßendes 
Moment zu einer Zeit, da die Idee der allgemeinen Wehrpflicht 
erit zu reifen begann! Dazu fam 1816 auf Betreiben der zwei 
von Berlin nady Jena gekommenen Hauptichüler Jahn's, Hand 
Ferdinand Maßmann's und Eduard Dürre’d die Einridtung 
eined QTurnplaßes, erft anderwärts, jpäter auf eine Wiefe in der 
Nähe des „Paradieſes“, einer parfähnlidyen Anlage malerijcer 
alter Baumgruppen, welcde leider nunmehr jfeit etwa zehn 
Jahren durch den Damm der jeitdem hindurdyführenden Saal» 
eiienbahn den größten Theil ihrer landjchaftlichen Reize eingebüßt 
bat. Der alte Turnplaß jelbit ift Dank dem gemüthölos:projaiichen 
Zuge unjerer Zeit und der Läiligfeit der damaligen Studenten- 
ſchaft ſchon ſeit mehreren Sahrzehnten feiner Bäume be- 
raubt und in ein SKartoffelfeld verwandelt worden. Ald er 
aber noch in Kraft und Anjehen ftand, konnte man dajelbit den 
ganzen Tay über im ungebleichte Leinwand gekleidete Turner 
ſich an den Geräthichaften eifrig übend erbliden, bis er, ald nad 
der Auflölung der Burſchenſchaft im Fahre 1819 mit der Wehr: 
ichaft auch den Turnvereinen ein jähes Ende bereitet wurde, all= 
mählich in Verfall gerieth. Aus ter oben genannten Wehrjchaft 
nun ging die Burjchenichaft hervor, nnd wenn fie ſich auch 
neben der letzteren als jelbititändiger Körper erhielt, jo bradıte 
fie doch erft die widerſtrebendſten Elemente einander näher und 
zeigte, dab eine vollftändige Verjchmelzung derjelben fein Ding 
der Unmöglichkeit jei. Treffend bemerkt Scheidler in Bezug auf 
die Bedeutung der ‚Wehrſchaft“ ald Vorläuferin der Burjchen- 
haft in feinen „Jenaiſchen Blättern” Folgendes: „Die Haupt: 
ſache ift umd bleibt, daß in der Gründung diefer ‚Wehrichaft‘ 
endlich ein erfteö Beijpiel der Möglichkeit und Wirklichkeit ge— 
geben ward, daß und wie deutſche Studenten — obwohl jelbft 
untereinander durch theilmeife feindlich ſich gegenüberftehende 


(164) 


23 


— — — — — 


Verbindungen und überdieß durch den damals noch ſehr ſchroffen 
durchgreifenden Gegenſatz jener zum ſog. ‚Finfenthbum‘ ge- 
ſpalten — trotz alledem und alledem ſehr wohl einig ſein und 
einträchtig handeln können, und zwar nachhaltig, nicht 
etwa blos im (ohnehin meiſt nur Alfohol-) Enthuſiasmus bei 
Qubele oder anderen Feften! Was aber damals wirklich war 
und jahrelang beſtand, warum follte denn das nicht nody einmal 
wieder möglich werden?” 

Endlidy glaubten die Vertreter der neuen Richtung die 
Verhältniſſe jo weit vorbereitet, dat an die Verwirklichung des 
Planed einer allgemeinen deutjchen Burfchengemeinde gedacht 
werden fönne. Die Zahl jener Bertreter war nicht groß; es 
waren nur elf Studirende, fämmtlidy aus dem Feldzuge zurüd- 
gefehrte Freiwillige, meift Lüßower Jäger: neun Bandalen 
(nämlich ſechs Medlenburger, ein Preuße, ein Franffurter und 
ein Livländer) und zwei Thüringer. Dieje uriprünglichen 
Gründer der Burſchenſchaft hießen 17): Karl Horn (stud. theol. 
aus Neuftrelig), Karl Uterhart (stud. med. aus Friedland), 
Heinrich Arminius Riemann (stud. theol. aus Rabeburg), Adolf 
Friedrich Schröder (stud. theol.), Heinrichs (stud. jur.) und 
Probſthan (lebtere drei ebenfalld aus Medtenburg), Dortü 
(stud. phil. aus Berlin), Wilhelm Kaffenberger (stud. jur. aus 
Frankfurt a. M.), Julius Walter (stud. jur. aus Livland), Karl 
Hermann Sceidler (stud. jur. aud Gotha) und Karl Vogel 
(stud. theol. aus Arnftadt). 

Dieſe ftrebten die Auflöfung der Landsmannihaften und 
ihre Umgeftaltung zu einer allgemeinen Burfchengemeinde an. 
Die Trennung der deutſchen Gaugenoffen jollte aufhören und 
durdy die Vereinigung Aller in ein mwohlgegliederted Ganze ber 
legte und höchfte Zweck des Aufenthaltes auf der Univerfität, 
welcher, wie Arndt in jeiner fchon öfter erwähnten Schrift über 


(165) 


24 


den deutſchen Studentenftaat fagt, darin befteht, „daß durch die 
Miſchung und Reibung ded Vielfachen und Verſchiedenen, welches 
in dem ganzen Volke ift, dad Allen gemeinfame hervoripringen 
und gefunden werden fol“, erreicht werden. Dod die große 
Mehrzahl der Landsmannſchafter wideriegte fi den Anforderungen 
Jener auf dad Energiichite; und ed fam (während der Monate 
März und April ded Jahres 1815) zu harten Kämpfen, nicht 
allein mit Worten, fondern auch mit der blanfen Waffe: und 
nur durch die zahlreidhen Siege der Befjergefinnten, melde fie 
nah altem Herfommen ald „Gotteögerichte" und „Macht des 
Schickſals“ auffaßten, lichen fi die Gegner der guten Eadıe 
überzeugen, daß fie fidy den Neformprojeften mit Unrecht wider: 
fetten. Endlich löſten fid) die Thuringia, Franconia und Bandalia 
freiwillig auf: die Saronia beitand vorerft als landdmann- 
ichaftliche Verbindung mit ſchwacher Mitgliederzahl (20 Aktiven) 
fort. Auch fie löfte fih im Sommer 1816 auf, jo dab danadı 
in Jena nur noch die Burſchenſchaft mit etwa dreibundert Mit- 
gliedern als einzige akademiſche Verbindung beftand. Die all 
gemeine „Direction“ der Studeutenverhältniffe wurde für's 
Erfte den Senioren der aufgelöften Landsmannſchaften über: 
tragen und die Etudiojen Kaffenberger, derielbe, welcher auch 
die „Wehrſchaft“ gegründet hatte, und Heinrichs, welch leßtern 
einige ald den Hauptitifter der Burfchenjchaft anſehen, mit der 
Aufgabe betraut, mit vereinten Kräften an die Audarbeitung 
der neuen Berfaffung zu gehen und fich bei dieſem Werke 
von durchaus freifinnigen Grundjäßen leiten zu lafjen. 

Mit regem Eifer und jtrenger Gemiljenbaftigfeit unter- 
zogen ſich die Beauftragten der ſchwierigen Arbeit. Die Grund» 
lagen, auf welden fie bauen fonnten, fanden fie in den 
Konftitutionen der alten Bandalia und Thuringia, derjenigen 


beiden Landsmannſchaften, welden die Gründer der Burfjchen- 
(166) 


25 


Ihaft ehedem felbit angehört hatten; indem fie.nun das uns 
läugbare Gute, Braudybare und praftiih Bewährte, welches in 
jenen Berfafjungen enthalten war, in das neue Geſetzbuch her— 
übernahmen, dad Schlechte, Schädlihe und Veraltete aber ſorg— 
fältig audzumerzen ſich bemüht zeigten, befreiten fie den genieß— 
baren Kern jener Urfunten von der unfchmadhaften Schale 
und jchufen jo ein Werk, in welchem fi) um das Gebäude der 
neuen Ideen eine Fülle althergebrachter, unſchädlicher Formen 
ald Arabesken jchlang. Dabei lichen fie eö fi) angelegen fein, 
in erfter Reihe die Winfe, weldhe ihnen ihr Mitfämpfer Jahn 
erft mündlich während des Feldzugs und jpäter in einer be- 
jondern Denkfichrift in Bezug auf die Organifation einer zus 
fünftigen Burſchenſchaft gegeben hatte — auf feine Anregung 
hin wurden aud Name und Farben !®) des neuen Bundes ges 
wählt — treulidy zu benußen; außerdem erfreuten fie ſich des 
werfthätigen Beiraths ihrer Auftraggeber, der obengenannten 
Hauptvertreter der burjchenichaftlihen Beftrebungen; und auch 
von Berliner Gefinnungsgenojjen gingen ihnen eine Anzahl 
Vorſchläge zu, welche eingehend geprüft wurden und mehr oder 
weniger beifällige Berüdfichtigung fanden, Im Berlin hatte 
nämlih der Philofoph Fichte, nachdem er am Ente des ver: 
flofjenen Jahrhunderts den Nänfen feiner Gegner in Jena 
unterlegen war, inzwijchen jeine berühmten „Reden an Lie 
deutſche Nation“ mit der Aufftellung des Ideals eincd feitge- 
ſchloſſenen Jugendftaates (1808) veröffentliht und, da er in 
der Folge als Profeflor der Philojophie an die neugegründete 
preußiſche Univerfität berufen worden war, ähnlich wie einit 
an den Ufern der Saale feinen ganzen, jchwerwiegenden Einfluß 
auf die Kommilitonen geltend gemacht, um, wie fein Schn, 
der jüngere Fichte, fi ausdrüdt!?), die vereinzelnden und in 


jedem Sinne ſchädlichen Landsmannſchaften zu vertilgen, das 
(167) 


26 





gegen unter den Studirenden den Gedanken allgemeinerer 
Vereine von „Deutjch-Füngern” anzuregen, deren bindende Kraft 
in den gemeinfamen Studien, in der gemeinjamen Ausbildung 
ded Geifted und Körperd, zur Führung der Waffen unferes 
Jahrhunderts, im ihrer gegenfeitigen Förderung durdy freien 
Beifteöverfehr, ſowie in dem Bemwußtjein des einen Vaterlandes 
liegen ſollte. Vor allem aber ſollten die Mitglieder fich zu 
Geſetzlichkeit und Einigkeit verbünden, dieſen Geiſt weiter 
verbreiten und jedes Zurückſinken in die alte Rohheit unter ſich 
und bei den Andern zu verhüten fuchen. Die Worte des großen 
Denkers hatten auch an der Spree empfängliche Hörer gefunden; 
und man fann ihn daher nicht mit Unrecht als den geitigen 
Vater der Burjchenichaft bezeichnen. Ein warmes Intereſſe an 
dem gedeihlicdyen Kortgange des Werkes zeigten endlid) die be- 
liebten SProfefjoren Dietrihb Georg Kieler, aud ein alter 
Yügower und namhafter Arzt, Yorenz Dfen, der berühmte Natur: 
forjcher, und Heinrich Luden, der anregende Dozent der Ge— 
ihichte; Ddiefe drei wadern Männer betheiligten ſich mit leb- 
haftem Eifer, oft bis in die fpäte Nacht hinein, an den Be— 
rathungen über die einzelnen Abjchnitte der neuen Verfaſſungs— 
urfunde; und fo fonnte ed nicht fehlen, daß eine in jeder 
Beziehung ſorgfältig durchdachte und ſchwungvoll geichriebene, 
in Form und Inhalt gleih mujterhafte Arbeit aus den Händen 
der jungen Gejeßgeber hervorging. 

Die Verfaffungdurfunde der Burjchenjchaft?9) zerfiel in die 
Einleitung, in einen allgemeinen und in einen bejonderen Theil. 
An die Spite des Ganzen war eine Darlegung der burjchen- 
ſchaftlichen Idee geftellt, welche, da fie dad Weſen der neuen 
Richtung Mar und deutlid vor Augen führt, nad) dem Wort—⸗ 
laute des Driginald bier folgen mag. Sie lautete: „Freiheit 
und Ehre find die Grundtriebe ded Burjchenlebend. Die erfte 


(168) 


27 


ift nothwendig gegeben durch die Beitimmung des Burfchen, 
nämlich Ausbildung und Auslebung der gefammten Perfönlidy: 
feit, und zwar im Gebiet der Univerfität und ihrer befonderen 
Verhältniſſe; die zweite iſt nothwendig im Gefolge der erftern, 
denn das Selbftgefühl ift die Wurzel der Ehre; fein Eelbft 
aber fühlt und begreift nur rein und Far der Freie. Das Be- 
wußtjein aber, das Höchſte und Edelfte zu erjtreben, das Ge— 
fühl der Kraft, ſich jelbft geltend machen zu können und feinen 
Werth felbit Darzuthun, gibt dem Burſchen die Ehre. Das 
Gefühl der Nothwendigfeit, dab die Freiheit, durch welche nur 
der Univerfitätözwed erreichbar ijt, erhalten und unverletzt be— 
ichirmt werden müffe, der Gedanke, dab died nur möglich jei 
durdy gemeinjame Kraft, der brüderliche Sinn und dad Gemein 
gefühl zu einem Ganzen zu gehören, fie fordern wohl alle 
gleich lebhaft auf zu Verein und Verbindung, und in der That 
find aus folchen Bedürfniffen ſchon von frühefter Zeit der Hoch— 
Ichulen an die mannidyfaltigften afademifchen Verbindungen ald 
Brüderjchaften, Kränzchen, Orden, Landsmannſchaften u. dgl. m. 
hervorgegangen. Aber der Zwed aller diefer Berbindungen war 
Heinli und fündhaft, und darım haben fie ihren Untergang 
gefunden oder werden und müffen ihn noch finden. Nur foldye 
Verbindungen, die auf den Geift gegründet find, auf welchen 
überhaupt nur Verbindungen gegründet werden follten, auf den 
Geift, der und das fichern kann, was nad) Gott das Heiligſte 
und Hödjfte fein muß, nämlid Freiheit und Gelbititän- 
digfeit ded Baterlanded, nur ſolche Verbindungen find dem 
Zweck und dem Weſen der Hodichulen angemefjen, weil nur in 
ihnen die alljeitige Ausbildung der Jugendfraft zum 
Heil unjerd Volks befördert und erhalten werden fann. Eine 
foldye Verbindung der Burfchen nennen wir mit dem Namen 
einer Burſchenſchaft“. 


(169) 


28 


An dieje goldenen Worte ſchloß fi eine Entwidelung der 
wichtigften burfchenfchaftlichen Grundjäße an: Aufhebung der 
Sonderbündnerei und einheitliche Geftaltung des gefellfchaftlichen 
Lebens, gleiches Necht für Alle, Deffentlichfeit und Münpdlichkeit 
des Verfahrens — diefe gebieterifhen und an fich längit ald 
berechtigt anerfannten Forderungen der Neuzeit wurden von der 
Burjhenichaft in ihrem Kreife gewährt und in glüdlicher Weife 
in’8 Praktiſche überfebt. Dazu geiellte ſich eine Beſchränkung 
der Duelle auf mwirklihe Ehrenhändel. „Man bafirte die neue 
Gejammtvereinigung auf folgende Hauptgrundfäße: 1. Damit 
das neuerwachte Bemwußtiein der Bolfseinheit nicht untergehe 
und, um den mandjerlei Nachtheilen der Trennung in Lands» 
mannſchaften vorzubeugen, jolle künftig nur die Burſchenſchaft 
als eine Verbindung auf der Univerfität beſtehen, welche alle 
Burſchen umfafje; 2. durdy die Immatrieulation erhalte jeder 
Studirende mit jedem andern in allem Weſentlichen gleiche 
Rechte; daher müjjen alle gleichen Antheil an der Gejeßgebung 
haben, die Verwaltung durdy foldhe, die von allen gemählt 
wurden, bejorgt, alle Beichlüffe von allen genehmigt, alle Urs 
theile, durdy welche wejentliche Rechte entzogen wurden, von 
allen erlalfen werden; 3. dad Band der deutſchen Burjche 
dürfe nicht ein überreizbarer Cigendünfel, jondern müjje von 
Liebe und Wahrheit gehoben fein. Es mülje daher bei vor» 
fallenden Beleidigungen ſowohl der Verſuch zur Vermittelung 
eintreten, ald auch ein von allen ernanntes Ehrengericht im 
Namen aller die Ehre ded einzelnen für unverlegt erflären 
dürfen“. ?1) 

Es ift bier nicht der Drt, eine ausführlihe Schilderung 
der DOrganijation der Burjchenfchaft, mit welcder ſich der bes 
fondere Theil der Konftitution befaßte, zu entwerfen; nur foviel 


jet erwähnt, daß erft die innern, dann die äußern Berhältniffe 
(170) 


29 


in bejonderen Abjchnitten genau geregelt wurden. Rorfteher- 
follegium, Ausſchuß, Mitgliedichaft, Allgemeine Berfammlung, 
Strafen, Beleidigungen und deren Ausgleichung mit eingehenden 
Beitimmungen über dad Verfahren in den einzelnen Fällen, 
Forderungen und dad Duell felbft, akademiſche Infamie, öffent» 
liche Feſtlichkeiten, Kommerje, Bechtboden und Fechtzwang — 
das waren ungefähr die Rubrifen, unter welchen die inneren 
Angelegenheiten abgehandelt wurden, während der Abjchnitt, 
welcher die Berhältnifie nach Außen umfahte, Punkte wie das 
Verfahren gegen der Burfchenjchaft nicht angehörige Studirende, 
Landdmannjchaften und Drden, gegen die übrigen Univerfitäten, 
Burſchenſchafter und jonftige Kommilitonen anderer Hochſchulen, 
ſowie Nichtftudenten in gründlichfter Weile erörterte. Von bes 
jonderer Wichtigkeit war die Beltimmung, daß jeder ehrenhafte 
Burſch, ausgenommen „die ewigen Feinde des deutichen Na— 
mend, die Welichen und Franzofen”, durch die Immatrifulation 
ohne Weiteres Mitglied der Burſchenſchaft werden Fonnte, umd 
der Umftand, dab der neue Bund aud diejenigen Studirenden, 
welche ihm nicht beitraten, in feinen Schuß nahm, wofern fie 
fih zu feiner Landsmannſchaft hielten. Es fund eine voll» 
fommene Gleichheit der Mitglieder ſtatt; einen Unterjchied der 
Geburt kannte man nicht; nur der Geift jollte herrſchen. So 
finden wir denn unter den alten Burſchenſchaftern hochadlige 
Namen neben denen der Söhne einfacher Bürger verzeichnet. 
„Füchſe“ Fonnten allerdings erft nach Ablauf eines Vierteljahres 
ordentliche, ftimmberehtigte Mitglieder werden. Was die Rang» 
ordnung nad Alteröitufen anbelangt, jo gab es den einzelnen 
Semeftern entiprechend: Füchſe, Brandfüchſe, junge Burſche, 
alte Burfche, junge Herrn, alte Herrn und bemoofte Herrn, 
welch leßtere über das jechite Semeiter hinaus waren. Die 


fünfte bis fiebente Reihe fahte man aud unter dem Namen 
arı) 


— 

der „Kandidaten“ zuſammen. Zur beſſeren Ueberficht und um 
die Ordnung leichter aufrecht zu erhalten, hatte man ſämmtliche 
Mitglieder in Kränzchen eingetheilt: 1. Kandidaten, 2. Alte 
Buridye, 3. Junge Burſche, 4. Brandfüchſe und Füchſe. Jede 
diejer Abtheilungen wurde von einem Vorſteher geführt, den 
dad Norfteher: Kollegium bezeichnete, und ftimmte in den Ver— 
jammlungen, wo fie regelmäßig denjelben Platz einnahm, eine 
zeln ab. Nicht geringere Bedeutung, als die oben erwähnte 
Beftimmung, hatte die Trennung der Burſchenſchaftsbehörde 
in zwei Gemalten, die verwaltende, richterlidhe und ausführende, 
welhe man den Vorftand nannte, und die auffichtöführende, 
weldye Ausſchuß hieß umd dafür Sorge zu tragen hatte, daß 
der Vorftand feine ihm von der Berfafjung zugeitandenen Be- 
fugniffe nicht überjchritt oder eigenmächtig erweiterte und ſich 
bei jeinen Entſcheidungen überall ſtreng an den Wortlaut der 
gejeßlichen Borjchriften hielt. Auf diefe Weile war eine Ber: 
letzung des Rechtes der Gejammtheit nicht wohl möglidy, denn 
Deffentlichfeit und Mündlichfeit bildeten die Grundlagen des 
neuen Verfahrens. 

Das Vorfteher-Kollegium war aus neun Mitgliedern zu- 
jammengejeßt, wozu noch drei „Anwarte“ ded Vorſteheramtes 
famen; alle mußten der größeren Erfahrung halber mindejtend 
alte Burjche fein und wurden auf ein Semefter gewählt, nady 
defien Ablauf jedody Wiederwahl geftattet war. Der Ausſchuß 
beftand aus einundzwanzig Mitgliedern und neun Erjaßinännern, 
die Berechtigung hierzu hing von einer Studienzeit von 
wenigitend zwei Semeftern, dem jog. Jungburſchenthum, ab; 
die Gewählten befleideten ihr Amt jo lange, als fie ſich in 
Jena Studirend halber aufbielten und Burſchenſchafter waren. 
Vorſtand und Ausihuß wählten fi je einen Spreder für die 


Dauer eined halben Jahres, welcher ebenfalls, wenn die Wahl- 
(172) 


Kl. 


periode um war, auf's Neue gewählt werden fonnte. In der 
allgemeinen Berfammlung, die alle Bierteljahre auf dem 
„Commerſch-Hauſe“ ftattfand, nahm das Vorfteher-Kollegium 
einen auch äußerlich marfirten, abgejonderten Plaß ein, von 
dem aus ſich auf beiden Seiten die Sie der Ausichußmit- 
glieder hinzogen; der Spreder des Vorſtandes leitete als 
oberiter Beamter die Verhandlungen diejer Verſammlungen, 
bei weldyen auf ftrenge Wahrung des Anjtandö und der feinen 
Sitte geliehen wurde, und ließ ſich in Berhinderungsfällen durch 
feinen Vorgänger im Amte vertreten. Im Webrigen waren die 
Chargirten durch Feinerlei Vorrechte ausgezeichnet, und jollte 
durch ihren häufigen Wechſel einem etwaigen Uebergewidyt ein- 
zelner hervorragend begabter und angejehener Perjönlichfeiten 
vorgebeugt werden. 

Das Duell, diejed unzerftörbare Anhängjel des ftudentijchen 
Dafeins, wurde beibehalten; doch galt ed der Burſchenſchaft als 
leßted Mittel zum Zwede der Wiederherjtellung der verleiten 
Ehre. Erſt wenn dad eingelegte Ehrengericht vergeblich ver- 
ſucht hatte, die Angelegenheit auf gütlihem Wege zu jchlichten, 
gab man die Entſcheidung den Waffen anheim. Es ift ein 
Irrtum, wenn man, wie died wohl gejchehen it, glaubt, daß 
die Burſchenſchaft eine gänzliche Abjchaffung des Duelld beab- 
fihtigt habe??); Händel, die ernithaft enden mußten, fonnten 
ja der Natur der Sadye nach nicht ausbleiben?”); aber den 
leichtfinnigen Forderungen, den durdy nichts entichuldigten Belei- 
digungen, den frivolen Ehrenfränfungen, allen den nichtigen 
Yappalien, welche Leben und Gejundheit muthwillig in Gefahr 
beachten, wollte fie ein Ziel gejeßt wifjen; und der Vorwurf 
der Feigheit fonnte fie um jo weniger treffen, als viele ihrer 
Mitglieder ihre Unerjchrodenheit vor dem Feinde mehr als hin— 


reichend bewiejen hatten, außerdem ihnen auch ſonſt Gelegen- 
(173) 


di 


beit zu Mutbhproben fattfam fidy darbot; ihre eben ausgeſprochene 
Abfiht nun erreichte die Burſchenſchaft einerjeitd durch dad von 
‚ allen eingefegte Ehrengericht, welches über jeden einzelnen Fall 
berieth, und deſſen Entſcheidung ſich Jeder unbedingt zu fügen 
hatte, andererſeits und vor allen aber durch den Geiſt der Ein— 
tracht, der Friedfertigkeit, der Selbſtbeherrſchung und der gegen— 
ſeitigen Werthſchätzung, welcher in ihrem Schoße großgezogen 
wurde. Auch in dieſem Falle zeigte ſich die Wahrheit des alten 
Taubmannſchen Sprüchleins: Studiosus est animal, quod non vult 
cogi, sed persuaderi (der Student ift ein Thier, dad nicht ge: 
zwungen, fondern überredet fein will) recht deutlich. Nur aus fich 
jelbft heraus Fonnte das akademische Leben gründlich gebefjert 
werden, und ganz beſonders die deutſche Studentenſchaft fchien 
Arndt vor Augen gehabt zu haben, als er in feinem „Geiſt der Zeit” 
(IV, ©. 125) die Worte jchrieb: „Tugend und Kraft muß drein 
geießt werden, damit viel Nichtiged, Wildes und Ueberfpanntes, 
worüber auch die Beften klagen müſſen, gebändigt und ver: 
nichtet werde. Sede Zeit, die großer Art ift, kann nur durch 
fidy jelbft wieder geboren werden; ihr Gemeines fann nur durch 
ihre Edles, ihr Wildes nur durch ihr Kräftiges, ihr Wüſtes nur 
durch ihr Lichted überwunden werden, und darf audy durch nichts 
Anderes überwunden werden. Es muß anderd werden, und es 
wird ja auch wohl anderd werden." Gleichwohl fanden noch 
immer ziemlich viel Duelle ftatt, was bei einer jo großen An— 
zahl heigblütiger Jünglinge auf bejchränftem Raume auch Fein 
Wunder fein fonnte. 

zum Wahlſpruch erfor ſich die Burfchenfchaft die Worte: 
„Dem Biedern Ehre und Achtung!" nad der Begründung der 
Verfaſſungs-Urkunde „zur fteten Erinnerung, nur den achtbaren 
deutihen Jüngling in ihrer Mitte zu dulden und ſtets Red— 


lichkeit und Biederfinn zu vereinen“. Da jedoch dad genannte 
(174) 


33 


Motto zu einfeitig und die Fülle der leitenden Ideen nicht 
ſcharf genug auszudrüden ſchien, fo erfegte man es fpäter durch 
das inhaltsjchwerere Eymbolum: „Ehre, Freiheit, Naterland!* 
Dei diefen Morten wollten fie ſich erinnern, „daß fie, wie ihnen 
die innere Ehre ihr heiligfted Gut war, fo auch die äußere Ehre, 
die Anerkennung ihres Werthed, mit Gut und Blut verteidigen 
wollten; daß fie, wie fie ftetd nad) innerer Freiheit ftreben 
wollten, jo das Urrecht jedes Menichen, die Freiheit, mit Schuß 
und Zruß gegen jeden Angriff vertheidigen wollten, dab all ihr 
Streben aber ſtets das Heil ded Vaterlanded vor Augen haben 
müffe, für das fie leben und fterben wollten.“ 

Die Farben des Banners waren mit Gold verzierted Roth 
und Schwarz. Maun wählte diefelben „eingedenf, dab bei den 
jugendlichen Freuden auch ftetd der Ernft des Lebens zu bes 
denken jei.” Und zwar entlehnte man diefe Zufammenftellung 
nicht etwa der aufgelöiten Vandalia, wie gewiffe Leute be— 
baupten wollten?*), ſondern der Uniform der Lützower Frei- 
ſchaar, welche ebenfalld „jchwarz wie die Nacht der Knehtſchaft, 
die fie abjchütteln wollten, roth wie dad Blut, das der Kampf 
often werde, golden wie die Freiheitsſonne, die dem Vater— 
lande aus dem Kampf gegen die Knechhtichaft aufgehen follte“, 
gewejen war. Endlich bejtimmte man noch eine gemeinfame 
Tracht, worüber die DVerfaflungs-Urfunde Folgendes bejagte: 
„Um auch dafür zu wirken, daß eine deutiche Volkstracht, wie 
fie fi für deutſche Jünglinge geziemen möchte, eingeführt, all» 
gemein verbreitet und unverändert dauerhaft erhalten werde, 
erwählten fie zu ihrem eierfleide einen jchwarzen Waffenrod 
mit Aufſchlägen von rothem Sammt, die mit Eichelblättern von 
Gold verziert fein können. Die Unterfleidung befteht in 
Ihwarzen langen Hoſen und Gtiefeln mit Sporen. Hierzu 
gehört der Hut oder der Helm?) mit einer Feder und ein 


xvm. 412. 8 (175) 


34 


Schwert. Die Schärpen, melde bei feierlichen Aufzügen ge 
braucht werden, find ſchwarz und roth, mit Gold durdhwirft. 
Die Hauptanführer binden fie über die Schultern, die Hebrigen 
um den Leib." — 

Studirende, weldye Mitglieder der Burſchenſchaft zu werden 
wünjchten, hatten ihr Anliegen dem Schreiber — jo nannte 
man den Gefretär der Gejellihaft — mitzutheilen, weldyer 
ihnen, wofern ſich gegen ihre Aufnahme nichts erinnern ließ, 
die Verfaſſungs-Urkunde vorlad. Hatten die Aſpiranten fich jo 
mit dem Inhalt der Konftitution vertraut gemacht und einver- 
ftanden erflärt, auch auf Befragen, ob fie bei ihrem Borjag 
beharrten, died bejaht, jo wurden fie in der nächiten allgemeinen 
Berjammlung, nachdem ihnen die Aufnahmeworte vom Schreiber 
langſam und deutlich vorgelejen worden waren, im Falle der 
Bejahung feierlich auf Ehrenwort in die Hand des erften Vor— 
fteherd (Sprecyerd) verpflichtet. Die Aufnahmemworte, die |. g. 
Rezeptionsliturgie, lauteten folgendermaßen: „Sch ald Secretair 
der jenaiſchen Burſchenſchaft, deren Vorfteher ihr bier ver- 
jammelt ſeht, eröffne eudy den Willen derjelben, euch unter bie 
Zahl ihrer Mitglieder aufzunehmen, wenn ihr nad) ernftem Vor» 
bedacht umd nach reiflicher Meberlegung euer feierliched Ehren- 
wort auf die treuliche Erfüllung der Säße, die euch jetzt ſollen 
vorgelefen werden, geben könnt und wollt. 

1. Sit ed euer ernſter Wille und Vorſatz, in allen fünftigen 
Lagen ded Lebens zu jtehen als rechtliche Männer gegen alles 
Ungemad) des Lebens, zu vertheidigen eure Ehre mit Gut und 
Blut gegen jeden, der ed wagt, fie anzutaften, muthig und 
dauernd zu vertheidigen die Eriltenz und dad Anſehen der 
jenaiſchen Burjchenichaft? 

2. Wollt ihr auch nachkommen aus allen Kräften allen und 
jeden Statuten und Geſetzen der jenaiichen Burſchenſchaft? 


(176) 


35 


Wollt ihr fie treu und redlich erfüllen? Wollt ihr e8? — Nun 
fo gebt euer Ehrenwort in die Hand ded Sprechers.“ 

Ald die Redaktoren der burſchenſchaftlichen Berfaflungs- 
Urkunde mit ihrer mühjamen Arbeit zu Ende waren, Inhalt 
und Form der leßteren auch allfeitige Zuftimmung gefunden 
hatten, erliefen die obengenannten elf Gründer der Burjchen« 
Ihaft Sonnabend den 10. Suni 1815 mitteld Anjchlage® am 
ſchwarzen Brette der Univerfität eine Einladung an alle hono— 
rigen Burſche Jenas, ſich zwei Tage jpäter, aljo Montag 
den 12. Zuni, Morgend neun Uhr, auf dem Marftplage zu ver- 
jammeln. In Folge defjen fanden fi zu der feftgeießten 
Zeit?*) eine große Anzahl Studirender, Landsmannſchafter, 
Renongen und Finfen, auf dem altehrwürdigen Forum der 
thüringifchen Mufenftadt ein und zogen, die Landsmannſchaften 
mit flatternden Fahnen, unter VBorantritt des Stadtmuſikkorps 
über dad Kreuz, an der Michaeliskirche vorbei, die Saalgaffe 
hinunter, durch das Saalthor und über die Saalbrüde nad 
dem am rechten Ufer ded Stromes in Kamsdorf belegenen Gaft- 
hof zur Zanne?”), Dort ertönte zum eriten Male das 
Arndtſche Bundeslied: „Sind wir vereint zur guten Stunde” 
in der furze Zeit vorher gejehten Weile des stud. theol. Georg 
Friedrich Hanitich? 3); ald die marfigen Töne verflungen waren, 
erhob fi der frühere Bandalenjenior Karl Horm??), welden 
man danach zum erften Sprecher erwählte, um in fräftigem, 
von hoher Begeilterung durchwehten Worten die Verſammlung 
auf die weihevolle Bedeutung ded Momented aufmerkfjam zu 
machen; die Einjegung der Burſchenſchaft wurde verfündigt, die 
Konititution vorgelefen und genehmigt und nad volljogener 
Beamtenwahl die Aufnahme von zufammen 113 Studirenden, 
welde ihre Namen unter die Berfafjungd-Urfunde jeßten, in 


feierliher Weife vollzogen. Die früheren Landsmannſchaften 
3* (177) 


36 


neigten ihre Fahnen, um anzudeuten, daB ihre Zeit vorüber jei; 
alle Anwelenden umarmten und küßten ſich; darauf jegte man 
fich zum erften burfchenfchaftlihen Kommerd zujammen, der bi 
in die finfende Nacht mwährte, und fang, ebenfalld zum erften 
Male, das ſchöne Arndtiche Lied: „Was ift des Deutichen Vater- 
land?” defjen vom stud. theol. Johannes Gotta aus Ruhla 30) 
fomponirte Melodie immer und immer wieder erflingen mußte; 
Worte von ewiger Freundfhaft, Eintracht und Brübderlichkeit 
Ichallten beim Läuten der Pokale herüber und hinüber, patrios 
tiiche Reden wurden gehalten, alte Erinnerungen getaufcht, Vivats 
ausgebracht — kurz ed war ein Silberblid, ein Opferfeft der 
Zugendideale, ein Tag der Freude, wie er felbft in dem an er: 
bebenden Feierlichkeiten doch mwahrlidy nicht armen Etudenten- 
leben nur jelten vorfommt, und deſſen erhabene Harmonie dur 
feinen Mißton geitört wurde. Alle dieje ehrenmwerthen Jüng— 
linge, weldye fit vordem zum Theil gleichgültig, wenn nicht 
mit feindjeligen Augen gegenüber geftanden hatten und nun an 
den langen, einfachen Holztafeln in gemüthlidyer Herzlichkeit beim 
ichäumenden Becher zufammenfaßen, ſich audy mit dem trau— 
liben „Du“ anredeten, fie alle fühlten, wenn auch unbewußt, 
doch nicht minder ftarf, daß die heutige Feier von mehr als 
vorübergebender Tragmeite, dab fie die Pforte fei, die zu einer 
befjeren Zukunft führen follte, und dab man es in Wahrheit ein 
Feſt nennen müfje, ficy nicht länger mehr in landsmannſchaft— 
liher Verknöcherung Falt von einander abzuſchließen, jondern wie 
in den Stürmen ded Krieges, jo auch in der Ruhe und Sicher— 
beit des Friedend Deuticher mit Deutichen zu fein. Das Eis 
war gebrochen; ein Band war geichaffen, das alle Kommilitonen, 
welchen die Einheit und Wohlfahrt des Baterlanded am Herzen 
lag, umjchlingen follte: glühend nach Wiffenfchaft, blühend in 
Jugendkraft war Deutſchlands Burichenfchaft ein Bruderbund, 


(178) 


37 


So wollten fie zufammenftehn in Noth und Gefahren zum 
gegenfeitigen Schuß und Trutz bis an den Tod. 

Und diefe gehobene Stimmung verflog nidyt über Nacht 
wie ein Rauſch, den der Wein erzeugt hat. Craft und würdig, 
wie fie in’8 Leben getreten, ging die neue Vereinigung ihren 
Zielen nad. Zwar wollte fie ihre Jünger zum Dienfte des 
Baterlandesd vorbereiten, doch jollte Feinerlei praftiiche Politik 
getrieben werden, obwohl es nicht vermieden werden konnte, 
daß fih aud nad dieler Richtung hin eine Zülle von Hoff- 
nungen, Wünſchen und Ahnungen in ihrer Mitte regte: vor 
allem aber galt ed, ſich zu tüchtigen, charaktervollen Männern 
zu erziehen. Eo zeigte fih ein jchöned, edle8 Streben unter 
den Anhängern der Burſchenſchaft, die während der faft vier 
undeinhalbjährigen Dauer ihres Beſtehens allein in Sena 863 
Mitzlieder ihr eigen nannte. Sitte und Zucht wurden fortan nicht 
mebr befpöttelt und mitleidig belächelt, der, welcher dDiefe Tugenden 
übte, aldein Dudmäufer und Schwachkopf verfchrieen, nein, fiefingen 
an, dem Zünglinge zur Ehre und Zier zu gereichen; nicht durch 
geichriebene Geſetze jedoch wurde die Sittlichfeit gehoben, jon- 
dern durch die Macht des Beiſpiels, welches die Aelteren gaben; 
daneben begann fi) ein wiſſenſchaftlicher Eifer und ein löbliches 
Streben nad) alljeitiger Ausbildung ded Geifted und einer Er— 
weiterung ded Wiſſens Bahn zu brechen, wie ed früher nur in 
vereinzelten Fällen wahrzunehmen geweſen war. Dabei lag ben 
Burſchenſchaftern zopfige Pedanterie und Faltherzige Splitter 
richterei eben jo fern, ald fie Gemeinheit und Niedrigfeit ber 
Sefinnung haßten und mit allen erlaubten Waffen zu befämpfen 
ſuchten. Frohſinn und harmlofer Scherz waren die beftändigen 
Begleiter ihres charaktervollen Strebend. Der günftige Einfluß 
eines folhen idealen Jugend» und Tugendbundes auf die Ent- 


widelung des gefammten akademiſchen Lebend und Studiums 
(179) 


38 


(und damit auch auf die Steigerung der Frequenz ded Beſuchs 
der Hochſchule) konnte nicht ausbleiben und nöthigte jelbft feinen 
Gegnern Adhtung ab. Von Jena aud verpflanzte fidh der 
burfchenichaftliche Geift bald auf die anderen Hochſchulen und 
ipiegelte fih in dem zahlreichen begeijterten Liedern wieder, 
welche nod heute eine Zierde der deutſchen Kommersbücher 
find. Nicht im Geheimen, jondern offen und unter den Augen 
der Behörden vollzog ſich dieſe Wandlung, von Senat und 
Regierung unbeeinträchtigt, von den Profefjoren gern unterftüßt 
und wohl gelitten, von Karl Auguft mit hoher Befriedigung 
aufgenommen 3!) und noch fpäter zu Karlöbad der fchlangen- 
züngigen Politif eined Metternicy gegenüber mit Wärme ver- 
theidigt 32). Es war eine föftliche Zeit, zu jhön, als daß fie 
lange hätte währen fünnen; und ihre Herrlichkeit jollte denn 
auch bald dahingehen. Ueberall im deutfchen Waterlande be: 
gann es düfter zu werden, und am politiſchen Horizonte zogen 
fih jchwere Gewitterwolfen zufammen. Dad arme, in feinen 
berechtigten Erwartungen betrogene Volk fanf, ald es zu jpät 
erfannt hatte, daß man mit jeinen heiligften Gefühlen ein 
ſchnödes Spiel getrieben, in dumpfes Brüten; und auch die 
deutſche Burſchenſchaft, welche inmitten der allgemeinen Er— 
Ihlafung allein nod die nationalen Ideen muthig und 
hoffnungsfreudig aufrecht hielt, mußte zuleßt den Angriffen der 
Finfterlinge erliegen, welche die Macht in Händen hatten. So war 
fie eine raufchente Symphonie, deren ernfterhabene Muſik in die 
ſchwermüthige Weiſe des alten Liedes ausklang: 

Es fiel ein Reif in Frühlingsnacht 

Wohl über die ſchönen Blaublümelein; 

Sie find verwelfet, verdörret. 


(180) 


39 


Anmerkungen und Onellennadweis, 


Als Duellen, aus welchen die vorftehende Darftellung zum Theil 
geſchöpft ift, find bejonders zu nennen: 

1. Keil, Dr. Ridard und Dr. Robert, Geſchichte des Jenaiſchen 
Studentenlebens von der Gründung ber Univerfität bis zur Gegen- 
wart (1548— 1858). Reipzig, 1858. in vortreffliches Bud), deffen 
anziehende Lektüre allen Liebhabern deutjcher Kultur- und Sitten- 
geſchichte angelegentlih zu empfehlen it. 

2. Derjelben, Die Gründimg der deutſchen Burjchenfchaft in Jena. 
Sena, 1865. 

3. Scheidler, Dr. Karl Hermann, Senaifche Blätter für Ge- 
dichte und Reform des beutjchen Univerſitätsweſens. 3 Hefte. 
Sena, 1859. 

Dem Lefer, welcher fich über den Gegenftand ausführlicher unter- 

richten will, werden außer den genannten Werfen nod) 

Gervinus, ©. ©., Geſchichte des neunzehnten Jahrhunderts 
jeit den Wiener Verträgen. Zweiter Band. Leipzig, 1856, 

Bülau, Friedrich, Geſchichte Deutichlande von 1806 bis 
1830. Hamburg, 1842 (Xheil der Heeren-Ufert'jchen 
Sammlung), 

Dolch, Oskar, Geſchichte des deutjchen Studententhums bis 
zu den deutſchen Freiheitskriegen, Leipzig, 1858, 

Bechſtein, Ludwig, Wollen und Werden. Deutſchlands 
Burſchenſchaft und Burſchenleben. Erſte Abtheilung. Berthold 
der Student oder Deutſchlands erfte Burſchenſchaft. Ro— 
mantifches Zeitbild. Zwei Bände. Halle, 1850. 

Haupt, 3.8, Landmannjchaften und Burſchenſchaft. Leipzig, 
1820, 

Herbit, Ferdinand, Ideale und Irrthümer des academijchen 
Lebens in unjerer Zeit, Stuttgart 1823, und 

Raumer, Karl von, Geſchichte der Pädagogik, Vierter 
Theil, Stuttgart, 1854, 4. Aufl. Gütersloh, 1874, 

empfohlen. BeiRaumer findet ſich auch die übrige Literatur verzeichnet. 


1) Der erſte Freiwillige von 1818 war der Student Heydemann, 
Sohn des Bürgermeiſters von Königsberg i. Pr.; ein Nekrolog des 
«sı) 


40 


wadern Mannes, welcher noch Ausgangs der jechziger Jahre als 
Premierlieutenant und PBoftmeifter a. D. in Weimar lebte, findet fi 
in der befannten Zeitfchrift „Die Gartenlaube”, Jahrgang 1869, ©. 472. 
473. Im diefer biographiiden Skizze hat Robert Keil über den 
Dahingefchiedenen alles zufammengetragen, was ihm mit Hülfe ber 
nun auch verftorbenen Wittwe Heydemann’d zu ermitteln möglid war. 

2) In dem Antwortjchreiben auf die Einladung zum Königöberger 
Univerfitäts-Fubiläum 1844. ine ähnlihe Aeußerung Humboldt’s 
findet fih in Barnhagen von Enſe's Dentwürdigfeiten, 1840, 
Band V, ©. 216, mitgetheilt. 

3) Kaijer Karl V. verglich bei feiner Anwejenheit (nad) der Schlacht 
bei Mühlberg am 28. und 29. Juni 1547 in Geſellſchaft feiner Ge—⸗ 
fangenen, des Kurfürften von Sachſen und des Landgrafen Philipp 
von Hefjen, welde gleich dem Oberhaupte des heiligen römifchen Reiches 
auf dem Burgfeller logirten) Jena's Umgegend mit der Landſchaft von 
Slorenz; ſeitdem ift diefer Vergleich oft wiederholt worden. 

4) Derfelbe lautete: „Sn allen Bundesftaaten wird eine land» 
ftändifche Verfaffung ftattfinden.“ Diefem Paragraphen wurde nicht 
blos, wie die Keil u. a. wollen, in Weimar (durch Erlaſſung 
eined freifinnigen Grundgejeßed vom 5. Mai 1816), fondern aud im 
Herzogtum Naſſau, in Shwarzburg-Rubdolftadt, Schaumburg» 
Lippe, Tirol und Walded genügt. Bol. Bülau, Geh. Deutſchl. 
von 1806—1830, ©. 422. 

5) Der Driginalwortlaut des berühmten Rejfripts, welches Frie- 
drich UI. bei feinem Regierungsantritte an den Minifter von Brand 
erließ, war mit diplomatifcher Genauigkeit dieſer: „Die religionen 
müffen alle Tolerirt werden, und mus ber Fiscal nuhr das Auge 
darauf haben, daß feine der andern Abrug Thou, denn bier mus ein 
jeder nach feiner Faſſon Selid werden.“ Vgl. den Aufiak „Preußen 
und das protejtantijche Princip” in Bran’s Minerva, Bd. TIL, Jena, 
1853, 3. Quartal, ©. 281-—323. 

6) „Weſen und Werth der deutichen Univerlitäten” in 2. Ranke's 
Hiftorifchepolitifcher Zeitichrift, Band I, 1832, ©. 582. 

7) Die frühere Weftphalia war nur noch durd ein Mitglied ver- 
treten, welches jedoh im Seniorenfonvent vollfommen ſtimmberech- 
tigt war. 

8) Diefe ausgezeidnte Abhandlung erſchien zuerft in der politifchen 
Zeitfchrift „Der Wächter“, Köln 1815, wurde dann Arndt's „Schriften 
für und am jeine lieben Deutjchen“, Leipzig 184555, (Bd. II, 

(183) 


41 


©. 235 ff.) einverleibt und ift auch in K. H. Scheidler's „Senatjchen 
Blättern, Heft I, 1859, ©. 86 ff. unter dem Titel „Weber bie 
Idee der afademiichen Freiheit im engften Sinne und des deutſchen 
Studentenlebens“ zu finden. 

9) Auch das ift ein Hauptverdienft der Burſchenſchaft, „daß fie 
dem Pennalismus wahrhaft prinzipiell ein Ende machte, während er in 
den Landsmannſchaften fortlebte, wenngleich nidyt in der früheren ent- 
feglih rohen Weiſe.“ Karl von Raumer, Gedichte der Pädagogik, 
Theil IV (Die deutichen Univerfitäten), Stuttgart, 1854, ©. 61. Das 
Weſen des Pennalismus, welcher ſich Teit dem Anfang des 17. Zahr- 
bunderts immer ftärfer herausbildete, beftand, um es kurz auszudrücken, 
darin, daß die jüngeren Studirenden von ven ältern in der ärgſten 
Weiſe mißhandelt und ausgeplündert wurden. Vgl. DO. Told, Ge 
ſchichte des deatſchen Studententhums. ©. 149 ff. 

10) „Denn wie viele von ihnen“, führt er fort, „kommen gar 
nicht, wie viele fommen mit verftümmelten Gliedern und verlegter Ger 
ſundheit zurück.“ 

11) Chr. Ludwig Wilhelm Stark, geb. 1790 in Jena, ſeit 1817 
Profeſſor der Theologie und Philoſophie ebendaſelbſt und am 1. Juli 
1818 beim Baden in der Saale ertrunken, lich 1816 eine anonyme 
Schrift „Ueber den Geift des deutſchen Studentenlebend, insbejondere 
zu Jena. Zugleich Beitrag und Einleitung zur Geichichte der deutfchen 
Burſchenſchaft vom Fahre 1815” chne Angabe des Drudortes und 
BVerlegerd erſcheinen. In dieſem Werkchen, weldyed nad Scheidler 
(Zen. Blätter, II“', 1859) eine fehr objektive und richtige Darftellung 
der Gründung der Burſchenſchaft enthält, finden ſich die obigen An- 
gaben. Stark jagt außerdem, es hätten damald 6-7 -Rundemann- 
chatten unter beftändigen Kämpfen nicht um gleich freie Exiſtenz neben» 
einander, jondern um die Oberherrſchaft übereinander gerungen. „Lift und 
Gewalt, Mittel jeder Art wurden verjucht, um Einfluß, Anfehen, Vorrang 
zu gewinnen. Daher, wer nur Vermögen, Geiit, Kühnheit oder einen 
gewandten Fechterarm hatte, ob er ſonſt ein rechtlicher Menjch ſei oder 
nicht, ja wenn er aud als jchlecdht befannt war, war angenehm. Der 
Einfluß jolder Beitrebungen auf die Begriffe von Studentenwerth oder 
Unwertb, von Ehre und Freiheit, war offenbar bedeutend.“ 

12) So außer in den Werfen von Karl von Raumer und ber 
Keild noch in jüngiter Zeit in Dr. H. Klemen's Schrift: „Ein Stüd 
Geſchichte der erften deutſchen Burſchenſchaft. Aus meinem Leben. 
2emgo, 1867“, auf weldhe ſich auch Uri Rudelf Schmid, Das Weſen 

(183) 


42 


der Burſchenſchaft, 2. verm. Ausgabe, München bei Theodor Adermann, 
1880, ©. 28 u. 80, bezieht. 

13) Geſchichte des neunzehnten Jahrhunderts feit den Wiener Ber- 
trägen. Band Il. Leipzig, 1856, ©. 380. 

14) Will doh U. R. Schmid (a. a. D. ©. 48) ſchon in Klopftod 
und dem Göttinger Dichterbunde den Propheten und die Vorläufer der 
Burſchenſchaft jeher, was wohl zu weit gegangen fein bürfte 

15) Vgl. deffen Schrift „Ueber die Abjihaffung der Duelle auf 
unfern Univerfitäten,“ welche er als Kirchenrath jchrieb und 1828 in Leipzig 
erjcheinen ließ, ſowie die Nezenfion diejer Arbeit von Dr. Paulus und 
Scheidler's Deuticher Studentenipiegel, Iena, 1844, ©. 33 ff. Im 
der zitirten Abhandlung giebt Stephani eine detaillirte Darftellung ber 
Reformbewegung in den Jahren 1791 und 92. 

Bol. „Geihichte der Senaer Wehrichaft vom Jahr 1814. Zu 
gleich noch ein Beitrag zur Geſchichte der Burſchenſchaft“ in Scheidler's 
Jenaiſchen Blättern. Heft III, ©. 160— 196. 

17) Die Namen ſämmtlicher 11 Gründer find hier zum erften 
Male fo vollitändig, als dies möglid war, zufammengeftellt. — Der 
Berfaffer der ſchon erwähnten Schrift „Das Weſen der Burſchenſchaft“ 
bat eine andere Auffafjung der Sadlage. Im einer jehr gefälligen Zu- 
ihrift (d. d. Sena, den 24. März 1883) äußerte Herr Paftor emeritus 
u. R. Schmid Folgendes: 

„Ob ich gleih von Kindheit auf das größte Intereſſe für die 
Burjchenichaft gehabt und von ihr und gerade aud von ihrer Ent- 
ftehung habe reden hören und zwar aus dem Munde von Mitgliedern, 
die meine Lehrer, DVettern oder Brüder waren, während meiner Mitglied» 
ſchaft geradezu den Füchſen gegenüber mit der Geſchichte der Burjchen- 
ſchaft mich bekannt machen mußte, endlich zum Zwed der Verfaſſung 
meined Werkchens alle noch in Sena oder in der Nähe lebenden alten 
Burjchenichafter und außerdem Niemann jelbft, ald er mid) 1865 in 
Lobeda bei Jena, wo ich Geiftlidher war, bejuchte, genau über diefen Gegen. 
ftand gefragt habe, jo ift mir doch niemald nur die leijefte Andentung 
von 11 Gründern geworden; audy hatte der hiefige Buchhändler From⸗ 
mann, der 1516 die Univerfität bezog und mit Scheidler, der dies 1814 
that, in innigem Verkehr ftand, niemals etwas verlauten hören und 
ftimmte mir in der Meinung bei, daß eine folche Annahme der ganzen 
befannten Art der Entftehung widerſpräche. Er war auch der Anficht, 
die ich aus Kiemann’s eigenem Munde bekommen, daß die Burſchenſchaft 
aus der Bantalia hervorgegangen jei. Bon den genannten Studenten 

(184) 


43 


waren ihm 9 als foldye befannt, die an der Spike ftanten, ohne nähere 
Notizen zu wiffen, aber nicht alle als Gründer, jontern blos die von 
mir in meinem Werfchen bezeichneten, zwei aber: Schröder und Vogel 
ganz unbekannt.“ 

Hiergegen ift zu erinnern, daß Dr. K. H. Scheibler jelbft im Vor- 
wort zu den „Senaifchen Blättern" (S. XX) fagt, daß in leßterem 
Werke „gelegentlih auch unferer alten Burfhenfhaft vom Sahre 
1815 gedacht werden wird, zu deren 11 uriprüngliden Stiftern gehört 
zu haben, ich mir zur Ehre rechne und deſſen auch ſchon im „VBormärz“ 
fein Hehl gehabt habe. (S. meine Einladungsichrift „Ueber das 
deutſche Studentenleben*. Jena 1842 bei Frommann ©. 64 u. 94)." 

Scheidler's Angaben aber find auf alle Fälle richtig und kompetent. 

18) Zahn motivirte feinen Vorſchlag, als Werbindungsfarbe 
SchwarzRoth-Geld zu wählen, mit der Erklärung, „daß jchwarz-gelb 
die alte dentjche Reichöfarbe geweſen jei und roth das für die Freiheit 
vergofjene Blut bedeute.* Schmid, Weſen der Burichenfchaft, ©. 8. 

19) 3. ©. Fichte's Leben und litterarifcher Briefwechſel heraus. 
gegeben von jeinem Sohne 3. 9. Fichte. Band I. Sulzbad 1830. 
&.545. ff. Pol. auch Scheidler's Zen. Blätter 1859, Heft II. S. 3 ff. — 

Vebrigens wollte Fichte von dem Namen „Burſchenſchaft“ feined- 
wegs etwas wiſſen, gejchweige, daß er ihn den Kommilitonen, weldye ſich 
enger um ihn jchaarten, zur Annahme empfohlen hätte. In feinen „Be 
denken über einen ihm vorgelegten Plan zu Studentenvereinen, gefchrieben 
im Sabre 1811* (in der oben erwähnten Biographie, Zweiter Theil, 
Sulzbach 1831, ©. 147 ff.) fagt er, nachdem er feine Anficht über eine 
durchgreifende Umgeftaltung des akademiſchen Lebens kurz entwicelt hat, 
Folgendes (5. 149): 

„Sn dem mir vorgelegten Plane fiebt diefe Idee hier und da durch, 
aber mit ſehr ungleichartigen Beſtandtheilen vermengt. 

1. Abgeredinet, daß das Wort Burjche dur den Gebrauch herab. 
geſunken, und die Nebenbeftimmung der Gemeinheit und Roheit befommen 
bat, ift auch das hiftorijch darüber Beigebradhte unrichtig. Es iſt nicht 
einmal deutjch, jondern ftammt ab aus dem mittelalterlihen Bursa, ein 
Hans, worin Studenten frei geſpeiſt wurden, und bedeutet eigentlich einen 
GSonvictoriften. Noch vor 18 Jahren habe ich in Tübingen das Weber- 
bleibfel dieſes Spradgebraud8 gefunden. — Ich würde für die Ver— 
bundenen vorichlagen den Namen Deutſch-Jünger, nah Analogie 
der dentichen Herrn ..... 

Hierzu macht Scheidler im 2. Hefte feiner „Senaifchen Blätter” da, 

1185) 


44 


wo er das oben zitirte Fichtejche Aktenftüd auszugsweife mittheilt (S. 6 
bis 8), die Anmerfung: 

„Hierbei ift zu bemerken, daß das Wort „Burſche“ auf Studenten 
bezogen in dem Gebiet der Literatur feineswegs jene üble Nebenbedeutung 
bat, zumal die Burſchenſchaften feit Jena's Vorgange im Jahre 
1815 diefen Namen wieder zu Ehren gebradıt haben.” 

Auch im ferneren Verlauf feiner Ausstellungen a. a. D. bedient fidh 
Fichte der von ihm vorgeſchlagenen Bezeidhinung. So jagt er: 

„8 4 Das Gelübde der Deulſch-Jünger müßte wohl anders gefaßt 
werden, als der $ 48 es enthält. Muth kann man nicht verſprechen“ ıc. 

Hieraus geht zur Genüge hervor, daf Fichte nicht der Urheber des 
Wortes „Burfhenihaft” ijt, wie man wohl bier und da gemeint hat. 

er ſich für die hiſtoriſche Entwidelung des Begriffs „Burſch“ 
intereffirt, findet eine gute kurze Zufammenftellung in Raumer's Geſchichte 
der Päragogif, Theil IV, 1854, S. 350. (Beilage XII. Burſen. Burſche.) 

Dol. endlih den höchſt wahrjcheinlih von Maßmann gearbeiteten 
Aufſatz „Was heißt Burſch und Burſchenſchaft?“ in der Akademiſchen 
Monatsihrift 1853, Mai» und Juni-Heft S. 252, jowie Maßmann, 
Die hohe Schule. Ein Traum. Zur 300jährigen Zubelfeier Senat. 
Berlin 1858 ©. 48 (wo ber Verfaffer in der Note das Wort „Burjen- 
fnedyte* erläutert). 

20) Abgedrudt (in der revidirten Form) bei Raumer, Geſch. ber 
Pärag., Theil IV, ©. 290 ff. (Beilage IV.) 

21) Keil, Geſchichte des Jenaiſchen Studentenlebens, Reipzig, 1858, 
S. 362. 

22) Allerdings verwarf die repidirte „Verfaßungsurkunde der all- 
gemeinen teutjchen Burſchenſchaft (Vom adytzehnten Tage des GSieges- 
monde im Sahre des Herrn 1818)" das Duell, dody nur unter ihren 
Mitgliedern, nicht mit Andersgefinnten. Die einihlägigen Beftimmungen 
lauteten : 

„8 19. Die einzelnen Burſchenſchaften haben fih als gleiche Theile 
ded großen Ganzen anzufehen. 

$ 20. Alle ihre Streitigkeiten untereinander fönnen nie durch 
Zweilampf ausgemadyt werden, fondern werden vom Burjchentage 
vernunitgemäß entjchieden, wenn fie fih nicht ſelbſt oder durch Wermitt- 
lung einer dritten Burſchenſchaft vergleichen können.“ 

Dagegen heißt es unter der Rubrik „Verhältnis der allgemeinen 
teutihen Burſchenſchaft zu einzelnen, die nicht ihre Mitglieder find“ 
kategoriſch: 


(186) 


45 


„$ 31. Gegen den, ber ſich weigert, Ehrenfadhe nach Burfchenweife 
auszumachen, wird nad Burſchenweiſe verfahren. 

23) Man höre, wie E. M. Arndt im „Studentenftaat“ über das 
Duell fpriht: „Ich könnte hier in die allgemeine Verbannung und 
Aechtung der Zweikämpfe einftimmen, aber wozu lügen? wozu etwas für 
eine Abjcheulichkeit erklären, was e8 am fich nicht it? wozu etwas als 
Barbarei jchelten, das mir mit dem Chriſtenthume innig verwachien zu 
fein jcheint? Es giebt Fälle, Ehrenfälle und Herzensfälle, die man vor 
feinen Richter bringen darf, jondern die allein durch ein Urtheil 
Gottes durdy das Schwert geichlichtet werden können. Dies ift meine 
Anfiht von der Sache; aber ih will die Studenten dadurch nid;t zu 
blutigen Kämpfen ermuntern, noch damit alle die jämmerlihen Beftim- 
mungen ihres Comments billigen, nady welchen man fi oft um wahre 
Kindereien raufen muß“. Aehnlich H. Steffens, Gegenwärtige Zeit, 
1817, 12. 

24) Die Bandalia trug die Farben Rotl-Gold. Profeffor Heinrich 
Leo von Halle, erit Ausſchußmitglied der Senaiihen Burſchenſchaft 
(1818), fpäter, wie befannt, ftreng fonjervativ, äußerte in dem von ihm 
redigirten „Volksblatt“, das Kutter der Bandalenmüge Horn's habe 
das Roth zum fhwarzrothrgoldnen Bande geliefert, und jeßte wenig 
geihmadvoll hinzu, der „alte Horn”, der nun wahrjcheinlih Bürger 
meilter cder Landpfarrer fei, werde wohl den „diden Wanſt“ vor 
Lachen ſchütteln, fo oft er an die Poffen der Burſchenſchaft denke. Da- 
gegen bat bei Gelegenlyeit des Senaijchen Univerlitätsjubiläums, 1858, 
Horn, damals Pfarrer zu Badreih in Medtenburg.Strelig, jelbft er- 
Märt: „Was wir gewollt, war heilig und ift uns beute noch heilig!“ 
Keil, Gründung der deutſchen Burjchenfchaft in Sena (1865) ©. 81. 
— Leo hat aber wohl nur in feiner ironiſch⸗kauſtiſchen Weiſe jagen wollen, 
daß die Burſchenſchaft aus der alten Bandalia hervorgegangen war, wie 
auch U. R. Schmid, Weſen der Burfchenichaft, S. 8, jagt: „Die Bor- 
bereitung felbft geichah durch Riemann, Student der Theologie und Zuhörer 
von Fries, aus Medlenburg, Mitglied der Landsmannſchaft Bandalia, die 
meiſtens aus Meclenburgern beftand, im Verein mit Scheidler, einem 
Schüler von Fries, und mit Dortü vermittelit Berathungen und Ber- 
handlungen mit den Landsmannſchaften. Nach feiner Meinung ift, wie 
id) aus feinem eigenen Munde weiß, die Burſchenſchaft aus ber 
Bandalia hervorgegangen.“ 

25) Börne äußerte fi) über die Tracht der Studenten während 
feines afademijchen Aufenthaltes in Halle zu Anfang diejes Sahrhunderts 


(187) 


46 


folgendermaßen: „Sitten, Sprade, Kleidung ber damaligen Stu- 
denten, Alles war am ihnen ungezogen. Sie trugen große Stiefel, bie 
man Kanonen nannte, und Helme, mit rothen, weißen, grünen oder 
ihwarzen Federn geihmüdt, je nad der Landsmannſchaft, der fie ſich 
anjchloffen. So gliden fie von oben römijchen Kriegern, von unten 
deutihen Boitillonen“. 

26) „Es war dies berjelbe Tag, an weldem Napoleon I. von 
Paris zu feiner Armee und jeiner ſechs Tage darauf erfolgenden Nieder- 
lage abging.” Scheidler, Zen. Blätter III, ©. 163. 

27) Es ijt dies der nämliche Gaſthof, in deſſen Erferftube auch 
Goethe gewohnt und den „Erlkönig* gedidhtet bat, wozu ihm den 
Stoff zunädft ein Vorgang auf den benahbarten Kuniger Wiejen 
lieferte. 

28) Der Sohn des verdienten Mannes, Herr Victor Hanitſch, 
welcher jeßt ebenfalld ald Kantor in Eijenberg wirft, hatte die Güte, 
dem Berfaffer auf feine Anfrage bei dem Bürgermeifter der genannten 
Stadt, Herrn Juſtizrath Nüger, nad biographiſchen Daten Folgendes 
mitzutheilen: „Mein Bater wurde den 1. April 1790 in Großenjee 
bei Eifenady ald Sohn des dortigen Scullehrerd geboren. Vom Zahre 
1803—1813 bejuchte er dad Seminar und das Gymnafium zu Eifenadh; 
und von 1813—1815 ftudirte er in Zena Theologie. Von 1815 bis 
zu feinem den 31. Auguft 1865 erfolgten Zode war er Kantor und 
erfter Lehrer an der Knaben-Bürgerfhule. Durd die Compofition des 
Liedes „Sind wir vereint wurde er in den weiteften Kreijen befannt. 
Verheirathet war er mit Magdalena Philippine Agel aus Eiſenach. 
Seine vorgejegte Behörde, der Wohllöbl. Stadtraty zu Cifenberg, 
gründete, ihn zu ehren, eine G. F. Hanitsch-Stiftung, durch welche 
Schüler der erften Knabenſchulklaſſe prämtirt werten.” 

29) Horn ftarb als Kirchenrat) zu Badreſch (Medl.-Strelig) am 
8. April 1879 (nad Angabe feines Sohnes, die diefer auf einem von 
jeinem Water gezeichneten, im Beſitz der Senenjer Burſchenſchaft Ar- 
minia befindlichen Burgfellerbild gemacht hat). Der eigentlide Haupt- 
gründer der Burfchenihaft, Riemann, war jhon fieben Jahre vorher 
als Pfarrer gejtorben. Die Anzeige feines Todes lautete: „Heute ging 
in feinem 79. Lebensjahre zum ewigen Leben ein Heinrih Arminius 
Riemann x. Friedland, den 26. Sanuar 1872". Karl Hermann 
Sche idler endlih gab in Folge eines mit den Jahren immer jtärfer 
hervortretenden Gehörleidens die begonnene Laufbahn als praftijcher 
Juriſt auf und widmete fih mit großem Eifer philoſophiſchen, biftori- 

(188) 


47 


fhen und publiciftiihen Studien. Er ftarb bereits am 22. Oftober 
1866 als ordentlicher Profeffor der Philofophie zu Sena. — Der Ber- 
faffer hat diefe Notizen, deren beide erften er der Güte des Herrn Hof- 
raths und Rechtsanwalts Dr. Robert Keil in Weimar verdankt, bei- 
gefügt, da die jugendlichen Portrait-Medaillons der Genannten an dem 
Poftament, auf welches eine Marmorftatue eine® Burfchen von 1815 
zu ftehen kommt, angebradyt werden follen. Das Ganze wird als 
Denkmal der deutihen Burſchenſchaft demnächſt (Dienitag den 12. Suni 
1883) in Jena aufgeftellt werden, und gebt dad Monument unter der 
Künftlerband des Profefjor Doundorf in Stuttgart gegenwärtig (Januar 
1883) feiner Vollendung entgegen. Zur Zeit find noch nicht alle Koften 
gedeckt; vielleicht findet fi daher einer oder der andere Rejer diejer Zeilen 
bewogen, jein Scherflein zur baldigen Zilgung des Manco beizutragen. 
Borfigender des Comité ift Herr Hofrath Dr. Keil in Weimar. 

30) Herr Pfarrer Hoffmann zu Willerftedt bei Buttſtedt (Sachſen⸗ 
Weimar) hatte die Güte aus ter Ortschronik — einer Einrichtung, 
welche in allen Ortſchaften des Großherzogthums Sadjen-Weimar be 
ſteht — Folgendes über Johannes Gotta mitzutheilen: „In diefer 
Chronik von Willerftedt jagt nun Gotta von fi Folgendes. Er — 
Sohanned Cotta — alfo nit Kotta — ſei geboren zu Ruhla bei 
Eifenah den 24. Mat 1794 als jechftes Kind und dritter Sohn. 
Seine Vorfahren ftammten aus dem Mailandſchen in Italien und feien 
am Anfange des 15. Jahrhunderts nad Deutihland gefommen. Den 
Bornamen jeined Vaters hat Gotta bei aller feiner Weitläufigfeit nicht 
genannt, wohl aber den Namen feiner Mutter, nämlih Anna Chriftine 
geb. Zung. Am 25. April 1808, jagt Gotta weiter, jei er auf das 
Gymnafium nad Eifenady gekommen, dajelbft habe er auch am 1. Sep⸗ 
tember 1810 die Erplofion der franzöfifhen Pulverwagen erlebt, und 
auf eine wunderbare Weiſe jei er errertet worden, obwohl er nur ohn- 
gefähr 200 Schritte davon gewohnt habe. Zu Micaelis 1814 fei er 
auf die Univerfität zu Jena gekommen, um daſelbſt Theologie und 
Philologie zu ftudiren. Hierbei ſpricht er nun viel von jeinen wifjen- 
ſchaftlichen und muſikaliſchen Studien, jagt, daß er mit vielen Gommili- 
tonen einen muſikaliſchen Sängerhor gebildet habe, ter fi bei der 
Feier des Friedensfeftes im Sanuar 1816 audgezeichnet, er auch zu 
diejer Feier mehrere Gelänge componirt habe; welche beim Pflanzen der Eiche 
und bei der Uebergabe der von den jenaiſchen Frauen und Zungfrauen 
der allgemeinen Burjchenichaft geftichten und gewidineten Fahne zur Auf- 
führung gefommen jeien. Bei diefer Darjtellung erwähnt Gotta merk. 

(189) 


48 


würdiger Weiſe nichts davon, daß er der Componiſt zu dem Liebe von 
Arndt „Was ift des Deutjchen ꝛc.“ gewejen. Ob er das aus Be- 
ſcheidenhen gethan oder ob er wirklich der Componiſt nicht geweſen, 
fann ich natürlich nicht entſcheiden. Wiele behaupten, er jet der Com- 
er nicht gewejen, und noch vor mehreren Jahren, als von diefem 
iede einmal die Rede war, wurde ein anderer ald Componiit genannt. 
Dem widerfprah aber Robert Keil zu Weimar, der ald Schwiegerjohn 
des Sohannes Gotta das wohl am Beften wiffen müßte. 

In Jena hat Cotta nicht lange ftudirt, denn er jchreibt, daß er 
am 20. Dectober 1816 in feinem 23. Lebensjahre Pfarrer zu Alperftebt 
bei Erfurt geworden, dann nad 4 Jahren von Alperjtedt nad Nieder- 
zimmern verjeßt worden ſei. Dort ift er ** bis zum Jahre 1351 
und dann, wie er ſchreibt, am 1. Juli 1851 als Pfarrer nach Willer- 
ftedt gekommen, wo er am 18. März 1863 geftorben ift, jo daß Unter- 
eichneter fein Nachfolger im Amte wurde. Gotta war dreimal ver- 
herab feine dritte Frau überlebte ihn; die zweite ſtarb zu Willer- 
edt und liegt meben ihm begraben; die erfte ftarb zu Niederzimmern. 
Die zweite Frau war die Schweiter des berühmten Gefeichtsichreibers 
Leopold von Ranke zu Berlin; fie gebar zwei Töchter, die ſich mit den 
Gebrüdern Robert und Rihard Keil zu Weimar, die ſchon oben er- 
wähnt find, verheiratbeten. Auf feinem Grabitein ftehen die Worte ge- 
fchrieben: „Die Wahrheit wird Euch frei machen“. 

31) Sie war jogar bei der Tauffeier jeines Enfels, des jet regie- 
renden Großherzogs Carl Alerander, zu der er jein Land zum Pathen 
lud, wie eine anerkannte Aörperichaft vertreten. Vgl. Gervinus, Ge- 
fhichte des neunzehnten Sahrbunderts, Band II, ©. 376. 

32) Am 1. April 1819 trug der Weimariihe Gefandte beim 
Bundestage, Geh. Rath von Hendrich, letzterem die Meinung jeines 
Souverain über die Zenaiihe Burſchenſchaft vor, welde folgendermaßen 
lautete: „Es jei erfreulich gewejen, daß nad den Kriegsjahren 1813 
und 1814 die aus dem Felde zurüdfehrenden Jünglinge das Thörichte 
und Schädliche der landsmannſchaftlichen Spaltungen ſelbſt erfannt und 
den Entihluß gefaßt hätten, die Einigkeit der Deutſchen auch in ihrem 
Zufammenleben zu erhalten, ſchon in ihrem Sugendleben einer Idee zu 
huldigen,, welche für das deutſche Vaterland von jo hoher Bedeutung 
fei; die Studirenden ſeien in den Jahren 1816 und 1817 leichter zu 
regieren geweſen als je; es habe unter ihnen ein wirklich mujterhafter 
Fleiß geherriht, won Spaltungen fei gar nicht, von Zweifämpfen nur 
jelten die Rede gewejen; Wahrheit, Mäßigkeit, Neligiofität ſeien als 
Qugenden anerkannt worden, auf welde der Studirende unter Stu- 
direnden habe jtolz fein dürfen.” Schon unterm 10. November 1817 
hatte der Staatdminiiter von Fritſch in einem Berichte an den Groß- 
— lobend hervorgehoben, daß ſich ſeit dem Beſtehen der Burichen- 
chaft zu Jena „eine ſtrenge Beobachtung landesherrlicher Geſetze zeigte, 
deren Aufrechthaltung vorher ein vergebliches Beſtreben der Be— 
hörde war.“ 


(190) 
Drud von Gebr. Unger as. Grimm) in Berlin, Schönebergerftr. 17a 


—2:<0-—— 


Tibur. 


Eine römiſche Studie 


Dr. Ludwig Meyer 
(Berlin). 


Est aliquid, quocumque loco, quocumgue recessu, 


Unius sese dominum fecisse lacertae. z 
ua 7 


Gr 


Berlin SW. 1883. 


Berlag von Carl Habel. 
(C. 8. Lüderity'sche Derlagsbuchhandlang.) 
33. Wilhelm ⸗Straße 33. 


Das Recht der Meberfegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Est aliquid, quocumque loco, quocumque rocessu, 


Unius sese dominum fecisse lacertae. z 
UV. 


Wohl Niemand, der einige Zeit in Rom gelebt, hat es 
unterlaſſen, Tivoli zu beſuchen: die Cascatellen und der Tempel 
der Sibylla find faft ebenfo befannt wie Coloſſeum oder Pan- 
theon; dagegen entfernen ſich nur verhältnigmäßig Wenige von 
der großen Straße, um bei jener Gelegenheit auch die Reſte der 
von Kailer Hadrian erbauten tiburtinischen Billa zu befichtigen. 
Und doch follte Niemand diejen für Freunde ded Alterthums fo 
lehrreichen Ausflug verjäumen. Die Monumente Rom's ver- 
gegenwärtigen und die Caeſaren in der Ausübung ihrer ſouveränen 
Functionen und bewahren die Erinnerungen ihres officiellen 
Lebens; die Billa Hadrian's zeigt fie uns in den Augenbliden 
der Zerftreuung und der Ruhe, die ſich ein Herricher, der die 
Welt zu regieren hat, füglich von Zeit zu Zeit gönnen muß. 
Sie fann und auch für die Art, wie diefe Großen ſich auf die 
Freuden des Landlebend verftanden, manchen werthvollen Wink 
geben und uns darüber belehren, wie die damalige Geſellſchaft 
die Natur auffaßte und genoß, eine Frage, deren Studium recht 
wohl der Mühe lohnt. 

Gehen wir von Rom nach Tivoli, jo durchmeſſen wir zu— 
nächſt in ihrer ganzen Länge die öde Campagna, welche die 
Ewige Stadt von allen Seiten umgiebt. Fünf bis ſechs Stun— 
den lang wandern wir durch eine wahre Wüſte; nur ein paar 
elenden Schenken und Heerden von Rindern oder Pferden, die 


das magere Gras abweiden, begegnen wir; dann beginnt der 
xvin.a413. 414. 1+ (193) 


4 


Boden fi) zu heben. Einige Baumgruppen verfünden die Nähe 
des Anio, den wir auf dem Ponte Zucano überfchreiten. An 
diefer Stelle erhebt fih eine antife Ruine von großem Intereſſe, 
dad Grabmal der Plautier. Hier wurde der Conſul Xi. 
Plautiud Silvanus beftattet, einer jener tapferen Dfficiere und 
flugen Verwalter, die unter den jchlechteften Herrichern die Ehre 
des Neiched gewahrt haben und Rom's Heil gemweien find. Die 
Snihrift vorn auf dem Maufoleum giebt furzen Bericht über 
die Dienfte, die er geleiftet, und zählt die Würden auf, die er 
befleidet hat. Unter Ziberius ftand er im Kriege gegen Ger- 
manien an der Spitze einer Legion; den Claudius begleitete er 
auf dem Feldzuge gegen Britannien; unter Nero verwaltete er 
Moefien, eine der von den Barbaren am meiften bedrohten 
Provinzen. Die Injchrift erzählt, wie er einen Aufftand der 
Sarmaten dämpfte und die feindlichen Könige zwang, die Donau 
zu überfchreiten, in fein Zager zu kommen und den römiſchen 
Adlern zu huldigen. Diefe Dienfte wurden ziemlich ſchlecht 
belohnt, bis zu dem Tage, da Beipaftan, der jelbit ein alter 
Krieger war, anfing, dad Unrecht der früheren NRegenten gegen 
feine Waffengefährten gut zu maden. Er rief den Silvanus 
aus feiner Provinz zurüd, ließ ihm die Ehren des Triumphs 
bewilligen und ernannte ihn zum Präfecten von Rom. 

Jenſeits des Silvanus-Grabes theilt fih der Weg. Links 
tritt er in die herrlichen Dlivenwäldchen ein, die nad Zivoli 
führen; rechts bleibt er nody in der Ebene und geleitet und in 
zwanzig Minuten zur Villa Hadrian’s. 

Heut ift diefe Billa wenig mehr ald ein Haufen von 
Ruinen. Mehrere Kilometer weit ftoßen wir nur noch auf gewal- 
tige Subftructionen, Säulenjhäfte, große umbergeftreute Stein- 
blöde, bier und da auf einige noch aufrechtitehende Mauern. 
So bedeutend find diefe Trümmer, dab man fie lange Zeit für 

(194) 


5 


die Refte einer Stadt gehalten hat. Tibur, jo dachte man, jei, 
ehe eö den Hügel binaufftieg, in der Ebene erbaut worden und 
hier habe man die legten Spuren ber alten Stadt vor Augen; 
jo hatte man ihnen audy im Lande den Namen „Tivoli vecchio“ 
gegeben. Daß dies ein Irrthum war, konnte man leicht zeigen: 
das Zeugniß der alten Schriftiteller, die Stempel auf den Bad- 
fteinen bewiejen, dab hier Hadrian’s Villa ftand. Dieſes Land- 
haus, das den Zeitgenoſſen als ein Wunder galt, die Lieblings- 
ihöpfung eined funftfreundlichen Kaiſers, ift, wie ed jcheint, 
von feinen Nachfolgern nicht viel bewohnt worden. Die Gejchichte 
wenigitend weiß nicht8 davon, und ebenfo hat fih auch in den 
Ruinen ſelbſt faft nichts gefunden, das fidy einer andern Zeit 
zuſchreiben ließe. Die Anlage bat alſo das ziemlich jeltene 
Glück gehabt, daß, fie feine zu großen Veränderungen erfuhr 
und jo, den befonderen Stempel des Fürften, der fie ſchuf, und 
der Zeit, der fie ihre Entitehung verdankt, an der Stirn, die 
Sahrhunderte überdauerte. Die Fülle der in ihrem Schutte 
gefundenen Reichthümer aller Art hat zu der Annahme geführt, 
daß fie während der ganzen Dauer der Kaiſerherrſchaft nicht 
geplündert worden ift. Ungweifelhaft aber hat fie viel gelitten, 
als Zotila die Umgebungen von Zibur vermwüftete, die Stabt 
erftürmte und die Einwohner niedermegeln lief. Bon nun an 
begann für fie der Verfall: die großen Säle ftürzten zufammen, 
über die Baumalleen ging der Pflug und aus den Gärten 
wurden Getreidefelder. Gleichwohl waren noch im funfzehnten 
Fahrhundert bedeutende Refte von ihr übrig. Der berühmte 
Papſt Pius IL. bejuchte fie und ſpricht mit Bewunderung von 
den Tempelgewölben, den Säulen in den Periftylen, den Por: 
tifen, den Weihern, die er dort noch zu ſehen befam. „Das 
Alter”, jo klagt er dann, „entftellt Alled. Längs diejer Mauern, 
die einft Gemälde und goldgewirfte Stoffe bededten, kriecht heut 


(195) 


6 


der Epheu empor; Brombeerftauden und Dornen wuchern, wo 
purpurbefleidete Zribunen ihren Eib hatten, und Scylangen 
wohnen in den Gemächern der Fürftinnen. Das ilt das Loos 
ded Sterblichen!“ Selbſt dieie Ruinen waren zum Untergang 
beftimmt. Für die Villa Hadrian’d, wie für andere antike Bau— 
dentmäler, war die Renailjance verhängnißvoller ald die Bar- 
baren: während des Mittelalters hatte man fie verfallen lafjen ; 
jeit dem fechzehnten Sahrhundert aber zerftörte man fie jyite- 
matiih. Wie gewöhnlich, machte man Ausgrabungen, um nad) 
den Statuen, Moſaiken, Malereien zu fuchen, die dort noch vor» 
handen jein mochten, und bei dieſen Nachforſchungen ftürzten die 
Mauern, die etwa noch aufrecht ftanden, vollends zujammen. 
Die Billa Hadrian’d erwied ſich zu ihrem Unglüd als viel 
reicher an Kunftichäßen jeder Art ald alle andern römiſchen 
Ruinen; jo war fie drei Jahrhunderte hindurdy eine Art uner: 
ſchöpfliches Bergwerk, weldyes alle Mujeen der Welt mit Meifter: 
werfen beicyenft hat. Bon dort famen u. U. der Zaun in Rofjo 
antico, die Gentauren aus grauem Marmor und der Harpofrated 
im Capitol, die Mufen uud die Flora im Batican, das Antinous- 
Relief der Billa Albani und das bewundernswerthe, von der 
modernen Kunft jo unzählig oft nachgeahmte Taubenmoſaik. 
Daß ein Bauwerk, welches jo viele herrlihe Schätze bergab, 
nod viel gewijjenhafter verwüftet wurde, als alle übrigen, ijt 
begreiflich. Bid auf unfere Zage hat die Plünderung ges 
dauert: noch vor furzer Zeit hatte die Familie Braschi, der 
ein Theil des Bodens gehörte, dad Recht der Ausbeutung der 
Ruinen an eine Geſellſchaft verkauft: man kann ſich denfen, 
wie dieje, die je ſchnell ald möglich wieder zu ihrem Gelde 
kommen wollte, hier vorging. Glücklicherweiſe hat die italienijche 
Regierung durd Ankauf der Billa Braschi diefem Skandal ein 


Ende gemadıt. 
(196) 


7 


Sp, wie die Billa Hadrian’d nach allen diefen Berwüftungen 
beut ausſieht, iſt fie für die meilten Beſucher ein Räthſel, und 
nur jehr ſchwer würden wir und unter den malerischen Ruinen- 
haufen zurechtfinden, wenn nicht Archaeologen und Architekten 
und zu Hülfe fümen. Seit langer Zeit bemüht fid) die Archaeo» 
logie, die Beftimmung diejer Marmorblöde, diejer Grundmauern 
aus Badfteinen aufzufinden und und einen mehr oder weniger 
genauen Plan der failerlihen Wohnung zu geben. Der Erite, 
der fidy mit einigem Erfolge damit bejchäftigte, war ein neapo— 
litaniſcher Architekt des funfzehnten Sahrhunderts, der berühmte 
Pirro Ligorio, derjelbe, der ſich durch Erfindung ganzer Bände 
von falſchen Inſchriften bei den Epigraphifern jo berüchtigt 
gemadt hat. Diejer große Fäljcher war zweifellos ein bedeu- 
tended Talent: in feinen Arbeiten über die Billa Hadrian’s 
bewies er viel Scharffinn, und feine Aufftellungen find von den 
Gelehrten, die auf ihn folgten, größtentheild gutgeheißen worden. 
Piranefi und Canina haben faft nur feine Anfichten weiter aus— 
geführt und feine Irrthümer übertrieben. Dann kam Nibby 
und begnügte fidy) damit, von den vor ihm ausgeſprochenen An« 
fichten die wahrfcheinlichiten zu wählen und diejelben mit feiner 
Kenntniß der Terte und mit jeiner großen antiquariichen Er: 
fahrung zu fügen. So fonnte die interefjante Schrift, die er 
i. 3. 1827 unter dem Titel „Descrizione della villa Adriana“ 
veröffentlichte, für das legte Wort der Wiſſenſchaft gelten, als 
Daumet, ein tüchtiger und geichmadvoller Ardyiteft der franzö— 
fihen Akademie zu Rom, die Sadhe von Neuem aufnahm. 
Daumet war bemüht, jeiner Arbeit auch dadurdy größere 
Zuverläffigfeit zu fichern, dab er ihren Umfang vejchränfte; er 
beichäftigte fich nur mit einem Theile der Billa, dem fogenannten 
„Kaijerpalaft.” Diefer Theil giebt zwar viele Räthfel auf, 


dafür find aber aud hier die merfwürdigiten Refte erhalten. 
(197) 


8 





Daumet ftudirte jorgfältig die geringften Trümmer, madhte 
Audgrabungen, wo ed ihm nur geftattet wurde, ſuchte fich von 
ben Heinften Steinfhichten Rechenſchaft zu geben und wies allen 
ornamentalen Brudftüden aud Marmor oder Mofaif, die er 
finden fonnte, ihren Pla an. Das Ergebniß aller diejer Stu- 
dien war der Verſuch einer Neftaurirung der Billa Hadrian's, 
der für eine der beften und vollftändigften Arbeiten der franzö— 
fiihen Schule in Rom gilt. Die — leider nur ſehr unge- 
nügenden und oft unterbrochenen — Ausgrabungen jeit 1870 
haben Daumet’s Anfichten zum Theil beftätigt, zum Theil aber 
auch widerlegt. Noch ift die Aufgabe weit entfernt, gelöft zu 
fein; dad Werk ift nody lange nicht abgejchloffen und ed wird 
noch viel Zeit und Mühe fojten, bid es ganz vollendet ift und 
bis dieſe Ruinen endlich einmal völlig freigelegt find. In— 
zwiſchen aber ift der Verſuch vielleicht nüglih, und ein allges 
meined Bild zu machen von dem, was die feit drei Jahrhun— 
derten durch verdienftvolle Architekten oder Archaelogen auöge- 
führten Arbeiten und über diefe große Merfwürdigfeit des Alter: 
thums gelehrt haben. 


1. 


Den befonderen Charakter der Billa Hadrian’d macht der 
Umftand aus, daß fie die höchſtperſönliche Conception und 
Schöpfung eined Mannes iſt, der ald eine der merkwürdigſten 
Perjönlichkeiten feiner Zeit unjer ganzes Intereſſe in Anſpruch 
nimmt. Ganz beftimmten Umjtänden jeined Lebens verdankt fie 
ihre Entftehung. und überall trägt fie den Stempel jeined 
Geiſtes. Sie zu verftehen, fünnen wir nur dann hoffen, wenn 
wir zuvor ihren Erbauer kennen. Wir müfjen aljo den Künftler 
vor dem Werke ftudiren und verfuchen, und Elar zu machen, 


weh Geiftes Kind er war und wie er auf den Gedanken Fam, 
(198) 


9 
died Landhaus, den Gegenftand der Bewunderung feiner Zeit: 
genofjen, anzulegen. 

Der Kaiſer Hadrian ftammte aus einer feit langer Zeit in 
Spanien anfälligen italienischen Familie. Seine Geburt jchien 
ihm nicht zur Herrfchaft zu beftimmen: er war ein entfernter 
Anverwandter Trajan’d, der ihn nad) langem Zögern endlich auf 
feinem ZTodtenbette adoptirte.e Dem römiſchen Reihe wurde das 
eigenthümliche Glüd zu Theil, dab Nerva und feine drei Nach— 
folger feinen männlihen Erben hinterließen nnd gezwungen 
waren, einen ſolchen durch Adoption zu ernennen. Im den 
Monardhieen gilt eine ſolche Aufhebung der Erbfolge in der 
Regel für das größte der Uebel, und es ijt heutzutage ein ziem- 
lich allgemein anerkannter Grundjah, daß es für die Eicherheit 
der Staaten gut fei, wenn der Sohn auf den Vater folgt. 
Ganz anderd dachten die Römer. hierüber: nody unter den 
Kaijern bewahrten fie einen Reſt republifanifcher Gefinnung, 
welche fie der erblihen Monardyie wenig geneigt machte. Durch 
die Erfahrungen, die fie mit derjelben unter den Suliern und 
Slaviern gemacht, waren fie nicht mit ihr ausgejöhnt worden. 
Nach dem Sturze Domitian’d erklärten viele, fie wollten nicht 
„dad Erbtheil einer einzigen Familie” fein. Es ſchien ihnen 
befjer, daß der Herricher jeinen Nachfolger wählte, als daß er 
ihn aus den Händen der Natur empfing. „Aus fürftlichem 
Blut entiproffen fein,“ jagt Galba bei Zacitus, „ift ein Glüd 
des Zufalld, vor weldyem alle Prüfung aufhört. Wer aber 
einen adoptirt, der ift Herr feines Urtheild und ſeines Thuns; 
will er den Würdigften wählen, — die öffentlidhe Stimme zeigt 
ihn ihm.“n) Sicher ift, dab die Adoption der Welt damals 
vier große Herrfcher nacheinander gegeben hat nnd dab Rom 
glüdlih war bi8 zu dem Tage da Marc Aurel nnglüdlicherweile 


einen Sohn befam, dem er dad Reich hinterließ. 
(199) 


10 


Unbedenklich haben wir Hadrian unter die großen Kailer, 
neben Zrajan und Marc Aurel geftellt; die Geſchichtſchreiber 
freilich find nicht alle der gleichen Anfiht. Sein Ruf iſt nicht 
wie der anderer Männer, über die eine vollkommene Weberein- 
ftimmung herrſcht; vielmehr wird er ſehr verfchieden beurtheilt. 
Dieſe Meinungsverfchiedenheiten reichen jehr weit, nämlidy bis 
in die Epodye des Hadrian jelbft zurüd; wahrſcheinlich fonnten 
fid, feine Zeitgenofjen nicht befjer über ihn verftändigen als wir. 
Ganz jonderbar ift die Art, wie Dio und Spartian, die Chronik: 
ſchreiber, die jein Leben erzählt haben, von ihm ſprechen; fie 
fagen ihm nämlidy gleichzeitig viel Gutes und viel Böſes nach, 
jodaß wir in ihren Schriften leicht Stoff genug finden fönnen 
ſowohl zum Angriff ald auch zur Vertheidigung. Hadrian war 
eben ein ſehr complicirter Charafter, ein varius, multiplex, 
multiformis, wie jein Geſchichtſchreiber jagt, milde und ftreng 
je nad) Umitänden, abmwechjelnd jparfam und verſchwenderiſch, 
heiter oder ernit, bald ein gutmütbhiger Freund, bald wieder ein 
graufamer Spötter. Sein Leben war vol von Gegenjäßen, die 
man fich nicht erflären konnte. Dbgleidy ein vortrefflicher Feld— 
herr, verabjcheute er doch den Krieg und hat ihn immer ver- 
mieden; lebendlang hat er jeine Legionen geübt, um fie dann 
dody niemald gegen den Feind zu führen. Diejer Gelehrte, 
dieſer Künftler, diejer empfindlihe Schöngeift gab fidy nöthigen— 
fall8 ohne Zögern mit den Heinjten Einzelheiten des Gemein— 
wejend ab; dieſer Weichling, der gelegentlid auf ein neues 
Zahnpulver zierlidye Verschen dichtete, war der energijchiten Ent- 
idlüffe fähig. Er, der ſich prachtvolle Paläfte erbaut hatte, in 
denen alle Reize ded Luxus, alle Errungenjdyaften des raffinir- 
teften Wohllebend vereinigt waren, lebte gern in feinem Lager: 
zelte, begnügte fi) mit Speck und Käſe gleid den gemeinen 
Soldaten, tranf Eſſig mit Wafler und marjdirte barhäuptig 


(200) 


11 


an der Spiße jeiner Truppen, mitten im Schnee Britanniens 
und unter der Sonne Neguptend. 8 ift begreiflich, daß die 
Biographen, die nicht eben durch Scharffinn bervorragten, in 
jolhen Gontraften fi) nicht mehr zurechtfanden, daß fie ange: 
fiht8 eines Fürften, in weldem die Widerſprüche fich zu ver: 
einigen jchienen, in ihrem Urtheil ſchwankten, ohne ſich zwiſchen 
entgegengejegten Meinungen zu entſcheiden, und es nicht ver: 
ftanden, ſich jelbit von dem Manne ein klares Bild zu machen 
und und ein joldyed zu geben. 

Am deutlichſten geht aus ihren Erzählungen dad Eine 
hervor, daß in Hadrian’d Bruft „zwei Seelen“ wohnten, die 
fi nidyt immer gut mit einander vertrugen: der Menſch und 
der Kaifer. Der Kaifer verdient nur Lob und fann unter die 
größten und beten Herricher gezählt werden; der Menſch dagegen 
war oft unangenehm und kleinlich. Die Zeitgenofjen, die ihm 
allzu nahe ftanden und deshalb nicht immer gut unterjchieden, 
haben durch ungerechte Urtheile mandymal den Fürften für die 
Yaunen und Schwächen ded Menſchen büßen lafjen. 

Sie hatten ganz gewiß Unreht und al ihr Fraubafen- 
geſchwätz kann und den Glauben an Hadrian’d Herrichergröße 
nit nehmen. Ganz augenfälig und unbeftreitbar find Die 
Dienfte aller Art, die Hadrian dem Reiche erwiejen hat. Er 
bat zunächſt feinen Staaten die äußere Sicherheit geſchenkt; 
zur Aufredhthaltung der Disciplin in den Heeren hat er jo 
weiſe Vorjchriften erlaffen, daß ſich fpäter nie mehr das Be— 
dürfniß herausitellte, daran etwas zu ändern, — fie blieben in 
Kraft, jo lange Rom's Weltherrichaft felbft dauerte. Er hat 
des Reiches Grenzmarfen dadurch, daß er größere Truppen— 
mafjen dorthin legte und fie mit furchtbaren Verjchanzungen 
verjah, beffer befeitigt und hat auf diefe Weiſe den Barbaren, 


deren Macht von Tag zu Tage bedrohlicher wurde, das Thor 
(201) 


12 


verjchloffen. Hinter diefem Gürtel von Mauern, feften Plätzen, 
tiefen Gräben und verfchanzten Lagern, die fich längs der unge— 
heuren Grenzen geſchickt vertheilten, fonnte das Reich in Frieden 
athmen. Im Inneren wurde die Ruhe mit ftarfer Hand auf: 
rechterhalten, die Mißbräuche wurden abgejchafft, die Strenge der 
Geſetzgebung gemildert, den öffentlichen Arbeiten überall ein 
großer Aufihwung gegeben. Bei fo fräftiger Anregung und 
danf dem Frieden, defjen die Welt ſich erfreute, fonnten die 
Städte daran denfen, fi) durdy großartige Bauwerke, die noch 
heut unjere Bewunderung erregen, zu verjchönern. Dies Alles 
läßt ſich unmöglid, läugnen. Hadrian war unbedingt einer der 
talentvollften Drganijatoren, die feit Auguftus die Welt regiert 
haben, und trug vielleicht mehr als irgend Semand jonft zu der 
unglaublichen Entwidelung der öffentlichen Wohlfahrt bei, die 
aus dem Jahrhundert der Antonine eine der glüclichiten Epochen 
der Menjchheit gemacht hat. „Wenn man einmal“, fagt Duruy, 
„den Ruhm der Fürften nad dem Glücke bemeijen wird, das 
fie ihren Bölfern gefpendet haben, wird Hadrian unter den 
römischen Kaiſern die erſte Stelle einnehmen.“ ’) 

Wie fommt ed nun, daß ein Mann, der dem Staate io 
gute Dienfte geleiftet bat, oft jo ungünftig beurtheilt worden 
it? Gewöhnlih wird diefe Härte der öffentlichen Meinung 
mit einem Hinweid auf den Groll erklärt, der die großen Fas 
milien und den Senat unabläjfig gegen das Faiferliche Regiment 
erfüllte; doc ift dies freilich allzu bequem. Auf dieſe Weiſe 
kann man alle Caeſaren ohne Unterſchied rechtfertigen, und wenn 
dieſer Grund ſich allenfalls noch für die Zeit des Tiberius oder 
des Nero hören läßt, fo iſt die Berufung auf ihn doc) ganz 
unmöglid), wenn wir bei den Antoninen angefommen find. 
Die Kaiferherrfhaft war damals allgemein anerfannt. Den 


alten republifaniichen Haß hatte die Zeit gemildert, und jeden- 
(202) 


13 


fall wäre es kaum zu begreifen, weshalb diejer Hab, nadıdem 
er den Trajan rejpectirt, num gegen Hadrian neu entbrannt jein - 
folte. Wenn Hadrian, bei all feinen großen Eigenidhaften, es 
nicht beffer verftanden bat, Liebe zu gewinnen, jo müljen wir 
eben annehmen, daß died fein Fehler war und dab in feiner 
Periönlichkeit, in feinem Charakter irgend Etwas lag, was ihm 
die Herzen entfremdete. Died war's, was Kronto, ein herzlich 
ſchwacher Schriftiteller, aber ein ehrlicher Mann und der loyalite 
der Unterthanen, jpäter dem Marc Aurel auf's Behutjamfte 
zu verftehen gab. „Um Iemand zu lieben”, jo jagte er zu ihm, 
„muß man fidy vertrauensvoll an ihm wenden fünnen; ed muß 
Einem wohl um's Herz fein mit ihm. Bei Hadrian ift mir’s 
nie fo gut geworden. Ich hatte fein Vertrauen zu ihm, und 
jelbft die Hochachtung, die er mir einflößte, ſchadete der Liebe.“ ®) 
Man fieht, was fih unter diefen höflichen Worten Alles ver- 
ftedt. Auch Trajan, obgleich fein Verwandter, hat für ihn, wie 
ed jcheint, feine große Zuneigung gefühlt. Und doch wiljen wir, 
dat Hadrian, der Alles von ihm erwartete, nichts unterlieh, um 
ihm zu gefallen. Mit allen Mitteln, jogar mit moralifch recht 
anfechtbaren, juchte er jeinen Neigungen zu fchmeicheln; er jelbit 
erzählte: da er dem Kaijer ald tapferen Trinker kannte, habe aud 
er fih dem Trunk ergeben, um fidy fo feine Gunft zu erwerben. 
Er bejaß aber auch andere Eigenſchaften, auf welche Trajan 
den höchſten Werth legte. Ein treuer Soldat, ein pünftlicher 
Dffizier, ein talentvoller Drganijator, ein Verwaltungsmann von 
peinlicher Gewifjenhaftigkeit, erfüllte er forgfältig und erfolgreich 
alle Miffionen, die man ihm amvertraute. Dennody war fein 
Avancement durchaus Fein ſehr jchnelled. Aus einer im Theater 
zu Athen gefundeneu Inſchrift ergiebt fi, daß er die ganze. 
Hierardjie der öffentlihen Würden Schritt für Schritt durch— 
machen mußte, ohne dab ihm auch nur eine einzige Stufe ge- 
(203) 


14 





ſchenkt wurde. Seiner anerkannten Tüchtigfeit und aller gelei— 
fteten Dienfte ungeachtet, wartete Trajan mit feiner Adoptirung 
bi8 zum legten Tage. Ja, ed hieß, der Tod habe ihm über- 
rajcht, ehe er eine Entjcheidung getroffen; die Adoption fei nur 
eine Komödie gewejen, erfonnen, um die Welt zu täufhen; ein 
binter Vorhängen verftedter Betrüger habe ftatt des verjchei- 
denden Kaijerd mit matter Stimme ein paar Worte gemurmelt. 
Was diefe Erzählung einigermaßen wahricheinlich machen Fonnte, 
war Trajan's offenba rſehr geringer Eifer, Hadrian als Erben zu 
acceptiren. Er ernannte ihn nicht blos nicht zu feinen Lebzeiten 
zum Mitregenten, wie died Nerva für ihn jelbit gethan, — er 
wollte ihm auch feine einzige jener außerordentlihen und fel- 
tenen Ehren ermweijen, welche ihn ſchon im voraus zu feinem 
Nachfolger defignirt hätten. Können wir nicht daraus ſchließen, 
daß Zrajan, jo jehr er auch in ihm den Verwaltungsmann und 
den Krieger jchäßte, dod) gegen den Menfchen eine Art Wider- 
willen empfand, dejjen er nur jchwer Herr werden fonnte? 
Kaijer geworden, hatte Hadrian viele Freunde; freilich iſt 
das nicht jchwer, wenn man der Herr der Welt if. Er war 
gegen fie äußerft freigebig: „Niemals“ jagt Spartian, „Ichlug 
er ihre Bitten ab; oft fam er fogar ihren Wünfchen zuvor”; 
aber gleichzeitig reizte er fie durch jeine boshaften Spöttereien 
und verlegte fie durch feinen Argwohn. Unbeftändig und phan« 
taftifch wie ein Künftler, leicht einzunehmen felbit gegen feine er- 
gebenften Anhänger, lieh er den Zuträgern fein Ohr, horchte auf 
das, was man ihm von den Freunden ſagte, und ließ diejelben 
nöthigenfalls durch Spione beobadyten. Er hatte feine geheime 
Polizei, die bis in den Schooß der Kamilien eindrang und ihm 
hinterbrachte, was fie gehört hatte. Keine Freundichaft hält auf 
die Dauer Stich gegen ſolches Mißtrauen. Spartian bemerft, 


daß diejenigen, die er am meiften geliebt und mit den höchſten 
(204) 


15 


Ehren überhäuft hatte, ihm zuletzt ſämmtlich verhaßt wurden. 
Mehrere wurden aus Rom ausgewieſen; einige verloren ihr 
Vermögen, mande jogar dad Leben. Ich glaube nicht, daß 
Hadrian von Natur graufam war; bat er doc manch fchönes 
Beijpiel der Milde und Gnade gegeben. Aber ed war, als 
müßte diefe jouveräne Gewalt ohne beftimmten Charakter, ohne 
fefte Grenze, auch die beften Köpfe verwirren. Wenige Fürften 
haben ed verftanden, dieſem Rauſch der Machtvollkommenheit, 
dieſem zugleich durch Stolz und durch Furcht erzeugten Schwindel, 
der alle jchlechten Inſtincte entflammte und die Seelen verdarb, 
völlig zu entgehen. Der gute Marc Aurel jagte eined Tages 
erihroden zu ſich jelbft: „Werde nicht allzu fehr Caeſar!“ 
Hadrian, jo müffen wir annehmen, ift ed manchmal wider jeinen 
Willen geworden. Im Beginn feiner Regierung, ald er ſich noch 
nicht recht ficher fühlte, ließ er mehrere Bornehme als Hochvers 
räther umbringen; von Neuem vergoß er Blut am Ende feines 
Lebens, und diesmal befand ſich unter den Opfern fein Schwager, 
ein Greid von neunzig Jahren, und ſein noch nicht zwanzig— 
jähriger Neffe. Es ift glaublich, daß beide jchuldig waren und 
dat der Kaiſer foldye Strenge für nothwendig hielt; indefjen 
war die öffentliche Meinung entrüftet darüber. Man erinnerte 
fih, dah Trajan, welchem der Senat feierlich dad Prädicat 
„trefflichiter Herricher” (optimus princeps) zuerfannte, niemals 
derartigen traurigen Nothwendigfeiten fich zu unterziehen gehabt 
hatte, und fand, dab ſich Hadrian allzu jchnell darein fügte. 
Dieje Todesſtrafen, die ein fterbender Herricher verhängte, um 
jo eine lebte Rachgier zu befriedigen, empörten alle Berftändigen. 
„Er ftarb*, jagt Spartian, „von Allen verabicheut.” 

Die Feinde fentimentaler Politif werden nun behaupten, daß 
man ihn mit Unrecht verwünſchte. Dieje Familienzmiftigkeiten, 
jo meinen fie, gehen doch jchliehlich die Melt nicht an; man 

(205) 


— 

darf ihnen deshalb auch nicht zu viel Wichtigkeit beilegen. 
Was kann den unbekannten Bürgern, aus denen die große Mehr— 
beit der Bevölferung beiteht, daran gelegen fein, dab der Fürft 
von unangenehmer Gemüthsart ift und über feine Umgebung 
viele Leiden verhängt? Wenn er jeinen Staat gut regiert, wenn 
er ihn vor äußeren Feinden jchüßt, wenn er ihm im Inneren 
Frieden giebt, muß man dann nidyt bei feinen Launen ein Auge 
zubrüden und ihm geftatten, fich von Kreunden, die ihn langweilen, 
von Verwandten, die ihm binderlich find, zu befreien wie er 
“ will und fann? Was jchadet das feinem Volke? — Freilich, 
das ift gewiß: wenn die Unterthanen nur der Vernunft folg- 
ten, fo würden fie ihren Herricher nad) dem Guten, das er Allen 
tbut, und nicht nach den Härten, von denen nur Einzelne be» 
rührt werden, beurteilen, und derjenige Herrſcher müßte ihnen 
der Liebe am meilten würdig jcheinen, der die große Mehrzahl 
beglüdt. Aber nicht Vernunft beftimmt die Liebe, und bei der 
Zuneigung fprechen noch andere Elemente mit außer dem per- 
ſönlichen Vortheil. So find audy Fürften nichts Seltenes, unter 
deren Herrichaft zu leben vortheilhaft ift und denen es doch nicht 
gelingt, die Herzen zu gewinnen. Zu ihnen gehörte Hadrian. 
Selbft in der Entfernung, die und heut von ihm trennt, können 
wir und der Gefühle, die er jeinen Zeitgenofjen einflößte, nicht 
völlig erwehren; es Eoftet uns einige Selbftüberwindung, ihn 
nad) Berdienft zu würdigen, und mag und auch fein Bemwun- 
derer, der franzöfilche Gejchichtichreiber Duruy, noch jo Mar be- 
weijen, dab er ſich um die Welt viel verdienter gemacht hat als 
Trajan oder Marc Aurel, immer wird ed und ſchwer werden, 
feine Zeitgenofjen zu tadeln, die den Marc Aurel und Zrajan 
mehr geliebt haben als ihn. 

Zu diejen allgemeinen Gründen, weldye die Römer haben 


mochten, ihn nicht zu lieben, kamen nun noch andere, befondere 
(206) 


17 


und mehr perjönliche. Wielleiht war an ihrer Strenge auch 
ein Fein wenig der Groll gegen einen Fürften jchuld, der ſich 
ein Vergnügen daraus machte, ihren Vorurtheilen zu troßen, 
und der fie ganz offen ihren ewigen Feinden opferte. Der 
Einfluß Griehenlands war damald in Rom ftärfer als je 
zuvor. Er ergriff die Gefellichaft gleichzeitig an den beiden 
äußerften Enden: die Reichen, die Vornehmen, die „feine Welt“ 
bezwang er jchon durch die Erziehung, durdy den unmider- 
ftehlichen Reiz von Kunft und Wiffenichaft. In den herrlichen 
Paläften auf dem Esquilin, in den prächtigen Landhäuſern 
von Tusculum und Tibur, wo man die Nadbildungen der 
Meifterwerfe des Prariteled und des Lyſippos vor Augen hatte, 
wo man mit jo großem Genuß Menander und Anafreon las, 
waren die „Römer“ zu mehr ald nur halben Griechen ge- 
worden. Ganz und gar Griechen dagegen waren die Bewohner 
der Bolföquartiere; dorthin führte eine umunterbrochene Aus— 
wanderung aus allen Ländern des Drientd die Leute, die da— 
beim nicht genug zum Leben hatten und ihr Glück machen 
wollten, — eine wahre Ueberſchwemmung, die feit mehreren 
Jahrhunderten nicht nachließ. Was würde der alte Cato ge- 
fagt haben, hätte er gefehen, wie Griechenland und der Drient 
fo auf dem Aventin ſich niederliefen, wie die von ihm ver- 
achtete Raſſe beinahe jchon zur Herrin von Rom geworden 
war? E8 war eine Schande und eine Gefahr, welche die alten 
Römer beunruhbigte: natürlich waren fie der Meinung, dab ein 
Kaifer die Pflicht habe, diefe Gefahr zu befümpfen ®). 

Hadrian dagegen trat auf die Seite der Griechen. Seit 
feiner Jugend verfchlang er ihre großen Schriftiteller; mit 
folder Vorliebe bediente er fidh ihrer Sprache, dab jede andere 
ibm fchwer wurde. Als er einmal in feiner Eigenſchaft als 
Duaeftor eine Botjchaft des Trajan zu verlejen hatte, moquirte 


XVII. 413. 414. 2 (207) 


18 


fi der Senat über ihn, jo ſchlecht ſprach er das Lateinijche aus. 
Er begnügte fih nicht damit, die griechiſche Kunft zu be: 
wundern, er wollte felbft Künftler fein, und died auf allen Ge- 
bieten: er wurde Mufiker, Bildhauer, Maler, Baumeiſter, Alles 
zugleich; er wollte für einen trefflihen Sänger gelten, war ein 
anmutbiger Tänzer, verftand Geometrie, Aftrologie und von 
der Medicin genug, um eine Augenlalbe und ein Gegengift zu 
erfinden. Die Griechen hatten für einen Fürften, der in jo 
vielen verichiedenen Fächern glänzte, garnicht genug Lobes— 
byperbeln und erhoben ihn in den Himmel; die Römer dagegen 
waren geneigt, ſich über ihn Iuftig zu machen. Die Bernünf- 
tigften meinten, dab Bildhauen- und Malenfönnen zwar gewiß 
fein Verbrechen, aber doch auch Fein befonderer Vorzug ift, wenn 
man die Welt zu regieren bat. Es ſchien ihnen, daß dieſes 
grobe Geſchäft Feine Theilung zuläßt und die ganze Thätigfeit 
eines Herricherd für ſich fordert. Auch erinnerten fie ſich, daß 
diejenigen Kaifer, welche die Griechen zu jehr geliebt und ihren 
Ruhm darein gejeßt hatten, ihre Gebräudhe nachzuahmen umd 
ihr ob zum gewinnen, 3. B. Nero und Domitian, gerade die 
ihlimmften Tyrannen gewejen waren, und diefe Erinnerungen 
waren nicht dazu angethan, fie für Hadrian's Neigungen nach— 
fichtiger zu ftimmen. 

Was fie noch mehr reizte, war die Beobadhtung, wie 
Griechenland auch für die politifchen Angelegenheiten Roms 
immer größere Bedeutung gewann. Lange Zeit hatte ſich 
Griechenland mit dem geiftigen Regiment begnügt und Rom 
mit Grammatifern und Künftlern verjehen; feit Hadrian reißt 
ed offen an ſich, was ihm bis dahin verfagt ſchien und was 
dad fiegreiche Volk allein ſich felbft vorbehalten hatte: es 
ichleicht fih im die Heere ein, nimmt Pla im Senat, verwaltet 


die Provinzen. Unter den Feldherren jener Zeit finden wir 
& (208) 


19 





einen Arrian und einen Xenophon. Natürlid fühlten fich die 
Griehen dadurdy jehr geſchmeichelt. Ihre Dankbarkeit Tannte 
feine Grenzen und fand, wie dies bei Griechen oft der Fall 
war, einen niedrigen und fervilen Ausdrud. In ihren wichtige 
ften Städten erhoben fid) großartge Tempel zu Ehren „ded neuen 
Jupiter, des olympiichen Gottes“, und jein unmürdiger Lieb» 
ling, der jchöne Antinous, gleichfalld ein Grieche, empfing 
überall nach feinem Tode die audjchweifendften Ehren; daß 
aber alle noch lebenden echten Römer darüber empört waren, 
ift ebenfo natürlih. WBielleiht wendet man ein, daß fie dazu 
nicht beredytigt waren, daß Hadrian’d Verhalten nicht Weber: 
rajchendes hatte, nichts, was den Inftitutionen und dem Princip 
des Kaijerreichd entgegen gewejen wäre. Nachdem dieſes — jo 
meint man — die Provinzen zur Theilnahme an der höchften 
Gewalt aufgerufen, habe dody aud an Griechenland und dem 
Drient einmal die Reihe fommen müfjen und ed jei durchaus 
nicht verwunderlidy, wenn unter Katjern aud Spanien Generäle 
oder Proconfuln aus Griedyenland ftanden. Indeſſen iſt bier 
ein Unterjchied zu machen. Während nämlicy die Provinzialen 
ded Weſtens, denen Rom den Eintritt in jeine Armeen ge— 
ftattete und die ed zu den Staatdämtern zuließ, Spradye und 
Sitten ihres neuen Baterlandes annahmen, jeinen Geilt und 
feine alten Grundjäße ſich zu eigen machten, kurz: frei und 
offen Römer wurden, blieben die Griechen was fie waren: 
Griechen. Diejem gejcymeidigen und wideritandäfräftigen Volke, 
welches die römiſche Herrichaft ohne Schädigung jeines eigene 
thümlichen Wejend über fich ergehen ließ umd überlebte, hat 
man niemald beifommen können. Nod in feiner Niedrigfeit 
bewahrte es jeinen Stolz; es jchmeichelte den Barbaren und 


veradhtete fie. So wurde ed ihm denn audy nicht jchwer, fich 
2" (209) 


ri; 





20 


gegen die Nahahmung ihrer Gebräuche und gegen die Ver— 
miſchung mit ihnen zu wehren. Schwerlidy ift je ein Grieche 
ganz Römer geworden; dagegen wurden zahlreiche Römer völlig 
zu Griechen. Wir jehen, wie zu Hadrian’d Zeit der in Arles 
geborene Gallier Favorinud und der Italiener Xelian aus 
Praenefte ihre Mutterfpradye aufgeben und mit der griechischen 
vertaufchen. Daß dieje Invafion eines fremden Geiſtes die ernften 
Römer jchmerzte, kann nicht überraihen. Wohl hatten fie vecht 
zu glauben, daß Rom dabei Alles zu verlieren hatte. Die ver- 
ichiedenen Völker, die fi der großen römischen Einheit an« 
ſchloſſen, brachten ihre nationalen Vorzüge ald Mitgift dar; die 
Griechen dagegen theilten ihr nur ihre Fehler mit. Indem alſo 
Hadrian dad Hereinbrechen dieſes neuen Geiſtes begünftigte, 
machte er fi) mindeftend des Mangels an Vorausſicht ſchuldig; 
ohne ed zu wiljen, arbeitete er daran, die Zeit des „Ipäten“ 
Kaiſerreichs jchneller heraufzuführen. 

So war in feiner eigenthümlichen Miſchung von Borzügen 
und Fehlern diejer halb römiſche, halb griechiiche Kaifer — der 
Bauherr, ja vielleicht jogar der Baumeifter der Villa von Tibur. 
Wir haben nun nod zu fragen, was ihm zu dieſem Unter— 
nehmen veranlaßte. Die Gejcyichtichreiber berichten, daß ihm 
zum Bau feines Landhaujes, hauptiächlich wenigftens, feine 
Reijen die Anregung gaben: ihr Andenken habe er verewigen 
wollen. Bekannt ift ja, dab Hadrian ſehr wenig in ber 
Hauptitadt wohnte und während feiner ganzen Regierung faft 
unaufhörlid fein weites Reich durchzog. Nichts hatte fo 
großen Eindrud auf die Welt gemacht, wie dieſes thätige Leben 
und diefe endlojen Reilen. In der Erinnerung der Bevölke— 
rungen, die ihn jo häufig bei ſich durchkommen ſahen, lebte er 
fort ald ein unermüdlicher Neijender, der raftlod von einem 
Ende des Erdballd zum andern eilte. „Niemals“, jagt fein 


(210) 


21 


Biograph, „bat ed einen Herrſcher gegeben, der mit jo 
großer Schnelligkeit jo viele verjchiedene Länder bejucht hat“. 
Nicht ale ob das Reifen damals fo felten gewelen wäre, 
ald man gewöhnlich annimmt. Wechſel ded Aufenthalts war 
im Alterthum wohl faum minder beliebt als heutzutage; war 
doch ſogar diejed Bedürfniß, fi zu rühren und ſich in der 
Welt zu tummeln, dad den Menfchen feine Ruhe läßt, dem 
Seneca jo auffällig, daß er dafür eine philojophijche Erklärung 
verjuchte. Seinen Urfprung führt ex auf jenen göttlichen Theil 
zurüd, der in und ift und der und von den Geſtirnen und vom 
Himmel fommt: „es ift", fagt er, „die Natur der himmliſchen 
Dinge, daß fie beftändig in Bewegung find“.?) Seitdem die 
Kaiferherrichaft der Welt den Frieden gegeben, waren bie 
Reifen mit der vermehrten Sicherheit auch häufiger geworden. 
Die ſchmalen, mit mächtigen Bafaltplatten folide gepflafterten 
Heerftraßen, die von Rom nad den Enden der Welt aus» 
gingen, waren von Wagen, Reitern und Fußgängern unauf 
börlicy belebt. Da ſah man Leute jeden Ranges paffiren: vom 
einfachen Neifenden, der, wie Horaz, nur ein armed Maulthier 
mit kurzem Schwanz und fchwerfälligem Gange ritt, bis hinauf 
zu jenen vornehmen Herren, die in ihren üppigen Sänften, 
darin man leſen, jchreiben, jchlafen oder Würfel jpielen Tonnte, 
ausgeſtreckt lagen, — libyjche Läufer vor ſich, hinter ſich eine 
ganze Schaar von Sklaven und Glienten. AU diejen Leuten 
boten fid weit mehr Reifebequemlichfeiten, ald wir zu glauben 
geneigt find. Die kaiſerliche Poft war längit in Thätigkeit: fie 
ftellte den mit einem kaiſerlichen Paß verjehenen Reijenden 
Wagen und Pferde, die in der Stunde gegen 8 Kilometer 
zurüdlegten. 6) Dieje Päſſe blieben allerdings ausfchließlich den 
Deamten oder Staatöfurieren vorbehalten. Es ift recht auf- 
fallend, daß diejes praftiiche Volk, mit feiner raſchen Auffaffung 


für alles Nügliche in der Welt, nicht auf den Gedanken Fam, 
(211) 


22 


auch Privatperjonen die Mitbenugung ber offiziellen Poft gegen 
Entgelt zu geftatten, was doc) fiher den Verkehr beichleunigt 
und zur engeren Berbindung der verichiedenen Theile des 
Reiches untereinander wejentlicy beigetragen haben würde; wahr: 
icheinlicy aber legte die Staatsgewalt auf ihr Privileg Gewicht 
und ließ fich durch die Beforgnik, ihre Praerogative zu mindern, 
von weiteren Zugeftändniffen zurüdhalten. In Crmangelung 
der Poft lieferten Private denen, die ed wünjchten, ziemlich 
bequeme Reifegelegenheiten. An den Thoren der Städte, bei 
den Wirthöhäufern, die, gerade wie heute, ald Aushängejchild 
einen Hahn, einen Adler oder einen Kranich zeigten und die 
Paſſanten durch allerlei einladende Verſprechungen anzuziehen 
ſuchten, fonnte man leicht Mietywagen jeder Art finden und 
fit) auch mit einem Pferde oder Maulthier verfehen, — man 
wandte fi) deswegen an Vereine (collegia jumentariorum), 
welche jederzeit dem Publikum das Nöthige zur Berfügung 
ftellten. Mit diefen Pferden und Wagen konnte man nöthigen- 
falls recht Schnell reilen. Sueton berichtet, daß Caeſar auf 
joldye Weije täglidy bi8 100 Milien (150 Kilometer) zurüds 
legte. Gewöhnlich aber hatte man ed nicht jo eilig: dann 
machte man kleine Tagereijen, hielt fi da, wo ed gut war, auf, 
raftete, wenn man müde war, und fah fi in aller Gemäch— 
lichkeit die Schöne Natur an. Noch vor kurzer Zeit reiften die 
ZTouriften in Italien gerade auf diefelbe Weiſe; manche Leute 
find nody heut der Meinung, dab es Feine angenehmere 
giebt, und bedauern ſchmerzlich, daß ed anderd geworden iſt. 
An Beranlaffungen zum Reifen hat ed im erften Jahr: 
hundert der Kaijerzeit nicht gefehlt. Manche von den Reijenden, 
welche man auf den großen Straßen traf, waren Beamte, die 
zur Verwaltung der fernen Provinzen abgingen. Rom hatte 


die Welt erobert; ed galt nun, fie zu regieren. Ueberallhin 
(212) 


23 


fandte es jeine Proconfuln und Propraetoren, die ihre Dffiziere, 
Duaeftoren, Secretäre, Lictoren, ihre Freigelafjenen und Sklaven 
mit fi führten, — ein gewaltiges Gefolge, das oft hinauszog, 
um auf Koften der Provinzialen zu leben. Nach dem römijchen 
Gouverneur, mandhmal ſchon vor ihm, reiften die Pächter der 
öffentlichen Steuern mit ihren Schreibern und ihrem jonftigen 
Anhange ab, dann jene Großhändler, die fich auf die Ausbeutung 
der befiegten Länder trefflich verftanden. Da waren ferner 
zahlreihe Studirende, die fi auf der Reile zu berühmten 
Lehrern befanden, nach Städten, wo die Wiffenjchaften blühten ; 
Kranfe, welche berühmte Aerzte, Schwefelquellen oder ein ge— 
jundered Klima aufſuchten; fromme Pilger, die nach einander 
zu allen bedeutenden Heiligthümern mwallfahrteten und den be- 
rühmten Drafeln jtetö eine Srage vorzulegen hatten; dann Leute, 
die ed daheim zu nichts gebracht hatten und draußen ihr Glüd 
machen wollten: „alle Elenden”, jagte Seneca, „die ihre Schön« 
beit oder ihre Talente vortheilhaft zu verwerthen hoffen, 
ftrömen nady den großen Städten, wo die Tugenden und die 
Laſter theurer bezahlt werden ald anderswo“. Nächſt den 
Reiſenden aus Beruföpflicht oder Noth kommen die Ber» 
gnügungdreifenden. Sehr früh fand man Geihmad daran, die 
Länder fennen zu lernen, die noch ſchöne Monumente bargen 
oder große Erinnerungen wedten. Griechenland zunächſt zog 
alle Gelehrten an; von dort gingen fie weiter nad) dem 
Drient. Caeſar verläumte nad Pharfalus nicht, „die Gefilde 
zu ſchauen, wo Troja war.“ Germanicus durchzog Aſien und 
Aegypten, deſſen Wunder er fidy erflären, defjen Hieroglyphen 
er fi von den Prieftern deuten lief. Gewiß gab es unter 
diejen aufrichtigen Bewunderern der Vergangenheit, unter den 
ehrfurchtsvollen Beſuchern ihrer Nefte, auch manche Leute, die 


da zeiften weil e8 Mode war oder weil es gut ausjah oder 
(213) 


24 


weil es — ihre Freunde auch jo madıten. Andere wieder 
unternahmen ihre Weltfahrten nur um nicht zu Haufe zu 
bleiben. Hohe und verfeinerte Cultur, die dem Menſchen da— 
durch, daß fie ihn an die Befriedigung aller feiner Wünſche ge- 
wöhnt, tauſend Bedürfniffe jchafft und unaufhörlich die Seele 
überreizt, ohne ihr rechted Genüge zu thun, führt häufig einen 
widrigen Genoſſen mit, die Langeweile, die, wie Lucrez jagt, 
„aus derjelben Duelle fließt wie die Genüſſe“ und hinreicht 
dad Leben unerträglich zu machen. Stets glauben die Men- 
ihen, dad befte Mittel, ihr zu entgehen, jei Wechſel des Aufent- 
baltes, und fo beeilen fie fi, Haus und Vaterland zu verlafjen 
Umjonft predigten die alten Philojophen, daß wir und au: 
diefe Weiſe nicht von unſeren Sorgen befreien, dab fie und 
getreulidy auf allen unferen Ausflügen folgen, ſich mit und 
auf's Rob ſchwingen und „hinter und auffihen;" die Philo- 
jophen befjerten Niemand, und nad) wie vor ſuchten im zweiten 
Zahrhundert, gerade wie heutzutage, blafirte Leute, die fich 
langweilten, unbekannte Schaujpiele, neue Genüſſe auf, mit 
denen fie ſich einen Augenblick zerftreuen Eonnten. 

Hadrian hatte, die Welt zu durchziehen, alle dieje Gründe 
auf einmal. Der wichtigfte, der befte von allen war aber: er 
wollte ſich perjönlid vom Zuftande ſeines Reiches überzeugen. 
Einem Organifator, wie er einer war, entging es nicht, wie 
gut es it, wenn der Herr Alles mit eigenen Augen fieht. Er 
pflegte ficy in den großen Städten, die am Wege lagen, aufs 
zubalten, ließ fih von der Art, wie fie verwaltet wurden, 
Rechenſchaft geben, ftudirte eingehend ihre Hitifäquellen und 
Bedürfniffe, und felten war ed, daß nicht die Erbauung von 
Brüden, Straßen, Wafjerleitungen, die er ald nothwendig er: 
fannt hatte, jeine Durchreife bezeichneten. Er war aud ein 


großer Freund von Pradt und Aufwand, und fo vergaß er, 
(214) 


_ dB 
nachdem er für nüßliche Arbeiten gejorgt, niemald diejenigen 
Baumwerfe, deren einziger Zwed es ift, ein großed Land würdig 
zu ſchmücken. Er ftellte Theater und Baſiliken wieder ber, 
reitaurirte die alten Tempel und errichtete neue. Verließ er 
dann die Provinzen, jo waren fie ftetd von Bewunderung und 
Dankbarkeit für ihn erfüllt. Noch haben wir Münzen, die 
gelegentlich diefer Kaiſerbeſuche geſchlagen wurden: fie nennen 
Hadrian den „Wiederherfteller”, den „Wohlthäter”, den „guten 
Genius“ der Stadtgemeinden, die fein Fuß durchichritt, und er: 
fennen ihm die Apotheoſe, der er nach feinem Tode nicht ent- 
gehen fonnte, ſchon im voraus bei Lebzeiten zu. Kam er an 
die Grenzen des Reiches, jo verdoppelte er natürlidy feine 
Sorgfalt und Wachſamkeit. Nichtd wurde vergejjen; er ſah zu, 
ob Feitungen, Gräben, Schanzen in gutem Zuftande waren; er 
hörte die Offiziere, befragte die Ingenieure, befichtigte die Le— 
gionen, lie fie vor feinen Augen manövriren; war er mit dem 
Manöver zufrieden, ſo erließ er an fie einen jener klangvollen 
Zageöbefehle, von denen wir in den Inichriften der dritten 
Legion in Lambeſe ein interefjantes Beiipiel übrig haben. Aber 
Hadrian reifte nicht blos, um dem Reiche zu nüßen; er dachte 
aud an ſich jelbft. Der eifrige Berwaltungsmann war gleich 
zeitig auch ein Wißbegieriger, ein Gelehrter, ein Freund der 
Literatur. War die Stadt, nad) der er fam, eine von denen, 
die jchöne Denkmäler der Vergangenheit befiten, jo verweilte 
er dort noch lieber, bewies ihr größeres Wohlwollen, ſuchte gern 
nady einer Gelegenheit, wieder dorthin zurüdzufehren. Der 
Aufenthalt in Athen entzücte ihn; nirgends in der Welt fühlte 
er ſich jo glüdlih: Feine Stadt hat er mit mehr Wohlthaten 
überhäuft, in feiner mehr Monumente errichtet. Keine Stätte 
großer Erinnerungen vergaß feine Scauluft und Wißbegier. 


Auch er wallfahrtete nady Troja, ftellte dort dad Grabmal des 
(215) 


26 


Ajar wieder her und erwies ihm große Ehren. Er ging nad) 
Mantinea, bejuchte dad Grab, wo Epaminondas ruhte, und vers 
faßte eine enthufiaftifche Infchrift für den thebanifchen Heros. 
In Aegypten führte er in der Berfammlung der Gelehrten im 
Mujeum zu Alerandria den Borfi und gefiel ſich darin, die— 
jelben durdy feine verfänglichen Fragen in Verlegenheit zu jeßen. 
Er beſuchte die Pyramiden, die Memnonsjäule und wahrjcein: 
li) auch alle andern Wundermwerfe aus der Zeit der Pharaonen. 
Auf dieſen Weltfahrten hielt er fich nicht für verpflichtet, die 
falte und fteife Haltung zu bewahren, welde die alten Römer 
außerhalb ihrer Heimath zur Schau trugen, um auf dieſe 
Weiſe ernfter und würdevoller zu erjcheinen und den Fremden 
mehr zu imponiren. Er redete in der Sprache der Nationen, 
deren Gaft er war, fleidete ſich nach Landesart und verjchmähte 
nicht ihre Gebräuche. Unzweifelhaft war er der Meinung, daB 
man, um ein Zand recht zu geniehen.und um in dad Weſen 
eined Volkes einzudringen, feine Sitten theilen und ebenjo leben 
müſſe wie eö ſelbſt lebt. In Eleuſis wollte er ſich einweihen 
Iaffen; in Athen präfidirte er den Dionyjos-Feften im Coſtüm 
eined Archonten. Died Betragen mußte bei denen, die am 
alten Braudy feithielten, Anftoß erregen. Einer diejer Un: 
zufriedenen, der Dichter Julius Florus, verfaßte gegen den 
Herriher und Reiſenden boshafte Verschen, die natürlich von 
Allen, weldye ſich nicht entjchlieken Ffonnten, den Sieben Hügeln 
den Rüden zu fehren, mit großem Vergnügen gelejen wurden. 
„cd möchte”, hieß es da, „nicht Caeſar fein, zu den Britannen 
laufen, Scythiens Schneeftürme aushalten“ u. |. w. Hadrian 
antwortete darauf im gleichen Tone und im jelben Versmaß: 
„Sch möchte nicht Florus jein, midy in den Kramläden umbers 
treiben, in den Kneipen faulen, mid) dort von den Vettern und 


guten Freunden aufeffen laſſen“. Er kümmerte ſich nicht mehr 
(216) 


27 


um dad, was die Leute jagten, und ſetzte feine Reifen fort. Es 
fam fogar manchmal vor, daß er wirkliche Neuerungen machte 
und Schaufpiele aufjuchte, die vor ihm vernadhläffigt und ganz 
überjehen wurden. Ein Dichter des eriten Sahrhundertd, von 
dem mir eine inferefjante Beſchreibung des Aetna haben, ift 
über die Gleichgültigfeit feiner Zeitgenoffen gegen Naturſchau— 
ipiele jehr erftaunt. Man durcheilt, ſagt er, die Länder und 
fährt über die Meere, um große Städte und ſchöne Denkmäler 
zu bejuchen; man befichtigt berühmte Gemälde, „eine Venus, 
deren Haupthaar gleid) einem Strome niederzumwallen jcheint, 
oder die Kinder der Medea, wie fie dicht neben ihrer graufamen 
Mutter fpielen, oder die Griechen, die Iphigenien traurig ums 
ringen und zum Altare fchleppen, indeß ein Schleier dad Antlig 
ihres Vaters verhüllt”; man bewundert die Bildjäulen, die 
Myron's und der Andern Ruhm begründet haben, aber die 
MWerfe der Natur, „die eine weit größere Künftlerin ift als 
Jene”, würdigt man feined Blickes?). Hadrian verdient dieſen 
Vorwurf nicht. Seine Leidenichaft für die Meifterwerfe antifer 
Kunft machte ihn durchaus nicht unempfänglic für die er- 
habenen Scenen der Natur; zu jener Zeit ift er faft der Ein- 
zige, von dem und berichtet wird, daß er um ihretwillen Reifen 
unternahm. Er erflomm den Aetna; mir ſelbſt zeigte man oben 
die Ruinen eined alten Haufes, daß dort der Weberlieferung 
zufolge zu jeinem Empfange errichtet wurde. In der Nadıt 
beitieg er den Berg Gafius in Syrien, um den Sonnenauf- 
gang zu fehen, und war dort Zeuge eines furdhtbaren Unmwetterd. 
Er liebte aljo die Natur ebenjo jehr, wie er an der Kunft Ge— 
fallen fand: diefe Bewunderung der Kunft, dieje Liebe zur 
Natur — wir finden fie wieder in der Villa von Zibur. 
2 


Das Alter machte allen diefen Weltfahrten ein Ende. Als 
(217) 


28 


Hadrian den Sechzigern nahe war, empfand er dad Bedürfniß 
nad) Ruhe. Kinder hatte er nicht; fo fing er an, fih einen 
Nacyfolger zu wählen. Er adoptirte zuerft den Lucius Verus, 
und als diefer vor ihm ftarb, den waderen Antoninusd. „Als 
er dann“, ſagt der Gejcichtöfchreiber, „Jah, dat Alles rubig 
war und dab er fih ohne Gefahr von jeinen Mühen erholen 
dürfe, überließ er die Berwaltung von Rom feinem Adoptiv- 
ohne und zog fih nad Tibur in fein Landhaus zurüd, Dort 
beichäftigte er fich, wie das die Art der Reichen und Glüdlichen 
ift, nur noch mit Bauten und Feften, Bildfäulen und Ge— 
mälden; furz, er hatte Feine andere Sorge mehr, als wie er 
fein Leben am beften in Freude und Genuß hinbrächte.“ Aus 
diefen Morten folgt, dab im Jahre 136, als fidy Hadrian ent— 
Ihloß, die Regierungsgeſchäfte niederzulegen, die Billa von 
Zibur bereitö ceriftirte.e Wann Hadrian den Bau begonnen 
hatte, ift unbekannt; fidher aber ift, dab er die drei lebten 
Fahre feines Lebens zu ihrer Verfchönerung und Vollendung 
verwandte und ihr jeßt erjt jenen Stempel der Vollkommenheit 
aufprägte, der aus ihr eine jeiner herrlichſten Schöpfungen ge= 
macht hat. 

Die Lage der Billa von Tibur ift nicht blos höchſt an- 
genehm, jondern auch — und dad war damald der Haupte 
vorzug eined Landhauſes — fehr geſund. Gewiß hatte bie 
Campagna von Rom, bededt mit Bäumen und Ernten, erfüllt 
von reizenden Wohnhäujern, Villen und Gärten, wie fie damals 
war, noch feine Aehnlichkeit mit der öden Landſchaft, zu der fie 
nad) jo vielen Jahrhunderten der Bernadhläjfigung geworden ift: 
noch war fie feine Wüfte und fein Friedhof; aber ſelbſt zur 
Zeit ihred größten Reichthums und ihres höchſten Bevölkerungs— 
ftandes fürchtete man dort jchon die fchlechte Luft. Den Ro— 


mulus beglüdwünjdht Gicero, daß ihm die Gründung einer 
(218) 


29 


„gelunden Stadt in verpelteter Gegend“s) gelungen jei. Dieje 
angeblich gefunde Lage Rom's hat befanntlicy nicht verhindert, 
daß, wie Horaz ſich auddrüdt, die Hitze alljährlich die Fieber 
dahin führte und die Eröffnung der Teitamente bewirkte; auf 
ben Feldern in der Umgebung muß es noch viel jchlimmer ges 
wejen fein. So fam ed denn aud beim Bau eines Landhaufes 
vor Allem auf eine gute Wahl des Plaped an. Hadrian’s 
Billa liegt dicht bei den lebten Ausläufern der Apenninen, am 
Fuß ded Berges, auf deffen Höhe Tibur, das heutige Tivoli, 
erbaut wurde. Weit offen dem wohlthätigen Wehen ded Weſt— 
windes, ift fie durch die umgebenden Hügel vor dem Ecirocco und 
dem Peſthauch des Südens geſchützt. Im nordfüdlicher Richtung 
ziehen ſich zwei Feine parallele Thäler hin; fie jchließen eine 
Ebene ein, die ſich terrafjenförmig erhebt und eine Art Bors 
Iprung von drei Miglien Länge bildet. Im diejer Ebene wurde 
die Billa erbaut. Das Terrain bot zahlreiche natürlidye Uneben— 
beiten, die wir heutzutage ſorgſam zu conferviren und als 
einen Hauptreiz unferer Gärten zu jchäßen pflegen. Die Römer 
dagegen liebten fie nicht, gaben ficy vielmehr große Mühe, den 
Boden, auf welhem ihre Stadt: oder Landhäuſer fich erhoben, 
durch gewaltige Subftructionen zu ebnen. Dieje Subftructionen 
finden wir aud in der Billa von Tibur, und zwar in großer 
Zahl. Zwei fleine Bäche, die von den Bergen der Sabina 
herabkommen, fließen durdy die beiden Thäler und vereinigen 
fi) nahe dem Eingang der Billa, um fih dann zujammen im 
den Anio zu ergießen. Wie faft alle Flüßchen des jüdlidyen 
Staliend, find fie während des Sommers beinahe troden, d. h. 
gerade in der Sahredzeit, wo ein reichlicher Wafjeritand das 
größte Bedürfnik if. Diefem Mangel wurde durch Aquaeducte 
abageholfen, deren Reſte man wiedergefunden hat; fie leiteten 


friihes umd geſundes Bergwaljer in Fülle fowohl in das 
(219) 


30 


ausgetrodnete Bett der Bäche ald in die Gemächer bed 
Palaſtes. 

Was uns bei der Beſichtigung der Villa Hadrian's zu— 
nächſt auffällt, iſt ihre ungeheure Ausdehnung. Nach Nibby 
bedeckte ſie eine Fläche von fieben römiſchen Duadratmiglien. 
Die von der italieniſchen Regierung angekaufte und von den 
Fremden allein beſuchte Villa Braschi umfaßt nicht Hadrian's 
geſammte Anlage. Wagt man ſich in ſüdlicher Richtung weiter 
durch die Dornenhecken, trotzt man den Hunden und Wächtern 
und ſteigt über die Einfriedigung, ſo trifft man auf andere 
Säle, die vielleicht größer und ſchöner find als Alles, was die 
Fremden zu jehen befommen. Um dieje jo weit von einander 
entfernten, dem verjchiedenen Duartieren einer Stadt ähnlichen 
Gebäudegruppen zu verbinden, hatte man unterirdiiche Gänge 
(Cryptoporticus) angelegt, welche dem Herrſcher erlaubten, ohne 
Furcht vor der Hife oder vor Zudringlichen vom einen Ende 
feines Palaftes zum andern zu gehen. Bei allen diefen Bauten 
wurde mit Marmor ein jo verjchwenderiicher Aufwand ges 
trieben, daß noch heut der Boden damit bededt ilt; allmählich 
bat ihn die Zeit zerbrödelt und zerrieben: fo bildet er eine Art 
Staub, der in der Sonne leuchtet und durch jein Glitzern das 
Auge ermüdet. Die Billa muß, ald die Gebäude nody aufredyt 
ftanden, ein wahres Wunder gewejen fein. Die von Daumet 
verjuchte Reftaurirung können wir nicht betradyten, ohne von 
der Großartigkeit de8 Ganzen faſt geblendet zu werden. 
Schwer können wir und eine Dereinigung vreicherer und 
mannigfaltigerer Anlagen vorſtellen; es iſt eine unglaublidye 
Reihe von Hallen, Säulengängen, Baulicyfeiten jeder denkbaren 
Form nnd Größe. Die Kuppeln über den großen Sälen, die 
runden Wölbungen der Eredren finden fidy bier vereint mit den 
dreiedigen Giebeln der Tempel, während hohe Thürme und von 


Weinlauben bejcyattete Terraffen über die Dächer emporragen. 
(220) 


31 


Es ift ein wahrer arditeftonifher Mifrofosmus. In unfer 
Staunen miſcht fid) jedoch einige Ueberraihung: der Gejammt- 
plan diejer gewaltigen Anlagen will uns nit redyt klar 
werden; wir bewundern die Abwechjelung, die darin herricht, 
wir gewahren einen merfwürdigen Reichthum der Erfindung 
und der Kunftmittel, aber einigermaßen befremdend wirft auf und 
der Mangel an Symmetrie. Das römiſche Yorum, dad von 
Zempeln, Trophäen, Bafilifen ganz erfüllt ift, und der Palatin 
mit jeinen fünf bis ſechs Paläften machen uns einen ähnlichen 
Eindrud. Wir jchliegen daraus, dab die Nömer für gewiſſe 
Schönheiten, die und entzüden, minder empfänglid waren als 
wir und daß unfere großen geraden Straßen, unjere regel- 
mäßigen Pläße fie wahrjcheinlich kalt gelaffen haben würden. 
Auch die Billa Hadrian's beftätigt diefe Anficht. Der Ardjiteft, 
ſcheint es, hat die einzelnen Gebäude nad einander, jo wie fich 
gerade dad Bedürfniß heraudftellte, erricdytet, ohne fich weiter 
um die Wirkung ded Ganzen jonderlicdy zu fümmern. In den 
geringen Geſchmack der Römer für ſchönes Gleichmaß müffen 
wir und eben ergeben. Auch wollen wir nicht vergeffen, daß 
ed fi bier füglich nicht um einen Palaft in der Hauptitadt 
handelt, wo ed vor Allem auf Bornehmheit und darauf an— 
fommt, dab der Betrachter eine vortheilhafte Vorftellung von 
dem Bewohner gewinne, jondern um ein Landhaus, bei welchem 
der Baumeifter oft weit mehr an die Bequemlichkeit als an das 
Ausjehen denken muß. 

Bis jegt haben wir an der Billa Hadrian's nichts hervor: 
gehoben, was ſich nicht, wenn aud in Fleinerem Maßitabe, bei 
den anderen Landhäuſern gleichfalld fände. Die Billen der 
Vornehmen hatten alle eine gejunde Lage, waren erforderlichen 
Falled alle mit großen unterirdifchen Anlagen ausgeftattet, 
reichlich mit lebendigem Waſſer verforgt, mit köſtlichem Marmor 

(221) 


32 


geſchmückt, and) enthielten fie alle eine unglaubliche Zahl pracht- 
voller Räume; mad aber den bejonderen Vorzug, die Drigi« 
nalität des Landhauſes ausmachte, das und hier beihäftigt, war 
Folgendes. An nichts hatte Hadrian jo großes Gefallen ge- 
funden ald an feinen Reifen; jo wollte er, auch nachdem er auf 
weitere Weltfahrten verzichtet hatte, lebendige Erinnerungen 
daran um fich her bewahren. Sein Biograph erzählt, er habe 
gewiſſen Theilen feiner Billa in Tibur die Namen der ſchönſten 
Orte gegeben, die er bejudt hatte. Da gab ed ein Lyceum, 
eine Akademie, ein Protaneum, ein Canopus, eine Poifile, ein 
Zempethal, — „ſchließlich kam er gar“, jagt Spartian, „damit 
nichts fehle, auf die Sdee, auch die Unterwelt hier nachzubilden“. 
Diefe Stelle kann zu vielen Meinungsverfciedenheiten Anlah 
geben. Manche Forſcher faffen fie ganz wörtlich auf und wollen, 
daß Hadrian die Herftellung genauer Gopien von Allem unter: 
nommen habe, was er auf jeinen Reiſen bewundert hatte. Be- 
fonderd Ganina ift auf diefe Genauigkeit der Neproductionen 
ganz verjeflen; wenn man ihm glaubte, ſo gäbe ed auf diefem 
ganzen Ruinenfelde fein Stück Mauer, dad nicht die Nach— 
ahmung irgend eined bedeutenden Monumented wäre. Daß 
eine ſolche Anſchauung den Hadrian lächerlih macht, fieht er 
nicht ein. Kann man fidy etwas Thörichteres denfen als den 
Plan, alle Merkwürdigkeiten der Welt auf jo engem Raume 
wiederzugeben? Welchen Eindrud konnten diefe Reductionen 
von Bergen, dieje Miniaturthäler, diefe aufeinandergehäuften 
Bauten dem Bejucher machen? Hadrian mar befanntlidy ein 
talentvoller Künftler, ein Mann von Gejhmad, ein aufgeflärter 
Freund und Bemwunderer der griecdhiichen Kunft: welches Vers 
gnügen hätte er daran finden follen, der Natur Gewalt an— 
zuthun, um ihr Nehnlichleiten abzuquälen, die doch immer nur 


unvollflommen fein Eonnten? Durdy feine Billa, jo berichtet 
(222) 


33 


man und, wollte er unaufhörlich an die gejehenen Wunder ge- 
mahnt jein; aber dieje dürftigen Nachahmungen waren weit 
eher dazu angethan, ihm feine Erinnerungen zu verleiden, als 
fie ihm zu bewahren. Zum Glüd zwingen und Spartian’d 
Worte durhaus nicht, alle dieſe Uebertreibungen anzuerkennen. 
Er jagt einfach, der Kaifer habe fein Landhaus „derart ange» 
gelegt, dab er darin die Namen der berühmtelten Dertlichkeiten, 
die er bejucht hatte, verzeichnen fonnte,"?) — eine Wendung, 
weldhe die Annahme geftattet, daß ed ihm nicht auf jehr ge- 
treue Nahahmungen anfam und daß er ſich meiftend mit einer 
ungefähren Wiedergabe begnügte. Beſonders hinfichtlid der 
Landichaften war auf viel guten Willen gerechnet; wie Fonnte 
man hoffen, die Wunder der Natur in der Eleinen Ebene am 
Fuße von Zibur nadyzubilden! Bei den Bauwerken war die 
Aufgabe nicht ganz jo ſchwer; manche darunter, wie die Poifile, 
mögen ziemlich getreu nachgeahmt worden fein. Wahrjcheinlid, 
ift man jedody in der Genauigkeit niemals jehr weit gegangen. 
Daumet madht darauf aufmerkffam, dab wir in den Ruinen 
diefer Lveeen, Gymnafien, Protaneen, d. h. alſo der griedji- 
ſchen Bauten, die der Architekt doch copiren wollte, überall 
das römiſche Gewölbe finden, — Beweis genug, daß es ihm 
dabei nicht auf ſerupulöſe Treue ankam und daß er dieſe 
Bauanlagen, wenn er auch den fremden Namen für fie bei— 
behielt, dody dem Gejchmad feiner Zeit und den Sitten feines 
Landes anpaßte. 

Bon all den ſchönen Dingen, die Spartian und aufzählt, 
find heut, da Alles in Ruinen liegt, viele unmöglich zu unter- 
icheiden. Drei Anlagen jedoch find faft mit Sicherheit nody zu 
beftimmen, mit ihrer Hülfe können wir und auch über den Reit 
ein Urtheil bilden. Es ift dad Thal Tempe, die Poikile und 
Banopus. 


XVIIL 413. 414, 3 (223) 


34 


In Bezug auf Tempe ift faum ein Zweifel möglich: 
nirgendwo jonft fann man ed anſetzen ald in der Vertiefung, 
die dad Landhaud von den Bergen trennt, auf demen fidh 
Zivoli erhebt. Es lag aljo gegen Nord-Oſt, längs des Fleinen 
Baches, der bei den Archäologen Peneus heißt. Freilich gab 
ed bier feinen Olymp, feinen Pelion und Dfja, Feine ichroffen, 
zadigen Felſen, „von deren Höhe", wie Livius jagt, „ein 
Schwindel Augen und Seele füllt," 10) feine hundertjährigen 
Baumriejen, „deren Gipfel der Blid der Menichen nicht er— 
reichen kann“, 1?) die Reize, die dem wirklichen Thal Tempe eine 
Miihung von Großartigkeit und Anmuth verleihen, die von 
allen Reiſenden gepriefen wird. Die Grofartigfeit ift bier 
ſtark gemindert, aber die Anmuth ift geblieben. Die kleine 
Ebene war von Natur nicht ohne Reiz; man jorgte für noch 
mehr jchattige Anpflanzungen, man jchuf eine Anlage, in der 
ed ſich herrlich luſtwandelte, und als friiche und dichte Laub— 
gänge dem Kaijer winften, ald er unter den großen Bäumen 
am Waſſer gern ausruhte und nun der glüdlidhen Stunden 
gedachte, die er verlebt hatte, als er einft das jchöne Thal 
Theljaliend durchwanderte, da taufte er diefen Theil feines 
Ruheſitzes kühn mit dem Namen des „vom Zephyr bewegten“ 
Tempe. Nach der Billa hin, im Angeficht der Ebene, dehnten 
fi) große, noch heut kenntliche Terraſſen mit Portifen und 
Marmorbaffind aus; eine gewaltige, von Säulen getragene 
offene Halle, die fih an die Piazza d’oro lehnte, beherrichte 
das ganze Thal, — von bier ftieg man auf fanftgeneigten Ab- 
hängen zu den Blumenparterred in der Tiefe hinab. Bon all 
dem find nur Ruinen übrig; die Landjchaft aber ift noch heut 
entzüdend. Kräftige Dlivenbäume haben in den Fugen der 
Steine Wurzel geichlagen und find body aufgeichoffen. Setzen 


wir und am Nachmittag unter einen der großen fnorrigen 
(224) 


35 


Stämme, deren Zweige die jonderbarften Formen nachahmen, 
dann liegt und ein weiter grüner Zeppich zu Füßen, gegenüber 
erheben fi die zierlichen Glockenthürme von Zivoli nnd bie 
großen modernen Villen mit ihren Weingeländen, die auf 
Pfeilern aus weißem Stein ruhen und faft audjehen wie 
Säulenhallen. Schwer ift es wahrlih, von der Schönheit des 
Anblicks nicht ergriffen zu werden: jo lieblich ift das Thal, daß 
wir dem phantaftiichen Kaijer den großen Namen, den er ihm 
gegeben, gern verzeihen. 

Die Poikile ſchaut nad) Weiten, nad Row. Schreiten 
wir in diejer Richtung fort, jo kommen wir auf einen weiten 
freien Pla, auf weldhem die Unebenheiten ded Bodens durd) 
bedeutende Subftructionen ausgeglichen worden find. Damit 
fein nußbarer Raum verloren ginge, hat der Architekt, wie dies 
gebräuchlich war, in den Subftructionen ſelbſt mehrere Stod- 
werfe. body übereinander Wohnungen verjchiedener Größe und 
Form angelegt: fie heißen gewöhnlich die „Hundertlammern“ 
(Cento Camerelle). Ligorio, der ſich die Cäſaren wie bie 
Fürften feiner Zeit vorftellte und fidy dachte, dab fie feinen 
Schritt thaten, ohne daß ihre Krieger ihnen folgten, hielt dieſe 
Wohnungen für die MWachtlocale der kaiſerlichen Garde, und 
andere Archäologen find diejer Anficht beigetreten. In Wirklich— 
feit aber haben die römiſchen Kaiſer, bejonders diejenigen, die 
feit auf ihrem Throne ſaßen und Feine unvorhergejehene Um— 
wälzung zu fürchten hatten, feine Armeen in ihrem Gefolge mit: 
geichleppt, und da es in ihren Landhäujern in der Regel weit 
mehr Sklaven ald Soldaten gab, jo jcheint die Annahme, daß 
die Hundertfammern, aus denen man eine Prätorianer=Kajerne 
bat maden wollen, einfah die Wohnungen der Dienerjchaft 
waren, viel natürlicher. Den freien Pla über den Sub- 


ſtructionen umſchloß ein gewaltiger rechtediger Porticus; in der 
32 >>) 


36 


Mitte defjelben befand fich ein großes Baſſin, von weldem wir 
nod) einige Spuren erbliden. ine Seite des Porticud, eine 
10 m hohe und 230 m lange Badfteinmauer, ift erhalten. Ins 
mitten fo vieler Ruinenhaufen fteht fie noch aufreht. Haben 
wir und quer durch all die umgeftürzten Blöde und Säulen- 
fragmente, mit denen der Boden befäet ift, mühjam den Weg 
gebahnt und treten wir dann plößlicy vor diefe jo wunderbar 
unverjehrte Mauer, fo ift unfere Ueberraſchung faft noch größer 
ald unjere Bewunderung. Wir fragen und, welchem glüdlichen 
Zufall es zu verdanken ift, daß diefe Mauer nicht dad Loos des 
Uebrigen getheilt, was fie vor dem allgemeinen Zufammenfturz, 
dem fie gerade durdy ihre Länge und Höhe erft recht verfallen 
fchien, bewahrt hat? Es ift faum zweifelhaft, daß diejer Porticus 
derjelbe ift, den Spartian unter dem Namen „Poikile“ erwähnt 
und der die Nachahmung eines atheniſchen Bauwerkes war. Die 
Poikile in Athen, mit welder ded Paufaniad Bejchreibung uns 
befannt macht, verdanfte ihre Berühmtheit hauptſächlich den 
Gemälden Polygnot’d. Glorreihe Erinnerungen, indbejondere 
ded Thejeus Sieg über die Amazonen und die Schladht von 
Marathon, hatte er dort dargeitellt. Keine Spur ift heut mehr 
davon übrig, und da wir nicht wiffen, ob Hadrian bei feiner 
Nachbildung jehr genau geweſen ift, jo ift jchwer zu jagen, wie 
weit die Copie und eine Idee von dem Driginal geben Fann. 
Sicher ift, dab wir und leicht ein Bild davon machen können, 
was die Poilile von Zibur einft gewejen jein muß. Zu beiden 
Seiten der jo wohl erhaltenen Mauer erhoben fidy Säulen, von 
denen heut nur noch ein paar Baſen und Stümpfe übrig find. 
Gie trugen ein zierlihed Dad) und bildeten zwei Hallen, die 
durch eine nody vorhandene Thür mit einander in Verbindung 
ftanden. Diefer Doppelporticu8 war derart orientirt, daß die 


eine Front ftetd im Schatten lag, wenn die andere von D 
(226) 


87 


Sonne beichienen wurde, jo daß man hier zu allen Jahreszeiten 
und Tagesſtunden Iuftwandeln konnte: man brauchte nur, je 
nach der Tageszeit, die eine oder die andere Seite zu wählen, 
um ftetd im Winter Wärme, im Sommer erfriſchende Kühle zu 
finden. Wahrjcheinlich bedeckten Malereien die Mauer, und dieſe 
Malereien müflen Copien derjenigen Polygnot's geweſen jein. 
Die Zeit bat fie alle vernichtet, aber dieje einfache Baditein- 
mauer hat fie doch ftehen lafjen und noch immer ruht auf ihr 
ein Schimmer von Größe und Majeftät. Sie ift ganz ficher 
eine der ſchönſten römiſchen Ruinen, die und erhalten find, und 
die Bewunderung, die wir bei ihrem Anblick empfinden, fteigert 
fidy noch, wenn wir des griechiſchen Meiſterwerkes gedenken, an 
dad fie erinnert und von welchem diefe Mauer und Spät- 
geborenen ein letztes ſchwaches Echo zurüdmwirft. 

Screiten wir in derjelben Richtung etwas weiter, fo 
fommen wir in ein ziemlidy eines, mehr langes als breites 
Thal, welches die Arhäologen auf Spartian’8 Zeugnib hin 
übereinftimmend „Canopus“ nennen. Died ift nicht, wie jonft 
fo häufig, eine willkürliche Bezeichnung. Auf einem in dem 
Thale gefundenen Ziegelitein lefen wir die jeden Zweifel aus— 
ſchließenden Worte: Deliciae Canopi. ben nody waren wir 
in Athen und bejuchten die Poifile, — nun verjegt und eine 
Laune ded wunderlichen Kaiſers auf einmal nad; Aegypten. 

Ohne Frage war Aegypten eined der Länder, die auf Has 
drian, den Reijenden, den allergrößten Eindrud gemacht hatten. 
Nicht ohne die lebhaftefte Ueberrafchung beſuchten die Menjchen 
diejes feltfame Stüd Erde, welches durch feine Ueberlieferungen, 
feine Sitten und Gebräude, feine Spradye und jeine Götter 
von der ganzen übrigen Welt geſchieden war. Geitdem die 
Römer zu Herren des Erdfreifed geworden, hatten die meijten 


Bölker auf ihre Eigenart verzichtet und die der Sieger ange» 
(297) 


38 


nommen; Aegypten blieb unter allen Regierungen feiner Ber: 
gangenheit getreu. Die griedhiichen Eroberer, die gekommen 
waren, es zu beherrichen, die Statthalter, die Rom fandte, e8 
zu verwalten, änderten nichtd an jeinen Gewohnheiten. Mehr 
als ſechs Sahrhunderte hindurch fremden Herrichern unterworfen, 
fuhr e8 doch auf jeine Weije zu leben fort, baute Tempel wie 
zur Zeit ded Seſoſtris und jchmüdte ed mit Hieroglyphen, von 
denen jeine Eroberer nicht verftanden. Den anderen Ländern 
ganz unähnlich, Fremdartig jchon von Natur, war diejed Aegypten 
noch jehr viel jonderbarer dadurdy geworden, daß ed in feiner 
alten Cultur unbeweglich verharrte. Welch ein Genuß für wiß— 
begierige Reijende, died jo wohlerhaltene Stück Vergangenheit 
zu betrachten! Und auch reiche und blafirte Leute, die, lüftern 
nad) neuen Schaufpielen, der allgemeinen Gleichförmigkeit auf 
ein Weilhen entgehen wollten, waren froh, wenn fie diejen 
Winkel der Welt durhwandern fonnten, dem nichtd auf Erden 
glich. So zog denn aus, wer fonnte, die Monumente der 
Pharaonen zu jchauen, die Pyramiden zu bewundern, Memnon 
zu hören, wie er die Morgenröthe begrüßte, und auf den Sodel 
oder dad Bein des Coloſſes jeinen Namen zu jehreiben mit Aus— 
drüden lebhaften Dunfes für das Geſchick, das ihn eines ſolchen 
Erlebnifjes gewürdigt. So find die Riejenichenfel ded Memnon 
mit ihren zahllofen Namen zu einem wahren $remdenbud antiker 
Scauluft geworden, bis auf den heutigen Tag ein unvergehlicher 
Anblid für Jeden, der dort geweilt. Jene Alten aber zogen 
heim und verlangten dann von Bildhauern und Malern Nach— 
bildungen von dem, was fie bewundert hatten. Auf ſolche Weile 
drang in die damalige Kunft ein faljcher ägyptiſcher Geſchmack 
ein, der einige gute Werfe und viele lächerlihe Nahahmungen 
bervorgebradyt hat. Bon den Vornehmen ftieg diefer Geihmad 


zu den übrigen Klafjen herab: auf die Wände der Bürgerhäufer 
(228) 


— 
von Pompeji malte man gern unwahrſcheinliche Landſchaften, 
mit Palmen, Ibiſſen und Krokodilen, die den Leuten, welche 
jenes Land der Räthſel nie geſehen hatten, doch eine Vorſtellung 
davon geben konnten. 

Hadrian machte es wie die Andern: er beſuchte Aegypten, 
und es kann uns nicht überraſchen, daß das Wunderland auf 
dieſen wißbegierigen und ſcharfſinnigen Geiſt den allergrößten 
Eindruck gemacht hat. Es iſt uns ein Brief erhalten, den er 
aus Alexandria an ſeinen Schwager Servianus ſchrieb; der 
Charakter der großen Handelöftadt, in welcher alle Völker des 
Drientd zufammenftrömten, it darin fehr fein aufgefaßt. Nicht 
ohne jatirishen Humor jchildert er beſonders das gejchäftige 
Treiben der dem Erwerbe nadjagenden Menge. „Niemand“, 
jagt er, „lebt bier müßig. Die einen machen Glas, andere 
fabriciren Papier, nody andere weben Leinwand. Seder hat fein 
Geſchäft und treibt jeine Profeſſion. Selbft die Blinden, die 
Gichtkranken und die Lahmen finden hier irgend etwas zu thun. 
Sie haben alle nur einen Gott, dad Geld !?); dieſes allein beten 
Ehriften, Juden und alle Andern an." Wie gewöhnlidy in In— 
duftrieftädten, wo Glüd und Vermögen jo wandelbar find, juchte 
man aud hier die Güter, die fo jchnell wieder verloren gehen 
konnten, raſch zu geniehen und gab ſich dem Vergnügen mit 
ebenjo leidenichaftliher Halt hin wie den Geſchäften. Der 
Zuftort der Alerandriner, nadı welchem fie wallfahrteten, um 
fich ihre Sorgen aus dem Kopf zu jchlagen und um ihr Geld 
[08 zu werden, war die Stadt Canopus, etwa 3 Meilen von 
Alerandria. Canopus bejah einen berühmten Tempel des Serapis, 
zu welchem Beſucher aus ganz Negypten pilgerten. Allabendlid) 
war das Heiligthum voll von Leuten, die herbeigefommen, den 
Gott um Heilung ihrer Krankheiten oder derer ihrer Freunde 


zu bitten. Waren fie dann fertig mit ihren glühenden Gebeten 
(229) 


40 


jo legten fie fih im Tempel jchlafen, und während ihres 
Schlummerd ward ihnen dann im Traume das Heilmittel zu 
Theil, das fie von ihren Leiden erlöfen ſollte. Meiſtens aber 
war die Sorge für die Gejundheit nur ein Vorwand; man ging 
nad) Canopus, wie man heut in die Modebäder geht, weniger 
um ſich zu curiren, ald um ſich zu amüfiren. Man machte die 
fleine Reife auf einem 5 Wegeftunden langen Canal, den un- 
aufbhörlich leichte, vorn und hinten zierlich gejchweifte Barken 
belebten; in der Mitte trugen diefelben eine Art Kajten, ganz 
ähnlich denen der venezianiichen Gondeln.13) Keinen Augenblid 
ruhte das Treiben; bei Tage und bei Nacht hörte man die in 
der ganzen Welt berühmten und berüchtigten ägyptifchen Liebed- 
gefänge auf dem Waſſer widerhallen. Zu beiden Seiten des 
Canals lagen Gafthäufer, die auf's üppigfte mit Allem aus- 
geitattet waren, was zur Freude entflammen und jeded Ber- 
langen befriedigen fonnte. Dort ftieg man ab, tranf den leichten 
mareotiihen Wein, der einen kurzen und fröhlichen Rauſch 
verlieh, und gab fich nad) beendetem Gelage unter Weinlauben 
oder im Schatten der Bäume beim Schall der Flöten audge- 
lafjenen Tänzen hin. So ließ man fidy Zeit und fam gemächlich 
nad) Canopus, wo ed dann freilich noch weit mehr Unterhaltung 
gab ald unterwegd. Der ganze Drt war zur Luft geichaffen; 
unmöglich fonnte man ſich einen entzüdenderen Aufenthalt denken. 
„Es war", jagt ein gleichzeitiger Schriftfteller, „wie ein Traum. 
Bei dem erfrijchenden Hauch der fanften Seewinde, dem leiſen 
Gemurmel der Wellen, unter dem fonnigften Himmel fonnte 
man meinen, der Welt entrüdt zu fein.” 

Hadrian nun, deſſen Wunſch ed war, daß die Billa von 
Tibur ihn an alle feine lebendigften Reifeeindrüde erinnerte, 
vergaß Canopus nit. Nach feiner Gewohnheit nahm er fidy 


nicht die Mühe, die ägyptiihe Stadt genau nachzubilden: das 
(230) 


41 


wäre auf fo Heinem Raume auch unmöglidy gewejen; er be» 
gnügte ſich wahrfcheinlich mit einer jehr entfernten Achnlichkeit. 
Am Ende des Thale diente eine prachtvoll decorirte mächtige 
Rundniſche oder tiefe Abfid zugleich ald Tempel und ald Wafler: 
funft. Im Mittelpunkt der Abfis hatte in einer Vertiefung die 
Statue ded Serapid, ded großen Gotted von Ganopud, ihren 
Pla. An den Seitenwänden ftanden in fleineren Nijchen 
andere ägyptiſche Gottheiten. Mit diefen Statuen find die im 
Schutt ded Thaled gefundenen und jebt im Vatican aufgeftellten 
vielleicht identiih. Maſſenhaft ftrömte Waſſer aus allen Eden 
ded Baued. Auf Marmorftufen fam es herab oder ſprang von 
einem flachen Beden in’d andere und fiel dann endlich im ein 
gewaltiges halbfreisförmiged Baſſin. Eine Art Brüde oder 
Steg über dem Baffin, gefhmüdt mit Säulen, mweldye die ge- 
mwölbte Dede trugen, führte von einem Ufer auf’8 andere; fo 
fonnte man die Gadcaden in der Nähe ſehen. Das Wafler 
floß unten durdy und ergoß fih dann in einen Canal, der 
die ganze Mitte ded Thales einnahm. Dieſer Ganal, in den 
Zuffitein gegraben, war 220 Meter lang nud 80 Meter breit. 
Zierlihe Barfen, die gewih nad) dem Mufter der Gondeln von 
Alerandria gebaut waren, verlahen den Dienft für den Kaijer 
und jeine $reunde, und noch heut ſehen wir auf dem Duai die 
Refte der Treppe, an deren Fuß die Fleinen Boote anlegten, um 
die Herren vom Hofe, wenn fie auf dem Canal fpazieren fahren 
wollten, aufzunehmen. An dem einen Ufer finden wir die Ruinen 
von etwa zwanzig Sälen in zwei Gejchofjen über einander; davor 
liegt nad) der Wafjerjeite hin ein jchöner Porticud. Wir haben 
bier vielleicht eine Nachahmung jener üppigen Gaftwirthichaften, 
in denen der Reijende auf der Fahrt nach Canopus fo gern ver- 
weilte. Wahrſcheinlich thaten die Einkehrhäufer der Vila Ha— 


drian’8 ihr Beſtes, um dad Renommee, das ſich die andern 
(231) 


42 


erworben hatten, gleichfall8 zu verdienen. Was hier vorgehen 
mochte, ift leicht zu erratben, wenn wir daran denken, daß Ha- 
drian den Genuß leidenichaftlich liebte und fid auch niemals 
Mühe gegeben hat, dies zu verbergen. Vielleicht hat jpäter 
Marc Aurel auf diejed verführerifhe Treiben angejpielt, wenn 
er an die Gefahren, die in der Zugendzeit feine Tugend be» 
droht hatten, erinnerte und dann den Göttern danfte, „daß fie 
ihn von den Leidenſchaften der Liebe, denen er kurze Zeit nach— 
gegeben, geheilt hatten.” 

Bon den Theilen des kaiſerlichen Landhaufes, die Spartian 
und aufzählt, find Died diejenigen, die wir noch heut wieder— 
finden und mit größter Wahricheinlichfeit benennen fönnen. So 
befitten wir alio noch und fönnen durchwandern was der launen- 
bafte Kaiſer jein Thal Tempe, feine Halle Poikile, „jeine Luft“ 
Canopus genannt hat. Dies ift ſchon Etwas, aber wir fünnen 
dreift nody weiter gehen. Diele ungeheure Ruinenmaſſe muß 
Räume enthalten, deren Erbauung der Kaifer Feineöfalld unter» 
lafien konnte, Anlagen, weldye die Erfordernifje jeiner Stellung 
oder die Sorge für jein Wohlbefinden und für fein Vergnügen, 
jeine Bedürfniffe oder Neigungen ihm unentbehrlich machten, 
und der Verſuch, dieſe Baulichkeiten zu beftimmen, erſcheint 
nidyt allzu gewagt. 

Zunächſt ift ed wohl unzweifelhaft, daß Hadrian fidh einen 
Theil des weiten Palaltes für feinen perjönlidyen Gebraud, für 
jein Privatleben rejervirt bat: ein ſchon bejahrter, leidender 
Herricher, der fidy mit jo großer Eorgfalt ein Aſyl für feinen 
Lebensabend errichtete, muß vor Allem auf fein Behagen und 
feine Bequemlichkeit bedacht gemejen ſein. Wo aber müſſen 
wir dieje Privatwohnung juchen? Seit Ligorio bezeichnete man 
mit dem Namen „Palazzo imperiale* die Ruinen, die fi im 


Weiten längs des Tempethaled erjtreden. Daumet indejjen hat 
(233) 


— 


geglaubt, ihm eine andere Stelle anweiſen zu müſſen. Er er— 
innerte ſich, daß in den Landhäuſern, in denen die reichen 
Römer vor der Sommerhitze Zuflucht ſuchten, und ebenſo auch 
in den noch vorhandenen Villen aus der Zeit der italieniſchen 
Renaifjance, dad Wohnhaus allemal über den Nebengebäuden 
an der höchſten Stelle ded Terraind liegt. Auch war ed ja 
ganz natürlih, dab der Hausherr von einem beberrichenden 
Punkte aus die Ebene zu überbliden und die weitelte und 
mannichfaltigite Ausficht zu genießen wünſchte. War ed nun 
in Hadrian's Billa ebenfo, jo müßten wir des Kaijerd Privat: 
haus etwas weiter füdlih auf dem Plateau juchen, wo Ligorio 
die Akademie und Ganina dad Gymnaſium gefunden zu 
haben glaubt, und Daumet hat ed auch unbedenklich an diejer 
Stelle angejeßt. Die vor vier Jahren gemachten Ausgrabungen 
haben jedoch dem franzöfiichen Architekten Unrecht gegeben. Bei 
der Durdforichung des von Ligorio bezeidineten Plabes fanden 
fid Zimmer von mäßiger Größe, mit Gorridoren und Säulen» 
hallen, deren Berhältniffe uns lebhaft an die der Schönen Häufer 
von Pompeji erinnern. Wir haben hier in der That eine für 
das alltägliche Leben trefflicd geeignete Wohnung, und da die— 
jelbe gleichwohl den erforderlichen Reichthum in der Ausitattung 
nicht vermifjen läßt, überdies auch in unmittelbarer Nähe der 
großen Empfangsräume liegt, jo ift ed recht wohl glaublidh, 
daß der Kaijer fie zu feinem eigenen Gebrauche erbaut hat. 
Somit hat Ligorio, ald er den Palazzo imperiale, d. h. eben 
dad Privathaus des Herricherd, nahe bei Tempe anjebte, wahr: 
ſcheinlich das Rechte getroffen. 

Nächſt dem Gemadye, wo er feine Nachtruhe hielt, erjchien 
einen Römer oder Griechen nichts unentbehrlicher für feine 
Eriftenz als ein Badeſaal. Audy im Landhaufe von Tibur war 
für Nymphäen (Bädergrotten) und Thermen gejorgt: gebraudt 


(233) 


4 


wurden ſolche für den Kaifer, für feine Freunde und für feine 
Dienerſchaft. Dieſem Zwecke diente unzweifelhaft ein runder 
Raum, der zwilchen den Privatgemächern und der Poikile liegt; 
er ift vielleiht von allem in der Villa Gefundenen dad Inter» 
ellantefte und Reichſte. Seine Grundmauern find gut genug 
erhalten, um den Plan ohne große Mühe herftellen zu können. 
Ein kreisrunder Porticus von Säulen aus Giallo antico (gelbem 
Marmor), defjen Trümmer den Boden bededen, umſchließt einen 
jener Fleinen Wafferläufe, welche die Alten „Euripus“ nannten. 
Der Ganal, in welchem einft das Waſſer floß, ift durchweg mit 
weißem Marmor bekleidet; er iſt ungefähr fünf Meter breit und 
etwas über einen Meter tief. Der von dem Fleinen Gewäſſer 
eingeichlofjene Raum bildet eine Injel, die durch marmorne 
Brüden mit dem äußeren Säulengang verbunden if. Im 
Mittelpunft der runden Inſel befindet ſich ein Fleiner quadrati- 
icher Hof, den unzweifelhaft eine Statue geihmüdt hat, — eine 
fünftleriiche Caprice, die der Anmuth nidyt entbehrt. In den 
ungleihen Abjchnitten zwiichen dem rechtedigen Hofraum und 
dem freisförmigen anal find nad dem Euripus bin offene 
runde Kämmerden und Niſchen angeordnet, aus denen einft 
zierlihe Springbrunnen ftrömten. Nichts kann eigenthümlicher 
und dem Auge wohlgefälliger wirken als dieje geiftreich jpielenden 
Sombinationen. Der Boden der Kämmerdyen, des Hofes, des 
Porticus ift mit Marmorfragmenten überjäet. Hier fand man 
zahlreihe Säulentrümmer, auch Bruchſtücke von Basreliefs mit 
Darftellungen von Meereöungeheuern, ZTritonen, Nereiden und 
Heinen auf Seepferden reitenden Liebesgöttern. Wozu Fonnte 
diefer ſchöne, jo jorgfältig und mit jo feinem Geſchmack an- 
gelegte Bau beftimmt fein? Die meifte Wahricheinlichkeit hat 
offenbar die Anficht Nibby's, der ihn Natatorium (Schwimmbad) 


nennt und eine Art Pidcine (Schwimmbaſſin) aus ihm madht. 
(234) 


45 


Die kleinen Kammern rings um den &uripus waren vielleicht 
Gabinette zum Ausruhen; aud konnten fie den Badenden als 
Ausfleideräume dienen. Hier fand man Spuren der Treppen, 
die zum Wafjer hinabführten. Die Nähe der Faiferlichen Woh— 
nung und die großartige Decoration diejer Bäder laſſen ver: 
muthen, daß der Herricher fie für ſich jelbft rejervirt hatte; find 
fie doch dieſes Wollüftlings, dieſes Freundes der raffinirteften 
Genüffe durchaus würdig. Schwer kann man fid) einen Ort 
vorjtellen, wo ed fi in drüdend fchwülen Sommertagen an— 
genehmer ruhen liebe ald in diejen eleganten Sälen, inmitten 
aller Reichthümer einer auderlefenen Kunft, neben dem Euripus, 
der geräuſchlos in feinem Marmorbette freift, beim leijen Mur— 
meln und Plätichern der Springbrunnen. 

Nicht weit von der Privatwohnung des Herrſchers lagen die 
Empfangdräume. Wir müffen annehmen, dat Hadrian, obſchon 
er beim Bau feiner Villa jo that, als ob er fid dauernd von 
der Welt zurüdziehen wollte, doch keineswegs darauf verzichtete, 
jeine faijerlihen Repräfentationd- Pflichten bi8 an’d Ende zu 
erfüllen. Denn jo viele Freunde ein Herrjcher auch haben mag, 
— blos für Freunde find diefe ungeheuren Säle, die wir noch 
heut bewundern, doch unmöglidy erbaut worden. Nahe beim 
Palazzo imperiale, längs des Tempethales, finden wir mehrere 
jolde Pradträume, Diejen Theil der Anlage hat Daumet be» 
jonderd eingehend ftudirt und in feinen Zeichnungen ungefähr 
jo herzuftellen verjucht, wie er bei Habdrian’d Tode ausjah. 
Ehe man zu den Hauptjälen gelangte, war eine lange Reihe 
verjchiedener Gebäude zu durchjchreiten, die einen großen Ein- 
drud auf den Beſucher gemacht haben müfjen. Ein acdhtediges 
Beftibül führte in einen jener Höfe, weldye die Römer Beriftylien 
nannten. Es gab deren viele im Bereich der Billa, diejer aber 


war jedenfalld der geräumigfte und jchönfte von allen. Ein 
(235) 


ſolcher Reichthum koſtbarer Ueberrefte hat ſich bier gefunden, 
daß die Architekten, die ihm freilegten, ihm den Namen „Piazza 
d’oro* gaben. Ringsum lief ein Doppelporticus mit Säulen 
aus Gipollin und orientaliihem Granit; roſenrothe Marmor 
platten bededten den Boden, und Bildjäulen, deren Baſen man 
aufgefunden zu haben glaubt, vollendeten die prachtvolle 
Decoration. Hinter dem Periftyl, dem achteckigen Bejtibül 
gegenüber, erhob fich ein weiter, von einer Kuppel überwölbter 
Saal, den eine Abſis hablkreisförmig abſchloß. An den vier 
Eden des Saale finden ſich Niſchen, die ihr Licht von oben 
ber empfingen. Sie waren nad) Daumet zur Aufnahme von 
Statuen beitimmt, und die Sorgfalt in der Beihaffung guten 
Yichteö legt die Vermuthung nahe, dab hier Arbeiten berühmter 
Künftler ihren Play gehabt. Bekanntlich ift dieſe für den 
bequemen Genuß fünftleriiher Meifterwerfe bejonderd günitige 
Anordnung im Hof ded Belvedere im Batican nachgeahmt 
worden. Aus joviel Prachtentfaltung jcheint hervorzugehen, daß 
diejer Schöne Saal und das Perijtyl davor für die Faijerlichen 
Audienzen beitimmt waren und daß der Herrſcher hier den ihn 
aufjucyenden Abgeiandten der Städte und Provinzen Gehör 
ichenfte. Zu diejen officiellen Räumen, in denen Hadrian feinem 
fatjerlihen Amte oblag, fünnen wir noch einen ziemlidy gut er- 
haltenen Saal redynen, den wir auf dem Wege vom Natatorium 
nach der Poikile durdyichreiten. Man bat daraus bald einen 
Tempel, bald einen Vereinigungsort für Philojophen (schola 
stoicorum) jehen wollen: aber Hadrian liebte die Philojophen 
und bejonders die Stoifer lange nicht genug, um ihnen einen 
jo jhönen Bau zu errichten. Sch möchte in dieſem Raume 
vielmehr eine Bafilifa erbliden, denn er iſt der auf dem Palatin 
gefundenen Bafilifa ganz ähnlich. Wir willen, da Zrajan 


in jeiner Billa zu Gentum Gellae, jet Civitavecchia, eine 
(236) 


47 

Art Privatconfeil, beftehend aus Senatoren und Beamten, zu 
verſammeln pflegte, um mit ihm diejenigen Sachen abzuurtheilen, 
deren Entſcheidung er fich vorbehalten hatte. In der Regel 
handelte es fich dabei um delicate Angelegenheiten, welche die 
Dffiziere ſeines Heered oder die Angehörigen feines Hauſes be- 
trafen. Am Tage wurden die Sachwalter gehört und die 
Urtheile geſprochen; Abends z0g der Kaijer die Richter zur Tafel, 
und nad) beendeter Mahlzeit ſuchte man Erholung in angenehmer 
Unterhaltung oder hörte Mimen und Schaufpieler 1*). Sit Hadrian 
dem Beijpiel Trajan's gefolgt, was jehr wahricheintich iſt (denn 
er war ein großer Pfleger der Gerechtigkeit), hat er nach jeinem 
Zandhaufe derartige Gerichte berufen, jo haben dieſelben ver: 
muthlich bier ihre Situngen gehalten. 

Schließlich wollen wir nicht vergejjen, daß Hadrian nicht 
blos ein untadelhafter, die Pflichten jeiner Stellung gewifjenhaft 
erfüllender Kaiſer, jondern auch ein ſehr feiner Kenner der 
Literatur, für geiltige Genüffe ungemein empfänglihd und ein 
eifriger Nadyahmer der Griechen war. Wir müfjen annehmen, 
daß dieje Neigungen des alternden Herricherd in dem Land— 
hauſe, das er fich jelbft erbaute, mannichfache Spuren hinter: 
lafien haben. Nicht weit von der Poikile hat fich ein ziemlidy 
wohl erhaltenes Stadium mit jehr beträchtlichen Nebengebäuden 
gefunden: zeigten doch alle Kaifer, die für Griecheuland 
Ihwärmten, eine leidenjchaftliche Vorliebe für athletiſche Spiele, 
etwa wie im vorigen Jahrhundert die franzöfiichen Grandjeigneurs, 
die ed der engliichen Ariftofratie gleichthun wollten, faſt nur 
noch von Pferden und Sodeys ſprachen. Noch bejjer war für 
die Bühnenfpiele gejorgt: wenigitend drei Theater giebt ed in 
der Billa. Eines fcheint ein Odeum zu fein; neben einem 
andern, das von allen am beften erhalten ift und an der Stelle 


liegt, wo man heut die Villa betritt, dehnt fich ein weiter vier- 
(237) 


48 


ediger Raum aud, vielleicht ein Pla zum Spazierengehen für 
die Zujchauer. Gewiſſe Einzelheiten in der Anlage ded Bau’ 
laſſen darauf jchließen, dab dies ein griechiiched Theater war. 
Das lateinifche Theater liegt etwas höher, nad dem Tempe— 
thale bin. Dafjelbe befindet fih heut in einem Zuſtande 
Ihlimmer Berwüftung, und doch jollen noch im vorigen Jahre 
hundert die Marmorbekleidung der Drcheftra und die Bajen 
der Bildjäulen, weldye das Podium ſchmückten, zu jehen ge— 
wejen jein. 

Wir müflen geſtehen: dieſer Ueberfluß an Theatern iſt in 
einem Sahrhundert, wo die dramatiſche Kunft jo wenig Pflege 
fand, einigermaßen überrajhend. Am meiften begreiflidy wäre 
noch dad Borhandenfein des griechiichen Theaterd: ein literariſch 
gebildeter Fürft wie Habdrian, der am Auderlejenen Geſchmack 
fand, modte dort gern die Stüde Menander’8 hören. Be— 
bauptete doch diejer große Dichter, der feine Kenner und treff- 
lihe Schilderer des Lebend, noch immer feine ganze Herrichaft 
über die höhere Gejellichaft; in den Schulen wurde er ftudirt, 
in der eleganten Welt gelejen, — ja, wir wiljen, dab man zu 
Neapel im erften Sahrhundert jeine Stüde aufführte. Was 
aber konnte man wohl damald im Landhaufe von Zibur auf 
die Bühne des lateinijchen Theaterd bringen? Iſt ed wahr: 
icheinlih, daß man auf Plautus, auf Caecilius, auf Terenz 
zurüdgriff? Wohl war die Bewunderung der literarifchen Ver— 
gangenheit zu jener Zeit in hohem Grade Move: Hadrian 
machte fid, eine Ehre daraus, den Ennius body über BVirgil zu 
ftelen, und Fronto jpricht in feinen Briefen bei jeder Gelegen- 
beit von den alten Atellanen, aber ein Anderes ift es, alte 
Schriftiteller in feinem Arbeitäcabinet bewundern und Stellen 
aus ihnen in feinen Schriften citiren, ein Anderes, fie vor 


Leuten auf die Bühne bringen, die fie überhaupt nur mit 
(238) 


49 


größter Mühe verftehen. Wielleicht gewährte der Kaijer, um 
fih dad Anjehen eined Beſchützers der Literatur zu geben, den 
ipärlihen, damald noch von einigen Schöngeiitern verfaßten 
Werfen das Gaftreht auf jeinem ländlichen Theater. In der 
Regel handelte ed ſich dabei um ziemlidy dürftige, für die Salons 
der großen Melt bejtimmte Nachahmungen des griedhifchen 
Theaterd, welche vor einem wirfliben Publikum faum einen 
Erfolg haben konnten. Wielleiht auch entbot Hadrian, ber 
gegen Ende jeines Lebend trüben Stimmungen unterworfen 
war und fich zu zeritreuen fjuchte, die Dariteller populärer 
Stüde nad) feinem Landhauſe und ließ ſich dann von ihnen die 
beiden Pantomimen vorjpielen, die damald vor allen andern 
den römiſchen Pöbel ergößten: der eine die Darftellung der 
Abenteuer des Häuptlingd einer Diebeöbande, der mit der 
Polizei zu thun befommt und alle gegen ihn ausgelandten 
Häſcher hinter's Licht führt und lächerlich macht; der andere, in 
welchem ein Galan von dem unvermuthet heimfehrenden Gatten 
überrafcht und gezwungen wird, fi) in einer Kifte zu veriteden, 
— zwei Stoffe aljo, die jeitdem niemals aufgehört haben, das 
Volk, ja mandymal jogar Yeute von Geift zu erheitern. 

Auh Bibliothefen hat es unzweifelhaft in Hadrian’s 
Billa gegeben, wahrſcheinlich eine griechiiche und eine lateinijche. 
In zwei nebeneinander liegenden Gebäuden mit mehreren 
Gemächern hat man fie zu erfennen geglaubt, und zwar gründet 
ſich dieſe Annahme lediglich auf den Umftand, dab fie nach den 
Vorſchriften Vitruv's orientirt find, nadı weldyem die Bücher 
die Morgenjonne haben müffen. Meber dem einen diejer Ge- 
bäude erhob fih ein Thurm mit drei Geſchoſſen, der dem 
Herrijcher, einem großen Freunde der Aftrologie, als Obſer— 
vatorium gedient haben mag. In diefen Bibliotheken müfjen, 
wie üblich, außer den Werfen der großen Schriftfteller auch ihre 


XVII. 413. 414. 4 (239) 


50 


Bülten aufgeftellt gewejen jein. Im der Umgegend von Tivoli 
bat ſich denn auch eine gemwifje Anzahl folder Büften gefunden, 
darunter wenigftend eine im Bereich der Billa jelbit; fie tragen 
alle eine furze, für die dargejtellte Perjönlichkeit charakteriftiicye 
Inschrift. Unter dem Haupte ded weiſen Solon fteht: „Im 
Nichts zu viel“. Der Eluge Pittacus lehrt und: „Ergreife die 
Gelegenheit“ und der melandyoliihe Bias: „Die meilten Menſchen 
find böfe* 15). Dieje Sitte, die Bibliothefen mit den Portraits 
der großen Männer zu jchmüden, deren Schriften fie bergen, 
beitand jchon zu Gicero’d Zeit. Traurig, entmuthigt, in Vor— 
ausficht des Endes der Republik, da er die jchlechteften Männer 
zu den höchſten Ehren gelangen jah, flüchtete er ſich in's 
Studium und lebte inmitten feiner Bücher. Damals jchrieb er 
an feinen Freund Atticus: „Biel lieber fie ich bei Dir auf 
jener kleinen Bank unter dem Bilde des Ariſtoteles als auf 
ihren curuliihen Stühlen“ 16). 

Vermuthlich hat die Billa von Zibur auch einen Saal für 
öffentlihe Vorlefungen bejefjen. Hadrian liebte diejelben 
jehr. In Rom hatte er das Athenaeum erbaut, wo Rhetoren und 
Poeten ihre Schriften zum Vortrag brachten. Es iſt deöhalb 
wahrſcheinlich, daß er ed nicht verjäumt hat, auch jein Landhaus, 
wo er mehr Muße hatte und jeinen Lieblingen unter den 
Schriftitellern gemächlich zuhören fonnte, mit einem derartigen 
Gebäude auszuftatten. Leider hat man dafjelbe nody nicht aus 
al den Ruinen herausfinden fönnen; ebenjowenig das Lyceum 
und die Afademie. Möglicherweije diente dieſem Zwecke jenes 
von den Archäologen „Ddeum“ genannte fleine Theater, von 
weldhem man am äußerften Ende der Billa ein paar Ueberreite 
entdedt hat. Nah Heſychius war das Ddeum für die Pro- 
ductionen der Rhapjoden und der Eitherjpieler beftimmt 17); daß 


ed auch zu öffentlihen Vorlejungen benußt wurde, war an ſich 
(240) 


51 


natürlich, und wirklich läßt fi aus einer intereffanten Stelle 
des Horaz jchließen, daß man fidy in der That in den Theatern 
verjammelte, um die Werfe angejehener Autoren zu hören. Um 
den Maecenad über den Urſprung all der Feindfeligfeit, unter 
welcher er zu leiden hat, aufzuklären, jagt er ihm, man verzeihe 
ed ihm nicht, daß er fid) mweigere, jeine Werke öffentlich vor- 
zulejen. Gerade in dem Momente, wo Pollio jene literarifchen 
Fefte ausgedacht hat, zu denen das ganze um die Ausfüllung 
jeiner Muße verlegene Rom ſich herbeidrängt, nimmt Horaz 
durdy feine Nichtbetheiligung daran die Miene an, ald ob er 
diefe Veranitaltungen verurtheile. Als einzigen Grund für dies 
Verhalten giebt er an, daß es ihm widerftrebe, fich „im Theater“ 
der dichten Menge zur Schau zu Stellen: 
„Unwürdiges vollen Theatern 
Vorzutragen verdrießt“ '°), 

Die Andern aber waren nit jo gemifjenhaft; gern er- 
innert Ovid daran, wie er in feiner Zugend „dem Wolfe” feine 
Liebeögejänge vorgelejen !?), und von Statius heift ed, daß er 
durch fein Verjprechen, an einem beftimmten Tage jein Gedicht 
zum Vortrag zu bringen, „die Stadt“ glüdlich gemacht habe? °). 
Wenn man nun aud abziehen muß, was auf Rechnung der 
Uebertreibungen der Dichter fommt, jedenfalld deuten „die 
Stadt" und „dad Volk“ auf jehr zahlreihe Verfammlungen, 
die in gewöhnlichen Sälen feinen Pla gefunden hätten, und 
wahricheinlich handelt es fi) aud) hier um jene „vollen Theater" 
(spissa theatra), von denen Horaz geſprochen. Selbſt in dem 
Falle, dab die Worlejungen weniger Zuhörer anzogen und man fie 
nothgedrungen in bejcheidenere Säle verwies, mußten dieſe, 
wenn ed auch Feine wirklichen Theater mehr waren, doch 
wenigftend die Form von joldyen haben. Juvenal beklagt leb- 


haft die armen Schriftiteller, welche, um fidy befannt zu machen, 
4* (241) 


52 


von irgend einem vornehmen Herrn einen alten, nicht mehr 
benußten Salon leihen und auf ihre Koften möbliren: denfelben 
richten fie dann, wie aud Juvenal's Morten hervorgeht, jo ein, 
daß jedenfalld eine Orceftra und Stufen, d. h. eben die 
charakterijtiichen Kennzeichen eines Theaters, vorhanden find ?!). 
Die Orcheſtra, wo man am beiten fieht und hört, ift für 
Perſonen von Rang rejervirt; bier ftehen bequeme Stühle für 
die Bornehmften, denen man ſchmeicheln und ed recht behaglich 
machen wollte, damit fie bei guter Laune und um jo mehr zu 
williger Bewunderung geneigt blieben, Auf den Stufen da— 
gegen drängen ſich die kleinen Leute: dunfle Freunde, Glienten, 
Verpflichtete, Alle, die man einlud, damit fie den Saal füllten 
und Beifall klatſchten. Hier fit der lärmende Theil des 
Auditoriums, der geräuſchvolle Chorus; denn während die großen 
Herren in der Drcheitra, wenn fie zufrieden find, faum ein 
leichtes Gemurmel hören lafjen, müſſen die Freunde oben in 
den legten Reihen ihrem Entzüden durdy Geichrei und Stampfen 
mit den Füßen Ausdrud geben. Gegenüber, auf einer Art er- 
höhter Tribüne, thront der Vorleſer. Hier nimmt er mit be 
Iheidener Miene Plab, „ſchön frifirt”, wie Perfius jagt, „nach— 
dem er die Kehle durch ein Tränfchen weicher und gejchmeidiger 
gemadt, mit neuer Zoga, glänzende Ringe an den Fingern, 
feine Zuhörer mit coquettem, um Beifall buhlendem Auge be- 
grüßend“ ??),. Lieft er angenehm, hat er feine Zuhörer gut ges 
wählt, bejigt er in der Orcheſtra einige entjchloffene Freunde 
und auf den Stufen ein paar handfefte Glienten, die ed ver- 
ftehen, „Stimmung zu maden“, fo finden fchon feine erften 
Morte günftige Aufnahme; bald wird das zuitimmende Ge— 
murmel zu lautem Beifall, und dann dauert ed, wie dies in 
jolden wohl vorbereiteten Verfammlungen in der Negel ber 


Fall ift, gar nicht mehr lange, bis jämmtliche Zuhörer fidy einer 
(242) 


53 


am andern erwärmen und fchließlich in jubelnden Enthuſiasmus 
ausbrechen. So fam ed, dab man fidy in jener Zeit jo häufig 
über das wirkliche Verdienſt der Werke getäufcht und gefällige, 
frivole Productionen, deren Erfolg das Geſchlecht, das ihnen 
applaudirt hatte, nicht überleben jollte, alö zu ewiger Dauer be— 
ftimmte Wunder begrüßt hat. 

Die Wiederauffindung eined der Säle, wo derartige Scenen 
fi) abipielten, wäre natürlid) von hohem Intereſſe. Db man 
jemald jo glüdlicy fein wird, im Landhaufe von Tibur einen 
joldyen Ueberreft zu entdeden, muß dahingeftellt bleiben. Jeden— 
falls können wir ficher fein, daß er dem Ddeum, von weldyem 
ich oben ſprach, ganz ähnlich fein und immer ein Theater in 
verjüngtem Maßſtabe vorftellen würde 23). 

Wir haben fchlieklih der Vollftändigfeit wegen nody ein 
Wort über die. „Hölle“ oder „Unterwelt“ zu jagen, denn 
au eine Nachbildung der Unterwelt gab ed in der Billa von 
Tibur: Hadrian, jo fagt und fein Biograph, hatte fie dort 
anlegen wollen, „damit nichts fehle". Manche Archäologen, die 
an ANes glauben, haben die Stelle des tiburtiniihen Schatten» 
reiched genau zu beftimmen verſucht, doch wird Died jehr 
ſchwierig fein, jo lange wir nicht wilfen, welches Vorbild der 
Kaifer für feine Anlage benutzt hat. War diejelbe ein Wert 
individueller Phantafie oder hatte ſich der Erbauer an die Be- 
ſchreibungen im ſechſten Buche der Aepeide gehalten? Wir 
wiffen ed nicht. Merfwürdig und bezeichnend iſt ed aber, daß 
ihm der Gedanke gefommen ift, Tartarus und Elyfium in fein 
Luft» und Landhaus zu verfeßen. Beweiſt died nicht, dab feine 
Zeitgenofjen anfingen, ſich ausnehmend ftarf mit dem jenjeitigen 
Leben zu beichäftigen??+) Mas ihm felbft betrifft, jo glaube ich 
nicht, dab er ſich viel damit gequält hat. Diefem klugen 


Staatdmann, dieſem jfeptiichen Schöngeift konnten die myftiichen 
(243) 


—⸗ 
Religionen des Oſtens und die neuen Empfindungen, welche ſie 
in der Welt verbreiteten, wenig anhaben. Als er den Tod 
herannahen fühlte, blieb er, wie uns berichtet wird, ſo ſehr 
Herr über ſich ſelbſt, daß er zierliche Verslein dichtete, worin 
er das Wort an ſein „ſchauderndes, ſchmeichelndes Seelchen“ 
richtet und mit einer unüberſetzbaren Häufung ſeltſamer Ver— 
kleinerungswörter zu ihr ſpricht: „Du ſchickſt Dich an, hinüber— 
zuwandeln nach jenen bleichen, ſtrengen, nackten Stätten, wo 
Du Dich nicht mehr Deinen gewohnten Spielen wirſt hingeben 
können.“ Wie hat er dieſe „bleichen, nackten Stätten“ in 
ſeinem Landhauſe dargeſtellt? Wir wiſſen es nicht, und dabei 
müſſen wir uns beruhigen. 


3. 


Aus der Beſchreibung der Villa Hadrian's, wie ich ſie 
zu geben verſucht habe, erklärt es ſich, daß dieſe Schöpfung 
manchmal eine ſehr ſtrenge Beurtheilung erfahren hat. Denn 
mit dem, was wir uns heutzutage unter einem Landhauſe 
vorſtellen, hat ſie ſicher die denkbar geringſte Aehnlichkeit. 
In dieſen Luxus verſchiedenartigſter Anlagen, in dieſes 
maſſenhafte Nebeneinander von Bauten, in dieſes Stadium, 
dieſe Theater, dies Lyceum, dieſe Akademie, können wir uns 
mit unſern Anſchauungen und Gewohnheiten nur ſchwer hinein— 
finden. Da iſt nichts Ländliches mehr, kein Duft aus Feld 
und Wald, kein friſcher Erdgeruch: es kommt uns Alles ſo 
geziert und überladen, fo eitel, künſtlich und zurechtgeftußt vor. 
Vielleiht müßte man daraus einfady jchliefen, dab die Römer 
die Freuden ded Landlebend anders auffahten als wir; aber 
man gebt weiter, man behauptet zuverfichtlih, fie hätten das 
Landleben überhaupt nicht geliebt, und die Billa von Zibur 


dient denen ald Argument, welche den Satz aufftellen, dab die 
(244) 


95 


Römer die Natur niemald recht verftanden oder recht genoffen 
haben. 

Es ift died ein Vorwurf, der den Römern ziemlich all» 
gemein gemacht wird, und in unferm Munde ift ed ein jchwerer 
Vorwurf. Denn wir Modernen erheben alle den Anſpruch, 
große Naturfreunde zu jein; mehr als je gehört ed zum guten 
Ton, berühmte Gegenden zu bereifen, und jehr empfindlic) 
würde für und der Vorwurf fein, dab wir fie nicht gebührend 
bewunderten. Bei und würde man Niemand finden, der den 
Muth hätte, zu Iprechen wie Sofrated?5): „Ich verlafje nicht 
blos nicht mein Land; ich fee auch niemals meinen Fuß aus 
Athen hinaus, denn id) liebe ed, mich zu unterrichten: die Bäume 
aber und die #elder wollen mid; nichtö lehren“. Ueber ein 
jolhes Geftändniß würde man heut ſchamroth werden. Heut 
find die Felder und die Bäume gefälliger geworden, und es 
giebt Niemand, felbft nicht unter den einfadyften, ja einfältigiten 
Menichen und unter den vollfommenften Spiehbürgern, ber 
nicht verficherte, daß er aus der Unterhaltung mit ihnen den 
größten Gewinn ziehe. Wiſſenſchaftliche Beobachter haben aud) 
feitgeftellt, feit wann dieſer Geſchmack an den Schönheiten der 
Natur jo lebhaft geworden ift: feine Entftehung fällt in die 
Mitte ded achtzehnten Jahrhunderts. Rouſſeau war der erite, 
der die Berge in die Mode brachte, jeine Nachfolger haben dann 
auch die Gletſcher und das Alpenglühen entdedt. Seitdem iſt 
die Schweiz, die bis dahin für ein wildes Land gegolten, zum 
unvermeidlihen Wallfahrtsort geworden, den jeder, der etwas 
auf fih hält, bejuchen muß. Dies wiederholt man alltäglich, 
dies lieft man überall, und darauf bilden wir und aud nicht 
wenig ein. Sch will nicht behaupten, daß dieſe Auffaſſung ganz 
falfch ift: gewiß find ſeit einem Jahrhundert Intereſſe und 


Gefühl für die Natur, wenn nicht tiefer, doch wenigftens alle 
(245) 


56 


gemeiner geworden und haben immer breitere Schichten des 
Bolfes ergriffen; doc dürfen wir auch nicht übertreiben und 
behaupten, daß dieſe Empfindungen den Römern fremd ge- 
mwejen. Sie veritanden und liebten die Natur auf ihre Weile, 
und vielleicht it ed nicht ganz nußlos, bei diejer Gelegenheit 
auf die bejondere Art dieſer Liebe und diejed Nerftändnifjes 
etwas näher einzugehen. 

Bon den Feldern waren einft die Römer gefommen und 
lange blieb das fladhe Land ihr Lieblingsaufenthalt; in der 
Folge aber lodte fie die Stadt, und ihrem Weiz, ihrer Ans 
ziehungskraft widerftanden gar Wenige. Perjonen von Rang, 
die nach den öffentlichen Aemtern itrebten, hatten überdies gar 
feine Wahl: fie mußten in der Stadt leben, um jtet8 unter den 
Augen ihrer Wähler zu fein. Ihnen folgten die fleinen Grund» 
befier der römifdhen Gampagna, ald das Elend fie gezwungen 
hatte, ihr Stüdchen Feld den unaufhaltfam vordringenden Nach— 
barn zu überlajjen. Dann famen die freien Tagelöhner, die man 
auf dem Lande nur noch zu mühfeligen und gefährlichen Arbeiten 
verwenden wollte, bei denen der Reiche feinen Sklaven zu ſchädigen 
fürdtete. Dieje armen Leute wurden des harten Dajeins, zu 
dem fie verurtheilt waren, ſchließlich müde, und da fie wußten, 
daß fie in der Stadt auf Koſten ded Staates nicht blos ihr 
Brod, jondern au ihr Vergnügen finden würden, jo hatten 
fie ed natürlich mit der Ueberfiedelung dahin jehr eilig. Hatten 
fie nun erft einmal bei den öffentlichen Vertheilungen ihre Korn: 
oder Delmarfe oder aub an der Thür des Reichen ihre Sportel, 
d. h. ihr Körbchen Eſſen erhalten, hatten fie fi erft an die 
Luft und Aufregung der Schauipiele aller Art gewöhnt, weldye 
den dritten Theil des Jahres füllten, dann war ed rein un. 
möglic, fie wieder auf's Land zu ſchicken. Mit Entrüftung 


ſahen alle Dentenden, wie diefe Bevölferung von Müßiggängern, 
(246) 


die im Augenblid öffentlicher Gefahr nit einen Soldaten 
lieferte, unaufhörlich anſchwoll. Mit beredten Worten flagt 
Barro darüber, daß die Felder leer Itänden, jeit fidy die Ader- 
bauern einer nady den andern zur Stadt weggeftohlen hätten, 
und daß „dieje ftarfen Hände, die einit das Feld bearbeiteten, 
nun blos noch dazu da jeien, im Theater oder im Gircuß 
wüthend Beifall zu klatſchen.“ Aber dieje ehrenmerthen Klagen 
verhallten ungehört; die Kugel war einmal in’s Rollen ge= 
fommen und nun war fein Halten mehr. Seit der Zeit des 
Auguftus hatte die große Stadt rings um ſich her eine Einöde 
geichaffen. Nur ungeheure Weiden oder Landhäufer erfüllten 
noch die Campagna, und die alten Etädte Yatium’3 und der 
Sabiner, die Rom's Siegeslauf jo lange gehemmt hatten, ge= 
riethen in Verfall. 

Wohl muß der Aufenthalt in Rom große Annehmlichkeiten 
gehabt haben; fand man ja dort Zerftreuungen und Genüfle 
aller Art, paſſend für jeden Geſchmack und für jeded Vermögen, 
in Fülle. Und doch fonnte Rom dem gemeinjamen Looſe der 
großen Städte nicht entgehen. Dad glühende Leben, dem 
Ieder dort verfällt, führt endlich zu unerträglicher Ermüdung. 
Die unaufhörliche Spannung, zu weldyer der Geift verurtheilt 
ift, erichöpft ihn; der Lärm betäubt, der Strudel der Geſchäfte, 
in den die Menjchen unverjehend gerathen, macht jichwindlig; 
nur mit Mühe erträgt man dieje allgemeine Aufregung und 
Unruhe, deren Schaufpiel zuerft das Auge ergößt hatte; jo 
glüdlih man war, durdy die Äußere Bewegung fich jelbit ent . 
riffen zu fein, ebenſo leidenichaftlid wünjcht man nun, wieder 
zu fi zu fommen und fich endlich einmal wieder jelbft anzu= 
gehören. Die leeriten, feichteiten und eiteliten Menjchen 
empfinden ein ganz merkwürdige Bedürfniß nady Einfamfeit 


und Ruhe und fuchen, eö zu befriedigen. Im herrlichen Verjen 
(247) 


58 


bat Milton die Freude eined diefer Gefangenen geichildert, der 
an einem Sommermorgen feine Kette abjchüttelt und auf das 
Land hinausflieht. Noch nie jchien ihm die Wieſe jo grün, 
der Himmel jo rein. Er horcht auf jeded Geräuſch, das über 
die Felder zieht; glüdjelig athmet er den Duft des abgemähten 
Grajed, genießt den weiten, glänzenden Horizont, der die Augen 
beruhigt und erfriicht; die laue, weiche Luft, die dad Herz 
weitet. Alles macht Eindrud auf ihn, entzüdt ihn; die hundert- 
mal gejehenen Schaufpiele fcheinen ihm neu; für Schönheiten, 
die ihm nie zum Bemwußtjein gefommen, obgleich fie ftetö vor 
jeinen Augen lagen, iſt er auf einmal empfänglidy geworden: 
er hat dad Land entdedt! So, denfe ih mir, muß ed aud 
vielen Römern ergangen jein, die den Muth hatten, eines Tages 
ihre Bande zu Löjen und hinauszuziehen vor das Thor, um 
von dem Frieden der Felder etwas Ruhe für Leib und Geele 
zu erbitten, und jo, glaube ich, erzeugte bei ihnen der Ueberdruß 
an den Genüljen der großen Welt den Geſchmack an den 
Freuden des Landlebens. 

Zu diejen „Freigelafjenen“ der Grofftadt gehörte audy der 
Dichter Horaz. Niemand hat beredter als er dad Land gefeiert; 
nad) der Art, wie er von ihm ſpricht, zu urtheilen, icheint es, 
daß er einzig für das Landleben gejchaffen war und immer nur 
diejed geliebt hat. Dennody merft man, daß diejer Geihmad 
bei ihm nicht jo natürlidy war, wie bei feinem großen Vor— 
gänger Lucrez und bei jeinem Freunde Virgil?s). Im den 
erften Sahren gefiel er fih in Nom ungemein: er fand dort 
Schauſpiele, die feinen lebhaft angeregten Geiſt erheiterten, 
jeine ſatiriſche Verve anfeuerten. So lange er allein vom 
Forum zum Maröfelde jpazieren und dort ungenirt dad Treiben 
der Zalchenipieler, Athleten und Wahrjager beobachten fonnte, 


fam ihm der Aufenthalt jehr angenehm vor; als aber die 
248) 


59 


Freundichaft des Maecenad einen berühmten Mann aus ihm 
gemadt hatte, ald er fein Haus nicht mehr verlaffen konnte, 
ohne von Unbekannten, die ihm zu jeinen Erfolgen Glüd 
wünjchten, von Läftigen, die ihn über die öffentlicdyen An- 
gelegenheiten befragten, von Bittjtellern, die ihn um Beiftand 
angingen, überfallen zu werden, da wurde er der Stadt von 
Herzen gram. So verhaßt wurden ihm diefe Zudringlichkeiten, 
daß ihn darüber jeine fonftige Mäfigung beinahe ganz verließ: 
mit einer Xeidenichaftlichfeit, die bei einem Weijen, der erklärte, 
man dürfe nichts allzu heftig wünſchen, überrajchen muß, jehnte 
er jih nach Zurüdgezogenheit. Auc lebte er jehr glüdlich in 
jeinem Eleinen Landhaufe, aber ih möchte doch glauben: mas 
ihm fein Behagen erft recht zum Bemußtiein brachte, war bie 
Erinnerung an die ſtädtiſchen Beläftigungen, denen er entflohen 
war. Hätte er nicht an jeiner einfachen Zafel in Gejellichaft 
einiger Nachbarn der Langmweiligfeit der großen Diners in 
Rom gedacht, mit ihren tyranniichen Geſetzen, die den Trinker 
zwangen, jo oft Beicheid zu thun, ald der König des Feſtes 
verlangte; hätte er fich nicht der unerträglihen Unterhaltungen 
erinnert, deren Koften falt nur die legten Efandale und die 
gerade berühmten oder berüchtigten Schaufpieler trugen, — 
vielleicht würde er durchaus nicht gefunden haben, daß er auf 
dem Lande „Söttermahle” hielt. Die Spötter haben darauf 
aufmerfjam gemacht, dab er niemald heftiger in dad Land 
verliebt ift ald wenn er in der Stadt zurüdgehalten wird, 
In Rom läßt er fidy eined Tages, da er alle möglichen An- 
liegen und Verdrießlichkeiten ausgeitanden hat, aus tiefftem 
Herzendgrund den Seufzer entjchlüpfen, in den er feine ganze 
Seele gelegt hat: „O Land, wann werd’ ich dich wiederjehen ?“ ?7) 
Kommt er aber in feinem Häudchen an, fo jcheint fein Ber: 


langen jchon Fühler, und oft wünjcht er ed zu verlafjen, wenn 
(249) 


60 


er erft ein paar Wochen dort ift. Ein Wanfelmuth, deſſen er 
fih demüthig anflagt, den er aber nur jehr ſchwer ablegen 
fann. „Unbejtändiger ald der Wind“, jagt er, „wünſche ich in 
ZTibur zu weilen, wenn ich in Rom bin; bin idy aber in Tibur, 
dann jehne ih mih nah Rom". Da haben wir aljo das un: 
bußfertige und unverbefferlihe Weltfind, das ſich deshalb ge- 
heilt glaubte, weil ed einen Augenblid Weberdruß und Ekel 
vor den Bergnügungen empfunden, von denen ed doch eigentlich 
entzüudt it, und das dann, wenn die Verſtimmung vorüber: 
gegangen, jchleunigit fein alte8 Joch wieder aufnimmt. Erſt 
gegen Ende ſeines Lebens befehrte er ſich vollitändig und liebte 
dann das Land weit mehr, als jeine beiten Freunde wünſchten. 
Um feinetwillen bielt er jelbit dem Maecenad nicht Wort: er 
hatte ihm verjprochen, nur wenige Tage abmwejend zu fein, umd 
ließ dann ganze Monate auf fich warten. 

Wie dem Horaz, jo muß ed vielen Römern jeiner Zeit 
ergangen fein; immer hat ed damald Männer gegeben, die, 
gerade weil fie zuvor das Stadtleben allzu jehr geliebt, nachher 
eifrige Freunde des Landlebens wurden: bei Leuten, die Alles 
mit Leidenjchaft treiben, iſt folder Gegenſatz, ſolche Umkehr 
nidytö GSeltened. Wenn Grmüdung und Langeweile fie aus 
Nom vertrieben, jo irrten fie zuerft im Umkreiſe der großen 
Stadt umber, die fie doch kaum aus dem Auge zu verlieren 
wagten. Sie wollten fi jo wenig als möglidy von ihr ent- 
fernen und bauten fi ihre Lufthäufer ganz nahe vor den 
Thoren, längs der Landftraßen, an beiden Ufern des Tiber. 
Aber bald merften fie, daß dieje Billen und Gärten, die jo viel 
Geld Eofteten, fie doch nicht vor Zudringlichen jchüßten. Die 
Stadt, die fie fliehen wollten, fam zu ihnen. Stets folgen 
die armen Leute in ihrer Weile dem Beilpiel der Reichen; 


aud ihnen wurde Rom lältig und fie wollten dort nicht immer 
(250) 


61 


bleiben. An efttagen drängte fi) eine ganze Bevölkerung 
von Armen nnd Glenden in den Herbergen der Vorſtädte, längs 
des Fluſſes, in den heiligen Hainen, in der Nachbarſchaft der 
Tempel. Sie tanzten, jagt Dvid, 23) „Seder mit feiner Jeden“ 
und jpeiften im Freien oder unter Zelten von Laub, — eine 
lärmende, unbequeme Nadbarichaft, jo dab es in der Um- 
gebung Rom's faft ebenfo jchwer war Ruhe zu finden wie in 
Rom jelbft. So mußte man nothgedrungen weiter hinaus, 
nad Zusculum, nad Praenefte, nah Zibur, und wenn dann 
dieje der Stadt immer noch nahen und allzujehr Mode ge- 
wordenen Orte ihrerjeitd wieder zu ſtark bejucht wurden und 
die erjehnte Ruhe und Sammlung dort nicht mehr zu finden 
war, jo mußte man abermald noch weiter hinaud. So fam es, 
dab fih ganz Stalien, vom Golfe von Bajae bid an den Fuß 
der Alpen, mit anmuthigen Billen bededte. „Wann“, jo jprady 
Seneca zu den Reichen feiner Zeit, „wann werdet Ihr einmal 
aufhören, zu verlangen, dab es feinen See geben foll, der nicht 
von Euren Landhäuſern beherricht wird, fein Flüßchen, an deſſen 
Ufern Eure Prachtgebäude fi nicht brüften? MUeberall wo 
Quellen warmen Waſſers bervoriprudeln, da errichtet Ihr 
ichleunigft neue Sreiftätten für Eure VBergnügungen; überall 
wo dad Geitade ſich ausbuchtet, da wollt Ihr einen Palaft 
gründen, und Ihr begnügt Euch nicht mit dem feiten Lande, 
jondern werft Dämme in den Fluthen auf, damit dad Meer 
jelbft zu Euren Bauten mit herangezogen werde. Kein Fleckchen 
giebt ed, wo man Eure Behaujungen nicht erftrahlen fieht: 
bald find fie auf dem Gipfel der Hügel errichtet, von wo das 
Auge über weite Streden von Land und Meer jchweift, bald 
erheben fie fi) mitten in der Ebene, aber zu joldyer Höhe, daß 
das Haus wie ein Berg audfieht."??) 

Nicht blos die Reichen empfanden dad Bedürfniß, aus der 


(251) 


62 : 

Stadt zu fliehen und die Yandluft zu athmen. Wohlhabende 
Freigelaffene, Eleine Bürger, vor allem die noch weit mehr ald 
die Andern für Stille und Freiheit leidenjchaftlicdy eingenommenen 
Gelehrten waren glüdlic), wenn fie irgendwo, fern vom lär- 
menden Zreiben der Menge, das beſaßen, was Juvenal ein 
„Eidechſenloch“ nennt. Sueton, der mit jeinen gelehrten Ar- 
beiten fein reiher Mann geworden war, fam eined Tages auf 
den Gedanken, ſich für billiges Geld ein Eleined Gut zu kaufen. 
Auf feinen Wunſch beauftragte jein Gönner Plinius einen eins 
flußreihen Mann mit der Bermittelung des Geſchäftes. „Was 
unjern $reund lodt“, jo jchrieb er ihm, „ilt die Nähe Roms, 
die Leichtigfeit der Verbindungen, die Einfachheit der Gebäude, 
die geringe Größe des Befisthums, das gerade groß genug jein 
muß, um ihm zu zeritreuen, aber zu Klein, um ihn ernfthaft zu 
bejhäftigen. Für Männer der Wiſſenſchaft, wie er einer ift, 
genügt ed, daß fie ein Stüddhen Land vor ſich haben, groß 
genug, den Geift auszuruhen und das Auge zu erfreuen; fie 
brauchen faum mehr ald einen Fleinen anmuthigen Nainpfad, 
eine Allee, um in behaglicher Unthätigfeit darin zu luftwandeln, 
einen Weingarten, defjen jämmtliche Stöde fie fennen, und ein 
Paar Bäume, deren Zahl fie auswendig wifjen“ 3°) Sit das 
nicht noch heut der ächte Garten für einen ftillen Gelehrten? 

Unter diejen Freunden des Landlebend, die jedem Rang, 
jedem Berufe angehörten und die ſich alle, jobald fie nur Muße 
dazu hatten, beeilten, die Stadt zu fliehen, waren mohl 
Manche, die, wie Horaz, ihren Entſchluß gar bald bereuten. 
Noch viel jchneller ald der ftädtiiche Lärm fie ermüdet hatte, 
fühlten fie fi nun von der Cinjamfeit gelangweilt. Sie 
fonnten der Sehnjucht nady den Freuden der Welt nicht wider- 
ftehen. Wie war ed denn nnr möglich, den Spielen des Gircuß 
oder des Amphitheaterd lange fernzubleiben? „Man mußte 


(252) 


63 


doch”, jagt Seneca, „wieder einmal ein biöchen Menjchenblut 
fließen jehen“?1), und jo fehrten fie noch haftiger, als fie Rom 
verlaffen hatten, wieder dahin zurüd. Doch war dies die Aus— 
nahme: in der Regel blieben die reichen Römer, jo lange fie nur 
fonnten, in ihren Landhäufern. Sie hatten ſolche während der 
Sommerzeit auf der Höhe der Berge oder am Ufer der Flüſſe; 
im Winter bewohnten fie andere, die vor rauhen Winden gejchüßt 
waren. Manche lagen weit von Rom entfernt: dieſe bejuchte 
man in den langen Ferien, 3. B. im Herbit während der %eft- 
zeit der MWeinleje; hatte man nur einen oder zwei Tage Muße, 
jo nahm man feinen Aufenthalt in den Billen dicht bei der 
Stadt. Auf diefe Weiſe blieb man in Rom nur, wenn man 
Geſchäfte hatte und durchaus nicht anders fonnte, und jelbit in 
Rom bemühte man fidy wenigftend um einen Schimmer vom 
Lande, um einen Abglanz ded Yandlebend. Die Leute aud dem 
Bolfe, jo erzählt uns Plinius, begnügten ſich mit ein paar Blumen 
an den Fenjtern 32): arme Blumen, denen das Leben, ohne Yuft und 
ohne Sonne, in den engen Gafjen der alten Hauptitadt, recht 
Jauer werden mußte! Die Wohlhabenderen, die ſich für fich allein 
ein Haus bauen fonnten, verfäumten nicht, hinter dem Atrium 
Raum für ein Gärtchen zu rejerviren. Da pflanzten fie dann 
ein paar Bäumchen, den jogenannten „Hain”, legten in einem 
Marmorbaifin einen Kleinen Waijerlauf, den „Euripus“, im 
Hintergrunde eine Mufchelgrotte an und malten eine Fernficht, 
ein Stüdcyen blauen Himmels, etwas Grün perjpectiviich auf 
die Mauer: jo lebhaft war ihr Wunſch, ſich felbft freundlich zu 
täuſchen und zu vergeffen, daß fie mitten in einer großen Stadt 
lebten. 

