HANDBUCH DER
FRAUENBEWEGUNG
Handbuch
der
Frauenbewegung
herausgegeben von
Helene Lange und Gertrud Bäumer
L Teil:
Die Geschichte der Frauenbewegung in den Kulturländern
IL Teil:
Frauenbewegung und soziale Frauenthätigkeit in Deutschland nach
Einzelgebieten
Dl Teil:
Der Stand der Frauenbildung in den Kulturländern
IV. Teil:
Die deutsche Frau im Beruf
Berlin S.
W. Moeser Buchhandlung
1901
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Handbuch der Frauenbewegung
»' herausgegeben von
Helene Lange und Gertrud Bäumer
H. Teil
Frauenbewegung
und
iale Frauenthätijgkeit
in Deutschland
nach Einzelgebieten
Mitarbeiter am II. Teil:
Alice Salomon, Marie Stritt, Anna Pappritz,
Ottilie Hoffmann
Berlin S.
W. Moeser Buchhandlung.
1901
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MHV^rouN|VEi<sii»
OCT 1 9 1982
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Vorwort zum zweiten Teil.
Was wir in Bezug auf den zweiten Teil unseres Handbuchs
der Frauenbewegung im allgemeinen zu sagen hatten, ist bereits
im Vorwort des ersten Teils zum Ausdruck gekommen. Im
besonderen haben wir noch zweierlei zu bemerken.
Der vorliegende Band soll einem doppelten Zweck dienen.
Es liegt auf der Hand, dass die Darstellung der deutschen Frauen-
bewegung im ersten Bande nach Gesichtspunkten gegeben werden
musste, die eine eingehende Wiedergabe der Einzelbestrebungen
ausschliessen. Sie konnten einerseits im Zusammenhange des
Ganzen häufig nur da erwähnt werden, wo sie zuerst auftreten,
andrerseits nur insofern sie einen Teil dieses Ganzen bilden.
Indem nun dieser Band die verschiedenen Bestrebungen der
Frauenbewegung und sozialen Frauenthätigkeit gesondert nach
ihren speziellen Ursachen und Zielen, in ihrer besonderen Ent-
wickelung und mit ihren praktischen Einzelheiten zur Darstellung
bringt, bildet er eine notwendige Ergänzung des ersten Teils.
Die andre Seite seiner Bestimmung ist damit zugleich an-
gedeutet. Er soll solchen, denen es nur darauf ankommt, über
ein einzelnes Gebiet Eingehenderes zu erfahren, die Gelegenheit
dazu bieten und ihnen zugleich auch die litterarischen Hilfsmittel
zu weiterem Studium dieses Gebietes an die Hand geben.
In Bezug auf die Auswahl des verarbeiteten Stoffes gilt für
diesen Band ganz besonders, was im Vorwort des ersten Teils
bereits gesagt worden ist. Es konnte aus der Fülle des vor-
liegenden Thatsachenmaterials nur das Typische herausgegriffen
werden, auf eine Vollständigkeit in stofflicher Hinsicht konnte es
dabei nicht ankommen. Immerhin ist es möglich, dass eigenartige
Bestrebungen auf irgend einem Gebiete sich unserer Kenntnisnahme
entzogen haben; wir werden für jeden Hinweis dankbar sein, der
uns in dieser Richtung eine Vervollständigung ermöglicht.
Halensee-Berlin, im September 1901.
Die Herausgeberinnen.
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Inhalt.
Sritff
Die Frau in der sozialen Hilfsthätigkeit. Von
Alice Salomon i
I.itteratur . . . . . . . . . . . . , . . . . . . . . . I
I. Einführung 4
II. Die Frau In der Armen- und Waisenpflege ♦ . . ♦ 7
1. Die Frau in der kirchlichen Armenpflege . . . . 8
2. Die Frau in der Vereinsarmenpflege 19
3. Die Frau in der öffentlichen Armen- und Waisen -
pflege 38
III. Die Frau In der Krankenpflege ,51
1. Die geistlichen Pflegerinnenorganisationen .... 56
2. Die halb weltlichen, halb geistlichen Pflege -
organisationen 66
3. Die weltlichen Pflegerinnenorganisationen .... 76
IV. Die Frauenthatlgkolt In der Gefangenenpflege ... 78
1. Frauen als Gefängnisbeamtinnen 80
2. Frauen in der Gefflngnismission 84
V. Frauenarbeit In der Jugendfürsorge 88
1. Jugendfürsorge für das vorschulpflichtige Alter . 90
2. Jugendfürsorge für das schulpflichtige Alter ... 95
3. Fürsorge fflr die schulentlassene Jugend 104
VI. Sonstige Wohlfahrtsbestrebnngen 110
1. Arbeitsvermittlung 111
2. Wohnungspflege 115
3. Volksheilstatten. Poliklinik und Pflegestation für
Frauen . , , , , , , , , , , , , llS
4. Volksunterhaltungen und Volksbildungsbestrebungen 119
Rechtsschutz fttr Frauen. Von Marie Stritt . . . iaa
Rechtskämpfe. Von MarieStritt 134
I. Die Agitation der deutschen Frauenbewegung gegen das
Familienrecht im Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches 134
II. Die Agitation der bürgerlichen Frauenbewegung um ein
einheitliches freies Vereins- und Versammlungsrecht . . 149
Die Teilnahme der Frauen an der Sittlichkeits -
bewegung. Von Anna Pappritz 154
Litteratur 154
Seite
I. Einführung 155
II. Die Reglementierung der Prostitution 156
III. Josephine E. Butler und die Gründung des britischen,
kontinentalen und allgemeinen Bundes zur Bekämpfung
des staatlich regulierten Lasters 161
IV. Gertrud Guillaume-Schack und die Gründung des
deutschen Kulturbundes 164
V. Hanna Bieber -Böhm und der Verein „Jugendschutz" . . 17a
VI. Deutsche Zweigvereine der Internationalen Föderation
(Föderation abolitionniste internationale) 180
VII. Die deutsche Frauenbewegung und die Sittlichkeitsfrage 184
1. Die Teilnahme von Vereinen und einzelnen Ver-
treterinnen der Frauenbewegung an der Sittlichkeits-
bewegung 184
2. Die Beteiligung des Bundes deutscher Frauen-
vereine an der Sittlichkeitsbewegung 189
Die Teilnahme der deutschen Frauen an der
Bekämpfung des Alkoholismus. Von Ottilie
Hoffmann i 93
Litteratur 193
I. Einführung 193
II. Die Mitarbeit der Frauen in den Anti-Alkoholvereinen . . 195
III. Die Massigkeitssache innerhalb der deutschen Frauen-
bewegung 199
Der Anteil der deutschen Frauen an der inter-
nationalen Friedensbewegung. Von Marie Stritt 201
Die Arbeiterinnenbewegung. Von Alice Salomon 205
Litteratur 205
I. Einführung »07
1. Die gemeinsamen Voraussetzungen der modernen
Arbeiterfrage und Arbeiterinnenfrage 207
2. Die Arbeiterinnenfrage im besonderen 211
3. Die Voraussetzungen der Arbeiterinnenbewegung . 213
II. Die Arbeiterinnenbewegung 217
1. Teilnahme der Arbeiterinnen an der sozialistischen
Bewegung 217
2. Politische Arbeiterinnenbewegung 220
3. Gewerkschaftliche Arbeiterinnenbewegung .... 230
Sachregister 259
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Die Frau in der sozialen Hilfstätigkeit.
Von Alice Salomon.
Litteratur.
D ie Geschichte der sozialen Hilfsarbeit ist zu einem bedeutenden
Teil eine Geschichte von Frauenarbeit; trotzdem sind erst in jüngster
Zeit Versuche gemacht worden, die sehr reiche Litteratur der Wohlfahrts-
pflege durch zusammenfassende Abhandlungen über die Frauenarbeit
auf den einzelnen Gebieten der sozialen Hilfstätigkeit zu vervoll-
ständigen. Unter diesen neueren Werken sind zu nennen: Schäfer,
„Die weibliche Diakonie", Bd. I (Stuttgart 1887), Bd. II (daselbst 1893),
Bd. III (Hamburg 1893), ein Werk, das nicht nur als Führer durch die
Arbeit der evangelischen Diakonissenhäuser, sondern als systematische
Darstellung der meisten Gebiete sozialer Arbeit unübertroffen ist. Auch
der reiche Litteratur- und Quellennachweis ist für eine eingehende
Beschäftigung mit den einschlägigen Gebieten von ausserordentlichem
Wert. Weit geringer an Umfang, aber deshalb als Einführung um so
brauchbarer, ist die in Bd. X der Schriften der Centralstelle für Arbeiter-
Wohlfahrtseinrichtungen erschienene Abhandlung über „Weibliche
Hilfskräfte in der Wohlfahrtspflege" von Stadtrat Münsterberg
(Berlin 1896), die sich hauptsächlich mit der berufsmässigen Arbeit auf
diesem Gebiet beschäftigt. Andre Arbeiten orientieren speziell über
die Frauenthätigkeit auf einem oder dem andern Teilgebiet der sozialen
Hilfsarbeit; auch finden sich in den allgemeinen Werken über einzelne
Zweige der Wohlfahrtspflege, wenn auch nur zerstreut, wertvolle
Nachrichten über Frauenarbeit. Für die Armenpflege sind vor allem
die Werke über die kirchlichen Bestrebungen zu nennen: Ratzinger,
„Geschichte der kirchlichen Armenpflege" (Freiburg 1884), Uhlhorn,
„Die christliche Liebesthätigkeit" (Stuttgart 1882), Simons, „Die älteste
Gemeindearmenpflege am Niederrhein und ihre Bedeutung für unsre
Zeit" (Bonn 1894). Ein zwar wenig systematisch geordnetes, aber
reichhaltiges Material über die Anfänge von Vereinsbildungen für
Armen- und Krankenpflege enthält: Amalie Sohr, „Frauenarbeit in
Handbuch der Frauenbewegung. IL TeÜ. I
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2 —
der Armen- und Krankenpflege" (Berlin 1882); über die Vereine vom
roten Kreuz orientieren: „Das Handbuch der deutschen Frauenvereinc
unter dem roten Kreuz" (Berlin 1881, neue Auflage in Vorbereitung),
„Geschichte des badischen Frauenvereins" (Karlsruhe 1881) und die
Generalberichte der Landesvereine vom roten Kreuz. Über die rege
Vereinsthätigkeit der Frauen auf dem Gebiet der Armenpflege giebt
es keine zusammenfassende Darstellung; allgemeine Ausführungen
darüber enthält das Buch von Münsterberg, „Die Armenpflege,
Einführung in die praktische Pflegethätigkeit" (Berlin 1897). das als
kurzer, übersichtlicher Wegweiser auf allen Gebieten der Armenpflege
von unschätzbarem Wert ist (mit sorgfältig zusammengestelltem
Literaturnachweis); ferner der Artikel „Wohlfahrtspflege" im Illustrierten
Konversations-Lexikon der Frau (Berlin 1900). Im übrigen muss auf die
Berichte der Vereine verwiesen werden. Von grösster Bedeutung für
jeden, der sich eingehend mit irgend einem Gebiet der Armenpflege
beschäftigen will, ist die Sammlung solcher Berichte, die sich in der
Bibliothek«) der Centralstelle für Arbeiter -Wohlfahrtseinrichtungen
(Abteilung für Armenpflege) befindet, und die wohl als die grösste und
sorgfältigst geordnete Sammlung dieser Art bezeichnet werden kann.
Die Bibliothek enthält auch zahlreiche Mitteilungen, Zeitungsausschnitte
und dergleichen Ober die Thätigkeit der Frauen in der öffentlichen
Armenpflege, Regulative der Armen- und Waisenverwaltungen vieler
Städte. Zusammenhängend wird diese Frage behandelt ausser in den
beiden bereits erwähnten Schriften von Münsterberg in den Schriften
des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohlthätigkeit (Jahrgang
1885, 1896, 1899 un< * 1900). sowie in dem Bericht über die Ver-
handlungen des dritten allgemeinen preussischen Städtetags (Berlin 1901).
Schliesslich enthalten die Artikel „Armenwesen" bei Conrad, „Hand-
wörterbuch der Staatswissenschaften" und in Schönbergs „Handbuch
der politischen Ökonomie" reichhaltiges Material. Dasselbe gilt von einer
Reihe von Zeitschriften, unter denen ausser den bekannten Frauen-
zeitungen 1 ) folgende zu nennen sind: „Zeitschrift für das Armen-
wesen", im 2. Jahrgang, hrsg. von Stadtrat Münsterberg; „Blätter des
badischen Frauen Vereins". 35. Jahrgang (Karlsruhe); „Blätter für das
Hamburgische Armenwesen", 9. Jahrgang; „Das rote Kreuz", 19 Jahr-
gang, Herausgeber Dr. Pannwitz- Charlottenburg; „Monatsschrift für
Innere Mission", 21. Jahrgang. Herausgeber D. Th. Schäfer- Altona;
„Charitas", Zeitschrift für die Werke der Nächstenliebe im katho-
lischen Deutschland, 6. Jahrgang, Herausgeber Dr. Werthmann-
Freiburg i. Brg.; „Vereinsmitteilungen des freiwilligen Erziehungsbeirats
für schulentlassene Waisen", 3. Jahrgang; „Blätter aus dem Evange-
lischen Diakonieverein". 5. Jahrgang, Herausgeber Professor Z i m m e r -
") Gegründet und geleitet von Sudtrat Münaterberg-Berlin, Köthenerstr. »3.
») Vgl. Handbuch der Frauenbewegung. Teil 1. L-tteratur.
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— 3 -
Berlin-Zehlendorf; „Soziale Praxis", 10. Jahrgang, herausgegeben von
Professor Franc ke; „The Charity Organisation Review", 9. Jahrgang
t London).
Die meisten der genannten Werke und Zeitschriften behandeln
neben der Armen- auch die Krankenpflege, zum Teil (z. B. Schäfers
weibliche Diakonie und Münsterberg in den Schriften der Centralstelle
für Arbeiter -Wohlfahrtseinrichtungen, Bd. X) sogar diese vorwiegend
oder in erster Linie. Ferner enthalten die zahlreichen Berichte
englischer und deutscher Krankenpflegerinnen-Organisationen ein viel-
seitiges Material über diesen Gegenstand, ebenso die „Deutsche Kranken-
pfleger-Zeitung", IV. Jahrgang, Herausgeber Dr. P. Jacobsohn-Berlin,
und das Handbuch der Krankenversorgung und Krankenpflege, Heraus-
geber Dr. G. Loebe, Dr. P. Jacobsohn, Dr. G.Meyer (Berlin 1899),
das Krankenhaus-Lexikon für das Deutsche Reich, herausgegeben von
Prof. Gutt Stadt (Berlin 1900), der Bericht über den „Internationalen
Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen in Berlin 1896"
(Berlin 1897) und der Artikel „Krankenpflegerinnen" im Illustrierten
Konversations-Lexikon der Frau (Berlin 1900). Der Frauendienst bei
Gefangenen wird zusammenfassend und übersichtlich in einem Artikel
von Prof. A. v. Kirchenheim im Illustrierten Konversations-Lexikon
der Frau besprochen; andere grössere spezielle Abhandlungen über die
Frauenarbeit auf dem Gebiet sind mir nicht bekannt geworden. Jedoch
wird diese Fürsorgethätigkeit in einer Reihe von Schriften über das
Gefängniswesen teils mitbehandelt, teils gestreift, z. B. bei Adolf Fuchs,
„Die Gefangenen-Schutzthätigkeit" (Berlin 1900), Fuchs, „Die Vereins-
fürsorge zum Schutz für entlassene Gefangene in ihrer geschichtlichen
Entwicklung" (Heidelberg 1888), in Kr ohne, „Lehrbuch der Gefängnis-
kunde" (Stuttgart 1889), in Schäfers Diakonie; ferner in Zeitschriften
wie: „Blätter für Gefängniskunde", 34 Bände, Herausgeber Wirth,
Heidelberg; „Jugendfürsorge", Berlin, 2. Jahrgang, herausgegeben von
F. Pagel; Monatsschrift für innere Mission (s. oben), in den Jahres-
berichten der rheinisch-westfälischen Gefängnisgesellschaft (Düsseldorf),
den Berichten der Landes- und Bezirksschutzvereine u. s. w. Als
Adressen für Auskünfte auf dem Gebiet der Gefangenenpflege sind
zu nennen: G. K. Fuchs in Karlsruhe und G. K. Starke, Berlin,
Wilhelmstr. 19. Die Thätigkeit der Frauen in der Jugendfürsorge ist
zwar in keiner bedeutenderen Schrift zusammenhängend dargestellt,
doch überwiegt die Frauenthätigkeit auf diesem Gebiet der Männer-
arbeit gegenüber so bedeutend, dass eigentlich jede Schrift über die
Einrichtungen der Jugendfürsorge auch als eine Abhandlung über soziale
Frauenthätigkeit betrachtet werden kann. Ein unschätzbares Material
über Fürsorge-Einrichtungen für Kinder enthält: Dr. med. Neumann.
„Öffentlicher Kinderschutz" (Jena 1895). Zusammenfassend wird das
ganze Gebiet der „Kinderfürsorge" von Münsterberg im Conradschen
Handwörterbuch, II. Aufl., 5. Bd., behandelt; die Fürsorge für die
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— 4 —
schulentlassene Jugend in ausführlicher, teils geradezu mustergiltiger
Weise in den Vorberichten zur 9. Konferenz der Centraistelle für
Arbeiter- Wohlfahrtseinrichtungen (Berlin 1900). Für einzelne Zweige
der Jugendfürsorge kommen ausser den zahlreichen Vereinsberichten
in Betracht: Für die Fürsorge vorschulpflichtiger Kinder: Roscher,
„System der Armenpflege und Armenpolitik" (Stuttgart 1894); ferner
Dr. Taube „Der Schutz der unehelichen Kinder in Leipzig" (1893);
Schriften der Centralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen No. 17
(Berlin 1900); Anna Plothow: „Entstehung und Entwicklung der
Jugendhorte in Deutschland" im Bericht über den Internationalen
Kongress für Frauenwerke (Berlin 1897); Aschrott: „Die Behandlung
der verwahrlosten und verbrecherischen Jugend und Vorschläge zur
Reform" (Berlin 189a); von Massow: „Das preussische Fürsorge-
Erziehungs- Gesetz" (Berlin 1901); Fischer: „Die Waisenpflege der
Stadt Berlin" (189a); schliesslich enthalten die Schriften des Deutschen
Vereins für Armenpflege und Wohlthätigkeit, sowie von den bereits
angeführten Zeitschriften besonders die im 2. Jahrgange erscheinende
„Jugendfürsorge" (Herausgeber Franz Pagel, Berlin) vielfaches Material.
Über andere Zweige sozialer Hilfsarbeit, in denen die Frauenthätigkeit
erst in den letzten Jahrzehnten eingesetzt hat, orientieren mit Aus-
nahme einiger Artikel in Handbüchern und Nachschlagewerken im
allgemeinen nur die betreffenden Vercinsberichte.
L
Einführung.
Begriffsbestimmung. Inhalt und Bedeutung der weiblichen Hllfs-
arbelt. Berufsmassige und nicht berufsmassige Frauenarbeit.
Unter den Begriff „soziale Hilfstätigkeit" pflegt man alle
diejenigen Bestrebungen einzureihen, die gesellschaftlichen Miss-
ständen gegenüber Hilfe schaffen wollen, die auf Förderung eines
gesunden Volkslebens in körperlicher und geistiger Beziehung
abzielen. Es handelt sich dabei also nicht um eine unbedeutende
Hilfsarbeit bei grossen sozialen Reformen, sondern um die Mit-
arbeit an diesen selbst. Auf dem Gedanken des Helfens und
Heilens, um Einzelnen oder der Gesamtheit bessere Daseins-
möglichkeiten zu schaffen, beruht die soziale Hilfsthätigkeit, und
dieser Gedanke liegt der Bezeichnung „soziale Hilfsthätigkeit" zu
Grunde.
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- 5 -
Während in früheren Jahrhunderten der Bedarf an Fürsorge-
thätigkeit auf dem Gebiet der Armen- und Krankenpflege, der
Waisen- und Jugendfürsorge grossenteils durch die familiäre Haus-
wirtschaft gedeckt werden konnte, während ehemals der Arme im
Hause eines begüterten Nachbarn gespeist, die Waise daselbst
gekleidet wurde, hat das Zeitalter moderner industrieller Entwicklung
einen Massenpauperismus geschaffen, dem gegenüber die Hilfs-
aktionen des Einzelnen, des isolierten Familienhaushalts versagen
mussten. Die Fürsorgethätigkeit ging vom Haus auf Gesellschaft
und Staat über; sie erweiterte und vertiefte sich mit fortschreitender
Kultur und schuf in allen Kulturländern eine Reihe von Arbeits-
gebieten, als deren wichtigste die Armen- und Waisenfürsorge, die
Krankenpflege, Gefangenen pflege und Jugendfürsorge zu nennen
sind. Zu allen Zeiten hat die Bethätigung der Frauen auf diesen
Arbeitsfeldern eine bedeutende Rolle gespielt; handelt es sich doch
vorzugsweise um Erfüllung von Pflichten, die mit dem häuslichen
Leben, der Erziehung der Kinder, der Wirtschaftsführung in
engstem Zusammenhang stehen, und die man daher den Frauen
schon in den Zeiten zu übertragen pflegte, als von einer bewussten
Frauenbewegung noch nicht die Rede sein konnte. Besitzt die
Frau doch eine Reihe von Fähigkeiten, die sie zur Ausübung
sozialer Hilfstätigkeit nicht nur ebenso tüchtig, sondern sogar
geeigneter machen, als der Mann es ist, und das hat sie von jeher
auf diese Arbeitsfelder geführt. Neben all den Eigenschaften und
Fähigkeiten, die Mann und Frau in gleichem Masse besitzen
können, neben Pflichttreue, Eifer, Ausdauer und Zuverlässigkeit
bringt die Frau für diese Arbeitsgebiete noch ihr ausgeprägtes
Gefühlsleben mit; ihre alles verstehende Milde und Nachsicht, die
bei der Arbeit an Mutlosen, bei der Aufrichtung von Verzweifelten
und Gesunkenen so wertvoll ist; ihre Sorgfalt und Gewissen-
haftigkeit bei der Verrichtung auch kleiner, unbedeutender Aufgaben,
die für Organisationsarbeiten von grösstem Vorteil ist; schliesslich
ihre Mütterlichkeit, die Fähigkeit, die Mutterliebe vom Haus
auf die Gemeinde zu übertragen, auf die Welt, die dieser Kräfte
so dringend bedarf.J
Diese besondere Bestimmtheit der Frau für die soziale Hilfs-
tätigkeit beginnt denn auch in weiten Kreisen anerkannt zu werden,
und Staaten und Gemeinden haben bereits vereinzelt den Frauen
würdige, fest umschriebene Stellungen in diesen Zweigen ihrer
Verwaltungen eingeräumt Daneben besteht aber allerwärts eine
weitverzweigte Vereinsthätigkeit und private Liebesarbeit, die sich
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— 6 —
seit Jahrhunderten entwickelt hat; diese stellt zunächst noch die
weitaus grösste Zahl der Frauen, die dem stetig wachsenden
Bedarf an weiblichen Kräften für die soziale Hilfsthätigkeit zu
entsprechen versuchen.
Bei allen Formen der sozialen Hilfsthätigkeit der Frauen,
gleichviel, ob die Arbeit sich im Rahmen privater oder öffentlicher
Organisationen vollzieht, gleichviel, um welches der Teilgebiete
es sich handelt, ist zwischen berufsmässiger und nicht berufs-
mässiger Thätigkeit einerseits, bezahlter und unbezahlter Arbeit
andrerseits zu unterscheiden. Der Charakter der Berufsthätigkeit
fällt nicht unbedingt mit der Besoldung der Arbeit zusammen,
da oft unabhängige Frauen in Wohlfahrtsanstalten oder Vereinen
soziale Hilfsarbeit in durchaus berufsmässiger Weise, unter Ein-
setzung all ihrer Zeit und Kraft, ohne Besoldung ausüben. Vom
Standpunkt der modernen Frauenbestrebungen aus muss deshalb
der sozialen Hilfsthätigkeit eine dreifache Bedeutung zuerkannt
werden: Neben der Bedeutung für die Hilfsbedürftigen des Volkes
kommt auch die rückwirkende Kraft für die Helfenden selbst in
Betracht; einerseits für die Frauen, denen es an einem Lebens-
inhalt, einer befriedigenden Berufsarbeit fehlt, andrerseits für die
Frauen, denen der Lebensunterhalt mangelt und denen die soziale
Hilfsthätigkeit eine Fülle von Erwerbsmöglichkeiten eröffnet Es
ist vorauszusehen, dass die berufsmässig geübte soziale Hilfsarbeit
immer mehr an die Stelle der rein privaten, gelegentlich geleisteten
treten wird. Bei der wachsenden Wertschätzung, die auf Grund
dieser schon jetzt bemerkbaren Entwicklung der sozialen Hilfsthätig-
keit in den letzten Jahren zuerkannt worden ist, macht sich die Not-
wendigkeit einer sorgfältigen Ausbildung für die Arbeit, für ihre
verschiedenartigen und schwierigen Aufgaben immer fühlbarer.
Um diesem Bedürfnis zu entsprechen, sind auf kirchlichem und
weltlichem Boden Organisationen und Ausbildungsmöglichkeiten
geschaffen worden, die die Gestaltung der Frauenarbeit in der
sozialen Hilfsthätigkeit stark beeinflusst haben. Ihr Entstehen
wird im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Stellung der Frau
auf den einzelnen Teilgebieten der sozialen Hilfsthätigkeit nach-
stehend geschildert werden.
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- 7 -
II.
Die Frau in der Armen- und Waisenpflege.
Begriff der Armenpflege.
Entwicklung und Stand der Frauenthatlgkelt 1. In der kirchlichen
Armenpflege, 2. In der Vereinsarmenpflege und 8. In der gesetz-
lichen Armen- und Walsenpflege.
Seit der Begründung des Christentums galt die Armenpflege
als eine von Religion und Moral diktierte Pflicht, an deren Erfüllung
Frauen lebhaftesten Anteil nahmen. Die Aufgaben der Armen-
pflege umfassen im weitesten Sinne all das, was der Wortlaut
besagt: „Pflege des Armen", also die Gewährung derjenigen
Hilfsmittel, die nötig sind, um den Zustand der Armut zu verhüten,
oder um ihn zu beseitigen, sofern er bereits eingetreten ist.') Die
Träger der Armenpflege sind teils kirchliche, teils private (Vereine,
Stiftungen, private Personen), teils öffentliche Organisationen oder
Gemeinschaften. Jedoch kommen diese Unterschiede nur für den
Ausübenden in Betracht, nicht für den Gegenstand der Armen-
pflege, den Hilfsbedürftigen, da das Ziel jeder Armenpflege eine
den individuellen Bedürfnissen des Armen entsprechende Hilfe ist,
und die Mittel, die hierfür aufgewendet werden, die gleichen
Erfolge zeitigen können, von welcher Seite sie auch kommen.
Die Unterschiede liegen vielmehr in den inneren Beweggründen,
die den Helfenden zur Armenpflege treiben und in der Abgrenzung
der Arbeitsgebiete. Unter diesen verschiedenen Trägern der
Armenpflege finden sich Frauen in mannigfachen Ämtern und
Stellungen, sowohl bei der Kirche, namentlich als Mitglieder
katholischer Ordensgenossenschaften und evangelischer Diakonie,
in der privaten Liebesthätigkeit als Gründer und Förderer einer
regen Vereinsarbeit, die sich namentlich der Kranken- und
Wöchnerinnenpflege, der Kinder- und Waisenfürsorge annimmt,
und schliesslich auch in der öffentlichen Armen- und Waisenpflege
als Gemeindebeamtinnen.
«) Vgl. Münsterberg, .Armenpflege* in Conrads Handwörterbuch der Staats-
wissenschaften. Jena 1898. I. Band, S. n Ho. — Munsterberg, Die Armenpflege, Ein-
fuhrung in die praktische Pflegethatigkeit. Berlin 1897. — Loening. .Armenwesen" in
Schönbergs Handbuch der politischen Ökonomie.
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- 8 —
l.
Die Frau in der kirchlichen Armenpflege. 1 )
Die erste Nachricht von weiblicher Thätigkeit auf dem Gebiet
kirchlicher Armenpflege stammt aus der Zeit der ersten christlichen
Gemeinden, die eine hochentwickelte Armenfürsorge besassen, aus
dem I.Jahrhundert nach Christi Geburt Damals wurde die Armen-
pflege vom Bischof geleitet, dem eine Anzahl von Diakonen als
„die Augen und Hände des Bischofs" und weibliche Diakonissen
zur Seite standen. Sie verfuhren auf Grund der sicheren Einsicht
in die Verhältnisse des Einzelnen, die der enge Zusammenschluss
der Gemeinden gestattete, durchaus individualisierend. Nach dem
Sieg des Christentums unter Konstantin, als die Kirche Staatskirche
im römischen Reich geworden war, gingen die Voraussetzungen
für jene Art der Armenpflege verloren. An Stelle der kleinen
Gemeinden traten grosse, oft mit Ober iooooo Seelen; an Stelle
der individualisierenden Armenpflege eine Wohlthätigkeit in grossem
Massstabe, die ihren persönlichen Charakter einbüsste; die Diakonen
hörten auf, Träger der Armenpflege zu sein, und die weibliche
Diakonie ging wieder unter. Ihre Aufgaben übernahmen im
Mittelalter die Klöster, Spitäler und Pflegeorden, die eine gross-
artige freie Liebesthätigkeit für die Versorgung aller Armen,
Kranken, Pilger, Hilfsbedürftigen ins Werk setzten. Doch mangelte
dieser Arbeit jede einheitliche Organisation; sie trug durchaus den
Charakter des Zufälligen, Vereinzelten, Zerstückelten. Noch einmal,
ehe die organisierte bürgerliche oder gesetzliche Armenpflege an
Stelle der kirchlichen trat, ist in der Reformationszeit die Gemeinde-
armenpflege unter starker Zuziehung von Frauen belebt
worden. Man griff auch hierin auf die alte Kirche zurück; die
lutherische Kirche versuchte durch Kirchen- und Kastenordnungen
alle bisher vereinzelt verteilten Mittel zu sammeln und sie durch
die Kastenherren oder Diakonen, die von der Gemeinde gewählt
wurden, an die „rechten Armen" zu verteilen. Die Grundsätze,
die für die Thätigkeit der Diakonen festgelegt wurden, waren
•) Vgl. Ratzinger, Geschiebte der kirchlichen Annenpflege. Freiburg 1884.
Uhlhorn, Die christliche Liebesthltigkeit. Stuttgart 1882. Die kirchliche Annenpflege in
ihrer Bedeutung fnr die Gegenwart Gottingen 189a. — Schlfer, Die weibliche Diakonie.
Bd. 1 Stuttgart 1887. Bd. a daselbst 1893. Bd. 3 Hamburg 1893. — Uhlhorn, Geschichte
der öffentlichen Armenpflege bei Conrad a. a. O. — Lic. Ed. Simons, Die älteste
evangelische Gemeindearmenpflege am Niederrhein und ihre Bedeutung fnr unsere Zeit
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— 9 —
gesunde, im ganz alten wie im ganz modernen Sinn: notdürftige,
aber ausreichende Unterstützung, fortlaufende Kontrolle u. s. w.
Leider hielt sich die Ausführung nicht auf der Höhe der Prinzipien.
Bei der reformierten Kirche dagegen liegen die Anknüpfungs-
punkte für die jetzigen Bestrebungen der kirchlichen Armenpflege
wie auch der Ausgangspunkt der modernen Frauenthätigkeit in
derselben. Nach Calvins grundsätzlicher Forderung völliger
Unabhängigkeit der Kirche vom Staat war das erstrebenswerte
Ziel der reformierten Kirche eine von der bürgerlichen Armen-
pflege ganz gesonderte, von dem gottgeordneten Diakonenamt zu
übende selbständige, rein kirchliche Armenpflege. Diese Grund-
sätze kamen besonders da zur Durchführung, wo das Kirchen wesen
in Unabhängigkeit von den staatlichen Gewalten ausgestaltet wurde.
So besass die reformierte Kirche in den unter Lasco's Einfluss
stehenden Fremdlingsgemeinden am Niederrhein ein Muster kirch-
licher Armenpflege, wie es die Reformationszeit sonst nirgends
bietet. Bedeutsam für die Entwicklung der weiblichen Armenpflege
ist dabei, dass zahlreiche und sorgfältig ausgewählte Hilfskräfte
mit der Arbeit betraut wurden, dass grosser Wert auf eine rechte
Auswahl der Diakonen gelegt wurde, ihre Stellung eine angesehene
war, in die sie durch einen feierlichen Akt eingeführt wurden.
Die Dienstleistungen bei weiblichen Gemeindegliedern
wurden dabei ausschliesslich Diakonissen übertragen.
Wenn die Armenpflege der reformierten Kirche sich auch
nicht immer auf der Höhe jener Zeit erhalten hat, so ist sie doch
nie ganz untergegangen, und aus ihren Kreisen sind wertvolle
Anregungen zur Wiederbelebung der gesamten Armenpflege noch
im 19. Jahrhundert hervorgegangen. (So die rheinisch-westfälische
Kirchenordnung mit ihren Bestimmungen über Armenpflege vom
5. III. 1835.) Unterdessen entwickelte sich im Gebiet der lutherischen
Kirchengemeinden, die häufig eng mit dem Staat verbunden sind
oder mit ihm zusammenfallen, ein wachsender bürgerlich-staatlicher
Einfluss in der Armenpflege, aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts
eine staatliche Armenpflege hervorging, die den Frauen zunächst
keinen Raum zur Mitarbeit der Kirche nur noch eine beschränkte
Mitwirkung durch ihre Mittel und ihre Organe überlässt
In dieser Zeit blüht nun in allen evangelischen Kreisen eine
reiche, vielgestaltige Liebesthätigkeit in Vereinen, in der Gründung
von Diakonissen- und Bruderhäusern, von Wohlfahrtsanstalten
auf, die zwar ohne Zusammenhang mit der rechtlich verfassten
Kirche entstanden, aber aus ihrem Geist geboren war und auf
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— IO —
ihren Lehren unmittelbar und ausschliesslich aufbaute. Allmählich
musste die Kirche ihr gegenüber wieder eingreifen, zumal sie sich
in den Presbyterien. Kirchenräten und Synoden geeignete Organe
für diese Arbeit geschaffen hatte. Auf diese Weise wurden
die Frauen, die in hervorragender Weise an der freien kirch-
lichen Liebesthätigkeit Teil genommen hatten, wieder zu
Organen oder zu Mitarbeitern der offiziellen kirch-
lichen Armenpflege. Die heutige Organisation der evangelischen
Armenpflege, soweit sie für die Mitarbeit der Frauen in Betracht
kommt, legt die Leitung derselben in die Hände des Kirchen-
vorstands, nicht des Pastors. Denn die Armenpflege soll Sache
der Gemeinde, nicht nur Annex der Seelsorge sein. In grösseren
Gemeinden werden für einzelne Bezirke Gemeindemitglieder als
Helfer und Helferinnen, häufig auch in amtlicher Stellung, heran-
gezogen. In diesem Fall bekleiden die Helferinnen häufig die
Stellung von Gemeindeschwestern; ihre Wohnung wird zum
Mittelpunkt der kirchlichen Armenpflege des Bezirks. Sie errichten
mit den kirchlichen Mitteln Warteschulen, pflegen die Armen und
Kranken, verteilen Unterstützungen an die Bedürftigen, errichten
einen Sammelpunkt für die heranwachsende Jugend. Sonntags-
schulen. Nähvereine für die Mütter und geben häufig den be-
güterten Gemeindemitgliedern die Anregung zur Gründung von
Frauenvereinen zur Armenpflege. Etwa 1600 Schwestern aus den
deutschen Diakonissenhäusern arbeiten jetzt in der evangelischen
Gemeindepflege; daneben zahlreiche Schwestern der sogenannten
weltlichen Krankenpflege, rote Kreuz-Schwestern, Clementinerinnen,
Olgaschwestern, Albertinerinnen u. s. w.
Vielfach haben die Kirchenvorstände auch Frauen aus der
Gemeinde in der Krankenpflege ausbilden lassen und sie dann als
Gemeindeschwestern angestellt, namentlich in kleineren Gemeinden,
in denen die Arbeitslast keine grosse ist, und für die die Kraft
einer Diakonissin zu wertvoll und wohl auch zu kostspielig wäre.
Der Umfang der freiwilligen Frauenvereinsarbeit, die im Rahmen
der Kirchengemeinden der Armenpflege gewidmet ist, ist ein
bedeutender, nicht übersehbarer; die Gebiete, denen sie sich zu-
wendet, umfassen alle Felder der Armenpflege wie auch der
sozialen Hilfsarbeit, von der Verteilung von Suppen an Wöchnerinnen
und Lebensmitteln an bedürftige bis zur Gründung von Fach- und
Fortbildungsschulen, der Einrichtung von Volksunterhaltungen u. s.w.
• *
*
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— II —
Wahrend die Armenpflege der evangelischen Kirche sich all-
mählich zu einer Ergänzung der staatlichen Armenpflege ent-
wickelte und ihr Hauptgewicht auf die Gemeindepflege legte, die
der Mitarbeit von Frauen weitesten Spielraum Hess, liegen die
Voraussetzungen und Ziele der Liebesthätigkeit in der katholischen
Kirche anders. Nach den Bestimmungen des Tridentinum ist die
gesamte Armenpflege Sache der Kirche. Den Bischöfen gebührt
ex officio die Oberaufsicht darüber, und so musste in katholischen
Gegenden die kirchliche Armenpflege mit der bürgerlichen Armen-
pflege in Gegensatz geraten, sie bekämpfen und verwerfen. In
seiner „Geschichte der kirchlichen Armenpflege" sagt Ratzinger:
..Die staatliche Zwangsarmenpflege ist das Produkt jener religiösen
und sozialen Revolution, welche .Reformation' heisst, sie ist
das notwendige Resultat der praktischen Verleugnung des
Christentums" *).
Das Ziel, dem die katholischen Gegner der bürgerlichen
Zwangsarmenpflege zustreben, ist Beseitigung derselben und
Ersetzung durch eine rein kirchliche Armenpflege. Für Um-
gestaltung derselben sind beachtenswerte Grundsätze aufgestellt
worden, nach denen die Leitung dem Seelsorger zufallen soll, dem
ein Kreis pflegender Männer und Frauen, eine Art Diakonie, helfend
zur Seite tritt») Versuche zur Verwirklichung dieser Pläne sind
aber in Deutschland nicht bekannt geworden; sie dürften auch
undurchführbar sein, da die Bedingungen hierfür, Gemeinwesen
ohne öffentliche Fürsorgethätigkeit, fehlen.
Am charakteristischsten ausgeprägt und zu höchster Blüte
gelangt ist die katholische Armenpflege in Frankreich. In gewissem
Sinne ist dort ihre Form die mittelalterliche geblieben, wenn sie
auch den modernen Bedürfnissen der Armen Rechnung trägt.
Während die Armenpflege in England seit langem durch Gesetz
geregelt ist, ist sie hier noch immer bis auf wenige Gebiete der
freiwilligen Liebesthätigkeit überlassen. „Bildet dort die Gemeinde-
armenpflege den Mittelpunkt, so hier die anstaltliche, das Hospital.
Ist dort der Staat der Hauptfaktor, so verbleibt hier der Kirche
der bedeutendste Einfluss." •) Von Frankreich ist auch die Frauen-
thätigkeit in der katholischen Armenpflege ausgegangen, wo sie
erstarkte und organisiert wurde, als mit dem Wiedererwachen des
•) Ratzinger •. a. O. 5.38811.589
*) Ratzinger a. a. O. S. 576-583.
*) Uhlhorn. Geschichte der öffentlichen Armenpflege (Conrad, S. 1065)
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katholischen Geistes nach der Reformation die Kirche neu belebt
wurde. Carlo Borromeo, Franz von Sales, Vincenz a Paulo ver-
standen weiteste Kreise für die Armenpflege zu begeistern; sie
errichteten Hospitäler, Findelhäuser und Armenanstalten, und führten
ihnen durch die Gründung der barmherzigen Schwestern-
schaften im Anfang des 17. Jahrhunderts ein opferfreudiges und
geschultes Personal zu, wie es jene Zeit noch nirgend besass. In
diesen religiösen Genossenschaften und den von ihnen geleiteten
Anstalten, die sich von Frankreich nach Deutschland aus-
breiteten, liegt auch heut noch der Schwerpunkt der katholischen
Liebesthätigkeit, nicht aber in einer freien Vereins- und Gemeinde-
thätigkeit, wie sie sich an die evangelische Kirche angegliedert
hat. Unter den katholischen Frauen vereinen, die sich mit Armen-
pflege beschäftigen, ist vor allem der Elisabeth -Verein zu nennen,
dessen Umfang aber nicht nur im Vergleich mit der evangelischen
und der bürgerlichen freien Vereinsthätigkeit, sondern auch im
Vergleich mit der von Männern geleiteten katholischen Vereins-
arbeit sehr gering ist. Auch die Organisation, die innere Ver-
bindung der Zweigvereine untereinander, steht hinter diesen sehr
zurück.
Unter den zahlreichen Ordensgenossenschaften jedoch, die sich
mit Armen- und Krankenpflege beschäftigen, nehmen die weiblichen
Genossenschaften bei weitem die bedeutendste Stelle ein. Vor
allem ist hierbei die Genossenschaft der barmherzigen Schwestern
(filles servantes des pauvres de la charite") zu nennen, die 1633
von Vincenz a Paulo in Paris gegründet wurde und die neben
der Pflege der Armen und Kranken in Hospitälern auch die Haus-
armenpflege zu ihren Aufgaben machte und allmählich das ganze
Gebiet der christlichen Charitas in ihr Arbeitsbereich zog. Die
Genossenschaft gründete Waisen- und Armenhäuser, Zufluchts-
stätten, Irrenhäuser und zahlreiche Schulen und Erziehungs-
anstalten. Vor der französischen Revolution war sie in ihrer
Wirksamkeit fast ausschliesslich auf Frankreich beschränkt, wo
sie 425 Niederlassungen hatte. Der Ruhm, sie auf deutschen
Boden verpflanzt zu haben, gebührt Clemens August von Droste-
V ischering, der sie 1808 in Münster einführte. Durch Ver-
wendung von König Ludwig I. wurde sie 1832 nach Bayern verpflanzt;
später fand sie auch in Württemberg, Baden, Mainz, Berlin und
anderen Orten Eingang. Neben der Genossenschaft der barm-
herzigen Schwestern wirken eine Reihe ähnlicher Schwestern-
verbände, so die Schwesternschaft vom heiligen Borromeus, der
— 13 —
Dienstmägde Christi, die Augustinerinnen. Elisabethinerinnen,
Franziskanerinnen u. s. W. 1 )
Als gemeinsames Merkmal all dieser Genossenschaften ist die
weibliche Berufsarbeit in der Armen- und Krankenpflege nach
vorangegangener Ausbildung zu nennen, die Anlehnung der Amts-
thätigkeit an die Kirche, Unterstellung der Schwestern unter die
Gewalt des geistlichen Oberen. Für die Aufnahme in die
Ordensgenossenschaften werden bestimmte Anforderungen in
Bezug auf körperliche, geistige und sittliche Leistungsfähigkeit
der Bewerberinnen gestellt; sie werden zunächst zur Probe
in das Mutterhaus aufgenommen, wo sie alle vorkommenden,
auch die gröbsten Arbeiten verrichten müssen. Nach beendeter
Probezeit werden sie in die Gemeinschaft aufgenommen und
sind dann als dienendes Glied derselben von ihr abhängig.
Die Genossenschaft übernimmt ihrerseits dagegen die Fürsorge
für den Unterhalt der Schwestern, für ihre Pflege im Alter
oder in Zeiten der Krankheit und sichert die Schwestern
auf diese Weise für die Zukunft, was bei dem Mangel eines
eigenen Erwerbs auch notwendig ist. Für die Arbeit der Schwestern
wird die Gemeinschaft bezahlt; die Pflegerinnen arbeiten nur im
Auftrag derselben, und zwar werden sie auf die verschiedensten
Thätigkcitsgebiete der offenen und der geschlossenen Armenpflege
(Gemeinde- und Anstaltspflege) entsendet. Die Vorbereitung zum
Beruf lehnt sich im allgemeinen an die Ausbildung zur Kranken-
pflege an, mit der die meisten Mutterhäuser begonnen haben.
Schäfer sagt hierüber in Bezug auf die Ausbildung der Diakonissen,
die hierin aber mit der Organisation der katholischen Ordens-
genossenschaften übereinstimmt: „Dies Vorwiegen der Kranken-
pflege hat einerseits darin seine Erklärung, dass diese für die
Begabung des weiblichen Geschlechts ein ganz besonders geeignetes
Arbeitsfeld ist und in unsern Tagen hier ein besonderes lebhaftes
Bedürfnis sich geltend macht. Andrerseits darf es als eine besonders
günstige Fügung angesehen werden, dass man durch die Bedürfnis-
frage auf das Arbeitsfeld hingewiesen wurde; denn es giebt im
allgemeinen keine bessere Schule für die technische Seite des
Diakonissenberufs, als die Erlernung und Ausübung der Kranken-
pflege. Sie verlangt höchste Akkuratesse der häuslichen Arbeiten.
Treue und Umsicht in Ausführung der ärztlichen Verordnungen,
Hingabe, Opferfreudigkeit und Geduld bei Bedienung der Kranken
») VgLMunstcrberg. Die Armenpflege, Einführung in die prikt. Pflegethatigkeit, S.60.
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- i 4 —
und in der Nachtwache, Selbstüberwindung und Stahlung des
Mutes und der Geistesgegenwart in der Assistenz bei Operationen.
Es giebt nichts andres, was so allseitige Anforderungen an eine
Schwester stellt, keine andre Arbeit desgleichen, welche für
die spezielle Berufserziehung der Schwester solchen Wert hat".')
An die Krankenpflege schliesst sich dann in der Regel die Pflege von
Siechen und Gebrechlichen einerseits, die Kinderpflege andrerseits in
Krippen, Warteschulen, Kindergärten, Horten u. s.w. an; anknüpfend
daran die Sammlung konfirmierter Mädchen zu gemeinsamer Fort-
bildung und Erholung, die Verbindung mit den hilfsbedürftigen
Müttern und die Armenpflege im engsten Sinne des Wortes.
Diese Gebiete, auf denen die Ausbildung sich vollzieht, um-
grenzen auch den Rahmen des späteren Arbeitsfeldes der Schwestern.
Die Zahl der katholischen Schwester-Ordensgenossenschaften
giebt Prof. Dr. A. Guttstadt in seinem Krankenhauslexikon aui
24000 im Jahre 1900 an, in Preussen bestanden im Jahre 1885
710 Niederlassungen mit 5470 Schwestern, die 21 verschiedenen
katholischen Orden und Genossenschaften angehörten. Von Be-
deutung sind darunter die Franziskanerinnen mit 1600. die Borro-
mäerinnen, Vincentinerinnen , Arme Dienstmägde Christi, Elisa-
bethinerinnen, Clementinerinnen mit je 500 — 800 Angehörigen. In
der Erzdiözese Köln, die etwa 2 Millionen katholische Einwohner
zählt, sind ungefähr 1500 Schwestern in 47 Erziehungsanstalten,
99 Bewahranstalten, 155 Krankenpflegehäusern, 10 Irrenanstalten,
einer Epileptiker-, einer Idiotenanstalt, 7 Mägdehäusern, 18 Ar-
beiterinnenvereinen, 30 Näh- und Haushaltungsschulen thätig;
ausserdem 600 in der Gemeindepflege.*) Diese Zahlen übertreffen
die der evangelischen Diakonissen bei weitem, wie auch die Zahl
der in den Mutterhäusern ausgebildeten katholischen Schwestern
nach den Berichten etwa das Doppelte der ausgebildeten Diakonissen
erreicht. ^
*
Die evangelische Diakonie, die auf eine viel kürzere Ent-
wicklungsepoche zurückblickt, ist aus kleinsten Anfängen entstanden.
Nach einigen vergeblichen Versuchen des Pfarrers Friedrich
Klönne in Bislich, des Ministers von Stein und des Grafen
Adalbert von der Recke -Volmarstein, sowie Amalie
Sievekings wurde der Gedanke der Erneuerung des Diakonissen-
■) Vgl. SchAfcr «. a. O. Bd. DI, S. 195.
*) Vgl. Monsterberg, Die weiblichen Hilfnkrafte in der Wohlfahrtspflege. Bd. X
der Schriften der Centralfteile für Arbeilerwohlfahrtaeinrichtungen, S. 66.
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— 15 —
amts von Pastor Fliedner in Kaiserswerth aufgenommen; unter
dem Eindruck der ungeheuren Wirksamkeit der katholischen
Ordensgenossenschaften wollte er nach Art dieser Kongregationen,
aber durchaus im Geist evangelischer Freiheit, Einrichtungen
schaffe n, die in ihrer Wirksamkeit nur insoweit von den katholischen
Beispielen abweichen sollten, wie die beiden kirchlichen Gemein-
schaften sich von einander unterscheiden. Bemerkenswert ist nur,
dass Fliedner bei der Belebung der evangelischen Diakonie bereits
mit Planmässigkeit und Bewusstsein dem wachsenden Verlangen
der Frauen nach Arbeitsgebieten, die ihnen Unterhalt und Inhalt
fürs Leben gewähren, Rechnung zu tragen versuchte, während bei
der Gründung der katholischen Kongregationen mehr das Bedürfnis
der Armen massgebend war.') Indes ist es sicherlich beiden
Arten von Vereinigungen gelungen, das Interesse der Bedürftigen
und der Pflegenden in gleichem Masse zu fördern.
Fliedner stellte bei seiner Gründung von vornherein den
Gedanken der Ausbildung, der sorgfältigen Durchbildung der
Persönlichkeit für den Diakonissenberuf in den Vordergrund: und
dieses Ziel konnte nur in einer geschlossenen Anstalt erreicht werden.
Am 13. Oktober 1836 bezog er das zu diesem Zweck gekaufte
Haus ; das war der Gründungstag der evangelischen Diakonie, über
deren Prinzipien und Wirksamkeit noch im Kapitel über Kranken-
pflege ausführlicher berichtet wird. Den Schwerpunkt der Anstalts-
arbeit legte Pastor Fliedner zuerst in die Krankenpflege, die
nächste Gründung war eine Kleinkinderschule; später wurde das
Seminar für Kleinkinderlehrerinnen an diese angegliedert. Von
dem Kaiserswerther, Hause gingen Tochtergründungen aus, die
teilweise wieder zu Mutterhäusern wurden; andre Diakonissen-
anstalten wurden nach diesem Beispiel ausserdem als selbständige
Körperschaften errichtet
In die Diakonissenanstalten können Frauen im Alter zwischen
18 — 36 Jahren als Probeschwestern eintreten; Vorschulen und
Spezialbildungsanstalten sind verhältnismässig selten. Die Aus-
bildung vollzieht sich in ähnlicher Weise wie in den katholischen
Genossenschaften; sie währt 2 — 3 Jahre; auch die Arbeitsgebiete
sind ungefähr dieselben. Etwas stärker tritt die Pflege Blöder,
weiblicher Gemütskranker, die Thätigkeit in Magdalenenasylen,
Besserungsanstalten und hie und da auch in Gefängnissen hervor.
Ebenso wie bei den katholischen Genossenschaften wird auch die
') Schlfer ». ». O. Bd. I S. 94.
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— i6 —
Diakonissin vom Mutterhaus entsendet und je nach Bedarf zurück-
gerufen und an einen andern Platz gestellt. Auch die Versorgungs-
verhältnisse sind hier wie dort die gleichen.
Der letzte zusammenfassende Bericht über den Stand der
Diakonissen-Mutterhauser (vom Jahre 1898) ergab das Bestehen von
80 Mutterhäusern, davon 51 in Deutschland, die 13 309 Schwestern
beschäftigten. Die Anzahl der Arbeitsfelder betrug 3641; unter
Arbeitsfeld ist hier eine mehr oder minder starke, oft auch nur
mit einer einzigen Schwester besetzte Station zu verstehen. M Viel-
fach werden auch Schwestern auf Grund bestimmter Abmachungen
Stiftungen, Vereinen, kirchlichen und bürgerlichen Gemeinden gegen
eine an das Mutterhaus zu zahlende Vergütung überwiesen; sie
können aber jederzeit von diesem zurückgerufen werden. 1894
arbeiteten Diakonissen in 925 Krankenhäusern, 260 Armen- und
Siechenhäusern, 167 Waisen-Erziehungsanstalten, 572 Kleinkinder-
schulen, 69 Krippen, 31 Rettungshäusern, 3 Horten. 17 Industrie-
schulen, 92 Mägdeanstalten, 28 Magdalenenasylen. 1 1 Gefängnissen,
19 Hospizen und Pensionaten. In der Gemeindepflege waren 1424
thätig. Das grösste der Mutterhäuser ist das Kaiserswerther mit
1005 Schwestern, 35 Tochteranstalten und 238 Arbeitsfeldern;
daneben sind als hervorragend bedeutend die Anstalten in Ludwigs-
lust, Bielefeld, Neuendettelsau zu nennen. Die deutschen Mutter-
häuser verteilen sich auf die Staaten und Provinzen wie folgt:
Preussen.
Provinz Brandenburg: Berlin: Eli^abethkrankenhaus 1837
gegr. — Berlin: Bethanien 1847. — Berlin: Lazaruskranken-
haus 1867. — Berlin: Paul Gerhardstift 1876. — Berlin:
Magdalenenstift 1888. — Nowawes 1873. — Frankfurt a. O. 1891.
Provinz Schlesien: Breslau 1850. — Kraschnitz 1860. — Franken-
stein 1866. — Kreutzburg 1688
Provinz Ostpreussen: Königsberg 1850.
Provinz Westpreussen: Danzig 1862.
Provinz Pommern: Stettin 1851. — Neutorney: Stift Salem 1868;
Bethanien 1869.
Provinz Sachsen: Halle 1857. —
Provinz Posen: Posen 1865.
Provinz Westfalen: Bielefeld 1869. — Witten 1890
Rheinprovinz: Kaiserswerth 1836. — Sobernheim 1889
Provinz Hannover: Hannover 1860.
Provinz Hessen-Nassau: Kassel 1864. — Frankfurt a. M. 1870.
Provinz Schleswig-Holstein: Altona 1867. — Flensburg 1874
') Die Zahlen verdanke ich der Direktion der Kaisersvverther Anstalt
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— i 7 —
Reichslande: Strassburg 184a. — Ingweiler 1877.
Königreich Sachsen: Dresden 1844. — Leipzig 1891.
Königreich Bayern: Neuendettelsau 1854. — Augsburg 1855. —
Speyer 1859.
Königreich Württemberg: Stuttgart 1854.
Grossherzogtum Mecklenburg-Schwerin: Ludwigslust 1851.
Grossherzogtum Hessen: Darmstadt 1858.
Grossherzogtum Baden: Karlsruhe 1851. — Mannheim 1884.
Grossherzogtum Oldenburg: Oldenburg 1890.
Grossherzogtum Sachsen -Weimar: Eisenach 1891.
Herzogtum Braunschweig: Braunschweig 1870.
Fürstentum Waldeck: Arolsen 1887.
Freie Stadt Hamburg: Hamburg: Bethesda 1860; Bethlehem 1877.
Freie Stadt Bremen: Bremen 1868 ')
Die grossartige Ausdehnung dieser Arbeit der Barmherzigen
Schwestern sowohl wie der Diakonissen berechtigt zu der
Behauptung, dass die soziale Frauenarbeit namentlich auf dem
engeren Gebiet der Armenpflege ihren Ausgangspunkt von diesen
Organisationen genommen hat, lange Zeit sogar ihren wesentlichen
Höhepunkt darin fand. Ob in der heutigen Zeit, in der mehr als
je das Bedürfnis hervortritt, die Menschen freier zu stellen, den
Frauen eine Berufstätigkeit zu eröffnen, die ihnen einen selbst-
ständigen Erwerb ermöglicht, die kirchliche Armenpflege in bezug
auf die Bethätigung der Frauen diese dominierende Stellung
wird wahren können, dürfte zweifelhaft erscheinen. Sind doch
in den letzten Jahrzehnten zahlreiche ähnliche Organisationen
entstanden", in denen die geistliche Gebundenheit eine weniger
enge ist oder ganz fortfällt und die auch in bezug auf wirt-
schaftliche Selbstständigkeit den modernen Bedürfnissen mehr
entsprechen. Über diese Vereinigungen wird an anderer Stelle
berichtet werden.
Die jüdische Wohlthätigkeit, die schon in den ältesten Zeiten
eine ausgebreitete war, die geradezu als religiöse Pflicht galt,
trägt zwar einen konfessionellen, aber keinen im engeren Sinne
kirchlichen Charakter. Von einer Frauenthätigkeit in der kirchlichen
Armenpflege kann hier deshalb nicht gesprochen werden.
* *
»
Wenngleich die armenpflegerische Thätigkeit der Heilsarmee»)
nicht von einer Religionsgesellschaft ausgeht und daher im engeren
>) Vgl. Schäfer a. a. O.
*) Vgl. Frage und Antwort Ober die Heilsarmee von General Booth. Berlin.
Handbuch der Frauenbewegung. IL Teil. 2
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- i8 —
Sinn nicht als kirchliche Armenpflege bezeichnet werden kann, so
besteht doch ein so tiefer innerer Zusammenhang zwischen ihrem
sozialen Wirken und der Religion, dass sie im Anschluss an die
kirchliche Armenpflege erwähnt werden muss. Geht doch der
Gründer der Heilsarmee General Booth von dem Gedanken aus,
dass soziale Arbeit und Religion nicht voneinander getrennt
werden können. „Nur durch soziale Arbeit", so sagt er, „sei im
Volke der Glaube an Gott wieder zu erwecken, es sei eine Haupt-
aufgabe der Heilsarmee, gefallene Mädchen der menschlichen
Gesellschaft wieder zuzuführen, den Verbrecher zu ehrlicher
Thätigkeit zu erziehen, den Hungernden und Obdachlosen zu
unterstützen und den Trunkenbold seiner Leidenschaft zu ent-
wöhnen." ') Namentlich für die zuerst genannte Aufgabe hat sich
die Heilsarmee der Mitarbeit zahlreicher Frauen bedient, und die
Erfolge, die sie erzielt hat, sind höchst beachtenswerte. In den
36 Jahren ihres Bestehens hat sich die Heilsarmee in 47 Ländern
mit 6000 Stationen verbreitet. 13000 männliche und weibliche
Offiziere leiten diese Stationen, ausserdem besitzt die Armee noch
48 000 Soldaten, die ihrem bürgerlichen Beruf nachgehen und nur
ehrenamtlich für die Aufgaben der Armee wirken. Die voll
beschäftigten Offiziere erhalten für die Leitung der Rettungshäuser
und anderer Einrichtungen nur den notwendigen Lebensunterhalt
Die Salutisten haben etwa 450 verschiedene Anstalten bisher
begründet, darunter 86 Rettungshäuser, in denen jährlich etwa
5000 Mädchen Aufnahme finden, 100 Heimstätten für Obdachlose,
14 Heimstätten für Kinder u. s. w.')
In Deutschland hat die Heilsarmee erst vor wenigen Jahren
Eingang gefunden, und ihre sozialen Einrichtungen sind daher
noch gering an Zahl und Umfang. Als erste wurde im November
1894 das Rettungshaus in Friedenau bei Berlin eröffnet; daneben
bestehen jetzt ein Rettungshaus in Hamburg und ein solches in
Köln, ein Wöchnerinnenheim in Berlin, ein Kinderheim in Schöne-
berg, eine Metropole (d. h. Logierhaus für alleinstehende Mädchen)
in Berlin, 4 Samariterstationen in Berlin zur kostenlosen Pflege
armer Kranker und zur Hilfe armer Frauen und eine Samariter-
station in Köln. Diese deutschen Anstalten werden von
») Rede gehalten am 3. 8. 98 in Berlin.
*) Das Zahlen- und Nachrichtenmaterial Ober Deutschland verdanke ich teils der
Bibliothek der Auskunftsstelle der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur in Berlin,
teils dem freundlichen Entgegenkommen des Chef- Sekretärs des deutschen nationalen.
Hauptquartiers der Heilsarmee.
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40 Offizierinnen geleitet; im ganzen arbeiten in Deutschland jetzt
350 Offiziere, von denen die reichliche Hälfte Frauen sind.
Ausserdem gehören der Armee in Deutschland noch 110 Korps
oder Stationen mit Tausenden männlicher und weiblicher Soldaten
an, die sich nur in ihrer freien Zeit der Heilsarmee-Arbeit widmen.
2.
Die Frau in der Vereinsarmenpflege.
Mit der kirchlichen Armenpflege fasst man die Vereins-
thätigkeit, die Stiftungspflege und die Liebesthätigkeit einzelner
Personen als nicht öffentliche, freie oder private Armenpflege im
Gegensatz zur öffentlichen oder gesetzlichen Armenpflege zu-
sammen. In der freien Armenpflege kommt neben der kirchlichen
vor allem die Vereinsthätigkeit der Frauen in Betracht. Auf dem
Gebiet der Stiftungspflege haben Frauen sich nur wenig bethätigen
können; über die Ausdehnung der freien Liebesthätigkeit einzelner
Frauen in ihrem privaten Kreise ist ein Überblick unmöglich.
Die Vereinsthätigkeit der Frauen auf dem Gebiet der Armen-
pflege ist erst seit etwa 70 Jahren von Bedeutung für das öffent-
liche Leben geworden. Was bis zu den dreissiger Jahren an
Frauen- Vereinsbildungen bestand, beschränkte sich im allgemeinen
darauf, Geld für wohlthätige Zwecke zu sammeln oder bei be-
sonderen Unglücksfällen, Epidemien und dergleichen, werkthätige
Verpflichtungen zu übernehmen. Zumeist überdauerten aber diese
Organisationen nicht die Zeit des Bedürfnisses und seiner Be-
friedigung. *)
Das erste organisierte Zusammenwirken deutscher Frauen auf
dem Gebiet der Armen- und Krankenpflege war eine Folge der
Völkerschlacht bei Leipzig; aus den Verheerungen des Krieges
erwuchsen den Frauen die ersten Aufgaben im öffentlichen Leben ;
der grosse Augenblick veranlasste sie zur Gründung freiwilliger
Pflegerinnenvereine zum Dienst an den Kranken und Verwundeten.
Nach den Befreiungskriegen löste sich ein Teil der freiwillig
konstituierten Pflegerinnenvereine auf; ein anderer Teil verwandelte
sich in Vereine, die sich zum Wohle des Vaterlandes ausschliesslich
der Pflege der noch zurückgebliebenen Verwundeten, der Unter-
stützung der Invaliden, der Witwen und Waisen Gefallener widmen
f) VgL Amelie Sohr, Frauenarbeit in der Armen- und Krankenpflege. Berlin 188a.
2*
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— 20 —
wollten. Unter diesen waren die hervorragendsten die in Ost-
preussen zum Andenken der Königin Luise von den Prinzessinnen
des königlichen Hauses von Preussen, in Bayern von der Königin
Carolina, in Baden von der Grossherzogin Stephanie gegründeten
Vereine. Durch allmähliche Erschöpfung der Mittel gingen sie
aber wieder ein; eine stetige Lebenskraft bewahrten nur ver-
einzelte, aus den Jahren 1812— 1815 hervorgegangene freiwillige
Vereine, indem sie die Ausübung der Krankenpflege mit der
Armenpflege verbanden und damit für ihre Thätigkeit einen
weiteren Rahmen gewannen. In dieser neuen Form konstituierten
sich im Grossherzogtum Sachsen-Weimar 18 15 der patriotische
Verein, im Königreich Württemberg 1816 der Landeswohlthätigkeits-
verein, beide unter dem Protektorat der Landesfürstinnen. Die
freie Reichsstadt Frankfurt a. M. bildete ebenfalls nach dem
Schlüsse der Befreiungskriege ihre Kriegs-Pflegerinnenvereine in
freiwillige Armenpflegevereine um. Als solcher besteht noch heut
der Frankfurter Frauen-Verein (Vorsitzende Frl. Marie Kellner),
der in den Kreisen der Frankfurter Bürgerschaft hoch geschätzt
wird. Er erstreckt seine Thätigkeit auf Verteilung von Unter-
stützung an verschämte Arme und Arbeitsunfähige, von Suppen
an Kranke, Sieche, Wöchnerinnen, Vermittlung von Näh- und
Strickarbeit an arbeitsfähige Frauen und unterhält eine Schule, in
der 34 evangelische Mädchen zu Dienstmädchen erzogen werden.
Lange Zeit waren diese wenigen Vereine neben den kirchlichen
Schwesternschaften der einzige Boden, auf dem eine armen-
pflegerische Thätigkeit von deutschen Frauen geübt wurde, und
so bestand allerwärts ein empfindlicher Mangel an ausreichenden
Kräften für die Armen- und Krankenpflege. In den damaligen
Berichten der Mutterhäuser und Schwesternschaften trat die Klage
immer mehr hervor, dass das Arbeitsfeld sich schneller als die
Zahl der Pflegekräfte vergrösserte, dass dem Mangel an Pflegerinnen
nicht abgeholfen werden könne, weil der Bedarf bei weitem das
Angebot an Hilfskräften überstieg. Die Mitarbeit gebildeter Frauen
an der Armenpflege in grösserem Umfang, auch ausserhalb der
kirchlichen Organisationen, war zum Bedürfnis geworden. Man
musste sich nach Pflegerinnen umsehen, die von den bestehenden
kirchlichen Orden und Genossenschaften nicht gestellt werden
konnten, denen es wohl nicht an den Fähigkeiten für die Aus-
übung der Armen- und Krankenpflege fehlte, die aber ihrer Über-
zeugung wegen nicht in eine kirchlich organisierte Schwesternschaft
eintreten konnten.
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21
Die erste Frau, die dieses Bedürfnis richtig erkannte und als
eigentliche Begründerin der weiblichen Vereinsthätigkeit in der
Armenpflege bezeichnet werden kann, ist Amalie Sieveking,
die den ersten deutschen Frauenverein im engeren Sinne des
Wortes in Hamburg im Jahre 1831 gründete. Die Urbarmachung
dieses bis dahin noch von Frauen wenig kultivierten Arbeitsfeldes
bildet in der Entwicklungsgeschichte des deutschen Frauenvereins-
lebens eigentlich den Anfang, auf den alle weitere Vereinsthätig-
keit in irgend welcher Hinsicht zurückzuführen ist. Mit wenigen
Schillingen und 15 Mitgliedern wurde damals der Verein begründet.
Amalie Sieveking war eine hervorragend thatkräftige Persönlich-
keit, die allzeit mit aufopfernder Hingabe für die Hebung des
Volkswohls gearbeitet hat. In den Zeiten der Choleraepidemien
war sie selbst Pflegerin im Hamburger Hospital; nach Beendigung
der Epidemie sammelte sie in ihrem eigenen Haus arme, verwahr-
loste Kinder, die sie unterrichtete und verpflegte. Nur einer Frau,
die durch solch Wirken ihre Liebe zum Volk bewiesen hatte,
konnte es in so hohem Masse gelingen, andre Frauen für ein
gemeinsames Arbeiten zu erwärmen, ihr Verständnis zu klären.
Sie blieb 25 Jahre lang Vorsitzende des Vereins, der eine rege
Wirksamkeit entfaltete und in weitesten Kreisen der Bürgerschaft
Sympathie und Anerkennung gewann. Es wurden Armenhäuser
gebaut, ein Kinderhospital wurde errichtet und der Grund zu einer
weitverzweigten armenpflegerischen Thätigkeit gelegt. Obschon sie
selbst in religiöser Beziehung auf dem Boden streng positiven Be-
kenntnisses stand, duldete sie im Verein nie einseitig konfessionelle
Ansprüche oder Einflüsse. Sie wünschte und erreichte, dass „die
Funktionen des Vereins sich innerhalb der Grenzen hielten, hinter
denen allein die sittliche und reine Lebensäusserung über den
Wert der Person entscheidet". Dem grossen Einfluss, den sie mit
ihrem Verein auch auf die öffentliche Armenpflege ausübte, ist es
zu danken, dass sie eine Änderung der Form des Armenbegräb-
nisses durchsetzte. Ihre Ansicht bewahrheitete sich, dass eine
würdigere Form der Bestattung von Stadtarmen keine Belastung
der städtischen Mittel bedeuten würde. Zahllose arme Familien,
die aus Scheu oder Furcht vor der wenig feierlichen, ja oft brutalen
Form des Armenbegräbnisses sich lieber in Schulden stürzten, ehe
sie von dieser Einrichtung Gebrauch machten, verursachten der
Stadt Hamburg nach der Reform des Armenbegräbnisses in jedem
Fall nur Mehrkosten im Betrag von 4,50 M. Dem gegenüber ging
aber die Zahl der Familien erheblich zurück, die durch Ver-
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— 22 —
schuldung infolge eines Todesfalls mit den unvermeidlichen Aus-
gaben die Hilfe der Stadtvenvaltung anrufen mussten.
Die Wirkung dieses ersten von Amalie Sieveking gegründeten
Frauenvereins zeigte sich in der schnellen Nachfolge zahlreicher
Frauenvereine in den grösseren Städten Norddeutschlands. In den
dreissiger Jahren entstanden Vereine in Bremen, Lübeck, Königs-
berg, Magdeburg, Leipzig, Elberfeld, Breslau, Stettin, Danzig.
Kleinere Städte folgten mit der Gründung von Zweig- oder Lokal-
vereinen. Auch die Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde in Kiel,
ein Männer und Frauen umfassender Verein, der zu den be-
deutendsten Armenpflegevereinen Deutschlands gehört, entstammt
jener Gründungsepoche.
Die Ausübung der Krankenpflege trat in jenen Frauen vereinen
hinter der Armenpflege vollständig zurück, und erst der Krieg
von 1866 führte die Frauen auch auf dies Feld. Trotz der Kürze
des Krieges machte sich die numerische Unzulänglichkeit und
die durchaus unzureichende Beschaffenheit des Pflegepersonals
geltend, und trotz redlichen Wollens und eifrigen Bemühens
zeigten sich die freiwilligen Pflegerinnen den Anforderungen des
Krieges nicht gewachsen.
Gestützt auf Beobachtung dieser Notstände im Pflegewesen,
bereitete die Königin Augusta von Preussen noch vor Beendi-
gung des Feldzuges die Gründung eines Frauenvereins vor, der am
11. November 1866, dem Tage des Friedens, in Berlin ins Leben
trat Die ausschliessliche Aufgabe dieses Vereins bestand in der
Ausbildung von freiwilligen Krankenpflegerinnen für den Kriegs-
dienst, wie in der Fertigstellung von Kriegspflegematerial.
Die Jahre 1870 und 187 1 fanden daher die deutschen Frauen
vorbereiteter für die ihnen im Krieg zufallenden Aufgaben; unter
der Leitung der preussischen Königin und der Kronprinzessin
errichteten sie überall Barackenlazarette, namentlich in Süd-
deutschland, wo die Schwerverwundeten zurückbleiben mussten,
und die Frauen Württembergs, Badens, Hessens, der Rheinlande
und der Stadt Frankfurt leisteten mit Opfertreue die Pflege. Nach
Beendigung des Krieges und der Aufrichtung des deutschen Kaiser-
reichs Hess die Kaiserin es sich angelegen sein, die in der inter-
nationalen Konferenz von 1869 in Berlin eingeleitete solidarische
Verbindung der deutschen Frauenvereine mit dem preussischen
vaterländischen Centraiverein zu befestigen, und so wurde in Berlin
der Vaterländische Central -Frauen verein unter dem roten Kreuz
begründet, dem es bei einem am 12. August 1871 in Würzburg
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— 23 —
tagenden Verbandstag gelang, einen Verband der deutschen
vaterländischen Frauenvereine zu gründen.') Die damals von
Vertretern des preussischen, bayrischen, sächsischen, württem-
bergischen, badischen, hessischen Frauenvereins und des Vereins
für Sachsen -Weimar- Eisenach besuchte Konferenz stellte eine
Verbandsordnung fest, aus der folgende Paragraphen zu nennen
sind: »)
1.
Die deutschen Frauenvereine verfolgen den gemeinschaftlichen
Zweck:
L in Friedenszeiten innerhalb des Verbandes ausserordentliche
Notstande zu lindern, sowie für die Förderung und Hebung
der Krankenpflege Sorge zu tragen:
a. in Kriegszeiten an der Fürsorge für die im Felde Verwundeten
und Kranken Teil zu nehmen und die hierzu dienenden Ein-
richtungen zu unterstützen.
2.
Zur besseren Erreichung dieser den deutschen Frauenvereinen
gemeinsamen Zwecke bilden dieselben einen Verband. Soweit durch
den letzteren keine Änderungen begründet sind, verbleibt den einzelnen
Landesvereinen die bisherige Selbständigkeit, insbesondere sind dieselben
befugt, andere als die im § i bezeichneten gemeinschaftlichen Aufgaben
auch fernerhin wie bisher anzustreben.
3.
Die zum Verbände der deutschen Frauenvereine gehörenden
Landesvereine stehen miteinander in regelmässiger Verbindung und
sind insbesondere übereingekommen, alle innerhalb ihres Vereins-
gebietes getroffenen wichtigeren Einrichtungen und Massregeln, sowie
ihre Jahresberichte, sich gegenseitig mitzuteilen, jeden Landesverein
auf dessen Erfordern mit Ratschlägen zu unterstützen, endlich aber
bei ausserordentlichen Notständen innerhalb des Verbandsgebietes auf
Ersuchen des betreffenden Landesvereins dem letzteren oder den von
demselben bezeichneten Empfangsstellen nach Massgabe der verfüg-
baren oder der zu beschaffenden Mittel schleunige Hilfe an Geld und
anderen Gegenständen, oder auch, je nach der Lage des Falles, an
Pflegepersonal zu gewähren.
9.
Der Verband führt als Abzeichen das rote Kreuz im weissen Felde
und wird sich eines Siegels mit diesem Abzeichen und der Umschrift
„Verband der deutschen Frauenvereine" bedienen.
») Vgl Handbuch der Deutschen Frauenvereine unter dem roten Kreuz. Berlin 1881.
*) A. a. O. S. 148.
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- 24 -
Die lange Friedensperiode, die mit der Einigung des Deutschen
Reiches ihren Anfang nahm, musste naturgemäss den Schwer-
punkt der Thätigkeit der vaterländischen Frauenvereine auf die
Beseitigung von Notständen legen; diese allmähliche Ver-
schiebung des ursprünglichen Programms wurde denn auch auf
dem Verbandstage in Frankfurt a. M. im Jahre 1880 zum Ausdruck
gebracht. Die Versammlung nahm damals folgende Resolution an: 1 )
„Wir am 28. September 1880 zu Frankfurt a. M. tagende Delegierte
deutscher Frauenvereine unter dem roten Kreuz erkennen die Not-
wendigkeit und die Bedeutung einer Verständigung der berufenen
Organe über die gemeinsame Aufgabe einer Armenpflege an, welche
den Forderungen der Nächstenliebe entspricht und die Befestigung
der gesellschaftlichen Ordnung anstrebt, indem sie den wirklich Hilfs-
bedürftigen in der rechten Weise und mit den geeigneten Mitteln
wirksam Hilfe gewährt. Wenn die Frauenvereine unter dem roten
Kreuz schon bisher nicht nur auf die Krankenpflege und auf die Hilfe-
leistung in ausserordentlichen Notständen und Notfällen sich beschränkt,
sondern ihre Thätigkeit auf fast alle Gebiete der ordentlichen freiwilligen
Armenpflege erstreckt haben, so erachten wir es für geboten, dass
unsre Vereine auch der auf dem Boden der Reichs- und Landes-
gesetzgebung geübten staatlichen und kommunalen Armenpflege ihre
Dienste zur Verfügung stellen. Wir empfehlen zu diesem Behufe den
Vereinen: mit den bezüglichen Organen staatlicher und kommunaler
Armenpflege eine dauernde und geordnete Verbindung herzustellen,
indem entsprechend den besonderen Verhältnissen der betreffenden
Verwaltungs- oder Gemeindebezirke durch geeignete Vereinbarung die
gegenseitigen Rechte und Pflichten geregelt werden."
Dieser Richtschnur folgend, haben die vaterländischen Frauen-
vereine in den letzten Jahrzehnten eine umfassende Thätigkeit
auf dem Gebiet der Armenpflege in die Wege geleitet, die sich
allerdings zumeist nur auf eine Ergänzung der öffentlichen Armen-
pflege beschränkte, in ganz vereinzelten Fällen nur auf ein gemein-
sames Wirken mit derselben ausgedehnt wurde. Ihre Thätigkeit
hat sich in den einzelnen Landesvereinen auf sehr verschieden-
artige Zwecke erstreckt. Während z. B. in Sachsen und Sachsen-
Weimar die Ausbildung von Krankenpflegerinnen im Vordergrund
steht, ist in Baden und Württemberg der Kinderfürsorge, sowie
der Förderung der Erwerbsthätigkeit der Frauen durch Gründung
von Industrie- und Fachschulen besondere Aufmerksamkeit zu-
gewendet worden. Die Hauptkraft des preussischen Vereins ist
in der Errichtung von Krankenhäusern entfaltet worden; daneben
') Vgl. Geschichte de» Badischen Frauenvereins. Karlsruhe 1881. S. 157.
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- 2 5 -
hat er sich nach den Statuten die Aufgabe gestellt, bei Förderung
von Waisenanstalten, Pflege verwahrloster Kinder, Gewährung von
Arbeitsgelegenheit, kurz, bei allen Aufgaben und Unternehmungen
mitzuwirken, die die Linderung schwerer Notstände im Auge haben.
Den weitesten Rahmen hat sich der badische Frauenverein
gezogen; seine Organisation ist eine mustergiltige, auch liegen
über sein Wirken reichlichere zusammenfassende Berichte vor, als
von dem anderer Landes vereine. Ein eingehender Bericht über
seine Wirksamkeit wird daher genügen, um auch einen Anhalts-
punkt für die Bestrebungen der anderen Landes vereine zu geben.')
Aus den Satzungen ist hervorzuheben:
§ i. Der unter dem Protektorate Ihrer Königlichen Hoheit der
Grossherzogin Luise von Baden stehende badische Frauenverein ver-
folgt gemeinnützige Zwecke, welche sich für Frauenthätigkeit eignen.
Als Gegenstände dieser Art betrachtet der Verein insbesondere
L weibliche Arbeiten, Förderung der Bildung und Erwerbs-
fähigkeit des weiblichen Geschlechts;
II. Kinderpflege, Fürsorge für Gesundheit und Erziehung von
Kindern;
III. Krankenpflege, namentlich Ausbildung von Krankenwarterinnen,
bei Kriegsfällen Pflege verwundeter und kranker Militär-
personen;
IV. Wohlthätigkeit, Armenunterstützung und Hilfeleistung bei
ausserordentlichen Notständen.
§ 2. Der badische Frauenverein stellt einerseits einen das ganze
badische Staatsgebiet umfassenden Landesverein dar; andrerseits
gliedert er sich in den Ortsverein Karlsruhe und sonstige Zweigvereine.
§ 3. Als Vereinsorgane bestehen:
I. Der Vorstand, welcher sowohl für den Landesverein als auch
zugleich für den Ortsverein Karlsruhe bestellt ist und teils
a) als Centraikomitee, teils
b) in 4 Abteilungen nach Massgabe der in § 1 bezeichneten
Vereinszwecke wirkt;
II. der Landesausschuss, welcher in wichtigeren Angelegenheiten
des Landesvereins das Centraikomitee des Vorstandes ergänzt,
und
III. die Ortsausschüsse der Zweigvereine.
§ 24. Frauenvereine in anderen Orten des badischen Landes
(ausser Karlsruhe), welche die in § 1 aufgeführten Zwecke oder
») Geschichte des badischen Frauenverein*, Karlsruhe 1881, und Jahresberichte 1899.
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— 26 —
wenigstens einen derselben verfolgen und sich dem badischen Frauen-
verein anschliessen wollen, können durch Beschluss des Vorstandes
als Zweigvereine desselben aufgenommen werden.
§ 25. Die Zweigvereine haben die für die Thätigkeit des Gesamt-
vereins in ihren verschiedenen Richtungen in statutenmassiger Weise
festgestellten leitenden Grundsätze zu beobachten, etwaige Aufträge
des Vereinsvorstandes zu erledigen und demselben über ihre Thätig-
keit jährlich Bericht zu erstatten. Im übrigen aber sind die Zweig-
vereine hinsichtlich ihrer inneren Organisation, sowie ihrer Thätigkeit
durchaus selbständig.
Ein überblick über die Arbeitsgebiete des Karlsruher Centrai-
vereins nach dem Bericht vom Jahre 1899 soll dazu dienen, ein
annäherndes Bild der umfangreichen Arbeit des Landesvereins zu
geben.
Die Abteilung I umfasst in Karlsruhe:
x. Unterrichtskurse zur Ausbildung von Handarbeitslehrerinnen;
3. die Mädchen-Fortbildungsschule (Luisen-Schule);
3. die Frauen- Arbeitsschule mit Zeichenschule;
4 kunstgewerbliche Kurse, jetzt Frauen-Arbeitsschule für Kunst-
stickerei;
5. Beaufsichtigung des Unterrichts in den weiblichen Hand-
arbeiten an den Volksschulen;
6. das Heim für alleinstehende Damen im Friedrichsstift;
7. die Haushaltungsschule des Friedrichsstifts;
8. Seminar für Haushaltungslehrerinnen;
9. Stellenvermittlungsbureau.
Die Abteilung für Kinderpflege beschäftigt sich mit der Beauf-
sichtigung von Zieh- und Kostkindern und unterhält mehrere Krippen
und ein Kinderpflegerinnen-Institut.
Die Abteilung für Krankenpflege sorgt für die Ausbildung von
Krankenpflegerinnen, stellt 60 Krankenanstalten, öffentlichen und privaten
Hospitälern ein geschultes Pflegepersonal (z. Z. 340 Pflegerinnen),
errichtete eine Soolbadkolonie für kranke Kinder, eine Vereinsklinik
und eine Privatpflegestation, die zugleich das Mutterhaus für erholungs-
bedürftige Schwestern ist.
Die Abteilung für Armenpflege umfasst in Karlsruhe:
x. Den Sophien-Frauen verein.
2. den Elisabethenverein.
die beide die Unterstützung von Notleidenden, Wöchnerinnen
und Kranken verfolgen;
3. die Mädchenfürsorge:
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2 7 -
4. Asyl und Erziehungshaus Scheibenhardt (für verwahrloste
Mädchen)');
5. das Geschäftsgehilfinnen-Heim;
6. Arbeiterinnen-Fürsorge:
7. Sonntagverein;
8. Flickschule (für junge Mädchen);
9. Flickverein (für Arbeiterfrauen);
10. Beschäftigungsverein;
11. Kochschule;
12. Volksküchen.
Neben dem Karlsruher Centraiverein mit 717 Mitgliedern
wirkten auf denselben Gebieten im Jahre 1899 noch 277 Zweig-
vereine in Baden mit einer Gesamt-Mitgliederzahl von 41 613. so
dass der Gesamtverein jetzt 42330 Mitglieder zählt.
Dem Beispiel des badischen Frauenvereins Hessen sich zahl-
reiche ähnliche, wenn auch nicht ganz so reichhaltige Berichte
der andern Landesvereine, die zusammen etwa 1300 Zweig-
vereine umfassen, anreihen. So zählt der preussische Bericht
von 1898 10 Vereine, die Krankenpflegerinnen-Institute unterhalten;
40 Krankenhäuser. 31 Siechenanstalten u. dergl., 121 Volksküchen
und Suppenanstalten, 116 Handarbeits- und Haushaltungsschulen,
40 Waisen- und Erziehungsanstalten; 194 Vereine, die Krippen
und Bewahranstalten unterhalten, und 236 Vereine, die Gemeinde-,
Armen- und Krankenpflege ausüben. Im ganzen beschäftigte er
1195 Pflegerinnen, davon 834 Krankenpflegerinnen. Besonders
muss noch die segensreiche Thätigkeit hervorgehoben werden, die
die Vereine vom roten Kreuz bei ausserordentlichen Notständen,
z. B. bei den grossen Überschwemmungen des Jahres 1897 in
Schlesien und Sachsen entfalteten. Dank der vorzüglichen
Organisation der Vereine gelang es, in kurzer Zeit die bedeutenden
Gaben an Geld, Kleidungsstücken und Nahrungsmitteln in richtiger
Weise zu verteilen, und es ist wiederholt öffentlich anerkannt
worden, dass es der fürsorgenden Thätigkeit des Vaterländischen
Frauenvereins in besonderem Masse zu danken gewesen ist, wenn
dem in weiten Kreisen befürchteten Ausbruch von Epidemien in
dem Überschwemmungsgebiet vorgebeugt worden ist Über die
besondere Thätigkeit der Vereine vom roten Kreuz auf dem Gebiet
der Krankenpflege wird im nächsten Kapitel berichtet werden.
') Vgl. V. Jugendfürsorge, Rettungshiuser
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- 28 -
Jedenfalls sind die vaterländischen Frauenvereine für das soziale
Leben in Deutschland ein wesentlicher Faktor geworden; sie haben
lange Zeit eine führende Stelle in der sozialen Frauenarbeit inne
gehabt und auf den verschiedensten Gebieten der Armen- und
Wohlfahrtspflege anregend und fördernd gewirkt.
Eine zweite ähnliche, bedeutende und umfangreiche Frauen-
organisation zum Zweck der Armenpflege besitzt Deutschland
nicht; dagegen hat sich namentlich in den letzten 30 Jahren eine
Fülle von isolierten Vereinsbildungen mit spezialisierterer Zweck-
bestimmung, deren Zahl absolut nicht zu schätzen ist, entwickelt.
Münsterberg, der beste Kenner des deutschen Armenwesens, sagt
darüber in seinem Buch „Die Armenpflege, Einführung in die
praktische Pflegethätigkeif ') :
„Der Vereinszwecke giebt es so viele, als Mittel der Hilfe möglich
sind; neben allgemeinen Zwecken Sonderzwecke der verschiedensten
Art, wie etwa die Unterstützung von Geisteskranken und deren
Familien, die Fürsorge für entlassene Strafgefangene, der Erziehungs-
beirat für schulentlassene Waisen u. s. w. Die regelmässige Form der
Organisation ist: Vorstand und Generalversammlung. Die Mitglieder
scheiden sich in solche, die Beiträge zahlen, in solche, die ausserdem
als Helfer thätig. und solche, die nur das letztere sind. Der Mangel,
an dem nach übereinstimmenden Wahrnehmungen die allermeisten
Vereine leiden, ist Mangel an Helfern. Gleichwohl ist ohne diese der
Vereinszweck nicht zu erreichen. Überall ist die persönliche Ermittelung
und Prüfung der Verhältnisse, die Anknüpfung persönlicher Beziehungen
zu dem Bedürftigen notwendig; ohne helfende Kräfte ist dies nicht zu
ermöglichen."
Der Umfang der Vereinsthätigkeit ist zahlenmässig nicht zu
schätzen ; offizielle Statistiken darüber fehlen, und einige Versuche,
private Statistiken zu schaffen, haben bisher nur sehr mangelhafte
Resultate gehabt. Nach ungefähren Schätzungen soll sich die
Gesamtziffer der deutschen Frauenvereine, deren weitaus grösstes
Kontingent von Wohlthätigkeitsvereinen gestellt wird, auf mindestens
4000 belaufen. Doch dürfte diese Zahl eher zu niedrig als zu hoch
gegriffen sein. Es giebt wohl kaum ein Gemeinwesen, in dem
nicht irgend ein Frauenverein auf dem Gebiet der Armenpflege
thätig ist. Je kleiner die Gemeinden sind, desto mehr pflegt sich
die gesamte armenpflegerische Thätigkeit auf einen Verein zu
konzentrieren; in grösseren Orten treten gewöhnlich neben einen
Centralfrauenverein, der sich verschiedenen Aufgaben zuwendet,
• Vgl. Mftnsterbcrg a. a. O. S. 71.
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— 2 9 -
noch mehrere Vereine für besondere Zwecke. Vorwiegend
sind dabei Vereine zur Unterstützung von Wöchnerinnen, zur
Fürsorge von Kindern, zur Pflege Kranker u. s. w. Weder die
Zahl, noch die Benennung der Vereine gestatten ein Urteil über
ihre Leistungen. Was Münsterberg über die Entwicklung der
Vereine im allgemeinen sagt, lässt sich auch in den Frauenvereinen
mit grosser Regelmassigkeit beobachten '):
„Meist ganz kleine Anfange, die aufopferungsvolle Hingabe einiger
weniger; dann wachsende Teilnahme weiterer Kreise, bis der Verein
eine führende Rolle spielt, so dass an seiner Spitze zu stehen auch für
andere der Gegenstand des Eifers und Ehrgeizes bildet; endlich, wenn
der Zweck im wesentlichen erreicht ist oder wenn dieser erste persön-
liche Eifer nachgelassen hat, ein Heruntersinken des Vereins von seiner
Höhe, Herabgehen der Mitgliederzahl, Verminderung der Beiträge u. s. w."
So giebt es in vielen Städten Deutschlands Frauenvereine, die
auf ein ßojähriges oder längeres Bestehen zurückblicken können,
aber bei denen von einer lebendigen Wirksamkeit kaum mehr die
Rede sein kann. So gehen Wöchnerinnenvereine, die ursprünglich
bezweckten, dass wohlhabende Frauen bedürftige Nachbarinnen in
der Zeit mit Nahrungsmitteln versorgen, in der diese als Wöchnerinnen
ans Bett gefesselt sind, heut daran zu Grunde, dass in den modernen
Grossstädten die Arbeiterbevölkerung in entfernteren, abgeschlossenen
Stadtteilen wohnt, dass die begüterte Hausfrau sich weniger um
die Küche kümmert, als in früheren Zeiten und ihren Angestellten
derartige Liebesdienste überlässt. So verlieren manche Suppen-
küchen und Volksspeisehallen ihren Besuch, wenn sie ausser acht
lassen, dass auch die Bedürfnisse der Arbeiterkreise sich in den
letzten Jahrzehnten gesteigert haben. Wie sich die gesamte
Privatwohlthätigkeit durch die sich stetig erweiternde soziale Für-
sorge des Staats und der Gemeinden zu immer neuen Aufgaben
gedrängt sieht, wie sie alljährlich alte Bestrebungen fallen lässt,
weil das Bedürfnis sich erfüllt hat oder weil ihre Aufgaben von
leistungsfähigeren Körperschaften übernommen werden, so hat sich
auch die Hauptkraft der Frauenvereine jederzeit in der Belebung
alter Formen mit neuem Geist, in der Anregung und Förderung
der Aufgaben entfaltet, die die wirtschaftlichen Zustände des
Augenblicks ihnen darboten.
Nach den Cholera- und Hungerseuchen der dreissiger und
vierziger Jahre beteiligten sich Frauen in lebhafter Weise an der
•) Mon«crberg a. a. O. S 69
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- 3° —
Bildung von Vereinen für häusliche und öffentliche Gesundheits-
pflege. ') Von diesen Vereinen wurde auch zuerst die Errichtung
von Ferienkolonien in Deutschland (in grösserem Umfange erst
seit 1879) angeregt und ins Werk gesetzt.*) Das Zeitalter des
Emporblühens der Industriestädte fand allerwärts die Frauen mit
der Gründung von Volksküchen beschäftigt. Die ersten öffent-
lichen Speiseanstalten waren schon im Jahre 1848 nach dem Bei-
spiel der vom Grafen Rumford in München zuerst gegründeten
in Chemnitz, Hannover, Dresden, Breslau, Leipzig, Karlsruhe und
Köln errichtet.») In Berlin ging damit im Jahre 1866 Lina Morgen-
stern 4 ) mit grossem Erfolg vor. Ihr gebührt das Verdienst,
durch den Verein Berliner Volksküchen die Frauen der bürger-
lichen Stände „aus der Hauswirtschaft in die ausübende Volks-
wirtschaft, aus der Familienpflege in die Pflege des arbeitenden
Volks, aus der Sorge für die Gesundheit und das Wohlergehen
der Nächsten zu der Sorge für die öffentliche Gesundheitspflege
geführt zu haben". ») Der durch die Kriegszeiten drohenden Lebens-
mittelteuerung und Hungersnot wollte sie vorbeugen, indem sie
durch Masseneinkauf der Lebensmittel und sachgemässc Zubereitung
derselben in Volksküchen eine gesunde und billige Volksernährung
ermöglichte. Die Vorteile des Grossbetriebs und der Übertragung
der Konsumgenossenschaften auf die Volksernährung wurden durch
die Berliner Volksküchen weitesten Kreisen bekannt; allerwärts
in Deutschland und auch im Auslande wurden nach dem Berliner
Muster Volksküchen errichtet, deren Gründer und Leiterinnen sich
bei Lina Morgenstern Rat und Hilfe erbaten. Viele auswärtige
Volksküchenvereine Hessen ihr erstes Personal in Berlin schulen
und ausbilden; heut entbehrt wohl keine bedeutendere Industrie-
stadt mehr eine Volksküche, und man kann wohl sagen, dass die
Frauenthätigkeit durch diese Gründungen eine unentbehrlich ge-
wordene Wohlfahrtseinrichtung geschaffen hat. Als Muster einer
Volksküche in bezug auf ausgezeichnete Wirtschaftsführung und
rentable Verwaltung sei hier noch die Volksküche in Mannheim
erwähnt, deren Einrichtung wegen der Anwendung aller modernen
technischen Errungenschaften bei Neugründungen als ausgezeichnetes
Vorbild dienen kann.
•) und ■») Vgl. S o h r a. a. O. S. 38-43.
VgL V. Jugendfürsorge. Ferienkotonieen.
*) Vgl. Handbuch der Frauenbewegung Teil I.
>) Vgl Lina Morgenstern, Festschrift zum 95jährigen Jubiläum de» Vereins der
Berliner Volksküchen von 1866.
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— 3i
Auf dem Gebiet der Armenpflege im engeren Sinne sind von
den neueren Bestrebungen der Frauen unter anderm besonders
die Gründungen von Wöchnerinnenheimen und von Haus-
pflegevereinen zu nennen. Beide entsprechen durchaus modernen
Bedürfnissen und Anschauungen. Die Wöchnerinnenheime ') sind
aus dem Gedanken hervorgegangen, solchen Frauen für die Zeit
der Niederkunft hygienisch eingerichtete Heimstätten zu bieten,
deren Verhältnisse ein gesundheitsgemässes Wochenbett in der
eigenen Wohnung unmöglich machen. Sie wollen Ersatz für das
eigene Heim der Wöchnerin bieten, wo entweder die Wohnung
schon für die vorhandene Familie unzureichend ist, oder wo selbst
einfache Ansprüche an Reinlichkeit nicht erfüllt werden und
weitergehende hygienische Anforderungen vollends unbefriedigt
bleiben. Diese Heime unterscheiden sich von den geburtshilflichen
Kliniken, die vielfach an Universitäten angegliedert sind, vor
allem dadurch, dass bei ihnen der Gesichtspunkt der Fürsorge
überwiegt, während es bei den letzteren darauf ankommt, für
Zwecke des Studiums Material zu schaffen. 1 ) Das hat in weiten
Volkskreisen einen starken Widerwillen gegen den Besuch solcher
Anstalten hervorgerufen, so dass Arbeiterfrauen nur in seltenen
Fällen diese Kliniken aufsuchen, deren Publikum daher vorwiegend
aus unehelichen Müttern besteht.
