Zeitschrift für
pädagogische
Psychologie,
und
experimentelle
1 L
■
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Zeitschrift
für
Pädagogische Psychologie
Pathologie und Hygiene.
Herausgegeben
von
Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlatt.
Berlin W.
Hermann Walther Verlagsbuchhandlung O. m. b. H.
1907.
Inhalt des neunten Jahrganges.
A. Abhandlungen.
Albert Eulenburg, Srhülcrsclbstmordc j . . . . . 1 — 31
Nicolai Wolodkcwitsch, Eine Untersuchung der höheren Geistes -
fähigkeiten bei Schulkindern, V, VI, VII (Schluß) .... 32—58
Erster Kongreß für Kinderforschung und Jugendfürsorge, Berlin,
Oktober 1906:
— Ufer, Kinderforschung und Pädagogik . 59 — 61
— Eduard Martiinak, Wesen und Aufgaben einer Schülerkundc . 61 — tiY
— Engelspcrger und Zicglcr, Beiträge zur Kenntnis der physischen
•und psychischen Natur der sechsjährigen, in die Schule ein~-
tret enden Münchener Kinder ■ , 67 — 70
— W. Fürstenheim, Reaktionszeit im Kindesalter . . . . . . 70 — 71
— B. Delitsch, Ueber die individuellen Hemmungen der Aufmcrk-
samkeit im Schulalter . . . 71 — 72
— Karl L. Schaefer, Ueber Farbenbeobachtungen bei Kindern . 72
— H. Schmidkunz, Die oberen Stufen des Jugendalters ... 72 — 71
— F. Schmidt, Haus- und Prüfungs.iufsatz ....... ' 4 — i t
— W. Stern, Grundfragen der Psychologie . ■ • • • ^' — 80
— Pabst, Die psychologische und pädagogische Bedeutung des
" "praktischen Unterrichts . . . 7 80 — 82
— Plak, Arbeitserziehung . . . ... ■ ■ - ■ • • ■ - 82—81
— L. Bernhard, Beiträge zur Kenntnis der Schlafverhältnisse Ber-
liner Gcmcindcschüler ~ 84 — 86
— Th. Heller, Ueber psychasthenisihe Kinder . . . 86
— Ueber die Möglichkeit einer Beeinflussung abnormer Ideen-
assoziation durch Erziehung und Unterricht . ■ . . . 87 — 88
— W. Pix, Ueber hysterische Epidemien in deutschen Schulen 88 — 91
— - F. Wcigel, Bildungsanstalten des Staates, der Provinzen bezw.
" "Kreise und der Kommunen für Schwachsinnige im Deutschen
Kelche ..... . 91—93
— F. Lorentz, Die Beziehungen der Sozialhygiene zu den Pro-
Siemen sozialer Erziehung ............ 93 — 95
— G. Riemann. Die Taubstummen- Blinden . 95 — 97
— H. Gutzmann, Die soziale Fürsorge für sprachgestörte Kinder 97—99
Theodor Fritzsch, Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906 100 — H0~
Marx Lobsien, Ueber Zahlengedächtnis und Rechenfertigkeit . 161 — 168
Eduard Schulze, Erziehung und Arbeit ........ . . 169 — 190
Erster Kongreß für Kinderforschung und Jugendfürsorge (Forts.)
— W Kulemann, Die kriminalistische Behandlung der Jugend
liehen .... 191—198
— von Rohden, Jugendliche Verbrecher ......... 199-202
— Felisch, Die Fürsorge für die schulentlassene Jugend . ■ . 203 — 217
— Hanna Mecke, Frübelsche Pädagogik und Kindcrforsrhung 217 — 225
— Wilhelm Ament, Eine erste Blütezeit der KLnderseoU-nkunde
um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert 225 — r.f^^
— Ferdinand Kemsies, Zur Frage der Kinderlügen . . ■ . . . 226 — 227
IV
Joseph Frühling, Meteorologische Beobachtungen an Schulen . 257 — 268
P. Osterloh, Ueber anatomische Modelle . 269—274
Heinrich Stadelmann, Der Stand des Unterrichts an den Schulen
für Schwachbefähigte in Deutschland 275—290
F. Wcigl, Aufklärungsarbeit über die Bewahrung der Jugend vor
den Genußgiften . 291—301
Hans Plechcr, Zur Psychologie der Schulprüfungen ...... 302—311
Albert Moll, die forensische Bedeutung der modernen Forschungen
über die Aussagepsychologie 417 — 444
Georg Flatau, Zur Psychologie der nervösen Kinder ...... 145 — 457
B. Sitzungsberichte.
Gesellschaft für Psychologie in Wien.
S. Kornfeld, Ueber energetische Auffassung psychischer Vor-
gänge auf Grund der Blutdrucksmessung . 142^-144
Idem, Unfallsneurosen 144
A. Stöhr, Der Ablauf des Lebens nach W. Fließ 144—147
W. Jerusalem, Der Kongreß für experimentelle Psychologie zu
Würzburg, April 1906 .............. 147
W. Peters, Versuch einer Messung der Aufmerksamkeitskonzen-
tration ...... 148
W. Schultz, Psychologische Methoden zur Erforschung der antiken
Philosophie ... 148-149
Berliner Verein für Schulgesundheitspflege.
Paul Ritter, Die Bedeutung einer gesunden Mundhöhle für die
allgemeine Gesundheit 228 — 230
A. Baginsky, Soll man während des Unterrichts im Winter die
Fenster öffnen? 231—232
Th. Sommerfeld, Schule und Tuberkulose 232 — 234
F. Kemsies, Ueber den Eindruck der vom Verein gestifteten
Gesundheitsregeln auf Realschüler 234 — 235
Th. Benda, Hygienische Trinkvorrichtungen . 235 — 236
E. Haumann, Die Organisation der Berliner Pflichtfortbildungs-
schule und die Anforderungen, die sie an die Arbeitskraft
der Schüler stellt 237—239
A. Baginsky, Körperliche Hebungen während des Unterrichts . 240—241
Eulenburg, Schülersclbstmorde 141
F. Kemsies, Zur Frage der sexuellen Aufklärung der Jugend . . 242 — 244
Psychologische Gesellschaft zu Berlin.
Gramzow, Fechner 246—247
Rudolf Lehmann, Poetik als Psychologie der Kunst ..... 312' — 315
Hochdorf, Artistische Weltanschauung 315 — 318
Albert Moll, Ueber den Einfluß der Medizin auf die moderne
Psychologie ... 319—321
Hennig, Ueber Narurgenuß 321 — 323
Frischeisen-Köhler, Psychologie des Schreibens ....... 323 — 327
Dessoir, Zur Theorie der Hypnose 327 — 331
Gramzow, Ibsen als Psychologe 331 — 332
Leppmann, Zur Psychologie der internationalen Verbrecher . . . 332—335
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V
Hohenemser, Ueber das Seelenleben der Blindgeborenen und der
früh Erblindeten 335—338
Barwald, Zur Psychologie des Klavierspk-ls 338 — 340
Moll, Ueber die sexuelle Entartung im Spiegel der Weltliucratur 310 — 312
Samuel Sänger, Philosophie auf Schulen 342—344
Moser, Zur Psychologie des Klaviertones 344 — 346
Hochdorf, Zur Psychologie der Presse 346—349
Berthold, Symptome exzentrischer Zeitregungen ....... 349—350
Vortragsplan des Wintersemesters 1907/08 ... 351
Frischeisen-Köhler, Die Bedeutung der Psychologie für die Geistes-
wissenschaften 468—469
Hennig, Okkultismus und wissuischaitliche Forschung .... 459 — 461
Dessoir, Die Psychologie der Aussage, angewendet auf okkul-
tistische Berichte 462-463
Schleich, Psychophysik des Rhythmus 463—464
VI. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands zu Char-
lottenburg (3.-5. April 1907).
Horrix, Der Personalbogen in der Hilfsschule ....... 362 — 353
Frenzel, Die schriftlichen Arbeiten in der Hilfsschule ..... 363
Stier, Ueber den Militärdienst der geistig Minderwertigen . . . 353 — 355
Fuchs, Die Organisation und die Erfolge der Fortbildungsschule
für Schwachbeanlagte in Berlin 365 — 35(5
Sandt, Die Neuorganisation der Charlottenburger Gemcindcschulen
mit Rücksicht auf die minderbegabten und minder leistungs-
fähigen Schüler 366
Berichte und Besprechungen.
F. Burckhardt, Psychologische Skizzen zur Einführung in die
Psychologie. 6. Aufl. 248
O. Gerlach. Pädagogische Psychologie und Logik 248
L. Honmann, Pädagogische Psychologie usw. . 249
C. G. Jung, Psychologische Diagnose des Tatbestandes
Olberg, Bericht über die ersten 100 Sitzungen d. forens.-psychiatr.
V. usw 249—250
Aschaffenburg, Ueber die Stimmungsschwankungen der Epileptiker 250 — 251
L. Habrich, Pädagogische Psychologie . 357 — 363
E. Zühlsdorf f, Die Psychologie als Fundamental Wissenschaft der
Pädagogik 364—366
G. Voigt, Lehrbuch der pädagogischen Psychologie ..... 367 — 369
H. Walsemann, Die Anschauung 370 — 377
I. van der Torren, Ueber Auffassungs- und Unterscheidungsver-
mögen für optische Bilder bei Kindern 377—378
Schuyten, Over Gehengenvariatie bij Schoolkinderen ..... 378
Id., De opperolakte van het Geschrift . 378—380
Ziehen, Die Geisteskrankheiten des Kindesalters ...... 380 — 381
E. Schlesinger, Schwachbegabte Schulkinder ....... 381— 38J
O. Pfungst, Das Pferd des Herrn von Osten . 382 — 385
F. Gansberg, Streif züge durch die Welt der Grobstadtkinder . 385 — 38C
Frenze!, Schwenk und Schulze, Kalender für Lehrer und Leh-
rerinnen an Schulen und Anstalten für geistig Schwache,
III. Jahrg. 1907/08 386—387
Neter, Das einzige Kind und seine Erziehung . 466—466
Scupin, Bubis erste Kindheit 466—467
Niehusen, Musik für unsere Kleinen 467 — 468
Foerster, Jugendlehre. — Lebenskunde 468—470
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i
VI
Mitteilungen.
Deutscher Gymnasialverein 150—151
Jahresversammlung des Deutschen Vereins iür Psychiatric in
München April 1906 15]
Bund für Mutterschutz 152
Konferenz über die Wirksamkeit des preußischen Fürsorgeer-
ziehungsgesetzes 152 — 157
Fürsorgeerziehung oder Gefängnis? 157 — 160
XIV. Internationaler Kongreß für Hygiene und Demographie 262 — 256
Deutscher Lehrertag 388—404
34. Deutscher Aerztetag in Halle . . 404 — 406
Italienische Schulzustände . . 406 — 408
Reform des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unter-
richts 408—409
Gesellschaft für experimentelle Psychologie 409 — 411
Institut für angewandte Psychologie und psychologische Sammelt-
forschung 411 — 414
Petition an den Herrn Minister usw., betr. 'Unterrichtszeit und
häusliche Arbeiten an den höheren Schulen ...... 414 — 416
Schulärztliches 471—473
Statistik der Krüppclkinder 473 — 478
Die schlechten Schüler und ihre verspätete Entwicklung . . . 479—480
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Zeitschrift
für
Pädagogische Psychologie
Paiftotojl« md Rv9l«»<-
Herausgegeben
von
Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlaff.
Jahrgang IX. Berlin, April 1907. Heft 1/2.
Schülerselbstmorde.
Von
Albert Eulenburg. ,
Vortrag im Berliner Verein für S c h u 1 g e 3 n n d h e i t s p f 1 e g e
am 26. Februar 1907.
Die unheimliche Erscheinung des Selbstmordes, der
freiwillig erkorenen Verzichtleistung auf das Dasein, hat von
jeher die Aufmerksamkeit und das ungeschulte, wie das religiös
und philosophisch geschulte Nachdenken im höchsten Maße
angeregt und beschäftigt. Nur dem obersten, intelligentesten
aller Lebewesen, dem Menschen, ist diese schroffeste Form der
Lebensverneinung eigen; denn was man an Analogien dafür
in der Tierwelt hat ausfindig machen wollen, ist längst als Irr-
tum, als Mißdeutung, wenn nicht als phantastisch ersonnene
und ausgeschmückte Fabel erkannt worden. Um so tiefer klafft
aber gerade beim „vernunftbegabten" Menschen der unversöhn-
bare Widerspruch zwischen der sich aufdrängenden Er-
kenntnis eines als elementare Macht das Ichwesen be-
stimmenden und beherrschenden, ja vielleicht den innersten
Kern seines Wesens ausmachenden dunkeln Lebenswillens
und der scheinbar zuwiderlaufenden Betätigung freiwillig er-
strebter, gewaltsamer Selbstvernichtung. Nicht mit
Unrecht hat freilich schon der geniale Denker der Willens-
ZeiUehrift für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 1
2
Albert Eulenburg.
philosophie, hat Schopenhauer in seinen Betrachtungen über
den Selbstmord hervorgehoben, daß der Selbstmörder durch
seine Tat nur die Fortdauer und Fortbetätigung dieser indi-
viduellen Aeußerungsform des Lebenswillens, nicht , aber den
Lebenswillen an sich verneine; daß er also auch vom Stand-
punkte einer auf Weltverneinung gerichteten Philosophie im
Grunde zweckwidrig oder mindestens unzulänglich handle.
Für uns, die wir ohne solche an ein bestimmtes , System
gebundene metaphysische Voraussetzung an die gegebenen
Erfahrungstatsachen unbefangen prüfend herantreten, knüpft
sich das Hauptinteresse naturgemäß an die Frage, welche be-
wußt angestellten Erwägungen oder welche unbewußt dunkeln
Antriebe es im Einzelfalle sein könnten, die das (gesunde oder
kranke) Individuum mit unwiderstehlicher Gewalt der Ent-
scheidung zudrängten, das Leben als wertlosen Besitz oder
als eine nicht länger zu ertragende Last von sich zu werfen.
Behält nun aus diesem Gesichtspunkte betrachtet schon der
Selbstmord Erwachsener für uns häufig genug einen rätsel-
haften und unverständlichen Rest, so verstärkt dieser Eindruck
sich fast bis zu dem des schlechthin Unbegreiflichen und jeder
verstandesmäßigen Erklärung Spottenden, wenn wir es mit
Handlungen noch im kindlichen oder in frühem
jugendlichen Alter stehender Selbstmordopfer zu tun
haben. Denn für diese, dem späteren Rückblick paradisisch
verklärte Zeit des erwachenden „Lebensfrühlings" scheinen ja
alle das Leben freudig bejahenden Triebkräfte des Seelen-
lebens in freiester Entfaltung zu stehen, alle feindseligen
Dämonen noch grollend fernab zu weilen — scheint das Leben
sich in unabsehbarer Perspektive zu einer von glänzendem
Hoffnungsschimmer umkleideten, märchenhaften Zukunftsland-
schaft verlockend auszubreiten. So müssen denn die leider
keineswegs seltenen Selbstmorde gerade dieser Altersstufen dem
Menschen- und Seelenforscher, wie dem ernstgestimmten Beob-
achter unseres gesellschaftlichen Lebens und seiner Krankheits-
erscheinungen in der Tat eine ungewöhnliche Teilnahme ab-
gewinnen und ihn zu eindringlicher Vertiefung in Hergang
und Entstehung jedes Einzelfalles ganz besonders auffordern.
Nur auf diesem Wege können wir ja hoffen, eine klarere und.
vollkommenere Einsicht in die lebensfördernden und hemmen-
den Antriebe, in das so schwer durchschaubare Spiel der seeli-
SchiilersMslmordr.
3
sehen Reizungen und Motivbildungen des kindlich- jugendlichen
Alters auch in Fällen dieser Art zu erlangen und damit den
zur Zerstörung, zur Selbstvernichtung treibenden dunkeln
Seelenmächten wirksam vorbeugend zu begegnen. Bei der
modernen Verstaatlichung des gesamten Erziehungswesens und
dem damit zusammenhängenden allgemeinen Schulzwange trifft
es sich nun, daß die Selbstmorde kindlich-jugendlicher, vor
oder in den Entwicklungsjahren stehender oder wenig über
diese hinausgelangter Individuen sich, wenn nicht durchweg,
so doch zu einem sehr ansehnlichen Teile als von schul-
pflichtigen und schulbesuchenden jungen Leuten ver-
übt darstellen und aus diesem Gesichtspunkte der Beurteilung
unterliegen. So sind wir zu dem Schlagwort der „Schüler-
selbstmorde" gelangt — womit sich durch eine naheliegende
Ideenverbindung offen oder insgeheim der Gedanke verknüpft,
daß die Schule mit den eigenartigen Bedingtheiten ihrer viel-
angefochtenen Organisation, mit ihrem unablässig auferlegten
Pflichten und Anforderungen und den dabei unvermeidbaren
Rückwirkungen auf das körperliche und geistige Leben der
ihr überlieferten Zöglinge wohl in irgend einer Weise die Hand
im Spiele haben, bei dem Zustandekommen dieser betrübenden
Ereignisse mittelbar oder unmittelbar ursächlich beteiligt sein
müsse. Ob diese Annahme, dieser „Verdacht" möchte ich
sagen, überhauDt und in welchem Umfange allenfalls er be-
rechtigt ist, das wird sich bei näherer Untersuchung und Prü-
fung, die natürlich ein einwandfreies Beobachtungsmaterial
vorausgesetzt, erst ausweisen müssen. Somit erscheint eine den
sachlichen Anforderungen gerecht werdende, eingehende Be-
schäftigung mit den „Schülerselbstmorden 44 als eine nach ver-
schiedenen Seiten wichtige und bedeutsame, ganz besonders
aber schulhygienisch nicht abzuweisende Aufgabe. Ja,
man kann sie vielleicht, ohne zu übertreiben, in gewissem Sinne
an die Spitze aller hierher gehörigen Aufgaben stellen. Denn
wenn es sich für die Schulhygiene darum handeln muß, alle
mit dem Schul betriebe zusammenhängenden gesundheitschä-
digenden Einwirkungen nach Möglichkeit auszuschalten, so
würde das gewiß in noch höherem Maße von Einflüssen und
Einwirkungen seitens der Schule zu gelten haben, die den
Lebenswillen selbst in seinem innersten Kern zu treffen und
zu gefährden, die somit nicht nur die Gesundheit, sondern
i*
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4
Albert EuUnbwrg.
das Leben ihrer Zöglinge von innen heraus verhängnisvoll
zu bedrohen vermöchten. &o bedarf es denn wohl keiner
weiteren Rechtfertigung, wenn in unserer, den Zwecken der
Schulgesundheitspflege dienenden Vereinigung auch
einmal die „Schülerselbstmorde*' zum Gegenstande der
Erörterung gemacht werden — sicher nicht (wie kaum be-
merkt zu werden braucht) aus irgend welcher Voreingenommen-
heit zuungunsten der Schule, sondern im Gregenteil aus pietät-
voller Liebe zu ihr und, wie ich gleich (vorausschicken darf,
vielfach erhobenen Vorwürfen und Anschuldigungen gegenüber
im großen und ganzen auch zu ihrer Rechtfertigung und Ent-
lastung.
Bei den Mitteilungen, die ich Ihnen hierüber zu machen
habe, bin ich in der glücklichen Lage, mich auf ein außer-
ordentlich umfangreiches und durchaus einwandfreies amt-
liches Material stützen zu können, mit dessen Durcharbeitung
ich mich seit länger als vier Jahren beschäftige. Dank dem
verständnisvollen, über naheliegende Bedenken sich hinweg-
setzenden Entgegenkommen der preußischen Unterrichts-
verwaltung, der ich nicht verfehle, an dieser Stelle meinen
warm empfundenen Dank auszusprechen, war es mir gestattet,
das gesamte Aktenmaterial des Ministeriums der geistlichen,
Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten über Schüler-
selbstmorde aus den Jahren 1880 — 1903 für diesen Zweck zu
verwerten. Dieses ansehnliche Aktenmaterial umfaßt aus 24
Jahrgängen nicht weniger als 1152 Selbstmordfälle, wovon
allerdings nur 284 in Form eingehender und selbständiger,
auf die Bekundungen von Direktoren, Klassenlehrern, Mit-
schülern, Angehörigen, Aerzten usw. aufgebauter Einzel -
berichte vorliegen. Während diese 284 Fälle ausschließlich
höheren Lehranstalten (Gymnasien) entnommen sind, ent-
stammt das gesamte Material teils niederen, teils höheren
Schulen, und zwar kommen auf die niederen Schulen ins-
gesamt 812 Fälle (alle den Altersklassen unter 15 Jahren an-
gehörig), auf die höheren Schulen insgesamt 340 Fälle. Ich
habe zur rascheren Orientierung einige Uebersichtstafeln an-
fertigen lassen, die ich Ihnen hier vorführen und an die ich
zunächst einige erläuternde Bemerkungen kurz anknüpfen.
werde.
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Schülerselbst morde.
5
Tabelle I.
Schülerselbstmorde
an höheren und niederen Schulen.
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(7)
Tabelle I erstreckt sich auf 24 Jahrgänge (1880 bis
1903); jedoch ist zu bemerken, daß die Ziffern aus den nie-
deren Schulen nur für 21 Jahrgänge (1883— 1903) angegeben
sind, für die drei ersten Jahrgänge (1880— 1882) dagegen
fehlen, so daß also die Gesamtzahl der Schülerselbstmorde in
Zeit von 24 Jahren und eine danach berechnete Durchschnitts-
zahl etwas zu klein ausfallen. Zieht man lediglich die 21 Jahr-
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6
Albert EuUnburg.
gänge 1883 — 1903 in Rechnung, so beläuft sich die Gesamt-
zahl für diese Jahrgänge auf 1125; es ergibt sich daraus eine
Durchschnittszahl von 53,57 oder fast 54 Schülerselbst-
morden im Jahre.
Für eine Statistik der gesamten Jugendselbstmorde und
für deren Verteilung nach Altersklassen und Geschlecht kann
die Tabelle natürlich nur in begrenztem Maße herangezogen
werden, nämlich soweit es sich um die Altersklassen unter
15 Jahren handelt, mit welchem Alter die Zugehörigen der
niederen Lehranstalten ausscheiden und die der höheren Lehr-
anstalten ausschließlich fortgeführt werden. Für diese Alters-
klassen unter 15 Jahren nun ergibt sich aus niederen und.
höheren Schulen zusammen in 21 Jahrgängen eine Gesanu-
ziffer von 878, also eine Durchschnittszahl von 41,9 oder
fast 42 Selbstmorden im Jahre; es ergibt sich ferner für die
niederen Schulen ein Verhältnis der männlichen zu
den weiblichen Selbstmördern von 653 : 1 59 oder von
4,16 : 1 J ein Ergebnis, das mit dem schon früher von B a e r
berechneten Verhältnis (4:1) und ebenso mit 'den Gutt-
stadt sehen Zahlenangaben (240:49) ziemlich nahe überein-
stimmt. Die Jahresschwankungen sind, wie Sie aus der Ta-
belle ersehen, recht beträchtlich, und zwar sind sie bei den
höheren Schulen — auf die Tabelle 1 1 besonders Bezug
nimmt — verhältnismäßig größer als bei den niederen (4:21
gegen 27:57). Die Jahreszahl der Schülerselbstmorde aus
beiderlei Anstalten zusammen ist, wie Sie sehen, im Schluß -
jähre 1903 nicht höher, sondern im Gegenteil etwas niedriger
als im Anfangsjahre 1883 (nämlich 58 gegen 56) trotz der
inzwischen so bedeutend angewachsenen Bevölkerung und
entsprechenden Zunahme der hierhergehörigen Altersklassen,
was immerhin als ein einigermaßen beruhigendes Ergebnis an-
zusehen sein dürfte.
Tabelle II umfaßt ausschließlich die höheren Schulen,
mit einer Gesamtzahl von 340 Selbstmorden in 24 Jahrgängen
oder fast genau 14 (14,17) im Jahre. Auffallend sind dabei
die überaus starken Jahresschwankungen, zwischen 4 (1898)
als Minimum und 21 (1901) als Maximum; eigentümlicher-
weise bekundeten die Jahre 1898 — 1900 überhaupt eine sehr
erhebliche Abnahme (4, 8, 7), worauf .denn in den Jahrea
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Sch ülerselbstmordc.
7
Tabelle II.
Schülerselbstmorde
an höheren Schulen.
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17
*) darunter 4 über 20 Jahren
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17')
19
*) dai unter 3 Ober 20 Jahren
1 61
1 5
242
! *
| 340
1901 — bis 1903 wieder ein bedeutendes, allerdings nicht stetiges
Anschwellen (21, 17, 19) unmittelbar folgte.
Für das Verhältnis der Altersklassen unter 15 zu der
Altersklasse über 15 Jahre ergibt sich aus 21 Jahrgängen eine
Gesamtziffer von 66:247 oder, wenn wir die weiblichen Ge-
schlechtsangehörigen ihrer geringen Zahl halber außer Be-
tracht lassen, von 61:242; d. h. also, auf den höheren
Lehranstalten für Knaben sind die Selbst-
morde im Alter über 15 Jahre fast genau vier-
mal häufiger als unter 15 Jahren.
Auf die Zahl der Schülerinnenselbstmorde und
auf das hierbei obwaltende Verhältnis zwischen den ver-
schiedenen Altersklassen läßt sich bei der Spärlichkeit des
amtlichen Materials in dieser Hinsicht kein Schluß ziehen, da
anscheinend nur die öffentlichen höheren Töchterschulen, nicht
aber die Privatschulen in die amtliche Statistik einbezogen
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s
worden sind, und auch kasuistische hierher gehörige Mit-
teilungen in den Akten nicht vorliegen.
Tabelle Iii. Ursachen
der Selbstmorde von Schülern höherer und niederer Schulen
von 1883—1903.
HöherejNiedere
Schulen
c
Zurückstellung von der Abiturientenprüfung
Abneigung gegen den Schulbesuch
Verweigerte kirchliche Absolution
Aerger, Zorn, Mißmut. Trotz
Aerger, da er Geschwister beaufsichtigen sollte
Aerger, infolge Verweises
Harte Behandlung seitens der Eltern, bezw. Verwandten u. Lehrer
Erlaogungsverweigerung einer Buchhalterinstelle
Schlechte Zensur
Diebstahlsverdächtigung
Amerikanisches Duell
Gekränktes Ehrgefühl
Gekränkter Ehrgeiz
Eigensinn
Anfall von Epilepsie
Krankhafte Erregung
Verwahrloste Erziehung
Fälschung eines Schulzeugnisses
Fieberwahnainn
Entziehung der Freischule
Furcht vor dem Examen, nicht bestandenes Flamen und nicht
erfolgte Versetzung
Furcht vor dem Besuche der Stadtschule
Furcht vor Strafe
Geisteskrankheit, bezw. Störung
Verweigerung seitens der Eltern der Rückkehr zur Großmutter
Jähzorn
Verweigerte Erlaubnis zum Kirmesbesach
Lebensüberdruß
Körperliche Leiden
Bekanntwerden eines Liebesverhältnisses
Liebesverhältnis, Nachlässigkeit dadurch in der Schule und zu
erwartende Ausweisung
Liebesverhältnis mit einer Ehefrau
Unglückliche Liebe
Abweisung vom Missionardieost
Geistige Ueberspannung durch vieles Romanlesen
Wollte nicht Geistücher werden
Mittellosigkeit
Nervenschwäche, plötzliche Erregtheit, nachdem er stets bei ge-
ringfügigen Ursachen gesagt, er wolle sich aufhängen . . .
Nervenüberreizung
Pessimismus
Religiöse Schwärmerei, bezw. echter religiöser Wahnsinn . . .
Rübenarbeit, sollte dazu nicht mitgehen
») In Zwangserziehung.
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C j e:s t j rr Heber ans! rrrii/im i-r
2
Unachtsamkeit
1
69
1
214
37
1
1
5
1
6
1
2
Zorn, durfte eioe neue Mfitze nicht tragen
1
1
Körperliche Züchtigung durch die Eltern, berw. Lehrer . . .
2
6
1«)
Zureden der Matter zum gemeinschaftlichen Selbstmord . . .
1
3
Um nicht mit den Eltern an einen anderen Wohnort zu ziehen
—
1
301
9
651
156
*) Epileptisch.
Diese im Ganzen 11 17 Fälle, und zwar 310 aus höheren,
807 aus niederen Lehranstalten umfassende Tabelle bezieht
sich auf die angenommenen Motive oder die unmittelbaren
ursächlichen Momente der Schülerselbstmorde, und zwar sind
diese hier mit genau denselben Bezeichnungen wiedergegeben,
wie sie in den amtlichen Jahreszusammenstellungen Aufnahme
gefunden haben. Ein Blick auf diese Bezeichnungen wird Sie
überzeugen, daß dabei wesentlich nur die nächsten, zu-
fälligen und gelegentlichen Ursachen und Be-
weggründe, nicht aber die tiefer liegenden allge-
meinen und prädisponierenden Ursachen in Be-
tracht gezogen werden, für deren Feststellung und Würdigung
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10
Albert Eulenburg,
wir somit auf die weiterhin zu besprechenden 284 Einzel-
berichte aus höheren Lehranstalten hauptsächlich
angewiesen bleiben. Immerhin ermöglichen jedoch auch schon
die Angaben dieser Tabelle einige nicht uninteressante und
zu allgemeineren Schlußfolgerungen berechtigende Ergebnisse.
So erreicht z. B. die Zahl der auf Furcht yor Strafe un-
mittelbar zurückgeführten Selbstmorde die geradezu schrecken-
erregende Höhe von 336 — eine Zahl, die wahrscheinlich noch
weit hinter der Wirklichkeit zurückbleibt, da noch verschiedene
andere, auf dem Gebiete der Schuldisziplin und der häuslichen
Zucht liegende Motivierungen hier eingereiht werden müßten.
So die Rubriken: Rüge in der Schule (1), Strafzurück Ver-
setzung (1), Verweisung von der Schule (6), ferner harte Be-
handlung seitens der Eltern, Angehörigen und Lehrer (24),
Züchtigung durch Eltern und Lehrer (9. — darunter ein epilepti-
sches Mädchen ! — ), Furcht vor dem Examen oder nicht be-
standenes Examen und nicht erfolgte Versetzung (46). Das
wären 423. — Jedenfalls also weit mehr als der
dritte Teil aller Schülerselbstmorde wurde aus
Furcht vor Bestrafung wegen Schul vergehen
oder wegen geringen Schulerfolgcs begangen!
— Frappierend ist ferner die verhältnismäßig große Zahl der
Fälle, in denen unmittelbar „G eisteskrankheit" oder
„G eistesstörung" als Ursache angeschuldigt wird, nämlicn
70 — wozu offenbar noch die als religiöser Wahnsinn (3),
Tief sinn (30) und Trübsinn (1) verzeichneten Fälle, sowie
die von Epilepsieanfall (1) und Fieberwahnsinn (3) hinzu-
gezählt werden müssen; also im ganzen mindestens 108 unter
11 17, oder fast 10 (9.67) °/o. Rechnet man auch die FäÄle
von „Nervenschwäche mit plötzlicher Erregtheit" (1) und von
„Nervenüberreizung" (2) hierher, so ergeben sich m Fälle
unter 11 17, oder ziemlich genau 10 0/0.
Es liegt doch die Vermutung nahe, daß gerade diese Fälle
bei geschärfterer Beobachtung in Haus und Schule, noch mehr
bei ausreichender schulärztlicher Kontrolle — die für die Periode
dieser Statistik entweder ganz fehlte oder kaum in den ersten
Anfängen vorhanden war — wohl eine andere Wendung hätten
nehmen und vor dem Aeußersten bewahrt bleiben können. —
Motivierungen von der Art, wie „amerikanisches Duell" (1)
oder „Liebesverhältnis mit einer Ehefrau" u.dgl. geben an sich
Schüler Selbstmorde.
11
Manches zu denken; wir werden später bei Betrachtung der
Einzelfälle noch auf Vorkommnisse dieser Art näher einzu-
gehen haben. „Liebe" — oder was sich unter diesem jschön-
klingenden Namen verbirgt — wird außerdem noch in 18
Fällen auls unmittelbare Ursache bezeichnet; tatsächlich ist
sie es wohl noch weit häufiger, wie aus den Einzelberichten
hervorgeht, und unter den „unbekannten Veranlassungen", die
in der Tabelle mit nicht weniger als 265 Fällen Vertreten sind,
dürfte wohl gerade dieses Motiv einen ziemlich breiten Raumi
einnehmen. In einer überraschend großen Reihe von Fällen
endlich finden wir als unmittelbare Selbstmordanlässe ganz un-
bedeutende, harmlose, anscheinend fast kindische Dinge
namhaft gemacht (Aerger 1 1, verweigerte Erlaubnis zur Rüben-
arbeit, zum Kirmesbesuch, zur Seefahrt, zum Tragen einer
neuen Mütze, verweigerte Mitnahme zur, Treibjagd je 1, Spielerei
40 usw.). Derartige auch in den Zeitungsnotizen über Jugend-
selbstmorde immer und immer wiederkehrende Angaben be-
stätigen zunächst, daß hinter den unbedeutenden und winzigen
offenliegenden Motiven, die in so gar keinem Ver-
hältnisse zur Tat zu stehen scheinen, erst die allge-
meineren, in Anlage, Konstitution und Umgebung wurzeln-
den tieferen Ursachen aufzusuchen sind; sie weisen überdies
darauf hin, wieviel uns noch für ein feinfühlig erfassendes Ver-
ständnis und ihm sich anpassende Behandlung dieses Alters
zu tun bleibt, dessen hochgesteigerte Empfänglichkeit und oft
ans Krankhafte streifende Ueberempfindlichkeit selbst auf
minimale seelische Reizungen die angesammelten Spannkräfte
nur zu leicht explosiv in selbstzerstörerischen Reaktionen ent-
ladet.
Wenden wir uns nun zu den aus höheren Lehranstalten
stammenden 284 Einzelberichten, so ist dafür wenn möglich
eine gewisse und übersichtliche Anordnung und Gruppierung
des Materials anzustreben, ein Versuch, der erklärlicherweise
mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hat und unter allen
Umständen nur unvollkommenes Gelingen verspricht. Immer-
hin ergeben sich bei wachsender Beherrschung des Stoff-
gebietes doch gewisse Haupttypen — oder genauer ge-
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12
Alber i Eulenburg.
sprachen gewisse Hauptrichtungen, die für eine solche vor-
läufige Einordnung der zum Teil recht verwickelten und in
kein Schema widerspruchpos einzuzwängenden Einzelfälle eine
brauchbare Grundlage bieten.
Eine sich verhältnismäßig leicht abhebende, der ärztlichen
Betrachtung besonders naheliegende Gruppe umfaßt die Fälle,
in denen wir — soweit die allerdings nicht immer genügenden
und beweiskräftigen Bekundungen über diesen Punkt reichen —
auf das Vorhandensein geistiger Störungen als mutmaß-
licher Selbstmordursache mit größerer oder geringerer Sicher-
heit schließen dürfen. Es sind das immerhin 29 Fälle unter 284.
also etwas über 10 (10.02) °/o. Von den Selbstmördern dieser
Kategorie endeten 19 durch Erschießen — das, wie ich gleich
bemerke, bei den Schülerselbstmorden überhaupt die weit-
aus bevorzugte Todesart ist — 7 durch Erhängen, 2 durch
Ertränken (bei einem ist die Art der Entleibung nicht ange
geben. Von den Erhängten hatte einer, ein I4jähriger Knabe,
mit ungemeiner Hartnäckigkeit operiert, indem er sich erst
zu erschießen suchte, dann, da die Waffe versagte, sich mit
einem Messer den Hals abzuschneiden begann und, als das
Messer sich als zu stumpf erwies, mit dem Strick ,die Tat
beendete. Die Art der Geistesstörung ist aus den meist ziemlich
allgemein gehaltenen ärztlichen und nichtärztlichen Angaben
nicht immer erkennban; doch scheinen die verschiedendsten
Formen der dem jugendlichen Alter eigenen Seelenstörungen,
mit und ohne Intelligenzdefekte, besonders erworbene Defekt-
psychosen, hebephrenische Demenz usw. vorgelegen zu haben.
In einem Falle ist von einer, längere Zeit anhaltenden .Gemüts-
depression, in einem anderen von großem Hang zur Einsam«
keit, Schwermut die Rede. In einem Falle ergab die (auf
dem pathologischen Institut in Kiel vorgenommene) Ob-
duktion eine ungewöhnlich starke schleichende Entzündung der
weichen Hirnhäute, dazu Anzeichen einer beginnenden akut
fieferhaften Krankheit, so daß (wie es in dem Berichte heißt)
„eine Störung der Hirntätigkeit in hohem Maße wahrscheinlich
ist". Genauere Einsicht gewährt uns der Fall eines Unter-
primaners, der sich mit dem väterlichen Revolver eine Schuß-
wunde am Kopfe beibrachte und schwerverletzt dem Kranken-
haus in H. zugeführt wurde; der leitende Arzt dieses Kranken-
hauses berichtet darüber wörtlich:
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13
„Die Tat ist im Zustande geistiger Störung verübt. Dafür
spricht das Verhalten ... 's vor und nach der Tat. Vor der
Tat umgürtete er sich zu seiner persönlichen Sicherheit mit
einem Degen seines Vaters, um bei seinem nächtlichen Gange
nach dem Tatorte etwaige Angriff Anderer abwehren zu
können. Dabei führte er bereits den Revolver mit sich, mit
dem er sich töten wollte. Auch die Art der .Verwundung
ließ auf geistige Störung schließen. In der Tasche des Ver-
wundeten fand sich nach Angabe des Vaters ein Zettel, in
dem er bat, ihn da zu bestatten, wo man ihn fände. Sollte
die Presse über den Vorfall berichten, so möge man über den
Bericht die Aufschrift „Ein jugendlicher Selbstmörder" setzen.
Wenn aber jemand für gut befände, sich öffentlich über die
Motive zu äußern, so sollte man ihm einen Mühlstein an den
Hals hängen und ihn ersäufen wo es am tiefsten sei. Das
Schreiben enthielt kein Wort des Abschiedes an die Seinen
und keine Angabe des Grundes der Tat". Einige Tage nach
der Einlief erung ins Krankenhaus traten Tobsuchtserschei-
nungen ein, die zur zeitweiligen Unterbringung des Kranken
in einem Isolierraum nötigten. Bei seiner, auf Wunsch des
Vaters erfolgten Entlassung dauerte die geistige Störung noch
fort. — Der Arzt glaubte die geistige Erkrankung auf die
unverdaute Lektüre philosophischer Schriften" (Schopenhauer
und Nietzsche) und die daraus entspringende Neigung zum
Pessimismus zurückführen zu dürfen. Ich bin der Meinung,
daß es sich bei dieser Annahme wohl um eine Verwechslung
von Ursache und Wirkung handelt, denn auch bei den geistigen
Krankheitsübertragungen spielt ja, wie bei den körperlichen,
die Disposition eine noch entscheidendere Rolle, als der
sogenannte „Krankheitserreger" selbst. Ich werde übrigens
auf diesen in den Berichten ziemlich häufig wiederkehrenden
und stark betonten Umstand noch an späterer Stelle zurück-
kommen. Seinen Mitschülern gegenüber soll sich X. selbst
dahin ausgesprochen haben, daß seine geistige Beanlagung
anormal sei.
Ich will noch einen zweiten in die gleiche Kategorie ge-
hörigen Fall anführen, der in gleicher Weise die Ueber-
zeugung erwecken muß, daß durch eine schärfere Aufsicht und
ein rechtzeitiges Eingreifen von Haus und Schule das traurige
Ende vielleicht zu vermeiden gewesen wäre. Der Fall betraf einen
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14
Albert Eulenburg.
15jährigen, offenbar schon familiär belasteten Gymnasiasten.
Sein Verhalten in der Schule fiel allerdings wenig auf; nur
wurde bemerkt, daß ihm bei jeder kleinen Rüge, oder wenn ihm
ein Versuch nicht gelang, das Blut sofort in den Kopf trat.
Der Vater machte den Eindruck eines schwachen Mannes,
die häusliche Erziehung war mangelhaft und schwankend. Ein
Bruder des Selbstmörders litt seit frühester Kindheit an
geistiger Schwäche, war auch zur Zeit der Tat noch „geistig
sehr beschränkt". Bei dem ebenfalls geistig schwach veran-
lagten Selbstmörder stellte sich — ich zitiere wörtlich nach
dem Gutachten des Hausarztes — „in den letzten Jahren immer
mehr Zunahme einer geistigen Gestörtheit ein, die sich zeit-
weise in sehr grellem Lichte darstellte, besonders in Wutaus-
brüchen und in seinem krankhaft gestörten Blick. Die geistige
Gestörtheit, eruptiv auftretend, blieb den Eltern nicht unbe-
kannt, vielmehr sprachen diese, sowie auch die kürzlich ver-
storbene Großmutter mir gegenüber ihr großes Bedenken aus
über das auffallende Wesen und Benehmen des Kindes. Des-
gleichen habe ich auch den Eltern schon früher erklärt, das Kind
leide an einer wahrscheinlich angeborenen geistigen Störung".
Soweit der ärztliche Bericht, der wohl keines Kommentars
bedarf. Man fragt sich verwundert, wie ein so beschaffenes
Kind auf dem Gymnasium belassen werden, wie es den Lehrern
dort nicht auffallen, wie es durch seine Leistungen auch nur
„genügen" konnte. Aber solcher Rätsel werden uns in dieser
traurigen Selbstmordkasuistik zu viele und in zu ermüdender
Gleichförmigkeit aufgegeben, um bei den einzelnen in langer
Betrachtung zu verweilen. In lebhafter Erinnerung ist mir ein
Fall, in dem ich selbst zu dem sterbenden Selbstmörder hinru-
gerufen wurde und erfuhr, daß dieser schon seit Monaten
mit den Eltern und Geschwistern kein Wort mehr gewechselt
und im Hause völlig sich selbst überlassen in offenbar schwer
melancholischem Gemütszustande gelebt habe!
Eine zweite, der Zahl nach noch ansehnlichere Gruppe
wird durch die Fälle gebildet, in denen zwar eine tausgesprochene
Geisteskrankheit (oder akute Geistesstörung) als unmittelbare
Selbstmordursache nicht nachzuweisen war — immerhin aber
eine angeborene, zumeist ererbte, mehr oder minder schwere
nervös-seelische Belastung, eine „Minderwertigkeit",
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Schüler selbst morde
15
wie der ehedem so beliebte, jetzt allmählig außer Kurs
kommende Ausdruck lautet, unzweifelhaft vorlag/ Es sind
das mindestens 51 Fälle — zusammen mit den auch
wesentlich auf krankhafte Veranlagung zurückzuführenden
29 Fällen der ersten Kategorie, also nicht weniger als
80, oder etwas über 28 (28.2) 0/0 der Gesamtzahl. « In
38 Fällen dieser zweiten Gruppe wurde der Selbstmord durch
Erschießen vollzogen, sechsmal durch Ertränken, fünfmal durch
Erhängen, einmal durch Vergiftung mit einer großen Zahl
von Schlafpulvern. Auch zwei der Erschossenen hatten früher
Vergiftungsversuche, mit Cyankalium und mit Chloroform, bei
sich unternommen. Ein anderer hatte sich auf einer Fußreise
in den Ferien erst an der linken Hand mit einem Messer,
dann durch einen Streifschuß an der rechten Schläfe und durch
eine eingedrungene Kugel an der Brust verwundet und suchte
nach seiner Auffindung diese Verletzungen als durch Ueberfall
eines Strolches beigebracht darzustellen, gab aber nachträglich
den Selbstmord-Versuch unumwunden zu.
Die meisten der hierher gehörigen Selbstmörder hatten in
ihrer Ascendenz mehr oder weniger schwere Fälle von Nerven-
leiden, Geistesstörungen. Epilepsie, Trunksucht; auch mehr-
facher Selbstmord in der Ascendenz oder bei nahen Verwandten
begegnet nicht selten. In mehreren Fällen hatten die Väter,
in einem Falle beide Großeltern, in einem anderen der Groß-
vater mütterlicherseits, und ein Bruder des Vaters durch Selbst-
mord geendet, und es hatten diese Ereignisse, die im Kreise
der Familie viel besprochen und anscheinend allzu mild be-
urteilt wurden, einen nachhaltigen Eindruck' auf die jugend-
lichen Gemüter hinterlassen ; einer dieser Knaben prahlte seinen
Mitschülern gegenüber förmlich mit der Androhung des Selbst-
mordes, den er dann auch — und zwar gerade am festlich be-
gangenen Geburtstage seiner Mutter! — tatsächlich vollführte.
In einem Falle wird der Vater als religiöser Asket ge-
schildert, der eine Verpflanzung des Knaben wider dessen
Neigung ins Kloster plante, die Mutter als aufgeregt und von
krankhaft maßlosem Wesen ; in einem anderen war die Mutter
gemütskrank, der Sohn litt von früh auf an periodischen Kopf-
krämpfen ; in einem dritten war der Vater Epileptiker gewesen,
und an Schwindsucht gestorben; in einem vierten lebten die
Eltern getrennt, der Vater hatte zeitweilig in einem Trinker-
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16
Albert Eulenburg.
asyl untergebracht werden müssen. In einem fünften war
die Mutter sehr exajtiert, auch ihre Schwester galt in 'der
(jüdischen) Gemeinde des Ortes als überspannt und „spleenig"
— der Sohn selbst, frühreif, verzogen und an Kopfkongestionen
leidend, war der Typus eines Neurasthcnikers. In einem sehsten
Falle finden wir in der mütterlichen Verwandtschaft Geistes-
krankheit und Epilepsie, in der väterlichen Verwandtschaft
Selbstmord in vermeintlich plötzlicher geistiger Umnachtung.
Und so weiter, in infinitum!
Die unmittelbare Veranlassung, die „Gelegenheitsursache"
zum Selbstmorde wurde bei den in solcher Weise Ver-
anlagten nicht selten durch ganz geringfügige, als reine
Lappalien erscheinende Dinge geliefert. Noch öfter freilich
spielt Furcht vor Nichtversetzung, vor drohenden Schul- und
Hausstrafen, vor einem aufgezwungenen Berufe dabei wesent-
lich mit; oder es handelt sich um Entladungen krankhaft
gesteigerter Empfindlichkeit — schroff abgewiesene Liebes-
anträge (bei einem Untersekundaner), heftiger Streit mit der
Schwester, Hänseleien von seiten eines Lehrers, der den Knaben
einmal — es lag dies schon 5 Jahre zurück — in einem
Wirtshause eine Portion ..Eisbein" hatte verzehren sehen und
auf dieses Eisbein wiederholt in geschmacklosen Neckereien
zurückkam. Auch in einem anderen Falle gab der Selbstmörder
in einem hinterlassenen Zettel der höhnischen Behandlung
seitens eines Lehrers Schuld an seiner Tat ; dieser Lehrer soll,
nach einer Aeußerung des Direktors, wohl zu einer gewissen
„Schnoddrigkeit" geneigt gewesen sein und witzige (oder witzig
sein sollende) Bemerkungen nur schwer unterdrückt haben.
Fälle dieser Art führen uns in überzeugender Weise vor Augen,
welche unendliche Vorsicht, welche stetige und strenge Selbst-
überwachung zumal im Verkehr mit ungünstig beanlagten
Schülern allem pädagogischen Wirken als Richtschnur dienen
muß und zu wie furchtbaren Konsequenzen ein Zuwiderhandeln
gegen diese eigentlich selbstverständliche Voraussetzung nur
allzuleicht führen kann. Von anlaßgebenden Motiven seien
noch hervorgehoben: Verzweiflung über organische Leiden,
über eine Verkrüppelung der Hand, die auch nach chirurgischer
Behandlung ungeheilt war; über die Bedrängtheit häuslicher
Verhältnisse, die soweit ging, daß die Mutter, eine arme Witwe,
den Sohn mit Kleidung und Büchern nicht genügend, seinem
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Schüler Selbstmorde.
17
Ehrgefühl entsprechend, auszustatten vermochte. Zuweilen er-
scheint dies jugendliche Ehrgefühl arg mißleitet oder an Klein-
lichkeiten hängend. Ein Untersekundaner, von väterlicher Seite
belastet und ein sehr unzuverlässiger Schüler, begehrte von
seiner Mutter Geld, um seinen Geburtstag im Kreise seiner
Kameraden zu feiern, erhielt nur drei Mark, entfernte sich in
äußerster Aufregung ohne Ueberzieher und Kopfbedeckung,
ohne wiederzukehren und wurde nach länger als drei Wochen
mit zwei Mauersteinen beschwert im Mühlbache ertränkt auf-
gefunden !
Auch gewisse Sonderbarkeiten und Bizarrerien sind bei
Individuen von so bedenklicher Veranlagung wohl zu beachten ;
dahin gehört zum Beispiel die öfters zur Schau getragene
Neigung für den Besitz und Gebrauch von Schießwaffen, der
von häuslicher Seite viel entschiedener entgegengetreten werden
sollte. Ein Obertertianer, der sich erschoß, verfügte über ein
ganzes Arsenal von Schießwaffen; in seinem Zimmer fand
man vier Revolver und eine große Menge Patronen, außerdem
hatte er im Hause eines befreundeten Mitschülers drei ihm ge-
hörige Gewehre stehen; er soll fast täglich dort geschossen und
eine große Menge Patronen verbraucht haben; selbst in der
Turnstunde führte er gelegentlich einen Revolver mit sich. Auf
welche Unzulänglichkeit der geübten Aufsicht, auf wie un-
angebrachtes Vertrauen lassen solche keineswegs vereinzelte
Vorkommnisse mit Notwendigkeit schließen!
Noch einen Fall will ich, zugleich als Musterfall schwerer,
auf Alkoholismus in der Ascendenz beruhender familiärer Be-
lastung kurz anführen. Ein Obersekundaner hatte seinem
Pensionshalter, einem Gymnasialprofessor, aus dessen ver-
schlossenem Schreibtisch die deutschen Texte zu den
lateinischen und griechischen Extemporalien entwendet und
zwei Mitschülern übergeben, die sie hektographiert und allen
übrigen Klassengenossen zugänglich gemacht hatten. Er selbst
hatte ferner aus dem Konferenzzimmer einen neuen, dem
Gymnasium gehörigen Schapirographen entwendet und den
erwähnten Mitschülern übergeben, die den Apparat alsdann
durch Feuer zerstörten. Er wurde von der Anstalt verwiesen
und der Beschluß in schonendster Weise zur Kenntnis des
Vaters gebracht, von dem bald die kurzgefaßte Nachricht ein-
ging, daß sich sein Sohn nach Ablegung eines offenen Ge-
Zeitwhrift für pKdapoplBehc Psychologie, Pathologie o. Hygiene. 2
Digitized by Google
18'
Albert Eulenbwg.
ständnisses das Leben genommen habe., — Der Großvater dieses
jungen Menschen, ein Oberst, war wegen Neigung zum Trunk
pensioniert worden; zwei Brüder des Vaters hatten frühzeitig
ihren Tod durch Alkoholismus gefunden, und der Vater selbst
war in einer Periode seines Lebens dem Untergange durch
Trunksucht sehr nahe. Der Knabe hatte, wie sich heraus-
stellte, schon lange Zeit vor der Katastrophe zu seinen Mit-
schülern geäußert, er werde sich, wenn die Geschichte heraus-
komme, erschießen. Und er hat Wort gehalten! — Es bedarf
wohl kaum der Erinnerung, daß sich gerade die aus Trinker-
familien stammenden Kinder durch besonders bedenkliche
nervös-seelische Beanlagung, durch Neigung zu schweren Ner-
ven- und Geisteskrankheiten, Verbrechen, Selbstmord vielfach
in unerfreulicher Weise kennzeichnen. Immerhin würde aber
doch selbst in derartigen Fällen eine rechtzeitige Erkenntnis
der Sachlage und ein verständnisvolles Ineinandergreifen ent-
sprechender pädagogischer und hygienisch ärztlicher Maßregeln
oft genug der traurigen Weiterentwicklung vorbeugen und
wenigstens die äußersten, schlimmsten Konsequenzen abzu-
wenden vermögen.
Es folgen nun zwei sehr umfangreiche, nach Zahl und
Bedeutung voranstehende Gruppen, bei denen mehr noch als
bei den vorherigen die besonderen Beziehungen zwischen der
Schule und der für ihre Aufgaben und Ziele nicht an-
passungsfähigen oder ihnen direkt widerstrebenden Indivi-
dualität des Schülers in den Vordergrund treten. Diese
beiden Gruppen umfassen 137 (die eine 67, die andere 68).
also etwas über 48 0/0 der näher untersuchten Einzelfälle — »
beide Gruppen demnach ziffermäßig fast gleich stark, innerlich
freilich ganz von einander verschieden, in gewissem Sinne fast
gegensätzlich.
Bei den Selbstmördern der ersten Gruppe handelt es sich
im Wesentlichen um eine von vornherein mangelhafte, den
Anforderungen und Zwecken der höheren Lehranstalt nicht
oder nur unvollkommen gewachsene Begabung ; infolge davon
ungenügende Schulleistung und nur zu oft das innere Gefühl,
nicht in die Schule hinzupassen, ihr selbst bei Anspannung
Digitized by Google 1
Schülersclbstworde.
19
und zeitweiliger Ueberspannung der Kräfte nicht ge-
nügen zu können, trotzdem aber durch äußeren Zwang
darin festgehalten zu werden. Dies sind die armen
Opfer unpassender Schul- und Berufswahl, elterlicher
Verständnislosigkeit und unberechtigtem, oft auch zu ver-
kehrter Strenge führenden elterlichen Ehrgeizes. Diese Fälle
sind im Grunde die einförmigsten von allen. Es fehlt den
Schülern an Energie, um sich aufzuraffen, um vorwärtszu-
kommen, die Hindernisse zu überwinden; sie sind dabei wenig
widerstandsfähig folgen leicht dem gegebenen traurigen Bei-
spiel. So hatte ein Obertertianer der sich wegen bevorstehender
N icht Versetzung ertränkte, besonders intim mit einem anderen
Schüler verkehrt, der sich vier Wochen früher aus ähnlichem
Grunde erschoß. — Ein sechzehnjähriger Real-Quartaner, der
unter seinen weit jüngeren und kleineren Klassengenossen eine
komische Figur spielen mußte und der gern zur Landwirtschaft
übergegangen wäre, dem aber dieser Wunsch nicht erfüllt
worden war, hinterließ zur Erklärung des verübten Selbstmordes
nur die lakonischen Briefworte : „Es ist besser so". Ein
1 8jähriger Unterprimaner, der nur noch mit Unlust die Schule
besuchte, erschoß sich, weil der Vater seinem Wunsche,
Offizier zu werden, nicht stattgeben wollte, bevor er nicht
das Abturientenexamen gemacht hätte. Ein Untersekundaner
der sich wegen Nicht Versetzung erschoß, „um seinen
Eltern weitere Schande mit ihm zu ersparen", war
für Malerei begabt und vernachlässigte über der oft
drei- bis vierstündigen täglichen Beschäftigung damit seine
Schulpflichten. — Handelte es sich in diesen Fällen um ein
zwangweises Verbleiben auf der Schule und Verhindertwerden
an einer der eigenen Neigung entsprechenden Berufswahl, so
war es in anderen Fällen die unmittelbare Furcht vor der bei
mangelndem Schulerfolg ihrer wartenden, angekündigten harten
Bestrafung, die den unglücklichen Schwachbegabten die tod-
bringende Waffe in die Hand drückte. Ein solcher, der sich
eines besonders verständnislosen und lieblosen Vaters erfreute,
erschoß sich in dem Augenblick, wo er wegen einer im lateini-
schen Extemporale erhaltenen Nummer 4 in das väterliche
Arbeitszimmer gerufen wurde. Ihm war schon früher einmal
die Waffe fortgenommen worden ; er hatte aber bei den fortge-
setzten strengen Bestrafungen förmliche Selbstmordstudien ge-
2*
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Albert Eulenburg.
macht, sich. z. B. mit den Zirkelspitzen und mit einem Messer
an der Pulsader verletzt, um, wie er zu einem Kameraden
äußerte, „zu sehen, wie das wäre". Der zerknirschte Vater
erklärte nach der Tat selbst, daß die Schuld an dem Selbst-
mord lediglich in der übergroßen Strenge und den „nicht
mehr schönen" Züchtigungen, die er gegen das Kind ange-
wandt habe, liege. — Auch von ziemlich verkehrter väterlicher
Behandlung scheint ein anderer Fall Zeugnis abzulegen. Bei
einem Quartaner mit mäßigen Anlagen, nicht tadellosem Be-
nehmen, zeitweise aber genügendem Fleiße heißt es wörtlich :
„Der wohlhabende, gutmütige Vater ließ es dem Knaben gegen-
über weder an guten Lehren und Mahnungen, noch auch,
wenn er es für nötig hielt, an Schlägen fehlen
ohne indessen das rechte Maß zu überschreiten".
Der Erfolg sprach jedenfalls nicht für die Richtigkeit dieser
Erziehungsmethode. Der Vater verlangte nämlich von dem
Sohne die Vorlegung seines lateinischen Heftes, das der Sohn
in der Schule vergessen zu haben behauptete, wahrscheinlich
aber der mangelhaften Arbeiten wegen nicht vorlegen wollte.