Mir haben es aljo hier mit einer Gejellichaft zu thun, die 
dem Anjchein nad für das Landleben äußerft eingenommen 


war; wir wollen aber nicht vergejjen, daß diefer Geſchmack am 
. (253) 


64 


Lande hauptfächlich durdy den Ueberdruß an der Stadt gewedt 
wurde: dies ift aus gewiljen Anzeichen erfichtlih. Wir merken, 
wie mir jcheint, gar leicht, daß die Bewohner jener jchönen Villen 
vielmehr Yeute von Welt waren, die wieder zu Kräften fommen 
wollten, als unbefangene Freunde der Natur. Sie famen dorthin 
nicht einzig und allein, um in ftummer Betrachtung der Schönheiten 
des Landes zu leben, und hätten fie fi in jenen friedlichen 
Revieren eingeichloffen, um fie nicht mehr zu verlafjen, jo würde 
man ed ihnen jchwer verdacht haben. Zur Zeit des Tiberius 
ließ fidh ein hervorragender Römer, Servilius Batia, unzweifel— 
haft erichredt und angeefelt von Allem, was er im Senat erlebt, 
in der Nähe von Gumae ein herrliche Landhaus bauen und 
verbradhte dort fein Leben. Uns fällt ed gar nidyt ein, ihn 
darum zu tadeln, dab er fidh jo jchwerer Gefahr und Schmach 
entzog, und Niemand von und Modernen denkt daran, ihn um 
deöwillen zu beflagen, weil er in jo entzüdender Landſchaft gelebt 
hat; die Römer dagegen konnten ſogar unter den Kaifern nur ſchwer 
begreifen, wie Semand im Stande war, jo fich jelbft aus der 
Geſellſchaft und den Staatögejchäften zu verbannen. Servilius 
Vatia Fam ihnen vor wie ein lebendig Begrabener, und Seneca 
erzählt und: jedeömal wenn er bei der jchönen Billa von Cumae 
vorübergefommen, habe er fih nicht enthalten können, leiſe zu 
ſprechen: „Hier liegt begraben Servilius Vatia.’ 33) Die Herren 
diefer Landhäuſer waren aljo in der Regel Männer, die in das 
unrubige Getriebe der Geſchäfte, in die Bewegung des Lebens 
verwidelt waren: Financierd, Politiker, die fidy dort von den 
überitandenen Mühen ausruhen und fich auf neue vorbereiten, 
Schriftfteller, die in der Einſamkeit den Geift neu ftählen, die 
Einbildungsfraft erfriichen wollten. „Hier“, jagt Plinius, jelig, 
daß er nun wieder in jeinem Häuschen zu Laurentum weilt, 


„bier höre ich feinen läftigen Lärm mehr, bier unterhalte ich 
(254) 


65 


mich nur mit mir felbft oder mit meinen Büchern. O Meer, 
o Geitade, ihr meine wahren Studirzimmer, wie viele‘ Ge— 
danfen weckt ihr in mir, wie viele Werfe dictirt ihr mir!“ 34) 
Er ſpricht gern von ſich jelbftz jo jchildert er und Stunde für 
Stunde jein dortiged Xeben: „ich wache auf, wann ich Fann, 
gewöhnlich gegen 6 Uhr Morgens. Meine Fenfter bleiben zu— 
nächſt noch gejchlojjen, denn ich habe bemerkt, daß Stille und 
Dunkelheit den Geilt beleben. Habe idy gerade eine neue Schrift 
begonnen, jo bejchäftige ich mid) damit; ich disponire Alles, die 
Gedanken und jelbft den Stil, gerade ald ob ich jchriebe und 
corrigirte. So arbeite ich bald mehr, bald weniger, je nachdem 
mir dad Gomponiren und Behalten leichter oder jchwerer wird; 
dann rufe ich einen Schreiber, laſſe die Feniter öffnen und 
dietire, wa8 ich verfaßt habe. Um 10 oder 11 Uhr gehe ich 
dann, je nad der Witterung, in einer Baumallee oder unter 
einer Säulenhalle jpazieren und componire und dictire im Gehen 
ohne Unterbrechung weiter. Alddann fteige icy in meinen Wagen; 
auch bier ſetze ich noch die Arbeit fort, mit der ich mich während 
meiner Morgenruhe und auf der Promenade bejchäftigt habe.“ 35) 
So fährt er fort, und vom Verlauf diejer ernften Tage zu bes 
richten, während derer die literariiche Thätigfeit Alles begleitet, big 
zur Abendmabhlzeit, bei der ein belehrendes Bud) ihm Geſellſchaft 
leiftet. Selbit wenn er ſich eim auberordentliched Vergnügen 
gönnt, z. B. auf die Jagd geht, vergibt er nie, jeine Schreibe 
täfelchen mitzunehmen; fie liegen neben ihm, während er bei den 
Neben fit, und wenn die Eber zu lange auf ſich warten lafjen, 
jo zieht er jeinen Griffel hervor und fängt zu jchreiben an; 
fommt er dann auch mit leeren Händen heim, jo bringt er doch 
dafür mwenigitend volle Seiten mit. Wir freilich verjtehen das 
Zandleben etwas anderd. Wohl werden damald nicht Alle jo 


fleißig gewejen jein wie Plinius; es muß auch Leute gegeben 
XVII. 413. 414. 5 (255) 


66 


haben, die nicht immer ihren Schreiber mitjchleppten und die, 
wenn fie auf die Jagd gingen, ihre Schreibtafel zu Haufe ließen; 
faft Alle aber waren, wie er, Politiker, Redner, Gelehrte, Welt- 
männer, welde, von der Ermüdung auf einen Augenblid aus 
der Stadt vertrieben, fich zu baldiger Rüdfehr dahin rüfteten 
und ihren Aufenthalt in Feld und Wald nüßten, um zu ihren 
Berufsgeſchäften einen Fräftigeren Körper, einen lebhafteren Geift 
beimjubringen. 

Wiſſen wir jo, für wen die römijchen Villen gebaut waren 
und wad man dort fuchte, fo finden wir, daß fie ihre Be— 
ftimmung ganz volllommen erfüllten. Ihr Hauptvorzug, der 
fih in der Gejammtanlage wie in den geringften Einzelheiten 
wiederfindet, befteht darin, daß fie den an fie geftellten An- 
forderungen durchaus entſprachen. Plinius der Füngere hat ung 
den Dienft einer Beichreibung jeiner Landhäujer erwiejen; fie 
genügt, um und aud von den übrigen eine Vorftellung zu 
geben. Leſen wir dieje Schilderung, jo frappirt und zunädyft 
die Beobachtung, wie ſehr dieſe Villen von Yaurentum und 
Etrurien im Wejentlihen dem Landhaufe Hadrian's glidyen, das 
wir durchwanderten. In Wahrheit ift zwijchen ihnen nur der 
eine Unterjchied, den die Verſchiedenheit des Ranges und Ver— 
mögens ihrer Befiter bedingt. Was ein Kaijer wagen durfte, 
fonnte ein einfacher Privatmann fid) nicht geftatten; aber das 
allgemeine Syſtem der Anlagen und der Decoration ift das 
gleiche, und Daumet's Verſuch einer Reftaurirung findet in den 
Briefen des Plinius oft eine Stüße. 

Könnten wir die Billen des Plinius ſehen, bejonders die 
ichönfte, die etruriihe — ich glaube, unfer eriter Eindrud wäre 
Erſtaunen über die Vielheit und Mannigfaltigfeit der Gebäude, 
aus denen fie ſich zujammenjegen. Alle diefe Bauten von ver- 


ſchiedener Höhe und Geftalt, die mehr nebeneinander geftellt, 
(256) 


67 


ald zu einer Einheit verbunden find, würden und eher wie ein 
Dorf ald wie ein Landhaus ammuthen 3%). Wir dürfen aber 
nicht vergefjen, daß es fih darum handelt, bier einen Römer 
einzuquartieren, und dab einem Römer, jelbjt wenn er fi auf 
ein „ganz einfaches" Leben caprieirt, dody immer eine Menge 
Sflaven unentbehrlidy find. Begnügt er ſich nicht mit ihrer 
Unterbringung in Souterraind, will er ihnen ſchickliche Zimmer 
anweiſen, die man nöthigenfalls aud) Freunden anbieten fönnte, 
jo find dazu jehr viele Räume und zahlreiche Baulichfeiten er- 
forderlih. Nocd mehr als die große Zahl diejer verjchiedenen 
Gebäude überrafht es uns, daß man fidy nicht die Mühe ge- 
nommen hat, fie etwas regelmäßiger anzulegen; doch wir 
ſahen bereits, daß die Römer auf das äußere Ausſehen, 
bejonderd ihrer Landhäuſer, offenbar fein jo großes Ge: 
wicht legten. So fam es, daß ihre Baumeifter die Säle 
und Zimmer, ftatt fie aus Gründen der Symmetrie alle auf 
einer Seite anzuordnen, fat überall vertheilten, um ihnen auf 
diefe Weife eine verichiedene Lage zu geben. ie legten zahl« 
reihe getrennte Pavillond an, damit der Bewohner mehr 
ilolirt darin leben und nach allen Seiten eine jchönere Ausficht 
genießen könnte. Die Anordnung des Ganzen war vielleicht 
minder glüdlih; aber die Gemächer waren bequemer, und das 
war ihnen genug. Wir heutzutage find etwas prahleriih und 
denfen leicht zuerft an die Façade: macht diefe nur eine beffere 
Figur, jo laſſen wir e8 und oft genug gefallen, daß die Wohnung 
jelbjt weniger gut ilt. Die Römer fümmerten fich nicht jo jehr 
um die Borübergehenden und bauten das Haus nur für die 
Bewohner. Alles was ihnen dajjelbe angenehmer machen fonnte, 
wurde faft im Uebermaß aufgeboten; nicht8 wurde geipart, wenn 
es galt, ihnen die ftärfende Nuhe, die mannichfaltigen Genüffe 


zu verichaffen, die fie dort juchten. Plinius war gewiß nichts 
br (m 


68 


weniger ald ein üppiger Lüftling; er galt vielmehr ald ein Mann 
von antifen Sitten, ja der Dichter Sentius Augurinud ſah in 
ihm fogar mehrere Gatonen.37) Dennod fünnen wir und eines 
gelinden Schredend nicht erwehren, wenn wir ſehen, bis zu 
welcher Höhe des audgefuchteften MWohllebens er ſich in jeinen 
Zufthäufern verftieg. Wir verlieren und faft in der Aufzählung, 
die er und von feinen Wohnräumen giebt. Er hat Speijejäle 
von verjchiedener Größe für alle möglichen Gelegenheiten: in dem 
einen dinirt er, wenn er allein it; der andere dient zum Empfang 
intimer Freunde; ein dritter, nody geräumiger, fann die ganze 
Schaar der Gäfte faſſen. Der eine jpringt in’d Meer vor: da 
liebt man während der Mahlzeit, wie die Wogen fi an den 
Mauern bredyen; der andere ift tief in’d Land hineingebaut: dort 
erfreut man ſich nach allen Seiten der Ausficht auf die Felder 
und der Schaujpiele des ländlichen Lebens. In der Negel genügt 
heut audy den Anſpruchsvollſten ein Schlafzimmer: wie viele des 
Plinius Billen hatten, wäre ſchwer zu jagen. Nicht blos für 
alle Bedürfnifje giebt ed welche, jondern auch für alle Launen. 
Hier fann man von allen Fenjtern aus dad Meer jehen; dort 
hört man ed, ohne ed zu jehen; nody anderswo jieht man es, 
hört es aber nicht. Der eine Raum ift nijchenförmig angelegt 
und gewährt durdy breite Deffnungen der Sonne zu allen Tages— 
ftunden Zutritt; ein amderer ift jchattig und kühl und läßt nur 
gerade joviel Licht herein, daß man nicht im Dunfel fitt. 
Wünſcht der Hauöherr Zerjtrenung und Erheiterung, jo hält er 
fid, in einem offenen Saale auf, wo er Alles fieht was draußen 
vorgeht; empfindet er dab Bedürfniß fidy zu jammeln, jo bat 
er eigend dafür ein Gemach, wo er fich einichließen fann und 
welches jo angelegt ift, daß dort niemals ein Geräuſch zu feinen 
Dhren dringt. Pliniud nennt diefen Raum „feine Luft“; in 


jeiner Billa ift er glüdlich, fern von Nom zu fein; in diefem 
(258) 


69 


Zimmer aber, dem Allerheiligften, ift ihm zu Muth, als fei er 
fern jelbft von jeiner Villa. Dazu kommt, daß dieje Räume 
mit herrlichen Moſaiken geſchmückt, oft auch mit anmuthigen 
Malereien verziert find und faft ſämmtlich Springbrunnen mit 
Marmorbaifind befigen: denn filberklar, friich und im Ueberfluß 
rinnt bier dad Waſſer allerorten; durdy fein Gemurmel macht 
ed Alled fröhlicher und in der ganzen Ausftattung der Landhäufer 
ift ed ein mwejentliched Element. In den wunderlichen Erfindungen 
der Architekten, wenn fie neue Anlagen, neue GCombinationen 
ausdenfen, deren Originalität den vornehmen, jo verwöhnten und 
trägen Herren gefallen joll, fpielt das Waſſer eine große Rolle. 
Wir erinnern und ded prachtvollen, von dem Euripus ume 
flofjenen Badeſaals im Landhauſe Hadrian’d. Einen jo koſt⸗ 
ipieligen Bau fonnte Plinius fich nicht errichten; dafür hatte er 
aber am Ende jeined Gartens eine dichte, von vier Säulen aus 
carpftiihem Marmor geftügte Weinlaube. Unter diejer Laube, 
dem reizendften Zuflucdhtsort, waren Springbrunnen angebradht, 
dann eim mit Waller, das ſich beitändig erneuerte und niemals 
überfloß, gefüllte® Baffin und ein Ruhelager aus weißem 
Marmor, auf welhem ſich der Hausherr während der Tages— 
bie ausitredte. „Von diejem Lager”, fagt Plinius, „entipringt 
von allen Seiten dad Waſſer durch fleine Röhren, ald wenn 
dad Gewicht ded Ruhenden felbit ed aufiprudeln machte.“ 38) 
Dazu denfe man ſich, um ein Bild ded Ganzen zu haben, Bäder, 
Fiſchteiche, Ballipieljäle, Säulenhallen, die fih nah allen 
Richtungen erftreden und jede mögliche Ausficht beherrichen, 
fieöbeitreute Alleen für Fußgänger, andere Wege mit härterem 
Boden, die ſich beijer zu Promenaden in der Sänfte eignen, 
endlich für Reiter ein weites Hippodrom. Dafjelbe beiteht aus 
einer langen, geraden, halbdunflen Allee, die von Platanen und 


Lorberbäumen bejchattet wird, während ſich von allen Seiten 
(259) 


70 


freiörunde Wege dahinjchlängeln, die ſich derart durchfreuzen und 
jchneiden, daß der Raum größer, die Promenade mannichfaltiger 
erſcheint. Died Alles mußte man in der Billa eines reichen, 
aber dabei joliten Mannes finden, welcher, ohne ein Verſchwender 
zu jein, jeine bequeme Wohnung auf dem Lande haben wollte, 
um fi dort nad; Gemädhlichfeit auszuruhen. 

Nody haben wir nicht von den Parks und Gärten ge 
ſprochen. Died erjcheint vielleicht fonderbar, hier, wo von 
Landhäufern die Rede iſt. Doch hält ed recht ichwer, über 
diejed Thema etwas zu jagen; denn Parks nnd Gärten find, 
wie man fich leicht denfen fann, dasjenige, was fidy in den 
antifen Billen am allerwenigften erhalten hat. Um uns von 
ihrem Weſen eine Sdee zu machen, find wir auf ein paar 
Gemälde, in denen fie ſchlecht und recht dargeftellt find, und 
auf einige gelegentlihe Aeußerungen der Schriftfteller an- 
gewiefen. Dieje dürftigen Zeugniffe befriedigen nur jehr un— 
vollfommen unjere Wißbegierde, doch haben fie wenigitens 
dad Gute, dab fie durdaus mit einander übereinjtimmen. 
Auf den Landichaftöbildern, die einen mejentlidhen Schmud 
der antifen Häufer ausmachen, finden wir jowohl in Pompeji 
ald in Rom einige Malereien von Gärten: immer find es 
regelmäßige, von zwei Hagebucenheden eingeſchloſſene, recht— 
winfelig einander ſchneidende Allen. Im Mittelpunkt jehen 
wir gewöhnlich eine Art Rondel mit einem Baſſin, in welchem 
Schwäne jhwimmen. Hier und da find Fleine, grüne, von 
Meinlaub umjponnene Lauben aus Rohrgeflecht angebracht; 
im SHintergrunde bderjelben fteht eine marmorne Säule oder 
eine Statue, auch find ringsum Stühle aufgeftellt, die den 
Spaziergänger zur Ruhe laden. Dieje Daritellungen erinnern 
an Duintilian’d Neuerung, in welcher ſich der Geſchmack jeiner 


Zeit naiv genug ausſpricht: „Giebt es etwas Schönered, ald 
(260) 


71 





rautenförmig gepflanzte Bäume, die aljo derart angeordnet 
ind, dab man von jedem Standpunkt aus immer nur grade 
Alleen fieht?" 3?) Zu diefen Mittheilungen fügen die Schrift: 
fteller nody einige intereffante Einzelheiten. Aus den Schilde: 
rungen deö jüngeren Plinius ergiebt fi, daß in feinen Gärten, 
wie in den beiprochenen Landichaftsbildern, die Baumgänge 
von wirflichen grünen Mauern eingefaht waren. So beichreibt 
er und mit großem Behagen eine ichöne Platanenallee, auf 
die er ftolz ift. „Meine Platanen,” fagt er, „find mit Epheu 
bededt, der rund um Stamm und Zweige läuft und, von 
einem Baum zum andern reichend, fie alle miteinander ver: 
bindet." Um die Mauer dichter zu machen, iſt zwilchen den 
Stämmen Budysbaum gepflanzt und dahinter nody Lorbern, 
welde die Zwilchenräume vollends ausfüllen. Der Buchsbaum 
bejonderd jpielt in den römiſchen Gärten eine wichtige Rolle. 
Er bildet nicht blos den Saum der Blumenbeete und rahmt 
deren bunte, mannichfaltige Zeichnungen gefällig ein, er wird 
auch zu den künſtlichſten und bizarrften Formen zurechtge— 
ichnitten. Nicht genug damit, daß man Pyramiden aus ihm 
madt oder ihn, gerade wie in Berfailled und Schönbrunn, 
zu riefigen Vaſen formt, joll er bald Thiere, die einander ans 
ſehen, bald auch in coloffalen Buchſtaben den Namenszug des 
Befigerd oder ded Gartenfünftlerd darſtellen.““) Seit Auguftus 
find dieſe phantaftiichen Seltiamfeiten Mode; ed macht den 
Eindrud, ald wären damald die Nömer im Rauſche ihres 
Glückes empfänglicher geworden für das, was Saint-Simon 
„das ftolze Vergnügen, die Natur zu zwingen“ nennt. Zu 
derjelben Zeit da fie dad Land in die Stadt einzuführen ver- 
juchen, bringen fie die Stadt auf's Land. Um das Terrain, 
auf welchem ihre Villen ſich erheben jollen, zn ebnen, rafiren 


fie die Hügel, füllen fie die Thäler aus. In ihren Gärten 
(261) 


72 


lieben fie bejonderd diejenigen Bäume, deren Wachsthum fie 
gehemmt, deren natürliche Form fie willkürlich entftellt und 
zugeftußt haben. Wohl proteftiren gegen diele grillenhaften 
Mißbräuche einige Männer von Geift, vor Allem die Dichter, 
wie Horaz, Properz, Juvenal. Seneca erklärt laut, er „gebe 
Bähen den Vorzug, denen man feinen andern Lauf aufge- 
zwungen, Gewäljern, die da fließen, wie es der Natur gefällt, 
Miejengründen, die bezaubernd find ohne Kunft“ — aber Seneca 
bewohnte nichtödeftoweniger Landhäufer im Geſchmack des 
Zaged: er hatte zu Haus gejchorene Heden, bejchnittenen Buchs, 
nachgemachte Bäume und all die andern gärtnerifchen Kunſt— 
ftüde, die er jo lächerlich fand. Es ift eben viel leichter, über 
die Mode zu jpotten als fich ihr zu entziehen. 

Uebrigend haben Gärten und Parks damals offenbar lange 
nicht die Wichtigkeit gehabt wie heut bei und. Das merkt man 
auch an der Kürze, mit der Plinius fie in feinen Bejchreibungen 
abthut. Die Alten beſaßen nicht all die Mittel, die wir heut 
fennen, ihnen mehr Schönheit und Abwechſelung zu verleihen. 
Diele Bäume, die der Stolz und die Zierde unferer Gärten find, 
fehlten ihnen; ihre Flora befonderd war nicht fo reich.““) Schon 
deöhalb aljo konnten ihre Anlagen nicht joviel natürlihen Schmud 
aufmweilen. Was für fie Alles erjebt, was fie in ihren Villen 
mit der größten Palfion fuchen, it die Ausficht. Gilt ed ſich 
eine weite oder lachende Ausficht zu verjchaffen, Die entweder 
einen großen Horizont umfaßt oder dody irgend einen anmuthigen 
Punkt beherrjcht, jo ift ihnen nichtö zu theuer. Sie macht den 
Hauptreiz ihrer Luſthäuſer aus. Sie laffen fidy’8 gefallen, zu 
Fuß oder in der Sänfte fih in einförmigen Baumgängen 
jwijchen zwei Buchenheden zu ergehen; find fie aber zu Haus in 
ihren Speijejälen, in ihren Schlafgemächern, in ihren Leſe- und 


Arbeitöcabineten, dann wollen fie von ihrem Seſſel oder Bette 
(262) 


73 


aud die jchönften Fernfichten vor Augen haben: jozufagen von 
ihren Fenftern aus lieben fie die Natur, genießen fie dad Land. 

Es ift jedoch hier noch ein Unterjdyied zu machen: die Aus: 
fihten, welche die Römer am liebften aufiuchten, waren nicht 
immer ſolche, wie wir fie bevorzugen, und von den Landſchaften, 
die wir am meiften lieben, wären manche durchaus nicht nad) 
ihrem Geſchmack geweſen. Ihre Liebe zur Natur hatte beitimmte 
Grenzen und innerhalb derjelben eine ganz beftimmte Richtung. 
Große Ebenen, ſchöne Wiejengründe, fruchtbare Ländereien 
waren ihre Freude. Kein größeres Vergnügen fann ſich Lucrez 
an Zagen der Muhe denfen ald „am Ufer eined munter fließen. 
den Baches, unter dem Laube eined hohen Baumes fichy zu 
lagern“, und Birgil wünſcht ſich als höchſtes Glüd: es möge 
ihm bejchieden fein, „ſtets die bebauten Gefilde zu lieben und 
die Flüffe, die längs der Thäler fliehen.“ Died iſt alſo der 
Vordergrund der Landſchaften, für welche fie ſchvärmen: Wiejen 
oder Ernten, ein paar jchöne Bäume und Waller; dazu fommen 
ald Hintergrund ded Gemälded einige Hügel am Horizont, zu— 
mal wenn ihre Abhänge cultivirt und wenn fie bis zum Gipfel 
bewaldet waren. So ift der Rahmen voll; er birgt nur 
einfache, maßvoll geformte Reize. Wenn num eine reihe und 
eivilifirte Natur fie entzüdt, jo müffen wir andererjeitö geitehen, 
dat fie für die herbe und erhabene Größe der unangebauten, 
öden, wilden Natur nur jehr geringes Verftändniß befiten. Cicero 
jagt wörtlich: nur die Macht der Gewohnheit bewirfe, dak wir 
„jelbft an bergigen uud maldigen“ Gegenden Gefallen finden. 
Mährend mehrerer Sahrhunderte haben römiſche Offiziere, die 
Anführer der Legionen, die Gouverneure der Provinzen, die In— 
tendanten des Kaiferd, Männer von Geift und Geihmad, die 
Alpen überjchritten, ohne dabei etwas andered zu empfinden als 


Yangeweile oder Entjegen. Hätte man ihnen gejagt, daß eined 
(263) 


14 


Tages Taufende von Reifenden dieſes Schaufpiel, das ihnen jo 
abjchredend jchien, aufjuchen und bewundern würden, fie wären 
nicht wenig überrajcht gewejen. Hohe Berge beftieg man damals 
nur jelten zum Vergnügen. Bor Ueberjhreitung ded Sanft 
Gotthard's, wenn fie durchaus unvermeidlicd; war, wurden „pro 
itu et reditu” Gebete und Gelübde an Jupiter gerichtet, und 
der Dichter Claudian jagt: beim Anblid der Gletſcher wäre man 
jo entjeßt gewejen, ald hätte man das Haupt der Gorgo gefehen.* 2) 
Sicherlich ift ed eine Errungenjhaft, dab wir für diefe großen 
Schaujpiele empfänglich geworden find, und wir dürfen und Glüd 
dazu wünjchen; für die Poefte einer wildromantiſchen Gegend 
haben wir unzweifelhaft ein befjered Verftändnik als die Alten; 
empfinden wir aber auch ebenjo lebhaft wie fie, was Sainte- 
Beuve einmal „den Zauber einer ausgeruhten Landfchaft” nennt? 
Wenn wir auf der Fahrt durdy Oberitalien in die Gegend von 
Mantua umd zu den Ufern des Po kommen, läßt uns der An- 
blid diejer einft von den Reiſenden gepriefenen Fluren fat 
gleichgültig. Augen und. Seele nody voll vom Eindrud der 
herrlichen Alpenlandſchaften, durch die und eben der Weg geführt, 
Ichenfen wir den lachenden Gefilden, dem großen Strome, der 
fie bewäfjert, faum einen geringihäßigen Blid. Und doch ift 
died dad Baterland Virgild, dies die Landſchaft, die er ald Kind 
vor Augen hatte, die niemald aus feinem Herzen jchwand. 
Dieje Ebenen, die und charakterlos ſcheinen, haben in ihm die 
Liebe zur Natur gewedt. Um fie zu verftehen, hat er nicht 
nötbhig gehabt, in die Welt der Berge einzudringen, die Re— 
gionen ded ewigen Schnee’8 zu erflettern und zu beobachten, wie 
die großen Ströme aus den Gletjchern hervorquellen. Er be» 
gnügte ſich damit, diefe grünen Wiejengründe zu betrachten, 
längs diejer Bäche unter dem blafjen Laube der Weiden zu Iuft- 


wandeln, „am Rande der heiligen Quellen Schatten und Kühlung” 
(264) 


75 


zu ſuchen, des Abends „auf dad Girren der Tauben, auf die 
fernen Gejänge ded Bauers“ zu laufchen, „der jeine Bäumchen 
beſchneidet.“ So erwachte in jeiner Seele die tiefe Empfindung 
für dad univerjelle Leben, die edle Sympathie mit der Natur, 
die und in jeinen Verſen entzüdt. — Haben wir aljo wirklich 
joviel gewonnen, wie behauptet wird, wenn wir nady all unfern 
Fortichritten jchließlic unfähig geworden find, die Gefilde zu 
veritehen, die Landſchaft zu lieben, die einft zu jo Schönen Werfen 
begeiitert haben? 

Um fchließlidy auf die Billa von Tibur und auf den Herricher, 
der fie erbaute, zurüdzufommen, jo glaube ich, daß Hadrian und 
jein Landhaus und füglich von der Art, wie die Römer die 
Natur auffaßten und genofjen, ein ziemlich zutreffendes Bild ver- 
mitteln und daß dieje Art weder jo unvernünftig ift noch von 
der unjern jo fern abliegt, ald man häufig annimmt. Wie die 
Schauluftigen und Wihbegierigen heutzutage, jo reifte auch Hadrian 
viel in der Welt umher; er beiuchte mit Vorliebe die Länder, 
deren Naturichönheiten durch große .geihichtliche Erinnerungen 
nody gehoben werden: eine Neigung, die Niemand jonderbar 
finden wird. Die Natur z0g ihn aud um ihrer jelbjt willen 
an; wir jehen, daß er that, was jonft zu feiner Zeit nicht üblidy 
war: er erftieg den Aetna und den Berg Caſius. Als er fid 
aber ein Landhaus für feine letzten Jahre anlegen wollte, erbaute 
er ed nicht auf den Abhängen ded Caſius oder des Aetna, und 
er hatte nicht jo ganz Unredt. Es giebt Schaufpiele — vom 
Aetna weiß ich eö aus eigener Erfahrung —, deren einmaliger 
Anblid, im Fluge genofjen, und entzüct, erſchüttert, erhebt, die 
aber jtetö vor Augen zu haben nicht gut thut. Hadrian wählte 
eine der begrenzteren, weniger grandiojen Zandichaften, die den 
Menſchen nicht durch ihre Erhabenheit übermwältigen und faft 


erdrüden, die nicht immerfort jein Staunen, jeine Bewunderung 
(265) 


76 


in einer auf die Dauer ermüdenden Weiſe überreizen, jondern ihn 
vielmehr beruhigen, feine Sinne bejchwidhtigen, feine Seele 
fänftigen. Wollen wir wiffen, ob des Kaiferd Wahl glücklich 
war, jo braudyen wir nur auf einen Augenblid nad der Billa 
von Tibur zurüdzufehren und die herrlihe Fernfiht von der 
Poifile aus zu geniehen. In dem abſchließenden Halbrund, 
weldyes angelegt wurde, damit von dem ſchönen Schaufpiel nichts 
verloren ginge, nehmen wir unjern Standpunkt. Hier waren 
ſicher marmorne Ruhebänfe aufgeitellt, auf denen oft Hadrian 
und feine Freunde Pla nahmen, wenn der Tag fich neigte. 
Bor und liegt Rom; ed zieht zuerft die Blide auf fih. Wir 
jehen es im jeiner ganzen Ausdehnung am Horizont; feine 
Thürme, jeine Dome zeichnen fih am Himmel ab. Wer weiß, 
ob nicht Hadrian, ald er fein Landhaus im Angeſicht feiner 
Hauptftadt anlegte, fich dad Vergnügen eined pifanten Gegen- 
ſatzes verſchaffen wollte? Der Dichter jagt: nichts Angenehmered 
giebt's, als das Heulen der Winde zu hören, wenn man friedlid) 
in feinem Haufe weilt. WBielleicht jchien ed dem von der Macht 
und vom Leben ermüdeten Herrſcher, daß dieſer Ausblid auf 
dad gejchäftige Treiben dort hinten in der Ferne ihm die Ruhe 
um jo füßer machen würde. Wenn aber Rom audy zuerft die 
Aufmerkjamfeit auf fid) lenft — gar bald bemächtigt fidy ihrer 
die umgebende Landſchaft und läßt fie jo bald nicht wieder los. 
Ganz nahe erheben ſich auf allen Seiten die Hügel; fie jteigen 
allmählig an und werden immer grüner und lacdhender, je weiter 
fie fi) von der Ebene entfernen. Zur Linken erbliden wir die 
Gipfel der Berge von Latium, zur Rechten die malerifcdyen Höhen 
der Sabina, Mentana, Monticeli und weiterhin Palombara am 
Fuß ded Monte Gennaro. Kinen einfacheren und doch auch 
reicheren Horizont, mehr Größe und Ruhe, mehr Abmwechielung 


und Ebenmah zugleich fann man fid ſchwer vorftellen. Plinius 
(266) 


77 


der Süngere würde jagen: „Nicht blos eine Landſchaft ift's, 
ed ift ein Bild.” +3) 

Und wieder jchweift unfer Blid nah Rom hinüber. Wir 
gedenken der entjchwundenen Zeiten, da dad Leben des Alterthums 
dort drüben entfeffelt raujchte und wogte. Welch hohe Genug: 
thuung muß der wunderliche Kaifer empfunden haben bei dem 
Gedanken, wie er jo nahe dem wildeſten Tumulte des Lebens, 
gewiſſermaßen am Rande eines jchwindelnden Abhangs, ſchwebend 
auf Pfeilern mitten über dem fampf- und jtauberfüllten Thale, 
fid) Raum erobert hatte, um darauf einen Sit des Seelenfriedend 
und des heiteren Genuſſes zu gründen, drin auszuruhen von 
dem Getümmel ded Forums! 

Mir begreifen dieſe Genugthuung, wir fühlen fie dem 
Herrſcher nad. Noch mehr: wir jelbft genießen hier im Schatten 
der Ruinen, mitten in diejer hiftoriihen Schickſalslandſchaft, 
den Frieden der Idylle, — gleichwie dort oben auf der 
Höhe, mitten im tojenden Aufruhr der Elemente, hart am Wafjer- 
fturz der Sibyllentempel träumt. 


(267) 


78 


Anmerkungen. 


1) Taecit. Hist. I, 16. 

2) Vgl. Duruy, Histoire des Romains Vol. IV. — Auch 
Renan jpricht im 6. Bande feiner „Histoire des origines du christia- 
nisme* von Hadrian. Ohne feine Fehler zu verfchweigen, jeßt er doch 
auch jeine Vorzüge in helles Licht und entwirft von diefem Herrſcher 
eines jener Bilder, die man nie vergißt. 

3) Fronto, Ad M. Caes. II, 1 (ed. Naber, p. 25). 

4) ©. die 3. Satire des Juvenal, der diefer Empfindung leiden. 
ſchaftlichen Ausdrud giebt. 

5) Sen., Cons. ad Helviam, 6. 

6) Vgl. für weitere Einzelheiten, die hier nicht gegeben werden 
fönnen, das ganze Kapitel „Die Reifen” in Ludw. Friedlaender'd vor- 
treffliben „Darftellungen aus der Sittengefchichte Roms in der Zeit 
von Auguft bis zum Ausgang der Antonine* Bd. II ©. 2—147. 
2. Aufl. 1867. 

7) Lueil., Aetna, 587. 

8) Cie. de Rep. II, 6: in pestilenti loco salubrem. 

9) „ita ut in ea et provinciarum et locorum celeberrima 
nomina inscriberet.* 

10) Liv. XLIV, 6. 

11) Plin. N. H. IV, 8, 15. 

12) „Unus illis deus nummus est.“ 

13) So auf dem berühmten Mofaif von Baleftrina. Hier finden 
wir auch eines der aegpptiichen Feſte dargeitellt, die längs des Canald 
von Sanopus jo haufig geweſen jein müfjen. Unter einer dichten Wein- 
laube find? Männer und Weiber zum Trinkgelage verfammelt. Eines 
der Weiber hebt das Rhyton zu den Lippen, ein anderes weilt auf Die 
berabhängenden Zrauben, noch andere blajen die Flöte oder jpielen auf 
Saiteninitrumenten. Ringsum der mit Yotosblüthen bededte Strom. 

14) Plin. Epist. VI, 31. 

15) Diefe Hermen find jegt im in an des Vaticaniſchen 
Muſeums aufgeſtellt. 

16) Cic. ad Att. IV, 10. 

17) Hesych. s. v. ’Qdeiov. 

18) Hor. Epist. I, 19, 41. Spissis indigna theatris scripta 
pudet recitare. 

19) Ov. Trist, IV, 10, 57. 

(268) 


79 


20) Juv. VII, 83. Und weiterhin nennt er die Zuhörer nicht 
mehr blos, wie Dvid, „populus“, jondern „vulgus“. 

21) Juv. VII, 46. 

22) Pers. I, 18. 

23) Im März 1874 fand man bei den Ausgrabungen auf dem 
Aventin, an der Stelle, wo wahriceinlih die Gärten des Maecenas 
lagen, einen geräumigen, prachtvoll decorirten Saal. Derjelbe bildet 
an dem einen Ende einen Halbfreis, in deſſen Rund fieben concentrifche 
Sitzbänke ftufenförmig bis zur Dede auffteigen, während man am andern 
Ende die Spuren von einer Art Tribüne zu erkennen glaubte. Aus diejer 
Einrichtung ſchloſſen Vespignani und C. L. Visconti, daß man es hier 
mit einem „Leſeſaal“ zu tbun habe. Man nannte ihn deshalb „audito- 
rium Maecenatis“, unter weldem Namen er noch heut befannt ift 
(©. Bull. d’arch. munic. 1876, p. 166 ff.). Bezüglich der Richtigkeit 
diejer Benennung find jedoch feitdem Zweifel aufgetaudht. Mau (©. Bull. 
dell’ Inst. di Corr. arch. 1875, p. 89) hält den Saal nur für ein 
Treibhaus und meint, die Stufen hätten zum Aufftellen von Blumen. 
töpfen gedient. 

24) Galigula gab am Tage jeiner Ermordung dem Volfe Spiele, 
in denen Aegypter und Aethiopier Scenen aus der Unterwelt darftellten. 
Das Schauspiel jollte Abends beginnen und die Nat hindurch dauern. 

25) ©. Plato's Phaedrus. 

26) Dies zeigt ſich aud in feinen landſchaftlichen Schilderungen. 
So gelungen fie auch in ihrer Art find, jo find fie doch minder tief und 
einfach als die der beiden andern Poeten. Die Mythologie jpielt auch 
bei Horaz eine große Rolle, ift aber nicht immer, wie bei Jenen, die 
naive Ueberjegung und der umverfäljchte Ausdrud der großen Natur 
phaenomene; oft ijt fie nur ein Mittel, defjen ein geiftvoller Mann fid) 
bedient, um jeinen Bejchreibungen einen Reiz, eine Zierde mehr zu ver- 
leihen. 

27) O rus, quando ego te aspiciam! 

28) Ov. Fast. III, 525. 

29) Sen. Epist. 89, 21. 

30) Plin. Epist. I, 24. 

31) Sen. De trang. animi II, 13. 

32) Plin. Nat. Hist. IX, 4. 

33) Sen. Epist. 55, 4. 

34) Plin. Epist. I, 9. 

35) Plin. Epist. IX, 36. 

(269) 


80 


36) Vielleicht meint Plinius etwas Aehnliches, wenn er jagt, man 
erblide von jeinem laurentiniichen Landhauje aus eine Menge Villen, 
„die, vom Meere oder felbft nur vom Strande aus gejehen, den Anblick 
einer Menge von Städten gewähren.“ 

37) Plin. Epist. IV, 27: Ille o Plinius, ille, quot Catones! 

38) Eine ähnliche Idee lag auch der berühmten, großen und jchönen, 
an ingenisjen Veranftaltungen reihen, mit zahlreichen jeltenen Vögeln 
ausgeftatteten WVoliere Varro's zu Grunde. Die Mitte des Bogelhaujes 
bildete einen Speijefaal; die Tafel und die Ragerjtätten der Gäſte um- 
floß lebendiges Waſſer, jo daß man bei auserlejenen Tafelfreuden die 
Fiſche zu feinen Füßen jchwimmen ſah und ringeum den Gejang von 
Amjeln nnd Nachtigallen vernahm. 

39) Quint. VII, 3, 9. 

40) Dieſe Manie kommt eben jegt zu neuen Ehren und lebt vor 
unfern Augen wieder auf: feit kurzer Zeit find in unjern Gärten bizarre 
Zeichnungen aus Blumen jehr beliebt. Schon jchreibt man die Chiffre 
des Beligerd auf den Rajen, und nit lange wird es dauern, jo fteht 
der ganze Name da. 

41) Friedländer bemerkt a. a. D. Bd. 3, ©. 78: „Europa verdankt 
einen großen Theil jeiner prächtigen Gartenflora der Blumenluft der 
Türken. Aus Stambul wanderte die Tulpe, der duftende Syringenſtrauch, 
die orientalifche Hyacinthe, die Kaiferfrone, die Gartenranunfel über 
Wien und Venedig in die Gärten des Occidents; aber aud der Kafta- 
nienbaum, der Kirjchlorbeer und die Mimoſe oder Akazie. Mit der Ent- 
deckung von Amerika begann dann eine neue jehr viel mafjenhaftere 
Einführung von Blumen und Ziergewächſen.“ 

42) Glaudian. De bello Get. 340 ff. — Bgl. über d. ©. auch 
Friedländers Kapitel über das Naturgefühl der Römer a. a. O. Bd. 2, 
©. 118— 147. 

43) Plin. Epist. V, 6. 


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(270) 


Drud von Gebr. Unger (Th. Grimm), Berlin, Schönebergeritr. 17a. 


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Air Surhenmelt, 


Ein neuer Derfuch zur Erklärung der Entftehung 

und der Natur der Sarben, nebft einer praftijchen 

Anleitung zur Auffindung gejfegmäßiger harmoniicher 
Sarbenverbindungen. 


Dr. Max Schasler. 


Zweite Abtheilung : 


Das Geſetz der Farbenharmonie in feiner Anwendung auf 
das Funftindnftrielle Gebiet. 


Mit einer Farbentafel. 


GP 


Berlin SW., 1883. 


Berlag von Gar! Habel. 
(C. 6. Yüderiti'sche Verlagsbachhandlung. 
33. Wilhelm» Straße 33. 


Das Recht der Ueberſetzung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Einleitende Bemerkungen. — Verſchiedene Methoden der 
Spitematifirung der Farben; die Runge'ſche Farbenkugel; der 
Farbenkreis und feine Vorzüge. Die Schablone für Aufzeichmun 
der verſchiedenen Zwei-, Drei, Vier-, Sechsklänge- Begri 
der Karbenharmonie Die qualitativen und Rangunterjchiede der 
verjchiedenen Klänge. Beläge und Beweife dafür Moll» und 
Durtonarten in der Farbenharmonie. Praktiſche Anwendung des 
Geſetzes. Die jubjeftiven Gefühldmotive als Regulativ für die 
Beitimmung der harmonijchen Farbenverbindungen. Die Elemente 
der Kontraftwirfung und der Vermittlung. — Die Symbolik der 
Farben. Beſchränkung des Begriffs des Symbols auf die pofitiv 
nachweisbare Natur der Farben: A. Gegenjag vou Weiß und 
Schwarz und jein Ginflug auf die Nüancirung der Farben. 
B. Theilung des Barbenfreijes in zwei Doppelhälften, auf Grund 
der Differenz zwiſchen der Helligfeits- und MWärmeintenfität; die 
beiden Grenzfarbenpaare. 1. Gelb und PViolett, 2. Orange und 
Blau, 3. Gelborange und Blauviolett, 4. Roth und Grün, 
5. Rothorange und Blaugrün, 6. Rothviolett und Gelbgrün. 
C. Die Farbennüancen in iombolifher und fomplementärer Be- 
ziehung. Sclup. 

Da die folgenden Erörterungen fidy unmittelbar an das 
in der eriten Abtheilung (Heft 409, 410) über die Entftehung 
und die Natur der Farben Geſagte anichließen, weil fie 
lediglich die praftiihen Konjequenzen des darin entwickelten 
"Prinzips find, jo muß für dad Verſtändniß ded Inhalts diefer 
zweiten Abtheilung die Kenntnik des Inhalts jener voraus— 
geiett werden. Namentlidy gilt dies auch für die beigegebente 
Farbentafel, welche ald die fonfrete Ausführung der in den 
Konftructiondfiguren der erften Abtheilung dargeftellten Theorieen 
der zwilchen den Farben obmwaltenden Beziehungen zu be: 
trachten ift. 

In dieſer Hinficht ift zunächſt nachtragsweiſe zu den Be- 
merfnngen über die Entftehung einerjeitö des Weiß, andrerjeits 
des Schwarz!) Folgendes hinzuzufügen: Es wurde dort 
bemerft, daß Schwarz dad Reſultat der Miſchung aller Karben 
ſei. Hier find nun drei Fälle möglihd: 1. Mifchung aller 
6 Grundfarben; 2. Miſchung der drei Urfarben, 3. Miſchung 
einer beliebigen Karbe mit ihrem Komplement, alfo 3.8. a. Roth 
mit Grün, b. Gelb mit Biolett, c. Blau mit Drange. In 


xVIll. 415. 1* (273) 


4 


allen diefen Fällen wird das Refultat immer dafjelbe, nämlich 
Schwar;, fein. Fig. 4 veranichaulicht den erften Fall, Fig. 5 
den zweiten, Fig. 6, 7, 8 den dritten im den drei möglichen 
Kombinationen der drei Urfarben. ?) 

Im Mebrigen betarf unjere Farbentafel faum einer 
näheren Grläuterung, da fie, wie gejagt, mur die Fonfrete 
Ausführung von Figur 3 ift, auf weldyer die betreffenden 
Farben und Farbennüancen, die eriteren durch ihre Namen, 
die zweiten durch die Andeutung der Zonen vermittelt fon- 
centriicher Kreisabichnitte gefennzeichnet find; auch finden ſich 
auf beiden Kiquren die Durchmeſſer der Helligfeitdö> und. der 
MWärmeintenfität eingetragen. Dieje Methode der ſyſtematiſchen 
Farbendarftellung halte ih für die zweckmäßigſte, obichon fie 
natürlich theild dur Eintragung der Mijchfarben zweiter, bezw. 
dritter Drdnung, tbeild durch Vervielfältigung der Zonen be— 
deutend vermannigfaltigt werden kann. Indeſſen habe idy mich in 
diejer Beziehung, wie ſchon früher bemerkt, auf das Nothwen— 
digfte beichränfen zu jollen geglaubt, theil® weil e8 mir nur dar» 
auf anfam, das Princip jelbft zur vollen Anſchauung zu bringen, 
was durch dad Gegebene volllommen erreicht wird, theild weil 
durch eine ſolche WBermannigfaltigung — abgeſehen von der 
Scwierigfeit, durdy materielle Farbenpigmente überall die ge 
nauen Nüancen berzuitellen — die Ueberficht über die principielle 
Gliederung der Farben nur erfchwert worden wäre. — 

Eine andre Methode der Karbenivftematifirung ift — ſtatt 
der Darftellung derielben auf einer Kreisfläche — die auf einer 
Kugel. Dieje ift zuerft von dem Maler Philipp Dito Runge 
verjuhht worden. Der Runge'ſche „Farbenglobus“ verlegt die 
Gegeniäße ded Weib und Schwarz, zwiſchen welchen die Farben 
fi) entwideln, an die Pole?), während die reinen Grundfarben 
auf der Aequatorialzone in der Mitte liegen, von welcher letzteren 
fie durdy die verfchiedenen Zonen bindurdy nad) dem einen Pol 
eine allmälige Erhellung, nady dem andern eine Berdunfelung 
zeigen. Dieje Konftruction bat aber den Nachtheil, dab vie 
einander eutiprechenden fomplementären Karben und Karben» 
nüancen auf den diametral entgegengejegten Seiten der $arben- 
fugel liegen, alfo niemals gleichzeitig gejehen werden fönnen. 
Allerdings hätte died vermieden werden fünnen, wenn Runge 
an beide Pole nur Weiß und an den Nequator Schwarz; ge: 
legt und dann von diejen, nach dem einen Pol bin, 3. B. das 

(274) 


Roth mit feinen Nüancen, nach dem andern bin unter demfelben 
Längengrade dad ihm fomplementäre Grün mit den jeinigen ge— 
ordnet hätte. Wenn man in der Figur 9 unſrer Sarbentafel 
alle von je zwei Karbenipigen und dem weißen Rande gebildeten 
grauen Dreiede ausgefchnitten und die Spitzen jo weit zurück— 
gebogen ſich vorftellt, daß fie hinten zujammenftoßen, jo würde 
man die richtige Konftruction einer Farbenkugel erhalten. 
Dennoh würde aud diefe dem Zwed der Verauſchaulichung 
aller Beziehungen, 3.8. der fomplementären Berhältniffe zwiichen 
den Nüancen eined Farbenpaard, da dieje ebenfalld nicht gleich: 
zeitig geliehen werden fönnten, weniger entjprechen ald der in 
allen feinen Theilen Elar überichaubare Farbenkreis. Die Farben 
fugel bat vor diefem nur einen Vorzug voraus, nämlich den, 
daß auf ihr die neben einander liegenden Farben, z. B. Roth 
und Drange, nicht getrennt ericheinen, jondern aneinander ftoßen, 
jo daß fie, namentlich wenn zwijchen fie nody die Miſchfarben 
eingeordnet werden, fontinuirlih in einander übergeleitet werden 
fünnen; doch fällt diejer Vorzug gegenüber den viel bedeuten- 
deren Nachtheilen um jo weniger in’d Gewicht, je mehr auf dem 
Farbenkreiſe die Lüden zwiſchen den Farbenſpitzen ebenfalls 
durch Miichfarben ausgefüllt werden. Somit dürfte denn doch 
die auf unjrer Farbentafel gegebene kreisförmige Konjtruction 
in jedem Betradyt, bejonderd aber deshalb vorzuziehen fein, 
weil nur fie, und nicht die Karbenfugel, fi mit Nothwendig— 
feit aus der Anordnung der Farben im priömatiichen Spektrum 
ergiebt®). 

Einer weiteren Erklärung bedarf, wie gejagt, unjer Farben- 
freiö nach den früheren Erörterungen nicht; nur wolle der Leſer 
bei den folgenden Bemerkungen über die hurmoniichen Be: 
ziehungen zwiichen den Karben neben denſelben aud die Kon— 
ftructionöfiguren 2 und 35), namentlidy die erjtere, im Auge 
behalten, weil nur aus Diejen die wichtigen Differenzen 
zwiſchen der Helligkeits- und der Wärmeintenfität, welde in 
Fig. 9 nur durdy die beiden Durdymefjer ro. bn und rv. gn 
angedeutet find, ihrer Gejegmäßigfeit nady erfannt merden 
fönnen. Ferner ift der Lejer gebeten, des leichteren Verſtänd— 
nifjes halber — da bei Unterſuchung der Farben Alles auf die 
konkrete Anjhauung ankommt — auf Grund der unten folgen- 
den Erklärungen über „Zweillang”, „Dreis", „Vier“, „Sechs⸗ 
Hang“ der Farben — fidy einige (am beften aus grauem Gar: 

(275) 


6 


tonpapier beftehende) Schablonen in der Größe unjerd Farben» 
freijed (einjchhließlih des ihm umgebenden weißen Nanded) zu 
fertigen, in denen die betreffenden iFarbenfünfede*) von der 
Spite bid zur Grenze des ſchwarzen Gentrumd ausgeſchnitten 
find. Wenn man nämlidy eine foldye Schablone auf den Farben- 
freis legt und fie auf dem Mittelpunft defjelben mit einem Stift 
befeitigt, jo daß fie ſich um diefen leicht nach allen Seiten bin 
drehen läßt, jo werden alle andern Farben des Kreiſes, mit Aus— 
nahme der durch die Ausfchnitte gejehenen, zugededt, damit fich 
die Anjchauung auf dieje foncentriren fann, ohne von den 
übrigen geftört zu werden. Solder Schablonen bedarf man 
wenigftend vier: 1. für den „Zmeillang“, d. h. für ein fomple- 
mentäred Farbenpaar; in diejer werden zwei einander diametral 
gegemüberftehende Karbenfünfede auszufchneiden fein, 2. für den 
„Dreiflang”, d.h. für drei Sarbenfünfede, deren Spitzen die Winfel- 
punfte eines gleicyjeitigen Dreieds im Kreiſe bilden (z.B. für 
die drei Urfarben); 3. für den „Vierklang“, bei weldyem die 
Spiten die Winfelpunfte eined Duadratd bilden (z. B. Roth, 
Blauviolett, Grün, Gelborange), 4, für den „Sechöflang“, wo— 
bei die Spiten der Winfelpunfte zweier gleichjeitigen, einander 
durchfreugenden Dreiede bilden (fiehe in Fig. 2 R, O,G,N, 
B, V). Dieje vier Schablonen dürften in den meiiten Fällen 
genügen. — 

Dies voraudgeihidt, können wir nunmehr zur Frage 
der harmoniſchen Beziehungen zwiſchen den Farben 
jelbit und zwar zunächſt zur näheren Beitimmung ded Weſens 
der „Harmonie“ übergehen. 

Der Begriff Harmonie — von den proportionalen Be— 
ziehungen zwijdyen den mufifaliichen Tönen entnommen — wird 
meilt als „Ginheit in der Mannigfaltigfeit“ definirt. Allein 
da nicht jede zu einer Einheit zufammengefahte Mannigfaltigfeit 
ichon eine Ganzheit, d. h. eine lüdenloje Verbindung organiſch 
gegliederter Theile darftellt, jo bejagt dieje Definition ſowohl 
zu viel als zu wenig; vielmehr liegt dad Weſen der Harmonie 
einerjeitö in der Totalität, andrerjeits aber mwejentlich in der 
organiihen Gliederung der mannigfaltigen Theile. Wer: 
den 3.B. die jämmtlichen Theile einer in Stüde geſchlagenen 
Statue ungeordnet mit einander verbunden, fo ift zwar eine 
Totalität, aber feine organifhe Gliederung vorhanden; fehlen 
einige, bei fonit richtiger Anordnung der übrigen, jo findet zwar 

(276) 


7 


organiiche Gliederung, aber feine Xotalität ftatt. Dennoch) 
fommt der letztere Kal, wenn nur nicht zu viele und nicht zu 
wejentliche Theile fehlen, immer noch dem Eindruck des Har- 
monijchen näher ald der erftere, wo zwar fein Theil fehlt, aber 
feine organijche Anordnung zwijchen ihnen herrſcht. Wenn z. B. 
einer im Uebrigen organijch gejtalteten Statue ein Fingerglied 
oder ein Zeh fehlt, jo wird dadurd der Eindrud des Harmo— 
niſchen wenig oder garnicht beeinträchtigt. Der Begriff der 
„Harmonie“ beruht aljo vor Allem auf der Bedingung einer 
organiihen Lebenseinheit. 

Die beiden dem Begriff der „Harmonie“ weſentlichen Mo» 
mente: Zotalität der Theile und gejegmäßige Anord— 
nung derjelben, find ed nun aud), die bei feiner Anwendung 
auf die Sphäre der Karbenverbindungen unbedingt maßgebend 
find; und zwar ift das erſte Moment mehr ftofflicyer oder viel- 
mehr quantitativer, dad zweite mehr qualitativer, bezw. äfthetiicher 
Natur. Aus der Forderung der „Zotalität” ergiebt fi ohne Weir 
tered dad Gejeß, daß nur diejenigen Karbenverbindungen 
eine harmoniſche Einheit darftellen, welde im ihren 
Theilen den geiammten Farbenfreis, und zwar ohne 
Ueberichuß, repräjentiren; aus der Korderung „geiegmäßiger 
Anordnung“ die Nothwendigkeit, die Zufammenftellung der Farben 
theild nach deren Bedeutjamfeit an fih, die durch das Verhältniß 
ihrer Helligfeitö- zu ihrer Wärmeintenfität beftimmt wird, theils 
nad) ihrer Verwendung in einem gegebenen praftiiden Fall — 
3.8. ob und welche Farbe ald „Hauptfarbe“, weldye ald „Neben- 
farbe” (von blos ornamentaler Bedeutung) zu behandeln ift — 
zu reguliren. Dieje leßtere Seite ilt, wie man erfennt, nicht 
nur ihrer wejentlidy ideellen Bedeutung halber, jondern nament- 
lich aud) deshalb bei Weiten jchwieriger zu behandeln, weil für 
die unendliche Zahl von möglichen praftiichen Fällen fidy kaum 
genau zu befolgende Geſetze aufjtellen laſſen, jondern nur ganz 
allgemeine, aus äjthetiichen Principien folgende Regeln formu— 
lirt werden fünnen, deren Anwendung auf einen gegebenen Fall 
ſchließlich der jubjektiven Empfindung anheim gegeben werden 
muß. — Fafjen wir zunächſt die erjte Seite in's Auge. 

Hier herrſcht eine gleichſam mathematiihe Genauigfeit, 
weil dad hier waltende Gefe auf dem Organismus des Farben 
kreiſes felbft beruht und fich daher lediglich auf die Zujammen- 

(a77) 


8 


faffung der daraus mit Nothwendigfeit fi) ergebenden Konſe— 
quenzen bejchränfen fann. 

Der Grund übrigens davon, daß nur dann eine harmo- 
nifche Einheit von Farbenverbindungen erzielt wird, wenn in 
ihnen der ganze Farbenfreis, d. b. alle drei Urfarben, gleidyviel 
in welcdyer (aber immer fomplementär fidy ergänzenden) Nüan- 
cirung oder Scyattirung 7), vertreten find, liegt in der früher 
angedeuteten Analogie der Qualität des Lichts mit der Nerven- 
thätigfeit der Nebhaut.®) Denn da einerjeitö das reine Licht 
nur aus der gegenjeitigen Neutralijation der drei Urfarben oder 
— mas daffelbe ift — eined fomplementären Farbenpaares her— 
vorgeht, andrerjeitd das Auge auf die Lichtempfindung organifirt 
ift, jo folgt, daß ed nur dann den Eindrud einer Zotalität und 
damit den einer harmoniſchen Verbindung erhalten kann, wenn 
diejelbe lüdenlos ift, d. b. wenn alle organischen Theile — und 
Died find die drei Urfarben — darin vertreten find. Dieje Ber: 
tretung fann nun auf verichiedene Weiſe ftattfinden, je nachdem 
der Farbenfreid blos ein- oder mehrfad darin vorfommt. Die 
einfachen Verbindungen find folgende: 

1. Der Zweiklang,“) d. b. die Berbindung zweier 
einander zu einem Farbenpaar ergänzenden Farben, z. B. Roth 
und Grün, Blau und Drange, Gelb und Biolett, aber auch 
. Rothorange und Blaugrün u. |. f. 

2. Der Dreiklang, d. h. die Verbindung von je drei, 
auf dem Farbenkreiſe ein gleichjeitiges Dreied bildenden Farben, 
alſo Roth, Gelb, Blau oder Violett, Grün, Drange, aber audy 
Rothorange, Gelbgrün und Blauviolett u. |. f.; 

3. Der Bierflang, d. b. die Verbindung von je vier, 
im Quadrat liegenden Farben, z. B. Roth, Drangegelb, Grün, 
Blauviolett oder Drange, Gelbgrün, Blau, Rothviolett u. 1. f. 

4. Der Sechsklang d. b. die Verbindung von zwei ein- 
ander Ffreuzenden Aarbendreieden, z. B. Roth, Drange, Gelb, 
Grün, Blau, Violett oder ro, go, gn, bn, bv, rv u. ſ. f. — 
Durch weitere Kombination fann 

5. Der Achtklang (Berbindung zweier VBierflänge) und 

6. Der Zwölfflang (Verbindung zweier fidh freuzenden 
Sechsklänge) entftehen; ja man fann, wenn ed fi darum 
handelt, eine bejtimmte Zahl von Farben zu finden, die harmo— 
niſch zu einander ftimmen follen, ſogar irreguläre Klänge er— 
zeugen, wie den Fünfflang durch Verbindung eined Zwei- mit 

(278) 


9 


einem Dreiklang, z. B. Roth, Gelb, Blau, Grüngelb, Roth— 
violett, den Siebenklang durch Verbindung des Vierklangs 
mit dem Dreiklang u. ſ. f.; allein ed iſt leicht zu erkennen, daß, 
je irregulärer die Verbindung wird, d. h. je weniger regelmäßig 
die Figuren find, weldye die Farbenfünfede mit einander bar: 
ftellen, deito mehr, bei quantitativer Gleichwerthigfeit, der Ein- 
drud harmoniſcher Zufammengehörigfeit beeinträchtigt werden 
muß. 

In allen diejen Verbindungen find die Karben als rein, 
d. h. der mittleren Zone angehörig angenommen. Weiter fommt 
nun aber bei den verjchiedenen Farbenklängen nody die Zonen= 
differenz in Betracht, d. bh. ed muß auch in diefer Beziehung 
ein fomplementäred Berhältnig herrſchen, jo daß, wenn eine 
Farbe in einer hellen Nüance genommen wird, die zu ihr in 
Kontraftwirfung stehende in demjelben Grade dunkler ges 
ftimmt werden muß und umgekehrt. Dies iſt namentlich bei 
den irregulären WVerbindungen von Wichtigkeit, weil hierdurch 
dad oft bis zum Unharmoniſchen gehende Mißverhältniß der 
Farben jehr gemildert werden kann. 

Betrachten wir nunmehr die oben verzeichneten Fälle 1—4 
— denn diefe find, wie man leicht erfennt, ihrer Einfachheit 
wegen von vorzugdweife harmoniiher Wirkung — hinſichtlich 
ihres (durch Fortbewegung der betreffenden Schablone zu vers 
anfchaulichenden) Wechſels der Stimmung, jo ergeben fidy fol- 
gende Beobadytungen: 

1. Der edelfte und wirfungsvollite „Zweiklang“ ift der 
von Roth: Grün, weil die beiden Glieder dieſes Karbenpaars, 
wie früher nachgemiejen, die geringite Differenz der Helligfeitd- 
und Wärmeintenfität (3:4 und 4:3) befiten, daher fie als 
Farbenpaar in beiden Beziehungen den volllommenen Ausgleich 
zwijchen den beiden pofitiven und negativen Hälften des Farben- 
freies bilden. Die befondere Lebhaftigfeit und Schönheit, 
welche diefen Farben beimohnt, wird deöhalb von feinem andern 
Farbenpaar erreicht; denn die Glieder der beiden andern zwei 
Sarben- Paare: Drange- Blau und Gelb-Biolett, gehen, die 
des erfteren ald Ertreme der Wärmeintenfität, die des zweiten 
ald Extreme der Helligfeitöintenfität, viel zu weit auseinander, 
um nicht den Eindrud eined zu ſchroffen Kontraſtes zu machen; 
was übrigens nicht ausſchließt, dab gerade dadurch im 
einem gegebenen Fall, nämlidy wenn ſolcher Kontraft äſthetiſch 

(279) 


10 

gefordert wird, eine bedeutende, ja unter Umftänden jogar be- 
deutendere Wirkung ald durch den milderen Kontraft Roth— 
Grün, erzielt werden kann. Allein dieje Erwägung gehört nody 
nicht in die Betrachtung der ftofflichen Seite der Barbenharmonie, 
jondern in die der zweiten, ideellen, Seite derjelben. Hier haben 
wir es verläufig nur mit den Farben an fidy und ihrer qualis 
tativen Natur zu thun. Noch bedeutender abgeſchwächt erjcheint 
natürlich die Wirkung zweier, zwiſchen den Grundfarben lie— 
genden Miichfarben 3. B. ro. bn oder rv. gn. Wenn man die 
Scyablone zuerft auf RN Stellt und fie dann ſchrittweiſe über. ro, 
O, go, G u. |. f. um den ganzen $arbenfreid oder vielmehr nur 
um die Hälfte deijelben (da die Paare der zweiten Hälfte mit 
denen der erjten identisch find) bherumführt, jo wird man die 
großen Unterjchiede in der Wirkung zunächſt des Hauptfarben- 
paared RN von den andern beiden Grundfarbenpaaren, ſodann 
diejer von den Mijchfarbenpaaren fofort empfinden. 

2. Ein ähnliches und doch mieder jehr verjchiedenes 
Wirkungsverhältniß offenbart ſich in dem Wechſel des Drei: 
EHangs (ſ. Figur 10). Hier nimmt natürlich der Dreiflang 
der Urfarben die erfte Stelle ein; dann folgt, weſentlich ſchwächer 
in der Wirkung, der Dreiflang der andern drei Grundfarben 
(ONV), endlich die Dreiflänge der zwiichen ihnen liegenden 
Miſchfarben. Verſchiedener Art ift die Wirkung des Dreiflangs 
vom Zweiklang injofern, als bei jenem die drei Farben immer 
in gleihem Range ftehen und daher wohl fontraftirend, aber 
niemals polarijcdy wirfen. In Roth. Grün zwar fällt, weil, wie 
bemerft, diejed Paar überhaupt einen Ausgleich bildet, die Pola— 
rität nicht jo jehr auf, jondern zeigt fidy bier nur in der Korm 
ipecifilber Farbengegenjäßlichfeii, während Drange- Blau umd 
Gelb: Violett entſchiedene Ertreme daritellen. Wenn nun dem 
Roth gegenüber, ftatt des Grün, die beiden in diejem enthal- 
tenen Farben Blau und Gelb beigejellt werden, jo wird, da 
fidy dadurch der Ausgleich aufhebt, einerjeits die Kontraftwirfung 
lebhafter, andrerieits, hinfichtlih der andern beiden Paare (näm— 
lih wenn dem Gelb gegenüber, jtatt Violett, die beiden Karben 
Roth und Blau, dem Blau gegenüber, ftatt Drange, die 
beiden Farben Roth und Gelb, beigefellt werden) die Pola— 
ritätöwirfung berabgemildert zur bloßen Kontrajtwirfung. 
„Roth: Grün“ zeigen ſich bei diefer Berwandlung des Zweiklangs 
in den Dreiflang alſo wieder in recht auffallender Weile als 

(280) 


Herricher im Farbenreiche, da fie, ihres Ausgleiches halber, ſchon 
ald Zweiflang eine fo milde Polarität befißen, daß dieje einer 
bloßen Kontraftwirfung faft gleichfommt, während andrerjeits 
ihre rein qualitative Farbenwirfung dennoch energijcher als jede 
andre ift, meil die ftarfe Gegeniäßlichkeit der Helligfeits- und 
MWärmeintenfität, welche bei den andern Zweillängen vorherrſcht, 
bier zu Gunſten des reinen Karbeneindrudes bid auf ein Mini» 
munı bejchränft wird. Die zwijchen den Dreiklängen der Grunds 
farben liegenden Dreiflänge der Miſchfarben zeigen num eine 
ihren Zweiklängen entiprechende noch größere Abſchwächung als 
die der drei fomplementären Grundfarben, wie man fidy durd) 
Kortrüdung der Dreiflangichablone zuerft von R.G.B nad) O.N.V 
und von diejem nad ro.gn.bv. oder go.bn.rv überzeugen kann. 
Einer bejondern Erklärung bedarf dieje Erſcheinung nidyt, weil 
fie fi) aus der analogen des Mijchfarbenzweillangd von jelbit 
ergiebt und ohnehin durch die verjchiedene Rangſtellung der 
betreffenden Farben bedingt ift. 

Es mußte bei diejen beiden Klängen etwas länger verweilt 
werden, weil fie auf den regulärſten Verhältniſſen des Farben— 
freijeö beruben: Die Zwei: und Dreiflänge find daher von 
vorzugsweiſe organiicher Natur; und wenn man in Diejer Be: 
ziehung zwiſchen ihnen noch einen Unterſchied machen darf, jo 
iſt zu ſagen, daß der am meiſten harmoniſche Klang der Drei— 
klang iſt, weil er auf dem organiſchen Unterſchied der drei Ur— 
farben beruht und übrigens auch weicher iſt als der Zweiklang. 
Hieraus erklärt ſich auch, daß 

3. Der Vierklang, weil er dieſe organiſche Beziehung 
der Dreifarbigkeit unterbricht, ſchon eine gewiſſe Beeinträchtigung, 
aber auch eine größere Mannigfaltigkeit der harmoniſchen Wir— 
kung zeigt, eine größere ſogar als — um dieſe beiden Klänge 
im Zuſammenhange zu betrachten — 

4. Der Sechsklang, in welchem ſich die Dreifarbigfeit 
nur verdoppelt oder vielmehr, phyfifaliich geſprochen, verdreifacht. 
Eine Verdreifahung der drei Urfarben findet zwar auch im 
Vierklang ftatt, weil er aus zwei fomplementären Sarbenpaaren 
befteht — 3. B. der Vierklang: Roth-Gelborange-Grün-Blau— 
violett aus Roth, Gelb-Gelb-Roth, Blau-Gelb, Blau⸗-Blau-Roth, 
worin aljo jede Urfarbe dreimal enthalten ift —, allein die 
ſechs Grundfarben, d. b. die Urfarben mit ihren Komplementen, 
treten hier nicht direft und dadurch gewiſſermaßen von gleichem 

(231) 


12 


Range, jondern jchon durdy theilweife Miſchung geſchwächt und 
dadurdy in jehr ungleihem Rangverhältnifje auf. In dem er- 
wähnten Bierflang R. go. N. bv. ift nämlich R Urfarbe, 
N foınplementäre Grundfarbe und die andern beiden find nur 
primäre Mifchfarben; ed find darin aljo drei verjchiedene 
Rangftufen repräjentirt. Dennoh kann unter limftänden ge: 
rade dieje Rangverichiedenheit äfthetiih von großem Vortheil 
jein, wenn es fid) um Auffindung von drei harmoniſch zuftim= 
menden Karben bei einer gegebenen Hauptfarbe handelt; eine 
Erwägung, die jedoh — mie ſchon bemerkt — für die Be- 
tradytung der ftofflichden Seite der Farbenharmonie irrelevant tft. 

In dem Sechsklang berricht zwiſchen den Karben zwar 
auch nicht völlige Gleichheit ded Rangs, da die Urfarben in 
diejer Beziehung höher als ihre Komplementären, die andern 
drei Grundfarben, ftehen; aber wenigjtens haben die Theile jedes 
der beiden Dreiflänge, woraus der Sechsklang beiteht, unter 
ih gleichen Rang. Die fonftigen Unterjchiede zwiſchen den 
verichiedenen Vierklängen — vorandgejegt, daß man, wie in 
unjerm Sarbenfreije, nicht über primäre Miſchung hinausgeht 
— bängen von der Qualität der dominirenden Urfarbe ab. Iſt 
e8 Roth, d. h. beiteht der Vierklang aus R, go, N, bv, jo 
wird, der eminenten Farbenenergie ded Roth und Grün halber, 
die Wirfung eine fräftigere jein, ald wenn Blau dominirt, da ed 
zu jeinem Komplement Drange in zu ſchroffem Wärmegegenjah 
fteht, während der Vierklang G, bn, V, ro der ſchwächſte ift, 
da bier zwijchen Gelb und Violett der nody jchärfere Helligkeitö- 
gegenſatz herricht, weldyer durdy den Gegenſatz Ro, Bn nicht 
hinreichend gemildert wird. Dennod werden die Bierflänge 
für praftijdye Zmwede, gerade der Ungleichwerthigfeit ihrer Theile 
halber, jehr danfbare harmonische Farbenverbindungen abgeben, 
bejonderd wenn man dabei außerdem die fomplementären Nüan« 
cirungsdifferenzen berüdjichtigt, wodurch beiſpielsweiſe der Vier: 
klang „Roth, Gelborange, Grün, Blauviolett“ — bei nur drei 
Zonen — eine große Zahl verjchiedener Kombinationen, etwa 
ein halbes Hundert, zuläßt. 

Diefe geſetzmäßigen Beftimmungen der verjchiedenen Klänge 
gewähren übrigens nicht nur die pofitive Möglichkeit, für jede 
gegebene Farbe die dazu harmoniſch ftimmenden Töne in belie- 
biger Zahl zu finden, fondern fie bilden auch zugleich ein Kris 
terium für die Prüfung gegebener Karbenzufammenftellungen 

{ 282) 


13 


binfichtli ihrer Harmonie. Seßen wir 3. B. den Fall, es 
jeien fünf Farben, etwa ſogar in verichiedenen Nüancen, ge 
geben, mit der Aufgabe, dazu einen jechiten, harmoniſch zu 
ihnen flimmenden Ton zu finden, jo fann man zwar, obne 
die für den Sechsklang ausgeichnittene Schablone zu Hilfe zu 
nehmen, died leicht auf dem Farbenfreiie herausfinden, auch ob 
die fünf gegebenen Farben jelbit harmoniſch zu einander ftimmen; 
bequemer und praftiich von größerer Eicherheit ift jedoch jolche 
Prüfung vermittelit der Schablone, da deren Konftruction ja 
lediglich auf der geiegmäßigen Stellung der Karben zu einander 
beruht. Im vorliegenden Falle jegt man aljo die Sechsklang— 
Ihablone auf den Farbenfreid und dreht fie fo lange, bis man 
die fünf gegebenen Farben in fünf von den ſechs Ausjchnitten 
erblidt: der ſechſte Ausichnitt wird dann die geiuchte Farbe, reip. 
Farbennuance zeigen. Trifft aber das Erftere nicht ein, d. h. 
zeigen ſich nicht alle fünf gegebenen Farben im den Ausjchnitten, 
jondern andere, jo ift died ein Beweis, daß die gegebenen 
Farben jelber unter ſich nicht ftimmen und daß die nicht erjchei- 
nenden, falld man überhaupt eine harmoniihe Wirkung beab— 
fichtigt, mit den entiprechenden, weldye in den Ausjchnitten her: 
vorfommen, zu vertaujchen find. Nichts alſo it einfacher und 
zugleich fidherer ala died Verfahren. 

5. Um vieje etwas mechaniſchen Erörterungen nicht zu weit 
audzudehnen, will ich nur noch rejultatoriich hinzufügen, dab fi 
dies Verfahren auch für die mehr oder weniger irregulären Ber: 
bindungen mit gleicher Zuverläffigfeit bewährt, d. b. man fann 
nicht nur für 2 beliebige Farben den dazu gehörigen Iten, für 
3 den Aten, für 5 den 6ten, für 7 den Sten u. ſ. f. Ton 
finden, ſondern auc für 4 den Sten (nämlich durdy Kombination 
des Zwei- mit dem Dreiflang), für 6 den ten (nämlich durdy Kombi— 
nation ded Drei: mit dem Vierflang), für 8 den Iten (turdy Kombi- 
nation ded Drei» mit dem Sechsklang) u. j. f. Died praktiſch 
herauszufinden, muß ich dem Leſer überlafjen und will nur Be- 
weijed halber, daß daraus wirklich harmoniſche Verbindungen, 
wenn aud von geringerem Werth, entftehen, ein Beiſpiel hinzu— 
fügen, wozu ich abfichtlih den irregulärften unter den oben ge= 
nannten, nämlidy den Neun-Klang, wähle. Wenn man den 
Sedöflang Ro, Go, Gn, Bn, Bv, Rv durch Hinzufügung ded 
Dreiklangs der Urfarben R, G, B, die in jenem nicht ungemiſcht 
vorfommen, zum Neunflang ergänzt, jo erhält man durch Auf- 

(283) 


14 


löjung der Miſchungen: Rrg+Grg+Ggb+Bbg+Bbr+Rrb+ 
R+-G+B = 6 (R+G+B)+(R+G+B), d. b.: in diejem 
Neun-Klang find die drei Urfarben je einmal ungemiſcht und 
ſechsmal gemijcht enthalten, oder, was dafjelbe ift, der gefammte 
Farbenfreis ift darin fiebenmal vollftändig repräfentirt. Nun 
iſt aber jdyon früher bemerft worden, daß ed für das wirkliche 
Stattfinden einer Harmonie in einer Farbenverbindung, ab— 
gejehen von der Verſchiedenartigkeit derjelben, gleichgültig ift, 
ob der FarbenfreißS dabei eins oder mehrere Mal durchlaufen 
wird, wenn nur weder eine Lücke noch ein Ueberſchuß nadıge- 
miejen werden fann. Das beigebradyte Beilpiel liefert alſo dem 
gleihjam mathematiſchen Beweis für die Korrektheit des Ver— 
fahrens. 

Die bisherige Betrachtung der differenten Farbenakkorde 
— mie man die harmoniſche Verbindung von Farbentönen in 
Form verſchiedener Klangfiguren!®) nennen fann — berubte 
einerjeitdö auf der pofitiven Vorausſetzung der quantitativen 
Sleihwerthigfeit der mit einander verbundenen Farben, d. h. 
darauf, daß die Farbenflächen von annäherungsweiſe gleicher 
Ausdehnung angenonımen waren, andrerjeit3 auf der negativen 
Vorausſetzung, daß die Zufammenftellung ohne jede Beziehung 
auf eine beftimmte praftiiche Berwendung in’s Auge gefaßt 
wurde. Indem wir nunmehr zu dieſer zweiten Seite der Be- 
trachtung übergehen, muß das blos ftofflide oder richtiger 
objeftive Verhältniß der Farben zu einander, obſchon es immer 
die Vorbedingung und Grundlage der Karbenharmonie über- 
baupt bleibt, einem höheren Gefichtäpunft, nämlidy dem ideellen, 
oder wenn man will, jubjeftiven ſich unterordnen. Während 
daher bei der erfteren Betrachtung nur ein Kriterium, nämlich 
eben nur die qualitative Natur der Karben an fi, für 
die Beitimmung ihrer harmoniſchen Beziehungen zu einander 
maaßgebend war, tritt nunmehr — bei der Betradytung der 
ideellen Seite der Farbenharmonie — zu jenem Kriterium nod) 
ein zweites, nämlich der ihrer Verwendung zu Grunde liegende 
jubjeftiv-äfthetiiche Zwed als beftimmender Faktor für die 
Auswahl beitimmter Afforde hinzu. — 

Man kann — unter dem früheren Vorbehalt eines Pro— 
tejted gegen die Parallelifirung der fieben mufifalifchen Töne 
einer Detave mit den angeblich fieben prismatiſchen Karben, 
aus denen der reine Lichtitrahl zufammengejeßt fein ſoll — dieſe 

(284) 


beiden Betrachtungsweiſen der Farbenharmonie in ihrer Ver: 
Ichiedenheit durch eine Vergleichung der Farbenakkorde mit den 
mufifaliihen Afforden infofern veranfchaulichen, als audy bier 
die einzelnen Töne einerfeits, auf Grund ihrer mathematiſch 
beitimmbaren Schwingungäzahlen, in gejeßmäßigen Berhält- 
niffen zu einander jtehen, andrerjeitö aber — auf Grund diejer 
gejegmäßigen und unveränderlihen Verhältniſſe — in jehr ver- 
Ichiedener MWeife zum Ausdruck fubjektiver Empfindungen mufi- 
falijceb verwerthet werden können. Sa, die Freiheit, melde in 
der Mufif dieje äftbetiiche Verwerthung gegenüber jenen natür: 
lien Zonverhältnifjen befigt, fann jogar bis zum Widerſpruch 
gegen das Harmoniegefeß geben, wenn ſich damit ein Ajtheti- 
ſcher Zweck verbindet, d. b. es können abfichtlich disharmoniſche 
Zöne miteinander verbunden werden, zu dem Zwed, die Em: 
pfindung jelber in einen Zwieſpalt zu verjegen, allerdings nur 
unter der Bedingung, dab eine fchließliche Wiederauflöfung des 
Zwieſpalts erfolge, durdy welche die äfthetiiche Empfindung dann 
um fo intenfiver befriedigt wird. Denn ein Verbleiben in dem 
Zwieipalt, 3.8. wenn ein Sa im Septimenafford ſchlöſſe, 
würde unerträglich jein; und fo macht denn doch ſchließlich das 
Gejeß der objeftiven Harmonie mit aller Strenge feine abjolute 
Forderung der Berföhnung geltend. 

Aehnlich verhält es ſich nun auch mit der äftberiichen Ver— 
werthbung der objektiven Farbenharmonie; nur daß bier, bei 
den ſtets durch beftimmte fonfrete Zmede — die bei der reinen 
Mufif gar nicht in Frage fommen!!) — bedingten Stimmung: 
verhältniffen der Karben, nidyt nur die Kreiheit in der Wahl 
der harmoniſchen Verbindungen viel bejchränfter ift (mas fünnte 
man fi wohl vernünftiger Weije unter einer „Farbenſymphonie“ 
denfen!), jondern auch abfichtlihe Disharmonien ſchon deshalb 
ausgeichloffen find, weil fie nicht wie die mufifaliihen durd) 
Auflöiung verihwinden und in Folge defjen das Ohr befriedi- 
gen, jondern als bleibende auch bleibend das Auge beleidigen 
würden. 

Dagegen jcheint zwiſchen den tonalen und den farbigen 
Akkorden eine andere Analogie zu herrſchen, welche auf der 
beiderjeitigen Differenz in dem Werthverhältniß der Farben 
und der Töne unter ſich beruht und als fpecifilher Stim- 
mungscharakter bezeichnet werden fann. Sn der Mufif 
befteht befanntlid der Unterjchied in dem Stimmungscdarafter, 


(285) 


16 


welcher auf dem allgemeinen Gegenjag zwilchen den „Dur“ und 
„Molltonarten” beruht, darin, daß in einem gegebenen Akkord 
ein bejtimmter Ton durch einen andren ihm verwandten, höheren, 
bezw. niederen erjeßt wird. in ähnlicher Unterjchied in dem 
jubjeftiven Empfindungseindrud, wie bier zwiſchen den Durs- 
und Molltonarten herrſcht, fann nun aud zwiſchen den ver: 
ihiedenen Akkorden der Farbenharmonie nachgemwiejen werden, 
d. b. die einen Akkorde werden einen härteren („Dur“), die 
andren einen weicdheren („Moll’-) Eindrud auf die äfthetiiche 
Farbenempfindung hervorbringen, je nachdem — wie oben ge- 
zeigt — die zum Afford gejtimmten Farben, weil ungemijcht, 
im Range höher, oder, im Verhältniß ihrer Miſchung, niederer 
ftehen. Aber, wenn man in diejer Aehnlichfeit der Wirkung 
auf die Empfindung einen Beweid für einen angeblichen 
Paralleliömus der Farben und Töne finden zu dürfen glaubt, 
jo beweiſt diefe ganz äußerliche Analogie, jobald man auf ihren 
Entftehungsgrund zurüdgeht, vielmehr das Gegentheil davon. 
Denn die Farbenafforde werden durdy bloße Bertaufhung 
einer Farbe mit einer andern fo wenig ald harmoniſche modifi- 
cirt, daß vielmehr dadurch die Harmonie überhaupt geftört und ftatt 
derfelben bloße Disharmonie hervorgebradht wird. Sondern der 
Uebergang von Dur zu Moll in einer Farbenftimmung 
bedingt eine durchgehende Verſchiebung aller den 
Akkord bildenden Farbenelemente. Am deutlicdhiten ers 
fennt man diejen Vorgang durch Anwendung unjrer Schablone. 

Man lege etwa die Dreiklangſchablone auf die Urfarben 
(R. G. B.), jo dab alle andern bededt find. Hier hat man 
einen entjchiedenen, fräftigen Durafford, welder ſich dur 
Weiterführung auf den Dreiflang der andern drei Grundfarben 
(O.N. V.) ſchon bedeutend abſchwächt, d.h. erweicht zeigt, 
bi8 er endlidy in den zwei Dreiflängen der primären Miſch— 
farben (Ro. Gn. Bv. und Go. Bn. Rv.) am weichſten erſcheint. 
Es ift alfo jchon bier, in dem Dreiflang, von einem einfachen 
Gegenjat zwiſchen Dur und Moll gar nicht die Rede, fondern 
lediglich von einer graduellen Abſchwächung und in Folge defien 
Erweihung aller Töne, die den Afford bilden. Selbftverftänd- 
lich wird fich diefe Gradation bei reicheren Afforden, dem Vier: 
flang, Sechöflang u. |. f. noch feiner und mannigfaltiger modi— 
fieiren, weil dabei die verichiedenen Rangverhältnifje zwijchen 
den den Akkord bildenden Karbentönen nody binzutreten. 
(286) 


17 


Aber jelbft jchon im Zmeillang, d. h. bei Verbindung der 
Glieder eined Fomplementären Farbenpaars, zeigt ſich dieſe 
Differenz, die bier audjchließlich durch den Rang der polaren 
Farben bedingt wird. Wenn man nämlich bier, 3. B. in dem Zwei- 
fang Gelb-Biolett, aus diefer Durftimmung vermittelft Er» 
jeßung etwa des Violetts dur Roth Violett oder Blauviolett 
oder ded Gelb durdy Gelborange oder Gelbgrün, einen Moll» 
zweiflang bilden zu fönnen vermeint, jo befände man fidy in 
einem großen Irrthum: die Wirkung wäre nur eine disharmo- 
nijche, jelbft wenn man der angeftrebten Vermittlung halber 
noch Weiß oder Schwarz damit verbinden wollte. Derartige un» 
barmonijche Verbindungen zeigen merfwürdiger Weije die meiften 
jogenannten Nationalfarben, wie man fie an Echilderhäufern 
und Schlagbäumen ftudiren fann, 3. B. Blau-MWeih: Roth, 
Schwarz RothWeif, SchwarzGelb, Weiß-Grün, Blau-Weiß, 
Roth-Weiß, ja jogar — und dad ift noch nicht das Schlimmite 
— völlige Farblofigkeit: Schwarz Weif. Die nüchternite von 
allen diejen, gleicherweiie unbharmonijchen Verbindungen ift aber 
niht Schwarz Weiß, da diefe, obihon die Farblofigfeit jelber 
repräjentirend, ald Surrogate von Licht und Finfternig immerhin 
einen ftarfen Gegenjaß bilden, jondern Weiß-Grün, mweil hier 
Farblofigfeit mit der mildejten Farbe fidy verbindet, aljo jeder 
Kontraft ausgeſchloſſen iſt. Schon Blau-Weiß ift energifcher, 
weil bier der Helligfeitöfontraft intenfiver wirft, mehr noch Roth: 
Weit, da Roth überhaupt die ftärkite Energie befitt, am ftärfften 
Scmarz.Gelb; aus demjelben Grunde wie Blau-Weiß, aber in 
umgefehrtem Verhältniß, und daher ftärfer, weil Schwarz nody 
dunkler ald Blau, Gelb aber zugleich wärmer ald Weiß ilt; 
aber dad Auge beleidigen fie mehr oder weniger alle. 

Lafjen wir indeß den Zweillang ald zu arm für eigentliche 
Akkordenwirkung beifeite, jo fann, wenn einmal von Dur⸗ und 
MolleZonarten die Rede jein joll, auf Grund der Dreizahl der 
Urfarben, ald Gejeß ausgejprochen werden, daß alle Verbindungen, 
die nur durch 2 theilbar find, aljo der Vierklang, Achtklang ıc., 
weniger energijch,. alſo mehr in Moll wirfen als diejenigen, 
weldye durdy 3 theilbar find, wie der Dreiflang jelbft, der Sechs— 
Hang ꝛc., Obgleich 3. B. der Dreiflang der Urfarben (R. G. B.) 
und jelbjt der der andern 3 Grundfarben (O.N. V.) weniger 
Farben enthält ald der Bierflang R. Go. N. Rv., jo wirft der 
erftere und jelbft der zweite, obſchon im dieiem jogar die Ur- 

XVII. 415. 2 (287) 


18 


farbe Roth fehlt, dennoch energiicher und entichiedener als der 
genannte PVierflang, wie man fih durch Anwendung der be- 
treffenden Schablonen überzeugen fann. Es würde und natürlich zu 
weit führen, dies Geſetz von denverichiedenen Kombinationen, welche 
möglicherweije einerjeitd Dur- Klänge, andrerſeits Moll Klänge 
erzeugen, nachzumetjen; vermittelft der betreffenden Schablonen 
vermag der ſich dafür praftiich intereffirende Leſer dies jelbit mit 
Leichtigfeit durchzuführen und ſich dadurd ein vollftändiges 
Scyema ſowohl für die Verbindungen in Dur, wie für die in 
Moll herzuftelen. Daß übrigens eine joldye Ueberfichtätafel der 
ZTonarten, bei deren Aufzeichnung allerdings eine bejtimmte Gra— 
dation beobachtet werden müßte, weil, wie ſchon bemerkt, die 
Gegeniäße von Dur und Moll im Farbenſyſtem nicht die kon— 
ftante Bedeutung haben wie im Zonjyitem, von großer praftijcher 
Brauchbarfeit wäre, ergiebt fi jchon aus der Erwägung, dab 
3. B. bei Deforirung von Innenräumen eö wejentli von deren 
Beftimmung abhängt, ob in derjelben ein erniterer, oder aber 
ein heiterer Ton anzufclagen, d. h. ob die Wahl der Farben 
fih mehr auf Moll- oder aber auf Dur-Afforde zu richten hat, 
womit fi dann noch die Rüdficht: nach der erniteren Seite auf 
dunflere und fältere, nady der heiteren auf hellere und wärmere 
Stimmung zu verbinden hat. Denn der gehaltvolle Ernſt ciner 
an fih ichon in Moll-Afforden gehaltenen Farbenſtimmung kann 
dadurch noch verftärft werden, daß darin dunflere umd fältere 
Farben ald vorherrihend gewählt werden, wie umgefehrt die 
beitere Freudigfeit einer Durſtimmung durdy Borherrichen hellerer 
und mwärmerer Karben noch an Xebhaftigfeit gewinnt. 

Penn man, im Unterſchied von dem mufifaliichen Gegenjag 
des Dur und Moll, diejen Gegenſatz binfichtlidy der Farben— 
barmonie feinem eigentlihen Wejen nad in's Auge faßt, fo 
fommt er — wegen der erwähnten, gleichmäßigen Verſchiebung 
aller den Afkord bildenden Farbentöne — darauf hinaus, daß 
die Einfachheit der Töne — wie man in der Malerei jagt — 
„gebrochen“, d. h. durdy Miſchung (nicht mit Schwarz und Weit, 
denn died würde nur eine Nitancirung, feine Erweichung be- 
wirken) jondern mit verwandten Farben abgejtumpft wird. „Ge— 
brochene” Farben find daher, abgejehen von ihrem Rangverhält- 
nik überhaupt, an ſich weniger energiich, jomit weicher, und 
wirfen daher im ihrer Verbindung nicht nur milder, jondern 

(288) 


19 


auch ernfter; ein Ernft, der, in Verbindung mit gradweiler 
Berdunfelung, bis zur Düfterheit gefteigert werden fann. 

Gleichſam inftinkftiv werden deshalb für Tanz» und Koncert- 
jäle gewöhnlich einfache und helle Farben, für Andachts-, Arbeits- 
und Repräjentationdräume gebrochene umd dunflere Farben ge— 
wählt; im übrigen aber reidyt dody der bloße Inftinft, d. h. die 
Empfindung für Farbenharmonie zu einer konſequenten Durch— 
führung der Gejeße der Farbenharmonie nicht hin, um mit ab» 
foluter Sicherheit die Wahl der Töne zu beitimmen, wenn ed 
fih um Deforirung ſehr ausgedehnter Innenräume handelt, da 
dieje fi ja nit bloß auf die Wände umd Feniterdraperien, 
Portieren ıc., jondern aud auf Fußböden, Teppiche, Möbel, 
Geräthe u. ſ. w. erftreden, weil alle diefe Elemente zu einem 
harmoniſchen Totaleindrud zufammenitimmen müfjen. Der bloße 
Inſtinkt kann, abgejehen von der nothwendigen Einjeitigfeit des 
immer von der bloßen Modemwillfür beeinflußten jubjeftiven Ge— 
ſchmacks in jolden Dingen, niemals die Sicherheit und Unfehl- 
barfeit erreichen, weldye die auf einem beitimmtem Princip mit 
mathematiſcher Nothwendigfeit bafirte Theorie der harmoniſchen 
Farbenverbindungen befitt; vorausgejeßt, daB Died SPrincip, 
wie in vorliegender Unterfuchung verſucht worden ift, aud dem 
Weſen der Sache jelbft, d. h. auß der Natur der Karben und 
ihrer geſetzmäßigen Beziehungen zu einander, geihöpft ift. 

Gleichwohl it der äfthetiich-gebildeten Empfindung in diefem 
Gebiet immer noch ein großer Spielraum zu gewähren, nämlidy 
hinſichtlich der auf rein jubjeltiven Gefühldmotiven beruhenden 
Beurtbeilung, welche Art von harmonischen Verbindungen für 
jeden gegebenen Fall — und foldyer Fälle giebt ed ja unendlich 
viele — die geeignetfte und naturgemäßejfte fei, d. h. welche dem 
Gerühlsinhalt ded Motivs, dad in dem gegebenen Fall zur 
Geltung kommen joll, am meijten entipredye. Außerdem hat 
der Inſtinkt mwejentlic noch bei der Anordnung der durdy die 
Theorie nur überhaupt zu beftimmenden Farben, jowie bei der 
Enticheidung über die quantitative Vertheilung derjelben 
mitzufprechen, obſchon er in leßterer Beziehung doch auch durch 
die Theorie weſentlich unterftüßt wird, da diefe, außer der Be— 
ftimmung der Farben jelbft, auch den Maßſtab für ihre relativen 
Rangunterſchiede liefert. 

In den meilten Fällen handelt es fich dabei um dad Ver— 
hältniß der Hauptfarbe, des fogenannten „rundes“, 


2. (239) 


20 


zur ornamentirenden Farbe. In diejer Beziehung ift nun 
das allgemeine, aus der Natur der Farbe fließende Geſetz auf- 
zuftellen, daß die Grundfarbe, d.h. die Karbe ded Grun— 
ded!2), nur dann eine wirfjame Ornamentirung durdy 
andere, harmoniſch zu ihr ftimmende Farben zuläßt, 
wenn jie, ald quantitativ dDominirend, qualitativ ge» 
ringeren Rang beſitzt, weil fie fonft die durch dad Ornament 
repräfentirte Zeichnung, und beftände dieje auch nur aus einfachen 
Lineaturen, nicht zur Geltung fommen ließe. Jene jaloppe 
Methode der Teppich: und Zifchdedenfabrifation, vermittelit 
deren beide Flächen ald Hauptjeiten benußt werden fünnen, nur 
daß, was auf der einen Seite ald Grundfarbe erfcheint, auf der 
anderen ald Drnamentfarbe und umgefehrt wirft, z. B. wenn 
ein rother Grund mit ſchwarzem Mujter bei der Umfehrung zu 
einem jchwarzen Grund mit rothem Mufter wird und Aehnliches, 
ift nur unter der einzigen Bedingung zu ftatuiren, daß beide 
Farben nicht nur quantitativ von ziemlich gleihem Werth find, 
fondern daß fie auch beiderjeitö weſentlich ornamental behantelt 
find, jo dab alfo eine eigentlide Grundfarbe nicht vorhanden 
if. Wo ed fidy dagegen um Berbindung mehrerer Farben 
handelt, aljo um Berwendung der harmonijchen Drei-, Vier-, 
Sechsklänge u. |. w., muß immer diejenige Farbe für den Grund 
gewählt werden, melde nicht nur hinſichtlich der Helligfeits- 
oder der Wärmeintenfität, ſondern auch binfichtlich ihres Ranges 
(d.h. bezüglidd des Unterſchiedes zwilchen Ur, Grund» und 
Miichfarbe) am niedrigften fteht, während die anderen Farben 
um jo höher im Range zu wählen find, je weniger fie quans 
titativ von Bedeutung, aber ornamental von Wichtigkeit find. 
Am beiten läßt ſich dies durdy ein paar Beilpiele veranichau- 
lichen. 

Nehmen wir an, der Vierflang R. N. Bv. Go., etwa noch 
in Verbindung mit Schwarz (denn Schwarz und Weiß, als 
Nichtfarben, laſſen fich leicht, ohne die harmoniſche Wirkung zu 
ftören, zu jeder FSarbenverbindung — und oft fehr wirkſam — 
hinzufügen), jolle bei dem Entwurf einer Tiſch decke zur Ver— 
wendung fommen, jo würde fich ald „Grund“, vorausgeſetzt, daß 
diejer quantitativ dominiren joll, am wirkfjamften nur Blau» 
violett, falls der allgemeine Ton ein dunkler, ernfter jein joll, 
dagegen Gelborange, wenn er ein heller, heiterer fein fol, 
darbieten. Nehmen wir weiter an, die Ornamentirung ſolle 

(290) 


21 


wejentlid, darin beftehen, daß der Grund in gewiſſen Abftänden 
von breiten parallelen Streifen in anderer Farbe durchzogen fein 
jolle, die ihrerjeitö wieder in ſymmetriſcher Weije durch andere 
Streifen und Ränder zu ornamentiren wären, jo würde im 
erften Fall, nämlidy bei blauviolettem Grunde, ald Haupt- 
farbe des Streifend zunächſt der fomplementäre Gegenjat Gelb- 
orange zu wählen jein, welcher jeinerjeit3 in der Mitte durch 
einen jchmalen grünen Streifen gefpalten werden fünnte, der 
endlich durch eine noch ſchmalere Linie in Roth, jei e8 in gerader 
oder mäandrijcher oder ſonſt weldyer Geftalt, fontraftirend ge— 
hoben werden müßte. Denn in diejer Wirkung ift die Rang: 
folge der Karben eine umgekehrte, nämlich 1. Roth, 2. Grün, 
3. Gelborange, 4. Blauviolett, und dieje beftimmt die Verwen— 
dungsart der verjchiedenen Töne. Soll nod Schwarz hinzu— 
treten, jo wäre died am beiten, und zwar in Form von fleinen 
matbhematiichen Figuren, in der Mitte des gelborangefarbenen 
Streifend anzubringen, wodurd) diefer, da er die wärmite und 
zugleich hellite Farbe enthält, durch den Kontraft mit der dunfeln 
Farblofigfeit gehoben werden würde. — Im zweiten Fall, wo, um 
den allgemeinen Eindrud der Farbenzujammenftellung hell und 
heiter zu ftimmen, als Grund Gelborange zu nehmen ift, wird 
umgefehrt zunächſt ald Hauptfarbe des breiten parallelen Streifens 
Blauviolett gewählt werden müfjen, das feinerjeitd wieder durch 
Grün zu theilen und dieſes durch Roth zu ornamentiren wäre. 
Hier fann nun Schwarz nit mit Gelborange, da diejed den 
Grund bildet, jondern nur mit der nächfthellen Farbe, nämlid) 
dem Grün, verbunden werden. 

Dergleichen Beifpiele können aus jeder Sphäre eine unend- 
liche Zahl angeführt werden. Da dies uns viel zu weit führen 
würde, jo muß ich mich damit begnügen, hinfichtlich eined Gebiets, 
das von den biöher erwähnten gänzlich entfernt liegt, ja gewifjer- 
maßen einen Gegenjaß dazu bildet, nämlich des deforativen 
Gartenbaus, einige Bemerkungen über die dabei in Betracht 
fommenden Gefichtöpunfte für die Behandlung der harmonijchen 
Farbenverbindungen zu machen. Im Gegenfaß fteht nämlich 
died Gebiet zu den biöher erwähnten, weil in den leteren es 
fi nur um rein künſtleriſche Zwede, allerdings in Beziehung 
auf praftiiche Bedürfniffe, handelt, während dort die Natur 
und deren unwandelbare Formen und Farben e8 find, mit denen 
der äfthetiiche Geſchmack zu rechnen hat, um einen harmoniſch 

(291) 


22 " 

befriedigenden Eindrud hervorzubringen. Durch dieje Gebunden- 
beit an die Natur in Verbindung mit der Forderung einer rein 
äfthetiichen, d. h. nach künſtleriſchen Geſetzen geregelten Wirkung, 
wird gerade auf diefem Gebiet die Löjung ded Problems, nad 
welchen Principien bier die Frage der harmoniichen Farbenver— 
bindungen zu behandeln jei, jehr erjchwert; und es darf daher 
nicht Wunder nehmen, wenn gerade in diefer Ridytung durch 
Mangel an Berftändniß für die Harmonie der Farben die meijten 
und gröbjten Fehler begangen werden. Der ganze Begriff des 
jog. „Zeppichbeeteö” wäre, weil er im Grunte einen Widerjprud 
gegen die natürlihe Schönheit enthält, zu verwerfen, wenn es 
fi bei der Kunftgärtnerei eben nur um Natur- oder genauer 
geſprochen: um landſchaftliche Schönheit handelte. Allein jchon 
der Umftand, daß die fünftliche Kultur der Gewächſe und nament- 
lid der Blumen in Bezug auf Schönheit und Mannigfaltigfeit 
der Farben nnd Formen Erfolge erzielt hat, weldye die Natur 
allein und ſich felbft überlafjen niemals erreichen würde, nament: 
lich aber die nothwendige Berbindung des Gartens mit und in 
Folge deſſen jeine fonfrete Beziehung zu jeiner architeftonijchen 
Umgebung nöthigen zu dem Zugejtändnik, daß in diefem Gebiet 
neben dem rein natürlichen Element auch das fünftleriiche — oder 
jagen wir aufrichtig das fünft liche — berechtigt und zu berüdfich- 
tigen ift; jedoch mit der ausdrücklichen Beichränfung jeder jub- 
jeftiven Willfür, die — wie die geiftloje Zopfftyigärtnerei des 
18ten Jahrhunderts beweift — zu dem widermwärtigiten, jedes 
äfthetiihe Gefühl verhöhnenden Abnormitäten führen fann. 
Vielmehr ift audy bier — d. h. gerade in der Berüdfichtigung 
jener beiden berechtigten Elemente: Natur und Kunft — die 
Möglichkeit und folglid) auch die Nothwendigkeit zu geſetz— 
mäßigen Beftimmungen gegeben. — Handelte ed ſich für uns, 
ftatt blos um Einzelbeläge für die von mir aufgeitellte Theorie, 
um eine gründliche Erörterung der deforativen Gartenbaufunft, 
fo wäre ein Zurückgehen auf das Verhältniß der Natur zur 
Kunft überhaupt nicht zu umgehen. Da eine jolhe principielle 
Erörterung jelbftverftändlich durdy den Zwed diejer Abhandlung 
ausgejchloffen ift, jo fann bier nur rejultatorifdy Folgendes dar— 
über bemerft werden: 

Die Berbindung von Kunft und Natur im deforativen 
Gartenbau deutet von vornherein auf einen doppelten Gefichts- 
punft, auf den man fich bei diejer Frage zu ftellen bat und der 

(292) 


- 23 — 





furz einerjeitö alö der „ſtyliſtiſch-architektoniſche“, andrerjeits 
als der „landſchaftlich-maleriſche“ bezeichnet werben fann. Es 
bedarf nun feiner näheren Erklärung, daß der leßtere vornehmlich 
dann berechtigt fein wird, wo es ſich — wie 3. B. bei großen Park— 
anlagen — um die Hervorrufung der Sllufion handelt, dab die 
Natur jelber und fie allein eö jei, weldye durdy das Arrangement 
ihrer Formen und Farben den äfthetifch-befriedigenden!?) Eindrud 
bewirfe. Hier würde aljo nicht nur die unmittelbare Nähe von 
Gebäuden — mögen fie nody jo maleriſch jein oder gar, nad) 
dem baroden Geihmad des früheren franzöfiichen Gartenbau— 
ſtyls, als chinefiihe Tempelchen, Mufchelgrotten und dergleichen 
Spielereien eined verfünitelten Geſchmacks, zwiſchen majeftätiichen 
Baumgruppen bineingeftellt erjcheinen, — jondern auch archi— 
teftonijch arrangirte Blumenftüde, jog. Teppichbeete, einen ent— 
ichieden unharmoniichen, d. h. die landichaftliche Freiheit der 
Natur-Wirfung jtörenden Eindrud hervorbringen. 

Das Widerjpruchdvolle des jogenannten Zopf- oder Perrüden- 
ſtyls, weldher ja auch — namentlih in Frankreich zur Zeit 
Yudwigd XIV. und XV. — im dekorativen Gartenbau zur 
frivolen Unnatur geführt hat, liegt eben in diejer verkehrten 
Vebertragung architeftoniicher Formen auf das landichaftliche 
maleriſche Gebiet: daher das Werjchneiden der Bäume zu 
Pyramiden, Obelidfen, ja zu grotteöfen Thierformen u. |. f.; 
eine Affeftation und Lügenhaftigfeit, die in dieſelbe Kategorie 
fällt wie die Eofetten Schäferinnen mit Seidenſchürzchen und 
rothen Hackenſchuhen, welche dieje faftrirten Parkanlagen auf den 
Gemälden Watteau’d bevölfern. Es giebt in diejer Beziehung 
nur einen Sall, der eine jcheinbare Ausnahme von der Regel 
bildet, dab im Bereich ded landjchaftlich«maleriichen Garten 
baus die ardhiteftoniiche Stylifirung zu vermeiden ift, nämlich 
das geradlinige Bejchneiden lebendiger Heden; allein der Um— 
itand, daß die lebendige Hede das natürlihe Surrogat für die 
Umzäunung, d. h. für eine weientlich architeftonijche Form, näm— 
lic) für den Zaun oder die Umfaſſungsmauer ift, zeigt, dab dieje 
Ausnahme eben nur eine jcheinbare, im Grunde aljo eine be- 
rechtigte it. — Aber auch dann, wenn wirkliche, wenn aud) 
auf künſtliche Weile hervorgebrachte Natureffefte Dem, was die 
Natur jelber geſchaffen, hinzugefügt werden, um die landichaft- 
lich:malerijche Wirkung zu erhöhen, entiteht für die Empfindung 
ein Widerjpruch, jobald dieſe Natureffefte einen kleinlichen Ein» 


z (293) 


24 


drud machen, indem fie alö eine ſpieleriſche Nachahmung groß: 
artiger Naturwirkungen ſich ermweijen, 3. B. Fünftlid aufgebaute 
#elöpartien en miniature, Wafjerfällhen u. dergl. Derartiges 
ift zwar principiell nicht audzufchließen, allein ed ift mit großer 
Diskretion und unter forgfältiger Berüdfichtigung des Zujam- 
menhangs mit dem landſchaftlichen Xotaleindrud zu behandeln, 
damit ed nicht ftörend wirkt, d. h. eö darf in feiner Weile an 
die Fünjtliche Herftellungöweije erinnern, weil gerade dadurch die 
Unbefangenheit ded Natureindrudö vernichtet wird. 

Umgefehrt ift ed aber ebenjo ein Fehler, wenn man die 
unmittelbare Umgebung von Gebäuden, z. B. die Vorgärten 
bei Billenanlagen oder auch bei ftädtiihen Bauten, ftreng land: 
Ichaftlih, d. h. mit ſcheinbar natürlicher Freiheit behandeln 
wollte. Hier ift, um die maaßgebende architektoniſche Wirkung 
des Gebäudes nicht in einen fleinlidyen Widerfprud) mit der 
Naturwirfüng zu bringen, von jedem auf die Sllufion einer 
landſchaftlichen Schönheit abzielenden Arrangement abzujehen, 
d. h. es ift, ebenjo wie oben der landſchaftlich-maleriſche, bier 
der Geſichtspunkt arciteftonisher Stylifirung einzunehmen. 
Nicht ald ob Strauchwerk und Bäume überhaupt dabei auöge- 
jchlofjen wären, aber fie müfjen ſymmetriſch, nicht in affektirter 
ſcheinbarer Unregelmäßigfeit gejegt jein; hauptſächlich aber iſt 
bier .der richtige Pla für geſchmackvoll auf Grasplägen arran- 
girte Teppichbeete, die ſogar in den figurirten Begrenzungs- 
linien fi dem Styl des Gebäudes anzufchließen haben. Was 
die Wahl der Farben für joldye Beete betrifft, jo findet man 
aud bier nicht jelten Zufammenftellungen, welche theils „ichrei- 
end“ wirken, theild wegen Mangeld an richtiger Kontraftirumg 
effektlos oder unharmoniſch find; und in diejer Beziehung. if, 
unter Hinmweijung darauf, dab ed meiftens zwei Farben find, 
weldye als feititehende Grundfarben das Regulativ für Die 
Wahl der Blumenfarben der Teppichbeete bilden — nämlidy das 
jaftige Grün des Raſens, worauf diefelben itehen, und das einen 
ſchon fomplementären Gegenſatz zum Grün bildende Rothorange 
der mit rothem Sande beftreuten Wege, welde das Terrain 
durchichneiden — zu bemerfen, daß die für die Teppichbeete zu 
wählenden Farben ftetö ſei es in fontraftrirender, ſei es in ver: 
mwandter Beziehung zu jenen beiden, den Grund bildenden Farben 
ftehen müſſen. Wird dies nicht berüdfichtigt, jo wird die 
Wirkung der unter ſich vielleicht ſehr harmonifchen Farben: 

(294) 


25 


zujammenitellungen entweder vernichtet, oder die Teppichbeete 
machen den Eindrud einer zufällig darauf geflebten Farbeninfel, 
die außer allem Zulammenhang nicht nur mit dem Vorgarten: 
terrain, jondern mit dem Bauwerk überhaupt ſteht. Melde 
Farben aber — unter der obigen Berüdfichtigung der beiden 
Grundfarben — für jeden gegebenen Kal zu wählen find, 
darüber ift einfach, unter Zuhilfenahme der Scdyablonen, meine 
Farbentafel zu befragen. 

Ich muß mid) mit diejen beiden Beilpielen begnügen, meil 
es viel zu weit führen würde, aus jedem einzelnen Gebiet, das 
fih für die Verwerthung harmoniſcher Farbenverbindungen 
eignet, auch nur einen einzigen Fall in näheren Betracht zu 
ziehen; aber aud) ſchon dieje beiden Beijpiele geben wenigjtens 
ein praftiiches Negulativ, wie man im gegebenen Fällen auf 
analoge Weije zu verfahren hat. Zweierlei Punkte werden jedoch 
bei der Behandlung praftiich gegebener Fälle immer zu berüd- 
fichtigen fein: nämlich 1. ob die Verbindung zweier Farben den 
Zwed hat, die eine durch die andere vermittelft Kontraftwirfung 
zu heben, oder ob 2. zwei mit einander fontrajtirende Karben 
durch eine dritte, zu beiden ftimmende, zu vermitteln find. 
Auch in diefer Hinficht ift der ältbhetiihen Empfindung viel 
Spielraum gelafjen, obgleich ſowohl im eriteren wie im zweiten 
Fall die Wahl der Farbentöne jelbit nur durd) die Theorie mit 
Genauigkeit beftimmt werden fann. Sit im zweiten Fall der 
Kontraft zu fchroff, fo daß die Karben, wie man fi ausdrüdt, 
gegeneinander „Ichreien“, jo entiteht für die eine oder andere 
Farbe der Eindrud, den man in der Malerei mit „giftig“ be- 
zeichnet; ift (im erſten Fall) der Kontrait zu ſchwach oder 
wenigftend die eine zu „hebende“ Farbe nicht energiſch genug, 
jo wird der Zwed der Hebung nicht erreicht, ſondern es findet 
nur eine charafterlofe Neutralijation der Wirkung, eine Ab- 
ſchwächung — anitatt, wie beabfichtigt ift, eine Berftärfung — 
ftatt. An fi ift freilich eine Karbe weder „ſchreiend“ noch 
„giftig“, jondern fie wird es — und zwar gerade die reinften 
und intenfivften am leichteften, — erit dann, wenn fie in uns 
harmoniſcher Verbindung fteht oder aber unvermittelt mit einer 
andern Farbe verbunden ift. 

Es war oben von fubjeftiven Gefühldmotiven die 
Rede, durch welche fidy die äfthetiiche Empfindung bei der Ent- 
ſcheidung über die Wahl von harmoniſchen Karbenverbindungen 

(295) 


26 


beftimmen lafſen müffe. Auf diefem Zuſammenhang zwilchen 
dem Gefühlömotiv und dem jpeciellen Charakter der Farbenver- 
bindung beruht Das, was man in der Malerei „Stimmung 
nennt; ein Ausdrud, der wie die Ausdrüde „Klang“ und „Ton“ 
ebenfalld der Mufif entnommen ilt, aber gleich diefen bei der 
Uebertragung auf die Farbenanſchauung ſich feiner urjprünglid) 
ftofflihen Bedeutung (in dem Sinn: Stimmung eined Inſtru— 
ments) entledigt hat, um eine höhere, ideelle, anzunehmen. 

Im leßteren Sinne ift nun an dem Begriff der „Stimmung“ 
eine doppelte Seite zu unterjcheiden, eine jubjeftive und eine 
objeftive. Die erjtere bezieht fi) auf die Empfindung des 
Subjefts, z. B. wenn davon die Rede ift, dab Semand heiter 
oder ernſt „geitimmt“ jei, die zweite bezeichnet den diejer jub» 
jeftiven Stimmung entſprechenden Charakter der Karbenwirfung 
jelbft. Der Zuſammenhang zwiidyen beiden Seiten, deſſen 
innere Nothwendigfeit jchon aus den obigen Bemerfungen über 
die Dur» und Molltonarten in den Farbenafforden fich ergiebt 
und unten noch näher erläutert werden wird, ift ein weſentlich 
ipmboliicher, d. h. die fubjeftive Stimmung der Emfindung 
jpiegelt ſich ebenſowohl in der Karbenftimmung wieder, wie umges 
fehrt durch den ipecifiichen Charakter der Farbenftimmung (3. B. 
bei Ausihmüdung von Innenräumen, wie oben jchon erwähnt) im 
Subjekt eine diejem Charakter entſprechende Gefühlsſtimmung 
hervorgerufen wird. Diejer Punkt ift, ald rein äſthetiſcher 
Natur im eigentlichften Sinne des Worts, infofern nod 
etwas näher in's Auge zu fullen, als bisher meift nur von 
dem Stimmungdcarakter ganzer Farbenakkorde die Rede geweſen 
ift, während das hier in Frage ftehende ſymboliſche Stim- 
mungögepräge jchon durch den jpecifiihen Charafter der ein— 
zelnen Farben jelbit, aus denen die Akkorde ſich zujammenfegen, 
bedingt ift; d. h. ed handelt fih um die jogenannte „Symbolik 
der Karben." 

Bekanntlich ift, jelbft von den Phyſikern, mit der Farben 
ſymbolik viel Unfug getrieben worden; wir haben uns deshalb, 
um eine jede ſpieleriſche Willfür und überhaupt jede Phantaftif 
davon auszujchließen, vor allen Dingen flar zu machen, was 
bier eigentlich unter dem Ausdrud des „Symbols“ zu verftehen 
it. Das Wejen ded Symbols überhaupt beiteht darin, daß 
eine Idee zu einem beliebigen materiellen Gegenftand von einer 
gewifjen Form oder Farbe in äußerliche Beziehung gebracht 

(296) 


27 





wird. Solche Vorftellungsweije hat nun zunächit etwas Plumpes, 
die Idee in's Materielle Herabziehendes, außerdem aber nod) 
den Nachtheil, dab das Symbol niemals die Idee ſelbſt in 
ihrer Reinheit, jondern nur in ganz entfernt andeutender und 
noch dazu meift willfürlicher Weije zu bezeichnen im Stande 
ift. Aber gerade deshalb hat das Symbol für alle mwejentlic) 
in die Materie, d. b. in's Unbeftimmte und Wejenlofe, verjenften 
Gemüther etwas jehr Anmutbendes, weil es der fih mit Vor— 
liebe im Zwielicht halbflarer Empfindungen richtungslos ergehen 
den Phantafie den weitelten Spielraum gewährt. Das Gepräge 
deö Geheimnihvollen überdies, welches für alle „Uneingeweihten“ 
dad Symbol nody mit einem beionderen Reiz umkleidet, ift 
feineswegs ein Geheimniß des Gedanfens, d. h. eö beruht nicht 
auf der Tiefe der dadurdy angedeuteten Idee ſelbſt, jondern auf 
der bloßen Willfürlichfeit deö äußeren Zufammenhangs zwilchen 
dem Dinge und feiner hineingeheimnißften Beteutung: furz 
das Symbol genießt eine ganz unberechtigte Achtung; freilic) 
genießt es diefelbe im Grunde nur bei denen, die jelber unklar, 
willfürlidy und abhängig von der bloßen Stofflichfeit find, nicht 
aber bei denen, welche die Idee im ihrer Reinheit zu fallen fich 
getrieben fühlen; denn dieſe bedürfen feines jolhen unreinen 
Surrogats. 

Bon diefer Bedeutung des „Symboliſchen“ ijt jelbitver- 
ftändlich bei unfrer Betrachtung der Farben hinfichtlidy ihres 
Stimmungscharakters nicht die Rede, jondern hier handelt es 
fich vielmehr gerade um den nothwendigen inneren Zuſammen— 
bang zwiſchen Gefühlömotiv und Farbenftimmung!t). Im 
diefem jubftanzielleren und darum allein ideell berechtigten Sinne 
it num zu jagen, daß nicht nur — wie gezeigt — den Farben- 
afforden, je nad der Qualität und dem Range der zu ihnen 
verbundenen Farbenflänge eine ſymboliſche Beziehung zu ſub— 
jeftiven Gefühlömotiven beimohnt, jondern dab die einzelnen 
Farben jelber ſchon durch ihre fpecifiihe Verſchiedenheit ein 
jolhes ſymboliſches Gepräge zeigen, welches — wie leidht be- 
greiflih — außer durch ihre Werthftellung überljaupt, aud) 
durh dad befondere Verhältniß zwiſchen der Hellig— 
feitd- und Wärmeintenfität in ihnen begründet iſt. 
Das früher! 5) über die Vervollftändigung des Goethe'ſchen Ur— 
phänomens durch den Nachweis der Differenz zwijchen diejen 
beiden Momenten Gejagte enthält, obſchon dort der Ausdrud 

(297) 


— 


„ſymboliſch“ nicht gebraucht iſt, im Grunde ſchon alle Elemente 
zur Beſtimmung des ſymboliſchen Charakters der Farben, ſo 
daß es eines Beweiſes dafür nicht mehr bedarf; reſultatoriſch, 
d. h. als Konſequenzen jener Erörterung, mögen daher nur 
folgende Punkte hervorgehoben werden: 

A. Die durch den Gegenſatz von „Weiß“ und 
„Schwarz“ repräfentirte Sarblofigkeit hat, ald Aufhebung der 
Farbigkeit überhaupt, in Beziehung auf dieje, das allgemeine 
Gepräge deö Abftraften, d. b. der organiſchen Leblojigkeit. 
„Sm farbigen Abglanz haben wir dad Leben“, jagt Goethe jehr 
wahr. Hierin, nämlidy in der Negation der Karbigfeit, ftimmen 
beide überein, daher auch nicht blos Schwarz, jondern aud) 
in Verbindung mit demjelben oder mit Grau, d. bh. mit 
einer Zwiſchennüance beider, Weih als „Zrauerfarbe” verwendet 
wird. Ohnehin it Schon (in der Einleitung zu Abth. I) auf die 
durch Weiß hervorgerufene Erinnerung am den Winterjchnee, 
d. h. an den Todesſchlaf der Natur und die damit fich ver- 
fnüpfende Empfindung der Kälte hingewieſen worden. Gleich— 
wohl mwaltet zwiſchen Weiß und Schwarz ein fehr erheblicher 
Unterfhied ob, der — unter dem Borbehult, daß damit Fein 
polariiher Gegenſatz ausgedrüdt werden fol — ſchlechthin 
ald „pofitive" und „negative” Seite der ihnen gemeinjamen 
Abftraftivitätät bezeichnet werden fann, indem Schwarz, das 
nicht nur, wie Weiß, Aufhebung der Farbigfeit, jondern aud) 
Aufhebung des Lichts überhaupt ift, im eminenten Sinne als 
reine Negation, d. b. ald Surrogat der abfoluten Finiterniß, 
totale Unlebendigfeit und Bewegungsloſigkeit, aljo den 
Tod in jeiner abjoluten Bedeutung ausdrüdt. Diefem Ertrem 
gegenüber bejitt nun dad Weiß, ald Surrogat ded Lichts, 
eine ebenjo entichiedene pofitive Bedeutung, d. h. ed drüdt 
abjolute Bewegung und abjolute Lebendigkeit aus. 
Hiermit aber geht es ebenfalld über dad organiſche Leben und 
deſſen Formen binaus, da bier immer nur relative Bewegung 
und relative Zebendigfeit herricht; relativ deöhalb, weil fie ftets 
mit Elementen der Ruhe und des Todes verſetzt find und 
daher, wenn diefe die Herrihaft gewinnen, audy mit dem Tode 
und der Ruhe des Grabes enden. Diefe abjolute, oder richtiger 
pofitivsabftrafte Bedeutung des Weiß ald Surrogat des reinen 
Lichts eignet ed au zum Symbol mandyer menjhlichen Eigen- 
Iihaften, denen man — obwohl fie thatfähhlihd immer nur 

(298) 


29 


relativ fein können — doch in metaphoriicher Weile abjolute 
Bedeutung beilegt, 3. B. um die vollfommene Unjhuld, 
Lauterfeit des Charafterd und Reinheit der Empfindung zu 
bezeichnen, weöhalb „Keftjungfrauen“ in weißen Kleidern erjcheinen 
müffen und „Engel* weib gekleidet vorgeftellt werden. Denn 
dieſe Abftraftivität verleiht dem Weiß jogar etwas Unirdijches, 
zunädhit aljo einen negativen Sinn, der fidh aber für die Vor— 
ftellung leicht in den pofitiven des „Weberirdiichen“, d. h. 
Himmliſchen u. |. f. verwandelt. 

Was dad Grau, d. b. die zwiſchen den Ertremen des 
Weit und Schwarz aufs und abfteigende Leiter der Karblofig: 
feit, betrifft, jo participirt e8 zwar, je nachdem es fid) mehr 
nach der eriteren oder nad) der zweiten Seite hin nüancirt, 
d. b. heller oder dunkler erjcheint, an den entipredyenden Eigen- 
ihaften der Ertreme; das richtige, nämlih in der Mitte 
zwijchen den Ertremen liegende Grau hebt aber jo jehr die 
charafteriftiichen Eigenjchaften des Weib und Schwarz auf, daß 
ed geradezu ald Symbol der Unentſchiedenheit, Energie» 
lofigfeit und Langenweile gelten fann; ein Gepräge, dad es 
auch in den ſich den Ertremen nähernden Nüancen mehr oder 
weniner zeigt, da auch diejen die volle Energie jomohl der ab— 
joluten Xebendigfeit ald die der abioluten Todeskälte mangelt. 
Dennoch befigt auch das Grau eine gewiſſe Abftraktivität, indem 
ed zwar das allen Farben anhaftende „Trübe“ (das Göthe'ſche 
oxıeoov, dad Schattige) repräfentirt, aber dabei gerade von Dem 
abitrahirt, was die Schönheit und Kraft der Farbe ausmacht, 
nämlich eben von der Farbigfeit. Im diefem Sinne ift das 
Wort ded Mephiftopheles zu verftehen: „Grau, Freund, ift alle 
Theorie, nur grün des Lebend goldner Baum“. Denn die 
bloße Theorie, in ihrer rein abftraften Bedeutung, iſt das 
mejentlich Unlebendige und daher Langweilige. 

Eine bejondere Bedeutung gewinnen Weiß und Schwarz 
(nit Grau), wobei aber ihr fpecifiiher Charakter aufgehoben 
wird, dadurd, dab fie ald Surrogate der Erhellung und Ber- 
dunlelung eine Miſchung mit den echten Farben eingehen, woraus 
die durch die verjchiedenen Zonen repräjentirten Nüancen zu 
beiden Seiten der in der Mitte liegenden, d. h. ungemijchten, 
reinen Farbe entftehen. Daß dieſe Nüancen, der reinen Farbe 
gegenüber, den Einfluß ſolcher Mifhung mit der Farblofigkeit 
offenbaren müffen, ergiebt fich als nothwendig und bekundet fidy 

(299) 


30 


nach beiden Seiten hin darin, dab fie in demjelben Grade an 
Energie verlieren, in welchem fie fidy von der reinen Farbe ent- 
fernen, nur daß die Erhellung durdy Weiß einen mehr heiteren, 
die Berdunfelung durch Schwarz einen mehr düfteren Charakter 
zeigt, wie denn beijpielömeije N oja einen zwar energielojeren, aber 
auch freundlicheren, Dunkelroth dagegen zwar ebenfalld einen 
energielojeren, aber auch erniteren Cindrud ald reined Roth 
maden. Im Allgemeinen ift der Einfluß folder Mijchung mit 
Weiß und Schwarz; mit den verjchiedenen Farben ein außer» 
ordentlid mannigfaltiger; zugleich zeigt fi aber auch hierin 
wieder die große Verſchiedenheit zwiſchen der Helligfeitd- und 
MWärmeintenfität, injofern alle Farben ſowohl durch Berdunfe- 
ung wie durh Erhellung an Wärme verlieren, während 
durch Verdunfelung die dunklen noch dunkler, durch Erhellung 
die hellen noch heller werden. Daß übrigens durch foldye 
Modififationen audy die ſymboliſche Bedeutung, welche die reinen 
Sarben befigen, wejentlidy mobdificirt werden muß, liegt auf der 
Hand. Betrachten wir daher jebt dieſe reinen Farben jelbit 
binfichtlich ihres bejonderen ſymboliſchen Charakters. 

B. Bor allem ift der doppelte Gegenſatz zwijchen den beiden, 
durch die reipeftiven Durdymefjer ro. bn und rv. gn getheilten 
Halbfreijen der Helligfeitö- und Wärmeintenfität — binfichtlidy 
der zwijchen diejer obwaltenden Differenz der Symbolität — im 
jeiner Allgemeinheit ind Auge zu faffen; denn eben auf 
die Nichtberüdfichtigung diefer Differenz!6) gründet ſich Die 
bisher von Allen, welche fid) mit der Theorie der Karben und 
ihrer harmoniſchen Bezeichnungen bejchäftigt haben, ausnahmlos 
geübte Willkür in der Deutung ihres ſymboliſchen Charakters. 
In dieſer Hinfiht ift mun zu jagen, daß, da einerjeitd die 
„hellen“ Farben einen beitereren Charakter ald die dunflen, 
andererjeitd die „warmen“ Farben einen affeftvolleren 
alö die falten befiten, in den Fällen, wo ſich einerſeits Hellig- 
feit mit Wärme verbindet, (wie in Drangeroth, Drange, 
Drangegelb, Gelb und Gelbgrün) der allgemeine Charafter der 
Sarbe zugleidy das Gepräge der Heiterfeit und des Affefts, wo 
ſich andererjeitö Dunfelheit mit Kälte verbindet, (wie in Roth» 
violett, Violett, Blauviolett, Blau, Blaugrün) der allgemeine 
Eindrud ein düfterer und zugleich jaffeftloferer fein wird — und 
zwar in beiden Källen in einem, dem verichiedenen Miſchungs— 


verhältniß der Farben analogen Grade fi mohdificirend. 
(300) 


31 

So ift 5. B. Drangeroth zwar affeftvoller, aber weniger 
heiter ald Gelbgrün, Drange affeftvoller und heiterer als 
Drangeroth, aber zwar affeftvoller, jedody weniger heiter als 
Gelb, Gelb jeinerjeitd wieder affeftvoller und heiterer ald Gelb» 
grün u. ſ. f. Das Umgefehrte findet auf der — wie wir fie 
jeßt wohl, ohne mihverftanden zu werden, nennen können — 
negativen Seite ftatt: hier ift Rothviolett düjterer, aber doch 
afreftvoller ald Blaugrün, Violett dülterer und affeftlofer als 
Rothviolett, aber zwar affeftvoller, jedody weniger heiter als 
Blau, Blau feinerjeitö wieder affeftlofer und düfterer ald Blau— 
grün u. ſ. f. Die bier mit einander verglichenen Farben fallen 
wie der Leſer erfennen wird, in die einander dedenden Partien 
der beiden Skalen, deren Begrenzungslinien eben durch die Durch» 
mefjer ro. bn und rv. gn beitimmt find. Was daher die vier 
in dieſe Durchmefier fallenden Farben Rothorange, Gelbgrün, 
Blaugrün, Rothviolett betrifft, jo wird bier, da das Miſchungs— 
verhältniß zwijchen Wärme und Helligkeit einerjeitö und zwijchen 
Kälte und Dunfelheit andererjeitd — }/, ift, dem entiprechend 
auch der Charakter der einander entgegengejeßten Farben an 
diefer Halbirung theilnehmen, d. h. Rothorange und Blau: 
grün haben einen gleichen Helligfeitd:, aber cinen entgegen: 
gejegten MWärmegrad, Rothviolett und Gelbgrün einen 
gleichen Wärme-, aber entgegengeiegten Helligfeitögrad. 

&8 bleiben mithin unter den 12 Farben des Farbenkreiſes 
nur nod) zwei, nämlid) das fomplementäre Farbenpaar Blau: 
violett und Gelborange, von denen wir nody nicht wiljen, 
ob und wie ſie fi im fpecifiichsprincipieller Weiſe von den 
anderen #arbenpaaren und jpeciell von den anderen beiden 
Milchfarbenpaaren unterjcheiden. — Was allen Farbenpaaren 
gemeinjam ift, das ift, daß ihre fomplementären Glieder ſowohl 
in Bezug auf Helligkeit wie auf Wärme einen diametralen 
Gegenfaß bilden, d.h. daß bei ihnen ſowohl die Helligfeitö- wie 
die Wärmeintenfität im umgefehrten Verhältniß ftehen: aber 
nur ein einziged von allen zeigt diejen Gegenjag im Ertrem 
der Verbindung der beiden Elemente, d. h. in der Form, 
dat in dem einem Gliede Helligkeit und Wärme, in dem anderen 
Dunfelheit und Kälte zugleich den relativ höchſten Grad 
darftellen, und Dies eine ilt eben das hier in Frage jtchende 
Paar Blaupviolett und Gelborange, und zwar aus dem 
einfahen Grunde, weil eritere Farbe zugleich zwiſchen der 

(301) 


32 


dunfelften und fälteften, die andere zugleicy zwijchen der helliten 
und wärmſten Farbe in der Mitte liegen. Wenn man jid 
(ſ. Fig. 2) die theild pofitiven, theild negativen Marimalpunfte 
der Helligkeits- und Wärmeintenfität, nämlih G. O, V. B,, 
mit einander durch gerade Linien zu einem rechtwinkligen 
Parallelogramm verbunden denkt, fo bilden bv— go einen 
zwilchen den Zangjeiten des Parallelogrammd parallel liegenden 
Aequator, d. h. fie find die ausgleihenden Produkte einer- 
jeitd der höchiten Helligkeit mit der höchſten Wärme, anderer: 
ſeits der höchften Dunkelheit mit der größten Kälte. Dies ift 
aud der Grund, warum ihre Berbindungslinien auf dem Durch— 
meſſer RN, in welchem ſich ebenfalld ein Ausgleich, nämlidy 
zwijchen den Grenzfarben (ro. bn—rv. gn) vollzieht, rechtwinklig 
ftehen müfjen, weil Roth und Grün ihrerſeits das einzige 
Farbenpaar varitellen, welches in dem Umfehrverhältnik von 
Helligkeit und Kälte die geringfte Differenz zeigt, während in 
Blauviolett und Gelbrotly die relativ größte fich offenbart. 
Hiermit iſt neben der principiellen Wichtigkeit der beiden Grenz- 
farbenpaare (ro. bn und rv. gn) audy die dieſes leßten Miſch— 
farbenpaares eriter Ordnung (bv. go), ald in mejentlicyer Be— 
ziehung zum Rarbenpaar Roth: Grün ftehend, nachgewieſen 
worden, weshalb wir dieſe drei primären Mifchfarbenpaare mit 
den drei Grundfarbenpaaren zuſammen geradezu ald die 12 Haupt» 
farben des Farbenfreijes bezeichnen können 17). Ein Blid auf das 
Schema (S. Fig. 12 u. 13 der erften Abth.) zeigt, daß (Roth und 
Grün, ald die Herricher im Farbenfreije miteingerechnet) alle 
12 $arben ihre jpecifilch-principiellen Stellungen einnehmen. 

Dies Alles find Beftimmungen, die fi mit mathematijcher 
Genauigkeit nachweijen laſſen und die folglich, auf den Charakter 
der Farben hinfichtlicy ihred Empfindungseindrudd übertragen, eine 
entiprechende Sicherheit in der Auslegung ihrer ſymboliſchen Be— 
deutungen gewähren. Was darüber hinaudgeht, iſt lediglidy Phan- 
tafterei, die feinen anderen Werth hat, ald poetiſch veranlagte Ger 
müther in eine angenehme Aufregung zu verjeßen. Auf den Charaf- 
ter, beiipieläweije 1. der oben genannten zwei Grenzfarbenpaare 
— wie wir dieje an den beiden Durchmefjern ro - bn und rv-gn 
ftehenden Farben nennen fünnen — übertragen, wäre aljo zu 
jagen, daß Rothorange und Blaugrün gleiche Heiterkeit 
befiten, erfteres aber in demjelben Grade affektvoll wie leteres 
affektlos ift, während Rothviolett und Gelbgrün gleidy 

(302) 


33 


affeftuoll find, aber lettered ebenſoviel Heiterkeit wie jenes 
Düfterheit beſitzt; 2. auf den Durchmeſſer bv-go übertragen: daß 
Gelborange ebenjo heiter und affektvoll it wie Blaupviolett 
düfter und affeftlos. 

Unter allen diejen, nady ihren verjchiedenen ſymboliſchen 
Beziehungen betrachteten Farben ift bis jett Roth und Grün 
nur beiläufig genannt worden, weil dies die beiden einzigen der 
12 auf unſerm Karbenfreife vorfommenden Farben find, melde, 
wie bemerft, nicht in die einander dedenden Partien der 
Helligkeitd- und Wärmeſkala fallen; weshalb fie audy auf dem 
Schema (Fig. 12) allein ohne Bezeichnung ſtehen. Allerdings 
fallen die zwiſchen ihnen und den nädıften Grenzfarben liegenden 
Miſchfarben zweiter u. |. f. Ordnung (rro, bnn, rrv, gnn) eben 
falls in die freien Flächen, welche Roth und Grün beberrihen; 
aber es zeigt fi, abgejehen von ihrem niederen Range 
ald jefundärer Miichfarben, im ihnen ein foldyed Uebergewicht 
von Roth, bezw. Grün, dab fie falt nur ald Nüancen der 
leßteren betrachtet werden fünnen. Im Spitem nehmen daher 
die vier Grenzfarben, abgejehen von ihrem höheren Range 
ald primärer Mijchfarben, fomwie das ebenfalld primäre Miſch— 
farbenpaar Gelborange und Blauviolett, feined ertremen 
Charakters wegen, eine principiell wichtige Stellung ein, die 
ihnen, im Verein mit den Grund, bezw. Urfarben, vollen Ans 
ipruch auf den Ehrentitel „Hauptfarben” verleibt.e Mas die 
jombolifche Bedeutung des Farbenpaard „Roth-Grün“ betrifft, 
jo wird — unter vorläufiger Hinweijung auf das über ihre 
Stellung ald Herriher im Farbenkreiſe früher Geſagte — 
diejelbe in der Betrachtung der ſymboliſchen Bedeutung 
jeder einzelnen Hauptfarbe, zu der wir nunmehr über- 
gehen, ihre Berüdfichtigung finden. Am naturgemäßeiten wird 
diefe Betrachtung verfahren, wenn dabei die einander gegemüber- 
ftehenden Farben, da fie ftetd dem entgegengeleßten Charakter 
zeigen, d. b. die Glieder jedes Karbenpaared, zuſammengefaßt 
werden. 

1. Gelb und Biolett drüden als Ertreme der Helligfeitö- 
ala den ftärfften Gegenſatz zwiſchen heiterer und ernfter 
Stimmung aus; beide befigen, ähnlich wie Weiß und Schwarz, 
wenn auch nicht in jo ertremer Weife, etwas Abftraftes: Gelb, 
weil ed ald Farbe dem reinen Licht, Violett, weil es der reinen 
Finſterniß am nächſten ftebt. Reines Licht aber und reine 

xviii. 415. 3 (303) 


34 


Finiterniß, oder — was bier auf dafjelbe herausfommt — Weiß 
und Schwarz, als ihre reipeftiven Surrogate, haben die 
gemeinjchaftliche Eigenichaft der „Sarblofigkeit”: jo kann man 
fagen, daß Gelb und Violett die relativ farblofeiten Farben 
find, d. h. diejenigen welche die geringite Energie ald Farben 
zeigen, nur dab „Gelb“ nod nicht dem in den übrigen Farben 
zur Wirkung gelangenden Grad der Energie erreicht, während 
„Biolett” ihm bereits eingebüßt hat. Gelb wie Violett befiten 
demzufolge am menigften jinnlihe Materialität als Karben; 
jenes, als pofitiv, repräfentirt daher eine gewiſſe Idealität, d. h. 
höchſte Lebenskraft, im rein geiftigen Sinne, meil es 
auf die Urquelle alle Lebens, auf das himmlische Licht, hin- 
deutet. Dieje in jeiner Natur begründete Bedeutung erklärt es 
vielleicht, warum der Katholiciömus, der von jeher einen feinen 
Inſtinkt nicht nur für Karbenpracht überhaupt, jondern auch für 
Farbenſymbolik gezeigt, Gelb oder vielmehr feinen irdiihen Ver: 
treter, das Gold, vielfach jogar mit dem noch abjtrafteren Weit 
verbunden, zu reichen Stidereien an Ornaten verwendet, 
während der nüchternere, mehr an den Beritand ald an die finn- 
liche Phantafie ſich wendende Proteitantismus fid) naturgemäß 
auf die Verwertung des ebenfalld nüchternen Gegenjaßes von 
Weit und Schwarz, den Bertretern der abjtraften Sarblofigteit, 
beichränfen zu müſſen glaubt. Goethe, der irrthümlich Gelb 
als die wärmfte Farbe betrachtet, macht amdererjeits jehr richtig 
darauf aufmerfjam, dab feine Farbe jo empfindlidy gegen die 
geringfte Verunreinigung ift, und erklärt daraus, daß, weil es 
durdy ſolche Verunreinigung den Charakter idealer Reinheit jofort 
einbüßt, diefer dadurch in's entgegengejeßte Ertrem umjchlägt, d. b. 
das unreine Gelb zum Symbol der Schande und des Miß— 
behagend werde. Gr meint, dab daher die gelben Hüte der 
Banquerottirer, ſowie die gelben Ringe auf den Mänteln der 
Juden entftanden jeien. Sm fittliber Beziehung kann man 
diejem unreinen Gelb noch die Bedeutung des Neidiichen, 
Heimtückiſchen, ald Gegenſätze zur idealen Gefinnung, untere 
legen. 

Violett bildet nun infofern den diametralen Gegenfaß dazu, 
als es, dem Schwarz, als dem Symbol der Leblofigfeit und 
Todestrauer, zunädhftitehend, den Eindrud ded Melancholiſchen, 
der Nejignation und wehmuthsvoller Ruhe madt. Es 
zeigt mithin ebenfalld eine Abwendung vom Irdiſchen, aber nicht 

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35 





wie das Gelb, in pofitiver Weije, jondern negativ ald Ent- 
jagung: diejer Charakter erklärt nidyt minder jeine Anwendung 
zu gewifjen Zweden im Katholiciömus, 3. B. die violetten 
Strümpfe der Biſchöfe; wie ed denn aud) unter den verjchiedenen 
Büßerorden neben den jchwarzen, weißen, grauen u. ſ. w. aud) 
violette Brüdergemeinden giebt. Wie Goethe (und ihm nad): 
ipredyend viele Andere) im Bioletten den Eindrud der Unruhe 
bat finden fönnen, ift mir unerflärlih. Der Antbeil, den das 
Roth an ihm hat, verleiht ihm nur, gegen dad Blau gehalten, 
eine gewifle Wärme, die jeder Empfindung, aljo auch der der 
Nefignation, der Wehmuth, der Sehnjudht u. |. w. zufommt; 
allein das Element der Ruhe, die fi in dem Gharafter der 
Entjagung ausſpricht, ift doch das entichieden Vorherrſchende 
darin. Sein ſpecifiſcher Eindrud ift der des Ernſtes, als Re— 
jultat der durch Zebenserfahrung verloren gegangenen Sllufionen. 

2. Drange und Blau, ald Ertreme der Wärmejfala, 
drüden den jtärfften Gegenſatz zwiſchen affeftvoller und affekt- 
Iofer Stimmung aus. „Drange“ ift daher dad Symbol der 
affeftuollen Wärme überhaupt; andererjeitö befißt ed, durch das 
in ihm vertretene reine Gelb beeinflußt, immerlbin noch — 
namentlidy im Vergleich mit Roth, der affeftvollften und darum 
aud) efreftvollften Farbe — das Gepräge einer gewiſſen Spealität, 
div feine Glut nicht gänzlidy auf das Niveau blos irdiſcher Leiden— 
Ichaftlichkeit herabfinfen läßt. — Es haftet ihm dadurch noch ein ge= 
wiſſes Pathos der Erhabenheit und eines gleichſam überirdijchen 
Glanzes an, weldyes es naturgemäß zum Symbol der Majejtät 
und hoher Pracht ftempelt, injofern fidy in der Vorftellung der 
Majeftät die irdiihe Macht und Größe zu einer ehrfurdyt- 
gebietenden Hoheit erhebt, die gleichſam den Titel „von Gottes 
Gnaden" zu rechtfertigen jcheint. — Den polaren Gegenjat dazu 
bildet nun „Blau“, die Farbe der reinen Affektlofigkeit; es ift 
als fältefte Farbe das Symbol der Ruhe, der Keidenjchaftslofig- 
feit und Imdifferenz; aber, da es immerhin Farbe bleibt, d. h. 
ein Zebendelement der Empfindung behält (nicht, wie das Schwarz 
die abjolute Ruhe und Xeblofigfeit ausdrüdt), jo bezeichnet e8, 
auf die Empfindungsiphäre bezogen, alle diejenigen Empfin- 
dungen, weldye einen eigentlichen Affeft ausjchließen: Treue, 
Beiheidenheit, Beftändigfeit, Sanftmuth u. ſ. w., aud) 
wohl Sehnſucht, aber ohne darin die im Violetten anflingende 
Herbigkeit melandyolifcher Refignation fühlbar zu machen. Man 

3* (805) 


36 


fann e8 auch, auf feinen Charakter gehaltvoller Ruhe bin, 
ald das Symbol des Phlegmas, aber auch der veritändigen 
Ueberlegung und des philofophiichen Denkens betrachten. 

3. Gelborange und Blauviolett, ald die beiden zwiſchen 
dem Marimum der Helligkeit und dem der Wärme einerjeitd 
und dem Marimum der Dunkelheit und dem der Kälte anderer- 
feit3 in der Mitte liegenden Farben, bilden, wie ſchon bemerft, 
unter allen $arbenpaaren des Farbenfreijes in fofern den ftärf- 
ften Gegenjaß, als fie beide Ertreme — dort der Helligkeit und 
Wärme, bier der Dunkelheit und Kälte — in fi verbinden. 
„Gelborange* als die ipecifiihe Farbe des Goldes, zeigt auch 
in feiner Farbenwirfung die Nobleſſe diejes edelften Metalle. 
Wärmer ald das abjtraft ideale Gelb, aber heller ald Das 
wärmere Drange, nimmt ed an den pofitiven Eigenjdyaften beider 
Theil und vermag, je nad den Umftänden, fowohl die eine wie 
die andere Farbe zu vertreten. Eine bejondere Symbolif aus 
denjelben herausflügeln zu wollen, jcheint mir — wie überhaupt 
bei den Mifchfarben — nicht angemeſſen. Hinfichtlich feiner 
harmoniſchen Bedeutung ift zu bemerken, daß die Entjcheidung 
darüber, ob in einem gegebenen Falle Gelborange, einerjeits ftatt 
Gelb, andererjeitö ftatt Drange zu wählen: jei, lediglich von Dem 
Charakter der damit zu verbindenden Karbentöne abhängt. Dass 
jelve gilt von Blauviolett in Bezug auf Blau und Violett, 
zu denen es fich ganz ebenjo verhält, wie Gelborange zu Gelb 
und Drange, d. h. als der negativen Seite angehörig, vereinigt 
Blauviolett die negativen Eigenichaften beider Farben zu der 
relativ höchſten Intenfitätswirfung: ed enthält nody mehr den 
Gindrud der Ruhe ald Violett, aber nicht ganz fchon den der 
Indifferenz wie Blau. 

4. Roth und Grün. Die bisher betradyteten Farben- 
paare hatten das Gemeinjame, daß ihre Glieder nicht nur über: 
haupt polare Gegenjäge bilden, jondern daß, und zwar ſowohl 
binfichtlich der Helligfeitd- wie der Wärmeintenfität, die einen 
der pofitiven, die andern der negativen Seite des Farbenfreijes 
angehören; ein Verhältniß, das fi in dem zuleßt betrachteten 
Farbenpaar: Gelborange und Blaupviolett, zum höchſten Ertrem 
fteigert. Diefem Ertrem gegenüber bildet nun das Farben— 
paar Roth: Grün einen vollfommenen Ausgleich 1°) — wes— 
balb aud maturgemäß fein Durdymefjer auf dem von Gelb» 
orange und Blauviolett rechtwinklig steht, — und auf 

(306) 


37 


diefem vollfommenen Audgleih, der darin befteht, daß Roth 
um ebenjoviel wärmer ald Grün wie diejed heller als jenes ift, 
jowie auf der geringen Differenz diejed Gradunterſchieds (4:3 
und 3:4) beruht die ganz erceptionelle Stellung, welche Roth: 
Grün im gejammten Sarbenfreife einnimmt und die feine Glieder 
ald die volfommenften Farben, d.h. als Diejenigen erjcheinen 
läßt, welche am meiſten von allen die ſtärkſte „Farbigkeit“ be- 
fiten. Namentlich gilt died vom Roth, dem wahren König der 
Farben, da Grün ald Mijchfarbe von Gelb und Blau nothwendig 
Ihon einen niederen Rang als die Urfarbe Roth einnimmt. Aber 
den andern beiden Grundfarben Drange und Violett gegenüber 
harakterifirt fi Grün um ebenjoviel edler, wie Roth den beiden 
Urfarben Gelb und Blau gegenüber, deren Kontraft Grün vermittelt. 
Daraus erflärt fich der jchon früher erwähnte Umftand, daß, wäh— 
rend fidy jowohl in Drange wie in Violett der Einfluß ded Roth 
in feiner Verbindung einerjeitd mit Gelb, andererjeitd mit Violett 
ſtets fühlbar macht, im reinen Grün weder Gelb noch Blau, aus 
denen eö beiteht, anflingt. Es nähert ſich dadurch faft der Würde 
einer Urfarbe. 

Was die ſymboliſche Bedeutung beider Farben betrifft, jo 
gelangt in „Roth“ der Ausdrud des Affekts, der bereitö in 
Drange, ald der wärmiten Farbe, ſich geltend machte, aber bier 
doch noch immer eine gewilfe, der irdijchen Gluth zu wenig 
Spielraum gemährende Spealität bejaß, zur volliten finnlichen 
Energie; in ihm pulfirt dad warme Blut organijdhen Le— 
bens und leidenjhaftlicher Jugendkraft. So dharalterifirt 
ed ſich als Symbol der Leidenichaft überhaupt, welchen Namen 
fie haben mag, unter der einzigen Beſchränkung, dab fie dem 
edlen Charakter jugendlicher Kraftfülle nicht widerjpricht: Liebe 
jowohl wie Zorn prägen fidy in feiner Natur in energijchiter 
Weile aus; aber auch ftroßende Lebenskraft überhaupt, 
friegerijher Muth, kurz alle Regungen, die man ald dem 
„beißen Blute”, d. h. der Heftigfeit des finnlicyen Affekts ent— 
ftammend, betrachtet. Zu diefem Charakter der Leidenjchaftlich- 
feit fteht nun fein Komplement „Grün“ nothwendig in einem 
entjchiedenen Gegeniaß: es iſt das Symbol der Milde und 
Sanftheit!?) und übt deshalb auf das Auge einen ebenjo 
beruhigenden Eindrud, wie dad Roth dafjelbe angreift. Aber da 
es zwar fälter ald Roth ift, zugleich aber diefer Mangel durch 
einen entiprechend größeren Grad von Helligkeit erjeßt, jo finkt 

(307) 


38 

jeine Wirkung nicht auf das Niveau der Empfindungslofigfeit 
des Blau herab, jondern erhebt died in ihm enthaltene Element 
durch das dazu im Kontraft ftehende, ebenfalld in ihm enthaltene 
Gelb zu einer heiteren Lebensfriſche, die ed — gerade ebenfo 
wie dad Roth, aber ohne das dieſem anhaftende Gepräge der 
Heftigfeit — zum Symbol ſchöner Jugendlichkeit und or= 
ganiiher Kraftfülle ftempelt. Dab die aus dem Winter: 
ſchlaf erwachende Natur fi) in Grün kleidet, ift daher für unjere 
Empfindung jo felbitverftändlich, daß wir und eine andere Farbe 
dabei gar nicht vorftellen fünnen; und daß died nicht etwa blos 
der Gewohnheit unferer Anichauung zuzufchreiben ift, gebt aus 
dem jehr charafteriftiichen Umftand hervor, daß died junge Grün, 
als der erften Wirkung des belebenten Sonnenlidhts entipringend, 
nit nur am hellften ift, ſondern audy einen Stich in's Gelbe 
zeigt, während es erit jpäter, wenn die Lebensentwicklung einen 
ruhigeren Gang angenommen hat, zum reinen Grün fich mildert, 
bis es zulegt, wenn, 3.8. beim Laub der Bäume und dem Grün 
der Wiejen, die Gntwidelung ihren Kulminationspunft über: 
Ichritten hat und im Abfteigen begriffen ijt, dad Grün fich 
nicht nur verdunfelt, ſondern audy allmälig in Blaugrün über: 
geht. Der Schluß diejer Entwidlung, d. h. das allmälige Ab» 
fterben der Lebenäfraft, erjcheint dann als Uebergang ded Grün 
zu einem fahlen Roth, daß hier aljo — im Gegenjaß zum lebens: 
friichen Grün — eine feinem eigentlichen Charakter widerjprechente 
Bedeutung annimmt. Mande Blätter, z.B. vom wilden Wein, 
zeigen im Herbite jogar ein ziemlich brennendes Roth. Für feine 
Farbe paßt daher die Bezeichnung der „Friſche“ und „Jugend— 
lichkeit” mehr als für das reine ſaftſtrotzende Grün. 

5. Rothorange und Blaugrün, als die Grenzfarben der 
Helligfeitöffala, zeigen ebenjo wie 

6. Rothviolett und Gelbgrün, als die Grenzfarben der 
Wärmejfala, den vorherrſchenden Einfluß des Roth, bezw. des 
Grün, modificirt einerſeits durch Drange und Violett, anderer- 
ſeits durch Blau und Gelb. Selbftverftändlih tragen fie auch 
dad Mifchgepräge derjenigen einfachen Grundfarben, aus denen 
fie beitehen. Es ift jchon oben bemerkt, daß eine naturgemäße 
Symbolifirung der Farben fih, wenn man fidy nicht in haltloje 
Dhantaftereien verlieren will, auf die jechd Grundfarben bejchräns 
fen muß, da nur dieje einen einfachen Charakter befigen, während 
die Mijchfarben eben in ihrer Mifchung zu jehr das Gepräge des 


(308) 


Schwankens zwijchen den beiden in ihnen enthaltenen Farben zei- 
gen, als daß ihre ſymboliſchen Bedeutungen in einfache Begriffe 
zujammengefaßt werden fünnten. Es ift daher ganz nutzlos dar- 
auf hinzumeijen, weil eö ſich von jelbft verfteht, daß z.B. Roth⸗ 
orange die in Drange noch bemerfbare Idealität „faſt“ ganz ver» 
liert, um fidy „beinahe“ der Leidenſchaftlichkeit des Roth anzu— 
ſchließen u. j. f. Dies ift ebenjo wohlfeil wie nichtöjagend und 
verzichte ich deshalb darauf, dieje jelbitverftändlichen Konjequenzen 
zu ziehen. Nur ift auch hier, in Hinficht der Wahl von Farben 
für harmoniſche Verbindungen, darauf aufmerfjam zu machen, 
daß die unter 5 und 6 genannten vier Farben und zwar Roth: 
orange und Rothviolett einerjeitö die Stelle von Roth, anderer- 
jeits die von Drange, bezw. Violett, ebenio Blaugrün und 
Gelbgrün einerjeitö die von Grün, ambererjeitd die von Blau, 
bezw. Gelb einnehmen fönnen, jobald died durdy die Gelee der 
Farbenharmonie bedingt ift. Dagegen wären noch 

C. die verjchiedenen Farbennüancen, d. h. die dur 
Mihung mit Weib bezw. Schwarz entitehenden Abjtufungen der 
reinen Farben ſowohl nad) dem Ertrem der Erhellung als nad) dem 
der Verdunfelung, hinfichtlicy der mit diefen Modifikationen fich 
verfnüpfenden jymbolijchen Beziehungen zu betrachten. Aber aud) 
hierüber ift nichts mehr zu jagen, ald was ald unmittelbare 
Konjequenz fi) aus den oben (am Schluß von A.) bei der Bes 
trachtung des Gegenſatzes von Weiß und Schwarz gemachten Be- 
merfungen fich ergiebt. Da bei diejer Nuancirung ed ſich nur 
um Helligfeitöintenfität handelt, io folgt, daß jowohl durch Er- 
bellung wie durch Verdunfelung eine Schwächung der reinen 
Farben eintreten muß, woraus weiter fich ergiebt, daß die der 
pofitiven Kreishälfte angehörigen Farben nad) der hellen Nuance 
bin fälter und fanfter, nach der dunfelen ebenfalls fälter, aber 
zugleich düfterer werden müfjen, während die der negativen Seite 
angehörigen im erſten Kalle ebenfalld nody fälter, aber auch heite- 
ver, im zweiten ebenfalld fälter und noch düjterer werden, als fie 
ohnehin jchon find. Gelb 3.8. verliert durdy Erhellung jeine 
Schönheit als Farbe jehr wejentlicy und nähert fi) der Nüchtern- 
heit des Weib, während ed durch Verdunkelung an Reinheit ein- 
büßt; Roth verliert an Energie des Affekts durch Erhellung zu 
Roja, gewinnt aber dabei an Sanftheit, während ed durch Vers 
dunfelung den Charakter einer düfteren, aber mehr zurüdgehaltenen 
Gluth erhält; Blau gewinnt durch Erhellung zwar noch an Kälte, 


(309) 


40 


aber audy an Heiterkeit, während es durch Verdunfelung fich der 
düfteren Farblofigfeit des Schwarz nähert. 

Auf dieje drei Urfarben hat man ſich zu beichränfen, wenn 
man nody mit einiger Sicherheit von einer Symbolifirung ihrer 
Nüangen jprechen will, da die dazwilchen liegenden Grundfarben 
— mit einziger Audnahme etwa das Grün — in ihren Nüangen 
allzujehr die Mijchungäverhältnifje zur Geltung kommen laffen, 
mwodurdy fie nach der hellen Richtung bin der benachbarten helleren 
Urfarbe, 3. B. helles Orange dem Gelb, helles Violett dem Blau, 
ähnlich werden, aber in einer Weiſe, daß der Charakter der Farbe, 
wegen der Schwädhung durd das nüchterne Weiß, welentlid, 
beeinträchtigt wird, während fie nad) der dunfeln Richtung bin 
der benachbarten dunfleren Urfarbe, z. B. dunkles Drange, d. h. 
Braun, dem Roth, oder, im Falle des Violett, da dies bereits 
die dunkelſte Farbe ift, gar dem Schwarz fid nähern. Nur 
Grün madt, wie bemerkt, darin eine Ausnahme, da diejes weder 
durch Erhellung dem Gelb, noch durdy Verdunfelung dem Blau 
fih nähert, jondern immer Grün bleibt — ein deutlicher Beweis 
von dem höheren Range des Grün gegenüber den andern beiden 
Grundfarben, welche ed ebenjo jebr an Selbititändigfeit ald Farbe 
übertrifft, wie jein Komplement, die Urfarbe Roth, jeinerjeits 
die andern beiden Urfarben Gelb und Blau. 

Abgejehen von den durch diefe Nüancirungen der ſechs Grund- 
farben bewirkten Modifikationen ihrer ſymboliſchen Beziehungen, 
auf die mäher einzugehen unuöthig ift, da fie fih von jelbit er- 
geben, ift nur noch, binfichtlich ihrer harmoniſchen Stellungen, 
zu bemerfen, dab fie injofern ebenfalld fomplementäre Bedeutung 
haben, als fie bei der Kombination beftimmter Farbenüangen nicht 
minder in einen Gegenſatz zu einander gebradyt werden müfjen; jo 
daß 3. B. zu einer hellen Nüange von Roth, wenn diejed mit 
Grün verbunden werden joll, Dunfelgrün und umgekehrt, ebenjo zu 
Dunfelblau Hellorange, zu Hellviolett Dunkelgelb gejetr werden muß, 
worüber früher bereits das Erforderliche gelagt wurde. 





Hier am Schluß meiner Darftellung der Geſetze der Farben- 
barmonie, fühle ich mid) veranlaft, dad einfache, meiner Theorie 
— im Unterjhied von allen biöherigen Theorien — eigenthüm— 
liche Princip der Erklärung des Entftehung der Farben, auf wel: 
hem allein die Beitimmung der Natur der Farben jomwie der 

(310) 


41 


Geſetzmäßigkeit ihrer harmonijchen Verbindungen berubt, in einige 
furze Sätze zuſammenzufaſſen: 

1. Die beiden einzigen objektiven Faktoren, welche das Pro- 
duft, „Farbe“ genannt, bilden, find das Licht und das 
Trübende, d.h. die dunftige Erdatmoiphäre, weldye das 
Licht auf verichiedenartige Weiſe modificirt und dieje ver- 
ſchiedenen Modifikationsformen dem Auge vermittelt, das auf 
die Perception diefer Modififationsformen organifirt iſt. 

2. Dieje Mopdififationeformen des Lichts, denen analoge Schwin- 
gungöformen der Nerven der Netzhaut entiprechen, find 
weientlidy zweierlei Art, die man ald quantitative und 
qualitative bezeichnen kann; die eritere befteht in einer 
gradweilen Shwädhung der Lidhtjubitanz und bringt da— 
durch die Helligkeitäjfala der Farben hervor, die andere in 
einer durdy die mit der Trübung nothwendig ſich verbin- 
denden Hemmung der Bewegung des Lichts, d.h. in 
einer dadurdy bewirften Berlangfamung derjelben, weldye 
eine Erwärmung des Lichts zur Folge bat, woraus die 
„Wärmelfala” der Farben fidh entwidelt?®). 

3. Unterjchieden ſich die Karben, wie man bisher angenommen 
hat, nur durch den verjchiedenen Grad ihrer Helligkeit, jo 
würden überhaupt feine „Farben“ im jpecifiihen Sinne 
des Worts entitehen fönnen, ſondern nur eine monotone 
Stufenleiter von Grau mit den Ertremen Weiß und Schwar;. 
Der entgegengeießte Fall, daß nur ein Unterjdyied der 
Wärme, nicht aber der Helligkeit eriftirte, iſt undenkbar, 
weil der Unterjchied der Wärme, wenn die Farben über: 
haupt gejehen werden jellen, den der Helligkeit mit ein: 
ihließt und bedingt. Die differente Wärmeintenji- 
tätift mithin die primäre Urjadye der Farbenerzeu— 
gung, und die einzelnen Farben find lediglidy al vie 
differenten Produkte der mit der Helligfeitsin- 
tenfität fombinirten Wärmeintenjität des durch Die 
Trübung in jeiner Bewegung gehbemmten Lichts 
zu betradten. 

4. Die „Helligkeitsjfala" it mit der „Wärmejfala“ nicht 
identiich, d. h. die hellſte Farbe (Gelb) ift nicht auch jchon 
die wärmite (ſondern dies ift Orange), ebenjo die kälteſte 
(Blau) nicht zugleich die dunfelfte (fondern dies ift Violett). 
Hierdurdy entwidelt fi), wenn man den Farbenkreis in eine 

(311) 


42 

„pofitive” (belle und warme) und eine „negative“ (dunkle 
und falte) Hälfte zerlegen will, die Nothwendigfeit einer 
Doppeltbeilung, d. h. der pofitive Halbkreis für die 
Helligfeitsifala dedt weder völlig den pofitiven für die 
Wärmejfala, noch der negative jener den negativen dieſer, 
jondern die Durchmeffer der reipeftiven Kreije kreuzen einander. 

5. Bon allen fomplementären Farbenpaaren der 12 Haupt= 
farben liegt nur ein einziges, nämlidy das Paar Roth: 
Grün in den fich nicht dedenden Theilen der beiden In— 
tenfitätöjfalen, weshalb die Glieder dieſes Yarbenpaares, 
weil ed als ſolches den volllommenen Ausgleich zwijchen 
allen übrigen Paaren bildet und deöhalb den gejammten 
Farbenkreis beherricht, als die vollfommenften Farben zu 
betrachten find; und zwar fteht vorzugsweiſe Roth auf 
Grund jeines höheren Ranges ald Urfarbe ald der mwahr- 
hafte Herricher im Reiche der Farben da. 

6. Die Konjequenzen diejer aus der Natur der Farben mit 
unbedingter Nothmwendigfeit fich ergebenden Verhältnifje der 
Farben zu einander bilden die allein fihere Grundlage für 
die Darftellung eines Geſetzes der harmoniſchen Farben: 
verbindungen, deren Beitimmung jonit einer dem Irrthum 
unterworfenen jubjektiven Geſchmackswillkür anheim fallen 
muß. 


Anmerkungen. 


1. (u ©. 3.) Siehe Abtheilung I. ©. 72 ff. — Ich will die 
hier Eingangs gegebene Gelegenbeit zu einer Bemerfung über die diejem 
peite beigegebene Farbentafel benugen. Es dürfte dem aufmerfjamen 
Leſer nicht entgehen, daß die Farbenzufammenitellung auf derjelben weder 
hinfichtlich der Helligkeits noch der Wärmeintenfität völlig den im Tert 
entwidelten Principien entſpricht. So ift beijpielsweije in der mittleren 
(reinen) und hellen Zone das Violett und das Blau etwas zu heil, das 
Grün dagegen zu dunkel gnerathen, während in der dunklen Zone das 
Violett zu dunkel und das Gelb zu hell erjcyeint. Auch in der hellen 
Zone, in den Spitzen der Sarben, 3. B. in dem Uebergange der gelben 
— der rothen, finden ſich mancherlei Ungenauigkeiten. Daß aber dieſe 
ediglich in der Unvollkommenheit der techniſchen Herſtellung, welche ihrer- 
ſeits durch die Materialität der Pigmente bedingt iſt, liegenden Inkorrekt 
heiten das Princip als joldyes nicht berühren, bedarf wohl faum einer 
bejonderen Verjiherung. Uebrigens kann der Leſer jenen Uebelftänden, 
wenigitens theilweife, durch Uebermalung der zu hellen Sarbentöne ver- 
mittelft Aquarellfarben abhelfen. 

(312) 


43 


2. (uS.4) Im Fig. 4 und 5 zeigt fih — außer diefem Rejultat 
(dem das Gentrum bildenden Schwarz) — aud in jehr anjhaulicher Weife 
der Unterjchied in der Wirkung der gegenjeitigen Dedung von nicht fomple- 
mentären Farben; denn während Roth und Grün (ig. 6), Gelb und 
Violett (Fig. 7), Blau und Drange (Fig. 8) in gleicher Weife Schwarz 
geben, gleichviel ob Roth über Grün oder umgefehrt u. j. f. gedruckt 
wird, geben (Fig. 5) Roth über Blau nur „Violett“, obſchon Blau 
doch dunkler ald Grün it, das mit Roth ih zu Schwarz aufbebt, 
Roth und Gelb nur „Orange“, Gelb und Blau nur „Grün“; ferner 
(Big. 4) Violett und Roth nur die primäre Miichfarbe „Rothviolett“, 
obwohl Roth viel dunkler als Gelb iſt, wonit Violett das Schwarze 
erzeugt, Violett und Blau die primäre Mifchfarbe „Blauviolett“, ob« 
ſchon Blau ebenfalld dunkler als Gelb ift, das mit Violett Schwarz 
bervorbringt; endlich dieje beiden Mijchfarben (d. b. rv und bv), je wie» 
der mit Violett nemijcht, die ſekundären Miichfarben „Rothviolettroth“ 
und „Blauviolettblau”. Peßtere beiden Farben liegen (Fig. 4) in den beiden 
Hälften des Eleinen dreieckigen Segments, welches Violett von Schwarz trennt. 
(Bergl. Fig. 11.) Die in Fig. 4 durchgeführte Kombination der 6 Grund» 
farben macht aljo auch die Entſtehung der Miichfarben eriter und zweiter 
Ordnung, die auf Sig. 5 durchgeführte nur die Entjtehung der drei kom— 
plementären Grundfarben aus den Urjarben, beide Kombinationen zu— 
gleih aber, jowie die in Fig. 6, 7, 8 dargeitellten Kombinationen 
—2 2 komplementären Grundfarben die Entſtehung des Schwarzen 
deutlich. 

3. (u S. 4). Es dürfte nicht unwahrſcheinlich jein, daß dieſe „Pole“ 
des Farbenglobus ſowohl Goethe wie (nach ihm) Schopenhauer zu der 
irrigen Vorſtellung von einer Polarität, die zwiſchen Weiß und Schwarz, 
d. h. zwiſchen reinem Licht und reiner Finſterniß, herrſche, geführt haben; 
ein Irrthum, der ſchon früher dargelegt iſt. (Vergl. Abth. I. ©. 33 u. 54.) 

4. (zu ©. 5). Uebrigens macht vderjelbe keinen Anſpruch auf 
Neuheit; außer injofern jeine Konftruction ald eine aus der Reihenfolge 
der Karben im prismatijchen Spektrum mit Notwendigkeit hervorgehende 
von mir zuerjt nachgewieſen it. (S. Abth. I. ©. 23). Adams hat 
denfelben ebenfalls ſchon, wenn aud in andrer Anordnung der Far— 
ben, aufgeltellt. Aber diejer Adams'ſche Karbenfreis leidet an wejent« 
lichen qualitativen Mängeln binfichtlich der Darftellnng der Farben ſelbſt; 
jo erjcheint 3. B. die dunkelſte Farbe, das Wiolett, bei ihm viel heller 
als Blau, das zwar Falter, aber auch heller ijt. 

5. (u ©. 5). Siehe die der eriten Mbtheilung beigegebene 
Sigurentafel. 

6. (u S.6). Eigentlich Farbenvierecke (nicht Bünfede), da, genau 
genommen, der betreffende Theil der ſchwarzen Mittelzjone dazu gehört. 
Verlängert man nämlich die nad dem Gentrum fonvergirenden jeitlichen 
Begrenzungslinien der Dunkeln Zone einer Farbe bis zu dem Mittelpunkt 
des Kreifes, jo erhält man ein vollitändiges Farbenviereck, da ja das 
Schwarz aus der Miichung der fomplementären Farben entjteht. In— 
deſſen kann der befjeren Befeitigung der Schablone auf dem $arben» 
freife wegen das jchwarze Gentrum unaudgejchnitten bleiben, wie auf 
Fig. 10, das als Beiipiel die Schablone für den Dreiflang darſtellt, 
geſchehen iſt. 

7. (zu ©. 8). Ueber den Unterſchied von „Nüancirung“ und 
„Schattirung” fiehe Abth. I. ©. 35. 


(313) 


44 


8. (zu ©. 8). ©. hierüber Abth. I €. 28 u. 64. — Einen inter- 
eſſanten Belag für die Wahrfcheinlichfeit meiner Erklärung der Analogie zwi- 
ſchen der verjcyiedenen Modififationsfähigfeit des Lichts und der — 
Schwingungsrichtung der Netzhautnerven liefert — wie ich nachtrãglich hier 
bemerken will — das vor mehren Zahren von William Siemens fon» 
ftrwirte „Lünftlihe Auge”, welches jogar eine empfindliche Netzhaut befigt, 
wodurd; ed nicht nur Licht und Duntelbeit, jondern aud) die einzelnen Karben 
unterjdyeiden fann, (©. Gartenlaube 1876 Nr. 46), ja wie ein lebendes 
Auge bei längeren Betrachten einer Farbe ermüdet und, von plößlicher 
Helligkeit geblendet, die Wimpern ſchließt. Die empfindlihe Netzhaut 
deffelben ift aus einer dünnen Schicht von Selen, einem dem Schwefel 
und Phosphor (aljo der Nervenjubitanz verwandten) ähnlichen elemen- 
taren Stoffe gebildet, wobei an Stelle der ſich in der Nephaut ver 
zweigenden Nerven zwei galvaniſche Leitungsdrähte jpiralig oder im 
Zickzack parallel neben einander in derſelben verlaufen, jo daß immer 
Selenmaffe zwiſchen ihnen liegt. (Das Selen zeigt nämlid, wenn es 
bis zu einem gewiſſen Punkte erhitzt und dann erfaltet it, bekanntlich 
die merkwürdige Eigenſchaft, den galvaniſchen Strom um jo befjer zu 
leiten, je jeltener es beleuchtet wird, jo daß man die Stärfe eines auf 
die Selenplatte fallenden Lichtes nah dem Widerſtande bemejjen Fann, 
den ein galvaniſcher Strom in der beleuchteten Selenſchicht findet.) 

Siemens bat nun — nad Dr. Krauſes Beichreibung — jein fünit- 
liches, aus Glas beitehendes Auge jo eingerichtet, daß ed von zwei 
Wimpern beichattet wird, die nach ihrer Deffnung das durch eine Glas- 
linfe gebrochene Licht auf die Fünitliche Nekhaut werfen. Die in der 
jelber, ohne ſich zu berühren, parallellaufenden Drähte gehen vom einem 
galvaniſchen Elemente aus und umfreifen, che fie in die Neghaut ein- 
treten, der eine einen Gleftromagnet, der andere eine Magnetnadel. 
Wird nun vor das Fünftlihe Auge eine weite Tafel gebradıt, die man 
mittelft eines ſchwarzen Tuches bald in Dunkelheit hüllen, bald mit dem 
farbigen Schimmer des durch bunte Gläjer gegangenen Sonnenlichts be- 
traten fann, jo gewahrt man mehr oder minder itarfe Ablenkungen 
der Nadel aus ihrer jonit gewöhnlichen Nordpolrichtung. Die Eleinfte 
Ablenkung — (und bier entwideln fi nun die Beläge für meine 
Farbentheorie) — erzeugt das blaue Licht, eine lebhaftere Bewegung 
der Nadel bewirkt dad grüne, eine noch ftärfere das gelbe und die 
jtärfite das rothe Licht. Es bedarf feines bejonderen Nachweiſes, daß 
dieſe Stufenfolge durchaus der Wärmeſkala meiner Theorie entſpricht, 
denn ich bin überzeugt, daß das rothe Licht, welches Siemens meint, 
wahrſcheinlich in's Orangefarbene geſpielt haben wird. Ein ſchlagenderer 
Beweis für die Richtigkeit und Wichtigkeit der in der erſten Abtheilung 
meiner Unterſuchung durchgeführten Wärmeintenſitätsſkala, als der wejent- 
lichſten Urſache der Entſtehung der Farben, dürfte ſich kaum erbringen 
laſſen. Zugleich geht daraus hervor, wie durchaus unnöthig die plump-» 
materielle Annahme der Phyſiker ift, daß die (ſchon nad ihrer Anficht 
aus fieben verjchietenfarbigen Strahlen zufammengejegten) Lichtjtrahlen 
noch von bejonderen Wärmeſtrahlen „begleitet* würden, wofür als 
angeblicher Beweis der jog. „Radiometer* (richtiger Photothermometer) 
angeführt wird; cine Spielerei, die auf der bekannten Thatſache beruht, 
dag durch dunkle Rarben oder Schwarz das Licht weniger zurüdgeftrahlt 
wird, als dur helle und durch Weit. Selbſtverſtändlich muß das 
Licht ich, da es im erjten Kalle eine ftärfere Hemmung erleidet, ſich 

(314) 


45 


5 in Wärme verwandeln wie in dem hölzernen, mit Glas bedekten 
aſten. 

Einen zweiten, noch mehr in's Gewicht fallenden Belag für die 
Analogie einer doppelten Schwingungsrichtung der Netzhautnerven mit 
der zwiefachen Modifikationsfähigkeit des Lichts, worauf ſich der Unter- 
ichied der Helligkeit. von der Wärmeintenfität der Karben gründet, Liefert 
die jog. Sarbenblindheit. Sie beruht befanntlib auf der Thatjache, 
daß der damit Behaftele die Farben entweder überhaupt nur auf ihre 
Helligkeitögrade zu unterfcheiden vermag, oder daß er nur bejtimmte 
Karben, 3. B. Roth und Grün, mit einander verwecjell. Im erfteren 
Falle fieht er überhaupt feine Farbe, fondern nur eine Skala von mehr 
oder weniger dunklen grauen Zönen, im zweiten fieht er nur gemiffe 
Farben, während andere für ihm entweder nur als graue Töne vorhanden 
find, oder mit den wirklich ald Farben gejehenen zujammenfallen. Der 
erjte Fall iſt ſchwer als vorhanden zn Eonftatiren, weil — wenn Jemand 
wirklich total farbenblind ift, d. b., die Karben als joldhe überhaupt 
nicht ſieht — er auch feine Voritellung davon haben fann, was man 
meint, wenn man mit ihm von „Karben“ ſpricht; ebenjowenig wie der 
Taube eine Vorjtellung davon hat, was man mit dem Wort „Ion“ 
meint. Der zweite Fall dagegen ijt jehr häufig; die anormale Bildung 
des Auges, worauf dieje Art von Barbenblindheit beruht, beiteht offenbar 
darin, dab das Auge nur einer Schwingungsridtung der Neßhaut- 
nerven vollfommen fähig ift, nämlich derjenigen, welcde zu der quanti- 
tativen Mopifitationsfähigkeit des Lichts in Beziehung fteht, d. h. die 
Helligfeitspifferenzen zur ————— bringt, während die andere Schwin 
gungerichtung, welde, in Analogie zu der qualitativen Modifikations— 
fähigkeit des Lichtes jtehend, die Bärmebilferenzen zur Anſchauung 
bringt, mehr oder weniger unvollfommen fungirt. Hieraus geht aber 
mit Gvidenz hervor, dat es eben die Wärmeintenfität ift, wodurd 
jpeciell die Farbenempfindung bedingt ift, und ebenſo ergiebt fi dar- 
aus, dat die Farbe als ſolche weſentlich phyliologiicher Natur ift. 

9. (u ©. 8) Daß der von der Mutik entlehnte Ausdrud 
„Klang“ bier auf das Gebiet der Farben übertragen wird, rechtfertigt 
fih durch die eigenthümliche Stellung, welde die Farbe überhaupt zum 
Ton einnimmt. Das Nähere habe ich in meinem Buche „Syftem der 
Künfte* (S. 84—90) darüber ausgeführt. Hier mag nur darauf hin- 
gewiejen werden, daß die Verwandtichaft zwijchen den beiden Sphären 
ch auch darin offenbart, dak man in der Malerei ebenjowohl von 
Farbenton wie in der Mufif von Klangfarbe ſpricht; aber der Unter 
jchied zwiichen diefen rejpektiven Beitimmungen beruht darauf, bar 
während der Farbenton eine ideelle Modififation der fonftanten Lokalfarbe 
ift, umgekehrt die Klangfarbe (z.B. eines Snftruments) ſich lediglich 
auf die materielle Qualität des muſikaliſchen Tons bezieht; übrigens 
ein Beweis für die abitraftere oder, wenn man will, idealere Stellung 
der Mufik gegenüber der Malerei. Das C der Violine tft ideell der— 
jelbe Ton wie das C der Flöte, da ihre Tonwellen diejelbe Schwingungs- 
zahl haben, fie find nur materiell verichieden, d. h. der Stoff des 
Inftruments jpricht für das Ohr mit, während vielmehr in dem Rarben- 
ton vom Stoff, d. h. von der fonftanten, der Materie adhärirenden 
Naturfarbe gerade abftrahirt wird. 

10. (u ©. 14). Daß der bier gebrauchte Ausdrud „Klangfiguren‘ 
mit den jog. Chladni'ſchen Klangfiguren — wobei von Farben 
(315) 


gar nicht die Rede ijt — nichts zu thun hat, braucht wohl nicht noch 
beſonders erörtert zu werden. Im unferm Tert bedeutet derſelbe nichts 
weiter ald die innerhalb des Farbenkreiſes entftehenden mathematiichen 
Figuren, welche bei verjchiedener Verbindung der Karben zu Zwei—, 
Drei- u. j. f. Klängen durd die Spiten der betreffenden Karbenftreifen 
gebildet werden. 

11. (zu ©. 15). Denn bei der Verbindung der Muſik mit dem Worte 
liegt das die harmoniſche Stimmung bedingende Element nicht in der Mufif 
jeibit, jondern in dem fonfreten Sedanteninhalt des Textes, ebenjo bei 
derjenigen Mufit, welche rhythmiſche Bewegungen begleitet, wie beim 
Zanz, beim Marſch ꝛc. in dieſer Bewegung. ber wie locker ſelbſt joldye 
Verbindungen find, d. b. wie wenig bejtimmende Kraft ſowohl Wort- 
inhalt wie rhythmiſche Bewegung auf die Geitaltung der mufifalifchen 
Harmonieverhältniffe hat, bedarf wohl nicht erft des Nachweijes. 

12. (zu ©. 2b) Diejer Ausdrud „Grundfarbe“ ift daher nicht mit der 
theoretiichen Bedeutung, wonady der Farbenkreis in ſechs „Grundfarben“ 
fich zerlegen läßt, zu verwedyieln. 

13. (zu ©. 23). Vom Griechiſchen airdyrıs (Empfindung); eine Be- 
zeichnung, die zuerft Baumgarten auf diefem Gebiet angewandt hat, weil 
er unter Nefthetif nur „Theorie der finnlihen Empfindungen“ verftand. 

14. (zu ©. 27). Es giebt jedoch aud in diefer Sphäre eine der- 
artige ganz willfürlihe Symbolifirung, die aber gerade — und deshalb 
wird fie hier erwähnt — den tiefen Unterfchied zwiichen der echten, auf 
innerer Bezieyungseinheit beruhenden und der unechten Symboliſirung an 
den Tag bringt. Dergleichen find z. B. die dur die Nationalfarben 
inmbolifirten patriotiihen Empfindungen, aud die meiften Farben» 
ujammenftellungen der ſtudentiſchen Verbindungen, in die meift erft 
Hüter eine ſymboliſche Bedeutung hineingeheimnift worden ift u. A. m. 
Sn allen Dielen Zuſammenhängen jpielt das Symboliſche nur die Rolle 
einer willfürlihen Zujammenwerfung — oVußchov von suußarkw „zus 
ſammenwerfen“ — ganz infommenjurabler Dinge, die urjprünglich in gar 
feiner Beziehung zu einander ftehen. — Was dagegen den nothwendigen, 
durch die phyfiologiiche Bedeutung der Farben oder, was dafjelbe ift, durdy 
die Jdentität der Karbenempfindungen und Farbenerjcheinungen bedingten 
Zuſammenhang der Sarbe mit Dem, was ich im Tert als „Gefühlsmotiv“ 
bezeichnet habe, betrifft, jo führt Goethe als Belag dazu ein charakteri- 
ſtiſches Dictum aus einem franzöfiihen Schriftfteller an: 11 pretendait 
que son ton de conversation avec Madame etait change depuis 
qu’elle avait change en cramoisi les meubles de son eabinet, qui 
etaient bleus. Hierin ſpricht fi alſo entjchieden der Einfluß der 
Barbenftimmung anf die Gefühlsftimmung aus. 

15. Siehe Abtheilung I S. 60 ff. 

16. (zu ©. 30). Selbit Adams, welcher fid) mit jeiner „Theorie 
der Farbenharmonie und Farbengebung“ jowie mit jeinem „Chromato— 
affordeon” ficherlich anerfennenswerthe Werdienfte um dieſes Gebiet 
erworben hat, kennt zwar ald Maler den Umnterjchied der warmen und 
falten Farben jehr gut und ſpricht es auch aus, daß Orange die wärmfte, 
Blau dagegen die kälteſte ift; zu einer, der Helligkeitsſtala analogen 
ſyſtematiſchen Wärmeſkala, weldye alle Farben umfaßt, bringt er es aber 
ebenfalls nicht, weil er die differenten Urjachen diejer beiden Wirfungs- 
arten der Farben gänzlich verkennt, weshalb aud auf feiner FSarbentafel 
meder der eine noch der audere Durdymefier verzeichnet it. Er jagt 

(316) 


47 





nämlih (S. 89 des erften Buches): „Aus der phyſikaliſchen Natur der 
darunter” (nämlich unter warmen und falten Farben) „zu verſtehenden 
Farben laſſen ſich die Begriffe nicht herleiten“ — ich meinerſeits habe 
ſie gerade aus der durch die allmälige Verlangſamung der Lichtbewegung 
verurſachten Erwãrmung hergeleitet —; „denn wenn den verſchiedenfarbigen 
Strahlen des Spektrums auch eine verſchiedene Wärmekraft eigen iſt, ſo 
bat dieſe Thatſache gewiß nicht zu den verſchiedenen Bezeichnungen Ver— 
anlafjung gegeben“. Allerdings nicht, aber die Thatſache ſelbſt hätte 
wohl „Beranlafjung geben“ können, nad der Urſache dieſer auffallenden 
Erſcheinung zu en, nämli warum die prismatijchen Farben that- 
fählih — naͤmlich materiell — ſich durch Wärmeintenfität unterjcheiden. 
„Anterjuhungen diejer Art“ — meint Adams freilid — „würden viel- 
mehr zu einem ganz andern Rejultat führen.“ (weshalb?) „Auch müßten 
wir den weißen Strahl, als die Summe der farbigen” (er reitet aljo 
auch noch auf der Newton’schen Theorie herum!), „ebenfalls für die Summe 
der Wärmekraft oder für den wärmften halten.” Gerade dies lettere 
Argument beweift nicht blos die Falichheit der Newton'ſchen Theorie — 
denn nad diefer müßte das reine Licht allerdings am wärmſten jein, 
während es bekanntlich, wie aud Adams ſogleich Fonftatirt, abjolut Falt 
> — jondern auch die fehlerhafte Vorftellung, welche Adams von 
Arme und Helligkeit der Karben bat. Denn nur durch die vermittelit 
des Trübenden bewirkte 8 
des Lichts entiteht erft Wärme. Daß übrigens die Theorie von Adams, 
von deſſen Hauptwerk — wie ſchon bemerkt — mir nur die erjten 
beiden Lieferungen des eriten Bandes befannt geworden jind, noch andere 
wejentlich princivielle Fehler hat, geht 3. B. daraus hervor, daß er zwar 
Blau, im Gegenjag zu Drange, als die fältefte Farbe, nicht aber 
Violett, im Gegenjaß zu Gelb, ausdrücklich als die dunfelfte bezeichnet. 
Es ijt dies um jo auffallender, als er (auf ©. 124) die Thatſache an- 
führt, das „im Spektrum das Violett die legte, abgelenfteite, licht- 
chwächſte Farbe tft, auf welde vollfommene Finſterniß folgt“. 
äre ihm dies, feiner principiellen Urſache nad, d. h. in jeiner Noth- 
wendigfeit, zum Bemwußtiein gefommen, jo würde es unerklärlich jein, 
warum dieje jpecifiiche Eigenſchaft des Violetten, nämlich daß es in der 
Sntenfitätsikala dad Marimum der Dunkelheit repräjentirt, auf feinem 
Farbenkreije gänzlich unberüdfichtigt bleibt, indem fein Violett — und 
zwar jowohl in dem Schema jeined Hauptwerks wie in dem des 
„Shromatoaffordeon” — viel heller als jein Blau, ja, wenigitens im 
den dunfleren Zonen, jogar heller als jein Roth; erjcheint. eine 
Symbolifirung der Farben enthält daher zwar viel Zutreffendes, aber 
dies verdankt er lediglich jeinem maleriſchen Inſtinkt, nicht jeiner Theorie; 
im Uebrigen bewegt er fich freilich weſentlich nur in poetiſch Flingenden, 
aber durdyaus baltlojen Phantaftereien, wovon hier ein Beijpiel ftehen 
mag: „Wie in der gelben Farbe das Göttliche gleichſam in das Gebiet 
des Irdiichen tritt und fi, man möchte jagen, zur Wanderung durd 
das Erdenleben voll heftiger Affekte und Kämpfe anſchickt, jo jeben wir 
im Blauen die nad überftandenen Kampfe mit den Leidenjchaften 
zur Ruhe gefommene Menichheit ohne Bangen ihrer Auflöfung entgegen- 
Ichreiten, mit dem Vorgefühl, zu einem befjeren, fchöneren Dakein wieder 
erweckt zu werden” — umd Wehnliches dergleichen. 
17. (zu ©. 32). ©. Abth. I. ©. 22 ff. — Daß übrigens der Name 
„Hauptfarbe” ebenjo wenig mit dem im Gegenjag zur ornamentalen 
(317) 


emmung und (in Folge davon) Berlangjamung 


BB 


Nebenfarbe jtehenden gleichlautenden Ausdruck verwechſelt werden darf, 
wie der im (ara Doppelfinn gebraudte Ausdrud „Grundfarbe“, 
bedarf wohl Feiner bejonderen Grelärung. 

18. (zu ©. 36). Siehe hierüber Abtheilung I ©. 60. 

19. (zu ©. 37), Wir Adams in feinem oben citirten Buche 
(S. 130) im Grün „ein Bild des Kampfes“ jehen fonnte, ift daher 
ebenfo unverftändlih wie fein Vorwurf gegen Goethe, der, für die 
wahre Natur der Karben einen bewundernswürdig fihern Inftinft beſaß. 
Adams will ihm nämlih nicht darin beiftimmen, wenn er in jeiner 
„Sarbenlehre” vom Grün bemerkt: „Das Auge findet in A yo 
eine reale Befriedigung. Wenn beide Mutterfarben (Blau und nn 
fih in der Miſchung genau das Gleichgewicht halten, dergejtalt, da 
feine vor der andern bemerkbar ijt, jo ruht das Auge auf diejem 
Gemiſch wie auf einem einfahen.“ Dies ift ebenjo wahr wie 
fein empfunden und in unſerm Text jeiner Urſache nad) erklärt. 

20. (zu ©. 41). Sch benuße dieſe Stelle, um ald Ergänzung zu 
Nr. 46 des Anhangs der erſten Abtheilung, worin über die Benennung 
der Karben in der antiken Zeit die Rede if eine Bemerkung zu machen, 
die fih auf eine intereffante Notiz des Dr. ©. Th. Stein gründet, 
daß die Bibel feine Bezeichnung für die blaue Farbe kenne, wogegen 
dem Verf. von verjchiedenen israelitiihen Schriftgelehrten Protefte zuge- 
fommen jeien, mit der Angabe, daß die blaue Farbe in der Bibel durdy das 
Wort Thecheleth bezeichnet werde. Nun geben aber die ältejten griechi- 
ichen Ueberjegungen dieſes hebräiſche Wort mit — — und 
die Septuaginta (d. h. die Ueberſetzung der 70 alexandriniſchen Schrift- 
ſteller) mit mopbupeo; wieder. Der Porphyr hat aber eine in's Violette 
ipielende ſchwärzliche Schieferfärbung; und dies erflärt auch, warum Philo 
und Zojephus dieje Farbe mit dem Aether vergleichen, der in der heißen und 
dunjtfreien Zone Aſiens und Afrikas blauſchwarz erjcheint, und warum der 
Talmud jagt, dab „jene Farbe dem Meere, das Meer dem Acther, der 
Aether aber dem Saphir gleiche‘. Die Araber überjegten daher jene 
Sarbe ohne Weiteres als „himmelfarbig*. Die alte alerandrinijche Ueber- 
jegung der Bibel überjegt das Thecheleth mit öhomöpdbupos, was am genaueiten 
mit „tiefporphyrfarbig” gedeutet wird. (Dr. Stein erflärt es irrthüm- 
lich als ſchwarzroth; wie fonnte dann wohl die Farbe des Himmels 
darunter verftanden werden!) Ein großer Unterſchied zwijchen diejem 
ökomdpbupos und dem xvards der Griechen wird ſchwerlich nachzuweiſen 
jein; beide bedeuten im Grunde nichts anderes ald blauſchwarz; denn 
im Homer wird damit nicht nur das Baarthaar des Odyſſeus bezeichnet, 
jondern Theokrit nennt aud die Farbe des Veilchens geradezu — 
Die Folgerung aber, welche aus allem Dieſem Dr. Stein zieht, nämlich 
daß für den Begriff, den wir mit „blau* verbinden, bei den Alten 
überhaupt feine Sarbenbezeichnung beſtanden“ habe, ift durchaus hinfällig ; 
ed geht daraus weiter nichts hervor, als daß das Blau, als die fälteite, 
und das Violett (oder Dunkelſchieferblau) als die lichtſchwächſte Farbe 
— meil fie eben die Minima der beiden Intenſitätsſkalen — — 
leicht mit einander verwechſelt wurden; namentlich aber geht daraus 
hervor — und das iſt für uns die Hauptſache — daß der ſüdlich- 
orientaliiche Himmel eine viel — Bläue zeigt, weil hier das 
trübende Element von geringerer Wirkungskraft iſt. 


ie — 








(318) 





Drut von @ebr. Unger (Kb. Grimm) in Berlin, Schönebergerfir. 17a. 


Der leere Raum, 


die Eonftitution der Rörper und der Aether. 


Bon 


Dr. €. Gerland 
in Caſſel. 


GH 


Berlin SW. 1883. 


Berlag von Carl Habel. 
(€. 8. Lüderity’sche Verlagsbachhaudlung.) 
33. Bilbelm-Straße 33. 


Das Recht der Ueberſetzung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Unter den naturphilofophijchen Fragen hat die Frage nad 
den letten Gründen der Dinge nothwendiger Weiſe ftetd des 
größten Intereſſes der forichenden Menichheit fich zu erfreuen 
gehabt. Wenn es je gelingen Fönnte, durch Auffinden diefer 
Gründe das Weſen zunächſt der Körper zu erflären, dann, 
icheint e8, dürfte man fidy der Hoffnung bingeben, von Erperiment 
zu Experiment weiter jchließend und Schluß an Schluß fnüpfend, 
endlich zur Gonitruction der Körper und zu der Alles Seienden 
zu gelangen und fo zu erfennen 

was die Melt 
im Innerften zuſammenhält. 

&8 kann daher nicht verwundern, daß das willenichaftliche 
Interefje früh dieſer Frage ſich zuwandte. Weil fie aber zu den 
ſchwierigſten gehört, die überhaupt an uns geftellt werden fünnen, 
fo fonnte es audy nicht ausbleiben, dab die Beantwortungen 
derjelben anfangs entweder ungemein dürftig oder höchſt phan- 
taftiich ausfielen. Das war freilidy durhaus fein Grund, daf 
man diejelben in den Zeiten, in welden fie gegeben wurden, 
nicht für der Weisheit lebten Schluß hätte halten follen und 
vollftändig befriedigt von Behauptungen geweſen wäre, die und 
unbegreiflich kindiſch vorkommen. Immerhin müßte fidh der 
Gegeniat eines Raumes, der mit irgend Etwas angefüllt ift zu 
demjenigen, der Nichts enthält, dem leeren Raume, den über 
diefe Frage Nachdenkenden aufdrängen und damit zugleich die 


XVIII. 416. 1* (321) 


4 





Ueberzeugung, dab die Kenntnib eben diejeö leeren Raumes 
wichtige Aufflärungen über dad Weſen dedjenigen, was ihn 
erfüllen fann, geben müſſe. Zeigte nämlich der leere Raum 
gewiſſe Eigenichaften nicht, die einem mit Körperatomen erfüll- 
ten zufommen, dann gehörten dieſe Eigenſchaften den Atomen 
und es war vielleicht nur ſo möglich, dieſe Eigenſchaften von 
Weſen, zu deren Erforſchung ſelbſt das Mikroſkop ſeine Dienſte 
verſagt, ausfindig zu machen. Die Verſuche, einen leeren Raum 
herzuſtellen, hängen deshalb eng zuſammen mit den Verſuchen, 
über die Conſtitution der Körper klar zu werden. Sie boten 
dadurch ſtets ein ganz beſonderes Intereſſe und gehörten bis in 
die neueſte Zeit zu denen, die auch in weiteren Kreiſen ſtets 
das größte Aufſehen erregten, ſo früher die Experimente mit der 
Luftpumpe, ſo in neueſter Zeit die Radiometerverſuche. Es 
dürfte demnach eine nicht undankbare Aufgabe fein, dieſe Ver— 
fuche etwas näher in’d Auge zu fallen und zuzujehen, ob und 
wie meit fie und jemer tiefer liegenden Frage näher gebracht 
haben. 

Verfihern wir und jedoch zunächſt, was wir unter dem 
leeren Raume zu verftehen haben. Iu der Sprache des gemeinen 
Lebens pflegt man einen jeden Raum jo zu nennen, weldyer nur 
Luft enthält. Für gewöhnlich entzieht ſich ja die Luft unjerer 
finnlichen Wahrnehmung und jo ift ed erflärlich, daß man fie 
zunächſt mit dem Nichts indentificirtt. Davon fommt man jedody 
bald zurüd, wenn man die mechaniſchen Wirkungen fieht, welche 
bewegte Luft auszuüben im Stande ift, die aller Bejchreibung 
jpottenden Verwültungen, weldye fie, in wildeiter Eile als ver- 
beerender Orkan über die Erde hinitürmend, anrichtet. Aber 
auch das Daſein ruhender Luft tritt und direct vor Augen, wenn 
wir ein ſonſt gejchloffenes Gefäß mit feiner Deffnung unter 
Waller tauchen umd bei ichiefer Haltung deffelben die Luft in 


großen Blafen daraus entweichen jehen. Sole Beobachtungen 
(822) 


5 


müßen dann eine veränderte Anficht vom leeren Raum zur Folge 
haben und man wird num geneigt fein, den luftleeren Raum 
für gleichbedeutend mit dem leeren zu halten. Ob dieje Anficht 
aber die richtige ift, muß erft genauer unterjucdyt werden. Wenn 
ja ſchon die Luft fich für gewöhnlich unferer Wahrnehmung ent: 
zieht, jo können die ebenjo noch andere raumerfüllende Medien 
thun, auf deren VBorhandenfein wir dann erit aus anderen 
Erfahrungen jchließen müßten. Man wird aljo den leeren und 
Iuftleeren Raum vorfihtig auseinander halten müfjen und wir 
werden der Frage nad dem Vorhandenjein jolcher Medien im 
Berlauf unferer Betrachtungen näher zu treten haben. 

Vorher jedody wenden wir und dazu, die Mittel fennen zu 
lernen, mit deren Hülfe man im Laufe der Jahrhunderte einen 
luftleeren Raum berzuftellen juchte und die Anſchauungen, mweldye 
man von demjelben hatte. Ob dieſe letzteren fich jo entwidel- 
ten, wie wir es joeben dargeftellt haben, wiljen wir nidyt. Die 
Geſchichte erzählt und hierüber nur, daß man bereits zu Arijtoteles’ 
Zeiten mit der Eigenicyaft der Luft befannt war, einen jeden 
Raum, aus dem ein Körper entfernt wurde, nicht leer zu laſſen, 
jondern jofort wieder zu erfüllen. Man hatte dieſe Eigenjchaft 
bereitö zur Gonftruction der Saugpumpe benußt, eines im 
Innern geglätteten Cylinderd, in weldem ein ihn genau aus— 
füllender Kolben hin und ber bewegt werden fonnte, während 
eine im Boden ded Cylinders befindliche, fid nad) Innen 
öffnende Klappe den intritt eined Körperd in ihn geftattete. 
Wurde der Kolben diejed Apparate emporgezogen, jo drang 
Luft oder, wenn der Eylinder im Waſſer ftand, Waſſer hinein 
und man begriff jehr wohl, daß dieſes Waſſer nur durdh die 
äußere Luft in den Gylinder gepreit werden fonnte. Bei dem 
Verſuche eine Erklärung für dies räthjelhafte Verhalten der Luft 
durch Erperimentiren zu finden, hielt fich freilich ein Zeitalter, 


welches der erperimentirenden Naturwifjenichaft gänzlich abge— 
(323) 


6 


neigt war, nit auf. Mußte dody den Völkern des Alterthums, 
weldye gewohnt waren, die Naturerjcheinungen und »Gewalten 
unter den anthropomorphiſchen Figuren ihrer Mythologie zu 
betrachten, eine Erklärung diejer Wirfung der Luft aus ihrem 
Abſcheu vor dem leeren Raum vollftändig befriedigend erjcheinen 
und wir können Ktefibiud und Heron unfere Bewunderung nicht 
verjagen, daß fie eine jo unzureichende Erklärung doch nicht 
"binderte, mit Ausnahme der Feuerjprige mit Windfefjel!) alle 
die Apparate zu conftruiren, in denen man, um es zu heben, 
Waſſer durd die Luft in Pumprohre preffen läßt. So berubigte 
fi denn auch das ganze Mittelalter bei diefer Erflärung und 
bis auf Galilei wurde der horror vacui als eine unantaftbare 
Eigenjchaft der Luft angejehen. 

Troß jeiner Arbeiten, die in jo vielen Gebieten der Natur: 
wifjenichaften die tiefgehenditen Ummälzungen hervorriefen, war 
ed indefjen dem großen Slorentiner verfagt, in dieje Frage Licht 
zu bringen. Zwar hat er zwei Verſuche angejtellt, die ihm die 
Idee eined Druckes, den die Luft ausübe, und die Erfindung 
der Luftpumpe äußerſt nahe legten, aber die Macht vorgefahter 
Meinungen hielt ihn von diefen Entdedungen zurüd. Schon 
die Alten hatten behauptet, daß die Luft ein beſtimmtes Gewicht 
habe. Das eine der erwähnten Erperimente, welches zeigte, 
daß eine Flaſche, wenn fie mit verdichteter Luft gefüllt war, 
jchwerer wog, ald wenn fie verdünnte Luft enthielt, bewies die 
Richtigkeit diefer Behauptung. Um nun die Größe diejes Ge: 
wichtes zu beftimmen, ftelte Galilei das zweite jener Experimente 
an. Er lieh einen Kolben aus einem Eylinder, in den er genau 
pabte, dadurdy herausziehen, daß er eine Wagichale daran hing 
und in dieſe jo lange Gewichte legte, bis der Kolben herabjanf. 
Ob er auf diejen Verſuch geführt wurde, durch eine von einem 
Gärtner angelegte Pumpe, weldye nicht wirken fonnte, weil das 


Pumprohr zu lang war, oder auf andere Weije, ift für die Bes 
(334) 


7 


urtheilung defjelben gleichgültig. Beide Verjuche legen Zeugnik 
ab für den genialen Scharffinn ded großen Stalienerd. Aber 
in unbegreiflihem Widerſpruch damit fteht die Erklärung der: 
felben. Er erkannte zwar, daß ein Abichen, deſſen Größe fich 
durdy Gewichte beitimmen ließe, ein fonderbar Ding fein müfle, 
aber indem er ihm verwarf, jette er an feine Stelle eine ebenſo 
unglüdliche Erklärung der beobachteten Erjcheinung, nämlich den 
MWiderftand, den die Körper gegen den leeren Raum leiften jollten. 

So fann ed nicht verwundern, daß ed ihm nicht gelang, 
den horror vacui zu bejeitigen. Dies gejchah erft durch Verſuche 
mit Apparaten, die furz nach jeinem 1642 erfolgten Tode con- 
ftruirt wurden, durch die Verjuche mit dem Barometer und der 
Zuftpumpe. Der Zwed beider Apparate war die Herftellung 
eines luftleeren Raumes, die Wege aber, die ihre Erfinder ein- 
ſchlugen, um diejen Zwed zu erreichen, waren ganz verjchiedene. 
Dbgleidy die Luftpumpe der jüngere beider Apparate ift, werden 
wir doch im Sinterefje unjerer Darftellung ihre Erfindung zuerft 
näher betrachten. 

Daß fie ein Werk ded Magdeburger Rathöherren und 
Burgemeifterdö Dtto von Gueride ift, und daß derielbe fie 1654 
auf dem Reichdtage in Regensburg ald ganz neuen Apparat vor« 
zeigte, ift befannt.3) Ob der Ideengang, der ihn zu der Erfin- 
dung des Apparates führte, von Galilei’d Verſuch anhub, wiljen 
wir nicht. Unmöglich ift ed nicht, da Guericke Galilei’d Schriften 
ſehr wohl fannte.*) Aber unwahrjcheinlich ift es deshalb, weil 
aus der Darftellung der Arbeiten, die Gueride zur Erfindung 
der Luftpumpe führten und die er 1672 in Amfterdam druden 
ließ, hervorgeht, daß er dabei einen andern und zwar gänzlich 
jelbftftändigen Weg verfolgt hat. Wir erfahren aus jeinem 
Buche, daß er beabfidytigte, einen leeren Raum herzuftellen, der 
mit demjenigen übereinfäme, in welchem fi vie Geftirne 


bewegen. Died würde, wie er meinte, nicht jo jchwer jein, wenn 
(325) 


8 

man aus einem alljeitig gejchlofjenen Gefäß jeinen Inhalt ent- 
ferne und dazu gedachte er dadurdy gelangen zu können, daß er 
ans einem geichlofjenen, mit Waſſer gefüllten Faſſe das Wafler 
mittelft einer Pumpe herauswürfe. Der Verſuch miblang und 
ebenjo ein zweiter, bei dem er zwei Fäller in einander jeßte, 
beide mit Wafjer füllte und nun das innere leer pumpte, 
Guericke mußte ſich überzeugen, daß die Fäſſer nicht Dicht genug 
hielten, um der Luft den Eintritt durch ihre Wände zu ver: 
wehren. Er griff deshalb zu einem metallnen Gefäß. Mit 
diejem erft glüdte, wenn freilich auch nicht ſogleich der Verſuch, 
welcher zur Erfindung der Zuftpumpe führte. 

Die Erperimente, die Gueride num mit jeinem Apparate 
anftellte, hatten hauptſächlich die Unterſuchung des Luftdrudes 
zum Zwede, dad Verhalten der Körper im luftleeren Raum hat 
er nicht geprüft. Daran hinderte ihn die Undurchfichtigfeit der 
Wände jeined NRecipienten, wie man den Theil der Zuftpumpe, 
aus welchem die Luft entfernt wird, nennt. Der Löjung dieler 
Aufgabe, die namentlid von Intereſſe jein mußte, unterzog fidh 
Robert Boyle, nadydem er eine Zuftpumpe verfertigt hatte, deren 
Recipient aus Glas beitand und mit einem abhebbaren Dedel ver: 
ſehen war, um Körper hineinzubringen.5) Auch hatte er jeinem 
Apparate eine Einrichtung gegeben, die dad Pumpen fehr erleich- 
terte, gleichfalld eine nothwendige Bedingung für ein häufiges 
Erperimentiren mit demfelben. Boyle erzählt und, dab er 
bereitö die Idee, einen ſolchen Apparat herzujtellen, gehabt habe, 
ehe ihm Guericke's Erfindung zu Ohren gefommen war und in 
der That find jo mweientliche Berbefjerungen an feiner Zuftpumpe 
angebracht, da man feinen Grund hat, an der Wahrheit jeiner 
Erzählung zu zweifeln. Aenderte dody ſpäter Gueride jelbit 
jeine Zuftpumpe nach dem Mufter der Boyle’ihen ab. Boyle 
leiftete aber der Wiſſenſchaft noch dadurch einen großen Dienit, 
dab er den ihm befreundeten holländiichen Gelehrten Huygens 


(326) 


9 


für dieſe Verſuche intereſſirte und dieſer ſtellte denn auch bald 
eine Luftpumpe her, deren Recipient eine Glasglocke war, die 
mit dem abgeſchliffenen Rande auf einen ebenfalls abgeſchliffenen 
Teller geſtellt wurde. Viel experimentirt hat er freilich mit dem 
Apparate nicht, aber er gewann einen jungen franzöſiſchen 
Mediciner für dieſe Verſuche, den aus Blois gebürtigen Denis 
Papin, der fich jpäter ald Erperimentator und Erfinder vor 
jeinen Zeitgenofjen hervorthun ſollte. Papin nun ftellte eine 
große Menge von Verſuchen über das Berhalten der verjchie- 
deniten Körper im Iuftleeren Raume mit der Huygens'ſchen Majchine 
an, welche er jpäter in Boyle's Laboratorium fortießte. Auch ver: 
dankt man ihm die wichtigften Verbejjerungen an dem Apparate 
und darf ihn unbedingt ald den bezeichnen, meldyer 25 Fahre nach 
ihrer Erfindung der bejte Kenner der Luftpumpe war.6) Deö- 
halb ift der von ihm gelegentlich gegebene Rath, daß man den 
unteren Rand des glodenförmigen Recipienten nicht einzufetten 
brauche, weil ed ganz nußlos jei, die Finger zu beihmußen, von 
größter Bedeutung. Da jeßt bei den viel vollflommneren 
Inftrumenten das Einfetten des Randes des Mecipienten troß 
feiner Unannehmlichfeit als unerläßlichjte Bedingung bei Ber: 
ſuchen mit der Luftpumpe angejehen wird, jo beweift und jene 
Aeußerung, wie viel der luftleere Raum zu wünjchen übrig lieh, 
mit welchem man damald alles Erreichbare erreicht zu haben 
glaubte. 

Wenn wir nun behaupten, dat die Foricher des 17. Jahr: 
hunderts mit einem jo unvollflommnen Bacuum ſich begnügten, 
weil fie Feine vollftändige Leere herftellen konnten, jo dürfte dieje 
Behauptung vielleicht allzu gewagt gefunden werden. Man 
wird entgegen halten, dat das Barometer ja bereitö vor der 
Luftpumpe erfunden war, und dab der leere Raum über dem 
Duedfilber diejed Apparated doch wohl feine Spur von Luft 


mehr enthalte. Die Berechtigung diefer allgemein angenommenen 
(327) 


10 


Anfiht für die jeßigen Barometer werden wir nachher bejon- 
derö zu prüfen haben. Auf die Barometer, die man zu Papin’s 
Zeit hatte, darf man fie in feinem Falle auödehnen. Zur näheren 
Begründung diefer Behauptung haben wir zunädft die Um» 
fände, die die Erfindung ded Barometerd herbeiführten, in's 
Auge zu fallen. 

Die Arbeiten, die mit der Heritellung dieſes wichtigen 
Inſtrumentes endeten, fnüpften direct an die oben erwähnten 
Verſuche Galilei’8 an; war ed doch ſein talentvollfter Schüler, 
der leider zu früh verftorbene Zorricelli, dem fie gelang. 
Wenn die Luft ein Gewicht hat, fagte er fih, jo muß diejes 
das Waller in den Pumprobren emportreiben und wenn, wie 
zu erwarten ift, dieſes Gewicht eine ganz beftimmte Größe 
bat, jo muß es nicht der Widerftand gegen den leeren Raum 
fein, der dad Waſſer in den Pumprohren verhindert, über eine 
gewifje Höhe emporzjufteigen, jondern ed muß zu fteigen auf» 
hören, wenn fein Gewicht dem einer Luftjäule vom Duerjchnitte 
ded Pumprohred gleich geworden if. Die Richtigkeit diejer 
Annahme aber würde bequem mit einem Glaßrohre zu erweijen 
jein, welches auf der einen Seite geichlofjen wäre und mit 
Duedfilber gefüllt in ein Gefäh mit Duedfilber mit dem offnen 
Ende geitellt würde. Die Duedfilberjäule, deren Gewicht dem 
einer Luftjäule von demjelben Duerjchnitte gleich käme, würde 
ja viel fürzer ausfallen, wie eine Waſſerſäule. Obwohl nun 
ZTorricelli dieje Ideen in jeinem Geijte zu vollftändiger Klarheit 
durchgearbeitet hatte, jo ift er e8 doch nicht gewejen, der zum 
eriten Male in einen luftleeren Raun hineinſah. Died war ein 
anderer Schüler Galilei’3, Viviani. Ihm hatte der bedäctigere 
Torricelli jeine Ideen mitgetheilt, und während er jelbft die 
Realifirung derjelben noch hinausſchob, überraſchte ibm der 
eifrige F$reund mit der Nachſicht, daß er dad Erperiment, das 


den Abicheu der Luft vor dem leeren Raum ſowohl, wie den 
(328) 


11 





Widerftand der Körper gegen den lebteren für immer aud der 
Wiſſenſchaft verbannen jollte, bereits ausgeführt habe. Er füllte 
nun auch vor des Erfinderd Augen ein einjeitig gejchloflenes, 
langes Glasrohr mit Duedfilber, kehrte e& um, indem er dad 
offene Ende forgfältig mit dem Finger verichlofien hielt, tauchte 
ed in ein Gefäh mit Duedjilber und mit inniger Freude jah 
Zorricelli jeine Idee fich bewähren, das Duedfilber ſank, wäh— 
rend Viviani den Finger langfam hinweg zog, bis zu einer 
beftimmten Höhe und blieb dann vom Gewichte der Luft getragen, 
ftehen. Mit der Herftellung dieſes erften Iuftleeren Raumes 
war jomit das Vorhandenjein ded Luftdruckes bewieien. ?) 

In unjerer an Zeitungen jo reichen Zeit hätte nun eine 
Entdedung von einer ſolchen durchichlagenden Wichtigkeit blitz— 
ichnell ihre Verbreitung durdy die ganze Welt gefunden. Da- 
mals erfolgten derartige Mittheilungen viel langfamer, nur auf 
briefliem Wege oder durd mündliche Erzählung. Auf die 
erfte Meije lernte Pascal den Verſuch Torricelli's durch Merjenne 
fennen. Diejer hatte fie von de Verduz mitgetheilt erhalten, 
de Verduz von Ricei, Ricci endlid von Torricelli. Pascal 
glaubte das Erperiment noch aus dem Abjcheu der Luft vor dem 
leeren Raum erklären zu fünnen. Als er aber jpäter aud die 
von ZTorricelli gegebene Erklärung fennen lernte, jchloß er ſich 
diefer an, nachdem er fih von ihrer Richtigfeit durdy den be— 
rühmten Verſuch überzeugt batte, den auf feine Veranlaffung 
am 19. September 1648 jein Schwager Perier anftellte und 
der die Vergleichung gleichzeitiger Barometerftände auf dem 
3000' hoben Buy de Döme und in dem am Fube defjelben 
liegenden Glermont zum Gegenftand hatte. Die dabei beobadh- 
tete Thatjache, dab dad Barometer auf dem Berg einen um 
3" niedrigeren Stand zeigte, wie an jeinem Zube, führte den end— 
gültigen Sieg der Lehre vom Luftdrud über die des horror 


vacuı berbei. 
(329) 


12 


Otto von Gueride erfuhr von den Arbeiten der Staliener erft, 
nahdem das Barometer bereits jeit vollen 11 Fahren erfunden 
worden war. Auf dem Reichötage in Regensburg zeigte ihm der 
Gapuziner Pater Balerianud Magnus den Torricelliihen Verſuch, 
ließ aber die Täufhung mit unterlaufen, als jei er, VBalerianus, der 
Urheber dejjelben. Indeß fam es bald zu Tage, daß er prab- 
lend gelogen hatte, den Verſuch jelbft aber wiederholte Gueride 
bald nad feiner Nüdfehr, indem er ein Wafjerbarometer auf: 
jtellte, dabei aber dafür forgte, daß die gleichfalld von Torricelli 
bereitö beobachteten Schwankungen des Luftdrudes Jedermann 
vor Augen traten. Zu dem Ende ftellte er eine Anzahl metallene 
Nöhren ber, von denen die unterfte mit einem Hahn verſchloſſen 
werden fonnte, während die andern unten in einen Kegel aus: 
liefen, welcher in den innern Theil des trichterförmig erweiterten 
oberen Ende des fih nah unten anjchlieenden Rohrſtückes 
paßte. Nur der untere Theil des oberften diefer Rohrftüde 
beitand aus Metall, oben trug dafjelbe ein flaichenförmig erwei- 
terted geichloffenes Glasgefäß. Mit gejchloffenem Hahn murde 
nun das unterfte in einen Zuber mit Waſſer geieht, es darauf 
mit Waſſer gefüllt, das folgende Rohrſtück eingeießt, auch dieſes 
mit Waſſer gefüllt u. ſ. w., endlich das oberſte gefüllt und, während 
es mit dem Finger zugehalten wurde, in den Trichter des vorher: 
gehenden gefeßt. Dann wurde der Hahn geöffnet und das Wafler 
janf in dem Glasgefäße herab, den über ihm bleibenden Raum 
mit jeinen Dämpfen füllend. Im dieje Flafcye hatte er nun eine 
feine hölzerne Figur gebracht, die auf dem Wafjer jchwimmend 
mit ihrem audgeftredten Finger den Stand des Barometers angab 
und den Bewohnern Magdeburgd die Aenderungen des Barometer- 
Standes mit dem Wetter in ähnlicher Weile vor Augen führte, 
wie died unſeren Zeitgenoffen, die überall in öffentlichen umd 
Privatgebäuden aufgeitellten Wettergläjer und Aneroide thun. 
Es ift dies Gueride’s berühmtes Wettermännden und mit 


(330) 


1 
Befriedigung erzählt und der Erfinder, dab er im Fahre 1660 
aus dem ungewöhnlidy rafchen Herabfinfen defjelben einen 
Sturm richtig vorhergeſagt babe. ®) 

Nachdem nun das Barometer einmal erfunden war, lag es 
nahe, den luftleeren Raum in feiner Kammer, die jogenannte 
Zorricelli'iche Leere, zu ähnlichen Berjuchen zu benußen, wie 
died mit dem luftverdünnten Raum im HRecipienten der Luft» 
pumpe jchon lange geihah. Im der That haben die Schüler 
Galilei's, die Mitglieder der 1657 unter dem Protectorat des 
Prinzen Leopold von Medici geitifteten Accademia del Cimento, 
(Academie für erperimentelle Arbeiten), eine ganze Reihe der- 
artiger Verſuche angeftellt. Da fie aber jelbit fanden, dab der 
Stand ihrer Barometer von der Temperatur abhängig jei, aljo 
ihre Barometerfammer Luft enthalten mußte, die fie denn auch 
dadurch ald Blädchen fihtbar machten, dab fie das Queckſilber, 
ded Barometerd durch Neigen des Rohres zum Anftoßen an fein 
oberes Ende bradten, jo ergaben ihre Verſuche feine beſſeren 
Rejultate, wie die mit der Luftpumpe aud ergeben hatten. 
Es konnte audy gar nicht anders jein, weil fie das Duedjilber 
mit dem fie ihre Barometer füllten, nicht ausfodhten und jo 
förderten ihre Verſuche die Kenntniffe von den Eigenſchaften 
deö leeren Raumes nur wenig. Auch der Verſuch Papin’s, ein 
Iuftleerered8 Barometer dadurdy herzuftellen, dab er die Röhre 
erft auspumpte und dann auf die mühjamite Weile das Oueck— 
filber hereinbradyte, während das offene Ende deö Rohres unter 
dem Necipienten der Yuftpumpe blieb, mißlang, da das ihm 
hierzu von der Royal Society in London zur Verfügung geitellte 
Duedfilber ſich ald zu unrein erwies. 