Die Bewegung für Errichtung von Wöchnerinnenheimen ist
noch verhältnismässig jung. Dazu kommt noch, dass in weiten
Frauenkreisen die Idee nicht mit Enthusiasmus aufgegriffen worden
ist, weil die ganz gesunde und richtige Meinung vieler Frauen
dahingeht, dass die Frau in der Zeit der Niederkunft, wenn es
nur einigermassen durchführbar ist, unter allen Umständen zu
ihrem Mann, in ihr Heim gehört; eine Ansicht, die im Interesse
des Familieniebens durchaus zu billigen ist, der man aber doch
in unzähligen Fällen ohne Gefährdung der Wöchnerin und des
Kindes im Leben nicht Geltung verschaffen kann. Ausser zwei
von andern Körperschaften in Dortmund und Elberfeld errichteten
Wöchnerinnenheimen werden solche von Frauenvereinen in Aachen,
Bremen, Düsseldorf, Karlsruhe, Köln, Mannheim, Magdeburg,
Nürnberg und Berlin unterhalten. Im allgemeinen sind die
Anstalten zur Aufnahme von Ehefrauen bestimmt; die Verpflegung
ist gewöhnlich unentgeltlich. Jedoch sehen einzelne Statuten vor,
«) Vgl. Dr. H. B. Brenn ecke, Errichtung von Heimstätten für Wöchnerinner.
Braunschweig 1897.
») Wöchnerinnenheime: Artikel im Bl. Konvers.-Lexikon der Frau.
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- 32 -
dass auch Frauen gegen geringes Entgelt aufgenommen werden
können, sofern ausreichend Platz vorhanden ist. Die Anstalten
sind im Vergleich zu der Zahl der in Betracht kommenden
Wöchnerinnen noch klein; so wurden in Magdeburg durchschnittlich
in den letzten Jahren 120, in Köln 400, in Mannheim 300 Frauen
verpflegt.
Nicht nur den Wöchnerinnen, sondern auch ihren Familien
und solchen Haushalten, denen die Kraft der Hausfrau durch Krank-
heit oder andere Umstände entzogen ist, wollen die in jüngster Zeit
entstandenen Hauspflege vereine zu Hilfe kommen. 1 ) Sie senden
auf Vereinskosten in solche Häuslichkeit erfahrene Frauen, die sie
verpflichten, die Kinder zu verpflegen, das Essen zu bereiten, den
Hausstand zu führen, damit die Hausfrau sich keine Sorge um
Erhaltung der Ordnung in ihrem Hauswesen zu machen braucht.
Die Frauen sind aber keineswegs Krankenpflegerinnen; wo eine
eigentliche Pflege der Kranken von geschulten Wärterinnen er-
forderlich ist, tritt die Hauspflege nicht ein. Die Zusammen-
gehörigkeit der Familie wird durch diese Vereinsarbeit erhalten,
die Kraft der Frau geschont und die Familie wird vor wirtschaft-
licher Zerrüttung bewahrt Der erste Hauspflegeverein wurde 1892
in Frankfurt a. M. gegründet (Vorsitzende Frau Professor Fl esch)
und entwickelte sich überraschend schnell und glücklich. Die
dortigen Pflegefrauen erhalten einen festen Lohn, ausserdem, wenn
die verpflegte Familie zu arm ist, als dass die Pflegerin bei ihr
mitessen könnte, einen Zuschuss für die Beköstigung. Nach dem
Muster des Frankfurter Vereins sind in Berlin, Charlottenburg,
Danzig, Gotha, Jena Hauspflegevereine geschaffen worden, die
gleichfalls erfreuliche Erfolge aufweisen können. Eine besonders
kräftige Entwicklung zeigt der Berliner Hauspflegeverein, der im
Anschluss an den Berliner Frauenverein 1897 begründet wurde.
Er erstreckt sich jetzt über ganz Berlin mit seinen 357 Stadt-
bezirken. Es wurde im letzten Vereinsjahr 1900 in 2338 Fällen
mit 19384 Pflegetagen gepflegt
Die Thätigkeit der Frauenvereine in Bezug auf die Waisenpflege
hat sich in den letzten Jahren fast ausschliesslich auf die Teil-
nahme an der öffentlichen Waisenpflege beschränkt, die weiter
unten behandelt werden wird. Durch die weitgehende Fürsorge
des Staates und der Kommunen bleibt der Vereinsthätigkeit und
damit auch der Frauenvereinsthätigkeit im grossen und ganzen
>) Berichte der Hauapflegevereine in Frankfurt a. M . Berlin u. a. w
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— 33 —
nur noch die Errichtung von Anstalten für verarmte Waisen aus
den höheren Volksklassen, die sich für die von den Gemeinden
gewährte Erziehungsweise nicht eignen. Daneben haben sich in
allerletzter Zeit noch in vielen Teilen des Landes Vereine unter
dem Namen „Freiwilliger Erziehungsbeirat für schulentlassene
Waisen" gebildet, deren Zweck hauptsächlich darin besteht, Halb-
waisen, Kindern, die den Rat des Vaters oder der Mutter ent-
behren müssen, nach der Schulentlassung bei Ergreifung eines
Berufs mit Rat und That zur Seite zu stehen, ihnen Lehr- oder
Arbeitsstellen zu schaffen, und ihnen bis zur Erreichung der
Selbständigkeit einen Anhalt zu bieten. Auch diesen Vereinen,
die vielfach durch Männer ins Leben gerufen worden sind, hat
sich die Frauenthätigkeit in grossem Umfang zugewendet. Nament-
lich hat ein Appell an die deutschen Volksschullehrerinnen den
Vereinen Scharen von Hilfskräften zugeführt. 1 )
Neue Bahnen wurden der Vereinsthätigkeit der Frauen auf
dem Gebiet der Armenpflege durch Jeannette Schwerin») eröffnet,
die die Aufmerksamkeit der Frauen besonders nach zwei Richtungen
zu lenken versuchte: auf die Notwendigkeit einer planmässigen
Verbindung aller Organe der Armenpflege, einer Abgrenzung der
Arbeitsgebiete, sowie einer Verständigung zu gemeinsamem Vor-
gehen einerseits, auf die Notwendigkeit einer Ausbildung und
Schulung für die Armenpflege andrerseits.*)
Ihren ersten Zweck förderte sie wesentlich durch Gründung der
Auskunftsstelle der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur im
Jahre 1893. Frau Schwerin glaubte, dass es bei der Fülle der
Berliner Wohlfahrtseinrichtungen sowohl für den Hilfesuchenden
wie für den Hilfespendenden fast unmöglich sei, diejenige Behörde
oder Anstalt aufzufinden, die für jeden besonderen Fall der
Bedürftigkeit geeignet und nach ihren besonderen Statuten zum
Eingreifen berechtigt sei. Diesem Missstand sollte die Auskunfts-
stelle abhelfen; hier sollte der Bedürftige oder der für ihn Sorgende
sich Belehrung und Rat holen können. Ein von ihr sorgfältig
gesammeltes und systematisch geordnetes Material über die
bedeutenderen Wohlfahrtseinrichtungen Berlins bildete die Grund-
lage für das später von ihren Mitarbeitern herausgegebene
•) VgL Mitteilungen des Freiwilligen Ereiehungsbeirats für schulentlassene Waisen,
Berlin.
*) VgL auch Handbuch der Frauenbewegung. Teil L
*) Die folgenden Ausführungen sind den Jahresberichten der entsprechenden Vereine
Handbuch der Frauenbewegung. IL TeiL 3
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„Auskunftsbuch 44 über die Wohlfahrtseinrichtungen Berlins, das
zahlreiche ähnliche Arbeiten von Frauen oder unter Beteiligung
von Frauen in andern Städten angeregt hat. Hierauf basierte auch
die Raterteilung in der Auskunftstelle, die jedoch bald erkennen
Hess, dass in vielen Fällen gründliche Recherchen und in manchen
eine längere freundnachbarliche Fürsorge zur Ergänzung der
Auskunfterteilung notwendig sei. In dieser Richtung wurde die
Thätigkeit der Auskunftstelle bald erweitert, und auf diese Weise
gelang es auch, Fühlung mit den Organen der öffentlichen, kirch-
lichen und privaten Armenpflege zu gewinnen. In einem Bericht
über die Auskunftstelle vom Jahre 1898 fasst Frau Schwerin die
Bemühungen derselben folgendermassen zusammen:
„Die Auskunftstelle hat versucht, in ihren Mitgliedern Liebe mit
sozialer Erkenntnis zu paaren. Sie hat sich bemüht, die Armenpflege
zu einem Studium zu erheben, das den ganzen Menschen fördert, weil
es ein Studium des ganzen Menschen und seiner Umgebung ist. Sie
hat es als ihre Aufgabe erkannt, nicht nur materielle Not zu lindern,
sondern aus sozial-ethischen Motiven zur Erhebung des Einzelnen bei-
zutragen. Sie nimmt an, dass für den zusammengesetzten und aus
den mannigfaltigsten Lebensbedingungen erwachsenen Organismus, wie
er sich in dem Einzelnen oder in der Familie darstellt, die Heilmittel
im Falle der Not aus den ihm entsprechenden Lebenskreisen genommen
werden müssen. Sie arbeitet daher mit Wohlfahrtsbestrebungen aller
Richtungen zusammen, mit den Organen der öffentlichen Armenpflege
wie mit den kirchlichen Vereinigungen. Sie strebt unermüdlich darnach,
in ihren Mitgliedern die Faktoren zu einer wirkungsvollen, den heutigen
Verhältnissen entsprechenden Armenpflege zu entwickeln: volle
Entfaltung des persönlichen Empfindens, dabei aber Studium der ein-
schlägigen Verwaltungszweige und Erkenntnis der sozialen Entwicklungs-
zustände, welche die Armut bedingen."
Eine Reihe ähnlicher Einrichtungen sind von verschiedenen
Frauenvereinen und Körperschaften dieser Auskunftstelle nach-
gebildet worden, und man kann wohl sagen, dass ihr die modernen
Frauenbestrebungen auf dem Gebiet der Armenpflege einen Teil
ihrer Impulse und ihrer Methoden verdanken.
Der Einfluss, den die Thätigkeit der Auskunftstelle auf weite
Kreise der an der Berliner Wohlfahrtspflege Beteiligten ausgeübt
hat, dürfte eine wertvolle Vorarbeit für das Zustandekommen
eines andern Unternehmens auf diesem Gebiet geleistet haben,
das gleichfalls einer Frau seine Anregung und sein Entstehen
verdankt. Die Vereinigung der Wohlfahrtsbestrebungen in Berlin,
zuerst „Centralisation der Wohlfahrtspflege" genannt, ist aus einem
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bescheidenen Versuch entstanden, den Frau Sophie Susman
im Jahre 1896 mit klarer Erkenntnis des anzustrebenden Ziels im
Bezirk der Berliner Luthergemeinde ins Werk setzte. Ihrer Initiative
ist eine in ihrer Organisation ganz eigenartige und neue Zusammen-
fassung aller armenpflegerischen Thätigkeit in Berlin zuzuschreiben,
die von grösster Bedeutung für die Fürsorgethätigkeit in allen
grösseren Städten werden dürfte und bereits mehrfach (so in
der Ortsgruppe des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins in
Frankfurt a. M.) zu Nachbildungen geführt hat. Schon vor etwa
20 Jahren war ein ähnlicher Versuch bereits vom Stadtverordneten-
vorsteher Strassmann und von Frau Lina Morgenstern
angeregt worden, der aber zu jener Zeit wohl an der Verständnis-
losigkeit der für die Mitarbeit in Betracht kommenden Kreise
scheiterte. Von der Erkenntnis ausgehend, dass wirksame Fürsorge
nur in kleinen Bezirken durchführbar ist, beruht dieser neue
Centralisationsversuch darauf, dass die Vertreter der verschiedenen
Organe der Armenpflege (der kirchlichen, der städtischen und der
privaten) eines Bezirks in regelmässigen Konferenzen zusammen-
kommen, um sich über die in ihrem Bezirk befindlichen Armen
auszusprechen.
„Der Vertreter soll ein Verzeichnis derjenigen Personen zur Sitzung
mitbringen, die sich seit der letzten Konferenz bei seinem Verbände
gemeldet haben, um ihre Namen in das bei der Bureaustelle des Bezirks
zu führende Kartenregister einzutragen und daran, sofern es nötig
erscheint, eine Aussprache über die betreffende Person zu knüpfen.
Der Zweck ist nicht allein Verhütung der Überhäufung einzelner
Personen mit Unterstützungen, sondern auch Ausdehnung einer auf
gemeinsamer Thätigkeit beruhenden Fürsorge. Nicht der zufällige Um-
stand soll entscheiden, ob sich ein Bedürftiger gerade an diesen oder
jenen Verein gewendet hat, sondern der Charakter des Vereins und
die ihm zur Verfügung stehenden Mittel, so dass etwa ein Verein, in
dessen Aufgabe gerade die Fürsorge für eine Person dieser Art liegt,
die weitere Fürsorge übernimmt, oder dass zwei zusammenwirken und
dergleichen mehr."')
Bei dieser Art der Zusammenfassung aller Organe der Armen-
pflege hat sich die Mitarbeit der Frauen als besonders wertvoll
erwiesen; vielfach ist es ihnen gelungen, bei den männlichen
Armenpflegern Verständnis für den Wert der weiblichen Thätigkeit
zu wecken, den mangelnden Einblick der Männer in die häuslichen
oder wirtschaftlichen Verhältnisse bedürftiger Familien durch ihr
») Vgl. Münsterberg a. a. O. S. 79.
3*
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sachverständiges Urteil zu ergänzen. Vor allem ruht aber auf
ihren Schultern ein grosser Teil der Organisationsarbeiten; so sind
die Bureaus resp. Schriftstellen der Berliner Vereinigung vor-
wiegend in den Händen von Frauen, die sich dieser grossen Arbeit
mit berufsmässiger Hingabe all ihrer Zeit ohne Entgelt unterziehen.
Die zweite von Frau Schwerin in Angriff genommene Reform
in der Vereinsthätigkeit der Frauen, die auf eine Ausbildung zur
armenpflegerischen Thätigkeit abzielt, hat ihren Ausgangspunkt
und ihren Mittelpunkt in der Vereinigung gefunden, die im Herbst
1893 in Berlin unter dem Namen der „Mädchen- und Frauen-
gruppen für soziale Hilfsarbeit" von einer grösseren Anzahl in
der Wohlfahrtspflege erfahrener Frauen und Männer auf eine schon
früher im kleinen Kreise verwirklichte Anregung von Frau Minna
Cauer gegründet wurde. Nach dem Programm bezweckt die
Vereinigung
1. Mädchen und Frauen zur thatkräftigen Unterstützung aller
Wohlfahrtsunternehmungen heranzuziehen, zur Unterstützung nicht
durch Geld, sondern durch persönliche Fürsorge;
a. den Mädchen und Frauen, die Wunsch und Willen haben zu
helfen, Gelegenheit zu bieten, sich die zu einer wirksamen Hilfe-
leistung notwendigen Kenntnisse anzueignen.
Zur Erreichung dieser Zwecke hat das Komitee der Mädchen- und
Frauengruppen seit dem Jahre 1893 alljährlich ein Verzeichnis von
Wohlfahrtsanstalten und Vereinen in Berlin zusammen-
gestellt, in denen freiwillige Hilfskräfte gebraucht werden.
Dazu gehören Anstalten zur Fürsorge für Kinder, die zeitweise den
Schutz der Mutter entbehren müssen, wie Krippen, Kindergärten
und Horte, Blindenanstalten, Volksküchen, Armenpflegevereine, der
freiwillige Erziehungsbeirat für schulentlassene Waisen, Kranken-
häuser u. s. w. Die Aufgabe der Gruppen besteht einerseits in der
wechselseitigen Vermittlung zwischen den Anstalten, die Hilfskräfte
brauchen und den Mädchen und Frauen, die Hilfe leisten können und
wollen; andrerseits haben die Gruppen durch Einrichtung von
Vortragskursen aus der Gesetzeskunde, der Volkswirt-
schaftslehre, den Grundlehren der Armenpflege und der
Kinderfürsorge den Versuch gemacht, die freiwillige Frauen-
arbeit in der Wohlfahrtspflege zu vertiefen, ein Verständnis
für die Lage der arbeitenden Volksklassen herbeizuführen.
Der Umfang der Arbeit richtet sich bei allen Mitarbeiterinnen
nach dem Masse der verfügbaren Zeit
Neben der Verfolgung dieser Ziele ist seit einiger Zeit auch
für Frauen, die sich berufsmässig in der sozialen Arbeit ausbilden
wollen, ein geschlossener Jahreskursus eingerichtet worden.
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- 37 —
Der Erfolg dieser Vereinigung dürfte weniger nach dem
Umfang ihrer Thätigkeit, nach der Mitgliederzahl beurteilt werden,
als nach der Thatsache, dass dieser Anregung folgend in allen
Teilen des Landes und in allen Kreisen der Gedanke einer Aus-
bildung der Frauen zur sozialen Hilfsarbeit Wurzel fasst. Ähnliche
Einrichtungen sind von Frauenvereinen in Wien, Bremen, Hamburg,
Königsberg, Mannheim, Leipzig, Frankfurt a. M., Halle getroffen
worden; auch in kirchlichen Kreisen hat man angefangen, Aus-
bildungskurse für soziale Hilfsarbeit zu schaffen; überall beginnt man
anzuerkennen, dass eine Reihe praktischer Kenntnisse notwendig
sind, wenn die Frauen Verständnis für die wirtschaftliche Lage
der verschiedenen Volkskreise und für soziale Reformen gewinnen
sollen.
Es ist mit diesen neueren Bestrebungen eine wertvolle Er-
gänzung der bisherigen Ausbildungsmöglichkeiten zur Armenpflege
gegeben, die sich fast ausschliesslich in den Diakonissenhäusern
und den Ordensgenossenschaften fanden. Bei anderen Versuchen
der Ausbildung und Schulung freiwilliger und berufsmässiger
Hilfskräfte für soziale Arbeit sind im übrigen bestimmte Zweige,
namentlich das Gebiet der Krankenpflege, gepflegt worden; diese
werden noch an andrer Stelle behandelt werden. Auch der
Evangelische Diakonieverein, der grosse Verdienste auf diesem
Gebiet in Anspruch nehmen kann, stellt die Krankenpflege so sehr
in den Vordergrund, dass er aus diesem Grunde besser im Zu-
sammenhang mit dieser eingehend behandelt wird.
Trotz dieser verschiedenen Versuche entspricht die Frauen-
arbeit auf dem Gebiet der Armenpflege weder an Umfang, noch
an Wert und Inhalt auch nur einigermassen den Anforderungen,
die man angesichts der vorhandenen Frauenkraft und angesichts
des grossen Arbeitsgebietes stellen muss. Hier berührt sich die
Frage der weiblichen Hilfstätigkeit mit der Frauenfrage; denn
der in Frauenkreisen herrschende Mangel an Interesse an den
Aufgaben von Staat und Gemeinde ist ein Resultat der mangel-
haften Erziehung und der unselbständigen Stellung der Frauen
im öffentlichen und politischen Leben. Die Unfähigkeit, plan-
mässige und verständnisvolle soziale Arbeit zu leisten, rührt da-
gegen (sicherlich von dem noch weit .verbreiteten Vorurteil her,
dass die Thätigkeit des Helfens keiner andern Grundlage als
eines „guten Herzens" bedarf. So sagt Margaret Sewell, die
Leiterin des Women's University Settlement in London in einem
Vortrag über die Bedingungen einer wirksamen Armenpflege einmal :
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- 3« -
„Auf jedem andern Arbeitsgebiete wird die Arbeit als die beste
erkannt, der man am meisten Nachdenken und Vorbereitung gewidmet
hat; hier aber hält man jede intelligente Person für gut genug, an
einem Problem von der grössten Schwierigkeit zu arbeiten, das einer-
seits grosse soziale und nationale Fragen berührt und das anderseits
mit der komplizierten Beschaffenheit des individuellen Charakters zu
thun hat Die Notwendigkeit einer verständnisvollen Bethätigung wird
von denen nicht erkannt, die andern Arbeit erteilen, und eiligst
werden Thörichte wie Weise unterschiedslos ins Feld geführt, ohne
dass man sie dazu erzieht und ihnen die Grösse und Verwicklung des
Übels klarlegt, welches sie heilen sollen."
Diesen Missständen und Vorurteilen gegenüber wird die Frauen-
bewegung aufklärend wirken müssen; nur wenn es ihr gelingt,
auf allen Arbeitsgebieten auch für die Frau die selbstverständliche
Voraussetzung durchzusetzen: Verständnis der gestellten Aufgaben
und voller Berufsernst bei ihrer Lösung, nur dann wird es auch
in der Armenpflege gelingen, die Vereinsthätigkeit der Frauen zu
einem Träger des Kulturfortschritts zu gestalten. Dann werden die
Frauen es verstehen, den Organen von Staat und Gemeinde, die
heut vielfach den Frauen noch unzugänglich sind, die erforderliche
Achtung abzunötigen, sie von dem Wert weiblicher Hilfsarbeit zu
überzeugen und sich Sitz und Stimme in den Organen der öffent-
lichen Armenpflege zu erringen. Dann wird nicht mehr, wie in
Nachstehendem geschildert wird, auf dem Gebiet der öffentlichen
Armenpflege die weibliche Arbeit wie heut die männliche ergänzen,
sondern umgekehrt die männliche die weibliche. Dann wird die
Hoffnung, die Münsterberg bei einem Ausblick in die Zukunft aus-
spricht, in Erfüllung gehen: „Die bedürftige Frau wird an ihrer
Geschlechtsgenossin in jedem Fall Stütze und Helferin finden, und
die Bedürfnisse der Frau werden dem Urteil und der helfenden
Hand der Frau anvertraut sein."
3.
Die Frau in der öffentlichen Armen- und Waisenpflege.
Die öffentliche Armenpflege ist eine Errungenschaft des
19. Jahrhunderts; die Armengesetzgebung von 1840 — 1870, die
dem heutigen Recht zu Grunde liegt, ist der steigenden Bedeutung
der Industrie gefolgt. Den grossen wirtschaftlichen Umwälzungen
des Maschinenzeitalters gegenüber musste sich alle private Liebes-
thätigkeit als unzureichend erweisen; sie konnte den Bedarf an
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— 39 —
Hilfe und Unterstützung nicht mehr wie in früheren einfacheren
Verhältnissen aufbringen und in geordneter Weise verteilen. Es
lag aber durchaus im Interesse des Staates, dass niemand am
Notwendigsten Mangel leide; aus diesem Gesichtspunkte heraus
haben eine Reihe von Staaten Gesetze erlassen, um jedem Staats-
angehörigen das zum Lebensunterhalt Unentbehrliche zu sichern,
sofern er zeitweise oder dauernd ausser Stande ist, für sich selbst
zu sorgen.') Es war nicht Absicht des Staates, durch die gesetz-
mässige Ausübung der Armenpflege die individuelle, die freiwillige
Barmherzigkeit überflüssig zu machen, sondern öffentliche und
private Armenpflege sollten in geordnete Wechselwirkung zu ein-
ander treten. Die private Liebesthätigkeit hat sich mehr der
Beschaffung des Nützlichen und Wünschenswerten zuwenden
können; die öffentliche Armenpflege muss sich auf Beschaffung
des Unentbehrlichen beschränken.
Während man in Frankreich, Italien und Belgien allmählich
die Notwendigkeit dieses Systems anzuerkennen beginnt, ist die
Armengesetzgebung in England und Deutschland bereits zu einer
selbstverständlichen Institution geworden. Abgesehen von den
Bestimmungen, die sich auf die Bedürftigen beziehen (also über
Art und Umfang der Unterstützung, über das Kriterium der Be-
dürftigkeit und die Mittel, die zur Abhilfe angewendet werden
sollen), enthalten all diese Gesetze auch Vorschriften über die
Verwaltung, über die Person dessen, der die öffentlichen Mittel
im Namen des Staates oder der Gemeinde verwenden soll. Die
deutsche Gesetzgebung, die auf dem Gesetz über die Freizügigkeit
vom i. November 1867 und dem Gesetz vom Unterstützungswohnsitz
vom 6. Juni 1870 beruht, legt den Gemeinden die Pflicht auf, ge-
eignete Organe mit der Armenverwaltung zu betrauen.*) Im
allgemeinen pflegen die Gesetzgebungen die nähere Bezeichnung
dieser Organe der örtlichen Bestimmung (durch Ortsstatut) zu
überlassen; doch gehen sie darin verschieden weit. Während die
preussische Gesetzgebung nur die Gemeinde als Organ der
Armenpflege bezeichnet und bestimmt, dass jeder Einwohner zur
Übernahme eines Ehrenamtes in der Armenpflege verpflichtet ist,
') Vgl. MQnstcrberg, Die deutsche Armengesetzgebung und das Material zu ihrer
Reform. Leipzig 1887. Ferner die bereits erwähnten Artikel im Handwörterbuch der Staats-
*) Vgl. Gesetz vom Unterstatzungswohnsitz vom 6. Juni 187a Berlin. Böhmert:
das Armenwesen in 77 deutschen Sudten. Dresden 1886. Ferner enthalten alle stadtischen
Verwaltungsberichte Material Ober die Ausübung der Öffentlichen Armenpflege.
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- 4 o -
enthält die bayrische Gesetzgebung bestimmte Vorschriften über
die Zusammensetzung des Armenpflegschaftsrats. In jedem Fall
bedarf es aber einer örtlichen Organisation, die sich den lokalen
Verhältnissen, der Grösse des Ortes, der Verteilung der Be-
völkerung auf einzelne Bezirke anpasst Die verschiedenen Arten
der Organisation, die sich in der öffentlichen Armenverwaltung
finden, sind das bureaukratische, das gemischte und das ehren-
amtliche System. Von einem bureaukratischen System spricht
man, wo, wie es hauptsächlich in kleinen Gemeinden der Fall ist, der
zu allgemeinen Gemeindeangelegenheitcn berufene Beamte (Bürger-
meister, Schulze oder dergl.) die Armenpflege besorgt. Bei dem
gemischten System ziehen die amtlichen Organe freiwillige Hilfs-
kräfte zur Erforschung der Verhältnisse bei den Bedürftigen heran,
behalten sich aber die Entscheidung über die Unterstützung vor.
Bei dem ehrenamtlichen System wird die gesamte öffentliche
Armenpflege von freiwilligen, selbständig arbeitenden Hilfsorganen
der amtlichen Verwaltung besorgt. Für die Teilnahme der Frauen
kommt vor allem das letztgenannte, in Deutschland sehr allgemein
verbreitete System in Betracht. Die freiwilligen Hilfskräfte, die
dieses System in sehr grosser Zahl erfordert, werden hier durch
die Gemeindeverwaltungen berufen, nicht, wie z. B. in England, von
der Bevölkerung gewählt. Wie das Wort „Ehrenamt" andeutet,
soll die Mitgliedschaft bei einer Armenverwaltung als Ehre be-
trachtet werden, und die Träger dieses Amtes sollen aus
den besten und geeignetsten Mitgliedern der Gemeinde gewählt
werden.
In Deutschland hat man anscheinend lange vergessen, dass
auch Frauen zu den „besten und geeignetsten Mitgliedern" der
Gemeinde gehören können, namentlich für alle die Fälle, in denen
es sich um ein hilfreiches Wirken von Mensch zu Mensch handelt;
denn bis vor kurzem wurden Frauen nirgend mit diesem Amt
und dieser Würde betraut.
In den zahlreichen Fällen, in denen es den Gemeindebehörden
nicht gelang, eine ausreichende Zahl geeigneter männlicher
Armenpfleger zu finden, hat man sich mit weniger geeigneten
begnügt; mit ehrlichen, anständigen Menschen, die oft den
technischen Schwierigkeiten dieses Amts nicht gewachsen sind
und seine grosse soziale Bedeutung nicht übersehen können. Man
hat die Anforderungen an das Pflegepersonal sogar noch weiter
herabgeschraubt, und es sind keineswegs nur ganz vereinzelte
Fälle, in denen die öffentliche Armenpflege mangels guter Pflege-
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- 41 -
kräfte die Anforderungen nicht erfüllen kann, die das Gesetz an
sie stellt. 1 )
Dieser Thatsache gegenüber haben Frauen die Zulassung zur
öffentlichen Armenpflege gefordert und den Gemeinden damit den
Weg gewiesen, um die unzureichenden Pflegeorgane durch bisher
brach liegende Kräfte zu ergänzen. Zuerst wurde diese Forderung
auf der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Frauen-
vereins im Jahre 1868 von Frau Henriette Goldschmidt gestellt 5 );
auch Mathilde Weber, Luise Otto, Luise Büchner,
Auguste Schmidt haben wiederholt auf die Dringlichkeit dieser
Frage hingewiesen, die seit Jahren zu einem Programmpunkt der
deutschen Frauenbewegung geworden ist und besonders durch das
Eintreten Jeannette Schwerins wesentliche Förderung erfuhr. Die
Forderung wird damit begründet, dass die erschütternden Vor-
gänge, denen man bei der Armenpflege begegnet, fast durchweg
auf ein zerrüttetes häusliches Leben zurückzuführen sind, dass das
Arbeitsfeld der Armenpflege im häuslichen Leben des Bedürftigen
zu suchen ist und die Frau daher die geborene Helferin der
Armen sei. Habe man ihr doch von jeher alles, was mit der
Führung des Haushalts zusammenhängt, übertragen.
Die Einwände, die lange Zeit aus allen Kreisen gegen jedes
Begehren der Frau nach Beteiligung an den Bürgerpflichten er-
hoben wurden, sind in den Reihen der Leiter der grösseren Armen-
verwaltungen denn auch allmählich verstummt Die ausführenden
Organe jedoch, die Armenpfleger und Armenvorsteher, verharren
vielfach noch auf ihren vorgefassten Meinungen und setzen allen
Versuchen der Heranziehung von Frauen unbeugsamen Widerstand
entgegen. Das ist wohl darauf zurückzuführen, dass in bestimmten
Gesellschaftskreisen, bei kleinen Kaufleuten und Subalternbeamten,
dieses Ehrenamt als ein diesem Stande erb- und eigentümlicher
Besitz gilt, und da man diese Kreise nicht wohl ganz für die
Armenpflege entbehren kann, haben die Leiter der Armen-
verwaltungen in der Frage der Zuziehung von Frauen Rücksicht
auf die Ansicht ihrer Pflegeorgane genommen — und wohl auch
nehmen müssen. So erklärten die 3000 Armenpfleger Berlins in
einer Protestversammlung im Jahre 1896, an demselben Tage in
corpore ihre Ämter niederzulegen, an dem ein damals vorliegender
Beschluss der Stadtverwaltung, betreffend die Zuziehung von Frauen
zur Ausführung kommen würde. Münsterberg sagt darüber*):
>) Vgl. Man stcrberg: Armenpflege. S. 37 u. 17a
*) Neue Bahnen iS6a S. r74-
*) VgL ■. *. O. S. 178.
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42 -
„Als gelegentlich in den Kreisen der Hamburgischen Pflegeorgane
davon die Rede war. Frauen zur Mitarbeit als thätige, den männlichen
Pflegern gleichberechtigte Mitglieder heranzuziehen, sah man zweifelnde,
verwunderte, zum grössten Teil aber entsetzte Gesichter. Dieselbe
Wahrnehmung bot die Erörterung der Frage in Berlin (1896) und, wie
berichtet wird, in vielen andern Städten. Den männlichen Helfern
drängte sich die Vorstellung mit Lebendigkeit auf, dass in die Räume,
wo sie unter sich die Bezirkssitzung abhalten, wo sie über Angelegen-
heiten, die nicht immer mit den zartesten Ausdrücken bezeichnet
werden können, sich unterhalten, weibliche Personen einziehen, am
Rate der Männer teilnehmen, unzählige für sie nicht bestimmte Dinge
hören und ihren spezifisch weiblichen Standpunkt zur Geltung bringen
möchten. Die Folge — so dachte und sagte man — würde dann eben
sein, dass man die Dinge nicht mehr beim richtigen Namen nennen
dürfte, dass man überhaupt aus Rücksicht auf die Damen sich zurück-
halten, seine Meinung nicht mehr offen sagen und am Ende sich ganz
zurückziehen müsste.
Der Widerstand gegen die Heranziehung der Frau geht also nicht
— und das ist sehr charakteristisch — von den Leitern der Armen-
verwaltungen, sondern von den Pflegeorganen selbst aus, die eine
Beeinträchtigung ihrer Thätigkeit durch die Frauen fürchten. Es ist
ganz genau dieselbe Erscheinung, die wir auch auf andern
Gebieten beobachten können, wo es sich um die Gleich-
stellung der Geschlechter handelt."
Ein Umschwung der öffentlichen Meinung in Bezug auf diese
Frage, eine Reform, ist zuerst in England durchgeführt worden
und hat von da aus ihren Weg in die andern europäischen Staaten,
auch nach Deutschland genommen. ')
Nachdem schon in den 30 er Jahren Frauen sich vorüber-
gehend in England an der Ausübung der öffentlichen Armenpflege
beteiligt hatten, wurde dort im Jahre 1875 auf Anregung des
bedeutendsten englischen Wohlthätigkeitsvereins, der „charity-
organisation-society", ein erneuter Versuch gemacht und eine Frau
wurde in London zur öffentlichen Armenpflege zugelassen; da sie
sich bewährte, wurden 1877 noch zwei Frauen in London und
zwei auf dem Lande eingegliedert. Im Jahre 1881 bildete sich
dann eine Gesellschaft unter dem Namen „Society for promoting the
return of qualified women as poor-law-guardians", die besonderen
Wert darauf legte, dass nur solche Frauen für das Amt erwählt
würden, die durch Charakter und Lebensstellung dafür geeignet
wären.
') Da» Material ist Jahresberichten und Zeitungsausschnitten entnommen, die in der
Bibliothek für Armenpflege (siehe QuellenveMeichtüs) gesammelt sind.
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Ein grosses Hemmnis wurde der Bewegung durch ein Gesetz
(local government act) in den Weg gelegt, das 1888 erlassen
wurde und bestimmte, dass verheiratete Frauen nicht wählbar sein
sollten, und dass auch das aktive Wahlrecht nur von unverheirateten
Frauen ausgeübt werden dürfe, die selbständige Eigentümer und
Steuerzahler seien. Trotz dieser Beschränkung wuchs die Zahl
der Armenpflegerinnen bis 1894 au ^ 200 an - In diesem Jahr wurde
das Gesetz durch ein neues ersetzt, das jede Beschränkung des
Wahlrechts durch Geschlecht oder Heirat aufhob. Der Erfolg
davon war, dass sich im Laufe eines Jahres die Zahl der Armen-
pflegerinnen um fast 700 vermehrte. Seitdem ist ihre Zahl
beständig gestiegen; seit 1895 führen auch Frauen den Vorsitz in
einigen Kommissionen, und diese Erfolge haben fraglos dazu bei-
getragen, die Bewegung auch anderwärts in Fluss zu bringen.
In Deutschland«) ist die Entwicklung soviel jünger, dass die
Erfolge sich nicht gut mit den englischen vergleichen lassen. Bis
zum Jahre 1896 hatten nur ganz vereinzelte Städte Frauen als
öffentliche Armenpflegerinnen mit gleichen Rechten und Pflichten
wie die Männer zugelassen. Unter diesen Städten muss vor allen
Dingen Cassel erwähnt werden, das bereits 1881 mit dieser
Neuerung voranging. In weiteren Kreisen trat aber ein Umschwung
in der Behandlung der Frage erst ein, nachdem sich der deutsche
Verein für Armenpflege und Wohlthätigkeit, der als massgebende
Instanz angesehen werden kann, da ihm alle Autoritäten und Fach-
leute des Armenwesens angehören, auf seiner Generalversammlung
in Strassburg (1896) mit der Angelegenheit beschäftigte und dadurch
zur Gewinnung gefestigter Anschauungen führte.
Auf Grund eingehender Erörterung nahm die Versammlung
damals folgende Resolution an:
„Die Heranziehung der Frauen zur öffentlichen Armen-
pflege ist als eine dringende Notwendigkeit zu bezeichnen.
Sie ist je nach den örtlichen Verhältnissen durchzuführen; in erster
Linie durch Eingliederung der Frauen in die öffentliche Armenpflege
mit gleichen Rechten und Pflichten wie die Männer, in zweiter Linie
durch Ermöglichung einer ergänzenden, mit der öffentlichen Armen-
pflege eng verbundenen Thätigkeit, überall aber durch Herstellung
geordneter Verbindung zwischen der öffentlichen Armenpflege und
Vertretern weiblicher Hilfsthätigkeit."
«) VgL Schriften des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohlthätigkeit.
1885 und 1896. Ferner: Schriften der Centraisteile für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen,
Bd. X, und Monsterberg: Die Armenpflege, Bericht Ober die Verhandlungen des
3. allgemeinen preussischen Stfdtetages 1901 zu Berlin.
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In ähnlicher Weise hat sich der preussische Städtetag in Berlin
Januar 1901 ausgesprochen. Nachdem von so massgebender Stelle
die Forderungen der Frauen in vollem Umfange gebilligt worden sind,
braucht kaum noch betont zu werden, dass nur die volle Eingliederung
der Frauen in die öffentliche Armenpflege unter ganz gleichen
Bedingungen, wie sie den Männern auferlegt werden, zu erstreben
ist Daneben wird man für ein Übergangsstadium auch die
andern Formen aus Opportunitätsgründen gelten lassen müssen.
Während vor 1896 nur in Cassel, Colmar und Königsberg
Frauen als vollberechtigte Mitglieder der Armenverwaltung
fungierten und nur in einigen badischen Städten, in Leipzig,
Elberfeld und Crefeld eine organische Verbindung zwischen den
Frauenvereinen und der öffentlichen Armenpflege bestand, haben
nun eine grössere Anzahl von Orten die Mitarbeit der Frauen
eingeführt. Für die Zuziehung von Frauen mit den gleichen
Rechten und Pflichten wie die Männer bietet Cassel das Haupt-
beispiel. Dort stellt die 5. Sektion des Vaterländischen Frauen-
vereins für jeden Armenbezirk mindestens eine Pflegerin, die damit
in den Dienst der öffentlichen Armenpflege tritt und als solche
förmlich von der Armendirektion bestellt wird. Die
Vorsitzende der Sektion wohnt allen Sitzungen der Armendirektion
mit beratender Stimme bei. Die Armenpflegerinnen nehmen an
den Sitzungen der Bezirke teil und sind mit den Armen-
pflegern gleichberechtigt. Ihnen sind Schwestern vom
roten Kreuz seitens des Vaterländischen Frauenvereins zur Ver-
fügung gestellt, die sie bei der Arbeit in Bedarfsfällen unterstützen.
Ausserdem sind den Pflegerinnen noch weitere Geschäfte neben
der eigentlichen Armenpflege übertragen, so die Überwachung der
in Familien untergebrachten Pflegekinder u.a.m. In Kol mar i. E.
ist die Gleichstellung beider Geschlechter gleichfalls vollzogen; in
einem der städtischen Verwaltungsberichte heisst es darüber:
„Es sei hier hervorgehoben, dass die Armenpflegerinnen ihr Amt
durchweg gewissenhaft und mit vollem Verständnis für die Bedürfnisse
der Armenpflege durchführen. Der erst durch Erfahrung gewonnene
Grundsatz, Frauen möglichst für Frauen und Witwen mit Kindern,
nicht aber für männliche Arme als Pflegerinnen zu ernennen, wird in
Zukunft festgehalten werden."
Im Jahre 1897 waren dort 48 Frauen als Armenpflegerinnen
thätig.
Ferner sind in dieser Form Frauen in Erfurt, Posen, Stolp
(39 Frauen unter 150 Männern), Danzig (39 Frauen), Bremen
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(43 Frauen, von denen zwei der leitenden Armenbehörde angehören),
Bonn (80 Frauen), Königsberg, Mannheim und einigen andern
Städten in der Armenpflege thätig.
Grösser ist die Zahl der Städte, wo nur eine ergänzende
Thätigkeit der Frauen stattfindet. Dabei sind ihnen entweder
bestimmte Gebiete, die Beaufsichtigung des Ziehkinderwesens oder
der Waisenkinder Obertragen, oder sie sind zur eigentlichen Armen-
pflege mit gleichen Pflichten wie die Männer zugelassen, jedoch
ohne das Recht, an den Sitzungen mit entscheidender Stimme
teil zu nehmen. Als Beispiel hierfür sind Elberfeld und Crefeld
zu nennen, wo die Stadtverwaltung mit den Frauenvereinen ein
eigenartiges Abkommen getroffen hat. Der Elberfelder Frauen-
verein stellt sich statu tengemäss helfend und ergänzend in die
Dienste der öffentlichen Armenpflege, um in den Fällen ausser-
gewöhnlicher und dringender Hilfsbedürftigkeit Unterstützung zu
gewähren, in welchen die städtische Armenverwaltung nach den
Bestimmungen der Armenordnung nicht einschreiten kann. Es sind
für die Frauen so viele Bezirke wie städtische Armenbezirke
gebildet, deren jedem eine Bezirksvorsteherin vorgesetzt ist, der
wiederum eine entsprechende Zahl von Helferinnen zur Seite steht.
Ähnlich ist die Frauenthätigkeit in Crefeld geregelt, wo der
Vaterländische Frauen verein diese Thätigkeit übt; auch in Breslau
hat sich ein Armenpflegerinnen -Verein gebildet, der sich derartige
Aufgaben gestellt hat. Ferner sind in ergänzender Thätigkeit die
Frauen in Hamburg, Magdeburg, Siegen i. Westfalen , Nürnberg,
Frankfurt a. M., Frankfurt a. O., Bremen, Wiesbaden, Dortmund,
Gotha, Kiel, Meiningen, Worms, Mainz zur öffentlichen Armen-
pflege zugezogen, und zwar ist dieses System in den erdenklichsten
Variationen ausgestaltet. In Frankfurt a. M. z. B. ist die Zuziehung
von Frauen dem Ermessen der Distriktsvorsteher überlassen, die
die Pflegerinnen zum Teil in ihre Sitzungen einladen, zum Teil
auch nur mit Aufträgen zur Fürsorge für einzelne Arme versehen.
In Hamburg treten Frauen nur auf Anordnung der Bezirks-
vorsteher in Thätigkeit; auch bleibt es diesen überlassen, sie in
geeigneten Fällen mit beratender Stimme zur Bezirksversammlung
hinzuzuziehen. Die Auszahlung der Unterstützung erfolgt durch
den Armenpfleger. In Magdeburg findet unter anderm die Prüfung
der Pflegestätten der städtischen Waisen unter Zuziehung von
Frauen statt. In Mainz bestimmt § 5 der Armenordnung: „Der
Armendeputation bleibt es überlassen, zu bestimmen, in wie weit
und in welcher Form sie weibliche Hilfskräfte zur Mitwirkung bei
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der öffentlichen Armenpflege heranziehen will." Ein eigenartiger
Versuch ist in Mannheim gemacht worden, wo neben den männ-
lichen Armenpflegern in jedem Bezirk 2 — 3 ehrenamtliche Armen-
pflegerinnen arbeiten, daneben aber noch seit 1895 zwe * besoldete
Armenpflegerinnen von der Stadt zur Ergänzung der ehrenamtlichen
Arbeit angestellt sind. In Meiningen stellt der Frauenverein, der
in jeder Beziehung mit der öffentlichen Armenpflege Hand in
Hand arbeitet, der Stadt auch eine Anzahl seiner Mitglieder als
Pflegerinnen zur Verfügung. In Nürnberg ist einem Frauenkomitee
die Überwachung der städtischen Kostkinder übertragen. Auch
in Worms helfen Frauen in der Bezirkspflege und bei Überwachung
der Pflegekinder. Die Erfahrungen, die bei der Mitarbeit der
Frauen in diesen Städten gemacht worden sind, sind durchweg
gute; so hebt z. B. ein Verwaltungsbericht der Stadt Posen (wo
die Frauen neben den Männern mit gleichen Rechten und Pflichten
arbeiten) hervor, dass es den Frauen an dem notwendigen Ver-
antwortlichkeitsgefühl nicht fehlt, wenn man ihnen verantwortliche,
amtliche Stellungen einräumt.
Neben der organischen Eingliederung der Frauen in die Ver-
waltungsorgane (Cassel) und der immerhin noch mit der öffent-
lichen Armenpflege eng verbundenen, ergänzenden Thätigkeit
(Elberfeld) besteht nun noch in vielen Städten, in denen diese
Systeme noch nicht aufgenommen sind, wenigstens eine geordnete
Verbindung der Frauenvereine mit der öffentlichen Armenpflege.
Für diese Gruppe sind Beispiele der mannigfachsten Art vorhanden.
Oft besteht eine Verbindung zum Zweck wechselseitiger Kenntnis-
nahme der Thätigkeit des Frauenvereins und der öffentlichen
Armenpflege, oft auch nur zur Abgrenzung der Thätigkeitsgcbiete.
An einer Reihe von Orten haben die Frauenvereine die Aufsicht
über die städtischen Pflegekinder übernommen, oder die Fürsorge
für häusliche Krankenpflege, Speisungsanstalten, die von der Armen-
verwaltung unterhalten oder wenigstens unterstützt werden. Vielfach
finden sich städtische Krippen, Bewahranstalten, Heime und dergl., in
denen weibliche Kräfte die Aufsicht führen. Die Angehörigen des
Vaterländischen Frauenvereins sind allgemein angewiesen, mit den
Gemeindebehörden Fühlung zu suchen. Auch das patriotische
Institut der Frauenvereine in Sachsen -Weimar hat schon im
Jahre 181 7 den Vorsteherinnen der einzelnen Vereine die stete
Fühlung mit den Organen der öffentlichen Armenpflege zur Pflicht
gemacht.
* *
*
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— 47 -
Unter die 2. Gruppe (ergänzende Thätigkeit der öffentlichen
Armenpflege durch Übernahme bestimmter Funktionen) fällt auch
die Mitarbeit der Frauen an der Waisen pflege, die in den
meisten Städten nur eine Abteilung der öffentlichen Armenpflege
bildet, oder ganz mit derselben zusammenfallt.
Die Fürsorge für Waisen ist nach dem Bürgerlichen Gesetz-
buch verschiedenen Organen zuerteilt 'j: 1. dem Vormund respektive
der Vormünderin, 2. dem Vormundschaftsgericht, dem die Ober-
aufsicht über die Vormünder zugewiesen ist. Ferner den Gemeinde-
waisen räten, die als Hilfsorgane der Obervormundschaft gedacht
sind und als solche die unmittelbare Aufsicht über Vor-
münder und Mündel, insbesondere soweit es sich um die
persönliche Fürsorge für die Mündel handelt, zu übernehmen haben.
Da durch das Bürgerliche Gesetzbuch den Frauen das Amt
der Vormünderin in grösserem Umfange eröffnet worden ist, wird
schon auf diese Weise den Frauen eine erhöhte Teilnahme an der
Fürsorge für Waisen ermöglicht. Ausserdem hat sich aber schon
seit längerer Zeit eine Mitarbeit der Frauen an den Aufgaben der
Gemeindewaisenpflege eingebürgert, die auch nach den Be-
stimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches weiter geführt werden
kann. Neben der Thätigkeit des Gemeindewaisenrats, bei der es
sich hauptsächlich um Ausübung der Aufsicht über die Ausführung
gesetzlicher Bestimmungen bei allen unter Vormundschaft stehenden
Personen ohne Unterschied der Vermögenslage handelt, liegt den
Gemeinden die Unterstützungspflicht hilfsbedürftigen minderjährigen
Waisen gegenüber ob. Trotz des Unterschieds in der Begrenzung
der Aufgaben sind die Funktionen des Gemeindewaisenrats und
der Gemeindewaisenpflege im engeren Sinne (der sogenannten
Kostkinderpflege) häufig denselben Organen übergeben. Denn die
Organisation des Gemeindewaisenrats ist den Landesgesetzen über-
lassen, die ihrerseits wieder den Gemeinden weitesten Spielraum
für die Schaffung dieser Verwaltungsorgane zuerkannt haben.')
Eine sehr verbreitete Form der Organisation der Waisenpflege
ist die Übertragung der gesamten Funktionen derselben an die
Organe der öffentlichen Armenpflege. In diesen Fällen sind die
Armenbezirksvorsteher gleichzeitig Waisenräte, die Armenpfleger
') Vgl. Bürgerliche« Gesetzbuch §§ 1793, 1837, 1850.
*) VgL Die für das Armenwesen wichtigsten Vorschriften des B. G. B. 45. Heft der
Schriften des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohlthltigkeit. Leipzig 1899. — Ferner:
Die Organisation der Gemeindewaisenpflege. 47. Heft der Schriften desselben Vereins.
Leipzig 1900. Ferner: Bericht über die Verhandlungen des 3. preussischen Stadtetages.
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- 4 8 -
Waisenpfleger, und die Waisenverwaltung wird zumeist aus einer
Subkommission der Armendirektion (respektive Armendeputation)
gebildet In solchen Fällen hängt die Eingliederung der Frauen
davon ab, ob man sie überhaupt zur Armenpflege zulässt, und
zwar entweder mit gleichen Rechten und Pflichten, dann fällt ihnen
ohne weiteres die Waisenpflege mit ob, oder es kann ihnen, falls
sie in ergänzender Weise herangezogen werden, unter Umständen
nur die Waisenpflege in mehr oder weniger umfangreicher oder
verantwortungsvoller Weise Obertragen werden.
In einigen grösseren Städten hat man jedoch einen besonderen
Verwaltungskörper für die Waisenpflege geschaffen, und hier hat
sich die Zuziehung der Frauen am leichtesten ermöglichen lassen.
Doch ist die Zahl dieser Orte naturgemäss nur gering, da ein
doppelter Verwaltungsapparat in der Regel nur in grossen Städten
wünschenswert ist. Übrigens haben die meisten Städte besondere
Anweisungen für die Thätigkeit der Waisenpflege-Organe erlassen,
auch da, wo die Waisenpflege von den Organen der Armenpflege
ausgeübt wird. •) Eine Reihe von Waisenordnungen resp. Geschäfts- "
anweisungen haben bereits seit einigen Jahren die Mitarbeit der
Frauen bei der Pflege und Erziehung im Kindesalter stehender
Minderjähriger, bei der Überwachung weiblicher Mündel und
„allgemein bei solchen Zweigen der Pflege und Erziehung, die
ihrer Natur nach innerhalb des Wirkungskreises weiblicher Thätig-
keit liegen", im Prinzip als richtig und wünschenswert anerkannt,
und in irgend einer Form ist dieses Prinzip dann auch in der
Verwaltungspraxis angewendet worden.
So sind in Berlin (am i. i. 1901 488 Frauen), Charlottenburg.
Cöln, Königsberg, Dortmund, Merseburg, Posen, Frankfurt a. O.
und Potsdam Frauen zu Waisenpflegerinnen oder waisenrätlichen
Helferinnen bestellt worden. In Posen liegt den Frauen ausserdem
die Beaufsichtigung der Ziehkinder ob. Nur zu dieser Thätigkeit
werden die Frauen in Hamburg, Nürnberg, Worms und Leipzig
herangezogen. In Frankfurt a. O. beteiligen sich die Frauen
gleichfalls an der Waisenpflege und werden zu den Sitzungen des
Waisenrats mit beratender Stimme zugelassen. Neuerdings (1899)
sind in Hannover 82 Frauen, in Tilsit (1900) 28 Frauen, in
München (1901) in nahezu allen Stadtbezirken Frauen in die
Waisenverwaltung eingegliedert worden.
') Das auf die Handhabung der Waiscnpflegc bexflgliche Material ist den Geichlfts-
anweisungen und Waisenordnungen der betr. Städte entnommen, die in der Bibliothek für
Armenpflege gesammelt sind.
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Das Thätigkeitsfeld der Waisenpflegerinnen umfasst die Prüfung
der Familien, welche Pflegekinder zu sich nehmen wollen, fort-
laufende Kontrolle der untergebrachten Kinder, Unterstützung der-
selben bei Wahl des Berufs, in manchen Städten Auszahlung der
Pflegegelder und Entscheidung über die Bedürfnisfrage bei An-
tragen auf Einkleidung der Pfleglinge.
Am weitesten sind die Machtbefugnisse der waisenrätlichen
Helferinnen in Posen, wo die Organisation der Waisenverwaltung
überhaupt musterhaft ist. In § 2 der Geschäftsanweisung heisst es
da: „Die Helferinnen sind Organe der Waisendeputation, haben
die Rechte und Pflichten städtischer Ehrenbeamten und
werden von dem Vorsitzenden der Deputation in einer Sitzung
der letzteren verpflichtet. Sie haben die ihnen von der Deputation
oder deren Vorsitzenden erteilten Aufträge zu erledigen und haben
innerhalb dieser dritten Personen gegenüber alle Befugnisse,
welche das Gesetz dem Waisenrat zuweist". Auch in
Charlottcnburg trägt die Stellung der Waisen pflegerin einen
durchaus offiziellen Charakter. Noch günstiger liegen die Ver-
hältnisse für die Frauen in Baden. Dort sind nur solche Personen
von dem Amt des Gemeindewaisenrats durch die Landesgesetz-
gebung ausgeschlossen worden, welche nach §§ 1780 und 1781
des Bürgerlichen Gesetzbuchs nicht zum Vormund bestellt werden
können. Damit ist die Zulassung der Frauen zu dem Amt des
Gemeindewaisenrats — nicht nur als Helferinnen — ausgesprochen.
Übrigens beteiligten sich in Baden seit 1874 bereits 51 Frauen-
vereine mit 7502 Mitgliedern an der Beaufsichtigung der Pflege-
stellen, hauptsächlich in den Kreisen Karlsruhe, Freiburg, Offenburg,
Heidelberg, Lörrach. Dagegen findet sich z. B. in Dortmund nur
die ergänzende Thätigkeit der Frauen, deren Begrenzung den
männlichen Waisenräten und Waisenpflegern überlassen bleibt.
Es heisst in der Dortmunder Geschäftsanweisung § 1 Absatz 4:
„Den Bezirksversammlungen ist gestattet, zur Unterstützung in
ihren Geschäften Frauen, sowie Geistliche und Ärzte hinzuzuziehen.
Diese sind erforderlichenfalls zu den Sitzungen der Bezirks-
versammlungen einzuladen und wohnen denselben mit beratender
Stimme bei."
An einigen Orten, wie in Posen, Leipzig, Dresden sind auch
die Ziehkinder der Obhut der Waisenpflegerinnen unterstellt,
d. h. diejenigen Pfleglinge, die nicht auf Veranlassung und Kosten
der Gemeinde, sondern von der eigenen Mutter in Pflege gegeben
werden. In Leipzig sind auf Anregung von Dr. Taube neben den
Handbuch der Frauenbewegung. IL Teil. 4
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- 5° -
freiwilligen Hilfsdamen des Albertvereins auch einige Frauen als
besoldete Waisenpflegerinnen angestellt. ') Diese Pflegerinnen
haben in bestimmten Zwischenräumen die Familien zu besuchen,
die Pflegekinder halten, und den für die Kontrolle angestellten
Ärzten Ober ihre Beobachtungen zu berichten. In Breslau, wo
seit einigen Jahren auch die Aufsicht über die Pflegekinder von
Frauen geführt wird, hat sich das System so bewahrt, dass man
die ärztlichen Revisionen, die bis dahin alle Vierteljahre statt-
gefunden hatten, vermindern konnte. Auch die Berliner Stadt-
verwaltung ist jetzt im Begriff, neben den ehrenamtlich thätigen
Waisenpflegerinnen noch besoldete Säuglingspflegerinncn an-
zustellen, und so erweitert sich das Feld dieser Thätigkeit von
Jahr zu Jahr für die Frauen, um so mehr als man bei der Fürsorge
für Waisen immer mehr von der Anstaltspflege abkommt und
sich der Unterbringung in Familienpflege zuwendet.
Einige Stadtverwaltungen, wie Berlin, Dortmund und Hamburg,
haben auch bei der Ausübung der Waisenpflege den Frauen nur
beratende Stimmen gegeben, und zwar stützen sie sich dabei auf
§ 2 der Städteordnung, nach welchem nur selbständige „Preussen"
das Recht haben, ein bürgerliches Ehrenamt zu bekleiden. Damit
wird aber die weibliche Wirksamkeit sehr beschränkt; denn wo
der Frau die entscheidende Stimme vorenthalten wird, hat sie
keine Gelegenheit, ihren Wünschen und Anordnungen gesetzlichen
Nachdruck zu verleihen. Wenn ihr das Gesetz keine Autorität
giebt, wird sie ihren Pfleglingen und deren Pflegeeltern gegen-
über wenig durchsetzen können. Wo ihr die Teilnahme an den
Sitzungen des andern Pflegepersonals vorenthalten wird, steht sie
isoliert in ihrer Arbeit und verliert die Möglichkeit, aus den
Berichten und Verhandlungen ihrer Arbeitsgenossen zu lernen.
Wenn ihr in Angelegenheiten ihrer Schutzbefohlenen keine mit-
entscheidende Stimme zusteht (z. B. bei der Bemessung der Pflege-
gelder), so besitzt sie keinen Einfluss, um die von ihr als notwendig
erkannten Reformen herbeiführen zu helfen, und wenn der Frau
keine verantwortliche Stellung eingeräumt wird, kann sich auch
ihr Verantwortlichkeitsgefühl nur schwerer entwickeln. Wollen
und müssen die Frauen aber eine derartige Stellung beanspruchen,
so müssen sie befähigt sein, sie auszufüllen. Deshalb ist es eine
der wichtigsten Arbeiten auf dem Gebiet der Armenpflege, neben
der Agitation für Zulassung der Frauen zu würdigen Stellungen
•) Vgl. Taube, Der Schutz der unehelichen Kinder in Leipzig. Leipzig 1893.
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auch für die Erziehung und Schulung solcher Frauen Sorge zu
tragen, damit sie nicht unvorbereitet in das Amt eintreten. Es
Hesse sich ja wohl einwenden, dass die öffentliche Armenpflege
bisher meist von Männern ausgeübt worden ist, die auch keine
besondere Vorbildung oder Schulung für dies Amt besassen.
Aber abgesehen davon, dass man einer Frau zunächst kaum einen
Platz einräumen wird, den sie nicht besser ausfüllen kann als
der Mann, liegt in der ungenügenden Vorbildung vieler Manner
für die Frauen noch kein Grund, mit unzureichender Vorbereitung
in ein Amt hineinzugehen, das sie mit vollem Recht für sich
beanspruchen zu dürfen glauben.
OL
Die Frau in der Krankenpflege.
L Entwicklung: der Frauenthatigkelt In der Krankenpflege. 2. Geist-
liche Pflegerinnenorganisationen. 3. Halbweltlich-halbgeistliche
Organisationen. 4. Weltliche Organisationen.
Ganz im Gegensatz zur armenpflegerischen Thätigkeit kann
die soziale Hilfsarbeit auf dem Gebiet der Krankenpflege sich
keineswegs ihr Vorbild in alten Zeiten suchen ; denn wenn es auch
von jeher eine krankenpflegerische Fürsorge gegeben hat, so haben
doch erst die Fortschritte der Hygieine und der Medizin im letzten
Jahrhundert eine wirksame Art der Krankenpflege herbeigeführt. ')
Soweit die Arbeit der Frauen in der Krankenpflege den Charakter
der „Sozialen Hilfsthätigkeit" im engeren Sinne trägt, handelt es
sich im allgemeinen um die Krankenpflege von Armen und
Bedürftigen; die Krankenpflege bei Wohlhabenden gegen ein der
Pflegerin zu zahlendes Honorar kann als solche nicht unbedingt
aufgefasst werden. Vielmehr kann sie in diesem Fall so durchaus
den Charakter der Erwerbsthätigkeit tragen, dass die persönliche
Hingabe an Arbeit oder Beruf, die doch Grundlage, Wesen und
Merkmal der sozialen Hilfsthätigkeit ist, ganz dahinter zurücktritt.
Dieser Teil der Krankenpflege wird daher in Band IV dieses Hand-
buchs „Die deutsche Frau im Beruf" eingehendere Erörterung finden.
') Vgl. MQnsterberg, die Armenpflege, S. 146.
4*
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Ein wesentlicher Teil aller Hilfeleistungen, die von Staat,
Gemeinde, Kirche, Vereinen und Privatpersonen Bedürftigen gewährt
werden, hangt aufs innigste mit Krankheitszuständen zusammen,
ist durch dieselben hervorgerufen und gipfelt in ihrer Beseitigung.
Die Krankenpflege ist deshalb ein hervorragender Bestandteil
dieser Hilfsleistungen, ist häufig Ausgangspunkt und Mittelpunkt
aller weiteren sozialen Fürsorgethätigkeit Denn in weiten Kreisen
unseres Volkes bringt Krankheit nicht nur des Familienhauptes
sondern auch von Familienmitgliedern den Zustand der Bedürftigkeit,
Mangel, Not, Elend, Zerrüttung des Hauswesens mit sich, weil die
einzige oder eine bedeutende Erwerbsquelle versiegt oder weil
die gewöhnlichen Einnahmen, die ohnehin nur zur Befriedigung
der notwendigsten Lebensbedürfnisse hinreichen, die Mehrkosten
für die Krankheit und die zur Wiederherstellung erforderliche
bessere Ernährung und Pflege nicht decken. So sind Krankheit,
Siechtum und Gebrechen in noch stärkerem Masse Feinde der
Besitzlosen als der Besitzenden, und an Versuchen, sie zu bekämpfen,
hat es auch in alten Zeiten nicht gefehlt. Nur ist das, was man
nach dem damaligen Stand der Wissenschaft, der Kultur leisten
konnte, keine krankenpflegerische Thätigkeit im modernen
Sinne, sondern mehr eine aus Menschenfreundlichkeit hervor-
gehende, auf Erbauung und Erleichterung des Leidenden ab-
zielende Fürsorge. Mit dem Fortschreiten der ärztlichen Wissen-
schaft und ihrer Hilfsmittel hat sich aber auch auf diesem Gebiet
eine grosse Wandlung vollzogen, da man vor allen Dingen als
Grundlage der Krankenpflege eine Ausbildung und Erziehung der
Pflegenden, nicht nur in bezug auf eine äussere technische,
sondern auch auf eine sorgfältigere allgemeine Bildung und Er-
ziehung, fordert.') Wenn aber auch in der Armen k rankenpflege
heut die Krankenpflege weit mehr als früher in den Vordergrund
tritt, so ist es doch auch Aufgabe der Pflegenden, die aus Armut
hervorgehenden Bedürfnisse, auch die seelischen des Kranken, bei
der Pflege zu berücksichtigen, ihre Aufmerksamkeit der ganzen
Persönlichkeit des Pfleglings zuzuwenden, denn nichts ist
geeigneter, einen Heilungsprozess zu verlangsamen, als ein auf
dem Kranken lastender seelischer Druck, als Kummer, als das
Gefühl der Verlassenheit, der Gedanke an Nahrungssorgen oder
der Eindruck eines zerrütteten Hauswesens. Von den äusseren
Lebensverhältnissen eines Patienten hängt es auch in der Regel
') Vgl. Munsterberg a. a. O. S. 153
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ab, ob sich eine ausreichende Krankenpflege im Rahmen seiner
Häuslichkeit ermöglichen lässt, oder ob ärztliche Behandlung und
krankenpflegerische Thätigkeit vom Haus in das Krankenhaus,
das Hospital, die Heilstätte verlegt werden muss. Bei der Kranken-
pflege wird daher die offene (im Hause des Kranken) und die
geschlossene (in der geschlossenen Krankenanstalt) unterschieden;
die Bethätigungsfelder der Krankenpflegerin sind also einerseits
Privatkrankenpflege bei Erkrankungen in einzelnen Familien und
Gemeindekrankenpflege in kirchlichen oder örtlichen Gemeinden
für alle vorkommenden Pflegedienste als offene Krankenpflege, und
andrerseits Hospitalpflege als geschlossene Krankenpflege. 1 )
Die erste Form, in welcher im Altertum schon eine Pflege
der Kranken stattfand, war die Gemeinde-Krankenpflege, die in
den ersten christlichen Gemeinden eines der Arbeitsgebiete der
im vorigen Abschnitt (kirchliche Armenpflege) erwähnten Diakonie
bildete. Das Wirken dieser ersten kirchlichen Kranken- und
Armenpflegegenossenschaften, die fast ausschliesslich aus allein-
stehenden Frauen, zumeist Witwen, zusammengesetzt waren,
erinnert vielfach an die Thätigkeit der jetzigen Gemeindepflegerinnen.
Ihr Aufgabenkreis war in ähnlicher Weise begrenzt; sie hatten
die Armen und Kranken der Gemeinde zu besuchen, sie mit Lebens-
mitteln zu unterstützen und ihnen den Trost der Religion zu bieten.
Von einer auf wissenschaftlicher Grundlage beruhenden Kranken-
pflege war natürlich nicht die Rede.
Im Mittelalter, das die gesamte Mildthätigkeit in Klöster und
geschlossene Anstalten hineindrängte, bildete sich dann die zweite
Form der Krankenpflege — die Hospitalpflege — heraus. Zahl-
reiche Krankenherbergen, Hospize, Klöster entstanden, die sich
ausschliesslich oder vorwiegend mit der Verpflegung und der
Pflege Kranker beschäftigten, und allmählich mit dem Aufblühen
der ärztlichen Wissenschaft ergab sich die Notwendigkeit, diese
Häuser aus Armenherbergen durch zweckentsprechende Ein-
richtungen zu Krankenbehandlungsanstalten umzuschaffen. Dazu
gehörte vor allem neben baulichen und wirtschaftlichen Einrichtungen
die Beschaffung eines geeigneten Personals zur Pflege und Wartung
der Kranken, das die zahlreichen geistlichen Ordensgenossenschaften
in erster Linie stellten. Die Angehörigen dieser Orden übernahmen
in selbstloser und aufopfernder Weise die Pflege in den von den
■) Vgl. die Litteraturnngnben auf Seile 3 und den Artikel „Krankenpflegerinnen" im
III. Konvers.-Lexikon der Frau.
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— 54 ~
betreffenden Orden errichteten Hospitälern; sie stellten einen
grossen Stab tüchtiger Pfleger und Pflegerinnen; jahrhundertelang
haben die Orden sich auf der Höhe jener Leistungsfähigkeit
erhalten, und viele von ihnen üben heut noch eine bedeutende
krankenpflegerische Thätigkeit aus; z. B. die armen Dienstmägde
Christi, die Borromäerinnen, Clementinerinnen, Elisabethinerinnen,
Vincentinerinnen, Franziskanerinnen u. s. w.
Nach der Reformation gesellten sich zu diesen katholischen
Krankenpflege-Genossenschaften auch weltliche Vereinigungen, die
von Fürsten oder einflussreichen Bürgern begründet wurden und
die hauptsächlich für die von bürgerlichen Gemeinden oder aus
Stiftungen erhaltenen Wohlthätigkeitsanstalten und Krankenhäuser
das Pflegepersonal stellten; doch kamen sie der Bedeutung der
katholischen Pflegeorden in keiner Weise nahe. Der evangelischen
Kirche sind Organisationen zum Zweck der Krankenpflege, die
sich den katholischen gleichwertig anreihen, erst in den ersten
Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entstanden. Abgesehen von
unbedeutenden Versuchen '), die ohne nachhaltige Wirkung blieben,
beginnt die Geschichte der evangelischen Krankenpflegegemein-
schaften mit der Gründung der Kaiserswerther Diakonissenanstalt
1836. •) Seitdem hat sich die von Diakonissen geübte Kranken-
pflege in Deutschland ausserordentlich ausgebreitet. Ein grosser
Prozentsatz der in Hospitälern und in der Gemeindekrankenpflege
arbeitenden Frauen wird von diesen kirchlichen, evangelischen
oder katholischen, Organisationen gestellt. Daneben sind neuerdings
(seit 1894) auch jüdische Krankenpflegerinnengemeinschaften in
Berlin und Frankfurt a. M. gegründet worden.
Ausser diesen auf konfessioneller Grundlage beruhenden
Organisationen wird die Krankenpflege hauptsächlich von Frauen
ausgeübt, die weltlichen oder halbweltlich-halbgeistlichen Gemein-
schaften angehören, bei denen sie auch ihre Ausbildung empfangen
haben. Als solche bildeten sich namentlich seit den Befreiungs-
kriegen zahlreiche Frauenvereinigungen, die das notwendige Pflege-
personal für Kriegszeiten stellen wollten. Grössere Bedeutung
gewinnen diese Bestrebungen erst seit der Begründung der inter-
nationalen Gesellschaft vom roten Kreuz 1864; auf diese wie auf
die andern genossenschaftlichen Bestrebungen der Krankenpflege
wird in nachfolgendem noch ausführlich eingegangen werden. Die
') Vgl. den Abschnitt Armenpflege.
*) Vgl. Schafer a. a. O.
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ausserhalb solcher Organisationen lebenden Krankenpflegerinnen
fallen für diese Betrachtungen aus, da es sich bei ihnen zumeist
nur um eine auf Erwerb gerichtete Berufsarbeit, weniger um
soziale Hilfsthätigkeit handelt. Zum kleineren Teil üben sie die
Krankenpflege in Krankenhäusern, zum grösseren in wohlhabenden
Familien als Privatpflege gegen ein bestimmtes Entgelt aus. Diese
Art der Privat- oder Lohnkrankenpflege hat sich schon seit der
Reformation herausgebildet und kommt für die Entwicklung der
Frauenthätigkeit auf dem Gebiet der Krankenpflege nur in soweit
in betracht, als die Mängel, die dieser Form der Krankenpflege
vielfach anhaften, hauptsächlich den Anstoss zur Gründung der
weltlichen Genossenschaften gegeben haben. Da die gewerbs-
mässige Krankenpflege in früheren Zeiten im Verhältnis zu den
Mühen, Gefahren und Beschwerlichkeiten, die mit der Ausübung
der Krankenpflege verbunden sind, nur einen geringen Verdienst
abwarf, war der Zudrang von tüchtigen und ehrbaren Elementen
nicht gross, und wo die von den kirchlichen Genossenschaften
gestellten Pflegerinnen und Pfleger nicht ausreichten, mussten die
Anstalten oft minderwertige Elemente der Gesellschaft als Pflege-
personal annehmen. Es lässt sich nicht leugnen, dass die traurigen
Bilder, die Schriftsteller früherer Zeiten von dem Pflegepersonal
in Kranken- und Wohlthätigkeitsanstalten entwarfen — es sei hier
nur an die Romane von Charles Dickens erinnert — , wahrheits-
getreue Schilderungen der thatsächlichen Zustände sind. Das Lohn-
personal jener Anstalten bestand grossenteils aus Personen, die
irgendwie im Leben Schiffbruch gelitten hatten, ja aus Land-
streichern und Dirnen, und das Ansehen des Standes hielt sich in-
folgedessen auf recht niederer Stufe. Der Unzulänglichkeit dieser
Verhältnisse wurde dann seit Anfang des 19. Jahrhunderts durch
Gründung zahlreicher weltlicher Krankenpflegeschulen, die zumeist
genossenschaftlichen Charakter tragen, ein Ende gemacht. 1 ) Aus
diesen gehen heut auch die meisten Privatpflegerinnen hervor, und
so ist es gelungen, auch für die Lohnkrankenpflege ein mit Kennt-
nissen ausgestattetes und mit den Aufgaben des Berufes vertrautes
Krankenpflegepersonal heranzubilden.
Die soziale Hilfsarbeit in der Krankenpflege vollzieht sich aber
so vorwiegend im Rahmen der genossenschaftlichen Pflegerinnen-
organisationen, dass ein Überblick über Stand, Art und Um-
fang derselben am besten an der Hand der bestehenden Ver-
') VgL .Krankenpflegerinne a" im Illualr. Konv.-Lexikon der Frau. t. Bd. S. 815.
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einigungen gegeben werden kann. Zur Erleichterung der Über-
sicht sollen die Organisationen in drei Abteilungen geteilt werden :
in geistliche, in halb geistlich- halb weltliche und in weltliche oder
freie Pflegerinnenverbände.
1.
Die geistlichen Pflegerinnenorganisationen.
Über Entstehen und Entwicklung, Aufgaben, Wesen und Ziele
der katholischen Ordensgenossenschaften und der evangelischen
Diakonie ist bereits in dem Abschnitt „Frauenarbeit in der
kirchlichen Armenpflege* berichtet worden; Unterschiede und
Gemeinsames beider Organisationsarten sind betont worden. Dabei
wurde hervorgehoben, dass diese Vereinigungen bei der Ausbildung
ihrer Mitglieder den Ausgangspunkt von der Krankenpflege nehmen
und zu diesem Zweck zahlreiche Krankenanstalten ins Leben
gerufen haben. Diese an Zahl und Umfang bedeutenden Anstalten,
die zwar in erster Linie Ausbildungszwecken dienen, versorgen
aber einen so beträchtlichen Teil aller bedürftigen Kranken und
absorbieren einen so grossen Prozentsatz der überhaupt mit
Krankenpflege beschäftigten Personen, dass sie für die Geschichte der
Frauenarbeit auf dem Gebiet der Krankenpflege einen wesentlichen
Beitrag liefern.
Auf die Geschichte der Kongregationen und Orden der
Barmherzigen Schwestern und auf die der Diakonissen -Mutter-
häuser braucht hier nicht nochmals eingegangen zu werden; auch
das ziffernmässige Material über den Umfang derselben, das
erhältlich ist, ist bereits gegeben (s. S. i6ff.). Nur in einem
allgemeinen Überblick über das Wachstum der Einrichtungen
zum Zweck der Krankenpflege von Seiten der Diakonissen-
anstalten soll das Wirken der kirchlichen Genossenschaften erörtert
werden; die Aufgaben der Krankenpflegerin, wie sie von diesen
Vereinigungen aufgefasst wird und die Organisation der Anstalten,
soweit sie für die Krankenpflege in Betracht kommen, sollen hier
etwas eingehender behandelt werden.') Schon vor der Gründung
der ersten Diakonissenanstalt ist von verschiedenen Seiten der
Gedanke einer Erneuerung der alten christlichen Diakonie aus-
gesprochen worden. Besonders bemerkenswert ist dabei eine im
Jahre 1820 erschienene Broschüre des Pfarrers Friedrich Klönne
i) VgL Schafer a.a.O. Bd. I-HL
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in Bislich bei Wesel mit dem Titel: „Über das Wiederaufleben
der Diakonissinnen der altchristlichen Kirche in unsern Frauen-
Vereinen".') Der Verfasser begnügte sich aber nicht mit dieser
Veröffentlichung, sondern suchte auch die Regierung durch mass-
gebende Persönlichkeiten für seine Pläne zu interessieren. Er
wurde aber vom Minister von Altenstein auf den Weg privaten
Vorgehens verwiesen. Erst wenn praktische Anfänge von
einer gewissen Bedeutung vorlägen, könne die Behörde
dazu Stellung nehmen. Damit scheiterten die Pläne zwar für
den Augenblick, da Klönne seine .Wünsche nicht verwirklichen
konnte; für das Gedeihen der Sache war damit wohl aber der
richtige Weg gewiesen.
Ein Mann aus ganz andern Lebenskreisen, der Minister von
Stein, sprach gleichfalls um dieselbe Zeit den Gedanken an eine
derartige Wiederbelebung der Diakonie aus. Angeregt wurde er
dazu durch Kenntnisnahme der Einrichtungen der katholischen
barmherzigen Schwestern. Er schreibt darüber in einem Brief
an Amalie Sieveking, mit der er zur Verwirklichung seiner
Absichten in Korrespondenz trat, einige Worte, die charakteristisch
für seine Beweggründe sind und die als wertvolles Urteil eines
Mannes über die Berechtigung und Notwendigkeit der geistigen
und wirtschaftlichen Befreiung der Frau hier angeführt werden
mögen :
„Ich habe nur eine sehr oberflächliche Kenntnis von den beiden
Institutionen der barmherzigen Schwestern; sie seien von der Kon-
gregation des heiligen Carol. Borromäus, zu der die französischen und
lothringischen Anstalten gehören, oder von der des heiligen Vincenz
von Paula, dessen Regel die Deutschen befolgen. Bei dem Besuch
beiderlei Anstalten war mir höchst auffallend der Ausdruck von innerem
Frieden, Ruhe, Selbstverleugnung, frommer Heiterkeit der Schwestern,
ihre stille, geräuschlose Wirksamkeit, die liebevolle, segenbringende
Behandlung der ihrer Pflege anbefohlenen Kranken. Mit allen diesen
Erscheinungen machten einen beleidigenden Kontrast der Ausdruck
von Unbehaglichkeit aufgereizter, wegen nicht befriedigter Eitelkeit
über Vernachlässigung gekränkter, unverheirateter, alternder Jungfrauen
aus den oberen und mittleren, zum Broterwerb durch Handarbeit nicht
berufenen Ständen, die wegen ihrer auf tausendfache Art gestörten
Ansprüche, wegen ihres Müssiggangs eine Leerheit, eine Bitterkeit
fühlten, die sie unglücklich und andern lästig machte. — Dieser Zu-
stand der Unbehaglichkeit wirkte wieder nachteilig auf ihre Gesundheit.
') VgL Schtfer a. a. O., I. Bd., S. 83. dessen Ausführungen hierbei gefolgt wird.
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Die Frage war wohl natürlich: Warum finden sich nicht ähnliche
Institute, wie die der barmherzigen Schwestern, bei den protestantischen
Konfessionsverwandten?" —
Aber auch Stein kam nicht zur Verwirklichung seiner Pläne,
und so wurde denn der Pfarrer Fliedner zu Kaiserswerth am Rhein
schliesslich der Gründer des deutschen Diakonissentums. In einem
Gartenhäuschen machte er im Jahre 1833 den Anfang mit der
Aufnahme einer entlassenen Strafgefangenen, zu der sich bald
weitere gesellten, für die er dann eine Pflegerin oder Aufseherin
beschaffen musste. Die rasche Entwicklung dieses Asyls hat ihm
wohl Mut zur Gründung der ersten Diakonissenanstalt, die 1836
erfolgte, gemacht. Er hat von Beginn an die Uberzeugung gehabt,
dass für eine Verpflanzung des apostolischen Diakonissenamts in
die evangelische Kirche, die zugleich für brach liegende weibliche
Kräfte ein Arbeitsfeld schaffen sollte, eine Anstalt notwendig
sei, worin die Frauen, die sich dem Dienst widmen wollten, Unter-
weisung, Halt und Mittelpunkt finden müssen. Zu diesem Zweck
wurde eine Krankenanstalt im bescheidensten Stil hergerichtet, und
Kranke und Diakonissen fanden sich bald. Schon 1838 wurden
die ersten dort ausgebildeten Diakonissen ausserhalb des Mutter-
hauses, im Elberfelder Bürgerhospital, angestellt; unterdessen
erweiterte sich die Mutteranstalt beständig; Neugründungen auf
andern Gebieten sozialer Fürsorge kamen hinzu, und die in Kaisers-
werth ausgebildeten Diakonissen wurden auf die verantwortungs-
vollsten Posten berufen. So kamen Kaiserswerther Schwestern auf
Veranlassung des Königs Friedrich Wilhelm IV. auf die schwerste
Station der Königlichen Charit^ in Berlin. Auch die Mittel, die
zur Erhaltung der stetig wachsen3en Unternehmungen nötig wurden,
flössen Fliedner aus freiwilligen Gaben zu; der König, der sich
für die Diakonissensachc warm interessierte, machte ihm namhafte
Zuwendungen. Wie gross seine Erfolge waren und wie stark sein
Einfluss, das geht daraus hervor, dass sich im Jahre 1852 infolge
eines Aufrufs 200 Probeschwestern meldeten, von denen die
Hälfte aufgenommen werden konnte. Als er 1864 starb, waren
30 Mutterhäuser von Kaiserswerth aus ins Leben gerufen worden;
1600 Diakonissen arbeiteten auf 400 verschiedenen Stationen.
Kaiserswerth allein zählte 425 Schwestern, teils im Mutterhaus und
teils auf mehr als 100 auswärtigen Stationen in vier Weltteilen.
In dem einen Jahre waren 26 000 Kranke, 3000 Kinder, im ganzen
mehr als 30000 Personen ihrer Pflege anvertraut. Der grossen
organisatorischen Begabung Fliedners ist es auch zuzuschreiben,
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dass er wohl verstanden, sich Nachfolger heranzubilden, die sein
Werk fortsetzen. Wie schon seine erste Frau bis zu ihrem früh-
zeitigen Tode seine treueste Gefährtin in der Arbeit und Leiterin
der ersten Diakonissenanstalt war, so erwuchsen ihm auch in seiner
zweiten Frau und in seinen Kindern getreue Mitarbeiter, die zum
Teil nun sein Erbe in der Arbeit angetreten haben. An
der Spitze der Gesamtorganisation steht der Vorstand des
Rheinisch-Westfälischen Vereins für Bildung und Beschäftigung
evangelischer Diakonissen. Die Präsides oder Assessoren
der Rheinischen und der Westfälischen Provinzialsynode sind
ex officio dessen Mitglieder. Die „Grundgesetze" dieses Vereins
sind von der Obrigkeit anerkannt; er besitzt die Rechte einer
juristischen Person. Unter den Schwestern werden eingesegnete
Schwestern, Probeschwestern und Diakonissenschülerinnen unter-
schieden, das heisst junge Mädchen, die noch nicht das not-
wendige Alter zum Eintritt als Probeschwester haben, sich aber
schon auf den Diakonissenberuf vorbereiten wollen. Die Probezeit
dauert gewöhnlich bis zu zwei Jahren. Mit der Einsegnung über-
nimmt die Anstalt für die im Beruf krank oder arbeitsunfähig
gewordene Schwester die Pflicht der Versorgung. Die arbeitenden
Schwestern verpflichten sich zum Dienst von 5 zu 5 Jahren; nur
wirklich dringende Gründe, wenn z. B. die Eltern ihre Tochter
brauchen, können innerhalb dieser Zeit einen ehrenvollen Austritt
begründen. Im übrigen ist Eintritt und Bleiben im Dienst dem
Willen der Betreffenden überlassen. Ein Gelübde oder Zwang
bindet sie nicht. Sie beziehen kein Gehalt, sondern den Lebens-
unterhalt; sie erhalten ihr Arbeitsgebiet und ihren Posten von den
Vorgesetzten zuerteilt; bleiben auch auf auswärtigen Stationen
in demselben Verhältnis zum Mutterhaus. Die eingesegneten
Diakonissen bilden zusammen die Schwesternschaft; ihrer Haupt-
arbeit nach sind zwei Klassen zu unterscheiden: Pflegeschwestern
und Lehrschwestern. Nur die ersteren kommen für die Kranken-
pflege in betracht; ihre Zahl beträgt etwa »/• aller Schwestern;
die Kleidung ist für alle gleich und genau vorgeschrieben. Ausser
in dem Mutterhaus in Kaiserswerth und seinen dortigen und aus-
wärtigen Tochteranstaltcn arbeiten die Schwestern auf sogenannten
Stationen oder Arbeitsfeldern. Diese stehen in einem loseren
Verhältnis zum Mutterhaus, da dieses nur an sie die zur Leitung,
Pflege, Erziehung u. s. w. nötigen Persönlichkeiten abgiebt, aber
keinerlei Eigentumsrecht an das Vermögen, den Grundbesitz der
Stationen hat. Ein von beiden Seiten kündbarer Vertrag regelt
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- 6o -
die Beziehungen der Kaiserswerther Direktion und ihrer Diakonissen
zu dem lokalen Werk und dessen Vorstand. Die Schwestern
können jederzeit ohne weiteres vom Mutterhaus abberufen und
durch andre ersetzt werden. Solcher Stationen, die mit Kaisers-
werther Diakonissen besetzt sind, giebt es 241. Die eigentlichen
Filialen oder Tochtcranstalten, namentlich die in Kaiserswerth
belegenen (1900 waren es 11 mit 107 Schwestern), umfassen alle
Zweige der Diakonie; sie dienen als Übungsfeld und Schule für
die Probeschwestern. ») Dazu kommen noch die auswärtigen
Tochteranstalten; im Jahre 1900 waren es in Deutschland 18 mit
54 Diakonissen und 12 ausserdeutsche mit 77 Diakonissen. Die
Mittel zur Erhaltung all dieser Anstalten und der darin lebenden
Menschen, die von Schafer auf 600000 — 700000 Mark jährlich
angegeben werden, fliessen aus Haus- und Kirchcnkollekten, aus
Sammlungen, als freiwillige Gaben von Personen und Vereinen,
aus den Einnahmen durch den Vertrieb christlicher Schriften u. s. w.
Dem schnellen Aufblühen der Kaiserswerther Gründung sind
die zahlreichen Nachbildungen zuzuschreiben, die dasDiakonisscntum
auf deutschem Boden fand. Die Fülle der vorhandenen Ver-
anstaltungen und Bestrebungen verbietet es, auf alle im einzelnen
einzugehen. Es seien deshalb nur diejenigen Anstalten hervor-
gehoben, die durch bemerkenswerte Verschiedenheiten in Zielen und
Organisation hervortreten. Es sind dies: St Elisabeth in Berlin, die
Diakonissenanstalt in Strassburg, Bethanien in Berlin, die Löhesche
Anstalt in Neuendettelsau und das Diakonissenhaus in Dresden.
Sic gehören alle zu den älteren und auch zu den bedeutendsten
Anstalten. »)
Das Elisabeth-Kranken- und Diakonissenhaus in Berlin, das
seine Entstehung dem Pastor Gossner zu verdanken hat, ist vor
allem deshalb hervorzuheben, weil hier der Versuch gemacht
wurde, die Diakonissensache ohne die übliche strenge Gebundenheit
in der ganzen Lebensrichtung der Schwestern durchzuführen.
Gossner stand darin in einem gewissen Gegensatz zu Fliedner;
er wollte auch den Namen „Diakonissin", der an das Ordenswesen
erinnerte, vermieden wissen und an seine Stelle den Namen
„Pflegerin" setzen. Die ganze Leitung des Hauses war keine so
streng geregelte, die Stellung der Pflegerinnen eine freiere bei
allem Ernst in der Betonung des christlichen Moments. Es war
') Vgl. 63. Jahresbericht OLer die Diakonissenariitalt zu K.iiserawcrth.
5) Vgl. Schafer *. a. O. Bd. I S. uo.
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— 6i —
Gossner von Anfang an nur darum zu thun, christliche Pflegerinnen
für seine Kranken zu haben. Auf das christliche Wesen als Kern
seiner Bestrebungen hatte er sein Augenmerk gerichtet. Für den
Wert der Form, der praktischen Organisation dieses Wesens
hatte er weniger Verständnis. Er übersah es, dass Verfassungen,
Ordnungen, Formen eine pädagogische, erhaltende, fortwirkende
Kraft haben. „Seine Person war der Halt und das Gesetz seiner
Anstalt, und dieser Halt versagte, als seine Kraft zu schwinden
begann", ') und der Mangel fester Organisation hat die Entwicklung
der Anstalt dann gehemmt Welchen Schwankungen der Personal-
bestand z. B. unterlag, geht daraus hervor, dass von den
160 Schwestern, die seit der Gründung im Elisabethkrankenhaus
gearbeitet hatten, sich nach 25 Jahren nur noch 13 dort befanden.
Später wurde dann auch St. Elisabeth in einheitlicher Weise wie
die übrigen Diakonissenhäuser organisiert.
Das Strassburger Diakonissenhaus hat von vornherein
grossen Wert auf die Organisation gelegt, ist aber, wohl durch seine
Lage an der Grenzscheide zweier Nationen "und zweier Kirchen,
mannigfachen Schwankungen unterworfen gewesen, die allerdings
zumeist den Lehrzweig betrafen. Hier ist die Verfassung der
Schwesternschaft, die im Gegensatz zu andern eine Demokratie
genannt werden kann, eigenartig. Die Schwestern gliedern sich
in 3 Gruppen. Die Probeschwestern haben eine Prüfungszeit
von 1 — 5 Jahren durchzumachen; dann werden sie als Beischwestern
aufgenommen, und es beginnt ihre Übungszeit Die Dauer der
Übungszeit hängt von der Bildung der Schwester ab, darf aber
nicht vor dem 24. Lebensjahr der Betreffenden enden. Über die
Einsegnung zum Diakonissenamt stimmt nach vorangegangener
Beratung der Verwaltung der in Strassburg weilende Teil der
Schwesternschaft ab, eventuell mit Hinzuziehung von Diakonissen
der auswärtigen Station, auf welcher die Einzusegnende zuletzt
gearbeitet hat Nur wenn zwei Drittel der abzugebenden Stimmen
für sie abgegeben werden, wird sie als Diakonissin zugelassen.
Nach dem Statut bestehen in bezug auf die leitenden Posten
folgende Bestimmungen: Aus der Zahl der Diakonissen werden
zur Oberleitung einzelner Abteilungen die geeigneten auf Vorschlag
der Oberschwester durch die Verwaltung unter Vorsitz des Seel-
sorgers ausgewählt; sie werden auf drei Jahre für ein solches Amt
ernannt kehren dann zurück oder werden aufs neue für den Posten
•) Vgl. Schäfer a. a. O. S. 117.
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gewählt und wieder in feierlicher Weise im Kreise der Schwestern
für denselben eingesegnet. Auch die Oberschwester, welche der
ganzen Schwesternschaft vorsteht, wird auf 3 Jahre gewählt Es
stimmen dabei alle eingesegneten Diakonissen sowie alle Glieder
der Verwaltung mit. Jede eingesegnete Schwester kann zur Ober-
schwester gewählt werden. In Wirklichkeit wird aber von dieser
formellen Art der Wahl nur selten Gebrauch gemacht Das ganze
Werk wird von einem nur aus Frauen bestehenden Komitee geleitet
dem sich Hilfskomitees von Männern, sowie bei bestimmten Ver-
anlassungen einzelne Männer zugesellen können, dem aber in allen
Fragen die letzte Entscheidung zusteht Der Seelsorger des Hauses
nimmt nur mit beratender Stimme an den Sitzungen teil.
Als einzigartig und mustergiltig muss noch eine auswärtige
Station der Strassburger Anstalt genannt und in kurzen Umrissen
geschildert werden: die Gemeindepflege Mülhausen. In einem
Arbeiterviertel ist daselbst im Jahre 1861 ein Diakonat gegründet
worden, das einem von dem evangelischen Konsistorium gewählten
Komitee untersteht Seine jährliche Einnahme beläuft sich auf
etwa 40000 Mark. Dort sind 14 Schwestern stationiert, von denen
7 die Krankenpflege in der Anstalt selbst besorgen, 7 in den
einzelnen Stadtquartieren. Den Tag über hält sich jede Schwester
in ihrem Quartier auf, deren es 7 giebt In jedem befindet sich
eine kleine Wohnung als Mittelpunkt für die Armenkrankenpflege.
Auch der Quartierarzt hält hier in seinem Konsultationszimmer
mehrmals wöchentlich Sprechstunde ab. Die Schwester ist mit
den nötigen Arzneimitteln und Vorräten aller Art versehen. Den
Schwestern zur Seite stehen 7 Komitees der Patronatsgesellschaft,
deren Mitglieder die Armenpflege ausüben, während der Schwester
die eigentliche Krankenpflege zufällt Diese Organisation ist nicht
nur von grösster Zweckmässigkeit für die Bekämpfung der Not,
sondern bietet auch eine treffliche Schule der Gemeindepflege für
die Schwestern, die sicherlich auch für den Betrieb andrer Ab-
teilungen des Mutterhauses von segensreichem Einfluss ist
Das Central-Diakonissenhaus Bethanien 1 ) in Berlin, das nicht
wie die vorhergenannten, aus der Initiative eines Pfarrers, sondern
aus Wunsch und Willen eines Königs, Friedrich Wilhelms IV.,
hervorgegangen ist, kann in seiner Organisation als weibliche
Monarchie bezeichnet werden. Denn durch die Statuten ist die
') Vgl. Schafer a. a. O. S. iac* und Schulze: Bethanien. Die ersten 50 Jahre des
nissenbauses Bethanien. Berlin »897.
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Oberin zur höchsten Instanz der Organisation bestellt; Pastor und
Oberarzt stehen ihr nur als Beiräte zur Seite. Dadurch erhalt
die Oberin eines solchen Hauses eine ganz eigenartige Bedeutung.
Trotzdem hat der erste Hausgeistliche, Pastor Schultz, viel
dazu beigetragen, den eigentümlichen Charakter Bethaniens heraus-
zubilden; er hatte nicht wie Fliedner und Gossner Sorgen und
Mühen auf die äussere Seite des Werkes, auf Beschaffung der
Mittel, den Bau des Hauses zu verwenden; er betrat das fertige
Haus, das in seinem Bau und seiner Ausgestaltung weitaus alle
andern Anstalten übertraf. So konnte er seine ganze Kraft darauf
verwenden, die Diakonie als kirchliche Institution auszugestalten;
die gottesdienstliche Versorgung der Schwestern, die Seelsorge,
die Pflege des geistigen und geistlichen Elements traten in Bethanien
weit mehr in den Vordergrund als in den andern Anstalten. Im
übrigen trägt Bethanien ausschliesslicher als andre Diakonissen-
anstalten Krankenhauscharakter; auch die Gemeindepflege wurde
von Beginn an sehr gepflegt ; gegen die Ausbildung von Diakonissen
zum Lehrfach hat es sich lange Zeit ablehnend verhalten.
Etwas Ähnliches wie im Elisabethkrankenhaus zu Berlin vollzog
sich mit der Gründung des Pfarrer Löhe in Neuendettelsau,
der auch zuerst eigenartige Wege einschlug, schliesslich aber
doch gezwungen wurde, sich den Organisationen andrer Diakonissen-
anstalten anzupassen. Löhe wollte etwas ganz andres, etwas weit
Umfassenderes schaffen als ein Diakonissenhaus, nämlich einen
Verein für weibliche Diakonie, der sich über ganz Bayern erstrecken
und überall in den mannigfaltigsten Formen Werke der Barm-
herzigkeit hervorrufen sollte. Ein solcher Verein wurde 1853 in
der bayrischen Diözese Windsbach, in der Dettelsau liegt, gegründet,
seine Geschäfte sollten ausschliesslich von Frauen geführt werden,
Männer sollten nur als Helfer und Berater herangezogen werden.
Der Verein wurde als „Muttergesellschaft" angesehen, zu der sich
überall Zweig- und Tochtervereine gesellen sollten. Kranken- und
Diakonissenhäuser und dergleichen waren nur Mittel zum Zweck;
sie sollten keineswegs in den Mittelpunkt des gesamten Vereins-
lebens treten.
Aber auch diese grossen weitumfassenden Pläne liefen in den
Bestand einiger Vereine, hauptsächlich aber in die Gründung und
reiche Ausgestaltung des Diakonissenhauses aus. Durch diese ist dann
Löhe s Werk in andrer Weise, als er es geplant hatte, für Bayern
zu einerQuelle segensreicher und anregender Frauenarbeit geworden.
Dettelsau umfasst jetzt einen ganzen Komplex von Anstalten, in
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denen namentlich in der Ausbildung zur Pflege von Siechen,
Blöden u. s. w. ausgezeichnetes geleistet wird.
Zum Schluss muss als eine eigenartig organisierte noch die
Dresdener Diakonissenanstalt erwähnt werden. Sie ist im
Jahre 1844 in bescheidenen Anfängen gegründet worden, wurde
von einem Frauenkomitee geleitet, mit Kaiserswerther Schwestern
zur Einrichtung besetzt, entbehrte aber in den ersten Jahren die
geistliche Leitung eines Pastors. Die Gründer und Leiter sahen
in ihr eine Bildungsanstalt für christliche Krankenpflegerinnen; die
beiden Diakonissen sollten unter der Leitung eines Arztes diese
Aufgabe erfüllen, und die auf diese Weise geschulten Kranken-
pflegerinnen sollten in Familien und Ortschaften geschickt werden,
um dem Bedürfnis nach geschulten Pflegerinnen zu entsprechen.
Erst seit dem Jahre 1856 hat die Anstalt durch den Eintritt des
P. Fröhlich den Charakter einer eigentlichen Diakonissenanstalt
erhalten ; neben die bis dahin ausschliesslich in Angriff genommene
Krankenpflege wurden die andern Arbeitsfelder der Diakonie ge-
stellt, und die Arbeit der Pflegerinnen wurde zu einer beruflichen
Liebesthätigkeit im engsten Anschluss an die Kirche und ihr
Amt. Fröhlich hat gleich Fliedner das Diakonissenamt in die
genossenschaftliche Form gefügt; diese entsprach seines Erachtens
nicht nur den kirchlichen Verhältnissen der Gegenwart, er hielt
sie auch um mancher andern Gründe willen für notwendig. „Ohne
Anlehnung an ein Heim, ohne den genossenschaftlichen Stützpunkt
würden nur wenige Frauen von bedeutender Begabung im Dienst
der Barmherzigkeit gesegnet arbeiten können, während in einer
Genossenschaft auch mittelmässige und schwache Gaben und Kräfte
verwendet werden können."