Erregt zieh ihn der Vater der Lüge und schloß mit den Worten :
„mach dich auf dein Zimmer, du nichtsnutziger Bengel, und
komme mir fürs Erste nicht wieder unter die Augen". Der
Sohn ging hin und erhängte sich an einer aus seinem Bücher-
riemen gebildeten Schlinge an der Türklinke. Das Heft konnte
trotz aller Bemühungen später nicht aufgefunden werden. —
Solche Beispiele, die ich nicht unnütz häufen will, sind geradezu
typisch, und sie lehren unwidersprechlich, daß die
Schuld an der traurigen Endkatastrophe in weit über-
wiegendem Maße das Haus, die nächsten Familien-
angehörigen belastet, während der Schule meistens in derartigen
Fällen gewiß nicht übertriebene Härte, im Gegenteil eher zu
weitgehende Milde und Schonung vorgeworfen werden kann,
insofern sie ungeeignete, mangelhaft begabte und den ge-
steckten Unterrichtszielen nicht gewachsene Zöglinge überhaupt
aufnimmt, oder, aus übel angebrachter Rücksichtnahme und
zur eigenen schwersten Schädigung der Betroffenen, alluzlange
in ijhrer Mitte erträgt. Nicht verschweigen will ich allerdings,
daß auch Einzelfälle vorkommen, in denen eine direkte Mit-
schuld, wenn nicht der Schule, so doch einzelner Lehrer an
dem Selbstmord vorzuliegen scheint, so bei einem für seine
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Klasse zu alten, energielosen und dabei überaus reizbaren, von
krankhaftem Ehrgefühl erfüllten Obertertianer, den der
Ordinarius zu hart behandelte und am Todestage, wie es heißt
„sogar an den Haaren faßte, um den niedergebeugten Kopf in
die Höhe zu heben". Der Vater, ein Pastor, erließ in den
Blättern eine öffentliche Erklärung, worin er den Selbstmord
auf diese unzulässige Züchtigungsweise unverblümt zurück-
führte. —
Wenden wir uns nun zu der anderen, ziffernmäßig gleich
starken Gruppe, so finden wir hier im Allgemeinen keineswegs
mangelhafte nicht selten im Gegenteil gute und selbst her-
vorragende Begabung, die aber durch Fehler und Schwächen
des Charakters und im Zusammenhange damit durch mehr
oder weniger ungeeignete Lebensführung, vielfach durch
Excesse erotischer und alkoholistischer Natur u. dgl. von den
Schulzielen abgelenkt und einem frühen Zerfalle, einem körper-
lichen und seelischen Zusammenbruch entgegengetrieben wird.
Es sind das zum Teil jene früh- und scheinreifen, bei hoch-
gesteigerter nervöser Reizbarkeit willensschwachen und inner-
lich haltlosen, zum Teil auch durch großstädtisches Treiben —
dem man aber nicht allzuviel Schuld geben darf, denn die-
selben Dinge ereignen sich auch bei Kleinstadtschülern ! — ver-
wirrten und fortgerissenen, zur Nachahmung verführten und
verdorbenen Naturen. Vor zeitigeLiebes Verhältnisse,
aus denen die Ergriffenen nicht den rettenden Ausweg zu
finden, deren Schlingen sie sich nicht zu entreißen vermögen,
spielen dabei, meist im Verein mit noch anderen gefährlichen
Einflüssen besonders oft eine seelisch verwirrende, die Kata-
strophe unmittelbar herbeiführende oder beschleunigende Rolle.
Davon nur einzelne Beispiele. Ein katholischer Ober-
tertianer hatte ein Verhältnis mit der 16jährigen Schülerin
einer katholischen Töchterschule angeknüpft. Der Religions-
lehrer erfuhr davon, machte dem Schüler (selbständig, ohne
Befragen des Direktors) auf seinem Zimmer Vorwürfe, erteilte
in der Folge auch der Mutter der Schülerin den dringenden
Rat, ihre Tochter nach 6 Uhr abends nicht mehr allein aus-
gehen zu lassen. Die Verliebten haben sich trotzdem noch
getroffen und sich Karten geschrieben. Der Schüler, dem seine
Lehrer bis zuletzt nichts Ungewöhnliches anmerkten, nahm
sich das Leben mit Hinterlassung eines Briefes an seine Mit-
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Albert Eulenburg.
schüler, worin er diese auffordert, seinem Beispiel nicht zu
folgen, an seinem Begräbnisse aber teilzunehmen — wobei
zu bemerken ist, daß am Tage vorher das glänzende Begräbnis
eines Sextaners stattgefunden hatte. Ein gewisser Größen-
wahn scheint mit im Spiele gewesen zu sein, der ihm u. a. die
Worte in den Mund legte : „was würden die Leute sagen, wenn
sich jemand in der Anstalt totschösse?" Auch soll er mit
seinem Unglauben renommiert und sich gerühmt haben, nicht
einmal die zehn Gebote zu kennen. — Ein Obertertianer,
der sich gleichfalls erschoß, verkehrte viel mit Unteroffizieren
der Garnison, ging sogar als Soldat verkleidet mit Mädchen
spazieren und unterhielt gleichzeitig Verhältnisse mit zwei
Mädchen, von denen er die eine, durch ihren liederlichen
Lebenswandel bekannte, als seine Braut bezeichnete; er konnte,
da seine Leistungen infolge dieser Lebensführung zurück-
gingen, nicht versetzt werden, und verfluchte in einem hinter-
lassenen Schreiben seinen Religionslehrer, der an seiner Nicht -
versetzung vermeintlich Schuld sei — erbat daneben auch Ver-
zeihung wegen des gestohlenen Geldes zum Ankauf des Re-
volvers !
Ein 2ojähriger Oberprimaner hegt, der Schule satt, den
Gedanken Schauspieler zu werden und läßt sich gleichzeitig
mit einer jungen Dame in ein Liebesverhältnis ein. Da seine
nächste Zensur schlecht ausfällt und er damit nicht vor den
Vater zu treten wagt, bemächtigt sich seiner eine ungemeine
Aufregung; er faßt den Vorsatz, sich vor den Augen seiner
Geliebten zu erschießen, um so mit einem gewissen Eclat aus
der Welt zu scheiden. Er bestellt sie zur Mittagstunde an eine
Kirchhofmauer, geht ein paar Schritte mit ihr, murmelt einige
unverständliche Worte und zieht dann den Revolver aus der
Tasche, bei dessen Anblick das Mädchen erschreckt hilfe-
schreiend davonläuft, während er vier Schüsse hintereinander
abfeuert, von denen zwei nur das Straßenpflaster und die
Kirchhofsmauer, zwei ihn selbst an Stirn und Schläfe schwer,
aber nicht tötlich verletzen — mit Zurückbleiben einer Kugel
im Kopfe.
Ein i8jähriger Unterprimaner, von früh auf der Onanie
und dem Alkoholgenuß ergeben und seitens der Eltern grenzen-
los verwöhnt und verzogen, hat mit der Bonne im Hause
eines Beamten eine Liebschaft angeknüpft. Er schreibt dieser
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einen Brief folgenden Inhalts: „Ich habe dich gestern mit
einem anderen gesehen, das ertrage ich nicht, ich werde mich
morgen um 9 Uhr erschießen" — und bringt sein Vorhaben
tatsächlich zur Ausführung.
Wiederholt begegnen uns in dieser Kasuistik Fälle von
Doppelmord oder von Doppelselbstmord der beiden Liebenden,
wozu ja in diesem Alter der Entschluß ganz besonders leicht
reift und zur Tat wird. Ein 18 jähriger Primaner erschießt
in einem Gasthause zuerst das Mädchen, mit dem er ein Ver-
hältnis unterhielt, und dann sich selbst. Ein Oberprimaner
erschießt sich in der Nähe der Strandhalle eines Ostseebades,
nachdem er vorher der Nichte des Kurhauspächters, die als
Büffetdame in der Strandhalle tätig war, eine schwere Schuß-
wunde beigebracht hatte. Aus verschiedenen Aeußerungen des
jungen Mädchens war zu schließen, daß sie mit dem jungen
Manne in den Tod zu gehen entschlossen war; auch soll
sie den Revolver in Verwahrung gehabt haben. Die beiden
jungen Leute betrachteten sich als Verlobte, und die Mutter
des Schülers hatte am Abend vorher den Kurhauspächter auf-
gefordert, ihrem Sohn den Verkehr mit seiner Nichte und den
Aufenthalt in seinem Anwesen zu verbieten, was den un-
mittelbaren Anlaß zur Tat gab. — Noch tragischer ist die
Selbstmordgeschichte eines 19jährigen Oberprimaners, der sich
zusammen mit seiner Geliebten, der von ihrem Manne getrennt
lebenden Frau eines Arztes, ums Leben brachte. Der genügend
begabte, nüchterne und fleißige, unmittelbar vor dem Examen
stehende junge Mensch wurde bei einem Rendezvous
mit der Dame von dem Ehemann überrascht, der dem
Direktor des Gymnasiums brieflich davon Anzeige machte
und auf Bestrafung des Schülers antrug. Es muß
hinzugefügt werden, daß der Ehemann 67 Jahre alt,
die Frau nicht weniger als 40 Jahre jünger war, jund eine
gerichtliche Scheidung der getrennt lebenden Gatten bisher
nicht erfolgt war. In einem späteren Schreiben erklärte der
Ehemann, Brief und Antrag bis auf Weiteres zurückziehen
zu wollen. Der Direktor behandelte die Sache sowohl dem
Schüler, wie dessen Eltern gegenüber sehr vorsichtig und
diskret, konnte aber doch den gewaltsamen Ausgang nicht
verhindern. Es stellte sich heraus, daß die beiden Selbst-
mörder bereits seit einem halben Jahre ein Liebesverhältnis
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Albert Eulenburg.
in aller Form unterhalten, auch zusammen eine sechstägige
Ferienreise nach München unternommen hatten. Am Halse
der Frau fand man ein Medaillon mit der Photographie ihres
Liebhabers und den gemeinsamen Haarlocken ; dieses Medaillon
sollte ihr, einem an ihre Freundin gerichteten Abschiedsbrief
zufolge, mit ins Grab gegeben werden. Die Schlußscenen dieses
Liebesdramas — die Tat wurde auf einem Reiseausfluge, nach
Uebernachten in einem Hotel und gemeinsam in bester Laune
dort eingenommenem Frühstück auf einer Aussichtshöhe voll-
bracht — erinnern in manchen Einzelheiten an Gottfried Keiler's
„Romeo und Julia auf dem Dorfe". Nur fehlt jede Naivität
der Stimmung. Die ältere Frau hatte den jungen Mann offenbar
mit dem für dieses Alter gefährlichsten Bindemittel, mit un-
zerreißbaren Banden der Sinnlichkeit an sich zu fesseln gewußt,
sodaß er nicht von ihr abzulassen im Stande war; die Eltern
hatten der Entwicklung und allmählichen Zuspitzung des ihnen
nicht unbekannt gebliebenen Verhältnisses mit schwer be-
greiflicher Sorglosigkeit, jedenfalls selbst ohne den Versuch
eines pflichtbewußten rechtzeitigen Eingreifens rat- und tat-
los gegenübergestanden.
So also nimmt sich das berühmte „Frühlingserwachen",
wovon wir in Bühnenwerken und Romanen neuerdings so viel
und meist in recht einseitiger Auffassung zu hören bekommen,
im Spiegel der Wirklichkeit aus — und so auch findet es nicht
allzu selten seinen erschütternden Abschluß. Ich muß es mir
leider versagen, auf dieses einer besonderen Behandlung be-
dürftige Problem in diesem Zusammenhange hier näher einzu-
gehen. Ich übergehe auch einen Fall, in dem anscheinend gleich-
geschlechtliche (homosexuelle) Veranlagung und damit zu-
sammenhängende abnorme Triebrichtung zu dem Selbst-
morde — diesmal in der Form von Strychninvergiftung —
die nächste Veranlassung gaben. — Dagegen möchte ich noch
kurz Bezug nehmen auf die ziemlich stattliche Zahl der Fälle,
in denen eine durchweg verkehrte, mit allerlei physischen und
moralischen Schädigungen verbundene Lebenshaltung, ver-
frühte Nachäffung studentischen Treibens, ungeeignete und
unverdaute Lektüre, verfrühter und unbefriedigter Drang zu
eigener artistischer und literarischer Betätigung, Unglaube und
Durchdrungensein von der gänzlichen Wertlosigkeit des Daseins
ihren verhängnisvollen Einfluß auszuüben schienen. Es zieht
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sich durch so manches Jugendleben eine hartgeschmiedete Kette
unbekämpfter oder unausrottbarer, ineinandergreifender Tor-
heiten und Verfehlungen: Onanie, verfrühter und unmäßiger
Genuß hauptstädtischer Vergnügrungen, ausschweifendes
Wirtshausleben, Verbindungstreiben, Anknüpfung von Ver-
hältnissen, Schuldenmachen, Veruntreuungen usw. mit den auf
die Dauer unvermeidlichen Folgen in Schule und Haus und
mit dem Revolverschuß als Ende. Namentlich erweist die
frühzeitigeStudentereibei schwächeren Naturen ihren
verhängnisvollen Einfluß. Ein Obersekundaner einer rheini-
schen Großstadt erschien in seiner Schülerverbindung mit
studentischen Abzeichen und Rapier; in trunkenem Zustande
heimkehrend griff er Nachts um 3 Uhr einen ruhig seines Weges
gehenden Mann an und mißhandelte ihn tätlich; von einem
Schutzmanne gestellt und um seinen Namen befragt, wider-
setzte er sich und lief mit den Worten "ehe ich meinen Namen
nenne, springe ich in den Rhein" unter Abwerfung mehrerer
Kleidungsstücke an den Fluß und stürzte sich hinein. Auch in
anderen Fällen spielen Alkoholgenuß und Verbindungstreiben,
die ja untrennnbar zusammenhängen, gemeinschaftlich
ihre verderbliche Rolle. — Auf der anderen Seite
finden wir die Erscheinungen einer in diesem Lebens-
alter nicht seltenen geistigen Ueberreife und Scheinreife, die
mit Allem fertig zu sein glaubt, keine Autoritäten mehr aner-
kennt, jmit den Götzen auch die Götter längst von ihrem,
Postamente gestürzt hat und das Leben selbst als wertlos und
zwecklos, als ein leicht wegzuwerfendes Gut betrachtet. Gerade
reichbegabte Naturen verfallen und unterliegen oft diesem
gefährlichen Hange. Man denke an die einer nur wenig höheren
Altersstufe angehörigen, aus ganz ähnlicher Quelle ent-
sprungenen Selbstmorde eines Weininger, eines Walter Cale"
und Anderer, die neuerdings so viel Aufsehen erregten. Von
mehreren und zwar besonders beanlagten Schülern, wovon
einige die Theologie zu ihrem Berufsstudium erkoren hatten,
wird in unserer Kasuistik erzählt, daß sie unter den für sie
verhängnisvollen Einfluß der Lektüre von Schopenhauer,
Nietzsche und Ibsen geraten seien und, diesem einmal hinge-
geben, nicht mehr die geistige und sittliche Energie gefunden
hätten, um sich von den Ideen der Skepsis und Verneinung,
auch des eigenen Daseinswertes, frei machen zu können. Lehr-
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Albert Eulenburo
reich ist der Fall eines jüdischen Oberprimaners in einer Klein-
stadt des Ostens, der sich von einem Eisenbahnzug überfahren
ließ. Der als sehr begabt und befähigt geschilderte junge
Mensch zeigte im Betragen eine sozusagen passive Renitenz,
namentlich seinem Religionslehrer gegenüber; er galt nach
seinem ganzen Denken als von Grund aus „materialistisch 4 4 %
in seiner politischen Gesinnung radikal, bereits sozialdemo-
kratisch. Er, wie andere seiner reiferen und begabteren Mit-
schüler gerierten sich als erklärte Atheisten und als begeisterte
Anhänger Haeckels, dessen Schriften sie mit Enthusiamus
studierten. Der betagte Ortsrabbiner und langjährige Religions-
lehrer der Anstalt äußerte dem Direktor gegenüber nach dem
Selbstmord, „er müsse sich schämen, zu gestehen, daß er auf
die dortige jüdische Jugend gar keinen Einfluß habe. Zum
Gottesdienst komme sie widerwillig, höchstens an den Haupt-
festen. Bestelle er einen von ihnen, beim Gottesdienst eine
Rolle aus der Thora zu lesen, oder einen Segensspruch zu
sprechen (was als hohe Ehre gilt), so schicke man ihm eine
freche Antwort und komme nicht 4 * 4 . — Ich möchte übrigens
bei dieser 'Gelegenheit die Bemerkung einschalten, daß die
prozentuale Beteiligung der Juden bei den Schülerselbstmorden
keineswegs überraschend groß ist; so finden sich z. B. unter
39 Selbstmördern aus höheren Lehranstalten in den Jahrgängen
1902 und 1903 nur 4 Juden. Dem konfessionellen Moment kann
überhaupt, soweit ersichtlich, eine besondere Bedeutung nicht
zugesprochen werden.
Einen recht typischen Fall der zuletzt besprochenen Kate-
gorie möchte ich noch kurz anführen. Er betrifft einen als sehr
tüchtig und begabt geschilderten Unterprimaner, der sich aus
dem Dachfenster auf den Hof hinabstürzte. Ueber die Motive
seiner Tat gaben die Angehörigen übereinstimmend Folgendes
an: „Sie hätten nichts mit ihm anfangen können, er
habe sich ihnen nicht fügen wollen, habe selbständig gelebt,
habe an Größenwahn gelitten, habe immer nur alles Mögliche
gelesen und studiert, Zeitschriften, Bücher — u. A. auch Zola —
Zeitungen ohne Wahl, habe sich u. A. in den letzten Tagen
in leidenschaftlicher Weise um den Streit Wagner-Schmoller
gegen Stumm bekümmert, habe für Zeitungen geschrieben und
besonders sich immer mit dem Wahn getragen, bald ein großes
Aufsehen erregendes Werk zu verfassen 44 . Eltern und Ge-
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Schülerselbstmorde.
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schwister scheinen den frühreifen Knaben mehr bewundert, als
geleitet und in seinen Neigungen beschränkt zu haben. Der
Bericht des Direktors schließt mit der Bemerkung : „X. war so
recht ein Kind unserer Zeit, in der es jedermann so überaus
leicht gemacht wird, jeglichem Bildungsstoff nach seinem
Belieben nachzujagen und denselben vielleicht äußerlich sich
anzuhängen". Indessen diese Betrachtung allein, so zutreffend
sie sein mag, würde uns doch noch kernen Schlüssel zur Ver-
ständlichmachung des Selbstmordes in diesem, wie in ähn-
lichen Fällen liefern. Hier kommt vielmehr, wie ich glaube,
noch ein Anderes hinzu — daß nämlich diese, wie <wir zu
sagen pflegen, frühreife Jugend in Wahrheit schon recht alt
ist, sich selbst wenigstens recht alt, übersättigt und dabei zu
ihrer Verzweiflung völlig ohnmächtig fühlt, aus dem in über-
wältigender Fülle herandrängenden und aufgenommenen Stoffe
des Lebens etwas Persönliches und Wirksames aus eigener
Kraft zu gestalten. Diese Bedauernswerten kranken an ihrer
Ueberbüdung und der daraus hervorgehenden Schwäche zum
Leben. Und dieses sich immer wieder aufdrängende Gefühl
allzufrühen Fertiggewordenseins und tiefinnerster Ohnmacht
dem Leben gegenüber ist es, dem diese Selbstmorde gerade
talentbegabter und scheinbar zu allen Hoffnungen be-
rechtigender Jünglinge in unserer Zeit hochgespannter
Intelligenz und schwacher Willenskraft als unentrinnbares End-
ergebnis entspringen.
Es bleibt nun nach den bisher geschilderten Haupttypen
noch eine immerhin beträchtliche Zahl von Einzelfällen übrig
— im Ganzen 67 unter 284, also fast 24 (23,9) 0/0 — in denen
sich so auffällige Beziehungen und intime seelische Ver-
knüpfungen der Tat selbst mit der individuellen Eigenart und
Entwicklung des Täters nicht aufweisen lassen. Fälle, in denen
uns zum Teil nur Vermutungen bleiben, die auf den Ein-
fluß äußerer, zufälliger und gelegentlicher Anlässe der ver-
schiedensten Art, unbefriedigender häuslicher Verhältnisse
u. dgl. hinauslaufen — oder in denen die Tat für uns
völlig unerklärt und in ihrer anscheinenden Motivlosigkeit
rätselhaft dasteht. In einem Falle schien religiöse Ueber-
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Albert Eulenburg.
Spannung mitzuwirken, insofern die Familie des Schülers in
enger Beziehung zu einer Sekte der „Engelsbrüder" stand \md
von deren Anschauungen von der Wertlosigkeit des irdischen
Daseins durchdrungen sein sollte. In einem anderen Falle
wurde ein geheim gebliebener Ehrenhandel vermutet, in einem
dritten hinterließ der Selbstmörder einen Zettel, worin in ge-
heimnisvollen Andeutungen von einem vor Jahresfrist be-
gangenen Vergehen die Rede war, dessen Entdeckung ihm
„allgemeine Verachtung" zuziehen würde. In einem vierten
Falle war ein nicht aufgeklärter Diebstahlsverdacht die un-
mittelbare Ursache; der Knabe, ein I5jähriger Unter-
sekundaner, erschoß sich in Gegenwart des mit der Rekognos-
zierung beauftragten Schutzmannes. In noch anderen Fällen
wurden Furcht vor häuslicher Bestrafung wegen Schulsünden,
Abneigung gegen den bevorstehenden (kaufmännischen) Beruf,
unglückliche Liebe als Beweggründe angegeben. Wären wir
über die innere seelische Struktur der Selbstmörder hier überall
genau genug unterrichtet, so würden wir diese Einzelfalle
wahrscheinlich auch in den früher gekennzeichneten Haupt-
gruppen größtenteils unterbringen können. In einer leider nicht
geringen Anzahl von Fällen scheinen ärmliche und unbe-
friedigende häusliche Verhältnisse, unerfreuliche Beziehungen zu
Eltern und Stiefeltern und lieblose Behandlung von Seiten der
nächsten Angehörigen den Ausschlag gegeben zu haben. Cha-
rakteristisch in dieser Hinsicht ist die Aeußerung eines Vaters,
der auf die Nachricht vom Selbstmord seines Sohnes, eines
Tertianers, — der Unglückliche hatte sich von einem Eisen-
bahnzug überfahren lassen — dem Direktor gegenüber kurzweg
meinte: „Ach, schade ist es um den Jungen nicht, es ist gut,
daß er fort ist. Gott sei Dank, für das lieben war er doch
nichts nütze". In einem Falle litten die Kinder schwer unter der,
durch eheliche Untreue erzwungenen Scheidungsklage des
Vaters gegen die Mutter; die beiden Söhne dieses Paares
planten, „um sich von aller Schmach zu befreien", gemein-
samen Selbstmord, den aber nur der eine von ihnen auszuführen
den Mut hatte. — In einem, nicht zu diesem Aktenmaterial
gehörigen, mir von außerhalb mitgeteilten Falle, der den
10jährigen Schüler einer Volksschule betraf, nahm dieser sich
(durch Ertränken) das Leben, unter Zurücklassung eines Ab-
schiedsbriefes an die Mutter, worin er als Grund angab, daß
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Svhülersclbstmorde
29
er die „Geschichte mit dem Vater", der täglich betrunken
heimkehrte, nicht mehr mit ansehen könne, i Man wird bei
solchen Vorkommnissen an die trüben Worte in Anzengruber's
„viertem Gebot" erinnert: „Vater und Mutter ehren? Ja —
aber Vater und Mutter müssen auch danach sein". Es er-
öffnen sich hier oft genug Ausblicke in wahrhaft trostlose
Abgründe des Familienlebens. Ich will und kann die Einzelfälle
trotz des hohen Interesses, das sie der sociologischen und
individualpsychologischen Betrachtung unstreitig bieten, an
dieser Stelle nicht weiter verfolgen. — Suchen wir das vorläufige
Endergebnis uzsammenzufassen und den Verhältnisanteil, den
Haus und Schule am Zustandekommen der Schülerselbst-
morde haben, mit möglichster Unbefangenheit abzuschätzen,
so muß sich die Wagschale unzweifelhaft tief zu Un-
gunsten des Hauses herabsenken. Gewiß ist auch die
Schule nicht von Mitschuld freizusprechen — und ich
habe schon im Vorhergehenden einzelne Fälle namhaft
gemacht, in denen eine unmittelbare Verschuldung
wohl kaum bestritten werden kann, wenn auch das
Anstoßgebende dabei mehr auf Seiten einzelner ungeeigneter
Lehrerpersönlichkeiten, als in der Natur der Schuleinrichtungen
und des Schulbetriebes im Allgemeinen gesucht werden mußte.
Freilich über eines wird die Klage so leicht nicht verstummen,
die anscheinend nicht ohne eine gewisse Berechtigung der
jetzigen Schule gegenüber immer und immer wieder erhoben
wird, nämlich über ihre viel zu geringwertige Berücksichtigung
der Schülerindividualitäten und ihre diesen Individualitäten
gegenüber vielfach so ganz versagende erzieherische Leistung.
Allein wir müssen uns doch fragen, ob dabei nicht von der
heutigen Schule etwas verlangt wird, was sie nach ihrer ganzen
geschichtlich gewordenen und durch staatliche Notwendigkeit
bedingten Beschaffenheit gar nicht zu geben vermag und in
dem beanspruchten Sinne und Umfange auch keineswegs zu
geben beansprucht. In der Tat kann es ja Aufgabe und Pflicht
der heutigen Schule oder, wie sie selbst sich mit Vorliebe
zu nennen pflegt, „Lehranstalt" schwerlich sein, dem Hause
die eigentliche erzieherische Leistung abzunehmen und
sie an ihren Zöglingen nach allen Richtungen hin zu ver-
wirklichen. Die Schule wird natürlich schon durch ihren
Betrieb und innerhalb dieses Betriebes eine gewisse er-
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30
A.lbcrt Eulstiburg.
zieherische Wirkung zu üben vermögen, die aber doch vor-
zugsweise in der Leitung und Eingewöhnung, in der bestenfalls
erweckten Anteilnahme und freudigen Hingebung an die
Zwecke dieses Betriebes gipfelt, oder darüber wenigstens nicht
erheblich hinausgeht. Das liegt im Begriffe und Wesen der
eben in diesem Sinne als erzieherisch betrachteten Schul-
d i s z i p 1 i n , die eine methodische Gewöhnung an Arbeit und
Pflichterfüllung, an Unterordnung unter Gesetz und Autorität
und ein gewisses kameradschaftliches Verhalten zu Genossen
und Mitschülern als fast selbstverständliche Forderungen um-
schließt. Aber darüber hinaus kann sie im Allgemeinen nicht
gehen. Was die notwendige Voraussetzung und den wesent-
lichen Faktor jeder Erziehung bildet, liebevolle Ver-
senkung in die individuelle Eigenart des Zög-
lings, und worauf jede wahre Erziehung vor Allem hinsteuern
muß, Charakter- und Willensfestigung und Ge-
mütsvertiefung — das ist von der heutigen Schule allein
nicht, oder doch in ausreichendem Maße nicht zu erwarten.
Und daran wird auch keine noch so schöne Reform der Lehr-
pläne und des Unterrichtsbetriebes, so sehr sie zu wünschen
und so freudig sie im einzelnen zu begrüßen sein mag, etwas
Wesentliches ändern. Gerade da also, wo das Recht der indi-
viduellen Unterschiede sich am fühlbarsten macht, beginnt die
erzieherische Pflicht und die größere und weitere Aufgabe
des Hauses. Und daß das Haus sich dieser ihm obliegenden
erzieherischen Aufgabe in zahlreichen, viel zu zahlreichen
Fällen nicht genügend bewußt und oft nicht im mindesten ge-
wachsen zeigt — das ist wohl das betrübendste der Ergebnisse,
zu denen wir auf Grund dieser unerbittlichen Selbstmord-
kasuistik wider Willen gelangen. Noch immer sind — um
einen Ausdruck der Ebner-Eschenbach anzuwenden — die
Kinder für ihre Eltern die großen Unbekannten. So vielen
Vätern, so vielen Müttern möchte man immer und immer wieder
zurufen: „Lernt eure Kinder doch kennen! studiert sie auf's
Gründlichste! Vor Allem versetzt euch in sie hinein! Gewinnt
Einblick in ihre Leiden und Freuden, ihre Empfindungen und
Stimmungen, in die ganze Anschauungswelt, die Interessen und
Strebungen dieser heranwachsenden Generation, die von
denen des reiferen Alters durch eine so weltweite Kluft jge-
trennt sind, über die nur das liebende Verständnis oder die
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8chüUradbatmorde
31
verstehende Liebe eine tragfähige Brücke zu schlagen ver-
mögen ! Scheut namentlich auch vor den Untiefen, den ge-
fährlichen Auswüchsen und krankhaften Ausartungen des
kindlich- jugendlichen Seelenlebens nicht zurück; versucht im
Gegenteil hier erst recht in schonendster Weise die vorsichtig
bessernde, die mildernde und heilende Hand anzulegen, statt,
wie leider so oft, mit planlos rohem und täppischem Ein-
greifen blind zerstörend zu wirken 1 — Dann werden wenigstens
so grelle Begehungs- und Unterlassungssünden künftig ver-
mieden und wird den düsteren Endkatastrophen trüber Jugend-
schicksale, mit denen wir uns hier zu beschäftigen hatten, wirk-
samer vorgebeugt werden. Dann, aber auch nur dann, werden
die „Schülerselbstmorde" endlich aufhören, einen mahnenden
Selbstvorwurf für alle näher und ferner Beteiligten und eine
schmähliche Tributzahlung jugendlicher Menschenleben als
Opfer unserer gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung
bedeuten zu müssen.
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Eine Untersuchung der höheren Geistesfähigkeiten
bei Schulkindern.
Von
Nicolai Wolodkewitsch, Kiew.
(Uebcrtragen aus dem Russischen ins Deutsche von Fr. Aldingen)
(Schluß.)
V.
Alle bisherigen Schlüsse sind auf Grund der Voraus-
setzung gezogen, daß die Kraft der Bindungen den Wieder-
holungsfällen dieser Bindungen proportional sei. Dieses Prin-
zip ist so angewandt worden, daß wir die durchschnittlichen
Wiederholungsfälle der Verbindungen irgend einer Fähig-
keit mit anderen Fähigkeiten bestimmten und diejenigen Ver-
bindungen, deren Wiederholungsfälle diese durchschnittlichen
Wiederholungsfälle übersteigt, im Vergleich mit den seltener
auftretenden, als die normaleren angenommen haben.
Es wurden also hier nur zwei Größen in Betracht ge-
zogen: die Zahl derjenigen Schülerinnen, die eine gewisse
„Paarung" von Fähigkeiten aufwiesen und die („Steigerung 1 )
Entwicklung der Fähigkeit über oder unter Durchschnitts-
größe für alle 60 Schülerinnen. Man kann aber die Untersuchung
über die Verbindbarkeit der verschiedenen Fähigkeiten auch
so anstellen, daß man von einer ganz entgegengesetzten Vor-
aussetzung ausgeht: wenn zwischen den verschiedenen Fähig-
keiten gewisse Wechselbeziehungen bestehen, so muß die über-
wiegende Entwicklung einer derselben die einen verstärken
und die anderen abschwächen. Wenn wir nun untersuchen,
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Eine Untersuchung der höheren G eitles fähigkeiten usw.
33
welche Fähigkeiten in ein und derselben und welche in der
entgegengesetzten Richtung sich verändern, so dürfen wir in
bezug auf ihre Verwandtschaft oder auf ihren Gegensatz resp.
Abstoßung einen Schluß ziehen. Als Gruppierungsprinzip er-
scheint hier also nicht die Gleichheit der Verbindungen der
Fähigkeiten, sondern die Gleichheit ihrer Entwicklung. Es
ist klar, daß beide Untersuchungsmethoden sehr verschiedene
Wege darbieten, und wenn sie zu identischen oder auch nur
annähernd gleichen Resultaten führen, so gewinnt ihre Rich-
tigkeit an Kraft.
Diese zweite Untersuchungsart, welche die Methode der
begleitenden Veränderung heißt, im gegebenen Fall aber
Methode der Prozentzahlen genannt werden könnte, wurde
von mir auf folgende Weise angewandt. Alle Schülerinnen
wurden nach dem ^Maximum und Minimum irgend einer
Fähigkeit in zwei Gruppen eingeteilt; in jeder von diesen
Gruppen wurden die durchschnittlichen Prozentzahlen für jede
Fähigkeit festgesetzt und die Abweichung von der mittleren
Prozentzahl jeder Fähigkeit für alle 60 Schülerinnen be-
rechnet (s. letzte horizontale Spalte, Tabelle I). Nach den
Veränderungen der anderen Fähigkeiten, welche die Verän-
derung einer Fähigkeit vom Maximum bis zum Minimum be-
gleiten, wird man nun erkennen, ob diese letztere und jede
andere Fähigkeit sich miteinander verbinden oder ob sie
einander entgegengesetzt sind. Diese Untersuchungsart bietet
den Vorteil, daß die Resultate der Analyse mittelst einer Kurve
deutlich dargestellt werden können. In der folgenden Tabelle
sind die Schülerinnen nach dem Maximum und Minimum jeder
Fähigkeit in Gruppen eingeteilt. Tabelle IX bringt die Eintei-
lung der Schülerinnen nach den Gegenständen. Wie oben,
bleibt auch hier aus dem oben angegebenen Grunde das
ästhetische Gefühl unberücksichtigt. Die Abweichungen der
einzelnen Fähigkeiten von den Durchschnittszahlen der Ta-
belle I zeigen, daß mit dem Steigen der Prozentzahl für
„Gegenstände" die Prozentzahlen für „wo" merklich, für
„Kenntnisse" etwas geringer steigen, die übrigen Fähigkeiten
dagegen sinken.
Kurve I stellt diese Verhältnisse anschaulich dar; die
Größen der Abweichungen sind auf den Ordinaten eingetragen
— die positiven nach oben, die negativen nach unten von der
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 3
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34 Nicolai WolodkewiUeh.
Geg BesL Wo Was Schlatt. Emot. Kenata. Phant.
I. H. III. IV. V. VI. VII. VIII.
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Eine Untersuchung der höheren Geistesfähigkeiten usw.
35
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36
Nicolai Wolodktwitsch.
mittleren Linie; die Abszissenachse bringt die Deckungsfälle
mit der Durchschnittsgröße, d. h. das Nichtvorhandensein
einer Abweichung; natürlich kann eine solche Kurve keine
analytische sein; sie dient nur zur deutlicheren Darstellung
der betreffenden Verhältnisse.
Tabelle IX.
Gegenstände + (26 Schülerinnen).
?3 «äs £
Summe .... 1188,77 512,44 67637 13137 59,16
Arithmet. Mittel . 4538 19,71 22,17 5.01 227
Abweichung 639 - 3,96 + 1,63 - 0,22 - 0,69
Gegenstände — (34 Schülerinnen).
Summe .... 1146,77 907,48 655,56 18436 11837
Arithmet. Mittel . 83,78 26,19 1938 5,42 3,48
Abweichung . . — 6,11 f 2,52 - 156 -f 0,16 -f 032
Tabelle X.
Bestimmungen -f (27 Schülerinnen).
Summe .... 956,97 888,92 61137 114,72 67,61
Arithmet Mittel . 36.40 30,70 18,94 435 230
Abweichung . . — 8,44 -{ 7,03 — 1,60 — 1,01 — 0,46
Beatimmungen — (38 Schülerinnen).
Summe .... 1374,67 681,00 720,77 200,60 109,92
Arithmet Mittel . 41,65 17,60 21,84 6,08 338
Abweichung . . + 231 — 6,07 -f 130 -f 0,82 -f 0.87
Tabelle XI.
Wo -f (32 Schülerinnen).
Summe .... 127337 700,60 817,68 14233 77,64
Arithmet Mittel . 3930 2139 26,66 4.44 2.42
Abweichung . . + 0,96 - 1,68 -4- 631 - 032 - 034
Wo — (28 Schülerinnen).
Summe .... 1066,67 71932 414,46 178,08 99.89
Arithmet Mittel . 37,74 25,69 1430 6,18 337
Abweichung . . - 1,10 + 2,02 - 6,74 + 0,92 + 0,61
Tabelle XII.
Wo -f- (20 Schülerinnen).
summe .... 74434 896,05 35839 192,99 7537
Arithmet. Mittel . 3734 1930 17,67 9,65 8,76
Abweichung . . - 1,70 - 337 - 237 + 439 -f 030
Wo - (40 Schülerinnen).
summe .... 1685.70 102337 877,76 12233 10236
Arithmet. Mittel . 3934 2539 21,94 3,06 2,65
Abweichung . . -f 030 -f 1,92 + 1,40 — 230^ - 0,41
Tabelle XIII.
Schlußfolgerungen + (23 Schülerinnen).
summe .... 88030 48637 408.17 133,98 12932
Arithmet Mittel . 8837 21,16 1733 632 5,63
Abweichung . . - 037 - 2,61 - 3,01 + 036 + 237
Schlußfolgerungen — (37 Schülerinnen).
Summe .... 146034 933.35 «28,97 18139 48,01
Arithmet Mittel . 39,19 25.22 22,40 4,90 130
Abweichung . . 035 ~r IM -r IMi ~ 0,36 — 1,66
Tabelle XIV.
Emotion -f- (24 Schülerinnen).
Summe .... 855,26 540,19 418,16 13336 8338
Arithmet Mittel . 35,63 2231 17,42 535 3,47
Abweichung . . - 331 - 1,16 - 3,12 + O» + 031
1
6031
2-12
- 2,18
«
— 0
Ii
52,96
2.04
+ 0,07
Ü
1234
n äq
- 1,28
t>
lü.K,
U,IJ
+ 0,10
u
9,62
- 63»
21037
6,18
+ 1,68
6539
1,92
92.79
2.73
-T 0,97
17,41
0.39
— 0,()K
11833
- 0,12
35,48
131
- 0,66
4439
1.68
- 0,11
11,41
0.42
- 036
1138
41,9
4- 2.87
152,06
431
+ 0,11
82.77
2,51
+ 034
6064
134
+ 0,12
1636
031
+ 0.O4
10033
3,14
- 136
51 57
131
- 036
21 63
°£
— 0,99
030
- 0,17
13JBI
42,2
+ 3,17
169,76
636
-r 136
6638
238
+ 0,41
80,70
2,88
+ 142
18.61
0,6».
+ 0.19
6,19
+ 139
48.60
2,43
+ 0,46
IA>, 1 1
230
+ 1,04
0,42
- 0,05
3435
4,46
146,66
3,66
- 034
69,65
1,74
- 033
4932
133
- 033
193«
0,49
+ 0.02
131,62
6,72
+ 132
65.19
233
+ 1,06
59,66
239
+ 0.83
937
0,40
— 0,07
828
35,78
- 336
238,76
3,76
- 0,75
5836
1,43
- 034
4537
133
- 0,53
i83y
0.5:
+ 0,04
228,06
9,50
+ 630
47,45
1,98
+ 0,01
76.00
317
+ MI
17,41
0,72
-f 035
832
3436
- 4.78
Digitized by Google
37
II •■'
Hl
3
Emotion — (96 Schülerinnen).
taune . . . . 147639 879,73 813,96
Ar'Jimet Mittot . 40.98 24.43 22,61
Abweichung - . J 2,14 t 0,76 4- 2,07
I
18236
6/X>
- 030
1,
II
• Tabelle
Kenntnisse — (28 Schülerinnen).
Sunnie .... 106730 69034 54831 15239
Ahtlunet Wittel . 3832 21J08 19,41 .1.46
. . - 032 - 239 - 1,13 4- 030
^4.:v.
2,62
0^4
XV.
102,68
837
+ 0.71
4232 7030
1,17 1,97
333 + 0
11M6 103,27
33s s,90
- 032 + 138
II
2933
031
- 0,90
3,14
+ 138
4
103«
030
- 0,17
1437
031
+ 004
Kenntnisse — (82 8
Summe .... 134334
'■r.AmM. Mittel . 3836
Abweichung' . . -»-0/12
■htllerinnon).
8793H 688.53 16238
3632 2132 5,08
+ 236 -r 0,98 - 0,18
7436
2,34
U,62
158,92
4.W
4 048 -
8,98 17,47 1:139
038 035 0,4»
1,69 - 13» - 0,04
Tabelle XVI.
Phantasie 4- (16 Schülerinnen).
Mimme . . . 54637 377,09 27932 7038 61y41
Ar.shmet. Mittel . 34.18 28.67 17,49 439 334
— 43« — 0,10 — 835 — 0,87 4- 038
— (U Sobtllerlnnen).
1783Ü7 104233 95232 24439 116,12
4033 23,70 213* 537 2,64
4- 1,69 0,03 4- 1,10 4- 031 - 032
U4.17
538
138
r«.4.s
3^7
4 130
^<unme . . .
AhUuoet Mittel
Abweichung
17631 «2,77
430 1,42
- 030 - 035
102,11 12,15
638 0,76
4- 432 4- 0.29
332 16,11
O37 0;*',
— 1,69 - 0,11
Tabelle XVII.
Gcsamt&ngaben 4- (30 Schülerinnen ).
>«mme
Arittunetr.
Mittel
■'•nthmetr. Mittel
^»eichung
't^prasUtade
Wm . . . .
^Ci-'qfilOl
Keoatntoe
112534
—82433 -687,79
—180.%
- 84,53
- 7239
41,70
1931
— IO36
37,-ü
~ 27,49 — 2232
- 436
- 232
- 2,42
139
0.66
036
— 138
+ 832 1- 238
- 030
- 0,14
- 238
038
1,10
- 0,11
.ben —
(30 Sohaierinnen).
ISH-i,-*!
-59539 -544.Y,
-18436
— 93,00
-197,78
7635
85,42
- 17,41
40.17
- 1933 - 18,14
— 6.15
— 3,10
- 639
235
235
— 038
4- 133
- 3 84 — 2,40
4- 039
4- 0,14
4- 239
+
038
+
139
4- 0,11
Tabelle XVIII.
+17,7
- 83
+ 23
- 4,1
- 1.6
- 83
4- 0
-123
- 3,4.
16.7
29,7
7,1
16.3
10.6
4.9
10,9
0.1
16.1
■f
73
73
24,4
13,9
14,6
15,1
63
143
11,0
43
193
163
83.4
10,6
53
4- 83
■ - 163
- 17.1
+
4-
— 233
— 153
- 183
273
903
173
»243
29,7
— 4,7
- 4M
- 23
- 803
373
27,1
-11 U
- 113
±ss
1
4- 83
-333
- 183
+ 233
--68.7
-- 03
+ 983
+ 76,1
- 29,3
- 72.7
- 63
--663
4- 59,1
--47,0
-- 80,1
- 783
+2623
- 623
4-213
— 10,46
- 883
— 10,6
- 14,9
+ 53,2
+ 83
Ul.7
-23,4
iuoa
35,78
-336
nur,
3737
- 1,16
-153
+ 73
+ 8,1
-IM
- 83
12^
- 83
- 2,9
Tabelle X und Kurve II stellen die Einteilung der Schü-
lerinnen nach den Maxima der Bestimmung dar. Mit der
Steigerung der Prozentzahl für Bestimmungen sinken die Pro-
zentzahlen für alle übrigen Fähigkeiten, am meisten für die
Kategorie „Gegenstände", dann für „wo" und schließlich
für „Kenntnisse". „Emotion" und „Phantasie" sinken sehr
wenig. „Gesamtangaben" steigen bedeutend. Im ganzen
stimmen diese Resultate mit den aus der Tabelle VI gefolgerten
Ergebnissen überein.
Tabelle XI und Kurve III stellen die Einteilung der Schü-
lerinnen nach den Maxima und Minima „wo" dar. Mit der
Digitized by Google
38
Nicolai WolodkemUch
Steigerung der Prozentzahl für „wo" steigen „Gegenstände 4 *
und „Gesamtangaben", alle übrigen Fähigkeiten sinken.
Tabelle XII und Kurve IV stellen die Einteilung der
Schülerinnen nach den Maxima und Minima für die Kategorie
„was" dar. Mit der Steigerung dieser Fähigkeit sinken „Be-
stimmungen", „wo", „Gegenstände" und „Gesamtangaben",
alle übrigen Fähigkeiten — „Emotion", „Phantasie", „Schluß-
folgerung", „Kenntnisse" — steigen.
Tabelle XIII und Kurve V stellen die Einteilung der
Schülerinnen nach der Kategorie „Schlußfolgerung" dar. Mit
der Steigerung dieser Fähigkeit steigen: „Emotion", „Kennt-
nisse", „Phantasie" und „was"; dagegen sinken: „Gegen-
stände", „wo", „Bestimmungen" und „Gesamtangaben".
Tabelle XIV und Kurve VI stellen die Einteilung der
Schülerinnen nach dem Minimum und Maximum der Kate-
gorie „Emotion" dar. Mit der Steigerung der „Emotion"
steigen „Phantasie", „Schlußfolgerung" und „was"; fast un-
verändert bleiben „Kenntnisse"; „Gegenstände", „wo", „Be-
stimmungen" und „Gesamtangaben" sinken.
Tabelle XV und Kurve VII bringen die Einteilung der
Schülerinnen nach den Maxima und Minima der Kategorie
„Kenntnisse". Mit der Steigerung der „Kenntnisse" steigen
folgende Fähigkeiten: „Phantasie", „Schlußfolgerung" und
„was"; fast unverändert bleiben „Gegenstände"; „Bestim-
mungen", „wo", „Gesamtangaben" und „Emotion" sinken.
Tabelle XVI und Kurve VIII bringen die Einteilung der
Schülerinnen nach den Maxima und Minima der Kategorie
„Phantasie". Mit der Steigerung der „Phantasie" steigen:
„Kenntnisse", „Emotion", „Schlußfolgerung"; „Gegenstände " r
„wo", „Gesamtangaben", „was" und „Bestimmungen" sinken.
Tabelle XVII endlich bringt die Einteilung der Schü-
lerinnen nach dem Maximum und Minimum der Kategorie
„Gesamtangaben". Mit der Steigerung der Gesamtangaben,
d. h. der Gesamtsumme des von der betreffenden Schülerin
gelieferten Materials, steigen „Bestimmungen" und „wo";
alle übrigen Fähigkeiten sinken.
Die Abweichungen der Prozentzahlen der verschiedenen
Fähigkeiten sind in der Art, wie wir sie in den vorstehenden
Tabellen bringen, untereinander nicht vergleichbar; es kann
in der Tat eine und dieselbe absolute Größe einer Abweichung
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Eine Untersuchung der höheren GeistesfäJngheiten umc.
39
nicht die gleiche Bedeutung haben für die Fähigkeiten, welche
im Bewußtsein der Schülerin einen vorherrschenden Bewußt-
seinsinhalt bilden, wie z. B. die Fähigkeit, Gegenstände zu
sehen, und für weniger entwickelte Fähigkeiten, wie z. B.
Phantasie. Um diese Abweichungen untereinander vergleich-
bar zu machen, drückte ich die absolute Größe der Abweichung
in Prozenten der ursprünglichen Durchschnittsgröße aus,
welche die Entwicklung einer gewissen Fähigkeit darstellt;
z. B. die Abweichung — 4,66 für Gegenstände, welche die
Entwicklung der Phantasie von Ueberdurchschnitts-
große um + 4,62 begleitet, ist im Prozentsatz der ursprüng-
lichen Durchschnittsgröße, welche die Fähigkeit, Gegenstände
46 600
zu sehen, ausdrückt gleich 38,84 (s. Tab. XVI),
3884
= 12%.
Die Abweichung von der mittleren Größe um 4" 4>° 2 > was
eine fast ebensolche absolute Größe darstellt, beträgt für
Phantasie, in Prozenten vom Mittel ausgedrückt, gleich
46 200
—yfc- = 262,5 0/0. Die Entwicklung der Phantasie von über-
normal um 262,5 °/° nat a l so em Sinken der Fähigkeit, Gegen-
stände zu sehen, um 12 0/0 gegen normal zur Folge. Alle diese
Berechnungen sind in der Tabelle XVIII enthalten.
Auf Grund dieser Tabelle kann man die einander be-
gleitenden Fähigkeiten in der abnehmenden Ordnung ihrer
Verbindungsfähigkeit eintragen. In der unterstehenden Ta-
belle sind die auf Grund der in den Tabellen VI und XVIII
enthaltenen Resultate einander gegenübergestellt.
Tabelle der zusammenfallenden Fähigkeiten (XrX).
L
Auf Grind der Tabelle VI.
'»venitande
Wo.Geeamtangaben'.KeunU
nlsse.
Gesamtangaben, (Wo*),
(Emotion*).
Tr Gesamtangab , Gegenstände.
Kenn nlsse*.
Emot, Kenntnisso, Schluß-
folgerungen.
Kenntnisse, Emotion, Was.
IL
Auf Grund derTabeUe XV m.
Wo, Kenntnisse.
Gesamtangaben.
Qesamtangab.,G egenst&n <J »>.
III.
• • . •
Phantasie*, Emot, Schluß-
folgerungen. Kenntnisse.
Kenntnisse, Phantasie*,
Emotion, Was.
Was, Schlussfolg., Kenntn.. Phantasie, Schlußfolge-
RMtlmmnnmii* ' mnoan WSS, (Keillltn).
Scblußfolge-
Scbluß-
SchluBfolgorungen,
Kenntnisse Emotion,
Stimmungen*.
Wo», Phantasie,
igen. Was*
lolgerungnn
S***mtangab«n . Wo, Bestimmungen, Gegen-
stände.*
, Wo.
1 )urohschnittsrcauiUt aus
beiden Tabellen.
Wo, Kenntnisse. (Gesamt -
angaben).
Gesain tan gaben, (Emotion).
G es aintangab., Gegenstand".
Phantasie, Krnot., Schluß-
folgerungen, Kenntnisse.
Kenntnisse, Phantasie,
Emotion. Was.
Phantasie, Kchlußfolge-
rnngon.Was. (Kenntnisse),
(Bestimmungen).
Phantasie. Schlußfolge-
rungen, Was, (Wo).
Kenntnisse, Emotion,
Schlußfolgerungen, (Be-
stimmungen )-
Bestimmungen, Wo, (Gegen-
stände).
Digitized by Google
40
Nicolai Wolodkemlach.
Die Fähigkeiten sind in abnehmender Reihenfolge ihrer
Verbindungsfähigkeit geordnet; am häufigsten verbinden sich
z. B. Gegenstände mit „wo", am seltensten mit „Kenntnisse".
Im ganzen zeigen die in beiden Tabellen enthaltenen Re-
sultate große Aehnlichkeit. Beide Untersuchungsmethoden
haben 44 zusammenfallende Fälle zutage gefördert und
nur 11, welche von der einen Methode gefunden, von
der anderen nicht entdeckt worden sind; diese nicht über-
einstimmenden Fälle sind mit einem Sternchen versehen.
Einige von diesen Abweichungen lassen sich jedoch erklären.
Der Umstand z. B., daß die Gruppenmethode (Tabelle VI)
zwei zusammenfallende Fälle: „Was" und „Schlußfolgerung"
mit „Phantasie" nicht entdeckt, erklärt sich daraus, daß es
nach dieser Methode schwer ist, das Korrespondieren der-
jenigen Fähigkeiten aufzufinden, welche überhaupt weniger
entwickelt sind; „Phantasie" kommt im Maximum nur 16 mal
vor, „Kenntoisse" und „was" 20 mal, „Schlußfolgerung" 23
mal, weshalb das Korrespondieren dieser Fähigkeiten bei der
ersten Untersuchungsmethode unbemerkt geblieben ist. Aus
demselben Grunde steht „Phantasie" in zwei Korrespondenz-
fällen mit „Emotion" und „Kenntnisse" hinter allen übrigen
Fähigkeiten zurück, während sie nach der Prozentzahlen-
methode den ersten Platz einnimmt. Umgekehrt neigt die
Gruppenmethode bei den häufiger vorkommenden Fähig-
keiten zur Erweiterung ihrer Zusammenfallung; so zeigt z. B.
diese Methode einen Deckungsfall zwischen „Bestimmungen"
und „Emotion" und einen zwischen „Emotion" und
„Phantasie" mit „Bestimmungen", während die Prozentzahlen-
methode diese Deckungsfälle nicht aufweist. Betrachtet man
die Kurven, so kann man sich leicht überzeugen,
daß Kategorie „Bestimmungen" in Wirklichkeit gleich auf
das Steigen und Sinken von „Ejmotion" und Kategorie
„Phantasie" in den Kurven 1 und 3 folgen und mit „Phan-
tasie" und „Emotion" ihre Maxima erreichen („Phantasie"
steigt hier mit der Kategorie „Kenntnisse"); in der zweiten
Kurve nähern sich „Emotion" und „Phantasie" der mittleren
Linie, zugleich mit dem Maximum der „Bestimmungen"; in
den Kurven VI und VIII steigen „Bestimmungen" mit
„Emotion" und „Phantasie". Die beiden Tabellen sind
also in dieser Hinsicht einander nicht entgegengesetzt.
Eine Untersuchung der höheren G eiste* Fähigkeiten usw.
41
Ebenso erklärt sich der durch die Gruppenmethode ent-
deckte Deckungsfall „Gegenstände" mit „Gesamtangabe"
und „Gesamtangabe" mit Gegenstände" — nämlich durch
das häufige Auftreten dieser Fähigkeiten. In Wirklich-
keit findet auch die andere Methode diese Fähigkeiten
nicht als absolut einander entgegengesetzte, da ja das Maximum
„Gesamtangaben" das Maximum „Gegenstände" nur um 3.4 0/0
der Durchschnittsgröße geringer erscheinen läßt Ferner
erweisen sich nach der Gruppenmethode die Kategorien „wo"
und „Kenntnisse" als gleichzeitig auftretende Fähigkeiten;
einen gewissen Parallelismus dieser Fähigkeiten findet auch
die Prozentzahlenmethode, wie aus den Kurven I, II, III und
VI zu erkennen ist. Auf diese Weise bliebe also als wirklicher
Widerspruch nur ein von der Gruppenmethode entdeckter
Deckungsfall „Bestimmungen" und „was", welch letzteren die
Methode der Prozentzahlen nicht aufgefunden hat. Die durch
beide Untersuchungsmethoden erhaltenen Resultate sind in
der dritten Spalte der Tabelle XIX der zusammenfallenden
Fähigkeiten enthalten, wobei die schwankenden und die im
Parallelismus der Abweichungen zutage tretenden Halb-
Deckungsfälle in Klammern beigefügt sind. Diese letzte Ta-
belle dürfte als der der Wahrheit am nächsten kommende
Schluß oder Endresultat vorstehender Betrachtungen ange-
sehen werden.
VI.
Die Untersuchung über die Richtigkeit dieser Endresul-
tate ist auf folgende Weise angestellt worden: Die Tabellen
IX— XVI bringen die Gruppierungen nach dem Maximum und
dem Minimum jeder einzelnen Fähigkeit; jede von diesen
^nippen wurde wieder in zwei Gruppen eingeteilt, und zwar
nach dem Maximum und dem Minimum einer anderen Fähig-
keit. Nach dem oben Gefundenen ist zu erwarten, daß dabei
die zweite Fähigkeit, welche zur Einteilung der Gruppe in
Untergruppen diente, ihren spezifischen Einfluß auf die
anderen Fähigkeiten ausüben wird, welche sich auf diese
Weise durch einen gemeinschaftlichen, bald korrespondieren-
den, bald entgegengesetzten Einfluß zweier Fähigkeiten ver-
ändern werden, nämlich durch den Einfluß derjenigen Fähig-
keit, die der Einteilung in Gruppen als Basis diente und der-
Digitized by Google
42
Nicolai Wolodkewittch.
jenigen, die der Einteilung in Untergruppen als Basis diente.
Wenn diese Einflüsse den in Tabelle XIX, Spalte 3 zusammen-
gefaßten Resultaten entsprechen, so müssen diese Schlüsse
richtig sein. Als Basis der weiteren Einteilung der Gruppen
in Untergruppen diente uns die topographische Fähigkeit, als
einer der charakteristischsten. Für Gegenstände ist eine
solche Einteilung nicht vorgenommen worden, da diese zwei
Fähigkeiten (Gegenstände sehen und zugleich auch ihre Lage
und Ort angeben) zusammenfallen und ihre einander wider-
sprechenden Verbindungen ihre Erklärung in anderen Ein-
flüssen finden müssen. Auf diese Weise sind folgende 6 Ta-
bellen (XX — XXV) zusammengestellt; die Zeichen + (plus)
und — (minus) drücken (auf Grund der Tabelle XIX, Spalte 3)
die Einflüsse derjenigen Fähigkeit aus, welche zur Einteilung
der Gruppe in Untergruppen als Basis diente.
Tabelle XX.
B«S .88
ü Mi
Wo - (17 Schill.)
591,69 542,21
34,80 31,90
- 431 i 8,23
Wo + (10 Schül.)
364J8 296,71
:*i,43 29.67
- 2,41 + 6,00
Wo — (11 Schill.)
464,98 177,11
42,27 16,10
* 3.43 — 7,57
Wo -f (22 Schill.)
+
I
Ü
2
909JK
4134
+ 23"
+ +*
41 H^»
18^6
- 5,41
0
1
Schluß-
folg.
i
II
a.- 3
<
25332
1439
- 5,65
8232
435
- 0,41
- +
5838
3,44
+ 0^48
94,74
5,57
f 1,07
- +
3136
136
- 0.11
- +
3630
2,10
4- 034
-+
9,24
0.54
+ 0,07
26^1
+ 5,27
3230
332
- 2,<M
9.08
0,90
- 2.06
2839
236
- 2,14
3,92
039
- 038
839
0,89
- 0,87
2,17
032
-0.25
16134
14,66
— 538
90,27
831
V?
4131
3,70
+ 030
+ +
7531
6.82
3642
3,19
+ 132
+ +
44,90
4,08
V?
937
0,85
+ 038
55933
26,43
f- 4,89
11038
5,00
- 036
+ -
68,61
3,12
h 0,16
+ -
7734
330
- 1,00
-1 —
47,65
2,16
0.19
15,74
0,71
- 1,05
+ -
7,48
034
-0.13
Tabelle XXI.
5 OB
r
Wo + ( 7 Schül.)
263;« 116,82
37,62 1639
1.22 - (i,98
- +
Wo — (13 SchQl )
48131 27933
37,04 21.48
1,80 - 249
Wo + (25 Schill.)