Dad 18. Jahrhundert brachte nun zwar wichtige Ver— 
befjerungen, ſowohl in der Gonftruction der Luftpumpe, mie in 
den Heritellungömethoden der Barometer, aber einen wejentlicyen 
Fortichritt für die Erzeugung eines luftleeren Raumes brachte 

(831) 


— 
es nicht. Obwohl man darauf kam, die Barometer durch Aus— 
kochen weitaus vorzüglicher zu machen, ſo traten andere Beob— 
achtungen in den Weg, die die Prüfung und Ausnützung der— 
ſelben zu verhindern geeignet waren. Die ſchon früh beobachtete 
Thatſache, daß ed Barometer gab, deren Kammer durch Schüt- 
teln des Duedfilberd zu ſchwachem Leuchten gebracht werden 
fonnte, verurjacdhte zumächft viel Hin» und Widerreden, bis es 
klar wurde, daß hieran die Electricität Schuld jei, welche durch 
Neibung des Duedfilberd an der Gladwand entftand. 1°) Nach— 
dem nun Dufay 1723 gezeigt hatte, dab das Leuchten nur 
entjtehe, wenn das Barometer gut ausgekocht ſei und ald Deluc 
1760 die Wirkung des Auskochens durdy die ſehr vollftändige 
Befreiung ded Quedfilberd von Luft erklärt hatte, die erzielt 
wurde, jo glaubte man in der noch jo jehr räthjelhaften Elec— 
trieität ein Mittel gefunden zu haben, zu prüfen, ob ein Raum 
Inftleer jei oder niht. Wenn man aud) diefer Anficht ihre 
Berechtigung nicht abiprechen kann, jo wußte man doch von der 
Glectricıtät damals noch viel zu wenig, als daß nicht ihr Hinein- 
ziehen im dieje Unterjuchungen mandherlei Unklarheiten bervor- 
gerufen hätte. Namentlich verhängnißvoll in dieſer Beziehung 
wurden Verſuche, die 1780 Walſh in Gegenwart Franklin’s, 
Smeaton’d, Deluc’d, Cavallo's und anderer anftellte und die 1807 
P. Erman wiederholte, indem ihr Rejultat, die Undurchdringlichkeit 
der Zorricelli’jchen Leeren jener Barometer für electrifche Funken, 
ohne Weiteres verallgemeinert wurde. !!) Man glaubte num- 
mehr, daß der leere Raum ein Nichtleiter der Electricität jei, 
und ſah umgefehrt in diefer mangelnden Leitungsfähigfeit eines 
Raumes einen fidyeren Beweis dafür, daß in ihm wirklich nichts 
Stoffliche8 mehr vorhanden wäre. Dadurch gerieth man aber 
in einen Girfel bedenklichfter Art; da man ja gar nicht wußte, 
ob der Raum, welcher die Electricität nicht leitete, leer war, jo 
war es ein grober logiicher Fehler, anzunehmen, dab man daran 


vn 


15 


nun einen leeren Raum müſſe erflären fünnen. Auch beweijt 
die Thatjache, daß diejer Raum ſich gegen Funfenentladungen 
jo verhielt, doch nod nichts für Räume, aus denen auf andere 
Weiſe die Luft entfernt worden war oder für andere electriiche 
Entladungen, wie Funfenentladungen. Daß dieſe beiden Fak— 
toren in der That aber wejentlich den Uebergang der Electricität 
durch einen luftverdünnten Raum bedingen, iſt durch eine 
Menge Verſuche der Neuzeit, auf die wir noch ausführlich ein- 
zugehen haben, genügend dargethan worden. 

Diefe Verjuche jegen nun aber einen Raum voraus, aus 
dem die Luft viel vollfommener entfernt worden ift, ald es die 
bisher betrachteten Mittel geftatteten, die Möglichkeit diejer 
Herftellung aber wieder Prüfungsmittel für die erreichte Luft— 
verdünnung. Unter den leßteren blieb nach wie vor das Baro- 
meter dad einzig brauchbare. Wenn nun aber auch zugegeben 
werden mag, daß die Kammer eines jehr jorgfältig angefertigten 
Barometers ſogleich nach feiner Heritellung völlig frei von Stoff: 
theilchen ift, jo ift doch aus theoretiihen Gründen mit aller 
Sicherheit zu folgern, dat durdy Berdunftung ded Duedfilberd 
etwad Duedfilberdampf ſich ſehr bald in die Leere begiebt. 
Allerdings ift diefe Dampfmenge bei niederen Temperaturen jo 
gering, daß fie, wovon ſich Regnault durdy bejondere Berjuche 
überzeugt hat, bei allen in ſolchen Temperaturen angeftellten 
Meſſungen der Barometerhöhen oder der Duedfilberhöhen an 
barometriichen Apparaten unberüdfichtigt bleiben kann, aber fie 
reicht doch hin, um einige Duedfilberatome in den leeren Raum 
gelangen zu laffen und ihm jo die Eigenichaft, auf die ed uns 
in erfter Linie anfommt, wieder zu nehmen. So lange num 
feine Luft in der Barometerfammer it, ift für die Zwecke des 
Barometerd alled erreicht, was erreicht zu werden braucht. Aber 
man findet in nicht ganz friſch ausgefochten Barometern jtetö 


(333) 


_ 16 

geringere oder größere Mengen von Luft und es entiteht jomit 
die Frage, auf weldye Art diejelbe mit der Zeit hinein kommt. 

Bei ganz neuen Barometern von nicht zu großen Durch— 
mefjern fommt eö oft vor, dab beim Umkehren ded Rohres die 
ganze Maffe des Duedfilberd an den Rohrwandungen haften 
bleibt und troß alles Klopfend nidyt berabfallen will. Die 
Barometerverfertiger fennen dieſe Erſcheinung jeit langer Zeit 
und jehen ihr Auftreten ald das Zeichen eineö wohlgelungenen 
Barometerd an. Die Richtigkeit diejer Anficht ift vor mehreren 
Fahren durch Verjuche beftätigt worden, die James Moſer in 
Profeflor von Helmholtz's Laboratorium in anderer Abficht, nämlich 
um neue Auffchlüffe über die Cohäſion des Duedfilberd am 
Glaſe zu gewinnen, angeftelt hat!?). Nach verhältnigmäßig 
furzer Zeit hört nun aber diejed Anhaften des Duedfilbers am 
Slaje auf, und zwar offenbar deshalb, weil eine Spur von 
Luft in die Barometerfammer eintritt. Der Umftand, dab be— 
reitd Huygens die in Rede jtehende Ericheinung an einem mit 
Waſſer gefüllten, abgefürztem Barometer unter der Luftpumpe 
beobachtete !3) beweiſt durchaus nichts gegen die oben aufge= 
ftellte Behauptung, da die früheren Barometer an Güte hinter 
den jegigen weit zurüdftanden. Nicht darin beftand ihre Un- 
vollfommenbeit, daß nicht im eriten Augenblide ihre Kammer 
Luft enthielt, jondern, dab in verhältnißmäßig furzer Zeit eine 
beträchtliche Menge Luft in fie hineingerieth. Wenn nun bei 
jenen Apparaten die Herkunft diejer Luft leicht nachgewieſen 
werden fonnte, da ja das unausgekochte Duedfilber ziemlich) 
viel Luft und Feuchtigkeit enthält, jo lag bei den neueren Baro- 
metern die Sache nicht jo einfah. Aus dem in ihnen ent- 
haltenen Duedfilber war ja, wie man glaubte, die Luft durd) 
dad Kochen entfernt, und jo mußte man annehmen, daß fie 
zwiſchen dem QDuedfilber und dem Glaje emporfrödhe. Um 
dies zu verhindern jchlug der engliiche Phyſiker Daniell vor in 


(334) 


17 


gewifjen Entfernungen von einander Platinringe inwendig an das 
Barometerrohr zu legen, unter denen fi, da fie am inneren Rande 
herabgebogen waren, die aufiteigende Luft, ftatt in die Torri— 
celli’ihe Leere aufzufteigen, anfammeln jollte. Indeſſen bewies 
die Nußlofigfeit dieſer Vorrichtung bald genug die Unrichtigkeit 
des Gedanfens, von dem fie ausging, und Moſer's Verſuche 
haben deutlich bewiejen, daß die in die Leere gelangende Luft 
in dem Queckſilber ſelbſt emporfteigt. Als er, um von andern 
Verſuchen zu jchweigen, luftfreien Alkohol über das Duedfilber 
eined nad) Art eined Barometerd eingerichteten Apparates 
brachte, ſah er in ihm Luftblajen auffteigen und zwar 
gingen diejelben allemal von der Oberfläche des Duedfilberd 
aus. Die Luft muß ſich aljo entweder im Duedfilber, gerade 
jo, wie im Wafjer löjen, oder, was wahrjcheinlicher ift, das 
Duedfilber orydirt ſich an der Stelle, wo ed mit der Luft in 
Berührung it, diefes Oxyd löſt fi) im Duedfilber auf, gelangt 
an die Grenzfläde defjelben gegen die Barometerfammer und 
giebt bier feinen Sauerftoff, der nur mit geringer Kraft an 
dem Duedfilber haftet, in die Barometerfammer ab. Die Torri- 
celli’jche Keere der Barometer ift jomit für gewöhnlich fein voll» 
ftändig leerer Raum, fie enthält vielmehr mit jeltenen Aus- 
nahmen Luft. 

Da eine gewiſſe Zeit nöthig ift, um died Eintreten der 
Luft in die Leere des Barometerd zu ermöglichen, jo iſt dafjelbe 
zur Prüfung dafür, ob aus einem Recipienten alle Luft ent- 
fernt iſt, vollkommen braudbar, wenn man ed nur rechtzeitig 
durch Schließen eined Hahnes oder Zublajen eined Rohres mit 
der Glasbläjerlampe von dem leergepumpten Raume abſchließen 
fann. Der Apparat, foldye leeren Räume zu erreihen fonnte 
aber nur die Zuftpumpe jein, die freilich dazu mejentlich ver- 
befjert werden mußte. Zwei Männer waren ed nun nament- 


ih, die ſolche verbefjerten Luftpumpen in neuerer Zeit mit 
XVII. 416. 2 (335) 


18 





Erfolg zur Verwendung brachten, Geihler in Bonn und Spren- 
gel in London. Die Pumpe des erfteren!*) benußt den leeren 
Raum über dem Barometer und iſt aljo nur eine Verbefjerung 
des Apparates, dem bereits die Mitglieder de Accademia del 
Gimento zu ihren Verſuchen benußten. Der Recipient ift ein 
kleines Glasgefäß, welches durch einen Glashahn mit einem 
großen birnförmigen Gefäß in Verbindung fteht, von dem dann 
ein genügend langer quedfilberdichter, aber biegjamer Scylauch 
in ein geräumigeö zweites Gefäß führt. Ein zweites durch 
diefen Hahn verjchließbares Glasrohr führt in die Luft. Sit 
diefer Hahn geöffnet, jo fann man beide Gefäße mit Duedfilber 
füllen, wenn man das leßtere höher, wie das erftere ftellt und 
bei geöffnetem Lufthahn in jenes Duedfilber ſchüttet. Schließt 
man dann den Hahn und jeßt das leßigenannte Gefäh auf den 
Boden, jo bleibt in dem biegjamen Verbindungsrohr eine Dued- 
filberiäule von der Höhe des Barometerftandes zurüd, während 
das Gefäß ſich volllommen entleert. Verbindet man nunmehr 
mit diejem den Recipienten, jo dehnt ſich die in demjelben ent— 
haltene Luft auf ein viel größered Volumen aus und fann, 
wenn der Verſuch mehrmald wiederholt wird, auf das Neußerfte 
verdünnt werden. Noch bequemer ift die Sprengel’jche Luft- 
pumpe. Auch ſie ilt nur die Verbeſſerung eines älteren Ver— 
ſuches den am Ende des 17. Jahrhunderts der würtembergijche 
Hofrat Reiſel „denen Curioſis“ ald Aufgabe jtellte und defjen 
Wiederholung und Erklärung Papin ſogleich gelang!®). Ihr 
Hauptbejtandtheil ift ein ziemlidy enges, ſenkrecht geitelltes Glas- 
rohr, durch welches aus einem oben daran befeftigten Zrichter 
hintereinander - jo langiam Quedfilbertropfen herabfallen, daß 
zwiichen ihnen jedesmal ein luftleerer Raum bleibt. An dies 
ſenkrechte Rohr ift nun ein feitlicheö zweited Rohr angeblajen, 
welches mit einem Glashahn verjehen iſt und an meldyeö der 


Recipient, wiederum ein Glasrohr, gejegt ilt. Jeder herab» 
(336) 


_19 

fallende Tropfen nimmt bei geöffnetem Hahn etwas Luft aus 
dem Recipienten mit und da man, wenn der Trichter entleert 
iſt, leicht Duedfilber wieder nachgießen kann, fo ift ohne Mühe 
ein jehr vollkommen luftverdünnter Raum auch mit diefer Pumpe 
zu erhalten. Dabei hat fie noch die gute Eigenſchaft, jelbit den 
Erperimentator herbeizurufen, wenn fie ihre Pflicht gethan hat. 
Die Tropfen fallen dann nicht mehr mit leifem Ton auf das 
die Glaswand ſonſt umgebende Zuftpoliter, jondern auf dieſe 
jelbft und erregen dadurch ein lautes Klingen, daß fich genau 
jo anhört, ald fei das Glas geiprungen. Dies ruft den Beob- 
achter unfehlbar herbei. 

Mit Hülfe feiner Zuftpumpe itellte nun Geißler in den 
fünfziger Jahren dieſes Jahrhunderts nad ihm benannte rings 
geichloffene Gladröhren dar, in welchen die Luft ftärfer verdünnt 
war, ald man es früher jemals hatte erreichen fünnen. Mit 
ihrer Hülfe war man im Stande den Durchgang der Glectri- 
eität durch luftverdünnte Räume zu ftudiren und da zeigte eö 
fi denn, dab, worauf wir ſchon hindeuteten, der Vorgang ein viel 
complicirterer war, ald man nach den wenigen Verſuchen von 
Walsh und Erman angenommen hatte. Um die Glectricität 
in den Raum zu leiten, waren zwei Platindrähte, die Electro» 
den, in die Röhrenwand eingejchmolzen. Bon der Entfernung 
der Electroden, dem Grad der Verdünnung und der Art der 
.electriichen Entladung hing der Durchgang der Eletricität ab 
Man fand, daß je höher die Verdünnung getrieben wurde, um 
jo geringer der Abitand der Clectroden jein durfte, bei welchem 
die Glectricität nicht mehr den Raum durchdrang und Geißler 
erreichte eine jolhe Verdünnung, daß er die Enden der Elec- 
troden bis in eineEntfernung von ] dem bringen fonnte, ohne 
dab die Glectricität, welche mittelft galvaniſcher Elemente in 
einem Inuductiondapparate hervorgerufen wurde, überging. Aber 


er erreichte nody weit mehr, ald er einem von Hittorf gemach— 
2* (337) 


20 


ten Vorſchlage zu Folge den Recipienten während des Auspum- 
pend gleichzeitig biß zur Rothgluth erhitzte. Dadurch wurde die 
Verdünnung fo gefteigert, daß der Abftand der Glectroden, den die 
Glectricität nicht mehr überjchritt, weniger, wie 1 mm betrug. 
Da man immer noch in der Vorſtellung befangen war, 
daß die Glectricität den Iuftleeren Raum nicht Durddringen 
fönne, jo war man nun überzeugt, denjelben in diejen Röhr- 
chen wirklich vor fi) zu haben. Indeſſen hat ein kleiner Apparat, 
den unabhängig von einander vor mehreren Jahren Groofes 
und Bergner!®) erfanden und der, freilich in ein wenig anderer 
Form auch ſchon im vorigen Sahrhundert zu Verſuchen gedient 
hatte, jet aber den Namen des Radiometerd erhielt, den Gegen- 
beweid erbradt. Beide Männer zeigten, daß Feine dünne 
Scheibchen irgend welches Stoffedö, die in einem ſolchen luft: 
leeren Raum fo aufgehängt waren, daß fie ſich bewegen konnten, 
unter dem Einfluß von Licht- und Wärmeftrahlen in eine jolche 
Bewegung geriethen, ald würden fie von den Strahlen abge- 
ftoßen. Sebte man nun voraus, daß der Raum, in weldem 
dieſe beweglichen Scheiben ſich befanden, wirklich luftleer war, 
jo blieb nichtd übrig ald anzunehmen, daß die Strahlen in der 
That eine abftoßende Wirkung ausübten. So nahm denn 
auch Crookes anfangs eine jolhe an und glaubte damit die 
neue Eigenschaft des Lichted gefunden zu haben, Körpern eine 
mechaniiche Bewegung zu ertheilen. Was für ein enormes Aufs 
ſehen die Crookes'ſchen Verſuche erregten, ift befannt, das Radio— 
meter ift jo populär geworden, daß es in Deutichland den, man 
darf jagen, Spignamen der Lichtmühle erhielt und jett wohl 
in dem Schaufenfter eines jeden Mecdaniferd im Tageslichte 
unermüdlich feine zierlichen Flügel dreht. Es befiht deren ge- 
gemeiniglidy 4 von einjeitig mit Ruß geichwärzten Glimmer- 
oder Marficheibchen, die in jenfredhter Yage von einem Kreuze 


von jehr leichten Aluminiumdraht gehalten werden. Die hut- 
(338) 


BL 

förmig gehobene Mitte diejes Kreuzes ift auf die Spihe einer 
Nähnadel gejeßt, welche im einem Glasſtiel eingejchmolzen ift, 
der ſich im Innern eined birnförmigen alljeitig geichloffenen 
Gladgefähes erhebt. Won oben aber ragt ein eben ſolches Glas- 
ftäbchen in das Gefäß hinein und umfaßt mit einer Höhlung 
jo das Hütchen ded Kreuzed, daß dieſes zwar frei auf ber 
Nadelipite jcywebt, aber beim Umfehren des Apparates von 
derjelben nicht herabfallen Fann. 

Die vermeintlie Entdedung Groofed’ wurde zur Vers 
anlaffung einer wahren Sturmfluty von Beröffentlichungen, 
deren Inhalt Verſuche mit Radiometern oder ähnlichen Appa— 
raten war, die aber mit wenigen Ausnahmen zu dem Schluſſe 
famen, dab man zu der Erfärung der überrafchenden Erſchei— 
nungen im Radiometer durchaus nicht eine abftoßende Kraft 
der Licht und Wärmeitrahlen, die ftärfer auf die berußten, wie 
auf die unberußten Seiten der Scheibdyen wirfe, anzunehmen 
braudye, jondern daß die Bewegung durdy die wenigen in ihm 
noch vorhandenen Gastheildhen hervorgerufen würde, welche von 
der ftärfer ermärmten berußten Seite der Scheibehen mit 
größerer Kraft, wie von der nicht berußten abgeftoßen, durch 
ihren Rückſtoß das Kreuz mit den Scheiben in Bewegung 
jegten. Wir heben bier nur zwei Verjuche heraus, welche be— 
jonderd geeignet find, die Umhaltbarfeit der Crookes'ſchen Hypo— 
theje nachzuweiſen; den einen derjelben hat Kundt in Straßburg, 
den andern Schuſter in Drford angeftelt. Kumdt!”) befeitigte 
die Flügel eines NRadiometerd an eine Glimmerjcheibe, die in 
derjelben Weije, wie ed Groofed angegeben hatte, auf einer 
Spite jchwebte, bradyte aber dann im geringem Abftand über 
ihr eine zweite Sceibe, der unteren parallel und wie fie 
drehbar, an; beide Scheiben waren in ein Glasgefäß eingeichlofien, 
welches nad; Crookes' Anſicht völlig Iuftleer gepumpt worden 
war. Wäre nun died Gefäß wirklich luftleer geweien, jo hätte 
bei Bejtrahlung des Apparates die untere Scheibe in Drehung 


(339) 


22 


gerathen müfjen, ohne daß der obigen irgend welche Bewegung 
ertheilt worden wäre. Enthielt aber das Gefäß noch Luft, jo 
mußte diejfelbe an der Notation der unteren Glimmerſcheibe 
Theil nehmen und vermöge ihrer Reibung an der oberen auch 
fie mit in Rotation verjegen. Der Verſuch zeigte, dab das 
Lebtere eintrat. Als fich die untere Scheibe drehte, gerieth die 
obere ebenfalls in eine, freilich langſam erfolgende Rotation. 
Zuftleer iſt aljo aud der nad Hittorf's Vorgang hergeftellte 
Raum nidt. 

Doch jcheint der Kundt’sche Verſuch zunächſt nicht zu er- 
geben, daß, wenn auch noch Luft im Radiometer vorhanden ift, 
diefe num aud die Urſache der Bewegung der Radicmeterflügel 
fein muß. Dieſen Schluß ergiebt aber mit Evidenz der von 
Schufter angeftellte Verſuch's). Wenn der Stoß der Luft die 
Flügel wirklic in Drehung verſetzt, jo muß, jchloß der engliiche 
Forſcher, diejelbe gleichzeitig der dem Flügel gegemüberbefindlichen 
Gefäßwand einen Stoß in entgegengejeßter Ridytung ertheilen, 
gerade jo wie Jemand, der aus einem Schiffe jpringend feinen 
Körper vorwärts bewegt, das Schiff zugleich rüdwärtd jchleudert. 
Hängt man aljo die Hülle des Radiometers drehbar auf, jo 
muß diejelbe unter der Einmirfung von Strahlen in langjame 
Drehung in entgegengejeßter Nichtung gerathen und dies Er— 
gebniß erhielt Schufter in der That, ald er feine Idee erperi= 
mentell prüfte. Es hat dann E. Pringsheim!?) neuerdings 
darauf aufmerfjam gemadt, dab der Hauptantheil an der ber: 
vorgebradyten Bewegung der Gladwand des Nadiometergefühes 
zuzuſprechen jei und dadurch die von Reynolds herrührende, 
von Schufter angenommene Erflärungsweije beftätigt. Soldyen 
nicht gut abzuweifenden Gründen für die Erklärung der Bes 
wegungen im NRadiometergefäh in Folge ded Stoßes von Gas— 
theildyen verſchloß ſich nun auch Crookes nicht. Er gab jeine 


frühere Anfiht auf und es ift zu verwundern, daß diejelbe 
(340) 


23 


trogdem nody von mandyen Phyſikern feftgehalten wird. Dazu 
aber konnte er fich nicht entichließen, die Erſcheinungen lediglich 
ald Folgerungen der neueren Gaötheorie zu betradhten, als 
welche er fie namentlich von den deutjchen Forjchern, und doch 
wehl mit Recht, hingeftellt wurden, jondern er nahm nun eine 
Idee ded großen engliichen Erperimentatord Faraday auf und 
erflärte den Zuftand der Luft im Radiometer für einen vierten 
Argregat-Zuftand, den der jtrahlenden Materie, in dem ſich 
die Gastheilchen in geradlinigen Bahnen jo lange fortbemegten, 
ald ſich ihnen nicht ein Hindernig in den Meg ftellte. Cs ift 
nicht recht zu veritehen, wie er dieje von Faraday längft vor 
der Aufitellung der genannten Theorie gebrauchte Annahme der 
ftrahlenden Materie wieder einführen mochte, die jegt nur ge— 
eignet ift, Verwirrung anzurichten. 20) 

Die neuere, von Glaufius zuerit aufgeftellte Gastheorie 
nimmt nämlih an, dab die einzelnen Atome der Körper, jo 
lange diejem nur nody ein wenig Wärme innewohnt, d. b. jo 
lange ihre Temperatur noch über dem abjoluten Nullpunkt, den 
man zu — 273° der hunderttheiligen Scala beredynet hat, gelegen 
it, in fortwährender Bewegung begriffen find. Die Atome 
feiter Körper führen ihren Folgerungen nach pendelartige Be— 
wegungen aus?!), die der Alüffigfeiten gleiten ſich umeinander 
berummälzend an einander hin, die der Gaje aber gehen im 
geradlinigen Bahnen fort, jo lange bis fie einen andern Körper, 
aljo 3. B. die Wand des fie einjchließenden Gefäßes oder 
andere gleichartige Atome treffen, mit weldyen leßteren fie dann, 
wie aufeinander ftoßende Billardkugeln, ihre Bewegungen aus— 
tauschen, von ihnen in ſchiefer Richtung weiter gehn u. ſ. w. 
Fe weniger Gasatome in einem Raume find, deito jeltener wird 
ein Zujammenftoß ftattfinden. Se ftärfer aljo die Verdünnung 
ift, defto länger fann ein fidh bewegendes Gasatom feine gerad- 


linige Bahn inne halten. Der fjogenannte vierte Aggregat: 
(#41) 


— 24 
Zuſtand Faraday's iſt alſo durchaus nichts anderes, wie der 
Zuſtand eines auf das höchſte verdünnten Gaſes, wie er aus den 
Vorausſetzungen der Gastheorie folgt und alſo eine mindeſtens 
überflüffige Bezeichnung. 

Indefjen waren ed nicht nur die Bewegungen im Radio— 
meter, welche Crookes aus jeiner Annahme zu erflären fuchte, 
ed war außerdem eine große Menge von eleftriihen Licht: 
ericheinungen, welche er dadurch dem Verſtändniß näher zu 
bringen wünſchte. Ebenfalls zuerft von Hittorf aufgefunden, 
waren fte von den verjchiedeniten Forſchern nad allen Richtun— 
gen verfolgt, aber nur ihrer Zahl nach vermehrt, ohne dab man 
ihrer Deutung näher gefommen wäre. 8 find died die Licht- 
ericheinungen, weldye den Durdgang der Electricität durch 
möglichft Iuftleer gemachte Geißler'ſche Röhren begleiten. Sit 
der größtmöglichfte Grad der Verdünnung erreicht, und leitet 
man durch Electroden, die fo liegen, dab die eine von der 
andern aus nicht in gerader Linie ohne Zerftörung der Glas» 
wand erreicht werden fann, Inductiondelectricität hinein, jo geht 
dieſe nicht wie ſonſt von einer Glectrode zur andern, jondern 
fie geht im geradlinigen Strahlen fort, weldye an der Stelle, 
wo fie da8 Glas treffen, dajjelbe leuchtend machen. Gegen: 
ftände, melde in dem Geißlerihen Rohr diefen Strahlen in 
den Weg geſtellt werden, bilden ſich dann ald dunfle Stellen 
auf der leuchtenden Glaswand ab. Goldftein??) in Berlin bat 
auf derjelben das Gepräge einer Münze erhalten fönnen, von 
der er die electriihen Strahlen ausgehen ließ. Stellte nun 
Groofed diefen Strahlen ein leichte vadiometerartiged Flügel- 
rädchen jo entgegen, dab mur ein fleiner Theil‘ von ihnen 
getroffen wurde, jo gerieth dasjelbe in Rotation, offenbar in 
Folge des Stoßes der Gastheildyen, welche von der einen Elec- 
trode abgeftoßen gegen die Flügel des Nädchens prallten. Dar: 
aus glaubte Crookes ſchließen zu dürfen, daß auch das Keuchtend- 


(32) 


— 


werden der Glaswand durch den Stoß derſelben Gastheilchen 
hervorgerufen werde, und daß ſie dieſelbe Wirkung auch auf ihnen 
begegnende Gastheilchen ausüben. Giebt man nun die Richtigkeit 
dieſer letzten Annahme zu, ſo iſt eine nothwendige weitere Conſe— 
quenz, daß dunkle Stellen im Rohre ſolche ſein müſſen, durch 
welche die ſtrahlende Materie ſich völlig ungehindert hindurch 
bewegt. 

Die Annahme, mit deren Hilfe Crookes die electrijchen 
Lichterjheinungen im Innern und in der Glaswand der Geiß— 
ler’ichen Röhren erflären wollte, wurden von anderen dahin 
modiftcirt, daß es nicht die durch die electriiche Entladung im 
Bewegung gejeßten Gastheilchen Seien, welche fie hervorriefen, 
jondern Metalltheildyen, weldye durdy die Clectricität von den 
&lectroden abgerifjen wurden. Indeſſen haben Verſuche, die 
Goldftein zur Prüfung diefer und ter Crookes'ſchen Anſicht auf: 
ftellte, diejelben nicht beftätigt.?2?) Sie haben vielmehr mit 
großer Wahrjcheinlichfeit da Reſultat ergeben, daß die in den 
NRöhrdyen enthaltene Luft bei dieſen Lichtprocefjen feine Rolle 
jpielt, als höchſtens die, dem Uebergang der Electricität hindernd 
in den Weg zu treten. Sie veranlahten ihn die alte Anficht wieder 
aufzunehmen, dab der leere Raum doh im Stande jei, die 
Glectricität zu leiten und dab bei hodygradiger Verdünnung 
die etwa noch vorhandenen materiellen Theilchen die Electricität 
bei ihrem Fortſchreiten nur hinderten. 

Die Urfache aber, warum die Electricität bald in dem luft: 
verdünnten Raum einzutreten im Stande ift, bald nicht, liegt 
darin, daß ihr beim Mebergang aus den fie leitenden Metall- 
theilen in diefen Raum ein Widerftand entgegengejeßt wird, 
welcher verichieden ift, je nach der Natur der Leiter und der fie 
umgebenden Stoffe. 

Wenn wir nun aud die aus dieſen gezogenen Schlüfje 


einftweilen noch mit Vorſicht aufzunehmen haben, da die ganze 
(343) 


26 
Frage wohl noch nicht Ipruchreif ift, jo fommen wir doch zu 
dem ficheren Ergebniß, daß bisher alle Verſuche auf Erden, 
einen vollflommen [uftleeren Raum berzuftellen, gejcheitert find. 
Eriftirt nun troßdem ein jolcher, jo fann er nur außerhalb 
unſerer Atmojphäre zwilchen den Weltkörpern gejucht werden. 
Daß ſich aber hier ein folcher befindet, dafür fprechen viele ge- 
wichtige Gründe. 

Wir wiffen, daß die Dichtigfeit unferer Atmoſphäre nad) 
Dben immer mehr abnimmt und fönnen und demnach der Kol» 
gerung nicht entziehen, daß die leßtere endlich einmal ganz 
aufhört. Ueber die Höhe, wo dies geichieht, gehen freilich die 
Anfichten noch weit audeinander. Laſſen wir die aus den Be— 
obadytungen der Nordlichter gewonnenen Beftimmungen diejer 
Höhe bier bei Seite, einmal, weil mit den größeren aus theo— 
retiichen Grunde feine Höhenbejtimmung vorgenommen wer— 
den fann, dann aber auch, weil es wohl ald ganz ſicher anzu— 
nehmen ift, daß die Nordlichter in jeher verjchiedenen Höhen 
ftatt finden fönnen, jo haben die Rechnungen Ritter’323) er- 
geben, daß die Dichtigkeit der Luft in einer Höhe, die 300 km 
übertrifft, bereitö jehr gering jein muß, ein Rejultat, was mit 
dem von Sciaparelli aus den Höhen fichtbar werdender Stern- 
ihnuppen abgeleiteten gut übereinitimmt. Will man aber die 
Höhe beitimmen, im weldyer ſich überhaupt feine Lufttheilchen 
mehr befinden, jo wird man aud) auf derartige Beitimmungen 
feinen Werth legen fünnen; denn die Atmoiphäre wird wohl 
nur ganz allmählich in den luftleeren Raum übergehen und es 
fteht der Annahme nichts entgegen, daß auch in dem ungeheuren 
MWeltenraum von Weltförpern loßgerifjene Stoffmolecüle fich 
befinden, die audy dort dad Suchen nad einem abjolut lufts 
leeren Raum möglichenfalls illuſoriſch machen müſſen. 

Giebt man died nun aber auch zu, jo wird man doch weit 
ausgedehnte Theile des Weltenraums ald aller förperlichen 


(344) 


27 





Atome baar anjehen müfjen, und dieje Jcäume werden dann 
als Iuftleere anzujehen fein; hier ſcheinen wir demnach endlid) 
den Iuftleeren Raum aufgefunden zu haben, deſſen Unerreichbar— 
feit es freilich unmöglich machen würde, ihn zu irgend welchen 
Unterfuchungen zu benußen. Das würde nun allerdings höchſt 
bedauerlich jein, wenn es feftitände, dab dieſer luftleere Raum 
auch wirflicdy leer ift, und auf dieſe Frage haben wir jchließlich 
noch unfere Aufmerfjamfeit zu richten. 

Indem wir und hierzu anſchicken, tritt und die Be— 
Ihränftheit unjered Worftellungsvermögens in eigenthümlicher 
Weiſe hindernd in den Weg. Man made nur den Verſuch 
und ſuche fich diejen gänzlich leeren Raum zu denken, einen 
Raum in dem Nichts ift, was unjeren Sinnen, ja audy nur 
unferer Einbildungsfraft einen Anhaltspunkt gewährt und man 
wird ſich jofort überzeugen, daß dies unmöglich ift. Der Forſcher, 
der jeine Gedanfen in den Weltenraum hinausjendet, ſowie der: 
jenige, welcher über einen begrenzten Raum nachdenkt, jchweift 
von einem Anhaltspunkt jeined Denkens zum andern, jener von 
Geftirn zu Geftirn, diejer von Begrenzungöfläde zu Begrenzungs- 
fläcdye oder von Punft zu Punkt, was dazwiſchen liegt, eriltirt 
nicht für ihn. Denn das ift ja eben das eigenthümliche Weſen 
unjerer Seele, daß fie nur dadurch dad Gefühl ihres eigenen 
Dajeind hat, dab eine von ihr verjchiedene Vorſtellung fie er- 
füllt. Fehlt eine foldye, wie z. B. im traumlofen Schlafe, jo 
ift fie auch für ſich jelbit nicht vorhanden, Zeiten ſolcher Leere 
gehen jpurlos an ihr worüber. 

Wenn deshalb die Naturwiſſenſchaft annimmt, dab der 
Weltenraum nicht abjolut leer, jondern mit einem Etwas, welches 
fie Aether nennt, angefüllt ift, jo könnte man verſucht jein, den 
Grund hierfür nur in der Natur der menſchlichen Seele zu 
juchen und derartigen Annahmen durdaus fein Gewicht beizu— 
mefjen. Dody liegt die Sache hier günftiger. Es iſt ja eime 


(345) 


28 


der alltäglichiten von Jedem millionen Mal gemachten Erfahrun- 
gen, daß von der Sonne und den Geſtirnen ftetd Licht und 
Wärme zu und gelangt und beide Agentien wird doc jogar 
der eingefleifchtefte Sceptifer ald außer und eriftirend beftehen 
laſſen. Mag er audy die objectiven Dinge für Einbildungen 
erflären, ſchon dies Wort beweilt, mie abhängig er au im 
jeinem Denfen vom Bilde entwerfenden Lichte ift, von dem die 
Dezeihnungen für die bei weitem meiften abitracten Dinge 
genommen find. Und wenn freilich fidy das Licht von allen 
förperlichen Gegenftänden auf das ausgeprägtefte dadurch unter: 
Icyeidet, dab jene jelbft wahrgenommen werden, dieſes dagegen 
nur die Wahrnehmung der Körper vermittelt, jo ift nur um jo 
unmiverleglicher jein Dafein dadurch bewiejen, daß es ſelbſt nicht 
gejehen werden fann. Sn der That find wir auch im Stande, 
und jehr bejtimmte Anfichten über das Weſen des Lichted zu 
bilden. Bedenken wir zunäcdft, daß durch den zum größten 
Theil gewiß Iuftleeren Weltenraum das Licht der Geftirne zu 
und gelangt, daß luftleere Räume geſchickt jein müffen, und die 
Lichtempfindung zu vermitteln, fo werden wir folhe Räume 
nicht als abjolut leer anjehen fönnen und jo hat man ſich denn 
auch, nachdem man in einer Weiſe über das Mejen des Lichtes 
nachzudenken begonnen hatte, die für die neuere Naturforichung 
annehmbar war, den unendlichen Raum ſtets mit dem Träger 
dieſes Lichted angefüllt gedacht. Bedenft man aber weiter, dat das 
Licht als foldyes nicht wahrgenommen werden fann, jo muß 
aud der Träger defjelben unferer Wahrnehmung unzugänglid) 
fein, man legt ihm demnady eine ſolche Feinheit bei, daß er 
auf unjeren Gefühldfinn feinerlei Wirkung mehr ausüben könne, 
daß er alfo in diefer Hinfiht mit den Körpern völlig unver: 
gleihbar erſchien. Es durdydringt dieſelben mehr oder weniger 
ungehindert. Aber da doc) unleugbar die Körper auf ihn, er 


auf die Körper wirft, wie ja 3. B. aud dem Verhalten der. 
(346) 


29 


Märme, die das Licht jehr oft, wenn nicht immer begleitet, her- 
vorgeht, jo kann er nicht mit diefen von grumdverfchiedener 
Natur fein. Wie ein an dad Glodenfeil angehängtes kleines 
Gewicht, dem folofjalen Körper der Glode eine, wenn auch noch 
jo Heine Bewegung, aber dody immer eine Bewegung ertheilt, 
fo der Aether einem Körperatom, auf das er trifft und dies 
drängt dann jofort die meitere Annahme auf, daß er wie die 
Körper auch aus von einander gejonderten Theildyen, die nicht 
weiter getheilt werden fünnen, aus Atomen befteht, welche wegen 
ihrer Kleinheit nody weit mehr jenfeitö unſerer finnlihen Wahr- 
nehmung liegen müfjen, wie die Körperatome. Man hat fich 
große Mühe gegeben, aus der Bewegung der Himmelöförper 
auf das Dafein des Aethers, der ihrem Fortjchreiten im Raume 
einen Widerftand entgegenjegen müfje, zu jchließen, aber jo oft 
man auch am Ziele zu fein glaubte, jo zeigte fi doch immer 
wieder, daß man ſich getäujcht hatte. Man fand, daß aud die 
am wenigften majfigen Himmelsförper doch immer viel zu 
dicht find, ald daß der Widerſtand dieſes jo höchft feinen Aethers 
durch unjere der Zeit nady noch jo wenig ausgedehnten Beob- 
achtungen ſich hätte wahrnehmbar machen lafjen. Vielleicht 
jehen wir jeine Wirkung in der eigenthämlichen Krümmung der 
Kometenjchweife, vielleicht in Verzögerungen der Gejchwindigfeit 
derjenigen Kometen, welche der Sonne jehr nahe fommen, aljo 
Regionen durcheilen müljen, in denen der Aether durch die An- 
ziehung ded mächtigen Sonnenförpers ftarf verdichtet. if. Die 
einschlägigen Unterfuchungen find noch lange nicht abgeichlofjen, 
aber wenn fie auch ein negative Nejultat geben jollten, jo 
würden doch die ſich jegt namentlich bei Naturforichern jo viel« 
fach geltend madenden Zweifel an feiner Eriftenz ziemlich 
grundloß fein. 

Die jegige Naturforihung ift eben einjeitig in der Idee 
befangen, daß alles Eriftirende auch ohne Weitered der finn- 


(347) 


lichen Wahrnehmung zugänglich fein müffe. Aber wir fahen ja 
bereit, dab dies in Betreff des Metherd eine unerfüllbare 
Forderung iſt. Wir müffen ihn aus den Ericheinungen des 
Lichted und der Wärme abjtrahiren und daß dieſes fein abitra- 
hirtes, nicht direct beobadyteted Weſen andere Gigenichaften 
zeigen wird, wie der Stoff, welcher die Körper formt, das ift 
durchaus fein jene Zweifel rechtfertigendes, jondern gerade ein 
Vertrauen erwedended Ergebniß. Hätte der Aether eben die Eigen- 
ſchaften jener, warum follte er dann nicht finnlich wahrnehmbar 
jein? Hypothetiſch, das ift wahr, wird freilich fein Weſen zunächft 
bleiben, aber wenn die Hypotheſe darüber die in Betracht fom- 
menden Erſcheinungen zwanglos und vollftändig erflärt, wenn 
neu entdedte Gricheinungen ohne neu amzubringende weitere 
Annahmen ihre Erklärung aus ihr finden, dann dürfen wir 
diefe Hypotheſe und mit ihnen die Vorausſetzungen, auf denen 
fie ruht, ald der Wirklichkeit nahe fommend anjehen. Daß bei dem 
weiten Gebiet, daß fie aufzuklären unternimmt, noch Schwierig- 
feiten bleiben, wird fein Argument gegen den Aether fein, jolche 
werden wir erwarten dürfen und aufzuklären hoffen fönnen. Das 
MWichtigfte ift alfo der Nachweis, ob die Annahme des Aethers 
neben der erwähnten auch dad Kennzeichen einer guten Hypotheſe 
bat, in ihren äußerften Gonjequenzen nicht zu Widerjprüchen 
zu führen und died hat fie in hohem Grade. Nicht nur die Er- 
ſcheinungen des Yichted, auch die der Wärme find daraus ent: 
widelt und man hat bereitö verſucht, auch diejenigen der Glectri- 
cität aus derjelben Annahme herzuleiten. Wir geben hierauf 
nod) etwas genauer ein. 

Ehe wir und aber dazu wenden, dürfte es nicht uninter- 
effant fein, zu erwähnen, dab man im 17. Jahrhundert bereitä 
Vorftellungen von dem leeren Raum begegnet, die den unjeren 
ganz ähnlich find. Namentlicy hatte Leibniz ?>) fich den leeren 


Raum mit Aether angefüllt gedadyt oder genauer mit dem 
(348) 


3l 


Aether identificirt, während Dtto von Guericke dafür hielt, daß 
diefer Aether nichts anderes ei, „ald der leere Raum außerhalb 
der Luftkugel, welcher fib um diejelbe in hödyiter Höhe weit 
und breit erjtrede”. Leibniz aber hielt entgegen, dab ein jolcher 
Raum, wie ihn Gueride ſich dachte, nicht als Sitz jener Welt: 
fräfte angejehen werden fönne, die doch nad) Gueride darin 
und durd ihn hindurch wirken jollten, während er die Annahme 
des Aetherö benußte, um das Wirken der Schwere damit zu 
begründen. Dies hatten allerdings jchon vor ihm Gartefius ? 6) 
und Huygens?7) verfucht, dazu freilich nur einen die Erde um- 
freifenden Aether annehmen müſſen. Nemwton’d Arbeiten über 
die Gravitation aber entzogen diejen Beitrebungen, ob mit Recht 
mag dahin geftellt bleiben, den Boden und richteten die Auf- 
merfjamfeit jeiner Zeitgenofjen zunächſt auf die Erklärung des 
Lichtes durch die zu Grunde gelegte Annahme des Aethers. 

Die beiden Theorien über das Weſen des Lichtes, welche 
von dem Wether ausgehend, zu allgemeiner Anerkennung ge— 
langten, waren die faft zu gleicher Zeit am Ende des vorigen 
Jahrhundert von Newton und Huygens aufgeitellte Emiifions- 
theorie und Undulationstheorie.e Während jene von den For» 
ſchern des vorigen Jahrhunderts allgemein angenommen wurde, 
brachte unjer Sahrhundert Entdeckungen, deren Erklärung für 
fie jo jchwierig war, dab ihre Beibehaltung ſich ald unmöglich 
erwied. Sie ließ die Aethertheilchen wie Gejchofje winzigiter 
Art von den Lichtquellen ausgehen, welche auf die Körper 
treffend, durch dieſe hindurch gelaffen oder von ihmen zurüd- 
geworfen wurden, je nach den Anmwandlungen, in denen fi 
jene Geſchoſſe befänden. Aehnlich dem Abjcheu der Luft vor 
dem leeren Raum ift die Borausjeßung von Anwandlungen, 
welche die Aethertheildhen haben jollen, ſehr bedenklich, da fie 
leicht dazu führt, diefen Theilen Regungen, wie wir fie jonit 
nur am bejeelten Weſen beobachten, unterzufchieben. Man hat 

A Te (349) 


# 4 
* 
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[UN iv } 


32 


fid) deshalb auch viele Mühe gegeben, fie auf mechaniſche Vor— 
gänge, Notationen u. |. w. zurüdzuführen. Aber man gelangte 
zuleßt zu einem Punfte, wo die Konjequenzen der Theorie mit 
den Ergebnifjen der Erperimente in Wideriprudy geriethen. Die 
allerdings etwas modificirte Anficht von Huygens trat nun an 
ihre Stelle. Der große holländiſche Gelehrte hatte nach Analogie 
der Wellenbewegung der Luft, die den Erſcheinungen des 
Scyalles zu Grunde liegt, das Licht für eine Wellenbewegung 
des Aethers erklärt, bei der, wie beim Schalle die Bewegungen 
der einzelnen Theildyen, welche zu den Wellen Anlaß gaben, in 
der Richtung des Fortſchreitens der Welle erfolgen jollten. 
Eine Anzahl Erjcheinungen freilich, die er jelbit zuerit beob— 
achtete, hatte er unerklärt lafjen müfjen, da diefelben das Vor— 
handeniein von Licht ergaben, welches fich im zwei zur Forts 
pflanzungsrichtung ſenkrechten Ebenen verjchieden verhielt. Nun 
zeigte aber im Anfange diejes Jahrhunderts Young ??), daß 
dieje Schwierigkeit in ein Argument für die Huygens'ſche Anficht 
verwandelt werden könne, wenn man nur die Schwingungen 
der Aethertheilchen anjtatt in der Fortpflanzungsrichtung des 
Lichtes ſenkrecht auf diejelben geichehen lief. Wenn auch jeine 
Stimme nody ungehört verhallte, jo nahm 14 Sahre jpäter ein 
junger franzöfiiher Ingenieur, Auguftin Freönel den Kampf 
auf, der der Undulationdtheorie zum endlichen Sieg verhelfen 
jollte. Von Erperiment zu Erperiment fortichreitend, erhielt er 
Ergebnifje, welcher immer unabweislidher die Emiſſionshypotheſe 
als unmöglidy hinftellten. und darthaten, daß die modifieirte 
Huygens'ſche Anficht allein im Stande ſei, die neu gefundenen 
optiichen Phänomene zu erflären. Bewies diejelbe unter Fresnel's 
Händen eineötheild eine eminente Fruchtbarkeit, jo zeigte fie 
anderntheild die größte Zugänglichkeit für mathematifche Behand» 
lung und im Laufe weniger Sahrzehnte war die Undulationd» 
theorie des Lichted an Durcdhfichtigfeit der bi8 dahin mathema— 


(350) 


33 


tiſch am meiften durchgebildeten Aftronomie gleichgeftellt. Die 
weſentlich hierbei corrigirten Anjchauungen über die Gonftitution 
des Aethers aber erwiejen fidy num auch ald brauchbar, um die 
Wärmeerjheinungen aus denjelben Annahmen heraus zu erklären. 

Wenn ed hauptjächlich franzöfiiche Gelehrte geweſen find, 
welchen die Wiſſenſchaft die Undulationstbeorie des Lichtes ver: 
dankt, jo gebührt dem Deutichen Glaufius died Verdienit, auch 
die Erſcheinungen der Wärme auf diejelbe zurückgeführt zu haben. 
Die Wärme hielt man im vorigen Jahrhundert für einen Stoff, 
dem man aber je länger, je mehr die unmöglichften Eigenjchaften, 
wie negative Schwere und ähnliche, zujchreiben mußte. Die 
Entdedung William Herichel’s, daß Licht und ftrahlende Wärme 
identijch jeien, die, obwohl er felbft fie jpäter wieder zurüd- 
nahm, von andern um jo nachdrüdlicher wieder aufgenommen 
und bewiejen wurde, die Experimente Rumfords über die Er- 
zeugung von Wärme durch mechanifche Arbeit mußten die 
Stofftheorie der Wärme jo bedenklich erſchüttern, dab es nicht 
wohl anging, fie ferner feitzuhalten. Nachdem mannigfache 
Verſuche andere Grklärungen an deren Stelle zu ſetzen, ges 
Icheitert waren, fand die Theorie, welche Yicht aller Farben 
ald wärmend erflärte, daneben aber auch nicht leuchtende Wärme 
annahm, die fie im Gegenſatz zu der leuchtenden als langſame 
Trandverjal- Schwingungen des Nethers definirte, bald den frucht— 
barften Boden. Die mathematiſche Ausbildung diejer Theorie 
eröffnete eine Menge neuer Perjpectiven, welche ebenjowohl für 
die Phyfif, indbefondere denjenigen Theil derjelben, welcher die 
Frage nad der Gonititution der Körper behandelt, ald auch für 
die Technik von der größten Wichtigkeit geworden ift. So wurde die 
Lehre von der Dampfmaſchine erjt durch dieje Theorie einer 
umfafjenden wifjenjcyaftlichen Behandlung fähig und die wunder: 
baren Rejultate derjelben liegen vor Jedermanus Augen. Sie 


Ipredyen beredter, wie die weitläuftgften Erörterungen dafür, dab 
XVII. 416. 3 (851) 


34 


die auf die Annahme des trandverfal fchwingenden Aethers be: 
gründete Theorie doch auf ficherer Bafid ruht, wenn ed ja ge— 
wiß auch nody mannigfacher Arbeiten bedürfen wird, um die 
Natur diejed eigenthümlichen Mediums zu ergründen. 

Hierzu ſchickt ſich im Augenblide, wie es fcheint, die Lehre 
von der Glectricität mit Macht an. Wenn ja die electrijche 
Entladung, wie es mehr und mehr den Anſchein hat, ald be— 
jondere Bemegungsart des Aethers fich heraußftellen jollte, jo 
würden wir in der Erfenntniß feiner Natur um ein wejent« 
liches Stück vorgejchritten fein, was um fo bedeutjamer fein 
würde, ald eine weitere wichtige Entdedung in dieſer Hinficht 
faum nody zu erwarten jein dürfte. Denn nachdem ed gelungen: 
dad Weſen des Lichted und der Wärme unjerem Verſtändniß 
näher zu bringen, bleibt diejes nur nody für die Electricität 
übrig. 

Daß nun die Glectricität eine Bewegungdericheinung des 
Aethers jein möchte, wird man wohl annehmen müfjen, welcher 
Art diefelbe jedoch ift, läßt ſich noch nicht jagen; die Verſuche 
im möglichſt Iuftleeren Raum aber waren es, die die Forjcher 
der Zeßtzeit mehr und mehr bewogen haben, die alte Anſchau—⸗ 
ung, wonach die Glectricität aus zwei verſchiedenen Fluiden 
befteht, aufzugeben. Bon Verſuchen eine andere Erklärung an 
deren Stelle zu jeßen, liegt bis jeßt freilich nur eine Arbeit 
Edlunds 3°) vor. Der jchmwedilche Gelehrte nimmt an, „daß in 
den Körpern, welche wir gute Clectricitätsleiter nennen, der im 
ihnen enthaltene Aether oder wenigſtens ein Theil defjelben fich 
leidyt von einem Punkt zum andern verſchiebe“, ferner, „daß, wie 
bei einem gewöhnlichen Gaje, die Molecüle des electriichen Aethers 
fidy leicht bewegen, d. h. durch die geringfte Kraft verjchoben 
werden fünnen. Wenn der Aether fich in einem materiellen 
Nichtleiter der Glectricität befindet, jo ift (nad Edlund) dieſe 


BDeweglichfeit gehemmt und fie hängt ab von der der Molecüle 
(352) 


— 35 * 

des materiellen Körpers, welcher die Electricität enthält. Iſt der 
nicht leitende materielle Körper ein Gas oder eine Flüſfigkeit 
von vollkommener Liquidität, ſo bewahren die Aethertheilchen 
ihre Beweglichkeit und ſie bewegen ſich dann mit den Theilchen 
des Gaſes oder der Flüffigkeit.“ Weiter nimmt Edlund an, 
„dab ein mit pofitiver Glectricität beladener Körper, mehr 
Aether ald im normalen Zujtand enthalte, und daß die Aether: 
menge eines negativ electrijchen Körpers geringer jei, als im 
normalen Zuftand“. Der electriihe Entladungöftrom ift dann 
nichtd andered, als der Uebergang des Aetherd aus dem einen 
Körper in den anderen. Der galvaniihe Strom aber beiteht 
darin, daß der electriiche Aether fi in der Bahn ded Stromes 
von einem Punkt zum andern begiebt. Die Aethyermafje, welche 
jih in der geichlojjenen Kette befindet, ift dabei gleich groß, 
der Strom mag eriftiren, oder nit. Die electromotorischen 
Kräfte, aud denen der Strom entipringt, können feinen Aether 
erichaffen; ihre Wirkung bejchränft fidy darauf, die o8cillatorijche 
Bewegung, welde in Gejtalt von Wärme ſchon eriftirt, in 
trandlatoriiche Bewegung zu verwandeln. Wo aljo die electro: 
motorische Kraft ſich in Thätigfeit befindet, muß Wärme ver: 
ihwinden, eine Thatſache, die aus den Grperimenten bereits 
gefolgert werden mußte. 

Menn nun aud) Golditein im freien Aether des Entladungs: 
raumes dad wejentlichite Subftrat der Entladung fieht, jo hält 
‘er es doch für unberechtigt, die Entladung als eine fortichrei- 
tende Bewegung des Netherö anzuſehen. Aber ald eine ftrahlende 
dürfte fie jeiner Meinung nach wohl bezeichnet werden können, 
wobei jedes ergriffene Theilchen diejenige Bewegungsform an— 
nimmt, die an der Urjprungdftelle derfelben erregt wird. In 
der That bat er auch Reflerionserfcheinungen der Glectricität, 
allerdings nur difjufe, beobadytet. Mit einer joldyen Annahme 


ftimmt dann die Thatſache, daß electrijche Strahlen fi grad— 
(853) 


36 
linig fortpflanzen können, in ganz anderen Richtungen, ald der- 
jenigen der Verbindungslinie der Electroden überein und damit 
wäre die Möglichfeit gegeben, daß ſolche Strahlen von der Sonne 
durch den leeren Raume bis zur Erde gelangten, während die Pole 
der Entladungen in der Sonne jelbit lägen. 

Menn demnach aud noch nicht angegeben werden fan, 
ob die Glectricität lediglich eine Aetherbewegung ift oder nicht 
und ferner, was für eine Art von Bewegung fie ift, jo darf 
doch das mit aller Sicherheit behauptet werden, dab fie im 
Stande fein muß, Aetherbewegungen bervorzurufen; es folgt 
dies ſchon daraus, daß Electricität in Wärme verwandelt werden 
fann und umgekehrt. Einen ätherleeren Raum berzuftellen aber 
würde im eigentlihen Sinne Danaidenarbeit jein, denn da, wie 
ame jagt, die wägbare Subftanz nicht ijolirt im Weltall iſt, 
jondern ihre Theildyen inmitten eines Fluidums, eben des Aethers, 
ihwimmen, jo würde die Anforderung, den Aether durd Körper 
abzujchließen, ebenjo hoffnungslos fein, wie die, in einem Siebe 
Waſſer zu jhöpfen. Fa, ed ift und ſogar noch nicht gelungen, 
einen Raum berzuitellen, in welchem fich eine wägbare Subitanz 
mehr befindet. Aber deshalb find alle diefe Verſuche, audy wenn 
jie diejen ihren nächſten Zwed verfehlt haben, durchaus nicht 
vergebliche gemwejen; denn diefer Zweck war ja nur das Mittel 
zur Grreihung des höheren, aud dem Verhalten der Körper in 
einem ſolchen Raume auf die Natur ihrer primitivften weit 
jenjeitö aller finnlihen Wahrnehmbarfeit liegenden Beftandtheile 
und des dazwiſchen befindlichen Naumes zu jchließen und diefem 
Ziele hat man fi) immer mehr genähert. So verführerijch es 
nun auc jein dürfte, die Unmöglichkeit der Heritellung eines 
abjolut leeren Raumes für alle Zeiten zu behaupten, fo würde 
dies doch vermejjen jein. Kann doch bis jegt noch Niemand 
wiſſen, wohin und die Arbeiten über das Wefen der Electricität 


vielleicht bald führen werden. 
(354) 


3 


Anmerkungen. 


I) Ueber den Zeitpunkt der Erfindung der Saugpumpe fehlen uns 
genaue Angaben. Als Erfinder der Drudpumpe wird Ktefibius (um 
150 v. Chr.) angegeben, zu welder Zeit aljo die Saugpumpe aud 
befannt gemejen fein müßte. Poggentorff (Gejchichte der Phyſik p. 15) 
jagt hierüber: „Es ift jogar gewiß, dab kleine Saugpumpen, Hand» 
jprigen zu Ariftoteles' Zeiten (384 — 322 v. Chr.) befannt waren und 
zu der berüchtigten Lehre vom horror vacui Veranlafjung gaben.“ 
Zwei abwechſelnd in ein Rohr Waſſer bebende Drudpumpen benußten 
die Alten ald Feuerjprigen, den Heronsball hatten fie damit noch nicht in 
Verbindung gebracht. Die Gründe für dieſe Behauptung habe ich in 
Glaſer's Annalen für Gewerbe und Baumejen, Bd. XII, Heft 1, No. 133 
auseinandergefeßt und mic; dabei auf eine eingehende Kritik der Schriften 
des Heron und des Vitruv geitüßt, jowie auf eine am Ende des vorigen 
Jahrhunderts bei Givita vecchia aufgefundene antife Druckpumpe mit zwei 
Pumpeylindern, welche Visconti in Giornale de la Letteratura Italiana, 
Mantova 1795 bejchrieben hat. Die Angabe, welde man neuerdings 
vielfah findet, daß in Herons Schriften der Heronsball gar nicht er- 
wähnt werde, entbehrt jeder Begründung. Den Windfefjel hat, wie aus 
dem Briefwechjel Leibnizend mit Papin hervorgeht, der Zirkelſchmidt 
Hand Hautſch in Nürnberg der doppelten Drudpumpe zugefügt, und 
war gelang ihm dieje Erfindung 1653 oder 1654. 

2) Discorsi e dimostrazioni matematiche intorno a due 
nuove scienze. Alberi, Les opere di Galilei, Bd. 13; vgl. Poggen— 
dorff's Geichichte der Phyſik, ©. 252 ff. 

3) Gewöhnlih wird als Jahr der Erfindung der Zuftpumpe 1650 
angegeben. Obwohl id mir die größte Mühe gegeben habe, hierfür die 
Belege beizubringen, jo ift diejelbe doch vergeblich geweien. Soldye 
ſcheinen micht zu eriftieren. Die von Munde in Gehler's phyſikaliſchem 
Yericon, Bd. VI, p. 527 angeführten Gitate find falſch. Der Geihichts- 

(355) 


— 


ſchreiber Magdeburgs, Fr. W. Hoffmann nimmt die darauf hin von 
Muncke behauptete Thatſache, daß Guericke bereits 1661 dem Magiſtrate 
von Köln eine Luftpumpe zum Geſchenke gemacht, ohne Weiteres an. 
Hochheim fagt zwar vorfichtiger (Otto von Gueride als Phyſiker, Pro- 
gramm der ftädtijchen höheren Gewerbeichule, Magdeburg 1870) ©. 3: 
„Sine genaue Angabe der von ihm (Guericke) angeftellten Unterjuchun- 
gen und gewonnenen Nejultate zu geben, war nicht möglich, da die ein- 
ichlägige Duelle, jeine wifjenichaftliche Gorrefpondenz, durch die Mih- 
helligfeit feiner drei Enkel verloren gegangen tft, und nur fein oben 
genanntes Werk (Experimenta nova, et. vocantur Magdeburgica de 
vacuo spatio. Amstelodami 1672) und die Gorrefpondenz mit jeinem 
Verleger, Joh. Janßon v. Waesberge als Hülfsmittel vorlagen, von 
denen aber die leßtere gar feinen Anhalt zur Erforſchung feines Studien- 
ganges bietet.“ Dies hält ihm aber trogdem nicht ab, ©. 4 das Jahr 
1650 als dasjenige der Erfindung der Yuftpumpe zu nennen. Auch 
der für geichichtliche Forſchung jo wichtige Briefwechſel Leibnizens, der 
in Hannover aufbewahrt wird, läßt und hier im Stich. Ich werde 
demnächſt an einem andern Orte hierauf zurückkommen. 

4) Vgl. Experimenta nova etc. p. 117. 

5) Boyle. Nova Experimenta physico-mechanica de vi aeris 
elastica. Roterodami 1669. 

6) Bol. meine Biographie Papin’s in Leibnizens und Huygens 
Briefwechſel mit Papin. 

7) Beriht über die Austellung wifjenichaftliher Apparate im 
South. Kenjington-Mujeum zu London 1876, zujammengeitellt von 
Dr. R. Biedermann, Yondon 1877, p. 416. 

3) Experimenta nova etc. p. 100 ff. Es ijt möglidy, dat Gueride 
diefen Apparat conftruirt hat, ohne den Torricelliijhen Verſuch zu 
fennen. Unter den auf dem Reichstage zu Regensburg vorgeführten 
Verſuchen jcheint fich diejer jedoch nicht befunden zu haben, wie Hoff- 
mann meint a. a. D. ©. 206. 

9) ©. Bird), History of the Royal Society. IV. p. 330, 332, 
337, auch Biographie Papin’® p. 23. 

10) Das Leuchten wurde zuerft von Picard 1675 zufällig beob- 
achtet, das Auskochen zuerſt von Dufay angewendet, welchem es ein 
deutſcher Glasbläjer gelehrt hatte. Siehe Poggendorff, Geſchichte der 
Phyſik, p. 504 ff. Leibniz erfuhr es aus einem Brief von Mariotte, 
aus welchem er ſich folgenden Auszug machte: Lorsqu’on panche un 
barometre jusqu’ä ce que le vif argent touche le bout d’un tuyau, 
et qu’on le redresse promtement, on voit une petite lumière. 

(356) 


39 


11) Gilbert's Annalen XI. 160. Vgl. meinen Beridht über die 
Londoner Ausitellung p. 104. 

12) Poggendorff's Annalen CLX. ©. 13». 

13) Huygens, Opera varia, II, ©. 770. 

14) Vol. Wüllner in Poggendorff's Annalen CXXXIII, ©. 509, 
vgl. Beriht ©. 106. 

15) Biographie Papin’s in Briefwechſel ıc. p. 52. 

16) Crookes, Philosophical Magazine. Serie 4, Bol. 8. 
Bergner, Die Anziehung und Abſtoßung durd Wärme und Licht und 
die Abſtoßung durch Schall, Boizenburg a. d. E. 1874, vgl. Natur- 
foriher. VII. p. 412 und 478. 

17) Poggendorff's Annalen CLVIIL. p. 568 und 660. 

18) Proceedings of the Royal Society XXIV. 

19) E. Pringsheim, Wiedemann's Annalen XVII, ©. 30. 

20) Crookes, Strahlende Materie oder der vierte Aggregatzuftand, 
deutich von Gretjchel. Leipzig 1879. 

21) Glaufius in Poggendorff's Annalen, C, ©. 353. 

22) Goldftein, Wiedemann's Annalen XII, p. 90 ff. und 249 ff. 

23) Ritter, Wiedemann's Annalen V, p. 415. 

24) Aus Enfe's Berechnungen des nad ihm benannten Gometen 
hatte fih ergeben, dat ſich jeine Umlaufgzeit während jedes Umlaufes um 
die Sonne verkürzte und dafjelbe Rejultat hatte die Berechnung des 
Faye ſchen Gometen geliefert. Für den leteren wies indefjen Möller in 
und nad, daß dies Refultat die wirklichen Erſcheinungen nidyt wieder- 
gab und nur dadurd erhalten war, daß man den Einfluß, den die 
Planeten auf die Cometen ausüben, nad Enke's Vorgang nicht genau 
genug im Rechnung gezogen hatte. Bon Aiten nahm deshalb die Be- 
rechnung des Enke'ſchen Gometen wieder auf und fand, dab, wenn man 
eine plögliche Ablenkung, die der Comet um den 16. Juni 1868 wohl 
tur einen der kleinen Planeten erfahren habe, zugab, die Reſultate 
wenigftens auf eine Verzögerung des Cometen in der Nähe der Sonne 
deuteten.. Ehe er jedoch jeine Rechnung beendigen konnte, ſtarb von 
Aten und es bleibt num nody zu unterjucdhen, ob ſich jein Rejultat nad) 
allen Richtungen hin beftätigt. 

25) Briefwechjel zwiichen Leibniz und O. v. Gueride in: Die philo- 
ſophiſchen Schriften von G. MW. Leibniz, heraudg. von C. 3. Gerhardt. 
1. Bd. Berlin 1875, ©. 89 ff. Die amgezogene Stelle heißt dort: 
„nah der meinigen geringen (sententiam) aber, ift Aether nichts 
anderö denn daß Spatium purum extra aöream sphaeram in summa 
alitudine longe lateque ceircumfusum.“ 

(357) 


40 


26) Gartefius, Principia philosophiae. Amstel. 1692. p. 145. 

27) Huygens, Opera reliqua p. 97. De Causa Gravitatis. 

28) Newton, Optics or a treatise of the reflection, refraction 
infleetion and colours of light. Lond. 1704. 

29) Young, On the theory of light and Colours in Philo- 
sophical Transactions von 1802. 


30) Edlund, Pogg. Ann. Ergzgebd. VI. p. 95 u. 241. 


(358 


Drud von Gebr. Unger (Tb. Grimm) in Berlin, Schonedergerftr. 17a. 


Küuüche und Steller 


ın 


Alt-Rom. 


Dr. Günther Alegander E. A. Saalfeld, 


Dberlehrer am Staatsgymnafium zu Holzminden. 


&hP 


Berlin SW. 1883. 


Berlag von Carl Habel. 
(C. 6. Lüderity'sche Derlagsbachhandlung.) 
33, Bilhelm-Straße 33. 


Das Recht der Meberjehung im jremde Sprachen wird vorbehalten. 


Speifekarte 


für eine Feitmahlzeit von 16 Perjonen, in deren Gejellihaft Publius 
Cornelius Lentulus Spinther um die Mitte des legten Jahrhunderts vor 
Chr. den Antritt ſeines Priefteramtes feierte. ') 


Erfter Gang: 
Seeigel und frijche Auftern, in beliebiger Menge zu verzehren. 
Peloriſche Gienmujcheln. 
Lazarusklappen. 
Weindroſſeln auf Spargel. 
Eine fette Henne. 
Eine Schüffel mit zugerichteten Auftern und Gienmuſcheln untereinander. 
Schwarze und weiße Meertulpen. 


Zweiter Gang: 
Lazarusklappen. 
Süße Gienmuſcheln, Meerneſſeln, Feigenſchnepfen. 
Kotelette von Reh- und Schweinswildbret. 
Hühnerpaſteten. 
Feigenſchnepfen, Stachel- und Purpurſchnecken. 


Eigentliches Mahl: 
Schweinseuter. 
Wilder Schweinskopf. 
Fiſchragout. 
Schweinseuterragout. 
Gebratene Entenbrüſte. 
Wilde Enten frikaſſirt. 
Haſenbraten. 
Gebratene Hühner. 
Greme aus Kraftmehl. 
Picentiſche Brötchen. 


xvlll 417. 1? (361) 


Meinkarte: 


I. Einheimische (italifche und ficilifche) Weine: 
Vejentiſcher Rothwein. 
Trifoliner Berg. 
Sabiner, Nomentaner und Tarentiner Tifchwein. 
Mamertiner- und Albanerwein. 
Maſſiker- und Albanerausbrud. 
Falerner Fauftianerwein. 
Säfuber Edeljorte. 


II. Spaniſche ®eine: 
Zaletaner Blümchen. 
Zarrafonijcher Rothwein. 
Balearijche Auslefe. 


III. Weberjeeijche (griechiſche) Weine: 
Thafier- und Chierwein. 
Lesbier- und Koerausbrud. 
Alter Kyprier. 
Sikyoniſcher Rothwein. 
Defjertwein von Klazomenai. 
Außerdem: Morrhenwürzwein, Rofenwein und Weinmet. 


Dir du, freundlicher Zejer, von der Menge der oben ges 
nannten Genüfje befriedigt? — Ich hoffe e8 und lade dich des— 
halb ein, mir heute auf einem furzem Gange zu folgen, den 
wir duch Alt-Roms Kühe und Keller gemeinſchaftlich an- 
treten wollen. Doch jei unbeforgt, du jollft nicht allzu müde 
werden; nicht dad Gejammtgebiet des Effend und Trinkens der 
alten Römer wollen wir beleudyten. Dazu möchte deine freund» 
liche Geduld und der und bier zu Gebote ftehende Raum jchwer- 
lich ausreichen. 

Gerade wir Deutjchen find in der Lage, eine höcyft inter: 
eſſante Parallele zwiichen und und den alten Römern in fuli- 
narifcher Hinficht zu ziehn. Denn wenn unjere feinere Küche 
jeit geraumer Zeit im Dienft und in der Abhängfeit unjerer 
galliihen Nachbarn fteht, jo befand ſich Rom in diejer und 
jo gar mander anderen Beziehung in hohem Grade unter dem 
Einfluß des Volkes, welches man wohl öfter nidyt mit Unrecht 
die Sranzojen des Altertbumd genannt hat. Es fann an 
dieſer Stelle audy nicht einmal andeutungsweije betont werden, 
wie Romd Kultur jo ganz und gar von der griechiſchen 
durchzogen und beeinflußt war: Mythologie und religiöje An- 
Ihauungen, Gewerbe und Kunft, Litteratur und Bildung, 
Handel und Wandel, Haus und Hof, ja zum Theil jelbit Wehr 
und Waffen ftand unter dem mächtigen Scepter ded griechiichen 
Mufterd. Die wenigen Gebiete, auf welden die Römer ganz 


(363) 


6 


jelbftändig auftraten, darum aber auch Großed und Dauerndes 
leifteten, hat niemand anſchaulicher hervorzuheben gewußt als 
Theodor Mommfen in feinem römischen Geſchichtswerk; hier jei 
nur des römiſchen Rechtes gedadyt, einer Inititution, auf 
welcher noch heutzutage das unfrige wie das aller europäiſchen 
Kulturvölfer bafirt. 

Aber gerade Mommſen auch muß den ungeheuren Einfluß 
ded Griechenthums anerfennen, und er thut died, indem er fol 
gende interefjante Thatſache nachweilt: was der Römer dem 
Griechen entlehnte, dem hat er, von wenigen Ausnahmen ab⸗ 
gejehen, jeinen eigenen Stempel aufgedrüdt, das hat er dann 
in jein FSleifch und Blut übernommen, im guten wie im böjen 
Sinne Waren doch die Griechen jelbft oft nur die Kultur: 
träger und Bermittler morgenländifcher Erzeugniffe und Er— 
findungen; famen joldye Produfte nad) Rom, jo nahm man fie 
alöbald ald unbeichränftes Eigenthbum auf, dad wohl gar lüftern 
machte, die Gegenden ſelbſt fennen zu lernen, denen derartige 
fremde Herrlichkeiten entftammten: ein Gelüfte, dad zu befrie- 
digen der römijche Groberungsgeift fidy bald genug angeſchickt 
hat. So ſind die Griechen alſo nicht ganz ſo ſchuldig, als wie 
ſie uns der alte Cato ſchildern möchte, der in Folge unum— 
ſchränkten Hereinbrechens der griechiſchen Seuche den völligen 
Ruin Roms prophezeien zu müſſen glaubte. Und wie gar ein— 
fach und genügſam und — zufrieden war der Römer in den 
älteſten Zeiten der Republik geweſen! Nirgends tritt der Kon— 
traſt zwiſchen der einfachen Genügſamkeit der früheren und dem 
raffinirteſten, zur unſinnigſten Verſchwendung führenden Luxus 
der ſpäteren Zeit auffallender hervor als bei der Tafel, deren 
ſchwelgeriſche Zurüſtung zuletzt nicht bloß darauf bedacht war, 
durch die leckerſte Bereitung der Speiſen den Gaumen zu 
kitzeln, ſondern gefliſſentlich darauf ausging, die ſeltenſten und 
darum nur zu unmähigen Preiſen zu erlangenden Dinge, ganz 
abgeſehen von ihrer Schmackhaftigkeit, in Schüſſeln aufzuhäufen, 


(364) 


7 


die eben nur durch die Summen, welche fie fofteten, der Tafel 
Glanz verliehen. 

In der That jteht bei den Römern die frühere Einfachheit 
und Genügjamfeit zu dem jpäteren Raffinement des Tafellurus 
in einem Kontraft, der mit den griechiſchen Zuftänden faum 
einen Vergleich zuläßt, und der jeine Erklärung nidyt nur in 
den jih in Rom anhäufenden Reichthümern, verbunden mit 
dem Kennenlernen des afiatiichen Luxus, jondern hauptſächlich 
in einer zu folchen Genüffen überhaupt geneigteren Charafter: 
jeite der römijchen Natur finden fann. War dody die Lebend- 
weile der älteren Römer höchſt einfach gemwejen; in einem 
Brei aud Dinkel hatte die allgemeine Speiſe beitanden. 
Wenn wir nun im folgenden eine Schilderung des maßgebenden 
&influffes Griechenlands auf Speiſe und Trank der Römer 
zu unternehmen verjudhen, jo theilen wir den Stoff in die 
beiden fich naturgemäß ergebenden Theile und behandeln zunädhit 
das Gebiet der 

Speijen. 

Gewöhnlid nimmt man an, dad durdy Meberwindung 
Macedoniend und Griehenlande und durch den Aufenthalt 
römijcher Heere in Afien aud der Tafellurus von Oſten nad) 
Weſten gewandert jei. Beſonders jpricht Livius bei Gelegenheit 
ded im 3. 187 v. Chr. von Manlius Vulſo über die Gallier 
gehaltenen Triumphes diefe Meinung aus, indem er unter 
anderem jagt ?): 

„Auch die Gaftmähler begann man mit größter Sorg- 
falt und Verſchwendung anzuricten. Von da an ftand der 
Koch, bei den Alten der nah Schäßung und Benußung niedrigite 
Sklave, in Werth, und was früher ein Bedientenamt war, galt 
nunmehr für eine Kunft.” 

Wem fällt da nicht unwillfürlicy die moderne Sitte ein — 
oder jollen wir Unfitte jagen? — in großen Häufern fidy eines 


franzöfiihen Kochs zu bedienen? — 
(365) 


8 


Doch geht Livius an obiger Stelle irre; ſchon lange vor 
der Belanntjhaft mit dem Drient profitirten die Römer 
manches von der ihnen jo nahe wohnenden großgriechiichen 
Kochkunſt aus den Griechenftädten Unteritaliend. Den Beweis 
für diefe frühe Bekanntſchaft bildet eine Anzahl jehr früh mit 
ihren Begriffen, von den Römern den Griechen entlehnter 
Wörter, weldye fi) auf Eß- und Trinfwaaren bezogen, fo die 
Benennung ded Oels, des Schmaujend, ded Leckergerichts, 
des Teiged und des Kucdhend.) 

Um 300 vor Chr. (aljo im 3. 454 der Stadt Rom) 
drangen viele griechiiche Sitten in Rom ein; unter amderen 
auch die griechiſche Tiſchſitte. Die Weife, bei Tiſche nicht 
wie ehemald auf Bänfen zu fiten, jondern auf Sofas zu 
liegen; die Verjchiebung der Hauptmahlzeit von der Mittagd- 
ftunde auf 2 und 3 Uhr Nachmittags; die Zrinfmeifter bei den 
Schmäuſen, welche meiftens durch Würfelung aus der Zahl der 
Säfte für den Schmaus beftellt werden und nun den ZTijch- 
genofjen vorfchreiben, wad, wie und wann getrunfen werden 
jo; die nach der Reihe von den Gäften gefungenen Zijchlieder, 
die freilich in Rom nicht Rundgefänge (Skolien), jondern Ahnen- 
gejänge waren — alled dies ift in Rom nicht uriprünglicd und 
doch ſchon in jehr alter Zeit den Griechen entlehnt, denn zu 
Catos Zeit waren dieje Gebräuche bereitd gemein, ja zum Theil 
ſchon wieder abgefommen. 

An Stelle der alten Einfachheit trat die Gewohnheit, eigene 
Speijelofale, die j. g. trielinia®), einzurichten, welde 
man, unter jorgfältiger Erwägung der Fahreszeit, im Winter 
in die inneren Theile ded Haujed verlegte, wobei auch mit der 
Lampenerleuchtung Luxus getrieben werden konnte, während man 
im Sommer die Mahlzeit in einer Pergula des Hofes oder im 
oberen Stodwerf einnahm. Dieje Lokale waren nicht mehr für 
die Familie, jondern für Gejelihaft beftimmt; erjchienen in 


diefer, wad immer noch gewöhnlich war, die Frau und bie 
(366) 


9 


Kinder, ſo nahmen ſie auch an dem Gelage und der Unter— 
haltung der Männer theil, was Plutarch als einen weſentlichen 
Grund des ſittlichen Verderbs bezeichnet; wie ehedem bei jchwel- 
geriichen Gelagen die Bublerinnen, jo ſah man nun die Frauen 
des Hauſes unter der Schaar der Gäfte gelagert. 

Man ſpeiſte gewöhnlid an einem quadratiichen Tiſche, 
welcher von 3 Seiten von Ruhebetten umgeben, an der vierten 
aber für die Bedienung frei und auf 9 Perjonen eingerichtet 
war; der Umstand, dat dieſer Tiſch ebenjo wie das Ehzimmer 
trielinium beißt, läßt erfennen, daß aud) das Zimmer ur» 
Iprünglich nur für 9 Gäfte berechnet, und dieje Zahl ald normal 
betrachtet wurde. Allerdingd hatte man jchon am Ende der 
Republik Speijejäle, weldye 3 oder 4 Triflinien und außerdem 
genügenden Raum für die Bedienung umd die zur Unterhaltung 
bherbeigezogenen Künftler enthielten, und in der Kaijerzeit ver- 
größerte man diefe Räume immer mehr; aber die Tiiche zu 
9 Perſonen behielt man bei, auch wenn die Gejellichaft größer 
war; fogar das Volf bewirtbhete man an Triflinien. Die Speile- 
jofad waren urſprünglich ganz hölzerne Gejtelle, nach der Tiſch— 
jeite höher, nach der Aubenjeite niedriger, jodah man fie von 
diejer Seite aus beitieg. Die lacedämonijchen Lagerjtätten waren 
von feitem Holz, ganz den hölzernen Pritichen unjerer Soldaten 
auf den Wachtftuben vergleichbar; in Pompeji haben fich ge= 
mauerte Zriflinien gefunden. Aber es ift anzunehmen, dab ges 
wöhnlidye Kagerftätten, wie die zum Schlafen beitimmten Betten, 
Gurte gehabt haben; darüber lagen Polfter und auf diejen 
Deden; zudem auf jedem der 9 Pläbe ein Kiffen, auf welchem 
man den linfen Arm ftüßte, wenn man die Füße nad) der 
Außenjeite des Lagerd gerichtet, am Tiſche lag. Indes war die 
gleichmäßige und parallele Lage der 3 Perjonen ded Lectus 
oder Speijefofas nur jo lange erforderlich, ald man wirklich aß; 
bei der Unterhaltung änderte man auch die Stellung und juchte 


ed fih in aller Art bequem zu maden. 
(367) 


10 


In Betreff der 9 Pläße des Trifliniums, deren Vertheilung 
aud der nachltehenden Zeichnung erfichtlich ift, berrichte eine 
ftrenge Etiquette. Man unterſchied dad mittlere, untere und 
obere Speijejofa; die auf dem mittleren Sofa Liegenden 
hatten das obere zur Linken, dad untere zur Mecten. Das 
mittlere und obere Speifejofa war für die Gäfte beftimmt und 
zwar das mittlere für die vornehmften; dad untere für den Wirth, 
feine Gattin und ein Kind, wenn diejed mit am Tiſche ab, oder 
für einen Freigelaſſenen. Der Ehrenplaß auf den beiden anderen 





Sofas war der erfte, an welchem das Ruhebett eine Lehne hatte 
und die bequemfte Yage geitattete; der für die Hauptperjon der 
Geſellſchaft beftimmte Plaß aber, der ſ. g. Konjularplag, 
befand ſich an der dritten Stelle des mittleren Sofas. Plutardy 
giebt verfchiedene Gründe an, aus weldyen gerade diejer Plag 
für den Konjul beftimmt wurde, unter andern den, dab der 
Konjul hier theild dem Wirthe zunäcft lag, welder ja den 
erften Plat des unterften Speijefofad einnahm, theild die freie 
Ede des Trifliniums vor fi) hatte welche ihm geftattete, Mel— 
dungen anzunehmen und fich eilige Sachen zur Unterjchrift vor- 
legen zu laſſen. 

9 Perjonen find, wie ſchon bemerft wurde, die regelmäßige 
Zahl für dad Zriflinium. Daß mehr als drei fi) auf ein Sofa 


1368) 


11 


zufammendrängten, galt für unanftändig. So äußert fid) Cicero 
in feiner Rede gegen den Pijo:>) 

„Bei ihm gab ed nichts Feines, nichts Elegantes: — — in 
Haufen lagen die Griechen, zu fünfen nnd noch mehr auf den 
Sofas, während er fein Sofa allein bejegt hielt.“ 

Waren aber nun weniger Gäfte ald neun da, fo nahmen 
diefelben auch zu zweien oder ganz allein, wie wir died eben 
vom Wirthe ſahen, ein Sofa ein, wenn fie nicht etwa Begleiter 
— Schatten genannt — mitbrachten, weldye die Plätze neben 
ihnen erhielten. — 

Früher hatte man ohne Ausnahme nur einmal am Tage 
warm gegeſſen; jeßt wurden auch bei dem zweiten Frübftüd 
dem Prandium, nicht jelten warme Speijen aufgetragen, und 
für die Hauptmahlgeit reichten die biöherigen zwei Gänge nicht 
mehr aus. Bisher hatten auch die Frauen im Haufe das Brot- 
baden und die Küche felber beichafft, und nur bei Gaftereien 
hatte man einen Koch von Profeffion bejonderd gedungen, der 
dann Speiſen wie Gebäd gleidymäßig bejorgte. Seht dagegen 
begann die „willenichaftliche” Kochkunſt. In den guten Häufern 
ward ein eigener Koch gehalten. Die Arbeitstheilung ward 
nothwendig, und aus dem Kücenhandwerf zweigte das des 
Brot» und Kuchenbadens fih ab — um 171 v. Chr. (583 d. 
St.) entitanden die erften Bäderläden in Rom. Gedichte über 
die Kunft, gut zu efjen, mit langen Berzeichniffen der eſſens— 
wertheiten Seefiiche und Meerfrüchte fanden ihr Publiftum; daß 
ed nicht bei der Theorie blieb, zeigen die zahlreichen ausländi- 
ſchen Delifateffen, denen wir noch begegnen werden. Als der 
Zurus feine höchſte Staffel zu erflimmen begann, ald Kleidung 
und Xoilettengegenjtände rafende Verſchwendung hervorriefen, 
blieb der eigentliche Glanz- und Brennpunkt des jchwelgeriichen 
Lebend naturgemäß die Tafel. Wahrhaft erorbitante Preiie — 
bi8 100000 Sefterzen (22800 Marf) — bezahlte man für 
einen Koch; die Landhäuſer an der Seefüfte verfah man mit 

(369) 


12 

eigenen Salzwafjerteihen, um ja Seefiſche und Auftern jederzeit 
friſch auf die Tafel liefern zu können. Nannte man ed doc 
nur ein elendes Diner, wenn das Geflügel ganz, und nidyt bloß 
die erlejenen Stüde den Gäften vorgelegt wurden; unerhört war 
ed, diejen zuzumutben, von den einzelnen Gerichten zu eſſen und 
nicht bloß zu koſten. Selbſt Männer wie Metellus und Lucius 
Lucullus waren jchon ald Feldherren nicht weniger bedacht auf 
die Erweiterung des römijchen Gebiets durdy neu unterworfene 
Könige und Bölferichaften, ald auf die der endlofen Wilbbret-, 
Geflügel- und Defjertlifte der römischen Gaftronomie durdy neue 
afrifanische und kleinaſiatiſche Delifatefjen, und jo haben dieje 
Männer den beften Theil ihres Lebens in mehr oder minder 
geiftreihem Mübiggang verdorben. In der tuskulanifchen und 
tiburtiniihen Feldmarf, an den Geitaden von Zerracina und 
Bajü erhoben fih da, wo die alten latiniihen und italiichen 
Baunerichaften geſät und geerntet hatten, jet in unfruchtbarem 
Glanz die Landhäufer der römiihen Großen, von denen manches 
mit den dazu gehörigen Gartenanlagen und Wafferleitungen, den 
Süß- und Salzwajjerrejervoird zur Aufbewahrung und Züchtung 
von Fluß: und Seefiſchen, den Schneden- und Siebenjdyläfer- 
züdhtungen, den Wildſchonungen zur Hegung von Hafen, Kanin- 
hen, Hirihen, Neben und MWildjcyweinen, und den Vogel— 
bäujern, in denen ſelbſt Kraniche und Pfauen gehalten wurden, 
den Raum einer mäßigen Stadt bededte. Und dieje ganze foft- 
jpielige Einrichtung lief ſchließlich allein auf das Diniren hin— 
aus. Schon genügten nidyt mehr die verjchiedenen Tafelzimmer 
für Winter und Sommer, jondern man fpeilte auch in der 
Bildergallerie; ja in der Dbitlammer, im Vogelhaus wurde 
jerviert oder auf einer im Wildpark aufgejchlagenen Eftrade, um 
weldhe dann, wenn der beitellte „Orpheus“ im Theaterfoftüm 
erihien und Tuſch blied, die dazu abgeridhteten Rehe und 
Wildjchweine ſich drängten. So ward für Dekoration geforgt, 
aber die Realität darüber durchaus nicht vergeſſen. Nicht bloß 


(370) 


13 





der Kody war ein graduirter Gaftronom, jondern oft machte 
der Herr jelbit den Lehrmeifter jeiner Köche. Längit war der 
Braten durch Seefiſche und Auſtern in den Schatten geitellt; 
die italiihen Flubfiihe waren völlig von der guten Tafel 
verbannt, italijche Delikateflen und italiſche Meine galten 
fait für gemein. 

Uebrigens fommt die Verſchwendung für üppige Gaftmähler, 
namentlich aber die hohen Preiſe, die für einzelne Lederbifjen 
gezahlt wurden, nicht allein auf Rechnung der Schwelgerei, 
jondern auch auf die der Mode, der Prahlerei, der Sucht fidy 
bervorzuthun und in den Kreifen der Genußfünftler von fich 
reden zu machen. Diejed Beitreben war es auch, welches mehr 
als einen Verſchwender bewogen hat, jene großen Summen für 
Eremplare der Seebarbe (mullus) von ungewöhnlichem Ge- 
wicht zu zahlen, die jo oft ald Beweiſe beijpiellojer Ueppigkeit 
angeführt worden find. 

So erfaufte ein P. Detavius mit der Summe von 5000 Se— 
fterzen (1140 Mark) für ein 54 römiſche Pfund ſchweres Exem— 
plar den Ruhm, einen Fiſch erftanden zu haben, der nicht nur 
dem Kaiſer Tiberius, fondern auch jeinem Rivalen Apicius zu 
theuer gewejen war, und erlangte damit unter jeineögleichen 
großes Anjehen. 

Freilich ift es troß aller gejchilderten Uebertreibung doch 
noch jehr die Frage, ob der Zafellurus, jelbit im kaiſerlichen 
Rom, jo ausfchweifend und unnatürlih er den Alten erichien, 
hinter dem der größten Städte des jetzigen Europas jehr zurüd- 
ftand, ja jelbft dem des 18. Jahrhunderts auch nur gleichfam. 
Und wenn mir bedenfen, wie jehr die gewaltige Steigerung des 
Weltverkehrs in nnferem Jahrhundert namentlich aud) dem Zafel- 
luxus Vorſchub geleiftet hat und immer mehr zu leiften ge— 
nöthigt ift, jo find wir faum noch berechtigt, über die alten 
Römer und allzujehr zu verwundern, wie denn der Tafel— 


luxus auch im römijchen Altertbum keineswegs nur jchädliche 
(371) 


— — 
oder gleichgiltige Wirkungen ausgeübt hat, ſondern dadurch, daß 
er die Hauptveranlaſſung zur Einführung fremder Kulturgewächſe 
und eßbarer Thiere in die Länder des Occidents und ſomit zur 
Veredelung und Verfeinerung der Nahrungsmittel überhaupt 
war, ebenſo wie in neueren Zeiten ein nicht unwichtiger Faktor 
zur Verbreitung und Hebung der Geſammtkultur geweſen iſt. 

Um nun aber den römiſchen Tafelluxus im richtigen Lichte 

erſcheinen zu laſſen, geben wir hier von den Zeiten an, wo 
bei uns in Deutſchland die Schwelgerei bei Tiſche begann, 
einige Beiſpiele. 

Als charakteriſtiſche Ueberſicht einer Zahl von Speiſen im 

14. Jahrhundert führen wir einen Küchenzettel an, der für ein 
2 Tage langes Eſſen zu Ehren des Biſchofs von Zeitz in 
Weißenfels entworfen worden war und ſich erhalten hat. Dieſes 
Mahl koſtete 8 Gulden 15 Groſchen 9 Pfennig. 

Den 1. Tag gab ed 3 Gänge, nämlich: 

J. Eierjuppe mit Safran, Pfefferförner und Honig darin. 
Hirſe, Gemüfe, Schaffleiſch mit Zwiebeln. 

Ein gebratened Huhn mit Zmetichen. 

2. Stodfild mit Del und Rofinen. 

„Bleyer“ (eine Fiichgattung), in Del gebaden. 
Gelottener Aal mit Pfeffer. Geröitete Büdinge mit 
Senf. 

3. Speifeftiche, fauer gejotten. Parmen, gebaden. Kleine 
Vögel in Schmalz mit Rettich. Schweindfeule mit 
Gurfen. 

Den 2. Tag trug man wieder in 3 Gängen auf: 

1. Gelbes (?) Schweinefleiih, Eierkuchen mit Honig und 
Meinbeeren. Gebratener Häring. 

2. Kleine Fiſche mit NRofinen. Kalte „Blever“ gebraten 
(die am vorigen Tage übrig geblieben). Gebratene 


Sand mit rothen Rüben. 
(372) 


15 


3. Geſalzenen Hecht mit Peterfilie. Salat mit Eiern. 
Gallert mit Mandeln bejeht. 

„Und hiermit”, jebt der Verfaſſer dieſes Küchenzetteld 
hinzu, „iſt Seine Gnaden gar wohl zufrieden geweſen“. — 

Vom 16. Jahrhundert an begann man die größeren Tafeln 
auch ſchon kunſtvoll und mit Geſchmack im Arrangement der» 
jelben zu beftellen,. freilih im Zeitgeichmad; das Auftauchen 
zahlreicher Mehlipeifen der Gebädsgattungen und Konditoreis 
erzeugnifje gab Beranlafjung, ſelbſt der Phantafie einen gewiffen 
Spielraum bei Herjtellung diejer Speilen zu gönnen und Luxus 
auch in diefer Richtung zu entfalten. Ein lehrreiches Beiipiel, 
wie weit man es in diejer Hinfidyt gebradıt hatte, liefert ein 
großes Leichenmahl, dad nad dem Tode ded Herzogs Albrecht 
von Bayern im Jahre 1509 veranftaltet wurde, und das, in 
23 Eſſen eingetheilt, durdy die Gerichte, welche dabei vorfamen, 
lebhaft an Petrond Gaftmahl des Trimaldio erinnert. Es 
würde zu weit führen, wollten wir bier mit gleicher Ausführ- 
lichkeit diejer 23 Efjen gedenken; unjere modernen großen „Menus“ 
geben in vieler Hinfidyt aucd zu denken und laſſen die alt: 
römiſche Schwelgerei wahrlidy nicht mehr jo jchlimm erjcheinen, 
wie ed anfänglich wohl der Fall war. — Schon der Yuftipiel- 
dichter Plautus geihelt jedoch das Uebermaß der Tafelgenüffe 
und das fich daran lehnende Parafitengeichledht der Schmaroger. 
Auf dem mit Buden und Hallen bejetten Marktpla Noms, 
in der Nahe des edquiliniichen Thored und der Gärten des 
Mäcenad, fand der Verkauf für Fleiſch, Fiihe und Gemüfe 
ftatt. Dort gab ed denn aud Köche in Menge, welche ihre 
Dienfte anboten, ehe die Hausfflaven das bedeutende Kontingent 
von Köcen und Küchenjungen jelbft für die Bereitung der ge- 
wöhnlihen Mahlzeiten lieferten. 

Erwähnenswerth ijt, daß in dem zu Eingang unferer Skizze 
angeführten Speijezettel von einem eigentlichen Nachtiſch Feine 
Rede iſt; die Fülle ded dort Gebotenen läßt denfelben aud) 


(373) 


16 


freilich nicht vermiljen. Von der ungeheuren Mannigfaltigkeit 
der Produkte des Thierreiches behufs Bereicherung der Tafel- 
freuden war flüchtig ſchon oben geiprodhen. Die maritime Lage 
Latiums jowie die zahlreihen Handelöverbindungen brachten 
eine Unmenge der verjchiedenartigiten Waſſerthiere nad) Rom. 
Sie waren ein Hauptgegenftand der römiſchen Feinjchmederei, 
wenn auch mehrere gewöhnliche Arten dem Volk ald Nahrungs: 
mittel dienten. Der Gourmand Lucullus war der erjte, welcher 
Zeihe für Meerfiſche anlegte und diefe Art von Lurusbauten 
in Anregung brachte, in welcder ſich die Kaijerzeit bis zum 
Uebermaße gefiel. 

Allerdings machte man große Unterfchiede und jchäßte ein- 
zelne Fiiche jehr gering. So galt der gefalzene Thunfiſch, 
das Tintenfilbchen, ja aud tie kleinere Seebarbe jehr 
wenig; nur die ärmeren Volksklaſſen, jowie allenfalld der Mittel« 
ftand genoß diefelben der Billigfeit halber häufiger. Neben der 
ichwerwiegenden großen Seebarbe,deren Beliebtheit uns bereitd 
oben beichäftigt hat, erfreute fidy aber noch bejonderd die Mu— 
räne, eine Art Meeraal, ähnlicher Preiſe und Werthſchätzung; 
bat doch, als der Prätor P. Licinius die erften Fiichteiche für 
diejelben anlegte, die licinifche Familie ihren Beinamen Muraena 
daher empfangen. Ein theurer, und nicht genau befannter Fiſch 
war auch der Skarus, vielleicht Lippfiih (Papageifiſch) 
oder Meerbrajien, jedenfalld eine der größten Ledereien der 
Römer. Unter Tiberiud gelang ed dem Flottenpräfekten Optatus 
Glipertius diefen Foftbaren Fiſch aus dem Meere zwiichen Kreta 
und Rhodus an die Weſtküſte Italiens zwiſchen Oſtia und 
Gampanien zu verpflanzen. Vorzüglich mohlichmedend war jein 
Eingeweide, während nad) dem Mebrigen feine Nachfrage war. 
Sehr früh rivalifierte eine Störart, nad) den einen Scherg, 
nad den andern Sterlet, der Helop8 oder Ellops, welder 


am beften von Rhodus fam, aber nur in der älteren Zeit für 
(374) 


20 





eine Hauptzierde des Mahled galt, während er jpäter an Werth 
und Aniehen jehr gejunfen war. 

Einen prachtvollen Anblid müſſen die Fiſchbaſfins dar— 
geboten haben, welche die reichen Römer bei ihren Billen be» 
jaßen. Denn um alle dieje Fiiche und die noch zu nennenden 
Schalthiere ftet3 vorräthig zu haben, und um fie auch nad 
dem weiteren Transport für die Tafel gehörig mälten zu können, 
legten die Römer die genannten Bajfind an, weldhe je nad) der 
Beichaffenheit des Waſſers, in welchem diefe Thiere urjprüng- 
lich lebten, entweder mit fühem oder Seewaſſer gefüllt waren 
und, um den Zufluß und Abzug des Waſſers herbeizuführen, 
mit Kanälen in Verbindung ftanden, deren Mündungen durd) 
eilerne Gitter verjchloffen waren. Wir dürfen und diefe Anlagen 
aber nicht ausſchließlich aus Sudt zur Schlemmerei entitanden 
denfen; auch Gewinnſucht mag oft mit im Spiele gemwejen jein. 
Hat ed dody auch der ehrenwerthe Warro nicht verichmäht, zur 
fünftlihen Zucht von Wild, Geflügel, Fiſchen und Scyalthieren 
die ausführlichften Anmeilungen zu geben, auch gerade von 
jolhen, die aus der Fremde eingeführt waren, ald afrifanijchen 
Perlhühnern, galliichen und ſpaniſchen Hafen und Kaninchen, 
ilpriihen und afrikanischen Schneden, u. dgl. m. 

Die künſtliche Auſternzucht war jchon früher, ehe nody 
Sergius Drata fünitliche Aufterbaffind im Lufrinerjee anlegte, 
freilich ohne Erfolg — mie audy nody in der Jetztzeit — ver: 
jucht worden. Nach Ariftoteles’ Entftehungsgeichichte der Thiere 
hatten einige Chier aus Pyrrha in Lesbos lebendige Auftern mit- 
genommen und an einigen ganz ähnlichen Stellen ihres Meeres 
verjenft; nach längerer Zeit hatten dieje zwar an Größe bedeu- 
tend zugenommen, aber ihre Zahl hatte ſich nicht vermehrt. 
Bei den Römern rühmt jchon Ennius die Auftern von Abydos, 
aber audy Plautus fennt fie bereitd; furz vor dem marfijchen 
Kriege, aljo dicht vor d. 3. 90 v. Chr., legte der ſchon genannte 
6. Sergius Drata den erften Aufternparf im Lufrinerfee und 


XVII. 417. 2 (375) 


18 


mit mehr Glüd als die Chier an; da jeßt der Damm verfhwunden 
ift, bildet der See mit dem Golf von Pozzuoli ein Ganzes. 
Eine ähnliche Anlage befand fi im Averner See — nody jeßt 
Lago d’Averno —, daneben fannte man aber eine Menge 
fremder Sorten, denn mit fteigendem Luxus begnügte man fich 
nicht damit, die Auftern aus Brundufium (heute Brindiji), 
Tarent und Kleinafien zu holen, jondern man plünderte Bri- 
tannien und jpäter aud Gallien, wo bei Bordeaur ebenfalls 
fünftliche Anlagen waren. Die Dichter Horaz, Juvenal u. a. 
preifen den Wohlgeichmad der Aufter, und Plinius nennt fie 
die Krone des Fiſches der Reichen; audy gab es bejonderö 
Aufternbrot‘). Was jonft die Zubereitung derfelben belangt, 
jo haben wir in dem eingangs wiedergegebenen Speijezettel 
genau friſche und eine Schüffel mit zugerichteten Auftern 
unterjchieden. Letztere waren aljo ein von Auftern bereitetes 
warmes Gericht, welcheö auf einer bededten Schüfjel auf die 
Tafel gebradyt wurde. 

Nächſt den Auftern, weldye alfo die erite Stelle einnahmen, 
galten die Schneden für einen gejuchten Yederbifjen und 
wurden darum ebenfalld in bejonderen Zeichen gemäftet?). 
Sonft jeien von eßbaren Schalthieren aus jener Zeit hier nody 
aufgeführt: die große Gien- oder Rieſenmuſchel, der 
Meerigel, die Kammmuſchel und die Meereichel, von 
welcher ed zwei Sorten, weiße und ichwarze, gab. 

Soviel über die eigentlichen Fiſche und Schalthiere. 
Kaviar, wie wir ihn efjen, fannten die Römer nicht; ftatt 
defjen gab es bei ihnen als geſchätzte Delifatefjen fremdherge- 
brachte Fiſchbrühen und -Saucen mit eingelegten und ein» 
gemachten Stückchen. Auch bier gab ed wieder bevorzugte 
Lieferungdödrter und Bezugäquellen; jo kam die gejucdhtejte Filch- 
brühe aus NeusKarthago, dem jebigen Sartagena in Spanien. 
Man bereitete jie aus den inneren Theilen der Mafrele und 


zwar in der Weile, dab man diejelben in einen Topf legte und 
(376) 


19 


einfalzte, dann entweder in die Sonne ftellte oder über dem 
Feuer kochte, fortwährend rührte und, wenn fie fi) aufgelöft 
hatten, durch einen langen, dichten Korb durchſeihte: die ab— 
fließende Flüffigfeit war dann die geichäßte Fijchbrühe, das 
Zurüdbleibende eine ebenfalld begehrte Lake. Der Gebrauch der 
Brühe war übrigens jehr mannigfaltig in der Küche ſowohl als 
bei der Tafel; beträufelte man doc, jogar die Auftern damit ®). 
Zum häuslichen Gebrauh machte man Lake von gewöhnlichen 
Fiſchen, um ed den Sklaven als Zufoft zu geben, wie uns ſchon 
Gato?) erzählt, daß diejelben auf dem Lande zur Zubereitung 
ihrer Speilen Dliven, Lake oder Eifig erhalten hätten. 

Die Fiichbrühen, deren man fi) ald Würze beim Kochen 
u.j.w. bediente, wurden aber auch in verjchiedenen Mifchungen 
gebraucht: mit Wein, mit Del, mit Eſſig oder mit Waſſer !°). 
Ein höchſt eigenthümliched Gericht war endlidy nody dad aus 
Käfe und eingejalzenen Fijchen hergeſtellte Käſe- und Herings— 
ragout (tyrotarichus). Das ſpaniſche Tarichos, Fiſch— 
yöfelfleijch, weldyes das berühmtefte war, wurde von Gades 
(Cadiz), Malaca (Malaga), Neu: Karthage (Gartagena) 
und anderen Handelöpläßen ausgeführt, nad) welchen die Fiſcher 
von der ganzen ſpaniſchen Küſte ihren Fang brachten. Von dort 
ging das Fabrifat dann nad) Puteoli (Pozzuoli), wobei die 
Konkurrenz des jardinifchen Produftes zur Geltung fam. Bereitet 
wurde das Taridyod entweder von Stören oder den veridjie- 
denen Arten des Thunfijches; man unterjdyied hierbei auch 
wieder dad minder Werthvolle vom Beliebteren: jo galten ganz 
bejonderd als Leckerbiſſen große NRüdenftüde vom Stör oder 
Thunfiſch im gejalzenen und getrodneten Zuftande, Schwarz: 
Eichenbretter genannt, weil fie wie ein eichenes Brett aus— 
jahen 11). 

Alle diefe Arten gejalzener Fiſche gehörten zu den Bor: 
gerichten oder Entrees der Mahlzeit; vor dem Genufje wurden fie 


tüchtig gewäſſert, was am beiten mit Seewafjer und mit Del 
2* (377) 


20 


geihah, doch auch mit Eſſig und Senf oder in Thunfiſchſauce 
gefocht oder gebraten, in Wein gejotten und mit anderen 
Zuthaten genofjen; auch wurde daraus ein anderes Gericht, das 
im Speijezettel genannte Fiſchragout, bereitet. 

Bom Geflügel läßt fidy weniger jagen, da die Anzahl der 
griechiſchen Wörter, aus weldyen wir eine Beeinfluffung ent- 
nehmen fünnen, bier eine verhältnikmähig geringe if. Wohl 
hielten fi) die Römer, ähnlich wie Fiichbaffind für die Fijche, 
auf ihren ländlichen Villen zur Mäftung und Zucht von Vögeln 
Geflügelhäujer; aber nur wenige Namen der in ihnen gehegten 
Bogelarten find griechiſch und deuten daher auf entiprechenden 
Import hin. Daß ſchon in den letzten Sahrhunderten der 
Republik die in jpäteren Zeiten vergrößert wiederkehrenden Lieb- 
habereien an foltbaren und feltenen Tauben, gemäfteten Ka— 
paunen und: Poularden und großen Gänjelebern aufgefommen 
waren, beweift dad Fanniſche Lurusgeje vom Sahre 161 v. Ehr., 
welche gegen das Mäften deö Geflügeld eine Beitimmung ent= 
bielt. Im der Folgezeit bejchränfte ſich aber dieje Zucht nicht 
auf das zahme, einheimijche Federvieh, jondern man juchte 
MWaldvögel und Geflügel aus den ferniten Gegenden zu zähmen 
und in den Bogelhäufern zu füttern. So unermüdlidy die 
Römer nun aud) in diefen Verſuchen waren, jo gelang ed immer 
noch nicht, den ganzen Apparat der in Mode kommenden Selten» 
heiten in diefen Vogelparks zu concentriren: das Schneehuhn, 
die Schnepfe, der Auerhahn und Birfhahn und das als 
Hauptdelikateffe geltende Haſelhuhn blieben Jagdthiere und 
darum von bejonderem Werthe!?). Wohl aber vermodyte man 
auch hier wieder, durch Lucullus’ Vorgang angeregt, zu füttern 
und zu mäften: die Kapaune, die Feldhühner, die Berl: 
hühner, die Fajanen, welche in Koldis zu Hauje waren, und 
die Flamingo 8, deren Zunge für einen Lederbifjen gehalten wurde. 

ft ferner nun audy der römische Name für den Pfau nicht 
aus dem griechiichen Worte gebildet, jo bleibt doc) die Thatſache 


(378) 


a 
beftehen, dab der Pfau, den Hortenfius zuerft gebraten auf die 
Zafel brachte, von der Injel Samos geholt, mithin in Stalien 
erſt eingeführt werden mußte, mo allerdingd nun bald die 
Pfauenzucht Gegenftand leidenichaftlicher Induſtrie wurde. Zu 
Varros Zeit wurde das oben erwähnte Perlhuhn jchon gegefjen 
war aber in Stalien noch jelten, in Folge defjen alſo auch theuer; 
zu Martiald Zeit dürfte ed auf größeren Geflügelhöfen bereits 
gewöhnlich geweien jein. Die Fajanen, weldye jchon zur Zeit 
des Ptolemäus Euergeteö II. aud Medien, d. h. den ſüdkaspiſchen 
Landen nad Alerındria famen, nennt aber weder Varro noch 
auch Horaz unter den Leckerbiſſen der römiſchen Schwelger; dies 
geſchieht erit feit Anfang der Kaijerzeit, denn im vorlegten 
Sahrzehnt des 1. Jahrhunderts find diejelben ſchon in Italien 
gezüchtet worden. Ungefähr zu derjelben Zeit zählte man auch 
wohl ſchon den Flamingo unter die Delikatejjen einer vor- 
nehmen Zafel; außer der Zunge wurde dad Gehirn diejes 
Vogels aufgetragen. 

Mit der Haustaube machte Italien wohl durch Ver— 
mittelung des Tempels von Eryr in Sicilien zuerſt Belannt- 
ihaft. Auf diefem Berge, einem alten phöniziſchen und kartha— 
giihen Kultusfite, wohnten Scharen weißer und farbiger, 
ichmeichlerifcher, girrender Tauben, der dort verehrten großen 
Göttin geweiht und an deren Feten theilnehmend. In Italien 
wurde der jchöne Vogel erft allmählidy näher befannt und feine 
Zucht zur allgemeinen Sitte; man paarte fie wohl jpäter mit 
der einheimijchen Feljentaube, welche die höchſten Thürme und 
Zinnen des Landhaujed bewohnte und fam und ging, ihr Futter 
frei im Lande ſuchend. Bon Italien ging mit der Macht und 
Kultur deö römiſchen Neiches die Haustaube über ganz Europa 
aus; dem Chriftenthume diente ihr Bild früh zum Ausdrud der 
neuen Religion und der damit verbundenen Seelenftimmung. 
— Es ift jo recht bezeichnend für die Gourmandije der Römer, 
daß fie fich nicht mit der zahlreichen Brut der zahmen Bevöl- 


(379) 


22 


ferung begnügten, obgleidy ed in einem Schlage oft bis zu 5000 
gab; man fing vielmehr die Ringel» und Turteltauben ein 
oder juchte ihre Nefter auf, um eine bejondere Delifatelje zu 
gewinnen. Die zahmen Tauben aber dienten ſchon im Alter: 
thum ald Brieftauben ; jo unterrichteten die Griechen die Shrigen 
von den Erfolgen der olympiſchen Spiele mitteljt diejer gefie- 
derten Boten. Die älteite Erwähnung einer ſolchen Brieftaube 
finden wir in einer Dde Anafreond, aljo ſchon im 6. Jahr— 
hundert vor Chr.; aus römijcher Zeit bietet fidy eine interefjante 
Stelle beim Encyklopädiſten Plinius, welcher von einer der- 
artigen Briefpoft aus dem Jahre 43 vor Chr. bei der Gelegenheit 
der Belagerung von Mutina zu erzählen weiß 13). 

Die ältere Zeit hatte fi) zum größten Theil won vegetabi- 
liiher Koft ernährt; ſchon Plautus aber läßt im jcherzhafter 
Weiſe jeinen Koh im „Lügenmaul“, einem der vorzüglichiten 
Zuftipiele diejeg Komödiendichterd, dad „Grasfreſſen“ der Men— 
ſchen geißeln. Immer mehr gelangten im Laufe der Zeit Fiſch 
und Fleiſch an Stelle der vegetabiliichen Koft in der jpäteren 
römischen Küche zur Geltung; Grund genug, um nun auc, ein 
Wort von den Bierfüßlern zu fprechen. 

Früh und verbreitet war der Genuß des Schweinefleijches, 
denn jeder Landmann z0g jeine Schweine jelbft, die ihm den 
Braten zum Feſte lieferten; Sped und Hüftenſtückchen, Schweins- 
fnöchel und Leberfnödel waren bereitö damals beliebte Gerichte, 
Schinken und Schmalz; nicht zu vergeffen. Wunderbar genug 
haben die Römer erft nad langem Bedenken fi) entichließen 
fönnen, ebenjo mie Ziegen-, Lamme:, Hammel- und 
Schweinefleiſch, auch als allgemeines Nahrungsmittel Rind» 
fleisch zu genießen. Zu den beliebteften Speilen aber und 
zwar ganz unſern Berhältniffen entiprechend, für alle Klafjen der 
Geſellſchaft gehörten Würfte. Shre Zubereitung war der in 
unferer Zeit ähnlich, nur daß der Gefchmad der Römer an einer 


Menge ftarker Gewürze Gefallen fand, jo dab unjerem Gaumen 
(380) 


23 


dieſes Gericht faum noch zugeiagt haben würde. Iſt nun aud) 
der allgemeinfte Ausdrud für Wurft (Stopfwerf) echt lateiniſch, 
jo beſaß jedoh auch ſchon Rom im gemwiffen Sinne jeine 
Braunihmweiger und Gothaer Produkte, das beißt nad) 
ausländiichen Recepten unter fremden Namen bergeftellte Fleiſch— 
mwaaren oder auch direft, jo bejonderd aus Gallien importirt. 
Man ad Würfte, welche ganz unjeren Gervelat- oder Mette, 
Leber- und eigentlihen Bratwürften entipradyen, bejonders 
gern warm, auf dem Roſte gebraten; in diejem Zuftande wurden 
fie denn auch in Fleinen Blechöfen zum Berkaufe herumgetragen. — 

Fiſche und Schalthiere, Geflügel und Fleiſch: es 
fehlen nur nody dad Gemüſe und die nöthigen Zuthaten. 

In weit größerem Umfange als die Einführung von Thieren 
erfolgte in Stalien die Acclimatijation von Fruchtbäumen und 
ebbaren Gewächſen, die ſich dann von dort in andere Yänder 
verbreiteten!®). Aber auch bier hat das jpätere Altertyum nur 
fortgejetst, erweitert und vervielfacht, was dad frühere angebahnt 
und begonnen hatie, die Wanderungen der Kulturpflanzen nur 
auf fernere Gebiete ausgedehnt und jo freilid) im Laufe der 
Jahrhunderte den Character der Vegetation von Süd- und 
Mitteleuropa völlig umgeftaltet. 

Die frugale Küche der älteren Zeit kannte bei der Zu— 
bereitung der Speijen, da Butter in Griechenland jowohl als 
auh in Stalien nur zu mebdicinifhem Gebraudye verwerthet 
wurde, feine anderen Zuthaten ald Del, Honig, Salz und 
Eſſig. Das Del vertrat und vertritt heute noch im Xande der 
Dlivenbäume die Stelle der Butter umd vielfach auch die des 
Fettes; Fiiche und Gemüje, Fleiſch und Badwerf erfuhren die 
Behandlung uud Zubereitung mit dem vielbegehrten Saft der 
Dlive. Es unterliegt feinem Zmeifel, dab die Delkultur von 
Griehenland aus auf Italien übertragen wurde; von dort aus 
hat Name und Begriff Verbreitung in das ganze übrige Europa 
erfahren. Bon jonftigen eigentlichen Zuthaten, weldye ebenfalls 


(381) 


24 


griechischer Vermittelung ihren Uebergang nad Stalien danken, 
jeien bier genannt: Pfeffer, Dill, Anis, Minze, 
Koriander, Kümmel und Dojjen, Peterjilie, Majoran, 
Thymian, Ing wer nnd Zimmt. 

Ferner erfahren wir, daß der Römer feine Kohlrüben in 
Salz, Senf und Eifig einmadte; aud der Spargel hatte 
jeinen Weg aus dem Morgenlande zu ihm gefunden. Mit Effig, 
Pfeffer und anderen pifanten Zuthaten verzehrte man Die 
Melone; ein beliebted Kompott gaben die eingemadhten 
Dliven, weiße und ſchwarze, unter weldyen man aber wiederum 
verjchiedene Sorten und Zubereitungsarten unterjchied. Raute, 
Sauerampfer, Krejje oder Pfefferfraut und Malve 
wurden ald Iugredienzien zu verjchiedenen Salaten verarbeitet. 
Bejonders berühmt war der Schnittlaud aus Zarent; man 
pflegte ihm in Del und Wein gekocht zu verzehren: eine beliebte, 
wenn auch von einigen Gejhmadsäfthetifern verurtheilte Speife. 

Dann find die verjchiedenartigen Pilze nicht zu vergefjen, 
von den gewöhnlichen Steinpilzen an bid zu den Kaijer- 
ihwämmen und GChampignond; ein bejonderer Verehrer 
jener Schwämme war u. a. der Kaifer Claudius, jo jehr freilich, 
dab er fi infolge unmäßigen Genufjes, derjelben den Tod 
bolte!5), 

Bon Salaten erwähnen wir den Kopfjalat ſowie gelb- 
grünen Kappadofier und rothen Kvprierjalat. Bom Grün- 
oder Braunfohl, einem jehr beliebten Gemüfe, ab man ſowohl 
den größeren Stengel ald audy im Frühjahre die jungen Keime. 
Im übrigen diente der Kohl auch jhon im Altertyume jpridh: 
wörtlih zur Bezeichnung ded Abgeftandenen und wenig Reiz: 
vollen: „Zweimal Kohl, heißt: Welt, leb' wohl!“ 16) 

Eine ganz bejondere Förderung verdankte aber den Römern 
der jpäteren Republif und der erjten Kaijerzeit die Obſtkultur 
nicht nur Staliens, jondern aud) der Provinzen. Italien war jchon 
zu Varros Zeit ein Obftgarten; Aepfel, Birnen, Pflaumen, 


(382) 


— 


Quitten, Miöpeln, Kaſtanien, Nüffe und Weintrauben gehörten 
zur gewöhnlichen Mahlzeit; nun aber begann man die einheimijchen 
Gattungen zu veredeln, die beften italieniichen und ausländifchen 
in der Umgegend Roms einheimiſch zu machen und Herbitfrüchte 
im Frühjahr zur Reife zu bringen, ein Ausdrud der Hyper— 
fultur, die unjerer Zeit audy hierin durchaus nicht fremd ift. 
Bon einheimiihen Produkten abgejehen, ab man in Rom 
Birnen aus Tarent, Griechenland, Numidien und Alerandrien, 
Aepfel aus Afrifa und Syrien. Jede neue Groberung von 
Provinzen wurde aud eine Bereicherung des römiichen Gartens; 
die Wallnuf, die perfiiche, pontiſche oder Füniglihe Nu = 
unjerer Hajelnuß, die Lambertsnuß, die zu Catos Zeit 
wohl nod nicht in Italien einheimiſch geweſene Mandel, die 
Pfirſich, die Aprifoje, der Granatapfel, der griechiſche 
Feigenbaum, die von Lufull aus dem mithridatiichen Kriege 
von Kerafus im Pontus mitgebradhte Kirfche, die zu Tiberius' 
Zeit nad) Rom gefommene Pijtaziennuß, endlidy der Citronen— 
baum, der in Griechenland ſeit Alerander dem Großen befannt 
geworden war, find nach und nad in Italien eingeführt und 
zur Verfeinerung der Tafelfreunde verwerthet worden. Außerdem 
fam nah Rom getrodneted und eingemachtes oder jonft be= 
ſonders zu Speijen zubereiteted Obſt aus allen Gegenden, wie 
die damasceniſchen Pflaumen, die farijchen Feigen, im 
gepreßten und getrodneten Zuftande, die Datteln, meldye man 
als Gaſtgeſchenke verjchenfte und im kaiſerlichen Spenden an das 
Volk vertheilte, die trodenen und eingelegten MWeintrauben 
und die Duittenpafteten aud Spanien !?). 

Ein nidyt unmwichtiger Artikel bei den Mahlzeiten war der 
Honig, defjen Name jelbft zwar nicht auf Griechenland weilt — 
Staler und Griehen fannten vor ihrer Trennung bereitö den 
Honig, — defien Import aber auf griechiichem Handel beruht. 
Der befte Honig war der hymettiſche aus Attila jowie der 


fieilifche vom biumenreihen Hybla, aber audy die Bienen von 
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der kariſchen Küfteninjel Kalydna fanden Anerfennung. Man 
genoß den Honig, gleihlam um den leeren Magen für die nadı= 
folgenden hitigeren Weine vorzubereiten, beim Borgericht gemijcht 
mit Wein oder Moft und zwar im Verhältniß von + Wein 
und 4 Honig oder 44 Moft und „I; Honig, aljo eine Art Meth. 
Aber auch mit Eſſig wurde der Honig, wie und ſchon Gato in 
jeinem Bud über das Yandleben verfichert, als Honigelfig 
genojjen. 

Weiſt num alfo einerjeitö der Honig auf dad fröhliche Trink— 
gelage bin, von weldyem wir weiter unten zu reden haben, jo ift 
anderjeitd? dody mit Sicherheit anzunehmen, daß die ſüßen 
Speijen, bejonderd Badwaaren ihn nicht entbehren Eonnten. 
Denn da der Zuder den Alten jo gut wie unbefannt war, jo 
mußte der Honig defjen Stelle beim Kochen und Baden vertreten. 
Welch ein weiter Weg von der diden Brotjuppe zu Plautus’ Zeiten 
bis zu den in Wein gefochten Gerichten, von dem groben Kleien- 
brot der alten Zeit bis zur leeren Paſtete, dem mit jchmad- 
hafter Fleiſchmiſchung gefüllten Backwerk! Der Konditor ver 
juchte fein Heil im Uebergipſen des aus allerlei Früchten be— 
ftehenden Nachtiiched, zn dem aber — ein richtiges Tuttifrutti 
— allerlei Knupper- und Nafchwerf aus Nüffen und Datteln u. 
dal. m. hinzukam. 

Kuchen und Badwerf gab es dabei in großer Menge und 
in den mannigfaltigiten Formen. Die Tafelgeichenfe wurden 
in Gejtalt kleiner Teigichweinden den Gäften zum Mitnehmen 
überreicht, unjerem Baumfuchen und Konfeft recht wohl vers 
gleihbar. Doch erinnerte der Teig wohl eber an Pumper: 
nidel, wenigjtend war ed ein ſehr hartes Gebäd, das auch weit 
in die Welt hinaus verjandt wurde!®). Aber auch eine Art 
Pfannkuchen fannten die Römer in Geftalt eined dünnen Del: 
kuchens, etwa Delplinje, von Aermeren mehr zur Speije ge— 
wählt, indes auch für Kranfe von Aerzten empfohlen. Sehr 
beliebt aber war der Brotfuden, ein Badwerf aus Mehl, Wein, 


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Milch, Del, Fett und Pfeffer. Endlich ſei auch noch der Spriß», 
Sträußel- und Topfkuchen jowie der Brezeln gebührend 
gedacht !?). 

Doch das Materielle erfticte nicht ganz das Bedürfniß nad) 
ZTafelfreuden, bei weldyen Ohr und Auge das Ihrige erhielten. 
Denn vielfacdy wird und berichtet, daß es bei den Mahlzeiten nicht 
an Zafelmufif gefehlt habe, ja dat es wohl bald zuviel des Ohren— 
ſchmauſes wurde. Wohl aus Alerandrien war die weichlicye 
Mufit nah Rom gefommen, welche ſich zur älteren griecbiichen 
verhielt, wie die moderne italienifche und zum Theil franzöſiſche 
zu der klaſſiſchen Muſik des 18. Jahrhunderte. Bald würdigten 
die Römer diefe Kunft zum Werkzeuge des Sinnengenufjeö 
berab, veritanden es dabei freilich vortrefflich, diejelbe zur Ver— 
ichönerung der Eriftenz zu verwenden Aus den Hunderten und 
Tauſenden von Sklaven bildete man ohne große Echwierigfeit 
eine Kapelle, wie 3. B. der reiche Freigelaffene des Sulla, 
Ehryjogonus, in echter Emporfömmlingsweife die ganze Umgegend 
jeined Hauſes Tag und Naht von dem Schall der Gejänge und 
des Flötenſpieles erfüllen lieh. Bei der Tafel aber, wo man mit 
allen Sinnen zugleidy genießen wollte, durfte Mufif vor allem 
nicht fehlen, welche doch den Gäften nicht jelten zur Dual ge: 
reichte. Bei üppigen Selten jangen große Chöre zu ben 
Kaftagnettentänzen jchöner Andalufierinnen, und bei heiteren 
Mahlzeiten eines gelehrten Kreiſes trugen griechiiche Sänger und 
Sängerinnen Lieder von Sappho und Anafreon zur Zither vor; 
aber der jüngere Plinius läßt feinem zum einfachen Mahle ein- 
geladenen Gaſte die Wahl zwiichen einer Vorleiung, einer Luft: 
Ipielicene und Lautenipiel, während der Dichter Martial, im 
dritten Stodwerfe zur Miethe wohnend, einem Freunde veripricht, 
derjelbe jolle nur Flötentöne auf bejcheidener Nohrpfeife zum 
Ohrenſchmaus erhalten. Beim Trimaldyio num gar läßt Petronius 
die ganze Bedienung der Tafel und der Gäfte unter Geſang und 
Muſik jtattfinden, jelbft das Auftragen und Herumbieten der 


(335) 


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Speilen, das Abfegen und Abwijchen der Tiſche u. ſ. w., ſodaß 
man glauben fonnte, eher in einem Theater ald in einem Gaft- 
baufe zu fein 20). 

Das führt und ſchließlich auf die Bedienung in der Küche 
und beim Mahl. 

In alter Zeit genügte auf dem Lande die Wirthichafte- 
verwalterin und die Mägde, in der Stadt miethete man, wie be— 
reitdö erwähnt, bei feitlichen Gelegenheiten einen Koh. Als 
jpäter ein eigener Koch unentbehrlich geworden war und theurer 
ald der Hofmeier bezahlt werden mußte, wurde ihm ein ganzes 
Hilfsperjonal unter geordnet: die Knechte, weldye das Holz her— 
beitrugen, die Schaar der Kucyenbäder und Küchengehilfen, denen 
er nunmehr ebenjo ald Dirigent und Oberkoch vorftand, wie die 
Einkäufe der verjchiedenen Materialien jeine Befehle zu erfüllen 
hatten. Nocd viel größer war der Luxus, den man bei der 
Tiſchbedienung entfaltete; es würde zu weit führen, wollten wir 
ausführlidy audy die hier fungirenden Sklaven bejprechen, eine 
kurze Aufzählung muß genügen. Als Chef trat der Tafelvorjteher 
auf, der das ganze Arrangement und audy die Beleuchtung be- 
jorgte. Unter ihm ftanden die eigentlichen Zafeldiener, deren es 
mehrere Dußend geben fonnte; der Zerleger, weldyer die Speiien 
anrichtete, auftrug und vorjchnitt, injofern dieſe Dienſte nicht auch 
wieder getheilt wurden zwiſchen dem Truchſeß und dem Vor— 
ſchneider; daun die aufwartenden Diener, denen das Eingießen, 
Weinmiſchen und -Kühlen u. ſ. w. oblag, alles ſchöne, jugendliche 
Geſtalten, gleich an Kleidung und Haartracht, endlich die Vor— 
ſchmecker und die Tafelabräumer. 

Aber einer Gattung Menſchen müſſen wir hier unbedingt 
noch Erwähnung thun, nämlich der Schmarotzer und Hof— 
narren. Die griechiſche Sitte der Paraſiten oder Schmarotzer 
fand bei den Römern überall ihre Rechnung und zwar um ſo 
mehr, als die römiſche Vorliebe für burlesken Witz und Scherz 
ihnen entgegenkam. Bald gehörten ſie als unumgängliches 


(336) 


29 


Zwiichengericht zu jedem Gaftmahl. Man muß dabei aber einen 
großen Unterfchied machen zwijchen den gewöhnlihen Schma— 
ro tzern, welche für ein guted Gericht und eine ledere Bewirthung 
fi) zur Zieljcheibe des ausgelafjenften Spotted madyen oder ſich 
die ſchmachvollſte Behandlung vom Wirth und feinen Gäften ge- 
fallen und zu jeder Dienitleiltung benugen ließen, und den 
Witzbolden oder Hofnarren, deren treffende Bemerkungen 
und artige Bonmots jelbit aufbewahrt zu werden pflegten. Eine 
wunderbare Abart diefer Leute waren die f. g. Tugend» 
ſchwätzer, philoſophiſche Schwätzer, voller Aufichneidereien 
und Schwänke, welche ein Gewerbe daraus machten, bei den 
Gaſtmählern der Reihen von ihren Tugenden und Thaten hoch— 
tönende Bejchreibungen zu machen, denen ihr Leben völlig 
widerjprach ?'). 

Wir fommen num zum zweiten und legten Theile unjerer 
Abhandlung, nämlidy zu den 

Getränken. 

Zu derjelben Zeit, alö die zahlreichen ausländiichen Delifa- 
tejjen, von denen wir oben geſprochen haben, in Rom anfingen 
geihäßt zu werden, da fam mit den pontiſchen Sardellen auch 
der feurige griehijche Wein. Catos Rezept, dem gewöhn- 
lihen italiſchen Landwein mittelft Salzlafe den Geſchmack des 
fotichen zu geben, wird den römiſchen MWeinhändlern Ichwerlich 
Abbruch gethan haben. Kato jelbft trank freilich feinen andern 
Wein als jeine Knechte; auch konnte er fich rühmen, als er von 
Spanien zum Triumph zurüdfehrte, unterwegs denjelben Wein 
mit den Matrojen genoſſen zu haben. Seine Zeitgenofjen aber 
wuhten neben den feineren italilhen Sorten den überjeeilchen 
vor allen den griechiichen Wein jehr zu ſchätzen; jedoch blieb, 
ald auch die beijeren unteritaliihen Sorten in Rom Eingang 
gefunden hatten, der Verkaufspreis des griechiichen Weines der 
Kontrolle der Genjoren und Aedilen, aljo der Polizei unterworfen. 


Darum jegte man jeinen Gäften audy nur einen einzelnen Trunk 
(857) 


30 





von ſolchem ausländiſchen Wein vor, gerade wie bei uns nach 
der Suppe ein magenftärfender Südwein gereicht zu werden pflegt. 

Erft der auch hierin übertreibende Luxus brachte andere 
Perbhältniffe zu Tage, wie denn Lufullus mehr ald 100 000 Fat 
unter dad Volk vertheilte, der Redner Hortenfiud aber 10 000 
Faß griehiihen Weines jeinen Erben hinterließ... Auch Cäfar 
gab bei einem Triumphſchmauſe den Falerner- und Chierwein 
den einzelnen Tiſchgeſellſchaften faßweiſe; edlere Weine aber, als 
dieſe und höchſtens noch den Gäfuber, fannte man nicht 2°). 

Wir jahen jchon, wie das alte ehrbare Singen und Sagen 
der Gäfte und ihrer Knaben durch die afiatiichen Harfeniftinnen 
verdrängt wurde. Bid dahin hatte man in Rom wohl bei der 
Mahlzeit tapfer getrunfen, aber eigentlihe ZTrinfgelage nicht 
gekannt; jet fam das förmliche Kneipen in Schwung, wobei 
der Wein wenig oder gar nicht gemijcht und aus großen Bechern 
getrunken ward und das Bortrinfen, geradezu Griechiſch— 
trinfen genannt, mit obligater Nachfolge regierte. 

In Unteritalien beftand der Weinbau jchon vor der Kolo: 
nilation der Griechen, gleihwohl war der Wein in Rom jeit 
den älteften Zeiten zuerit als Lurusartifel in bejchränftem Ge— 
braudy, und jelbit ald Campanien in römiſchen Beli fam, war 
der dortige Wein doch noch ganz ded Ruhmes bar, den er 
jpäter erlangt hat. Weder Plautus nody Kato Fennen den 
Falerner, jondern der eritere rühmt den Wein von Yeufas, 
Lesbos, Thaſos, Kos und Chios, der leßtere macht griechijchen 
Mein und namentlidy koiſchen nad einem Recept aus ein- 
heimiſchen Sorten??). 

Auch die Aerzte bedienen ſich zu ihren Kuren im diejer 
Zeit nur griechiicher Meine ?*); am jdylagendften aber beweijen 
den Gebraudy überjeeiicher Weine die 23 rhodiſchen MWeinfrüge 
welche man in Präneite, dem heutigen Paleftrina, gefunden 
hat?s). Im dem berühmten Weinjahre des Konfuld Opimius 
121 v. Chr. (= 633 d. ©t.), waren die überjeeiihen Weine 


(388) 


31 


nod fait allein in Geltung, und erit jpätere Zeiten würdigten 
die einheimiichen Sorten diejes Jahrgangs“«). Da änderten 
fih die Berhältniffe total um, denn ald es gelungen war, durd) 
große Aufmerkjamfeit und Sorgfalt beim Weinbau eine Anzahl 
italiicher, namentlich kampaniſcher Sorten zu den erften Meinen 
des Erdfreiied zu machen??), da eröffnete ſich diefen Weinen 
im ganzen römijdyen Reiche, wozu ja Griechenland auch ge: 
börte, ein ergiebiger Abiaß, der bis nad Imdien fortgeführt 
wurde. 

In Latium war freilich der Weinbau ſtets unbedeutend, 
um jo blübhender aber in Unteritalien: erit ald die Römer 
diefen unteritalifchen und den überſeeiſchen griechiichen Wein 
fennen gelernt hatten, vervollfommneten fie die Weinkultur ſo— 
wohl durch fremde Neben als audy durch befiere Behandlung; 
nod heutzutage wählt am Veſuv unter den drei Sorten neben 
dem berühmten Lacrimae Chriſti der Griechenwein (vino 
Greco). Da nun die Handeldbeziehungen, welche der Verkauf 
unteritaliichen Weines nad) Rom hervorrief, jedenfalld in ihrer 
Art auch Kultureinflüfje ſeitens der griechifchen Kolonien mit 
fidy brachten, jo wollen wir, ehe wir die griechiichen Weine 
bier aufzählen, eine kurze Ueberſicht der erfteren geben, jomeit 
fie aus griechiichen Kolonien ftammten. 

Unter den lukaniſchen Weinen hatten einen bejonderen 
Ruf die Weine von Burentum und Thurii; unter den 
bruttiihen: Rhegium; fonft nody in Unteritalien: Tarent 
fowie das dabeiliegende Aulon. Unter den ſiciliſchen endlich: 
Zauromenium und Syrafuß?®). 

Die gangbarften überfeeiihen Weine ftammten, in geo— 
graphiicher Drdnung aufgeitellt, zunächft von der Injel Iſſa (jeßt 
Liſſa) an der dalmatifchen Küfte, von Korfyra (jeßt Korfu), 
Leufas (Santa Maura), Zakynthos (Zante), Ambrafia 
(Arta) in Korinthiergebiet. In der Peloponnes die Weine 
von Sifyon, Phlius und Korinth (die Weine von Sparta, 


(339) 


32 





Arkadien, Argos und Achaja waren zu römijcher Zeit unbedeuten- 
der); aus Attifa fam nur ein fünftlicher Wein, der Goldattifer, 
aus Euboia der oretijhe und karyſtiſche Wein. &8 folgen 
die Sorten von Skiathus und Peparethuß, die halfidiichen 
von Mende und Afanthos, die thrafiiben von Maronea, 
eine Sorte, welche von Homers Zeiten an bis auf Plinius ihren 
Ruhm behauptete; ferner der Wein von Bibline und von den 
Inſeln Thaſos (jet Taſſſſo) und Lemnos (jet Stali- 
mene). Die edelften aller griechiichen Weine aber waren die 
von Lesbos (jett Metellino oder Midilly) wovon es 
3 Sorten gab, nämlidy von Mitylene, Erejjos und Me- 
thymne, jowie die von Chios, namentlich diejenigen, welche 
ohne Zufaß von Seewafler zur Verjendung kamen, wie der 
Aruifier. Sonft werden von Snjelmeinen noch anerfannt die 
von Jkaros, Mykonos, Kos, Thera und Kreta??). 

Da der älteite Verkehr der Römer mit Kleinajien jeden- 
falls ausſchließlich durch griechiſche Vermittelung ging, jo find 
wir berechtigt, die bedeutendſten kleinaſiatiſchen Weine eben— 
falls hier kurz aufzuführen. Beſonders berühmt waren: der 
myſiſche Wein von Lampſakos, der hippodamanteiſche von 
Kyzikos, der Perperiner und Tibener aus der Gegend von 
Pergamon, der Ägeatiihe von Myrine, dann der überall 
befannte bithyniiche von Nifomedia, die Lydierweine von 
Smyrna, Klazomenai, Epheſos, Magnefia, Milet und 
vom Berge Tmolos, der Phrygier-, Karier-, Lyfier-, 
Kilikier- und Kyprerwein u. |. w. 

Bon den ſyriſchen, phönikiſchen, arabijchen nnd alerandrini- 
ihen Weinen dürfen wir hier füglich abjehen; alle genannten 
Meine unterjchieden fi aber nicht nur durch ihre Herkunft, 
jondern aud durdy die Methode der Bereitung und Veredelung. 
Te nachdem dem Moſte Gips, Thon, Kalk, Marmor oder Harz 


und Pech oder endlich, bejonders in Kleinafien und Griechenland, 
(390) 


33 


Seewaſſer zugejeßt wurde, entwidelte fidh der Wein in bejonderer 
Weiſe. 

Von großer Wichtigkeit für uns iſt das pompejaniſche Wand⸗ 
gemälde aus dem Innern einer Weinſchenke?0). Auf einem 
Leiterwagen, defjen Dbergeftell viel Aehnlichkeit mit dem einer 
Kibitfe hat, ruht der gewaltige Weinſchlauch. Sein Hals, durch 
welchen der Wein eingefüllt worden ift, ift feit zufammengefchnürt, 
während zwei junge Leute am hinteren Ende ded Wagens be- 
Ihäftigt find, den Wein vermittelit der aud dem Beine des 
Selles gebildeten Röhre in Weinfrüge abzuzapfen. Die Han— 
tierung der Männer, ſowie die halbabgejchirrten Pferde find fo 
glücklich aufgefaßt, dab dieſes Genrebild nebenbei auch vollfommen 
geeignet ift, ung eine altrömiiche Marfticene zu vergegenwärtigen. 

Daß man aljo in Italien Schläudye nach griechiſchem und 
orientaliihem Mufter brauchte, ift bewiejen, aber die Art der 
Verwendung ift eine verjchiedene. Denn während Griedyen und 
Drientalen den Moft in Schläuche brachten, in weldyen der Waller: 
gehalt verdunftete, der Weingehalt ſich aber concentrirte, haben 
die Römer Schläuche doch wohl nur zum vorübergehenden Trans- 
port angewandt, nicht aber zur Aufbewahrung. Anderjeitö aber 
haben die Römer höchſt wahrjcheinlich von den Griechen gelernt, 
dad Reifwerden ihrer Weine durch Wärme zu bejchleunigen, wie 
ja auch heute nody die meiften jüdlichen Weine erft in höherem 
Alter ihre volle Reife erlangen. Man ſetzte den jungen Wein 
entweder der Sonne aud oder ftellte ihn in Raudyfammern auf, 
ebe er in dem Kellern gelagert wurde 1). 

In Arkadien und im Drient räuderte man den Wein in 
Schläuchen, wie Ariftoteled und wohl aud der Pfalmift be- 
weijen; der griechiiche Arzt Galen, 131 n. Chr. geb., beichreibt 
und die Einrichtung der Rauchfammern 3?), in welchen der Wein 
in Krügen ftand, und fügt hinzu, daß aud der Wein von 


xVvul 417. 5 (391) 


34 


Neapel, namentlich der triphulliniiche, und viele andere italifche 
Weine geräuchert würden, 

Neben diejen natürlihen Weinen fannte man auch im 
Alterthume jchon eine ganze Anzahl von fünftlihen, unter 
welchen wir die reinen Weinfabrifate, die Honigweine, 
die gewürzten Weine und die Dbftweine untericheiden. 

So wurde der Moft bis auf zwei Drittel eingekocht; be- 
fonderd berühmt war der mäoniſche Kochmoſt. Honigge- 
tränfe madte man aus Süß- und Salzwaſſer mit Honig, aber 
auch Dbft ſetzte man dem Honig zu und gewann auf dieſe 
Weiſe ein neued Getränf. Sehr wichtig waren aber die ge- 
würzten Weine, welde in mehr als 50 Sorten genannt 
werden; fie vertraten die Stelle unjerer Yiqueure und wurden von 
Kräutern, Blumen oder wohlriehenden Holzarten entweder ein- 
fady abgezogen oder mit Delen angemadt, ja wohl auch nad) 
complicirteren Recepten verfertigt. 

Zu den einfachen Abzügen gehörten der Yſopwein, der 
MWermuthwein, der Thymianwein, der Poleiwein, der 
Stabwurzwein, der Fenchelwein, der Meerzwiebelwein, 
der QDuendelwein, der Nardenwein und der Myrtenwein 
ſowie die mit Zimmtöl, Pfeffer u. dgl. m. angemachten Weine. 

Bon DObftweinen endlich waren die gewöhnlichften Aepfelr, 
Granatäpfel-, Birnen», Dattel-, Feigen- und Maul» 
beerweine, den Sohannisbrotwein nicht zu vergefien. 

Auch ein bierähnlihes Fabrikat fannte das römijche 
Alterthbum; es jcheint diefes Bier aber nur in gemiljen Pro- 
vinzen umd nicht in Stalien genofjen worden zu jein. Diejer 
Gerſtentrank (zythum) war ſchon jehr früh bei den Aeguptern 
im Gebrauch; auch in dem erft jeit der macedonijch- griechiſchen 
Zeit beitehenden und von jehr gemilchter Bevölkerung bewohnten 
Alerandrien genoß die Menge zu Strabo8 Zeit (aljo in der 


zweiten Hälfte des lebten Sahrhundert3 vor Chr.) meift jenes 
(392) 


35 


altägyptiihe Getränf. Bon dem römiichen Provinzen war 
Spanien ein bejondered Bierland, wofelbft man das Gerften- 
produft durch Alter wohl gar zu veredeln verftand, für jene 
Gegenden wegen ded warmen Klimas doppelt jchwierig. 

Dad berühmte Edikt Diokletiand über die Marimalpreije 
aller Waaren vom Ende d. J. 301 n. Chr. unterfcheidet zwiſchen 
zwei Bierarten (zythum und cerevisia) und jeßt vom erften 
den Sertarius (etwa 4 Duart) zu 2, vom zweiten zu 4 Denaren 
(1 Denar ungefähr = 65 bis 70 Pfennig) an. Merkwürdiger 
Weije jtellte fich in jenen Zeiten dafjelbe Preis verhältniß zwiſchen 
Wein und Bier heraus, wie wir ed heutzutage im Durchichnitt 
vorfinden, denn der Sertarius vom Landwein war durdy das 
genannte Edit auf 8 Denare, von den feineren Sorten auf 
24—30 Denare feitgefeßt worden. Dad obige Verhältniß der 
beiden genannten Bierforten fönnen wir audy derart vergleichen, 
dab das feltiiche Bier fi zum gewöhnlichen Gerftentranfe ver- 
hielt wie unjer fogenanntes bayriſches, jchw ered Bier zum ein» 
heimiſchen, leihtern ?3). 

Wir haben oben ſchon gejehen, dat die Römer ihren Wein 
nicht in Schläuchen lagern ließen; er blieb aber audy nicht, wie 
dies in Gallien geihah, in hölzernen Fäffern, jondern in thönernen 
Stüdfäffern, melde jo groß waren, daß ein Mann bequem darin 
Pla hatte. Aus diejen Stüdfälfern füllte man den Wein zum 
Zweck des Verbrauchs und Verkaufs in die eigentlichen Wein- 
früge; nur junger Wein wurde gleich aus dem Faß getrunfen, 
auch die fünftlihen Weine wurden in Krügen aufbewahrt, wie 
und dies ausdrücklich überliefert ift?*). Nachdem die Krüge mit 
ZThonpfropfen verjchloffen waren, wurden fie ſowohl mit Pech 
oder Lehm ald auch mit Gips verklebt; die leßtere Manipulation 
war jedenfalld die jauberere. Die Etiquette wurde entweder auf 
die Amphora jelbft gejchrieben oder aber auf einem Zettel oder 
ZTäfelhen angebracht, deffen Name unverkennbar auf griechiſches 


3* (393) 


— 86 
Muſter weift 5). Die pompejaniſchen Ausgrabungen haben ver: 
ichiedene Weinkrüge zu Tage gebradt, auf welchen die ver: 
Ichiedenen Angaben — Sorte, Jahrgang, Maß des Kruged und 
wohl auch noch die Firma des Lieferanten — verzeichnet ftehen. 

Dat der Preid des Weines in der älteren Zeit in Griechen 
land ſowohl ald aud) in Stalien ein geringer gemwejen jein muß, 
geht unter anderem aus der Thatſache hervor, daß man im 
Fahre 250 vor Ehr. (504 d. St.) den Congius, aljo beinahe 
3 QDuart, für 1 As (damald ungefähr = 17,5 Pf.) kaufen 
fonnte. Natürlich) erzielten ältere Weine höhere Preife; waren 
fie zugleich edel, jogar recht beträchtliche. Zu Sofrates’ Zeit 
foftete in Athen der Metreted Chierwein eine Mine?‘), das 
Quart aljo etwa 1,66 Mark; wieviel theurer mußte diejer Wein 
num in Rom jein, wo ja jchon Falerner zu trinfen für großen 
Luxus galt, um fo mehr, ald man bei ven alten Weinen die 
Zinjen ded Kapitald berechnete. 

Sm hohen Grade aber äußerte ſich der Einfluß der Griechen» 
fitten auf die Zechgelage der Römer. Nannten dieje dody die 
durch lebhaften Genuß feurigen Rebenſaftes gefteigerte frohe 
Stimmung, die Heinen Ertravaganzen derjelben miteingejchloffen, 
mit einem griechifchen Lehnworte, welches fie ſich erſt jelbititändig 
aus dem griechiſchen Begriff des „Luftichwärmend“ gebildet 
batten3?). Während der eigentlihen Mahlzeit tranf man im 
allgemeinen mäßig, häufig folgte aber derjelben ein bejonderes 
Trinkgelage nach, bei welchem das Abftumpfen ded Geſchmacks 
für die Feinheit der Speiien nicht mehr zu befürdten war. 
Mit befränztem Haupt und Unterförper lagerten ſich die Zrinf- 
genofjen nad) dem Abtragen der Speijen um den Tiſch; ein 
König ded Gelaged ward durdy Würfelmurf — der jog. Benus- 
mwurf, der befte, entſchied — gewählt, dem genau die Funktionen 
des griechiſchen Vorbildes zuerfannt wurden; tranf man nun 
nod dazu nach „griechiicher Sitte“, jo entſprach das ganze Ge- 


(394) 


37 


lage völlig dem Sympofion der Griechen. Sie begannen erft 
jpät am Tage und murden darum häufig tief in die Nacht 
hinein gehalten, wobei es dann oft jehr laut, ja geradezu wild 
und höchſt auögelafjen zugehen mochte. Kein Wunder daber, 
daß dieſe Gelage nad griechiſchem Mufter in Rom nicht im 
beiten Rufe ftanden, dab man damit jchließlich den Begriff aller 
Unordnung und Ausjchweifung verband. 

Der Grammatiker und Sophift Athenaios berichtet 3?) über 
die frühe griechiiche Sitte, Kränge beim ZTrinfgelage zu ver- 
wenden, weldye man an Stelle der Binden um den Kopf, jeden» 
falld gegen die Wirkungen ded Weines, getragen habe. Es ift 
aber nicht gut möglidy, auch nur die Epoche angeben zu wollen, 
wann dieſer Gebraud in Rom aufgefommen jei; aber Blinius 
belehrt und in den eriten 4 Kapiteln des 21. Buches feiner 
Encyklopädie, daß jchon zur Zeit deö zweiten puniſchen Krieges 
Kränze jelbit aus Roſen getragen wurden, wenn auch nur die 
vertrauten Wände des Trikliniums Zeugen dieſes unſchuldigen, 
aber mit dem Ernite des Mannes, wie man meinte, nicht vers 
träglihen Schmudes waren, und es nicht nur tadelnämwerth, 
fondern in hohem Grade ftrafwürdig erjchien, wenn man fich 
damit auch nur zufällig öffentlich zeigte. Um zu jeder Jahres— 
zeit den nöthigen Blumenflor zu haben, ahmte man die natür- 
lihen Blumen aus fünftlihhen Stoffen nad, bejonderd wenn 
der Winter und jelbft das Treibhaus troß ded großartigen Auf⸗ 
wandes die vorzeitige Blüthe verweigerte. Aber der Luxus 
blieb nicht bei diejen, aus dünnen, buntgefärbten Hornblättchen 
verfertigten Blumen ftehen, jondern man verfertigte mit großem 
Prunf koſtbare Kränze An jolden Kränzen, wo Blatt über 
Blatt lag, oder Roje an Roje ſaß, wie man fie häufig auch an 
Denkmälern fand, mögen die Blätter oder Rojen wohl auf ein 
Band oder einen Streifen Baft geheftet geweſen jein. Es ent- 
jprady wohl aud dem griechiſchen Vorbilde, die Kränze erit 


(395) 


38 


beim Nachtiſch zu vertheilen; gleichzeitig wurden Salben ver- 
abreicht, wie denn auch der Dichter Horaz von Rojenfränzen 
und Narbdenfalbe jhwärmt?8); ferner ift bei demjelben Dichter 
die Rede von Eppich- und Morten», jowie von Eppid und 
Epheufrängen u. a. m. 

Wir erwähnten bereits flüchtig dad „Irinfen nad) griechijcher 
Sitte". Die Spartaner allein ausgenommen, tranfen Die 
Griechen den Becher einem anderen zu, wodurch fie ihn auf- 
forderten, denjelben zu leeren; dabei wurde der Name deſſen ge— 
nannt, dem man den Becher gab. Natürlidy mußte eine folche 
Sitte, oder vielmehr Unfitte, um jo mehr die Unmäßigkeit be- 
fördern, als ohnehin ſchon häufig gegenfeitige Aufforderungen 
zum fleibigen Trinken ftattfanden, man überdied aber den Wein 
mit weniger Waſſer vermijcht genoß und zu diefem Behufe bie 
fleineren Becher mit größeren Pokalen vertauſchte. Horaz*°) 
erzählt von dem Leeren ded Becherd auf einen Zug, dem Herunter- 
gießen des Weines nad thrafiicher Sitte, wobei man, ohne die 
Lippen nur einmal zu ſchließen, fich den Wein in den Mund 
goß: eine barbarifche Sitte, die aber unmwillfürlid an mittel» 
alterliche Zechgebräuche gemahnt, wo ftarfe Reden auf ihren 
Burgen volle Riefenhumpen mit einem Zuge leerten, ja wohl 
gar den gewaltigen Reiterftiefel füllten und auötranfen. 

Merkwürdiger Weife begann bei und mit dem 16. Jahr: 
hundert der Wein gegen früher mehr in dem Hintergrund zu 
treten; die Zeiten von 1426, wo in Württemberg ein Cimer 
alten Weined 13 Kreuzer foftete, und von 1539, woher der 
Spruch ftammt: 

„Zaufendfünfhundertdreißigundneun“ 

„Salten die Fäfjer mehr ald der Wein“, 
waren vorüber, und die Weine, befonderd bort, wo die eigent- 
lihen Weingegenden ferner lagen, nicht jo billig als das wieder 


in vortreffliher Dualität vorfommende Bier. Freilich wurden 
(396) 


39 


auch zu und audländifche Weine jehr ftarf importirt, befonders 
franzöfijche, doch auch italienifche und ſpaniſche. Von den deut- 
ſchen Weinen trank man am liebften diejenigen aus Schwaben, 
Franken, Bayern, aus Württemberg und von den oberen Rhein 
gegenden; öftreichiiche und fteiriiche Weine hatten einen weit- 
bin reichenden Ruf. Aber jchon 1487 erſchien eine Weinordnung, 
welche dad Schwefeln der Weine, aljo ihre Fälſchung verbot, 
Beweis dafür, dab das echte Getränf ftarf verbraudyt wurde, 
jodaß man zu Hülfsmitteln feine Zuflucht zu nehmen ges 
nöthigt war. 

Zedenfalld nahmen ed die „antiken Zecher” mit Jedermann 
auf; wißig und euphemiftiich drückt fich der Satirifer Petronius 
aud, wenn er ein ſolches Durchzechen mit „ich beneße den 
Mond“ bezeichnett!). Doch that's nicht jede Sorte, ed mußte 
ſchon ein „guter“ fein, dem man joldye Anftrengung entgegen» 
brachte, deshalb jpritte man, wie bei unjeren Weinproben, den 
Wein durdy die Lippen, um jeinen Gejchmad vorher ordentlich 
zu prüfen. 

Und ift ed nicht bezeichnend und interefjant, daß der Römer 
jogar jeinen richtigen Rauſch“?) mit griehifhem Namen 
bezeichnet hat? — von Chiragra und Podagra, dem garftigen 
Zipperlein in Arm und Bein, hier ganz zu jchweigen. 

Da ed aljo ſtets auf ftarfed Trinken bei den Trinkgelagen 
abgejehen war, jo mijchte man, wie died im ganzen Alterthum 
gewöhnlidy war, den Wein zunähft noch mit Wafler, und zwar 
in der Regel mit warmem, was dir Gejundheit zuträglidyer er- 
achtet und alten Leuten, ſowie Kranken immer empfohlen wurde. 
Die Miſchung ließ man ſich ſonſt im eigenen Becher machen, 
indem man fi) Waller, warmes oder kaltes, nach Belieben 
eingießen lief. Denn viele liebten dad Gemiſch aud) kalt und 
tranfen entweder Wein mit Eis oder fühlten das Getränk in 


faltem Wafjer, indem fie Wein und Wafler in einen Brunnen 
(397) 


40 


oder in ein Kühlgefäß ſetzen ließen, und zwar pflegte man nad 
einer Erfindung des Nero dad Waſſer, um ed vollflommen rein 
zu haben, erjt zu kochen, dann zu fühlen. 

Beim Trinfgelage aber wurde die Miſchung nicht in den 
einzelnen Becyern, jondern in einem Mijchfruge gemacht, in den 
man zuerft den Wein eingoß und dann dad Waſſer hinzuthat. 
Der hierzu nöthige Apparat war ein dreifacher: der Miſchkrug 
jelbft, der Unterfaß dazu und der darauf liegende fiebartige 
Trichter, deffen man fi) auch beim Abfüllen ded Weines be- 
diente, und durch den man den Wein nochmald goß, um ihn 
von dem Bodenſatze zu reinigen und ihn dadurch zugleich milder 
zu maden. Auf den Trichter fonnte man auch das Eiö legen, 
wenn man falt trinfen wollte, und den Wein darüber eingiehen. 
Geſchöpft und in die Becher gegofjen wurde die Miſchung mit 
einem Schöpflöffel, der ungefähr 4'/, Gentiliter enthielt. Das 
Charakteriſtiſche des Trinkgelages war nun, daß man eine be- 
ftimmte Anzahl Becher von je 4'/, Gentiliter Inhalt auf einmal 
austrank. Es ift nicht nöthig anzunehmen, daß die größeren 
Becher, welche man zu diejem Zwede brauchte, und die möglicher 
Meije einen halben Kiter enthalten mochten, etwa durch Kreife 
in 12 Theile getheilt waren, in der Art, wie der jchon genannte 
Galen dies bei einem Delhorn erwähnt*?), denn man hatte ja 
dad Maß an dem Schöpflöffel, mit welchem man einjcyenfte; 
wohl aber tranf man wirklich eine beſtimmte Anzahl Becher. 
Es kommt namentlidy vor, daß 1—11 joldyer Becher auf einmal 
geleert wurden, und zwar trank man mit diefen Maßen ent- 
weder einem Anderen zu, dem man den Humpen binreichte, 
worauf jener ihn dann ganz leeren mußte, oder man brachte 
einen Trinkſpruch oder eine Gejundheit aus, bei welcher joviel 
Becher erfordert wurden, ald der Name der gefeierten Perjon 
Buchſtaben enthielt; hauptſächlich kam ed immer darauf an, in 


einem Zuge und ohne abzujegen den Becher fo zu leeren, daß 
(398) 


— — 


kein Tropfen zurück blieb. Beim Ausbringen der Geſundheit 
waren Formeln gebräuchlich wie: 

„Dein Wohl!“ — „Du ſollſt leben!“ — 
welche auch auf griechiſch vorkamen“); auch gab ed wohl noch 
manchen anderen Spruch, den wir noch auf Trinkbechern ſelbſt 
erhalten ſehen. — 

Hieß nun auch dieſes Verhalten beim römiſchen Trinkgelage 
„griechiſche Sitte”, jo war es doc ſehr verſchieden von den 
allerdings auch finnlihen und oft auögelaffenen Freuden des 
griechiſchen Mahles; es fehlen vor allem in Rom die geiftigen 
Genüfje, welche die griechiiche Gejelligfeit während der Blüthe- 
zeit außzeichneten. Seit dem Jahre 187 (567 d. St.) war der 
afiatiſche Luxus durdy das Heer ded En. Manlius nad Stalien 
verpflanzt worden*>°); immer mehr nahmen WVöllerei und Ge- 
nußſucht überhand, welche alle Freude an geiftiger Anregung 
ertödteien. In Griechenland war das Gelage lediglich ein Ver— 
gnügen der Männer gewejen, dem nur Hetären beimohnen 
durften; in Rom aber, wo die Schwelgerei dad ganze Haus 
ergriffen hatte, waren Frau und Kinder bei den Gelagen gegen- 
wärtig und hörten und jahen, worüber fie hätten erröthen 
jollen*®). Die Exceſſe, weldhe bei ſolchen Mahlzeiten vorfamen, 
gipfelten jchließlih in Schlägereien, bei welchen man fidy die 
Köpfe einſchlug und auch wohl Finger und Naſen abbiß; die 
Kinder jahen ihre Väter in dem Zuftande finnlojer Trunfenheit, 
von den Sklaven aber wird und berichtet, daß fie ladyend zu— 
geſchaut und die Kämpfenden unterftügt hätten. Was war 
aus der Würde ded Haudheren, was aus der jtolzen Strenge 
der Hausfrau geworden? Die Zucht der Kinder und Sklaven 
war verloren, und dad Leben der Familie hatte jeden fittlichen 
Halt eingebüßt. Das waren jhlimme Folgen, aber nur zum 
Theil griechiſchen Einflufjes, denn für die ganze Entfittlihung 
Roms darf Hellad nicht verantwortlich gemacht werden. 

(399) 


a. 


Mir würden unfere Betrachtungen über Küche und Keller 
in Alt-Rom bier abſchließen fünnen, wenn wir nicht nody ein 
Gebiet zu erledigen hätten, welches eng dazu gehört, nämlidy 
die Geſellſchaftsſpiele. 

Wohl waren die römijchen Gelage in vieler Beziehung den 
griechiſchen ähnlich; hinfichtlich der Unterhaltung aber bei Tifche 
verhielten fidy die Römer paffiver und ergößten ſich lieber an 
den Borftellungen von Muſikern, Zänzern, Schauſpielern, 
Gauflern und Gladiatoren, ald daß fie fidy den Nachtiſch wie 
überhaupt die Muße des Lebens durch heitere Gejellichaftsipiele 
und angenehme Gejprädye erheiterten. 

Für den alten Römer galt der Sat des Seneca: 

„Dem Thatkräftigen it Muße eine Strafe", 
ein Sat, den ſchon der Dichter Pafupius zum Ausdrud 
brachte: 

„Ich baffe die Leute mit träger That und ſpekulativem 
Kopfe." 

Am bezeichnendften ift ed aber wohl, wenn Cicero geradezu 
von „griehifher Muße“ fpricht* 7). 

Wie wenig die Römer ihre Muße auszunußen verftanden, 
zeigt aud) eine Aeußerung des Ennius: 

„Sa mußevoller Muße weiß der Geift nicht, was er will.“ 

So möchte man denn geneigt fein, den Römern Zalent 
für heiteren Lebensgenuß und volksmäßige Xebendfreude ebenjo 
abzufjprechen, wie die Fähigkeit, ihre Mußezeit wiſſenſchaftlich 
audzubeuten, wenn nicht wenigſtens eine allgemeine fichere Ueber- 
lieferung von alter Feitfreude an Tanz, Gejang und Spiel vor- 
handen gewejen wäre. Im erhöhter Stimmung aber gewannen 
unter den gejelligen Spielen die die Leidenſchaften reizenden 
Glüd» und Brettjpiele bejondere Bedeutung. Allmählich 
nahm 3. B. das Würfelfpiel geradezu ſolche Verhältniſſe an, 


(400) 


43 


dab die Gejebgebung ed nöthig fand, dagegen energiſch einzu— 
jchreiten. 

So war denn aud für Rom die Zeit gefommen, wo der 
alte Ernft in dem Grade jhwand, daß man nicht nur in-müßigen 
Stunden eine angenehme Unterhaltung juchte, jondern auch der 
betrüglidhen Hoffnung auf Gewinn mit derjelben Leidenichaftlich- 
feit fich überließ, ald e8 nur irgend an den grünen Tiſchen in 
unſeren Spielhöllen geſchehen ift und ja leider noch geichieht. 
Das Hazardipiel war, wenn auch ald etwas des ernften und ver» 
ftändigen Mannes Unwürdiges angejehen, nichtödejtomweniger in 
Rom zur verderblidhften Sucht geworden, und alle Strenge 
wiederholter gejegliher Beitimmungen konnte, wie natürlich, 
nicht verhindern, dab im Geheimen das verführeriihe Würfele 
ipiel vieler Glüd und Vermögen zu Grunde richtete. 

Außer diejem verwerflichiten und zugleich beliebteften Spiele 
gab es aber noch viele andere, unfchuldigere, bei denen der 
Erfolg ganz oder theilweife von der Gefchidlichfeit der Spielen- 
den abhing, wie bei dem modernen Schady und anderen Brett- 
ipielen. 

Schon in Aliyrien und Megypten*®) war das harmloje 
MWürfelipiel ſehr beliebt gewefen; Griechenland folgte nach umd 
gab Rom eine ganze Anzahl von Neuerungen auch auf diejem 
Gebiete ab. Schon der Luitipieldichter Terenz erwähnt Die 
vieredige Holzplatte zum Spielen*?); ed waren nicht, wie 
bei und 6, jondern nur 4 Flächen mit Ziffern bededt. Gemöhn- 
lich gebrauchte man 2 oder 3 foldher Würfel zum Spiel, dieſe 
wurden aber, um Betrug zu vermeiden, in einen Becher von 
Horn, Buchsbaum, Elfenbein u. dgl. mehr gejchüttet. 

Bon Brettjpielen erwähnen wir bier nur mod) zwei, 
dad Soldaten» oder Belagerungdfpiel und das Zwölf- 
linienſpiel, lebtered halb wieder ein Glüdipiel, unſerem Puff- 
ipiel etwa entiprechend. Zu beiden Spielen brauchte man fleine 

(401) 


44 


Figuren aus Glas, Edelitein, Elfenbein oder Wachd, deren jede 
Partei verichiedenfarbige hatte, nämlich) die eine weiße, Die 
andere ſchwarze. Beim Belagerungdipiel unterjhied man 
Bauern und Dffiziered°); die Figuren bewegten fidy theild in 
gerader Richtung, theild fpringend. Der Spieler hatte darauf 
auszugehen, die feindlihen Figuren entweder zu fchlagen, wes— 
halb jede Figur einer Dedung bedurfte, oder fie feſtzuſetzen; 
zulegt wurde der Sieger König und hatte um fo mehr Ruhm, 
je weniger Steine er verloren hatte, während der Befiegte 
zulegt matt wurde, jo daß er nicht mehr ziehen Fonnte. 

Beim Zwölflinienjpiel war die Tafel mit 12 Linien be- 
zeichnet, auf welchen die Steine gerücdt wurden; durch geſchicktes 
Spiel konnte jemand den Nachtheil ded Wurfes einigermaßen 
audgleichen. Auf bderjelben Theorie beruhte das griechijche 
Fünflinienfpiel, bei welchem die Tafel 5 Linien hatte, die 
wahrſcheinlich durch eine jechfte Linie, die heilige Linie, in der 
Mitte durchſchnitten wurden; hierbei jpielte man mit 5 Steinen. 
Auf einem ägyptiſchen Papyrud im Britiihen Mufeum’!) 
Ipielen Löwe und Haſe diejes Brettipiel. Jeder fiht auf einem 
Stuhl, zwiſchen ihnen fteht ein Tiſch mit einem Spielbrett. 
Seder hat 5 hohe Figuren; der Löwe, welcher gewonnen hat, 
hebt mit der rechten Tate eine Figur und mit der linfen einen 
Beutel Geld in die Höhe, offenbar den Einſatz des Spieles. 

Auch das griechiſche „Gerade oder Ungerade* hatte fidy bei 
den Römern unter einheimijhem Namen (par impar) bald 
beliebt gemacht. 

Schließlidy gedenken wir bier nody des Kottabod. Died 
war ein Gefellihaftsipiel, welches aus Sicilien nad) Griechen- 
land und Italien gefommen fein fol und darin beftand, daß 
man die Neige Weined im Becher, aus dem man getrunfen, 
tropfenweife oder mit einem Wurfe in ein metallened Gefäß 


ſchwenkte und dabei an einen geliebten Gegenftand dachte, auch 
(402) 


— 


deſſen Namen ausſprach. Aus dem Klange ſchloß der Liebende 
auf die Zuneigung des geliebten Gegenſtandes, wobei es beſonders 
darauf ankam, die Neige Weines ſo geſchickt zu ſchleudern, daß 
fein Tropfen vorbeifiel, ſondern das Ganze, in dad Becken 
fallend, einen reinen und vollen Ton gab. Bildlich und ſcherz— 
haft ſpricht ſchon der Luftipieldichter Plautus®?) von diejem 
klatſchenden Schlage: 

„Daß es bei dir nur nicht mit dem Ochſenziemer Flatjch! 
Hatich! gehe!“ 

Wir aber nehmen von unjerm freundlichen Lejer hiermit 
Abſchied und wünſchen ihm nach jo viel, zum Theil anſtrengen— 
den Genüfjen eine 

gejegnete Mahlzeit! 


(403) 


Anmerkungen. 


1) Macrob. saturn. 3, 13, 12. — Böttiger, kleine Schriften III, 
217—226. — 

2) 39, 6. — 

3) Oleum aus Aa, comissari (xwualew), obsonium 
(&ywviov), massa (uaLa), placenta (mAaxoüvra, Acc. von mAaxoüs). 
Wegen der näheren Belege zu diefen und anderen Wörtern wolle man 
nachſehen in des Verfaſſers demnächſt erjcheinenden: „Tensaurus 
italograecus. Hiſtoriſch-kritiſches Wörterbuch ſämmtlicher griechiſcher 
Lehn- und Fremdwörter im Lateinischen. Wien, C. Gerolds Sohn.“ — 

4) Marquardt, Privatleben der Römer, ©. 292 ff. — 

5) 27, 6. — 

6) Hor. sat. 2, 4, 30 sqq. — Iuv. 4, 140 sqq. — Plin. 32, 
61 sqgq. 18, 105. — 

7) Plin. 9, 173. — Varro r. r. 3, 14. — Cels. 2, 29. — 

8) Martial. 13, 82. — 

9) R. r. 58. — 

10) Erwähnenswerth dürfte jein, daß es im Goder des 9. Jahrhdts. 
ein Kaviarrezept giebt (God. 899 der St. Galler Bibl., ſ. Mitth. d. 
Antiqu. Gef. zu Zürih XII, 9. 6). — 

Il) Melandrya aus wehavdpva, Plin. 9, 48. — 

12) Plin. 10, 133 und 134. — Nemesian. fr. 2 de aucup. 21. 
— Horat. epod. 2, 54. — Mart. 2, 37, 3. 13, 61. — Edict. 
Dioel. 4, 30. —. 

13) Plin. 10, 110. — Bgl. auch Löper, die Brieftaube. Straß- 
burg 1879. 

14) Das geift- und lichtvollite Bud, welches wir über dieje höchſt 
intereffanten Kulturfragen befigen, jtammt aus der Feder von Viktor 
Hehn: Kulturpflanzen und Hausthiere in ihrem Uebergange aus Ajien 
nad) Griechenland und Italien jowie in das übrige Europa. — 

15) Martial. 1, 21. — 

(404) 


47 


16) öls xpaußn Davaros, vgl. Iuven. 7, 154: occidit miseros 
crambe repetita magistros. — 

17) Marqu., Privatl. d. R., ©. 410. — 

18) Martial. 13, 68. — 

19) Bei Kato: enchytus, spaerita, erneum (?) und 
spira. — 

20) Senec. vit. beat. 11, 4. — Hor. a. p. 374. — Claudian. 
laud. Stilich. 2, 141. — Martial. 5, 78, 29. 9, 77, 5. — Iuven. 
11, 162. — Gell. 19, 9, 3. — Plin. ep. 1, 15, 2. — Petron. sat. 
31. 32. 33. 35. 36. 41. 47. 

21) Suet. Aug. 74. — 

22) Tibull. 2, 1, 27. — 

23) Plaut. Poen. 3, 3, 86 u. Cure. 1, 1, 79, — Cato r. r. 
24. 105. 112. — 

24) Galen. 14. p. 28. — 

25) Henzen, Bull. 1865, p. 72 ff. — 

26) Cie. Brut. 83, 287. — Mart. 1, 26, 7. 2,40, 5. 3, 82, 
24 u. õ. — 

27) Colum. 3,8. — 

28) Marqu. Privatl. ©. 433 ff. — 

29) Die gewöhnlidften Sorten des Koerweined und die übrigen 
Snjelweine waren mit Seewafjer verjegt (Plin. 14, 78). — 

30) PBanoffa, Bilder antiken Lebens, Taf. XVI, No. 2. — Museo 
Borb. IV t. A u. V. t. 48. — Guhl und Koner, Xeb. der Gr. u. R., 
©. 579. — 

31) Plin. 14, 77. 85. 

32) Arist. meteorol. 4, 10, 5. — Bjalm 119, 83 nad Luther: 
„Denn ih bin wie eine Haut in Raud, deiner Rechte vergefje ich 
nicht.“ Wörtlih: „wie ein Schlauch im Rauch.“ — Rojenmüller 
und Gejeniugs erklären die Stelle durh die mit Wein gefüllten 
Schläude, während de Wette geltend macht, daß das ganze Gleichniß 
dann matt und nichtsjagend jei: „ich bin jo räudyerig wie ꝛc.“ Man gewinne 
vielmehr erft den vollen Gedanken, wenn man an einen Schlauch denfe, 
der vor dem Gebrauhe am Feuer, reip. im Rauche getrocknet wäre, 
dann aber zujammengejchrumpft jei. — Galen. 11, 663. 14, 17 und 
19. — 

33) Der jhwanfende Werth des Denars in der jpäteren Saijerzeit 
erjhwert eine genaue Werthaufitellung und Bergleihung in unjerer 
Münze, vgl. Mommjen zu Diocl. ed. ©. 55 ff. — 

34) 3. B. Colum. 12, 33. — 


1405) 


. 48 


35) Tessera oder pittacium (rersapa oder mırraxuv), Petron. 
34 u. ſ. w. — 

36) Plutarch. anim. tranqu. 10. — 

37) Comissatio von comissari, vgl. Anm. 3. — 

38) 15. p. 674. B. — 

39) Carm. 2, 11, 13sqq. 4, 11, 1sqq. — 

30) Carm. 1, 36, 14. — 

41) 34, 7. 73, 6. — 

42) Crapula aus xpaimdAr. Leider (affen Ort und Raum eine 
Begründung diejer mehrfach angezweifelten Entlehnung nicht zu; Verf. 
wird fie an anderer Stelle geben. — 

45) Vol. XII, p. 616 K. — Hultid., Metrologie S. 92. — 

44) Inreıag! yaipe! bene tibi oder tel vivas! — 

45) Liv. 39, 6, 7. 8: tune psaltriae sambucistriaeque et 
convivaria ludorum oblectamenta addita epulis. — 

46) Philo de vita contempl. 6. — Sen. ep. 95, 20. — Iuven. 
6, 425 sqqy. — Cie. Verr. 1, 26, 66. — Lucian. conviv. 45 sqq. 
— Plut. quaest. conviv. 7,8, 4 8 4. — 

47) Sen. de prov. 2, 2. — Pacuv. ap. Gell. 3, 8 — Cic. 
or. 30, 108. — Ennius ap. Gell. 19, 10, 12. — 

48) Gerhard, ar. Zeit. VII (1849), ©. 68. — Wilkinson, 
manners and customs of the ancient Egyptians. II. p. 424. — 

49) Adelph. 739: tessera, vgl. Anm. 35. — 

50) Mandrae und latrones; die Hauptitelle über biejes Spiel 
findet fi) bei Saleius Bassus ad Pison. in Wernsd. P. L. M. IV. 
1. p. 267. v. 180 sqq. — 

51) Pollux 9, 97. 98. — Papyrus, bag. von Th. Wright, a 
history of caricature and grotesque. London, 1865. p. 8. — 

52) Trinummus 1011. 


(406) 
- Brad von Gebr. Unger (2b. Grimm) in Berlin, Schönebergerftr. 17a. 


Die Entwikelung 


der 


allgriechiſchen Heilkunde. 


Prof. Dr. 3. Hffelmann 
in Roitod. 


GH 


Berlin SW., 1883. 
Berlag von Carl Habel. 


(©. 6. Lüderity'sche Derlagsbachhandiung.) 
33. Wilhelm » Straße 33. 


Das Recht der Ueberſetzung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Die Entwidelung der altgriehiichen Heilkunde aus ihren 
Uranfängen heraus bis zu der hohen Blüthe, weldye fie inmitten 
des goldenen Zeitalterd durch den größten der Aerzte aller Fahr: 
hunderte erreichte, bietet nicht blos ein medicinijches, jondern 
auch ein allgemeined Interefje dar, weil fie mit dem ganzen 
Eulturleben ded Volkes auf's Innigfte verwebt ift. In klaren 
Zügen zeigt und die Gejchichte jener Heiltunde den Bildungdgrad 
der Nation während der verichiedenen Epochen ihrer Eutwidelung, 
dad anfängliche Dunfel, dad allmälige, aber ftetige Wachſen 
geiftiger Aufklärung und endlich den glänzenden Triumph der 
auf die Wahrheit gerichteten Forſchung über die Mythe, den 
Aberglauben und die Speculation. Nicht minder deutlich lehrt 
fie, daß mit jedem Fortjchritt der allgemeinen Bildung im alten 
Griechenland ein ſolcher der Heilfunde Hand in Hand ging. 
Die Geſchichte der letzteren iſt afo ein Stüd der Kulturgeſchichte 
und verdient aus diefem Grunde vollfte Beadhtung von Seiten 
jedes Gebildeten. Dazu fommt, daß fie dad getreuefte Bild des 
Entwidlungsganges bietet, den die Medicin überhaupt ein- 
geichlagen hat, und diejen fennen zu lernen, dürfte auch den 
Nichtarzt interejfiren.!) 

Wie die Uranfänge jeder Wilfenichaft, jo laffen ſich audı 
diejenigen der Heilfunde nur jchwierig auffpüren, da der Kaden, 
den die beglaubigte Geſchichte und zeigt, im Dunkel von Mythen 
aller Art fich verliert. Welches Volkes Geſchichte wir aber auch 


XVII. 418. 1* (409) 


4 


ftudiren mögen, immer finden wir felbft in den Sagen über die 
erften Helfer in Krankheiten das Nämliche wieder. Der kindliche 
Sinn ded Bolfed in jeinem Urzuftande forjcht noch nidyt nach 
den Urſachen der Gejundheitsftörung, nicht nad) den Bedingungen 
der Heilung. Diefe, wie jene, ift ihm gleidy wunderbar und 
unerflärlich; deshalb erblidt ed in ihnen beiden dad Walten 
höherer Wefen. 

Dem Zorne der Götter jchreibt es das Entſtehen von 
Krankheiten zu, betrachtet aber gleichfalld jede Genefung als das 
unmittelbare Gejchent der Gottheit und führt auf diefe, ald die 
eigentliche Urheberin, jogar die Leiftungen aller derer zurüd, 
weldye fi unter dem Volle etwa durdy Heilungen auszeichnen. 
So hatten die alten Inder ihren Gott der Heilung, der felbit 
den andern Göttern den Trank der Unfterblicyfeit bereiten mußte. 
Die Phönicier verehrten ihren Gott Esmun, die Egyptier den 
Thot oder Thaut, den Freund ded Oſiris, und Horud, den 
Sohn der Iſis ald die Gejundheit und Heilung Spendenden. 
Der Lebtere grub, jo meldet die Sage, die Lehrſätze der Heil- 
funde auf Säulen ein und war zugleich der Verfaſſer der zwei 
und vierzig heiligen Bücher, von welchen ſechs der Mebdicin 
gewidmet waren. 

In Griehenland jchrieb man dem Apollo und ber 
Artemis, wie die Schidung von Krankheiten, jo auch die 
Geneſung zu. Die Heilende hieß aber auch Athene, Minerva, 
die deöhalb als Netterin in jchweren Erkrankungen angerufen 
wurde. Als eigentlichen Gott der Heilkunde aber verehrte man 
ipäter den Asclepios oder Aesculapius, deflen Erſcheinung 
bereitd? auf der Grenze zwiſchen Mythe und Wirklichkeit Steht. 
Gar nicht jo unwahrſcheinlich iſt ed, dab er eine biftorifche 
Perſon, ein wirklicher Helfer in SKranfheiten war, aber wegen 


jeiner Leiftungen, wegen jeiner wunderbaren Heilungen von dem 
(410) 


5 


findlicy danfbaren Gemüthe des Volkes zu einem höheren Wefen 
erhoben, vergöttert wurde. Homer bezeichnet ihn (3. B. Ilias 
IV. 194) noch nicht ald Gott, jondern nur ald den untadeligen 
Arzt. Auch dem Melampus, einem Hirten, defjen ärztliche 
Kunft in hohem Anjehen ftand, erwies man, ald er geitorben 
war, göttliche Ehre, und jo kann recht wohl Aesculapiuß als 
Arzt wirklich eriftirt haben. Iſt e8 doch einer der jchönften 
Züge aus der Kindheit der Völker, hervorragende Individuen, 
die ihmen ſelbſt angehörten, die ihnen Gutes erwieſen, nad) 
dem Zode durd Mythen aller Art zu verberrlihen und den 
Göttern gleichzuftellen! 

Aesculapius, der Sage nad) ein Sohn des Apollo, des 
beilfundigen Gotted, und ein Schüler ded in der Arzneikunft 
hochbewanderten Gentauren Chiron, wurde durch beide ein 
Meifter in der Heilung von Krankheiten. Er bediente fidy zu 
dieiem Zwede äußerer Mittel, nämlidy der Bäder, der Ein- 
reibungen, doch auch des Meſſers und innerer, aus Pflanzen 
bereiteter Mittel, zog aber ftetö die pſychiſch wirkenden, nämlich 
Gebete und Gejänge, mit in Anwendung. Pindar?) fagt von 
ihm, daß er diejenigen heilte, welche an langwierigen, von jelbft 
entftandenen Gejhmwüren litten, oder welche verlegt waren, oder 
in Folge von ftarfer Kälte bzw. Hiße ſich eine Krankheit zuge- 
zogen hatten, und fügt ausdrüdlich hinzu, daß er fie durch Ge— 
bete, liebliche Gejänge, durch Zränfe und äußere Mittel her» 
geftellt habe. Seine Kunjt war jo gewaltig, daß er jelbft 
Zodte zu erweden veritand. Ald er aber dies zu thun ſich 
unterfing, bejchwerte fi) Pluto, der Gott der Unterwelt, bei 
Zeus, und Lebterer tödtete den Frevler durch einen Blißftrahl. 
Eine andere Sage erzählt, Aedculapius habe angefangen, für 
ichnödes Geld zu heilen und ſei deshalb getödtet, und noch eine 


andere Sage führt feinen gewaltjamen Tod darauf zurüd, daß 
(a1) 


6 


er, dem Willen der Götter entgegen, feine Kunft Sterblichen 
mitgetheilt habe. Dem Bolfe war er num entriffen; aber diejes 
vergaß ihn nicht, jondern baute Tempel zu jeiner Ehre, in der 
Hoffnung, fih durch ſolchen Ausdrud des Danfes die Hülfe 
ded Entihmwundenen auch fernerhin zu fichern. Ueber das ganze 
Griehenland hin erjtanden dieje heiligen Stätten, die jog. 
Adclepiea, auf die ich gleich näher zurüdfommen muß. 

Sein Wiſſen hatte der große Arzt auf jeine beiden Söhne 
Mahaon und Podalirius vererbt, die, wie ed in den Ueber— 
lieferungen heißt, von ihm die Kunft erlernten, Unſichtbares zu 
ergründen und Unheilbares zu heilen. Diejen beiden begegnen 
wir im trojaniſchen Kriege, in weldyem fie dem griechiichen 
Heere ald Helden und Aerzte folgten. Sie pflegten die ver- 
wundeten Krieger und erwarben fid) bald ein ſolches Anjehen, 
daß man fie nad dem Zeugniß des Diodor von der Theil» 
nahme am Kriegögefahren befreite. Machaon lebte jpäter in 
Mefjenien, Podalirius aber auf der Snfel Syrus, wohin er 
bei der Rüdfahrt von Troja verfchlagen wurde, und wo er die 
Tochter ded Königs durch einen Aderlaß — angeblich die erfte 
Dperation diejer Art — geheilt haben joll. Beide theilten nun 
den eigenen Söhnen ihr Können und Wifjen mit, diefe ihrer» 
jeit8 den Söhnen, und jo verblieb die Heilfunft zunächſt den 
Nachkommen des Aesculap ald eine Art Privilegium. Diejelben 
bielten feft zujammen, bildeten eine Kafte, einen mebdicinijchen 
Drden, welden man den der Nöclepiaden nannte. Seine 
Mitglieder verfahen ald Priefter den Dienft in den Tempeln, 
welche dem Aedculap geweiht waren, fungirten bier aber zugleich 
ald Aerzte, im Sinne der damaligen Auffaffung ald Medien 
zwiſchen dem helfenden Gotte und dem Hülfefuchenden. Shr 
medicinijches Wiffen bewahrten fie ald unverbrüchliches, ftrenges 


Geheimniß, das jedem Uneingeweihten verborgen bleiben follte. 
(412) 


— 
Hatten fie doch ein bedeutendes Intereſſe daran, daß die 
ärztliche Kunſt ihrem Orden verblieb und nicht profanirt wurde. 

Auch bei den alten Aegyptiern finden wir Prieſterärzte, 
welche das Monopol der Ausübung der Medicin ſich zu ver— 
Ichaffen gewußt hatten; auch dort vererbte fi der Stand, die 
Tradition, das Ärztliche Willen innerhalb der Kafte, die hoch— 
geehrt daftand. Nicht weientlich anderd war es bei den alten 
Indiern und den meiften Bölfern des Alterthums, über welche 
wir Nachrichten befiten. Die Priefter, ald die Vertreter der 
Wiſſenſchaft, duldeten ebem nirgends, daß ihnen ein jo wichtiges 
Fach, wie die Heilfunde, genommen wurde, durch deren Aus- 
übung fie des mädhtigften Einflufjes ficher fein konnten. 

Die priefterlihe Medicin war demnach, wie anderöwo, 
jo auch in Griechenland, der Ausgangspunkt der Heilfunde, jo 
weit fie nicht rein mythiſch ift, und war mit dem religiöjen 
Cultus aufd Innigite verfnüpft. Man bedurfte noch diejer Ver— 
bindung, um burd fie eine Wirkung zu erzielen, welche die 
Medicin für ſich allein noch nicht zu erzielen vermochte. Was 
Asclepios gethan, wenn er Krankheiten durch Gebete, Gejänge 
und die genannten Heilmittel zu bejeitigen juchte, geichah jetzt 
durch jeine Nachkommen und Nachfolger, nur in etwas ver- 
änderter Form. Er jelbjt war nunmehr die Gottheit, zu der 
gebetet, und die um Hülfe angerufen wurde. Sm Webrigen 
blieb er, jo ftellten e8 die Priefter dar, der Heilende, indem er 
das möthige Heilmittel angab. Sein Cultus und alfo auch die 
Ausübung der Mebdicin fand nun Statt in den ihm gemeihten 
Zempeln?). Shrer gab ed, wie jchon angedeutet ift, eine jehr 
große Zahl. Der ältefte befand fi zu Zitane bei Sicyon, 
nad Einigen zu Tricca in Thefjalonien, ein anderer in Athen, 
Zithorea, Argos, Dienod, Kenchrea, Aegina, Melos, 
Kos, Knidos und Epidaurod Sie lagen faft alle in fehr 


(418) 


8 





gejunder Gegend, ftetd außerhalb der Städte, nicht jelten auf 
(uftigen Anhöhen, meiſt inmitten jchattiger Haine und unweit 
reiner, heilfräftiger Quellen. Heilige, geweihte Stätten, waren 
fie abgeichlofjen von der profanen Welt und durften fie von 
feinem Unreinen betreten werden. So hatte das Adclepieum zu 
ZTithorea ein Gehäge von vierzig Stadien im Umfreije; im Ge- 
biete desjenigen zu Epidauros durfte nach dem Zeugniß des 
Paufaniad Feine Frau gebären, noch ein Sterbender fidy auf: 
halten. Im Innerſten ded Tempels jelbft jaß erhaben auf 
feinem Throne der Gott, meift ald Greid mit einem Schlangen- 
ftabe dargeftellt.. Ihm zur Seite befand fich feine Tochter 
Hygiea, ihm zu Füßen ein Hund oder ein Hahn, beides Sym— 
bole der Wachſamkeit. Bededte Säulengänge waren zur Auf: 
nahme der Hülfejuchenden, gejchloffene Räume für die Priefter 
beftimmt, welche den Dienſt verfahen. Zu diefen Tempeln des 
Aesculapius nun wallfahrteten die Kranfen von nah und fern; 
aus allen Gauen famen fie vertrauensvoll herbei, um Heilung 
von ihren Leiden zu juchen. Nicht ohne Weiteres aber geitattete 
man ihnen, wie jchon aus dem Gejagten hervorgeht, den Zu— 
tritt zu der geweihten Stätte, verlangte vielmehr, dab fie zuvor 
einer förperlichen und geiftigen Vorbereitung ſich unterzögen. 
Sie mußten faften, indbejondere ded Weines fich enthalten, 
mußten baden, Räuderungen vornehmen, ſowie beten und 
heilige Zieder fingen. Erit dann durften fie im Angeficht der 
erhabenen Gottheit Heilung fidy erflehen. Die Priefter wiejen 
fie an, ficy niederzulegen, um Genejung zu erwarten, oder viel- 
mehr um einfhlummernd und träumend vom Gotte zu erfahren, 
was fie zur Miedererlangung der Gefundheit thun jollten. 
Natürlich juchten Jene vorher den Glauben an die munder- 
thätige Macht des Aesdculapius möglichit zu weden und zu 


ftärfen. Dazu dienten indbejondere Erzählungen von ftatt- 
(414) 


9 


gehabten Heilungen, für deren Thatjächlichkeit Imjchriften und 
Weihgeſchenke zeugen mußten. Hatten dann die Kranken ſich 
niedergelegt und im Schlafe die Rathſchläge ded Gotted ver- 
nommen, fo wurde den Prieſtern Mittheilung gemacht, und 
diefe gaben dann nähere Anmweifung. Nicht jelten bedurfte es 
einer Snterpretation des Traumes durch diejelben. Sa, die 
Prieiter unterzogen ſich aud für die Patienten dem Tempel— 
ſchlaf, wie dies 3.8. zu Nyſſa regelmäßig der Fall war, und 
wandten dann natürlich die Mittel an, weldye fie für die heil: 
jamen bielten. 

Die Euren, weldhe zur Ausführung gelangten, waren meijt 
biätetijcher Art, oder fie beitanden in gelindem Purgiren, z. B. 
mittelft NRofinenabfohung, oder im irgendwelchen mpjteriöjen 
Geremonien. Doc befiten wir auch Berichte über Anwendung 
ftarfwirfender Medicamentee So wurde einft einem Hülfe- 
ſuchenden Scierling und Gyps verordnet, Mittel, durch welche 
- er natürlich ftark bherunterfam. Einem anderen wurde der Rath 
ertheilt, mitten im Winter ein Flußbad zu nehmen u. dgl. mehr. 
Berlief die Eur nicht günftig, jo jchrieb man dies der ver- 
fehrten Ausführung ded Rathes oder dem Mangel an Glauben 
zu. Der Genejene aber brachte dem Gotte ein Opfer dar und 
weihte ihm ein Anathem, d. h. eine Nachbildung des geheilten 
Körpertheild in Gold, Silber, Elfenbein oder Marmor. Die 
Geſchichte jeiner Krankheit ließ er auf Tafeln zurüd, welde 
jorgjam aufbewahrt wurden, und die Heimittel, weldye fidy bei 
ibm bewährt hatten, aud die Methode ihrer Zubereitung, lieh 
er in Säulen und Pfoften ded Tempels einſchreiben. Das 
waren die eriten Krankengeſchichten, dad die erſten Recept— 
formeln, das die eriten Grundlagen einer Erfahrungswifjenichaft; 
feine werthloſen, jondern werthvolle Baufteine, die anfänglich 
wohl nidyt bedeutend geſchätzt wurden, die aber jpäterhin nody 


(415) 


10 


einmal zu einem wichtigen Reformwerke verwendet werden 
jollten. 

Gewiß hat Mancher der geneigten Xejer jchon die Frage 
bereit, ob denn die Asclepiaden nur innerhalb der Sphäre des 
Tempels, in welchem fie ald Priefter fungirten, oder audy außer- 
halb defjelben die Heilfunft übten. Bon vornherein jollte man 
Lebtered annehmen, da wir ed als felbftverjtändlich betrachten, 
daß derjenige, welcher überhaupt Kranfe behandelt, auch zu 
denen fommt, welde ihm jelbft nicht aufzujuchen vermögen. 
Aber urjprünglidy haben die Priefter ganz entjchieden lediglich 
im Tempel jelbjt ärztliche Bunctionen übernommen, da fie ja 
den Gott ald den eigentlihen Helfer hinftellten, den Anblid 
jeined Bildniffed und die Anmwejenheit der Kranken im Tempel 
für unumgänglich nöthig erklärten. Ihre Heilfunde vertrug 
noch nicht dad freie Auftreten, dad Berlaffen der heiligen 
Stätten, konnte nody nicht der magischen Zuthat, des Appels 
an den Glauben entbehren. Der Nimbus wäre jehr rajch ge— 
ihmwunden, wenn dad unfertige Wiljen vorzeitig den Schritt 
gewagt hätte. Died änderte fich jedoch im Laufe der Zeiten. 
Das Grfahrungdmaterial wuchs, und fomit nahm auch die 
Kenntnig der Heilung von Krankheiten zu. Dadurch mußten 
die Priefter fich ficherer fühlen, und gewiß ift dies ein Haupt- 
moment gewejen, das fie ermuthigte, auch außerhalb der Tempel 
zu practiciren. Bielleicht famen Gründe hinzu, weldye fie mehr 
oder weniger zwangen, Died zu thun, welche fie überhaupt vers 
anlaften, aus ihrer Abgeſchloſſenheit heraudzutreten. Jeden⸗ 
falld aber ift ed Thatjache, dab die Priefterärzte ſchließlich auch 
Kranke auffuchten und in deren Häufern behandelten, wie andere 
Herzte. Denn der noch zu erwähnende Eid der Aöclepiaden 
jagt ausdrüdlich: „In welches Haus ich aud) eingehen möge, ich 
will eö nur zum Wohle des Kranken betreten.” Da diejer Eid 

(416) 


11 


— — — — 


entſchieden aus der vorhippocratiſchen Zeit ſtammt, ſo darf 
ſein Zeugniß wohl als ein beweiskräftiges angeſehen werden. 

Dieſem Heraustreten des mediciniſchen Ordens aus der 
geheimnißvollen Stille der Tempel folgte, wie es ſcheint, ſehr 
bald ein anderer Schritt, durch welchen das alte Syſtem eine 
ungemein wichtige Aenderung erfahren ſollte. Bis dahin waren, 
wie wir wiſſen, nur Nachkommen der Asclepiaden aufgenommen 
worden, und jener Eid verpflichtete auch ſämmtliche Mitglieder, 
die Kunſt nur eben dieſen Nachkommen mitzutheilen. Jetzt 
aber, — der Zeitpunkt, in welchem es geſchehen, iſt nicht genau 
anzugeben — entſchloß man ſich, auch ſolchen Perſonen den 
Eintritt zu geſtatten, welche nicht innerhalb der Adclepiaden- 
familien geboren waren. Man verließ aljo das bisher mit 
größter Strenge gewahrte Princip der ejoteriichen Erelufivität, 
Der Grund, weshalb der Orden jo handelte, wird aus der nach— 
folgenden Darftellung erhellen; er lag in der Strömung der 
Zeit, welcher Rechnung getragen werden mußte. Allerdings 
war diejer Eintritt von Laien nody an die Snnehaltung geheim- 
nißvoller Formalitäten, an das Verſprechen abjoluter Bewahrung 
der Zempelmpfterien und an einen Eidſchwur gebunden. Auch 
ließ man feineöwegd ab von der biöherigen Methode, Krank: 
heiten zu heilen; Wesculapius blieb die im Gebete anzurufende 
und Geneſung jpendende Gottheit. Aber der hochbedeutiame 
Schritt, den man gethan hatte, ald man auch Nichtadclepiaden 
in den Drden aufnahm, mußte doch dazu führen, daß eine 
freiere Richtung eingejchlagen wurde, mußte die Lodlöfung der 
Heilfunde vom religiöfen Eultus vorbereiten. 

Daß keide noch immer innig mit einander verbunden waren, 
it foeben angedeutet worden. Das unmwiffende Volk glaubte 
noch an die Macht der Heilgottheit, an das directe oder in» 


directe Eingreifen derjelben, und die Adclepiaden nährten diejen 
(417) 


12 


Slauben. Nah wie vor gab ed einen Gott, welcher die 
Heilung verlieh, eine Kafte, weldye die Wermittlerin war 
zwiihen ihm und den Kranken, ein und dajjelbe Heilfyftem. 
Die Medicin war zwar dur Erfahrung allmälig fortgejchritten, 
war aber troßdem nur ein völlig ungeordneted, fragmentäres 
Wiffen, dad im Mejentlihen mündli von Geſchlecht zu Ge- 
ichlecht fich vererbte. Die Ausübung lag in den Händen von 
Priejtern, welche durdy mpfteriöfe umd magiſche Mittel zu er- 
jegen und verdeden juchten, was ihnen an realem Wiſſen jo 
jehr abging, und weldyen died auch Danf dem Aberglauben und 
der großen Unwifjenheit des Volkes noch volljtändig gelang. 

Nichtödeitoweniger hatte auch dieſe priefterlihe Medicin 
ihr Gutes. Sie erhob zwei wichtige hygieniſche Maßnahmen, 
Reinigung ded Körpers und Mäßigfeit, zum göttlichen Gebot, 
zunächſt allerdingd nur während der Worbereitungd- und der 
Eurzeit, empfahl diefelben aber zweifellos oft auch für die Zus 
funft, und bediente fidy im Weſentlichen milder Mittel, jchadete 
alfo der Regel nad nidyt. Dazu fam aber, daß fie durdy Auf: 
zeichnung von Kranfengejhichten und Heilmethoden die medici- 
nifche Literatur begründete und den nachfolgenden Geſchlechtern 
wichtige Anhaltspunkte lieferte. 

Aber ihre Zeit war erfüllt. Gewiß war jchon der Ent: 
ichluß, aud Laien in den Orden aufzunehmen, nur unter dem 
Drude jchwer wiegender Gründe gefaht worden; gewiß fühlten 
die Priefterärzte jelbit die Nothwendigfeit, andere Elemente in 
ihren Bund einzufügen, um ihn febensfräftig zu erhalten. Eine 
neue Zeit rüdte heran, um mit dem Alten aufzuräumen. Schon 
zeigten fi die erſten Strahlen des aufgehenden Licht einer 
befjeren Erfenntniß, vor dem Alles jened Magijche, jener ge- 
beimnißvolle Hocuöpocus, wie ein Nebel, zerfließen follte, um 
der lauteren Wahrheit, weldye dad ächte Fundament jeder Wifjen- 


(418) 


13 


Ihaft und ganz bejonderd der Heilkunde iſt, Platz zu machen. 
Diejed nen hervorbrechende Licht war die Aufklärung, weldye 
durch die Philofophen Griechenlandd gejchaffen wurde. Schon 
ihr eifriged Streben, das Volk zu belehren, aus jeiner tiefen 
Unwiſſenheit herauszureißen, mußte den Adclepiaden gefährlich 
werden, deren jelbftjüchtiges Zreiben ja nur auf jene Unwiſſen— 
heit fpeculirte. Aber die Philofophie that noch mehr, um den 
Priefterärzten den Boden unter den Füßen megzunehmen. Sie 
ſchuf, durch aprioriftiiche Vorausſetzungen, durch die Reflexion 
dazu veranlaßt, neue, beſſere Grundlagen für die Heilkunde, 
emancipirte dieſe letztere vom religiöſen Cultus und machte ſie 
dadurch zu größeren Fortſchritten fähig, freilich nicht, ohne zu— 
gleich zu dem Fehler theoretiſirender Auffaſſung Anlaß zu geben. 
Wie aber und wodurch ſie die Mediein von den bisherigen 
Banden befreite, ſoll nunmehr des Näheren ausgeführt werden. 

Das erſte philoſophiſche Denken der alten Griechen war 
ein rein realiſtiſches. Es bezog ſich auf die Natur, die Körper— 
welt und ſuchte die Entſtehung derſelben, ſowie die Urſachen 
ihrer Veränderungen zu erforſchen. So erſtand durch Männer, 
wie Thales, Anaximenes, Heraelitus von Epheſus, 
Empedocles, Democrit, Parmenides aus Elea, Ale— 
maeon und viele Andere zunächſt eine Phyſik, weiterhin auch 
eine Phyſiologie und Anatomie“). Dieſe drei Wiſſenſchaften, 
aus dem Streben nach beſſerer Erkenntniß der Dinge hervor— 
gegangen, bildeten, ſo rudimentär ſie auch noch waren, doch die 
wichtigſte Grundlage für die Heilkunde, die ihrer bisher völlig 
entbehrt hatte. Daß fie, wenigſtens die Phyſik und Phyfiologie, 
durchweg von philoſophiſchen Vorausſetzungen ausgingen, ſchmä— 
lerte allerdings ihren Werth. Aber diejer blieb doch jehr grob, 
weil viele reale Forichungen mit den theoretiichen Betrachtungen 
ſich verbanden. Sedenfalld ift das Verdienft der eriten griechiſchen 


(419) 


14 


Philofophen, den Anftoß zum Studium ded gejunden Menſchen 
gegeben zu haben, ein nicht body gemug zu jchäßendes. 

Ihrer viele förderten aber auch direct die Heilkunde als 
ärztliche Schriftfteller oder ald ausübende Aerzte. Der vorhin 
erwähnte Empedoeles, geboren ums Jahr 504 v. Ehr., aus— 
gezeichnet durch die Schärfe feines philoſophiſchen Syſtems und 
Urbeber der Lehre von den vier Elementen, widmete fi) nach 
feinen eigenen Worten auch der practijchen Medicin und genoß 
fogar eined großen Rufes ald Arzt. Zog er in einen Ort ein, 
fo wurde er fofort von Hülfefudhenden umgeben, die Heilung 
von ihm erbaten. Auch practiiche Hygiene handhabte er, fuchte 
die Peſt durch Anzünden großer Feuer, jowie durch Räucherungen 
zu befeitigen und vertrieb die krankmachenden Ausdünftungen 
des Fluſſes Hypſos bei Selinus durdy eine Flußcorrection, ein 
Mittel, welches auch neuerdings zu gleichem Zwecke in Stalien jo 
erfolgreicd angewandt wird. Die Gelinuntier jollen den Empe- 
docles jeitdem als einen Gott verehrt haben. 

Democritod von Abdera, der berühmte Philofoph der 
Atomenlehre, geboren 494 v. Chr., veröffentlicdyte Abhandlungen 
nicht blos über Gegenjtände der Phyſik und Phofiologie, ſondern 
auch der Pathologie, ſchrieb indbejondere über die Natur des 
Menſchen, über die Säfte ded Körpers, über das Fieber, über 
den Hujten, über Krämpfe, über Elephantiafis, über Diät und 
über Prognoftif, über Athmung und Zeugung. Mit großem 
Eifer joll er Zergliederungen von Thieren vorgenommen haben. 
Plinius behauptet, dab von Democritos die Anatomie des 
Chamäleon zuerft bejchrieben fei. Auch wird erzählt, daß 
Hippocrates ihn bei anatomijcdyen Studien betroffen habe. 

Ein Schüler ded berühmten Abderiten war Diagoras 


von Melod. Diefer wurde practiicher Arzt in Athen und 
(420) 


15 





lieferte auch jeinerfeit? dadurdy den Beweis der innigen Ver— 
bindung zwiſchen Philofophie und Medicin in damaliger Zeit. 
Daß die Pythagoräer fi mit der Heilfunde befaßten, 
ift fiher beglaubigt. Gelfus nennt fogar den Pythagoras felbit 
unter den berühmten Xerzten, und Pliniuß giebt an, daß der: 
jelbe ein Buch über die Wirkung der Meerzwiebel geſchrieben 
babe. Ob letztere Behauptung richtig iſt, läßt ſich nicht mehr 
erweilen; die des Celſus hat jedoch jehr Vieles für fih. Denn 
auch Diodor berichtet, daß Pythagoras einft nach Delos gereift 
jei, um dem erkrankten Pherecyded zu heilen, und vor Allem 
meldet Herodot, daß die von jenem Philojophen zu Groton 
in Großgriechenland gegründete Schule eine hochberühmte medi- 
ciniſche geweſen jei. Nun verfaßte jener große Gejchichtöjchreiber, 
wie wir wiflen, fein Werf zu Thurium, ganz nahe bei Groton; 
deshalb darf jein Zeugniß wohl als ein glaubmwürdiges angejehen 
werden. Es fteht jedenfalls feit, daß unter den jechözig Pytha— 
goräern, weldhe nad) ihrer Bertreibung aus Groton ums 
Jahr 508 wieder in diefe Stadt zurücberufen wurden, mehrere 
ausübende Aerzte fid) befanden. Democeded, einer derjelben, 
war eine Zeitlang Arzt bei Polycrates, dem Tyrann von Samos, 
und befam ald joldyer Gehalt; der nämlidye fungirte als be- 
joldeter Arzt jpäter in Athen und Aegina. Viele nicht zurüd- 
fehrende Pythagoräer juchten in Griechenland und Kleinafien 
ald umberwandernde Aerzte ihr Brot. Ueber ihre Medicin ift 
Sichered nicht viel befannt. Wir wiſſen nur, dab fie alle ein- 
greifenden Mittel perhorrescirten, dad Meilte durch Diätetif, 
Gymnaſtik zu erreichen juchten und bei der Behandlung lang- 
wieriger Krankheiten auch die Mufif verwendeten. 
Als einen Schüler des Pythagoras bezeichnet man, doch 
wohl nidyt mit Recht, den Alcmäon von Groton. Sedenfalls 
war auch er Philofoph, medicinifcher Schriftfteller und Arzt 


(421) 


16 





zugleih. Er jol eine Phyfiologie gejchrieben haben, lieferte eine 
Theorie des Schlafes, der Zeugung, ded Gehörd und bejchäftigte fich 
viel mit Zergliederungen. Man nennt ihn ald denjenigen, weldyer 
die Euftachiiche Tuba, die vom inneren Ohr nad) dem Schlunde 
verläuft, zuerft aufgefunden, ihn ald denjenigen, welcher zuerft den 
Sig der Seele ind Gehirn verlegt habe. ALS practiicher Arzt 
ftand er bei feinen Mitbürgern in allergrößtem Anjehen.) 

Sp liefen fidy nody viele bedeutende Männer jener Zeit 
nennen, welche auf philoſophiſcher Grundlage in der einen oder 
anderen Weije an der Förderung der Medicin ſich betheiligten. 
Dody möchte ed einer weiteren Aufzählung nicht bedürfen. Sie 
haben allerdings, indem fie nicht von Beobachtungen, jondern 
von philojophiichen Speculationen, unbewiejenen Prämiffen aus- 
gingen, die Heillunde theoretifirt, und dad war ihr Fehler. 
Aber fie haben diefelbe — und das iſt ihr großes Verdienſt — 
frei gemadyt von den Fefjeln des Aberglaubend, der abfichtlichen 
Zäufchungen, frei gemacht von den magiſchen Zuthaten, und 
haben fie ind Leben jelbit eingeführt. 

Für die Asclepiaden mußten fi nad allem diejem die 
Berhältniffe immer ungünftiger geitalten. Die Gläubigen 
nahmen an Zahl erheblich ab, je mehr die Aufklärung zunahm. 
Schon begann man öffentlich über dad Treiben der SPriefter- 
ärzte zu Ipotten. Sie waren erkannt, und nun ſollten fie zum 
Schaden nody den Schimpf obenein haben, der Kächerlichkeit 
verfallen. Wie weit died ging, wie weit ihr Gredit allmählich 
janf, geht deutlich auß dem Umjtande hervor, daß von ber 
Bühne herab fi der Spott über die Aöclepiaden ergoß. 
Bekannt ift die folgende Ecene aus einem Luftjpiele des Arijto- 
phanes®), defjen Leben zumeift in die zweite Hälfte des fünften Jahr- 
hunderts v. Chr. fällt. „Ein Sclave Karion liegt nad der üblichen 


mit Faſten verbundenen Worbereitungszeit im Xempel des 
(422) 


17 


Aesculap, zu den Füßen des Gotted. Die Priefter wähnen ihn 
ſchlafend und träumend; der verjchmißte Geſelle aber ift wach 
geblieben, um die Priefter, ihr Thun und Treiben zu beob- 
achten. Und fiehe da, er bemerkt, wie einer derjelben die 
Gejchenfe, weldye er ald Opfer dem Gotte beftimmt hatte, heimlich 
in einen Sad ftedt und escamotirt. Dad wird ihm zuviel, 
und er entichädigt ſich alsbald für jein langes. Falten aus dem 
Mehlbreitopfe, den eine alte Bäuerin mitgebracht hatte.” — So 
jollte unter dem Spotte defjelben Volkes, welches vordem ver- 
trauensvoll Hülfe fuchend zu den Tempeln gemwallfahrtet war, 
der anfänglich jo ftolze, aber innerlich jo moriche Bau zufammen- 
ftürzen, den Lüge und Aberglauben Sahrhunderte hindurch ge- 
halten hatten. 

Es fam hinzu, daß die Goncurrenz in bedenflihem Grade 
zunahm. Alleinige Aerzte im buchitäblichen Sinne des Wortes 
find Die Aöclepiaden wohl niemald gewejen. Steht ed doch 
feft, dab ſchon Lycurg bejondere Feldärzte für die jparta- 
nijchen Truppen anftellte. Auch liegt ed auf der Hand, daß in 
bejonderen Fällen, z. B. in der Geburtöhülfe, bei plößlichen 
Verlegungen anderweitige Hülfe geiucht werden mußte. Eine 
eigentliche Goncurrenz fam aber erft in der lebten Hälfte des 
fünften Jahrhunderts, ald die philofophiichen Aerzte auftraten. 
Wir haben ja gejehen, daß fie rajch eines großen Rufes ſich 
erfreuten, indem fie meift ald Periodeuten, d. h. als Umher— 
wandernde die Prarid übten, und willen, daß bejonderd die 
Sprengung der pythagoräiſchen Schule zu Croton die Urſache 
ihrer Zerftrenung über Griechenland wurde. Für das Anjehen, 
welches die philofophiiche Heilfunft jo raſch ſich erworben hatte, 
Ipricht nicht blo8 das erwähnte Zeugniß des Herodot bezüglich 
diefer Schule von Croton, jondern ganz bejonders die Thatjache, 
deren gleichfalld oben gedacht ift, daß einer der pythagoräiſchen 


xvi. 418. 2 (423) 


18 


Aerzte zuerft von einem Fürften, dann von einem Staate gegen 
Sold angeftellt wurde. Aber noch andere Goncurrenten tauchten 
auf, idy meine die jog. Gymnaften oder Satrolipten. Es waren 
dies urſprünglich Aufieher in den Gymnaſien; allmählid aber 
fingen fie an, auch Wunden, Berrenfungen, Brüdye, Geſchwüre, 
jelbit innere Kranfheiten zu heilen, zunächſt innerhalb der 
Gymnaſien, dann audy außerhalb derjelben. Ich nenne unter 
ihnen ald die am meilten befannt gewordenen IJceus von 
Tarent und Herodicus von Selymbria. Letzterer lebte 
fur; vor dem peloponnefijchen Kriege; Plato nennt ihm einen 
Sophiften und Pädotriben, der jpäter Arzt wurde. Schwächlich 
und kränklich juchte diejer Herodicus feine Gefundheit durch 
Gymnaftif zu fräftigen, und ald es ihm gelungen war, empfahl 
er jeine Methode aud) Anderen, bildete fie weiter aus und 
wurde der eigentliche Erfinder der Heilgumnaftif.”) Gin be— 
jonderd oft von ihm verordneted Mittel war langausgedehntes 
Spazierengehen und Ringen, Muöfelübungen, mit melden er 
jelbft Fiebernde nidyt verjchonte, wie Hippocrates in feiner 
6. Abhandlung von den Landſeuchen berichtet hat. 

Neben diejen Aerzten gab ed noch Demiurgen, beamtete, 
von einem Staate oder einer Gemeinde angeftellte Mediciner. 
Einen derjelben, den Democeded, haben wir bereits fennen 
gelernt. Sie hatten die Verpflichtung, arme Kranfe umentgelt- 
lih zu behandeln, wie jpäter im römijchen SKaiferreidye die 
Archiatri populares, bildeten auch wie dieje eine Corpo— 
ration. So lange fie in Athen aus der Zahl der Priefterärzte 
gewählt wurden, — fie mußten fi öffentlih um die Stelle 
bewerben — vereinigten fie fich zweimal jährlid), um den 
Asclepios und jeiner Tochter Hygiea ein Opfer zu bringen. 
Es ift auch dies, beiläufig gejagt, ein Beweis, dab die Aöcle- 
piaden fchließlich außerhalb der Tempel practicirten. Die ans 


(424) 


19 


geftellten Aerzte hatten gleichzeitig die Leitung eines Satreion, 
gewifjermaßen eined Spitales oder vielleicht richtiger eines 
Poliklinikums reſp. Ambulatoriums, in welchem fid) Vorrich⸗ 
tungen zu Bädern, zum Einreiben des Körpers, zum Schröpfen ꝛc. 
befanden. 

Ariſtoteles nennt neben den Demiurgen noch die Archi— 
tectonici, d. h. die eigentlichen, wiſſenſchaftlich gebildeten Aerzte 
und die Heilgehülfen. Unter letzteren befanden ſich auch Sclaven, 
welche die erkrankten Sclaven zu behandeln hatten. Doch be— 
richtet er von einer etwas ſpäteren Zeit, welche ich hier nicht 
mehr zu berückſichtigen habe. Dagegen darf ich nicht vergeſſen, 
daß es auch Hebammen und weibliche Aerzte gab, die ſich mit 
der Behandlung von Frauenkrankheiten befaßten. 

Bon diejen der Heilkunit Beflifjenen machten den Aöclepiaden 
bedeutjamfte Goncurrenz jedenfalls die philojophilchen Aerzte 
und die Gymnaften. Ihr erfolgreiches Auftreten und jener 
andere Umjtand, dab der Glaube an die Heilgottheit in fort- 
währendem Niedergange begriffen war, veranlakten die Priejter- 
ärzte einige Zeit, nachdem fie dad Laienelement in ihrem Orden 
zugelaljen hatten, zu einem weiteren folgenjchweren Schritte, 
für den ihnen die Nachwelt nit dankbar genug jein Fann. 
Sie gaben ihre Abgejchloffenheit und ihre Myſterien völlig auf, 
machten die Tempel des Asclepios zu mediciniſchen Schulen 
und öffneten dieje Jedem, der lernen wollte. So erftanden 
inöbefondere die befannten und berühmt gewordenen Schulen zu 
Kos, Knidos und Rhodos, weldhe nunmehr die bedeutenditen 
Aerzte heranbildeten. Daß fie dies vermocdhten, darf und nicht 
Wunder nehmen. Hatte man doh in den Tempeln während 
jo vieler Jahrhunderte ein großes Material gejammelt, weldyes, 
richtig verwandt, jehr werthuol zum Aufbau einer Erfahrungs— 
wiflenjchaft fi) erweilen mußte. Cine folhe Berwendung fand 


2% (425) 


20 


nun im der That ftatt. Die neugegründeten mebdicinijchen 
Schulen begannen die Reform der Medicin, die Emancipation 
derjelben von den philoſophiſchen Speculationen, indem fie 
lehrten, von empiriihem Material auszugehen. Die Weih- 
tafeln wurden das vornehmfte Lehrmittel für die lernbegierige 
Jugend und wurden zugleich ausgenußt zur Herftellung von 
medicinifchen Schriften, die jet im größerer Zahl erjchienen. 
Unter ihnen jeien befonderd erwähnt die „Knidiſchen Sentenzen“, 
welche noch jpäthin bis auf Galenus eifrig ftudirt wurden, und 
die berühmten „Koiſchen Vorherſagungen“, aud denen, wie wir 
jehen werden, Hippocrates jehr Vieles entlehnte. 

Sp ging von den nämlidhen Stätten, in weldyen man 
noch furz zuvor dem Aberglauben huldigte und ftreng innerhalb 
der ftarren Form des UWeberlieferten fich bewegte, ein friicher 
Duell der Aufklärung und ded Kortichritt8 aus. Das Alte 
fiel, doch neues Leben blühte aus den Ruinen. In großer 
Zahl ftrömten jet die Sünglinge zu den Lehranftalten, die eine 
vollftändige Reform auch ded medicinifchen Unterrihtd inaugu— 
rirten und dadurch, jowie durch Schaffung einer Literatur der 
Heilkunde dieje jelbit in bedeutjamfter Weije förderten. 

Man würde übrigend irren, wenn man glauben wollte, 
daß diefe Schulen durchaus Gleiched gelehrt, diejelben An» 
Ihauungen vertreten hätten. Died war nicht der Fall, ja die- 
jenigen zu Knidos nnd Kos, die fid) auf wenige Meilen nahe 
lagen, gaben zum Theil ganz entgegengejette Anfichten Fund. 
Die Knidiichen Aerzte, jo erfahren wir von Hippocrates, legten 
das Hauptgewicdht auf die Diagnofe der Krankheiten, auf Die 
genaue und bdetaillirte Beobadhtung der Symptome umd der 
Abweichungen, berüdfichtigten aber nicht den Zuſammenhang der 
Erſcheinungen und das Allgemeine, vernachläſſigten auch bei der 


Behandlung fait völlig die Diätetif, während fie für alle Kranf- 
(426) 


21 


heitöformen und Krankheitsſymptome ein beftimmtes Heilmittel, 
nicht jelten jehr eingreifender Natur, angaben. Die koiſche 
Schule hingegen fuchte aus den Äußeren Erſcheinungen des 
Leidens die Natur defjelben zu erfennen, verfolgte aufd Ge: 
naueite den Berlauf und betonte die hohe Nothwendigfeit der 
Prognoftif. Ihre „Vorherjagungen“ gaben ein jchönes Zeugniß 
einfacher, objectiver Beobachtung am Kranfenbette. In ihrer 
Behandlungsmethode aber fpielte die Anordnung richtiger Xebend- 
weile, bejonderd richtiger Ernährung die Hauptrolle. 

Große Fortichritte hatte bis dahin die Medicin bereitd 
gemacht, der größte aber ftand ihr nahe bevor. In eben jenem 
goldenen Zeitalter, in welchem durch ein ſeltenes Zufammen- 
wirfen der bedeutenditen Männer alle Künfte und Wiffenichaften 
zur herrlichſten Blüthe fi) entfalteten, das ſtaatliche und natio» 
nale Leben des Volfed auf jeiner Höhe jtand, da jollte auch die 
Heilfunde in außerordentlihem Grade gefördert werden durch 
jenen Mann, den jeitdem alle Jahrhunderte ald den größten 
Arzt, als den eigentlichen Begründer unferer Wiffenichaft, als 
Mufter und Vorbild für jeden der Medicin fi) Widmenden ges 
feiert haben, idy meine Hippocrates. 

Geboren im Jahre 460 v. Chr. auf der Inſel Ko8®), als 
der Sproß einer alten Asclepiadenfamilie, wurde er zunächft 
von dem eigenen Vater, Heraclideö, umd zwar in der joeben 
rühmlicyft erwähnten mediciniihen Schule feiner Heimath unter» 
richtet. Nach dem Tode der Eltern verließ er die Inſel und 
wandte fidy in feinem Wiljenddrange nady Athen, um bier von 
dem gelehrten Sophiften Gorgiad, einem Schüler des 
Empedocled, in der Philojophie, von Herodicud in der 
gumnaftiihen Medicin fich belehren zu laffen. Dann wurde er 
Periodeut, ging nah Thefjalien, insbefondere nad Zariffa, 


Pherae, Meliboea und Tricca, nah den macedonijdhen 
(427) 


22 


Städten Pella und Olynth, nah den thracischen Orten 
Abdera und Kardia, nad der Iniel Thaſos, nah Pontus 
und dem eigentlihen Griehenland, zuletzt wieder nad) 
Theifalien. Wo er auch weilte, erwarb er ſich den Ruf des 
tüchtigften Arztes, jo daß ſchon die Zeitgenojjen ihn den Großen 
und Göttlihen nannten, war außerdem ald Lehrer, jowie als 
medicinifcher Schriftfteller ungemein thätig uud ftarb, 377 
v. Chr. Geburt, aljo 83 Jahre alt, in dem ihm liebgemordenen 
Lariſſa, von den Weberlebenden tief betrauert wie fein Anderer. 
Nod im zweiten Jahrhundert der chriftlichen Zeitrechnung zeigte 
man unweit des leßtgenannten Ortes jein Grab, das Sedermann 
heilig war. Wie viel Gutes muß er gethan, wie viel Großes 
geleiftet haben, wenn nod fünf bis jechd hundert Sahre nad) 
jeinem Tode die Erinnerung an ihn jo ehrfurdtövoll im ganzen 
Volke fortlebte! Sein Sohn Theſſalus und jein Schwieger: 
john Polybus erbten einen Theil jeined großen Willens, umd 
fie follen ed auch gewejen jein, welche einzelne der hippocra— 
tiihen Schriften verfaßten, andere ächte mit Zujäßen und Be- 
merfungen verjahen. 

In Wahrheit, die hohe Verehrung, weldye dem Hippo: 
crates bei feinen Lebzeiten zu Theil wurde, die allgemeine 
Anerkennung, welche die Nachwelt bid auf die Gegenwart feinen 
großartigen Yeiltungen zollte, er hat fie in vollftem Maße ver: 
dient. Einer der größten Wohlthäter ded Menjchengejchlechts 
follte er ein Denfmal von Gold haben. Freilich ein herrlicheres 
nod als diejed hat er ſich jelbit in jeinen Schriften gejeht. 
Die Gejchichte nennt und viele große und berühmte Werzte, 
aber feinen, der ihm an Wiſſen und Können audy nur annähernd 
gleich gefommen wäre. Es iſt nicyt ein einziger, deſſen Genius 
auf die Geftaltung der Wiffenichaft und den Geift derjelben von 


jo überwältigendem, immer wieder zum Durchbruch fommendem 
(428) 


23 


Einflufje geweſen ift. Ja, Hippocrates gehört zu den jeltenen 
Männern, welche von der Vorjehung mit aubergewöhnlichen 
Fähigkeiten und Eigenjchaften ausgeftattet, nicht blos die Be- 
mwunderung der Mitwelt im Fluge fi erobern, ſondern durch 
ihre Werfe ewig fortleben. Seine Größe lag in dem unwandel- 
baren Streben nad) Erkenntniß der Wahrheit, in der Nüchtern» 
heit des Beobachtens und darin, dab er bei allem jeinem Thun 
und Laſſen niemald den eigentlichen Zwed der Medicin, näm— 
ih den zu heilen, aud den Augen verlor. Die Mijfion 
aber, welche er erfüllte und zwar ganz erfüllte, war die, bie 
Heilkunde ald eine auf Erfahrung und treue finnlidhe Beob- 
achtung bafirende Wifjenichaft zu begründen und fie von den 

Irrthümern zu befreien, welche durch die Verbindung mit der 
——— erzeugt worden waren. In welchem Grade ihm 
dies gelungen iſt, nun das erkennen wir aus dem eifrigen 
Studium, welches die Medicin trotz aller ihrer außerordentlichen 
Fortſchritte ſeinen Werken immer wieder zuwendet, das erſehen 
wir deutlich aus der Thatſache, daß gerade die bedeutendſten 
Aerzte aller Zeiten ſeiner Heilmethode nachzuahmen für das Ziel 
ihres Lebens anſahen. 