Die Dresdener Anstalt hat nicht nur eine grosse Ausdehnung
gewonnen, viele Filialanstalten gegründet und so zahlreiche
Stationen besetzt, dass sie dadurch für das Königreich Sachsen
von grösster Bedeutung geworden ist, sondern sie hat sich auch
so viel Anerkennung und Vertrauen erworben, dass ihr sowohl
von der Dresdener Stadtvertretung wie vom sächsischen Landtag
grossartige Beihilfen zur Errichtung eines Krankenhauses bewilligt
worden sind.
Ein weiteres Eingehen auf die Diakonissenhäuser und ihre
Arbeit würde den Rahmen dieser Arbeit überschreiten; mehr oder
weniger sind die genannten Anstalten vorbildlich oder anregend
für alle andern, zumeist später entstandenen geworden. Die Namen
der übrigen deutschen Diakonissenmutterhäuser sind an andrer
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Stelle (siehe kirchl. Armenpflege S. 8 ff.) genannt; sie alle haben
der sozialen Hilfsarbeit zahlreiche geschulte Kräfte für die Kranken-
pflege im Hospital und in der Gemeinde gestellt Wie gross der
Prozentsatz der etwa 13 000 in Deutschland arbeitenden Diakonissen
ist, der sich ausschliesslich oder vorwiegend der Krankenpflege
widmet, ist leider nicht zu ermitteln. Immerhin dürfte er sehr
bedeutend sein, denn das Krankenhaus ist fast bei allen Diakonissen-
anstalten Ausgangspunkt der Arbeit, Mittelpunkt der Ausbildung.
Nach einer von Schäfer veröffentlichten Statistik kamen im
Jahre 1886 auf 2040 Arbeitsfelder, die von den 57 Mutterhäusern
damals unterhalten und mit Schwestern besetzt wurden, 579 Kranken-
häuser (also etwa 25 B /o). 1 18 Siechen- und Armenhäuser, 673 Stationen
für Gemeindepflege, 16 Anstalten für Blöde und Epileptische, 5 Irren-
anstalten, 2 Blindenanstalten. •) Was die Diakonissenarbeit in der
Krankenpflege immer und grundsätzlich von jeder andern kranken-
pflegerischen Thätigkeit unterscheidet, ist, dass sie ihre Arbeit als
ein von der Kirche verliehenes Amt ausübt, oder als ein vom
Mutterhaus verliehenes Amt, das sie im Geist und Sinn ihrer Kirche
zu führen hat. Die Übernahme des Amtes hat für sie gewichtige
Folgen, namentlich nach Seiten der Verbindlichkeit. Sie kann,
wenn sie auch nicht durch ein Gelübde gebunden ist, das Amt
nicht ohne gewichtige Gründe aufgeben.
Die Zahl der Frauen, die unabhängig genug sind, um ein solches
Amt auf sich nehmen zu können, die keine Verpflichtungen in
pekuniärer oder andrer Beziehung gegen Angehörige haben und
deren Gesinnung und Wesensart sie zur Ausübung eines solchen
kirchlichen Amtes geeignet machen, ist fraglos klein im Vergleich
zu der Zahl von Frauen, die im Dienst der Krankenpflege gebraucht
werden, die heut thatsächlich darin arbeiten (die Berufsstatistik
vom Jahre 1895 zählt 75 327 Frauen in Krankendienst und Gesund-
heitspflege) und die zur Ausübung der Krankenpflege auf andrer
als streng kirchlicher Grundlage geeignet und geneigt sind.
Neben der evangelischen Diakonie und den katholischen Ordens-
genossenschaften,') deren Thätigkeit in Bezug auf die Krankenpflege
sich in ähnlichen Bahnen bewegt, bei denen die geistliche Gebunden-
heit aber eine noch festere ist, sind diesen Bedürfnissen folgend daher
noch eine Reihe andrer Bildungen entstanden, um der Krankenpflege
weibliches geschultes Personal zuzuführen, die halb weltlichen oder
halb geistlichen Vereinsbildungen und die weltlichen.
I) Eine neuere Statistik ist nicht vorhanden.
») Vgl S. 11 ff.
Handbuch der Frauenbewegung. II. Teil. 5
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2.
Die halb weltlichen, halb geistlichen Pflegeorganisationen.
Von England, dem klassischen Land sozialer Reform, gingen
die ersten Bestrebungen zur Schaffung weltlicher und halb welt-
licher Pflegerinnengenossenschaften aus; sie sind eng verknüpft
mit dem Namen der Elisabeth Fry und Florence Nightingale,
dieser bedeutendsten Pioniere sozialer Frauenarbeit. 1 ) Von der
ersteren wurde 1835 ein Pflegerinnenverein für Armenkranken-
pflege gegründet, dem nur unbescholtene, wohlerzogene Frauen
beitreten konnten. ») Sie mussten sich zu dreijähriger Dienstzeit in
den Hospitalern verpflichten; während dieser Zeit hatte die Hospital-
verwaltung und die ärztliche Oberleitung ihre Thätigkeit zu regeln
und zu bestimmen. Ausser Bekleidung und Beköstigung erhielten
sie nur ein geringes Gehalt, das sich bei längerem Bleiben im
Hospitaldienst steigerte und ein Anrecht auf Invaliden- und Alters-
versorgung einschloss. Ausser dem Hospitaldienst übernahm der
Verein auch die Krankenpflege bei armen und bemittelten Kranken
in deren Behausung. Der Ertrag der im Hause bemittelter Kranker
geleisteten Pflege floss in die gemeinschaftliche Kasse. Diese Grund-
züge des ersten Pflegerinnenvereins sind von allen nachfolgenden
Organisationen beibehalten worden; der Unterschied zwischen den
geistlichen und den nicht- oder nur halb geistlichen Organisationen
besteht, abgesehen von den inneren Beweggründen, vor allem in
der Verpflichtung für eine bestimmte Reihe von Jahren bei
den letzteren im Gegensatz zu der gewissermassen dauernden
Verpflichtung bei den ersteren.
Einen besonderen Aufschwung nahm die Entwickelung dieser
Organisationen in England durch das Nightingale-Institut und
durch die 1876 in Liverpool gegründete „School for training
Nurses".*)
Das Nightingale-Institut ist indirekt aus den Erfahrungen des
Krimkrieges erwachsen. Wenige Wochen nach dem Beginn dieses
Krieges (1854) war die entsetzliche und entsetzende Kunde von
der Unordnung und Unzulänglichkeit, dem vollständigen Versagen
der Kriegskrankenpflege in aller Munde. Die Hospitäler befanden
•) Vgl Handbuch der Frauenbewegung Teil I. Geschichte der Frauenbewegung in
England.
*) Vgl. A. Sohr a. a. O. S. 6a.
J ) VgL Mrs. Henry Fawcett, Some eminent Women of our times. London 1889,
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sich in geradezu chaotischer Verfassung, die Sterblichkeit erreichte
erschreckende Prozentsätze. Als diese Thatsachen sich heraus-
stellten, forderte der Kriegsminister Miss Florence Nightingale
auf, mit einer Schar von geschulten Pflegerinnen die Organisation
der Kriegskrankenpflege zu übernehmen. Florence Nightingale,
die den glänzendsten Verhältnissen entstammte, hatte zehn Jahre
darauf verwendet, die Einrichtungen der Krankenpflege und der
Ausbildung von Krankenpflegerinnen in England und dem Ausland
zu studieren, ehe sie die Leitung einer Ausbildungsanstalt für
Krankenpflegerinnen übernahm. Ihr ganzes Leben ist eine grosse
Lehre und Mahnung für ihre Geschlechtsgenossinnen, dass müh-
sames Studium und sorgfältige Ausbildung für Frauenarbeit ebenso
nötig sind wie für Männerarbeit In einem Brief an die weibliche
Jugend sagt sie darüber folgendes:
„i. Ich rate allen Frauen, die sich für eine bestimmte Aufgabe
berufen fühlen: bereitet euch dafür vor, wie die Männer sich für ihre
Berufe vorbereiten. Denkt nicht, ihr kommt ohne das aus. Niemand
sollte versuchen, griechischen Unterricht zu geben, ehe er die Sprache
nicht vollkommen beherrscht; und das kann man nur durch ernstes
Studium erreichen, a. Wenn ihr zu einer von Männern geübten Arbeit
zugelassen werdet, beansprucht keine weiblichen Privilegien — nicht
das Vorrecht der Inkorrektheit, der Schwäche, der Ungenauigkeit.
Unterwerft euch in derselben Weise wie die Männer den Regeln,
Gesetzen und Sitten des Berufs."
Diese Grundsätze hat sie von Anfang an in ihrem Thun befolgt
und andern Frauen einzuprägen versucht; und was sie mit ihren
Pflegerinnen im Krimkrieg geleistet hat, wie sie Ordnung in die
Lazarette brachte, wie sie die Unzulänglichkeit der Kranken-
versorgung beseitigte, das hat die englische Nation ihr bei der
Rückkehr zu danken versucht Man bereitete ihr eine Ehrung, wie
sie wohl keiner andern Frau je zu Teil geworden ist Alle Kreise
und alle Parteien fanden sich in dem Wunsch zusammen, ihr die
Dankbarkeit des Volkes zu beweisen, und eine Million Shilling
wurde ihr unter anderm als Ehrengabe überreicht. Diese Summe
wurde von ihr zur Gründung einer Pflegcrinnenschule grossen
Stils, des Nightingale-Institutes am Thomas-Hospital in London,
verwendet.
Die von Miss Nightingale Jfür diese Pflegerinnenschule ver-
fasste Regulative hat auch bei der Gründung ähnlicher Ein-
richtungen in Deutschland vielfach als Muster gedient •)• Ebenso
i) Florence Nightingale: Notes on Nursing. London 1860.
5*
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wird ihr berühmtes Handbuch über Krankenpflege als Ein-
führung in den Beruf gebraucht Sie legt darin einen besonderen
Wert auf die Beschaffenheit des Hospitals, in dem die Pflegerinnen
den technischen Unterricht erhalten, und auf den darin herrschenden
Ton. In ihrem Institut war die Oberin der Hospitalschwestern
gleichzeitig Leiterin der Schule. Den bis dahin wenig gepflegten
theoretischen Unterricht Hess sie von besonders dazu berufenen
und besoldeten Lehrern erteilen. Sehr grosse Anforderungen in
Bezug auf organisatorische Tüchtigkeit, Geschicklichkeit in Ver-
waltungsdingen, auf die Kunst, die Autorität der Stellung zu be-
haupten, stellte sie an die Personen, die zu Oberschwestern oder
als Oberin der Schule berufen zu werden wünschten. Den ersteren
übertrug sie die Leitung und Überwachung der Probe- und Pflege-
schwestern am Krankenbett. Sie erklärt es daher in ihrem Re-
gulativ als eine aus Erfahrung erkannte Notwendigkeit, „dass die
Verantwortlichkeit für die Pflege der Kranken auch im Hospital
ebenso wie im Privathause, dass die innere Verwaltung und Auf-
rechterhaltung der Disziplin in der Pflegerinnenanstalt wie in dem
Hospital — mit einem Wort, die Erziehung der Pflegerinnen ganz
allein der „Matron" oder Oberin zugewiesen werden müsse und
dieser Autorität die Hauptpflegerin sich unterzuordnen habe, wie
die Ärzte sie respektieren müssen 44 . — Wenngleich der Rahmen
dieser Arbeit es verbietet, auf die grossartige und vielgestaltige
Entwicklung der englischen Krankenpflege weiter einzugehen, so
musste Florence Nightingale doch erwähnt werden, weil wir in ihr
die Mutter aller neueren Bestrebungen auf dem Gebiete der welt-
lichen oder halbweltlichen Pflegeorganisation sehen.
Mit Bewusstsein sind diesen englischen Anstalten deutsche Aus-
bildungseinrichtungen nachgebildet, unter denen als halbweltliche
an erster Stelle die mit den Frauenvereinen vom roten Kreuz ver-
bundenen Krankenanstalten zu nennen sind, die gleichzeitig als
Pflanz- und Bildungsstätten der sogenannten Schwestern vom
roten Kreuz dienen.') Ihre Organisationen gehen vom Vater-
ländischen Frauenverein und dessen Zweig- und Bezirksvereinen
aus. Diese Vereine sind zwar aus dem Bedürfnis einer Fürsorge
für die Kriegskrankenpflege entstanden und gehen von der Vor-
bereitung für diesen Zweck aus, aber die Arbeit der Vereine im
Frieden ist notwendige Ergänzung und Voraussetzung, um die
') Handbuch der deutschen Frauenvereine unter dem roten Kreuz. Berlin 1891. Be-
richte Ober die Jahresversammlungen des Verbandes der Krankenpflegeanstalten vom roten
Kreuz. Cassel 1890.
i
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Kräfte dauernd in Übung zu erhalten. Im Mittelpunkt dieser
Arbeit muss naturgemäss die Ausbildung und Verwendung von
Krankenpflegerinnen stehen, die demgemäss auch von all den
vaterländischen Landesvereinen, die in dem Centraikomitee der
Vereine vom roten Kreuz zusammengefasst sind, gepflegt wird.
Die Ausbildung zur Krankenpflege erfolgt in staatlichen oder
kommunalen Krankenhäusern, zum Teil auch in Diakonissen-
anstalten, zum geringsten Teil in eigenen, von dem Verein unter-
haltenen Hospitälern. Sie besteht zum Teil nur in praktischer
Krankenpflege, zum Teil wird diese auch durch theoretische Kurse
ergänzt. Die Thätigkeit beruht nicht auf konfessioneller Grund-
lage im engeren Sinne, wie bei den Diakonissen und barmherzigen
Schwestern; trotzdem tritt der religiöse Charakter stark hervor,
wie bei den vaterländischen Frauenvereinen selbst. ') Man muss
daher diese Organisationen als halb weltliche, halb geistliche be-
zeichnen. Nach beendigter Ausbildung bleiben die Schwestern
vom roten Kreuz entweder in der Hospitalpflege, oder sie gehen
in den anderweitigen Dienst der vaterländischen Frauenvereine
über, um sich an deren Anstalten oder in der Gemeindepflege zu
bethätigen. Über die Zulassungs- und Ausbildungsbedingungen,
die in den verschiedenen Landesvereinen nicht überall die gleichen
sind, sagt das Handbuch der deutschen Frauenvereine vom roten
Kreuz:*)
„Selbstverständlich bedarf jede Anmeldung einer sorgfaltigen
Prüfung bezüglich der Tauglichkeit und Würdigkeit der Be-
werberinnen. Nachweis einer bestimmten, nicht zu niedrig be-
messenen Altersstufe (etwa 20 oder 21 Jahre), der nötigen Schul-
kenntnisse, einer guten Gesundheit, guter geistiger Befähigung und
eines tadellosen Lebenswandels wird allerwärts gefordert." Die
Bewerberinnen müssen sich für eine bestimmte Reihe von Jahren
verpflichten, ihre Dienste dem Verein zu widmen, andernfalls die
auf ihre Ausbildung verwendeten Kosten zu ersetzen. Sie werden
dann zur Ausbildung einer der Anstalten überwiesen. Die
Schülerinnen erhalten vom Verein Unterkunft und Verpflegung,
meist auch ein Taschengeld von monatlich etwa 10 Mark. Ergiebt
sich während der Lehrzeit die Untauglichkeit einer Schülerin für
den Beruf, so wird sie entlassen. Den Schluss des Kursus bildet
gewöhnlich eine Prüfung. Die Unterrichtszeit währt in der Regel
ein Jahr, dann erst werden die Lehrwärterinnen in die Gemein-
>) VgL Schriften der Centralstelle für Arbeiter-Wohlhhrtseinrichtungen Bd. X S. 70.
') Vgl. a. a. O. S. »5&
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- 70 -
schaft der Vereinsschwestern aufgenommen. Mit der Aufnahme
tritt die Pflegerin in den Bezug eines nach dem vom Verein auf-
gestellten Regulativs allmählich ansteigenden Gehalts; sie erhält die
gemeinsame im Dienst stets zu tragende Kleidung und das gemein-
same Dienstzeichen, eine Brosche mit dem roten Kreuz im weissen
Felde.
Um einen engeren Zusammenhang zwischen den an der Kranken-
pflege beteiligten Kräften der einzelnen Landesvereine herbei-
zuführen, wurde 1894 der Verband Deutscher Krankenpflegeanstalten
vom roten Kreuz gegründet, dem (nach dem Jahresbericht von 1899)
23 Vertretungen mit etwa eben soviel Anstalten angehören. Die
Hauptzwecke des Verbandes sind: Fürsorge für Alter und
Invalidität der Schwestern vom roten Kreuz, benutz ihrer Ab-
zeichen und gegenseitige Verständigung durch Abhaltung von
Verbandssitzungen. Mitglieder sind deutsche Vereine und Anstalten,
die sich der Ausbildung oder Unterstützung von berufsmässigen
Krankenpflegerinnen unter dem roten Kreuz zum Zwecke der
öffentlichen Krankenpflege widmen. Der Verband verfügt zur Zeit
über etwa 1000 Schwestern.
Als Beispiel für die Entwicklung der Organisationen vom roten
Kreuz für die Zwecke der Krankenpflege seien hier die Ein-
richtungen des vaterländischen Frauenvereins in Kassel etwas
ausführlicher behandelt, die in dem Bericht über die 25jährige
Thätigkeit desselben eingehend beschrieben sind. Nachdem man
sich dort anfänglich mit fremden Hilfskräften beholfen hatte, er-
richtete man dann eine eigene Pflegestation, in der zunächst
Schwestern des badischen Frauenvereins thätig waren; zugleich
wurden Vorlesungen über Gesundheitspflege und Krankenpflege
gehalten. Infolge des steigenden Bedürfnisses schritt man dann
zur Begründung einer eigenen Krankenanstalt und eines eigenen
Schwesternhauses, das in den ersten 12 Jahren seines Bestehens
(1882— 1893) im ganzen 5994 Kranke in und 1331 ausser dem Hause
verpflegte. Ein Teil der ausgebildeten Schwestern wird in aus-
wärtigen Stationen untergebracht, wodurch wieder Raum für Aus-
bildung neuer Schwestern gewonnen wird. Als Pflegeschülerinnen
werden nur solche angenommen, die eine gute Bildung besitzen.
Sie lernen mindestens 9 Monate und werden während dieser Zeit
praktisch und theoretisch in allen Zweigen der Krankenpflege aus-
gebildet. An die Kurse und Unterrichtsstunden des Anstaltarztes
schliessen sich die des Seelsorgers des Hauses an, der mit den
Schwestern die religiösen und ethischen Fragen der Krankenpflege
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— 7 i -
bespricht. Nach Beendigung des Ausbildungskursus findet eine
Prüfung vor dem ärztlichen Mitglied des Vorstandes statt, und die
Schülerinnen erhalten, wenn sie dieselbe bestehen, das Zeugnis
ihrer Befähigung zur Krankenpflege. Im ganzen sind bis zur Zeit
des Berichts 80 Pflegerinnen ausgebildet; der Schwesterngenossen-
schaft gehörten 39 ausgebildete und 10 Pflegeschülerinnen an.
Ausserdem nimmt das Haus Pensionärinnen und Helferinnen auf;
die Pensionärinnen sind Frauen, die sich nur zu irgend welchen
privaten Zwecken in der Krankenpflege ausbilden, im übrigen
aber nicht berufsmässig wirken wollen, während die Helferinnen,
die den Kreisen der Vereinsmitglieder entstammen, nur in drei-
monatlichen Kursen soweit ausgebildet werden, um in Kriegs-
zeiten in den Lazareten, in Friedenszeiten in der Armenkranken-
pflege der Vereine Hilfe leisten zu können. In ähnlicher Weise
gestaltet sich die Thätigkeit der Vereine unter dem roten Kreuz
auf dem Gebiet der Krankenpflege in allen Teilen des Deutschen
Reichs.
Als zweite bedeutende Organisation unter den halb weltlichen
ist die Vereinigung der Johanniterinnen zu nennen, die auf
Kosten des Johanniterordens durch Diakonissenhäuser, mit denen
der Orden ein Abkommen hierüber getroffen hat, in der Kranken-
pflege ausgebildet werden. ') Diese Organisation, die auch in erster
Linie auf Vorbereitung geschulter Kräfte für den Kriegsfall hin-
arbeitet, wird auf der einen Seite durch den Mangel eines eigentlich
berufsmässigen Charakters und auf der andern durch die enge
Verbindung mit der Diakonissensache gekennzeichnet. Bei
den Johanniterinnen werden Lehrpflegerinnen und dienende
Schwestern unterschieden. Die Lehrzeit dauert je nach den An-
sichten des Mutterhauses bis zu 6 Monaten; die Ausbildung für
Lehrpflegerinnen und dienende Schwestern ist die gleiche; sie
unterscheiden sich aber dadurch, dass von den letzteren verlangt
wird, nach Beendigung des Lehrkursus in ihrer Heimat, soweit
ihre sonstigen Geschäfte erlauben, das Gelernte praktisch in der
Gemeindepflege anzuwenden und sich dadurch weiter zu bilden.
Thatsächlich wird solche Thätigkeit bis zur Höhe voller Berufs-
arbeit geübt, sei es, dass die Schwestern sich zur dauernden Dienst-
leistung in Krankenhäusern einberufen lassen, sei es, dass sie aus
der Lernzeit den Antrieb erhalten, sich ganz dem Diakonissenberuf
zu widmen. Nach beendetem Lehrkursus stellt die Lehranstalt
«) Vgl Schriften der Ccntralstclle etc. Bd. X S. 7a.
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— 72 —
ein Zeugnis aus; es bleibt dann dem Herrenmeister überlassen,
die Lehrpflegerinnen zu dienenden Schwestern zu ernennen. Diese
erhalten ein vom Orden gewährtes Abzeichen, während die Lehr-
schwestern ihre gewöhnliche Kleidung tragen. Im ganzen sind
von 1887 — 1894 an 585 Johanniterinnen solche Patente als dienende
Schwestern erteilt worden. Die Johanniterinnen gehen fast durch-
weg aus den höheren Ständen hervor, zugelassen werden nur
evangelische Frauen und Jungfrauen; die Kosten der Ausbildung
trägt der Orden.
Als letzte unter den halb geistlichen, halb weltlichen Vereins-
bildungen zum Zwecke der Krankenpflege ist der evangelische
Diakonieverein des Professor Zimmer zu nennen, der 1894 m
Herborn ins Leben getreten ist. Der Sitz des Vereins ist
jetzt Berlin-Zehlendorf. Der Begründer äussert sich in seiner
1897 in fünfter Auflage erschienenen Schrift: „Der Evangelische
Diakonieverein" ausführlich über die Gründe der Entstehung, die
Ziele und die bisherige Entwicklung des Vereins.
Zimmer geht von dem Gedanken aus, dass ein grosser Mangel
an Diakonissen oder ihnen gleichwertigen Krankenpflegerinnen
herrsche, der zum Teil darauf zurückzuführen sei, dass die dauernde
Unterwerfung unter das Mutterhaus nichtSache jeder zum Pflegerinnen-
amte geneigten und geeigneten Persönlichkeit sei. Es ist dem-
nach unbestreitbar unter den Frauen ein Bedürfnis vorhanden,
sich diesen Berufszweig in andrer Form zugänglich zu machen,
sich eine eigene Erwerbsthätigkeit dadurch zu schaffen, wie sie
im Anschluss an Mutterhäuser nicht geübt werden kann. Zimmer
hebt ausdrücklich hervor, dass solche Thätigkeit den Charakter
eines diakonischen Amtes nicht verliere, wenn sie dem Träger den
nötigen Lebensunterhalt sichere. „Darum nicht dienen, um zu
verdienen, aber verdienen, um dienen zu können." Er will nicht
nur den Armen Pflegerinnen schaffen, sondern auch den Frauen
durch die Pflegethätigkeit Lebensinhalt und Unterhalt. „Unsere
Töchter müssen mit klarem Bewusstsein zu sittlicher und wirt-
schaftlicher Selbständigkeit und zugleich zum Gemeinsinn erzogen
werden." Dabei verkennt Zimmer die Bedeutung des Anhalts, den
das Mutterhaus den Diakonissen und barmherzigen Schwestern
giebt, keineswegs, und versucht, diesen durch eine Schwester-
genossenschaft zu ersetzen, d. h. durch eine Art Berufsgenossen-
schaft mit Wahrung der vollen persönlichen Freiheit in der Selbst-
entscheidung und der Selbstverantwortlichkeit. Die Angehörigen
des Diakonievereins sollen berufsmässig ausgebildet werden, sollen
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- 73 —
aber wie Angehörige andrer Berufe frei über ihre Kenntnisse und
Fähigkeiten verfügen können und in der Schwesterngenossenschaft
den Anhalt haben, dessen sie, abgesehen von dem sittlichen und
seelischen Rückhalt, in Bezug auf Kranken fürsorge, Alters-
versorgung u. s. w. bedürfen.
Die Ausbildung der Schwestern erfolgt nicht wie in den
Diakonissenhäusern in eigenen Anstalten, sondern der Verein tritt
zum Zweck der Ausbildung mit andern bestehenden Anstalten in
Verbindung. Die erste Vereinbarung wurde mit dem Elberfelder
Krankenhaus getroffen, das wegen der mangelhaften Qualität der
Wärter und Wärterinnen gern eigene Ausbildungsmöglichkeiten
schaffen wollte, um tüchtige Pflegerinnen zu gewinnen. So wurde
am i. Juli 1894 das Elberfelder Diakonieseminar eröffnet. Die
guten Erfahrungen, die man dort machte und die zahlreichen An-
meldungen führten bald zu weiteren Vereinbarungen, aus denen
die Einrichtung von Diakonieseminaren an den Krankenhäusern
zu Erfurt, Magdeburg-Sudenburg, Zeitz hervorging. Für besondere
Zweige der Pflegediakonie, für Irrenpflege, Heilerziehung, Wochen-
pflege u. s. w. sind Vereinbarungen mit andern Anstalten getroffen.
Die ausgebildeten Schwestern können sich entweder selbständig
Beschäftigung suchen, oder sie können in die Dienste des Vereins
treten und von diesem Pflegestellen in Anstalten oder sonstwie zu-
gewiesen erhalten, wobei aber das Verhältnis eines freien Arbeits-
vertrages mit Kündigungsrecht vollständig gewahrt bleibt. Ausser-
dem hat der Diakonieverein noch Töchterheime und Arbeiterinnen-
heime errichtet, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.
Die Organisation des Diakonievereins will verschiedene
Interessengruppen zusammenfassen; die Interessen der Pflegenden
und derer, die auf berufsmässige Pflege angewiesen sind, wie
Vereine, Anstalten, Krankenhäuser, Gemeinden und auch Privat-
personen. Den einen sollen sachgemässe Ausbildung, gesicherter
Lebensunterhalt und Fürsorge für Alter und Krankheit geboten
werden; den andern die Dienste zuverlässiger und geschulter
Pflegerinnen. Die Mitglieder rekrutieren sich deshalb aus denen,
die nur einen regelmässigen Jahresbeitrag leisten, aus solchen, die
eine Fachausbildung in der Diakonie begehren, ohne dabei den
Zweck einer berufsmässigen Ausübung derselben im Auge zu
haben, und aus denen,* die aus der Diakonie einen Lebensberuf
machen wollen. Die letzteren bilden den Schwesternverband, der
in materieller Beziehung eine Art Versicherungsgesellschaft ist und
im übrigen eine Berufs- und Arbeitsgemeinschaft darstellt.
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— 74 —
Der evangelische Diakonieverein macht die Zugehörigkeit zu
einer evangelischen Landeskirche zwar nicht zur Aufnahme-
bedingung für den jSchwesternverband , aber verlangt, dass die
Schwestern ihren Beruf in evangelischem Sinne ausüben. Man
wird ihn [daher ;um dieser religiösen Grundlage willen am besten
als eine halb geistliche, halb' weltliche Organisation bezeichnen.
Besonders erwähnenswert ist noch die Einrichtung der königlich
sächsischen Pflegeanstalt Hubertusburg. ') in der das Pflegerinnen-
wesen gleichfalls einen halb geistlichen, halb weltlichen Charakter
trägt, aber wohl mit einem Überwiegen des letzteren. Hier ist
zum ersten Mal von seiten des Staates der Versuch gemacht
worden, Ausbildungsmöglichkeiten für Krankenpflegerinnen zu
schaffen und den ausgebildeten Pflegerinnen eine staatliche An-
stellung zu gewähren. Die Pflegerinnenschule in Hubertusburg
vereinigt die Vorzüge des Diakonissen -Mutterhauses mit denen
staatlicher Organisationen.
Die Anstalt ist aus dem Bedürfnis einer Verbesserung des
Pflegerpersonals in den sächsischen Landesanstaltcn hervor-
gegangen. Die Wärter und Wärterinnen, welche früher den
Pflegedienst, ohne eine Ausbildung dafür genossen zu haben,
übernahmen, hatten die Stellung von Dienstboten, und waren meist
nur durch den höheren Lohn veranlasst, derartige Stellungen zu
übernehmen. Die Wärterinnen gingen zumeist aus den Kreisen
der Landarbeitcrinnen hervor, und bei der überwiegenden Mehr-
zahl fehlte jede höhere Auffassung des Berufs, sowie das rechte Ver-
ständnis für ihre Aufgaben. Die Klagen über ungeeignete Be-
handlung der Kranken, die nie verstummen wollten, veranlassten
das königliche Ministerium des Innern, seinerseits Schritte zur
Gewinnung geeigneten Pflegepersonals zu thun. Da die notwendige
Zahl von Pflegerinnen, die in den Anstalten gebraucht wurden
(im Jahre 1888 etwa 660), auch nicht annähernd aus den Diakonissen-
anstalten zu erlangen war, errichtete die Staatsregierung eigene
Bildungsanstalten nach Art der Anstalten der inneren Mission,
und zwar wurde neben dem Pflegerhaus für männliche Pfleger
auch ein solches für Pflegerinnen in Hubertusburg im Jahre 1888
errichtet Der erste Jahresbericht sagt darüber»):
„Der Staat, welcher so viele Unterrichtsanstalten unterhält, um seine
Bürger für die verschiedensten Zweige wissenschaftlicher und gewerb-
i) Vgl. Schriften der Centralstelle Bd. X S. 66.
*) Vgl. Jahresbericht über das erste Jahr des königlich sächsischen Pnegerhauses zu
Mubertusburg. Leipzig 1890. S. 4.
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licher Thätigkeit neranzubilden, hat zum ersten Mal staatliche Anstalten
eröffnet in welchen auch die Pflege Kranker und die persönliche Für-
sorge für andre Hilfsbedürftige als wirklicher Beruf erlernt wird.
Er hat aber durch die ganze Einrichtung zugleich bekundet, dass die
Eigenschaften, welche zur rechten Erfüllung dieses Berufes nötig sind,
der Hauptsache nach sittlicher Natur sind, und hat um deswillen dem
Pflegerhause eine ausgesprochen christliche Grundlage gegeben, in der
Überzeugung, dass ein lebendiger christlicher Glaube allein im stände
ist, den Sinn opferfreudiger Nächstenliebe zu wecken und zu stärken."
Die Ausbildung in Hubertusburg gleicht der in den bereits
geschilderten Pflegerinncnschulen ; nach Abschluss derselben er-
halten die Pflegerinnen Anwartschaft auf Anstellung im Staats-
dienst; ein grosser Teil derselben ist in den Pflegeanstalten für
Epileptiker, Geisteskranke, für schwachsinnige Kinder, in Blinden-
anstalten und Erziehungsanstalten für sittlich gefährdete Kinder
untergebracht.») Die Besoldung der Schwestern ist eine sehr
günstige. Während der Lehrzeit erhalten sie unentgeltlich Wohnung,
Kost, Dienstkleidung und ein monatliches Taschengeld von 4,50 Mark.
Nach ihrer Versetzung aus dem Pflegerhause, die etwa 6 Monate
nach dem Eintritt in dasselbe erfolgt, erhalten sie als Hilfs-
pflegerinnen ausser Kost und Wohnung ein Jahresgehalt von
360 Mark. Die Aufnahme der Hilfsschwestern in die Pflegerschaft
erfolgt bei guter Bewährung nach etwa 2j'ährigem Hilfsdienst
durch eine kirchliche Feier; mit dieser Aufnahme wird auch die
feste staatliche Anstellung verbunden, durch die den Pflegerinnen
Staatsdienereigenschaft und damit Pensionsberechtigung zuerkannt
wird. Das Jahresgehalt für Pflegerinnen steigt allmählich von
450 — 730 Mark; tüchtige Pflegerinnen, die an Oberpflegerinnen-
stellen berufen werden, beziehen ein Jahresgehalt von 1050 bis
1650 Mark. Im Jahre 1900 waren 43 Oberpflegerinnen und
201 Pflegerinnen des Hubertusburger Pflegerinnenhauses in staat-
lichen Anstalten angestellt, 101 Hilfs- und Lehrpflegerinnen waren
in dem Jahr dort thätig. Abgesehen von der geistlichen Leistung
der Pflegerinnenschule trägt die Organisation also hier rein staat-
lichen, weltlichen Charakter.
•) Nach Mitteilungen ober Zahl und Verwendung der Schwestern des königlichen
Pflegerinnenhauses zu H., die ich der Güte des Anstaltsvorstandes verdanke, waren am
L I. 1901 in der Anstalt für Epileptiker bei Klosterbuchs 65 Pflegerinnen beschäftigt, in den
Anstalten für Geisteskranke in Untergöllzsch bei Auerbach 6a, in Zschadrass bei Bolditz 51,
in Sonnenstein bei Pirna 49. in Hubertusburg 35. in Colditz 5; in den Erziehungsanstalten
für schwachsinnige Kinder in Nossen und Grosshennersdorf 3a, in den Anstalten für sittlich
gefährdete Kinder in Braunsdorf 5. in den Blindenanstalten in Dresden. Moritzburg und
Königswartha 14.
»
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- 76 -
3.
Die weltlichen Pflegerinnenorganisationen.
Eine ähnliche Einrichtung wie in Hubertusburg ist im
Hamburger Krankenhaus getroffen; nur fällt hier die geistliche
Leitung fort, so dass ein Beispiel für die rein weltliche Kranken-
pflege in dieser Organisation geboten ist.') Auch im Neuen
Allgemeinen Krankenhause zu Hamburg ist mit Hilfe einer
bedeutenden Stiftung durch die namhafte Mitwirkung des Staates
ein eigner Schwesternverband begründet worden, für den ein
besonderes .Verbandshaus errichtet ist. Die Ausbildung in der
Krankenpflege erfolgt junter Leitung einer Oberin; für jede der
aufgenommenen Schwestern zahlt die erwähnte Stiftung 1250 Mark
jährlich zur Deckung der {Kosten für Unterricht und Unterhalt
während der Ausbildungszeit. Die Schülerinnen werden zumeist
nach einem Jahr zu Lehrschwestern ernannt und treten nach
einem weiteren halben Jahr als Schwestern in den Schwestern-
verband ein und damit in den Dienst der staatlichen Kranken-
häuser. Als solche erhalten sie von der Krankenhausverwaltung
Wohnung und Verpflegung; daneben zahlt dieselbe als Vergütung
für die von den Schwestern geleisteten Dienste an den Schwestern-
verband eine bestimmte Summe; ausserdem leistet der Staat für
jede in seinen Diensten stehende Schwester dem Verbände einen
jährlichen Zuschuss zur jPensionskasse. Der Verband zahlt als-
dann den Schwestern ein steigendes Honorar, das im Durchschnitt
275 Mark beträgt, übernimmt die Lieferung der Verbandskleidung
und die Verpflichtung zur Zahlung einer Pension an arbeitsunfähige
Schwestern.
Unter den zahlreichen, von Vereinen ins Leben gerufenen
und unterhaltenen Pflegerinnenschulen und Schwesternverbänden
muss nicht nur wegen seines bedeutenden Umfanges, sondern auch
wegen seiner hervorragenden und mustergiltigen Leistungen der
Schwesternverband des Viktoriahauses für Krankenpflege in Berlin
noch hervorgehoben werden. Das grosse Beispiel Florence
Nightingale's war von der preussischen Kronprinzessin aufgegriffen
worden, und sie bemühte sich, eine Stätte für freie Krankenpflege
in Berlin zu gründen, d. h. einen Verein gebildeter Frauen zu
organisieren, die, ohne einer religiösen Gemeinschaft anzugehören,
') Vgl. Schriften der CentraJsteläc Bd. X S. 6a
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— 77 —
sich aus Neigung und Interesse dem Krankenpflegeberuf widmen
wollten. Sie ging dabei von dem Gedanken aus, dass Frauen
nicht notwendig aus der Welt flüchten und den Ihrigen ihre
Unterstützung entziehen müssten, weil sie einen auf Nächstenliebe
gegründeten Beruf erwählen, sondern dass sie sehr wohl den
Erlös ihrer Arbeit nach Gutdünken verwenden könnten, gegebenen
Falles zum Wohle ihrer Angehörigen. Deshalb müsse auch der
Beruf der Krankenpflege als freier Beruf, ohne bindende Gelübde
geübt werden können. „Trotzdem wird jede Frau, die sich dem
Dienst der Kranken widmet, zu diesem Werke hohe religiöse und
sittliche Anschauungen in sich tragen, wenn sie auch nicht
gezwungen wird, in ihren freien Stunden auf alles Schöne und
Frohe im Leben, auf den Verkehr mit ihren Angehörigen und
Freunden zu verzichten, jedem Genuss von Kunst und Natur zu
entsagen." Diesen Ideen verdankt das „Viktoriahaus für Kranken-
pflege" sein Entstehen.
Der Anfang des Unternehmens war klein und bescheiden; als
Zweig des Berliner Vereins für häusliche Gesundheitspflege, der
unter anderem die Ausbildung von Pflegerinnen und deren Be-
schäftigung in der Armenkrankenpflege in seinen Statuten vor-
gesehen hatte, wurde die Anstalt mit einer von der Kronprinzessin
gewählten Oberin und 6 Pflegerinnen in einer Mietswohnung 1882
eröffnet. Unter dem Namen „Viktoriaschwestern" begannen sie
ihre Arbeit zunächst in der Armenkrankenpflege; die Geschäfts-
leitung der kleinen Organisation wurde einem besonderen Komitee
übergeben; der Kronprinz und die Kronprinzessin gaben eine ihnen
bei Gelegenheit ihrer silbernen Hochzeit zur Verfügung gestellte
Summe von 120000 Mark als Stiftungskapital. Im Jahre 1884
wurde eine Vereinbarung mit dem städtischen Krankenhause am
Friedrichshain getroffen, wonach dieses die unentgeltliche Aus-
bildung der Pflegerinnen übernahm. Das Viktoriahaus verpflichtete
sich dagegen, die Hälfte der ausgebildeten Schwestern im Kranken-
hause zu belassen, um allmählich die gesamte Pflege dort zu über-
nehmen. Eine ähnliche Verbindung ging man mit der Universitäts-
klinik ein, später mit zahlreichen andern Krankenanstalten, so dass
die Hospitalpflege bald zur Hauptthätigkeit des Viktoriahauses
wurde. Im Jahre 1885 wurde der Beschluss gefasst, das Viktoria-
haus vom Verein für häusliche Gesundheitspflege zu lösen und
zu einer selbständigen Organisation umzugestalten. Die Direktoren
des Krankenhauses am Friedrichshain erteilen den theoretischen
Unterricht an die Schülerinnen, die praktische Anleitung liegt in
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- 78 -
den Händen der Oberin. Die Ausbildungsmethode des Viktoria-
hauses erfreut sich der Anerkennung in weitesten Kreisen, und
mancher auswärtige Verein wählt sich seine Oberin aus den
Reihen der Viktoriaschwestern. Der Verband, der etwa
250 Schwestern umfasst, beschäftigt dieselben ausser in zahl-
reichen Kliniken und Hospitälern auch in der Privat- und in der
Armenkrankenpflege. Seit dem Jahre 1892 besitzt er ein eigenes
Haus zum Aufenthalt für die Schülerinnen, für erholungsbedürftige
und für mit Privatpflege beschäftigte Schwestern. Neben freier
Station, Dienstkleidung und allmählich steigendem Gehalt haben
die Schwestern auch Anspruch auf Fürsorge bei Arbeitsunfähigkeit.
Die Vielseitigkeit der Bestrebungen auf dem Gebiet der
Krankenpflege, der Erfolg und das rasche Aufblühen aller mit
klarer Erkenntnis der notwendigen Ausbildung begonnenen
Organisationen sind der beste Beweis für das ungeheure Bedürfnis
nach vermehrter Frauenarbeit auf diesem Gebiet; sie sind eine
Gewähr für die weitere Entwicklung der sozialen Frauenarbeit in
der Krankenpflege; sie weisen zahlreichen Frauen den Weg zu
einer gemeinnützigen Thätigkeit, die ihnen nicht nur Inhalt, sondern
auch Unterhalt fürs Leben verheisst. In der rechten Weise aus-
geübt, wird die krankenpflegerische Thätigkeit der Frauen durch
Wahrung und Erhaltung von Leben und Gesundheit in wirksamster
Weise an der Hebung des Volkswohls, an der Linderung sozialer
Nöte mitarbeiten.
IV.
Die Frauenthätigkeit in der
Gefangenenpflege.
Reform des Gefängniswesens. 1. Frauen als Gefängnisbeamtinnen.
2. Frauen in der Gefftngnismlssion (Besuch in Gefangnissen, Für-
sorge für Entlassene).
Die Gefangenenfürsorge im allgemeinen und daher auch die
Frauenthätigkeit in der Gefangenenpflege umfasst zwei Thätigkeits-
gruppen: den Dienst in den Gefängnissen und die sogenannte
Gefängnismission, das heisst Besuche bei den Gefangenen und
Fürsorge für entlassene Gefangene.
Die Frauenthätigkeit in der Gefangenenpflege ist noch sehr
jungen Datums; nur von ganz vereinzelten Versuchen wird aus
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- 79 -
älterer Zeit berichtet. Während schon die alte Kirche durch
besondere Bruderschaften den Gefangenen geistlichen Zuspruch
gewährte, scheint erst der etwa um 1200 in Deutschland gestiftete
Orden der Schwestern von der Busse der St. Magdalena, der
zunächst zur Rettung gefallener Mädchen bestimmt war, sich auch
hin und wieder der Gefangenen angenommen zu haben. 1 ) Ferner
sind Nachrichten über einen Verein zur Unterstützung von
Gefangenen in Nürnberg, an dem Jungfrauen und Seelnonnen
teilnahmen, aus dem Jahr 1461 überliefert. Erst mit der Reform
der Gefängnisse im 19. Jahrhundert wurde der GefangenenfQrsorge
und auch der Frauenthätigkeit auf diesem Gebiet grössere Auf-
merksamkeit zugewendet. Neben John Howard tritt Elisabeth
Fry als Reformatorin des Gefängniswesens hervor; ihre Arbeit
ist nicht nur für England, sondern auch für zahlreiche andre
Länder, insbesondere für Deutschland, von weittragender Bedeutung
geworden. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts bestanden noch fast
nirgends besondere Strafanstalten für weibliche Verbrecher. Als
Elisabeth Fry im Jahre 1813 zum erstenmal das Gefängnis in
Newgate besuchte, fand sie dort 300 Unglückliche in zwei Sälen
zusammengepfercht, ohne Möbel, Betten oder irgendwelche Vor-
richtungen zur Wahrung von Anstand und Sitte. Fluchen und
Schwören, gemeines Betragen machte die Räume, in denen die
Frauen sich aufhielten, für Ohr und Auge der Besucherin gleich
unerträglich und abstossend.») Alle Verbrecher, gleichviel welchen
Unrechts sie sich schuldig gemacht hatten, wurden in dem-
selben Raum untergebracht, und die besseren Elemente wurden
durch den Verkehr mit den verkommensten und gemeinsten
körperlich und geistig ruiniert. Die männlichen Aufsichtsbeamten
waren häufig Männer von niedrigster Bildungsstufe; Versuche, die
Gefangenen ein Handwerk zu lehren, wurden nicht gemacht, und
man kann wohl sagen, dass das Gefängnis in Newgate mit Recht
den Namen trug, den ihm der Volksmund gegeben hatte: „Die
Hölle auf Erden". Schlimmer noch als in England, wo Frauen
mit Kindern und Jugendlichen in den Gefängnissen denselben
Raum teilten, sah es in Deutschland aus, wo schwere Verbrecher,
Civilschuldner, Geisteskranke, Diebe und Prostituierte in denselben
Anstalten und Räumen untergebracht waren, ja selbst ohne für
die Nacht getrennt zu werden. Der körperlichen Züchtigung von
•) Vgl. Prof. v. Kirchenheim im Artikel . Gefängnis weaen" im DL Konv.-Lexikon
der Frau S. 459.
*) Vgl. Mr«. Henry Fawcett: »Sonic eminent women of our time. London 1889."
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— 8o -
männlichen Beamten waren auch die weiblichen Gefangenen unter-
worfen, und erst im 19. Jahrhundert traten an Stelle der männ-
lichen Zuchtmeister weibliche, die übrigens nach zeitgenössischen
Berichten nicht viel weniger grausam waren.
Als Elisabeth Fry zuerst die grauenvollen Zustände kennen
gelernt hatte, versuchte sie einen Einfluss auf die Gefangenen zu
gewinnen und errichtete zu dem Zweck eine Schule für die Kinder,
welche die Gefangenen in grosser Zahl bei sich hatten. Der Erfolg
war ein überraschender; durch die Herzen der Kinder erwarb sie das
Vertrauen der Mütter, und das veranlasste sie, 181 7 eine Gesellschaft
zur Besserung weiblicher Strafgefangenen in Newgate zu gründen,
um das von ihr begonnene Werk auszubauen und weiter fortzuführen.
Durch ihr thatkräftiges Eintreten wurde endlich die öffentliche
Meinung für die Zustände in den Gefängnissen interessiert und
eine Untersuchung derselben durch die Regierung eingeleitet.
Elisabeth Fry wurde von der Untersuchungskommission ver-
nommen und legte Reformvorschläge vor: gewerbliche Be-
schäftigung der Gefangenen, Bezahlung dieser Arbeit, Belohnung
guter Führung der Gefangenen und Unterstellung weiblicher
Gefangener unter weibliche Beamte. Ihre Bemühungen
wurden durch eine weitgehende Reform des Gefängniswesens
belohnt, die sich nicht nur auf England erstreckte. Sie bereiste
andre Länder, um dort Studien auf dem Gebiet der Gefangenen-
pflege zu machen, und hat dadurch verschiedentlichen Anstoss
zu Reformen und Besserungen in der Fürsorge für Gefangene
gegeben. So hat auch die deutsche Gefangenenpflege ihrer An-
regung viel zu danken; sie wusste Pastor Fliedner, den Gründer des
Kaiserswerther Diakonissenhauses, und König Friedrich Wilhelm IV.
dafür zu interessieren und förderte auch die Bestrebungen der
rheinisch -westfälischen Gefängnisgesellschaft in Düsseldorf (1840),
die schon 1826 durch Fliedner gegründet worden war') und durch
deren Bemühungen direkt und indirekt eine Neugestaltung des
deutschen Gefängniswesens herbeigeführt wurde.
1.
Frauen als Gefängnisbeamtinnen.
Mit der Umbildung des Gefängniswesens im 19. Jahrhundert
ist dann auch in Deutschland die Trennung der Geschlechter in
den Gefängnissen allgemein durchgeführt worden, und zwar, da
i) Vgl Schäfer a. a. O. Bd. I S. 93.
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- 8i —
es nicht überall möglich oder zweckdienlich war, besondere Straf-
anstalten für die Frauen zu errichten, sind die Frauen in besonderen
Stockwerken oder Flügeln der Anstaltsgebäude untergebracht
worden. Dadurch ist erst die Möglichkeit einer eingehenderen
und besonderen Fürsorge für die weiblichen Gefangenen durch
Frauen gegeben worden. Die Fürsorge für das leibliche Wohl
ist jetzt im allgemeinen eine ausreichende, zum Teil sogar eine
mustergiltige ; die geistige und moralische Pflege aber macht den
Direktionen in Bezug auf die Frauen besondere Schwierigkeiten,
und ist daher auch vielfach nicht genügend berücksichtigt worden.
Krohne sagt darüber in seinem Lehrbuch der Gefängniskunde
(Stuttgart 1889):
Jedes Weib, das auf die verbrecherische Laufbahn gerät, ist auch
nach der geschlechtlichen Seite mehr oder weniger verderbt. Dadurch
wird die Seelsorge, soweit sie durch Männer gehandhabt wird, ganz
besonders erschwert. . . . Die Hausordnungen schreiben daher vor,
halb aus Wohlwollen gegen die Beamten, um sie vor Verleumdungen
zu schützen, halb aus Misstrauen gegen ihre sittliche Festigkeit, dass
die Beamten eines Weibergefängnisses eine Gefangene nur in Gegen-
wart einer Aufseherin sprechen sollen, und wenn für die Geistlichen
dieser Zwang nicht vorgeschrieben ist, so legen sie ihn sich selbst auf,
um übler Nachrede zu begegnen. Dadurch ist die Seelsorge durch
Männer im Weibergefängnis so gut wie unmöglich; wahre Seelsorge
duldet keine Zeugen, und die als Tugendwächterin dabeistehende Auf-
seherin zeigt der Gefangenen entweder, dass ,der Staat seinen Beamten
selbst nicht traut, oder dass die Beamten, die Geistlichen eingeschlossen,
sich vor ihrer bösen Zunge fürchten. Damit ist das zweite Erfordernis
der Seelsorge. Aufschauen des Empfangenden zu dem Sorgenden als
einem Überlegenen, ausgeschlossen. Es bleibt von der Seelsorge nichts
als die Fürsorge für die Gefangenen und deren Angehörige, und der
Unterricht. Die gelegentliche Ermahnung in Gegenwart der Aufseherin
geht, wenn sie sich allgemein hält, über dem Herzen weg; wenn sie
besondere sittliche Schäden anfasst, wird sie durch die Gegenwart des
Zeugen kränkend. Um so mehr ist Gewicht darauf zu legen, dass die
Seelsorge im Weibergefängnis durch Frauen ausgeübt werde, die dieser
Aufgabe gewachsen sind.
Die Forderung, für Frauengefängnisse weibliche Beamte
anzustellen, die in neuerer Zeit zuerst von Elisabeth Fry
ausgesprochen wurde, ist seit längerer Zeit allgemein an-
erkannt und durchgeführt; so in England durch das Gesetz
vom Jahre 1823/1824; in Baden sind Frauen seit 1840 ein-
geführt, in Preussen seit 1842. Doch ist es nicht üblich, dass
Handbuch der Frauenbewegung. IL Teil 6
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— 82 —
sämtliche Beamte eines Gefängnisses weibliche sind. Heut bestehen
auch in Deutschland nur noch darüber Zweifel, ob auch die
höheren Beamten Frauen sein sollen; dass die niederen (Auf-
seherinnen u. s. w.) es sein müssen, wird nicht mehr bestritten. «)
Diese Notwendigkeit ergiebt sich schon aus den herrschenden
Anschauungen über das Schamgefühl. Der Dienst der weiblichen
Beamten in den Gefängnissen wäre nun so recht eigentlich ein
Feld sozialer Hilfsarbeit, sofern sich Frauen fänden, die ihr Amt
in diesem Sinne auszuüben geeignet und geneigt sind. Es ist aber
ausserordentlich schwer, ein gutes Personal für Frauengefängnisse
zu gewinnen. In der Regel sind diese Stellungen in Deutschland
von wenig gebildeten Frauen besetzt, die keine besondere Berufs-
bildung vorweisen können und wenig Gewähr dafür bieten, dass
nur reine Nächstenliebe sie bei ihrer Arbeit beseelt. Die bisherigen
niedrigen Gehaltssätze*) (in Preussen z. B. 700 — 900 Mark Jahres-
gehalt für Aufseherinnen, 900 — 1500 Mark für Oberaufseherinnen,
in Baden 700 — 1100 Mark für Aufseherinnen, 900 — 1300 Mark für
Oberaufseherinnen) neben der schweren Arbeit lassen den Beruf
Frauen mit besserer Bildung wenig begehrenswert erscheinen.
Die Reglements der Anstalten schreiben nur vor, dass Be-
werberinnen das Alter von 36 Jahren nicht überschritten haben,
ledig oder Witwen sind, sich guter Gesundheit und tadellosen Rufs
erfreuen, in den Elementarfächern und Handarbeiten erfahren sind.
Ein Versuch, ein besseres und geschultes Personal zu gewinnen,
das Verständnis für die seelsorgerische Seite der Arbeit hat, ist
vom Centralausschuss der inneren Mission unternommen worden.
Geeignete christliche Frauen und Jungfrauen werden im Magdalenen-
stift in Berlin theoretisch und praktisch in allen für die eigenartige
Thätigkeit wesentlichen Kenntnissen und Beschäftigungen ausgebildet,
und nach einer Probezeit in einem Gefängnis erhalten sie in der
Regel Anstellung als Aufseherin in einer staatlichen Anstalt. Auch
Diakonissen sind, allerdings nur in vereinzelten Fällen, als Auf-
seherinnen in Strafanstalten angestellt worden, so einige Neuen-
dettelsauer Schwestern, einige aus Ludwigslust u. s. w. a ) Im ganzen
ist aber die Gefangenenpflege durch Diakonissen in Deutschland
selten; auf ausserdeutschen Diakonissenstationen kommt sie häufiger
vor, wie denn überhaupt im Ausland vielfach Strafanstalten aus-
') Vgl. Krohne a. a. O. S. 536. 530.
«) Vgl. Dr. F. v. Engelberg: Rapport sur le regime actuel des prisons dans le
grand-duchc de Bade presente" ä l'occasion du congrea penitentaire de Bruxelles 1899.
VgL Schriften der Centralst für Arbeiter -Wohlfahrtseinrichtungen Bd. X S 65
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- 8 3 -
schliesslich von religiösen Korporationen verwaltet werden (Österreich,
Frankreich u. s. w.). Allerdings sind solche Einrichtungen in Staaten
mit konfessionell gemischter Bevölkerung nicht gut durchführbar.
In den letzten Jahren äst die Frage aufgeworfen worden, ob nicht
auch für Besetzung höherer Stellen, z. B. der des Direktors,
Frauen in Betracht zu ziehen seien, und vereinzelt sind auch schon
Hausmütter, Lehrerinnen und Strafanstaltsoberinnen in Gelängnissen
für Frauen und jugendliche Verbrecher angestellt worden. Für
die Entscheidung dieser Frage sind zahlreiche Gründe geltend
gemacht : allgemeine, erziehliche, finanzielle und volkswirtschaftliche.
Aus erziehlichen Gründen ist es für durchaus wünschenswert er-
klärt worden, Frauen in solche Stellungen zu bringen, da nur die
Frau durch ihr Beispiel und ihren Einfluss auf ihre Geschlechts-
genossin in der wünschenswerten Weise einwirken kann; die
Stellungen der Werkführer, Aufseher, Oberaufseher, Lehrer, Ärzte
und womöglich auch des Direktors, sollten daher grundsätzlich
mit Frauen besetzt werden. 1 ) In gemischten Anstalten, die nur
eine Abteilung für Frauen enthalten, sollte dem Direktor wenigstens
eine Oberin zur Seite gestellt werden, die nur in den wenigen
Fragen des inneren Dienstes seine Entscheidung anzurufen, im
Übrigen aber ihre Abteilung vollständig zu leiten hat. Auf dem
Kongress deutscher Strafanstalten, der im Mai 1901 in Nürnberg
tagte, wurde die Anstellung von weiblichen Beamten und Ober-
beamten in weitestem Umfange allgemein als notwendig und
wünschenswert bezeichnet; verschiedene Teilnehmer, namentlich
der Direktor der Hamburger Gefängnisanstalten, empfahl sogar
die Besetzung der Direktorenstellung mit Frauen.
Um Ausbildungsgelegenheiten auch für diese höheren Stellungen
zu schaffen, hat neuerdings das preussische Ministerium des Innern
angeordnet, dass gebildete Frauen sich in den Strafanstalten zu
Köln, Breslau, Siegburg, Halle die notwendigen Kenntnisse
aneignen können. Die Ausbildungszeit ist auf ein Jahr bemessen.
Der Unterricht ist unentgeltlich; die Teilnehmerinnen haben nur
die Kosten ihres Unterhaltes zu bestreiten. Die Gehaltsaussichten
für Frauen, die an diesen Kursen teilgenommen haben, sind relativ
günstige. Das Einkommen einer Oberin beträgt 2700, das einer
zweiten Beamtin 1500— 1800 Mark, das einer Unterbeamtin
1200 Mark, daneben freie Wohnung, Beleuchtung und Heizung.
In denselben Strafanstalten können auch künftig Strafanstalts-
>) Vgl. Prof. v. Kirchenheim a.a.O. S. 45&
6*
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- 84 -
Wärterinnen und Werkmeisterinnen in einem dreimonatlichen
unentgeltlichen Kursus ausgebildet werden. 1 )
Aus denselben Gründen, die man für die Anstellung weib-
lichen Personals in Gefängnissen geltend gemacht hat, ergiebt sich
die Notwendigkeit der Anstellung von Polizeimatronen. Es handelt
sich dabei vor allem darum, die polizeilich zu vernehmenden
Personen, namentlich Prostituierte, sofort £in Verbindung mit
weiblicher Hilfe zu bringen. „Die mindestens verständnislose,
meist rohe Behandlung, welche diese Frauen auf den Polizei-
stationen erfahren, trägt sicher nicht dazu bei, 'sie auf bessere
Bahnen zu lenken."*) Innerhalb der Frauenbewegung wird diese
Forderung seit langer Zeit, bis jetzt aber noch ohne Erfolg,
vertreten.
2.
Frauen in der Gefängnismission.
Eine ebenso wichtige Aufgabe wie im Gefängnis dienst er-
wächst den zu sozialer Hilfsarbeit bereiten Frauen in der Ge-
fängnismission, für die auch weitere Frauenkreise gewonnen
werden könnten. Diese Missionsarbeit an den Gefangenen kann
in zweierlei Weise geschehen, entweder durch Besuch im Ge-
fängnis während der Zeit der Gefangenschaft oder durch die
sogenannte Schutzfürsorge an den entlassenen Gefangenen.*)
Während in romanischen Staaten Gefangenenbesuche von Per-
sonen, die ausserhalb der Verwaltung stehen, längst zu ein-
gebürgerten Institutionen gehören, entsprechen sie den deutschen
Anschauungen nicht, und soweit von Frauen Versuche nach dieser
Richtung gemacht worden sind, ist ihnen ein mehr oder weniger
energischer Widerstand von seiten der Behörden entgegengestellt
worden. Auch ist das Interesse weiter Frauenkreise noch kein
sehr lebhaftes, und die wenigen Frauen, die sich mit Gefängnis-
besuchen beschäftigen, haben oft darüber zu klagen, wie schwer
es ist, geeignete Helferinnen für diese schwierige Arbeit zu ge-
winnen. Heinersdorff in Elberfeld sagt über die Gefangenen-
mission folgendes: 4 )
') Vgl Frauenbewegung VII. Jahrgang, Na 13.
*) Vgl. Schriften der Centraistelle u. s. w. S. 94.
*) Vgl. v. Kirchenheini a. a. O. S. 459.
4 ) V &1- Jahresbericht der rheinisch-westfälischen Gefängnis-Gesellschaft. Düssel-
dorf 189a S. 43 f.
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Eine solche Besucherin muss ebenso viel hingebende, warme
Liebe zu den Gefallenen, wie auch kalten, unbestechlichen Verstand
besitzen, ein warmes Interesse und offenes Ohr, aber auch die Gabe
der Unterscheidung der Geister besitzen; sie muss unendlich freundlich,
aber nicht freundschaftlich mit den Gefangenen umgehen können, sie
muss das mitleidigste Herz haben, aber die eisernen Regeln der Haus-
ordnung und Disziplin unerbittlich aufrecht erhalten können, sie muss
ein demütiges Herz, aber ein fröhliches Gemüt haben u. s. w.
Auf den Mangel an Frauen, die mit solchen Eigenschaften die
notwendige Energie den Schwierigkeiten der Zulassung gegenüber
verbinden, ist es wohl zurückzuführen, dass nur in vereinzelten
Fällen Frauen den Widerstand der Behörden besiegt haben und
regelmässige Gefängnisbesucherinnen geworden sind. Ausser einer
Anregung, die von Amalie Sieveking gegeben wurde, ist der
Gedanke in Deutschland zuerst von Marie Mellien (Berlin) auf-
genommen und verschiedentlich in deutschen Städten verbreitet
worden. So hat sich in Berlin, Kiel, Lübeck und einigen andern
Städten ein solcher freiwilliger Gefängnisdienst einrichten lassen,
der zugleich eine sehr geeignete Anknüpfung ist für die andre
Art der Frauenthätigkcit, für die Schutzfürsorge an Entlassenen.
Auch auf diesem Gebiet ist die Thätigkeit der Frauen noch
eine geringe, so dass man, um die von Frauen geübte Gefangenen-
fürsorge zu charakterisieren, nur wiederholen kann, was die beste
Kennerin dieser Frage, Marie Mellien, darüber sagt: „Es ist noch
alles zu thun." Oder man kann ihre Worte auch dahin abändern
und sagen: „Es ist noch fast nichts geschehen." Die Schutz-
fürsorge wird in Deutschland durch grosse Vereinsorganisationen
ausgeübt, unter denen vor' allem zu nennen sind: der nordwest-
deutsche Verein für Gefängniswesen (gegründet 1876), der Verein
der deutschen Strafanstaltsbeamten (gegründet 1863) und der Ver-
band der deutschen Schutzvereine für entlassene Gefangene (ge-
gründet 1892), dem 15 Landes-, Provinzial- und Kreisverbände
mit im ganzen 381 Vereinen und 13 Ortsvereinen als Mitglieder
angehören.')
Die Schutzvereine bezwecken, den entlassenen Gefangenen
den Wiedereintritt in die bürgerliche Gesellschaft durch materielle
und moralische Unterstützung, namentlich durch Arbeitsbeschaffung
zu ermöglichen. Vielfach beginnen die Schutzvereine schon
während der Strafzeit, den Inhaftierten mit Unterstützung zur
') Vgl Adolf Fuch»: Die Gefangenen-Schutzthttiglirit und die Verbrechens-
Prophylaxe, S. 333.
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— 86
Seite zu stehen. Einige Vereine wenden ihre Fürsorge den
Angehörigen der Inhaftierten zu. Es eröffnet sich in dieser Schutz-
thatigkeit den Frauen ein ungeheures Feld sozialer Thätigkeit;
ja man kann geradezu behaupten, dass die mangelnde Teilnahme
der Frauen an diesen Aufgaben ein schwerer Schaden der Gesell-
schaft ist. So ist z. B. „die Aussöhnung Gefallener mit ihren
Familienangehörigen, die Zurückführung derselben in das ihnen
verschlossene oder von ihnen gemiedene Elternhaus" ') eine Arbeit,
die fast ausnahmslos nur von Frauen ausgeführt werden kann.
Auch die Fürsorge für jugendliche Gefangene ist durchaus Frauen-
arbeit, desgleichen die Erziehung und Besserung derselben nach
der Entlassung aus der Haft. Auf diesem Gebiet hat als würdige
Nachfolgerin Elisabeth Fry's deren Landsmännin, Mary Carpenter.
die bedeutsamsten Versuche durch Gründung von Schulen und
Besserungsanstalten für aus der Haft entlassene, für verwahrloste
und verbrecherische Kinder und junge Leute gemacht.») Wie
reformbedürftig auch Deutschland noch auf diesem Gebiet ist,
das geht daraus hervor, dass trotz der grossen Zahl der jugend-
lichen Bestraften in Deutschland (etwa 45000 jährlich) nur zwei
besondere Gefängnisse für jugendliche Verbrecher existieren
(Sachsenburg und Grünhain in Sachsen), in denen mit besonderer
Berücksichtigung der Eigenart der Insassen das Hauptgewicht auf
Besserung und Erziehung gelegt wird. Etwa 20 — 30000 jugend-
liche Verbrecher werden alljährlich in Amtsgerichtsgefängnissen
untergebracht, wo gewöhnlich nicht einmal weibliche Aufseher
angestellt sind.») Diesen schreienden Übelständen gegenüber ist
das Wenige, was von Frauen in der Gefangenenpflege und Schutz-
thätigkeit geleistet wird, noch fast bedeutungslos. In einigen
Städten sind Frauen zur Arbeit in den Schutzvereinen mit heran-
gezogen worden; in andern haben Frauenvereine diese Arbeit
selbständig in die Hand genommen oder Abteilungen in die
Schutzvereine delegiert. Hier sind ausser den bereits genannten
Städten vor allen Dingen die süddeutschen Staaten zu erwähnen. 4 )
Ausserdem hat sich die Frauenhilfe namentlich auf die Errichtung
von Asylen für entlassene weibliche Sträflinge gerichtet.
In engstem Zusammenhang mit diesen Bestrebungen steht die
Fürsorge für Gefallene und sittlich Gefährdete. Um solchen
') Vgl. v. Kirchenheim a. a. O. S. 460.
5 ) W. E. Carpenter, The life and work of Mary Carpenter. London 1879.
• T ) Marie Mellien in Heft a der Jugendfürsorge. Berlin 1900. S. 95.
«) VgL Bericht Ober die Thltigkeit der Bezirksschutzvereine und der Centralleitung
zum Schutz für entlassene Gefangene im Grossherzogtum Baden. 1899.
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- 8 7 -
Mädchen den Übergang in eine geregelte Lebensweise und in
geordnete Verhältnisse zu ermöglichen, können Asyle gar nicht
entbehrt werden. Die meisten dieser Anstalten sind von kirchlicher
Seite ins Leben gerufen worden oder beruhen wenigstens auf
religiöser Grundlage; einige sind von Diakonissenhäusern oder
von katholischen Ordensgenossenschaften gegründet; andre werden
von Vereinen unterhalten. Besonders erwähnenswert sind die
Asyle in Oberurbach in Württemberg, das Elberfelder Zufluchts-
haus des Pastor Heinersdorff, das Versorgungshaus von Bertha
Lungstrass in Bonn, die Bethabara-Stiftung in Weissensee bei
Berlin, das Vorasyl des Magdalenenvereins in Frankfurt a. M., die
badische Anstalt Scheibenhardt, Magdalenenstifte zu Berlin,
Boppard, Kaiserswerth u. s. w., auch die in neuester Zeit von der
Heilsarmee errichtete Zufluchtsstätte.')
Die Arbeit in diesen Asylen ist naturgemäss eine unsäglich
schwere und mühsame; sie ist an Enttäuschungen reich, und die
Erfolge scheinen oft gering in anbetracht der aufgewendeten
Mühe und Kosten; immerhin sind die Zahlen derer, die durch
derartige Asyle dauernd einem anständigen, ehrenhaften Leben
zurückgegeben worden sind, nicht ganz unbedeutend. Unsäglich
viel hängt hier wie auch in der gesamten Gefangenenpflege davon
ab, dass sich die geeigneten Persönlichkeiten für diese Arbeit
finden. „Nicht Massregeln — sondern Menschen!" Die besten
Einrichtungen können ohne die geeigneten Persönlichkeiten auf
diesem Gebiet absolut nichts ausrichten. Dass es an Frauen
nicht fehlt, die die notwendigen Eigenschaften für diese soziale
Arbeit besitzen, ist auf andern Arbeitsgebieten oft genug bewiesen
worden. Das Mitleid jedoch für die, welche der Sünde erliegen,
hat nur wenige erst in den Gefangenendienst geführt. Möge es
den wenigen endlich gelingen, sich auch bei den deutschen Frauen
Gehör zu verschaffen und ihr Interesse zu erwecken für die grosse
Rettungsarbeit, die im Interesse von Staat und Gesellschaft zu
leisten eine Pflicht der Frauen ist!
>) Vgl. v. Kirchenheim a. a. O. S. 461 und die Berichte der betreffenden Anstalten
und Vereine.
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— 88 —
V.
Frauenarbeit in der Jugendfürsorge.
Voraussetzungen der Jugendfürsorge. Fürsorge 1. für das vor-
sehulpfllchtlge Alter: Ziehkinderwesen, Krippen, Bewahranstalten,
Kindergärten; 2. für das schulpflichtige Alter: Horte, Fürsorge
für gebrechliche, für verwahrloste Kinder; 8. Fürsorge für die
schulentlassene Jugend.
Kinder sind immer hilflos und daher auf die Hilfe Erwachsener
angewiesen. Die Pflicht, den Kindern Hilfe zu gewähren, ist bei
Völkern aller Zeiten in erster Linie den Eltern zuerkannt worden.
Während sich in früheren Jahrhunderten die soziale Hilfsarbeit
in bezug auf die Jugendfürsorge darauf beschränkte, den Waisen
die Eltern zu ersetzen, wendet sich heut öffentliche und private
Liebesthätigkeit einem weit grösseren Kreis von Kindern zu. Es
ist eine traurige Thatsache, die in der modernen industriellen Ent-
wicklung ihre Ursache hat, dass die Kinder weiter Bevölkerungs-
schichten ausreichenden Schutz, genügende Pflege von Seiten ihrer
Eltern entbehren müssen. Die Art und Weise, in der Staat,
Gemeinde und Privatwohlthätigkeit diesen Kindern die fehlende
oder unzureichende elterliche Fürsorge ersetzt oder ergänzt, ist
einer der feinsten Gradmesser für das Kulturniveau eines Volkes.
Denn die Kinder eines Landes sind eine Art Kapital für den
Nationalwohlstand; in ihnen wird der werdende Mensch geschützt,
in ihnen verkörpert sich das Gesetz der Entwicklung.
Etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung der heutigen Kultur-
staaten gehört dem Kindesalter an.') In den zahlreichen Fällen,
in denen die Eltern nicht vermögen, ihren Kindern zu einer gesunden
körperlichen und seelischen Entwicklung zu verhelfen, soll die
soziale Jugendfürsorge den Kindern einen möglichst vollständigen
Ersatz der elterlichen Fürsorge schaffen, einen Ersatz nicht nur
durch Beschaffung von Nahrung, Kleidung, Unterricht und Erziehung,
sondern auch durch Gewährung des Besten, was Eltern ihren
Kindern geben können, durch elterliche Liebe.»)
Das Eintreten einer sozialen Fürsorgethätigkeit von Seiten der
Behörden oder von Vereinen und Privaten muss einen verschiedenen
Umfang annehmen, je nachdem das Unvermögen der Eltern ein
') Vgl. Dr. med. H. Neumann, öffentlicher Kinderschutz. Jen« 1895. S. 434.
») MOnsterberg a. a. O. S.
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- 8g -
vollkommenes oder ein beschränktes ist. Man unterscheidet daher
eine vollständige und eine ergänzende Jugendfürsorge. 1 ) Die
erstere tritt in der Regel da ein, wo die Hilflosigkeit eines Kindes
unzweifelhaft ist, also nicht nur bei Waisenkindern, sondern auch,
wenn beide Eltern durch körperliche oder geistige Krankheit,
durch sittliche Mängel, durch Verbüssung von Freiheitsstrafen
zeitweilig oder dauernd ausser Stande sind, für ihre Kinder zu
sorgen. In solchen Fällen muss für eine einheitliche Fürsorge
in einer Anstalt oder in einer Familie gesorgt werden, die alle
Bedürfnisse des Kindes durch vollständige Unterhaltung und Er-
ziehung deckt. Eine ergänzende Fürsorge tritt ein, wenn einem
im Hause der Eltern sich aufhaltenden Kinde für ein bestimmtes
Bedürfnis Hilfe zu Teil wird, z. B. durch Unterbringung in
Bewahranstalten, durch Ausbildung zu einem Beruf, durch Ge-
währung von Stärkungsmitteln u. dergl. Die vollständige Fürsorge
wird meist Waisenpflege genannt, eine Bezeichnung, die wohl
darauf zurückzuführen ist, dass man in früheren Zeiten eine Ver-
pflichtung zur Fürsorge nur für gänzlich verwaiste Kinder an-
erkannte. Sie wird in der Regel als Waisenpflege (wie das in
dem Kapitel über Frauen in der Armen- und Waisenpflege betont
ist) von Seiten der Behörden ausgeübt, d. h. auch die nicht ver-
waisten Kinder, deren Eltern aus den angeführten Gründen ihren
natürlichen Verpflichtungen nicht nachkommen können, werden
den mit der Waisenpflege betrauten Behörden zur Versorgung
zugewiesen. Die Folge hiervon ist, dass die Privatwohlthätigkeit
sich fast gänzlich von dieser vollständigen Versorgung von Kindern
zurückgezogen hat, um so mehr, als die sogenannte öffentliche
Waisenpflege wenigstens in grossen Städten gut eingerichtet ist
Die Thätigkeit der Frauen in der vollständigen Jugendfürsorge
fällt also mit ihrer Mitarbeit an den Bestrebungen der öffentlichen
Waisenpflege zusammen (siehe diese); in nachstehendem wird
daher hauptsächlich die ergänzende Fürsorge behandelt werden,
und zwar im Anschluss an die einzelnen Phasen der kindlichen
Entwicklung und die daraus entstehenden Bedürfnisse in drei
Gruppen: die Fürsorge für Kinder im vorschulpflichtigen Alter,
im schulpflichtigen Alter, und die Jugendfürsorge im engeren
Sinne, d. h. für schulentlassene Kinder, für die heranwachsende
Jugend.
0 Vgl Conrad, Handwörterbuch etc., IL Aull 5. Bd. MQnsterberg, Artikel
.KinderfOrsorge", S. 67.
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— oo -
1.
Jugendfürsorge für das vorschulpflichtige Alter.
Von jeher haben die Kinder eine rege soziale Fürsorge er-
forderlich gemacht, die schon von Geburt an ihren natürlichen
Beschützer, den Vater, entbehren müssen. Lange Zeit glaubte
man, die unehelichen Kinder am besten durch Errichtung von
Findelhäusern vor Vervvahrlosung und Not zu schützen; in
germanisch -protestantischen Ländern hat man aber in Folge der
traurigen hygieinischen und sittlichen Resultate einer anstaltsweisen
Verpflegung der von ihren Müttern getrennten Säuglinge das
Findelhaussystem vollständig aufgegeben.') An dessen Stelle ist
in Deutschland das sogenannte Zieh- oder Haltekindersystem
getreten, das heisst die entgeltliche Versorgung derjenigen
unehelichen Säuglinge, deren Mütter dem Erwerb nachgehen, in
ehrbaren Familien. Grossenteils bringen die Mütter ihre Kinder
selbst in Pflege. Wo der Vater des unehelichen Kindes zur
Zahlung von Alimenten verpflichtet ist, werden die Kosten auf
diese Weise aufgebracht; in einzelnen Städten bestehen Frauen-
vereine, die für die Bezahlung der Pflegestellen Sorge tragen,
falls der Vater seinen Verpflichtungen nicht nachkommen kann
und der Verdienst der Mutter nicht dafür ausreicht. Darüber
hinaus erstreckt sich die Frauenthätigkeit zur Fürsorge für
uneheliche Kinder in zahlreichen Fällen auch auf Überwachung
der Ziehkinder und ihrer Pflegeeltern. Denn wenn auch das
Ziehkinderwesen in Deutschland nicht reichsgesetzlich geregelt ist,
so bestehen doch in einer Reihe deutscher Staaten zu diesem
Zwecke Ministerialverordnungen (z. B. in Bayern, Württemberg.
Hessen, Sachsen-Weimar, Sachsen-Altenburg u. s. w.); in Preussen
ist den Behörden die Befugnis gegeben, im Bedarfsfall das Kost-
kinderwesen durch Polizeiverordnungen zu regeln, und in den
letzten Jahrzehnten ist von dieser Befugnis vielfach Gebrauch
gemacht worden.
Diese Verordnungen legen im allgemeinen den Pflegemüttern
unter Strafandrohung die Verpflichtung auf, die verpflegten Kinder
polizeilich an- und abzumelden; sie betrauen die Polizeibeamten
oder andere Personen, den Kreisphysikus, Mitglieder von
Frauenvereinen mit der Überwachung der Pflegekinder und
>) Vgl Munaterberg, Die Armenpflege. S. 139. Neumann a. a. O. S. 466—473.
Roscher, System der Armenpflege u. Armenpolilik. S. 15a -163.
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— 9 i ~
machen die Erlaubnis zum Halten von Pflegekindern davon ab-
hängig, dass die überwachenden Personen sich von guter Ver-
pflegung der Kinder und gesundheitsgemässer Beschaffenheit der
Wohnung überzeugen. 1 ) Dass den Angestellten der Polizeibehörden
naturgemäss das volle Verständnis für derartige Aufgaben abgeht,
liegt auf der Hand; am besten wirken Frauen auf die sorgfältige
Erfüllung der Anforderungen, die an die Pflegeeltern gestellt
werden müssen. Wo man Frauen mit diesem Amt betraut hat,
hat sich ihre Mitarbeit gut bewährt. Leider ist die Zahl dieser
Orte noch verhältnismässig gering. In Berlin und Posen sind
Frauen zu den Lokalkommissionen zur Überwachung der Pflege-
kinder herangezogen, anderwärts verschiedentlich Diakonissen und
Gemeindeschwestern; am besten, geradezu vorbildlich ist die Über-
wachung der Ziehkinder in Leipzig ausgebildet, wo auf Ver-
anlassung des Dr. Taube ein Arzt die dauernde Aufsicht führt,
von hygieinisch ausgebildeten und besoldeten Pflegerinnen unter-
stützt wird und wo der jeweilige Vorstand des Armenamtes für
die Dauer der vermittelnden Fürsorge als Generalvormund der
unehelichen Kinder fungiert.*) Für die Einführung des Taubeschen
Systems in der Ziehkinderpflege wirkt auch die Kinderschutz-
kommission des Bundes Deutscher Frauenvereine. *) Die Unzu-
länglichkeit behördlicher Überwachung hat die Behörden vielfach
veranlasst, diese Funktion Frauenvereinen zu übergeben, welche
entweder im Zusammenhang mit der Behörde oder auch unabhängig
von ihr die Überwachung übernehmen. Durch diese Einrichtung
haben weite Frauenkreise die Möglichkeit einer wertvollen und
nutzbringenden Fürsorgethätigkeit für die unehelichen Kinder
gefunden. Nicht nur durch das den Frauen eigene Verständnis
für die Pflege kleiner Kinder, sondern auch durch ihre uneigen-
nützige Fürsorge treten sie häufig in eine Vertrauensstellung zu
den Pflegeeltern, die unter Umständen von grösserem praktischen
Wert ist, als die von der Behörde angedrohte Strafe. Allerdings
darf man sich auch nicht verhehlen, dass bei dieser freiwilligen
Überwachungsarbeit die Zahl der beteiligten Frauen wie auch die
Häufigkeit und Regelmässigkeit der Besuche oft zu wünschen
übrig lässt. Unter den Vereinen, die die Überwachung der Zieh-
•) Vgl Ntunann a. m. O. S. 501—500.
*) Vgl. Taube, Schuti der unehelichen Rinder in Leipzig. Leipzig 1893, und Schriften
der Centraistelle für Arbeiter- Wohlfahrtseinrichtungen. No. 17. Berlin 190a Henriette
Förth, Das Ziehkinderwesen in Frankfurt a. M. und Umgebung. 1898.
*) Vgl. Handbuch der Frauenbewegung Teil I.
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— 9 2 -
kinder in ihr Arbeitsgebiet gezogen haben, sind der badische
Frauenverein, der sächsische Albertverein, der württembergische
Olgaverein, der hessische Aliceverein zu nennen. Letzterer giebt
den Pflegemüttern, die sich durch besondere Sorgsamkeit und
Tüchtigkeit in der Pflege auszeichnen, kleine Prämien. Der Elber-
felder Frauenverein, der seine freiwillige Liebesarbeit in engem
Zusammenhang mit der Armenverwaltung ausübt, hat einer
besonderen Abteilung die Beaufsichtigung über das Ziehkinder-
wesen übertragen; nach dem Bericht vom Jahre 1893/94 wurden
80 Kinder von 18 Damen beaufsichtigt; der Verein sorgt auch
für Beschaffung von Kleidungsstücken und Bettzeug. In der Regel
erstreckt sich diese Überwachung der von den Müttern in Pflege
gegebenen Kinder bis zum 4., 6. oder 8. Lebensjahr; eine längere
Überwachung von unehelichen Kindern erscheint den zuständigen
Behörden und Organen überflüssig, da die meisten unehelichen
Kinder vor dieser Altersgrenze nach Ordnung der Familien-
verhältnisse oder der Erwerbsmöglichkeiten der Mutter von dieser
aus der Pflege zurückgenommen werden, oder bei fortschreitendem
Verfall der materiellen Verhältnisse in dauernde Armenpflege über-
gehen.
Ausser den genannten Frauenvereinen, die die Überwachung
der Ziehkinder nur als einen Punkt in ein grösseres Programm
aufgenommen haben, giebt es noch einige andre, deren selb-
ständiger Zweck in dieser Thätigkeit liegt. Der Aufsichtsverein
für Kostkinder in Breslau besteht aus so vielen Abteilungen, als
es Polizeibezirke giebt; in jeder Abteilung ist ein Polizeikommissar
im Vorstand. Die sich freiwillig meldenden Aufsichtsdamen sollen
monatlich wenigstens einmal die ihnen unterstellten Kinder
kontrollieren. Ausserdem führt der Verein ein Verzeichnis
geeigneter Pflegemütter, gewährt in Fällen der Not vorübergehend
Unterstützungen zur Pflege der Kostkinder und prämiiert besonders
tüchtige Pflegefrauen. Im Jahre 1893 wurden 2190 Kinder be-
aufsichtigt. Ähnliche Frauenvereine bestehen in Bonn und Altona.
Gründlicher, aber von geringerer Ausdehnung ist die Fürsorge
des Berliner Kinderschutzvereins, der durch Lina Morgenstern
gegründet wurde. Er giebt Kinder (allerdings nur etwa 200 jährlich)
während der ersten drei Lebensjahre zu guten Pflegeeltern, zieht
die Eltern soweit thunlich zur Zahlung des Pflegegelds heran und
deckt den Rest des Pflegegelds, das von dem Verein reichlicher
bemessen wird, als es sonst in Berlin gezahlt wird, aus Vereins-
mitteln. Unter Umständen werden auch Mütter unterstützt, die
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- 93 -
ihre Kinder bei sich behalten. Der Verein stellt freien Arzt und Arznei
und überwacht die Kinder resp. die Pflege durch freiwillige
Helferinnen. In ahnlicher Weise arbeitet auch der Kleinkinder-
Rettungsverein in Stuttgart.
Ausserdem kommen für die Pflege von unehelichen Säuglingen
noch einige Anstalten in Betracht, die allerdings in erster Linie
die Fürsorge für deren Mütter im Auge haben. Diese übernehmen
die Sorge für das Kind hauptsächlich, um der Mutter die Rück-
kehr in geordnete Verhältnisse zu ermöglichen, und geben das Kind
oder einen Anteil an der Versorgung desselben der Mutter zurück,
sobald eine geordnete Berufsthätigkeit und ein regelmässiger
Erwerb ihr die Erfüllung ihrer Pflichten ermöglicht Diese
Anstalten sind zum Teil bereits (im Kapitel Gefangenenpflege,
Fürsorge für Gefallene) erwähnt; sie beruhen fast alle auf kon-
fessioneller Grundlage und werden aus privaten oder Vereins-
mitteln bestritten. Mustergültig und vorbildlich für die späteren
Gründungen ist das Bonner Versorgungshaus (errichtet von
Frl. Bertha Lungstrass 1873). Es werden dort Mädchen, die zum
erstenmal gefallen sind, 2—4 Monate vor ihrer Entbindung auf-
genommen; sie bleiben nach der Geburt des Kindes längere Zeit
in der Anstalt, um das Kind zu nähren und zu pflegen; später
erhalten sie von der Vorsteherin einen Dienst zugewiesen, und
das Kind bleibt zur Erziehung im Versorgungshaus gegen geringe
Vergütung. Nach dem Jahresbericht von 1899 wurden 146 Mädchen
verpflegt; seit der Gründung des Hauses 1731; das Kinderhaus
beherbergte im Berichtsjahr 106 Kinder, seit der Gründung
gleichfalls 1731. Ein grosser Teil der Kinder konnte nach einiger
Zeit der Familie der Mutter zurückgegeben werden; die andern
bleiben bis nach der Konfirmation in der Pflege des Versorgungs-
hauses. Dieser Anstalt nachgebildet ist das christliche Versorgungs-
haus in Colmar, das Versorgungshaus der Frau Pfarrer Sch ül er-
Anke rsmit in Marburg, das Kinderheim des Evangelisch-lutherischen
Vereins für innere Mission in Leipzig, Luisenhof bei Hamburg,
die Wohlgemeinte Stiftung in Dresden, die Heimstätten in Berlin
und Weissensee u. s. w. »)
Für weitere Bevölkerungskreise, nicht nur für die unehelichen
Kinder, kommen die Kinderschutzbestrebungen in Betracht, die
der Mutter nur einen Teil der Verantwortlichkeit, der Sorge um
l) VgL für alle angeführten Vereine und Anstalten deren Statuten und Jahres-
berichte ; zusammenfassend berichtet darober Neumann, der auch ausgezeichnetes Material
Ober die entsprechenden Einrichtungen im Ausland giebt, a. a. O. S. 504—505 u. S. 477.
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— 94 —
das Kind für die Tagesstunden, abnehmen, während sie der
Erwerbsarbeit nachgeht: die Kinderbewahranstalten. Nach der
Beschaffenheit der Anstalten und nach dem Alter der dort ver- f
sorgten Kinder unterscheidet man Krippen, Kleinkinderbewahr-
anstalten und Kindergärten. Allen gemeinsam ist der Zweck, die
Kinder durch Gewährung von zeitweiliger Aufsicht in einer Anstalt
vor den Gefahren zu schützen, denen die unbeaufsichtigten Kinder
während der Abwesenheit ihrer Mutter zu Hause oder auf der
Strasse ausgesetzt sind.
Die Krippe nimmt Kinder bis etwa zum 2. oder 3. Lebensjahr
auf, die Kleinkinderbewahranstalt und der Kindergarten von diesem
Zeitpunkt bis zum schulpflichtigen Alter. Krippe und Kinder-
bewahranstalt beschränken sich darauf, das Kind zu verpflegen
und vor Schaden zu bewahren; der Kindergarten will die
Fähigkeiten der Kinder in systematischer Weise entwickeln. Die
Teilnahme der Frauen ist wie das allgemeine Interesse an diesen
Anstalten in den verschiedenen Ländern mehr oder weniger gross.
So besitzt Frankreich z. B. ein sehr ausgebreitetes Krippenwesen,
während in Deutschland nur wenig dafür gethan ist.') Ganz
Deutschland zählt nur etwa 70 Krippen (davon 6 in Berlin, während i
Paris mehr als 50 besitzt). Die Mitarbeit der Frauen beschränkt
sich nicht nur auf Gründung und Einrichtung von Krippenvereinen
und Krippen, sondern erstreckt sich auf eine dauernde Über-
wachung der Krippe, auf Auswahl der aufzunehmenden Kinder u.s. w.
durch freiwillige Aufsichtsdamen und Helferinnen, und auf die
eigentliche Pflegethätigkeit, die häufig durch Ordensschwestern,
Diakonissen oder auch durch weniger ausgebildete Wärterinnen
ausgeübt wird. Die erste Krippe ist auf die Initiative einer Frau,
der Fürstin Pauline von Lippe-Detmold (1802) zurückzu-
führen*); von den bekannteren Krippen Deutschlands sind folgende
besonders hervorzuheben: Olgakrippe in Stuttgart, Krippen des
Badischen Frauenvereins in Karlsruhe und des Elberfelder Frauen-
vereins, Maria-Apollonia-Krippe in Düren, Krippe der mechanischen
Weberei zu Linden bei Hannover und die Krippe des Pestalozzi-
Fröbelhauses in Berlin.
Die Kleinkinder-Bewahranstalten und Kindergärten sind zwar .
zuerst durch Männer angeregt und ins Leben gerufen; die ersteren
') VgL Neumann a. a. O. S. 533—536. Die Ausführungen Neummoi über die an
Krippen zu stellenden hygienischen Anforderungen müssen Frauen, die die Gründung einer
Krippe beabsichtigen, zur Lektüre und Berücksichtigung warm empfohlen werden.
I) Vgl. Neumann a. a. O. S. 531 u. Roscher a. a. O. S. 163.
I
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— 95 —
durch Oberlin (1779). die letzteren durch Fröbel (1837), doch
haben Frauen sich um die Ausführung ihrer Ideen hervorragende Ver-
dienste erworben (vor allen Fr. von Mahrenholtz-Bülow, Frau
Henriette Goldschmidt und Frau Henriette Schräder). 1 )
Auch liegt die Leitung, Pflege und Aulsicht in allen derartigen
Anstalten in Händen von Frauen. Die Einrichtung und Gründung
geht in Deutschland in der Regel von Frauen aus, während z. B.
in England und Frankreich der Volkskindergarten einen Teil des
staatlichen Erziehungswesens bildet Unter den grösseren deutschen
Anstalten und Vereinen dieser Art sind zu nennen: das Pestalozzi-
Fröbelhaus in Berlin, das Comeniushaus in Cassel, der Fröbel-
verein in Berlin, der besonders für Verbreitung von Volks-
kindergärten thätig ist, der Kindergarten -Verein in Breslau, der
Verein für Familien- und Volkserziehung in Leipzig, das Fröbel-
haus in Hamburg. Als einer der ältesten Vereine auf diesem Gebiet
verdient der 1859 von Lina Morgenstern gegründete Verein
zur Förderung der Fröbelschen Kindergärten Erwähnung. Die
meisten dieser Anstalten und Vereine machen es sich zur Aufgabe,
gleichzeitig mit der Errichtung von Kindergärten auch Pflegerinnen
und Leiterinnen für die Aufgaben der Kindergärten zu schulen.
Die Zahl der Kindergärten und Bewahranstalten ist beträchtlich,
aber trotzdem dem vorhandenen Bedürfnis gegenüber völlig unzu-
reichend. Das ergiebt sich daraus, dass in den preussischen
Bewahranstalten z. B. durchschnittlich 70 — 80, in Berlin sogar
86, Kinder in den engen Anstalten beisammen sind. Eine genaue
Feststellung der in Deutschland vorhandenen Anstalten ist nicht
erhältlich; nach ungefähren Zusammenstellungen wird die Zahl
der Bewahranstalten auf 2000 geschätzt. Die Kindergärten sind
viel weniger zahlreich; so wurden in Preussen z. B. 150 öffentliche
Kindergärten neben 400 Bewahranstalten gezählt. »)
2.
Jugendfürsorge für das schulpflichtige Alter.
Wenn die Kinder den erwähnten Anstalten entwachsen sind, d. h.
wenn sie das 6. Lebensjahr vollendet haben, so sind sie allerdings
durch die Schule für einen Teil des Tages den Eltern abgenommen,
immerhin aber bleibt für die Kinder von ausser dem Hause
i) S. Handbuch der Frauenbewegung. Teil III.
*) Vgl. Monsterberg im Handw. der SuaUwissenschaften a. a. O. S. 77 u. Neu-
mann a. a. O. S. 544.
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arbeitenden Müttern genugsam Zeit und Gelegenheit in der schul-
freien Tageshälfte, zu verwildern und zu verwahrlosen. Dieselben
oder verwandte Gründe, welche die Errichtung von Kleinkinder-
bewahranstalten veranlassten, führten daher zur Gründung von
sogenannten Kinderhorten, die unbeaufsichtigten Kindern in der
schulfreien Zeit das Elternhaus ersetzen sollen. ')
Die erste derartige Einrichtung ist aufProf. Schmid-Schwarzen-
berg in Erlangen zurückzuführen, der im Jahre 187a eine solche
Anstalt mit dem Namen „Sonnenblume" gründete. Sein Beispiel
wurde in Augsburg und München bald nachgeahmt. Wie dringend
das Bedürfnis nach solchen Anstalten sich bereits in den siebziger
und achtziger Jahren bemerkbar machte, geht daraus hervor, dass
eine Reihe von Frauen, die von diesen Versuchen nichts wussten,
in Berlin im Jahre 1884 den Verein Mädchenhort gründeten
(Elisabeth Vogeler, Emilie Mosse, Anna Plothow), der
auch zu zahlreichen Gründungen ausserhalb Berlins Anregung
gegeben hat In Deutschland bestehen jetzt etwa in 60 Städten
Kinderhorte, deren Zahl aber hinter dem Bedürfnis weit zurück-
bleibt.*) Sie sind fast ausschliesslich von Frauenvereinen oder
von Vereinen, denen überwiegend Frauen als Mitglieder angehören,
ins Leben gerufen. Eine durch Frau Bieber-Böhm veranlasste
Petition des Bundes deutscher Frauenvereine *) um Einrichtung von
Kinderhorten durch die städtischen Behörden hat bisher keinen
nennenswerten Erfolg gehabt. Die Erziehungs- und Aufsichts-
thätigkeit in den Mädchenhorten wird fast ausschliesslich durch
berufsmässig thätige Frauen, durch Lehrerinnen und Kinder-
gärtnerinnen ausgeübt, die gewöhnlich durch freiwillige Hilfskräfte
unterstützt werden; die Knabenhorte werden in der Regel durch
Lehrer geleitet. In letzter Zeit sind verschiedentlich Versuche
gemacht worden, Knaben und Mädchen in gemischten „Kinder-
horten" zu vereinigen und sie der Aufsicht von Leiterinnen und
weiblichen Hilfskräften zu unterstellen, so im Hort des Vereins
Jugendschutz und den Horten des Pestalozzi -Fröbelhauses in
Berlin. 4 )
Die freiwillige Hilfsarbeit in den Jugendhorten bietet auch
jüngeren Mädchen Gelegenheit zu sozialer Betätigung, die oft erst
') Vgl. Anna Plothow in den Berichten de» internal. Kongresse* für Frauenwerke,
S. 84. Neumann a. a. O. S. 544. Munsterberg im Handwörterbuch u. s. w. S. 77.
») Vgl. Plothow a.a.O. S. 86.
*) Vgl. Marie Stritt und Ika Freudenberg: Der Bund Deutscher Frauenvereine.
Frankenberg 1900.
«) Vgl. die Jahresberichte der Vereine.
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— 97 -
den Leitern und Leiterinnen die Möglichkeit giebt, den Hort zu
einem zeitweisen Ersatz für die Familie zu gestalten und die
Kinder ihren Fähigkeiten und Eigenschaften entsprechend in
kleinen Gruppen zu beschäftigen.
In jüngster Zeit macht sich auch eine Bewegung geltend, an
der vielfach Frauen, namentlich Lehrerinnen, beteiligt sind, die
der mangelhaften Ernährung von Schulkindern durch Gewährung
von Frühstück und Mittagbrot in der Schule oder in besonderen
Kindervolksküchen abhelfen will. Auch an den Bestrebungen,
schwächliche Schulkinder durch den Aufenthalt in Ferienkolonien
oder in Heilstätten zu kräftigen, nehmen Frauen lebhaften Anteil. ')
Die Sommerpflege für Kinder wurde zuerst in den sechziger Jahren
von Emilie Wüsten feld, der Vorsitzenden des Hamburger Frauen-
vereins zur Unterstützung der Armenpflege, angeregt; dann im
Jahre 1876 vom Hamburger wohlthätigen Schulverein, von Pfarrer
Bion in Zürich und Geh. Rat Varenkopp in Frankfurt a. M. auf-
gegriffen. Für die Ausbreitung der Bewegung war namentlich der
Berliner Verein für häusliche Gesundheitspflege thätig, in dem sich
Frau Luise Jessen als stellvertretende Vorsitzende für die
Organisation der Ferienkolonien besonders verdient gemacht hat.
Von dem Berliner Verein ging die Anregung zur Gründung einer
Centraistelle der Vereinigungen für Sommerpflege aus, der nach
dem Bericht für 1899 etwa 141 deutsche Vereinigungen umschloss,
die zusammen im Berichtsjahre 39036 Kinder verpflegt hatten. Ein
Teil der Ferienkolonien oder Heilstätten wurde ausschliesslich von
Frauen eingerichtet, z. B. haben die vaterländischen Frauenvereine in
Bochum, Altena i. W., Eisleben, Iserlohn, Magdeburg, Minden, der
Badische Frauen verein, der Central ferienverein in Eisenach, Elber-
feld, Jena, mehrere Diakonissen- und Lehrerinnenvereine und der
sehr bedeutende Frauenhilfsverein für Kinderheilstätten an den
deutschen Seeküsten die Mittel für die Veranstaltungen der Sommer-
pflege aufgebracht, und, soweit aus den Berichten hervorgeht,
sind auch bei andern Veranstaltungen Frauen vielfach bei den
Organisationsarbeiten und als Leiterinnen der Kolonien thätig.