1010,54 588,78
40,42 2335
+ 138 — 032
+ + + -
Wo - (15 Schül.)
575.16 440,00
3834 293*
— (WO +830
+ - + +
158,91
22,70
+ 2,16
63,47
3,07
H «31
;w,02
4,29
+ + 133
46,35
6,48
+ 1.98
H
12311
130
^0.17
4,00
0.57
5,26
(»,75
+ 03
194,4«
14,96
- 5,68
12932
9,96
+ 4,70
45,25
3,48
+ + ^:
7*37
6.08
+ 133
+ +'
:i6.oi
2,77
+ O80
+ +
52,11
431
+ 235
+ +
3,1»
034
657.77
26,31
+ 5,77
78,76
3,15
- 2,11
47,62
1,90
- 136
55,28
231
- 2,29
38,98
136
- 0,41
20,63
0,83
- 0,93
439
0,17
21938
14,66
- 638
4337
2,90
- 236
54,64
3.64
+ 038
9138
6,09
+ 139
3037
2,04
+ 037
28,59
1,90
+ 0,14
15,49
1,03
Digitized by Go
Kwt Untersuchung der höheren Geistes fähigkeilen u*u-.
43
Tabelle XXII
I
IS
es
■ JS
3
•■>
r.
ii iii
-?2
O ■
Wo 4- (9
347,77
3831
-«?
Wo - (U
38.08
- 031
4036
+ 1,42
+ +
Wo - (11
62424
37.44
'S*
i§
SohtlL)
162,93
18.10
- 637
Schül.)
323,64
23.13
- 034
- +
Scbül.)
637,67
2334
- 033
+ -
8<5h Ol.)
39538
28,26
1
SO .
2*
ä 0
<2
O
1
1
II
k *
Ii
<
24,10
+ 336
5137
5.77
+_<W
57.08
634
+ 338
29,65
33
- Ul
+ -
2138
33
+ 032
11,74
130
-0,46
0
0
-047
18^,36
1330
- 734
8136
6,8T.
%r>
.2,44
5,17
+ 231
101,97
73
+ 2,78
+ +
4331
3.13
+
++
47,92
3,42
+ 136
++
937
037
1 03
600,77
26,12
+ 638
9036
3,93
- 134
3036
039
- 2,07
7038
3.08
- 1,42
3939
130
- 0,67
1239
036
— 13
936
0,42
-036
22830
163»
-434
91,13
631
+ 035
— +
27.46
136
- 130
67,78
434
+^34
2337
1.65
- 032
32,78
234
+ 038
934
0,66
+0,1»
Tabelle XXIII.
Ml
ä2
Wo + (8 SohUl.)
29045 14737
1813
22,6T.
40,40
28.34
733
143
13,14
53
3732 1841
63
333
93
1.78
1,64
0,66
- 132 - 6,26
+ 2,11
- 031
-t-^037
+ 4,70
- 0,19
- + 0,12
+ 0,19
-+ (+)-
+ "
(+)-
Wo — (16 80I1 Ol.)
669,10 39332
236,94
923
56^M
164^1
3832
623
12,1.-1
3434 24.66
14^1
53
334
93
23
3,98
+ 2,17
0,7b
+ 03
- 330 +039
<+)+*
- 5,73
+ 034
+ 0^8
+ 5,16
+ 0.11
(+)+•
+ r*
+ +*
+ +
Wo + (24 SobtU.)
977,72 66.33
636,46
1013
49,40
26.9*
373
11,49
43
40,74 23,05
2632
43
2,06
1,12
13
0,48
0.18
+ 13 - 032
+ 5,98
- 1,02
- 03
— 33
- 032
- 13
-03
+ +• (-)-*
(-)-
Wo - (12 8chül.)
49737 326,40
17732
• 803
443
3,74
1534
33,46
173
6,46
O34
41,46 273
14,79
tu»
13
2,79
1,49
+ 2,62 + 833
- 5,75
+J43
- 332
t?f
- 037
+ 0,07
+ - <-) +
Tabelle XXIV.
in
c —
Wo + (14 Seht!).).
5693 2563
354.%
f-4,61
47,49
44,91
46,43
14,52
,232
4037 183
263
4,62
33
331
332
1,04
0,16
-1- 13 — 5,45
+ 431
-^0,64
- 0,43
— 13
+ 13
- 0,72
-031
+ -
•
+ ~
Wo -(14 Schül.)
517,65 356.15
188,65
88,15
55.19
6635
6234
7831
12,15
363 23,94
13,48
6,29
3,94
4$
439
534
0,78
- 13 +037
- 73
+ 13
+ 0,98
+ 0.26
+ 23
+ 3,48
+ 0,40
+ +
+ +
- +
+ +
Wo + (14 Schill)
70132 46531
462,72
7739
30,15
55,72
6J4
10,11
7,43
0,41
30,14 24,75
25,71
431
1,67
3,09
0,28
0,56
+ 03 +13
+ +• + -
+ 6,17
- 03
— 13
- Ml
— 13^
- 13
- 0,06
+ -
Wo — (14 Schül.)
6393 384,17
22531
84,94
44,70
1083
334
73
032
6,46
0.46
3830 3734
16,13
6,07
3,19
737
037
- 034 + 3,77
- 431
+ 031
+ 03
+ 2,87
- 1,70
- 134
- 031
+ - + +
— +
- +
+ +
- +
Digitized by Google
44 Nicolai Wolodkewitsch.
Tabelle XXV.
+ 3
1
la 23 1§
Was
2*
35
c
a
= i
c 2
* "3
BS
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Q Vi
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la
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Wo 4- (5 Schill.).
1?2/J8 110,23
12834
Ol Ort
1Ä.79
24,30
93»
2141
0
34,41 23.01
25.64
2.56
4.S6
1.88
438
0
4,43 _ i,G3
4- 6.10
— 0 98
— 0,40
4- 0
0,09
4- 2.62
— 0 47
h (-+-) —
_l_ _
■
4
1
Wo — (11 Schill.)
374,94 266.76
16138
48,62
60,87
46,09
80.70
12,15
3438 2435
13,78
4,45
4,42
6,35
4,19
734
1,10
— 4,76 4- 0,68
- - H-) +•
- 6,76
— 031
— 1,46
- 2.22
+ 5.58
+ 0.63
h
+ +
+ -r
Wo 4- (27 SohUl )
110134 690,:i7
689,44
12034
6435
7633
42,18
136
332
9,46
4031 21,86
25,53
4.47
2,40
2,*2
0,12
038
+ 1.97 — 1,81
+
- + «.
- 036
- 1,68
- 0,41
__ •
- 134
- 0,09
+ + (-) -
Wo — (17 Schill.)
681,73 452/«
26238
124,16
51.27
9938
2039
0
6,65
40,10 26,62
15,46
730
3,02
537
1,21
- 0,76
0
03»;
- 5.08
+ 2,04
+ 0,08
- 1.76
— 0,11
+ +
- +
- +
Aus diesen Tabellen ist ersichtlich, daß in der über-
wiegenden Mehrzahl der Fälle den Einflüssen die größten
Abweichungen nach der negativen Seite hin, den Einflüssen
H — |- dagegen die größten Abweichungen nach der positiven
Seite hin entsprechen; die Einflüsse + — und — -f- rufen
Abweichungen hervor, die in der Mitte zwischen den maxi-
malen Abweichungen liegen. Die Berechnung zeigt, daß
unter allen 144 notierten Fällen nur 18 oder 12,5 0/0 sind,
die mit den Abweichungen in der Tabelle XIX nicht im Ein-
klang stehen, d. h. wo den größten positiven oder den größten
negativen Einflüssen auch nicht die größten Abweichungen ent-
sprechen. Alle diese Fälle sind mit einem Sternchen versehen.
Dagegen sind mit der Tabelle in Einklang stehende Fälle
126 oder 87,5 % notiert worden. Man darf also annehmen,
daß die Angaben der Tabellen XX — XXV die Richtigkeit der
Resultate bestätigen, zu welchen wir oben gekommen sind,
und daß, nach der oben ausgesprochenen Voraussetzung, jede
Fähigkeit in allen möglichen Kombinationen den ihr eigenen
Einfluß auf andere Fähigkeiten bewahrt.
Die emotionale Fähigkeit ist der topographischen ent-
gegengesetzt; ich habe deshalb für „Gegenstände" und „Be-
stimmungen" noch eine Gruppierung nach dem Maximum
und dem Minimum der Emotion vorgenomen; die Gruppierung
„wo" zu Emotion" ist mit der Gruppierung „Emotion" zu
„wo" identisch und ist in Tabelle XVIII enthalten. In den
nachstehenden Tafeln XXVI und XXVII sind die Gruppic-
Digitized by Google
45
rangen der „Gegenstände"
„Emotion" gegeben.
und der „Bestimmungen" zu
Tabelle XXVI.
-
2
Emot.
369,1»
4332
4v48
Emot
45,19
+ 836
Emot.
59534
3837
- 5,77
u
f
9
-. I
2°.
3«
551,43
- 438
Emot.
334,75
33,47
- 437
Emot.
©132
3»">,54
- 230
-+
Emot.
519,17
37,08
-1,76
Emot
655.40
4532
T 6,18
+ +
OB ^
130,18 1073*
213» 17,!«
— 138 — 231
- (+) + -
— (20ScbüL)
382,26 46930
19,11 23,15
— 433 +2,91
-(-) f +
+ (18 Schal.)
40131 31039
22.38 1735
- 139 -339
+ (-)
- (16 «Chi».)
497,46 844.98
8139 213»i
+ 732 + 1,02
4- (-B -4-
4- (10 ScbOL)
292,64 168,22
2936 15,82
4- 639 — 4,72
— (17 8obüL)
54638 363,15
32,13 20,77
4- 8,46 4- 033
1-
4- (14 SchUl.)
24736 259,94
173» 18.6"
— 6,00 - 230
+ -
— (19 Schttl )
333,46 460.J«
1736 24,25
— 6,12 4- »,71
+ 4-
3
Ii
**
O
H
uä 0
■
— *
cu -
u
r
21,13
3.52
12,69
2,11
- 0.85
- +
4236
7.07
4- 237
11,12
136
— 0,12
4- (4-)
832
1,42
- 034
-4-
0,25
1,04
4- 037
109,94
6,49
4-_038
4637
2.112
- 034
•
1736
039
— 331
4134
2,09
4- 0,12
+ <+)
4,02
030
- 136
4.68
033
- 034
112,13
0,23
+ 037
4- +
7139
3,98
4- 1,02
4_ +
185,60
1031
+ 5.81
232
4- 0,06
— (— )
67,48
3,75
4- 139
4-4-
11,16
, 032
+ 0,16
72,12
431
- 0,75
+ -
47,78
2,98
4- ^038
2437
133
- 2,97
28'*;
131
— 0.16
-(-)
2531
136
- 0,18
+ -
635
039
- 038
Tabelle XX VII.
6339
639
4- 0,13
- +
2734
2,75
- 031
98^18
932
4- 432
1131
130
- 0,77
2436
2,48
4- 0,72
2,78
038
— 0,19
60,79
338
- 1.68
40,07
236
-_030
26,16
1.48
- 3,02
2337
139
- 038
193*
1.17
- 039
•
8,63
031
+ 034
7933
5.G7
4- 0.41
+ +•
55,74
3,98
4- 1,02
.+ +
13438
9,63
4- 6,13
3634
234
4- 037
+ +
61,16
:s,b5
4- 13»
+ +
14,63
134
4- 037
12137
633
+ + U2
54,18
2,85
-yi
17,17
0,90
- 330
4733
2,48
4- ^0,61
3.46
0,49
232
0,11
- 036
Von den in den zwei vorstehenden Tabellen untersuchten
48 Fällen sind nur 5 oder 10,4 0/0 solche, die mit der Tabelle
der Abweichungen nicht übereinstimmen ; diese sind mit einem
Sternchen versehen. Wenn man als Deckungsfälle auch nur
diejenigen zählt, in welchen die größten Abweichungen ge-
meinsamen gleichartigen Einflüssen entsprechen, die übrigen
alle außer acht laßt, auch dann erhält man ganz befriedigende
Resultate: die Zahl der Nichtdeckungsfälle bleibt 18 und 5;
sie macht im Verhältnis zur Gesamtzahl der gleichwirkenden
Einflüsse (72 und 24) 25 0/0 resp. 20,8 0/0. Durchschnittlich be-
trägt nach beiden Gruppierungsarten, nach Kategorie
Digitized by Go<
46
Nicolai Wolodkrwitsch.
„wo" und „Emotion", die Zahl der in Tafel XIX
nicht übereinstimmenden Fälle 22,9 0/0, der überein-
stimmenden 77,1 o/o. Bei den äußerst komplizierten Ver-
hältnissen der Wechselbeziehungen, die hier in Betracht-
kommen, dürfte ein solches Resultat für befriedigend gelten.
VII.
Es erübrigt noch die Frage zu lösen, ob sich die erhal-
tenen Resultate zu einer Klassifikation der Schülerinnen nach
ihren Fähigkeiten und zur Feststellung geistiger Typen ver-
wenden lassen. Wenn man die Tabelle XIX betrachtet, so ist
leicht zu ersehen, daß alle aufgezählten Fähigkeiten in zwei
verschiedene Gruppen zerfallen: Die erste Gruppe bilden:
Gegenstände, wo, Bestimmungen, Gesamtan-
gabe und teilweise Kenntnisse; die zweite Gruppe bilden :
was, Schlußfolgerung, Emotion, Phantasie,
Kenntnisse und teilweise Bestimmungen. Jedes Auf-
treten der Fähigkeiten der zweiten Gruppe (mit Ausnahme von
Bestimmungen) erscheinen als Resultat innerer Geistes-
tätigkeit; die Zentralfähigkeit der ersten Gruppe ist die
Fähigkeit, Gegenstände zu sehen (die beschreibende
Fähigkeit); die Zentralfähigkeit der zweiten Gruppe ist
Emotionalität; die erste Gruppe kann die der be-
schreibenden, die zweite die der emotionalen Fähig-
keiten genannt werden. Jede Fähigkeit der einen
und der anderen Gruppe tritt in die verschiedensten Ver-
bindungen mit den übrigen Fähigkeiten derselben Gruppe. Die
Fähigkeiten, Bestimmungen zu liefern, d. h. nicht nur
Gegenstände zu sehen, sondern auch deren Eigenschaften wahr-
zunehmen und Kenntnisse zu benutzen, erscheinen als Ueber-
gangs- und beide Gruppen verbindende Fähigkeiten. Es ist
klar, woher dieser zweideutige Charakter beider Fähig-
keiten rührt: die Fähigkeit, Bestimmungen zu liefern, deutet
mehr auf eine tiefere, innere Geistestätigkeit hin, als auf eine
unmittelbare, äußere Tätigkeit; wenn wir einen Gegenstand
nennen, so apperzeptieren wir ihn gleichsam mit einem see
lischen Akt ; weisen wir dagegen auf seine Eigenschaften hin,
so setzen wir eine ganze Reihe unserer seelischen (geistigen)
Kräfte in Bewegung: hier wirkt die Urteilskraft, die Ver-
Eine Untersuchung der höheren Qeittesfähigkeiten usw.
47
gleichung, das Streben, den betreffenden Gegenstand von
anderen Gegenständen derselben Gattung zu unterscheiden, ein
gewisses Interesse, ein Aufmerken unter dem Einfluß des
emotionalen Gefühls und anderes mehr; es erweist sich
also, daß diese Fähigkeit, insofern sie als Resultat der
gewohnten Tätigkeit — des Strebens nach Genauigkeit und
unabhängig von den Motiven dieses Bestrebens — erscheint,
zu der Gruppe der beschreibenden Fähigkeiten gehört ; insofern
sie aber durch das Vorhandensein des von dem emotionalen
Gefühl getragenen Interesses und der Aufmerksamkeit bestimmt
wird, gehört sie zu der Gruppe der emotionalen Fähigkeiten.
Eine ausgesprochene Neigung, Kenntnisse zu benutzen, kann
ebenfalls einen doppelten Grund haben: ein schwerfälliger,
unbeholfener und träger Verstand benutzt gern fertiges
Material zum Ausdruck seiner Gedanken, nur um nicht
selbst denken zu müssen, mit einem Wort, um aktive Arbeit zu
vermeiden. Es müssen also die auf Grund dieser Ursache gelie-
ferten Kenntnisse der Gruppe der beschreibenden Fähigkeiten
zugezählt werden. Dagegen müssen zur Gruppe der emotio-
nalen Fähigkeiten gerechnet werden: die Verwertung der
Kenntnisse, wenn bei der Verarbeitung dieses Materials die
Schülerin, getragen von dem emotionalen Gefühl des Inter-
esses, unter dem Einfluß der Phantasie, schöpferisch tätig ge-
wesen ist, d. h. durch ihre Kombinationsgabe Neues ge-
liefert hat.
Es treten also zwei intellektuelle Haupttypen klar zutage
— ein beschreibender oder Objekt-Typus und ein emotionaler
oder schöpferischer Typus. Diese zwei Grundtypen stellen
jedoch, je nach der größeren oder geringeren Teilnahme
der übrigen Fähigkeiten, eine fast endlose Anzahl von
Untergruppen dar. Wie groß die Verschiedenheit der
Kombinationen sein kann, zeigen die hier in Betrachtung
gezogenen Arbeiten: 60 Schülerinnen lieferten 44 ver-
schiedene Kombinationen der Maxima - Fähigkeiten, und
nur 9 Kombinationen wiederholten sich: 6 zweimal, 1 drei-
mal, 1 viermal und 1 sechsmal; es haben also nur 16 Schü-
lerinnen Verbindungen wiederholt, die von den übrigen 44
geliefert wurden. Daraus geht hervor, daß alle möglichen
Kombinationen erschöpfen und jede als besonderen intellek-
tuellen Typus darstellen wollen, eine ganz; hoffnungslose Aufgabe
48
Nicolai Wolodkewitsch.
ist. Das einzige, was von Bedeutung sein kann,
ist, die Hauptgruppen — die beschreibende und die
emotionale Gruppe — , in Untergruppen nach einer oder
nach zwei scharf ausgesprochenen, charakteristischen
Fähigkeiten zu bringen, z. B. nach der topographischen. Von
diesem Gesichtspunkt geleitet, verfuhr ich folgendermaßen:
Zuerst brachte ich alle Schülerinnen in zwei Gruppen nach
dem Maximum und dem Minimum der von ihnen gelieferten
Gesamtangaben. Da sich die Gesamtangaben hauptsächlich
aus „wo", „Bestimmungen" und „Gegenstände" auf-
bauen, so traten die emotionale und die beschreibende Gruppe
sofort klar hervor:
I. Gruppe (ihre Gesamtangaben sind unter 39,03): No. 29,
3h 32, 33. 34, 35, 4"» 43, 45, 47, 5°> 5«, 53, "4- 115, "7,
118, 119, 120, 121, 122, 124, 125, .127, 128, 130, 135,
*37> *43> J 44 0 m ganzen 30 Schülerinnen).
II. Gruppe (ihre Gesamtangaben sind über 39,03): No. 30,
36, 37, 38, 39, 4o, 42, 44, 46, 48, 49, 54, 112, 113, 115,
123, 126, 129, 131, 132, 133, 134, 136, 138, 139, 140, 141,
142, 145, 146 (im ganzen 30 Schülerinnen).
In der I. Gruppe müssen sich die meisten emotionalen
Schülerinnen befinden; diejenigen aber, die kein Maximum
der Emotion oder der Phantasie aufweisen, werden den größten
Mangel an geistigem Inhalt zeigen, um so mehr, da diese
Gruppe ein Minimum auch der beschreibenden Fähigkeiten
aufweisen. Auf diese Weise erhalten wir Gruppe I :
I. Gruppe:
Gesamtangabe — , Emotion — , Phantasie — (10 Schüle-
rinnen): No. 29, 31, 43, 50, 51, 116, 117, 118, 121, 128.
Die II. Gruppe der emotionalen Schülerinnen, die aus den
übrigen 20 Schülerinnen bestehen, teilen wir nach dem
Maximum und dem Minimum der topographischen Fähig-
keiten in zwei Untergruppen; mit dem Sinken dieser
Fähigkeit werden alle diejenigen Fähigkeiten steigen,
welche sich um die emotionale Fähigkeit herum grup-
pieren und umgekehrt: eine Erhöhung der topographischen
Fähigkeit wird ein Sinken der Emotion zur Folge haben;
auf diese Weise muß die erste Untergruppe (wo — ) die
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Eine Untersuchung der höheren Geistes fähigkeiten ustc. 49
entwickeltsten Schülerinnen aus der Zahl der Emotionalen in
sich schließen; in die zweite Untergruppe (wo -f-) werden
diejenigen zu bringen sein, welche sich durch einen weniger
ausgeprägten Charakter auszeichnen.
II. Gruppe:
a) Gesamtangabe — , (Emotion oder Phantasie -f), wo —
(15 Schülerinnen): No. 32, 33, 34, 41, 45, 47, 53, "4, 119,
124, 125, 130, 137, 143, 144.
b) Gesamtangabe — , (Emotion oder Phantasie -f), wo -f
(5 Schülerinnen): No. 35, 120, 122, 127, 135.
Die Gesamtangaben der übrigen Schülerinnen übersteigen
das Mittel (39,03). Aus diesen Schülerinnen sind zunächst die-
jenigen auszuscheiden, bei denen Emotion und Phantasie das
Mittel übersteigen; im Vergleich mit denjenigen, welche die
Gruppe II bildeten, werden diese ausgeschiedenen natürlich
die Minderzahl bilden. Diese Schülerinnen nun bilden die
dritte Gruppe ebenfalls emotionaler Schülerinnen, die sich
aber durch großen Reichtum an geistigem Inhalt auszeichnen.
Wenn wir diese Gruppe nach dem Maximum und dem Mini-
mum wo in zwei Untergruppen teilen, so zählen zur ersten
Untergruppe (wo — ) die begabtesten unter allen 60 Schüler-
innen, und zur zweiten Untergruppe (wo +) diejenigen, welche,
den ersteren hinsichtlich der Entwicklung nachstehend, sich
dem geistigen Typus der Gruppe 1 1 b nähern.
III. Gruppe:
a) Gesamtangabe -J-, Emotion oder Phantasie -}-, wo —
(5 Schülerinnen): No. 46, 123, 131, 133, 138.
b) Gesamtangabe -f, Emotion oder Phantasie -f, wo -j-
(5 Schülerinnen): No. 30, 40, 48, 49, 132.
Alle übrigen Schülerinnen gehören zu dem beschreibenden
Typus und bilden die IV. Gruppe. Wir teilen sie in zwei
Untergruppen nach der topographischen Fähigkeit; in die
erste Untergruppe (wo — ) bringen wir diejenigen, welche sich
durch eine größere Entfaltung des seelischen Lebens aus-
zeichnen; in die zweite Untergruppe (wo +) diejenigen, welche
sich durch die größte geistige Trockenheit auszeichnen.
Zeitschrift für pädagogische Psycholog*, Pathologie u. Hygiene. 4
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50 Nicolai Wolodkewitsch.
IV. Gruppe:
a) Gesamtangabe -f-, Emotion und Phantasie — , wo —
(5 Schülerinnen): No. 112, 115, 140, 142, 145.
b) Gesamtangabe -f, Emotion und Phantasie — , wo -f-
(15 Schülerinnen): No. 36, 37, 38, 39, 42, 44, 45, 113, 126,
129, 134, 136, 139, 141, 146.
Zur bequemeren Fixierung der auf diese Weise fest-
gestellten hervorragendsten Charakterzüge dieser Gruppe
bringe ich in Tabelle XXVIII die durchschnittliche Prozent-
zahl jedes einzelnen Charakterzuges.
Tabelle XXVIII.
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o •
[ 49,66
4-
Gruppe II» 3439
Gruppe IIb .... 36\56
Gruppe lila .... 84,06
Gruppe Illb 35,79
Gruppe IV» .... 37,61
Gruppe IV b .... 39,19
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-Ii
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nisse
Phan-
tasie
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14.70
534
339
9.76
231
031
+
+
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+
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1638
2238
6^4
3,14
9/74
1,45
135
1,(6
+
+
3431
+
15,48
3,43
3.73
5.22
2,14
1,6$
n
20,43
27.18
+
3,81
3,08
2,64
+
1,65
M
3639
16#»
431
239
137
03»
0
0.21«
24.71
26,29
435
2,36
Ml
1.20
031
039
+
+
Diese Zahlen geben den Anteil an, welchen jede einzelne
Fähigkeit in dem Bewußtsein der Durchschnittsschülerin der
betreffenden Gruppe eingenommen hat. Die Zeichen -f
— zeigen das Steigen oder Sinken im Vergleich mit den Durch-
schnittzsahlen (dem Mittel) für alle 60 Schülerinnen (s. Tab. I).
Außer dieser Tabelle bringe ich noch zwei: die eine (Tabelle
XXIX) gibt die Gesamtzahl, sowie das Mittel derjenigen An-
gaben, die von den Schülerinnen der betreffenden Gruppe
für jede Gedankenkategorie geliefert worden sind;
die andere (Tabelle XXX) zeigt das Verhältnis der
Gesamtzahl der Gesamtangaben für die Fähigkeiten der
ersten Gruppe (beschreibende Fähigkeit) zu der Ge-
samtzahl der Gesamtangaben für die Fähigkeiten der
zweiten Gruppe (emotionale Fähigkeit). In dieser Tabelle ist
das Verhältnis der absoluten, sowie der Prozentzahlen gegeben.
Digitized by Google
Eine Untersuchung der höheren Gtütesfäh igke i ten usw. 51
Tabelle XXIX.
Gruppe 1
drupp« IIa
tirappe IIb
ürupp» 111b
Gruppe IV»
Gtuppe IVb
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Summe der Ge-
samtangaben nach
den einzelnen Kate-
gorien för alle 6Ü
Schülerinnen und das
Mittel:
GefTBriBttio.
Beatimnijrn
Wo . . .
Wu . . .
Schlußroi.
Emotion
Konntn'sse
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A»»stt). Qef.
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41—
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2842 :a.<x>
Tabelle XXX.
Summe der
OcsamUnjraben
Beacbretb.
KlDOt
K&bitrk.
Kahitfk
<»ruppe 1
. .
iu
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SJ
, IIb
7^1
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IV»
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. . 44.4
4J
VorhÄltni«.
Summe der Prozentiahleu
Hesehreib.
KKbigk.
87^6
75148
76.91
83,70
8948
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KmoL
Fühi^k.
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27.48
gJ7
1635
16/.7
0.82
VerbJUtnis
f..H>',
8,7«,
Die Summe der Gesamtangaben auf der linken Hälfte
der Tabelle XXX ist auf Grund der in Tabelle XXIX ge-
gebenen Daten zusammengestellt. Die Summe der Prozent-
zahlen auf der rechten Hälfte der Tabelle XXX auf Grund der
Tabelle XXVIII, z. B. für die erste Gruppe ist die Summe für
die beschreibenden Fähigkeiten 12.2 -f 4,6-4- 5.5 = 22,3 ; für
die emotionalen Fähigkeiten: 1,6 + 0,64- 0,1 -f-o.7 — 3,o; das
Verhältnis beider Summen = 7,43, ganz ebenso für die Pro-
zentzahlen. An der Hand der in den zwei letzten Tabellen ent-
haltenen Angaben kann man jede Gruppe und jede Untergruppe
charakterisieren.
Die Schülerinnen der ersten Gruppe erscheinen äußerst
entwickelt für Gegenstände und Kenntnisse, für Emotion und
Phantasie dagegen äußerst schwach. Zugleich stehen sie nach
den (Tabelle XXIX) von ihnen gelieferten Gesamtangaben,
ausnahmslos durch alle Kategorien hindurch, hinter den übrigen
Schülerinnen zurück; nur die absolute Zahl für Kenntnisse ent-
spricht bei ihnen genau dem Mittel. Die entsprechenden Pro-
52
Mcolai WolodkewitscJt.
zentzahlen (für Gegenstände und Kenntnisse) sind bei ihnen
am höchsten; folglich haben diese beiden Gedankenkategorien
den größten Anteil ihres Bewußtseins in Anspruch genommen.
Das Verhältnis der Summe der von ihnen gelieferten Gesamt-
angaben für die beschreibenden Fähigkeiten zur Summe
der Gesamtangaben aller übrigen Gesamtangaben (7,43), so-
wie das Verhältnis der Prozentzahlen für beide Fähigkeiten
(6,86) gehört mit zu den höchsten; in dieser Hinsicht jsteht
die erste Gruppe nur der Gruppe IV nach. Alle diese Tat-
sachen charakterisieren die Schülerinnen der ersten Gruppe
als die unentwickeltsten, als die an geistiger Entwicklung am
niedrigsten stehenden. Die Gegenstände haben in ihrer Be-
schreibung nur deshalb einen so hervorragenden Raum ein-
genommen, weil diese vor allem die Aufmerksamkeit der Schü-
lerinnen auf sich gezogen haben; dafür aber sind sie fast
gänzlich ohne nähere Bestimmung, wie hinsichtlich der Eigen-
schaften, so auch, was die Lage derselben betrifft. Es ist
auch erklärlich, warum Kenntnisse bei ihnen ebenfalls eine be-
trächtliche Entfaltung erreichen: von Natur schwerfällig,
haben die Schülerinnen dieser Gruppe zur Füllung ihrer
Blätter nur diejenigen Mitteilungen (Kenntnisse) benutzt, die
sie von mir vor dem Vorzeigen des Bildes gehört haben,
ohne davon einen weiteren Gebrauch zu machen.
Die zweite Gruppe zeichnet sich durch eine scharf aus-
gesprochene Entwicklung der Emotionalität aus; damit steigt
auch der ganze Komplex der emotionalen Fähigkeiten. Nach
dem relativen Steigen oder Sinken der topographischen Fähig-
keit zerfällt diese Gruppe in zwei Untergruppen; in jeder
Untergruppe steht die Gruppe der beschreibenden Fähigkeiten
nach den absoluten Zahlen unter dem Mittel; nach den Pro-
zentzahlen aber unter dem Mittel nur in der ersten Unter-
gruppe (IIa) ; in der zweiten Untergruppe (IIb) dagegen wuchern
„Gegenstände" und „wo" auf Kosten von „Phantasie" und
„Bestimmungen". Das Verhältnis der beschreibenden
Fähigkeiten zu den emotionalen ist für die erste Untergruppe
am geringsten und beträgt für die absoluten Zahlen 2,72 und
für die Prozentzahlen 2,63; das weist auf ein Vorherrschen
innerer Geistestätigkeit vor äußeren Eindrücken. Kenntnisse
erreichen hier eine bedeutende Entwicklung, aber im Gegen-
satz zur ersten Gruppe benutzen die Schülerinnen diese Kennt-
Digitized by Google
Eine Unter tuchung der höheren Geistesfähigkeiten usw. 53
jiisse nicht passiv, sondern als Material zum schöpferischen
Gebilde mit Hilfe der Phantasie. Diese Untergruppe erklärt
uns die Verwandtschaft der Phantasie und Kenntnisse,
auf welche in der Tabelle der miteinander korrespondieren-
den Fähigkeiten (Deckungsfälle) lüngewiesen worden
ist, wo Kenntnisse mit Phantasie in Verbindung treten
und der enge Zusammenhang zwischen Kenntnissen und
Phantasie dürfte dadurch erklärbar sein. Und so dürften
die Charakteristika dieser zweiten Gruppe bestehen
in dem Vorherrschen einer inneren seelischen Tätigkeit,
welches hervorgerufen wurde durch eine scharf ausgesprochene
Entwicklung der Emotion und der Phantasie; alle übrigen
Fähigkeiten stehen im Dienst dieser beiden Zentralfähigkeiten.
Die zweite Untergruppe, die sich durch ein Sinken der Phan-
tasie und durch starke Entwicklung der beschreibenden Fähig-
keiten auszeichnet, bildet den Uebergang zur vierten Gruppe.
Die dritte Gruppe schließt die begabtesten Schülerinnen in
sich. Die absolute Zahl der Gesamtangaben für alle Fähig-
keiten ist überdurchschnittlich (über dem Mittel); nur in vier
Fällen (für wo, was, Bestimmungen und Emotion)
ist die Zahl etwas unter dem Mittel; dieser Umstand dürfte
durch die geringe Schülerzahl dieser Gruppe (nur 10 Schü-
lerinnen in beiden Untergruppen) zu erklären sein; bei einer
größeren Schülerzahl würden sich diese Fähigkeiten wahr-
scheinlich über dem Mittel erwiesen haben. Die Prozent-
zahlen weisen auf ein in ihrem Bewußtsein relatives Vor-
herrschen der Fähigkeiten der emotionalen Gruppe hin. Das
zeigt auch das Verhältnis der beschreibenden Fähigkeiten zu
den emotionalen Fähigkeiten, welches für die absoluten Zahlen
gleich 5,05 resp. 4,98, für die Prozentzahlen gleich 5,17 resp.
5,03 ist. Es zeichnen sich also diese Schülerinnen durch die
vielseitigste Entwicklung aller Geistestätigkeiten aus. Gleich-
mäßig entwickelt ist bei ihnen sowohl das auf Kenntnisse und
Phantasie begründete innere Geistesleben als auch die be-
trachtende und beschreibende Fähigkeit. Wenn sie der zweiten
Gruppe in der Entwicklung der emotionalen Fähigkeiten nach-
stehen, so übertreffen sie diese an größerer Entwicklung der
beschreibenden Fähigkeiten; verglichen mit der vierten
Gruppe, nehmen sie eine umgedrehte Stellung ein: sie über-
treffen diese Schülerinnen an Entwicklung der emotionalen
Digitized by Google
54
Süolai Wolodkewittch.
Fähigkeiten und stehen ihnen in der Entwicklung der be-
schreibenden nach. Die zweite Untergruppe bildet, bei ge-
schwächter emotionaler und erhöhter Entwicklung der topo-
graphischen Fähigkeit, den Uebergang zur vierten Gruppe.
Die vierte Gruppe stellt das vollständige Gegenteil von der
zweiten dar; in ihr sind die Fähigkeiten, welche in der zweiten
Gruppe gerade die höchste Entwicklung erreichen, geschwächt,
und umgekehrt, am höchsten entwickelt sind diejenigen, welche
in der zweiten Gruppe eine untergeordnete Bedeuteng haben.
Das Verhältnis zwischen den beschreibenden und den emotio-
nalen Fähigkeiten erreicht in dieser Gruppe den höchsten Grad :
es tritt ein scharf ausgesprochenes Vorherrschen der ersteren
zutage. Fähigkeiten dagegen, die einer inneren Geistestätigkeit
entsprechen, bilden bei den Schülerinnen einen Bewußt-
seinsinhalt von 10,24 resp. 9,82, also nur] ein Zehntel. Nur
fünf Schülerinnen haben eine topographische Fähigkeit
im Maximum. Die Abschwächung dieser Fähigkeit wird
durch eine äußerst entwickelte beschreibende Fähigkeit
ersetzt. Diese Untergruppe stellt einen rein beschreiben-
den Typus dar. In die zweite Gruppe kommen die-
jenigen Schülerinnen, welche sich durch die höchst
entwickelte topographische Fähigkeit auszeichnen; mit
der Entwicklung dieser, Fähigkeit übersteigen sie die Norm
der Fähigkeit, Gegenstände zu sehen und ihnen Bestimmungen
zu geben. Diese Untergruppe kann als topographischer Typus
hingestellt werden — ein Typus, der sich durch größte Geistes-
trockenheit und durch die peinlichste Genauigkeit in der Be-
schreibung auszeichnet. 14 )
Die vorstehende besprochene Gruppierung stellt in Wirk-
lichkeit nur eine Einteilung der Schülerinnen in zwei Typen
dar: in einen beschreibenden und einen emotionalen. Die
Gruppe I besitzt im wesentlichen alle Merkmale der vierten
Gruppe, nur in geschwächtem Maßstabe. Die Gruppe IIa
ist der vierten direkt entgegengesetzt und die übrigen Gruppen
14 ) Nachdem ich die Schülerinnen auf die oben beschriebene Weise in
Gruppen gebracht, setzte ich statt der Nummern deren Namen; es stellte
sich heraus, daß die auf diese Weise gemachte objektive Klassifikation der
Schülerinnen in der Tat ihren geistigen Fähigkeiten entspricht, insoweit diese
letzteren von mir und ihrem Lehrer der Muttersprache und Literatur beob-
achtet worden sind.
Digitized by Google
55
sind als Uebergangsgruppen zwischen diesen beiden zu be-
trachten. Diese Gruppierung scheint mir die natürlichste zu
sein. Sie gründet sich auf die Einteilung nach zwei miteinander
verbundenen Fähigkeiten — der Emotion und der Phan-
tasie. Die topographische Fähigkeit wurde nur zur Bildung
von Untergruppen herangezogen ; die übrigen Fähigkeiten wur-
den bei der Gruppierung gar nicht in Betracht gezogen, trotz-
dem zeigen ihre Abweichungen, die sie von der einen zur
anderen erleiden, eine merkwürdige Regelmäßigkeit, die wohl
kaum als zufällige angesehen werden dürfte. Die auftretenden
Abweichungen bleiben vor der Hand entweder unaufgeklärt
oder sie müssen der geringen Zahl der Versuchsobjekte zuge-
schrieben werden. Betrachten wir zunächst diese Regelmäßig-
keiten. Die Gesamtzahl der Gesamtangaben wurde nur ein-
mal zu der ersten Einteilung aller Schülerinnen in zwei
Gruppen verwendet, unabhängig von der Entwicklung der
einen oder der anderen Fähigkeit, und doch sehen wir nach der
vollzogenen Einteilung in Gruppen und Untergruppen, daß die
Gesamtzahl der Gesamtangaben sich regelmäßig verändert,
indem sie von der ersten bis zur letzten Gruppe von der
kleinsten Größe 25,3 bis zur äußersten Größe 51,4 allmählich
steigt und nur in der letzten Gruppe etwas sinkt (bis 49,1).
Gegenstände verändern sich vollkommen analog, mit dem
Unterschied nur, daß in der ersten Gruppe ihr absolutes
Mittel etwas steigt; von der Gruppe IIa an aber steigen sie
bis zur äußersten Höhe (von 10,8 bis 19,3). Die topographische
Fähigkeit und die Fähigkeit, Bestimmungen zu liefern, können
keine solche regelmäßigen Veränderungen aufweisen ; die erste
schon deshalb nicht, weil sie absichtlich im Maximum und
Minimum in jeder der Gruppen (ausgenommen der ersten)
zu ihrer Einteilung in Untergruppen genommen wurde, die
zweite, weil sie sich der ersten proportional entgegengesetzt ver-
ändert. Infolge einer solchen herrschenden Wechselbeziehung
zueinander zeigt sich eine regelmäßige Veränderung der Ge-
samtsumme der beschreibenden Fähigkeiten: sie steigt von
der Gruppe I bis zur Gruppe IVa, und zwar von 22,3 bis
46,2 ; nur in der letzten Gruppe IV b ist ein unbedeutendes
Sinken bis zu 44,4 bemerkbar. Die Summe der Prozentzahlen
für alle diese Fähigkeiten verändert sich ebenfalls ziemlich
regelmäßig: mit Ausnahme der Gruppe I, wo sie eine Verän-
Digitized by Google
56
Nicolai Wolodkcwitscl.
derung bis zur letzten Gruppe hinauf, eine langsame, stufen-
weise Erhöhung bis 72,48 und 90,19 erreicht; und nur in der
Gruppe III b zeigt sich statt des Steigens ein merkliches Sin-
ken. In der Veränderung der Emotion herrscht eine voll-
kommene Regelmäßigkeit, mit Ausnahme der Gruppe I; hier
nimmt die Emotion allmählich von 3,0 bis 0,7 ab ; fast ebenso,
nur etwas unregelmäßiger, verändert sich „Phantasie".
„Schlußfolgerung" verändert sich regelmäßig: nach beiden
Seiten von der dritten Gruppe an mit sinkender Tendenz. Die
Kategorie „Kenntnisse" weist keine regelmäßigen Veränderun-
gen auf, dank ihrem doppeldeutigen Charakter, einerseits als
Material für die Arbeit der Phantasie und andererseits als
Mittel, etwas zu sagen, ohne geistige Anstrengung. Die Ver-
änderung der Kenntnisse laufen deshalb den Veränderungen
der Phantasie in Gruppe IIa bis zur Gruppe IVa parallel,
erreichen die höchste Entwicklung in der Gruppe lila und er-
scheinen zugleich in den Gruppen I und IVb als ziemlich ent-
wickelt. Die Summe der emotionalen Fähigkeiten verändert
sich regelmäßig: für die Gruppe IIa ist die Summe am höchsten,
für Gruppe I und IV am niedrigsten. Die Durchschnittsgröße
der Summe ist in den Gruppen IIb bis Illb gegeben. Die
Veränderung der emotionalen Fähigkeiten äußert sich in der
Summe ihrer Prozentzahlen; mit Ausnahme der ersten Gruppe
nimmt diese Summe von der Gruppe IIa bis zur letzten ab,
mit geringer Abweichung in Gruppe III b, was wahrscheinlich
durch die geringe Größe dieser Gruppe zu erklären sein dürfte.
Ganz ebenso verändert sich auch das Verhältnis zwischen
beiden Gruppen von Fähigkeiten. Eine solche Regelmäßigkeit
ihrer Veränderungen weist auf einen allmählichen Uebergang
von dem emotionalen Typus zu dem beschreibenden — einen
Uebergang, der sich in einer ununterbrochenen Abschwächung
der emotionalen und in einer ununterbrochenen Zunahme der
beschreibenden Fähigkeiten äußert. Schließlich muß ich noch
bemerken, daß alle beobachteten Regelmäßigkeiten keine ein-
zige Abweichung aufweisen, wenn man die Zahlen nicht für
die einzelnen Untergruppen, sondern für die Gesamtgruppen
nimmt.
Eine solche Permanenz in den Veränderungen der Eigen-
schaften beim Uebergang von einer Gruppe zur anderen zeigt,
daß ihr ein gewisses Gesetz zugrunde liegt, dessen Natur uns
Digitized by Google
Eine UnteraucJntng der lUfkcren Geistes fähigkeiten uste. 57
noch dunkel ist. Sie dient uns als Beweis dafür, daß die vor-
genommene Klassifikation die natürlichste ist und bestätigt
die Richtigkeit aller früheren Voraussetzungen in betreff der
Verbindungsfähigkeit der verschiedenen Fähigkeiten. Die
gegebene Klassifikation stellt im Vergleich mit den früheren
Gruppierungen eine neue Gruppierung dar, und wenn sie neue,
früher nicht entdeckte Regelmäßigkeiten ans Licht bringt, so
darf man den Schluß ziehen, daß die Prinzipien, worauf sie
sich gründet, richtig abgeleitet sind.
In der gegenwärtigen Abhandlung begnüge ich mich mit
den gefundenen Resultaten; die Lösung der übrigen, am Ein-
gang dieser Untersuchung gestellten Fragen sowie die theo-
retische Abschätzung der erhaltenen Resultate soll späteren
Abhandlungen überlassen bleiben. Ich bemerke schon hier,
daß ich, wie ich glaube, die erhaltenen Resultate durch meine
zuletzt angestellten Versuche wesentlich vervollständigt und be-
stätigt habe. Nachdem nämlich die Schülerinnen ihre Ge-
danken zu Papier gebracht hatten, forderte ich sie auf, mir
offenherzig, ohne Namensunterschrift, auf einem besonderen
Bogen Papier folgende Fragen zu beantworten: i. „Mit wel-
cher Aufmerksamkeit haben Sie das Bild be-
trachtet?" 2. „In welcher Reihenfolge haben Sie
den Inhalt des Bildes erschöpft?" 3. „Mit wel-
chem Interesse haben Sic Ihre Arbeit ausge-
führt?"
Soviel ich nach flüchtiger Durchsicht der mir von den
Kindern gelieferten Antworten schon jetzt sehen kann, haben
sowohl die Mädchen als auch die Knaben die von mir ge-
stellten Fragen vollständig ernst behandelt und ganz treuherzig
beantwortet. Die Verarbeitung dieses Materials dürfte wert-
volle Resultate liefern. Eine andere Ergänzung bestand darin,
daß ich nach Verlauf der 10 Minuten, die den Kindern zum
Niederschreiben ihrer Eindrücke gegeben waren, die Kinder
einen Strich unter das Geschriebene machen ließ und sie
aufforderte, noch drei Minuten zu schreiben. Es ist inter-
essant, daß sogar diejenigen Schüler und Schülerinnen, die
ihre Antworten schon vor Ablauf der 10 Minuten abgeben
wollten, auch noch nach dieser Frist neues Material lieferten.
Aus der Vergleichung des Materials, welches die Kinder in
den ersten 10 Minuten lieferten, mit demjenigen, welches von
Digitized by Google
58
Xicota! Wolodketcittch.
ihnen in den drei Minuten nach Verlauf der ersten 10 Mi-
nuten geliefert worden war, dürfte es möglich sein, ganz inter-
essante Schlüsse zu ziehen. 15 )
15 ) Ich bemerke hier, daß mir (in der 20. Nummer des Journals
..Populär Science Monthly" 1901, Dezember) Herrn Mendenhalls Artikel
„A mechanical Solution of a literary problem" zu Gesicht kam. In diesem
Artikel versucht der Autor die Lösung einer Frage durch eine Unter-
sucbungsraethode, die an die von mir in der gegenwärtigen Arbeit angewandte
erinnert. Herr Mendenhall suchte nämlich durch Summierung einiger hundert-
tausend Wörter aus Shakespeares Werken die relative Zahl der von Shake-
speare gebrauchten Wörter aus zwei, drei und mehr Buchstaben zu be-
stimmen: drückt man diese Zahlen durch eine Kurve aus, so stellt es sich
heraus, daß die Kurve für das erste Hunderttausend von Wörtern mit der
Kurve für alle übrigen Hunderttausend vollkommen übereinstimmt. Daraus
schließt Herr Mendenhall vollständig richtig, daß eine solche Kurve den
Stil Shakespeares vollkommen charakterisiert und ihn — den größten Dichter,
von allen anderen Schriftstellern unterscheidet, von denen jeder seine eigene
Kurve besitzen muß. Nachdem Herr Mendenhall für die Werke Bacons
von Verulam eine Kurve ausgearbeitet hatte, fand er, daß sich diese
von der Kurve Shakespeares scharf unterscheidet. Auf diese Weise ent-
scheidet er den alten Streit darüber, ob die Shakespeare zugeschriebenen
Werke auch wirklich von Shakespeare geschrieben worden sind, oder von
Bacon, zugunsten des ersteren. Es will mir scheinen, daß eine solche me-
chanisch-statistische Methode der Psychologie wichtige Dienste erweisen
könnte; so dürfte z. B. die Summierung verschiedener Epitheta, Bilder.
Figuren und andere stilistische Eigentümlichkeiten im allgemeinen wert-
volle psychologische Anhaltspunkte zur Charakteristik der betreffenden
Schriftsteller beizutragen imstande sein.
Digitized by Google
Erster Kongress
für Kinderforschung und Jugendfürsorge.
Berlin, Oktober 1906.
I. Autorreferate.
Kinderforschung und Pädagogik.
Von
Mittelschulrektor Ufer, Elberfeld.
Das pädagogische Leben der Gegenwart zeigt eine große
Unbeständigkeit. Das angeblich oder wirklich Neue wird in
seiner Tragweite vielfach überschätzt und der Zusammenhang
mit der Vergangenheit geht verloren. Auch betreffs der Kinder-
forschung zeigen sich bereits Spuren der Ueberschätzung in
pädagogischer Hinsicht, insofern man von ihrem Einflüsse
einen völligen Umschwung erwartet. Man meint bisweilen, erst
die Kinderforschung werde der Pädagogik eine sichere Grund-
lage geben dadurch, daß sie genau den Gang der kindlichen
Seelenentwicklung aufzeigen. Ob sie das kann, steht
noch dahin, Die gegenwärtige, doch schon recht ansehnliche
Literatur spricht nicht dafür. Am meisten ist bis jetzt das
Seelenleben von der Geburt bis zum 6. oder 7. Jahre erforscht
worden, und der Ertrag ist wertvoll für das Haus und den
Kindergarten. Betreffs des schulpflichtigen Alters sind die
Ergebnisse in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht dürftig und
unvollständig und werden es vielleicht bleiben, sei es, weil
sich die Schwierigkeiten zu sehr mehren, sei es weil möglicher-
weise, natürlich von dem Einflüsse der Pubertät abgesehen, eine
eigentliche Entwicklung in dem früheren Sinne nicht mehr statt-
findet, sondern mehr eine Erstockung. Die Pädagogik wird
daher wohltun, das von der Vergangenheit ererbte Gut nicht
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Erster Kongrtsa f. Kinderforsdiung und Jugendfürsorge.
achtlos bei Seite zu werfen, zumal in ihm doch auch Ergebnisse
der Kinderbeobachtung verwertet sind, dabei aber Neues, falls
es wirklich neu ist, freudig anzuerkennen und zu benutzen. Es
wird sich dann vielleicht zeigen, daß auf dem Gebiete der
Pädagogik nicht ganz so leicht Lorbeeren zu holen sind, wie
manche zu glauben scheinen.
Eine weit größere Bedeutung kommt der Kinderforschung
in pädagogischer Hinsicht zu, wenn es sich um das
Gebiet der unterschiedlichen Beanlagung und Be-
fähigung handelt. Die Psychologie der Geschlechter steckt
leider noch in den Anfängen, obwohl wir ihrer in dem
gegenwärtigen Streite um die Neugestaltung des weiblichen
Bildungswesens so dringend bedürften. Was aber die Kinder-
forschung in dieser Beziehung beigebracht hat, mahnt die
eifrigen Reformer entschieden zur Vorsicht. Schließlich wird
das Wort Goethes auch hier wahr bleiben, daß wir die Kinder
nicht lediglich nach unserm Willen formen können. So wie
Gott sie uns gab, so muß man sie haben und lieben, sie er-
ziehen aufs beste und jeglichen lassen gewähren. Diese Worte
werden allerdings, wie ich glaube, häufiger angeführt, als
richtig verstanden. Man darf sich ihren Sinn doch wohl nicht
so vorstellen, daß erst die Erziehung ihr Werk tun und daß
hierauf das Gewährenlassen anfangen solle. Stellt man aber
das Erziehen und das Gewährenlassen nebeneinander, so steht
man vor einer ungemein schwierigen Aufgabe, zu deren Lösung
die Kinderforschung nur einen allerdings sehr wichtigen Bei-
trag liefern kann: die Kenntnis der Individualität.
Von besonderer Bedeutung ist die Berücksichtigung der
Individualität, wenn Psychopathisches ins Spiel kommt; daher
muß es dankend anerkannt werden, daß die neuen Bestimmungen
für die Lehrerbildung in Preußen auch der krankhaften Er-
scheinungen des kindlichen Seelenlebens gedenken. Je mehr
die Kenntnis phychopathischer Erscheinungen des Kindes- und
Jugendalters fortschreitet und sich ausbreitet, um so richtiger
wird man manche Dinge beurteilen, die heutzutage nicht selten
gänzlich verkannt werden. Bei groben Ausschreitungen oder
gar schaudererregenden Verbrechen, deren sich Jugendliche
leider so oft schuldig machen, wird man sich hüten, schlankweg
von den Früchten einer angeblich entchristlichten Schule oder
einer angeblich muckerischen Erziehung zu reden. Psychopa-
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Erster Kongrus f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
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thisch veranlagte Kinder bedürfen einer besonders vorsichtigen
Behandlung; sie bedürfen kundiger Lehrer und kundiger, d. h,
in diesem Falle auch psychiatrisch gebildeter Schulärzte,
die ihre Eigenart verstehen.
Die pädagogische Bedeutung der Kinderforschung darf
freilich nicht dahin übertrieben werden, als vermöge sie aus sich
selber Ziele für die Erziehung aufzustellen. Das ist ganz be-
sonders zu betonen, weil es auch in unserer Zeit (nicht an
pädagogischen Männlein fehlt, die zu den Kindlein nieder-
kauern, anstatt sie zu sich emporzuziehen. Erziehung ist An-
passung an die Gesellschaft, nicht unbehindertes Sichausleben,
und daher wird es bei ihr niemals völlig an Druck fehlen, auch
wahrscheinlich niemals an Klagen über diesen Druck, und
diese Klagen werden natürlich auch in der Zukunft bei solchen
am lebhaftesten sein, die sich in ihrer Jugend infolge be-
sonderer wohl psychopathischer Veranlagung am schlechtesten
anpassen konnten. Ich sage mit Bedacht : auch in der Zukunft,
denn ich bin allerdings der Meinung, daß uns eine Psycho-
graphie oder gar Pathographie über gewisse, zeitgenössische
Schriftsteller, soweit sie es ehrlich meinen, überraschenden
Aufschluß geben könnte.
Freilich gehören zu einer ausgiebigen Berücksichtigung der
Individualität auch noch Vorbedingungen, die nicht auf dem
Gebiete der Kinderforschung liegen. Es treten uns vielfach
Hemmnisse entgegen, die zwar, wie wir hoffen, immer mehr
schwinden werden, die uns aber einstweilen wenigstens die
Klage Questenbergs in den Piccolomini nahe legen : O, daß wir
von so ferner, ferner Zeit und nicht von morgen, nicht von
heute sprechen.
Wesen und Aufgaben einer Schülerkunde. 1 )
Von
Dr. Eduard Martinak, Universitätsprofessor in Graz.
Der Vortragende bestimmt die Aufgabe dessen, was sich
füglich am besten unter dem Terminus „Schülerkunde" zu-
sammenfassen läßt, dahin, dasgesamtekörperlicheund
l ) Vollständig erschienen in den , .Beiträgen zur Kinderforschung und
Htilerrichung", Heft XXV, Langensalza, Hermann Beyer & Söhne, 1907.
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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
geistige Leben de« Schülers zu durchforschen
mitbesondererBetonungallerjenerErscheinun-
gen, die mit dem Schulle ben als solchem in kau -
salem Zusammenhange stehen. Die zeitliche Grenze
nach unten ist durch den Beginn der Schulpflicht klar gegeben,
die obere Grenze schwankt zwischen vollendeter Schulpflicht,
beendeter höherer Schule (Abiturientenexamen) und allenfalls
erreichter Wehrhaftigkeit, und läßt sich nur ungefähr in die
Nähe des 20. Lebensjahres ansetzen.
Daß eine „Schülerkunde" neben der schon reich entwickel-
ten Kinderpsychologie und Kinderforschung (child-study) be-
rechtigt ist, ergibt sich erstens daraus, daß die Kinderforschung
in der Regel um das 10. Lebensjahr herum schon abschließt,
ferner aus der so überragenden Wichtigkeit der Schulzeit für
die gesamte Entwicklung der großen Mehrzahl unserer Jugend
und schließlich aus dem hierbei in erster Linie stehenden
pädagogischen Interesse, das mit dem der theoretischen
Psychologie sich nicht immer deckt.
Auch weist der Vortragende darauf hin, daß gerade in
unserer Zeit, die so gerne und so reichlich an der Schule Kritik
übt, eine Klage als Grundton fast überall herausklingt: man
verstehe die Kindes-, die Knaben-, die Jünglingsnatur zu wenig.
Und da könne Eines ruhig zugestanden werden: zu viel ^n
Kenntnis der jugendlichen Psyche und ihrer Entwicklungs-
tendenzen und -Phasen haben wir gewiß nicht und können wir
gar nicht haben. Dabei sei Kenntnis der jugendlichen Indivi-
dualität allerdings durchaus nicht gleichzusetzen mit Nachgeben
und weichem Sichanschmiegen. Auch die unentbehrliche
strenge Gegenwirkung verlange möglichste Kenntnis der Natur
des Zöglings. 1
Schließlich gibt der Vortragende seiner festen Ueber-
zeugung Ausdruck, daß Pflege der Schülerkunde, beobachten-
des und forschendes Mitarbeiten in ganz besonderem Maße
segensvoll auf den Lehmer und Erzieher zurückwirke. Nicht
nur seine Einsicht, sein Können und sein Tun werde gefördert,
sondern vor allem werde er dadurch seiner gewiß schweren
Berufsarbeit neuen Reiz und unversiegbares Interesse ab-
gewinnen.
Hierauf gedenkt der Vortragende dessen, was auf diesem
Gebiete schon geleistet worden ist, so besonders der Bemühun
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Erster Kongre*« f. Kinder forachung und Jugendfürsorge.
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gen der Herbartschen Schule um Kenntnis und Beachtung
der Schülerindividualität, der trefflichen Anregungen und Bei-
träge von Wilh. Münch (bes. in seinem ,,Geist des Lehramts")
und dann der weitreichenden Tätigkeit Stanley Halls in Nord-
amerika, als deren gereiftes Ergebnis uns nun sein großes,
zweibändiges Werk „Adolescence" (London 1905) vorliegt.
Zur Mitarbeit an der Schülerkunde seien vor allem Lehrer
und Erzieher berufen, dann die Eltern und z. T. die Schüler
selbst, insofern sie entweder direkt Auskunft geben, oder in-
direkt durch ihre schriftlichen Ausarbeitungen und dergleichen.
Wertvoll wäre statistisches Material über die Lebensschicksale
ehemaliger Schüler, ferner Aufbewahrung lückenloser Reihen
von Arbeitsheften je eines Schülers während seiner ganzen
Studienzeit, Anlegung von Individualitätenlisten, Charakter-
bildern, biographischen Skizzen u. ä. m.
Als Vorbereitung des Lehrers für erfolgversprechende Mit-
arbeit an der Schülerkunde muß in erster Linie das Studium
der Psychologie bezeichnet werden — dann aber auch Pflege
der eigenen Jugenderinnerungen, Verkehr mit Kindern und
jungen Leuten auch außerhalb der Schule, beim Spiel und der-
gleichen, dann sorgsames, wenn auch recht vorsichtiges Be-
achten der einschlägigen belletristischen Werke, so der jetzt
modernen Erziehungs- und Schülerromane, Schülerdramen und
dergleichen.