Das Wiſſen und Können des großen Koiſchen Arztes 
ſtammte zu einem nicht geringen Theile aus dem Studium 
ſeiner Vorgänger. Geſteht er dies doch ſelbſt offen ein, wenn er 
von den „Alten“ ſpricht und ihre Verdienſte hervorhebt. War 
auch vor ihm die Medicin nur eine einfache Sammlung empiriſcher 
Kenntniſſe, keine Kunſt und keine Wiſſenſchaft, ſo lag doch in 
ihr für denjenigen, welcher zu ſuchen verſtand, manch ſchönes 
Samenkorn verborgen. Hippocrates aber hatte Augen, zu 
ſehen. Mit kritiſchem Blicke durchforſchte er das geſammte 
hiſtoriſche Material, die alte Heilkunde, prüfte Alles und behielt, 


was werthvoll war. So entnahm er für ſeine Semiotik und 
(429) 


Prognoftik jehr Vieles aud den Koiſchen Vorherjagungen; das— 
jelbe gilt zweifello8 audy von jeiner Therapie und jpeciell von 
feiner Diätetik. Die Knidifchen Sentenzen fritifirte er 
jehr eingehend, nicht minder die Werfe der Philofophen umd 
philojophiihen Aerzte. Auch den Herodot hat er jorgjam 
ftudirt und viele der Angaben defjelben über die gejunde oder 
nicht gejunde Lage von Ortſchaften, über die Bedeutung der 
Bodenverhältniffe für die Salubrität gradezu übernommen. 
So war er in außergewöhnlihem Umfange ein Kenner alles 
deilen, was auf dem Gebiete der Heilfunde vor ihm befannt 
geworden, umd darf aud in diefer Beziehung als ein leuchten- 
des Vorbild gelten, zumal der Gegenwart, welche über den 
unleugbar bedeutenden Fortjchritten der Wiſſenſchaft die Ge— 
ſchichte der Medicin jo jehr vernachläffigt. 

Das bei Weitem Meifte feines Wiſſens aber hat Hippo— 
crated aus fich jelbft gewonnen, aus der eigenen Grfahrung. 
Die unendlih zahlreihen Beobadhtungen am Krankenbette 
lieferten ihm, der mit jeltener Klarheit und Unbefangenbheit, ſo— 
wie mit treuefter Gemiljenhaftigkeit jeine Unterfuchungen an: 
ftellte, ein umfafjendes objectived Material, und diejed veritand 
er mit großem Scharffinn zu fichten, zu ordnen, practiſch zu 
verwerthen. Dede der ächten Schriften, ja jeded Kapitel der- 
jelben, bejonders feiner Aphorismen, zeigt und Died auf's 
Deutlicyfte. Eines ſolchen Mannes Werke fünnen nie veralten; 
denn fie find voll von fundamentalen Wahrheiten, die jeder 
Arzt fennen jol, voll von realen Beobachtungen, die ſtets ihren 
Werth behalten, wie weit auch die Medicin fortjchreiten mag. 
Wohl ihr, wenn fie auf der ficheren Baſis weiter arbeitet, 
weldye ihr Hippocrates in feinen Schriften vorgezeichnet hat! 

Daß er wurde, was er geworden ift, ein Reformator, ein Pfad: 


finder, ein Fehrer jeiner und aller Zeiten, verdanfte er aljo jeinem ge- 
(430) 


25 


wiſſenhaften Studium der Vorgänger und ſeinem Genie, doch auch 
der Zeit, die ihn unter den günſtigſten Auſpicien geboren werden 
ließ. Sm jener großen Epoche, in welcher ein Pericles mit 
bewundernswerther Meiiterichaft das Ruder des Staates führte, 
Herodot und Thucydides ihre unfterblichen Werke der Ge- 
Ichichte jchrieben, Aeichylus, Sophocled und Guripides 
die dramatiiche Dichtkunft zur höchſten Vollendung bradıten, 
da mußte ein edler Wettitreit unter den Beſten entbrennen, zu 
den bedeutenditen Leiftungen anſpornen. Dieje ruhmreiche Zeit 
mußte nicht minder von ihrem Wejen, ihrem Geift und Charafter 
Jedem mittheilen, der in ihr lebte, fie verftand und vorwärts 
drängte. Die Anjchauungsweiie der Pericleiſchen Epoche aber 
war auf das Ganze, dad Harmonijche gerichtet. Und finden 
wir fie nicht voll und herrlich wieder in den claffiichen Werfen 
des Hippocrates? Er erfahte den Menſchen ald ein Ganzes, 
ebenjo die Krankheit, auch die Medicin jelbft, und dieje leßtere 
diente ihm nur zu dem einen erhabenen Zwede, die geftörte 
Harmonie des Körpers und des Geiſtes wiederherzuftellen. 
Nehmen wir dazu die jo einfache und überzeugende, jo Elar und 
präci8 vortragende Sprache. jo müſſen wir jagen, er war in 
Allem ein Sohn feiner Zeit, ein würdiger Genofje ihrer großen 
Männer. 

Seine Leiftungen in allen ihren Einzelheiten zu jchildern, 
ift nicht hier der Ort. Nur eine ungefähre Skizze möchte id) 
bringen, um den Umfang jeined Wiſſens, jowie die Methode 
jeined Handelns in Krankheiten erkennen zu lafjen. Wird man 
dody daraus am beiten auch den damaligen Zuftand der 
Medicin und die Höhe abihäten können, zu welcher er dieſelbe 
erhoben hat. 

Die Anatomie und Phyſiologie find im Hippocratiichen 
Zeitalter noch jehr dürftig entwidelt. Neligiöfe Gründe ftanden 


(431) 


der Vornahme von Sectionen an menſchlichen Leichen entgegen. 
Man ſchloß deshalb aus den Refultaten von Zergliederungen, 
die an Thieren ausgeführt waren, auf den Menichen und ges 
langte dadurdy zu zahlreichen Irrthümern. Dody find zweifel« 
[08 einzelne menjchliche Sectionen von Hippocrates und feinen 
Schülern vorgenommen worden, wie died ſchon Littré und 
Rojenbaum überzeugend nachgewiejen haben. Immerhin geichah 
died nur ausnahmsweiſe. Unterjuchungen über die Functionen 
der Organe werden gar nicht erwähnt, und dies erflärt die Un- 
vollftändigfeit des phyſiologiſchen Willens. 

Meifterhaft aber war Hippocrates in der Kranfenunter- 
ſuchung. Bei diejer berüdfichtigte er den Zuftand der Er: 
nährung, den Gefichtsausdrud, die Hautfarbe, die Bewegungen, 
die Lage ded Kranfen, den Puls, die Temperatur ded Körpers 
an verfchiedenen Theilen, das Verhalten der Berdauung, etwaiges 
Srhrechen, die Athmung bezw. den Auswurf; er bemußte aljo 
vorzugsmweile dad Auge und das ZTaftgefühl. Doch iſt es 
zweifelloe, daß er, wenigitend in gewiflen Fällen aud) das Gehör 
anmwandte, um fich Ausfunft zu verichaffen. So bildete die 
finnliche Exploration die Grundlage feiner Unterſuchungsmethode. 
Die Verwerthung der Mittheilungen des Patienten jelbit ftand 
erſt in zweiter Linie. 

Was an Zeichen von Krankjein gefunden worden war, 
diente znr Beitimmung der Krankheitsform, weit mehr aber 
noch zur Feitftelung der Prognoje und der Heilmittel. Eine 
möglichft geaaue Vorherjagung jchien ihm abfolut nöthig. Auch 
die Koiſche Schule legte auf diejelbe ein hohes Gewicht, wie 
wir bereit8 gejehen haben. Sie begründete die Prognoftif, 
aber Hippocrateß bereicherte diefe in ungemöhnlichem Maße 
durdy jeine zahlreichen jcharfen Beobachtungen, die ohne Vor— 


urtheil angeftellt waren, und zeigte zugleich, wie weit ed der 
(432) 


27 


Arzt in der Borherjagung bringen fanı. Seine Abjihätung 
des Berlaufes und Ausganges der Krankheiten war in der That 
eine bewundernswerth ſichere. Was er in dieſer Beziehung 
lehrte, hat, wie man zu jagen pflegt, Hand und Fuß, bat 
bleibenden Werth) und verdient, von jedem Arzte eingehend 
ftudirt zu werden. Ich erinnere nur an folgende Säbe: „Wenn 
in fieberhaften Krankheiten ein zäher Ueberzug auf den Zähnen 
entfteht, jo fteigert jich das Fieber”, ferner „Schlaf und Schlaf: 
lofigfeit, wenn fie dad Maß überjchreiten, find ein jchlechtes 
Zeichen”, ferner „Wenn ein Genejender gut ibt und nicht an 
Körpermaffe zunimmt, jo ftebt ed ſchlecht“, oder „Wenn bei 
einem Fiebernden Schweiß entfteht, ohne daß das Fieber nad). 
läßt, jo verlängert ſich die Krankheit“, oder „Stimmlofigfeit 
mit gleichzeitig darmniederliegenden Kräften, ſowie Schlaf mit 
offenen Augen ijt böje*. “ 

Noch größer fteht Hippocrates durch jeine Behand— 
lungömethode da, die ebenjo einfah, wie naturgemäß, 
Zeden für fi) einnehmen muß. Sein eriter Grundjaß war, 
jorgjam unter Prüfung der Symptome und des Kräftezuftandes 
der Patienten das feitzuitellen, was zu erftreben jei, mit den 
am wenigiten eingreifenden und am wenigften bejchwerlichen 
Mitteln einzujchreiten, falld dieje genügten, nie unnöthig und 
nie vorzeitig zu handeln, vielmehr ftetö das Walten der Natur- 
heilfraft zu beachten. Diefer letteren ließ er möglichft freien 
Yauf und jchritt erjt dann ein, wenn er ſah, daß fie allein nicht 
ausreichte, um die Krankheit einem guten Ende zuzuführen. 
In natürlicher Sonjequenz jeiner hohen Achtung vor der eigenen 
Heilkraft des menschlichen Organismus, verlegte er den Schwer— 
punft jeiner ganzen Behandlung nicht auf die Darreihung von 
Arzneimitteln, jondern auf die Anordnung einer vernünftigen 


Lebensmweife und insbeſondere auf diejenige einer richtigen Er: 
(433) 


— ⸗— 


nährung. Auch hierin folgte er dem, was die Koiſche Schule 
lehrte. Und doch gebührt ihm das große Verdienſt, die abſolute 
Nothwendigkeit der Diätetik zuerſt überzeugend dargethan und 
eine, allerdings rein empiriſche, aber ganz vortreffliche, Methode 
derſelben gelehrt zu haben. Er iſt der Begründer dieſer ſo 
wichtigen Disciplin und insbeſondere der Begründer der Fieber— 
diätetik, die er in der Abhandlung „über die Lebensweiſe in 
den hitzigen Krankheiten“ meiſterhaft dargeſtellt hat. Die Sätze, 
welche er in dieſer Schrift ausſpricht, ſind noch immer die 
maßgebenden, und gerade die jüngſte Zeit hat uns den Beweis 
geliefert, daß ſie auch die richtigen ſind.“) Selbſt die Diätetica, 
welche er für Fiebernde empfohlen hat, werden noch heut zu 
Tage in erſter Linie zur Anwendung gezogen; es ſind das die 
ſogenannten Getreidemehlſuppen, insbeſondere der Gerſten— 
ſchleim, welcher bei Hippoerates als Ptiſane in hohen Ehren 
ſtand, das Honigwaſſer, für welches wir Zuckerwaſſer reichen, 
ſo wie einfaches Waſſer und Wein. 

Die eigentlichen Medicamente waren nicht zahlreich, 
aber meift ſehr einfach und milde. Als Brechmittel wurde z. B. 
eine Abkochung von Linſen mit Honig und Eſſig, warmes 
Waſſer, Eſſig in Waſſer mit Salz, als Abführmittel ausgepreßter 
Kohlſaft, Waſſer mit Honig und Salz, als ſchweißtreibendes 
Mittel der Genuß von reichlichen Mengen warmer Getränke, 
als urintreibendes Zwiebeln, Sellerie, Peterfilie verordnet. Doch 
finden wir auch einzelne weniger milde wirkende Medicamente, 
3. B. Nieswurz, jowie Ganthariden und fogar Grünjpan. Das 
Dpium, zu den Zeiten des Hippocrates bereitö befannt, ift von 
ihm jelbft nicht angewandt worden. Bon äußeren Mitteln 
waren bejonderd Umſchläge, Bäder, dieſe auch in fieberhaften 
Leiden, Kipftiere, Augenwafjer in Gebraud. Ungemein häufige 
Anwendung endlih fand der Aderlaß, menigftend in den 

(434) 


29 


bigigen Krankheiten junger, vollfräftiger Individuen. Auch der 
Schröpfköpfe gejchieht Erwähnung; fie waren börnerne oder 
metallene Gloden, in deren oberem Ende eine Fleine Deffnung 
zum Anjaugen fidy befand. 

Hippocrates bejchränfte fich übrigens keineswegs auf die 
Behandlung der inneren Krankheiten, jondern übte und lehrte 
auch diejenige der äußeren. 

Meberrafchend groß war jeine Kenntniß der Knochenbrüche, 
der Berrenfungen, NRüdgratöverfrümmungen, der Kopfwunden 
und der Schädelverlegungen. Er übte bereitö eine Reihe von 
Dperationen, 3.B. die Trepanation. Cine nicht geringe Rolle 
ipielte bei der Behandlung das Glüheiſen. „Was Medicamente 
nicht heilen,“ jagt er, „heilt dad Eijen, was Eijen nicht heilt, 
heilt das Feuer. Was aber das Feuer nicht heilt, ift un: 
heilbar.“ 

Auch auf dem Gebiete der Augenbheilfunde finden wir 
ihn wieder. Er fannte die Fehler der Augenlider, die Augen 
entzündungen, jelbit jchon den grauen Staar, und war audy hier 
bejonderd in der Borherjagung jehr bewandert. 

Die Geburtöhilfe wurde zu den Zeiten des Hippocrates, 
wie jegt im Wejentlichen von den Hebammen geübt. Nur in 
ichwierigeren Fällen pflegte man ärztliche Hilfe zu fuchen. Des— 
halb darf ed uns faum Wunder nehmen, wenn bei Senem, 
wenigftend in den Achten Schriften, von diejer Disciplin nicht 
die Nede ift. Wohl aber lieferte er zahlreiche werthvolle Mit- 
theilungen über Krankheiten der Frauen und Kinder. 

Auch wichtige Gapitel der Hygiene bearbeitete der große 
koiſche Arzt. Er ftudirte eingehend die Urſachen der Krank— 
heiten, die Einflüſſe ded Bodens, ded Waſſers, der 
Luft, der Temperatur, ded Lebensalters, der epidemi- 


ihen Gonftitution, jowie der fhädlihen Sitten und 
(435) 


30 


Semwohnbeiten, gab aber audy Mittel zur Berhütung von 
Krankheiten an. So rühmte er den gejumdheitlichen Nuben des 
reinen Zrinfwafjerd, warnte vor dem Genuß des unreinen, weil 
dieſes Durchfälle und Milzanichwellung erzeuge. Die Ber: 
befjerung des Waſſers dur Kochen war ihm ſehr wohl befannt. 
Zahlreiche Rathſchläge ertheilte er auch bezüglich der Ernährung 
und bezüglich der Anwendung von Bädern. Endlich lieferte er 
in jener clajfiihen Schrift, welche fo reich am hygieniſchen 
Winken ift, nämlich in derjenigen: „über Luft, Waffer und 
Gegenden“ bereitd den eriten Verſuch einer mediciniidhen 
Geographie, indem er die europäiſchen und afiatiichen Völfer 
binfichtli ihrer körperlichen Verhältniſſe beichrieb, die Ab— 
bängigfeit der leßteren von der Beſchaffenheit des Yandes 
ſchilderte und jpecifiihe Krankheiten aufzählte, welche dem einen 
oder anderen Volke eigen feien. 

So ſchuf Hippocrates eine wiljenjchaftlidhe Medicin, 
zeigte ihr den Weg, den fie einzujchlagen hatte, und beſchenkte 
fie außerdem mit einer unendlichen Fülle empirifchen Materials, 
defien Durcharbeitung viele Iahrhunderte beichäftigen follte. 

Bei ſolch' einer epochemachenden Erſcheinung bält man 
unwillfürlid inne und wendet den Blid nod einmal zurüd 
auf den Bildungsgang, welchen die Medicin bis dahin durch— 
gemacht hat. Aus fragmentären Erfahrungen entiprungen, 
wird fie zunädit, mit Aberglauben und religiöfem Gultus eng 
verknüpft, in der Hand jelbftiüchtiger Priefter eine Kunft, bei 
der das Magiſche und Myſteriöſe die Hauptrolle fpielen muß, 
die eigentlibe Behandlung dagegen zurüdtritt. Allmählig aber 
werden mehr Erfahrungen gejammelt, und fo fünnen jene erften 
Aerzte ed wagen, das ängftlidy gewahrte Princip der Erelufivität 
zu modificiren. Sie nehmen Laien in ihren Orden auf und 


beginnen audy außerhalb der Aesculaptempel zu practiciren, ohne 
(436) 


31 


übrigend von den Magiſchen ganz abzulafjen. Mit der fort: 
Ihreitenden Aufklärung des Volkes aber und der Begründung 
der Medicin durdy die Philofophen bezw. philoſophiſch gebildeten 
Arzte finkft dann das Sahrhunderte alte Gebäude der prielter- 
lichen Heilfunde in fi) zujammen. Eine neue, vom Aberglauben 
fih losjagende, nicht mehr auf die Unwifjenheit des Volkes 
Ipeculirende Richtung der Medicin tritt auf, nämlich die natur: 
philojophijch:theoretifirende. Doch auch dieſe muß der fort- 
Ichreitenden Erfenntniß weichen, weil fie dem praftiichen Zwecke 
nicht entipridt. Die eriten reinmediciniſchen Schulen, weldye 
in den bisherigen Tempeln des Aesculapius ihren Sit auf- 
ſchlagen, beginnen nun ihrerſeits den Kampf, indem fie das jeit 
jo langer Zeit forgfam gejammelte empiriihe Material gegen 
die Sabungen der philoſophiſchen Heilfunde verwerthen, bis 
einer ihrer Zöglinge, audgeftattet mit den herrlichiten Gaben 
des Geijted, voll unermüdlichen Eiferd und nie raltender That: 
fraft, die völlige Cmancipation der Medicin zum Austrage 
bringt, fie von Theorien und Phantafien befreit und durch un— 
ausgejeßted Streben nach Dbjectivität und Wahrheit ihr eine 
rein praktiſche Grundlage giebt, auf der alle fommenden Genera— 
tionen weiter bauen fonnten. 

Das ift in furzen Zügen die Geſchichte der altegriechiichen 
Heilkunde, ihr Uranfang, ihre Entwidelung, ihre Blüthe. Habe 
ih in der Einleitung gejagt, dab dieje Geſchichte ein Stüd 
der Gulturgeichicdhte uns vorführe, jo glaube ich nicht zu viel be= 
hauptet zu haben. War doch der Eultus des Aesculapius, mag 
diejer eine fictive Gottheit oder ein durch die Mythe vergötterter 
Helfer des Volkes gewejen fein, ein natürlicher Ausfluß der 
ganzen Denkweiſe dejjelben in feinem Urzuftande, in welchem es 
Götter und Menſchen inniger mit einander verknüpfte und an 


dem directen Eingreifen der eriteren in die Geſchicke der Sterb- 
(437) 


32 





lichen feſthielt. Verband fidy ferner nicht der erfte Fortichritt 
in der Heilfunde mit dem Auftreten jener bedeutenden Männer, 
welche auch in anderer Beziehung dem Volke Aufklärung braten? 
Und jelbit die Glanzepoche der Medicin, fie war nur möglich, 
weil zu jener Zeit der griechiiche Geilt in feiner vollen Kraft 
und Friſche fich entfaltet hatte. Denn jein Alled belebender 
Haud erfüllte aud den Hippocrated, jpornte ihn an zu 
idealem Streben und medte in ihm jene erhabene Auffaſſung 
der Mebdicin, weldye er vertrat und welche zu jchildern idy joeben 
einen jchwachen Verſuch gemacht habe. 


Anmerkungen. 


1) Benußt wurden: Sprengel’s, Haejer’d und Hirſchel's Dar- 
ftellungen der Gejchichte der Medicin, ferner Wahsmuth: Hellenijce 
Alterthumskunde, Panofka, die Heilgötter der Griehen, Panofka, 
Asclepios und die Asclepiaden. 

2) Pindar, 3 pyth. Ode. 

3) Genaue Beichreibungen von Asclepiaden-Tempeln giebt Pau— 
janias, jpeciell liber II. u. liber X. Bemerkenswerth ijt die ganz neue 
Beichreibung des Asclepieums zu Athen durch den Franzojen P. Girard 
(Gazette medicale de Paris 1882. Nr. 23 und 24). 

4) Man vergleihe: Die Philojophie der Griechen von Eduard 
Zeller, 1877, jowie Wedekind, der pythagoräiiche Drden 1820, 
. Ritter, Gejhichte der pythag. Philofophie 1826, Roth, Geſchichte 
der abendl. Philojophie. 1. Abth. S. 261 und 2. Abth. ©. 48 ff. 

5) Unna in Peterſen's biftorifch + philologiichen Studien. 1832. 
8. Heft 1. 

6) Gemeint ift die Scene im Plutos. V. 670 ff. 

7) Plato (Politic. III. p. 399) jagt von Herodicus, er habe die 
Gymnaftif mit der Heiltunde vereinigt. 

8) Dieſe Inſel ift das heutige Stando, türfiih Sftanfir, nabe 
der Küfte von NAnatolien. 

9) Man vergleiche des Verf. Abhandlung über „die Diät in den 
acut-fieberhaften Krankheiten“. 1877. 


(438) 


Drud von Gebr. Unger (Tb. Grimm) in Berlin, Schönebergerftr. 17a. 


Die 


Anfänge menfhlidher Indufltie. 


Dr. Aarl uon ücherzer. 


GP 


Berlin SW., 1883. 


Berlag von Carl Habel. 
(E. 6. Tüderity'sche Berlagsbuchhandlang.) 
33. Wilhelm: Straße 33, 


Das Recht der Meberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


(Fine Wanderung durdy die prähiftoriichen Scenerien, vor= 
über an palaeontologifhen Höhlen, an Dolmen, Cromlechs und 
Grannogd, an Steinfiften und Kjöffenmöddinger, an kyklopiſchen 
Mauern und Pfahlbauten binterläßt den Eindrud, daß dem 
geiftigen Leben der Menjchheit eine Vorſtufe Eörperlicher und 
mechanijcher Ausbildung vorausgegangen war. Erſt nachdem 
der Urmenſch aus der angeerbten hodenden Stellung zum pers 
manent aufrechten Gang fich erhob, eignete er fich eine freie 
Armthätigkeit an und erleichterte die Zehnfinger- Gefchiclichkeit. 
Bon Sprache war da noch nidht die Rede. Lange bevor in 
einer „Natürlihen Schöpfungsgeſchichte, Die verfchiedenen 
Raffen unferes Gejchlechtes auf Eine Stammart: den ſprach— 
(ofen Urmenfhen (Homo primigenius alalus) zurüdgeführt 
wurbden!), erzählte Plutarch (De Iside et Oriside), daß, als 
Thoth, der Gott der Wiſſenſchaft und Kunft und der Erfinder 
der Buchitaben zuerft zur Erde Fam, die Egypter noch feine 
Sprache befaßen, jondern daß fie nur Töne ausftiehen, gleich 
den Thieren?). 

Für die Geſchichte ded gewerblichen Fortjchritted ift ed aller- 
dingd nicht von unmittelbarem Belange, ob die Exiſtenz des 
Menichengeichlechtes vor oder nach der Diluvial-Periode, nady Lyell 
in die Pliocen-, nad Kingsley und Lubbod in die Miocen-, oder 


endlich nach Wallace gar in die Eocene Era verlegt wird. Immerhin 
XVII. 419. Ir (441) 


4 


aber müffen Sahrtaufende und Jahrtauſende verftrihen fein, ehe 
der Urmenſch dem thieriichen Zuftande fich entrang, die jucceifiven 
Grdrevolutionen überdauerte, fi) aus Eidzeiten und Sintfluthen 
rettete, jeine Fingerfertigkeit entwidelte, gejellig zujammenzus 
leben begann und die Sprache jowie die Erzeugung des Feuers 
und deſſen Anwendung erjann. Der an einem aufrechten Gang 
faum erft gemwöhnte und der Arbeitöfraft feiner Arme ſich noch 
unbewußte Wilde, wehrlod und maffenlos, mag im Kampf um 
fein Dafein gegen die an Körpermaß und Kraft ihm überlegenen 
Raubthiere auf der Höhe eined Baumes, von deſſen Früchten 
er ſich nährte, ein fichered Nachtlager gejucht haben. Zeichnet 
ſich doch der zu dem Reiten der Urbevölferung der Philippinen 
gehörende Negrito oder Aeta, meift in den Wäldern umber- 
itreifend, noch) in unjeren Tagen durch die Behendigfeit aus, 
mit welcher er, gleich einem Affen, die höchſten Bäume erflettert 
und aud den Gezweigen wieder zu Boden jpringt®). 

Mit der Zeit lernte der Waldmenſch einen erft zufällig 
und fpäter abfichtlich abgebrocdhenen ftarfen Aſt ald Stüße 
oder ald Vertheidigungs- und Angriffswaffe handhaben. Aber 
das Blätterdach ded Waldes vermochte nur wenig ausreichenden 
Schuß vor den Unbilden der Witterung, dem mächtig herab» 
trömenden Regen, dem jtürmenden Drcan, dem entlaubenden 
Wechſel der Jahreszeiten zu bieten. Hatte ein bereitö ange— 
borener aber unabänderlicher Inftinft die minder begabten 
Thiere gelehrt, Neſter in den Zweigen zu bauen oder 
in die Erde zu graben, jo vermochte der durch einen voll« 
fommeneren Organismus zu einer höheren Entwidlung berufene 
Urmenjcd die vorgefundenen Feljenipalten und Grohöhlen als 
jeine feite Zufluchtsftätte zu wählen. Nicht blos die Schrift- 
fteller ded Altertbumsd geben uns Kunde von Höhlenbewohnern, 


(442) 


5 


fondern noch gegenwärtig jehen wir in Spanien, halben Weges 
zwilchen Granada und Murcia, in der nächſten Umgebung ber 
Stadt Guadir mehrere taujende in einem Lehmfegel ein- 
gegrabene Höhlenwohnungen bevölkert. Ebenſo jollen in den 
Hypogaeen oder Höhlungen bei dem alten Thebais in Egypten 
noch heutzutage Troplodyten haufen. 

Je nad) der Beihaffenheit der Landichaften, in welchen die 
nachfolgenden Menſchengeſchlechter fich anfiedelten; je nach den An- 
forderungen ihrer Klimate; je nach der Verbreitung der primitivften 
Erfindungen von Steinhämmern, Steinmefjern, Stangen und 
Beilen, von aus Fiſchgräten oder zugeſpitzten Thierfnochen an- 
gefertigten Nadeln und Pfriemen, von zu Bindfäden benußten 
Dflanzenfafern oder von aus ftarfen Dornen oder holzpflödigen 
bergeftellten Nägeln — umgeitalteten fi die menſchlichen Wohn- 
ftätten zu Hütten aus Baumzweigen oder Baumrinden, zu Ge— 
zelten aus Thierfellen oder Mattengeflehten, zu aufgeworfenen 
Erdhütten und anderen Conftructionsformen der einfachften Art. 

Als erwieſen gilt, daß der Urmenſch ein Zeitgenoffe war 
des Höhlenbären, des Mammuth und ded wollhaarigen Rhino— 
cerod. Im Jahre 1852 ward die Höhle von Aurignac im 
Departement Haute Garonne entdedt, im welcher ſich nady der 
Unterfuhung des gelehrten Paläontologen Lartet die Skelette 
von 17 Männern, Weibern und Kindern an der Seite von 
Knochenreſten antidiluvianijcher Thiere vorfanden. Hier zeigten 
fi die Ältejten nachweidbaren Spuren der Entwidelungsftadien 
des Menjchengefchlechtes. Aſche und Kohlenrefte befanden fid) 
auf einem Feuerherde aus rothgebrannten, abgeplatteten Steinen ; 
umber zeritreut lagen primitive Geräthichaften, wie Steinmeffer, 
Pfeiljpigen, Steinhammer mit einem Loch zum Durchſtecken 
des Fingerd, Schmudgegenftände, ferner Scherben aus gebrann» 


(443) 


6 


tem oder jonnengetrodnetem Thon. Die verfchiedenen Thier- 
knochen ftammen aus der Diluvialzeit, welche der Periode 
der letzten Erdrindenbildung voranging. Derlei Höhlen mit 
Meberreften vorweltlicher Thier- und Menſchenknochen find in 
allen Erdtheilen, jelbjt in Auftralien gefunden worden, wie dies 
auch Profefjor Schmerling in Lüttich ſchon lange vor dem Funde 
in Aurignac behauptet hat. 

Prüfen wir, mit Beifeitelafjung von fragbaren Gonjecturen, 
die Thatfachen der prähiftorifchen Funde, welche auf den Gon- 
tinenten beider Hemijphären gemacht worden find, jo ftellen ſich 
und in ihnen die Erzeugnifje, zwar nicht aus der eigentlichen 
Kindheit, wohl aber aus einer frühen Cntwidelungsperiode 
der Menjchheit dar. Der Steinzeit muß wohl, wie Prof, 
5. Müller) treffend bemerkt, eine Periode der HolzeSnftrumente 
vorangegangen jein, von denen im Laufe der Jahrtaufende fein 
Stück bis auf unfere Tage ſich erhalten hat’). Aber zahlreich 
find die Gedenfftüde aud jener jpäteren Epoche, wo der dem 
thierifchen Zuftande ſich entringende Menjch anfing, aus hand» 
lichen Steinen, Mujchelichalen, Knochen, Gräten, Zähnen und 
Thiergeweihen brauchbare Werkzeuge herzurichten, geeignet zur 
Arbeitserleichterung, zum erfolgreihen Angriff, zum Ber: 
theidigungäfampfe, oder zu Sagdzweden. Im den altnordiichen 
Mufeen zu Kopenhagen und Stodholm befinden fid) an 40 000 
bi8 50000 joldye prähiftoriihe Steinwerkzeuge in Form von 
Hammern, Meibel, Aerten, Mefjern, Doldyen, Spieben, Nadeln, 
Pfriemen u. a. m. 

Wie viele Jahrtauſende hindurch die Steinzeit angedauert 
haben mag, wird fid) faum je mehr feitftellen lafjen; fie wird 
binlänglicdy durdy die Erfahrung charakterifirt, daß in den Erd» 
tiefen und Höhlen, an der Seite von jolchen Werkzeugen die 


(444) 


7 


Knochen von längft audgeftorbenen Thiergejchlechtern gefunden 
werden. Sene höhlenbewohnende Kiejeljchmiede waren es, welche 
den Grund gelegt haben zur mechanijchen Ausbildung, aus 
welcher erſt ſpäter eine geiftige Cultur fich entwideln fonnte. 
An der gemeinfamen Arbeitöftätte wurden gegenſeitige Anrufungen, 
tönende Bezeihnungen für einzelne Gegenftände, kurz die Sprache 
überhaupt erfunden; denn ed gab feine Spradhe vor der Stein- 
periode, oder bevor die Thiermenjchen fi, in kleinen Vereinen 
zufammenthaten. 

In dem nämlichen Höhlenkreije muß auch die Kunft des 
Feuermachens erfunden worden fein. Pomponius Mela und 
Plinius berichten von den Feuerlojen in Aethiopien; chineſiſche 
Sagen berufen fi auf eine Zeit, wo man den Gebraud) ded 
Feuers nicht fannte, und Thufydides bezeichnet eine wilde Völker: 
Ihaft als ömophag (Rohes efjend), wogegen in den dänijchen 
Küchenreſthaufen (Kiöffemöddinger) neben Auftern- und anderen 
Muſchelſchalen bereits Aichenrefte und Holzkohle ſich vorfinden. 
Man darf jagen: aus einem wilden ward der Menſch ein 
kochendes Thier. Anfänglich, da feuerfefte Geichirre noch nicht 
zur Hand waren, wurden Speiſen durch Einlegen in glühend 
gemachte Erdlöcher, durch Roftvorrichtungen oder durch An— 
wendung von glühender Aſche, gar gemachte). Im manchen Ge— 
genden hat ſich bis heute die Sitte erhalten, Waſſer oder andere 
Flüſſigkeiten in hölzernen Kübeln durch Einlegen von glühenden 
Steinen zum Sieden zu bringen. Als primitiver Kamin und 
Ofen mag ein ausgehöhlter Baumſtamm gedient haben, in 
deſſen Höhlung Feuer angezündet wurde. Die Erzeugung des 
Feuers durch Holzreibung ſcheint ſogar der Aufbewahrung des 
heiligen Feuers in Tempeln durch eigens hierfür beſtimmte 


Prieſter und Prieſterinnen vorangegangen zu ſein wie aus dem 
(445) 


8 


häufigen Vorkommen von Afchenreften in den allerälteften Funden 
fih folgern läßt, und zwar zu einer Zeit, wo religiöfe Vor— 
ftellungen oder gottesdienftliche Gebräuche irgend welcher Art 
noch nit zum Durchbruch gefommen waren. 

Einmal im Befige der Sprache, des Feuerd und der ein- 
fachſten Werkzeuge nahm der Menſch aldbald feine dominirende 
Stellung im Naturreiche ein. Er war nicht mehr, wie ehedem, 
der Genofje der Thiere ded Waldes, jondern hatte ſich zu deren 
Beherrſcher aufgefhwungen mit jelbftbewußten Abfichten und 
mit einftweilen genügenden Hülfsmitteln zur Erreichung der- 
jelben ”). Jagd und Filchfang, mit Keulen, Spießen, Harpunen, 
Neben und anderen Fangapparaten betrieben, lieferten fortwährend 
reichlihen und geficherten Ertrag. Die dem erlegten Wilde ab- 
gezogenen Felle wurden zur Bereitung weicher und warmer 
Lagerftätten, jowie zur Anfertigung von um die Schulter ge- 
Ichlagenen Pelzmänteln verwendet, zum Schutze gegen Snjecten- 
ftihe, Näffe, Kälte oder Sonnenbrand. Deun zu jener Periode 
trieb fi der Wilde nadt iu feiner Behaufung und im Felde 
umber, wie auch nody heute, um jo viele Jahrtauſende jpäter, 
Millionen Bewohner ded Innern von Afrika, die Aboriginer 
Auftraliend, die Papua’d auf Neu-Guinea, die Negritod del 
Monte auf den Philippinen, die Botocuden in Südamerika, die 
Baliented, Biceitad und Blancad in Gentralamerifa, und 
noch viele andere barbariſche Völkerſchaften im Zuftande voll: 
kommener Nadtheit angetroffen werden. 

Nah und nad lernte der Menſch — wer kann ermefjen, 
wie lange Zeit ed hierzu bedurfte? — den Baumaft als Hebel, 
den Stein ald Hammer, die loſe gemachte Pflanzenfafer als 
Bindfaden gebrauhen. Die zur Behaufung gewählte Feljen- 
ipalte oder Erdhöhle wurde durch vorgemwälzte Steine oder 

(446) 


9 


Holzpflöcke gegen den Einbruch von Raubthieren geſichert, und 
mit Hülfe von bereits ererbten Brech- und Klopfwerkzeugen 
(alſo nicht mehr, wie zur Zeit der erſten Väter, mit kralligen 
Fingern) je nach Bedürfnik erweitert. Die Erfahrung des 
Tages wirkte civilifatorifcy fort und führte zu weiteren Er— 
rungenjchaften. Am Feuer wurden erbeutete8 Wild und Fifche 
mürbe und jchmadhaft gebraten, jo dat allmählich der Genuß des 
rohen Fleiiches, welcher noch gegenwärtig bei einigen Stämmen 
üblich ift, abgeftellt werden konnte. VBorräthe von Nahrungs- 
und Brennftoffen wurden angejammelt, Deden, jowie Kleidungs- 
und Beihuhungsftüde verfertigt, aus Binfen und Gräjern die 
erftien Matten, aus gereinigten Pflanzenfafern Gewebe hergeftellt; 
der Boden in der Nähe der Lagerftätten mit Hade und Schaufel 
urbar gemacht, Getreide gebaut und dad Korn zwijchen zwei 
platten Steinen gemahlen und endlich jogar Brod oder Kuchen 
gebaden. 

Zeugnißgebende Ueberrefte diejer elementaren Betriebe, jeit 
Jahrtauſenden verjchüttet in der Tiefe der Erde, find an den 
bereit3 erwähnten $undorten auögegraben worden. Im obern 
Nilthal bei Heliopolis, wurden neben Knochen auch Töpfer- 
Icherben in einer Tiefe von 60-70 Fuß aufgefunden; es brauchte 
viele Fahrhunderte bevor die überlagernden Schlammſchichten 
ded Nild an diejer Stelle fi anzujammeln vermocdten. An 
der Mündung der Somme in der Picardie lagerten Steinärte 
in großer Anzahl unterhalb der Zertiärftraten. In den paläo- 
lithiſchen Höhlen (Neanderthal, Dordogne, Devonthire u. a. D.) 
fanden fi an der Seite von Thier- und Menſchenknochen auch 
Steingeräthe, zuweilen mit Widerhafen ausgerüftet. Die Grab» 
ftätten der jogenannten zweiten GSteinperiode enthalten nebit 


Steinmefjern, Meißeln, Nadeln und Lanzenjpigen auch irdene 
(447) 


10 


Krüge und Töpfe mit Küchenreften. Der dänijchen Küchenabfälle 
haben wir bereitd Erwähnung gethan, in welchen jchon Aſchen— 
und Kohlenrefte vorfommen, obſchon diejelben aus einer Zeit 
ftammen wo die dortigen Anwohner nur von aufgefundenen 
Muscheln lebten. 

Es wäre irrig, anzunehmen, daß die Bervolllommnungen 
der Imdividuen, die Verbefferungen ihrer gejellihaftlihen Zu— 
ftände und die culturellen Einrichtungen überhaupt gleichmäßig 
und gleichzeitig in allen Niederlaflungen zum Durchbruch ge— 
langten, in weldyen die abgetrennten Gruppen der Menſchen— 
familie fid) abgezweigt hatten. Zeigen fi) doch noch heute 
primitive, vom Wellenichlag der Givilijation unberührt gebliebene 
Zuftände in allen Erdtheilen, Europa ausgenommen! Die Bahn 
zur Gultur wird wohl im Allgemeinen durd Klima, Boden 
und andere äußere Berhältniffe vorgezeichnet; aber fie wird, wie 
die hiſtoriſche Erfahrung lehrt, nidyt von allen unter denjelben 
Himmelöjtricdyen und natürlichen Begünftigungen eriftirenden Ge— 
ichlechtern in gleicher Weije betreten. 

Es fehlen und alle Erflärungdgründe — und es iſt wenig 
Hoffnung vorhanden, diefe Lücke auch Fünftig einmal ausge— 
füllt zu jehen — für die erftaunliche Ericheinung, daß 3000 
Fahre oder noch länger v. Chr. Geb., aljo in einer Periode, 
welche wir ald eine vorfintfluthliche bezeichnen müſſen, techniſche 
Künfte und Induftrieen, ſowie Schifffahrt und in gewiſſem 
Sinne audy internationaler Handel bereit? auf einer hoben 
Stufe der Entwidlung fidy befunden haben. 

Die ägyptiſche Geſchichte ragt, wie Lepfius ſich ausdrüdt, 
gleich einem weit vorgejchobenen Vorgebirge über die hiftorijche 
Zeit aller übrigen Völker in das Nebelmeer der menjchlichen 


Vorgeihichte hinaus. Wir gelangen an der Hand einer ununter- 
(448) 


11 


brodhenen Reihe von Monumenten bi8 5000 oder 6000 Zahre 
vor unjerer Zeitrechnung zurüd, zu welcher Periode bereits eine 
ausgebildete Sculptur, nebit Malerei, geichäftige Induſtrie, ein 
vollendete Schriftſyſtem, eine ſtaunenswerthe Technik und ein 
verfeinerter Luxus ſich entfalteten. 

Dafjelbe Lob muß den alten Monardhien am Euphrat 
und Ganges geipendet werden, in deren Wunderthälern die 
Herrlichkeiten von Babylon, Niniveh und Ecbatana unter 
Trümmerhaufen, beftehend aus Baditeinfragmenten, Ziegels 
fteinen, Berglafungen und Bitumenreiten begraben liegen. Noch 
ragt auf der Ebene „Sinear“ der Bird Nimrud (Thurm des 
Nimrod) ein Tempel des Gottes Bel!) empor, fieben Stockwerke 
body und in fieben verichiedenen Farben ausgeführt, zur Berfinn- 
bildlihung von Sonne, Mond und Erde und dem anderen da— 
mald befannten vier Hauptplaneten. Der Bird Nimrud, aus 
gebrannten Ziegeln erbaut, weil nicht, wie für die Pyramiden 
Egyptens, Steinmaffen herbeigejhafft werden konnten, joll bis 
zu einer Höhe von 150 Fuß gefördert worden fein. Wie viele 
Jahrtauſende weiter zurüd in der Zeit müffen, vor Inangriff- 
nahme jo folofjaler Baumwerfe, die erjten Anfänge der Meß— 
tunft, ded Maurer: und Zimmerhandwerfs, der Berechnungs- 
methoden und der Aftronomie gelegen haben. 

Die Aſſyrier und Egypter wandten in ihren Bauten 
Bogengewölbe an, lange vor den Römern, welde biöher als 
die Erfinder der genannten Gonftruction gegolten haben. Im 
den Grabftätten des bibliichen Ur (gegenwärtig Mugheir) wurden 
Werkzeuge, Lampen, Goldihmud, Kupfergeräthe, Bajtmatten, 
Linnengewebe und Stidereien gefunden, welche auch nad) dem 
heutigen Geſchmack ald vorzüglich bezeichnet zu werden verdienen. 


Die Phönicier, freilidy in einer etwas, aber doch nicht viel jpäteren 
(449) 


12 


Periode brachten Weihraud, Gewürze, Gold, Perlen, Edeliteine, 
Elfenbein, foftbare Hölzer, Seiden- und Baummwollitoffe nebſt an— 
deren Zurusartifeln aus Hindoftan und Arabien nad) Babylon. 
Tigris und Euphrat waren für größere Fahrzeuge von deren 
Mündung aufwärts jchiffbar; ſchon hatte man begonnen, von 
Booten aus Rahmen, aus geſpannten Thierfellen oder aus aöphal- 
tirten Weidengeflechten zu ftarfrudrigen feften Holzſchiffen über- 
zugehen. Die jagenhafte Semiramid befriegte, nad) dem Berichte 
von Diodorus Siculus, den indiſchen Fürften Strabrobrates auf 
einer den Indus hinauffahrenden Flotte. Andererjeitd wurde zur 
Blüthezeit Babylons ein bedeutender Erporthandel getrieben mit 
prachtvollen, figurenreichen Teppichen, mit feinen Wollen» und 
glänzenden Seidengewändern, mit gejchnittenen Edelfteinen (gem- 
men) und andern Kunft: und Induſtrie-Erzeugniſſen, um deren 
willen das Land Sinear ſchon feit grauefter Vorzeit berühmt 
war. Aber hiſtoriſche Nacht bededt die eigentlichen Anfänge 
diejer Kulturen. 

Hingegen ift man mit den Gulturjtufen Egyptens faft von 
Kindesbeinen an dur die Schriften des alten Zeftaments 
einigermaßen vertraut geworden. Da lejen wir, dab einer 
der Söhne des Patriarchen Jacob ald Sklave an midianitifche 
Handelöleute verkauft wurde. Wie mit einem Zauberſchlage 
befinden wir und, jchon nady wenigen Kapiteln der Schöpfungs— 
geſchichte und Gejchlechtöfolge, inmitten von modernen Zuftänden 
und Staatd- Einrichtungen. Joſef iſt Haudintendant eines 
Dberiten der föniglichen Leibwache; er wird in einen Kerfer 
gewerfen, in weldyem er mit einem Hofmundjchent und Hof» 
bäder zujammentrifftl. Im weiteren Verlauf der Gejchehniffe 
„nimmt Pharao einen Ring von feiner Hand, und thut ihn an die 
Hand Joſefs, und bekleidet ihn mit Gewändern von Byjjus 


(450) 


13 


(Flachs)“) und legt eine goldene Kette um jeinen Hals, und 
läßt ihn fahren in jeinem Wagen 0). Vergebens forjchen wir 
nady dem Urſprung der frühzeitigen gewerblichen Ausbildung und 
Kunfttechnif, die fich vor unferen Augen entwideln. Wir fönnen 
nur ahnen, dab diefer Pharaonifchen Periode Eulturen von noch 
viel älteren Völkern und Reichen vorangegangen fein müſſen, 
deren Namen gleichwie deren Andenken die Gejchichte nicht auf- 
bewahrt hat. Trümmer von Tempeln und Paläften; Obeliöfe 
und Pyramiden; Sphynxe und Memnonsjäulen; den Ber: 
heerungen der Zeit troßende Riejenbauten, die jeit Sahrtaujenden 
faum ein baarbreit aus ihrer geplanten Lage und wohlberechneten 
GSonftruction gewicdhen find, erjcheinen ald beredte Zeugen einer 
großen, fraftverfündenden, bemwunderungeinflößenden und lange 
nachwirkenden Givilifation. An den Mumienjärgen, in welchen 
die Leichen einen Sahrtaujend langen Schlaf vollbrachten, ift es 
nachweisbar, dab die Fabrifation leinener Gewebe im alten 
Egvpten bereitö zu hoher Vollendung gebracht war, wie denn aud) 
Bouquillon die Bemerkung madıt: „le lin est originaire des 
bords du Nil dont son nom est l’anagramme“*!!),. In: 
deſſen dürfte das Alter ded Leinengewebes jogar ein noch weit 
höheres ſein. Teppiche und buntgefhmüdte Gewänder jowie 
Segelzeuge gehörten zu den vorzüglichiten Handelöartifeln, meldye 
die Tyrer im internationalen Verkehr aus Egypten bezogen !?). 
Plinius ſpricht voll Bewunderung von der vorzüglichen Art, 
der Egypter bunt zu färben. SPrieftergewänder durften, in 
früheren Zeiten wenigftend, bei den Juden wie bei den Egyptern, 
nur aus glänzend feinen Leinen gefertigt fein. In den Mumien- 
lärgen werden Schmudgegenftände, Götenbilder, Scarabäen, 
Amulette aud Gold, Bronze und grünem Steingut, aud ges 


maltem und vergoldetem Holze gefunden. Die mitteljt aro- 
(451) 


14 





matijcher Harze einbalfamirte Leihe wurde mit Binden 
umwidelt, weldye eine Länge von Hunderten bi8 Tauſend Ellen 
hatten; für vornehme Perfonen wurden Holzjärge verwendet, 
die nicht felten bemalt waren. Meberhaupt hat unter allen 
Bölfern des Altertbumd Feines die Sitte des bildlihen Luxus 
weiter getrieben als die Egypter. Keine Steinart war den 
egyptiſchen Steinmegen zu hart oder zu jchwierig, nicht Granit, 
nod) Bafalt; in den Steinbrüchen findet man jett noch Obelisken, 
die mit einer Seite nody am Feljen haften, während die drei 
anderen Seiten bearbeitet und mit Hieroglyphen verjehen find; 
jo gewiß waren fie der glücklichen Ablöjung des ichlanfen 
Feljenbalfend. In den audy heute in lebhafter Farbenfrijche erglän- 
zenden Wandmalereien der Tempel und Katacomben, melde etwa 
6000 Sahre oder darüber alt fein mögen, find und lehrreiche 
Detaild ded damaligen Kunft- und Gewerbebetriebe, der 
gebrauchten Werkzeuge und Hausgeräthe, der Art der Boden- 
bearbeitung, der Jagd, des Fiichfangs, der Niljchiffahrt und des 
Marftverfehrs erhalten geblieben. 

In den Feljengräbern von Beni Hafjan find die Verrich— 
tungen von Webern, ZTifchlern, Töpfern, Zimmerleuten, Schub: 
machern, Eijen- und Goldjhmieden, nebit anderen Handwerkern 
abgebildet. In der großen Thebanifchen Todtenftadt, im Grabe 
der Königin Ah Hotep, welche etwa zur Zeit des Patriarchen 
Jakob lebte, wurden die ſymboliſche Art mit Stiel aus Gedern- 
holz und goldener Blattverzierung; ferner Dolch, Spiegel, Bra- 
celet, eine kleine Goldbarke, (in Form an die venetianifche 
Gondel erinnernd, und beſetzt mit Scyiffergeitalten aus ge— 
triebenem Silber), nebft anderen Schmudgegenftänden gefunden, 
deren Zierlichfeit, Formen» Eleganz und Vollendung der Aus- 


führung feine Kunftfertigfeit der Griechen in viel jpäteren 
(459) 


15 


Jahrhunderten übertroffen hat. Nicht blos diefe Lurus-Arbeiten 
aus der Kinderzeit Moſes', ſondern auch vor=-abrahamitiiche 
Geichmeide aus Theben's Grabftätten, wahrjcheinlid) 1000 Jahre 
älter ald der Lebenslauf des Patriarchen, befinden fidy mitunter 
in einem jo gut conjervirten Zuftande, daß man verjucht wäre, 
an deren hohem Alter zu zweifeln. Zieht man nun den früh— 
zeitig entwidelten Land» und Seehandel der Afiyrer, Babylonier, 
Egypter und Phönicier in Erwägung, jo wird man unjchwer die 
Wanderung der afiatijchen Kultur-Elemente, der Kunftvorbilder 
und Gemerböbetriebe bis an die Küften des mittelländifchen 
Meeres und des griedhiichen Archipelagud erkennen. 

Menden wir unjere Betradytung einem anderen Kulturher 
zu, welcher, wenn nicht der allererfte, jo doch gewiß fein viel 
ipäterer war ald jener der Chaldäer und Egypter — nämlich den 
mit den foftbarjten Natur-Erzeugnifjen gejegneten Landitrichen 
am Indus und Ganges, wohin, wie nody heute, bereit vor Zahr- 
taujenden die Völfer des Orbis Terrarum falted Gold und Silber 
ihidten, um dafür Wohlgerühe und Gewürze, Perlen und 
Edelgeſteine, die jchönften Färbe- und die feinften Kleidungsitoffe 
einzutaufchen. Bon der prähiſtoriſchen &emerböbetriebjamfeit 
und Kunftgejchiclicykeit in jenem Wunderlande zeugen nody 
gegenwärtig die in feite Feljen eingehauenen Grottentempel, um: 
geben von Treppen, Gorridoren, Säulenreihen, allerien und 
Gemächern, zuweilen, wie bei Ellora, in mehreren Stodwerfen 
aus hartem rothen Granit gehöhlt; oder, wie bei Kennery, zu 
einer ganzen Troglodytenftadt in Bafalt und Porphyr erweitert; 
dann wieder geſchmückt, wie auf der Injel Elephanta, mit figura= 
liſchen Darftellungen an den Steinwänden, die nur mit dem 
bärteften Stahl mühjam zu bearbeiten geweſen fein müfjen! 3), 

Im Tempel von Chillambrum hängen von den Pfeiler: 


(453) 


16 


Kapitälen Kettenfeftons herab, jedes aus 29 Ringen beftehend 
‚und nur au einem Felöftüd, 60 Fuß lang, gearbeitet. Auf der 
zauberhaften Inſel Geylon, dem Taprobane der Alten, verfünden 
großartige Ruinengruppen mit 1000 Pfeilern die vor etwa 2400 
Sahren unternommene Gründung der berühmten Königsftadt 
Anaradnapura. Dieſe majfiven Structuren nehmen fi, wenn» 
gleich impofant, allerdings nur plump aus; aber die Audmeißelung 
von hartem Felögeftein zu colofjalen Bildwerfen ſetzt Methoden 
und eine Ausdauer voraus, welche unferer. Zeit abhanden ge- 
fommen zu fein jcheinen. Das hohe Alter diefer Gulturen 
läßt ſich mehr ahnen als beftimmen; nur aud jeinen heiligen 
Büchern vermögen wir einiges Licht über die frühe Givilifation 
diejed Volkes und Landes zu jchöpfen. Denn ſchon Brahma, jo 
lautet ihre religiöfe Sage, ſchuf aus feinem Haupte die Lehrer 
und Priefter; aus feinen Armen, dem Sinnbild der Stärfe, die 
Krieger; aus jeinem Bauche den Aderdmann; aus dem Fuße 
(dem Sinnbild der Unterwürfigfeit) den Handwerker. Indem 
die Mythe der Bertheilung der Arbeit nach Kaften einen religiöjen 
Nimbus verleiht, deutet fie zugleich den vorgejchichtlichen Uriprung 
derfelben an. Die Vedas (Hymnen) bildeten fi zu ihrer 
gegenwärtigen Form ſchon 1400 J. vor unjerer Zeitrechnung 
heran; aber actuell müfjen fie bereits viele Jahrhunderte früher 
im Munde, in der Tradition und in den Aufzeichnungen der 
Priefter eriftirt haben, gleichwie lange vor der moſaiſchen Periode 
ein internationaler Handelöverfehr zwifchen Indien, den Küften- 
landichaften am rothen Meere, dem Golf von Perfien und den 
phöniziichen Kolonien eriftirte. 

In den, durch die Verehrung der civilifirten Nationen ge- 
heiligten Schriften des Alten Teſtamentes finden wir, beinahe 
auf jedwedem Blatte beftimmte Nadyrichten über die gewerbliche 


(454) 


11 

Erziehung des Menſchengeſchlechtes. Zwar erſcheint, durch ſym⸗ 
boliſche Einkleidung Manches darin in zweifelhaften Dämmer— 
lichte und bis zur Unkenntlichkeit verhüllt; immerhin aber werden, 
wenn auch mitunter ganz wunderbar klingende Berichte über 
das Entſtehen ſowie über die Verbreitung von Erfindungen und 
finnlihen Kultur-Elementen in der Kindheitsperiode unſeres 
Geſchlechtes gegeben. — Gott ſelbſt iſt es, welcher dem Adam 
und jeinem Weibe „Röde von Häuten machte und fie damit 
befleidete”. 1%) Bon deren Söhnen betrieb der eine bereitö er- 
giebige Viehzucht und der andere den Aderbau!5). Zubal wird 6) 
ald Vater aller Zither- und Flötenipieler, Tubal Kain !7) als ein 
Schmied in allen Erzeugniffen aus Kupfer und Eijen hingeltellt. 
Noah hatte eine nad) Ellen vermefjene, in drei Stodwerfe und 
zahlreiche Kammern abgetheilte, mit Fenftern und Thüren ver- 
jehene Schiffdarche zu zimmern, weldye von innen und außen 
mit Pech calfatert wurde; nady Verlauf der Sintfluth cultivirte 
dieſer Patriarch Weingärten und bereitete beraujchenden Wein- 
moft. Abraham war fehr reich an Silber und Gold!®; an der 
Spite eines jchwachbewaffneten Heeredö!?) befriegt er mehrere 
zu jener Zeit jchon beitehende Königreihe, unternimmt zur 
Zeit einer Hungerönoth Handelöreijen, um in Egypten Getreide 
anzufaufen 2°) und taujcht jpäter ein kleines Stüd Landes für 
400 Shefel Silber ein?!). Rebecca fommt mit einem Waſſer— 
fruge zu einem Brunnen, und wird dajelbit mit Najen- oder 
Ohrringen, künſtlich gearbeiteten Armbändern und andern Schmud: 
gegenjtänden aus Gold und Silber jowie mit reichgewebten Klei- 
dern bejchenft ??). 

Es iſt nicht nöthig, noch weitere Proben des technologijchen 
Wortreichthums jchon der Anfangsfapitel in den Schriften des 


Alten Teftamentes anzuführen; die oben citirten genügen wol, um 
XVIIL 419. 2 (455) 


18 


die Vorftelungen im Kreife der Semiten über Urjprung und 
Entwidelung von Gemwerben und Kunftfertigfeiten in der vor: 
moſaiſchen Periode zu characterifiren. Im Bude des Hiob, 
welcher für einen Zeitgenoffen des Mofes gehalten wird, fommen 
ebenfalld zahlreiche Hinweiſungen auf eine ſchon damals beftandene 
hohe Ausbildung der Gewerbe, Künfte und Handelöbeziehungen 
mit fernen Ländern vor. So erwähnt er z. B. ded aus Ophir 
gebradhten Goldes; aber die bedeutfamfte unter den hierher be- 
züglihen Stellen fcheint jene zu jein, in welcher Hiob ?3) von 
verfallenen Städten, von Häufern, welche Niemand mehr bewohnt 
und von den Zrümmerhaufen der Vergangenheit ſpricht. Wie 
alt muß eine Givilijation geweſen fein, deren Schutt bereits 
der Mann von Uz in ergreifender Sprache beflagt! 

Es giebt, wenn wir von gewiſſen modernen Erfindungen 
abjehen, faum irgend eine Art techniichen Betriebes und hierzu 
dienliher Werfzeuge, deren nicht in den älteften bibliſchen 
Schriften Erwähnung gethan würde. Wir wollen, ohne ſyſte— 
matijche Anwendung, einige der wichtigeren unter denjelben 
anführen: Viehzucht, Aderbau und Jagd im Allgemeinen; 
Weincultur; Del:, Milh- und Honiggewinnung; Kochen, 
Braten, Brod- und Kuchenbaden; Bearbeitung von Metallen 
wie Gold, Silber, Kupfer, Eifen und Blei; Häufer- Thurm- 
und Zempelbau; Gebrauch von Pflugfcharen, Schwertern, 
Meſſern, Scheeren, Leuchtern, Lampen, Hafen, Blechen und 
Handmwerközeugen; Tragen von Ringen, Armbändern, Kronen, 
Bruftpanzern, Schilden; Schneiden und Eingraviren von Edel- 
fteinen; Mehlmahlen und Anfertigung von Thongeſchirren; Metall 
guß; Webereien in Seide, Byfjus und anderen Fajerftoffen; 
Färbereien in Purpurblau, Purpurroth und Karmoifinroth nebit 
anderen Tinten; Buntwirferarbeiten, Strohgeflechte, Matten, 


(456) 


19 


Zeppiche und Vorhänge; Bänder, Schnüre und Stride; Schiffe, 
Ruder und Segelzeug; Ellenmaße, Gewichte und Geldwerthe; 
endlih im Kunftbereiche: Buchltabenfchrift, Poefien, Mufik, 
Gejänge und Tanz an der Seite aftronomijcher Kenntnijje und 
hygieniſcher Gemeindeordnungen. Ein gejellidhaftlicher Zuftand, 
wie er erſt Sahrtaujende fpäter in Europa fich geitaltete, thut 
fi vor unjeren Bliden auf. Demgemäß hält es jchwer, be— 
ftimmte und zufammenhängende Daten über die ungleichartigen 
Strömungen der technifchen Entwidelung zu ermitteln. In der 
Nähe des Urfiges der Menjchheit, in Mittelafien, in Indien und 
Egypten find im Dämmerlidyt der Vorzeit Staatengebilde, welche 
unzweifelhaft bereit im Befite vieler gewerblidyer Kenntniffe 
und Kunftfertigfeiten ftanden, mitſammt ihren reichen Kultur- 
elementen in Berfall gerathen, lange bevor die Gott- und Halb- 
gottheiten der Griechen und Römer — ihre Gered und Präfer- 
pina, ihre Bachus und Bulcan, Arachne und Prometheus, 
Hermed und Cadmus im Anbau der Felder, in der Be- 
arbeitung der Metalle, im Weben von Gefpinnften, im Bilden 
von Tihongebilden, im Gebrauch des Feuerd oder der Buch— 
ftabenjchrift unterwiefen. So haben bei Griechen und Römern, 
wie noch öfterd in jpätern Zeiten, Selbfteitelfeit und undanf: 
bare Berläugnung des fremden Saatkorns, die hiftoriiche Wahr: 
beit in einem Grade entftellt und verdunfelt, daß fie auf dieſem 
Gebiete ſchwerlich jemald wieder wird ganz aufgehellt werden 
fönnen. 

Mit den alten Kulturreihen des Morgenlandes ging der 
angejammelte Schaß von Kenntniffen und Erfahrungen, welche 
und in wiederausgegrabenen Bautrümmern, Monumenten und 
Inschriften mit ftaunender Bewunderung erfüllen, für lange 


Zeit wenigftend verloren. Erft im Abendlande, unter dem Sporn 
2* (457) 


20 


eines zwar rauhen, aber kräftigenden Klimas, entfaltete, frei von 
orientaliſchem Despotendruck, der von Kaſtenbanden erlöſte 
Schaffensgeiſt neue Blüthen; eine individuelle Regſamkeit der 
Kräfte begann ſich zu bethätigen; es waren nicht mehr Hundert: 
taujende von Sklaven, welche auf priefterliched Gebot Monolithe 
ichleppen, Pyramiden bauen und Feljentempel ausbauen mußten, 
jondern perjönliches Bedürfnig rang auf eigenen Bahnen nadı 
Befriedigung. Der Knechtichaft, gleidy den Juden aus Mizraim 
entfliehend, löfte fich die Menjchheit in zahlreiche Arbeitergruppen 
auf, weldhe, obſchon außer Contact unter einander ftehend, im 
ilolirten, aber der Hauptſache nach analogen Weilen von Stufe 
zu Stufe bi zur heutigen Kultur ſich emporarbeiteten. 

Mir haben der Höhlenbewohner und der primitiven Stein- 
werfzeuge, welche in beträchtlichen Mengen in faſt allen Ländern 
Europas angetroffen werden, bereit erwähnt. Zu dieſer Klafie 
gehören die Küchenabfallyaufen (Kjöffenmöddinger), weldhe in 
Dänemark; die Steingehege (Dolmen und Cromlechs) welche 
in Waled und Schottland; und die auf Injeln angelegten, 
befeitigten Zufluchtsftätten celtijcher Bewohner (Crannogs), weldye 
in iriſchen Seen entdedt wurden. Aehnliche prähiftoriiche Re— 
liquien fommen an den Ufern deö Po vor, mo fie bezeichnend 
genug, „Zerramare” genannt werden. Am beiten erhalten und 
am reichiten ausdgeftattet find die, freilidy einer viel jpäteren, 
wenngleic; nody immer einer vorhiftoriichen Periode angehörenden 
Dfahlbauten, deren räumliche Ausdehnung und intheilung 
es erweilt, dab fie einer namhaften Anzahl von Menſchen 
zur gleichzeitigen Unterkunft gedient haben. Mit welcher be» 
wunderungsmerthen Beharrlichfeit dieje Sicherheitäpläße, troß 
der Unzulänglichkeit der Werkzeuge, ausgeführt wurden, gebt 
daraus hervor, daß manche derjelben auf 40,000 bis 50,000 


(458) 


21 


in den Meereöboden eingerammten Pfählen ruhen. Ueber den 
Kopfenden waren Bretter gelegt und mittelft hölzerner Pflöcke 
befeftigt. Auf diefem Bretterflur find die Hütten errichtet aus 
Zweiggeflehten und mit Lehm befleidet; eine jede derjelben 
etwa 20 Fuß lang, für je eine Familie, mit einem Feuerplaß 
verjehen und mit einer Kornmahlmühle ausdgeftattet. Bejondere 
Abtheilungen waren zur Unterbringung der Haus: und Nutz— 
thiere hergerichtet, welche im Sommer über einen VBerbindungs- 
danım auf die Weide getrieben wurden, während des Winters 
aber nur mitteljt Stallfütterung am Leben erhalten werden 
fonnten. In dieſen pfahldörflihen Gemeinfamfeiten lebten 
Fifher und Jäger, Hirten und Aderbauer zufammen. Noch 
findet man am fteingepflafterten Herde Ueberreſte Jahrtauſend 
alter Mahlzeiten: Brodkuchen, Weizen, Hirfe, Gerfte und Thier- 
knochen. Auch fehlen nicht Binfen- Matten, gewebte und ges 
mufterte Kleidungsftoffe, Scherben gebrannter Gefäße mit geo- 
metriijhen Berzierungen, ja ed finden fidy mitunter ſogar 
Schmudgegenitände aus Bernftein und Nephrit vor, was ald 
ein Anzeichen einer angeblich damals ſchon beftandenen Handels- 
verbindung mit fremden Ländern gedeutet worden ift. 

Schon Herodot berichtet von Völkerſchaften, weldye in 
Pfahlroftbauten wohnten, deren Einrichtung er näher bejchreibt 
und deren feitungsartigen Character er durdy das Beijpiel il- 
luftrirt, daß bei dem Einfall der Perjer in Thracien und Mace— 
donien (etwa 500 Sahre v. Chr.) einer der Heerführer nicht 
im Stande gewejen jei, „die Bewohner der Seen“ zu unter: 
jochen. Derlei Pfahlbauten find auch heute nody auf einigen 
der Injelgruppen des indiſchen Oceans üblih. Wir haben die: 
jelben noch in neuefter Zeit bei den Bewohnern des Nifobaren- 
Arhipel im indiſchen Ozean zu beobadıten Gelegenheit ge= 


(459) 


22 


habt.24) Wie fchon aus diefem Umftande erhellt, braucht nicht 
allen derlei Niederlafjungen ein gleich hohes Alter und eine gewiſſe 
Sleichzeitigkeit beigemeffen zu werden. Einige diefer Pfahlbauten 
gehörten zufolge dem Material und der Beichaffenheit der darin vor⸗ 
gefundenen Utenfilien, der früheften Steinzeit an; andere der 
jpäteren Bronze-Periode; andere gar erft dem fogenannten Eijen- 
zeitalter, und es ift nicht unmwahrjcheinlidy, dat die römiſchen Le— 
gionen auf ihren Eroberungdzügen noch hier und dort derlei Pfahle 
dorfichaften angetroffen haben. Die älteften derjelben, in welchen 
nur Werkzeuge und Waffen aus Stein, Holz oder Hirjchgeweih ge- 
funden wurden, müfjen in einer Zeit angelegt worden fein, wo man 
den Gebrauch der Metalle noch nicht kannte, während die Mannig- 
faltigfeit und Drnamentirung der Geräthichaften in andern 
joldyen Seedörfern eine jpäte Kulturperiode verrathen. Duatre- 
fages nimmt nicht Anftand, den auf den vorgefundenen Mam- 
muthszähnen und Raubthiergeweihen eingravirten Zeichnungen 
einen wirklichen Kunſtwerth beizumefjen, und die Elfenbeingriffe 
der in den Bruniquel- Höhlen gefundenen Dolche „des beiten 
Bildhauerd unferer Zeit würdig” zu erflären. Ein Zufammen- 
bang diefer mit den wahrſcheinlich nody viel älteren Kunſt-Er— 
zeugnifien des Drients ift nicht leicht nachweisbar; bier wie 
dort jcheinen die Kunftbeftrebungen ganz genuine gewejen zu 
fein. In einer, allem Weltverfehr entlegenen Gebirgsgegend 
von Ober:Defterreich, in der Nähe ded Hallftädter Ealzberges 
wurde im Jahre 1846 ein Grabfeld entdedt, welches etwa 1000 
Gräber mit mehreren taufend aus Gold, Glas, Bronze, Eijen, 
Bernftein und andern Materialien angefertigten Gegenftänden, 
wie Waffen, Haus und DOpfergeräthe, Werkzeuge, Thongefäße, 
Schmudjahen, Helme, Ringe, Münzen u. dgl. enthielt. Frei— 


herr von Saden, Direktor der f. f. Antifenfammlung in 
(460) i 


23 


Wien, veranjchlagte dad muthmaßliche Alter derjelben auf 2000 
Jahre mit dem Hinzufügen: „Diejen abgelegenen Gebirgs- 
winfel hat ein längft untergegangened Volk vor zwei Zahr- 
taujenden zur Begräbnißftätte ſich erwählt“. Nun unterliegt 
es feinem Zweifel, dab die Materialien, aus welchen jene 
mannigfachen Fundgegenſtände bergeftellt worden find, nicht an 
Ort und Stelle, oder in der Nähe derjelben anzutreffen waren; 
fie fönnen demnach nur im Handelöwege, um und eined modernen 
Ausdruds zu bedienen „importirt" worden jein. Vom Euphrat- 
und Gangesthale bis zu dem Dberöfterreichiichen Gebirgswinkel 
und den Schweizer Seen; von Memphis und Niniveh bis 
Hallitadt und Rabenhaufen begegnen wir den Denkmalen einer 
ſchon vor Zahrtaufenden erblühten Kultur, deren erfte An— 
fänge nody viel, viel weiter zurüd ind Kindesalter der Menjchheit 
reichen. — 

Wir haben den noch jprady» und feuerloien Menſchen von 
feinem Nadhtlager in belaubten Baumäften berabfteigen gefehen, 
um in Feljenjpalten und Erbhöhlen eine geficherte Zufluchtsſtätte 
zu gründen; bier erft hat er fi mit Seines Gleichen verge- 
ſellſchaftet und im foldyer Gemeinjamkeit den ausgeſtoßenen, 
wilden Laut zur Sprache auögebildet; bier wurden die erften 
Steinwerkzeuge erfunden; bier, bei zunehmender Bertrautheit 
mit den wärmenden, trodnenden, glühendmachenden, fochenden 
und ſchmelzenden Eigenjhaften des Feuers ftellten fich die Künfte 
des Bratens, Badend, Kochens — und in weiterer Beobachtung 
und Vertrautheit — dad Brennen von Thongeichirren, die Ziegel- 
fabrifation, dad Schmelzen von Metallen, das Glühen und 
Erweichen derjelben, mithin Hämmerung und Anfertigung von 
Metallgeräthen ein. Es folgten Kopfihmud und Ausihmüdung 


ded Körpers mit Vogelfedern, oder mit ameinandergereihten 
(461) 


24 


glänzenden Mufchel» und Schnedenicyalen; jodann eine mehr 
oder minder anſchließende Bekleidung aus Xhierfellen, tbeild 
zum Schub gegen Kälte und Näffe, theild, in freundlicheren 
Klimaten, zur Zierde. An den Füßen wurden Sandalen, an den 
Händen Armipangen angelegt. Putzſucht zeigt ſich audy unter 
den barbariichften Völkerſtämmen, welche, wenn auch fonft nadt 
einhergehend, in Ausihmüdung von Ohren, Nafen, Lippen und 
anderen Ertremitäten fich gefallen, oder den Körper über und über 
tätowiren. Vom Körper wurde die Kunft des Färbens auf Stoffe 
übertragen, weldye Manipulation ald erfter Anftoß zu chemifchen 
Procefjen bezeichnet werden darf; gleichwie der Gebraudy von 
Thierfelen nothwendigerweife zum Gerbeprocefje, die Benußung 
von Fäden zum Webeprocefje führte. Ein am Feuer zufällig 
geichmolzener Metallllumpen erwied ſich nad dem Erkalten je 
nady jeiner accidentellen Geitaltung braudybar zum Schlagen, 
Stoßen, Haden, Schneiden, Stechen, Graben. Auf dieje Weije find 
der Hammer, die Hade, dad Mefjer, die Lanze, der Spaten und 
in weiterer Folge die Schaufel, die Zange und der Pflug ent- 
ftanden. Zähmung und Züchtung von Thieren gewährte ein 
Mittel zur bequemen Fortbewegung von ſchweren Mafjen, weldye 
anfänglich mittelft Strängen am Boden fortgezogen werden 
mußten, bis das Genie eined Ur-Archimedes eine jchlittenartige 
Schleife erfand, welche mit der Zeit auf rollende Baumftämme 
gejegt wurde, was hinwiederum zur Grfindung von Rädern 
und alddann von Wagen verhalf. Auf eguptifchen Monumenten 
finden fich bereitd Abbildungen von Ziehbrunnen mit Räder: 
Eimern, welche durdy Sklaven gedreht werden, was zur Gon- 
ftruction des Wafferrades führte, dem alddann das Pferdegöppel 
folgte. An Denkmälern ift auch zu erjehen, daß es ſchon in 
egyptiſchen Werkftätten üblich war, den Bohrer mit Hilfe einer 


(469) 


25 


Bogenjehne in Bewegung zu ſetzen, welches Werkzeug ſich mit 
der Zeit zur Drechslerbank ausbildete. Keined der Werkzeuge 
überhaupt ift jemals erfunden worden, jondern jedeö hat fich 
langjam, man möchte jagen organiſch aus dem frühern, minder 
vollfommenen Arbeitögeräthe unter dem zwingenden Drange des 
Bedürfnijjed entwidelt. Der Stein wurde zum Hammer, ber 
Alt zum Spieß oder Hebel, der hohle Baumftamm zum Schiff, 
die leere Cocosſchale zum Krug. 

Manche der Völkerſchaften find bis heute nicht über die 
Steinperiode hinausgefommen, wie das auf einigen der von 
Cook entdedten polynefiihen Inſeln der Fall war, und wenn: 
gleidy die Eskimos gegenwärtig Eilengeräthe und Werkzeuge von 
den Europäern eintaufchen, jo ftehen bei ihnen doch auch noch 
Steinwerfzeuge, nad) Mufter der prähiftoriichen, in Gebraud,, 
wie joldhe bei manchen Indianerſtämmen in Amerifa gleichfalls 
noch angetroffen werden. So haben, an der Seite einer aus— 
gebildeten technifchen Cultur auch die primitivften Stufen der: 
jelben jeit Jahrtauſenden ſich conjerpirt; gleichſam um uns 
Kunde zu geben von urmenſchlichen Zuftänden, nachdem die 
Site der Verfeinerung und Gefittung zu öfteren Malen und in 
vergleichsweiſe Furzen Zeiträumen gemwechjelt worden find. 

Nicht ohne allen Grund ift mitunter die Frage aufgeworfen 
worden, „ob der alten oder der modernen Welt der Ruhm der 
höheren Kultur gebühre?" Die wunderbare Entfaltung von 
gewerblichen Künften und wiſſenſchaftlichen Kenntnifjen, von 
Hanbdelöbetrieb und Schifffahrtöunternehmungen bei einzelnen 
Völkern des Alterthums ift durch verwültende politiiche Stürme 
unter den Trümmern verfallender großer Reiche begraben worden, 
jo daß die in Neubildung begriffenen, aber an Kenntniffen ver- 


armten neueren Staatögejellichaften die früher dagemwejenen 
i (463) 


26 





und wieder verlorengegangenen Erfahrungen auf’8 Neue zu er- 
werben genöthigt waren. 

Wenn wir den Roman der Menichheit zu analyfiren ver- 
juchen, fo gemwahren wir, daß vom Höhlenbemohner dad Werkzeug, 
die Sprache, die religiöje Idee, die Bildnerei und die Poefie?°?) 
audgingen, und daß alle geiftige Kultur eigentlich aus der Me- 
chanif, nämlich aus der Aneignung mechanijcher Fertigkeiten, und 
deren allmälige Vervollkommnung entiprungen ift. 

In der Geichichte der Phönizier, der Juden und Egypter zei— 
gen fi die eriten Spuren der Weltwirthſchaft. Aber au 
fie find nur die Erben und Fortbildner der in ungezählten Zeit: 
räumen allmählidy angejammelten Gulturelemente. 

Die unferer Eitelkeit jo jehr ſchmeichelnde Givilifation der Ge- 
genwart it im der That nur ein Produft der jeit Sahrtaufenden 
wirkenden, den Menjchen führenden und beberrichenden Natur: 
nothwendigfeit! — 


(464) 


27 


Anmerkungen. 


1) „Von den hypothetiſchen Urmenjcden, welche entweder in Remu- 
rien oder in Südaſien (vielleicht auch im öftlichen Afrika) während ber 
Lertiärzeit aus anthropoiden Affen fi entwidelten, fennen wir noch 
feine fojfilen Rafjen. Aber bei der außerordentliden Aechnlichkeit, welche 
fih zwijchen den niederften wollhaarigen Menjchen und den höchſten 
Menihenaffen ſelbſt jeßt noch erhalten hat, bedarf es nur geringer Ein- 
bildungsfraft, um ſich zwijchen Beiden eine vermittelnde Zwiſchenform 
und in diejer ein ungefähre Bild von dem muthmahlidhen Ur- oder 
Affenmenjchen vorzuftellen. Die Schädelform derjelben wird jehr lang- 
köpfig und jchiefzähnig, das Haar wollig, die Hautfarbe dunkel, bräun- 
li, die Behaarung des ganzen Körpers dichter ald bei allen jeßt 
lebenden Menjchenarten gewejen fein; die Arme im Verhältniß länger 
und ftärfer, die Beine dagegen Fürzer und dünner, mit ganz unentwicelten 
MWaden; der Gang nur halb aufrecht, mit ſtark eingebogenen SKnieen. 
Eine eigentliche menſchliche Sprache, d. h. eine artifulirte Begriffsiprache, 
wird diefer Affenmenſch noch nicht bejefien haben. Vielmehr entitand 
die menſchliche Sprache erft nachdem die Divergenz der Urmenjchenart 
in verjchiedenen Spezies erfolgt war. Aus dem ſprachloſen Urmenjcen, 
welchen wir ald die gemeinjame Stammart aller übrigen Spezies an— 
jehen, entwicelten ſich zunächft, wahrjcheinlih durch natürliche Züchtung, 
verfchiedene uns unbefannte, jeßt längſt ausgeftorbene Menjchenarten, 
welche noch auf der Stufe des jprachlojen Affenmenjhen (Alalus oder 
Pitheeantbropus) jtehen blieben. Zwei von diefen Spezies, eine woll- 
haarige und eine ſchlichthaarige Art, welche am ſtärkſten divergirten und 
daher im Kampfe ums Dajein über die andern den Sieg davon trugen, 
wurden die Stammformen der obigen Menjchenarten.” Bergl. Dr. Ernſt 
Haedel. Natürlihe Schöpfungszefhichte. Berlin 1873. Georg Reimer. 


2) Die BVorftellungen über den thierijhen Urzuftand der Menichheit 


(4165) 


28 


find durchaus nicht moderner Art. Man glaubt nahezu eine comtem- 
poräre Anthropologie vor Augen zu haben, wenn man bei Horaz 
(Satir. I 3. 99—104) die folgende Beſchreibung findet: 
Cum prorepserunt primis animalia terris, 
Mutum et turpe pecus, glandem atque cubilia propter 
Unguibus et pugnis, dein fustibus, atque ita porro 
Pugnabant armis, quae post fabricaverat usus, 
Donec verba, quibus voces sensusque notarent, 
Nominaque invenere;... 


Oder bei Lucretius (lib. V. 1283 u. |. f.) 
Arma antiqua: manus, ungues, dentesque fuerunt 
Et lapides, et item sylvarım fragmina rami, 
Et flamma atque ignes, post quam sunt cognita primum. 
Posterius ferri vis est, aerisque reperta; 
Et prior aeriis erat quam ferri cognitus usus. 
Inde minutatim processit ferreus ensis, 
Et ferro coepere solum proscindere terrae... 


3) Während meiner Anwejenheit in Manila hatte ich die jeltene 
Gelegenheit ein Negrito-Mädchen zu jehen, melde im Haufe eined reichen 
Spanierd erzogen wurde, der ed wahricheinlic für ein frommes Werk 
anſah, dieje Seele dem Heidenthum entriffen zu haben. Es war ein 
etwa 12—14jähriges, 4'/, Fuß hohes, ſonſt wohlgejtaltetes Mädchen, 
mit wolligem Kopfhaar und breiten Najenflügeln, aber ohne die ſchwarze 
Hautfarbe und die aufgeworfenen großen Lippen, welche für den Neger- 
typus jo charakteriftiih find. Ihre Körperfarbe war vielmehr dunfel« 
fupfernfarbig. Aus diefem Grunde jchildern ältere ſpaniſche Autoren 
dieje zwergartigen Urbewohner „menos negro y menos feo“ (weniger 
ſchwarz und weniger häßlich) und legten ihnen den Namen Negritos 
(Negerchen) bei. Nach den bisherigen Beobachtungen und Unterſuchungen 
erjcheint es mir jedoch gewagt, die Negritos (auch Neta, Aigta, Ita, 
Unapta und Vgorote genannt), wie dies von einigen Anthropologen geſchieht, 
mit den auftraliichen Papuas zu einer Nafje zu vereinigen, wennſchon 
Wallace veriprengte Reite einer ehemaligen papuaniſchen Urbevölferung 
auf einigen Injeln des malayijchen Archipel geſehen haben will. 


4) Allgemeine Ethnographie. Wien 1873. A. Hölder. 


5) Die Pfahlbauten gehören ciner vergleichsweife neueren Zeit an. 
(466) 


29 


6) Auf der Snjel Puynipet (6° 47° n. Br., 1580 13° 3° öftl. 2.), 
welche ih auf der Fahrt von China nad Auftralien bejuchte, werden 
noch heute von den Eingeborenen die melonengroßen Früchte des Brobd- 
fruchtbaumes (Artocarpus ineisa) in der primitivften Weije zur Nahrung 
bereitet. Die Früchte werden nämlich, jobald diefelben reif find, ihrer 
äußeren Schale entledigt und in Fleine Stüde zerichnitten. Sodann 
graben die ingebornen Gruben bis zu 3 Fuß Tiefe in die Erde, 
füttern diefe gut mit Bananenblättern aus, um das Cindringen von 
Waſſer zu verhindern, und füllen fie dann bis auf wenige Zoll von der 
Oberfläche mit den gejchnittenen Brodfrücten an, worauf das Ganze 
mit Bananenblättern zugededt und mit Steinen bejdywert wird. Nach 
einer Weile tritt Gährung eın und die Mafje wird jungem Käje ähn— 
lid. Die Brodfrühte lafjen fih in diefem Zuftande mehrere Jahre 
hindurch geniegbar erhalten, und gelten nad dem Geſchmack der Ein- 
gebornen troß des jauren Geihmads und jehr üblen Geruchs, wenn fie 
wieder aus der Erde genommen werden, ald eine jehr angenehme und 
nahrhafte Speije, wenn fie gut gefnetet, in Bananenblätter gehüllt, 
zwijchen heißen Steinen gebaden worden jind. Die gejchilderte, 
eigenthümliche Aufbewahrung der Brodfrüchte joll in der Sorge vor 
einer Hungersnoth ihren Grund haben: weil nämlid im Munde des 
Volkes die Sage lebt, daß vor undenflicher Zeit ein heftiger Orfan auf 
der Infel wüthete, welder alle Brodfruchtbäume mit den Wurzeln aus 
der Erde riß, wodurdy ein großer Nahrungsmangel entftand. 

7) Tum genus humanum primum mollescere copit. Lucret 
V. 1009. 

8) Nach Angabe Sir Senry Rawlinſon's „Tempel des Nebo.“ 

9) Dr. Herm. Grothe: Zur Geichichte des Spinnens und Webens, 

10) Gen. XLI 42. 43. 

11) Einige Forfcher, wie Champollion, Alpin und Fraas, halten 
den Byſſus für Baumwollgewebe; eine definitive Entjcheidung für die 
eine oder andere Anfiht muß wohl einer Fünftigen Richtigftellung vor- 
behalten bleiben. 

12) Ezech. XXVII. 7. 


13) Während eines längeren Aufenthaltes in Bombay im Sahre 
1869 bejuchte ich diefe wunderbaren Skulpturen, von einem gelehrten 
Hindu begleitet. Die Inſel Elephanta liegt etwa 162 Fuß, die Höhlen, in 


(467) 


— 


welchen ſich die Grottentempel befinden, liegen ungefähr 119 Fuß über dem 
Meere. Das vorherrſchende Geſtein auf der kleinen Inſel iſt Dolomit 
und grobkörniger Sandſtein. Die Skulpturen, welche um das 5. Sahr- 
hundert entftanden jein dürften und die mich in mehrfadher Hinficht, 
namentlih aber in Bezug auf deren künſtleriſche Ausführung an die 
gleichfalls reichverzierten Beljentempel in Mahamalaipur an der Koro- 
mandelfüfte in der Nähe von Madras erinnerten, beftehen größtentbeils 
in Verherrlichungen Schiwa’s, und zwar find einzelne Figuren ganz meifter- 
haft ausgeführt. Als einen interefjanten Beweis, zu welch ercentrijchen 
Sntentionen dieje merfwürdigen Denfmäler in der Gegenwart benußt werden, 
jcheint e8 mir nicht ungeziemend, bier zu bemerken, daß 3. B. iterile Frauen 
gewifje Körpertheile an Eolofjalen Lingams reiben, im blinden Glauben, 
daß fie dadurch Kinderjegen erlangen; und zwar gejchieht dies durch die 
einfaltswollen Pilgerinnen ganz öffentlich und mit folder Glaubensfraft, 
daß die Steine davon völlig glatt gerieben find. 

14) Gen. III. 21. 

15) Gen. IV. 2. 3. 4. 

16) Gen. IV. 21. 

17) Gen. IV. 22. 

18) Gen. XII. 2. 

19) Gen. XIV. 14. 15. 

20) Gen. XII. 10. 

21) Gen. XXIII. 16. 

22) Gen. XXIV. 53. 

23) Diob XV. 28. 

24) Auf den meisten Inſeln des Nifobaren-Arhhipels jahen wir die 
Iuftigen, dit am Ufer gelegenen Behaufungen der Eingeborenen auf 
3—10 Pfählen von 6—8 Fuß Höhe errichtet, derart, daß man unter 
denjelben bequem gehen kann. Sie enthalten einen einzigen großen Raum 
zu dem eine aus Bambusrohr zierlich gearbeitete Leiter führt, welche bes 
Nachts, oder wenn die Bewohner ihre Hütte verlafjen, weggenommen 
wird, daher dieje auch ohne Schloß und Riegel nicht leicht zugänglich ift. 
Der Fußboden der Hütte ift mit Bambusftäben, welche mit Rotang verbunden 
find, derart conftruirt, daß die Luft von unten zwiſchen den Stäben 
frei durchſtreichen kann, und darüber wölbt ſich das zierliche Flechtwerk 
des bienenforbähnlichen Baues. Die innere Einrichtung ift höchſt einfach. 
Im Hintergrund zeigt ſich eine Art Feuerheerd, ein niedriger, ausgehöhlter, 

(468) 


3l 


mit Sand und Steinen gefüllter Holzblod, um diejen herum einige Thon- 
gefäße. An den Dachbalken hängen ausgehöhlte Kokosnußſchalen, als 
Waſſergefäße dienend, ſowie zierlich geflocdhtene Körbe, welche die 
wenigen Habjeligfeiten der Familie enthalten. 


25) „Ausgehend von den fühnen, groben Naturmythen, in welche der 
Wilde die Lehren, die er aus jeiner findlichen Betrachtung des Alls ge- 
zogen hat, gießt, kann der Ethnograph diefen rohen Dichtungen bis 
hinauf zu Zeiten folgen, wo ſie ausgebildet und complicirten mytholo- 
giichen Syftemen einverleibt wurden: anmuthig Eunftvoll in Griechenland; 
fteif und ungeheuerlih in Mexiko; zur bombaftifcher Uebertreibung auf- 
gebläht im buddhiſtiſchen Afien. 

Die Mythen find zuerjt in dem in der frühejten Zeit beim ganzen 
Menſchengeſchlechte herrichenden wilden Zujtande aufgetreten; fie find bei 
den noch gegenwärtig rohen Stämmen, welche ji) am wenigſten von 
jenen primitiven Verbältniffen entfernt haben, verhältnißmäßig umver- 
ändert geblieben, während frühere und jpätere Civilifationsftufen fie theils 
durch Erhaltung ihrer wejentlihen Principien, theils durch Uebertragung 
ihrer vererbten Rejultate in die Korm der Ahnenüberlieferung, in Ehren 
gehalten haben... . . 

Bon der Wildheit bis zur Givilijation hinauf laßt fih in der My— 
thologie der Sterne ein in jeinen einzelnen Anwendungen allerdings häufig 
veränderter, aber doch in jeinem augenjcheinlichen Zufammenhang von An- 
fang bis zu Ende niemals unterbrochener Gedanfengang verfolgen. Der 
Wilde fieht in einzelnen Sternen belebte Wejen oder er vereinigt 
Sterngruppen zu lebenden Himmelsgejhöpfen oder zu Gliedern derjelben, 
oder auch zu Gegenjtänden, welche zu ihnen in Beziehung ſtehen; wäh- 
rend am andern Ende der Givilifation der moderne Aſtronom dieje 
alten Borftellungen beibehält und fie als nüßliche Ueberlebjel zur Einthei— 
lung jeine® Himmelsglobus benügt. Die wilden Namen und Erzäh- 
lungen von den Sternen und Sternbildern erſcheinen uns Anfangs als 
kindliche zwediofe Phantafieen: doch, wie ſtets beim Studium der niederen 
Klaffen, jo gebt es auch hier; je mehr Mittel wir gewinnen, ihre Ge- 
danfen zu veritehen, deſto mehr Sinn und Verftand finden wir darin. 
Sp 3. B. jagen die Ureinwohner von Auftralien Jurree und Wanjel, 
(die Sterne, welde wir Gajtor und Pollur nennen ) verfolgen 
Purra, dad Känguruh (unjere Gapella) und tödten es bei Beginn der 
großen Wärme, und die Kimmung ift ber Rauch ded Feuers, an dem 

(469) 


32 


fie ed braten. Ferner erzählen fie: Marpeau-Kurrf und Neilloan (Are- 
turus und Lyra) jeien die Entdecker der Ameijeneier und der Eier des 
Loan-Vogeld und hätten den Bewohnern gelehrt, wie man diejelben zur 
Rahrung aufjuhen müſſe. Im die Sprade der Thatjachen überjegt, 
jagen dieje einfachen Mythen nur, welche Stellung die betreffenden Sterne 
im Sommer haben, jowie wann die Sahredzeit für Ameifeneier und 
Loaneier eintritt, und die Sterne, welche dieje Jahreszeiten bezeichnen, 
wurden ihre Entdeder genannt. 

Faft alle Sagen, welche das Leben der Natur im perſönlichen Leben 
ſchildern, haben ſich hiftorifch entwidelt. Der Geijtedzuftand, dem ſolche 
phantafiereiche Fictionen angehören, findet fih in voller Blüthe bei den 
Wilden, jeine Ausbildung und Vererbung erftredtt fi) bis in die höhere 
Kultur barbarijcher und halbeivilifirter Nationen hinein, während endlid 
in der civilifirten Welt feine Effekte immer mehr und mehr aus wirt. 
lihem Glauben zu phantafievoller, fünftlicher und fogar affeftirter Poeſie 
werden.” Vergl. Edward B. Taylor, Die Anfänge der Kultur. Unter- 
ſuchungen über die Entwidlung der Mythologie, Philofophie, Religion, 
Kunjt und Sitte. Leipzig 1873. Winter'ſche Verlagshandlung. Vol. I. 
Cap. IX. Mythologie. 


(470) 


Drud von Gebr. Unger (Xb. Grimm) in Berlin, Schönebergerftr. 17a. 


Ueber ethnologiiche 


Anterfuhjungen des Farbenfinnes. 


Dr. Hugo Magnus, 


Docent an der Univerfität zu Breslau. 


GH 


Berlin SW. 1883. 


Berlag von Carl Habel. 
(C. 6. Lüderity'sche Berlagsbuchhandlang.) 
33. Wilhelm⸗Straße 33. 





Das Recht der Ueberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 





Ünterfuhungen ded Farbenfinns find bei cultivirten wie 
uncultivirten Nationen im Lauf der lebten Jahre wiederholt 
und in großem Umfange vorgenommen worden. Und zwar 
fuchte man durdy derartige Prüfungen entweder die ftatiftijche 
Audbreitung der Farbenblindheit zu ermitteln, oder man ver- 
folgte mit den betreffenden Unterfuhungen hauptſächlich ethnolo- 
giſche Zwede. Man hoffte genau feittellen zu können: welchen 
Einfluß die Cultur auf die Ausbildung und Vervollkommnung 
des Farbenorganed ausübe, welche Unterjchiede zwiſchen der 
Farbenempfindung der Natur: und Eulturvölfer vorhanden wären 
und in welden genetiihen Beziehungen jchließlih die Farben— 
empfindung und Die Aarbenbezeichnung zu einander ftänden. 
Gerade dieſe lebte Frage, die befanntlid von Lazarus Geiger 
angeregt worden ift, war während der leßten Jahre in der 
Theorie von der allmählichen fortichrittlichen Entwidelung des 
FHarbenfinnd zum Ausdrud gefommen und ganz bejonders 
brennend geworden und gerade fie war ed auch vornehmlich, 
welche zu der Unterjuhung der $arbenempfindung der Natur- 
völfer den erften Anftoß gegeben und deren ſyſtematiſche Durch— 
führung wejentlidy gefördert hatte. 

Man bat nun bei der Ausführung dieſer Unterjuchungen 


XVIIL. 420. 18 (an) 


4 


die verjchiedeniten Wege eingeichlagen; theild hat man die in 
der letzten Zeit wiederholt in Europa ſich producirt habenden 
ethnographiichen Caravanen benußt und die einzelnen Angehörigen 
derjelben genau auf ihre Farbenempfindung durdy Vorzeigen 
gefärbter Dbjecte geprüft. So haben Kirchhoff, Kotelmann, 
Stein, Virhow u. A. derartige Unterfuhungen bei den Nubiern, 
den Lappländern u. A. vorgenommen. Andere Forjcher haben 
wieder einzelne Naturvölfer in ihrer Heimat unterjudht und 
die Beichaffenheit ihres Farbenfinned durch eine umfafjende 
Prüfung vieler Individuen defjelben Stammes nachzuweilen 
gejucht; jo hat Dr. Almquift, weldyer die berühmte Nordpol« 
erpedition der Bega unter Profeſſor Nordenffiöld mitgemacht hat, 
ungefähr 300 Tichuftichen auf das Genauefte theild mit der jo 
verläßlichen Holmgren’ichen Methode, theild mit dem Spectroscop 
unterfucht. Und gerade diefe Almquift’iche Unterjuchungsreihe 
befitt denn auch einen ganz befonderen Werth, nicht allein wegen 
der Genauigkeit der Beobachtung, jondern auch deshalb, weil 
gerade die Tſchuktſchen ein Volksſtamm find, der biöher mit 
der Gultur nur jehr wenig in Berührung gelommen ift und fich 
noch zu einem guten Theil in feinem Naturzujtand zu erhalten 
gewußt hat. Aehnliche Unterfuhungen find ven Dr. Pontop⸗ 
pidan auf den Sandwichsinjeln vorgenommen worden, und 
zwar hat diejer Foridyer 394 männliche und 103 weibliche Ein- 
geborene diefer Inſeln mit der Holmgren'ſchen Methode geprüft 
und unter diefer Anzahl 5 farbenblinde Männer gefunden. Zus 
gleich bat Pontoppidan, ebenjo wie died auch Almquift gethan 
bat, die Farbennomenclatur möglichft genau durchforſcht und 
deren Verhältnig zu der Farbenempfindung genau beftimmt. 
In ähnlicher Meile hat Birgham 394 Kanakas unterſucht und 
bei ihnen 14 pCt. Farbenblinde gefunden; unter 103 weiblichen 
Kanafad war eine Anomalie ded Farbenfinnes nicht nachweisbar. 


Berwechielungen der Karbennamen fonnte diejer Forjcher oft 
(474) 


5 


beobachten, und lag in dieſen Verwechſelungen inſofern ein Syſtem, 
als ſie meiſt Farben betrafen, die verwandt und ſpectrale 
Nachbarn waren, wie Roth und Gelb, oder Grün und Blau; 
eine Thatſache, auf die ich übrigens bereits früher aufmerkſam 
gemacht habe und auf die wir im Lauf dieſer Arbeit auch noch— 
mald zurüdfehren werden. Ferner hat Dr. Keller während 
jeined Aufenthaltes in Suafin am rothen Meer unter dem 
nubiſchen Küftenftämmen zahlreiche Unterjuchungen der Farben: 
empfindung vorgenommen und dabei folgendes, recht überrajchende 
Ergebniß erhalten. Der Küftennubier (Sawakineſe) unters 
ſcheidet alle Farben ded Spektrums mit Leichtigkeit und hat 
auch in feiner Sprache für alle eigene Bezeichnungen. Dagegen 
ift der Farbenfinn bei den Bergftämmen nicht jo gut entwidelt. 
Sie unterjheiden gut Weiß, Schwarz, Roth, Grün; Blau 
wird nicht ficher erfannt und faft ftetd mit Schwarz verwedhielt. 
Dieſes Refultat ift um jo überrafhender und interefjanter, als 
ed mit den von Almquift gegebenen Mittheilungen über den 
Barbenfinn) der Tſchuktſchen in befter Uebereinftimmung fteht. 
Eine andere, in großem Maßſtabe angelegte Unterfuchung ift 
mit Hülfe ded ethnographiihen Mujeumd in Leipzig von 
meinem Freund Dr. Pechusl-Löſche und mir in Angriff genommen 
und wenigitend zum Theil auch ſchon durchgeführt worden. 
Der Plan diefer unſerer Unterfuhung war der, durch eine 
ſyſtematiſch über den ganzen Erdball ſich erjtredende Prüfung 
das Verhalten ded Farbenorgand bei den verjchiedenften Völkern 
zu ermitteln, jowie die zwilchen Farbenfinn und Farbennomen- 
clatur etwa herrſchenden Wechjelbeziehungen genau feitzuftellen. 
Zur Erreichung diejed Zwedes fertigten wir einen Fragebogen 
an, auf welchem eine Reihenfolge beitimmter Karben angebradıt 
war; und zwar umfahte dieje chromatiſche Stufenleiter folgende 
Farben: Schwarz, Grau, Weiß, Roth, Drange, Gelb, Grün, 
Blau, Biolett, Braun. Neben diefen Farben befanden fid 


(475) 


6 


verſchiedene Abtheilungen, im weldye der Unterfucher feine 
gefundenen Reſultate eintragen follte; nämlidh: die Namen 
der einzelnen Farben; die etwaigen Angaben über die Aehn— 
lichfeit gewilfer Farben unter einander oder mit Objecten der 
Umgebung; Mittheilungen über die Borftellung des Farbigen 
überhaupt u. dgl. Diefe Fragebogen wurden nun in großer 
Anzahl an Aerzte, Miffionäre, Conſulate, Kaufleute gefendet, 
mit der Aufforderung, vermittelt diefer Bogen möglichſt viele 
Eingeborene der betreffenden Länder zu unterjuchen. Der Erfolg 
unferes Unternehmend war ein recht guter und liegen zur Zeit 
ſchon über 70 mehr oder weniger vollftändig audgefüllte Frage- 
bogen vor, über die ich zum Theil menigftend ſchon in einer 
Brochüre: „Unterfuchungen über den Farbenfinn der Naturvölker, 
Jena 1880” beridytet habe. 

Ein unjerer Unterfuhung ziemlidy ähnliches Unternehmen 
ift von dem engliſch-amerikaniſchen Forſcher Grant Allen in’s 
Werk gejeßt worden. Doch unterjcheidet ſich diejed von dem 
unfrigen injofern jehr wejentlich, al8 ihm jede farbige Beigabe 
fehlt und der Unterfucher lediglich durch gewiſſe Fragen ſich über 
den Zuftand des Farbenorgand der zu prüfenden Bölferftämme 
unterrichten fol. Ohne der Unterfuhung Allen's nun irgendwie 
zu nahe treten zu wollen, glauben wir doch, daß bei Prüfungen 
ded Farbenfinns in erfter Linie ein feited chromatiſches Schema 
gegeben werden muß, an das fidy der Unterſucher ftreng zu 
binden hat. Benutzt man ein ſolches nicht und will man lediglich 
nur durch Fragen ſich über den Zuftand des Farbenfinnd unter: 
richten, jo hat ein derartiged Unternehmen immer etwas recht 
Mipliches. 

So verſchieden nun auch die Unterfucher und die von ihnen 
benußten Prüfungdmethoden fein mögen, und fo vielgeftaltig 
aud das ethnologiſche Unterfuhungsmaterial geweſen fein dürfte, 
jo bat ſich doch eine höchſt auffallende Gleichmäßigfeit der 


(476) 


7 


Ergebniffe herausgeftellt. Ja dieje Mebereinftimmung des Ge- 
fundenen ift in einzelnen Punkten, jo 3. B. in der Eigenartigfeit 
der Karbenbezeichnung, eine jo regelmähig wiederkehrende, daß 
es den Anjchein gewinnt, ald hätte man ein großes, allgemeines 
bei der Bildung der Farbennomenclatur thätiged Geſetz gefunden. 
Und dieje Annahme wird um jo wahrjcheinlicher, wenn man 
bört, dab die verbalen Eigenthümlichkeiten, weldye in ver 
Farbenbenennung der verichiedenften lebenden Sprachen nadı» 
gewiejen morden find, genau in der nämlichen Weije auch in 
einer nicht unbeträchtlichen Anzahl todter Sprachen wieder auf» 
gefunden worden find. MUeberall find eö immer die nämlichen 
Farben, die zu einer voll ausgemünzten verbalen Selbftftändigfeit 
gelangen, wie es auch immer diejelben Farben find, die ſprachlich 
unflar und verjhwommen zum Ausdrud gebracht werden. Wo 
und bei welchem Volfe man aud immer die Farbennomenclatur 
unterjuhen mag, ftetö zeigt fie den gleichen Typus; und mag 
diefer characteriftiiche Bau in der einen oder anderen Sprache 
auch bereitö mehr oder minder verwijcht fein, mag der bildende 
Einfluß der Eultur der Karbennomenclatur feinen Stempel aud) 
noch jo tief eingeprägt haben, faft immer gelingt ed, wenigſtens 
Spuren jener urjprünglichen Cigenartigfeit der Farbennomen- 
clatur noch zu entdeden. Am Beften werden wir unjere Leſer 
über die ethnologiihe Bedeutung der Farbenfinnforihuug unter: 
richten, wenn wir ihnen die Refultate derjelben kurz vorführen 
und ihnen jo ein eigemed Urtheil über diejelben ermöglichen. 


I. 


Was zuvörderft den Umfang des Karbenorgans bei 
den verjchiedenften Völkerſchaften anlangt, jo jcheint derjelbe 
ziemlich überall der nämliche zu fein. Bei allen unterjuchten 
Nationen war eine Empfindung der jämmtlichen jogenannten 


fieben Regenbogenfarben vorhanden; das Spectrum wurde in 
(477) 


8 


feinen Hauptfarben vom Roth bis zum Violett überall erfannt 
und jede jeiner Gardinalfarben wurde mittelft eines bejondern, 
eigenartigen Empfindungsvorganges percipirt. Es lieh ſich, 
wenigftens bis jet, fein einziger Volksſtamm auffinden, bei dem die 
Empfindungsfähigfeit für eine jener Hauptfarben vollftändig ge- 
mangelt hätte. Selbft auch bei den uncivilifirteften, auf tieffter 
Stufe der Eultur ftehenden Völkern war ftet3 die Möglichkeit, 
eine jede Hauptfarbe des Spectrumd gejondert ald joldye zu 
erkennen, nachweisbar: Wenn nun aljo auch die Grenzen, 
innerhalb deren fidy der menfcliche Sarbenfinn zu bewegen 
vermag, bei allen Nationen, cultivirten wie uncultivirten, 
ziemlidy die gleichen jein dürften, jo jcheinen doch in der 
Sntenfität der einzelnen dyromatifchen Empfindungen nidyt une 
erhebliche Schwankungen zu eriftiren. Während einzelne Parthien 
ded Spectrumd mit ganz bejonderer Lebhaftigkeit empfunden 
werden, jcheint fi) andern gegenüber eine auffallende Gleich— 
gültigfeit, ja jogar eine mehr oder minder ausgeſprochene Nicht- 
achtung geltend zu machen. Doch handelt es ſich dabei immer 
nur um eine Stumpfheit, um eine weniger auögebildete Energie 
der Empfindung, aber feineöwegs um einen vollftändigen Mangel 
derjelben. Und zwar find ed immer die furzwelligen, ftärfer 
bredybaren Strahlenarten ded Spectrums, alſo Grün und Blau, 
denen gegenüber fidy eine Unflarheit des Empfindungsorganes 
bemerfbar macht; während dagegen Roth mit jeinen Dependenzen, 
bis zu dem Gelb, ftetö in der lebhafteften Weile empfunden 
werden. Es beiteht, wenn wir und dieſes Ausdrudes bedienen 
dürfen, für das Roth mit feinen verjchiedenen Schattirungen 
eine ganz bejonders ftarf entwidelte Freudigfeit der Empfindung, 
ein Umftand, der ed auch bewirft hat, daß gerade im culturge- 
ichichtlicher Beziehung Roth eine bevorzugte Rolle gejpielt hat; 
Profefjor Kirchhoff nennt darum Roth audy in ſehr treffender 
Weiſe: „Die ariſtokratiſche Farbe“ und Grant Allen jchildert 


(478) 


9 





die Sonderftellung, welche grade Roth in der chromatiichen 
NRangorduung einnimmt, mit folgenden Worten: „Natürlich 
dürfen wir auch ferner nicht vergefjen, dab Roth die Lieblings- 
farbe bildet nicht nur für dem Urmenfchen und die heutigen 
Wilden, fondern audy für die Jugend jowie für die ungebildeten 
Nationen Europad. Gentralafrifa iſt Fäuflich für rothen Kattun; 
die weſtindiſche Negerin ſchmückt fich mit einem rothen Turban, 
dad Kind im der Wiege jaudyzt über ein paar rothe Lappen, 
das Dienftmädchen verziert ihre Haube mit rothen Bändern und 
bewundert den Soldatenrod ald jchönfted® der menſchlichen 
Coſtüme“. Und an einer anderen Stelle jeined Buches über den 
Farbenfinn jagt derfelbe Autor: „Dad rothe und orangefarbene 
Ende des Spectrums ift entichieden das am meiften Luft erregende, 
während die Farben Grün und Blau entjchieden Died am wenig: 
ften find“. 

Die bevorzugte Stellung, in welcher bei vielen Naturvölfern 
die Nothempfindung gegenüber der Vorftellung ded Grün und 
Blau ficy befindet, wurde in bejonders characteriftiicher Weije 
von Dr. Almquift bei den Tichuftichen nachgewiejen. Nach den 
Beobachtungen dieſes Forjherd muß es als völlig zweifellos 
gelten, dab die Tſchuktſchen im Allgemeinen eigentlidy nur die 
rothe Farbe mit ihren verſchiedenen Schattirungen inclufive Gelb 
genau aufzufafien vermögen. Roth in den verjchiedeniten Tönen 
wurde ftetö in jchärffter Weiſe erkannt, während fich dagegen in 
der Empfindung ded Grün und Blau eine hödyit auffallende 
Unficherheit offenbarte. „Bittet man“, jo jagt Almquift, „einen 
Zichuftihen, die Begrenzung der Farben auf einem Spectral- 
bilde zu bezeichnen, jo zeigt fich jogleich, welche eigenthümliche 
Grenze fie zwijchen Grün und Blau ziehen. Die Meijten be: 
zeichnen ald Grün auch einen großen Theil des Blau, manchmal 
bezeichnen fie aber audy das Grün ald Blau“. ntiprecyend 
diefer Unficherheit in der Differenzirung des jpectralen Grün und 


(479) 


Blau begingen die Tſchuktſchen aud häufig Fehler, wenn fie 
grüne oder blaue Perlen zufammenftellten; es pajfirte ihnen oft 
genug, daß fie in einer Collection von blauen Perlen auch grüne 
aufnahmen, wofern diejelben nur die gleiche Kichtftärfe wie jene 
bejaben. Almquift glaubt aus feinen einjchlägigen Beobachtungen 
ihlieklich folgenden Sat ableiten zu dürfen: „Die Tſchuktſchen 
fafjen alle Schattirungen von Roth als etwas befonderes für fidy 
zufammen, meinen aber, dat ein mäßig lichtitarfed Grün weniger 
mit einem lichtſchwachen bdefjelben Farbentons übereinftimme, 
als mit einem Blau von derjelben Lichtitärfe. Um alles Grün 
für fi zulammenzufaffen, muß der Tſchuktſche eine ganz neue 
Abftraction lernen. Ein Begabterer hat fidy zwar diejelbe mit 
Leichtigkeit aneignen Fönnen, wie idy died genau beobachtet habe, 
aber das Volk im Großen und Ganzen dürfte died nicht eher 
im Stande fein, als bis civilifirte Völker und ihre Induſtrie 
mädhtiger auf dasfelbe eingewirft haben werden". 

Es ift durch diefe Almquiftichen Beobachtungen alfo der Nach- 
weis geliefert: dab bei den Tſchuktſchen der Karbenfinn fich im 
Allgemeinen zwar in denjelben Grenzen bewegt, wie bei uns, dab 
aber der Schwerpunft der Farbenfinnentwidelung ganz beftimmt in 
der Nothempfindung reip. in der Empfindung der langmwelligen 
Farben überhaupt liegt, während die Auffaffung der kurzwelligen 
Farben, Grün und Blau, wenn audy nicht fehlt, jo doch nur höchſt 
mangelhaft ausgebildet ift. Genau derjelben Erſcheinung be— 
gegnen wir bei andern ethniſch wie räumlich weit von einander 
getrennten Völferftämmen; jo berichtet mir z. B. ein Miifionar, 
der über ein Bierteljahrhundert unter den die Bergzüge der 
Nilagiri bemohnenden Stämmen gelebt hat, daß dieſe Völfer- 
Ichaften eine wirklidy entwidelte und bewußte Vorftellung eigentlich 
nur von Schwarz, Weiß und Roth bejäßen, gegen alle andern 
Farben aber fich ungemein gleichgültig bezeigten. Aehnliches 


bat man bei gewiljen Stämmen Südafrifad nachgewiejen. Auch 
(480) 


— 1 
die Beobachtungen, welche Virchow an den Nubiern gemacht 
bat, gehören wenigitend zum Theil hierher: „Die Mehrzahl der 
Leute”, jo jagt Virchow, „bat mit einer gewiljen Sicdyerheit nur 
die vier oberen Farben der Magnus’ichen Scala untericheiden 
-und benennen fünnen; ſchwarz, grau, weiß und roth. Bon da 
an begann die Schwierigfeit nicht bloß in der Bezeichnung, 
jondern auch in ber MWiedererfennung der vorher bezeidhneten 
Farbe. Es wurden jpäter große Bogen von gefärbtem Papier 
vorgelegt, um eine größere Fläche zur Anſchauung zu bringen 
und dur die Reinheit ded Farbeneindruds eine ftärfere finnliche 
Erregung zu erzielen. Dabei ergab fidh, daß die Yeute durchaus 
feinen Mangel an Farbenfinn hatten”. Während aljo für 
Roth die Stärfe des finnlihen Eindrucks zur genauen Perception 
binreichte, wie fie dur die Größe der auf meinem Fragebogen 
angebrachten farbigen Scala gegeben war, genügte diefe Er- 
regung für die Auffaſſung der andern Farben nicht mehr voll- 
ſtändig; vielmehr mußten diefelben durdy Vergrößerung des 
farbigen Dbjectes erhöht werden. Es ift died nad) unjerer 
Meinung eben ein Beweis für die lebhaftere Empfindung der 
langmwelligen Farben von Roth bis Gelb überhaupt. Bon Inter: 
eſſe ift ed übrigend, daß die Trägheit der Grün- und Blau— 
empfindung, weldye wir joeben als eine Stammeigenthümlichkeit 
der verjchiedeniten Völkerſchaften haben Fennen lernen, bis zu 
einem beftimmten Grade bei nicht wenigen Europäern gleichfalls 
nachweisbar ift. Holmgren berichtet in jeinem Bude: „Die 
Farbenblindheit”, daß er viele Individuen gefunden habe, denen 
ed von Natur jchwer falle, zwiſchen matten Scyattirungen von 
Grün und Blau zu unterjcheiden. Zeige man diejen ein hellgrün 
oder hellblau gefärbted Dbject, z.B. ein Wollenbündel und frage 
nach der Farbe, jo werde dad blaue oft grün und dad grüne 
oft blau gemannt; furzum ed jei eine Umficherheit in der Be— 
ftimmung des Farbentons deutlich vorhanden. Und Diele 


(481) 


12 


ſchwinde erft, wenn man beide grüne und blaue Bündel neben 
einander lege. Die nämliche Erjcheinung habe id) bei meinen 
ziemlich umfangreichen Unterſuchungen des Farbenfinnd gleichfalls 
oft genug beobadıtet und habe ic) diejelbe wiederholt auch genauer 
zu prüfen Gelegenheit gehabt. Ich habe midy dabei überzeugt, 
daß ed auch Individuen giebt, denen die Unterjcheidung von Grün 
und Blau bei Verminderung der Beleuchtungsſtärke auffallend 
früh, viel früher ald anderen Perjonen verloren gebt. Unter» 
jucht man joldye Individuen mit einem Photometer, jo bemerft 
man, dab fie jchon bei einer Beleuchtung, bei der andere noch 
ohne Mühe größere grüne und blaue Duadrate zu unterjcheiden 
vermögen, den fpecifiihen Farbeneindrud verlieren und rathlos 
find, wenn man fie frägt, ob fie Blau oder Grün jähen. Der 
Eindrud, den beide Farben alddann auf fie machen, iſt ein jo 
gleichartiger, dab fie meinen: die vorliegende Karbenprobe könne 
ebenjo gut grün, wie blau jein. Uebrigens macht man eine 
ähnliche Erfahrung audy bei Gelb. Fügt man ein fleined gelbes 
Duadrat in den Photometer ein, jo wird dafjelbe zwar noch bei 
einer jehr geringen Lichtftärfe, bei der Grün und Blau aud für 
ein chromatiſch jehr gut entwideltes Auge ſchon längit jeden 
Ipecifiichen Farbenton verloren haben und nur grau erjcheinen, 
farbig gejehen und ohne Zögern als Gelb bezeichnet, doch fommt 
Ichließlidy ein Grad der Lichtftärfe, bei der die Vorſtellung des 
Gelb verſchwindet und dafür die des Röthlichen eintritt. Es 
wird alddann dad gelbe Duadrat roth genannt; erſt wenn man 
wieder mehr Licht in den Photometer zutreten läßt, wird das 
gelbe Quadrat in feinem eigentlich jpecifilchen Farbeton erkannt. 
Es jcheinen diefe von mir am Photometer in einer langen Reihe 
von Fällen ficher nachgewiejenen Erſcheinungen dafür zu jprechen, 
dat bei Verminderung der Beleuchtung unjerAluge viel ſicherer und 
leichter die langwelligen Farben, alio Roth und Gelb, von ein- 


ander zu trennen vermag, ald die furzwelligen Grün und Blau. 
(482) 


_2B 


Mebrigend bemerfe ich gleich, daß ich diefen meinen Unterjuchungen 
durchaus feine allgemeine verbindliche Bedeutung geben will und fie 
nur für die von mir benußten Pigment» aber nidyt für Spectral- 
farben Geltung haben. Doch it die Uebereinftimmung, in der 
fie fich zu den von Almquift an den Tſchuktſchen beobachteten 
Thatlachen befinden, eine jo auffallende, dab ich fie an dieſem 
Drt in Parallele mit den Almquift’ichen Mittheilungen ftellen 
zu müffen glaubte. Das Gleiche gilt von den Beobachtungen, 
welche verichiedene Autoren bezüglich der Erkennbarkeit der 
Farben in größeren Entfernungen gemadt haben. Die dies— 
bezüglichen Unterfuchungen haben nämlicy ergeben, daß Grün und 
Blau in gemiffen Entfernungen viel jchwerer erfannt werden, 
ald Roth. Im einer Entfernung, in welcher Roth mühelos nody 
in jeinem cdharacteriftiihen Barbenton empfunden wird, haben 
Grün und Blau fchon jede Spur eined chromatiſchen Eindruds 
verloren und erjcheinen in farblofem Grau. Ohne aus diejen 
Mittheilungen irgendwelche weitgehenden Schlüffe folgern zu 
wollen, bejchränfen wir und auf die Bemerkung, daß derartige 
phnfiologiiche Anklänge an die bei den Tſchuktſchen gemachten 
Erfahrungen für die Erklärung der igentbümlichfeiten des 
Farbenfinnd der Naturvölfer möglicherweije dody von Bedeutung 
werden können. Sedenfalld legen fie den Verſuch nahe, das 
Verſtändniß für die bei den Tichuftichen und anderen Stämmen 
gewonnenen Erfahrungen auf farbenphvfiologiihem Gebiet zu 
juchen. 

Eine andere faum weniger interefjante Beobachtung ift die, 
daß bei einzelnen Stämmen ohne allen Zweifel eine weit größere 
Empfänglichkeit für die Lichtftärfe, ald wie für den Farbenein- 
druck vorhanden ift. Almquift fand, daß feine Zichuftichen die 
verfchiedenen Schattirungen einer Farbe, z. B. verjchiedene Töne 
von Grün nur mit Mühe unter dem gemeinfamen Begriff der 


Farbe, alio hier das Grün, znfammenzufaffen vermodten. Sie 
(483) 


14 


waren vielmehr geneigt, dieje verſchiedenen Schattirungen nad) 
ihrer Lichtitärfe zu ordnen und gemäß der Verſchiedenheit des 
Lichtgehaltes die einzelnen Schattirungen für verjchiedene Farben 
anzufprehen. Da fie nun dafjelbe Eintheilungsprincip mit 
Ausnahme ded Roth und Rothgelb allen Farben gegemüber be- 
folgten, jo war ed natürlidy, daß fie feinerlei Bedenken trugen, 
zwei ganz verſchiedene Karben, z. B. Blau und Grün, als zu— 
fammengehörend zu erklären, wofern fie eben nur in ihrer Licht— 
ftärfe gleih waren. Aus dieſer Bevorzugung der Lichtftärfe 
gegenüber dem chromatiſchen Werth; der einzelnen Farben ergiebt 
fih nun bei den verſchiedenſten Völkerſtämmen eine auffallende 
Ginengung und Beichränfung ded Begriffed Farbe überhaupt. 
Sie find geneigt, nur die ausgeſprochenſten Yarbentöne als 
jolche aufzufaflen und ihrem Farbenwerth gemäß anzuerkennen, 
während fie die weniger Fräftigen Schattirungen lieber dem 
Begriff ded Hellen oder Dunklen einreihen, ald mit ihnen eine 
Vorftellung des Gefärbten verbinden. So fonnte z.B. Dr. Stein, 
ald er eine nubiſche Saravane im zoologiichen Garten zu Frank— 
furt a. M. unterfudte, beobadıten: daß dieſe Nubier die dunklen 
Farbentöne gern coordinirten, mochten fie für ein chromatiſch 
erzogened Auge auch noch jo verichieden fein; als er fie aufforderte, 
aus einem Sortiment Holmgren’sher Wollen diejenigen Farben 
herauszuſuchen, welche jeinem jchwarzen Hut glichen, wählten 
fie außer andern dunklen Schattirungen, wie etwa Dunfelblau, 
auch dunkles Purpurroth. Etwas Aehnliches berichtet mir 
Milfionar Steiner aus Accra an der Goldküſte Afrikas, indem 
dort wohnende Stämme urjprünglidy alle dunflen Schattirungen, 
wie Dunkelblau, Duntelroth, u. ſ. w. einfach für Dunfel über: 
haupt reſp. für Schwarz angejehen haben. Die gleiche Ein- 
ſchränkung des Begriffd der Farbe zu Gunften der allgemeineren 
Vorftellung des Lichtes macht fich audy bei den hellen Farben- 
nüancen bemerkbar; helles Grüu, helles Blau, helles Gelb 


(484) 


werden jehr häufig nicht als Farbe aufgefaßt, ſondern lediglid) 
nur nach ihrem Lichtgehalt beurtheilt und aus diefem Grunde 
für gleichwerthig erachtet und dem Begriff des Hellen ſchlechthin 
unterftellt. Doch will ich nochmals bejonderd darauf hinweilen, 
daß derartige Einflüffe fich bei der Beurtheilung und Werth: 
Ihätung ded Roth jo gut wie niemald als maßgebend er⸗ 
weiſen, ſondern dieſe Farbe ſtets ihrem Farbencharacter nach auf- 
gefaßt zu werden pflegt. 

Ein ganz beſonderes Intereſſe gewinnen aber alle dieſe 
Thatſachen, ſowohl die größere Empfänglichkeit für die lang— 
welligen Farben, als auch die Einſchränkung des Begriffs der 
Farbe zu Gunſten der allgemeinen Vorſtellung des Hellen über- 
haupt durch Beobadytungen, weldye man in analoger Weije bei der 
Entwidelung des kindlichen Farbenfinned gemadht hat. Die 
Uebereinftimmung zwiſchen der Beſchaffenheit des Findlichen 
Farbenfinned und des Zuftandes der Farbenempfindung reſp. 
der Farbennomenclatur der Naturvölker iſt eine ſo auffallende, 
daß ſie wohl geeignet iſt, auf die ganze uns hier beſchäftigende 
Frage ein neues, wenn wir jo jagen dürfen, phufiologifches Licht 
zu werfen. Im Lauf diejer unjerer Abhandlung werden wir 
darum auch nochmals auf die Entwidelung des kindlichen Farben- 
finnes zurüdzufommen haben. 

In diejer Bevorzugung des Lichteindruded gegenüber der 
FSarbenempfindung wurzelt denn aud die allgemeine Farbenein- 
theilung vieler Nationen. Cie ordnen die gejammten Farben- 
ericheinungen in drei große Gruppen, nämlich in: 

1. Roth mit allen Nüancen bid Gelb. 

2. Hell, umfafjend alle lichtitarfen Nüancen der verſchie— 
denften Farben mit Ausnahme von Roth. 

3. Dunfel, umfafjend alle lihtarmen Nüancen der vers 
jchiedeniten Farben. 


Während die erite diefer drei Gruppen auf dem Boden einer 
(485) 


5 16 
ſcharf empfundenen chromatiihen Vorftellung beruht, ftehen die 
beiden andern ausſchließlich auf dem Gebiet des LKichtfinnes. 
Die Größe des Lichteindrudes, die Stärke des Lichtgehaltes ift 
bier das allein Enticheidende; nur nad) ihr wird die Farbe be- 
urtheilt und nicht nad) der Eigenartigkeit ihrer hromatiichen Er- 
jheinung. Aus diefem Grunde werden aljo in die zweite 
Abtheilung alle hellen Nüancen, wie Hellblau, Hellgrün ein- 
rangirt, während die dritte Klafje die dunklen Töne umfaßt. 
Man wird mir einräumen, daß zwifchen der erften und den bei- 
den letzten Abtheilungen diefer Farbenklaffififtation der weit- 
gehendite Unterſchied herricht; während die erfte die wohl ent- 
widelte und jcharf präcifirte Erfenntniß der rothen Farbe mit 
al’ ihren Abftufungen repräjentirt, zeigen die beiden andern 
noch eine Unflarheit und Gleichgültigfeit in der Farbenerfennt- 
niß, welche jogar jo weit geht, daß fie das Urtheil über eine Farbe 
nicht auf den ſpecifiſchen Farbeneindrud, jondern auf den Licht- 
gehalt derjelben begründen. Welch' eine Kluft liegt zwijchen 
diefer Farbenauffaflung der Naturmenjchen und der Klaffification, 
die der erzogene Farbenfinn ded Culturmenſchen entwidelt hat. 
Während für und die Zufammengehörigfeit der verjchiedenften 
Farbentöne in erfter Linie durch den characteriftiichen Farben» 
werth beftimmt wird, legt der Naturmenſch auf diejed Merkmal 
häufig jo gut wie gar feinen Werth; nur für die verjchiedenen 
Nüancen ded Roth; befolgt er dieled Eintheilungsprincip und 
fteht diejer Farbe gegenüber auf der gleichen Höhe mit dem 
Culturmenſchen. Für alle andern Farben kann ihm aber der 
Farbeneindrud allein feine genügende VBeranlafjung zur Trennung 
und Gintheilung bieten; die Lichtitärfe tritt hier an Stelle der 
Farbenempfindung und beitimmt jein Urtheil über die Zufammene 
gehörigfeit der einzelnen Farben. Wenn wir nun audy) nicht be: 
baupten wollen, daß ein derartig rudimentäred Farbenſyſtem ala 
eine igenthümlichfeit jämmtlicher Naturpölfer anzufehen jei, 
(486) 


17 


jo finden wir es doch bei vielen derjelben wieder. So interefjant 
dieje Thatjache an ficy auch immer jein mag, jo gewinnt fie da- 
durch noch ganz befonders an Bedeutung, dat eine ähnliche Er- 
ſcheinung in der Entwickelungsgeſchichte Tängft begrabener Ge- 
Ichlechter nachweisbar it. Die genaue Durchforfchung der 
Homeriichen Gejänge hat ed ald zweifellos dargethan, daß in 
ihnen in erfter Linie die Lichtverhältnifje Berüdfichtigung finden, 
während die Farben nur geringe Beachtung erfahren. So ver- 
Ihieden auch die Erklärung diefer eigenthümlichen Thatſache 
lauten mögen, in der Anerfennung ihrer Exiſtenz find faft alle 
Autoren, die fich mit diefem Gegenjtand bejchäftigt haben, einig. 
Ob nun dieſe optiſche igenartigfeit der Homerifchen Gejänge 
in irgendwelche genetiſche Beziehungen zu bringen ſei mit dem 
Ueberwiegen der Licht» über die Karbenempfindung bei einzelnen 
Naturvölfern, oder ob man vielleicht fogar den Verſuch wagen 
könne, für beide Erjcheinungen eine gemeinjchaftliche Erklärung zu 
geben, darüber wollen wir und an diefem Drt nicht weiter 
äußern. Wir begnügen und damit, die auffallende Aehnlichfeit 
beider Thatjachen hervorgehoben und mit einauder in Parallele 
geftellt zu haben, müflen es aber dem Ermeſſen des Leſers an- 
heimftellen, in wie weit er beide zu einander in Beziehung 
bringen wolle. 


I. 


Außer diejer überwiegenden Entwidelung der Rothvor: 
ftellung und der Trägheit der Grün- und Blauempfindung, jo: 
wie der Superiorität des Lichtfinned gegenüber dem Farben- 
finn ift durdy die einjchlägigen Unterſuchungen nod) eine eigen- 
thümliche Bejchaffenheit der ſprachlichen Ausdrüde 
für Die verjchiedenen Farben nachgewiejen worden. Und 


zwar ift dieje Eigenartigfeit von allen Unterſuchern in jo voll: 
XVII 420. 2 (487) 


18 


fommener Uebereinftimmung immer wieder auf'd Neue conftatirt 
worden, daß ed, wie ich ſchon vorhin bemerft habe, faft fo 
ſcheint, ald wäre es bier gelungen, einem allgemeinen großen 
Bildungdgefeg auf die Spur zu fommen, welches bei der Ent- 
widelung der chromatiſchen Nomenclatur wirkſam zu fein pflegt. 
Fallen wir die durch unſere Unterſuchungen gewonnenen Er— 
fahrungen furz zufammen, jo würden fidy ungefähr folgende Gejeße 
ergeben: 

1. Die Farbenempfindung und die Farbenbezeichnung 
ftehen bei vielen Naturvölfern in einem höchſt auffallenden Miß— 
verhältniß; die Farbenterminologie ift jehr oft eine Fümmerliche, 
wenig entwidelte, troßdem der Farbenfinn eine gute Ausbil- 
dung zeigt. 

2. Die nachweisbare Verfümmerung der Farbenbezeihnung 
trägt einen durchaus geſetzmäßigen Typus, injofern nämlich die 
ſprachlichen Ausdrüde für die langmwelligen Sarben, jpeciell für 
Roth, viel ſchärfer ausgeprägt find, ald wie für die furzwelligen 
Farben. 

3. Ungemein häufig fommt eine Verwechſelung der jpradh- 
lichen Ausdrüde der verfchiedenen Farben vor und zwar erfolgt die: 
jelbe meift in der Art, daß jpectral benachbarte Farben mit einander 
ſprachlich vermengt werden. Es werden aljo ſprachlich mit ein- 
ander vereint, Roth mit Drange und Gelb; Gelb mit Grün; 
Grün mit Blau; Blau mit Violett. Nach meinen eigenen Er- 
fahrungen muß ich glauben, daß Die verbale Vereinigung von 
Grün mit Blau bei Weitem die häufigite jei, während die 
übrigen genannten ſprachlichen Vermifchungen entjchieden jeltener 
vorfommen; doc ſcheinen andere Forjcher nicht unbedingt diejer 
Meinung zu fen. So bezweifelt z. B. Kirhhoff, dab Grün 
und Blau häufiger ſprachlich zu einem Begriff vereinigt würden, 


ald z. B. Grün mit Gelb. Und wenn diefer Autor meint, eine 
(488) 


19 


Entiheidung, welche von diejen verbalen Bermiichungen häufiger 
jei, laſſe fi bei dem heutigen Stand unferer Erkenntniß noch 
nicht mit Sicherheit geben, jo wollen wir und bei diejem Aus— 
ſpruch beicheiden und diefen Punkt vor der Hand noch offen 
laſſen. Doch müffen wir nochmals darauf hinweifen, daß die 
ſprachliche Verſchmelzung von Grün und Blau zu einem verbalen 
Begriff in der auffallendften Weije bei den verichiedenften Völfern 
und unter den verichiedenften Himmelöftrihen immer wiederfehrt. 
Andree, der diefem Gegenftand feine bejondere Aufmerkjamfeit 
geichenkt hat, jagt bezüglich dieſes Punftes: „es bleibt jedenfalls 
eine auffallende und roch zu erläuternde Thatſache, dab über 
den ganzen Erdball zerftreut zahlreiche Völker gefunden werden, 
die Blau mit Grün zufammenwerfen und mit einem Auddrude 
bezeichnen. Wie die gefammelten Beläge darthun, iſt dies in 
einem hohen Grade der Fall bei ethniſch und räumlidy weit von 
einander getrennten Völkern und in jchlagender Webereinftimmung.” 
Uebrigend erfennt auch Prof. Kirchhoff ausdrücklich jelbft 
an, dab die Sonderbezeichnung von Grün und Blau erft eine 
Sache ded neueren menſchlichen Fortſchrittes jei. Und mit dieſer 
Aeußerung trifft Prof. Kirchhoff den Nagel auf den Kopf und 
Ipricht und völlig aud dem Herzen. Denn fieht man wie Grün 
und Blau in den meilten todten wie lebenden Sprachen ent- 
weder verbal geeint find oder doch wenigitend in der allernäcdhiten 
ſprachlichen Verwandtſchaft mit einander ftehen, jo kann man 
fi) der Einfiht kaum verjchließen, daß wenigftend auf dem 
Gebiet der Farbennomenclatur, wenn man nicht jagen will auf 
dem der Farbenempfindung überhaupt, ein Fortjchritt erfolgt jei, 
der vom Roth anhebend nady dem Blau hin feinen Weg ge: 
nommen hat, einen Weg, welchen, wie wir fogleidy nody näher er- 
örtern werden, der findliche Farbenfinn nody heute befolgt, ehe 
er den vollen Grad jeiner Entwidelung erlangt. Bemerfen 
(489) 


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20 





wollen wir nur noch, dab die ſprachliche wie finnliche Ver— 
fchmelzung von Blau und Violett auch heute noch bei vielen 
Culturmenſchen eine ganz gewöhnliche Sade it und man gar 
Mandyen arg in Berlegenheit bringt, wenn man ihn frägt: ob 
ein Object blau oder violett fei. Ich felbft bin mir einer der» 
artigen Schwäche wohl bewußt, trotzdem ich im Uebrigen einen 
jehr fein reagirenden Farbenfinn befite. 

Dürfen wiran dieje auf dem fprachlichen Gebiet gewonnenen 
Erfahrungen noch einige erläuternde Worte anknüpfen, fo 
möchten wir zuerit auf die Thatſache aufmerkſam machen, daß 
die Karbenempfindung und Farbennomenclatur nicht mit einan- 
der parallel laufen, fich nicht durchaus congruent find. Es kann, 
wie wir died joeben gehört haben, ein Volksſtamm in der 
Empfindung der einzelnen Spectralfarben fid) durchaus tactfeft 
erweiien und dod eine nur mangelhaft emtwidelte Farben— 
nomenclatur haben. Die auffallende und den Character des 
Gejegmähigen tragende Erſcheinung ift dabei nur die, daß 
diefe Verkümmerung der chromatijch= verbalen Gebilde niemals 
die rothe Farbe mit einbegreift, ſondern fi nur auf die nicht 
rothen Karben bezieht. Roth zeigt ftetö eine jcharf ausgebildete 
Iprachliche Verkörperung. Sa es ift bei vielen Nationen überhaupt 
die einzige Farbe, die mit ihren Schattirungen zufammengefaht 
wird und zur fpradhlidhen Gelbftftändigfeit gelangt, während 
alle andern Farben lediglidy nur nad) ihrem Lichtgehalt beurtheilt 
werden und auch nur diejer optiichen Auffaſſung gemäß verbal 
zum Ausdrud fommen. Haben wir ja doch gehört, daß bei 
vielen Volksſtämmen nur feite und präcife Farbennamen für 
Weit, Schwarz und Roth beftehen. Dieſes in der hromatiichen 
Nomenclatur unzweifelhaft herrſchende Geſetz jcheint und num 
aber jehr geeignet, um über die dafjelbe bedingenden geneti— 
chen Momente einige Aufichlüffe geben zu fünnen. Zuvörderſt 


(490) 


21 


möcdten wir im Hinbli auf beſagtes Gejeb gegen verſchiedene, 
von einzelnen Autoren verſuchte Erflärungdmöglichfeiten unjere 
Bedenken ausſprechen. Wenn nämlidy behauptet worden ift: 
die Schuld an der Mangelhaftigkeit ausgebildeter Farbenbezeich- 
nung treffe lediglidy nur die Sprade, diejelbe jei nicht ſchöpferiſch 
genug, um allen unjeren finnlihen Empfindungen fih an 
ſchließen und fie in jprachlicher Fomen gießen zu können, jo bleibt es 
bei einer ſolchen Annahme doch gewiß höchſt räthjelhaft, warum 
eine jolde Armut der Spradbildung nidyt auch der rothen 
Farbe gegenüber fich bethätigt; es bleibt abjolut unverjtändlich, 
warum grade Roth überall die größte ſprachliche Selbititändigfeit 
befißt und die Unficherheit in der Farbenbezeichnung immer erft 
beginnt, wenn man Roth verläßt und zu dem anderen Ab» 
Ichnitten ded Spectrums gelangt. Eine Erflärung, weldye wie 
die mit der Armuth der Sprachbildung operirend diejed Gejeh 
einfady ignorirt, fann dod im Ernft eigentlidy nicht für eine 
Erklärung gelten. Nicht viel befjer fteht ed, unjeren Bedenken 
nach, mit jener Annahme, die da meint: der tägliche Gebraudy, 
den ein Volk entiprechend feinen Bedürfniffen von den Farben 
reip. den chromatiſchen Beziehungen mache, bedinge ganz allein 
die eigenartige Unvolllommenheit der Farbennomenclatur. Daß 
ein derartiger Factor bei der Bildung des chromatiichen Wort» 
ſchatzes mitwirkt, ift ganz gewiß nicht in Abrede zu ftellen und 
wäre ich Einer der Lebten, der dies thun wollte. Habe ich ja 
doch in meinen „Unterfuchungen über den Farbenfinn der Ratur- 
völfer” wiederholt Gelegenheit gehabt nadyzuweifen, in wie 
engen Beziehungen die Bedürfniffe des täglichen Lebens, die 
Berhältniffe der jeweiligen Umgebung grade zu der Entwidelung 
der Sarbennomenclatur ftehen. Allein diefe Verhältniffe mögen 
wohl genügen, um gewiffe locale Gigenthümlichkeiten der Sprady 


bezeichnung bei verfchiedenen Völkerſchaften zu erflären, aber 
(491) 


22 


ein volles Verſtändniß jened allgemeinen Gejeted von der 
ſprachlichen Superiorität des Roth reip. der langwelligen Farben 
fönnen fie doch nicht geben. Die örtlichen Verhältniffe, unter 
denen die verjchiedenen Volksſtämme ihr Dajein abipinnen, find 
dody zu verjchiedene, um aus ihmen einzig und allein die Er- 
klärung für jened Gejet ableiten zu dürfen. Der Tſchukſche, der 
body im Norden unter Schnee und Eis feine Griftenz friftet, 
bildet feine Farbennomenclatur genau jo wie der Nubier und 
Sandwichsinſulaner; alle drei haben wejentlih nur für Noth, 
Weib und Schwarz fichere jcharf ausgemünzte fprachlicdye Aus- 
drüde. Nun die Lebendverhältnifje, unter denen die genannten 
Völker leben, find doch mwahrlidy jo verſchieden wie nur irgend 
möglih und man verfteht eigentlich nicht, wo in ihrer Lebens— 
weile der gemeinjame Factor liegen fünne, der fie veranlaft 
haben mag, die gleihe Farbennomenclatur mit alleiniger Be- 
vorzugung ded Roth zu entwideln. Einzelne Autoren glauben 
allerdings dieſe erforderliche Gemeinfamfeit in gewiljen Natur- 
ericheinungen finden zu können, die überall auf dem Erdenrund 
in gleicher Weiſe zur Erjcheinung gelangen. So hat man 
3. B. wohl die Morgen: und Abendröthe ald eine derartige, der 
Empfindung aller Erdbewohner gleich zugängliche Erjcheinung 
angefehen und fie für die ſprachliche Sonderausbildung des Roth 
verantwortlid machen wollen. Bei einer derartigen Annahme 
bleibt e8 zum Mindeften aber doch höchſt auffallend, warum nicht 
andere Natur-Erjcheinungen, wie 3. B. die Bläue der Luft und 
ded Himmels, dad Grün der Vegetation fih der gleichen Auf- 
merfjamfeit erfreut und den gleichen Antheil zur Entwidelung 
der Farbennomenclatur beigefteuert haben. Welch' eine auffallende 
Veränderung erfährt z. B. die Natur nicht, wenn nach der langen 
chromatiſchen Dede des Winterd das erfte grüne Laub Feld und 
Flur ſchmückt? Sollte man nicht glauben, daß nad) dem farben- 


(49a, 


23 


armen Winter dad menſchliche Auge förmlich nad) einer chro- 
matifchen Empfindung lechzen müffe und dem jungen Grün 
fih darum befonderd empfänglid, zeigen werde? Grade der 
Contraſt zwiſchen der Farbenarmuth des Winterd und dem 
fräftigen Reiz ded jnnyen Grün hätte doc) eigentlich dazu bei— 
tragen müljen, Die ſprachliche Verkörpung dieſes Farbenein— 
druckes zu fördern und zu entwickeln. Und doch finden wir bei ſo 
vielen Nationen, und ſelbſt auch bei-joldyen, die unter der 
üppigen Pflanzenwelt der Tropen leben, nur Roth jprachlich ent- 
widelt. Derartige Reflerionen legen den Schluß nahe, dab die 
jo eigenartige Entwidelung der Farbennomenclatur möglicher- 
weije doc) nicht allein nur durch außerhalb des Menichen liegende 
Gründe veranlaßt fein könnte, jondern daß auch innere, in der 
Subjectivität unfered Gejchlechted vorhandene Factoren bei dem 
Zuftandefommen derjelben mahgebend gewejen jein dürften. Geben 
wir die Berechtigung dieſer Doch ganz gewiß feineöwegs unbilligen 
Annahme zu, umd die phufiologifchen Eigenthümlichkeiten des 
findlichen Farbenfinns weiſen und auf eine derartige Annahme 
nicht blos bin, jondern fie zwingen uns ſogar eigentlich zu einer 
ſolchen, jo könnten wir und den Entwidelungdgang, welden 
unjere $arbenfenntniß, jowie unjere Farbennomen— 
clatur genommen hat, etwa in folgender Weiſe erflären. 


III. 


In frühen, weit vor jeder Gulturftufe liegenden Perioden 
der menjchlichen Entwidelung wurde nur Lidyt mit all’ feinen 
Abitufungen empfunden, aber nody nicht die Farben. „Das war 
der regelmäßige Gang diejer Entwidelung,* jo jagt Prof. 
Kirchhoff, „dab viel früher die Quantität ald die Dualität des 
Lichteindrudes erfaßt wurde." Nur darf man fi) eben nicht 
porftellen, ald ob in jenen frühen Phaſen die Menichheit fich 


(493) 


24 


optiih in einem Zuftand befunden habe, der analog geweſen 
wäre dem heutigen Begriff der Farbenblindheit. Cine wirk- 
liche Unmöglichkeit Farben zu empfinden hat factiſch niemals 
eriftirt, jondern ed hat fi in jenen bypothetiichen Zeiträumen 
die menſchliche Netzhaut ungefähr in dem Zuftande befunden, in 
dem nody heute ihr peripherifcher Theil verharrt. Bekanntlich 
ift die periphere Zone unferer Nebhaut ja heute noch im All. 
gemeinen für Karben jo-gut wie gar nicht empfindlich, wenigftens 
unter den gewöhnlichen Berhältniffen, ohne deshalb aber wirklich 
farbenblind zu fein. Der Farbenfinn der Nehhautperipherie ift 
nur latent, nicht manifeft wie in dem Nebhautcentrum; bei ge- 
höriger Reizſtärke läßt ſich auch in der Nebhautperipherie die 
Farbenempfindung nachweiſen und bei gehöriger Uebung ſchnell 
genug auch ausbilden. In ſolch' einem latenten Stadium hat 
ſich nach unſeren Vorſtellungen alſo die Netzhaut früher in ihrer 
ganzen Ausdehnung befnnden. Die Netzhautperipherie mit 
ihrer nody heute vorhandenen Farbenlatenz ift nur ein Ueber— 
reſt jener frühften Zeiten menſchlicher Entwidelung; grade dieje 
peripherijc; gelagerte Netshautzone war vermöge ihrer anatomijchen 
Lage dem Zutritt des Lichts weniger ausgeſetzt, wie Die anderen 
Abjchnitte dieſes Drganed. Und während aljo dieſe begün- 
ftigteren Theile durdy das fie treffende Licht unaufhörlich gereizt 
und dadurdy in ihrer Functionswertbhigfeit allmählig erhöht 
wurden, mußte die Neghautperipherie dieſes Reizes größtentheils 
entbehren und jomit auf ihrer urſprünglichen Reactionsmögliche 
feit erhalten werden d. h. ihre Farbenlatenz behalten. Und 
auf dieje Weije ift ed dann gejchehen, daß die ercentriiche Neb- 
hautzone noch heute uns eine Einficht gewährt in den Functions— 
zuftand, wie er anfänglich der gefammten Netzhaut eigen war. 
Unſere mit einer jo bejchaffenen Netzhaut begabten Boreltern 


unterjhieden alfo, wie died nach den Unterfuchungen von Genzmer 
(494) 


25 


und Preyer in gewillen Perioden des Kindedalterd noch heute 
der Fall ift, im Spectrum nur Hell und Dunkel und die Ein- 
theilung ihrer optiihen Empfindungen konnte fid natürlich auch 
nur um dieſe beiden Pole der Lichtfülle und der Lichtarmuth 
drehen. Allmählig erlangte nun aber durdy die ftetige Wieder: 
bolung des Neized, welchen das auf die Netzhaut fallende Licht 
ausübte, die Neactionsfähigkeit unjered Auges eine erhöhtere 
Werthigkeit und damit begann der Farbenfinn feine erjten 
Functiondäußerungen. Natürlich mußte diejenige Karbe, welche 
mit einer ganz bejonderen Reizitärfe begabt war, zuerit dem 
erwachenden Farbenfinn fich aufdrängen und das war eben Roth. 
Wir haben ja von den verjchiedenften Autoren einftimmig ver- 
fihern gehört, daß Roth zu allen Zeiten, jowohl in jenen alters— 
grauen Perioden des Urmenſchen, ald wie in unjerem heutigen 
Zeitalter der modernen Bultur eine ganz bejonderd reizende 
Eigenartigfeit für unſer Auge bejefien habe. Roth war aljo 
die erfte dem Menjchengejchlecht wirflih zum Bewußtſein und 
zum flaren Berftändniß gefommene Farbe und weil fie aljo die 
ältefte, beft- und längftgefannte Farbe ift, jo entwidelte ſich auch 
ihre verbale Verförperung, ihre Nomenclatur am ichärfiten. Zu 
einer Zeit, wo alle die anderen Farben noch friedlich in der 
optiſchen Vorftellung des Lichtreichen und des Lichtarmen ruhten, 
war die rothe Farbe ſchon zu einer Iprachlichen Sondereriftenz 
gelangt und wird jomit in jener Entwidelungsphaje dad Menjchen- 
geichledht alle ihm zufließenden Lichteindrüde etwa in folgendes 
chromatiſch⸗ optiſche Syſtem gebradyt haben: 1. Roth, 2. Licht: 
reich, 3. Lihtarm. Daß ein derartiged Syſtem nicht etwa bloß 
ein Produft meiner Phantafie ift, brauche ich wohl nicht erft 
bejonderd zu verfichern. Im Berlauf dieſes Aufiates haben 


wir ja wiederholt darauf hingewieſen, dab ein joldyeö drei- 
(495) 


26 


Haffiges, rudimentäred Farbenſyſtem bei vielen Naturvölfern 
noch heute das herrſchende it. 

Mit dem Aufbau dieſes Dreiklaffenivitemd war die erjte 
Stufe in der Entwidelung des Farbenjehend erreicht und an fie 
ichloffen fi) nunmehr die Borftellungen der anderen Farben 
an. Der Gang diejer weiteren Entwidelung dürfte wohl der 
gewejen fein, daß ſich die fortjchrittliche VBervolllommnung des 
Farbenfehend von Roth abwärtd nad) dem blauen Ende des 
Spectrumd allmählich vorgejchoben hat. Natürli mußte fich 
aber mit der fortichrittlihen Erweiterung des Farbenfinnd auch 
dad Bedürfnik fühlbar machen, diejen neu gewonnenen chroma= 
tiihen Empfindungen aud) ſprachlich gerecht zu werden und 
damit fommen wir auf den Punkt der jchöpferifchen Kraft der 
Sprache zurüd, gegen den wir und vorhin ald ausjchließlich er— 
Härenden Factor wenden mußten. Beſaß die betreffende Spradhe 
Intenfität genug, um den friich gejchaffenen Karbenvorftellungen 
Ausdrud zu geben, jo wurde zu jenen 3 Klafjen des urjprüng- 
lichen Syſtems ein Anbau gemadyt und neue Stufen deöjelben 
geſchaffen. Natürlich hatte aber bei ſolch' einem ſprachlichen 
Ausbau des chromatiſchen Syitemd nicht allein die ſchöpferiſche 
Kraft der Sprache den Ausichlag zu geben. Die Intelligenz 
des betreffenden Volkes, die Lebhaftigkeit jeiner Empfindungen, die 
allgemeinen Berhältnifje feiner Umgebung und jeiner culturellen 
Befähigung und dergleichen mehr, fie alle famen bei der etwaigen 
Neubildung von Farbenbezeichnungen in Rechnung. Waren 
alle dieſe Momente nicht wirkſam genug, jo unterblieb wohl auch 
die Ausprägung neuer verbaler Formen ganz und man behalf 
fih in der Weife, daß man die nun bewußt gewordenen Barben- 
voritelungen in das alte Syſtem hineinpreßte, jo gut ed eben 
gehen wollte. In die Klaffe ded Roth; ordnete man in diejem 


Falle Alles ein, was eine Scyhattirung von Roth zeigte, während 
(496) 


27 


in die Klaffe des Lichtreichen jämmtliche hellen Farbennüancen 
ala Hellgelb, Hellgrün, Hellblau hineingezwängt wurden und 
die Abtbheilung des Lichtarmen die dunflern Schattirungen, wie 
Dunfelgrün, Dunfelblau, Schwarz aufnehmen mußte. Es eriftirte 
alfo nunmehr zwar eine wohl ausgebildete Farbenempfindung, 
dody hatte die Entwidelung der Farbennomenclatur nicht gleichen 
Schritt mit der Ausbildung des Farbenfinnes halten fönnen, 
und war auf der urjprünglichen Stufe des Dreiklaſſenſyſtems 
ftehen geblieben. Ein derartiges Mißverhältniß zwilchen finnlicher 
Empfindung und ſprachlicher Verkörperung zeigt 3. B. das 
Farbenivftem der Nubier, der Hamaiinfulaner u. A. Wir werden 
aber jett eine Erklärung für diejes Mißverhältniß gewonnen 
haben, ja jogar in demjelben Geſetz und Syſtem zu erfennen 
vermögen. 

Machte fidy aber das Bedürfniß, eine der neu errungenen chro> 
matijchen Empfindungen ſprachlich zu bezeichnen, allzu dringend 
geltend, jo geichah ed wohl auch, daß man aus einer anderen 
Sprade den fraglichen Ausdrud entlehnte. Und fo finden wir 
denn auch in vielen Sprachen für gewilje Farben fremde Worte 
eingebürgert; bejonderd häufig ift dies mit den Ausdrüden für 
Grün und Blau der Fall. 

Das Studium der Farbennomenclatur der Natur: wie der 
Gulturvölfer kann und alfo nicht etwa über den jeßigen augen- 
blicklichen Zuftand ihrer Farbenempfindung Auffchluß geben, 
jondern ed fann und nur dad Material liefern, aus dem wir auf 
die frühelten Entwiclungsphajen deö Farbenjehens zurüdichließen; 
ed fann und wie in einem Spiegel den Lauf der Barbenfinn- 
entwidelung zeigen. Die gejegmäßige Eigenartigfeit der chro= 
matiihen Nomenclatur drängt und zu der Annahme einer all 
mählich erfolgten Entwidelung des Farbenfinns und weilt uns 


die einzelnen Etappen, welche der Barbenfinn auf feinem langen 
(497) 


28 


Entwidlungdgang zurüdgelegt bat. Während die ſprachliche 
Verförperung des Roth offenbar die erfte Pofition war, welde 
die vorhandene Farbenempfindung gewann und von der aus fie 
weiter ging, fcheint die Spradhlihe Trennung von Grün und 
Blau eine der letzten Staffeln geweſen zu fein, die auf dieſem 
Wege zu erflimmen waren, und ich glaube, Prof. Kirchhoff hat 
durchaus Recht, wenn er fagt: „Wir alle werden beipflidhten, daß 
wirklich die Sonderbezeihnung von Grün und Blau eine Sache 
neueren menjchlichen Kortichrittes ift“. 

Was von dem Studium des Farbenſchatzes der lebenden 
Spraden gilt, behält natürlich audy für die todten feinen Werth. 
Wir dürfen an der Hand der Farbennomenclatur nicht direct die 
chromatiſche Leiftungsfähigfeit der begrabenen Geſchlechter mefjen, 
jondern wir dürfen jene nur dazu benugen, um aus ihr den 
allgemeinen Entwidelungsgang zu folgern, den der Karbenfinn 
genommen hat. Im diefer Beichränfung geben und aber die todten 
Sprachen ein eben fo reichlidy fließended Material, wie ed und die 
lebenden Epradyen und die directe Unterjuhung ihr Vertreter 
geboten haben. 

Mag man nun über die Art nnd Weile, im welcher ich 
die bei Unterfuchhung ded Farbenfinnd und der Sarbennomenclatur 
gewonnenen Thatiachen verwerthet babe, denfen wie man will, 
dad wird man mir jedenfalls zugeben müfjen, daß einerjeitö mein 
Erflärungsverfud die Eigenartigfeit der Farbenempfindung, wie 
fie gewifje Naturvölfer jo z. B. die Tſchuktſchen darbieten, in 
Uebereinftimmung zu jeßen vermag mit den gejeßmäßigen Eigen— 
thümlicheiten der Farbennomenclatur überhaupt, und daß er 
andrerjeitö für die Geſetze der Karbenbezeichnung einen phufiolo- 
giichen Boden anftrebt. Die Schärfe und Klarheit der finnlichen 
Empfindung bat nad unferer Auffafjung ganz entjchieden eine 
bedeutfame Rolle bei dem Aufbau der ſprachlichen Ausdrüde für 


( 498) 


29 


die Empfindungen gejpielt. Mögen außer der Schärfe des 
finnlichen Eindrucks auch noch eine ganze Neihe anderer Factoren 
witgewirft haben, um die verbalen Verkörperungen unjerer 
Empfindungen, wie fie unfer heutiger Sprachſchatz aufweift, zu 
bilden, jo iſt doch jedenfalls die Beichaffenheit des finnlichen 
Eindrudes ein Haupt-, wenn wir nicht fogar jagen wollen, das 
Grundmoment, auf dem die fpradhliche Bildung gefußt hat und 
noch jetzt fußt. Doch wollen wir damit keineswegs gejagt 
haben, daß die mehr oder minder klare Empfindung der einzige 
bildende Factor bei der Entwicklung der ſprachlichen Verkörpe— 
rungen der Sinnesempfindungen geweſen ſein müſſe; wir haben 
vielmehr wiederholt darauf aufmerkſam gemacht, daß noch 
verſchiedene andere Momente bei dieſem Vorgang wirkſam ge— 
weſen ſein müſſen, Momente, die für die einzelnen Völker durch 
genaues Studium ihrer culturellen Entwicklung überhaupt klar 
zu ſtellen ſein werden. So bedeutſam aber auch die Wirkſam— 
keit dieſer anderen Momente geweſen ſein möge, die phyſiologiſche 
Grundlage, welche der Nomenclatur aller Sinnesempfindungen 
im Allgemeinen zu Grunde liegt, wird durch jene niemals völlig 
verdrängt werden. Allerdings fönnen fi) jene anderen Momente, 
deren Nachweid wir dem Ethnologen und Eulturbiftorifer über: 
lafjen müſſen, wohl jo in den Bordergrund ftellen, daß die 
phyfiologiihe Bafid darüber recht unklar wird, ja jogar jo 
unklar, dab deren Eriftenz von nicht wenig Forſchern völlig ge= 
leugnet wird, doch ift damit die wirkliche Abwejenheit derjelben 
noch feineöwegd erwiejen. Wir halten unbeirrt an der Anficht 
feft, dab die Schärfe der finnlihen Wahrnehmung zum großen 
Theil bei der Bildung der ſprachlichen Ausdrüde für dieſe 
Wahrnehmungen thätig geweien jei; ein genaues Studium der 
Nomenclaturen der Sinnedempfindungen, eine umfafjende jpradı: 
vergleichende Unterfuchung wird die phyfiologiſche Baſis derjelben 


(499) 


30 


immer zum Vorſchein fommen lafjen. Unjere ethnologiichen 
Unterſuchungen des Farbenfinnd und der Farbennomenclatur 
haben fo überrafchende, bei den verjchiedenften Nationen 
wiederfehrende Gejebmäßigfeiten zu Tage gefördert, daß 
die Betheiligung phyſiologiſcher Momente bei der Bildung 
der Farbennomenclatur für und dadurch vollftändig erwieſen 
wird und im diejer Auffafjung werden wir auf's Neue geftärkt 
und befeftigt durch eine Reihe phufiologiicher Beobachtungen, 
die in der lebten Zeit publicirt worden find; über die Ent: 
widelung des findlihen Karbenvermögend. 


IV. 


Einer der erften, der auf die eigenthümliche Unklarheit 
und Berworrenheit der Eindlichen Farbenbezeichnungen aufmerkſam 
gemacht hat, war Darwin. Diejer gewiß eracte und genügend 
geſchulte Beobachter bemerkte bei feinen eigenen Kindern eine 
ſolche Verſchwommenheit der Farbennamen, daß er diejelben 
eine Zeit lang für wirklich farbenblind erflärte. Erſt mit der 
fortſchreitenden Entwidlung jeiner Kinder überzeugte fid) Darwin, 
dab das, was er für eine angeborene Farbenblindheit gehalten 
hatte, eine Phafe in dem phufiologiichen Entwidlungsgang des 
findlichen Farbenfinned gewejen fein müſſe. Eine eingehend 
phyſiologiſche Unterfuhung der Entwidelung der Findlichen 
Farbenwahrnehmung hat in der neueften Zeit Preyer geliefert 
in feinem Bude: „Die Seele des Kindes, Leipzig 1882” und 
diefen Beobachtungen wollen wir die folgenden Mittheilungen 
entlehnen. 

Im Allgemeinen muß man nad) Preyer dad Kind im 
zweiten Sahr und in der erften Hälfte des dritten Sahres für 
unempfindlich gegen die furzwelligen Farben Grün und Blau 
und nur für empfindlidy gegen Roth und Gelb anfehen. Während 


(500) 


31 


dad Kind zu diefer Zeit Gelb und Roth bereit genau ihrem 
vollen Farbenwerth nach fennt und ‚beide niemald mehr mit 
einander verwechfelt, vermag ed Grün und Blau nod nicht nad 
ihrem chromatifchen Character zu erfennen und genau von ein- 
ander zu fcheiden, vielmehr verwechjelt es beide und eint fie 
meift in dem Begriff ded Grauen zu ein und derjelben Bor- 
ftellung. Analog diefer ungenügenden Entwidelung deö Farben- 
finned bildet fih das Kind nun auch jeine Bezeichnungen 
der Karben. Gelb und Roth find ihm in ihren jpracdhlichen 
Ausdrüden zuerft wohl befannt und vertraut und es vermag 
zu einer Zeit die verjchiedenen Nünncen von Roth und Gelb 
bereitö richtig zu benennen, in der ed Grün und Blau nicht 
allein mit einander verwechſelt, jondern diefelben ſprachlich audy 
noch mit demjelben Ausdrud belegt, den es für Grau gebraudht. 
Die Art und Weiſe, mit der fich ein zwei» oder zweieinhalb» 
jähriges Kind farbigen Dbjecten gegenüber benimmt, muß nad 
dem, was wir joeben gejagt haben, natürlich jehr auffallend und 
befremdend ericheinen und diejed Eigenartige war es eben auch, 
welhed Darwin zu der Annahme verleitete, jeine eigenen 
Kinder wären farbenblind. 

Es entfteht für und nunnehr die jehr wichtige Frage, 
dürfen wir die geringe phyfiologiſche Leiftungsfähigfeit des 
findlichen Farbenfinned mit der eigenthümlidyen Farbennomen— 
clatur ded Kindes in ummittelbare Beziehungen ſetzen, dürfen 
wir die mangelhafte Entwidlung des findlichen Sarbenvermögend 
practijeb für die Beichaffenheit der Findlichen Karbennomenclatur 
verantwortlid) machen? Hören wir, was Profeſſor Preyer 
hierauf antwortet. „Man kann“, fo jagt er, „die Unfähigkeit 
ded zweijährigen Kindes, Blau und Grün richtig zu benennen, 
darum nicht einzig auf jein etwaiged Umvermögen beziehen, die 
gehörten (ihm ganz geläufigen) Namen „Blau“ und „Grün, 


(501) 


— 
mit den deutlichen Empfindungen in feſte Verbindungen zu 
bringen, weil Gelb und Roth ſchon viele Monate früher richtig 
gebraucht werden. Wären Grün und Blau ebenſo deutlich wie 
Gelb und Roth in der Empfindung, dann läge nicht der mindeſte 
Grund vor, ſie unrichtig zu benennen und ihnen unter allen 
Verhältniſſen Roth und Gelb vorzuziehen. Das Kind weiß 
eben noch nicht, was Grün und Blau bedeutet, wenn es ſchon 
Gelb und Roth kennt“. — Und an einer anderen Stelle ſeines 
Buches jagt Preyer: „ES iſt in der That wahrſcheinlich, daß 
blau und grünblau die erfte Zeit nicht blau und grünblau, 
jondern grau oder jchwarz empfunden werden. Grau wird ohne 
Zweifel früh richtig erfannt, aber deshalb oft falſch benannt, 
weil eben höchit wahricyeinlid Grün und Blau ebenjo empfunden 
werden". 

Nun diefe Worte Prever’8 laſſen feinen Zweifel darüber 
obwalten, wo man die Urſache für die eigenthümliche Beichaffenheit 
der findlichen Barbennomenclatur zu ſuchen habe. Einzig und 
allein der Umftand, daß das Kind am früheiten Gelb und Roth 
ihrem Farbenwerth nach zu erkennen vermag, beftimmt es dazu, 
für dieje beiden Farben zuerjt Scharfe ſprachliche Ausdrüde zu 
bilden. Die Unterempfindlichfeit, welche das Kind in jeinen 
eriten Jahren gegen Grün und Blau befitt, machen das 
Bedürfniß, für dieje beiden Farben bejondere ſprachliche Aus— 
drüde zu befiten, nicht fühlbar, und jo,verzichtet e8 denn darauf, 
für Grün und Blau fid) eigene verbale Wendungen zu jchaffen 
und begnügt fich damit, dieje Farben einfach mit Grau zu 
identificiren. Und zwar trägt ed bei diejer jpradhlichen Einigung 
von Grün, Blau und Grau aud wieder einer phyfiologiſchen 
Thatfahe Rechnung, injofern für feine Empfindungsiphäre 
Grün, Blau nnd Grau eben nody durchaus gleichwerthig find. 
Erſt wenn in der letten Hälfte des dritten Jahres die Empfin- 


(502) 


33 


dungen von Grün und Blau fidy lebhafter zu regen beginnen, 
wenn fie zu einer chromatiſchen Selbftitändigfeit erjtarfend fich 
aus der gemeinjamen Borftellung ded Grauen loslöjen, beginnt 
das Kind das Bedürfniß zu fühlen, für diefe nunmehr ihm das be- 
wußt gewordenen Empfindungen aud) eigene ſprachliche Bezeich— 
nungen zu "befigen. Und damit ift der Zeitpunft eingetreten, wo 
das Kind die Worte Blau und Grün mit der Empfindung des 
Blauen und Grünen als zufammengehörig erfennt und im täg— 
lihen Gebrauch diefer Worte keinerlei irrthümliche Bermechjelungen 
mehr begeht. 

Wir jehen aljo, bei dem Kinde ift die Entwidelung und 
Herausbildung der Farbennomenclatur lediglih nur der une 
mittelbare Ausflug jeiner phyſiologiſch-chromatiſchen Leiſtungs— 
fähigkeit; genau jo wie jein Karbenfinn phyfiologiſch beichaffen 
ift, jo find feine Sarbenbezeichnungen philologijch geftaltet. 

Erinnern wir und nunmehr an das, was wir im Vorher— 
gehenden über die Beſchaffenheit des Farbenfinnes der Natur: 
völfer, jowie über die Beichaffenheit der Farbennomenclatur in 
den verjchiedenften Spradyen gejagt haben, jo werden wir, 
urtheilen wir überhaupt rein objectiv, zugeben müſſen; daß 
zwijchen dem Farbenfinn des Kindes und dem der Naturvölfer 
eine auffallende Aehnlichkeit herricht, eine Achnlichkeit, die genau 
in der nämlidyen Weije auch zwilchen der Beichaffenheit der 
findlichen FSarbennomenclatur und der Karbennomenclatur fo 
vieler Spradyen wiederfehrt. Wie der Zichuftiche bei der 
Almquiſt'ſchen Unterfuhung mwejentlidy nur eine fcharfe Kenntnif 
ded Roth und Gelb, dagegen eine auffallende Gleichgültigfeit 
gegen Grün und Blau bethätigte, jo zeigte das Kind bei den 
Preyer'ihen Beobachtungen zuvörderſt nur eine eracte Kenntniß des 
Gelb und Roth, dagegen eine Unterempfindlichfeit für Grün und 
Blau. Und ebenjo wie der Tſchuktſche Grün und Blau oft ver: 


XVII. 420. 3 (503) 


34 


wechſelte und beide gar nicht jelten mit der Vorftellung des Grauen 
ſchlechthin zuſammenwarf, genau ebenjo verwechſelte dad Kind 
Grün und Blau und identificirte Beide mit der Vorſtellung 
von Grau, 

So intereffant die Aehnlichfeit nun audy immer jein mag, 
die zwiſchen der chromatiſchen Bethätigfeit jowie der Farben— 
nomenclatur ded Kindes und dem Karbenfinn der Naturvölfer 
und ſchließlich auch den verbalen Farbenausdrüden jo vieler 
Sprachen herrſcht, jo gewinnt diefelbe doch dadurdy ganz be- 
jonderd an Werth, dab wir aus den Beobachtungen am Kinde 
gewiffe genetiiche Auffchlüffe über die Entftehung der Farben- 
nomenclatur überhaupt erhalten. Denn wenn es für die Bildung 
und Entitehung der kindlichen Farbenbezeichnungen nach den 
Preyer'ſchen Unterfuchungen ald erwiejen gelten muß, daß lediglich 
nur die Sntenfität des chromatijchen Eindrudes die Entwidelung 
ber jprachlichen Ausdrüde beitimmt; wenn ed nunmehr feftfteht, 
daß diejenigen Farben, welche das Kind zuerit und am leichteften 
erfennen und verftehen lernt, audy am früheften zur jpradhlichen 
Selbftitändigfeit fommen, während die Farben, welche das Kind 
nicht genügend zu erfallen vermag, in ihren ſprachlichen Be— 
zeichnungen verihwommen bleiben, jo drängt ſich uns die Frage 
auf, ob ein ähnlidied Wechſelverhältniß, wie ed beim Kind 
zwiichen Farbenempfindung und Farbenſprache befteht, nicht auch 
bei den Naturvölfern angenommen werden müffe und ob ferner 
die eigenthümliche Beichaffenheit der Farbennomenclatur fo vieler 
todter und lebender Spradyen nicht gleichfalld mit der Farben- 
empfindung der betreffenden Volksſtämme in genetiſche Be— 
ziehungen gebracht werden fünne? Nach unjerer unmaßgeblichen 
Anjdyauung dürfte man aber zu einem derartigen Schritt nun- 
mehr genöthigt jein. Wenn wir fehen, dab das Kind bei der 
Bildung jeined chromatiihen Werthſchatzes ſich in erfter Linie 


(504) 


35 


durch phyfiologiſche Momente leiten läßt, ſich feine chromatiſch— 
verbalen Ausdrüde, wenn wir jo jagen dürfen, proportional der 
SIntenfität feiner Farbenempfindung entwideln, fo liegt für und 
doch in diejer unbeftreitbaren Thatfache eine gewiſſe Nöthigung, 
den phyſiologiſchen Einfluß bei der Bildung der Farben- 
nomenclatur überhaupt gelten zu laſſen. Es ift durdy die Be— 
obadytungen am Kinde nicht ein Beweis geliefert worden, der 
nur für den findlihen Sprahihat ‚Bedeutung hätte, jondern 
der für die Entwidelung der ſprachlichen Verkörperungen der 
Sinneseindrüde überhaupt gelten muß. Diefelben phyfiologiichen 
Geſetze, welche die hromatiiche Nomenclatur ded Kindes genetiſch 
beeinflufien, find nach den Preyer'ſchen Beobachtungen zu jchließen, 
für alle Sinnedempfindungen gültig. Der ſprachliche Ausdrud 
für eine jede Sinnedempfindung wurzelt im phyfiologijchen Boden; 
dort liegt der urjprünglihe Anftoß zu feiner Cntwidelung. 
Daß auch nody andere Factoren beeinfluffend eingreifen fünnen, 
haben wir im Lauf dieſes Bortrages jchon betont. Die Umgebung 
eined Volkes, jeine Beichäftigung, feine culturellen Verhältniffe 
u. dgl. m. fie alle find bei der ſprachlichen Ausmünzung der 
Sinnedempfindungen ganz gewiß thätig; dies hindert aber nicht, 
daß ſich die gefammte Entwidelung der ſprachlichen Ausdrüde 
urjprünglich auf phyſiologiſchem Boden vollzieht. Die Intenfität 
der Empfindung giebt den eriten Anftoß zur Bildung verbaler 
Ausdrüde für diejelbe, fie weckt bei jedem einzelnen Individuum, 
wie bei jedem Volksſtamm das Bedürfniß zu einer ſprachlichen 
Derförperung. Und nächſt der Lebhaftigfeit der Sinnedempfindung 
ift ed die Bedeutung, weldye dad Ginnedorgan in dem Leben 
ded Individuums fpielt, welche fich bei der Entwidelung der 
Nomenclatur ald wirkſam erweilt. Diejenigen Sinnesorgane, 
welche für die Erhaltung des Individuums wie des Geichlechtes 
überhaupt von ganz bejonderd hervorragender Wichtigkeit find, 


(505) 


36 


werden über einen größeren und befjer entwidelten Wortſchatz 
zu gebieten haben, ald diejenigen Sinnedorgane, deren vitale 
Bedeutung für das Individnum eine mehr nebenſächliche ift. 
Darum befigen die optiſchen und afuftiichen Empfindungen einen 
ganz bejonderd reichen und fein nüancirten Wortſchatz, während 
der Geruch und dad Taftgefühl ſich meift mit recht verſchwommenen 
verbalen Ausdrüden begnügen müffen. Geficht und Gehör bieten 
dem Menjchengejchleht in dem Kampf um's Dafein eben viel 
werthvollere Hülfämittel, als wie der Gerudy und der Zaftfinn. 

Die ethnologiihen Unterjuhungen des Karbenfinned haben 
jonady aljo den Beweis geliefert, daß die Nomenclatur der 
Sinnedempfindungen zu den phyfiologiichen Aeußerungen der» 
jelben in engen Beziehungen jteht und daß man ein Berftändnik 
der Nomenclatur nur dann zu gewinnen vermag, wenn man 
die phufiologiichen Ericheinungen der Sinnesorgane berudfichtigt. 


Anmerkung. 


Die Unterſuchungen des kindlichen Farbenfinnes wurden von Prof. 
Preyer mit Hülfe meiner Farbentafel zur Erziehung des Farbenfinnes 
und den derjelben beigegebenen Farbenovalen ausgeführt. 


(506) 





Drud von Gebr. Unger (2b. Grimm), Berlin, Schönebergerftr. 17a — 


Die 


vocialiſten der Reformationsgeit, 


Alfred Stern, 
Profeſſor an der liniverfität Bern. 


SH 





Berlin SW. 1883. 


Berlag von Carl Habel. 
(C. 6. Lüderity'sche Derlagsbuchhandlnng.) 
33. Wildelm-Straße 33. 


⸗ 


Das Recht der Ueberſetzung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


[20 


Mean bört nicht felten jagen, wie alled jchon da gemejen, 
fo fei auch der Socialismus von heute im Grunde nichts Neues. 
Anhänger und Gegner ded modernen Socialismus ftellen mit» 
unter diefen Sat auf und zeigen fi) von gleichem Eifer er- 
füllt, ihn zu verfechten. Wer ed unternehmen will, dad Gebäude 
unferer gegenwärtigen Gefellfchaft einzureißen, bemüht fich, eine 
„Wolfe von Zeugen“ aus der Bergangenheit heraufzubejchwören, 
die wie er gedacht, gefämpft und gelitten haben. Wer ed ſich 
zur Aufgabe macht, jenes Gebäude gegen joldhe Angriffe zu 
vertheidigen, dem ift ed erwünjcht, darauf hinzuweiſen, wie oft 
ihon jolde Stürme abgejchlagen, wie viele Siege ſchon unter 
feinem Banner errungen worden feien. Der eine fucht feine 
Kraft und feine Sache durdy das Andenken dahingegangener 
Borfämpfer und Märtyrer zu ftärfen, der andere jucht die 
Gefahren der Zufunft zu verkleinern, indem er jie den glüdlich 
überwundenen der Bergangenheit gleichitellt. 

Kaum irgend ein gejchichtliched Gebiet ift folchen künftlichen 
Analogieen gleih günftig wie das ber Reformation. Die 
große Zeit, zu deren Betrachtung man immer wieder geführt 
wird, um die Keime moderner Bildung zu erfennen, die Zeit, 
der ed gelang, fo viele Feſſeln der Autorität zu zerbrechen und 


xvim. 421. 1 (509) 


4 


die fich beftrebte, den menſchlichen Geift und die Natur wieder 
in Einklang zu bringen, hat auch auf dem Gebiete der focial: 
politiihen Fragen Anregungen gegeben und Erjdeinungen ber- 
vorgerufen, welche eine weit über den Augenblid hinausgehende 
Bedeutung in Anſpruch nehmen fönnen. 

Eine gewaltige Umgeftaltung der focialen Verhältnifje war 
der Reformation überall, und nirgendwo tiefer eingreifend als 
in Deutjchland, vorausgegangen und hatte ihr die Pfade geebnet. 
Der Seeweg nad Dft-Indien war aufgefunden, der Welttheil 
im Weften wieder entdedt. Der Handel zog neue und weitere 
Bahnen. Große Kaufmanndgejellichaften, durch Verwandtſchaft 
und Ortsgemeinſchaft eng verbundene Genoſſen, führten die 
ausländiſchen Waaren in Maſſe ein. Mit der Zunahme des 
ſtädtiſchen Reichthums, mit dem friſchen Aufſchwung von Handel 
und Gewerbe war der Luxus geſtiegen. Der Maßſtab des 
Lebens, zunächſt an den Stätten bürgerlicher Arbeit, an den 
üppigen Sitzen der geiſtlichen Macht, an den weltlichen Fürften- 
böfen wurde ein anderer. Bei feftlichen Gelagen, bei den Feiern 
von Geſchlechtern und Zünften, bei der Berfammlung der Reichs—⸗ 
tage ward das Auge dur den Glanz von Gold und Perlen, 
Sammet und Atlas geblendet, der Gaumen durch die Fülle 
fremden Gewürzes, ſüdlicher Früchte gereizt. Neben dem ftolzen 
Träger altererbten Gutes prunfte der hochftrebende Empor: 
fömmling, dem Euge Berechnung oder fühnes Wagniß glänzenden 
Gewinn in den Schoß geworfen hatte, und judhte jenen noch 
durch üppige Verſchwendung zu überbieten. Das Beilpiel wirkte 
zunächſt auf die unteren ftädtiihen Schichten. Mancher drängte 
fidy voreilig zum Genuß und hoffte ihn mühelos zu erjagen, 
was dem Fleiße beim täglichen Schaffen und der Gediegenheit 
der Leiftung nicht jelten Eintrag that. Ein jchwarzfichtiger 
Bolköfchriftfteler diefer Zeit, der den Begriff der ehrlichen 


(510) 


5 


— 


Arbeit freilich in altwäterifcher Beſchränktheit auffaßte, bricht 
in die Klage aus: „Es will niemand mehr ehrlich Arbeit thun; 
man mag eher einen weißen Raben kefommen, denn einen 
fleißigen Arbeiter". 

Die Ritterichaft, ſchon längft ihres feften Bodens beraubt, 
feit das Fußvolk den Kern der Heere bildete und die Geſchütze 
die Mauern der Burgen in Brejche legten, immer mehr ein- 
geengt durch die ftetig fortichreitende Macht der Landedfürften 
ſah fih nun auch ökonomisch gegen die ftädtiichen Nachbarn im 
Rückſtande. Aber fie wollte troß der Ungunft der Zeiten ihre 
alte bevorzugte Stellung behaupten. Und fo grimmig der adlige 
Burgherr die reichen Kaufleute, die „Pfefferſäcke“ auch haßte, 
jo oft er unter der Fiktion des Fehderechtes mit feinen Genofjen 
im Waldeödidicht ihren Waarenzügen auflauerte: er fühlte fich 
doch nicht geneigt, jene Verfeinerung der Genüffe zu entbehren 
und hielt etwas darauf, daß feine Töchter in gleich koſtbaren 
Gewändern, mit gleihem Schmucke prangend einherftolzirten 
wie die der ehrbaren Rathöherren. 

Der Bauer war der Paria diefer Geſellſchaft. Je höhere 
Anforderungen dad Leben an die vielfach bevorrechteten geiftlichen 
und weltlidyen Herrichaften ftellte, deito größere Laſten wurden 
auf die unter ihnen ftehende leibeigene oder jonftwie in ihrer 
Freiheit bejchränfte Kandbevdlferung abgewälzt. Zu ſchweigen 
von den Steuern, die fie bedrüdten: man müßte das große, und 
faum noch verftändliche Wörterbudy der feudalen Anforderungen 
abfchreiben, um zu begreifen, wie ſchwer der Bauer durdy jene 
Fülle von Frohnden, Zehnten, Zinfen, Gülten, Bannredten 
heimgeſucht wurde. Luther, ber fi den Ablömmling von 
Bauern nennt, fagt ald Kemmer: „Und wenn der Ader eines 
Bauern foviel Thaler wie Aehren trüge, e8 würde nur die An- 


ſprüche der Herren vergrößern". Die Jagd des Herrn verwüſtete 
11) 


6 


dem Bauerdmann fein Feld, der Schwarm der verabſchiedeten 
Landsknechte raubte ihm dem Hof aus, vor Gericht, dad römijche 
Grundſätze auf deutſche Verhältnifje übertrug, war gegen den 
Mächtigen für den Bauern feine Abhilfe zu erlangen, die hödhfte 
Inſtanz ded Reiches gewährte feinen Schuß, und die Kirche, 
die große audgleichende jociale Macht früherer Zeit, war unter 
allen habſüchtigen Gewalten die erſte. Und doch drängte aud) 
in diefem Stande emporftrebendes Sehnen über die alte Tracht 
und Sitte, die ererbte Gebundenheit und Verfümmerung hinaus 
und machte die Kluft zwiſchen der elenden Gegenwart und den 
ZTraumbildern der Zukunft immer größer. Wie in den Städten 
die Gemeinen gegen die Räthe in häufiger Auflehnung waren, 
jo madhte fich der Ingrimm der Bauern in wiederholten, blutigen 
Empörungen Luft. 

Zu dieſen bedrohlichen Anzeichen der jocialen Zuftände trat 
eine Erſcheinung, tief eingreifend in ihren Folgen, aber für die 
Zeitgenofjen ihren letzten Gründen nad ein Räthſel. Man bes 
fand ſich inmitten einer großen Revolution der Preije. Zunächft 
bei jenen ausländijchen Erzeugnifjen, die immer eifriger begehrt 
wurden, bei deren Bertrieb der Kaufmann freie Hand hatte, 
trat eine bedeutende Geldentwerthung ein. Bald wurde fie audy 
beim Berbraudye der unentbehrlichen Lebendmittel fühlbar. Es 
war nicht jo jehr die Münzverjchlechterung und Münzvermirrung, 
der die Entwerthung des Geldes zuzufchreiben war, denn dieſe 
wirkte nur in engerem Kreiſe ein, auch nicht die Einfuhr edlen 
Metalled aud Amerifa, denn diefe fand erft jpäter in größerer 
Mafje ftatt, jondern vorwiegend die befjere Ausbeute der heimijchen 
BDergwerfe und der rafchere Umlauf ded Gelded, der damald 
eintrat. Mit Naturnothwendigfeit, allen bejchränfenden Geſetzen 
zum Troß, ftiegen die Preife. Aber dem entſprach keineswegs 


eine Steigerung der Einnahmen aller derer, die von der Arbeit 
(512) 


7 


des Taged zu leben hatten. Die Bejoldungen der Angeitellten 
wurden nur zögernd erhöht, der Tagelohn konnte der allgemeinen 
Preisveränderung, wegen der engherzigen Zunftverhältniffe und 
der ftarren obrigfeitlichen Sagungen nur langfam folgen, Ber- 
abredungen der Handwerker, auf Bergrößerung des Lohne 
zu beftehen, wurden ſchwer beftraft. Der künſtliche Drud auf 
diefer Seite gegenüber der natürlichen Ohnmacht auf jener rief 
Mißtrauen, Unmuth, glühenden Hab der Befiglojen gegen die 
Befigenden hervor. Die Theuerung ſchien willfürlih gemacht 
zu jein, die Preiöveränderung ward dem Geize der Producenten 
Schuld gegeben. Die Wohlhabenden andrerjeit3 jahen in dem 
Gebahren der dienenden und arbeitenden Klafjen nichts Berech- 
tigtes. Horderten fie höheren Lohn, wagten fie Widerrede, 
drohten fie die Arbeit zu verlaffen: es galt nur ald Eigennuß, 
Mebermuth, Faulheit der neuen Zeit, die fich von den patriar- 
haliichen Sitten der Borzeit abwandte. Der Dichter erzählt 
von dem die Sinne berüdenden Safte der Wunderblume, 
welcher bewirkt, daß fich diejenigen verabjcheuen, die für ein- 
ander beftimmt erjchienen. Eine jolche Berblendung riß diejenigen 
auseinander, welche Glieder einer Gejellichaft waren. Unfähig, 
ein großes volkäwirtichaftliched Räthſel zu löjen, zweifelte einer 
am guten Willen des andern, feiner an der Schärfe ded eigenen 
Erkennens. 

So war die Lage: ein unruhiges Emporſtreben der Stände, 
ein raſtloſes Jagen, mit beſchränkten Mitteln den Forderungen 
des Tages zu genügen, ein ſchroffer Unterſchied von Arm und 
Reich, ein nicht verhehlter Groll des einen gegen den anderen. 
Das ganze Gerüft der alten Geſellſchaft war in's Schwanken 
gerathen. 

In diefed Drängen und Treiben begehrlicher Wünjche und 
feindliher Gedanken fiel wie ein zündender Funfe dad Ereigniß 


(513) 


8 





der Reformation. Man wird ihr Weſen, ihre Größe nie ver: 
ftehen, wenn man fie nur mit dem Auge des Theologen betrachtet. 
Eine neu einjegende Form des religiöfen Bewußtſeins, injofern 
fie von dem Bedürfniß der Mafjen gefordert und getragen wird, 
birgt die Keime einer neuen Gejammtkultur in fi). Eine foldye 
Neuerung läbt ſich weder fünftlich hervorrufen, nod) läßt fie fich, 
aus dem tiefiten Grunde des Volkslebens erwachjen, auf die 
bloße Aenderung des Dogmas und feiner Ausprägung in 
firchlicher Form beichränfen. Diefe kann wieder erftarren und 
zur todten Hülle werden, aber die Einwirkungen, weldye das 
ganze Leben mit dem einen Anftoß des neuen Glaubens er- 
fahren hat, lafjen fich nicht mehr verwilchen. Im einen Fall 
ſucht er die indilchen Kaften zu durdpbrecdyen, im andern wendet 
er ſich gegen die Sklaverei des Altertyumd, und immer zieht 
er mächtige Erjchütterungen ded ganzen gejeljchaftlichen Körpers, 
wie des ftaatlichen, des Fünftleriichen und jelbft des wiſſenſchaft— 
lien Lebens nach fidh, wenn er wahrhaft dem Geifte der Zeiten 
und nicht dem Geifte einiger Einzelnen hat entipringen fönnen. 
So aud die Reformation. Bon Haus aus ein Nothſchrei des 
geängftigten Gewiſſens gegenüber pfäffiicher Heuchelei und Werk— 
beiligfeit, wurde fie zum lautjchallenden Scöpferwort, das. 
taufend Veränderungen des Dafeind der Menſchen bervorrief 
Sie führte fi ein mit den fünfundneunzig Theſen, die der 
Wittenberger Profeſſor am Portale der Schloßfirche anbeftete. 
Sie jette fi) fort mit dem Bruche der Kloftergelübde, mit der 
Aufhebung des Eölibats, mit der Einziehung geiftlichen Gutes, 
mit der Begründung der weltlichen Volksſchule, mit der zu: 
nehmenden Minderung geiftlicher Vorrechte und dem Uebergange 
menjchenfreundlicher Pflichten und civilifatoriicher Aufgaben, 
die dem Klerus obgelegen hatten, auf den Staat und die 
Gemeinde. Wo fie triumpbirte und felbit wo fie mit Erfolg 


(514) 


9 


befämpft wurde, gab es Fein jocialed Lebensgebiet, das nicht 
ihren Hauch verjpürt hätte. Wie die Sonne im Frühling, lodte 
fie überall junge Saat an’d Licht. 

Eine foldhe Bewegung mußte außerordentlich viel dazu bei- 
tragen, die wanfenden Grundlagen ber alten Gejellichaft noch mehr 
zu erjchüttern und dem entbrannten Kampfe der alten Stände 
neue Nahrung zu geben. Die Reformation war demokratiſch 
in ihrer innerften Wurzel. Wie fie die ganze Ariftofratie der 
Heiligen verwarf, jo riß fie die Schranfen nieder, welche den 
Laien vom Priefter trennten. Was Wunder, wenn dieſe demo- 
fratiihe Strömung auch jonft fich fühlbar machte, die empor- 
ftrebenden unteren Stände mit Madyt unterftüßte! Auch forgten 
die Reformatoren felbit dafür, den vielfadhen Beſchwerden der- 
jelben den ſchärfſten Ausdrud zu leihen. Die Angriffe gegen 
die Spiten der Gefellihaft werden in ihren früheren Schriften 
nicht geipart. Bon dem Fürftenthbum mußte eine Art, das 
geiftliche, an ſich als verwerflidy erjcheinen, und zum Sturme 
gegen diejed, zu feiner Bertilgung wurde offen aufgefordert. 
Aber auch die meltlihen Fürften, und nicht nur diejenigen, 
welde die Anhänger der Reformen verfolgten, befamen harte 
Worte zu hören. Habfucht, Ueppigfeit, Tyrannei ward ihnen 
vorgeworfen und die Strafe ded Himmels in Ausſicht geftellt. 

Deögleihen wurde dem Nitterftande ein ſcharfes Urtheil 
geiprohen. Der „chriftliche Adel deutfcher Nation“, an den 
Luther fich mit Donnerworten wandte, follte fidy diefes Namens 
würdig machen durd den Schuß der Bedrängten, aber nicht 
ihn entehren, indem er auf die Stufe des Raubritterd herabjanf 
und feine Bauern zu einem Sklavenleben verdammte. Ja Luther 
warf die Frage auf, ob denn alle fürftlidy und adelig bleiben 
müßten, die fürftlich und adelig geboren jeien. Denn „ob wir 
vor der Welt ungleich find, ſo find wir doch vor Gott alle 


(515) 


10 


gleich, Adams Kinder, Gotted Creatur, und ift je ein Menſch 
ded andern werth*. 

Indeſſen auch das höhere Bürgerthbum, das guten Theils 
mit dem Handel beſchäftigt war, mußte ſich herben Tadel ges 
fallen laſſen. Durchdrungen von dem Gedanken ded Borzuges 
der geijtigen Güter, beim Kampfe gegen die Verweltlihung 
der Kirche auf die Mächte des fittlihen Bewußtjeind geftüßt, 
gewöhnten fich viele Wortführer der Reformation daran, im 
Streben nad irdifhem Gewinn die Duelle aller jocialen Miß— 
ftände zu erbliden. Ohne große praftiiche Erfahrung, Geiftliche 
und Gelehrte, die in diefem Punfte meiftend den alten Autoritäten 
folgten, rifjen fie fid) nur jelten von den ſcholaſtiſchen Vorſtellungen 
108. Nach denfelben ethijchen Geſetzen follten ſich Erzeugung 
und Umlauf der Güter richten wie die Fragen des Gewiſſens. 
Die wirtſchaftliche Thätigfeit, infofern fie der Anſammlung 
von Kapital dient, ftreift foldher Anficht gemäß an dad Un- 
erlaubte, der auswärtige Handel ift nur ein nothwendigeö Uebel, 
ein Kaufmann kann jchwerlih ohne Sünde fein, der Arbeit 
wohnt fein ökonomiſcher, nur ein fittlicher Werth inne. Da— 
ber in den reformatoriihen Schriften die häufigen Angriffe 
gegen Luxus und Zinjennehmen, Wechöler und Finanzer, Die 
Fugger und die Frankfurter Mefjen. Es läßt fi) etwas dafür 
jagen, daß jene großen Handelögejellichaften der Fugger, Welier, 
Hodjitetter eine innere Berechtigung hatten. Monopole, im 
ftrengen Sinne des Worted, von der Gefeßgebung ihnen ein» 
geräumt, hatten fie nur wenige. Wenn fie weit über dieſe 
hinaus thatſächlich ein Handelöprivilegium genofjen, jo dankten 
fie das der überwältigenden Macht und Größe ihrer Kapitalien. 
Aber ohne dieje ließen fich fchwierige und mweitgreifende Unter- 
nehmungen gar nicht ausführen. Zudem waren ihrer noch jo 


viele, daß fie fich gegenfeitig Konkurrenz machten. Die Refor- 
(516) 


11 


matoren verdammten fie trotzdem ſchlechthin. Sie gelten ihnen 
ald „frei von allen Gejeten ded Glaubens und der Liebe, ald 
Feinde ehrliher Arbeit, „ald Leute, die mit ihrer Hantirung 
niemandem nützen“. 

Wohin ihr Blid fi) wandte: er fiel auf bedenkliche fociale 
Erſcheinungen. Und fo fonnte Luther in trüber Stunde zu 
dem Scluffe fommen, der für die gährenden Geifter der Tiefe 
viel Ermuthigended haben mußte: „Wenn man die Welt jebt 
anfieht durdy alle Stände, jo iſt fie nichtd anderes denn ein 
großer weiter Stall voll großer Diebe“. 

Es iſt wahr: diefe Ideen werden nicht immer in gleicher 
Schärfe ausgeiprohen. Es ift unbeftreitbar: über einzelne 
Punkte gingen die Anfichten weit auseinander, wie denn 3. B. 
die wirthſchaftliche Anſchauung Calvin's viel höher fteht als die 
der meiften anderen Führer der Bewegung. Auch weiß man, 
daß die Heftigfeit der reformatoriichen Angriffe gegen beſtehende 
Einrihtungen auf focialpolitiichem Gebiete ſich im Laufe der 
Zeiten bedeutend abſchwächte und daß nicht jelten die Lehre von 
der chriftlichen Tugend des ftillen Duldend und von der Pflicht 
des unbedingten Gehorfamd an ihre Stelle trat. 

Und vor allem: bei dem ftärkften Tadel der Gebrecdhen 
der Gejellichaft, bei dem dringenden Verlangen nad) Auögleichung 
ihrer Härten wird eined ald ihre Grundlage unerſchütterlich feft- 
gehalten und vertheidigt: dad private Eigenthbum. Wenn Zwingli 
meint, der Zuftand fei feliger in dem fein Sondereigenthum be- 
ftehe, jo will er damit nicht die Erjegung dejjelben durd) 
Gütergemeinſchaft befürworten. Seine theologiſche Anſchauung 
knüpft die Entſtehung des Eigenthums vielmehr an den Sünden— 
fall an, die verderbte Natur des Menſchen, wie ſie nun einmal 
iſt, fordert es, das Gegentheil iſt unwiderbringlich verloren wie 
das Paradies. Luther erſchöpft ſich in bibliſchen Beiſpielen um 


(sı7) 


12 


zu beweijen, daß die grundjäßliche Verachtung eigener Habe 
nichts Gottjelige8 ſei und betont, daß felbit die Apoftel jedem 
freigeftellt hätten, ob er feine Güter in die Maffe einwerfen 
wolle oder nicht. Melauchthon betrachtet dad Privateigenthum 
ald Bedingung der ganzen bürgerlichen Gejellihaft und weit 
darauf bin, daß der Kommunismus zur Faulheit und Praſſerei 
führen müſſe. Allen ift der Fromme gleichſam nur ein Ber- 
walter der ihm zugefallenen Güter, von dem einft Redyenjchaft 
für ihre wohlthätige Verwendung gefordert wird, aber fie hüten 
fih, daraus die Pflicht des Verzichtes auf Eigengut abzuleiten. 
Sie bedauern nicht, wie zwei Sahrhunderte jpäter der Genfer 
Philofoph, dab fid, vor Zeiten fein Warner erhoben hätte, um 
feinen betrogenen Mitmenſchen zuzurufen: „Ihr feid verloren, 
wenn Ihr vergeht, dab die Frucht allen und das Land niemandem 
gehört". Schon aber hatten andere für fie dieje Folgerung 
gezogen. Aus dem Dunkel der Städte, aus dem Elend der 
Dörfer tauchte ed auf: ein unheimliche Gewühl leidenjchaftlicyer 
GSeftalten, wuchs von Fleiner Gemeinde zu großer Partei, ver- 
breitete fid, über die Lande und begann an den Grundfeſten der 
Geſellſchaft zu rütteln. 

Allerdings ſchon aud dem Kreife der Humaniften waren 
Stimmen laut geworden, die den Umfturz aller Eigenthums- 
verhältnifje zu rechtfertigen jchienen. Die Träger der neuen 
wiſſenſchaftlichen Bildung, ergriffen vom Zauber der großen 
Geifter ded Altertyums, beeilten fi, ihren Spuren überall bin 
zu folgen und ihre praftiihen Schöpfungen eines idealen Ge— 
meinwefend aus dem Staube der Sahrhunderte wieder an's Licht 
zu ziehen. Erasmus hatte kehauptet, nicht nur den Mönchen, 
jondern allen Chriften fei der Befiß eigenen Gutes unterfagt 
und die Armuth geboten. Er zog fi, ald man ihn deshalb 
angriff, hinter die Autorität des Ariftoteled 'zurüd, der jedoch 


(518) 


13 


nicht vom Befit, fondern von der Verwendung der Güter redete. 
Biel wichtiger war ed, dab ſich am Hofe der Medici zu Florenz 
vordem eine philofophifche Gemeinde gefammelt hatte, die fidy 
für Plato begeifterte. Das platonifche Wert vom Staate, dieſer 
luftige Zraum eined phantafiereihen Kopfed, der fidy eine 
brüderliche Genofjenfchaft der Herrſcher und Hüter, erhaben über 
die Klafje der Gehordyenden, ohne Sonderung von Familie, 
Hausftand und Eigenthum ausmalt, fand feurige Anhänger und 
wurde, wie die platonilchen Schriften überhaupt, durch Ueber— 
ſetzung in weiteren Kreiſen verbreitet. Vielen Leſern erſchien 
die Verſchmelzung der chriſtlichen Nächſtenliebe mit dem platoniſchen 
Kommunismus als das einzige Mittel zur Beſſerung der lieb— 
loſen und egoiſtiſchen Welt, mochten ſie auch jede gewaltſame 
Umwandelung des Beſtehenden verwerfen. Dieſe aus der Miſchung 
von zwei Elementen hervorgegangenen Anſichten wurden nach 
Deutſchland, Frankreich, England übertragen, und jenſeits des 
Kanals erſtand ihr geiſtreichſter und berühmteſter Verarbeiter. 
Es war Thomas Morus, Erasmus’ und Holbein's Freund, 
Lordkanzler von England, deſſen tragiſches Ende ſeinen Ruhm 
noch erhöhte. So groß der Einfluß des Platonismus auf ſeine 
Vorſtellungen auch geweſen iſt, ſo wußte er ſich doch ſeine volle 
Selbſtſtändigkeit gegenüber dem antiken Denker in weſentlichen 
Punkten zu wahren. Freilich ſagt ſchon der Titel ſeines Buches 
„Utopia“, daß wir einen jener Staatsromane vor uns haben, 
wie ſie in ſocial bewegten Zeiten immer wieder entſtehen. In 
dieſem „Nirgendheim“, das der engliſche Autor mit verlockenden 
Farben zu ſchildern weiß, findet ſfich Gemeinſamkeit des Grund: 
befiged für jede Stadt, gemeinjame unter den Mitgliedern der 
einzelnen Aderbaufamilien wechſelnde Landwirtbihaft, Freiheit 
der Gewerke, Ablieferung aller Naturprodukte und Erzeugniſſe 


des Gewerbefleißes in üöffentlihe Magazine, Bertheilung an 
(519) 


14 


den Einzelnen nad Bedürfniß, Crport des. Ueberſchuſſes zu ge: 
meinem Nuten, audfchließlicher Vertrieb des Handeld und Ge- 
brauch des Geldes durch den Staat, Gebot der Arbeitfamfeit 
für jedermann doc nur für eine beftimmte tägliche Stundenzahl, 
Fürforge für Unterricht und Krankenpflege von Staatöwegen, 
Gemeiniamfeit der Mahlzeiten für je dreißig Familien, Heilig» 
feit der Che, Straflofigfeit abweichender Religiondanfichten, 
ftaatlich geordnete Auswanderung im Falle von Uebervölferung. 

Es ift eine Vermiſchung unfruchtbarer mit zufunftsreichen 
Gedanken, ihrem Schöpfer jelbft nur das reizende Gebilde eined 
ſchönen Traumes. 

Aber was hatte die kochende Leidenſchaft der gedrückten 
unteren Stände mit ſolchen vornehm-ironiſchen Erzeugniſſen der 
Studirftube zu thun? Mochten die höher Gebildeten immmerhin 
durch fie zur Vornahme erniter Vergleihungen angeregt werden: 
die Mafje redete nicht die Sprache der Gelehrten, fie wußte 
nichts von Plato, fie Fonnte fich nicht genügen lafjen an dem 
phantaftifchen Gedanfenjpiele einer verraufchenden Stunde. Sie 
wollte neben den Worten die That, fie hielt ſich an die Vorbilder 
der radifalen Seften ded Huffitentyumd oder doch jener eigen» 
artigen Genofjenihaften, die gegen Ende des Mittelalterd das 
Ideal einer brüderlichen Eintracht verwirklichen wollten. Sie 
nahm die Schlagworte auf, die in der allen verftändlichen 
Volksſprache mit der Reformation von Stadt zu Stadt, von 
Dorf zu Dorf getragen wurden. War nicht der verlodende 
Ruf von der chriftlichen Freiheit, von der Gleichheit aller 
Menſchen vor dem einen himmlischen Vater erflungen, trat nicht an 
Stelle der menjdlichen, Fünftlihen Vorſchriften das göttliche, 
natürlihe Recht, gebot nicht deſſen vornehmfte Urkunde, in 
meifterhafter Ueberjegung verbreitet, einzig zu thun, was die Liebe 
des Nächſten erheiihe? Warum jene Sabung der driftlichen 


(520) 


15 


Freiheit und Gleichheit aller menjchlichen Kreatur auf dad Gebiet 
ded Glaubens und der Kirche bejchränfen, warum nur die 
Beihlüffe von Päpften und Koncilien durch jenes göttliche, 
natürliche Recht umftoßen, warum die Näcdhitenliebe nicht durdh 
Verzicht auf jedes Sonderreht und Sondereigen bethätigen? 

Dad waren die Gedanken, die mit der Ausbreitung der 
Reformation unter das aufhordhende Volk geworfen wurden. 
MWandernde Prädifanten trugen fie über die Lande. Alles, was 
die Begeifterung dämpfen fann, fiel hier weg. Sie famen, wie 
vom Winde herbeigeweht, vielleicht eben erft dem Klofter ent- 
Iprungen, ihre Perfönlichkeit, oft ihr Name war unbekannt, 
alles an ihrem Auftreten war neu und geheimnißvoll. Im der 
niedrigen Schenfitube, unter der Linde ded Dorfes ſammelte ſich 
um ihre Geftalt ein erregter Haufe, Männer und junge Burfchen 
mit Schurzfell und Hammer, Senje und Hade, wie fie von der 
Arbeit kamen. Eine laute volföthümliche Anſprache, urfräftig 
wie die derben Holzſchnitte diefer Zeit, reichlich durchtränft mit 
bibliichen Gitaten, oft unterbrodhen durch die Zuftimmung der 
Menge, unter braujendem Beifall gejchloffen: und verſchwunden 
war der fremde Agitator, um vor einem anderen Publifum feine 
Bühne aufzufchlagen. An feine Stelle trat die gedrudte Flug— 
ſchrift. In diefer Zeit zuerft und niemals vielleicht ftärfer ala 
in dieſer Zeit entwidelte fidy eine förmliche Literatur diefer 
leihten Erzeugnifje der Prefie. Sie waren meiftend wenig um- 
fangreidh und daher für billiged Geld zu erlangen. Ihr Aus- 
drud war nicht zart, aber eben darum der gemeinen Mafje jehr 
verftändlih. Eine reiche Erfindung brachte Abwechölung in 
ihre Form. Befonderd beliebt war die des Geſpräches, in 
weldhem Ritter und Bauer, Pfarrer und Handwerksmann über 
die bewegenden Fragen der Zeit ftreitend eingeführt wurden. 
Noch war diefer ganze Vertrieb zu neu, ald dat die Obrigkeit 


(521) 


16 


hätte verjuchen jollen, ihn glei von Anfang an mit Macht zu 
unterdrüden. Auf den Meſſen feilgeboten, wanderten die lojen 
Blätter, mit plumpen Lettern, zerrifjen und abgegriffen, von 
Hand zu Hand; einer warf fi zum Vorleſer auf, hatte er ges 
endet, jo wurde lebhaft über dad Gehörte diöputirt. Wer nicht 
ganz und gar durd die religiöjen Streitigfeiten in Anfprud 
genommen war, mußte bemerfen, dab die jociale Bewegung eben 
durch fie mächtig gefördert wurde. 

Während ed nichtd Ungewöhnliched war, dab Taxation für 
jede Waare gefordert wurde, tauchte auch jchon, in der Abficht, 
den großen Kaufmanndgejellichaften entgegenzumirfen, das terro- 
riftiihe Verlangen eined Marimum für den Handelöbetrieb auf. 
Was ein Kapitalift über eine gewiſſe Summe befigt, ſoll er 
gegen mäßigen Entgelt der Dbrigfeit überlafjen, von ber es 
wieder an Arme auögeliehen werden fol. Fiſcherei, Jagd 
Waldung werden jchlehhthin ald Gemeingnt erflärt. Andreas 
Karljtadt, einer der nächſten Kollegen Luthers, hielt dafür, daß 
nur die Rüdfehr zu primitiven Zuftänden die Geſellſchaft glücklich 
machen könne und ſchickte fi) dazu an, als ein Bauer mit den 
Bauern zu leben. In Zwidau reisten ſchwärmeriſche Geifter 
die TZuchweber auf, indem fie in myſtiſcher Weiſe eine allgemeine 
Beränderung der Dinge prophezeiten, und felbit in Wittenberg 
fanden fie Anhang, bis Luther, die Wartburg verlafjend, ihnen 
entgegentrat. 

Im großen Bauernfriege famen die gährenden Elemente 
der Tiefe zum Ausbruch. Wie manche Empörung des Landvolfes 
auch jchon voraudgegangen war, ein Schaufpiel, wie ed das 
Fahr 1525 zeigte, war noch nicht gejehen worden. Bon den 
Ausläufern ded Schwarzwaldes her hatte ſich die Flamme des 
Aufruhrs über das ganze obere Deutjchland, über alle Gaue des, 


ichwäbifchen und fränfifchen Stammes, jodann über Helen, 
(522) 


17 


Thüringen, Sachſen, Weftphalen und die Rheinlande, Elſaß, 
Lothringen, deögleichen über Vorarlberg, Tirol, die öftreichijchen 
Herzogthümer, das Salzburgiſche mit reißender Schnelligkeit 
verbreitet. Nicht nur die Bauerſchaft ftand gegen ihre geift- 
lihen und weltlichen Herren unter Waffen, audy in den Städten 
forderte die Gemeine mit tumultuariihem Ungeftüm von den 
Räthen Abftellung ihrer vielfachen Beichwerden. Der nächtliche 
Himmel war vom Brande der Burgen und Klöfter geröthet, 
wildes Kriegägetümmel erfüllte die Lande, in blutigen Greueln, 
von beiden Seiten verübt, entlud fidy der Hab der feindlichen 
Stände. Jagten die Aufrührer den Grafen von Helfenftein 
vor den Augen jeines jammernden Weibed bei Pfeifen» und 
Trommelfhall ohne Erbarmen durdy ihre Spieße, jo fühlten die 
Landsknechte bei Zabern ihre Wuth im der verrätheriichen 
Niedermebelung von Tauſenden, denen freier Abzug gewährt 
worden war. 

Und nun tauchten aus dem Chaos der ringenden Zeiden- 
ichaften jene Gedanken in furdtbarer Energie auf, melde darauf 
abzielten, den Gleichheitäbegriff in einer Schärfe durchzuführen, 
die dad geſchichtlich Gewordene ſchonungslos durchſchneiden follte. 
Zwar die erſten Programme dieſes Sturmjahres trugen noch 
keineswegs einen jo excentriſchen Charakter. In dem allgemeinen 
Manifefte der Bauern, den zwölf Artikeln, wie in den Petitionen 
der ftädtiichen Gemeinden mijchen ſich kirchliche und politijche 
Beichwerden. Dad Recht, den Pfarrer wählen und entjeßen zu 
dürfen, ift eine der vornehmiten Forderungen, und mit ihr ift 
dad Begehren evangeliicher Predigt verfnüpft. Außerdem ver: 
langen die Bauern: Abſchaffung der Leibeigenſchaft, jo mancher 
weltlichen und geiftlicyen Feudallaften, Freiheit der Jagd, Fiicherei 
und Holzung, Herausgabe eingezogener Gemeindegüter, Rüdfehr 


zum alten Rechte und Leihvertrage; die Städter namentlich: 
XVII. 421. 2 (523) 


18 


Aufhören der Vorrechte und Mißbräuche der Geiftlichleit umd 
der Rathöherren, Befjerung der Rechtöpflege, des Steuerſyſtemes, 
ded Armenwejend. Weitergehend erjcheinen die merkwürdigen 
Entwürfe zu einer Reform der deutjchen Reichöverfaffung, mweldye 
damals von den Leitern der Aufftändiichen auögearbeitet wurden. 
Der eine fordert prophetiih Einheit von Münze, Maß und 
Gewicht, gründliche Umgeftaltung der Juftiz unter Mitwirkung 
von Bertretern aller Bolköklaffen bei der Rechtspflege, Berein- 
fahung des Zoll- und Steuerwejend von Reichd wegen, Cin- 
ziehung des gejammten geiftlihen Gutes zum Zwede der Er- 
leichterung des Abgabendrudes und des Abfaufed von Feudal- 
rechten, zugleich aber eine allgemeine Taxordnung für die Waaren- 
preije, Bejchränfung der Kaufmanndgejellidhaften, obrigkeitliche 
Normirung ded Handelöbetriebed. Ein anderer will eine Nivel- 
lirung aller Stände, an ihrer Stelle eine allgemeine evangelijche 
Brüderjchaft mit dem Rechte ihre Regierung zu wählen und ab» 
zufeßen. Hält man dort an der höchſten Schirmgemalt des 
Kaijerd noch feit, jo wird hier der Begriff der Volksſouveränität, 
wie ihn die franzöfiiche Revolution nachmals der Welt ver- 
fündigte, vorweggenommen. Das Beftreben, ihn gemwaltjam zu 
verwirklichen, indem man eine „ganze Gleichheit im Lande" 
machen wollte, führte zum Ausſprechen ded Banned gegen die 
vom Adel und vom Klerus, zur Berwüftung von Schlöffern und 
Klöftern. 

Und in denjelben ftürmijhen Monaten findet auch die 
Anfiht, dab das Eigenthum Diebftahl fei, vor nichts zurüd- 
bebende Berfehter. Es ift Thomas Münzer, der in erfter 
Linie ald glühender Vorkämpfer der Lehre vom reinen Kommunid- 
mus hervortritt. Man würde die menſchliche Natur verfennen, 
wenn man jede Geiftesrichtung, die mit der rüdfichtölojen und 


zerftörenden Gewalt fi) Bahn zu brechen fucht wie die Münzer’s, 
(524) 


19 


auf gemeine Beweggründe zurüdführen wollte. Wir haben feinen 
Grund daran zu zweifeln, daß Münzer dem Drange jeiner in- 
nerften Meberzeugung folgte, ald er alles an alles jeßte, um 
zu verfuchen, aus den Trümmern der alten Gefellidhaft eine 
neue zu bauen. Im feiner Seele verbanden fich tiefes Mitleiden 
mit dem Elend der unteren Klaſſen, grimmiger Haß gegen 
die beftehenden Gewalten, brennender Ehrgeiz und myſtiſche 
Schwärmerei. Ein dreifadher Fanatismus, auf Staat, Gejfell- 
ſchaft und Religion gerichtet, traf in ihm zufammen und machte 
ihn dreifach gefährlih. Das Leben hatte ihn von Ort zu Drt 
getrieben; vom heimathlichen Stolberg am Harz wanderte er von 
einer der thüringiſch-ſächſiſchen Städte zur anderen, unfteten 
Sinne, theologiihen Studien hingegeben, an dieſem und jenem 
Klofter ald Geiftliher thätig. Nah Zwickau gelangt, trat er 
von der Kanzel auf's heftigfte gegen die Bettelmöndye und gegen 
die alte Kirche auf, bald nachdem Luther mit ihr gebrochen hatte. 
Auch in Zwidau war nicht lange jeined Bleibend. Nach heftigen 
Etreitigfeiten, in die ihn fein reizbared Naturell verwidelte, ent- 
wich er nad) Böhmen, der Wiege der taboritiichen Lehren, um 
alöbald wieder in einem thüringiſchen Orte ald Geiftlicyer zu 
ericheinen. Hier ging er mit radifaler Heftigfeit gegen die 
Reſte des alten Kultus los, entfernte ſich aber zu gleicher Zeit 
immer mehr vom Boden ded Lutherthums. Vertieft in bie 
Abgründe der Myſtik fühlte er fid) durch den Buchſtaben der 
Bibel nicht befriedigt, fondern verlangte das Hinzutreten einer 
treibenden Inſpiration. Entjeßt über die Verwirrung der ſo— 
cialen Zuftände drang er auf thatkräftiges Einfchreiten ftatt der 
bloßen Predigt vom Glauben. Ein Gottesreich auf Erden jollte 
entitehen, aber als deſſen erſte Bedingung betrachtete er die 
vollfommene Gleichheit, zu deren Durchführung aud) dad Mittel 


der Gewalt berechtigt fei. Im diefem Sinne hielt er aufreizende 
2* 0) 


— — 


Predigten, ſchrieb er wuthſchnaubende Pamphlete, ſammelte er 
Anhänger. Faſt überall, wohin das Leben ihn verſchlagen, hatte 
er Vereine gegründet, die ſeine mit prophetiſchem Enthuſiasmus 
vorgetragenen Gedanken eifrig aufnahmen. Handwerker und 
Arbeiter bildeten ihre Mitglieder, über ihre Zahl wurden Re— 
giſter geführt, ihr geheimes Programm war: Einführung der 
Gütergemeinſchaft, Vertilgung der Obrigkeiten, welche dem großen 
Bruderbunde beizutreten ſich weigern würden, in dem niemand 
mehr die Sünde begehen ſollte, etwas ſein eigen zu nennen. 

Vor den Wittenbergern und den landesfürſtlichen Gewalten 
entfloh er nach der thüringiſchen Reichsſtadt Mühlhauſen, wo 
ſchon vor ſeiner Ankunft die ſtädtiſche Verfaſſung vorübergehend 
eine demofratifche Umgeſtaltung erfahren hatte. Dennoch konnte 
er jet auch hier feinen Halt finden. Wie andere politische 
Flüchtlinge wandte er fich nad) Süden. In Nürnberg, in Bajel, 
in den benachbarten deutjchen Gauen taudyte er auf, knüpfte 
Verbindungen an, warb Genofjen und unterwühlte den Boden. 
Das war die Zeit, ald dort die erften Flammen der bäurijchen 
Revolution emporzüngelten. Er half fie jhüren. Dann eilte 
er nad) Thüringen zurüd, um den Aufftand ded Südens durch 
die Erhebung des Nordens zu unterftügen. Es gelang durch 
eine ftürmifche Volksbewegung den Rath in Mühlhaufen zu 
ftürzen, die Klöfter wurden geleert, die alten Rechtsnormen 
bintangelegt. Haufenweiſe ftrömte das Landvolf in die Stadt, 
in weldyer dad Reich der Brüderlichkeit jeinen Anfang nehmen 
jollte, und von der Stadt aus verjuchten die neuen Machthaber 
ihm durch Brand und Mord in weiten Umfreije eine Gafje zu 
machen. Die Ruinen der Schlöffer, die fahlen Mauern der 
Klöfter in Thüringen, in der goldenen Aue, an den Abhängen 
des Harzed, auf dem Eichäfelde find Zeugen diejer furchtbaren 
Epijode ded Bauernfrieged. Münzer, eine Zeit lang der Dictator 

(526) 


21 


diejer Gegenden, geftüßt auf die Maffen des ftädtiichen Proletar 
riates, der verzweifelten Bauerfchaft, der troßigen Bergfnappen, 
mit den Führern Süddeutſchlands in beftändiger Verbindung, 
fühlte fih immer mehr in der Rolle eines altteftamentlichen 
Herven, führte eine immer wildere Sprade. „Thomas Münzer 
mit dem Schwerte Gideonis“ unterzeichnete er feine Drobbriefe. 
„Laßt euch nidyt erbarmen, ob euch Ejau gute Worte gebe, jchrieb 
er den Bergleuten zu Manndfeld, jehet nicht an den Sammer 
der Gottlojen, laffet euer Schwert nicht falt werden vom Blut.” 

Aber den großen Worten entiprady keineswegs die That. 
Münzer war fein Crommwell, und feine zujammengerafften 
Schaaren hatten nichtd von der Eriegerifchen Zucht und Schulung 
der independentiichen Eijenjeiten. Bei Frankenhauſen, wo fie 
auf das Heer der verbündeten Fürften von Sachſen, Hefjen 
und Braunfchweig ftießen, ftoben fie auseinander. Der Prophet, 
„der neue Daniel” wurde in einer Verkleidung erfannt und aus 
jeinem Verſteck hervorgezogen. Noch unter den Foltern, im 
Angefihte des Todes fol er die fiegreichen Fürften zur Milde 
gegen ihre Unterthanen ermahnt haben. 

Wie hier fo wurden allmählich an allen bedrohten Punkten 
bie öffentlihen Gemwalten der Bewegung Herr. Einheit des 
MWollens, Lift der Unterhandlung, Stärke der Kriegsmacht waren 
auf ihrer Seite. Hatten fie früher Lutherd Rath in den Wind 
geichlagen, die Bürden ded armen Mannes zu erleichtern, fo 
waren fie nın um fo eifriger, feine Aufforderung wörtlicy wahr 
zu machen, die Aufrührer zu erftechen, zu erwürgen, zu erichlagen, 
Öffentlich oder heimlich, gleich wie tolle Hunde. 

Die Gejelihaft war gerettet. Die Sieger Fannten fein 
anderes Mittel um ihre Ruhe zu fihern ald Steigerung bes 
Drudes und Beftrafung jeder Beſchwerde. Sie wurden in 


diefem Beftreben durch die allgemeinen politifchen Zuftände des 
(27) 


22 


Zeitalterd in jeder Weiſe unterftüßt. Noch beitand in feinem 
Lande Europas der Begriff des Staatöbürgerthbums der Neuzeit, 
noch gab es faft nirgendwo ein feit beftimmtes, allgemeines 
Recht, dad man nöthig gehabt hätte, durch Ausnahmegeſetze für 
einzelne Klaffen oder für einzelne Perjönlichkeiten zu unter: 
graben, noch fannte man feine für die Gejammtheit giltigen 
Normen in Hinficht auf Vereine, Berfammlungen und die Preffe, 
die man gezwungen gewejen wäre zu durchbrechen. Um jo leichter 
und heftiger fonnte jede unliebjame Aeußerung verfolgt und die 
gewöhnliche Täufchung erhalten werden, die Krankheit für geheilt 
zu erachten, weil es gelang ihre Eymptome zu vertilgen. Wer 
ed wagte, die Lage der unteren Stände der Wahrheit gemäß zu 
ihildern, wer die Kühnheit hatte, die Gefinnung und die 
Handlungen der oberen dafür verantwortlich zu machen, wer 
Reformen verlangte, um neue Gewaltthaten, Erleichterung des 
Druded, um neue Erhebungen zu verhindern, hatte fich felbit 
ſchon ald Aufrührer, ald einen der Schwarm- und Rottengeifter 
gebrandmarft und wurde von Ort zu Ort getrieben. 