Die Anmeldung der Pfleglinge und die Beschlussfassung über die
Gesuche erfolgt sowohl bei besonderen Frauenkomitees, als auch
bei den nur Männer oder auch Männer und Frauen umfassenden
Vereinen. Weitaus die grösste Zahl von Kindern verpflegt der
') Vgl. Münsterberg im Handwörterbuch u. s. w. S. 78. Ferner Neumann a.a.O.
S. 576-588. Jugendfürsorge II. Jahrg. Heft 4. Berichte der Vereine für Ferienkolonien u.
der Centraistelle der Vereinigungen für Soramerpflege.
Handbuch der Frauenbewegung. II. Teil. 7
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Berliner Verein für Ferienkolonien, der sich im Jahre 1901 von
dem obengenannten Verein für hausliche Gesundheitspflege ab-
gezweigt hat. 1898 wurden 3400 Kinder von diesem Komitee ver-
pflegt; demselben gehörten 15 Frauen neben etwa 30 Männern an.
Wie weit Frauen in den Lokalkomitees der einzelnen Stadtbezirke
mitarbeiten, geht aus dem Bericht nicht hervor. Berechnet man
die Zahl der ausgeschickten Kinder in ihrem Verhältnis zu der
Gesamteinwohnerzahl in den einzelnen Städten, so nimmt Düssel-
dorf mit 1335 Kindern, gleich 0,76 •/•. die erste Stelle ein. Die
verschiedenen Berliner Einrichtungen erreichten mit 4600 Kindern
nur 0,27 °/ 0 .
Unter die Fürsorge für schulpflichtige Kinder sind auch alle
die mannigfaltigen Bestrebungen zu zählen, die in Gewährung von
besonderem Unterricht und in der Anwendung eigenartiger Er-
ziehungsmethoden für solche Kinder bestehen, die durch ihre Ver-
anlagung für den gewöhnlichen Schulunterricht ungeeignet sind:
die Fürsorge für gebrechliche, nicht vollsinnige, verwahrloste
Kinder u. s. w. In der Regel treten diese Defekte oder Eigen-
schaften beim Schulunterricht stärker hervor als in der Familie,
in der häufig die überanstrengte Mutter dem einzelnen Kinde wenig
Aufmerksamkeit schenken kann. In der Schule wird dann jedes
Kind einer weit aufmerksameren Beurteilung ausgesetzt, so dass
Fälle besonderer körperlicher oder geistiger Verwahrlosung vom
Lehrer bemerkt und den zuständigen Schul-, Polizei- und Armen-
behörden mitgeteilt werden können. Die Fürsorge für nicht voll-
sinnige Kinder, für Idioten, Blinde und Taubstumme ist fast überall
durch private Initiative ins Leben getreten, aber jetzt allgemein
von den Gemeinden und den Staaten übernommen worden. Zum
Teil wird sie von den Behörden der Armen- und Waisenpflege,
zum Teil von den Unterrichtsministerien geleistet Die armen-
pflegerische Fürsorge ist deshalb besonders notwendig, weil nicht
vollsinnige Kinder überwiegend aus ärmeren Familien hervorgehen,
weil ihre psychopathische Minderwertigkeit häufig durch die Ver-
hältnisse, aus denen die Kinder stammen, erzeugt wird und weil
Kinder, denen eine solche besondere Fürsorge mangelt, hilflos
sind und in späterem Alter unbedingt der Armenpflege anheim
fallen würden. Die Bestrebungen auf diesem Gebiet richten sich
daher hauptsächlich darauf, diese Kinder unter Berücksichtigung
ihrer Fähigkeiten zu bilden und sie für einen Erwerbszweig vor-
zubereiten, soweit das unmöglich ist, sie in Anstalten der Ver-
ständnislosigkeit ihrer Angehörigen oder der Roheit der Aussen-
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— 99 —
weit zu entziehen.') In all diesen Unterrichts-, Ausbüdungs- und
Versorgungsanstalten sind zahlreiche weibliche Kräfte als Lehrerinnen,
Hausmütter u. s. w. beschäftigt. So wirken nach dem letzten
offiziellen Bericht») der preussischen Regierung an den 91 Hilfs-
schulen für schwachsinnige Kinder in Preussen 50 Lehrerinnen und
20 Handarbeitslehrerinnen neben 169 Lehrern. 1 ) Diese Frauen
sind zwar beruflich und erwerbend thätig, sie dürfen aber in der
Geschichte der sozialen Hilfsarbeit der Frau nicht unerwähnt
bleiben. Denn ihre Arbeit ist wohl eine der mühseligsten, die
überhaupt gedacht oder geschildert werden kann; nur die nie
ermattende Liebe zu den Elenden und Schwachen kann Mut und
Kraft dazu verleihen, und wenn die Arbeit mit allen Schätzen
der Welt belohnt würde, so würde das kaum verhindern, dass
sie nur von denen geübt wird, die sie im Sinne sozialer Hilfs-
arbeit leisten: denn wo die rechte Liebe nicht ist, da kann die
rechte Arbeit nicht sein. Da gilt das Wort „bei viel Arbeit kein
Segen".
Einen weiteren Raum zur Entfaltung privater Hilfsthätigkeit
als die Pflege nicht vollsinniger Kinder, für die der Staat in zum Teil
ausgezeichneter Weise eintritt, bietet die Fürsorge für sittlich
gefährdete oder verwahrloste Kinder, weil hier keine annähernd
so ausreichende und weitgehende Fürsorge von seiten der Staaten
und Gemeinden vorhanden ist. Die meisten Rettungsanstalten
werden noch jetzt vollständig aus Vereinsmitteln erhalten, stehen
aber vielfach unter behördlicher Aufsicht oder in engen Beziehungen
zu den Behörden, da ihnen zum Teil verwahrloste und verbrecherische
Kinder von diesen zur Erziehung übergeben werden. Bei den
Versuchen zur Besserung verwahrloster Kinder besteht die Pflege-
thätigkeit hauptsächlich in der Gewährung von Unterricht und
Erziehung, die aber ohne Gewährung von Obdach, Nahrung und
Kleidung in diesen Fällen nicht geboten werden kann. Handelt
es sich doch um Fälle, in denen die Familienverhältnisse die Ver-
wahrlosung der Kinder hervorgerufen haben, oder in denen die
Eltern nicht im stände sind, die schlechten Anlagen eines Kindes
wirksam zu bekämpfen. In beiden Fällen muss das Kind aus der
Familie entfernt und in andre Verhältnisse gebracht werden; es
tritt also wenigstens für eine Reihe von Jahren eine der Waisen-
') Vgl. Munsterberg im Handworterbuch S.75. Neumann a.a.O. 8.633-633.
*) Vgl. Centraiblatt für die gesamte Untcrrichlsverwaltung in Preussen, Mai 1901.
*) Für Taubstummen- und Blindenanstalten sind neuere amtliche Angaben Ober di.
weiblichen Lehrkräfte nicht vorhanden.
7*
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pflege ähnliche, vollständige Fürsorge für das Kind ein. Auch
die Mittel, mit denen Rettungsanstalten, Zwangserziehung, Häuser
für verwahrloste Kinder zu wirken versuchen, sind kaum andre,
als sie in der Waisenpflege angewendet werden, d. h. vollständige
Pflege und Erziehung, wobei die sittliche Förderung, vornehmlich
durch Anleitung zu nützlicher Arbeit, besonders betont wird. 1 )
Zum Teil wird die Erziehung verwahrloster Kinder vom Staat
in die Hand genommen; nämlich in den Fällen, in denen Kinder
sich einer strafbaren Handlung schuldig machen, die das gesetzlich
festgelegte Alter zur Verbüssung von Freiheitsstrafen noch nicht
erreicht haben, oder wenn den Eltern infolge gröblichster Ver-
nachlässigung ihrer Pflichten die Erziehungsrechte abgesprochen
worden sind. Aber abgesehen von diesen nicht sehr zahlreichen
Fällen von besonders lasterhaft veranlagten Kindern oder Eltern,
die in jedem Stande vereinzelt vorkommen, und in denen die
Zwangserziehung unabhängig von der Bedürftigkeit der Familie
eingreift, besteht ein enger Zusammenhang zwischen Armut und
Verwahrlosung, der noch in zahlreichen andren Fällen eine Für-
sorge für gefährdete oder verwahrloste Kinder wünschenswert
macht. Denn eigentlich giebt es — von den schon erwähnten
Ausnahmen abgesehen — keine verwahrlosten Kinder, sondern
nur verwahrloste Verhältnisse, und Kinder, die aus solchen
Verhältnissen in eine andre Umgebung verpflanzt werden, pflegen
sich in der Regel nach kurzer Zeit gut zu entwickeln.')
Die Fürsorge für solche Kinder, denen von seiten des Staats
und der Gemeinden nur geringere Aufmerksamkeit zugewendet
wird, ist in ausgedehntem Masse Frauensache.») Zum Teil werden
diese Kinder in Rettungsanstalten, zum Teil in Familienpflegc
untergebracht; in letzter Zeit neigt man mehr der Unterbringung
in Familien zu. In England, wo die Fürsorge für verwahrloste
Kinder sich verhältnismässig früh entwickelte, wurde besonders durch
Mary Carpenter die öffentliche Meinung für diese Aufgaben
•) Vfl Monsterberg, Die Armenpflege S. 143 P. F. Asch rot t, Die Behandlung
der verwahrlosten und verbrecherischen Jugend und Vorschlage zur Reform. Berlin 189a.
») Vgl. Neu mann a.a.O. S.65a-«7a. Munsterberg a. a. O. S. 74. Vgl.W.E. Car-
penter, The life and work of Mary Carpenter. London 1879.
3 ) Übrigens beginnt auch der Staat, sich Frauenarbeit auf diesem Gebiet in grösserem
Umfange nutzbar zu machen. Das neue Preussische Fursorgecrzichungs-Gesctz, das am
1. 4. 1901 in Kraft getreten ist und eine wesentliche Erweiterung der staatlichen Erziehung
für verwahrloste oder der Vcrwahrlosungsgefahr ausgesetzte Kinder herbeizufuhren be-
stimmt ist, sieht die Mitarbeit von Frauen vor. (Vgl. Ludwig Schmitz. Die Fürsorge-
erziehung Minderjähriger. Düsseldorf 1901, und C. v. Massow, Das Preussische Fürsorge-
erziehungs-Gcsetz. Berlin 1901.)
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IOI —
gewonnen, und England zeichnet sich denn auch noch heut durch
seine zahlreichen und mannichfaltigen Erziehungsanstalten für
derartige Kinder aus. Namentlich sind die „reformatory 44 und
„industrial schools" und die grossartigen, nur aus Privatmitteln
erhaltenen Anstalten des Dr. Barnardo ')» sowie die eigenartigen
„training ships" zu nennen. Die deutschen Rettungshäuser sind
vielfach von Vereinen, die auf streng kirchlicher Grundlage stehen,
zum Teil von der inneren Mission errichtet. Die Zahl der
evangelischen Rettungshäuser betrug 1898 342 mit 12 759 Zöglingen.
Dazu werden alle Anstalten für evangelische Zöglinge, auch die
staatlichen oder kommunalen, gezählt. Ausserdem wird eine sehr
grosse Zahl von Kindern teils von Seiten der Behörden, teils von
Vereinen in Familienpflege gegeben.*)
Die Mitarbeit der Frauen an der Rettungsarbeit ist überall eine
rege. Die Statistik der Inneren Mission giebt für 320 evangelische
Rettungshäuser für nicht konfirmierte Kinder mit 8000 Knaben und
4000 Mädchen neben 575 Hausvätern und Lehrern 166 Hausmütter
und Lehrerinnen an; für 22 Anstalten für konfirmierte Zöglinge
38 Hausväter und 14 Hausmütter resp. Lehrerinnen. Von den
weiblichen Angestellten werden */j etwa von Diakonissinnenhäusern
gestellt Die Arbeit der Frauen erstreckt sich nicht nur auf
Mädchenanstalten; viele Erziehungshäuser für Knaben und auch
gemischte Rettungshäuser übertragen diesen Frauen einen Teil
der Leitung neben dem Direktor oder stellen Frauen als Wirt-
schafterinnen an, so das Zillerstift in Leipzig, das Johanneum in
Chemnitz. Die königliche Landesanstalt für sittlich gefährdete
Kinder in Bräuersdorf, eines der ältesten und grössten Rettungs-
häuser mit 305 Knaben und 54 Mädchen, zählt unter seinen Beamten
eine Oberhelferin und 3 Helferinnen; die Dresdener städtische
Kinderbesserungsanstalt Marienhof zu Trachenberge mit 52 Knaben
und 16 Mädchen hat gleichfalls eine Aufseherin. In kleineren
Anstalten steht zumeist ein Hauselternpaar an der Spitze; in einer
ganzen Reihe von Anstalten, die nach dem Muster des „rauhen
Hauses" in Hamburg gegründet sind, hat ein „Bruder 44 ohne
weibliche Unterstützung die Leitung. Jedoch scheinen nur ganz
vereinzelt auch Anstalten mit weiblichen Zöglingen darunter zu
sein; als Beispiel dafür sind das Martin Lutherstift in Hohenstein-
Ernstthal mit 26 Knaben und 8 Mädchen und die Anstalt in Ober-
') Vgl. T. J. Barnardo, Something Attempted Something Done! London.
») Vgl Monsterberg a. a. O. S. 74—75. H. Peter», Die Fürsorge fQr die ver-
wahrloste Jugend. Flensburg 1899. Statistik der Inneren Mission. Berlin 1899.
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gorbitz bei Dresden mit 63 Kindern, wovon '/♦ etwa Mädchen sind,
zu nennen. Etwa 60 Anstalten, die ausschliesslich für Mädchen
bestimmt sind, stehen nur unter weiblicher Leitung; meist füllen
diese Stellungen Diakonissinnen, Lehrerinnen und Witwen aus.
So besteht das Aufsichtspersonal der unter dem Protektorat der
Grossherzogin Luise stehenden badischen Anstalt Scheibenhardt
aus einer Hausmutter und 4 Gehilfinnen. Abgesehen von den
beruflich thätigen Kräften, unter denen sich zahlreiche Diakonissen
befanden (Schäfer nennt in seiner Statistik der Diakonissenhäuser
und ihrer Arbeitsfelder von 1886 allein 30 Rettungshüuser, die mit
Diakonissen besetzt sind), haben sich Frauen vielfach um die
Gründung und Leitung von Anstalten und Vereinen zur Rettung
gefährdeter Kinder verdient gemacht. So steht die oben erwähnte
Anstalt in Scheibenhardt unter Leitung eines Komitees, das fast
ausschliesslich aus Frauen besteht Besonders hervorgehoben
werden muss der „Württembergische Frauenverein für hilfs-
bedürftige Kinder", der seit dem Jahr 1834 etwa 1000 Kinder,
deren Versorger unfähig zu ihrer Erziehung waren, in Anstalten
oder Familienpflege gebracht und bis über die Konfirmation hinaus
für sie gesorgt hat Für jeden Pflegling übernimmt eins der Ver-
einsmitglieder die dauernde Obhut; seit 1898 hat der Ortsarmen-
verband Stuttgart mit dem Verein ein Abkommen getroffen, nach
welchem das Armenamt für jedes in seiner Erziehung befindliche
Kind eine vom Verein vorgeschlagene Pflegerin aufstellt und dieser
Befugnisse einräumt die es ihr ermöglichen, für diese Kinder in
gleicher Weise zu sorgen wie für die Vereinspfleglinge. Auch um
den Nachweis von Waisenpflegerinnen und Fürsorgern für in
Zwangserziehung befindliche Minderjährige ist der Verein an-
gegangen worden. Bemerkenswert ist dabei, dass der Verein, der
zu einer Zeit ins Leben trat, in der selbständige Frauenthätigkeit
nur ausnahmsweise hervortrat und der mit den modernen An-
forderungen und Bedürfnissen allzeit mitgegangen ist, von jeher
ausschliesslich Frauenverein war, von Frauen geplant und selbst-
ständig geführt»)
Zwar nicht als Frauenverein, aber mit starker, ja vorwiegender
Beteiligung von Frauen wirkt ein Verein, der auch der Anregung
einer Frau sein Entstehen verdankt und der unter den neueren
deutschen Bestrebungen auf diesem Gebiet grösste Beachtung ver-
dient lebhaftester Teilnahme aus Frauenkreisen wert ist und für die
•) Vgl. P. Gotr, Der Wurttetnbergische Frauenverein für hilfsbedürftige Kinder in
der Zeitschrift .Die Jugendfürsorge'', I. Jahrg., Heft it.
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Zukunft eine weite Ausbreitung und segensvolleEntwicklung verheisst.
Es ist der im Jahre 1898 auf Anregung von Frau von Oertzen
gegründete „Verein zum Schutz der Kinder vor Ausnutzung und
Misshandlung", der nach dem Muster der vorzüglich arbeitenden
englischen „National Society for the Prevention of Cruelty to
Children" organisiert ist. Die englische Gesellschaft, die seit ihrem
Bestehen Grossartiges geleistet hat, besitzt in 72 englischen Städten
Zvveigvereine, hat 60 Inspektoren resp. Recherchenten angestellt,
deren Aufgabe darin besteht, Fälle von Ausnutzung oder Miss-
handlung von Kindern ausfindig zu machen oder bei dem Verein
vorgebrachte Klagen über solche Fälle auf ihre Berechtigung zu
prüfen. In zwei Berichtsjahren kamen 10 169 Fälle von Miss-
handlungen zur Kenntnis des Vereins, von denen 8810 keinen
Zweifel an der Wahrheit der Klagen Hessen. In 5064 Fällen
konnte man sich mit einer Warnung und Einwirkung auf die
Eltern begnügen; 1499 kamen vor Gericht und 1338 mal fand eine
Verurteilung der Eltern und Entziehung der Erziehungsrechte statt.
Die 10 169 Familien, von denen die Misshandlungen gemeldet
wurden, hatten in 2579 Fällen 1—2 Kinder, in 6025 Fällen 3, 1205 mal
4, 360 mal 5 und mehr Kinder. Die Eltern waren teils trunk-
süchtig, arbeitsscheu, lebten in getrennter oder wilder Ehe; zum
Teil nutzten sie auch ihre Kinder aus Habsucht und Faulheit aus.
Die Bedeutung der Gesellschaft, welche mit der Polizei in Ver-
bindung steht, erhellt daraus, dass 80 Prozent der behandelten
Fälle nicht an die Polizei, sondern unmittelbar an die Gesellschaft
von irgend jemandem denunziert wurden, dass meist eine Warnung
der Gesellschaft ausreichte, und dass die wegen Misshandlung
Bestraften fast nie während der fortgesetzten Beobachtung ein
neues Eingreifen der Gesellschaft erforderten. 1 )
Die Bedeutung des Deutschen Vereins*) kann sich bei dem
kurzen Bestehen noch keineswegs mit dem englischen Muster-
verein messen; das erste Berichtsjahr 1899 weist 78 Fälle von
Kinderelend auf, die 177 Kinder betrafen und zum Teil mit gutem
Erfolg erledigt werden konnten. Der 2. Jahresbericht hat 215 be-
handelte Fälle aufzuweisen, die 156 Kinder betrafen, im 3. Be-
richtsjahr hat der Verein sich mit 226 Kindern befasst. Im Ent-
stehen begriffen ist eine Berliner Centralstelle für Jugendfürsorge,
die eine Verbindung aller derartigen Bestrebungen der Stadt an-
strebt und eine Auskunftstelle namentlich zur Erleichterung der
') Vgl. die Vereinsberichte, Neumann n. a. O. S. 661.
*) Vgl. die Mitteilungen des Vereins zum Schutz u. s. w. 1.— 3. Jahrg.
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Ausführung des neuen preussischen Fürsorge -Erziehungsgesetzes
einzurichten beabsichtigt; auch bei dieser Gründung sind zahl-
reiche Frauenvereine beteiligt, und einige Frauen wurden bei
der Konstituierung in den Vorstand gewählt Die Resultate aller
dieser Bestrebungen zur Rettung oder Besserung verwahrloster
oder gefährdeter Kinder sind zahlenmässig nicht zu bestimmen.
Im allgemeinen aber steht fest, dass sie die Zahl derer verringern,
die aus Gefährdeten zu Gefallenen, aus Verwahrlosten zu Ver-
brechern werden. Wohl mag in manchem Fall das misshandelte
und vernachlässigte Kind sittlich verwahrlost, das verwahrloste
Kind verbrecherisch sein, und auch die beste Erziehung mag
keinen brauchbaren Menschen aus ihm machen können. Aber es
ist nicht notwendig der Fall; ein Kind kann unter gewissen
äusseren Verhältnissen deutliche Zeichen von Verwahrlosung
zeigen und selbst Verbrechen begehen, ohne dass eine tiefere
und unheilbare Charakterschädigung vorliegt So zeigt sich denn
auch in England, wo die Zwangserziehung und die Rettungs-
versuche ihren Ursprung und ihre bedeutsamste Entwicklung
haben, der Erfolg dieser Massregeln in einer Abnahme der von
Jugendlichen begangenen Verbrechen.«)
3.
Fürsorge für die schulentlassene Jugend.
Lohnender als alle Rettungsarbeit ist jegliche Fürsorge zur
Vorbeugung vor sittlicher Gefährdung, die namcntlieh für die
schulentlassene Jugend unter den heutigen wirtschaftlichen
Verhältnissen vor allem in der Grossstadt von höchster Bedeutung
ist Es soll in Nachstehendem von allen Ausbildungsmöglichkeiten,
Fortbildungsschulen u. dergl. abgesehen werden, die durch Vor-
bereitung auf einen auskömmlichen Beruf die wirtschaftlichen Ver-
hältnisse der Jugend so zu gestalten versuchen, dass sie nicht
aus Mangel und Not der Versuchung erliegen muss; denn diese
Bestrebungen fallen mehr in das Gebiet der Erziehung und der
Berufsarbeit als der sozialen Hilfsarbeit •) Auch die Mässigkeits-
bestrebungen, die in dieser Beziehung von grösster Bedeutung
sind, sollen an andrer Stelle behandelt werden. Immerhin bleibt
noch eine ausgedehnte und sehr verschiedenartige Fürsorge für
I) Vgl. Neu mann a. a. O. S. 670.
») Vgl. Handbuch der Frauenbewegung. Teil UI u. IV.
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die schulentlassene Jugend zu erwähnen, in der sich eine Fülle
weiblicher Hilfskraft, namentlich beim Schutz der heranwachsenden
Mädchen, entfaltet, und zwar in der Gründung von Jungfrauen-
vereinen, Mägdeherbergen, Mägdeschulen, Madchenheimen, Ar-
beiterinnenheimen u. dergl. Bald sucht man zu erbauen, zu bilden,
zu belehren, bald passende Erholung nach der Arbeit, anständige
Vergnügungen zu bieten, bald für billige und gute Unterkunft zu
sorgen. Private und kirchliche Vereine bemühen sich in dieser
Richtung; zuweilen treffen auch Grossindustrielle derartige An-
ordnungen zum Wohl ihrer jugendlichen Arbeiter, überall aber
sind Frauen Leiterinnen und Helferinnen dieser Veranstaltungen.
Namentlich im letzten Jahrzehnt ist eine ausgebreitete Thätigkeit
für die weibliche evangelische Jugend aufgeblüht. ') So bestanden
von 3049 deutschen Jungfrauen vereinen vor 1890 nur 872. Die
Mitgliederzahl belauft sich (1898) auf 83844; weit über 1000 Frauen
sind an der Gründung, über 1500 an der Leitung der Vereine
beteiligt
Haushaltungsschulen, welche die Mädchen nur für einige
Stunden am Tage zur Ausbildung aufnehmen, wurden im Jahre
1898 etwa 160 errichtet; die Zahl der Schülerinnen betrug 9689.
Von diesen Anstalten waren 20 von Pastoren und Diakonissen, 10 von
kirchlichen, 48 von andern Vereinen, 55 von Privatpersonen, 12 von
Stadtbehörden oder Gemeinden, 3 von Reichsbehörden gegründet.
Ausserdem dürften noch im Anschluss an Volksschulen und Fort-
bildungskurse zahlreiche ähnliche Einrichtungen existieren.
Die Mägdebildungsanstalten, die sich von den Haushaltungs-
schulen dadurch unterscheiden, dass sie die Schülerinnen in ein
Internat für längere Zeit aufnehmen und sie daher bei Tag und
Nacht ganz unter die Leitung des Hauses stellen, sind auf Pastor
Fliedner zurückzuführen, der im Jahre 1854 mit der Gründung von
„Marthashof" in Berlin voranging. Derartige Anstalten sind wohl
infolge der grösseren Kosten weit seltener als die vorher genannten
Einrichtungen; es sollen etwa 38 bestehen. Sie stehen zum grossen
Teil unter Leitung von Diakonissen. Als eine aus freier Vereins-
thatigkeit hervorgegangene Anstalt sei das vom Berliner „Frauen-
verein zur unentgeltlichen Erziehung minorenner Mädchen für die
') Die folgende Übersicht ist den Vorberichten der IX. Konferenz der
Centralstellc far Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen entnommen, die eine —
wenn auch nicht ganz vollständige, so doch bei der Schwierigkeit der Materialbeschaffung
■usserst wertvolle — Zusammenstellung der Fursorgebcstrebungrn fQr die schulentlassene
Jugend enthalten, sowie der Statistik der Inneren Mission der deutschen evangelischen
Kirche, bearbeitet und herausgegeben vom Central-Ausschuss für Innere Mission. Berlin 1890,
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Hauswirtschaft" unter der Leitung von Frau vonSiemens und Frau
Dr. Tiburtius-Hirsch feld gegründete Madchenheim zu Marien-
felde bei Berlin erwähnt. Ein Teil der Mägdebildungsanstalten ist
mit Mägdeherbergen verbunden, deren es nach einem vom Central-
ausschuss für Innere Mission herausgegebenen Verzeichnis etwa
ioo giebt Diese bezwecken, Dienstmädchen, die Stellung suchend
vom Lande in die Grossstädte kommen, bis zum Antritt einer
Stellung Schutz und sittlichen Halt zu bieten. An die meisten
Herbergen sind Stellenvermittlungen angegliedert; im Jahre 1897
wurden von den mit den evangelischen Heimen verbundenen
Nachweisebureaus 14632 Stellen vermittelt; die Herbergen verfügten
über 1658 Betten, die von 13 338 durchreisenden Mädchen benutzt
wurden. Auch für Mädchen andrer Berufskreise bestehen eine
Anzahl Heime, die ihnen dauernd Wohnung und Kost bieten oder
die ihnen für kurze Zeit während eines Stellenwechsels oder auf
der Reise Unterkunft gegen massiges Entgelt gewähren. Unter den
ersteren sind neben einigen auf kirchlicher Grundlage beruhenden
evangelischen, katholischen und jüdischen Heimen vor allem die sehr
verbreiteten „Heimaten" der Vereine „Freundinnen junger Mädchen",
zwei von Frau Bieber- Böhm in Berlin gegründete Jugend-
schutzheime, das von Frau Naue geleitete Arbeiterinnenheim in
München zu erwähnen.
Einen wichtigen Platz in der Fürsorge für die weibliche Jugend
nehmen auch die Arbeiterinnenheime, -Hospize oder -Klubs ein. Die
Zahl dieser Anstalten ist noch sehr gering; erst in den letzten
Jahren hat die Bewegung einigen Aufschwung genommen. Das
erste Arbeiterinnenheim, das Mädchen in den Abendstunden einen
behaglichen Aufenthalt, anregende Geselligkeit und Belehrung
bietet, wurde von Frl. v. Broecker im Jahre 1896 in Dresden
gegründet; dann folgte Frau Elsa Strauss mit der Gründung des
ersten Berliner Abendheims für Arbeiterinnen (Brückenstrasse 8),
das nach kurzer Zeit des Bestehens auf Wunsch der Arbeiterinnen
auch Mittags geöffnet werden konnte. Seitdem sind vom Verein
zur Fürsorge für die weibliche Jugend in Berlin zwei weitere
Heime errichtet worden, deren eines ebenso wie das Dresdener
nach einiger Zeit auch Wohngelegenheit für die Arbeiterinnen
schuf. Auch in Leipzig und Linden bei Hannover sind solche
Abendheime eingerichtet worden; ein im Herbst 1900 in Hamburg
errichteter Arbeiterinnenklub wurde nach halbjährigem Bestehen
am 1. April 1901 schon wieder aufgelöst; als Grund dafür wird
mangelnder Besuch der Arbeiterinnen angeführt.
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Arbeiterinnenheime, die zu billigen Preisen Wohnungsgelegen-
heit bieten, sind teils für bestimmte Fabriken, teils für beliebige
Arbeiterinnen eingerichtet. Die ersteren erfordern in der Regel
bedeutende Zuschüsse von der Fabrikleitung, bei den andern
werden die Unkosten von Vereinen oder Privatpersonen getragen.
Die Zahl dieser Hospize für Fabrikarbeiterinnen ist nicht gross;
sie dürften die Zahl 40 kaum übersteigen. Einen eigenartigen
Versuch auf diesem Gebiet hat neuerdings der Evangelische
Diakonieverein unternommen, der Heime zur Aufnahme junger
Arbeiterinnen geschaffen hat, die alsdann vom Verein Arbeit in
bestimmten Fabriken zugewiesen erhalten. Für die Arbeitsleistung
wird der Verein, nicht die Arbeiterin direkt bezahlt; dafür sorgt
der Verein für den Unterhalt der Mädchen, spart für sie den Rest
ihres Verdienstes und sichert ihnen nach Ablauf einiger Jahre eine
grössere Summe. Zur Zeit bestehen zwei solche Heime. An
einzelnen Orten haben Frauenvereine, denen es an den Mitteln zur
Gründung derartiger Anstalten fehlte, Nachweise guter Schlaf-
stellen für Arbeiterinnen eingerichtet, die sich recht bewähren
sollen. Neben den evangelischen und den interkonfessionellen
Einrichtungen zum Schutz der weiblichen Jugend ist auch von
katholischer und von jüdischer Seite viel in dieser Richtung ge-
schehen. So leistet auf katholischer Seite namentlich die Fürsorge
für reisende und stellungsuchende Mädchen, die in dem Mariani-
schen Mädchenschutzverein ihren Mittelpunkt findet, Hervorragendes.
In 283 Grossstädten des Auslandes sind Zufluchtsstätten für
Lehrerinnen, Bonnen und Dienstmädchen geschaffen; in allen
deutschen Grossstädten bestehen Ortsgruppen — im ganzen 800 —
die Logierhäuscr errichtet haben. All diese katholischen An-
stalten finden ein ausgezeichnetes Personal zur Leitung und
Führung der Häuser in den weiblichen Orden, die durch
Helferinnen aus dem Laienstande unterstützt werden. Wie wertvoll
die weibliche Arbeit auf diesem Gebiet ist, geht daraus hervor,
dass ein Kenner der katholischen Liebesthätigkcit . Präses
Dr. J. Draunner in Köln, darüber sagt: „Gewiss würden wir auf
dem Gebiet der Fürsorge für die männliche Jugend noch weit
grössere Fortschritte zu verzeichnen haben, wenn uns auch hier
so treffliche Pflegekräfte (wie die weiblichen) in erhöhtem Masse
zur Verfügung ständen."
Die Übersicht über die soziale Frauenarbeit zum Schutz der
Jugend soll mit einem kurzen Bericht über den ausgebreitetsten
und vielleicht bedeutendsten Verein auf diesem Gebiet schüessen.
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Der „Verein der Freundinnen junger Mädchen" ist ein internatio-
naler Verein, von Frauen für Frauen gegründet. Er bezweckt,
jedes junge Mädchen, das allein steht, oder sich in ungeeigneter
Umgebung befindet, in seinen Schutz zu nehmen, ohne Rücksicht
auf Nationalität, Konfession und Beschäftigung. Seine Thätigkeit
ist naturgemäss international, national und lokal; diese Arbeits-
gliederung kommt auch in der Organisation zum Ausdruck.') Der
internationale Verein wurde 1877 in der Schweiz begründet; der
deutsche Zweig in demselben Jahr. (Vors. Freifrau von der Tann,
Weimar.) Er gliedert sich in 31 Landes- und Provinzialvereine,
mit denen 96 Ortsvereine verbunden sind. Er ist an 1217 deutschen
Orten vertreten; die Mitgliederzahl beträgt 3966. Die Mitglieder
unterstützen Mädchen, die ihren Wohnort verlassen, mit ihrem
Rat, geben ihnen eine ausführliche Liste von Heimathäusern,
Herbergen, Vereinen und dergl. des In- und Auslandes und melden
die Ankunft der Betreffenden einem Mitglied („Freundin" genannt)
des neuen Wohn- oder Bestimmungsortes. Dieses ist verpflichtet,
dem Mädchen mit Rat beizustehen, es in einem Logierhaus
oder einer gut beleumundeten Stellenvermittlung unterzubringen,
es erforderlichenfalls vom Bahnhof abzuholen oder abholen
zu lassen.
Die „Deutsche Bahnhofsmission", die vielfach durch Personal-
union mit dem „Verein der Freundinnen junger Mädchen" ver-
bunden ist, bezweckt den Schutz der alleinreisenden weiblichen
Jugend aller Berufsarten vor Ausbeutung und Verführung während
der Reise vom Heimatort an bis zur endgiltigen Unterkunft am
Bestimmungsort. Es bestehen zur Zeit an 54 Orten Bahnhofs-
missionen, davon in Preussen 38 (Berlin auf 9 Bahnhöfen mit
14 Vorstationen in der Provinz Brandenburg), Hannover (Stadt) 1,
Hessen-Nassau 2 (Frankfurt a. M. und Wiesbaden), Rheinprovinz 6
(Aachen, Bonn, Düsseldorf, Elberfeld. Essen, Köln), Sachsen 9
(Magdeburg und Halle mit ihren Vorstationen und Stendal),
Schlesien 1 (Breslau), Schleswig- Holstein 1 (Kiel). Westfalen 1
(Bielefeld), Westpreussen 1 (Dirschau), Pommern 1 (Stettin),
Posen 1 (Ostrowo). Im übrigen Deutschland 16; davon Anhalt 1
(Dessau), Baden 4 (Karlsruhe, Heidelberg, Mannheim, Freiburg),
Bayern 3 (München, Nürnberg, Kronach), Braunschweig z,
Hamburg 1, Königreich Sachsen 6 (Dresden und Leipzig mit Vor-
stationen, Freiberg).
') Vgl. Vorberichte der Ccntralsicllcn-Konfcrenz u. s. w. S. 130,
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— log -
Die erste Bahnhofsmission ist 1894 in Berlin von dem Verein
zur Fürsorge für die weibliche Jugend gegründet worden. Vorher
wurden zwar auch schon in manchen Städten von den Vereinen
der Freundinnen junger Mädchen, von evangelischen Jungfrauen-
vereinen, Mädchenherbergen und Marthahäusern die ihnen an-
gemeldeten jungen Mädchen auf den Bahnhöfen empfangen, aber
das geschah doch nur sporadisch; systematisch organisiert ist die
Bahnhofsmission erst seit 1894. In den darauf folgenden Jahren
wurde sie in andern Grossstädten (Hamburg, Leipzig, Frank-
furt a. M., Stettin u. a.) von Frauenvereinen, Stadtmissionen,
Freundinnen junger Mädchen, Mädchenschutzvereinen oder von
Privatpersonen eingerichtet.
Im Oktober 1897 schlössen sich alle bestehenden Bahnhofs-
missionen zu einer „deutschen Bahnhofsmission" zusammen, welche
seitdem ein einheitliches Abzeichen für die Helferinnen: weisse
Binde am Arm mit rosa Kreuz und Aufschrift: „Fürsorge für die
weibliche Jugend" eingeführt und auf den Strecken aller
preussischen und auch schon mehrerer andrer deutscher Bahn-
verwaltungen gegen 40000 Plakate in den Eisenbahnwaggons
3. und 4. Klasse unter demselben Abzeichen und mit den not-
wendigen Adressen angebracht hat.
Die Zahl der freiwilligen Helferinnen ist nicht genau fest-
zustellen, da von verschiedenen Bahnhofsmissionen die Angaben
fehlen. Es sind etwa 3—400 Damen ehrenamtlich auf den Bahn-
höfen thätig; 7 der grösseren Bahnhofsmissionen haben ausserdem
noch 13 Berufsarbeiterinnen angestellt und zwar zwei Diakonissen,
sonst frei ausgebildete Berufsarbeiterinnen.
Alle Bahnhofsmissionen treiben den Bahnhofsdienst an jedem
Quartalszuzug (April, Oktober, Januar, Juli, bezw. Mai, November)
3 — 8 Tage lang. 4 Bahnhofsmissionen (Hamburg, München,
Hannover, Ostrowo) haben das ganze Jahr hindurch täglich Bahn-
hofsdienst, die übrigen Bahnhofsmissionen haben meist noch an
jedem ersten und fünfzehnten im Monat, sowie an einigen lokalen
Zuzugsterminen, z. B. Lichtmess, 11. Mai, 12. November u. s. w.,
die Bahnhöfe mit Helferinnen besetzt, und alle holen das ganze
Jahr hindurch jedes Mädchen ab, dessen Ankunft ihnen vorher
mitgeteilt wird. 1 )
Dieser skizzenhafte Überblick über die vielseitigen Bestrebungen
der Jugendfürsorge kann nur in grossen Zügen das unermessliche
») Vgl Vorberkhte etc. S. 158.
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— HO —
Arbeitsfeld kennzeichnen, das von der sozialen Frauenthätigkeit
in Angriff genommen ist. So mannigfach und zahlreich auch
gerade auf diesem ureigensten Gebiet der Frauenarbeit die Ver-
suche zur Hilfe sind, so ruft die verhältnismässig kleine Zahl der
Kinder, denen dadurch geholfen wird, doch unwillkürlich das
Dichterwort in der Erinnerung wach:
„Das Wenige verschwindet leicht dem Blick,
Der vorwärts sieht, wie viel noch übrig bleibt."
Wo Tausende von Kindern, von heranwachsenden Knaben
und Mädchen, heut durch öffentliche oder private Hilfsarbeit ver-
sorgt werden, gehen Hunderttausende leer aus. Auch diesen zu
helfen, auch sie zu versorgen, dazu bedarf es der Kraft des
Wissens, des Geldes, der Zeit und des Wollens unzähliger Frauen,
und eine jede, die nach ihren Verhältnissen hilft, kann zu der
Erfüllung dieser Aufgabe beitragen.
VL
Sonstige Wohlfahrtsbestrebungen.
Erweiterung des Arbeltsgebietes der sozialen Hilfsarbeit,
t Arbeltsvermittlung. 2. Wohnungspflege. 8. VolksheilstAtten ;
Pollklinik und Pflegestation für Frauen.
4. Volksbildungsbestrebungen.
Wenn auch soziale Missstände ebenso wenig ein besonderes
Merkmal der neueren Zeit sind, wie Wohlfahrtsbestrebungen, die
sie zu mildern oder zu beseitigen suchen, so ist doch nicht zu
verkennen, dass der kompliziertere wirtschaftliche Organismus der
heutigen Kulturstaaten breitere Schichten der Bevölkerung materielle
und geistige Not empfinden lässt, als es früher der Fall war. Als
Folge davon tauchen Tausende von Projekten zur Hebung von
Not und Unzufriedenheit auf, die entweder als Aktionen der
Selbsthilfe, der Staatshilfe oder der Nächstenhilfe geplant und in
Angriff genommen werden. Auch die letzteren gehen weit über
die philanthropischen Hilfeleistungen früherer Zeiten hinaus, die
sich auf Speisung der Hungrigen, Kleidung der Frierenden, Ge-
währung von Obdach an Obdachlose, Heilung von Kranken und
dergleichen beschränkten. Den geistigen und sittlichen Bedürfnissen
der besitzlosen Volksklassen, ihrem Wunsch nach Bildung versucht
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— III —
man Rechnung zu tragen; die heutigen Wohlfahrtsbestrebungen
umfassen alles, was die besitzlosen Klassen dem Lebenskampf
gegenüber widerstandsfähiger machen, was die Familie als Ganzes
aufbauen oder erhalten, was ihre einzelnen Glieder geistig und
körperlich aufrichten oder fördern kann. Wie sich die Wohlfahrts-
pflege allmählich ausdehnte und vertiefte, so erweiterte sich auch
die Frauenthätigkeit in derselben über die bereits geschilderten
Gebiete hinaus, und es kann kaum ein Arbeitsfeld der Wohlfahrts-
pflege gedacht werden, auf dem Frauenthätigkeit ganz mangelte.
Gleichwohl ist das Mass ihrer Beteiligung sehr verschieden; von
besonderem Wert und besonderer Bedeutung, wenn auch zum Teil
noch von geringem Umfang, ist die Frauenarbeit bei der Arbeits-
vermittlung, der Wohnungspflege, der Volksheilstättenbewegung
und den Volksbildungsversuchen.
1.
Arbeitsvermittlung. l )
Während die Armenpflege und die verwandten Gebiete, von
denen die vorhergehenden Abschnitte handelten, sich im engeren
Sinne mit denen beschäftigen, die nicht in der Lage sind, für sich
selbst zu sorgen, gelten die Bemühungen der Arbeitsvermittlung
allen auf den Erwerb angewiesenen Menschen, die zwar in der
Lage und gewillt sind, durch Arbeit für ihren Unterhalt einzu-
treten, die aber die Gelegenheit zur Arbeit suchen müssen.
Seit etwa 200 Jahren, seit den Ausführungen Defoe's, ist die
Arbeitsbeschaffung und -Vermittlung Gegenstand lebhafter Er-
örterungen und verschiedenartiger Versuche, und das Wort von
dem „Recht auf Arbeit" ist geradezu zum Schlagwort geworden.
Die ganz eigenartigen Versuche zur Lösung der aus Arbeitslosig-
keit entstehenden Notstände, wie die Pariser Nationalwerkstätten,
die Arbeitshäuser, die „ausgleichende Lohnskala 44 der englischen
Gemeinden zu Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts u. s. w.
sind nur Beweise dafür, dass man die Wichtigkeit dieser Frage
nicht unterschätzte und nach Möglichkeiten suchte, jedem Volks-
genossen nach seinen Kräften und seinem Bedürfnis Arbeit
») Vgl. v. Reitzenstein, Der Arbeitsnachweis. Berlin 1897. Evert, Die Arbeits-
vermittlung in Preussen wahrend de* Jahres 1804. Berlin 1896 Zeitschriften : Soziale
Praxis. X. Jahrg., hrsg. von Professor Ernst Francke. Der Arbeitsmarkt. 4. Jahrg..
hrsg. von Sudtrat Jastrow-Charlottenburg.
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112 —
zu verschaffen. Aber all diesen Versuchen kann man nur die
traurige Thatsache entnehmen, dass Arbeit, für die kein natürliches
Bedürfnis vorhanden, nicht künstlich geschaffen, dass die Forderung
„des Rechtes auf Arbeit" durch die Gesellschaft nicht immer
in befriedigender Weise erfüllt werden kann. In sehr erheblicher
Weise jedoch kann die Arbeitslosigkeit als eine Begleiterscheinung
des heutigen komplizierten Wirtschaftssystems verringert werden,
wenn die vorhandene Arbeitsgelegenheit dem Arbeitsuchenden zur
Kenntnis gebracht, vermittelt wird.') Die neueren Bestrebungen
der Fürsorge für Arbeitslose haben denn auch ihren Mittelpunkt
in der Organisation von unparteiisch und gemeinnützig geleiteten
Arbeitsnachweisanstalten, Stellenvermittlungen und dergl. gefunden,
die auch für die Frauen um so grössere Bedeutung gewinnen, je
mehr sich Frauen der Erwerbsarbeit zuwenden. Die isolierte Frau
kann den Arbeitsmarkt nicht übersehen; die persönliche Anfrage
an Arbeitsstellen ist nur ein sehr primitives Mittel; Anzeigen in
Zeitungen sind teuer; von gewerbsmässigen Stellenvermittlern
werden die Arbeitsuchenden aller Berufskreise vielfach ausgebeutet.
Darüber wird namentlich von Schauspielerinnen, Dienstmädchen
und Kellnerinnen geklagt. Diesen Missständen sollen Arbeitsnach-
weise begegnen, die in gemeinnütziger Absicht eingerichtet werden,
um Angebot und Nachfrage miteinander in Verbindung zu bringen,
damit alle Arbeitsstellen eines Ortes so schnell wie möglich be-
kannt werden und besetzt werden können. Erfolgreicher gestaltet
sich die Thätigkeit der Stellenvermittlung noch, wenn die Ein-
richtungen mehrerer benachbarter Orte, ganzer Kreise, Provinzen
und Staaten miteinander in Verbindung treten , um etwaigen
Mangel an Arbeitskräften an einem Ort durch den etwaigen Über-
fluss daran am andern Ort auszugleichen.
Ausser dem Stellen vermittlungsgewcrbe, das mit sozialer
Hilfsarbeit nichts zu thun hat, sind der berufsgenossenschaftliche
Arbeitsnachweis und der Arbeitsnachweis, der von gemeinnützigen
Vereinen und Anstalten, von Gemeinden, öffentlichen Ver-
waltungen u. dergl. errichtet wird, zu unterscheiden. Der berufs-
genossenschaftliche Arbeitsnachweis ist infolge der mangelhaften
Berufsorganisationen von Frauen noch wenig ausgebildet. Für
die industriellen, landwirtschaftlichen und in häuslichen Diensten
stehenden Arbeiterinnen ist er bisher in Deutschland noch ohne
jede Bedeutung. Erfolgreicher sind die Versuche von Angehörigen
«) VgL Münsterbcrg: Die Armenpflege S. iao.
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- H3 -
der sogenannten höheren Berufsarten. Vielfach haben Fachvereine
von Lehrerinnen, sowie von Handelsgehilfinnen, Ladnerinnen u. s. w.
eigene Stellennachweise eingerichtet, die, ausschliesslich auf dem
Prinzip genossenschaftlicher Selbsthilfe beruhend, in diesem Zu-
sammenhang nicht zu behandeln sind. 1 ) Etwas anders liegen die
Verhältnisse bei der Stellenvermittlung des über ganz Deutschland
ausgebreiteten Vereins für Hausbeamtinnen, die den Stellennachweis
für Gesellschafterinnen, Hausdamen, Wirtschafterinnen u. s. w.
umfasst. Die Organisation und der Vermittlungsdienst wird nicht
von Berufsangehörigen, sondern zumeist von freiwilligen Hilfs-
kräften besorgt Leiterin der Centraistellenvermittlung ist Frau
Anna Schmidt in Leipzig; in den einzelnen Bezirken liegt der
Nachweis in der Hand von Agenturen. Zur Erstattung der Un-
kosten hat jede Hausbeamtin nach Antritt der vermittelten Stelle
2 Mark zu entrichten; der gleiche Betrag ist vom Auftraggeber
zu zahlen.
Weit zahlreicher als die berufsgenossenschaftlichen und für
grössere Frauenkreise in Betracht kommend sind die von Kom-
munalverbänden oder Vereinen eingerichteten gemeinnützigen
Arbeitsnachweise. Zahlreiche von Gemeinden oder mit behörd-
licher Unterstützung eingerichtete Nachweisanstalten für männliche
und weibliche Arbeiter haben sich zu einem deutschen Arbeits-
nachweisverband zusammengeschlossen, dessen Organ „Der Arbeits-
markt" von Stadtrat Dr. J. J a st row- Charlottenburg herausgegeben
wird. Einzelne dieser Anstalten haben besondere Abteilungen für
die weibliche Stellenvermittlung eingerichtet, die von Frauen ge-
leitet werden; zum Teil von berufsmässig thätigen, besoldeten
Kräften, die aber manchmal von freiwilligen Helferinnen — leider
noch in sehr geringem Umfang — unterstützt werden. Je mehr
die behördlichen oder von behördlicher Seite unterstützten Nach-
weise sich der Vermittlung für Arbeiterinnen, namentlich auch für
weibliches Dienstpersonal zuwenden, desto weiter dehnt sich auch
das kommunale Arbeitsfeld der Frauen aus. Denn die Heran-
ziehung von Frauen zur Errichtung und Leitung der Nachweis-
stellen in fest umschriebener, amtlicher Stellung muss als dringende
Notwendigkeit bezeichnet werden.
Ausser diesen behördlichen Anstalten bestehen eine Reihe
privater, von Frauenvereinen errichteter Stellenvermittlungen, die
sich in der Regel an Ausbildungsanstalten, Herbergen, Heime u.dergl.
i) VgL Handbuch der Frauenbewegung Teil IV.
Handbuch der Frauenbewegung. IL TeiL 8
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— U4 —
angliedern. Hierbei sind Nachweise für die höhere und für die
niedere Art weiblicher Arbeit zu unterscheiden. Für die erstere
sind namentlich zwei Organisationen zu nennen, die durch um-
fassende Fürsorge auf dem Gebiet der Stellenvermittlung bekannt
sind: der Letteverein in Berlin und der badische Frauenverein. ')
Bei beiden ist der Arbeitsnachweis eine Ergänzung der allgemeinen
Vereinsbestrebungen, die auf Ausbildung der Frauen zu den ver-
schiedensten Enverbszweigen abzielen. Das von einer Frau geleitete
Stellenvermittlungsbüreau des Lettevereins vermittelt Stellungen
für Erzieherinnen, Kindergärtnerinnen, Buchhalterinnen, Kunst-
stickerinnen u. dergl., ohne eine Einschreibegebühr zu verlangen.
Nach Abschluss eines Engagements werden Arbeitgeber und Arbeit-
nehmerin aufgefordert, Mitglieder des Vereins zu werden oder
einen einmaligen Beitrag von mindestens 3 Mark zu entrichten;
die Stellungsuchenden erhalten dadurch das Recht, die Stellen-
vermittlung nochmals im Laufe eines Jahres unentgeltlich zu be-
nutzen. Das Stellenvermittlungsbüreau für Frauen der gebildeten
Stände, das vom badischen Frauenverein *) errichtet ist, vermittelt
Stellungen für Gesellschafterinnen, Erzieherinnen, Stützen der
Hausfrau, Vorsteherinnen von Krankenhäusern, Sanatorien, Privat-
kliniken, Buchhalterinnen, Leiterinnen von Haushaltungs- und Koch-
schulen, Kunststickerei- und Buchbinderschulen, Kindergärtnerinnen
und Jungfern. Das Büreau erteilt auch sachverständigen Rat bei
der Berufswahl.
Die Nachweise für die niedere Art weiblicher Arbeit lehnen
sich im allgemeinen an Anstalten und Vereine an. die den Schutz
der Arbeiterinnen und Dienstmädchen gegen sittliche Gefahren
bezwecken, an Haushaltungsschulen, Arbeiterinnenheime, Mägde-
herbergen u. s. w. Ein grosser Teil dieser Vereine hat kon-
fessionellen Charakter, doch ist die Stellenvermittlung häufig frei
von konfessionellen Rücksichten. Ausser diesen Vereinen und
Anstalten befassen sich auch nicht konfessionelle Vereine mit
weiblicher Stellenvermittlung; so der Berliner Hausfrauen verein,
der von Lina Morgenstern gegründet ist und von ihr geleitet
wird, der Verein Jugendschutz-Bcrlin (Vorsitzende : HannaBieber-
Böhm), das Pestalozzi-Fröbelhaus-Berlin (Vorsitzende: Auguste
Friedemann), der Verein zur Hebung der Sittlichkeit, der in
Berlin die von Lina Morgenstern und Dr. Henriette
Tiburtius gegründete Mägdeherberge und Stellenvermittlung am
') Siehe die Jahresberichte.
») V K L 4 a Jahresbericht des badischen Frauenvereins S. 16.
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- ii5 -
Stadtbahnhot Börse unterhält, und zahlreiche andre in allen
Teilen des Landes. Überall werden diese Nachweise von Frauen-
vereinen erhalten und geleitet, die teils beruflich thätige, teils
freiwillige Arbeitskräfte mit dem eigentlichen Vermittlungsdienst
betrauen. ')
2.
Wohnungspflege.
Wie die Fürsorge für Arbeitslose erst in den letzten Jahr-
zehnten zu einer umfassenderen Organisation von Arbeitsnachweisen
geführt hat, so ist auch der Begriff der Wohnungspflege erst in
jüngster Zeit entstanden. Früher beschränkte man sich darauf, den
Obdachlosen eine Zufluchtsstätte zu bieten, eine Aufgabe, die
heut im allgemeinen von der öffentlichen Armenverwaltung in
ausreichendem Masse übernommen worden ist. Die private Wohl-
fahrtspflege hat sich daher weiteren Fragen zuwenden können und
sich damit beschäftigt, ob die Wohnstätten der Bedürftigen, der
ärmeren Klassen auch den Anforderungen entsprechen, die in
hygienischer und sittlicher Beziehung gestellt werden müssen.
Über die Mängel, die in dieser Beziehung zu Tage treten, sagt
Biermer im Elsterschen Wörterbuch der Volkswirtschaft:*)
Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, dass nur ein
verhältnismässig kleiner Bruchteil der ärmeren Bevölkerung in Woh-
nungen lebt, welche den Anforderungen an eine würdige Heimstätte
des behaglichen Familienlebens und der dem Wirtshausbesuch ab-
gewandten Erholung entsprechen. Die Entartung der Wohnungen in
reine Schlafstellen ist so eingewurzelt, dass die Beteiligten den richtigen
Sinn für eine gemütliche, dem FamilienglQck und der Erziehung des
Nachwuchses gewidmete Häuslichkeit fast ganz verloren haben. Daraus
erwachsen der Gesamtheit des sozialen Organismus ernste und schwere
Gefahren, die nur durch Besserung der Wohnungssitten und Hebung
der Lebensanschauungen gebannt werden können. Indem man den
festgewurzelten Gewohnheiten entgegenarbeitet, die Volkserziehung
pflegt, den Geist der genossenschaftlichen Selbsthilfe und der privaten
gemeinnützigen Thätigkeit weckt, eröffnet sich ein weites, fruchtbares
und dankbares Thätigkeitsgebiet der gesellschaftlichen Reform. In
erster Linie hat man erzieherisch auf die unteren Klassen einzuwirken,
damit sie den Wert einer guten Wohnung schätzen lernen. Die Be-
dürfnisse müssen höher gespannt und in Einklang mit den kulturellen
Fortschritten gebracht werden.
i) VgL im übrigen: Handbuch der Frauenbewegung, Teil IV, .Die deutsche Frau im Beruf'
») A. a. O. IL Bd., S. 903.
8*
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— n6 —
Das ist nun so recht eigentlich Frauenarbeit, und während
bei der Beschaffung resp. Herstellung kleiner, gesunder und billiger
Arbeiterwohnungen (durch Baugenossenschaften, gemeinnützige
Baugesellschaften, Spar- und Bauvereine) Frauen nur in geringem
Umfange mitarbeiten, in der Regel nur durch Stiftungen oder
durch Erwerb von Aktien diese Unternehmungen pekuniär unter-
stützen konnten, hat die Frauenthätigkeit der eigentlichen Wohnungs-
pflege geradezu die ersten Impulse gegeben.
Auf Octavia Hill 1 ), eine warmherzige, energische Frau, sind
die ersten organisierten Versuche der Wohnungspflege zurück-
zuführen; sie wollte die schmutzigen, verwahrlosten Wohnungen
der Armen im Osten Londons zu gesunden, wohnlichen Behausungen
umgestalten und durch ein freundliches und anständiges Heim die
Lebenshaltung und das sittliche Bewusstsein der verkommenden
Klassen Londons heben. Jahrelang hatte sie diesen Plan mit sich
herum getragen, der sich ihr aus den Erfahrungen des Vereins-
lebens wie aus fleissigen Studien ergeben hatte, ehe sie 1873 mit
Hilfe eines grossmütigen Freundes den Anfang zu seiner Aus-
führung machte. Sie kaufte drei verwahrloste Häuser in einem
armen Stadtteil Londons, Hess sie gründlich reinigen und in Stand
setzen und zu kleinen Arbeiterwohnungen (meist nur aus einem
Raum bestehend) herrichten. Zu billigem Mietspreis gab Miss Hill
sie an die sich zahlreich meldenden Mieter ab, stellte aber die
Bedingung strengster Innehaltung aller Vorschriften der Haus-
ordnung, die sich auf Ordnung, Reinlichkeit, Sittlichkeit und
pünktliche Zahlung bezogen. Die Miete zog sie selbst wöchentlich
ein; es wurde streng darauf gehalten, dass niemand damit im
Rückstand blieb. Ihre feste und ruhige Haltung als Wirtin, ihr
würdiges Beispiel wirkten erzieherisch auf die Armen; ihre un-
ermüdliche Rats- und Hilfsbereitschaft, ihre Fürsorge für die
Kinder, ihr warmherziger Anteil an dem Arbeitsleben und den
Geschicken ihrer Mieter, die sie in Zeiten der Arbeitslosigkeit mit
Instandsetzung der Häuser beschäftigte, um ihnen Verdienst zu
schaffen, gewannen ihr Liebe und Vertrauen. Sie legte Wasch-
häuser, Spielplätze an, erbaute einen Versammlungssaal für ihre
Mieter, in dem sie den Frauen und heranwachsenden Mädchen
Unterricht erteilen Hess. Für die jährlichen Reparaturen jedes
Hauses ward eine bestimmte Summe ausgesetzt; was daran durch
Achtsamkeit der Mieter erspart wurde, wurde auf Verbesserung
') VjL Octavia Hill: Horoes of the London poor. London »88a Sohr a. a.O. S.33.
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— n 7 -
und Verschönerung der einzelnen Wohnungen verwandt, bei denen
die besonderen Wünsche der Bewohner in Betracht gezogen wurden.
Nach einem Jahr war Miss Hill bereits Wirtin und Verwalterin von
15 Häusern und Leiterin eines Frauenvereins, der die Einziehung der
Mieten besorgte und sie bei der Verwaltung der Häuser unterstützte.
Die regelmässigen, allwöchentlichen Besuche ihrer Helferinnen behufs
Einziehung der Miete wurden ein ausgezeichnetes Mittel, auf die
Armen einzuwirken, sie an Sparsamkeit, geschickte und ordentliche
Wirtschaftsführung zu gewöhnen. Sie ermöglichten den Vereins-
mitgliedern, die Verhältnisse zahlreicher bedürftiger Familien nicht
durch Almosen, sondern durch Erziehung zur Selbsthilfe zu bessern.
Nach dem Beispiel von Miss Hill sind auch in Deutschland
ahnliche Versuche gemacht worden. In Berlin bildete sich 1891
gleichfalls ein „Octavia Hill -Verein" unter Vorsitz der Frau
Cardinal von Widdern. Der Verein nahm sechs Häuser des
Vereins zur Verbesserung der kleinen Wohnungen und vier
der Grundkreditbank in Charlottenburg gehörige Häuser unter
seine Obhut, von denen ein Teil wieder aufgegeben wurde, weil
die Häuser in andern Besitz übergingen. Seitdem ist noch
der ausgedehnte Gebäudekomplex „Meyers Hof" in der Acker-
strasse und der „Markushof" in der Blumenstrasse dazu gekommen.
Bei den ganz andern Wohnungs- und Mietsverhältnissen Berlins
hat man aber auf das Einziehen der Mieten durch die Vereins-
helferinnen vielfach verzichten müssen; man stellt die Einrichtung
von Kindergärten und Horten, von Unterhaltungsabenden für
die Mieter in den Vordergrund und befestigt die auf diese
Weise geknüpften Beziehungen erst durch Besuche in den
Wohnungen der Familien. Ähnliche Einrichtungen werden auch
in einzelnen Häusern der Berliner Spar- und Baugenossenschaft,
femer in Leipzig u. a. O. getroffen. Überall ist der Gedanke Aus-
gangspunkt und Mittelpunkt dieser Bestrebungen, durch die
Wohnungspflege den Sinn für behagliche Heimstätten in den
arbeitenden Volkskreisen zu heben, ihre Bedürfnisse in Einklang
mit den Anforderungen zu bringen, die in sittlicher und hygienischer
Beziehung an die Wohnstätten auch des Ärmsten gestellt werden
müssen und ihnen die Mittel zur Befriedigung derselben an die
Hand zu geben. Dies Arbeitsfeld, das bisher noch wenig bebaut
worden ist, bietet der Frau Gelegenheit zur Bethätigung dessen,
was sie nicht nur ebenso gut wie der Mann, sondern besser als
der Mann ausüben kann: Pflege des Hauses, Erhaltung und Aufbau
der Familie zum Wohle des Einzelnen und der Gesamtheit
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— n8 —
3.
Volksheilstätten. Poliklinik und Pflegestation für Frauen.
Neuerdings beginnen die Frauenvereine auch, sich an den Be-
strebungen zur Bekämpfung der Tuberkulose — namentlich durch
Errichtung von Volksheilstätten — zu beteiligen. Doch ist der
Umfang der Frauenarbeit auf diesem Gebiet noch verhältnismässig
gering gegenüber den grossen Leistungen der Landesversicherungs-
anstaltcn, Krankenkassen, Gemeinden und des Staates. ') Mehrfach
haben die Heilstättenvereine besondere „Frauenkomitees", die sich
namentlich um die Einrichtung und Leitung der Anstalten ver-
dient machen; so der unter dem Protektorat der Kaiserin stehende
„Berlin-Brandenburger Heilstättenverein für Lungenkranke* 4 (Vor-
sitzende des Frauenkomitees Frau von Leyden) und der unter
gleichem Protektorat stehende „Volksheilstättenverein vom roten
Kreuz" (Vorsitzende des Frauenkomitees Prinzessin Elisabeth
von Hohenlohe-Schillingsfürst), die beide grosse Heilstätten
für Angehörige der Provinz Brandenburg unterhalten. Ferner sind
von Frauenvereinen folgende Anstalten geschaffen: Die „Sophien-
heilstätte" vom patriotischen Institut der Frauenvereine in Sachsen-
Weimar; die Heilstätte „Oberkaufungen" des Vaterländischen Frauen-
vereins in Kassel ; zwei Tageserholungsstätten bei Berlin von einem
besonderen unter Vorsitz der Frau Minister Studt stehenden
Komitee des oben genannten Volksheilstättenvereins vom roten
Kreuz; zwei Stationen für Lungenkranke im Anschluss an die
allgemeinen Krankenhäuser des Vaterländischen Frauenvereins der
Provinz Brandenburg.
Auch der Badische Frauenverein ist diesen Bestrebungen seit
dem Jahre 1899 auf Anregung der Grossherzogin näher getreten,
und seinen Mitgliedern ist aufgegeben, durch Aufklärung, Vor-
beugung und Einleitung des Heilverfahrens an der Bekämpfung
dieser gefährlichen Volksseuche mitzuwirken.
Wie weit Frauen an der Errichtung oder Leitung andrer
Heilstätten für Lungenkranke beteiligt sind, geht aus den Berichten
nicht hervor. Im März 1901 bestanden in Deutschland 43 Heil-
stätten, für 19 weitere steht die Eröffnung im Laufe des Jahres
bevor; für 16 andre ist die Errichtung geplant. Ausserdem stehen
noch 16 private Lungenheilstätten gegen ermässigte Verpflegungs-
') Vgl Dr. Pannwitz: Der Sund der Tuberkulose- Bekämpfung im Frühjahr 1901.
Berlin 1901, und Blatter des Badischen Frauenvercin», »5. Jahrg., No. 9— 11.
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— ii 9 —
sätze unbemittelten oder minderbemittelten Patienten zur Ver-
fügung. Auch auf Kosten der Krankenkassen und Versicherungs-
anstalten werden Pfleglinge dort untergebracht. Deutschland steht
mit diesen Einrichtungen zur Bekämpfung der Tuberkulose allen
andern Ländern weit voran; das gesamte Ausland hat nur 99
derartige Anstalten aufzuweisen.
Eine Wohlfahrtseinrichtung, die ihren ganzen Voraussetzungen
nach in den modernen Frauenbestrebungen wurzelt, mag hier noch
Erwähnung finden: die von Berliner Ärztinnen geschaffene Poli-
klinik für Frauen und Kinder in Berlin und die im Anschluss
daran begründete Pflegestation. In der von Frl. Dr. Lehmus und
Frl. Dr. Tiburtius auf Anregung von Fr. Tiburtius-Hirsch-
feld D. D. S. eingerichteten Poliklinik wurden seit ihrem Bestehen
(1878) bis 1900 ca. 25000 Fälle behandelt Die Pflegestation, in
der unbemittelte Frauen längere Behandlung durch Ärztinnen finden
können, arbeitet bis jetzt noch in kleinerem Massstabe (3—4 Betten),
doch ist, da der vorhandene Raum den Anforderungen nicht mehr
genügt, eine Vergrösserung ins Auge gefasst
4.
Volksunterhaltungen und Volksbildungsbestrebungen. ')
Seitdem sich das sozialpolitische Gewissen der besitzenden
Klassen geschärft hat und sie einsehen lernten, dass Wissenschaft
und Kunst nicht Vorrechte der Besitzenden sein dürfen, hat man
vielfach versucht, durch Volksbildungsbestrebungen einen gemein-
samen Boden der Verständigung, Belehrung, der Geselligkeit und
Unterhaltung für Besitzende und Nichtbesitzende zu schaffen.
Namentlich in England haben die sozialen Lehren eines Kingsley,
eines Ruskin, die dann durch Arnold Toynbee aufgegriffen und
in praktische Versuche umgesetzt wurden, weiteste Kreise der
Gebildeten für den Gedanken erwärmt, das Verlangen wissens-
durstiger Volkskreise zu befriedigen. Da die Arbeiter nicht zu
den Universitäten kommen können, haben die Universitäten
Englands sich in den Arbeitervierteln der grossen Städte Bildungs-
centren, Volkshochschulen geschaffen, die zu einem Mittelpunkt
für die Verbreitung von „Volksbildung", für eine sozialethische
») Vgl. Bierin er: Volksbildungsvereine in Elster a. a. O. Bd. II. Marie Hecht:
Bericht Ober Volksuntcrhaltungsabende und die Beteiligung von Frauen an derartigen Ver-
anstaltungen in Neue Bahnen, 34. Bd., No. »3.
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— 120 —
Volkserziehung geworden sind, aber auch zugleich zu einer Schule
des sozialpolitischen Verständnisses der Gebildeten. Diese mächtige
Bewegung, an der auch Frauen lebhaftesten Anteil nehmen, hat
auch nach Deutschland ihre Wellen geworfen, und man hat hier
in verschiedenster Weise versucht, den Bildungsdrang der
arbeitenden Volksschichten zu befriedigen. Ausser der Massen-
verbreitung guter und billiger Schriften dienen diesem Zweck
öffentliche Lesehallen und Volksbibliotheken; Vereine, die gemein-
verständliche Vorträge oder Vortragskurse veranstalten, oder
Volksunterhaltungsabende, die sowohl Vorträge als auch
musikalische und theatralische Aufführungen darbieten. Schon
ehe diese verschiedenartigen Unternehmungen ins Leben traten,
haben Frauen anregend und vorbildlich in dieser Beziehung
gewirkt. So fand bereits im Jahre 1865 die erste vom Leipziger
Frauenbildungsverein arrangierte Abendunterhaltung für Frauen
statt, deren Programm bereits dieselben Darbietungen nennt, die
jetzt bei solchen Veranstaltungen üblich sind. 1 ) Seitdem hat der
Frauenbildungsverein diese Veranstaltungen regelmässig mit
dauerndem Erfolg gepflegt.
Der Allgemeine Deutsche Frauenverein, dessen Anfänge in
dem Leipziger Frauenbildungsverein liegen, hat diese Idee allmählich
in viele Städte Deutschlands getragen, und allerwärts wurden nach
dem Leipziger Vorbild Unterhaltungs- und Bildungsabende für
Frauen eingerichtet. Auch der Bremer Fortbildungsverein begann
schon 1869 Sonntagsunterhaltungen einzurichten, die seitdem gleich-
falls mit Eifer fortgeführt worden sind und neben andern, später
getroffenen Einrichtungen in Bremen erfolgreich wirken. In den
siebziger und achtziger Jahren, als das Interesse sozial denkender
Männer an solchen Unternehmungen erwachte und namentlich unter
Leitung von Schulze-Delitzsch, Franz Duncker, Max
Hirsch u. a. die „Gesellschaft für Verbreitung von Volks-
bildung", die „Humboldt-Vereine" u. s. w. ins Leben gerufen
wurden, suchten auch diese die Mitarbeit der Frauen zur reicheren
Ausgestaltung ihrer Unterhaltungsabende und Bildungsbestrebungen
So sind verschiedentlich Frauen als Dozentinnen an die Berliner
Humboldt- Akademie berufen worden. Daneben ist nach wie
vor die selbständige Einrichtung solcher Veranstaltungen ein
Programmpunkt der Frauenvereine in grossen und kleinen Städten
geblieben. Namentlich im Osten, in Tilsit und Königsberg,
») VgL Louise Otto-Peters: Du i. Vierteljahrhundert de« Allg. D. Frauenvereins.
Leipxig 189a Neue Bahnen, i. Jahrg. — 35. Jahrg.
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— 121 —
hat die Initiative der Trauen den Volksbildungsbestrebungcn
allgemeines Interesse erworben und auch zu Einrichtungen
grossen Stils geführt, die von Vereinen und Komitees geleitet
werden, in denen auf die Mitarbeit der Frauen grösstcr Wert
gelegt wird.') Abgesehen von der Organisation können aber
die Frauen auch für die Darbietungen bei diesen Veranstaltungen
gar nicht entbehrt werden. Namentlich in kleineren Städten können
nicht immer Künstler und Künstlerinnen gewonnen werden, und
man ist für die musikalischen Leistungen auf Dilettanten angewiesen.
Bei dem bisherigen weiblichen Bildungsgang haben Frauen aber
mehr Zeit und Gelegenheit, ein musikalisches Talent so auszubilden,
dass es sich für derartige grössere Unterhaltungszwecke eignet.
Auch ist den Frauen die Gabe eigentümlicher, in populärer, leicht
fasslicher Weise Vorträge zu halten; ein Thema, das alle Kreise
interessiert, ist auch für die Mutter, die Hausfrau leichter zu finden,
als für den Mann. Die gemeinsamen Interessen sind zahlreicher;
in Freud und Leid verstehen sie einander leichter. Lehrerinnen-
vereine, vor allem die Ortsgruppen des Landesvereins preussischer
Volksschullehrerinnen, haben in den Vereinigungen Schulentlassener,
wie sie in vielen Städten eingerichtet sind, auf dem Gebiet der
Volksbildungsbestrebungen gearbeitet.
Auch bei der Gründung von Volksbibliotheken haben sich
Frauen mehrfach beteiligt; als Bibliothekarinnen und Helferinnen
an den Volksbibliotheken sind Frauen in Berlin, Nürnberg, Ham-
burg, Jena, Schöneberg u. a. O. thätig.»)
* *
*
Folgend oder anregend, auf alten wie auf neuen Bahnen, mit
dem Mann und neben dem Mann — aber wo es not that, auch
ohne den Mann — haben Frauen sich bemüht, ihre Kraft für das
Gemeinwohl einzusetzen, in sozialer Hilfsarbeit alle Bedürfnisse
derer zu befriedigen, denen ein ungünstiges Geschick einen
schlechteren Platz an der Tafel des Lebens angewiesen hat Von
dem Unentbehrlichen und Notwendigen zum Nützlichen und
Wünschenswerten und schliesslich zum Guten und Schönen hat
das Gebiet der Hilfsarbeit sich erweitert. Aus dem Wunsch, den
bedürftigen Nächsten zu speisen und zu kleiden, hat sich der Wille
0 Vgl. Marie Hecht a.a.O. S.»7i.
*) VgL Berichte der Volkslesehalle der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur,
der Volksletehallc in Nürnberg u. a. m.
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— 122 —
entwickelt, alle Kreise des Volkes an den modernen Kultur-
errungenschaften teilnehmen zu lassen; dem Ruf zu begegnen, das
Verlangen zu erfüllen, das sich in den Worten kund thut: „Mehr
Licht in unsere Wohnungen, in unser ganzes, enges Dasein, mehr
Licht, dass auch wir als Erkennende in uns und um uns sehen
lernen; mehr Wärme in unser Familien-, unser Gemeinschafts-
leben, mehr Sonnenschein der Freude eines höhern, edlern
Genusses!" ')
Viel ist von Frauen geschaffen und erreicht worden; mehr
noch bleibt zu thun übrig, wenn wir nicht auf eine künftige
bessere Gesellschaft warten wollen, sondern sie in uns
beginnen. Hoffnungsfreudig neue Daseinsformen, bessere soziale
Zustände durch die Arbeit anstreben, helfen und heilen, wo Miss-
stände zu Tage treten: ohne das giebt es keine soziale Rettung
und Heilung! „Die Zukunft ist voll Licht und Herrlichkeit", so
ruft der russische Dichter Tschernitschewsky den Frauen zu,
„liebt sie, strebt ihr entgegen, arbeitet für sie, bringt sie euch
näher, übertragt sie, soweit es euch möglich ist, in die Gegenwart"
In stiller, bescheidener, unermüdlicher sozialer Hilfsarbeit einer
besseren Zukunft entgegenzuarbeiten, mag allerdings manchen
Verzicht auf Freuden und Genüsse notwendig machen; das Auf-
geben von vielem, was das Leben reich und lebenswert zu
gestalten scheint; es mag den Frauen manch Opfer an Zeit und
Kraft auferlegen — und herbe Enttäuschungen werden ihnen dabei
nicht erspart bleiben. Aber zu allen Zeiten sind solche Bedenken
überwunden worden, und auch künftig werden die Frauen die
Wahrheit des Wortes an sich erfahren:
„Es giebt höhere Aufgaben, als für uns selbst zu arbeiten.
Es giebt ein grösseres Glück, als den Genuss des Lebens, nämlich
das Gefühl, dass unsere Arbeit die Nachwelt, unsere Kinder von
dem Elend befreit haben wird, durch das wir selbst uns haben
durchkämpfen müssen; das Gefühl, dass unsere Lebensarbeit die
Welt zu einem glücklicheren Wohnort für die Menschheit gemacht
hat, als wir ihn vorfanden. Die kleinste Lichtspur sozialen
Wertes, die jeder Mensch hinter sich zurücklassen
kann, ist ein weit edleres Ergebnis unserer Arbeit, als
sechzig Jahre unbegrenzten persönlichen Glücks.*')
8
«) Vgl. Marie Hecht a. a. O. S. aöo.
»> Vgl. Charl. Pearson: The Ethic of Freethought. London 1888.
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F^echt55chutz für Frauen.
Von Harte Stritt.
Durch Gründung von Rechtsschutzvereinen bezw. durch
Angliederung von Rechtsschutzstellen für Frauen an bereits
bestehende, gemeinnützig oder propagandistisch wirkende Frauen-
vereine hat sich die deutsche Frauenbewegung im letzten Jahr-
zehnt ein neues, ausserordentlich wichtiges Gebiet sozialer
Thätigkeit erschlossen. Die erste Anregung dazu gab der im
Januar 1894 gegründete, aus der ersten Ortsgruppe des Allgemeinen
Deutschen Frauenvereins herausgewachsene Rechtsschutzverein
für Frauen in Dresden, dessen Gründerinnen, Frau Adele
Gamper und Frau Marie Stritt, ihrerseits die An-
regung von der ersten deutschen Juristin Dr. Emilie Kempin
gelegentlich eines in Dresden gehaltenen Vortragscyklus über die
Rechtsstellung der Frau erhielten. Der Dresdener Verein, der
ausserdem noch eine umfassende, allgemein propagandistische
Thätigkeit im Interesse der wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen
und geistig - sittlichen Hebung und Förderung des weiblichen
Geschlechtes entwickelt, ist seither in Bezug auf seine spezielle
praktische Thätigkeit zahlreichen gleichstrebenden Frauenvereinen
in andern Städten vorbildlich geworden. Damit und mit der
Thatsache seiner eigenen stetigen und erfreulichen Entwicklung
ist der Beweis erbracht, dass er einem dringenden sozialen
Bedürfnis Rechnung trug, als er die erste Rechtsschutzstelle ein-
richtete, in der „Frauen und Mädchen aller Stände Gelegen-
heit geboten wird, sich in Rechtsfällen unentgeltlich
Rat zu holen."
Ein derartiges Bedürfnis ist auch anderweitig längst erkannt
worden, und es sind neben zahlreichen gemeinnützigen und Wohl-
thätigkeitsvereinen vor allem die Berufsgenossenschaften, die
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— 124 —
ihm — so lange eine allgemeine unentgeltliche Rechtspflege und
Rechtsbelehrung noch nicht durchführbar sind — dadurch Rechnung
zu tragen suchen, dass sie ihren Mitgliedern diese Rechtsbelehrung
und eventuell auch Rechtsbeistand unentgeltlich oder gegen ein
geringes Entgelt gewähren. Auch grössere Tages- und Lokal-
blätter richten bekanntlich derartige Briefkasten und Auskunfts-
stellen für ihre Abonnenten ein. Doch sind diese Unternehmungen
auf ganz andern Voraussetzungen basiert und haben im Grunde
sowohl in Bezug auf die leitenden Ideen wie auf die Ausführung
mit der Frauenrechtsschutzbewegung wenig gemein. Sie sind
lediglich im Hinblick auf den augenblicklichen praktischen Vorteil
der betreffenden Klienten, Mitglieder und Abonnenten ins Leben
gerufen, während die Frauenrechtsschutzstellen, trotzdem sie den
Rechtsschutz ausschliesslich auf Frauen beschränken, dabei doch
von höheren und weiteren Gesichtspunkten ausgehen. Welches
diese Gesichtspunkte sind und welche Momente bei der Durch-
führung des Unternehmens vor allem in Betracht kommen mussten,
erhellt aus einem kurzen Überblick über die praktische Thätigkeit.
Der Dresdener Verein, der ohne Vorbild sich erst nach und
nach die Wege suchen musste und ausser den Beiträgen seiner
Mitglieder keine Mittel besass, begann damit, sich die Unterstützung
zweier Rechtsanwälte zu sichern, von denen sich der eine auf die
an ihn gerichtete Aufforderung unentgeltlich zur Verfügung stellte,
der andre dem Verein seine Dienste unaufgefordert anbot. Es
möchte hier übrigens gleich auf die sowohl in Dresden wie auch
anderwärts gemachte Erfahrung hingewiesen werden, dass eine
unentgeltliche Inanspruchnahme der Rechtsanwälte sich aus ver-
schiedenen Gründen weniger empfiehlt, als eine entsprechende
Honorierung der Konsultationen, die sich als das nicht nur
prinzipiell, sondern auch praktisch Richtigere erwiesen hat. Die
praktische Vereinsthätigkeit wurde in der Weise geregelt, dass an
zwei Abenden der Woche von 6 — 8 Uhr in einem von einem
Vorstandsmitgliede zu diesem Zweck zur Verfügung gestellten
Lokal, bestehend aus Sprechzimmer und Warteraum, in günstiger
mittlerer Lage der Stadt die Sprechstunden eingerichtet wurden,
nachdem die Eröffnung durch Anzeigen in den Tagesblättern, die
seither allmonatlich wiederholt wurden, bekannt gemacht war.
Dies System der Centralisierung hat sich gegenüber der an einigen
Orten anfänglich geübten Praxis, wöchentliche Sprechstunden bei
verschiedenen Vorstandsmitgliedern in deren Privatwohnung ab-
zuhalten, als das in jeder Beziehung vorzuziehende erwiesen.
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— 125 -
Ausnahmen bilden nur die Rechtsschutzstellen von Vereinen in
Weltstädten wie Berlin und Wien, von denen später noch die
Rede sein wird. Die Beschaffung eines eigenen Lokals ist im
Interesse der Selbständigkeit eines solchen Unternehmens jedenfalls
sehr wünschenswert, aber wohl nur Vereinen, die eigenes Ver-
mögen besitzen, möglich. In vielen Städten wurden den Vereinen
Schulräume oder Lokale andrer gemeinnütziger Vereine unentgelt-
lich oder gegen ein geringes Entgelt überlassen.
Den Sprechstundendienst, der mit der erhöhten Frequenz
entsprechend erhöhte Anforderungen stellt und sich häufig um
eine halbe oder auch eine ganze Stunde verlängert, versehen ab-
wechselnd sechs, gewöhnlich je drei Damen, Vereinsmitglieder, die
sich für diese Thätigkeit zur Verfügung stellten. Sie erledigt sich
ungefähr in folgender Weise: Die jeweilige Leiterin lässt sich den
Fall vortragen und giebt die nötige Auskunft, eine andre Dame
führt das Register, in dem die Fälle nach fortlaufenden und Tages-
nummern, nach Datum, Namen, Stand, Adresse, Art und Auskunfts-
erteilung (resp. Überweisung an den Anwalt oder direkte Inter-
vention durch den Verein) eingetragen werden, und die dritte
macht die erforderlichen Notizen, entweder für den Rechtsanwalt,
der dem Verein in den schwierigeren und komplizierteren Fällen zur
Seite steht, oder für die erwähnte direkte persönliche oder schrift-
liche Intervention bei der gegnerischen Partei oder bei den Behörden.
Es mag hier gleich erwähnt werden, dass durch diese direkte
Intervention, die selbstverständlich hauptsächlich in den einfacheren
Fällen von Lohn- und Mietstreitigkeiten, Schuldforderungen und
dergleichen, aber auch hie und da in den schwierigeren der Ein-
treibung von Alimentationsbeiträgen und dergleichen erfolgt, ver-
hältnismässig die günstigsten Resultate erzielt werden, voraus-
gesetzt, dass die Erledigung geeigneten Persönlichkeiten obliegt,
die mit der notwendigen Sicherheit den notwendigen Takt ver-
binden. Über die vom Verein zur Erledigung übernommenen
besonderen Fälle (in den meisten handelt es sich blos um ein-
maligen Rat oder Auskunft) und über die weitere Entwickelung
derselben wird ausserdem noch ein ausführliches Protokoll geführt.
Der Dresdener Rechtsschutzverein erreichte bereits im ersten
Jahre seines Bestehens eine Besuchsziffer von 628 (553 Fälle) und
im zweiten eine solche von 930 (740 Fälle), und diese hat sich
seither mit geringen Schwankungen auf der gleichen Höhe er-
halten, trotzdem in dem letzten Jahre noch verschiedene andre
gemeinnützige Vereine daselbst Rechtsschutzstellen errichtet haben.
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- 126 —
Im Durchschnitt kommen also auf die Sprechstunde etwa 8 — 9 Be-
sucherinnen, die sich aus allen Ständen rekrutieren, wenn auch
naturgemäss die Frauen der unbemittelten Stände und der Arbeiter-
klasse in der grossen Mehrheit vertreten sind. Nach ihrer Art
lassen sich die Fälle prozentual durchschnittlich wie folgt einteilen:
Ehestreitigkeiten, bezw. Fälle, die aus dem Eherecht resultieren —
24%; Alimentationsforderungen für uneheliche Kinder und Ent-
schädigungsansprüche der unehelichen Mütter — 8,5 •/•; Testaments-
und Erbschaftsangelegenheiten — 7 °/ 0 ; Schuld forderungen —
16,5 %; Lohnstreitigkeiten und sonstige Differenzen zwischen
Dienstherrschaften und Dienenden, Arbeitgebern und Arbeiterinnen
— 8 %; Mietsangelegenheiten — 13 %i Beleidigungen, thätliche
und mündliche — 5,5 %; Vermögens- und Hypothekenangelegen-
heiten, Käufe und Verkäufe etc. — 2,5 •/•! Versicherungen, Kranken-,
Unfall-, Invalidität^- und Altersversicherung — 1 •/•» vermischte
Fälle — 12 %; Anfertigung von Kontrakten, Gesuchen etc. — 2 %.
Es liegt in der Natur der Sache und der Verhältnisse, dass es
sich bei der Rechtsschutzthätigkeit nicht darum handeln kann —
und auch bei den reichsten zur Verfügung stehenden Mitteln nur
ausnahmsweise darum handeln wird — , langwierige und kost-
spielige Prozesse für die Klienten zu führen. Abgesehen von der
weitaus überwiegenden Mehrheit der Fälle, in denen es überhaupt
nur auf einmalige Auskunftserteilung ankommt, besteht vielmehr
diese Thätigkeit hauptsächlich darin, Prozesse zu verhindern,
sowohl durch die erwähnte persönliche oder schriftliche Inter-
vention, wie durch den Beistand des Rechtsanwaltes, der Un-
bemittelten natürlich unentgeltlich geleistet werden muss, d. h. für
dessen Kosten event. der betreffende Verein aufzukommen hat —
Streitigkeiten zu schlichten, mündliche und schriftliche Vergleiche
zu stände zu bringen, Vertretungen bei Terminen zu übernehmen,
Eingaben und Gesuche für die Klientinnen einzureichen, ihnen bei
Abfassung von Testamenten, Verträgen etc. behilflich zu sein u. s. w.
Es mag für Fernstehende auf den ersten Blick befremdend,
sogar bedenklich erscheinen, dass die Sprechstunden nicht durch
einen Fachjuristen abgehalten werden, dass der Anwalt von An-
fang an nur in einzelnen und von Jahr zu Jahr in immer selteneren
Fällen zu Rate gezogen wird, und dass er nur, wo es unumgänglich
notwendig erscheint, mit den Parteien direkt verhandelt Diese
Einrichtung hat sich aber nicht nur als die richtigere und praktischere
gegenüber der anfänglich geübten Gepflogenheit, einzelne Klientinnen
mit einer Legitimation an den Anwalt zu verweisen, bewährt —
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127 —
die Gründerinnen des ersten Rechtsschutzes für Frauen legten auch
von vornherein aus praktischen und ethischen Gründen das Haupt-
gewicht grade auf den unmittelbaren Verkehr mit den ihre Hilfe
begehrenden Geschlechtsgenossinnen.
Zunächst sind, wie die Erfahrung sehr bald lehrte, bei den
meisten in den Sprechstunden vorkommenden Fällen fachjuristische
Kenntnisse nicht unbedingt und keineswegs in erster Linie
erforderlich. Der gesunde Menschenverstand, der weitere Horizont,
das Übergewicht ihrer höheren Bildung und ihrer grösseren ge-
sellschaftlichen Freiheit, die durch fleissiges Selbststudium erworbene
Gesetzeskenntnis und die reiche praktische Erfahrung der dienst-
thuenden Frauen genügen meistens, um sich der oft ganz unglaub-
lichen Unwissenheit und Hilflosigkeit der Geschlechtsgenossinnen
aller Stände in Bezug auf die einfachsten Rechtsverhältnisse und
Rech tsan Wendungen hilfreich zu erweisen. Wo aber die Zuziehung
des Anwaltes sich als notwendig erweist, werden durch ihre Ver-
mittlung dem letzteren sehr viel Zeit und Mühe und dadurch dem
Verein bedeutende Kosten erspart. Die gebildeten und in dieser
Thätigkeit praktisch geschulten Frauen, die genau wissen, auf
welche Punkte es ankommt, vermögen ihm in einer Konsultation
eine ganze Reihe von Fällen gewöhnlich in kürzerer Zeit darzu-
legen, als eine einzige, durch die ungewohnte Situation ver-
schüchterte oder zu einer aufgeregten Beredtsamkeit veranlasste
Klientin für ihren einzigen Fall bedürfte. Der eigenen Geschlechts-
genossin gegenüber, bei der sie naturgemäss mehr Verständnis
und ein persönliches Mitempfinden für ihre Lage voraussetzen
kann, ist diese Scheu und Aufregung lange nicht so gross, an
ihre Stelle tritt vielmehr — auch dort, wo es anfangs noch fehlte —
sehr bald ein volles, rückhaltloses Vertrauen, das die Grundlage
eines bisher unter den Frauen noch seltenen — weil nie geweckten
und gepflegten — Solidaritätsbewusstseins, und somit ein ausser-
ordentlich wichtiges erzieherisches Moment für die Hilfesuchenden
wie für die Helferinnen bildet. Auch den letzteren wird es grade
durch diese Thätigkeit immer mehr zum Bewusstsein gebracht,
dass es sich dabei nicht um ein modernes Wohlthätigkeitsunter-
nehmen, sondern um ernste soziale Pflichten handelt, die sie als
Frauen an Frauen zu erfüllen haben.
Alle diese praktischen und ethischen Vorteile müssen bei einer
einfachen Zuweisung der Klientinnen an den Anwalt mehr oder
weniger in Wegfall kommen. Vor allem aber würde den auf diesem
Gebiete arbeitenden Frauen dadurch die Gelegenheit genommen,
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- 128 —
die gründlichen Einblicke in das moderne Frauenleben aller Stände
zu thun, zur richtigen Kenntnis und zu einem Überblick der wirk-
lichen Verhältnisse zu gelangen, die die einzig sicheren und ver-
lässlichen Wegweiser für alle Reformbestrebungen bilden. Die
Rechtsschutzthätigkeit bietet nach dieser Richtung reichste Ge-
legenheit und ein unerschöpfliches Material, wodurch ihre grosse
Bedeutung auch für alle andern Gebiete der Frauenbewegung am
besten erhärtet wird. Die dabei in erster Linie in Betracht kommen,
sind das Erziehungs- und das Rechtsgebiet
Welche verhängnisvollen Folgen durch die allgemeine Un-
wissenheit der Frauen in Bezug auf ihre staatsbürgerlichen
Rechte und Pflichten und ihre gesetzlichen Beschränkungen, und
durch die in ihrer ganzen Erziehung sorgfältig erhaltene und
gepflegte blinde Vertrauensseligkeit über sie selbst und über die
Ihren heraufbeschworen werden — das zeigt sich in den Sprech-
stunden der Rechtsschutzstellen oft mit erschreckender Deutlich-
keit. Die Fälle, in denen fleissige und brave Mädchen — und
diese am häufigsten! — ihr Lebensglück und ihre kleinen Er-
sparnisse einem Taugenichts anvertrauten, um — wenn er als
gesetzlich dazu berechtigter Ernährer der Seinen den letzten
Pfennig davon verbraucht hat — im Elend verlassen zu werden,
diese Fälle sind ebenso typisch wie diejenigen, in denen ein leicht-
sinnig gegebenes Eheversprechen als gesetzlich bindend angesehen
und die Veranlassung wurde, dass das leichtgläubige Opfer dieser
Täuschung der Schande und Verzweiflung anheim fiel. Häufiger
als man annehmen sollte, sind aber auch Fälle, in denen Frauen
sich zu Leistungen verpflichteten, ohne recht zu wissen, um was
es sich dabei für sie handelte, sogar Dokumente unterschrieben,
die sie nur flüchtig — oder gar nicht gelesen hatten, und sich
dann auf Grund dieser Unkenntnis einer unbequemen Ver-
pflichtung entziehen zu können meinen. Diese Erscheinungen sind
vor allem auf Erziehungsmängel, auf die bei der weiblichen Jugend
vernachlässigte Schulung der logischen Urteilskraft und auf eine
systematisch genährte Unselbständigkeit, geistige Abhängigkeit und
Hilflosigkeit zurückzuführen. Sie werden nur durch eine ent-
sprechende Ergänzung der Mädchenerziehung im allgemeinen, die
auch den Bedingungen und Bedürfnissen des realen Lebens
Rechnung trägt und die Erscheinungen und Verhältnisse im
richtigen Lichte zeigt, und durch die Einführung von Gesetzes-
kunde als Unterrichtsgegenstand auf den höheren Stufen und in
Fortbildungsschulen im besonderen, beseitigt werden.
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— 129 —
Dass es sich unter den gegenwartigen Verhältnissen besonders
für die verheirateten Frauen nicht allein darum handelt, sich
durch die Gesetze vor Unrecht und Willkür, sondern häufig auch
darum, sich vor den Gesetzen und ihren Konsequenzen nach
Möglichkeit zu schützen, hat die Rechtsschutzthätigkeit ebenfalls
allerorten dargethan, und darin beruht jedenfalls ihre grösste
Bedeutung, die hohe Bedeutung, die sie für die rechtliche
Seite der Frauenfrage und für die Rechtsbewegung ge-
wonnen hat. Die aus einem überaus reichhaltigen Thatsachen-
material gewonnenen Erfahrungen beweisen unwiderleglich, dass
die gegenwärtige gesetzliche Stellung der Ehefrau nach keiner
Richtung mehr zeitgemäss ist und dass entsprechende Reformen
auf diesem Gebiet notwendig und unvermeidlich sind. Die Folgen,
die sich für die Frauen selbst und für das gesamte Familienleben
aus ihrem Abhängigkeitsverhältnis in der Ehe unter allen Um-
ständen — jedenfalls viel häufiger, als man gewöhnlich annimmt —
ergeben müssen: die Folgen eines gesetzlichen Güterrechtes, das
ihr Vermögen dem Ehemann zur ausschliesslichen Verwaltung
und Nutzniessung übergiebt; der gesetzlichen Recht- und Macht-
losigkeit der Mütter über ihre eigenen Kinder selbst einem leicht-
sinnigen und lasterhaften Vater gegenüber; die verhängnisvollen
und entsittlichenden Folgen erschwerter Ehescheidung und der in
der Stellung der unehelichen Mütter und Kinder zum Ausdruck
kommenden, auch gesetzlich anerkannten doppelten Moral — alle
diese unausbleiblichen Folgen eines nicht auf der Höhe der Zeit
stehenden Familienrechtes sind erst durch die Thätigkeit der
Rechtsschutzstellen den deutschen Frauen in ihrer ganzen Be-
deutung klar geworden. Die an den einzelnen Orten gemachten
Erfahrungen laufen, trotz ihrer Verschiedenheit in manchen
Punkten, alle darauf hinaus, dass gerade den schlimmsten Fällen
gegenüber, wo das Verhältnis der Geschlechter und die Stellung
der Frau als Gattin und Mutter in Betracht kommt, der
Rechtsschutz für Frauen selten einsetzen und überhaupt erst
wirksam werden kann, wenn sie in dieser Eigenschaft vor dem
Gesetz keine Ausnahmestellung mehr einnehmen.
* *
Wie erwähnt, veranlassten die direkten und indirekten Vorteile
und Erfolge für die gesamte Frauenbewegung, die sich in Dresden
gezeigt hatten, sehr bald Frauenvereine in andren Städten zu
gleichen Unternehmungen. Die meisten sind ziemlich genau nach
Handbuch der Frauenbewegung. II. Teil 9
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— i3° —
dem Muster des Dresdener Rechtsschutzvereins eingerichtet, und
wurden zum Teil durch Vorträge der dortigen Vorsitzenden •)
angeregt und eingeleitet. Es folgte zunächst der Allgemeine
deutsche Frauen verein -Leipzig (Frühjahr 1894), dann der Berliner
Frauenverein (1895), Verein Frauenwohl - Breslau (1895), der
Allgemeine österreichische Frauenverein -Wien (1895), der Berliner
Hausfrauenverein (1896), der Verein Frauenwohl-Königsberg
(1897), die Ortsgruppe Hamburg des Allgemeinen deutschen
Frauenvereins (1897), die Ortsgruppe Frankfurt a. M. des All-
gemeinen deutschen Frauenvereins (1897, seit 1900 als selbst-
ständiger Rechtsschutzverein konstituiert), der Verein für Frauen-
interessen-München (1898), der Frauenbildungsverein-Kiel (1898),
die Abteilung Mannheim des Vereins Frauenbildung-Frauen-
studium (1899, seit April 1901 als selbständiger Verein „Rechts-
schutzstelle für Frauen" konstituiert), die Vereine: Frauenwohl-
Dan zig, Frauenbildungsverein und Ortsgruppe des evangelischen
Frauenbundes -Hannover, Auskunftsstelle für Wohlthätigkeit-
Bremen, Abteilung Heidelberg des Vereins Frauenbildung-
Frauenstudium, Frauenarbeitsschule -Mainz, Ortsgruppe des All-
gemeinen deutschen Frauenvereins in Halle (sämtlich 1900), der
Verein erwerbstätiger Frauen und Mädchen - Bromberg, die
Rechtsschutzstelle Köln, der Verein Frauenlesegruppe-Stuttgart.
der Rechtsschutzverein - Dessau, Ortsgruppe des Allgemeinen
deutschen Frauenvereins in Magdeburg, der Frauenbund-Brünn
(sämtlich 1901). In verschiedenen andern Städten sind weitere
Gründungen von Rechtsschutzstellen in Aussicht genommen.