Der Stoff der Schülerkunde läßt seiner Natur nach zweierlei
Anordnung zu, entweder chronologische Längsschnitte,
bezw. biographische Darstellung und anderseits Quer-
schnitte durch einen oder durch mehrere wichtige Zeitpunkte
des ganzen Entwicklungsverlaufes.
Die erstere Darstellungsart schildert entweder die G e -
s a m t entwicklung eines konkreten Individuums, oder die des
typischen Durchschnittsmenschen, oder sie faßt nur den Ent-
wicklungsgang einer einzelnen Komponente des psychi-
schen oder physischen Lebens ins Auge, also etwa die des
Intellekts, der ästhetischen Gefühle, der Phantasie, der Muskel-
kraft u . s. f.
Schildert man, nach der zweiten Art, einzelne Etappen der
Entwicklung, so erhebt sich sogleich die wichtige Frage nach
nat ürlichcn Abschnitten oder Epochen des Jugend-
lebens. Trotz aller Verschiedenheit der Ansichten hierüber
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Erster Kongress f. Kinder for schling und Jugendfürsorge.
können Zahnwechsel und Pubertätsentwicklung als deutliche,
von der Natur gegebene Marksteine festgehalten werden.
Das sachliche System des ganzen reichen Stoffes ist vor
allem durch die Sonderung physischer und psychischer Tat-
sachen gegeben. Das Studium der ersteren fällt wohl haupt-
sächlich in das Arbeitsgebiet des Arztes, der Lehrer kann hier
nur durch Herbeischaffung von Daten mitwirken. Der I. Band
des erwähnten Werkes von St. Hall bringt hier schon reiche
Ergebnisse. Bei der so engen Wechselwirkung körperlicher
und seelischer Vorgänge ist natürlich diese Grenzscheide nicht
immer klar zu ziehen. Speziell in die Grenzzone fallen alle direkt
psychophysischen Ermittelungen — ebenso das weite Gebiet
der Anormalitäten, der geistigen Erkrankungen und „Minder-
wertigkeiten".
Innerhalb des rein Psychischen kann das System der
Schülerkunde sich einerseits dem System der wissenschaftlichen
Psychologie anschließen. Soweit Arbeiten exakt experimenteller
Art vorliegen und soweit derlei Arbeiten aus rein theoretisch-
psychologischem Interesse heraus unternommen sind, ist dies
einfach selbstverständlich.
Da aber die theoretische Psychologie gezwungen ist, über-
all auf die Erforschung der einfachsten, elementarsten Tat-
sachen zu dringen, und alles Komplexe einer möglichst weit-
gehenden Analyse zu unterwerfen, wird die Schülerkunde neben
dem, was ihr die Psychologie bietet, gezwungen sein, auch
die so vielen, weit komplexeren Tatsachen des Seelenlebens
der Schüler, wenigstens vorläufig, in ihrer Komplexheit zu
beobachten, zu beschreiben und dabei sogar von dem strengen
Systeme der wissenschaftlichen Psychologie abzuweichen. Die
Fülle des Stoffes spottet ja dermalen noch so oft jeder exakten
Analyse. In diesem Falle bleibt nichts übrig, als sich nach
anderen, ich möchte sagen provisorischen, Gesichtspunkten für
eine Gliederung und Anordnung des Stoffes umzusehen. Als ein
solches ordnendes Prinzip bietet sich recht ungezwungen die
Beobachtung des Schülers nach den wichtigsten äußeren
Lebenskreisen und den Tatsachengebieten, mit denen er in
Berührung kommt. Also etwa:
1. Der Schüler und das t ä g 1 i c h e L e b e n (Tagesordnung,
Schlaf, Mahlzeiten, Reinlichkeit, Kleidung, Ordnung . . .)
2. Der Schüler und die Familie .. .
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Erster Kongrus f. Kinder jorachung und Jugendfürsorge.
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3. Der Schüler und die S c h u 1 e (Zentralgebiet)
a) sein Verhältnis zum Lehrer und zur Schule,
b) zu den Mitschülern,
c) zu dem Lehrstoffe (Interessenkreis des Schülers,
I nterströmungen im geistigen Leben des Schülers),
d) Rückwirkung des Schullebens auf das Gesamt ver-
halten des Schülers.
4. Der Schüler und die Natur und zwar
a) die Natur als Erkenntnis objekt,
b) die Natur als Gegenstand ästhetisch - ethischen
Fühlens,
c) Einfluß der Natur (Klima, Witterung, Jahreszeit) auf
den Schüler. ,
5. Der Schüler und die Kunst und das Schöne über-
haupt. (Kunsterziehung! . . .)
6. Der Schüler in seinem Verhältnis zur Religion (inner-
liche Wandlungen und Kämpfe gerade im beginnenden Jüng-
lingsalter! . . .)
7. Der Schüler zum Nebenmenschen, (Freundschaft,
Egoismus, Altruismus; seine Stellung zu Arm und Reich, Alt
und Jung, Hoch und Nieder, zu Kranken, soziale Regungen,
Vereine, Verbände, Parteien, Korpsgeist . . .)
7a. Speziell die Stellung zum andern Geschlechte
(erwachende Neigungen, Liebe; coeducation . . .)
8. Fehler, Verbrechen, Laster... (des Körper-
lichen Ichs: Gesundheit, Reinheit, Kraft, Schönheit . . ., seines
geistigen Ichs : Selbstgefühl, Ehrgefühl, depressive Zustände der
Selbstanklage; Wahrheit, Strenge gegen sich selbst . . .)
Aber auch mit dieser Gruppierung wird man sein Aus-
langen nicht immer finden, oder manches, was aus andern
Gründen zusammengehört, auseinanderzerren müssen, so daß
es sich empfehlen dürfte, außerdem — mit vielleicht noch
weitergehendem Verzicht auf systematische Strenge - eine
Keihevon Betätigungcnund Lebensäußerungendes
Schülers einer gesonderten Betrachtung zu unterziehen. Die
wichtigsten der im folgenden aufgezählten sind übrigens da
du rch legitimiert, daß sie schon vielfach monographische Be
tandlung erfahren haben.
fciWchrift für pädagogische Psychologie, Pathologie n. Hygiene. 3
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66
Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
1. Die Sprache des Schülers. Was für die Kindersprache
bereits geleistet ist, müßte fortgeführt werden bis zur Reife.
— Sprachunarten, Sprachspielereien, Sprachkrankheiten.
Sprachcharakter, sprachliches „Gewissen" ; Fähigkeit der freien
Rede u. s. w.
2. Die Schrift im engeren Sinne und der schriftliche
Ausdruck, Stilentwicklung, Binets Typen u. s. f.
3. Das Lesen: Lektürstoffe und Qualität des Lesens . . .
4. Das Spiel, hinaufgeführt bis ins Alter der Reife.
5. Das Sammeln.
6. Die Geldgebarung.
7. Der Schüler und die Strafe, Wirkung der Strafen . . .
8. Hehler, Verbrechen, Laster...
9. Politisches Verständnis und Interesse . . .
10. Der Schüler- und der gesellschaftliche Ver-
kehr, Umgangsformen...
11. Ideale der jungen Leute (persönlich konkrete, oder
abstrakt typische, menschliche oder berufliche, Dauerhaftigkeit
oder Flüchtigkeit der Ideale . . .)
Auch diese Reihe ist natürlich eine offene und durchaus er-
weiterungs- oder verbesserungsfähige und soll nur einer vor-
läufigen Orientierung in dem so schwer übersehbaren Stoff -
reichtum dienen.
Nach einem warnenden Hinweis auf die Gefahr derartiger
Matcrialsammlungen, in Kleinlichkeit zu verfallen, betont
der Vortragende nochmals den . leitenden Gesichtspunkt des
pädagogischen Interesses. Als höchst wünschenswert wird eine
Konzentration einschlägiger Arbeiten bezeichnet, wozu etwa ge-
eignet erschiene 1 ) die Zeitschrift f. Kinderforschung,
herausgegeben von Koch, Trüper und Ufer, die Zeitschrift
f. pädagog. Psychologie, herausgegeben von Kemsies
oder die Zeitschrift für Philosophie u. Pädagogik,
herausgegeben von Flügel, Just und Rein.
Auch Programmabhandlungen der höheren Schulen
könnten diesem Zwecke vortrefflich dienen.
Mit dem Hinweise auf die Wichtigkeit, Tatsachen zu er-
mitteln, schließt der Vortragende: in dem dermaligen Chaos
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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
67
von durcheinander schwirrenden Meinungen in Erziehungs - und
Schulfragen werde man später einmal auf sicherer Grundlage
stehend, mit ungleich mehr Nachdruck und Festigkeit Stellung
nehmen können.
Beiträge zur Kenntnis der physischen und psychischen
Natur der sechsjährigen, in die Schule eintretenden
Münchener Kinder.
Von
Dr. Engelsperger und Dr. Ziegler.
Die an ca. 500 sechsjährigen Miinchener Kindern unter-
nommenen Untersuchungen gliedern sich in einen anthropo-
logischen und psychologischen Teil. Was den ersteren be-
trifft, so konnte bei der Kürze der verfügbaren, Zeit nur über
Körperlänge und Gewicht referiert werden.
Bezüglich der Körperlänge ergaben sich folgende Re-
sultate: die größte Zahl der in die Schule eintretenden Kinder
gruppiert sich bei den Knaben um die Körperlänge von 107
bis 118 cm (Durchschnittsgröße 1 1 1 cm), bei dejn Mädchen
von 105— 117 cm (Durchschnittsgröße 110,03 cm). Die weit-
aus größte Zahl der Knaben wies Gewichte voni 15,50 kg
bis 21 kg auf. Fast dieselben Verhältnisse zeigten die Mädchen.
Durchschnittsgewicht der Knaben 18,39 kg, der Mädchen
•8,22 kg. Die durchgeführte Scheidung nach den sozialen
Lebensverhältnissen ergab für die Kinder schlechter situierter
Stände hinsichtlich der Länge wie des Gewichts kleinere Maße.
Ferner zeigte es sich, daß die noch nicht sechs Jahre
a lten Kinder beträchtlich geringere Werte als ihre älteren
Kameraden aufwiesen. Somit fanden die aus der Praxis des
Schullebens heraus mit Rücksicht auf den physischen und
psychischen Entwicklungsstand häufig geltend gemachten Be-
denken gegen eine Aufnahme noch nicht sechs Jahre alter
Kinder hinsichtlich Körperlänge und Gewicht zahlenmäßige
Be lege. Auch Untersuchungen über die Muskelkraft, gemessen
am Dynamometer ergaben eine bedeutende Ueberlegenheit der
älteren Kinder gegenüber den noch nicht sechs Jahre alten
Sch\ilneulingen. Weitere Untersuchungen über die G e w i c h t s-
5*
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Erster Kongras f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
Verhältnisse nach achtwöchentlichem Schul-
besuch veranlaßten den Wunsch, zu erfahren, ob der eine
so große Aenderung in der bisherigen Lebensweise des Kindes
verursachende erste Schulunterricht einen merklichen Ausdruck
im Gewicht finde. Zirka 850/0 sowohl der Knaben als der
Mädchen wiesen Gewichtszunahmen von 0,05 kg bis 1,5 kg
auf. Ein nicht unbedeutender Rest zeigte Gewichts abnah-
men bis zu 1 kg. Diese auch anderweitig gefundene Tat-
sache verdient alle Beachtung.
Wenn wir die Ursachen dieser Erscheinung betrachten,
so darf wohl manches auf Rechnung der elterlichen Er-
ziehung gesetzt werden, die bisher ihre Kinder im Sinne
einer körperlichen und geistigen Abhärtung vielleicht auf das
Schulleben zu wenig vorbereiteten. Gewöhnung an Spazier-
gang nicht bloß bei günstiger Witterung, fleißige Spiele, be-
sonders im Freien, Fernhaltung von Schädlichkeiten in der
Ernährung, Alkohol, Gewöhnung an Gehorsam, Zucht usw.
Diese letzteren Bemerkungen möchten wir nicht so auf-
gefaßt wissen, als ob damit gleichsam einer schulgemäßen Er-
ziehung das WVwt geredet werden sollte, das Schicksal be-
wahre jedes Kind davor. Wir betonen das besonders denen
gegenüber, die in wohlmeinender Absicht ihre Kinder zur
Schule etwas vorbereiten wollen und den Kleinen neben Zu-
fügung verschiedener Schädlichkeiten in unterrichtlicher oder
anderer Hinsicht auch schon die Schule schrecklich machen,
ehe sie ein Schulzimmer gesehen haben. Je naturgemäßer das
Leben im Vorschulalter, desto bessere Aussicht besteht für die
spätere körperliche und geistige Tüchtigkeit. So können im
Rahmen eines normalen Familienlebens auf oben angegebene
Weise die Eltern in nicht unbeträchtlicher Weise zur Er-
höhung der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit ihres
Kindes, zur Förderung der Schulreife desselben beitragen und
damit auch den an sich schroffen Uebergang vom Elternhaus
zur Schule mildern. Daß ein gut geleiteter Kindergarten für
nicht wenige Kinder ein Voneil wäre, beweist die Erfahrung.
Eine wichtige Pflicht ist es für Staat und Gemeinde,
die Schädlichkeiten von den Schulanfängern nach Möglichkeit
fernzuhalten und zwar durch Errichtung hygienisch einwands-
freier Schulhäuser, Verkleinerung der Schulbezirke und damit
Verkürzung der nicht immer für Erwachsene, geschweige denn
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Erster Kongrcs* f. Kinder fortchung und Jugendfürsorge. 69
für Kinder, zuträglich weiten Wege, Mitwirkung des Schul-
arztes bei der Auswahl der Schulanfänger, Ueberwachung der
Schüler während des Jahres.
Und sollten alle diese Wünsche erfüllt sein, so bliebe noch
ein wichtiger Faktor. Das ist der Sc hui betrieb selbst.
Es muß eine Hauptsorge der Schulverwaltung sein, der geistig
und körperlich geringen Widerstandskraft der Kindsnatur
Rechnung zu tragen bei der Auswahl der Lehrgegenstände,
Aufstellung der Lehrziele, durch Verkürzung der Schulzeit im
ersten Jahre und wieder besonders in den ersten Monaten
desselben, durch tägliche Einschaltung von Turn- oder
Spielzeiten u. dergl. Wichtiger als die möglichst rasche Er-
lernung des Schreibens und Lesens schon im ersten Schuljahr
ist die Gesundheit der Kinder, und diese wird geschädigt
durch zu langes Sitzen, durch den frühzeitigen Schreib- und
Leseunterricht, der die Atmungstätigkeit und damit das all-
gemeine Befinden ungünstig beeinflußt.
Ein heitergestimmter, nervenstarker Lehrer, der Herz
und Sinn für die kleine Welt um sich hat, der durch eine
kindliche Methode den Lebensprozeß zu erleichtern und durch
Fernhaltung alles Drills den Kindern die Arbeit zu einer freud-
vollen zu machen versteht, wird dadurch manche Schädigung
physischer Natur vermeiden oder doch verringern können.
Bezüglich des psychologischen Teiles der Unter-
suchungen wurde folgendes ausgeführt. Der Uebertritt vom
Elternhaus in die Schule ist von besonders tiefgehendem Ein-
fluß auf das kindliche Seelenleben. Für die Kinderpsychologie
und Pädagogik ist es eine dringende und schwierige Aufgabe,
unsere Kenntnisse von den psychischen Anlagen und Fähig-
keiten der Schulanfänger zu vermehren. Mehrfach sind die
Wege, die bei Erforschung des kindlichen Seelenlebens ge-
gangen werden können. Eine Gruppe von Arbeiten beschäftigte
sich mit der Feststellung des Vorstellungskreises
<*cs Kindes beim Eintritt in die Schule. Dabei wollte
man zahlenmäßige Anhaltspunkte gewinnen, wieviele und
welche für den ersten Unterricht in Betracht kommenden An-
stauungen und Vorstellungen aus dem zoologischen, botani-
schen, lokalgeographischen, sozialen, religiösen usw. Sach-
gebiete vorhanden seien. Es wurden Fragen gestellt wie:
Jkst du einen Hasen laufen sehen ? Die kritische Betrachtung
70 Erster Kongrtss f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
zeigte, daß diesen Untersuchungen Mängel in stofflicher und
methodologischer Hinsicht anhaften. Deshalb konnten sich
auch die an diese Analyse geknüpften Hoffnungen praktisch
pädagogischer Art nicht oder nur teilweise erfüllen. Es muß
gefordert werden, daß derartige Forschungen zunächst von
dem weiteren Standpunkte der Kindespsychologie aus
unternommen werden. Auch kann es sich dabei nicht um
eine Erforschung des gesamten kindlichen Vorstellungs-
kreises, sondern nur um eine Auswahl einzelner Vorstellungs-
komplexe handeln. Weiter schließt die Verschiedenheit der
Untersuchungsziele von selbst das Vorhandensein einer für
alle Fälle verwendbaren Methode aus. Es muß die dem,
jeweiligen Sachgebiet adäquate Methode angewendet werden.
Bezüglich der Methode und Ergebnisse des psychologischen
Teiles der Untersuchungen sei verwiesen auf die Zeitschrift:
„Experimentelle Pädagogik" von Professor Meumann und Lay,
in welcher obige, noch nicht ganz abgeschlossenen Unter-
suchungen erschienen sind bezw. erscheinen werden.
Reaktionszeit im Kindesalter.
Von
Von Dr. med. W. Fürstenheim.
Dr. Fürstenheim berichtet über das Ergebnis von üjber
30000 Reaktionszeitmessungen, die er im Sommer 1905 und
im Winter 1905-06 im psychologischen Laboratorium der Kgl.
Nervenklinik (Geh. Rat Ziehen) an 7— 10 jährigen Volksschul-
kindern angestellt hat. Es handelt sich um die ersten derartigen
Messungen an normalen Kindern, welche die Uebung, die
Richtung der Aufmerksamkeit während der Reaktion usw.
systematisch berücksichtigen.
Die durchschnittlichen Werte der acust. neutral. Reaktions-
zeit betragen mit großer Uebereinstimmung bei den Knaben
0,14—0,16 sec, bei den Mädchen 0,16—0,18 sec; charakteri-
stische individuelle Verschiedenheiten der Kinder erhält man
durch eine Anordnung der erhaltenen Werte in zeitlicher
Reihenfolge (Zeitkurven) : neben ruhigen, stetigen Kindern mit
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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
71
gleichmäßigem Uebimgsfortschritt finden sich unstetige, bei
denen der Uebimgsfortschritt durch periodische Rückschritte
verzögert oder ganz verhindert wird. Bei einigen Kindern
zeigt sich der Fortschritt durch das allmähliche Flacher-
werden der periodischen Schwankungen, ohne daß diese sich
bei fortschreitender Uebung völlig verlieren.
Sehr interessant ist nun, daß die hier aufgedeckten Ver-
schiedenheiten der Kinder sich nicht auf die Reaktionsleistung
beschränken, sondern (durchgreifende sind: bei jeder psychi-
schen Betätigung — auf dem Gebiete des Intellekts, wie dem
des Charakters — lassen sie sich teils durch freie Beobach-
tung, teils durch das Verhalten der Kinder bei der pädagogisch-
psychologischen Untersuchung mit sog. „Testmethoden** nach-
weisen. 1 )
Der Wert der Methode liegt darin, daß sie ein mehrfach
auf dem Kongreß formuliertes Problem der Lösung entgegen-
führt : sie vermag organisatorische Verschiedenheiten der Kinder,
die unabhängig von Milieu, Erziehung und Unterricht in der
ersten Anlage des Kindes begründet sind, aufzudecken, zu
messen und die Grenzen ihrer Veränderlichkeit durch Uebung
und äußere Beeinflussung darzustellen.
lieber die individuellen Hemmungen der Aufmerksamkeit
im Schulalter.
Von ,
Dir. B. Delitsch, Plauen.
Intensiv und lange aufmerken können nur begabte, gesunde
Naturen. Die individuellen Hemmungen der Aufmerksamkeit
sind psychische Folgen von Krankheiten und Gebrechen. Ent-
weder krankhafte Organempfindungen lenken die kindliche
Aufmerksamkeit ab ; oder die sensorische Aufmerksamkeit wird
durch Sinnesmängel eingeschränkt; oder die assoziative Auf-
merksamkeit wird durch zentrale Hemmungen gestört. Der
l ) Die Bedingungen, unter denen diese Tatsache eine Einschränkung
erfährt, werden in der für den Druck bestimmten Abhandlung genauer
trörtert.
72 Erster Kongress f. Kinder forschung und Jugendfürsorge.
Lehrer kann am ersten individuelle Hemmungen im Schulalter
erkennen. Er ist verpflichtet, sie unter Beratung mit den
Schülereltern und dem Schularzte diagnostisch zu erfassen und
pädagogisch zu berücksichtigen.
Ueber Farbenbeobachtungen bei Kindern.
Von
Prof. Dr. Karl L. Schaefer, Privatdozent an der Universität
Berlin.
Aus der bisherigen Literatur über Farbenbeobachtungen
bei Kindern ergeben sich kleine Anhaltspunkte für eine be-
stimmte Reihenfolge in der Entwicklung der einzelnen Farben-
empfindungen. Vielmehr weist alles darauf hin, daß die
Empfindungs- und Unterscheidungsfähigkeit für die Haupt-
farben in einem gewissen Stadium der Entwicklung gleich-
zeitig und gleichartig eintritt. Wann geschieht nun das ? Nach
den Versuchen des Vortragenden an seinem eigenen zweieinhalb-
jährigen Sohn, die mit einigen früheren, weniger systematischen
Beobachtungen anderer in Einklang stehen, vermag das Kind
die Hauptfarben bereits lange, bevor es sie tadellos richtig
benennen lernt, zu unterscheiden. Redner kommt schließlich
zu dem Resultat, daß das Farbenempfindungs- und Farben-
unterscheidungsvermögen überhaupt nicht eigentlich — etwa
durch Uebung oder Unterricht — entwickelt wird, sondern
angeboren ist. Von einer Erziehung des Farbensinnes kann
höchstens in Bezug auf Schärfung der Aufmerksamkeit, der
Selbstbeobachtung, überhaupt der geistigen Verwertung des
Empfindungsmaterials die Rede sein.
Die oberen Stufen des Jugendalters.
Von
Dr. Hans Schmidkunz, Berlin-Halensee.
Der Vortragende begründet, erstens, seine Thema-
stellung, indem er ausgeht von dem Bedauern über die Vernach-
lässigung des Gegenstandes und über die Schwierigkeit, bereits
jetzt etwas Festes über ihn mitzuteilen. . Es handelt sich um
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Erster Kongreu /. Kinderforsch ung und Jugendfürsorge.
73
ein Teilgebiet der Entwicklungsgeschichte der menschlichen
Seele, also der sogenannten Psychogenesis, und zwar um die
Lebensstufe zwischen der beginnenden oder vollendeten Pubertät
und dem vollendeten Wachstum (vom 14. oder 16. bis etwa
zum 24. Lebensjahr). Bezeichnet man die gesamte Frühzeit
des Menschen als sein Jugendalter, so bildet diese Periode
dessen obere Stufe; schränkt man jene Bezeichnung auf die
ebengenannte Zeit ein, so lassen sich als ihre oberen Stufen
etwa die ersten Jahre des dritten Lebensjahrzehntes bezeichnen.
Von diesem gilt das im folgenden Gesagte hauptsächlich.
Zweitens fragt es sich nach' den Grenzen und Methoden
des hier möglichen Erkennens. Verengt werden jene durch
die Verwickeltheit unseres rObjektes sowie durch die Schwierig-
keit, jedesmal Natur und Kultur zu unterscheiden. Als, Methoden
zur Erforschung des Jugendalters lassen sich anführen : 1 . die
gewöhnliche oder Popularbeobachtung, die möglichst kritisch
zu verwerten ist; 2. die wissenschaftliche Beobachtung; 3. das
Experiment; 4. die Verwertung dessen, was bisher literarisch
an Jugendbekenntnissen und an Jugendbeobachtungen nieder-
gelegt worden ist. Ah die Lehrer und Erzieher der Jugend,
zumal an die Hochschuldozenten, ergeht der Appell, durch
tagebuchartige Aufzeichnungen über die Personen ihrer Ein-
wirkung die Erkenntnis der Sache zu erweitern.
An dritter Stelle wird versucht, für eine nähere Be-
schreibung eine Grundlage durch folgendes zu geben. Der
Jüngling ist entwickelter als das Kind; folglich kommen für
ihn diejenigen Partien der Psychologie überhaupt in besonderen
Betracht, welche die entwickelteren Inhalte des psychischen
Lebens behandeln, ebenso wie für die Kindespsychologie haupt-
sächlich elementarere Partien in Betracht kommen. Dies
verlangt allerdings einen bisher noch wenig durchgeführten
Aufbau der Psychologie von den Elementen bis hinauf zu den
höchsten Kombinationen, also ansteigend von den Sinnes-
empfindungen usw. bis zu den reichen und mannigfaltigen
Verflechtungen verschiedenartiger seelischer Bestandteile. Eine
wichtige Rolle spielt dabei der Ueberbau einer „intellektuellen"
Erkenntnis über einer „sensualen".
Viertens der eigene Versuch einer Beschreibung des
Jugendalters. Er nimmt zunächst die drei etwa zu unter-
scheidenden Hauptklassen psychischer Erscheinungen durch :
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Erster Kou gross f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
das Vorstellen, das Urteilen, und die Gesamtheit der Gemüts-
bewegungen; er zeigt, wie hier der Weg von der Kindheit
zur Jugend analog ist dem Wege der Psychologie vom Ein-
facheren zum Zusammengesetzteren; er legt Gewicht auf das
Interesse des Jugendalters an den großen Weltfragen, das
allerdings innere Konflikte begünstigt, und im Zusammenhang
damit auf eine Analogie zu der Pubertätszeit („zweite Flcgel-
periode"). 1
An fünfter Stelle fragt es sich, zumal im Anschluß an
Erscheinungen, die mit dem letzterwähnten in Verbindung
stehen, wie weit hier Normales und Abnormes zu unterscheiden
ist; wobei das stärker Abnorme am besten einer eigenen Be-
trachtung verbleibt. Mehr Beachtung verdient vorerst die
Frage nach den in dieser Zeit sich äußernden besonderen An-
lagen und nach ihrem Verhältnisse zu dem, was von außen
herangebracht wird; also kurz die Talentfrage.
Der Vortragende gibt weiterhin, sechstens, ohne An-
spruch auf historische Uebersicht, einige Proben dessen, was
verschiedentliche Autoren zu seinem Thema beigetragen haben.
Aus älterer pädagogischer Literatur von deutscher Seite werden
hier Trapp, Schwarz, Graser, Kirchner, Lasaul x,
Schreber erwähnt ; vom Auslände kommen van Heusde,
Necker de Saussure, Stanley Hall zur Erwähnung ;
und aus neuester deutscher Literatur treten I. Baumann,
R. Lehmann, W. Münch hervor.
An siebenter und letzter Stelle erscheint, nachdem bis-
her nur von der theoretischen Erkenntnis die Rede war, die
Frage nach der praktischen Behandlung der Jugend. Eine
isolierte Beantwortung dieser Frage erscheint nicht aussichts-
voll ; um so aussichtsvoller jedoch die Einfügung dieses Themas
in das Sondergebiet einer akademischen oder Hoch-
schulpädagogik, zu der eben die hier angeregte aka-
demisch-pädagogische Psychologie gehört. Nötig
ist allerdings eine endliche Ueberwindung der Gleichgültigkeit,
die jenem Teilgebiete der Pädagogik noch immer entgegen-
gebracht wird. Mit einem lebhaften Appell an die für das
Wohl der Jugend Interessierten, sich dieses Gebietes anzu-
nehmen, schloß der Vortragende.
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Erster Kongrus f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 75
Haus- und Prüfungsaufsatz.
Von
Dr. phil. Friedrich Schmidt in Würzburg.
• ■
Die Anschauungen praktischer Schulmänner über die quan-
titative und namentlich qualitative Seite des Aufsatzes als
Haus-, Klassen- und Prüfungsaufsatz gehen heute noch weit
auseinander und doch ist die Frage nach dem Prüfungsaufsatze
schon wegen ihrer außerordentlichen Tragweite für unsere
schulentlassene Jugend nach vielen Seiten hin und gewiß auch
vom Standpunkte der Schulgerechtigkeit aus wertvoll genug,
um einmal gründlich untersucht zu werden. Zu diesem Zwecke
wurde ein Aufsatzmaterial aus den vier oberen Mädchen- und
Knabenklassen der Würzburger Pestalozzischule unter relativ
gleichen Bedingungen in Haus und Prüfung angefertigt. Das-
selbe wurde hierauf einer gewissenhaften Korrektur unter-
zogen, die sich ergebenden Fehler in materielle und formelle
gruppiert und jeder Fehlerart innerhalb der orthographischen,
grammatischen und stilistischen Gruppe eine Wertziffer bei-
gesetzt. Die Aufsätze wurden an der Hand von Einzel- und
Gesamtvergleichen gemessen. Aus den Fehlertabellen wurden
die stilistischen Fehlerwerte isoliert und die Stilqualitäten in-
direkt gemessen. Wir verweisen behufs Einsichtnahme in das
methodologische Verfahren auf die grundlegende Arbeit des
Referenten: „Experimentelle Untersuchungen über die Haus-
aufgaben des Schulkindes", Engelmann, Leipzig 1904, das in
der fachmännischen Literatur durchaus anerkannt wurde.
Referent zeigte mit großer Gründlichkeit, unter welchen all-
gemeinen Bedingungen (sozialen Milieu) der Hausaufsatz an-
gefertigt wurde. Dieser kam in Beziehung zum Verhalten der
Eltern und Geschwister, zu den häuslichen Arbeitsräumen und
der Arbeitszeit. Dazu kamen die inneren Bedingungen, die im
Kinde selber liegen, wie Aufmerksamkeitsverhältnisse, Störun-
gen, Ablenkungen, Begabung, Stilnote u. a. Die Kinder wurden
mi ttels der Fragebogenmethode erforscht. Wir heben aus dem
^terial hervor, daß rein äußerliche Störungen wie Kinder-
lärni auf der Straße gar keinen Einfluß auf die Qualität des
Hausaufsatzes ausübten, daß sogar solche Störungen durch
die Aufmerksamkeit überkompensiert wurden und eine vor-
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76
Erster Kongresa f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
zügliche Leistung verursachten. Die freie Wahl der häus-
lichen Arbeitszeit und das gemütliche häusliche Arbeitstempo
wirkten besser als die vorgeschriebene Prüfungszeit mit ihrer
beschleunigten Arbeitsweise. Das Unlustgefühl wegen der
Hausarbeit wurde fast allgemein konstatiert, doch siegte der
kindliche Wille in Hinsicht auf die Schülerpflicht. Selten auf-
tretende intellektuelle Lustgefühle führten eine Vertiefung und
bessere Qualität herbei. Die Knaben zeigten im allgemeinen
einen größeren Gleichmut als die Mädchen. Doch arbeiteten
letztere infolge ihrer Aengstlichkeit besser als jene, die offenbar
einen gewissen Leichtsinn verrieten. Interessant war das Spiel
4er mittleren Variationen nach der quantitativen und quali-
tativen Seite der Leistungen um das arithmetische Mittel, der
psychologische Nachweis über zuweit gefaßte Aufsatzthemata,
Unfruchtbarkeit in bezug auf stüistische Produktion und nament-
lich die Motivierungen der praktischen Fälle der Fehlerskala,
welches Verfahren Herr Seminardirektor Dr. Andreae in der
Debatte als vorbildlich bezeichnete für den Psychologiebetrieb
in den Seminarien, der fast ausschließlich Kapitel auswendig
lernen ließe, was den angehenden Lehrer ratlos mache in der
Beurteilung praktischer Fälle in der Schule. Dr. Schmidt faßte
seine Ergebnisse wie folgt zusammen : Die Tatsache, daß eine
Knabenklasse bei ihrer Abgangsprüfung aus der Volksschule
einen schlechteren Stil geschrieben hat als zu Hause, die
Mädchenklasse jedoch einen besseren, erschüttert den Wert
der Prüfungsaufsätze und mahnt zur Vorsicht bei Qualifika-
tionen der Stilleistung im Prüfungszeugnis. Die Probeaufsätze
oder Skriptionen zeigten in ihren Stilwerten nicht den wahren,
sondern einen niedrigeren Stand des stilistischen Könnens,
täuschten demnach den Prüfungsanteil und sind deshalb zu
verwerfen. In formeller Beziehung taten sich die Schluß-
prüfungsaufsätze hervor; die Probearbeiten sind auch formell
nicht sorgfältig und verfehlen ebenfalls von dieser Seite aus!
ihren Zweck. Der Prüfungsstil zeigt mit seinem Bestreben,
quantitativ viel und formell Schönes zu bringen, eine gewisse
Oberflächlichkeit. Der Hausstil dagegen hat bei nicht ganz
ungünstigen Bedingungen in seiner unschöneren Form und
Kürze bessere stüistische Qualitäten. Darum ist der Haus-
aufsatz wohl «u pflegen. Der Prüfungsgedanke dringt in das
weiche Gemüt des Mädchens tiefer ein als auf die mehr Gleich-
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Ertter Kongrtss f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 77
mut bewahrenden Knaben. Jenes bringt aber infolge seiner
Aengstlichkeit bessere Ergebnisse hervor, als der sich mehr
gleichgültiger und auch leichtsinniger zeigende Knabe. Es ist
methodisch falsch, weitgefaßte Aufsatzthemata den Volks-
schülern zu geben; nur enggefaßte entsprechen ihrer geistigen
Verfassung und entbinden ihre produktiven Kräfte. Zu einem
gänzlichen Wegfall von Aufsätzen in der Abgangsprüfung ist
Referent auf Grund dieser Untersuchungen nicht gekommen.
In der unmittelbar sich anschließenden Debatte wurde dem
Vortragenden in allen Punkten beigestimmt von Fachleuten,
die sich als langjährige Prüfungskommissäre über die Materie
aussprachen, und einer regte an, ähnliche Untersuchungen in
größeren Gemeindewesen zu unternehmen, um den Einfluß
dieses Milieus auf die Qualität auch feststellen zu, können.
Prof. Dr. Martinack und das zahlreich vertretene Auditorium
spendeten den gründlichen Ausführungen großen Beifall.
Grundfragen der Psychogenesis
Nach
Dr. W. Stern, Privatdozent a. d. Universität Breslau.
Die Psychogenesis, d. h. die wissenschaftliche Erforschung
der seelischen Entwicklung ist noch sehr jung und unvoll-
kommen; sie muß deshalb auf ihre Grundfragen beschränkt
werden, welche für die Kindespsychologie, die Pädagogik und
die Kulturwissenschaft von hoher Bedeutung sind. Die
seelische Entwicklung kann sowohl biographisch als auch
monographisch behandelt werden, obgleich in letzterem Falle
eine künstliche Isolation vom geistigen Gesamtorganismus
vorliegt.
Wie bei jeder Entwicklung, so können wir auch die
Psychische in quantitativer, qualitativer und zeitlicher Hinsicht
*) Ueber die inhaltliche Verwertung eines Teiles des Materiales sprach
Dr. Schmidt in der freien Vereinigung für philosophische Pädagogik auf
der deutschen Lehrerversammlung zu München, Pfingsten 1906 mit bestem
Erfolge.
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78 Erster Kongre*» f. Kinder forsehung und Jugendfürsorge.
betrachten. Die Mannigfaltigkeit der Erlebnisse, der Grad der
Leistungsfähigkeit, die von Erinnerung und Erwartung um-
spannte Zeitgröße gehören zum quantitativen Wachstum, Die
qualitative Entwicklung ist eine Folge von Metamorphosen mit
fortwährender Verschiebung der Verhältnisse. Als Gesichts-
punkte können wir — wie Sigismund — die jeweilig vor-
herrschende Funktion nehmen. So unterscheidet man in den
Anfangsjahren das Kind als „Säugling", „Greif " und „Sprech-
ling." Die Entwicklungszeit vor der Pubertät ist mehr
rezeptiv. Sie ist das Alter des Auffassens und Erlernens. Die
folgende Entwicklung ist dagegen mehr spontan, der aufge-
nommene Stoff wird verinnerlicht und weiter gebildet.
Die Phasenfolge der seelischen Entwicklung ist nicht so
scharf zu fixieren wie die biologische Entwicklung. Abge-
sehen davon, daß die Unterschiede der Phasen viel feiner
sind, decken sich die Entwicklungsprozesse einzelner Indivi-
duen sehr oft nicht, sowohl in den Auftrittszeiten wie in der
Reihenfolge der Individuen. Trotzdem wird schließlich ein
fester Schematismus der psychogenetischen Grundzüge zu
finden sein.
Bei der zeitlichen Betrachtung der seelischen Entwicklung
ist ein ständiger Wechsel von schnell und langsam zu ver-
zeichnen. Sie gleicht dem Wellenspiel. So können wir zum
Beispiel für den jugendlichen Entwicklungsprozeß drei Haupt-
wellen von je 6—7 Jahren erkennen: Kindheit, Knaben- und
Jünglingsalter. Jedes dieser Stadien zeigt zunächst einen starken
Fortschritt, in der zweiten Hälfte dagegen ein langsames Tempo.
Bei der Frage nach den Ursachen der Psychogenesis
müssen wir, da sowohl Stativismus wie Empirismus schwer-
wiegende Momente für sich haben, äußere als auch innere
Faktoren annehmen. Der Phonograph gibt alle hineinge-
sprochenen Worte wieder; das sprechenlernende Kind aber
ahmt nicht alle Wörter der Umgangssprache gleichmäßig nach,
sondern nur diejenigen, die dem Stande seiner geistigen Ent-
wicklung jeweilig entsprechen. Auf dem Innenfaktor beruht
die Potentialität, er bereitet gewisse Ziele des Werdens vor.
Der Außenfaktor führt dagegen zur Realität; er determiniert
Zeit, Art und Grad einer Betätigung.
Methodologisch sind indessen die Ursachen von Veran-
lagung oder Umweltbeeinflussung oft schwer zu unterscheiden,
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Erster Kongres* f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 79
da beide häufig gleichmäßig wirken. So kann z. B. die frühe
musikalische Betätigung eines Kindes die Folge seiner musi-
kalischen Veranlagung sein; sie kann aber ebensogut auf den
Druck zurückgeführt werden, den die musikalischen Eltern
mit ihrem ständigen Vorbild auf das Kind ausüben.
Bei der Ausarbeitung einer Methodologie kommen haupt-
sächlich die ersten Lebensjahre des Kindes in Betracht, wo die
Umweltseinflüsse noch einigermaßen vollständig zu kontrol-
lieren sind. Entwickeln sich z. B. zwei Kinder bei gleicher
Milieubedingung verschieden, so muß die Ursache hierzu wohl
in angeborenen Faktoren zu suchen sein. Finden wir femer
bei mehreren Kindern in verschiedenem Milieu gewisse Ent-
wicklungsgleichungen, so müssen wir den Grund dazu auch
in einer inneren Entwicklungstendenz erblicken.
Die Frage nach dem psychogenetischen Parallelismus, ob
zwischen der gattungsmäßigen und der individuellen Entwick-
lung Parallelen bestehen, kann auch erst auf Grund der
modernen Kindespsychologie wissenschaftlich näher beant-
wortet werden. Jetzt bestehen noch zwei sich widersprechende
Ansichten, wovon die eine für einen Parallelismus auch in der
seelischen Entwicklung eintritt, während die Gegenpartei in
etwaiger Uebereinstimmung nur Zufallsprodukte sieht. Sowohl
bei der Totalentwicklung des Kindes wie bei der Partialent-
wicklung einer einzelnen Funktion sprechen viel wichtige
positive Tatsachen für den Parallel ismus. So können wir z. B.
dem Säuglingsstadium des Kindes (reines Instinkt- und Trieb-
leben, Fehlen der Sprache, Vorherrschaft der vegetativen Funk-
tionen usw.) die vormenschliche Periode der Gattung gegen-
überstellen. Nach der eigentlichen Menschwerdung um die
^ende des ersten Jahres durch die Erwerbung der beiden
typisch menschlichen Funktionen: der Sprache und des auf-
wehten Ganges, folgt dann das dem Naturvolk analoge Stadium
^ cs „Spielalters" mit der naiven Allbeseelung (Märchen =
Mythos, Puppe = Fetisch), mit der Unfähigkeit, Spiel von
Ernst, Schein von Wirklichkeit zu trennen, mit der unbekümmer-
te n Hingebung an die unmittelbare Gegenwart usw. usw.
Da nun den vielen Uebereinstimmungen auch eine große
Zahl stärkster Abweichungen gegenübersteht, müssen wir wie bei
der Frage nach der Ursächlichkeit den vermittelnden Weg ein-
schlagen, und zwar können wir auch hier die doppelte Ursäch-
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80
Erster Kongrus f. Kinderforschung und Jugendfürsorge..
lichkeit zu Gmnde legen. Soweit bei der Entwicklung die
innerliche Veranlagung in Frage kommt, können wir gewisse
allgemeine Regeln annehmen ; dagegen müssen die Entwicklun-
gen in demselben Maße von einander abweichen, als die
äußeren Faktoren der Umwelt bei der Entwicklung in gegen-
sätzlicher Weise mitwirken.
Die psychologische und pädagogische Bedeutung des
praktischen Unterrichts.
Von
Direktor Dr. Pabst (Leipzig).
Nachdem der Vortragende einleitend das Verhältnis der
Psychologie zur Pädagogik berührt hatte, wobei er sich gegen
die verbreitete Meinung aussprach, daß die letztere ihre Direk-
tiven ausschließlich von der erstexen zu erhalten habe, wies
er in eingehender Weise nach, wie sich aus der modernen
Psychologie die Notwendigkeit des praktischen Unterrichts als
eines Erziehungsmittels begründen läßt. Die Ausbildung des
Gehirns als des Organs nicht bloß für das Denken, sondern
auch für das Wollen und Handeln des Menschen erfolgt nur
unter Mitwirkung der Sinne und der körperlichen Betätigung
des Kindes. Die sensorischen Zentren (Empfindungszellen) und
ebenso die motorischen Zentren (Bewegungszellen) des Gehirns
entwickeln sich durch Uebung und bleiben unentwickelt, wenn
diese Uebung fehlt. Die übliche Unterscheidung zwischen
Kopfarbeit un4 Handarbeit ist falsch, denn es gibt keine Art
der Handarbeit, die nicht zu gleicher Zeit mehr oder weniger
Kopfarbeit erforderte, und der Unterschied zwischen beiden
Arten der Arbeit ist nur ein solcher dem Grade nach, soweit
die Tätigkeit des Gehirns dabei in Frage kommt. Deshalb
sind körperliche Bewegungen, Spiel, Turnen und Handarbeit
notwendig zur Entwicklung des Gehirns, sie sind Mittel zur
Gewinnung der motorischen Begriffe, die den Menschen zum
Handeln führen und das Wesen seines Charakters begründen.
Aber die feinere Handarbeit wirkt anders auf das Gehirn ein
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ErtUr Kongreß f. Kindcrforachung und Jugendfürsorge. 81
wie die grobe Arbeit bei der Bewegung großer Muskelgruppen,
und die ausgebildete Hand ist ein feines Sinnesorgan, ähnlich
wie Auge und Ohr. Die Handgeschicklichkeit hat ihren Sitz
nicht eigentlich in der Hand, sondern im Kopf und Gehirn,
und geeignete Handübungen sind eine Form geistiger Er-
ziehung. Außer dem Gehirn kommt für die motorischen Be-
wegungen noch das Rückenmark in Frage, von dem aus die
unbewußten Reflexbewegungen dirigiert werden. Die erzieh-
liche Einwirkung auf beide Organe kann nur im jugendlichen
Alter stattfinden, und deshalb ist die Einführung geeigneter
Handbetätigung im System der Jugenderziehung zu fordern.
Die Notwendigkeit einer solchen läßt sich, ganz abgesehen
von der psychologischen Begründung, auch auf pädagogischem
Wege nachweisen. Die Erfahrung lehrt, und alle großen,
genialen Erzieher (Comenius, Rousseau, Pestalozzi, Fröbel u. a.)
haben es erkannt, daß die körperliche Erziehung mit der
geistigen Hand in Hand gehen muß, und daß die körperliche
Betätigung des Kindes eine Vorbedingung ist für seine geistige
Entwicklung, von der sie sich nicht trennen läßt. Die Her-
stellung einfacher Gegenstände, wie sie im sogenannten Hand-
fertigkeitsunterrichte geübt wird, ist durchaus keine mecha-
nische Sache, die für die Erziehung wertlos wäre oder etwa
nur dem Zweck dienen könnte, für eine handwerksmäßige
Tätigkeit vorzubilden. Man kann im Gegenteile behaupten,
daß in einer solchen Betätigung unter Umständen mehr geist-
bildende Momente liegen, als in manchen Formen des Sprach-
unterrichts. Psychologisch ausgedrückt ist das Sprechen als
eine motorische Erregung gewisser Muskeln von der Hand-
betätigung nur darin unterschieden, daß beide Arten der mo-
torischen Erregung von verschiedenen Gehirnzentren ausgehen;
somit sind auch für die Ausbildung $les Geistes beide Prozesse
im Grunde genommen gleichwertig. Auch der Prozcss des
Denkens vollzieht sich vielfach, wie z. B. beim Künstler, Tech-
niker, Naturforscher usw. durchaus nicht in den sprachlichen
Formen, der Komponist denkt in Tönen, der Künstler und!
Techniker in Raumformen, der Naturforscher in den Formen
sinnlicher Erscheinungen, die mit der Sprache nichts zu tun
haben. Aber wie wir in unserer Kultur überhaupt das Wort
und das sprachliche historische Wissen überschätzen, so geht
auch unsere Erziehung einen verkehrten Weg, wenn sie die
Zeitochria fUr p&dAffOfflscbe Psychologie, Pathologie u. Hygiene. $
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82 Erster Kongreß f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
Ausbildung der Hand und die der Sinnesorgane vernachlässigt.
Die Erziehung der Zukunft wird hierauf Rücksicht nehmen
müssen, und zugleich wird sie als eine Erziehung zur Arbeit
und durch Arbeit eine Reihe von pädagogischen und sozialen
Gesichtspunkten in den Vordergrund stellen müssen, die in
unserem heutigen Erziehungssystem nicht zur Geltung kommen
können. Der praktische Unterricht in seinen verschiedenen
Formen erscheint geeignet, die Mängel unseres gegenwärtigen
Erziehungssystems auszugleichen.
Arbeitserziehung.
Von
. >
Direktor Plass, Zehlendorf bei Berlin.
Die Schule hat vor allem die Aufgabe, die in dem Menschen
vorhandenen Anlagen und Triebe harmonisch und allseitig zu
entwickeln. Ohne Arbeitserziehung ist dies nicht möglich. Die
Pflege des gebräuchlichsten Organes, der menschlichen Hand,
wird durch Zeichnen und Schreiben nur einseitig gefördert.
Die Handarbeit schafft gegenüber dem abstrakten Doktrina-
rismus und der Ueberbürdung durch rein geistige Arbeit einen
wohltuenden Ausgleich. Selbständige Herstellung eines Gegen-
standes ist ein potenzierter Anschauungsunterricht. Durch
Arbeit erworbenes Wissen und Können ist ungleich wertvoller
als das durch rein geistige Uebung gedächtnismäßig einge^
paukte. Die moderne Bewegung zur Pflege der ästhetischen
Bildung, zur Förderung des Kunstgeschmackes, findet durch
planmäßige Arbeitserziehung die kräftigste Unterstützung. Be-
sonders dient die Arbeit zur Schulung des Willens und erzieht
zum Fleiß, zur Geduld, zur Sorgfalt und zur Selbstsucht. Die
Arbeitsfreudigkeit ist einer der stärksten sittlichen Triebe.
Ein Verwahrloster kann dann als gerettet betrachtet werden,
wenn es gelingt, ihn arbeitstüchtig und arbeitsfreudig zu
machen. In einer arbeitsfreudigen Seele keimen schöpferische
Ideen. Die Arbeitserziehung ist die Grundlage, auf der die
Hebung des Handwerks aufgebaut wird. Da die Meister wegen
des Konkurrenzkampfes meist auf Spezialarbeit angewiesen sind,
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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 83
so sind in den fachlich zu organisierenden Fortbildungsschulen
Arbeitslehrgänge zur Ergänzung der Ausbildung unentbehrlich.
Die mechanischen Arbeitsleistungen müssen durch produktive
Arbeit Ergänzung finden. Die fabrikmäßig auf dem Prinzip
der Arbeitszerlegung aufgebaute mechanische Arbeit hat keine
Poesie und befriedigt den Arbeitenden nicht. Aus dieser Quelle
summt die arbeitsfeindliche Genußsucht, der jährlich tausende
von Familien und Existenzen zum Opfer fallen. Das Kinder-
schutzgesetz vom 30. März 1903 will nicht alle Kinderarbeiten
beseitigen, sondern nur die, durch welche Gesundheit und Aus-
bildung gefährdet und geschädigt wird. Es bedarf dieses
negative, präventiven Zwecken dienende Gesetz daher einer
Korrektur durch ein Arbeitserziehungsgesetz, wie solches andere
Nationen bereits besitzen. Lehrreich für die Bedeutung der
Arbeitserziehung ist die Fürsorgeerziehung. Die Ursachen
der Ueberweisung der Jugendlichen zur Zwangserziehung
wurzeln entweder in der Arbeitsausbeutung oder in der Arbeits-
vernachlässigung, dem Müßiggange. Die Schulentlassenen
können gegen eine verfehlte Berufswahl besser geschützt wer-
den, wenn sie selbst praktische Arbeit in der Schule getrieben
haben. Die Geringschätzung der Arbeit, die doch alle kultu-
rellen Güter erzengt, ist für unser Volk verhängnisvoll. Ihr ist
die Ueberschätzung der sogen, geistigen Berufe und das Wachs-
tum des geistigen Proletariats aufs Schuldkonto zu schreiben.
Durch richtige Wertschätzung der physischen Arbeit werden
Klassen- und Standesgegensätze gemildert. Der Lehrer ist der
berufene Kulturmissionar die Arbeitserziehung auszubauen. Er
hat mit Hilfe der Meister das zum Teil noch wenig beackerte
Gebiet zu kultivieren. Warenkunde, Werkzeugkunde, Maschi-
nenkunde und Arbeitslehrgänge können ohne Mitwirkung des
Lehrers nicht ausgebaut werden. Von ihm sind auch Museen
und Apparate zur Erlernung der Arbeitsmethoden zu schaffen.
Die Behandlung der ge werbegeschichtlichen, gewerbehygieni-
schen, kunstgewerblichen, gewerbeliterarischen Fragen gehört
zu den spezifischen Aufgaben der Sozialpädagogik. Eine Be-
teiligung der Lehrerschaft an der Lösung dieser Kulturaufgaben
widerspricht nicht der Würde ihres Standes, sondern muß nur
dazu beitragen, denselben sozial zu heben, was im Interesse
unseres Volkes zu wünschen wäre. Als letztes Ziel der Ent-
wicklung der Arbeitserziehung wären obligatorische Kinder-
ei
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84
Erster Kongrets f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
horte und obligatorischer Arbeitsunterricht für niedere und
höhere Schulen, für Schulpflichtige und Schulentlassene, für
die männliche und die weibliche Jugend anzustreben, eine Auf-
gabe, die ohne Gründung sozialpädagogischer Seminare nicht
zu lösen sein wird, eine Aufgabe, an deren Lösung erst dann
der Staat herantreten kann, wenn in sozialer Wohlfahrtspflege
einzelne Kommunen genügend vorgearbeitet haben. Wer an
der Arbeitserziehung der Jugend mitarbeitet, arbeitet mit an der
Erneuerung des gesamten Volkes.
Beitrag zur Kenntnis der Schlafverhältnisse Berliner
Gemeinde8Chüler.
Von
«
Dr. L. Bernhard.
Nach eingehender Würdigung der Bedeutung des Schlafes
für die Erhaltung des physiologischen Körperzustandes auf
Grund der Arbeiten von V e r w o r n u. a. wird vom Vortragen-
den die besondere Wichtigkeit ausreichenden Schlafes für das
kindliche Alter erörtert. Der schnell wachsende kindliche
Organismus erfordert besonders reiche Zufuhr von Nähr-
material, einerseits als Ersatzmittel für die im Stoffwechsel ver-
brauchten Stoffe, andererseits zum Aufbau der sich rasch enfr-
wickelnden Organe. Da aber im Schlaf der Zerfall der leben-
digen Substanz bedeutend herabsinkt, und ihre Neubildung in
gesteigerter Weise zur Geltung kommt, so schädigt unzureichen-
der Schlaf ganz besonders das Gedeihen des Kindes und ist
eine physiologische Versündigung gegen die Jugend.
Deshalb haben Aerzte und Schulmänner vielfach warnend
darauf hingewiesen, daß unserer Jugend unter dem Einfluß
mannigfacher Ursachen die segensreiche Einwirkung genügen-
den Schlafes verloren geht.
Der Redner erörtert ausführlich diese Ursachen und kenn-
zeichnet die Folgen, welche sich bei gewohnheitsmäßig un-
zureichendem Schlafe am kindlichen Organismus bemerkbar
machen.
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Erster Kongres* f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
85
Die große Zahl von blassen und nervösen Kindern, welche
der Vortragende in seiner schulärztlichen Tätigkeit beobachtete,
veranlaßte ihn, zu untersuchen, wie die Schlafverhältnisse der
Gemeindeschulkinder in seinem Bezirke beschaffen sind. Die
Beobachtungen beziehen sich auf 6551 Kinder aus Berlin C.
und sind in ca. drei Jahren so sorgfältig wie irgend möglich
gemacht worden.
In verschiedenen Tabellen legt der Redner die Resultate
seiner Untersuchungen dar, welche ergeben, daß die Schlaf-
zeit für alle Altersklassen der Kinder ganz erheblich hinter
der von Axel Key u. a. als notwendig* festgesetzten zurück-
tritt. Die Unterschiede betragen für den einzelnen Tag bis
1,40 Stunden, d. h. ein Teil der Kinder schläft 608 Stunden im
Jahre zu wenig. Sollte die verlorene Schlafzeit nachgeholt
werden, so müßten sie ca. 25 Tage ununterbrochen Tag und
Nacht schlafen.
Die Ursachen der geringen Schlafdauer liegen weniger in
Ueberbürdung mit Schularbeiten oder krankhafter Schlaflosig-
keit der Kinder, als in der Lässigkeit und; in dem Unverstand
vieler Eltern einerseits und in den mißlichen sozialen Verhält-
nissen andererseits.
Der Vortragende geht auf die schlechte Gewohnheit vieler
Eltern ein, ihre Kinder bis in die späte Nacht auf der Straße
spielen zu lassen oder sie bis zum frühen Morgen zu Vergnügun-
gen mituznehmen. Er erörtert sodann die sozialen Ursachen,
verbreitet sich über die Heimarbeit, den Straßcnhandel und
führt einige besonders traurige Beispiele an. Er konnte Schlaf-
minirna bis zu fünf Stunden feststellen.
Sodann beschreibt der Redner die Schlafräume und die
Lagerstätten der Kinder. Auch hier gibt er Tabellen, welche
die Verhältnisse grell beleuchten: Bis zu neun Personen
schliefen in einem Zimmer und bis zu vier in einem Bett.
Zur Besserung der Verhältnisse bedarf es nach dem Vor-
legenden vor allem der aufklärenden Mithilfe der Presse 1 Die
Eltern müssen auf die Wichtigkeit genügenden Schlafes für
die Kinder und der Staat und die Kommuno auf die Dringlich-
st einer Lösung der Arbeiter-Wohnungsfrage immer wieder
hingewiesen werden.
Von der Schule verlangt der Redner, daß der Schulbeginn
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86
Erster Kongrexs f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
zum wenigsten für die Kinder der Unterstufe im Sommer nicht
vor acht, im Winter nicht vor neun Uhr festgesetzt wird, und
als wichtigstes Einführung des Unterrichts in die Hygiene.
Ueber psychasthenische Kinder.
Von
Dr. Theodor Heller, Direktor der Erziehungsanstalt Wien-
Grinzing.
Der Vortragende beschreibt eine Kategorie psychopathischer
Kinder, bei denen jede längere oder komplizierte Arbeits-
leistung auf körperlichem oder geistigem Gebiet schwere Unlust-
gefühle (Dysphorie) auslöst, die nicht überwunden werden
können und sich unter Umständen als psychische Hemmung
geltend machen. Hierher gehören jene Kinder, die mit keiner
Arbeit fertig werden, und bei denen sich eine eigenartige Er-
wartungsneurose („Prüfungsangst") einstellt. Das pathologische
Unlustgefühl wächst oft dermaßen an, daß es bis zu „psychasthe-
nischen Krisen" kommt, in denen die Kinder planlos herum-
irren, Eigentumsdelikte begehen, sogar Selbstmorde verüben.
Die falsche Beurteilung der Psychasthenie als moral insanity
führt zu schweren pädagogischen Mißgriffen. Ebenso ist die
Psychasthenie von der Dubilitat, Hysterie und Hobephrenie
wohl zu unterscheiden. Psychastheniker, die nicht rechtzeitig
einer heilpädagogischen Behandlung unterworfen sind, stellen
das Hauptkontingent zu den problematischen Naturen und
schiffbrüchigen Existenzen. Der Vonragende spricht sich für
eine planmäßige Beschäftigungstherapie bei vollständiger Aen-
derung des Milieus aus, die in leichten Fällen am besten in
einem Landerzichungsheim, in schwereren Fällen in einer Heil-
erziehungsanstalt stattzufinden hätte.
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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 87
Ueber die Möglichkeit einer Beeinflussung abnormer
Ideenassoziation durch Erziehung und Unterricht.