Died war dad Scidjal eines der edelften Geifter diejer 
Zeit, des Schwaben Sebaftian Frand, der ald Prädifant, Schrift» 
fteller, Seifenfieder, Buchdrucker in verfchiedenen Städten Ober- 
deutſchlands feften Fuß zu fallen juchte, allen Anfeindungen 
zum Trotz durch feine Feder einen bedeutenden Einfluß im 
Volke ausübte, in Noth und Elend die Unabhängigkeit jeines 
Charakters wahrte und faum vierzig Jahre alt als Flüchtling 
in Bafel ein frühes Grab fand. Seine Weltgeſchichte und feine 
Geſchichte der Deutjchen, erfte großartige Verſuche diejer Art, 
in der Mutterjprache abgefaßt, würden ihm allein ſchon ein 
dauerndes Andenken fihern. In ihm treten die groben Gedanfen 
der fommenden Sahrhunderte hervor, ohne daß er fidy darum 


von dem Banne gewiffer Ideen hätte frei machen fönnen, bie 
(628) 


23 


einer anderen Weltanjchauung angehören. In Sachen des 
Glaubens befannte er fich ald Gegner jeder Staatäfirche und 
Berfechter der Gewiſſens- und Kultusfreiheit. In der Ber 
urtheilung vieler politiicher Fragen wandte er ſich gegen das 
geichriebene, überlieferte Recht und jprady mit Begeifterung vom ' 
Rechte der Vernunft, vom Rechte, dad mit und geboren. 

Er lehrte au, dab Gott von Anfang an alle Dinge ge: 
mein gemadt und erblidte in jenem urjprünglichen Zuftande 
ein Sdeal, auf friedlihem Wege erftrebenöwertb, wenn aud) 
unerreihbar, jo lange die fündige menſchliche Natur ſich 
nicht Ändere; er ftellte die unerträglichen Laften der unteren 
Stände in Gegenjag zu der jchamlofen Ueppigfeit der oberen, 
er äußerte in myſtiſchen Ausdrüden ſchwere Bejorgniffe wegen 
der Zufunft: genug und übergenug um ihn vielen feiner Zeit» 
genofjen ald einen der gefährlichiten Schwarmgeifter erjcheinen 
zu laffen. Doch wollte er feiner Sekte angehören, auch derjenigen 
nicht, die ſchon im Bauernfriege eine der treibenden Kräfte ge= 
wejen war und die nun im Geheimen die Trägerin der focialifti= 
chen Gedanfen wurde. 

Es waren die Wiedertäufer. Dieje Bezeichnung umſchloß 
freilich Perjönlichkeiten jehr verjchiedener Art. Man weiß, eine 
wie große Berlodung in dem Spiele mit Parteinamen gelegen 
ift. Nichts kann bequemer und nichts kann unehrlicher fein als 
den Einzelnen in eine Kategorie mit anderen zu werfen, deren 
Gemeinſchaft dazu dienen ſoll, ihn als ein ftaatögefährlicyes 
Subjekt erjcheinen zu lafjen. In den Zeiten der Reaktion war 
ein jolder Kolleftivbegriff: Demagoge, in den Zeiten ber 
Reformation: Wiedertäufer. Der Gelehrte, weldher die Gründe 
der jocialen Leiden zu erfennen ſuchte und mit jcharfem Griffel 
ein treued Bild von ihnen entwarf, der Winfelprediger, der auf 


Duldung abweichender religiöſer Anfichten drang oder ed für 
(629) 


24 


unchriftlich erklärte, die Todeöftrafe beizubehalten, der Handwerfer, 
der ſich mit feines Gleichen in verftedten Konventileln zufammen- 
fand, um fi an propbetiihen Ergüſſen und blendenden 
Schilderungen des kommenden Reiches der Heiligen zu erbauen, 
der verzüdte Schwärmer, in dem alle Triebe der Sinnlichkeit 
ungezügelt hervorbrachen, deſſen Wahnfinn auch die Weiber zu 
den gemeinfamen Gütern rechnete, der mit den wiedergeborenen 
Brüdern und Schweftern nadt am Boden kauernd kindiſche 
Spiele trieb, weil man werden müfje wie die Kinder um bas 
Himmelreih zu befiten, oder der ladhenden Munded einen 
Brudermord beging, wenn der Geilt ihm dazu trieb: fie alle 
wurden häufig ohne Unterjchied unter dem Namen der Wieder- 
täufer gezeichnet, verfolgt und gemartert. Im der That war 
vielen von ihnen jenes an fich unjchuldige Symbol gemeinjam, 
das jo verfchiedene Erjcheinungen unter einem Gejammtnamen 
zu vereinigen erlaubte. Es war zwar nicht dad erſte Mal in 
der Geſchichte der Kirche, da man den Sat audfprechen hörte, 
die Taufe der unmündigen Kinder, urjprünglid gar nicht in 
allgemeiner Hebung, ſei ein unftatthafter Zwang, da die Kinder noch 
nicht glauben fönnten. So hatten aud) jene Zwidauer gelehrt, 
aus deren Kreife Münzer hervorgegangen war. Aber niemals 
zuvor war daraus mit gleich fanatiichem Eifer die Noth- 
wendigfeit einer Wiedertaufe der Erwachſenen gefolgert, mit weldyer 
eine ganz neue Drdnung des Lebens anheben und dad Band 
zwilchen Vergangenheit und Zukunft zerichnitten werden jollte. 
In Zürih, wo die Reformation ihren radifalften Ausdrud ge: 
funden hatte, erhielt diefe Lehre, welche über Zwingli's Ra— 
dikalismus noch weit hinausftrebte, zuerft größere Bedeutung. 
Dort hatten fi furz vor dem Bauernkriege gelehrte Naturen, 
durchdrungen von religiöfem Gefühl und ſchwärmeriſch erregte 
Handwerksleute zu Heinen Konventifeln, außerhalb der Züricher 


(530) 


25 


Staatäfirdhe vereint, um nad ihrer Weife dad Urchriftenthum 
zu erneuen und die apoftoliichen Gemeinden nachzubilden. Sie 
verwarfen Zinjen, Zehnten und Pfründen in jeglicher Form. 
Sie glaubten in den eriten Zeiten ded Chriftenthums dad Mufter 
der Gütergemeinjchaft verwirklicht zu ſehn und ſich zur Nach— 
ahmung defjelben verbunden. Gie hielten jeden Gebrauch 
obrigfeitlidher Gewalt, jeden Zwang vor Gericht und zum Kriegs— 
dienft, den Namen Gotted zum Schwure anrufen und dad 
Schwert führen, Rechtſprechen und Strafen unter den chriftlichen 
Brüdern für unftatthaft und erfegbar durdy ernfte Ermahnung 
oder den von der Gemeinde geübten Bann. Als äußeres Zeichen 
der Aufnahme in diejen Bruderbund galt ihnen eben die Wieder- 
taufe. Ihr mußte eine innere Zerfnirfhung voraudgehen, dann 
fam es plößlid wie eine Eingebung über den Erjcütterten, 
er fühlte fich erleuchtet, voll Schmerz über fein vergangenes 
Dafein, bereit dem neuen Bunde beizutreten. 

Hier lagen die Keime von Geiundem und Kranfhaftem, 
Praktiihem und Phantaftiichem dicht bei einander. Eine foldye 
Geiſtesrichtung, begünftigt durdy das Gefühl des Mißbehagens 
über das, was die Reformation verjprocdyen aber nicht gehalten 
zu haben ſchien, und der mittelalterlihen vom Weltlichen ab» 
gewandten Denfweile wieder angenähert, konnte ficher fein, 
taufende von ekſtatiſchen Gemüthern für fi) zu gewinnen. Stärfer 
als je zuvor war in diefen Säßen der dunkle focialiftiiche Drang 
der Maſſen mit den altverehrten Zeugniſſen der Religion in 
Verbindung gebradt. Aber erft die Verfolgung fachte ben 
Funken zur Flamme an und verbreitete diefe über die Lande. 
In Züri) von Zwingli heftig befämpft, fuchte die Sekte unter 
mancherlei Ausfchreitungen in anderen Theilen der Schweiz 
Wurzel zu faffen. Auch dort mit Gewalt audgerottet, ftreute 
fie ihre Samentörner in die oberen Gaue Deutſchlands. Schon 


(531) 


26 


jene erften Wiedertäufer hatten mit Thomas Münzer und an- 
deren Männern der deutjchen Bewegung, wie mit dem für einen 
jocialspolitifchen Agitator ganz und gar gejchaffenen Balthaſar 
Hubmaier, in Berbindung geftanden. In den Wirren des 
Bauernfrieged war nichtd von jo zerjeßender Gewalt wie dies 
Element, dem zufolge der Staat ganz aufgehoben, die Gejell- 
ſchaft in eine große, religiöje Kommune verwandelt werden jollte. 
Allein erft nad dem Bauernfriege drangen die zahlreichen Ge— 
meinjchaften, die fih auf Grund der neuen Lehre bildeten, 
heimlich» gejhäftig in die mittleren und unteren Stände ein. 
Nach jo vielen getäufchten Hoffnungen horch temamentlich der kleine 
Mann mit erneuter Inbrunft auf die verführerijchen Ausſprüche 
ber begeifterten Apoftel ded kommenden Reiches der Heiligen 
und Brüder und ſchloß fidh ihnen an. Am Ober: und Nieder- 
Rhein, in Schwaben und Franfen, im Stromgebiet der Donau 
wie in dem der Elbe, von den Vogeſen bis zu den Karpathen, 
vom Feld der Tiroler Alpen bid zum Baltifcdyen Meere waren 
wiedertäuferiiche Gemeinden zu finden. Durch Sendboten, 
ftellenlofe Prädifanten, wandernde Gejellen, flüchtige Buchdruder 
erhielten fie Fühlung mit einander. Bor allem ftellten ihnen 
die gewerbreichen Städte, in denen der Unterjchied von Arm 
und Reid) am jchroffften hervortrat, ein ftarfed Kontingent. In 
die dumpfen Werfitätten fiel ed mit einem Mal wie ein Sonnen- 
blid jeliger Zukunft. Eine Zeit lang fonnte Augsburg ald Mittel 
punft des großen Netzes geheimer Vereine gelten, welches ganz 
Deutſchland überzog. 

Und nun traten beide Gedankenreihen, zu deren Ent- 
widelung eine ſolche Lehre befähigt war, in immer jchärferem 
Gegenjaß hervor. Auf der einen Seite: erjchredende Halluci- 


nationen, zielloje Umzüge von Männern und Weibern unter 
(632) 


27 


Berkündigung der nahen Vernichtung der Gottlojen und des be— 
vorftehenden Gottesreiches, Durchbrehung aller Schranken von 
Zudt und Sitte, Wolluft und Blutdurft zu einem Ichaudervollen 
Gemälde verbunden. Auf der anderen Seite: Durchführung 
eined ftrengen fittlichen Lebens, hingebende Uebung mildthätiger 
Werke, asketiſche Abjonderung von dem leichtlebigen Kindern der 
Welt, praftiihe Nächitenliebe und ungeheuchelte Demüthigung 
vor Gott die Grundlagen des neuen Dajeind. Dort bemerft 
man die konvulſiviſchen Aeußerungen einer erhitzten Phantafie, 
die ſchon nicht mehr auf der Grenze des gefunden und des 
franfen Geiftes zu ſtehen jcheinen und in den blutigen Geihler- 
fahrten zur Zeit des jchwarzen Todes ihre Vorbilder haben. 
Hier fieht man kleine Gemeinden, deren Glieder, jcheu von der 
Welt zurüdgezogen, zur Unterftüßung der Bedürftigen aus ihrem 
Eigenen zuſammenſchießen oder auf den ausjchließlichen Gebrauch 
ihres Eigengutes zu verzichten bereit find, einfach gefleidet, ernft, 
friedlich und arbeitiam, ſich Brüder und Schweitern nennen, die 
Weinhäuſer wie Zunftftuben vermeiden: in gewiſſem Sinne 
Vorläufer der Duäfer und Baptiften. Wenn auf der einen 
Seite manche jener unglaublidy Elingenden Erzählungen dem 
Urtheile des Irrenarztes überlaffen werden muß, jo läßt ſich 
andrerjeitd die Rettung mancher wiedertäuferijchen Perjönlichkeit 
ichreiben, die mit dem Kaind-Stempel gebrandmarft in den 
Blättern der Geſchichte fortzuleben beſtimmt war. 

Denn die Gewalten, welche die Gejchichte jener Zeit vor: 
züglich madhten und jchrieben, waren gewohnt, das Ungleichite 
mit gleichem Maße zu mefjen. Der Saß, daß erft Handlungen, 
nicht Gefinnungen zu ftrafen jeien, hatte für die damalige Zeit 
feine Geltung, und wenn eine Gefinnung von der Gefinnung 
der herrjchenden Mächte abwich, hatte fie Strafe verdient. Auch 


(533) 


% 


* 
* 


28 


wirkten hier ſtaatliche und kirchliche, katholiſche und proteſtantiſche 
Gewalten Hand in Hand. Viele der Wiedertäufer weigerten 
ſich einen Eid zu leiſten. Führte das nicht, ſo ſchloß man im 
ſechzehnten Jahrhundert, in letzter Linie zu einer Aufhebung 
der obrigkeitlichen Autorität? Einige waren ſo kühn, die 
Gottheit Chriſti zu leugnen// Bermochte das Chriftentyum in 
dem einen, wie in dem anderen Lager dad zu dulden? Alle 
nahmen dad Redyt für fich in Anſpruch, außerhalb der neugläubigen 
Staatöfirhe wie außerhalb des Katholicismus in freien Ge— 
meinden ein Dafein für fich zu führen. Konnten die weltlichen 
Behörden, welche das religiöje Xeben der Unterthanen von ſich 
aus zu organifiren wünjchten, fich dabei eher beruhigen als die 
papiftiichen Keberrichter? Und wie oft audy dieje und jene 
Täufer verficherten, die Art ihrer Gütergemeinfchaft fei eine 
freiwillige und durch den Zwed der Wohlthätigfeit bejchränfte: 
die ihnen das Urtheil ſprachen, hielten unterjchiedslos ein für 
alle Mal feit daran, es fei auf eine allgemeine Theilung, auf 
eine Räuberei im größten Maßftabe abgejehen. Der Wieder. 
täufer galt ohne weitered ald politifcher Delinquent, die Wieder: 
taufe als todeswürdig. 

So begannen die Verfolgungen, denen Schuldige und Un— 
ſchuldige, Verbrecher und Wahnſinnige zum Opfer fielen. Da 
galt feine Schonung von Alter oder Geſchlecht. Folter, Richt— 
ſchwert, Ertränfung, Scheiterhaufen: dad war die graujame 
Stufenfolge, weldye in jener Epoche beliebt wurde, mit der wir 
gewohnt find die Barbarei des Mittelalter in Gegenſatz zu 
ftellen. Man beeilt fich einen Schleier über dieje Greuel zu 
ziehen, die im Namen ded wahren Glaubens und der ftaatlichen 
Drdnung verübt wurden, wenn man erfährt, daß in Tirol bis 


zum Sahre 1531 an taufend, in der einen Stadt Linz in ſechs 
(534) 


29 


Wochen dreiundfiebenzig hingeopfert fein jollen. Im katholiſchen 
Ländern hatten die Selten den größten Anhang gehabt, dort 
wurden fie mit ungleich größerer Wuth verfolgt als irgendwo 
jonft. Herzog Wilhelm von Baiern jchrieb einfah vor: Wer 
widerruft, wird geföpft, wer nicht widerruft, wird verbrannt. 
‘ Unter den neugläubigen Machthabern ftand Landgraf Philipp 
von Helfen mit feinem Widerftreben gegen die Theilnahme an 
der blutigen Treibjagd faft allein. 

Und dennody war alles vergeblihd. Das Gefährlichfte für 
die herrichenden Gewalten, was fich in ſolchen Fällen ereignen 
fann, trat ein. Es gab Märtyrer. Die Aſche der Verbrannten 
wurde gejammelt, die letzten Worte der hingejchladyteten Opfer 
wurden von Mund zu Mund getragen, in Liedern und Er- 
zählungen ward ihr Andenken verherrlicht. Enger als je jchloffen 
fi die Täufer an einander. Im abgelegenen Höfen, in verftedten 
Kellern, in Wald und Flur, bei trübem Fackelſcheine famen die 
Gehetzten zujammen zu Bibellejen, Gejang und wechſelſeitiger 
Ermahnung. Und eines hatte die Verfolgung erreiht. Es gab 
nicht mehr zwei Strömungen in den Reihen diefer Socialiften. 
Was milde, ehrbar, entfagend gemwejen, war zurüdgedrängt. Die 
wilden, finnlicdyen, leidenjchaftlihen Elemente herrichten vor, ges 
tragen von den Gefühlen der Todedangft, der Rachegluth und 
der apofalyptiihen Erwartung einer Umfehr aller Dinge. 

Man braucht nur die Namen Ian Matthys, San van Leyden, 
Knippertollind, Münfter zu nennen, um die Erinnerung an die 
graufigefragenhafte Erſcheinung wachzurufen, zu der ſich unter 
ſolchen Umftänden das Wiedertäufertyum verzerrte. Dort, auf der 
rothen Erde Weltfalend, in der alten Bifchoföftadt, deren Boden 
längft durch heftige Parteifämpfe unterwühlt war, murde für 


furze Zeit jened abenteuerliche Reid, gegründet, in welchem die 
(635) 


® 


30 


Außerften Sätze des täuferiichen Socialismus mit rüdfichtslofer 
Gewalt in's Leben traten. Se jchwerer in dem oberdeutichen 
und öfterreichiichen Landen die Sekten durch die Verfolgung be- 
troffen wurden, deſto üppiger hatten fie ſich nad Welten und 
Norden ausgebreitet. Die Rheinlande, Weitfalen, Geldern, 
Oberyßel, Friedland, Holland, Brabant waren von ihnen erfüllt. ‘ 
Bon größter Rührigkeit für die Propaganda durch Wort und 
Schrift war Melchior Hofmann gewejen, ein redegewandter 
Kürjchner aus dem ſchwäbiſchen Hal, der fih in Schweden, 
Livland, Holftein, Dftfriesland, Holland umgetrieben, überall 
Gemeinden und Schüler hinterlafjen und zulett geglaubt hatte 
in Straßburg das neue Serujalem, die auderwählte Stadt des 
Herrn zu finden. Sn den Kerfer geworfen war er den Seinigen 
erft recht ald gottbegnadeter Prophet erjchienen, deffen Worte 
den harrenden Gemeinden bis zu den Ufern des Meeres ver- 
fündet wurden. Seine Anhänger waren es gewejen, weldye den 
günftigen Boden von Münfter erobert, Bernt Rothmann, den 
dortigen Führer der Reformation, für fi) gewonnen und eine 
wiedertäuferifche Gemeinde in den milden Formen friedfertigen 
?ebend und brüderliher Mittheilung von Hab und Gut be 
gründet hatten. 

Mit der Einwirkung des fanatiichen Bäderd Ian Matthys 
von Harlem änderte ſich dies Bild. Er war ald zweiter Prophet, 
ald Nebenbuhler Meldior Hofmann’d aufgetreten, aber jeine 
Lehre ging nicht auf duldende Erwartung, ſondern auf gewaltjamen 
Angriff, um die Gottlojen zu vernichten und dad Reich der 
Heiligen zu ftiften. Er z0g in Münfter ein, und von nah und 
fern ftrömten die Genoſſen berzu, denn ed hieß, Straßburg ſei 
um ſeines Unglaubend willen verworfen und Münfter auderjehen 


für dad neue Ierufalem. Es fam zum Aufruhr, die Behörden 
(536) 


31 


erwiejen ſich machtlos, die ftädtiihen Gewalten gingen in die 
Hände der $anatifer über, ſchaarenweiſe flüchteten die Bürger, 
die fi) dem Zwange der Wiedertaufe nicht fügen wollten, aus 
ihrer Heimat. Und während draußen der Biſchof mit feinen 
Verbündeten friegögerüftet vor den Thoren erjchien, entwidelten 
ich drinnen die Dinge in rafender Meberftürzung. Anfangs war 
es eine friegerijche Theofratie, deren oberfter Prophet Ian 
Matthys war. Alle Kunftwerfe und Bücher, außer der Bibel, 
wurden zerftört, denn fie erichienen ald Luxus. Alle Baarjchaft, 
ale Schmuckſachen mußten bei Todesftrafe auf die Kanzlei ab« 
geliefert werden, denn wie im lykurgiſchen Staate jollte der 
Gebrauch der edlen Metalle volllommen aufhören. Genaue Vor— 
Ichrift jeßte feft, was jeder an Kleidern befigen dürfe, der Ueber— 
ſchuß wurde eingejammelt zum gemeinfamen Nuten. Die Arbeit 
wurde organifirt,; indem für die Ausübung jedes Handwerkes 
die Perfonen namentlich bejtimmt wurden. Beim gemeinjamen 
Gaftmahl ſaßen Brüder und Schweitern getrennt und laujchten 
ſchweigend der bibliihen Vorleſung. 

Aber die ganze Kraft diejer großen Kamilie wandte ficy mit 
Leidenſchaft und Glüd gegen die Feinde nad) außen. Als San 
Matthys bei einem Ausfalle umkam, trat der jugendliche, feurige 
San Bodeljon von Zeyden, von Haus aus Schneider, dann Gaft- 
wirt und Kaufmann, mit dichteriichem und jchaujpieleriichem 
Talent begabt, fein Erbe an. Er verwandelte die Gemeinde zu— 
nächſt in einen Richterſtaat mit zwölf Xelteften an der Spiße, von 
ihm ernannt, verpflichtet nach dem Geſetze Moſis zu urtheilen, 
darauf in eine Monardie, ald Vorbild für die demnädhltige 
Weltregierung. Er jelbft ſaß auf dem Stuhl David’, mi 
Krone und Kette geihmüdt, unter ihm feine Würdenträger, nach 


allen vier Himmeldrichtungen wurden achtundzwanzig Apoftel 
(537) 


32 


ausgefandt, um den Völkern die Ankunft des Königs von Sion 
zu verfündigen, 

Aber in diejen prahleriichen Formen gewannen alle jchlechteften 
Triebe freien Spielraum. Nah dem Begriffe des Privat- 
eigentbumd war der Begriff der Monogamie über den Haufen 
geworfen, und mit der Entfeffelung jchranfenlojer Sinnlichkeit 
ging die Entfefjelung jchranfenlojer Grauſamkeit Hand in Hand. 
Das Streben fommuniftifcher Nivellirung ſchlug um in despotiſche 
Gewalt. Nur dieje fonnte dad von Feinden bedrängte Gemein- 
wejen, in weldhem alle gewohnten Stüßen gebrocdheu waren, für 
einige Zeit zufammenhalten. Es gab in ihm feinen wichtigeren 
Poſten ald den des Scharfrichterd, und oft genug griff der König 
von Sion ihm eigenhändig in’d Amt. Sein eigener Harem 
hatte vor ihm zu zittern. Und dennoch wurden die Mauern 
mit der Wuth der Verzweiflung vertheidigt. Ein furdhtbarer 
Sturm ward abgeſchlagen, die Weiber gofjen glühenden Kalt 
auf die Landsknechte, warfen brennende Pechkränze herab und 
wetteiferten an wilder, jauchzender Mordluft mit den waffen» 
fundigen Männern. Aber die Stadt blieb auf ſich jelbit an— 
gewiefen. Wohl fam ed an vielen Orten Niederdeutichlands und 
Hollands zum bedenflichiten Aufruhr, allein nirgendwo erfochten 
die Empörer den Sieg. Das Heer der Belagerer dagegen 
wuchs, immer mehr der Reichsſtände ſchickten ihm Hilfe zu, 
endlich raffte die Reichsgewalt jelbft fi auf. Im Innerefber 
Stadt ftellte der jchlimmfte Feind fich ein: der Hunger. Der 
verzweifelte Entſchluß tauchte auf, die Häuſer anzuzünden und 
unter den Ruinen fid) mit den Feinden zu begraben. Aber 
vorher öffnete Verrath diejen die Thore. Noch ein erbitterter 
nächtlicher Kampf in den Straßen, und dad kommuuniſtiſche 
Reich des jechzehnten Jahrhunderts janf in Trümmer. Die 
Rache der Sieger gab den Befiegten an Blutdurft und raffinirter 


(538) 


33 


Graufamfeit nichts nad. Miünfter'd Fall ward das Signal 
einer allgemeinen, blutigen Verfolgung. 

Mit diefem ZTraueripiel ſchloß zwar nicht der Anabaptis- 
mus, aber der Socialiömud der Reformationdzeit ab, und nur 
hie und da, wie in den Schriften niederländijcher Schwärmer, 
klingen jeine zerſetzenden Lehren nach. 

In allen ſeinen Erſcheinungsformen, von den theoretiſchen 
Entwürfen und Einfällen der Volksredner und Schriftſteller bis 
zu den Verſuchen praftiiher Durchführung im Bauernfriege und 
im Wiedertäufertbum wird er von einem Grundzug beherricht 
und dadurch von jpäteren Geftaltungen weſentlich unterjchieden. 
Auch ihm ift der Stempel aufgedrüdt, mit welchem jenes Zeit- 
alter die meilten feiner Schöpfungen gleichſam aus feiner 
Werkſtatt entließ. Denn wie der Erforfcher der Erde an un» 
trüglidhen Merkmalen die auf einander gelagerten Schichten in 
ihrer Eigenart erkennt, jo findet der prüfende Blid in der 
Folge der Zeiten leicht dad Gepräge heraus, welches den Ideen— 
ftoff jeder von ihmen Fennzeichnet. Redet das fiebzehnte Sahr- 
hundert vornämlich im Falten Zone der Stantsraifon, das adht- 
zehnte im begeifterten Schwunge des Weltbürgerthbums, jo 
weiß fich dad Zeitalter der Reformation in den meiften Gebieten 
unjered Welttheild nur durch die geheimnißvolle Sprache der 
rcgiöſen Inbrunſt Luft zu machen, weldye ein Jenſeits erfehnt, 
in defjen allumfafjender Liebe das Daſein des Einzelnen auf- 
gehen joll. Mit bibliihen Worten werden meiftens der ideale 
Staat und die ideale Gejellichaft gefchildert. Die ſich vermefjen, 
beides in’8 Leben zu rufen, jpielen die Rolle altteftamentarijcher 
Heroen. An dad religiöje Bedürfniß, an die religiöfe Empfindung 
appellirte der Socialismus der NReformationdzeit, wie die Re— 
formation jelbft. Nicht jelten find jeine Beweggründe die edelften, 


XVII. 421. 3 (539) 


34 


feine Ziele rein. Aber nicht nach ihren Zielen wollen die ges 
ſchichtlichen Mächte bemeſſen werden, denn jede, wenn man fie 
hört, behauptet den reinften zuzuſtreben, fondern nad) den Mitteln, 
deren Anwendung fie für nöthig halten. 

Wenn der Socialiömus der Reformationgzeit dazu gelangte, 
die jchlechtejten in Bewegung zu ſetzen, wenn ed ibm gelang, 
Stätten der Kultur in Stätten der Barbarei umzuwandeln, wenn 
fi die Mafjen mit wilder Begeifterung unter feinem blutrothen 
Banner jhaarten, wenn er mehr ald ein Mal einen Anlauf 
dazu nehmen fonnte, Begriffe und Einrichtungen einer Bildung 
von Sahrhunderten aufzuheben, jo lag dies an der auferorbent- 
lichen Gunft, welche ihm durch die grellen Mißſtände der damaligen 
jocialspolitiichen Verhältniffe geboten wurde. Nur darum fonnten 
die Worte eines Münzer und Ian van Leyden einen riefigen 
Feuerbrand entzünden, weil die züngelnden Flammen die reichite 
Nahrung fanden. Zur Zeit der Frohnden und der Leibeigen: 
ſchaft, der verfnöchernden Zünfte und der patriarchaliichen Be- 
vormundung, der Privilegien und der Gremtionen war deren 
übergenug vorhanden, und Ströme von Blut genügten faum, 
um die Gluthen zu löſchen. Weil Staat und Gejellihaft Re- 
formen verjäumten, erlebten fie Revolutionen. Weil ihre ganze 
Meidheit im Strafen beitand, wurden fie ſelbſt auf’8 jchmwerfte 
beftraft durch den gewaltſamen Rüdijchlag. 

Sene Geſellſchaft ift nicht mehr, jene Staatdordnungen find 
gefallen. Drei Sahrhunderte haben daran gearbeitet, das alte 
gothiſche Gebäude hinwegzuräumen, nur bie und da ftehen noch 
einige Elaffende Wände und geborjtene Säulen, die über Nacht 
ftürzen Fünnen. Was die Mauerbrecher des aufgeflärten Des- 
potismus nicht hatten umreißen fönnen, brachte größten Theile 
der Revolutiondfturm zu Fall, der jeit 1789 beinahe ein Menſchen⸗ 


(540) 





35 


alter hindurch das Feftland von Europa durdhbraufte, was jeiner 
Gewalt entging, haben die Fluthen der folgenden großen Volks— 
bewegungen weggeſchwemmt oder unterwühlt. 

Die Feudallaften find verjchwunden, der Bauer ift frei, der 
Zunftzwang ift abgejcyüttelt, die Arbeit entfefjelt. An die Stelle 
der Vorrechte ift die Rechtögleichheit getreten, an die Stelle der 
Bevormundung der Mafjen ihre Theilnahme an den öffentlichen 
Angelegenheiten. Berfammlungsd- und Vereinsrecht, Freiheit von 
Wort und Schrift in weiten Grenzen find dazu beftimmt, das 
grundſätzliche Verbot früherer Zeiten aufzuheben. Folter, Scheiter- 
haufen und Grtränfung find aus dem Goder unjerer Strafge- 
jeße verbannt. Aber die Geſchichte fennt feinen Stillſtand. 
Wie die Wellen des Meeres dort Uferland abreißen, dort neues 
anjchwemmen, jo löft fie in ewigem Auf» und Abwogen eine 
große Aufgabe nur, um durch ihre Löſung eine neue zu ftellen. 

Dafjelbe Ereigniß, deflen Schwingungen vernehmlidy nad}: 
zittern von den Beſchlüſſen der denfwürdigen Nacht des vierten 
Auguft 1789 bis zu der ruhmvollen Stein-Hardenbergiſchen 
Gejeßgebung hat in jeiner Folge unabweislich dazu geführt, 
dad Snftitut der ftehenden Kriegsmacht auf dem Fejtlande 
Europas zu einer Höhe zu fteigern, die ohne gleichen ift, ſoweit 
das Gedächtniß der Menjchheit zurüdreiht. Diejelbe Epoche, 
welche die Arbeit befreit und danf zahlreichen technijchen Erfin- 
dungen großartig gefteigert und getheilt bat, bat eine nad) 
Millionen zählende Arbeiterbevölferung geſchaffen mit Leiden, 
Bedürfniffen und Anſprüchen, wie fie in diefem Umfang ber 
Vergangenheit fremd waren. Je jchärfer die Gegenwart den 
Grundjaß der Rechtsgleichheit theoretifch betont, defto bitterer 
rächt fidy jede Verlegung defjelben, gegen welche Partei fie fid) 


wende, unter welchem Vorwand fie ſich berge. Je mehr fie die 
3° 641) 


36 


Maflen emporgehoben hat, defto dringender thut es Noth, auf 
die Bildung und das Mohlbefinden diejer Maffen bedacht zu 
fein. Jeder Tag ruft neue Probleme hervor und weift zu gleicher 
Zeit neue Konflikte auf. Glücklich dad Geſchlecht, dem es gelingt, 
der erjten Bedingung für ihre Löſung zu genügen: frei von 
Hab und frei von Gleichgültigfeit ihre tieferen Gründe zu er: 
fennen. Denn audy bier gelten die Worte Spinoza’d: „Der 
Menſchen Leidenichaften und Handlungen fell man weder ver: 
dammen noch verlachen, jondern begreifen... Unwiſſenheit iſt 
alle8 Böjen Duelle“. 


(542) 


Drud von Gebr. Unger (Th. Grimm), Berlin, Schönebergerftraße 17.. 


Aie Tonkunft 


nad) 


Urjprung und Umfang ihrer Wirkung. 


Ferdinand Adult, 


Direktor bed Kal. Kaiferin-Augufta-®nmnafiums zu Charlottenburg. 


GE 


Berlin SW., 1883. 


Berlag von Carl Habel. 


(C. 6. Lüderity’sche Derlagsbuhhandlang.) 
33. Wilhelm - Straße 33. 


Das Recht der Ueberſetzung in jremde Sprachen wirb vorbehalten. 


Heat ift das ob der Tonkunſt. Und wie könnte es 
anders jein? Die Töne wirken jo unmittelbar und zwingend, 
daß ihre Macht audy der Menſch der unterften Kulturftufen an 
fidy erfahren mußte. Es liegt etwas Geheimnißvolles in der— 
jelben, über deſſen Uriprung wir uns feine Rechenſchaft geben zu 
fünnen vermeinen. Daher hat das Altertyum diefelbe in das 
Gewand der Sage gekleidet, die neuere Zeit fie in dichterifchen 
Bildern zu veranichaulichen geſucht. So vergleiht Schiller fie 
dem jäh aus Felſenriſſen hervorftürzenden und alled mit fich 
fortreißenden Regenitrom, deſſen Braufen zwar der Wanderer 
vernehme, defjen Urjprung er aber nicht kenne, und jagt: 

„So ftrömen des Gejanges Wellen 
Hervor aus nie entdedten Quellen.” 

Ein dichteriicher Vergleich, welcher den Eindrud dieſer von 
und gefühlten Macht gewiß treffend wiedergiebt! Aber freilich, 
wie verborgen auch die Duellen jein mögen, welde ihr brauſen— 
des Waller in die Tiefe jenden, der Wanderer wird fich doch 
verjucht fühlen durch Didicht und Geftein zu denjelben zu klim— 
men und von dem gewonnenen Standpunft aus den weiteren Lauf 
derfelben zu verfolgen bis zu dem mächtigen Strome, den er in 
der Ebene zu jeinen Füßen gewahrt. Und ebenfo bei der Ton- 
funft. Se verftedter die Duellen zu fein jcheinen, aus denen 
jene Macht entipringt, die wir an und felbft erfahren, um fo 
mehr fühlen wir den Anreiz in uns, denjelben nachzugehn, um 
die Wirkung der Tonkunſt bis zu ihrem Ursprung zu verfolgen 


und nad ihrem Umfang zu ergründen. Wie aber ein gewalti- 
XxviIi. 422. 1? (545) 


4 


ger Strom nicht aus einer oder zwei Duelladern herorſprudelt, 
fondern viele ficy vereinigen, um ihn zu der Größe und Xiefe 
anfchwellen zu laffen, in der wir ihn jpäter erbliden, jo wird ed 
auch bei der Tonfunft der Fall fein. Unfere Zeit, welche die 
Erbſchaft der großen Meifter ded vorigen Jahrhunderts und des 
Anfangs des jeßigen angetreten hat und gern bewahren möchte, 
wird von mächtigen mufifalifhen Strömungen, die in unjer ge— 
ſammtes Kulturleben eingreifen, bewegt. Begeifterte Anhänger 
und erbitterte Gegner ftehen diejen Erjcheinungen in heftigem 
Kampfe gegenüber. Iſt das, was die ältere Tonkunft anftrebte, 
ein veralteted Ziel, ift dad Neue zu verwerfen oder jchließen ein- 
ander beide Strömungen nicht jo aus, daß fie in ein und dem— 
jelben Bette ihren Lauf nehmen könnten? Das find Fragen, 
welche wohl mancher aufwirft, der abjeitd vom Lärm der Par- 
teien ſich dem ftillen Genuß einer Kunft, die fein ganzed Inne— 
red erfaßt hat, hinzugeben gedentt. 

Wir glauben, daß diejenigen, welche ed unternahmen, das 
Weſen mufifaliiher Wirkung ergründen zu wolleu, vielfah auf 
Irrwege geriethen, weil fie nur eine Quelle und eine Strö— 
mung ind Auge fabten und jo nicht das ganze Gebiet ums 
Ipannten. Erft ein Ueberblid über das gefammte Gebiet aller 
mufifalifchen Wirkung aber von den mannichfachen Duelladern 
an, aus denen fie ſich zufammenjeßt, bis zu ihrer Vereinigung 
in einem breiten Strome vermag den rechten Standpunft zn 
geben, von dem aus ein Feder zu den Erfcheinungen des Tages 
Stellung nehmen kann. Möge es daher diejenigen, welche die 
geheimnißvolle Macht der Tonkunſt jemald zum Nachdenken ges 
reizt bat, nicht verdrießen, unjerer Wanderung zu folgen, auf 
welcher wir dem Urſprung und Umfang ihrer Wirkung nachzu— 
forfchen gedenken. 


(546) 


5 


Der alte Griehenheld Philoftet, welcher der Sage nad) 
zehn Fahre lang, an einer jchlimmen Fußwunde leidend und faft 
aller Mittel zum Lebensunterhalt beraubt, einfam auf der wüſten 
Feljeninjel Lemnos ſchmachtete, findet bei dem großen Tragiker 
Sophofles Erleichterung feiner Leiden, indem er, feinen Schmerz 
den Lüften anvertrauend, die tauben Feljen von wilden Klage 
gejängen mwiderhallen läßt. Und der antife Dichter, weldyer, 
nicht durdy die Schranken moderner Konvention gebumden, alles 
in das Bereidy feiner Dichtung zog, was wirklich und wahrhaft 
Natur ift, durfte ed wagen feinen Helden fo auf die Bühne zu 
bringen. Denn die Laute menſchlicher Stimme find ſowohl das 
natürlichfte Ventil, die Bruft von einem Drud, der auf ihr laftet, 
zu befreien, ald audy der unmittelbarfte und nothwendigfte Ausdrud 
defjen, mas den Menfchen im Innern bewegt. Died beruht auf der 
Einrichtung unſres gefammten phyſiſch⸗pſychiſchen Organismus, 

So oft nämlid unſre Sinne von einem Reize getroffen 
werden, fei died 3.3. in Geftalt einer Netherwelle oder einer 
Luftihwingung, jo empfangen ihn zuerft die jenfiblen Nerven, 
die ihn fortleiten zu unierm Gentralorgan, dem Gehirn, von wo 
aus er auf Gruppen motorifcher Nerven übertragen wird und 
ald Bewegung zur Erſcheinung kommt. CEs ift die ein Vor—⸗ 
gang, den wir am deutlichiten beim Vernehmen eines jchrillenden 
oder gellenden Tons an und jelbft wahrnehmen fönnen. Diefe 
jogenannten Reflerbewegungen find mannichfacher Art; am häufig- 
ften werden fie fid, aber in den Stimmlauten zeigen und neben 
jowie mit den fie begleitenden Körpergeberden als Interjektionen 
auftreten. Als jolche bilden fie die erfte Stufe menſchlicher Sprache. 

Dieje Laute find der unmittelbarfte Ausdrud der Empfindung 
und haben deshalb die Eigenjchaft, von allen gleich organifirten 
Weſen ohne weitere VBermittelung verftanden zu werden, zugleich 
aber audy die Fähigkeit ähnliche Empfindungen wie die, deren Aus: 
drud fie find, hervorzurufen. Hierdurd) gewinnt der Laut und mit 


ihm der Ton eine unmittelbare Beziehung zu unjerem Gefühl. 
(547) 


6 


Dazu kommt, daß das Bernehmen von Tönen ſchon an fidh 
von einem Luftgefühl begleitet ift. Diejed beruht auf der 
Eigenthümlichkeit der durdy die Gehörnerven vermittelten Einneds 
empfindung. 

Sn der wunderbaren Organijation unfered Ohrs ift viel- 
leicht das Wunderbarfte das Cortifhe Organ. In ihm befin- 
den ſich Nervenenden, die jog. Stimmftäbcen, die gewilfermaßen, 
wie die Taſten eined Klavierd, den verfchiedenen Tönen der 
Natur entiprehen und, wie die mit den Taſten verbundenen 
Saiten, durdy die jchwingende Luftwelle in Grregungszuftand 
verjet werden. Die Erſchütterung derjelben, welche die Ton— 
empfindung in und begründet, iſt bei ihrer leichten Erregbarfeit 
und feinen Senfibilität bejonders jtarf und verſetzt zugleich eine 
Reihe anderer Nerven in Mitihwingung, mehr als dies bei an- 
deren Sinneönerven, wie 3.B. der des Gefichtönerven, der Fall 
ift. Während dieſe und daher nicht jo jehr feffelt, daß wir nicht 
jogleidy und dem erregenden Gegenjtande zuwenden fönnten, werden 
wir bei jener feftgehalten. Angenehm wird fie aber fein, wenn 
fie nicht ſtoßweiſe und unterbrodyen erfolgt, wenn aljo die er— 
regende Luftihwingung eine gleihmäßige und ungeftörte ift. 
Dies ift aber bei Tönen der Fall, während ungleichmäßige und 
unterbrochene Luftihwingungen nur Geräujd geben. So fommt 
ed, daß das DVernehmen eined Toned jchon von Haus aus mit 
einem gewifjen MWohlgefallen begleitet ift, das fidy bei dem un— 
fihtbaren Bande, welches Sinne und Seele verknüpft, und ala 
ein gewiſſes Zuftgefühl fund giebt. 

Died Luftgefühl treibt nun weiter zur Nachahmung und 
Wiederholung an, Indem jo der Spieltrieb der wahrgenomme: 
nen Erideinung ſich bemächtigt, wird durdy Nachbildung des 
Hebens und Senkens der Stimme aud dem einzelnen Ton eine 
ZTonreihe, womit die eriten, allerdings noch formlojfen, Elemente 
der Mufif gegeben find. Während nun die Sprache, welche auf 


demjelben Boden mwurzelt, weitere Bahnen durdeilt und den 
(548) | 


— 

Laut zum Zeichen von Vorſtellungen benutzt, bewahrt der Ton 
jeine urſprüngliche Eigenſchaft, Ausdrud innerer Erregung zu 
fein, und jo ftrömt denn der rauhe Sohn der Alpen dad Frei» 
heitögefühl, welches ihn auf den Schneegipfeln feiner Berge be— 
feelt, in einem fröhlichen Sodeln aus, ebenfo wie der jchwer- 
müthige Bewohner ded Thaled feiner Sehnſucht Ausdrud giebt 
in einer wehmüthigen Kantilene, wie wir fie etwa noch heut 
im NRömifchen bei einigen Ritornelli8 vernehmen fönnen. 

Mir haben ed in der Mufif mithin mit einem ganz eigen- 
gearteten Material zu thun. Es iſt dies nicht wie bei der bil- 
denden Kunft ein förperliched im Raum Ausgedehnteö, jondern 
ein förperloje8 in und Liegended. Es ift nämlich die Ton- 
empfimdung jelber, welde ald Material der Kunft aufgefaßt 
werden muß. Denn die Luftſchwingung, durch weldye die Ton— 
empfindung erzeugt wird, die man wohl als ſolches bezeichnet hat, 
fann in Wahrheit nicht das Material fein, da fie im Raum 
nur eine 2uftwelle ift und erft in und zum Zone wird. In 
diefer Beziehung ilt dad Gegenbild des Tones die Farbe. 

Wie wir jchon jahen, war an das Gleichmäßige und Unge— 
ftörte, d. h. alſo das Periodiiche der Luftihwingung, dad Ange- 
nehme gebunden. Jedem einzelnen Ton jomwie jeder Art des 
Tons wird jomit ein eigenthümlicher Grad von Luftgefühl ent- 
Iprechen. Die verjchiedenen Erregungsweiſen defjelben find aber 
abhängig von Weite, Dauer (d. h. Zahl) und Form der Schwin- 
gungen, welde uns als Zonftärfe, Tonhöhe und Zonfarbe er- 
Iheinen. Diejenigen Schwingungäformen nun, welche und zu— 
glei mit dem eigentlihen Grundton harmonische Obertöne, 
d. i. foldye, deren Schwingungszahl ſich ohne Reft durch die des 
Grundtond theilen läßt, empfinden laffen, erregen einen höheren 
Grad von Luſt, wie died z. B. bei der menſchlichen Stimme der 
Fall ift. Diefe werden daher von der Kunft befonderö bevor» 
zugt, wie diefe überhaupt dasjenige zu ihren Zweden in Dienit 
nahm, was die Eigenichaft Luſt zu erregen befitt. 


(549) 


8 


Dieſes Material bedurfte aber beftimmter Ordnung und 
Begrenzung: Zonftufen und Tonfolgen mußten feitgejeßt werben. 
Diefe Arbeit wurde jchon früh begonnen und ed war vor allem 
das kunftfinnige Volk der Griechen, welches ein durchgebildetes 
Tonſyſtem jhuf, das feine Fortentwidelung ebenjo bei den Hei- 
den und Muhammedanern ded Ditend wie bei den Chriften des 
Weſtens fand. Auf ihm bafirt, das Produkt derArbeit vieler Fahr: 
hunderte, unjer modernes Tonſyſtem. In den Stufen deſſelben 
unterjchied das Dhr jchon früh confonirende und diffonirende Snter- 
valle, ein Unterjchied, welcher durch das Verhältniß der Schwin⸗ 
gungäzahlen begründet wurde. Schon die Griechen legten der Haupt- 
ftimme conjonirende Töne ald Begleitung unter. So entitand der 
Akkord, und zwar zunädft der Dreiflang. Weitere Akkorde 
wurden gefunden, ald das Ohr ſich an das Rauhe der Difjonanz 
zu gewöhnen begann, ja im demjelben ein Mittel fand, durch 
den Gegenſatz die Conſonanz deſto fräftiger hervotreten zu 
laſſen. Jeder Afford hat ein beſtimmtes Gepräge, welches be- 
dingt ift durch Zahl und Lage der Töne, fowie durdy die Weite 
der zwilchen den einzelnen Tönen liegenden Stufen. Dadurch 
macht der eine Afford den Eindrud des Vollen, ein andrer den 
des Leeren; der eine wird und dunfel erjcheinen, der andere hell. 
Wieder andere Eindrüde werden hervorgerufen, je nachdem ein 
Alkkord in fich abgeichloffen ift oder nody der Ergänzung bedarf, 
wie died 3.8. beim Septimenafford der Fall ift. Bei der in dem 
Zone erkannten Beziehung auf unfer Gefühl werden wir anneh- 
men müfjen, dab in dem Zufammenflang der Zöne dem Ge 
fühle eine gewifje Grunditimmung, wenngleich nody in unbe= 
ftimmterer Färbung, zugeführt werde. Zur Scyattirung derjelben 
trägt außerdem die Klangfarbe wejentlih bei. Da Ton und 
Farbe, wie oben bemerkt, auf gleicher Stufe der Sinnedempfin- 
dung ftehn, fo iſt die Beziehung zwiſchen beiden jehr eng. 
Wenn ed auch verfehlt ift, die einzelnen Klangfarben beftimmten 


Sarbentönen gegenüberzuftellen, wie man 3. B. den Ton ber 
(550) 


9 





Schalmey dem Gelb, den der Flöte dem Himmelblau, der Oboe 
dem Violett verglichen hat, ſo macht doch jeder für Muſik Be— 
anlagte an ſich die Erfahrung, daß er mit einzelnen Klangarten 
unwillkürlich die Vorſtellung irgend einer Farbe verbindet 
Welche Farbe die vorgeftellte fei, ift dabei weniger von Bedeu- 
tung; Dagegen wird der Grad ber Helligfeit oder des Dunkels 
einen Ähnlichen Einfluß auf die Stimmung zu üben nidyt ver- 
fehlen, wie dies in der Natur bei dem Licht der Sonne oder 
des Mondes der Fall ift. 

Ein Material, wie wir ed gefchildert, kann jeiner Natur 
nach nicht als ein räumliches Neben-, jondern muß als ein zeit: 
liches Nacheinander zu Tage treten. Es erjcyeint daher in Be— 
wegung. Der Bewegung wohnt aber gleidy dem Xone eine 
elementare Kraft inne, welde mit phufiiher Gewalt erregend 
und antreibend wirft. Wir erfahren dies, wo fie, abgezogen 
vom Zone, als bloßes Geräuſch auftritt. So regen ſich beim 
Schall der Trommel unjere Füße unwillkürlich zum Marjchiren, 
und Naturvölfer werden durdy das Gerafjel des Tamburin und 
das Geflapper der Kaftagnetten unmwideritehlich zum Zanze hin» 
gezogen. Es beruht died auf der Mitbewegung unjerer Nerven. 
So oft nämlid ein Nerv in Erregungdzuftand gejeßt ift, ſchwin— 
gen, je nach der Stärfe der Erregung, eine oder mehrere andere 
Gruppen von Nerven mit und treiben dazu an, die der Erregung 
zu Grunde liegende Bewegung mitzumahen. Während bie 
Sage vom Orpheus, der durdy jeinen Gejang die wilden Thiere 
gezwungen haben foll ihm zu folgen, die Macht des Tones poe- 
tiſch verfinnbildlicht, vergegenwärtigt und dad Märchen von der 
Zauberflöte, weldye alle Hörer zum Tanzen treibt, dieje elemen- 
tare Macht der Bewegung 

Durdy die Bewegung kommt Wechſel in die Gehördempfin- 
dungen, welche bei öfterer Wiederholung eintönig werden wür— 
den. Audy in die Bewegung bringt der Geift feiner Natur nad) 
bald Ordnung und Gefegmäßigfeit. Länge muß mit Kürze, - 


(551) 


10 


Hebung mit Senkung abwedieln, und indem der Vorftellungs- 
lauf durch folhen Wechſel von Förderung und Hemmung befriedigt 
wird, hat er das Streben, die gewonnene Vorftellung zu wieders 
holen. So entfteht der Rhythmus, welcher jchon an ſich ein ſolches 
Luftgefühl im Gefolge bat, dab wir beftrebt find, ſelbſt aus vers 
worrenen Geräufchen, wie dem Gerajjel der Räder und dem Klirren 
der Fenfterjcheiben, einen joldhen heraudzuhören, ein Umftand, wel- 
cher bei einem Mozart Beranlaffung wurde, dab er Kompofi- 
tionen beim Fahren im Wagen zu entwerfen liebte. 

Diejer Elemente bemächtigt fih nun der Geift, um mit 
ordnendem Sinn aud Gliedeın und Gruppen ein Ganzes zu 
bilden. Das Wohlgefallen, weldyes derjelbe bei diejer Arbeit 
findet, gründet fich nicht allein auf das ſchon vermöge der Ele- 
mente erregte Luftgefühl, jondern es ift die Einheit in der 
Mannichfaltigfeit, welche diefe Art von Wirkung übt. Einheit 
in der Mannichfaltigfeit ift aber Schönheit, und die Luft, welche 
an derjelben empfunden wird, mithin eine äfthetiiche. So ent» 
Ipringt denn aud jenen Elementen auf ſolchem Wege der Seele ded 
erften Künftlerd das erfte Kunftwerf der Tonkunſt, welches wir, 
da ed im Gejange zur Geltung fommt, das Lied nennen müfjen. 
Indem jo die Phantafie auf dieſem Gebiete zum erften Male 
die Schwingen regte, idealifirte fie zunädhit nur das, was, in 
der Natur ded Materiald begründet, in der elementaren Vers 
werthung defjelben bereits vorgeprägt war, und verlieh ihm eine 
fünftleriijhe Form. Wie der Sprechende durch Modulation der 
Stimme, durch jchnellere oder langjamere Aufeinanderfolge der 
Laute die Art der Erregung feines Innern fundgiebt, jo gab 
und giebt der Sänger des Liedes durch Tonfolge und Tonbe— 
wegung jeinem Luft: und Leidgefühl einen feiner Stufe ent» 
Iprechenden fünftlerifchen Ausdrud. So iſt das Lied in feiner 
einfachiten Geftalt innerhalb der Kunjt gewiſſermaßen dafjelbe, 
was innerhalb der Sprache die erfte, interjeftionale, Sprachſtufe 


war. 
(552) 


— 111 

Weitere Bahnen ſchlug die Kunſt ein, als der Menſch die 
tönende Fähigkeit des Rohrs, die klingende der geſpannten Saite 
kennen gelernt hatte. Zwar übertrug er anfangs die Weiſen 
des Gejangs auf das Inftrument, wie died z. B. bei dem grie= 
chiſchen Nomos der Fall war, oder er begleitete den Gefang da— 
mit!); bald aber trat das Inſtrument jelbftändig auf. Damit 
entfernte fi) die Kunft etwas von ihrem Ausgangspunkt: der 
Ausdrud innerer Erregung trat zurüd und die Kunft richtete 
fi) mehr auf Schönheit der Tonbewegung. Da aber Bewegung 
nit nur in der Zeit, jondern audy im Raume erſcheint, io 
reichte die Mufik bald einer Schweiterfunit die Hand, der Or— 
cheſtik, und wir erbliden fie ſchon früh im Dienfte ſchwärmen— 
der Mänaden, dem bachantiichen Zuge voraneilend und ihren 
Zanzichritt regelnd. So entjtand die zweite Urform der Mufif, 
die TZanzform. 

Aus dem Liede und dem Tanze haben fi) im Laufe der 
Jahrhunderte die mannigfaltigen Formen der Kunft bherausent- 
widelt, deren wir uns heute bedienen. Sie find aud) gewiſſer— 
mahen die Prototypen, welde die beiden Seiten muſikaliſcher 
Wirkung deutlich erfennen lajjen. Im dem einen herrſcht mehr 
die Tendenz auf Wahrheit ded Ausdruds, in dem andern wiegt 
die auf Schönheit der Bewegung vor, während die einzelnen 
Kunftwerfe je nad) der Abficht und der Individualität des Künftlerd 
diejer oder jener Seite ſich zuneigen. 

Sowohl in der ftufenweilen Drdnung der Töne wie in der 
Zerlegung der Bewegung in gleichmäßige Abſchnitte und der 
ebenmäßigen Gruppirung der einzelnen mufifalifchen Glieder 
zeigt die Kunft ein Streben nady Maß und Verhältniß. Dies 
bat ihr den Ausſpruch Leibnizens eingetragen, fie jei eine Art von 
Arithmetil. Zu einer ſolchen wird fie vor allem in den ftren- 
geren Formen des Kanond, der Fuge. Hier kann fie jogar zu 
einem Gegenitande blos flügelnden Verſtandes werden und das 
durdy aus dem Bereich der Kunft heraustreten?). Auf der an- 


(553) 


deren Seite gewinnt fie aber eine enge Beziehung zu einer der 
Künfte des Raums, der Architeftur, die ein Hegel darum auch 
eine gefrorne Muſik, genannt hat. Beide haben für ihre For- 
men fein Naturvorbild, jondern erzeugen dieje frei aus der 
Phantafie; die Tonreihen und Tongruppen entſprechen gewiſſer— 
maßen den Linien und Flächen deö Raums; Ebenmak und 
Symmetrie ift der Charakter beider. Diejen ardhiteftonifchen 
Charakter wird die Mufif nie ganz verlieren, audy da nicht, wo 
Wahrheit ded Ausdruds Hauptabficht des fchaffenden Künftlers 
ift. Während die Baufunft in ihren Verhältniſſen auch prafti- 
chen Zweden dienftbar gemacht werden muß, haben diemufifalifchen 
nur die Tendenz zur Schönheit, ja dieje ardhiteftoniihe Schön. 
beit ift jo wejentlihe Grundbedingung diejer Kunft, dab die 
Mufil, wo diejelbe zu Gunften anderer Zwede hintangeſetzt 
wird, geradezu aufhört, Mufif zu fein und zu bloßer Scyall- 
wirkung, mit nachahmendem Charakter herabfinft. Hieraus er- 
Härt ed fi, dab moderne Nefthetifer meinen Fonnten, mit der 
Auffaffung dieſer architektoniſchen Schönheit ſchon Kern und 
Mejen der Kunft getroffen zu haben. 

Jedes Werk der jchönen Architektur trägt ein ihm eigen- 
thümliched Gepräge. Säulenordnung, Pfeilerftellung, Art der 
Bögen ıc. beftimmen jeinen Charakter, der uns bald als ernft, 
bald als heiter, ald frei oder gedrückt, leicht oder jchwer, pracht— 
voll oder zierlich u. ſ. f. erſcheinen kann. Derjelbe bleibt aber nicht 
der finnlichen Vorftellung allein eigen, ſondern der Geift jeßt 
ihn — und das ift ja tief in feinem Wejen begründet — mit 
unjerem innerften Denfen und Fühlen in Beziehung. So fommt 
die finnliche Erſcheinung dazu, etwas Geiftiged, eine Idee aus— 
zudrüden, und wir erbliden in den Werfen der Architektur da- 
ber bald andadytövolle Erhebung des Menjdyen zu Gott, bald 
innige Hingabe an etwas Hohes uud Edled, bald Vergänglich- 
feit des Irdiſchen u. a. m. ausgeſprochen. Eine ſolche Auf: 


fafjung fann allerdings ald ſymboliſch bezeichnet werden — und 
(554) 


13 


,— — — 


in gewiſſem Sinne iſt jede Kunſt ſymboliſch — aber die Idee 
iſt nicht willkürlich in das Sinnliche hineingetragen, wie dies 
z. B. bei der Palme in der Hand des Siegers und der Straußen⸗ 
feder bei den ägyptiſchen Todtenrichtern der Fall ift, fondern 
fie lebt in demjelben, wie der Geift in den Zügen des Gefichts. 
So ift ed denn auch mit dem mufifalifcheäfthetiichen Kunftwerf. 
Die erhabenen Dreiflangsverhältniffe der Paleftrina’ichen Im: 
properien, die edlen Stimmlinien eined Durante'ihen Magni— 
ficat, die reiche Ornamentik in den Fugen eined Joh. Seb. 
Bad — fie können und in ihrem ardhiteftoniichen Gepräge 
eine Idee zu verkörpern jcheinen, ähnlich einem gothiſchen Dome 
oder einem griechiichen Tempel. 

Aber jo groß auch dieje Analogien mit der Architektur jein 
mögen, die Wirkung der Mufik ift troß alledem eine ſpezifiſch 
verjchiedene: die arditeftoniiche Schönheit derjelben iſt feine 
ruhende, jondern eine bewegte; fie verkörpert fich nicht in einem 
ſtarr im Raume beharrenden, fondern wecyjelvoll in der Zeit 
vorüberrauijchenden Material. Wir müffen Moment für Mo» 
ment durdeilen, ehe wir zum Ganzen und damit zur vollen 
Freude an der architektoniſchen Schönheit auffteigen, während 
bei einem Kunſtwerk der wirklichen Architektur ed der Eindrud 
ded Ganzen ift, der zunächſt auf und wirft und wir erſt jpäter 
zu den einzelnen Theilen jteigen. Dadurch wird aber die Wir- 
fung der Mufif abhängiger von der Eigenart ded Materials, 
als died bei der entiprechenden Kunft des Raumes der Fall ift; 
ed bleibt mithin auch troß des Vorwiegens des Charakters 
ardhiteftoniicher Schönheit die Beziehung auf unjer Gefühl be» 
ftehn, die wir den Tönen und deren Bewegung im Allgemeinen 
zufprechen mußten. Die äjthetiiche Luft verbindet ſich mit der 
durch die Töne jelbjt erwedten; Sinnliches und Geiftiges wirkt 
vereint, um einen Cindrud hervorzurufen, der von dem mit 


bloßer Anjhauung verknüpften weit verjchieden ift, und ed ent: 
(555) 


14 


Ipringt aus ſolchen Elementen eine angenehme Miichung des 
Gefühle, die wir Stimmung nennen. 

Stimmung werden wir mithin der mufifaliihen Schönheit 
als ſpezifiſch eigenthümlich zuſprechen müſſen und fie auch da 
entdecken, wo nicht, wie bei der Urform des Liedes, Ausdruck 
innerer Erregung Hauptabſicht des Künſtlers iſt. | 

Die Stimmung wohnt dem Tonwerf unmittelbar inne: 
fie wirft fompatbhijchy und wird von Jedem mitempfunden, der 
jeine Seele den Tönen offen hält und fie nicht eigenfinnig den 
andringenden Cindrüden verſchließt. Sie tritt in den Grund: 
formen ald Luft oder Unluft auf d. h. ald Förderung oder 
Hemmung unjered Seins im Allgemeinen; fie erlaubt aber 
mannigfaltige Scattirungen, die durch Tonhöhe, Zonfarbe, 
Zonjtärfe, Bejonderheit des Zuſammenklangs und Art der Ton« 
bewegung bedingt werden. Gie ift ebenjo gut Produft der 
Ihaffenden Phantafie des Künſtlers wie die architeftoniiche 
Schönheit und ift von derjelben nicht zu trennen. Unjer Geift, 
weldyer durch die Schönheit des Kunſtwerks gefeflelt gehalten 
wird, begleitet unbewußt diejed anjchauende Genieen mit jenen 
Strömungen, ohne nothwendig fidy mit andern Vorftellungen 
als den rein mufifaliichen verbinden oder mit unjerem geſamm— 
ten übrigen Seelenleben in Beziehung jegen zu brauchen. Die 
Stimmung ift alfo nicht nothwendig der Inhalt des Kunftwerfs. 
Man Fann in diefer Beziehung von einem Gehalt eines Ton» 
werf3 reden und dieſelbe nicht unpafjend mit dem Duft der 
Blume oder der anregenden Kraft ded Weins vergleichen. 

Ein nicht unbeträchtliher Theil der Inftrumentalmufif Jo— 
jeph Haydn’s trägt diejen Charafter. Haydn war ed, der die alte 
noch unaudgebildete Form der Sonate weiter entwidelte, fie auf 
das Quartett und das DOrchefter übertrug und fie geiftig belebte. 
Freie Bewegung der Töne, ungebundened Spiel der mufifalifchen 
Phantafie bejhäftigen in den Schöpfungen diefer Art den Hörer 
vorwiegend, mährend die Stimmung, mie fie einem heitern, 

(556) 


15 


harmloſen Gemüth eigen zu fein pflegt, in denfelben ald Grund- 
ton wohlthuend von und empfunden wird. Aber nicht jelten 
verleiht er, jchon indem er liedmäßige Weifen einflicht, der 
Schönheit feiner Tonbewegung eine engere Beziehung auf unfere 
Seele und giebt vermöge diejer den Strömungen und Regungen 
derjelben einen tieferen entjprechenden Ausdruck; ja vielfach tritt 
letzterer ſo in den Vordergrund, daß er ſogar als der eigentliche 
Kern, als der Inhalt der Vorſtellung, gefaßt werden muß. So 
iſt denn in ſeinen Schöpfungen häufig Frohſinn und Heiterkeit 
nicht nur Grundſtimmung, ſondern es tritt uns ein wechſelvolles 
Spiel munterer Laune, neckiſchen Scherzes, ungebundener Aus— 
gelaſſenheit, drolligen Humors, gemiſcht mit ſanfter Rührung, 
entgegen, welches unſere Vorſtellung ganz füllt. Und in ſo 
ſprechenden Zügen tritt dieſer Inhalt uns vor die Seele, daß 
wir ſogar von einer Wahrheit und Natürlichkeit des Ausdrucks 
in Bezug auf denſelben reden können. Die ſchöne Form er— 
ſcheint uns alsdann als eine edle Sprache, in der ein köſtlicher 
Inhalt niedergelegt iſt, wie goldene Aepfel in ſilbernen Schalen. 
Damit wendet fid) die Mufif auch auf höherer Stufe ihrem 
Ausgangspunkt wieder zu, der älteſten Sprachſtufe, der Inter— 
jektionaljprache, die fie gewiſſermaßen idealifirt. 

Liegt ed nun in der Abficht des fchaffenden Künftlers, die 
Vorſtellung des Hörerd durdy feine Tongeftaltungen in ganz be: 
ftimmte Bahnen zu leiten, fo bedarf er hierzu noch anderer 
Mittel ald der bloßen Stimmung, weldye der Subjektivität in 
Hinfiht auf die begleitenden Borftellungen breiten Raum läßt. 
Und feine Kunſt giebt ihm allerdings einige an die Hand. 

Zunädhft können dieſe ganz äußerlich fein und auf Sitten 
und Gewohnheiten der Menſchen beruhen. So fünnen uns 
z. B. durdy das Waldhorn Vorftellungen vom Sägerleben, durch 
die Trompete ſolche vom Soldatenleben erwedt werden; fo tritt 
und beim Klange der Orgel das Bild einer andächtigen Ge- 


(557) 





meinde vor die Seele, während der Pojaunenton an das jüngfte 
Gericht erinnert. 

Aber auch aus dem Weſen der Kunft felber ergeben fidh 
Mittel, durdy welche der Vorftellung eine beftimmtere Richtung 
gegeben werden fann. 

Mil die Plaftik, eine Kunft ded Raumes, welche die äußere 
Erſcheinung künſtleriſch nachbildet, Bewegung darftellen, io 
muß fie ſich eined Zeitmoments derjelben bemädhtigen und diefen 
im Raum firiren. Will die Poeſie, eine Kunit der Zeit, eine 
BVorftellung von jener, die dem Raum angehört, geben, jo wählt 
fie einen bejonderd hervorftehenden Faktor, durch welcdyen jie 
das Bild ded Ganzen vor die Phantafie führt. Aehnlich muß 
die Mufif, die ja auch eine Kunft der Zeit ift, in gleichem Falle 
verfahren. Als jolcher Faktor der äußeren Erjcheinung wird fie 
vor Allem den wählen, den fie vorzugsweije mit derjelben ge— 
mein bat. Dies ift aber die Bewegung. 

Der ſchaffende Künftler, welcher in diefer Weije vermöge 
jeiner Kunft Vorjtellungen erweden will, übt eine ähnliche Thä— 
tigfeit aus, wie wir fie bei den erſten Schöpfern und Bildnern 
der Sprache wahrnehmen. Audy ihre Thätigfeit ift eine fünfte 
leriſche und richtet fi auf Nachbildung der Natur in dem ges 
gebenen Yautmaterial. Die Nachbildung war zunäcft eine 
Nahahmung der im Klange fidy verwirklichenden Bewegung. 
Sp entitand die nächſte Sprachſtufe nach jener interjeftionalen, 
die wir oben erwähnt haben — die onomatopoetijche.?) Wer 
ift aber wohl geeigneter all das nadyzuahmen, was in der Na— 
tur Elingt, tönt, raufcht und braujet, ald der Tonfünftler? Frei» 
lid hat man gerade dieje Art von Nachahmung oft hart tadeln 
zu müfjen geglaubt und fie ald der Kunft unmwürdig gebrand» 
markt. Allerdings liegt die Gefahr unfünftleriicher Nachbildung 
bei Nahahmung von Tönen der Natur, wie Donner, Sturm, 
Thierftimmen und Aehnlichem jehr nah; legte dody ein Drgel- 


virtuoje über die Kalten des Pedals ſeines Inſtruments eine 
(558) 


— 

Leiſte, um durch den Zuſammenklang ſämmtlicher Töne ein 
donnerähnliches Geräuſch hervorbringen zu können, und zeigen 
doch die rollenden Mühlen- und Spinnräder, die Spieluhren 
u. a., denen wir in unſrer modernen Pianofortemuſik be— 
gegnen, wie leicht ſolche ſogenannte Tonmalerei zur Spielerei 
berabfinfen kann. Aber das Recht alle Klänge der Natur künſt— 
lerifch umzugeftalten und fie für die Zmwede der Kunft zu ver- 
werthen wird ſich die Mufif nimmermehr nehmen lafjen, und 
in wie genialer Weije died geichehen kann, das zeigt vor Allem 
Beethovens Paftoral-Symphonie, in der unjere Phantafie vom 
janften Murmeln ded Baches durch Regen und Gemitterjchauer 
bindurdhgeführt wird bis zur allmählihen Beruhigung der aufs 
geregten Elemente bei Elarer heiterer Bläue des Himmels. Aller— 
dings ift ed nicht die rohe Natur, die und in diejem unerreich— 
ten Kunftwerf entgegentritt, ſondern es ift die Natur, wie fie 
fih im Gemüth ded Künftlerö wiederjpiegelt; jelbft die Stim- 
men der Vögel*) find nicht nur „mufitaliiche Gitate?, wie man 
dergleichen wohl genannt hat, fondern fie find ein Widerhall 
des Eindrudd, den fie auf unfere Seele gemacht haben. Das 
Eine leuchtet aber aus jolhem Beiipiel ein, dal die Mufif die 
Fähigkeit hat, unjere Phantafie neben den durd die zu Grunde 
liegenden Stimmungen hervorgerufenen Bildern auch mit ganz 
beftimmten Vorſtellungen zu bejchäftigen. 

Unter den Naturtönen, die durh Nachahmung in Mufif 
wiedergegeben werden fönnen, befinden ſich auch, wie ed daß 
Beiipiel Beethovens zeigt, die Stimmen der Thiere. Man 
fönnte glauben, daß diejelben mit Ausnahme der wenigen Fälle, 
wo fie, wie bei dem oben angeführten, der idylliihen Stimmung 
dienen, für komiſche Wirkungen aufgeipart bleiben müßten. Und 
doch zeigt gerade bier ein Beiipiel, wie die Kumft ſich jelbft 
diefe niederen Töne der Natur dienitbar machen könne. Es ift 
dies der Hahnenfchrei bei der Verleugnung Petri. Eine Nach— 
ahmung deſſelben findet ſich in beiden Paſſionsmuſiken Bady'e. 


Xxvin. 4292. 2 (559) 


18 


Mad ein joldher Künftler feinen Tönen einbildet, kann doch nicht 
als dem Weſen der Kunſt wideriprechend angeſehen werden. 
Menn wir aber jehen, dab hier nicht die Stimmung es ift, 
welche dieſe Fünftlerifch ftylifirte Nachahmung in der Seele des 
Künftlerd hervorgerufen hat, jo dürfen wir wohl ſchließen, daß 
die Kunft ſich bier einer Art von Spradye bedient, durdy welche 
fie der Phantafie die Richtung auf einen ganz beftimmten Vor— 
gang geben will. Und dab troß aller Schulregeln audy die 
ftrengere Kunft unferer Tage derartige Mittel nidyt ganz von der 
Hand weift, daß zeigt der nach dieſer Eeite hin gewiß vorfichtige 
Friedrich Kiel, der bei der Deflamation der betreffenden Evan: 
gelienftelle in jeinem Chriſtus und mwenigftend durdy eine Triole 
jenen jelben Borgang zu erfennen giebt. 

Sehr nahe mit einander verwandt find die Eindrüde, 
welche durch den Gehörfinn, und die, welche durch den Gefichts- 
finn hervorgerufen werden. Es ift daher natürlih, daß Die 
Vorftellung leicht von einem zum andern übergeht. Dies zeigt 
Ihon die Sprade. In Worten wie „flattern“, „flackern“ ift 
ed nicht mehr der Zautgehalt, an welchen fi die Vorftellung 
beftet, jondern die den Laut begleitende und dem Geſichtsfinn 
fidy darftellende finnlidye Erfcheinung. Wir ftelen und bei dem 
einen Worte dad Wehen eined Tuches, bei dem anderen das Hin- 
und Herzüngeln eined Lichte® vor. Ganz ähnlich kann nun 
durch Tonbewegung eine mit dem Gefichte wahrnehmbare finn- 
lihe Erſcheinung, ſei ed, daß fie mit einem Schalle verfnüpft 
fei, oder daß fie, ohne dem Ohr einen Eindrud zu binterlaffen, 
ſich vollziehe, nachgeahmt und demgemäß auch wiedererfannt und 
aufgefaßt werden. Mit folder Art von Nachahmung ift die 
Haffiiche Kunft gar nicht jo jparfam, wie man wohl gemeint bat. 
Es möge hierfür ein höchſt interefjantes Beifpiel ald Beleg die— 
nen, wo zwei der größten Zonjeßer fi auf demjelben Wege 
begegnet find. Es erſcheint nämlich ein und derjelbe Vorgang, 
die Geißelung Chrifti, ſowohl in Bach's Matthäus: Paffion wie 


(560) 


19 

in Händel’8 Meſſias. Und da ift ed denn gewiß fein Zufall, 
wenn beide Meifter ein und denjelben fcharf ausgeprägten Rhyth— 
mud wählen, um und dadurdy den Vorgang zu veranfchaulichen. 
Ganz ähnlich wie bei der eben angeführten Sprachericheinung 
liegt auch hier Gehör: und Gefichtdeindrud fo nahe bei einander, 
daß der eine durch den anderen mit einer gewifjen Nothwendig— 
feit hervorgerufen wird, ein Umftand, weldyer die beiden Meifter 
ihr Tonbild nad dieſer Seite hin analog geitalten ließ. Won 
einer Wirfung vermöge der erwedten Stimmung fann bier 
faum die Rede jein: ed ijt vielmehr der Nefler des finnlichen 
Eindruds in der Seele des Künftlerd, weldyer in folder Nach— 
ahmung niedergelegt ift, gerade jo wie dies bei der Sprachbildung 
diefer Stufe der Fall war. Wir haben es aljo in der That 
bier mit einer Tonſprache zu thun, deren ſich zu bedienen die 
großen Meijter fein Bedenken trugen. Ja faſt bis zu einer 
Art Plaftif ſchritten fie nach diefer Richtung bisweilen vor. 
So läßt 3. B. Bad) in der berühmten Arie der Matthäus-Paffion 
„Buß und Reu“ zu den Worten: „Daß die Tropfen meiner 
Zähren“ ein Staccato zweier Flöten in abwärts geridhteter Be- 
wegung ertönen, welches mit finnlicher Xebendigfeit ein Bild 
jened Vorgangs in der Seele des Hörerd hervorruft. Auch ift 
ed jogar nicht nothwendig, daß der Vorgang jelbft wirklich ficht- 
bar jei; der Künjtler will nur das durch die Sprache erwedte 
finnlihe Bild in jeiner Weife wiedergeben. So wählt Händel 
in dem herrlichen Chor des Samſon: „zum glanzerfüllten Ster- 
nenzelt ſchwingt feine Seele ſich empor“ eine aufwärts fteigende 
Sclangenbewegung, um dem Hörer dad Bild von dem Auf: 
ihwung der Seele zu Gott vor das geiftige Auge zu ftellen, 
und — erreicht jeine Abficht. 

Konnten wir nad) dem Vorigen in joldyer bildenden Thätig— 
feit des Tonfünftlerd eine Art von Sprachſchöpfung erbliden, jo 
dürfen wir auch ferner nody annehmen, daß die Wege des Ton— 


fünftlerd und des Sprachbildners noch nicht jobald fi trennen, 
2* (561) 


20 


fondern jomeit mit einander gehen, ald ed das Wejen der Kunit 
irgend erlaubt. Die Sprache jchreitet nämlich von jener onomato= 
poetijhen Stufe, die wir im Vorigen zum Vergleich herange- 
zogen haben, fort zu der dritten Sprachſtufe, der jogenannten 
charafterifirenden. Died gejchieht, indem fie mit den nachahmen⸗ 
den Lauten nicht die Vorſtellung ded Vorgangs jchlechthin zu— 
führt, jondern in diefen den Ausgangspunft defjelben erkennen 
läßt, deſſen charakteriftiihes Merkmal fie nahahmt, wie z. B. 
in unjerer heutigen Sprache unter den Worten Rabe und Krähe 
wir und nicht mehr den Schrei diejer Vögel vorftellen, ſondern 
dieje Vögel ſelbſt. Auch in der Tonkunſt dürfen wir bei Nach— 
ahmung einer irgendweldhem Gegenftande eigenthümlichen Be- 
wegung eine ähnliche charakterifirnde Thätigfeit erbliden, eine 
Thätigfeit, die in audgiebigitem Maße von derjelben geübt wird. 
Aber jo nahe auch die Thätigkeit ded Tonkünſtlers und die 
ſchöpferiſche des Sprachbildners jidy hier berühren, jo weit wei— 
chen fie in weiterem Verlauf wieder von einander ab. Während 
nämlich die charafterifirenden Lautbilder der Sprache nady und 
nad) erftarren, um zu feiten Typen zu werden, welche ſtets eine 
und diejelbe Vorftellung hervorrufen, ift die Thätigfeit des Ton— 
fünftlerd nach diefer Richtung bin ftet3 im Fluß. Sie ift ein 
ftet3 ermeuted Spradybilden, während der Zuhörer jene nady- 
ſchaffende Receptivität in fünitleriihem Nachfühlen entgegen- 
bringt, wie fie auf niederer Stufe etwa der naive Menjd der 
Urzeit den charafterifirenden Lautbildern entgegenbrachte. 

Bon dergleichen Charakteriitifen find wohl die befannteiten 
die von Haydn in feiner Schöpfung angewandten. Hier erfennen 
wir die Sonne an ihrem Strahlenaufgang, den Mond an ſei— 
nem ftillen Wandel, die Sterne an ihrem Flimmern; hier glau— 
ben wir nicht nur den Löwen mit feinem Gebrüll zu hören, 
ſondern auch den gelenfigen Tiger, ja das zadige Geweih des 
Hirſches, das dieſer jtolz erhebt, zu erbliden, bis endlich die 


( 562) 


21 


Krone der Schöpfung, der Menſch, erfteht, deſſen aufrechten 
Gang wir zu ſchauen vermeinen. 

Wir haben in Bezug auf diefe Erſcheinungen den Ausdrud 
„Sharakfteriftit” gewählt. Gewöhnlich ſetzt man fie in die 
Klaffe der Tonmalerei, der man allenfalld mit mehr Recht jene 
idealifirten Nahahmungen von Naturtönen zumeijen dürfte. Es 
ift anzunehmen, dab dieſer Ausdrud, weldyer eine wirklich nach— 
bildende Thätigfeit in fich ſchließt, zu den vielen jchiefen Urteilen 
und Aufftellungen, denen man in Bezug auf fie begegnet, An: 
laß gegeben hat. Denn in Wahrheit malen oder auch nur 
zeichnen vermag die Mufif allerdings nicht; vermag dies doch, 
wie Leſſing in jeinem Laofoon ausführt, nicht einmal die Poefie, 
die ſich dod der Sprache mit den durch dieje gegebenen deut: 
lichen Borftellungen bedient. Im der Mufif aber fommt es 
gar nicht darauf an, wie die einzelnen Züge ded Bildes ſich ge— 
jtalten, (wenn dies der Fall wäre, dürften wir allerdings von 
einer malenden Thätigfeit reden) jondern daß überhaupt eine 
Borftellung des Gegenſtandes in und erwedt werde. Die nach— 
empfindende Phantafie ſoll beſchäftigt umd angeregt, nicht be— 
reichert und gejättigt werden. Es liegt wohl auf der Hand und 
darf ohne Weitereö eingeräumt werden, dab dieje Erjcyeinungen 
nicht den inneriten Kern der Kunft ausmachen ; auf der andern Seite 
aber darf audy, wenn, wie es bei Haydn gejdyieht, die gefammte 
Schöpfung an unferm inneren Auge vorüberzieht, nicht behauptet 
werden, dergleichen jei unberechtigt und überfchreite die der Kunft 
vermöge ihres Materials gejeßten Schranken. Es ift eine dich- 
tende Thätigkeit, welche der Tonfünftler hier ausübt, Feine ma- 
lende, wenn er die Strahlen, weldye die Sinnenwelt in jeine Seele 
wirft, in Töne ummwandelt, und die in der Phantafie durdy die 
Zoncharakteriftit hervorgerufenen Bilder find nicht ihrer jelbft 
wegen da, jondern anderer höherer Zwede willen. Es geſchieht 
daher nur im uneigentlihen Sinne, wenn man bei jolder Art 


Charakteriſtik von einer Zeichnung oder einem Gemälde inner: 
(563) 


22 


halb der Muſik ipriht. So ablehnend fidy audy eine moderne 
Richtung der Kunftfritif diefen Erfcheinungen gegenüber verhalten 
mag, die Kunft ſelbſt bannt fich nicht in die ihr von der Theorie 
porgejchriebenen Grenzen, ja ed fonnte nicht fehlen, daß mit 
alljeitig fortichreitender Entwidlung der Kunft auch diefe Seite 
derjelben immer mehr ausgebildet wurde. Insbeſondere hat 
Richard Wagner nach diefer Richtung bin die Ausdrudsfähig- 
feit der Muſik gewaltig erhöht. Wir führen nur ein Beijpiel 
an, weldes darum hohes Intereſſe gewährt, weil ed lediglich 
und allein Charafteriftif ift und fogar diefem Zwecke gegemüber 
den Wohllaut hintanſetzt. Es ift dies die Charakteriſtik des Höhlen- 
wurms Fafner in feinem Nibelungenring, deffen friechende, uns 
heimliche Bewegung und die in der tiefften Lage ſich winden- 
den ZTonfolgen erkennen laſſen. Es wäre eine unnüße Grille 
und hieße allen ‚Ergebniffen der Aefthetif hohnſprechen, wollte 
man behaupten, dergleichen jei unerlaubt, weil hier den Sinnen 
nicht durch Wohlklang geichmeichelt werde. 

Während wir in der Beethoven’ihen Paftorale ein ausge» 
führte Zonbild vor uns jahen, fanden wir in den zuleßt an« 
geführten Erſcheinungen mehr charafteriftiihe Striche und Züge, 
die in den Nahmen von Tonwerfen reicyerer Geltaltung einge: 
webt find. Indeſſen find die modernen Künftler beitrebt geweien, 
auch diefe Art von Charafteriftift durdy Tonbewegung weiter 
auszubilden und audzugeftalten, und dürfen wir hier nur an 
Hector Berlioz, Franz Liſzt, ſowie Erſcheinungen wie „die Wüſte“ 
von Felicien David erinnern. Im ausgeführten Tonzeichnungen 
tritt nun aber zu dem weſentlich dharafterifirenden Element, der 
Bewegung, auf welche hauptſächlich unfre Ausführungen fich be— 
zogen, noch ein zweiter wichtiger Faktor hinzu: die Zonfarbe. 
Wir haben im Dbigen bereit3 der Wirkung derjelben auf die 
Art der Stimmung ded Hörerd gedadht, ferner auch die enge 
Verwandtichaft, die, wie zwiichen allen Gehör- und Gefichts- 
eindrüden, jo ganz beſonders zwiſchen Ton und Farbe jtattfindet, 


(564) 


2 

hervorgehoben. Vermöge diefer engen Beziehung gejchieht es, 
daß die eine Borftellung mit einer gewiljen Nothwendigfeit auch 
die andere hervorruft — und jo gelangen wir vermöge der Ton» 
färbung zur Vorftellung von Farbentönen, wodurd die Möglich» 
feit eined Zongemäldes im engeren Sinne gegeben ift. Beide 
Elemente, Tonbewegung und Tonfärbung, wirken vereint, um 
ebenſowohl nuſre Phantafie zu beichäftigen wie unfer Gefühl 
anzuregen. Umfjomehr nähert fich aber bier die Mufif der Mas 
lerei, alö bei beiden eine Wirkung gemeinfam ift, die Stim: 
mung. Wie nämlich eine Landſchaft vermöge der Art ihrer Be- 
leuchtung eine eigenartige Stimmung in und hervorruft, eine 
Stimmung, die wir vermöge eines natürlich>piychiichen Prozefies 
in der Landſchaft felbft enthalten glauben, und wie der Maler 
gerade dieje Seite durch jeine Farben der Landſchaft abzuge- 
winnen jucht, jo wird auch ein Tongemälde das Mittel der 
Stimmung benugen, um und ein analoges Bild vor unjer gei— 
ftiged Auge zu ftellen, wie dad war, welches den Anlaß zu der 
analogen Stimmung gab. Diejer Vorgang in unjerer Seele 
beruht nicht auf einer Analogie unjered Verftandes, jondern ed 
it eine unbemwußte Verknüpfung der vorftellenden und empfin= 
denden Phantafie. Auf derjelben beruht die Fähigfert der Mufik 
die Seele deö Hörerd auch mit lamdichaftlihen Bildern zu 
beichäftigen. Auf diefem Grunde vermag ein Mendeldjohn und 
ein Gemälde der Hebriden zu entwerfen und ein Nield-Gade 
und die Wunder nordijcher Natur vorzuzaubern. 

Wie aber, abgeiehen von jeder Tommalerei im engeren Sinne, 
jene DObjeftöcharafteriftit in den Dienjt genommen werden fann, 
um die eigenthümlicye Wirkung eines jeden ſchönen mufifalifchen 
Kunftwerfs, die Stimmung, zu verftärfen, indem fie ihr einen 
Hintergrund giebt und fie dadurch ſchärfer jchattirt, dafür ift 
eind der interejlanteften Beiſpiele Franz Schubert’s Winterreife, 
Wir haben es hier mit einer ausgejprochen lyriſchen Tondichtung 


zu thun, deren Hauptabficht doch nur, wie dies bei der lyriſchen 
(565) 


4 





Dichtkunft im Allgemeinen der Fall, Erregung des Gefühls, jein 
fann, und zwar ift hier durchgehend eine ſchwermüthige Stim— 
mung, die fich bis zur jchmerzlichften Zerrifjenheit fteigert. Da 
treten num in überaus fpredyender Charafteriftif vor die Phan- 
tafie Bilder wie: die Wetterfahne, das Irrlicht, die Nebenjonnen, 
der Leiermann, ja der verichneite Wegweifer, und leiten die 
Stimmung des Gefühld mitteld diefer Vorftelungen in enger 
begrenzte Bahnen. Die Freude an dem Schönen der Töne alö 
jolhem ſcheint zurüdzutreten hinter die leidvolle Luft, weldye 
unjere empfindende Phantafie befchäftigt: wir erbliden hierin 
den Kern des Tonftüds, den eigentlichen Inhalt. Allerdings 
ift es nur der zerjeßende Verſtand, welcher beides von einander 
trennt; denn in Wahrheit ift das eine nur mit dem andern und 
durch das andere: Form und Inhalt decken fid. 

Indefjen, wie wenig audy im einzelnen folhe Wirkungen 
abgeleugnet werden können, im Ganzen glaubt man fie dody der 
Muſik ald ſolcher abfpredien und dem begleitenden Text oder 
der Vereinigung beider auf die Rechnung jegen, oder, wo auch 
dies nicht pabt, dem deutenden Titel ded Tonwerks zufchreiben 
zu müfjen. #reilid) muB zugegeben werden, daß manche — nicht 
jede — Charakteriſtik erft das rechte Licht erhält durdy irgend 
einen Fingerzeig, und wenn er auch nody jo gering wäre. Denn 
die Mufif, melde nicht zeichnet und malt, ftellt ja fein Kunft- 
werk für dad Auge hin. Aber dab ein Inhalt nicht vorhanden 
jei, weil wir erft einen Schlüffel gebraudyen, um und denjelben 
aufzufchließen, daß eine Spradye darum feine Sprache fei, weil 
eine gewiſſe Kenntniß erforderlich iſt, um diejelbe zu verftehen, 
wird dod im Ernſt Niemand behaupten wollen. Und ift es 
etwa bei den "bildenden Künften, welche doch die Gegenftände 
jelber vor Augen ftellen, anders? Bedürfen nicht auch fie be- 
hufs des rechten Verftändnifjed der Deutung? So hoheitsvoll 
auch ein Phidiad das Haupt eines ernften Mannes, jo jchmerz- 


voll auch ein Prariteles die Geftalt einer trauernden Frau bilden 
(566) 


25 


möge, ihre Kunftwerke würden dody nichts weiter jein ald Ab- 
bilder menſchlicher Formen, wenn wir diejelben nicht in Ueber: 
einftimmung mit anderen Borftellungen deuteten und den 
einen ald den Kopf des Zeud, die andere als die Geltalt der 
Niobe anſprächen. Daß zum rechten Verſtändniß die Voraus» 
ſetzung einer Kenntniß der betreffenden Stelle der Homeriſchen 
Ilias einerjeitd und der bezüglidyen Sage oder der Daritellung 
des Dvid andererjeitö gehöre, deſſen werden wir und gar nicht 
mehr bewußt. So ſehr liegt ed in unferem gemeinfamen Denfen 
und Fühlen, die Gegenitände der jinnlichen Erſcheinung nad) 
unferen Gejammtvorftellungen zu deuten, daß z.B. ein Maler 
wie Raphael und in feiner Madonna della Sedia ein ſchönes 
Florentiner Weib vor Augen führen und doch vorausjegen fann, 
daß wir in ihr die Gotteömutter felbit erbliden. Sa, wir dürfen 
noch weiter gehn und behaupten, daß jelbit einzelne Gedichte 
ohne einen Hinweid, wie ihn die Weberjchrift giebt, nicht ver— 
ftändlidy jein würden. Dies ift bei fo mandyen Klopftod’ichen, 
unter den Goethe’ichen z.B. bei Mahomed's Gejang und Pro- 
metheus’ der Fall.) Mebr als bier geichieht, beaniprucht die 
Muſik aber audy nicht, und es ift gar nidyt nöthig an die jog. 
Programmmufif zu denken, bei weldyer jede einzelne Intention 
des ſchaffenden Künjtlerd im Programm niedergelegt ift. Ein 
Fingerzeig zur rleichterung des Verſtändniſſes genügt, umd 
diefer ift in der Mufif gewiß ebenio bereditigt, wie bei der 
bildenden Kunft. 

Mag nun auch immerhin dies nicht diejenige Seite der 
Kunft fein, wo ihre Wirfung fidy unmittelbar äußert und in 
die Augen jpringt, dad Eine fteht nad) dem Vorigen unzweifel- 
haft feft, dab die Muſik Vorftellungen nicht nur vermöge einer 
allgemeinen Stimmung erwedt, jondern auch durch andere Mittel 
ganz beftimmte Bilder hervorzurufen vermag. 


Dafjelbe ift in gewiljem Sinne audy da der Fall, wo der 
(567) 


26 


eigentliche Gegenftand der Charakteriftif nicht ein äußerer, jon- 
dern ein innerer ift. 

Gehen wir zur näheren Beleuchtung dieſes wichigen und 
interefjanten Punktes von der Zanzform aus! 

Tempo und Zaftart, Hebung und Senkung, Gontinuität 
und Unterbrehung beftimmen den Charakter der in Tönen auf: 
tretenden Bewegung. Die Tonbewegung entſpricht der Körper: 
bewegung, die eine gehende, laufende, fpringende, fich ſchlängelnde 
oder ſich im Kreife drehende fein kann. Körperbewegung wird 
aber nicht allein durch die Zwede und Abfihten des Imdivi- 
duums beitimmt, jondern dad eigentliche Gepräge verleiht ihnen 
Temperament und Gharaftereigenthümlichkeit des Cinzelnen. 
Indem dieje Eigenfhaft der Bewegung im Tanze künſtleriſche 
Verwerthung erhält, jpricht fich in der Tanzform auf fünftleriiche 
Meije ein Stüd Charafterd aus, ſpeciell in der Zanzform der 
einzelnen WVölfer der Typus ded Nationaldarafterd. Mit der 
Borftellung eines ſolchen Charakters ift aber die Vorftellung des 
Befigerd unmittelbar gegeben. So fann durch die Art der 
Zanzform oder durch Tonſtücke, die ſich denfjelben nähern, und 
ein Bild vorgeführt werden, und es tritt und 3.8. das Bild 
des Spaniers mit feiner wilden fanatifchen Glut vor die Seele 
bei jeinem Bolero und feinem Fandango, das des Süd-Stalie- 
ners mit jeiner Zeichtlebigfeit bei dem jpringenden Saltarello und 
dem MWirbeltanz der Zarantella; wir erfennen den chevalereöfen 
Polen in feiner Mazurfa und jeiner Polacca, und weld ein 
Feuer in den Adern ded Magyaren-Volkes rollt, das hat und 
erit jüngft Sohannes Brahms in jeinen „Ungariſchen Tänzen“ 
offenbart. 

Died Gebiet der Charakteriſtik, wie eö im der Tanzform 
vorgeprägt ilt, hat nun aber die Kunft unendlich erweitert umd 
iſt dadurch die Muſik geradezu zu einer Kunft des Ausdruds 
geworden, wie ihr Weien Richard Wagner, ſelbſt einer ber 
größten Charafteriitifer, auffaßt. 


(568) 


27 

Die Abjicht eines ſolchen mufifalifchen Abbildes ift aber 
freilid) noch eine andere ald die der vorhergefchilderten Art von 
Charakteriſtik. Läßt und z. B. Haydn die einzelnen finnlichen 
‚Gegenftände der Schöpfung an unjerem inneren Auge vorüber: 
ziehn, fo giebt und Wagner Gharafterbilder von Helden, die ſich 
allerdings, wie bei Siegfried, an Namen anſchließen; in Wahr- 
heit find es aber Typen, welche die allgemeinen Züge ded Cha- 
rafterd und vor die Seele ftellen. Es ift nicht das einzelne 
Bild, welches vor die Seele gerufen werden fol, fondern das 
demjelben zu Grunde liegende allgemeine. Und fo kann ung 
denn die Kunft Charafterbilder geben ebenſowohl des Muthvollen 
wie des Zaghaften, ded Spröden wie des Hingebenden, des 
Schlichten und des Bizarren, des Zornigen und des Ganft- 
mütbigen. Je enger fich dieje Darftelungen an die Körper- 
bewegung als ſolche anknüpfen, deſto näher werden ſie natur— 
gemäß der Tanzform liegen. So iſt das Capriccio, das Scherzo 
gewijjermaßen nur eine erweiterte Zanzform. Se tiefer aber 
die Charafteriftif in das innere Wejen des Charakters eindringt, 
defto mehr nähert fie fi dem eigentlichen Gentrum der Kunft. 

Was fann denn nun aber bei einer Kunft, welche die 
Dinge der Außenwelt mehr verhüllt zeigt ald wirklich erjcheinen 
läßt, ihre Formen aber aus dem Innern jchöpft und mit ihrem 
feinen, förperlofen Material eine jo innige Beziehung auf unfer 
Gefühl gewinnt, wie wir dies oben gejehen haben, ald das 
eigentliche Gentrum betrachtet werden? Doc offenbar nur das 
Leben der menjchlihen Seele jelbit. Ihre ftimmungsvollen 
Klänge werden ein Spiegel innerer Stimmungen, ihre Bewe— 
gungsformen ein Abbild innerer Bewegungen jein. 

Snnered und Aeußeres ftehen in innigiter Wechielbeziehung. 
Wir ſahen, wie ſchon auf der allerunteriten Stufe ein jeder 
Reiz, welcher empfunden wurde, ſich in eine Bewegung umjeßte. 
Um wieviel mehr muß bei höherer geiftiger und moralijder 


Entwidelung eine jede Erregung in Bewegung ihren Ausdrud 
(569) 


28 


finden. Died tritt fchon bei der im Verkehr der Menjchen 
unter fi geübten Körperbewegung hervor. Neigung und 
Abneigung, leidenjchaftliched Verlangen und energiſcher Ab- 
ſcheu einerjeit8 und Wünſchen, Begehren, Wollen andrerjeits 
findet in der Körperbewegung, der Geberde, ebenfomwohl einen 
Ausdrud, wie diefe wiederum auf unjere innern Erregungen 
einen Rückſchluß erlaubt. So entfteht ſchon auf diefer niedern 
Stufe der Bemwegungdform eine Art von Sprade, die ald 
unmittelbarer Ausdrud ded Innern von einem jeden Men- 
ihren gebraudyt wird, der nidyt durdy die bittere Schule des 
Lebend zu dem traurigen Standpunkt gebracht ift, feine innern 
Negungen zu veriteden. Zritt hierzu die Bewegung unjrer Ge— 
ſichtsmuskeln, dad Minenfpiel, jo kann diefe Ausdrudsform jo: 
gar zu einer Kunft werden. Died ijt die Pantomimif, eine 
Kunft, mweldye heut freilich in unjern Balletö nur einer über- 
jättigten Schauluft dient, von deren eigenthümlicher Kraft, wie 
fie dad griechiſche Alterthum Fannte, fich aber immerhin nody 
derjenige eine Vorftellung machen fann, der etwa auf einem 
italienijchen Volkstheater eine Pantomime hat darftellen jehn.?) 

Zönende Bewegung ift aber nicht allein Muſik, ſondern 
ſchon die Nede, abgejehen von ihrem Inhalte. Audy dem Ton 
der Rede wohnt, ähnlidy wie der Körperbewegung, jchon an 
fib eine gewiffe Bedeutung bei, da er nidyt nur ein Abbild, 
fondern der unmittelbare, nicht erft durch beftimmte Borftellung 
vermittelte, Ausdrud innerer Erregung ift. Kinder, welche die 
Wortſprache noch nicht verftehn, fafjen den Sinn ded Gejagten 
häufig nur aus dem Ton, in dem gejprodyen wird, auf. Der 
Erfolg des Redners aber richtet fidy keineswegs immer nad) der 
Tiefe der Gedanken oder der Kraft ded Ausdruds, fondern 
häufig nach dem Zon, in weldhem der Redner jeine Gedanken 
vorzutragen weiß, wie denn nicht felten bei großen Volksver— 
fammlungen jelbft foldhe, die von den Worten des Redners 


nichts verftehn, lediglich durdy den Eindrud, den fie durdy die 
(570) 


29 


Art ded Vortragd gewinnen, zu Entjchlüffen getrieben werden. 
Alle Erregungen des Innern, feien died Affekte wie Angft, Zorn, 
oder Aeußerungen des Begehrend, wie Frage, Wunſch, Befehl, 
haben ihren eigenen, unverfennbaren Tonfall, der, wenigftend 
dem allgemeinen Inhalte nach, durchaus verftändlich ift. 

Dieje Art tönender Bewegung wird nun durch die Mufik, 
die ja ſelbſt tönende Bewegung ift, mit ihren Mitteln auf eine 
höhere Stufe ded Ausdrucks erhoben und gewiljermaßen ideali« 
fir. So werden ihre tönenden Formen der Ausdrud von Af— 
fekten und den durch dieje hervorgerufenen Willensäußerungen; 
jo werden ihre Kunſtwerke Abbilder jeeliicher Strömungen und 
innerer Entwidelungen. Injofern nun die Bewegungen des 
Innern nachgeahmt werden, fönnte von einem Naturvorbild auch 
bei der Mufif die Rede jein, welches im eigentlichen Sinne bei 
ihr vermißt wird; freilich it der Gegenftand der Nachahmung 
nicht der Mafrofosmos, jondern der Mikrokosmos. Allerdings 
ift ed aber zunächſt ein künſtleriſches Nachahmen, weldyed der Ton» 
fünftler hier in Anwendung bringt, wie es der bildende Künft- 
ler den Formen der äußeren Natur gegenüber übt. Schnellig- 
feit, Stärke, Richtung, Dauer der Tonbewegung u. a. geben in 
der That die Grunditrihe ab für Abbilder der Erſcheinungs— 
formen innerer Bewegung. Sinnlidyes und Sittliches entjprechen 
fidy überhaupt ja jchon von vornherein jo jehr, daß die Ueber- 
tragung von einem auf dad amdere und eim ganz vertrauter 
Geiſtesproceß ift. Sehen wir died jchon bei den Anfängen 
der Sprache ſich bethätigen, jo ift dies noch vielmehr beim 
Dichter bemerkbar, der häufig beides mit einander vertaujcht und 
ebenjo z. B. von einem Sturm der Leidenjchaften wie von einem 
zornigen Meere redet. So kommen wir dazu in dem Stürmi- 
chen der Bewegung den Sturm der Leidenfchaft, in der Stärfe 
derjelben etwa heroiſche Entjchließung, in dem Hinauf der Ton- 
folge einen Aufihwung, ın dem Hinab ein VBerzagen, in dem 
Wechſel beider unruhiged Schwanfen, in der Unterbrechung der» 


(571) 


jelben gejpannte Erwartung u. ä. zu erbliden. Auf diefem 
Wege wird dem Künftler bei der Feinheit und Beweglichkeit 
des ZTonmateriald jowie dem Farbenreihthum defjelben die 
Möglichkeit gegeben, uns durdy alle Stufen ſeeliſcher Erregung, 
wie bangen Zweifel, angftvolle Erwartung, brennendes Verlangen 
bis zum Entzüden bejeligender Erfüllung u. ä. hindurchzuführen 
und jo ein ganzed Geelengemälde zu entwerfen. Ebenſo wird 
er, dem Redeton entjprechend, Frage und Abweiſung, rührende 
Bitte wie energiſchen Befehl und andere Aeußerungen unjres 
Wollens nadyzuahmen vermögen. 

In diefem Sinne eines Abbildes würde die Mufif zunächſt 
nur auf der Stufe jener Charafteriftif jtehen, von der wir zus 
legt ausgingen; in Wahrheit aber greift ihre Wirkung unendlich 
tiefer. Es findet nämlich derjelbe Vorgang ftatt, wie wir ihn 
oben bei der mitteld deö Tones gegebenen Stimmung eintreten 
ſahen: auch der Affeft wirft ſympathiſch und wird mitempfunden. 
Dafjelbe kann jchon bei dem wirklichen Affeft beobachtet werden, 
der vermöge der begleitenden Bewegungen, ſowohl der tonlojen 
als inöbefondere der tönenden, den MWahrnehmenden fich mitzu- 
theilen pflegt ®), eine Erfahrung, die wir im gewöhnlichen Leben 
3. B. bei den Affeften des Zornd und ded Schredens ſich be= 
ftätigen jehn fünnen. Noch mehr tritt dies aber bei dem nachge- 
ahmten Affeft ein. Während nämlidy ein jeder wirkliche Affekt 
ſchon an ſich etwas Ergögended hat, bleibt bei dem nachgeahmten 
der Schmerz, den eine jede wirkliche leidenjchaftliche Erregung 
unausbleiblidy zur Folge bat, fern, jo daß wir und gern dem 
ergößenden Eindrude hingeben. Wird aber die Nahahmung des 
Affekts vermittelft der Muſik vollzogen, jo werden wir und um 
jo williger dem Affefte überlaffen, als demjelben bereits die 
Thür geöffnet it durch die dem Tone und ihrer Bewegung im» 
manente Stimmung, aus der bei jtärferer Erregung der nur 
graduell, nicht ſpezifiſch, unterſchiedene Affekt erwädhlt. 


Hier erreicht die Muſik das Höchſte, was ihr in ihrer An— 
(572) 


lage vermöge des ihr eigenen Materiald beſchieden ijt, und wir 
werden nicht Anftand zu nehmen brauchen, gerade in diefem 
Ausdrud des GSeelenlebend die eigenthümlichite Wirkung und 
jomit den innerften Kern diefer Kunſt zu erbliden. Und diefe 
Auffaſſung mufifaliicher Wirkung ift nicht etwa erft, wie man 
wohl gemeint hat, ein Produkt unjerer modernen fentimentali- 
ſchen Periode, fondern fie iſt uralt: nannte doch fchon vor 4000 
Jahren ein chinefiicher Kaifer die Mufif den Ausddrud der Ge: 
fühle der Seele, vermöge deren der Künftler dad Menjchenherz 
mit den Himmelögeiftern auf's engſte verbinde. Arijtoteles ?) 
aber, in dejjen feinem Geifte fi) die Anfchauungen des Griechen- 
thums am flarjten abjpiegelten, jchreibt der Mufif ein und dies 
jelbe Wirkung zu wie der Tragödie, jene Rührung und fittliche 
Reinigung, die wir vermöge ded Durchlebens von Affekten in 
und jelbft erfahren. 

Haben nun auch vielleicht große Komponiften in erfter 
Linie nad) der Vollendung jener architeftoniichen Schönheit ge 
ftrebt, die wir als mwejentlihe Grundbedingung aller echt mufi- 
falifchen Wirkung auffaßten, jo haben fie doch diefen Kern 
ihres Schaffens niemald verleugnet; unter ihnen war es aber 
Beethoven, der den Inhalt der Muſik nach diefer Richtung bin 
gewaltig vertiefte und große Seelengemälde gejchaffen hat, die, 
ohne mit dem Wort verbunden oder von ihm begleitet zu fein 
an ſich verftändlicy find. Die auögeführteften find naturgemäß 
jeine Symphonien, unter denen in diefer Beziehung die in C 
und die in Dsmoll hervorragen; aber nicht minder ift dafjelbe 
der Fall in den Fleineren Tonſchöpfungen der Sonaten. Greifen 
wir aus der großen Mafje derjelben eine heraus, die vielleicht 
mehr ald andere dieſe Sprache des Seelenlebens aufweilt. Es 
ift die D-moll op. 31n0.2, ein buntbewegted Bild dramatiichen 
Lebens. Wir werden hier in einen heftigen Kampf hineingeführt; 
ein Augenblid der Raft geht dem Beginn derjelben im Kunjtwerf 


vorher, aus dem wir deutlich ein Zaudern des Sinnens und Ueber: 
(573) 


32 


denfend herauderfennen. Doch der Entihluß ift gefaßt, er tft 
nur mit Aufbietung aller fittlichen Kraft durdyguführen. Unrubig 
wogt und grollt ed; hin und wieder mijcht ſich ein Zug ſchmerz— 
licher Wemutbh hinein und läßt und die Spannung ded Innern 
erfennen. Da treten im zweiten Theile ded erften Satzes drei» 
mal jene fragenden Töne wieder auf, die wir zu Anfang ver- 
nahmen, unterbrodyen durch kurzen, erneuerten Kampf. Dann 
erfolgt die Antwort auf jene Frage an das eigne Gelbft in 
einem Recitativ. Es ift eine Stimme, jchmerzvoll zwar, doch 
voll Ergebung in das Schidjal. Nod einmal muß ſich der 
Kampf erneuen; mit gefteigerter Hiße entbrennt er, bis er in 
dumpfem Grollen verjftummt. Im 2. Sat rollt fid) im Gegen- 
jaß bierzu ein Bild tiefen Seelenfriedend auf — ein Refultat 
des Eeelenfampfed. Der Friede ift gepaart mit einer Sehnjudht 
nad etwas Unfahbarem und der Ahnung von etwas Unend— 
lihem, bis im 3. Sat dad erneute jchmerzvolle Ringen in ho— 
heitövoller Nefignation jeinen Abſchluß findet. 

Dod wer wollte eö unternehmen, den Inhalt joldher Ton 
Ihöpfungen ausreichend in Worte zu fleiden; beginnt doch da, 
wo das Wort aufhört, recht eigentlich erjt die Sphäre der 
Mufit. Außerdem befitt das Gefühl einen großen Reichthum 
und eine unendlicdye Vieljeitigfeit der Bewegungen, weldye mit 
dem Worte nicht darzuftellen find, jo dab ein Forſcher 10) aus— 
ſprechen fonnte, was Gefühl fei, erfahre man in Wahrheit erft 
durch die Kunftform, die es fich in der Mufif giebt. Endlidy kommt 
hinzu, daß der im derjelben beſchloſſene Inhalt fich auch noch 
im einzelnen Individuum fubjektiv färbt. Die durch die Töne 
vermittelten Stimmungen und Affefte gleichen nämlich jolchen, 
die wir bei bejtimmten Erlebnifjen in uns erfahren haben oder 
bei der Erinnerung an dieje und ähnliche in uns zu erfahren 
pflegen. Da ed nun in der Natur des Geiftes liegt, nichts be— 
ziehungslos zu lafjen, alled vielmehr mit unferm gejammten 


Seiftesleben in Kontakt zu bringen, jo leuchtet ein, dab wir 
(574) 


— 
beide mit einander in Verbindung ſetzen und diejenige Vor— 
ſtellung vor unſere Seele treten laſſen, die von derſelben 
Stimmung oder demſelben Affekte begleitet war. Auf dieſe in— 
direkte Weiſe kommt die Muſik dazu, auch beſtimmtere Vor— 
ſtellungen zu erwecken, Vorſtellungen, die fruilich zunächſt nur 
individuell ſind, inſofern ſie ſich an das Einzelleben knüpfen, 
die andererſeits aber ihre Grundlage in der Gleichartigkeit und 
generellen Uebereinſtimmung alles menſchlichen Fühlens haben 
und darum einen Kern enthalten, der allen einzelnen Vor— 
ſtellungen gemeinſam iſt. An die Stelle dieſer rein individuellen 
begleitenden Vorſtellungen können nun, da ſie nicht mit Nothwen— 
digkeit aus dem Kunſtwerk ſelbſt ſich erzeugen, auch andere treten. 
Dies geſchieht vermöge eines Fingerzeigs, den der Künſtler ſeinem 
Werke beigiebt, oder vermöge eines untergelegten Textes. Das 
Verhältniß dieſer Vorſtellungen zu den im Kunſtwerk ſelbſt ent— 
haltenen wird am deutlichſten bei einem — nicht durchkompo— 
nirten — Liede erkannt. Hier wird eine jede Strophe nach ein 
und derſelben Melodie geſungen und ſcheint die Muſik bei ein— 
heitlichem Charakter des Textes zu allen zu paſſen, weil die all- 
gemeinen Borftellungen, welche durch die in den Tönen ruhenden 
Stimmungen oder Affefte erwedt werden, in den einzelnen bed 
Zerted enthalten find. Im diefer Beziehung hat man mohl die 
Mufif mit einer Algebra verglichen, deren Formeln ja auch un- 
zählige Werthe unter ficy begreifen, während in der Anwendung 
immer nur ein einziger auftritt. Es ift begreiflih, dab man 
für die Mufif gern ausgeführte poetiiche Terte wählt; der In— 
halt der Mufift wird aber oft treffender durch ein Wort oder 
einen furzen Gedanken audgedrüdt, wie dies die Kirchenmufif 
mit ihren Hallelujah, Hofianna und den jchlichten Bibelmorten 
ihrer Motetten zeigt. Der Inhalt der Muſik ift alfo genau 
genommen nicht derjelbe wie der des begleitenden Textwortes; 
es lafjen ſich demnach auch mehrere Texte zu ein und demjelben 
ZTonjtüd denken. Aus diefem Grunde ift die Muſik audy ohne 


XxVIII. 429. 3 (575) 


st 


den begleitenden Tert verftändlich, ja dieſer ſcheint und nicht ein» 
mal unumgänglich nothmwendig zu fein; dienten doc) auf der 
elementarften Stufe bedeutungdloje Laute ald Grundlage des 
Gefanged, wie wir ihnen jebt noch hie und da in unjeren Volks— 
liedern begegnen.!!) Aber wir find einmal gewöhnt die Stimme 
zum Sprechen zu gebrauchen; daher geftalten fich dieje Laute, aus 
denen ja audy die Anfänge der Sprache hervorgegangen waren, 
bald zu finnvollen Worten; man gemwöhnte ſich die beiden 
Schweſtern, Gejang und Sprache, nicht zu trennen. Go fielen 
in alter Zeit Poefie und Muſik zufammen: die Natur jchien, 
wie Leſſing urtheilt, beide zu ein und derjelben Kunft beftimmt 
zu haben. 

Die Beziehung auf unſer Seelenleben, welche wir ber 
Mufit im Allgemeinen zugejchrieben haben, ift nun die engfte in 
der Vokalmuſik. Abgejehen davon, daß das begleitende Wort 
direft auf dafjelbe Bezug nehmen kann, ift doch die Art und 
Weiſe, in der die Seele ihr innerftes Leben hier fund giebt, jo 
unmittelbar wie möglih. Der Menſch jelbft, nicht ein fremdes 
Werkzeug, bringt das innerlich Erlebte unmittelbar aus der 
Friihe der Empfindung heraus zum Ausdrud, und auch das 
Merk eined fremden Tonjegerd nimmt der Sänger erft in fein 
innerfted Sein auf, um ed dann ald fein vollftändiges geiftiges 
Eigentbum wiederzugeben. So ift der Sänger zugleid der 
Priefter, der die heilige Flamme des Altard ſchürt, und der 
Prophet, der die Geſichte und DOffenbarungen fündet. Iſt nun 
dieje Beziehung bei der Inftrumentalmufif auch nicht von glei» 
cher Unmittelbarkeit, jo ift fie doch im Laufe der Zeiten eine 
immer engere geworden. Der Fortjchritt der Technik ift hier 
Hand in Hand gegangen mit den Intentionen großer Künftler, 
weldye, wie wir dies bei Beethoven jehen, die Sphäre derſelben 
nad diejer Richtung hin immer mehr erweitert haben. 

Der Zwed der Kunft ift geiftiger Genuß — Bergnügen, 


wie es Schiller nennt. In den Dienft defjelben werden jämmt- 
(576) 


35 





liche Geiſtes- und Seelenthätigfeiten gezogen; ed kann das Ber: 
gnügen alfo ebenjowohl aus dem Berftande wie aus der Phantafie 
oder aud dem Gemüth ftammen. Audy bei der Mufik ift dies 
wie bei jeder anderen Kunft der Fall. Schließen wir dad Ver— 
gnügen des reinen Beritanded, wo ed ijolirt von dem übrigen 
Seelenthätigkeiten hervortritt, wie ed 3. B. durch Löſung ver- 
widelter kanoniſcher oder Fontrapunftiftifher Aufgaben herbeige- 
führt werden fann, ald der Kunft eigentlidy fremd aus, jo bleibt 
ald Duelle des Vergnügend die Phantafie in Verbindung ent: 
weder mit dem Verſtande oder mit dem Gemüthe. In erfterem 
Falle können wir die Mufik eine Schöne Kunft (im engeren 
Sinne) nennen, in leßterem eine rührende und eine erhabene. 

Eine ſchöne Kunft ift die Mufil, und zwar werden wir 
fie in diefem prägnanten Sinne da jo nennen müfjen, wo jene 
architektonische Formvollendung, welche nady unjern Ausführungen 
die Mufif nirgend und niemals verleugnen darf, Hauptabſicht 
des jchaffenden Künftlers ift. Alle anderen Zwede treten hier 
zurüd gegenüber dem einen, der Darftellung der Schönheit, die 
ja allerdings Selbſtzweck fein fann, jo daß das Wohlgefallen 
des Hörerd fi) an diefe ald die vornehmlidyfte Duelle fnüpft. 
Ein nicht unbeträchtlicher Theil der Initrumentalmufif dürfte 
hierher zu rechnen jein. Sofern es die ſchöne Natur ift, die 
fih in der fchönen Form ald Reflex der Seele ded Künitlers 
ausipricht, müffen wir die Mufif als jchöne Kunft in diejem 
Sinne der naiven Gattung zumweifen. Ald naive Kunft wirkt fie 
auch in jener Charakteriftif, deren Weſen wir oben erörtert 
haben. Da fie aber wicht bis zu vollendeter finnlicher Lebendig- 
feit in der Darftellung von Gegenftändlidyem vordringen Fann, 
fo werden wir von einem mufifalifhen Epos im eigentlichen 
Sinne nicht reden können. In dem, was man dem Texte ge— 
mäß ein Epos nennen dürfte, wie e8 beim Dratorium der Fall 
ift, wird die mufifaliihe Deflamation zwar mitteld der Text— 


worte eine epiihe Handlung zu geben vermögen, der mufis 
3° (577) 


kaliſche Hauptantheil wird aber von dem Charakter ded Epos 
gewaltig abweichen und der Lyrik oder der Dramatik zufallen. 

Eine rührende Kunft ift die Mufik, wo es ihr darauf 
anfommt, vermöge der Töne Stimmungen zu erweden, jo daß 
diefe die eigentliche Duelle des Vergnügens bilden. Dies ijt be- 
jonderd bei den Eleineren Gattungen der Vokalmuſik, wie dem 
Liede, und dem fich anlehnenden der Inftrumentalmufif, wie den 
Elegieen, Notturnod, vielen Adagiod unferer Symphonien und 
Sonaten u. ä. der Fall. Im dieſer Beziehung muß man die 
Mufif eine Lyrik nennen. 

Eine erhabene Kunft endlih ift die Muſik, wo ihre 
Hauptabjicht Erregung von Affeften ift. Hier ift ihr Wejen 
Dramatif. Muſik und Tragödie unterjcheiden fid) zwar injofern 
wejentlih von einander, als jene nur dad Allgemeine einer 
Handlung d. h. ihre innere Bewegung darzuitellen vermag, dieie 
aber an eine einzelne beftimmte Handlung anfnüpft. Aber auch 
bei der Tragödie ift der Zwed der Daritellung nicht die Handlung, 
wie fie fich wirklich begeben hat, jondern wie fie jein joll, nicht 
dad Zufällige, jondern das Nothwendige, unter allen Umftänden 
ſich gleich Bleibende — aljo ebenfalls etwas Allgemeines, daher 
find die Namen, melde den Trägern der Handlung beigelegt 
werden, nicht nothwendig durch den Zweck derjelben bedingt; 
wohl aber werden fie der gefchichtlichen Tradition oder dem 
Mythos entlehnt, um der Handlung größere Wahrfcheinlichkeit 
zu verleihen. Wenn diejed aber der Fall ift, jo kann mit dem— 
jelben Rechte der Zondichter den Seelenfampf, deſſen innerfte 
Seite er gleich dem dramatiichen daritellt, zeitlich und räumlich 
begrenzen, indem er ihn einer beftimmten Perjon zumeift 12) und 
fann auch ohne begleitenden Text eine ganze dramatijche Ent: 
widelung fich vollziehen laſſen. Dies iſt wohl faum irgends 
meifterhafter geihehn als in Beethoven's Goriolan-Duvertüre, 
welche und in jprechender Charafteriftit ebenjomohl die Bitten 


und Warnungen der den Helden beftürmenden Freunde und 
(578) 


37 


Blutöverwandten vernehmen, wie den Kampf der Seele des 
Helden jelbit in unirer eignen Seele miterleben läßt. 

Als erhabene Kunft wird die Muſik auch da gelten müffen, 
wo ihr Zwed weder Stimmung oder Affekt allein, jondern Ge- 
mütbhöerhebung ift. Dieje ift nämlich gewiljermahen Stimmung 
und Affekt zugleich, injofern das Gemüth einerjeitS bewegt wird, 
wie died beim Affefte der Fall ift, andererjeitö aber in dem Zu— 
ftande einer Stimmung verharrt, indem ed in einem höheren 
Allgemeinen aufgeht. Je weiter nun in der Muſik das Objekt 
ald Gegenitand der Darftellung zurüdtritt und an feiner Stelle 
das innere Leben ein Abbild findet, defto mehr wird ihre Spähre 
alled Unfichtbare, Ueberfinnliche, Unendliche umfafjen. Es wird 
daher Alles, wad nur geahnt werden fann oder in geheimniß- 
voller Weile fih uns offenbart, and am treffenditen vermöge 
der Mufif zur Erſcheinung gelangen. So ftellt und die Elfen- 
welt mit ihren Iuftigen Reigen und foboldartigem Spuf ein 
Felix Mendelsjohn vor das innere Auge; das nächtliche Graun, 
welches Mitternadyt im Walde webt, läßt Schattengeitalten vor 
unjrer Seele auftauchen in dem Freiſchütz Carl Maria v. Weber's 
und die Wunder des Gral enthüllt und Richard Wagner in feinem 
Lohengrin umd Parfifal. Bor allem aber erheben wir und auf 
den Schwingen andachtövoller Töne zu dem Unfichtbaren, Unend— 
lichen jelbit, zu Gott, um an den Stufen feinen Thrones ahnend 
zu jchauen, was fein ſterbliches Auge je erblidt hat. Auf jenem 
ahnungsvollen Schauen des Unendlichen beruht die Berwandt- 
ſchaft der Mufif mit der Religion, die ihr den Namen einer 
heiligen Kunft eintrug und geweihten Künftlern ihre Lebensauf- 
gabe ald einen Gotteödienit ericheinen ließ. 

Wenn wir jo im Vorigen die Kunft nad) den Duellen des 
Vergnügens zerlegt haben, jo ift wohl jelbitverftändlich Damit nicht 
gemeint, daß ein jedeö Kunſtwerk immer nur einer jener Klafjen 
zugehören könne. Es finden vielmehr vielfach Uebergänge von 
der einen zur andern ftatt; nur die Hauptabjicht defjelben iſt 


(579) 


33 


für die Zuweiſung entjcheidend. Das Eine geht aber aus diefem 
Ueberblid mit Deutlichfeit hervor, daß wir zwei Richtungen in 
der Tonkunſt unterjcheiden fünnen: die eine ftrebt nah Schön— 
beit, die andere nach Wahrheit des Ausdruds. Beide Rich: 
tungen, die hier vertreten find, laſſen fih aud in anderen 
Künften unterjcheiden. Die klaſſiſche Periode der griechifchen 
Plaftit hatte ald oberfted Gejeh die Schönheit, der die Wahr- 
heit des Ausdruds jogar ein Opfer bringen mußte, fo daß der 
antife Künftler den Ausdruck leidenjhaftlicher Erregung um eine 
Staffel herabſetzte, die heftigiten Affefte aber gar nicht aus— 
drüdte. Der Fund der Pergamener hat und gelehrt, dab auch 
die antife Kunft in ihrer jpäteren Entwidlung die Grenzen nad 
diefer Seite hin erheblich erweiterte. Der wahrhaft große 
Künftler wird num beide Seiten in fid) vereinigen und mög- 
lichjt ebenjo jhön wie wahr fein; doch wird immerhin eine der 
beiden Seiten je nad) der Individualität den Vorplatz einneh- 
men.. So iſt died bei Mozart, jo bei Beethoven der Fall. Bei 
Mozart, der die Schönheit in erfter Linie anftrebt, vollzieht ſich 
der leidenjchaftlihe Kampf nicht im Kunftwerf. Derfelbe ift be- 
reitd auögefämpft; wie heftig er aber gewejen, das läßt das un- 
ruhige Wogen der Tonwellen wohl erkennen. Bei Beethoven 
jedody, dem Wahrheit des Ausdrucks in erfter Linie fteht, liegt 
die ganze Seele ded Tonkünſtlers offen vor dem Hörer, jo daß 
diejer den Kampf dur alle Stadien und Grade hindurch— 
geleitet, bis er zuleßt dumpf grollend verftummt. 

So ift denn die Macht der Töne nicht auf ein enges Ge- 
biet bejchränft, und übt nicht allein als jchöned Spiel tönender 
Bewegung feinen Zauber, jondern fie ergreift da8 gefammte Geifteö- 
und Geelenleben und Fleidet ed in den Reiz ihrer eigenthüm: 
lihen Schönheit. Was der Tondichter zu ZTonbilddern formt, 
— wir bedienen und hier der Worte Otto Jahn's über Mozart — 
ift jein Leben, jein Scidjal. Er verklärt fein tiefed Leid fo, 
dab er im eigenen wie in fremden Herzen eine fittliche Reini» 

(580) 


39 


gung vollzieht. Er berührt jede Erſcheinung mit der Fadel des 
Genius, deren heller Zunfe jedem leuchtet, der feine Binde vor 
den Augen trägt und wandelt Alles, was feine Sinne gewahren, 
was jein Geiſt erfaßt, was jein Gemüth bewegt, in Mufif um. 


Anmerkungen. 


1) Daß dies jchon bei den Griechen mehritimmig geihah, ift eine 
wenig bekannte Thatjache. 

2) In ſolchem Falle jpredhen wir wohl von Augenmufif. Dieje 
Eigenschaft der Kunft wurde auch zu genialen Spielereien benußt, wie 
3. B. Joh. Seb. Bad eine Fuge auf die Buchſtaben feines Namens 
BACH fompmmirte, ein Kunftitüd, welches Rob. Schumann zur 
Feier einer Schönen, eines Frl. Abegg, nachahmte. 

3) Diefe Art jprachbildender Thätigfeit wird auch in der jpäteren 
Sprade fortgejeßt. Auch die gebildetfte Sprache hat ihre Onomato- 
poetifa. Vgl. Rollen, donnern, rafjeln, fnattern, Elirren u. a. 

4) Beethoven äußerte fih zu Schindler hierüber bei Beichreibung 
ſeines Aufenthalts in Heiligenftadt bei Wien im Sommer 1808, wo er, 
an dem Fleinen Bad mit Nußbäumen liegend, dem Gefang der Vögel 
gelaufcht und fomponirt habe: „Hier habe ich die Scene am Bach ge- 
jchrieben und die Goldammern da oben, die Wadıteln, Nachtigallen 
und Kudude ringsum haben mit fomponirt.* 

5) Es ift dies der pſychiſch jo wichtige Prozeß der Apperzeption, 
mitteld defjen wir überhaupt jede finnliche Erjcheinung unjerm jedes- 
maligen geiftigen Standpunft gemäß deuten. Wir find es, die in den 
charakteriſtiſchen Strichen eines Zeichner bald ein Haus, bald eine 
Kirche oder ſonſt etwas erfennen, in denen z. B. ein Mathematiker nur 
geometrifche Zeichnungen zu erbliden brauchte. Freilich find wir mit 
diefem fo natürlichen Prozeß von Jugend auf vertraut. Aber auch die 
Deutung muſikaliſcher Bewegungsformen liegt keineswegs jo weit abjeits 
von unferm gemeinjamen Vorjtellungslauf, daß fie fich nicht mit einer 
ähnlichen Mechanik vollzöge, wie wir es bort ftattfinden jehen. 

6) Auch ein jcherzhaftes Beiipiel dürfte hierhergehören. Heine fingt: 

Manchmal möcht ich faft verzagen, 
Und ich glaubt‘, ich trüg’ e& nie, 
Und ich hab’ es doch getragen, 
Aber fragt mich nur nicht wie. 
(581) 


40 


Der ſchalkhafte Dichter läßt die Ueberjchrift weg, und verführt uns jo 
an die furchtbarſten Liebesſchmerzen zu denken, die ihn gequält. In der 
That rührten die Schmerzen aber nur von engen Stiefeln, die der eitle 
Dichter während einer dreiftündigen Geſellſchaft auf den Füßen behalten 
hatte, ber. 

7) Das fi bier in glücklichſter Weije oft offenbarende Talent des 
italienifchen niederen Volkes, hat bei den Neapolitanern die Geberben- 
jprache erwachſen laffen, weldhe den Uebergang von unmittelbarem Ge- 
fühlsausdrud zu konventionellen Zeichen aufweift, alſo ein ähnliches Ber- 
hältniß zeigt, wie innerhalb der Wortſprache die charakteriſirende zur 
interjeftionalen Spradjitufe. 

8) Die pſychiſche Grundlage hierfür dürften wohl in einem Mit- 
ihwingen der Nerven nad) dem Geſetz der Mitbewegung zu ſuchen jein. 

9) Pol. VII. 

10) Biicher, Aefthetit III, 4. Er ſchließt daher, daß eigentlich ber 
Apparat diefer Kunft zu Hülfe zu nehmen jei, um das innere Leben des 
Gefühle, auch abgejehn von der Kunft, zu beleuchten. 

11) Bol. „Die Würzburger Glödlir. Schweizer, Tiroler und 
Steierifche Volkslieder find bejonders rei hierin. Rich. Wagner folgt 
diefem von der Natur ſelbſt gegebenen Fingerzeige durch Einführung 
von Naturlauten z.B im Geſang der Rheintöchter und der Walfüren. 

12) Bielleicht nirgend deutlicher als gerade hier tritt die Berechtigung 
des Tondichters, die wir oben ſchon unter Gegenüberftellung mit dem 
Verfahren der bildenden Kunft anerfannten, hervor, die Vorftellung des 
Hörers durch einen beigejegten Titel aus dem Bereich reinfter Subjefti« 
pität zu erheben, indem er fie auf ein bejtimmtes enger begrenztes 
Gebiet hinleitet. 


(552) 


Drud von Wehr. Unger Ab. Grimm) in Berlin, Schönebergerfir. 17a. 


Elementares Reben. 


3. Kollmann, 
Profeſſor in Bajel. 








Berlin SW., 1883. 


Berlag von Garl Habel. 


(C. 6. Yüderity'sche Derlagsbachhandlung.) 
33. Rilbelm-Strabe 33. 


Das Recht der Ueberſetzung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Mi der für die gefammte Biologie fundamentalen Ent» 
defung, daß der pflanzliche und thieriiche Organismus aus 
Zellen aufgebaut fei, haben die Studien über die Grundbes 
dingungen der Zebendvorgänge eine neue Richtung geno mmen 

Keine der naturmifjenihaftlihen Disciplinen konnte fich 
dem gewaltigen Anftoß entziehen, der mit diejer Entdedung 
verfnüpft war. So hat 3. B. die Medicin eine vollftändige 
Umwandlung ihrer früheren Anjchauungen über den Gib des 
Lebend und der Krankheit erfahren. Noch im Jahre 1853 lieh 
von Ringseis feine freilich ſchon mit Erfolg befämpften Thejen 
wieder druden, daß er in jeder Krankheit ein die phyſiologiſchen 
Kräfte befeindended, jelbititändiged Kraftwejen annehme. Der 
acute Verunreinigungsprozeß des Hippofrated, das „präter- 
naturale” des Galenud, der semen morbi, der microcosmus 
des Paraceljud, die „materies morbifica“ ded Sydenham 
ſollten nad feiner eigenen Ausſage fefter begründet durch 
jeine Lehre wiedererftehen. Unterdeffen hatten bahnbredhende 
Entdedungen gezeigt, daß das Leben eine Gefammtleiftung 
aller Theile if. Mit aller Beftimmtheit hatte namentlidy 
VBirhomw!) den weittragenden Sat ausgeſprochen, daß es nicht 
einen unbeftimmten Sit ded Lebens giebt, fondern daß ſich im 
jeder Zelle, das ift in den Clementartheilen, die Lebensprozeſſe 
abjpielen. Mit diejer Erfenntniß hatte man auch den jo lange 
gefuchten Si der Krankheit gefunden, nämlich in der veränderten 


xviIL 423. 17 (585) 


4 


Nun ift nichts mühevoller, ald gerade an dieſen Fleinften 
Theilen, fo lange fie nody in den Organismus der complicirten 
Thiere eingefügt find, Unterfuchungen über elementared Leben 
anzuftellen, und dennoch war gerade die genauefte Kenntniß 
ihres Baues, ihres Verhaltens gegen die Einflüffe der Ernährung, 
der Wärme, der Glektrizität vor allem unerläßlih. Da haben 
fi) nun Wefen gefunden, welche für dieje Studien von bejonderer 
Michtigkeit geworden find, an denen die Botanik wie die Zoo— 
logie gleichzeitig ihr höchftes Intereffe hatten, welche die Geologie 
überdied ald die eriten Zeugen der Vorgänge unferer Erdrinde 
bezeichnet hatte: Wejen von uralter Abftammung, und jo ein: 
fach gebaut, daß fie durchſichtig, ald Ganzes, der direkten Be: 
obachtung mit dem Mifrojfop feine bejonderen Schwierigfeiten 
entgegenftellen, anfpruchlos in ihren Lebensbedürfniſſen: ein 
Tropfen Süß- oder Salzwaſſer, je nach ihrer Herkunft, reicht 
ftundenlang aus, um fie in voller Gejundheit zu erhalten; leicht 
erreichbar, denn fie find in allen Gewäſſern zu finden, in dem 
Bergbach und in dem Torfmoor, am Ufer und in den Xiefen 
der Meere. Es find lebende Wejen, aus jener Abtheilung der 
nieberften Thierformen, welhe man ald Moneren bezeichnet, 
deren ganzer lebender Körper aud einem Klümpchen lebenden 
Eiweißſtoffes befteht. Ein weiterer Vorzug, der nidyt gering 
anzujclagen, befteht ferner darin, daß fie allen Beobachtern zu- 
gänglich find, denn zahllos find die Schaaren, weldye jeder 
Frühling in unjeren Breiten entftehen läht aus den Keimen 
der vorhergegangenen Generationen. Gerade darin liegt aber 
eine wejentlidye Bedingung für den Fortjchritt der Erfenntniß, 
daß dafjelbe Problem von vielen Forjchern gleichzeitig und an 
demjelben Gegenftand verfolgt werden könne. Denn „nur durch 
vieler Zeugen Mund“ wird bier die Wahrheit fund. Und über- 
dies muß jeder, wenn er auch nicht nach neuen Entdedungen 
ftrebt, jondern nur eine möglichft getreue Vorſtellung von der 
Organiſation lebender Weien erreichen will, die Gelegenheit zu 

(586) 


5 


eigener Anſchauung haben. Denn unſere Phantaſie iſt den 
Dingen felbſt gegenüber unendlich ohnmächtig, ſobald ſie die— 
ſelben im Geiſt nachzubilden, oder ſie, ohne erneute Prüfung 
und ohne unſere Sinneswerkzeuge, zu begreifen ſtrebt. Wem 
gelänge es, ſich das ewigfluthende und nimmerruhende Meer, 
oder die ſtarren Gebirge unſerer himmelanſtrebenden Alpen zu 
vergegenwärtigen mit der ganzen Fülle jener wechſelvollen 
Bilder, die ihr Anblid gewährt? Für und Erdenkinder ift eben 
nichts allgemeines faßbar, ald in den einzelnen Dingen und 
durch diejelben. Das Licht, die Farbe, irgend ein Stoff, jelbit 
die Ideen ded Schönen, Guten, Gerechten fünnen wir und nur 
in gewifjen Spezialifirungen denken, in der Form der concretem 
Ericheinung. Folgerecht giebt ed feine Weg zum Allgemeinen, 
ald denjenigen durdy) dad Einzelne. Die Ueberzeugung hiervon 
hat auf die ganze Unterrichtäömethode in den Naturmwifjenichaften 
den weitgreifendften Einfluß geübt. Unſere Laboratorien aller 
Art, chemiſche und phyſiologiſche, zoologiſche und botanijche 
baben die Aufgabe, vor Allem den Dingen mit unjern Sinnett 
näher zu treten, fie jelber fennen zu lernen. Diejelbe Methode 
muß jeder befolgen, der dem Problem des Lebens näher treten 
will, jomweit e8 fi in dem Thier- oder dem Pflanzenleib ab: 
ipielt. 

Seit einigen Sahren hat man elementares Leben in einer 
ganz bejonders eingehenden Weife gerade an den oben erwähnten 
wirbellojen Thieren und zwar an den am einfadhlten gebauten 
ftudirt, und eine Subſtanz genauer fennen gelernt, weldye den 
Namen Protoplagma erhalten hat, ein Wort, das dem Sinne 
nach mit „Urftoff des Lebens” überjeßt werden fan. Eine Reihe 
höchſt unerwarteter und auffallender Thatfachen wurde an dieſer 
lebendigen Subftanz entdedt, und die Verfolgung der an ihr 
bemerfbaren Phänomene hat eine ganze Litteratur hervorgerufen. 
Einige diefer Ergebniffe find von univerjeller Bedeutung, wenn 


man erwägt, dab das Protopladma geradezu als leberidige 
; (587) 


6 


Materie und entgegentritt und alle Lebenderjcheinungen an bad» 
jelbe gebunden find. Ueberall wo Leben eriftirt, in feinen aller- 
einfachften Aeußerungen, bis zu den complicirteften, da ift feine 
Anweſenheit erforderlich, und überall wo ſich Protopladma findet, 
da herrjcht Leben. Was in dem Innern der Zelle wirft und 
Ichafft, ift an dieſe Subſtanz gebunden, jeder Vorgang fteht mit 
ihr in direftem Zufammenhang. 

Die chemiſche Zufammenfegung diefer Subftanz iſt jo 
complicirt, wie die ded Eiweißes überhaupt?). Obwohl man 
aber weiß, daß fie vorzugsweiſe aus eiweißartigen Subftanzen 
befteht, jo ift die Beftimmung der einzelnen Stoffe doch noch 
nicht vollftändig möglich gemejen. Beſſer find einige phufikalifche 
Eigenjchaften erfannt. Das Protoplasma ift durchſichtig, nahe- 
zu farblos, etwas zähflüjfig, ähnlich dem Hühnereiweiß, und 
coagulirt auch wie diejed bei der Siedhitze, doc, ift ed nicht 
jo gleichartig, jondern meift von unendlich Heinen Körnchen 
durchfäet, die fich dunfel von der hellen Subftanz abheben. 
Noch vollftändiger ift das Bild, das anhaltende Beobachtung durch 
das Mikroſkop zu entwerfen vermochte. Die verjchiedenen Zu— 
ftände während der Ruhe und der Bewegung, während der 
Nahrungsaufnahme der Fortpflanzung, endlih die Einflüfie 
von chemifchen Agentien und von Licht, Wärme und Elek— 
trizität haben viele Aufichlüffe über dieje lebendige Materie 
verbreitet. 

Bei ungefähr 400maliger Vergrößerung ift allerdings ſelbſt 
der geübte Beobadyter anfangs rathlos, einem jolchen nur aus 
Protopladma beftehenden elementaren Organismus gegenüber. 
Denn im Innern des farblofen Gallertklümpchens ift audy nicht 
bie leijefte Spur von Organen zu jehen. Der platte durchlichtige 
Kuchen ſpottet jeder Deutung. Allmählig tritt jedoch eine wahr- 
nehmbare Veränderung hervor. Spontan, aus dem Innern des 
Dinges heraus kommt ed zu einer Bewegung. An einer Stelle 
des Umfanges jchiebt fi die Mafje vor. Ein rundlicher, jpäter 


(588) 


7 


feulenförmiger Fortſatz entiteht, in welchen die Körnchen nach— 
ftrömen. Dann gleitet mehr und mehr von der Körperfubftan; 
in dieſen Fortfa nad, und zuleßt hat diefe fremdartige Gallerte 
ihren Ort im Raum verlafjen, fie hat fi) langjam, aber ficyer 
ein neued Gebiet erobert. 

Derjelbe Borgang kann fi in anderer Weiſe wiederholen. 
Oder ed treten die Zeichen jelbitftändiger Bewegung an mehreren 
Stellen des Umfanged zugleich auf. Hier kurze, dort lange 
Fortjäge, fogenannte Scheinfühchen, Pfeudopodien, fließen wie 
taftend hinaus, um langiam wieder zurüdzufehren. 

Mer über die im Innern des Protoplasmas ſich abipielen- 
den Vorgänge vollen Aufichluß zu geben vermöchte, der hätte 
dad Geheimniß der lebendigen Bewegung nicht blos für Die 
Moneren gelöft, jondern für das Reich der Pflanzen und das 
der Thiere. Denn damit wäre nicht nur jened Hinaudgleiten 
der Körperfubitanz verftändlidy geworden, von dem eben erzählt 
wurde, jondern audy die Gontraction der Muskeln unjered eigenen 
Körperd und derjenigen der Wirbelthiere überhaupt. Man 
weiß zwar durch eine große Reihe jcharffinniger phyfiologijcher 
Unterjuchungen, daß ed während der Zujammenziehung zu einer 
chemiſchen Zeriegung in den Muskeln fommt, dab alfo dabei, wie 
bei jeder anderen lebendigen Funktion, ein Stoffverbraud, ftatt- 
findet, allein wie im Ginzelnen der ganze Vorgang ineinander: 
greift, bleibt bi8 zur Stunde räthſelhaft. Den Amöben fällt 
vielleicht in der Geſchichte diejer Studien noch eine wichtige 
Rolle zu, denn das phyfiologiiche Spiel des elementaren Lebens 
liegt nirgends Tlarer vor den Augen des Beobachters. Das 
Hinausfchieben der Körpermafje ift die eine Phaje der Bewe- 
gung, das Zurüdziehen offenbar die zweite. Während allgemein 
die leßtere und mit Recht als ein activer Prozeß aufgeführt 
wird, darf man doc nicht die eritere kurz als eine bloße Er- 
ichlaffung betrachten. Denn während dieſes für unfere Vor— 


ftellung einfachfte aller Urwejen einen neuen Raum fidy erobert, 
(589) 


8 


ift ed aktiv, und folglih die Stredung als eine That aufzu— 
faſſen. Im dem Hinauöfließen zeigt fidy) eine widıt minder 
reiche Grundeigenſchaft und jpontane Bethätigung der leben: 
digen Subſtanz, ald in dem Zurüdziehen. Bei den höheren 
Thieren fällt e8 allerdings jchwer, diejer Auffafjung ſich anzu- 
ihließen, weil die Vorſtellung zumeift von dem Eindruck der 
Sontraction unjerer eigenen Muskeln beberricht ift, und ſeit 
langer Zeit für den entgegengejegten Zuftand der Ausdrud „Er⸗ 
ſchlaffung“ gebraucht wird, an den fi der Gedanke an ein 
paſſives Verhalten der lebendigen Subftanz wie naturgemäß 
anſchließt. Bei unjerem Urthier ift aber zweifellos die obener- 
wähnte Berlängerung eine Lebendäußerung. Diefe Auffaflung 
wird berechtigt, jobald die Funktionen anderer Urtbhiere ver- 
glichen werden, weldye offenbar hierhergehören. Doch ſoll zu— 
nächſt nody eine andere fundamentale Gigenjchaft der lebendigen 
Materie Beachtung finden. 

Dieje Wejen gehören zu den Vertretern der niederiten Thiere, 
zu den Amoeben. Ihre Bewegung it eine jelbftitändige, fie 
find vollgiltige Individuen, obmohl jenen Arten, die ich 
bier bejonderd im Auge habe, irgend eine beftimmte Haut, irgend 
ein Panzer völlig abgeht. Und dennoch bleibt diefe lebendige 
Gallerte troß ihrer Kleinheit und fo zahlreich audy die Fortſätze 
und jo fein fie find, in dem Flüffigfeitätropfen individualifirt, 
und löft ſich nicht auf. 

Zu diefen wichtigen Cigenjchaften, der Bewegung und der 
Erhaltung ihrer Integrität, wodurd fie Anrecht erhält auf den 
Titel eines lebendigen und jelbftftändigen Thiered kommt noch 
eine dritte Eigenjchaft hinzu, die Amoebe ift reizbar. Läßt man 
duch ihr feuchtes Gebiet mähige Imductiondfchläge hindurch 
gehen, jo zieht fie plöglicy alle Fortjäge zurüd, und ihr Körper 
nimmt die Kugelgeftalt an. Unterbricht man die feuchten 
Bliße), jo beginnt bald das Spiel der Bewegungen aufd Neue, 


um bei erneuter Reizung ſich wieder im eine unbewegliche Kugel 
(59%) 


9 
zu verwandeln. Wirken endlich die Schläge des Inductions— 
apparates mit zerſtörender Gewalt ein, oder hat man Kohlen— 
jäure oder ®ifte (Veratrin) dem Waſſer beigemiicht, dann tritt 
zunächſt Ruhe ein, die Ruhe ded Todes. Der durchſichtige 
Körper hat fi getrübt umd damit ift der fiegreiche Widerftand 
womit .er biöher in dem umgebenden Wafler ſich den Raum 
für jein ftille$ Daſein erobert hatte, gebrochen. Die Gallert- 
fugel zerfällt, das Wafjer dringt zwiſchen die Bruchſtücke, löft 
ie allmählig auf, und damit ift die Vernichtung vollzogen. Dieje 
Neizbarkeit der Amoebe wurde vorübergehend Empfindung ges 
nannt. Es läßt fich ftreiten, ob diefer Ausdruck gerechtfertigt 
jei. Wenn ein äußerer Reiz fichtli auf einen Organismus 
einwirkt, jo wird man das wohl faum anderd nennen fünnen. 
Dann aber, wenn died geftattet ift, jo liegt bier der Fall vor, 
daß die bewegungsfähige Subftang gleichzeitig aud) empfindungs- 
fähig ift. Bei den höheren Thieren find dieje zwei Qualitäten 
getrennt und verjchiedenen Drganen zugetheilt. Die Em: 
pfindung iſt den Nervenzellen, den Gebilden einer bejtimmten 
hemilhen Zujammenjegung überantwortet, fie find die aus: 
ſchließlichen Empfindungsorgane, und gänzlich verſchieden von 
den Bemwegungdorganen, den Muöfeln. Damit ift aud die 
Drganijation eine höhere geworden. Die Theilung der Arbeit 
ift ein Fortichritt für die Leiftungsfähigfeit. Aber ſelbſt die 
vollendete Function ftedt, freilicy in einfachen Anfängen, umd 
noch unentwidelt in diejen niederen thieriichen Drganidmen. 
Ihr Körper befigt neben der Kraft der Bewegung gleichzeitig 
aud die Neigbarfeit, dad heißt die Fähigkeit, unter dem Ein— 
fluß innerer oder äußerer Bedingungen aus dem ruhenden in den 
thätigen Zuftand überzugehen. Dieje Eigenichaft ded lebendigen 
Gallertflümpchend giebt ſich aber noch durdy andere Zeichen 
fund. Die Amoebe bat nichts der Art, was wir einen Mund 
nennen, der mit einem Geruchs- oder Geſchmacksapparat in Ber: 
bindung ftünde, auc fein Auge, das ihr die Nahrumg zeigte, 


(591) 


10 


deren fie eben jo gut bedarf wie irgend ein andered Weſen. 
Findet ſich jedody in ihrer nächſten Umgebung thieriſches oder 
‚pflanzliche Nährmaterial, dann jendet dieſes augenloje Gallert- 
flümpchen dennody im rechten Augenblid Fortſätze aus. Dieſe 
wenden fid) gegen die Beute hin, fließen um fie herum, jchließen 
fie von allen Seiten ein, und ziehen ſich dann mit ihr nad) der 
Hauptmafje des Körperd zurüd. Der Raub ift im Innern 
geborgen, der Fang ift geglüdt und wir werden nothwendig 
zugeben müfjen, dab dieje complicirte Reihe von Vorgängen, 
jo einfach fie an dem einfachen Weſen find, offenbar nur unter 
dem Einfluß der NReizbarfeit begonnen und weitergeführt werden. 
Der Reiz fommt von der im Umkreis des Körperd vorhandenen 
Nahrung und wirkt prompt und fidher auf den primitiven 
Drganidmusd. Wenn nicht die Erperimente mit den Inductiond- 
ichlägen, die Wirkung der Gifte und Gafe, der Hite und Kälte 
ihon hinreichend Belege für die Reizbarkeit des Portoplasma’s 
geliefert hätten, durch die einfachen Vorgänge bei der Nahrungs⸗ 
aufnahme wäre fie nachgemiejen. 

Die Reizbarkeit ift aljo eine fundamentale Eigenjchaft alles 
lebendigen Protoplasmad. Sie ift diejer Subftanz inhärent. 
Sie und die Fähigkeit der Gontractilität gehören zufammen wie 
Licht und Auge, oder wie Wärme umd @lectrizität. Ob für 
jede einzelne Dualität befondere Moleküle vorhanden find, oder 
ob jede aud) in jedem Molefül fich findet, vermag für jetzt nody 
Niemand zu jagen. Zweifellos ift man aber berechtigt, eine 
jolde Amöbe mit einem primitiven Staatöwejen zu vergleichen, 
dem joweit warnehmbar, jede Arbeitätheilung fehlt, und alle 
Theile dafjelbe empfinden und wollen und ausführen können, 
je nachdem die Außenwelt eine That von ihnen fordert. Wenn 
bei höher organifirten Thieren die Arbeitötheilung eingetreten 
it und Zelle an Zelle fich reiht, von welchen jede bejondere 
Kräfte an fich reißt, die in der Amöbe gleichſam diffus noch 
am alle Elemente vertheilt find, jo ändert fih die Form und 

(599) 


11 


damit auch die Funktion, allein unter ihrem wechjelvollen phy— 
fiologiihen Gewand find dennoch alle dieſe Eigenichaften der 
lebendigen Einheit vorhanden. Der Zellenitaat umſchließt Weſen, 
die wie Sklaven dem Ganzen dienitbar find, und dennoch jtedt 
in ihnen etwas von jener jelbftftändigen Natur, die eben doc 
audy den ſcheinbar willenlojen Knecht auf eine viel höhere Stufe 
ftellt, ald die Maſchine. Die Kraft der Individualität erjcheint 
bei den niederften Moneren unendlich hoch, allein wenn fie auch 
an den verichiedenen Zellen eined zujammengejehten Organis— 
men verfümmert ift, gänzlich aufgehoben ift fie niemald. Wie— 
viel fie von ihrer jouveränen Herrlichkeit dadurch verloren, dab 
fie ald Glieder in einen Organismus eingefügt, das ift eben 
erft noch zu beftimmen. Die farblojen Blutkörperchen der Wirbel: 
thiere und des Menſchen find nach diefer Seite hin berühmt 
geworden. Ihr nadted Protopladma zeigt einen ausgeprägt 
individuellen Charakter. Sie begegnen fi) häufig in dem 
Strom der circulirenden Säfte und legen fi) aneinander, ja 
werden jogar aneinandergepreßt von der Gewalt des Blutftromes. 
Aber ſelbſt nad) längerem innigen Contact verjchmelzen ihre 
Leiber nicht, fie trennen fich wieder, um einzeln durdy den Körper 
zu treiben oder getrieben zu werden. Der Verſuch diefe hohe 
Stufe der Individualität aus einer trennenden Hülle allerfeinfter 
Art zu erklären, ift hinfällig gegenüber der Wahrnehmung, daß 
die Fortſätze defjelben Individuums, die von dem Körper aus» 
geftredt werden, fich leicht vereinigen und ineinanderfließen, 
diejenigen anderer dagegen nidyt. Die weißen Blutkörperchen 
bewahren fich ihre Unabhängigkeit alfo auch gegenüber derjelben 
Art, gerade jo wie die Amöben. Liegen zwei von diejen leßtere 
nebeneinander, jo daß fidh ihre audgeftredten Fortfäße berühren, 
fie verſchmelzen dennoch niemald. Selbft auf den Stufen 
niederſter Organismen befteht aljo nicht nur ein Unterſchied 
zwijchen der Körpermafje verfchiedener Arten, ſelbſt die Leiber 
derſelben Spezied, bei denen man doch die größte Gleichheit in 


(593) 


der Zufammenfegung vermuthen darf, find bis in die feinften 
fließenden Fäden hinein individualifirt. 

Und fo bewahrt fidy das lebendige Eiweis einen Theil jener 
individualifirenden Kraft jelbit bis in die Tiefen unſeres eigenen 
Weſens, bald aufbauend, bald zerftörend. Bid zu weldem 
Grade die Selbftitändigfeit der Zellen in dem Thierkörper an— 
wachſen kann, zeigen namentlidy audy pathologifche Elementaror: 
ganidmen, welche in fremde Gebiete defjelben oder eines anderen 
Drganidmus verpflanzt, durch Weiterentwidelung oft eimen fo 
beklagenswerthen Beweis von der Dauerbarfeit der individua- 
lifirten lebendigen Materie zu geben vermögen. (Krebözellen.) 

Dei einer großen Zahl von Protozoen find die hervor: 
ragenden Eigenſchaften der lebendigen Subitanz vollfommen 
nachweisbar, ohne dat im Innern irgend ein anderer Körper, 
ein „Kern“ enthalten wäre. Auch das ift ein bedeutungsvoller 
Sortichritt in umjerer Erkenntniß geweſen und ein werthvolles 
Argument in jenem langen Streit „was man eine Zelle zu 
nennen habe“. Nach unjeren heutigen Erfahrungen über die 
große Rolle, welche dem Kern bei höherer Differenzirung des 
Protopladmas zufommt, muß man wohl nothgedrungen ver: 
ſchiedene Zellenformen unterjcheiden, joldye nur aus lebendiger 
Materie aber ohne Kern und ohne Membran, und andere mit 
Kern und mit Membran. Jeder Verſuch einer jolchen oder ähn- 
lihen Staffififation verdient Beachtung und man wird fidy einer 
eingehenden Discuffion auf die Dauer wohl kaum entjchlagen 
können. 

Wie auch der endgiltige Entſcheid ausfallen möge, die Pro- 
tozoen wie die elementaren Einheiten der höher organifirten 
Weſen fordern dringend eine Klarftellung dieſer Berhältni fje 
Schon innerhalb der Protozoön machen fidy zwei Gruppen be: 
merfbar, eine niedere und eine höhere, In der erfteren, der— 
jenigen der Moneren, ift fein dichtered Gebilde im Innern des 


Protoplasmas zu unterjcheiden; in der leßteren dagegen ift ein 
(9) 


13 


beftimmter Theil der Subftanz von der übrigen Maffe auöge- 
zeichnet. Es ift zunächſt gleichgiltig, ob diejer „Endoplaft” mit 
dem befannten Kern der Zelle identiſch jei, der Schwerpunkt liegt 
darin, dab die erite phyfiologiich wichtige Spur einer Differen- 
zirung bervortritt. Die Schöpfung des Kernd, von der Stufe 
feiterer Protopladmaballen aus, bis hinauf zu jeiner Vollendung, 
ift vielleicht ald der nächfte große Gewinn in der Organifation 
zu bezeichnen, der nady dem Uriprung der ungeformten lebendi- 
gen Materie erreicht wurde. Denn bei den zujammengejegten 
Weſen ericheint er mit ganz bejtiimmten Qualitäten ausgeftattet 
und er jpielt eine bedeutende Rolle, das ift unverkennbar. Mit 
jeinem Auftreten wird ein Theil jener Eigenjchaften, welche das 
„ungeformte” Protoplasma auszeichnen, auf ihm übertragen. 
Schon die Gejchichte der Vermehrung liefert dafür unzählige 
Belege. Bei der fernlojen Amöbe ift jeder Theil gleichwerthig, 
jeder enthält diefelben Eigenjchaften, und die Spaltung im zwei 
neue Individuen beiteht in dem einfachen Alt der Trennung. 
Sobald das Protopladma mit jharf differenzirtem Kern verjehen 
ift, hängt der Vorgang der Vermehrung auf dad Innigſte von 
der Betheiligung des Kerns ab. 

Aus dem Innern heraus erfolgt der Anſtoß hierzu, joweit 
wir bis jet willen. Welche Bewegungen dabei jtattfinden, um 
die vorher einheitliche Mafje zu einer Trennung zu veranlafjen, 
ift vorerft noch in völliges Dunkel gehült. Nur bei den 
Theilungdvorgängen der höher organifirten Zellen und bei denen 
der Befruchtung iſt genaueres befannt geworden. Protopladma- 
fortjäe ftreden fi) vor und werden zurüdgezogen, der ganze 
Leib geräth in Bewegung dadurch, daß die einzelnen Theile ſich 
in veränderter Weile gruppiren. Das ift die im Ganzen magere 
Ausbeute unjerer Erfahrungen. Dennoch zeigen fie, wie Reiz— 
barkeit und Bewegung in den Dienft nicht allein des Indivi— 
duums treten, jondern auch in den der Spezied, der lebendigen 
Natur überhaupt. Um die Erhaltung der Art handelt es ſich, 


(595) 


14 


um einen einheitlihen Akt nach dem Ziel irdiſcher Unfterblichkeit. 
Im Bergleidy mit dem rajchen Untergang des Individuums ver- 
dient die nahezu unbegrenzte Dauer der Spezied wohl dieje 
Bezeichnung. Und in jedem Organismus häuft ſich ſoviel 
Subftanz ſchon nach allerfürzefter Lebensdauer an, dab fie fi 
abjpaltet für die Zukunft. 

Mit Hilfe der Reizbarkeit und der Bewegung ift alſo ſchon 
das Bedürfnig nad Nahrung gemwedt und die Möglichkeit zu 
dem Grreichen der Nährjubftang gegeben. Ein unaufhaltjames 
Bedürfniß zwingt die Amöbe, wie alle ihre Nachkommen zu 
chemiſcher Wiederherftellung des Verlorenen, und zwingt fie einem 
Nahrungstrieb zu folgen, weil die leijefte Berührung mit der 
Außenwelt, ſchon das Dajein an fi, die Kräfte verzehrt. 

Was geichieht nun mit der aufgenommenen Nahrung? 
Sie gelangt in feinen Magen, denn irgend etwas der Art fehlt 
unjerer Urform eined Thieres volllommen. Keine Speidel- 
drüfen find vorhanden in dem gleichmäßig durchfichtigen, jeder 
Struktur baaren Körper. Und dennoch ift nach einiger Zeit die 
vorher noch eimweihreiche Navicelle eimweißleer geworden, das 
nahrhafte iſt verdaut, affimilirt, in die Körperjubitanz der 
Amoebe aufgenommen, und hat fid jpurlos in ihr ver- 
loren, dad Kiejelgerüft mit all dem was unbrauchbar ift, 
verläßt an irgend einer Stelle dad Gallertflümpdhen, ohne 
daß dabei die Spur eines Riſſes oder eines‘ Spalted übrig- 
bliebe. Es ſchließt fich hinter den ausgeftohenen unbraudybaren 
Reſten, wie dad Waller, aus defjen Tiefe eine Luftblaje an die 
Dberfläche jtieg. Unterdeflen ift alle neu aufgenommene Ei- 
weiß zum Körpereimeid geworden, zu einem untrennbaren Theil 
ded Drganidmnd. Durd die Nahrung ift der Verluſt der 
vorausgegangenen Zerfeßungen durch neue Zufuhr gededt. Es 
bat fidy dasjenige vollzogen, was wir Stoffaufnahme und Er— 
nährung nennen. An dieſer unfjcheinbaren Kreatur tritt 
diejelbe Eigenihaft auf, welche durch das ganze Thier- und 


(596) 


15 


Pflanzenreich verbreitet ift, die allein alles was lebt, in den 
Stand jet, die Eriftenz gegen die zeritörenden Einflüffe der 
Außenwelt zu retten. Den beftändigen Angriffen der Zerjegung 
jet fi) aljo diefes Klümpchen lebendigen Eiweißes mit Er- 
folg durch die Ernährung zur Wehr. Auch in ihm ftedt etwas 
von der Energie des Lebens, die allem Lebendigen eigen ift. 
Mit Hilfe der ihm gegebenen von Natur aud innemwohnenden 
Kräfte der Bewegung, der Reizbarfeit und des Stoffwechſels 
vertheidigt es fiegreich feinen Raum, und erobert fidy von 
Sekunde zu Sekunde die Berechtigung feined Dafeind. Diefe 
in dem Protopladma liegende Uebermadıt gegenüber der um: 
gebenden Natur rettet die fpezifiiche Einheit ded Organismus, 
hilft ihm zur Erhaltung jeiner Individualität. Die Autonomie 
erhält fich durch die Affimilation, eine Fähigkeit der lebendigen 
Materie, die dadurch Fremdes und Unorganifirted auf die gleiche 
Höhe der eigenen Organiſationsſtufe emporhebt. Sie ift eine 
bis jet völlig unerflärbare Kraft, von der wir die Integrität 
fowohl der Organismen, ald der einzelnen Organe abhängig 
jehen. 

Es wäre nutzlos, eine Erklärung diefer verdauenden Kraft 
zu verſuchen. Obwohl wir ihr überall begegnen, unjere eigene 
Griftenz von der phyfiologiichen Rolle ähnlich wirfjamer Zellen 
abhängt, und dad Problem der Selbfterhaltung überall diejelben 
Kräfte erfordert, find wir doch weit davon entfernt, dieje ele- 
mentare Funktion des Protopladmasd zu verſtehen. Dagegen 
lohnt es fich, auf dad Phänomen der Bewegung nochmals hin- 
zuweilen, womit die Beute gefaßt wird. Nicht etwa, um die 
Zwedmäßigfeit des ganzen Vorganges zu berüdfichtigen, denn 
damit geriethe man nur in dad Gebiet eined neuen Räthjels, 
ſondern um nody einmal auf die Berechtigung binzuweijen, Das 
Ausftreden von Fortjäßen ebenjo ald eine active Form der Be: 
wegungöphänomene aufzufaffen, wie dies mit derjenigen der Ber- 


fürzung der Fall war. Sobald died zugegeben werden muß, 
(597) 


16 


und es jcheint fein anderer Ausweg möglich, dann vermag die: 
jelbe Subjtanz zwei antagoniſtiſche Bewegungen auszuführen 
und ed ijt Flar, daß damit die Verlängerung des Amöbenförpers 
mehr als eine bloße Erſchlaffung ift. 

Montgommery?) betrachtet demnach mit Recht auch das 
aktive Herauöfließen ald eine wahre Grundeigenicaft und als 
eine jpontane Bethätigung der lebendigen Subftanz. Wieder- 
beritellung der durch eine voraudgegangene Gontraction vers 
brauchten Stoffe may vielleicht die nächfte Veranlafjung fein, 
aljo ein chemiſcher Prozeb, der das geftörte Gleichgewicht der Theile 
bejeitigt. Eine joldye chemiſche Vervollftändigung muß jedes 
Molekül wieder erfahren, das einen Theil jeiner Kräfte ein- 
jegen mußte für die Aeußerungen des Lebens. Dffenbar liegt 
darin der Schlüfjel für das Geheimni der Bewegung, wie des 
Wachsthums und der Vermehrung, jowie für den dauernden 
Miderftand gegen die zerjegenden Einflüffe. Aber bei jedem 
diejer Prozejje wird die jpezifiiche Sorm des Vorganges eine 
andere jein müjjen. Die nahezu unbegrenzte Vieljeitigfeit eines 
jeden dieſer lebendigen Theilchen zeigt fid) eben unter anderem 
auch darin, daß die chemiiche Zerftörung, welche mit jeder Ver: 
änderung Hand in Hand geht, aus eigener Kraft wieder aus: 
geglichen wird, nad) beftimmten Regeln, deren Entdedung eine 
derjenigen Aufgaben der Wiſſenſchaft ift, welche dieje Seite der 
Vorgänge des Lebens Far zu legen hat. 

Am beftimmteften legen Died gerade die Vorgänge im 
Leibe der Moneren nahe, deren Körper nadt, ſtrukturlos in der 
weiten nalen Umgebung fidy befindet. Durchſichtiges, leicht 
vergängliches, aber von Leben durchdrungenes Eiweis ijt dabei 
die einzige Waffe gegenüber der Aubenmelt. 

Daher kommt ed, daß die Amoeben jeit langen Sahren 
beitändig in allen Phafen ihre Dajeind beobachtet werden, 
und daß fie und ihre Verwandten in Foricherfreifen jo gut be- 
fannt find, ald die Geſchichte irgend eines berühmten Gejchlechtes. 


(598) 


17 


Immer finden fidy wieder Hiftoriographen, melde von Neuem 
die Archive der Natur durchſuchen, um Familie für Familie zu 
verfolgen, ihre Jugend und ihr Alter und jede leije Regung 
ihre8 Wejend zu belaufhen. Und fie verdienen dieſe Auf: 
merfjamfeit aus mehr als einem Grunde. Sie gehören un? 
ftreitig mit zu dem allerälteiten Adel unjered Planeten. Sobald 
Leben auftrat, waren auch fie zur Hand. Ihre Gejchicdhte be= 
ginnt mit den erften geologiichen Epochen. Es läßt ſich dies 
daraus entnehmen, dab einige ihrer nächften Verwandten, die 
im Stande find, ihren zarten Leib mit einer feften Schale zu 
umgeben, ihre Spuren in den älteften geologiſchen Schichten 
binterlafjen haben. Dieje Schale kann aus einer Horn- (Ehitin=?) 
Subftanz beftehen, oder aus fohlenfaurem Kalk, der von ihnen 
aud dem Waſſer, in welchem fie leben, abgeichieden wird. 
Unendlich mannichfache Geftalten foldyer Schalen oder Skelette 
vermögen fie zu erzeugen. Das Kalkjkelet iſt dabei meift von 
unzähligen Deffnungen und Kanälen durchſetzt, welche von 
Protopladma erfüllt find, das jo an die Oberfläche fommt, und 
das ganze Sfelet mit Leibesjubftang überzieht. Dieſer äußere 
Theil hat ganz diejelben Eigenjchaften wie der im Innern be» 
findliche. Die Körpermaſſe ſchickt ihre Fäden aus (Pfeudopodien), 
welche Beute einfangen, und fie in ähnlicher Weile verzehren, 
wie died oben erwähnt wurde. Der außerhalb der Schale 
liegende Theil des Thiered empfindet und nimmt aljo Nahrung 
auf, um fie durdy die Poren dann dem innerhalb der Schale 
befindlichen Theile des Leibed mitzutheilen. Wegen der zahl» 
reihen Deffnungen hat man die Thiere ald Foraminiferen be- 
zeichnet. Sie find faft ſämmtlich Meereöthiere, leben von der 
Dberfläche an bis hinab in große Tiefen. Bis zu 2400 Faden 
bat man 3. B. Globigerinen gefunden. Durch die Gelehrten des 
„Shallenger” ift neuerdings wieder bejtätigt worden, daß mehrere 
Formen beftändig an der Oberfläche aller Meere der tropijchen 


und gemäßigten Zonen vorfommen, die Sfelette der Todten 
XVIII. 423, 2 (599) 


18 


finfen dann in die Tiefe, und fo rührt ein Theil diefer Gehäufe 
von jenen einit an der Oberflähe vom Spiel der Wellen um- 
ber getriebenen Thiere her, während andere wirflidy an dem 
Boden leben mögen, wie ihre Verwandten in geringerer Tiefe. 

Die Nummulitenfalfe der Eocenperiode bebeden ein un- 
geheured Gebiet in Mittel- und Südeuropa, Nordafrika, Weft- 
afien und Indien. Shre Hauptmafje befteht aber aus mehr 
oder minder metamorphofirten Foraminiferen- Neften, die auf 
der Oberfläche oder auf dem Grund der früheren Dceane lebten. 
Die Kreidefchichten, welche unter dem Nummulitenfalf liegen, 
und noch größere Flächen bededen, find im Wejentlichen identiſch 
mit dem Globigerinenjchlamm, und was jehr wichtig, die darin 
vorfommenden Globigerinen- Arten find von den jeßt lebenden 
nicht zu unterjcheiden. Damit ift der Beweid geführt, dab 
diejelben Weſen durch geologiiche Epochen hindurch ſich erhalten 
haben durdy Fortpflanzung, und daß dad Protopladma der 
Natur Felfen und Gebirge gebildet hat. 

Bon der ftillen geräufchlojen Thätigkeit diefer Moneren, 
welche nur die Biologen interefjirt, wendet fich die Aufmerfjam- 
feit jenen Wirkungen zu, weldye diejed Protopladma in dem 
Haushalt der Natur ſpielt. Es ift hier nur eine einzige Seite 
erwähnt worden, aber fie ift großartig genug, um die enorme 
Leitung von Einzelnwirkungen beurtheilen zu fönnen. Kleine 
mifroffopijhe Mengen einer lebendigen Eiweißſubſtanz häufen 
Schichte auf Schichte erdiger Subftanzen, weldye gejammelt 
zufammengetragen und geformt und aufgehäuft wird durch dieſe 
unjcheinbaren Gallertmafjen, die feit dem allerälteften Epochen 
unjerer Erde leben. Wenn dad Eozoon canadense, wie es 
den Anfchein hat, nichts ift als eine Fruftenbildende Foraminiferen- 
form, jo ift die Eriftenz verwandter Organismen bis auf eine 
Zeit zurüdverfolgt, weldye weit vor derjenigen zu ſetzen iſt, 
aus der und fonft Spuren von lebenden Weſen vorliegen. 
Es wäre aljo recht wohl möglih, wie Wyville Thomjen 


(600) 


19 


vermuthet hat, daß die ungeheuer mächtigen „azoiſchen“ Schiefer 
und andere Gefteine, weldye die laurentiſche und cambrifche 
Formation bilden, zum großen Theil die metamorphifirten 
Erzeugnifje $oraminiferen-2ebens find. Dann wären die Worte 
Linne's budhftäblich wahr: „Petrefacta non a calce, sed calx a 
petrefactis. Sic lapides ab animalibus, nec vice versa“, 

Möglich, daß es feinen Theil der gewöhnlichen Gefteine, 
weldye in der Erbdrinde vorkommen, gibt; der nicht zu einer 
oder der anderen Zeit durch Protoplasma hindurd gegangen ift, 
allein noch immer beftehen erhebliche Zweifel, und noch fehlt 
die große Mafje jener Beweife, welche allein genügend ift, eine 
Annahme von foldyer Tragweite ald berechtigt erjcheinen zu laſſen. 

Dad Protoplasma fällt aber nicht allein für die Lebens— 
prozeſſe des Thierreichs und des Menſchen ind Gewicht, jondern 
auch für dasjenige des gejammten Pflanzenreihee. Hugo 
von Mohl, der Botaniker, hat dad Protoplagma im Innern 
der Pflanzenzelle entdedt und mit diefem Namen benannt. Er 
bat die große Rolle dieſer lebendigen Urmaterie fofort klar er— 
fannt. Auch innerhalb des Pflanzenreih& hat der Sat all: 
gemeine und unbedingte Giltigfeit: „Ohne Protoplasma fein 
Leben" Das Wachsthum der niederjten Bacterie, die jo klein ift, daß 
fie mit unjern jchärfften Mifroffopen erft an der Grenze des Gidht- 
baren auftaudyt, wie dad Wachsthum der Riefen unferer Wälder, ift 
allein möglich durch dad Protoplasma und feine ihm inne- 
wohnenden Kräfte. So wird ed auch bei den Pflanzen der 
Angelpunft für die Phyfiologie alles defjen, was grünt und 
ſproßt. Auch dort gibt es niedere Formen, weldye dad durch— 
fichtige Protopladma nadt, ohne Hülle beobachten lafjen, das 
ebenfalls fleine Körnchen in feinem Innern beſitzt. Da find 
u. A. die Myrompyceten, welche de Bary durch feine Unter: 
fuchungen hierfür in den Vordergrund gerüdt hat. 

Sie fommen vorzugöweife an feuchten Stellen vor, auf 


faulenden Blättern, im Moos, im Loh der Gerber. Verſchiedene 
2° (601) 


- 


20 


Repräfentanten diefer Familie laffen Erſcheinungen beobachten, 
welche vollftändig jenen der Amoeben gleihen. Da treten 
gleichfalls lebhafte, jelbitftändige Bewegungen auf, Wellen jchreiten 
dur die weiche Subitanz fort; die kleinen Körndyen rollen 
durcheinander wie von einer unbekannten Macht getrieben. 
Dabei werden Fortfäte ausgeftredt und wieder zurüdgezogen, 
und endlich verläßt die ganze Maſſe ihr Lager, und begiebt fidh 
an eine andere Stelle — genau jo wie eine Amoebe. 

Am befannteften find in diefer Hinficht die Wanderungen 
des gelben Lohpilzes, Etalium septicum, der Abends aus der 
Tiefe jeined Lagers jchlüpft, und am Morgen vielleicht an der 
Dede des Gewächshauſes hängt. Er flettert an der Wand 
oder irgend welcher Einrichtung in die Höhe — ein Beijpiel 
ſpontaner Bewegung überrajchendfter Art. 

Das fließende und gleitende Protopladma der Schleim: 
pilze miſcht ſich ebenjomwenig mit Waſſer, wie dasjenige der 
Amoeben. Bon ihrem feuchten Standort losgelöft, laſſen fie 
fid) leicht unter geeigneten Umjtänden züchten, alſo zur Ent 
widelung neuer Pilze antreiben, und mit Hilfe ded Mifrojfopes 
dabei beobachten. Auch fie entbehren, wie ihre tbieriichen 
Verwandten einer Haut, einer abjchließenden Grenzſchichte, und 
dennoch wird ihre Subftanz jo lange fie leben, nicht vom Wafler 
aufgelöft. 

In ihrem Protoplasma ftedt nicht minder jene überrafdyende 
Selbitftändigfeit umd jene Widerftandsfähigfeit gegen die Ein- 
flüffe des ftärfften Löſungsmittels gegen diejenigen des Waſſers. 
Es antwortet auch auf Inductionsſtröme. Bei ſchwachen Schlägen 
bleiben die jonft im Fluß befindlichen Körnchen feitgebannt an 
ihrem Pla. Iſt die Reizung nur ſchwach gewejen, jo beginnt 
nad kurzer Zeit dad Spiel der bewegten Körnchen. Wie 
Kugeln rollen fie dahin, um von dem nächſten Bli, dem der 
Beobachter ihnen zujendet, aufs Neue ihren Lauf zu unterbrechen. 


Ueberjchreitet aber der Blitz eine beitimmte Stärke, jo tritt 
(602) 


21 
völlige Ruhe ein, der Schleimpilz, das vorher noch lebendige 
Protoplasma, bleibt als eine todte unbewegliche Maſſe zurück 
und wird der Tummelplatz der zerſtörenden Kräfte der Natur. 

Dieſe einfachſten pflanzlichen Organismen befſitzen alſo auch, 
gerade wie die Thiere, die fundamentalen Eigenſchaften in ihrem 
Protoplasma: Bewegung und Reizbarkeit, fie wachſen und 
nehmen Stoffe auf. Mag die Maſſe ſo groß ſein, daß ſie 
mit freiem Auge ſichtbar iſt, oder nur mikroſtopiſche Dimenſionen 
befigen, niemals bericht Ruhe in ihr, jo lange fie lebt. Ihre 
Theile find in beftändigem Umſchwung begriffen und vermitteln 
dadurch jene Erſcheinung, die wir „Leben“ nennen. 

Was hier, an dem für die Unterſuchung jo vortrefflich ge— 
eigneten freien Protoplasma feitgeftellt wurde, läßt ſich auch 
an den in den Pflanzen und Thierkörpern eingejchloffenen 
Zellen nadyweilen. Das Studium der Lebensvorgänge hat nicht 
allein ihr Verftändni bei den elementar gebauten Organismen 
erleichtert, jondern ganz bedeutend zur Aufklärung der Prozefje 
in den complicirten Wejen beigetragen. Die Zujammenziehung 
des Muskels, die Abjonderung der Drüfen, der Einfluß bed 
Lichtes und der Elektrizität ja jelbjt die Berrichtungen des 
Nervenſyſtems find unjerer Auffaffung näher gerüdt; denn 
die Grundphänomene find, wie die Ueberficht der vor— 
liegenden Refultate ergibt, überall im Bereiche ded Lebendigen, 
durchaus Diejelben. Bei ruhiger Prüfung dieſer einzelligen 
Mejen beider Reiche fällt jo Schranfe für Schranfe, und der 
Satz ift faum anfechtbar, daß die Abgrenzung fehlt. 

So hat man aud diejen Erfahrungen den Schluß gezogen, 
daß auf einer beftimmten Stufe der Drganijation der Unter- 
Ichied zwiſchen Thier und Pflanze aufhöre, daß es ein neutrales 
Gebiet gebe, innerhalb defjen die Merkmale des einen Reiches 
allmählich, in diejenigen des andern übergingen. Diejed Neid 
niederer Organismen, der Protiften wäre einem großen, lebendigen, 


wimmelnden Urbrei vergleichbar, der überall auf der Erde in Eleinen 
(603) 


23 





geltend gemacht, die grüne Farbe an fich beweile gar nichts. 
Da fand fidy aber eine gradgrüne Planarie an der Betragner Küfte 
(Convuluta Schulzii), weldye Sauerftoff im Sonnenlicht ausſchied. 
Später ftellte fidy heraus, daß die grünen Zellen in den Thier- 
leibern auch eine derbe Gelluloje-Membran befißen, gerade wie 
die Chlorophyllkörperchen. Höchſt auffallend war es freilich und 
erregte Nachdenken, dab der protopladmatifche Inhalt auch einen 
Kern befite. Als jodann ihre Vermehrung durch Theilung be- 
obachtet, und es fidy dabei herauäftellte, daß eine jucceffive 
Spaltung in zwei und mehr Theile ftattfinde, war fein Zweifel 
mehr erlaubt; die grünen Körperchen der Thiere enthielten nicht 
nur Chlorophyll, fondern fie waren überdies audy echte Zellen 
* und morphologiih, was das hödjite Erftaunen hervorrufen 
mußte, mit einzelligen Algen identiſch. 

Chlorophyll für fich allein war in den Thierförpern nicht 
allzu auffallend erjchienen. Bedenklicher war jchon die Zellen= . 
natur dieſer Elemente, denn bei Pflanzen find dieſe grünen 
Kügelhen nicht ald Zellen anzufehen; die Theilung endlich 
widerſprach geradezu den Borausjetungen jener Berwandtichaft. 

Mit der Entdeckung der Zellennatur und der Theilung war 
man an einem Punkte angefommen, der mehr neue Räthjel 
bradyte, ald vorhandene löſte. Was konnte ed bedeuten, dab 
dieſe Pigmentfleden ſich auch noch theilten? Das ftand in 
grellem Gegenjag zu dem Verhalten bed gewöhnlichen Blatt- 
gründ, und zu allem, was man von dem Verhalten der im 
Thier fonft abgelagerten Pigmentichollen wußte. Da öffneten 
die Unterfuhungen von Cienkowski eine neue Bahn für das 
Verſtändniß diefer eigenartigen grünen und gelben Farbenflede. 
Er beobachtete nämlid an NRadiolarien, daß die gelben Zellen 
(von Collozoum inerme), melde offenbar die Scyweitern der 
grünen und völlig gleicher Herkunft und Bejchaffenheit waren, 
fortleben und fich vermehren, auch wenn das Radiolar abge: 


ftorben und die Gentralfapjel und dad umgebende Protoplasma 
(605) 


24 


ſchon völlig zerftört waren. Es entwidelt fi) um die gelben 
Zellen eine Schleimmembran, dann wird die Zelle durch amö— 
boide Bewegungen frei und theilt fih. Jetzt lag die Ber: 
muthung nahe, daß diefe gelben und grünen Zellen gar nicht 
zu den Thieren gehören, in demen fie gefunden werben, daß fie 
feine Beitandtheile des Radiolarienkörpers, jondern jelbftftändige 
Weſen, einzellige Algen find, welche ſich in diefe Thiere 
einniften, um ſich hier ungeftört fortzupflanzen. Andere Beob- 
achter machten gleiche Wahrnehmungen und gleiche Folgerungen, 
deren Richtigkeit in der allerjüngiten Zeit durh B. Brandt 
betätigt wurde, welcher die gelben Zellen zwei Monate ben 
Tod ihres Wirths überleben jah und ferner bemerkte, dab fie 
in den Reften der Radiolarien ganz in berjelben Weile fort: 
leben, wie in zu Grunde gegangenen Cremplaren. Sie leben 
wochenlang munter fort und vermehren fi. Dieje Erſchei— 
nungen ftimmten jelbftverftändli nody weniger mit der Bor» 
ftellung überein, die man fi) auf Grund naturwiſſenſchaftlicher 
Erkenntniß über Zellen eined Drganidmud machen konnte. Wir 
wifjen zwar, daß der Thierförper aus Zellen aufgebaut ift, und 
daß diefelben, auch feft eingefügt in das lebendige Triebwerk 
des Organismus, einen beftimmten Grad von Selbftftändigkeit 
befiten; es iſt aud, befannt, daß mit dem Tod des Thieres 
nicht alle gleichzeitig fterben, jondern daß einzelne bisweilen 
ftunden=, jelbft tagelang den Tod des Gejammtwejend über: 
dauern. Allein ed ftand mit Allem, was wir vom Werden und 
Vergehen von Drganismen fennen, im Widerjprndy, daß unter- 
geordnete Zellen, die mit der Erhaltung der Spezied in gar 
feinem Zufammenhang ftehen, wochen und monatelang fort« 
leben, fid) vermehren, kurz, ſich als jelbftftändig gewordene Theile 
des untergegangenen Thieres erhalten fünnen. So wurde mehr 
und mehr Elar, daß die Chlorophyllkörperchen nicht zu den 
Thieren, in weldyen fie angetroffen werden, gehören fünnen. 
Jetzt fehlte nur noch ein Glied, um die Kette zu jchließen. 


(606) 


25 


Es mußte gelingen, dieſe nah dem Tode des Thieres freige- 
wordenen grünen Körperchen fi in Algen, aljo in Pflanzen 
umwandeln zu jehben. Auch dieje Beobachtung gelang bei In» 
fuforien. Ja noch mehr, ed lieb fich fogar ihre Theilung im 
Innern ded Thiered verfolgen. Damit war Far erwiejen, dab 
diefe Chlorophyllkörperchen eigentlich Algen und ald ſolche den 
Thieren fremde Organismen find, die nur zeitweile in ihnen 
Aufenthalt nehmen. Sie gehören aljo zu dem großen Haufen 
jener pflanzlihen Wefen, die biöweilen ein parafitiiches Daſein 
führen, wenn man dad Wort „Parafit” in dem weiteften Sinne 
des Wortes auffaßt. Die grünen Algen eriftiren in ihren 
Wirthen ganz nach Art freilebender felbitftändiger Pflanzen, fie 
verlieren niemald die Fähigkeit, jich zu vermehren, kurz fie be- 
halten alle ihre Eigenjchaften, wenn fie auch zeitweile im Innern 
von Thieren ihren Wohnfi aufichlagen. Nach und nady ward 
ed exit offenbar, daß bier nicht Mebergänge vor und liegen, 
nicht uralte Verwandtſchaften zwiſchen Thier und Pflanze, 
jondern fertige Organismen — vollgültige Vertreter beider 
Reiche, die mit einander leben fünnen, doch nicht nothwendig 
mit einander leben müffen. i 

Der Zujammenhang der beiden Reiche lebender Wejen beruht, 
dad lehrt diefe mühevolle Reihe von Unterjuhungen, in viel 
geheimer und tiefer liegenden Eigenichaften, und die Ueberlegung 
bat dennoch irre geführt, als fie einft meinte, die Verwandtſchaft 
fönnte ſich auf äußerlich jo leicht erfennbare Verhältniſſe erftreden. 

Die Bewegungen des Protopladmad hier wie dort mögen 
noch jo überrajchende Gleichförmigkeit zeigen, die Elektrizität 
und das Licht und chemiſche Subſtanzen auf beide Arten für 
unjere Wahrnehmung noch jo übereinftimmend wirken, troß 
diefer phyfiologiichen Sdentität bleibt die lebendige Subitanz 
der Pflanzenzelle verjchieden von derjenigen des Thieres noch 
in den niederjten Formen. Noch niemald ift eö gelungen, eine 


der gejuchten Uebergangsformen zu entdeden. 
(607) 


26 





Mie lange glaubte man nidyt auf die Diatomeen hinweiſen 
zu können. Die Botanif und die Zoologie nahmen fie für 
ih in Anſpruch. Bald neigte ſich der Sieg nad) der einen, 
bald nad der andern Seite. Heute find fie endgiltig für 
Pflanzen erklärt. Durch die außerordentliche Aechnlichkeit im 
der Form der Bewegung und den bejonderen hierfür vor: 
bandenen Organen konnte man einft irregeleitet werden, die 
Scywärmjporenbildung ald eine Entwidlung von Thieren aus 
pflanzlichen Drganidmen zu deuten. Man glaubte dem Geheimniß 
der Schöpfung eined thieriichen Weſens direft nahe zu fein. 
Aber die Hoffnung, die Pflanze in dem Momente der Thier- 
werdung belaujcht zu haben, hat ſich als verfrüht herausgeftellt. 
&8 war ein verzeihlicher Irrthum, deſſen Mutter die Vor— 
ftelung von der Berwandtichaft zwijchen Thier und Pflanzen: 
reich war. Allein die Natur hat fi noch niemald bei einer 
diefer Thaten belaufchen lafjen, fie jpielen fidy entweder ge- 
heimnißvoll und in tieffter Verborgenheit ab, dort wo nody nie 
ein beobadhtended Auge hindrang, oder fie haben ſich einft, vor 
Aeonen ereignet, und wir erleben nur das Schaufpiel ewiger 
Wiedergeburt ded jchon Borbhandenen. 

Selbftverftändlich bedurfte e8 langer Arbeit, um das, was 
heute als eine Conſequenz unſerer biologiſchen Kenntnifje über 
die Borgänge in der lebendigen Natur erjcheint, durch genaue 
Beobachtung zu erhärten. Alle Naturwifjenichaften haben hier: 
für ihre Kräfte geliehen und die Gejchichte dieſer Entdedungen 
gibt ein vollflommenes Bild von dem Zujammenbang aller 
Forfchungszweige. Da haben fidy die Zoologie, und die Chemie, 
die pathologische und die normale Anatomie, die Phyfiologie 
u. f. w. die Hand gereicht zu gemeinjamer Arbeit. 

Eine bejondere Schwierigkeit lag u. A. darin, den Beweis 
zu liefern, dab die feften Zellenmembranen, in weldye das Proto- 
plasma ſowohl bei Pflanzen und Thieren eingeſchloſſen  ift, 


weder die Stoffaufnahme hindere, noch irgendwie die Wirkung 
(608) 


27 


auf die benadhbarten Zellen. Es war unerläßlid, zu zeigen, 
daß die lebendige Subitanz, gleichgültig ob fie wie die Amoeben 
offen daliege, oder von einer Membran umſchloſſen fei, wie 
bei den ächten Zellen, dennoch die Fähigkeit der Wirkung in 
die Ferne beſitze. Es hat ſich herausgeftellt, daß dieſe 
Membranen nicht ijolirend wirken. Ohne direkten Contact mit 
der Außenmelt empfängt die lebendige Materie im Innern dennoch 
Reize von außen und zwar aller Art, und wirft wieder zurüd. 
Denn diefe Membranen find permeabel; ald eine aus dem Proto- 
plasma hervorgegangene Hülle lafjen fie Diffufionsvorgänge 
aller Art geichehen von flüffigen wie von gaöförmigen Subftanzen. 
Durch diefe Erfahrungen werden die Amoeben wiederum gleich» 
am Maahftab und Vergleich für die phyfiologiihen Vorgänge 
innerhalb der Zelle. Denn die Vorgänge an unjern Muöfeln 
erinnern an joldhe bei den niederen Thieren und Pflanzen. 
Menn die Erjcheinungen nicht blos ähnlich, jondern wie ed in 
der That der Fall ift, jogar direkt miteinander vergleichbar find, 
jo hat das darin feinen Grund, daß fi) die jchaffende Natur 
von der Stufe der einfachiten und einzelligen Wejen all» 
mählig erhebt zu höheren Formen. Zelle reiht fih an Zelle 
und Millionen finden fi in einem einzigen Wejen vereinigt, 
bei den Pflanzen wie den Thieren. Jede derjelben oder jede 
Gruppe übernimmt dann eine bejondere Aufgabe. Alle ftehen 
dabei aber dody im Dienfte der Einheit troß individueller 
Unabhängigkeit). Wie der Bürger ſammt feiner Familie 
in dad Gemeindewejen eingefügt ift, ähnlich die Zelle 
in den Drganidmud. Hier wie dort ift dabei das Prinzip 
der Arbeitötheilung maßgebend. Be höher der Organismus, 
deito vellendeter die Gliederung. Wie die bewaffneten 
Männer eined Landes für den Schuß befonderd organifirt 
find, jo hat aud der Drganidmus, namentlich der Thiere 
Zellenmaljen — Organe zur Wehr. Andere Zellen find 


umgewandelt und ftellen die Wege dar, auf denen der 
(609) 


28 





Transport des Nährmateriales geſchieht, das ſelbſt wieder durch 
beſonders organiſirte Elemente verbreitet wird. Da ſind ferner 
beſondere Zellen, Nervenzellen vorhanden, welche vorzugsweiſe 
die Reizbarkeit und die verſchiedenen Qualitäten von Empfindung 
und Bewußtjein vermitteln, hin bis zu jener Stufe, die wir bei dem 
Menſchen Selbftbewußtfein nennen. Dienen viele dem nämlichen 
Zwed, daun entfteht ein Organ, das, wie das Gehirn fich zur 
beherrſchenden Macht ded ganzen Organismus auffchwingt, jo» 
weit eö die Eigenart der übrigen Elemente erlaubt und möglich 
macht. So gewaltig jein Einfluß, viele Organe haben ſich bei« 
nahe völlig feiner Herrichaft entzogen. Das Herz vermag weder 
der lebhafte Wunſch noch der emergiihe Willensimpuls zum 
Stillitand zu zwingen. Ja das Gehirn jelbft ift nicht immer 
Herr all der Zellen und ihrer Thätigfeit. Im ihnen wird, das 
läßt fidy bei dem heutigen Stand unjerer Kenntnifje annehmen, 
die Summe der Gindrüde aufbewahrt, welche durd) die Sinnes— 
organe und die Nerven zugeführt werden. Wir fennen jogar 
dad Gebiet der Großhirnoberfläche, in weldhem nad den eine 
gehenden Unterjuchungen Munf’s*) u. A. die Bilder aufbewahrt 
werden, welde die empfindliche Netzhaut von den Objekten der 
Außenwelt empfängt. Im dunfeln Schooß des Gedädhtnifjes 
ruhen jie, bis fie auf deſſen Geheiß über die Schwelle des 
Bewußtſeins heraufiteigen und vor unjerem geiftigen Auge 
wieder erjcheinen. 

Hier zeigt fi) das Protoplasma willig und gehorjam, aber 
wie dann, wenn die Bilder ungerufen erjcyeinen? wenn ohne 
unfer Zuthun, ja jelbft gegen unſern Willen die Geftalten auf: 
tauchen und ſich nidyt mehr von der Bildfläche unſeres Geiftes 
verdrängen laffen? Erſcheint hier nidht ein Maaß von Unab- 
bängigfeit, dad bis zu offener Empörung ſich verliert? Es 
giebt in der Phyſiologie wenige dunflere Punkte als die Ver: 
doppelung unſeres Ic), das in diefer einfachften Sorm und hier 
ericheint. Werden dieſe Erinnerungsbilder ſchmerzlich dadurch, 


(610) 


__ 9 

daß fie unſer ganzes Sein erfchüttern, jo lautet der weile Rath: 
ſchlag, man folle fie unterdrüden. Wir ziehen dann mit etwas, 
das aud dem Gehirn jtammt, gegen das zu Felde, was aus den- 
jelben Quellen entiprang — wir fämpfen gegen ein Etwas in 
uns, und doch ift das was kämpft, und das was befämpft wird 
ein Theil deifelben Subjeftede. Der Ausgang dieſes inneren 
Kampfes erfolgt in den meilten Fällen zu Gunften des eigent- 
lichen uns befannten Ih, und die wachen Träume fchweigen, 
die Zellen unterbrechen ihre Arbeit, aber es bedurfte eines 
Kampfes, um die Revolte zu unterdrüden. 

Die Selbitftändigfeit der Zellen ift jelbit dann mod, zu er: 
fennen, wenn wir und im Vollbeſitz unſeres Herjchergefühles 
glauben. Man vergleiche die Stimmung, wenn ein Becher 
feurigen Weines durch unfer Blut reift, wenn der Alcohol die 
Nervenzellen belebt. Die heitere Laune, die der Sorgenbrecher 
verbreitet, ift befannt, er vericheucht den Gram, er lindert — 
was? — vielleicht den trägen Lauf der Moleküle, den der Trüb— 
finn hervorbrachte, bejeitigt ein Hinderniß, er löſt vielleicht 
chemiiche Verbindungen, die im Innern der Zellen ftattgefunden 
und die freie Bewegung der Protoplagmatheildyen hemmten. 
Wir willen darüber nody nichts, und ed ift faum zu hoffen, 
daß dieje Vorgänge allerfubtilfter Art jemald mit unjern Mifro- 
jfopen irgendwie genauer feitgeftellt werden, oder daß Bewußt— 
jein in jeiner einfachiten Form jemald in der Anordnung oder 
der Bewegung der Molefüle ſich nachweilen laſſe. Gleichwohl 
liegt ein unverfennbarer Gewinn für das ganze Verftändnik 
nidyt allein der niederen Funktionen der lebendigen Materie, 
jondern auch der höchften, der geiftigen darin, dab wir Empfindung 
und Willen an Zellen und ihren Inhalt, an das Protoplasma 
gebunden jehen. 

In allerjüngfter Zeit find an Zellen höher organifirter 
Thiere Aufjchlüffe gewonnen worden, weldye andern mach einer 


Seite bin nicht minder bedeutungsvoll zu werden jcheinen. 
(611) 


30 


Sie betreffen die Vermehrung der Zellen, und zwar nicht blos 
bei der erften Entwidlung eines Thiered aus dem Ei, jondern 
auch in dem erwachſenen Drganismus. Wie in dem Ei, jo 
fommt ed audy in dem Innern einer jeden Zelle zu einer voll: 
ftändigen Umlagerung der einzelnen Theile, jobald die Ber- 
mehrung geſchehen foll, und namentlidy betheiligt ſich daran 
auch der Kern. Durch den gleichmäßigen Körper dieſes elementaren 
Gebildes zieht eine geheimnißvolle Bewegung, ed tauchen dicht— 
verfchlungene dunkle Bänder auf, die fidy zu einer zierlichen 
und fternförmigen Roſette ordnen. Dieje trennen fich, der 
entftandene Doppeljtern bildet zwei neue Anziehungspunfte, um 
welche ſich das Protoplasma aufd Neue concentrirt. Nach 
einiger Zeit vollendet ſich die Scheidung der Zelle in zwei, und 
jede derjelben befigt wieder den jchon jeit lange befannten Kern. 
Bei der Entitehung einer neuen Zelle wiederholen fidy diefelben 
Ericheinungen. Wieder beginnt der Kern nad) furzer Ruhepauſe 
eine vollitändige Umformung feiner Theile, gerade fo wie bei 
der erjten Theilung in dem Ei. Nachdem nun derjelbe Prozeh 
bei dem Aufbau jedes Weſens eintritt, aljo jchon die erften 
Entwidlungsprozeije in dem Ei begleitet, jo erjcheint er in all 
den fpäteren Zellen-Generationen ald ein unerläßlicyer Akt, der 
mit hartnädiger Beharrlichkeit immer wiederfehrt und jede Zelle 
zwingt, ſich nach denjelben Regeln zu vermehren. Alle erben 
diejelbe Art der Vervielfältigung, und Fönnen feinen anderen 
Meg, foviel bis jeßt befannt ift, einjchlagen. Wir find nod 
weit davon entfernt, den Grund diejer jeltjamen Fadenfiguren 
und Doppelfterne zu verftehen, die ganze Prozedur ift jogar für 
unjere Beurtheilung jchwerfällig und jchleppend, gleichwohl er: 
hält fie eine enorme Bedeutung, dadurch, dab auch die Pflanzen- 
zellen auf diefelbe Art fi) vermehren. Damit wächſt der Werth 
diefer Thatſache bis in's ungemefjene, denn wir ftehen vor einer 
Erſcheinung, der wie einer univerjellen Regel, alle aus einer Zelle 


geborenen Weſen, Thiere und Pflanzen, gehordyen müfjen. Denn 
(612) 


31 


wenn fie von dem Menichen an durd die Reihe der Säuge- 
tbiere, Vögel, Reptilien, Amphibien und Fiſche ihre Herrichaft 
übt, wenn ihr auch die wirbellojen Thiere hinab bis zu den 
Seeigeln unterworfen find, jo wiegt diefe Thatſache an ſich Schon 
Ichwer genug, und die „Karpyofineje“ 5) wird zu einem fihtbaren 
Zeichen von Webereinftimmung des Zellenlebens und der Zellen- 
fräfte, wie bi jetzt noch kaum eined befannt war. Daf die 
Zellvermehrung der Pflanzen nur unter der Beihilfe diefer 
„nuclearen Netzwerke“ gejchieht, ift ferner ein deutlicher Hinweis, 
daß die Beobachtung eined der allerälteiten Zeichen) jener 
elementaren Vorgänge belaufcht hat, weldye allen Lebeweſen 
gemeinjam find, ebenjo wie die Empfindung für Licht umd 
Elektrizität. 

Bei all’ diefen Ergebniffen unjerer Forſchung kommt aber 
ein Umftand in Betracht, der die Langjamfeit ded Fortjchrittes 
unjerer Erkenntniß begreifen läßt — denn all’ dad, was hier 
mitgetheilt wurde, ift mühjam errungened Stückwerk — der 
Umjtand nämlich, daß, was audy immer um und herum vor: 
geht, nur Veränderungen find, die wir an den Dingen wahr: 
nehmen und daß die Dinge an ſich und dennoch in ihrer Ge— 
jammteigenjchaft entgehen. Wenn alle Empfindungen und Be- 
wegungen des Monered, deren äußere Zeichen wir zu beurtheilen 
verſuchen, und doch noch nicht das Weſen, den lebten Grund 
all der Vorgänge durchſchauen lafjen, jo darf man ſich nicht 
wundern, wenn wir vor den vollflommeneren Weſen der 
Schöpfung nody immer wie vor einem geheimnißvollen Schloffe 
fteben, in dem wir Leben wahrnehmen und aus dem Licht 
und entgegenftrahlt. Mit gefpannter Aufmerkfjamfeit beobachten 
wir, was immer ab» und zugeht, wir berechnen die Zufuhr 
und deuten den ganzen Verkehr, aber unjer Wiljen bleibt 
dennoch Stückwerk und zunvollkommener Verſuch, der nur lang» 
ſam zum Ziele führt. 

Unfere Kenntniffe find das Rejultat unzähliger Einzelbe- 


(613) 


32 


obadytungen, die ſich häufig widerjprechen. Bei den höheren Or— 
ganidmen tritt dann die Nothwendigfeit hervor, die Theile aus 
ihrem Zufammenbang zu reißen, um ihre Eigenjchaften ftudiren 
zu können. Und während das geichieht, jchwindet vor unjerm 
Auge nur allzuleiht das Band, daß alles verbindet und bei 
dem Verſuch, dafjelbe wieder herzuftellen, laufen wir oft genug 
Gefahr, an der falſchen Stelle unjern Verſuch einzuſetzen. 

Diefe Schwierigkeiten find geringer bei den burchfichtigen 
Moneren, und deshalb find fie wie der Froſch, die jtillen Freunde 
nicht allein der Zoologen, nein, alle die fih um das Räthſel 
des Lebens kümmern, belaujchen ihr geräuſchloſes Dajein. Wenn 
dabei die Beobachtung immer auf's Neue wieder mit der Be- 
wegung beginnt, mit ihrer Entftehung, und nad) den legten Vor⸗ 
gängen dabei fragt, jo rührt dies davon her, daß dieje auf: 
fallende Thatſache der DOrtöveränderung von der Empfindung 
und von der Ernährung, von beiden gleichzeitig abhängt dort, 
wie bei und. Weberdied fehlt dort ein centralifirendeö Nerven» 
ſyſtem, defjen Eingreifen für den Beobachter immer Schwierig» 
feiten bringt. Bei einem Thier dagegen, dad einen ſolchen 
Apparat nicht befißt, und bei dem wie bei dem Urthier nur Die 
allgemeine Eigenſchaft der Reizbarfeit vorhanden ift, treten die 
Mopdificationen des Stoffwechſels ald ein tiefgreifender Faktor 
in den Vordergrund. Der leijefte Reiz, mag er durch electrijche, 
mechanijche, Talorifche oder chemijche Vorgänge urjprünglich bes 
wirft werden, berührt immer den Kern der Drganijation das 
vorhandene, mit Reizbarfeit ausgeftattete Pladma und erregt den 
Stoffwechſel. Wenn eine Steigerung ded Stoffwechſels im der 
Amöbe auf irgend eine Beranlafjung bin eintritt, jo kann fie 
entweder die ganze Amöbe, oder nur einen Theil derjelben betreffen. 
Iſt das erftere der Fall, dann ift die Steigerung vielleicht ſchon 
eine gewaltjame, wie bei dem electrijhen Schlag, welche jedoch 
wiederum gleichmäßig nachläßt, war fie aber eine Frankhafte, 
die Amöbe vernichtet. Tritt der leßtere Fall ein, wobei nur 

(614) 


— 

ein Theil des Thieres erregt wird, ſo pflanzt ſich die Steige— 
rung von dem Punkte, in welchem fie zuerſt eintrat, all- 
mäblid fort, und verläuft in Form einer Gurve. Sie 
nimmt dabei eine gewifje Zeit in Anſpruch. Wie bei der 
MWellenbewegung findet aber nicht allein eine Hebung und 
Senfung ftatt, jondern die Welle jchreitet fort. Der Unter: 
ſchied zwiſchen MWellenbemegung und der kurzen Stoffwechſel— 
curve in dem Leibesfortſatz einer Amöbe, welche einer Erregung 
folgt, beſteht darin, daß gleichzeitig die Maſſe ſelbſt ihren Ort 
verändert. Das Plasma folgt der Bewegung, welche in dem 
Verbrennungsheerde entſteht, und es wird nach einem beſtimmten 
Punkte hinſtrömen. Ueberlegen wir, wie die Bewegung in dem 
Verbrennungsheerde zuſtande kommt, ſo gerathen wir zu der 
Annahme, dab der Oxydationsprozeß vorhandenes Plasma zer— 
ftört, indem er ed in neue, für den Organismus fernerhin un- 
brauchbare Combinationen überführt. Mit der Steigerung des 
Berbrennungdprozeljed fteigert fich die Größe der Bewegung, 
und immer neue Molefüle werden juccefjive dem Kebendvorgange 
zum Opfer fallen. Philipp”) bat jüngit diefe Betrachtungen 
in jehr eingehender Weiſe angeftellt, nud fam dabei zu dem 
Schluß, jpontane amöboide Bewegung entiprecdhe der Bewegung 
ftehender Wellen, freilih mit dem wichtigen Zuſatz, daß in 
Wirklichkeit die theoretiihe Schwankungsform durch äußere Ein- 
flüffe mannigfach modificirt werde. In der That ift aber das Aus: 
ftreden von Pjeudopodien mehr ald eine Bewegung ftehender 
Wellen, weil der Drvdationdvorgang eine Bewegung zur Folge 
haben muß, joll Flucht oder Angriff überhaupt möglich und 
damit die Eriftenz ded Weſens gefichert jein. Sieht man von 
einer reinen Wellenbewegung ab, jo laſſen ficy die vorhandenen 
Beobachtungen mit den Vorausſetzungen in Einklang bringen. 
Gerade bei den Amöben jpielt fi) ein fortlaufender Cyklus von 
evidenten Thatjachen ab, wobei das Muthmaßen des Forſchers 
auf ein Minimum reducirt wird. Man fieht nämlich die fid) 
xvil. 423. 3 (615) 


ausftredende Subſtanz, weldye den Fortjat bildet, zuerft an ihrer 
Berührungsflähe mit dem Medium, und zulegt durchgehende 
eine Veränderung erleiden. Der durchfichtige Stoff hört dann 
auf zu fließen, wird mehr und mehr durdy feine Körndhen 
undurdfichtig. Zugleich erfolgt eine allmähliche Schrumpfung oder 
vielmehr ein Zujammenballen des veränderten Fortſatzes. Die 
lebendige Subſtanz bat fidy contrahirt, die Hauptfunftion, die 
äußerlich fihtbare Bewegung hat fi vollzogen. Nun gilt es 
zu wifjen, wie dieje Lebendäußerung zu deuten ift. Hat eine 
bloße Umlagerung oder Zuſammenſchiebung der Hleinften Proto— 
plasmatheilchen ftattgefunden, oder hat der jchrumpfende Stoff 
vielmehr durch Veränderung feiner chemiſchen Zufammenjeßung 
die fihtbare Kraftleiftung vollbradyt? Weber dieje Frage geben 
augenjcheinliche Ereigniſſe willfommenen und unzweideutigen 
Aufſchluß. Gleichzeitig mit den wahrgenommenen Verände- 
rungen im Fortſatz taucht nämlidy an deſſen Bafid ein helles 
Pünktchen auf, weldyeö fidy immer mehr vergrößert bis zu einem 
anſehnlichen Bläschen, einer fogenannten Vacuole. Ihr Inhalt 
wird jchliehlidy in das umgebende Medium entleert.?) 

Es fann faum einem Zweifel unterliegen, da Gontraction 
und Zerjegung und das Auftreten des Bläschens wie feine 
Elimination in einen beftimmten Gaufalnerus gebracht werden 
dürfen. Unter dem Bilde einer chemiſchen Erplofion erjcheint 
jener Vorgang, der innerhalb ded Organismus die Spann 
fräfte frei werben läßt. 

Dieſen eben gejchilderten Vorgang in der Amöbe auf andere 
Drganiömen, auf Zellen höher organifirter Weſen zu übertragen, 
fönnen wir nunmehr dem Lefer überlaffen, freilich mit dem Hin» 
weis, dab durch diefe Erörterung das Problem erit angedeutet 
it. Im dem phyſiologiſchen Spiel von Zufammenziehung und 
Stredung, in der Bewegung lebendiger Organiömen tritt ed und 
gegenüber. Nur jchrittweife werden wir vordringen, elementares 


Leben in all jeinen Theilen zu durchichauen, das ſchon jeit 
(616) 


— 


Aeonen währt, bei deſſen Beurtheilung weder ausſchließlich phy— 
ſikaliſche noch ausſchließlich chemiſche Triebkräfte in Betracht 
kommen, bei dem vielmehr noch eine durch Vererbung geſteigerte 
Kraft in jedem Augenblicke zu berückſichtigen iſt. 


Anmerkungen. 


1) Virchow, R., die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf 
phyſiologiſche und pathologiihe Gewebelehre. Berlin. Diejes Bud 
zeichnet am jchärfiten den Einfluß der Zellenlehre auf die biologiſchen 
Wiffenichaften. 

2) Sn dem todten Protoplasma werden gefunden Eiweißſtoffe, 
Lecithin, Cholefterin, Kohlehydrate, Kaliumverbindungen, ferner in den 
Kernen Nuclein. Das Recithin ift eine phosphorhaltige Subftanz, das 
Sholefterin befannt als Beftandtheil des Gehirns und der Pflanzenfamen, 
namentlih in Erbjen und Bohnen, dann im Weizen gefunden, in jungen 
Roſenknospen, Pilzen, in Bierhefe, Mais, im Blut und im Cidotter. 
Die Kohlehydrate d. h. Fette und Zuderarten in allen thierifchen, namentlich 
den fich entwidelnden Zellen. Das Kalium findet fi in allen Organismen, 
auch den einfachiten, und man ift bei dem allgemeinen Borfommen jeiner 
Verbindungen zu der Annahme gezwungen, dat die Kaliumverbindungen 
zu den allgemeinen Lebensvorgängen in den Zellen in Zujammen- 
bang ftehen. 

3) Montgomery. Zur Lehre von der Musfelconcentration. 
Pflüger's Archiv für Phyfiologie. Bd. XXV. Er hat ferner in einer Reihe 
interefjanter Artikel die Frage erörtert: find wir Zellenaggregate? Offenbar 
ift eine Diskuffion hierüber berechtigt, jobald der Sag mit Nachdruck immer 
wieder betont wird, daß der Menſchen-, der Thier- und Pflanzenleib aus 
Zellen aufgebaut fei, welche einen beftimmten Grad von Gelbititändigfeit be- 
fiten. Allein troß der Einheit jedes höheren Organismus hat jede 
Zelle dennoch ein gewifjes „Ich“, diejes Rejultat der geſammten biologiichen 

(617) 


36 
Forſchung ift umanfechtbar. Dagegen bedarf der Grad, und bie 
Art der Selbitftändigfeit dieſes „Ich“ noch der genaueren Beitimmung. 
Die Artikel Montgomery’s haben folgende Titel 1. The substance 
of Life. — 2. The unity of the organie Individual. — 3. Causation 
and its organie conditions, — 4. Are we „Cell aggregates“? 
in „Mind“, a Journal of Psychology and Philosophy July 1881 
bi8 1882. Werner: The elementary functions and the primitiv 
Organisation of Protoplasm. St. Thoma’s Hospital Report pro 1879. 

4) Munf, H. Ueber die Funktionen der Großhirnrinde. Ge 
jammelte Mittheilungen. Berlin 1881. 

5) Ueber die Vorgänge bei der Zelltheilung vergleiche: Slemming, W,, 
Zelljubftanz, Kern und Zelltheilung. Leipzig 1882. In diefem Werf 
findet fih die ganze Piteratur aufgeführt, aud jene, welde die Vor. 
gänge derjelben Art in dem Pflanzenreich betrifft. 

6) Kollmann, 3., Ueber thierijche® Protoplasma. Biologiſches 
Gentralblatt Il. Bd. 1882—1883 Nr. 3 und 4. 

7) Philipp, ©., Ueber Urjprung und Lebenserſcheinungen der 
thierifchen Organismen. Darmwiniftiihe Schriften Nr. 14. Leipzig. 
&. Günther's Verlag 1883. 


—— — — 


(618) 








= Drud von Wehr. Unger (tb. Srimm), Berlin, Schönebergerftrahe 17a. 


licher Vulkanismus. 


Vortrag, 


gehalten am 23. Februar 1883 in der Univerſität Kriſtiania 


von 


Dr. Saus 4. Reuſch. 


Nach dem Manufcripte des Verfaſſers aus dem Norwegifchen übertragen 
von 


M. Otto Herrmann. 


GH 


Mit 7 Holzichnitten. 





Berlin SW., 1883. 


Berlag von Carl Habel. 


(€. 6. Tüderity'sche Derlagsbachbandiang.) 
33. Wilbelm + Straße 33. 


Dad Recht der Ueberſetzung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Nach der augenblicklichen phyſikaliſchen Auffaſſung bezüg- 
lich des Verhältniſſes zwiſchen Wärme und Arbeit können die 
auf der Erde vor ſich gehenden Prozeſſe in 2 Gruppen gebracht 
werden: zuerſt in ſolche, zu denen die Wärme von der Sonne 
geliefert wird, dann aber in ſolche, zu denen die Wärme von 
der Erde ausgeht. Da das organiſche Leben, wie der Kreis— 
lauf des Waſſers und der Luft, zu der erſtgenannten Kategorie 
gehören, ſo lenkt dieſe unſere Aufmerkſamkeit in beſonderem 
Grade auf fich, ſo daß man dieſelbe wohl hier und da ſogar 
als die alleinige Wärmequelle dargeſtellt findet. 

Der Geolog wird nicht in dieſen Irrthum verfallen, denn 
er kann nicht überjehen, dab die Erde jelbit eine Wärmequelle 
ift, und dab eine großartige Arbeitöproduction, daß fogar die 
Bildung ganzer Gebirgsketten der eigenen Erdwärme zugefchrie- 
ben werden müfjen. Die Form jedoch, unter der uns dieje 
Wärme — oder diefer Arbeitsvorrath — auf die am meiften in die 
Augen Ipringende Weije entgegentritt, ift der Vulkanismus oder 
der Ausbruch der eruptiven Mafjen und die damit im Zufammen- 
hange ftebenden Phänomene. 

Bei der Betradhtung des Bulfanismus könnte man fidh 
leiht zu dem Verſuch verleiten lafjen, chronologiſch vorgehen 
zu wollen. Man müßte dann mit dem Urjprung der Erdwärme, 
mit der Bildungsweiſe der Erde beginnen und jo die Arbeits: 


formen der Wärme in den verichiedenen Zeiten verfolgen. Dann 
XVIIL 424. 1° (621) 


4 


müßten wir wahrfceinlic von der befannten Theorie audgehen, 
daß die Subftanz der Erde einftmals in Gadzuftand eriftirt hat, 
darauf fi zu flüffiger Form zufammenzog und jebt im 
Begriff fteht, fich aus dieſer allmählich in die fefte umzuwandeln; 
die vulfaniichen Erjcheinungen werden dann in dem Verlaufe 
diefer gewaltigen Goncentration ein ganz ſekundärer Proceß, der 
während einer verhältnißmäßig Furzen Zeit auftritt, indem er 
jeinen Anfang nchm, da die Erdoberfläche bis zu einem ge- 
wiffen Grad abgekühlt war und enden wird, jobald die falte 
Krufte eine bedeutende Dide erreicht haben wird. 

Man könnte fidh, wie gejagt, zu ſolchen Speculationen ver- 
leiten laffen und diejelben weiter verfolgen, bis wir auch die vul- 
kaniſche Wirkſamkeit unferer Tage in unfere Theorie oder unler 
Spftem hineingezogen hätten; aber diefe Art ded Vorgehens 
würde mit fo viel Schwierigfeiten verbunden jein, daß es ſicher 
empfehlenswerther ilt, die Methode zu wählen, die für die 
Naturwiſſenſchaften gerade eigenthümlich ift, nämlich die Sache 
ganz von der entgegengejeßten Seite anzugreifen; zuerit das 
Naheliegende zu ftudiren, das, was für unjere Beobadhtungen 
vollftändig zugänglich ift, bier aljo die vulfanifchen Proceffe, 
wie fie fich vor unjeren Augen abipielen. Bon diefem Ausgangs— 
punft müſſen wir weiter zurücgehen und und jomit der Auf: 
faffung der Grundurſachen zu nähern juchen. 

In den 100 Jahren, in mweldyen ungefähr die Geologie ge— 
pflegt worden iſt, hat ſich ein gewaltiged Material von Beob— 
achtungen, die den Vulkanismus betreffen, angefammelt, und ge: 
rade jebt jcheinen die Anjchauungen mehrerer bedeutender For: 
icher wie Dana, Geifie, Mallet, Sue fidh zu einigen!). Es 
icheint deöhalb die Hoffnung nicht ganz unbegründet zu fein, 
dab man bald eine auf Beobachtung begründete Darftellung des 

(622) 


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— — — 


Vulkanismus geben kann, welche die frühere an Correctheit und 
Vollſtändigkeit weit übertreffen wird. 

Ich will nun in kurzen Umriſſen darzuſtellen ſuchen, wie 
es fih nach meiner Anſchauung gegenwärtig mit dieſer Sache 
verhält. 

Indem ich mich beſtreben werde, die inductive Methode zu 
verfolgen und mit dem Zunächſtliegenden beginne, will ich mich 
zuerſt über die vulkaniſchen Phänomene über der Erdoberfläche, 
darnach über die vulkaniſchen Erſcheinungen unterhalb derſelben, 
d. h. über deren Herd, verbreiten. 

Die vulkaniſchen Phänomene auf der Erde können 
in erſter Linie an den noch thätigen Vulkanen ſtudirt werden. 
Die Producte derſelben find, wie bekannt, Lava, Waſſerdampf 
im Verein mit einem Theil andrer gasförmiger Körper, ſammt 
vulkaniſchen Blöcken und Aſche. Lava ift Geſteinsmaſſe in feurig- 
flüffigem Zuftande, deren Temperatur bei dem Hervorbredyen 
auf ca. 2000° &. gejhäßt wird. Wenn diejelbe audgeflofjen 
ift, jo verfeftigt fie fich zuerft rajch an der Oberfläche und dar: 
nach langjam in dem innern Theil. Schlägt man von einem 
Stüd Lava einen Splitter ab und bereitet daraus einen Dünn- 
ichliff, jo läßt fidy mit Hülfe des Microfcoped die Structur des 
Gefteind ziemlich genau beitimmen. Man fieht, dab das Ge- 
ftein aus Kryſtallen beiteht, die in einer amorphen, gladartigen 
Grundmafje gelegen find, welches Glas den Producten gleicht, die 
erhalten werden, wenn man ein aus gewöhnlichen Silicaten be- 
ftehendes Geftein jchmilzt umd die Schmelzmafje raſch erfalten 
läbt. Das Verhältni zwifhen Glas und Kryſtallen kann ſehr 
verichieden fein. Die Glasmaſſe kann nahezu verſchwinden, fie 
fann aber audy bedeutender werden, ſodaß die Kryſtalle darin 
zerſtreut umberliegen, ja das Glas kann vorbherrichend fein, 


in weldem Falle man Dbfidian oder natürliches Glas erhält. 
(623) 


— 

Die äußeren, raſch erſtarrten Lavatheile enthalten mehr Glas als 
die inneren. Die Erjhheinungen, daß die in der Lava auf- 
tretenden Kryſtalle von verjchiedener Größe find, ift jehr allge- 
mein. Cinige der Kryſtalle find Hein und haben fidy aller 
MWahrjcheinlichfeit nach in der audgefloffenen Mafje ausgejchieden, 
andere," von größerer Geitalt, waren dagegen bereits im Erd: 
innern fertig gebildet und find von dem ausbredhenden Strom 
mit fortgeriljen worden. Dieje gröberen Kryſtalle find deshalb 
oft zerbrodhen oder an den Kanten gejchmolzen. Biöweilen 
ſieht man in leßteren auch microfcopifche, mit einer Flüjfigkeit 
erfüllte Hohlräume, welde dagegen in der jüngeren Generation 
der fleineren Kryitalle nicht beobachtet werden. 