Mit wenigen Ausnahmen, die allem Anschein nach auf den
Mangel einer Centralstelle zurückzuführen sind»), ist die Frequenz
im Verhältnis zur Bevölkerung überall eine starke, stetig zunehmende.
Obenan steht die älteste Rechtsschutzstelle von Dresden, dann
folgen in der Zahl der Fälle Hamburg, Frankfurt a. M., Wien,
München, Mannheim, Leipzig u. s. w. Auch die Erfahrungen
decken sich im grossen Ganzen mit den oben erwähnten, wenn
sich auch, den verschiedenen sozialen Verhältnissen entsprechend,
sowohl in Bezug auf die Besucherinnen, wie auf das prozentuale
Verhältnis in der Art der Fälle kleine Schwankungen zeigen.
Während in den meisten Städten die Zahl der verheirateten Be-
') Frau Marie Stritt
*) Oder, wie z. B. in Berlin, auf die seither erfolgte Begründung zahlreicher Rccht.i-
»chutzstellen für beide Geschlechter durch Korporationen, Parteiverbande, Vereine etc.
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— i3i -
suchcrinnen grösser ist, sind z. B. in München die ledigen, in
selbständigen Berufen thätigen Frauen in der Mehrheit; während
in den grossen Städten wie Berlin, Wien, Leipzig, Hamburg (in
letzterer Stadt weit Ober die Hälfte aller Fälle) die aus dem Ehe-
verhältnis und der Alimentationspflicht für uneheliche Kinder re-
sultierenden Fälle die bei weitem häufigsten sind, Oberwiegen in
den Mittelstädten die Lohn- und Mietstreitigkeiten. Auch in Bezug
auf die Abhaltung der Sprechstunden und die Inanspruchnahme
der Rechtsanwälte weichen die Einrichtungen den lokalen Ver-
hältnissen entsprechend von einander ab. Die meisten Vereine
haben zweimal, mehrere nur einmal, einer dreimal wöchentlich
und einer täglich stattfindende 2— 3 stündige Sprechzeiten, die fast
durchgängig auf die späten Nachmittags- oder Abendstunden ge-
legt wurden, da sich der Vormittag im Hinblick auf die arbeitenden
Frauen als ungeeignet erwiesen hat In Wien wurden zwei Stationen
in den Arbeiterbezirken Favoriten und Währing eingerichtet, mit je
einer wöchentlichen Sprechzeit; für den Berliner Frauenverein und
den Verein Frauenwohl -Breslau haben 14 resp. 3 Vorstandsmit-
glieder, die den Verkehr mit den Anwälten vermitteln, in ihren
Wohnungen wöchentliche, zweimal wöchentliche oder tägliche
Sprechstunden eingerichtet.
Von verschiedenen Vereinen wird ein höchst erfreuliches und
anerkennenswertes Entgegenkommen der Anwälte konstatiert; in
Heidelberg erklärte sich sogar der Anwaltsverein aus eigener
Initiative zur Unterstützung des Unternehmens bereit, dem Berliner
Frauenverein haben sich 26, dem Wiener Verein 19, dem Mann-
heimer 6 Anwälte zur Verfügung gestellt u. s. w. In den meisten
Vereinen ging der Eröffnung der Rechtsschutzstelle ein von
einem Juristen gehaltener Vortragscyklus zur Orientierung der
dienstthuenden Frauen in der Gesetzeskunde und zur Einführung
in die ihnen obliegenden Aufgaben voraus.
In mehreren Städten wurde der Rechtsschutzthätigkeit der
Frauenvereine auch seitens der Behörden insoweit eine bedeutsame
Anerkennung und Förderung zu teil, als ihnen nicht selten von
der Polizei, dem Armenamt, dem Amtsgericht Klientinnen
zugewiesen werden. Noch bedeutsamer erscheint die besonders
in den kleineren und Mittelstädten vielfach wahrgenommene un-
bewusste Anerkennung in der öffentlichen Meinung, die sich in
einer gewissen Scheu und Furcht vor der weitreichenden Macht-
befugnis der Rechtsschutzstellen äussert und häufig bewirkt, dasr
z. B. auf eine einfache schriftliche Mahnung unter ihrem Stempel
9*
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— i3 2
Zahlungen eingehen und andere Verpflichtungen eingehalten werden,
wo vorher alle direkten Schritte der Klientinnen, zu ihrem Recht
zu gelangen, vergeblich waren.
Einem mit der wachsenden Erfahrung und Einsicht in die
sozialen Verhältnisse immer fühlbarer werdenden Bedürfnis nach
einem weiteren Ausbau, einer notwendigen Ergänzung der Rechts-
schutzthätigkeit haben die Vereine in Dresden und Hamburg
durch Angliederung von Auskunftsstellen für Wohlfahrts-
bestrebungen Rechnung getragen, während umgekehrt die
Rechtsschutzstelle in Bremen als besonderer Zweig einer all-
gemeinen Auskunftsstelle ins Leben gerufen wurde. Dass auch
diese Einrichtungen sich einer stetig zunehmenden Frequenz er-
freuen, ist in der Natur der Sache begründet, da t hat sachlich in
ungezählten Fällen den Rat- und Hilfesuchenden durch Rechts-
belehrung und Rechtsbeistand nur dann wirklich gedient sein
kann, wenn damit eine Belehrung über die Mittel und Wege, durch
kommunale oder private Anstalten eine materielle Hilfe in be-
drängter Lage zu erlangen, Hand in Hand geht.
Dass die zahlreichen Rechtsschutzstellen im Lauf der Zeit
immer häufiger in der Lage sind, einander in einzelnen Fällen
gegenseitig zu unterstützen, Auskünfte einzuholen, Vertretungen bei
Terminen zu übernehmen etc. musste sich aus der sich immer
mehr ausbreitenden Thätigkeit von selbst ergeben, hat viel zur
Förderung derselben beigetragen und eine wertvolle Verbindung
zwischen den auf diesem Gebiet wirkenden Vereinen hergestellt
Diese Verbindung zu festigen und zu stärken, tragen auch die auf
den Frauentagen des Bundes deutscher Frauenvereine, des All-
gemeinen deutschen Frauenvereins und anderweitig gelegentlich
veranstalteten Zusammenkünfte der Leiterinnen von Rechtsschutz-
stellen bei, die einen unmittelbaren persönlichen Austausch der an
den verschiedenen Orten gemachten Erfahrungen vermitteln und
wertvolle neue Anregungen geben. Die Verbindung dauernd aufrecht
zu erhalten und besonders wichtige und charakteristische Fälle den
einzelnen Rechtsschutzstellen zur Kenntnis zu bringen und auch
vom rein juristischen Standpunkt zu beleuchten, ist der haupt-
sachliche Zweck einer im Herbst 1900 von Frl. Dr. jur. Marie
Raschke in Berlin gegründeten Centralstelle für Rechts-
schutz, der sich bis jetzt 8 Vereine angeschlossen haben.
Auf Grund ihrer Erfahrungen und des statistischen Materials,
das die jährlichen Berichte der Rechtsschutzstellen enthalten und
das zuerst vom Münchener Verein in der gegenwärtig üblichen
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- i33 -
Obersichtlichen Weise nach dem Civilstand der Klientinnen, nach
Art der Fälle und nach ihrer Erledigung zusammengestellt wurde,
haben in erster Linie die Rechtsschutzstellen Veranlassung
genommen, sich an der vom Bunde deutscher Frauenvereine
ausgehenden Rechtsbewegung im allgemeinen und an der
Agitation für eine möglichst allgemeine Einführung von Ehe-
verträgen bei Eheschliessungen im besondern zu beteiligen. Die
Rechtsschutzbewegung ist gegenwärtig in vollem Fluss, wird
voraussichtlich in nächster Zeit noch immer weitere Kreise ziehen
und bietet nach jeder Richtung die beste Vorschule für eine
künftige öffentliche Thätigkeit der deutschen Frauen in der Rechts-
pflege und in kommunalen Ämtern.
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f^echtjkämpfe.
Von Marie Stritt.
L
Die Agitation der deutschen Frauenbewegung gegen das Familien-
reeht im Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches.
D ie Frauenbewegung, durch die wirtschaftlichen Umwälzungen
des 19. Jahrhunderts bedingt und unmittelbar her vorg erufen, hat
in Deutschland wie überall mit den Bestrebungen für bessere
Erwerbs- und Ausbildungsmöglichkeiten, Erschliessung neuer und
Freigabe sogenannter männlicher Berufe und eine allgemeine
Hebung der Frauenbildung eingesetzt; sie ging in erster Linie auf
eine Gleichberechtigung zur Arbeit, auf eine Erweiterung des
Pflichtenkreises der Frau hinaus. Die Erkenntnis, dass diese
nicht ohne eine entsprechende Erweiterung des Rechtskreises,
nicht ohne eine Gleichberechtigung auch vor dem Gesetz durch-
zuführen und aufrechtzuerhalten ist, brach sich dann allmählich
Bahn und führte schliesslich zu bestimmten, genau präzisierten
Forderungen, mit denen die deutschen Frauen an die Gesetzgeber
herantraten. Diese Forderungen beschränkten sich zunächst auf
das Gebiet des bürgerlichen, speziell des Familienrechtes,
wurden aber in der Folge auch auf die Stellung der Frau im
öffentlichen Leben (Vereinsgesetz) ausgedehnt
Wie auf andern, so gingen auch auf diesem Gebiet die ersten
Anregungen und entscheidenden Schritte vom Allgemeinen Deutschen
Frauenverein aus. Eine vortreffliche kleine Broschüre „Zur recht-
lichen Stellung der Frauen", herausgegeben von dem schlesischen
Kreisrichter Wach ler, die schon 1869 erschien und in sach-
licher, anschaulicher Weise die Ungerechtigkeiten und Härten
der bestehenden civilrechtlichen Bestimmungen in Bezug auf
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— 135 —
die Frauen in den einzelnen deutschen Staaten darlegte, fand im
allgemeinen noch wenig Beachtung, umsomehr Verständnis und
Würdigung aber bei den ersten Führerinnen der Frauenbewegung.
Im Jahre 1876 erschien eine vom Allgemeinen Deutschen
Frauenverein herausgegebene, von Louise Otto verfasste Denk-
schrift „Einige deutsche Gesetzesparagraphen über die Stellung
der Frau", die auf ein reiches, durch eine allgemeine Umfrage ge-
wonnenes Material gestützt, die Frauen über die schweren Schäden,
die ihre Abhängigkcitsstellung für sie selbst wie für dasFamilien-
und Volksleben zur Folge gehabt, aufklären und ihr Interesse für
die auf diesem Gebiet anzustrebenden Reformen wecken sollte.
Aber die deutschen Frauen waren im allgemeinen noch wenig
empfänglich für diesen eindringlichen Appell. Einzelnen Ein-
sichtigen mochte auch eine Agitation gegen die noch zu Recht
bestehenden einzelstaatlichen Civilgesetzgebungen, die sich auf den
verschiedenen Systemen: des preussischen Landrechtes, des ge-
meinen, des sächsischen und des französischen Rechtes aufbauten,
insoweit überflüssig und zwecklos erscheinen, als seit dem Jahre
1874 der Entwurf eines einheitlichen bürgerlichen Gesetzbuches
von einer Kommission hervorragender Juristen vorbereitet wurde,
das auch auf diesem Gebiet dem seit 1870 — 1871 verwirklichten
deutschen Reichsgedanken Ausdruck geben und dem bei Fach-
männern und Laien, in Regierungs- und Volkskreisen immer fühl-
barer werdenden Mangel eines einheitlichen Rechtes Abhilfe
schaffen sollte. Gerade im Hinblick auf eine mit Rücksicht auf
diesen Entwurf geplante Petition war aber vor allem die Denk-
schrift verbreitet worden, und die Führerinnen der Bewegung
durften umsomehr auf eine Berücksichtigung ihrer Wünsche
rechnen, als von massgebender Seite immer wieder betont wurde,
dass das Familienrecht wesentliche Verbesserungen in der Stellung
der Frau als Gattin und Mutter enthalten würde. Die im Jahre 1877
eingereichte Petition des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins,
„bei Abänderung der Civilgesetzgebung die Rechte der Frauen
besonders auch im Ehe- und Vormundschaftsrecht zu berück-
sichtigen", wurde denn auch vom Reichskanzleramt der Kommission
„als Material" überwiesen.
Im Jahr 1888 erschien die erste Lesung des Entwurfes im
Druck und brachte eine schwere Enttäuschung. Bis auf einige
notgedrungene Konzessionen an die veränderten wirtschaftlichen
Verhältnisse, von denen später die Rede sein wird, war an der
Unterordnung und teilweisen Rechtlosigkeit der Ehefrau fest-
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gehalten worden. Doch erhoben sich damals, obgleich der
Entwurf lebhaft diskutiert und scharf kritisiert wurde, nur sehr
vereinzelte Stimmen zu gunsten des so schwer benachteiligten
weiblichen Geschlechts. Dagegen fehlte es nicht an Protesten,
zumal von juristischer Seite, auch gegen diese geringeren Fort-
schritte, z. B. gegen das neue Güterrecht, das den Mann angeblich
„zum Geschäftsführer der Frau erniedrigte", indem es ihm nur
die ausschliessliche Verwaltung und Nutzniessung des eheweiblichen
Vermögens übertrug, statt ihm dies und den gesamten Erwerb
der Frau als Eigentum zuzuweisen.
Eine zweite Petition des Allgemeinen Deutschen Frauen-
vereins an den Reichstag zu diesem Entwurf blieb so gut wie
unbeachtet. Zugleich mit der in Bezug auf die Stellung der Frau
nur wenig veränderten zweiten Lesung des Entwurfes (1892)
erschien eine von demselben Verein herausgegebene, von der
ersten deutschen Juristin Dr. Emilie Kempin verfasste kleine
Broschüre „Die Stellung der Frau nach den zur Zeit in Deutsch-
land giltigen Gesetzesbestimmungen, sowie nach dem Entwurf
eines Gesetzbuches für das deutsche Reich", die durch die
Frauenvereine eine Verbreitung in weiten Kreisen fand. Trotzdem
und trotz der populären, übersichtlichen Darstellung, die jedem
Laien das Verständnis ermöglichte, verfehlte sie als eigentliche
Agitationsschrift dadurch ihren Zweck, dass sie, einerseits in einem
allzu trockenen Tone gehalten, dem Frauenstandpunkt zu wenig
Rechnung trug, und andrerseits den bestehenden gesetzlichen Be-
stimmungen dem viel wichtigeren Entwurf gegenüber verhältnis-
mässig zu viel Aufmerksamkeit schenkte.
Ungefähr ein Jahr vorher hatte jedoch eine Autorität ersten
Ranges an dem Entwurf eine um so schärfere Kritik geübt. Die
Stimme, die sich zu Gunsten der wirtschaftlich und sozial Schwachen
und Unterdrückten erhob und lebhaften Widerhall bei allen Fort-
schrittsfreunden, Fachmännern wie Laien, fand, wurde sogar von
den Urhebern des Entwurfes und seinen begeisterten Lobrednern
als „die einzig berufene Stimme" anerkannt. Das schnell berühmt
und populär gewordene Buch von Professor Anton Menger-
Wien „Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Klassen" fand
denn auch innerhalb der deutschen Frauenbewegung, die inzwischen
einen erfreulichen Aufschwung genommen hatte und von ver-
schiedenen in den letzten Jahren neugebildeten Centren aus (Berlin,
München, Dresden u. s. w.) eine rührige allgemeine Propaganda
entwickelte, lebhafte Sympathie und Zustimmung. Die Erkenntnis
— 137 —
ihrer prekären und unwürdigen Stellung, die so lange hatte auf
sich warten lassen, war endlich einem Teil der bürgerlichen Frauen
gekommen — damit zugleich aber auch die Erkenntnis von dem
Ernst der Situation und von der Notwendigkeit der Selbsthilfe.
Es bildeten sich Komitees zur Untersuchung und Bearbeitung des
IV. Buches „Familienrecht" des Entwurfes, der im Prinzip wohl
die Gleichstellung des männlichen mit dem weiblichen Geschlecht
vor dem Gesetz anerkannte, von diesem Prinzip aber, soweit die
Ehefrau und Mutter in Betracht kam, überall abwich. Die Frauen
studierten nun selber emsig den Entwurf, massen ihn an den bisher
giltigen Bestimmungen, suchten durch die schwerfällige und schwer-
verständliche Sprache in den Geist des neuen Gesetzes einzudringen,
und erlaubten sich, auch von ihrem Standpunkt Kritik daran zu
üben. Diese kam in zahlreichen Artikeln in Frauen- und Tages-
zeitungen, in Broschüren, Vorträgen und Rechtskursen, die zur
Aufklärung und Belehrung der Frauen veranstaltet wurden, zum
Ausdruck, — kurz, die Bewegung war endlich in Fluss gekommen,
wohl zu spät, um auf erhebliche praktische Erfolge rechnen zu
können, in andrer Beziehung aber eben zur rechten Zeit. So
wenig die Frauen den hohen ideellen Wert und die praktischen
Vorteile eines einheitlichen deutschen Rechtes verkannten oder
seine im Vergleich mit den bisherigen Gesetzgebungen grossen
Fortschritte und Errungenschaften auf andren Gebieten leugnen
wollten, so waren sie doch umsomehr davon durchdrungen, dass
dies neue Recht den deutschen Frauen nicht gerecht wurde, ja
dass es in dieser Beziehung nicht nur nicht im Einklang, sondern
im Widerspruch mit der wirtschaftlichen, sozialen und geistig-
sittlichen Entwickelung und mit den Bedürfnissen der Zeit stand.
Es handelte sich dabei vornehmlich um die folgenden Ab-
schnitte: Wirkungen der Ehe im allgemeinen — das ehe-
liche Güterrecht — Scheidung der Ehe — die elterliche
Gewalt — die rechtliche Stellung der unehelichen
Kinder — die Vormundschaft
Bei näherer Betrachtung erwiesen sich die meisten der so
nachdrücklich betonten zeitgemässen Fortschritte nur als Fort-
schritte in der äusseren Form, die den Frauen gegenüber durch-
weg eine höflichere geworden war — im Geist und Wesen des
neuen Gesetzes war aber bis auf einige Punkte ziemlich alles beim
Alten geblieben. So war im Entwurf die Vormundschaft des
Ehegatten über die Ehegattin und der unwürdige Gehorsams-
paragraph zwar beseitigt und der Frau volle Handlungs-
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fähigkeit ausdrücklich zuerkannt, diese prinzipielle Handlungs-
fähigkeit aber thatsächlich durch die Bestimmungen wieder auf-
gehoben, dass „dem Manne in allen das gemeinschaftliche eheliche
Leben betreffenden Angelegenheiten" allein die Entscheidung zu-
stehen sollte, dass ferner der Mann das Recht der Frau, innerhalb
ihres häuslichen Wirkungskreises Rechtsgeschäfte vorzunehmen,
beschränken oder ausschliessen, und jede von der Frau einem
Dritten gegenüber eingegangene Verpflichtung zu einer persönlichen
Leistung ohne Frist kündigen konnte. Ebenso war die Führung
eines selbständigen Erwerbsgeschäftes ausdrücklich von der Zu-
stimmung des Mannes abhängig gemacht.
Die bisherige väterliche Gewalt des Mannes war zwar aus-
drücklich in eine elterliche Gewalt umgewandelt worden; sie
sollte aber nach wie vor ausschliesslich dem Vater zustehen und
die Mutter — nicht als Mutter, sondern nur als Stell Vertreterin
des Vaters — nur in denjenigen Fällen zur Ausübung derselben
berechtigt sein, wo auch die bisherigen Gesetzgebungen diese zu-
liessen, also: wenn der Vater tot ist, wenn seine Gewalt wegen
Abwesenheit oder Entmündigung ruht, oder wenn er sie durch
verbrecherische Handlungen verwirkt hat und die Frau deshalb
von ihm geschieden ist. Im Fall des Fortbcstandes der Ehe unter
letzterer Voraussetzung sollte jedoch nicht die Mutter, sondern
ein vom Gericht zu bestellender Pfleger die elterliche Gewalt
ausüben (um die Autorität des entmündigten oder verbrecherischen
Vaters nicht zu Gunsten der Mutter zu beeinträchtigen). Der
Vater sollte seine väterliche Gewalt dagegen im vollen Umfang
selbst dann behalten, wenn er bei einer Ehescheidung als der
schuldige Teil erklärt und der Mutter die alleinige Sorge für die
Person des Kindes übertragen würde.
Besonders deutlich trat die rücksichtsvollere Form in dem
Vormundschaftsrecht zu Tage, das bei der Ausschliessung
von Vormundschaft und Familienrat die Frauen zwar nicht mehr
wie bisher in einem Satz mit Unmündigen, Geisteskranken und
Verbrechern aufzählte, aber mit Ausnahme der Mutter, Grossmutter
und der vom Vater oder der Mutter ausdrücklich Benannten,
prinzipiell von der Führung der Vormundschaft und vom Familien-
rat ausschloss und sie in dieser Beziehung mit Unmündigen,
Geisteskranken und Verbrechern thatsächlich noch auf eine Stufe
stellte.
Von den drei bis dahin in Deutschland herrschenden güter-
rechtlichen Systemen : dem römischen Dotalrecht, dem System der
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139 —
Gütergemeinschaft und dem der Verwaltungsgemeinschaft, hatte
die Kommission für den Entwurf das letztere für das zeitgemässeste
erachtet und dasselbe zur Basis für das neue gesetzliche Güter-
recht genommen. Der erste, grundlegende Paragraph desselben
lautete: „Das Vermögen der Frau wird durch die Eheschliessung
der Verwaltung und Nutzniessung des Mannes unterworfen (ein-
gebrachtes Gut). Zum eingebrachten Gut gehört auch das
Vermögen, welches die Frau während der Ehe erwirbt." Hiermit
ist nur Erwerb durch Erbschaft oder Schenkung gemeint. An
dem, was die Frau in der Ehe mit ihrer Arbeit in einem Geschäfts-
betrieb des Mannes erwirbt, hat sie keinen Anteil; was sie da-
gegen durch ihre selbständige Arbeit oder in einem selbständigen
Geschäftsbetrieb erwirbt, gehört ihr zu freier Verfügung als so-
genanntes Vorbehaltsgut. Es war diese letztere Bestimmung die
einzige thatsächliche und bedeutsame Errungenschaft für die Ehe-
frau, die der Entwurf aufwies, wenn auch ihr praktischer Wert
wesentlich dadurch beeinträchtigt wurde, dass der Mann, kraft
seines eheherrlichen Rechtes den Erwerb untersagen oder eine
früher gegebene Zustimmung zurücknehmen konnte.
In diesem gesetzlichen ehelichen Güterrecht, das längst über-
wundenen, nicht aber den gegenwärtigen wirtschaftlichen Ver-
hältnissen entsprach, erschien nicht nur das Prinzip der Unter-
ordnung und des Verlustes der eigenen Individualität der Ehefrau
nach wie vor festgehalten und zum deutlichen Ausdruck gebracht
— es musste auch im praktischen Leben von verhängnisvoller
Bedeutung und tiefgehender, schädigender Wirkung für die Frauen
sein. Die wirtschaftliche Abhängigkeit der Frau in der Ehe
musste ihre soziale und moralische Abhängigkeit nach sich ziehen,
auch wenn dieselbe in dem Titel „Wirkungen der Ehe im all-
gemeinen" (Entscheidungsrecht des Ehemannes) nicht ausdrücklich
festgelegt wäre. — Hier setzte denn auch der Protest der Frauen
am nachdrücklichsten ein — erwies sich aber auch der Wider-
stand sowohl in fachmännischen wie in Laienkreisen am stärksten.
Dieselben Gründe, welche die Notwendigkeit der Unterordnung
der Frau im allgemeinen erhärten sollten, wurden auch für das
eheliche Güterrecht im besonderen geltend gemacht. Das Argument,
dass die Frauen im allgemeinen zur Verwaltung ihres Eigentums
nicht geeignet, noch nicht „reif" seien, ihr Vermögen daher vor
ihrer eigenen Misswirtschaft und Verschwendung durch das Gesetz
geschützt werden müsse, erwies sich insofern nicht als stichhaltig,
als dasselbe Gesetz den unverheirateten und verwitweten Frauen
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(auch den Müttern zahlreicher Familien) die uneingeschränkte Ver-
fügung über ihr Eigentum unbedenklich zuerkannte. Auf ebenso
schwachen Füssen stand das andere Argument : dass der Mann der
Frau den Unterhalt zu gewähren und den ganzen ehelichen Auf-
wand zu tragen habe, ihm also auch das Recht, über die Ein-
künfte der Frau zu verfügen, gewahrt werden müsse — angesichts
einer anderen Bestimmung, die an die Leistungsfähigkeit der Frau
unter Umständen die höchsten Ansprüche stellte. Der § 1260 des
Entwurfes lautete: „Der Mann hat der Frau nach Massgabe seiner
Lebensstellung, seines Vermögens und seiner Erwerbsfähigkeit
Unterhalt zu gewähren. Die Frau hat dem Manne, wenn er
ausser stände ist, sich selbst zu unterhalten, den seiner Lebens-
stellung entsprechenden Unterhalt nach Massgabe ihres Vermögens
und ihrer Erwerbsthätigkeit zu gewähren."
Der Schutz, den der Entwurf der Frau gegen etwaige Miss-
wirtschaft und Verschwendung des Mannes (aber nicht gegen
seinen Geiz und seine Habsucht) gewährte, dass sie nämlich
Sicherheitsleistung verlangen könne, „wenn die Besorgnis begründet
wird, dass die Rechte der Frau in einer das eingebrachte Gut
erheblich gefährdenden Weise verletzt werden" — dieser Schutz
erschien dadurch ziemlich illusorisch, dass für den Richter eine
„erhebliche" Gefährdung doch erst dann vorliegen kann, wenn
ein grosser Teil des eheweiblichen Vermögens oder das ganze
bereits verloren ist — vorausgesetzt, dass die Frau es überhaupt
über sich gewinnen kann, durch ein gerichtliches Einschreiten
gegen ihren Gatten die Harmonie und den Frieden ihrer Ehe auf
immer zu zerstören.
Ein wirksamerer Schutz als durch diesen Paragraphen war der
Frau in dem Entwurf durch das vertragsmässige Güterrecht
an die Hand gegeben, durch welches an Stelle des gesetzlichen Güter-
rechts jedes beliebige andere System, das der Gütergemeinschaft,
der Errungenschafts-, der Fahrnisgemeinschaft etc., vor allem aber
das System der Gütertrennung durch besonderen Ehevertrag
festgesetzt werden kann, welch letzteres der Frau die volle Ver-
fügung über ihr Eigentum sichert. Dass und warum die Frauen
dies Auskunftsmittel als unzureichend und als im Prinzip falsch,
weil mit dem Wesen der Ehe unvereinbar, erklären mussten, liegt
auf der Hand. Wir werden später noch darauf zurückkommen.
Die im Vergleich z. B. mit dem preussischen Landrecht er-
schwerte Ehescheidung bedeutete nicht nur keinen Fortschritt,
sondern offenbar einen Rückschritt im Entwurf, da unter den an-
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geführten Scheidungsgründen „Gegenseitige unüberwindliche Ab-
neigung" nicht mehr genannt wurde. In den Motiven wurde aus-
drücklich betont, dass auf diese Weise die Unverletzlichkeit der
Ehe und der Moral geschützt werden müsse.
Denselben Standpunkt nahm der Entwurf auch in dem Titel
„Rechtliche Stellung der unehelichen Kinder" ein. Diese
hatte insofern für das Kind eine Besserung erfahren, als der Vater
verpflichtet sein sollte, ihm bis zum vollendeten 16. Lebens-
jahre den vollen Unterhalt zu gewähren, während er bis dahin
nur gehalten war — abgesehen von den Ländern des französischen
Rechtes, wo auch das wegfiel — einen Beitrag zum Unterhalt
des Kindes zu entrichten. Im ganzen aber basierte der Entwurf,
im Sinne des rasch zu einer gewissen Berühmtheit gelangten § 15
„Zwischen einem unehelichen Kinde und dessen Vater besteht
keine Verwandtschaft", völlig auf den althergebrachten An-
schauungen einer doppelten Moral, indem es die gesetzlichen Folgen
eines gemeinsamen Verfehlens nach wie vor nur dem einen Teil,
und zwar dem schon durch die natürlichen Konsequenzen
schwächeren, der Frau, aufbürdete. Dem wirtschaftlich und sozial
stärkeren und meist schuldigeren Teil, dem unehelichen Vater, war
der Mutter seines Kindes gegenüber nur Ersatz der Kosten für
Entbindung und Wochenbett „innerhalb der Grenzen der Notdurft"
und dem Kinde gegenüber nur die erwähnte Unterhaltspflicht,
aber nicht seinem, des Vaters, sondern dem Stande der Mutter
gemäss, auferlegt.
Gegen diese Hauptpunkte und die daraus resultierenden und
damit zusammenhängenden Bestimmungen nahmen zunächst ein-
zelne Frauenvereine Stellung. Sie fanden dabei auch von Seiten
bedeutender Fachmänner thatkräftige Unterstützung. Vor allem
seien hier die grossen Verdienste des Geheimen Justizrats Karl
Bulling hervorgehoben, der nicht nur dem Berliner Komitee von
Anfang an als unermüdlicher Berater zur Seite stand, sondern
auch durch sein vortreffliches Buch „die deutsche Frau und das
bürgerliche Gesetzbuch," ') und seine Schrift „die Rechte des un-
ehelichen Kindes"*) die Bewegung ausserordentlich förderte.
Die eigentliche, planmässige Agitation datiert vom März 1895,
von der ersten Generalversammlung des ein Jahr vorher in Berlin
gegründeten Bundes deutscher Frauen vereine in München.
Auf einstimmigen Beschluss der damals 65 Einzel vereine repräsen-
>) Berlin 1896.
*) Berlin 1897.
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— 143 -
tierenden Delegierten wurde die Rechtsfrage als die im Augenblick
wichtigste Aufgabe in das Arbeitsprogramm des Bundes auf-
genommen und zunächst eine Petition mit Abänderungsvorschlägen
an den Reichstag ins Auge gefasst, mit deren Ausarbeitung die
beiden Vorsitzenden des allgemeinen deutschen Frauen Vereins,
Auguste Schmidt und Henriette Goldschmidt, betraut
wurden. Diese Petition des damals etwa 50000 Einzelmitglieder
umfassenden Bundes wurde im Frühjahr 1896 dem Reichstag
eingereicht und fand ausserdem als Propagandaschrift durch
die Bundesvercine eine weite Verbreitung. Schon vorher hatten
auch die Vereine „Frauenwohl"-Berlin und der Dresdener „Rechts-
schutzverein für Frauen" die zweite Lesung des Entwurfes einer
kritischen Beleuchtung vom Standpunkt der Frauen unterzogen.
Diese Arbeiten („Die Frau im neuen bürgerlichen Gesetzbuch" von
Sera Proelss und Marie Raschke, und „Das deutsche Recht
und die deutschen Frauen", herausgegeben vom Rechtsschutzverein-
Dresden) erschienen ungefähr zu gleicher Zeit wie die Petition im
Druck, stimmten mit dieser in den wesentlichsten Punkten über-
ein, wenn sie auch einen etwas schärferen Ton anschlugen, und,
wurden in vielen Tausenden von Exemplaren im ganzen Reich
verbreitet, an die Presse und an die Volksvertreter gesandt, da
die erste Lesung des Gesetzentwurfes im Reichstag nahe bevor-
bevorstand.
Propagandareisen einiger Führerinnen, die in verschiedenen
deutschen Städten in zahlreich besuchten öffentlichen Versamm-
lungen Vorträge hielten, haben ebenfalls viel zur Aufklärung der
Frauen beigetragen, freilich auch gleich den erwähnten Propaganda-
schriften einen Entrüstungssturm in Juristen kreisen und in der
reaktionären Presse hervorgerufen.
Anfang Januar 1896 verbreitete ein noch in letzter Stunde
vor der ersten Lesung gebildetes Komitee von Münchener Frauen
eine energische und eindrucksvolle Resolution, die im Lauf von
wenig Wochen über 25 000 Unterschriften fand, darunter die Namen
der hervorragendsten Vertreter deutscher Wissenschaft und Kunst,
die Namen vieler bedeutender Staatsmänner, Universitätsprofessoren,
Geistlichen, Ärzte, Juristen, Schriftsteller etc. Diese Resolution
wurde natürlich ebenfalls dem Reichstag eingesandt Als be-
merkenswert möchte noch hervorgehoben werden, dass bei dieser
Gelegenheit auch die Sozialdemokratie eine kräftige Propaganda
in Wort und Schrift im gleichen Sinne entwickelte, und dass die
in ihren Versammlungen angenommenen Resolutionen, wenn auch
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— H3 -
auf die Gescllschaftsbetrachtung der Partei gegründet, doch in
ihren Forderungen sich in allen Punkten mit denen der bürger-
lichen Frauen deckten.
Die erste Lesung des Entwurfes im Plenum des Reichstages
erfolgte Anfang Februar und erbrachte den erfreulichen Beweis,
dass die Stimmen der Frauen auch in den Reihen der Volks-
vertreter einigen Widerhall gefunden hatten. Angehörige der ver-
schiedensten Fraktionen traten für ihre Forderungen ein, geschlossen
und in allen Punkten allerdings nur die Sozialdemokraten. Doch
konnte man sich immerhin zu der Hoffnung berechtigt glauben,
dass die Forderungen der Frauen in den Beratungen der Kom-
mission, der die Vorlage überwiesen wurde, noch mehr Berück-
sichtigung finden würden.
Diese Hoffnung wurde nicht oder doch nur zum kleinsten
Teil erfüllt, und die Kommission ging über die Forderungen der
Frauen mit der gewohnten Nichtachtung hinweg. Die geringen
Zugeständnisse, die dank der Initiative einiger freisinniger und
sozialdemokratischer Abgeordneten gemacht wurden, waren
folgende:
Es sollte nicht mehr in allen Fällen, sondern nur zu Gunsten
der Gläubiger des Mannes vermutet werden, dass die im Besitz
der Ehegatten befindlichen Sachen dem Manne gehören. Auch
sollten ausser Kleidern und Schmucksachen der Frau nun auch
deren Arbeitsgeräte von dieser Vermutung ausgeschlossen sein.
Ferner war nach dem Entwurf die Frau zur teilweisen Ausübung
der elterlichen Gewalt berechtigt, so lange die elterliche Gewalt
des Vaters ruhte, sie war jedoch nicht dazu berechtigt im Falle
der Entmündigung des Vaters wegen Verschwendung oder Trunk-
sucht. Diese Beschränkung wurde von der Kommission auf-
gehoben. Aufgehoben wurde auch die erwähnte, von den Frauen
besonders nachdrücklich bemängelte Einschränkung „innerhalb der
Grenzen der Notdurft" in der Entschädigungspflicht des unehelichen
Vaters.
Die einzige wesentliche Verbesserung durch die Kommissions-
beschlüsse war, dass den Frauen das Recht der Vormund-
schaft und die Zulassung zum Familienrat zuerkannt wurde,
und zwar im vollen Umfang und unter gleichen Bedingungen
wie den Männern; das heisst, sie sollten zu diesen Ämtern
nicht nur zugelassen, sondern vom Vormundschaftsgericht be-
stellt werden können. Dass die Übernahme einer Vormundschaft
durch eine Ehefrau von der Zustimmung ihres Ehemannes ab-
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hängig gemacht wurde, war eine aus dem Entscheidungsrecht des
letzteren gezogene unvermeidliche Konsequenz.
Eine andere prinzipielle Errungenschaft in Bezug auf Gleich-
stellung der Geschlechter war die Einfügung eines Paragraphen,
welcher dem verwitweten Vater im Falle seiner Wiederverheiratung
— ebenso wie es der Entwurf für die Mutter bestimmte — die
Nutzniessung des kindlichen Vermögens entzog. Dieser Paragraph
wurde jedoch als eine zu weit gehende Beschränkung der väter-
lichen Rechte in der zweiten Lesung der Kommission wieder ge-
strichen.
Diese Fortschritte wurden jedenfalls durch den verhängnisvollen
Rückschritt aufgewogen, den die Streichung des § 1552 (Scheidung
der Ehe wegen unheilbarer Geisteskrankheit) bedeutete.
Dieser Kommissionsbeschluss, der Mann und Weib gleicherweise
traf, daher nicht nur von den Frauen sondern auch von Volks-
vertretern aller Richtungen bekämpft wurde und nur auf eine
notgedrungene Konzession an die Centrumspartei zurückzuführen
war, wurde übrigens in der dritten Lesung im Plenum wieder auf-
gehoben und der ursprüngliche Text des Entwurfes wieder her-
gestellt
Angesichts dieser unzulänglichen Resultate der Kommissions-
beratungen und angesichts des Ernstes der Lage sah sich der
Bund deutscher Frauenvereine, der damals bereits aus 76 Einzel-
vereinen verschiedenster Richtungen und Bestrebungen bestand
und in seiner Zusammensetzung die deutsche Frauenbewegung
repräsentierte, zu einem letzten energischen Vorgehen veranlasst.
Auf der Ende Mai 1896 abgehaltenen Generalversammlung des
Bundes in Kassel wurde eine erneute und verstärkte Agitation
einstimmig beschlossen und, mit Unterstützung zahlreicher Einzel-
vereine durch die neugebildete, aus 9 Mitgliedern bestehende
Rechtskommission des Bundes ins Werk gesetzt. Im Laufe
einer Woche (13.— 20. Juni) fanden in verschiedenen grösseren
Städten, u. a. in Leipzig, Dresden, Hannover, Göttingen, Kassel,
Frankfurt a. M., Eisenach, Jena, Weimar, Bonn, Protestversamm-
lungen statt. Die wenigen Referentinnen, die sich dafür zur Ver-
fügung stellen konnten, hatten bei einer ganz ungewöhnlichen
Sommerhitze eine ziemlich anstrengende Arbeit zu leisten. Neue
Aufrufe und Flugblätter wurden verbreitet, um eine Massenkund-
gebung zu veranlassen und dadurch zugleich die geringschätzige
Meinung der Volksvertreter über Umfang und Bedeutung der
Frauenbewegung richtig zu stellen. Leider war die Zeit bis zur
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Verabschiedung des Gesetzentwurfes dafür viel zu kurz, und die
weiteren etwa 25 000 Unterschriften unter der neuen, klar und be-
stimmt gefassten Resolution des Bundes, die in den wenigen
Wochen bis zur Entscheidung gesammelt werden konnten, ent-
sprachen diesem Zweck und der allgemeinen Stimmung nur sehr
unvollkommen.
Ende Juni erfolgte die zweite Lesung im Plenum des Reichs-
tages. In den Beratungen über die einzelnen Titel handelte es
sich trotz grosser, begeisterter Worte von links und rechts im
Grunde lediglich um Interessenpolitik und um gegenseitige Kon-
zessionen. Da durch die abwesenden Frauen keine wichtigen
Interessen der Parteien gefährdet erschienen, so wurden ihnea
auch keine weiteren Konzessionen gemacht, obgleich Angehörige
der verschiedensten Fraktionen warm und energisch für sie
eintraten. Während ein ganzer, sehr stürmischer Verhandlungs-
tag, der für die Beratung des Familienrechtes bestimmt war, der
denkwürdigen Hasendebatte, das heisst der Frage der Ersatzpflicht
für den durch Wild verursachten Feldschaden, gewidmet wurde
und das Zustandekommen des ganzen Gesetzes um ein Haar daran
gescheitert wäre, wurde zwei Tage später das Familienrecht und
die wichtigsten Lebensfragen der grösseren Volkshälfte in ganz
oberflächlicher Weise erledigt, wohl unter üblicher Betonung der
„idealen Standpunkte", der „gottgewollten Ordnung", des „Schutzes
des schwachen Geschlechtes" — aber auch meist unter einer das
gewohnte Mass übersteigenden „Heiterkeit", die in diesem Falle
selbst in fernstehenden Kreisen Befremden, bei den beteiligten
Frauen selbst aber eine allgemeine Entrüstung hervorrief.
Diese tiefe Entrüstung und die Überzeugung eines trotz der
augenblicklichen Niederlage errungenen moralischen Sieges klangen
als Grundton der letzten grossen Protestversammlung, einer bis
dahin noch nicht dagewesenen und auch wohl kaum für möglich
gehaltenen Demonstration deutscher bürgerlicher Frauen, durch,
die am 29. Juni im Berliner Konzerthause, von Vertreterinnen der
verschiedensten Richtungen der Frauenbewegung einberufen, unter
grossem Andrang stattfand. Aus allen Teilen des Reiches waren
bei diesem Anlass Abgesandte von Vereinen herbeigeeilt, um auf
die Reichstagsbeschlüsse (die durch die wenige Tage später er-
folgte dritte Lesung besiegelt wurden) die Antwort zu geben.
Diese Antwort unterschied sich in Bezug auf Sachlichkeit und der
Bedeutung des Gegenstandes entsprechenden Ernst so vorteilhaft
von jenen Verhandlungen, dass selbst die gegnerische Presse den
Handbuch der Frauenbewegung. IL TciL 10
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wohlthuendcn Kontrast anerkennen und zugeben musste, dass die
ungeschulten Frauen bei dieser Gelegenheit parlamentarischer
gewesen seien, als die Parlamentarier.
Schon in dieser Versammlung betonten sämtliche Rednerinnen,
dass die Frauen es bei der eben erlittenen Niederlage nicht
bewenden lassen, dass sie die ihnen gemachten geringen Zu-
geständnisse nur als Abschlagszahlungen auf ihre Forderungen,
die sie in vollem Umfang aufrecht erhielten, betrachten würden,
und dass sie es nach diesen Erfahrungen doppelt als ihre Pflicht
erachteten, die Geschlechtsgenossinnen in allen Volkskreisen über
ihre Stellung vor dem Gesetz aufzuklären und sie zu veranlassen,
sich der Bewegung anzuschliessen.
In diesem Sinne hat der Bund deutscher Frauenvereine die
Arbeit, die er als eine seiner vornehmsten Aufgaben betrachtet,
wieder aufgenommen, hat vor allem die Rechtskommission des
Bundes unablässig gewirkt, und haben zahlreiche Einzelvereine
eine umfassende Propaganda entwickelt. Auf allen seither ab-
gehaltenen Frauentagen wurde der Rechtsfrage ganz besondere
Aufmerksamkeit geschenkt; auf den Generalversammlungen des
Bundes in Hamburg und Dresden, auf denen des Allgemeinen
deutschen Frauenvereins in Stuttgart und Königsberg, auf dem
bayerischen Frauentag in München u. a. nahmen die Verhandlungen
über den Gegenstand einen breiten Raum ein. Neue Aufrufe und
ein eindrucksvolles Flugblatt „Mahnwort an das deutsche Volk"
unterstützten die von der Rechtskommission im Auftrag des
Bundes veranstaltete Massenpetition, die noch vor dem Inkraft-
treten des neuen B. G. B. dem Reichstag unterbreitet werden sollte.
Diese Petition gipfelte in den folgenden Forderungen: 1. Aufhebung
des ausschliesslichen Nutzniessungs- und Verwaltungsrechtes des
Mannes am eheweiblichen Vermögen in § 1363 und den folgenden,
und Einführung der Gütertrennung als gesetzliches
Güterrecht; 2. Erteilung der elterlichen Gewalt an die Mutter
in Gemeinschaft und in gleichem Umfange wie an den Vater;
3. Gewährung der elterlichen Gewalt auch für die uneheliche
Mutter — event. unter Zuordnung eines Beistandes — und
gerechtere Normierung der Unterhaltspflicht des unehelichen
Vaters seinem Kinde gegenüber.
Das Resultat der Sammlungen war trotz aller Bemühungen
nicht das erhoffte. Einerseits war durch die vorhergegangene
Agitation der Widerstand der Juristen geweckt worden, die in
ihrer grossen Mehrheit den mit den hergebrachten juristischen Be-
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griffen so wenig vereinbaren Forderungen kein Verständnis ent-
gegenbringen konnten. Sie warfen den deutschen Frauenrecht-
lerinnen, die Rechte für ihr Geschlecht beanspruchten, welche
andere Kulturländer ihren Frauen längst zuerkannt haben, „Mass-
losigkeiten", „Ungeheuerlichkeiten" und „krassesten Dilettantismus"
vor und suchten in Beruhigungsvorträgen und Vortragscyklen und
in einer Flut von Broschüren 1 ) und Zeitungsartikeln die Frauen
von der Unhaltbarkeit ihrer Forderungen zu überzeugen und diese
überhaupt nur einer ganz kleinen Gruppe radikaler Heisssporne in die
Schuhe zu schieben. Andrerseits erschien wohl auch vielen Frauen,
die sich einer Beruhigung nicht zugänglich zeigten, eine Revision und
Änderung des eben vollendeten Werkes ausgeschlossen, die erneute
Agitation und Petition daher aussichtslos. So kam es, dass die
letztere, die dem Reichstag mit einer eingehenden, von der Schrift-
führerin der Rechtskommission Freiin von Beschwitz ver-
fassten, in einer besondern Begleitschrift herausgegebenen Be-
gründung im Herbst 1899 zuging, nur etwas über 50000 Unter-
schriften von Frauen und Männern aus allen Kreisen der Be-
völkerung trug. Trotz der anfänglich in ihn gesetzten Hoffnungen
der Frauen ging denn auch der neue Reichstag, wie unter diesen
Umständen kaum anders zu erwarten war, darüber zur Tages-
ordnung über. Die Petition hat aber doch insoweit ihren Zweck
nicht verfehlt, als die Darlegung des Standpunktes der Frauen
und ihr Protest noch einmal an massgebender Stelle zum Ausdruck
kam und eine Erklärung der Petitionskommission im Reichstag
veranlasste, die ausdrücklich die Sympathie der Kommission mit
einzelnen Forderungen betonte und den Antrag auf Übergang zur
Tagesordnung nur mit dem Hinweis auf formale Gründe motivierte.
Der Bund und die auf diesem Gebiet arbeitende Rechts-
kommission wird nun dafür zu sorgen haben, dass diese leise
Sympathie sich nicht wieder verliere, und dass durch eine fort-
gesetzte Aufklärung über die Mängel im neuen Familienrecht die
Berechtigung der aufgestellten Forderungen dem allgemeinen Ver-
ständnis immer näher gebracht werde. Der Zeitpunkt für eine
teilweise Erfüllung dieser Forderungen, vor allem in Bezug auf das
gesetzliche eheliche Güterrecht, dürfte erst bei einer Revision des
B. G. B. gekommen sein. Bis dahin muss sich die Propaganda-
') Unter vielen andern seien hier nur genannt: Jastrow, Das Recht der Frau nach
dem Bürgerlichen Gesetzbuch. Berlin 1897. Planck, Die rechtliche Stellung der Frau nach
dem Bürgerlichen Gesetzbuche. Göttingen 1899. Kcrapin, Rechtsbrevier für deutsch«
Ehefrauen. Berlin 1896.
IO*
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arbeit darauf konzentrieren, dass das Mittel, das vom Gesetz selbst
dazu bestimmt ist, eine seiner verhängnisvollsten Bestimmungen
im einzelnen Falle aufzuheben, ein Mittel, auf welches auch die
Gesetzgeber und die Gegner der Frauenforderungen stets hinweisen,
immer allgemeiner bekannt und immer häufiger angewendet
werde — nämlich eine möglichst allgemeine Einführung der vollen
Gütertrennung durch Ehekontrakte.
Eine Agitation in diesem Sinne, vom Bunde angeregt, von den
einzelnen Bundesvereinen ins Werk gesetzt, ist denn auch gegen-
wärtig im Gange. Auf die einstimmige Annahme des auf der
letzten Generalversammlung in Dresden eingebrachten Antrages
von 12 Vereinen mit Rechtsschutzstellen: Der Bund wolle in eine
umfassende Agitation für eine möglichst allgemeine Einführung
von Eheverträgen bei Eheschliessungen eintreten — wurde ein
Flugblatt mit 4 Ehekontraktformularen für Frauen in verschiedenen
Lebensstellungen (vermögende Ehefrauen; solche, die einen Beruf
ausüben oder selbständig ein Geschäft betreiben; Arbeiterinnen;
Frauen, die Landwirte, handel- oder gewerbetreibende Männer
heiraten, oder solche, die Vermögens- und berufslos, durch ihre
Arbeit im Hause an eigenem Erwerb gehindert sind) von der
Rechtskommission ausgearbeitet und den Vereinen für lokale Ver-
breitung zur Verfügung gestellt Die Beteiligung an dieser Arbeit
ist eine so rege, zumal von Propagandavereinen und solchen mit
Rechtsschutzstellen, dass schon nach wenigen Wochen eine zweite
Auflage der Formulare hergestellt werden musste.
Der Bund deutscher Frauenvereine sieht eine allgemeine Ein-
führung von Ausnahmeverträgen, die für den Einzelnen immer
etwas Verletzendes haben und mit dem Wesen der Ehe wie mit
dem Empfinden der deutschen Frauen im Widerspruch stehen, an
sich durchaus nicht für wünschenswert an, betrachtet sie vielmehr
lediglich als vorläufigen Notbehelf, als Mittel zum Zweck der Ein-
führung der Gütertrennung — die jetzt nur als vertragsmässiges
Güterrecht vorgesehen ist — als gesetzliches Güterrecht.
Durch dieses erst wird der Frau auch in der Ehe die wirtschaft-
schaftliche und dadurch die soziale und moralische Selbständigkeit
und ihre Würde als Gattin und Familienmutter gewahrt
Zur weiteren allgemeinen Aufklärung erschien, einem auf
Antrag der Danziger Frauen schon 1898 in Hamburg gefassten
Beschlüsse gemäss, als Heft IV der Schriften des Bundes deutscher
Frauenvereine im Sommer 1900 eine objektiv gehaltene, kurz
gefasste vergleichende Übersicht „Die Stellung der Frau und
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Mutter im Familienrecht der ausscrdeutschen Staaten und nach
den Bestimmungen des Neuen Bürgerlichen Gesetzbuches für das
Deutsche Reich", im Auftrag der Rechtskommission zusammen-
gestellt von C. Dose und A. Kriesche.
In Würdigung der hohen Bedeutung des Gegenstandes für
alle Frauen der Kulturwelt hatte der Bund deutscher Frauen-
vereine bei dem Frauenweltbund (International Council of Women),
dem er als Nationalverband angehört, auch den Antrag gestellt,
die civilrechtliche Gleichstellung der Frau mit dem Mann als eines
der gemeinsamen Ziele der internationalen Frauenbewegung in das
Arbeitsgebiet des L C. W. aufzunehmen Dieser Antrag wurde
in der letzten Generalversammlung in London 1899 in etwas ver-
änderter Form angenommen und zunächst ein aus Vertreterinnen
sämtlicher angegliederter Nationalverbände bestehendes Komitee
zur Vergleichung der einschlägigen Bestimmungen in den ver-
schiedenen Kulturländern und zur Bearbeitung der wichtigsten
Fragen gebildet.
a
Die Agitation der bürgerlichen Frauenbewegung für ein einheitliches
freies Vereins- und Versammlungsrecht.
Viel später als die Agitation für eine freiere und würdigere
Stellung im Familienrecht, in ihrer Eigenschaft als Ehefrauen und
Mütter, sind die deutschen Frauen für eine Besserung ihrer
Stellung im öffentlichen Recht, in ihrer Eigenschaft als Staats-
bürgerinnen, eingetreten. Erst die rapide wachsende Beteiligung
des weiblichen Geschlechtes am Erwerbsleben hat auch den bürger-
lichen Frauen die Notwendigkeit der Selbsthilfe und der Selbst-
vertretung ihrer Interessen im öffentlichen Leben zum
Bewusstsein gebracht und sie zur Geltendmachung ihrer prinzipiellen
Forderung gleichen Rechtes mit dem Manne auch auf diesem
Gebiet gedrängt.
Die Bewegung richtete sich zunächst gegen die in verschiedenen
deutschen Staaten noch zu Recht bestehenden, die Bewegungs-
freiheit der Frauen einschränkenden Bestimmungen, vor allem
gegen das Verbot der Teilnahme an politischen Vereinen und
Versammlungen, das nicht nur in durchaus unwürdiger und
verletzender Weise die Frauen mit Schülern, Lehrlingen, überhaupt
Unmündigen auf eine Stufe stellt, sondern vor allem die arbeitenden
Frauen in der zur Wahrung und Förderung ihrer Berufsinteressen
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— i5° —
so dringend gebotenen Organisation beschränkt und somit auch
materiell aufs empfindlichste schädigt. Dieses Verbot besteht
keineswegs überall; es ist z. B. seit den fünfziger Jahren bereits
in 16 deutschen Staaten, u. a. im Königreich Sachsen und den
sächsischen Herzogtümern, in Württemberg, Baden, Hessen, ver-
schiedenen Kleinstaaten und den Hansastädten nicht mehr
in Kraft. Auch die reaktionären Beschlüsse des deutschen Bundes
1854 haben die Frauen von politischer Vereinsthätigkeit nicht
ausgeschlossen, sondern nur die Schüler und Lehrlinge. Andre
Staaten verbieten die Teilnahme der Frauen zwar nicht ausdrücklich,
stellen aber, wie z. B. die beiden Mecklenburg und Elsass-
Lothringen, das ganze Vereins- und Versammlungswesen in das
diskretionäre Ermessen der Behörden, die denn auch die Grenzen
in Bezug auf die Frauen gelegentlich so eng wie möglich zu ziehen
wissen. Ganz streng ist das Verbot in den vereinsgesetzlichen
Bestimmungen Braunschweigs und einiger andrer Kleinstaaten auf-
recht erhalten. Der Umstand aber, dass das über 50 Jahre alte
Vereinsgesetz des grössten deutschen Staates Preussen die Frauen
ebenfalls immer noch von allen Vereinen ausschliesst, die politische
Angelegenheiten erörtern, ist insoweit ganz besonders verhängnis-
voll und ausschlaggebend auch für das ganze übrige Deutschland,
als es sich einmal um den führenden Bundesstaat und das wichtigste
geistige, soziale und politische Centrum, die Reichshauptstadt,
handelt, und als ferner die Dehnbarkeit des Begriffes „politisch"
allen irgendwie unbequemen oder missliebigen Bestrebungen
gegenüber die gerechtfertigte oder missbräuchliche Auffassung
als „politischer Verein" zulässt. Die im Laufe des letzten Jahr-
zehntes erfolgte Auflösung zahlreicher preussischer Arbeiterinnen-
Bildungsvereine, die sozialistischer Tendenzen verdächtig waren,
wegen „Verhandlung politischer Gegenstände" liefert den besten
Beweis dafür. Übrigens sind thatsächlich alle Angelegenheiten,
welche die Verfassung, Verwaltung und Gesetzgebung des Staates
auch in sozialpolitischer und wirtschaftlicher Richtung betreffen,
streng genommen als politische Angelegenheiten zu betrachten. ')
Dieser unklare und halbe Zustand — der dadurch zu einem
Zustand grösster Verworrenheit wurde, dass diese landesgesetz-
lichen mit den rcichsgesetzlichen Bestimmungen, die auch der
Arbeiterin wie dem Arbeiter Koalitionsfreiheit gewähren, in direktem
Widerspruch stehen — ist angesichts der heutigen Verhältnisse,
') Erkenntnis des Reichsgerichts vom 10. November 1887.
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— i5i —
angesichts der prinzipiellen Gleichberechtigung der Frau im Erwerbs-
leben und angesichts der Thatsache, dass der Staat selbst die
Frauen in immer grösserem Umfang auch zum Beamtendienst
heranzieht, ein ganz unhaltbarer. Dass hier nur eine reichsgesetz-
liche Regelung — die übrigens auch von allen Sozialpolitikern
dringend gewünscht und vom Reichskanzler dem Reichstag gegen-
über als in der Absicht der verbündeten Regierungen liegend, in
ziemlich sichere Aussicht gestellt wurde — die erwünschte Lösung
bringen und Abhilfe schaffen könnte, war den Frauen mit der
Erkenntnis der Situation sofort klar; ihre Propaganda in Wort und
Schrift ging daher hauptsächlich in dieser Richtung. Im Januar
1895 wurde von drei Berliner Frauen die erste Petition um Er-
langung voller Vereins- und Versammlungsfreiheit für die Frauen
angeregt und dem deutschen Reichstag eingereicht, zunächst
ohne Erfolg. Nachdem ein Antrag auf Reform des Vereinsgesetzes
im preussischen Abgeordnetenhause abgelehnt worden war, wurde
im Juni 1897 der deutsche Reichstag in einer von neun Berliner
Führerinnen der Frauenbewegung angeregten Massenpetition mit
zahlreichen Unterschriften ersucht, „dahin zu wirken, dass baldigst
die Bestimmung des Artikels 4, No. 16 der Reichs Verfassung erfüllt
werde, durch Schaffung eines der heutigen Zeit entsprechenden
freiheitlichen deutschen Vereinsrechtes, das auch die gerechten
Forderungen der deutschen Frauen berücksichtigt." Auch dieser
Vorstoss in der wichtigen Angelegenheit blieb, obgleich er bei
den fortschrittlichen Volksvertretern volle Sympathie fand, re-
sultatlos.
Im folgenden Jahre, Januar 1898, traten die Dresdener bürger-
lichen Frauen in einer lebhaften Agitation mit besserem Erfolge für
die bedrohten Rechte der Arbeiterinnen ein. Diese Agitation
gipfelte in einer grossen Protestversammlung, auf der (zum ersten
Mal in einer deutschen Frauenversammlung) auch die Volks-
vertreter das Wort ergriffen. Auf einen von der konservativen
Landtagsmehrheit eingebrachten, in erster Lesung bereits an-
genommenen Kompensationsantrag zu der Regierungsvorlage,
betreffend freies Koalitionsrecht, war eine Verschlechterung des
sächsischen Vereinsgesetzes in Aussicht genommen, wonach
Frauen und Minderjährigen die Teilnahme an sozialistischen und
anarchistischen, eventuell an allen politischen Vereinen und Ver-
sammlungen verboten sein sollte. Das Gesetz scheiterte in der
Folge an dem Widerstand der ersten Kammer, das Verbot wurde
auf die Minderjährigen beschränkt, und es blieb im übrigen bei
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— 152 -
den bisherigen für Männer und Frauen gleichen Bestimmungen.
Die Demonstration der bürgerlichen Frauen hatte auch ausserhalb
Sachsens anregend und fördernd gewirkt und das Interesse für
die wichtige Frage überall erhöht.
Im Herbst desselben Jahres nahm auch der Bund deutscher
Frauen vereine auf der Generalversammlung in Hamburg offiziell
Stellung dazu. Der Verein Frauenwohl-Danzig hatte den Antrag
gestellt, „der Bund wolle es sich zur Aufgabe machen, für die
volle Vereins- und Versammlungsfreiheit der Frauen einzutreten".
Der Antrag wurde einstimmig angenommen und die Ausführung
der Rechtskommission übertragen. Ende März 1899 wurde eine
Petition des Bundes beim Reichstag eingereicht, die ein einheit-
liches deutsches Vereins- und Versammlungsrecht und Gewährung
gleicher Rechte für Männer und Frauen forderte. Entgegen dem
Antrag der Petitionskommission auf Übergang zur Tagesordnung
wurde die Petition im Plenum des Reichstags lebhaft diskutiert,
von Angehörigen der verschiedensten Fraktionen warm befürwortet
und auf Mehrheitsbeschluss dem Reichskanzler zur Berücksichtigung
überwiesen. Auf Antrag des Vereins Frauenwohl-Berlin wurde
dann diese Petition des Bundes im Herbst 1900 wiederholt ein-
gereicht.
Die Frage spitzte sich zu und wurde zu einer ganz besonders
aktuellen, als im Januar 1901, bei Gründung der Gesellschaft für
soziale Reform (deutsche Sektion der internationalen Vereinigung
für gesetzlichen Arbeiterschutz), die Anmeldungen des Bundes
und einzelner Frauen und Frauenvereine zum Beitritt auf Grund
des preussischen Vereinsgesetzes (da der Sitz der Gesellschaft
Berlin sein musste) zurückgewiesen wurden, das Vereins-
gesetz also hier die so dringend notwendige und von allen Seiten,
vor allem von den beteiligten Sozialpolitikern selbst, dringend
gewünschte Mitarbeit der Frauen an den wichtigsten sozialen
Aufgaben der Gegenwart unmöglich machte. Ein Sturm der
Entrüstung erhob sich darauf nicht nur in den Reihen der Frauen,
wo er eine einmütige, energische Stellungnahme in Wort und
Schrift, in Protestversammlungen und scharf pointierten Resolutionen
der fortschrittlichen Frauenvereine veranlasste, sondern auch in
weiteren Volkskreisen. Die Gesellschaft für soziale Reform hat
dann, nachdem alle ausserpreussischen Ortsgruppen die Frauen
und Frauenvereine ausdrücklich zum Beitritt aufforderten, auch in
einer ihrer ersten Ausschusssitzungen die Angelegenheit als eine
ihrer ersten Aufgaben ins Auge gefasst und einstimmig beschlossen,
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- 153 —
„im Hinblick auf die dringende Notwendigkeit der Mitwirkung der
Frauen an allen sozialpolitischen Bestrebungen . . . eine Eingabe
an Bundesrat und Reichstag zu richten, in der der baldige Erlass
eines Reichsgesetzes gefordert wird, das die der Anteilnahme der
Frauen an jenen Bestrebungen entgegenstehenden landesgesetzlichen
Beschränkungen der Vereins- und Versammlungsgesetzgebung
aufhebt."
Es ist zu erwarten, dass die Unterstützung der Frauen-
forderungen von dieser Seite mit dazu beitragen wird, die Frage
bald einer befriedigenden Lösung zuzuführen. Ein zweites Ereignis
brachte die Sache auch in andren Volkskreisen in Fluss. Als zu
Pfingsten 1901 der evangelisch-soziale Kongress in Braunschweig
tagen wollte, wurden die Einberufer von den Behörden ver-
ständigt, dass das Landes-Vereinsgesetz die Teilnahme von Frauen
an den Verhandlungen verbiete. Thatsächlich fanden die Ver-
sammlungen unter Ausschluss der Frauen statt; der Kongress
nahm jedoch einstimmig eine Resolution an, in der er diesen
Ausschluss bedauerte und den Wunsch aussprach, dass alle in
dieser Hinsicht für die Frauen geltenden Beschränkungen beseitigt
werden möchten.
Wenn auch von sichtbaren, positiven Erfolgen auf diesem
Gebiet der Frauenbestrebungen noch nicht viel zu sagen ist, so
können sie umsomehr in der öffentlichen Meinung konstatiert
werden, die diesen Bestrebungen eine allgemeine, steigende
Sympathie entgegenbringt. Mit einem einheitlichen, zeitgemässen,
freieren Vereins- und Versammlungsrecht wird dann auch erst die
richtige Agitation der deutschen Frauen für eine Ausdehnung ihrer
Rechte und Pflichten auf alle Gebiete des öffentlichen Lebens
und endlich auch auf ihre Beteiligung an der Gesetzgebung selbst
einsetzen können').
I) Die Rechtskampfe im Zusammenhang der deutschen FrAuenbewegung vgl. Handbuch
der Frauenbewegung Teil L
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Die Teilnahme der Frauen an der
5ittlichkeit5beWe£>un<>.
Von Anna Pappritz.
Litteratur.
Die Litteratur zur Einführung in die Sittlichkeitsbewegung ist
eine sehr umfassende, da es nicht genügt, Schriften zu lesen, die
unmittelbar der Bewegung angehören, sondern das Studium von
Juristischen, medizinischen und nationalökonomischen Werken, die sich
mit dieser Frage befassen, zum tieferen Verständnis derselben durchaus
notwendig ist. Folgende Werke sind zur Einführung in die Sittlich-
keitsfrage uncrlässlich:
I. Juristische: Schmölder, Oberlandesgerichtsrat: Staat und
Prostitution. (Berlin 1900.) Julius Duboc. Die Behandlung der
Prostitution im Reiche. (Magdeburg 1879.) Dr. A.Korn. Staatsrechts-
form oder Sittenpolizei zu § 361 6 des Reichsstrafgesetzbuches.
(Leipzig 1897.) Louis Bridel. La Question des moeurs et l'Etat.
(Genf. Secrötariat de la Föderation.) Louis Bridel. Questions
föministes: 1. les deux morales, 2. les droits de la femme et la famille
(Genf. Secrötariat de la Föderation.) Prof. Felix Bovet. Les limites
de l'intervention de 1 Etat en matiere de prostitution. (Genf. Secrötariat
de la Föderation.) Prof. Scheldon-Amos. Etüde comparative des
lois et reglements sur la prostitution. (Genf. Secrötariat de la Föderation.)
Mrs. Josephine Butler. La röpression en matiöre de moeurs. Du
röle de l'Etat et de ses limites. (Genf. Secrötariat de la Födöration.)
II. Medizinische: Dr. med. E. Kromeyer. Zur Austilgung der
Syphilis. (Berlin 1898.) Dr. A. Blaschko. Die Geschlechtskrank-
heiten, ihre Gefahren, Verhütung und Bekämpfung. (Berlin 1900.)
Dr. A. Blaschko. Hygiene der Prostitution und venerischen Krank-
heiten. (J ena 1900.) Prof. Fournier. Syphilis und Ehe. (Paris.)
Dr. Kornig. Hygiene der Keuschheit. (Leipzig 1894.) Prof.
Dr. med. Fies ch. Prostitution und Frauenkrankheiten. (Frankfurt a./M.
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— 155 —
1898.) Prof. Ribbing. Sexuelle Hygiene. (Berlin. Bureau des
„Jugendschutz".) Dr. E. Lesse r. Geschlechtskrankheiten und Volks-
gesundheit. (Berlin 1897.)
III. Historische* J. E. Butler. Personal Reminiscences of a great
Crusade. (London 1898.) Actes du Congres de Geneve. (Genf. 1877.
Secretariat de la Föderation.) Dr. Henne am Rhyn. Die Gebrechen
und Sünden der Sittenpolizei. (Leipzig.) Prof. Hilty. Der weisse
Sklavenhandel. (Leipzig 1897.) Prof. Jeannel. La Prostitution dans
les grandes villes. Deutsch v. Müller. (Erlangen 1869.) Parent-
Duchatclet La Prostitution dans la Ville de Paris. (Paris 1859.)
IV. Ethische. 1 ) Prof. Dr. Heim.* Das Geschlechtsleben des
Menschen vom Standpunkte der natürlichen Entwickelungsgeschichte.
(Zürich 1900.) H. Bieber-Böhm. Vorschläge zur Bekämpfung der
Prostitution. — Hoffet, Pfarrer.* Offene Antwort auf die Vorschläge
zur Bekämpfung der Prostitution. (Colmar.) Marie Stritt. Die
Bestimmung des Mannes. Die Frauen frage der oberen Zehntausend.
Häusliche Knabenerziehung. — Helene Gardener. „Wessen Tochter?"
„Gegen die freie Liebe", aus dein Englischen. - Die Aufhebung der
öffentlichen Häuser zu Colmar von Bürgermeister Schlumberger. —
Mahnruf an die Mütter und Briefe an einen Sohn. — Dr. Bergemann.
Sittlichkeit und Schule. — Prof. Hans Meyer. Für und wider den
Alkohol. — Björnson. Monogamie und Polygamie. — Prof. Herzen.
Wissenschaft und Sittlichkeit. — H. Bieber-Böhm. Die Sittlichkeits-
frage, eine Gesundheitsfrage. — Dr. med. F r. P a u 1 u s. Folgen unsittlicher
und sittlicher Lebensführung in ihrer Bedeutung für die Volkswohlfahrt. —
Sicgert. Die Unkeuschheit. Warum die Kinder nicht Wein haben
sollen. — „Wo kam Brüderchen her?"
V. Zeitschrift en: Bulletin Continental (revue mensuelle. Geneve.)
Revue morale et sociale (revue mensuelle. Geneve.) The Shicld.
(London.) Korrespondenzblatt zur Bekämpfung der öffentlichen
Sittenlosigkeit. (Berlin.)
L
Einführung.
D ie Sittlichkeitsbewegung ist so alt, wie die Kulturgeschichte
überhaupt. So weit unsre historischen Kenntnisse zurückreichen,
hat es immer führende Geister gegeben, die die Unsittlichkeit
bekämpften, in der richtigen Voraussetzung, dass die Sittlichkeit
die Basis eines gesunden Staats- und Volkslebens ist. Die An-
') Diese Schriften, mit Ausnahme der beiden mit einem • versehenen, sind zu haben
im Bureau des .Jugendschutx', Berlin C, Kaiser Wilhelmstr. 39.
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— 156 —
sichten über Sittlichkeit haben sich im Laufe der Jahrhunderte
vielfach geändert und geläutert, denn auch die sittliche Anschauung
ist nichts Absolutes, sondern steht im Flusse des historischen
Werdens, und die einer Zeit adäquate Form ist niemals die für
alle Zeiten massgebende gewesen.
Die Form der Unsittlichkeit, welche von altersher am meisten
das sittliche Gefühl verletzt hat und als Krebsschaden der mensch-
lichen Gesellschaft angesehen wurde, ist die Prostitution. Wenn
trotz aller Massregeln, die dagegen getroffen worden sind, diese
so wenig einzudämmen war, dass man sie als ein „notwendiges
Übel" zu betrachten pflegte, so ist der Grund wohl darin zu
suchen, dass die Gesetzgeber die Ursachen, aus denen die
Prostitution entspringt, zu wenig berücksichtigten. Die Ursachen
der Prostitution sind dreifacher Art: die Geringschätzung des
Weibes überhaupt, die schlechte, wirtschaftliche Stellung der Frau,
die starke Nachfrage von Seiten des Mannes. Es sind mangelhaft
erzogene, ungenügend genährte, ausgebeutete, unbeschützte und
verführte Mädchen, die jährlich zu Tausenden auf die Bahn des
Lasters getrieben werden. Der Mann aber hat von jeher der
schwächeren Frau die Konsequenzen seiner oder der gemeinsam
begangenen Handlung aufgebürdet. Diese männlich-einseitige Auf-
fassung, die Frau allein für die Unsittlichkeit verantwortlich zu
machen, hat durch das Jahrtausende währende Übergewicht des
männlichen Geistes eine solche suggestive Wirksamkeit ausgeübt,
dass auch edle Frauen vollständig in diesem Vorurteil befangen
waren. So gab die Kaiserin Maria Theresia ein Keuschheitsedikt,
das mit seinen Strafen lediglich die Frau verfolgte und darum
völlig unwirksam für die Hebung der Sittlichkeit blieb.
II.
Die Reglementierung der Prostitution.
Den unsittlichsten Ausdruck fand die Geringschätzung des
Weibes in einer Massregel, die zu Anfang des XIX. Jahrhunderts
nach Napoleonischem Muster fast in allen Kulturstaaten eingeführt
wurde: die staatliche Reglementierung der Prostitution.
Man versteht darunter gewisse polizeiliche Massregeln, speziell die
ärztliche Zwangsuntersuchung, denen sich solche Frauen zu unter-
werfen haben, die gegen Entgelt geschlechtlichen Verkehr treiben.
Werden die Prostituierten krank befunden, so müssen sie sich
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— 157 -
einer Zwangsheilung unterziehen; gesund, erhalten sie einen Er-
laubnisschein und können nun straflos ihr trauriges Gewerbe
fortfahren, während für die nicht unter Kontrolle stehenden Frauen
die „gewerbliche Unzucht" verboten ist. In Deutschland basiert
diese Massregel auf dem § 361 6 des Strafgesetzbuches, welcher
lautet:
„Mit Haft wird bestraft: eine Weibsperson, welche wegen gewerbs-
mässiger Unzucht einer polizeilichen Aufsicht unterstellt ist, wenn sie
den in dieser Hinsicht zur Sicherung der Gesundheit, der öffentlichen
Ordnung und des öffentlichen Anstandes erlassenen polizeilichen Vor-
schriften zuwiderhandelt, oder welche, ohne einer solchen Aufsicht
unterstellt zu sein, gewerbsmässig Unzucht treibt."
Die Reglementierung bleibt im einzelnen der Polizei überlassen.
Schmölder schreibt hierüber:')
§ 361 6 will, wie man sieht, in seinem Absatz 2 die gewerbsmässige
Unzucht nicht mit Stellung unter Kontrolle, sondern mit Haft bestraft
wissen, während Absatz 1 desselben Paragraphen eine solche Kontrolle
zwar voraussetzt, aber nicht gesetzlich anordnet. Die
preußischen Behörden stützen sich deshalb auch ausser auf den
§3616, auf A. L. R. § 10, Teil II, Titel 17. welcher der Polizei das Recht
giebt. die nötigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe.
Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der dem Publico oder
einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahren zu treffen,
ferner auch auf § 6 des Gesetzes vom 11. März 1850. welcher mit
ungefähr demselben Wortlaut der Polizei die gleichen Machtbefugnisse
verleiht. Von juristischer Seite wird mit Recht geltend gemacht, dass
diese Begründung der sitten- und sanitätspolizeilichen Kontrolle keine
ausreichende ist. Die ganz allgemeinen und unbestimmten Vor-
schriften der preussischen Gesetzgebung sind doch wenigstens in so
weit eingeschränkt, als einzelne Materien reichsgesetzlich oder durch
Speziallandesgesetze geordnet sind. Zu diesen Materien gehört aber
namentlich der Schutz der persönlichen Freiheit, die durch eine
zwangsweise vorgenommene körperliche Untersuchung zweifellos
verletzt wird. Die Str. Pr. O. bestimmt ganz ausdrücklich, unter
welchen Umständen allein jemand körperlich durchsucht oder in seiner
Freiheit beschränkt werden darf (§§ 102. na ff.); die Feststellung, ob
jemand mit einer ansteckenden Krankheit behaftet ist, gehört aber an
sich nicht zu den Zwecken, welche eine Durchsuchung oder Freiheits-
beraubung rechtfertigen, weder bei Männern noch bei Frauen. Auch
das preussische Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit vom
ia. Februar 1850 giebt ein so weitgehendes Recht nicht, so dass
') VgL .Die Bestrafung und polizeiliche Behandlung der gewerbsmässigen Unzucht".
Düsseldorf 189a. S. 51 ff.
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- i 5 8 -
vielleicht davon gesprochen werden kann, dass eine Lücke in der
Gesetzgebung existiert und die nötige Fürsorge gegen die Verbreitung
ansteckender Krankheiten nicht gegeben ist. dass aber keineswegs
behauptet werden darf, dass das polizeiliche Ermessen auf diesem
Gebiete mangels gesetzlicher Bestimmungen schrankenlos walten könne.
Gleichwohl beansprucht die Polizei, wenigstens in grösseren Städten,
fast durchweg das Recht, Frauenzimmer, welche als obdachlos, oder
unter Umständen, welche einen Verdacht der Unsittlichkeit rechtfertigen,
in polizeiliche Obhut geraten, ohne weiteres auf ihre geschlecht-
liche Gesundheit zu untersuchen, d. h. sie einer schmählichen
körperlichen Untersuchung zu unterwerfen, und sie dehnt dieses Recht
sogar dahin aus, dass Frauenzimmer, bei denen auf diese Art eine
Geschlechtskrankheit konstatiert ist. unter Kontrolle gestellt werden.
Ferner heisst es in einer Entscheidung des Landgerichts zu Köln vom
21. November 1889: die Polizeibehörden leiten ihre Befugnis zur
Zwangsunterstellung denn auch nur aus einem ( — eine Interpretation
der §§ 6 und 12 des Gesetzes zum Schutze der persönlichen Freiheit
vom 12. Februar 1850 enthaltenden — ) Reskripte des Ministers des
Innern vom 7. Juli 1850 her, wonach, abgesehen davon, dass die
Prostituierten zur regelmässigen Beibringung von Gesundheitsattesten
angehalten werden können, den Polizeibehörden auch im allgemeinen
diejenigen Befugnisse zustehen sollten, welche zu einem erfolgreichen
Einschreiten gegen das Treiben der der Prostitution ergebenen Frauen-
zimmer erforderlich sind. Da die §§ 6 und 12 des Gesetzes vom
12. Februar 1850 nur von der Befugnis, Personen in vorläufige polizei-
liche Verwahrung zu nehmen und an Orten, welche der Polizei als
Aufenthaltsorte liederlicher Frauenzimmer bekannt sind, zur Nachtzeit
Haussuchungen vorzunehmen, handeln, so konnte auch das er-
wähnte Ministerialreskript den Polizeibehörden nicht die
Befugnis geben, über das ihnen zur Feststellung und zur Ver-
hinderung strafbarer Handlungen naturgemäss zustehende allgemeine
Überwachungsrecht hinaus Frauenspersonen gegen deren Willen die
mit der Zwangsunterstellung verbundenen, in den Verwarnungs-
protokollen aufgeführten Beschränkungen aufzuerlegen, welche die
ganze Person ergreifen, diese öffentlich als endgiltig dem
Laster ergeben bezeichnen und dieselben aus jeder ehrlichen
Arbeitsstelle und aus der Gesellschaft aller anständigen Personen ver-
treiben."
Auch die übrigen deutschen Staaten besitzen keine die Kontrolle
ausdrücklich gestattende Gesetzgebung. Trotzdem ist im Laufe
dieses Jahrhunderts allmählich in den grossen und mittleren Städten
der meisten deutschen Staaten ein Kontrollsystem nach dem üblichen
französischen Muster eingeführt worden. Die Handhabung dieses
Systems ist eine mannigfaltige. Ich folge in einer kurzen Wieder-
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- 159 —
gäbe dieser Verhältnisse den Ausführungen von Dr. A. Blaschko
in seinem Buche: „Hygiene der Prostitution und venerischen
Krankheiten." •)
Trotzdem der Wortlaut des § 180 des Reichsstrafgesetzbuches
vom Jahre 1871/76») das Halten von Bordellen als strafbare
Handlung deutlich erkennen lässt und das Reichsgericht selbst in
einem Erkenntnis vom 29. Januar 1883 das Bordellhalten, selbst
mit polizeilicher Genehmigung, für strafbar erklärt hat, bestehen, zum
Teil unter ausdrücklich gegebener Polizeierlaubnis, in verschiedenen
Städten Bordelle fort. Blaschko nennt Altona, Braunschweig,
Chemnitz, Düsseldorf, Halle, Hamburg, Königsberg, Magdeburg,
Mannheim, Nürnberg, Strassburg und eine grosse Zahl mittlerer
und kleinerer Städte.
Es besteht ausserdem, und zwar scheint das in wachsendem
Masse eingeführt zu werden, in andren Städten ein System, das
Blaschko als das der Bordellstrassen bezeichnet. So ist in Bremen
schon 1878 zur Unterbringung der Prostituierten eine aus
26 Häusern bestehende Sackgasse eingerichtet worden, ein Beispiel,
dem wiederum verschiedene Städte, Dresden, Leipzig, Magdeburg,
Essen, Krefeld, Erfurt, Flensburg, Halberstadt, Hildesheim,
Schwerin i. M., Freiburg i. B. gefolgt sind. Blaschko fährt dann
wörtlich fort:
Da, wo keine Bordelle existieren, spielt sich die Überwachung der
Prostituierten etwa folgendermassen ab: Auf Grund von Beobachtungen
der Beamten der Sittenpolizei, sowie auf Grund irgendwelcher
Denunziationen von Privatpersonen, Konkurrentinnen, Nachbarn, jungen
Männern, die sich durch ein Mädchen infiziert glauben, werden die-
jenigen Mädchen, welche sich der gewerbsmässigen Prostitution ver-
dächtig gemacht haben, arretiert und „auf Geschlechtskrankheit" unter-
sucht. Die Gesundbefundenen erhalten zunächst eine wohlwollende
Ermahnung.*) Bei einer zweiten Arretierung jedoch werden sie „zu
>) Handbuch der Hygiene, 4a Lieferung, Jena 190a S. 53 ff.
*) Der § 180, neuer Wortlaut der „lex Heinze" von 1900, lautet: .Wer gewohnheits-
massig oder aus Eigennutz durch seine Vermittelung oder durch Gewährung oder Ver-
schaffung von Gelegenheit der Unzucht Vorschub leistet, wird wegen Kuppelei mit Gefängnis
nicht unter einem Monat bestraft; auch kann zugleich auf Geldstrafe von einhundertfQnfzig
bis zu sechstausend Mark, auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, sowie auf Zulfissigkeit
von Polizeiaufsicht erkannt werden. Sind mildernde Umstände vorhanden, so kann die
Gefängnisstrafe bis auf einen Tag ermlssigt werden.*
*) Was mit den Kranken geschieht, darober enthalten die offiziellen Berichte keine
Angaben; offenbar werden diese zum grössten Teil sofort ohne vorherige Verwarnung
eingeschrieben.
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— i6o —
Protokoll verwarnt". In dem „Warnungsprotokoll" ist insbesondere
hervorgehoben, dass sie, wofern sie wiederum in verdachtiger Weise
aufgegriffen werden sollten, unter eine spezielle sanitätspolizeiliche
Kontrolle gestellt werden. Die so Verwarnten werden den Exekutiv-
beamten der Sittenpolizei vorgestellt. Die Eltern und Vormünder der
Verwarnten werden zuweilen (!) von dem schlechten Lebenswandel
letzterer seitens der Behörde in Kenntnis gesetzt.
Die thatsächliche Einschreibung erfolgt in Berlin, welches als
Prototyp für andre Orte gelten mag, nach der Darstellung des Königl,
Polizeipräsidiums „sofern die unzüchtig umherschweifenden, von den
Beamten der Sittenpolizei aufgegriffenen Dirnen nicht erklären, dass
sie ihr schimpfliches Gewerbe fortzusetzen gesonnen sind, erst nach
wiederholter Verwarnung, und kann auch dann noch abgewendet
werden, wenn die Mädchen sich einer Besserungsanstalt zuführen
lassen (was freilich in zehn Jahren nur zweimal passiert ist). Durch
Verfügung vom a. Mai 1886 ist angeordnet, dass die Stellung unter
Kontrolle in einem motivierten, von dem Abteilungsdirigenten zu
unterzeichnenden Beschlüsse auszusprechen ist, und das vorangehende
Verhör sich auf die Umstände und Ereignisse, durch welche die
Frauenspersonen der Prostitution zugeführt sind, zu erstrecken hat,
ferner, dass die unter väterlicher oder vormundschaftlicher Gewalt
stehenden Dirnen erst dann unter Kontrolle gestellt werden dürfen,
wenn die an den gesetzlichen Vertreter zu richtende Aufforderung, die
Schutzbefohlenen in einer anständigen Familie unterzubringen, ohne
Erfolg geblieben ist." Trotzdem befanden sich unter den 846 im
Jahre 1898 in Berlin unter sittenpolizeiliche Kontrolle gestellten
Mädchen 229 Minorenne, d. h. solche, die noch nicht das ai. Jahr er-
reicht hatten, und andrerseits 9 Frauen zwischen 40—50 Jahren.
Auch nach erfolgter Eintragung wird, wie das Polizeipräsidium
mitteilt, den Prostituierten der Rettungsweg offen gehalten. Sobald
sie ehrliche Arbeit nachweisen, werden sie von der Kontrolle vorläufig
entbunden, und wenn eine unauffällige (?) Beobachtung die Annahme
rechtfertigt, dass sie sich wieder an ein ordentliches und arbeitsames
Leben gewöhnt haben, definitiv aus derselben entlassen.
Es scheint fraglich, ob in der Praxis alle diese Garantien für ein
korrektes Verfahren stets innegehalten werden, und ob nicht hier und
da ein etwas summarisches Verfahren geübt wird. Das Fehlen einer,
wenn auch noch so einfachen gerichtlichen Verhandlung, die Gesetzes-
unkenntnis, die Schüchternheit und Bestürztheit des vielleicht zum
ersten Male bei so lockerem Lebenswandel ertappten Mädchens fordern
namentlich die unteren Polizeiorgane zu Miss- und Übergriffen geradezu
heraus. Auch erschweren in der Praxis die Erkundigungen, welche
die Polizei über ein vorläufig von der Kontrolle entbundenes Mädchen
einzuziehen pflegt, demselben die Möglichkeit, eine dauernde Arbeits-
stelle zu finden."
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— 161 —
Dieser nüchterne ärztliche Bericht beweist wohl genugsam,
dass die Kontrolle eine ungesetzliche Institution ist, dass sie das
weibliche Geschlecht geradezu vogelfrei macht und einen Teil
desselben zu Menschen zweiter Klasse, zur Ware, herabdrückt.
Ausserdem hat die Kontrolle sich als vollkommen unwirksam
erwiesen, die Gesundheit des Volkes zu schützen, wie aus dem
Bericht der Brüsseler Konferenz 1 ) hervorgeht In England haben
die Geschlechtskrankheiten während des Bestehens der Kontrolle
zugenommen; nach Abschaffung derselben im Jahre 1884 hielt
diese Steigerung während der ersten drei Jahre an, um in den
nun folgenden Jahren von 1888 — 98 ganz regelmässig und
sehr erheblich abzunehmen.«)
in.
Josephine E. Butler
und die Gründung: des britischen, kontinentalen und allgemeinen
Bundes zur Bekämpfung des staatlich regulierten Lasters.
Mit einer Indolenz, die nur durch Unkenntnis zu ent-
schuldigen ist, haben die Frauen die schmachvolle Institution der
Reglementierung der Prostitution geduldet, bis endlich eine
Engländerin, Mrs. Josephine Butler, in dem edlen Drange, ihren
unglücklichen Geschlechtsgenossinnen zu helfen und die Gesellschaft
von diesem Schandfleck zu befreien, im Jahre 1875 den „britischen,
kontinentalen und allgemeinen Bund zur Bekämpfung des staatlich
regulierten Lasters" gründete. Er nahm später den Namen
„Fdddration abolitionniste internationale" an.
Die Satzungen des „Britisch-Kontinentalen und Allgemeinen
Bundes zur Bekämpfung des staatlich regulierten Lasters" lauten:
Der Bund vereinigt in freiwilliger Verbindung alle Personen, die
wünschen zu der Verbesserung, welche die Gesellschaft in Hinsicht
der öffentlichen Moral bedarf, beizutragen.
Er greift weder Persönlichkeiten, noch die Formen einer Regierung
an und hält sich unabhängig von jeder politischen Partei, jedem
religiösen Bekenntnis und jeder philosophischen Schule.
Der Staat, der die Gerechtigkeit vertritt, darf niemals das Schlechte
begünstigen.
>) Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und die internationale Brüsseler
Konferenz vom 4. 8. September 1899, von Dr. F. E. Hopf. Leipzig 1899.
*) Dr. A. Blaschko: a.a.O. s 69»".
Handbuch der Frauenbewegung. II. TeiL II
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— i6a —
Der Staat darf unter keinem Vorwande mit dem Laster unter-
handeln und noch weniger einen Vergleich mit ihm eingehen, wie er
es thut, wenn er direkt die Prostitution organisiert.
Der Staat darf seine Vormundschaft nur für das Gute ver-
wenden.
Die Frau hat die gleichen natürlichen Rechte wie der Mann.
Die Rechte des Einen unterdrücken, heisst den Rechten des Andern
Vorschub leisten.
In allen konstitutionellen Landern sind die Missbrauche, gegen die
der Bund sich auflehnt, in offenem Widerspruche mit den Verfassungs-
rechten und den Staatsgesetzbüchern.
Es genügt nicht, die Frau gegen die Übergriffe oder Irrtümer, die
der willkürlichen Handhabung der Sittenpolizei entspringen, zu schützen,
noch verabscheuungswürdige Missbräuche, die in ihrer Ausführung dem
Sklavenhandel und der Sklaverei gleichkommen, abzustellen, noch alle
die Massnahmen und Einrichtungen, die dahin wirken, der Immoralität
eine Art öffentliche Duldung oder gesetzmässige Bildung zu gewähren,
zu unterdrücken.
Der Bund verfolgt den Zweck, das öffentliche Bewusstsein zu er-
wecken und in der Gesellschaft das Gesetz der Sittlichkeit zu unterstützen.
Es besteht nur ein Sittengesetz, und das ist für beide Geschlechter
dasselbe.
Ganz besonders muss die Hebung der allgemeinen Moralität zum
Zweck gemacht werden. Alle schädlichen Einflüsse, die sich in den
Sitten, den Moden, der Kunst, der Litteratur geltend machen, müssen
bekämpft werden; gegen die Vorurteile der Welt und gegen die her-
gebrachte Sprache, die Sitten betreffend, muss gewirkt und zugleich
gestrebt werden, einen regenerierenden Einfluss in dem Bereiche des
häuslichen und öffentlichen Unterrichts auszuüben.
Der Grundsatz, dass ein und dasselbe Sittengesetz für beide Ge-
schlechter besteht, wird in dem Masse zur Wahrheit werden, als die
Frauen selbst für denselben eintreten werden.
An ihnen ist es, das Beispiel des Mitleidens für die unglücklichen
Opfer einer Pest, die im stillen die Existenz der Familie und die Kraft
der zukünftigen Generationen untergräbt, zu geben.
Überall, wo er kann, wird der Bund Hand ans Werk legen, um
die Unternehmungen, die am geeignetsten sind, in der Gesellschaft
einen erziehenden und vorbeugenden Einfluss auszuüben, zu unter-
stützen und zu vermehren. 1 )
Später wurden diese Satzungen auf den verschiedenen
Kongressen revidiert, redaktionellen Änderungen unterworfen, 1 )
>) Abgedruckt bei Schlumberger, Die Aufhebung der Öffentlichen Hauser zu
Colmar. Berlin 1884.
*) Vgl. die Akten der Kongresse von 1886, 1890, 1901.
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— 163 —
bis die Föderation abolitionniste internationale auf dem Kongress
zu Lyon im Mai 1901 folgende Satzungen annahm:
§ 1. Die Internationale Föderation (Föderation abolitionniste inter-
nationale) verfolgt den Zweck, durch eine propagandistische Thätigkeit
die Reglementierung der Prostitution als gesetzliche oder geduldete
Institution zu beseitigen. Sie verwirft die gesetzliche Regelung der
Prostitution, weil dieselbe ihren Zweck, die Gesundheit des Volkes
zu schützen, nicht erfüllt, und weil jede sittenpolizeiliche Ausnahme-
massregel eine soziale Ungerechtigkeit, eine moralische Ungeheuerlich-
keit und ein gesetzliches Verbrechen ist.
§ 2. Die Föderation ist unabhängig von jeder politischen Partei,
von jeder philosophischen Schule und von jedem religiösen Bekenntnis.
Sie vereinigt zu freiwilligem Zusammenschluss alle Männer und Frauen,
welche die Verwirklichung ihres Zieles anstreben.
§ 3. In ihrer Eigenschaft als internationale Vereinigung be-
schränkt sich die Föderation auf eine allgemeine Erklärung ihrer
Prinzipien und überlässt den einzelnen nationalen Zweigvereinen die
Art und Weise, in welcher diese für eine Reform ihrer Gesetze arbeiten
wollen.
Die Föderation strebt, speziell auf dem Gebiet der Sittengesetze,
die Anerkennung der persönlichen Freiheit an, welche in der persön-
lichen Verantwortung ihr Gegengewicht findet. Sie verwirft darum
jede Ausnahmemassregel auf diesem Gebiet; denn, indem der Staat
eine Regelung einsetzt, welche dem Manne Sicherheit und Unverant-
wortlichkeit in der Unsittlichkeit zu verschaffen sucht und mit den
gesetzlichen Konsequenzen eines gemeinsamen Aktes nur die Frau
belastet, verbreitet er die unheilvolle Idee, als ob es für jedes Geschlecht
eine besondere Moral gäbe.
§ 5. Da die Prostitution kein Vergehen im strafrechtlichen Sinne ist,
sondern ein Laster, welches nur das eigene Gewissen angeht, so
erklärt die Föderation, dass die Einmischung des Staates auf sittlichem
Gebiete sich auf folgende Punkte beschränken müsse, resp. zu
beschränken habe:
Bestrafung der Unzucht, begangen oder versucht mit Minder-
jährigen oder Personen, welche nicht im Besitze der normalen
Geistes- oder vollen Sinneskräfte sind. Jede einzelne Gesetz-
gebung soll ganz genau die Grenzen und die Bedingungen
dieser besonderen Unmündigkeiten feststellen.
Bestrafung der Unzucht, vollzogen oder versucht durch
Gewalt oder List, gegen Personen jeden Alters und jeden
Geschlechtes.
Bestrafung des öffentlichen Verstosses gegen die Scham-
haftigkeit
11*
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- i6 4 -
Bestrafung der öffentlichen Aufforderung zur Ausschweifung
und der Kuppelei in denjenigen ihrer Kundgebungen, welche
konstatiert werden können, ohne unter einer neuen Form das
Regime der Sittenpolizei zurückführen zu wollen.
In den Fällen, wo die Kuppelei gesetzlich verfolgt wird, sind
Diejenigen, welche die Unterhändler bezahlen und von ihrem
Gewerbe Nutzen ziehen, als Mitschuldige zu betrachten.
Die Föderation erklärt also, dass der Staat niemals eine Frau der
sittenpolizeilichen Zwangsuntersuchung, noch die Prostituierten irgend
einer Ausnahme-Massregel unterwerfen darf.
§ 6. Ausser den Fragen, welche im direkten Zusammenhang mit
dem Hauptzweck der Föderation stehen, studiert diese in wissen-
schaftlicher Weise die Prostitution. Sie stellt es sich zur Aufgabe,
unablässig die moralischen, ökonomischen und andern Ursachen
dieses sozialen Übels zu erforschen, seine Wirkungen zu bekämpfen
und geeignete Mittel, dasselbe einzudämmen, vorzuschlagen.
Die Föderation begründet die Richtigkeit ihrer Theorie mit
dem Zeugnisse hervorragender Arzte, Juristen, Theologen, Staats-
rechtslehrer und Nationalökonomen, die in ihrem Urteil darin
übereinstimmen, dass die Reglementierung unhygienisch, un-
moralisch, zwecklos und ungesetzlich ist. Die Föderation hat in
dem Sinne ihrer Satzungen in allen Kulturländern Fuss zu fassen
und den Kampf gegen die Unsittlichkeit aufzunehmen versucht
Schon 1877 zählte sie zahlreiche Anhänger in Italien, der
Schweiz, Belgien, den Vereinigten Staaten und Frankreich 1 ). Einen
Überblick über die Fortschritte der Bewegung, vor allem aber der
Erfahrungen, die in der Handhabung der Kontrolle in den ver-
schiedenen Ländern gemacht werden und die der Föderation zu-
gleich als Beweismaterial für ihre Prinzipien dienen, geben die
alljährlich stattfindenden Versammlungen und internationalen
Kongresse; der erste tagte im September 1877 in Genf.»)
IV.
Gertrud Guillaume-Schack und die Gründung des
deutschen Kulturbundes.
In Deutschland hatte sich die Beteiligung der Frauen an der
Sittlichkeitsbewegung innerhalb der Grenzen gehalten, in denen
sich im wesentlichen die Arbeit der konfessionellen Vereine, der
>) Vgl. Handbuch der Frauenbewegung Teil L
*) Dieses Material ist niedergelegt in den Berichten der Kongresse und andern
Schriften, die erhältlich sind im Bureau du Sccreuriat gene'ral, Genf, 6 rue Saint-Leger.
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inneren Mission, bewegte. Innerhalb dieser Grenzen, die das
Gebiet der Rettungsarbeit an Gefallenen und Gefährdeten umfassen,
haben einzelne Frauen von jeher Hervorragendes geleistet. Doch
trägt diese Arbeit mehr den Charakter sozialer Hilfsthätigkeit und
wird deshalb im Zusammenhang mit dieser behandelt werden.')