Der Vortrag brachte typische Beispiele für :
I. vorherrschend verbal gerichtete Ideenassoziation,
II. die Ideenflucht,
III. von Zeit und Zahl regierte Ideenassoziation,
IV. von wertbegriff sermangelnde r Ideenassozia
< tion,
V. durch kontrastierende Gefühlstöne be-
herrschte Ideenassoziation,
VI. durch Ueberwertigkeit einer Vorstellung
gehemmte Umsetzung der Ideenassoziation in
Handlungen.
An der Hand der Beispiele wurden die abnormen Er-
scheinungen auf ihre psycho-physischen Ursachen zurück-
geführt, doch nur insoweit, als dieselben für die heilpädagogische
Behandlung praktische Bedeutung haben. Besonderer Wert
wurde dann darauf gelegt, die Grenze des durch die pädago-
gischen Maßnahmen Erreichbaren für jede charakteristische
Form der besprochenen Ideenassoziation zu ziehen. Es ergab
sich dabei, daß die unter Nummer I, IV, und V aufgeführten
abnormen Assoziationen — nachdereigenenbisherigen
Erfahrung! — fast jeder Beeinflussung trotzen. Auch die
verbale Ideenassoziation bleibt in den Fällen, wo eine aus-
gesprochene Stumpfheit des Gefühls-, Tast- und Muskelsinnes
vorliegt, ziemlich stationär. Der Geist arbeitet hier in der
Hauptsache mit Klangvorstellungen und Klangassoziationen.
Ist dagegen die Sinnesstumpfheit nicht zu hochgradig, so lassen
sich dem einzelnen Debilitätsgrade entsprechende Erfolge er-
zielen. Die Behandlung dabei läßt sich kurz als eine mit
pädagogischem Geiste erfüllte, bäuerliche Erziehungs weise
charakterisieren und zwar in einem Erziehungsheime, das als
pädagogisches Dorf ausgebaut erscheint. Selbstverständlich ist
dabei in jeder Hinsicht an ideale Einrichtungen zu denken.
II. Für die Ideenflucht heißt das pädagogische Problem:
Das vorhandene und an sich gesunde Vorstellungsmaterial zu
logischen Zusammenhängen verknüpfen. Es sind erfreuliche
Erfolge zu erzielen, wenn neben ärztlicher Behandlung der
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88
Erster Kongrus f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
krankhaften Reizbarkeit eine geeignete Beschäftigungs-
therapie an ruhigem Orte eintritt, die vor allem zur Ver-
körperung zusammenhängender Gedanken führen muß. Vor
allem ist auch im Unterricht auf Korrektheit der Gedanken-
gänge und in den Freizeiten auf die Aufmerksamkeit konzen-
trierende Spiele, Sammlungen usw., zu halten. Wichtig sin4
auch besondere Aufmerksamkeitsübungen.
V. Für die Entkräftung der überwertigen Vorstellung leistet
die besten Dienste die Erzeugung einer interkurrenten Vor-
stellungsweise, um dadurch eine veränderte Konstellation für
den Ablauf der Ideenassoziation zu schaffen. Wie die Erzeu-
gung dieser Vorstellungsweise anzubahnen ist, richtet sich nach
dem Typus des Falles. Eine große Rolle Spielt in der Be-
handlung auch die Suggestion.
Ueber hysterische Epidemien in deutschen Schulen.
Von
Lehrer Walt her Dix, Meißen.
A. Geschichtliches.
I. Meißener Zitterepidemie.
Im Oktober 1905 erkrankte ein 13 jähriges Mädchen an
hysterischem Zittern. Sehr bald folgten andere nach. Trotz
der Weihnachtsferien mußten am 24. Februar 21 Klassen ge-
schlossen werden. Die Osterferien brachten auch keine Besse-
rung. Die Zahl der Erkrankten stieg auf 237. Am 17. Mai
erlosch die Epidemie.
Bei allen Kindern wurde ein kurzschlägiges Zittern beob-
achtet, daß den ganzen Körper oder nur Arme und Beine, be-
sonders den rechten Arm ergriff. Das Zittern war oft so
heftig, daß die Kinder vor Schmerzen weinten. In fast allen
Fällen, mit wenig Ausnahmen, war eine Aura vorhanden,
reißende, zuckende Schmerzen in den Muskeln der Arme und
Beine usw. In einigen Fällen wurden veitstanzähnliche Zuckun-
gen der Gesichtsmuskulatur beobachtet. Die Dauer der An-
fälle war verschieden. Etliche wähnen nur Minuten, andere
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Erster Konffresa f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
89
Stunden. Die Häufigkeit der Anfälle war verschieden.
Bei etlichen traten täglich mehrere auf ; bei anderen fanden
während der Woche ein bis zwei Anfälle statt. Die Anfälle
waren morgens am heftigsten. Sie stellten sich regelmäßig
in der Schule ein, wenn sie zu Haus auch ausgesetzt hatten.
Als Ursachen sind zu nennen: Anblick einer zitternden Mit-
schülerin, Angst, Schreck, Anstrengung im Turnen, Schreiben,
Zeichnen, Handarbeiten, Memorieren (psychische Erregung
dabei).
Das Zittern befiel Kinder aus allen Lebenskreisen,
starke und schwächliche, vom 7.— 14. Lebensjahr, vor-
wiegend Mädchen.
II./III. Baseler Zitterepidemien.
Wie in Meißen erkrankten das erste Mal 62, das zweite
Mal 27 Mädchen an jenem hysterischen Zittern. (Dr. Aeusmer,
Dr. Zollinger),
IV. Erkrankung von Schulkindern in Braun-
schweig.
42 Kinder erkrankten an hysterischen Schlafzuständen*
Achttägiger Schulschluß brachte keine Besserung. (Schul-
inspektor Oppermann.)
V. Schulepidemie im Dorfe Wildbad.
26 Mädchen erkrankten an hysterischer Chorea, darunter
fünf Fälle echter Chorea minor. (Dr. Wichmann.)
VI. Eine Epidemie von hysterischen Krämpfen
in einer Dorfschule.
In Groß-Tinz bei Liegnitz erkrankten 20 Mädchen an hyste-
rischem Zittern. (Prof. Dr. Hirt.)
VII. Eine psychische Seuche in der obersten
Klasse einer Mädchenschule in Biberach.
13 Mädchen im Alter von 11 bis 13 Jahren erkrankten an
hysterischen Schlaf zuständen, worunter auch Fälle von Hystero-
Epilepsie vorkamen. (Dr. Palmer.)
VIII. Akute psychische Kontagion in einer
Mädchenschule.
Im Gegensatz zu den andern Epidemien zeigt diese einen
äußerst schnellen Verlauf; an einem Vormittag trat sie auf
und wurde sofort coupiert. (Med.-R. Dr. Rembold.)
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90
Erster Kongreß f. Kinder forschung und Jugendfürsorge.
B. Kennzeichen.
Alle Erkrankungen sind hysterischer Natur — mit
Chorea hysterica. Für die Fälle in Basel und Meißen ist in
Rücksicht auf die Kardinalsymptome und um eine Verwechslung
durch den Namen mit Chorea minor vorzubeugen, der Name
Tremor hystericus gewählt worden. Daß die Erkrankungen
hysterischer Natur sind, geht aus folgendem hervor: i. Durch
Suggestion konnten die Anfälle coupiert oder ausgelöst werden.
2. Nicht alle Funktionen fallen weg. 3. Das Eintreten der An-
fälle läßt sich auf bestimmte Gelegenheitsursachen zurück-
führen. 4. Ueberall ein Mißverhältnis zwischen Ursache und
Wirkung. 5. In fast allen Fällen trat Aura ein. 6. Die Aus-
breitung erfolgte auf dem Wege der Imitation. 7. Der psy-
chische Zustand der Kinder zeigte Depressionen.
Simulation mag wohl mit vorkommen, ist aber nicht
das wesentliche Moment. Bei den Zitterkrankheiten ist
sie ausgeschlossen, wenn man sich nur überlegt, welche Energie
und Muskelanstrengung erforderlich wären, diese Anfälle
minuten- oder stundenlang zu simulieren. Die Kinder baten
auch oft weinend, sie nicht nach Hause zu schicken; sie ver-
suchten, das Zittern durch Setzen auf die Hände zu hemmen,
wobei auch die Rumpfmuskulatur ergriffen wurde.
C. Ursachen.
Dabei sind zu nennen als 1. vorbereitende: a) hereditär
neuropathische Belastung, b) schlechte Ernährungsweise,
c) Blutarmut, Tuberkulose, d) Pubertätsentwicklung ;
als 2. gelegentliche, direkt auslösende: a) viele außerhalb
der Schule liegende (Schreck, Angst usw.), b) in der Schule
durch die gesamte Einrichtung, deren Betrieb, auch die Person
des Lehrers, c) die Ueberbürdung durch die Volksschule. Sie
darf als auslösendes Moment der Nervenleiden — Nervosität
i. e. S. — die ein günstiger Boden für solche Epidemien sind,
nicht übersehen werden.
D. Behandlung.
Hier kommen für den Pädagogen folgende Maßnahmen in
Betracht : 1. Isolierung der erkrankten Kinder. Ob Er-
richtung von Sammelklassen für Zitternde" — Basel — zu
empfehlen ist, ist fraglich. Am besten Unterbringung ins
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Ertter Kongress f. Kinder fortckung und Jugendfürsorge.
91
Krankenhaus. 2. Große Schonung empfiehlt sich im Turnen,
Schreiben, Handarbeiten, Memorieren. 3. Als Hemmung emp-
fehlen sich leichte Freiübungen zu Anfang der Stunde. 4. Weil
aber die Krankheit psychischen Ursprungs ist, wird auch am
zweckmäßigsten psychisch auf die Kinder einzuwirken sein.
„Die Ueberrumpelungsmethode" und „zweckmäßige Nicht-
beachtung" zeigte sich besonders bei Knaben sehr erfolgreich.
5. Ucbertriebene Teilnahme ist nicht am Platze. 6. Strafe
und Schläge verschlimmern die Zustände. 7. Stärkung des
Körpers, Bewegung in frischer Luft.
E. Verhütung.
Für den Pädagogen gibt es zwei Mittel: 1. schnelles, rich-
tiges Erkennen der nervösen Störung. 2. Zweckmäßige Be-
handlung der Kinder im Unterricht.
Für 1 ist zu fordern, daß der Pädagoge alle nervösen
Erscheinungen und alle somatisch krankhaften Zustände der
Kinder wegen ihrer Entstehungsweise und wegen der Möglich-
keit ihrer psychischen Beeinflussung genau kenne und beachte.
Für 2 sind drei Forderungen zur Verhütung der Nervosität
zu erfüllen:
a) Sorge für Beruhigung der Kinder, wodurch das Sicher-
heitsgefühl, ein positiver Gefühlston, erzeugt wird, das über-
strahlt auf alle anderen Vorstellungen.
b) Bewahre das Kind vor Affekten!
c) Härte das Kind im Affektleben ab! (Prof. Ziehen.)
Die öffentliche Schule ist der geeignete Ort für
nervöse Kinder, da der Umgang mit gesunden abhärtet und
schließlich zur Selbstbeherrschung führt.
Bildungsanstalten des Staates, der Provinzen bezw.
Kreise und der Kommunen für Schwachsinnige im
Deutschen Reiche.
Von
Lehrer F. W e i g e 1 , Herausgeber d. „Päd. Zeitfrage", München.
Schon vor 13 Jahren hat Trüper auf die nervenzerrütten-
den Schädigungen von Alkohol, Kaffee und Tee hingewiesen
und auf die in deren Verfolg liegende Gefahr geistiger Minder-
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92
Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
Wertigkeit ; U n i v. - P r o f. D r. S t r üm p e 1 1 hat inzwischen den
Mißbrauch der Verabreichung der genannten Genußmittel an
Kinder als Ursache psychopathischer Erscheinungen aufs
schärfste gegeißelt ; Direktor Dr. H e 1 1 e r verbannte in ernsten
Mahnworten „Russischen Tee und Bohnenkaffee" gleich dem
Alkohol von der Ernährung dieser Kinder; Anstaltsarzt
Dr. Heyn wies in 17,60/0 der Fälle von Schwachsinn Alkohol-
und Kaffeegenuß der Kinder als Ursache nach. Trotz dieser
Waren Verurteilung der Genußmittel in der Ernährung der
Kinder durch die Männer der Wissenschaft wie der Praxis,
und trotzdem wir in Milch, Malzkaffee, Fruchtlimonaden und
einheimischen Teearten besten Ersatz für jene Getränke haben,
wird doch wenig auf diese Verhütungsmaßregel des Schwach-
sinns geachtet. Aehnlich ist es mit dem Schutz der Kinder
vor Kopfverletzungen und mit Verhütung von Mißgriffen
in der geistigen Erziehung. So ist es kein Wunder, daß immer
wieder eine große Zahl von |geistig minderwertigen Kindern
aus der Normalschule ausgewiesen und eigenen Bildungs-
stätten zugeführt werden muß. Deutschland hat gegenwärtig
an solchen Instituten 81 geschlossene Anstalten mit 5219
Schülern, 162 Hilfsschulen für Schwachsinnige mit 14073
Kindern und 22 Städte mit Sonderklassen nach dem Mann-
heimer System. Staats anstalten sind hiervon nur acht ge-
schlossene Anstalten mit 903 Schülern ; P r o v i n z i a l anstalten
sind fünf mit 458; städtisch sind zwei geschlossene An-
stalten mit 251 Schülern. Der größte Teil der Arbeit
bleibtalsoprivaterWohltätigkeit,charitativen
Einrichtungen zu tun. Es ist dies bedauerlich, da
Privatanstalten mit der Schwierigkeit der Gewinnung erster
Lehrkräfte zu rechnen haben, da ferner die finanzielle Fun-
dierung die rechte Ausgestaltung der Bildungsarbeit oft beein-
trächtigen muß, besonders aber, weil die private Hilfe immer
unzureichend bleibt. Trotzdem Bayern allein 17 Anstalten für
diese Kinder besitzt, mußten doch in einem einzigen der acht
Kreise Bayerns nach der Statistik von 1902 über 200 solcher
Unglücklichen unversorgt bleiben. Für Preußen wird diese
Zahl auf ca. 2000 angegeben. Aehnlich wie bei den Taub-
stummen und Blinden müssen daher auch hier Staat und
Provinzen bezw. die Kreise eintreten. Die Städte sind zum
weiteren Ausbau des Hilfsschulwesens verpflichtet.
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Erster Kongres* f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 93
Nach den statistischen Feststellungen könnten etwa 600
deutsche Städte an die Einrichtung von Hilfsklassen gehen;
162 haben den Schritt erst getan. Weiter kommt für große
Städte mit mehrfach parallel aufsteigenden Klassensystemen
die Einrichtung von Sonderklassen im Sinne des Mannheimer
Systems in Betracht. Und kleine Städte, selbst größere Land-
gemeinden sollten als Ersatz der Hüfs- und Sonderklassen
Nachhilfestunden durch Lehrkräfte einrichten lassen,
denen Gelegenheit gegeben wird, sich mit Theorie und Praxis
der Heilpädagogik etwas vertraut zu machen.
Die Beziehungen der Sozialhygiene zu den Problemen
sozialer Erziehung.
Von
F. Loren tz, Berlin.
Bei dem Fortschreiten der Kultur tritt immer mehr das
Bestreben zutage, stets weitere Kreise unseres Volkes zu be-
fähigen zur Anteilnahme an den gemeinsamen Angelegenheiten.
Soll sich die Menschheit entwickeln zur höchsten Blüte, so
muß bereits die Jugenderziehung all ihre Kräfte daran setzen,
ein an Leib und »Seele gesundes und kräftiges Geschlecht
heranzubilden. Zu Kämpfern für die Fortentwicklung der
Kulturwerte will die soziale Pädagogik die Zöglinge heran-
bilden und richtet dabei ihr Hauptaugenmerk auf die Ge-
staltung der WillenJserziehung. Sie findet eine segensreiche
Mithelferin in der Sozialhygiene, welche auch den Schüler be
wahren will vor den gesundheitlichen Schädigungen, welche
die heutige Gesellschaft in ihren Organisationen ausübt. Die
Betonung und Berücksichtigung des sozialen Milieus, in dem
das Kind aufwächst, ist in erzieherischer und hygienischer Hin-
sicht von hoher Bedeutung.
Zahlreich und schwer sind die Schädigungen des Fa-
milienlebens, welche die fortschreitende Zivilisation mit sich
bringt. Die umgeänderten Lohn- und Erwerbsverhältnisse
verfehlen nicht ihren Einfluß auf die Erziehung und Gesund
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94
Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
heit im Elternhause. Das Bestreben der Sozialhygiene, durch
gesetzliche Maßnahmen dahin zu wirken, die Frauen immer
mehr von der Fabrikarbeit auszuschließen ; die vereinte Arbeit
von EJtern, Lehrern und Aerzten zur Durchführung, des
Kinderschutzgesetzes, die Einführung des Haushaltungsunter-
richtes an Mädchenschulen, und vor allem die Schülerspeisun-
gen erscheinen recht geeignet, das gesundheitliche Befinden
nicht nur einer kleinen Schülergemeinde, sondern unseres ge-
samten Volkskörpers zu heben.
Zur Frage der Schulorganisation liefert ebenfalls die Sozial-
hygiene gewichtige Argumente. Die Einrichtungen des Staates
und der Gemeinden zur Erziehung und Ausbildung der geistig
Schwachen und Hilfsbedürftigen müssen sich immer zahl-
reicher gestalten zu notwendigen Aggregaten unseres Volks-
schulkörpers. Besonders die in Mannheim durchgeführte
Schulorganisation des dortigen Stadtschulrats Prof. Dr. Sickin-
ger erweist sich als eine hochbedeutsame sozialhygienische
Institution.
Die Nervosität unseres Zeitalters, sich auch zeigend in
mancherlei krankhaften Störungen bereits unter den Schülern
und Schülerinnen, erfordert zu ihrer Abhilfe der Mitarbeit der
Schule und der Lehrer. Die schon mehrfach geforderte all-
gemeine Volksschule dürfte sich zu einer Einrichtung für die
soziale Wohlfahrt gestalten, besonders, wenn man bedenkt, wie
in unserer heutigen Zeit so manche Schülerpersönlichkeit in
körperlicher und geistiger Hinsicht einem falschen vorgesteck-
ten Bildungsziele durch den Unverstand und die Eitelkeit seiner
Eltern in einer, seinen geistigen Anlagen nicht entsprechenden
Bildungsanstalt geopfert wird.
Zur Abstellung gesundheitlicher Schäden und zur Förde-
rung sanitärer Zustände sind gesetzliche Verordnungen und
Maßnahmen allein niemals ausreichend. Diese müssen von
den weitesten Volkskreisen in ihrer Zweckmäßigkeit erkannt
und von ihnen in verständnisvoller Weise in die Tat umgesetzt
werden. Hier kann bereits die Schule helfen, die durch manche
Voreingenommenheit und Indolenz herabgeminderten sozialen
Lebensbedingungen zu bessern und den Sinn für Gemeinschaft
in die Kinder pflanzen. Dann wird es gelingen, die Volks-
krankheiten zu bekämpfen, und insonderheit auch die am Marke
unseres Volkes zehrende Tuberkulose zu unterdrücken. Ein
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Erster Kongress f. Kinder forachung und Jugend für sorgt.
95
gesundes, kräftiges und fruchtbares Geschlecht wird dann
unserm Volke erwachsen. Dazu muß jedes Glied mit Hand
anlegen, wenn nicht anders „das Staatsschiff unter dem Minier-
verk des Wurmes der depenzierten Volkskraft zugrunde
gehen soll." (Breitung.)
Die soziale Pädagogik erstrebt eine Ausbildung von Gegen-
wartsmenschen, die ihre Kräfte in den Dienst des Ganzen
stellen. Dabei kann sie aber nicht achdos an den Maßnahmen
vorübergehen, welche die gleichfalls auf die soziale Wohlfahrt
hinzielende Sozialhygiene zur Erhaltung der Kollektivgesund-
heit vorgezeichnet hat. Durch die Sozialpädagogik in Gemein-
schaft mit der sozialen Hygiene wird der Geist der Solidari-
tät in die Glieder einer Gemeinschaft gepflanzt zur gedeih-
lichen Fortentwicklung derselben, in wahrer Betätigung des
Pestalozziwortes :
„Nicht mir, sondern den Brüdern,
Nicht der eignen Ichheit, sondern dem Geschlechte!"
Die Taubstumm-Blinden.
Von
G. R i e m a n n , König]. Taubstummenlehrer.
'Der Vortragende weist zunächst darauf hin, daß durch
die Schrift von Heflen Kellers „The story of my life" das
gebildete Publikum mit der Möglichkeit der Ausbildung Drei-
sinniger bekannt geworden sei, hob dann den sonstigen Wen
dieses Buches hervor und kennzeichnete die Verhältnisse, unter
denen Helen Keller eine so gute Ausbildung erlangen konnte.
Er nannte diese so günstigen Verhältnisse treffend „ein Ge-
meinschaftsleben" zwischen Schülerin und Lehrerin.
Darauf beleuchtete er einige Uebertreibungen, die im Anschluß
an das dort Erreichte ausgesprochen wurden und sprach von
den sonst bekannt gewordenen Einzelfällen des Unterrichts
Taubblinder. Als statistisches Material führte er an, daß nach
der vorletzten Zählung in Preußen 215 Taubblinde vorhanden
w *ren, wovon 40 im Alter von 3—20 Jahren standen. Der
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96 Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
Vortragende unterschied drei Kategorien dieser Unglücklichen :
i. Taubblinde von Geburt; 2. Taubblinde, die bei Eintritt der
Katastrophe schon Sprache hatten, diese a,ber auch wieder
verloren und sie nun auf künstliche Weise wieder- oder neu-
erlernen müssen, und 3. Taubblinde, denen die Sprache er-
halten blieb. Die Methode, die beim Unterricht solcher Kinder
angewendet werden muß, stellte er dar, indem er auf den
Unterricht der beiden anwesenden Schülerinnen einging. Die
jüngste Schülerin, Johanna Schlottmann, die im Alter von vier
Jahren nach der Genickstarre ertaubte und erblindete und seit
vorigen Herbst Unterricht hat, konnte schon kleine Sätzchen
im 'Fingeralphabet sprechen und sprach dann auch in der
Lautsprache Laute, Silben und Wörter, die sie bisher durch
das Gefühl wiedererlernt hat. Die zweite Schülerin, Hertha
Schulze, ist 1876 geboren und verlor ebenfalls im vierten
Lebensjahr nach einer Gehirnhautentzündung Gefühl und Ge-
hör. Sie war vollständig taubstumm geworden und hat dann
Unterricht im Fingeralphabet, der Lautsprache und Gebärden-
sprache erhalten, der es ermöglichte, daß sie vor fünf Jahren
konfirmiert wurde. Genaueres über ihren Bildungsgang findet
sich auch im II. Jahrgang unserer Zeitschrift. Sie hatte dies-
mal das Gedicht von Schwab „Das Gewitter" gelernt. Riemann
richtete in der Gebärdensprache auf den Inhalt gehende
Fragen an die Schülerin, die von dieser in der Lautsprache
beantwortet wurden. Die Antworten zeigten, daß H. Schulze
volles Verständnis für die Sache hatte. Der Kürze der Zeit
wegen mußte sich der Vortragende auf die pädagogische Be-
handlung der Kinder beschränken, empfahl aber für psycho-
logische Fragen seine 1 ) und andere Schriften über diesen
Gegenstand. Besonders hob Riemann noch hervor, wie wich-
tig eine Spezialanstal t für solche Kinder sei und teilte mit, daß
am 2. Juli v. J. eine solche in Nowawes bei Potsdam geweiht
werden konnte, deren Entstehen dem lebhaften Eintreten des
Herrn Landesdirektor, Exzellenz, Freiherrn v. Manteuffel und
des Herrn Landessyndikus Gerhard für eine solche Spezial-
an st alt zu danken ist. Man hofft, daß nach dem Vorbilde
*) G. Riemann, Taubstumm und blind zugleich. (Wiegandt u. Grüben -
Berlin.) 1,50 M. Psychologische Studien an Taubstumm-Blinden. (Fröhlich-
Berlin NO.) j M.
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Erster Kongrus f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 97
der Provinz Brandenburg auch bald andere Provinzen eine
geregelte Unterstützung der Anstalt zusagen werden. Riemann
schloß seine Ausführungen mit einem warmen Appell an alle
Anwesenden, mit dafür zu sorgen, daß alle Taubstumm-Blinden
ein menschenwürdiges Dasein und besonders ein menschen-
würdiges Wissen unjd Denken gesichert werde.
-
Die soziale Fürsorge für sprachgestörte Kinder.
Von
H. Gutzmann.
Der Vortragende berechnet die Gesamtzahl der stotternden
Schulkinder im Deutschen Reiche auf nahezu iooooo,, d. h.
au f i°/o aller Schulkinder, ein Resultat, das auch in anderen
Landern durch statistische Erhebungen sich ergeben hat, so
in Dänemark, in Ungarn, in Nordamerika, in Belgien. Unter
den Erwachsenen nimmt der Verfasser bei den Frauen
°»025o/ 0 und bei den Männern 0,2250/0 Stotternde an, so daß
auf iooo erwachsene Männer mindestens 2,25 Stotterer
kommen; das ergibt, da wegen schweren Stotterns eine Ein-
stellung in das Heer nicht erfolgen kann, \für Deutschland
jährlich wenigstens 1000 Mann, die nur wegen Stotterns
dienstuntauglich sind. Aber nicht allein die Diensttauglich-
st, sondern fast alle Berufe erfordern eine normale Sprache ;
ist der Grund, weswegen seit ungefähr 20 Jahren in
Deutschland von den Gemeinden und Behörden Einrichtungen
Stoffen sind, um bereits in der Schule das Stottern zu be-
kämpfen. Vortragender gibt einen Ueberblick über die Ein-
richtung dieser in Deutschland zuerst eingeführten Schulkurse
Un d ihre Resultate, weist aber darauf hin, daß in andern
Staaten eine einheitlichere Organisierung der Fürsorge für
s P r achgestörte Kinder getroffen ist, so besonders in Dänemark
Un d in Ungarni JDer Vortragende hält die einheitliche
Leitung der gesamten Fürsorgeeinrichtungen für die sprach-
fcestörten Kinder auch für Deutschland oder wenigstens für
die einzelnen Bundesstaaten für erstrebenswert, ferner schlägt
^«iUchrift für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiooo. 7
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98 Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
er vor, daß eine systematische Bekämpfung besonders des
Stotterns, aber auch der Aussprachefehler bereits in den Kinder-
gärten eintreten solle, also in der vorschulpflichtigen Zeit, damit
das Kind jnit einer normalen Sprache in die unterste Schul-
klasse eintrete. Anfänge, diese Vorschläge zu verwirklichen,
sind bereits in Frankfurt a. M. gemacht worden. Auch die
Schuleinrichtungen selbst könnten größere und dauernde Er-
folge erzielen, fo-enn nicht nur einzelne Lehrer mit dein
Wesen und der Behandlung der Sprachstörungen vertraut ge-
macht würden, sondern, wenn bereits auf dem, Seminar alle
zukünftigen Volksschullehrer diese Unterweisung erhielten.
Vortragender wünscht flaher, daß bereits auf den Seminaricn
Vorträge über Sprachstörungen, ihre Entstehung, Verhütung
und schulgemäße Bekämpfung gehalten würden, daß die
Lehrer dort über die Grundsätze der Sprachphysiologie aus-
führlicher instruiert würden. Auf diese Weise würden sie ein
besseres Verständnis für die so häufig in der Schule auf-
tretenden Sprachhemmungen bekommen. Dazu würde es ge-
nügen, wenn für diesen Zweck geeignete Seminarlehrer an ein
Zentrum, z. B. an die Universität Berlin für gewisse Zeit ab-
kommandiert würden, wo sie für ihre Seminarvorträge in einem
längeren Kursus vorbereitet würden. Ebenso sollten auch die
Lehrer der höheren Schule auf der Universität diesen Teil
der pädagogischen Pathologie kennen lernen; endlich sollten
die sprachgestörten Kinder in Rücksicht auf die meist neuro-
pathologische Basis ihres Uebels besonders bei der Auswahl
zu Ferienkolonien berücksichtigt werden. In Berlin besteht
ein besonderer Verein dafür, stotternde Kinder in die Ferien-
kolonien zu schicken. Aeußerst wichtig wäre schließlich die
Durchführung einer allgemeinen Statistik der Sprachstörungen
wenigstens für die Schulkinder. Erst eine sorgsame allgemeine,
einheitlich durchgeführte Statistik wird auch die Fürsorge für
die sprachgestörten Kinder allgemein machen. Vortragender
schließt seine Ausführungen mit folgenden Schlußsätzen: Da
die Sprachstörungen eine hervorragende soziale Schädigung
ausmachen, so müssen die öffentlichen und privaten Maß-
nahmen gegen die Verbreitung derselben weit mehr ausge-
dehnt werden. Nur in gemeinschaftlicher Tätigkeit von Lehrer
und Arzt kajin das erwünschte Ziel erreicht werden. Dazu
hat sich einerseits die Ausbildung des Lehrers auf dem Seminar
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Erster Kongrens f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
99
auch auf Sprachphysiologie, Sprachhygiene und Sprachstörun-
gen der Schulkinder zu erstrecken, andererseits muß dem
Arzte während und nach seiner Studienzeit Gelegenheit ge-
boten werden, sich hierin möglichst ausführlich zu instruieren ;
ganz besonders der Schularzt muß auf diesem Gebiete um-
fassende Kenntnisse besitzen; dazu ist es notwendig, daß eine
zentrale Einrichtung in Form eines staatlichen Ambulatoriums
für Sprachstörungen geschaffen wird. Endlich ist eine all-
gemeine und gleichartige Statistik über das Vorkommen der
einzelnen Sprachstörungen im Deutschen Reiche anzustreben;
die dazu nötigen vorbereitenden Schritte müssen von einer
aus Aerzten und Schulmännern gleichmäßig zu bildenden Kom-
mission beraten werden.
Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906.
Von
Theodor Fritzsch.
I. Allgemeines.
Staaten, Landschaften, Städte.
Allgemeine üeberblicke über die wichtigsten Veröffent-
lichungen in unserem Gebiete geben die „Mitteilungen der
Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte",
die sich unter Alfred Heubaums umsichtiger Leitung zu
einem Sammel- und Mittelpunkte aller jener Bestrebungen ent-
wickelt haben, die in den Ländern deutscher Zunge auf Durch-
forschung der Erziehungs-, Unterrichts- und Schulgeschichte
gerichtet sind. In dem sechzehnten Jahrgang findet sich ein
fortlaufender „Jahresbericht" in folgender Verteilung: I. Das
Mittelalter (Richard Galle, S. soff.). II. Das Zeitalter
des Humanismus (Rudolf Wolkan, S. 70 ff.). III. Die
Reformationszeit (Georg Mertz, S. 89 ff.). IV. Die Neu-
zeit (Alfred Heubaum, S. 170 ff). V. Geschichte der
deutschen Universitäten (Hermann Michel, S. 278 ff.).
VI. Geschichte der höheren Schulen (M artin Wehrmann,
S. 333 ff.). VII. Geschichte der Volksschule und Lehrerbildung
(Eduard Clausnitzer, S. 347 ff.). — Ueber die
Programme und Dissertationen gibt schnelle und sichere
Nachricht der „Bibliographische Monatsbericht über neu er-
schienene Schul- und Universitätsschriften" (Dissertationen, Pro-
grammabhandlungen, Habilitationsschriften usw.). Unter Mit-
wirkung und mit Unterstützung mehrerer Universitätsbehörden
herausgegeben von der Zentralstelle für Dissertationen und
Programme der Buchhandlung Gustav Fock G. m. b.
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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906.
101
in Leipzig. Seit 1889 erscheinen jährlich 12 Nummern (über
200 S. 8 °, 3,50 Mk.) mit einem systematischen Sachregister,
welches den Gebrauch wesentlich erleichtert. In den ersten
16 Jährgängen sind nicht weniger als 62713 Abhandlungpen
verzeichnet. Pädagogische Abhandlungen enthält der 16. Jahr-
gang: 227. — Ein systematisch geordnetes Verzeichnis der
österreichischen Mittelschulen, in dem auch sehr viel Material
zur Geschichte der Pädagogik steckt, hat Josef Bittner, k. k.
Professor am II. Staats-Gymnasium in Czernowitz, zusammen-
gestellt. (III. Teil: Die Arbeiten aus den Jahren 1890— 1905
enthaltend. Selbstverlag. 175 u. 27 S. 8°.) — Von dem be-
kannten Soziologen und Pädagogen an der Leipziger Universi-
tät, Paul Barth, ist ein Buch erschienen, das sich betitelt:
„Die Elemente der Erziehungs- und Unterrichtslehrc. Auf
Grund der Psychologie der Gegenwart dargestellt." (Leipzig,
Ambr. Barth XII u. 516 S. 8°, 7,20 M.) Wenn es auch
nicht unmittelbar in diesen Bericht gehört, so muß es doch
an dieser Stelle erwähnt werden, weil das Buch außerordent-
lich viel wertvolles geschichtliches Material enthält, so daß
man ihm den Untertitel geben könnte : „Auf historischer und
psychologischer Grundlage dargestellt." Gerade dies fort-
gesetzte Bezugnehmen auf die Vergangenheit bedeutet einen
großen Vorzug des Buches in einer Zeit, wo man das, was
die Pädagogik bisher geleistet hat, für nichts achtet und alles
Heil vom Experiment erwartet. In der Einleitung werden Be-
griff und Ziel der Erziehung, Psychologie und Ethik als Grund-
lagen der Erziehungs- und Unterrichtslehre und die Macht
der Erziehung behandelt. Die allgemeine Erziehungslehre zer-
fällt in Bildung des Willens und Bildung des Gefühls. Die
allgemeine Unterrichtslehre oder Bildung des Geistes zeigt die
psychologischen Bedingungen eines erfolgreichen Unterrichts
(Anschauung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Urteil, Fertig-
keiten) und die organisatorischen Bedingungen des Unterrichtes
(Lehrplan und Lehrgang). Die spezielle Erziehungs- und Unter-
richtslehrc bildet den zweiten Hauptteil des Buches, in dem
bei Behandlung der einzelnen Fächer die Literatur bis in die
jüngste Zeit hinein sorgfältig benützt worden ist. Wie geschickt
Barth geschichtliche Stoffe zu verwerten weiß, sei an einem
Beispiele gezeigt. In dem Kapitel über „Die Macht der Er-
ziehung" gibt er zunächst in einer geschichtlichen Uebersicht
Digitized by Google
102
Theodor Fritzseh.
die Ansichten der führenden Geister über diesen Punkt von
den Tagen des Altertums bis in die jüngste Zeit wieder, charak-
terisiert sodann den Standpunkt der Gegenwart und schließt
mit folgenden Worten : „Diese drei Klassen von Tatsachen :
die Umwandlung der tierischen Instinkte, die Wirkungen der
Suggestion sowohl im pathologischen wie im normalen Zustande,
und die Erfolge an geistig' und sittlich minderwertigen Kindern
sind geeignet, das Vertrauen zur Macht der Erziehung wieder-
herzustellen. Und so findet es sich auch hier, daß die Größen
der Menschheit trotz allem Wandel der Anschauungen im
großen und ganzen recht behalten. Sokrates, Plato, Aristoteles,
Leibniz, Kant haben doch tiefer gesehen als Schopenhauer,
Zola und Ibsen." (S. 29.) Barth stützt sich aber nicht allein auf
die Vergangenheit : sein Buch baut sich auch mit den Mitteln des
modernen Denkens auf. Die Fortschritte der Psychologie sind
überall herangezogen und genügend verwertet worden. Ver-
wiesen sei da besonders auf die Kapitel Aufmerksamkeit und
Gedächtnis. Barth bespricht z. B.' die Beeinflussung der höhern
Zentren durch Gifte, die Ermüdung, ihre Messung und Be-
kämpfung, die Vermeidung der Ermüdung; beim mechanischen
Memorieren behandelt er den Einfluß der Länge der Reihen,
Erlernen und Behalten, die Folge der Glieder einer Reihe, die
rhythmische Gliederung der Reihen, die Qualität des Memo-
rierstoffs, das komplikative Gedächtnis, den Einfluß der Uebung
auf das Gedächtnis. Außer der modernen Psychologie ist auch
die jüngste Wissenschaft, die Soziologie, zu Rate gezogen
worden, soweit sie bisher sichere Ergebnisse geliefert hat. Be-
sonders muß auch hervorgehoben werden, daß Barth bei Ab-
fassung seines Buches alle Arten der Schulen im Auge gehabt
hat. Er widmet es allen „Arbeitern an der Menschenbildung,
Künstlern mit dem Willen und dem Geiste — in der Hoffnung,
daß sie, was an der Theorie etwa unvollkommen oder unvoll-
ständig ist, aus den Eingebungen ihrer Erfahrung ergänzen
werden". Doch findet auch die Praxis ihre Rechnung. Aus-
gezeichnet in Form wie im Inhalt ist z. B. die Darstellung
der Herbart-Zillerschen Formalstufen S. 303—323. Aeußerst
scharfsinnig weist er hier u. a. nach, daß der Aufbau der
Schillerschen Abhandlung über „Anmut und Würde" der Folge
der formalen Stufen entspricht. Volles Lob verdienen auch
die beiden ausgeführten Lehrbeispiele. Der Praxis vermögen
• • ** 1 • - -
• V • • • • " "
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Die Geschichte der Pädagogik im JaJire 1D0<L
103
ferner die nach seiner Anweisung gefertigten Geschichtstabellen
gute Dienste zu leisten. Bei der Fülle des gebotenen Stoffes
ist es natürlich schwer, einzelnes herauszugreifen, anderseits
ist es selbstverständlich, daß man in manchem anderer An-
sicht sein kann. Hier möge dieser kurze Hinweis genügen, das
vortref fliehe Buch uneingeschränkt zu empfehlen. Keiner wird
es ohne Gewinn studieren. Möchte es nur recht viele Leser
finden! Die Geschichte der Pädagogik, die der gelehrte
Verfasser schon früher vom soziologischen Standpunkt aus be-
leuchtet hat (s. Bericht des Vorjahres!), soll nun von ihm in
einem größeren Werke dargestellt werden, das besonders die
Wechselbeziehungen der Erziehung zu den Veränderungen der
Gesellschaft verfolgen will. Hoffentlich geschieht dies recht
bald! — Als Jubiläumsgabe ist zu betrachten das ioo. Bänd-
chen der Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Dar-
stellungen aus allen Gebieten des Wissens „Aus Natur und
Geisteswelt" :FriedrichPaulsen, Das deutsche Bildungs-
wesen in seiner geschichtlichen Entwicklung.
(Leipzig, B. G. Teubner. IV u. 192 S. 8°, geh. 1 Mk., geb.
1,25 Mk.) Einer Empfehlung bedarf das Büchlein nicht, Paul-
sens Name genügt, ihm weiteste Verbreitung zu verschaffen.
Es seien nur aus dem Vorwort einige Sätze herausgehoben:
Eine solche Skizze hat den Vorteil, „daß sie die großen Richt-
linien der Bewegung schärfer hervortreten läßt, zugleich drängt
sie dahin, den Blick vorwärts zu wenden und jene Richtlinien
in die Zukunft zu verlängern. Vielleicht gelingt es auf diese
Weise, die Geschichte des Bildungswesens, die so leicht in
uferlose Breite oder in ziellose Ausgraberei sich verliert, in den
Dienst der Bildungspolitik der Gegenwart zu bringen. Daß
bei dieser Fassung der Aufgabe die Darstellung über die
früheren Zeiten rascher hinweggeht, mit der Annäherung an
die Gegenwart an Ausführlichkeit gewinnt, wird nicht miß-
billigt werden." — In der Sammlung Göschen (Leipzig,
G. J. Göschen) ist als No. 275 und 276 ^herausgekommen :
Friedrich Seiler, Geschichte des deutschen
Unterrichts wesens. I. Bändchen : Von Anfang an bis
zum Ende des 18. Jahrhunderts. (1 16 S. 8°, geb. 80 Pf.) II. Bänd-
chen: Vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart.
O20 S. 8°, geb. 80 Pf.) Die Büchlein sind geeignet, schnell
und gut über die Schulen und Schulkämpfe der Gegen-
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Theodor Fritzsdt.
wart zu orientieren. — In derselben Sammlung ist in
zweiter Auflage erschienen No. 14$: H. Weimer, Ge-
schichte der Pädagogik. (148 S. 8°, 80 Pfennig). —
Seitdem die preußischen Bestimmungen verlangen, daß
die Hauptwerke der pädagogischen Literatur ganz oder
in den wichtigsten Abschnitten zu lesen sind, sind eine ganze
Reihe von Lesebüchern zur Geschichte der Päda-
gogik entstanden, so z. B. : „Lesebuch zur Geschichte der
Pädagogik. Zunächst für Seminarzöglinge sowie für Lehrer
und Lehrerinnen. Herausgegeben von Karl Kretschmer."
(Habelschwerdt, Franke [J. Wolf], 528 S. gr. 8°, 5 Mk., geb.
5,75 Mk.) Wenn es im Vorwort dieses Buches heißt: „Nun
macht aber die Beschaffung der nötigen Quellenschriften wegen
der hohep Kosten erfahrungsgemäß nicht geringe Umstände/ 4
so muß darauf hingewiesen werden, daß dies neuerdings, seit-
dem eine Anzahl pädagogischer Quellenschriften bei Reclam
erschienen sind, nur zum Teil zutrifft. — In zweiter Auflage
liegt vor : Jos. Schiffeis, Auswahl pädagogischer Klassiker. Aus-
führliche Inhaltsangabe pädagogischer Quellenschriften nebst
vielen wörtlich angeführten Kernstellen. Ein Lesebuch für
die Geschichte der Pädagogik. (Paderborn, Ferdinand Schö-
ningh, IV u. 421 $. 8°, 3,60 Mk.) Das Buch ist das erste dieser
Art auf katholischer Seite. — In sechster Auflage ist erschienen :
„K. Heil mann, Handbuch der Pädagogik. III. Band. Ge-
schichte der Pädagogik. Mit Abbildungen und Kartenskizzen.*'
(Leipzig, Dürr. 335 S. gr. 8°. Geh. 4 Mk., geb. 4,60 Mk.) Zu
diesem Buche ist auch ein Wiederholungsbuch erschienen:
„Tabelle der Geschichte der Pädagogik" von K. Heilmann.
(Leipzig, Dürr, 54 S. 8°, geb. 1 Mk.) Ob sich solche Tabellen
die Schüler nicht besser selbst anfertigen ? — Endlich ist auch
zu erwähnen: „Schorns Geschichte der Pädagogik in Vor-
bildern und Bildern." 23. Auflage, bearbeitet von Friedrich
von Werder. (Leipzig, Dürr, 525 S. gr. 8°, 4,60 Mk.) —
Der Verlag von C. Bertelsmann in Gütersloh bringt in vierter
Auflage : O. Fischer, Leben, Schriften und Bedeutung der
wichtigsten Pädagogen bis zum Tode Pestalozzis übersichtlich
dargestellt. Ein Hilfsbuch für Examinanden. Vierte Auflage
bearbeitet von R. Schulz. VII u. 226 S. 8°, 3 M., geb. 3,50 M.)
„Dieses Buch ist für Lehrer bestimmt, die sich auf das zweite
Examen nach den norddeutschen Bestimmungen vorzubereiten
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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906.
105
haben, wird aber auch an Seminaren benutzt. Verfasser be-
handelt die bedeutenderen Pädagogen des Altertums, der
Griechen und Römer, sodann die christlichen vor und nach
Karl dem Großen und schließt mit Pestalozzi. In gedrängter
Kürze wird deren Leben dargestellt, ihre Schriften und ihr
Wirken nach den Anschauungen der Neuzeit auf ihren Wert
geprüft, auch der Schattenseiten wird gedacht, und so den
Kandidaten ein übersichtliches Bild vermittelt." Als Fort-
setzung des Fischerschen Buches ist zu nennen: R. Schulz,
Leben, Schriften und Bedeutung der wichtigsten Pädagogen
des neunzehnten Jahrhunderts übersichtlich dargestellt. Ein
Hiifsbuch für Examinanden. Mit einem Plan für einen
.Mustervolkskindergarten. (VI u. 296 S. 8°, 3,50 M., geb. 4M.) —
Von den interessanten „kleinen Beiträgen zur Ge-
schichte der Pädagogik", die der verdienstvolle Leiter
des Berliner Schulmuseums, A. Rebhuhn, in der literarischen
Beilage zur Pädagogischen Zeitung gibt, sind diesmal zu er-
wähnen: 1. Bildliche Darstellungen aus dem Gebiete der Er-
ziehung (1906, No. 3). 2. Karrikaturen aus dem Schulleben
(«906, No. 9). 3. Denkmünzen (1906, No. n u. 12). Die beiden
ersten Aufsätze bringen ein Verzeichnis der bildlichen Dar-
stellungen, die sich in den „Monographien zur deutschen
Kulturgeschichte" nicht finden, die aber im deutschen Schul-
museum aufbewahrt werden. Die Zusammenstellung der Denk-
münzen, die sich auf die Schul- und Erziehungsgeschichte be-
ziehen, gibt zugleich eine dankenswerte Anregung, dieses stark
vernachlässigte Gebiet in Angriff zu nehmen. — „Beiträge zur
Geschichte des Lehrerstandes" nennt sich bescheiden ein
hochbedeutsames Werk von Wohlrabe, welches bereits in
dritter Auflage vorliegt und unter dem Titel erschienen ist:
»Der Lehrer in der Literatur." (Osterwieck a. Harz, A. W.
Zickfeldt, XVI u. 563 S. 8<>, elegant geb. 5,50 Mk.) In drei
Abteilungen — Biographisches, Romanliteratur, Dramatisches
- läßt der Verfasser über 50 Dichter und Schriftsteller mit
ungefähr 100 ihrer Geistesprodukte zu Worte kommen, um
zu zeigen, welche Einschätzung dem Lehrerstand in alter und
neuer Zeit zu teil geworden ist. In einleitenden und verbinden-
den Worten wird das Notwendigste zur Orientierung mitgeteilt.
So ist wirklich ein pädagogisches Lesebuch aus der klassischen
und schönen Literatur gewonnen worden, wie es in unserer
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106
Theodor Fritzach.
Literatur einzig dasteht. Es wird zugleich der Unterhaltung
und Belehrung dienen, da es auch dem Forscher auf dem
Gebiete der Geschichte der Pädagogik vieles Neue und Inter-
essante bietet. — In der Zeitschrift für Bücherfreunde (1906/07,
S. 114 ff.) würdigt Hans Schmidtkunz die Bedeutung der Co-
menius-ßibliothek, die in Leipzig ein eigenes Heim erhalten
hat, in dem Aufsatze: „Pädagogisches Buchwesen." — Von
Karl Langes klassischem Buche: „Ueber Apperzep-
tion. Eine psychologisch-pädagogische Monographie," ist die
neunte Auflage erschienen. (Leipzig, R. Voigtlaender, 257 S.
8°, geheftet 3 Mk., geb. 3,60 Mk.) Das Werk, das bereits in
mehrere fremde Sprachen übersetzt worden ist, hat in dem
Abschnitte über die formalen Stufen des Unterrichts erheb-
liche Aenderungen und Zusätze erfahren.
Staaten, Landschaften. Die „Pädagogischen Zeit-
fragen", eine Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete
der Erziehung, herausgegeben von Franz Weigl, bringen
als Heft 7 eine Jubiläumsgabe von dem Herausgeber: „Die
Schulzustände Bayerns bei seiner Erhebung zum Königreich."
(München, J. J. Lentner, E. Stahl jun. 64 S. 8°. 80 Pfg.) —
P. Schramm veröffentlicht in der Bayrischen Lehrerzeitung
(1906, 1 — 4) einen Aufsatz über „Die bayerische Volks-
schule unter den Königen Bayerns." — „Das Schul-
wesen im Fürstentum Corvey unter oranischer Herrschaft
1803— 1807 behandelt Schumacher in einem Programm.
(Höxter a. d. W., 21 S. 4 0 .) — G. Zipp hat zum Gegenstand
einer Tübinger Dissertation gewählt: „Die Entwicklung des
französischen Volksschulwesens in den letzten beiden Jahr-
zehnten." (1905. 61 S. 8°.) — Heinrich Theodor
Kimpel, Geschichte des hessischen Volksschul-
wesens von seinen ersten Anfängen bis zum Jahre 1800.
(Kassel, R. Röttger, VII u. 380 S. 8°, geb. 4 Mk.) Das Buch
ist als Vorband zu einer Geschichte des hessischen Volksschul-
wesens im neunzehnten Jahrhundert gedacht. Das gesamte
Werk soll das Werden und Wachsen, die Leiden und Freuden
der hessischen Volksschule und des hessischen Volksschul-
lehrerstandes schildern. Verfasser hat viel Material herbei-
geschafft und vieles davon zum ersten Male veröffentlicht.
Auch hier zeigt sich wie anderwärts: Die Anfänge des Volks-
schulwesens geben Zeugnis von Verkennung und Mißachtung.
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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906. 107
Erst das staatliche Eingreifen bringt Besserung in den Schul-
verhältnissen. Wenn auch der Verfasser, wie er selbst her-
vorhebt, nur Teilarbeit leisten konnte, weil das Material noch
nicht genügend vorhanden war, so ist es ihm doch gelungen,
eine schöne Vorarbeit zu liefern. Hoffentlich folgen recht viele
seiner Aufforderung : „Man wird jeder einzelnen Schul-
stelle von ihren ersten Anfängen an nachgehen müssen. Zu
solcher Arbeit aber gehören die Kräfte vieler I" — Beiträge
zur hessischen Schul- und Universitätsgeschichte. Im Auftrage
der Gruppe Hessen, der Gesellschaft für deutsche Erziehungs-
und Schulgeschichte, herausgegeben von W. D i e h 1 u. A.
Messer. (Gießen, Emil Roth. 127 S. 8°.) Band I, 1. Heft
enthält folgende Aufsätze: 1. Beiträge zur Geschichte des
mittelalterlichen Erziehungs- und Unterrichtswesen in den
linksrheinischen Gebieten der ehemaligen Bistümer Mainz und
Worms von Franz Falk. 2. Stärke und Zusammensetzung
der Studentenschaft in der Frühzeit der Universität Gießen
(1607—1624) von Wilhelm Martin Becker. 3. Beiträge
z ur Schulgeschichte der Pfälzer Aemter Starkenburg, Groß-
Umstadt und Oetzberg aus den Kompetenzbüchern von 1 $66,
•595» 1605 und lo °8 von Wilhelm Diehl. 4. Kleinere Mit-
teilungen von Wilhelm Diehl: a) Ein Gutachten über die
Nebenbeschäftigungen von Schulmeistern aus der Zeit um 1675.
b) Eine poetische Meldung um Versetzung 1743. c) Protokoll
einer Vernehmung Fr. Chr. Laukhardts über die Gießner Stu-
dentenorden 1792. d) Stimmen der Väter. — „Das Volksschul-
wc sen in Mark und Cleve unter Steins Verwaltung (1787
bis 1804)" behandelt Wilhelm Meiner in den „Mitteilungen
der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 4 '.
('G. Jahrg., S. 113—130.) — Heft XVII der „Schriften des
Vereins für Geschichte der Neumark" bringt eine Arbeit von
Pa ul Schwartz über „Die neumärkischen Schulen am
Ausgang des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts".
(Landsberg a. W. 1905 in Kommission bei Fr. Schaeffer & Co.
Ogoleit & H. Scharf J, 221 S. 8<>.) Schwartz behandelt auf
r,r und urkundlichen Materials erst die Stadt- und Landschulen,
s °dann die Beschaffung der Geldmittel zur Besserung des
Schulwesens, ferner die Abiturientenprüfungen von 1789 bis
endlich das Schullehrerseminar in Züllichau. Ein Anhang
^ngt eine Anzahl von Nachweisen, wovon in unseren Tagen
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Theodor Frittsch.
besonders die Verhältnisse der an Preußen gefallenen pol-
nischen Provinzen interessieren. — In der Statistischen Bei-
lage zur Pädagogischen Zeitung (Febr. 1906, No. 2) teilt Fr.
Wienecke „Preußische Schulstatistiken aus alter Zeit" mit. Es
sind die Durchschnittseinkommen und Stellenzahlen an Stadt-
und Landschulen von 1787 und 181 9. — P. Machule be-
handelt in einer Programmarbeit : „Die Entwicklung des öffent-
lichen Schulwesens der alten Provinzen des preußischen Staates
von 1 8 1 6 — 1901. Statistische und andere Notizen." (Teil I.
Ratibor 1906. 24 S. 4 0 mit einer Tabelle.) — Beiheft 12 zu
den Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und
Schulgeschichte, herausgegeben von der Gruppe Schweiz,
bringt: „Die bernische Schulordnung von 1591 und ihre Er-
läuterungen und Zusätze bis 1616" von Adolf Fluri. (Berlin,
A. Hofmann & Komp. 71 S. 8°, 1,20 Mk.) — Beiheft 11 zu
den Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und
Schulgeschichte, herausgegeben von der Gruppe Württemberg,
enthält: 1. Julius Brügel: Die Gruppe Württemberg. 2. J.
Eitle: Die einstigen Klosterschulen und jetzigen niederen
evang.-theologischen Seminarien in Württemberg. 3. Emil
Schott: Gedruckte Quellen zur Geschichte des höheren Schul-
wesens in Württemberg. 4. F. Raunecker: Einige Fälle
von Disziplinaruntersuchungen gegen Lehrer an württember-
gischen Gelehrtenschulen aus dem 18. Jahrhundert. 5. Eugen
Schmid: Das württembergische Volksschulwesen im 16. Jahr-
hundert. (Berlin, A. Hof mann & Komp., IV u. 144 S. 8°,
3 Mk.) — Raunecker gibt in einer Programmarbeit „Bei-
träge zur Geschichte des Gelehrtenschulwesens in Württem-
berg im 17. und 18. Jahrhundert". (Teil I. 1905. 77 S. 8°.) —
Städte. Als Band XXXV der Monumenta Germaniae Paeda-
gogica ist bei A. Hofmann & Komp. in Berlin erschienen:
G i 1 o w , Dr. Herrn., Das Berliner Handelsschulwesen
des 18. Jahrhunderts im Zusammenhange mit den
pädagogischen Bestrebungen seiner Zeit dar-
gestellt (XII u. 341 S., 10 M.) Ein Werk von grundlegender
und symptomatischer Bedeutung! Letzteres wegen des Zu-
sammenhangs, in welchem das Buch erschienen ist. Es ist
hocherfreulich und für die Zukunft verheißungsvoll, daß aucli
Fragen der Facherziehung in den monumentis Germ, paed., den
vornehmsten pädagogischen Publikationen, eine Stätte gefunden
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Die Guchichie der Pädagogik im Jahre 1906. 109
haben und damit für die päd. i Wissenschaft gewissermaßen hof-
fähig geworden sind. Verdienstlich ist ferner, daß der Ver-
fasser in breitestem Umfange nachgewiesen und gezeigt hat,
von welch* hervorragendem Einflüsse eine pädagogische
Strömung, hier der Philanthropinismus, auf die Entwicklung
des Handelsschulwesens gewesen ist. Das ist um so erfreulicher
und von großem praktischen Werte, als in der Folgezeit bis in
unsere Tage herein, leider gefördert durch die Gleichgültigkeit
der Pädagogen, für diese Fragen die Auffassung vorherrschte,
die in Handelsschulen lediglich ein Mittel der Gewerbeförderung
sah. Durch Arbeiten wie die vorliegende können alle die er-
mutigt werden, die auch im Fachschulwesen einen organischen
Bestandteil des gesamten Erziehungswerkes sehen. Die
.nahe bevorstehende" Eröffnung der Berliner Handelshoch-
schule (Oktober 1906) gibt dem Verfasser Anlaß, nach den
Anfängen des kaufmännischen Unterrichtswesens in der
Reichshauptstadt zu forschen. Auf Grund eines ausgedehnten
gründlichen Quellen- und Archivstudiums zeichnet er ein an-
schauliches Bild der damaligen Verhältnisse, nicht nur des
lokalen Berlins, sondern des deutschen Handelsschulwesens in
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts überhaupt. Damit
erhebt er das Buch zur wichtigsten Quellenschrift für die Ge-
schichte des deutschen Handelsschulwesens. Es gebührt ihm
das Verdienst, neben Männern wie Zieger u. a., bis jetzt am
meisten dieses dunkle Gebiet erhellt zu 'Jiaben. Das Berliner
Handelsschulwesen des 18. Jahrhunderts, wie das Deutschlands
überhaupt, ist charakterisiert durch den Einfluß des Merkantilis-
mus und des Philanthropinismus, einer wirtschaftlichen und
einer pädagogischen Strömung. Jener, auf unserm Gebiete ver-
treten durch einen Marperger u. a., fand seinen Ausdruck
in der Idee der Realschule. Deshalb behandelt der Verfasser
im i. Abschnitt des 1. Kapitels (S. S. 15 — 45) den handelswissen-
schaftlichen Unterricht in der Realschule J. J. Heckers, „als Be-
standteil des Lehrplans einer Universalschule" unter diesem
selbst (1747 — 68, S. 15 — 39), seinem Nachfolger Silberschlag
(1768—84, S. 35—45) und des Stifters Neffen A. J. Hecker
(1784—1819), unter dem die reale Abteilung der Anstalt immer
mehr zurückgeht. Bedeutungsvoller war der Einfluß des
Philanthropinismus. In dessen Charakteristik des Verfassers
kommen auch einige wohl ungerechte, wenn auch allgemein ver-
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Theodor Fritzach.
breitete Urteile über diesen vor, z. B. über die „Unterschätzung
der idealen Momente des Lebens". Die direkte Verbindung
zwischen Merkantilismus und Philanthropinismus wird herge-
stellt durch die Bekanntschaft Basedows mit Büsch, dem Be-
gründer der ersten deutschen eigentlichen Handelsschule in
Hamburg (1768), der ihm Wolke zuführt. (S. 48). In Dessau
finden kaufmännische Disziplinen eine Stätte. G. weist nach,
daß dabei „vier nacheinander in Geltung gewesene Formen
des Gesamtlehrplans der Anstalt zu berücksichtigen sind."