Um die Lavaftructur zu illuftriren, ift das Bild einer ba— 
ſaltiſchen Lava, wie ed fidy unter dem Microjcop herauögeftellt, 
beigegeben. Prof. Mohn hatte betreffendes Geftein gelegentlich 
der norwegiichen Nordhaverpedition von der Injel Ian Mayen 
mitgebradyt. In dem Glad, dad mit Schwarz wiedergegeben, 
erblidt man zunächſt eine jüngere Generation von kleinen Kry- 
ftallen, nämlich langgeftredte Feldipathe und rundliche Augite; 
weiter fieht man eine ältere Generation von größeren Kryitallen, 
beitehend aus Augit, Feldipathen (auf denen die Zwillingsſtrei— 
fung, wie man fie bei gefreuzten Nicol8 beobachtet, eingezeich- 
net ift), Dlivin (und ein ſchwarzes Eiſenerz, dad in der Figur 
nicht angegeben: ift). 

Außer der Lava geben die Bulfane auch gasförmige Körper 
ab. Der wichtigſte derjelben iſt Waſſerdampf, welcher theils 
mit mehr oder weniger erplofionsartiger Heftigfeit aus dem 
Krater ausitrömt und fich zu einer Dampfwolfe verdichtet, theild 
aus dem Lavaftrom fo lange auffteigt, bis leßterer erfaltet ift. 
Man muß fi) vorftellen, dab im den glühenden Mafjen des 
Erdkernes fid, Wafjerdampf abforbirt findet. Sobald die Lava 


(624) 


— 
zur Oberfläche und unter geringeren Druck kommt, und in ver« 
ftärftem Mabjtabe, wenn diefelbe erftarrt, jcheiden fich diefer und 
die übrigen gasförmigen Körper ab. Darin! jpielt fi ein 
Proce ab, wie wir ihn bei verjchiedenen anderen Subftanzen 
jeben. Ein allgemein bekanntes Beifpiel dafür, daß eine Flüffig- 
feit, die unter einen geringeren Drud gelangt, das abjorbirte 
Gas abgeben kann, bieten die fohlenjauren Mineralwäller. Daß 





Fig. 1. Bafaltifhe Lava. Jan Mayen. 

Fig. 2. Olivinführender Gabbro. Bergen, Norwegen. 

Die Figuren illuftriren den Unterſchied zwiſchen verhältnismäßig jchnell 
abgetühlten vulkaniſchen nnd langſam abgefühlten plutoniichen Gefteinen. 

A ift Augit; P Feldipath (Plagioklas), deren Zwillingsftreifung jo ge: 
zeichnet ift, wie fie ſich zwiſchen gekreuzten Nicold zeigt; O Dlivin. Auf 
Fig. ı fommt dazu Glas (ſchwarz), Kleine weiße Feldſpathleiſten und Kleine 
rundliche, kreuzweis ſchraffirte Angite. 


auch beim Uebergang aus dem flüffigen in den feſten Zuſtand 
ein derartiges Ausſcheiden von Subſtanzen ſtattfinden kann, zeigen 
uns die in dem Eis ſo häufig vorkommenden Luftblaſen, die ſich 
beim Gefrieren ausſcheiden. Ein Exempel für ganz den näm— 
lichen Vorgang, der dem in der Lava noch mehr ähnelt, bietet 
das Silber dar.?) Dieſes Metall befitzt die Eigenſchaft, im 
geichmolzenen Zuftande beträchtliche Mengen Saueritoff aus der 


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Luft aufzunehmen und denfjelben im Augenblid, wo ed erftarrt, 
wieder von ſich zu geben. Died gejchieht unter kleinen Erplo- 
fionen, bei denen Silbertheile unter Geräuſch umbergejchleudert 
werden; man nennt dieje Erfcheinung dad Spraßen des Eilbers. 
Unter gewifjen Bedingungen vermag ein Volumen des gejchmol« 
zenen Silberö nicht weniger ald das 20 fache Volumen Eaueritoff 
zu abjorbiren. Der Grund davon, dab alle dieje luftförmigen 
Körper in diefem Fall mit erplofionsartiger Heitigfeit ausge: 
trieben und nicht, wie bei dem Gefrieren des Wafjerd, langjam 
ausgejchieden werden, liegt in der höheren Temperatur, die bei 
dem Freimwerden eine ſehr ftarfe Ausdehnung bewirkt. 

Neben Waflerdampf wird von den Vulkanen bejonders 
Chlorwajlerftoffiäure und jchweflige Säure ausgehaucht, die bei 
verringerter vulkaniſcher Wirkſamkeit von Schwefelmafferftoff und 
Kohlenjäure abgelöft werden. 

Die dritte Gruppe vulfanijcher Producte, Bomben und 
Aſchen, beiteht aus größeren und fleineren Zavatheilen, welche 
die entweichenden Gaſe und Dämpfe mit ſich im die Luft empor— 
gerifjen haben. 

In einzelnen Fällen kann ein vulfanijcher Ausbruch bloß 
mit Auswurf von feften Steinen vor fidy gehen, ohne daß da- 
bei Lava hervorquillt; died war z. B. bei dem Ausbruch des 
Vulkans Askia auf Island im Jahre 1875 der Fall3), bei 
welcher Eruption die Aſche bis zu und nad) Norwegen getragen 
wurde. 

Bei anderen Gelegenheiten jcheint wieder ausſchließlich 
Lava audzufliegen. Man vergleiche dazu Geifie’d Beſchreibung 
der Lavamüften am Snafe-River in Idaho.*) 

Bon der audgefloffenen Lava, dem Stein und Ajchenregen, 
werden um die Krateröffnungen herum die fegelförmigen vulfa= 
niſchen Berge aufgebaut. In Bezug auf die geographiſche Ver— 


9 


breitung derſelben zeigt ſich die Eigenthümlichkeit, dab fie 
in Reihen hinter einander wie Perlen an einer Schnur liegen. 
Oft iſt es der Fall, daß ſogar ein einzelner Bergkegel eine Reihe 
von Kratern aufweiſt, von denen der eine nad) dem andern 
thätig geweſen ift. So ift unter anderen der Hefla nad) Kjerulf’s 
Beihreibung ein Bergrüden, auf dem mehrere Krater gelegen 
find.5) Dur dieſe Verhältniffe drängt ſich und die Ueber- 
zeugung auf, daß die Vulkane über Spalten in der Erdfrufte 
liegen. Daß die Krater, wie ed oft der Fall ift, doch als ziem- 
ih runde Deffnungen erſcheinen, geht wohl auf eine Ähnliche 
Weije zu, wie die Bildung der in die Gletſcher vertikal nieder: 
fteigenden cylindriſchen Waflerfallöffnungen (Moulins). Wenn 
ein über einen Gleticher fließender Bach in eine Spalte hinab 
ſtürzt, jo wird diejelbe an der betreffenden Stelle ausgeweitet, 
und wenn fi nun aud in Folge der Bewegung des Gletſchers 
die Spalte wieder jchließen jollte, jo bleibt doch das früher ge- 
bildete Koch zurüd. Im gleicher Weije werden die vulkaniſchen 
Ausbruchsmaſſen, jobald fie ſich erit an einer Stelle der Spalte 
Luft gemacht haben, ihre Bahn durch Losreißen und Schmelzen 
ded Nebengefteined erweitern. Sollte ſich nun aud die Spalte 
wieder jchließen oder follte diejelbe ausgefüllt werden, jo wird 
doch ein mehr oder weniger runder Sanal zurüdbleiben, der die 
Dberflädye mit dem Erdinnern verbindet. 

Wenn ein wirkfjamer Krater verftopft wird, jo bahnen die 
unterirdifhen Kräfte fih am liebften in derjelben Spalte an 
einer anderen ſchwachen Stelle einen Weg. Die Ausbrucdyäitelle 
fann auf dieje Weije gleihjam in einer beftimmten Linie fort- 
wandern. 

Nachdem wir jo verſucht, und in Kürze über die Verhält— 
niffe bei thätigen Vulkanen zu orientiren, gehen wir zur Be- 


trachtung der erloſchenen über. Das Studium derſelben wird 
(627) 


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und in der Erkenntniß des Weſens des Vulkanismus einen be> 
deutenden Schritt weiter führen. Das Interefjanteite bei diejen 
ift, wenn uns died auch auf den erften Blid nicht fo jcheinen 
jollte, daß diejelben nicht mehr Vulkane in ihrer VBollftändigfeit 
und Urjprünglichkeit darbieten, jondern daß wir im ihnen nur 
mehr oder weniger unvollftändige Reſte von ſolchen befigen. 
Kaum hat nänlidy die vulkaniſche Thätigkeit ihr Ende erreicht, 
jo beginnt dad rinnende Wafjer jeine Wirkſamkeit und diejes 
ſucht befanntlidy) Alles von der Erdrinde, was über den Meere 
hervorragt, zu zerftören und zu bejeitigen. Die aufgehäuften 
Gruptionsprodufte werden von Bächen und Flüfjen tiefer und 
tiefer durchfurcht; mehr und mehr wird davon fortgeſchwemmt 
und mit der Zeit können jogar mächtige Gebirge von der Erd» 
oberfläche verjehwinden. Diejer Zerftörungsproceß bringt für 
den Geologen einen großen Vortheil mit ſich; er öffnet ihm 
dad Innere der Vulkane. Letztere werden zerjchnitten oder, um 
und eines anatomijchen Ausdrucks zu bedienen, vor feinen Augen 
jecirt. Wohl kann ein einzelner Menſch die vollftändige Section 
eined Gebirges nicht überwachen, die dazu nöthige Zeit ift allzu 
zroß. Für unjern Zwed ift died audy gar nicht nothwendig. 
Der Anatom hat ed gleichfalls nicht nöthig, die verjchiedenen 
Drgane an ein und demijelben Individuum zu ftudiren. Er 
fann an dem einen die Haut, an einem andern die darunter 
liegenden Muskeln, an einem dritten endlich dieje oder jene in- 
neren Theile unterjuhen. In gleicher Weile bieten die zu 
Tauienden vorhandenen erlojchenen Vulkane dem Geologen 
Sectionsjchnitte zur Unterjuchung dar. Cinzelne, bei denen die 
denudirenden Kräfte erft eine Eurze Zeit wirkten, zeigen nur 
einen Schnitt durch die Haut; von dieſen finden fich alle Ueber: 
gänge zu anderen, die uralt find und die Eingeweide der Gebirge 
vollſtändig bloßgelegt haben, jo daß diefe in Augenjchein ge- 
(628) 


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nommen werden fönnen. In einer Beziehung ift der Geolog 
doch unglüdlicher daran als der Anatom; diejer fann fidh, wenn 
er ed beabfichtigt, bei der Section eined Individuums von ber 
gegenfeitigen Lage der Theile Gewißheit verichaffen, eine Mög- 
lichkeit, die für den Geologen nicht vorhanden it. Der Geolog 
muß dafjelbe Rejultat dadurch zu erreichen judyen, daß er zer- 
ftreute Objervationen, von denen eine jede allein unvoll« 
ftändig ift, mit einander verbindet. Diejer Theil der Geologie 
ift deshalb von einer gewifjen Unficherheit begleitet und ijt zur Zeit 
nod) Gegenftand der Didcuifion. Dasjenige, was über denjelben 
mitgetheilt werden kann, iſt deöhalb mehr eine Auffaliungsmeife, 
ald etwas abjolut Feftitehendes. 

Bisweilen fieht man, daß der innerfte Kern von Bulfanen 
von einer compacten, gleichartigen Mafje gebildet wird, die 
jo zu jagen von einem einzelnen Guß hervorgebracht wurde, 
während der äußere Theil von Lavaſtrömen und Ajchelagen auf: 
gebaut wird. Die Art und Weiſe, auf welche die inneren 
Mafjen entitanden, kann wohl vericyieden jein. Eine Erflärungs- 
weile, die nad) meiner Meinung die Aufmerkjamfeit bejonders 
in Anfpruh nehmen muß, ift die, welde Hochftetter 
aus Anlaß einiger mit fünftlihen Vulkanen angeftellten 
Erperimente gegeben hat. Wir wollen bei derjelben eine kurze 
Zeit verweilen, um jo mehr, da es mir jcheint, ald ob fie und 
auch eine richtige Borftellung von den wejentlichiten Momenten 
bei den vulfaniichen Ausbrüchen gewährt.®) 

Sn einer Sodafabrif, die Hochftetter bejuchte, reinigte man 
den ald Nebenproduft gewonnenen Schwefel dadurch, dab man 
denjelben in einem Dampfjchmelzapparat unter einem Drud von 
2—3 Atmojphären und bei einer Temperatur von 128° G. mit 
Waſſer erhitte. Den gejchmolzenen Schwefel lie man in Holz» 


formen fließen, in denen fidy bald eine Krufte auf demfelben 
(629) 


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bildete. In lebterer blieben jeboch einzelne offene Stellen, aus 
weldhen während der fortjchreitenden Erftarrung ded Schmwefeld 
einzelne ganz eigenthümliche Kleine Ausbrüche ftattfanden. 

Es zeigte fich nämlich, daß der flüffige Schwefel im Schmelz: 
apparat eine gewiffe Menge Wafjer in ſich aufgenommen hatte, 
und dab das jo gebundene Wafjer nady und nad in Form von 
Waſſerdampf frei wurde, während der Schwefel aus der flüſſi— 
gen Form in die feſte überging. Darauf beruhen die Ausbrüche, 
weldhe in Mandhem den Erplofionen gleichen, die ftattfinden, 
wenn dad gejchmolzene Silber jeinen Sauerftoff auögiebt. Bei 
einem jeden Ausbruch wird ein Theil der flüjfigen Schwefel— 
mafje durch die vorhandene Deffnung hindurchgepreßt und breitet 
fih nun auf der feften Krufte jo lange aus, bis der Schwefel 
erftarrt. Nach und nad) bildet ſich jo in Folge der fortgejegten 
Eruptionen ein höher und höher werdender Kegel. 

Hat derjelbe eine gewifje Höhe erreicht, jo nimmt die Aus— 
bruchöftelle mehr und mehr die Form eined Kraterd an; die 
Gruptionen werden heftiger, mehr erplofiondartig, und der ge= 
ſchmolzene Schwefel fließt in Strömen, förmlichen Lavaftrömen, 
an den Seiten des gebildeten Kegeld herab. Unmittelbar nach 
einem joldyen Ausbrudye ift der Krater vollfommen leer, und 
man fann beobachten, wie der Schwefel nad) und nad) in dem 
Kraterfanal emporfteigt, wie er endlidy dad Ende dejjelben er— 
reicht und dann audgeftoßen wird, indem mit einem Male eine 
itarfe Dampfentwidlung auftritt, was fih durch Bildung 
einer kleinen Rauchwolke zu erkennen giebt. Dieſe Erſchei— 
nungen find ganz die mämlidhen, wie fie von Forichern, 
welche fi) während eined Vulkanausbruches der Ausbruchs— 
jtele genügend weit nähern konnten, beobadytet und be» 
Ichrieben worden find. Am Schluſſe des Cruptiondprocefjed 


wurde bei den Schmwefelvuulfanen der Schwefel auh in 
(630) 


13 


Form von Tropfen ausgeworfen, die, ähnlidy vulkaniſchen Bom— 
ben, in größerem oder geringerem Abftand vom Ausflußfanal 
niederfielen. Man fann Ausbrühe zum Schweigen bringen, 
wenn man in einiger Entfernung vom Kegel in die Kruſte ein 
Loch ſtöht umd auf dieje Weile eine neue, tiefer gelegene 
Gruptiondöffnung erzeugt. Brady man jept den alten Bulfan 
entzwei, jo zeigte ſich derfelbe im Innern hohl, indem ein Theil 
der Kruſte, wie die zuerit ausgeworfenen Mafjen von Neuem 
geihmolzen worden waren. Ließ man dagegen die Eruptionen 
jo lange vor ſich geben, bis fie von jelbft aufhörten, fo erhielt 
man einen Durchſchnitt durch einen vollftändig maſſiven Kegel, 
indem in diefem Falle der innere Hohlraum zulett von feftge- 
wordenem Schwefel ausgefüllt worden war. 

Hodhitetter glaubt nun, dab ähnlidye Hohlräume, wie die 
ſoeben bejchriebenen, audy in den natürlichen Bulfanen eriftiren. 
Daß erftarrte Maffen von hervordringender Lava wieder ge— 
ſchmolzen werden können, ift nicht jo auffallend; man denfe 
daran, dab eim älterer Yavaftrom dadurd, da ein jüngerer über 
ihn binwegfließt, an der Oberfläche wieder flüffig werden fann. 
Die zulegt den Hohlraum erfüllenden gejchmolzenen Steinmafjen 
erftarren langſam, da fie ein verhältnigmäßig bedeutendes Volumen 
befigen und im Erdinnern begraben liegen. Man erhält einen 
maffiven Kern, der fi) von dem übrigen jchichtenweis aufge: 
bauten Theil unterjcheidet. Werden nun die Äußeren Partien 
eines Vulkanes entfernt, indem die zeritörend wirkenden Kräfte 
während langer Zeiträume von ihnen Material fortführen, jo 
behält man einen größeren oder fleineren Theil jenes inneren 
Kernes, vielleiht mit Reiten der Hülle zurüd. 

Auf dieje Weile erflärt man fid, und mwahrjcheinlich mit 
voller Berechtigung, die Bildungsweije vieler Baſaltkuppen und 


anderer, mit jenen in der Art ded Vorkommens übereinftim- 
(631, 


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mender vulfanifcher Gefteine.. Die im Vorftehenden erläuterte 
Auffaffung von dem inneren Bau der Bulfane muß vielleicht 
auch auf die fogenannten plutonifchen Gefteine, d. h. ſolche, 
die audfchließlich aus deutlichen Kryſtallen zuſammengeſetzt find, 
wie Granit, Syenit, Diorit, Gabbro ıc., ausgedehnt werden. 
Der hauptiächlichfte petrographifche Unterjchied zwiſchen diejen 
Gefteinen und den Laven befteht darin, daß erftere feine 





Big. 3. 

A. Ein thätiger Vulkan. Das fenfreht Schraffirte ftellt die Erdfrufte, 
auf welde der Bulfan aufgebaut ift, dar. Der Bulfan jelbft befteht aus 
einem inneren Hohlraum, der von flüjfiger Gefteinämafje erfüllt if, und 
einem äußeren gejhichteten Theil, aufgebaut von Lavaftrömen, Stein: und 
Aſchelagen. 

B. Ein erloſchener Vulkan. Derſelbe beſteht aus einem maſſiven Kern 
und einem Reſt von dem außeren geſchichteten Theil. Der urſprüngliche 
Umfang des Vulkans ift durch punftirte Linien angedeutet. 


Glasmaſſe einſchließen. Eine Mittelftelung nehmen die Por- 
phyre ein. Denft man fi, dab im der durch Fig. 1 veran- 
ſchaulichten bajaltiichen Kava dad Glas verjchwinde, jo erhält 
man eine Grundmafje, die aus Fleinen (für daß unbewaffnete 
Auge unfichtbaren) Feldipathen und Augiten befteht, in der grö- 
Bere Individuen von Feldipathen, Augit und Dlivin zerftreut 
umber liegen. Ein ſolches Geftein muß olivinführender Augit- 
porphyrit genannt werden. Tritt die Menge der Grundmaffe 
(632 


15 


mehr und mehr zurüd, jo erhält man ſchließlich eine aus an- 
nähernd gleich großen Feldſpathen, Augiten, Dlivinen beitehende 
Bergart; diefe wird ald ein olivinführender Diabas oder, wenn 
der Augit in der unter dem Namen Diallag befannten Barietät 
auftritt, als olivinführender Gabbro beftimmt werden. Ein jol- 
ches Geitein iſt in Fig. 2 zum Bergleih mit der bajaltiichen 
Yava abgebildet worden. 

Betreffs der Art des Vorfommend zeichnen fid die pluto— 
niſchen Gefteine vor den vulkaniſchen dadurch aus, daß fie oft 
in gewaltigen, gleihförmigen Majfiven auftreten. Mehrere der: 
jelben hat man in leßter Zeit als die Gentralpartien gewaltiger 
Vulkane deuten wollen. Bejonders iſt ed Judd, der dies als 
Rejultat feiner Studien an den EGruptivgefteinen auf den weft: 
ih von Scyottland gelegenen Inieln und im Umkreis der alt- 
befannten Bergftadt Schemnit in Ungarn, hervorgehoben hat.) 
Mir wollen zur näheren Erklärung dieſer Auffaſſungsweiſe ein 
beftimmted Beiipiel, die zu den Hebriden gehörige Inſel Mull 
wählen. Umftehend find von diefer Inſel ſowohl eine fleine 
Kartenjfizze, ald au ein von S.W. nad N.O. gehender Quer: 
ſchnitt beigefügt, auf welch' leßterem der Deutlicyfeit wegen die 
Höhe etwas größer genommen wurde, ald fie in Wirklichkeit ift. 

Diefer Bulfan rührt aus der Zertiärperiode ber, und er: 
giebt fich deffen Geſchichte nach Judd kurz folgendermaßen. Zu— 
erſt wurde von ziemlich kieſelſäurereichem Material ein Vulkan— 
kegel aufgebaut, deſſen äußerer Theil aus Lavaſtrömen und La— 
gen von Auswürflingen beſteht (c), während das Innere von 
Granit‘ und ähnlichen Gejteinen (b) gebildet wird. Im 
Grunde genommen war die gefammte flüjfige Mafje, welche zum 
Ausbruch gelangte, von derjelben Art; aber diejelbe eritarrte in 
der Zuft, wo fie fib rafch abfühlte, auf echt vulkaniſche Weiſe 
mit Lavaftruftur, während fie im der Tiefe, wo die Abkühlung 

(633) 


16 





langfamer vor fi ging, plutoniſch, ohne Glas, ausfroftallifirte. 
Mir müfjen und bei diefer Gelegenheit der merkwürdigen Er: 
perimente von Fouque und Michel-Lévy erinnern, durdy welche 
Gefteine auf fünftliche Weije dargeitellt wurden. Diele Forſcher 
brachten mehrere plutoniſche Gefteine dadurch hervor, daß fie 
die Mineralien, woraus die zu erzielenden Gefteine beftehen, in 









de 5 a abed e 


Big. 4. 
Der Mull:Bulfan. (Nah Judd). 

a Gabbro. — b Granit. — e Ausgefloffene und ausgeworfene Gefteine 
von granitifcher Zufammenjeßung. — d Ausgeflofjene Gefteine von der Zu 
jammenjeßung ded Gabbro (Bajalt); ausgeworfene Gefteine von derjelben 
Zufammenjegung find punftirt. — e Gefteine älter ald Tertiär. 


Pulverform zufammenjchmolzen. Lieben fie nun die Schmelz: 
maſſe raſch erfalten, fo erftarrte diejelbe zu Glas; erhißten fie 
die Maſſe ftarf und lange und ließen fie nun langjam feit 
werden, jo rejultirte ein Geftein mit Lavaftructur, beftehend 
aus Glas mit ausgeſchiedenen Kryftallen; eine ganz allmähliche 
Abkühlung endlich bradyte ibnen ein völlig Ervftalliniiches, ganz 


(634) 


ir 
und gar plutoniſch ausſehendes Geftein. Hierdurch wurde die 
Annahme der Geologen, daß die Verſchiedenheit zwiſchen den 
beſprochenen Strukturen weſentlich auf Abkühlungsverhältnifjen 
berube, auf dad Glänzendfte vermittelt des Erperimentes be- 
ftätigt. Nach dem Ausbruch der Fiejelfäurereichen Geiteine war 
der Mull-Vulkan während eined langen Zeitraumes der zeritö- 
renden Thätigfeit der Atmojpbäre und des Waſſers ausgeſetzt, 
wodurch fich deſſen Dimenfionen bedeutend reducirten; darnach 
folgte eine neue Periode des Ausbruched. Jetzt gelangten aber 
weit kieſelſäureärmere Maffen ald die früheren zur Eruption. 
Dieje erftarrten ebenfalld im inneren Theil des Vulkans zu 
einem plutonijchen Geftein, zu Gabbro (und Dolerit), während 
die ausgefloffenen oder emporgejchleuderten Eruptiondprodufte 
in Form von bajaltiiher Lava und naheitehenden Geiteinen feit 
wurden. Der jo aufgebaute Berg war wahrjcheinlicher Weije 
von der Höhe des Aetna und beftand aljo in jeinem inneren 
Theil aus Granit, Gabbro und ähnlichen Gefteinen, im äußeren 
aus verjchiedenen Lavaſtrömen nebit Schichten von Aſche u. |. w. 
Seit jener Zeit ift eine lange Periode der Zerftörung verfloiien, 
durdy den Zahn der Zeit ift joviel vernichtet, daß jet von dem 
einftmald ftolzen Bauwerke nicht mehr ald die Grundmauern 
übrig geblieben find. Aber eben dieje Zeritörung machte es 
möglich, daß wir den Vorgang des Baues überwachen fonnten; 
fie geitattete und einen Einblid in die Kellerräume, wo die 
plutonifschen Maſſen, die und jonft verborgen geblieben wären, 
aufbewahrt find. 

Als Rejultat aus dem Vorhergehenden ergiebt ſich dem- 
nad die Thatjache, daß ein weſentlicher Unterjchied zwiſchen 
vulfanifchen und plutoniſchen Gefteinen nicht eriftirt. Diejelben 


ftellen nur Erftarrungdmopificationen dar, indem die zuletzt ge- 
xvii. 424. 2 (635) 


18 


nannten im Erdſchooße und langjamer als die erfteren feft 
wurden. 

Die Namen derjelben find deshalb nicht unbezeichnend. 
Wohl dadıten fich die Alten, dab Vulkan unter der Erde ar- 
beitete, aber doch nicht tiefer, ald daß man den Rauch und die 
Funken aus feiner Efje jehen fonnte, während dagegen Plutos 
Reich tief in der geheimnißvollen Unterwelt gelegen war. 

Dieje hier dargelegte Anſchauungsweiſe von dem Verhält- 
niß zwilchen vulkaniſchen und plutoniſchen Bergarten, von denen 
fi) die leßteren in unzugänglichen Tiefen noch heute bilden 
werden, hat nur langjam feiten Fuß gewonnen. Mehrere der 
bedeutendften Forſcher find nody heute Gegner derjelben, indem 
fie meinen, daß die plutoniichen Gefteine einem älteren Theil 
der Entwidlungsgejchichte der Erde angehören, die vulfanifchen 
dagegen ausſchließlich der jüngiten Zeit. Es ift aber bemerfens- 
werth, dab man die Grenze für das Auftreten plutonijcher Ge- 
fteine weiter und weiter nad) der Gegenwart zu hat vorrüden 
müſſen. Es gab eine Zeit, wo man für das wichtigfte pluto- 
nijche Geftein, den Granit, behauptete, derjelbe gehöre aus— 
ſchließlich der archäiichen Formation an. ine der früheften 
Fundftellen von Granit, der jünger ald verfteinerungsführende 
Schichten ift, liegt in Kriftianiad nächſter Umgebung, und es 
erwedte dieſe Entdedung feiner Zeit das lebhafte Interefje 
Leopold von Buch's. Später hat man Granit ald Durchbruchs— 
geitein auch im jüngeren Formationen gefunden. Daß der 
Granit jo jelten mit jüngeren Bergarten zuſammen erblidt 
wird, erklärt ſich leicht daraus, daß derjelbe in großer Tiefe, 
von älterem Gebirge umgeben, erftarrt. Wir fünnen nidyt er: 
warten, daß wir derartigen, in unferen Tagen gebildeten Granit 


auffinden. Diejer wird erft für eine weit jpätere Generation 
(636) 


19 


fihtbar werden, nämlidy dann, wenn die Denudation das Innere 
des Gebirges bloßgelegt haben wird. 

Acht vulkaniiche Gefteine, gladhaltige Bafalte find in der 
neueren Zeit jchon aus der Kohlenzeit befannt geworden.®) 

Mit der Betrachtung der plutonifchen Geſteine haben wir 
zwar, ftreng genommen, die Dberfläche unfered Planeten ver- 
laffen, doch find wir, wenn wir die gefammte Maffe deijelben 
in Betracht ziehen, nur in die alleräußerften Theile der feiten 
Erdfrufte eingedrungen. 

Mir gehen jet zu dem zweiten Theil unjrer Aufgabe über, 
zur Betrachtung des unterirdiichen Vulkanismus d.h. 
aljo zu der Beſchaffenheit derjenigen Theile des Erdinneren, von 
denen die eruptiven Maflen ihren Urjprung nehmen. Hierbei 
gilt e8, die Urfache zu dem auf der Erdoberfläche vor fidy ge- 
henden vulfanifchen Prozeifen nachzuweiſen, eine Frage, die mit 
viel Scharffinn zu löſen verſucht worden ift. Gewöhnlich ift 
man dabei jo zu Werke gegangen, dab man das heraudzufin- 
den ſuchte, was man bei den vulfanifchen Eruptionen für das 
Mejentliche hielt, die Temperatur der Lava, den Waflergehalt 
derjelben ıc. Dies juchte man mit dem, was und von der Erde 
im Allgemeinen befannt ilt, wie die Zunahme der Temperatur 
nad) dem Inneren zu ıc. zu verbinden. Aus diejen Materialien 
baute man Theorien auf, die jedody jehr verichiedenartig aus— 
fielen, da ein Koricher diejen Umftand, ein anderer jenen für 
das Weſentlichſte hielt. Insbeſondere legten viele Gewicht dar- 
auf, daß die Bulfane in Reihen längs der Meereöfüften gelegen 
find und dab ein mejentlicher Theil des Eruptionsmaterialed 
aus Waſſerdampf im Verein mit verjchiedenen anderen Sub: 
itanzen befteht, die mit gewiſſer MWahrjcheinlichfeit von den 
Beftandtheilen des Meered herrühren. Darauf bafirt die An- 


fiht, dab das Meerwaſſer auf Spalten in das Erdinnere bis 
2% (637) 


20 


zu dem gluthflüffigen Kern eindrang, dajelbft in Dampf über: 
ging, und daß diejer durch jeinen Drud die Eruptionen bewirkte. 
Andere Gelehrte, unter denen fidy der befannte Erdbebenfenner 
Mallet befindet, legten ein Hauptgewicht darauf, daß die Vul— 
fane mit den bei dem Zujammenfinfen der Erdfrufte hervorge- 
bradyten Erdbeben in Verbindung ftehen müßten. Sie nehmen 
an, daß die bei dem Einfinfen erzeugte Wärme bedeutend ge- 
nug ift, gewifje Theile der Erdkruſte zu jchmelzen. So erklärt 
diefe Theorie dad Hervordringen der Eruptivgefteine. 

&8 wäre natürlidy von hohem Intereſſe, auf dieje verfchie- 
denen Anjchauungen näher einzugehen und zu verjuchen, bezüg: 
lich ihre gegenjeitigen Werthed ein Refultat zu gewinnen, doch 
ſcheint es mir faft ebenjo dankbar, eine andere Methode einzu: 
ſchlagen; nämlich nicht darnad) zu fragen, wie die Partien des 
Erdinneren, denen die vulfaniichen Phänomene ihren Urjprung 
verdanken, beſchaffen ſein könnten, jondern das Hauptgewidht 
auf die Unterfuhung der Localitäten zu legen, die einmal tief 
im Schooße der Erde begraben geweſen, die aber heute in Folge 
jpäterer geologiſcher Prozeſſe vor unjeren Augen bloßgelegt 
worden find. Es fönnte fich vielleicht heraußsftellen, daß der 
Herd des Bulfanismus doc nicht jo gänzlich unzugänglich ift, 
wie died gewöhnlic angenommen wird. Diefes directe Studium 
der tiefer gelegenen Theile der Erdkruſte ijt ziemlich jchwierig, 
bejonderd dedhalb, weil die bier in Rede kommenden Gefteine 
zum größten Theil bedeutenden Veränderungen unterlegen gemejen 
find. Jetzt jedoch, da man die Rejultate der mannigfachen Detail- 
unterfuchungen zu jammeln beginnt, bat e8 den Anichein, als 
ob die von den verichiedenen auf diefem Gebiet thätigen For— 
jchern vertretenen Meinungen ſich im einer gemeinjamen Ans 
ſchauung vereinigen wollten. Bevor idy mich zu derjelben jpeciell 


wende, muß ich zwei wichtige, in Verbindung mit unjerem Ge- 
(635) 


21 


genftand ftehende, geologiſche Prozeſſe beiprechen, nämlich die 
Faltung der Erdfrufte und den Metamorphismus. 

In Betreff des erfteren, der Faltung, hat es fi nämlich 
gezeigt, daß mächtige Gebirgäfetten, 3. B. die Pyrenäen, die 
Alpenkette, das Himalayagebirge u. a. m. aus ſtark gefalteten 
Schichten aufgebaut find. Hinfichtlid der amerifaniichen Ge— 
birgsſyſteme hat dies befonderd Dana hervorgehoben, während 
Sueß und nad) ihm Heim dafjelbe für die Alpen gethan haben. 
Für Norwegen hat Prof. Kjerulf jchon vor längerer Zeit nach— 
gewiejen, welch’ bedeutungsvolle Rolle die Faltung im Aufbau 
der Gebirge jpielt. 

Ald Grund zu dem Faltungdproce nimmt man die Ab- 
fühlung der Erde an, indem man fidy vorjtellt, daß dieje Ab- 
fühlung von einer allgemeinen Gontraction, in Sonderheit der 
inneren Theile, begleitet wird. Damit nun die Krujte ſich dem 
beftändig jchwindenden Kern anpaſſen kann, wird diejelbe ge— 
zwungen, ſich bei diefem Abfühlungsproceß in Falten zu legen. 
Einige Forſcher denken fidh, dab diejed Zufammenrunzeln be- 
fonderd längs der Gonturen der großen Continente vor ſich gebe, 
indem fie annehmen, dat jowohl dieje, wie der Grund der Welt- 
meere feſte Schollen jeien. Diejelben find an den Partien, an 
denen fie an einander jtoßen, verhältnismäßig ſchwach und geben 
den die Faltung hervorbringenden Drudkräften nad). Als Bei- 
jpiel für eine Bergfette längs des Randes eines Feftlandes führt 
man vornehmlich die Anden an. 

Die Faltung kann biöweilen ſehr ftark fein. In den Alpen, 
welche in dieſer Beziehung in Europa am genaueften unterfucht 
find, kann man mehrere Stellen jehen, wo zwijchen ſehr jungen 
Formationen Theile der archäiſchen Formation (Grundgebirge), 
nämlid) Glimmerſchiefer, Hornblendeichiefer und vor Allem 
Gneiß, hervorgepreßt worden find. Es find dies die fo viel 


(639) 


22 


beſprochenen Gentralmaffive der Alpen. Als Beiipiel für ftarf 
gefaltete Schichten ift in Fig. 5 ein Profil aus den Alpen nad) 
Heim abgebildet, für welches man fidy vorftellen muß, dab die 
Falten einftmald vollftändig geweſen find, wie died durch die 
punftirten Linien angedeutet ift. Die weißen Partien ftellen die 
finftalliniichen Schiefer dar. Zur Rechten hat man das Gentral» 
maffiv von Finfteraar, innerhalb welchem bei x durd Faltung 
einige Partien von’ jüngeren noch nicht ganz ficher bejtimmten 
Schichten zu liegen gelommen find. Das Schwarze ift Trias, 


Schächenthal. Windgälle. Das Finfteraarmaffiv. 





Fig. 5. 
Profil durch einen Pe der Alpen (nad Heim). 
Lias und brauner Zura, das Dunfle mit weißen Linien oberer 
Jura, der geftrichelte Theil endlich Eocaen. 

Dur die gewaltigen, bei der Faltung thätig gewejenen 
Drudfräfte find die Gejteine oft einer inneren Formveränderung 
unterworfen worden, die ſich im eriter Linie deutlich durd) das 
verzerrte Ausſehen der Foifilien und durdy die veränderte Form 
von Fragmenten in gewiſſen Gonglomeraten fund giebt. Es hat 
den Anjchein, als ob die Gefteine unter hinreichend ftarfem 
Drude plaftiich würden, ſich in ihren Eigenjchaften den flüffigen 
Subftanzen näherten. Neben dem Drude fünnen wir und als 


mitwirfended Agens die erhöhte Temperatur, welche die Gefteine 
(640) 


23 


in Folge der bei der Faltungsarbeit entwidelten Wärme erlangen, 
vorstellen und zum Theil auch den Umftand, dab die Gefteine 
von ihrer unjprünglichen Lagerftätte tiefer in das Erdinnere ge- 
zogen wurden. 

Mir gehen num dazu über, einen Blid auf die Erſcheinungen 
zu werfen, weldye unter dem Namen Metamorphismus zufammen- 
gefaßt worden find. Da zeigt fi) und zuerft der über 
weite Streden audgedehnte Methamorphismus, der jog. regionale, 
den wir an mehreren Drten bei gefalteten Schichtſyſtemen, die 
tief im Erdinnern begraben waren, beobadyten. Hier haben 
Kryftallifationdkräfte in den Gefteinen gewirkt, durdy welche 
legtere verändert, metamorphofirt worden find. Die Hlaftijche 
Natur ift in den Hintergrund getreten, um von einer mehr oder 
weniger deutlichen Eryftalliniichen erjegt zu werden. Auf diefe 
Weiſe find Gefteine wie z. B. einige Glimmerjchiefer und Gneihe 
hervorgegangen, von denen man eher glauben jollte, dag man 
in ihnen ein Glied der archäijchen Formation, und nicht ein jol- 
ches von jüngeren Schichten vor fidy habe. Dieſe Verwandlung 
ift wohl weniger auffallend, wenn man fi) vergegenmwärtigt, 
daß die jüngeren Elaftiichen Gefteine zum größten Theil aus 
Mineralien aufgebaut worden find, die in letter Inftanz von 
den fryftalliniichen Sciefern herrühren. Der Metamorphismus 
wird jo wohl in vielen Fällen zu einem einfachen Zurückkehren 
zur urſprünglichen Kryftallinität. 

Es wurde an einer früheren Stelle erläutert, auf welche 
Weile Fonquet und Michel-Lévy aus pulverifirten Mineralien 
kryſtalliniſche Gefteine dargeftellt haben; in Verbindung damit 
muß gleichfalld erwähnt werden, dab Spring gezeigt hat, wie 
man vermittelft ftarfen Drudes verjchiedene in Form von Bruch— 
ftüden vorhandene Körper in zufammenhängende kryſtalliniſche 


Mafien überführen kann. So ftellte er durch einen Drud von 
(641) 


— — 

5000 Atmoſphären aus braunem Pulver von Manganſuperoxyd 
einen ſchwarzen Block von Pyroluſit dar. Weiter hat derſelbe 
Forſcher nachgewieſen, daß gewiſſe chemijche Verbindungen ver: 
mittelft hohen Drudes hervorgebradyt werden. So wurde ein 
Gemenge von Kupferfeilipähnen und grobem Schwefelpulver bei 
obengenanntem Drude zu jchwarzem Fiyitalliniichen Kupfer: 
glanz.?) Spring deutet an, dab man dieſe Refultate bei Er- 
färung des Metamorphismus verwerthen fönne. 

Neben dem Regionalmetamorphismus beiteht eine zweite 
Art von Umwandlung, der Grenz= oder Gontactmetamorphiämus. 
Man veriteht darunter die Veränderungen, welche Gefteine im 
Contact mit Gruptivgefteinen erlitten haben, welche durch fie 
bindurchbradyen. Dieje Veränderungen beitehen zum großen Theil 
darin, dab die Umgebung der eruptiven Gefteine eine Structur 
annimmt, die fich der Tertur des Eruptivgeſteins jelbft nähert; 
natürlich hat dad Gejagte nur für die Fälle Geltung, in demen 
das betreffende Geftein eine ähnliche chemiſche Zujammenjegung 
befigt. Wie wir oben jahen, zeihnen ſich die vulfaniichen Ge— 
fteine duch ihre Glasbaſis aus; damit übereinftimmend zeigt 
ed ſich oft, daß die durch fie veränderten Gefteine zu einem 
Glas geichmolzen find, oder daß da, wo es nicht joweit fam, 
die BVerglajung doch durdy ein beginnendes Zujammenfintern 
eingeleitet worden iſt. Die rein Fryitalliniichen plutoniſchen 
Gefteine zeigen dagegen die Tendenz, eine entjprechende rein 
kryſtalliniſche Structur hervorzubringen, biömeilen jogar, wenn 
die mothwendigen Subitanzen vorhanden find, mit Erzeugung 
von Mineralien, die den eigenen verwandt find, 3. B. Feldſpath 
und Glimmer. Dieje Annäherungen zwijchen den die Verände— 
rung bewirfenden und dem veränderten Gefteinen entſprechen im 
Grunde nur unjeren Erwartungen; denn die Urſache des Meta- 


morphismus befteht ja gerade darin, daß das an eine eruptive 
(649) 


285 
Bergart grenzende Geſtein eine Temperatur erlangt, welche der 
Temperatur des Eruptivgeſteines ſelbſt annähernd gleich kommt, 
und daß fie, wie dad Eruptivgeſtein, von heißem Waſſer durch— 
zogen ift. Da beide außerdem unter gleichem Drude ftehen, 
jo find mehrere wichtige Bedingungen zur Bildung derfelben 
Mineralien vorhanden. . 
Wenn man die metamorphilchen Erſcheinungen nur in ihrer 
Geſammtheit ind Auge faßt und ausſchließlich auf das Weſent— 
liche Rüdficht nimmt, fo fcheint die Aufftellung einer Scala mit 
zunehmender Kryftallinität möglich zu fein. Die Scala müßte 
von den oft unbedeutenden Veränderungen ausgehen, die in 
der Nähe der vulkaniſchen Gefteine erblidt werden und die, wie 
bereits erwähnt, zum Theil nur in einer Berglafung beftehen, 
Die nächſte Stufe nady unten würde von den tiefer eingreifenden 
Beränderungen durch die plutoniſchen Geiteine eingenommen 
werden, auf der folgenden Stufe würden die regional-metamor- 
phiihen Phänomene ftehen. Dieje Reihenfolge muß nicht jo 
aufgefabt werden, als ob diejelbe ohne Ausnahme wäre; bejon- 
ders giebt e8 wohl viele regional-metamorphofirte Gegenden, — 
dieſe Bezeichnung in etiwaß weitgehender Bedeutung angewendet — 
die weit geringeren Veränderungen unterworfen geweſen find, 
als verſchiedene durdy Gontactmetamorphoje veränderte; aber 
andererjeitö geht der regionale Metamorphismus fidyer viel weiter. 
Es jcheint, dab die Veränderungen in um fo größerer 
Tiefe vor fich gegangen find, je weiter man auf der Scala hin- 
abgeht. Was die contactmetamorphiichen Erſcheinungen betrifft, 
jo geht died aus dem oben Angeführten hervor. Wir haben ge- 
jehen, daß die vulfanijchen Gefteine auf der Oberfläche der Erde, 
oder jedenfalld derjelben näher als die plutonijchen, gebildet 
worden find. Dat der mehr entwidelte Regional-Metamorphis- 


mus in einer beträchtlichen Tiefe ftattgefunden haben muß, kann 
(643) 


— 


man daraus ſchließen, daß die Geſteine während des Faltungs— 
proceſſes plaſtiſch geweſen ſind. In Bezug auf dieſen Schluß 
iſt es gleichgültig, ob man ſich als Urſache für das Plaſtiſch— 
werden den ſtarken Druck von gewaltigen auflagernden Maſſen 
vorſtellt, oder ob man ſich daſſelbe vornehmlich durch hohe Tem 
peratur hervorgebracht denkt; eine ſolche würde für eine große 
Strecke nur in bedeutender Erdtiefe vorauszuſetzen ſein. Auch der 
Zeitraum, während deſſen die metamorphiſchen Proceſſe vor ſich 
gingen, und das Terrain, über das fie ſich verbreiteten, ſcheinen 
um ſo größer geweſen zu ſein, je tiefer man auf der Stufenfolge 
geht. Die vulkaniſchen Geſteine treten in geringeren Maſſen 
zwiſchen kalten Umgebungen auf und nehmen deren Temperatur ſehr 
bald an. Die Einwirkung auf das Nebengeſtein kann deshalb bis— 
weilen nur auf Strecken von einigen Centimetern oder Millimetern 
verfolgt werden. Die plutoniſchen Geſteine hingegen treten in 
größeren Maſſen und tiefer in der Erdkruſte auf; die begleitenden 
Veränderungen können ſich deshalb bis auf ein oder mehrere Kilo— 
meter erſtrecken. Die regional-metamorphiſchen Erſcheinungen 
find über weite Strecken ausgebreitet und haben ſich in Erd— 
ſchichten abgeipielt, deren Temperatur fi wahrſcheinlich nur 
ſehr allmählich verändert. 

Nah diefem Blick auf den Faltungsproceß der Erdrinde 
und den Metamorphismus kehren wir wieder zum Vulkanis— 
mus felbit zurüd. Es eriftirt eine Verbindung zwiichen den 
plutoniichen Gefteinen einer» und dem Grundgebirge jammt den 
regional-metamorphofirten Schiefern andererſeits, gleichwie wir 
ſahen, daß ein folder Zufammenhang zwiichen den plutoniſchen 
und den vulfanifchen Gefteinen vorhanden war. Dieje Ber: 
bindung kann nad zwei Richtungen hin nachgewielen werden, 
einmal durch die mineralogijche Eonftitution der Gefteine, das 


andere Mal durch die Art und Weile, wie diejelben vorkommen. 
(644) 


27 
Was das Erftere betrifft, jo muß zuerft die Lebereinftimmung 
hervorgehoben werden, die zwijchen den fruftalliniichen Schiefern 
und den plutoniſchen Geiteinen z.B. zwiſchen granitähnlichem 
Gneiß und echtem, eruptivem Granit eriftirt. Die Gleichheit 
erſtreckt fich jogar auf mifroffopijdye Details, wie Flüſſigkeits— 
einjchlüffe ze. Aber wir müſſen auch auf die Uebereinftimmung 
hinweiſen, welche zwiſchen Gefteinen, die von plutonifchen Mafjen 
verändert, und folchen, die regional metamorphofirt find, befteht. 
Aus diejer Hebereinitimmung in der Beichaffenheit muß man fchlie- 
Ben, dat die Gefteine, wie wir fie num vor und haben, in bei- 
den Fällen unter annähernd gleihen Bedingungen entitanden 
find. Diefe Bedingungen find, wie bereitd hervorgehoben, für 
die contact-metamorphofirten Gefteine Temperatur, Drud, Waller: 
gehalt :c., die fich denen der Ernptivgefteine näherten, geweſen; mir 
dürfen darnach auch den nicht unwichtigen Schluß ziehen, daß 
die regionalsmetamorphofirten Gefteine in dieſen Beziehungen 
gleichfalld eine Annäherung an die Eruptivgefteine gezeigt haben; 
ja diejelben find wohl zum Theil zu mindeftens ebenjo hoher, ja 
höherer Temperatur erhitt gewejen und haben unter gleich großem 
oder gröherem Drud gejtanden u. |. w.; find ja die in ihnen vor- 
gegangenen Veränderungen oft größer als bei dem contactsmeta- 
morphofirten. Auch in der Art ded Vorkommens zeigen die kryſtal— 
linifhen und die regional=- metamorphofirten Schiefer oft An- 
näherung an die Gruptivgeiteine. Wir wollen dies an einigen 
Beifpielen erläutern. In dem Maifiv von Finfteraar in den Alpen 
tritt Gneiß im Verein mit jüngeren Sormationdgliedern, nämlid) 
Kalkftein aus dem Malm oder dem jüngeren Jura, auf. Studer 
betrachtete den Gneiß nad) einigem Zweifel für eruptiv, als auf 
Spalten hervorgepreßt. Spätere Unterfuhungen von Balßer!°) 
haben dargethan, daß die eigenthümliche Weile, in der Gneiß und 


Kalkftein an einander grenzen, indem nämlich erfterer biöweilen 
(645) 


28 


Ausläufer in den Kalkjtein ſchickt, daher rührt, daß die Gefteine 
in plaftiihem Zuftande ſtark gefaltet wurden. Der Gneiß nimmt 
in den erwähnten Ausläufern und an der Grenze mit dem 
Kalkitein oft ein granitartiged Ausjehen an. Als Beiipiel für 
eine Lofalität, wo der Gneiß die innigfte Annäherung an ein 
Eruptivgeitein gewinnt, fei hier ein Profil von Gftellihorn an— 
gegeben. 


Engelhom. Gftellihorn. 





c#1000M. 


Fig. 6. 
Keilfürmigesd gegenjeitiges Ineinandergreifen von Gneif und 
Kaltam Gſtellihorn im Berner:-Oberland. (Nah A. Balken). 

Zur Linken hat man Gneiß (G), defjen Lagerung, foweit fie fidhtbar ift, 
durh Schraffiren angedeutet ift; zur Rechten Malm (M Zura), deſſen Lage— 
rung punftirte Rinien andeuten. 

Fünf von den mehr bedeutenden fingerförmigen Gneißfeilen find durch 
Zahlen bezeichnet. 1, 3 und 5 liegen jetzt vom übrigen Gneiß iſolirt. 

a, b und c marfiren drei Malmfeken, die vom Gneiße umgeben find. 


Einen anderen Fall, in dem kryſtalliniſche Schiefer wie 
ein Eruptivgeitein auftreten, haben wir in dem fähfiichen Gra— 
nulitgebiet. Dafjelbe ftellt ſich ald ein Ellipſoid von Granulit 
(mit etwas Gneit, Gabbro, Serpentin ıc.) umgeben von einem 
Mantel, hauptſächlich aus Glimmerjchiefer beftehend, dar; um 
diejen zieht fich eine andere Zone, in der beſonders Phyllit vor— 
herrſcht. Naumann bielt den Granulit für eruptiv und fand 
eine Stüße feiner Anfidht in der eigenthümlichen Weije, auf 


(646) 


29 


welche der Granulit an einzelnen Stellen in die umgebenden 
Gefteine eingreift. Weiter wied Naumann darauf bin, dat die 
zunächſt anliegende Zone einen metamorphofirten Character trägt 
und nicht geringe Uebereinitimmung mit mehreren Gelteinen zeigt, 
die unzweifelhaft eruptiven Granit umſchließen. Gredner, der 
genaue Detailfarten über das Granulitgebiet herausgegeben hat, 
zeigte jpäter, dab der Granulit zweifellos ein geichichteted Ge- 
ftein ift. Kürzlich hat I. Lehmann endlich dargelegt, daß der 
Granulit unter ftarfem Drude gepreßt worden it. Er nennt 
einen Theil der Gefteine „eruptiv“ und nähert fich jo wieder 
der alten Naumann’schen Auffaſſungsweiſe.!1) 

Als meitered Beijpiel könnten wir aud) die von Dana be- 
Ichriebenen eigenthümlichen geologiichen Werhältniffe in Weft- 
heiter County am Hudjon !?) anführen. Wir haben übrigens 
nicht nöthig, unier eigenes Land zu verlaffen, wenn wir die im 
Erdinnern vor fi) gehenden Prozeſſe ftudiren wollen. In Nor: 
wegen liegen dad Grundgebirge und regionalsmetamorphofirte 
Schichten in einem großartigen Maßſtabe zu Tage, wie kaum 
an anderen Localitäten in Europa; ferner befißen wir größere 
und fleinere Eruptivmaflive von verjchiedenem Alter, Granite, 
Spenite, Diorite, Gabbros ıc. in Menge. Des Weiteren haben 
wir zum Vergleich unjere außerordentlid) lehrreichen Contact— 
zonen um die bei und jog. jüngeren Granite und Syenite im 
W. und N. vom riftianiafjord, die von Kjerulf und in neue= 
fter Zeit mikroſcopiſch von Brögger unterjucht wurden. 

Was die und zunädyft interejfirenden Verhältniſſe betrifft, 
jo haben Dahl und Kjerulf Schon vor langer Zeit die nahe Ver— 
wandtichaft unjerer Gneißgranite mit den echten Graniten ber- 
vorgehoben. In einer meiner Arbeiten!3) habe ich angedeutet, 
daß die übereinitimmende Gangbildung in beiden Gejteinen auf 
ein Gleiches hindeutet. An derielben Stelle habe ich auch Bei: 


(647) 


30 


ipiele dafür zu erbringen gejudht, dab geichichtete, bei ihrer 
Faltung plaftiich gewejene Gefteine gleich Eruptivgefteinen Aus- 
läufer in dad Nebengeſtein ausſchickten. 

Meberbliden wir nun im Zufammenhange die vulkaniſchen 
Phänomene, die Faltung und den Metamorphismus, jo fünnen 
diejelben in eine gemeinjame Betrachtungdweije vereint werden. 
Dieje Betrachtungsweiſe ift, wie ſchon früher betont, im 
Weſentlichen von verjchiedenen, bejonders englijchen Forſchern, 
hervorgehoben. Sie hat aber nad) meiner Anficht nody nicht die 
gebührende Würdigung gefunden. 

Die Zriebfeder in dem ganzen Mechanismus, wenn man 
diefen Ausdrud anmenden darf, iſt die jchwindende Gröhe der 
Erdfugel, deren Gontraction, wodurh die Rinde gezwungen 
wird, fi in Falten zu legen. Hierbei wird das Grundgebirge 
und die regional-metamorphofirten Gefteine local in erhitztem Zus 
ftande vom Grdinneren zu einem höheren Niveau getrieben, als ihre 
urjprüngliche Lagerjtätte war, während durdy die Faltung Dieje 
Gefteine zugleich nody höher erhit werden. Die Bildung von 
Spalten, durdy weldye die Erdrinde in Stüde zertheilt wird, 
begleitet die Faltung. Durch diejelben erhalten die von com» 
primirten Dämpfen und Gafen erfüllten, bis und über Schmelz: 
temperatur erhitzten Maſſen Ausgang. Dieje Mafjen werden 
jowohl von Gefteinen der archäiſchen Formation, deren Bildungs» 
weije hierbei außer Betracht bleiben kann, ald wohl audy von 
regionalemetamorphofirten Schichten, deren urjprünglide Be- 
ichaffenheit während des Erhitzens (Diffufion) verloren ges 
gangen, auögemadht. 

Sch halte ed deshalb für möglid, daß auch in der feſten 
Erdrinde, ähnlich der Wafjercireulation (zwiſchen der flüffigen 
und gasförmigen Aggregationsform) auf der Erdoberfläche, eine 


jedoch ungleich langſamere Girculation vor fidy geben Tann. 
(648) 


31 


Ein gegenwärtiger Lavaſtrom kann aljo zufammengejeßt jein aus 
Geröllen, die einit in Flüffen abgerundet, darauf tief unter jüngere 
Ablagerungen begraben und jpäter beim Faltungsprocei zur 
Schmelztemperatur erhitt wurden. Ein ähnliches Schickſal kön— 
nen auf der anderen Seite in Zufunft einmal die Gerölle erleiden, 
weldye heute in einem Fluß fich abichleifen oder am Strande 
umbergerollt werden. 

Man darf fich jchwerlidy vorftellen, dab die Spalten, auf 
welchen die Cruptivgefteine hervorgedrungen, gebildet wurden, 
während noch der gewaltigite faltenbildende Drud vorhanden 
war. Wurde diejer aber geringer, fo fonnten Riſſe durch Ver— 
werfungen und durch Wafler erweitert werden. (Viele Geologen 
nehmen an, daß das Entjtehen von Vulkanen durch warme 
Duellen eingeleitet werde.) Das, was die gejchmolzenen Maſſen 
hervortreibt, iſt doch wieder weſentlich der Drud, melden die 
abgefühlte Erdrinde ausübt, indem fie nach dem beftändig ab» 
nehmenden Erdinnern hin zufammenfinft. Das Zufammenfinten 
muß man fih am beiten ganz ftufenmweile erfolgend denken, 
bald an diejer, bald an jener Stelle ein wenig; die jogen. geo— 
tectonijchen Erdbeben find eine begleitende Erjcyeinung. 

Die durchaus ſchematiſch ausgeführte Fig. 7 hat den Zweck, 
zu veranfchaulichen, auf weldhe Weife man fidy vielleicht die 
Verhältniſſe im Innern der Erde vorzuitellen bat. Sie zeigt 
eine gefaltete Partie der Erdfrufte, die ſich auf der rechten Seite 
in Gebirgen erhebt, während fie übrigend von einer jüngeren 
(ſchwarz gezeichneten) Formation bededt ift. 

Die mittelfte der 3 Falten ift mehr ald die übrigen in die 
Höhe geſchoſſen; eine Faltenverwerfung in derjelben ift zu einem 
Ganal für die hervorbredhenden Eruptivgeiteine geworden, welch' 
leßtere von den punftirten Schichten auögehen; diefe Schicht hat 


(649) 


— 
zur linken Hand einen Ausläufer ausgeſandt, der jedoch nicht 
bis in die oberen, kälteren Theile der Erdkruſte gelangt ift. 

An diejer Stelle jet übrigend noch daran erinnert, daß 
die Eruptivgeiteine wegen der ftetigen Verdickung der Erdrinde 
ganz mwahricheinlich in den früheren Perioden von geringeren 
Tiefen ald heute ausgingen. Gewiſſe Nerjchiedenheiten im Ha— 
bitus der älteren und jüngeren Eruptivgefteine lafjen fid, etwa 
hieraus erflären. Es bedurfte aus demjelben Grunde eined ge- 
ringeren Graded von Denudation, um die vulfanifchen Herd- 
itellen jener älteren Zeiten bloßzulegen, als es für die jetzigen 
erforderlich fein wird. 

Ein Vortheil der in den vorausgehenden Zeilen vertretenen 





Big. 7. 
Hypothetiſcher Schnitt durdy die Erdrinde. 


Betrachtungsweiſe, nach der aljo der Herd der Vulkane in den 
unter einander verjchiedenen, gejchichteten Gebirgsmaſſen liegt, be— 
jteht darin, dab man darnach ohne Schwierigkeiten verftehen 
fann, wie ein Bulfan in verfchiedenen Perioden Materialien von 
ziemlich abweichendem chemiſchen Inhalt auszuwerfen im Stande 
it. Diele Erſcheinung ift ja jonft etwas räthielbaft. 

Ein zweiter Vortheil, den unjere Theorie in fidy birgt, liegt 
darin, daß die Nichtigkeit derielben controlirt und deren Inhalt 


immerfort durch directe Beobachtungen vermehrt werden fann. 
(650) 


33 


Wir haben ja mannigfache Schnitte durch die Erdrinde in 
größerer oder geringerer Tiefe vor und. 

Es iſt überhaupt an der Zeit, daß ed nicht mehr in dem— 
jelben Grade mie früher den räjonirenden Phufifern überlafjen 
wird, die Frage von der Urſache des Vulkanismus zu beant- 
worten. Das Problem iſt naturhiftoriih und muß in erfter 
Linie von den beobadhtenden Naturbiftorifern, in diefem Kalle 
alſo den Geologen, behandelt werden. 

Damit jei diefe Daritellung des Vulkanismus abgefchloffen. 
Es erübrigt noch darauf binzumeilen, dab ich mit ben 
auf der Erde auftretenden vulkaniſchen Erſcheinungen mein 
Thema nicht in jeinem ganzen Umfange behandelt habe. Vul— 
kanismus kommt nämlicdy nicht ausſchließlich unferem Planet zu; 
derjelbe iſt ein kosmiſches Phänomen.!*) In den Meteoriteinen 
fann man nad Tſchermak's Auffafjung direct vulkaniſche Pro- 
dufte aud dem Weltenraum ftudiren. Die bekannten Wulfane 
auf dem Monde dürfen nicht vergefjen werden. Die gewaltigen 
Eruptionen auf der Sonne müfjen gleichfalls zu dem Vulkanismus 
gerechnet werden, obgleidy das von unferen verjchwindend Fleinen 
vulfanischen Gebirgen hergeleitete Wort bier nicht beſonders 
pafjend erſcheint. Der Vulkanismus wird fo, in feiner weiteiten 
Bedeutung genommen, zu einer Phaje in der nach den aſtro— 
nomiſchen Theorien nicht nur auf unferer Erde, jondern im ge- 
ſammten Sonnenfyftem vor ſich gehenden Goncentration der 
Materie; derjelbe beginnt, jobald die Zufammenziehung einen 
gewiffen Grad erreicht und endet, wenn fie ein gewiſſes Map 
überfchritten hat. Die Sonne zeigt vielleicht ein Bild von be- 
ginnendem, der Mond ein ſolches von erlojdhenem oder erlöſchen— 
dem Bulfanismus. 


xvii. 424. 3 (851) 


Anmerkungen. 


— 


1) Dana: Americ. Journ. of Science and Arts. 3 Ser., Vol. V 
und VI. 

Mallet: Volcanic Energy. Philos. Transact. Vol. 163, Part. 1. 
1874. P. 147—227. 

Archibald Geikie; On some Points in the connection bet- 
ween Metamorphism and Volc. Action. Transact. of the Edingb. geol. 
soc. Vol. II. 1874. P. 287. 

Heim: Unterf. über d. Mechanismus der Gebirgsbildung. Mit einem 
Atlas. Bd. I und Il. Die Vulkane werden fpeciell in Bd. I, ©. 108, 
beſprochen. 

Sueß: Die Entſtehung der Alpen. Wien 1875. Beſonders: 
Dritter Abſchnitt, S. 47. 

2) Dr. E. Reyer: Beitrag zur Phyſik der Eruptionen und der 
Eruptivgeſteine. Wien 1877. ©. 8. 

3) Johnstrup: Om dei Aaret 1875 forefaldne vulk. Udbrud 
paa Island. Geogr. Tidsskrift. I. Bd. Kjebenhavn 1877. Pag. 61. 

4) Ach. Geikie: Geological sketches at home and abroad, 
London 1882. Pag. 278. 

5) Kjerulf: Stenriget og Fjeldlaeren. 3. Udg. Kr. 1878. 
Pag. 120. 

6) Situngsber. der K. Akademie der Wiſſenſch. Mathem.-naturw. 
Glaffe. LXIL, 2. Abth. Wien 1870. ©. 771. 

7) John W. Judd: The Secondary Rocks of Scotland. Sec. 
Paper. Quat. journ. of the geol. Soc. of London. Vol. XXX. 
Pag. 220—302. 

On the ancient Volcano of the District of Schemnitz, Hun- 
gary. Quart. journ. Vol. XXXII, Pag. 292. 

8) A. Geikie: On the Carboniferous Volcanic Rocks of the 
Basin ofthe Frith of Forth. Trans. Royal Soc. Edinburgh. Vol. XXIX, 
Part I, 1873—79. Pag. 502. 

(652) 


35 





9) Bull. de l’Acad. Roy; des sciences etc. de Belgique. 1880. 
2 serie. Vol. XLIX, Pag. 323 ff. 

10) Beiträge zur geol. Karte der Schweiz. Lieferung XX. Dr. 
Balger: Der mechaniſche Gontact von Gneiß und Kalk im Berner Ober” 
land. Mit einem Atlas. Bern 1880. 

11) Dr. 3. Lehmann: Ueber eruptive Gneiffe in Sachſen u. Baiern. 
Situngsberichte der niederrhein. Gejellihaft für Natur- und Heilkunde. 
Sitzung vom 12. December 1881. | 

12) James D. Dana: Geolog. relations of the limestone belts of 
Westchester county. New-York. Americ. journ. of science XX. 
1880. XXI og XXI. 1881. 

13) Die Koifilien führenden Erpftalliniichen Schiefer von Bergen in 
Norwegen. Deutih von Baldaus. Leipzig 1883. pag. 122. 

14) Tſchermak: Ueber den Bulcanismus als fosmijche Ericheinung. 
Sitzungsberichte d. K. Akademie der Wiſſenſch. Mathem.-naturw. Glaffe. 
LXXV. 1. Abth Wien 1877. ©. 151. 





(653) 











Drud von Gebr. Unger (Th. Grimm) in Berlin SW. Schoönebergerftraße 17a. 


eher Keilinfchriften. 


Von 


Dr. Earl Brzold, 
Privatdozent an der Iniverfität in München. 


GH 





Berlin SW. 1333, 


Berlag von Garl Habel. 
(C. G. Lüderity'sche Berlagsbucdhhandinug.) 
33. Wilbelm-Etrabe 33. 


Das Recht der Leberiegung in jremde Sprachen wird vorbehalten. 


Unter feilförmigen Inſchriften, Keilinjchriften oder 
Keilihriften, im Franzöfifchen: inscriptions cuneiforms, im 
Engliſchen: cuneiform oder wodge-shaped inscriptions oder auch 
arrowheaded characters, verfteht man die Denfmäler der Euphrat» 
und Tigrisländer, Perfiend und Armeniens, welche in einer eigen- 
thümlichen, von allen anderen orientaliſchen abweichenden Schriftart 
abgefaßt find. Die Charaktere derjelben find aus lauter geraden 
und an dem einen Ende ſpitz zulaufenden Strichen zufammen- 
gejegt, die nach ihrer Geftalt mit dem Namen „Keil" (oder 
„Pfeil“) bezeichnet werden. Sie erjcheinen ſowohl in horizontaler 
Richtung mit der Breitjeite nad) linls (—, coin) als aud in 
verticaler Richtung mit der Breitjeite nad) oben (7, clou), feltener 
ſchräg nach oben oder nad) unten laufend ( Nat J faſt nie 
aber ſo, daß die Breitſeite unter oder nach rechts zu ſtehen kommt. 
Durch die Verbindung eines ſchräg nach oben mit einem ſchräg 
nach unten gehenden Keile entſteht eine weitere Figur (O, der 
ſogenannte Winkelkeil oder Winkel (crochet), durch die eines 
Verticalkeils mit einem ſchräg nach unten gehenden das Zeichen 
I. Die auf jolhe Weije gewonnenen Schriftelemente wurden 
durd) Wiederholung, Neben: und Uebereinanderjtelung und durd) 
Kreuzung zu zahlreichen, zum Theil äußerft complicirten Gruppen 
vereinigt und dienten Jahrhunderte, ja jogar Zahrtaujende lang 
den verjchiedeniten Völkern zum Ausdrude ihrer Gedanfen. Die 
aus ihnen gebildeten Schriften durchlebten gleich den ihmen zu 


xviii. 425, 1° (657) 


4 





Grunde liegenden Sprachen eine reiche und reichite Entwidelung, 
bi8 diefe auf immer dem Tode, fie jelbft aber einem Jahr— 
hunderte langen Sclafe anheimfielen. Erſt im fiebenzehnten 
Jahrhundert wurde ihnen in Europa auf's Neue Beachtung ge» 
ichenft, erft in unferem dem ftarren Gefteine vernünftige Laute 
zu entnehmen und jene Sprachen zu lejen verfucht — durdy die 
Keiljchriftentzifferer und Keilichriftforfher. Dem Alter, den Fund» 
orten und dem Umfange diefer Injhriften, dem Wejen und der 
Entitehung ihrer Schriftiyiteme, den Spraden, die in ihnen 
niedergelegt find und der Bedeutung der aud diejen lebteren 
gejchöpften Nachrichten aus dem Altertyum für die Eultur- 
gejchichte die Aufmerkjamkeit zuzumenden, joll im Folgenden der 
Verſuch gemadyt werden. 

Das Ländergebiet, in dem die Keilinſchriften gefunden wur: 
den, ift ziemlich eng begrenzt im Berhältnig zum Umfange der 
ausgegrabenen Literatur. Die Hauptfundorte find die größeren 
Städte des perſiſchen und babyloniſch-aſſyriſchen Reiches, die 
Ruinen von Periepolid, die Gräber zu Nakichei-Ruftam, Mur- 
ghab, der Feljen von Behijtan oder Behiftun bei Kermanjchah, 
Sufa, Babylon, Niniveh, bejonders Nimrud, Kujundichid, Ne— 
bijunus und Khorfabad, der Fuß des Alvend bei Hamabdan, 
Wan in der Nähe des Khorkhor-Felfend in Armenien ꝛc. Das 
neben haben fidy vereinzelt auch bei Urmijeh und Malatija, am 
Nahr-el-Kelb und bei Suez Injchriften gefunden. 

Das Alter diefer Denkmäler ift zum Theil ein jehr hohes, 
aber nur annähernd zu beftimmendes. Denn da, wie jpäter ge— 
zeigt werden wird, vor dem altbabyloniichen Reiche nody weitere, 
ältere Dynaitien im Euphrat- und ZTigriögebiet anzunehmen 
find, von denen wir gleichfalls Inſchriften überfonmen haben, und 
da dad altbabyloniiche Reid, jelbft ſchon bis über das zweite Jahr— 


(658) 


5 





tauſend vor unſerer Zeitrechnung ſich zurückverfolgen läßt, da ferner 
die Sprachen ver Keiljchriftdenfmäler bis herab zur Zeit der 
Achämenidenkönige (Cyrus und feiner Nachfolger) ſich lebendig er— 
halten haben, jo darf die Literatur diefer Monumente an Alterthüm: 
lichkeit füglich mit derägyptiſchen und chinefifchen verglichen werden. 
Die zum Theil in Feljen eingehauenen Steinmonumente, die Bad» 
Reinitempel, Thonpridmen und Thoncylinder, die Marmor» und 
Alabafterplatten, die Statuen, Obeliöfen und Stierfoloffe und 
endlich die minutiöfen, faft zahllofen Thontäfelchen verdanfen alle 
einem gleichen Grunde ihre Eniftehung und ihre Erhaltung wie 
die Denkmäler des alten Aegyptens. Auch in Vorderafien herrichte 
der zuverfichtlihhe Glaube an die Uniterblichkeit der Seele, auch 
dort war das dauernde Beftreben, die Namen und Genealogie 
und die glorreihen Thaten der Könige, jowie Wiffenichaft und 
Religion fortzupflanzen auf fpätere Geſchlechter; deshalb wurde 
auf die Ginmeißelung der oft langen Berichte nicht nur Die 
größtmöglichſte Sorgfalt verwandt, jondern aud) eine und Dies 
jelbe ISnjchrift in mehreren Eremplaren abgefaßt, damit jelbit nach 
der Zeritörung ded einen oder des anderen Steines ihr Inhalt 
der Nachwelt erhalten bliebe. 

Das Material, defjen man fidy zur Herftellung der Den: 
mäler bediente, war vorzugsweiſe Stein. Baditein, Marmor 
und Alabafter wurden mit dem Meibel, der weiche und jpäter 
gebrannte Thon aber mit einer Art von Griffel bearbeitet und 
zwar in der Weiſe, dab der wahrſcheinlich aus Holz beftehende 
Screibeitift in der Form eined unregelmäßigen Dreifants zu— 
geipigt wurde, vermittelft dejjen durdy Drehung des Stiftes die 
dreierlei erwähnten Formen der Keile leidyt und raſch ein: 
gegraben werden Fonnten. Auf joldye Weile erklärt es ſich audh, 
wie die afjyriichen Gelehrten, welche die Schreibefunft erlernten 


(659) 


6 


und darin eine ungeheuere ertigfeit bejellen haben müffen, 
jelbft jo kleine Charaftere, daß wir fie nur mit der Lupe zu er- 
fennen im Stande find, einzufchreiben vermodhten. Die erwähnte 
dreijeitige Griffelipige wurde Fleiner und Feiner gewählt und da— 
durch ſchließlich ein Schriftcyaracter erzielt, der es ermöglichte, 
auf jede Seite eined Täfeldyend von 3%X4 cmm elf biö zwölf 
Zeilen mit je acht bis neun Keilichriftgruppen unterzubringen. ') 
Ob neben diefem harten Material auch ein weiches, biegjames 
im Gebrauche war, läßt fid) mit Sicherheit nicht entjcheiden. 
Jedoch ſprechen einige leider noch dunfle Stellen aſſyriſcher In— 
ſchriften ſowie die Abbildung einer Buch-Rolle auf einem Relief 
dafür, daß eine Art von Papyrus oder ein ähnliches weiches 
Schreibmaterial neben dem Thon in Anwendung kam, wovon 
leider bis zum heutigen Tage nicht ein einziges Stück uns er— 
halten iſt. 

Die Zahl, auf welche ſich die Keilſchriftinſeriptionen beziffern, 
iſt erſtaunlich groß. Denn abgeſehen von den größeren Stein— 
Inſchriften und denen, welche in Felſen eingehauen ſind und des— 
halb nicht nach Europa verbracht werden konnten, iſt die Thon— 
tafelſammlung allein des britiſchen Muſeums, ſoweit ſie mit 
Nummern verſehen in fünf großen Sälen zu London auf— 
geſpeichert liegt, im Jahre 1882 auf mindeſtens 15000 größere 
und kleinere Stücke geſchätzt worden, und mindeſtens ebenſoviel 
birgt die Londoner Sammlung an unnummerirten Stücken, 
mindeſtens zehnmal ſoviel das unerſchöpfliche Zweiſtromland 
Vorderaſiens. 

Treten wir dieſen Monumenten, die ſo lange den Gelehrten 
ein Räthſel waren, näher, und prüfen wir ihren Schriftcharakter 
auf die öftere Wiederkehr der einzelnen Zeichen hin, ſo läßt ſich 


auf den erſten Blick erkennen, daß wir es unmöglich auf allen 
(660) 


— 

Denkmälern mit einer und derſelben Schriftart zu thun haben. 
Abgeſehen von den vielfachen Variationen, die ein und daſſelbe 
Zeichen im Laufe der Zeit erlitten hat, laſſen fich im ganzen und 
großen drei verichiedene Schriftiyfteme unterjcheiden, von denen 
dad erfte ca. 40, das zweite gegen 100, dad dritte aber zum 
mindeften 400 verjchiedene Keilgruppen aufzumweifen bat. Der 
nabeliegende Gedanke, daß dieje drei Arten der Keiljchrift, die 
fich auf gewifjen Denfmälern in Berticaleolumnen nebeneinander 
finden, zur Aufzeichnung dreier verjchiedenen Sprachen dienten, 
bat fich bald beftätigt. Unmwillfürlich drängt ſich und die Frage 
auf: Wie war ed möglidy, dieje Denfmäler zu entziffern? Welche 
Spradyen mögen in ihnen verborgen liegen? Weldyer Art mag 
die Schrift fein, die und entgegentritt? Welcher Anhaltspunkt 
läßt fich finden zum Verſtändniß aud nur eined einzigen 
Wortes? 

&8 bedurfte in der That eined genialen Blickes und eines 
Iharffinnigen Kopfes, um in diefe Fülle von Zeichen Ordnung zu 
bringen und die einzelnen Worte und Wortbeftandtheile zu fichten. 
Dies gelang dem Hanoveraner Georg Friedrich Grotefend, der 
im September 1802 durdy eine kühne Gombination den richtigen 
Meg zur Entzifferung bahnte. Er verjuchte an der Hand der alten 
Glaifiker, die ihm jagten, daß die Paläfte zu Perjepolid von den 
Adyämenidenkönigen erbaut worden jeien, die Namen dieſer 
legteren auf dem Keilinjchriften wiederzufinden, befaßte fich zuerft 
mit der einfahften Schriftart und entzifferte bier die einzelnen 
Budhftaben der drei Königsnamen: Darius, Zerred und Hyftaspes. 
Ein oftmals wiederkehrende Wort, dad ein Appellativum jein 
mußte, ftellte fich alö die Bezeichnung für „König“ heraus, und da« 
mit war der Grund zur philologijchen Erklärung der Inſchriften und 
zur Beftimmung der Sprache jener einfachften Schriftart gegeben, 


(661) 


8 


die fich, wie von vorn herein zu erwarten war, als eine eraniiche 
Sprade, und zwar als das ältefte Entwidelungsftadium des Per- 
fischen erwies. Nachdem man jo weit in der Entzifferung gekommen 
war, und zu gleicher Zeit dad Material der Injchriften ſich mehrte, 
nahm die Arbeit, die nun durdy den Zujammenhalt der Sprach— 
ericheinungen mit denen der übrigen eranijchen Spradyen mwejent- 
lich erleichtert war, unter Männern wie Burnouf, Laſſen, 
Rawlinfon, Hindd und Dppert, Benfey und Spiegel 
einen langjamen aber hocdyerfreulichen Fortgang. Die Ent- 
äifferung der altperfiichen Keilichriftdenfmäler fann heute als 
abgejchloffen bezeichnet werden. 

Gerade die Ahhämenideninjchriften?) aber waren eß, 
weldye jene oben angedeuteten drei Columnen und jomit neben 
dem perfilchen noch zwei andere Terte in anderen Schriften und 
Sprachen enthielten; die leßteren ließen fich nicht anders auffafjen 
ald Ueberjegungen des perjiichen Textes in zwei zur Zeit der 
Achämeniden gleichfalld in Perfien geiprochene Sdiome. Auch diefe 
Vermuthung wurde durdy weitere Studien beftätigt, und zwar 
entpuppte ficy die zweite, in der mittleren Columne der In— 
Ichriften ftehende Sprache ald ein agglutinirendes, d. h. nach Art 
des Türfiichen gebautes Sprachidiom, das zumeift ſeythiſch oder 
auch medijch genannt wird, aber nody nicht näher beftimmt 
werden kann. Die dritte Spradye erwies ſich als der legte Aus- 
läufer des babyloniſch-aſſyriſchen Idioms, einer Schweiter- 
ſprache des Hebräiſchen, Phöniziichen, Syriſchen, Arabijchen und 
Aethiopiſchen, mithin einer fogenannten ſemitiſchen Spradhe. 
Während nun die Literatur der altperfiichen und der jogenannten 
mediichen Sprache ausſchließlich in den Achämenideninfchriften be- 
ſteht, und außer dieien bis auf die neuefte Zeit herab feine weiteren 


Reite derjelben wiederaufgefunden worden find, ift jene des Ba- 
(662) 


9 


byloniſch⸗Aſſyriſchen durch eine Reihe von Ausgrabungen außer— 
ordentlich bereichert worden und durch die Verdienſte von Botta, 
Place, Fresnel und Oppert, von Layard, Loftus und 
Taylor und neuerdings von George Smith und Hormuzd 
Raffam zu einer gewaltigen Menge von Inſchriften des ver- 
ſchiedenſten Inhaltes angewachſen, durch deren Studium fidy ein 
eigener Zmeig der ſemitiſchen Sprach- und Alterthumswiſſen— 
ſchaft, die Aſſyriologie, im Laufe von wenigen Sahrzehnten 
gebildet und zu rajcher Blüthe entwidelt bat. 

Würdigt man die drei diefe Spradyen zum Ausdrud bringen» 
den Schriftivfteme des näheren, jo ergiebt fich, daß zwiſchen 
ihnen einerjeitö ein tiefgehender Unterfchied beiteht, im Hinblid 
auf dad Weſen jedes einzelnen und auf den Grad der Schwierig» 
feit jeiner Entzifferung, andrerſeits aber auch ein unverfennbarer 
Zujammenhang obwaltet hinfichtlicy ihrer Entſtehung. Die alte 
perſiſche Keiljchrift, von welcher die Entzifferung ihren Ausgang 
nahm, ift entjchieden das jüngfte und einfachſte dieſer drei 
Syſteme. Sie ift offenbar aus der aſſyriſchen Schrift entftanden 
und von einer Silben» zur Buchſtabenſchrift berabgejunfen, was 
daraud erfichtlich ift, daß ter Mehrzahl der Konjonanten ein a 
nachlauten oder aber nach Bedürfniß aud fehlen fann, daß ferner 
einige Konjonanten in allen Fällen einen beitimmten Vocal, ı 
oder u, nad ſich verlangen. So find 3.8. für den Buchſtaben 
k zwei Zeichen im Gebrauch, von- denen das erftere ſowohl k 
als audy ka gelejen werden fann, (wobei natürlidy die richtige 
Auswahl des einen oder andern von der Kenntni der Sprache 
abhängt), während das zweite, dad mit k’ bezeichnet wird, zwar 
ebenfallö k lautet, aber nur vor einem u-Bocale ftehen darf. Die 
Worte werden durdy den jogenannten Worttrenner, einen jchräg 


von oben nady unten laufenden Keil, von einander gejchieden. — 
(668) 


10 


Schon verwidelter ift die zweite Gattung der Infchriften, die jo- 
genannte ſeythiſche oder mediſche Keiljchrift, welche gleichfalls 
direft von der babylonifcheafiyriichen ihren Ausgang genommen, 
d. h. die Zeichen der leßteren nachweislich jammt ihren Laut» 
werthen entlehnt hat. Sie beiteht aus einer Anzahl von Eilben- 
zeichen, die freilich von verjchiedenen Gelehrten auch ald Buch— 
jtaben, ohne nachfolgenden oder vorhergehenden Bocal, ähnlich 
wie bei der altperfiichen Schrift, aufgefaßt worden find; letzteres 
ericheint indefjen nody fraglich. Dazu fommen in dieſer Schrift- 
gattung nod) einige wenige Zeichen, die zum Ausdrud ganzer 
Morte verwandt und daher Ideogramme oder Monogramme 
genannt werden. 

Unenbdlidy viel complicirter aber ift die babyloniſch-aſſyriſche 
Schrift, deren einzelne Eigenjchaften den Entzifferern die größten 
Schwierigkeiten bereiteten und erſt allmählich vollftändig er: 
fannt wurden. Neben einem umfangreichen Alphabet von eins 
fachen GSilbenzeichen, wie den Zeichen für ba, bi, bu; ab, ib, 
ub befitt fie nämlidy nod) eine reicdye Fülle mehrerer hundert 
Zeichen für zufammengejegte Silben, wie für tar, muk, ris 
u. ſ. w. Ueberdies fann faft jedeö Zeichen zum Ausdrude von 
einem oder jogar von mehreren Worten verwandt werden, wo— 
neben ihm jtatt eines einzigen oft vier bis ſechs verjchiedene 
Eilbenwerthe zugehören. Man ſpricht deshalb von einem ideo— 
graphbiichen und einem polyphonen Charakter der babylonijch- 
afiyriihen Schrift. So hat 3.3. ein und dafjelbe Zeichen im 
Aſſyriſchen die Laut- (reſp. Silben) Werthe: mat, kur, schad, 
lat, nat und fann außerdem noch den Begriff für „Land“ 
(afiyriih mätu), für „Berg“ (afiyrifcdy schadü) und für „auf- 
geben, von der Sonne” (afiyriich napächu) wiedergeben. Nimmt 
man noch die Thatſache hinzu, daß mandye der babylonijch- 


(664) 


11 


affyrifchen Zeichen auch ald ftumme Deutezeichen, jogenannte 
Determinativa (genau fo wie in der altägyptiſchen Hiero— 
glyphenſchrift) auftreten, daß 3.3. das eben erwähnte Zeichen auch 
vor jeden Berg: oder Ländernamen treten fann, ohne aber aus— 
geſprochen worden zu fein, jo wird man faum an dem enormen 
Scwierigfeiten der Entzifferung dieſes Schriftiyftemd zweifeln, 
wohl aber an der Möglichkeit der richtigen Leſung des Einzel« 
zeichens im Einzelfalle oder jelbft an der Möglichkeit der Eriftenz 
einer jo unbegreiflicy verwirrten und verwirrenden Schriftart. 

Beide Zweifel löfen ſich aber durdy die Betrachtung ihres 
Urſprungs und der verichiedenen Stadien ihrer Entwicdelung. 
Die aſſyriſche Keiljchrift ift nämlich urjprünglich ebenſo wie die 
merifanifche, chinefiihe und hieroglyphiſche Schrift eine Bilder» 
Schrift gewejen und wurde, wiederum analog der chinefiichen, aller- 
wahrjceinlichft in dem früheften Zeiten von oben nad) unten ges 
ſchrieben. Sie war nicht eine Erfindung des babyloniſch-aſſyri— 
ſchen Volkes, jondern vielmehr einer vor diefem in Mejopotamien 
fitenden Völkerſchaft, melde unter dem Namen Sumerier 
oder Affader in neuerer Zeit befannt geworden und mit den von 
den Claſſikern oft genannten alten Chaldäern identiich ift. Bon 
diefem uralten Eulturvolfe, von deſſen Bilderfhrift nur geringe 
Reſte auf und gekommen find, ging die allmählich zur geradelinigen, 
jogenannten hieratiſchen gewordene Schrift auf die vom Nord» 
often ber in's Zweiftromland eindringenden Babylonier über, unter 
welchen fie ſich mehr und mehr vereinfachte biö herab zur neu» 
babyloniichen und neuaſſyriſchen Eurfivfchrift, in der die Aehnlich— 
feit mit den früheren Bildern bis zur Unkenntlichkeit verwiſcht ift. 

Aus diefer folgenfchweren Entlehnung der alten jumerijchen 
Bilderjhrift durch die Babylonier erklärt ſich denn auch das ver— 


widelte Weſen des von den leßteren zur Anwendung gebrachten 
(665) 


— 

Schriftſyſtems, das zwar wohl für die ſumeriſche, aber durchaus 
nicht für die babyloniſch-aſſyriſche, d. h. für eine ſemitiſche 
Sprache paſſend war. Einige Beiſpiele mögen den Gang der 
Entlehnung am beſten veranſchaulichen. Bei den Sumeriern 
fonnte ein und daſſelbe Bild ſelbſtverſtändlich zum Ausdrucke 
mehrerer Wörter dienen, inſofern dieſe gleiche oder doc, ver— 
wandte Bedeutung beſaßen. So diente dad Zeichen für „Stern“ 
(fumerifh: mul) zugleich aud zur Wiedergabe ded Begriffes 
„Himmel“ (fumerifch: an) und des Begriffes „Gott“ (ſumeriſch: 
dingir). Die Babylonier nahmen num dafjelbe Zeichen für die— 
jelben Begriffe in ihre Sprache auf, bezeichneten aber die 
betreffenden Gegenstände natürlich mit babyloniſch-aſſyriſchen 
(ſemitiſchen) Worten, ſodaß ſie das erwähnte Zeichen, wenn es 
„Stern“ bedeutete, kakkabu, wenn es „Himmel“ bedeutete, 
schami und wenn ed „Gott“ bedeutete, ilu ausſprachen. Es 
begreift ſich leicht, dab auf diefe Weile durch die Herübernahme 
der jumerifchen Begriffözeichen in's Babyloniſch-Aſſyriſche ohne 
Räckſichtnahme auf ihre jumerijchen Laute eine Menge 
von afjvriichen Worten leicht und raſch durd die Schrift wieder: 
gegeben werden fonnten. Ganz analog haben die modernen 
Eulturvölfer die jogenannten arabijchen Ziffern und gewiſſe ſym— 
boliſche Zeichen in ihr Schriftiyitem aufgenommen. Wir jchreiben 
3. B. 10 und lejen ed „zehn“, während der Franzoſe dafjelbe Zeichen 
unter derjelben Begrifföverftellung dix, der Engländer ten, der 
Staliener dieci lieft; ebenfo jchreiben wir ein + und lejen es 
„Kreuz“, während jene croix, cross, croce, aber mit gleicher 
Bedeutung auöfprechen. 

Die Afiyrer kamen jedoch mit diefer Art der Uebernahme 
von ſumeriſchen Keilichriftzeichen bei weitem nicht aus. Die Un- 


fiherheit in der Beftimmung, ob im einzelnen Falle „Stern“, 
(666) 


13 


„Himmel“, oder „Gott“ zu denfen und zu ſprechen jet, ging 
Hand in Hand mit der Unmöglichkeit der Wiedergabe afjyrijcher 
Wörter, die im Sumeriſchen durdy Fein eigened Zeichen wieder: 
gegeben wurden, von Fürmwörtern, Zeitwortöableitungen, Fremd» 
wörten u. ſ. w. Nun jchlugen die Afivrer den umgefehrten 
Weg in der Art der ntlehnung ein: fie übernahmen die 
jumerifchen Lautzeichen ohne Rückſichtnahme auf ihre 
ſumeriſchen Begriffe. So verwandten fie das oben erwähnte 
Zeichen für „Himmel“, dad im Sumeriſchen an lautete, fo oft 
fie die Silbe an (3. B. in einem Eigennamen) fchreiben wollten, 
und bildeten jo allmähli eine Silbenjchrift neben der 
Mortichrift aus. Sie thaten, um bei dem oben gewählten 
Beiipiele zu bleiben, dafjelbe, was wir thun würden, wenn wir 
die erfte Silbe unjerd deutſchen Wortes „diesnen” durch eine 
10 wiedergeben wollten und dabei diejer den franzöfiichen Laut 
dix ohne Rüdfiht auf feine Bedeutung beilegen würden. Da 
num aber, wie angedeutet, ſchon im Sumeriſchen jelbit oft für 
ein und dafjelbe Zeichen mehrere verwandte Begriffe und fomit 
mehrere Laute gelejfen umd geiprodyen wurden, jo nahmen die 
Aſſyrer conjequenter Weije dieje alle in ihre Sprache herüber, 
wodurdy die erwähnte Polyphonie entitand. Die ſich hier auf- 
drängende Frage, warum die aſſyriſchen Zeichen, nadhdem man 
einmal bis zur Silbenjchrift fortgejchritten war, nicht noch mehr 
vereinfacht worden feien, und alle Wortichrift, d. b. alle Ideo— 
gramme über Bord geworfen wurden, läßt fi) mit Sicherheit 
nicht beantworten. Indeſſen dürfte auch hierfür dasjenige, was 
Georg Ebers in einem früheren Hefte diefer „Sammlung“ für 
dad altäguptiiche Hieroglyphenſyſtem geltend gemacht hat, ?) ala 
maßgebend ericheinen. 

Begreift ſich nach ſolchen Erwägungen die Möglichkeit der 


(667) 


14 


Eriftenz einer derartig verwidelten Schriftart, wie die aſſyriſche 
und erjcheint, fo läßt fich andrerſeits auch darthun, wie eö 
denkbar ift, ein jo complicirtes Schriftſyſtem zu bewältigen und 
bis in's einzelnfte zu entziffern. Die Achämenideninfchriften, die 
ja, wie wir gejehen haben, in das jpätefte Entwidelungsftadium 
der babyloniſch⸗aſſyriſchen Sprache fallen, wurden nämlich großen- 
theild mit einfahen Silbenzeichen gejchrieben, vor allem die 
zahlreichen in ihnen vorfommenden Eigennamen, deren Lautform 
ja durch ihre Wiedergabe im perjiichen Grundterte vollftändig be- 
fannt war, durchwegs in einzelnen Silben wiedergegeben. Man 
vermochte durdy die Vergleichung dieſer mit den perfiihen Buch— 
ftaben faft den ganzen Schatz der aſſyriſchen einfachen Silben- 
zeichen richtig zu leſen und jdhritt nun an der Hand von jos 
genannten Parallelterten zur ntzifferung der zujammen- 
gejegten Silbenzeihen. Wenn 3. B. ein und diejelbe Phraje 
oder auch nur ein und daffelbe Wort einer Inſchrift auf einer 
‚anderen wiederfehrte (mad bei dem einförmigen Charakter dieſer 
Denfmäler oft genug der Fall ift), dabei aber ein Zeichen der 
eriten Inſchrift, welches wir mit x bezeichnen wollen, durch zwei 
Zeichen der zweiten Inſchrift, z. B. durdy ta-ar erjeßt war, jo 
ließ fi) daraus mit der größten Wahrjcheinlichkeit jchließen, daß 
eben audy dad Zeichen x den Lautwerth ta-ar, d. i. tar haben 
muß. Dafjelbe fand ftatt bei den Zeichen für ganze Worte, den 
jogenannten Sdeogrammen. Wurde aljo in der einen Inſchrift 
dad oben erwähnte Zeichen für „Land“ gejchrieben, in der an- 
deren dagegen an jeiner Stelle die drei einfachen Silbenzeicyen 
ma-a-tu, jo erkannte man daraus, dab dad Wort für „Land“, 
welches im Affyrijchen mätu lautete, durch jenes eine Keiljchrift- 
zeichen ideogrammatijdy ausgedrüdt werden fonnte. 


Die Bedeutung der einzelnen Worte fonnte von den Ent» 
(668) 


15 





zifferern natürlich erft nad) und nad) eruirt werden; doc, hatte 
man auch hierfür eine Reihe von Anhaltöpunften. Entiprachen 
3. B. in einer irilinguen, d. h. einer dreiſprachigen, aljo einer 
Ahämenideninjchrift dem bekannten perfiihen Worte bäji (im 
Sandfrit bhaj) „Tribut“ im babylonijchen Terte regelmäßig die 
Eilbenzeichen: man-da-at-tu oder dem Nccufativ dieſes Wortes 
(bäjim) die Zeichen: man-da-at-ta, jo erfah man daraus, daß 
dad Wort für „Tribut im Babyloniſch-Aſſyriſchen mandattu, 
Accufativ mandatta gelautet hat, was fidy im Laufe der Zeit durch 
ein paar hundert Stellen anderer einſprachiger (unilinguer) 
affpriichen Inſchriften mehr und mehr beftätigt hat. ine große 
Menge von Worten läßt ſich freilich nur aus dem Zuſammen— 
hange der Inſchriften oder dadurch, dak in einer Parallelinjchrift 
ein gleichbedeutended Wort, Synonynum fteht, der Bedeutung 
nad) feftftellen, und hierbei ift jelbftverjtändlich ein möglichit 
großer Umfang des Materiald erwünjcht und die größte Vorficht 
in der Gombination geboten. Einige Erleichterungen bieten dem 
Entzifferer die dem Affyriichen verwandten Sprachen, vor allem 
das Hebräifche und das Aramäiſche, welch leßtere im Wortſchatze 
bejonderd vieled mit der Sprache der Injchriften gemein haben. 
Trifft man z. B. in einer Injchrift ein Wort kal-bu, d. i. kalbu 
an, dad dem Zufammenhange nad nothwendig einen Thiernamen 
bezeichnen muß, und man erinnert fi, dab das hebräijche 
keleb, dad aramäiſche kalbä, ja auch das arabijche kalbun und 
das äthiopiſche kalb fämmtlich den „Hund“ bezeichnen, jo läßt 
ed ſich als ſehr wahrjdheinlich annehmen, dab aud das 
afiyriiche kalbu dieſe Bedeutung gehabt habe, wenngleich aus 
verjchiedenen Gründen für die abjolute Wahrheit eines jolchen 
Scylufjes nicht eingeftanden werden fann. 

Ohne uns hier auf die einzelnen Regeln, die fid) dem Ent- 


(669) 


16 


zifferer allmählich ergaben, näher einlajfen zu fönnen, wofür wir 
auf fahmännifche Werfe verweilen dürfen, *) ſei nur noch eined 
einzigen unſchätzbaren Hilfsmittels zur Leſung der babylonijche 
aſſyriſchen Keilinfchriften gedacht, dad und die alten aſſyriſchen 
Gelehrten jelbit an die Hand gegeben haben, nämlich der gram- 
matifch=leritographiichen Thontafelbibliothef des Königs 
Affurbanipal, ded Sardanapal der Griechen (668—626 v. 
Chr.), weldhe Auften Henry Layard a. 1850 im jogenannten 
Südweftpalafte auf dem Kujundſchik-Hügel entdedte. Wie ſchon 
angedeutet, übernahmen die Babylonier-Afjyrer von den vor 
ihnen das Euphrat- und ZTigriögebiet bemohnenden Sumeriern 
nicht nur die Schrift, jondern eine Menge von außerordentlich 
wichtigen Gulturentlehnungen, Aderbau und Viehzucht, die groß: 
artigen Bauten und Ganalijationsanlagen, Kunft und Wiffen- 
Ichaft, Sitte und Recht, Maß und Gewicht, die Eintheilnng der 
Zeit, ja ſogar die religiöſen Vorftelungen, Mythologie und Eultus 
der jemitiihen Babylonier gehen zum großen Theil auf jenes alte, 
nidhtjemitijche Gulturvolf zurüd. Die Hymnen und Gebete, 
Zauber: und Beihmörungsformeln diefer alten Chaldäer galten 
auch den Afiyrern für heilig, und die Gelehrten unter ihnen lernten 
deöhalb nicht nur die alte ſumeriſche Spradhe verftehen, jondern 
ſchufen auch zu jenen heiligen Gejängen Ueberjegungen und zur 
Pflege diejer heiligen Sprache grammatiſche und dericaliiche Hilfs— 
mittel. Sie legten Verzeichnifje der einzelnen jumerijchen Schrift: 
zeichen an, denen fie, wie wir unjeren Buchftaben, eigene Namen 
gaben, und jchricben rechts oder links oder zu beiden Seiten des 
Zeichens nicht nur deffen Ausſprache im Sumeriichen, jondern 
auch jeine Ueberſetzung in's Aſſyriſche bei. So entſtanden 
hunderte von Zeichenſammlungen oder Silbenverzeichniſſen, 
Syllabaren (syllabaries) und von Wörterverzeichniſſen (lists) und 


(670) 


17 


grammatischen Paradigmen, Liften von Zeit: und NRaumverhält- 
niffen, Städten und Flüffen, Maßen und Gewichten, Kleidungs— 
ftüden, Werkzeugen, Schiffstheilen, Thieren, Pflanzen und 
Steinen, weldye in verjchiedenen Zeiten angelegt und gefammelt 
und in verjchiedenen Bibliothefen aufbewahrt wurden. Eine 
große Anzahl derjelben ließ Aſſurbanipal, vielleicht im Vor: 
gefühl des nahenden jähen Zufammenfturzes feines Reiches, von 
älteren Driginalien copiren und in feiner Bibliothek aufftellen, 
woneben auch die erwähnten Ueberſetzungen der heiligen fumerifchen 
Geſänge jammt dem Urtert (meift interlinear) angefertigt und fo- 
dann jerienmweife, mit genauer Nummerirung der einzelnen zu: 
jammengehörigen Stüde, der Sammlung ded Königs einverleibt 
wurden. 

Alle diefe Schäße find und durch ein günftiges Geſchick er- 
halten, und wir fönnen nun dieje Zeichenfjammlungen, Wörter: 
verzeichnifie und grammatiſchen Beilpielreihen in derjelben Weiſe 
benugen wie jene afjyriichen Gelehrten. Wir erfahren aus ihnen 
die Ausſprache und Bedeutung noch unbekannter Zeichen, wir find 
im Stande, ausgerüftet mit einer wortgetreuen aſſyriſchen Ueber: 
jegung, a jene ſumeriſchen Hymnen und Zauberformeln jelbft 
heranzutreten: ein neues unabjehbareö Arbeitsfeld und die Duelle 
einer reichen Ausbeute für die Kenntniß der Gulturgejchichte des 
Alterthums hat ſich ungeahnt eröffnet. Seit ca. zwölf Jahren 
bat die Aſſyriologie auf dieſe merfwürdigen Refte ältefter Eultur 
ihr Augenmerf gerichtet, der Charakter der alten Sprache ift zu 
enträthieln und linguiftiich feftzuftellen begonnen, ja fogar ſchon 
bi8 in dialektiſche Warietäten verfolgt worden; aber ungleich 
größer ift das, was noch vor und liegt, um bewältigt zu werden 


und einen neuen Bauftein zu bilden, der ſich einfügt zum Golofjal- 
XVIIL 425. 2 (671) 


18 


gebäude der vergleichenden Sprach-, Religiond- und Eultur- 
geihichte der Menjchheit. 

Stehen wir hier, auf dem Standpunkt der Gegenwart, 
ftille und halten Umſchau nach allen Seiten, zurüd nad) den be» 
fcheidenen Anfängen der Keilfchriftforfchung und vorwärts in die 
unabfehbare Zukunft, jo überfommt und zunädft das Gefühl 
der Dankbarkeit, der Bewunderung und Freude über die mäch— 
tigen Arbeiten, die von England, Frankreich und in neuerer Zeit 
auch von Deutſchland jpeziell auf dem Gebiete der babylonijch- 
afiyriichen und der akkado-ſumeriſchen Sprach- und Alterthums⸗ 
forſchung zu Tage gefördert worden find. Eine Menge von In- 
ſchriftenausgaben, zumeift auf die Beranlafjung der Trustees des 
British Museum’s zu London in mächtigen $olianten veröffentlicht®), 
macht es jet Iedem möglich, fich jelbft an der Hand der Keil- 
Ichriftdenfmäler im Entziffern und im „Entdeden” zu verjuchen 
und durch fie jened Land, ba die Wiege der Menjchheit ge: 
ftanden, die Erzväter gelebt haben und die Sprachen verwirrt 
worden fein follen, mit all feinen Wundern und Zaubermächten, 
den fieben böjen Dämonen, den Sterndeutern und Magiern, 
den Aerzten und Aftronomen näher kennen zu lernen. 

Ungetrübt fann freilich auch diefe unjere Freude nicht fein. 
Haben doch jo mandye Forjcher in überjchneller Begeifterung für 
die vielverjprechende junge Wiſſenſchaft die zu ihrer wahren 
Förderung nothwendigen Vorbedingungen, ein eingehendes Stu. 
dium aller jemitiihen Sprachen, die Lektüre nicht nur ihrer 
Grammatik und ihred Wörterbudyes, fondern der Schriftfteller 
jelbft, die Aneignung einer gewiſſen allgemein-linguiftifchen Bil- 
dung und vor allem eined vollen Maßes ftreng philologiſcher 
Alribie, unerfüllt gelafjen. Haben doch ältere und gerade die 
tũchtigſten Semitologen bis auf die neuefte Zeit gegenüber den 


(672) 


19 


aus den Keilinichriften gewonnenen „Rejultaten" eine äußerſt 
rejervirte Stellung beobachtet und treffliche, bejonnene Geſchichts— 
foricher berechtigte Zweifel und Bedenken an fo manchem „hiſto— 
riihen Gewinn aus den Denfmälern“ geäußert®). Es ift an— 
gefichts der außerordentlihen Schwierigkeiten, die der Lejung 
der Monumente fort und fort entgegenjtehen, fein Wunder, dab 
die philologifche Bearbeitung des aſſyriſchen Sprachgutes, noch 
mehr aber die wifjenjchaftliche Vergleichung des aſſyriſchen Idioms 
mit den Schwefterjprachen, die ed nie und nimmer dulden darf, 
Formen aus den verjchiedeniten Jahrhunderten auf die gleiche 
Stufe neben einander zu ftellen, oder gar um einer höchſt man 
gelhaften Schrift willen widerfinnige Lautgejeße anzunehmen, noch 
tief in den Anfängen ftedt. Died Kapitel ließe fidy weit aus- 
führen. Hier genüge ed, darauf hinzuweiſen, dab die Abfafjung 
eines babyloniſch-aſſyriſchen Wörterbuches, wie aud) einer dem 
gegenwärtigen Standpunkt der Forſchung gerechten Grammatif 
der aſſyriſchen Sprache zur Zeit noch ald Poftulat bezeichnet werden 
muß. Die bis jebt erſchienenen Ueberfegungen bedürfen faft 
durchwegd der Verbeſſerung. Ja, nicht einmal die Entzifferung 
fämmtlicher Lautwerthe der einzelnen Keilgruppen kann als ab» 
geichloffen und vollftändig bezeichnet werden. Wenn man hinzu 
nimmt, daß bisweilen jogar perjönlicher Zwift und unjelige 
Prioritätöftreitigkeiten die Eintracht der wenigen Forjcher zu 
ftören drohen, jo bejcdleicht einen das Gefühl der Bangigfeit 
um den glüdlichen Fortſchritt der Affyriologie, ihre Zukunft will 
büfter und das Endziel der Forſchung in weite Ferne gerüdt 
erſcheinen. 

Trotz all dieſer Hemmniſſe aber und trotz der großen An— 
forderungen, welche die gelehrte Welt an diejenigen ſtellt, die die 
wiſſenſchaftlichen Intereſſen der Keilſchriftforſchung zu fördern 


2* (m) 


20 


beabfihtigen, muß es die Aufgabe der Affyriologie fein und 
bleiben, unverrüdt jenes Ziel im Auge zu behalten und nad) 
menschlichen Kräften auf daffelbe hinzuftenern. Denn golden 
und reich find die Schäße, welche durch die Entzifferung und 
Nubbarmahung der babylonifch = affyriichen und der jumero- 
akkadiſchen Spracdydenfmäler aus dem tiefen Schachte hohen 
Alterthumes zu Tage gefördert werden fünnen, und zu deren 
Hebung jhon jo manche Fräftige Hand den Spaten angejeht hat. 

Eine Reihe von hiſtoriſchen Texten, die, ſoweit fie 
bis jet befannt geworden find, an Umfang etwa dem alten 
Teftament gleichfommen, binfichtlicd ihres Alters aber in nur 
jelten unterbrochener Reihenfolge fih weiter zurüdverfolgen 
lafjen ald die Literatur irgend einer anderen jemitilchen Sprache, 
erweilen im Zujammenhalt mit zahlreichen geographijchen Ber- 
zeichniffen der Städte, Länder und Flüffe Babyloniend und der 
Nachbarländer und zuverläffigen chronologiſchen Tabellen für die 
Zeit der jüngeren afiyriichen Könige die Feilinfchriftliche Literatur 
ald eine Hauptquelle für die Gejchichte und Geographie des 
alten Drientd. Außer den kürzeren Steininjchriften, auf welchen 
fi) entweder nur der Name und die Titel der babylonijchen 
Könige, oder höchſtens außer diejen nody ihre Genealogie findet, 
fommen bier vor allem die ausführlichen Berichte der Herricher 
über die von ihnen unternommenen Kriegs- und Beutezüge, über 
die in den Provinzen ded Neiches audgebrochenen Aufitände und 
ihre Niederdrüdung, ſowie über die unter ihrer Regierung auf: 
geführten Tempel- und Palaftbauten, oder deren Reftauration, 
in Betracht. Auch die Bejchreibung von Föniglichen Jagden 
findet ſich bisweilen, ſammt anjhaulichen, zum Theil jehr fein 
ausgeführten Abbildungen, auf den Monumenten. 

Die größten diejer Injchriften wurden auf Thonchlinder 


(674) 


21 


und Thonprismen von mandymal zehn Golumnen eingegraben, 
und gewöhnlich vier verichiedene Eremplare derfelben Inſchrift 
in je einer Ede des Föniglichen Palaftes aufgeftellt. Im der 
Regel begann die Inſchrift mit einer Anrufung der „großen 
Götter“, Hinter welcher die Titel des Königs und feine Grob 
thaten folgten. Den Scyluß bildete meift wiederum ein kürzeres 
Gebet, in welchem der Fluch der Götter auf die muthwilligen 
Zeritörer der Injchrifttafel, ihr Segen auf die Erhalter derjelben 
herabgefleht wurde. Um dem Lejer den Einblid in die Art der 
Abfaffung einer folhen hiſtoriſchen Inſchrift zu ermöglichen, 
greifen wir bier eine Stelle aus der Inſchrift des großen ſechs— 
jeitigen Pridmas heraus, die der aus dem alten Teitamente zur 
Genüge bekannte afjyriiche König Sanherib (705—681 v. Ehr.) 
durch feine Gelehrten abfaſſen und „auf ewige Zeiten“ in mehreren 
Copieen anfertigen ließ”). Der König jchildert dort feinen 
Kriegdzug nad) dem Lande der Kaſchſchi, d. h. wahrjcheinlich der 
von den Alten jogenannten Kofjäer und berichtet: 

„Auf meinem zweiten Feldzuge ermuthigte mic Aſſur, 
mein Herr; da z0g ich nad) dem Lande der Kaſchſchi und 
Zafubigalla, die fi von Alterd her den Königen, meinen 
Vätern, nicht gebeugt hatten. In den hodaufragenden 
Wäldern, ſchwer zugänglihem Terrain, ftieg ich zu Roß; 
meine Sänfte ließ ich mit Striden tragen; fteile Wege 
legte ih) auf eigenen Füßen zurüd. Bit- Kilamzadı, 
Chardiſchpi, Bit-Kubatti, ihre Städte, feite Burgen, be- 
lagerte und eroberte ih. Menſchen, Pferde, Karren, Ejel, 
Ochſen und Schafe führte ich von ihnen ald Beute fort. 
Ihre zahllofen Heineren Städte zerftörte und vermwültete 
idy und machte fie dem Erdboden gleih. Die Zelte, ihre 


Wohnungen, verbrannte ich mit Feuer und ließ fie in 
(675) 


22 


Flammen aufgehen. Bit-Kilamzakh nahm ich zur Feitung, 
jeine Mauern machte ich ftärfer ald vordem und fiedelte 
die Bewohner der Länder, die meine Hände erobert hatten, 
dafelbit an. Die Bewohner des Kaſchſchi- und Sajubigalla- 
Landes, die fi) vor meinen Waffen geflüchtet hatten, führte 
ih aus dem Gebirge herab und ließ fie in Chardiſchpi 
und Bit-Kubatti wohnen; ic) theilte fie meinem Oberften, 
dem Stadthalter von Arrapcha, zu. Ich ließ eine Tafel 
fertigen und das Glück meined Sieges, den id, über fie 
davon getragen, darauf fchreiben. Dieje ftellte ich in der 
Stadt auf... ." 

Aehnlicher Art, wie der eben aufgeführte Bericht, find faft 
alle von den babylonifch-affyriichen Königen auf und gefommenen, 
die befonderd dann ein hervorragendes Snterefje bieten, wenn 
fie entweder direkt oder wenigftend mittelbar fi) mit der Ge— 
ſchichte des ißraelitifchen und anderer aus der Bibel befannten 
Völker berühren. Die im alten Teftament aufbewahrten hiſto— 
riichen Ueberlieferungen erhalten dadurdy oft in ungeahnter Weile 
ihre Beftätigung, während andererſeits auch die Monumente 
durch den Vergleich ihres Inhalts mit den aus der Bibel be- 
fannten Facten als wahrheitägetreue, wenn auch auf die Red): 
nung der aſſyriſchen Herricher jubjectiv gefärbte Zeugen der baby» 
loniſchen Geſchichte ſich erweiſen. Im gleicher Weiſe läßt fich, 
an der Hand der Inſchriften, eine Reihe babyloniſcher und 
anderer vorderaſiatiſchen Ortsnamen identifiziren, deren Be— 
ſtimmung, auf Grund des bisherigen Quellenmaterials, unmöglich 
war oder doch nur in mangelhafter Weiſe gegeben werden konnte. 
Selbſt die bibliſche Chronologie, jenes dornige Feld der alt— 
teſtamentlichen Forſchung, hat durch die Auffindung des ſo— 


genannten aſſyriſchen Eponymencanons und der aſſyriſchen Ver— 
(676) 


23 


waltungdliften neues Licht erhalten und kann, wenigitens in ihren 
Hauptpunften, ziemlich genau firirt werden ®). 

Bon gleicher, wo nicht nody größerer Bedeutung wie die 
hiſtoriſchen Inſchriften für die alte Geſchichte, ſind für die alt— 
teſtamentliche und allgemeine Religionswiſſenſchaft und Religions— 
geſchichte die religiöſen Texte der Aſſyrer und Babylonier, die 
Götterlegenden, Gebete und Pſalmen. Nicht nur die Vor— 
ftellungen vom Himmel, der Erde und dem Scheol (der he— 
bräijchen Unterwelt), nicht nur die Namen der verjchiedenen im 
alten Zeftament erwähnten Götter, wie Sin, Anu, Ea, Merodadı, 
Nebo, Nergal, Saffut, Dagan, Tammuz u. f. f., fondern aud) 
bie religiöjen Grundanfchauungen felbft, von der Sünde, Schuld 
und Strafe, vom Gebet ald Mittel zur Erlangung der Gnade 
der Götter, find bis auf die Korm der Poeſie, bis auf den jo» 
genannten Parallelismus der lieder in den babyloniſch-aſſyriſchen, 
ja zum Theil fchon in den fumero-affadiichen Juſchriften wieder 
zu finden und in vielen Stüden gewiß erft von jenen auf bie 
Hebräer übergegangen. Selbft die Formen ded Cultus, Opfer 
und Reinigung, jowie die Zeiteintheilung durch die fiebentägige 
Woche mit dem heiligen Ruhetag, dem Sabbath, find urjprüng- 
liches Eigentyum der Babylonier. 

Zu den wichtigſten Entdeckungen auf diefem Gebiete gehört 
unftreitig die Auffindung eined großen altbabylonifchen National: 
epos, der jogenannten Nimrodlegenden, unter denen ſich merk— 
würdiger Weile auch ein Sintfluthbericht gefunden hat, mweldyer 
mit dem althebräifchen bis auf Einzelheiten übereinftimmt?). 
Da aud die Weltihöpfungderzählung, der Thurmbau zu Babel 
und andere „Urgejchichten der Geneſis“ auf den mit Keil: 
injchriften bedeckten Thontafeln ihren Wiederhall gefunden haben, 


\o kann ed nicht länger bezweifelt werden, dab die Israeliten 
(677) 


24 


auf irgend welde Weile und zu irgend weldyer Zeit mit den 
Legenden der Babylonier befannt geworden und von diejen 
etweldye in ihren eigenen Mythenkreis müjjen aufgenommen 
haben. Freilich ift gerade die babyloniihe Weltſchöpfungs— 
erzählung und ähnliche Berichte in einem fo bruchftüdhaften Zu— 
ftande auf und gefommen, dat die auf ihre ſchwierigen Unter- 
ſuchungen hin gemachten Scylüffe und einzelnen Hppothejen zum 
Theil noch fraglich ericheinen; die Thatſache eines Zuſammen— 
hanges zwijchen diefen Denfmälern und dem erſten Buche Moſe's 
fann aber nie und nimmermehr geleugnet werden. 

Von den Zauber: und Beihwörungöformeln, welche, wie 
wir oben gejehen haben, von den alten Sumeriern zu den je: 
mitiichen Babyloniern gewandert find, haben ſich in den übrigen 
Duellen des Alterthums nur wenige Spuren erhalten. Deito 
interefjanter find für und gerade diefe Stüde, da wir durch fie 
einen Einblid in dad Weſen der jo viel gerühmten Magie und 
Chaldäerkunſt erhalten. Nicht jelten geben die Inichriften auch 
die Geremonien an, die der Priefter während der Beſchwörung 
eines von einem böjen Dämon oder von Krankheit befallenen 
Menſchen vornahm. Für die Art der Abfaljung der Beſchwö— 
rungöformeln jelbft dürfte audy bier ein kurzes Beijpiel am 
Platze jein. Cine in jüngfter Zeit mehrfach überjegte Beſchwö— 
rung, Die zur Anrufung des Gibil oder Fenergottes beftimmt 
war, lautet 0): 

„Seuergott, Gewaltiger, der hocherhaben iſt im Lande. 

— Held, Kind des Oceans, der hocherhaben ift im Lande — 

Feuergott! Dein helles ftrahlendes Licht jchaffet Licht im 
Haufe der Finfternig; — ed beftimmt das Scidjal von 
allem, was einen Namen bat. — Der Bronze und ded 
Bleies Scymelzer bit Du, — des Golded und des Silberd 


(678) 


— — 


Läuterer biſt Du, — des Gottes Ninfafi(?) Genoſſe biſt 
Du. — Du biſt es, der in der Nacht des Feindes Stirn 
zurückſcheucht. — (O gieb, daß) dieſes frommen Mannes 
Leib wieder rein werde, — (daß) er ſtrahle wie der Himmel, 
— glänze wie die Erde, — leuchte wie des Himmels 
Mitte. — Fern von ihm hebe ſich weg der unheilvolle 
Spruch!“ — 

Wenden wir uns von der Beſchreibung dieſer hiſtoriſchen 
und religiös-mythologiſchen, ſowie magiſch-liturgiſchen Texte ab 
und befragen die babyloniſch-aſſyriſchen und ſumero-akkadiſchen 
Keilinjchriften nach den Aufzeichnungen wifjenichaftlicher Thätig— 
feit, ftaatlidyer Ordnung und des öffentlichen und privaten Lebens 
ded alten Meiopotamiens, jo geben fie und auch auf diejen Ge- 
bieten in umfafjender und oft geradezu ftaunenswerther Weife 
ausführliche Antwort. Die Erwartungen, welde man jeit der 
Lectüre der griechiichen und lateiniichen Glaffifer, des alten 
Zeftamented und der orientaliicdyen Schriftfteller von dem Wiſſen 
und Können der Babylonier hegte, find in der That durch die 
Nationaldenfmäler reicylid übertroffen worden. 

Bor allem war ed die Mathematif und Aitronomie, 
weldye bei ihnen in gar hohem Anjehen ftand und auf’ eifrigfte 
gepflegt wurde. Wir haben Thontafeln überfommen, die die 
regelmäßigen, datirten Berichte der Aftronomen über den Auf: 
und Untergang der Geftirne, über Sonnen und Mondfinftere 
niffe und jonftige Ericeinungen am Firmamente enthalten. 
Andere bejchäftigen fich vorzugsweife mit der Beobachtung der 
Planeten, wieder andere mit der ded Mondes; einige Gelehrten 
wollen jogar die Eintheilung des Aequatord und der Efliptik in 
Grade, und die Angabe der Gonjunction und Oppofition der 


Geltirne auf dieſen Tafeln beobadytet haben. Für die aus— 
(679) 


26 


gedehnte Bejchäftigung mit der Mathematik fpricht vor allem der 
Gebrauch cined doppelten Ziffernſyſtems, ded von den Sumeriern 
ererbten Seragefimaliuftemd neben unferem defadiichen, jodann 
aber auch bejonderd die denfwürdigen Refte einer Sammlung 
von Duadraten und Guben, welche in Berticalcolumnen neben 
den ihnen zugehörigen erften Potenzen aufgezeichnet wurden. 
Ein genaueres Studium der verwidelten Fdeogramme zum Aus» 
drud gewiſſer mathematiſcher und aftronomijcher Verhältniſſe 
dürfte hier noch manchen hochintereſſanten Aufichluß bringen. 

Hand in Hand mit diefer Ausbildung und Pflege der 
Mathematik und Aftronomie ging bei den Babyloniern die der 
Aftrologie, die gleichfalls ein Erbgut der Sumerier if. Wenn 
wir auch noch nicht im Stande find, alle auf dieſe Pſeudo— 
wiſſenſchaft bezüglichen Snichriften, auch nur ihrem Hauptins 
halte nad, zu verjtehen, jo läßt ſich doch jetzt ſchon behaupten, 
daß die in den zahlreichen Thontäfelchen aufgeipeicherten Vor— 
bherfagungen, Traumdeutungen, Angaben von Geburtäconftella« 
tionen, Omina u. dergl. ganz ähnlicher Art waren wie die und 
jpäter in gnoſtiſchen Schriften und im Mittelalter allenthalben 
begegnenden. Ob freilih die Kette der Meberlieferung ſolcher 
Weisheit, deren Glieder vielfach zerftüct find, jemals wieder her— 
geftellt werden fann, ijt mehr als fraglid. 

Theild an das Studium der Aftrologie, theild an die oben 
genannten Zauber und Beihwörungdformeln jchließt fich die 
Pflege der mediziniſchen Wifjenichaften au, die gewih in 
Babylonien ebenjo eng mit dem religiöjfen Gulte verfnüpft war 
ald in Griechenland unter den Asklepiaden. ine Reihe von 
Krankheitönamen, jowie aud) von den Namen heilfräftiger Pflan- 
zen, deren Kenntniß wir bislang allerdingd nur den ſumero— 


aſſyriſchen lexikaliſchen Sammlungen verdanfen, läßt und auf die 
(680) 


27 


Ausübung der ärztlichen Kunft und die Beichäftigung mit der 
Arzueimittellehre, andere Aufzeichnungen der Theile des menſch— 
lichen Körperd auf das Studium der Anatomie jchliehen. 

Meniger zahlreich als die oben genannten Injchriften find 
die Nefte von Denfmälern, die und ein genauered Bild der 
babylonijhen Staatöform, der legislatorifchen Thätigfeit und der 
Bermwaltung diejer alten Reiche geben könnten. Die einzigen 
aus diefem Bereiche völlig verftandenen, wiederum in die ſu— 
merijche Zeit zurüdreichenden Inichriften enthalten jogenannte 
Samiliengefeße, durch deren Wortlaut eine ziemlidy bevor- 
zugte Stellung der Frau im alten Babylon angedeutet zu wer: 
den jcheint. 

Zur Kenntnignahme ded Handels und ded Verkehrs: 
lebend tragen endlid eine reiche Menge von Kaufverträgen, 
Heirathöurfunden und Teſtamenten, Berichterjtattungen von 
Beamten an den Eöniglichen Hof, Briefen und Proclamationen, 
Bittjchriften u. f. f. reiches Material bei. Volkswitz und Volks— 
thümlichfeit wollen einige Entzifferer in den Spuren von Volks— 
liedern und Sprichwörtern entdedt haben. 

Ueberblidt man die babyloniſch-aſſyriſche und ſumero-akka— 
diſche Gejammtliteratur, deren einzelne Theile wir joeben auf: 
zuzäblen verſuchten, und vergegenwärtigt man fich, welche eine 
ftarfe und wichtige Duelle für unjere Kenntniß des Alterthums 
fie ſchon heute geworden ift, und wie umfang- und inhaltsreich 
diefe fein wird, wenn einft alle Injchriften gelefen und verftan- 
den werden können, bedenft man außerdem, daß die bis jeht 
befannt gewordenen Bruchſtücke diejer Literatur kaum den zehnten 
Theil ausmachen von dem, was noch unter den Trümmerhaufen 
Babyloniend liegt und der Ausgrabung harrt; berechnet man 


endlich den Zeitraum, den die neuentdedten Denkmäler von den 
(681) 


28 


Achämenideninfchriften bis hinauf in's höchſte Alterthum aus— 
füllen — fo wird man der Behauptung Beifall zollen: „„Die 
babylonifcheafiyriihe Epigraphif verdient um des Reichthums 
und der Alterthümlichkeit ihrer Denkmäler willen von allen, die 
ſich mit jemitifcher Sprach- und Alterthumskunde oder mit der 
altteftamentlichen Wifjenfchaft befaffen, jelbfititändig und ein- 
gehend ftudirt zu werden.““ Gewiß bietet audy die altperfiiche 
und ſcythiſche und andere in den Keilinfchriften enthaltenen 
Literaturen, die wir bier übergehen fönnen!!), ein reicheö wiſſen— 
ſchaftliches Sntereffe; aber die Reſte diefer Injchriften find zu 
gerinfügig, die biftoriichen, aus ihnen zu gewinnenden Rejul: 
tate zu wenige, um aus ihrem Studium eine eigene wifjen- 
Ichaftliche Disciplin hervorgehen zu lafjen. 

Die Affyriologie hingegen wird und kann mit vollem 
Rechte darauf Anfprudy erheben, fortan neben der Arabologie 
und dem Studium der aramätich-Fanaanäifchen Idiome als 
eigene Wiffenichaft gepflegt und gefördert zu werden. Wenn 
auch jetzt die Zeit nody nidyt gefommen zu fein fcheint, in der 
die aus den Denfmälern gewonnenen Nachrichten hiſtoriſch oder 
gar eulturgeichichtlicdy verwerthet werden dürfen, wenn aud) der 
Bearbeiter der altteftamentliyen und allgemeinen Religions» 
wiffenichaft, fofern er nicht ald Sprachforfcher an diele heran 
tritt, troß mancher Berlodungen die Früchte der jungen auf: 
Iprofjenden Pflanze nody nidyt brechen und einheimjen darf — 
dem Philologen, vor allem dem Semitiften liegt e8 ob, dieſe 
Pflanze nicht verfümmern zu laſſen; er hat die heilige Pflicht, 
ihr auf alle Weife und von allen Seiten Nahrung, Licht und 
andere lebensfördernden Elemente zuzuführen und ihr Wachs— 
thum und Gedeihen forgfältig zu überwachen und zu fördern. 
Sie wird ihm gewiß den Lohn nicht jchuldig bleiben; die Blüthen, 


(682 


29 


die fie ſchon jett getrieben, werden in furzem Früchte tragen — 
zum Danf jeiner und aller ihr verwandten Wifjenjchaften, zur 
Bereicherung unjerer Kenntniß der Vergangenheit und zur Förde: 
rung der Wahrheit. 


(683) 


30 


Anmerkungen. 


— — 


1) Das Täfelchen, dem obiges Beiſpiel entnommen wurde, trägi 
im britifchen Mufeum zu London die Signation: K. 823 und iſt ver- 
öffentlicht von Pinches in deſſen „texts in the Babylonian Wedge- 
writing“, part I, London 1882, ©. 7. Daß bie aſſyriſchen Ge. 
lehrten, um fich zu einer ſolchen Fertigkeit im Schreiben heranzubilden, 
falligraphifche Mebungen vornahmen, ergiebt ſich aus mehreren „Schul- 
täfelchen”, zu denen u. a. das unveröffentlidhte RM. 434 im britiſchen 
Mufeum gehört. 

2) Bol. für dad Perfiihe Spiegel, „Die altperfiichen Keil- 
injchriften”, 2. Aufl., Leipzig 1881, für das Mediſche und Babylonifche 
Oppert, „le peuple et la langue des Mèdes“, Paris 1879, jowie 
meine „Achämenideninſchriften“, Leipzig 1882. 

3) Sechſte Serie, Heft 131, ©. 24 (386). 

4) Eine bejonderd Flare und anziehende Beichreibung derſelben 
bietet Schrader, „Die affyriich-babylonifchen Keilinjchriften”, Leipzig 
1872, ©. 3 ff. 

5) „Ihe cuneiform inscriptions of Western Asia“, vol. I, 
®ondon 1861; vol. II: 1866; vol. III: 1870; vol. IV: 1875; vol. V, 
pt. I 1880. Bon vol. V, pt. II find ungefähr zwanzig Blätter 
vollendet. Außer der hier und den oben genannten Publicationen ent- 
halten noch folgende die Driginalterte von Inſchriften: Botta, „monu- 
ment de Ninive*, Paris 1849 ff., Bd. 3 und 4; Layard, „inscrip- 
tions in the cuneiform character“, Zondon 1851; Oppert, „expe- 
dition scientifique en Me&sopotamie*, t. II., Paris 1859; Oppert 
und Menant, „les fastes de Sargon*, Paris 1863 und „les in- 
scriptions de Dour-Sarkayan“, Paris 1870; Lenormant, „choix 
de textes cunediformes*, Paris 1873—1875; Friedr. Delitzſch, 
„Aſſyriſche Lejeftüde”, 2. Aufl, Leipzig 1878; Haupt, „Akkadiſche 
und Sumerijhe Keilſchrifttexte“, Leipzig 1881 f. x 

(684) 


al 


6) Vor allen v. Gutſchmid in: „Neue Beiträge zur Geihichte des 
alten Orients“, Leipzig 1876. 

7) Dbige Ueberfeßung ift der Schrift Hörning’s: „Das jechd- 
feitige Prisma des Sanherib“, Leipzig 1878, ©. 5 ff. entnommen. 

8) Vol. Friedr. Deligfh: „Wo lag das Paradies?" Leipzig 
1881 und Schrader: „Keilinfchriften und Geſchichtsforſchung“ Gießen 
1878, fowie beffelben „Die Keilinjchriften und das alte Teftament“, 
2. Aufl., Gießen 1883. 

9) Bol. Haupt, „Derkeilinschriftliche Sintfluthbericht“, Leipzig 1881. 

10) Bgl. Haupt, in den „Verhandl. d. fünften internat. Drien- 
taliften-Gongrefjes“, II. 1 Berlin 1882, ©. 270 und Hommel: „Die 
vorjemitiichen Kulturen”, Leipzig 1883, ©. 277 f. und 424. 

11) Vgl. u. a. Sayce, „the cuneiform inscriptions of Van“, 
im Journ. of the Royal As. Soc. of Gr. Brit. and Irel., vol. XIV., 
pt. 3 und 4, Xondon 1882. 


(685) 





Drud von Gebr. Unger (Th. Grimm) in Berlin, Schönebergerftr. 17. 


Zur Gejchichte 


der 


Liebig'ſchen Alineraltheorie. 


Dr. Auguft Mogel, 
Kgl. Univerfitäts-Profefjor in München. 


GE 


Berlin SW. 1883. 


Berlag von Carl Habel. 
(C. 6. Lüderity’sche Derlagsbuchhandlang.) 
33, Wilhelm-Straße 33. 


Das Recht der Ueberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Die Begründung der Lehre, daß das Vorkommen der 
unorganijchen Beltandtheile der Pflanze, wie fie die Aſchen er- 
geben, keineswegs ein zufälliges fei, daß fie vielmehr eine un- 
entbehrliche Lebensbedingung der Pflanzenwelt bilden, daß demnach 
endlid in der Zufuhr von Minerallörpern ein Mittel zur Er: 
haltung der Bodenfrudhtbarfeit beruhe, hierin liegt nach den 
allgemeinften Umrifjen das Weſen der Mineraltheorie. Wir 
wiſſen mit aller Beitimmtbheit, daß die Gewächſe ihre mineralifchen 
Stoffe aus dem Boden empfangen. Hier aljo, in der Beichaffung 
der einer Pflanze nothwendigen Mineralbeftandtheile — jener 
an der Scholle haftenden Nahrungsbedingungen — begegnen 
wir einer greifbaren, der menſchlichen Thätigfeit zugänglichen 
Grundlage des Pflanzenlebend. Die Herbeilhaffung der flüchtigen 
Nährftoffe der Vegetabilien, wie fie von der ewig reichen Atmo— 
ſphäre verfchwenderifch dargeboten, in Sturm und Winden nad) 
allen Weltgegenden ausgebreitet werden, — fie liegt außer dem 
Bereiche der Thätigkeit ded Menichen. Während eine natürliche 
Vegetation, d. h. ein Pflanzenwuchs, welcher nicht geerntet wird, 
den Boden bereichert, indem durdy die Wurzeln aud der Tiefe 
des Bodens Nahrungsitoffe heraufgeholt werden, die nad) der 
Verweſung der Pflanzen neuen vegetabilen Gebilden zum Da: 
fein dienen, jo ift dies jelbftverftändlidh ein Anderes mit den 
Eulturpflanzungen; bier werden dem Boden entwachſene Pflanzen 


nicht fich felbft überlaffen, fondern hinweggenommen und jo mit 
xXVviln 426, 1 (689) 


4 


den aljährlichen Ernten dem Ader gewiſſe Summen von Mineral» 
beftandtheilen entzogen. Eoll ein Boden nun fernerhin nicht 
ausgeraubt liegen bleiben oder nur ſpärliche Früchte tragen, fo 
befteht die dringende Nothwendigkeit, ihm den durch Ernten 
erfahrenen Abgang an Mineralbeftandtheilen mittelit Zufuhr von 
außen zu erjeßen. 

Dieje Liebig’schen Anfichten haben alöbald nad) ihrer Ver: 
Öffentlihung von vielen Seiten Widerjpruch gefunden, deren 
Einführung in die Prarid mitunter den heftigften Widerftand. 
Und doch — ift ed nicht jonderbar — die Grundzüge der 
Liebig’ihen Mineraltheorie, fie waren lange vorher ſchon 
eigentlic, nicht unbefaunt, fie waren theilweiſe jchon thatjächlich 
in der Prarid anerfannt. Wie erklärt ed fich, daß man faft all» 
gemein die Liebig’ihe Mineraltheorie ald etwas ganz Neues 
und daher ald Zmeifelhaftes betrachten konnte? Ich glaube, daß 
auf das Bekanntwerden der Mineraltheorie die Form der Dar— 
ftelung nicht ohne Einfluß geblieben. Dem Genius Liebig’s 
war ed vorbehalten zu zeigen, wie man wiljenjchaftliche umd 
praftiihe Gegenftände in eleganter, allgemein verftändlicher 
Spradhe behandeln könne. Früherhin wagten wenige deutjche 
Gelehrte und Praktiker, rein wiflenfchaftliche oder techniiche Ab» 
handlungen in einem Flaren und anziehenden Stiele zu jchreiben. 
Man fchrieb ein trodened, langweilige, verworrened Deutich, 
weldyed wie Heine jagt „nach Zalglichtern und Taback roch“. 
Obwohl nun Liebig keineswegs zu den wenigen Deutjchen gehörte, 
die feinen Tabad rauchen, jo ift ed ihm doch gelungen, durch 
glänzende Darftellung der Mineraltheorie Eingang zu verjchaffen. 
Was übrigens dad Rauchvergnügen der Chemiker im Allgemeinen 
betrifft, jo dürfte eine Stelle aud einem Briefe Wöhler's 
an einen nicht rauchenden Gollegen jehr bezeichnend fein; „Man 


hat Beijpiele, daß auch Nichtraucher erträgliche Chemiker geworden 
(636) 


5 


find, aber der Fall fommt doch felten vor“. Die größte Ver— 
änderung, welde die Chemie ſeit 30 Sahren etwa erfahren, ift, 
daß fie dur die Bemühungen Liebig’s heutzutage zum Ge— 
meingut Aller, wenigitend einem weit größeren Kreije zugänglich 
geworden. Er hat ed nicht verjchmäht, den reichen Schaf feines 
Wiſſens in populärer Darftellung, für Alle verftändlich, freigebig 
zu eröffnen. Seinen „Chemiſchen Briefen” vermag fidh in Be- 
ziehung auf Erfolg, günftige Aufnahme und durchgreifende 
Wirkung kaum ein andered Bud; diefer Art an die Seite zu ftellen. 
Ich weiß wohl, von jo mandyer Seite wird dieje Art der Ar- 
beiten nicht gebilligt, aber wir wollen und durdy ſolche Vorwürfe 
nicht beirren lafjen. Was helfen dem großen Publitum die 
verjchloffenen Kornfammern, wozu ed feinen Schlüſſel bat? 
Das Volk hungert nad) Wiffen und dankt Jedem von uns für 
dag Stückchen Geifteöbrot, weldyed wir ehrlid und jo gut wir 
ed eben bieten fünnen, mit ihm theilen. 

Liebig’8 eigenthümlicher Bildungsgang, etwas abweichend 
von den gewöhnlichen Regeln der Schule, führte ihn zu einer 
eigener Erfahrung entnommenen Behandlung feiner Wifjenjchaft, 
zu einer Methode der Darftellung, vom trodenen Tone ſich 
vortheilhaft unterjcheidend. Als Autodidakt in ded Wortes 
wahrer Bedeutung ift ihm jogar die Erinnerung an jeine Lehr: 
jahre feine erfreuliche und angenehme gewejen. Nichts Erlerntes, 
nichts Wiedergefagted hatte ihn auf feine Bahn geleitet; die Art 
feines Forſchens, welche eine jo eingreifende Wirkung hervor— 
brachte, war das raftlofe Ringen eines felbitftändigen Genius 
nah Wahrheit. Den bekannten Ausiprud) des großen Denkers 
Leibnig im Bekenntniße feined eigenen Studienganged, — 
wir dürfen denfelben aud für Liebig in Anſpruch nehmen. 
„Zweierlei ift für mi von großem Nuten gemejen; einmal, 
dab ich faft ganz Autodidaft bin; zweitens, daß ich in jeder 


(891) 


6 


Wiffenichaft, jowie ich fie nur aufgriff und kaum das Erfannte 
darin aufgefaßt hatte, aldbald auf Neued ausging. Dadurch 
habe ich zwei Vortheile gewonnen; den einen, daß ich den Kopf 
nicht mit unnüßen, nur wieder zu vergefjenden Dingen ausfüllte, 
die mehr auf dad Anfehen einzelner Lehrer, ald auf Gründe 
geftüßt, angenommen werden; den andern, dab ich nicht eher 
rubte, bis ich jeder Lehre im ihren Fäden und Wurzeln nad) 
geforicht hatte und auf die Grundjäße jelbit gekommen war, von 
wo aus ich das, was ich eben behandelte auf eigenem Wege 
und durch eigene Forſchung finden fonnte.“ 

Dem Studium der Mathematik konnte Liebig, der all» 
gemeinen Annahme entgegen, feinen Einfluß auf geiftige Aus- 
bildung zuerfennen. Dem berühmten Sabe der philoſophiſchen 
Schulen: „Mndeis ayswusrenrog Eioirw“ huldigte er nicht. 
„Es giebt feine Wiſſenſchaft, in weldyer ſich mehr Geiftesarmuth, 
mehr Unfähigkeit zum Denfen, ein größerer Mangel an wahrer 
Einfiht und Verſtand, mehr Kurzfichtigfeit und Schwäche unter 
dem Mantel des Wiſſens und der Gelehriamfeit veritedt hält, 
als in der Mathematik. Wie oft muß nicht bei Fafultätsprüfungen 
die befte Nummer in der Mathematik Examinanden gegeben werden, 
weldye in allen übrigen Fächern nicht den einfachiten und ge— 
jundeften Menjchenverftand bewähren.“ Die bier geäuberte An» 
fiht darf um jo auffallender erjcheinen, ald gerade neuerer Zeit, 
nad) meiner Erfahrung wenigftens, einzelne Naturbeflifjene zeit 
weile ihre Forfchungen mitunter unterbrochen haben und ſich ein- 
gehend mathematiichen Studien widmen, in diefer Doftrin einen 
mächtigen Hebel logiichen Denkens erblidend, um eine Lüde in 
ihrem Wifjen auszufüllen. Man erkennt hierin den hohen Schwung 
des Genius Liebig’, welcher unentwegt fein Ziel verfolgt, 
ohne die anerfannte Scyule zu bedürfen und in jelbjteigener 
Kraft gewohnte Hülfsmittel, wie man fie gewöhnlich zur Schärfung 


(692) 


7 


des Verſtandes, zur Weckung des Geiftes empfiehlt, zu verichmähen 
im Stande if. Möge „das von Regeln freie Genie” umbeirrt 
feine Wege wandeln, wenn wir Uebrigen aud dem genialen 
Borbilde nicht folgen. Quod licet Jovi, non licet bovi. 
Gehen doch die Anfichten über geiftige Bildungämittel jo jehr 
weit auseinander; died erkennen wir auf's Neue redht deutlich 
aus einer im Peſther Abgeordneten Hauje gefallenen Aeußerung 
eined Gelehrten, welcher ald Gegner der Haffiihen Sprachen 
das Griechiſche geradezu ald ein Attentat auf das gejunde Ge- 
birn der Jugend erklärt und die Meinung vertritt, die Jugend 
gelange zu hinreihender Kenntniß des Griechifchen, wenn fie 
„Drpheus in der Unterwelt“ und „die jchöne Helena" (Dffen- 
bady) zu bewundern Gelegenheit findet. 

Menn bin und wieder die Abneigung gegen Mathematik 
etwas auffallend gefunden wird, jo darf andererjeitd die Anti» 
pathie Liebig's gegen Naturphilofophie — eine Antipathie, die 
von verihiedenen Seiten übel vermerkt worden — bei einem 
jo jelbitftändig angelegten Naturforſcher von Gottes Gnaden, 
welcher die Deutlichfeit ded Ausdrudes klarer und beftimmter 
Borftellungen fi) zur Aufgabe gejeßt, gerade nicht übermäßig 
Vermunderung erregen. „Ich jelbft brachte einen Theil meiner 
Studienzeit auf einer Univerfität zu, wo der größte Philojoph 
und Naturphpfifer des Sahrhunderts die ftudirende Jugend zur 
Bewunderung und Nachahmung hinriß: wer fonnte ſich damals vor 
Anſteckung fihern? Auch ich habe diefe an Worten und Ideen jo 
reiche, an wahrem Wiffen und gediegenen Studien jo arme Periode 
durchlebt, fie hat mich um zwei foftbare Jahre meined Lebens 
gebracht; ich kann den Schred und das Entjeen nicht jchildern, 
ald ih aus diefem Taumel zum Bemußtjein erwachte. Wie 
viele der Begabteiten und Zalentvollften jah ich in dieſem 
Schwindel untergehen, wie viele Klagen über ein völlig vers 


— (693) 


£ sr 0: P T} * 
YNIVERSITY 
\ u.» 


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8 


fehlte Leben habe idy nicht jpäter vernehmen müfjen! Die faliche 
Richtung, weldye der edelfte, kräftigſte Theil der Nation, die 
ftudirende Tugend der damaligen Zeit, von den Philofophen 
erhielt, ein zmed- und ziellojed Willen, die Unfähigkeit, in irgend 
einer Weiſe der menjchlichen Gejellichaft nützlich zu fein, erzeugte 
die dämagogijchen Umtriebe, dieje kranken, wahnfinnigen Sdeen 
vom Staate, von Berbefjerungen, von Pflichten. Selbftüber- 
Ihäßung, Hochmuth, Eitelfeit und Anmaßung, ein lahmer Ehr- 
geiz, der ſich felbit die Anerfennung im Uebermaße jpendet, die 
ihm die Welt verfagen muß: Sie gehen aus den Lehrfälen diefer 
Männer hervor.“ 

Die früheften Anfänge einer Erfenntniß der Mineraltheorie 
wie fie erft durch Liebig's befruchtende Darftellung in größeren 
Kreiien erfaßt worden, manifeftiren fidy der Natur der Sache 
nad zunächſt im vereinzelten Verſuchen praftiicher Anwendung. 
Iſt e8 doch häufige Erfahrung, daß z.B. in der Technik nicht 
felten empirijche Ausführungen längft im Gebraudye find, für 
welche man feine rationelle Bafis kennt. Wir wiffen, dab lange 
vor dem Bekanntwerden der Liebig’ichen Mineraltheorie in 
England und Frankreich Knochenmühlen beftanden, welche unter 
dem Namen „Engliiche8 Dungmehl“ ihr Fabrikat in den Handel 
jogar nach Deutſchland bradyten. Wir wiſſen wohl, englifche Schiffe 
hatten jchon weit früher aus dem nördlichen Deutichland ganze 
Ladungen von Knochen, mitunter aud aufgewühlten Schladht- 
feldern, entführt. Wie befannt, waren ſchon im Sahre 1822 
33 000 Tonnen Knochen aus den Schlachtfeldern der Befreiungs- 
kriege nach England gelangt. Dabei joll aber doch nicht un- 
erwähnt bleiben, dab die landwirtbichaftlide Anwendung des 
Knochenmehles ald eine ſpezifiſch deutſche bezeichnet werden 
darf. Notoriſch beftand ſchon im Fahre 1802 im Bleibergwerfe 
bei Solingen eine Knochenmühle, wahrjcheinlih die erfte von 

(69) 


9 


allen, nnd ihre Produkte dienten zu erfolgreichen Düngeverſuchen 
auf Wieſen. Ungeachtet der auffallend günftigen Reſultate, 
weldhe die ganze Gegend in Erftaunen jetten, fonnte fi) das 
neue Dungmittel in Deutichland wenigſtens nicht einbürgern. 
Menngleicdy einzelne Landwirthe ſich veranlaßt ſahen, Kuochen 
zu jammeln und ftampfen zu laffen, — die Erfenntniß der 
deutſchen Agronomen war, wie ed jcheint für wichtige Werth» 
ſchätzung der Knodyen noch nicht herangereift. 

Wenn in dem hier Erwähnten auch unbezweifelt der Be— 
weid liegt, daß allerdingd vor Liebig ſchon von jeiner Mineral- 
theorie praftiiche Anwendung beftanden, jo läßt fich die Idee 
eined Bodenerjated, durch Mineralbeftandtheile jogar noch in 
eine weit frühere Zeit zurüd auf das Beitimmtefte verfolgen. 
Sn Deutihland beftand wohl erft verbältnikmäßig jpät eine 
Düngung in dem Sinne eined Stofferfaged für den Boden; 
gab ed doch zur Römerzeit noch überall vollauf genügendes 
Land, um die ſpärliche Bevölkerung zu ernähren. So bebaute 
man damald den deutſchen Ader immer nur ein Jahr oder ein 
paar Zahre und nahm dann neued Land in Cultur, dem alten 
Felde längere Ruhe gönnend, um wieder fruchtbar zu werben. 
Wenn jomit gewiß feine Stalldüngung damals ftattgefunden, 
jo war dagegen merfwürdigerweife in früherer Zeit ſchon Düngung 
mit Aſche im Gebrauch, da ed ja allgemeine Sitte war, größere 
MWaldftreden niederzubrennen, um Aderland zu geminnen. Sn 
Ipäteren Sahrhunderten jcheint Aſchendüngung allgemeineren Ein» 
gang gefunden zu haben. Ein landwirtbichaftlicher Schriftiteller 
früherer Zeit Philippus Florinus erwähnt in feinem berühmten 
Werke „Oeconomus prudens“ vor Allem der Ajche, denn nichts 
befördere den Pflanzenwuchs jo intenfiv, wie dieje. „Wer will, 
fann eine Probe davon nehmen. Man brenne eine Pflanze, 


von welcher Art fie jein kann, zum Erempel: Weinreben, Rojen, 
(695) 


— 


Korn, Weizen u. dergl. zu Aſche. Nach dieſem mache man eine 
Lauge daraus und befruchte die Pflanze, von deren Art Aſche 
gebrannt worden, (sic!) jo werdet Ihr ſehen, wie fruchtbar und 
fredy Ihr fie machen werdet: Denn die Aſche hat eine natürliche 
Neigung, lieber der Pflanze ihres Geſchlechtes, ald einer anderen 
Art Guted zu thun und die Pflanze zieht die Ajche ihrer Art 
viel lieber ald eine andere an fih. Mit einem Worte, die Ajche 
aus Kornftoppeln wird dem Kornader am beiten zu ftatten 
fommen“. Aud der berühmte Colerus ſpricht im jeiner 
Oeconomia ruralis et domestica von der Aſche ald Dungmittel. 
„Alchen pflegt man auch auf die befamten Länder zu ftreuen, 
theild das Umgeziefer zu vertreiben, theild daß ſolches das Land 
tragbar mache, welches Etlichen jo wohl gefällt, daß fie ſolche 
aud) dem Mift vorzuziehen pflegen. Wenn man unfruchtbare 
Fleden im Graſe der Gärten vermerft, da jcyüttet man nur ein 
wenig Aſche hin, die macht's fruchtbar, dab jchön Grad da 
wächſt“. Ja fogar die auf Liebig's Theorie ſich gründende 
Düngung mit natürlichen Mineralfubftanzen war jchon damals 
feineöwegs unbefannt. „Nichts Befjered zu den Wiejen, die viel 
tragen jollen, (nad) Colerus) denn daß man fie mit dürrem 
Erdreich oder Staube, der auf den Straßen im Sommer auf» 
gelejen, beftreue. Dann madıt ed mehr Futter oder Gras, 
dann alle andere düngen. Wenn man auch den Staub mit in 
die Aeder hineinpflügt, wie den Mift, jo ift fein Zweifel, er 
düngt gleich jowohl, ald der Miſt. Dann weil der Staub ein 
flein ſubtil Ding ift, jo düngt es deito befjer hinein zu der 
Wurzel, dad der Mift nicht thun fann. Deßhalben aud) der Staub 
allein und ohne den Mift viel Grad macht, wenn er gleich nur 
geftreut wird“. Auch das Mergeln, deſſen Bedeutung erft 
dur Liebig's Mineraltheorie richtig erfannt wurde, ift nad) 
Hereöbady eine alte, fogar urdeutiche Erfindung. ine Art 


(696) 


11 


_— — — — 


Thonmergel, welcher ſich reichlich in den Rheinlanden fand, ver— 
ſchiffte man weithin auf dem Strome zur Verbeſſerung der 
Felder. Nicht minder war das Kalken der Aecker bekannt, ſo 
wie auch die Benutzung des Teichſchlammes. Selbſt Compoſt—⸗ 
bereitung war den damaligen Oekonomen nichts Fremdes, man 
bereitete denſelben in der Art, daß man ausgeſtochenen Raſen 
oder Erde, vermiſcht mit Stalldünger, auf Haufen ſetzte und 
dies Gemenge nach einiger Zeit auf die mageren Aecker ver— 
theilte. So brachte man denn ſchon in ſehr früher Zeit, ohne 
ſich über den Grund klar zu ſein, in empiriſcher Weiſe Funda— 
mentalprincipien der Liebig'ſchen Mineraltheorie in praktiſche 
Anwendung. 

Am ſpäteſten, eigentlich erſt in neuerer Zeit, haben ſich 
namentlich durch die Arbeiten meines geehrten Freundes, Prof. 
Dr. E. Ebermayer, Grundſätze der Liebig'ſchen Minerals 
theorie in der Bewirthſchaftung des Waldes geltend gemacht. 
Als echter Naturforſcher von der Ueberzeugung durchdrungen, daß 
gründlich naturwiſſenſchaftliche Bildung das Fundament der 
rationellen forſtlichen Produktionslehre bilden könne, hat Eber— 
mayer zum erſten Male eine ſyſtematiſche Bearbeitung der 
Naturgeſetze des Waldbaumes in Verbindung mit den ſchon längſt 
anerkannten Naturgeſetzen des Ackerbaus gegeben und gerade 
damit den innigen Zuſammenhang dieſer beiden Produktions— 
gebiete an der Hand wiſſenſchaftlicher Forſchung anſchaulich ge— 
macht. Und doch auch für dieſe Seite der praktiſchen Anwendung 
Liebig'ſcher Ideen der Mineraltheorie finden wir ſchon in 
früherer Zeit deutliche Anklänge. Wenn ein Waldbeſitzer ſeinem 
Walde die von den Bäumen abgefallenen Blätter und Nadeln 
durch Streurechen entzieht, ſo treibt er echte und intenſive 
Raubwirthſchaft. Durch Entfernung der Laub- und Moosdecke 


aus den Wäldern wird nicht nur der große natürliche Waſſer⸗ 
(697) 


1 
behälter hinweggenommen, defjen Aufgabe es ift, das aufgelaugte 
atmoſphäriſche Waſſer langiam dem Boden und den Quellen 
zuzuführen und jo dem Walde fein Lebenselement, nadyhaltige 
Feuchtigkeit, zu fihern; — durch die überzeugendften Verſuchs— 
zahlen hat die Liebig’jche Mineraltheorie bewiejen, wie viel 
auch an wichtigen Mineralbeftandtheilen, welde die Blätter 
mittelft ded Stammes und der Zweige aufgenommen, hierdurch 
dem Walde verloren geht, während diefelben durch die ver- 
weiten nicht entfernten Blätter ald Dünger dem Waldboden 
wieder zugeführt werden. Daß die Beobadhtung der Schädlich« 
feit des Streurechens eine jehr alte fei, obgleidy hierüber erft 
die Liebig'ſche Mineraltheorie rationelle Aufklärung geben 
fonnte, zeigt eineStelle des fchon eben erwähnten alten Oeconomus 
prudens et legalis, Franciscus Philippus Florinus: „die 
Bäume fühlen den größten Schaden, wenn man ihnen die Streu 
nimmt, wovon fie jelbit ihre Düngung haben müffen. Sc 
meined Drted weiß, dab der jetzige Holzmangel guten- wo nicht 
meiltentheild diejer Waldftreufammlung zu zujchreiben jei.“ 

So jehr wir audy anerkennen, daß jchon lange vor 
Erfenntniß der Liebig'ſchen Mineraltheorie Beftrebungen auf- 
getreten find, um die Wichtigfeit der unorganijchen Beltand- 
theile deö Bodens für die Ernährung der Gewächſe im Allgemeinen 
und. der einzelnen Stoffe für die verjchiedenen Drgane der 
Pflanze praktiſch nachzuweiſen — jo viel bleibt gewiß feftitehen 
— Liebig war der Erfte, weldyer den innigen Zuſammenhang 
der Pflanzenajhen mit den Mineralbeitandtheilen ded Bodens 
richtig erkannt und mit lebhaftefter Energie entjchieden hervor» 
gehoben hat. Wohl mag nady den hier aufgeführten Beijpielen 
zugegeben werden, dab ſchon früher, ja in dem älteften Zeiten 
einzelne Mineralbeftandtheile ald Mittel zur Erhaltung der 


Fruchtbarkeit ded Bodend befannt und auch zur Anwendung 
(698) 


_ 33 


gefommen waren; allein bis zum Sahre 1840 gründete fich die 
Zufuhr von Mineralbeftandtbeilen — ald eine empirifche Ope— 
ration ausſchließlich auf die erzielten praftiichen Erfolge. Die 
unzweifelhafte Wirkjamfeit der Mineraldüngung auf einzelnen 
Aderfeldern jchrieb man einer Reizung, einer Anregung des 
Bodens zu, da man ja von der wahren eigentlichen Bedeutung 
der Mineralbeftandtheile als unerläßlich nothwendige Pflanzen- 
nahrung bis dahin gar feine VBorftellung hatte, noch haben 
fonnte. So lange man nod die Pflanzenaſche ald einen all- 
gemeinen Begriff auffabte, d. h. die Aſchen der verjchiedenften 
Pflanzengattungen ald identiſch mit der allein einigermaßen be» 
fannten Holzajche betrachtete, jo lange man noch den unver- 
brennlihenRüditand einer Pflanze als etwas völlig Unweſentliches, 
ald eine unangenehme jtörende Zugabe, ald eine Art von Erere: 
ment anjah, eine ideale Pflanze ſich aber als aſchenfrei dachte, 
jo lange fonnte aud) in chemiſchem Sinne wenigftend der landwirth⸗ 
ichaftliche Betrieb Fein rationeller genanntwerden. Die Begründung 
der Lehre, daß das Vorkommen der unorganiſchen Beitandtheileder 
Pflanze, wie fie die Aſchen ergeben, keineswegs einzufälliges ei, daß 
fie vielmehr eine unentbehrlicye Xebenöbedingung der Pflanzen- 
welt bilden, daß demnach endlich in der Zufuhr von Mineral- 
förpern ein rationelled Mittel zur&rhaltung der Bodenfrudhtbarkeit 
berube, ift daher troß aller Gegenreden ganz und gar alö eine 
Folge der Liebig’jchen Mineraltheorie und ihrer allgemeinen 
Anerkennung zu bezeichnen. Die mannigfadhen Andeutungen 
der Mineraltheorie, aus älteren Werken zufammengejtellt, können 
nur ald die unumftößlichiten Beweiſe für die Richtigkeit der 
Theorie angejehen werden und bejtätigen den altbefannten Aus» 
ſpruch: 
„Es ſoll in vielen alten Büchern ſtehen, 
„Daß manches Neue früher ſchon geſchehen“. 


(639) 


1 

Die Darlegung der Mineraltheorie als wifjenichaftliche 
Errungenſchaft hätte an und für ſich jchon dem Entdeder ein 
unendlich großes Verdienſt um die Landwirtbjchaft für alle Zeiten 
gefihert. Nachdem einmal die Bedeutung der Mineralbeitand- 
theile für die Kulturpflanzen feftgeftellt war, ergab ſich die Er» 
Härung einer großen Reihe von Vorgängen, wie fie der jogenannte 
rationelle Landwirth ſchon längft aus Erfahrung kennen gelernt, 
ohne fih von ihrem Wejen Redyenichaft zu geben, ganz einfach 
von ſelbſt. Wohl darf man den Ausdruck gebrauden der 
„Jogenannte* rationelle Landwirth, denn worin beftand die ein- 
zige Ratio, weldye ihn bei jeinen Arbeiten, bei feinem Ver— 
fahren leitete? Sie beftand einzig umd allein darin, daß er die 
Nützlichkeit der Brache, der Fruchtfolge, des tiefen Pflügens, des 
Düngend u. f. w. aus anſchaulichem Erfolge erfannt hatte. Nun 
aber war der Landwirtl wahrhaft ein rationeller geworden, 
hatte er doch den eigentlihhen Grund jeined Betriebes kennen 
gelernt. Jene landmwirthichaftlihen Dperationen — Brache, 
Fructfolge, Düngen u. |. w. — bi8 dahin nirgends mit Be- 
wußtjein ausgeführt, haben durch die Liebig'ſche Mineraltheorie 
eine wifjenjchaftlihe und damit zum eriten Male eine fichere 
Baſis gewonnen. Durch dieje Geiftedarbeit, wie kaum jemals 
durch eine andere, war dem „Rerum cognosiere causas” im 
wahren, ächten Sinne ded Wortes Erfüllung gegeben. Gerade 
der Umstand, daß, wie ich gezeigt, lange vor Liebig ſchon die 
Lehre der Mineraltheorie praftiicye Anwendung gefunden, gerade 
das fann ald der unumſtößlichſte biftorifche Beweis für die 
Nichtigkeit der Theorie angeſehen werden. 

Vielleicht wäre ed glüdlicher gewejen, wenn der Begrün— 
der der Mineraltheorie fidy darauf befchränft hätte, jeine Lehre 
— eine vollendete Thatſache — dem praftiichen Landwirthe als 


werthverheißende Gabe darzubringen und feiner Thätigfeit deren 
(700) 


15 





fpecielle Anwendung ganz zu überlaffen. Nady meinem Dafür: 
halten hätte die neue Lehre einfach und objektiv dargeitellt 
Schneller ald e8 in der Wirklichkeit der Fall war, Eingang ge- 
funden, jedenfall wäre ihm — dem Begründer der Theorie — 
eine lange Reihe von Enttäuſchungen, von feindlichen Angriffen 
aller, ja manch kränkender ungerechter Widerſpruch eripart ge— 
blieben. Aber Liebig ift nody einen bedeutungsvollen Schritt 
weiter gegangen; mit der ihm eigenthümlichen Energie er- 
ftrebte er, feiner Theorie audy eine unmittelbar praftiiche Rich— 
tung jelbit zu verleihen. Und auf diejem Wege war der Liebig» 
ſchen Mineraltheorie die Begegnung jo mandyer Hindernifje und 
Unebenheiten lange Sahre hindurdy bejdieden. Da die Duelle 
der organiichen Beftandtheile der Pflanze, allenthalben getragen 
von Wind und Wellen, fih von jelbit unerichöpflih in der 
Atmosphäre und dem Waſſer darbietet, die Abnahme der Frucht: 
barfeit eined Bodens daher in dem Mangel der einer Pflanzen- 
fpecied nothwendigen Mineralbeftandtheile gefunden war, ba 
überdies in großer Anzahl ausgeführte Analyjen in zuverläffigen 
Zahlen ergeben hatten, welche Mengen von Kali, Phosphor: 
fäure, Kalt u. ſ. w. einem Stüde Feldes durdy verjchiedene 
Ernten entzogen werden, jo mußte allerdings der Gedanke nahe- 
liegend und einladend fein, durch ummittelbare Zufuhr von 
Mineralbeftandtheilen dem Boden wieder zu erjeßen, was er 
durdy eine DVegetationsperiode eingebüßt. Beſteht doch nad der 
Liebig’ichen Mineraltheorie das Wejen der Düngung im Allges 
meinen einzig und allein darin, dem Boden die Summe von 
entzogenen Mineralbeitandtheilen künſtlich zu erjeßen. 

Der Wideritand, welchen praftiidye Yandwirthe der Liebig- 
ichen Mineraltheorie entgegenftellten, war ein ungewöhnlicher, 
um jo auffallender, als hierdurch thatjächlich keineswegs Son— 


derinterefjen verlegt oder Gewerböbeeinträchtigungen bedingt er— 
(701) 


16 


ſchienen, — Faktoren, die mitunter nicht ohne einige, wenig» 
ſtens jcheinbare Berehtigung Erfindern hindernd im Wege ftehen. 
Welch merfwürdiger Gegenſatz zwiſchen Thaer und Liebig tritt 
und bier entgegen! Thaer's Bemühungen um die Landwirth- 
Ihaft wurden jofort mit offenjter Bewunderung, mit unbedingter 
Hingabe und Dankbarkeit von allen Seiten aufgenommen, 
Solches ijt der Liebig'ſchen Mineraltheorie von Anfang herein 
nicht zu Xheil geworden, und wenn ein ultraenthufiaftiicher 
Jünger Thaer's fid) zu der jonderbaren Aeußerung verleiten 
ließ, er wolle alle jeine Gebäude, Stallungen und Scheunen 
in Brand fteden, jobald died Meifter Thaer, der verehrte Wohl: 
thäter der Landwirthe, verlange, jo joll ed dagegen dem Begrüns 
der der Mineraltheorie widerfahren jein, daß deutjche Landwirthe 
von Bildung (sit-venia verbo) ed geradezu ablehnten, mit 
Mineraljalzen von Liebig empfohlene Verſuche auf ihren Feldern 
anzuftellen und fogar, ald man ihnen Mineraldünger unentgelt- 
lidy geliefert hatte, troß allen freundlichen Bittens feinen Ge- 
braudy davon machten. Das Mißtrauen gegen dad jogenannte 
„gelehrte Weſen“ in der Landwirthichaft — dieſe Bezeichnung 
pflegte man mit Vorliebe auf die Vertreter der Liebig’jchen 
Mineraltheorie anzuwenden — dharakterifirt fich treffend in der be— 
fannten, feiner Zeit für „geiftreich” gehaltenen Phraje: „Ein ge— 
lehrter Bauer ift gerade wie eine polirte Mijtgabel, die Buchſtaben 
bauen fein Feld und ftoden feinen Wald ab." Nebenbei be- 
merft, meine ich, die Furcht vor verminderter Tüchtigfeit in der 
Prarid dur die Gelehrſamkeit unferer Bauern, welche mit 
polirter Miftgabel zu Felde ziehen, dürfte wohl vorläufig nod 
eine etwas unbegründete bleiben. Sehr bezeichnend iſt Die 
Aeußerung eines berühmten Praftiferd über die Momente, welche 
die Aufnahme der Mineraltheorie lange Zeit verzögerten. „Was 
die Verwendung der Liebig’ichen fünftlihen Mineraldüngemittel 


(703) 


17 


betrifft, jo find es hauptiächlidy drei Umſtände, die derjelben 
bindernd im Wege ftehen. Erſtens die mangelhafte Bildung, 
weldye die Leute denffaul macht, jo daß fie am liebiten die 
Sachen treiben, wie es Vater und Großvater auch gemacht 
haben. Zmeitend wollen die Bauern nur ganz billig faufen, 
jei es nun Dünger oder jei ed etwas andere, die Qualität 
icheinen fie dabei ganz außer Acht zu lafjen, man fieht died auf 
jedem Markte. Drittend ift das Landvolf im höchften Grade 
mißtrauiſch und verjchloffen gegen Gebildetere, die ihnen Neues 
und Vortheilhaftes auf einfache und reelle Weije beliebt machen 
wollen. Schwindler, wenn fie gerade den rechten Fled zu 
treffen wiljen, erwerben mitunter leichter Vertrauen. Sch bin 
daher der Anficht, dab vor Allem das Volk gelehrt werden muß 
jelbit zu denken.“ Allerdings hatte der populäre Vertreter der 
Agrikulturhemie vor Sahren eine jehr jonderbare Aufgabe: er 
jollte fich verftändlih machen in einer Sprache, die dem An» 
geredeten unbekannt war; gehörte doc) die Erlernung der Chemie 
damals zu den jeltenften Ausnahmen unter den Vertretern der 
praktiſchen Landwirthichaft. Indeß Eonnte man ihnen dieje 
Unfenntniß auc nicht eigentlich zum Vorwurf machen, ftand 
doc; jener Zeit die Chemie in feiner einzigen direkten Beziehung 
zur Agrikultur; wodurd hätte man fich veranlaßt fühlen jollen, 
mit Mühe und Anftrengung eine fremde Sprache zu erlernen, 
deren Kenntniß faum einen Erwerb irgend brauchbarer Rejuls 
tate in Ausficht ftellte? Und jo fam es denn, daß auch bei 
guter Abfiht von beiden Seiten es meiftentheild unmöglich 
blieb, ein wirkliches Verſtändniß zu erzielen. Neben der Un— 
verftändlichfeit der Sprache und — wir zögern nicht ed offen zu 
befennen — der Heftigfeit ded Ausdrudd, wie fie die neue 
Lehre führte — wir haben und derjelben mitunter jelbit jchuldig 
gemadyt — war ein nicht geringes Hinderniß günftiger Auf- 
XVII. 426. 2 (703) 


18 


nahme der Mineraltheorie von praktiicher Seite. Der Umftand, 
dab fie rüdfichtslos alte liebgemordene Gewohnheiten ftörte. 
War ed doch jo bequem und einfach, das von Bater auf Sohn 
vererbte Verfahren des landwirthichaftlichen Betriebes in naiver 
Unſchuld unverändert und mit voller Pietät fortzujeßen, war 
man dod jo daran gewöhnt, von reizenden, von falten und 
warmen Düngerjorten, von müdem, von überreiztem, vom frans 
tem Boden u. dgl. zu fprechen, obgleidy man mit joldhen allge- 
mein beliebten und geläufigen Ausdrüden in der That eigentlicdy 
niemald nur einigermaßen klare Begriffe verbinden fonnte. 
Nun trat auf einmal wie ein Deus ex machina ein Che- 
mifer auf, welcher mit unerbittliher Hand allen bisherigen An— 
Ihauungen den Stab brechen wollte; nach ihm gab es gar 
feinen reizenden Dünger mehr, jondern nur nährenden; Brache, 
Wechſelwirthſchaft, Fruchtfolge ſollten am Ende gar nicht mehr 
jo unumgänglid Noth thun bei richtiger Behandlung des Bor 
dend und dergleichen unglaubliche Kühnheiten mehr. Das war 
denn doch für ein in ehrwürdigen Traditionen aufgewachjenes 
und erzogened agronomiſches Geſchlecht etwas zu ſtark, dieſes 
ftil und harmlos dahin lebende Geſchlecht, auf einmal war es 
aus jeinem friedlichen Schlummer aufgeichredt, mußte da nicht 
„in gährend Drachengift die Milch der frommen Denkart ſich 
verwandeln?" Nichts ift gefährlicher, als an eingemurzelten 
Gebräuchen zu rütteln. Wir willen nicht, wie viele Schod 
Mohren- und jonjtige Elemente nad dem Wunſche jo mandyer 
ärgerlich gewordenen Landwirthe in dieje „neue Düngerwirth- 
ſchaft“ hätten hineinſchlagen ſollen. Man hört doch nicht gern 
den beftändigen lauten Vorwurf mangelnden Bildungsgrades, 
der Unfähigkeit gehörigen Berftändnifjes, jo wohl begründet 
ſolche Beſchuldigungen aud immer fein mögen. Und nody über: 


dies alle dieje Zurechtweilungen und Eingriffe, — fie famen von 
(704) 


23 
einem rebelliihen Agitator, der für ſolch feindliche Auftreten 
gar nicht einmal im Mindeften berechtigt war, der von der 
eigentlichen Landwirthſchaft nichts verftand, nichts veritehen 
fonnte, nichts verftehen durfte, mangelte ihm ja die unentbehr- 
liye koſtbare Weihe langjähriger Praris. Wie jollte ein Mann, 
der den Pflug nicht zu führen weiß, jagen fünnen, was das 
Feld bedürfe, um Ernten zu liefern, oder man denfe, wie der 
Regen wirfe, um Früchte zu erzeugen? Uebrigens iſt die oft 
gehörte und viel beliebte Behauptung, daß ein wirklicher Fort- 
ſchritt in der Landwirthſchaft immer nur und einzig und allein 
von einem praftiichen Oekonomen ausgehen könne, eine ganz 
ungegründete und durch zahlreiche Beiſpiele widerlegte, kennt 
man ja doch Männer genug, welche, obſchon ihre Studien zum 
Ackerbau in keiner Beziehung ſtanden, großes Glück und Auf— 
ſehen in der Landwirthſchaft gemacht haben. Sogar der hoch— 
berühmte Thaer hatte ja, wie man weiß, urſprünglich Medicin 
ftudirt und überhaupt in der Jugend eine Bildung erhalten, die 
durchaus Feine Vorbereitung zu feinem jpäteren erfolgreichen 
Wirken darbot; bekanntlich war der berühmte Landwirty Schwarz 
Theologe, Dombasle Chemifer. 

E83 gehört zum richtigen Verſtändniß der Liebig'ſchen 
Mineraltheorie anzuerkennen, daß Liebig ſich der großen Schwie- 
rigfeit wohl bewußt war, der modernen Errungenjchaft feiner 
Theorie dem Hergebradyten gegenüber Eingang zu verichaffen. 
In einem Briefe an jeinen Freund Wöhler (1857) findet fid) 
die klagende Aeußerung: „Ich habe die Bahn der reinen Wifjen- 
Ichaft aufgegeben und fomme mir vor wie ein Abtrünniger, wie 
ein Renegat, der jeine Religion aufgegeben und Feine mehr hat. 
In meinem Bemühen, in der Landwirthichaft etwas zu nüßen, 
wälze ich den Stein des Siſyphus: er fällt mir immer auf den 
Kopf zurüd, und idy verzweifle manchmal an der Möglichkeit, 

2° (705) 


20 


ihm einen feiten Boden zu jchaffen,“ und noch in demielben 
Fahre jchreibt er: „Ich bin mit den Landwirthen verdammt, 
Waſſer in dad Faß der Danniden zu tragen: Alles was ich 
thuen mag, ift vergeblich, icy mühe mid, ab und zehre meine 
beiten Kräfte auf, ohne einen Erfolg zu haben.” Schon früher 
unterjchäßte er jein gewagtesd Unternehmen, feine Theorie mit 
eigener Hand in die Prarid einzuführen, keineswegs. „Mein 
Zwed ift, auf dad große Publiftum und auf die Regierungen 
zu wirken. Der Himmel gebe jeinen Segen dazu und emanci- 
pire und. Die Chemie ftand bisher den anderen Fächern gegen» 
über in einer fonderbaren Lage, wir werden gewiſſermaßen als 
Gindringlinge betrachtet; allein dies ſoll fich ändern, fie ſoll 
neben oder über den andern ſtehen.“ Aber aud) von Freundes» 
jeite wurde die Kundgebung der Mineraltheorie im der eigen- 
thümlicy energiichen Form den Landwirthen gegenüber mitunter 
ald ein Gegenftand der Beſorgniß aufgefaßt. In diefem Sinne 
ichreibt Wöhler an Liebig: „Ich lad Deine organifche Chemie 
mit großer Andacht und freue mid) über die geiftreichen Ideen 
die jede Seite enthält. Du haft einer Menge von Dingen 
Worte verliehen, die auch mir ſchon vorgejchwebt hatten, ohne 
dab ich fie aus ihrer Nebelhaftigfeit ind Klare bringen konnte. 
Die Theorie der Pflanzenentwidelung und »Ernährung ift jo plau— 
fibel und verführeriich, dab ich von ihrer Wahrheit überzeugt 
bin. Wenn Du nur von den Landwirthen der jebigen Genera- 
tion verftanden wirft.“ 

Neben den bisher erwähnten Hindernifjen, welche der Liebig— 
ſchen Mineraltheorie hinfichtlich der erften praftifchen Einführung 
in den Weg traten — Hinderniſſe äußerlicher, zufälliger, viel- 
leicht perjönlicher Natur — gab es leider und wir dürfen dies 
bei hiftoriicher Betrachtung nicht verjchweigen, noch ein Haupt— 
hinderniß, welches faktiſch in der Liebig’jchen Mineralthenrie 


(706) 


21 


jelbft gelegen. Sogar unter Vorausfegung einer ausreichenden 
Borbildung der praftiichen Agronomen damaliger Zeit, unter 
Borausjegung eines volllommenen Verftändnifjes der Sprache 
Liebig’d und feiner Schule — und audy dieje wollen wir als 
der Darftellung ganz entiprehend annehmen — müſſen wir doch 
zugeben: Die Mineraltheorie würde in der erften Zeit, da man 
ihr praftiihe Anwendung zu geben fuchte, ganz jicher dennoch 
gar feinen Anklang gefunden haben. Dies war der Mangel an 
Erfolg, man darf beinahe jagen, der gänzliche Mangel an Er: 
folg, woran alle Bemühungen jäyeitern mußten. Während eine 
natürliche Vegetation, d. h. ein Pflanzenwuchs, welcher nicht 
geerntet wird, den Boden bereichert, indem durdy die Wurzeln 
aus der Tiefe des Bodend Nahrungsftoffe heraufgeholt werden, 
die nach der Verweſung der Pflanze neuen vegetabilen Gebil- 
den zum Dajein dienen, jo ift Died natürlich ein Anderes mit 
den Kulturpflanzungen; bier werden dem Boden entwachiene 
Pflanzen nicht ſich jelbit überlaffen, jondern hinweggenommen 
und jo mit den alljährlichen Ernten dem Ader gewilfe Summen 
von Mineralbeitandtheilen entzogen. Soll ein Boden nun 
fernerhin nicht ausgeraubt liegen bleiben oder nur fpärlicye 
Früchte tragen, fo beiteht die dringende Nothwendigfeit, ihm 
den dur Ernten widerfahrenen Abgang an Mineralbeitand- 
theilen mittelft Zufuhr von außen zu erfegen. Was war natürs 
liher, ald dem Boden diejen Erjat in der Form verjchiedener 
fünftlich zujammengejegter Mineraldüngitoffe zu bieten? Was 
ſchien aber zugleich nothwendiger und rationeller, als den Theil 
der zu erfegenden, in Waſſer löslichen Mineralförper, wie nament- 
ih die Alkalien, jollten fie nicht ſogleich durch den erſten Regen 
in die Tiefe ded Bodenö geführt und jo der Vegetation unzus 
gänglid werden — in eine jchwer lösliche Form umzuwandeln, 


um bierdurdy einen DVerluft durch Löſung zu vermeiden? Die 
(707) 


—— 
Wirkung ſolcher nach Angabe und unter perſönlicher Leitung 
Liebig's dargeſtellten, in großem, ausgedehnten Maßſtabe ver— 
ſuchten Mineraldüngmiſchungen war wider alles Erwarten nahezu 
Null, jedenfalls ganz außerordentlich langſam, meiſtens erſt nach 
Jahren einigermaßen bemerkbar. „Was mir einen wahren 
dauernden und nie ſich mildernden Kummer machte — ſo äußerte 
ſich Liebig 1865 in feiner Agrikulturchemie — dies war der 
Umſtand, daß ich nicht einzufehen vermochte, worin es lag, daß 
meine Dünger jo langjam wirkten; überall, in Tauſenden von 
Fällen jah ich, daß jeder ihrer Beitandtheile wirkte, und wenn 
fie beijammen waren, wie in meinem Dünger, jo wirkten fie 
nicht." Und wie dringend nothwendig und wünjchenöwerth 
wären gerade hier bei dem MWiderftreben, welches die Menge 
jedem neuen Syftem entgegenjet, augenjcyeinlidy überzeugende 
Erfolge gewejen; nun ertönte von allen Seiten Triumpbgeichrei 
der Gegner, wollten fie ja alle die praktiſche Unhaltbarkeit der 
Theorie ficher voraudgejehen haben. Schon von vornherein 
war die Idee, Stalldünger künſtlich darzuftellen, von deutichen 
Landwirthen mit Hohngelächter aufgenommen worden; gehörte 
doc nach ihrer klugen Anficht zu defjen Erzeugung unerläßlich 
ein lebender Organismus, ein jolcher aber könne, mie man in 
beliebter Redensart vornehm abweiſend bemerkte, nun und nimmer» 
mehr durch den „chemiſchen Schmelztiegel* erjeßt werden. Und 
ald num die erften Verſuche mit Kunftdünger wirklich fehl- 
ſchlugen, da war unbejchreiblicher Jubel in der ganzen land» 
wirthichaftlichen Literatur! Sonderbar, die praftiichen Landwirthe 
freuten fi unverhohlen darüber, daß Mittel, welche doch nur 
zu ihrem Beiten, zur Hebung ihres Wohlftandes verfucht wurden, 
feinen glüdlichen Erfolg gehabt hatten! So drohte denn in Folge 
mangelhafter Rejultate der Mineraltheorie bedenkliche Gefahr. 
Mit Mühe und Koften waren nad) Liebig's eigener Angabe die in 


(708) 


BB 

Waſſer löslichen Beftandtheile des Mineraldüngers durch Schmel: 
zung in unlöslihe Form übergeführt worden, die harten glas— 
artig geichmolzenen Maſſen mußten alödann auf der Mühle zu 
einem feinen Pulver gemahlen werden, um fie in diejer Form 
auf die Felder zu ftreuen. Doc, während wir in unferen La— 
boratorien darauf bedacht waren, „mit heißem Bemühen“ Die 
in Wafjer löslihen Nahrungöftoffe zu Gunften der Pflanze un- 
löslih zu machen, hatte Mutter Natur jchon von Ewigkeit 
ber, aber ohne unjer Willen und Verſtehen, für ihre Kinder, 
ihrem dunkeln Schooße entiproffen, liebevoll Sorge getragen. 
Das Naturgeſetz des Abjorptiondvermögend der Erde, d. h. 
dad Vermögen des Bodens, die wichtigiten in löslicher Form 
dargebotenen Pflanzennährftoffe feitzuhalten, eröffnete der Liebig- 
Ihen Mineraltheorie neue Bahnen. An der äußeren Kruſte 
der Erde joll fich, jo bezeichnet Liebig dieſes Naturgejeß, unter 
dem Einfluß der Sonne dad organiiche Leben entwideln und 
jo verlieh denn der große Baumeifter den Trümmern diejer 
Kruſte das Vermögen, alle diejenigen Elemente, weldye zur Er— 
nährung der Pflanzen und jomit audy der Thiere dienen, anzu— 
ziehen und feitzuhalten, wie der Magnet Eijentheilcyen anzieht 
und fefthält, jo dat fein Theilchen davon verloren geht; in 
dieſes Geſetz ſchloß der Schöpfer ein zweites ein, wodurch die 
pflanzentragende Erde ein ungeheurer Reinigungsapparat für 
das Waſſer wird, aus dem fie durd dad nämliche Vermögen 
alle der Gejundheit der Menſchen und Thiere jchädlichen Stoffe, 
alle Produkte der Fäulnig und Berwejung untergegangener 
Pflanzen» und Thiergenerationen entfernt. 

Die mühjame Arbeit, lösliche Nährftoffe der Pflanze, vor- 
zugsweiſe die unentbehrlichen Alfalien, im jchwer lösliche Form 
zu bringen — eine Arbeit, der wir und Sahre lang bona fide 


unverdrofjen unterzogen — died iſt nicht der Irrthum eines 
(709) 


a 
Einzelnen, es ift ein Irrthum der Zeit, über welche der einzelne 
Forjcher, immerhin das Kind feiner Zeit, fich nicht zu erheben 
vermodhte; handeln wie ja alle nah dem Maße unjerer Ein- 
fihten und Kräfte; denn daß die Pflanze ihre Nahrung nur 
aus Löjungen aufnehmen Fönne, died war eine jo allgemein 
über allem Zweifel ftehende Thatiache, die überdies der Natur 
der Sache nach jelbitveritändlich erjchien, daß ein Bedenken in 
diefer Hinfiht ganz außer dem Bereiche menjchlichen Denkens 
liegen mußte. Aber jenjeitd aller Erfahrung, über ihr ftehend, 
waltet ein Naturgejeß, der Ausfluß einer Autorität höherer 
Drdnung, dad Gejet des Abjorptionsvermögend der Erde, nad) 
welcdyem der Boden im Stande ift, die wichtigſten in lößlicher 
Form dargebotenen Pflanzennährftoffe nicht durchzulaffen, fie 
feitzuhalten, gleichjam aufzufpeichern für den gelegentlichen Be— 
darf der Wurzel. Ohne diefe merkwürdige Eigenſchaft des Bo- 
dend, wodurdy eine Anfammlung von pafjfender Pflangennahrung 
ftattfindet, müßte das ganze Pflanzenleben in jeiner Eriftenz auf 
Erden gefährdet ericheinen. Sie ift ed, welche in den oberen 
Schichten des fruchtbaren Bodens — der eigentlichen Ader: 
frume — die unter dem Einfluffe der Verwitterungsproceſſe 
löslich gewordene oder von außen zugeführte löslidhe Pflanzen- 
nahrung längere Zeit fefthält und oft eine Reihe von Jahren 
die Erzielung reichlicher Ernten ermöglicht. Selbſtverſtändlich 
ilt die Abſorptionskraft nicht in allen Bodenarten gleich groß; 
fie ift am ſchwächſten im Kiefelfandboden, am ftärfften im Thon 
boden; der Kalfboden, jowie die verfchiedenen natürlichen 
Miſchungen aus den drei Hauptbeitandtheilen, Kiefel, Thon, 
Kalk, ftehen in der Mitte und nähern fid, je nach ihrer Zu— 
jammenjegung bald dem Kiejeljand, bald dem Thonboden. Und 
jo erflärt fib denn hieraus auch in einfachſter Weiſe die hohe 
Grtragsfähigfeit ded Thonbodend im Vergleiche zum Ertrage 


(710) 


BEER... EOS 
ded Sandbodens. Nicht allein weil erfterer überhaupt reicher 
an Pflanzennährftoffen ijt, erjcheint er fruchtbarer, ſondern auch 
weil er im Stande ilt, die ihm gebotenen Nahrungsftoffe dem 
Pflanzenleben zu erhalten. Die Gejdichte des Naturgejeßes 
der Bodenabicrption wird noch dadurch befonderd merkwürdig, 
daß die jonderbare Eigenjchaft des Bodens, lösliche Stoffe 
zurüdzubalten, eigentlidy ſchon lange befannt war, ohne jedod) 
gebührende Beachtung zu finden. Eleusis servat quod ostendat 
revisentibus. Man ilt jogar bis auf Ariftoteles zurüdgegangen, 
um die Kenntniß diejer Thatſache in die fernfte Vergangenheit 
zu verfegen. Dies dürfte jedoch ein Mißverſtändniß fein, indem 
die hierher bezogenen Stellen des Ariftotele8 (Meteorol. V. 3 
und Hist. animal. VIII. 2), wie joldyed mein als tiefer Kenner 
des Ariſtoteles hochberühmter Freund Profeſſor Dr. v. Prantl 
bewiejen hat, zwar wohl ded Durchſeihens von Meerwaſſer er- 
wähnt, um erdig feite Stoffe mechaniſch abzujcheiden, Feines» 
wegs eined Durchſeihens durdy Erde, um die gelöften Sub: 
ftanzen zurüdzuhalten, was doch allein auf das Naturgeſetz der 
Bodenabfjorption bezogen werden fönnte. Immerhin aber bleibt 
ed höchſt merkwürdig, dab ein Mann und Naturfenner, wie 
Ariftoteled, der noch dazu Zeit ſeines Yebend das Meer in näch— 
fter Nähe hatte, zu einer derartigen Aeußerung ſich veranlaßt 
ſah. Wollen wir daher audy nicht anf eine jo ferne Zeit zurück— 
gehen, jo viel ift gewiß, daß ſchon im Fahre 1836 die wichtige 
Eigenfchaft der Dammerde, löslihe Salze zu abjorbiren, be= 
fannt war. Nachdem im Fahre 1840 von Neuem in England 
auf diefe Eigenfchaft ded Bodens aufmerkſam gemacht worden 
war, erfuhr die Lehre von der Bodenabjorption in Deutichland 
durch eine große Anzahl von Verjuchen mit den verſchiedenſten 
Salzen und Erden weitere Begründung und auch praftiiche 
Bedeutung. 


(zu) 


26 


Die Kenntniß der Abjorptionsfähigkeit des Bodens hat 
und ein ganz neued Feld für die Beurtheilung der Bonität 
eines Kulturfeldes eröffnet. Wollen wir auch die Schäbung 
der Fruchtbarkeit eines Aderd nach dem auf demjelben befind- 
lichen, vereinzelt ftehenden Baumwuchs, wie died von jeher 
üblich, als die einfachfte und natürlichite feineswegs verwerfen, jo 
fann doch nicht geläugnet werden, dab die chemijche Analyie 
des Bodend und einen weit mehr geficherten Anhaltspunkt im 
diefer Beziehung gewährt. Im manchen Fällen iſt indeß eine 
ausführliche chemiſche Analyſe ded Bodens, jo werthvoll und 
bezeichnend ihre Nefultate immer fein mögen, wie fie aber doch 
jelbitverftändlihh nur von einem Sachverſtändigen mit Erfolg 
ausgeführt werden fann, unter Umftänden nicht dringend nöthig, 
um und im Allgemeinen wenigſtens über die wejentlichen Be— 
ftandtheile einer Bodenart Aufklärung zu verichaffen. Wenige 
einfache Verſuche find nicht jelten ausreichend, um eine Boden: 
art zu zwingen, wenn man jo fagen darf, ihre Natur zu ent- 
hüllen. Ueberhaupt dürfte nady meinem unmaßgeblichen Dafür- 
halten die Zeit nachgerade vorüber jein, da der Praftifer fich 
bei der Werthbeftimmung feines Materiald ganz blindlingd dem 
Chemiker überläßt, vielmehr erjcheint es zeitgemäß, daß er über- 
all womöglid im dieſer Beziehung jelbitthätig eingreift; ein 
joldyes Vorgehen ift auch heutzutage bei der großen Vereinfachung 
der analytiſchen Methoden und Apparate — wir erinnern nur an 
das Titrirverfahren — wie fie die Neuzeit gewährt, ganz wohl 
möglid. Man hat gewöhnlicdy im landwirthichaftlichen Publikum 
eine heilige Scheu vor hemiihen Zahlen und Kormeln, überhaupt 
vor quantitativen Beitimmungen; gewiß ganz mit Unrecht, ents 
Ipricht doch der Körperwelt eine Zahlenwelt, „Gott ordnete Alles 
nad) Maß, Zahl und Gewicht.” Gerade ein Vorzug der modernen 
Chemie ift ed, daß fie fich nicht mehr hinter einem Wall mpiti- 


(712) 


27 


Iher Apparate und complicirter Methoden vornehm geheimnißvoll 
zurückzieht, ſondern ganz einfach und offen zu Werke geht; hat ſie 
doch das Tageslicht nicht zu ſcheuen. Mehr noch aber als die 
genaueſte quantitative Analyſe gewinnt die Beſtimmung der 
Abjorptionsfähigfeit des Bodend in der Hand des geübten Land- 
wirthed Bedeutung. Diefe Art der Beitimmung ftellt gewiffer- 
maben das Gegentheil der chemiihen Analyje dar. Während 
dieje die einzelnen Beftandtheile ded Bodens in ihren Mengen— 
verhältniffen erfennen läht, d. b. was und wie viel der Boden 
an Planzennährftoffen enthält, lehrt uns die Prüfung des Ab» 
jorptionsvermögens des Bodens, welde Pflanzennähritoffe und 
in welcher Menge der Boden nod aufzunehmen im Stande ift 
oder mit anderen Worten, die Prüfung des Abjorptiondvermö- 
gend ded Bodens lehrt und, was dem Boden bis zum hödhiten 
Grade der Fruchtbarkeit noch an Pflanzennährftoffen fehlt. Die 
Erforihung ded Bodenabiorptionsvermögens gewährt uns die 
werthvolliten Anhaltöpunfte nicht nur für die Beurtheilung der 
Natur ded Bodens, jondern auch für die richtige Anwendung 
der verichiedenen Düngerjorten; hierin befiten wir ein ficheres 
Mittel, um den Zuftand des Bodend und die Wirkſamkeit des 
Düngerd, jowie die Art und Menge der Zufuhr von außen, 
welche der Ader zu feiner volllommeneren Befruchtung bedarf, 
fennen zu lernen. 

Die tiefe Erregung ded Begründerd der Mineraltheorie, 
ald endlich durdy das Naturgejeg der Bodenabjorption, welches 
jo lange heimathlos in der Wiljenichaft umbergeirrt, ein wejent- 
liches Hindernig des Erfolges feiner Lehre, die faft gänzlidye 
Wirkungslofigfeit des Kunitdüngers, gehoben war, erfennen wir 
am beiten aus jeinen eigenen Morten, verjchiedenen Stellen 
feiner Agrikulturchemie entnommen, „Ich war, nadjdem ich den 


Grund mußte, warum meine Dünger nicht wirften, wie ein 
(713) 


Menſch, der ein neued Leben empfangen hatte, denn mit die— 
jem waren audy alle Vorgänge des Feldbaued erflärt und jeßt, 
nachdem das Gejet erkannt ift und deutlih vor Augen liegt, 
bleibt nur die Berwunderung übrig, dab man ed nicht längft 
erkannt bat; aber der menichliche Geift it ein furiojes Ding, 
was in den einmal gegebenen Kreis der Gedanken nicht paßt, 
eriftirt für ihm nicht.” „Sch hatte die Alkalien in meinem 
Dünger ihrer Löslichkeit beraubt und da die löslihen Phosphate 
durh einen Schmelzprozeß eingebettet waren in die hierzu 
dienende Subftanz, jo hatte idy audy ihre Verbreitung im Boden 
gehindert und eben Alles gethan um ihre Wirkung auf das Feld 
zu Ihwächen. So ſah ich denn jet erft, nad) jo vielen Fahren, 
ein, warum jedes einzelne der Elemente meined Düngerd, auf 
das Feld gebracht, die ihm zufommende Wirkung hatte und daß 
meine Kunft fie unwirkſam gemacht hatte. Den größten Scha» 
den in Beziehung anf die Anerfennung und Verbreitung meiner 
Lehre führte ich mir leider jelbft zu, ic) war durch eigene Un— 
wiflenheit ihr jchlimmfter Feind und dies durch die Zujammen- 
ſetzung eined Düngerd geworden, weldyer dazu dienen follte, die 
Fruchtbarkeit der durch die Kultur erichöpften Felder wieder her: 
zuftellen. Ich hatte mich an der Weisheit des Schöpferd ver- 
ſündigt und dafür meine gerechte Strafe empfangen, ich wollte 
jein Werk verbeflern, und in meiner Blindheit glaubte ich, daß 
in der wundervollen Kette von Geſetzen, melde das Leben an 
der Oberfläche der Erde fejleln und immer frijch erhalten, ein 
Glied vergeifen fei, was ich, der ſchwache, ohnmädhtige Wurm, 
erjegen müſſe.“ 

Mit der richtigen Erkenntniß des Naturgejeßed der Boden- 
abjorption war jelbitverftändlih ein Wechſel in den Anfichten 
der Landwirthe über die Liebig'ſche Mineraltheorie eingetreten. 


Der Vorwurf der Infonjequenz, weldyer von verjchiedenen Seiten 
(714) 


— 

dem Begründer der Mineraltheorie gegenüber laut und heftig 
ausgeſprochen wurde, war unſchwer zu ertragen. „Was mich 
entſchuldigen dürfte,“ ſo ſagt er ſelbſt treffend in der Abwehr 
der gegen ihn erhobenen Vorwürfe, — „iſt der Umſtand, daß 
der Menſch das Kind ſeiner Zeit iſt, und daß er ſich den all— 
gemeinen ald wahr geltenden, herrichenden Anfichten nur dann 
zu entziehen vermag, wenn ein gewaltjamer Drudf ihn nöthigt, 
alle jeine Kräfte aufzubieten, um fich frei und ledig von den 
Banden ded Irrthums zu machen. Die Anficht, dab die Pflanzen 
ihre Nahrung aus einer Löſung entnehmen, die fi im Boden 
durch dad Regenwaſſer bildet, war Aller Anficht, fie war mir 
in's Fleiſch gewachſen. Dieſe Anſicht war falſch und die Duelle 
meines thörichten Verfahrens geweſen. Dem, welchem neue 
Federn entſproſſen, fallen die alten aus den Flügeln aus, die ihn 
nicht mehr tragen wollen und er fliegt hiernach um ſo beſſer.“ 

Wir können die geſchichtliche Betrachtung der Liebig'ſchen 
Mineraltheorie nicht ſchließen, ohne einer wohlverdienten und 
bezeichnenden Anerkennung zu erwähnen, — der Anerkennung, 
welcher ihr ſchon vor mehr als einem Decennium von deutſchen 
Landwirthen und um die deutſche Landwirthſchaft hochverdienter 
Männer: zu Theil geworden, ich meine die Liebigſtiftung. Wohl 
durfte ed im Jahre 1870, nady dem langen Zeitraume von 
30 Sahren, ald gerechtfertigt erjcheinen, den Blick hinzumenden 
auf den von der Liebig'ſchen Mineraltheorie zurüdgelegten, nicht 
müheloſen Weg, weldyer nun feiner ganzen Ausdehnung nach im 
Schmude zahlreiher Blüthen und Früchte prangt, wie jolche 
dem freigebig ausgeftreuten Samen allenthalben entjprofjen. 
Schon früher war von vielen Seiten die Abſicht ausgeiprochen 
worden, dem Begründer der Mineraltheorie, als Zeichen der An- 
erfennung, ein Ehrengeſchenk zu widmen, hierbei getragen von 
dem längft gehegten Wunjche, den Gefühlen der Dankbarkeit für 


(715) 


30 


den großen Foricher durdy ein äußeres Zeichen öffentlich Aus- 
drud zu geben. Ueber die Form des beichlojjenen Ehren- 
geſchenkes lag es felbjtverftändlic nahe, vor Allem die Anficht 
des Gründerd der Mineraltheorie jelbit Fennen zu lernen. In 
befannter edler Uneigennüßigfeit wünjchte er dad ihm allein per- 
ſönlich zugedadyte Ehrengeſchenk zu einer Gabe zu geitalten, dar— 
gebracht Allen, weldhe in feinem Geiſte forfchen und wirken. 
Diefe Idee zu verwirklichen, ſollte nad) feinem Wunſche all« 
jährlich oder zu Zeiten demjenigen eine goldene Medaille ver- 
lieben werden, der fi um die Landwirthſchaft hervorragende 
Verdienfte erworben. Nicht ein Stipendium wollte man ftiften, 
fondern die Medaille joll reine Ehre fein, fo daß fie jelbit von 
dem Reichſten, dem fie verliehen ald hohe Auszeichnung an- 
gejehen werde. Im fürzefter Zeit war durch Beiträge ein Kapital 
geſchaffen, hinreichend, um aus dejjen Zinjen goldene Medaillen 
mit dem Bildniß des Stifterd verleihen zu können. Die Zahl 
der gleichzeitigen Inhaber der goldenen Medaille iſt auf act 
beſchränkt. Ende Mai 1870 wurde der Stiftungsfond an Liebig 
übergeben; natürlic hatte er für die Dauer jeined Lebens die 
unbeichränfte Verfügung über die Einkünfte aus dem Stiftungs- 
fapitale im Sinne der entiprechenden Beftimmungen.. „Möge 
ein gütiges Geſchick den Gefeierten nody lange Jahre der Wiſſen— 
haft erhalten, auf dab er im dauernder Gejundheit und fo 
jugendlichen Geiftes wie heute, fich der Folgen feiner großen 
geiftigen That zu erfreuen habe.“ Diejer bei Gelegenheit der 
Uebergabe geäußerte, aufrichtige Wunſch, — er ift leider nicht 
in Erfüllung gegangen. Nach Liebig’3 Tode trat ein Kuratorium 
der Stiftung an feine Stelle. Es ift Grundfat des Kuratoriums, 
bei Verleihung der Medaille, vor Allem dem Sinne des Stifterd 
Rechnung zu tragen, d. h. vorzugsweiſe jolde Männer zu wählen, 


welcdye, abgejehen von ihrer hervorragenden Bedeutung auf dem 
(716) 


3l 


Gebiete der Landwirthichaft, dem Dahingejchiedenen ald Freunde 
nabe ftanden und von dem Stifter ſelbſt ſchon für dieje An- 
erfennung ihrer Leiftungen in Ausfiht genommen waren. Ges 
rechte Rüdfichten der Pietät gaben dem Kuratorium den lei- 
tenden Gedanken, Verdienfte, welche die Ideen der Liebig’schen 
Mineraltheorie der Geltung entgegen führen, zu ehren. Die 
hochberühmten Namen der gegenwärtigen Inhaber der goldenen 
Medaille, dem Kreile der Forſcher und Praftifer entnommen: 
v. Geilern, Rimpau, Kühn, Hauſſen, Settegaft,” befunden ein- 
leuchtend Sinn und Bedeutung der verliehenen Auszeichnungen. 
Die Liebigitiftung — ein Triumph der Mineraltheorie — bat 
eine Schöpfung in's Leben gerufen, welche für die Zufunft von 
den jegendreichften Folgen für die Landwirthichaft wird, durch 
fie fennzeichnet ſich jetzt ſchon die Verbindung zwiſchen Land— 
wirthſchaft und Chemie als eine durchaus lebensfähige, geſunde, 
als eine glückliche und ſo wird aus dieſem Bunde fort und fort 
Leben und Wachsthum hervorquellen; die dem jugendlichen Ver— 
eine entſproſſene Pflanze reift von Jahr zu Jahr mehr heran 
und erſtarkt zu einem Baume, der ſeine weitverzweigten Aeſte 
ausbreitet über alle Lande und ſein ſchirmendes Dach hinzieht 
über die Fluren, daß ihre Saaten fröhlich gedeihen. Durch die 
Liebigſtiftung iſt das Band des Vertrauens, welches Landwirth— 
ſchaft und Naturforſchung — Praxis und Wiſſenſchaft — um— 
ſchlingt, ein feſtes und inniges geworden. 

Die durchgreifend reformatoriſche Wirkung, welche die 
Liebig'ſche Mineraltheorie auf die Landwirthſchaft ausübte, geht 
am deutlichiten hervor aus den Ariomen der Lehre, wie fie in 
den Epoche machenden fünfzig Theſen enthalten find. Wir 
fönnen ed und nicht verjagen, den urjprünglichen Wortlaut diejer 
Thejen im Anhang beizufügen; nur bezüglid) der Löslichkeit 
pflanzlicher Nährftoffe haben fie durch Hereinziehen des Natur- 


(117) 


_ 32 
gejetes der Bodenabjorption Aenderung erfahren, im liebrigen 
jtehen jie unmwiderlegt da als Kennzeichen einer neuen Zeit, her— 
aufgeführt für die Landwirthichaft durch die Liebig ſche Mineral« 
theorie. (S. Anhang.) 

Nachdem noch zu rechter Zeit — in der elften Stunde — 
dem lang verfaunten Naturgejege des Abjorptionsvermögend der 
Aderkfrume von dem Begründer der Mineraltheorie endliche An— 
erfennung zu Theil geworden, ftand der praftiichen Einführung 
der Theorie nichts mehr im Wege. Heut zu Zage handelt es 
fidy nicht mehr um die Liebig'ſche Mineraltheorie ald einer vor- 
übergehenden Mode, jondern wir halten feit an ihr ald an dem 
wichtigjten unvergänglichen Fortfchritt in der modernen Land» 
wirthichaft. Hat doch die Erfahrung alle Borausfagen der 
Liebig’ihen Mineraltheorie auf dad Glänzendite beftätigt, — 
heut zu Tage wird über die thatjächliche Wahrheit der Liebig’ichen 
Mineraltheorie nicht mehr und von feiner Seite diäfutirt, nur 
nad; den Quellen juchen wir, aud welchen die Pojtulate der 
Theorie für die Prarid am beften und billigften gewonnen werden 
fönnen. Und wenn wir und heut zu Tage der Berwunderung 
darüber nicht entichlagen fönnen, wie verhältnißmäßig jo auf 
fallend lange ed möglich geweſen, daß jtarre Zähigfeit jelbit den 
tüchtigften Gegenbeweilen Troß zu bieten vermochte, jo tröften 
wir und mit der anerfannten Wahrheit: Irdiſche Beftrebungen 
gehordyen nun einmal in ihrem Entwidlungsgange den Gejegen 
der Langſamkeit und des Widerſpruchs. 


Anhang. 
Fünfzig Theſen der Liebig'ſchen Mineraltheorie. 


1. Die Pflanzen empfangen im Allgemeinen ihren Kohlen: 
ftoff und Stidftoff aus der Atmojphäre, den Koblenftoff in der 


(718) 


33 


Form von Kohlenjäure, den Stidftoff in der Form von Ammoniaf. 
Dad Wafler (und Ammoniaf) liefert den Pflanzen ihren Wafler: 
ſtoff; der Schwefel der fchwefelhaltigen Beftandtheile der Ge— 
wächſe ſtammt von Schwefeljäure ber. 

2. Auf den verfchiedenften Bodenarten in den verſchiedenſten 
Klimaten, in der Ebene oder auf hohen Bergen gebaut, ent: 
halten die Pflanzen eine gewiſſe Anzahl von Mineralfubftanzen, 
und zwar immer die nämlichen, deren Natur und Beichaffenheit 
fich aus der Zufammenfegung ihrer Aſche ergiebt; diefe Ajchen- 
bejtandtheile waren Beftandtheile des Bodens; alle fruchtbaren 
Bodenarten enthalten gewiſſe Mengen davon, in feinem Boden, 
worauf Pflanzen gedeihen, fehlen fie. 

3. In den Produften ded Feldes wird in den Ernten die 
ganze Quantität der Bodenbeftandtheile, welche Beftandtheile 
der Pflanzen geworden find, binweggenommen und dem Boden 
entzogen; vor der Einjaat ift der Boden reicher daran ald nad) 
der Ernte; die Zujammenjeßung ded Bodens ift nad) der Ernte 
geändert. 

4. Nach einer Reihe von Fahren und einer entiprechenden 
Anzahl von Ernten nimmt die Fruchtbarkeit der Felder ab. Beim 
Bleichbleiben aller übrigen Bedingungen ift der Boden allein 
nicht geblieben, was er vorher war; die Aenderung in jeiner 
Zujammenjegung ift die wahrjcheinliche Urſache feines Unfrucht— 
barwerden®. 

5. Durdy den Dünger, den Etallmift, die Erfremente der 
Menſchen und Thiere wird die verlorene Fruchtbarkeit wieder 
bergeftellt. 

6. Der Dünger befteht aus verwejenden Pflanzen» und 
Thierftoffen, welche eine gewiſſe Menge Bodenbeftandtheile ent- 
halten. Die Erfremente der Thiere und Menſchen ftellen die 


Aſche der im Leibe der Thiere und Menſchen verbrannten Nah: 
XVIIL 426. 3 (719) 


— 


rung dar, von Pflanzen, die auf den Feldern geerntet wurden. 
Der Harn enthält die im Waſſer löslichen, die Fäces die darin 
unlöslichen Bodenbeſtandtheile der Nahrung. Der Dünger ent- 
hält die Bodenbeftandtheile der geernteten Produkte des Feldes; 
es ift Far, dab durch feine Einverleibung im Boden diefer die 
entzogenen Mineralbeftandtheile wieder erhält; die Wiederher- 
ftellung feiner urjprünglichen Zufammenftellung ift begleitet von 
der Wiederheritellung feiner Fruchtbarkeit; es iſt gewiß, eine der 
Bedingungen der Fruchtbarkeit war der Gehalt ded Bodend an 
gewiſſen Mineralbeftandtheilen. Ein reicher Boden enthält mehr 
davon ald ein armer Boden. 

7. Die Wurzeln der Pflanzen verhalten fi in Beziehung 
auf die Aufnahme der atmofphäriichen Nahrungsmittel ähnlich 
wie die Blätter, d. h. fie befiten wie dieje das Vermögen, Kohlen: 
jäure und Ammoniak aufzujaugen und in ihrem Drganismus 
auf diefelbe Art zu verwenden, wie wenn die Aufnahme durd) 
die Blätter vor ſich gegangen wäre. 

8. Dad Ammoniak, welches der Boden enthält oder was 
demjelben zugeführt wird, verhält fich wie ein Bodenbeftandtheil; 
in gleicher Weile verhält fidy die Kohlenjäure. 

9. Die Pflanzen- und Thierftoffe, die thieriichen Erfremente 
gehen in Fäulni und Verweiung über. Der Stidftoff der ftid- 
ftoffhaltigen Beftandtheile derfelben verwandelt fi) in Folge der 
Fäulniß und Verweſung in Ammoniaf, ein fleiner Theil des 
Ammoniaks verwandelt fidy in Salpeterjäure, welche dad Pro- 
duft der Oxydation (der Verweſung) ded Ammoniaks ift. 

10. Wir haben allen Grund, zu glauben, daß in dem Er- 
nährungsprozeß der Gewächſe die Salpeterfäure das Ammoniak 
vertreten kann, d. h. daß der Stidftoff derjelben zu denielben 
Zweden in ihrem Organismus verwendet werden fann wie ber 


des Ammoniaks. 
(720) 


35 


11. In dem tbierifhen Dünger werden demnach ben 
Pflanzen nit nur die Mineraljubftanzen, welche der Boden 
liefern muß, jondern audy die Nahrungsftoffe, welche die Pflanze 
aus der Atmojphäre jchöpft, zugeführt. Dieſe Zufuhr ift eine 
Bermehrung derjenigen Menge, welche die Luft enthält. 

12. Die nicht gasförmigen Nahrungsmittel, welche der 
Boden enthält, gelangen in den Organismus der Pflanzen durch 
die Wurzeln; der Uebergang derjelben wird vermittelt durch das 
Waſſer, durdy welches fie löslich werden und Beweglichkeit 
empfangen. Manche löjen fich in reinem Waſſer, die andern 
nur in Wafjer, welches Kohlenjäure oder ein Ammoniakjalz 
enthält. 

13. Alle diejenigen Materien, weldye die an ſich im Waſſer 
unlöslichen Bodenbeftandtheile löslich madyen, bewirken, wenn 
fie in dem Boden enthalten find, daß dafjelbe Bolum Regen 
wafjer eine größere Menge davon aufnimmt. 

14. Durdy die fortichreitende Verweſung der im thierifchen 
Dünger enthaltenen Pflanzene und Thierüberreſte entjtehen 
Kohlenfäure und Ammoniakfalze; fie ftellen eine im Boden 
thätige Kohlenfäurequelle dar, weldye bewirkt, dab die Luft in 
dem Boden und dad in demjelben vorhandene Wafjer reicher an 
Kohlenjäure werden ald ohne ihre Gegenwart. 

15. Durch den thieriſchen Dünger wird den Pflanzen nicht 
nur eine gewifje Summe an mixeraliihen und atmoſphäriſchen 
Nahrunggmitteln dargeboten, jondern fie empfangen durdy den 
jelben auch in der durch feine Verweſung ſich bildenden Kohlen— 
jäure und den Ammoniafjalzen die unentbehrlihen Mittel zum 
Uebergange der im Waſſer für ſich unlöslichen Beftandtheile, in 
derjelben Zeit eine größere Menge ald ohne Mitwirkung der ver- 
weöbaren organijchen Stoffe. 


16. In warmen trodenen Fahren empfangen die Pflanzen 
3” (721) 


36 


durch den Boden weniger Waller ald unter gleichen Verhält— 
nilfen in naffen Sahren. Die Ernte in verfchiedenen Jahren 
ſteht damit im Verhältniß. in Feld von derjelben Beſchaffen— 
heit liefert in regenarmen Jahren einen geringeren Ertrag; er 
jteigt in regenreicheren, bei gleicher mittlerer Temperatur bis zu 
einer gewiffen Grenze mit der Regenmenge. 

17. Bon zwei Feldern, von denen das eine mehr Nahrungd- 
ftoffe zufammengenommen enthält wie dad andere, liefert das 
daran reichere auch im trodenen Sahren unter fonft gleichen Ver— 
bältnifjen, einen höheren Ertrag ald dad ärmere. 

18: Bon zwei Feldern von gleicher Bejchaffenheit und 
gleihem Gehalt an Bodenbeftandtheilen, von denen das eine 
aber in verweöbaren Pflanzen» (oder Dünger-) Beitandtheilen 
außerdem eine Kohlenfäurequelle enthält, liefert das letztere auch 
in trodenen Zahren einen höheren Ertrag ald das andere. 

Die Urjache diefer Verjchiedenheit oder Ungleichheit im Er— 
trag beruht auf der ungleichen Zufuhr der Bodenbeitandtheile in 
Duantität und Qualität, welche die Pflanze in gleichen Zeiten 
von dem Boden empfängt. 

19. Alle Widerftände, welche die Löslichkeit und Aufnahms- 
fähigkeit der im Boden vorhandenen Nahrungdftoffe der Gewächſe 
hindern, heben in demjelben Verhältniß deren Fähigkeit auf, zur 
Ernährung zu dienen, d. h. fie machen die Nahrung wirkungslos. 
Eine gewiſſe phyſikaliſche Beſchaffenheit des Bodens ift eine 
nothwendige Vorbedingung zur Wirfjamfeit der darin vor- 
handenen Nahrung. Der Boden muß der atmojphäriichen Luft 
und dem Waſſer Zutritt und den Wurzelfafern die Möglichkeit 
geftatten, fi) nad allen Richtungen zu verbreiten und die Nah— 
rung aufzufuchen. Der Ausdrud telluriihe Bedingungen be» 
zeichnet den Inbegriff aller von der phyſikaliſchen Beſchaffenheit 


(122) 


37 


und Zujammenjegung des Bodend abhängigen, für die Ent» 
widlung der Pflanzen nothwendigen Bedingungen. 

20. Alle Pflanzen ohne Unterſchied bedürfen zu ihrer Er- 
nährung Phosphorfäure, Schwefelfäure, die Alkalien, Kalke, 
Dittererde, Eifen; gewilfe Pflanzengattungen Kiefelerde; die an 
dem Strande ded Meered und im Meere wachjenden Pflanzen 
Kochſalz, Natron, Jodmetalle. In mehreren Pflanzengattungen 
fönnen die Alkalien zum Theil durch Kalk» und Bittererde, und 
dieje umgefehrt durch Alfalien vertreten werden. Alle dieſe 
Stoffe find einbegriffen in der Bezeichnung mineraliſche Nah— 
rungdmittel; atmojphäriihe Nahrungdmittel find Kobhlenjäure 
und Ammoniaf. Das Waſſer dient zur Nahrung und zur Ver— 
mittlung des Crnährungsprozeffes. 

21. Die für eine Pflanze nothwendigen Nahrungsftoffe 
find gleichwertbig, d. h. wenn eined von der ganzen Anzahl fehlt, 
jo gedeiht die Pflanze nicht. 

22. Die für die Kultur aller Pflanzengattungen geeigneten 
Felder enthalten alle für die Pflanzengattungen nothwendigen 
Bodenbeftandtheile; die Worte fruchtbar oder reich, unfruchtbar 
oder arm drüden das relative Verhältniß diejer Bodenbeftand- 
theile in Duantität oder Dualität aus. 

Unter qualitativer Verſchiedenheit verſteht man den un 
gleichen Zuftand der Löslichkeit oder Webergangsfähigfeit der 
mineralijchen Nahrungsmittel in den Organismus der Pflanzen, 
welche vermittelt wird durch das Waſſer. 

Bon zwei Bodenarten, weldye gleiche Mengen mineraliicher 
Nahrungsmittel enthalten, kann die eine fruchtbar (als reich), 
die andere unfruchtbar jein (ald arm angejehen werden), wenn 
in der leßteren diefe Beftandtheile nicht frei, jondern in einer 
chemiſchen Verbindung fidy befinden. Ein Körper, der fich in 
hemijcher Verbindung befindet, jet, in Folge der Anziehung 


(123) 


38 


jeiner andern Beitandtheile, einem zweiten, der fidy damit zu 
verbinden ftrebt, einen Widerjtand entgegen, der überwunden 
werden muß, wenn beide fich verbinden jollen. 

23. Alle für die Kultur geeigneten Bodenarten enthalten 
die mineraliihen Nahrungsmittel der Pflanzen in diejen zweierlei 
Zuftänden. Alle zufammen ftellen dad Kapital, die frei löslihen 
den flüjfigen beweglichen Theil ded Kapitald dar. 

24. Einen Boden durch geeignete Mittel, aber ohne Zufuhr 
von mineraliſchen Nahrungsmitteln verbeſſern, bereichern, frucht- 
barer maden, heißt einen Theil des todten, unbemweglihen 
Kapitald, das ift die hemifch gebundenen Beftandtheile, frei, 
beweglidy und verwendbar für die Pflanzen machen. 

25. Die mechanijche Bearbeitung des Feldes hat den Zweck, 
die chemiſchen Widerftände im Boden zu überwinden, die in 
chemiſcher Verbindung befindlichen mineraliſchen Nahrungsmittel 
frei und verwendbar zu machen. Died gejchieht durdy Mit- 
wirkung der Atmojphäre, der Kohlenfäure, des Saueritoffd und 
Waſſers. Die Wirkung heißt Verwitterung. Stehended Waller 
im Boden, welches der Atmoſphäre den Zugang zu den chemiſchen 
Berbindungen verjchließt, iſt Widerſtand gegen die Verwitterung. 

26. Brachzeit heißt die Zeit der Vermwitterung. Während 
der Brache wird dem Boden durch die Luft und das Regen— 
wafjer Kohlenſäure und Ammoniaf zugeführt. Lebtereö bleibt 
im Boden, wenn Materien darin vorhanden find, welche es 
binden, d. h. die ihm jeine Flüchtigfeit nehmen. 

27. Ein Boden ift fruchtbar für eine gegebene Pflanzen- 
gattung, wenn er die für diefe Pflanze nothwendigen minera- 
lichen Nahrungsſtoffe in gehöriger Menge, in dem richtigen Ber: 
bältniß und in der zur Aufnahme geeigneten Beichaffenheit 
enthält. 

28. Wenn diejer Boden durdh eine Reihe von Ernten ohne 

(724) 


Erfaß der hinweggenommenen mineraliihen Nahrungsmittel un= 
fruchtbar für dieſe Pflanzengattung geworden ijt, jo wird er 
nach einem oder einer Anzahl von Bradjahren wieder fruchtbar 
für diefe Pflanzengattung, wenn er neben den löslichen oder hin- 
weggenommenen Bodenbeftandtheilen eine gewilfe Summe der- 
jelben Stoffe im unlöslichen Zuftande enthielt, weldye während 
der Brachzeit durch mechaniiche Bearbeitung und Vermitterung 
löslich geworden find. Durdy die jogenannte Gründüngung 
wird diefe Wirkung in kürzerer Zeit erzielt. 

29. Ein Feld, worin diefe mineraliihen Nahrungämittel 
fehlen, wird durch Bradjliegen und mechanische Bearbeitung nit 
frudytbar. 

30. Die Steigerung der Fruchtbarkeit eines Feldes durch 
die Bradye und die mechaniſche Bearbeitung und Hinwegnahme 
der Bodenbeftandtheile in den Ernten, ohne Erſatz derjelben, hat 
in fürzerer oder längerer Zeit eine dauernde Unfruchtbarfeit zur 
Folge. 

31. Wenn der Boden feine Fruchtbarkeit dauernd bewahren 
fol, jo müfjen ihm nad) fürzerer oder längerer Zeit die ent» 
zogenen Bodenbeftandtheile wieder erjeßt, d. bh. die Zufammen> 
jeßung ded Bodend muß wieder hergejtellt werden. 

32. Verſchiedene Pflanzengattungen bedürfen zu ihrer Ent- 
widlung diejelben mineralijchen Nahrungdmittel, aber in un— 
gleicher Menge oder in ungleichen Zeiten. Einige Kulturpflanzen 
müſſen Kiefeljäure in löslichem Zuftande im Boden vorfinden. 

33. Wenn ein gegebened Stüd Feld eine gewilje Summe 
aller mineraliihen Nahrungsmittel in gleidyer Menge und geeig- 
neter Beſchaffenheit enthält, jo wird diejes Feld unfruchtbar für 
eine einzelne Pflanzengattung, wenn durch eine Aufeinanderfolge 


von Kulturen ein einzelner diejer Bodenbeftandtheile (3.3. lös— 
a (735) 


40 


liche Kiefelerde) foweit entzogen ift, dab feine Duantität für 
eine neue Ernte nicht mehr ausreicht. 

34. Eine zweite Pflanze, welche diefen Beftandtheil (die 
Kiefelerde z. B.) nicht bedarf, wird, auf demfelben Felde ge 
baut, eine oder eine Reihenfolge von Ernten zu liefern ver« 
mögen, weil die andern ihr nothwendigen mineralifchen Nah— 
rungdmittel in einem zwar geänderten Verhältniffe (nicht mehr 
in gleicher Menge), aber für ihre vollfommene Entwidlung aus- 
reichender Menge vorhanden find. 

Eine dritte Pflanzengattung wird nach der zweiten auf dems 
jelben Felde gedeihen, wenn die zurüdgelafjenen Bodenbeitand- 
theile für den Bedarf einer Ernte ausreichen; und wenn während 
der Kultur diefer Gewächſe eine neue Duantität des fehlenden 
Beitandtheiled (der löslichen Kiefelerde) durch Verwitterung 
wieder lößlich geworden ift, jo kann auf demielben Felde beim 
Borhandenjein der andern Bedingungen die erfte Pflanze wieder 
fultivirbar fein. 