Später aber fanden die Ideen des britischen, kontinentalen
und allgemeinen Bundes zur Bekämpfung des staatlich re-
gulierten Lasters (der jetzigen F^ddration abolitionniste inter-
nationale) auch unter deutschen Frauen Anklang. Hier war es
Frau Gertrud Guillaume, geb. Gräfin Schack, die im Jahre 1880
den „Deutschen Kulturbund" gründete, der die gleichen Ziele
wie die Föderation verfolgte. Das Centraikomitee befand sich in
Beuthen a. d. O. (Niederschlesien). Auf ihre Anregung hin kon-
stituierte sich am 7. März 1883 auch ein Berliner Zweigverein
des Deutschen Kulturbundes. Der Vorstand desselben bestand
(nach Austritt der Schriftführerin Frau Dreger) aus folgenden
Frauen: Frau von Riesenthal, Vorsitzende; Frau Dr. Hofmann,
stellvertretende Vorsitzende; Frl. Marie Räuber, Schriftführerin;
Frl. Mary Muchall, zweite Schriftführerin; Frl. Sophie Nagel,
Schatzmeisterin; Frau Croner, erste Kassiererin; Frl. M. Stein-
berg, stellvertretende Kassiererin; Frl. Dr. Castner, Frau Dolfuss,
Frau Schnelle, Beisitzende.
Dieser kleine Kreis mutiger und selbstloser Frauen hat in un-
ermüdlicher Hingabe für die Ziele der Föderation gewirkt. Im ersten
Jahresbericht des Berliner Zweigvereins des deutschen Kultur-
bundes heisst es:
Wenn die Arbeit nicht so rasche Fortschritte aufweist, wie sie
vielleicht hätte aufweisen sollen, so dürfen wir das wohl zum grossen
Teil dem Umstände zuschreiben, dass die deutschen Frauen sich schon
im allgemeinen scheuen, aus dem ihnen von der Häuslichkeit gebotenen
Wirkungskreise herauszutreten, diese Scheu jedoch doppelt empfinden,
wo es sich um die Teilnahme an einer Bewegung handelt, über deren
ganze Wichtigkeit sie sich noch nicht klar geworden sind.
Um so höheren persönlichen Wert hat das Vorgehen dieser
Frauen, die in der Arbeit des Kulturbundes zuerst die schwierigste
Seite der Frauenbewegung, die Sittlichkeitsfrage, in Angriff
nahmen, die ohne Scheu vor der Verkennung, der sie vielfach
ausgesetzt waren, das Gewissen der wohlbehüteten Frauen der
bürgerlichen Gesellschaft wachrüttelten und ihre Aufmerksamkeit
auf die gefährlichste Wunde unsres Volkskörpers lenkten, um
') Vgl S. Ö7, S. 101 f.
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— i66 -
für die Versuche der Heilung die notwendige Mitwirkung der Frau
zu gewinnen. In den ersten beiden Versammlungen, die der
Berliner Zweigverein des Kulturbundes im ersten Jahre seines
Bestehens veranstaltete, wurde eine Petition an den Reichstag
verlesen und angenommen, die darauf anträgt, die Regulierung
der Prostitution als eine mit der hohen Aufgabe des Staates
unvereinbare Einrichtung abzuschaffen.
Dieselbe lautet:
Hoher Reichstag!
An den hohen Reichstag wenden wir uns mit der Bitte, den § 361
No. 6 des R. St. G. B. und die sich darauf stützende Einrichtung der
Sittenpolizei abschaffen und die Verfolgung aller Vergehen wider die
öffentliche Ordnung und den öffentlichen Anstand nicht der dis-
kretionären Gewalt der Polizei, sondern, wie jede andre Missethat,
dem gewöhnlichen Gerichtsverfahren Obergeben zu wollen.
Erstens steht der § 361 No. 6 des R. St. G. B., durch die An-
erkennung der Unzucht als ein Gewerbe, mit dem Geiste des § 180
des R. St. G. B. in Widerspruch, der bestimmt ist, dem Vorschubleisten
der Unzucht vorzubeugen; zweitens ist seine Grundlage fehlerhaft, weil
einerseits die Unsittlichkeit an sich nicht bestraft werden kann, andrer-
seits der Begriff des Gewerbes die Unsittlichkeit ausschliesst. Die
Gesetze, bestimmt Sitte und Ordnung aufrecht zu erhalten, können
niemals einen Beruf anerkennen, der denselben widerstreitet.
Die unbeschränkte diskretionäre Gewalt, die der Sittenpolizei der
Frau gegenüber erteilt wird, stellt diese ausserhalb des gemeinen
Rechtes, und die Massnahmen, die demgemäss ihr gegenüber getroffen
werden, stehen im Widerspruche mit den Verfassungsgesetzen aller
deutschen Länder (mit den Art. 4. 5. 7 und 8 der Preuss. Verfassung),
die doch sicherlich auch auf die deutsche Frau, als Staatsbürgerin,
Anwendung finden, und ihr für Gerechtigkeit und Sicherheit ihrer
persönlichen Freiheit Gewähr leisten.
Indem die Gewalt der Sittenpolizei nur den Frauen gegenüber zu
vollem Ausdruck kommt, die gezwungen sind, sich ihr Brot zu erwerben,
und nicht durch zufällige äussere Verhältnisse geschützt werden, schafft
sie nicht nur einen Unterschied der Geschlechter, sondern auch der
verschiedenen Klassen vor dem Gesetz. Sie bedroht jedoch andrerseits
die Sicherheit aller Frauen, da dem Gutachten eines untern Polizei-
beamten anheim gegeben wird, ihr Benehmen und Leben zu beurteilen,
sie, auch ohne thatsächlichen Grund, zu verhaften, und gegen sie
die beschimpfendste Anklage zu erheben, der gegenüber sie, ohne
gerichtliche Untersuchung und ohne Verteidiger ihre Unschuld zu be-
weisen haben, wiewohl nach allgemeinem Gerichtsgange ihnen die
Schuld bewiesen werden müsste. Selbst ein gegebenes Geständnis ist
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— 167 —
in diesem Falle wertlos, weil es wahrheitswidrig, nur unter der Autorität
der Polizeibeamten erklärt wird. Ist eine Frau in die Hände der
Sittenpolizei gefallen, so wird dieselbe, ohne dass eine gesetzliche
Untersuchung oder ein Urteilsspruch vorliegt, einem Verfahren unter-
zogen, das sie amtlich brandmarkt, sie aus der Gesellschaft ausstösst,
ihr die Möglichkeit raubt, sich auf ehrliche Weise ihr Brot zu erwerben,
sie der vollsten Ausbeutung ihrer Person durch andre Preis giebt und
sie einem ärztlichen Zwangsverfahren unterwirft, das unsre Strafgesetz-
gebung als zu entwürdigend für das Gesetz und als zu schmachvoll
für eine Frau — selbst als Strafe für eine schwere Missethat —
niemals in die Gesetzgebung aufnehmen würde.
In einzelnen deutschen Ländern (in Elsass- Lothringen, in Baiern,
in Sachsen, in Hessen -Darmstadt, in der freien Reichsstadt Lübeck etc.)
geht noch heute die Sittenpolizei so weit, dass dieselbe ihre obrig-
keitliche Genehmigung zum Halten öffentlicher Häuser ertheilt,
trotzdem die Besitzer dieser Häuser nach der Entscheidung des
Reichsgerichtes (Leipzig, 29. 1. 80.) nach § 180 des deutschen Straf-
gesetzbuches strafbar sind, und es andrerseits zur amtlichen Aufgabe
der Polizei gehört, jede Missethat oder gesetzwidrige Handlung zur
Anzeige zu bringen. Da für eine Frau kein Grund vorhanden ist,
freiwillig ihre Freiheit aufzugeben, um in einem solchen Hause ihren
Erwerb mit dem Hausbesitzer zu teilen und ihm wie eine Sklavin in
allen Stücken dienstbar zu sein, ist ein weitverzweigter Handel mit
Frauen entstanden, bei dem jedes Mittel angewandt wird, um dieselben
durch Gewalt, Betrug, List oder falsche Vorspiegelungen in diese
Häuser zu locken. Durch Zwangsmassregeln darin zurückgehalten —
wie sich durch die neuesten Nachforschungen mehr und mehr heraus-
gestellt hat — vertauschen sie den Kerker, in dem sie mit obrigkeit-
licher Genehmigung zu Zwecken des Lasters gefangen gehalten
werden, nur um ebenfalls hinter Schloss und Riegel zwangsweise im
Hospital von den Folgen der ersten Kerkerhaft geheilt und wieder zu
Zwecken des Lasters brauchbar gemacht zu werden. Durch den
Handel mit Frauen für die öffentlichen Häuser entstehen für jedes
Mädchen, die ihren Broterwerb ausser dem elterlichen Hause suchen
muss, ernstliche Gefahren, die oft trotz der grössten Sorgfalt nicht
abgewendet werden können, und der die unschuldigsten (und zugleich
gesuchtesten) am leichtesten zum Opfer fallen. Und zwar sind es,
da bei den deutschen Verhältnissen die Frau mehr als anderswo auf
den eigenen Broterwerb angewiesen ist, auch vorzüglich die deutschen
Mädchen, die den Gegenstand dieses Handels, sei es im Inlande oder
nach dem Auslande hin, bilden.
Allen diesen Übelständen gegenüber und in Anbetracht:
1. dass durch die Einrichtung der Sittenpolizei die Unsittlichkeit
genehmigt wird, indem man versucht, dieselbe zu regeln und
in feste Bahnen zu lenken, anstatt Mann und Frau, die sich
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— i68 —
Störungen des bürgerlichen Lebens durch Unsittlichkeit zu
Schulden kommen lassen, auf Grund der Erregung öffentlichen
Ärgernisses zu strafen,
a. dass durch dieselbe eine Anzahl Frauen indirekt zur Unsittlich-
keit gezwungen und andrerseits der Unsittlichkeit des Mannes
Vorschub geleistet wird, indem auf Kosten von Freiheit und
Gerechtigkeit Vorkehrungen getroffen werden, ihn darin zu
schützen;
3. dass durch dieselbe, unter dem Vorgeben, die Allgemeinheit
zu schützen, nur die Frau sanitären Massregeln unterzogen
wird, während es fast ausschliesslich der Mann ist, der das
Krankheitsgift in die Familien trägt und die Gesundheit der
künftigen Generation gefährdet.
4. dass diese sanitären Massregeln im Volke den Glauben an
die Notwendigkeit der Unsittlichkeit des Mannes fördern, ohne
demselben dabei eine wirkliche Sicherheit zu bieten, da man
nicht im stände ist, dieselben der einzelnen Frau gegenüber
so weit auszudehnen, um einen wirklichen Schutz zu gewähren,
noch alle unsittlichen Frauen ihnen unterziehen kann,
5. dass es die Aufgabe der Frau ist, über Sitte und Ordnung zu
wachen, da ihr die Obhut und das Wohl der Familie anver-
traut ist,
halten wir es für unsre Pflicht, uns mit unsrer Bitte an den hohen
Reichstag zu wenden, diese Einrichtung abschaffen zu wollen, die jedem
göttlichen Gebote und menschlichen Gesetz widerstreitet. Tausende von
Frauenleben opfert, deren Aufrechterhaltung kein einziger Mann die
Stirn haben würde, für sich selbst zu fordern, und die doch für die
Männer im allgemeinen gefordert wird, eine Einrichtung, die das Volk
irre leitet, die Sittenbegriffe verwirrt, die Frau zur Sklavin des Lasters
macht, und die Grundlage aller Ordnung und Sittlichkeit, die Achtung
vor dem Gesetz und vor der Frau untergräbt. (Berlin, den 5. März 1883 )
Der Verein entsandte im November 1883 den gesamten Vor-
stand als Deputation zu den Ministern des Kultus, Herrn
von Gossler, und der Justiz, Herrn Dr. Friedberg. Frau
Guillaume-Schack entwickelte vor dem Kultusminister in längerer
Ansprache die Ziele des Bundes, und dieser äusserte den Wunsch,
dass alle auf die Arbeiten des Vereins bezüglichen Schriften
dem Ministerium eingesandt werden möchten. Später empfing er
in persönlicher Audienz die Schriftführerin Frl. M. Räuber, die
ihm die Schriften des Bundes überreichte.
Im Laufe des zweiten Jahres wandte sich Frau Guillaume-
Schack in einer Eingabe an den Minister des Innern, Herrn
von Puttkamer; die grundlose Arretierung zweier unbescholtener
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Mädchen gab ihr Veranlassung, auf eine Abschaffung der sitten-
polizeilichen Übergriffe zu dringen. Da der Minister aber „aus
Mangel an Zeit" es ablehnte, sich mit dem Anliegen des Vereins
zu beschäftigen, so reichte Frau Guillaume-Schack dieselbe Petition
dem Kultusminister ein und erweiterte ihre Bitte dahin, der Kultus-
minister möge die Einberufung einer medizinischen Kommission
zur Prüfung der allgemeinen Gesundheitsverhältnisse veranlassen.
In dieser Petition weist der Kulturbund auf den Widerspruch
hin, der zwischen dem System der Reglementierung und dem
Reichsstrafgesetzbuche besteht; er beleuchtet die Art und Weise,
in der dieses System zur Anwendung gelangt und betont
schliesslich die in moralischer Hinsicht verhängnisvolle Wirkung,
welche die Einrichtung der Sittenpolizei in ihrer heutigen Gestalt
ihrer ganzen Natur nach auf das Volk ausüben muss. Die Petition
erwähnt die Thatsache, dass von 96 Strafgefangenen im Alter von
10 — 15 Jahren allein 42 unter sittenpolizeilicher Kontrolle standen
und sich in der Charite drei syphilitisch erkrankte ein-
geschriebene Mädchen unter 16 Jahren befunden hätten.
Die Petition weist ferner auf die soziale Ungerechtigkeit hin,
die darin besteht, dass die Sittenpolizisten ausdrücklich angewiesen
sind, ein scharfes Auge auf den ärmeren Teil der weiblichen Be-
völkerung zu haben, und dass ein von diesen verdächtigtes
Mädchen nur durch eine entehrende Untersuchung im stände ist,
ihre Unschuld zu beweisen, während rechtsgiltigerweise nicht
einmal die eignen Eltern für die Sittlichkeit ihrer Töchter einstehen
dürfen. Die Petition schliesst mit der Bitte an die Regierung, sich
eingehend mit einem Zustand zu beschäftigen, der ebenso un-
erträglich wie gefährlich geworden sei.
Im Herbst 1884 machte Frau Guillaume-Schack eine Pro-
pagandareise nach Elbing, Danzig und Königsberg und hielt in
diesen Städten zehn öffentliche Versammlungen. Der sichtbare
Erfolg dieser Bemühungen war die Gründung eines Zweigvereins
in Elbing, an dessen Spitze Frau Stadtrat Räuber, Frau Major
von Plocki u. a. standen.
Mit welchen Schwierigkeiten der deutsche Kulturbund zu
kämpfen hatte, beweist am besten der Umstand, dass Frau
Guillaume-Schack, als sie am 23. März 1882 in Darmstadt einen
Vortrag hielt über „ Unsere sittlichen Verhältnisse und die Be-
strebungen und Arbeiten des Britisch-Kontinentalen und Allgemeinen
Bundes", bereits nach Verlauf einer Viertelstunde von seiten der
Polizeibehörde unterbrochen und die Versammlung geschlossen
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— 170 —
wurde. Sie wurde infolge dieses Vortrags „wegen groben Un-
fugs" verklagt. Allerdings sprachen die Schöffen sie frei, aber
die Begründung der Verurteilung durch den Amtsanwalt zeigte,
welcher Auffassung ihres Handelns Frau Guillaume ') ausgesetzt
war. Darinnen hiess es:
„Was ist grober Unfug? Diese Frage wird zunächst beantwortet
werden müssen, und hier weise ich auf eine Entscheidung des
preussischen Obertribunals hin, die im Jahre 1878 gegeben worden ist.
Dieselbe lautet: „Grober Unfug ist nicht nur jede Handlung, welche
die öffentliche Allgemeinheit stört, sondern zu dem Begriff des groben
Unfugs ist es vielmehr nicht erforderlich, dass die öffentliche Ordnung
bereits gestört worden ist, es genügt eine Handlung, welche geeignet
ist, die öffentliche Ordnung zu stören." Es ist nun nach den Zeugen-
aussagen, nach den Aussagen fast sämtlicher Zeugen, denn die Mehr-
zahl der Entlastungszeugen war derselben Ansicht, festgestellt, dass
sie den Vortrag für taktlos gefunden und mit Rücksicht auf die An-
wesenheit von Personen beiderlei Geschlechts, mit Rücksicht auf die
jugendlichen Personen, als verletzend, als ärgerniserregend angesehen
haben, obwohl allerdings von den Personen, die als Zeugen vernommen
worden sind, gesagt worden ist, Frau Guillaume habe in ihrem Vortrage
den Gegenstand in dezenter Weise behandelt und sei anständig auf-
getreten. Ich habe hier eine andre Entscheidung des Obcrappellations-
gerichts Jena, welches durch seine Verbindung mit der Universität
Jena als eines der besten gilt, weil es die besten Entscheidungen
gegeben hat; dasselbe sagt: Die Absicht, das Publikum zu belästigen,
gehört nicht zum Thatbestand des groben Unfugs. Es braucht also
diese Absicht nicht vorhanden zu sein. Es ist ganz einerlei, ob
derjenige, der den groben Unfug verübt, wirklich die Absicht hat,
öffentliches Ärgernis zu erregen und die Ordnung der Allgemeinheit
zu stören. Das kommt nicht in Frage, sondern lediglich der Erfolg:
ob es öffentliches Ärgernis gegeben hat. Im vorliegenden Falle ist
das, wie ich schon vorhin sagte, jedenfalls eingetreten; es ist
öffentliches Ärgernis erregt worden; es ist die Ordnung der All-
gemeinheit gestört worden. Ich will mich hier nicht über die einzelnen
Bemerkungen des Vortrages verbreiten, sie sind genügend in den
Verhandlungen zur Erörterung gekommen, aber ich möchte doch
darauf aufmerksam machen, dass sogar Zeuginnen, die keinen Anstand
genommen haben, den Vortrag anzuhören, auf die Frage, ob ihnen
der Vortrag für die anwesende Gesellschaft unpassend erschienen sei,
sämtlich meine Frage bejahten. Die beste Zeugin für die Anklage war
die von der Verteidigung vorgeführte Entlastungszeugin Roth, die gar
') Guillaumc-Schack: Ober unsre sittlichen Verhältnisse und die Bestrebungen
und Arbeiten des Britisch - Kontinentalen und Allgemeinen Bundes. Anhang: Der Prozess
zu Darmstadt gegen Frau Guillaurae-Schack. Stenographischer Bericht Berlin i88a.
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— I 7 I -
keinen Anstand nahm zu sagen, sie hätte nichts dabei gefunden, dass ihr
aijahriger Sohn dabei gewesen wäre. Die Zeugin Roth war vor Ihnen
verlegen, sie konnte die einzelnen Äusserungen der Angeklagten nicht
vorbringen, sie hat sich hier vor uns geniert, vor Männern, die in
ernstem Thun begriffen sind und ohne dass junge Mädchen dabei
waren. Sie hat sich geniert, diese Äusserungen zu wiederholen, sie
errötete vor dem Gerichtshofe. Ist das nicht der beste Beweis dafür,
dass sie diese Äusserungen als Sitte und Anstand verletzend gefunden
hat? Was hätte die Zeugin sonst veranlassen können, Äusserungen
hier nicht zu wiederholen, die thatsächlich gemacht worden sind? Sie
hat jedoch Anstand genommen, sie hier in Erinnerung zu bringen.
Selbst dann aber, wenn einige Entlastungszeugen kein Ärgernis ge-
nommen hätten, selbst dann würde es genügen, dass einzelne Personen
dieses Ärgernis genommen haben. Es wird bei Ausübung des groben
Unfugs nur gefordert, dass dieses Ärgernis öffentlich erregt, es wird
aber nicht gefordert, dass die Gesamtheit der von dem groben Unfug
kenntnisnehmenden Personen Ärgernis genommen hat. Es kann grober
Unfug erregt werden durch etwas, was für eine ganze Reihe von
Leuten verletzend ist, während andre sich vielleicht höchstens darüber
freuen. Wie oft kommen Skandale vor, die einem grossen Teile des
Publikums Freude machen, es giebt Leute, die darüber lachen; sie
halten sie nicht für skandalös, sie finden sie unter Umständen natürlich.
Trotzdem wird die Sache nicht weniger Skandal, sondern sie bleibt
Skandal, als wenn sich alles darüber geärgert hätte. Ich glaube des-
halb, dass die Anklage voll bewiesen ist. — In der Anklage ist noch
weiter erwähnt die unberechtigte Kritik der polizeilichen Massnahmen.
Ich will nicht darauf eingehen, wie weit die Tendenzen, die Frau
Schack vertritt, wirklich so loyaler und sittenreiner Natur sind, wie
behauptet wird und inwieweit der deutsche Kulturbund nicht vielleicht
so ein kleiner Vorläufer für die Ausbreitung destruktiver Tendenzen
ist Es scheint wenigstens, als ob die Statuten nur gemacht wären
für das grosse Publikum. An einem Platz leuchtet auch der Pferde-
fuss hervor, da wird von der Gleichberechtigung der Geschlechter in
Bezug auf die unehelichen Kinder gesprochen. Es sieht danach aus,
als sollte daraufhin gewirkt werden, die bisherige gesellschaftliche
Ordnung zu untergraben. Ich will nicht weiter darauf Gewicht legen,
aber darauf will ich Gewicht legen, dass in der That durch derartige
Vorschläge die staatliche Autorität der Gesetze und der Polizeibehörde
angegriffen werden. Ja selbst dann, wenn man einen guten Zweck
verfolgt, so muss doch der Hauptzweck bleiben, die Achtung vor dem
Gesetz zu bewahren, die Achtung vor den staatlichen Einrichtungen
nicht aus den Augen zu lassen."
•
Der deutsche Kulturbund stand in regem Zusammenhang mit
dem „Britisch-kontinentalen Bunde" ; so vertraten Frau v. Riesenthal
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— 172 —
und Frau Guillaume-Schack im Jahre 1883 ihre Vereine auf dem
Internationalen Kongress im Haag und Frl. M. Räuber im Jahre 1885
in Antwerpen.
Durch eine Reihe von Flugschriften versuchte der Bund
gleichfalls seine Bestrebungen zu verbreiten. •) Neben seiner
propagandistischen Thätigkeit verfolgte der deutsche Kulturbund
auch praktische Ziele. Es wurde die Reinickendorfer Anstalt für
gefährdete minorenne Mädchen gegründet und ein Asyl für Dienst-
boten am Bahnhof Börse. An dieser praktischen Thätigkeit des
Bundes haben sich hauptsächlich Frau Lina Morgenstern und
Frau Dr. Tiburtius beteiligt. DasBestehen des Deutschen Kultur-
bundes war von kurzer Dauer. Frau Guillaume-Schack, entmutigt
durch die Gleichgültigkeit, der sie besonders auch in Männerkreisen
begegnete, wandte sich an die Sozialdemokratie, als an die einzige
Partei, von der sie thatkräftige Unterstützung erhoffte. Dieser
Schritt aber war in damaliger Zeit, wo das Sozialistengesetz noch
in Kraft war, für die Sache, die sie vertrat, verhängnisvoll. Frau
Guillaume-Schack sah sich schliesslich durch die Wünsche ihrer
Familie veranlasst, im Herbst 1885 nach England überzusiedeln.
Mit ihrem Scheiden aus Deutschland stellte der Bund seine
Thätigkeit ein; sein Vermögen fiel an die von ihm gegründeten
Anstalten.
V.
Hanna Bieber -Böhm und der Verein Jugendschutz.
Später war es Frau Hanna Bieber- Böhm, die die Sittlich-
keitsbewegung von neuem in Fluss brachte, die immer wieder
betonte, dass es grade Pflicht der Frauen sei, sich mit dieser
Frage zu beschäftigen, die es nach grossen Mühen durchsetzte,
dass verschiedene Frauenvereine dies Arbeitsgebiet in ihr Pro-
gramm aufnahmen. Sie hat seitdem mit unermüdlicher Energie
für die Hebung der Sittlichkeit gekämpft. Im Jahre 1889 gründete
sie den Verein „Jugendschutz", der sich in seinen Satzungen zu
folgenden Grundsätzen bekennt:
§ x. Der Zweck des Vereins ist: der Jugend den Schutz zu
gewähren, dessen sie dem Leichtsinn, dem Laster und der Grausamkeit
gegenüber dringend bedarf, die Unsittlichkeit, welche die Grundlage
des Staates, die Familie, an der Wurzel untergräbt, auf das energischste
') Sämtliches auf den Kulturbund bezügliche Material ist nur noch im Privatbesitz
vorhanden.
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— 173 -
durch Wort und Schrift und durch praktische Massnahmen zu bekämpfen
und das sittliche Pflichtbewusstsein zu wecken und zu fördern.
Von jeder religiösen und politischen Parteifärbung hält sich der
Verein frei. Der Sitz des Vereins ist Berlin.
§ a. Die praktischen Arbeitsgebiete umfassen:
i. Errichtung von Heimen für alleinstehende, unbescholtene junge
Mädchen (Arbeiterinnen, Stützen, Verkäuferinnen u. s. w.), die diesen
gute Wohnung, Nahrung und Schutz. Stellenvermittelung und Haus-
haltungsunterricht bieten.
a. Rechtsschutz für unbemittelte Mädchen und Frauen.
3. Förderung von Kindergärten und Kinderhorten.
4. Kinderschutz gegen Verwahrlosung, Misshandlung und
Grausamkeit.
5. Vorträge und Verbreitung von Schriften zur Hebung des
sittlichen Pflichtbewusstseins.
§ 3. Mitglied kann jeder werden, der durch Beispiel, Wort und
That für die Zwecke des Vereins thätig sein will.
Die Arbeitsgebiete des Vereins und das Interesse für seine
Ziele sind in den elf Jahren seines Bestehens bedeutend gewachsen.
Durch Herausgabe und Verbreitung von Flugschriften und
Broschüren zur Sittlichkeitsfrage übte der Verein „Jugendschutz"
eine rege propagandistische Thätigkeit. Die von der Vorsitzenden
zusammengestellten und verbreiteten Schriften über Hygieine und
Erziehung erhielten auf der ersten Ausstellung für Frauenhygieine
in Petersburg im Frühjahr 1900 das „Ehrendiplom".') Die Samm-
lung enthält Schriften ethischen, pädagogischen, hygieinischen
Inhaltes, auch Übersetzungen bedeutender Flugschriften des Aus-
landes.
Neben dieser propagandistischen Thätigkeit hat sich auch die
praktische Arbeit des Vereins kräftig entwickelt Von dem Ge-
danken ausgehend, dass die Prostitution mit wirtschaftlichen und
sozialen Verhältnissen aufs engste verknüpft ist, versuchte der
Verein dem Schlafstellenunwesen entgegenzuwirken durch Be-
gründung zweier Heime für alleinstehende erwerbsthätige Mädchen,
die mit ca. 70 Plätzen im ganzen von Anfang an sehr gut besucht
wurden. Später wurden Haushaltungskurse mit diesen Heimen
verbunden, und 1895 wurde eine Rekonvaleszenten -Station für
unbemittelte Mädchen dem Heim I angeschlossen. Der Verein
') Vgl den Literaturnachweis unter IV.
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— 174 —
vermittelt ebenfalls Frauen und Mädchen unentgeltlichen Rechts-
schutz. Ein andrer Weg der vorbeugenden Thätigkeit, den der
Verein beschritt, war die Gründung eines Kinderhortes, der von
etwa 50 Knaben und Mädchen täglich besucht wird, und eines
Kindergartens, in dem 30 Kinder Aufnahme finden.
Neben diesen praktischen Aufgaben versuchte der Verein,
seinen Grundsätzen entsprechend, durch Petitionen an die mass-
gebenden Behörden seine Grundsätze in der Gesetzgebung und
Verwaltung zur Geltung zu bringen. So beantragte er im
Jahre 1893 beim Berliner Polizeipräsidium die Anstellung von
Polizeimatronen und Schutzdamen, zum Schutz der unschuldigen
und zur Beeinflussung der schuldigen eingelieferten Frauen, Mädchen
und Kinder, allerdings ohne Erfolg. Im Jahre 1893 reichte der
Verein gemeinsam mit 18 Frauenvereinen dem Kaiser eine Petition
„gegen die staatliche Protektion der Prostitution" ein. Darauf
erfolgte durch das Civilkabinet der folgende Bescheid: „Seine
Majestät geruhten von der Petition, wie dem mit derselben ein-
gereichten Werke „Hygiene der Keuschheit" Kenntnis zu nehmen
und zum Ausdruck zu bringen, dass Allerhöchstdieselben dieser
so ernsten und für unser Volkswohl so wichtigen Frage volles
Interesse zuwenden. Seine Majestät haben den Minister des Innern
mit der Prüfung des Immediatgesuchs zu beauftragen geruht"
Später haben sich noch 29 Zweigvereine des vaterländischen
Frauenvereins dieser Petition angeschlossen. Dieselbe hatte den
Erfolg, dass im Jahre 1894 die Vorsitzende des „Jugendschutz",
Frau Hanna Bieber-Böhm, im Auftrage des Ministers des Innern
zu einer Unterredung mit GrafPückler aufgefordert wurde, der
ihr die Weisung erteilte, die Wünsche der Frauen schriftlich zu
formulieren. Diese „Vorschläge zur Bekämpfung der Prostitution"
reichte Graf Pückler dem Ministerium ein, das Frau Bieber-Böhm
später mitteilte, „dass ihre Vorschläge, insbesondere die beantragte
Überweisung jugendlicher Prostituierter in Zwangserziehungs-
anstalten, zum Gegenstand eingehender Erörterungen gemacht
worden seien und bei dem bevorstehenden, die jugendlichen Übel-
thäter betreffenden Gesetze wieder in Erwägung gezogen werden
sollen".
Der Wortlaut der Vorschläge ist folgender:
„Nicht in Häuser des Lasters jwollen wir unsre verirrten
Schwestern als Sklavinnen gebracht sehen, nicht unter Sitte gestellt
wollen wir sie wissen! Ebenso wenig wollen wir die sogenannte freie
Prostitution ohne ärztliche Untersuchung geduldet sehen. Wir gestatten
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— 175 —
uns daher: Vorschläge für eine Reform zu unterbreiten, welche bei den
jetzt bestehenden Gesetzen betreffs der Prostitution möglich ist.
Da Gefängnisdirektoren und höhere Polizeibeamte uns zugeben,
dass die jetzt üblichen kurzen Haftstrafen nicht die geringste Besserung
der Prostituierten zur Folge haben,
da ausserdem erwiesen ist, dass das jetzt übliche Zusammen-
sperren der Inhaftierten mit den allerschlechtesten Elementen — ohne
genügende Aufsicht — auf Madchen, die zum ersten Mal arretiert
werden, im höchsten Grade verderblich und demoralisierend wirkt,
bitten wir,
1. die zum ersten Mal festgenommenen Frauen auf das strengste
von den schon auf der Sittenliste stehenden getrennt zu halten, sowohl
auf den Polizeirevieren, wie bei der Überführung, sowohl im Warte-
raum und dem Gefängnis des Polizeipräsidiums wie in den Haft-
gefängnissen ;
2. um Anstellung von pädagogisch gebildeten Polizeimatronen,
zunächst in allen grösseren Städten, deren Obhut alle Frauen bei ihrer
Einlieferung sofort unterstellt werden.
Wir empfehlen ferner:
3. Baldige Approbation und Anstellung von weiblichen Ärzten, zu-
nächst für die Untersuchung der zum ersten Mal Eingelieferten, da die
Untersuchung durch einen männlichen Arzt geeignet ist, das Scham-
gefühl auf das äusserste zu verletzen, und da Missgriffe bei der
Arretierung ja immerhin nicht ausgeschlossen sind.
4. Ausweisung aller ausländischen Prostituierten über die Landes-
grenze (nach § 36a Strfg.).
5. Keine neuen Einschreibungen in die Sittenliste, sondern
Hinweis an alle Polizeirichter (Amtsrichter) auf die dringende Not-
wendigkeit, möglichst bei der erstmaligen Haftstrafe die Überweisung
an die Landespolizeibehörde behufs Zwangserziehung für 1— a Jahre
auszusprechen (nach § 362 Strfg.).
6. Alle bei der Inhaftierung geschlechtskrank befundenen Personen
direkt aus den Krankenhäusern (nach der immer nur ungenügend
erfolgten Heilung) zur Nachbehandlung in besondere Zwangserziehungs-
anstalten zu bringen (nach § 362 Strfg.).
7. Umwandlung der jetzigen Arbeitshäuser in Zwangserziehungs-
anstalten unter der Leitung gebildeter Frauen.
8. Reform der Frauengefängnisse, z. B. speziell des Haftgefängnisses
in der Barnimstrasse zu Berlin, in folgenden Punkten:
a) In allen Abteilungen Anstellung pädagogisch gebildeter
Frauen als Aufseherinnen. — —
b) Einführung eines täglichen Unterrichts durch Frauen.
c) Aufhören der Massenquartiere, in denen in durchaus
unzureichendem Raum und bei ungenügender Aufsicht eine
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Menge von schlechten Elementen Tag und Nacht zusammen-
gepfercht werden.
d) Einrichtung einer genügenden Anzahl von Einzelzellen.
e) Erhöhung der Mauer an der Strasse, über die hinweg jetzt
mit Leichtigkeit Verständigungen mit den Bewohnern der
gegenüberliegenden Häuser bewerkstelligt werden können.
Ferner empfehlen wir:
9. Errichtung von zahlreichen staatlichen und privaten Zwangs-
erziehungshäusem in allen Provinzen mit Anstellung pädagogisch
gebildeter Frauen zur Leitung derselben und zwar:
a) für sittlich gefährdete erwachsene Personen, welche wieder
zu nützlichen Gliedern der menschlichen Gesellschaft gemacht
werden sollen;
b) für gefährdete Kinder unsittlicher Eltern.
10. Als wichtigstes der Verwahrlosung vorbeugendes Mittel:
Vermehrung und Förderung der Kinderhorte, in denen die schul-
pflichtigen Kinder von Eltern, die tagsüber auf Arbeit sein müssen,
liebevolle Aufsicht und Erziehung erhalten.
11. Vorgehen gegen das Schlafstellenunwesen, welches der
Unsittlichkeit in der schlimmsten Weise Vorschub leistet
Ausser diesen schon sofort möglichen Reformen gestatten wir
uns zu beantragen:
1. Änderung des Gesetzes über die Zwangserziehung für Kinder
und Überführung der Gefährdeten, noch ehe sie zu Verbrechern
geworden sind, in Anstalten.
2. Änderung des Absatzes 6 des § 361. Wegfall der kurzen
Haftstrafen und Ersatz derselben durch zwangsweise Unterbringung
aller wegen Unsittlichkeit inhaftierten Personen 1 ) in Erziehungs-
anstalten auf 1—2 Jahre.
Der zweite Teil der Schrift begann mit einem auf wissen-
schaftliche Autoritäten») gestützten Protest gegen die Auffassung,
dass die Prostitution ein notwendiges Übel sei, weil der Fort-
pflanzungstrieb unbedingt befriedigt werden müsse. Sie verlangt
Keuschheit der Jünglinge und Mädchen bis zur Ehe und vertritt
die Überzeugung, dass dieses Ideal durch gesunde Erziehung zur
Selbstbeherrschung zu erreichen sei.
Auch in dieser Beziehung stellt die Verfasserin bestimmte
Forderungen auf:
>) Unter „Personen" versteht das Gesetz Minner und Frauen.
*) Vgl Vorschlage . . . S. 9.
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— 177 —
Zu den Ursachen, welche den Fortpflanzungstrieb künstlich über-
reizen und ins Krankhafte steigern, gehören besonders:
i. Der Alkoholgenuss, der nach Aussage der Gefängnisdirektoren
und Ärzte 90 % aller Sittlichkeitsvergehen verursacht.
2 Falsche Lebensweise: überreiche reizende Nahrung und Luxus-
gewohnheiten der Einen; Unbildung, Not, enge Wohnungsverhältnisse
der Anderen.
3. Anreizung durch schlechte Lektüre und Schaustellungen,
Kellncrinnenkneipen, zweideutige Balllokale, Nachtcaf£s u. s. w.
4. Die Straflosigkeit der Unsittlichkeit.
Es muss daher die dringende Bitte der Frauen an die Behörden
dahin gehen, die genannten Ursachen abstellen zu helfen.
Wir beantragen:
ad 1) Gegen die Verheerungen des Alkohols:
Beschränkung der Schankkonzession an der Hand der
schon bestehenden Gesetze (Gewerbeordnung § 33) und
insbesondere Verbot des Verkaufs alkoholischer Getränke
jeglicher Art an jugendliche Personen.
Wir beantragen:
ad 2) Zur Bekämpfung einer falschen Lebensweise:
Einführung eines hygienischen Unterrichts an allen Schulen
und Fortbildungsschulen und beim Militär, der die schädlichen
Folgen der Alkohol- und Tabakvergiftung etc. eingehend klar
legt und das Bewusstsein weckt, dass der Einzelne niemals
durch Unsittlichkeit sich selbst und die Gesamtheit schädigen
dürfe. Zugleich erscheint eine strengere Überwachung der
heimlichen Laster, welche so viele Schulen verheeren und
eine diesbezügliche Instruktion der Lehrer und Lehrerinnen
dringend geboten.
Wir beantragen:
ad 3) strengere Verfolgung unsittlicher Bücher, Bilder, Schau-
stellungen, Aufhebung der zweideutigen Balllokale. Nacht-
Caf<-s schlimmer Art, Tingcl-Tangel, zweideutigen „Mädel-
kneipen" und Weinkneipen mit Chambres sdparees, an der
Hand des Kuppelei-Paragraphen (§ 180 des Strfg.).
Diesem Paragraphen wird eine so ungenügende Aufmerksamkeit
geschenkt, wie die bisherige Duldung all dieser schlechten Lokale
beweist, — dass es sich vielleicht besser bewähren würde, auch für
diesen Teil des Kriminal -Polizeidienstes ältere, achtbare, gebildete
Frauen als Beamtinnen anzustellen, welche einen ungetrübten Blick in
Fragen der Sittlichkeit mitbringen.
Wir bitten, mit der Anstellung einiger weiblicher Kriminal-Beamten
zur besseren Durchführung des oben genannten Paragraphen (§ 180)
bald den Versuch zu machen.
Handbuch der Frauenbewegung. II Teil 12
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— 178 —
Wir beantragen zu grösserem Schutz gegen die Lasterhaften:
ad 4)
a) einen Gesetzentwurf, welcher das Schutzalter von 16 Jahren
auf das Mündigkeitsalter von ai Jahren erhöht und auf beide
Geschlechter ausdehnt.
(Änderung des § 182 Strfg.).
b) Einen Zusatz zu § 174 Strfg., welcher Arbeitgeber. Vorgesetzte
und deren Stellvertreter, die ihre Untergebenen zu unzüchtigen
Handlungen verleiten, mit Zuchthaus bestraft.
c) Bestrafung jeder Weiterverbreitung der gefährlichen geschlecht-
lichen Krankheiten als fahrlässige Körperverletzung nach
§ 230 und 231 Strfg., welche lauten: „Wer durch Fahr-
lässigkeit die Körperverletzung eines andern verursacht, wird
mit Geldstrafe bis zu 900 Mark oder mit Gefängnis bis zu
2 Jahren bestraft." — „Auf Verlangen des Verletzten kann
neben der Strafe auf eine an denselben zu erlegende Busse
bis zum Betrage von 6000 Mark erkannt werden."
d) Niemals dürfte der Vorwand des Amtsgeheimnisses (§ 300 Strfg. )
bei geschlechtlichen Infektionskrankheiten erhoben werden.
Vielmehr beantragen wir:
dass die Verpflichtung sofortiger Warnung der Familien-
angehörigen durch den Arzt bei Geschlechtskrankheiten
schleunigst den sanitätspolizeilichen Vorschriften vom
8. August 1835 § 65 zugefügt werde.
Diese Vorschläge wurden in München im Jahre 1895 vom
„Bund deutscher Frauenvereine" als Anlage zu einer Petition gegen
die Prostitution angenommen, um mit derselben dem Reichstage
bei seinem Zusammentritt im Dezember 1895 vorgelegt zu werden.
Bei Gelegenheit des Internationalen Frauenkongresses, der im
September 1896 in Berlin tagte, hielt Frau Bieber- Böhm zwei
Referate über „Die Sittlichkeitsfrage eine Gesundheitsfrage". Auch
in andern Städten Deutschlands wirkte sie durch Vorträge und
versuchte durch verschiedene Petitionen an die Regierung, an den
Reichstag und an die beiden Häuser des Landtags, Reformen auf
dem Gebiete der Sittlichkeit anzubahnen.
So richtete sie an Bundesrat und Reichstag im Mai 1900 die
Bitte:
„bei Schaffung eines Gesetzes betreffend die Bekämpfung ge-
meingefährlicher Krankheiten auch Massnahmen gegen die furcht-
baren Geschlechtskrankheiten treffen zu wollen."
Sie macht zu diesem Zweck folgende Vorschläge: 1. „Er-
richtung zahlreicher ländlicher Kolonien (Isolierungs-, Genesungs-
heime) unter ärztlicher Aufsicht in solchen Landstrichen Deutsch«
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— i 7 9 —
lands, welche brach liegen und die durch Kultur noch nutzbar zu
machen wären; damit könnte sofort der Anfang gemacht werden.
2. Jeder venerisch Kranke ist bei Strafe verpflichtet, sich
durch eine approbierte Medizinalperson behandeln zu lassen. Der
Arzt hat dem Patienten und dessen Hausangehörigen die erforder-
lichen Verhaltungsmassregeln zu geben, insbesondere auf die Ge-
fahren und die Strafbarkeit der Ansteckung (gemäss §§ 223, 224,
226, 230 und 232 Strafgesetzbuch über Körperverletzung) hin-
zuweisen. —
Wenn in der Behausung des Kranken die für seine Heilung
und Vermeidung der Weiterverbreitung der Krankheit genügende
Gewähr nicht gegeben ist, so hat der Arzt — falls der Kranke
sich nicht freiwillig in ein Isolierungsheim begiebt — der Behörde
Anzeige zu erstatten; diese hat dann den Kranken in einem
Isolierungs- Genesungsheim unterzubringen. Dort ist der Kranke
bis zu seiner vollständigen Heilung zu behalten.
Personen, welche wegen Prostitution, anderer Sittlichkeits-
vergehen oder Vagabondierens inhaftiert werden, müssen, falls
sie an Geschlechtskrankheiten leiden, besonderen Isolierungs-
heimen überwiesen werden, wo sie bis zur Heilung sowohl ärzt-
liche Fürsorge als Erziehung durch gebildete Männer und Frauen
erhalten."
Im Jahre 1899 vertrat Frau Bieber-Böhm den Verein „Jugend-
schutz" auf dem Internationalen Frauenkongress zu London, wo
sie ein Referat über das Thema „Gleiche Moral für Mann und
Weib" hielt, und im September desselben Jahres nahm sie teil an
der Conference Internationale pour la prophylaxie de la syphilis
et des maladies vendriennes zu Brüssel. Sie sprach dort über
das Thema: Par quelles Mesures legales pourrait-on arriver ä
diminuer le nombre des femmes qui cherchent dans la Prostitution
leurs moyens d'existence? Die gesetzlichen Massregeln, die Frau
Bieber-Böhm in ihrem Vortrag vorschlägt, decken sich vollständig
mit den Forderungen, die sie in ihren oben zitierten „Vorschlägen"
machte: x. Gründung von Kindergärten und Asylen für verwahr-
loste Kinder; 2. Fürsorgeerziehung für die Kinder unsittlicher Eltern;
3. Staatsvormundschaft für illegitime Kinder; 4. Schutz der Arbeiterin
durch Anstellung von Fabrikinspektorinncn, Verkürzung der Arbeits-
zeit, Erhöhung des Arbeitslohnes, Abschaffung des Sweating-system ;
5. Bestrafung der Arbeitgeber, wenn sie ihrem weiblichen Personal
unsittliche Anträge stellen; 6. Erhöhung des Schutzalters; 7. An-
stellung von Ärztinnen, Polizeimatronen und Lehrerinnen an den
12*
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- i8o -
Gefängnissen, den Asylen für Obdachlose und ähnlichen Instituten;
8. Verbot unmoralischer Werke, Bilder und Schaustellungen, Ab-
schaffung von Lokalen mit weiblicher Bedienung: 9. Aufhebung
der staatlichen Reglementierung und der Bordelle; 10. Bestrafung
der Prostitution und zwar Bestrafung vonFraucn und Männern,
die sich prostituieren, wie auch Bestrafung derjenigen, die durch
Geld oder andre Versprechung jemanden verleiten, sich zu
prostituieren. („En outre, la loi punirait l'excitation ä la prostitution
comme le commerce de la prostitution lui-memc: quiconque aurait,
par des promesses d'argent ou par d'autres appäts conduit une
personne ä la prostitution, tomberait sous le coup des memes
chätiments.")
Frau Bieber-Böhm schliesst ihre Vorschläge mit den Worten:
..Diese Massregeln würden vollkommen der Gerechtigkeit und dem
Prinzip der Gleichheit beider Geschlechter in moralischer Be-
ziehung entsprechen." (Ccs dispositions satisferaient plcinemcnt
ä la justice et au principe de lcgalite de la morale pour les deux
sexes!)
Der Verein „Jugendschutz" ist in den 11 Jahren seines Be-
stehens auf nahezu 600 Mitglieder gestiegen.
Ende September 1900 hat sich ein Zweigverein des „Jugend-
schutz" in Bremen gebildet, unter der Leitung von Frau Marie
Eggers-Smidt, und 1901 schloss sich der Eisenacher Lehrerinnen-
verein unter dem Vorsitz von Frl. Pilz dem Verein „Jugendschutz" an.
VL
Deutsche Zweigvereine der Internationalen Föderation.
(Fe'döration abolitionniste internationale.)
Die einmal in Fluss geratene Sittlichkeitsbewegung ergriff
immer weitere Frauenkreise. Durch die Schriften von Mrs. Butler
fanden die seit dem Aufhören des Kulturbundes gewissermassen
in den Hintergrund getretenen Anschauungen der Föderation neue
Anhänger. Sie wurden von verschiedenen Seiten in Wort und
Schrift vertreten, besonders durch die „Offene Antwort" 1 ) des
Pfarrer Hoffet aus Colmar auf Frau Bieber-Böhms Vorschläge
zur Bekämpfung der Prostitution und durch einige Aufsätze, die
A. Pappritz in verschiedenen Zeitschriften publizierte. Nach und
i) Hoffet, Pfarrer: Offene Antwort an Frau Bieber-Hohen auf ihre Vorschlafe zur
Bekämpfung der Prostitution. Colmar.
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— 181 —
nach sammelten sich die einzelnen Anhänger der Föderation und
gründeten nationale Gruppen der Föderation abolitionniste; so
entstanden die Zweigvereine zu Hamburg, Januar 1899 (Vorsitzende
Frl. L. G. Hey mann), zu Berlin, April 1899 (Vorsitzende
A. Pappritz), Colmar, 1900 (Vorsitzender Herr Bürgermeister
Riegert), Dresden, Dezember 1900 (Vorsitzende Frau Scheven)
und München (Vorsitzende Frau Roh nieder). Sowohl die An-
hänger der Föderation, wie die Anhänger der von Frau Bieber-
Böhm geleiteten Bestrebungen bekämpfen beide die staatliche
Reglementierung der Prostitution; der prinzipielle Unterschied
der beiden Richtungen besteht in zwei Punkten : Frau Bieber-Böhm
und ihre Anhänger fordern die Bestrafung der gewerbsmässigen
Unzucht und die Anzeigepflicht der Ärzte. Die Föderation präzisiert
ihren Standpunkt dahin»): „In Dingen der Prostitution verlangen
wir vom Staate, dass er diejenigen Manifestationen der Unzucht
bestraft, welche die Sittlichkeit andrer gefährden oder beein-
trächtigen. Er muss deshalb gesetzlich vorgehen: a) wenn eine
zweite Person unfreiwillig durch Betrug, Gewalt oder Ein-
schüchterung zu unzüchtigem Handeln verleitet wird; b) wenn
öffentliche Aufforderung zur Ausschweifung oder wenn Kuppelei
vorliegt; c) wenn Minderjährige missbraucht werden. — Es dürfen
weder die Prostituierten der Untersuchung, noch die Ärzte der
Anzeigepflicht unterworfen werden." Die Föderation verwirft
die Bestrafung [der gewerbsmässigen Unzucht, erstens weil es
ihres Erachtens fast unmöglich ist, den Begriff des „Gewerbs-
mässigen" festzustellen, zweitens, weil die mit dem Strafverfahren
verbundene Zwangsuntersuchung sich wenig von dem heutigen
System der Reglementierung unterscheiden würde, und drittens,
weil die ganze Schwere des Gesetzes wieder allein auf die Frau,
und zwar auf die^ ärmsten und schutzbedürftigsten unter den
Frauen, fallen und damit für die doppelte Moral die Basis erhalten
bleiben würde. Die Föderation venvirft aber auch die ärztliche
Anzeigepflicht, weil ihres Erachtens dieselbe nur die Folge nach
sich ziehen würde, dass die Patienten sich dem Arzte entziehen
und dadurch die Verbreitung der venerischen Krankheiten noch
mehr um sich greifen würde. Die Vorsitzende des Berliner Zweig-
vereins der Internationalen Föderation ist allerdings im ersten
Jahre seines Bestehens in einer Petition an den Reichstag auch
dafür eingetreten, die venerische Ansteckung als „öffentliches",
*) Hoffet a. a. O.
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- 182 —
nicht nur als Antragsdelikt zu betrachten und dementsprechend
die ärztliche Anzeigepflicht zu fordern, hat sich jedoch nach den
eingehenden Erörterungen über dieses Thema auf der Konferenz
zu Paris, Juni 1900, gleichfalls für das von den übrigen An-
hängern der Föderation vertretene Prinzip, diese beiden
Forderungen zu verwerfen, entschieden. Die Föderation
sieht im Gegenteil das wirksamste Mittel zur Bekämpfung
der venerischen Krankheiten in einer möglichst freien und
humanen Behandlung der Geschlechtskranken; schon auf dem
allerersten internationalen Kongress 1877 zu Genf wurde durch
eine Resolution die Forderung zum Ausdruck gebracht, „dass alle
diejenigen Hindernisse beseitigt werden, welche heute noch der
freien Behandlung der Geschlechtskranken in den Hospitälern
entgegenstehen". In demselben Sinne hat der Berliner Zweigverein
der Internationalen Föderation im März 1901 an den Bundesrat
eine Petition gerichtet mit dem Ersuchen, bei der bevorstehenden
Revision des Krankenversicherungsgesetzes:
L die §§ 6a und 26a, welche den Kassen das Recht geben:
„den Versicherten, welche sich eine Krankheit durch
geschlechtliche Ausschweifung zugezogen haben, für diese
Krankheit das statutenmassige Krankengeld garnicht oder
nur teilweise zu gewähren,"
zu streichen, und jede Bestimmung zu Ungunsten der
Geschlechtskranken aufzuheben.
II. Die obligatorische Krankenhausbehandlung der
Geschlechtskranken anzuordnen in folgenden Fällen:
1. Wenn nach Ansicht des Arztes wegen Schwere der Er-
krankung oder wegen ungünstiger häuslicher Verhältnisse
oder Gefahr einer Übertragung die Kur im Hause nicht
durchführbar ist; "
2. wenn der Kranke selbst die Krankenhausbehandlung
wünscht;
3. für die Angehörigen der Nahrungs- und Genussmittel-
gewerbe (z. B. Bäcker, Schlächter, Kellner, Kellnerinnen,
Tabakarbeiter u. a. m.), sowie für Berufsgruppen, welche,
wie z. B. Barbiere, Friseure, Masseusen u. a. m. bei Aus-
übung ihres Berufes in nahe Berührung mit andern
Menschen kommen.
Der Berliner Zweigverein der Föderation hatte ausserdem
dem Reichstag Petitionen eingereicht (zusammen mit dem Ham-
;
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— 183 —
burger Zweigverein und dem Verein „Frauenwohl" Berlin) zur
lex Heinze und zum Reichsseuchengesetz. Ferner hatte er beim
Magistrat die Anstellung von Schulärztinnen beantragt und beim
Kultusminister um Einführung von hygienischem Unterricht (mit
Aufklärung über sexuelle Hygiene) für die heranwachsende Jugend
petitioniert. Die Hauptthätigkeit des Berliner Zweigvereins liegt
aber auf dem Gebiet der Propaganda. In jedem Winter ver-
anstaltet er öffentliche Vorträge und Volksversammlungen, in denen
Arzte, Juristen und Pädagogen über das einschlägige Thema
referieren. Auch hat die Vorsitzende A. Pappritz selbst in ver-
schiedenen Vereinen, wie auch in andern Städten Deutschlands
Vorträge über die Zwecke und Ziele der Föderation gehalten.
Die Thätigkcit des Hamburger Zweigvereins konzentriert sich
hauptsächlich auf die Erteilung von Hygienekursen an die schul-
entlassene Jugend und auf die Bekämpfung der in Hamburg noch
üblichen Bordelle. Die Vorsitzende des Dresdener Zweigvereins,
Frau Scheven, hat eine eingehende Enquete veranstaltet über das
System der Sittenpolizei, wie es in den verschiedenen Städten
Deutschlands gehandhabt wird und hielt darüber, als Vertreterin
der deutschen Zweigvereine Berlin, Dresden, München, einen
Vortrag auf dem Internationalen Kongress zu Lyon im Mai 1901.
Was nun die Vorbeugungsmassregeln anbetrifft, so
stimmen die Vertreter beider Richtungen, sowohl die Anhänger
der Föderation, wie die Anhänger der Frau Bieber-Böhm voll-
kommen überein.
Die Föderation vertritt den Grundsatz: 1 )
Die Gleichstellung der Frau vor dem Sittengesetz bedingt ihre
Gleichstellung in ökonomischer, pädagogischer, rechtlicher und
politischer Hinsicht. Wir verwerfen jedes Geschlechtsprivilegium des
Mannes. Vielleicht hat die Föderation bisher sich zu ausschliesslich
dem Rettungswerk zugewandt. Die soziale Wirksamkeit der Rettungs-
arbeiten aber ist, obgleich dieselben an sich gut und nützlich sind,
doch von minimalem Werte, wenn man nicht zu gleicher Zeit die
Wurzeln des Übels erkennt und dort ansetzt. Die Wurzeln des Übels
aber sind sehr vielgestaltig, sie beruhen zum grössten Teil in unseren
sehr reformbedürftigen sozialen und gesetzlichen Zuständen. Hier
muss man den Hebel ansetzen, dann erst kann die Frage der Ge-
rechtigkeit und Freiheit für die Frau gelöst werden.
Die Statuten der deutschen Zweigvereine sind natürlich
identisch mit denen der internationalen Föderation (angenommen
I) Bericht Ober den Kongress zu London. 1894.
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auf dem Kongress zu Lyon, Mai 1901), wie sie auf Seite 163 an-
gegeben sind.
Die Auffassung der Föderation, in der einfachen Prostitution
kein Vergehen im strafrechtlichen Sinne zu sehen und die Be-
strafung der gewerbsmässigen Unzucht abzulehnen, hat ihr wieder-
holt den Vorwurf der Unsittlichkeit oder mindestens den laxer
moralischer Anschauungen zugezogen. Die Gründerin der Föderation,
Mrs. Josephine Butler, sah dies voraus, denn sie rief bereits auf
dem ersten internationalen Kongress der Föderation 1877 zu Genf
ihren Anhängern zu : „Nos antagonistes ne manquent pas de nous
accuser d'etre les dtffenseurs de I'immoralite. Nous avons ä faire
les memes tristes expdriences que les anciens reformateurs. Nous
avons vu, comme eux, beaueoup de timides et de circonspects
nous tourner le dos, et abjurer le nom profan^ de la liberte.
II nous appartiendra, soit qu'on nous bläme, soit qu'on nous
loue, de chCrir le feu de la vraie liberte\ et d'en nourrir la flamme
en attendant de meilleurs jours; et tandis que, d'un cöte", nous
rdprouvons la folie qui porte ä des changements anarchiques et
antisociaux les „prdtendus 44 amis de la libertö, il nous faut, d'un
autre cöte", faire face et rCsister ä outrance aux assauts qu'on livre
maintenant a l'existance meme de la liberte\ par les alarmes,
l'egolsme ou 1'infiddlitö de la classe gouvernante. ')
VII.
Die deutsche Frauenbewegung und die Sittlichkeitsfrage.
1.
Die Teilnahme von Vereinen und einzelnen Vertreterinnen der
Frauenbewegung an der Sittllehkeitsbewegung.
Neben diesen ausschliesslich der Sittlichkeitsbewegung dienenden
Vereinen begannen auch andre in der Frauenbewegung stehende
Vereine sich mit dieser schwierigen Frage zu beschäftigen. An
die damals bedeutendste Organisation der bürgerlichen Frauen-
bewegung, den Allgemeinen Deutschen Frauenverein, trat schon
1876 die Aufforderung heran, die Bestrebungen der Föderation in
sein Arbeitsprogramm aufzunehmen. Er lehnte diese Aufforderung
ab, um sich die Arbeit für seine Aufgaben auf andren Gebieten,
von deren Lösung er noch weit entfernt war, nicht durch einen
i) Congres de Gentve 1877. Tome II; p. 66a
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- i8 5 -
nur von wenigen Fortgeschrittenen verstandenen und als notwendig
erkannten Schritt zu erschweren. Auf seiner Generalversammlung
zu Frankfurt 1895 wurde die Sittlichkeitsfrage durch Frau Bieber-
Böhm zum ersten Mal eingehend zur Sprache gebracht. Sie ist
seitdem von der Tagesordnung seiner Generalversammlungen und
dem Arbeitsprogramm seiner Zweigvereine nicht verschwunden.
In Berlin kam die Sittlichkeitsfrage auf Anregung von Frau
Bieber seit 1892 zur Besprechung im Verein „Frauenwohl".
Zu einer ersten grossen Kundgebung der Frauen gegen die
Missbräuche der sittenpolizeilichen Kontrolle führte ein Ereignis,
das geeignet war, auch die Gleichgiltigsten aufzurütteln: die Ver-
haftung und zwangsweise Überführung und Untersuchung eines
jungen, unbescholtenen Mädchens von seiten der Berliner Sitten-
polizei. Die Frauen Berlins veranlasste dieser „Fall Koppen" zu
einem entrüsteten Protest, der in einer öffentlichen Volksversamm-
lung am 9. Januar 1898 einen lebhaften Widerhall in allen
Schichten der Bevölkerung fand. Einberuferin war Frau Minna
Cauer, Vorsitzende des Vereins „Frauenwohl" -Berlin; nach ihr
sprachen Frau Bieber-Böhm, Frl. Dr. Augspurg, Frl. Elisa-
beth Miessner und Frl. Barkowski. Im Anschluss daran fand
am 19. Januar 1898 im Verein „Frauenwohl" -Berlin eine öffent-
liche Mitgliederversammlung statt, in der folgende Thesen zur
Beratung standen:
I. Wegen gewerbsmässiger Unzucht dürfen Kinder nicht unter
sittenpolizeiliche Kontrolle gestellt werden. Mädchen, unter
18 Jahren, welche wegen gewerbsmässiger Unzucht sistiert
werden, sind einer Zwangserziehung ausserhalb der grossen
Städte zu überweisen.
Die hierfür notwendigen staadichen Mittel müssen auf-
gebracht werden.
II. Die polizeiärzdiche Untersuchung nur der Prostituierten ist
aufzuheben, dagegen die Anzeigepflicht der geschlechtlichen
Infektionskrankheiten für Ärzte einzuführen.
Eine Ehe darf nur von Personen eingegangen werden,
die laut amtsärztlichem Atteste für frei von geschlechtlichen
Infektionskrankheiten erklärt sind.
III. Der dem Reichstage vorgelegte Antrag Arenberg und
Genossen zur Eindämmung von Kuppelei und Prostitution
ist als durchaus unzulänglich zu betrachten; insbesondere
sind die ins Auge gefassten Strafen völlig unzureichend.
Im April desselben Jahres 1898 reichte eine Anzahl von
Frauen dem Reichstag eine Petition ein, betreffend Abänderung
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- 186 -
einiger Artikel des Strafgesetzbuches, in der sie forderten:
1. Bestrafung der Arbeitgeber, Dienstherren und deren Vertreter,
wenn sie ihre Arbeiterinnen, weiblichen Lehrlinge und Angestellten
zur Duldung oder Verübung unzüchtiger Handlungen bestimmen; t
2. Erhöhung des Schutzalters auf das |i8. Lebensjahr; 3. die Be-
strafung wissentlicher Übertragung einer ansteckenden Geschlechts-
krankheit; 4. Aufhebung des § 366.
Unterzeichnet ist diese Petition von den Vorsitzenden der
Vereine „Frauenwohl" in Frankfurt a. O., Breslau, Minden, Rudol-
stadt, Bromberg, Remscheid, Ulm und der Vorsitzenden des
Vereins für Fraucnstudium in Berlin, Dr. jur. Anita Augspur g.
Eine zweite grosse öffentliche Versammlung wurde von dem
Verein „Jugendschutz" und zehn andern Berliner Vereinen bei
Gelegenheit des berüchtigten Prozesses Sternberg, der in einen
Abgrund sittlicher Verderbnis blicken licss, im Winter 1901 unter
dem Titel: Was haben die Frauen zu dem Fall Sternberg zu
sagen? einberufen und nachher in einer andern Stadtgegend noch
einmal wiederholt
Auch der im Oktober 1899 gegründete „Verband fortschritt-
licher Frauenvereine" nahm die Sittlichkeitsbewegung auf. Er
veranstaltete im Winter 1899/1900 in Berlin zwei Diskussions-
abende, an denen Lehrer der Hochschule, Ärzte, Geistliche und
Frauen, die in der praktischen Rettungsarbeit stehen, teilnahmen
und die vor allem zur Klärung der zahlreichen in Betracht zu
ziehenden Fragen dienen sollten.
* •
*
In engstem Zusammenhang mit den Bestrebungen der Frauen-
vereinc, der Unsittlichkeit auf dem Wege wirtschaftlich-rechtlicher
Vorbeugung entgegenzuwirken, steht die Frage des Kellnerinnen-
schutzes. Die allerletzte Zeit weist verschiedene Versuche auf,
die Kellnerinnen selbst zu Massregeln, die ihre Berufsstellung heben
könnten, heranzuziehen; sei es durch Organisation, oder, wo das
nicht möglich ist, durch Versammlungen zur Besprechung ihrer
Lage und Geltendmachung ihrer Ansprüche an ausreichenden ge-
setzlichen Schutz. Diese Versuche tragen, je nach der verschiedenen
sozialen Beschaffenheit des Kellnerinnenstandes, verschiedenen
Charakter.
Die unmittelbare Veranlassung zur Entstehung einer
„Kellncrinnenbewegung" war die Behandlung der Kellnerinnen-
fragc auf dem Fachkongrcss der Gastwirtsgehilfen in Berlin vom
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— 187 —
März 1900, eine Behandlung, die ausschliesslich unter dem Gesichts-
punkt der Konkurrenz der Frauenarbeit stand. Um dieser Haltung
ihrer männlichen Kollegen gegenüber die Kellnerinnen zur Selbst-
hilfe anzuregen, versuchte zuerst Fräulein Ika Freudenberg in
München die Gründung eines Vereins von Münchener Kellnerinnen,
der mit etwa 150 Mitgliedern noch in demselben Monat ins Leben
trat. Als seine nächsten Aufgaben nahm er die Gründung einer
Unterstützungskasse und einer kostenlosen Stellenvermittlung in
Aussicht.«) Um dem Verein einen gewissen Rückhalt bei dem
Publikum zu geben, wurde im Statut der Beitritt „unterstützender 4 *
Mitglieder vorgesehen. Vertreterinnen der bürgerlichen Frauen-
bewegung, Sozialpolitiker, die der Kellnerinnenfrage besondere
Aufmerksamkeit geschenkt haben, gehören dem Verein in dieser
Eigenschaft an.
Seine Entwicklung war eine günstige. Er zählte schon im
Mai 1900 über 700 Mitglieder.
In Berlin stiessen ähnliche Versuche in Anbetracht des hier
sittlich und sozial viel tiefer stehenden Kellnerinnengewerbes
auf bedeutend grössere Schwierigkeiten. Es trat hier gleichfalls
im März 1900 ein Komitee zur Kellnerinnenfrage zusammen, be-
stehend aus Vertreterinnen der proletarischen und der bürger-
lichen Frauenbewegung: Frau Emma Ihrer, Helene Lange,
Anna Pappritz, Alice Salomon, Frau Tietz.
An eine Organisation der Kellnerinnen war bei den Berliner
Verhältnissen nicht zu denken. Das Komitee musste sich damit
begnügen, in zwei öffentlichen Volksversammlungen die Augen der
Allgemeinheit auf die Missstände dieses Gewerbes, die auch
besonders in sittlicher Hinsicht die schlimmsten sind, hinzulenken
und reichte dann die auf jenen Volksversammlungen gefasste
Resolution dem Reichstage ein. Dieselbe lautet:
Die am 29. Marz im Grand -Hötel, Alexanderplatz, und die am
4. April im Industrie-Gebäude, Beuthstr. 19.30. tagende Kellnerinnen-
Versammlung erklärt einstimmig: dass im wirtschaftlichen und
gesundheitlichen Interesse der Kellnerinnen eine reichsgesetzliche
Regelung der Arbeitsverhältnisse im Gastwirtsgewerbe anzustreben
ist, betreffend
a) Bestimmungen über Zahlung eines auskömmlichen
Lohns.
Begründung: Den Kellnerinnen wird fast ausnahmslos kein
fester Lohn gezahlt. Sie sind daher auf die Trinkgelder
I) Vgl. CentralbUtt des Bunde» deutscher Frauenvereine, i. April 1900.
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— i88 -
der Gäste angewiesen, was eine grosse sittliche Gefahr
in sich schliesst.
b) Einrichtung von staatlichen oder städtischen Stellen-
vermittelungen.
Begründung: Das private Stellen -Vermittelungswesen be-
deutet eine wirtschaftliche Ausbeutung der Kellnerinnen
im schlimmsten Masse.
c) Festsetzung bestimmter Arbeitspausen, insbeson-
dere einer ununterbrochenen zehnstündigen Ruhe-
zeit nach jedem Arbeitstag.
Begründung: Die im Gastwirtsgewerbe vielfach übliche
sechzehnstündige Arbeitszeit schliesst eine schwere
Schädigung der Gesundheit der Kellnerinnen ein.
d) Ausdehnung der Gewerbe-Inspektion auf das Gast-
wirtsgewerbe, einschliesslich der Beaufsichtigung
der Wohn- und Schlafräume der Angestellten.
Ausserdem tritt die Versammlung für eine energische Anwendung
des § 33 Ziffer i der Gewerbe-Ordnung ein, wonach die Erlaubnis
zur Betreibung des Gastwirtsgewerbes zu versagen ist, wenn gegen
den Nachsuchenden Thatsachen vorliegen, welche die Annahme recht-
fertigen, dass er das Gewerbe zur Förderung der Völlerei, des ver-
botenen Spiels, der Hehlerei oder der Unsittlichkciten missbrauchen
würde.
* »
Das Kellnerinnenunwesen hatte Anfang der neunziger Jahre
schon Veranlassung zur Gründung eines „Deutschen Frauen-
vereins zur Hebung der Sittlichkeit" gegeben, der, wenn auch auf
anderer Grundlage als die Frauenbewegung, auch seinerseits gegen
die Reglementierung Stellung nahm. Er hat unter seiner Vor-
sitzenden Frau Isabella Mundhenk (Vluyn bei Moers) durch
Frauenversammlungen, durch offene Briefe an die Armee, durch
Adressen an die Magistrate verschiedener Städte für seine Sache
gewirkt. Gleich ihm stehen die „Frauenbunde zur Hebung der
Sittlichkeit" in Berlin, Dresden, Hamburg, Hannover, Freiburg i. B.,
Heidelberg, Elberfeld, Essen etc., die aus der inneren Mission
hervorgegangen sind, auf konfessionellem Boden. Ihr Wirken,
soweit es nicht in dem betreffenden Abschnitt der sozialen Hilfs-
tätigkeit berührt ist, wird im Zusammenhang der konfessionellen
Frauenbewegung (Teil 1) zur Darstellung kommen. Das Organ
dieser Vereine sind die in Berlin erscheinenden „Frauenblätter 4 ',
Organ der deutschen Sittlichkeitsbewegung für die Frauenwelt.
Herausgeber: Superintendent Niemann in Kyritz.
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- i89 -
2.
Die Beteiligung des Bundes deutscher Frauenverelna an der
Slttllchkeltsbewegrung. ')
Auch der Bund deutscher Frauenvereine nahm die Sittlichkeits-
bewegung mit in sein Arbeitsgebiet auf. Auf der ersten General-
versammlung des Bundes in München 1895 wurde die Einreichung
einer Petition an den Reichstag behufs Abschaffung der gewerbs-
mässigen Prostitution beschlossen, der die von Frau Bieber-Böhm
ausgearbeiteten „Vorschläge zur Bekämpfung der Prostitution" als
Begleitschrift beigefügt wurden. Die Petition wurde laut Reichs-
tagsbeschluss dem Reichskanzler als „Material zur Abänderung
der Gesetzgebung" überwiesen.
Gelegentlich der Versammlung in Cassel 1896 wurde die Be-
arbeitung der Sittlichkeitsfrage einer besonderen Kommission
überwiesen, die unter die Leitung von Frau Bieber-Böhm gestellt
wurde. Die Kommission wurde von der Generalversammlung zu-
nächst mit der Abfassung einer Reihe von Petitionen und Flug-
schriften beauftragt, die vor allem den erziehlichen Aufgaben im
Kampf gegen die Unsittlichkeit gelten sollten. So wurde im
Herbst 1896 eine Eingabe an den preussischen Unterrichtsminister
geschickt um die Einführung hygienischen Unterrichts über die
Folgen der Unkeuschheit und des Alkoholgcnusses in Schulen.
Sic erhielt die Antwort, dass das Notwendige und Zulässige jetzt
schon geschähe. Die Versendung der Schrift von Professor
Herzen „Wissenschaft und Sittlichkeit' 1 an Professoren und
Rektoren der Universität mit der Bitte, sie unter den Studierenden
zu verbreiten, erzielte eine Reihe von Sympathicerklärungen aus
den Kreisen, an die man sich wendete, aber allerdings auch ver-
einzelte Proteste gegen die „Schamlosigkeit" des Vorgehens der
Frauen.*) Auch ein „Aufruf an die Mütter", der auf die Not-
wendigkeit erziehlicher Vorbeugung gegen sittliche Gefahren hin-
weist, wurde in Tausenden von Exemplaren verbreitet.
Eine Petition an den Minister des Innern, die Anstellung von
Polizeimatronen betreffend, wurde abschlägig beschieden.
•) Vgl. du- Berichte der Sittiichkcitskomni-ssion kn Ccntralblatt des Bundes deutscher
Frauen vereine Marie Stritt und Ika Frendenberg. Der Bund deutscher Frauen-
vercine. Langenberg 1900.
*) Die Herzensche Schrift wurde 1901 von dem Verein Jugendschutz neu heraus-
gegeben und von dem derreitigen Rektor der Berliner Universität. Professor D. Hnrnack.
mit einem Vorwort versehen.
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I
— 190 —
Auf der Hamburger Generalversammlung 1898 legte Frau
Bieber-Böhm der Kommission folgendes Arbeitsprogramm vor: f
1. Fortsetzung der bisherigen aufklärenden Thätigkeit durch ,
Wort und Schrift. v
2. Wiederholung bezw. Einreichung einer Petition an die
Unterrichtsminister der deutschen Bundesstaaten betreffend Ein-
führung des hygienischen Unterrichts an den Schulen und Fort-
bildungsschulen.
3. Wiederholung bezw. Einreichung der Petition an die
Minister des Innern der deutschen Bundesstaaten um Anstellung
gebildeter Polizeimatronen.
4. Wiederholung der Petition an den Reichstag betreffend
Antrag Arenberg (lex Heinze).
5. Gesuch an die Rektoren der Universitäten, zur Sittlichkeits-
frage und zu unserem Anschreiben an die Professoren und Lehrer
Stellung zu nehmen.
6. Petition an die Justizminister der deutschen Bundesstaaten,
den Schutz der Jugendlichen unter 18 Jahren nach § 56 des
Strafgesetzbuches durch die Behörden ausüben zu lassen und die
dagegen verstossende Praxis der Polizei, Jugendliche unter f
18 Jahren auf die Liste der Prostituierten zu schreiben, zu unter- 1
sr gen.
7. Petition an den Kaiser als den Höchstkommandierenden
der Armee, die Einführung von hygienischem Unterricht beim
Militär zu verfügen, zur Aufklärung über die schädlichen Folgen
der Unsittlichkeit und Unmässigkeit.
Dieses Programm ist denn auch thatsächlich die Richtschnur
gewesen für die Thätigkeit der Sittlichkeitskommission.
Die unter 6 genannten Forderungen der Kommission brauchten
nicht mehr gestellt zu werden, da eine Verfügung des preussischen
Justizministers vom 11. Februar 1899 der im Jahre 1898 in diesem
Sinne gestellten Petition des Vereins „Jugendschutz" bereits ent-
sprochen hatte. Dieser Erlass weist die Polizeiverwaltungen an:
X. In allen Fällen, in denen Minderjährige der gewerbsmässigen
Unzucht verdächtig sind und eine an die Eltern oder Vormünder zu
richtende Aufforderung, dem unsittlichen Treiben Einhalt zu thun,
ohne Erfolg bleibt, ist dem Vormundschaftsgerichte Mitteilung zu
machen.
2. Werden die Kinder unter zwölf Jahren wegen liederlichen
Umhertreibens aufgegriffen, so ist genau nach den Vorschriften des
Runderlasscs vom 14. Juni 1878 über die Ausführung des Gesetzes
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— I 9 I -
vom 13. März 1878 (Minist.-Bl. 1878, S. 120) zu verfahren und beim
Vorliegen einer strafbaren Handlung der Antrag auf Zwangserziehung
zu stellen.
3. Wenn jugendliche Personen im Alter von 12 — 18 Jahren der
gewerbsmässigen Unzucht verdächtig sind und ihr Treiben eine straf-
bare Handlung darstellen könnte, so ist stets der Staatsanwaltschaft
Anzeige zu erstatten, um eine Bestrafung oder Überweisung zur
Zwangserziehung herbeizuführen.
Ausserdem werden die Vormundschaftsgerichte durch den
Herrn Justizminister angewiesen, die ihnen von den Polizeibehörden
oder der Staatsanwaltschaft bekannt gegebenen Fälle sorgfältig
und mit thunlichster Beschleunigung zu prüfen. Ergiebt sich dabei
die Notwendigkeit, den Eltern das Recht der Erziehung des im
kindlichen Alter befindlichen oder diesem Alter nahestehenden
Mädchens abzusprechen, so wird es sich für die Gerichte regel-
mässig empfehlen, mit der Kommunalverwaltung wegen Übernahme
des Mädchens in die Waisenpflege in Verbindung zu treten,
geeignetcnfalls auch deren Vermittlung in Anspruch zu nehmen,
um die Aufnahme des Mädchens in eine auf privater Wohl-
thätigkeit beruhende Anstalt zu ermöglichen.
Ein andrer kleiner Erfolg der Frauenbestrebungen, entsprechend
den von Frau Bieber-Böhm aufgestellten Forderungen, ist die im Sep-
tember 1900 erfolgte Anstellung einer Ärztin, Frl. Dr. med. Hacker,
bei der Berliner Sittenpolizei zur Untersuchung der erstmalig
Inhaftierten.
Die Petition an den Reichstag zu der „lex Heinze" wurde
bei den Verhandlungen im Frühjahr 1900 nur, soweit sie Erhöhung
des Schutzalters betraf, erwähnt. Die Ergänzungen des Straf-
gesetzbuches, die bei der Beschlussfassung schliesslich die Majorität
erlangten, deckten sich mit den Forderungen der Kommission in
einzelnen Punkten, der strengeren Bestrafung der Kuppelei
(§§ 180. 181), der Massregeln gegen die Zuhälter (§ 181 a) und
vor allem der Überweisung der laut § 361 No. 6 Verurteilten in
eine Erziehungsanstalt (§ 362).
Im Jahre 1901 reichte die Kommission dem Reichskanzler eine
Petition, die Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels be-
treffend, ein, und dem Bundesrat eine Petition, welche die Be-
kämpfung der venerischen Krankheiten fordert Auf die erste Petition
erfolgte die Antwort, dass die Kaiserliche Regierung die Frage der
Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels seit Jahren mit
besonderer Aufmerksamkeit verfolge. Es sei anzunehmen, dass,
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falls es zur Berufung eines Kongresses zum Zwecke der Unter-
drückung dieses Handels kommen sollte, Deutschland sich daran
in demselben Umfange beteiligen wird, wie die Regierungen der
andren Lander. Dem Bunde deutscher Frauenvereine wird anheim-
gestcllt. sich mit dem Deutschen Nationalkomitee zu internationaler
Bekämpfung des Mädchenhandels in Berlin in Verbindung zu setzen.
Innerhalb des Bundes sind die beiden oben genannten
Richtungen der Sittiichkeitsbewegung vertreten, denn fast alle
deutschen Zweigvereine der Internationalen Föderation sind,
ebenso wie die Jugendschutzvereine. Mitgliedsvereine des Bundes
Deutscher Frauen vereine. Bei den vielen gemeinsamen Bestrebungen
beider Richtungen hat sich, trotz der genannten prinzipiellen Unter-
schiede, eine fruchtbringende Arbeit innerhalb des Bundes als
vollkommen durchführbar erwiesen. 1 )
») Die Sittlichkcitsbcwcgung im Zusammenhang der deutschen Frauenbewegung
i gl Handbuch der Frauenbewegung Teil L
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DieTeilnahme der deutjchen Frauen an
der Bekämpfung dej jAlkoholismus.
Von Ottilie Hoffmann.
Litteratur.
Dr. Hoppe, Thatsachen über den Alkohol (Dresden 1899). A.Baer,
Der Alkoholismus (Berlin 1898). Prof. G. Bunge, Die Alkoholfrage
(1. Aufl. Leipzig 1892). H. Quensel, Der Alkohol und seine Gefahren
(Köln 1900). L. Frank, La femme contre l'Alcool (Bruxelles 1897).
Prof. G. Bunge, Der Alkohol und die Frauen (Basel 1900).
Dr. G. Bonne, Die Unsittlichkeit und deren Folgen (Leipzig 1900).
Prof. Weich sei bäum, Die gesundheitschädlichen Folgen des Alkohols
vom pathologisch -anatomischen Standpunkt (Basel 1901). Ottilie
Ho ff mann, Sind die Mässigkeitsbestrebungen deutscher Frauen
patriotische Pflicht? Familienglück und Alkohol (im Selbstverlag 1896
und 1899). Dr. A. Bayer. Wir Frauen und der Alkoholismus (Leopolds-
höhe, Baden 1897). Mathilde Weber, Soziale Pflichten der Familie
(Berlin 1886). FrancesWillard.Do Everything (Ch icago-London 1805 ).
Annual Reports and Minutes published by the British Women'sTemperance
Association (London, Victoria Street 47). Dr. W. Bode, Geschichte
der Mässigkeitsbestrebungen in Deutschland (München 1896). Gräfin
Schimmelmann (Elim, Blau Kreuz, Barmen 1898). Internationale Monats-
schrift zur Bekämpfung der Trinksitten (Leopoldshöhe, Baden). Ausser-
dem die Jahresberichte der Vereine und die Protokolle der Kongresse.
Einführung.
Der Alkoholismus in seiner gegenwärtigen Ausdehnung ist
eine Folge der modernen Kulturentwicklung und zugleich einer
ihrer grössten Feinde. Mit dem Anwachsen der Industrie und der
Verkehrsmittel hat die Produktion und Konsumtion berauschender
Handbuch der Frauenbewegung. II. Teil. 13
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— 194 —
Getränke erschreckende Dimensionen angenommen, und der
Alkoholismus ist zu einer Volksseuche geworden, die mehr, als an
der Oberfläche ersichtlich ist, die physische und sittliche Gesundheit
unserer Nation untergräbt. In dem Masse jedoch, als diese Ent-
wicklung, wie auf andern, so auch auf diesem Gebiete, Zustände
augenfälliger sittlicher, wirtschaftlicher und gesundheitlicher Ver-
wahrlosung hervorruft, zeigt sich auch das Erwachen des sozialen
Gewissens in Bestrebungen, diese Zustände zu bessern.
Die neuere Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsbewegung verdankt
ihre Entstehung dem Jahrzehnt von 1880 — 90. Wohl hatten schon
die dreissiger und vierziger Jahre unseres Jahrhunderts eine grosse
Mässigkeitsbewegung gekannt,«) aber sie war von den politischen
Kämpfen in den Hintergrund gedrängt und zählte bald nur noch
vereinzelte Vertreter. Erst 1883 wurden diese Bestrebungen wieder
in grösserem Massstabe aufgenommen durch die Begründung des
„Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke";
1888 wurde der im Jahre 1877 von Pastor Rochat in Genf ins
Leben gerufene Enthaltsamkeitsverein des Blauen Kreuzes in
Berlin eingeführt, nachdem schon einige kleine Sektionen in Deutsch-
land gebildet waren; 1889 entstand in Dresden der Alkoholgegner-
bund, und vor 1890 überschritten die Guttempler, von Dänemark
kommend, die deutsche Grenze. Von diesen Verbänden trägt der
des „Blauen Kreuzes" einen entschieden religiösen Charakter, der
in religiöser Beziehung neutrale Guttemplerorden in geringerem
Masse. Das „Blaue Kreuz" sucht seine Hauptwirksamkeit in der
Trinkererrettung und in der Erziehung der Jugend zur Enthaltsam-
keit. Der Guttcmplerorden, dem viele ausgezeichnete Ärzte, z. B.
Professor Forel, angehören, arbeitet auf demselben Gebiet und
bekämpft ausserdem die heutigen Trinksitten, den Genuss, das
Angebot und die Fabrikation aller berauschenden Getränke auch
auf wissenschaftlichem Wege. Der Alkoholgegnerbund ver-
einigt in wissenschaftlicher und praktischer Arbeit die verschiedenen
Richtungen der Enthaltsamkeitsbewegung. Sehr segensreich in
volkswirtschaftlicher Beziehung wirkt der auf dem Mässigkeits-
prinzip stehende „Verein gegen den Missbrauch geistiger
Getränke", dem viele ei'nflussreiche Männer angehören, „durch
wissenschaftliche Aufklärung über die Alkoholfrage, durch An-
bahnung besserer Anschauungen und Sitten, besserer Einrichtungen
und Gesetze."
') Vgl. Wilhelm Bode, Kurze Geschichte der Trinksitten und Mässigkcits-
bestrebungen in Deutschland. München 1896.
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— i95 -
Die Arbeit erstreckt sich in diesen verschiedenen Vereinen
und Richtungen auf vorbeugende Thätigkeit: Erziehung, Pro-
paganda, Bekämpfung der Trinksitten, Wohlfahrtseinrichtungen,
auf Massnahmen zur Beeinflussung der Gesetzgebung und auf
die Trinkerrettung.
Es ist selbstverständlich, dass die Frauen an der Unterdrückung
des Alkoholismus, der die Familie zerstört, die Volkswohlfahrt
untergräbt und der Erniedrigung der Frau in so hohem Masse Vor-
schub leistet, nicht nur ein tiefes Interesse haben müssen, sondern
dass sie dies Interesse auch in verschiedenster Weise, von persön-
licher Beeinflussung innerhalb der Familie bis zur Vertretung der
Mässigkeitssache gegenüber der Gesetzgebung, mit der That zu
beweisen Gelegenheit haben oder suchen.
Von grosser Bedeutung für die Arbeit der deutschen Frauen
in der Mässigkcits- und Enthaltsamkeitsbewegung ist neben diesen
allgemeinen Voraussetzungen das Beispiel der skandinavischen,
amerikanischen und englischen Frauen gewesen. Die schon 1874
in Nordamerika nach dem berühmten Women's Temperance
Crusade begründete Woman's Christian Temperance Union, ') die
seit 1876 in England bestehende British Women's Temperance
Association,») die 1883 durch Frances Willard ins Leben gerufene
World's Woman's Christian Temperance Union, ') die alle auf dem
Boden gänzlicher Enthaltsamkeit stehen, zählen ihre Mitglieder
nach Hunderttausenden und haben eine imponierende Thätigkeit
und einen bedeutenden Einfluss ausgeübt.
II.
Die Mitarbeit der Frauen in den Anti- Alkoholvereinen.
In den vier vorher genannten in Deutschland bestehenden
Vereinen arbeiten Frauen Hand in Hand mit den Männern in
der praktischen Arbeit, in der Propaganda, vereinzelt auch an
leitender Stelle. Das Hauptgebiet ihrer Thätigkeit ist vorbeugendes
Wirken durch Wohlfahrtseinrichtungen, die eine rationelle Volks-
ernährung erleichtern und so dem Alkoholismus entgegenarbeiten
sollen, dann aber vor allem die Rettungsarbeit an alkoholkranken
Frauen und Männern.
>) Frances Willard. Do Everythinp.
♦) Annua! Report* and Minutes, published by the British Women's Temperaiue
Association (London, Victoria Street 47).
13*
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- ig6 -
In das erste Gebiet, das der indirekten Bekämpfung des
Alkoholismus, wären danach auch alle die Frauenbestrebungen zu
rechnen, die auf Errichtung von Volksküchen, auf Einführung des
Haushaltungsunterrichtes in die Volksmädchenschule abzielen,
wären Namen zu nennen wie Lina Morgenstern, Ottilie
Hoffmann, Auguste Förster, Hedwig Heyl, Julie und
Louise Ravit u. a. m.
Hervorragend als persönliche Leistung, leider aber in ihrer
Vereinzelung nicht von langer Dauer, waren die Einrichtungen,
die Adeline Gräfin Schimmelmann, eine geborene Dänin
und Hofdame der Kaiserin Augusta, für die Fischer auf der Insel
Rügen getroffen hatte. Sie versuchte durch Errichtung eines
Fischerheims, in dem Kaffee ausgeschenkt wurde, den Fischern
den Branntweingenuss entbehrlich zu machen. Auch auf andre
Weise, durch Gründung von Lesezimmern in einigen Dörfern,
Erziehung verwahrloster Knaben u. dergl. suchte sie an der
sittlichen und sozialen Hebung der Bevölkerung zu arbeiten.
Leider verfielen ihre Einrichtungen bald, da sie sie selbst nicht
weiterführen konnte.
Auf dem Gebiete der Trinkerrettung arbeiten vor allem die
weiblichen Mitglieder des Blauen Kreuzes. Eine der ersten An-
hängerinnen des Blauen Kreuzes in Deutschland war Frl. von Poetz
in Hagen in Westfalen, die sich, wie auch eine Diakonissin in
Salzwedel, in aufopfernder Weise der Rettung der Trinker annahm.
Am bedeutendsten jedoch ist die Wirksamkeit von Frl. Berta
Lungstras in Bonn, die mit kleinen, sich stets vermehrenden
Mitteln ausser ihrem Asyl für bis dahin unbescholtene Mädchen,
die ihrer Entbindung entgegensehen, 1889 ein Rckonvalescenten-
heim für alkoholkranke Frauen errichtete. Nach dem 25. Jahres-
bericht des Bonner Versorgungshauses fanden in der Heimstätte
für Alkoholkranke seit ihrer Gründung 139 Patienten Aufnahme,
von denen nach den Angaben der Berichte etwa zwei Drittel als
geheilt entlassen wurden.
Nach dem Jahresbericht von 1900 zählt der Bund des Blauen
Kreuzes in Deutschland 3781 weibliche neben 5467 männlichen
Mitgliedern und weist damit eine erhebliche Steigung gegen das
Vorjahr auf, in dem die Zahl der weiblichen Mitglieder nur 2909
neben 4549 Männern betrug. Diese Zahlen sind allerdings noch
relativ niedrig, wenn man bedenkt, dass die Schweiz 8605 männliche
neben 7994 weiblichen Mitgliedern im Berichtsjahr aufwies. Über
die Arbeit dieser weiblichen Mitglieder liegen wenig Angaben vor,
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— 197 —
sie wird naturgemäss nur da bekannt werden, wo sie einer be-
sonders kräftigen und wirksamen persönlichen Initiative entspringt.
Es handelt sich dabei zum grössten Teil um Versuche persönlicher
Beeinflussung einzelner dem Trünke ergebener Männer und Frauen.
In Bremen geschah die Gründung eines Blaue-Kreuz- Vereins 1894
auf Veranlassung von Ottilie Hoffmann durch Herrn von Knobeis-
dorff, da sie die Erfahrung machte, dass für die eigentliche
Trinkerrettung die von den Mässigkeitsvereinen angewendeten
Mittel erfolglos blieben, eine Erfahrung, die sich aus der Thätig-
keit sämtlicher Vereine, die nicht absolute Enthaltsamkeit zur Pflicht
machen, bestätigt. Die weiblichen Mitglieder dieses Vereins haben,
wie die Frauen in Barmen, Iserlohn und anderen Orten, Trinkerinnen
durch jede Art persönlicher Fürsorge von ihrem Laster geheilt.
Auch die Leitung der „Hoffnungsbunde" für die Jugend haben
mehrfach Frauen übernommen.
In den Guttempler-Logen wirken Frauen neben ihren Männern
in der Trinkererrettung, der Pflege edler, alkoholfreier Geselligkeit,
der Sorge für die Beschäftigung von Arbeitslosen und dergleichen.
Eifrig und erfolgreich arbeitet in Hamburg Frau Asmussen in
Gemeinschaft mit ihrem Mann, der die grosse Guttemplerbewegung
dort in Fluss gebracht hat, und viele andere.
Grossen Wert hat auch der Verein gegen den Missbrauch
geistiger Getränke auf die Mitwirkung der Frauen gelegt. Er
zählt eine Reihe besonders thätiger Mitglieder, Frl. Gertrud
Knutzen in Kassel, die in Verbindung mit dem dortigen Orts-
verein Volksunterhaltungsabende einrichtete, an denen u. a. auf-
klärende Vorträge über den Alkohol gehalten wurden, Frl.
Eugenie von Soden in Cannstatt, der der Verein auf seiner
letzten Generalversammlung in Dresden 1900 ein Referat über die
„Frauen als Hüterinnen der guten Sitte* 4 übertragen hatte, Freifrau
von Ponikau in München, Frau Schweitzer in Stettin u. a.
Der Verein hat seit 1896 ein weibliches Vorstandsmitglied, Ottilie
Ho ff mann aus Bremen, die in Vorträgen auf der Generalver-
sammlung in Kiel 1896 und in Stettin 1899 die Enthaltsamkeits-
frage speziell vom Gesichtspunkt der Frau und der Familie be-
leuchtete.
In Bremen sind sämtliche Richtungen der Antialkoholbewegung
vertreten, und man versucht die verschiedensten praktischen Mittel,
um zum Ziel zu kommen. Als ein ausserordentlich wirksames haben
sich die Volkskaffee- und Speisehäuser bewährt. Die erste derartige
Einrichtung war seiner Zeit (1876) in Memel auch von einer Frau
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- 198 -
getroffen worden. Ihr folgte die Gründung einer Kaffeehalle im
Norden von Berlin (1879), und andre Städte ahmten das Beispiel
nach. In Bremen wurden die ersten Kaffeeküchen durch Ottilie
Hoffmann gegründet. Die unmittelbare Veranlassung dazu war
die grosse nordwestdeutsche Industrieausstellung 1890.
Bei ihrem Aufbau war, wie gewöhnlich in den Kantinen, für
die Arbeiter für Schnaps und alkoholische Getränke vorzugsweise
gesorgt, so dass die Leute bei hohem Lohn sich durch Roheit
und Unmässigkeit viel Unwillen zuzogen, und in zwei Monaten
40 Unfälle, darunter 15 schwere, vorkamen. Da wurde mit Hilfe
des vaterländischen Frauenvereins und des Vorsitzenden des Vereins
gegen den Missbrauch geistiger Getränke während der Abräumungs-
monate in einem Glaspavillon eine Kaffeeküche errichtet, in der Kaffee
und andere Erfrischungen von Helferinnen des vaterländischen
Frauenvereins an die Arbeiter ausgegeben wurden. Die Einrichtung
bewährte sich so gut, dass. obwohl das Niederreissen der Gebäude
gefährlicher war als der Aufbau und einen Monat länger dauerte,
unvergleichlich weniger Unfälle, nur 11 und darunter nur ein
schwerer, sich ereigneten, seitdem die alkoholfreien Getränke den
Schnaps, der das Denkvermögen lähmt und gegen Gefahr blind
macht, verdrängt hatten.
Aus dieser Einrichtung entstand unter den Arbeitern der Bremer
Mässigkeitsverein. Die Arbeiter baten dann um eine gleiche
Kaffeeküche bei der im folgenden Sommer stattfindenden Land-
wirtschaftlichen Ausstellung, und ihrer Bitte wurde selbstverständlich
nachgekommen.
Diesen temporären Kaffeeküchen folgte die Gründung dauernder
Volks - Kaffee- und Speisehäuser in allen Teilen Bremens, jetzt
sechs an der Zahl. Die freundlichen Lokale bieten bei guten,
billigen Speisen, alkoholfreien Getränken, guter Lektüre, Schreib-
materialien und Unterhaltungsspielen der arbeitenden Bevölkerung
einen angenehmen Aufenthalt. Die Thätigkeit der Frauen, deren
grosser praktischer Wert für das Volkswohl auf der Hand liegt,
hat so sehr das Vertrauen der Regierung gewonnen, dass die
„Deputation für Häfen und Eisenbahnen" in Bremen den Wirt-
schaftsbetrieb in der für die Hafenarbeiter jetzt zu erbauenden
grossen Wartehalle dem Bremer Mässigkeitsverein übertragen hat.
Der aufklärenden und propagandistischen Thätigkeit für die
Mässigkeitssache wurde durch Einrichtung von Volksunterhaltungs-
abenden eine besondere Gelegenheit geschaffen. Es finden in
jedem Winter ca. 6 solche Abende statt, die sehr gut besucht sind.
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DL
Die Mässigkeitssache innerhalb der deutschen
Frauenbewegung.
Es war nur natürlich, dass die deutsche Frauenbewegung,
deren Vertreterinnen in sozialer Arbeit und Wohlfahrtspflege nur
zu oft den Alkohol als die Ursache der Unterdrückung der Frau
erkannt hatten, die Anti-Alkoholbestrebungen zu ihrem Arbeits-
programm rechnen musste. So wirkten schon verschiedene ihrer
Vertreterinnen im eignen Kreise im Sinne der Mässigkeitsbewegung,
wie Mathilde Lammers in Bremen, Frau Professor Weber in
Tübingen, die schon 1886 in einer Sammlung populärer Aufsätze:
„Soziale Pflichten der Familie" und durch andre Schriften auf
die Gefahren der Trunksucht und der Unmässigkeit hinwies. Auch
Frau Professor Edinger in Frankfurt u. a. arbeiten praktisch und
propagandistisch in der Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsbewegung.
Auf besonderen Wunsch von Frau Professor Weber wurde
im Oktober 1893 auf der Generalversammlung des Allgemeinen
deutschen Frauenvereins in Nürnberg unter dem Präsidium von
Frl. Auguste Schmidt die Massigkeitssache zum ersten Mal auf
einem Frauentage durch ein Referat von Frl. Ottilie Hoffmann
zur Sprache gebracht. Seitdem hat sie als eine wichtige An-
gelegenheit der Frauenwelt auf den grossen Frauenversammlungen
mehr oder weniger ihren Platz behauptet, obwohl es noch sehr
an Rednerinnen fehlt, die sie in der Öffentlichkeit vertreten.
Auch der Bund deutscher Frauen vereine, dem der Bremer
Mässigkeitsverein gleich zu Anfang beitrat, nahm bei seiner
Gründung 1894 die Mässigkeitssache, vor allem auf Veranlassung
von Frau Bieber- Böhm, in sein Arbeitsprogramm auf und
vertrat sie durch eine 1896 eingesetzte Mässigkeitskommission, an
deren Spitze Ottilie Hoffmann steht.