(S. 50). Einer der Dessauer Lehrer für Handelswissenschaften
war J. M. Fr. Schulz, der der Begründer der Berliner
Handelsschule .werden sollte. Ein deutliches Bild dieser
interessanten Persönlichkeit gezeichnet zu haben, ist ein be-
sonderes Verdienst Gilows. Geboren 1753 in der Priegnitz,
kam er schon 1760 nach Berlin, gehörte 1765—71 der Hecker-
schen Realschule an, bezog 1771 die Universität Halle, wirkte
einige Jahre als Lehrer in Halle, als Schriftsteller in Berlin,
und wurde 1780 nach Dessau berufen, wo er bis 1791 blieb. Er
übernimmt dort bald die Handelswissenschaften, knüpft aber
ebenso bald Verbindungen mit Berlin wegen Errichtung
eines Handelsinstituts an. Am 4. Mai 1791 wird die
„Berlinische Handlungsschule" eröffnet. Sie bestand bis
1803. Die Darstellung ihrer äußeren und inneren Ver-
fassung und ihrer Entwicklung nimmt den größten
Teil des Buches ein. (S. 93—184). An dieser Stelle
kann darauf nicht weiter eingegangen werden. Widrige
Umstände allgemeiner und persönlicher Art brachten die
Anstalt nach und nach zurück. Nach jahrelangen Verhand-
lungen (G. S. 187 — 199) kam im Januar 1803 die Umwandlung
der Anstalt in eine „Königliche Handlungsschule" zustande,
die 1806, nachdem Schulz kurz vorher ausgeschieden war, ein-
ging. Einen besonderen Wert hat das Buch durch die zahl-
reichen Beilagen erhalten, in denen seltene Aktenstücke, Denk-
schriften, Lehrpläne usw. ganz oder teilweise abgedruckt sind.
(Dir. Th. Blum, Dessau). Bern, s. Schweiz. —
Armin Reiche behandelt in einem Programm der Bremer
Realschule in der Altstadt „Die Entwicklung des Realschul-
wesens in Bremen, insbesondere der Realschule in der Alt-
stadt". Ein geschichtlicher Rückblick. (105 S. 8°.) — Julian
Kustynowicz gibt in einem Programm des Brodyer Gymna-
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Die Geschichte d«r Pädagogik im JaJtre 190<i.
111
siums die Entstehungsgeschichte des k. k. Rudolf - Gymna-
siums in Brody (II. Teil, 26 S. 8°). — Das Dresdner Volks-
schulwesen im 18. Jahrhundert. Nach den Quellen des
Dresdner Ratsarchives bearbeitet von Paul Schulze. (Dresden,
0. & R. Becker, VIII u. 91 S. 8», 1,25 Mk.). Ueber die An-
fänge des deutschen Schulwesens in Dresden liegt bereits eine
Arbeit vor (von Georg Müller im Archiv für sächsische Ge-
schichte, Bd. 8). Die vorliegende Abhandlung führt in die
neuere Zeit, sie gibt erst einen Ueberblick über das Dresdner
Volksschulwesen im 16. und 17. Jahrhundert, spricht dann von
der Gründung der Armenschulen durch Löscher, von der äuße-
ren und inneren Organisation derselben, und berichtet über die
Schule des Waisenhauses, Garnisonschulen und andere deutsche
Schulen Dresdens. Zum Schlüsse forscht der Verfasser nach den
Ursachen des (allerdings erstaunlich) geringen Fortschrittes
von 1700 — 1800, die vor allem in den fehlenden Mitteln zu
suchen sind. Da weiß Mangner aus der Leipziger Schul-
geschichte desselben Zeitraumes Erfreulicheres zu berichten.
(S. Mangner, Leipziger Winkelschulen.) In den „ Beilagen"
(S. 59 — 91) sind eine Anzahl Aktenstücke abgedruckt worden.
Alles in allem: Das Buch bildet einen wichtigen Baustein zu
einer zukünftigen Geschichte des sächsischen Volksschulwesens.
„Zur Geschichte des Realgymnasiums des Johanneums" in
Haniburg ist eine Hamburger Programmarbeit von F.Tende-
ring betitelt (125 S. 8°). Ferner bringt C. W. G. We ge-
raupt „Beiträge zur Geschichte des Wilhelm-Gymnasiums zu
Hamburg" in einem andern Programm. (63 S. 4 0 , mit zwei
Tafeln.) — Mitteilungen über die Fürstenschule zu Jo-
ftchimsthal gibt Lindner in der Wissenschaftlichen Beilage
der Leipziger Zeitung (1906, No. 24). — Es ist erfreulich, daß
man neuerdings in den Geschichtsvereinen mehr als sonst der
Schulgeschichte Aufmerksamkeit schenkt. So enthält Bd. VIII
der Schriften des Vereins für die Geschichte Leipzigs die
»Geschichte der Leipziger Winkelschulen". Nach
archivalischen Quellen bearbeitet von C. F. Eduard Mang-
ner. (Leipzig, Ferdinand Hirt & Sohn. VIII u. 232 S. 8°,
5»5o Mk.) Mit Recht hebt der Verfasser S. 25 hervor, daß die
Geschichte des Winkelschulwesens einer Stadt wie Leipzig nicht
allein ein wichtiges Kapitel der Geschichte der Pädagogik,
sondern der Kulturgeschichte überhaupt ist. Waren es doch
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Theodor Fritzseh.
die verachteten Winkelschulen (schon der Name enthielt eine
Brandmarke, vgl. Winkelpresse, Winkeladvokat 1), die jahr-
hundertelang allein für die Unterweisung von Hunderttausenden
von Kindern unseres Volkes gesorgt haben. Auf Grund ein-
gehendster Studien und vieler beigebrachter Aktenstücke schil-
dert Mangner das Leipziger Winkelschulwesen von den älte-
sten Zeiten bis zum Eingehen der letzten Winkelschule in der
Mitte des vorigen Jahrhunderts. Auch hier ergibt sich, daß
die Volksschule eine Schöpfung des letzten Viertels des 18.
und des 19. Jahrhunderts ist. Daß Leipzig dabei einen Ehren-
platz einnimmt, verdankt es seiner Ratsfreischule, die
„Vorläufer und Herold des gesamten deutschen Bürgerschul-
wesens, die erste Stimme des beginnenden Frühlings einer höhe-
ren Volksbildung geworden ist." Wie an andern Orten, so
ist auch in Leipzig ein Einfluß Pestalozzis auf die pädago-
gischen Neuerungen nicht nachweisbar. Auf die Ideen des
Schweizer Pädagogen wird von den Schöpfern der Leipziger
Volksschule nirgends Bezug genommen. Auch die hervorragen-
den Schulmänner Plato und Gedike erwähnen Pestalozzi nicht.
Wohl aber berufen sie sich auf die Philanthropinisten, von
denen sie ihre Anregungen empfangen haben. Mangners tüch-
tige und sorgfältige Arbeit kann aufs beste empfohlen werden I
— A. von Sanden gibt in einem Programm von 1905 Bei-
träge zur Geschichte der Lissaer Schule 1555 — 1905 (104 S.
4 0 , mit Abbildungen). — Eine „Geschichte der Mainzer Real-
schule" hat Beck in einem Mainzer Programm (24 S. 4 0 )
gegeben. — Das 10. Beiheft zu den Mitteilungen der Gesell-
schaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte, heraus-
gegeben von der Gruppe Bayern, enthält: „Geschichte der K.
Ludwigskreisrealschule in München" von Georg Widen-
bauer. (Berlin, A. Hofmann & Komp., XI u. 220 S. S°,
3 Mk.) — „Zur Geschichte des Pirnaer Schulwesens von der
Reformation an bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Als Bei-
trag zu einer sächsischen Schulgeschichte nach urkundlichen
Quellen bearbeitet," ist der Titel einer Dissertation von C.
Walther. (Leipzig 1905. 123 S. 8°.) — Im Archiv für Kultur-
geschichte, herausgegeben von Georg Steinhausen, be-
findet sich eine Arbeit des verstorbenen Ad. Hofmeister
über „Rostocker Studentenleben vom 15. bis 19. Jahrhundert".
(IV. Bd. Heft iff.) — Die „Schulordnung des Grafen Otto
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DU Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906
113
zu Schaumburg und des Rates zu Stadthagen für die im Jahre
1565 neuerbaute Schule zu Stadthagen" vom Jahre 1571 teilt
0. Zaretzky in den „Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche
Erziehungs- und Schulgeschichte" (XVI. Jahrg. S. 163—169)
mit. — „Die Geschichte des Städtischen Lehrerinnen-Seminars
zuThorn" von C. Maydorn. (Thorn 1906. 20 S. 8°.) — Teil IV
der „Geschichte des Troppauer Gymnasiums" von K. Kna-
flitsch ist erschienen. Programm Troppau 1905. 12 S. 8°.) —
II. Persönlichkeiten, Korporationen,
Richtungen.
In zweiter Auflage sind erschienen: Alkuins pädago-
gischeSchriften. Uebersetzt, bearbeitet und mit einer Ein-
leitung versehen von Joseph Freundgen. (Bd. IV der
Sammlung der bedeutendsten pädagogischen Schriften aus
alter und neuer Zeit. Herausgegeben von Hansen, Keller u.
Schulz. Paderborn, Ferdinand Schöningh. 180 S. 8°,
1,20 Mark). — Basedow, s. Philanthropinismus. — Der
XXXI. Band der Sammlung der bedeutendsten päda-
gogischen Schriften aus alter und neuer Zeit, herausgegeben
von Hansen, Keller, Schulz, enthält: „Basilius der Große.
Rede an die Jünglinge, wie sie mit Nutzen heidnische Schrift-
steller lesen können. Ueber die Aufnahme und Erziehung der
Kinder im Kloster. Johannes Chrysostomus. Seine pädago-
gischen Grundstäze, dargestellt in ausgewählten Kapiteln und
Zitaten aus seinen Homilien über die paulinischen Briefe. Bear-
beitet von AI oys Hülster." (Paderborn, Ferdinand Schö-
ningh, VI u. 55 S. 8°). — In einem Braunschweiger Programm
behandelt F. Koldewey: „Paränetische Gedichte des Huma-
nisten Johannes Caselius". (1905, 56 S. 8<>.) — Conrad Celtes
s. Humanismus. — Ueber Leopold Clausnitzer, der in diesem
Jahre verschieden ist, bringen Nekrologe: W. Lahn in der
Preußischen Schulzeitung (1906, No. 3), E. Oppermann, Allg.
Deutsche Lehrerzeitung, herausgegeben von Kießling u. Mitten-
zwey (1906, No. 2) und C. Röhl, Pädagogische Zeitung (1906,
No. 6). — Johann Arnos Comenios' didactica magna.
Uebersetzt und herausgegeben von Walther Vorbrodt.
(Leipzig, Dürr. 182 S. gr. 8°, geheftet 2 Mk., in Leinewand
gebunden 2,60 Mk.) Nach dem Titel könnte es scheinen, als
^tachrift für pädagogische Psychologie, Patbo!oi?i« u. Hygiene. g
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Theodor Fritztdi.
ob es sich um eine ungekürzte Ausgabe dieses grundlegenden
Werkes handele. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Heraus-
geber wollte des Comenius Didaktik in einer Form bieten, durch
die es Lehrern und Seminaristen „ein stets bereites Brevier, ein
handliches Vademekum ihrer hohen Kunst und ein lieber
Lebensfreund werden möchte". Der Umfang des Buches ist
durch Kürzungen fast auf die Hälfte beschnitten worden. Dies
gereicht dem Werke zum Vorteile und Vorzuge, da wirklich
kein bedeutsamer Punkt ausgefallen oder dem Buche Gewalt
angetan worden ist. Auch was sich Vorbrodt sonst nach der
Vorrede vorgenommen hat, ist ihm gelungen : Die feine und edle
Latinität des Comenius ist in die Formen unseres heutigen
Deutsch umgegossen worden. Er hat sinn getreu übersetzt.
Dabei merkt man wenig vom „Uebersetzungsdeutsch". Die
Einleitung bringt eine Lebensbeschreibung des großen Mähren,
die die neuesten Arbeiten darüber benützt hat. Ein Literatur-
verzeichnis hätte übrigens nichts geschadet. Da das Buch auch
für Eltern bestimmt ist, hat der Leser vielleicht das Bedürfnis,
sich weiter zu informieren. Die Anmerkungen erklären das
nötigste. (S. 61 ist auf eine Anmerkung verwiesen, die nicht
vorhanden ist.) Dem Buche ist die größte Verbreitung zu
wünschen. Es wird zu denjenigen Büchern gehören, die den
Unterricht in der Geschichte der Pädagogik an unseren Semi-
naren wirklich fruchtbringend und belebend zu gestalten ver-
mögen ! — Von Th. Kerrls Comenius, der im vorigen Bericht an-
gezeigt wurde, ist der 4. Teil erschienen. (Halle, H. Schroedel,
VIII u. 103 S. kl. 8°.) Er enthält: „Die Bedeutung des Co-
menius." — Ludwig Keller behandelt in einem erweiterten Ab-
druck aus den Monatsheften der Comenius Gesellschaft (Band
XV) „Die Schriften des Comenius und das Konstitutionen-
buch. Nach den Forschungen Karl Christian Friedrich
Krauses." (Berlin SW„ Weidmann, 1 5,S. gr. 8».) — In denselben
Monatsheften (Band XV, Heft 5) weist Theodor Fritzsch nach,
daß es nicht richtig sei, wenn Kcrrl u. a. behaupten, die
Philanthropinisten hätten Comenius nicht gekannt. Aus Stellen,
die Fritzsch anführt, geht hervor, daß sie seine Schriften ge-
kannt und benutzt haben, sich auch zur Verteidigung eigener
Grundsätze auf ihn berufen haben. — In einer Leis-
niger Programmarbeit (131 S. 8°) von P. Haller ist „Co-
menius und der naturwissenschaftliche Unterricht" zum Thema
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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906.
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gewählt worden. S. auch Redinger. — Zum Gedächtnis
an Friedrich Dittes (f 16. Mai 1896) findet sich in der All-
gemeinen Deutschen Lehrerzeitung (1906, No. 19) ein anonymer
Aufsatz. — Einen Beitrag zur Geschichte der englischen Päda-
gogik gibt H. J. Scougal mit der Jenenser Dissertation:
„Die pädagogischen Schriften John Durys" (1596 — 1680). (Jena
1905, 66 S. 8°.) — Horst Keferstein benützt die Jahr-
hundertfeier zur Erinnerung an die Schlacht bei Jena, die
Hauptgedanken Fichte» über Erziehung wieder kurz vorzu-
führen. (Ueber Fichtes pädagogische Ideen. Allgemeine
Deutsche Lehrerzeitung 1906, No. 45.) — In einer Straßburger
Dissertation (1905, 196 S. 8°) wird von M. Raich erörtert:
„Fichte, seine Ethik und seine Stellung zum Problem des In-
dividualismus." — F. Klinkhardt macht in der Zeitschrift
„Natur und Schule" (1006, No. 5) auf einen vergessenen Metho-
diker des naturkundlichen Unterrichts, auf den Magister O. K.
Fischer, aufmerksam. — Heft 2 des Archives für Schweizerische
Schulgeschichte, herausgegeben von Ernst Schneider, enthält :
„Johann Rudolf Fischer von Bern und seine Beziehungen
zu Pestalozzi von Prof. Dr. Rudolf Steck." (Bern,
Gustav Grünau 1907, 63 S. gr. 8°, 1,50 Mk.) Diese treffliche
Abhandlung von Rudolf Steck, dem wir schon eine wertvolle
Bereicherung der Herbart-Literatur („Der Philosoph Herbart
in Bern," Berner Taschenbuch für 1900, S. 6 ff) zu danken haben,
stützt sich auf den Briefwechsel Fischers mit seinen beiden
Freunden Steck und Zehender aus dem Nachlasse des erste-
r en, des Großvaters des .Verfassers. Außerdem wurden die
Akten des helvetischen Archivs und Fischers eigne Schriften
benützt. Fischer gehörte zu den Ersten, die im Kanton Bern
dem Werke Pestalozzis Verständnis entgegenbrachten. „Er hat
auf dem nämlichen Gebiete gearbeitet wie jener und den Ein-
fluß seiner Persönlichkeit und seiner pädagogischen Grund-
sätze stark empfunden." Aber auch zu dem jungen Herbart
tat Fischer in enger Beziehung gestanden. Mit ihm hat er
in Jena studiert, mit ihm dem „Bund der freien Männer" an-
gehört. Fischer hat auch Herbart für die Familie Steiger als
Hauslehrer gewonnen. So bietet diese Studie viel des Neuen
und Interessanten für den Pestalozzi- und Herbartforscher.
Aber auch für die Schulgeschichte der Schweiz ist sie von
großer Bedeutung. Denn Fischer hat dort zuerst die Grün-
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Theodor FriUscJi.
dung eines Lehrerseminars gefordert. Er beruft sich dabei
ausdrücklich auf ähnliche Unternehmungen in Deutschland,
die er bei seinen Reisen (z. B. bei Rochow) kennen gelernt
hätte. Freilich Kriegswirren und andere ungünstige Umstände
ließen seinen Plan vorerst scheitern, er selbst starb auch schon
mit 28 Jahren, aber später ist seine Saat doch aufgegangen. —
Die Universalbibliothek, die erfreulicherweise neuerdings auch
die Pädagogik mehr und mehr berücksichtigt, bringt als
Nummer 4820 : „August Hermann Franckes kurzer und
einfältiger Unterricht. Nach dem Drucke vom Jahre 1748 mit
Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Theodor
Fritzsch." (Leipzig, Phil ipp Rcclam jr. 95 S.8°,2oPfg.)
In der Einleitung kommt meist Francke selbst zum Wort, so
daß sie dem Unterricht in der Geschichte der Pädagogik als
„Quellenstück" zugrunde gelegt werden kann. Die Büchlein
der Universalbibliothek (bisher sind erschienen : Basedow, Her-
bart, Herder, Jean Paul, Pestalozzi, Salzmann; Locke u. a.
sind in Vorbereitung) sind wohl geeignet, Leitfäden und Lehr-
bücher zu ersetzen. Ihre Wohlfeilheit ermöglicht es, nun alle
Schüler zur Quelle zu führen und den Unterricht lebendiger
und interessanter zu gestalten. Aber auch zum Privatstudium
können die Bücher verwendet werden, da durch zahlreiche An-
merkungen der Text erläutert wird. Der Verlag hat trotz des
niedrigen Preises das Titelblatt des Originals faksimiliert. Da
der Text auch sonst nicht geändert ist, kann das Buch den
selten gewordenen Urdruck ersetzen. — In dritter Auflage ist
herausgekommen : „Die Franckeschen Stiftungen zu Halle a. S.
in ihrer gegenwärtigen Gestalt." Mit 30 Textabbildungen und
einem Uebersichtsplan. (Buchhandlung des Waisenhauses in
Halle a. S. 34 S. 8 °.) — Als Beitrag zur Geschichte des Pie-
tismus haben Berthold Schmidt und Otto Meusel
A. H. Franckes Bricfean den Grafen Heinrich XXIV.
j. L. Reuß zu Köstritz und seine Gemahlin Eleo-
nore aus den Jahren 1704 bis 1727 herausgegeben (IV u.
170 S. in gr. 8°, 3 Mk., Leipzig, Dürr 1905). Abgesehen von
den Briefen Franckes an Spener (f 1705) sind verhältnismäßig
wenig Briefe von Francke bisher veröffentlicht worden. Die
vorliegenden sind erst vor kurzem aufgefunden worden ; F r i c k
hat allerdings schon früher die Vermutung ausgesprochen, daß
Briefe Franckes an den Grafen Heinrich XXIV. Reuß-Köstritz
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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906.
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vorhanden sein müßten. Verlag und Herausgeber haben sich
mit dieser Veröffentlichung ein Verdienst erworben ; denn die
Briefe sind nicht nur für die Geschichte des Pietismus von
Wert, sondern auch für die Lebensgeschichte A. H. Franckes,
da durch das in ihnen enthaltene Material biographische Lücken
ausgefüllt werden. Die Einleitung und Anmerkungen orien-
tieren vorzüglich über den Inhalt der Briefe, die Ausstattung
des Buches ist vornehm. — Die philosophische Grundlage der
Pädagogik Friedrich FrObels ist Gegenstand einer Leipziger
Dissertation (1905, 123 S. 8°) von J. Schulz. S. auch Herbart.
— A. Walther handelt über „Goethe und Pestalozzi" in
der „Deutschen Schule" (1906, No. 9 u. 10). Er legt eine An-
2ahl Fäden bloß, die von dem einen zum andern hinüberführen.
Namentlich wird pestalozzianischer Einfluß in Goethes „Wahl-
verwandtschaften" nachgewiesen ; doch handelt sich's dabei nur
um Anregungen stofflicher Art, die Goethe durch Pestalozzis
und Niederere Aufsätze in der Jenaischen Allg. Literatur-
Zeitung empfangen hat. — Joh. Casp. Goethe als Erzieher
ist der Titel eines Aufsatzes von Osw. Kaimt im Praktischen
Schulmann (1906, No. 5). — „Die Pädagogik Johann Bap-
tist Grasers in ihrer besonderen Bedeutung für den Taub-
stummenunterricht" hat durch Arthur Zetzsche eine ganz
vorzügliche Bearbeitung erfahren. (Leipzig, Carl Merseburger.
88 S. 8°, 2,40 Mk. Zugleich Leipziger Dissertation.)
Der Verfasser gibt in dem gut geschriebenen Buche
erst eine Schilderung von Grasers Persönlichkeit und
gruppiert dann seinen Stoff unter folgenden Ueberschriften :
I. Die wichtigsten Grundzüge seiner Erziehungslehre. II. Histo-
rischer Ueberblick über die Methoden des Taubstummenunter-
richts bis zum Jahre 1829. III. Grasers Ansichten über die
Erziehung der Taubstummen. IV. Der Einfluß der Kombina-
tionsidee auf die äußere Entwicklung des Taubstummen-Bil-
dungswesens. V. Ueber sprachliche Ausdrucksmittel und die
Grasersche Schreiblesemethode. VI. Grasers Theorie des
Taubstummenunterrichts. VII. Der Einfluß der Unter-
richtstheorie Grasers auf die innere Entwicklung des
Taubstummen - Bildungswesens VIII. Kritik der Graser-
schen Theorie des Taubstummenunterrichts. (Die Ton-,
Gesichts-, Gebärden, Schriftsprache.) In begreiflicher Be-
geisterung für Graser hat sich der Verfasser verleiten
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Theodor FriUsch.
■-
lassen, in einzelnen Punkten die Bedeutung seines
Pädagogen zu überschätzen Schon vor Graser ist
die konfessionslose Schule gefordert worden. Die Erdkunde
hat man vor Graser schon auf die Heimatkunde gegründet.
Hier wie auch bei der „Schreibmethode" hätten die Philan-
thropen (bes. Trapp) erwähnt werden müssen. Solche Aus-
stellungen können dem Gesamturteile keinen Abbruch tun. —
„Johann Georg Hamanns Bedeutung für die Pädagogik 4
ist der Titel eines lesenswerten Aufsatzes von Karl Seiler
in den Pädagogischen Studien, herausgegeben von M. Schilling
(1906, No. 3 u. 4). — Vor hundert Jahren erschien Herbarts
„Allgemeine Pädagogik". In mehreren Aufsätzen ist dieses
„Jubiläums" gedacht worden. In erster Linie ist zu nennen
Wilhelm Münchs prächtiger Aufsatz : „Aus J. Fr. Herbans
pädagogischem Gedankenschatz. Zum Gedenktag seines Her-
vortretens". (Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben
der Gegenwart, begr. von J. Lohmeycr, V. Jahrg. Heft 3 u. 4.)
W. Münch verbindet damit zugleich noch einen andern Zweck,
wie aus folgenden Worten hervorgeht : „Der feinsinnige, hoch-
strebende Mensch, der in aller Stille warm Empfindende, der
verständnisvolle Freund der zu bildenden Jugend, der um-
sichtige Beurteiler der Welt und der Menschen, und endlich
auch der Meister in eigenartig edler Sprache scheint den meisten
fremd zu bleiben; man hört davon selten etwas rühmen. Und
doch wäre, wenn jener eine Herbart, der Systematiker, nicht
dagewesen oder nicht noch da wäre, dieser andere sicher
wert, gekannt und gerühmt zu werden. Diesen anderen in einem
gewissen Zusammenhang zu zeigen, sei der Zweck der folgenden
Seiten, wobei es denn erlaubt sein muß, unter Auflösung des
sorgsam strengen Gedankengewebes der „Allgemeinen Päda-
gogik" auf andere, freie Weise, durch Aufreihung und Ver-
knüpfung zahlreicher einzelner, aus ihren Stellen heraus-
gehobener Urteile neuen Zusammenhang herzustellen." — Ein
anderer Aufsatz, der zur Erinnerung an das Erscheinen der
Allgemeinen Pädagogik geschrieben ist („Herbarts Pädagogik
in englischer Beleuchtung" von Th. Fritzsch in der All-
gemeinen Deutschen Lehrerzeitung No. 14), knüpft an ein eng-
lisches Werk an, das gleich hier mit erwähnt werden soll:
„Drei historische Erzieher: Pestalozzi, Fröbel, Her-
bart. Von F. H. Hayward. Autorisierte Uebersetzung aus
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Di* Gcgchichle der Pädagogik im Jahre 1906.
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dem Englischen von Gustav Hief." (London, A. Owen & Co.
62 S. 8°, geh. 1,60 M.) Eine uns Deutschen ungewohnte Apper-
xeptionsweise tritt uns oft in dem Buch entgegen, wiederholt
wendet sich der Verfasser treffend an englische Dichter und
Gelehrte, an englische Sitten und Gewohnheiten. Obwohl Pesta-
lozzi und Fröbel verhältnismäßig kurz behandelt und nur zwei
Hauptgedanken aus der Fülle der Herbartschen Lehren her-
ausgehoben werden, obwohl ferner die Uebersetzung hin und
wieder nicht ganz treffend zu sein scheint, ist das Buch höchst
lesenswert. (S. auch den Aufsatz von Hans Zimmer in der
Dorfschule, herausgegeben von Melinat, II. Jahrg. No. 8: „Drei
deutsche Erzieher in englischer Beleuchtung.") — Hier ist
auch noch zu erwähnen: „Herbarts Allgemeine Pädagogik 1806
bis 1906" von E. von Sallwürk scn. („Die deutsche Schule",
herausgegeben von R. Rißmann, Dez. 1906, S. 729—741.
Leipzig J. Klinkhardt.) — Karl Kehrbach hatte bekanntlich
seine große Herbart - Ausgabe die 1887 begonnen
wurde, nicht vollendet. Von vielen Seiten wurde das
mit Recht beklagt. Aber schon — kaum ein Jahr nach seinem
Tode — liegen der 1 1 . und 1 2. Band vor. Die Verlagsbuchhand-
lung hat es für eine Ehrenpflicht gehalten, dafür Sorge zu tragen,
daß das Werk im Sinne des Verstorbenen zu Ende geführt
wird. Der beste Herbartkenner der Gegenwart, O. Flügel,
wird in Zukunft die Herausgabe leiten. Damit ist von vorn-
herein eine Gewähr gegeben, daß die Ausgabe allen Ansprüchen,
die man an sie stellt, genügen wird. Der 1 1 . Band
bringt: 1. Commentatio de Realismo Naturali aus dem Jahre-
1837. H. Erinnerung an die Göttingische) Katastrophe 1837
^1842). III. Psychologische Untersuchungen. 1839. -D er ur-
sprüngliche Plan ist insofern abgeändert worden, daß die Aus-
gabe nicht nur 12, sondern 15 Bände umfassen wird. Diese
Aenderung machte sich nötig, weil außerordentlich viel neues
Material aufgefunden worden ist, Material, welches zum Teil
geeignet ist, an verschiedenen Punkten die Herbartforschung
wesentlich zu beeinflussen. Der vorliegende 12. Band bringt
den ersten Teü der Rezensionen, unter denen sich eine An-
zahl bisher unbekannter befindet. Der nächste Band wird die
Rezensionen und die Nachträge enthalten. Rudolf Hartstein wird
dann den Band bearbeiten, der die ungedruckten Schriftstücke
u her Herbarts Tätigkeit in der Königsberger Schuldeputation
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Theodor Fritzseh.
und im pädagogischen Seminar enthält. Den Schluß bildet der
Briefwechsel, dessen Bearbeitung Th. Fritzsch obliegt. Hoffent-
lich bleibt nun auch für die Verlagsbuchhandlung, welche die
größten Opfer für das Unternehmen nicht gescheut hat, der
äußere Erfolg nicht aus. — O. Flügel veröffentlicht in den
Deutschen Blättern für erziehenden Unterricht, herausgegeben
von Friedrich Mann (1906/07, No. 9 f.) auf Grund neu aufge-
fundener Quellen einen Aufsatz mit der Ueberschrift : „Herbart
über Fichte im Jahre 1806." — Ueber „die Grundlage der Ethik
Herbarts" Spricht M. Schultz in der preußischen Schul-
zeitung (1906, No. 66, 67). Zu diesem Aufsatze macht einige
treffende Bemerkungen G. G i 1 1 e in derselben Zeitung (1906, No.
71). Eine tiefgründige Arbeit über: „Schön und gut nach Her-
bart", hat O. Flügel in der Volks- und Jugendschriften-Rund-
schau, herausgegeben von Sydow (Benzinger, Stuttgart, 1906,
No. 8 — 10) veröffentlicht. Endlich findet sich in der Wissen
schaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung (1906, No. 95) eine
wertvolle Abhandlung von Hans Zimmer: Herbart und die
Göttinger Sieben. Auf Grund eingehender Studien kommt
Zimmer zu einem gerechteren Urteil, als man es gewöhnlich
über Herbart fällt, er schreibt: „Herbart war nie unter der
Majorität, und bange Furcht blieb dem stolzen, vornehmen
Manne ebenso fremd wie unedles Handeln. Wer es weiß,
wie sehr Herbart stets ausschließlich seiner Wissenschaft lebte,
wie er ganz aufging in seinem Beruf als Universitätslehrer,
wie heilig es ihm war mit der Verbreitung seiner Philosophie,
der wird seinen Standpunkt verstehen, mag sein Herz auch der
mutigen Tat der Göttinger Sieben noch so sehr entgegen-
schlagen : Herbart war stets ein Ganzer, und er blieb es auch
damals". S. auch J. R. Fischer, Strümpell, Waitz u. III.
— Eine kritische Studie über die pädagogischen Ideale
des jungen Herder" ist die Programmarbeit von
O. Maas. (Rastenburg 1906, 45 S. 8°.) — Die dem Leipziger
Philosophen Max H e i n z e zum 70. Geburtstage gewidmete
Festgabe enthält u. a. einen für die Geschichte der Pädagogik
bedeutsamen Aufsatz von Georg Müller über einen ver-
gessenen Pädagogen des 18. Jahrhunderts unter der Ueber-
schrift: „Karl Heinrich Heydenreich als Universitätslehrer
und Kunsterzieher." „Was Heydenreich erstrebte, ist zunächst
unausgeführt geblieben. Die in jener Zeit in Leipzig bestehen-
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Die Geschichte cUr Pädagogik im Jahre 1900.
121
den und neu entstehenden pädagogischen Seminare vertraten
andere Ziele und Methoden. Einer spätem Zeit war es vor-
behalten, seine Gedanken, wenn auch in wesentlich anderer
Gestalt, zur Ausführung zu bringen, und damit die allgemeinen
und großen Wirkungen vorzubereiten, die sich Heydenreich
von dem Einflüsse der Kunst auf die deutsche Nation ver-
sprach." — Dem Gedächtnis Dietrich Horns, eines nieder-
rheinischen Schulmannes, der am 24. Februar 1906 verschieden
ist, sind folgende Aufsätze gewidmet: „Zur Erinnerung an
Rektor D. Horn." (Deutsche Blätter für erziehenden Unter-
richt, herausgegeben von Friedrich Mann (1906/07, XXXIV.
Jahrg. No. 1 1 ff.). Derselbe Verfasser, W. Dams, zeichnet auch
ein kurzes Charakterbild des Verstorbenen in der Einladungs-
schrift zur 43. Hauptversammlung des Vereins für Herbartsche
Pädagogik in Rheinland und Westfalen. Endlich enthält das
Juniheft des von Dörpfeld begründeten „Evangelischen Schul
blattes" Reden und Aufsätze über Horn von Achinger, Rum-
scheidt, Kielmann, Abendroth und von Rhoden. — Humanismus.
In einem Aufsatze (von Ludwig Keller ?) : „Der deutsche Huma-
nismus im Kampf um die Weltanschauung" in den Monats-
heften der Comenius-Gesellschaft, herausgegeben von L. Keller,
wird wieder darauf hingewiesen, daß es sich in dem Ringen
zwischen Humanismus und Scholastik nicht um einen Kampf
um Sprache und Literatur, sondern um den Kampf zweier Welt-
anschauungen handle. Eine wichtige Unterlage für die Beur-
teilung der Weltanschauung der Humanisten besitzen wir in der
großen Rede, die Conrad Celtes am 31. Aug. 1492 in
Ingolstadt gehalten hat, die von Gustav Bauch seinerzeit
im Auszuge veröffentlicht worden ist. S. auch Caselius, Rein-
hard. — Susanne Rubinstein veröffentlicht im 272. Heft
des Pädagogischen Magazins, herausgegeben von Friedrich
Mann, eine Abhandlung über „Die Energie als Wilhelm von
Hnmboldts sittliches Grundprinzip." (Langensalza, Hermann
Beyer & Söhne, 14 S. 8°, 20 Pfg.) — „Den Manen August
Israels", des bekannten Pestalozzi-Bibliographen und pädago-
gischen Geschichtsforschers, ist ein Aufsatz von G. Berger in
den „Pädagogischen Blättern für Lehrerbildung" (1906, No. 1 1),
herausgegeben von Karl Muthesius, gewidmet. — Auch im
„Pestalozzianum" (1906, No. 9) ist ein Aufsatz über Israel von
Ernst Ebert. — N. Tonroff, Jean Paul als Pädagoge.
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Theodor Fritzach.
(Lausanne, E. Frankfurter. 93 S. gr. 8°. 1,50 Mk.) T)ie Schrift
behandelt zunächst Jean Paul als praktischen Erzieher und
pädagogischen Schriftsteller und gibt im zweiten Teile eine
systematische Darstellung der Gedanken Jean Pauls über Haupt-
fragen der Erziehung nach folgenden Gesichtspunkten : I. Phy-
sische Erziehung. II. Disziplin. III. Sittliche Erziehung. IV. In-
tellektuelle Erziehung im Zusammenhang mit der ästhetischen.
V. Mädchenerziehung. — In „Natur und Schule" (Leipzig,
Teubner, 1906, No. 8) veröffentlicht E. Oppermann einen Auf-
satz über den verstorbenen Reformator des naturkundlichen
Unterrichts Friedrich Junge. — In den Büchern der Weisheit
und Schönheit, herausgegeben von Freiherr von Grotthuss,
die an anderer Stelle in diesem Berichte gewürdigt werden,
finden sich auch zwei Bände, ..Kant," nämlich die „Kritik
der reinen Vernunft in verkürzter Gestalt (mit Abschnitten
aus den Prolegomenen)" (VII u. 188 S. 8°) und ,,Kants Ethik
und Religionsphilosophie" in ausgewählten Abschnitten. (VII
u. 161 S.) Beide Bände hat August Messer bearbeitet.
Sie sind vortrefflich geeignet, Kants Philosophie in weitere
Kreise zu tragen. (Verlag von Greiner und Pfeiffer in Stutt-
gart. Preis eines Bandes in bester Ausstattung: 2,50 M.). —
Dasselbe gilt von einem Bändchen der Sammlung: „Aus
Natur- und Geisteswelt 44 , welches eben erst erschienen ist:
„Immanuel Kant" Darstellung und Würdigung von Os-
wald Külpc." (Leipzig, C. G. Teubner, VIII u. 152 S. 8°,
geh. 1 M., geschmackvoll geb. 1,25 M.). Dem Verfasser ist es
vortrefflich gelungen, auf dem beschränkten Räume das
Leben und Wirken des großen Weisen zur Darstellung
zu bringen. L. Wenigers Weimarer Programm-
arbeit betitelt sich: ..Johannes Kromayer. Zwei Schul-
schriften von 1629 und 1640." (15 S. 4 0 .) — Als Band XXIV
der Monumenta Germaniae Paedagogica ist erschienen: „Die
Jugend und Erziehung der Kurfürsten von Branden-
burg und Könige von Preußen. Von Archivrat Dr. Georg
Schuster, Kgl. Preuß. Hausarchivar, u. Prof. Dr. Friedrich
Wagner (f).*' Erster Band: Die Kurfürsten Friedrich I. und II. r
Albrecht, Johann, Joachim I. und IL (Berlin, A. Hofmann
& Comp. XXIII u. 608 S. gr. 8<>, mit vielen Bildern und faksi-
milierten Schriftstücken, geb. 22 Mk.) Ursprünglich bestand
die Absicht, eine Erziehungsgeschichte der Hohenzollern zu
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Die Geschichte der Pädagogik im Jalire 1906.
123
schreiben. Da aber das Material für die früheste Zeit ein sehr
beschränktes ist, entschlossen sich die Bearbeiter, das ursprüng-
liche Programm zu einer Jugendgeschichte zu erweitern.
Leider ist Fr. Wagner, im Begriff, die letzte Hand an das
Schlußkapitel seines Manuskriptes zu legen, verschieden, so daß
nun Georg Schuster die Herausgabe allein übernehmen mußte.
Der vorliegende erste Band beginnt mit dem Begründer des
preußischen Staates, mit dem Kurfürsten Friedrich I. und
schließt mit Kurfürst Joachim II. Er umfaßt also diejenigen
Fürsten, „welche noch im Sinne und der Weise der alten Kirche
erzogen worden sind, ehe der Einfluß Luthers und Melanch-
thons auf Schule und Unterricht einsetzte." Bis zu diesem
Zeitpunkte haben sich keine Instruktionen für die Schularbeit,
sondern nur einzelne Lehrbücher erhalten. Band II soll mit
dem Kurfürsten Johann Georg beginnen, dem ersten branden-
burgischen Hohenzollern, der eine Universität bezogen hat, und
mit dem Großen Kurfürsten abschließen. Der Schlußband end-
lich wird die Zeit der Könige bis zu Kaiser Wilhelm I. be-
handeln. Nach langen mühsamen Vorarbeiten wird uns also
ein Gebiet der Geschichte erschlossen, welches bisher fast un-
bekannt war. Da das Buch zudem nicht im Tone trockener
Belehrung, sondern lebendig und frisch geschrieben ist, wird
es nicht nur von Geschichtsforschern, sondern auch von Laien,
die sich für geschichtliche Dinge interessieren, gekauft werden.
Zahlreiche Anmerkungen und Anlagen, sowie mehrere sorg-
fältige Register beschließen den ersten Band, dessen vorzüg-
liche Ausstattung mit reichem instruktiven Bildermaterial noch
besonders hervorgehoben werden muß. — „Der Geographus
Uurentinus, ein kursächsischer Schulpoet," ist der Titel einer
interessanten Studie von Ernst Schwabe in den Neuen
Jahrbüchern für das klassische Altertum (1906, II. Abteilung,
S. 292 ff). Es wird darin über eine Gedichtsammlung eines
Anonymus (jedenfalls ist es Georg Heinrich Sappuhn) berichtet,
in der die verschiedenen Feste geschildert werden, die auf
der alten Klosterschule (St. Afra), der er einst als Schüler
angehörte, gefeiert wurden und zum Teil noch gefeiert werden.
— m dritter „vermehrter und verbesserter" Auflage liegt vor:
*h Band II von Greßlers Klassikern 'der Pädagogik, heraus-
geben von H. Zimmer: „Luther als Pädagog" von Ernst
Wagner. (Langensalza, SchulbuChhandlung, Xu. 195 S. 8°,
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Theodor Fritz$ch.
2.50 M.). — „Der deutsche Name Melanchtons" ist die Ueber-
schrift einer Mitteilung Albert Ruppersbergs in
den Neuen Jahrbüchern für das klassische Altertum (1906,
II. Abt. S. 60 f.). Melanchthons Name „Schwarzerd" ist danach
offenbar ein Ortsname. Schwarzerden ist ein Dorf in der Pfalz,
aus dem jedenfalls die Vorfahren Melanchthons stammten.
Diese Feststellung ist gegenüber Strauß' und Hartf eiders ab-
sprechenden Urteilen über die Etymologie zu Reuchlins Zeiten
wichtig. — Einen Beitrag zur Schulgeschichte des
Mittelalters gibt R. Hillmann mit seinem Aufsatz: „Deutsches
Schulwesen vom Ende der Karolingerherrschaft bis zur Blüte
des Städte wesens (1000— 1400)" in den Pädagogischen Monats-
heften, herausgegeben von AI. Knöppel (1906, No. 3, 4, 5, 6).
— Die bedeutendsten Pädagogen des 15. Jahrhunderts, zu-
nächst in Italien (Dominici, Vergerius, Guarino von Verona,
Fr. Filelfo, A. Dati, L. B. von Arezzo, F. Barbaro, L. B.
Alberti, M. Palmieri, F. Patrizi, Gr. Correo, N. Perotti, A.
Ivani, J. Porzia, A. Poliziano, N. Kempf), behandelt A. St. in
derselben Zeitung (7 ff.). — „Analekten zur Schulgeschichte des
Mittelalters" betitelt sich ein Aufsatz von Max Manitius
in den „Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs-
und Schulgeschichte" (16. Jahrg. S. 35—49), in dem er mit-
teilt, was er an Ergebnissen bei der Durchforschung von Biblio
theks-Katalogen des 14. Jahrhunderts gewonnen hat. Die Fort-
setzung dieser Zusammenstellung schulgeschichtlichen Materials
aus denselben Quellen bildet der Aufsatz desselben Verfassers :
„Zur Ueberlieferungsgeschichte mittelalterlicher Schulautoren"
(ebenda S. 232—277). — „Die pädagogischen Ansichten in
den Schriften deutscher Rechtsphilosophen und National-
ökonomen aus dem Anfange des 17. Jahrhunderts/' stellt Kahl
in den Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs-
und Schulgeschichte (16. Jahrg. S. 199—231) dar. — In den
„Büchern der Weisheit und Schönheit," herausgegeben von J. E.
Freiherr von Grotthuss, die durch ihre vorzügliche Bearbeitung,
ihre sorgfältige Auswahl und elegante Ausstattung schnell
weiteste Verbreitung gefunden haben, ist neben Kant, Grimm,
Goltz, Montesquieu, Lucian, Gobineau, Plato, Darwin u. a. auch
erschienen: .«Montaigne in Auswahl herausgegeben von Erich
Meyer." (Stuttgart, Greiner & Pfeiffer, 153 S. 8°, geb. 2,50 Mk.)
Die Ausgabe schließt sich den anderen würdig an. Da sie
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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906. 125
auf gelehrtes Beiwerk verzichtet, wird diese Auswahl auch in
Kreisen eine Stätte finden, in denen solche Bücher sonst nicht
gelesen werden. — Zur Feier von Karl Philipp Moritz'
150. Geburtstag (15. Sept.) ist in der Universalbibliothek eine
Ausgabe von dem bekannten „psychologischen Roman 44 Anton
Reiser erschienen. (Neu herausgegeben und mit Einleitung
und Anmerkungen versehen von Hans Henning. Mit einem
Bildnis Moritz'. Leipzig, Philipp Reclam jr. 476 S. 8°, 80 Pfg.,
geb. 1,20 Mk.) In der Einleitung gibt der Herausgeber eine
treffliche Lebensbeschreibung von K. Ph. Moritz, er zeigt darin
auch seine Stellung in der Literaturgeschichte und l>erichtet
über das Werk selbst und die Beurteilung, die es erfahren
hat. Da „Anton Reiser" auch für die Geschichte der Päda-
gogik von Bedeutung ist, so wird das Werk in dieser schönen
und wohlfeilen Ausgabe bald weiteste Verbreitung und hoffent-
lich recht viele Leser finden. — Karl Philipp Moritz, über
den im Vorjahre eine Leipziger Dissertation erschienen ist,
wird in den Neuen Jahrbüchern für das klassische Altertum
(»906. II. Abt. 1. Heft) von Rudolf Windel dargestellt als
pädagogischer Schriftsteller, ohne daß allerdings auf die Arbeit
Altenbergers Rücksicht genommen ist. — Ueber K. Ph. Moritz
„Magazin der Erfahrungsseelenkunde" (1783 ff.) macht Hans
Z i m m e r in der „Dorfschule" (1006, No. 16), herausgegeben von
Melinat, interessante Mitteilungen. — H. Grosse behandelt
Kd. Möricke als Lehrer in den Deutschen Blättern für erziehen-
den Unterricht. (1906, No. 49— 52.) — Der bekannte Münchner
Lyriker und Schriftsteller Ernst Weber hat „Die pädago-
gischen Gedanken des jungen Nietzsche im Zusammen-
hange mit seiner Welt- und Lebensanschauung" in einem Buche
dargestellt, welches in äußerst geschmackvoller Ausstattung bei
Ernst Wunderlich in Leipzig erschienen ist. (1907. XVI u.
169 S. 8°, geh. 2 M., geb. 2,50 M.). Er widmet das
Werk seinen Lehrern Max Heinze in Leipzig und
Wilhelm Rein in Jena. Leicht war die Aufgabe sicher nicht,
die sich der Verfasser gestellt hatte. Nietzsche ist ja bereits
von den verschiedensten Seiten her betrachtet worden, zum
ersten Male wird er als Pädagog behandelt. Bekanntlich war
Nietzsche von 1869 bis 1877 im Nebenamt als Lehrer am
Baseler Pädagogium tätig. Doch entspringen seine pädago-
gischen Gedanken nicht seiner Praxis, sondern seinen philo-
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126
Theodor Fritzsch.
sophischen, insbesondere seinen kulturellen Problemen. So
schickt Weber auch der Darstellung des pädagogischen
„Systems" Nietzsches zwei Abschnitte voraus mit den Ueber-
schriften: „Die philosophischen Gedanken des jungen
Nietzsche" und „Das Kulturproblem des jungen Nietzsche".
Dann erst folgt: „Das Bildungsproblem des jungen Nietzsche"
und eine Kritik der pädagogischen Gedanken des Philosophen.
Auch in der Pädagogik war Nietzsche groß als Vernichter.
„Seine Bedeutung liegt zunächst in seinen Negationen." Mit
Geschick hat er auf die Schäden unseres Bildungswesens hin-
gewiesen, aber auch die Werte hervorgehoben, die zu ihrer
Begegnung vonnöten sind. Die einzelnen Steine seines Systems
„werden ihren Zukunftswert behalten; denn sie sind edles
Material aus dem besten Felsbruch deutschen Wesens." Weber
hat es verstanden, den spröden Stoff übersichtlich und klar,
dazu in schöner Sprache zur Darstellung zu bringen, so daß
sein Buch nicht nur in der Nietzsche-Literatur, sondern auch
in der Geschichte der Pädagogik einen Ehrenplatz einnehmen
wird. — Friedrich Nietzsche als Pädagog behandelt H. Heine
im Praktischen Schulmann (1906, No. 4). — Oskar Fache,
dem verdienten Organisator und Reformator der deutschen
Fortbildungsschule, der in diesem Jahre verstorben ist, sind
Aufsätze gewidmet in deT Brandenburgischen Fortbildungs-
schule (1906, No. 6) und der Leipziger Lehrerzeitung (1906,
No. 35). — P. Natorps Pestalozzi liegt nun ganz vor. (Greßlers
Klassiker der Pädagogik, herausgegeben von Hans Zimmer,
Bd. 23—25, Schulbuchhandlung von F. G. L. Greßler, Langen-
salza.) Der erste Band (XXII u. 421 S. 8°, mit einem Bildnis
Pestalozzis, 5,50 Mk M geb. 6,20 Mk.) enthält Pestalozzis Leben
und Wirken, die beiden anderen (II. Bd.: VI u. 344 S. 8°,
5 Mk., geb. 5,70 Mk., III. Bd.: VI u. 511 S. 8°, 6 Mk., geb.
6,70 Mk.) folgende Auswahl aus seinen Schriften: I. Ueber
die Erziehung seines Söhnchens. II. Die Abendstunde eines
Einsiedlers (1780). III. Aus „Lienhard und Gertrud. Ein Buch
für das Volk". IV. Aus „Christoph und Else. Mein zweites
Volksbuch" (1782). V. Aus dem „Schweizerblatt" (1782). VI.
Aus „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in
der Entwicklung des Menschengeschlechts" (1797). VII. Pesta-
lozzis Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stanz
(1799). VIII. Wie Gertrud ihre Kinder lehrt. Ein Versuch,
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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906.
127
den Müttern Anleitung zu geben, ihre Kinder selbst zu unter-
richten, in Briefen. (1S01J. IX. Kleinere Stücke aus den Jahren
1800 — 1805. X. Ansichten und Erfahrungen, die Idee der Ele-
mentarbildung betreffend (1805). XI. Ueber Körperbildung
(1807). XII. Aus den „Reden an mein Haus". — Es unterliegt
keinem Zweifel, daß der Zeitpunkt, dem deutschen Volke einen
neuen Pestalozzi zu schenken, von dem verdienten Herausgeber
außerordentlich günstig gewählt worden ist. Einerseits war
es nötig, daß das umfangreiche Material, welches die Pesta-
lozziforschung der letzten Jahre zutage gefördert hat, kritisch
verarbeitet werden mußte, sollte es nicht ein totes Kapital sein ;
anderseits wies die Zeitströmung mit dem Schlagwort „Sozial-
pädagogik" geradezu auf den großen Schweizer Pädagogen.
In Paul Natorp wurde der richtige Mann gefunden, der beiden
Aufgaben in ganzem Umfange gerecht wurde. Die größte
Schwierigkeit bestand bei der Arbeit, wie der Verfasser selbst
hervorhebt, in der Beschränkung: nicht zu viel und dabei doch
aües zu geben, was erforderlich ist, um von dem Wesen des
Mannes und seiner Leistung für die Menschheit einen vollen
ßegriff zu bekommen. Das ist ihm trefflich gelungen. Er hat
uns ein Gesamtbild Pestalozzis vor die Augen gestellt, welches
uns die ganze Größe des Mannes nicht nur ahnen, sondern
wirklich erkennen läßt. Das ist ihm vor allem dadurch möglich
geworden, daß die beiden Teile des Werkes, Leben und
Schriften, in das Verhältnis gegenseitiger Ergänzung und Be-
leuchtung gesetzt wurden : in der Darstellung des Lebens wurde
all das kürzer behandelt, wovon die ausgewählten Schriften
einen Begriff zu geben hinreichend sind; was aber in der Aus-
wahl der Schriften nicht oder bruchstückweise aufgenommen
werden konnte, wurde im ersten Teile eingehender behandelt.
Natorp hat so tatsächlich ein Buch geschrieben, welches ge-
eignet ist, Pestalozzi zum Eigentum nicht nur jedes Lehrers,
sondern auch jedes Erziehers, ja des ganzen Volkes deutscher
Zunge zu machen. Im einzelnen ließe sich vieles aus dem
überreichen Inhalte herausheben, manches auch im ablehnenden
Sinne. Der vorliegende Bericht soll aber mehr orientieren als
kritisieren. In der Darstellung des Lebens ist, unseres Wissens
überhaupt zum ersten Male, das Verhältnis Pestalozzis zu
Rousseau richtig dargestellt worden. Auch der Abschnitt
»f ichte und Kant" verdient hervorgehoben zu werden. In der
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128
Theodor FriUttch.
Auswahl der Schriften hat uns insbesondere der äußerst ge-
lungene Versuch interessiert, die vier Bände von „Lienhard
und Gertrud" auf einen halben Band zusammen zu ziehen, so
daß das Werk nur gewonnen hat und auch für vieles andere
dadurch Platz geschaffen wurde. Auch sonst bringen die beiden
Auswahlbändc manches Neue und stellen vieles richtig. Reiche
Nachweise enthalten die Anmerkungen, von denen wir aller-
dings gewünscht hätten, daß sie nicht am Ende zusammen-
gestellt, sondern auf die betreffenden Seiten verteilt würden,
zu denen sie gehören. — „Pestalozzi auf dem König-
stein e," heißt eine Abhandlung von Albert Klemm in
der Sächs. Schulzeitung vom 6. April 1906 (No. 14). Das Gäste«
buch der Feste Königstein in Sachsen aus den Jahren 1740
bis 1793 war abhanden gekommen, tauchte aber 1903 in Berlin
wieder auf und befindet sich jetzt in der K. S. Armeesammlung
in Dresden. In diesem Gästebuch stehen nun unter dem
4. Mai 1786 eingetragen: „Geßner, Füßli, Pestalozzi,
Pfister." Bisher nahm man an, daß Pestalozzi nur einmal in
Deutschland war (1792 in Erbschaftsangelegenheiten in Leipzig),
nach den Mitteilungen Klemms weilte P. 1786 in Dresden.
Dort soll er mit Schiller zusammen gekommen sein. Auch
mit der Namengebung des Gebirgs („Sächs. Schweiz") werden
die Schweizer Gäste in Zusammenhang gebracht. Die Kom-
bination betr. der Industrieschulen, die P. in Sachsen angeregt
haben soll, ist jedoch anzuzweifeln, da solche Schulen schon
zum Programm der Philanthropen gehören. Ferner schreibt
Hunziker in der „Deutschen Schule" (Okt. 1906): „Von einer
Reise Pestalozzis mit Geßner und Füßli findet sich im Tage-
buche der Frau P. nicht das geringste. Und Füßli und Geßner
gab es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts so viele in
Zürich, daß man bei jener Eintragung nicht nötig hat, an
Pestalozzis Freunde dieses Namens zu denken. Wahrscheinlich
ist dieser „Pestalozzi" ebensowenig unser Johann Heinrich, als
der „Pestaluz aus Zürich", der nach dem Briefwechsel Goethes
mit Lavater 1775 ersteren in Frankfurt a. M. besucht hat.
(Vgl. Deutsche Schule, Sept. 1906, S. 541)." — Richard
Köhler spricht „Ueber die bleibende Bedeutung Pestalozzis"
in der Pädagogischen Warte (12. Jahrg. Heft 1). — Eine sehr
brauchbare Schulausgabe von Heinrich Pestalozzis „Wie Ger-
trud ihre Kinder lehrt" hat Hermann W alsemann ge-
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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1006.
12Q
schaffen. (Schleswig, Johs. Ibbeken, 143 S. 8°). S. auch Leipzig,
J. R. Fischer, Herbart, Goethe. — Philanthropinismns. Her-
mann Lorenz behandelt in den „Mitteilungen der Gesell-
schaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte", heraus-
gegeben von Alf red Heubaum, „Die Lehrmittel und Hand-
arbeiten des Basedowschen Philanthropins" (nebst 12 Tafeln
mit Abhandlungen der wichtigsten in Dessau noch heute vor-
handenen Reste). Betr. des Verhältnisses Comenius* zu den
Philanthropen sei noch verwiesen auf die Arbeit von Th. Fritzsch :
„Comenius und die Philanthropinisten" in den Monatsheften
der Comenius-Gesellschaft, herausgegeben von L. Keller. (1906,
3- Heft). — Von demselben Verfasser ist ein Aufsatz:
„Zur Geschichte der Dorfschule" (in der Melinatschen Zeit-
schrift „Die Dorfschule" (II. Jahrgang No. 5) zu erwähnen,
in dem gezeigt wird, daß die Philanthropen größere Verdienste
um die Entwicklung der Landschule haben, als ge-
wöhnlich angenommen wird. — Ueber einen Gehilfen
des Arnos Comenius, Johann Jakob Redinger, handelt Hugo
Blümner in den Neuen Jahrbüchern für das klassische Alter-
tum (1906, II. Abt. S. 361 ff.). — Ernst Schwabe zeigt in
einer wertvollen Abhandlung, wie groß der Einfluß F. V.
Reinhards auf das Unterrichtswesen Kursachsens, insbesondere
das höhere, war. Reinhard ist es gewesen, der die neuhuma-
nistische Bewegung für Sachsen nutzbar zu machen wußte,
der aber auch den Volksschulen und Schullehrerseminaren seine
Fürsorge angedeihen ließ. (,,Der Dresdener Oberhofprediger
Franz Volkmar Reinhard und sein Einfluß auf das höhere
Unterrichts wesen Kursachsens" in den „Mitteilungen der Ge-
sellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte", XVI.
Jahrg. S. 1 — 34). ■ — Als Separatabdruck aus der „Monats-
schrift für Innere Mission", herausgegeben von Theodor
Schäfer (26. Jahrg. 1906) ist erschienen: „Fr. Eberhard
v. Rochow. Ein Bild seines Lebens und Wirkens von Ernst
Schäfer." (Gütersloh, Bertelsmann. 100 S. gr. 8°. 1,50 Mk.,
geb. 2,25 Mk.) Das Vorjahr hat mit seinen Rochow-Feiern,
•Aufsätzen und -Abhandlungen (cf. den vorigen Bericht!)
das Interesse an der Tätigkeit des märkischen Edel-
mannes wieder aufleben lassen. Aber an einer Arbeit
wie der vorliegenden fehlte es noch. Wie der Ver-
fasser im Vorwort mit Recht vermerkt, läßt die bisherige
Zeitschrift für pldAgoffiscbe Psychologie, Pathologe u. Hygiene. 9
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Theodor Frititch. .