35. Auf der ungleihen Menge und Beſchaffenheit der 
mineralijchen Nahrungsmittel und dem ungleichen Berhältniß, 
in dem fie zur Entwidlung der verjchiedenen Pflanzengattungen 
dienen, beruht die Wechſelwirthſchaft und die Verſchiedenheit des 
Fruchtwechſels in verfchiedenen Gegenden. 

36. Das Wachſen einer Pflanze, ihre Zumahme an Mafje 
und ihre vollflommene Entwidlung im einer gegebenen Zeit, bei 
Gleichheit aller Bedingimgen, fteht im Verhältniß zur Ober: 
fläche der Organe, welche beftimmt find, die Nahrung aufzu- 
nehmen. Die Menge der aus der Luft aufnehmbaren Nahrungs- 
ftoffe ift abhängig von der Anzahl und der Oberfläche der 
Blätter, die der aud dem Boden aufnehmbaren Nahrung von 
der Anzahl und Oberfläche der Murzelfafern. 


37. Wenn während der Blatt: und Wurzelbildung zwei 
(726) 


41 


Pflanzen derjelben Gattung eine ungleihe Menge Nahrung in 
derjelben Zeit dargeboten wird, fo ift ihre Zunahme an Maſſe 
ungleich in diejer Zeit, fie ift größer bei derjenigen Pflanze, 
welche in diejer Zeit mehr Nahrung empfängt, die Entwidlung 
derjelben wird bejchleunigt. Diejelbe Ungleichheit in der Zus 
nahme zeigt fi, wenn den beiden Pflanzen die nämliche Nah— 
rung in derjelben Menge, aber in einem verichiedenen Zuftande 
der Löslichkeit dargeboten wird. 

Durd Darbietung der richtigen Menge aller zur Ernährung 
eines Gewächſes nothmwendigen atmoſphäriſchen und tellurijchen 
Nahrungsmittel in der gehörigen Zeit und Beichaffenheit, wird 
ihre Entwidlung in der Zeit beichleunigt. Die Bedingungen 
der Zeitverfürzung ihrer Entwidlung find die nämlichen wie die 
zu ihrer Zunahme an Maffe. 

38. Zwei Pflanzen, deren Wurzelfajern eine gleiche Länge 
und Ausdehnung haben, gedeihen weniger gut neben einander 
oder nach einander, ald zwei Pflanzen, deren Wurzeln von un 
gleicher Länge, ihre Nahrung and ungleicher Tiefe und Ebene 
ded Bodens empfangen. 

39. Die zum Leben einer Pflanze nöthigen Nahrungsftoffe 
müfjen in einer gegebenen Zeit zufammenwirfen, wenn fie zur 
vollen Entwidlung in diejer Zeit gelangen joll. 

Te raſcher ſich eine Pflanze in der Zeit entwidelt, deſto 
mehr Nahrung bedarf fie in dieſer Zeit, die Sommerpflanze 
mehr wie die perennirenden Gräjer. 

40. Wenn einer der zufammenwirfenden Beftandtheile des 
Bodend oder der Atmofphäre fehlt oder mangelt, oder die zur 
Aufnahme geeignete Bejchaffenheit nicht befißt, jo entwickelt fid) 
die Pflanze nicht oder in ihren Theilen nur unvolllommen. 

Der fehlende oder mangelnde Beftandtheil macht die andern 


vorhandenen wirkungslos, oder vermindert ihre Wirkjamfeit. 
XVII. 426. 3** (727) 


42 


41. Wird der fehlende oder mangelnde Beftandtheil dem 
Boden zugejeßt oder der vorhandene unlösliche löslich gemacht, 
fo werden die andern wirkſam. 

Durch den Mangel oder die Abwejenheit eined nothwen— 
digen Beftandtheiles, beim Vorhandenſein aller andern, wird der 
Boden unfrudhtbar für alle diejenigen Gewächſe, welche diejen 
Beftandtheil zu ihrem Leben nicht entbehren können. Der Boden 
liefert reichliye Ernten, wenn diejer Beſtandtheil in richtiger 
Menge und Beichaffenheit zugejeßt wird. Bei Bodenarten von 
unbefanntem Gehalt an mineraliihen Nahrungsmitteln geben 
Verſuche mit den einzelnen Düngerbeitandtheilen Mittel ab, um 
Kenntniß von der Beichhaffenheit ded Felded und dem Bor 
bandenfein der andern Düngerbeftandtheile zu erlangen. Wenn 
3. B. der phosphorſaure Kalk wirkjam ift, d. h. den Ertrag eines 
Feldes erhöht, jo ift dies ein Zeichen, dab derſelbe gefehlt hat 
oder in zu geringer Menge vorhanden war, während an allen 
übrigen fein Mangel war. Hätte einer von den andern notb- 
wendigen Beftandtheilen ebenfalld gefehlt, jo würde der phos- 
phorjaure Kalf feine Wirkung gehabt haben. 

42. Die Wirkſamkeit aller Bodenbeitandtheile zujammen- 
genommen in einer gegebenen Zeit, ift abhängig von der Mit: 
wirkung der atmoſphäriſchen Nahrungdmittel in eben dieſer Zeit. 

43. Die Wirkſamkeit der atmoſphäriſchen Nahrungsmittel in 
der Zeit ift abhängig von der Mitwirkung der Bodenbeftand- 
theile in ebem diejer Zeit; beim VBorhandenfein der Bodenbeftand- 
theile und ihrer geeigneten Beichaffenheit, fteht die Entwidlung 
der Pflanzen im Verhältniß zu der Menge der dargebotenen und 
aufgenommenen atmojphärifchen Nahrungsmittel. Das Ber: 
bältniß der Menge und der Beichaffenheit der mineraliichen 
Nahrungdmittel (ihres Zuftanded der Aufnahmefähigfeit) im 
Boden und die Abwejenheit oder dad Vorhandenſein der Hinder- 

(738) 


43 


niffe ihrer Wirkſamkeit (phyſikaliſche Beichaffenheit) erhöht oder 
vermindert die Anzahl und Maſſe der auf einer gegebenen Fläche 
Fultivirbaren Pflanzen. Der fruchtbare Boden entzieht in den 
Darauf wachſenden Pflanzen, der atmoſphäriſchen Luft mehr 
Kohlenjäure und Ammoniaf ald der unfrucdhtbare; diefe Ent» 
ziehung fteht im Verhältniß zu feiner Fruchtbarkeit und iſt nur 
begrenzt durdy den begrenzten Gehalt an Kohlenjäure und 
Ammoniaf in der Luft. 

44. Bei gleicher Zufuhr der atmofphärifchen Bedingungen 
des Wachsthums der Pflanzen, jtehen die Ernten in geradem 
Berhältnig zu den im Dünger zugeführten mineraliihen Nah: 
rungsmitteln. 

45. Bei gleichen tellurifchen Bedingungen ſtehen die Ernten 
im Verhältniß zu der Menge der durch die Atmojphäre und den 
Boden zugeführten atmoſphäriſchen Nahrungsmittel. Wenn den 
im Boden vorhandenen wirfiamen mineraliidhen Nahrungsmitteln 
Ammoniak und Koblenjäure zugejegt werden, jo wird jeine Er- 
tragsfähigkeit erhöht. 

Die Bereinigung der telluriichen und atmojphäriichen Be— 
dingungen und ihr Zuſammenwirken in der richtigen Menge, 
Zeit und Beichaffenheit, bedingen dad Marimum des Ertrages. 

46. Die Zufuhr einer größeren Menge atmojphärifcher 
Nahrungsmittel (mittelit Ammoniafjalzen, Humus) als die Luft 
darbietet, erhöht die Wirkſamkeit der vorhandenen mineraliichen 
Nahrungdmittel in einer gegebenen Zeit. Im derjelben Zeit wird 
alddann von gleicher Fläche mehr geerntet, in einem Fahre mög- 
licher Weije joviel ald in zwei Jahren ohne diejen Ueberſchuß. 

47. In einem an mineraliihen Nahrungsmitteln reichen 
Boden kann der Ertrag ded Felded durdy Zufuhr von denjelben 
Stoffen nicht erhöht werden. 


48. In einem an atmojphäriihen Nahrungsftoffen reichen 
(129) 


4 
Felde kann der Ertrag durch Zufuhr derſelben Stoffe nicht ge— 
ſteigert werden. 

49. Bon einem an mineraliſchen Nahrungsmitteln reichen 
Felde lafien fi in einem Fahre oder in einer Reihenfolge von 
Fahren dur Zufuhr und Einverleibung von Ammoniak allein, 
oder von Humus und Ammoniak, reichlidye Enten erzielen, ohne 
allen Erfat der in den Ernten hinweggenommenen Bodenbeftand- 
theile. Es hängt alddann die Dauer diejer Erträge ab von dem 
Vorrathe, der Menge und Beichaffenheit der im Boden ent- 
baltenen mineralifchen Nahrungsmittel. Die fortgejette An— 
wendung dieſes Mitteld bewirkt eine Erſchöpfung ded Bodens. 

50. Wenn nad) diefer Zeit der Boden feine uriprüngliche 
Fruchtbarkeit wieder erhalten ſoll, jo müfjen ihm die in der Reihe 
von Fahren entzogenen Bodenbeftandtheile wieder zugeführt 
werden. Wenn der Boden in zehn Fahren zehn Ernten ge- 
liefert bat, ohne Erjaß der hinweggenommenen Bodenbeftand: 
theile, jo müfjen ihm dieje in der zehnfachen Quantität im elften 
Jahre wiedergegeben werden, wenn derfelbe feine Fähigkeit wieder 
erhalten joll, eine gleiche Anzahl von Ernten zu liefern. 


(730) 


Drud von Sehr. Unger Ch. Grimm) in Berlin, Schönebergerftr. 1. 


Ehier- und Pflanzengeographie im Lichte 
der Sprachforſchung. 


Mit befonderer Rüdficht auf die Frage nach der Urheimat 
der Indogermanen 


Dr. Otto Schrader. 


GH 





Berlin SW., 1883. 


Berlag von Carl Habel. 


(€. 6. Lüderity'sche Verlagsbuchhandlung.) 
33. Rilbelm-Straße 33. 


Das Recht der Lleberiegung im jremde Sprachen wird vorbehalten. 


Die Verbreitung des organifchen Lebens auf unjerer Erd» 
oberfläche ift durch die Arbeiten eined Humboldt, Nitter, 
Schmarda, Wallace, Grifebah u. A. ein Gegenftand jo 
eingehender und anziehender Forſchung geworden, daß derjelbe 
weit über die Fachfreife der Naturforfcher und Geographen 
hinaus Sntereffe erregt und Mitarbeiter erwedt bat. Nicht mit 
Unredht! Werden doch die großen und ewigen Geſetze, durch 
welche die Verbreitung des Thier- und Pflanzenlebend auf 
unferer Erde im Allgemeinen bejtimmt ift, im Cinzelnen fort: 
während durchbrochen durdy einen Faktor, deffen jcheinbar will» 
fürlihe, weil freiwillige, Thätigfeit in ihren letzten Urfachen 
weniger von dem Natur: ald von dem Gejchichtöforjcher ver- 
ftanden werden fann, durch das Auftreten und die Wirkſamkeit 
des homo sapiens. Unter der zähmenden, fäenden, verpflan- 
zenden Hand ded Menjchen löſen ſich aus der zahllofen Menge 
der Geichöpfe und Gewächſe allmählich diejenigen Arten heraus, 
welche ald Hausthiere oder Kulturpflanzen unauflöslich mit den 
Geſchicken des Menjchen verbunden, ihn auf jeinen Wande- 
rungen in die ferniten Länder begleiten. Aus dem ununter- 
brochenen Kampf, welchen der Menſch mit dem „mütterlichen“ 
Boden der Erde zu führen hat, geht die Phyfiognomie ganzer 
Länder ald eine veränderte hervor. Wälder werden gerodet, 


Sümpfe getrodnet, Flüffe eingedämmt, und im milderer Luft 
xviu. 427, 1 (733) 


4 


und wärmeren Sonnenjchein jprießen taufend neue Pflanzen 
zu fröhlichem Leben empor. Jede Fühne Seefahrt, jede neue 
Handelöftraße führt im Alterthum wie in der Neuzeit dem 
Heimatlande Produkte zu, die auf dem fremden Boden mit 
Sorgfalt gepflegt, in defjen ökonomiſchen Verhältniſſen oft einen 
nachhaltigeren Umſchwung ald blutige und geräufchvolle Kriegs— 
thaten hervorbringen. Wenn fo die Geihichte des Thier- und 
Dflanzenlebend nicht ohne die Gejchichte ded Menſchen ver- 
ftanden werden fann, fo ift ed flar, daß diejenigen Mittel, 
welche die legtere in ihren älteften Epochen aufzuklären geeignet 
find, auch für die erjtere nicht nußlos fein fönnen. Unter den 
wiſſenſchaftlichen Disciplinen aber, welche die Anfänge der 
Menichheit zum Gegenftand ihrer Forſchung gemadt haben, 
behauptet neben der prähiſtoriſchen Ardäologie audy die ver— 
gleihende Sprahmijjenihaft einen ehrenvollen Platz. 
Denn die Betrachtung der Wörter kann nie von der Betrach— 
tung der Dinge, welche fie bezeichnen, getrennt werden. Indem 
nun der Sprachforſcher die Benennungen fultur- oder natur— 
hiſtoriſch wichtiger Begriffe auf ihren etymologiſchen Zuſammen⸗ 
bang prüft und in ihrer geographiichen Verbreitung verfolgt, 
indem er unterſucht, ob die verſchiedenen Formen etymologijdy 
- zufammenhängender Wörter derartige jein, dab fie nur aus 
einer gemeinjamen Urform, die fchon in der Urjpradye und der 
Urheimat einer verwandten Bölfergruppe gegolten habe, erklärt 
werden fönnen, oder ob die lautliche Berwandtichaft auf jpäterer 
GEntlehnung beruhe, welches dann der Audgangspunft diejer 
Entlehnung jei, und in welder Reihenfolge ihre Wanderung 
von Bolf zu Volk vor ſich ging, indem der Sprachforſcher alle 
diefe Fragen aufwirft und zu beantworten verſucht, kann er 
nicht verfehlen, fait auf allen Gebieten der Kultur: und Natur: 
geichichte wichtige Anhaltepunfte den Mitforjhern darzubieten. !) 
(734) 


Daß diefe Bedeutung der Sprachwiſſenſchaft auch auf dem 
Gebiete der Thier- und Pflanzengeographie ſich geltend macht, 
daß überhaupt die Bereinigung diefer Disciplinen in mehr ala 
einer Beziehung für die Wiſſenſchaft frucdhtbringend geworden 
ift, möchte ih an einer Reihe ausgewählter Beifpiele nach— 
zuweilen verfuchen. Dabei werde idy mir erlauben, bejonders 
auf folhe Punkte einzugehen, welde geeignet find, einiges 
Licht auf das jchwierige, nad) meiner Meinung noch nicht ges 
löfte Problem der Lage der indogermaniichen Urheimat zu 
werfen. 

Verſuchen wir zunächſt zu diefem Zwecke und eine Ueber: 
ficht über diejenigen Gattungen der Säugethiere zu verichaffen, 
welche nad Ausweis der Spracvergleihung auf indogermani- 
Ihem Boden von jeher einheimiſch gemejen jein müffen, jo läßt 
fih mit Wahrjcheinlichkeit folgende Lifte derjelben entwerfen, 
in der wir einen Unterjchied zwiſchen zahmen und wilden Arten 
vor der Hand nicht machen werden: 

a) Raubtbiere. 

1. Hund: jert. gvä, zend. spä, armen. Sun, griech. «vw», lat. 
canis, got. hunds, lit. szü, ir. cu. 

2. Wolf: fert. vrka, zend. vehrka, armen. gail, griech. Avuxog, 
lat. lupus, got. vulfs, alb. ul’k, altjl. vlukü, lit. vilkas. 

3. Fuchs: fert. löpäga, nperj. röbäh, armen. aluds, gried). 
alwrng(?), lit. läpe. 

4. Luchs: griedy. Avy&, ahd. luhs, lit. luszis, altfl. rysi (das 
Wort beſchränkt fi) auf Europa). 

5. Dtter: fert. udra, zend. udra, griech. Udeog, ahd. ottir, lit. 
udrä, altjl. vydra. 

6. Bär: fert. rksha, Pamird. yurs ıc., armen. ar), gried). 


@extog, lat. ursus, ir. art, alb. ari. 
(735) 


— 
7. Igel: armen. ozni, griech. Exivog, ahd. igil, lit. ezys, altſl. 
jezi. 
b) Nager. 
1. Eihhörndyen (Fretichen?): lat. viverra, lit. vaivaras, altif. 
veverica (auf Europa bejchränft). 
2. Maud: jert. müsha, nperj. müs, armen. mukn, griedy. wüg, 
lat. mus, ahd. müs, altjl. mySi. 
3. Haſe: jert. caca, Pamird. süi, afgh. soi, altpr. sasins, germ. 
hase (??). 
4. Biber: fert. babhru, zend. bawri, lat. fiber, corn. befer, 
ahd. bibar, lit. bebrus, altjl. bebrü. 
c) Einhufer. 
1. Pferd: fert. acva, zend. aspa, griech. Ürrrrog, lat. equus, it, 
ech, altjl. ehu, lit. aszva. 
d) Wiederfäuer. 
1. Hirſch: armen. ein, griedh. Eiapos, EAAög, altir. elit, lit, 
elnis, altjl. jeleni. 
lat. cervus, griech. xepaog, ahd. hiruz. 
mefjap. Bo&vdog‘ EAapog (Heſych), altpr. braydis, 
lit. bredis (vgl. Brundisium). 
2. Ziege: fert. aja, armen. aic, griedh. ai&, ir. ag allaid, lit. 
oZys. 
3. Schaf: fert. avi, griech. dus, lat. ovis, ir. di, ahd. auwi 
lit. avis. 
4. Rind: jert. gö, zend. gäo, armen. kow, griech. Bous, lat. 
bos, ir. bö, ahd. chuo, altjl. govedo. 
e) Bielhufer. 
1. Schwein: fert. sükara, zend. hü, griech. vs, lat. sus, ahd. 
sü, altjl. svinija. 
Innerhalb des geographiſchen Verbreitungsgebietes diejer 


Thiere muß aljo, das lehrt die Bewahrung ihrer Namen, die 
(736) 


7 

Ausdehnung der indogermaniſchen Völker vor fich gegangen 
jein. Für den Anfangspunft diefer Ausdehnung, d.h. für die 
Urheimat des indogermanifchen Stammes, ergiebt ſich aus diejer 
Ueberſicht nur jo viel, daß fein Grund vorhanden zu jein fcheint, 
die Urjprünge der Indogermanen anderdwo ald in unjerem 
Erdtheil zu juhen. Haben doch die Unterſuchungen Rüti- 
meyer’d über die Fauna der Pfahlbauten gelehrt, dab alle die 
genannten Arten von Säugethieren, jei ed im freiem, ſei ed in 
gezähmtem Zuftand, ſchon damals in dem Herzen Europas 
vorhanden waren. 

Eine wichtige Gontroverfe hat ſich über die Frage ent- 
jponnen, ob in der Zeit vor der Trennung der Indogermanen 
bereitö der Löwe dem Urvolf befannt gewejen ſei. Ohne auf 
eine Widerlegung der über diefen Punkt aufgeftellten Meinungen 
einzugehen, mill idy mich darauf bejchränfen, diejenige Anficht 
bier vorzutragen, welche mir den linguiftiich-hiftoriichen That- 
ſachen am meiften zu entiprecdhen jcheint. 

Menden wir und zuerft nad Afien, jo fönnen die nod) 
vereinigten Arier (Inder und SIranier) feine Bekanntſchaft mit 
dem Könige der Thiere gemacht haben. Sein Name ift in den 
Gefängen des Avefta nody völlig unbekannt. Wohl aber mußten 
die Inder nach erfolgter Loslöſung von ihren iraniihen Brü- 
dern bei ihrer Cinwanderung in das Fünfftromland auf das 
furdhtbare Raubthier ftoßen, wie denn der Löwe fchon in den 
ältejten Liedern des Rigveda als jchredlichiter Feind der Men- 
ſchen und Herden gilt. Seine Benennung lautet im Indijchen 
sımha, simhi, ein Wort, welches entweder den unariſchen Ur- 
iprachen Indiens entftammte oder aus dem eigenen Wortſchatz 
genommen ward, wo ed dann urjprünglich ein leopardenartiged 
oder ähnliches Thier (vergl. armen. ine simha „Leopard“ ?) 
bezeichnet haben müßte. 

(137) 


8 


— — —— — 


Anders als bei den afiatiſchen Indogermanen war der Löwe 
bereits in der Fauna der Urſemiten vorhanden, in deren Sprache 
fein Name laitu „Löwe“ und labi'atu „Löwin“ lautete (vergl. 
% Hommel, Die Namen der Säugethiere bei den füdjemit. 
Böllen, ©. 288). Da man neuerdingd mit großer Wahr- 
ſcheinlichkeit die lebte Station der nody ungetrennten Semiten 
in die afjyro-mejopotamifche Niederung verlegt®), jo erklärt ſich 
died jelbft bei der heutigen geographiſchen Verbreitung des 
Löwen, welche nody einen Theil Mefopotamiend umfaßt und im 
Alterthum, wie die reiche bibliſche Nomenclatur des Thieres 
zeigt, fich über Syrien und Paläftina erftredte (vgl. Brehm, 
Thierleben, I S. 211). In den Sümpfen Babyloniend war es 
auch, wo die vorſemitiſche ſumeriſch-accadiſche Bevölkerung 
Babyloniend die Bekanntſchaft des Raubthierd machte, dem fie 
den merkwürdigen Namen lik-magh „großer Hund“ beilegte. 

Verhältnigmäßig einfach liegen die Dinge in dem größten 
Theil Europas. Alle Lömennamen gehen hier, mit einziger 
Ausnahme des albanefiihen wokar-ı, weldes dem Türkiſchen 
entitammt,. in leßter Inftanz aus dem griechiſchen Agwv, Agovrog 
hervor, und zwar führen, um im Norden zu beginnen, die 
litauiichen Formen liütas und levas auf die jlavifchen poln. 
luty „graujam“ und lev, Ivica „Löwe“, das gemeinflavijche 
livü, auf germanijches althochdeutiches lewo, das germaniſche 
lewo endlidy auf lat. leo zurüd. Letzteres felbft, aus dem 
wieder die irischen Formen leo, l&oman abgeleitet find, ent- 
ipringt dem griechiichen Aew» (ebenjo lat. leaena — griechiſch 
Aeaıwvo). Die Frage ift nur, wie man fi) das griechiſche 
)Ewv, deflen uriprünglide Geftalt ald As/jovz (vgl. ioniſch 
Aeiwy) angejet werden muß, zu denfen habe. 

Unzweifelhaft jcheint mir, daß der Löwe (felis spelaea), 
weldyer nach paläontologijchen Anzeigen (vgl. LZubbod, Die 

(138) 


I e 

vorgejhichtliche Zeit, IL, S. 5) einjt faſt im ganz Europa ver: 
breitet, aber ſchon aus der Fauna der Schweizer Pfahlbauten 
ebenjo wie der Poebene verſchwunden wart), fich in Griechenland 
noch eine geraume Zeit länger erhalten habe. Dafür bürgt 
nicht nur die bedeutende Rolle, welde der Löwe in der älteften 
Sage und Dichtung der Hellenen fpielt, jondern auch die aus— 
drüdlihen Nachrichten der Alten, de8 Herodot (VII, Gay. 125) 
und Arijtoteled, wenn ſich diejelben auch mehr auf den Norden 
der Balfanhalbinjel beziehen. Iedenfalld fanden die Hellenen 
aljo bei ihrer Einwanderung von Norden her das Thier vor 
und hatten aljo einen Namen für dafjelbe nöthig. Nehmen 
wir num mit Kiepert und anderen Gelehrten an, dab in vor- 
griechiicher Zeit ein Zweig des jemitiichen Völkerſtamms (Karer, 
Peladger?) von Kleinafien nah Griechenland herüberragte, jo 
mußte audy der jemitifch-äguptiiche Name des Löwen, hebräiſch 
I(e)bi, läbiy, ägypt. labu, fopt. laboi dajelbft heimiſch fein, 
und bei der nahen Verwandtichaft der beiden griechiichen Laute 
ß und / (vergl. Curtius, Grundzüge*, ©. 571) ſcheint ed mir 
nicht unmöglich, daß ein jemitifched 1(6)bt, vielleicht unter 
volfdetymologijcher Anlehnung an einheimiihe Wörter 
wie As/jog, Asiog (lat. levis) „glatt“ — der Löwe als „glatter“ 
im Gegenfa zu dem zottigen Bären —, im griech. Ae/javz, 
Aeiwv, Atwv überging. Die Nebenform Aig entipricht direft 
dem hebräijchen laish, Agama „das Löwenweibchen“, ein Wort, 
dad bei Homer nody nicht vorfommt, ift eine Analogiebildung 
nach Muftern wie IEdaıva : Heog (homeriſch), Auxzaıra, deonoıve 
u. |. w. 

Haben wir fo aus hiftoriihen und linguiftiihen Gründen 
gejehen, daß das Verbreitungdgebiet ded Löwen fidh ehemals 
über weitere Streden ald heute auögedehnt haben muß, wenn 
auch die indogermanijche Welt verhältnißmäßig jpät mit dem» 


(739) 


10 


jelben in Berührung fam, jo fcheint ed, daß der furchtbare 
Nebenbuhler des Löwen in der Oberherrihaft über die Thier- 
welt, der Tiger, erft in der Zeit deö ausgehenden Alterthums 
und des immer fortichreitenden Verfalld der orientaliichen Reiche 
fi aus jeiner eigentlichen Heimat, den Rohr» und Graswäldern 
Bengalens, über Theile Weft- und Nordafiend verbreitet habe. 
Die urjemitiiche Fauna fennt feinen Namen für den Tiger; in 
Indien jelbit wiſſen die Gejänge des Rigveda noch nichts von 
ihm zu erzählen, fein Name (vyäghra) begegnet erft im Athar- 
vaveda, d.h. in einem Zeitraum, in weldyem fich die indiſche 
Einwanderung ſchon mehr dem Ganges genähert haben mußte. 
Auch unter den Raubthieren des Aveſta geichieht des Tigers 
feine Erwähnung. Die Landſchaft Hyrfanien, von deren Tiger: 
reichthum die fpäteren Schriftiteller des Alterthums bejonders 
viel zu erzählen haben, heit damals Vehrkana „Wolfsland“ 
(vgl. den heutigen Flußnamen Gurgän, nperj. gurg = zend. 
vehrka „Wolf"). Ebenjo beridyten die alten armenijchen Autoren 
nichts von armeniſchen Tigern. 

Hingegen beginnt in ſpäterer Zeit, nach H. Hübſchmann 
etwa zur Partherzeit (Armeniſche Stud. I, ©. 14) das indiſche 
Wort, augenjcheinlih mit den Wanderungen des Thieres jelbft, 
ſich nordwärts, erit ind Perſiſche (nperj. babr), dann ind Ar- 
meniſche (vagr) ſich einzujchleichen. Ein zweiter in Borderafien 
weit verbreiteter Name des Tigers ift kurd. palöngh, budyar. 
pelang, pehl. palog, georg. palange, afgh. prank ı., unge 
wifjer Herkunft. Die Nachrichten der Alten (Ausland 1860, 
©. 833 f.), die aber nicht über Auguftud hinausgehen, nennen den 
Tiger, wie fchon gejagt, iu Hyrfanien, in Armenien, Syrien 
und Babylonien. Das heutige Verbreitungdgebiet liegt nad) 
Brehm’s Thierleben I, S. 223 zwiſchen dem 8. Grad jüdlicher 
und dem 52. oder 53. Grad nördlicher Breite. Als Weftgrenze 


(740) 


11 


ift der Südrand des weltlichen Kaufafud zu betrachten, gegen 
Dften ftreift er in unermeßlidyer Ausdehnung bid zum Welt: 
meer. Die turfostatariihen Sprachen haben daher einen genuinen 
und einheitlidyen Namen für das NRaubtbier (kaplan). 

In Europa ward der erfte Tiger um dad Sahr 300 v. Chr. 
zu Athen gejehen. Der König Seleufus (Nicator) hatte ihn 
den Athenienjern zum Geſchenk gemadyt, wie die Berje des 
Philemon in der Neaira bejagen: 

doneo Sehevxog Ödeug Erreue Tny Tiygur 
nv Bidouev nuſets, ap Zeieizım nuakıv Eder 
nuäg rınap Nur avuıreuyaı Imgior, 
tovy&pavov' or yap yiyvsrar ToiT avroMı. 
(Ath. XIII, 590). 

In Rom hingegen wurde das Thier zum erften Male erſt 
im Sabre 11 v. Chr. (Plin. VILI, 65) gezeigt. Was jeine 
griechijch-römiiche Benennung ziygıs = tigris, welche in faſt ganz 
Europa die herrfchende geworden ift, anbetrifft, jo jagt Barro, 
der erfte römiſche Autor, der den Ziger erwähnt, 1. 1. V, 20, 
p. 102: tigris qui est ut leo varıus vocabulum ex lingua 
Armenia; nam ibi et sagitta et quod vehementissimum 
flumen dieitur, tigris, und in der That heißt wenigftend im Zend 
tighri, nper. tir „der Pfeil”. Immerhin aber bleibt, da im 
Armeniſchen der Tiger ja einen anderen Namen hat, die griechiſche 
Denennung jehr merkwürdig. 

Haben wir ſomit an der Hand der Spradie dad Vor— 
jchreiten der Kenntnig und ded Namend des Löwen wie des 
Tigerd von dem Süden Europad nad dem Norden verfolgen 
fönnen, jo ift ein Gleiche, wie ed der Gang der Kultur: 
geihichte mit fi) bringt, bei den meilten der ausländijchen 
Säugethiere der Fall, welche ein auögebreiteter Handels— 


verkehr in einzelnen Eremplaren unjeren Thiergärten zuführt. 
(741) 


— 
Wörter wie Pardel, Panther, Elephant, Kamel, Krokodil, 
Rhinoceros, Hyäne und viele andere, fie alle find urſprünglich 
in Griechenland, ſei ed aus fremdem, fei ed aus einheimiichem 
Sprachgut, geprägt worden und dann, meiftens über Rom, zu 
und gefommen. 

In fpäterer Zeit find dann auf anderen Handelöwegen 
neue Arten und neue Namen ausländiicher Säugethiere, Wörter 
wie Giraffe, Gazelle, Tapir, Känguruh u. A. und befannt ge- 
worden. 

Wenigitend auf zwei jener jchon im Alterthum aus weiter 
Ferne in Griechenland eingeführten Thiere, den Elefanten 
und Affen, will ich hier etwas näher eingehen. Der erftere 
ift im Occident, lange bevor man die Befanntichaft des Thieres 
jelbft machte, wegen des foftbaren Gutes feiner Zähne bewundert 
worden. Homer verfteht unter &Aepas ausſchließlich das Elfen- 
bein, dad in feiner Zeit zu mancerlei Ehmud und Zierrat 
verwendet wird. Den Elefanten jelbft lernte Griechenland erſt 
in Aleranderd ded Großen Zeitalter fennen. Kurz nachher, in 
dem Kriege mit Pyrrhus, ſah Italien das Thier zum eriten 
Mal und nannte ed, weil ed zuerft in Lucanien erjchienen war, 
bos Luca; bald aber bürgerte ſich das griechiſche Wort elephas 
oder elephantus ein. Lange vorher muß aber audy in Stalien 
das Elfenbein befannt gewejen fein, wie jchon die Eriftenz eines’ 
bejonderen, mit elephas direft nichtd zu thun habenden, ſchon 
bei Plautus (ebur, ebure Moftell. v. 259, 260) belegbaren 
Namens für dafjelbe (ebur’) lehrt. 

Unzweifelhaft müſſen ald Vermittler ded ZA&pas einerr, 
des ebur andererjeitd die Phönicier gedadht werden. Woher 
aber mögen diejelben, da doch der Elefant der urjemitiichen 
Fauna nicht angehört, Wort und Sache gebracht haben? Eine. 


Antwort auf diefe Frage vermag, worauf Fritz Hommel zuerit 
(742) 


13 


aufmerfjam gemacht hat, vielleicht das altägnptiihe Ab, Abu 
(Champollion: eboy, vgl. 3. f. K. M. IV, 13) „Elefant und 
Elfenbein“ zu geben. Aus demjelben fönnte auf dem Wege 
der Entlehnung auf der einen Seite lat. eb-ur (nad) der Ana» 
logie von robur ıc. gebildet) „Elfenbein” hervorgegangen fein, 
auf der anderen könnte man ſich audy das griechilche EA-Ep-ag 
durch Borjegung des ſemitiſchen Artifeld hal, arab. al aus 
demjelben entjtanden denken. Als auf femitifche Spuren des 
ägpptiichen Worted weiſt Hommel (Die Namen der Säuge- 
thiere ©. 325 f.) auf hebr. shenhabbim (au sben-halbim) 
„Elfenbein“ und auf ein allerdings unficheres aſſyriſches al-ap 
„Elefant“ hin. ©) 

Sind dieje Zufammenftellungen richtig, jo würde aus ihnen 
folgen, daß ed zuerſt afrifaniiches, nicht indijches Elfenbein war, 
weldyed durd, die Vermittlung der Drientalen dem Abendland 
zugeführt wurde, was damit übereinftimmt, dab in Indien der 
Elefant den ariſchen Stämmen, d. h. der Eultur erft verhältniß- 
mäßig jpät befannt wurde. Das Thier wird im Rigveda ſehr 
jelten und unter einem Namen (mrga hastin „das behandete 
Thier“) erwähnt, welcher auf die Neuheit der Erſcheinung deut: 
lih ſchließen läßt. 

In jpäterer Zeit gehen allerdingd aus dem indiſchen 
Heimatöland des Klefanten mehrere Benennungen des Thiered 
hervor. So die in Vorderafien verbreitetite Bezeihnung: ſert. 
pilu (wahrſcheinlich ein Wort aus der Sprache der Ureinwohner 
Indiens), perj. pil, fil, kurd. fil, ofjet. pil, armen. pigh, yeorg. 
spilo, arab. filu*, chald. phil, alban. piAy-ı u. ſ. w. Sa, diejes 
Wort ift auf den alten Handelömegen aus Perfien über Kon 
ftantinopel durch Rußland nad) dem Norden Europas jogar in 
das Altſkandinaviſche eingedrungen, wo es fill, dän. fil (vgl. 
fils-bein, fila-bein „Elfenbein“) lautet. Aus Indien ift auf 


(743) 


14 


dem Seeweg nah Siüdarabien auch Das fcrt. näga in bad 
Abejfinifch-Aethiopiiche eingedrungen (vgl. äth. nage „Elefant“, 
karna-nag& „Elfenbein”). Auf Indien führt endlich auch, wenn 
aud auf dunklen Wegen, dad Horazijche barrus: 

Quid tibi vis, mulier, nigris dignissima barris 
(Epod. XII) zurüd (vergl. fert. väru, värana (Elefant“). 

Höchſt merkwürdig ift endlidy die Verbreitung ter ſüd— 
europäifhen Wörter nad) dem Norden Europas, wo jhon in 
dem berühmten Funde von Halljtadt Elfenbein -vorfommt. Zwar 
bat fid) das lat. elephas, elephantus in regelrechter Weiſe in 
das Romanifdhe (jpan. elephante, it. liofante, altfr. olifant :c.) 
und Germauiſche (ahd. helfant, aglſ. elpend, ylpend :c.) ver: 
zweigt; aber die möglicherweife direft aus griedy. 2Adyas hervor- 
gegangenen got. ulbandus, ahd. olbenta, altil. velibladü, 
Eleinruff. verbljüd (entlehnt ins lit. verbliüdas) bezeichnen auf: 
fallender Weiſe nicht den Klefanten, jondern das Kamel, das 
von den großen Vierfüßlern Afiens am erften auf Handeld- und 
Karamanenzügen den öftlichen Indogermanen Guropas zu Gefidt 
gefommen jein mochte. Zur Bezeichnung des Elefanten haben 
ſich dann bei Slaven und Litauern bejondere, leider aber dunkele 
Namen, wie altjl. slonü (in mehreren Slavinen) und lit. 
szläpis, feſtgeſetzt. 

Mubten wir und, um die erite geſchichtliche Bekanntſchaft 
ded Elefanten zu machen, nad Afrifa (Aegypten) wenden, io 
gehen die älteften Benennungen des Affen, weldyer als eben- 
falls „behandetes Thier“ eine gewiffe Verwandtſchaft mit dem 
Elefanten bat, unzweifelhaft nach Indien und auf das Sans: 
frit; zurüd. Schon auf einer ägyptiſchen Infchrift des 17. Jahr: 
hunderts v. Chr. werden ald Handelsdartifel aus dem Amu— 
land neben mannigfaltigen Hölgern, Gold und Eilber ꝛc. aud) 
Gafi-Affen genannt, ein Wort, welches offenbar nichts andercs 


(T44) 


15 


als das hebräijche gof, gophim „Affe“ ift. Auch hier iſt aber 
dieſe Bezeichnung nicht genuin, jondern auf uralten, den be— 
fannten Ophirfahrten Salomos zeitlid} weit vorauf liegenden 
Handelöwegen aus dem ſert. kapı „Affe“ hervorgegangen. 
Diejed in den ältejten Theilen des Rigveda noch nicht genannte 
Dort ift auch im dad Armenijche (kapik) und, natürlich durch 
phöniciiche Vermittlung, in das Griechiſche (x7rzog, x7ßog) und 
von da in das Lateiniſche (cephus, cepus) gewandert, in welchen 
leßteren Sprachen es eine gejchwänzte Affenart bezeichnete. 
Hingegen jcheinen andere Gattungen von Affen im Alterthume 
in Südeuropa einheimiich gewejen zu jein, wie ja befanntlich 
noch heute auf den Feljen von Gibraltar wilde Affen vorfommen. 
Dafür möchte einerjeitd das Vorhandenfein einer mannigfaltigen 
Terminologie jür den Affen in den jüdeuropäiichen Sprachen 
in die Wagichale fallen. Zwar fann man dem griedhijchen 
siynxog, idng gegenüber, welches zuerit in der Sprache eines 
Feinafiatiichen Dichters, des Pariers Arhilohus, aljo im 
VO. Zahrhundert (vgl. Bergk, Lyr. II, 89 uidmxog neu 
Ineiwv aroxgı$eig) vorfommt, kaum den Verdacht unter- 
drüden, dab man ed nidyt auch mit einem Hleinafiatiichen Worte 
zu thun habe, wie ich ähnlich eine zweite griehijhe Benennung 
des Affen zuuw durch volksthümliche Anlehnung an wuueiodar 
„nahahmen“ aus furd. maimüun, per). maymon, georj. maimun, 
alb. uauuovv-ı erklären möchte; aber die lateinischen Namen des 
Thiered simia „Plattnafe” (: griech. oiuoc) und cluna”?) find 
durchaus italijchen Urſprungs. Ferner jpricht für das einftige 
Vorhandenſein des Affen im südlichen Europa der Name der 
Pithefufeninjeln, dem Borgebirge Mijenum gegenüber, weldyen 
die Alten unzweifelhaft falih von zisos „Faß“ ableiteten 
(Kiepert, Lehrb. d. a. Geogr. S.446). Im Norden Europas 


wird dad Germanijche und Slavo-Litauifche durch eine gemein- 
(745) 


16 


jame, nad den Gejeßen der Lautverſchiebung aber nicht auf 
Urverwandtichaft beruhende Bezeichnung des Affen: 

ahd. affo, aglj. apa, altn. api, altjl. opica (neben pitikü 
aus ruidnxog), Ted. opec, rufjiih obezüjana (daraus lit. 
bezdzianka) verbunden. Leider vermag ich den Urjprung diejer 
Wörter nicht anzugeben. Die Annahme mander Wörterbücher, 
ald ob affe „unter Abftohung des Gutturald“ zu kapi gehören 
fönnte, ift ganz von der Hand zu weilen. 

Aus der Lifte der eingangs diejed Aufſatzes angeführten 
urindogermanijchen Säugethiere haben wir bier noch diejenigen 
feftzuftellen, weldye bereit8 vor der Trennung der indogermani- 
ihen Bölfer ald domefticirte gelten können, ein Gegenitand, 
über den ich auf das 2. Kapitel der vierten Abhandlung („Die 
Urzeit”) meined Werkes Spradwvergleihung und Urgejchichte 
verweilen fann. Aus den dortigen Unterfuhungen gebt aber 
_ mit Gewißheit hervor, daß das ältejte Kapital der Indogermanen 
an Haustbieren nur vier Gattungen, nähmlid Rind, Schaf, 
Ziege, Hund umfahte Merkwürdiger Weile find ed nun 
auch gerade dieje vier und nur dieje vier Arten, welche nad 
den Rütimeyer'ſchen Beobachtungen ſchon in den älteften 
Zeiten der Schweizer Pfahlbauten als in die Zucht deö Men- 
Ihen übergegangen betrachtet werden müfjen, ein Punkt, der 
ebenfo für das uralte Vorhandenſein diefer Hausthiere in 
Europa als für die jahrtaufendelange Anſeſſigkeit unjerer Vor— 
fahren in unjerem Welttheil ſpricht. Auch das Pferd und 
Schwein waren, wie wir jchon gejehen haben, aber in unge» 
zähmtem Zuftande, damals befannt; immerhin ift ihre Zähmung 
nod in vorhiftoriicher Zeit erfolgt, wie auch die Schweizer 
Pfahlbauten in jpäteren Epochen diefen Kulturfortjchritt aufweijen. 

Aber das Vorhandenjein ded Pferdes in der urindo— 


germanijchen Fauna ift noch in einer anderen Beziehung be— 
(746) 


17 


merkenswerth. Da nämlidy der erfte Ausgangspunkt des Pferdes 
gewöhnlidy in die Sandfteppen und Weideflächen Gentralafiend 
verlegt wird, jo könnte man diejen Umftand gegen die, aud) 
von und ald größere Wahrjcheinlichkeit vertretene Anficht von 
der europäiſchen Herkunft der SIndogermanen (Sprachver- 
gleibung und Urgeſchichte S. 442—454) in die Wagichale 
werfen. Allein nad) der Meinung vorurtheildfreier Naturforjcher 
muß das einftmalige Verbreitungögebiet des Pferded ein außer: 
ordentlich weites geweſen ſein. Nah Schmarda (Die geo- 
graphijche Verbreitung der Thiere S. 405) hätten die urjprüng- 
lihen Wohnpläße des Pferdes das Thal des Drus, das nördliche 
Afien, Choraffan „und wahrſcheinlich ganz Europa” umfaßt. 
Der Tarpan, welcher noch heute in völliger Wildheit die Ge— 
genden zwilhen dem Araljee und den ſüdlichen Hochgebirgen 
Afiend durchichweift, joll noch vor hundert Fahren im europäi- 
Ihen Rußland anzutreffen gewejen fein (Brehm, Thierleben 
II, ©. 335), und jchwerlih find die zahlreichen gejchichtlichen 
Nachrichten über wilde Pferde in allen Theilen Europas jämmt- 
ih mit B. Hehn (Kulturpflanzen und Hausthiere, ©. 23 f.) 
auf Durdhgänger, jogenannte Muzind, zu beziehen. Daß aber 
die urjprünglihen Wohnfige der Indogermanen eher am der 
weitlichen Grenze ald in der Mitte oder im Dften diejed Ver— 
breitungsgebietes des Pferdes zu juchen feien, dafür ſpricht mir 
neben anderen Gründen aud) der Umijtand, daß, nad) allem, was 
wir wiljen, der Fauna der älteften Indogermanen zwei 
Thiere, dad Kamel und der Ejel, jowohl in gezähmtem 
als ungezähmtem Zuftand fehlten, die, Gentralafien als Urs 
heimat der Indogermanen voraudgejebt, füglich in derjelben hätten 
befannt jein müfjen, wie fie thatiächlidy in der Urzeit derjenigen 
Bölkerftämme, deren Urjprünge mit Sicherheit in Afien zu juchen 
find, der Semiten (urfem. gamalu „Kamel, Dromedar“ und 
XVII. 497. 2 (747) 


18 


atänu, himäru „Ejel”; vgl. unten Anm. 3), wie der Turko— 
Zataren (töbe, töve „Kamel“ und esek, esik „Eſel“) vor: 
handen waren. So erklärt ed fih aud, warum Diejenigen 
Indogermanen, deren Weg öftlich, nach Afien führte, die Iranier 
und Inder, mit beiden Thieren, mit dem Kamel (zend. ushtra, 
jert. ushtra) ſchon in einer ariſchen (indo-iraniichen) Uhrzeit, 
mit dem Eſel bereitö in dem Zeitalter des Avefta (zend. khara) 
und Rigveda (gardadha, räsabha) Befanntichaft machten, wäh— 
rend fie beiipieldweife an der inzwilchen in Europa ſich ver- 
breitenden Zucht des Schweined nicht mehr Theil nahmen. 
Den Europäern find beide Thiere durch DBermittlung der 
Semiten zugefommen. Bezüglich des Kamels bitte idy 
dad ſchon Mitgetheilte (vgl. oben S. 14) zu vergleichen. 
Was aber den Eſel anbetrifft, jo geben lit. äsilas, altil. 
osilü, got. asilus, ir. assal auf lat. asinus, asellus zurüd. 
Dieſes jelbft weift auf hebr. ätön „Ejelin“, zu dem wahrjcein- 
lich auch grieh. Ovog®) gehört (Sprachvergl. und Urgejchichte 
©. 346). 

Haben wir jomit auf dem Gebiete der Säugethiere man— 
cherlei zufammenitellen Fünnen, wovon wir hoffen, daß es audı 
für den Naturforiher und Geographen von Intereſſe jei, jo 
ließe ſich ähnliches von einer Beiprechung der übrigen Thier- 
reihe erwarten. Allerdings Tann nidyt geleugnet werden, daß 
die Terminologie der Urjprache hier nicht mit gleicher Boll» 
fommenheit wie bei den Säugethieren auögebildet if. Natür- 
lich aber hat diefe Erjcheinung nicht etwa in einem geringeren 
Borhandenfein diejer Thierflaffen in der indogermaniichen Ur: 
heimat jeinen Grund, jondern es folgt dies lediglich aus dem 
bejonderen Snterefje, weldyes die Säugethiere, jei ed ald Beute 
der Jagd oder ald Feinde der Herden, jei es durch ihren Nuten 


ald Hausthiere dem ſprachlichen Bewußtſein des Urvolfed ein- 
(748) 


19 


flößten. So find es. fulturgefchichtlihe Thatſachen, daß die 
Bogelwelt in ihrer Bedeutung für Kleidung und Ernährung 
des Menſchen erit in jpäteren Epochen den Indogermanen aufs 
gegangen ift, und daß die Zeit, von welcher der Dichter fingt: 
piscis adhuc illi populo sine fraude natabat, 

fid) mit dem früheren, gejchichtlich überlieferten Alterthum deckt. 

Indeſſen müfjen wir und verjagen, auf dieje Fragen hier 
einzugehen, da die Zeit gebietet, und der Beiprehung des 
Dflanzenreiches zuzumwenden. Auch hier nöthigt uns freilich 
der Rahmen diejed Vortrags, und auf ein fehr Meines Gebiet 
zu beſchräuken. 

Hier jollen und zuerft unfere Waldbäume beſchäftigen. 

Nehmen wir an, daß die Urfie der Indogermanen in 
unjerem eigenen Erdtheil zu ſuchen jeien, jo werden wir er- 
warten dürfen, dab die hauptiächlichiten Waldbäume einheitliche 
Benennungen zwar in den europäiſchen Spraden aufzus 
weilen haben werden; nicht aber werden wir vorausjegen dürfen, 
dab auch diejenigen Indogermanen, deren Weg nad) dem fernen 
Dften führte, an denfelben im Allgemeinen Theil haben werden. 
Denn wie follte die Spradye eined Volkes, welches auf einmal 
in ein andered Vegetationdgebiet der Erde entrüdt wird, Namen 
für Pflanzen bewahren, die ed bald aus dem Auge und aus 
dem Gedächtnis verloren haben muß? Go fommt ed, daß in 
der Nomenklatur der Waldbäume nur wenige Auddrüde von 
Europa nad) Afien bherüberneigen. Mit völliger Sicherheit kehrt 
nur der Name eines Baumes, der in den europäilcdhen Sprachen 
übereinftimmend benannt ift, im Sanskrit wieder. Es iſt die 
Birke. Deutih birke, engl. birch, lit. berzas entſpricht jert. 
bhürja, ofjet. barse, bärs, Pamird. furz, brug. Im Süden 
Europad wird der Baum jehr jelten (Griſebach, Begetation 


I, ©. 310), wie aud) fein Name bier verjchwindet. Nur einige 
2* 010) 


20 


ftelen lat. fraxinus „Eiche“ hierher. Mit Recht meint daher 
W. Tomaſchek (Gentralaj. Studien, II, S. 60), dab das Vor— 
bandenjein eine Namens für die Weißbirke (bhürja: bhräj 
„glänzen“) in dem Wortihat der Urzeit für eine nordiſche 
Heimat der Indogermanen ſpreche. 

An Verbreitung mit dem Namen der Birke wetteifert der 
der Eiche: jert. und zend. dru, gried). doüg, ir. daur, got. triu, 
altjl. drevo, alb. dru. Doch erhebt ſich bier die Schwierigfeit, 
dab dad Wort nur in zwei Sprachen, im Griechiſchen und Kel- 
tiichen, die Bedeutung „Eiche“, in allen übrigen nur die von 
„Baum, Holz“ hat, jo dab die Entjcheidung, welches der ur— 
jprünglidhe Sinn des Wortes jei, jehr ſchwierig iſt. Immer» 
hin jcheint mir bei Erwägung ded Umijtandes, dab gewöhnlich 
die allgemeinere Bezeichnung aus der jpeciellen, nicht umgefehrt, 
hervorgeht, die urjprüngliche Bedeutung „Eiche“ die wahrjcyein- 
lidyere zu jein. Sft dies aber richtig, jo muß im der Vegetation 
der indogermanijchen Urheimat die Eiche — eben das lehrt die 
Verwendung ihred Namend in der Bedeutung „Holz“ — eine 
außerordentlide Rolle geipielt haben, was wiederum zu Europa, 
ald deijen „Urbaum“ die Eiche gern bezeichnet wird, vortrefflich 
paßt. Auch die Benennung der Weide bei den Europäern 
(ahd. wida, griech. iréc, lat. vitex) findet ſich wenigſtens auf 
iraniſchem Sprachgebiet (zend. vati, parfi wid, nperj. bid) wieder. 

Wichtige ethnographiiche Anhaltepunfte bietet Die Benennung 
des weit» und mitteleuropäiihen Waldbaumes, der Bude. Das 
ahd. buohha, aglſ. böce ift nämlidy identijch mit dem lat. fagus, 
dem in allen Slavinen wiederkehrenden buky und auch dem 
griech. prnyös, weldyes letztere aber nicht Buche, jondern Eiche 
bedeutet. Da nun einerjeitd die urjprüngliche Bedeutung diefer 
MWortreibe durdy die Uebereinitimmung der nördlichen Spradyen 
mit der lateiniichen ald „Buche“ feititeht, andererjeitd der grie- 


(750) 


21 


chiſche Bedeutungswechſel ſich ſehr einfach aus der Thatjache 
erklärt, dab jüdlich einer etwa vom ambraciſchen bis zum mali- 
Ichen Golf gezogenen Linie die Buche verfchwindet, jo folgt hier- 
aus mit Nothwendigfeit, daß die Griechen einftmald nördlich 
der angegebenen Grenze in näherem Zujammenhang mit Lati- 
nern und Germanen gemohnt haben müffen. Im Dften Europas 
überjchreitet die Bude nicht eine Linie, welche man fi vom 
friihen Haff bei Königsberg nad der Krim und von da zum 
Kaufafus gelegt denkt. Da nun die ſlaviſchen Formen ruſſiſch— 
poln. buk, jerb. bukva ıc. nady den Gejeten der Lautverjchie- 
bung, nad) welden ſlav. k nicht lat.griech. & entſprechen Fann, 
nur auf dem Wege der Entlehnung aus dem Germaniichen ent- 
nommen jein fönnen, fo folgt hieraus, daß diefer Baum der 
urſlaviſchen Flora gefehlt, und die älteften Wohnfite der Slaven 
jomit jenjeit8 der bezeichneten Buchengrenze zu ſuchen jeien. Sft 
die Meinung, welche neuerdings G. Meyer (Beiträge 3. K. d. indog. 
Spr. VIII, ©. 185 f.) vertritt, richtig, daß nämlid) das Albanefiiche 
den nordeuropäiichen Epradyen und namentlidy dem Litujlavi- 
chen verwandtichaftlih näher ftünde ald dem Griechiichen und 
Zateiniichen, fo würde es fich erflären, warum im Albanefiichen 
ein lat. fagus x. entipredhender Name der Buche nicht vorhan— 
den ift, jondern hier ein urjprünglicy die Eiche bezeichnendes 
Wort (ah = altn. askr) zur Bezeichnung diejed Baumes ver- 
wendet wird. 

Nach dem Norden war im Altertyum die Buche noch nicht 
über den Kanal vorgedrungen, wenn wir der Nachricht Caesars 
(V, 12): materia cuiusque generis ut in Gallia est praeter 
fagum atque abietem trauen Dürfen. 

Neben der Bude finden fi noch folgende Waldbäume 
innerhalb der europäiihen Sprachen etymologiich übereinftim- 


mend benannt: 
(751) 


22 


Die Fichte (griech. nevxn, ahd: fiuhta, lit. puszis, vgl. 
armen. pici, „Fichte“: riooe, lat. pix, altſl. piklü 
„Pech“ und griech. rrizvg: jert. pita-däru, Pamird. 
pit?). 

Die Salweide (gried.-arcad. AMixn, lat. salix, ir. 
sail, saileach, corn. heiligen, ahd. salaha). 

Der Hajel (lat. corylus, ir. coll, ahd. hasel). 

Die Ulme (lat. ulmus, alyd. elme). 

Die Erle (lat. alnus, ahd. elira, lit. elksznis, altjl. 
jelicha). 

Speciell auf den Norden Europas bejchränft ſich: 

Die Espe (ahd. apsa, poln.erufj. osina, lett. apsa). 

Die Eſche (alt. askr, jerb. jasika, lit. üsis). 

Der Ahorn (altn. hlunr, rufj. klenü). 

Die Eibe (ir. &o, wälifch yw, corn. hiuin, bret. ivinen, 
mittellat. ivus, fr. ıf, ſpan. iva, ahd. iva, iga, mhd. 
iwe, altpr. invis). 

Was die leßtgenannte Wortkette anbetrifft, jo nimmt auch 
das Slaviſche (iva) an ihr theil. Da es aber in der uriprüng- 
lien Heimat der Slaven feine Eiben mehr giebt, jo bat das 
Wort bier eine andere Bedeutung („Weide“) angenommen. 

Endlid dürfen wir vielleicht aud) einige Gattungen von 
Dbftbäumen, die wir aus zwingenden Eulturhiftoriichen Grün= 
den uns als wildwachjende denfen müfjen, der Urzeit zuiprechen, 
wie ja auch in der Flora der Schweizer Pfahlbauten die Spuren 
des wilden Apfel-, Kornelfirichene und Pflaumenbaumes vor- 
fommen. 

Im Süden deden fidh: lat. cornus und griech. zg«ror 
„Sornelfiriche”, lat. malum und unkov „Apfel“, lat. pirus und 
areıog „Birnbaum*, lat. pranus und rrooduvos „Pflaumen- 


baum“. Dody ift in allen diejen Fällen Entlehnung des Latei— 
752) 


23 
niſchen aus dem Griechiſchen nicht ausgeſchloſſen (vgl. O. Weiſe, 
Griechiſche Wörter im Lat. S. 128). 

Im Norden vergleicht ſich ahd. sleha, altſl. sliva, lit. slyvà 
„Schlehe“. Nicht für urverwandt möchte ich dagegen die nord— 
europäiſchen Bezeichnungen des Apfels ir. aball, uball, ubull, 
germ. apfel, lit. bülas, altjl. jablukü halten. Diejelben auf 
eine indog. oder europäilche Grundform *äphala (Pictet) oder 
"abala (Fi) zurüdzuführen, jcheint mir jehr gewagt. Wie die 
Namen unjerer meijten Obſtbäume auf das Lateinijche zurüd- 
führen, der Kiriche (cerasus), der Feige (ficus), der Birne (pi- 
rus), ded Maulbeerbaumes (morus), der Pflaume (prunus) ꝛc., 
jo möchte ich vielmehr annehmen, dab auch die genannten Na— 
men ded Apfel an Stalien, und zwar an die durdy ihre Obit- 
zucht berühmte Stadt der früdhtereihen Campania, Abella, heute 
Avella vecchia anzufnüpfen feien. Hier war die Zucht einer 
anderen Frucht, der Nüffe, jo bedeutend, daß abellana jc. nux 
— nux ift; ebenjo hätte wie 3. B. aud malum persicum unjer 
pfirsich aus malum abellanum ir. abull ıc. hervorgehen fünnen. 
Dieje Combination würde aber um fo wahrjcheinlicher fein, 
wenn ſich gerade die Kultur des Apfelbaums in dem alten Abella 
nachweifen ließe. Im der That wird nun bei Bergil Aen. 
VI, 740: 

et quos maliferae despectant moenia Abellae 
„die äpfeltragende Abella” genannt. Allerdings bieten die Hand- 
ichriften nur moeniabellae; aber ſchon vor Servius war moenia 
Abellae emendiert worden. Uebrigens muß, wie die Regelmäßig: 
feit der conjonantiichen Lautentſprechung: ir. b (aball): niederd. 
p (engl. apple), hochd. pf (apfel), lit. b (öbülas) lehrt, die Ent- 
lehnung des lat. Abella in die nördlichen ?) Sprachen jehr früh 
zeitig ftatt gefunden haben, was nichts Auffälliges hat. Denn 
da der Apfel das am leichteften und erjten im Norden gedeihende 


(753) 


_ A 
Dbft ift, jo mögen die Nachrichten, welche ſchon aus der Römer: 
zeit über Obſtbau im Decumatenland berichten (vgl. Volz, Bei- 
träge z. Kulturgefchichte S. 144), fih in erfter Linie auf Apfel- 
kultur beziehen. Namentlich werden Aepfel (und Birnen) zuerft 
im bairijchen Geſetz (630 — 638) genannt; auch in Ortönamen 
fommt der Apfelbaum, ahd. apholtra, jchon im VIII. Sahrhundert 
vor (vgl. Affaltra, jet Abfalter, Affalter, Apelder ıc.). 

Wie wir aber jo an der Hand der Sprache und einen Ueber: 
bli über die urjprüngliche Baumpegetation der indog. Urheimath, 
d. h. nady unferer Meinung ded nördlichen Alteuropa verjchafft 
haben, jo würde und diefelbe Sprache auch nicht als Führerin 
in Stid) lafjen, wenn wir verfuchen wollten, mit ihrer Hilfe und 
diejenigen Kulturbäume zu vergegenwärtigen, welche erjt im 
Laufe der Geichichte von Außen unjerem Erdtheil zugeführt wor— 
den find und den urjprünglichen Baumcharafter defjelben auf 
das mannigfaltigfte umgeftaltet haben. Sch verweije aber be» 
treffö diejes Thema auf das jchöue, nunmehr in vierter Auflage 
vorliegende Werk B. Hehns, Kulturpflanzen und Haudthiere in 
ihrem Uebergang von Afien nady Europa, um mid, etwas ein- 
gehender der noch mandyerlei Aufklärung bedürftigen Geſchichte 
einer nur baumartigen (vergl. altn. vintr& eigentl. „Weinbaum“) 
Kulturpflanze, der vitis vinifera, dem Weinſtock zuzumenden. 

Bezüglich der Belanntihaft der Indogermanen mit dem 
Meine waren bisher zwei fich entgegengeleßte Meinungen ver- 
treten. Nach der einen wurden die europätichen Namen des 
Meines lat. vinum ıc. für urverwandt unter einander und mit 
dem jert. venas „lieb“, einem Beimort des bei den Indern ver- 
götterten Somatranfes, gehalten und hierauf die Anfiht von 
dem Borhandenjein des Weines in der indog. Urzeit gegründet. 
Dieſe Hypotheſe vertraten befonderd A. Kuhn und A. Pictet, der 


Berfaffer der Origines Indoeuropéennes. 
(754) 


25 


Nah der anderen Meinung jeien die ſämmtlichen europät- 
ſchen Wörter in letter Inftanz aus dem Semitiſchen, äthiop. 
wain, bebr. jain abzuleiten, woraus denn folge, daß die Semi- 
ten den Indogermanen die Bekanntſchaft mit dem Weinftod 
und dem Weine gebracht oder vermittelt hätten. Dies ift unter 
anderen auch die Anjichauung B. Hehns. 

Ic, glaube nun aber, dab weder die eine nody die andere 
Auffaffung der Dinge den linguiſtiſch-hiſtoriſchen Thatſachen, 
wie ich fie „Sprachvergleichung und Urgeſchichte“ S. 377 u. 378 
zujfammengeftellt habe, ganz entipricht, und werde mir daher 
erlauben, eine dritte Anficht über diejen für die ganze Kultur- 
geihichte hochwichtigen Gegenſtand aufzuftellen, melde in ge- 
wiſſem Sinne eine Vermittlung zwiſchen den zwei jchon an— 
geführten genannt werden fann. 

Unzweifelhaft ift zumächft, daß der Norden Europas den 
Wein ald ein Gejchenf dem Süden verdanft, das der Barbar 
zwar eine Zeit lang als entnervend (vgl. Gäjar IV, Gap. 2) jeine 
robe Zapferfeit von ſich fern hält, bis er feinem Zauber um 
jo unrettbarer verfällt. Nach Gallien zuerjt von den Maifilia 
gründenden Phokäern gebradyt, erlangte er doch erit unter römi- 
ſcher Herrichaft die ſchon im Altertyum berühmte Blüthe feiner 
Kultur. So find denn aud die keltiſchen Namen ded Weines 
ir. fin, cymr. guin dem lateiniſchen vinum entlehnt. 

Auch bei den Germanen bedarf ed nur eines Blides auf 
den Namen ded Weins und die Terminologie feiner Bereitung: 
Mein (vinum), Moft (mustum), Läuer (lorea), Kufe (cupa), 
Keltern (calcare), Trotte (torculum) u. ſ. w., um aud bier, 
überall den Römer ald Lehrer zu erkennen. 

Endlid führt audy bei den Slaven, die an dem urzeitlichen 
Getränke des Metes am längften feithielten, der Wein den la— 


(755) 


26 


teinifchen Namen vino, woraus wieder dad lit. vynas hervor⸗ 
gegangen iſt. 

Ganz anders ftehen die Dinge, jobald wir und dem Süden 
Europas, Italien und Griechenland, zuwenden. Nirgends läßt 
fidy bier eine Zeit entdeden, in weldyer ed nody feinen Wein ge— 
geben hat. 

Daß lat. vinum fehrt in den meiften altitalifchen Dialecten, 
im umbr. vinu, osc. Viinikiis, voldc. vinu wieder, ſchon im des 
Sophocles’ Zeit gilt Italien ald das Lieblingsland des Bachus 
(zAvrav 05 aupeneıg ’Irakiav —  Baxyev Ant. 1117), und 
jelbjt in den zweifellos vor jeden griechiichen Kultur» und Co— 
lonijationseinflüffen liegenden Pfahlbauten der Poebene ift der 
Weinſtock mit Sicherheit nachgewiefen worden. 

Ebenſo zeigen in Griechenland die homeriichen Gejänge in 
ihren ältejten Theilen bereits volle Vertrautheit mit dem Weine 
und jeiner Kultur. Für die Urbekanntſchaft der Griechen mit 
demjelben ſpricht aber namentlidy aud) die Verwendung des 
Stammes vivo — zur Bildung zahlreicher Eigennamen (Orts: 
und Perjonennamen). 

Sit es jomit ſchon kulturhiſtoriſch nicht wahrſcheinlich, daß 
lat. vinum aus griech. olvog, Foivog entlehnt worden ſei, jo wird 
diefe Meinung auch ſprachlich betrachtet, nicht annehmbarer. Lat. 
vinum läßt fi) von den übrigen aus der Wurzel vi „winden“ 
gebildeten Wörtern wie vi-tex, vi-tis, vi-men nicht trennen, und, 
die Entlehnung vorausgejeßt, würde lat. i = griech. oı ohne Ana— 
logon dajtehen (vergl. D. Weije, Die griech. Wörter im Yateini- 
ihen ©. 127). 

Sind wir fomit einerjfeitd mit den namhafteiten Sprach— 
forihern wie G. Eurtius, ©. Meyer und anderen der Meinung, 
daß die Gleichung vinum — olivog auf Urverwandtichaft bes 


ruhe, jo theilen wir doch andererjeitö die Bedenken, melde 
(756) 


27 


V. Hehn (Kulturpflanzen ? ©. 505) gegen die Annahme der Wein 
fultur in irgend einer vorhiftoriihen Epoche der Indogermani- 
Ihen Geſchichte Außer. Auch wir find der Meinung, daß die 
Pflege ded Weinſtocks einen Grad von Sehhaftigfeit voraus- 
ſetzt, wie er bei den in vorgejchichtlichen ebenfo als in den erften 
gejchichtlichen Zeiten ein bhalbnomadijches Leben führenden Indo— 
germanen nicht angenommen werden darf. Bei jo bewandten 
Dingen aber jcheint mir logifcher Weile nur eine Möglichkeit 
übrig zu bleiben: Die Gräco-Stalifer müfjen den Wein 
in wildem Zuftand, aljo in jeiner eigentlihen Heimath 
fennen gelernt haben. Verſuchen wir nunmehr und ein Ur: 
theil zu bilden über die Frage, welcher Theil der Erde denn als 
der Audgangdpunft der vitis vinifera genannt werden fönne, jo 
find wir nidht mit ©. Thudichum (Traube und Wein in der 
Kulturgeichichte, 1881, — übrigens ein ziemlich compilatorijches 
und nichtöjagendes Büchlein —) der Anficht, daß der Weinjtod 
in allen Regionen urſprünglich daheim jei, in denen er gedeihen 
fönne, jondern berufen uns vielmehr auf die Autorität des in 
pflanzengeographiichen Dingen wohl competenteften Beurtheilers 
N. Griſebach, weldyer in feinem Werke „Die Vegetation der Erde“ 
I, ©. 323, ausdrücklich die dichten Waldungen des Pontud 
und Thraciens bis hinauf zur Donau, eine an Schling- 
gewächſen beſonders reiche Gegend, als die urjprüngliche Heimath 
des Weinſtocks bezeichnet. 

Nichts aber ift wahrjcheinlicher, ald daß der griechiiche 
Stamm vor jeiner Einwanderung nad) Hellad eine geraume Zeit 
in dem Norden der Balkanhalbinjel anjäßig war, und aud), was 
die Italer betrifft, it es, zumal wenn diejelben von dem Nord— 
Dften Europas berfamen, annehmbarer, daß fie die Thäler der 
Donau und hinauf durch Pannonien, Sitrien und Benetien nad) 


Italien einwanderten, ald daß fie ſich durdy und über die Alpen 
(757) 


28 


den Weg bahnten. Unfere Anficht aber, daß ſich hier im Nor— 
den der Balfanhalbinfel die Gleichung vinum: otvog gebildet 
babe, gewinnt an Bedeutnng, da fich diefelbe audy jenfeitö des 
Bosporus vielleicht in einem thrakiſchen yavos (2), mit voller 
Sicherheit aber in dem armenijchen gini „Wein“ fortſetzt, deſſen & 
lautgejeßlich gleichlindog. vift (vergl. Hübſchmaun, Armen. Stud. T, 
©. 25). Auch in faufafiihe Spraden ift das Teßtgenannte 
armenijche Wort gewandert, wo ed georgiſch g’wino, laſiſch g’ini, 
mingreliih g’wini lautet. Gin anderer im weftlichen Kaufajus 
verbreiteter Name des Meines ift ofjet. sanna ıc., auch mord= 
viniich Cenk, andiſch Zono; derjelbe ift mir leider dunfel. Inter- 
ejjant wäre ed zu willen, ob aud die albanefiihen Wörter 
Bevs-a, Bivs-a, Batv etymologiſch in diefen Zufammenhang ge= 
hören, oder ob fie, wie die Benennungen des übrigen Europa, 
dem Latein entlehnt find. 

Bon Bedeutung ift endlih noch, dab auch eine zweite 
griechifhe Benennung des Weines yakıg, und zwar ded un 
gemiſchten, als deſſen Trinker die pontiſchen Ecythen bejonders 
berüchtigt waren (über ihre «xenrorooin vgl. Herod. VI, Cap. 84), 
im TIhrafiihen (ia) und aud im Mafedoniichen (xaAıdog) 
wiederfehrt. 

Auf das befte ftimmt aber hiermit überein, daß gerade im 
früheften Altertyum (SI. IX, 72;) Od. IX, 196) Thrafien als 
ein Hauptausfuhrland des Meines genannt wird, und nach der 
Meberlieferung der Alten (vgl. Kulturpflanzen ? ©. 65 f.) der Kult 
des Dionyjos auf der ganzen nördlidyen Balfanhalbinfel, ſelbſt 
bei den wildeften thrafiichen Wölferfchaften, verbreitet war. Auch 
in Stalien führen alte Sagen von der Herkunft des — 
nach dem Norden Griechenlands zurück. 

Die öſtlichſten Indogermanen, Inder und Sranier, haben an 


der Gleichung vinum, olvog, gini feinen Antheil. An Stelle des 
(758) 


29 


Meines fteht bei beiden Völkern, wie diefer zum Opfer, wie zum 
eigenen Gebraud) verwendet, der heilige Soma (jert. soma=;jend. 
hauma). Sollte ed je gelingen, den irdiichen Repräfentanten diejes 
gottgeipendeten Krauted in den Thälern oder Bergen des Oxus 
aufzufinden, jo würde damit ein wichtigerer Anhalt für die Be- 
ftimmung der arijchen Urfige als in dem vielbejprochenen I. Ca— 
pitel ded Vendidad gewonnen jein. 

Bon größter Bedeutung wäre die Entſcheidung der Frage, 
ob den Semiten vor ihrer Trennung der Weinſtock befannt 
war, oder, wenn dies nicht der Fall ift, auf welchen Wegen fich 
feine Kultur bei dieſen Völkern verbreitet habe. Bekanntlich 
wird der Wein jhon in den älteiten Stellen der Bibel, z. B. 
ald Gabe des Melcifedef an Abraham (1. Mof. 14, 18) ges 
nannt, und dad V. Kapitel des Jeſaias giebt und einen Einblid 
in die Einrichtungen eines jüdifchen Weinbergs. Hingegen 
ſcheint die ältefte ſumeriſch-accadiſche Bevölkerung Mejopota- 
miend den Weinjtod nody nicht gefannt zu haben, da die offen- 
bar junge Bezeichnung defjelben im Sumerifchen gish-tin „Holz 
des Lebens", aſſyr. karäna erſt in relativ jpäten Stüden vors 
fommt. 

F. Hommel, weldyer aus den jchon angeführten jemitijchen 
Namen des Weines hebr. jain, äthiop., arab. wain, deren Zus 
rückführung auf eine jemitiihe Wurzel ſehr jchwierig zu fein 
Icheint, ein urſemitiſches wainu folgert, theilt den Weinjtod der , 
urfemitiihen Flora zu. Indeſſen ift diefe Frage noch nicht zu 
einem definitiven Abſchluß gelangt. Sedenfalld hat durch die 
Semiten der Wein eine ungeheure Verbreitung über Nordafrika, 
das Mittelmeergebiet, Kleinafien, Perfien u. ſ. w. erlangt. So 
geht auch der in Vorderafien fehr verbreitete Name des Weines 
perſiſch sharab, Mundart v. Jezd Seräb, furd. sharab, afgh. Carab 


auf das Semitifche, vgl. arab. scharäb „Wein“, zurüd. Uebri— 
(759) 


30 


gens iſt diejed Wort in Geftalt des it. siroppo, ſpan. xarope, 
fr. sirop, unjerem „Syrup“ aud in dad Abendland gemwandert. 
Erſt die Herrichaft des Islam hat diefe Kultur in Aften und 
Afrika vernichtet. 

Verweilen wir endlich noch einen NAugenblid bei den 
Sprachen der Völker, welche ojtwärtd der oben angenommenen 
natürlichen Heimat des Weinſtocks, oſtwärts des Schwarzen 
und Kaspiſchen Meeres zu ſuchen ſind, ſo iſt es merkwürdig, 
daß in den Dialekten des turco-tatariſchen Stammes ſich eine 
faſt überall gleichlautende Benennung des Weinſtockes (nicht des 
Meines, welcher dieſen Völkern immer fremd geblieben iſt) üzüm, 
mong. üdsüm, eigentlich „jaftige Frucht“ findet. H. Nambery 
(Primitive Kultur ©. 219) zieht aus diefem Umftand den Schluß, 
dag der Weinftod jehr frühzeitig auch in den urbaren Dajen- 
ländern öſtlich des Kaspiichen Meeres vorgefommen fein müſſe. 


Die Geſchichte des Weined und feiner Verbreitung hat uns, 
troß der äußerften Kürze, mit der wir diefelbe behandeln mußten, 
jo lange aufgehalten, daß ed Zeit ift zum Ende zu fommen. 
Möchte auch dieje gedrängte Darjtellung einen fleinen Beitrag 
für die Wahrheit des Satzes liefern, daß auf dem Gebiete der 
Ur: und Kulturgejchichte, wie jehr ſich auch immer die einzelnen 
Disciplinen, mit jorgfältiger Special und Detailforſchung be— 
Ihäftigt, in fich zu verjchließen haben, doch die leßten und wich— 
tigften Fragen nur durch die gleihmähige Berüdfichtigung aller 
Gefihtöpunfte der Enticheidung nahe gebradyt werden fünnen, 
dab ed auch hier gilt: „Getrennt marjchiren, vereint ſchlagen!“ 


(760) 


31 


Anmerkungen. 


1) Die Bedeutung der Sprachwiſſenſchaft für Eulturgejchichtliche und 
geichichtlihe Zwede ift in einem umfangreichen, eben erjchienenen Werk: 
„Spradivergleihung und Urgeſchichte, linguiftifch-biftorische Beiträge zur 
Erforihung des indogermanifchen Alterthums“, Sena, 1883 von mir 
eingehend erörtert worden. 

2) Der „Löwe“ beißt im Armen. ariuc, ein jemitiiches Yehnwort; 
vgl. hebr. äri „Löwe“. 

3) Daß die ſemitiſche Urheimat nicht in Arabien, wie man früher 
vielfach annahm, geweſen fein fünne, haben v. Kremer und Hommel eben. 
falls durch jchlagende linguiſtiſch-zoographiſche Gründe gezeigt. Es 
fehlen nämlich in der urfemitiichen Sauna gerade ſolche Thiernamen, 
melde, Arabien ald Urheimat der Semiten vorausgejegt, in derjelben 
vorhanden jein müßten. So wird der Strauß, das dharafterijtijchite 
Thier der arabijchen und ſyriſchen Wüfte, in den verjchiedenen ſemitiſchen 
Spraden verjchieden benannt, und auch die Springmaus und der 
Wüſtenluchs haben Feine einheitliche Benennung. Umgekehrt heißt das 
Kamel, weldes in Hodafien jeine Heimat hat, wie es aud in allen 
türfijch-tatarischen Sprachen eine etymologijch übereinftimmende Bezeichnung 
uig. töbe, alt. töö, osm. deve führt, gleihmäßig bei allen Semiten 
gamalu (: g-m-l „anhäufen“) — xdunkos, camelus. Auch der Bär 
dubbu, der wilde Ochs ri'mu, und der Banther namiru find in der ur. 
jemitijhen Sauna vorhanden, alles Thiere, weldye in Arabien entweder 
gar nicht oder nur jehr jelten vorfommen. Bol. Spradvergleihung 
und Urgeihidhte S. 147 f. 

4) Daß nody im Nibelungenlied, bei der Jagd Sigfrids ein poeti- 
ſcher lewe (XVI, 935) genannt wird, fann biergegen nichts beweijen. 
Auch zur Bildung von Ortsnamen, die fonft mande jet in Deutjchland 
jeltene oder ausgeftorbene Thiergattung bewahrt haben, wie Elch, ahd. 


(761) 


32 


elah, Schelch, ahd. scelaho, Ur, ahd. wisunt, Biber ꝛc. (vgl. Förfte 
mann, Ortönamen. ©. 145), wird der Name des Löwen natürlich nicht 
verwendet. 

5) Von dem Adjefeftivum eboreus ftammen die romanischen Wörter 
ital. avori, evori, franz. ivoire ber. 

6) Daß jert. ibha: 1. Hausgeſinde, 2. Elefant, auf weldyeet man 
früher unter Borjegung des jemit. Artifeld das hebr. shenhabbim aus 
shen-hä-ibbim zurüdzuführen pflegte (vgl. Journal Asiatique, 1843, 
©. 137), vermag ich wegen jeiner jecundären Bedeutungsentwidlung in 
diefem Zujammenhang nit anzuerkennen. 

7) Lat. cluna benennt wahrjcheinlid den Affen nad) jeinem — sit 
venia verbo — Hintertheil (lat. elunis, jert. grönis, griech. xAm). 
Clunas, simias a clunibus tritis dictas existimant. Paul, ®, 
©. 58. 9. Vgl. auch den Archilochiſchen Vers. (Bergf, Lyr. II, 91.) 
rowvde ö’ w midnxe ray murygv Eur. 

8) Eine andere griecdhifche Benennung des Eſels xardos in xardı, 
»arßnAıos (lat. canterius „Wallach“?) ſcheint direft aus dem Sranijchen 
zend. kathva, Pamird. kuät zu ftammen. 

I) Was das Sriiche anbetrifft, jo ift dieſe Anficht jchon in Cor- 
mac’s Glossary (vgl. Stokes Irish Glosses p. 79) ausgejproden: 
„Aball, now, from a town of Italy called Abellum, i. e. it is 
thence that the seed of the apples was brought formerly.* 


(762) 
Drug von Sehr. Unger (&b. Grimm) in Berlin, Schönebergerftr. 17a. 


Unſere 


Freunde unter den niederen Pilzen. 


Vortrag 


zum Bejten der jtudentiihen SKranfenfafje, gehalten in der 
Aula der Univerfität Rojtod den 5. Februar 1883 
® 


von 


Dr. 8. Heelfen, 


Privatdocenten für pathologiiche Anatomie. 


GP 





Berlin SW., 1883. 


Berlag von Gar! Habel. 
(€. 6. Lübderit)'sche Berlagsbuchhandlung. ) 
33. Wilhelm - Straße 33. 





Das Recht der Ueberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


No vor einem Decennium hätte ein Vortrag, weldyer 
fid mit niederen Pilzen bejchäftigt, einer weitjchweifigen Ein- 
leitung bedurft, einer ausführlichen Erklärung deſſen, was wir 
unter niederen Pilzen und zu bdenfen haben. Heutzutage er: 
jcheint eine folhe Erklärung vor einem gebildeten Publicum 
als überflüffig. Wer hätte nicht ſchon einen Aufſatz über diefe 
einfachiten Drganidmen gelejen, oder doch durchblättert. Es 
wird ja unfere periodijche Literatur faft überſchwemmt mit Ab» 
bandlungen über diejed Thema. Jedes Familien- und Unter- 
baltungsblatt ſucht jeine Leſer durch populaire Aufſätze über die 
niederen Pilze und ihre verderbliche Thätigfeit zu orientiren, — 
ilt beftrebt, ed ihnen möglichjt ſchnell und ausführlich mitzu- 
theilen, wenn die willenjchaftlihe Unterjuchung ein neues Ver— 
brechen gegen Leben und Gefundheit ded Menſchen oder jeiner 
Haußthiere ihrem langen Sündenregifter hinzugefügt bat, — 
wenn fie wieder einmal in flagranti ald Urheber einer Seudye 
ertappt worden find. Es iſt hier nicht der Drt, über Werth 
oder Unwerth derartiger populairer Darftellungen im Allgemeineu 
ein Urtbeil zu fällen — fie mögen in vieler Beziehung gut 
und nützlich fein und auch in dem jpeciell und interejfirenden 
Fall läßt ſich nicht leugnen, daß durch dieſelben Thatjachen in 


weitere Kreije verbreitet worden find, deren Kenntniß für jeden 
XVIII. 428. 1° (765) 


4 


Gebildeten einen bedeutenden praftifchen Werth hat, — — aber 
andererfeitd wird jeder, welcher fi wiſſenſchaftlich und ein» 
gehender mit dieſen Thatſachen beſchäftigt, nicht überjehen 
fönnen, daß die populaire Darftellung derjelben, wie fie jet in 
den Blättern gebräuchlich ift, eine durchaus einjeitige Richtung 
vertritt und keineswegs geeignet erjcheint, eine wirklich den face 
tiichen Berhältniffen entiprehende Anſchauung zu begründen. 
Mer nur aus der belletriftiichen Literatur feine Kenntnifie 
ichöpft, wird zu der Anficht gedrängt werden, dab ſämmtliche 
niedere Drganidmen eine Art geichlofjener Phalanr darftellen, 
zu erbittertem Kampf gegen alles Höhere audgerüftet, — daß 
die mikroffopiiche Unterfuhung des Bodens, der. Luft, des 
Waſſers zwar dad Didyterwort bewahrbeite: „dem Trocknen, 
Feuchten, Warmen, Kalten entwideln taufend Keime fi,” daß 
diefelbe aber zugleich in jedem bdiejer unzähligen Keime und 
einen Todfeind zeige, deijen Lebensthätigfeit ausſchließlich auf 
die Schädigung oder Vernichtung höherer Drganidmen ges 
richtet fei. — Eine ſolche Anfiht wäre grundfaljch. 

Die unfihtbare Pflanzenwelt, deren Wunder und dad Mi— 
frojfop enthüllt, zeigt fidh dem unbefangenen Beobachter nicht 
wejentlich verjchieden von der, welche dem unbewaffneten Auge 
in Feld und Wald entgegentritt. Wie in diejer, jo treffen wir 
auch in jener eine Anzahl von Drganiömen, welche ung jelbft, 
unferen Hausthieren oder unjeren ulturpflanzen in hohem 
Grade ichädlidy find, meben einer zum mindeiten nicht geringeren 
Zahl, deren Eriftenz für und und unfere Hausthiere zunächft 
indifferent erjcheint, — und endlich vermifjen wir auch in der 
unfihtbaren Welt neben den jchädlichen und gleichgültigen Ge— 
wächſen feineöwegs die dritte Gruppe, die der Nubpflanzen. 

Ueber den Schandthaten, welche einige der niederen Pilze 


(766) 


5 


als Seuchenerreger gegen unſer Leben und Wohlbefinden aus— 
üben, iſt es faſt vergeſſen worden, daß wir einer Reihe anderer 
mit dieſen Böſewichtern nahe verwandter Pflanzen außerordent— 
ih wohlthätige und nützliche Wirkungen verdanken, — ja daß 
ohne ihre Mithilfe unſer jeßiged Gulturleben überhaupt nicht 
möglih wäre. — Es jei mir geftattet, im Folgenden an 
dieje unjere Freunde unter den niederen Pilzen zu erinnern und 
dadurch einem verrufenen Gejchledht eine Art von Ehrenrettung 
zu verjchaffen. 

Beginnen wir unfere Betrahhtungen mit dem wichtigften 
und dem verbreitetiten unter den nüßlichen niederen Pilzen — 
mit der Hefe. — 

Feder Gebildete kennt jene gelbweihe, halb fchleimige Maſſe, 
welche bei gährenden Flüffigkeiten theild die Oberfläche bededt, 
theild als Bodenjag in dem Aufbewahrungdgefäß fih an- 
jammelt; — ein jeder weiß, daß diejelbe durch mafjenhafte 
mifroffopifche Pilze gebildet wird, — Pilze allerdingd nicht von 
dem complicirten Bau wie unfere eßbaren Pilze, die Cham: 
pignons, Steinpilze und ZTrüffeln, oder wie die Giftpilze, deren 
bunte Hüte zur Herbftzeit unjere Wälder ſchmücken, — ja nidt 
einmal joweit organifirt wie die verjchiedenen Schimmeljorten, 
die wir als ungebetene Gäjte in unjeren Wohnungen beher- 
bergen, — jondern von der allereinfacdyiten Form. — Brauche ich 
dieje Form noch zu bejchreiben? Sie dürften einem Jeden, wenn 
nicht aus eigener Anjchauung, jo dody aus Abbildungen, be- 
fannt fein, — jene glänzenden homogenen, faft ftructurlofen, 
ovalen Körperchen, welche jelbft bei 500 facher Linear- d. i. 
250 000fadyer factifcher Vergrößerung, nur etwa in der Größe 


von Linſen oder höchftens kleinen Erbjen erjcheinen, — bald 
(767) 


6 


einzeln liegend, bald zu zweien an einander hängend oder aud) 
wohl mal eine längere perlichnurähnliche Kette bildend !). 

Wer zuerit diefe Gebilde unter dem Mikroſkop erblidt, — 
und dem Laien mag ed bei Betrachtung einer Abbildung 
ähnlich gehen, — der wird fich eines Gefühld der Enttäujchung 
faum erwehren fünnen oder zum mindelten des Erſtaunens 
darüber, daß diejen einfachen Kügelden, an welchen body im 
Grunde jehr wenig zu ſehen ift, feitend der wiſſenſchaftlichen 
Forſchung eine jo bejondere Aufmerkjamfeit gewidmet wird. — 
Nun, ed iſt auch nicht die äußere Form, weldye bier unjer 
Interefje in Anſpruch nimmt, jondern es ift dad Leben, welches 
in berjelben ftedt. — Trotz der einfachen Form, troß der Struc- 
turlofigfeit des Hefepilzeö, haben wir es in ihm zu thun mit 
einem Organidmud, einem belebten Weſen, defjen Lebenspro— 
cefje die gleichen 2 Elementarfunctionen umfaßt, auf weldye auch 
bei dem höchftentwidelten Weſen die fcheinbar unendlihe Man- 
nigfaltigfeit der Lebensvorgänge ſich zurüdführen läßt — das 
„Sichnähren” und das „Sichvermehren”. — 

Was das Leptere, die Vermehrung der Hefezellen anlangt, 
jo bietet diefer Proceß allerdings dem milroffopirenden Beob— 
achter auch nicht gerade viel Auffällige und Sehenswerthes. — 
Wir bemerfen hier nichts von dem kaleidoſkopiſchen Wechjel 
verjchlungener Linien und Strahlenjyfteme, wie er uns bei dem 
Zellen höherer Drganidmen in den Kemtheilungsfiguren ent» 
gegentritt; wir jehen nichtd von den eigenthümlich wogenden 
Protoplasmabewegungen, wie fie der Furchung der Eizellen vor: 
hergeben. — Der Proceß läuft bier in der einfachiten Weiſe 
ab. — Als handle es fi) um den Effect einer zufälligen Ver— 
legung, jo quillt bald am Ende bald irgendwo an der Seite 


der ovalen Zelle ein Zröpfchen ihres Inhalts nah Außen vor, 
(768) 


7 





anfangs nur als Heiner Budel, jpäter fich mehr und mehr 
vergrößernd, um endlich, nachdem ed ein Volum erreicht hat, 
welches dem der Mutterzelle wenig nachſteht, abzureißen und 
als felbftftändiger Zellenleib weiter zu vegetiren?). — Was 
diefem an ſich fo einfachen Procek ein größeres Intereſſe ver- 
leiht, das ift die Schnelligkeit, mit weldyer er unter günfti- 
gen Nährbedingungen abläuft. Als Beifpiel derjelben will idy 
hier nur die Thatſache erwähnen, daß man bei der zur Spiri- 
tusfabrifation vorgenommenen rationellen Züchtung, bei weldyer 
übrigens die Hefe, um eine möglichſt gute Qualität zu erzielen, 
im Wachsthum etwas zurüdgehalten wird, troß diejer Wachö- 
thbumshemmung von der zuerft in Anwendung gebrachten Preß- 
befe binnen 4—5 Tagen eine 5Ofahe Ernte zu erzielen im 
Stande ift. — Allein diefe immenje Schnelligkeit der Ber- 
mehrung ermöglicht ed, daß troß der mifroffopifchen Kleinheit 
unfer Organismus in jo auögedehnter Weife, wie es thatſäch— 
lich geichieht, ald Gulturpflanze verwerthet werde. — Sie er— 
möglicht, fage ich, die rationelle Gultur, ift aber natürlich nicht 
die Urjadye, welche den Menſchen zur Gultivirung der Hefe 
veranlaßte. Dieje Urjache liegt vielmehr in der eigenthümlichen 
Art, wie die zweite der beiden Lebendfunctionen, dad „Sid: 
nähren“ bei unferm Pilz abläuft. — Die Hefe nährt fi von 
den Flüffigfeiten, in welchen fie wächſt, — fie wandelt einen 
Theil ihrer Beftandtheile in belebte Materie um, indem fie fie 
ihrem Zellförper einverleibt, einen anderen in lebendige Kraft, 
welche fi) durdy die Bewegung des Wadhsthums äußert, und 
fie bewirft dabei eine Zerfegung der Flüffigkeit, eine Zerjegung 
ſpecifiſcher und characteriftiicher Art, die wir .ald Gährung 
bezeichnen. — Der durch die Hefe eingeleitete Gährungsproceß 
ift es, welcher derjelben dad Intereſſe der wifjenjchaftlicyen 


(769) 


8 


Forſchung wieder und wieder zumendet, er ift es zugleich, 
welcher fie für unfer Eulturleben geradezu unentbehrlich macht. 
— Ich brauche hier nicht auseinanderzufegen, in welchen chemi- 
ihen Umfetungen diefer Gährungsproceß gipfelt. — Es iſt 
allgemein befannt, dab es fid) um eine Spaltung bed in ber 
gährenden Zlüffigkeit vorhandenen Zuderd in Kohlenſäure und 
Alkohol handelt; ich will audy nicht eingehen auf die verjchiede- 
nen Probleme, weldye fi an die Frage knüpfen, in wie naher 
Beziehung diejed Rejultat der Gährung zu den Lebendäußerun- 
gen der Hefe fteht, ob es direct oder indirect durdy Vermittlung 
gewifjer im Zellprotoplasma auftretender Fermente herbeigeführt 
wird3) —, wir wollen und hier nur an die Thatſache halten, 
dab die Hefe aus dem ihr gelieferten Zuder Alkohol bildet, 
und — wad für unſere Grörterungen befonderd wichtig ift, — 
daß fie das einzige induftriell verwerthbare Mittei 
zur Alkoholgewinnung repräjentirt. — Es fehlt ja dem 
Chemiker keineswegs an Methoden, um auch ohne Vermittelung 
ber Hefe Alkohol zu erzeugen, aber zur techniſchen und in- 
duftrielen Berwerthung find fie ſämmtlich wegen zu großer 
Umftändlichkeit und Koftipieligkeit nidyt anwendbar. Alles, was 
an alkoholiſchen Stoffen fabrikmäßig dargeftellt wird und in den 
Handel kommt, verdankt feinen Alkoholgehalt der Thätigkeit 
der Hefe — —. Es dürfte darnach nicht übertrieben erfcheinen, 
wenn ich erſt ausſprach, dab ohne die Hefe unfer Gulturleben 
in jeiner jeßigen Form unmöglich fei. Im wie vielfacher Weije 
fommt nicht der Alkohol zur Verwendung! 

Zunächſt ald anregended Genußmittel in unfern ipirituöjen 
Getränken, den Weinen und Bieren. Daß die Production und 
der Verbrauch diejer Getränke mit dem Gulturleben in engfter 


Verbindung fteht, dab die Fortfchritte der Cultur mit ihrer 
(70) 


weiteren Verbreitung nicht nur zufällig, jondern urſächlich ver— 
knüpft find, braudye ich nicht erft zu beweilen, darüber haben 
berufenere Autoren ſich mehrfady ausgeſprochen.“) Nicht ohne 
Grund verherrlichen die Dichter aller Zeiten und Völker, je nady 
dem ihnen zu Gebote Stehenden ihren jühen Meth, ihr Bier, 
ihren Wein ald eine himmliſche, von der Gottheit in befonderer 
Gunftbezeugung dem Menjchen überlafjene Gabe und preijen die 
Pflanzen, weldye dad Material dazu liefern als Ueberbleibjel 
einer verjchollenen paradiefilchen Flora. 

Aber weldye Pflanzen find ed denn, die da gepriejen werden? 
Hat je ein Poet die Hefe beiungen? Man lobt den Weinftod 
ald Spender ded edlen Rebenſaftes, man preift Gerfte umd 
Hopfen ald Erzeuger ded Biered, — und dody würde der Ertract 
aus Malz und Hopfen ein ungenießbared Abjud bilden, höchſtens 
zu ftärfenden Bädern geeignet, — und doch würde der Saft der 
ebeliten Traube nur einen faden Moft liefern, — wenn die Hefe 
nicht wäre, — fie, ihre Thätigfeit erft ift es, die dem Bier die 
Kraft, dem Wein dad Feuer giebt und uns jo Genukmittel 
Ihafft, die „des Menſchen Herz erfreuen.” — 

Bon welcher Ausdehnung diefe Thätigfeit ift, davon liefert 
und die Statiftif der Bier- und Weinproduction ein Bild.) — 
Beihränfen wir und auf das Gebiet des Deutichen Reiches, jo 
finden wir eine jährlihe Production von etwa 40 000 000 hi 
Bier und etwa 900000 hi Wein, und wenn wir aud diejen 
Ziffern den in den betreffenden Duantitäten enthaltenen Alkohol 
berechnen, denn nur auf diefen fommt ed bei einer Beurtheilung 
der ZThätigfeit der Hefe an, jo ergeben fi) in der Gejammtmenge 
ded producirten Bieres ca. 140 000 000 1, in der Gejammtmenge 
des Weined etwa 8000000 I. — Gemwiß eine rejpectable 
Leiftung! — Jedoch ift damit die Thätigfeit der Hefe noch nicht 


(1) 


10 


erjhöpft. Nahezu die gleihe Menge von Alkohol, wie in den 
Weinkellern und Bierbrauereien wird in reiner Form, ald Spiritus 
in den Brennereien producirt, auf abjoluten Alkohol berechnet 
etwa 142 000 000 1, und dieje Form des Productes ift für unfer 
Gulturleben von ungleich größerer Bedeutung. Allerdings, wird 
auch von dem rein gewonnenen Alkohol ein Theil ald Schnaps 
confumirt, oder in den Liqueurfabrifen zu Getränf verarbeitet, 
ein anderer jedoch, und wohl der größte Theil, findet feine Ver— 
wendung zu tehniihen ZJweden.. 

Es würde zu weit führen, wollte ich hier die verjchiedenen 
Gewerbe und Fabrifationdzweige, welche den Alkohol benugen, 
alle aufzählen, ich möchte hier nur an einige, hauptſächlich auf 
jeine Verwendung angewiejene Induftrien erinnern: Da ift zu— 
nächſt die Fabrikation von Farbeftoffen, Laden und Firnifjen, 
ferner die Fabrikation von Parfümerieartifeln uud ätherijchen 
Delen, die Fabrifation chemiſch pharmaceutifcher Präparate, die 
MWollene, Baummollen- und Seidenfärberei, die Kattundruderei 
u. ſ. mw. Aber nicht nur in den Fabrifjälen, auch in der fleineren 
Merkftatt wird der Alfohol verwandt, — der Tijchler benubt ihn 
zur Bereitung der Politur, der Metallarbeiter zum Ladiren der 
Meilingtheile, der Hutmacher zum Imprägniren des Filzed, — 
und jelbft im bürgerlichen Haushalt jpielt er als Putzwaſſer, 
Brennmaterial u. |. m. eine nicht unweſentliche Rolle. — Bor 
allen Dingen aber find ed die erperimentirenden Wiſſenſchaften, 
welche den Alkohol zu verwenden genöthigt find. — Für den 
Anatomen, den Zoologen, den Chemiker ift er nahezu ebenfo un« 
entbehrlich wie Glas und Kautjchuf, und auch der Phyſiker, 
Botaniker und Phyfiologe haben oft genug Gelegenheit ſich jeiner 
mit Erfolg zu bedienen. Würden plöglich durch irgend eine 


Schädigung jämmtliche Hefeculturen zerftört, jo würde das nicht 
(173) 


11 


nur den Untergang der erwähnten Snduftrien, nicht nur eine 
jchwere Störung der erwähnten Handwerfe zur Folge haben, — 
auch die wiffenjchaftlihe Forſchung würde eined ihrer beiten 
Hülfsmittel beraubt werden. 

Wir haben uns mit der Beiprechung der Hefe und ihres 
Nutzens ſchon lange aufgehalten, müſſen aber doch, ehe wir zu 
den anderen niederen Pilzen und wenden, noch eines biöher nicht 
erwähnten Punktes gedenken. Die Hefe bildet während ihres 
Lebend in zuderhaltigen Stoffen nicht nur Alkohol, jondern 
auch Kohlenfäure und zwar in ſehr bedeutender Menge. 

Auch diefe Eigenſchaft hat der Menfchengeift ſich zu Nutze 
gemacht. Wie er die alkoholbildende Kraft der Hefe zur Be: 
reitung der Getränfe verwandte, benußte er die Kohlenjäurebildung 
zur Verbeſſerung der Speije, zur Loderung des Brotteiged vor 
dem Baden. Beide Anwendungsweiſen unſeres Pilzeö reichen 
bi8 in die früheſte Urzeit hinauf, beide haben ſich bis auf dem 
heutigen Tag faft unverändert erhalten, ohne durch irgend eine 
andere Methode verdrängt werden zu fünnen. Zwar hat man 
verfucht, für die Zwede des Badend an Stelle der Hefe ein 
chemiſches Präparat, dad Badmehl einzuführen, welches bei 
höherer Temperatur unter Bildung von Kohlenjäure zerfällt, und 
für feinere Badwerfe mag dafjelbe auch wohl Anwendung finden, 
— in der eigentlihen Brotbäderei hat es die Hefe nicht zu— 
erſetzen vermocht.“) — Wie zur Zeit Ehrifti, jo mengt auch jeßt 
nody der Bäder ein wenig Sauerteig, d. i. mit Brotteig ver- 
mijchte lebende Hefe unter jeinen Zeig, und jeßt die Mafje dann 
einer mäßig warmen Temperatur aus, welde für die Lebens— 
fähigfeit der Hefe die günftigfte if. Durch die leßteren wird 
dann aus den geringen Zudermengen, welche jeder Teig enthält, 


eine geringe Quantität Alfohol gebildet, unter gleichzeitiger jo 
(773) 


12 


reichliher Koblenfäurebildung, daß dad entwidelte Gas den 
zähen Zeig in unzähligen Blaſen durchſetzt, aufbläht, — wie der 
Zerminud lautet, dab der Teig „aufgeht.“ — Sit diefer Zuftand 
erreicht, jo hat die Hefe ihre Sculdigfeit gethan, der Teig 
wird in den Dfen gehoben und einer Hite ausgeſetzt, welche 
nicht nur dad Brot gar madt, fondern auch jede Spur von 
Lebensthätigfeit in den beigemengten Hefezellen zerftört. — 

Es iſt wichtig, daß eine joldye Abtödtung der Hefe erfolge, 
— und ungared Brot, in welchem diefelbe nicht zu Stande ge- 
fommen ift, it auch zur Speije nidyt zu benußen; denn in den 
Körper einverleibt, bildet die lebende Hefe ein gefährliches Gift, 
welches zu jchweren, ja im Kindesalter ſelbſt lebensgefährlichen 
Erkrankungen die Beranlafjung geben kann.“) — Ueber die 
Menge der Hefe, die für Zwede der Bäderei im Fahre ver- 
braucht wird, fehlen mir ftatiftiiche Daten. Daß der Conſum 
ein ganz enormer ift, ja wahrjcheinlich den Verbraud für Biers 
und Spirituöfabrifation bei weitem übertrifft, dafür möge die 
Thatjache ald Beweis dienen, daß eine einzige etwas umfang» 
reichere Brennerei, wie wir deren allein in NRoftod mehrere be— 
figen im Stande ilt, für Bädereizwede täglich zwiichen 8 und 
10 Ctr. friiher Hefe zu liefern, und dab troß diejer reichlichen 
Production die Hefe ein geiuchter und keineswegs billiger 
Handelsartikel iſt. 

Außer der Hefe, die wir nach dem Geſagten als Cultur— 
pflanze im volliten Sinne ded Wortes bezeichnen dürfen, giebt 
ed unter den niederen Pilzen zur Zeit nur noch einen, welcher 
zu gemwerblidhen Zweden in rationeller Weile cultivirt wird, es 
ift Das die jogenannte Eſſigmutter, Mycoderma aceti. Wir 
haben es bei diejer, wie überhaupt bei faſt allen noch zu er- 


wähnenden Pilzformen mit Organismen zu thun, welde auf 
(774) 


13 


iner noch niedrigeren Stufe der Ausbildung ftehen, wie der 
Hefepilz;, — nämlid mit Bacterien. Nicht nur, dab fie bes 
deutend Eleiner find, — es find feinfte Kügelchen oder auch 
wohl Stäbcdyen und fadenförmige Gebilde, deren Durchmeſſer 
5 von dem eimer Hefezelle nie überjchreitet, meiſt aber noch 
weit hinter diejer Größe zurüdbleibt, — audy ihr Bau ift noch 
einfacher. — Selbit die jtärfften Vergrößerungen lafjen von 
irgend einer Structurverichiedenheit in den gleichmäßig glänzen» 
den Gebilden auch nidyt eine Spur erfennen. Ebenjo befchränft 
fih der Proceh der Vermehrung, welchen wir bei der Hefe als 
fortjchreitende Knospung noch beobachten konnten, bier auf eine 
bloße, unvermittelt auftretende Abjchnürung, eine Spaltung des 
vorher einfahen Drganidmus.d) — Trotz diefer Einfachheit 
laſſen ſich unter den Bacterien eine ganze Anzahl jcharf untere 
ichiedener Arten feftitellen, — verjchieden, wenn nicht immer 
der Form nad, jo doch nady ihren Lebenseigenſchaften, nad) den 
von ihnen eingeleiteten Gährungen, — Arten, welche man durd) 
Züchtung von einander zu trennen, und ganz wie die Hefe in 
Reinculturen zu gewinnen vermag. Wenn derartige Züchtungen, 
wie oben bemerkt, bisher nur bei einer Art practiih in Ans 
wendung find, jo wird der Grund hierfür weniger in ber 
Schwierigfeit der Gultivirung liegen, ald in dem Umftand, daß 
erſt jeit kurzer Zeit auch in die Kreile der Techniker und 
Fabrifanten die Erkenntniß gedrungen ift, von der wichtigen 
Rolle, weldye diefe niedern Pilze bei einer ganzen Reihe früher 
anderd gedeuteter und gedanfenlo8 nach empiriichen Regeln ein- 
geleiteter Proceſſe ſpielen. Es ift mir nicht zweifelhaft, daß wir 
nad) furzer Zeit eine nicht unbedeutende Zahl diefer Organismen 
unter die Gulturpflanzen werden zählen können. 


Wie bei der Hefe, jo find ed auch bei den Bacterien 
(775) 


14 


Gährungderjcheinungen, durch melde fie ihre Lebensthätigkeit 
äußern, Umſetzungen in den fie ernährenden Flüffigfeiten, welche 
zwar vom chemiſchen Standpunfte aus keineswegs alle als 
gleichartig betrachtet werden fünnen, die aber, was die Lebens— 
äußerung des Pilzes anbelangt, unter einander große Aehnlichkeit 
haben, jo daß wir die befannte Hefegährung füglich ald Para» 
digma für die weniger befannten, im Folgenden zu erwähnenden 
anjehen fönnen. — Einen Beleg für diefe Aehnlichkeit liefert 
und die Pilzform, von der wir audgegangen find, die Eifig- 
mutter. — 

Die Benugung diejed Pilzes ift lange nicht jo ausgebreitet, 
wie die der Hefe; wir finden fie am ausgedehnteſten in Frankreich 
und einigen Theilen von Elſaß-Lothringen, in welchen Weineifig 
fabritfmäßig dargeftellt wird. Im ſolchen Weineffigfabrifen trifft 
man ganz ähnliche Einrichtungen wie in den Gährräumen einer 
Spirituäbrennerei. Hier wie dort beftimmte Zuchtgefäße, in denen 
die Pilze in möglichitreiner Form und möglichft kräftiger Entwidelung 
cultivirt werden, bier wie dort große Gährbottiche, welche mit 
diefer Pilzreinzucht bejchidt werden, damit durch ihre Thätigfeit 
der Alkohol des in ihnen enthaltenen Weines in Ejfigiäure um- 
gewandelt werde. Ganz ähnlich, wie die Hefe, bildet auch die 
Eifigmutter während des Verlaufed der Gährung auf der Ober: 
fläche der Flüffigfeit einen weißen jchleimähnlichen Ueberzug, aus 
taufend und abertaufend Pilzindividuen beftehend, einen Pilz: 
rajen, welcher nad) Beendigung der Gährung auf neue Mengen 
altoholhaltiger Flüffigkeit übertragen werden fann, um in ihnen 
die gleiche Säurebildung hervorzurufen. — Auch in der Ab: 
bängigfeit der Gährung von der Temperatur, dem Concentrationd- 
grad der Flüjfigfeit, der Größe der Gährgefäße u. ſ. w. erjcheint 
die Aehnlichkeit der beiden Procelje in gleicher Weije ausgeprägt. 

(776) 


Ich jagte, die Eſſigmutter jei keineswegs allgemein in Ge- 
braud. — Der Grund dafür liegt darin, dab fie nicht, ähnlich 
wie die Hefe, das Privilegium befigt allein auf billige Weiſe 
die Umwandlung des Alkohol in Eifigiäure bewerfftelligen zu 
fönnen; ed giebt eine Anzahl verjchiedener Fabrifationdmethoden, 
welche ohne Mithilfe der Pilze zu guten Rejultaten führen und 
diefe haben in Deutichland (mo man meift Kartoffelipiritus oder 
Bierrefte zur Effigbereitung benugt), fich faft die Alleinherrichaft 
erworben. ?) — Jedoch erſcheint es nicht wahrjcheinlich, daß die 
Berwendung der Eifigmutter durch die fünftliche Eifigfabrifation 
ganz verdrängt werde, denn wenn auch die gebildete Säure in 
beiden Fällen natürlich identiich ift, jo gilt das nicht von den 
aromatifhen Stoffen, weldye bei dem fünftlihen Eifig andere 
und für den Gejchmad weniger angenehme find, ald bei dem 
durh Gährung gewonnenen Weineifig. — 

An die Beiprehung der Cifigfäuregährung jchließt fich 
naturgemäß die der Mildfäuregährung an, die Ummandlung 
von Milchzucker in Milchſäure. Der dieſelbe veranlajjende 
Drganismus, gleihfalld eine Bacterienform, ift bisher noch nicht 
rationell gezüchtet worden, und wird troßdem in der aus— 
gedehnteiten Weile in Aniprud genommen. Seine Lebens— 
thätigfeit ift e8, die in dem eingeftampften Sauerfraut aus dem 
zuderhaltigen Koblblatt die anregende Säure entitehen läßt, 
jeiner Wirkjamfeit verdanken wir dad Säuren der in Salzwaffer 
eingelegten Gurfen, ihm verdanken wir an heißen Sommertagen 
dad Fühlende Gericht der fauren, oder diden Milh. Es ift 
nicht etwa eine der Mil als ſolcher innewohnende Eigen 
thümlichfeit bei längerem Stehen unter Säurebildung zu ge- 
rinnen, — eine pilzfreie Milh fann man auch im Sommer 


wochen: und monatelang aufheben ohne daß fie fich verändert. — 
(77) 


16; 


Die Veränderung tritt immer nur dann und nur in dem Maße 
ein als das Milchfäurebacterium in ihr vegetirt, — wird jeine 
Pegetation gehemmt, z. B. durch Faltes Wetter, jo erfolgt die 
Säuerung und Gerinnung nur unvollitändig, während um- 
gekehrt jchwüle heiße Tage für das Wachsthum unjeres Pilzes 
und damit für die Säurebildung bejonderd günftig find; an 
einem gewitterjchwülen Zage fann, wie jede Hausfrau weiß, 
die Gerinnung in wenigen Stunden eintreten. — Aber wie 
fommt bier der Pilz in die Mil? Er wird doc nicht hinein- 
gejäet? — Nein, abfichtlid und wiſſentlich allerdings nicht; es 
wird kaum einer Hausfrau einfallen zu einer Mil, deren 
Säuerung fie wünſcht, ein wenig ſchon faurer Milch ald Aus: 
jaat hinzuzufügen. Rationell wäre ein joldyes Verfahren, aber 
es ift nicht nothwendig, die Milch gerinnt auch jo, weil die 
Luft das Geſchäft des Ausſäens übernimmt. Jeder Blid auf 
einen dur das Zimmer fallenden Sonnenftrahl belehrt und ja 
darüber, eine wie bedeutende Menge Eleiner Körperchen in der 
icheinbar reinen Luft jchwimmen, und dad, wad wir jo als 
Sonnenftäubchen ſehen ift nur ein Theil des wirklich Vor— 
bandenen, es find nur die größeren Stüdchen von Geweben, 
Epidermisſchuppen, Holzfäjerchen von unjeren Möbeln und Fuß— 
böden, Gebilde, mweldye zu den gleichfalld in der Luft juspen- 
dirten Pilziporen in einem Größenverhältniß ftehen, wie etwa der 
Hauptmaft eined Barkichiffed zu einem Streihhölzchen. — Es 
iit eine ganze Sammlung der verjchiedeniten Bilzjorten, deren 
Sporen oder jporenähnlidye Ruhezuſtände in der Luft Schwimmen 
und mit derjelben überall hingeführt werden, wo fie felbft Zu: 
tritt hat, — Sporen von Schimmelpilzen, verichiedene Hefeforten, 
Bacterien aller Art, theild giftige Seucdyenerreger, theild Fäulniß— 
erzeuger, theils gleichgültige, ohne characterifiiche Erjcheinungen 


(778) 


17 


vegetirende, theild Erreger nützlicher Gährungen. — Die noth: 
wendige Folge diejer Thatſache ift natürlich, daß auch die durch 
die Luft erzeugten Ausfaaten keineswegs rein find, jondern ein 
Gemiſch verichiedener Pilziporen darftellen, und es könnte unter 
diejen Verhältniſſen auffällig ericheinen, daß ed doch in fo 
vielen Fällen gelingt, im gewiſſen Stoffen nur dadurd, daß man 
fie der Luft ausjeßt beftimmte beabfichtigte Gährungen, aljo ganz 
beitimmte Pilzvegetationen hervorzurufen. 

Jedoch erklärt fich dieje zunächſt wunderbare Erſcheinung 
jehr einfady, wenn wir bedenken, daß alle die niederen Pilze 
ganz beftimmte Ernährungsverhältniffe zur vollen Entfaltung 
ihres Wachsſthums bedürfen, und unter anderen Berhältnifjen 
gar nicht, oder nur fümmerlich vegetiren. — Ein beftimmter 
Stoff von fonftanter Zufammenfeßung, wie in unjerm Fall die 
Mil, wird demnady nur für einige wenige, oder nur für eine 
Art der ausgeſäeten Pilze die günftigften Nährbedingungen bie- 
ten, in dem erwähnten Kalle iſt es das Bacterium der Milch— 
ſäuregährung. Die übrigen mitausgejäeten Formen werden von 
diejem überwuchert und dadurch zuleßt der Effect einer jchein- 
baren Reinfultur erzielt. In Wahrheit ift natürlicdy ſtets das 
Ergebniß ein weniger günftiged, ald dad einer reinen Ausjaat, 
weil bei der unreinen ein Theil der Pilze zur Zerftörung des 
Unfrauted verbraudyt wird, weldyer jonit der Gährung zu Nutze 
gefommen wäre. Für techniiche Zwede ift der hieraus rejulti- 
rende Unterjchied im Ertrag von nicht geringer Bedeutung, bei 
- der Bereitung der jauren Milh zum Eſſen ift ed allerdings 
gleichgültig, da ed hier nicht darauf anfommt eine mözlichft 
vollfommene Säuerung zu erzielen, jondern nur foviel Säure 
zu produciren, ald zur Gerinnung nothwendig ift. — 


Mebrigend liefert und die gewöhnliche Bereitungsweije der 
XVIu. 428 2 (779) 


18 


jauren Mildy gelegentlich in jehr überzeugender Form den Be- 
weid, dab Die aus der Luft gewonnenen Pilzkulturen unreine 
find. Es eriftirt nämlich eine Bacterienart, dem Milchjäurepilz 
in Form und Größe jehr ähnlich, welche in der Milch ebenjo 
günftige Entwidelungöbedingungen findet, wie der legtere und 
deöhalb von ihm nicht unterdrüdt werden fann, es ift der joge- 
nannte Bacillus cyanogenus. — Kommen zufällig mit den 
Sporen ded Milhjäurefermentes Sporen dieſes Drganidmus in 
die Milch, jo entwideln ſich beide neben einander, und es wird 
dann neben der Säuerung der Milch durch den genannten Ba- 
cillus eine andere Zerfegung, eine Umwandlung der ſauren Mild 
in einen intenfiv blauen Farbftoff eingeleitet. Eine ſolche Mildy 
zeigt jchon während des Gerinnend auf der Oberfläche blaue 
Fleden und wird bei längerem Stehen in größerer Ausdehnung 
blafjer oder dunkler blau. Natürlich ift dadurdy der Effect der 
beabfichtigten Gährung vereitelt, denn eine ſolche blaufledige 
Mil ift, wenn auch nicht gerade jchädlich, doch unappetitlidy 
und zum Eſſen ungeeignet. !0) 

Alſo irrationell ift ed unter allen Umftänden, die Ausfaat 
der Zuft zu überlaffen, und doch ift zur Zeit noch diejed Ver— 
fahren bei faft allen anderen abfichtlidy eingeleiteten Gährungen 
in Gebraudy. — Es giebt foldyer noch eine große Zahl, und idy 
würde des Lejerd Zeit und Geduld über die Gebühr in Anſpruch 
nehmen, wollte idy fie bier alle auch nur oberflächlich befprechen. 
Ich werde mich darauf bejchränfen, noch einige der wid» 
tigeren Formen furz zu erwähnen und möchte nur auf eine et-- 
was genauer eingehen, weil bei derjelben, allerdings ohne Wifjen 
und alſo auch ohne directe Abficht ſeitens der Fabrifanten mit 
einer Art Reinkultur gearbeitet wird. Es ift das die Käſe— 
bereitung. Befanntlich erfolgt die Bearbeitung der Mildy zu 


(180) 


19 


Käje in der Weiſe, dab zunächſt durch Zuſatz eines Labauszuges, 
eined wällerigen Aufguſſes auf friſchen Kälbermagen die Mildy 
zur Gerinnung gebradt wird, — dann wird die Mafje längere 
Zeit gekocht, darauf die Molfen von dem geronnenen Gafein 
abgepreßt und der Käfelaib monatelang bei einer mittleren 
Temperatur aufbewahrt um zu „reifen.“ Der bei diejer Ope- 
ration benußte Aufguß von Kälbermagen enthält nun aber außer 
dem Labferment in großer Menge Pilze, welche jchon im Magen 
des lebenden Kalbes ſich jehr reichlich finden, feine fadenförmige 
Gebilde mit rundlichen Samenkörnchen oder Sporen an ihren 
Enden oder in der Mitte ded Fadend. Ihr erſter Entdeder, 
Sohn, nannte diefen Pilz Bacillus subtilis — neuere Bota- 
nifer haben ihm den Namen Clostridium butyraceum gegeben. 
— Dieje Pilze werden mit dem Labaudzug der Milch beige- 
miſcht und im großer Menge von dem gerinnenden Gafein ein- 
geichlofien. Bei dem auf die Gerinnung folgenden Kochen werden 
nun zwar die Pilzfäden felbft ebenjo wie die aud der Yuft bei- 
gemifchten Schimmeljporen und Bacterien getödtet, dagegen nicht 
ihre Samen, weldye die Siedetemperatur des Waſſers längere 
Zeit ertragen fönnen. Dieje bleiben entwidelungsfähig, und fie 
find ed, welche, nachdem der Käfefabrifant jeine Arbeit beendet 
und die Käfelaibe in den Keller gepadt hat, die eigentliche Haupt- 
arbeit verrichten, nämlich den Käje zur Reife bringen. Bei der 
gleihmäßig. warmen Temperatur feimen die Sporen aus, und 
die ſich entwidelnden BPilzfäden rufen in den Gafeinmafjen 
Gährungen hervor, Zerjegungen, die ſich allerdings leichter 
ſchmecken und riechen, als chemijch definiren lafjen!!). Es find 
jedenfalld mehrere fomplizirte Vorgänge neben einander, einmal 
eine Umwandlung der Fettbeitandtheile im flüchtige Fettjäuren, 


namentlich Butterfäure, zweitens aber auch eine eigenthümliche 
2* (781) 


20 


Neränderung ded Gafein jelbit, eine Veränderung, deren phyſi— 
faliiche Symptone man audgezeichnet an jedem reifenden Harzer- 
fäje beobachten fann. Die uriprünglich Frümelige, weiße, un= 
durchfichtige Maffe fintert zu einer homogenen, durdicheinenden, 
mehr gelblich gefärbten zujammen, welche zunächſt noch hart iſt, 
allmählich aber immer weicher wird, um ſchließlich, wenn bei 
zu weit vorgefchrittener Gährung der Käje überreif wird, zu 
einem trüben Scyleime zu zerfließen. 

Was ich bisher beiprochen habe, bezog ſich alles auf Mit- 
wirkung niederer Pilze bei der Erzeugung von Nahrungsmitteln, 
Speijen, rejp. Getränfen, id} möchte aber damit nicht zu der 
Scylußfolgerung verleiten, daß nur zu diejen Zmweden die gäh— 
rungserzeugenden Eigenſchaften unjerer niederen Organismen 
fich verwenden laffen. — Im Gegentheil, e8 giebt eine ganze 
Reihe techniſcher Operationen, bei denen wir ihre Hülfe 
ebenfowenig entbehren können. — Bor allen Dingen gilt dies 
von der$arbenfabrifation. Biele der gebräuchlichiten Pflan- 
zenfarben werden nicht direct aus den Pflanzen gewonnen, jo 
wenig wie man Wein direct aus den Trauben zu preffen vermag, 
fie werden vielmehr erjt durd) einen Gährungsprozeh erzeugt. — 
Da ift 3.8. der gelbrothe Farbftoff Orleans, aus den gegohrenen 
Früchten ded Orleansbaumes dargeitellt, welcher namentlich bei 
der Geidenfärberei ald Untergrund für Ponceaurotb benußt 
wird, ferner das hauptſächlich in amerikanischen Färbereien an- 
gewandte Chicaroth aus den Blättern einer Bignonie, eines 
Irompetenbaumesd gewonnen. — Außerdem drei wichtige blaue 
Sarbitoffe, die ded Blauholzes oder Campecheholzes12) 
weldyes hauptſächlich zur Bereitung blauer Uniformtucdhe jeine 
Anwendung findet und in diejer Form ſchon jo mandyes Auge 
und Herz erfreute, zweitens faum minder wichtig und für den 


(7852) 


21 


Shemifer zur Prüfung auf jaure oder alfalifhe Reaction, unent: 
behrlidy, dad aus gährenden Flechten bereitete Lackmusblau 
und als dritted der Indigo, aus den Blättern verjchiedener 
afrifaniicher Pflanzen durdy Gährung gewonnen, deſſen audge- 
dehnte Benußung ald Zeugfärbemittet allgemein befannt ift. — 
Füge ich noch hinzu, daß audy die chemiſche Induſtrie ſich der 
Gährung in mandyen Fällen bedient, dab z. DB. die Gallus: 
jäure! 2), dad widhtigite Ingrediens bei der Tintenfabrifation, daß 
die Mehrzahl der jogenannten flüchtigen Settjäuren durch Gäh— 
rung gewonnen werden, jo dürfte das genügen um den Beweis 
zu liefern, daß aud im techniſchen Betriebe die niederen Pilze 
ald Nubpflanzen eine nicht unbedeutende Rolle fpielen. 

Und nod) ein andered, von dem biöher bejprochenen weit 
abliegended Gebiet giebt es, auf weldyem den niederen Pilzen 
ein weites Feld jegendreicher Wirkfamfeit offen fteht, das iſt das 
Gebiet der Medicin, jpeciell der Prophylaxe. Zur Zeit ift 
ed allerdings nur ein einziger Vertreter ded großen Genus der 
Bacteriaceen, der auf diefem Gebiet in wirkſamer Thätigfeit ift; 
aber ſchon diejer eine hat jo ungemein große Erfolge erzielt, 
daß der Gedanfe, noch andere Pilzformen zu ähnlicher Wirk- 
jamfeit heranziehen zu können, in jedem, der dem Leiden der 
Menſchheit nicht gefühllo8 gegenüber fteht, die Ichönften Hoff: 
nungen erweden muß. — Der Leler wird jchon erratben haben, 
welche Wirkjamfeit ich meine, — den Seudenjdhuß, den 
Schuß gegen Anftedung, wie wir ihn zur Zeit allerdings nur 
gegenüber der Podenkranfheit durd) die Anwendung der Baccine 
zu erreichen vermögen. — Der wirkjame Beftandtheil in der zur 
Impfung angewandten Haren Flüjfigfeit, der Vaccinelymphe, ift 
ein niederer Pilz, Kleiner noch ald alle bisher erwähnten, aber 


im Uebrigen ihnen analog gebaut. — Es ift befannt, dab nad 
(783) 


22 





der Einführung dieſes Pilzes in die oberflädylichften Hautjchichten 
bei einem nicht Geimpften, oder jeit langer Zeit nicht revacci- 
nirten Menjchen, fich an der Impfſtelle eine Entzündung ent- 
widelt, erft in Geftalt eines Eleinen rothen Knötchens, aus wel- 
hem nad) einigen Tagen eine Blafe fidy bildet, die Smpfpuftel. 
Dieſe Blaſe enthält eine klare Flüffigfeit, Lyınphe, von ganz 
derjelben Beicyaffenheit wie die zur Impfung angewandte, in 
welcher ganz die gleichen Pilze in großer Menge juspendirt 
find, jo daß biejelbe mit Erfolg zur Weiterimpfung auf ein 
andered Individuum verwandt werden kann. — Zur Weiterim- 
pfung auf ein anderes Individuum, denn bei dem Träger der 
Impfpuſtel jelbft ift jede weitere Impfung ohne Erfolg, er iſt 
durch die einmalige Entwidelung der Vaccine in jeinem Körper 
in einen Zuftand verſetzt, welcher feine Säfte zur Ernährung 
der Baccinepilze ungeeignet macht; und nicht nur ungeeignet 
zur Ernährung ded VBaccinepilzed, ſondern aud zur Ernährung 
des Bariolapilzes, deöjenigen, welcher die Pockenſeuche veranlaßt. — 
Welcher Art diefer Zuftand der Immunität (der Sicherheit vor 
Anftekung) ift, wie er durch Impfung hervorgerufen wird, da— 
rüber lafjen ſich zur Zeit faum Hypothejen aufftellen; wir müſſen 
und mit der Thatjache begnügen, daß er eintritt und werden 
aud) wenn wir über dad „wie“ nod im Unflaren find, den 
großen Werth Ddiefer Thatjache, den unberechenbaren Segen, 
welchen die Menjchheit aus ihrer Kenntniß gezogen bat, nicht 
verfennen. — Es ift naturgemäß das Gefühl für den jegenbringen- 
den Nuten der Impfung abgeftumpft, nachdem in Folge der: 
jelben die Pockenſeuche feit Jahren faft erloſchen ift, nachdem 
das Publitum die Krankheit nicht mehr fennt, nicht mehr zu 
jehen befommt. Nur dadurch erſcheint es möglich und erflärlidy, 


daß eine Partei, welcher ed weniger um Wohl und Wehe ihrer 
(784) 


Mitmenihen aid um Belämpfung der wifjenjchaftlichen Fort- 
Schritte zu thun ift, Anhänger hat werben können zu einer 
Agitation gegen die Vaccine-Impfung. — So lange das Bild 
der furdtbaren Seuche, wohl der jchmerzhafteiten und ab: 
Ichredendften unter allen in Europa epidemiichen Krankheiten, 
noch im Bemußtjein ded Volkes ſich lebendig erhielt, war eine 
jolhe Agitation ein Ding der Unmöglichkeit, — fie wäre über- 
all mit Entrüftung zurüdgemiejen. — Könnten wir nur einmal 
dem Publicum und jpeciell den Unterzeichnern der Antiimpf- 
petition den Anblid eined podenfranfen Menſchen gewähren, 
ihnen jened einft leider unſerm Bolf jo geläufige Bild zeigen, — 
welches jet nur vereinzelt in großen Lazarethen fi) dem Auge 
des Arztes bietet, — wie der Leidende daliegt, die ganze Haut 
von dem Scheitel bis zu den Fußjohlen im Zuftande hochgradigſter 
Entzündung, mit taufenden von Blaſen bededt, jo daß ihm jede 
Stellung, jede Lage nady wenigen Minuten zur Dual wird, fo 
daß die janftefte Berührung der Hand, die leijefte Verſchiebung 
der Kiljen ihm Schmerzen macht, blind, weil aud) die Augen- 
bindehaut mit Podenpufteln bededt ift, vom heftigen Durft 
gequält, und doch außer Stande, zu trinken, weil die Schleim- 
baut des Mundes und der Speiferöhre von der gleichen Ent- 
züundung befallen ift, wie die äußere Haut; — könnten wir den 
Smpfgegnern nur einen joldyen Kranfen auf feinem Schmerzend- 
lager zeigen, — idy bin überzeugt, es bedürfte nicht mehr der 
Grinnerung an die vielen Hunderte, die vor Einführung der 
Impfung jährlidy diefem ſchrecklichen Leiden erlagen, der An- 
blid des einzelnen würde ausreichen um jeden aufrichtig gefinnten 
Mann zur Zurüdnahme jeiner Unterjchrift zu bewegen. 
Jedenfalls fteht die auf die Thatſachen geſtützte wifjenichaft- 
lihe Forſchung über diejen gegen fie und gegen das Wohl der 
(785) 


— 24 — 
Menſchheit gerichteten Agitationen. Sie braucht ſie nicht zu 
bekämpfen, denn ſie richten ſich ſelbſt, fie läßt ſich auch nicht 
beirren durch dieſelben, und während die Gegner vergeblich ver— 
ſuchen, die eine ſchon aufgerichtete Säule zu untergraben, iſt 
fie bemüht neue zu errichten, beſtrebt weitere Pilzformen auf— 
zufinden, welche analog der Vaccine gegen andere Pilzkrankheiten 
der Menſchheit den Seuchenſchutz zu gewähren vermögen, !*) 
— und ſo das Gebäude der Schutzimpfung immer weiter aus— 
zubauen. — Hoffen und wünſchen wir, daß dieſe Beſtrebungen 
bald zum Ziele führen, — zu Nutz und Frommen der leidenden 
Menſchheit. 


(786) 


25 


Anmerkungen. 


1) Bail (Flora 1857, Nr. 27, 28) hat die Anfiht ausgeſprochen, 
daß die Hefe nur eine durd Veränderung des Entwicelungsbodens her- 
beigeführte Abänderung eines höheren, Mycelium bildenden, Schimmel- 
pilzes jei, und daß man die Hefezellen als jterile Pilzfäden aufzufafjen 
habe; ebenjo haben namentlich Hallier und Hoffmann fi dahin 
geäußert, daß die Hefebildung nur eine bejondere Art von Gonidien- 
abjchnürung jei, die den verfciedenften Schimmelpilzen zufommen 
könne. — Dem gegenüber haben namentlih du Bary und Rees (Bo- 
tanijche Unterjuhungen über die Alkoholgährungspilze, Leipzig 1870) 
fh für die Gelbftändigfeit der Hefepilze ausgejprochen, und zur Zeit 
dürfte diefelbe kaum nod irgendwo angezweifelt werden. — Rees bat 
außerdem nachgewiejen, daß die bei den verfchiedenen Gährungen thätigen 
Hefepilze nicht glei find, jondern daß in verſchiedenen Weinjorten, im 
Bier ıc. Zellen von Hefe angetroffen werden, welde in Größe und 
Form nicht unwefentlih von einander abweichen; er unterjcheidet dar- 
nah 5 verjciedene Arten von Sacharompced, die Bierhefe (S. cere- 
visiae) und 4 Arten der Weinhefe (S. apiculatus, ellipsoideus, con- 
glomeratus, Pastorianus.) Ob es ſich bier um wirkliche Arten oder 
um bloße Varietäten handelt, fann an diefer Stelle füglich unerörtert 
bleiben; jedenfalls bildet die gezüchtete Hefe zahlreiche Spielarten, jowie 
jede Gulturpflanze, und fat jede größere Brauerei züchtet ihre bejondere 
Sorte; da aber alle diefe Spielarten ebenfo wie die von Rees unter- 
ſchiedenen Formen in ihrer Hauptthätigkeit, der Alkoholgährung, über- 
einftimmen und nur in Bezug auf die aromatiſchen Nebenproducte der 


(187) 


Gährung Abmweihungen zeigen, können fie im Text als einheitliche Form 
behandelt werden. 

2) Die Sprofjung der Hefezellen erfolgt in verjchiedener Weije, 
je nad der Zemperatur, unter welcher der Pilz wählt. Wenn bie 
gährende Flüffigkeit bei einer niedrigen 8—-9° C. nicht überfteigenden 
Temperatur gehalten wird, jo löjen fih die Sproffen, jobald fie aus- 
gewachſen find, von der Mutterzelle ab, und man findet dann die aus— 
gebildeten Zellen alle einzeln oder höchitens zu zweien verbunden in der 
Flüjfigkeit vor. Da bei der niedrigen Temperatur der Gährungsproceß 
verzögert ift, die Alkohol- und Kohlenjäurebildung nur allmählig vor 
fich geht, fommt es auch nicht zu lebhafteren Bewegungen in der Flüffig- 
feit, die Hefezellen finfen auf den Boden des Gährbottichs und jammeln 
fih hier ald Unterhefe an. Es ift das diejenige Vegetationsform der 
Hefe, welche zur Bereitung der jchwereren, haltbareren Biere Gairiſch- 
Dier, Porter) angewandt wird. — Ganz anders gejtaltet ſich das Bild 
der wachjenden Hefe, wenn das Wachsthum bei höherer Temperatur, 
15—20° G., jtattfindet. Die ſich lebhaft vermehrenden Zellen bleiben 
hier in längeren perlſchnurartigen oft verzweigten Sproßverbänden mit 
einander vereinigt und werden durch die lebhaft entwidelte Kohlenjäure 
emporgetrieben an die Oberfläche der gährenden Flüſſigkeit, wo fie ji 
als Dberhefe anjammeln. Dieſe „Obergährung” ift die gebräud- 
liche Sorm bei der Bereitung aller leichteren Bierjorten, der meiften 
jogenannten Localbiere. — Auch für die Darftellung des Spiritus aus 
Getreide- oder Kartoffelmaijche bedient man fich der Oberhefe. 

3) Die erfte vor Sahren allgemein verbreitete Gährungstheorie 
von Liebig ſtammt aus einer Zeit, wo die Natur der Hefe ald eines 
lebenden Drganismus noch nicht feitgeftellt war. Liebig faßte die 
Gährung als einen rein chemiſchen Proceß auf, bei welchem das Hefe- 
ferment, ein jehr leicht zerjeglicher und in fortdauernder Selbitzerjegung 
befindlicher Körper, jeinen Zuftand innerer molecularer Bewegung auf 
den am fich jchwerer zerjeglichen Zucer übertrage und dadurch den Zer- 
fall defjelben in Alkohol und Kohlenjäure herbeiführe. — Nachdem 
durh die Unterjuhungen von Schwann und namentlich durd die 
Arbeiten von Pafteur die organijhe Natur der Hefe und die abjolute 
Abhängigkeit der Gährung von ihrer Vegetation fejtgeftellt worden war, 
neigte man fi mehr einer biologijchen Auffafjung des Procefjes zu, 
wie fie am prägnanteiten ihren Ausdrud fand in den Arbeiten von 


Bechamp, nah welchem der Hefepil; den vorhandenen Zuder direct 
(788) 


27 


als Nahrungsmittel aufnehmen und Kohlenfäure jowie Alkohol, als 
wahre Excrete abgeben ſollte. Jedoch ift auch dieje vitaliftifche Auf- 
faffung zur Zeit nicht mehr rüdhaltlos anerfannt. Wenn aud die Ab- 
bängigfeit der Gährung von der Ihätigfeit der lebenden Hefe nirgends 
geleugnet wird, jo wird doch von einer bedeutenden Zahl der phyfiologi- 
jhen Chemiker der Proce der Zuderzerlegung in einer Weije gedeutet, 
welche fih mehr an die Liebig'ſche Anſchauung anlehnt; man fieht 
nämli nicht mehr den Körper der Hefezelle ald den Ort an, in 
welchem die Spaltung des Zuders allein ftattfinde, jondern glaubt, daß 
diefer Proceß auch außerhalb des Zellkörpers ablaufe und auf ein in 
der Zelle gebildetes, aber aus derjelben diffundirbares Berment zurüd- 
zuführen fei. ine Iſolirung dieſes Fermentes ift allerdings zur Zeit 
noch nicht gelungen und aljo die Frage von einer endgiltigen Löſung 
noch weit entfernt. 

4) Vgl. bejonders Bibra: „Die narkotiihen Genußmittel und 
der Menih”, Nürnberg 1855; Virchow: „Nahrungs und Genuß- 
mittel“. Sammlung gemeinverjt. wiſſenſch. Worträge, II. Serie, 
Heft 48 u. A. m. 

5) Die bier angeführten Zahlen machen feinerlei Anipruh auf 
Genauigkeit. Es handelt ſich hier nur darum, dem Lejer einen ungefähren 
Begriff von der Reichlichfeit der Alkoholproduction zu geben. Die 
Zahlen find nady den in Muspratt's Handbuch ter tedhniichen Chemie 
angeführten ftatiftiichen Daten berechnet. Da diefe Daten jelbjt aus 
den Jahren 1874— 1876 jtammen und jeit der Zeit die Alkoholproduc- 
tion nody bedeutend zugenommen hat, werden die angegebenen Ziffern 
den jegigen Berhältniffen gegenüber noh um ein Beträchtliches zu 
niedrig angenommen jein. 

6) Das zur Zeit noch in den Gonditoreien und aud) wohl gelegentlich 
im Haushalt zum Zweck der Kuchenbereitung angewandte Badpulver ift 
kohlenſaures Ammoniak, „Hirſchhornſalz“ der Droguiften, weldyes in 
der Hige des Badofens fih vollſtändig verflüchtigt. Zum Brotbaden 
hat dafjelbe wohl nie ausgedehntere Anwendung gefunden. — Die Ver— 
juche, die Hefe beim Brotbaden durdy andere Stoffe zu erjegen, gingen 
namentlih von England aus. So wurde von Whiting jchon im 
Jahre 1838 eine Methode empfohlen um Brotteig ohne Gährung zum 
Aufgehen zu bringen und 1848 nahm Sewell ein Patent auf die 
Darftellung von ungegohrenem Brot. Die englijhen Methoden be— 


ruben auf der bei Zerjegung von doppeltfohlenjaurem Natron durch 
⸗ (789) 


a 


eine freie Säure auftretenden Kehlenfäureentwidelung; Sewell benugte 
Salzjäure, von anderen Seiten wurde MWeinfäure angewandt, welde in 
trodnem Zuftand mit dem Eohlenfauren Natron gemengt wird, ganz wie 
bei dem befannten „Braufepulver.“ Cine complicirtere Zufammen- 
jegung bat das in Deutidland dur Liebig eingeführte Badpulver, 
welches dur Zuſammenmiſchen von doppeltkohlenſaurem Natron und 
Shlorfalium mit jaurem phospherjauren Kalt erhalten wird; dieſes 
Pulver follte nach Liebig nit nur ein Aufgehen des Teiges bewirken, 
fondern auch durch feinen Gehalt an Phosphorſäure die Nährfraft des 
Brotes erhöhen. — Eine andere, neuerdings von Dauglifh erfundene 
und in englijchen Brotiabrifen vielfadh angewandte Methode beſteht 
darin, daß man den Teig mit Fohlenjäurehaltigem Waſſer bei einem 
Drud von mehreren Atmoſphären anrührt, gelangt derjelbe dann unter 
gewöhnlichen Drud, je entweicht ein Theil der Kohlenſäure und lodert 
den Zeig. — 

Alle diefe Methoden haben ſich übrigens, wie ſchon im Text ge- 
jagt wurde, nicht einbürgern können und werden bei dem Bädereibetrieb 
im Kleinen, welcher ja immer noch den überwiegend größeren Theil des 
Brote producirt, nicht in Anwendung gezogen. — Der Grund, wed« 
halb für den Großbetrieb immer wieder ein Erſatz für die Hefe geſucht 
wird, liegt darin, daß; bei ihm ein Uebeljitand, weldyen die Gährung des 
Zeige mit fi führt, in höherem Grade fübhlbar wird, nämlich der 
Verluſt an Material. Derſelbe ijt zwar an ſich gering, es find kaum 
2 pCt. des Mehles, welche durch die Gährung zerjegt werden, aber wo 
e8 ih um Verarbeitung von vielen Gentnern handelt, fällt er doch 
ſchon ins Gewicht. Verſuche, dieſen Ausfall durch Auffangen des ge- 
bildeten Alkohols wenigftens theilweije zu deden, haben bisher feinen 
Erfolg gehabt. 

7) Wenn aud für die Giftigfeit der Hefe und namentlich für die 
Erklärung der von ihr ausgeübten Giftwirfung volllommen aus 
reichendes wiſſenſchaftliches Beweismaterial noch nicht erbradt iſt (die 
erperimentellen Unterfuhungen von Popoff, Berliner flin. Wocen- 
ihrift 1872, Nr. 43, haben mehrfach Widerſpruch gefunden) — jo ift 
dod die Thatſache, daß Nahrungsmittel, weldye lebende Hefezellen ent- 
halten, VBerdauungsitörungen hervorrufen, unbejtreitbar und jelbjt dem 
Laien geläufig; wer hätte nicht ſchon nad) dem Genuß von unreifem, 
befehaltigem Bier dieſe Thatjache an feinem eigenen Körper conftatiren 
fünnen? — 

(790) 


29 


3) Die in dem Text gegebene Darftellung der Vermehrungsvor— 
gänge bei den Bacterien Fönnte dem derzeitigen Stand unferer Kennt- 
nifje widerjprechend erjcheinen. Es iſt eine durch zahlreiche Unter: 
ſuchungen wohl conitatirte Thatfache, daß die Fortpflanzung der Bacte- 
rien fi) feineswegs unter allen Umjtänden auf die einfache Spaltung 
beſchränkt, wie fie im Text geichildert ift. Die Spaltung ift zwar die 
häufigite Form, die der Beobachtung am leichteften zugängliche (nad) 
welcher deshalb auch die ganze Klaffe der Bacterien den Namen der 
„Spaltpilze” erhalten hat), es kemmen aber neben derjelben bei faft allen 
Bacterienarten andere Formen der Fortpflanzung vor, von denen ich bier 
nur die Bildung von „Sporen”, runden, ſtark- lichtbrechenden und 
ungemein wideritandsfähigen Keimzellen, erwähnen will, da wir auf die- 
jelben noch mehrfach zurückkommen müfjen. Wir fönnen im Webrigen 
von den complicirteren Vermehrungsvorgängen abjehen, denn fie alle 
treten nur unter Verbältnijfen auf, welche ten betreffenden Pilzen die 
Ausübung ihrer jpecifiichen Gährungsthätigkeit nicht geftatten. Sobald 
die Bacterien Gährungen erzeugen, und nur auf joldhe Zuftände kommt 
es bei den im Text zu bejpredhenden Formen an, vermehren fie ſich aus- 
Ihlieglich in der geſchilderten Weile durch einfache Spaltung. 

9) Der bei der Ejfigbildung ablaufende chemijche Proceß ift eine 
einfache Oxydation des Alkohol, bei welcher verjelbe unter Anfnahme 
von Sauerftorf und Abgabe von Waſſer ſich Direct (nad) einigen An- 
gaben unter Bildung von Aldehyd als Zwijchenjtufe) in Eſſigſäure um« 
wandelt. Daß dieſer Proceh ohne Mitwirkung eines Organismus ftatt- 
finden fann, nur dur innige Berührung des Alfohold mit dem 
Sauerftoff der Luft herbeigeführt, lehrt in eclatanter Weije der be 
fannte Döberein'ſche Verjuh, bei welchem Alkohol tropfenweije in 
Platinmoor (fein vertheiltes Platinametall, welches den Sauerjtoff der 
Luft in großen Mengen abiorbirt und condenlirt) gebracht wird und 
fich, bier augenblidlih in Eſſigſäure umwandelt. Dies Verfahren joll 
nah Stohmann einmal fabrifmäpßig zur Gewinnung von Eſſigſäure 
betrieben worden jein. — Die jet im Deutjchland faſt allgemein ge 
bräuchliche „Schnellejligfabrifation“ befteht im Wejentlichen darin, dat; 
man verdünnte, nicht über 10 p&t. haltende alkoholiſche Flüſſigkeiten 
langjam über Hobelipähne fliegen läßt und jomit in dünnen Schichten 
dem Einfluß des Yuftjaueritoffs ausſetzt, durdy welchen der Alkohol in 
Eſſigſäure umgewandelt wird. Die Trage, ob dieje Umwandlung bier 


unmittelbar erfolgt, oder ob auch bier die Mitwirfung der Eſſigmutter 
(791) 


30 


erforderlich ift, bedarf noch der endgiltigen Entſcheidung. Liebig 
leugnete eine jolhe Mitwirkung und gab an, daß er an den bei ber 
Scnellejfigfabrifation benugten Holzjpähnen jelbit nah 25jährigem 
Gebrauch mikrojfopiich feine Spur von dem Mycoderma aceti habe 
nachweijen können. Pafteur nimmt im Gegentheil an, dab die Holz. 
ipähne nur die Träger für die Vegetation der Eijigmutter darftellen, 
und daß dieje leßtere gerade wie bei der Weinejligfabrifation das wirf. 
jame Princip darſtelle. Für diefe Pafteur’ihe Auffaffung jpricht die 
Thatſache, daß die Schnelleffigfabrifation nicht gelingt, wenn man reinen 
verbünnten Alkohol benußt, jondern nur dann, wenn demjelben etwas 
ſchon fertiger Ejfig beigemengt wird. Wenn fih Pafteur’s Anjhauung 
als richtig ermeift, jo würde der Unterichied zwijchen der Weinejjig- und 
der Schnellejligfabrifation nur darin beftehen, daß bei der eriteren der 
nüglihe Pilz als Gulturpflanze rationell gezüchtet wird, bei der 
leßteren nicht. — 

10) Dieſes Blaumwerden der Mil, weldyes in der Regel nur 
ſporadiſch als zufällige Verunreinigung auftritt, findet fi in mancher 
Gegend, namentlich in Norddeutfchland, jo häufig, daß es geradezu eine 
Schwere Schädigung der Mildhproducenten bedingt. Namentlich find es 
die Fleineren Wirthichaften, welche davon befallen werden und wenn nicht 
geeignete Mittel (Desinfection der Milchgefäße und Aufbewahrungs- 
räume) angewandt werden, lange Zeit darunter leiden können. So 
werden Fälle berichtet, in welchen der Proce über ein Sahrzehnt in 
einer MWirthichaft gedauert hat, ohne durch die damals gebräuchlichen 
ungenügenden Gegenmittel bejeitigt zu werden. Wegen des oft plöß« 
lichen Auftretens und ebenjo plötzlichen Verſchwindens der Blaufärbung 
war dieſe Griheinung früher vielfah Gegenftand abergläubijcher Furcht, 
man bezog fie ebenjo wie die durch den micrococcus prodigiosus 
(gleichfalls ein Bacterium) hervorgerufene Rothfärbung von Brot, 
Dblaten ꝛc. auf die Einwirkung überirdiiher Mächte und ſuchte fie 
durch Zauberjprüche und ſympathetiſche Mittel zu bannen. — ä 

11) Die vorftehende Schilderung entipricht den von Cohn an— 
geftellten Unterfudhungen, (Beiträge zur Biologie der Pflanzen I. 3 p. 
188 ff.), welche ſich zunädit auf die Bereitung von Schweizerfäfe be 
ziehen. Daß analoge durch organifirte Kermente hervorgerufene Gährun» 
gen bei allen Käjejorten vorfommen, kann feinem Zweifel unterliegen, 
und es erjcheint aud) in hohem Grade wahrjcheinlih, daß die Haupt» 
thätigfeit bei der Gährung in allen Fällen den gleichen Organismen 

(793) 


31 





zufält. Damit ift nicht ausgejchloffen, dal; neben dem Clostridium 
butyraceum, weldes die eigentlihe Reifung hberbeiführt, noch andere 
Organismen in vielen Käſeſorten vegetiren, welche bejondere fermentative 
Procefje einleiten und dadurch den betreffenden Käfe den fpecifiichen, 
von anderen Käjejorten abweichenden Geſchmack verleihen. Direct nad 
gewiejen ift ein ſolches Verhalten für den Roquefort-Käfe, welder, nad) 
Pafteur’s Angaben, nur in den natürlicdyen Höhlen des Zurafalfes in 
erfter Güte zu ziehen it, wo eine Schimmelpflanze, das penicillium 
glaucum, in voller Ueppigfeit wuchert und in den reifenden Käfelaiben 
in großer Reichlichkeit ſich anfiedelt. 

Der Proceß des Reifens der Käjemaffe war vielfach Gegenftand 
chemiſcher Unterfuchungen und erregte eine Zeit lang ganz beionders das 
SInterefje der phyſiologiſchen Chemie, da in ihm eine Methode gefunden 
ihien, um den zur Zeit noch jo räthielhaften, aber innerhalb des Or— 
ganismus zweifellos vorfommenden Uebergang von thieriſchem Eiweiß 
in Fett bequemer zu beobachten und jeine einzelne Phajen zu verfolgen. 
Es wurde nämlih von Blondeau (Dingler’s Journal 172, 309) 
die Behauptung aufgeftellt, daß er dur chemiſche Analyjen von rei- 
fendem Käſe eine Zunahme des Fettes auf Koiten ded Eiweiß gefunden 
babe. Spätere Unterjuchungen Braſſier, A. Müller) haben jedoch 
dieſe Angabe als unrichtig erwieſen; es hat fich gezeigt, daß der Fett- 
gehalt des Käſes nicht zu- jondern (durch theilweile Zerjegung unter 
Bildung freier, Fettfäuren) regelmäßig abnimmt. — 

12) Das Blauholz liefert zwar auch in friſchem Zuftande beim 
Abkochen mit Waffer eine gewiffe Quantität von jeinem jpecifiichen 
Farbitoff, dem Hämatorylin. Er enthält aber neben dem Hämatorylin 
in ziemlich reichlicher Menge einen anderen Stoff, das Hämatein, weldyes 
durch Gährung mit faulem Urin iu Hämatorylin umgewandelt wird. 

13) Vgl. die Unterfugungen von Robiquet (Compt. rend. 35, 
p. 19) und namentlih von van Tieghem, nad weldem namentlic, 
ein Schimmelpil; (Asperyillus niger) die Gallusjäure-Gährung ber- 
vorrufen joll. 

14) Die Thatſache, daß durch eine einmal überjtandene Infections- 
franfheit eine Immunität, eine erhöhte MWiderftandsfähigkeit gegen er- 
neute Änſteckung erworben wird, ift nicht nur für die Pocken und die 
Vaccine befannt, jondern fie findet ſich bei einer nicht unbedeutenden 
Anzahl anderer anſteckender Krankheiten in der gleichen Weile, jo z. B. 


bei den Majern, dem Scarlachfieber, dem Unterleibötyphus ꝛc. — Es 
(793) 


32 

ipricht das dafür, daß die Immunität nicht auf beionderen Eigenthümlic- 
feiten der inficirenden Pilze beruht, jondern auf (allerdings zur Zeit 
nicht genauer bekannten) Einrichtungen des menjchlichen und thierifchen 
Körpers, welche ganz verjchiedenartigen Giften gegenüber in der gleichen 
Weiſe functioniren, und von diejem Gelichtöpunft aus ericheinen die 
Verſuche keineswegs auslichtslos, in analoger Weije wie gegen die 
Pocken aud gegen andere epidemiiche Krankheiten durch Präventiv- 
impfung eine Smmunität zu erzeugen. — Solche Verſuche werden 
namentlich von franzöſiſchen Forſchern, in erjter Linie von Paſteur, 
mit großem Eifer betrieben, zunächſt in Bezug auf verjchiedene Thier— 
frankheiten, Milzbrand, Hühnercholera, Schweineſeuche u. N. m. 


(734) 








. Drud von Gebr. linger (2b. Grimm), Berlin, Schönebergeritraße 17a. 


Das franzöſiſche Drama 


in unſerem Jahrhundert. 


— 


Vortrag, 
gehalten zu Baden-Baden, den 13. April 1883 


Iofeph Aarrazin, Dr. phil. 


GH 


Berlin SW. 1883. 


Berlag von Carl Habel. 
(C. G. Lüderity’sche Derlagsbuchhandlung.) 
33. Wilhelm-Straße 33, 


Das Recht der lleberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Sn den Zeiten der gewaltigen Revoluliondftürme war die 
franzöfifche Literatur, die mit Boltaire und Roufjeau die 
Melt erichüttert hatte, in bedenkliche Stodung gerathen. Wäh- 
rend der Giegedzüge Napoleond wurde der Verfall offenbar: 
die Gedanken jchwiegen, da die Kanonen eine jo beredte Sprache 
führten. Der Pulverdampf verhüllte das freie Reich des Ge- 
danfend und ded Schönen. Die Poefie fiechte in den veralteten 
Formen hin, im die fie jeit dem großen Gorneille gebannt war; 
der Echwung und die Unabhängigkeit der Geifter war tief herab- 
gedrüdt. 

Napoleon glaubte, durch künſtliche Mittel und materielle 
Unterftüßung nachhelfen zu können und zu müffen. Er wollte 
feierliche Haltung, würdigen Anftand, vornehme Formen. Darım 
ichlofjen fid) feine bejoldeten Poeten ängftlih an die klaſſiſchen 
Mufter des Zeitalter Ludwigs ded Vierzehnten an. Sie wurden 
die Nachahmer der Nachahmer und verdienen darum den Namen 
Afterklaſſiker. — An äußeren Erfolgen fehlte ed diejen Bie- 
dermännern und ihren antik jein jollenden Tragödien keineswegs. 
Mar doch für das Publifum des Nevolutiondzeitalterd das 
Römertyum mit feinen ftarren Formen ungefähr dafjelbe, was 
für Cromwell's Puritaner die Bibelnamen gemwejen waren! — 
So jehen wir denn auf der franzöfiihen Bühne eine völlige 
Erſchlaffung, ein ängſtliches Fejthalten an der althergebrachten 
Formel, an der jeit anderthalb Sahrhunderten unabänderlidy feit- 


XVII. 429. 1° (797) 


4 


ftehenden Schablone. Die Perjonen eined Dramas bewegten 
fih wie Drabtpuppen oder Scadfiguren. Es gab einen 
König, eine Königin, einen Prinzen, eine Prinzeilin, 
einen Bertrauten, eine VBertraute, bei denen die Fürftlidy- 
feiten ihr übervolled Herz audzufchütten pflegten. Mochte aber 
die Königin Klytämneftra oder Maria Stuart, der König Aga- 
memnon oder Peter der Große fid) nennen, died war für die 
Handlung ziemlich gleihgiltig und für die Ausdrucksweiſe auch. 
Der Scythe und der Türke ſprach jo gewählt und zierlich wie 
ein gebildeter Athener oder Römer, das heißt wie ein Höfling 
Ludwigs ded BVierzehnten mit Allongeperrüde und Galanterie- 
Degen; ja nicht mit Worten des gewöhnlihen Lebens, jondern 
mit fünftlihen Umjchreibungen oder Metaphern und mit einem 
nie nachlaffenden rhetoriichen Pathos. 

Es ift wohl überflüffig zu bemerken, daß dieſe armjeligen 
Nachtreter des großen Gorneille und des vielleicht noch größeren 
Racine mit wunderbarer Zäbhigfeit an der Einheit ded Ortes 
und der Zeit feithielten. In einer und derjelben Säulenhalle 
lebte, liebte, litt und ftarb der Held innerhalb vierundzwanzig 
Stunden; jelbft bei Raynouard, der wenigftend in der Wahl 
des Stoffed von der üblihen Schablone abweichen zu wollen 
jchien, werden die Tempelberren innerhalb vierundzwanzig Stun- 
den vor Gericht geftellt, abgeurtheilt und verbrannt (1805). 

Wie ed um die Lebenöwahrheit und um die lokale Färbung 
ftand, davon möge ein Beilpiel zeugen. Der kaiſerlich fran« 
zöfifhe Dichter Briffaut hatte zur Abwechälung einmal einen 
ſpaniſchen Stoff in Arbeit genommen. Die unerbittlihe Genfur 
machte aber der damaligen Kriege wegen etliche Schwierigfeiten. 
Nach einigem Schwanken fand der Berfaffer einen vortrefflichen 
Ausweg: Da „Babylone“ die nämlidhe Silbenzahl hat und mit 


den nämlichen Worten reimt, wie das mehrfach vorfommende 
(798) 


5 


„Barcelone“, fo wurde flugd vermittelft einiger Federftriche die 
Handlung nad Afjvrien umd in die Zeit Ninus ded Zweiten 
verlegt. An den klangvollen Tiraden und prächtigen Phrafen 
brauchte der Berfaffer der nunmehr Ninud II getauften Tragödie 
wenig zu ändern.!). 

Aus diejer geiftigen Gefangenichaft jollte Frankreich duürch 
eine Frau befreit werden. Madame de Stasls Werk „über 
Deutſchland“ wurde trog aller Unvolllommenheit und Ein- 
jeitigfeit eine Art Offenbarung für dad franzöſiſche Publikum. 
Mit erftauntem Blide ſchauten die Franzofen zu der geiftigen 
Höhe empor, zu weldyer fidy das Nachbarvolk heraufgeſchwungen, 
über deffen Scidjal fie unumjchränft zu gebieten hatten; die 
Gröbe eined Schiller, eines Göthe trat ihnen lebendig vor Augen. 
Die Befiegten hatten einen Vorſprung gewonnen. 

Ganz unbefannt war allerdings Schiller nicht geblieben. 
Seine „Räuber“ waren während der Schreckenszeit im 
Paris aufgeführt worden und hatten einen jo mächtigen Ein- 
drud hervorgebradyt, dat der Nationallonvent ed für angemejjen 
bielt, dem deutſchen Gefinnungsgenofjen jeine Anerkennung zu 
zollen. Es erhielt der „deutihe Publiciſt Gille (sic!) das 
franzöfiihe Ehrenbürgerdiplom. Schiller's reifere Dramen da— 
gegen waren jo gut wie unbefannt. Jetzt wurden fie durdy die 
mutbige Frau von Stasl, die Verfaſſerin des bitter verfolg- 
ten Werfed „über Deutjchland“, ein Gemeingut aller Gebildeten. 
Nady dem Sturze des allmächtigen Cäjaren wurde eine gute 
Ueberjegung der Maria Stuart (von Pierre Xebrun) in der 
Hauptftadt aufgeführt (6. Mär; 1820); dad Stüd erlebte in 
Jahresfriſt fünfzig Vorftellungen. 

Neben den Deutichen übten die Engländer auf die weitere 
Entwidelung der dramatijchen Literatur einen mächtigen Ein- 


flug. Man lad Shakſpere in der verwäflerten Ueberarbeitung 
(199) 


— 
Ducis' und in der ſehr mäßigen Ueberſetzung Letourneur's, 
man ſchwärmte für Walter Scott und verſchlang Byron's 
Corſar. Neued Leben und neuer Saft begann in der fränfeln- 
den und ſiechenden Literatur zu freijen. 

Nachdem der Pulverdampf von Waterloo ſich verzogen, 
begann dad literariiche Leben erft ſchüchtern, dann immer ent» 
Ichiedener fid) im niedergejchlagenen Frankreich zu regen. Die 
Jugend, die den erften Napoleon „mit feinem marmornen Cä— 
jarenantlig, jeinen unbewegten Augen und feinen unnahbaren 
Herrſcherhänden“ hatte vorbeireiten jehen, mußte zwijchen der 
fturmbemegten Vergangenheit und der grauen Einöde der Ge— 
genwart einen Vergleich ziehen.) Die Leute, die unter dem 
Donner der fiegverfündenden Kanonen groß geworden, deren 
Väter auf den Schlachtfeldern Europa 8 geblutet, wurden von 
tiefem Ekel über das reaftionäre Treiben erfüllt. Das junge 
Geſchlecht verachtete die Gegenwart und blicte ſehnſuchtsvoll nad) 
den vergangenen Zeiten hin. Mit der gleichen Begeilterung, 
mit der ihre Vorgänger Geſchichte gemacht hatten, warf ſich die 
Jugend der zwanziger Jahre auf die Literatur. Der Hab ger 
gen alles Eintönige, gegen den fteifernften und zopfigen Bours 
geoid wurde dad gemeinfame Feldgeichrei, wie ein Menjchen- 
alter zuvor der Kriegdruf gegen den Philifter in Deutichland. 
Die rein abitrafte Geiftesrichtung, die bis zur Revolution im 
Denken und Schaffen hervorgetreten war, machte langjam einer 
glühenden Borliebe für das Konfrete und finnlich-Anſchauliche 
Platz. Man fuchte und begehrte Bruch mit allem Herfümms 
lihen; man verherrlichte das Urwüchfige und Unbemwußte in der 
Kunft; man ſchwärmte für Farbe und Leidenſchaft, Mittelalter 
und Ritterlichkeit. Man hatte durch die Revolution mit der 
Bevormundung gebrodhen und wollte nun auch auf der Bühne 


Revolution jpielen und Freiheit erfämpfen. 
(800) 


27 

Trotz ſeines ehrlichen Strebens und ſeiner Zugeſtändniſſe 
hatte ſelbſt Caſimir Delavigne beim heranwachſenden und 
mächtiger werdenden Jungfrankreich nicht Fuß zu faſſen vermocht. 
Die fortlaufende Reihe ſeiner Tragödien von 1819 ab bis zur 
Julirevolution giebt in der That ein merkwürdiges Thermometer 
ab für den Fortſchritt der romantiſchen Ideen, 3) Delavigne wurzelt 
aber in der Form und in der Auffaflung noch ganz und gar 
im Jahrhundert Ludwigs de XIV. Darum ift auch er ein 
Anachronismus. Denn ed war durch die Revolution die von 
Grund aus erneute Gejellichaft aus ihrem bleiernen Scylafe er- 
wacht und fie verlangte eine völlig neue Literatur. Man haßte 
die Reaktion und den Klaifizidgmus. Beide mußten von ihrem 
morſchen Throne gejtürzt werden. 

Das Boripiel zum Sturze der klaſfiſchen Göbenbilder war das 
Auftreten einer engliihen Truppe mit Shafeipererepertoire in 
Paris jelbft. Der erite Verſuch war 1823 mihlungen. Die 
Klaffifer hatten ohne Mühe an den Batriotiömud der Befiegten 
von Waterloo appellirt. Bier Jahre darauf famen die Söhne 
ded perfiden Albion wieder (1827). Die neuen Ideen hatten 
unterdefjen Boden gewonnen, die Meberfättigung mit klaſſiſchen 
Phraſen war größer geworden, dad Gaftipiel war diesmal von 
Erfolg gekrönt. Cine neue Welt bewegte ſich auf der Bühne. 
Dthello und König Lear ſprachen eine andere Sprache ald die, 
welche ſeit bald zwei Jahrhunderten von der Bühne herab er- 
Hang. Der Gegenjat zwijchen der blafjen Unnatur der Nach— 
treterRacined und der tragiichen Größe des „barbariſchen“ Britten 
trat lebendig hervor. Nicht durch die regelmäßig fortichreitende 
Handlung waren die Charaktere beftimmt, jondern aus diejen 
jollte die Handlung bervorfließen. Die Charaktere waren das 
wejentliche und beftimmende Moment. Died hatte in Deutich- 


land der Stürmer und Dränger Xenz*) zuerft empfunden, wenn 
(301) 


8 


er rief: „Nicht die Handlung ift im Drama die Hauptſache, 
fondern der Charafter!“ 

Kurz nach diefem Gaftipiel der Engländer und jedenfalld unter 
dem friihen Eindruck defjelben jchleuderte Bictor Hugo dad 
Kriegämanifeft der Romantifer hinaus in die Welt. In dem 
Vorwort zu feinem Eritlingsbrama Cromwell faßte der fünf: 
undzwanzigjährige Süngling, der ald Lyrifer bereits gewaltiges 
Aufſehen erregt hatte, die Gejammtheit der romantijchen Lehren 
in euerworten zufammen.°) Das Drama felbft war nicht zur 
Aufführung beftimmt. Der große Talma, für den der junge 
Dichter Cromwell's Rolle geichrieben, war todt, und fo hatte Hugo 
dad Stüd zu fiebentaufend Verſen anjchwellen laffen, ohne 
feiner Muſe Zügel anzulegen. 

Das Wichtigfte in diefem Manifeſt ift, dab Hugo bie drei 
alten Einheiten der klaſſiſchen Periode mit glänzender Ueber- 
zeugungdgabe über den Haufen wirft und ſchlagend nachweift, 
dab Theoretifer wie Boileau die Schale mit dem Kerne ver- 
wechſelt. Wie Göthe*) läßt er nur eine Einheit beftehen, das 
Faßliche, weil Auge und Geift nur etwas Zujammengehöriges 
mit einem Male aufzunehmen vermögen. Darum erflärt Hugo 
dad Drama für einen „Lonzentrirenden Spiegel, welcher weit 
entfernt, die Farben und das Licht zu ſchwächen, die farbigen 
Strahlen vielmehr jammelt und verdichtet, und aus einem 
Lichte eine Flamme macht.“ — Bor allem jei im Drama Wa: 
turwahrheit und Eharafter zu eritreben. Denn dad Drama 
umſchließe alle Elemente des Lebens, den Geift ebenjo gut ala 
den Körper, dad Unjchöne und Wunderliche (grotesque) neben 
dem Schönen und Erhabenen. — Die Naturwahrheit glaubt 
Pictor Hugo durch Zufammenzwingen der äußerften Endpunfte 
des Natürliben erringen zu fönnen: daher findet man bei ihm 
nur zu oft neben malerischen Kontraftwirkungen auch gezwungene 

(803) 


und fünftliche Antithefen. Die Antitheje ift überhaupt Hugo’s 
charakteriſtiſchſtes Merfmal. 

Man fieht, das Manifeft bietet mandyen Angrifföpunft und 
enthält, wie jo manches bei Hugo, viel phraſenhaftes. Aber 
fein größtes Verdienft ift, die Thore der Kunft erweitert, und 
die falte, hergebrachte Form, die verrofteten und verrotteten 
Theorien mit wuchtigem Hammer zerjchmettert zu haben. „Weg 
mit der alten Gypstünche, weldye die Fagade der Kunft verun- 
ftaltet! Weg mit den Fünftlichen Regeln und Formeln! Es giebt 
feine anderen Regeln, als die allgemein giltigen Geſetze der Na- 
tur.” Wie alle ſich vergeiftigt, jo darf ed auch endlich die 
Kunft thun. 

Das erite Treffen lieferten die fühnen Neuerer mit einer 
vollendet jchönen Webertragung Othello's, die Graf Alfred 
de Vigny im Jahre 1829 auf der Haffiihen Bühne des 
Theätre-Frangais zur Aufführung brachte. Die Niederlage war 
graufam. Bei der Scene, in welcher der Mohr von Desdemona 
dad Taſchentuch zurüdbegehrt, lachte das Publikum über das 
unglüdielige Wort „mouchoir* laut auf, anftatt zu beben. Die 
Klaffifer huben ein wüthendes Zijchen an, und das Stüd war 
durchgefallen. Denn als die Romantifer Othello wie eine Pflanze 
des Auslands in franzöſiſche Erde zu ſetzen verjuchten, hatten 
fie die fremdartigen Wurzeln und die franzöfiiche Nationaleigen: 
thümlichkeit nicht beachtet.” ) 

Dieje verlorene Schlacht entmuthigte die Romantifer nicht. 
Sie waren von ihrer künſtleriſchen Miffton zu jehr durchdrungen, 
von dem umaudbleiblichen Erfolge zu jehr überzeugt, ald daß 
fie ſich hätten verloren geben jollen. Sie ſammelten ihre Kräfte 
zur Revanche, und der jugendliche Feldherr jelbft wollte noch im 
nämlichen Sabre feine Garden ind Treffen führen. 

Kurz vor Dtbello’8 Durchfall hatte ein romantijhe8 Drama 


(803) 


10 


auf dem Theätre-Frangais einen durdyichlagenden Erfolg er» 
rungen. Verfaſſer war ein junger Kreole, wie Hugo ein Sohn 
eined der Paladine Napoleons, ed war — der jpäter zum Leje- 
futterfabrifanten herabgejunfene Alerander Dumad. Das 
Drama behandelte die Geſchichte Heinrichd ded III. Neu war 
der Stoff nit. Denn ed hatte einer der hervorragenditen Mit- 
arbeiter am „Globe“®), der gelehrte Hiftorifer Vitet, bereits 
mehrfach Begebenheiten aus der vaterländiichen Geſchichte ohne 
äußere Zutbhaten zu dramatifiren und fo die Geſchichte ind Le- 
ben zu überjeßen geſucht. Die Charaktere der Könige Heinrich II 
und III bei Bitet werden vom genialiten Hiftorifer der 
romantiichen Schule, Georg Brandes, mandyen der unfterblichen 
Geitalten der Shakſpere'ſchen Königsdramen ald ebenbürtig an 
die Seite gejtellt.°) Das Volksleben in Vitet's „Barrifaden“ 
vergleiht Schmidt-Weißenfels!0) mit Wallenftein’d Lager. — 
Nach einem ſolchen Vorgänger waren für Dumas die Pfade 
geebnet. Der 11. Februar 1829, der Abend der eriten Auffüh- 
rung Heinrichs ded III, war für die Romantik der erjte drama— 
tiſche Erfolg. Mit fteizender Kraft entfaltete fi) dann Dumas’ 
iprudelnded, originelled und unvermwüftliches Talent in mehreren 
Dramen, von denen die Ehriftinentrilogie dad bedeutendfte 
if. Er wurde das Schoohfind ded Parijer Publitums. Nadye 
dem Hugo mit jeinem Hernani den Sieg der neuen Richtung 
über die veraltete und verfnöcherte entichieden, brachte Dumas 
in dem großartig angelegten Schauer- und Effeftitüf Antony 
(1831) den romantischen Paroxismus mit allen Auswüchſen feiner 
tollen Phantafie auf die Bühne. Hier verließen die Roman- 
tifer den Boden ded Mittelalterd, um ganz in der Gegenwart 
aufzugeben. Hier kamen die Gefühle und Stimmungen zu 
Worte, die alle Zuhörer mächtig bewegten. Daher der große Er» 
folg, der uns fühleren Menſchen faft fo unbegreiflidy dünft, als 


(804) 


das Aufiehen, welches in den erregten Zeiten der jungdeutichen 
Beitrebungen Laube mit jeinem heute belächelten Monaldeschi! !) 
machte. Dumas ſprach eben, wie fpäter Laube, die den Tag 
beherrjchende Tendenz aus. 

Alsbald nad) Vigny's Niederlage (1829) hatte Victor Hugo 
fih in verjchiedene Stoffe aud dem Mittelalter verjenft, um 
Ichließlich bei der Zeit Richelieu’d ftehen zu bleiben. Ende Mai 
entwarf er Marion Delorme; neunzehn Tage jpäter wareı 
drei Alte fertig, und am 27. Zuni ftand dad Drama vollendet 
da.12) Die Auffafjung ded Tragiſchen ift in diefem Stüde, 
wie in allen Drawen Hugo’d, eine ganz neue und eigenartige. 
Ausgehend von dem neu aufgeftellten Grundfaß der äfthetiichen 
Berechtigung des Unſchönen nimmt ſich der Dichter eine Menſchen— 
feele zum Bormurf, die durch Knechtſchaft, Elend, Laſter und 
ichlechte Triebe entwürdigt und erniedrigt, doch noch einen Fun— 
fen in fidy bewahrt, der fih zum Guten und Edlen anfachen 
läßt und das bdüftere Innere mit befjeren Regungen erfüllt. 
Geläutert ftrebt die vordem unreine Seele zum Edlen und Er- 
habenen empor, fann fidy aber zu der vollen Höhe der unbefann- 
ten Gefilde nit aufſchwingen. Ermattet und überwunden finft 
fie in die Nacht ihres früheren Zuftandes zurüd. — Marion 
Delorme iſt eine Dirne, die hundertmal ihre Gunft dem eriten 
Beften, oder dem Meiftbietenden verkauft hat. Aus dem Sciff- 
bruche ihrer Tugend hat fie dad Wrad eines fühlenden Herzens 
gerettet; fie wird von reiner und keuſcher Liebe zum edlen Di- 
dier erfaßt, umd dies Gefühl läutert ihr Inneres. Unerfannt 
lebt fie an Didierd Seite und glaubt ſchon die Morgenrötbe 
eined neuen Lebens anbrechen zu jehen. Da greift des Scid- 
ſals unerbittlihe Hand gewaltfam ein. Didier hat fidy gegen 
das drafonifche Zweifampfgefeß vergangen und ift dem Tode 


geweiht. Um ihm zu retten wird Marion wieder, was fie ge- 
(805) 


12° 





wejen: fie giebt fidy dem Richter hin, aber vergebend. Didier 
ahnt das Dpfer, weldyes ihm gebracht worden und zieht den 
Zod vor. — Tragiſche Größe fann man diefemfeigenthümlichen 
Gedanken nicht abſprechen. Wie ein rother Faden zieht er 
überall fi) durdy Hugo's geniale Schöpfungen hindurch. 

Indeſſen machte die Cenſur dem jungen Dichter einen Strid) 
durch die Rechnung. Daß dad Stüd unmoraliſch war, — nicht 
mit Unrecht erblidt ein deutjcher Kritifer in Marion den Ur- 
typud der reuigen Buhlerin auf der Bühne, der modernen Da- 
men mit und ohne Kamelien, — darüber hätte fidy die Genfur 
Seiner Majejtät Karld des Zehnten hinweggejegt; aber daß ein 
Ahne des Könige, dab Ludwig der XIII in jeiner ganzen Nich— 
tigfeit dargeitellt wurde, died ging unter feinen Umftänden an. 
Marion wurde polizeilih verboten, und der Direktor des 
Theaterd, der für den fommenden Winter auf die Zugkraft des 
Namend Hugo gerechnet, befand ſich in feiner geringen Ver— 
legenheit. Der Dichter aber trug fidy ſchon mit anderen Plä- 
nen, andere Geftalten lebten in feinem gewaltigen Geiſte. Er 
jagte dem Direktor Taylor: „Kommen Sie am erften Dftober 
wieder; vorher jollten doch die Proben zu Marion nicht be- 
ginnen.” — Den erften Oktober fand fi) Taylor ein und nahm 
aus Hugo’d Hand ein Manuffript entgegen mit dem Xitel: 
„Hernani“.13) Died war dad neue Drama, und mit diejem 
jollten die Romantifer den entſcheidenden Sieg erringen. 

Der Tag der erften Aufführung Hernanid hat in den 
Theater-Annalen einen unauslöſchlichen Eindrud binterlaffen, und 
die Schladyt, die am 25. Februar des blutigrothen Jahres der 
Zulirevolution gejchlagen wurde, hat ihre Geidyichtjchreiber ge- 
funden. 

Ein paar Afterflaffifer, die gewöhnlichen Lieferanten 


Theätre-Frangais, ſahen mit Schmerz die freiheitlichen Regun- 
(806) 


13 


gen innerhalb der Verwaltung ihrer altgewohnten Abjaßquelle. 
Sie hatten fi) entichloffen, dem Unheil und der Verderbniß 
nad) Kräften zu jteuern, und hatten bereits im Jahre zuvor beim 
Könige eine Bittſchrift eingereicht, auf daß jeglihem „mit Ro» 
mantismus bejudelten Drama” die Bühne des Theätre-Frangais 
verjchlofjen bleiben möge. Die Antwort, die der ſonſt nicht jehr 
kluge Karl X den Bittftellern Souy, Baoursformian, Arnault 
und Co. ertheilte ift nicht übel, er jagte: im Theater habe auch 
er nur feinen Pla im Parterre. Gleihwohl war aud für 
Hernant die Cenſur ſehr widerhaarig, und der Dichter mußte 
den Pedanten faſt Vers für Vers abringen. 

Endlich brady der große Tag an, auf den ganz Paris fieber- 
haft gejpannt war. Hugo hatte auf die üblihen Glaqueurs 
verzichtet, welche jonft den umentbehrlichen Faktor zu jedem 
äußeren Erfolg abgeben.1*) Denn für dieje bezahlten Mieth- 
linge ftand ihm die ganze ftudirende Jugend zu Gebot und 
Alle, die den Zopf, die" Pedanterie, den Philifter und das Aſch— 
graue verabjcheuten. Unerjchütterlidy jtand diefe Sugend zu dem 
jugendlichen Reformator. Denn fie fühlte den Puls der neuen 
Zeit in ſich ſchlagen. — Schon durdy ihr abjonderliches Aeußere 
ſuchten die Studenten und Kunftjünger ihren Gegenjag zum 
wohl frifirten und rafirten, Brad» und Eylindertragenden Spieß« 
bürger jcharf und flott, zu marfiren. Sie ftolzirten mit lömen- 
ähnlichen Mähnen und ftruppigen Bollbärten einher und trugen 
Schnürröde mit Robejpierreweften, ſpaniſche Mäntel zu Sammt- 
barettö; daher die Verachtung der wohlhäbigen Klajfifer für die 
„Bande ſchmutziger Kandftreicher" die den Generalftab der Ro— 
mantifer bildeten.1>) 

So fand fidy denn bereitd um die Mittagsftunde des fünf» 
undzwanzigften Februar die ſeltſame Scyaar an den Thüren des 
flaffiichen Mujentempels ein, um ja zuerft an Ort und Stelle 


(807) 


und getreu auf dem angemiejenen Poiten zu fein. Sobald die 
Thore ſich aufgethan, vertheilten ſich die Kunftjünger im Saale; 
die Kerntruppen faßten unter Anführung von Theophil Gau: 
tier im Parterre Pofto. Zur Feier ded Taged und zum Nerger 
der Philifter hatte fich Gautier eine ganz bejondere Tradıt aus: 
gedadyt. Er prangte in einer Follerartigen blutrothen Atlasweſte, 
— Roth war für ihn das Sinnbild des Blutes, des Lebens und 
der Wärme — mozu ein mattgrüned Beinfleid fam.!®) 
Wie ein jugendlicher Feldherr jtand er inmitten feiner tobenden 
Janitſcharen, von denen Keiner mehr ald zwei Decennien zählte. 
Es waren lauter Namen, deren-fich die Gefchichte jeitdem be— 
mächtigt hat, Petrus Borel und Balzac, Gerard de Ner- 
val und Berlio;, Theophil Gautier und Delacroir, 
Nantenil und Deveria, Dichter, Maler, Mufiker. Bald 
ftellten fich audy die feindlichen Truppen ein, und der Speftafel 
ging mit den erften Verſen los. Die „Glatzköpfe“ brüllten, 
zilchten, trampelten, um das „ſchmutzige“* Stüd durchfallen zu 
laffen; aber die haupthaarummallte Jugend brüllte noch lauter, 
applaudirte bei jedem Vers und prügelte wader auf die hihig- 
ften der Klajfifer los. Fünfzig Abende hintereinander wieder: 
holten fid) die nämlichen Scenen, fünfzig Abende fanden fich 
die freiwilligen Glaqueurd ein, um die längft befannten Berje 
ihres Abgotted zu bejubeln. Schließlich war ihr Sieg unbe: 
ftritten. Die Gypsfiguren der Klaſſiker lagen durch ihrer Fäujte 
Wucht zerfchmettert zu Boden. 

Die Geftalten ded Dramas find in diefem Drama wie immer 
bei Hugo nur in Umrifjen, aber mit gewaltigem und fraftvollem 
Griffelgezeichnet. Hernani ift dereinzige Sproſſe eineö uralten jpa= 
niſchen Geſchlechts, fein Vater hat auf dem Schaffot verbluten 
müfjen; er iſt verfehmt und vogelfrei, er ift Rebell und wird 
zum Bandit, wie Karl Moor. Sein Zwed auf der Welt ift, 


(808) 


15 


jeined Vaterd Tod zu rächen, und „vom Scidjale gezeichnet 
muß er unaufbaltfam diefen Weg wandeln.” Der heldenmüthige 
Bandit liebt Dona Sol; diefe will ihm überall hin folgen, 
und fein eben mit allen Gefahren und Entbehrungen theilen. 
— Der jugendlihe Monarch, nachmals Kaijer Karl V., widert 
und anfangs förmlih an. Er verichmäht nicht rohe Gemalt, 
um ſich in den Befig Dona Sols zu feßen, er ift einfach ein 
Wüſtling. Nach und nad läßt ihn indefjen der Dichter fteigen. 
Seine heftigen Leidenschaften werden durch die hohe Sehnſucht 
geläutert, Großes zu leiften und Karl dem Großen nadhzueifern. 
Der Riejenmonolog vor der Kaijergruft ift ein Meijterwerf der 
Lyrik und der Rhetorik, wie jehr auch unfähige Kritifafter darüber 
ihimpfen mögen,!?) und wir bewundern mit Georg Brandes 
den hiſtoriſch-politiſchen Genieblid, der und auch beim einund- 
zwanzigjährigen Schiller in Fiedco in Staunen verjegte. Hört 
man nidyt in folgenden Worten den Donner der nahenden Juli— 
tage grollen? 

„Mag eine Idee von Bedürfniß der Zeit getragen 
eined Tages and Licht fommen, jo verkörpert fie ſich, 
wählt unaufbaltfam und ergreift die Herzen Aller. 
Mandy ein Fürft fnebelt fie und tritt fie mit Füßen. 
Aber wenn fie einmal Eintritt in den Fürftenrath oder 
in dad Konflave erhält, dann jehen die Fürften plöß- 
ih die Sdee, die eben noch Sklavin war, hoch über 
ihren gefrönten Häuptern thronen, die Weltfugel in der 
Hand, die Tiara um die Stirne,“ 

Sp reift König Karl der Kaijergruft gegenüber zu einem 
Fürften nach Hugo's Ideal. Sobald er Kaijer wird, weiß er 
zu verzeihen und zu entjagen: 

„Srliih denn Du, mein flammend Herz! 
Den Kopf laß herrichen, den Du lange ftörtelt. 


(809) 


Denn Deine Herrinnen, Deine Geliebten ad! 
Sie heißen Deutichland, Spanien und Flandern.“ 

Mit einem Blid auf das Reichsbanner neben ihm fügt er 

binzu: 
„Der Kaifer ift dem Adler auf dem Banner gleich: 
An Statt ded Herzens trägt er nur ein Wappenjchild!“ 

Der unheimliche Greid Don Ruy Gomez, der feine Nichte 
Dona Sol mit. jugendlich heißer Inbrunſt liebt, erfcheint als 
Sinnbild des unerbittlihen Geſetzes caſtillaniſcher Ehre. 
Hernani hat ihm in einer jchweren Stunde gejchworen, er wolle 
fterben, wenn Gomez ed befiehlt, und Gomez kommt, unbarm- 
berzig wie Shylod, um des Bräutigamd Leben zu fordern. 
Das Geſpräch der endlidy vereinten Liebenden auf der Schwelle 
der Brautfammer, die fie nie betreten jollen, die Miſchung bed 
ganzen Entjeßend ded Todes mit einem Glüd, daß jo groß ift, 
jo ernft, dab ed „eherne Herzen erforderte, um ſich hineingraben 
zu können,” das jelige Vergefjen der Vergangenheit über dem 
lichten Frieden des Augenblids, das find Momente von er— 
greifenditer Wirkung, wie fie vielleicht einzig in der dramatiſchen 
Literatur daftehen. 

Als Kunſtwerk betrachtet ift bei alledem Hernani nicht 
vollfommen zu nennen. Es fehlt die überzeugende Darjtellung 
einer relativen Berechtigung jedes der ſich befämpfenden Prin- 
zipien, es fehlt die innere Wahrjcheinlichfeit. Der Kampf ge- 
ichieht mehr durch Neden als durdy lebendig bewegte Handlung. 
Daß der Held fällt, dab er fallen muß, jollte niht allein durdy 
den krankhaft übertriebenen Ehrbegriff begründet jein, defjen 
Dpfer er wird. Der aufmerfjame Beobachter wird ähnliche 
Mängel bei allen Stüden ded Meiſters finden. 

Was wir zu den beiden früheften Dramen Hugo's Her— 
nani (aufgeführt 25. Februar 1830) und Marion Delorme 


(810) 


17 


jagten, (nady der Revolution erft aufgeführt, Auguft 1831) läßt. 
fih für alle zehn wiederholen. Die Hauptjache ift bei jedem 
der Born ded lyriſchen Pathos, der reichlich quillt, jobald die 
erniedrigte Menfchenjeele durch eine edle Leidenichaft aus dem 
Sclamme der Verworfenheit fi) emporhebt. In den zwei fols 
genden Stüden tritt diejer Gedanke und dieſe Antithefe jehr 
deutlicy hervor. König amüjirt ji, zum erften Male aufs 
geführt den 22. November 1832 und dann aus politiichen Grün- 
den verboten,!®) ftellt ein Scheufal an Körper und an Seele 
dar, den Hofnarren Sranz des J. Triboulet, der bei allem 
Haß gegen die Menjchheit durch reines, jelbitlojes Vatergefühl 
unjere Theilnahme erregt. In Lucrezia Borgia, innerhalb 
ichd Wochen nady dem verpönten Stüde gejchrieben, bringt 
Victor Hugo die finftere Gourtijane auf die Bühne, in beren 
Adern das Blut von Päbften floß. Dieje Giftmijcherin hat 
einen Sohn, an dem fie mit der Liebe eines Raubthierd hängt, 
und zwar um jo heftiger, ald diejer nicht wiljen darf, daß das 
verhaßte Ungeheuer feine Mutter ift. Trotz diejer Liebe muß 
das Geſchick fi) erfüllen. Der Sohn fügt feiner Mutter eine 
tödtlihe Kränfung zu, und Lucrezia will die Helferähelfer ftrafen, 
den geliebten Gennaro aber jchonen. Sie ladet aljo die jungen 
Edelleute zu einem üppigen Mahle ein, in dem fie jämmtlid) 
vergiftet werden, Gennaro nicht ausgeichloffen. Die Ver— 
zweiflung des Vaters, der feine eigene Tochter unbewußt ers 
mordet, und bier der gewaltihätigen Mutter, die ihren angebeteten 
Sohn vergiftet, pricht bei Hugo eine ergreifende und unnach— 
ahmliche Sprache. 

Der überwiegend Iyrijche Charakter diefer Dramen machte 
fie zur Umarbeitung zu Opernterten jehr geeignet. Schon im 
Fahre 1834 ging im Scalatheater zu Mailand die Oper Lu— 


crezia Borgia von Donizetti in Scene; jpäter mußte „Kö— 
XVII. 429, 2 (811) 


— 
| nig amüfirt ſich“ zu ded Dichters jehr geringer Freude fidy eine 
ähnliche Verwandlung gefallen lafjen und ald Rigoletto dem 
Masſtro Berdi neuen Ruhm und neuen Beifall bringen. 
Auch Hernani hat fi) in Operngewand einhüllen müjjen, und 
diefe drei Dpern gehören nody heute zu den beliebteiten in 
Frankreich. 

Noch im nämlichen Jahre 1833 erſchien Maria Tudor 
(6. November), zwei Jahre darauf Angelo von Padua (28. 
April 1835). Beide tragen jchon den Stempel ded Syitems 
an ſich und jchlafen heute den wohlverdienten Schlaf in den 
Theaterarhiven und in den Bibliothefen. — Noch einmal er: 
hebt fich Hugo zur vollen tragijdien Höhe in dem am 8. No- 
vember 1838 zuerjt aufgeführten Ruy Blas. Xroß der Ueber— 
treibungen und Abjonderlicyfeiten müfjen wir das vielgejchmähte 
Drama!?) für die bedeutendite jceniiche Schöpfung des Meifterd 
nächſt Hernani erklären. Beide Stüde, ſpaniſch durch den Stoff, 
ſpaniſch durch die lebendige Lokalfarbe find die einzigen, die heute 
nod aufgeführt und bewundert werden. Von den umvergleidy- 
lich fchönen Inriichen Stellen, an denen gerade Ruy Blas fo 
reich ift, wollen wir nicht reden, denn fie finden fich mehr oder 
weniger bei jedem Stüde Hugo’. Aber einen Vorzug hat noch 
fein Kritiker hervorgehoben, und der ift unſeres Erachtens für 
die Würdigung ded Stüdes, vielleicht audy für dejjen nachhal- 
tige Wirkung geradezu entjheidend. Der Dichter hat in Ruy 
Blas dem Schöpfer und nie erreichten Meifter ded Dramas 
etwas von jeiner Kunft abgelaujcht, dad komiſche mit dem tra= 
giihen zu verbinden und innig zu durchdringen. Wenn bei 
Shafejpere’8 „Macbeth der Pförtner nach der Mordnacht feinen 
fröhlichen Morgengruß bringt, als ſei nichts gejchehen, jo jcheint 
und die Sronie der fühllojen Natur, die über Menſchenſchickſal 
rubig binweggeht, aus dem Munde ded Mannes zu reden, und 


(812) 


_19 

jo wird die äußerliche Milderung zur innerlichen Steigerung der 
tragifchen Lage. Wenn wir bei Nuy Blad den würdigen Hi« 
dalgo Don Guritan mit feiner platonifchen Liebe zur jugend» 
Ichönen Königin ſehen, — Guritan erinnert ummwillfürlih an 
Gomez, aber nur wie die Karrifatur in dad Porträt; — wenn 
wir an den geringfügigen Vorwand denfen, unter weldem ihn 
die auf feine Galanterie rechnende Königin von Madrid zu ent- 
fernen weiß, — dann wählt Ruy Bla’ hohe Geftalt in unje- 
ven Augen, dann wirkt fein erichütternder Monolog (III. 4) 
womöglich noch gewaltiger. Im ähnlicher Weiſe hat Hugo zwei 
Gattungen des Adeld einander gegenüber geitellt, dem finiter 
berechnenden Schurken Sallufte und feinen frohgemuthen Vetter, 
den äußerlich tief gejunfen, im Herzen aber rein gebliebenen 
Don Cäſar. Diefe Geftalt fonnte nur ein Hugo jchaffen. Sie 
ift iprichwörtlich geworden. 

Die dramatiihe Laufbahn Hugo’ jchließt mit einer 
Mikgeburt, einer Art GSelbftparodie, mit den durdy die 
heinreife (1842) veranlaßten Burggrafen. Der Leſer möge 
und ein auch noch jo flüchtiges Eingehen auf diefe unheimliche 
vielparodirte Trilogie erlaffen; denn die Burggrafen find die 
tollfte Ausgeburt, die jemald eine überipannte Phantafie zum 
Hohn des gefunden Sinned und ded geſunden Geichmades her- 
vorbringen fonnte. Der 8. März 1843 zeigte dem anerkannten 
Meifter des franzöfiichen Theaters, dab er auf feinem Piedeital 
nicht unerreichbar fei. Die Burggrafen machten glänzendes 
Fiasko. Vergebend wandte ſich der bedrohte Dichter an den durch 
ihm unsterblich gewordenen Maler Geleftin Nanteuil und for: 
derte ihm auf, junge Leute berbeizufchaffen, um die ziichenden 
Philifter zum Schweigen zu bringen.?°) Nanteuil, der feit dem 


Hernaniabend jo manche Schlacht für den Meilter mitgeſchlagen, 
2° (813) 


20 


chüttelte jein wallended Haupthaar fund ferwiderte wehmüthig: 
„Es giebt feine Jugend mehr!” 

In der That, das Geſchlecht, weldhed den Romantidmus 
durch Sturm und Drang zum Sieg geführt, das Geichlecht, auf 
deffen Schultern fi Hugo zur Afademie(1841) hinaufgeſchwungen, 
ed war nicht mehr jung. Die flotten Burjchen waren felbft 
Philifter geworden und befanden fid) in Amt und Würden. Die 
Zeit des romantiihen Dramad war vorüber. Frankreich war 
aber aus dem Banne des Klaifizigmud befreit. 

Ehe die Betrachtung ded romantischen Dramas abgeichloffen 
wird, muß nody desjenigen Stüded Erwähnung gejchehen, mit 
dem Graf Vigny für die Dibelloniederlage jeine Revanche nahm 
(1835). Wie Dumad mit Antony den romantiihen Paroxis— 
mus verförpert hatte, jo brachte Bigny die romantijche Elegie 
auf die Bühne. Die Grundidee feines Chatterton ift ähnlidy 
wie die Antony’s, und beide Dramen entjprechen einander wie der 
Kult des Genied dem der Leidenichaft entipricht, wie dad Mit- 
gefühl mit dem Duldenden der Begeilterung für den Handeln- 
den. Der Hauptheld ift der unglüdliche engliiche Dichter Chat— 
terton, der faum 18 Jahre alt aus Verzweiflung ſich umbradhte. 
Der Dichter ift nady Vigny's Auffaffung überhaupt ein höheres 
Weſen, das zu irdifcher Arbeit fich nicht berbeilaffen darf, da— 
mit der göttliche Funfen in ihm nicht erlöſche. Darum greift 
Chatterton lieber zum Giftfläichchen, als daß er eine nach feiner 
Anficht entwürdigende Stellung einnähme, um fein Dafein zu 
friiten, eine Anficht, die heute und höchſtens Achjelzuden ab» 
nöthigt. 

Die erfte Aufführung Chatterton’d geftaltete fich zu einem 
bedeutjamen literariihen Ereignit. Der 2. Februar 1835 war 
nach der Schilderung von Zeitgenofjen?!) für die Romantiker 
ein Sieg, der den 25. Februar 1830 faft in Schatten ftellte. 


(814) 


21 


Die Kompofition ded Stückes ift meifterhaft zu nennen, die 
Handlung hält den Zujchauer in Athem, ja in angjtvoller Be— 
Memmung; aber dad Stüd appellirt fo ausſchließlich ans Mit- 
leid, dab es jenes innere Gleichgewicht verliert, welches man 
audy bei Hugo öfterd vermißt, und ohne meldyed ein dauerndes 
Drama ſchlechthin undenkbar ift. Chatterton und Antony ſchlum— 
mern heute neben Marie TZudor und den Burggrafen den ewigen 
Schlaf. 

So hat denn die romantiihe Schule die großartigen Er: 
wartungen auf dramatiichem Gebiete nicht zu erfüllen vermodht, 
während ihre und ihres Hauptes Triumphe in der Lyrik und 
im Roman unbeftreitbar und aud) unbejftritten find. Die ganze 
Richtung ift eben in ihrem innerjten Wejen ausſchließlich Iy- 
riſch. Wo fie außerhalb der Lyrik felbftgeftaltend eingriff, hat 
fie nur Negatives geleiftet. 

Dody wäre es unbillig, diefe negativen Leiltungen der Ro» 
mantifer zu unterihäßen. Wie Jerichos Mauern dur die 
Pojaunen Joſuas, jo find ja die drei jogenannten Einheiten 
zufammengejtürzt, als Hernani ind Horn ſtieß. Wo faft- und 
fraftlofe Könige mit einem drabhtpuppenähnlichen Hofgefinde 
um die Wette deflamirten, da ftampften die Romantifer eine bunte 
Scaar von Geitalten mit Fleiihy und Blut and dem Boden, 
und riefen dad Mittelalter mit feinen ritterlichen Gepflogen- 
beiten, feinen maleriihen Koftümen wadh. Als die Dramen 
Hugo’8 in friiher Lebenskraft und überjchießender Lebensfülle 
bervortraten, da verjchwanden die künſtlichen Treibhauspflanzen 
und armjeligen Gewächſe eines faljchen klaſfiſchen Stils, 
um nie wieder zu erftehen, und über den Trümmern der ein: 
geftürzten Pagoden tanzten jeine Jünger ihr ausgelaſſenes Bac- 
hanal. Es war eine ſtürmiſch bewegte Zeit. 


(815) 


22 


Sobald die wilde Gährung vorüber, fobald die Julirevo» 
Iution geboren war, hatte der Romantismus jeine hohe Aufgabe 
aud erfüllt. Die Kunft war frei, und ihre Bahnen waren vor: 
gezeichnet. War denn der Romantismus etwas andered, als 
eine Zulirevolution auf geiltigem Gebiete? Das Feldgeichrei: 
„Hie Klaſſiker“ und „bie Romantiker“ war verhallt, Klaſſizis— 
mud und Romantismus von dem gähnenden Abgrunde verichluns 
gen.?2?) Der Bühne war eine andere Aufgabe erwadhlen. 
Bisher war fie politifch bildend und anregend geweſen, 
jet mußte fie ſocial bilden, indem fie die Geſellſchaft mit 
ihren Gebrechen zur Darjtellung bradıte. Die jociale Frage, 
die alles bewegte und belebte, wurde die belebende Muje des 
Drama's der Neuzeit: im Drama wie im Roman iit der 
Romantismus mur ein glänzender Webergang zum 
NRealidmud und Naturalismus. — Urplößlid konnte ins 
defien dad moderne Drama nit aus den Nuinen ded Roman: 
tismus erftehen, obſchon feine Keime bereit in Antony und 
GShatterton verborgen liegen. Cine gemaltjame Reaktion, 
eine vorübergehende Rüdfehr zum Alten mußte auf die wilden 
Ausjchreitungen der neuen Schule folgen. 

Seit Talmad Tod (1826) hatte feine bedeutende Fünft- 
leriihe Kraft die fteifernften Geftalten der alten Tragödie zu 
beleben gewußt. Selbſt Talma jpielte gegen Ende feiner glanz— 
vollen Laufbahn nicht mehr mit voller Ueberzeugung: hatte er 
doch den jugendlichen Victor Hugo aufgefordert, den Grommell 
für ihm zu jchreiben. Seitdem der große Mime nicht mehr 
war, jchienen der Eid und jeine Genoſſen begraben zu jein. 
Ein Judenmädchen wedte dieje Geftalten wieder auf und hauchte 
ihnen neued Leben und neue Anziehungskraft ein. Mit Ra- 
chel's Auftreten ift der Untergang des romantiſchen Drama's 
eigentlich befiegelt: Sphigenia, Phädra, Chimene, Camilla wur— 


(816) 


23 


den von diejer nenialen Darftellerin neu geſchaffen, und das 
Publiftum des Theätre Francais erwachte aud dem Rauſche, 
der alle Sinne befangen. Man fühlte, daß Rachel der Nation 
ein Heiligthum wiedergegeben habe, man fühlte fi vom Terro— 
rismus wilder Willfür befreit. 

Nach Gorneille und Racine famen die todtgeylaubten 
Poeten des napoleonijchen Zeitalterd an die Reihe. Rachel trat in 
Lebrun’d Maria Stuart, in Frau von Girardin’d Judith 
auf, aber nie in einem romantiichen Stüde. 

Mit dem Durchfall der Burggrafen (1843) war der Sieg 
der Reaktion ein vollitändiger geworden, und der geichlagene 
Victor Hugo entiagte der Bühne für immer. — Im nämlichen 
Fahre 1843 geichah etwas Unerhörted. Eine neue „Tragödie“ 
wurde einftudirt; die Kunftgattung war aljo nod) nidyt todt, 
wie man glaubte. Die Titelheldin war Lucrezia, die feuiche 
Nömerin, die nady der Freveltlyat ded Tarquinius fich den Tod 
gab, ein Symbol echter und edler Weiblichkeit. Der jugendlidye 
Dichter Ponſard wurde ald Befreier begrüßt. Ein Flüchtling 
aus dem romantijchen Lager, der Hohbepriefter der litterariichen 
Kritif, Sainte-Beuve, nimmt Lucrezia ald einen Proteft ge: 
gen die Ausichreitungen der Romantit auf und bezeichnet die 
Aufführung derjelben ald einen „achtzehnten Brumaire“ in der 
Literatur. „Denn die romantiihe Schule geht ihrem Ende 
entgegen, eine andere muß zum Durdbrud, fommen. Das 
Publikum kann nur durdy eine große Neuheit aufwachen!“ In 
der That iſt Ponjard’8 Tragödie ein Meifterwerk ſittlichen Ern— 
ſtes und poetifcher Hoheit; der nüchterne Stil hat etwas von 
Gorneille, ift aber mit Hugo durchſetzt. Denn Ponfard hat von 
den Romantifern — vielleicht unwillkürlich — manches gute 
berüber genommen: die Neuerungen im Beröbau, die Uebergänge 


vom deflamatoriihen Pathos zur ungezwungenen Umgangs» 
(817) 


ſprache und vor allem das lebenswarme Colorit. Dagegen tritt 
der Mangel an jelbitgeitaltender Phantafie, der in fpäteren 
Stüden jo auffallend ift, Schon hier ftarf hervor. Man ſah 
aber darüber hinweg. Die gemifchten Charaktere mit ihren 
Gegenjäßen lagen wie ein Alp auf dem Publikum, und fo war 
man froh, eine gejunde und einfache Handlung ſich ruhig ent: 
wideln zu jeben. 

Trotz Rachel und Ponfard konnte indeß die klaffiſche For- 
mel nicht wieder lebendig werden. Ihr Triumph war nur vor: 
übergehend, und die „Schule des geſunden Menichenverftands“ 
— jo nannte man Ponſard's Richtung im Gegenjat zum phan- 
taftiichen Romantidmus — hat auf der Bühne feine dauernden 
Erfolge zu verzeichnen, obſchon Ponfard jelbft aus dem be- 
engenden Rahmen des Alterthums jpäter heraudtrat. In Char: 
lotte Gorday und befonderd in der dramatifirten Pfeiler: 
ipiegelfcene zwijchen Horaz und Lydia ward der Mangel an 
Geſtaltungskraft bei ihm offenkundig. Er wandte fid) dann dem 
danfbareren Gebiete des jocialen Dramas zu, auf dem er mehr 
Glück hatte. 

Neben Ponjard wird die Schule des gefunden Menſchen— 
verſtands durch den Dichter charafterifirt, der heute unter den 
lebenden Dramatifern unbeftritten den erften Pla einnimmt 
und während feiner Lehrjahre fich diefer Richtung angejchloffen 
hatte. Emil Augier (geb. 1820) trat ald Vierundzwanzig- 
jähriger mit dem Gedanken auf, auch auf die Komödie Stil 
und Manier des klaſſiſchen Alterthums zu übertragen, und hatte 
im „Schierlingdtranf” (la Cigus) gejchildert, wie ein blafirter 
Lebemann aus Athen durch die unüberwindliche Macht der Liebe 
zu befjerer Erkenntniß gebracht wird ?3). Nach diejem Ber: 
ſuche ging Augier zur Tragödie über, aber audy bier troß Rachel 


(818) 


25 


ohne rechten Erfolg. Schließlidy trat er in feined Meifterd Fuß— 
ftapfen und wandte fich dem fozialen Drama zu. 

An der nämlichen Einfeitigfeit find aljo die beiden feind- 
lihen Ricdytungen zu Grunde gegangen. Die Romantifer ſowohl, 
als Ponjard und Augier — andere nennenswerthe Vertreter hat 
die neuflaffiihe Schule nicht gehabt, — gingen von der unrich— 
tigen Vorausſetzung aus, die Kunft im allgemeinen ſei nur um 
ihretwillen da und habe mit dem wirklichen Leben nichts zu thun. 
Das Verdienft der reaftionären Schule auf dramatiſchem Gebiet 
befteht darum einzig darin, daß fie den Zeitpunkt bezeichnete, 
wo dad romantiihe Drama und die Mittelalterijhwärmerei ſich 
überlebt hatten und daß fie den Ausfchreitungen der Schüler Hugos 
ein gebieteriihed Halt zurief. Während aber Victor Hugo noch 
heute neben Gorneille und Racine auf der Bühne fidy gehalten 
bat, find die neuflaffiichen Trayödien alle todt und in die Numpel- 
fammer der Piteratur gewandert. Neben dem didaktiſchen und 
dem Heldengedichte ijt die Tragödie überhaupt von der Bildfläche 
verijhwunden. Der Strom der Poefie hat einen ganz andern 
Meg eingeſchlagen?“). — 

Ehe wir uns dem modernen Drama zuwenden, wie ed von 
Paris aus ſämmtliche Bühnen beherricht, dürfen wir einen Mann 
nicht unerwähnt lajjen, weldyer zwar den Titel Dramatifer feines» 
wegs verdient, aber von der Reftauration ab bis in die eriten 
Fahre ded zweiten Kaiferreich8 hinein eine gebietende Stellung 
im Theater Franfreich8 und auch Europas einnahm. Der Leſer wird 
leicht errathen, dab der literariiche Imduftrieritter und Theater— 
lieferant Scribe (1791—1861) gemeint ift. Er ift der Alerander 
Dümas des Theaters, der Schriftfteller, der für Geld alles ſchreibt, 
und ſich Mitarbeiter nimmt, wenn feine Kräfte nicht hinreichen. 
Wie Dumas’ Nomanenbände, jo zählen Scribed Theaterſtücke 


nad) Hunderten, und wie müßige Köpfe zufammengerecdynet haben, 
(819) 


26 


daß Zope de Vega über zwanzig Millionen Verſe jchrieb, jo 
fünnte man für Scribe vielleicht zu einem ähnlichen Reiultate ge» 
langen. Hervorragendes ift in diefem ganzen Kram nichtö vor- 
handen: alles leichte Dußendwaare und flitterartige Kabrifarbeit. 
Mit leichten Poſſen und militäriſchen Spektafelftüden füngt er 
an, um fich jpäter der Berjpottung moderner Mißſtände zuzu— 
wenden. Aber auch hier ftreift er nur den Ernſt des Yebens, 
ohne tief im Ddasjelbe einzutreten wie Augier und Dumas. 
Strebertbum, Gründerthum, Geldheirath, alles wird auf die 
Bühne gebracht, Intriguen und padende Situationen geichidt 
erfunden und gelölt, aber alles ohne Moral. Er jchmeichelt dem 
Geſchmack des Philiſterpublikums, das fidy mit diefen Theater: 
ftücdchen einen angenehmen Abend verjchaffen wollte, ohne ſich 
übermäßig aufzuregen. Man fann aud nach einem Scribeicyen 
Stüde rubig jchlafen, ed iſt ein unterhaltender und verdauungs— 
befördernder Zeitvertreib, weiter aber auch nichts. Durch Taſchen— 
ipielerfunftftüdichen im Dialog weiß er, über die größten Un: 
wahrjcheinlichkeiten jpielend hinwegzujeßen ; man fommt nicht zum 
ernften Nachdenken, und der gute Pariſer Gemwürzfrämer a. D. 
geht nach einem ſolchen Theaterabend mit dem hehren Bemwußt: 
fein nad) Haufe, daß er ſich für feine fünf Franken gut amüfirt 
hat. Man fann Scribe mit Roderich Benedir und jeiner 
Litteratur für den täglichen Hausbedarf vergleichen. 

Man darf jchließlich nicht unerwähnt laffen, daß Herr Scribe 
au für Meverbeer, Auber und Halévy auf Beftellung 
Dpernterte verfertigte. Die Verſe in „Robert dem Teufel”, den 
„Hugenotten”, dem „Propheten“, in der „Stummen von Portici”, 
„Fra Diavolo”, der „weißen Dame”, der „Jüdin“ ftammen aus 
jeiner ergiebigen Feder. Sie find auch danadı. — 

Eine wirkliche Einkehr in das Volksthum unferer Zeit, ein 


wahrer Zufammenhang mit den gewaltigen Veränderungen und 
(8%0) 


— 2 
den erneuten Verhältniſſen unſerer Zeit war dem ſogenannten 
naturaliſtiſſhen oder ſozialen Drama vorbehalten. Seine 
Spuren lafjen fidy jchon bei Diderot und Sebaitian Mercier 
im vorigen Jahrhundert nachweilen, auch die Romantifer haben 
manche Anklänge daran, troß Dumas Deklamation im Antony: 

„Wenn wir verjuchten, mitten in unjerer modernen Geſell— 
Ichaft das Herz zu enthüllen, das unter unjeren häßlichen, uns 
bequemen jchwarzen Röcken jchlägt, dann würde die Uehnlichkeit 
zwilchen dem Helden und dem Publiftum allzu groß fein; der 
Zuſchauer, welcher die Entwidelung einer Leidenſchaft verfolgt 
hat, würde in dem Augenblide Halt rufen, wo fie die Grenze 
überjchreitet, an welcher er jelbit ftehen geblieben, und der Rur: 
„Mebertreibung, Bühneneffekt!” würde den Beifall der wenigen 
Menſchen übertäuben, welche fühlen, dab die Leidenjchaft im 
neunzehnten Jahrhundert diejelbe iſt wie im jechzehnten, und 
dab das Blut ebenjo heiß unter einem Zuchrode wallt, wie 
unter einem Stahlpanzer“ 2°). 

Man darf dreift Diderot ald den eriten Neformator des 
franzöfiihen Dramas bezeichnen und muß ihm das Verdienſt 
zujchreiben, dasjelbe in feine natürlihe Bahnen gelenkt zu 
haben ?*). Nennt dody Leſſing Diderots „Samilienvater“ ein 
Stück, weldyes „in dunkler Nacht Licht brachte und ſich lange, 
wenn nicht immer, auf der Bühne erhalten müſſe“. Obſchon wir 
diefe Aeußerung etwas vorfichtig aufnehmen müfjen, da Lejfing 
durch jeine Feindjeligfeit gegen die Tragödie Gorneilled und 
Racined ſich zu weit hinreißen läßt, jo iſt dody neben dem 
wirflidy ſchwächlichen „Familienvater“ ein anderes Drama Dide— 
rotd von großer Wichtigfeit für die Weltliteratur gewejen, der 
von Göthe überſetzte „Rameaus Neffe". Diderot hatte das 
Stüd 1760 verfaßt, ohne es zu veröffentlichen, jo wenig lag 
ihm an feiner dramatiichen Thätigkeit. Durch Göthes Ueber: 


(821) 


28 
ſetzung wurde es in Deutſchland früher bekannt (1804), als in 
Frankreich?“). Iſt ed da zu verwundern, dab Diderots Stücke 
in des Verfaſſers eigenem Vaterland ohne unmittelbaren Anftoß 
blieben und auch in Deutjchland nur die Vorfahren der thränen- 
vollen Kamiliendramen eined Sffland und eined Koßebue ge- 
weſen find? 

Zwei Stoffe find ed vorzugsweije, die auf dem heutigen 
Pariſer Theater ſich vordrängen, und über die Länder roma— 
niiher Zunge und Peteröburg hinweg auf allen Bühnen der 
gebildeten Welt Einzug gehalten haben: die Geldjpefulation 
und das Gründerthbum in erfter, die jogenannte Halbwelt, die 
Damen mit und ohne Kamelien, in zweiter Reihe. Zwar hatte 
Hugo bereits in Marion Delorme eine Dirne höherer Gattung 
vorgeführt, diefelbe aber wenigftend durch den hiſtoriſchen Nimbus 
und die ritterlidye Umgebung aus dem Kreiſe der gewohnten 
Alltäglichkeit gerückt. Die heutigen Stüde haben ſich dieſes 
Gewandes entfleidet, und feit Auzierd „Olympias Heirath“ (1855) 
it die Halbwelt auf der franzöfiichen Bühne eingebürgert. — 
Die Gründer und Spekulanten nahm zuerit Bonfard aufs 
Korn, nachdem er gejehen, dab er mit feiner neumodijchen 
Tragödie fein Glüd mehr hatte. „Ehre und Geld“ (1854) und 
„Die Börſe“ (6. Mai 1856) find beredte Schilderungen der 
modernen Geiellichaft und ihres Tanzes um das goldene Kalb. 
Am Sclufje wird mit phrafenreicher Moral die ehrliche Arbeit 
gefeiert und der Edelmuth belohnt. 

In diefen Bahnen bewegt fidy faft ausſchließlich dad mo— 
derne Drama in Franfreih, wenn wir von der Poſſe, dem 
Melodrama, und dem patriotiichen Zableau abjehen, das mit 
Dumas „Napoleon“ (1831) anhub und nody heute beliebt ift. 
Serner bleiben die jogenannten Dramen außer Betracht, die von 


unternehmungöluftigen Romanfchriftftellen oder ebenjolden 
(822) 


29 





Theaterdireftoren aus allen möglichen Romanen zujammenge- 
Fleiltert wurden. Die Reihe ſolcher Literaturhändler ift ftattlich 
und weistvon George Sand anbid Jules Verne herabmandyen 
geadhteten Schriftfteller auf. in beliebtes Opfer folder Dra- 
matifirungsverjuche ift Victor Hugo. Daß ſich „Notre- Dame 
de Paris" dramatifiren laffen mußte, ijt noch begreiflih; — die 
Birch-Pfeiffer hat ihren „Glöckner von Notre-Dame“ daraus 
gemadyt; — wie man aber aus deſſen unreifjten Jugendromanen 
auch Theaterftüde verfertigen fonnte, erregt unjer gerechted 
Staunen. Und doch wurde „Han von Island“ den 25. Januar 
1832 auf einer Borftadtbühne, und „Büg Jargal“ im Jahre 1880 
im Chäteau-d’Eau zur Aufführung gebradyt. Zolas jchmußiges 
„Aſſommoir“ hat jogar zweihundert und vierundfünfzig Vor— 
ftellungen hintereinander im Ambigü erlebt! — 

Doch verdienen derlei Theaterftüde die Bezeichnung eines 
Kunſtwerks nicht und entziehen fi) demnach unferer Betrad)- 
tung. Das neuejte Drama fann fügli in den vier Namen 
zufammengefaßt werden: Emil Augier, Alerander Dumas 
der jüngere, VBictorien Sardou und Eduard Pailleron, 
Bon diefen Dramatifern ift der erftgenannte der bedeutendite: 
Augier, der treue Schüler Ponfaros, kann mit Recht von feinen 
Landsleuten Enkel Moliered genannt werden, wenn er auch der 
Abftammung nad) nur — Pigault-Lebruns Enkel ift. 

Augierd Dramen find fein luftiger Zeitvertreib und fein 
weichlicher NRührbrei, ebenjowenig wie Balzacd Romane über 
den Leiften geicylagen find, der damals der einzig gebräudyliche 
war. Sie zeichnen fi aus durd) edle Einfachheit und Durch— 
fichtigfeit der Handlung, in mwelder jeder Fortſchritt vernünftig 
motivirt iſt; nur wird vielleicht die Löſung des Knoters allzu rajch 
herbeigeführt. Aber der Verfaſſer greift aud dem Leben, er jpricht 


von der Bühne herab die bittere und unverblümte Wahrheit, 
(823) 


—— 

wie ſie ihm von ſeinem tiefen fittlichen Ernſte eingegeben wird. 
Mer ein getreues und lebensfriſches Abbild der geſellſchaftlichen 
Zuſtände im jetzigen Frankreich und beſonders in der Hauptſtadt 
desſelben kennen lernen will, der kann aus Augiers Dramen 
reiche Belehrung und ernſte Mahnungen ſchöpfen. Darum wird 
der Dichter für den Kulturhiſtoriker ebenſo hoch zu ſtellen 
ſein, als für den Literarhiſtoriker. 

Den Fehdehandſchuh warf Augier dem Publikum hin durch 
das Drama Gabrielle (1849), in welchem er dem betrogenen 
Ehemanne zu ſeinem Rechte und dem begünſtigten Liebhaber der 
ungetreuen Gattin zur Strafe verhalf. Das Stück war eine 
Ehrenrettung der Ehe und ihrer Unverletzlichkeit und brachte 
dem Verfaſſer den Montyonſchen Tugendpreis ein. Nach mehreren 
fleineren Werfen tritt Augier 1855 mit der „Heirath Olym— 
pias“ (Demimondeheirath) in den epochemachenden Abichnitt 
feiner dramatifchen Laufbahn ein. Hier rüdt er dem Dirnen- 
unweſen, welches das Familienleben in Frankreich untergräbt 
„mit glühendem Eiſen auf den Leib, um den gejelichaftlichen 
Schaden audzubrennen”?3). Der Dirne Olympia ijt es ges 
lungen, einen leichtfertigen Edelmann zu umgarnen und zur Ehe 
mit ihr zu bewegen; dad ehrfame Familienleben fommt ihr 
unheimlich vor, fie jehnt fid) nach dem früheren Leben zurüd, 
wie eine in den Schwanenteich verſetzte Ente nady ihrer Pfüße. 
Der greife Bater des Grafen verhindert durch feine unerwartete 
Zwiſchenkunft das verbrecheriiche Weib, die ganze Familie zu ent- 
ehren, und will Olympia niederſchießen. Mit einem Piftolenfhuß 
endet dad Stüd, allerdings ein brutaler, aber fittlich vollfommen 
gerechtfertigter Schluß, der feiner Zeit ungeheures Aufjehen 
erregte. Die ergreifende Wahrheit des Inhaltö und der Charaf- 


teriftif, die Herbheit des Stoffes und der Farben befunden den 
(824) 


3 
Meiſter, wenngleich die grelle Malerei bisweilen zartbejaitete 
Seelen jwingen mag, die Augen von dem Gemälde abzuwenden. 

Unentwegt jchritt Augier auf dieler Bahn weiter und lieh 
fit weder durdy die Genfur, noch durch die Kritif von feinem 

Streben abbringen. Fa, er wagte ſich auf den jchlüpfrigen Pfad 
der politiihen Komödie und ertheilte den Klerifalen und Reak— 
ttonären wuchtige Geihelhiebe. „Die Unverſchämten“ (1861) 
und „Giboyers Sohn“ (1862) bradyten befannte Perſönlich— 
feiten unter leicht durchfichtigen Masken auf die Bühne, fie 
erregten eine Fluth von politiihen Schriftchen für und gegen und 
bildeten Monate lang den ausjchliehlichen Stoff der Unterhaltung. 