Die erste Kundgebung des Bundes deutscher Frauenvereine
für die Mässigkeitssache war ein 1895 von Ottilie Hoffmann in
3000 Exemplaren ausgesandtes Anschreiben an Schulvorsteher,
Knabenhorte, Jünglings vereine, die um Aufktärung und Belehrung
der Jugend über die Alkoholfrage ersucht wurden. Viele zu-
stimmende Antworten trafen danach ein. 1899 erliess die Mässig-
keitskommission des Bundes eine Petition an die Kultusministerien
der 26 deutschen Staaten betreffs Aufklärung über die Alkohol-
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— 200
frage im Schul- und Seminarunterricht. Die Petition hat leider
keinen äusseren Erfolg zu verzeichnen; in den Antworten war bei
Anerkennung der Wichtigkeit der Sache die Ansicht ausgesprochen,
dass das Erforderliche bereits geschehe, während die Kom-
mission sich davon überzeugt hat, dass die deutschen Schulen in
dieser einen Beziehung hinter den Unterrichtsanstalten andrer
nordeuropäischcr Länder zurückstehen. Deshalb werden weitere
Versuche in dieser Hinsicht gemacht werden.
Auf den internationalen Anti- Alkoholkongressen in Brüssel
1897, in Paris 1899, auf dem World's Temperance Congress in
London 1899, vertrat Ottilie Hoffmann den Bund deutscher
Frauenvereine, sie nahm auch als „Vorsitzende für Deutschland" an
der Generalversammlung der World's Woman's Christian Tempe-
rance Union (des grössten Frauenvereins der Erde) in Edinburg teil.
Mehr und mehr beginnen auch andre Frauenvereine, sich mit
der Mässigkeitsfrage zu beschäftigen. Auf der Generalversammlung
des Vaterländischen Frauenvereins in Berlin 1897 stellte Ottilie
Hoffmann durch den Zweigverein Bremen den Antrag, der Vater-
ländische Frauenverein wolle die Förderung der Mässigkeitsbe-
strebungen als einen Haupthebel der Volkswohlfahrt, als ein
mächtiges Mittel gegen Armut und Verbrechen, zur Wahrung der
teuersten Güter unserer Nation in sein Arbeitsgebiet aufnehmen.
Die Antwort war, dass es bei aller Anerkennung der Wichtigkeit
der Sache jedem Zweigverein überlassen bleiben müsse, wie er
sich dazu stellen wolle.
Eine wichtige Stelle in seinem Arbeitsgebiet hat der „Landes-
verein preussischer Volksschullehrerinnen" der Mässigkeitssache
dadurch gegeben, dass er sie in ihrer Bedeutung für die Schule
als Verbandsthema von seinen Zweigvercinen bearbeiten Hess.
Die jüngste Frauengründung auf diesem Gebiet ist der
„Deutsche abstinente Frauenbund", der unter dem Vorsitz von
Ottilie Hoffmann 1900 in Bremen ins Leben gerufen wurde und
bis jetzt einige 70 Mitglieder aus allen Teilen Deutschlands um-
fasst. Zweigvereine sind in mehreren Städten in der Bildung
begriffen. Es ist anzunehmen, dass die deutsche Frauenwelt in
organisierter Thätigkeit dieser schwerwiegenden Kulturfrage gegen-
über mit Verständnis und Gewissenhaftigkeit die ihr gebührende
verantwortliche Stellung als Hüterinnen der Sitte und des Familien-
glücks mehr und mehr einnehmen wird.
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Der /\nteil der deutschen Frauen an der
internationalen Friedensbewegung.
Von Marie Stritt.
Es liegt in der Natur und in den gemeinsamen Zielen der
Friedens- und der Frauenbewegung — die Welt auf das Prinzip
der Gerechtigkeit und Liebe statt auf das bisherige, einer über-
wundenen Kulturepoche entsprechende der Gewalt zu stellen — ,
begründet, dass die in der Frauenbewegung wirkenden Frauen
aller Länder auch an den Friedensbestrebungen und der Verbreitung
der Friedensidee mehr oder weniger thätigen Anteil genommen
haben. Der stärkste und nachhaltigste Impuls, den diese Bewegung
seit Elihu Burritt erhalten hat, der in alle Kultursprachen Obersetzte,
über die ganze Erde verbreitete Roman „Die Waffen nieder" von
Bertha von Suttner, ist von einer deutschen Frau ausgegangen.
Auf die Wirkung dieses Aufsehen erregenden Buches und auf Bertha
von Suttners sonstige litterarische und unermüdliche propagandistische
Thätigkeit ist die grosse Errungenschaft der interparlamentarischen
Friedenskonferenzen (im Anschluss an die jährlichen internationalen
Friedenskongresse), sowie die Einrichtung des ständigen Friedens-
büreaus in Bern zum grossen Teil zurückzuführen. Trotzdem haben
die deutschen Frauen sich doch lange nicht so energisch wie die
Frauen andrer Länder und anfangs nur vereinzelt der Bewegung
angeschlossen. Vielleicht liegt das daran, dass seit dein
Kriege 1870 — 71 im deutschen Volksempfinden — also auch dem
Empfinden der Frauen — alle Vorstellungen von nationaler Grösse
und Wohlfahrt an den Militarismus geknüpft sind, und dass man
demzufolge den Gedanken des Internationalismus, auf dem alle
Friedensbestrebungen basieren, selbst in aufgeklärten Kreisen als
Utopie betrachtet, trotzdem ihn Dampf und Elektrizität schon längst
verwirklicht und damit zugleich die Solidarität der Völker erwiesen
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— 202 —
haben. Nachdem aber die Friedensbestrebungen durch die 1893
erfolgte Gründung der Deutschen Fricdcnsgcsellschaft (Sitz
Berlin) mit zahlreichen Ortsgruppen festeren Fuss gefasst und wohl
auch durch die Fortschritte der Frauenbewegung dieser selbst
weitere Gesichtspunkte erschlossen waren, traten auch die Frauen
in die Bewegung ein, deren praktische wie ideelle Erfolge in erster
Linie ihrem eigenen Geschlecht, seiner Hebung und Befreiung zu
gute kommen mussten.
Auf dem Frauentag des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins
in Nürnberg im Oktober 1893 sprach Frl. Marie Mcllien-Berlin
über die Mitarbeit der Frauen an dieser hohen Kulturaufgabe und
forderte unter lebhafter Zustimmung zum Beitritt zu der Gesellschaft
auf, der sie seit der Gründung — wie bald darauf auch Frau Lina
Morgenstern — als Vorstandsmitglied angehörte. Die beiden
Genannten in erster Linie, ferner Frau Do ra Holzel- Ahl swede-
Hamburg, Frau Marie Stritt-Dresden u. a. m. suchten dann im
Lauf der folgenden Jahre das Interesse und Verständnis für den
Gedanken eines allgemeinen Weltfriedens und für die Notwendigkeit
internationaler Schiedsgerichte bei den Frauen und in den Frauen-
vereinen durch Wort und Schrift noch weiter zu wecken und zu
fördern. Frau Lina Morgenstern war es auch, die mit den aus-
landischen, vor allem den französischen Friedensvereinen der
Frauen Verbindungen anbahnte und aufrecht erhielt, die durch
gelegentliche gegenseitige Sympathiekundgebungen immer mehr
befestigt wurden. Auf dem Berliner internationalen Frauen-
kongress 1896 wurde der Frage schon eine erhöhte Aufmerksamkeit
geschenkt, und in Erkenntnis und voller Würdigung ihrer
eminenten Bedeutung für die Frauenbewegung klang der letzte
Tag in verschiedenen Ansprachen und in den Grüssen der
französischen Friedensfreundinnen aus, die Frau Morgenstern und
Frl. Dr. Schirm acher dem Kongrcss überbrachten.
Zwei Jahre später nahm auch die organisierte deutsche Frauen-
bewegung, d. h. der Bund deutscher Frauenvercine, der damals
aus 106 Einzelvereinen bestand, offiziell zu der Friedensfrage
Stellung, und zwar auf der Generalversammlung in Hamburg im
Herbst 1898. Die Veranlassung dazu gab ein Antrag von Frau
Lina Morgenstern: der Bund deutscher Frauenvereine wolle die
internationalen Friedensbestrebungen in sein Arbeitsgebiet auf-
nehmen — ferner ein an das im August 1898 erlassene Friedens-
manifest des Zaren und an dessen hohe symptomatische Bedeutung
anknüpfender Antrag von Frau Marg. Selenka-München: auf
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Annahme einer Resolution, welche die begeisterte Zustimmung
der Frauen und ihren festen Willen, das Werk des Friedens aus
allen Kräften (vor allem in ihrer Eigenschaft als Mütter und
Erzieherinnen des heranwachsenden Geschlechtes) zu fördern, zum
Ausdruck brachte. Beide Anträge — der erstcre insoweit etwas
modifiziert, als es nicht „Arbeitsgebiet", sondern nur „Programm"
heissen sollte — wurden einstimmig angenommen und damit die
prinzipielle Anerkennung und volle Sympathie mit den Zwecken
und Zielen der Friedensbestrebungen selbst von denjenigen Vereinen
erklärt, die weder an eine baldige Verwirklichung derselben
glauben, noch ihr unter den heutigen Verhältnissen zuzustimmen
geneigt wären.
Der Bund deutscher Frauenvereine hat mit diesen Beschlüssen
übrigens nur die notwendige Konsequenz aus seinem Verhältnis
zum International Council of Women, dem er seit 1897 an-
geschlossen ist, gezogen und sich mit demselben in Einklang
gesetzt, denn die erste Aufgabe, die in Angriff zu nehmen der
Welt-Frauenbund als seine Pflicht erachtete, war die Verbreitung
und Förderung der Friedensidee und der internationalen Friedens-
bestrebungen in allen Ländern. Wenn auch nicht unter seiner
Ägide, so doch völlig im Sinne des International Council war daher
auch die von Deutschland ausgehende, von Frau Marg. Selenka
angeregte und mit seltener Hingabe, Thatkraft und Energie ins
Werk gesetzte internationale Frauendemonstration, wie sie in
dieser Art und in diesem Umfang bis heute einzig dasteht — die
anlässlich der Eröffnung der Friedenskonferenz im Haag vom 15. bis
18. Mai 1899 stattfand. Frau Selenka hatte sich mit führenden
Frauen in allen Ländern der Erde durch ein an dieselben ver-
sandtes Cirkular in Verbindung gesetzt, und mit deren bereitwilliger
Unterstützung gleichzeitige Kundgebungen von mehreren Millionen
Frauen veranlasst In 19 Ländern Europas, Amerikas, Asiens
wurden zusammen 565 zahlreich — viele von Tausenden — be-
suchte Frauenversammlungen abgehalten, von denen Resolutionen
und Telegramme an die Friedenskonferenz abgesandt und
Sympathieadressen untereinander ausgetauscht wurden. Hervor-
ragend beteiligten sich besonders die englischen und amerikanischen
Frauen an der Manifestation. In England allein fanden 265, in
den Vereinigten Staaten 163 Versammlungen statt; ausserdem
wurde in über 1500 Kirchen der Union von den Geistlichen auf
die bedeutsame Aktion der Frauen hingewiesen und die
amerikanische Resolution von den Kanzeln verlesen. In drei
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— 204 —
Ländern, in Russland, Spanien und Japan, gewannen die Kund-
gebungen insoweit noch eine besondere Bedeutung, als sie zum ersten
Mal öffentliche Frauenversammlungen veranlassten und so einen
wichtigen Merkstein in der Entwicklung der Frauenbewegung, in
Japan sogar gewissennassen den Ausgangspunkt zu einer ernsten
sozialen Bewegung der Frauen bildeten.
Trotzdem von Deutschland die Idee ausgegangen, war die
Beteiligung hier doch eine verhältnismässig geringe, wohl haupt-
sächlich aus den oben angeführten Gründen. Versammlungen
fanden nur in Berlin, München, Hamburg, Dresden, Stuttgart und
Bromberg statt; aber auch diese wenigen Kundgebungen haben
einen starken Strom der Begeisterung entfesselt und ein lebhaftes
Solidaritätsempfinden geweckt. Und dieser Eindruck hat auch während
der traurigen Reaktion nach der Haager Konferenz innerlich noch
fortgewirkt, wenn auch die Bewegung im Augenblick nach aussen
keine weiteren Kreise gezogen hat, ja für Uneingeweihte sogar
scheinbar ins Stocken geraten ist
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Die Arbeiterin nenbeWe£>un£.
Von Alice Salomon.
Litteratur.
Der sehr reichhaltigen Litteratur über die deutsche Arbeiter-
bewegung, namentlich der Fülle von Büchern, die Teilgebiete derselben
behandeln, steht eine auffallend geringe Zahl von Schriften über die
Arbeiterinnenbewegung gegenüber. Eine zusammenhängende Dar-
stellung aller Bestrebungen der Arbeiterinnenbewegung in Deutschland
weist die volkswirtschaftliche Litteratur nicht auf. Einzelne Gebiete
sind in übersichtlicher Weise bearbeitet im Illustrierten Konver-
sationslexikon der Frau (Berlin 1900) in dem Artikel „Arbeiterinnen-
bewegung" von Helene Simon, der die gewerkschaftliche Bewegung
behandelt, und in dem Artikel „Die Frau in der Sozialdemokratie" von
Lili Braun; ferner in der Broschüre: „Die Arbeiterinnen im Klassen-
kampf" von Emma Ihrer (Hamburg 1898), die sich in der Hauptsache
mit der Geschichte der sozialdemokratischen gewerkschaftlichen und
politischen Arbeiterinnenbewegung beschäftigt. Ausser in diesen
Schriften über die Arbeiterinnenbewegung im besonderen wird sie in
den meisten Werken über die Arbeiterbewegung, wenn auch weniger
eingehend und zusammenhängend, behandelt.
Glänzende Darstellungen der Voraussetzungen der Arbeiter- und
Arbeiterinnenbewegung finden sich bei Herkner: die Arbeiterfrage
(Berlin 1897), bei Friedrich Albert Lange: Die Arbeiterfrage
(Winterthur 1879); ferner werden sie erörtert in den Artikeln:
Arbeiterfrage, Frauenarbeit in Conrad, Handwörterbuch der Staats-
wissenschaften und Elster, Wörterbuch der Volkswirtschaft Auch
sind einige englische Schriften hier zu nennen, da die englische
Entwicklung der Arbeiterfrage und Arbeiterbewegung nicht ohne
Einfluss auf die deutschen Verhältnisse geblieben ist und da die
theoretischen Auseinandersetzungen über die Arbeiterfrage, die in
diesen Werken gegeben sind, im allgemeinen auch für Deutsch-
land in Betracht kommen. Solche Arbeiten sind: R. W. Cooke-
Taylor: The Factory-System (London 1894); Gibbins: The industrial
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- 206 -
history of England (London 1890). In den Darstellungen der Gewerkschafts-
bewegung wird die Frage der Frauenorganisationen überall in mehr oder
weniger eingehender Weise behandelt. Die wichtigsten in Betracht
kommenden Schriften auf diesem Gebiete sind: Kulemann: Die |
Gewerkschaftsbewegung (Jena 1900) — das umfangreiche Werk giebt
eine Darstellung der gesamten gewerkschaftlichen Organisationen der
Arbeiter aller Parteien und Länder und auch der Arbeitgeber — ferner
für die sozialistischen Gewerkschaften: Schmöle: Die sozial-
demokratischen Gewerkschaften in Deutschland (Jena 1896 und 1898);
Legien: Die deutsche Gewerkschaftsbewegung (Berlin 1901), sowie die
bereits erwähnte Broschüre von Emma Ihrer: Die Arbeiterinnen im
Klassenkampf, und eine ältere: Die Organisationen der Arbeiterinnen
Deutschlands (Berlin 1893). Über die Hirsch-Dunckerschen Gewerk-
vereine orientiert Max Hirsch: Die Arbeiterfrage und die deutschen
Gewerkvereine (Leipzig 1893). Fast ganz fehlt noch eine zusammen-
fassende Darstellung der christlichen Arbeiterbewegung. Ausser einigen
Artikeln und Notizen in Zeitungen und Zeitschriften kommt nur in
Betracht: Göhre, die evangelisch-soziale Bewegung (Leipzig 1896) und
Heft 1 und 2 der Arbeiter-Bibliothek: Christliche Gewerk vereine, ihre
Aufgabe und Thätigkeit (M.-GIadbach 1900). Auch für die Gewerkschafts-
bewegung sind die Artikel in den beiden angeführten volkswirtschaftlichen
Wörterbüchern über Arbeitervereine, Gewerkvereine, Sozialdemokratie
zu nennen. Zur Orientierung über englisches Gewerkvereinswcsen I
sind unübertroffen: Sidney und Beat rice Web b, The History of Trade-
Unionisme (London 1894), deutsch: Geschichte des britischen
Trade-Unionismus, übersetzt von R. Bernstein, Stuttgart 1895, und
Industrial Democracy (London 1897), deutsch: Theorie und Praxis
der englischen Gewerkvereine, übersetzt von C. Hugo (Stuttgart 1898).
Eine Fülle wertvollen Materials ist in den Zeitungen und Zeit-
schriften für die Arbeiter- und Arbeiterinnenfrage verstreut. Als reich-
haltigste Quellen sind zu nennen: Die Gleichheit, Zeitschrift für die
Interessen der Arbeiterinnen (Stuttgart), herausgegeben von Clara
Zetkin, erscheint im IX, Jahrgang; Korrespondenzblatt der General-
kommission der Gewerkschaften Deutschlands (Hamburg), erscheint im
11. Jahrgang; Der Gewerkverein, Organ der Hirsch-Dunckerschen
Gewerkvereine (Berlin), 33. Jahrgang; Der Arbeiter, Zeitschrift für die
katholische Arbeiterbewegung (München); die Westdeutsche Arbeiter-
zeitung, Organ der katholischen Arbeitervereine der Erzdiözese Köln,
erscheint im 2. Jahrgang (M.-Gladbach). Ausserdem: Soziale Praxis,
Centraiblatt für Sozialpolitik, herausgegeben von Prof. E. Franc ke
(Leipzig). X. Jahrgang. Auch enthalten die Protokolle der Verbands-
tage der Gewerkschaften und Gewerkvereine sowie die Protokolle der
sozialdemokratischen Parteitage zahlreiche Nachrichten über die
Arbeiterinnenbewegung. Für die rechtliche Stellung der Arbeiterinnen
in Bezug auf Koalition sind ausser den Bestimmungen der Reichs-
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— 207
Gewerbe-Ordnung das Bürgerliche Gesetzbuch, die Verfassung des
Deutschen Reichs vom 16. April 1871, sowie die Verfassungs-Urkunden
der einzelnen Bundesstaaten, ferner C. Legien: Das Koalitionsrecht
der deutschen Arbeiter in Theorie und Praxis, (Hamburg 1899). auch
die Artikel über Koalition und Vereinsrecht im Conrad und Elster
als Orientierungsmaterial zu benutzen.
L
Einführung.
1. Die gemeinsamen Voraussetzungen der modernen Arbeiterfrage
und Arbeiterinnenfrage. 2. Die Arbeiterinnenfrage im besonderen.
3. Die Voraussetzungen der Arbeiterinnenbewegung.
Unter Arbeiterinnenbewegung versteht man das gemeinsame
Vorgehen der Arbeiterinnen zur Verbesserung ihrer Lebens-
bedingungen in wirtschaftlicher, rechtlicher und sozialer Beziehung.
Die grundlegende Bedingung für solche Bestrebungen der Selbst-
hilfe unter den Arbeiterinnen ist zunächst das Bestehen einer
gesonderten Klasse von Arbeitern und Arbeiterinnen, der Gegensatz
von Kapital und Arbeit. Die Arbeiterinnenbewegung im modernen
Sinne hat deshalb [die grossindustrielle Entwicklung zur Voraus-
setzung, die sich seit dem 18. Jahrhundert, der Zeit des Verfalls
des Zunftwesens, vollzog und erst eine solche Arbeiterklasse
schuf. Nachdem die Zunftzeit für die Entwicklung der gewerb-
lichen Frauenarbeit keineswegs förderlich gewesen, nimmt diese
Ende des 16. Jahrhunderts und in wachsendem Masse im 17. und
18. Jahrhundert mit dem Entstehen der Hausindustrie (Verlags-
system) einen bedeutenden Aufschwung. Diese Betriebsform,
welche die Arbeit aus den Werkstätten in die Behausung des
Arbeiters verlegte, war der Ausdehnung der Frauenarbeit günstig,
weil sie sich besonders für die Gewerbe einbürgerte, die vorzugs-
weise für die weibliche Arbeitskraft geeignet schienen, für die
Textil- und Bekleidungsindustrie; ferner auch, weil sie im Gegensatz
zu der handwerksmässigen Herstellung der Waren in der Zunft-
zeit eine Teilung der Arbeitsverrichtungen herbeiführte. ') Wenn-
gleich die Hausindustrie auch bald, in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts, von dem Fabriksystem und der eigentlichen
') Vgl. Pieratorff: Frauenarbeit und Frauenfrage. Jena 190a S. aa.
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— 208 —
Grossindustrie verdrängt wurde, so sind in ihr doch die Anfänge
jener Entwicklung zu finden, die eine neue, sozialpolitisch wichtige
Klasse von Arbeitern und Arbeiterinnen geschaffen hat, die eine
Arbeiterfrage und eine Arbeiterinnenfrage entstehen Hess. Um
die Ursachen und Bedingungen der Arbeiterinnenfrage schildern
zu können, muss zunächst in einigen kurzen Sätzen auf die Ent-
stehung der Arbeiterfrage eingegangen werden.
Die Erfindung der Spinnmaschine 1764, des Kraftstuhls und
der Dampfmaschine führten den Übergang vom Vcrlagssystem
zum Fabrikbetrieb herbei. An die Steile der bisherigen Kleinmeister
traten besitzlose Industrieproletarier, deren Frauen und Kinder mit
unter das Joch der industriellen Arbeit gebeugt wurden und die
sich in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zum Unternehmer
befanden. Die Stelle der Verleger, die zumeist in freundschaftlichen
Beziehungen zu den Kleinmeistern gestanden hatten, wurde nun von
reichen Fabrikbesitzern eingenommen, und zwischen diesen und
den besitzlosen Arbeitern entstand die tiefe soziale Kluft, die zu
den Klassenkämpfen des 19. Jahrhunderts führte.
Während in der Zunftzeit jeder Arbeiter die Möglichkeit hatte,
Meister — folglich auch selbständig — zu werden, verringerte
sich diese Möglichkeit beim Fabriksystem für die Arbeiter ganz
ausserordentlich, da der Betrieb einer Fabrik den Besitz eines
beträchtlichen Kapitals beim Unternehmer zur Voraussetzung hat.
Dadurch entstand in bis dahin ungeahntem Masse der Gegensatz
zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Arbeitgeber und Arbeit-
nehmer; es bildete sich eine besondere besitzlose Arbeiterklasse,
deren Interessen sich von denen aller andern Gesellschaftsklassen
unterschieden und im striktesten Gegensatz zu den Interessen der
besitzenden Unternehmer standen. Zwar hatte die Gewerbefreiheit
das Herrschafts- und Dienstverhältnis zwischen Unternehmer und
Arbeiter aufgelöst und ein freies Vertragsverhältnis an dessen
Stelle gesetzt. Als freie Kontrahenten sollten Arbeiter und
Arbeiterinnen einen freien Vertrag mit dem Unternehmer ab-
schliessen. Aber die wirtschaftliche Überlegenheit des Kapital
besitzenden Arbeitgebers den besitzlosen Angehörigen des vierten
Standes gegenüber zwang diese, sich den Bedingungen des Arbeit-
gebers zu unterwerfen, und das bedeutete für alle Arbeiter-
kategorien, auch für Frauen und Kinder, nur allzuhäufig eine
übermässige Arbeitszeit in ungesunden Arbeitsräumen und einen
Lohn, der zur Bestreitung der notwendigsten Lebensbedürfnisse
nicht einmal hinreichte.
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Als durch die freie Konkurrenz der Arbeitslohn der erwachsenen
männlichen Arbeiter so herabgedrückt worden war, dass er oft
den Unterhalt der Familie nicht mehr decken konnte, griffen in
immer wachsender Zahl Frauen und schliesslich auch Kinder zur
Fabrikarbeit, und die vermehrte Anwendung der Maschinen, deren
Bedienung nur leichte und einfache Handgriffe erforderte, förderte
die Ausbreitung der Frauenarbeit mehr und mehr. Wie schnell
diese Entwicklung sich vollzog, geht daraus hervor, dass 1788,
also 20 Jahre nach der Errichtung der ersten Baumwollspinnerei in
England ( 1 768), noch vor Anwendung der Dampf kraft 14a Fabriken
in England und Schottland bestanden, in denen 26000 Männer,
35 000 Kinder und 31 000 Frauen mit Spinnen beschäftigt wurden.
In der dazu gehörigen Weberei und Druckerei arbeiteten ferner
133000 Männer, 48000 Kinder und 59000 Frauen. Die Missstände,
die durch die Anhäufung grosser Menschenmassen in den Fabriken
herbeigeführt wurden, die auch durch vermehrte Anwendung von
Maschinen hervorgerufenen Gefahren in Beziehung auf Unfälle und
gesundheitliche Schädigung entwickelten sich naturgemäss am
frühesten und grellsten in England, dem Mutterland der Maschine
und der Fabrik. Die Zustände in den Fabriken galten für so
entsetzlich, dass Eltern sich scheuten, ihre Kinder dorthin zu geben.
Der wachsenden Nachfrage nach den billigen und flinken, geschickten
Kinderhänden kamen aber die Armenverwaltungen entgegen; sie
verhandelten die ihrer Obhut und Pflege überlassenen Kinder den
Fabrikanten, die diese sogenannten „Lehrlinge" in grauenhafter
Weise ausbeuteten l ). Die tägliche Arbeitszeit der Kinder erreichte
in einzelnen Gegenden 16 Stunden; ihre Verpflegung war die
denkbar schlechteste. Häufig wurden die Aufseher nach den
Arbeitsleistungen der Kinder bezahlt und trieben diese daher so
sehr bei der Arbeit an, dass die Kinder oft vor Erschöpfung in
den Fabriken zusammenbrachen. Die Verhältnisse der erwachsenen
männlichen und weiblichen Arbeiter waren nicht viel besser; die
allgemein übliche Arbeitszeit betrug mindestens 12 Stunden, die
notwendigsten hygienischen Anforderungen in Bezug auf die Arbeits-
räumc blieben unberücksichtigt, und die Bevölkerung der Fabrik-
distrikte bot das Bild körperlicher und geistiger Entartung. Diese
Zustände mussten schliesslich die Aufmerksamkeit nicht beteiligter
Kreise erregen. Namentlich die Ausbeutung der kindlichen und
') Vgl. Gibbins: The industrial history of England. London, 1890. R. W. Cooke-
Taylor: The Factory System. London 1894. Herkner: Die Arbeiterfrage. Berlin 1894.
Lange: Die Arbeiterfrage. Winterthur 1879.
Handbuch der Frauenbewegung. IL Teil. 14
— 2IO —
der weiblichen Arbeitskraft trug dazu bei, als ein wissenschaft-
liches Problem die Frage aufzuwerfen, wie die Lage der Arbeiter
zu verbessern und in Einklang mit den Kulturerrungenschaften der
Zeit zu bringen sei. Die schwere soziale Erkrankung des ganzen
Landes, die durch diese schreienden Übelstände hervorgerufen
war, führte zuerst Politiker, Nationalökonomen und Dichter dazu,
Forderungen zum Schutze der Fabrikarbeiter aufzustellen, eine
„Arbeiter- und eine Arbeiterinnenfrage 4 ' zu konstatieren. So schrieb
John Stuart Mill in den vierziger Jahren:
„Wenn die grosse Masse des Menschengeschlechtes immer so
bleiben sollte, wie sie gegenwärtig ist, in der Sklaverei mühseliger
Arbeit, an der sie kein Interesse hat, sich von frühmorgens bis spät
in die Nacht abquälend, um sich nur den notwendigsten Lebens-
unterhalt zu verschaffen, mit all den intellektuellen und moralischen
Mängeln, die ein solcher Zustand mit sich bringt — ohne eigene innere
Hilfsquellen, — ohne Bildung, denn die Leute können nicht besser
gebildet als ernährt werden, — selbstsüchtig, denn ihr Unterhalt nimmt
alle ihre Gedanken in Anspruch, — ohne Interesse und Selbstgefühl
als Staatsbürger und Mitglieder der Gesellschaft; dagegen mit dem in
ihren Gemütern gärenden Gefühl des ihnen vermeintlich wider-
fahrenen Unrechts hinsichtlich dessen, was andere besitzen, sie aber
entbehren; — wenn ein solcher Zustand bestimmt wäre ewig zu dauern,
so wüsste ich nicht, wie jemand, der seiner Vernunft mächtig ist, dazu
kommen sollte, sich weiter um die Bestimmung des Menschen-
geschlechtes zu bekümmern."«)
Solche Äusserungen und die Initiative und Unterstützung
bürgerlicher Philanthropen führten die Masse der englischen
Arbeiter zu den ersten Anfängen eines Zusammenschlusses zur
Vertretung gemeinsamer Interessen, zu einer Bewegung für die
Verbesserung ihrer Lebensbedingungen in wirtschaftlicher und
rechtlicher Beziehung. Die moderne Arbeiterbewegung, die
Emanzipation des vierten Standes setzt zuerst in England ein und
nimmt von dort den Weg in die andern Industriestaaten, wo sie
sich allerdings je nach der wirtschaftlichen, sozialen und politischen
Entwicklung des Landes verschiedenartig gestaltet. In einzelnen
Ländern sind auf lange Emanzipationskämpfe von umstürzlerischen
Kampfvereinen besonnen vorgehende, rein wirtschaftliche Berufs-
organisationen gefolgt, und ein mannigfaltiges, genossenschaftlich
fürsorgendes Vereinswesen hat sich herausgebildet; in andern
Ländern steht die Arbeiterbewegung im Dienst oder unter der
■)JohnStu«rtMill: Grundsätze der politischen Ökonomie, deutsch vonSoetbeer
Hamburg 185a. S. »77.
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— 211 —
Leitung politischer Parteien; namentlich die sozialistische Partei
ist in verschiedenen Ländern der hauptsächliche Träger der
Arbeiterbewegung geworden. Je nach dem Entwicklungsgang der
modernen Grossindustrie ist das Arbeitervereinswesen mehr oder
weniger gut ausgebildet
Später als in England hat sich in Deutschland die Arbeiter-
frage und aus dieser die Arbeiterbewegung entwickelt; erst um
die Mitte des 19. Jahrhunderts tritt hier der Kampf zwischen
Handwerk und Verlagssystem einerseits und Fabriksystem und
Grossbetrieb andrerseits ein, und erst in den sechziger Jahren
erreicht der grossindustrielle Maschinenbetrieb hier seine Bedeutung.
Trotz der späteren Entwicklung und der Möglichkeit, die englischen
Erfahrungen zu benutzen, erwachsen auch der deutschen Arbeiter-
klasse Notstände und Ausbeutungsmöglichkeiten, die hinter den
englischen kaum zurückbleiben. Sie bewiesen auch hier die Not-
wendigkeit eines Schutzes der Arbeiter und Arbeiterinnen.
2.
Die Arbeiterinnenfragre im besonderen.
Zu den allgemeinen und gemeinsamen Voraussetzungen der
Arbeiter- und Arbeiterinnenfrage, zu den Missständen, die das
Zeitalter der Gewerbefreiheit und der Maschinen für alle Arbeiter,
ohne Unterschied des Alters und Geschlechts, herbeigeführt hatte,
gesellen sich aber in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts
durch die Ausbreitung der industriellen Frauenarbeit noch besondere
Notstände und Gefahren, die gesonderte Probleme entstehen lassen,
gesonderte Schutzbestrebungen erheischen.
Infolge des wirtschaftlichen Aufschwungs, der nach den
sechziger und siebziger Kriegsjahren eintrat, nahm die Frauen- und
Kinderarbeit in den Fabriken beständig zu, mit ihr wuchsen die
daraus entstehenden gesundheitlichen, sittlichen und wirtschaftlichen
Schäden für das gesamte Volksleben. Durch übermässige Arbeit,
zum Teil in gesundheitsschädlichen Gewerben oder bei ungesunden
Arbeitsbedingungen (schlechte Räume, Nachtarbeit, Arbeit von
Jugendlichen), durch Arbeit von Schwangeren und Wöchnerinnen
wurde nicht nur die Gesundheit der Frauen, sondern auch die
ihrer Kinder gefährdet. Die Frauen waren vielfach gar nicht im
stände, gesunde Kinder zur Welt zu bringen, so sehr war ihre
Gesundheit durch in zu jugendlichem Alter ihnen auferlegte un;l
14*
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— 212 —
täglich zu lang andauernde Arbeit geschwächt. Die Verpflegung
der Kinder liess alles zu wünschen übrig, und unvergessen bleibt
in der Geschichte der industriellen Entwicklung, dass zu den Zeiten
der englischen Baumwollkrise, als die Fabriken sich schlössen und
die Arbeiterfamilien der Hungersnot preisgegeben waren, „die
Sterblichkeit der Fabrikkinder abnahm, weil es ihren Müttern jetzt
endlich freistand, ihnen statt der Opiummixtur die Brust zu
reichen." ') Die physische Schädigung der Frauen und ihrer Kinder
zog aber sittliche Missstände nach sich. Die arbeitenden Frauen,
deren Körper geschwächt war, deren Leben arm an Freuden und
Genüssen war, aber reich an Entbehrungen und an Versuchungen
durch gewaltthätige Arbeitgeber und Vorgesetzte, die in ihrer
Jugend keine liebevolle Fürsorge und Erziehung, keinen hohen
moralischen Wertmesser kennen gelernt hatten, fielen der Prostitution
scharenweise zum Opfer. Dazu kam noch, dass die Frau auf
Grund ihrer geringeren Bedürfnisse die Löhne der Männer
unterbot; ihre geringere Arbeitskraft, namentlich ihre schwächere
Konstitution, — die zwar nicht immer eine geringere Arbeits-
leistung bedingte — war der Vorwand für Gewährung einer
. geringeren Bezahlung und sicherte ihr vielfach den Vorrang vor
dem Mann. Dadurch wurden die Arbeitslöhne im allgemeinen
erheblich herabgedrückt; der ganzen Arbeiterklasse erwuchs durch
die Industriearbeiterin eine schwere Gefahr, die durch besondere
Massregeln bekämpft werden musste.
Es entstand neben der Arbeiterfrage eine besondere Ar-
beiterinnenfrage, die sich zwar mit der Arbeiterfrage deckt, so weit
sie Lohnfrage ist und sich mit der allgemeinen Verbesserung der
Lebenslage beschäftigt, die aber daneben das Problem der
besonderen Schädigung des weiblichen Organismus und der
Gefährdung des ganzen Arbeiterstandes durch die Arbeiterin als
Lohndrückerin umfasst. Infolge des raschen Anwachsens der Zahl
der Fabrikarbeiterinnen, wohl auch der vermehrten gesundheit-
lichen Gefahren bei der Anhäufung so grosser Arbeitermassen in
den Fabriken wurde die Lage der Fabrikarbeiterin der Ausgangs-
punkt verschiedenartiger Schutzbestrebungen, die teils vom Staat,
teils von den Arbeiterinnen selbst ins Werk gesetzt wurden. Nur
ganz allmählich wurde auch die Notlage andrer Arbeiterinnen-
kategorien Gegenstand des Interesses und der Hilfsaktion; erst das
letzte Jahrzehnt brachte Kenntnis von den fürchterlichen Missständen
•) Vgl Friedrich Albert Lange: Die Arbeiterfrage. Winterthur 1879, S. 176.
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— 213 —
in der Hausindustrie an eine breite Öffentlichkeit'); abgesehen von
vereinzelten, ziemlich belanglos verlaufenden Versuchen haben erst
die letzten zwei Jahre die Dienstbotenfrage, d. h. die Lage der in
häuslichen Diensten stehenden Arbeiterinnen und Arbeiter zu einer
wissenschaftlich diskutierten Frage gemacht»); über die Verhältnisse
der weiblichen Landarbeiter in Deutschland liegen noch kaum
nennenswerte Untersuchungen vor. So entwickelt sich die
Arbeiterinnenfrage nur langsam von einer Frage der Fabrik-
arbeiterinnen zu einer alle Lohnarbeiterinnen umfassenden Frage.
(Die weiblichen Handelsangestellten, deren Lage bereits seit einigen
Jahren Gegenstand des Interesses weiterer Kreise geworden ist,
die die Aufmerksamkeit der gesetzgebenden Körperschaften erregt
und zu verschiedenen Versuchen der Staats- und der Selbsthilfe
geführt hat, kommen bei diesen Ausführungen nicht in Betracht,
da sie dem Lohnarbeiterstande im volkswirtschaftlichen Sinne nicht
zugerechnet werden.») Die bisherigen Hilfs- und Schutzaktionen
beziehen sich noch fast ausschliesslich auf Arbeiterinnen in Fabriken
und Werkstätten, wie nachstehend geschildert werden soll.
3.
Die Voraussetzungen der Arbeiterinnenbewegung.
Die Versuche der Arbeiterinnen, durch Selbsthilfe, durch
Organisation, ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen zu ver-
bessern, die [Arbeiterinnenbewegung steht keineswegs im
Gegensatz zu den staatlichen Bestrebungen, die Arbeiterinnen durch
Gesetze vor Ausbeutung und Überanstrengung zu schützen,
sondern vielmehr in einem Verhältnis der Wechselwirkung, der
gegenseitigen Ergänzung. Während der gesetzliche Schutz, die
Staatshilfe, einerseits der Arbeiterin erst ein gewisses Mass von
Freiheit schaffen muss, um sie organisationsfähig zu machen, richtet
sich das Bestreben der Organisationen nicht nur auf eine Beein-
') Vgl Stieda: Die Hausindustrie. Schriften des Vereins für Sozialpolitik. Bd. 39,
Feig: Hausgewerbe und Fabrikbetrieb in der Berliner Wascheindustrie, Gertrud Dyhren-
furth: Die industriellen Arbeiterinnen in der Berliner Blusen-, Unterrock-, Schurren- und
Trikotkonfektion. Leipzig 1897. Timm: Das Swcating-System in der deutschen Konfektions-
industrie. Flensburg 1895. Oda Olbcrg: Das Elend in der Hausindustrie der Konfektion.
Leipzig 1896.
*) Vgl. DieGlcichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, a, 9,, 10. Jahr-
gang. Soziale Praxis, 8.— 10. Jahrgang. Die Frau, herausg. von Helene Lange.
Die neuen Bahnen, herausg. von Auguste Schmidt.
>) Vgl. Handbuch der Frauenbewegung Teil IV. Die deutsche Frau im Beruf.
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2I 4 —
flussung des Arbeitsvertrages zu Gunsten der Arbeiterinnen, sondern
auch auf die weitere Entwicklung des gesetzlichen Schutzes. In
der folgenden Darstellung der Arbeiterinnenbewegung wird daher
auch der gesetzliche Schutz der Arbeiterinnen, soweit die Bewegung
sich auf ihn bezieht, mit berührt werden.*)
Wenngleich sich nun in Deutschland in der Zeit der gross-
industriellen Entwicklung die weibliche Arbeiterklasse gleichzeitig
mit der männlichen und daher die Arbeiterinnen frage gleichzeitig
mit der Arbeiterfrage entwickelt, wenngleich der Staat sich früher
veranlasst sah, den Missständen weiblicher Fabrikarbeit entgegen-
zutreten als den Schäden der Männerarbeit, so bleibt die Selbst-
hilfe der Arbeiterin, die Arbeiterinnenbewegung, weit hinter der
Arbeiterbewegung zurück, weil ihnen das Gesetz die Koalitions-
freiheit, die Vorbedingung für jede geschlossene Vertretung ihrer
Standesinteressen, verwehrt.
Zwar führte die Gemeinsamkeit der Interessen der Arbeiter
und Arbeiterinnen schon bei der Begründung der modernen
Arbeiterbewegung als Klassenbewegung zu der Anerkennung des
Gedankens, dass die Konkurrenz der Frauenarbeit nur beseitigt
werden könne durch Organisation der Arbeiterinnen mit den
Arbeitern, Erweckung des Klassenbewusstseins in ihnen, Erhebung
der Frau zur gleichstehenden Genossin, und nach diesem Programm
hat die sozialdemokratische Partei versucht, die Frauen in die
Arbeiterbewegung mit hinein zu ziehen. Bei den Kämpfen, die
auf Unterdrückung der Sozialdemokratie abzielten, wurden aber
die Versuche einer Arbeiterinnenbewegung resp. einer Teilnahme
der Frauen an der Arbeiterbewegung immer aufs neue unterbunden,
da die Unterdrückung der Arbeiterinnenbewegung als Mittel an-
gesehen wurde, die sozialdemokratischen Bestrebungen ein-
zudämmen. Die Handhabe für diese Bekämpfung der Arbeiterinnen-
bewegung bot die Vereinsgesetzgebung, die den deutschen Frauen
volle Vereins- und Versammlungsfreiheit vorenthält.
Nur in schweren Kämpfen ist es der deutschen Arbeiterklasse
gelungen, sich wenigstens ein gesetzlich festgelegtes, wenn auch
stark durchlöchertes Vereinsrecht zu erringen. Aber die Frauen
sind auch von diesem noch zum Teil ausgeschlossen. Vor 1869
besassen die Arbeiter nirgends in Deutschland, von kurzen Aus-
nahmeepochen abgesehen, volle Koalitionsfreiheit. Erst die Ge-
werbeordnung setzte in dem Jahr fest, dass gewerbliche Gehilfen,
<) Vgl. die ausführliche Darstellung der Arbeiterinnenschutigcset« in Teü IV.
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- 2I 5 -
Gesellen und Fabrikarbeiter — nicht aber ländliche Tagelöhner
und Gesinde — sich behufs Erlangung günstigerer Arbeitsbedin-
gungen koalieren können. 1 ) Trotzdem bei der Gründung des
Deutschen Reichs die Verfassung die Zuständigkeit betreffs des
Vereinswesens l ) dem Reiche übertrug, ist ein einheitliches, reichs-
gesetzlich geregeltes Vereins- und Versammlungsrecht noch nicht
geschaffen worden. Ausser den bereits genannten, für das ganze
Reich giltigen Bestimmungen der Gewerbeordnung ist nur die
privatrechtliche Seite des Vereinsrechts durch das Bürgerliche
Gesetzbuch einheitlich geregelt; die öffentlich-rechtliche beruht aber
noch auf der Gesetzgebung der einzelnen Bundesstaaten. Nach
der preussischen Verfassung ist nun zwar allen Preussen das
Recht gewährleistet, „sich ohne vorgängige obrigkeitliche Erlaubnis
friedlich und ohne Waffen in geschlossenen Räumen zu ver-
sammeln" ») und „sich zu solchen Zwecken, welche den Strafgesetzen
nicht zuwider laufen, in Gesellschaften zu vereinigen." 4 ) Aber zur
Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit sind für die Aus-
übung des in diesen beiden Artikeln gewährleisteten Rechts gewisse
gesetzliche Beschränkungen gegeben. Politische Vereine können
Beschränkungen und vorübergehenden Verboten im Wege der
Gesetzgebung unterworfen werden. ») Diese Regelung ist in der
„Verordnung über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit
und Ordnung gefährdenden Missbrauchs des Versammlungs- und
Vereinigungsrechts 4 ' vom II. März 1850 gegeben. Die Verordnung
bestimmt, dass von allen Versammlungen, in denen öffentliche
Angelegenheiten beraten werden sollen, mindestens 24 Stunden vor
Beginn derselben der Ortspolizeibehörde unter Angabe des Ortes
und der Zeit vom Einberufer Mitteilung gemacht werden muss. •)
Ferner dürfen Vereine, welche die Erörterung politischer
Gegenstände bezwecken, keine Frauenspersonen, Schüler
und Lehrlinge als Mitglieder aufnehmen; sie dürfen nicht
mit andren Vereinen gleicher Art zu gemeinsamen Zwecken in
Verbindung treten und Frauenspersonen, Schüler und Lehrlinge
dürfen den Versammlungen und Sitzungen solcher politischen
Vereine nicht beiwohnen. 1 ) Wenn nun auch eine obrigkeitliche
I) VgL $ 15a der R. G. O.
*) Vgl. Art 4 $ 16 der Verfassung des Deutschen Reichs.
l ) und *) VgL Art. ao und 30 der Verfassungs-Urkunde für den preussischen Staat.
») A. a. O. Abs. a und 3 des Art. 30.
•) Verordnung Ober die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung
gefährdenden Missbrauchs des Versammlungs- und Vereinigungsrechtes. $ 1.
i) A. a. O. § 8.
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2l6 —
Erlaubnis zur Gründung von Vereinen nicht erforderlich ist, so
ist doch der Verwaltungspraxis der ausführenden Polizeiorgane
durch die Auslegung des Begriffs „öffentliche Angelegenheit,
politische Gegenstände, Verein" u. dergl. der weiteste Spielraum
eingeräumt, und die geringe Freiheit, die den Frauen durch dies
Gesetz gelassen wird, ist in der Praxis durch die Verwaltungs-
organe noch erheblich eingeschränkt worden. Ähnlich wie in
Preussen liegen die Verhaltnisse in vielen deutschen Bundesstaaten ;
nur Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen und einige kleinere
Bundesstaaten, sowie die Hansastädte kennen das Verbot für
Frauen nicht. Dagegen sind die Bestimmungen andrer Staaten, z. B.
Braunschweigs, noch reaktionärer als das preussische Vereinsgesetz,
und die verschiedenen, mehr oder weniger beschränkenden
Bestimmungen in den Einzelstaaten haben einen Zustand grösster
Verworrenheit für die Organisationsbestrebungen der Frauen
ergeben. Da eine vollständige Trennung der wirtschaftlichen und
politischen Interessen der Arbeiter kaum durchführbar ist, da die
Kämpfe zur Erlangung günstiger Arbeitsbedingungen in
engstem Zusammenhang stehen mit den andern Teilgebieten des
Klassenkampfes zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, unterliegen
alle Arbeitervereine (somit das mächtigste Mittel der Arbeiter-
bewegung) den Vorschriften über die Anzeigepflicht und die polizei-
liche Überwachung, und es ist zumeist dem Ermessen der Behörden
überlassen, darüber zu entscheiden, ob Arbeiterinnen einer Berufs-
organisation beitreten dürfen. Bedeutend mehr noch als die Vereins-
und Versammlungsfreiheit der männlichen Arbeiter ist die der Frauen
beschränkt; die Vereinsbildungen der Arbeiterinnen zu wirtschaft-
lichen Zwecken sind dadurch nicht nur erschwert, sondern stets
in ihrer Existenz bedroht; ein fester Zusammenschluss zu politischen
Vereinen ist ihnen unmöglich gemacht. Trotzdem ist es dem
unerschütterlichen Mut und der zähen Energie einiger Frauen
gelungen, all diesen Hindernissen zum Trotz Mittel und Wege zur
Teilnahme an der politischen Klassenbewegung des Arbeiterstandes,
an der sozialdemokratischen Bewegung, zu finden, ferner eine
eigene politische Arbeiterinnenbewegung zu schaffen und schliesslich
den Kampf zur wirtschaftlichen Verbesserung ihrer Lage durch
Teilnahme an der gewerkschaftlichen Bewegung aufzunehmen. ')
') Ein Aufgreifen der Genossenschaftsbewegung von Seiten der Arbeiterinnen oder
eine Anteilnahme der Arbeiterinnen an den Genossenschaftsbestrebungen ist in Deutschland
bisher nicht zu verzeichnen. Unter wirtschaftlichen Genossenschaften versteht man Vereine,
deren Mitglieder gemeinsame Geschäfte oder wirtschaftliche Unternehmungen zur Förderung
Digitized by Google
— 2i7 —
II.
Die Arbeiterinnenbewegung.
1.
Teilnahme der Arbeiterinnen an der sozialistischen Bewegung.
Das gemeinsame Klasseninteresse der Arbeiter und Arbeiterinnen
hat die sozialdemokratische Partei seit ihrem Bestehen dazu ver-
anlasst, für eine Anteilnahme der Frauen an der Arbeiterbewegung
zu wirken, die Frauen in die Klassenbewegung „als gleichstehende
Genossinnen" hereinzuziehen; auf dem Gothaer Kongress der
sozialistischen Arbeiterpartei (1875) wurde ausdrücklich beschlossen,
Frauen als Delegierte zum Parteitag zuzulassen, und zwar sollten
sie entweder als Vertreter von Wahlkreisen in allgemeinen Volks-
versammlungen, oder in besonderen Krauenversammlungen gewählt
werden können. Diese programmatische Heranziehung der Frauen
zu den Arbeiten der Partei bewährte sich in der Praxis ausser-
ordentlich; während der Zeit des Sozialistengesetzes 1878— 90 er-
wiesen sie sich als Hauptstützen der Partei, überall wirkten sie
nach Kräften für die Interessen der Arbeiterklasse. Seit Auf-
hebung des Sozialistengesetzes haben Frauen regelmässig an den
Parteikongressen teilgenommen und selbst die Interessen ihrer
Geschlechtsgenossinnen bei den Verhandlungen vertreten können. 1 )
Ein weiteres Feld der Thätigkeit eroberten die Frauen auf dem
Berliner Parteikongress 11892). Bis dahin enthielt die Organisation
ihres Erwerbs oder ihrer Wirtschaft begründen. In der Hauptsache sind zu unterscheiden
Konsumgenossenschaften — Vereinigungen von Konsumenten, die durch genossenschaftliche
Beschaffung und Verkauf von Ware ohne Zwischenhändler, manchmal auch durch Errichtung
eigener Produktionsbetriebe zur Beschaffung guter, preiswerter Artikel für ihren Bedarf einen
Gewinn für ihre Mitglieder erzielen und Produktivgenossenschaften - Vereinigungen von
Produzenten zu gemeinsamer Herstellung und Verkauf der Ware. Zwar ist verschiedentlich
eine Heranziehung der Frauen von den Genossenschaften befürwortet worden, doch ist bis-
her die Beteiligung der Frauen an den deutschen Konsumgenossenschaften noch gering und
mangelt ganz bei den ProduktivgenossenschaAen. An der Verwaltung der Genossenschafts-
betriebe haben Frauen nur in ganz vereinzelten Fällen teil genommen; genossenschaftliche
Frauenorganisationen fehlen noch vollständig. (Vgl. Teil i. Die Geschichte der englischen
Frauenbewegung. Weitere Litteratur : Jahresberichte Ober die auf Selbsthilfe gegründeten
Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaftcn vom Anwalt des allgemeinen Verbandes. Blatter
für Genossenschaftswesen. Potter-Webb: The cooperative movement in Great Britain 189t.
The cooperative News. Artikel .Genossenschaften" im Dlustricrten Konversations-
lexikon der Frau. Ed. Bernstein: Der englische Genossenschafts-Frauenbund im Wochen-
bericht der Grosseinkaufsgcscllschaft deutscher Konsumvereine. Hamburg. 7. Jahrgang.
Ko. 45 u. 46.
») Vgl. die Protokolle der sozialdemokratischen Parteitage. Berlin.
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2l8 —
der Partei die Bestimmung, dass in jedem Wahlkreis zur Wahr-
nehmung der Parteiinteressen in öffentlichen Versammlungen
sogenannte Vertrauensmänner zu wählen seien. Damit auch dieser
Posten Frauen zugänglich gemacht würde, wurde der Ausdruck
„Vertrauensmänner" durch „Vertrauenspersonen" ersetzt. 1 ) Wie
die Sozialdemokratie frühzeitig eingesehen hat, welch grosser Wert
auf die politische Mitarbeit der Frauen zu legen ist, wie sie den
mitarbeitenden Frauen einen breiten Raum bei den Verhandlungen
einräumte und wie man bemüht war, die Aufgaben der Partei gegen-
über den Frauen festzulegen, beweist der Gothaer Parteitag (1896).
Nach einem Vortrag von Clara Zetkin über die Entwicklung
der Frauenfrage wurde eine Resolution angenommen, deren erster
Teil die Verschiedenartigkeit der Interessen der bürgerlichen und
der proletarischen Kreise zum Ausdruck bringt; deren zweite Hälfte
aber für die Teilnahme der Frauen an der sozialistischen Bewegu"ng
in Betracht kommt, da sie sich mit den Aufgaben der proletarischen
Frauenbewegung beschäftigt. Es heisst darin:
„Im Proletariat ist es das Ausbeutungsbedürfnis des Kapitals, das
die Frau zur Erwerbsarbeit zwingt und die Familie zerstört. Durch
ihre Erwerbsarbeit wird die proletarische Frau dem Manne ihrer Klasse
wirtschaftlich gleich gestellt. Aber diese Gleichstellung bedeutet, dass
sie wie der Proletarier, nur härter als er, vom Kapitalisten ausgebeutet
wird. Der Emanzipationskampf der Proletarierinnen ist deshalb nicht
ein Kampf gegen die Männer der eigenen Klasse, sondern ein Kampf
im Verein mit den Männern ihrer Klasse gegen die Kapitalistenklasse.
Das nächste Ziel dieses Kampfes ist die Errichtung von Schranken
gegen die kapitalistische Ausbeutung. Sein Endziel ist die politische
Herrschaft des Proletariats zum Zwecke der Beseitigung der Klassen-
herrschaft und der Herbeiführung der sozialistischen Gesellschaft.
Als Kämpferin in diesem Klassenkampf bedarf die Proletarierin
ebenso der rechtlichen und politischen Gleichstellung mit dem Manne,
wie die Klein- und Mittelbürgerin und die Frau der bürgerlichen
Intelligenz. Als selbständige Arbeiterin bedarf sie ebenso der freien
Verfügung über ihr Einkommen (Lohn) und ihre Person wie die Frau
der grossen Bourgeoisie. Aber trotz aller Berührungspunkte in recht-
lichen und politischen Reformforderungen hat die Proletarierin in den
entscheidenden ökonomischen Interessen nichts Gemeinsames mit den
Frauen der andern Klassen. Die Emanzipation der proletarischen
Frau kann deshalb nicht das Werk sein der Frauen aller Klassen,
sondern ist allein das Werk des gesamten Proletariats ohne Unter-
schied des Geschlechts.
') Protokoll des Parteitages 189a. S. 146.
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— 219 —
Die Agitation unter den proletarischen Frauen muss daher in
erster Linie sozialistische Agitation sein. Ihre Hauptaufgabe ist, die
proletarischen Frauen zum Klassenbewusstsein zu wecken und für den
Klassenkampf zu gewinnen. Die Arbeiterin muss aus einer Schmutz-
konkurrentin des Mannes zu dessen Kampfgenossin, aus einer
hemmenden zu einer treibenden und thätigen Kraft im Klassenkampf
werden. Die proletarische Frauenagitation muss sich also streng im
Rahmen der allgemeinen Arbeiterbewegung halten und muss an alle
Fragen anknüpfen, die für die Arbeiterklasse jeweilig von besonderer
Wichtigkeit sind. Soweit bestimmte dringende Aufgaben nicht vor-
liegen, ist in die Agitation für Reformen einzutreten, die im Interesse
der Proletarierin als Arbeiterin und Frau liegen. Insbesondere ist zu
agitieren: i. Für Ausdehnung des gesetzlichen Arbeiterinnenschutzes,
namentlich für Einführung des gesetzlichen Achtstundentages zunächst
wenigstens für die weiblichen Arbeiter. 3. Für Anstellung weiblicher
Fabrikinspektoren. 3. Für aktives und passives Wahlrecht der
Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten zu den Gewerbegerichten.
4. Für gleichen Lohn für gleiche Leistung ohne Unterschied des
Geschlechts. 5. Für volle politische Gleichberechtigung der Frauen mit
den Männern, speziell für uneingeschränktes Vereins-, Versammlungs-
und Koalitionsrecht. 6. Für gleiche Bildung und freie Berufsthätigkeit
der beiden Geschlechter. 7. Für die privatrechtliche Gleichstellung
der Geschlechter. 8. Für die Beseitigung der Gesindeordnungen.
Hand in Hand mit der mündlichen muss die schriftliche Agitation
unter den proletarischen Frauen betrieben werden. Als vorzüglichstes
Mittel, Anregung und Aufklärung unter die Massen der noch in-
differenten Proletarierinnen zu tragen, empfiehlt sich die periodische
Verbreitung von Flugblättern, die bestimmte praktische Fragen behandeln.
Zur weiteren Belehrung und Schulung sind besonders Broschüren ge-
eignet, die die Proletarierin dem Sozialismus näher bringen und zwar
als Arbeiterin, als Frau und vor allem auch als Mutter. Die sozial-
demokratische Presse muss systematisch für die wirtschaftliche und
politische Aufklärung der proletarischen Frauen wirken."«)
Schon lange vor Annahme dieser Resolution hatten
Arbeiterinnen sich im Sinne dieses Programms an dem Kamp
der Männer ihrer Klasse gegen die Kapitalistenklasse beteiligt.
Sie haben bei Wahlbewegungen seit 1874 durch Verteilung von
Flugblättern und Wahlzetteln, als Agitatorinnen in Versammlungen
gewirkt und als Vertrauenspersonen sich in den Dienst der
Arbeiterklasse gestellt. *) Für die Interessen aller Parte iangehörigen
■) Protokoll des Parteitages 1896, S. 174—175.
*) Vgl. Emma Ihrer: Die Arbeiterinnen im Klassenkampf. Himburg 1898. LiliBraun-
Gizycki: Frauentage und Sozialdemokratie. Berlin 1896. Artikel „Die Frau in der Sozial-
demokratie" im Illustrierten Konversations-Lexikon der Frau. Berlin 1809.
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220
haben sie ihre Kraft eingesetzt; die gemeinsame Arbeit von Mann
und Frau auf allen Gebieten der Arbeiterbewegung — soweit sie
sich im Rahmen der sozialdemokratischen Partei vollzieht —
kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass seit 1895 eine Frau,
Clara Zetkin, dem Parteivorstand angehört.
2.
Polltische Arbeiterinnenbewegung.
Trotzdem das gemeinsame Vorgehen der Arbeiter und
Arbeiterinnen von der sozialdemokratischen Partei stets angestrebt
und auch durchgeführt worden ist, hat sich doch die Notwendigkeit
einer besonderen Bewegung unter den Frauen als notwendig er-
wiesen, die nicht nur fflr die allgemeinen Ziele aller Arbeiter
eintrat, sondern den besonderen Bedürfnissen der Arbeiterinnen
nach rechtlicher Gleichstellung mit dem Mann, nach gesetzlichem
Schutz u. dergl. Rechnung tragen sollte. Diese Bewegung der
Arbeiterinnen, die auf eine Änderung der Gesetzgebung zu ihren
Gunsten hinzielt, auf Reformen, die im Interesse der Arbeiterin
und der Frau liegen, kann wohl als politische Arbeiterinnen-
bewegung bezeichnet werden.
Zwar heben die sozialdemokratischen Frauen immer wieder
hervor, dass sie ihren Befreiungskampf in den Reihen der Arbeiter-
klasse ausfechten müssen und dass sieeiner gesonderten proletarischen
Frauenbewegung nicht bedürfen. Immerhin verschliessen sie sich
aber nicht der Thatsachc, dass die Verhältnisse sie zunächst
zwingen, für den Programmpunkt der Partei: „Abschaffung aller
Gesetze, welche die Frau in öffentlicher und privatrechtlichcr
Beziehung gegenüber dem Manne benachteiligen," neben den
allgemeinen Parteibestrebungen noch im besonderen zu wirken,
und dass sie dazu — wenn auch im Rahmen der Partei —
gesonderter Frauenorganisationen oder einer gesonderten Agitation
unter den Frauen bedürfen.
Arbeiterinnenvereine zur Vertretung wirtschaftlicher Interessen,
auf deren Entwicklung und Geschichte später noch ausführlich
eingegangen werden soll, verfielen unter dem Sozialistengesetz
unterschiedslos der Auflösung; selbst öffentliche Frauenver-
sammlungen wurden auf Grund des Gesetzes verboten. Da aber
die Teilnahme an der allgemeinen Arbeiterbewegung, zu der die
Frauen durch solche Massregeln unwillkürlich gedrängt wurden.
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keinen Mittelpunkt für eine Agitation unter dem weiblichen
Proletariat schaffen konnte, machte man im Jahre 1889 den Versuch,
diese Schwierigkeiten durch Einsetzung einer aus 7 Frauen be-
stehenden Agitationskommission in Berlin zu umgehen. 1 ) Diese
lose Form der Organisation, die eine Centralstelle für Agitation
und Korrespondenz unter den Frauen schaffen sollte, war zunächst
bestimmt, eine regere Teilnahme der Frauen an der sozialistischen
Bewegung und Stellungnahme derselben zu den politischen Tages-
fragen herbeizuführen, und zwar durch Einberufung von Ver-
sammlungen wie auch durch anderweitige Agitation.
In der ersten Zeit konnten jedoch keine Versammlungen ab-
gehalten werden, da entweder bei der polizeilichen Anmeldung
die Erlaubnis dazu verweigert wurde, oder die Versammlungen
bald nach der Eröffnung aufgelöst wurden. Diese Massregel
veranlasste die Frauen, den Minister v. Herrfurth durch zwei
Delegierte in einer Audienz darum zu ersuchen, dass er den
Arbeiterinnen die Möglichkeit schaffe, das ihnen gesetzlich zustehende
Koalitionsrecht auch ausüben zu können. Er wurde aufgefordert,
anzuordnen, dass die Versammlungen, welche zur Besprechung
der Verbesserung der Lage der Arbeiterinnen dienen sollen,
unbehindert tagen könnten.
Der Minister sagte seine Hilfe zu, und seitdem ist in Berlin
keine Versammlung, die von Frauen für Frauen ordnungsmässig
angemeldet war, wieder verboten worden.
Die Versammlungen, die darnach veranstaltet wurden, be-
schäftigten sich unter anderm mit der Lage der Handelsgehilfinnen,
der Kellnerinnen und mit der Forderung der Anstellung weiblicher
Fabrikinspektoren, die später auch in das Programm der bürger-
liehen Frauenbewegung aufgenommen und namentlich durch das
Wirken Jeannette Schwerins wesentlich gefördert wurde.
In verschiedenen Orten Deutschlands wurden, dem Beispiel
Berlins folgend, solche Frauen- Agitationskommissionen gegründet,
die überall eine rege Propagandathätigkeit entfalteten.
Auf allseitigen Wunsch wurde im Jahre 1891 auch eine
Arbeiterinnenzeitung von Frau Emma Ihrer gegründet, die den
Interessen und dem langsam erwachenden Verständnis der Frauen
für ihre gemeinsamen Angelegenheiten Rechnung tragen sollte.
Die Zeitung, die im 2. Jahre unter die Leitung von Clara Zetkin
überging und seitdem unter dem Namen „Die Gleichheit" erscheint.
') Vgl. Emma Ihrer, a. a. O. S. ai-aa.
— 222 —
ist ein gut orientiertes, unentbehrliches Organ für alle Arbeiterinnen-
interessen geworden.
Trotzdem die Organisation der Berliner Agitationskommission
die denkbar loseste war, trotzdem sie keine Vorsitzende besass
und keine Mitglieder aufnahm, also die Merkmale des Vereins in
keiner Weise trug, wurde sie im Jahre 1895 doch für einen
politischen Verein erklärt und infolgedessen aufgelöst')
Die Verfügung des Polizeipräsidiums, die den Frauen zuging
und die charakteristisch für die den Arbeiterinnen gegenüber
geübte Verwaltungspraxis ist, lautet:
„Es wird Ihnen hiermit eröffnet, dass die Berliner Frauen-Agitations-
Kommission auf Grund des § 8 des Vereinsgesetzes vom 11. Marz 1850
vorlaufig geschlossen ist, weil dieselbe, nach ihrer bisherigen Thätigkeit.
insbesondere wegen der noch in letzter Zeit in Versammlungen
betriebenen Agitation für das Wahlrecht der Frauen, als politischer
Verein im Sinne des genannten Gesetzes erscheint, politische Vereine
aber Frauen nicht als Mitglieder aufnehmen dürfen. Jede fernere
Beteiligung an diesem Vereine oder eine Neubildung, welche sachlich
als Fortsetzung des geschlossenen Vereins erscheint, ist nach § 16 des
Vereinsgesetzes strafbar."
Mit der Zustellung dieser Verfügung wurde bei den Frauen
eine eingehende Haussuchung verbunden, die den Zweck hatte,
Beweismaterial über ein eventuell stattgefundenes Inverbindung-
treten der Kommission mit dem gleichzeitig aufgelösten (später
noch zu erwähnenden) Frauen-Bildungsverein aufzutreiben. Solches
Material wurde aber nicht gefunden. Das Gericht verurteilte die
Frauen Fahrenwald zu 20 Mark Geldstrafe resp. 2 Tagen
Gefängnis, Ihrer 30 Mark Geldstrafe resp. 3 Tagen Gefängnis,
Jung, Frohmann, Klotsch und Baader zu je 15 Mark Geld-
strafe oder 2 Tagen Haft und erkannte auf Schliessung des
Vereins „Frauen-Agitations-Kommission". In der Begründung des
Urteils heisst es:
„Die Angeklagten geben sämtlich zu, der Frauen - Agitations-
Kommission angehört zu haben, bestreiten aber, dass diese ein
politischer Verein oder überhaupt ein Verein gewesen sei, da die
Kommission eine einheitliche Thätigkeit nicht entwickelte, auch keine
Leitung, keinen Vorstand besitze, sie betrachte sich lediglich als eine
Mehrheit von Personen, die in Volksversammlungen gewählt werden
und von denen jede selbständig als Vertrauensperson agitieren könne.
Es haben aber vom 15. Januar bis Februar 1895 sechs öffentliche
Versammlungen stattgehabt, vier derselben sind von der Angeklagten
i) Vgl Emma Ihrer, a. a. O. S. 33 a&
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Fahre nwald bei der Polizei angezeigt, von ihr gingen auch die Ein-
ladungen und Veröffentlichungen in den Zeitungen aus. In den beiden
ersten Versammlungen wurde die Dienstbotenfrage speziell mit Bezug
auf die weiblichen Dienstboten erörtert und die Abschaffung der
Gesindeordnung gefordert; fast alle Angeklagten beteiligten sich an
den Versammlungen; in den nächsten vier wurde die Forderung des
Frauen- Wahlrechts besprochen und man schloss sogar mit einem Hoch
auf die Frauenbewegung, und hierbei waren wiederum die Angeklagten,
teils als Rednerinnen, teils als Leiterinnen beteiligt und ist eine dem
Thema entsprechende Resolution von ihnen vertreten worden.
Betreffs der Angeklagten Ihrer ist durch beschlagnahmte Korre-
spondenzen noch eine andre Thätigkeit entdeckt worden, darin bestehend,
dass dieselbe die Arbeiterinnen-Organisationen nach Kräften zu fördern
bestrebt war. unter Angabe der Mittel und Wege, wie dies zu erreichen sei.
Die Würdigung dieser Thatsachen geht dahin: Als Verein im Sinne
des preussischen Gesetzes ist anzusehen: jede dauernde Vereinigung
mehrerer Personen zur Verfolgung bestimmter gemeinschaftlichcrZwecke
unter einer Leitung.
Der Berliner Frauen-Agitations-Kommission ist der Charakter eines
solchen Vereins zuzusprechen.
Es genügt also, hervorzuheben, dass die Angeklagten durch Beschluss
der Volksversammlungen eine Aufforderung zur Verbindung erhielten,
welche letztere dadurch, dass die Aufgeforderten Folge leisteten, ins
Leben getreten ist. Von diesem Augenblicke begann nach dem Willen
der Beteiligten ihre Wirksamkeit. Und obgleich man die Bestellung von
Vorstehern, Ordnern oder Leitern absichtlich vermied, blieb die Agitations-
Kommission thatsächlich nicht ohne Organisation. Die obwaltenden Ver-
hältnisse sind hier allein entscheidend. Die Kommission war keine
unverbundene Personenmehrheit, sondern die Thatsache ihrer Kon-
stituierung in Verbindung mit dem Umstände, dass die Angeklagten als
eine Art Vorstand oder Leiter in Form sogenannter Vertrauenspersonen
gewählt werden, wie durch ihre Veröffentlichungen in der Presse, die
schriftlichen Versammlungsanmeldungen bei der Polizei, die Korre-
spondenz Ihrer und durch die Versammlungen, als eine mehr oder
weniger organisierte dauernde Vereinigung zur Verfolgung besonderer
Zwecke hervorgetreten sind, giebt dem Ganzen das Gepräge eines
Vereins im Sinne des preussischen Vereinsgesetzes und den Ver-
sammlungen den Charakter von Vereinsversammlungen.
Dieser Verein hatte die bewusste Absicht, die Mitwirkung oder
Inanspruchnahme des Staats und seiner Organe für die Abschaffung
der Gesindeordnung und Erlangung des Frauen- Wahlrechts als Vereins-
angelegenheit in Vereinsversammlungen zu erörtern.
Diese Gegenstände berühren den Staat unmittelbar, seine Gesetz-
gebung oder Verwaltung, gehören der Politik an, sind somit politische,
gemäss § 8 des Vereinsgesetzes.
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Als Leiterinnen sind die Angeklagten Fahrenwald und Ihrer anzu-
sehen, deshalb ist bei ihnen straffälliges Vorgehen angenommen, die
übrigen kommen als Mitglieder in Betracht und machten sich einer
Übertretung des Vereinsgesetzes schuldig. Ausserdem wird die definitive
Schliessung des Vereins ausgesprochen und hat das Gericht bei der
Schwere des Falls, die, da es sich nur um einen politischen Verein
handelt, der lediglich aus Frauenspersonen besteht, oben aufliegt und
keiner weiteren Begründung bedarf, ohne weiteres Gebrauch gemacht."
In der Broschüre „Die Arbeiterinnen im Klassenkampf", die
diese Vorgänge ausführlich schildert, knüpft Frau Ihrer an dieses
Urteil die Bemerkung, dass es demnach nicht schwer sein könne,
den Einberufer einer Versammlung und den Referenten zusammen
zu einem Verein zu stempeln, „auch sie sind für einige Stunden
mehr oder weniger organisiert zu gemeinsamem Thun!" «) Das
Rcichsgerichtserkenntnis schloss sich dem angeführten Urteil an.
Ähnliche Auflösungen, Prozesse und Verurteilungen fanden in jener
Zeit in allen Teilen Deutschlands statt. Die Kommissionen in
Düsseldorf, Frankfurt a. M. und Breslau wurden gleichfalls auf-
gelöst.
Trotz der Zerstörung dieser unsäglich mühsamen Organisations-
versuche der Arbeiterinnen war Mut und Energie dieser Frauen
doch nicht gebrochen. Man suchte nach neuen Möglichkeiten zur
Agitation für die gemeinsamen Zwecke der Arbeiterinnen und
fand sie.
Die Agitationskommissionen wurden im Jahre 1895 durch die
Wahl isolierter, weiblicher Vertrauenspersonen ersetzt (Central-
vertrauensperson der Arbeiterinnen Deutschlands für das Jahr 1901
ist Frl. Ottilie Baader, Berlin W., Grossgörschenstr. 38), die in
derselben Weise für politische und gewerkschaftliche Aufklärung
der Arbeiterinnen thätig sind; ferner setzten sie eine umfassende
Agitation gegen das Vereins- und Versammlungsrecht ins Werk. »)
In einer Reihe von Versammlungen gaben sie ihrer ablehnenden
Stellung zum Bürgerlichen Gesetzbuch Ausdruck, das sowohl den
Forderungen des weiblichen Geschlechts wie denen der Arbeiter-
klasse nicht entsprach. In jenen Versammlungen fand eine
Resolution allgemeine Annahme, deren erster Teil in klarer
Formulierung dem Protest der Arbeiterinnen gegen die rechtlose
Stellung Ausdruck giebt, die das Gesetz der Frau als Gattin und
') Emma Ihrer, a. a. O. S. a&
«) Vgl. Artikel .Die Frau in der Soiialdemokratie" im lilustr. Konversations-
lexiken der Frau. S. 483.
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Mutter anwies und dabei dieselben Gesichtspunkte betont, die
auch von der bürgerlichen Frauenbewegung bei ihrer Agitation
gegen das Bürgerliche Gesetzbuch geltend gemacht wurden. Im
zweiten Teil der Resolution wird der Standpunkt der arbeitenden
Klasse hervorgehoben:
„Wir stehen nicht auf dem Standpunkt einer einseitigen Frauen-
bewegung. Wir fühlen uns als arbeitende Frauen eins mit dem
Arbeiter. Was ihn trifft, trifft uns. Auf dem Gebiete des Arbeits-
vertrags ist uns ein einheitliches Recht nicht gegeben worden; die
Gesindeordnungen bestehen nach wie vor; die Stellung der ländlichen
Arbeiter ist die gleiche geblieben. Im Namen der Millionen, die durch
ihrer Hände Arbeit den Reichtum der Nation schaffen, protestieren
wir gegen ein Klassengesetz, das die Rechte des Arbeiters missachtet."
Eine ebenso energische Agitation wurde im Jahre 1897 gegen
den preussischen Vercinsgesctzentwurf entfaltet; die Resolution,
die in den darauf bezüglichen Versammlungen vorgelegt wurde,
giebt den besonderen weiblichen Interessen, die auch von der
Arbeiterin vertreten werden müssen, vollsten Ausdruck. Sie lautet:
„In Erwägung, dass die Proletarierin als Arbeiterin des freien
Vereins- und Versammlungsrechts bedarf, um durch die Macht der
Organisation bessere Arbeitsbedingungen zu erringen; dass die
Proletarierin als Frau des freien Vereins- und Versammlungsrechtes
bedarf, um ihre politische Gleichberechtigung zu erkämpfen; dass die
Proletarierin als Angehörige der ausgebeuteten und unterdrückten
Klasse das freie Vereins- und Versammlungsrecht bedarf, um auf
politischem Gebiete zusammen mit dem Mann ihrer Klasse für ihre
volle Befreiung zu streiten; in weiterer Erwägung: dass es ein
schreiendes Unrecht ist, der Frau mit dem unbeschränkten Vereins-
und Versammlungsrecht auf politischem Gebiet die Möglichkeit vor-
zuenthalten, ihre Interessen im öffentlichen Leben genügend wahren
zu können, während sie doch so gut wie der Mann unmittelbar und
mittelbar zur Aufbringung aller staatlichen und gesellschaftlichen Lasten
herangezogen wird; in endlicher Erwägung: dass die Frau als Mutter
die Möglichkeit besitzen muss, sich in politischen Vereinen und Ver-
sammlungen aufzuklären, damit sie ihre Kinder zu freien, pflichttreuen
Bürgern des Gemeinwesens und zu Kämpfern für die freiheitliche
Entwicklung zu erziehen vermag; fordern wir: Ein unbeschränktes,
gesetzlich gewährleistetes Vereins- und Versammlungsrecht für alle,
ohne Unterschied des Geschlechts, das Gesinde und die Land-
arbeiterschaft inbegriffen. Mit aller Energie protestieren wir gegen
die preussische Vercinsgesetznovelle als gegen ein schmähliches
Attentat auf die kümmerlichen politischen Freiheiten des Volkes.
Handbuch der Frauenbewegung. IL Teil. 15
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— 226
Diese Novelle trägt den berechtigten Interessen der Frauen keine
Rechnung, sondern behandelt sie als Unmündige. Sie zweckt darauf
ab, der Proletarierin wie ihrer Klasse den Kampf für bessere Arbeits-
bedingungen und Freiheit zu erschweren. Sie erhebt die Willkür
zum Gesetz und bedroht das allgemeine Wahlrecht."')
Zur Durchführung der Arbeiterinnenschutzgesetzgebung wurde
von den Berliner Vertrauenspersonen im Jahre 1898 ein in
50000 Exemplaren hergestelltes Flugblatt verteilt, das die Be-
stimmungen der Reichs - Gewerbe - Ordnung zum Schutz der
Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeiter in knapper, leicht ver-
ständlicher Fassung enthielt, und in dem sich die Vertrauens-
personen zur Entgegennahme von Beschwerden über Ungesetzlich-
keiten in Fabriken und Werkstätten bereit erklärten, die sie ohne
Namensnennung der Beschwerdeführenden den Gewerbeaufsichts-
beamten behufs baldiger Abstellung übermitteln wollten.
Derartige Beschwerdekommissionen sind seither in einer Reihe
andrer Städte gleichfalls errichtet worden, und werden zum Teil
von den Gewerbeinspektoren als wertvolles Bindeglied im Verkehr
mit den Arbeiterinnen angesehen.
Ein den Arbeiterinnenschutz allgemein behandelndes, leicht
verständliches Flugblatt wurde im Jahr 1900/1901 in 100000 Exem-
plaren an 53 Orten verbreitet.')
Einen breiten Raum nahm die Verhandlung über die Agitation
unter den Arbeiterinnen auf dem Parteitag in Hannover 1899 ein.
Die Frauen stellten als Forderungen, die in ihrem Interesse von
der Partei zu unterstützen seien, folgende auf: 3 )
1. Absolutes Verbot der Nachtarbeit.
2. Verbot der Verwendung von Frauen bei allen Beschäftigungs-
arten, welche dem weiblichen Organismus besonders schädlich sind.
3. Einführung des gesetzlichen Achtstundentages für die
Arbeiterinnen.
4. Freigabe des Sonnabendnachmittags für die Arbeiterinnen.
5. Ausdehnung der Schutzbestimmungen für Schwangere und
Wöchnerinnen auf mindestens 1 Monat vor und 2 Monate nach der
Entbindung. Beseitigung der Ausnahmebewilligungen von diesen Be-
stimmungen auf Grund eines ärztlichen Zeugnisses.
6. Ausdehnung der gesetzlichen Schutzbestimmungen auf die
Hausindustrie.
7. Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren.
') Vgl Gleichheit, 7. Jahrg., No. la.
*) Vgl. Gleichheit, xi. Jahrg., No. 5, S. 37.
») Vgl. Protokoll des Parteitage*.
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8. Sicherung völliger Koalitionsfreiheit für die Arbeiterinnen.
9. Aktives und passives Wahlrecht der Arbeiterinnen zu den
Gewerbegerichten.
Einen weiteren Fortschritt der proletarischen Frauenbewegung
brachte das Jahr 1900. In Erkenntnis der Aufgabe der Arbeiterinnen-
bewegung, nicht nur an den allgemeinen Arbeiten der Sozial-
demokratie mitzuarbeiten, sondern auch „ganz besonders mit
gesteigerter Energie für die Sonderinteressen der proletarischen
Frauenwelt einzutreten", machten die Berliner Genossinnen den
Vorschlag, vor dem Parteitag eine Zusammenkunft weiblicher
Delegierter aus allen Teilen des Reichs abzuhalten. 1 )
In der Begründung des Vorschlags heilstes: „Je nachdrücklicher »)
die proletarische Frauenwelt den Kampf führt für die volle Gleich-
berechtigung der Frau in Familie. Gesellschaft. Gemeinde und Staat,
je kraftvoller sie für den Schutz des Menschenrechts der Arbeiterinnen
gegen das ausbeutende Unternehmertum wirkt, um so grösser sind die
Scharen von Anhängerinnen, um so besser ausgerüstet die Kämpfe-
rinnen, welche sie dem Sozialismus gewinnt. Die wichtigste Vor-
bedingung für höhere Leistungen der proletarischen Frauenbewegung
in jeder Richtung ist eine planmässige, einheitliche Regelung der Arbeit
auf Grund einer engeren Fühlung, als wie sie gegenwärtig in unsern
Reihen vorhanden ist. Grössere Kreise der Genossinnen empfinden
deshalb das Bedürfnis nach einem eingehenden Meinungsaustausch, wie
er durch eine Zusammenkunft bezw. Besprechung ermöglicht wird. —
Die Berliner Genossinnen sind überzeugt, dass die Besprechung selbst
ebenso im Interesse der proletarischen Frauenbewegung wie der
allgemeinen sozialistischen Bewegung geboten ist. Was sie durch die
Zusammenkunft erstreben, ist keineswegs „die Gründung eines Staates
im Staate", ist keineswegs die Schaffung einer Sonderbewegung der
Frauen, die quertreiberisch zu einer verderblichen Zersplitterung der
proletarischen Kräfte führt. Sie wollen vielmehr unter Berücksichtigung
der existierenden Sonderverhältnisse die proletarische Frauenbewegung
in den Stand setzen, ihre vielseitigen Aufgaben zum Nutzen der all-
gemeinen Bewegung möglichst vollkommen zu lösen."
Die Sonderverhältnisse, denen die proletarische Frauen-
bewegung Rechnung zu tragen hat, werden damit charakterisiert,
dass die Proletarierinncn in ihren Eigenschaften als Frauen „in
staatsrechtlicher Beziehung eine Sonderstellung einnehmen, in der
Familie Sonderpflichten zu erfüllen haben und Sondercharakter-
züge aufweisen, welche sich durch die gesellschaftlichen Bedingungen
erklären, die seit Jahrhunderten die freie Entwicklung des weib-
«> VgL Gleichheit, 10. Jahrg., So. 8, S. 57.
*) Vgl Gleichheit, 10. Jahrg., No. 8, S. 57-58,
15*
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liehen Geschlechts hemmten und sie noch hemmen". Der Vor-
schlag der Berliner Genossinnen, ') in einer Frauenkonferenz über
praktische Mittel und Wege zur Lösung dieser Sonderaufgaben
zu beraten, fand allseitige Zustimmung, und so konnte die erste
Konferenz der sozialdemokratischen Frauen Deutschlands im Sep-
tember 1900 in Mainz tagen. 1 ) Sie war von 20 Delegierten
beschickt, die über folgende Fragen berieten:
Ausgestaltung des Systems der Vertrauenspersonen.
Mittel und Wege, um die Agitation unter dem weiblichen
Proletariat wirksam zu gestalten.
Die Agitation für den gesetzlichen Arbeiterinnenschutz.
Bildungsvereine für Frauen und Mädchen der Arbeiterklasse.
Die Resolutionen und Beschlüsse, welche zu diesen Gegen-
ständen von der Frauenkonferenz gefasst wurden, und die der
weiteren politischen Agitation der Arbeiterinnen Ziel und Rich-
tung weisen sollen, lauten:
1. Zur Agitation unter die Arbeiterinnen sind, wie es schon der
Parteitag in Gotha beschlossen, in bestimmten Zwischenräumen kurze,
populär gehaltene Flugblätter herauszugeben, welche in kurzer,
kräftiger Darstellung einzelne Seiten der Arbeiterinnen-Interessen und
der Frauenfrage behandeln (Lohnfrage, Arbeitszeit, Überstundenarbeit,
sanitäre Bedingungen, gesetzlicher Schutz, Gewerkschaftsorganisation,
Gewerbegerichte, Krankenversicherung u. s. w.). Diese Flugblätter
sollen die Form kleiner Broschüren erhalten, auf gutem Papier gedruckt
und geschmackvoll ausgestattet werden. Mit ihrer Herausgabe wird
eine Kommission betraut, die aus fünf Gliedern besteht und von den
Berliner Genossinnen gewählt wird.
a. Der Parteitag möge aussprechen, dass den Leitern der Arbeiter-
blätter aufgegeben wird, mehr wie bisher in den Ausführungen auf
die Interessen der Arbeiterinnen Rücksicht zu nehmen, wie es von
einigen Blättern bereits geschieht.
3. Als Mindestmass an gesetzlichem Schutz für die proletarische
Frau als Mutter ist zu fordern: Aufrcchtcrhaltung der bereits gesetz-
lich festgelegten Schutzzeit für erwerbstätige Schwangere und
Wöchnerinnen von 4 Wochen vor bis 6 Wochen nach der Geburt.
Beseitigung der Ausnahmebewilligungen zu früherer Wiederaufnahme
der Arbeit auf Grund eines ärztlichen Zeugnisses. Erhöhung des
Krankengeldes auf die volle Höhe des durchschnittlichen Tagelohns.
Obligatorische Ausdehnung der Krankenunterstützung der Wöchnerinnen
auf die Frauen der Mitglieder.
>) VgL Gleichheit a. a. O. S. 57.
*) Vgl. Gleichheit, 10. Jahrg., Nr. ao. S. 153-158 und Protokoll de« Parteitages .900,
S. 347 -*57-
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— 229 —
4 Die Konferenz spricht ihre Sympathie aus für die Gründung
von Frauenbildungsvereinen an solchen Orten, wo die Kräfte für die
Leitung vorhanden sind. Wenn solche Vereine durch Belehrung
erreichen, dass die Hausfrauen besser aufgeklärte Kindererzieherinnen
werden, wenn sie das Solidaritätsgefühl der Frauen wecken, so haben
sie ihre Aufgabe voll erfüllt.
5. Die ebenso notwendige als schwierige gewerkschaftliche
Organisation der Arbeiterinnen ist mit allem Nachdruck zu fördern.
In Verbindung mit der Generalkommission und den Gewerkschaften
haben die Genossinnen nach praktischen Mitteln und Wegen zu suchen,
um die weiblichen Mitglieder der Gewerkschaften zu reger Mitarbeit
innerhalb der Organisation, insbesondere aber zur Leistung der erforder-
lichen, so hochbedeutsamen Kleinarbeit heranzuziehen.
6. In Erwägung, dass in Anhalt, Bayern, Braunschweig, Lippe,
Preussen, Reuss älterer und jüngerer Linie nach den Bestimmungen
der Vereinsgesetze den Frauen die Teilnahme an den politischen
Vereinen untersagt ist und deshalb die Frauen in diesen Bundesstaaten
von der Teilnahme an der politischen Thätigkeit ausgeschlossen sind,
sofern sich diese, nach Aufhebung der bisherigen Parteiorganisation
auf Grund des Systems der Vertrauenspersonen, auf die politischen
Vereine allein erstreckt, bcschliesst der Parteitag: z. in den Bundes-
staaten, in welchen den Frauen die Teilnahme an den politischen
Vereinen verboten ist, die bisherige Organisation unter Vertrauens-
personen aufrecht zu erhalten; 2. die sozialdemokratische Reichstags-
fraktion zu beauftragen, energisch und fortgesetzt dahin zu wirken,
dass die, der gegenwärtigen Entwicklung des politischen und wirtschaft-
lichen Lebens nicht mehr entsprechenden, die Frauen rechtlos machenden
Bestimmungen dieser Vereinsgesetze durch Reichsgesetz aufgehoben
werden.
7. Die Vertrauenspersonen der Genossinnen sind überall, wo die
Vereinsgesetze dem nicht entgegenstehen, von den Organen der all-
gemeinen Bewegung zu allen Arbeiten und Sitzungen als gleich-
berechtigte Mitarbeiterinnen heranzuziehen.
8. Die Wahl der Delegierten zum Parteitag hat in öffentlichen
Versammlungen überall dort stattzufinden, wo die Vereinsgesetze dies
nicht hindern.
Die Zahl der Orte, in denen Vertrauenspersonen nach dem
Mainzer Parteitag gewählt wurden, beträgt 25; darunter sind zwei
Kreisvertrauenspersonen. Ferner hat seitdem eine lebhafte Agitation
für den gesetzlichen Arbeiterinnenschutz und für die Teilnahme
der Frauen an der Gewerkschaftsbewegung in zahlreichen Ver-
sammlungen stattgefunden.
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I
— 230 —
3.
Gewerkschaftliche Arbeiterinnenbewegung.
Schon in Vorstehendem ist verschiedentlich erwähnt worden,
dass die politische Arbeiterinnenbewegung keineswegs die wirtschaft-
liche, die gewerkschaftliche, ganz ausser acht lässt, dass aber
auch dieser bei den Auslegungsmöglichkeiten des Vereinsgesetzes
Schwierigkeiten, Gefahren, auch Auflösungsverbote nicht erspart
blieben. Da aber allgemein — nicht nur von seiten der Sozial-
demokratie, sondern auch in bürgerlichen Kreisen — der gewerk-
schaftlichen Organisation der Arbeiterinnen grösste Bedeutung zu-
erkannt wird, ist immer von neuem der Versuch gemacht worden,
durch Berufsorganisationen die wirtschaftliche Lage der Arbeite-
rinnen zu heben, und die schwachen Anfänge und Versuche, die
darauf abzielen, die Frauen gewerkschaftlich zu organisieren —
über deren Gründung und Bestehen in Deutschland zu berichten
ist — tragen zum Teil bürgerlichen oder kirchlichen Charakter.
Immerhin kann unmöglich verkannt werden, dass sowohl die
gewerkschaftliche Frauenorganisation, wie auch die allgemeine
gewerkschaftliche Bewegung in Deutschland in der Hauptsache ein
integrierender Bestandteil der sozialistischen Bewegung geworden
ist, „dass die sozialdemokratischen Gewerkschaften in der deutschen
Arbeiterbewegung die massgebende Rolle spielen". 1 ) Wenn die
Gewerkschaften auch in erster Linie wirtschaftliche Interessen-
gruppen sind, so bedürfen sie doch auch einer politischen Vertretung,
die den wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Arbeiterklasse
gerecht wird, und wenngleich die deutsche Sozialdemokratie in den
Berufsorganisationen der Arbeiter mit ihren organisierten Kämpfen
innerhalb der heutigen Gesellschaftsordnung nur kleinliche Mittel
erblickt,») so hat sie trotzdem die Gründung solcher Vereine in
die Hand genommen, um mit den nächsten Interessen der Arbeiter
zu rechnen. Namentlich als liberale Parteiführer (Max Hirsch) in
den sechziger Jahren unpolitische Gewerkvereinc — nach dem
Muster der englischen „trades-unions" — ins Leben riefen (die
allerdings in Deutschland keineswegs ganz unpolitischen Charakter
tragen, da sie von Vertretern liberaler Parteien gegründet wurden
und in diesen ihre politische Vertretung fanden), sah sich die Partei
») Vgl. Elster, Wörterbuch der Volkswirtschaft; Artikel: Gewerkvereine (Biermer)
S.
») Elster, a.a.O. S.gca.
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— 231 —
im eigenen Interesse genötigt, „eine Vernunftehe zwischen dem
extremen Sozialismus und der Berufsorganisation" einzugehen.
Unter Gewerkschaft, Gewerk verein versteht man nach der
Definition Biermer's „Vereine von Arbeitern ein und desselben
Gewerbes zur Wahrnehmung ihrer Interessen gegenüber den
Arbeitgebern". „Die Gewerkvereine sind also einerseits Fach-
vercine und andrerseits wirtschaftliche Interessenverbände, die
sich, im Wege der Koalition, einen grösseren Einfluss auf die
Gestaltung und Sicherung des Arbeitsvertrags verschaffen wollen." ')
Sie sind ein unentbehrliches Hilfsmittel der Arbeiter, um einen
Einfluss auf die Festsetzung des Arbeitslohns, der Arbeitszeit, auf
Innchaltung der gesetzlichen Arbeiterschutzbestimmungen zu er-
langen. Der isolierte Arbeiter vermag in dieser Beziehung nichts;
die Gesamtheit, die geschlossene Masse der Arbeiter eines Gewerbes
stellt eine Macht dar. Das gemeinsame Merkmal der Gewerk-
vereine aller Länder — zum Unterschied von zahllosen andern
Arbeitervereinen — ist, „dass sie als reine Fach- und Interessen-
verbände im Wege der Koalition Einfluss auf den Arbeitsvertrag
und den Arbeitsmarkt gewinnen wollen, hierfür ihre Mitglieder
schulen, sich für den akuten Streitfall finanziell rüsten und den
Lohnkampf organisieren, in dem ihre wichtigsten Waffen offensiv
der Streik, defensiv der geschlossene Widerstand gegen die Aus-
sperrungen sind."») Daneben pflegen viele noch eine Fürsorge-
thätigkeit für ihre Mitglieder auszuüben, Unterstützung in Krank-
heiten, in Fällen der Arbeitslosigkeit, Rechtsschutz u. dergl. zu
gewähren. In der deutschen Gewerkvereinsbewegung sind
namentlich zwei grosse Gruppen zu unterscheiden: Vereine, die
von Arbeitern aus dem von ihnen selbst empfundenen Bedürfnis
begründet werden und solche, die von Personen oder Parteien
ausgehen, die nicht der Arbeiterklasse angehören. Im grossen
und ganzen kann man die unter sozialdemokratischer Oberleitung
stehenden Gewerkschaften der ersten, die unter deutsch-
freisinniger Leitung stehenden Hirsch -Dunckerschen Gewerk-
vereine, sowie kirchliche Arbeiterorganisationen der zweiten
Gruppe zurechnen, obschon zahlreiche Spielarten in all diesen
Organisationen vorkommen.
Die Anfänge der modernen Gewerkschaftsbewegung, sowohl
die Gründung der ersten sozialdemokratischen Gewerkschaften wie
der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvercine fallen in die Mitte der
•) Elster ». «. O. S. 913.
») Vgl. Elster, a. a. O. S. 914-
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232 —
sechziger Jahre. ') Einen Aufschwung konnte die Bewegung erst
nehmen, nachdem 1869 den männlichen Arbeitern durch die
Gewerbe-Ordnung das Recht der Koalition prinzipiell zugestanden
war. Jedoch wurden die sehr beachtenswerten Erfolge der
Organisation der Gewerkschaften 1878 nach Erlass des Sozialisten-
gesetzes vollständig zerstört; all ihre Vereine wurden aufgelöst.
Während der Dauer des Sozialistengesetzes versuchte man es
dann mit unpolitischen Neugründungen, jedoch waren bei all
diesen Organisationsversuchen bis zum Jahre 1885 Frauen aus-
geschlossen. Zum Teil fürchteten die Leiter der Vereine, durch
Aufnahme von Frauen der ohnehin stets drohenden Gefahr der
Auflösung zu verfallen; ausserdem fürchtete man wohl auch bei der
rapiden Zunahme der industriellen Frauenarbeit ihre Konkurrenz,
und gab sich der Hoffnung hin, die Frauen noch vom Arbeits-
markt verdrängen zu können. Den Frauen blieb deshalb damals
nur die Möglichkeit offen, sich Sonderorganisationen zu schaffen;
jedoch hat man mit der Zeit allgemein anerkannt, dass Sonder-
organisationen der weiblichen Arbeiterschaft keineswegs ein er-
strebenswertes Ziel sind und nur da angebahnt werden sollten, wo
die Gesetze eine gemeinsame Organisation von Mann und Frau
unmöglich machen, oder wo die Rückständigkeit bestimmter
Arbeiterinnenkategorien einem Zusammenarbeiten im Weg steht.
Selbst für ausschliesslich Frauen beschäftigende Industriezweige
wird heut allgemein die Angliederung der Organisation an die
männlichen verwandten Berufsgruppen empfohlen. Die inneren
Schwierigkeiten, welche sich aber der Gewerkschaftsbewegung der
Frauen neben den äusseren (Mangel voller Vereins- und Ver-
sammlungsfreiheit und dergl.) in den Weg stellen, sind so
ungeheure, dass zahlreiche Versuche scheitern mussten, bis
man diese jetzt geltenden Grundsätze gewinnen konnte. Zu-
nächst ist die weibliche Arbeit noch zum grossen Teil, wenn
>) Vgl. Hcrkner: Die Arbeiterfrage. Berlin 1897. Sombart: Sozialismus und
soziale Bewegung im 19, Jahrhundert. Jena 1897. M. Hirsch: Die Entwicklung der
Arbeiterberufsvereine. 1896. SchmOle: Die sozialdemokratischen Gewerkschaften in
Deutschland. Jena 1896. Kulcmann: Die Gewerkschaftsbewegung. Jena 1900. Legien:
Die deutsche Gewerkschaftsbewegung. Berlin 1901. Conrad: Handworterbuch der
Staatswissenschaften und Elster: Worterbuch der Volkswirtschaft (Artikel Ober Arbeiter-
vereine, Gewerkvereine, Sozialdemokratie). Korrespondenz blau der Gcneral-
kommission der Gewerkschaften Deutschlands. 1.— IV, Jahrgang. Hamburg. Der Gewerk-
verein, Organ der Hirsch-Dunckerschcn Ge werk vereine. Berlin. 1.— 3a. Jahrgang. Soziale
Praxis, Berlin. Sidncy und Bcatrice Webb: Geschichte des britischen Tradc-
Unionismus, deutsch von Bernstein. Stuttgart 1895. Theorie und Praxis der englischen
Gcwcrk vereine Deutsch von C Hugo, Stuttgart 1898.
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233 -
auch nicht ausschliesslich, ungelernte; sie wird noch nicht in
gleichem Masse wie die männliche als Lebensberuf aufgefasst.