Literatur über Rochow eine kritisch gearbeitete Biographie
durchaus vermissen und krankt außerdem an einer gewissen
Einseitigkeit, indem sie über dem Pädagogischen die viel-
seitige humanitär-nationalökonomische Tätigkeit Rochows fast
völlig außer acht läßt. Schäfer hat nun in seiner vortreff-
lichen Abhandlung das Theoretisch-Pädagogische weniger be-
rücksichtigt, dafür aber von dem wackeren Mann ganz neue
Seiten gezeigt: denn Rochow ist nicht nur Pädagog gewesen,
er war auch Menschenfreund im allgemeinen und großen Sinne
des Wortes. „Mich jammert des Volks," war die Losung für
sein ganzes arbeitsreiches Leben. Schäfer schildert auf Grund
umfassender archivalischer Studien Rochows Jugendjahre, zeigt
ihn als Gutsherrn, als Reformator des Armen- und Schulwesens
und gibt dann am Schlüsse eine Charakteristik. Vorzügliche
Dienste leistet ein umfängliches Literaturverzeichnis, welches
auch dankenswerte bibliographische Notizen bringt. So wird
das Buch nicht nur dem Pädagogen, sondern auch dem Histo-
riker und Nationalökonomen von größtem Werte sein, aber
auch für jeden Gebildeten eine genußreiche Lektüre bilden,
da es außer den schon genannten Vorzügen auch gut ge-
schrieben ist. — Fr. Bamberg behandelt „Eberhard von Rochow,
den Reformator der neueren Landschule". (Pädagogische Warte,
12. Jahrg. Heft 10.) — Albert Geyers „Gedenkblatt zu
Robert Reinicks 100. Geburtstag" (Pädagogische Warte,
12. Jahrg. Heft 4) ist noch zu dem vorjährigen Bericht nach-
zutragen. — Aus Anlaß der 100. Wiederkehr des Geburts-
tags von Roßmäßler sind eine Anzahl Aufsätze erschienen.
In erster Linie ist zu nennen : „Emil Adolf Roßmäßler als Päda-
gog. Von Gustav Schneider." (279. Heft von dem Päda-
gogischen Magazin, herausgegeben von Fr. Mann. Langensalza,
H. Beyer u. Söhne, 65 S. 8°, 90 Pfg.) Die Abhandlung orien-
tiert vorzüglich über die Bestrebungen Roßmäßlers. Ferner sind
folgende Arbeiten über Roßmäßler zu erwähnen: Von G.
Schneider in den Deutschen Blättern für erziehenden Unter-
richt, herausgegeben von Fr. Mann (1905/06, No. 14), von
ErnstSchockin den Pädagogischen Warten, herausgegeben
von Beetz und Rüde (1906, Heft 5); von — r— in der Päda-
gogischen Zeitung (1906, No. 9: „Eine Dankesschuld der
deutschen Volksschullehrer"); von Horn in der Deutschen
Schule (1906, No. 3); von H. Morich in der Deutschen
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Die Gt*MchU der Pädagogik im Jahre 1906.
131
Schulpraxis (1906, No. 8). — Heft 34 der „Beiträge zur Lehrer-
büdung und Lehrerfortbildung", herausgegeben von K. Mu-
thesius, enthält: „Rousseau als Klassiker der Sozialpädagogik.
Entwurf zu einer Neudarstellung auf Grund seines Emile." Von
Albert Görland. (Gotha, E. F. Thienemann, 24 S. 8°,
40 Pfg.) — Grave 11 zeigt „Rousseau in neuer Beleuchtung"
(Pädagogische Warte 12. Jahrg. Heft 3.) S. auch Salzmann. —
„Geschichte der I. deutschen Gymnastischen Lehranstalt, er-
öffnet an der Universität Erlangen im Frühjahr 1806 durch
Dr. J o h. Adolf Carl Roux" ist der Titel einer lesenswerten
Abhandlung von Hermann Kühr. (Leipzig, Paul Eger, VI u.
82 S. 8°, 1,50 Mk., auch Erlanger Dissertation.) Roux bildete
die notwendige Ergänzung zu Jahn und Guts Muths, „als er
das von ersterem ins Volk getragene und von letzterem auf
wissenschaftliche Basis gestellte Turnen gewissermaßen hof-
fähig machte, indem er ihm eine Heimstätte an der deutschen
Universität bereitete und seine Existenzberechtigung an dieser
mit unerschütterlicher Ueberzeugungstreue und bewunderns-
wertem Mannesmut gegenüber den akademischen Kreisen,
gegenüber Regierungen und Königen zu vertreten verstand."
Die frisch geschriebene Broschüre fußt allenthalben auf archi-
valischen Studien und fördert infolgedessen viel Neues und
Interessantes — auch vom kulturgeschichtlichen Standpunkte
aus — zutage. — „Die ideale Ausgestaltung der Persönlich-
keit im Sinne Friedr. Rückerts" ist der Titel eines Aufsatzes
von P. Hähne 1 im Praktischen Schulmann (1906, No. 6). Eine
andere Abhandlung von demselben Verfasser in derselben Zeit-
schrift (1906, No. 3) heißt: „Friedrich Rückert über sittliche
und über religiöse Bildung des Menschen." — Ruhnkenius, s.
Fr. A. Wolf. — „Der heilige Johann Baptist de la Salle
als Pädagog" ist der Titel eines Buches von Bern ad in
Millinger. (Dülmen i. W., Laumann, 136 S. 8°, brosch.
1,20 Mk.) Dieser große französische Pädagog wurde im Jahre
1900 von Papst Leo XIII. heilig gesprochen. Nach Dillinger
war dies „eines der wichtigsten Ereignisse der Jahrhundert-
wende." Zur Charakterisierung des Schriftchens noch einige
Sätze: „Die Worte . . . zeigen uns die Verheerungen der
Reformation im Schulwesen Frankreichs." „Hier ist mehr
als Francke und Pestalozzi ! Der heilige de la Salle hat die ge-
nannten großen und mit Recht berühmten Pädagogen nicht bloß
9*
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Theodor Fritstch.
an Hochherzigkeit und Opferwilligkeit, sondern auch an organi-
satorischem Talente übertroffen' 4 u. s. f. — In einer Erlanger
Dissertation (58 S. 8°) beantwortet E. Thiem die Frage: „Wie
weit erscheint Christian Gotthilf Salzmann von Jean Jac-
ques Rousseau beeinflußt?" — Briefe eines alten
Schulmannes. Aus dem Nachlasse des Provinzial-Schulrates
und Geh. Regierungsrats Dr. Carl Gottfried Scheitert,
herausgegeben von Friedrich Schulze. (R. Voigtländers
Verlag in Leipzig. V u. 312 S. 8 °. Mit einem Bildnis Scheiberts.
Geh. 5 Mk., geb. 6 Mk.) Wie das Vorwort mitteilt, geht der
Plan dieser Publikation auf den Verleger zurück. Wir müssen
ihm dafür danken, daß er weiteren Kreisen Gelegenheit ge-
geben hat, von den schönen Briefen Kenntnis zu erhalten. Es
ist zwar nur der sechste Teil des vorhandenen Materials ab-
gedruckt worden, aber schon dies genügt — dank der sorg-
fältigen Auswahl des Herausgebers — ein scharfes Bild des
„alten Schulmannes* 4 zu zeichnen. Auch manche aktuelle Frage
erfährt dabei eine treffende Beurteilung. Dem Buche ist
weiteste Verbreitung zu wünschen! — Als Nachklänge zum
Schillerjahr liegen zwei Arbeiten thüringischer Schul-
männer vor : 1 . Schillers Idealismusund Lehrerschaft
und Schule der Gegenwart. Stimmungsvortrag, gehalten
1905 auf der 26. allgemeinen meiningischen Landes-Lehrerver-
sammlung von Direktor Dr. H ä n ß e 1 - Saalfeld a. S. (Verlag
von Richard Böhm, Leipzig-Plagwitz. 12 S. 8°.) Redner findet
Schillers Vermächtnis an die Lehrer im Festhalten am Optimis-
mus, im Eifer um innere Klärung und im Ringen nach innerer
Freiheit, seine Bedeutung für die Schule der Gegenwart aber
in dem hohen Ziele der Erziehung, ästhetisch-moralische
Menschen zu bilden, ferner in der schönen Aufgabe des Unter-
richts, wahre Kunst in die Schule hineinzutragen, und endlich
in dem herrlichen Ideale einer Schule, in welcher Lehrer und
Kind durch liebende Hingabe, die Lehrer unter sich aber durch
gemeinsames Pflichtbewußtsein verknüpft sind. Die Arbeit
atmet Schillerschen Idealismus in der Schwungkraft ihrer Ge-
danken und ihrer Sprache. 2. Schiller und seine Be-
deutung für die Schule, insbesondere für die Volks-
schule. Eine Würdigung seines Lebens und seiner Werke vom
pädagogischen Standpunkte aus. Von Rektor Otto Eismann-
Eisenberg. (Langensalza. Schulbuchhandlung von F. G. L.
Die Geschichte der Pädagogik im Jaltre 1906.
133
Gießler. 1906. 55 S. 8°, geh. 50 Pfg.) Diese Arbeit bemüht
sich, mehr in die Breite gehend, Schillers Bedeutung für die
Schule hervorzuheben und untersucht zu diesem Zwecke den
pädagogischen Wert 1 . seiner philosophisch-ästhetischen Schrif-
ten, 2. seiner dichterischen Werke und 3. seines Lebens und
seiner Persönlichkeit. Der 1 . Teil : „Zum Gedächtnisse Schillers"
kann ohne Schaden wegfallen. (H. Schanze.) — Die Programm-
arbeit des II. deutschen Staatsgymnasiums in Brünn handelt
über die Beziehungen zwischen Ethik und Aesthetik in Schillers
philosophischen Schriften (28 S. 8°). Ihr Verfasser ist Benno
Krichenbauer. — „Die Abhängigkeit der Ethik Schleier-
machers von der Metaphysik" ist Gegenstand einer Erlanger
Dissertation von W. Schwaz (34 S. 8°). — Das deutsche
Schullesebuch und Christoph von Schmid. Eine kri-
tische Studie als Beitrag zur Lesebuch- und Jugendschriften-
frage von Paul Lang, Würzburg. (Leipzig, Verlag von Ernst
-Wunderlich. 175 S. 8<>, geh. 2 Mk., geb. 2,50 Mk.) Durch sehr
gründliche und umfassende Einzeluntersuchungen gelangt Ver-
fasser zu dem Ergebnis, daß sich die „Kleinen Erzählungen"
Schmids hauptsächlich ihrer inneren Unwahrheit wegen als
Jugendlektüre verbieten. Aesthetische und pädagogische
Gründe führen zu diesem scharfen Urteil. Lesebücher besonders
sollten weder die Erzählungen selbst noch ihre verschiedenen
Bearbeitungen durch Lesebuchverfasser aufnehmen ; denn „das
Lesebuch soll eine Sammlung des Besten sein, was die schön-
geistige Arbeit unseres Volkes auf literarischem Gebiete ge-
leistet hat" und „die Erzählungen Schmids gehören nicht dazu",
Den „Hamburgern" ist in diesem süddeutschen Kämpen ein
kundiger und zielbewußter Mitstreiter erstanden, dessen Werk
insbesondere von allen Lesebuchverfassern studiert werden
möchte. (H. Schanze.) — Max Schmidt stellt Schopen-
hauers Bemerkungen über Erziehung und Unterricht zu-
sammen. (Pädagog. Warte, 12. Jahrg. Heft 16.) — Heft 280
des Pädagogischen Magazins, herausgegeben von Friedrich
Mann, enthält : „Schopenhauers pädagogische Ansichten im Zu-
sammenhange mit seiner Philosophie" von Otto Arnold.
(Langensalza, Beyer & Söhne, VI u. 129 S. 8°, 1,60 Mk., zu-
gleich Leipziger Dissertation.) Endlich muß noch auf die
Schopenhauer-Ausgabe verwiesen werden, die in den Büchern
der Weisheit und Schönheit, herausgegeben von J. E. Freih.
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Theodor Fritz ich.
von Grotthuß, erschienen ist und den Titel führt: „Arthur
Schopenhauer. Sein philosophisches System nach dem Haupt-
werk „Die Welt als Wille und Vorstellung, vorgeführt von
Otto Siebert.' 4 (Stuttgart, Greiner u. Pfeiffer. 182 S. 8°, eleg.
geb. 2,50 Mk.) Das bei „Montaigne" Gesagte gilt auch von
diesem Bande. — Trapp, s. u. III. — A. Hackemann be-
handelt Adalbert Stifter als Schulmann in der Zeitschrift für
den deutschen Unterricht (1. Heft) und in der Pädagogischen
Warte (12. Jahrg. Heft 20) hat er einen Aufsatz: „Zur Er-
innerung an Adalbert Stifter." — In einem Aufsatze der Zeit-
schrift für Philosophie und Pädagogik (14. Jahrg. 2.-4. Heft)
der sich betitelt: „Die arithmologischen und wahrscheinlich-
keitstheoretischen Kausalitäten als Grundlagen der Strtirapell-
schen Klassifikation der Kinderfehler," zeigt W. G.
Alexejeff in Dorpat, daß die Strümpellschcn klassischen Unter-
suchungen über die Kindcrfehler in ihren Grundlagen von
Hauptideen der Herbartschen Philosophie nicht ab-
weichen. — Prof. Theodor Vogt, der verdienstvolle Vorsitzende
des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik, der durch 25 Jahre
hindurch diesen Verein geleitet und seine Jahrbücher und die
anderen Publikationen redigiert hat, ist am! 10. Nov. in Wien
gestorben. Nachrufe finden sich in der Zeitschrift für Philo-
sophie und Pädagogik, herausgegeben von Flügel, Just und
Rein, und in den Deutschen Blättern für erziehenden Unter-
richt (1906/07 No. 11). Einer seiner Schüler (Prof. Falbrecht
in Wien) zeichnet ein warmempfundenes Bild seines Lebens
und Wirkens in den Pädagogischen Studien, herausgegeben
von M. Schilling (28. Jahrgang, 1. Heft) und einen Nekrolog
Vogts mit einem Verzeichnis seiner Schriften und Aufsätze
gibt Theodor Fritzsch in den Mitteilungen der Gesellschaft
für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte (17. Jahrg., 1.
Heft). — Th. Waitzs pädagogische Grundanschauungen stellt
in ihrem Verhältnis zu seiner Psychologie, Ethik, Anthropologie
und Persönlichkeit — zum Teil auf Grund ungedruckten
Materials — dar O. Gebhardt in einer Leipziger Dissertation
(140 S.). Im Anschlüsse daran zeigt 'Otto Flügel in teiner
größeren Abhandlung („Herbart und Th. Waitz", Zeitschrift
ür Philosophie und Pädagogik, I4. Jhrj*. 5. Heft), daß Waits durchaus
jnicht soweit sich von Herbart entfernt hat, wie es Gebhardt annimmt—
Auf einen vergessenen Pädagogen der Aufklärungszeit, Johann
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Karl .Wezel (1747 — 18 19) macht Theodor Fritzsch aufmerk-
sam in der Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik, heraus-
gegeben von Flügel, Just und Rein (13. Jahrg. 11. Heft). In
dem Aufsatze: „Zur Geschichte der Kinderforschung und
Kinderbeobachtung" weist er nach, daß es nicht richtig ist,
wenn man D;, Tiedemann als den Begründer der Kinder-
psychologie bezeichnet. Vor ihm haben die Philanthropen schon
Erhebliches auf diesem Gebiete geleistet. Insbesondere ist
Wezel zu nennen, der als einer der ersten, eine jexakte Be-
gründimg der Pädagogik gefordert hat. — Winkelmann. Wil-
helm Diehl, der schon durch die Herausgabe der
„Schulordnungen des Großherzogtums Hessen" und
durch andere Arbeiten sich um die Geschichte der Päda-
gogik verdient gemacht hat, bringt als drittes Heft seiner
„Quellen und Studien zur hessischen Schul- und Universitäts-
geschichte" einen Neudruck einer unbekannten, aber wirklich
bedeutenden Schulschrift Hessens aus dem 17. Jahrhundert:
„Einfältiges Bedencken nnd Anzeige, Woher es komme, daß
heutiges Tages die Jugend sehr verzogen, Sprachen und freye
Künste nichts geachtet, und in Erlernen deroselben grose Müh,
lange Zeit und viel Kosten öfters vergeblich angewendet werden.
Darbey allerhand Gattungen und Mittel gezeiget werden, auf
was Weise eine gute Gottwolgefällige Kinderzucht anzustellen ;
Wie die Studien wieder in Aufnehmen zubringen ; und wie die
Sprachen und freye Künste mit geringerer Müh und Kosten
in kurtzerer Zeit, als bißherr geschehen, zulernen seyen. Durch
Johan-Justum Wynkelmann von Gicssen." Mit einem
Vorwort, Nachwort und Register. (Selbstverlag des Heraus-
gebers Dr. theol. Dr. phil. Wilh. Diehl, Pfarrer zu Hirsch-
horn a. Neckar. 208 S. 8°.) Winkelmann war ein Schüler
von Balthasar Schuppius, der Historiker an der Marburger
Universität war, als Winkelmann dort als Stipendiat studierte.
Schuppius hat, wie Diehl berichtet, den jungen Studenten
gerade auf diejenigen Probleme gebracht, die ihn selbst in
seiner Marburger Professorentätigkeit jahrelang beschäftigten.
Das „Einfältige Bedenken" wurde in Frankfurt geschrieben,
wo Winkelmann sich einer „herrlichen Bibliothek" und „reicher
Buchladen" bedienen durfte. So konnte er unter Benutzung
der Ausführungen vieler pädagogischer Scriftsteller der Ver-
gangenheit und Gegenwart seine eigenen Gedanken darlegen.
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136
Theodor FriUtch.
Auf seinen Reisen hatte er zudem den furchtbaren Nieder-
gang im Bildungswesen kennen gelernt, den der Krieg
dem hessischen Gebiete, „in dem früher sogar die Dorfschul-
meister zumeist lauter studierte Leute gewesen waren," gebracht
hatte. Winkelmann zitiert in seinem Buche außerordentlich
viele Schriftsteller. Dadurch wird der Geschichte der Päda-
gogik wieder ein großes Feld der Forschung eröffnet. Die
ganze Schrift enthält viele Gedanken, die uns ganz modern
anmuten (z. B. S. 105 über den Handfertigkeitsunterricht). So
kann man sich dem Wunsche des Herausgebers anschließen:
„Dem herrlichen Büchlein, dessen Preis so niedrig wie möglich
gesetzt worden ist, wünsche ich, daß es in seiner neuen Gestalt
recht viele Leser findet, die es nicht bloß als Dokument aus
der Vergangenheit, sondern auch als Buch für die
Gegenwart recht eifrig studieren und seine Gedanken be-
herzigen." Der Festschrift zum Jubiläum der Universität Gießen
aber, die 1907 aus der Feder des gelehrten Herausgebers zu
erwarten ist, sehen wir mit Spannung entgegen. — Referate
über dasselbe Buch und seine Bedeutung gibt Kahl in zwei
Aufsätzen („Monatsblätter für die Schulaufsicht" VI. S. 75 ff.
und „Kehrs Pädagogische Blätter" XXXV. S. 20 ff. u. S. 122 ff.
Gotha, Thienemann). K. Credner feiert „Ludwig Wiese
als praktischen Schulmann" zur Hundertjahrfeier seiner Ge-
burt in einem Jüterboger Programm (33 S. 4°). — Als IV. Bändchen der
Sammlung „Kultur und Katholizismus" herausgegeben von Martin
Spahn, erschien : O. Willmann und seine Bildungs-
lehre von J. B. Seidenberge r. (München und Mainz,
Verlag von Kirchheim & Co. VIII u. 89 S. kl. 8°. In moderner
Druckausstattung mit einer Titelgravüre elegant kartoniert
1,50 Mk.) Im Jahre 1903 trat Otto Willmann in den Ruhe-
stand. Von Prag siedelte er nach Salzburg über. Gewiß haben
unerquickliche politische Verhältnisse diesen Schritt beschleu-
nigt. Denn in Wirklichkeit finden wir Willmann nicht im
„Ruhe"stande, sondern in rastloser Tätigkeit. „Es scheint mit
mir," schreibt er selbst in einem Brief, „wie mit Gladstone
zu gehen, der erst nach Ueberschreitung des 60. Jahres im-
pulsiv wurde. Wenn nur die Kraft anhält." Die vorliegende
vorzügliche Studie macht uns nicht nur mit dem Leben des
hervorragenden Gelehrten bekannt, sondern führt auch in sein
Werk, insbesondere in die „Didaktik als Bildungslehre" ein.
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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1900.
137
„Sie sucht die Grundzüge der Willmannschen Bildungslehre
faßlich wiederzugeben und sie verstehen zu lehren im Gesamt-
gefüge des geistigen Ringens unserer Zeit." Sie orientiert über
die Zeit- und Streitfragen in der Didaktik, über ihre Sprache
und geschichtliche Stellung, über den Anteil des Katholizismus
an Willmanns Werk, vor allem auch über die Wirkung auf
größere pädagogische Werke der Gegenwart. Dabei erweist
sich der Verfasser nicht nur als gründlicher Kenner der Will-
mannschen Gedankenwelt, er versteht es auch, diese Gedanken
einem größeren Leserkreis nahe zu bringen. Mancher Leser
dürfte dadurch veranlaßt werden, das großartig angelegte und
einheitlich durchgeführte Werk Willmanns selbst zu studieren«
Druckfehler finden sich S. 13, S. 40, S. 54. — Siegfried
Reiter behandelt in den Neuen Jahrbüchern für das klassische
Altertum (1906. II. Abt. 1 ff. u. 83 ff). Friedrich August Wolf
und David Ruhnkenius. Einige ungedruckte Briefe Wolfs sind
beigefügt. Reiter plant eine Ausgabe der Briefe Wolfs und
bittet Besitzer von Wolfschen Briefen, ihm hiervon Kenntnis
zu geben. — Berthold Schulze handelt im Pädagog. Archiv (1906,
H. 12) „über Heinrich Kleists Universitätslehrer Wünsch". — In den
Neuen Jahrbüchern für das klassische Altertum (herausg. v. Ilberg
u. Gerth, Jahrg. 1906, II. Abt. 6. Heft, S. 305 ff.) behandelt
Gerhard Budde „Tuiskon Zillers Gedanken über eine
aktuelle Frage der gegenwärtigen Gymnasialpädagogik". Ziller
verlangt bekanntlich, daß an allen Schulen den Hauptklassen
Nebenklassen beigegeben werden. Die Hauptklassen haben den
Gesichtspunkt der Erziehung rein zu verfolgen, die Neben-
gassen müssen als Vorbereitungsstätten für die Pflege der
speziellen Interessen des Lebens und der Gesellschaft, für den
künftigen Beruf dienen. Dadurch würde die Individualität ge-
schont und ihr freie Bewegung gewährt, das allgemein Not-
wendige aber nicht versäumt. Neuerdings wird von zwei vor-
tragenden Räten im preußischen Kultusministerium der Ge-
danke der größeren Berücksichtigung der individuellen Eigen-
art der Schüler und einer dadurch bedingten freieren Gestal-
tung des Oberkursus lebhaft verfochten. Auch hatte das säch-
sische Ministerium auf die Tagesordnung der Rektorenver-
sarn *nlung in Dresden (2. Juli) die Frage gesetzt: „Wie stellen
sic n die Rektoren zu der sogenannten „Bewegungsfreiheit" im
Unterricht der obersten Klassen?" S. auch unter III.
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138 Theodor FVitettft.
III. Fächer und Methoden.
Bruno Tittmann hat im Praktischen Schulmann (1906,
1 . Heft) „T r a p p s Methode, fremde Sprachen zu
lehren" einer eingehenden Analyse und Kritik unterzogen.
Damit hat er einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des
fremdsprachlichen Unterrichts geliefert. Er kommt zu dem
Schlüsse, daß Pinloche dem Philanthropen in keiner Weise
gerecht wird, wenn er seine Methode als Methode empirique
und Methode des gouvernantes bezeichnet. — Als Fortsetzung
der im vorigen Berichte angezeigten „Geschichte der fremd-
sprachlichen schriftlichen Arbeiten an den höheren
Knabenschulen von 18 12 bis auf die Gegenwart" von G.
Budde, sind nun Buddes Reformvorschläge erschienen in der
Schrift: „Zur Reform der fremdsprachlichen schriftlichen Ar-
beiten an den höheren Knabenschulen von GerhardBudd e."
(Halle a. S., Buchhandlung des Waisenhauses. 56 S. 8°, geh.
1 Mk.) — Max Brethfeld liefert einen Beitrag „zur Geschichte,
Kritik, Theorie und Praxis der Herbart-Zillcrschen Unter-
richtsmethode, besonders der Formalstufen 44 in der Zeitschrift
„Der Praktische Schulmann" (1906, 2. Heft). — Lesen
s. Schmid. — Naturgeschichte, s. G. E. Fischer,
F. Junge. — Friedrich Franke setzt seine Kritik der
v. Sallwürkschen Normalformen in äußerst scharf-
sinniger Weise in den Pädagogischen Studien, heraus-
gegeben von Max Schilling (1906, 5. Heft, S. 321 — 345, cf.
Jahrg. 1903, 6. Heft, S. 402 — 425) fort. Hier soll nur das
herausgegeben werden, was Franke vom historischen Stand-
punkte aus einzuwenden hat: 1. Ziller kam zu seiner Durch-
arbeitungsnorm nicht durch Mißverständnis der Lehre Her-
barts, wie v. Sallwürk jetzt immerfort behauptet, sondern durch
Kritik und Fortbildung derselben, und Zillers Schule hat den
Unterschied zwischen den beiden Theorien nicht so allgemein
verkannt, wie v. Sallwürk behauptet, sondern die gründlichste
Auseinanderlcgung derselben gegenüber der Vermischung von
anderer Seite ist gerade von der Zillerschen Schule (Glöckner
u. a. im Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik,
Jahrg. 1891) geleistet worden. Diese Anklagen hat v. Sall-
würk auch erst in neuerer Zeit erhoben, früher dagegen im
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Die Oeechiehte der Pädagogik im Jahre 1906. 139
wesentlichen dieselben Ansichten vertreten, die er jetzt der Ver«
mengung beider Theorien anklagt. 2. Im einzelnen hat v. Sall-
würk über Zillers Methode vielfach falsch berichtet, so über
Zillers Herausarbeiten, über die Benutzung der fach wissenschaft-
lichen Lehrbücher, über das Verhältnis der Schulwissenschaften
zu den reinen Fachwissenschaften und der psychologischen
Unterrichtsmethode überhaupt zur Logik. 3. E. v. Sallwürks
eigene Durcharbeitungsnorm deckt sich vielfach mit Zillers for-
malen Stufen (wie auch Paul Barth in seinen „Elementen"
[s. 0.] hervorhebt); aber indem er auf seiner Ergebnisstufe
fordert, dem Schüler solle das „Ergebnis in vollständig durch-
gearbeiteter und gereinigter Form mitgeteilt werden," tut er
einen bedenklichen Rückschritt, denn das „Mitgeteilte" ist tat-
sächlich zum Teil eine Form für einen Inhalt, den der Schüler
noch nicht besitzt. — „Die Neperschen Rechenstäbchen
aus dem 17. Jahrhundert" und ihre Anwendung beschreibt
Joseph Heigenmooser in den „Mitteilungen der Gesell-
schaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte". (XVI.
Jahrg. S. 131— 162.) — Schulgesundheitspflege. Ueber die
älteste Hygiene der geistigen Arbeit, die Schrift des Marsilius
Ficinus de vita sana sive de cura valetudinis eorum, qui in-
cumbunt studio litterarum vom Jahre 1482 referiert ausführ-
lich Wilhelm Kahl in den Neuen Jahrbüchern für das
klassische Altertum u. Pädagogik. (Neunter Jahrgang, XVIII.
Band, Heft 8 ff.) — „Herbartianismus und Turnunter-
richt" von R. Reischke ist der Titel des 270. Heftes des Päda-
gogischen Magazins, herausgegeben von Friedrich Mann.
(Langensalza, Hermann Beyer & Söhne, 24 S. 8 °, 30 Pfg.) Doch
ist die Darstellung in bezug auf Herbart nicht ganz einwands-
fai> da Herbart auch noch an andern Stellen als in den an-
gezogenen vom Turnen redet. — Im 276. Heft des Pädagogi-
schen Magazins, herausgegeben von Friedrich Mann, befindet
sich eine kritisch-historische Quellenstudie von A. Haustein:
»Der geographische Unterricht im 18. Jahrhundert."
(Langensalza, Hermann Beyer & Söhne. 58 S. 8°, 80 Pfg.)
In zweiter Auflage ist erschienen Heft 169 desselben Maga-
rins: „Die neuen Bahnen des erdkundlichen Unterrichts. Streit-
fragen aus alter und neuer Zeit. Von R. Fritzsche " (Ebenda,
*2i S. 80, 1,50 Mk.)
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140
Theodor FriUsch.
IV. Schulgattungen.
Fürstenschulen: S. Joachimsthal, Geographus Lau-
rentinus. Gymnasien, Realgymnasien, Gelehrten-
schulen: S. Allgemeines, Neumark, Württemberg, Baden,
Hamburg, Troppau. Handelsschulen: S. Berlin. Real-
schulen: S. Bremen, Mainz, München. Seminare: S.
Thorn. Taubstummenanstalten: S. Graser. Univer-
sitäten: S. Allgemeines, Hessen, Rostock, Roux. Volks-
schulen: S. Allgemeines, Bayern, Frankreich, Hessen, Mark,
Preußen, Württemberg, Dresden, Leipzig, Philanthropinismus,
Rochow, Roßmäßler.
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Sitzungsberichte.
Gesellschaft für Psychologie in Wien.
Vor kurzem ist das erste Bestandsjahr der Gesellschaft für Psychologie
in Wien abgelaufen, deren konstituierende Generalversammlung am
'S« Januar 1906 stattgefunden hat. Diese Neugründung in Wien, wo
bekanntlich seit vielen Jahren eine Philosophische Gesellschaft
an der Universität (zurzeit unter dem Vorsitz von Professor J o d 1) ihre
rege Tätigkeit entfaltet, spiegelt im kleinen eine offenkundige Tatsache in
der großen modernen Wissenschaftsentwicklung wieder : Die nach und nach
immer mehr sich vollziehende Loslösung der Psychologie von der Philosophie
und Ausgestaltung zur völlig selbständigen Fachwissenschaft. Dem ent-
spricht es auch insbesondere, daß die neugegründete Gesellschaft im Gegen-
satze zur philosophischen, die gerade das Interesse für ihr Arbeitsgebiet
in weiteren Kreisen zu vertiefen bemüht ist, eme mehr geschlossene Arbeits-
-gesellschaft darstellt, die als ordentliche Mitglieder nur im Fachgebiete
literarisch sich Betätigende zuläßt. Sowie es aber in der früher heran-
gezogenen natürlichen Entwicklung wünschenswert ist, daß die Psychologie
ihre Zusammenhänge mit den allgemeineren philosophischen Problemen' nie-
mals gänzlich unterbinde, so beabsichtigt auch die Gesellschaft für Psychologie
in Wien dieses Verhältnis zur Philosophie stets im Auge zu behalten,
wenngleich sie vorzugsweise den speziellpsychologischen Gebieten, insbesondere
der infolge höchst ungünstiger äußerer Verhältnisse in Wien bisher stark
vernachlässigten experimentell-physiologischen Psychologie ihre Aufmerksam-
keit schenken will. Als ein gutes Omen, gerade auch nach dieser Richtung,
darf es wohl angesehen werden, daß Professor Stöhr, der Vertreter der
experimentellen Psychologie an der Wiener Universität, das Präsidium der
Gesellschaft übernommen hat, und neben Vertretern der Psychologie und
Philosophie auch zwei Aerzte in den Ausschuß eingetreten sind.
Der eine von diesen beiden, Herr Primarius Dr. S. Kornfeld,
war es auch, der in der ersten Gesellschafts-Vcrsammlung, am 23. Februar
19°6, den Reigen der Vorträge bezw. Referate eröffnete. Dr. Kornfelds
Thema lautete:
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142
Sitzttnqsberichtc.
Ucber energetische Auffassung psychischer Vorgänge
auf Grund der Blutdrucksmessung.
Die durch mehrere Jahre systematisch fortgesetzten Messungen des
arteriellen Blutdrucks am Menschen haben ergeben, daß die Gemüts-
stimmung von wesentlichem Einfluß auf die Höhe des Blutdrucks ist und
zwar in dem Sifrine, daß regelmäßig mit Uebergang von guter zu schlechter
StbnmHwg eine Erhöhung, von schlechter zu guter Stimmung eine Er-
niedrigung eintritt; daß Lustgefühle jeder Art von Erniedrigung, Unlust-
gefühle von Erhöhung des Blutdrucks begleitet sind; daß insbesondere
die Affekte des Schrecks, der Angst, des Kummers und des Zorns mit
starken Erhöhungen cinhergehen ; ferner daß jedem Gefühle der Anstrengung
eine Blutdruckserhöhung parallel geht, deren Maß dem Grade der An-
strengung entspricht. Jede mit einem WHlensimpuls oder mit Aufmerksam-
keit einhergebende — körperliche oder geistige — Tätigkeit geht mit einer
Blutdruckssteigerung einher, welche, wie sich mittels Dynamometerversuche,
aber auch mittels einfacher geistiger Arbeitsleistungen, z. B. Rechnen, Aus-
wendiglernen und dergl. überzeugend dartun läßt, mit dem Grade der
subjektiven Anstrengung zugleich zunimmt oder abnimmt. Die einer be-
stimmten, objektiv meßbaren Arbeitsleistung entsprechende Blutdrucks-
steigerung ist bei verschiedenen Individuen, aber auch bei demselben In-
dividuum, je nach seiner augenblicklichen physischen und psychischen Ver-
fassung, verschieden. Wird der Blutdruck künstlich erhöht, was z. B. durch
Sinnesreize, die unangenehm empfunden werden, wie Kälteeinwirkung auf
die Haut oder die Schleimhäute, hohe Stimmgabcltöne, schmerzerzeugende
Mittel leicht gelingt, so ist die einer bestimmten Arbeitsleistung entsprechende
Blutdruckssteigerung höher, als bei niedrigerem Ausgangsdrucke; wird hin-
gegen der Blutdruck künstlich erniedrigt, was u. a^ durch Einwirkung elek-
trischer Ströme leicht zu bewirken ist, dann ist die derselben Leistung ent-
sprechende Blutdruckserhöhung geringer. Allgemein gilt der Satz, daß,
je höher bei demselben Individuum der Ausgangsdruck ist, um so höher
auch die mit der gleichen Arbeitsleistung einhergehende Blutdruckssteige-
rung ausfällt. Diese ist aber auch von dem Grade der Ucbung abhängig;
mit zunehmender Uebung nimmt die mit einer bestimmten Leistung ver-
bundene Blutdruckssteigerung, entsprechend der verminderten subjektiven
Anstrengung, ab.
Mit Vollendung der Arbeit erfolgt Absinken des Blutdrucks, welches
tief unter den Ausgangsdruck gehen kann, in welchem Falle die Vollendung
der Arbeit von lebhaften Lustgefühlen begleitet ist, oder auch das ursprüng-
liche Niveau nicht erreicht, wie die3 für die Ermüdung charakteristisch ist.
Mit eintretender Ermüdung werden die den gleichen objektiven Arbeits-
leistungen entsprechenden Blutdruckssteigerungen immer größer, während
das nachfolgende Absinken immer geringer wird, so daß die Blutdrucks-
erhöhung länger andauert. So vermag die Blutdruckssteigerung als ob-
jektives Maß für die Ermüdung zu dienen. Die Kurven, welche die mit
der Vollbringung einer Arbeit einhergehenden Aenderungen der Blutdrucks-
höhen versinnlichen, geben Anhaltspunkte für die Vergleichung der Leistungs-
fähigkeit verschiedener Individuen auf demselben Gebiete, wie auch des-
selben Individuums auf verschiedenen Gebieten.
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Sitxungtherich le.
143
Was von der Muskelarbeit und der geistigen oder intellektuellen Arbeit
im engeren Sinne gilt, rindet allgemein auf alle Leistungen des Organismus
Anwendung, insbesondere läßt sich zeigen, daß die Atmung, die Herztätig»
keit, die chemischen Vorgänge im Organismus um, so schwerer und mangel-
hafter von statten gehen, je höher der Blutdruck bereits ist. Auch bezüglich
der Drüsentätigkeit lehrt die Erfahrung, daß ebenso wie bei der Muskel-
arbeit und der geistigen Arbeit mit Vollendung derselben, also mit jeder
wirklich vollbrachten Sekretion der Blutdruck absinkt. Wird der Blutdruck
künstlich erhöht, so treten von einer gewissen — individuell verschiedeneu
- Grenze an, ohne daß eine weitere Erhöhung gelingt, individuell ver-
schiedenartige Phänomene auf und zwar Bewegungserscheinungen, oft rhyth-
mischer Art, oder Sekretionsvorgänge oder endlich — allgemein ausgedrückt
— Förderungen im Vorstellungsablauf. Dieselben Phänomene sind auch
bei Blutdruckssteigerung durch Unlustgefühlc oder durch Affekte zu be-
obachten und können nur als Entlastungsvorgänge aufgefaßt werden, durch
welche die innere Erregung ausgeglichen wird; denn sie sind stets mit
einem Absinken des Blutdrucks oder mit einer Hemmung des weiteren
Anstiegs bei Fortwirken der drucksteigemden Momente verbunden. So wie
die der gewollten Arbeit entsprechende subjektive Anstrengung durch die
mit ihr einhergehende Blutdruckssteigerung gemessen wird, so kann der
subjektive Arbeitswert der unwillkürlich sich einstellenden, durch innere
Spannungszustände hervorgerufenen intellektuellen Vorgänge, zu denen die
„Einfälle", wie überhaupt die Phantasievorgänge gehören, ferner der Drüsen-
und der Muskelphänomene mittels des durch dieselben herbeigeführten Ab-
falls des Blutdrucks gemessen werden. Intellektuelle Tätigkeit, Muskd-
und Drüsentätigkeit erscheinen nun in einem bestimmten Aequivalenzverhältnis
und können auf ein einheitliches Maß, welches in der Beeinflussung des
Blutdrucks gegeben ist, zurückgeführt werden. Damit eröffnet sich auch
der Ausblick auf die Möglichkeit, die zu einer konkreten intellektuellen
Leistung verbrauchte Arbeit in einem absoluten Maße, in Kalorien aus-
zudrücken. Eine allgemeine Umrechnung der verschiedenen Arten intellek-
tueller Tätigkeit auf ein solches Maß ist dem Gesagten zufolge nicht
möglich; denn die jeweilige Konsumtion des Organismus' oder der jeweilige
Arbeitsverbrauch ist wie bei der Muskel- und bei der Ürüscntätigkeit von
einer Reihe von subjektiven Faktoren abhängig, die jeweils in dem Aus-
gangsdruck und in der die Leistung begleitenden Blutdrucksänderung zur
Geltung kommen. Der in jedem Zeitmoment bestehende Blutdruck ist die
algebraische Summe der Wirkungen aller in dem gegebenen Moment im
Organismus von statten gehenden, den Blutdruck erhöhenden oder erniedrigen-
den Vorgänge; er beeinflußt jeden einzelnen dieser Vorgänge und wird auch
*on jedem einzelnen beeinflußt. Er darf somit als Ausdruck der in jedem
Moment herrschenden Stimmung gelten. Die jeden einzelnen dieser Vor-
gänge begleitende Erhöhung oder Erniedrigung des Blutdrucks ist zugleich
der Maßstab für das diesen Vorgang begleitende Unlust-, resp. Lustgefühl;
die mit allen aktiven oder passiven Aenderungen der Funktionen des Organis-
mus einhergehenden Blutdrucksschwankungen stellen zugleich das Maß für
die Ergriffenheit des Gemütes dar. So kann also die Blutdrucksmessung
wie für die Willensanspannung und für die intellektuelle Tätigkeit auch
für das Gemütslcben im ganzen einen Maßstab bieten, einerseits indem sie
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144
Sitzungsberichte.
die Intensität der Lust- und der Unlustgefühle objektiv zu messen ermög-
licht, andererseits indem sie die Erregbarkeit des Gemütes durch Reize
bestimmter Art objektiv anschaulich macht und so eine — totale oder
partielle — erhöhte oder verminderte Erregbarkeit de* Gemütes dem objek-
tiven Nachweis zugänglich macht.
Unfallsneurosen.
Am 9. März demonstrierte Primarius Dr. Kornfeld im Anschluß an
den vorstehenden Vortrag zwei Fälle von sog. Unfallsneurosen, welche
geeignet waren, einen Teil der vorgetragenen Sätze zu illustrieren. In dem
einen Falle handelte es sich um eine hochgradige beiderseitige konzentrische
Einengung des Gesichtsfelds (bis auf 2 0 nach allen Richtungen), um Un-
fähigkeit, die Augäpfel willkürlich zu bewegen und um Aufgehobenem der
Schmerzempfindung in ausgedehnten Partien der Haut. Plötzlich einwirkende
Reize auf die unempfindlichen Netzhautpartien, welche sonst Ueberraschungs-
affekte hervorrufen, bleiben ohne jeden Einfluß auf den Blutdruck; ebenso
Versuche die Aufmerksamkeit auf derartige Reize zu lenken. Dies gelingt
erst, wenn solche Reize auf die empfindlichen Netzhautstcllcn fallen. Auf-
forderungen, die Augen in bestimmter Richtung zu bewegen, haben eben
falls nicht den geringsten Einfluß auf den Blutdruck; dabei fehlt jegliches
Gefühl der Anstrengung. Im Gegensatze hierzu wurden Fälle erwähnt,
bei denen Augenbewegungen nur mit Schwierigkeit erfolgen und immer von
erheblicher Blutdruckssteigerung begleitet sind. Bestreichung der Haut
beider Vorderarme mit dem faradischen Pinsel bei Anwendung maximaler
Stromstärke ruft weder Schmerzempfindung hervor noch übt sie irgend
welchen Einfluß auf den Blutdruck, während der Gegenversuch bei einem,
gesunden Individuum schon bei viel geringerer Stärke des Stroms beides
in deutlichem Maße erkennen läßt. In dem zweiten Falle fehlt in dem
rechton Arm bei erhaltener Ausführbarkeit sämtlicher Einzelbewegungen und
bei unverändertem Verhalten der Muskulatur sowohl peripheren Reizen gegen-
über als auch hinsichtlich des Ernährungszustandes die Fähigkeit zu jeder
erheblicheren Kraftlcistung. Ein Dynamometerversuch ergibt linkerseits einen
Händedruck von 35 kg mit gleichzeitigem Anstieg des Blutdrucks von
70 auf 85 mm, während rechterseits nur ein Druck von 3 kg ausgeübt
werden kann, wobei der Blutdruck nur einen Anstieg um 2—3 mm erfährt.
Es fehlt somit, vom subjektiven Gesichtspunkt, die Fähigkeit zur Anstrengung.
Der Ablauf des Lebens nach \V. Fließ.
In der dritten Versammlung, am 21. März 1906. sprach Herr Prof.
Dr. A. S t ö h r über das Werk von Wilhelm Fließ, Der Ablauf des
Lebens. Leipzig und Wien 1906, Fr. Dcuticke, 584 S.
Das Grundthenia des umfangreichen Werkes bilden die Periodizität
aller Lebenserscheinungen und die Zweigeschlechtigkeit einer jeden Zelle.
Die durchgängige Doppclanlage eines jeden Organismus ist eine An-
nahme, die zur Zeit des ersten Auftretens der Wcismannschcn Hypothesen
nahegelegt war und die Erklärung zahlreicher Tatsachen erleichterte. Lange
vor dem Erscheinen von Ü. Weiningers ,,Geschlecht und Charakter" war
diese Ansicht durch mündliche Tradition verbreitet. Auch ich habe mich
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Sitzungsberichte.
145
schon 1897 dazu bekannt 1 ) und sogar für Ausnahmefalle wie Bienen, Ameisen,
Termiten eine größere Zahl von parallelen Gesamtanlagen angenommen.
Ich glaube heute noch, daß eine dritte, vielleicht sogar eine vierte Gesamt
anläge gute Erklärungsdienste leistet, wenn es sich um eine besondere
Entwicklung des Gehirns handelt.
Andererseits wurde die Periodizität der Lebenserscheinungen vor vielen
Jahrzehnten als „Rhythmus der Lebens funktionen" bezeichnet. Der Glaube
an eine durchgängige Periodizität geht in ganz fernliegende Zeiten zurück.
Das Charakteristische und Neue an der Arbeit von Fließ liegt in
der originellen Verbindung der Periodizität mit der
Doppel an la ge.
Fließ geht aus von der Periodizität der Menstruation. Nehmen wir
die Intervalle mit 28 Tagen, so können wir 28 Tage die weibliche Periode
nennen. Wenn nun jede Zelle in jedem Organismus zugleich männliche
und weibliche Elemente enthält, so wird auch im männlichen Organasmus
die 28 tag ige Periode vorhanden sein, wenngleich sie sich anders als durch
Menstruation wird äußern müssen. Andererseits werden auch die männ-
lichen Elemente periodische Erscheinungen hervorbringen, deren Intervall
nicht notwendig auch 28 Tage sein muß. Da der weibliche Organismus
auch männliche Elemente enthält, so wird sich im weiblichen Organismus
eine zweite Periodizität bemerkbar machen können. Wenn sich diese zweite
Periodizität mit anderen Intervallen im weiblichen Körper ebenfalls durch
Menstruation äußert, so muß sich die Größe dieser Intervalle durch mathe-
matische Analyse finden lassen.
Ich zitiere hier als Beispiel für die von Fließ befolgte Methode eine
Menstruationstabelle (Seite 3): die Intervalle lauten: 23, 21, 26, 24, 21,
25, 16, 16. 13, 22. Nehmen wir als das eine von der Theorie geforderte
Intervall 28 Tage, und als das andere versuchsweise 23.
Wir beginnen mit I X 23. Das nächste Intervall 21 ist für die Theorie
ru spröde. Lassen wir es vorläufig beiseite und addieren wir 2 1 zu 26.
Wir erhalten 47 = 2 X 23 -f- 1. Der dritte Termin stimmt daher wieder
mit Vernachlässigung eines Tages. Der vierte Termin 24 kann als 23 -\- 1
aufgefaßt werden. Lassen wir den fünften Termin vorläufig außerhalb
der Ordnung und addieren wir 21 mit 25 zu 46 = 2 X 23, so ist der sechste
Termin wieder an einem gehörigen Platze. Zählen wir 16, 16 und 13 zu-
sammen, so erhalten wir 45 =3 2 X 23 — 1, und es stimmt [vorläufig der
neunte Termin mit der Differenz von einem Tage und ebenso der zehnte.
Wir haben im ganzen zwei Abweichungen von je -f- 1 Tage, und zwei Ab-
weichungen von je — 1 1 Tage, was sich sozusagen aufhebt.
Addieren wir zu dem siebenten Intervalle 16 die vier vorhergehenden,
so erhalten wir 16 -f- 25 -f- 21 -f- 24 26 = 112 f= 4 X 28. Der zweite
und der siebente Termin gehören zu einer Periode. Addieren wir femer
zum achten Intervalle 16 die zwei vorhergehenden, so erhalten wir
16 -}- 16 -f 25 = 57 =1 2 X 28 -f 1. Es ist also auch der fünfte und der
achte Termin in eine Ordnung gebracht.
Diese Methode der Periodcnzählung befremdet den Mathematiker, den
Naturfo rscher und den Logiker.
l ) Letzte Lebenseinheiten, Leipzig und Wien 1897, Seite 173.
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. \q
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146
Sitzungsberichte.
Zunächst das Mathematische. Nehmen wir an, daß von einem iden-
tischen Nullpunkte eine 28 tägige und eine 23 tägige Intervallreihe zu laufen
beginne. Der 23. Tag wird ein Termin für ein Ereignis sein; ebenso der
28. Wenn wir ferner eine Korrektur ^ 1 vornehmen dürfen, so wird auch
der 22., 24., 27. und 29. Tag ein Termintag sein können. Von o bis 44
einschließlich haben wir dann 6 Tennintage und 38 terminfreie Tage.
Sobald aber die Zahl der Tage 203 erreicht oder überschreitet, sobald ist
jeder Tag ein Termin, bezogen auf diesen Nullpunkt. Es ist 203 = 4 X *3
+.4X28 - 1; 204=^4X23 + 4 X 28; 205 = 4 X 33 + 4 X 26 + i;
206 = 9 X 23 — 1 ; 207 => 9 X 23 und so fort.
Naturwissenschaftlich wird 28 kaum ein Intervall für das Individuum
sein, sondern vielmehr eine Durchschnittszahl aus der Menge. Abgesehen;
davon, wirkt es befremdend, daß zwei Eiablösungen, die durch vier da-
zwischenliegende getrennt sind, als zwei aufeinanderfolgende Erscheinungen
behandelt werden, deren Intervall wie in diesem Beispiele 412 Tage beträgt.
Naturwissenschaftlich kann man höchstens das arithmetische Mittel aus den
Intervallen zwischen zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden Ablösungen ziehen.
Logisch wird man klare Begriffe verlangen. Was, liegt^ der männlichen
Periode zugrunde? Wie äußert sich die männliche Periode im männlichen
Organismus? Wenn sich die männliche Periode im weiblichen Organismus
gleichfalls durch Menstruation äußert, warum heißt sie dann männlich?
In der Zusammenfassung (S. 342) heißt es, allen Lebensvorgängen liegen
zwei Arten lebendiger Substanz zugrunde, die männliche und die weibliche
Substanz, deren elementare Verbände 23 beziehungsweise 28 Tage Lebens-
zeit besitzen. Was ist unter dem , .elementaren Verband" gemeint, und
was bedeutet der Ausdruck „Lebenszeit"?
Ich glaube, alle diese und andere Einwendungen hängen damit zu-
sammen, daß Fließ die Theorie festhält, daß seine fleißige Arbeit das Er-
gebnis einer exakten mathematischen Analyse ziffernmäßig ausgedrückter
Tatsachen mit Ausschluß jeder Hypothese sei. Das soll offenbar die Arbeit
empfehlen. Den Hypothesen begegnet man mit Mißtrauen. In Wirklich-
keit schadet nach meiner Meinung diese hypothesenfrei sein sollende
rechnerische Einkleidung der Verbreitung der interessanten Ideen.
Hätte Fließ offen eine Hypothese aufgestellt, so wären die Einwände
gegen die Hypothese nicht leicht zu machen. Die „Elemente" sind dann
letzte Lebenseinheiten; die „elementaren Verbände" sind dann Verbände
der letzten Lebenscinheiten, die sich zwar beständig durch Wachstum und
Selbstteilung vermehren, aber zunächst zu einem Verbände genähert und
vereinigt halten, vielleicht auch nur unvollkommen getrennt sind. Nach
28 Tagen löst sich die eine Art, nach 23 Tagen die andere Art von Ver-
bänden auf, indem die Einheiten schwärmen und wieder in anderer Weise
zur Ruhe kommen. Die eine Klasse der männlich genannten Elemente
bilden die kurzdauernden Verbände, die andere Klasse der weiblich ge-
nannten die längerdauernden.
In dieser Weise geformt hätte die Hypothese ein anderes Ansehen.
Jetzt erscheint jeder Tag, an dem die eine oder die andere Klasse
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Sitzungsberichte.
147
von Verbänden oder beide zugleich sich im Schwärmzustand befinden, eiQ
kritischer Tag für den gesamten Organismus. Es ist dann ein Tag des
geringeren Widerstandes gegen alle Eingriffe und Schädlichkeiten!
In dieser Art wird es begreiflich, daß man bei der Periodenzahlung
einen Tag wegnehmen oder zugeben darf. Die Lösung der elementaren
Verbände ist nicht identisch mit der Menstruation, nicht mit dem Durch-
brechen des ersten Zahnes, nicht mit dem ersten Laufversuche, nicht mit
der Geburt und nicht mit dem Tode. Es besteht nur ein ursächlicher
Zusammenhang (in der Hypothese) zwischen vielen physiologischen Ereig-
nissen und den kritischen Tagen. Ein kritischer Tag 1 beschleunigt den Ein-
tritt des Ereignisses, die Abwesenheit verzögert ihn.
Die Auflösung der Verbände ist nicht eine Auflösung der ganzen
Zelle, sondern nur eine Auflösung der Verbände lebendiger Lebenseinheiten,
während andere Lebenseinheiten bereits die Vermehrungsfähigkeit eingebüßt
haben und in einen Dauerzustand eingetreten sein können. Diese können
dann das starre oder mindestens zusammenhaltende Gerüste abgeben], inner-
halb dessen sich die periodischen Auflösungen vollziehen.
Ich bin überzeugt, daß die Ideen Fließ' in der bescheidenen Form
einer Hypothese mehr Anwert finden würden, als in der Form einer mathe-
matischen Analyse ziffernmäßig ausgedrückter Tatsachen.
Kongreß für experimentelle Psychologie.
In der vierten Gesellschaftsversammlung am 21. Mai 1906 berichtete
Herr Prof. Dr. W. Jerusalem über den im April 1906 zu Würzburg
abgehaltenen zweiten Kongreß für experimentelle Psycho-
logie.
Au» den zahlreichen Vorträgen und Referaten, über die der Vor-
tragende berichtete, hob er insbesondere hervor: das Referat von KüJpe
über experimentelle Aesthetik, den Vortrag des Lehrers Pfeiffer aus
Würzburg, ferner den Bericht von Dr. Ach aus Marburg über eigene
Experimente, die eine Art von Maß für die Willenskraft herstellen sollten
und die auch für den Unterrichtsbetrieb wertvolle Anregungen ergaben;
endlich die Versuche B ü h 1 e r s über kompliziertere Denkvorgänge. — Im
allgemeinen fand der Berichterstatter, daß sich die experimentelle Psychologie
jetzt erfreulicherwebe nicht mehr ausschließlich mit den elementaren, sondern
bereits mehr mit den komplizierteren Seelenvorgängen beschäftige. Die
vom Würzburger Institut ausgegangene Methode der Selbstbeobachtung unter
genau festgesetzten Bedingungen' gibt ein Mittel zur Untersuchung der
Komplexe. Diese Methode ist allerdings erst in den Anfängen, verspricht
aber in ihrer Weiterentwicklung manche Aufklarung zu bringen 1 . Nur ist
davor zu warnen aus negativen Aussagen der Beobachter zu viel zu schließen.
Der Vortragende erwähnt zum Schlüsse noch seine eigenen Mitteilungen,
die er auf dem Kongresse gemacht hat über zwei Erlebnisse (Erinnern und
Vergessen), von denen das eine eine Theorie Freuds über das Vergessen
teilweise zu bestätigen scheint.
10*
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148
Sitzungsberichte.
Versuch einer Messung der Aufmerksamkeitskon-
zentration.
In der fünften Gesellschaftsversammlung am 31. Mai 1906 hielt Herr
Dr. W. Peters ein Referat über eigene Arbeiten unter dem Titel :
Versuch einer Messung der Auf mer ksamkeitskonzen*
t r a t i o n , wobei er im wesentlichen folgendes ausführte :
Bekanntlich steigt die Reizschwelle für einen Reiz, wenn die
Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt und einem anderen Bewußtseinsinhalt
zugekehrt ist. — Ist nun die Erhöhung der Reizschwelle (= die Herab-
setzung der Empfindlichkeit) um so größer, je stärker die Aufmerksamkeit
auf den anderen Bewußtseinsinhalt konzentriert ist, so haben wir in ihr
ein Maß für die Konzentrattonsstärke.
Ich konnte tatsächlich eine bei verschiedenen Bewußtseinsinhalten und
verschiedenen Personen verschiedene Erhöhung der auf die übliche Weise
bestimmten Reizschwelle nachweisen. — Ich fand femer, daß die Reiz*
schwelle auch dann schon steigt, wenn die Aufmerksamkeit nicht durch
einen anderen Inhalt abgelenkt, aber auch nicht auf den betreffenden
Schwellenreiz eingestellt war, wenn dieser nicht „erwartet" wurde. — Die
Einstellung der Aufmerksamkeit bewirkt also eine Schwellenherabsetzung —
„Schwellenbahnung", wie ich es nenne — , die Ablenkung derselben durch
einen anderen Bewußtseinsinhalt eine Schwellenerhöhung, „Schwellen-
hunmung". — Aus den übrigen Versuchsresultaten noch das eine: einzelne
Versuchspersonen können besser ihre Aufmerksamkeit durch Willensimpulse
zjur Konzentration bringen, bei anderen' scheint die „unwillkürlich" herbei-
geführte Konzentration die tiefere zu sein.
(Vgl. ausführlichen Bericht über die Versuche im „Archiv für die
gesamte Psychologie", VIII. Bd., 3. und 4. Heft 1906.)
Psychologische Methoden zur Erforschung der antiken
Philosophie.
In der sechsten Gesellschaftsversammlung am 8. Juni 1906 sprach
Herr Dr. W. Schultz über: Psychologische Methoden zur
Erforschung der antiken Philosophie, im Anschlüsse an
Hülschers Aufsatz »Völker- und Individualpsychologische Untersuchungen
über die ältere griechische Philosophie" in Meumanns Archiv V (1905).
Der Schwerpunkt der insbesondere in Sachen der antiker? Philosophie
auf da* wärmste zu begrüßenden Arbeit von Dr. H. Hillscher, liegt darin,
daß derselbe 1. die Lücken in der Ueberlieferung zum klassischen Alter-
tum in Analogie zu den entsprechenden Epochen' anderer Völker aus-
zufüllen, 2. die Entstehung der Philosopheme individualpsychologisch nach-
m kontrollieren sucht (S. 146), und daß er sich 3. bemüht, die „Perspektive
des Altertums" nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu bestimmen.