Den Höhepunft feines dichteriichen Schaffend — weniger 
bedeutende Stüde führen wir nicht auf, und verweilen auf die 
Gejammtausgabe von Augiers Werfen?) — erreichte Augier 
mit dem vielberufenen „Haus Fourchambault“ (8. April 1878), 
zu deſſen Beliebtheit in Deutichland das befannte Verbot der 
Stettiner Polizei viel mehr beigetragen haben mag, als 

Gottlieb Ritters mangelhafte Ueberſetzung. Niemals ift mit 
ſolcher Rüdfichtölofigkeit die tiefe Fäulniß in der „befleren“ 
Gejelichaft, die Oberflächlichkeit in der Erziehung des Weibes 
an den Pranger geitellt worden. Zum Glüd läßt und der 
Dichter in dem düfteren Gemälde aud) erfreulichere Farben jehen. 
Man höre den Gegenjat zwilchen den Ausſprüchen zweier Frauen, 
der verzogenen Tochter ded Haujed und der einftmald vom alten 
Fourchambault verführten und nady Fahren unerfanut zurüde 
gefehrten Frau Bernard. „Alle Ehemänner gleichen einander”, 
jagt Blanche (I. 4) „es verhält fi mit ihmen wie mit den 
einen, nur die Etifette ift verſchieden!“ — „heirathen ijt die 
einzige Karriere der Mädchen”, jagt wiederum diejelbe Blanche; 
(V. 8) „an der Perjon des Gatten liegt weniger ald an feiner 
Stellung in der Geſellſchaft!“ — Wunderbar nehmen fidy neben 


(825) 


32 


diefen Morten eined im üppigen Wohlftand erzogenen Dämchens 
die ehernen Worte der Frau Bernard zu ihrem Sohne aus 
(II. 1): „Ic habe aus dir einen Mann gemacht an dem Tage, 
wo ich dein Bater ward. Das Weib jcheint untergeordnet, 
weil ed gewohnt it, bevormundet zu werden. Meine Sühne 
vor Gott war, aus dir einen Ehrenmann zu machen; meine 
Sühne vor dir, dic) zu einem der Glüdlichen zu maden auf 
diefer Melt, die mich ausgeitoßen”. — Im eben fo großem 
Gegenjaß zu Blande fteht die Waife Marie, die aus Noth 
Erzieherin werden will, und deren Ehre verdächtigt wurde. Sie 
verachtet die Verleumdung: „entweder vernichtet man fie, oder er» 
duldet fie. Sid) vertheidigen, wenn man ſich nichts vorzumerfen hat, 
und um Gnade flehen, ohne diefe zu erlangen, ift die größte 
Demütbhigung. Man mag mid) niedertreten, idy werde mich nicht 
jelbft erniedrigen". — „O, ich verftehe dieje trogige NRefignation: 
ich fenne fie, es iſt der Stolz der Unjchuld”, verſetzt die hart» 
geprüfte Frau Bernard. — Das iſt die wahre Schule des Lebens 
und fein leichter Zeitvertreib, wie bei Herrn Ecribe! — 

Meder Alerander Dumad der jüngere, noch Sardou 
reichen entfernt an Augierd Höhe hinan. Bei beiden fehlt der 
wahre fittliche Ernft. Es entgeht dem jchärferen Beobachter nicht, 
daß beide unter dem Anſchein des Mioralpredigerd häufig auf 
Sinnenfigel hinausgehen, bejonderd Sardou; bei beiden aber ift 
die Technif funjtvoller und glänzender, die Scenenführung und 
die Entwidelung effeftreicher und zugefpißter. Sie find die Be- 
gründer ded modernen Ehebruchdramas, bei dem ber fein 
ausgearbeitete Dialog mit jeinen ſprühenden Garben eſpritreicher 
Worte oft über die Hohlheit des Inhalts hinweghelfen fol. 

Dumas ilt der bedeutendere von beiden. Seine Berühmt: 
beit jchreibt fi) her von dem Roman „Die Kameliendame", 


aus dem er das gleichnamige Drama bearbeitete. Vorwurf 
(826) 


33 


diejed weltbekannten Werkes ift die Chrenrettung einer Dirne 
durch eine reine Liebe, ähnlich alfo wie in Marion Delorme, 
wobei jedoch der Schriftfteller in der Vorrede — Dumas fickt 
immer feinen Dramen lange moralifche Worreden voraus — 
fid) gegen Mißdeutungen verwahrt: „Weit entfernt von mir”, 
jagt er „aus diejer Erzählung zu folgern, daß alle Dirnen wie 
Marguerite fähig find zu thun, was dieje gethan bat. Aber 
ich habe den Beweis gehabt, dab ein derartiged Mädchen in 
ihrem Xeben einmal eine wahre Liebe empfunden, daß fie des— 
wegen litt und deöwegen ftarb. Ich habe erzählt, was ich wußte, 
ed war eine Pflicht“. Trotz dieſes Vorbehaltes, und troßdem 
die Heldin jchließlich ihrem Schickſale nicht entrinnt, jo gab die 
Kameliendame (1855) das Zeichen zu einer beflagenswerthen 
Invafion ähnlicher Dramen mit Rührfcenen und Berjöhnungen 
mit Gott und der Welt. 

Unerbittlic wird Dumas in dem Drama „Demi:Monde 
(1855), deffen brutaler Schluß an Augierd „Demimondeheirath“ 
erinnert; überhaupt ift e8 Dumas geweſen, der diefe Bezeichnung 
für eine zahlreiche Menjchenklafjfe in Sranfreich einbürgerte. Der 
falihen Moral, dem fonventionellen Vorurtheil in den Sitten 
unferer Zeit, denen Scribe in jo geſchickter Weile geichmeichelt, 
tritt Dumas ſchonungslos entgegen: er hält dem Publikum einen 
Spiegel vor, damit ed feiner Verfehrtheiten und feiner Lafter 
fi) ſchäme. Er ift ganz und gar realiftiih, ja naturaliftiich. 
Er gleicht einem gewaltthätigen Arzte, der dem hoffnungslos 
Darniederliegenden ein ftarfed Gift reicht, welches ihn retten, 
oder tödten joll. 

Lebenswahrheit und Feinheit der Beobachtung finden fich 
auch bei Sardou. Seine Sittenfomödien find vollfommene 
Genrebilder ded Parifer Lebens mit buntbewegtem Dialog. 


Sein Beftreben ift nicht wie bei Augier und Dumas durd) 
XVII. 429, 3 (827) 


34 


padende Daritellung veredelnd auf den Zujchauer einzuwirfen: 
er will ihn nur durd kunſtvoll verwidelte Handlung 
und Intrigue fejjeln. Manchmal treibt er die ſceniſche Kunft 
bi8 zur Zajchenjpielerei und erinnert dann an Scribes Made. 
Dabei entlehnt er feine Stoffe überall her, vorausgeſetzt daß fie 
einen oder mehrere Ehebrüche enthalten; denn ohne Ehebruch 
geht ed bei Sardou fchlechterdings nicht ab. Aus der Fluth 
feiner mehr oder weniger inhaltsreichen Dramen heben fich nur 
wenige hervor. ine gelungene Malerei der zwei Gattungen 
innerhalb der franzöfiihen Frauenwelt enthält das Stüd „Fa— 
milie Benoiton“ (1865); eine feine Perfiflage des politiichen 
Induftrieritterthfums findet fi) in Rabagas (1871), wo Emil 
Dlivier, der Mann mit dem leichten Herzen, und zum Schluffe 
der Diktator Gambetta leicht erfennbar find. Für die Eheſchei— 
dung tritt Sardou in feinen neueften Stüden auf, Cyprienne 
und Odette (1881). In dem letzteren Stüd ift der Schluß 
ergreifend: das fittenloje Weib, das getrennt von ihrem Gatten 
lebt, weil eine Eheſcheidung unmöglich ift, muß ſich ertränfen, 
um dem Glüd ihrer Tochter nicht im Wege zu ftehen. — Das 
neuefte Drama Sardous hatte leften Winter in Paris unglaub- 
lichen Erfolg; auch in Frankfurt a. M. ging Fedora den 
4. Juni 1883 zum erſten Male, gleichfalls unter großem Beis 
fall, über die Bretter. Es ift ein raffinirt erklügeltes und mit 
größter Geſchicklichkeit durchgeführtes Senfationsdrama. Fedora 
ift fein tragijcher Charakter, wie etwa Marion oder Dona Sol; 
das Stüd ift aud fein Drama im vollen Umfange des Wortes, 
da ber innere Zufammenhang zwifchen Gefühlen und Thaten, 
jene Borbedingung zum Aufbau der dramatijchen Handlung, 
vollftändig fehlt. Im Gegentheil ſucht Sardou im Anfang eines 
jeden Aufzugs, die Erwartungen des Zuſchauers zu täufchen 


und ihm durch ganz neue Wendungen in ftete Spannung zu 
(828) 


erhalten. Das ift dad Geheimniß der Senjationswirfung. 
„Wie jene Biolinpirtuofen, welde ohne höheren Kunftzwed ihren 
Saiten alle möglidyen Zöne, Kadenzen, Klangwirkungen ent» 
loden, immer hajtiger, immer wilder, bis mit grellem Klange 
die lebte Saite ſpringt, jo fpielt diefer Birtuoje der Bühnen- 
routine mit dem ſeeliſchen Regungen der Menjchen, jo jagt er 
die Empfindungen von der Angſt zur Freude, vom falten Schauer 
zu athemlofen Spannungen in tollem Wirbel durdy einander, 
bi8 mit einer grellen Diffonanz, mit dem Aufjchrei der Sterben» 
den der Vorhang über den lebten Akt fällt“ 30), 

Lange waren Augier, Dumas und Sardou dad leuchtende 
Dreigeftirn, vor dem die anderen „Sterne“ erbleichen mußten. 
In neuefter Zeit hat fich ein vierter ihnen zugejellt, Eduard 
Pailleron. Sein Stüd „Die Welt, in der man ſich langweilt“ 
bat in dem legten drei Fahren durdy die Bühnen des gebildeten 
Europa die Runde gemacht und iſt erit durch den Erfolg Fedoras 
einigermaßen in den Hintergrund gedrängt worden. Pailleron 
theilt mit Augier die Schlidytheit der Handlung und den Ernft 
der Darftellung, zu dem die jprühenden Funfen der Wißworte 
Dumas’ als erheiterndes Element hinzutreten. Mit den ftarfen 
Farben Dumas’ und Sardoud und dem Hautgout ihrer Damen 
verſchont der Dichter die Zujchauer und hat doch eine lebend- 
warme Satire der Zuftände in den höheren Schichten der Geſell— 
ichaft, der Welt, in der man ſich langweilt, geichaffen. Das 
Urbild des gelehrt fein jollenden Streberd, des von jentimentalen 
Blauftrümpfen vergötterten Bellac und feiner Oberflächlichkeit ift 
wie aus einem Guß. Boshafte Kritiker wollen in diejem liebens- 
würdigen Literaten den Philojophen Caro oder den Mitarbeiter 
an der Revue des deur Mondes Brunetiere erfennen. Nicht 
minder gelungen ift die Geitalt des politiichen Streberd, des 


alternden Kandidaten für die Akademie und bejonders die ehr: 
3* (829) 


36 


geizige Marquife, die alle Leute von einigem Einfluß gerne um 
fi) fammelt, um ihrem Sohne Roger die Pfade zu ebnen. 
Zudem enthält dad Stüd nichts wirklich anftößiges, eine große 
Seltenheit heutzutage. 

Im übrigen ift Paillerond Talent noch in der Entwidelung 
begriffen. Iſt er gleich bereitd Mitglied der Akademie, und das 
mit als klaſſiſcher Dichter anerkannt worden, jo ift er dody noch 
nicht auf der vollen Höhe feines dichterifchen Könnens angelangt. 
Der Zufunft bleibt die Entjcheidung überlaffen, ob er Dauerndes 
ſchaffen kann oder nicht. 

Eine fruchtbare Seite ded modernen Drama liegt noch ganz 
unbebaut da: die politiijhe Komödie. Wohl haben die her— 
vorragenden Dramatiker politiiche Anfpielungen, ja hin und wieder 
die Geſtalt einer politiichen Tageögröße auf die Bühne gebracht; 
— jo Augier in den „Unverihämten“, in „Giboyers Sohn“ und 
in „Diana“; jo Sardou in „Rabagas“; — aber eine eigentliche 
politiihe Komödie hat ſich noch nicht entwidelt, weil die in 
Sadyen der Moral ſehr nachſichtige Theatercenfur in politijchen 
Dingen feinen Spaß verfteht. Wer weiß übrigens, ob nicht das 
Publitum jpäter einmal, wenn ed jih an Gründern, GStrebern, 
Dirnen und Ehebrüchen binlänglich gelabt hat, auch wie einft 
dad Volk von Athen die ftaatlichen Zuftände und die einfluß- 
reichften Lenker derfelben auf der Bühne zu ſehen wünſcht? 

Wie dem auch jei, dad moderne Gefellichaftöitüd der Fran— 
zoſen entjpricht den Bedürfniffen und dem Gejchmade der Jetzt— 
zeit. Es hat die Tragödie verdrängt und die Grenzen zwiichen 
derjelben und der Komödie verwilcht, indem eö die erniten und die 
komiſchen Elemente als gleichberechtigt in fih aufnahm. Es hat 
durch alle Länder feinen Weg erobert und aud in Deutfchland 
fich feſtgeſetzt, objchon die Zeit längft vorüber ift, wo das Frans 
zojenthyum diesjeitd des Rheines Ton und Geſchmack angab. 


(830) 


37 


Und das ift keineswegs als Uebel zu betrachten. „Es liegt ent- 
ichiedene Weberlegenheit darin”, jagt Alfred Klaar?1), daß der 
jo feinfühlige literariiche Organismus der deutſchen Bildung 
dem Fremden Geſchmack abzugewinnen vermag, während ber 
gebildete Franzoſe das Um und Auf jeiner Anregungen aus dem 
engen Kreije einer einzigen Großſtadt zu jchöpfen gewohnt ift. 
Das audzurottende Uebel beginnt erit da, wo Funftfeindliche 
Geſchäftsleute und mit werthlojen franzöfiichen Produftionen 
auf der Bühne beläftigen und auf den Reiz des Fremdartigen 
und auf nody gemeinere, verwerflichere Reize Gewicht legen". — 

Mer aber dad franzöfiihe Drama unjerer Tage geringer 
Ihäßt, ald dasjenige früherer Zeitalter, und namentlidy das 
Abfterben der. reinen Tragödie bedauert, der vergikt, dab auf 
der franzöfiichen Bühne fidy die Betrebungen und Sitten. der 
betreffenden Zeit ftet3 treu abjpiegelten und die fruchtbaren 
Samenförner für die Zufunft von ihr ausgingen. Iſt doch die 
Bühne ald allgemeined Bildungsmittel bei weitem wirkſamer als 
alle anderen Kundgebungen der Literatur, weil fie nicht bloß 
auf gewiſſe engbegrenzte Kreife, jondern auf jeden Zujchauer 
einwirft. Das Koftüm iſt nebenſächlich; es ift gleichgiltig, ob 
der Held in der Toga, im mittelalterlichen Seidenwamms, in 
Koller und Degen, oder im jchlihten ſchwarzen Rod erjcheint; 
er muß aber den Empfindungen Worte leihen, die im Herzen 
der’ Zuſchauer fchlummern. Webrigend hat die heutige Gejell- 
ſchaft fein großes poetiſches Gefühl, fie hat ihren ganzen Sinn 
auf das Greifbare und Wirklihe, auf den Naturalismus 
gerichtet. „Sie ift wie ein Affe, der jelbftgefällig allerhand 
Fratzen vor dem Spiegel jchneidet, bis er über fich jelbft wüthend 
wird, und will darum auf der Bühne vor allem fidy ſelbſt jehen 
und über ſich felbft lachen“ 32). — Die Sebtzeit verlangt, dab 
die Kunft in fteter Fühlung mit der Neuzeit bleibe, und jo lange 


(831) 


38 


dieje naturaliftiiche Strömung andauert, die einen Zola groß 
gezogen, jo lange bleibt die dramatiſche Poefie auf das joziale 
Salonſtück bejchränft, bis ihr der Roman vollitändig über den 
Kopf wächſt oder vielleicht, wie Taine und Zola wollen, fie 
ganz und gar aus der Literatur verdrängt. Dies werden wir 
alle indeß jchwerlich erleben. — 


(832) 


39 


Anmerkungen. 


1) Georg Brandes, Die Litteratur des 19. Jahrh. in ihren 
Hauptftrömungen. Band V. Geſch. der romant. Schule in Frankreich 
(Leipz. 1883). ©. 22. 

2) Georg Brandes, a. a. O. ©. 9. 

3) Schmidt-MWeihenfels, Frankreichs moderne Litteratur feit der 
Revolution. Berlin 1856. Br. I. ©. 226 ff. 

4) Alfred Klaar, Geſchichte des modernen Dramas. Yeipzig 1883. 
Br. 1. ©. 7. 

5) Demogeot, histoire de la litter. frangaise. 15. Aufl. 
(Paris 1876) ©. 643 — 646. | 

6) Edermann’s Geſpräche mit Goethe. Band I. Seite 201. — 
Demogeot, ©. 583. 

7) Schmidt-Weifenfelds, a. a. D., 245; Demogeot a. a D. 
S. 647. 

8) Vgl. Ziefing, le Globe considere dans ses rapports avec 
l’ecole romantique. Züri 1881. 

9) Georg Brandes, ©. 390ff. 

10) Schmidt-Weihenfeld, ©. 222. 

Il) Alfred Klaar, a. a. O. ©. 217. 

12) Barbou, Viktor Hugo und feine Zeit, überjegt von Otto 
Weber. Leipzig 1882. ©. 101 und ff. 

13) Ebenda, ©. 107 und ff. 

14) Sarrazin, bezahlte Glaque u. j. w. (Magazin für die Lit. 
ded In- und Auslandes, 1883, Nr. 17). 

15) Iheophile Gautier, histoire du Romantisme; Paul 
Albert, les origines du Romant. Paris 1882, ©. 34ff 

16) Theophile Gautier ſchrieb eine humoriftiiche „Legende von 
der rothen Weite”. 

17) Julian Schmidt, Gejd. der franz. Kitt. jeit der Revolution. 
Berlin 1858. Band II. ©. 351. 

(833) 


40 


18) Sarrazin, le Roi s’amuse (Magaziı für d. Lit. 1883, Nr 3.) 

19) Lächerlicher als je ift bier Julian Shmidt, ©. 364ff. — 
Vgl. auch Zola, Lettre à la jeunesse (in Roman experimental, 
6. Aufl. 1881, ©. 57ff.). 

20) Barbou-Weber, ©. 142; bei ©. Brandes ungenau (©. 405). 

21) Marime du Gamp, Souvenirs litteraires. Paris 1882. 
©. 110ff. 

22) Victor Hugo jelbit ſpricht diefe Worte in der Vorrede zu 
Marion aus. — 

23) Julian Schmidt, II. 409. — Schmidt. Weißenfels I. 265. 

24) Zaine, Geſch. der englijchen Literatur, überjegt von G. Gerth. 
(Leipzig 1878), Band Il. ©. 122. — Daffelbe jagt Zola, Roman 
experimental, ©. 145. 

25) Georg Brandes, a. a. D., ©. 395. 

26) Baul Albert, a. a. O. ©. 314 — 347. 

27) Ed. Engel, Geſchichte der franz. Litteratur. Peipzig 1883. 
©. 334— 337. — Vgl. auch Zola, Roman experimental, ©. 129}. 

25) Paul Lindau, dramaturgiſche Blätter, II. ©. 93. 

29) Augier, Oeuvres completes. Paris. Galman Levy 1877, 
7 Bde. 

30) Sohannes Proelß in der Frankfurter Zeitung vom 5. Juni 
1883 (Nr. 156). — Kritifen von Fedora in der Revue politique et 
litt. vom 16. Dez. 1882 (3. 3. Weiß) und in Rudolf Gotticyalle 
Zeitfchrift: Unjere Zeit, Jahrgang 1883, ©. 944. 

31) Alfred Klaar, a. a. O., ©. 302. 

32) Schmidt-MWeißenfeld, a. a. D., ©. 265. 


— — —— 


(834) 


Drud von Gebr. Unger (Tb. Grimm) in Berlin, Schönebergerfiraße 17a. 


Die elektrischen Fiſche 


im Lichte der 


Descendenzleßre. 


Bon 


Prof. Dr. Guſtau Fritſch. 


Mit 7 Holzſchnitten. 


GH 


Berlin SW., 1883. 


Berlag von Carl Habel. 


(€. 6. Lüderity'sche Berlagsbuhhandlung.) 
33. Wilhelm · Straße 33. 


Das Recht der Ueberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Eſektriſche Fiſche!? höre ich manchen meiner verehrten Le— 
ſer ausrufen, der vielleicht zum erſten Male den Ausdruck über— 
haupt vernimmt. „Müſſen denn in unſerem Zeitalter, wo der 
Elektricität als Spenderin von Kraft, Licht, Elektrolyſe, als 
Trägerin von Sprache, Ton und Schrift bereits ſo hohe Auf— 
gaben geſtellt find, daß man das Zeitalter vorzugsweiſe das 
elektriſche nennen möchte, auch noch die Fiſche auf Elektricität 
dreſſirt werden?“ Manch Anderer, der mit dem Reich der Thiere 
beſſer vertraut iſt, jagt vielleicht: „OD, was ein abgelegenes Ge— 
biet! Was kann und die Beſchäftigung mit dieſen Sonderbar— 
keiten der Natur nützen?“ 

Derjenige, welcher die vorliegenden Hefte regelmäßig lieſt, 
wird dagegen .eine gewille Einfiht in das jcheinbar fo abgelegene 
Gebiet bereiß gewonnen haben, da vor num mehr faft zehn Fahr 
ren (1874) Franz Boll in ihnen über den damaligen Stand 
der Kenntnifje eleftriicher Fijche berichtete. Diele Anſchauungen 
haben fidy jeitdem verändert, mancher Fortjchritt in der Erfennt- 
niß ift gemacht worden, und Thatjachen, welche von Boll nody 
mit Mißtrauen betrachtet oder als unfruchtbar bei Seite ge— 
jchoben wurden, haben ſich ald begründet und fruchtbringend 
erwiefen. Manches Räthjel, welches ſich an died Kapitel Enüpft, 


XVII. 430. 431. j* (837) 


4 


ift der Zöfung nahe gebradyt worden oder wirklich gelöft, neue, 
früher nody ungeahnte Räthſel haben fich gleichzeitig geichürzt. 

Wie ein gewaltiger Strom dringen zahlreiche Fragen von 
höchſter Wichtigkeit auf denjenigen ein, der fich diefen Studien 
widmet; fie führen ihn mitten hinein in die jchwierigften Pro— 
bleme unjerer allgemeinen Nerven. und Muskel-Phyſik, werfen 
hre Streiflidhter in das Gebiet der Cleftrotherapie, und ſchnei— 
den tief ein in die Theorien der Entwidlungslehre. So iſt es 
nicht zu verwundern, daß die eleftrifchen Fijche mit ftetig an- 
fteigender Theilnahme betradytet werden, daß die Literatur, 
welche fidy mit ihnen bejchäftigt, zu einem ſtaunenswerthen Um— 
fang anſchwillt; und doch müfjen wir mit ebenjo großem Be- 
dauern wie Sicherheit eingeftehen, dab eine audy nur ans 
nähernde Erſchöpfung des Thema's jelbft in Dienjchenaltern nicht 
zu erhoffen ift. 

Unter den vielen hier aufgegebenen Räthjelfragen, find es 
bejonderd zwei, welche ihrem Weſen nad) in weiteren Kreiien 
Beahtung und Theilnahme erweden, und das abgelegene Ge- 
biet und näher rüden müfjen; fie lafjen ſich etwa folgender- 
maßen formuliren: Wie findet in der Drganifation irgend 
eined Fiſches eine eleftriihe Batterie Platz zur Ent- 
widelung und Berwendung, während die verwandten 
Filharten Nichts davon zeigen? Und ferner: Wie jeht 
jih der eleftrijhe Apparat auf den Willendimpuls 
des Thiered plöglih in Thätigfeit? oder wit anderen 
Morten: In weldem Verhältniß und Wechſelwirkung 
fteht das Nervenprincip zur frei werdenden Gleftri- 
cität des Thieres? 

Es liegt auf der Hand, daß jelbit eine nur unvolllommene 
Einfiht in die geheimnißvolle Werkftätte der Natur, welche fo 


(838) 


5 


— — — — 


hochſtehende, wohl organiſirte Thiere ſcheinbar nach Gutdünken 
mit einer äußerſt machtvollen, complicirten Maſchinerie verſieht, 
gerade an beſonders merkwürdigem Beiſpiel die Grundprincipien 
enthüllen wird, nach denen ſich die Organiſationen der Lebe— 
weſen überhaupt geftalten; fie wird und belehren über die enorme 
Breite der Abänderung in den Organanlagen jelbit der Wirbel- 
thiere und jo eine wichtige Unterlage jhaffen für die allgemeinen 
Bergleihungen, weldye die Reihen der Thiere bid zum Menjchen 
hinauf in das richtige Verhältniß zu einander jegen jollen. 
Diefe Anſchauung geht von der VBorausjeßung aus, daß die 
engen, verwandtichaftlichen Beziehungen der eleftrijchen Fiſche 
mit nicht eleftrijchen Arten ed abjolut undenkbar erjcheinen 
laffen, der eleftrijche Apparat mit allem Zubehör fei den Thieren 
von der Natur ald ein Ganzes fertig eingejeßt, wie etwa ein 
Seldherr feine Krieger mit Feuergewehren ausrüfter, nachdem er 
erkannt hat, daß fie mit der blanfen Waffe allein nicht genug 
ausrichten, fondern dab ein unbeftimmtes Etwas in der gemein» 
jamen Organiſation der elektriichen und nicht eleftriichen Ver— 
wandten bei eriteren in den elektriichen Apparat durh Natur: 
züchtung verwandelt wurde. Nur durch dieje Borausjegung 
allein, welcher fih Boll unbegreiflicher Weiie ablehnend gegen» 
über ftellte, fann die Betrachtung der eleftrijchen Fiſche frucht- 
bringend auf unfer Verftändniß der Entwidelung der Lebeweſen 
wirfen. Wir dürfen zur Zeit bereitö dreiſt behaupten, daß dieſe 
Hoffnung fid in hohem Maße erfüllt hat, und die Frage nad) 
der ſtammesgeſchichtlichen Entwidelung der elektriſchen Drgane 
ihrer endgültigen Löſung erheblid) näher gebradyt wurde. 
Wenn die nachftehenden Blätter auch vornehmlidy über dies 
Kapitel handeln follen, jo muß ed doch ald unvermeidlich ers 


achtet werden auch der zweiten Gardinalfrage: Wie der Willens» 
(839) 


6 


impuld den eleftriichen Schlag herbeiführt? näher zu treten. 
Auch für dieſes, leider noch fehr dunfele Gebiet ichaffte die Un- 
terſuchung der Herkunft des lebendigen elektrifchen Apparates 
eine fichrere und breitere Grundlage, jo daß ſich beſonders vom 
Standpunft der praftiihen Phyfiologie und der Medicin große 
Verheißungen an die Löjung ded Problems knüpfen; die Re— 
jultate werden auf den menſchlichen Körper anwendbar fein, eben 
weil der eleftrijche Apparat des Filches Fein Organ durchaus 
eigenfter Art darftellt, jondern feine Anlage mit ſolchen aud 
unjered Körpers vergleichbar ift. 

Möchten ſich diefe Verheißungen wenigftend zum Theil 
recht bald erfüllen! 

Aber abgejehen von dem bezeichneten Fragen von hervor: 
ragender Wichtigfeit tauchen bei der Betrachtung links und rechts 
noch andere von faum geringerem Snterejje vor und auf, welche 
erörtert fein wollen, 3. B.: Wie es zugeht, dab die mächtigen 
eleftriihen Schläge der Filche ihre eigenen Muskeln, die Brut 
in ihrem Leibe oder andere gleichartige Genofjen ihrer Umgebung 
ſcheinbar unberührt lafjen? 

Das unbejchreibliche, peinliche Gefühl, welches wir heutigen 
Tages einen eleftriihen Schlag nennen, mußte auf den Natur- 
menjchen einen um jo gewaltigeren Eindrud hervorrufen, je ge: 
ringer das Verſtändniß war, was die räthjelhafte Erfcheinung 
bedeute? Daher madyten ſich audy die eleftriichen Fiſche ſchon 
dem Menjchengejchlecht in feiner Kindheit bemerkenswerth jowie 
gefürdytet, und zwar war es begreiflicher Weile gerade dieje 
ihre unheimlihe Kraft, welche ald das charafteriftiichte Merf- 
mal bei der Benennung Berüdfihtigung fand. Sehr wahr: 
icheinlicy ift ed, daß die Kenntniß der eleftriichen Fiſche bis in 
die vorhiftoriiche Zeit hinaufreicht, die erfte fichere Kunde eines 

(840) 


7 


ſolchen erhalten wir auf den bildlihen Darftellungen der alten 
Aegypter. 

Sieht man z. B. in dem berühmten Grabtempel des Ti zu 
Sakara, der ſo reich iſt an thieriſchen Darſtellungen, den fürſtlichen 
Mann auf ſeiner Nilbarke zum Fiſchfang ausfahren, ſo fehlt 
unter dem mancherlei Gethier, welches die Fluth unter der Barke 
belebt, nicht ein eigenthümlicher, welsartiger Fiſch mit einer An- 
zahl langer, wurmförmiger Anhänge um dad Maul. Die Ab- 
bildung bezeichnet unzweifelhaft den noch heute im Nil lebenden, 
eleftriichen Wels (Malopterurus electricus), deſſen eleftrijche 
Kraft jo groß ift, daß fie gewiß nicht leicht Iemandem verbor- 
gen bleibt, der ihn lebend in die Hand befommt. 

Aber auch einem anderen Nilfiih, wurde jchon damals be- 
jondere Beachtung geichenkt; er findet fi nicht nur auf den 
eben angeführten Wandgemälden, fondern er wurde jogar als 
heilig verehrt und eine Stadt Unterägyptens (Oxyrhynchos) 
nach ihm benannt, ohne dab dafür ein hinreichender Grund be» 
kannt geworden ift. Sollte vielleicht die elektriiche Natur die— 
ſes Fiſches (Mormyrus der wiljenjchaftlihen Nomenclatur), 
welche jelbft Boll nody nicht fannte, den alten Aegyptern bereitd 
bekannt geweſen fein und dem Fiſch die beiondere Beachtung 
eingetragen haben? Died wäre um jo bemerfenswerther, ald der 
Mormyrus nur zu den ſchwächeren eleftrijchen Fiſchen gezählt 
werden fann und feine Kraft audy neueren Forſchern jo wenig 
deutlih enthüllte, daß die eleftrijche Natur bis in die jüngfte 
Zeit hinein angezweifelt wurde. 

Meit im zoologiichen Syſtem von Malopterurus und Mor- 
myrus getrennt fteht der elektriiche Fiich ded Meered, wie man 
ganz allgemein jagen fann; denn die zu ihm zählenden Formen 


finden fidy in allen Meeren, deren Temperatur nicht unter die— 
EEE in (4) 


8 


jenige der gemäßigten Zonen finkt, fie bevorzugen aber die wär— 
meren Meereöbeden und entmwideln ſich bier in großer Zahl. 
Bejonderd audgezeichnet durch ihr Vorkommen ift das mittel» 
ländiihe Meer, wo fie unvermeidlich ſchon den Fiſchern des 
grauen Altertbumd befannt geworden fein müſſen. Seht in 
mehrere Gattungen und Untergattungen getrennt, faßte man 
früher die Kormen unter dem Gattungdnamen Torpedo oder noch 
früher ald Raja torpedo zujammen, da Raja „Rocen“ bezeich— 
net und dieje eleftrijchen Filche des Meeres den Rochen in der 
That verwandt find. 

Die bemerfenöwerthefte Eigenichaft des eleftriichen Rochen, 
das Austheilen diejer räthjelhaften, erihütternden und betäuben- 
den Schläge ift audy bier in den Namen übergegangen und 
wird auf diejelbe jomohl durd die lateinische Bezeihnung „Tor- 
pedo“, wie die franzöfiiche „Torpille“, die italienifche „Tremola“, 
die altgriechiſche „Narke“, die neusgriechiiche „Mudiastra“, die 
arabiſche „Raäd“ oder „Raäsch“ hingewiejen. Alle diefe Worte 
enthalten Stämme, weldye Betäuben oder Erjchüttern bedeuten 
und find nicht für den eleftrijchen Fifch erfunden, fondern auf 
denjelben übertragen worden, als feine Leiftungen befannt wur— 
den, ohne daß dadurdy, wie mir jcheint, über die Zeit, wann 
dieje Hebertragung jtattfand, irgend etwas ausgejagt würde. So 
bedeutet der arabijhe Namen „Raäd“ audy „Donner“; man 
betonte aljo durdy den Namen nur, daß eine gewiſſe Aehnlich- 
feit zwilchen der erjchütternden Wirkung ded Donnerd auf unjer 
Nervenſyſtem und der Berührung des eleftriichen Fiſches be- 
ftünde, an eine innere, nähere Verwandtichaft zwijchen beiden 
Erſcheinungen war keinesfalls gedacht. 

Jedes Thier, welches diejer Kraft theilhaftig war, verdiente 


den betreffenden Namen in gleicher Weije, und wir jehen daher 
(842) 


9 


bis auf den heutigen Tag verſchiedene elektriſche Fiſche unter 
demſelben Namen auftreten. „Narke“ iſt bei den Alten Torpedo, 
gelegentlich aber audy Malopterurus, „Raäsch“ heute im Delta 
und in Sue; von der arabiſch jprehenden Bevölkerung ebenfalls 
für beide Gattungen im Gebrauch. War doch die erfchütternde 
Wirkung des eleftriichen Fiſches allmählidy eine jo landläufige 
Vorftelung geworden, daß der Name des befannteften, Torpedo, 
herhalten mußte, um die fünftlichen Zerſtörungsmaſchinen zu 
bezeichnen, welche tüdiicd im Waſſer verborgen, oder ald Fiſch— 
Zorpedo lancirt, dem Torpedo-Fiſch nacheifern, um durch er» 
jhütternden Schlag den berührten Gegenitand zu verderben! 

Auch der viel jpäter (1672)1) befannt gewordene eleftrijche 
Fiſch der jüßen Gewäſſer Gentral-Amerifa’d3, dem ſeine lang» 
geſtreckte Körpergeftalt den Namen eined „Zitter-Aales“ einge- 
tragen hat, ohne daß er indeljen dem Aalgeſchlecht jo nahe 
verwandt wäre wie den Welſen (Grymnotus electricus im 
Spitem benannt) fonnte dem Schidjal nicht entgehen, feine un» 
heimliche Kraft im Namen verrathen zu jehen. Die jpaniich 
ſprechende Bevölkerung fürchtet ihn ald „Temblador“, den Er— 
ſchütterer, und wählte jomit dafjelbe Bild zur Vergleichung, mie 
die arabiiche Bevölkerung Aegyptend für die eleftriichen Fiſche 
ihrer Heimath in dem Worte „Raäsch.“ 

Die üblen Erfahrungen, weldye man durch unvorfichtiges 
Hantiren der eleftriichen Fiſche machte, umfaßten für lange Jahr: 
hunderte faft die einzigen Beobachtungen, welche zu regiftriren 
waren; fie machten diejelben gefürchtet und zum Gegenftande 
des Aberglaubensd, ohne daß die menjchliche Erkenntniß darin 
irgend einen namhaften Schritt vorwärts gethan hätte Wie 
die alten Aegypter den Malopterurus und Mormyrus ihren 


MWandgemälden einreihten, jo jehen wir die Torpedo des tyr= 
(843) 


10 


rheniſchen Meeres nicht jelten unter den Mofaikbildern der 
pompejanifhen und anderer römiichen Bauten. Sie erwedte 
den Erbauern etwa das gleiche Interefje wie reißende Thiere, 
giftige Schlangen und andere Schrednifje der Natur, welchen 
andererfeitd auch heilfame Wirkungen zugetraut wurden. Die 
Naturwilienichaften mußten erft namhafte Fortichritte machen, 
ed mußte erit eine Lehre von der Gleftricität geichaffen fein, 
bevor die Bergleihung der durch die Filche bewirkten Gr- 
Ichütterungen mit Donner und Blitz einen realen Boden hatte. 

Boll hat in der bereits citirten Abhandlung in überficht- 
licher Darftelung den Weg jkizzirt, welchen die allmählich ans 
fteigende Erfenntniß der Natur der eleftrijcyen Fiſche und ihrer 
Kraftleiftungen gemacht bat. Um Wiederholungen zu vermeiden 
wird ed an diejer Stelle genügen, was die hiſtoriſchen Daten 
anlangt, auf jene Abhandlung verwiefen zu haben und alsbald 
die Drganijation der Thiere näher in’d Auge zu fafjen. 

Seit Francesco Redi's?) Unterjuchungen (1666) wifjenwir, 
dab die räthjelhafte Kraft der eleftriichen Fiſche nicht etwa eine 
diffud im Körper verbreitete it, jondern dab in der That ein 
bejonderer eleftrijcher Apparat, ein elektriihed Organ vorhanden 
ift, in dem fich diejelbe entwidelt. Beim Zitterrochen, der zu— 
erft genauer unterjucht wurde, findet fi jederjeitd von dem 
Kopfe und nachfolgenden Kiemengerüft ein etwa nierenförmiges 
Drgan, welches der Körpericheibe des Fiſches jo eingefügt ift, 
daß es diejelbe von der Rüden» zur Bauchſeite völlig durchſetzt. 
Herauögenommen zeigt dieje nierenförmig umgrenzte Scheibe 
etwa dad Anjehen einer Honigwabe, da fie aus lauter unregel- 
mäßig jechsjeitigen Säulen zufammengejegt ift, die ſenkrecht 
aneinander gereiht find und fich in jedem Organ auf mehrere 
Hundert belaufen. Die weiche, gallertige Subftanz der Säul- 

(844) 


—11 


chen erkennt man mit bloßem Auge als aus feinen Plättchen 
zuſammengeſetzt, und wird dadurch in der That das Bild des 
bekannten galvaniſchen Apparates, die aus Plattenpaaren auf: 
gebaute Säule, ſo vollſtändig wiedergegeben, daß ſchon der Er— 
finder derſelben, Alexander Volta, nicht umhin konnte, die na— 
türlichen Säulchen des Zitterrochen mit ſeiner künſtlich hergeſtell— 
ten zu paralleliſiren. 

Die Seitenanſicht der Säulchen des Organs erhält man 
alſo, indem man den Körper des Thieres quer vom Rücken zum 
Bauch durchſchneidet, wie es die umſtehende Skizze, Fig. 2, an— 
ſchaulich macht. Fig. 1 bietet dagegen die Rückenanficht bei ge— 
öffneter Schädelfapfel und von der Haut entblößten Organen; 
bier zeigen fich links und rechts je vier Nervenitämme, welche 
vom verlängerten Mark fächerförmig ausſtrahlend zu den Dr: 
ganen verlaufen. An der Urjprungsitelle derjelben am Gentral- 
nervenſyſtem liegen zwei längliche, gelblichgraue Körper, wie zweit 
Kaffeebohnen aneinander gedrängt: Died find die beiden jogen. 
eleftriichen Lappen des Gehirns (A. v. Humboldt's citronengelbe 
Körper), in welche hinein fich die Kajern der eleftrijchen Nerven 
verfolgen lafjen. 

Wie Muskeln jehen alfo die eleftriichen Organe des Zitter— 
rohen nicht aus, und es iſt daher um jo auffallender, daß Fran 
ceöco Redi fie ald „die fichelförmigen Körper oder Muskeln“, 
jeine Nachfolger fie meift direkt als „ſichelförmige Muskeln“ an— 
ſprechen. Der Inſtinct des Genius führte Nedi auf eine Ver- 
gleichung, in mweldyer wir heutigen Tages noch den Schlüſſel zu 
einem wichtigen Theil der räthjelhaften Thatjachen hinſichtlich 
der eleftrijchen Fiiche in der Hand zu halten glauben! 

Die eigenthümliche, man möchte jagen „unregelmäßige Re— 
gelmäßigfeit“ der Anordnung der Organſäulen, ihre Größe und 

(845) 


(346) 





Torpedo marmorata (Zitterrochen). 
Rückenſeite. 


Die elektriſchen Organe, dazu gehörige Nerven (rechtſeits) 
und das Gehirn nebſt Rüdenmarf find bloß gelegt. 


13 





Senkrechter Durchichnitt durch das Kopfende von Torpedo marmorata. 


(47) 


14 


Zahl fanden nur wenig Beachtung, wenn aud) einzelne Anatomen 
fich flüchtig damit bejchäftigten. Darunter verdient an erfter 
Stelle Sohn Hunter rühmlichjt genannt zu werden, obwohl ein 
bejondered Verhängniß durch umngenügende Beitimmung des 
verwendeten Materiald ihn dabei zu einem folgenichweren Irre 
thum verleitete. Die Zoologie lernte erft viel jpäter die Noth- 
wendigfeit erfennen, ſich bei der Artbeftimmung vornehmlidy 
auf die Anatomie zu ftüßen, und wir jehen noch 1833 in 
Lucien Bonaparte’d Prachtwerk üder die Thierwelt Staliend 
bei der Beichreibung der Zitterrocdhen ihrer eleftriichen Drgane 
nur ganz ungenügend Grwähnung gethan; ſo geſchieht es jelbft 
bei einer als neu bejchriebenen Art T. nobiliana Bon., von der 
nad) einer Notiz, die ich der Güte meines Freundes Prof. Gig— 
lioli verdanfe, zur Vergleihung in Stalien nur drei auögeitopfte 
Häute eriftiren! 

Schon der VBollftändigung der Beichreibung wegen hätten 
wohl jo wichtige Drgane Berüdfichtigung finden jollen, Dieje 
Unterſuchung hat fi) aber um fo umerläßlicher herausgeſtellt, als 
die verjchiedenen Arten der Zitterrochen in Säulenzahl und Anord— 
nung der Drgane erheblid von einander abweichen. So ift es 
gefommen, dab Sohn Hunter?), indem er, ohne ed zu willen, 
ein Eremplar abmweichender Specied unter den übrigen hatte, 
welches bei auffallender Größe etwa doppelt jo viel Säulen in 
jedem Drgan zeigte wie die gewöhnlichen Zitterrochen, zu dem 
Irrthum verführt wurde, die Säulenzahl nehme mit dem Wachs— 
thum des Thiered zu. Thatjächlid vermehrt ſich die Säulen- 
zahl nicht mehr, nachdem in dem Embryo des lebendig gebären- 
den Fiſches die efeftriiche Organanlage ihre charakteriftiiche Ge- 
ftalt erlangt hat. 

Dies Wachsthumsgeſetz, welches nach den Autoren, die es 


(848) 


15 


zuerjt erfannten, von Hrn. du Bois-Reymond ald das delle 
Chiaje-Babuchin'ſche Geſetz von der Präformation der 
eleftrijchen Elemente bezeichnet wird, ift von bejonderer Widhtig- 
feit für die Theorie über die Wirkung der eleftriichen Organe. 

Aber auch für die allgemeinen Anjchauungen über die Be- 
deutung der eleftriichen Fijche erjcheint die Kenntniß der riefen: 
haften Torpedo:Art, weldye Hunter’s Zählung zu Grunde lag, 
ald ungemein werthvol. Während die verbreitetjte Art der 
europäiſchen Meere meift nur 20—30 cm, außergewöhnlidy große 
nur gegen 70 cm lang find und ihr eleftriicher Schlag für den 
erwachſenen Mann wohl unangenehm aber nicht unerträglich 
wird, erreicht der den oftamerifaniichen Küften eigene Zitterrochen, 
weldyer alö T. occidentalis Storer bezeichnet worden it, die 
dopvelte Größe und cdharakterifirt fich jo ald der umfangreichite 
und jchwerfte, wenn auch nicht längſte aller elektriſchen Fiſche. 

Ic laffe die wichtigften Daten über die eben genannte Art, 
wie fie Hr. du Boid-Reymond die Güte hatte für den Bericht 
über meine dieöbezüglicyen Arbeiten zujammenzuftellen, in jeiner 
Saffung bier folgen, da diejelben am beiten im Stande find die 
Mächtigfeit ded Thiered anfchaulich zu machen. „Die Kenntnif 
der T. occidentalis verdanft man wejentlidd einem Seefiſcher 
von Gewerbe, Captain Nathaniel E. Atwood von Province- 
town, an der Spitze des Cape God, welches jüdlidy von Boſton 
die nach Nord offene Cape Cod Bay vom Deean trennt. Nach 
Atwood's Bericht Itranden die Rieſen-Zitterrochen im September, 
Dftober und November, je nad den Jahren in wechſelnder 
Häufigkeit, auf der jandigen Oſtküſte des Cape God. Die klein— 
ften find zwei Fuß lang und wiegen nidyt über zwanzig Pfund; 
die größten nad Storer fünf Fuß engl. (152 cm) langen, 
Ihäßt Atwood, ohne; fie wirklich gewogen zu haben, auf 170 


(849) 


16 


bis 200 Pfund. Der größte Umfang ver Scheibe betrug nad 
ihm zwölf Fuß, oder ihr Durchmeſſer etwa vier Fuß. Der 
Schlag war jo ftarf, daß Atwood mehrmals davon zu Boden 
ftürzte, „wie mit der Art gefällt." Doch kam ed auch vor, daß 
die Thiere nicht ſchlugen. Die Schläge wurden durdy eine Har- 
pune, ein Geil auf acht bis zehn Fuß Abftand vom Fiſche ge- 
jpürt und waren beim Audweiden jehr hinderlich, welches wegen 
des Deled aus der Leber geſchah.“ 

Einer dieſer NRiefen, welche die hohe See lieben und fo 
gelegentlich, wenn auch jehr jelten, mittelft des Golfitromes an 
die Küften von England geführt zu werden fcheinen, ift eö je- 
denfalls gewejen, der unter Hunter's Secirmefjer gelangte und 
noch jegt zu London im Mufeum des Royal College of Sur- 
geons jein mächtiges Gentralnervenfyftem nebft einem Stüd des 
linken Organs an fauberem Präparat bewundern läßt. 

Wenn wir in diefen ungeheueren Geftalten die jchaffende 
Naturkraft fih noch in heutiger Zeit vor unferen erftaunten 
Augen allgewaltig enthüllen ſehen, fo verlieren freilich die ver- 
fteinerten Refte einer Torpedo:Art aus den Zertiärjchichten des 
Monte bolca, weldye, bevor wir Torpedo occidentalis fennen 
lernten, durdy ihre Größe gerechte Aufjehen machte, für uns 
an Anfjehen und Bedeutung; denn der dafür gewählte Name, 
T. gigantea, gebührt ihr im Vergleich mit der amerifanijchen 
Art gar nicht mehr, weil lebtere die bisher gefundenen ver: 
fteinerten Reſte in ihren Dimenfionen erbeblid überragt 
(152 cm: 133 cm). Vielleicht werden in jpäterer Zeit 
noch Refte größerer Eremplare der verfteinerten Art gefunden, 
welche der Torpedo occidentalis jedenfalls jehr nahe fteht, wenn 
fie nicht überhaupt mit ihr identisch it. Hat aber audy die jeit 
jener Epoche unjerer Erde eingetretene Umgejtaltung der or— 

(850) 


17 


ganiichen Schöpfung beide Formen in einem oder dem anderen 
Punkte getrennt, jo fann doc, feineöfalld auf dad Auffinden 
einer einzigen, fojfilen Art, zumal diejelbe nody lebenden Formen 
durchaus verwandt ift, die Anjchauung gegründet werden, es 
babe in früheren Perioden eine ausgebreitete Fauna elektriicher 
Fiſche gegeben, deren jet lebende Repräjentanten wir als einen 
jeher zuſammen gejchmolzenen Reft jener Fauna zu betrachten 
hätten. Es kommt ja auf über 50 jebt lebende Arten von 
eleftrijchen Fiſchen bis heute nur eine verfteinerte Art! Auf dieje 
mißverftändlich auf Darmwint) zurüdgeführte Theorie, welche 
Boll die annehmbarfjte gewejen zu fein jcheint, iſt weiter 
unten nochmals zurüd zu fommen. 

An Torpedo occidentalis, welche über 1000 Säulen in je- 
dem Drgan zählt, jchließt ſich ein anderer Zitterrochen des at— 
lantijchen Ocean's, welcher bei Madeira vorkommt, aber wegen 
großer Seltenheit bisher noch nicht gemauer befannt wurde, 
nämlidy) T. hebetans Lowe. Das in Europa einzig vorhandene 
Sremplar der Art im Britiſh Mufeum hat nur die Größe einer 
mittleren gemeinen Torpedo marmorata, ed zählt aber etwa 
ebenjoviel Säulen (1025) als die amerifanifche Art, der fie auch 
im Neußern merkwürdig ähnlich fieht. 

Gleichfalls durch eine jehr hohe Säulenzahl (895) zeichnet 
ſich eine leider auch nur vereinzelt in Europa (Berliner zoolog. 
Mujeum und Phyfiolog. Imftitut?) vorhandene Art aus, 
T. californica von der Weſtküſte Amerika's, welche auch der 
atlantijchen ähnlich fieht, ohne jedoch ihre Größe zu haben, 
da dieſe Stüde nur 19,8 cm und 31,5 cm lang find. Nach 
brieflihen Mittheilungen fommt T. californica, die hauptſächlich 
in der Bay von Monterey und San Diego gefangen wird, dafelbft 


gelegentlicdy in erheblich größeren Eremplaren vor,fald die DBer- 
XVII. 430. 431, 2 (851) 


18 


Iiner e8 find, wenn auch Nichts von den Riefendimenfionen der 
T. occidentalis verlautet. Die Möglichkeit, daß beide Arten zu— 
jammen gehören, obwohl fi) der ganze amerikanische Gontinent 
zwijchen fie jchiebt, ift nicht ausgefchloffen. Ueber T. hebetans 
fehlen nähere Daten hinfichtlich ded Vorkommens gänzlich, ob» 
wohl Madeira gleichjam vor den Thoren Europa’d liegt, und 
ed manchem Forſcher erwünjcht fein müßte, über das Verhältniß 
der T. hebetans zu T. occidentalis 6) aufgeklärt zu fein. 

So bieten ſich ſchon durch Betradytung dieſes einen For- 
menkreiſes der Zitterrochen höchſt intereſſante Geſichtspunkte, 
ſowohl über geographiſche Verbreitung und lokale Umwandlung 
der Arten als auch den früheren Zuſammenhang ganzer Meered« 
Faunen mit einander, weldye jet durch lang ficy hinziehende 
Ländermafjen getrennt find. Dazu fommt nody im betreffenden 
Falle die Möglichkeit einer engeren Beziehung zu der bereits 
jeit Sahrtaujenden ausgeftorbenen Art des Monte bolca. 

Die Ueberzeugung, daß gerade an diejer Stelle tiefere Ein- 
blide in das Werden der Arten, in die Ausbildung localer Bas 
rietäten zu jogenannten guten Arten zu gewinnen jeien, wird 
weiter verftärft, wenn wir den Formenkreis der Torpedo mar- 
morata mit in die Betrachtung ziehen. Diefe am genaueiten 
unterfuchte Art bat eine erftaunliche geographiiche Verbreitung, 
indem fie fowohl im atlantifhen Dcean an den Küften von 
Portugal und Franfreih, ald auch im Mittelmeer allerwärtd 
häufig gefangen wird und fogar im indiichen Ocean bis her— 
unter nah Madagascar gelegentlich vorfommt. 

Bei diefer großen Berbreitung ift die Ausbildung von Lo— 
falvarietäten leicht begreiflich, jo daß jelbft in dem engen Mit- 
telmeerbeden mehrere derjelben unterjchieden werden können. Es 
it hier nicht der Drt auf die bereitd von Olfers gegebene Auf- 


(852) 


19 


zählung verichiedener Varietäten der Torpedo marmorata ein- 
zugehen, da auch von ihm die eleftriihen Drgane bei der Ab» 
grenzung unberüdfichtigt gelafjen wurden. 

Gerade bei der genannten Art ilt aber die Breite der in- 
dividuellen Abänderung aud an den Organen ſehr bemerfens- 
wertb, injofern bei der gewöhnlichen Form jchon die Säulen- 
zahl zwiſchen 440 und 570 und darüber ſchwankt, d. h. um mehr 
ald ein Viertel der Gejammtzahl. Beftimmte, ſchon äußerlich 
durch Färbung und Zeichnung Fenntlidye Varietäten, die daher 
unter bejonderem Namen geführt werden können, gehen noch 
über die angeführte Zahlengrenze hinaus, d. h. überfteigen die 
Zahl von 600 in jedem Organ, und nähern ſich aljo ſchon jehr 
bedeutend dem zuerit genannten Arten. Wahrjcheinlich gehörte 
auch die T. nobiliana Bonaparte’3 dem Formenfreiie der T. 
marmorata ald Barietät an; unter Berüdfichtigung der ihr am 
nächſten ftehenden Abart, würde ich bei T. nobiliana ebenfalls 
eine Säulenzahl von etwa 600 erwarten. 

Denkt man fidy ſolche Lofalvarietäten des Zitterrochen in 
ihrem VBorfommen genügend lange ilolirt, um die Zahl der 
Rückſchläge in die Stammart allmählich geringer werden und die 
Merkmale durch Behinderung erneuter Kreuzung mit friichem 
Blut von außerhalb fid) mehr befeftigen zu laffen, wird der 
Spftematifer ed faum vermeiden fönnen, die jo wohl unterſchiede— 
nen Formen ald Species gelten zu lafjen. 

Um dem Lejer einen Weberblid der großen Menge elef- 
trifcher Fiiche allein aus der Familie der Torpedineen zu geben, 
lafje ich bier die Namen der zur Zeit befannten mit den zu— 
gehörigen Zahlen der elektriihen Säulen eines Drganes folgen, 
ſoweit ſolche bisher feftgeftellt wurden. 


An T. marmorata mit ihren Varietäten reiht fid Torpedo 
2° (853) 


20 


fuscomaculata Pet.. der Küfte von Mozambique mit 593 Säulen, 
die den Gefammtdurdjichnitt der T. marmorata-Barietäten alſo 
noch übertrifft; dann T. panthera Ehr. und T. sinus persici 
Rüp. mit 449 Säulen; dann Hypnos subnigrum der auftraliichen 
Meere (436 Säulen), dann erft der andere Zitterrocdhen des 
Mittelmeered, Torpedo ocellata mit 432 Säulen. Es folgt 
nun Narcine brasiliensis Südamerifa’8 (428 S.), N. tasmaniensis 
Neu-Seeland’3 (278 ©.), N. lingula von China (274 ©.), N. 
timlei (224 ©.) und N. indica (145 S.)?) des indilchen Dceans, 
Astrape capensis des Gap der guten Hoffnung (147 ©.), Te- 
mera Hardwicki de3 jtillen Dceans (139 ©.), A. dipterygia 
von Japan (132 ©.): gewiß eine ftattliche Reihe von Gattungen 
und Arten, die bier im abfteigender Reihe hinfichtlich der Ent- 
widelung ihrer eleftrijchen Organe geordnet wurden. Lage und all= 
gemeine Anordnung diejer Theile ift überall etwa diejelbe, die 
Figuration und Gruppirung der Säulen unterliegt dagegen 
mannigfachen VBerjchiedenheiten. 

Ein durchaus anderes Bild bietet dem Bejchauer hingegen 
der elektriſche Fiſch des ſüßen Waſſers aus Amerika, (Gymnotus 
electricus), dem ſeine langgeſtreckte Körpergeftalt (Vergl. $ig.3) den 
unverdienten Namen eines Aales eingetragen hat, obwohl es dody 
auch andere lange Fiſche giebt, die feine Aale find; er wird aber nun 
wohl der „Zitteraal* bis and Ende aller Dinge bleiben. In ihm bat 
die Entwidelung der eleftriichen Organe eine erftaunliche Mächtig- 
feit erlangt und fie ilt ed in der That, welche, in den Schwan;- 
abjchnitt des Thiered verwiejen, dem eigentlid ganz furzen Fiſch 
zu feiner bemerfenöwerthen Länge verhilft, während der Aal audy 
abgeiehen vom Schwanz wirflid ein langer Fiſch ift. Der Kopf 
mit der gejammten Zeibeöhöhle nimmt nur etwas mehr ald den 


jünften Theil des Körpers ein und der nad) vorn umbiegende Darm 
(854) 


21 


Ipiuvuap "(uvaayıE) snoppolo suyouusg 


g vig 


(355) 





22 


endigt im After an der Kehle des Fiſches. Die übrigen vier Fünftel 
des Körpers find wie der Duerjchnitt Fig. 4 ed unter „O“ an— 
deutet, zum größten Theil von einer gallertigen, durdyicheinenden 
Subftanz eingenommen, welche zwei große Mafjen oder Organe 
bildet, die von den Seiten der Leibeöhöhle aus, fi) allmählich 
verjüngend, bis in die äußerſte Schwanzipiße reichen, während 
zwei kleinere jolhe Mafjen („o“ der Figur), unter den erjteren 
gelagert, etwas weiter nad) hinten beginnen und im Schwanz- 
ende zumeilen fchon wieder jchwinden. Die ganze Rumpf: 
muöfulatur wird durch die großen Organe nad) dem Rüden zu 
verdrängt und aud die Floffenmuskulatur kann wegen der unteren 
Heinen Drgane ihren Platz nicht vollftändig behaupten; in der 
Körpermitte ftoßen die Drganpaare aneinander. 

Genauere Betrahtung zeigt auch bier die fulzige Maije 
von feiteren Scheidewänden durchſetzt, welche von der mittleren 
Hauptiheidemand zum Äußeren Umfang bed Körpers verlaufen 
und von der Seite gejehen erfennt man, daß die Zwijchenräume 
diejer Wände in fenfrechter Nicytung (den Fiſch ſtets horizontal 
gedacht) wiederum eine Anordnung von Platten erkennen lafjen. 
Die ſcheinbar jo große Abweichung vom Bau des Torpedo-Organes 
verliert ficy aljo faſt gänzlich, wenn man berüdfichtigt, dab die 
bei leßterem polygonalen, Eurzen Eäulen fenfredht ftehen, bei 
eriterem an Stelle derjelben niedrige aber breite Prismen vor: 
handen find, die horizontal lagern und eine beträchtliche Länge 
erreichen; dort find die ebenfalld vieledigen Platten der Säulen 
horizontal gelagert, bier die etwa bandförmigen Platten jenf- 
recht geftellt. 

Die zu den Organen tretenden Nerven fommen vom Rüden» 
marf und treten in gleicher Weije zwijchen den Wirbeln aus, 
wie ed auch fonft der Fall iſt, ed giebt alſo deren eine jehr be— 

(856) 


23 





Senkrechter Durchſchnitt des Gymnotus electricus etwa durch die Mitte 
des ganzen Fiſches. 


(857) 


Digitized b Soogle 


24 


trächtlihe Zahl, ebenfo wie Rüdenwirbel, und dad Rüdenmarf 
jelbft unterjcheidet ſich äußerlich nicht auffallend von dem eines 
andern verwandten Fijches, z.B. ded gemeinen Weljes. 

Die Länge dieſes in den Fleineren Flüffen und Lagunen des 
Drinofogebieteö bejonders häufigen, aber au im Amazonas vor- 
fommenden Gymnotus electricus erreicht 2,5 m bei entjpredyen- 
der Dicke, die wenig hinter der eined menſchlichen Schenfelö mitt- 
lerer Stärfe zurüdbleibt. Ein joldy riefiged Eremplar war 1878 
in der Berliner Fijcherei-Ausftellung in audgeftopftem Zuftande 
vorgeführt, und ftellte alfo in der That den längften eleftriichen Fiſch 
dar, fein Gewicht würde aber nad Schäßung nur etwa 40 Pfd. 
betragen haben odernody nicht die Hälftevon demjenigen der größeren 
Niefen-Zitterrochen der nordamerifanifchen Küften. An elektrijcher 
Kraft dürfte er fidh aber wohl mit dem Rochen meſſen fönnen; 
denn nad allen Berichten der Reijenden, jeit v. Humboldt 
bis herab auf die reichen Erfahrungen meines zu früh ver« 
ftorbenen Freundes Sachs find die fürdhterlichen Schläge der 
großen Tembladores ein Schreden der Einwohner und eine be» 
ftändig drohende Gefahr beim Paffiren der Furthen, in denen 
häufig die Laftthiere, von den Schlägen betäubt, rettungslos 
untergehen. Iſt man doch gezwungen gewejen, jelbft Straßen 
zu verlegen, wegen der Häufigfeit der Zitteraale in den zu pafft- 
renden Gewäfjern! Die lebend nad) Europa gebradyten, obwohl 
nur von mittlerer Größe und durdy die Gefangenihaft geſchwächt, 
erfüllten ihren Wafferbehälter noch von fo gewaltigen eleftrijchen 
Stromcuren, daß die eingetaucdhte Hand ſelbſt an der dem Fiſch 
entgegengefeßten Seite der Wand zu jchleunigem Rüdzug ge— 
zwungen wurde. 

Gegenüber diefem Heros der eleftriichen Fiſche ift der nun 


zu erwähnende Mormyrus ein ſanftes Gemüth; jein deutjcher 
(858) 


25 


Name „Nilhecht” ift ein ebenſo bemerkenswerther Lucus a non 
lucendo wie der „Zitteraal”, da jener jo wenig Hecht ift, wie 
diefer Aal. Den gewaltigen, mit langen, nadeljpiten Zähnen 
bewaffneten Radyen des Hechted ſucht man bei dem Geſchlecht 
der Mormyri vergeblich; ja es ift fogar charakteriſtiſch für fie, 
daß fie nie „dad Maul auf dem rechten Fled haben.” Cinmal 
ift das Feine, mit dürftigen Zähnchen verjehene Maul an das 
Ende eined nad abwärts gefrümmten Rüſſels verlegt (M. oxy- 
rhynchus, caschiwe, Hasselquistii, longipinnis, Geoffroyi) oder 
ed ift nach oben verlegt, während die Unterlippe ftarf voripringt 
(M. cyprinoides) oder ed liegt im Gegentheil ganz unten 
an dem ftarf abgerundeten Vorderfopf (M. bovei, bane); nur 
Mormyrus dorsalis und elongatus haben die Mundöffnung 
ziemlich an normaler Stelle, dody bleibt noch die geringe Größe 
auffallend. 

Durch jo enge Pforte kann natürlich feine umfangreiche 
Beute eingehen, und ed wäre daher eine gewiſſe Verichwendung 
der Natur, den Fiſch mit riefiger Kraft audzuftatten, während 
er nur Heine Thierhen zu bewältigen hat. Die geringe Stärfe 
der eleftriichen Schläge ift neben ungeeigneter Ableitung des 
Drgand der Grund geweſen, weßhalb man die eleftriihe Natur 
des Fiſches jo lange verfannt hat, während ſchon im Jahre 1832 
Rüppell®) ein Drgan an ihm nadywies, welcheö den bereitö be— 
fannten eleftrijchen merfwürdig ähnlich war. Die endlidye Ent- 
larvung des heimlihen Sünders, an weldyer der Verfaſſer 
weſentlich betheiligt war, ift in mehrfacher Hinficht von großem, 
allgemeinem Snterefje. 

Bordem war man mit NRüdfiht auf die Aehnlichkeit der 
eigenthümlichen Organe mit eleftrijchen gezwungen, für diejelben, 


da feine Entladungen von ihnen befannt waren, eine bejondere 
(859) 


26 


Kategorie zu bilden, die man nad) Hrn. du Boid-Reymond’s 
Borgang „pfeudoseleftriiche" Drgane nannte. Sept ift der wejent- 
lichfte Repräſentat der „pſeudo-elektriſchen“ Fijche der Mormyrus 
zu den wirklich eleftrifchen verwieſen; umd wenn jeiner Zeit 
Hr. Babudin?), den Thatjachen vorgreifend, erflärte: „ed giebt 
feine pfeuboseleftriichen Fiiche, jondern nur große und ftarfe 
ſowie Kleine und ſchwache eleftriiche Fiſche,“ jo könnte er heutigen 
Tages dieje Behauptung jchon mit größerer Sicherheit aufitellen. 
Ferner aber öffnet fich gerade hier die Peripective, welche uns 
Aufihluß geben foll über das Räthſel der Entftehung jolcher 
eleftriicher Batterien in dem Thierförper. Auch jetzt noch iſt 
die eben citirte Behauptung, obwohl fie ſehr wahricheinlicy voll- 
fommen richtig ift, vom ftrengZwifjenichaftlichen Standpunfte 
aus als zu fategoriich gefaßt zu bezeichnen, da ed Fiſche giebt, 
die den eleftrijchen verwandte Drgane befißen, von welchen aber 
biöher Entladungen in ganz vorwurföfreier Weije nicht zu erzielen 
waren, oder ed ift überhaupt feine Beobachtung über ihre eleftrijche 
Wirkung befannt. Dffenbar find wir aber auf dem beiten Wege, die 
Richtigkeit von Hrn. Babuchin's Behauptung zu erweilen, 
und dazu liefert die vergleichendsanatomijcye Betrachtung aus- 
gezeichneted Bemweidmaterial, indem fie den volllommenen elef- 
triſchen Fiſchen die unvolllommen eleftriichen ohne Scywierigfeit 
anzureihen vermag. Dabei ift vornehmlich an die Arten des 
Genus Raja, aljo die eigentlihen Rochen gedacht, welche wie 
der Mormyrus an beiden Seiten ded Schwanzed Organe be— 
figen, deren Anordnung und Bau fid) mehr oder weniger eng 
an ben der eleftriihen Organe anſchließt. Höchſt verdächtig 
wird der Rochen allerdings und zwar um fo mehr, ald ein 
anderer jehr merfwürdiger Nilfiih, ‚ver Gymnarchus niloticus 


in der Drganifation ded Schwanzed die Brüde bildet von der 
(860) 





27 


Anordnung des Rochen zu derjenigen des Mormyrus, wo die 
eleftriiche Wirkung jetzt außer Zweifel fteht. Der Gymnarchus, 
welcher im mittleren und oberen Nil häufiger ift, fommt höchſtens 
im Sommer audy in den unteren Nil, und es findet fid daher 
die Gelegenheit, feine eleftriihe Natur feitzuftelen nur aus— 
nahmsweiſe. Wie es jcheint, liegen gar feine Beobachtungen 
am Lebenden vor. 


Fig. 5. 


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Der Schwanz von Mormyrus eyprinoides. Die eleftrifchen Organe find 
durch Ablöfung der Haut bloßgelegt. 

Hier bildet ſich gleihjam vor unjern Augen eine Entwide- 
lungsreihe, welche auf niedrigfter Stufe die Gattung Raja zeigt, 
dann aufiteigend Gymnarchus, ferner Mormyrus und endlidy 
Gymnotus jowie Torpedo anſchließen läßt, der Ausgangspunkt 
aber, von dem dieſe ftammesgejchichtliche Entwidelungdreihe der 
eleftrijchen Drgane beginnt, find Muskeln!! 

Fig. 5 zeigt dad Schwanzende des Mormyrus, wo die höchſt 
zierli angeordneten, platten Sehnen der Echwanzmusfeln, 


(861) 





28 


welche im friichen Zuftande dur ihren Perlmutterglanz an 
einen halbgeöffneten Damenfädher aus ſolchem Stoff im Kleinen 
erinnern, an einer gewilfen Stelle, d.h. ungefähr dem Ende der 
Afterfloffe benachbart, plößlich ihre jolide Fleiſchunterlage verlieren ; 
fie ſpannen ſich nun oberflächlidy über eine durchjcheinende, gallertige 
Maſſe hinweg, welche wiederum eine verhältnikmäßig grobe 
Pattenanordnung erkennen läßt, deren Stellung ſich etwa ſenk— 
recht zur Hauptrichtung der Sehnenbündel verhält. 

Die wenigen, locker aus Platten aufgebauten Säulen des 
Drgand liegen bier aljo etwas ſchräg zur Längsaxe des Körpers und 
halten jo die Richtung der benachbarten Musfelbündel nody 
einigermaßen ein, während fie beim Gymnotus faft ganz hori— 
zontal geworden find. 

Bei Raja, wo die „pſeudo⸗-elektriſchen“ Organe ebenfalls der 
Schwanzmuskulatur angehören, ift nun endlich ſelbſt die Platten: 
bildung unvollendet geblieben. Es finden ſich hier in dem lang» 
geftredten Organ Reiben von etwas abgeplatteten, rundlichen 
Körpern, eingebettet in eine gallertige Subftanz, welche Körper 
ſchon bei Betrachtung mit bloßen Augen an etwas gequollene, 
fein zerzupfte Muskelbündel erinnern. Dies iſt in der That 
feine Bolta’ihe Säule mehr, und man findet ed unter BVer- 
gleihung mit den vorher bejprodyenen Organen gleichſam natürs 
lich, daß fo roh zufammengejegte Apparate die hohe Leiſtungs— 
fähigfeit der anderen nicht zeigen Fönnen, wie auch immer die- 
jelbe zu Stande fommen mag. 

Um fo richtiger erſcheint es gleihwohl, darauf hinzuweifen, 
dab Angaben von Beobadhtern (Robin) vorliegen, welche audy bier 
gelegentlicy durch Zudungen des Froſchſchenkels und Ablenkung 
der Magnetnadel an bejonders ftarfen Eremplaren eine elektriſche 
Wirkung der Drgane beobachtet haben wollen 1°). Wenn dies in 


(362) 


29 

anderen Källen troß redlicher Bemühungen nicht glüdte, fo liegt 
died vielleicht in der Ungunft lokaler und zeitlicher Verhältniſſe, 
deren Berüdjihtigung bei allen eleftriichen Verſuchen befannt- 
lih von bejenderd hervorragender Bedeutung if. Man follte 
dabei nicht vergejjen, daß zuweilen ungünftige äußere Verhält— 
niſſe jelbjt den geſchickteſten Erperimentator mit erprobten, phy— 
fifaliichen Apparaten völlig in Verzweiflung jegen; fowie daß auch 
ein Streichholz nicht immer brennt, wie Hr. Brüde zu jagen 
pflegte. 

Haben wir nun den Anfang ded Ariadne-Fadend, der uns 
aus dem Labyrinth der mannichfaltigen, eleftriichen Fiichorgane 
herausführen ſoll, glüdlich gefunden, jo wird ed jchon leichter 
jein, demfelben weiter zu folgen. Der ebenjo interefjante, wie 
ſchwierig zu unterjuchende mifrojfopiihe Bau der Organe wird 
weiter unten wenigftend in den Hauptpunften Berüdfichtigung 
finden, an diejer Stelle jei nur erwähnt, daß bei den Organen 
der leßterwähnten Gattungen bei Raja und Mormyrus jelbft 
nod im entwidelten Zuftand mit dem Mifrojfop Spuren der 
Herkunft der Elemente von der Muskulatur nachweisbar find, 
nämlich eine Schicht aus mäandriſch aufgerollten Fafern, welche 
die eigenthümliche Querftreifung zeigen, wie fie fich bei den 
Muskeln findet und ihmen die Bezeichnung der quergeftreiften 
Muskulatur verichafft hat. 

Steigen wir aber auf zu den voll entwidelten Organen der 
ftarfen eleftrifchen Fijche, zu Gymnotus und Torpedo, jo fehlt 
bier auch im mifrojfopiihen Bilde der unmittelbare Hinweis 
auf die Entftehung der Batterien aus quergeftreiften Muskeln. 
Auch bei diejen Gattungen kann indejjen der Nachweis, dab ein 
gleiches Gntwidelungsprincip vorliegt, mit einer an Gewißheit 
grenzenden Wahrjcheinlichkeit geführt werden. Der Weg dazu 


(863) 


30 
iſt nach der Natur der Sache ein doppelter: er folgt entweder 
der Entwickelung des Keimes, bewegt ſich alſo auf embryolo— 
giſcher Baſis, oder er folgt der Entwickelung des ganzen Stam— 
mes der Fiſche, ſtützt ſich alſo auf Vergleichung der verwandten, 
nicht elektriſchen Fiſcharten. 

Zur Unterſuchung der keimesgeſchichtlichen Organentwickelung 
bot Torpedo das geeignetſte Material, da dieſer lebendgebärende 
Fiſch ſeine Jungen bis zu einem bemerkenswerth weit vorge— 
ſchrittenen Stadium des Wachsthums bei ſich trägt, ſo daß die 
jungen Fiſchchen, eben geboren, bereits etwa 6—8 cm lang find 
und deutliche eleftriihe Schläge ertheilen können. Durdy Er— 
Öffnung der mütterlichen Thiere gewinnt man alfo Embryonen 
des verjchiedenften Alterd, deren frifche Unterſuchung den Ent— 
widelungsgang der Drgane enthüllen mußte. Nad dem Ita— 
liener de Sanctis war ed bejonderd Hr. Babudin, welder 
auf diejem Felde ſich Zorbeeren errungen hat, indem er nach— 
wied, dab in der That die Anfangäftadien der eleftrifchen Or— 
gane Elemente enthalten, die embryonalen Musfeln durchaus 
ähnlih und verwandt find. Damit war der Beweis geliefert, 
dab die räthielhaften Batterien nicht in den Thierförper, wie 
man jagt, hineingejchneit find, jondern daß fie wirflid das 
Produkt einer eigenthümlihen Umwandlung ibm nor— 
mal zukommender Organe darftellen. 

Es lag auf der Hand, wie widtig ed jein mußte, die 
Nichtigfeit der bei Torpedo feftgeitellten Thatſache auch an den 
Embryonen von Gymnotus zu erproben. Leider ift die Möge 
lichkeit dazu vom Geſchick bisher hartnädig verweigert worden ; 
nicht nur ift die Entwidelung der Brut bis heutigen Tages 
ein vollftändiges Geheimniß der Natur, ſondern jelbft einiger: 
maßen junge Individuen des Thiered find nody nicht zur Beob— 


(64) 


31 


achtung gelangt. Denjenigen meiner verehrten Leſer, welche in 
diejer traurigen Sachlage vielleicht geneigt find, einen bejonderen 
Mangel an Energie oder Geſchick der dabei intereifirten, wiſſen— 
ſchaftlichen Kreije zu jehen, möchte idy nur entgegen halten, daß 
jelbft die Naturgejchichte unfered gemeinen Aales befanntlich 
noch nicht vollfommen feitgeitellt ift, wenn wir auch hier in 
leßter Zeit mwenigitend die junge Brut kennen gelernt haben; 
und dad, was bei den günftigen Berhältniffen Europa's nicht 
glüdte, bei den Schwierigfeiten eined uncivilifirten Landes unter 
tropiicher Sonne nody weniger ausfichtövoll iſt. MWahrjcheinlich 
fällt die Entwidelung der jungen Zitteraale in die Nezenzeit, 
und wenn dann die Lagunen und feinen Wafferläufe (Caño's) 
der Llanos weite, wogende Wafjerflächen darjtellen, treibt auch 
der eifrigite Foricher, ein betrübter Lohgerber, dem die Zitter- 
aale weggeſchwommen find, auf hoffnunglofem Nachen über die 
Ichweigenden Fluthen, die ihre Kinder liebevoll verhüllen. 

Während unter den gegebenen Verhältniſſen die Ausfichten 
auf baldige Löſung der Frage nach der Entwidelung dieſes 
eleftriichen Filched Außerft geringe find, jo bleibt und immer 
noh die Möglichkeit, den ftammesgejchichtlihen Weg zu bes 
treten. 

Der leitende Grundgedanfe bei derartiger Unterfuchung ift, 
daß die gänzliche oder theilweile Umwandlung einer beftimmten 
Drgananlage, die ald ein allgemeines Attribut aller verwandten 
Organismen zu betrachten ift, in eine andere, davon abweichende 
für die urjprünglicye Anlage einen Berluft oder Ausfall bedingt. 
Diejer Ausfall fann freilich, bejonderd wenn er in ſehr frühe 
Entwidelungsperioden des Organismus fällt, wieder jo ausge— 
glihen und verdedt werden, dab es jchwierig oder jelbft un— 
möglich wird, jeine thatjächlihe Exiſtenz nachzuweiſen: aber 

(865) 


— 
andererſeits iſt ein poſitives Ergebniß ſolcher Unterſuchung, alſo 
ein Nachweis des fortbeſtehenden Defektes an einer beſtimmten 
Stelle der normalen Anlage beim entwickelten Thier ein nahezu 
ebenſo bündiger Beweis der geſchehenen Umwandlung, als die 
Verfolgung derſelben auf keimesgeſchichtlicher Grundlage. 

In der That läßt ſich nun bei allen den bisher genannten 
elektriſchen Fiſchen der Ausfall eines Theiles der Muskulatur 
nachweiſen; da ferner die elektriſchen Organe fich an der Stelle 
des fehlenden Theiles und mit dem fortbeſtehenden in un— 
mittelbarer Berbindung finden, jo ift die Annahme gerechtfertigt, 
fie jeien eben durdy Verwandlung aus jenem hervorgegangen. 

Natürlich) braudyt ed nicht immer der nämlidhe Abjchnitt 
der Muskulatur zu jein, weldyer der Umwandlung verfällt, und 
ift e8 auch thatjächlich nicht; eine allgemein geltende Beſchrän— 
fung würde nur fein, dab der in Wegfall kommende Theil der 
Muskeln für die Erhaltung des Lebens entbehrt werden fann, 
wenn der Verluſt audy nicht ohne Einwirkung auf die Lebens- 
weije bleibt. So fehlt dem gemeinen Rochen ein Stüd der 
langen Seitenmuskeln ded Schwanzabichnittes, deögleichen bei 
dem Gymnarchus, wo ed in höchſt merfwürdiger Weije aus 
dem centralen Theil der Seitenmusfeln ausgejchnitten erjcheint; 
beim Mormyrus find die der Seitenlinie benachbarten Theile 
der nämlichen Muöfeln am Schwanz bid auf die Sehnen ver: 
loren gegangen; dem Gymnotus fehlt die tieffte Partie der ven- 
tralen Rumpfmusfulatur bis auf einen fleinen Reſt, die ſoge— 
genannte Zwifchenmusfeljchicht, und ift an ihrer Stelle dad große 
eleftriiche Organ getreten; es fehlt ihm ferner der oberfte Theil 
der inneren Flofjenträgermusfeln, wo fich das kleine elektriſche 
Drgan entwidelt hat; der Torpedo endlich fehlt die äußere Lage 


der Heinen Muskeln des Kiemengerüfted und die bei den ver: 
(866) 


33 


wandten Rochen außordentlih mädtigen, äußeren 
Kiefermuöfeln! 

In allen Fällen zeigt beionders dad Berhalten der jehnigen 
Theile, welche einjt den Muskeln zur Umhüllung und Anbeftung 
dienten, an dem eleftriichen Drganen noch die Andeutung der 
früheren DOrganijation und erlaubt weit gehende Vergleichungen 
mit den entiprechenden Anlagen der nicht eleftriichen Verwandten. 

Es wurde bereit bemerkt, dab die Umwandlung beftimmter 
Musfelanlagen fehr wohl einen gewifjen Einfluß auf die Lebens: 
weile der Thiere haben könnte; in diefer Beziehung ijt die bedeu— 
tungsvolle Thatjache hervorzuheben, daß ſich alle eleftriihen 
Fiſche durch Trägheit aus zeichnen. Langſam und ſchwerfällig 
vollziehen ſich die Bewegungen der gewöhnlich auf dem jchlam- 
migen Grunde ruhenden Zitterrochen, jchiebt fich der Zitteraal 
durch die undulirende Bauchfloſſe in dem flachen Wafler dahin; 
und audy der Nilhecht läßt die lange Rückenfloſſe unduliren, 
während fein mit eleftrijchen Organen auögeftatteter Schwanz 
der Bewegung verhältnigmähig wenig nugbar wird. Die Träg— 
heit der Zitterrochen geht thatſächlich bis zur Erkrankung der- 
jelben; wenigitend weiß ich mir nicht anderd ald durch die träge 
Lebensweiſe zu erklären, daß gerade dieſe Art von einer eigen— 
thümlichen Krankheit befallen wird, bei welcher ſich die Glieder 
der Bruſtfloſſen nefrotiich abftoßen, und der Körper unförmlich 
anfchwillt, wie ed bei der Elephantiaſis ded Menjchen der 
Fall ift. 

Die eleltriichen Fiſche haben ed eben nicht mehr nöthig, ſich 
befonderd um ihr tägliched Brod zu bemühen, der Tiſch iſt für 
fie reichlich gededt, aud) wenn fie feinen Muskel darum rühren. 
Die furchtbare Waffe, weldye fi in ihrem Körper herangebildet 
hat, befähigt fie zur Bewältigung von Beutejtüden, wie fie 

XVII. 430. 431. 3 (867) 


34 


ohne ernften Kampf durch die gewöhnlichen Mittel nicht be- 
jwungen werden fönnten. Beiſpielsweiſe jchnitt id aus dem 
Magen einer Torpedo panthera des rothen Meereö, deren 
Gewicht 420 g betrug, einen noch wohl erhaltenen Fiſch 
(Pagrus) von 53 g Gewicht! Dabei ift die Breite ber 
Mundfpalte nur 25cm, die Breite des verichlungenen Fiſches 
aber 48cm, fo daß er durdy den dehnbaren Kieferapparat, wie 
bei einer Riejenichlange hinabgewürgt worden jein muß. 

Nach Dr. Sachs's Angaben räumen die Tembladoreö des 
füdlihen Amerika's unmwiderftehlich in den heimiſchen Gewäflern 
auf und verichlingen ebenfalls Alles, was ihre Nähe nicht zu 
fliehen vermag, bid nur die eleftriichen Fiſche jelbft übrig ge- 
blieben find, da fie fid) gegenieitig Nichts anhaben. 

Das kleine, nicht dehnbare Mäulchen des Mormyrus würbe 
feinesfalld größere Beute palfiren laffen, aber jehr wohl fünnen 
feine Sübwafjer-Sruftaceen, Wafjer-Infeften und Würmer, die 
flüchtig genug find, um dem langjamen Fiſchchen zu entgehen, 
auch durdy einen verhältnigmäßig ſchwachen eleftriihen Schlag 
zahm gemacht und nach Behagen durch die enge Mundöffnung 
binabgeichlürft werden, jei ed daß die abwärtd gebogene Schnauze 
fie aud dem Schlamm ded Bodens auflieft, ſei ed daß der nad) 
oben gerichtete Mund ſolche von jchwimmenden Gegenftänden 
oder Waflerpflanzen abftreift. 

Gerade der unvollkommenſte, noch zweifelhaft elektriſche Fiich, 
dad Genus Raja, giebt allerdings feinen plaufibeln Anhalt für 
die Function des Schwanzorgan's, da die zu ihm gehörigen 
Arten ganz anſehnliche Beute durch die Macht ihres Gebiſſes 
und der Kiefermudfeln bewältigen. Andererjeitö verlieren fie aber 
auch wenig durch den Verluſt der Fräftigen Musfelaction ihres 


Schwanzed, welder gegenüber den breiten, der Locomotion faft 
(868) 


35 


audjchlieglich dienenden Bruftflofien nur eine ganz untergeordnete 
Rolle jpielt. — 

So baut fi eine ftattlihe Reihe intereffanter Thatjachen 
auf, melde harmoniſch zujammenfklingen und aud) denjenigen 
mit unwiderftehlicher Gewalt zum Verſuch einer allgemein gül- 
tigen Deutung zwingen, der die lebendige Beobachtung aus 
innerfter Weberzeugung hoch über jedwede Speculation jtellt. Es 
handelt fi darum, was unſere Naturanfchauung, ind Beiondere 
die Entwidelungslehre, aus den joeben angeführten Thatjadyen 
verwerthen kann umd in weldyer Richtung und darauf zu yrüns 
dende Schlußfolgerungen führen? Um diefen Fragen näher zu 
treten wird eö nothwendig jein, einige erflärende Bemerkungen 
vorauf zu ſchicken. 

Nur der Enthufiaft kann fich der Heberzeugung verichließen 
dab ſich der Entwidelungsfehre, diejer Theorie, weldye man das 
„Enfant cheri“ unſeres Zeitalterd nennen könnte, an vielen 
Stellen der Naturbetrahtung nody ungeheure Schwierigkeiten 
entgegenbauen, und häufig genug die blafje Phraje ed verjucht 
unausfüllbare Abgründe zu überbrüden. Unter diefen Schwierig» 
feiten ift fhon von Darwin jelbit den eleftriihen Drganen der 
Fiihe ein hervorragender Pla angemwiejen worden und aud) 
Hr. du Bois-Reymond hat wiederholentlicd, betont, daß die Ent» 
ftehung derjelben im Sinne der Selectiondtheorie recht bedeuten- 
den Bedenfen unterliegt. Dieſe Ueberzeugung der genannten 
Forſcher bafirt auf dem Gedanken, daß nur ein fertiges Organ 
Schläge zu ertheilen vermag, nur ein ſolches alio dem Thier 
wirflih Nuten jchaffen fann, und ein ſich bildended ald unnüß 
jomit nicht Gegenftand der natürlichen Zuchtwahl werden fünne. 

Ich geftehe, daß ich auch ohne unjere neueren Fortjchritte 
in der Erfenntnit der eleftriichen Organe in Rechnung zu ftellen, 


3° (369) 


36 


die Schwierigkeit der Erflärung hier nicht größer fand als leider 
an vielen andern Stellen der organifchen Natur, wo ſich Ein- 
rihtungen von wunderbarer Pracht und Zierlichfeit finden, deren 
Nuten für dad Individuum mehr ald zweifelhaft if. Häufig 
genug. erjcheinen folche eigenthümliche Gaben der Natur den 
Drganismen ald wahre Danaergefchenfe verliehen, welche ihnen 
leicht zu Schaden und Untergang gereichen; oder fie find läftige 
Anhänge, melde beiten Falled ald indifferent für das Individuum 
betrachtet werden fünnen. Man erkläre doch den Nuten jener 
jonderbaren Schnüre an dem wurmförmigen Körper einer Chiro- 
dota, welche mit Zaufenden mikroſkopiſcher Rädchen behängt 
find, oder der für den jchleimigen Körper übergewaltigen Kiefel- 
gerüfte mandyer Radiolarien, welche bier ald Andreadfreuze, dort 
ald Drdensfterne und Sonnen fidy ausbilden, während andere 
unter gleihen Bedingungen lebende Verwandte derjelben Nichts 
davon zeigen! Wenn Anlofungsfärbung Nuten fchafft, fo ift 
damit noch nicht begreiflih gemadht, warum Zeichnung und 
Färbung von Tauſenden der Arten von Gliederfüßern ftreng 
durchgeführte Mufter aufweifen, welche nach beftimmten Bor» 
bildern conftruirt fcheinen und in ihrem gefährlichen Glanz auch 
die Feinde des Trägerd derjelben aus weiter Ferne berbeiloden. 
Häufig enthüllt erit das Mikroffop die volle Schönheit und 
Negelmäßigkeit der Mufter und doch follen fie, niedrig organi— 
firten Sinnen zu gefallen, in ihrer wunderbaren Pracht organifirt 
worden fein! Durch foldye Betrachtungen hat fidy bei mir die 
Meberzeugung ausgebildet, daß ed unberechtigt ift, zur Erklärung 
folder Bildungen den Begriff „Nußen“ in dem engen, vom 
Menichen gebildeten Sinne zu verwerthen, fondern daß die Bil 
dungs- und Wachsthumsgeſetze der Natur noch anderen, be- 


ftimmenden Momenten gehorchen ald allein dem Nuten nad 
(870) 


37 


grober, menſchlicher Anſchauung, ebenfo wie etwa unfere menſch⸗ 
lihe Moral im Getriebe der organifirten Welt auch nur eine 
untergeordnete Rolle fpielt. 


Wenn in der Entwidelung aus einer Zelle zunächſt durch 
Theilung zwei werden, jo ift ed nicht der Nupen, welcher die Zelle 
veranlaßt fich zu theilen, fondern das der Zelle zufommende 
Wachsthum über die natürliche Grenzen veranlaßt fie zur Ver— 
mehrung; auch als einzelne Zelle Fönnte fie ja, wie Millionen 
ihrer Schickſalsſchweſtern lehren, die nie über died Stadium 
hinaus gelangen, eine ganz erträyliche Exiſtenz führen; bilden 
ih jo aus dem Elementarorganidmud durd) weiter gehende Zell- 
vermehrung Zellhaufen, ohne dab ein Bortheil im Kampf um’s 
Dajein dazu die Veranlaffung zu fein brauchte, jo muß ed aud 
ald möglich zugegeben werden, daß durch ungleichmäßige Zell: 
wucherung indifferente Anhänge entitehen. Durch eigenthümliche 
Ernährungs» und Wachsthums-Verhältniſſe ded DOrganidmus 
höherer Drdnung mag fi gelegentlih eine jo abweichende 
Wucherung berausbilden, dab diejelbe mit einem trivialen Namen 
ald Auswuchs bezeichnet werden und dem Mutterorganidmus 
zum läftigen Ballaft gereichen Fönnte. Während nun manche 
der indifferenten Anhänge ald Ruder, Kiemen u. |. w. Nuten 
im Sinne ded Menſchen jchaffen und jo Gegenftand der natür— 
lichen Zuchtwahl werden, wodurd damit begabte Arten vor den üb- 
rigen einen unleugbaren VBortheil im Kampf um's Dafein gewinnen, 
ift andererjeitö doch nicht ausgejchloffen, dab die Wachsthumsvor— 
gänge aud fernerhin indifferente, oder in menſchlichen Sinne 
jelbft ſchädliche MWucherungen entitehen lafjen fönnen, wenn nur 
das Dajein der Art dadurdy nicht allzu jchwer bedroht wird. So 
wartet dad menſchliche Geſchlecht ungezählte Jahrtauſende ſchmerz⸗ 


(871) 


38° 


lich auf das Verſchwinden des jogenannten wurmförmigen Fort- 
ſatzes an unferem Darmfanal, der Bielen Urjache eined vor— 
zeitigen Todes wird. 

Diefe mannigfacdhen, noch unergründeten Beziehungen der 
einzelnen Theile eined Organismus höherer Ordnung zu ein« 
ander und des Gejammtorganidmuß zu feiner Umgebung, welche 
von Cuvier als die Gejete der Correlation bezeichnet wur- 
den, haben, wie Darmwin!!) felbft ausführte, mit der natürlichen 
Zudhtwahl und dem dieje beherrichenden Nuten direft Nichts 
zu Ichaffen; ihre Bedeutung wurde aber von ihm, eben weil 
fie feiner Lieblingstheorie fremd waren, unterſchätzt. Als üble 
Folge diefer Einjeitigfeit ergeben fi dann verfehlte Verſuche 
Merkmale der Organismen ald Errungenjchaften der natürlichen 
Zuchtwahl nach den Prineipien des menſchlichen Begriffes „Nuten“ 
zu erklären, welche nur unter dem Gefichtöpunft der Gorrelation 
verftändlich werden dürften. So find nun und nimmermehr die 
riefenhaften, hörnerähnlichen Anhänge des männlichen Kopfes und 
Bruftichildes vieler Käferarten Waffen, welche die Thiere nüßlich 
verwerthen fünnten; jelbft bei den Hirſchen und Rehen jpielen 
fie ald Waffen nur eine untergeordnete Rolle, und find gerade 
die ftärfften und ſchwerſten Geweihe den ZThieren recht läftig, 
während der einfache Spieß des jugendlihen Männcyeng, 
fräftig geführt, unftreitig die gewaltigfte Wirkung hätte. Be— 
fampft dody die Oryx-Antilope Afrifa’8 felbft dem Löwen ihrer 
heimathlichen Steppen mit Erfolg durdy die einfadyen, fanft ge— 
bogenen Spieße auf ihrem Kopfe! Gerade hier bei den geweih— 
tragenden Thieren gewinnen wir aber einen Einblid in die 
Entitehung der wunderbaren Bildung unter Berüdfidytigung der 
Gorrelation, in welher die Geweihwucherung mit der regel- 
mäßigen Periode der Gejchlechtöfunctionen als zeitweije Ableitung 


(872) 


39 


der Säfte jteht und fehen monftröje Geweihe entitehen, wenn 
eine Verlegung der Genitalorgane deren Function ftört. 

Diele nody räthjelhafte Abhängigkeit der Organe von eins 
ander liegt im Organismus fo tief begründet wie jeine Ent» 
widelungsfähigfeit überhaupt und ruht unzweifelhaft auf phyfio- 
logiſcher Baſis. So lange die Richtung, weldye diefe Ent: 
widelung nimmt, das Individuum nicht in unlösbaren Wider: 
ſpruch mit jeinen Eriftenzbedingungen ſetzt, wird es diefelbe fort- 
ſetzen können, auch wenn die Rejultate der Entwidelung ibm 
nicht in allen Theilen vortbeilhaft find. Gewiß find innere, 
zwingende Gründe vorhanden, dab die Syſteme des Körpers 
fih in ihrem Wachsthum und Entwidelung auf einander ein- 
richten, daß fie ſich den Verhältniffen ihrer Umgebung anpaſſen, 
und die Fortbildung der Art beweilt, daß diefe Gründe im all: 
gemeinen Haushalt der Natur nicht unzweckmäßig wirken. 
Damit ijt aber nody nicht bewiejen, daß der Nuten das allein 
leitende Princip ift und die darauf bafirte natürliche Zuchtwahl 
allein die Umgeftaltung leitet. Können dody für das Indivi— 
duum pofitiv ſchädliche Einrichtungen fi mit der allgemeinen 
Zweckmäßigkeit der Natur jehr wohl vertragen; denn audy aus 
dem Tode blüht neues Leben. Ich erinnere nur an den ficheren 
Untergang der Männchen vieler niederen Thiere durch die Bes 
gattung, der Weibchen durch die Entwidelung der Brut; viel 
leicht bleibt und der wurmförmige Fortſatz auch, um einen noth— 
wendigen Bertilgungdfactor gegen die zu jchnelle und ftarfe 
Ausbreitung des Menjchengejchlechted zu geben. Die Geſetze 
der Gorrelation find unabhängig von der natürlihen Zuchtwahl 
Darmwin’s, aber ebenfo wie Lebensweiſe und Klima mächtige 
Factoren für die Umgeftaltung der Arten. — 


Der geehrte Leſer möge dieje Heine Abweihung vom Thema 
(873) 


— 


verzeihen, da dieſelbe zum Verſtändniß des Nachfolgenden un— 
erläßlich ſchien. Gerade in der Organiſation der elektriſchen 
Fiſche iſt nämlich das Walten der Correlation zwiſchen den 
verſchiedenen Organen ein höchſt merkwürdiges, und würde ich 
nie zugeben können, daß z. B. der elektriſche Roche, abgeſehen 
von ſeinen elektriſchen Organen, „ein ganz gewöhnlicher Roche“ 
ſei. Nur bei den elektriſchen Rochen verlängern ſich die Knorpel 
des Schultergerüſtes und lehnen ſich an entſprechende Ver— 
längerungen der Kopfknorpel, um einen feſten Rahmen für die 
zarten, elektriſchen Organe zu bilden; die Bruſtfloſſen reduciren 
ſich im Vergleich mit anderen Rochen etwa bis auf die Hälfte 
ihrer Breite, die Mundſpalte verengt ſich; die Zähne bilden fich 
zurüd, bis fie bei manchen Gattungen, z. B. Narcine, nur noch 
eine bandförmige rauhe Belleidung der Kiefer darftellen; das 
Nervenivftem entwidelt beitimmte Gentren peripherifcher Nerven 
zu eleftrifchen Lappen: Alles dies find Zeidyen des allmählichen 
Schaffens der Correlation zwilchen den Organen, deren Reiul- 
tat die vollendete Form ift, wie fie und als Zitterrochen vorliegt. 
Wir fönnen nun, auf die gewonnenen Thatſachen geftüßt, ver- 
ſuchen, einen Einblid in die geheimnißvolle Werkſtätte der Natur 
zu thun, und das Werden der eleftriichen Fiſche — aus 
beſcheidener Ferne zu belauſchen. 

Als Ausgangspunkt bietet ſich plauſibel genug die Annahme 
dar, daß beſtimmte Fiſche die Anlage zu einer eigenthümlichen Um— 
formung ihres Muskelſyſtems in ſich tragen, ſo daß die Muskeln 
unter Verluſt ihrer contractilen Subſtanz und ſomit ihrer eigent- 
lichen Function unter Duellungserfcheinungen in einen Zuftand 
übergeführt werden, wo eine neue Ordnung der beweglich 
werbenden kleinſten Theilchen möglih iſt. Ob dann die be= 


ginnende Umformung die Filche zu träger Lebensweiſe veranlaßt, 
(814) 


41 


oder umgekehrt dad Verfinken in träge Lebendweife die Um— 
formung einleitet? ift der Natur der Sache nad nicht wohl 
feitzuftellen, und für die vorliegende Frage faum von Ber 
deutung. 

Die langen undulirenden Floffen, weldye von Flofjenträger- 
muskeln, dem Hautfyftem und nicht der Skeletmuskulatur zu— 
gehörig, bewegt werden, treten an Stelle der Fräftigen Action 
durdy die mächtige Schwanzmusfulatur anderer Fiſche. So ift 
ed bei dem Gymnotus der Fall, bei Mormyrus, bei den Rochen; 
gerade bei den Lebteren ift auch in den nichteleftrijchen Arten 
wie Myliobatis, Trygon der Schwanz ald Bemwegungdorgan 
faft gänzlich aufgegeben und hängt peitjchenartig, cin „nußlofes “ 
Glied an dem durch mächtige Bruftfloffen bewegten Körper. 
Hier iſt alfo vortrefflidhed Material vorhanden, um Theile, die 
durch Nichtgebrauch der Entartung verfallen, in anderer Weile 
wieder nußbar zu maden; jedenfalls ift die jo entitehende 
Schwächung der Muöfelaction für die Thiere fein hinreichender 
Grund im Kampf um's Dalein zu unterliegen, wie ein Blid 
auf die florirenden Genera Myliobatis, Trygon ıc. zeigt. 

Die Beobadhtungen haben ferner gezeigt, daß bei den ein- 
tretenden Duellung&vorgängen in den Muöfeln die zugehörigen 
Nerven nicht zu Grunde gehen, jondern daß im Gegentheil ihre 
Endigungen, plattenförmig audgebreitet, im Vergleich mit dem 
normalen Muöfel eine enorme Mächtigfeit erlangen und dieſe 
Mächtigkeit fid) auf die Stämme ſelbſt und die centralen Ur- 
Iprungftätten der Nerven fortjeht. 

Wir wiffen nun außerdem dur die bahnbrechenden Unter- 
juchungen ded Hrn. du Boid-Neymond, daß fid im lebenden 
Muskel und Nerven nachweisbare eleftriiche Ströme entwideln, 
welche bei der Wirkung von Nerv auf Muskel beitimmten Mo» 


(875) 


_% 


dificationen unterliegen. Für die eleftrifchen Organe nun finden 
wir die Gontactflächen der Nerven mit dem mobdificirten End» 
apparat außerordentlidy vermehrt, eine Steigerung der durdy 
das Nervenprincip bhervorgerufenen eleftriichen Wirkung in den» 
jelben erfcheint daher begreiflich, mie auch immer diejelbe phy— 
fifalifch zu Stande fommen mag. Nehmen wir nun an, daf ein 
Fiſch, an welchem die beginnende Musfelumformung einen ge- 
willen Grad erreicht hat, in recht ausgeruhtem Zuftande unter 
jonft günftigen Umftänden plößlidy von einem nahenden Keind 
irritirt wird oder eine nahende Beute bemerft, jo wird ed denf- 
bar, daß er, energiich fein Muskelſyſtem innervirend, in dem 
modificirten Theil Ströme hervorruft, welche ſtark genug find, 
um nad Außen fühlbar zu werden. 

Wird dadurch anfänglih aud nur ein ſchwacher Effeft 
durch Erſchrecken des Feindes oder der Beute erreicht, To kann 
ih doch auf diefe Weife der Fildy der in ihm jchlummernden 
Kraft ſoweit bewußt werden, daß er allmählidy ſchlagen lernt, 
wie beiipielöweije ſelbſt im Menjchen die Fähigfeit zu beitimmten 
Kraftäußerungen und eigenthümlich combinirten Bewegungen 
ſchlummert, die nad der Erkenntniß der Möglichkeit ausgebildet 
werden fönnen. 

Sit eim eleftrifcyer Fiſch, der in ſolchem Stadium den jo» 
genannten unvolllommen eleftrijchen entipredyen würde, ſoweit 
in feiner Drganentwidelung gelangt, jo wird ſich nunmehr aller» 
dings für ihn auch ein Vortheil im Kampf um's Dajein aus 
ſolchem Functionswechſel von Muskel in Organ ergeben; die 
natürlihe Zuchtwahl kann fich des erlangten Vortheild bemädy- 
tigen und ihn accumulirend in langer Reihe von Generationen 


zu einer erftaunlichen Höhe der Bollfommenheit bringen, während 
(376) 


43 





fi) auch die nicht direkt betheiligten Syſteme des Körperd eben- 
falls correlativ umbilden werden. 

Es ſchwächt alddann die Naturin fteigendem Ver— 
hältniß die gemwöhnlidhen, urjprüngliden Waffen der 
Arten, welche fie in ihrer Musfelaction und den Beiß— 
werkzengen führten, um eine andere, foviel furdt- 
barere Waffe, die Eleftricität, an die Stelle derjelben 
zu ſetzen. 

Doch wir haben, wie es jcheint, ein wichtiges Thier, den 
Donnerer ded Nild, gemeinhin Zitterweld genannt, in uns 
jerer Darftellung völlig vergefjen! — Niht jo ganz, nur 
jcheint ed unabweisbar, ihm eine befondere Stellung einzuräumen. 

Der Zitterweld(Malopteruruselectricus, Fig. 6) iftnady jeinem 
Aeußern ein gar ftattlicher Herr, wie das Pfäfflein der Bürger: 
ſchen Ballade; jein Bäuchlein rundet fidy gewaltig, und jelbit 
bi8 an Stirn und Auge dehnt ſich die ſpeckige Schwarte, die 
den Fiſch umhüllt. Um das Maul ordnen ſich die wurmförmigen, 
Iodenden Anhänge, mit denen er wie die anderen gefräßigen 
Verwandten die Beute ködert. Aber während die übrigen Welje 
den weit gejpaltenen Rachen des Raubfiiches zeigen, thut diejer 
Dudmäufer, ald wäre er der friedlichlte Bewohner diefer Welt, 
der das mit Fleinen Zähnen bewaffnete Maul faum zu öffnen 
wagte. Wie die bereitö beſprochenen Eleftrifer hält auch der 
Zitterweld nicht viel von körperlicher Anftrengung, er liegt rubig 
verftedt in Löchern des jchlammigen Uferd, unter Steinen und 
zufällig ind Waſſer geworfenen Gegenftänden, bis ihm fein täg- 
liches Brot befcheert wird. Was wird er fih unnöthig in Mühe 
und Aufregung ftürzen! Die mächtigen Bannftrahlen, weldye 
der Fiſch nach allen Seiten auszufenden verfteht, mwirfen ver: 


nichtend auf die lebenden Weſen, gegen die fein Zorn ſich wen» 
(877) 


YPpuuvuspaS (ojↄaiaanug) snoloolo SUMIOIdopew 





958 


(878) 


45 


det, und bringen fie mühelos in feine Gewalt. Ein nur 14cm 
langer Zitterweld, der von feinem Befiter unvorfichtiger Weiſe 
in ein von zahlreichen Fiſchen bevölfertes Zimmer: Aquarium 
gejeßt wurde, tödtete jofort feine ſämmtlichen Mitgefangenen, 
Groß und Klein. Die Rüdenfloffe des Zittermeljes ift in eine 
Fettflofje verwandelt, die Bruft: und Baudfloffen find nur von 
geringer Größe; eine Feine Afterfloffe und ein nur mäßig entwidel- 
ter Schwanz vervollftändigen den offenbar ſchwächlichen Bewe— 
gungsapparat. 

Wodurch das behäbige, wohlgenährte Ausjehen des Fiſches 
hervorgerufen wird, läßt fich durch die Betrachtung des Duer- 
ſchnittes (Fig. 7) leicht feſtſtellen; derfelbe lehrt, dat der Geſammt—⸗ 


Fig. 7. 





Senkrechter Durchichnitt des Schwanzes von Malopterurus electricus. 


rumpfd ed Thieres äußerſt loder in eine Art von Futteral eingefügt 
ift, welches aus einer gallertigen Mafje von beträchtlicher Dice 
und durchſcheinender, hell graugelblicher Farbe befteht, die 


(879) 


46 





feft und unzertrennlih mit der Haut verbunden ift, 
während gegen die Unterlage eine jehnige Schicht den Abſchluß 
bildet. Da leßtere nur durch ein jchleimiges, flodiges Gewebe, 
die fogenannte Rudolphi'ſche Haut, mit den tieferen Theilen 
verbunden ift, jo zieht fidh die ganze jpedige Schwarte ſehr leicht 
von dem Fiſch ab und fchlüpfen auerdurdyfchnittene Stüde häufig 
von felbft aus der Umbüllung. 

Schon das äußere Anſehen würde, wenn man die anderen 
eleftrijchen Fiſche vergleicht, die Meberzeugung erweden, dab es 
gerade dieſe der Haut anhaftende gallertige Subitanz 'ift, weldye 
die Trägerin der eleftrijchen Kraft abgiebt, und diefe Bermuthung 
wird durch dad nähere Unterfuchen derjelben zur Gewißheit. 
Aber ein Hauptunterſchied von den bereit betrachteten eleftriichen 
Organen fällt fofort in die Augen: es fehlt dem Zitterweld- 
organ irgend welcher Aufbau der eleftrijchen Elemente, 
wie er bei Torpedo als hochgeſtellte, bei Gymnotus 
als horizontal lagernde Säulenanordnung ſich be- 
merfbar macht, wieihn die jchräge Plattenftellungen des 
Mormyrus und jelbft diereihenförmigen Anordnungen 
der abgeplatteten Klümpchen beim gewöhnlihen Rochen 
erfennen laſſen. 

Hier müſſen wir, um mehr zu fehen, unmittelbar das 
Mikroſkop zur Hülfe nehmen, und bemerken alddann, daß die 
Maſſe aus flachen, Fuchenförmigen Scheiben zuſammengeſetzt 
ift, welche wie die Beeren einer Traube an den VBerzweigungen 
ined mächtigen Nerven hängen, der an beiden Seiten des Körs 
perd unter dem Organ vom Naden her nach hinten zieht. Die 
fladyen Kuchen drängen ſich in ungeheurer Zahl, quer zur Haupt 
are ded Fiſches geordnet, aneinander und zeigen im mifrojfo- 


pilhen Bilde in jofern eine Art von Aufbau, als die einzelnen 
(380 ) 


47 


Kuchen fi um den halben Durchmeſſer gegen einander ver- 
ichieben; nur bei alten Thieren ift eine bindegewebige Zwiſchen— 
jubftanz deutlich entwidelt, weldye Fächer in Gejtalt von nie- 
drigen Doppelpyramiden für die eleftriichen Scheiben darftellt, 
auf dem Querjchnitt aljo wegen der durdhichnittenen Fächer eine 
rautenförmige Zeichnung erfennen läßt. 

In der That jcheint dieſe Anordnung überhaupt nur ein 
möglichft dichtes Deplacement der Elemente jowie eine Erleich— 
terung des Zutrittd der Nervenverzweigungen zu dem einzelnen 
Scheiben zu bezweden. Dieje fügen ſich nämlich an ftielähnliche 
Berlängerungen der eleftriihen Scheiben, etwa wie die Ranfe 
an den dünnen Hals eines unten platten Flajchenfürbiffes, und 
drängen ſich von hinten her zwiſchen den Rändern benadybarter 
Scheiben hindurch, um den Stiel der davor liegenden zu er: 
reichen; hier verbindet ſich nun die nervöje Faſer ohne deutliche 
Grenze mit der feinförnigen, fernhaltigen Inhaltsmaſſe der Schei— 
ben, die fich durch ftärfere Anhäufung um den Stielanfaß in der 
Mitte fraterartig muljtet. 

Höchſt merkwürdig ift auch der Urfprung und Verlauf des 
zugehörigen Nerven der Drgane; denn diejer, obgleidy von er- 
heblicher Dide, ftelt in der That eine einzige Kaler dar, welche 
unter fortgejeßter, umendlich oft ficy wiederholender Theilung 
doch nicht weſentlich ſchwächer wird, fondern dabei Itet8 an Aus- 
dehnung im Gejammtquerfchnitt aller Aefte gewinnt. Die eine 
Fafer fommt auch von einem einzigen Gentraluriprung, d. h. 
einer, allerdings folofjal großen Ganglienzelle, welche im oberften 
Theil ded Rückenmarks ihren Sitz hat. 

Iſt jo der Sib, die Ausbildung, Anordnung der Elemente, 
Art der Imnervation, und der zugehörige centrale Urfprung 


durchaus verfchieden von allen biöher beſprochenen eleftriichen 
(s81) 


48 


Drganen, erübrigt eö nur noch zu betonen, daß auch die Kunction 
derjelben principielle Unterfchiede zeigt, um aus vollfter Ueber- 
zeugung erflären zu dürfen: Die eleftriihen Organe des Zitter- 
weljes find auf einem anderen Boden gewachſen ald die übrigen 
ald muskuläre Organe bezeichneten. 

Die principielen Unterjchiede der Function beruhen nämlich 
darauf, daß jonft bei den eleftriihen Organen der Strom ſtets 
von der Seite des Nervenanſatzes an dad Element durch dafjelbe 
weiter aufiteigt, aljo an denjenigen ded Zitterrodhen vom Bauch 
zum Rüden, deö Gymnotus vom Schwanz gegen das Kopfende; 
der Rüden, beziehungöweije der Kopf ſich jomit pofitiv gegen 
den Bauch oder den Schwanz verhält (Pacini'ſche Regel). Der 
Zitterweld übernimmt ed in diefem Kalle dad Sprichwort zu 
bewahrbeiten, daß feine Regel ohne Ausnahme fei; denn obwohl 
bei ihm (wie bei Gymnotus) die Nervenäftcdhen von der Schwanz: 
jeite zu den Elementen treten, verläuft der Strom hier im Organ 
gegen die Nervenanſätze gerichtet, alijo vom Kopf zum Schwanz, 
welcher letterer daher das pofitive Zeichen zu beanſpruchen hat. 

Wenn ed nun aber beim Zitterweld feine Muskeln find, 
die dad Material zum Aufbau der elektriichen Organe herzugeben 
hatten, wenn jelbit der jogenannte Hautmusfeljchlaudy der Fiſche 
ſich unverfehrt unter feinem Organ vorfindet, was bleibt denn 
noch zur Verfügung, um ſich in entiprecdyender Weije verwandeln 
zu laſſen? 

Auch bier bieten ſich phyſiologiſche Thatſachen dar, melde 
die Fingerzeige für die zufünftige Löſung des noch in vieler Be- 
ziehung dunflen Problem's an die Hand geben. Außer den Muskeln 
und Nerven find ed die Drüfen, in denen eleftromotoriiche 
Kräfte thätig werden; finden fidh Feine Muskeln in der Haut, 


welche die Unterlage oder den Ausgangspunkt für die eleftrijchen 
(882) 


— 49 — 


Drgane abgeben konnten, jo werden es alſo vielleicht Drüſen 
geweſen ſein. 

In der That fehlen nun aber der Haut des Zitterwelſes 
nicht nur die Muskeln, ſondern auch die Drüſen, wie ſolche in 
der Haut höherer Wirbelthierklaſſen ſtark entwickelt find; da— 
gegen iſt die Haut mit einem erſtaunlichen Reichthum 
einzeln ſtehender, drüſiger Zellen ausgeſtattet. Daß 
dieſe einzelnen, eigenthümlich entwickelten großen Zellen der 
Fiſchhaut einzelligen Hautdrüſen der Amphibien gleichwerthig zu 
erachten ſind, darüber ſind die meiſten vergleichenden Anatomen 
einig, und da ſelbſt der mikroſkopiſche Bau zwiſchen dieſen ſo— 
genannten Schleimzellen und den elektriſchen Elementen bedeu— 
tende Punkte der Vergleichung darbietet, muß ich in ihnen den 
Ausgangspunkt der ſich bildenden elektriſchen Organe vermuthen. 
Werden die Schleimzellen als drüſenartig oder „adencid“ be— 
zeichnet, ſo darf man auch die Organe, welche ihnen ihre Ent— 
ſtehung verdanken, mit dem gleichen Namen belegen. Die 
Unterſuchungen führen alſo dazu den muskulären elek— 
triſchen Organen eine zweite Kategorie als adenoide 
elektriſche Organe an die Seite zu ſtellen. 

Auch hier drängt ſich wieder alsbald die berechtigte Frage 
in den Vordergrund: Wie findet man die Verhältniſſe bei dem 
ſich entwickelnden Zitterwels? Und wieder muß mit Betrübniß 
im lieben Gemüthe eingeſtanden werden, daß noch kein Forſcher 
ſo glücklich war, ſeine Hand an die ſich entwickelnde Brut des 
Fiſches zu legen. Da dies großer Wahrſcheinlichkeit nach auch 
nicht zu bald gelingen dürfte, ſo möge es vergönnt ſein, ſich 
davon ein Bild zu machen, wie die Theile an dem foetalen 
Zitterwels etwa ausſehen werden — natürlich: Irrthum vor— 
behalten! 


XxVIII. 430, 481. 4 (833) 


50 


Ich habe durch die Unterfuhung jugendlicher Drgane des 
Fiſches die Heberzeugung gewonnen, dat die Erwartungen, weldye 
man auf die zufünftige Unterjuhung der noch zu findenden 
Brut jegt, in mancher Beziehung getäujcht werden dürften, d. h. 
das Mikrojfop wird Bilder von erftaunlicher Einfachheit auf: 
weiſen. Sind ſchon beim jugendlichen Zitterweld die eleftrijchen 
Elemente nur gleihjam loder an einander gepadt, jo wird dies 
beim Embryo noch ausgeſprochener der Fall jein; die Elemente 
werden fich denen des ermwachjenen Fiſches immer unähnlicher 
zeigen bis zu einem Stadium, wo die tiefer in den Hautidyichten 
befindlichen Zelllagen, melde elektriſche Elemente werden jollen, 
fidh allein durdy die beginnende Abgrenzung gegen die ober: 
flächlichen Zellen, etwas bedeutendere Größe, lebhafte Kernver: 
mehrung und beginnende Abplattung von leßteren unterjcheiden 
laffen. 

Da das in der Zederhaut ftärfere Bindegewebe, welches fid) 
beim entwidelten Organ wie eine fejte Barriere zwiſchen Die 
eleftriichen Elemente und epithelialen Lagen der Haut einjchaltet, 
überhaupt erft jpät zu ftärferer Ausbildung fommt, jo darf ed 
nicht Wunder nehmen, wenn man ed dereinft beim Embryo 
faft gänzlich vermißt. Die zu elektriſchen Riejenzellen werdenden 
Elemente haben ſich in ſolchem Entwidelungsftadium von ihren 
Verwandten, den jpäteren Schleimzellen noch faum losgeſagt, 
und fein trennended Glied jchiebt ſich zwiichen beide Anlagen ein. 
Ihre tiefe age mag ſchon genügen, um fie ihrer urfprünglichen 
Function zu entfremden und der Umwandlung verfallen zu laffen; 
find doch die oberflächlichen noch reichlich genug bemefjen! Die 
Einſchaltung der bindegewebigen Züge zwifchen die nunmehr ab- 
weichenden Zielen zuftrebenden Elemente muß dieſelben auch 


unter bejondere Ernährungdverhältniffe bringen und mag die 
(884) 


51 


progrejfive Fortbildung der abgeionderten zu einer hypertro= 
phiichen Zellform erleichtern. Damit geht alddann die Entmwide- 
lung der zugehörigen Nervenäjtchen in ihrer bemerfenswerthen 
Neichhaltigkeit einher und verficht die elektriichen Elemente fo 
fräftig, dab die Wirkung der eleftriihen Schläge fi jhon an 
jungen Thieren recht deutlidy bemerkbar macht. 

Wenn bereitö oben bei Beſprechung der Zitterrocdhen-Drgane 
die Vergleihung der eleftriichen Säulen mit Bolta 'ſchen Säulen 
troß der verlodenden Aehnlidyfeit des Bilded (zumal die Organ» 
platten bei der mikroſkopiſchen Unterſuchung fich aus zwei Schich— 
ten, einer unteren nervöſen und oberen bindegemwebigen, zulammen: 
geſetzt erweilen) als trügeriidy zurüdgewiejen wurde, jo verliert 
ſolche Verleihung beim Zitterwels erft recht jeden Halt. 

Hier findet fi, foviel wir wifjen, nur einerlei Subftanz, 
die feinförnige, mit Sternzellen durchſetzte Mafje der eleftriichen 
Scheiben, alljeitig umgrenzt von einer wahrſcheinlich poröfen Grenz- 
ſchicht; beim Zitteraal ift alfo eine Volta'ſche Säule ſicherlich 
nicht ohne Weiteres erfennbar, und man muß fuchen auf andere 
Weiſe der Sache näher zu fommen, um Cinblide in das ge: 
heimnikvolle Gebiet zu gewinnen, wo es fidy um die zweite jo 
hochwichtige Frage, nad der Wirkung des Nerven auf die End» 
organe und die Beziehung diejer Wirkung zur freiwerdenden 
Elektricität handelt. 

Sind es alſo nidyt zweierlei durch die optijche Unterfuchung 
unmittelbar feitzuftellende Subftanzen, welche in den Organen 
als Elektromotoren wirken, fo ift doch damit nicht gejagt, das 
Princip der Volta'ſchen Säule fei überhaupt unanwendbar, 
wo ed fih um eine Erklärung für dad Zuftandefommen des 
eleftriihen Schlages durh den Willendimpuld des Thieres 
handelt. Die phbofifaliichen Grundlagen diefer Theorien, ges 


4* (885) 


52 


meinhin „Entladungädtheorien”, zu erörtern, würde dem Zweck 
diefer Blätter nicht entiprechen, zumal eine Einigung darüber, 
welche derfelben die Thatſachen am beiten erflärt, biöher nicht 
erzielt werden fonnte. Soviel läßt ſich aber gewiß vertreten, 
daß, wenn eine gröbere Anordnung elektromotoriſcher Gegen» 
fäge im Organ nidyt nachzumeijen ift, ſehr wahricheinlidy eine 
feinere derartige Anordnung vorhanden fein wird, welche 
nad) ähnlichen phyſikaliſchen Geſetzen wirkt, wie ed die ge— 
wöhnliche, erperimentell feftgeftellte im fünftlichen Apparat leiftet. 

Als einen bildlihen Ausdruck ſolcher feineren eleftromoto- 
riihen Anordnung hat Hr. du Bois-Reymond im Nerv und 
Muskel wie im elektriichen Organ Heinfte Körperchen ange: 
nommen, weldhe die eleftriihen Gegenſätze in polarer Ber: 
einigung enthalten, aljo, wie man ed nennt, dipolar find. Zange 
Reihen mühſamſter und jorgfältigiter Beobadhtungen haben ihm 
den Beweis geliefert, daß die Thatjachen fit mit diejer An— 
nahme in erfreulicher Weiſe deden, und baben jomit die Be- 
rechtigung gejchaffen, auf derjelben weiter zu bauen, „wenn auch 
nody Niemand dieje dipolaren Molefeln gejehen hat,“ jo wenig 
wie die eleftriichen Molefeln von Ampere im Magnet! 

Es iſt ferner unzweifelhaft und ebenfalld durch zahlreiche 
Thatjachen zu begründen, daß die kleinſten Theilchen gerade in 
den eleftriihen Drganen unter dem eigenthümlichen, mit der 
Entwidelung verbundenen Quellungdvorgang eine hodhgradige 
Fähigkeit befommen müffen, fidy in bejonderer Weiſe zu ordnen; 
denn jelbft der gröbere, am entwidelten Drgan fenntlich werdende 
Aufbau zeigt eine neue, der uriprünglichen (muskulären) fremde 
Ordnung der Elemente. 

Wenn wir au nicht hoffen dürfen, die morphologiichen 
Charaktere der dipolaren Molekeln zu ergründen, jo fehlt es 

(886) 


doch nicht an Beobadhtungen hiftologiicher Natur, welche auf 
eigenthümliche Gruppirungen fleinfter Theildyen in den feftweichen 
Subftanzen der eleftriichen Organe binweilen. 

Darin ift beionderd die mikroffopifche Unterſuchung des 
mächtigen Organs vom amerifaniicyen Gymnotus lebrreih. Die 
quer zur Längsaxe des Körperd geitellten, bandförmigen Platten 
find bier verhältnißmäßig dicklich, und jo gelingt e8 an Durdy- 
Ichnitten gut conjervirter Platten in dem der Nervenausbreitung 
jugewendeten Theil äußerit zarte Anordnungen Eleinfter Körper- 
chen in längs geftellten Reihen zu bemerken. Cine regelmäßig 
zu beobadhtende Längsreihe von etwas gröberem Anjehen zieht 
fi durch die Mitte bornartiger Berlängerungen der Platte, 
welche die zutretenden Nerven zu tragen haben. 

Eine ganz ähnliche Körnchenſchnur findet ſich audy im Stiel 
der eleftrifhen Scheiben des Zitterweljed, wo fie bereitd von 
Hrn. Babudin gejehen wurde. 

Wenn nun felbit bei dem lebendigen, contractiondfähigen 
Muskel die meiiten neueren Autoren darüber einig find, daß die 
contractile Subſtanz fih in einem jo weidyen, veränderlichen 
Aygregatzuftand befindet, um im Moment ſich vollziehende Um: 
lagerungen der Subitanzen dejjelben zu erlauben, wo liegt nun 
wohl die Schwierigkeit, die der Annahme entgegen ftände, daß 
die nachgewiejenen, eleftriijhen Ströme auf die kleinſten Theildyen 
jeldyer Organe eine richtende Wirfung ausüben? Der leitende 
Theil der lebenden Nervenfajer, ein zarter Strang im Innern 
derjelben, Arencylinder genannt, iſt jedenfalld auch von ſehr 
weicher Beſchaffenheit. 

Hrn. du Boid-Reymond folgend, fommen wir durch 
dieje Annahme zu der Vorſtellung, daß der auf die verhältniß- 


mäßig ungeheure Endausbreitung der Nerven im eleftrijchen 
(887) 


54 


Organ übertragene Willendimpuld plößlic) die vorher ſich gegen- 
feitig im Gleichgewicht haltenden dipolaren Molefeln einjeitig 
richtet und fo durch fi) jummirende Wirkung der nad) einerlei 
Seite gewendeten, gleichnamigen (pofitiven) Pole in gleicher 
Richtung einen nach Außen wirkffamen Strom von entjprechen- 
der Stärke entſtehen lafje. 

Wie dem auch ei, jedenfalld it die Thatſache, dab die be— 
jondere Entwidelung eined früher musfulöjen Gewebes unter 
Berluft der Contractionsfähigfeit eine enorm gefteigerte eleftrijche 
Leitung aufzuweijen hat, von mweittragender, allgemeiner Bes 
deutung. Wie der Nerv im Muöfel Contraction hervorruft, jo 
bewirft er in der Drüfe Eecretion, gleichfalld unter eleftromoto> 
rischen Erſcheinungen; find in der Drüfe keine plattenförmigen, ner= 
vöfen Endorgane vorhanden wie im Muskel, fondern ift eine 
einfachere Form der Endigung ausgebildet, jo gilt das Gleiche 
audy von den eleftriichen Elementen des Zitterwelied im Vergleich 
mit Gymnotus und Torpedo. Doch ift die feinförnige, feſt— 
weiche Subftanz, welche der eleftromotoriichen Kraft die Aus- 
breitung in die Fläche verichafft, bier ebenfalls ſtark entwickelt. 
Es mag aljo beim Zitterweld der Nervenimpuld als eleftriicher 
Schlag fi geltend machen, der jonft zur Schleimjecretion 
anregte, wenn er nichtumgemwantelte Edyleimzellen eleftriic) 
reiste. 

Die Nichtigkeit der eben entwidelten Theorie vorausgejegt, 
hätte jomit das Studium der eleftriichen Fiſche auch in der Frage 
nad der geheimnißvollen Wirkung ded Nerven auf jeine End— 
organe und überraſchende Aufſchlüſſe verſchafft. Wer möchte 
leugnen, daß noch zahlreiche dunkle Punkte aufzuhellen find, ehe 
es gelingt, dieſe Theorie zur vollgültigen Thatſache zu erheben; 


aber es iſt gewiß ſchon ein Gewinn, daß feſtgeſtellt wurde, 
(888) 


55 





eine wie active Rolle die Gleftricität als ſolche im 
thierifhen Organismus ſpielt, und daß die unzmwei- 
felhaft mit den Lebendvorgängen ablaufenden elef- 
trijhen Erjheinungen nicht nur eine untergeordnete 
Bedeutung ald unvermeidliche Nebenwirfungen joldyer 
Vorgänge zu beanfprudhen haben. — 

Unter den mancherlei ungelöften Problemen, welde ſich dem 
Forſcher bei dem Studium der eleftriichen Fijche aufdrängen, 
icheint eind von allgemeinerem Snterefje, und bat bereitö wieder: 
holentlidy Beachtung gefunden, ohne daß bisher eine befriedigende 
Antwort gegeben worden wäre. Wenn man fieht, wie die elef- 
triihen Fiiche unter den verwandten Geichöpfen ihrer Umgebung 
Tod und Verderben verbreiten, jo wird man unvermeidlich zu 
der Frage geführt: Wie fommt es denn, dab die wuchtigen 
Schläge machtlos an anderen elektriſchen Fiſchen abgleiten, dat 
fie fich nicht jelbit dadurch erſchlagen, oder die Brut in ihrem 
Leibe, joweit die Arten lebendiggebärend find? | 

Iſt ihr Nervenfyftem von anderem Stoff gebaut? Sind 
Schutzeinrichtungen vorhanden, welche die zarten Gewebe den 
verderblihen Wirkungen ftarker eleftrijcher Schläge entziehen ? 
Thatſächlich jehen wir in dem Bereich der gewaltigen Strom: 
curven eined gereizten eleftriichen Fiſches, welche andere Be- 
wohner des Waſſers jofort der Vernichtung weihen würden, 
Individuen gleicher Art mit ſtoiſcher Ruhe ausharren, der weib- 
liche Zitterrocyen bringt jeine Zungen lebend zur Welt, obwohl 
die eleftriihen Ströme, weldye ihm jeine Beute zuführen, nadı- 
weislich auch jein Körperinnered durchitrömen; auch Fünftlich 
erzeugte Glektricität von bedeutender Stärfe gleitet jpurlos an 
ihnen ab, mit einem Wort: Die eleftrijchen Fiſche erjcheinen 
gefeit (immun) gegen die Einwirkung der Gleftricität überhaupt. 

(889) 


56 


Dieſe überraſchende Thatſache, welche man mit dem Namen 
der Immunitätslehre bezeichnet hat, harrt noch immer ihrer 
richtigen Deutung; auch ich erkläre mich außer Stande, den 
Schleier zu lüften, welcher über dieſem Geheimniß ruht. In— 
deſſen möchte ich doch meiner Ueberzeugung Ausdruck geben, die, 
ſoviel ich weiß, auch von anderen Forſchern getheilt wird, daß 
in Wahrheit die elektriſchen Fiſche keine völlige Immunität 
gegen Elektricität befigen, jondern nur eine ſehr hochgradige 
Miderftandäfraft gegen die Wirkung derfelben. Es ift bin- 
reichend feitgeftellt, dab diefe Widerftandäfraft bei den Thieren 
überhaupt außerordentlidy verichieden ift, ſelbſt bet Individuen 
derjelben Art, wie wir ja auch am Menſchen täglich zu beob- 
achten Gelegenheit haben. 

Nimmt man nun an, daß eine nicht eleftriiche Fiſchart in 
der oben näher erörterten Weiſe im Laufe der Zabrtaujende alle 
mählich zur Ausbildung eines eleftrifchen Organs gelangte, alfo 
allmählich ſchlagen lernte, jo wird ſich in gleihem Maaße bei 
der Art eine mit der Kraft fich fteigernde Gemwöhnung an die 
Wirkung des Schlages haben ausbilden müflen. Der darin er- 
reichte Grad der Vollkommenheit überfteigt unjer Boritellunge- 
vermögen, aber im Princip ift doch eine bejtimmte Grenze für 
die möglicher Weite zu erreichende Gewöhnung nidyt wohl feit- 
zujegen, jo lange nicht durch den eleftriichen Strom eine jo 
bochgradige Elektrolyſe veranlaßt wird, daß die durchſtrömten 
Gewebe brandig werden. Auch die Unempfindlichkeit der zarten 
Brut im Mutterleibe würde unter denfelben Gefichtspunft fallen ; 
denn wie die fich entwidelnden Jungen nady dem Gejeße der 
abgekürzten Vererbung die foetalen Musfelfajern nicht erit zu 
Muskeln und dann zu eleftrifhyem Drgan, jondern fogleidy zu 


Drgan ausbilden, bringen fie auch die übrigen Anlagen, wie fie 
(890) 


57 


der nunmehr florirenden Art eigen find, mitjammt der elektriichen 
Abhärtung als Ausftattung für’d Leben mit. 

Es fommt hinzu, dab gerade der Zitterrochen fich nicht be— 
jonderd durch Kraft auszeichnet, und außerhalb des Waſſers find 
die für die hintere Hälfte des Körpers, aljv aud für die Baudı- 
eingemweide entfallenden Stromcurven jo wenig dicht, dab man 
einen ganz audgeruhten derartigen Fiſch am Schwanz fafjen 
und erheben kann, ohne eine Spur von eleftriiher Wirkung zu 
jpüren. Der Zitterrodyen fennt dieje jeine Schwäde ſehr wohl 
und bemüht fich fichtlih, Frampfhaft gegen die haltende Hand 
aufgebäumt, mit der undulirenden Bruftfloffe diejelbe zu er: 
reihen und fo feinen Schlag anzubringen. Im qgutleitenden 
Seewafjer werden die Ströme auch nady rüdwärts ſowie quer 
durdy den Körper fid) leichter verbreiten; trogdem erjcheint mir 
der Verſuch nicht ausſichtslos, einen ſchädlichen Einfluß auf die 
Entwidelung der Brut bei trächtigen Torpedines durch ftarfe 
Schläge künſtlicher Eleftricität auszuüben. — 

Dody ich fürchte die Geduld meiner verehrten Leſer zu er: 
müden, indem ich allzuweit in died unendliche Gebiet ichweife, 
zumal dabei leiver mebr Fragen zu ftellen, als Antworten zu 
geben find. Hoffentlidy find dabei aber doch die Kleftrifer von 
Natur aus den Tiefen des Meered und der Flüſſe in der Achtung 
der Lejer einigermaßen geiticgen. Da wir jelbitiüchtigen Menjchen 
es nun dody einmal nicht lafjen fönnen, im Mafrofosmos der 
Naturreiche wie im kleinlichen, alltäglichen Getriebe des menjd- 
lihen Mifrofosmus nah dem Nuten zu fragen, jo bin ich aud) 
binfihtlidy der in Rede ftehenden Unterfuchungen einer derartigen 
Frage wohl gewärtig. 

Unter joldyer Vorausjehung möchte ich darauf hinweiſen, 
dab der arabiſche Fiſcher des Nildelta das eleftriiche Hautorgan 


(891) 


58 


ded Zitterweljed an der Sonne trodnet und mit Fett zu einer 
Art Salbe vermilcht, welche ald ein geihäßtes Mittel zur Ein- 
reibung bei rheumatifchen Krankheiten gilt. Freilich fann ich 
mir nicht verbehlen, dab die Anwendung dieſes Specificum's 
faum großed DBertrauen von Seiten des Lejerd finden dürfte, 
und er aljo diefen Nuten wohl in Frage ftellen wird. 

Vielleicht gelingt es aber die eleftriichen Fiiche bei uns to 
weit zu acelimatifiren, dab fie als lebendige Glektrifirmajchinen 
zum medicinijhen Gebrauch benußt werden können. — Nun, 
auch diefer Nußen wird vor einer fritiichen Beleuhtung man— 
cherlei Bedenfen erregen, obwohl foldye Verwendung der elef- 
trifchen Fiſche thatjächlich Itattgefunden hat und bis in frübe 
Perioden unferer Geſchichte hinaufreidht.1?) Es galt migraine: 
artigen Kopfichmerz durch Auflegen von ein oder mehreren leben- 
den Zitterrechen auf den leidenden Theil zu heilen, wie joldhes 
Schon von griechiſchen und römischen Aerzten vorgeſchlagen wurde. 

Mit Recht ſpricht alſo der engliſche Forſcher Wilfon da: 
von, dab die eleftrifchen Fiiche die am frühften von der Menich- 
heit verwendeten elektriſchen Maichinen jeien. Wenn heute die 
Elektrotherapie fi) mit ftolzen Erfolgen brüften fann, jo läßt 
fi) doch nicht leugnen, daß ihre Entjtehung von dem Zeitpunkt 
zu datiren it, wo die lebendigen Eleftrifirmajchinen im den 
Händen der alten Aerzte gegen Leiden in’s Feld geſchickt wurden, 
welche nod) heut durch Fünftlicye derartige Maſchinen befämpft 
werden, 

Vielleicht hat der gelinde Schauder, weldyer eine zart be: 
jaitete Dame bei der innigen Berührung mit dem durd Schön: 
heit nicht gerade audgezeichneten Zitterrochen ergreifen dürfte, 
jogar eine ganz bejonders heiljame Wirkung und erfcheint geeignet, 


jelbft die hartnädigften Kopfichmerzen zu vertreiben, während 
(892) 


59 





fie bei ſolchen Kranken befanntlicy häufig jeder anderen Behand: 
lung fpotten. 

Doch — um ernft zu ſprechen — was berechtigt und von 
der Wiſſenſchaft als der lihtgeborenen Himmelstochter niedrige 
Magdödienfte zu beanfpruchen? Hier, wie in allen ähnlichen Fällen, 
muß dem zudringlichen Verlangen die Ueberzeugung entgegen 
geftellt werden, daß die Wiſſenſchaft noch nie ihre göttlidye Ab» 
funft verleugnet bat und dieſe allerdingd gerade durch die 
bewunderungsmwürdige Gabe am herrlichften befundet, Segen zu 
ſpenden, wo fie um ihrer jelbft willen umworben wird. 

Kann der Arzt denn mehr jein ald ein Stümper, jo lange 
er an dem wundervollen Snitrument, wie es der menſchliche Dr: 
ganidmud in Wahrheit darftellt, nicht die Geſetze kennt, nad) 
weldyen die einzelnen Saiten dejjelben zu inniger Harmonie 
zufammenflingen? Was ift denn die Eleftrotherapie ald Wifjen- 
haft, wenn wir auch feine Ahnung davon haben, was die 
Glektricität in unjerem Körper jelbitthätig für eine Rolle fpielt? 
Wenn Worte wie Willensimpuld, Nervenleitung, Nerveneinfluß, 
Musfelcontraction, Secretion u. |. w. faum mehr darftellen, als 
leere Worte, deren Bedeutung gerade im wichtigften Punft, der 
phyſikaliſchen Grundlage erit gefunden werden fol? 

Jede Unterfuhung, weldye die menſchliche Erfenntniß in 
diejen ichwierigen Problemen audy nur um einen Schritt weiter 
bringt, bezeichnet einen Marfitein am Wege zum fernen Ziel 
und ift eine jegenverheißende Bürgjchaft fünftiger, eripriehlicherer 
Pflege und Behandlung unjeres Körpers in gefunden und franfen 
Tagen. 

Daß ift der Nuben, den die Wiſſenſchaft nicht ald fofortige 
Bezahlung für geleiftete Dienfte, jondern ald göttliche, freiwillige 


(893) 


60 


Belohnung für treue, jelbftlofe Hingabe an dad mühſame Werf 
der Forfhung wenn aud) in ferne, jo doch fihere Ausficht jtellt! 

Möge diejelbe nody manchen Jünger begeiftern, zum fünfti- 
gen Nuten für die Menfchheit audy den wunderbaren Geheim— 
nijfen, weldhe die Natur in den eleftrifchen Fiſchen niedergelegt 
hat, mit Emſigkeit nachzuſpüren! 


61 


Anmerkungen. 


1) Dem frangöfiihen Aftronomen Richer wurde bei feinem Auf— 
enthalt in Cayenne von den Indianern der erfte, mit einem Pfeil erlegte 
Zitteraal gebracht. (Memoires de l’Academie Royale des Sciences, 
Depuis 1666 jusqu’a 1699. t. VII. 1re Partie. Paris 1729 4°, 
Observations... faites en l’Isle de Cayenne. pag. 93. 

2) Ueber Francesco Redi's Unterjuhungen (1666) berichtet 
W. Keferjtein in feinem „Beitrag zur Geichichte der Phyſik der elef- 
trifchen Fiſche.“ Moleſchott's Unterfuhungen VI. 158. Kerner Boll 
in dem Aufſatz: „Ueber Godigno und jeine Reijebeichreibung“. Reichert 
und du Bois-Reymond’s Archiv für Anatomie und Phyfiologie 1874. 

3) Philosophical Transactions ıc. 1773 pag. 484. Wenn man 
fi der unleugbar großen Berdienfte des englichen Anatomen um unjere 
Kenntnifje der eleftriichen Fiſche im Allgemeinen erinnert, muß man an 
diefer Stelle an das bekannte Sprichwort denken: „Mitunter jchläft 
auch der gute Homer*. Bergleiht Hunter doc die angeblich in jedem 
Jahr neu binzufommenden Säulen der wadjenden Torpedo mit den 
ih (leider nicht) neu bildenden Zähnen des wachjenden menichlichen Kiefers! 
Der Meinere Durchmefjer der äußeren Randjäulen, welche ihm der ge» 
ringeren Größe wegen als die jugendlicheren erjchienen, erflärt ſich durch 
ihre Entwidelung aus einer bereits erſchöpften Anlage im Embryo. 
(Bergl. Fritſch, Beiträge zur Embryologie von Torpedo. (Sigungsb. 
d. Berliner Akad. d. Wiffenichaften 1883 VIII.) 

4) Darwin, der die jeiner Theorie dur die eleftriichen Fiſche 
bereiteten Schwierigkeiten jehr wohl würdigte (Origin of Species, 1861 
pag. 213), erörtert nur den Verſuch die von ihm auf etwa ein Duzend 


angegebenen elektriſchen Fiſche als vereinzelte überlebende Repräjentanten 
1895) 


62 


von Ahnen, die alle eleftrijch waren, abzuleiten und weiſt ihn zurüd. 
„Meder jeien die vorhandenen elektriſchen Fiſche alle untereinander ver- 
wandt, noch erwecke die Geologie irgend wie den Glauben, daß früher 
die meiften Fiſche eleftrijche Organe hatten, welche den meiſten ihrer ab- 
geänderten Nachkommen verloren gegangen jeien“. 

5) Das Sremplar der jo jeltenen und intereffanten Torpedo cali- 
fornica gelangte an das phyſiologiſche Snftitut durch WBermittelung des 
Hrn. Dr. Arning, zur Zeit in Honolulu mit wiſſenſchaftlichen Unter- 
juhungen über den Ausſatz beſchäftigt. Er jchreibt darüber an Hrn. 
du Boid-Reymond: „Honolulu, Nov. 8. 1883. In San Francisco 
ift es mir durch die Liebenswürdigkeit des Conſervators des dortigen 
Mufeums, Dr. Harford, gelungen einen in der Bay von San Diego 
an der californijchen Küſte gefangenen Torpedo zu erlangen, der durdy 
PVermittelung des Sonjulats (Bice-Gonjuld Lehmann) in San Francisco 
an Sie abgejchict ift und Ihnen und Hm. Prof. Fritſch hoffentlich 
Sntereffe bietet. — Dr. Harford, der jelber der Schtbyologie jein 
Hauptintereffe zuwendet, meint, diejes wäre die einzige dort vorkommende 
Art und auch dieje ift durchaus nicht haufig“. 

6) Die literarifhen Angaben über Torpedo oceidentalis Storer 
finden fih in: Silliman’® American Journal of Science and Arts. 
April 1843. vol. XLIV. pag. 213; — Description of a new species 
of Torpedo. Ibidem, October 1843. vol. XLV. pag. 165; — 
History of the Fishes of Massachusetts. In: Memoirs of the 
American Academy of Arts and Sciences. Cambridge and Boston. 
New Series. vol. IX. P. I. 1867 pag. 247. 

7) Nareine timlei und N. indica find in ihren äußeren Merk. 
malen jo nahe verwandt, dat viele Zoologen die Berechtigung anzweifeln, 
fie als bejondere Species neben einander zu führen. Die Zahl der bisher 
unterjuchten Gremplare (3) ift zu gering, um fi ein Urtheil darüber 
zu bilden, ob der bedeutende Unterjchied in der Säulenzahl fih annähernd 
conftant zeigt. Im diefem Falle würde eine Trennung der beiden For- 
men ald Species wohl doch angezeigt fein. Die Breite der Variation 
überjteigt das an anderen Arten beobachtete Maaß. 

8) Rüppellin: Fortjegung der Beichreibung und Abbildung mebre- 
rer neuer Fiiche, im Nil entdedt u. j.w. Franffurt am Main 1832, 
4°. ©. 8, 9, beſchreibt die Organe an Mormyrus longipinnis. 

9) E. du Bois-Reymond's Ardiv für Phyfiologie u. ſ. w. 1877. 
S. 272 u. 73 und Gentralblatt für die medizinischen Wiſſenſchaften u. ſ. w. 

(896) 


63 





1875. ©. 163. Die Zudungen jtromprüfender Krötenichenfel, deren 
Nerven Hr. Babudhin mit dem Organ des Mormyrus in Berührung 
brachte, konnte in dem genannten Forſcher wohl die Weberzeugung er- 
wecken, der Fiſch jei wirklich eleftriich, wenn es ihm perjönlih aud nicht 
gelang, Entladungen defjelben zu fühlen. 

10) Bereits 1847 hat Hr. Robin das Schwanzorgan der Rochen 
ald einen elektriſchen Apparat beichrieben, obwohl ihm damals Beob- 
achtungen über die Funktion der Organe nit zu Gebote ftanden (Re- 
cherches sur un appareil qui se trouve sur les poissons du genre 
des raies (Raja C.) et qui presente les caracteres anatomiques des 
organes &lectriques. Parid 1847). Später behauptet Hr. Robin 
darin glücklich gemwejen zu fein und die elektriſche Function der Drgaue 
durch den jtromprüfenden Froſchſchenkel und die Ablenkung der Mlagnet- 
nabel feftgeftellt zu haben. 

11) On the Origin of Species. pag. 162. Ueber diejes Kapitel 
der Entwidelungslehre, welches das ſchwierigſte, freilich zugleich aud das 
boffnungsreichfte für die Zukunft ift, ließe fich leichter ein dickes Buch 
ichreiben, ald in wenigen Zeilen ein präcijer Standpunkt gewinnen. 
Darwin jelbft, der den Begriff der Gorrelation (Correlation of growth) 
ichon viel enger faßt, als e8 Cuvier that, unterläßt es nicht in feiner 
bemunderungswürdigen Objektivität auf die Wichtigkeit diefes Momentes 
ebenio wie des influffes von Lebensweije und Klima binzumweijen, 
ichließt aber feine Deduftionen ganz regelmäßig mit einem „Caeterum 
censeo, die natürlide Zuchtwahl made die Umformung der Arten doch 
wejentlich allein.‘ Damit it begreiflicher Weiſe Nichts zu machen, weil 
ein Theil der Leſer der einen, ein anderer der entgegengejeßten von den 
beiden nebeneinander entwidelten Anjchauungen folgen wird. Sch bin 
überzeugt, daß ein großer Theil der Autoren, die fi in volliter Ueber- 
zeugungstreue Darwinianer nennen, thatfählib Darwin's Anſchauungen 
in diefem Punkte nit völlig theilt und daß dieſelben ſich Lieber 
!amardiften nennen jollten. Vielleicht hätte ſich Darwin der Trans. 
mutation (ohne natürlide Zudtwahl) nicht jo feindlich gegenüber geftellt, 
wenn er nicht die Vorftellung hegte, diejelbe jei feiner GSelectionstheorie 
durchaus verhängnißvoll (}. c. pag. 219). Den Grund dafür habe ic in 
ſeinen Schriften nicht finden können, vielmehr halte ich mid) berechtigt zu 
behaupten, daß beide Theorien jehr wohl neben einander beſtehen Fönnen, 
und die Selectionstheorie nur eine Seite der Transmutationdlehre (in 
weiterem Sinne!) darftellt. 

(897) 


64 


12) Ueber den mebdizinifchen Gebraud der Torpedo handelt: Al- 
drovandusd. De piscibus III. 45. De torpedine. Usus in medi- 
eina. Derjelbe jammelte die Stellen der römiſchen und griediichen 
Schriftſteller, welche über dieſe Anwendung berichten. In neuerer Zeit 
hat ©. Wilſon, On the electric fishes as the earliest electric ma- 
chines employed by mankind. Edinburgh new philosopbical jour- 
nal, Dftober 1857, darüber geichrieben. 


(598) 








Drud von Gebr. Unger (Tb. Grimm) in Berlin SW. Sch Önebergerftr. 17a, 


Heinrich) L und Otto J. 


oder 


Die Politif der beiden erjten Herricher 
aus dem ſächſiſchen Haufe. 


Bon 


Boeſch, 
Oberlehrer a. d. Kgl. Kloſterſchule zu Ilfeld. 


GhP 





KBerlin SW., 1883. 


Berlag von Garl Habel. 


(€. 6. Lüdrrity'sche Deriagsbuchhandlang.) 
33, Wilhelm » Straße 33. 


Das Recht der Weberjegung in fremde Spraden wird vorbehalten. 


Nas dem Tode des lebten Königs aus dem Haufe der 
deutfchen Karolinger war das Reich an den mit den Karolingern 
verwandten Herzog Arnulph von Kärnthen gefommen; nad 
diefem an den gleichfalld mit der alten Dynaftie, wenn auch in 
entfernter Weije, verwandten Herzog Konrad von Franfen. 
Diefer wied bei jeinem Tode im Jahre 918 auf den Herzog 
Heinrich von Sachſen hin, ald auf den einzigen möglicyen Retter 
des Neichd und in großartigem Edelmuthe beftimmte er feinen 
Bruder und die fränfiichen Großen, dem biöherigen Feinde das 
Reich zu übertragen. — Schwierig genug war die Lage des 
Reichs, ald dies geſchah. Längſt war die fönigliche Gewalt und 
der Glanz des Föniglihen Namend erlojhen. Ald bei dem 
ſchwachen Regimente der Karolinger die Einrichtungen des frän— 
kiſchen Reiches zerfielen, ald Ordnung und Geſetz mißachtet und 
mit Füßen getreten wurde, ald rohe Gewalt dem Schwachen 
jein Haus und Hof und feine Rechte nahmen, ald ein Kampf 
aller gegen alle entbrannte, da waren die alten, von Karl dem 
Großen jo erfolgreich niedergehaltenen Stammesintereffen wieder 
aufgelebt, da wollte man wieder Baier, wieder Schwabe, Sachſe 
und Thüringer fein. Kluge und gemaltthätige Männer famen 
dem Streben entgegen und förderten dafjelbe; und nicht lange 
dauerte ed, da beftand das oftfränfiiche Reich aus den fünf 
großen Herzogthümern der Baiern, Schwaben, Franken, Sachſen 
und Lothringer, Durchaus volfäthümlid war die herzogliche 


X VI. 432. 1* (901) 


4 


Gewalt und in dem Kampfe gegen die Anmabungen der Grafen 
und Fürften, der Bilchöfe und Herren ſuchte dad Volk einen 
Rückhalt und fand ihn bei den Herzögen. Die wejentlichiten 
Borrechte der Föniglihen Krone gingen gar bald in die Hände 
derjelben über und mit fürftlicher Gewalt mußten fie dem 
Königthume entgegen zu treten, mit eiferfüchtigem Blide ihre 
Macht und ihre angemaßten Rechte gegenjeitig beobadıtend. 
Beim Tode Konrad Stand Schwaben und fein Herzog im 
offenen Aufitande gegen die königliche Gewalt; ebenjo war es 
mit Baiern. Lothringen hatte fid) ganz vom Reiche losgemacht 
und an Franfreih angeſchloſſen; doch ftrebte jein Herzog nad 
föniglicher Selbitftändigfeit und wartete nur auf eine Gelegen- 
heit, um fich auch von diefem Herrn loszuſagen. — Bei diefer 
Lage im Innern war dad Reich nad außen wehrlos. Längft 
waren die alten Grenzmarfen verloren gegangen; im Norden 
gegen die Dänen, im Dften gegen die zahlreichen ſlaviſchen 
Stämme. Ungeftraft drangen die gefürchteten Normannen, dem 
Laufe der Ströme folgend, im das Herz des Neiched ein; am 
Rhein und an der Moſel lagen die von ihnen vermüfteten Städte 
in Trümmer. Der furdtbarite Feind aber waren die Ungarn 
und faſt alle Länder öftlicy des Rheins hatten jährlich von ihnen 
zu leiden. Wohin fie auf ihren fchnellen Pferden famen, weit- 
bin die Gefilde mit ihren ungezählten Schaaren erfüllend, da 
wurden die Saatfelder verwültet, dad Vieh fortgetrieben, die 
Häufer eingeäjcyert, alle werthvolle Habe geraubt. Feuer und 
Raub, Schutt und Trümmer bezeichneten ihre Wege; Kinder, 
Greife und Männer wurden erichlagen, Frauen und Mädchen 
in entehrende Knechhtichaft geführt. Die heiligen Tempel wurden 
niedergebrannt, die Priefter an den Altären erjchlagen, die Kreuze 
an den Wegen abgehauen umd veripottet. Aber auch nad) 
Welten hin war das Reich gefährdet. Nur mit Unmwillen und 


Grollen hatten die weitfränfiichen Karolinger wahrgenommen, 
(902) 


5 





was in Deutſchland in den letzten Jahren geſchehen war. Be— 
trachteten ſie ſich doch als die rechtmäßigen Erben, ſahen ſie es 
doch als einen Bruch der Legitimität an, daß Deutſchland mit 
Uebergehung der im Weſten herrſchenden Karolinger ſich Könige 
aus dem eigenen Volke geſetzt hatte. Wenn nun auch zur Noth 
Arnulph und Konrad als zur Familie gehörend angeſehen wer— 
den konnten und ſomit in gewiſſer Weiſe das Erbrecht gewahrt 
idhien, fo lag doch bei dem Sachſen die Sache ganz anders und 
dad Erbrecht der weftfränfiichen Karolinger mit Waffengewalt 
zur Geltung zu bringen, fchien nur eine Frage der Zeit. — 

So waren alfo die Verhältniffe nach innen und außen 
derart, daß Heinrich mit jeinem Herzogthume darüber zu Grunde 
gehen konnte, wenn er die Krone annahm. Bon einem jo flaren 
und nüchternen Manne aber, wie Heinrich war, dürfen wir bes 
haupten, dab ihm dieje Lage der Dinge befannt war; hat er 
troßdem die Krone angenommen, jo zeigt das von großem Pa— 
triotiömus und beweift, daß vor jeinem flaren Blide audy die 
einzige Möglichkeit, Abhülfe zu jchaffen, in aller Beftimmtheit 
lag. Ohne Zögern nahm er die ihm angebotene Krone an; 
nachdem er fidy der Treue der fränkiſchen Großen noch ganz be— 
ſonders verfichert hat, läßt er fid) der Sitte gemäß zu Frihlar 
wählen und förmlich anerfennen. Es waren nur Franken und 
Sachſen dabei gegenwärtig und jomit war der Ausgangspunkt 
feiner Herrichaft die friedliche Vereinigung diejer beiden Stämme. 

Mir finden in den Urkunden über die Regierung Heinrichs 
feinerlei Andentung über jeine Politif, Nichts über die Ziele, 
die er ſich geftedt hat. Nur wenige Thatjachen find uns über- 
liefert, aus ihnen allein können wir Schlüffe machen auf die 
Pläne, die er verfolgt hat. | 

An der Spite der Geſchichte Heinrichd berichten die Chro— 
niften die Weigerung deſſelben, die bisher allgemein üblicye 
Salbung von der Hand des Erzbiidyofs von Mainz anzunehmen. 


(903 ) 


— 
„Es genügt mir", fo läßt ihn der Abt Widukind von Corvey 
jagen, „ed genügt mir, vor meinen Ahnen das voraus zu haben, 
daß ich König heiße und dazu ernannt bin, da es Gottes Gnade 
und eure Huld fo will. Die Salbung und die Krone mögen 
würdigeren zu Theil werden; folder Ehre halten wir und für 
unwerth.“ Mit Recht jehen die neueren Gejdyichtöjchreiber hierin 
mehr ald einen Zug der Beicheidenheit. Der unverfennbare 
Unwille ded Klerud und die ausdrüdliche Erwähnung des Um— 
ftandes, daß foldye Rede bei der ganzen Menge Wohlgefallen 
gefunden und ein gewaltige Zujauchzen hervorgerufen habe, 
begründet das hinlänglich. Man darf aber in der Ablehnung 
feine Verachtung der Religion und der Kirdye ſehen, denn 
Heinrih war nad den Begriffen feiner Zeit ein’ frommer und 
firhliher Mann. Nicht zutreffend ift auch die Erklärung, nad 
welcher Heinricdy damit habe zu verftehen geben wollen, daß er 
fid) nicht, wie feine Vorgänger, von dem Klerus wolle leiten 
laſſen. Ohne Zweifel hat er andeuten wollen, daß er ſich be- 
gnügen werde mit einer Königswürde und mit einer föniglichen 
Macht, die geringer fei, als die bisher üblich geweiene. Es lag 
fomit in der Ablehnung der Salbung und Krönung ein Brud) 
mit der bisherigen Anjchauung vom Königthume und den bis 
bherigen Forderungen deſſelben. Ein priefterliche8 Königthum 
hatte feiner Zeit Karl der Große geſchaffen. Mit der Salbung 
durch die Hand des Dberhaupteö der Kirche und mit der An: 
nahme des. Titels imperator und augustus hatte er die dee 
der römiichen Kaijer und die der Päpfte fidy angeeignet, die Idee 
der Weltherrichaft, der abjoluten Herrſchaft über alles geiitliche 
und weltlide, ausgeübt von einem Fürften, der Priefter umd 
König zugleich wäre, der der Stellvertreter Gottes auf Erden, 
der Inbegriff und die Duelle aller Macht, alles Rechtes wäre. 
Das war die Anſchauung, die Karld ded Großen Erben von der 


Krone hatten, weldye der geſammte Klerus theilte, welche aud 
(904) 


— 
bei der Maſſe des Volkes Eingang gefunden hatte. — Heinrich 
hat bejcheidenere Vorftellungen von der ihm übertragenen fönig- 
lihen Macht und damit ftellte er fich auf dem Boden der Wirf- 
lichkeit. Die römijche Tradition von fich abwehrend, erinnerte 
er an die Stellung der alten deutſchen Heer-Könige und berührt 
jo eine volfsthümliche Saite, die laut Flingend ihm entgegentönt. 
Es war ja audy ein Ding der Unmöglichkeit, die frühere Vor— 
ftellung von fönigliher Macht zu verwirklichen, die Feine Macht 
neben ſich dulden fonnte. Die Macht der Herzöge war zu groß, 
zu ſehr mit den Stammesüberlieferungen und den Stammes» 
interefjen verwachſen, ald dab fie hätte Eurzer Hand befeitigt 
werden können, ganz abgejehen davon, dab Heinrich mit einem 
ſolchen Verſuche feine und jeined Hauſes Bergangenheit, denn 
auch diejed war in den Wirren der Zeit emporgelommen, ge— 
richtet hätte. Konnte die herzoglihe Gewalt nicht bejeitigt 
werden, auch nicht mit Erfolg geſchwächt werden, dann mußte 
fie anerfannt werden, dann mußte fie, die biöher als rechtlos 
gegolten hatte, als berechtigt, als legitim angejehen und mit ihr 
ald joldyer verhandelt werden. Der Inhalt der föniglichen Ge» 
walt wurde dadurch ein geringer, auch wohl ein zweifelhafter; 
aber ed war die einzige Möglichkeit, die Reichdeinheit herzu— 
ftelen und das Königthum zu halten und fo zögerte Heinrid) 
feinen Augenblid, diejen Weg einzujchlagen. Geftüßt auf Die 
Macht der Sadjen und Franken verlangt er von den Herzögen, 
daß fie ihm ihr ganzes Gebiet mit Land und Leuten, mit Städten 
und Burgen übergäben, um ed von ihm fofort als ein Lehen 
des Reichs zurüd zu erhalten; für fidy verlangt er nur die An 
erfennung ald Senior, d. h. ald Lehnsherrn. Died Verhältniß 
war fein juriſtiſch formulirbares, denn der Lehndmann ver» 
pflichtete fi) nur im allgemeinen zur Treue, zur Heered- und 
Gerichtöfolge. Aber es war eine Drdnufig der Dinge, der jeder 
Herzog ſich fügen fonnte, jeiner Ehre und feiner Macht unbe- 


(905) 


8 


ſchadet; das wußte Heinrich, einft der mädhtigfte und ehrgeizigfte 
unter ihnen, der langjährige Gegner des von dem Franken Konrad 
repräfentirten Königthums, am beiten; er wußte audy, daf jeder 
König, der died und nicht mehr forderte, die Stimme des Volkes 
auf feiner Seite haben würde. Im Bertrauen auf die Billig- 
feit jeiner Forderungen durfte er ed wagen, den Herzog von 
Baiern und Schwaben nöthigenfalld mit Waffengewalt zur Ans 
erfennung zu bringen. Sie liefen es nicht jo weit fommen; 
noch in leßter Stunde fügten fie ſich freiwillig der neuen von 
Heinrich proponirten Drdnung der Gewalten und ald die Gunft 
der Umftände aud Lothringen dem Reiche wieder gewonnen 
hatte, jchien der erite Theil der Aufgabe Heinrich, die Wahrung 
des Reichsbeſtandes und der Reichseinheit, glüclich gelöft. Auf 
den Stämmen der Baiern, Schwaben und Xothringer, der 
Franken, Sachſen und Thüringer beruhte das Reich; jeder Stamm 
bildete unter einem einheimijchen Herzoge ein Ganzes für fidh, 
aber die oberfte Leitung im Kriege und im Gerichte, der oberfte 
Schuß und Schirm gegen Gewaltthat war bei dem Könige. 

Mit großer Geſchicklichkeit wußte Heinridy die Herzöge 
enger mit der Krone zu verbinden; mit ängſtlicher Gewiljen- 
haftigfeit vermied er alles, was wie ein Eingriff in die ihmen 
gewährten Rechte ausfehen konnte, um jo jedes Mißtrauen gegen 
die Aufrichtigfeit jeiner Politik im Keime zu erftiden. Durch 
wiederholte Reichſtage, die unter jeinen Vorgängern jelten ge— 
worden waren, gewöhnte er die Fürjten, ihren Blick über die 
provinziellen Intereffen hinweg auf das Allgemeine zur lenfen 
und den König ald ihren Vorſtand jederzeit anzujehen. 

Bon großem Einfluffe war die Kirche, wenn ed galt, die 
NReichdeinheit zu fteigern und das Gefühl der Zufammengehörig- 
feit zu mehren. Die ftrenge Einheit des Glaubens und des 
Sittengeſetzes, die Gleichheit der religiöfen Ordnungen und 
Geremonien, die höhere Kultur und Bildung des Klerus fonnten 


(906) 


9 


die verſchiedenartigſten Elemente einen und dieſe dann durch 
den kunſtreichen, enggeſchloſſenen Organismus der Verwaltung 
auf das feſteſte umſchloſſen werden. Aber Heinrich wußte auch 
daß die Kirche in der herrſchenden Stellung, die ſie unter den 
Karolingern eingenommen hatte, weſentlich den Sturz des Reiches 
hatte herbeiführen helfen. So wies er denn, unbekümmert um 
den Unwillen der hohen Geiſtlichkeit der Kirche die Stellung an, 
in der ſie allein ihre Aufgabe zum Segen des Staats und zu 
ihrem eigenen Beſten erfüllen konnte. Um fie tauglich dazu zu 
machen, ließ er es ſich mit allem Eifer angelegen fein, ihr ge— 
ſunkenes Anjehen und ihren fittlichen Einfluß zu heben. Denn 
wohl fein Stand hatte in den vorangegangenen Wirren jo viel 
gelitten, ald der geiftlihe. Bon Grafen und Herzögen waren 
Aebte und Bilchöfe mißhandelt worden, von allen Seiten waren 
die Kirhen an ihrem Vermögen geichmälert worden, in den 
wilden Zeiten war der hohe und niedere Klerus verwildert und 
hatte an Anjehen verloren, die Grenzen geiſtlichen und weltlichen 
Rechts waren vielfach verwijcht worden. Mit aller Entſchieden— 
beit übte Heinrich jein Hoheitörehht aus über Biſchöfe und 
Aebte; auf Synoden jeßte er die Grenzen zwifchen geiltlicher 
und weltlicher Macht feit, er achtete auf Regelung und Hands» 
habung der Kirchenzudt. Kirchen und Schulen wurden erbaut; 
die Berleihungen an Kirchen und Klöfter find nicht jelten. Nir— 
gends aber geftattete er dem Klerus einen Einfluß auf die Res 
gierungdgeichäfte, trogdem aber legte ſich nad) und nad) der 
anfänglicye Unmuth der Geiftlichfelt gegen ihn und man fing 
an, in ihm den wahren Beſchützer und Vater der Kirche zu 
ehren. 

In dem klaren Bewußtjein, daß die materielle Grundlage 
jeiner Macht und jomit die wichtigite Bürgjchaft für dad Be— 
Stehen des Reichs in feinem ſächſiſch thüringiſchen Herzogthume 
liege, war er unablälfig bemüht, diejes zu ſtärken; bier in jeinen 

(907) 


10 


Stammlanden war ed, wo er feine culturbiftoriichen Reformen 
entwidelte und dem Reiche ein nachahmenswerthes Beiſpiel auf- 
ftellte. Es gab dort auch manches zu thun. Bon der Mündung 
des Rheins bis an die Elbe, von dem Thüringerwalde und dem 
Erzgebirge bis an die Nordjee erftredte fidy jein Herzogthum 
über einen großen Theil der Norddeutichen Tiefebene. Nur 
wenig ummauerte Orte gab es dort; in dem weiten, offenen 
Lande lagen die Site der Bewohner einzeln vertheilt oder zu 
offenen Dorfichaften vereinigt; bier und da erhob ſich eine könig— 
liche Pfalz, ein befeftigter Herrenfit, der umfchloffene Hof eines 
Biſchofs oder Abtes. 

Bei der Lage der Berhältniffe war gewiß eine Richtung 
auf gemeinjamesd Beilammenwohnen vorhanden. Die Noth vor 
den Ungarn, die Noth vor den fortwährenden Fehden im Innern, 
die Vertreibung manchen freien Mannes von feinem Eigenthume, 
die raſch fortichreitende Zerjegung des Volkslebens in das Ver— 
hältniß von Dienftleuten zu Lehnsherrn, das alled mußte viele 
Leute in ſchon vorhandenen Orten treiben oder zur Anfiedlung 
um die Site der Aebte und Biſchöfe, der Königspfalzen und 
Herrenfie treiben. Im wie weit Heinrich diejer Richtung des 
Volkslebens mit Bewußtfein entgegenfam, läßt fidy nicht jagen; 
doch paßt gewiß auf ihn das Wort, „dab große Männer das 
eigene, feine Gehör haben, daß fie die fommende Kulturftrömung 
in den Tiefen des Volfed rauſchen hören und fie jofort ent» 
ichloffen helfen, diejelbe in die richtigen Bahnen einzulenten.“ 
Jedenfalls hat er, um das Land zu fchüßen, zerfallene Burgen 
wieberhergeftellt, offene Orte ummauert, neue befeitigte Pläße 
angelegt und jene raftlofe Bauthätigfeit entfaltet, die der Chro» 
nift rühmt. Als nun fpäter die eben angedeutete Entwidelung 
des Volkslebens zum Abjchluß gekommen war, als fertig daftand, 


was zu Heinrich8 Zeiten erſt feimartig vorhanden gewejen und 
(908) 


11 


zu treiben begonnen hatte, da nannte dad danfbare Mittelalter 
Heinrich den Urheber und ehrte ihn ald den Städteerbauer. 
Mit den bloßen Anftalten zur Bertheidigung war nichts 
gewonnen, die Feinde mußten befiegt, ihre Macht gebrochen 
werden, follte das Land Ruhe haben. Aber die Ungarn jchienen 
unüberwindlid und fie waren es bisher geweſen wegen ihrer 
ungeheuren Anzahl und wegen ihrer Beweglichkeit, Dinge, die 
dem Heere der Deutichen fehlten. Noch beftand der alte Heer: 
bann, d. h. das friegerifche Aufgebot aller freien Männer. Die 
Anzahl der Friegstüchtigen freien Leute war jedoch gering ge= 
worden und nur jelten waren fie zu den Waffen gerufen. Der 
Heerbann hatte an Kraft und Bedeutung verloren. Heinrich 
überfah died Verhältniß und das Neue, was er jchafft, ift jeiner 
praftiichen Natur gemäß an die Wirklichkeit angelehnt. Faktiſch 
wird der Heerbann aufgegeben; nur in Zeiten großer Noth wird 
er aufgeboten. Der Schwerpunkt des Kriegsweſens wird auf 
dad Bafallenverhältniß bafirt und auf den Dienft zu Pferde; 
jo verliert der Dienit zu Fuß alle Achtung und Bedeutung und 
der Name Kriegämann wird gleichbedeutend mit Ritterömann. 
Mit dem wohlgeübten Vafallenheere gelang ed ihm, die Ungarn 
zu Schlagen und das Land von diejer Plage zu befreien. — 
Auch in der auswärtigen Politik tritt der Grundzug Hein» 
richs hervor; überall wird dag geſchichtlich gewordene anerkannt, 
überall begnügt er ſich mit mäßigen Forderungen, alle wendet 
er, in verftändiger Benußung der gegebenen Verhältniſſe, auf 
die Förderung der Neichdeinheit. Wir übergeben jeine fried- 
lihen Beziehungen zu Italien und Burgund und wenden und 
nad) MWoeftfranfen. Wie voraudzufehen, benußte der dort herr— 
ihende Karolinger die Wirren in Deutjchland, um feine Erb: 
rechte geltend zu machen. Er griff die Weftgrenze des Reiches 
an. Heinrich Schlägt ihn; aber ftatt feinen Sieg zu verfolgen 
und fi zu einem Angriff auf dad Nachbarreich hinreißen zu 
(909) 


12 


laſſen, gewährt er Waffenftillftand und Frieden, aber nur gegen 
die ausdrüdliche Anerfennung der Rechtmäßigkeit jeiner Krone 
und der Selbſtſtändigkeit des Deutichen Reiches. So war auch 
das letzte Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit feiner Wahl ge— 
Ihwunden, Deutjhland für immer durd einen legalen Akt aus 
der Farolingiichen Univerjalmonardie entlaffen. 

Durchaus aggrejiiv war fein Verhalten gegen die Slaven 
die in zahlreiche Stämme gejpalten an die Dftgrenze des Reiches 
ftießen. Aber dad lag in den Verhältniſſen. Unaufhörlich be» 
unrubigten fie die Neichögrenze, wiederholt hatten fie den Ungarn 
den offenen Durchzug durch ihr Land geftattet, oft diejelben 
gradezu herbeigerufen. Die unrubigen, in den Fehden ver: 
wilderten und befitlo8 gewordenen Elemente des Volks mußten 
abgelenkt oder doch beichäftigt werden, die neugejchaffenen Heeres— 
einrichtungen erprobt und geftärft werden, dem urgermanijchen 
Triebe nad Kolonifation, dem Streben der Kirche zu miffioniren, 
mußte ein neues Feld geöffnet werden. Was Wunder, daß fidy 
da der König nicht mit der bloßen Abwehr und Züchtigung 
begnügte, jondern erobernd auftrat. Seine Waffen waren fieg- 
reich; weite Streden ded Slavenlandes lagen ihm zu Füßen. 
Aber auch jeßt verleugnet er feine Natur nicht. Ueberall läßt 
er den unterworfenen Stämmen ihre eingebornen Fürften, ihre 
nationale Eigenthümlichkeit; nirgends zwingt er fie, Chriften 
zu werden. Er begnügt ſich mit dem Berjprechen, Ruhe zu 
halten, Tribut zu zahlen, vielleicht and) germanijche Anfiedlungen 
auf ihrem Gebiete zu dulden. Er wollte nicht mit Feuer und 
Schwert folonifiren und mijfioniren, er vertraute dem ftill aber 
erfolgreich wirkenden deutjchen und chriftlicyen Geiſte; ihm fiel 
die Aufgabe zu, nad Dften bin friedlidy erobernd vorzugehen; . 
der Staat wollte mit mächtig jchügender Hand died Vorgehen 
nur erleichtern und jchirmen. 


Wenn wir und nun nod einmal Heinridh’3 Tchätigfeit vor 
(910) 


13 


Augen ftelen, wenn wir ſehen, wie er mit ficherer Hand fein 
Neich losgelöft hat aus dem farolingifchen Reiche, e8 auf fich 
jelbft geftellt und unter Anerkennung der gejchichtlich gewordenen 
Gewalten ed geeinigt und gefräftigt hat, wie er die Reichs— 
grenzen durch Befiegung ihrer gefährlichften Feinde gefichert hat 
und nad) allen Seiten friedlihe Beziehungen angefnüpft hat, 
wenn wir dazu nehmen jeinen nüchternen, auf das wirkliche und 
mögliche gerichteten Sinn, feine weiſe Selbitbeherrijhung und 
Mäßigung, dann werden wir begreifen, daß jene Nachricht eines 
Chroniften, daß Heinrih am Ende feines Lebens beabfichtigt 
habe, nad) Rom zu gehen, um die Kaijerfrone zu erwerben und 
damit den Weg der Kaiferpolitif zu betreten, jehr wenig Glaub: 
würdigfeit verdient, dab es viel wahricheinlicher ift, daß mit 
dieſer Notiz der Hofchronift einer jpäteren Zeit Wünſche und 
Beftrebungen feiner Zeit, ald jchon früher vorhanden gemejen, 
bat darftellen wollen. | . 

Heinrich ift in Mahrheit der Gründer des deutichen Reiches, 
er hat die richtigen Ziele für die glüdlidhe Entwidlung des 
Landes vorgezeichnet und zu ihrer Verwirklichung die erfolg: 
reichten Schritte gethan. Manches Ungemady und mandhed 
Herzeleid wäre dem Waterlande und feinem Oberhaupte erjpart 
geblieben, hätte jeder fich begnügt, jeine Wege zu wandeln und 
fih fern gehalten von Wünjhen und Beitrebungen, die der 
nationalen Wohlfahrt entgegen jein mußten. — 

Heinrich ftarb 936, nachdem e3 ihm gelungen, die Herzöge 
und Großen des Reich zu beftimmen, feinen Sohn aus zweiter 
Ehe, Otto, zum Nachfolger zu wählen. 

In glänzender Weije, unter Entfaltung einer großen Pradt, 
in Gegenwart ſämmtlicher Herzöge des Neiched, wurde der 
24 jährige Dito zu Aachen, der alten karolingiſchen Kaiſerſtadt 
gekrönt. Man hat aus dem Berichte von diejen Feierlichkeiten 


einen Schluß auf das Programm des neuen Königd machen 
(911) 


14 


wollen, und aus dem Umftande, dab die Herzöge ihm dienten, 
gefolgert, daß Otto ſchon damals die Herzöge ald die oberften 
feiner Beamten angejehen habe, ja ald Diener, die ihm zu 
Dienftleiftungen verpflichtet feien. Aber wenn und auch Dtto’s 
Sharafter gejchildert wird ald einer, dem Herrchen ein Bedürfniß 
geweſen, der empfänglich gewejen für Glanz und Pracht, fo ift 
doch nicht zu glauben, daß der junge König, der nur nad) mühe- 
voller Zurüddrängung eined Gegenfandidaten gewählt worden, 
von den alten ehrgeizigen Herzögen, deren einer der Krone nahe 
geftanden, von denen zwei nad Königäfronen hatten ftreben 
fünnen, eine jolhe Berherrlichung feiner Macht und Würde 
habe fordern und erhalten fönnen. Manches ift in der Schilderung 
auf Rechnung einer fpäteren Zeit zu jeßen und der ganze Vor— 
gang wohl mehr ald ein Werf Heinrichs, als Krönung des von’ 
ihm errichteten Gebäudes anzujehen. Otto befam bald zu thun. 
In blutigem Aufftande erhoben fi die Franfen unter Führung 
ihres Herzogd gegen Dito. Dieſer Aufftand, wenn auch durdh 
beitimmte Vorgänge und Greignifje veranlaßt, erfolgte doch mit 
einer Art Nothmendigfeit; es war der Kampf der Franfen und 
Sadjen um die Herrichaft ded Neiched. Seit Chlodwig dem 
Merovinger hatte der fränkiſche Stamm die Herrſchaft über die 
übrigen germaniichen Stämme gehabt, mit Karl dem Großen 
war er zur Weltherrichaft gelangt; noch hieß der eine Theil des 
gewaltigen Reichs Weftfranfen, der andere Oſtfranken; faum ein 
Zahrhundert war vergangen jeit der heidniihe Stamm der 
Sadjen von ihnen unterworfen, dem Chriſtenthume und der 
Kultur geöffnet worden war. Und nun war die Herricdhaft auf 
den jo verhaßten, mit jo unendlicher Kraftanftrengung und 
Grauſamkeit einit unterjodhten Stamm der Sadien über- 
gegangen und ed jchien, als follte fie bei ihm bleiben. Da 
Ichaart fid) der Franfenftamm, gereizt außerdem durdy das er- 
wachte Selbitgefühl des herrichenden Stammes, nody einmal 


(912) 


um feinen Herzog um die Krone wieder zu gewinnen. Es ift 
fein Kampf der berzoglichen Gewalt gegen die fönigliche, wie 
man oft geglaubt hat, es it ein Kampf zweier Stämme um 
die Vormacht, um die Führung. Das erkannte Dito wohl und 
demgemäß handelte er, ald er den Aufftand bezwungen hatte. 
Die herzogliche Gewalt unter den Franfen wurde für immer 
bejeitigt und dem Königthume übertragen; die bedeutenden 
Beſitzungen ded Herzogd wurden getheilt und an fränfijche 
Große gegeben. So nahm er den Franfen ihren nationalen 
Mittelpunkt und jtellte fie der Perfon des Königs jo nahe wie 
möglich, in der Hoffnung, daß jene ftolzen Erinnerungen an die 
einftige Herrichaft allmählich erlöjchen würden, daß aus Franken 
und Sachſen ein Bolt werde, in dem Mate, ald die alte 
Stammeöfeindichaft fich mildern würde. 

Was Dito dem fränfiichen Herzogthume that, that er dem 
übrigen nicht und doch ftellte ſich bald heraus, mie nachtheilig 
für die Entwidlung ded Reiches jened Beftehen Iofaler Gewalten 
war, die mit faft vollftändiger Autonomie audgeftattet, feit 
gegründet auf dad Stammeögefühl und die Interefjen des 
Volkes, von Jahr zu Fahr an Feftigfeit und Macht gewonnen 
hatten. Gr fonnte die Herzöge nicht bejeitigen; er durfte nur 
daran denfen, ihren Einfluß und ihre Macht zu Schwächen, fie 
immer fefter dem Reichsorganismus einzufügen. Zu dem Zwecke 
ihlug er verfchiedene Wege ein. Um der herzoglichen Gewalt 
den nationalen Boden zu nehmen, belehnte er, ald durch Tod 
oder Treubrucd die Herzogthümer erledigt wurden, nicht einen 
Edlen aud dem betreffenden Stamme damit, jondern ein ihm 
nahe ſtehendes Glied feiner eigenen Familie. So glaubte er 
den Zufammenhang der einzelnen Theile ded Reich unter ein- 
ander und mit der Krone fördern zu fünnen, wenn eine $amilie 
dad Ganze und die Theile fraftvoll regierte. Doch dieſe 
Familienpolitif folte fi) auf das Empfindlichfte rächen. Ein 


(913) 


16 


Zwift in feiner Familie brady in offene Empörung aus und die 
gegen den Vater kämpfenden Söhne braten’ nicht nur den 
Beitand ded Meiched, jondern auch den der Herzogthümer 
in Frage. 

Denn nicht für immer war der Einfluß der alten herzog— 
lichen Familien bejeitigt mit ihrer Bejeitigung aus der herzog— 
lichen Stellung. Sie hatten unter ihren Stammeögenofjen 
ftarfe Verbindungen und einflußreiche Beziehungen unterhalten 
und in diefer Zeit des Krieged regten ſich die alten Gewalten 
und fämpften um die frühere Stellung. Zerriſſen war das 
Neid, gejpalten die einzelnen Herzogthümer. Die Zeit der 
früheren Verwirrung jchien mit allen ihren Greueln wieder- 
gelommen, alles mühjam Errungene in Nichts zerfallen. — 

Nur wie durch ein Wunder wurde Dito Herr der Empörung. 
Als es galt, die Drdnung neu zu geftalten, verhehlte fidy Dito 
nicht, wie tief im Bewußtſein des Volkes das nationale Herzog: 
thum gegründet war und daß diefem Umſtande Rechnung 
getragen werden müfle Somit befleidete er mit der herzog« 
lihen Würde überall Männer, die dem betreffenden Stamme 
angehörten, in ihm begütert waren und wo möglidy mit der 
alten herzoglihen Familie in Beziehung ftanden. Damit war 
das nationale Herzogthum wieder aufgerichtet; aber die neuen 
Herzöge verdankten ihre Würde und Macht der Gnade des 
Könige. Dito ſuchte jet dem Herzögen Vorrechte, die ihnen 
bisher gelaſſen, wie die Beſetzung der Bisthümer und die jelbft- 
tändige Kriegführung, zu nehmen; durdy Errichtung neuer 
Gemalten, durd Kräftigung und Vermehrung ſchon vorhandener, 
jeßte er ihnen ein Gegengewicht. So ftattet er die Markgrafen 
mit bedeutender Macht aus; mit der Wahrnehmung der Fönig« 
lihen Rechte in den Herzogthümern werden die Pfalzgrafen 
beauftragt; wo es angeht, theilt er das Herzogthbum, wie in 
Lothringen. Im Berfolgung diefer Politif that Dtto einen 


(914) 


— 


Schritt, der verhängnißvoll werden ſollte für die Zukunft des 
Reiches. Wie Heinrich war auch Otto der Geiſtlichkeit gegen— 
über zurückhaltend, wenn er auch nach dem Sinne der Zeit ein 
frommer Mann war; in Schenkungen an die Kirche war er 
karg und oft tadelte er die ihm verſchwenderiſch ſcheinende Frei— 
gebigkeit ſeiner Mutter; mit mißtrauiſchem Auge ſah er die 
damals ſich regenden hochkirchlichen Reformbeſtrebungen an. 
Bald änderte ſich ſeine Stellung. In großer Noth hatte er die 
Hülfe Gottes in gleichſam ſichtbarer Weiſe erfahren; der Tod 
ſeiner Gattin richtete ſeinen Sinn auf das religiöſe; mit Vor— 
liebe las er die heilige Schrift und andere fromme Bücher; mit 
Eifer läßt er fi die Förderung der kirchlichen Zwecke ange— 
legen fein, darin aufs Beſte von ſeinem gelehrten und ſtaats— 
flugen Bruder Bruno, dem Erzbiſchofe von Köln, geleitet. 
Bald denkt er daran, den Klerus, der allein im Befiß von 
Bildung und Kultur ift, für die Sache des Reiches dienftbar 
zu maden. Seinen Bruder Bruno madıt er zum Reichskanzler 
und bald find alle Geihäfte des Reiches in den Händen der 
Geiftlihen; am Hofe des Königs fammelt fid) von Klerifern 
Alles, was Talent hat, gewinnt hier einen Blid in das Getriebe 
des Staated und wird vom Könige mit einflußreichen Stellungen 
und Aemtern betraut. Dabei aber blieb eö nicht. Ueberzeugt 
von der großen Bedeutung der Kirche und von ihrer eminenten 
Fähigkeit die Reichdeinheit zu fördern, glaubt er das befte Gegen» 
gewicht gegen alle partifulariftiiche Beitrebungen der Herzöge, 
gegen alle Anmaßungen und Uebergriffe der hohen weltlichen 
Ariftofratie gewonnen zu haben, falld es ihm gelänge, das 
Interefje der Kirche und deöd Klerud auf dad Engite mit dem 
ded Reiches zu verbinden. Von ſolchen Grundſätzen ausgehend, 
ftattet Otto die Geiftlihen mit Reichslehen aus. ine joldhe 
Belehnung der Geiftlichen mit weltlihem Beſitze jchien durchaus 


unbedenflich, weil hier nie, wie bei der weltlichen Ariftofratie 
XVIII. 432. 2 (915) 


18 


ein Streben nady Erblidyfeit der Lehen auffommen fonnte, weil 
jeden Augenblid der König in der Lage ſchien dad Regiment 
nad feinem Gutdünfen zu reformiren. Und doch war dieſe 
Politif Dito’3, fo jehr fie audy in der Nothwendigfeit begründet 
ſchien und jo manchen Nuten fie auch gehabt haben mag, jehr 
gefährlich. 

Bei der fteten Beichäftigung mit weltlichen Angelegenheiten 
mußte der hohe Klerus jeine eigentliche Aufgabe vergeſſen oder 
doch vernadhläffigen. Die einjeitige Bevorzugung ded einen 
Standes mußte die Eiferjucht ded andern rege machen und ihn 
zwingen nad) gleichen Rechten zu ftreben. Denn ed war nicht 
anzunehmen, daß die weltlichen Großen für immer einer feineren 
Pildung fern bleiben würden und daß fie immer fi von den 
Reichögeichäften fern halten liefen. Eine fortwährende Reibung 
und eiferfüdhtige Ueberwachung war die nothwendige Folge. 
Ferner aber, jo lange die Interefjen der Kirdye mit denen des 
Staated barmonirten, jo lange ed dem Könige gelang den 
Klerus fidy dienftwillig zu erhalten, mochte das enge Bündnif 
für das Wohl des Reiches von Nuten und Erfolg fein; wer 
bürgte jedoch, daß die Einheit zwiichen Staat und Kirche, wie 
fie Otto gejchaffen und unter ihm faktiſch beitand, bleiben würde? 
Sobald eine Zeit fam, wo die beiderjeitigen Intereſſen feindlich 
auseinander gingen, mußte jene Verbindung dem Königthume 
und dem Reiche gefährlich werden. Denn dann trat der Krone 
eine gewaltige Macht gegenüber, gewaltig durch irdiſchen Befit 
und geiftigen Einfluß und durch das lebendigite Gefühl der 
Zufammengehörigfeit. Otto betradhtete ſich ald den oberften 
Herrn der Kirche jeined Neiched und er war ed auch; unum— 
ſchränkt fette er Biſchöfe ab umd ein; er leitete die äußeren 
und inneren Angelegenheiten der Kirche, er berief Reichs- und 
Provinzialfyunoden und handhabte die Kirchenzudt. Und dody 


waren jchon vor etwa einem Sahrhundert in den Ländern ded 
(916) 


19 


Rheins jene Kirchengejege entftanden und in Umlauf gefommen, 
die dem Biſchofe in Rom, als ihm allein zufommend, Befugnifje 
beilegten, die Otto nicht nur faktiſch ausübte, jondern auch als 
einen wejentlihen Bejtandtheil jeiner föniglihen Macht anjah. 
Schon hatte Papft Nicolaus I auf jene Gejeße fidy berufend, 
dad Schiedsrichteramt über einen König ausgeübt. Sobald ein 
energiicher Charakter in Rom Biſchof wurde, der mit diejen in 
der Kirche nicht nur befannten, jondern auch gebilligten Grund» 
ſätzen Ernft madıte, war der Konflikt mit der weltlichen Macht 
da. Otto's Bruder und Otto's natürlicher Sohn, beide große 
Miürdenträger der Kirche und vertraut mit der Politif Roms, 
Iprachen unverhohlen ihre jchweren Bedenken gegen die Politik 
Otto's aus. Fa, als ed fi um die Gründung des Erzbisthums 
zu Magdeburg handelte, brach der Zwift zwiichen Dtto und 
jeinem Sohne, dem Erzbildyofe von Mainz, offen aus, da firdh- 
liche und weltliche Intereſſen fidy nicht deckten. 

Dod ein Mann wie Otto wird ſich die Tragweite jeined 
Schrittes klar gemadyt haben. Ein Audeinandergehen der geilt- 
lichen und weltlicdyen Intereſſen vorausjehend, hat er fich vor 
den letzten Konjequenzen feines Schritted nicht gefcheut; er hat 
gewußt, daß um höher zu gehen, er fich die ganze Kirche, d. h. 
den Biſchof in Rom unterwerfen müfje, dab er dem Königthume 
eine Macht gewinnen müſſe, fraft deren er den römiſchen Biſchof 
ein- und abjeten könne, wie einen Biſchof feines Reiches. Dody 
died führt und auf Otto's auswärtige Politik. — 

Wir wenden und zuerft nady Dften zu den Slaven. Otto 
trat die Erbſchaft jeined Vaters an, doch geht er bald über die 
von jenem vorgezeichneten Ziele hinaus. Er will die Slaven 
jeinem Reiche einverleiben, deſſen Macht und Größe fie mehren 
jollen. Demzufolge wird dad eroberte Land behandelt. Grafen 
und Markgrafen werden über daſſelbe gejeßt; die deutſche 


Heered- und Gerichtöverfaffung wird eingeführt. Ganze Land» 
3° (917) 


20 


ftriche mit Ortſchaften und Leibeigenen werden an Grafen und 
edle Herren, an Klöfter und geiftliche Stiftungen verichenft oder 
zu Leben gegeben. So wurde eine große Zahl Föniglicher 
Bafallen und Dienftleute in das Land gezogen und zahlreiche 
Burgen zum Schuße und zur Knechtung errichtet. Aber die 
gewaltjame Kolonifirung, das übermüthige Auftreten der Herren, 
die feitgemwurzelte Racenfeindihaft nährten die Erbitterung und 
ihärften von Jahr zu Sahr die Ausbrühe der Wuth. Da 
ſchreckte Otto um zum Ende zu fommen, vor dem Aeußerſten 
nicht zurüd; er bejchloß, ihnen die nationale Eigenthümlichkeit 
zu nehmen; ein Glaube follte beide Völker verbinden, das 
Chriſtenthum die troßigen Gemüther für immer umwandeln. 
Mahrjcheinlich ift der oben amgedeutete Umjchwung nach der 
firhlihen Richtung für dieſe politifhe Maßregel von Einfluß 
geweſen; wenigitend wird aud demjelben Jahre, in dem jener 
Umſchwung ftattfand, der erite Schritt diejer Art gegen die 
Slaven gemeldet. Die Slaven merften worauf ed abgefeben 
war und zum lebten Berzweiflungsfampfe erheben fidy die 
Etämme zwiſchen Elbe und Oder. Otto blieb Sieger, und 
nun war ed mit dem Slaventhume vorbei. Die Ueberlebenden 
wurden mit Gewalt getauft; zahlreiche Kirchen, Mönchs- und 
Nonnenklöfter wurden gebaut, neue Bisthümer gegründet und 
dotirt. 

Man hat das Verfahren Otto's gegen die Slaven vielfach 
verurtbheilt und ihn verdammt wegen der Härte, Graujamleit 
und Zreulofigfeit, die er gegen fie bewiejen. Es ijt wahr; die 
Geſchichte von den Kriegen gegen die Slaven ift unerquidlid 
zu lejen und mit Widermwillen wendet ſich oft ein zartered Gemüth 
davon ab. Doch der wilde Sinn einer wilden Zeit, nody gereizt 
durch die jchroffen Gegenjäße der Nationalität und der Religion 
führt anders Kriege ald eine civilifirte Nation in aufgeflärten 
Zeiten; jene Kriege wollen nad) den damaligen Berhältnijjen 


(915) 


21 


beurtheilt fein. Der Kampf jelbft und zwar der Kampf auf 
Leben und Tod lag begründet in der Unmöglichkeit, daß ein 
nach ftaatliher Entwidelung und höherer Kultur ftrebendes, 
jugendfräftiged Volk auf die Dauer neben einem barbarijchen 
und politiicher Geftaltung bis dahin unfähigen Volke friedlich 
leben fonnte. Heute danfen wir ed Dtto, dab er die weiten 
Gefilde deuticher Kultur und deutichem Geifte geöffnet hat; 
heute, wo eine Unzahl blühender Städte jenſeits der Elbe 
Zeugniß ablegt von deutſchem Fleiße und deuticher Kraft, heute, 
wo der Mittelpunft ded neu eritandenen deutjchen Reiches dort 
gelegen iſt. 

Bon weittragender Bedeutung find die Beziehungen, in 
welche Dito zu den weltlichen und füdlihen Nachbarn feines 
Neiches tritt. Die Berbhältnifje boten ihm überall mancdherlei 
Gelegenheit und Veranlafjung ſich einzumijchen und feinen Ein- 
fluß geltend zu maden. Unbemerft führt ihn eine Beziehung 
zur anderen, weiter und weiter reicht fein Streben, bis er 
endlidy mit jeinem großen Blide das ganze Abendland über: 
haut und alle Fäden der Bewegung in jeiner fräftigen Hand 
liegen. — 

Im weitfräntifhen Neiche wütheten Parteifämpfe. Das 
Königthum war ſchwach; mädtige Große rangen mit dem 
Könige und untereinander um Selbitftändigfeit und um die 
Krone. Es lag im Intereſſe Deutichlands, dak im Nachbar: 
ftaate feine mächtige Herrichaft auffam, denn ſchon damals 
traten die Gelüfte der Nachbarn nach den gejegneten Ufern des 
Rheins hervor. Damit ſchien die Politif Otto's vorgezeichnet 
zu fein; er mußte dafür forgen, dab ed im Weftfranfenreiche 
blieb, wie ed war, daß die dortigen Kräfte im gegenfeitigen 
Kampfe fich das Gleichgewicht hielten, fich womöglich verzehrten. 
Dieſe Politit hat Dito audy verfolgt und fo ift es feine In— 
fonjequenz, wenn er bald den König, bald die mächtigen Partei: 

019) 


22 


bäupter unterftüßt oder fallen läßt. Aber fein Ehrgeiz ging 
weiter; er ftrebte nach Herrichaft und Unterwerfung und jo 
geihidt wußte er die vorhandenen Parteien für fi zu ge— 
winnen, dab auf dem Tage zu Attigny 940 die Großen Vaſallen 
Frankreichs ihm huldigten und feine Dberhoheit anerkannten. 
Als er dann, feiner Politif getreu, die Vafallen, die ihm zu 
mächtig wurden, fallen ließ und er fidh des bedrängten König» 
thums annahm, das. verloren jdhien, da warf fi ihm der 
König mit jeinen wenigen Getreuen in die jchüßenden Arme, 
nannte fi) jeinen getreuen Vaſallen und erklärte, ſich nur nad 
jeinen Befehlen richten zu wollen. So war Dtto Herr im 
MWeitfranfenreihe und jeinen Grundfäten entiprady ed, wenn 
er die gewonnene Herrihaft auch hier mit Hülfe ded Klerus 
zu befeitigen juchte. 

Die Beziehungen Otto's zu Franfreih führten ihn zur 
Einmiſchung in die Verhältniffe von Burgund, jened Reiches, 
das fid) damals über die Gefilde der Rhone und Saone, über 
die Gebiete der Weftalpen und des Jura erftredte und bier, in 
dem Lande zwiſchen Deutichland, Franfreih und Stalien, wo 
Germanen und Romanen zujammenitießen, jhürzten fi die 
Fäden, aud deren Gewebe fidy die Politif der Weltherrichaft 
entwidelte. — MWiederholt hatten die burgundijhen Großen, 
jelbft die burgundijchen Könige an den Wirren und Partei- 
fämpfen in Franfreich theilgenommen und Otto Beranlafjung 
gegeben, fi) um Burgund zu fümmern. Ald beim Tode des 
burgundifchen Königs Rudolf Il. dem noch unmündigen Sohne 
und Thronerben defjelben, Conrad, das Erbe von dem gewalt« 
thätigen Könige von Stalien, Hugo, einem burgundiichen Großen 
ftreitig gemacht wurde, ſuchte man einen Rückhalt bei dem 
mächtigen Könige der Deutichen. Ueber das Treiben der 
Parteien am Hofe von Burgund ift nichts Näheres befannt; 
doch ſteht feit, dab fich der junge König bald darauf am Hofe 


(920) 


23 


Dtto’8 und in defien Schuß befand. Aus Otto's Ehrgeiz und 
Herrichjucht ift es erflärlich, dab er dieſen Umftand in jeinem 
Interefje benußt, um feinen Einfluß ein für alle mal dort zur 
Geltung zu bringen. Sein und feines Schüglings wichtigfter 
Gegner war der zeitige Wachthaber in Italien, und von bier- 
aus wurde ihm jtetig Oppofition gemadt. Schon deshalb war 
er genöthigt, den Angelegenheiten Staliend feine Aufmerkſamkeit 
zu jchenfen; aber es veranlahten ihn dazu noch mehrere andere 
Gründe Auch in Italien wütheten Parteifämpfe; die Krone 
ging aud der Hand des einen Großen in die deö anderen; zur 
Zeit hatte Ddiejelbe jener oben erwähnte burgundiiche Große 
Hugo. Wiederholt hatten die ftreitenden Gewalthaber Hülfs- 
völfer aus den deutichen Grenzländern, geholt, wiederhelt waren 
deutſche Herzöge, ihrem Ehrgeize folgend, in die lombardijche 
Ebene hinabgezogen, um an dem Kampfe theilzunehmen. Die 
Grenzverhältniffe zwiſchen Deutichland und Italien waren un— 
fiher. Je mehr Dtto fid) berufen glaubte, der Schirmherr der 
Kirche und der Borfämpfer ded Glaubens zu werden, mußte er 
ein Snterejje haben mit dem römijdyen Biſchofe in nähere Ver— 
bindungen zu treten und vor Allem einzutreten in den Kampf, 
den damals das Chriſtenthum gegen den Islam führte, und 
diejer Kampf hatte feinen wichtigſten Schauplag in Stalien, 
wo bereits Gicilien und mehrere Pläße in den ſüdlichen 
Provinzen und in den Seealpen im Befite der Araber waren. 
— Dad Regiment des Ausländers hatte ſich verhaßt gemacht. 
An die Spite der nationalen Oppofition trat ein italienijcher 
Große Berenger, der Hülfe und Stüße bei dem natürlichiten 
Feinde feines Geanerd, bei Dito, juchte und fand. Chrenvoll 
wurde er aufgenommen und veidy bejchenft entlaffen; ja, eine 
wenig beachtete Notiz eines Chroniſten ſagt, daß er ſich Otto 
ald jeinem Lehnsherrn unterworfen habe. Mit einer in Deutſch— 
land geworbenen Mannſchaft kehrte er zurüd. Won diejem 


(921) 


24 


Augenblide an ift Dito entichloffen, feine Macht über Italien 
auszudehnen und Alles, was in Stalien vor fidy geht, ift durdy 
ihn beeinflußt und beftimmt; Alled was dort und in Deutichland 
gefchieht, bereitet den großen Schritt vor. Borfichtigt bemächtigt 
er fih mit Hülfe feines ihm ganz ergebenen Bruders, der 
Herzog von Baiern war, der Stadt Aquileja, ald des Schlüffels 
von Stalien; heimlich läßt er für fich und feine Pläne bei den 
Großen Italiend werben, und jchon weiß er im Voraus, welche 
Städte und Burgen fi ihm öffnen werden, weldye nit. So 
bedurfte ed nur eines Anſtoßes, um die weitfliegenden Pläne 
zu verwirflichen. Diejer Anſtoß fam bald. Er knüpft fih an 
die Gejchichte der Königin Adelheid. Otto z0g über die Alpen, 
eroberte die Lombardei mit Waffengewalt, ſetzte ſich die eiferne 
Krone der Lombarden auf's Haupt und ließ durch feine Ge— 
jandten in Rom wegen feiner Aufnahme in die ewige Stadt 
und wegen feiner Krönung zum Kaifer unterbandeln. Vielen, 
jelbft Gliedern feiner eigenen Ramilie, hatte Dtto feine wahren 
Pläne und Abfichten auf Italien verheimlicht; jetzt lagen fie 
offen vor Sedermannd Augen; jett ſah Seder, dab er im 
Begriffe war, die Erbſchaft Karls ded Großen anzutreten, das 
abendländiiche Kaiſerthum wieder aufzurichten, als imperator 
und augustus fidy zum Herm der Könige und Kürten, zum 
Schirmherrn der Kirche zu maden. Otto's damalige Stellung 
ſchien ihm ein Recht zu joldhen Plänen zu geben. Das König: 
thum in Deutichland ſchien für immer gefichert; das Land der 
Slaven zwiſchen Elbe und Dder war unterworfen; Böhmen, 
Frankreich und Burgund erfannten ihn ald Lehnsherrn an; 
Stalien gehordhte ihm; die Ungarn maren befiegt; die Dänen, 
die Angeljachjen, jenjeitd ded Waſſers, ftanden mit ihm in 
freumdichaftlichen Beziehungen, ſchon zweimal hatten Gefandte 
des griechiſchen Kaijers koſtbare Geichenfe überbracht. Weberall 


erfreute fich die Kirche ſeines beſonderen Schutzes, große Gebiete 
(929) 


25 


hatte er ihr gewonnen, zahlreihe Bisthümer verdanften ihm 
ihre Gründung. Faktiſch mar er der Erbe der Macht und 
Stellung Karld des Großen, nur fehlte noch die rechtliche Be- 
ftätigung, nur noch die feierlihe Weihe der Salbung und 
Krönung. 

Zudem war niemals im Volke dad Andenken an die glors 
reihe Herrihaft Kals des Großen ganz geſchwunden; nod) 
wurden in Sagen und Liedern feine Thaten und der Glanz 
jeiner Herrichaft gefeiert. E&8 war auch nicht vergeffen, daß 
nach dem Ausfterben der italienifhen Karolinger Deutichland 
und Franfreih um die Kailerfrone gerungen hatten, daß der 
deutiche Karl der Dide und Arnulph fie getragen hatten. Bon 
Anfang an hatte Dito die höchſten Vorftelungen von der Königs— 
gewalt gehabt; aus ihr leitete er das Recht eiuer unumjcränf: 
ten Gemalt, die Stellung eines Gejalbten Gotted, eined Schutz⸗ 
herrn der Kirche ab. 

Wollte Dito nicht ftehen bleiben bei dem was er erreicht 
hatte, zögerte er feinen Augenblid nach dem Höchſten zu ftreben, 
der Grund liegt nicht allein in der nad Herrichaft und Chre 
geizigen Seele ded Mannes, nein, der einmal betretene Weg, 
die ganze theilweiß durch ihn gewordene Yage der Dinge trieb 
ihn mit Nothwendigfeit weiter. Aber in dem Mugenblide, wo 
er die Hand nad) dem Höchſten außitredt, tritt ihm ein Hinder- 
niß drohend in den Weg. 

Geleitet von dem Sohne, dem erwählten Thronfolger, dem 
Erzbiihhofe von Mainz und mehreren Fürjten und Großen 
Deuticylauds erhebt ſich eine Dppofition gegen Dtto, eine Op— 
pofition, die ihm bedenklich genug ſcheint, um ſofort nach Deutſch— 
land zurüdzufehren, eine Oppofition die bald in offene Empö— 
rung audartet und das Reich an den Rand ded Verderbend 
bringt. Nur dürftig und wenig zuverläffig, weil parteiijch ge— 


halten, find die Nachrichten über dieje Empörung; die verſchie— 
(923) 


26 





denartigfte Beurtheilung hat fie von neuen Geſchichtsſchreibern 
gefunden. Doch ift wohl ohne Zweifel, dab diejer Aufitand 
feinen Grund hatte in der Erfenntniß der Gefährlichkeit des 
von Dtto eingefchlagenen Weges, daß er die nationale Reaktion 
gegeu die geplante Univerjalmonardie war, die Deutſchland und 
jeine Entwidlung nothwendiger Weife in verfehrte und unge» 
junde Bahnen lenfen und jeine Kraft dem SInterefje anderer 
dienitbar machen mußte. Aus dem Kampfe, dem fidy alle dem 
Königthum und der ftaatlihen Drdnung feindlichen Elemente 
anjchloffen, ging Dtto ald Sieger hervor. Aber er gab jeine 
Pläne nicht auf, er bemühte fidy vielmehr für die Zukunft eine 
ähnliche Oppofition unmöglich zu maden und fi den Erfolg 
zu fihern. Bor der Hand allerdings war er gezwungen jeine 
Pläne zu verjchieben. Berengar wurde zum Könige gemadyt 
und er begnügte fi mit der Dberlehnöherrlichkeit. Aber un- 
auögelegt behielt er Stalien im Auge und die Dinge entwidel- 
ten fich jo, daß ihm die Herrichaft wie eine reife Frucht von 
ſelbſt zufallen mußte. 

Mir werfen einen furzen Blid darauf. 

Der Süden Italiens war in den Händen des griechiſchen 
Kaijers; Mittelitalien beitand außer der weltlichen Herrſchaft des 
Papſtes aus mehreren Herzogthümern und Marfgrafichaften; 
die lombardiiche Ebene gehorchte dem ftolzen und graufamen 
Berengar. Obgleich diejer in jeinem Reiche eine ftarfe Oppo— 
fition hatte, war er doch ehrgeizig genug und fühlte er fidy ftarf 
genug die Herrihaft ganz Italiens an fi zu bringen. In 
diefem Beſtreben war der römiſche Biſchof fein wichtigfter 
Gegner, denn in feinem Interejje lag ed die Zerriffenheit Ita— 
liend zu fördern und feinen mächtigen Herm auffommen zu 
lafjen. Nur unter diejen Verhältniffen war es möglich die tra- 
ditionelle Politit des römiſchen Stuhled auf Erweiterung der 


weltlihen Herrſchaft und auf unumſchränkten Einfluß in Stalien 
(924) 


27 





zu verwirflichen. Als fich der Papit in feinem weltlichen Be- 
fite bedroht jah, rief er den erprobten Schutz der Kirche, den 
König Dtto zur Hülfe herbei, ihm als Preis die Kaijerfrone 
verjprechend. Gleichzeitig rief ihn aber aud die Gegenpartei 
Berengard in der Lombardei zur Hülfe gegen dad graujame 
Regiment ded Königs. Mit Freuden folgte Dito dem doppelten 
Rufe; ohne fidy mit der vollftändigen Eroberung der Lombardei 
aufzuhalten z0g er nach Rom, denn wie leicht fonnte der Papft 
jeinen Beichluß bereuen, wenn er Otto's wahre Abfichten auf 
Stalien fennen lernen ſollte. Am 2. Febr. 962 empfing er aus 
der Hand ded Papites die Kaijerfrone. Cinmal in Rom und 
im Befiß der Kaijerfrone nahm Otto das oberherrliche Recht, 
das ſchon Karl der Große im Kirchenftaate ausgeübt hatte, in 
vollem Umfange und in feiner ganzen Bedeutung für fi in 
Anſpruch und behandelte den Papft und deſſen Land nicht an- 
derd wie jeden audern großen Lehnöträger. Das aber mußte zu 
Berwidlungen führen, da ed den Ideen ded intriguanten und 
ehrgeizigen Papftes ganz zumwiderlief. Diejer hatte gehofft, der 
deutjche König werde ihn aus feiner augenblidlidyen Noth be= 
freien, der Kirche die ihr entrifjenen Güter zurüdgeben und 
dann nad dem fernen Deutjchland zurüdfehren. Dann hatte 
er ald Herr eined nicht unbedeutenden Gebieted, mit dem rö— 
miſchen Kailer als Fräftigen und willigen Rüdhalt im Bunde, 
gehofft die Herrichaft über Italien leicht und bald erringen zu 
fünnen. — Nicht einmal ald Oberhaupt der Kirche ftand der 
Biſchof unbeſchränkt da; denn ohne ihn zu fragen und ohne 
auf ihn Rückſicht zu nehmen, hatte Otto Angelegenheiten der 
Kirhe Italiens auf Synoden, die er aud eigener Machtvoll- 
kommenheit berufen hatte, geordnet und gejchlichtet. 

Bald war Dito denn auh im Beſitz von Urkunden, aus 
denen hervorgig, dab dad Oberhaupt der Chriftenheit, der Vaſall 


des Kaijerd ſich nicht jcheute, mit dem ſchismatiſchen Kaiſer 
(935) 


— 
der Griechen, ja mit den heidniſchen Ungarn ein Bündniß gegen 
Otto zu ſchließen. 

Schnell entſchloſſen zog Otto mit Heeresmacht gegen Rom, 
der Papft floh und wehrlos lag die Stadt auf ihr Gebiet zu 
den Füßen des Giegerd. Dieje veränderte Sadylage benutzte 
Otto ganz im Sinne feiner kaiſerlichen Ideen. Durch eine von 
ihm berufene Synode jeßte er den Papſt ab und wählte er 
einen neuen, einen dem Sailer ergebenen Mann; die Römer 
aber müſſen jchwören, dat fie nie einen Papit wählen oder or: 
diniren wollen ohne Zuftimmung des Kaijerd und feines Sohnes. 
So war Dtto Herr des Papftes und der Kirche, bei ihm ftand 
die letzte Enticheidung in allen weltlichen und geiftlichen An— 
gelegenheiten ded Abendlandeö; er war am Ziele feines Strebeng, 
auf dem Höhepunfte feiner Macht. Aber er fand feine Ruhe; 
es trieb ihn noch weiter. Wollte er Ernft maden mit dem 
Königthume von Stalien und dem Kaifertyum, jo mußten die 
Griechen aus Unteritalien verdrängt werden und der griedyiiche 
Kaijer, der nie aufgehört hatte, fidy ald den legitimen Erben 
des abendländiichen Kaiſerthums anzujehen, mußte zur Anerfen- 
nung feiner Würde gebradyt werden. War ed ihm Ernft mit 
der Stellung ded Dberherrn der Kirche, jo mußte Dtto in den 
Kampf gegen den Islam eintreten, den gegen die Heiden weiter: 
führen. So bradte ihm die Kaiferfrone neue Kämpfe und 
Berwidlungen; aber fie alle nehmen einen großartigeren uni— 
verſal-hiſtoriſchen Charakter an. Wie Hein mußten ihm die 
MWirren der einzelnen Reiche ericyeinen angefichtö der gewaltigen 
Aufgabe: den Kampf der römijchegermaniichen Eultur zu kämpfen 
gegen das ungläubige barbariiche Völkergemiſch, das zum Theil 
unter der Führung ded Kalifen, zum Theil führerlos gegen die 
hriftlihe Gultur heranftürmte. Es gelang ihm einen Theil 
feiner Aufgabe zu löfen. Der griechiſche Kaifer erkannte ihn 


ald den rechtmäßigen Herrn ded Abendlanded an und des Kaiſers 
(926) 


29 


Tochter, die ſchöne Griehin Theophano, aufgewachſen in der 
üppigen orientalifchen Pracht mußte ald Gemahlin des deutjchen 
Thronerben diefem folgen in die rauhen nebeligen Ebenen des 
Sachſenlandes. 

Wir werfen von hier aus einen beurtheilenden Blick auf 
die Politik Otto's zurück, nicht auf die Mittel und Wege, die 
er einſchlug um zum Ziele zu gelangen, ſondern auf das Ziel 
ſelbſt. Bei den verhältnißmäßig geringen Nachrichten über dieſe 
Zeit, bei einer Geſchichtsdarſtellung, die ſich mit der mehr oder 
minder breiten Aufzählung der Fakta begnügt, ohne die Pläne 
der handelnden Perſonen mitzutheilen ohne die innere Verbin— 
dung der Thatſachen anzudeuten oder die Zeitverhältniſſe zu 
analyſiren, aus denen Perſonen und Sachen zu erklären wären, 
bei dem Umſtande, daß manche Berichte nothwendig parteiiſch 
gehalten ſein müſſen, da iſt der Subjectivität des heutigen Be— 
urtheilers in;Auffaffung und Verbindung der Thatſachen, in Ent- 
widlung der Abfihten und Pläne ein großer Spielraum ge= 
laffen und religiöje, politiiche und fociale Anficbten machen fid) 
nach Kräften geltend. So ift denn die Beurtheilung der Pos 
litik Otto's, namentlich der jogenannten Kaijerpolitif, eine jehr 
verichiedene. Als Gegenſätze ftehen ſich gegenüber Dönniges 
und Giefebrecht auf der einen, von Sybel und Gfrörer auf der 
andern Seite; eine Vermittlung verfuht Waig und Mauren» 
brecher. Giejebrecht fieht in der von Dtto verfolgten Politik 
die Verwirklihung einer Aufgabe, die das deutjche Volk zu 
feiner eigenen Ehre, zu jeinem eigenen und der Menjchheit 
Beiten habe erfüllen mäffen. Seiner Anfidyt nach find die 
deutſchen Stämme erft durch die Weltherrichaft zu einer Volks— 
einheit gebracht worden, iſt durd die Siege über die fremden 
Nationen das Nationalgefühl gewedt und gefördert worden; 
durch die Berührung und Verbindung mit dem Auslande ift der 


Kreid der Anfchauung erweitert, neue Elemente der Bildung 
(927) 


— 30 

in Wiſſenſchaft und Kunſt ihm zugeführt worden. Ja, er iſt 
der Anſicht, daß nur durch den engen Anſchluß an die römiſche 
Bildung erſt die Gefahr völlig beſeitigt worden ſei, daß das 
deutſche Volk aus dem großen Gange der Bildungsgeſchichte 
hinausgedrängt und vor einem Rückfall in den barbariſchen Zu— 
ftand bewahrt wurde. Eo zollt denn auch der berühmte Ge— 
ichichtsichreiber der Politif Dtto’8 unbedingtes Lob und eine große 
Bewunderung. Und doch möchten wir fie einen Fehler nennen. 
Die Geſchichte des 9. und 10. Jahrhunderts zeigt ein wenn auch 
noch unbemwußted Drängen zum Nationalitaate. Immerhin 
mögen bei dem Verfall der farolingijchen Univerfalmonardie 
dynaftifche und Firchliche Intereſſen wirkſam gewejen jein, das 
Drängen und Treiben der verichiedenen Nationalitäten nad) 
eigenartiger Selbititändigfeit ift nicht zu verfennen. 

Wie wenig war daran zu denfen, diefem Streben auf die 
Dauer entgegentreten zu können, wo Dtto nicyt einmal in Deutſch— 
"land der Bewegung nach Sonderung der Stämme Einhalt ge= 
bieten konnte. Es war allerdings feine Abfiht, den Staaten 
eine gewiſſe Selbitftändigfeit zu lafjen; er ließ ihnen ihre Kanz— 
leien, Beamte, Landtage; allein gerade dieje Selbititändigfeit 
mußte dem Ganzen gefährlich werden; jobald die Staaten po— 
litifch erjtarft waren, mußten fie jened Band, das fic alle um— 
Ihloß, zu lodern judhen. Das Kaiſerthum mußte eine ideale 
Fiktion werden, deren Aufrechthaltung unendlich viel Geld und 
Blut foften würde. Und worauf bafirte Otto im legten Grunde 
feine Macht? Doch nur auf die Friegeriiche Macht Deutichlands 
und den Einfluß der Kirche. Wie aber, wenn die friegeriiche 
Macht Deutichlands im eigenen Lande verwandt werden mußte, 
wenn eine Niederlage den Zauber ded Sieges und der Umwider: 
ftehlichfeit löfte? Und konnte nicht auch die Macht der Kirche, 
ihm jeßt dienftbar, fich gegen ihn und das Kaiſerthum wenden? 


(928) 


war nicht die Verbindung eine zu unnatürliche, ald daß fie Hoff- 
nung auf lange Dauer einflößen fonnte? 

Um Dtto’3 Werk zu erhalten und den drohenden Gefahren 
Stand zu halten, war ein noch größerer Geiſt nothwendig, ald 
der Otto's war; wie wenn ein Mann ihm folgte, ihm nicht gleich 
an Charakter, Kraft und Glück? Wohl ift zuzugeben, daß die 
Verhältniſſe einen ehrgeizigen, feiner Kraft fich bewußten Mann 
reizen mußten, den Weg einzuichlagen, den Dtto einjchlug; eine 
politiiche Nothwendigfeit, jo zu handeln, lag nicht vor, wohl 
aber mahnte mandyed bald mehr, bald weniger deutliy und 
dringend davon ab. Ein Ohr, nicht bethört durdy Herrfchjudht, 
hätte die Warnung hören müffen; ein Sinn, nicht geblendet von 
Ehrgeiz, hätte die Berechtigung der Warnung erkennen müfjen. 
v. Sybel ftellt ſich bei feiner Beurtheilung durchaus auf den 
deutichenationalen Standpunkt und ſucht nachzuweiſen, wie Otto's 
Streben dad nationale Interefje Deutſchlands verlegt und es 
dem Streben nad einer theofratiihen MWeltherrichaft geopfert 
babe. Seiner Anfiht nad) mußte ein deuticher König allein 
das Gedeihen der dentihen Nation, die fruchtbare Entwidlung 
der in ihr liegenden Keime ind Auge fallen und nicht das Be- 
ftehen unjeres Volkes nur als ein dienended Mittel für die 
Zwede eined alles umfaffenden Ehrgeizes anſehen. 

Bon diefem Gefichtöpunfte aus geht er die einzelnen Be— 
ftrebungen und Erfolge Dtto’8 durch und fommt zu dem Re— 
jultate, daß allein die Groberungen im Dften dem nationalen 
Intereſſe entſprochen hätten, dab die übrige Politit Otto's zur 
Vernichtung des nationalen Königthumd geführt und Deutichland 
in eine ihm fremde und umnatürlihe Bahn der Entwidlung 
geführt habe, in eine Entwidlung, die in Sprache, Wiſſenſchaft 
und Kunit, die im Glauben und im öffentlihen Rechte dem 
Volksgeiſte fremd gemejen. Wenn es auch die größte That ded 
deutjchen Geiftes geweſen iſt, ſich aus diejer Entwidlung frei 

(929) 


32 


zu machen, fo ift doch die Befreiung erfauft worden mit Opfern, 
unter denen noch heute das Baterland leidet. Wir geben hierin 
dem geiftvollen Geſchichtsſchreiber Recht; können ihm aber nicht 
beipflichten, wenn er Otto die ganze und volle Verantwortung 
für das, was gefchehen und nicht geichehen ift, aufbürdet, wenn 
er ihn direft für die Schädigung der nationalen Intereffen ver- 
antwortlid macht. So flar lag die Sache nicht; jo ausgebildet 
und bewußt war die nationale Strömung nody nicht, dab ihre 
Ziele und Abfihten mit einer joldyen Deutlichkeit vor Augen 
lagen, daß ed eine Schwäche geweſen wäre, fie nicht zu ſehen, 
dab ed ein Uebermuth gemwejen wäre, fie mit Wilfen und Willen 
zu verachten. Dito war ein Kind feiner Zeit und in ihr lebte 
noch der Geift des Kaifertbums; in ihm aber war dad Weſen 
und Treiben diejed Geiftes fo gewaltig, daß er den leijen Flügel» 
ſchlag des neuen Geifted nicht vernahm. 

Wir jehen in der Politif Otto's ein großartigeö ideales 
Streben, das fidy aus der Perjönlichfeit Dtto’8, der vorherrſchend 
geiftlichen Richtung der Zeit, aus der günftigen Lage der poli- 
tiichen Verhältniffe hinreichend erklären und begreifen läßt; ein 
Streben aber, dad bald in fi) zufammenbrecdhen mußte, weil e8 
feiner Natur nad) auf dad Maßloſe gerichtet war, weil es auf 
die Dauer nicht gewachſen war, der aus den edelften und ge— 
waltigiten Quellen bervorbrecdhenden Richtung nad nationaler 
Selbitftändigfeit. . 


(930) 
Drud von Gebr. Unger (Th. Grimm), Berlin, Schönebergeritraße 17 a. 








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