Täglich verschwinden Scharen von Frauen aus den Reihen
der Industriearbeiterinnen, teils weil ihre Verhältnisse sich geändert
haben, teils weil sie eine andre Beschäftigung ergreifen wollen,
teils auch, weil die Niedrigkeit der Löhne einzelner Arbeits-
zweige sie der Prostitution in die Arme getrieben hat. Und immer
von neuem ergänzen sich die Reihen, namentlich der Haus-
industriellen und Heimarbeiterinnen, so dass schon ein Versuch,
ihre Scharen zu übersehen, vergeblich erscheint, eine wirksame
Verbindung zu schaffen, kaum denkbar ist. „Käme sie aber zu
stände," sagt Herkner darüber, „wie sollten die Hungerlöhne dieser
Arbeiterinnen — dieser Opfer des Sweating - Systems — zur
Sammlung von Fonds ausreichen, um das Angebot arbeitsloser
Genossinnen fernzuhalten? Und selbst angenommen, die Mittel
würden dazu aufgebracht, so würde das Arbeitsangebot Aussen-
stehender schon deshalb nicht fern gehalten werden können, weil
man die Personen gar nicht kennt, welche hier als ,black-legs'
in Betracht kommen. Bekanntermassen werden ja viele Arbeitt, n
von Frauen aus vergleichsweise wohlhabenden Kreisen aus-
geführt .... Sodann ist ein grosser Prozentsatz von Frauen in
den Saisonindustrien thätig, welche die grösstc Unregelmässigkeit
der Beschäftigung aufweisen und dabei der Organisation fast
unüberwindliche Hindernisse in den Weg legen." ') Aber auch
die Fabrikarbeiterin ist schwer für die Organisation zu gewinnen.
Der Bericht der Generalkommission der Gewerkschaften Deutsch-
lands für 1898 sagt darüber sehr zutreffend:
„Es ist zu berücksichtigen, dass die jüngeren Arbeiterinnen in der
Hoffnung, durch den Eintritt in die Ehe aus der Fabrik ausscheiden
zu können, wenig Neigung zeigen, an den ernsten Bestrebungen der
Gewerkschaften teilzunehmen. Die verheirateten Arbeiterinnen be-
trachten den Arbeitslohn vielfach als einen Zuschuss zu dem Arbeits-
einkommen des Mannes und sind nur schwer dafür zu gewinnen, diesen
Zuschuss durch den Lohnkampf zu erhöhen; Voraussetzung für rege
und dauernde Anteilnahme an den Gewerkschaften aber ist die Er-
kenntnis dessen, dass eine Änderung der sozialen Stellung der Arbeiter-
klasse in der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu erwarten ist und dass
deshalb die Lebenshaltung nur auf dem Wege der Verbesserung der
Lohn- und Arbeitsbedingungen erreicht werden kann. Diese Erkenntnis
kommt wohl auch den Arbeiterinnen, wenn sie schliesslich im späteren
») Herkner, a. a. O., 1. Aull. S. aio.
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— 234 —
Lebensalter alleinstehend von dem Arbeitsverdienst ihr Dasein fristen
sollen. Dann aber ist ihre Widerstandskraft grösstenteils gebrochen,
und auch dann gelingt es nur selten, die Arbeiterinnen zur Anteilnahme
an den Organisationen zu bewegen."
Diesen aus langjähriger praktischer Erfahrung heraus diktierten
Sätzen lässt sich noch hinzufügen, dass selbst diejenigen Frauen,
die volles Verständnis dafür haben, wie eng ihr eigenes Wohl mit
dem Wohl der Gesamtheit zusammenhängt, die für die Gewerkschafts-
bewegung bereits prinzipiell gewonnen sind, durch ihre häuslichen
Verhältnisse oft verhindert werden, daran praktisch teilzunehmen.
Die doppelten Pflichten des Berufs einerseits, der Hausfrau undMutter
andrerseits sind für die Proletarierin so schwer zu vereinigen, dass sie
sich für den Besuch von Versammlungen nur unter grössten Opfern
die Zeit erkaufen kann. Viele schliessen ihre Kinder ein, nachdem
sie sorgfältig Streichhölzer, Scheere, Messer u. s.w. aus der Wohnung
entfernt haben, damit die Kinder kein Unheil anrichten können,
wenn sie während ihrer Abwesenheit etwa erwachen sollten!
Und doch bleibt auch für die Arbeiterin die Organisation das
beste Mittel, um ihre Lebenshaltung, ihre Arbeitsbedingungen zu
verbessern. Die ersten Versuche, die diese Erkenntnis zum Aus-
druck brachten, mussten infolge der geschilderten Schwierigkeiten
besondere Frauenorganisationon anbahnen. In der gewerkschaft-
lichen Bewegung der Arbeiterinnen sind daher zwei Epochen zu
unterscheiden: die Zeit der ausschliesslichen Frauenorganisationen
von 1869 — 1885 und die Teilnahme an der allgemeinen Gewerkschafts-
bewegung von 1885 an.
Schon im Jahre 1868 hatte das Berliner „Bürger -Komitee",
angeregt durch einen Prozess, der die rechtlose und hilflose Lage
der Industriearbeiterinnen in helles Licht setzte, sich bemüht, den
Arbeiterinnen die Wege zu gemeinsamer Organisation mit ihren
männlichen Arbeitsgenossen zu bahnen. ') Infolge einer Denunziation
der Inhaber der Firma Schulze u. Siebenmark in Berlin gegen eine
Arbeiterin wegen angeblicher Unterschlagung von Arbeitsmatcrial
stellte sich heraus, dass die Arbeiterinnen dieser Firma die zu
verarbeitende Wolle in feuchtem Zustande zugewogen erhielten und
bei der Ablieferung der Ware für den Gewichtsunterschied — der
durch das Eintrocknen hervorgerufen wird — schadenersatzpflichtig
gemacht wurden. Die Zahlungen, die den Arbeiterinnen dadurch
auferlegt wurden, betrugen zum Teil 20 Thaler im halben Jahr! Die
i) Vgl. Neue Bahnen, III. Bd. (1868). No. 3,5,6,8, ia.
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Aufregung, die in weitesten Kreisen durch diese Aufklärungen
hervorgerufen wurde, die Schulze-Delitzsch, Präsident Lette u. a.
zur Stellungnahme veranlassten, führte zur Gründung eines Rechts-
schutzvereins für Arbeiter von Seiten des Bürger-Komitees; die Auf-
nahme von Frauen in den Verein, die von den Gründern beabsichtigt
war, wurde aber durch die Polizei vereitelt Zu zwei vorbereitenden
Versammlungen waren Frauen eingeladen, weil man das Prinzip
zum Austrag bringen wollte, ob die Teilnahme von Frauen an Ver-
sammlungen, in denen nicht politische Fragen erörtert werden,
zulässig sei. Beide Versammlungen (März 1868) wurden polizeilich
aufgelöst.
In der dem Vorsitzenden auf eine Beschwerde betreffs Auf-
lösung der ersten Versammlung zugegangenen Antwort des Polizei-
Präsidiums heisst es:
„In der betreffenden öffentlichen Versammlung waren die .Be-
drückung der Wollarbeiter' sowie die .Bildung von Rechtsschutzvereinen'
den Arbeitern gegenüber Gegenstände der Erörterung. Es sind Fragen,
welche sich unzweifelhaft als soziale charakterisieren, und eben deshalb
bei der engen Verbindung des sozialen und des politischen Lebens
namentlich im gegenwärtigen Zeitalter der Versammlung den Charakter
einer politischen verleihen . . . Die in der Beschwerdeschrift enthaltene
Auslegung (des § 8 des Vereinsgesetzes), nach welcher nur eine von
einem organisierten Vereine ausgegangene politische Versammlung auf-
gelöst werden dürfe, erscheint zu eng und entspricht dem Willen des
Gesetzgebers nicht u. s. W."
Zwar wurde das Abgeordnetenhaus durch eine Resolution
der Versammlung aufgefordert, für das verfassungsmässig gewähr-
leistete Volksrecht einzustehen, das durch den Eingriff der Polizei
bedroht sei; der im April 1868 konstituierte Rechtsschutzverein
für Arbeiter musste sich aber nach dem Bescheid der Polizei
darauf beschränken, in einer Resolution zu erklären, dass er es
trotz des Ausschlusses der Frauen von der Vereinsthätigkeit und
den Vereinsversammlungen als Pflicht und Aufgabe betrachten
werde, die Interessen der Arbeiterinnen wahrzunehmen. Die
Verhandlungen hatten das Interesse der Führerinnen der Frauen-
bewegung geweckt, und bald darauf wurde der erste Versuch zur
Gründung eines Arbeiterinnen Vereins vonLouiseOtto-Peters, der
Gründerin der deutschen Frauenbewegung, gemacht, die mit klarem
Blick die Not der arbeitenden Frauen und ihre Bedürfnisse erkannt
hatte. Auf ihre Veranlassung bildete sich im Jahre 1869 in Berlin
ein Verein zur Fortbildung und geistigen Anregung der Arbeiter-
frauen, der von bürgerlichen Frauen geleitet wurde, aber nur bis
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— 236 —
zum Jahre 1871 bestand.') Gleichfalls der Belehrung und Auf-
klärung, aber auch der gegenseitigen Unterstützung sollte ein
Verein dienen, der im Jahre 1872 — von Arbeiterinnen geleitet —
unter dem Namen „Allgemeiner deutscher Arbeiterfrauen- und
Mädchen-Verein" in Berlin in s Leben trat. In den Versammlungen
wurden die wirtschaftlichen Notstände der Arbeiterinnen erörtert, und
es gelang dem Verein, die rege Teilnahme der Berliner Arbeiterinnen
zu gewinnen. Die Leiterinnen Frau Stägemann, Schackow,
Hahn und andere gründeten im Anschluss an Versammlungen,
die sie in andern Städten (Brandenburg, Elberfeld, Barmen,
Hannover) abgehalten hatten, ähnliche Vereine. Als die Bewegung
sich auszubreiten begann, wurde den deutschen Frauen ihre recht-
lose, unwürdige Stellung vor dem Vereinsgesetz von seiten der
Behörden in stärkerem Masse noch als im Jahre 1868 vor Augen
geführt; die Vereine wurden wegen Beschäftigung mit Politik und
wegen Inverbindungtretens untereinander aufgelöst und die
Leiterinnen strafrechtlich verfolgt.*) Bei der Gerichtsverhandlung
am 13. Mai 1875 erwog zwar der Staatsanwalt in seiner Rede, „ob
es sich überhaupt empfehle, gegen derartige Vereinigungen mit
dem Gesetze einzuschreiten, oder ob sie besser der eignen Selbst-
zersetzung, dem Fluch der Lächerlichkeit anheim gegeben würden".
Da aber der Verein als ein Agitationsmittel der Sozialdemokratie
anzusehen sei, beantragte der Staatsanwalt hohe Geldstrafen gegen
die beiden Vorsitzenden und mehrere Vereinsmitglieder, und der
Gerichtshof urteilte demgemäss.')
Erst 188 1 wurde ein neuer Versuch gewagt. Marianne
Mcnzzer-Dresden 4 ). die vielfach versuchte, in bürgerlichen Kreisen
Verständnis für die Arbeiterinnenfragc zu wecken, die auch als
Vorstandsmitglied des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins bei
dessen Generalversammlungen mehrmals für die Organisation der
Arbeiterinnen eintrat, und Johanna Weck er- Frankfurt a. M.
erliessen Aufrufe an die Arbeiterinnen, um diese für den Gedanken
der Organisation zu gewinnen. Der Mahnruf war nicht vergeblich ;
er gab die Anregung zur Veranstaltung von Versammlungen für
>) Vgl. Louise Otto-Peters, das i. Vierteljahrhundert des Allgemeinen deutschem
Frauenvereins. Leipzig 1890. Ihrer: Die Organisationen der Arbeiterinnen Deutschlands
Berlin 1803. Ihrer: Die Arbeiterinnen im Klassenkampf. Hamburg 1898.
*) Vgl. Ihrer: Die Organisationen der Arbeiterinnen Deutschlands. S. 4; und
dieselbe: Die Arbeiterinnen im Klassenkampf. S. 8 9.
3 ) Vgl. Neue Bahnen. X. Biind, No. 9, S. 69.
') Vgl. Louise Otto-Peters a. a. O.. ferner E. Ihrer a. a. O., deren Broschüren
ich bei der Darstellung über den Beginn der gevverklichen Arbeiterinn norganisation folge.
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Arbeiterinnen in Berlin, deren Resultat in der Gründung eines
„Frauen-Hilfsvereins für Handarbeiterinnen" bestand. Der Verein,
der zwar Frauen und Männer aus bürgerlichen Kreisen als Ehren-
mitglieder aufnahm, aber Fabrikarbeiterinnen von der Mitgliedschaft
ausschloss, verfolgte nach seinen Statuten: die materielle und
geistige Förderung der Mitglieder, Wahrnehmung ihrer Berufs-
interessen, Gewährung von Darlehen in Notfällen, bei Erwerbs-
unfähigkeit dauernde Unterstützung. Ferner strebte er die Gründung
eines unentgeltlichen Arbeitsnachweises für Handarbeiterinnen
(d. h. Schneiderinnen, Blumen- und Putzmacherinnen, Stickerinnen,
Posamenticrarbeiterinnen u. dergl.) an, die Errichtung einer Lese-
halle, von Arbeitsstuben und eines Speisehauses. Die Beiträge
der ausserordentlichen Mitglieder waren auf 5 Mark jährlich, der
ordentlichen auf 25 Pf. monatlich festgesetzt. Der Verein, der
von Frau Dräger, Ihrer, Haase geleitet wurde, ging aus Mangel
an Beteiligung zu Grunde. Man hatte zu vielerlei angestrebt und
unternommen; die Mitgliedsbeiträge reichten nicht annähernd zur
Bestreitung der Unkosten aus, und man musste versuchen, aus
freiwilligen und wohlthätigen Spenden die notwendigen Mittel
aufzubringen. Trotzdem es dem Verein nicht an reichlicher Unter-
stützung, sowohl geistiger wie materieller Art, von bürgerlicher
Seite fehlte, konnten seine Veranstaltungen, eine Arbeitsstube und
ein Speisehaus, ihren Zweck nicht erfüllen, weil sich nur wenige
Arbeiterinnen dem Verein anschlössen. Durch das zu reichhaltige
Programm, das die Unterstützung andrer Kreise in grossem
Massstab erforderlich machte, erhielt der Verein zu sehr den
Charakter des Wohlthätigkeitsvereins, konnte das Interesse der
Arbeiterinnen zur Selbsthilfe nicht wecken; auch machte diese
Organisation wohl einen energischen Appell an ihr Klasscn-
bewusstsein unmöglich. Eine 1884 gegründete Central-Kranken-
und Begräbniskasse für Frauen und Mädchen, deren Aufgaben fest
und eng begrenzt waren, entwickelte sich besser; nach kurzem besass
sie 120 Verwaltungsstellen und 20000 Mitglieder.
Ein erneuter Versuch zur Organisation wurde 1885 gemacht.
Veranlassung boten dazu die Versammlungen des Deutschen
Kulturbundes, die im Jahre 1883 in allen Stadtteilen Berlins statt-
fanden. Mitglieder des Bundes — der dem englischen Bund zur
Hebung der Sittlichkeit nachgebildet war — waren Männer und
Frauen der bürgerlichen Kreise, und die Frage: „Wie kann man
die Sittlichkeit der Arbeiterinnen heben?" wurde von Vertretern
aller Parteirichtungen ernsthaft mit Frauen diskutiert. Es war
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wohl das erste Mal, dass Männer und Frauen gemeinsam in öffent-
licher Versammlung Stellung zu derartigen Fragen nahmen; das
Interesse weiter Kreise wurde durch die Versammlungen erregt,
und die Lage und die Forderungen der Frauen, besonders aber
der Arbeiterinnen, wurden von den Zeitungen lebhaft — wenn
auch nicht immer in ernster Weise diskutiert. Die Arbeiterinnen
wandten sich in jenen Versammlungen gegen die Ansicht, dass die
Unsittlichkeit durch irgendwelche wohlmeinenden Massregeln,
durch Abschaffung der reglementierten Prostitution, durch die
Fürsorgethätigkeit an Gefallenen erheblich vermindert werden
könnte. Die „Unsittlichkeit der Arbeiterinnen" entspringe haupt-
sächlich den Hungerlöhnen, sie sei eine Folge der ungesunden
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustände des Klassenstaates
und der rechtlosen Stellung der Frauen. Gebessert werden könnten
die Verhältnisse vor allem, wenn die Arbeiterinnen gemeinsam
gegen die erbärmlichen Löhne und gegen unwürdige Behandlung
der Arbeitgeber Front machten.
Das Interesse, das diese Verhandlungen geweckt hatten, gab den
Arbeiterinnen Veranlassung, nunmehr selbst Versammlungen ein-
zuberufen, die schliesslich im Jahre 1885 zur Gründung eines „Vereins
zur Vertretung der Interessen der Arbeiterinnen 4 ' führten. Der Ver-
ein, dem gleich bei der Gründung 500 Frauen beitraten und dessen
Mitgliederzahl auf einige Tausende stieg, trug in stärkerem Masse
als die früheren einen gewerkschaftlichen Charakter. Er bezweckte
nach den Satzungen: Hebung der geistigen und materiellen
Interessen der Mitglieder, insbesondere Regelung der Lohn-
verhältnisse, gegenseitige Unterstützung bei Lohnstreitigkeiten,
Aufklärung durch fachgewerbliche und wissenschaftliche Vorträge,
Beschaffung einer Bibliothek, Pflege der Kollegialität durch
gesellige Zusammenkünfte und die Errichtung eines Arbeits-
nachweises. Der Beitrag war auf 20 Pf. monatlich, das Eintritts-
geld auf 25 Pf. festgesetzt. In den öffentlichen Versammlungen,
die zur Gründung des Vereins führten, kam es zu Auseinander-
setzungen zwischen Arbeiterinnen und bürgerlichen Frauen, bei
denen sich einige der letzteren — Frau Marie Hof mann und
Frau Guillaume-Schack — auf die Seite der Arbeiterinnen
stellten.') Sie unterstützten dann die Gründung des Vereins mit
allen Kräften. Frau Hofmann trat auf Wunsch der Arbeiterinnen
in den Vorstand ein, während Frau Schack als schweizerische
•) Vgl. Ihrer, a. a. O. S. la.
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Staatsangehörige die Leitung des Vereins in dessen Interesse ab-
lehnte. Sie wurde zwar zur Ehrenpräsidentin gewählt, weil man
ihre Beteiligung in irgend einer Form wünschte, aber auch dies
Amt legte sie nach kurzer Zeit nieder, weil sie eine solche
Stellung mit den Prinzipien des Vereins, der auf Gleichberechtigung
aller Mitglieder beruhte, für unvereinbar hielt. Der Verein, der
sich kräftig entwickelte, trug viel dazu bei, auch in andern Städten
den Zusammenschluss der Arbeiterinnen anzuregen. In Berlin
bildeten sich innerhalb des Vereins Kommissionen für die An-
gehörigen bestimmter Berufsgruppen, die statistisches Material
sammelten, um auf Grund desselben an der Abstellung der
grössten Missstände arbeiten zu können. Ihre Veröffentlichungen
über die Löhne in der Berliner Konfektions-Industrie, über die ent-
setzlichen Arbeitsbedingungen erregten allgemeine Aufmerksamkeit.
Auch gelang es, eine Anzahl wohlgesinnter Arbeitgeber zur
gemeinsamen Aufstellung von Tarifen und Arbeitsordnungen zu
bewegen. Der Plan der Regierung, einen Zoll auf englisches
Nähgarn zu legen, fand den Verein gleichfalls zu energischem
Vorgehen bereit. Die Verteuerung des Garns, das damals durch
deutsche Fabrikate noch nicht hätte ersetzt werden können, und
das von den Heimarbeiterinnen der Wäsche- und Konfektions-
branche selbst gestellt werden musste, hätte für die Arbeiterinnen
eine weitere Verringerung ihres ohnedies niedrigen Einkommens
bedeutet. Der Verein fasstc eine Petition gegen die Erhöhung der
Zölle ab, die in allen Teilen Deutschlands Tausende von Unter-
schriften fand, und die den Erfolg hatte, dass die Erhöhung des
Zolls unterblieb. Die Debatten, die im Reichstag durch die
Petition veranlasst wurden, führten ferner am 8. Mai 1885 zur
Annahme folgender Resolution:
„Der Herr Reichskanzler wird ersucht, über die Lohn-
verhältnisse der Arbeiterinnen in der Wäschefabrikation und der
Konfektionsbranche, sowie über den Verkauf oder die Lieferung
von Arbeitsmaterial (Nähfaden) seitens der Arbeitgeber an die
Arbeiterinnen und über die Höhe der dabei berechneten Preise
Ermittlungen zu veranlassen jjnd dem Reichstage über das Er-
gebnis in der nächsten Session Mitteilung zu machen."
Die Ergebnisse dieser amtlichen Untersuchungen, die im
April 1887 dem Reichstage übermittelt wurden, haben wesentlich
zur Verschärfung der Truckgesetzgcbung beigetragen (§ 115 der
Reichs-Gewerbe-Ordnung. Verbot der Überlassung von Werk-
zeugen und Stoffen seitens des Gewerbetreibenden an die Arbeiter
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zu einem höheren Betrag als dem der durchschnittlichen Selbst-
kosten). Zu einem energischen Eingreifen der Gesetzgebung zum
Schutz der unter dem Sweating- System leidenden Arbeiterinnen
führte aber erst der Konfektionsarbeiterstreik des Jahres 1896.
auf den spater noch eingegangen werden wird.
Der Verein erregte durch sein planmässiges und energisches
Vorgehen allgemeine Beachtung, er vergrösserte sich zusehends,
so dass sich nach einiger Zeit der „Nordverein Berliner Arbeite-
rinnen" abzweigen konnte; daneben entstand ein Fach verein der
Mäntelnäherinnen. Wirtschaftliche und wissenschaftliche Fragen
wurden an den Vereinsabenden diskutiert; neben einer Bibliothek
wurde den Mitgliedern unentgeltlicher Rechtsschutz und denen, die
keiner Krankenkasse angehörten, auch ärztliche Hilfe gewährt.
Die Arbeitsnachweisstellen wurden viel benutzt, und eine Reihe
von Petitionen wurden an die Stadtverwaltung gerichtet.
Eine solche um Zulassung der Frauen zum Gewerbegericht
bot dem Polizei-Präsidium den Anlass, der bedeutend werdenden
Arbeiterinnenbewegung wieder Einhalt zu thun. Die Vereine und
alle damit zusammenhängenden Kommissionen wurden auf Grund
des Vereins-Gesetzes wieder aufgelöst mit dem Bemerken, dass
die Ausbreitung dieser Bewegung eine Gefahr für Deutschland sei,
und die Leiterinnen wurden nach vorangegangener Haussuchung,
bei welcher alle Bücher und Korrespondenzen der Vereine beschlag-
nahmt wurden, strafrechtlich verfolgt. Nach langen Vorunter-
suchungen fand die Verhandlung Ende des Jahres 1886 statt und
hatte folgendes Urteil zum Ergebnis : ')
„Die Angeklagten waren Leiterinnen des im März 1885 gegründeten
Vereins zur Vertretung der Interessen der Arbeiterinnen; sie nahmen
nur Frauen und Mädchen in den Verein auf. Bis zum Mai 1886 haben
häufig Versammlungen von demselben stattgefunden und zwar oft
unter Zulassung von Gästen, insbesondere auch Männern. Der Richter
hat aus mehrfachen Beweisthatsachen den Schluss gezogen, dass alle
in der Zeit stattgefundenen Versammlungen, auch die öffentlichen,
an denen sich die Angeklagten beteiligten, Vereinsversammlungen
waren. Es genügt hierfür die Hervorhebung der zur Erörterung
gebrachten Gegenstände: „über den geringen Lohn der Arbeiterinnen
und die Aussaugung derselben durch das Kapital", die „Einrichtung
eines Normalarbeitstages durch den Staat", über „Einführung der
Sonntagsruhe", „das politische Stimmrecht der Frauen", „über getrennte
Arbeitsräume für Arbeiterinnen und staatliche Kontrolle der Fabrik-
») Vgl. Ihrer: Klassenkampf, S. 18 u. 19
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räume bei Arbeiterinnen durch weibliche Aufsichtsbeamte", über
..Lösung der sozialen Frage", über „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit
und die französische Revolution", über „Erhöhung des Nähgarnzolls",
über „den Befähigungsnachweis zum Gewerbebetriebe", über das von
den Sozialdemokraten im Reichstag eingebrachte „Arbeiterschutzgesetz"
und dergleichen. Dergleichen Erörterungen haben die Angeklagten
teils selbst gepflogen, teils durch Einladung der Redner herbeigeführt,
teils wissentlich geduldet.
Durch die Aufnahme von Frauenspersonen in diesen Verein und
Erörterung obengenannter politischer Gegenstände in demselben hat
der Verein die in § 8a d. V.-G. über die Verhütung eines die
gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenden Missbrauchs
des Vereins- und Versammlungsrechts gezogene Be-
schränkung überschritten und die Angeklagten diesergesetz-
lichen Bestimmung entgegengehandelt, indem sie für Er-
örterung jener politischen Gegenstände wirkten, sowie
Frauen als Mitglieder wissentlich aufnahmen. Der Verein
nahm nicht blos Frauenspersonen als Mitglieder auf. sondern
er bestand nur aus Frauenspersonen. Es musste daher die
Bestrafung der Vorsteherinnen erfolgen, sowie auf Schliessung des
Vereins erkannt werden. Letztere Massnahme ist als Strafe nicht
anzusehen; diese Schliessung eines politischen Vereins trägt denselben
Charakter wie etwa die im Landrecht vorgesehene Aufhebung von
Korporationen oder Gemeinen, deren Zweck oder Thätigkeit sich dem
Gemeinwohl schädlich erweist." —
Gegen die Angeklagten Hofmann, Ihrer, Jagert wurde auf je
60 Mark Geldstrafe oder entsprechende Gefängnisstrafe erkannt,
die Angeklagte Stägemann wurde, weil bereits wegen desselben
Vergehens vorbestraft, zu 90 Mark verurteilt.
Merkwürdig ist bei dieser Urteilsbegründung, dass die Anklage-
behörde die öffentlichen Frauenvcrsammlungen , bei denen die
Leiterinnen des Vereins gleichfalls präsidierten, als Vereinsver-
sammlungen auslegt, trotzdem der Reichstagsabgeordnete Rickert.
der als Zeuge an den Verhandlungen teilnahm, den Unterschied
hervorhob und auf das gesetzlich begründete Recht der Frauen
hinwies, in öffentlichen Versammlungen politische Gegen-
stände zu erörtern.
Der Berliner Vereinsauflösung folgte wiederum die Auflösung
der gleichzeitig entstandenen Provinzvereine in Halle, Zeitz, Gera,
Luckenwalde, Frankfurt a. M., Düsseldorf, Breslau; sowohl reiner
Gewerkvereine wie Frauenbildungsvereine, und als einziger Mittel-
punkt blieb den Arbeiterinnen nur die 1884 gegründete Central-
Kranken- und Begräbniskasse, als deren Organ Frau Guillaume-
Hnndbuch der Frauenbewegung. IL Teil. IÖ
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— 242 —
Sc hack in jener Zeit eine Zeitung „Die Staatsbürgerin" herausgab.
Aber auch diese fiel der Polizei zum Opfer; als Grund dafür diente
ein Artikel von Johanna Wecker, der die politische Gleich-
stellung aller Frauen forderte und Beispiele von regierenden Frauen
für die Forderung heranzog. Es wurde darin „Aufreizung zum
Klassenhass" erkannt. Durch all diese Massregeln, die besondere
Frauenorganisationen, die eine Arbeiterinnenbewegung unmöglich
machten, wurden die Frauen, deren Gemeinsinn und Klassen-
bewusstsein durch diese Versuche (und vielleicht mehr noch
durch die Unterdrückungsmassregeln) geweckt war, zur Teilnahme
an der allgemeinen Arbeiterbewegung — und das hiess in
Deutschland an der sozialistischen Bewegung — gedrängt. Sie
fingen an, in grosser Zahl an Volksversammlungen teilzunehmen,
da auf Grund des Sozialistengesetzes selbst öffentliche Frauen-
versammlungen verboten wurden; sie traten als Referentinnen in
Volksversammlungen auf, und aus jener Periode datiert das
energische Bestreben der Frauen, von den Rechten, die die
sozialdemokratische Partei ihnen prinzipiell einräumt, auch
praktisch durch lebhafte Teilnahme an allen Arbeiten der Partei-
bewegung Gebrauch zu machen. Die Teilnahme der Frauen
an der politischen Bethätigung führte dann wieder zu dem
Versuch, eine besondere Organisation für die Agitation unter
den Arbeiterinnen zu schaffen. Nach der Auflösung der
Vereine wurde der Schwerpunkt der Arbeiterinnenbewegung in
die 1889 gegründete Agitationskommission verlegt. Die gewerk-
schaftliche Bewegung der Frau musste durch die Unmöglichkeit
der Vereinsbildung hinter der politischen für einige Zeit zurück-
treten. Eine Reihe von Vereinen, die Ende der achtziger und
Anfang der neunziger Jahre in Berlin und den Provinzen wieder
gegründet wurden, konnten sich teils wegen mangelnder Beteiligung
nicht halten, teils wurden sie durch die im Jahre 1895 erfolgenden
allgemeinen Auflösungen beseitigt, darunter auch ein 1893 ge-
gründeter Frauenbildungsverein in Berlin, den gleichzeitig mit der
Berliner Agitationskommission das Schicksal ereilte, dessen In-
verbindungtreten mit der Kommission man nachzuweisen versuchte,
und dem zur Last gelegt wurde, in Vorträgen über die „Einrichtung
der Charit^ 44 , über „Nervenschwäche", „Frauenkleidung", politische
Gegenstände erörtert zu haben. Unter den wenigen, welche sich
aus jener Zeit erhalten haben, ist der 1890 gegründete Verein der
Arbeiterinnen an Buch- und Steindruck-Schnellpressen. Dieser
feierte im März 1900 das Fest seines 10jährigen Bestehens. Auf
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— 243
die Arbeiten und die Agitation des Vereins ist auch die 1898
erfolgte Gründung eines Verbandes der Buchdruckereihilfsarbeiter-
und Arbeiterinnen zurückzuführen, dem er mit 500 Mitgliedern als
grösste Organisation angehört.
Durch diese immer wiederkehrenden Auflösungen ihrer Organi-
sationen wurden die Frauen in jener Zeit dazu gedrängt, trotz
aller Schwierigkeiten, die sich ihnen in den Weg stellten, Anschluss
an die Gewerkschaften der Männer zu suchen, wenn sie nicht
ganz auf Vertretung ihrer wirtschaftlichen Interessen verzichten
wollten. Nur langsam gelang es ihnen, die Bedenken wegen der
Handhabung des Vereinsgesetzes, die die Berufsvereine häufig als
politische auslegte, bei den Leitern der männlichen Gewerkvereine
zu überwinden; doch wurden seit 1885 einzelne weibliche Fach-
vereine den Gewerkschaften einverleibt, andre entschlossen sich
nach und nach gleichfalls zur Aufnahme weiblicher Mitglieder;
doch war während des Sozialistengesetzes die ganze Entwicklung
der Gewerkschaftsbewegung sehr erschwert; eine planmässige
Verbindung der Organisationen und lebhafte Agitation unmöglich.
Die Verbände, die vor 1890 entstanden, bezeichneten sich als
Unterstützungsvereine. Sofort nach dem Fall des Sozialisten-
gesetzes wurde aber der Plan, eine Verbindung der Gewerkschaften
herbeizuführen, wieder aufgenommen, am 16. November 1890
fand in Berlin eine auch von weiblichen Delegierten besuchte
Gewerkschaftskonferenz statt, die die gesamte Bewegung ausser-
ordentlich förderte, vor allem aber auch endlich der gewerk-
schaftlichen Organisation der Frauen die Wege wies und
ebnete.') Die Konferenz setzte eine aus 7 Personen bestehende
Centraistelle für die Gewerkschaftsbewegung ein, die General-
kommission der Gewerkschaften Deutschlands, deren Vorsitzender
C. Legien in Hamburg ist und in die auch eine Frau gewählt
wurde. Aufgaben der Kommission sind : Verbindung der einzelnen
Vereine, Agitation zur Gründung und Förderung von Fachvereinen,
Führung einer Statistik über die Gewerkschaftsbewegung, Heraus-
gabe eines Blattes zur Vertretung der gewerkschaftlichen Interessen,
Pflege internationaler Beziehungen. Bald nach der Gründung der
Centraikommission wurde von seiten der Frauen bei den Fach-
vereins- Verständen und auf den Generalversammlungen der
Gewerkschaften beantragt, die Statuten so umzuändern, dass die
Aufnahme weiblicher Mitglieder erfolgen könne; ein Verlangen.
») Vgl. Legien. a. a. O. S. 7.
16*
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— 244 —
dem von den meisten Organisationen nachgegeben wurde. Die
Kommission selbst ist unermüdlich für den Beitritt der Frauen zu
den Organisationen thätig gewesen, teils durch Verbreitung von
Flugblättern, teils durch planmässigc Agitation zur Gewinnung
der Arbeiterinnen und zur Beseitigung des Misstrauens oder
Widerwillens vieler Gewerkschaften gegen die Mitarbeit der Frauen.
Nachdem durch Vorarbeiten ein Uberblick über die Notwendigkeit
der Organisation und über die Organisationsfähigkeit bestimmter
Arbeiterinnenkategorien in den verschiedenen Landestcilen ge-
wonnen war, wurden 1895 sieben Referentinnen ernannt, die
die Propagandatätigkeit übernehmen sollten. Durch Verteilung
von 207 000 Flugblättern wurde für den Besuch von 140 öffentlichen
Versammlungen agitiert; sieben davon wurden aufgelöst, 39 weitere
Versammlungen, die in Bayern, Elsass-Lothringen, zum Teil auch
in Preussen angekündigt waren, wurden verboten. Etwa 600 bis
700 weibliche Gewerkschaftsmitglieder und ebenso viele männliche
wurden in den Versammlungen, hauptsächlich aus den Kreisen
der Tabak- Textil-, und Fabrikarbeiterinnen gewonnen. ') Trotz
dieser und andrer unsäglicher Bemühungen ist das Erreichte
noch immer gering im Vergleich mit dem Erstrebten, die Zahl
der organisierten Arbeiterinnen klein, verglichen mit der Zahl
derer, die den Gewerkschaften noch fern stehen. Über die Teil-
nahme der Frauen an der Gewerkschaftsbewegung*) existieren
zuverlässige Statistiken erst seit dem Jahre 1891, seit den Er-
hebungen der Generalkommission. Damals betrug die Zahl der in
den centralisierten Gewerkschaften organisierten Personen 277 659.
1892 waren unter 237 094 m. 4 355 w.
1893 n > 223530 , 5384 „
1894 „ „ 246494 u 5 251 ff
1895 „ „ 259175 „ 6697 „
1896 m n 329230 d 15265 „
!897 » n 412359 „ 14644 „
1898 „ „ 493 742 „ 13 481 „
1899 „ „ 580473 „ 19280 „
Die grösste Zahl gewerkschaftlich organisierter Arbeiterinnen
weist der Verband der Textilarbeiter mit 6892 weiblichen Mit-
I) Helene Simon: Arbeiterinnenbewegung. IlL Konversations- Lexikon der Frau.
Bd. I. S. 34.
*) Vgl. Bericht Ober die Deutschen Gcwcrkschaftsorganis.itioncn im Korrespondrnzbl.m
der Generalkommission, oder 10. Jahrg., N'o. 33.
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- 2-15
gliedern auf; danach kommt der Verband der Tabakarbeiter mit
3500 weiblichen Mitgliedern, der Verband der Fabrik- und gewerb-
lichen Hilfsarbeiter mit 2499, der Schuhmacherverband mit 1863,
der Verband der Buchbinder mit 1765.') Von den industriell
thätigen Frauen im Alter von 18 — 60 Jahren sind demnach nur
2 «35 7o organisiert; von Männern der gleichen Altersstufen etwa
x 3.5 6 */•. da in den Berufen, für welche die Centraiverbände
bestehen, nach der Berufszählung von 1895 4138497 männliche
und 820348 weibliche Arbeiter im Alter von 18 — 60 Jahren be-
schäftigt sind. In einzelnen Gewerben ist ein bedeutend höherer
Prozentsatz der Arbeiterinnen organisiert, bei den Schuhmachern
z. B. mehr weibliche als männliche. Das dürfte darauf zunick-
zuführen sein, dass die Arbeiterinnen dieses Industriezweiges vor-
wiegend in Fabriken, die Arbeiter dagegen im Handwerk als
Einzelarbeiter thätig sind, wodurch der Anschluss an den Verband
erschwert ist. Im Hutmacherverband sind 12 •/„ der Arbeiterinnen
organisiert, im allgemeinen Fabrikarbeiterverband 6 •/,. Am zahl-
reichsten sind Arbeiterinnen in den Organisationen der Berufe zu
finden, die fast ausschliesslich oder vorwiegend Frauen beschäftigen,
z. B. in der Schneiderei, Plättcrei, auch Tabakindustrie. Nur
3 Verbände verharren noch auf dem Ausschluss der Frauen aus
ihren Vereinen, die Lithographen, Gastwirtsgehilfen und Buch-
drucker. Als Grund geben die Lithographen an, dass sie sich
als Künstler betrachten und ungelernte Arbeitskräfte nicht in den
Verband aufnehmen wollen. Die Buchdrucker behaupten, in ihrem
Beruf gäbe es keine weiblichen Arbeiter. Allerdings zählt die
Statistik 1414 Buchdruckerinnen auf, doch geht aus dieser An-
gabe nicht hervor, ob sie alle Setzerinnen sind oder Punktiere-
rinnen, die den Hilfsarbeitern im Buchdruckergewerbe zugezählt
werden müssen. Die Gastwirtsgehilfen begründen ihre engherzige
Bestimmung mit den traurigen sittlichen Verhältnissen des Kellne-
rinnengewerbes.
Von den 55 Centraiverbänden hatten nur 19 weibliche Mit-
glieder, trotzdem auch den meisten andern in den Verbänden ver-
tretenen Berufen Frauen angehören. Eine Übersicht über die Be-
teiligung der Frauen an den Gewerkschaften im Jahre 1899 giebt
folgende Tabelle:
•) Die Zahlen sind Mitteilungen Ober Jahresberichte für das Jahr 1899
die im X. Jahrgang der Gleichheit No. 6. 9. 10 u. s. w. erschienen sind.
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— 246 —
Organisation
Zahl der
weiblich.
Mit-
glieder
1899
Zunahme seit j
1898
Abnahme seit !
1898
Von den
weiblichen
Berufsangehörigen
sind organisiert
in Prozenten
Buchbinder
1581
253
—
1545
Buchdruckereihilfsarbciter .
702
119
12.22
2499
6.07
94
60
203
Handlungsgehilfen ....
Lagerhalter
^5
5
20
O
ül
}
0.12
Handschuhmacher ....
116
33
3-57
Holzarbeiter (Verband) . .
521
122
368
90
5
203
Konditoren
9
1
0.27
Metallarbeiter
2202
931
829
Porzellanarbeiter ....
260
^55
3 39
Sattler und Tapezierer . .
'3
3
o.85
44
037
oenunmaener
1226
M3
i7 5o
Tabakarbeiter
Zigarrensortierer ....
3500
60
500
2
1
6-95
5832
4504
226
23
7
2.48
19280
5799
Ausser den CcntralverbAndcn giebt es noch eine Reihe
lokaler Gewerkschaften, die sich von den in der Centrai-
kommission zusammengefassten Organisationen dadurch unter-
scheiden, dass sie die Propaganda für die Ideen der Sozialdemokratie
prinzipiell als zu ihren Aufgaben gehörig betrachten, während die
centralisierten Gewerkschaften vor allem Einfluss auf den Arbeits-
vertrag durch den gewerkschaftlichen — nicht durch politischen
Kampf — gewinnen wollen. Auch diesen gehört eine allerdings
unbedeutende Zahl weiblicher Mitglieder an. Ferner bestehen
>) Die Zahlen sind dem Jahresbericht der deutschen Gewerkschafts-Organisationen
for 1899 entnommen (Vgl. Correspondenzblatt der Generalkomm. 10. Jahrg., No. 33). Die
Mitgliederzahl der Organisationen ist hierbei im Jahresdurchschnitt und nicht für das Ende
de» Jahres 1899 berechnet. Daraus erklären sich die Unterschiede mit den oben angefahrten
Zahlen.
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— 247 -
noch einige rein weibliche Fachvereine, sowie einige Frauen-
bildungs- und Unterstützungsvereine; z. B. in Berlin, Dresden,
Leipzig, Rixdorf, Schöneberg u. s. w. Ein Frauenbildungsverein
in Kiel wurde im April 1901 polizeilich geschlossen, da die Polizei
ihn für politisch erklärte. Gegen diese Massregel ist sofort die
gerichtliche Klage eingeleitet worden.
Verschiedentlich haben die Gewerkschaften mit weiblichen
Mitgliedern und die weiblichen Fachvereine oder Sektionen
Gelegenheit gehabt, in den Kampf einzutreten und ihre Leistungs-
fähigkeit zu erproben. Der Erfolg war verschieden, im grossen
und ganzen handelte es sich um Kämpfe und Verhandlungen, die
nur nach ernster Prüfung der Sachlage und reiflicher Erwägung
ins Werk gesetzt wurden. In weitesten Kreisen erweckte der
Streik der Konfektionsarbeitcr vom Jahre 1896 Interesse und
Beteiligung. Von Frauen und Männern aller Richtungen wurde
die Berechtigung dieses Streiks anerkannt und zu den Sammlungen
zur Unterstützung der Streikenden beigetragen. Einer Anregung
von Frau Gnauck-Kühne war es zu danken, dass die evangelisch-
soziale Frauengruppe in Berlin durch Intervention beim Ober-
bürgermeister, durch Beeinflussung der Presse und durch Geld-
sammlungen den Streik unterstützte, der Initiative Jeannette
Schwerins, dass sich die Anhänger der Ethischen Bewegung
und die Leiterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung auf die
Seite der Streikenden stellten, u. a. in einer öffentlichen Ver-
sammlung im Konzerthaus. Mit besonderem Erfolg gingen die
Dresdener Frauenrechtlerinnen unter Leitung von Fr. Garn per
und Fr. Stritt in dem Streik vor; ihnen gelang es, verschiedene
grosse Geschäftsinhaber zur Bewilligung der von den Arbeitern
aufgestellten Forderungen zu bewegen. 1 ) Die Stärkung der
Organisation war aber trotz der Erregung, die zur Zeit dieses
Streiks durch die Massen ging, keine grosse oder bleibende; die
isolierte Arbeiterin der Hausindustrie, die durch das Sweating-
System ausgebeutete Heimarbeiterin kann dem Organisations-
gedanken nicht gewonnen werden. Von den im Streikjahr dem
Verband der Schneider und Schneiderinnen beigetretenen Mit-
gliedern fielen im darauffolgenden Jahr wieder 2813 weibliche») ab.
Es zeigte sich hierbei deutlich, dass für so tief stehende Arbeiter-
kategorien — wie es die Konfektionsarbeiterinnen sind — nur die
I) Vgl. Jahrgang J896 der Sozialen Praxi», der Frau, der Frauenbewegung, der Gleich-
heit und Bericht des evang.-soz. Kongresses vom Jahre 1896.
*) Vgl. Illastricrtcs Conv.-Lexikon der Frau; Artikel: Arbcitcrinnenbewegung. S. 35.
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— 248 —
Staatshilfe, nur die Gesetzgebung einen wirksamen Schutz bringen
kann. In dieser Beziehung war der Streik denn auch erfolgreicher
als in Bezug auf Kräftigung der Organisation. Wie schon im
Jahre 1885 die Petition der Arbeiterinnen gegen Erhöhung des
Zolls auf Nähgarn, so führte auch der Streik im Reichstag zu
Debatten über die Lage der Konfektionsarbeitcrinnen ; wiederum
wurden amtliche Erhebungen darüber angestellt, die nur die
traurigen Resultate der ersten Untersuchungen bestätigten. Ge-
bessert hatte sich in den zehn Jahren nichts. Nun wurde
wenigstens ein Versuch zur Besserung dieser traurigen Verhältnisse
gemacht. Laut § 154 Absatz 4 der Reichs -Gewerbeordnung
können die Schutzbestimmungen, die dieses Gesetz für Fabrik-
arbeiterinnen enthält (Festsetzung des 11 stündigen Maximalarbeits-
tages, Verbot der Nachtarbeit, Festsetzung der einstündigen
Mittagspause, die für Arbeiterinnen, die ein Hauswesen zu be-
sorgen haben, auf ihren Antrag um Stunde verlängert werden
muss, Verbot der Beschäftigung von Wöchnerinnen während 4
resp. 6 Wochen nach ihrer Niederkunft) auf Werkstätten aus-
gedehnt werden. Eine solche Verordnung erfolgte dann auch am
31. Mai 1897 für die Kleider- und Wäschekonfektion, aber mit
Beschränkung auf solche Werkstätten, in denen die Konfektion
im grossen erfolgt, wo nicht für Privatkundschaft, nach Mass, ge-
arbeitet wird. Ausgenommen sind auch die Werkstätten, in denen
der Arbeitgeber nur die eigenen Familienmitglieder, Fremde nur
gelegentlich beschäftigt. Dadurch ist die Wirkung des Gesetzes
nur eine geringe geblieben. Jedenfalls hat sich die Heimarbeit
infolge dieser Bestimmungen eher vermehrt als vermindert. Eine
energischere gesetzliche Massregel, die verschiedentlich von Reichs-
tagsmitgliedern gefordert wurde, harrt noch immer der Erledigung.
In eine erfolgreiche Bewegung trat die Sektion der Kostum-
schneider- und Schneiderinnen in Berlin des Verbandes der
Schneider und Schneiderinnen Deutschlands (einer in 225 Orten
verbreiteten Gewerkschaft und 16500 Mitgliedern') im Früh-
jahr 1900 ein. Es gelang, mit den Konfektionären einen Tarif zu
vereinbaren, der den Arbeitern günstige Bedingungen gewähr-
leistet. Bei Gelegenheit dieser Bewegung traten dem Berliner
Verein 400 Arbeiterinnen bei, von denen ihm aber nach einem
Jahr nur noch 50 angehörten. Alle andern waren in der kurzen
Zeit wieder der Organisation verloren; hier handelt es sich zwar
<) Vgl. Protokoll Ober die Verhandlungen de» 61 ordentlichen VerbandsUgs des Ver-
bandes der Schneider und Schneiderinnen. Hamburg 1900.
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— 249 —
nicht um eine schlecht gestellte Klasse von ungelernten Arbeite-
rinnen, vielmehr vielfach um Töchter aus kleineren Beamten- und
Bürgerkreisen, deren Standesbewusstsein ihrer Zugehörigkeit zu
einer Berufsorganisation häufig im Wege steht. •)
Mit beachtenswertem Erfolg hat das Gewerbegericht als
Einigungsamt verschiedentlich die Lohnbewegungen von organi-
sierten Arbeiterinnen in den letzten Jahren unterstützt. Vor allem
ist hier der mit grosser Energie durchgeführte Streik der Isen-
burger Wäscherinnen zu erwähnen. Dem allgemeinen Frauen-
und Mädchenverein, der daselbst im Juni 1896 gegründet worden
war, traten beim Ausbruch des Streiks (10. IV. 1897), der durch
die trostlose Lage der Arbeiterinnen in den dortigen Wasch-
anstalten veranlasst war, von 208 Wäscherinnen 188 bei, Mädchen
und Frauen jeden Alters, von 15—73 Jahren. Das erste Mitglied des
Vereins, die 73jährige Frau Streb, ging allen andern mit Opfer-
freudigkeit und Mut in der Bewegung voran, und mit einer ein
zigen Ausnahme hielten alle Streikenden 7 Wochen standhaft im
Streik aus. Einen Druck auf die Waschanstaltsbesitzer übten in-
folge des warmen und verständnisvollen Eintretens der Frank-
furter Ortsgruppe des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins die
bürgerlichen Frauen in ihrer Eigenschaft als Kunden aus; ihnen
gelang es, die Waschanstaltsbcsitzer zur Zurücknahme ihrer Weige-
rung, das Gewerbegericht als Einigungsamt anzuerkennen, zu be-
wegen; auch wurde der Streik pekuniär durch sie unterstützt, und
es haben sich aus jenem Lohnkampf dauernde freundschaftliche
Beziehungen zwischen den Leiterinnen der Frankfurter Frauen-
bewegung und den Führerinnen der Isenburger Wäscherinnen ent-
wickelt Von den 3148 Mark betragenden Streikeinnahmen waren
1280 Mark von Arbeiterinnen aufgebracht. Die Auslagen des
Streiks betrugen 2640 Mark; am 1. Juni wurde derselbe durch
das Gewerbegericht beendigt, und zwar mit wesentlichem Erfolg
für die Streikenden, denen ein täglicher Minimallohn von 1,50 Mark
für erste Arbeiterinnen bewilligt wurde. Die Arbeitszeit wurzle
für Wäscherinnen von 7 Uhr morgens bis 8 Uhr abends festgesetzt;
für Büglerinnen im Winter von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends,
während die Arbeitszeit vor dem Streik häufig 18 Stunden täglich
') Diese Mitteilungen verdanke ich den Vorstandsmitgliedern der Berliner Sektion de*
Verbandes der Schneider und Schneiderinnen.
*) Diese Mitteilungen sind teils Zeitungsausschnitten und Mitteilungen entnommen, die
von den Mitgliedern der Frankfurter Fraucnvcrcine zur Verfügung gestellt wurden, teils
einem Artikel von Henriette Fürth in der ...Neuen Zeit*. Stuttgart 1897. 15. Jnhrfc- .
IL Bd., S. 43a.
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— »5° —
erreicht hatte. Der Isenburger allgemeine Frauen- und Mädchen-
verein zählte 1900 144 Mitglieder.
Ungeregelte Arbeitszeit und schlechte Arbeitsbedingungen in
den Waschanstalten führten im Jahre 1900 in Berlin zu einer Be-
wegung der Wäscherinnen und Plätterinnen, die durch die aus-
gezeichnete, besonnene Leitung der Frauen Ihrer und Rosen-
stengel, sowie des Herrn Trinks (Vorsitzender des Vereins der
Wäsche- und Kravattenbranche) einen für die Arbeiterinnen sehr
günstigen Verlauf nahm. Gegen die gänzlich ungeregelte Arbeits-
zeit, die die Plätterinnen mehrmals wöchentlich zu 16 — i8stündiger
Arbeit, vor Feiertagen sogar oft zu 24stündigcr, zwingt und gegen
die Weigerung der Waschanstaltsbesitzer, den Arbeitslohn ent-
sprechend zu erhöhen, nachdem sie die Preise für die Kunden
fast um das Doppelte der früheren in die Höhe geschraubt hatten,
richteten sich einige Versammlungen, die von dem Verein der
Wäsche- und Kravattenbranche einberufen waren. Sie führten
zur Einsetzung einer Kommission, die die Forderungen der Ar-
beiterinnen formulieren sollte. In einer späteren Versammlung
der Wäscherinnen und Plätterinnen Berlins legte die Kommission
die Forderungen vor und fand allgemeine Zustimmung dafür. In
der Hauptsache gipfelten die Forderungen in Festsetzung der Ar-
beitszeit für den Sommer von 7 — 7 Uhr, für den Winter von
8 — 8 Uhr mit Pausen von im ganzen 2 Stunden; ferner in einer
Erhöhung der Löhne für Oberhemden von 75 Pf. auf 1,20 Mark
für das Dutzend, für Kragen von 20 Pf. auf 30 Pf. für das Dutzend,
Manchetten von 30 Pf. auf 60 Pf. das Dutzend u. s. w. Zunächst
ging die Organisation und die Lohnkommission an den Versuch
gütlicher Verhandlungen und Vereinbarungen mit den Arbeit-
gebern. Da nur wenige Unternehmer die Forderungen in der ge-
stellten Frist bewilligten und Verhandlungen der Lohnkommission
mit einer Kommission der Waschanstaltsbesitzer resultatlos verliefen,
riefen die Arbeiterinnen auf Vorschlag der Lohnkommission das
Einigungsamt des Gewerbegerichts an. Die Arbeitgeber entschlossen
sich, wenn auch nach einigem Widerstreben, dem Vorschlag beizu-
treten. Die Vertretung der Arbeiterinnen vor dem Gewerbegericht
wurde zum ersten Mal von einer Frau (Emma Ihrer) geführt; es
war ihr vollständig freie Hand behufs einer Verständigung von
Seiten der Arbeiterinnen gelassen, während die Vertreter der Ar-
beitgeber mit gebundener Marschroute kamen. Sie waren von
ihren Kollegen verpflichtet worden, in keinem Fall über die Be-
willigung von 33'/, Lohnerhöhung hinauszugehen. Das Re-
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- 2 5 I -
sultat der langen, sehr ruhig und sachlich geführten Verhand-
lungen war, dass die Vertreter der Arbeitgeber ihrem Auftrag
entgegen weitergehende Zugeständnisse machten, den vom Eini-
gungsamt vorgeschlagenen Vergleich, der die Hauptforderungen
der Arbeiterinnen erfüllte, annahmen und sich bereit erklarten,
diese Bewilligungen ihren Auftraggebern gegenüber zu verant-
worten. So hatten die Ausführungen und Verhandlungen sie
überzeugt. Die Lage der 2000 — 2500 Wäscherinnen und Plätte-
rinnen Berlins dürfte durch diese Bewegung mit Verhütung eines
Streiks wesentlich gebessert worden sein, namentlich ist die den
Forderungen der Arbeiterinnen entsprechend geregelte Arbeitszeit
eine wertvolle Errungenschaft.
Ein Beispiel für das gemeinsame erfolgreiche Vorgehen von
männlichen und weiblichen Arbeitern einer Gewerkschaft führt
der 5. Jahresbericht des Arbeitersekretariats Nürnberg ') vom
Jahre 1899 an. An dem erfolgreichen Streik im Feingoldschlager-
gewerbe, der im Jahre 1899 um kürzere Arbeitszeit und höheren
Lohn geführt wurde und der 13 Wochen dauerte, nahmen
121 Frauen teil. Der Streik zeichnete sich durch eine muster-
hafte Haltung der Ausständigen aus. „Besonders rühmenswert
war die Solidarität, die die Arbeiterinnen an den Tag legten.
Sie zeigten sich bei diesem Streik ebenso tapfer ausdauernd wie
die Arbeiter." Als Folge des Streiks vermehrte sich die Zahl
der organisierten Feingoldschlägerinnen von 46 auf 437. Auch
aus der Nürnberger Pinselindustrie weiss der Bericht ähnliche Er-
fahrungen mitzuteilen. Während des Streiks der Arbeiter und
Arbeiterinnen in einer grossen Pinselfabrik, der hauptsächlich um
die Anerkennung der Organisation geführt wurde und der sich
über 21 Wochen ausdehnte, zeichneten sich die Arbeiterinnen
gleichfalls durch ihre Haltung aus. Sämtlichen Ausständigen
Wirde in der Zeit anderwärts Arbeit verschafft; die Firma musstc
ungelernte Arbeiterinnen einstellen. Der Bericht sagt darüber:
„Der Zusammenhalt der Pinselmacher, die Solidarität aller
Arbeiterinnen — 48 davon waren ausständig — die Unmöglich-
keit, Streikbrecher zu finden, wird für die Unternehmer der ganzen
Branche eine Lehre sein. So wie bei allen übrigen Lohn-
bewegungen des verflossenen Jahres war das Verhalten der
Streikenden auch hier ein musterhaftes." Auch diese Organisation
hatte infolge der Bewegung einen starken Zuwachs weiblicher
i) Vgl. Gleichheit. 10. Jahrg., So. 8, S. 63.
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— 252 ~
Mitglieder zu verzeichnen. Ihre Zahl stieg von 113 auf 252. Die
Pinselarbeiter und Arbeiterinnen sind dem Verband der Holz-
arbeiter angegliedert, der nunmehr 720 weibliche Mitglieder zahlt.
* *
#
Weit geringer als bei den Gewerkschaften ist die Beteiligung
der Frauen an den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen. Eines-
teils ist das wohl darauf zurückzuführen, dass die Aufnahme von
Frauen bei diesen später als bei den Gewerkschaften — erst
1895 — beschlossen worden ist; andrerseits wohl auch darauf,
dass in den Kreisen, die den Stamm der Hirsch-Dunckerschen
Gewerkvereinler ausmachen, noch ein stärkerer Widerstand gegen
die Frauenarbeit überhaupt und gegen die Mitarbeit der Frau an
der Organisation zu finden ist. Hinter den Gewerkvereinlern steht
eben keine Partei, die die Gleichberechtigung des weiblichen
Geschlechts anerkennt, So verweigern die grössten Vereine, z. B.
die Maschinenbauer und Metallarbeiter mit über 34 000 Mitgliedern
die Aufnahme von Frauen aus Furcht vor zu hoher Belastung
ihrer Krankenkasse.
Immerhin ist im Prinzip von den Leitern der Gesamt-
organisation die Notwendigkeit der Heranziehung von Frauen an-
erkannt. Der 13. Verbandstag der Hirsch-Dunckerschen Gewerk-
vereine, der im Juni 1898 in Magdeburg tagte, hatte auch die
Berufsorganisation der Arbeiterinnen und der jugendlichen Arbeiter
auf die Tagesordnung gestellt. Der Referent forderte möglichste
Beseitigung der Fabrikarbeit für verheiratete Frauen durch Er-
höhung des Verdienstes der Männer, Beschränkung der Arbeitszeit
für weibliche und jugendliche Arbeiter, Anstellung weiblicher
Gewerbeaufsichtsbeamten und empfahl als Mittel zur Erreichung
dieser Ziele die Organisation. Die Versammlung nahm folgende
Resolution an: 1 )
„Zur wirksamsten Lösung der Frage gewerblicher Frauen-
arbeit muss gesucht werden, die Lage der männlichen Arbeiter
mit allen gesetzlichen Mitteln und durch Vereinigungen auf dem Boden
der Selbsthilfe zu bessern. Der BerufderFrau ist am wichtigsten
und segensreichsten in der Familie. Solange jedoch die wirtschaftlich-
sozialen Verhältnisse einen bedeutenden Teil der weiblichen Bevölkerung
für ihre Existenz zur Lohnarbeit nötigen, bedürfen diese Arbeiterinnen
im besonderen Grade des gesetzlichen Schutzes sowohl in der Fabrik
als auch in der Hausindustrie.
') Vgl. Kulemann, Die Gewerkschaftsbewegung. Jena 190a S. 195 196.
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- 253 -
Die Arbeitszeit der erwachsenen Arbeiterinnen ist allmählich
auf 8 Stunden herabzusetzen etc. Die Anstellung weiblicher Fabrik-
inspektoren ist unbedingt nötig, und diese sind aus den mit dem
Arbeiterleben bekannten Kreisen zu wählen. Die Entlohnung der
weiblichen Arbeitskraft muss bei gleichen Leistungen der der männ-
lichen Arbeiter gleichkommen. Die Forderung der Erhöhung der
Löhne der Arbeiterinnen von ihrem jetzigen tiefen, zum Lebens-
unterhalt unzureichenden Stande ist zugleich ein Hauptmittel zur
Besserung der Löhne männlicher Arbeiter. Die Berufs-
organisation der Arbeiterinnen ist das wichtigste Mittel zur Besserung
ihres Loses. Die deutschen Gewerkvereine haben die Pflicht, so viel
wie möglich weibliche Mitglieder zu erwerben. Die Arbeiterinnen
müssen ihr Interesse diesen bewährten Organisationen zuwenden, um
dadurch im Kampfe um ihre Existenz gestärkt zu werden.
Der Verbandstag beschliesst, bei den gesetzgebenden Körper-
schaften um gründliche Umgestaltung der Gesindeordnung gemäss
den wesentlichen Grundsätzen der Gewerbeordnung zu petitionieren.
Mit der Ausarbeitung dieser Petition wird der Centrairat betraut."
Der Erfolg der Bereitwilligkeit der Gewerkvereinc, Frauen
nunmehr als Mitglieder aufzunehmen, ist bisher ein geringer
gewesen. Von den 17 centralisierten Gewerk- Vereinen mit etwa
1800 Ortsvereinen und 92 000 Mitgliedern, die meistens gesetzte
und gelernte Arbeiter sind, haben nur 6 weibliche Mitglieder und
zwar im ganzen 3395. Davon entfallen auf den Gewerkverein
der Cigarren- und Textilarbeiter .... 221
„ Fabrik- und Handarbeiter 915
„ Klempner und Metallarbeiter .... 14
„ Schneider 650
„ Schuhmacher und Lederarbeiter . . 1430
„ StuhI-(Textil)- Arbeiter 1165.
Neuerdings tritt zu den beiden grossen Gruppen der Gewerk-
schaften und der Gewerkvereine noch eine dritte, die der christlichen
Gewerkschaften, unter denen sich wieder katholische, evangelische
und christlich-soziale Organisationen unterscheiden. ') Konfessionelle
Arbeitervereine sind nun zwar keineswegs eine Neuerung der
letzten Jahre; ihr Bestehen reicht hinter die ersten Anfänge der
Gewerkschaftsbewegung zurück ; aber diese früheren Vereine tragen
in keiner Weise gewerkschaftlichen Charakter, das Merkmal von
») VgL Christliche Gewerkvereinc; ihre Aufgabe und Thätigkcit. M.-Gladbach 19c©.
Kulemann: Die Gewencschaitsbcwej;unp. .Der Arbeiter": Zeitschrift für die katholische
Arbeiterbewegung. Mönchen. Conrad und Elster, *. a. O. Artikel Ober Arbeitervereine.
Gewerk vereine u. s. W.
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— 254 —
Berufsorganisationen. In der Regel nehmen sie Mitglieder aller
Berufsarten auf. Die Leitung liegt in den Händen von Geistlichen,
Lehrern. Kaufleuten u. s. w. Erst seit Anfang der achtziger Jahre
haben sich in diesen Vereinen Fachsektionen und weiterhin auch
selbständige Berufsorganisationen gebildet. Seit 1899 sind die
katholischen und die evangelischen Gewerkvereine zu einem
gemeinsamen Verband zusammengeschlossen, der am x. April 1900
144 500 Mitglieder zählte und die Gründung von Arbeiterberufs-
vereinen auf christlich-interkonfessioneller Grundlage (christlich-
soziale Gewerkvereine) anstrebt. Unter diesen finden sich denn
auch schwache Anfänge und Versuche zur Organisation der
Frauen; so wurde im Sommer 1898 ein Verband der christlich-
sozialen Textilarbeiterinnen von Aachen, Burtscheid und Umgegend
gegründet, der Ende 1899 etwa 300 Mitglieder zählte. Auch in
Eupen ist im Anschluss an den Textilarbeiterverband ein solcher
für Frauen gegründet, der am 1. April 1900 130 Mitglieder hatte. ')
Auch der Verband der Textilarbeiter- und Arbeiterinnen in Bayern
(Sitz in Augsburg) hat unter 4000 Mitgliedern einen ziemlich hohen
weiblichen Prozentsatz. (Sekretär: Schirmer, München, Kurfürsten-
strassc 22/15):*) ein im März 1890 in Krefeld gegründeter „Nieder-
rheinischer Schutz- und Unterstützungsverein christlicher Textil-
arbeiterinnen" hat 100 Mitglieder. 3 ) Nach den Mitteilungen des
Verbandssekretärs Giessberts in München-Gladbach wird die Zahl
der in christlichen Textilarbeiter- Verbänden organisierten weiblichen
Arbeiter anf 2000 geschätzt. Eine Statistik über die in christlichen
Gewerkschaften organisierten Frauen besteht nicht. Ein eigenartiger
Versuch ist in Berlin von der evangelisch-sozialen Frauengruppe
im Jahre 1900 mit der Gründung eines Gewerkvereins der Heim-
arbeiterinnen für Kleider- und Wäschekonfektion gemacht worden.
Der Verein, der nach den Stadtteilen in verschiedene Gruppen
zerfällt, zählt nach den letzten Mitteilungen seines Organs
„Die Heimarbeiterin" 629 Mitglieder. *) Im grossen und ganzen
scheint aber über Wege und Ziele der christlichen Arbeiterinnen-
organisationen noch wenig Übereinstimmung in den beteiligten
Kreisen zu herrschen. So verwahrt sich die Broschüre „Christliche
Gewerkvereine" dagegen, „die Arbeiterinnen in derselben Weise
') Vgl. Christliche Gewerkvereine; ihre Aufgabe und ThStigkeit. M.- Gladbach lono. S. 54
*) Vgl. Kuleraann. a. «. O. S. 404. In der Broschüre .Christliche Gewerkvereine*
ist die Mitgliederiahl nur auf 3500 angegeben.
*) VgL Rulemann, a. a. S. 71a.
«) Vgl. Die Heimarbeiterin, Organ des Gewerkvereins der Heimarbeiterinnen für
Kleider- und Wflschekonfektion. Berlin 1901.
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- «33 -
wie die Männer in das öffentliche Leben hineinzuziehen, sie mit
den Männern in denselben Organisationen zu vereinigen, an den-
selben Versammlungen teilnehmen zu lassen, kurz, sie mit den
Arbeitern in jeder Beziehung im wirtschaftlichen Leben gleich,
berechtigt auftreten zu lassen." ') Es wird dann empfohlen,
weibliche Organisationen mit weiblichen Vertrauenspersonen zu
schaffen; diese sollen den männlichen Organisationen angeschlossen
werden, besonders dem Vorstande derselben ganz und gar unter-
stellt werden. „Namentlich wird die Leitung der Versammlungen,
die Vertretung der Interessen des Verbandes gegenüber den
Arbeitgebern und der Gesetzgebung dem männlichen Vorstande
zufallen."*) Die Einrichtung eines solchen „Schutzverbandes der
Arbeiterinnen" wird folgendermassen gedacht:
„Nachdem bereits eine Arbeiterorganisation ins Leben getreten ist,
gründet man einen „Arbeiterinnen -Schutzverband" im Anschluss an
den männlichen Verband. Der Vorstand des letzteren ist der Vorstand
des ersteren, der die ganze Leitung und Verwaltung des Verbandes
besorgt. Die weiblichen Mitglieder erhalten durch ein eigenes Fachblatt,
das sich speziell mit den Fragen des Arbeitsverhältnisses der Mädchen
und Frauen befasst, die erforderliche Belehrung. So lange ein eigenes
Fachblatt unmöglich ist, wird man in dem Organe der Arbeiter für
passende Artikel sorgen. Eigene öffentliche Versammlungen der
Arbeiterinnen zu halten, wird aus verschiedenen Gründen wohl verfehlt
sein, abgesehen davon, dass in den meisten deutschen Bundesstaaten
das Vereinsgesetz bald Schwierigkeiten bereiten wird. Auch werden
keine gemeinsamen Versammlungen für Arbeiter und Arbeiterinnen
zu veranstalten sein. Es wird genügen, die „Förderinnen" oder weib-
lichen Vertrauenspersonen von Zeit zu Zeit zu berufen, um ihnen die
nötigen Anweisungen zu geben, mit ihnen sich auszusprechen und zu
beraten. Diese Förderinnen werden zwar in öffentlichen Versammlungen
zu wählen sein." 1 )
Die Textilarbeiterinnenvereine in Aachen u. s. w. sind nach
diesem Plan als Schutz- oder UnterstQtzungsvereine organisiert;
jedoch sollten sie zum x. April 1901 aufgelöst werden und die
Arbeiterinnen sollen den Textilarbeiterorganisationen zugeführt
werden, die einen Centraiverband bilden wollen. Aus den Kreisen
der Arbeiterinnen erhebt sich jedoch nach den Mitteilungen
Giessberts gegen diese Anordnung Opposition, da sie die höheren
Beiträge nicht zahlen und ihre selbständige Organisation bei-
behalten wollen.
Bei der jungen Entwicklung der christlichen Gewerkschafts-
«-») Vgl. Christi. Gewerkvereine S. 43-44.
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— 256 —
bewegung für Arbeiterinnen kann ein Urteil über Erfolge mit der
einen oder andern Organisationsform nicht gut gefallt werden.
Über ihre Bedeutung und wahrscheinliche Entwicklungsfähigkeit
gehen die Ansichten der Kenner des Gewerkschaftswc^ens sehr
auseinander. Legien, der Leiter der Generalkommission der
Gewerkschaften Deutschlands, sagt darüber: 1 ) „Trügen nicht alle
Anzeichen, so werden die Mitglieder der christlichen Gewerkschaften
zu der Erkenntnis kommen, dass sie nicht gegen, sondern mit
den andern Gewerkschaften kämpfen müssen. Beginnen sie sich
ernstlich mit den Gewerkschaftsfragen zu beschäftigen, so werden
sie bald den gegenwärtigen Leitern dieser Bewegung entgegen-
treten und sich den durch Kampf gross und stark gewordenen
Organisationen nähern."
Landgerichtsrat Kulemann sagt in seiner „Gewerkschafts-
bewegung 44 darüber nur:') „Da es sich um eine erst jetzt neu ein-
setzende Bewegung handelt, so ist daraus aus dem bisherigen
geringen Umfang nicht zu schliessen, dass sie nicht die Aussicht
habe, sich in grösserem Massstabe zu entwickeln."
Biermer sagt dagegen im Wörterbuch der Volkswirtschaft : J )
„Die Vereine zählen neben zahlreichen Handwerkern auch Nicht-
arbeiter zu ihren Mitgliedern, und es ist höchst unwahrscheinlich,
dass diese konfessionellen, mittelstandsähnlichen Organisationen in
der industriellen Arbeiterschaft zu einer dauernden Bedeutung
gelangen. 44
All diese Äusserungen, die zwar nur der allgemeinen christ-
lichen Arbeiterorganisation gelten, zeigen aber auch in Bezug auf
die besonderen Frauenorganisationen, dass ein abschliessendes
Urteil über deren Wirksamkeit vorerst noch gar nicht gebildet
werden kann. Inwieweit die christlich-soziale Berufsorganisation
namentlich bei den Frauen ein geeignetes Material finden dürfte,
ist angesichts der ersten, tastenden Versuche noch eine offene
Frage.
*
Die kurze Geschichte der Arbeitcrinnenbewegung, die unendlich
mühseligen, immer wiederholten Agitations- und Organisations-
versuche, die Bemühungen der Arbeiterinnen zur Verbesserung
ihrer Lage in wirtschaftlicher, sittlicher und sozialer Beziehung
reden eine beredte Sprache von ungesunden Arbeitsbedingungen,
') Legien. a. a. O.. S. n.
») Vgl. Kulemann a. a. O, S. 3*6.
Elster a. a. O., Artikel : Gcwcrkvcrcine, S. 933.
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— 257 -
übermässiger Arbeitszeit, unzureichendem Lohn; von Not und Elend,
von hoffnungsloser Verzweiflung und Verbitterung bei Tausenden —
aber auch von Energie und Thatkraft, Mut und Opferfreudigkeit,
von klarem, sozialem Verständnis und stark entwickeltem Gemein-
sinn bei Einzelnen. Beachtenswerte Erfolge in Bezug auf Be-
einflussung von Gesetzgebung und Verwaltung sowie auf Gestaltung
des Arbeitsvertrages hat das organisierte Vorgehen der Arbeiterinnen
bereits zu verzeichnen gehabt. Auch in Deutschland begegnet
das Losungswort der englischen Arbeiterinnenorganisationen dem
Verständnis immer weiterer Kreise:
„So ist es je besser, zwei denn eins; denn sie geniesscn doch
ihrer Arbeit wohl. Fällt ihrer Einer, so hilft ihm sein Gesell auf.
Wehe dem, der allein ist! Wenn er fällt, so ist kein andrer da,
der ihm aufhelfe."
Die Arbeiterinnenbewegung ist ein notwendiger und treibender
Faktor im modernen Wirtschaftsleben geworden. Die Forderungen,
die sie aufstellt, tragen dazu bei, die Kultur des ganzen Volkes
zu fördern und zu heben, die Bedingungen für ein leistungs-
fähigeres Bürgertum zu schaffen. Und wenn die Forderungen er-
füllt sein werden, die von der Arbeiterinnenbewegung heute auf-
gestellt worden sind, werden und müssen neue an ihre Stelle
treten; mit steigender Kultur werden auch die Ansprüche steigen,
die von den Arbeiterinnen an diese Kultur gestellt werden.')
') Vgl. die Arbeiterinnenbewegung im Zusammenhang der deutschen Frauenbewegung.
Handbuch der Frauenbewegung Teil L
Handbuch der Frauenbewegung. IL Teil 17
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$achre£i5ter.
A.
Albertverein 50 92
Achtstundentag aiQ
Agitationskommission 221 222
Aliceverein 92
Alimentationsbeiträge 125
Alimentationspflicht 131
Alkoholismus. Die Teilnahme der
Frauen an der Bekämpfung des
L93 ff-
Alkoholgegnerbund 104
Allgemeiner deutscher Frauen-
verein 41 123 130 132 134 f. 142
Allgemeiner österreichischer
Frauenverein 130
Anti-Alkoholvereine 193 ff.
Arbeiterfrauen- und Mädchen -
Verein, Allgemeiner deutscher
236
Arbeiterinnenbewegung 205 ff.
Arbeiterinnenbewegung, politische
22Q
Arbeiterinnenbewegung, gewerk-
schaftliche 230
Arbeiterinnen-Bildungsvereine 150
Arbeiterinnenheime 33 105 ff.
Arbeiterinnenklub ia6
Arbeiterinnenschutz 212 219
Arbeiterinnenzeitung 22z
Arbeitsnachweiseanstalten 112 ff.
Arbeitsvermittlung m ff.
Arbeitsnachweisverband 113
Arbeiterwohnungen 116
Armengesetzgebung 38
Armenpflege 7 ff. 98 m
Armenpflege, katholische in Frank-
reich u
Armenpflegerinnen,öffentliche 43 ff.
Armenpflegerinnen -Verein 45
Anstaltspflege 13
Asmussen, Frau 197
Asyl für Dienstboten 172
Asyle für entlassene weibliche
Sträflinge 86
Aufsichtsverein für Kostkinder zu
Breslau 92
Augspurg, Anita, Dr. jur. 185 186
Augustinerinnen 13
Auskunftsbuch über die Wohlfahrts-
einrichtungen Berlins 34
Auskunftsstelle der deutschen Ge-
sellschaft für ethische Kultur 33
Auskunftsstellen für Wohlfahrts-
bestrebungen 132
B.
Baader, Ottilie 222 224
Badischer Frauenverein 25 23 jo
92 Q4 114 118
Bahnhofsmission 108 f.
Barnardo, Dr. ich
Berliner Abendheim für Arbeite-
rinnen id6
Berlin -Brandenburger Heilstätten-
verein für Lungenkranke i_ifi
Berliner Centralstelle für Jugend-
fürsorge 103
17*
— a6o —
Berliner Frauenverein 32 130
Berliner Hausfrauenverein 114 130
Berliner Parteikongress 313
Berliner Spar- und Baugenossen-
schaft 112
Berliner Verein für Ferienkolonien
98
BerlinerZweigverein des Deutschen
Kulturbundes 165
Beschwitz, Freiin von 147
Besserungsanstalten 15
Bcthabara-Stiftung 87
Bethanien in Berlin 6q 62
Bibliothekarinnen 121
Bieber-Böhm, Frau Hanna 96 iofi
114 17a 174 179 i8q 199
Bion, Pfarrer in Zürich 97
Blaschko, Dr. 159
Blaue Kreuz iq± ff.
Bordelle 159 iSq 183
Bordellstrassen 159
Borromäerinnen 14 54
Bremer Mässigkeitsverein 198
Bremer Zweigverein des „Jugend-
schutz" i8q
Britisch - Kontinentaler und All-
gemeiner Bund zur Bekämpfung
des staatlich regulierten Lasters
ifii ff.
British Women's Temperancc
Association 195
Broecker, Frl. von iqö
Bachner, Luise 41
Bulling, Carl 141
Bund deutscher Frauenvereine 96
13a 141 144 ff. 178 189 ff. 199 f.
Bürgerliches Gesetzbuch 134 ff.
334
Burritt, Elihu 201
Butler, Josephine 161 184
c.
Carpentcr, Mary 86 100
Castner, Elvira 165
Cauer, Minna 36 185
Centralausschuss der inneren
Mission 8a
Central- Ferien verein inEisen ach qj
Central-Kranken- und Begräbnis-
kasse für Frauen und Mädchen
332
Centralisation der Wohlfahrtspflege
M
Centralstelle für Rechtsschutz 133
Centralstelle der Vereinigungen
für Sommerpflege 03
Centralstellenvermittlung 113
Central verein, preussischer, vater-
ländischer aa
Centralvertrauensperson 224
Charity-organisation-society 4a
Civilgesetzgebung 135
Clementinerinnen 14 54
Comeniushaus in Cassel 95
D.
Deutscher abstinenter Frauenbund
200
Deutscher Kulturbund 164 ff.
Deutsches Nationalkomitee zu inter-
nationaler Bekämpfung des
Mädchenhandels 192
Deutscher Verein für Armenpflege
und Wohlthätigkeit 43
Deutsche Zweigvereine der Inter-
nationalen Föderation i8q ff.
Diakonieseminar 73
Diakonissen 8_ f. 13 f. 16 54 58 ff.
6g 72 82 91 102 105 109
Diakonissenanstalten 15 37 56 58 ff.
69 IQl
Diakonissenanstalt Kaiserswerth
Diakonissenanstalt in Strassburg
60 61
Diakonissenhaus in Dresden 6q 64
Diakonissen-Mutterhäuser iß 17 56
58 24
Dienstmägde Christi 13 14 54
Dienstbotenfrage 213 223
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— 261 —
Draunner, Dr. J. 107
Droste -Vischering, Clemens
August von 12
Duncker, Franz 120.
E.
Edingen Anna 199
Eggers-Smidt, Frau 180
Ehekontrakte 148
Ehescheidung 12g 132 140
Ehevertrage 133
Elberfelder Frauenverein 92
Elberfelder Zufluchtshaus 87
Elisabethinerinnen 13 f. 54
Elisabeth - Kranken - und Dia-
konissenhaus 60
Elisabethenverein 26
Elisabeth -Verein 12
Elterliche Gewalt 137
Evangelischer Diakonieverein 37
22 f. 107
F.
Fabrikinspektorinnen 172 ±LL£ 221
Fabriksystem 208
Familienpflege 100
Familienrat 143
Familienrecht 134 ff. 145 147 149
Föderation abolitionniste inter-
nationale 161
Ferienkolonien 30 97
Filles servantes des pauvres de la
chante 12
Findelhäuser 90
Fliedner, Kaiserswerth 15 58 105
Förster, Auguste 136
Fortbildungsschulen 104 128 190
Fortbildungsverein, Bremen 120
Frankfurter Frauen -Verein 2Q
Franziskanerinnen 13 kj. 54
Frauen - Agitationskommissionen
221 222
Frauenarbeit 209 211 f.
Frauenbildungsverein Kiel 130
Frauenbildungsverein Leipzig 12Q
Frauenbildungsvereine, sozia-
listische 222 242
Frauendemonstration, internatio-
nale 203
Frauen - Hilfsverein für Hand -
arbeiterinnen 237
Frauenhilfsverein für Kinderheil-
statten an den deutschen See-
küsten 97
Frauenkomitees der Heilstätten-
vereine 118
Frauenkongress. internationaler zu
Berlin 1896 202
Frauenrechtsschutzbewegung 124fr.
Frauenvereine 21 ff. 31 37 46 90 f.
113 118 129 152 172 174 186
Frauenwahlrecht 223
Freiwilliger Erziehungsbeirat für
schulentlassene Waisen 33
Fremdlingsgemeinden 9_
Freudenberg, Ika 187
Friedemann, Auguste 114.
Friedensbewegung 201 ff.
Friedensbüreau, standiges, in Bern
aoi
Friedensgesellschaft, deutsche, zu
Berlin 202
Friedenskonferenzen, interparla-
mentarische 201
Froebel 95
Froebelhaus in Hamburg 95
Froebelverein in Berlin 95
Fröhlich, Pastor 64
Fürsorge-Erziehungsgesetz 104
Fürsorge für die schulentlassene
Jugend 104 ff.
Fry, Eüsabeth 66 79 flc 8i
G.
Gamper, Adele 247
Gefangenenpflege 80 ff.
Gefängnisbeamtinnen 8q fl".
Gefängnisdienst, freiwilliger 85
Gefängnisgesellschaft , rheinisch •
westfälische 80
Digitized by Google
— 262 —
Gefängnisse für jugendliche Ver-
brecher 86
Gefängnismission 84 ff.
Gemeinde-Krankenpflege 53
Gemeindepflege zq
Gemeindepflege, Mülhausen 62
Gemeindeschwestern 10
Gemeindewaisenrat 43
Genesungsheime 178
Genossenschaftsbewegung 216
Gesamtziffer der deutschen Frauen-
vereine 28
Gesellschaft freiwilliger Armen-
freunde 22
Gesellschaft für soziale Reform
Gesellschaft für Verbreitung von
Volksbildung 120
Gesindeordnungen 219 233
Gesundheitspflege, hausliche und
öffentliche 30
Gewerbegerichte 219
Gewerbefreiheit 208
Gewerbeordnung 214.
Gewerkschaftsbewegung, christ-
liche, für Arbeiterinnen 256
Gewerkschaftskonferenz 243
Gewerkvereine 230 ff.
Gewerkvereine, evangelische 254
Gewerkvereine, katholische 254
Gewerkverein der Heimarbeite-
rinnen für Kleider- und Wäsche-
konfektion 254
„Die Gleichheit" 221
Gnauck-Kühne, Elisabeth 247
Goldschmidt, Henriette 41 95 14a
Gossner, Pastor £0.
Gothaer Parteitag 213
Grossindustrie 208
Grünhain in Sachsen (Gefängnis
für Jugendliche) 86
Guillaume - Schack, Gertrud 564 f.
168 130 vja 238 241
Güterrecht, gesetzliches 129 136
139 146 148
Güterrecht, vertragsmässiges 140
Guttempler-Logen 194 19/7
IL
Hacker, Agnes, Dr. med. 191
Hamburger Schulverein <jj
Handbuch der deutschen Frauen-
vereine vom Roten Kreuz 69
Handelsgehilfinnen 221
Häuser für verwahrloste Kinder iqq
Haushaltungsschulen 26 105
Hausindustrie 207
Hauspflegevereine 31 ff.
Heilsarmee 13 18
„Die Heimarbeiterin" 2^4
Heimaten iofi
Heimstätten in Berlin und Weissen-
see 93
Heinersdorff, Pfarrer 84 8j
Heyl, Hedwig 196
Hilfsschulen für schwachsinnige
Kinder 99
Hill, Octavia 116
Hirsch, Max 230
Hirsch - Dunckersche Gewerk-
vereine 231 252
Hofmann. Marie 165 238
Hoffmann, Ottilie 196 ff.
Hoffnungsbunde 197
Hohenlohe - Schillingsfürst, Prin-
zessin Elisabeth li8
Hölzel-Ahlswede, Dora, Hamburg
2fi2
Hospitalpflege 53
Hospize lq6
Humboldt -Vereine 12a,
Hygienischer Unterricht 183 190
L
Ihrer, Frau Emma 187 221 222 224
837 250
Industrielle Frauenarbeit au f.
Internationaler Frauenkongress 178
Internationale Gesellschaft vom
Roten Kreuz 54
Digitized by LiOOQle
Internationaler Mädchenhandel 191
Isenburger allgemeiner Frauen-
und Madchenverein 2^ 250
Isolierungsheime 128
J.
Jastrow, Dr. J., Stadtrath 113
Jessen, Luise 97
Johanneum in Chemnitz iqi
Johanniterinnen 7J
Jüdische Krankenpflegerinnen-
gemeinschaften 54
Jugendfürsorge 88 ff.
Jugendfürsorge für das schul-
pflichtige Alter Q5 ff.
Jugendfürsorge für das vorschul-
pflichtige Alter 90 ff.
Jugendschutzheime 106
Jungfrauen vereine 105
K.
Karlsruher Central verein 26 f.
Katholische Schwester - Ordens -
genossenschaften 14
Kellner, Marie 2a
Kellnerinnen 221
Kellnerinnenbewegung 186
Kellnerinnenschutz 186. f.
Kempin, Emilie, Dr. jur. 123 136
Kinderarbeit 209 211 f.
Kinderbesserungsanstalt Marienhof
zu Trachenberge iqi
Kindergarten 94 itj 134 179
Kindergarten -Verein in Breslau 95
Kinderheime iS
Kinderheim des Evangelisch -
lutherischen Vereins für innere
Mission in Leipzig 93
Kinderhorte 96 112 174
Kindervolksküchen 93
Kinderschutzkommission des
Bundes deutscher Frauenvereine
91
Kirchliche Armenpflege 8 ff. 56
Kleinkinderbewahranstalten 94
Kleinkinder - Rettungsverein in
Stuttgart 93
Klönne, Friedrich 14 56
Knabenhort 96
Knutzen, Gertrud 192
Koalitionsfreiheit 214
Koalitionsrecht 151 219 221
Kochschule 23
Komitee zur Kellnerinnenfrage
183
Kongress deutscher Strafanstalten
§3
Kostkinderwesen 90
Krankenhausbehandlung, obliga-
torische 182
Krankenpflege 51 ff.
Krankenpflege, geschlossene 53
Krankenpflege, offene 53
Krankenversicherungsgesetz 182
Krippen 94
L.
Lammers, Mathilde 193
Landesvereinsgesetz , Braun-
schweig 150 153
Landesverein preussischer Volks-
schullehrerinnen 121 2QQ
Landeswohlthätigkeitsverein 20.
Lange, Helene 187
Las co 9
Lehmus, Emilie. Dr. med. xi9_
Lesehallen, öffentliche 120
Letteverein 114
Leyden, Frau von 118
Logierhäuser 107
Lohnskala, ausgleichende in
Lohesche Anstalt in Neuendettels-
au 6q 63
Luisenhof bei Hamburg 93
Lungstras, Bertha 87 93 196
M.
Mädchenfürsorge 26
Mädchen- und Frauengruppen für
soziale Hilfsarbeit 36
Mädchenheime 105 f.
Magdalenenasyle 15
Mägdebildungsanstalten 105
Mägdeherbergen 505
Mägdeschulen 105
Mahrenholtz-BQlow, Bertha von
95
Mäntelnäherinnen, Fachverein der
240
Marianischer Mädchenschutzverein
107
Marthahäuser 109
Marthashof 105
Martin Lutherstift in Hohenstein-
Ernstthal IQl
Mässigkeits- und Enthai tsamkeits-
bewegung 194. ff.
Mellien, Marie 85 202
Menzzer. Marianne 236
Metropole 18
Miessner, Elisabeth 185
Mill, John Stuart aio
Morgenstern, Lina 30 35 92 95 114
17a 106 aoa
Mosse, Emilie §6
Muchall, Mary 165
N.
Nachweisebureau 1126.
Nachweise guter Schlafstellen für
Arbeiterinnen 107
Nagel, Sophie 165
National Society for the Prevention
of Cruelty to Children 133
Naue, Betty 106
Niederrheinischer Schutz- und
UnterstQtzungsverein christlicher
Textilarbeiterinnen 254
Nightingale, Florence 66 62 76
Nordverein Berliner Arbeiterinnen
240
Nordwestdeutscher Verein für Ge-
fängniswesen 85
Nutzniessungsrecht 146
o.
Obergorbitz bei Dresden (Rettungs-
haus) iqi
Oberkaufungen (Heilstätte) uß
Oberlin 95
Oberurbach (Asyl) 8j
Octavia Hill-Verein irj
Öffentliche Armenpflege 38 fl".
Olgaverein 92
Orden der Schwestern von der
Busse der St. Magdalena 79
Ortsarmenverband Stuttgart 102.
Otto-Peters, Louise 41 135 235
P.
Pappritz, Anna iäa i8j
Pariser Nationalwerkstätte in
Patriotisches Institut der Frauen-
vereine in Sachsen-Weimar 20 46
Pestalozzi-Fröbelhaus in Berlin 95 f.
114
Pfleganstalt Hubertusburg 74
Pflegerinnenorganisation, geistliche
51 56 ff -
Pflegeorganisationen. halb weltliche.
halb geistliche 51 66 ff .
Pflegerinnenorganisation, weltliche
51 76 ff.
Pflegestation für Frauen 11Q f.
Pflegerinnenverein, freiwilliger 19
Plothow, Anna 96
Poetz, Frl. von 136
Poliklinik 118 f.
Politische Vereine und Versamm-
lungen 142 ff.
Polizeimatronen 84 174 189 190
Ponikau, Freifrau von 192
Preussischer Städtetag in Berlin 44
Preussisches Vereinsgesetz 150
Proelss, Sera 142
Prostitution 156 ff. 133 18a
R.
Räuber, Marie 165 172
Raschke, Marie, Dr. jur. 132 142
— 265 —
Rauhe Haus iqi
Ravit. Julie 196
Rechtliche Stellung der unehelichen
Kinder 137 Iii
Rechtskampfe 134 ff.
Rechtskommission des Bundes
deutscher Frauenvereine 144
146 f.
Rechtsschutz 133 ff. 174
Rechtsschutzstellen 123 ff. 130 131
148
Rechtsschutzvereine 123 ff.
Rechtsschutzverein für Arbeiter 235
Rechtsschutzverein für Frauen in
Dresden 123 ff. 14a
Recke- Volmarstein. Adalbert von 14
Reformatory and industrial schools
mi
Reglementierung der Prostitution
156 ff.
Rheinisch- Westfälischer Verein für
Bildung und Beschäftigung evan-
gelischer Diakonissen 59
Reinickendorfer Anstalt 172
Rettungshäuser, evangelische 101
Rettungshaus Friedenau 18
Rickert,Reichstagsabgeordneter24 r
Riesenthal, Frau von 165 171
Rochat, Pastor 194
Rumford, Graf 30
s.
Sachsenburg in Sachsen (Gefängnis
für Jugendliche) 86
Sächsisches Vereinsgesetz 151
Salomon, Alice 183
Samariterstation ifi
Schack, Gertrud Guillaume- 164 f.
i£8 170 172 238 241
Schirmacher, Kaethe 202
Schmid-Schwarzenberg, Prof. 96
Schmidt, Anna 113
Schmidt, Auguste 41 142 19g
School for training nurses 66
Schräder, Henriette 95
Schüler-Ankersmit, Frau Pfarrer 93
Schulärztinnen 183
Schultz, Pastor 63
Schulze-Delitzsch L2Q
Schutzalter 139 186 191
Schutzdamen 174
Schutzfürsorge an den entlassenen
Gefangenen 84
Schwerin, Jeannette 33 36 41 221
24J
Schwestern vom Roten Kreuz 68
Schwesterschaften, barmherzige 12
Selenka, Margarete 202
Sewell, Margaret 37
Sieveking, Amalie 14 21 57 85
Sittlichkeitsbewegung 154 ff. 184
186 189
Sittlichkeitsfrage 184 ff.
Sozialdemokratie 214 2x6 217 22a
Soziale Hilfstätigkeit x ff.
Sozialistengesetz 217.
Society for promoting the return
of qualified women as poor-law-
guardians 42
Soden, Eugenie von 197
Sophien-Frauenverein 26
Sophienheilstätte n&
Spielplätze 116
Staatsvormundschaft 179
Statistik der inneren Mission ich
Stein, Minister von 14 53
Stellenvermittlungen iod ua ii±
187 188
Strafanstaltsoberinnen 83
Strauss, Elsa 106
Stritt, Marie 202 247
Studt, Frau Minister 118
Susman, Sophie 35
Suttner, Bertha von 201
Sweating-system 179
Tageserholungsstätten 118
Taube, Dr. 49 91
Tiburtius, Dr. Franziska 119
Di
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Tiburtius, Dr. Henriette m£ Iii
119 172
Tietz, Frau 182
Töchterheime 23
Training ships im
Tschernitschew-^ky 122
V.
Varenkopp 33
Vaterländischer Central - Frauen-
verein unter dem Roten Kreuz 22
Vaterländische Frauenvereine 23
28 15 6ö IP_ 22 liü UA i2?2Qö
Verband der christlich-sozialen
Textilarbeiterinnen von Aachen,
Burtscheid und Umgebung 354
Verband deutscher Krankcnpflege-
anstalten vom Roten Kreuz 30
Verband der deutschen Schutz-
vereine für entlassene Gefangene
Verband der deutschen vater-
ländischen Frauenvereine 23
Verband der Textilarbeiter und
Arbeiterinnen in Bayern 354
Verband fortschrittlicher Frauen-
vereine 186.
Verein der Arbeiterinnen an Buch-
und Steindruckpressen 34a
Verein Berliner Volksküchen 30
Verein für Familien- und Volks-
erzichung in Leipzig 25
Verein zur Förderung der Fröbel-
schen Kindergärten 25
Verein für Fraueninteressen.
München 130
Verein Frauenwohl-Berlin 142 132
J83 185
Verein Frauenwohl-Brcslau 130
Verein Frauenwohl-Danzig 130 152
Verein Frauenwohl-Königsberg 130
Verein der Freundinnen junger
Mädchen 106 108
Verein für häusliche Gesundheits-
pflege 22 22
Verein für Hausbeamtinnen 113
Verein zur Hebung der Sittlichkeit
Iii
Verein Jugendschutz 96 114 rja ff.
186 100
Verein Mädchenhort 96
Verein gegen den Missbrauch
geistiger Getränke 104
Verein von Münchener Kellne-
rinnen i8j
Verein zum Schutz der Kinder vor
Ausnutzung und Misshandlung
Verein der deutschen Strafanstalts-
beamten 85
Verein zurVerbesserungderkleinen
Wohnungen 112
Vereinsarmenpflege 19 ff.
| Vereins- und Versammlungsfreiheit
214 ff.
Vereins- und Versammlungsrecht
149 ff. 214 219 224
Verein zur Vertretung der Inter-
essen der Arbeiterinnen 238
Versorgungshaus in Bonn Bj 23 196
Versorgungshaus in Colmar 23
Versorgungshaus in Marburg 33
Vertrauenspersonen 218 224
Verwaltungsgemeinschaft 139
Vemalt ungsrecht 146
Viktoriahaus 36
Vincentincrinnen 14 54_
Vincent a Paulo 12
Vorbehaltsgut 139
Vogeler, Elisabeth 96
Volksbibliotheken 120 f.
Volksbildungsbestrebungen 1^9 6f.
Volksheilstätten 118 f.
' Volksheilstättenverein vom Roten
Kreuz 118
Volkshochschulen 119
Volkskaffee- und Speisehäuser 132
Volkskindergarten 95
Volksküchen aj 30
i Volksunterhaltungen 119 ff.
— 267 —
Vorasyl des Magdalenenvcreins in
Frankfurt a. Main 87
Vormundschaft 43 132 143
Vormundschaftsgericht 47 143
12?
Vormundschaftsrecht 138
w.
Waisenordnungen 48
Waisenpflege 3 32 ff. 45 43 ff. 83
98 10Q 191
Waisenpflegerinnen 48 f. 102
Waschhäuser 116
Weber, Mathilde 41 132
Wecker, Johanna 236 242
Weibliche Handelsangestelltc 213
Widdern, Frau von 117
Wöchnerinnenheim iß 31
Wohlfahrtsbestrebungcn noff.
Wohlgemeinte Stiftung in Dresden
Wohnungspflege 115 ff.
Woman's Christian Temperance
Union 195
Women's Temperance Crusade 195
World's Woman's Christian Tem-
perance Union 135 iqo
Württembergischer Frauenverein
für hilfsbedürftige Kinder 102
Wüstenfeld, Emilie oj.
Z.
Zetkin, Clara 21B 221
Ziehkinderwesen 45 qo
Zieh- oder Haltekindcrsystem QQ
Zillerstift in Leipzig iqi
Zimmer, Professor 52
Zwangserziehung iüq 124
W. Moeser Buchhandlung, Berlin.
Sep.-Cto.: „Die Frau».
„Die Frau"
Monatsschrift für das Rannte Frauenleben
unserer Zeit.
Herausgegeben von Helene Lange.
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