(S. 150.) Keiner dieser Gesichtspunkte ist vollständig neu, wohl aber ihre
Verbindung zu einem mehr oder minder in sich gegliederten System. Der
Vortragende zeigt an eigenen Beispielen, daß das älteste Denkert der
Hellenen durchwegs objektiv, gegenständlich, ja kosmologisch war und daß
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149
der moderne Forscher eben dies zuerst verkannt. Der Drang nach dem
Gegenständlichen geht aber so weit, daß die Alten den Begriff des er-
kennenden Subjekts ebensowenig kennen wie anwenden. Es scheint dann
oft, als ob sie Subjektives objektivierten. In Wirklichkeit haben sie das
Subjektive vom Gegenstand noch nicht losgelöst. So kann man die
Kosmologie der Alten im Hinblick auf ihren theore-
tischen Inhalt direkt iueh als objektive Psychologie,
die Mythologie selbst als die eigentliche Völkerpsycho-
logie beieichnen, sofern in ihr die Psyche des betreffen-
den Volkes in ein objektives System gebracht wird. Im
Anschlüsse an diesen Satz ergibt sich das Problem: Ob alsdann das
„historische Gesetz" sich nicht schließlich in ein
„psychologisches Gesetz" umwandle.
Für den 22. Juni 1906 war endlich noch ein Referat des Herrn
Dr. J. Herz: Ueber rassenpsychologische Arbeiten aus der politisch-
anthropologischen Revue und dem Archiv für Rassen- und Gesellschafts-
biologie (1906) angekündigt, das jedoch infolge Vertagung der siebenten
Gesellschaftsversammlung nicht erstattet wurde.
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Kleine Mitteilungen.
Dontscher Gymnaaialverein.
Die 18. Jahresversammlung des Allgemeinen deutschen Gymnasial-
vereins fand am 6. Juni in der Aula des Wilhelmsgymnasiums unter
Vorsitz des früheren Direktors dieser Anstalt, Geheimrat Kühler, statt.
Stadtschulrat Michaelis begrüßte die Versammelten im Namen der
städtischen Behörden und sprach aus, daß diese bei aller Vermehrung der
realistischen städtischen Anstalten den Bestand humanistischer Schulen fest
wahren und jeder eingreifenden Aenderung ihres Lehrplans angesichts
seiner hohen Bewährung mit größter Vorsicht gegenüberstehen würden.
Geheimer Hofrat U h 1 i g von Heidelberg teilte die Grüße einer Anzahl
abwesender Mitglieder mit Der Redner nannte sodann die seit der
letzten Versammlung verstorbenen Mitglieder. Manche Förderung haben
die Bestrebungen des Vereins im vorigen Jahre erfahren durch die glänzende
Versammlung der Berliner Freunde des humanistischen Gymnasiums im
Dezember und durch die Gründung des österreichischen Vereins der für die
humanistische Schulbildung Eintretenden, der sich besonders aus nicht-
schulmännischen Kreisen gebildet hat und rasch angewachsen ist. Auch hat
der Allgemeine deutsche Verein seit vorigem Jahre wieder einen Zuwachs
erhalten.
Es folgte ein mit vielem Beifall aufgenommener Bericht des Universitäts-
bibliothekars Dr. Frankfurter aus Wien, der im Auftrag des öster-
reichischen Vereins genauere Mitteilungen über seine Entstehung und sein
Wachstum gab, und des Direktors, L ü c k von Steglitz, der sich im Namen
der Berliner Vereinigung über das enge Verhältnis dieser zu dem allgemeinen
Verein aussprach.
Hierauf ergriff Stadtschulrat Michaelis das Wort zu einem Vor-
trag über die Frage: „Welche Grenzen müssen bei einer freieren Gestaltung
des Lchrplans für die oberen Klassen des Gymnasiums innegehalten werden ?",
eine Frage, die von der obersten preußischen Unterrichtsbehörde mehreren
Direktorenkonferenzen zur Erwägung gegeben ist.
Folgender von dem Prediger an St. Marien, Prof. Dr. Scholz, formu-
lierter Antrag fand nach einer angeregten Debatte, an der sich besonders auch
Herren aus Oesterreich sowie der Landtagsabgeordnete Prof. Dr. B e r n d t
beteiligten, die Zustimmung aller Anwesenden:
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Mit teilungen.
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„Ohne jetzt schon zu den in Betracht kommenden Vorschlägen im
«Meinen Stellung zu nehmen, schließt sich die Versammlung den Thesen
des Referenten nach ihrem wesentlichen und grundsatzlichen Sinne an."
Nach einer halbstündigen Pause folgte sodann ein Vortrag des Gym-
nasialdirektors D. Dr. Bellermann über die Frage: „Inwieweit kann
durch den griechischen und lateinischen Unterricht den Schulen ein wesentlich
tieferes Verständnis der modernen Literaturen, insbesondere der deutschen,
vermittelt werden?" Beide Vorträge werden nebst der Diskussion in dem
Organ des Vereins, dem „Humanistischen Gymnasium", gedruckt werden.
Die nächstjährige Versammlung findet im Zusammenhang mit der Versamm-
lung deutscher Philologen und Schulmänner su Basel statt.
Jahres- Versammlang des Deutschen Vereins für Psychiatrie in München
am 20. und 21. April 1906.
Die Interessen unserer Zeitschrift berührt unter den gehaltenen
Vorträgen ganz besonders der Bericht eines Ausschusses, der von dem Verein
eingesetzt worden ist, um die Fragen der Idioten-Forschung und -Fürsorge
unter ärztlichen Gesichtspunkten zu fördern.
T u c z e k (Marburg) berichtet im allgemeinen über die Tätigkeit dieses
Ausschusses, dem von einem anderen Verein (von Idiotcnanstaltsdirektoren,
Pädagogen und Geistlichen) entgegengewirkt werde. Dieser letztere Verein*
lasse es nicht an Energie und Zielbewusstsein fehlen, die Idiotenfürsorge
pädagogischen und seelsorgcrischen Kräften zu erhalten bezw. zuzuführen.
Demgegenüber weist Ref. auf eine Reihe von Gesichtspunkten hin, die die
Idiotenfürsorge als eine zum größten Teil ärztliche Aufgabe erscheinen
lassen. (Die weitgehenden körperlichen Abnormitäten der Idioten, die Heil-
erfolge bei den myxoedematösen Idioten, die geringe Wirkung psychischer Einflüsse,
bei Idioten usw.).
Weygandt (Wurzburg): Unter den 108 Anstalten für jugendliche
Schwachsinnige in Deutschland stehen nur ca. t Dutzend unter ärztlicher
Aufsicht. Zu erstreben sei unter allen Umständen die Verstaatlichung der
Idiotenanstalten und die Errichtung neuer Anstalten unter ärztlicher Leitung
von behördlicher Seite. Eine neue Schöpfung, die kgl. sächsische Landes-
erziehungsanstalt für Schwachsinnige und Blinde in Altendorf, sei — wenig-
stens für entlassungsfähigc und erziehungsfähige Imbecillc — recht gut.
Die ärztliche Tätigkeit an dieser, wie in allen zu errichtenden Anstalten
müsste aber vorwiegend psychiatrischen Charakter haben. Auch die Er-
richtung von Idiotenabteilungen an den psychiatrischen Kliniken und von
psychologischen Laboratorien an den Hilfsschulen großer Städte sei zu
erstreben .
Auch Möller (Berlin) tritt für die Stellung der Idiotenanstalten
unter ärztliche Aufsicht ein und beschreibt die Methoden des Unterrichts
für Idioten, Imbecille und Schwachbegabte.
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Mitteilungen.
Der Bvndj für Motterschutz hat sämtlichen deutschen Kultus-
ministerien eine Eingabe unterbreitet, in welcher die Einfügung der ge-
schlechtlichen Belehrung in den Schulunterricht gefordert wird. Die Ein-
gabe weist auf die allgemein herrschende Entartimg und Zügellosigkeit
des geschlechtlichen Lebens hin und fährt fort:
„Leider haben bis jetzt die Behörden nur durch polizeiliche und
medizinische Maßnahmen dem Uebel zu steuern versucht. Beide Mittel
müssen sich aber als unzulänglich erweisen, denn beide wenden sich gegen
die vollendete Tat oder ihre Folgen; die Ursache des Uebels lassen
sie unberührt. Eine der Hauptursachen der Entartung des geschlecht-
lichen Lebens liegt unseres Erachtens nur darin, daß man die Jugend auf
diesem Zentralgebiete des Menschendaseins völlig führerlos läßt. So fällt
sie der gemeinsten Form der Aufklärung anheim und steht jeglicher Ver-
führung wehrlos gegenüber. Das Schweigen aller zur Erziehung berufenen
Faktoren wirkt weiter dahin, daß das Kind sich gewöhnt, das geschlechtliche
Leben als etwas Gemeines zu betrachten. So wird Ehrfurcht vor den
Quellen des Lebens bei Jung und Alt unmöglich. Damit ist aber dann
jeder seelischen wie physischen Entartung des Geschlechtslebens der Boden
bereitet. Der Jugend in ernster und würdiger Form die elementaren Kennt-
nisse des Geschlechtslebens zu vermitteln, erscheint als erstes und dringendes
Erfordernis jeder Reformtätigkeit auf sexuellem Gebiet." Dies zu tun,
sei in erster Linie Aufgabe der Schule.
Den Eltern fehlt die Möglichkeit, diese Belehrung methodisch und stufen-
gemäß zu vollziehen. Unter gleichzeitiger Ucberreichung einer Schrift von
Maria Lyschnewska und eines Literaturverzeichnisses bittet der Bund, „die
bundesstaatlichen Ministerien möchten einen Ausschuß einsetzen, welcher
die Fragen praktisch weiter verfolgt." Unter den Unterzeichnern finden
wir Prof. v. L i s z t , Graf Hoensbroech, Hedwig Dohm, Marie
Stritt, Prof. Franke, Prof. F o r e 1 und andere. Die Petition
mit Literaturverzeichnis ist zu beziehen durch das Bureau für Mutterschutz,
Wilmersdorf, Rosberitzerstr. 8.
Konferenz Ober die Wirksamkeit des preußischen Fftraorgeerziehungs-
gesetzes.
Auf Einladung der Zentralstelle für Jugendfürsorge in Berlin waren
die in der Fürsorgearbeit stehenden Persönlichkeiten am Freitag, den
15. Juni d. J. in der alten Bauakademie zu einer Beratung zusammenge-
treten.
Professor v. Soden eröffnet als Vorsitzender der Zentralstelle für
Jugendfürsorge, von der die Einladung zu dieser Tagung ausging, die Ver-
sammlung mit einer Begrüßung der anwesenden Regierungsvertreter und
Gäste und geht näher auf die im Anschluß an das Inkrafttreten des Für-
sorgeerziehungsgesetzes geschaffene Zentralstelle ein, die ein Bindeglied
zwischen öffentlicher und privater Jugendfürsorge und Beraterin und Helferin
der gefährdeten Jugend in Groß-Berlin sein will. Aus der Zusammenarbeit
so vieler Vereine und Behörden ergab sich das Bedürfnis nach einem Aus-
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Mitteilutiaen
153
tausch der in der Praxis mit dem Fürsorgeerziehungsgesetz in Preußen ge-
machten Erfahrungen. Die Diskussionen werden sich besonders um zwei
Fragen drehen: I. Genügen die gesetzlichen Bestimmungen, das Ziel der Für-
sorgegesetzgebung zu erreichen? 2. Ist die Handhabung der Bestimmun-
gen des Fürsorgeerziehungsgesetzes, die Praxis im engeren Sinne, die
rechte? Auch hier ergeben sich zwei Fragen: 1. Welche Erziehungsweise
verspricht Erfolg? 2. Sind Garantien vorhanden, daß die Aufgaben der
Fürsorgeerziehung von den damit beauftragten Stellen richtig gelöst werden?
Zunächst nahm Landesrat Gerhard- Berlin das Wort zu seinem
Referat: Ist eine Aenderung des Fürsorgeerziehungsgesetzes und der- Armen-
gesetzgebung nötig, um wirksamer als bisher die Verwahrlosung unserer
Jugend zu bekämpfen? Der Redner trat für finanzielle Entlastung der oft
wenig leistungsfähigen Ortsarmenverbände ein und polemisierte dann gegen
die Rechtsentscheidungen des Kammergerichts. Die ganze Fürsorgeerziehung
basiert bekanntlich au fden §§ 1666 und 1838 des Bürgerlichen Gesetzbuches.
Nach diesen Paragraphen wird dem Vormundschaftsgericht das Recht ge-
geben, Fürsorgeerziehung zu beantragen, wenn das Wohl des Kindes es
verlangt. Der Zweck des Gesetzes ist ja gerade, vorzubeugen, Verwahrlosungen
«1 verhüten. Daher spricht es gegen den Sinn des Gesetzes, wenn das
Kammergericht allzuoft die Aufgaben der Fürsorge der Armenpflege auf-
bürdet. Wenn das Fürsorgegesetz auch die ultima ratio sei, so sei damit nur
gemeint, daß es die einschneidendste Maßregel sei, aber nicht, daß Für-
sorge immer erst dann eintreten solle, wenn der Versuch mit der Armen-
pflege mißglückt sei. An einer Reihe von Beispielen weist Referent nach,,
wie falsch es ist, die Sorge für das Kind der Armenpflege statt der Für
sorgeerziehung anzuvertrauen.
In der Diskussion stellt zunächst Geheimrat Krone fest, daß das
Fiirsorgegesetz Klärung über die unter unserer Jugend herrschende sittliche
Verwahrlosung gebracht habe. Stadtrat Dr. Münsterberg, der Dezer-
nent der Berliner Armenpflege, spricht gegen den Begriff der völligen sitt-
lichen Verwahrlosung, den das Bürgerliche Gesetzbuch allein kennt; das
Fürsorgeerziehungsgesetz soll doch gerade der Verwahrlosung vorbeugen.
Auch ist es nötig, auf die Gesetzgebung der Einzelstaaten zurückzugehen.
Für eine Abänderung des Gesetzes zugunsten der gefährdeten Kinder tritt
Magistratsassessor Dr. Schiller- Breslau ein, dagegen wünscht Dr. K 1 u m -
c k e r • Frankfurt a. M., eine landesgesetzliche Umgestaltung der kleinen
Ortsarmenverbände, bei deren schwacher finanzieller Leistungsfähigkeit ein
ausreichender Kinderschutz unmöglich ist.
Gegen die Forderung des Stadtrats Dr. Münsterberg, den Begriff der
völligen sittlichen Verwahrlosung auszuschalten, wendet sich Amtsgerichts-
rat Dr. K ö h n e vom richterlichen Standpunkt aus, da er im Reichs-
gesetz festgelegt und deshalb durch Landesgesetz nicht abzuändern sei.
Auch er hält die Judikatur des Kammergerichts für nicht weitgehend genug,
tritt aber im großen und ganzen dafür ein. Stadtrat Jackstein-Potsdam
wünscht, daß noch weitere Erfahrungen gesammelt und die Frage alljährlich
aufs neue diskutiert werde.
Fräulein Lüttke als Vertreterin des Sozialausschusses des Landes-
vereins preußischer Volksschullehrerinncn weist darauf hin, daß in Lehrerin-
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nenkreisen eine Revision des Gesetzes und Beschleunigung des Verfahrens
gewünscht wird.
Dagegen hält Amtsgerichtsrat Kroner das Gesetz nicht für ände-
rungsbedürftig und die Kammergerichtsbeschlüsse für segensreich, da wir
ohne ihre Abwehr statt 30 000 bisher 200 000 Fürsorgezöglinge hätten.
Aus seinen in Westpreußen gemachten Erfahrungen könne er bestätigen,
daß die Ortsarmenverbände die hilfsbedürftigen Kinder gern abschöben,
und die Lehrer, die sich nicht gern mit ungezogenen Kindern plagen,
den Antrag auf Fürsorgeerziehung stellen, ohne klar zu wissen, was Für-
sorgeerziehung sei.
Im Namen der Lehrer und Lehrerinnen legt der Vertreter des Rektoren-
vereins, Rektor K a 1 i s c h e r - Berlin, gegen diese Unterstellung Ver-
wahrung ein, worauf Amtsgerichtsrat Kroner in persönlicher Bemerkung
erwidert, daß er nicht die hiesigen Verhältnisse, sondern die westpreußischen
(im Kreise Marienwerder) gemeint habe, für die er seine Behauptungen auf-
recht erhalte.
Nach einer Pause erhält Amtsgerichtsrat K ö h n e - Berlin das Wort
zu seinem Vortrage: Erscheint eine Aenderung des Verfahrens in Für-
sorgeerziehungssachen geboten? Der Referent unterzieht an der Hand eines
durch Verteilung von Fragebogen an 36 Gerichtshöfen gesammelten Materials
die Art des Verfahrens einer Kritik. Dasselbe ist ein dreifaches, in Klein-
städten meist ein mündliches, in Mittelstädten ein gemischtes, in Groß-
städten meist ein rein schriftliches Verfahren. Das letztere hat große
Schattenseiten, da die Beschaffung des Materials durch die Verwaltungsbe-
hörden einen längeren Zeitaufwand erfordert. Auch ist das so beschaffte
Material oft minderwertig und gibt dem Richter nicht den wünschenswerten
klaren Einblick in die Verhältnisse. Auch Amtsgerichtsrat Könne wünscht
keine Abänderung des Gesetzes, wohl aber wünscht er die Aufmerksamkeit
der Justizbehörden darauf zu lenken, daß mit ihrer Unterstützung die Richter
sich auch in Berlin das nötige Material mehr selber beschafften. Die Ver-
waltungsbehörden müßten dann in den mündlichen Verhandlungen ihr Urteil
durch besonders qualifizierte Beamte abgeben. Dies mündliche Verfahren
sei bei der Ueberlastung der Richter und durch die Gerichtszerschlagung
schwierig, aber nicht unmöglich. Das Ideal seien Jugendgerichtshöfe, die
die Gewalt des Strafrichters und des Vormundschaftsrichters in eine Hand
legten. Aber auch jetzt könnte man ohne Gesetzesänderung ähnliches
schaffen. Bei Ernennung der Vormundschaftsrichter müßte nicht der blinde
Zufall walten, sondern dieser Posten Spezialisten anvertraut und für ihr
Wirken Zentralstellen geschaffen werden, auf denen sie in längerer Wirk-
samkeit Erfahrungen sammeln könnten. Bei einer Revision des Gesetzes
müßte das Recht der Mutter auch des unehelichen Kindes durch Erteilung
des Beschwerderechtes gewahrt werden, und die „vorläufige Unterbringung"
dürfe die Rechtskraft nicht fähig sein.
Stadtrat K 1 u n c k e r verteidigt die längere Dauer der Fürsorgeer-
ziehungsverfahren ; durch das Schwebenlassen sei oft eine erzic hliche Wirkung
auf die ganze Familie auszuüben. Er befürwortet die Berufung von Für-
sorgern nach Art der amerikanischen „Probation officers" und wünscht die
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Mitteilungen.
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Vereinigung der Befugnisse des Strafrichters und Vormundschaftsrichters in
einer Hand.
Pastor Seifert beklagt es, daß den über vierzehn Jahre alten Für-
sorgczöglingen der Fürsorgeerziehungsbeschluß zugestellt werden müsse, da
das Urteil die zugrunde liegenden Mißstände so unverblümt berichte, daß eine
Einsichtnahme des Zöglings nicht pädagogisch wünschenswert sei.
Assesor Hermann- Berlin hält die Auslieferung der Beschlußurkunde
für gesetzlich geboten.
Eine sehr lebhafte Diskussion entfesselte der Angriff auf die Material-
beschaffung durch die Verwaltungsbehörden. Oberlehrer S chwarz-Char-
krttenburg trat für die Waisenräte ein und forderte die Mitarbeit der Lehrer,
Tk. Levy- Berlin wünschte, daß hier mehr soziale Arbeit privatim ge-
leistet werde, Assessor Liese von der städtischen Waisenverwaltung und
Regierungsassessor Lindemann vom Polizeipräsidium brachen Lanzen
für die Arbeit der Schutzleute und sonstigen Polizeiorgane bei Herbei-
schaffung des nötigen Materials.
In einem Resümee stellte Professor v. Soden fest, daß es zwar
nicht an Angriffen auf die Auslegung des Fürsorgeerziehungsgesetzes ge-
fehlt habe, aber daß die allgemeine Meinung der Juristen und Laien doch
dahin ginge, daß noch eine Reihe von Möglichkeiten vorhanden sei, das
Gesetz besser zu interpretieren. Man solle deshalb von einer Resolution ab-
sehen. Mit einem Dank gegen die Redner schloß er um 3"» L^hr den ersten
Verhandlungstag.
Am Sonnabend Nachmittag soll eine Besichtigung der Fürsorgeer-
riehungsanstalten in Strausberg stattfinden.
Am zweiten Verhandlungstag sprach zunächst Direktor Pastor Plaß-
Zehlendorf über: Welche Forderungen sind an die Anstaltserziehung und
welche an die Familienerziehung zu stellen? An der Hand von Leit-
sätzen führte der Referent ungefähr folgendes aus:
Die Ursache der drohenden oder bereits eingetretenen Verwahrlosung
ist eine dreifache; sie wurzelt weniger in dem schuldhaften Verhalten des
Zöglings oder in seiner angeerbten pathologischen Belastung, sondern ist
vielmehr ein Produkt der sittlichen und erwerblichen Verhältnisse des Eltern-
hauses und der gesamten sozialen Umgebung. Die Fürsorgeerziehung in
Anstalt und Familie hat daher vor allem den Zöglingen bessere familiäre
und soziale Lebensverhältnisse zugänglich zu machen. Bei der Durchführung
der Fürsorgeerziehung ist der erziehliche Zweck des Gesetzes mehr zu
berücksichtigen und den noch immer verbreiteten Gedanken, daß es sich
»ic bei dem alten Zwangserziehungsgesetz auch um eine strafpolitische
Maßnahme handle, entgegenzutreten. Der Gefängnischarakter, den einzelne
Anstalten bei den sogenannten schweren Fällen nicht entbehren zu können
meinen, und der vereinzelt in gewissen Erziehungsmaßnahmen zur Erscheinung
kommt, ist zu beseitigen dadurch, daß man auf solche Zuchtmittel Ver-
lieht leistet, die nicht in dem Rahmen der väterlichen Erziehung liegen,
dem berechtigten Bedürfnis des Kindes nach Lebensfreude besser entspricht,
das wirtschaftliche Interesse der Anstalt dem erziehlichen unterordnet, und
daß man endlich dem individuellen und kollektiven Selbstbetätigungsdrange
des Zöglings besser Rechnung trägt.
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\fitteilunarti
Bei der Unterbringung und erziehlichen Behandlung der Zöglinge
bedarf es einer eingehenderen Berücksichtigung der Individualität der»
selben. Entsprechend nicht nur dem Alter, dem Geschlechte, dem reli-
giösen Bekenntnis, der Veranlagung sowie dem Grade der Verwahrlosung»
sondern auch dem Stande der bisherigen Bildung und des späteren Be-
rufes sind die Fürsorgeerziehungszöglinge — in schwierigen Fällen nach
zuvoriger Beobachtung in einem Depot oder Beobachtungshause — in ge-
eigneter Weise unterzubringen. Bei Zöglingen aus Industriezentren soll die
Werkstattsausbildung Platz greifen, da diese Zöglinge doch in die Industrie
zurückkehren. Sehr wichtig wäre deshalb die Einrichtung eigener Werk-
stätten; leider haben von 800 deutschen Anstalten nur 16 Handfertigkeits-
werkstätten für schulpflichtige Kinder.
In außerordentlich schwierigen Fällen psychopathischer Minderwertig-
keit sowie für ältere, dem gänzlichen sittlichen Verfall nahestehende Burschen
und Mädchen sind besondere Anstalten freier Liebestätigkeit zu wählen
oder zu errichten, die über intensiv und extensiv gesteigerte Fürsorgekräfte
verfügen und Psychiater und Heilpädagogen verwenden.
Der Korreferent Anstaltsdirektor Müller legt großen Wert auf die
körperlich gesunde Erziehung des Fürsorgezöglings. Auch bei der Unter-
bringung in Familien sollte die gesundheitliche Ueberwachung eine größere
Rolle spielen.
Als erster nimmt in der Debatte das Wort der Vorsitzende des
Erziehungsvereins Paderborn, Pfarrer Bartels. Man hat in Westfalen die
Erfahrung gemacht, daß der Fürsorgezögling erst in einer Durchgangs-
station gereinigt und beobachtet, sozusagen familienfähig gemacht werden
muß. Sie bleiben dort sechs bis acht Wochen in der Anstalt und kommen
dann in Familienpflege.
Pastor Seifert (Strausberg) wendet sich gegen die These des Pastors
Plaß, daß Anstaltserziehung der Familienerziehung nicht gleichwertig sei.
Pastor Fritz Jahn (Züllchow) tritt für mehr Freiheit in der Anstalts-
erziehung ein.
Pastor Petersen (Hamburg) hält mehr von der Famiüenerziehung.
Jedenfalls solle sie den Uebergang von der Anstalt zum Leben durch ein
Lehr- oder Dienstverhältnis bilden.
Direktor Meyer (Zehlendorf) tritt für ganz kleine Anstalten mit Pavillon-
sy stem und Trennung von Bestraften und Nicht bestraften ein.
Pastor Backhausen (Hannover) führt aus, daß die Erziehung zur Frei-
heit nicht nur Ideal, sondern schon Praxis sei. Auch selbst bei schlimmen
Achtzehnjährigen macht man noch gute Erfahrungen mit freier Erziehung.
Herr Gilberg vom Verein Dienst an Arbeitslose plädiert dafür, daß
entflohene Fürsorgezöglinge bei freiwilliger Rückkehr straffrei sein sollen.
Direktor Dr. Kluge (Potsdam) weist darauf hin, daß, wo bei psychisch
anormalen Kindern der Pädagoge machtlos ist, die Behandlung unter Leitung
des kundigen Irrenarztes oft eine ganz leichte ist.
Lehrer Frauendienst wünscht besondere Anstalten für die Schwach-
sinnigen.
Pastor Buschmann (Teltow), der Leiter der Magdalenenanstalt, be-
klagt es auch, daß wir keine Anstalten für Psychopathische haben. Auch
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Mitteilungen.
157
sei Trennung der Gebiete in der Magdalenenarbeit notwendig. Die Prosti-
tution der Jugendlichen zu bekämpfen, ist die wichtigste Aufgabe.
Nach der Pause nimmt Geheimer Regierungsrat Landesrat Dr. Osius
(Kassel) das Wort zum letzten Referat: Wie ist eine wirksame Aufsicht
über die Anstaltserziehung zu erzielen ?
Der Referent scheidet aus seinem Referat die Staats- und die Pro-
vinrialanstalten aus und beschäftigt sich nur mit den privaten, von Ver-
einen, Korporationen, Kirchengesellschaften gegründeten Anstalten. Die Auf-
sicht erscheint ihm als eine genügende.
Die Besichtigung geschieht teils durch Inspektoren, teils durch Ver-
trauensmänner; zum Teil sind auch Mitglieder der Landesverwaltung Vor-
standsmitglieder. Ferner werden die Zöglinge jährlich ein- bis zweimal
durch den Kreisarzt untersucht.
In der Diskussion wendet sich Amtsgerichtsrat Köhnc gegen die Viel-
heit der Revisionsinstanzen, die leicht Verwirrung stiften. Die Ansichten
über die besten Erziehungsmethoden gehen heute weit auseinander.
Stadtrat Dr. Klumcker (Frankfurt) schließt sich dieser Forderung an
und beklagt besonders das schlechte Lehrermaterial in den Anstalten; hier
müßte gerade die Aufsicht Wandel schaffen. Besonders wichtig ist die
Mitwirkung des Psychiaters.
Auch Landesrat Schmidt weist auf die Unzuträglichkeiten hin, die
sich aus den verschiedenartigen Ansichten der verschiedenen Revisoren
ergeben.
Geheimer Rat Krohnc weist auf den Board für die Rexue-Schools
in England hin, dessen Blaubuch sogar oft dem Parlament vorliegt, und
das ein eingehendes Material über die Pfleglinge enthält. Eine solche Be-
hörde war vorgeschlagen, aber die führenden Parteien wollten die Staats-
aufsicht nicht.
Fräulein v. Wilczeck tritt dafür ein, bei Bildung solcher Kommissionen
auch die Frauen hineinzunehmen.
Geheimer Rat Krohne erwähnt darauf, daß in England in dieser
höchsten Behörde eine Frau sei.
Magistratsassessor Gordan tritt für Entschädigung der Fürsorger ein.
In seinem Schlußwort betont Landesrat Dr. Osius, daß die einzelnen
Aufsichtsbeamten sich schon jetzt öfter zu einer Kommission vereinen.
Mit einem Dankeswort an die Regierungsvertreter, Referenten und Gäste
schließt Professor v. Soden die Tagung, die vielfache Klärung gebracht
habe und erkennen lasse, daß in den Fürsorgeerziehungsanstalten der alte
Gebt des Zwanges immer mehr im Begriffe sei, dem der Liebe und
der Achtung vor der Individualität auch des minderwertigsten Zöglings
tu weichen.
Fürsorge-Erziehung oder Gefängnis?
Amtsvorsteher W i c h e r (Wohlau) faßte seine Ausführungen auf dem
allgemeinen Fürsorge-Erziehungstag in Leitsätzen zusammen, in denen es
heißt:
138
Mitteilungen.
1. Die Bestrebungen der Neuzeit, Verbrechen vorzubeugen und die
gefährdeten Jugendlichen vor dem sittlichen Verfall zu bewahren, sind
mit großer Freude zu begrüßen und zu unterstützen; doch kann durch
alle diese Maßnahmen, selbst durch eine ideal gedachte Handhabung des
Fürsorge-Erziehungsgesetzes nicht immer verhindert werden, daß ein Teil
der Minderjährigen der sittlichen Verwahrlosung und dem Verbrechertum
anheimfällt.
2. Fürsorge-Erziehung und Gefängnis stehen darum häufig in Wechsel-
beziehung zueinander.
3. Aeltere Fürsorgezöglinge liehen manchmal das Gefängnis der Für-
sorge-Erziehungsanstalt vor und begehen Verbrechen, nur um ins Gefängnis
hineinzukommen.
4. Die Ursachen dieser unnatürlichen Erscheinung sind mannigfaltig'.
5. Dem Uebelstande, der Furcht der gefährdeten Jugendlichen vor
der Fürsorgeerziehung und den Erziehungsanstalten muß nach Kräften ent-
gegengearbeitet werden, und zwar:
a) durch eine angemessene Erziehung und Belehrung der gefährdeten
Jugendlichen, besonders durch Weckung des in ihnen schlummernden Ehr-
gefühls,
b) durch Vermeidung von gerichtlichen Anzeigen bei kleinen Ver-
gehen der Jugendlichen,
c) durch ausgiebigere Anwendung der Aussetzung der Strafvollstreckung
und der bedingten Begnadigung,
d) durch Unterbringung der jugendlichen Uebeltäter, wenn es durch-
aus sein muß, in Gefängnisse für Jugendliche und Schaffung einer be-
sonderen Hausordnung für diese Strafanstalten,
e) durch Beseitigung des Gefängnischarakters einzelner Erziehungs-
anstalten wie durch Vermehrung aller Maßnahmen, welche die Erziehung
der jugendlichen Verwahrlosten fördern können.
6. Im Interesse der verwahrlosten Jugend ist der Unterbringung der-
selben in Fürsorge-Erziehung vor der Internierung in ein Armenhaus, Kor-
rcktionshaus oder Gefängnis der Vorzug zu geben.
7. Die Fürsorge-Erziehung darf nur in seltenen Fällen durch Ver-
büßung von Gefängnisstrafen unterbrochen werden, da sie dadurch nur
ungünstig beeinflußt wird.
8. Die Zöglinge müssen mit Liebe, Geduld und Nachsicht und vor
allem unter Berücksichtigung ihrer Individualität behandelt werden; dann
wird die Furcht vor der Fürsorge-Erziehung aus den Köpfen der jugend-
lichen Verwahrlosten schwinden.
Gefängnisdirektor Hülsberg (Wohlau): Der Prügelstrafe werde nie-
mand das Wort reden wollen. Man habe in früheren Jahren mit der
Prügelstrafe nichts erzielt. Als internes Disziplinarmittel bei ganz außer-
gewöhnlichen Roheiten wäre die Prügelstrafe für jugendliche Gefangene
vielleicht wünschenswert. Eine betrübende Erscheinung sei es, daß aus der
Fürsorgeanstalt Entwichene auf ihrer verbotenen Wanderschaft Straftaten
begehen, um nicht zurück in die Erziehungsanstalten, sondern ins Ge-
fängnis zu kommen. Fast bei jeder Neueinlieferung erlebe man es, daß
die Burschen auf die Frage nach dem Grunde ihres Entlaufens und ihrer
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Mitteilungen.
159
Straftat in freimütig frivoler Weise erklären: Ich wollte ins Gefängnis,
in die Erziehungsanstalt bringt mich keiner mehr hinein. Allerdings sei
dies die Hefe der Zöglinge. Oftmals haben ihm jugendliche rückfällige
Verbrecher erklärt: „Wenn mir das erstemal die Strafe erlassen worden
und ich dafür gleich in eine Erziehungsanstalt gekommen wäre, so wäre
ich jetzt ein ordentlicher Junge, hätte etwas Tüchtiges gelernt und wäre
vielleicht nie mehr vor den Strafrichter gekommen." Es empfehle sich
auch, jugendliche Strafgefangene nach Verbüßung ihrer Strafe anstatt in
eine Erziehungsanstalt in eine geordnete Familienpflege bei einem Bauer
oder Handwerker unterzubringen. Die strafunmündigen Kinder müssen einer
sorgfältigen, geordneten Erziehung zugeführt, die aus der Schule Ent-
lassenen in Fortbildungsschulen zusammengehalten, in Jünglingsvereinen ge-
sammelt werden.
Unbedeutende Vergehen von Schulkindern dürften nicht auf gericht-
lichem Wege, sondern auf dem der Schulzucht geahndet werden. Für-
wahr, es ist eine Härte, solchen ungezogenen Jungen, die vermöge ihres
unklaren Sittlichkeitsbewußtseins und ihrer unbestimmbaren Charakterbil-
dung leicht bestimmbar sind, wegen geringfügiger Vergehen für ihr ganzes
Leben den Stempel von Verbrechern aufzudrücken. Und welche Gefahr
erwächst aus der Rückkehr eines Knaben aus dem Gefängnis in die Schule
seines Heimatsortes für seine Kameraden? Es ist dringend notwendig,
daß der Richter von dem § 57 des Strafgesetzbuches, dem sogenannten
Einsichtsparagraphen, den weitesten Gebrauch mache. Es empfiehlt sich
nach dem Vorbilde anderer Staaten die Einrichtung von Jugendgerichten,
auch für Jugendliche von 14 bis 18 Jahren bei erstmaligem Fehltritt. Fast
5000 Jugendliche werden jährlich bestraft, das sind 9 Proz. aller Gesetzes-
brecher überhaupt. 24 Proz. sind bereits ein- oder mehreremal vorbestraft,
Als Strafverbüßungsanstalten für Jugendliche dürfen selbstverständlich nur
solche Gefängnisse in Frage kommen, die entweder ausschließlich für Jugend-
liche bestimmt sind, oder eine Jugendabteilung aufweisen, in der die In-
sassen von jedem Verkehr mit erwachsenen Verbrechern ausgeschlossen sind.
Die wichtigste Frage im Strafvollzug an den Jugendlichen ist: Was
soll mit den Entlassenen geschehen ? Er versuche es mit der Unter-
bringung in einer Dienst- oder Lehrstelle. Jungen, die sich im Gefängnis
gut geführt und fleißig gearbeitet haben, sollte man nicht nachträglich,
gewissermaßen als Nachkur, in eine Erziehungsanstalt bringen. Zum mindesten
sollte man vorher ein Gutachten der Gefängnisdirektoren über ihr Ver-
halten einholen. Sehr zu empfehlen sei es, die Zöglinge in den Erziehungs-
anstalten so zu behandeln, daß sie zu der Einsicht kommen, die Anstalt
wolle ihnen das Vaterhaus ersetzen. Es müsse den Jungen gesagt werden,
daß ihnen beim Eintritt in die Anstalt kein „Willekum" (Prügel) winkt.
Gänzlich falsch sei es, Zöglinge zur Strafverbüßung aus der Erziehungs-
anstalt ins Gefängnis zu führen. Es müßten Einrichtungen getroffen werden,
kurze Gefängnisstrafen in den Anstalten abbüßen zu lassen. Durch solches
Eintreten für die Zöglinge wachse ihr Vertrauen und sie gewinnen die
Anstalt und ihren Leiter lieb. Letzterer müsse überhaupt in engster Be-
ziehung zu den Zöglingen stehen, so daß sie zu ihm aufblicken, wie zu
einem Vater, dem sie zu jeder Zeit alle ihre großen und kleinen Sorgen
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160
Mitteilungen.
und Wünsche ohne Scheu vortragen. Wenn die Erholungszeit der Zög-
linge nicht zu knapp bemessen werde, wenn mit den Zöglingen größere
Spaziergänge unternommen, tägliche Turnübungen und Bewegungsspiele, bei
festlichen Gelegenheiten theatralische und musikalische Aufführungen ver-
anstaltet werden, wenn ihnen gute Unterhaltungsbücher und Spiele zur
Verfügung stehen, kurz, wenn die Zöglinge in allen Einrichtungen und Ver-
anstaltungen sehen, daß man ihnen das Elternhaus möglichst ersetzen wolle,
dann werden sie die Anstalt als ihre zweite Heimat ansehen. (Lebhafter,
langanhaltender Beifall.)
Pastor Seiffert (Strausberg) befürwortete folgenden Antrag: „Der All-
gemeine Fürsorge-Erziehungstag spricht den Wunsch aus, daß die Straf-
sachen gegen Jugendliche, soweit es irgend möglich ist, demselben Richter,
wie die Vormundschaftssachen, überwiesen werden, und daß für eine zweck-
mäßige Schulung dieser Richter Sorge getragen wird."
Pastor Backhausen (Hannover) befürwortete folgenden Antrag:
„Der Allgemeine Fürsorge Erziehungstag richtet an den Herrn Justiz-
minister die Bitte, die Strafrichter anzuweisen, daß ein Jugendlicher, wenn
er in die Fürsorge-Erziehung überwiesen ist, wegen derjenigen Vergehen,
die seine Ueberweisung in die Fürsorge-Erziehung herbeiführten, nicht auch
zugleich bestraft wird, sondern das Verfahren gegen ihn einzustellen ist,
falls die Art des Vergehens es irgendwie zuläßt."
Auf Antrag des Oberlehrers Blunk (Ohlsdorf) wurde beschlossen, sämt-
liche Anträge dem Vorstande zur Berücksichtigung zu überweisen.
Nachmittags sprach noch Pastor Blochwitz (Frankfurt a. O.) über:
„Die Schwierigkeit der Erziehung der älteren weiblichen Fürsorge-Zöglinge,
insonderheit der Prostituierten." Der Redner legte seinem Vortrage folgende
Leitsätze zugrunde:
1. Die Größe der Schwierigkeit wird offenbar, wenn das Ziel der
Aufgabe, die Zöglinge zu religiös-sittlichen Persönlichkeiten zu erziehen,
mit dem Zustand religiös-sittlicher Verkommenheit verglichen wird, in dem
die Mädchen den Erziehungsanstalten zugeführt werden.
2. Die sittliche Verkommenheit der Zöglinge hat meist in der Ver-
derbtheit aller sittlichen Anschauungen ihren Grund und tritt in dem lügen-
haften, heuchlerischen, trägen und ungehorsamen Wesen der Zöglinge zutage.
3. Große Schwierigkeit für die Erziehung bieten die verderblichen
Einflüsse, die von sittlich verkommenen Familienangehörigen auf die Zög-
linge ausgehen. Auch können diese unter sich einen verderblichen Einfluß
aufeinander ausüben.
4. Sofern die Fehler der Zöglinge nicht auf krankhafter Natur-
anlage beruhen, ist eine Besserung durch die Erziehungsanstalten möglich
und erfahrungsgemäß bei der größeren Zahl der Zöglinge eingetreten.
Schriftleitung: P. Reinstes. Weissensee, Könige - Chaussee 6. u. L Hirschlaff, Berlin W.,
Habsbuixerstr. 6. — Verlag von Hermann Waltber, Verlagsbuchhandlung, Q. m. b. H. t Berlin
W. 90, Nollendorfplatf 7. — Verantwortlloh für GeschlfUlche Mitteilungen und Inserate:
Fr. I'aacbe-Berlin. — Druck: Pass & Garleb G. m. b. H, Berlin \V. 35, Steglitserstr. lt.
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Zeitschrift
für
Pädagogische Psychologie,
Patboloflk md IjygitiK.
Herausgegeben
von
Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlaff.
Jahrgang IX. Berlin, Juli 1907. Heft 3.
Ueber Zahlengedächtnis und Rechenfertigkeit.
Von
Marx L o b s i e n.
I. Aufgabe.
Die nachfolgenden Untersuchungen haben sich zur Auf-
gabe gemacht, zu prüfen, ob Zahlengedächtnis und Rechen-
fertigkeit in Beziehung zu einander stehen, etwa derart, daß
erhöhte Zahlengedächtnisleistungen und größere Rechenfertig-
keit zusammen gegeben sind. Die Aufgabe soll, soweit es
möglich ist, auf experimentellem Wege gelöst werden.
Erfolgt eine bejahende Antwort, so erhebt sich sofort eine
für die praktische Pädagogik nicht unwichtige weitere Frage:
geht mit einer Steigerung der Merkfähigkeit für Zahlen ohne
weiteres eine Steigerung der Rechenfertigkeit einher? oder
dient die Steigerung der Rechenfertigkeit einer Steigerung des
Gedächtnisses für Zahlen ? Die vorliegenden Beobachtungen
berücksichtigen nur die zuerst genannte Frage.
II. Methode.
Versuchspersonen waren 40 Schüler im Durchschnitts-
alter von zehn Jahren. Untersuchungen über die Gedächtnis-
entwickelung bei Schulkindern haben dargetan, daß um das
kiUchrift i&r pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 1
162
Marx Lobsien.
zehnte Lebensjahr herum das Zahlengedächtnis — relativ — den
größten Zuwachs erfährt.*) Das bestimmte mich, gerade dieses
Lebensalter den vorliegenden Untersuchungen zu unterwerfen,
hoffend, so deutliche Resultate zu erzielen. Eine .umfängliche
fernere Untersuchung muß selbstverständlich auch die andern
Altersstufen berücksichtigen.
Gedächtnisprüfung. Die nächste Aufgabe ist, das
Zahlengedächtnis der Versuchspersonen zu erkunden. Ich
entschied mich für folgendes Verfahren : Den Kindern wurden
zunächst zehn zweistellige Zahlen laut und deutlich vor-
gesprochen. Auf den Befehl, schreibt! verzeichneten sie, was
sie im Gedächtnis aufbewahrt hatten auf einem bereitgehaltenen
Blatt Papier. Selbstverständlich wurde straffe Disziplin be-
obachtet und wo auch nur der leiseste Verdacht vorlag, bei
dem Nachbar möchten Anleihen gemacht worden sein, .ward
der Zettel vernichtet. — Für eine weitere, Versuchsfolge wurden
10 zweistellige Ziffern in hinlänglicher Größe und Deutlichkeit
auf schwarze Tafeln verzeichnet. Sie wurden den Kindern
während eines Zeitraums von 30 Sekunden (nach Taschenuhr)
gezeigt. Die Beobachter wurden veranlaßt, während des Hin-
sehens und Schreibens die Zungenspitze zwischen die Vorder-
zähne zu klemmen, um nach Möglichkeit Bewegungsempfin-
dungen in der Sprachmuskulatur auszuschalten. Auf das
Kommando: schreibt! projizierten die Schüler das Behaltene
auf die bereitgelegte Schreibfläche.
Durch diese Zweiteilung hoffte ich, den Leistungen des
akustischen und optischen Zahlengedächtnisses nachgehen zu
können.
Wertung. Eine vorläufige Wertung der gefundenen
Resultate geschah so, daß die Blättchen durch den Lehrer mit
der Reclienzensur jedes Schülers verschen wurden. (Ich be-
merke, daß der Lehrer während 2 l / s Jahre Gelegenheit hatte,
die Leistungen seiner Schüler gründlich zu studieren.) Diese
Zensuren und die zugehörigen Resultate der Gedächtnisprüfung
wurden zunächst zusammen geordnet.
Im Interesse einer weiteren Differenzierung der Versuchs-
ergebnisse wurde in einer neuen Versuchsgruppe folgender
*) Vergl. d. V. : Experimentelle Untersuchungen über Gedächtnisentwicklung
bei Schulkindern. Ztscbr. f. Psych, u. Phys. d. Sinnesorgane (Ebbinghaus König).
Bd. 27. S. 47 f.
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Leber Zahlengedächtnis und Rechenfertigkeit.
163
Weg eingeschlagen: Den Schülern wurden Rechenaufgaben
gestellt. Zwei Beispiele greife ich zur Illustrierung heraus:
a
0
17. 19
18 . 17
15. 18
19. 15
1674- 85
984-146
1854- 79
89+264
63. 12
12. 98
14. 28
17 . 28
37 . 13
13. 42
29. 14
15. 27
17 . 21
21 . 18
15. 19
16. 17
Die a-Gruppe enthält Aufgaben, die einzeln den Schülern
deutlich von dem Versuchsleiter vorgesprochen wurden. Nach
dem Vorsprechen einer Aufgabe erfolgte ihre Lösung .„im
Kopfe" und die Niederschrift des Resultats. Die Aufgaben
der o-Gruppe standen einzeln auf schwarzen Tafeln. Sie wurden
den Schülern einzeln je 30 Sekunden lang gezeigt, dann mußten
sie die Aufgabe lösen und das Ergebnis niederschreiben. Bei
der Lesung und Lösung der Aufgaben war wieder die Zungen-
spitze festgelegt. Für die Lösung der Aufgaben wurden je
1V2 Minuten Zeit gewährt.
III. Versuchscrgcbnisse.
a.
Nachstehende Tabelle offenbart das Resultat der ersten
Versuchsanordnung. G, m und s bedeutet gute, mittlere und
schlechte Rechenfertigkeit (eine eingehendere Differenzierung
der Rechenleistungen vermied ich aus naheliegenden Gründen),
f bedeutet Fehlangaben, r die Anzahl der richtig verzeichneten
Reproduktionen.
Rechenfertigkeit
a
o
r 1 r
1 f
&
ra
s
•
4.18 2M
2.91 2.18
6,82
3.00 3.94
5.09
| 1.81 3.50
6,94 5.31
2.18 3.27 1.82 2,45
5.45 4.27
Achtet man zunächst auf die Gesamtresultate (r und fj,
so erfährt man, daß durchgeh ends die a-Werte, höher liegen als
die o-Werte.
1*
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164
Marx Ijohsirn.
Es interessiert zunächst das Gesamtergebnis, daß
die mittelbegabten Rechner höhere Gesamtleistungen, mehr
Fehler aufwiesen als die guten und schlechten. Wir finden
hier, zumal bei o, gehäufte Versuche, nicht oder unklar erfahrene
Zahlen zu erraten. Den guten Rechner hindert daran die
schärfere Beobachtungsgabe, den schwächeren die mangelnde
geistige Regsamkeit.
Achtet man auf die Anzahl der unter 10 möglichen Angaben
richtig reproduzierten Zahlen, so ersieht man eine Ucberein-
Stimmung zwischen Rechenfertigkeit und Zahlengedächtnis
derart, daß starkes Gedächtnis und bedeutende Rechenfertigkeit
zusammen gegeben sind. Auffallend ist der große Sprung von
m : g, zumal bei o.
Wesentlich ist das Resultat, daß die Leistungen auf dem
o-Gebiet erheblich hinter den verglichenen a-Leistungen zurück-
stehen. Man könnte einwenden, daß die Typen ,von vornherein
nicht räumlich gesondert worden waren, daß also minimale
Leistungen des Akustikers auf optischem Gebiete mit ,guten
des Optiker zusammen verrechnet wurden. Aber dasselbe
trifft doch auch für die a-Ergebnisse zu.
Nun, es handelt sich hier um absolute Werte, möglich,, daß
sich das Bild ändert, wenn man die Anzahl der richtigen
Wiedergaben in Beziehung setzt zu der Anzahl der überhaupt
niedergeschriebenen Zahlen, also der richtigen und Fehl-
reaktionen. Das geschieht aber am einfachsten nach der
Formel Sterns
r
Rechenfertigkeit
a
o
g
0,613
0,571
m
0.432
0,341
s
0,400
0,426
Die Tabelle bestätigt für die a-Gruppen das oben gewonnene
Resultat; doch stehen bei o die Mittelbegabten den anderen
Gruppen erheblich nach.
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l'tber Zahlengedächtnis und Rechenfertigkeit.
165
b.
So bezeugen die Beobachtungen, daß allerdings zwischen
dem Zahlengedächtnis und der Rechenfertigkeit ein Zusammen-
hang derart besteht, daß beide zu einander in geradem Verhältnis
stehen; das gilt sowohl von dem optischen wie dem akustischen,
Zahlengedächtnis; nur offenbaren die Mittelbegabten bei o ein
abweichendes Verhalten. Es erhebt sich die Frage, ob möglich
ist, diesen Unterschieden auf experimentellem Wege genauer
nachzugehen. Dieser Aufgabe sollte der Rechenversuch dienen.
Auf Grund der gelösten Aufgaben wurden die Schüler nach
Begabung und Typen gesondert. 3 Typen wurden . unter-
schieden, außer a und o der a/o-Typus, ein Mischtypus, der
eine -deutliche Sonderung nach a und o nicht zuläßt. Inner-
halb dieser Typen wurde die Rechenfertigkeit gewertet nach
den Graden gut (g), mittel (m) und schlecht (s).
Die Resultate lege ich in folgenden Tabellen nieder:
Rechenfertigkeit
Typus a
Abs.
r
F+l
Abs.
r
f + l
Abs.
f+-f I
8,00
0,853
5.67
0,601
2,00
0,222
4,25
0.444
2,34
0.259
0.50
0.053
Rechenfertigkeit
Abs.
g _L_
r + f
Abs.
ta r
r+1
Abs.
« r
r+'
Typns o
7.80
0.867
4.8
0.600
1.0
0.167
4.60
0,500
2
0,244
1.0
0,111
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166
Marx Lobsien.
Rechenfertigkeit
in
Typus m
o
a
7,3
7.3
0,768
0.759
4,25
5.25
0,500
0,567
1.00
0,83
0.128 •
0.119
Abs.
r
Abs.
,h l
Abs. |
s r
Die drei Tabellen zeigen ausgeprägte Typenunterschiede.
Der Optiker zeigt dem Akustiker gegenüber kaum nennenswerte
Nachteile da, wo ihm erlaubt ist, die Zahlbilder nach seiner
Weise durch das Auge aufzunehmen; dagegen sinkt die
Leistungsfähigkeit im Rechnen oft um mehr als die Hälfte,
wenn er genötjgt wird, allein durch das Ohr die Ziffern seinem
Gedächtnis einzuprägen. Aehnliches gilt auch vom Akustiker *
auch er ist in seiner Rechenfertigkeit stark gebunden, wenn
man ihn *zwingt, andere als ihm eigentümliche Wege zu gehen.
Ganz anders der m-Typus! Er ist dem Akustiker auf optischem,
dem Optiker auf akustischem Gebiete stark überlegen, überragt
jenen im schriftlichen, diesen im Kopfrechnen und macht so
vieles zu seinen Gunsten in den Rechenleisrungen wieder wett.
Das beweist folgende Zusammenstellung der Gesamtergebnisse,
die die Begabungsunterschiede außer Bewertung läßt, dazu
auch die Typendifferenzen :
r
r -f f
Typus
Typus
Gesamt
eigener
fremder
. i
0,559
0,252
0,451
o
0,545
0,285
0.415
Dl
0.465
0,482
0,478
In den Gesamtleistungen beobachtet man also ein, wenn
auch nicht sehr erhebliches, Ueberge wicht des m-Typs, im
besonderen aber bleibt er in seinen Leistungen hinter den
ausgeprägten Typen zurück, wenn sie ihre eigenen Wege
beschreiten dürfen.
Die Leistungen der schwachen Rechner bleiben ganz er-
Digitized by Google
lieber Zahlengedächtnis und Rechenfertigkeit.
167
heblich hinter den besseren zurück; das gilt für alle Typen.
Während aber bei o und m die minimalen Ergebnisse nicht
große Unterschiede aufweisen für a und o, leisteten die
schwachen akustischen Rechner auf optischem Gebiete weitaus
das geringste.
IV.
a.
Versuchen wir nunmehr die Gedächtnisreihen und die Re-
sultate der Rechenversuche einander einzuordnen. Dabei sollen
nur die —j— -Werte Verwendung finden, auch finden nur die
Typen a und o Berücksichtigung.
Typus a
Leistung
Wen
K--
-
s
Gedächtnis
Rechnen
613
853
Typus
432
601
» o
400
222
Leistung
Wert
g
m
s
Gedächtnis
Rechnen
571
867
341
600
426
167
Bei der Wertung dieser Tabellen darf nicht unberück-
sichtigt bleiben, daß der m-Typus bei den .Gedächtnisprüfungen
nicht besonders herausgehoben ward. So erklärt sich, daß
die Zahlen bei s relativ hoch liegen. Trotzdem beweist der
abwärts gerichtete Kurvenverlauf, daß der tüchtige Rechner
durchgehends über ein besseres Zahlengedächtnis verfügt.
b.
Die Wertung der Rechcnleistungen geschah oben auf Grund
der Zensur des Lehrers. Sie umschloß mehr als die Ein-
schätzung einfacher, mechanischer Rechenfertigkeit auf dem
durch die gestellten Multiplikations- und Additionsaufgaben
vorgesehenen beschränkten Gebiet. Nun versuchte ich, lediglich
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163
Marx Lobsien.
die Resultate dieser einfachen Rechenlei-
stungen, unbekümmert um die Schulzensur, als Maßstab
der Rechenfertigkeit zugrunde zu legen. Innerhalb der Gruppen
g, m, s wurde durch neue umfängliche .Gedächtnisprüflingen
die Merkfähigkeit (unmittelbare) der Typen a, o und m bestimmt.
Das Ergebnis dieser Prüfung zeigen die folgenden Tabellen:
r
Typus a
Rechenfertigkeit
Gedächtnisleistung
0
a
g 0,452
m ; 0,243
1; 0,264
Typus o
0,459
0,418
0,411
Rechenfertigkeit
Gedächtnisleistung
o a
■ 1
0,500
0,500
0,429
Typus m
0,350
0,284
0,142
Rechenfertigkeit
Gedächtnisleistung
1
g 0,499
m 0,400
s || 0.424
0,533
0,315
0,400
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Erziehung und Arbeit.
Unsere Stellung zur sog. Knabenhandarbeit und ihrer Literatur.
Von
Eduard Schulze.
I.
Die Freunde der Handarbeit treten ein für einen um
seiner selbst willen gepflegten Handarbeitsunterricht, stellen
im Interesse der Zöglinge bestimmte, abgeschlossene Arbeits-
aufgaben, keine bloßen technischen Uebungen und wünschen
seine Einführung in die Schule, um bei der Erziehung der
Knaben neben der Schulung des Verstandes und neben der
Pflege einer mehr abstrakt-geistigen Tätigkeit auch der Aus-
bildung der Sinne, des Anschauungs- und Darstellungsver-
mögens zu ihrem Recht zu verhelfen, um die körperlichen
Kräfte der Knaben zu schulen, um Schaffensfreudigkeit so-
wie praktisch-geistige Fähigkeiten zu wecken, endlich um zur
werktätigen Arbeit zu erziehen. Die Gegner der Handarbeit
haben ihr die Schultore verschlossen, obgleich auch sie von
dem Nützlichkeitswerte, wie ihn die Anhänger der Arbeit
preisen, wohl überzeugt sind. Freilich ist das zähe Festhalten
und die Verfechtung der Selbständigkeit dieses Unterrichts-
faches und seiner selbständigen Lehrgänge für die Ausbreitung
und Förderung der Idee der Arbeit im allgemeinen taktisch
und strategisch am Platze gewesen, andererseits geben wir
gerade dieser einseitigen Auffassung des Bildungswertes der
Digitized by Google
170
Eduard Schulze.
Arbeit und ihrer Betonung die Schuld, daß die Gegner von
der Berechtigung der Arbeit, von der Notwendigkeit ihrer
Einführung in den Unterricht nicht überzeugt worden sind.
Denn solange man den Handarbeitsunterricht als selbständiges
Fach mit Lehrgängen, die nach technischen Schwierigkeiten
geordnet sind, zur Einführung in die Schule empfiehlt, so-
lange man die Arbeit nicht in durchgängige organische Ver-
bindung mit dem theoretischen Unterrichte bringt, sondern
höchstens dann und wann an einigen Punkten eine Verbindung
herstellt, solange man hauptsächlich auf technische Fertigkeit
hinzielt, eben so lange wird man auf die Zustimmung der
Pädagogen auf Einführung dieses Faches in die Schule ver-
geblich warten.
Welche Stellung nimmt die Heilpädagogik ein, die von
jeher infolge ihrer schwierigeren Aufgabe, ihres Gefühles der
Not, einen sicherern und ungetrübterem Blick für die Mängel
und Schäden der Didaktik hatte als die Normalpädagogik?
Aus den seit 1892 in den Fachzeitschriften erschienenen
Artikeln, sowie aus den in Augsburg über diese Frage ge-
pflogenen Verhandlungen des Hilfsschulverbandes ist ersicht-
lich, daß man auch dem Arbeitsunterricht als selbständigem
Fache das Wort redet.
Beide Parteien, die bisher über die Frage der Arbeit ver-
handelten, haben das Wesen derselben nicht zu Ende gedacht,
haben sich nur darum gestritten, ob der Haufen der Lehr-
fächer noch um eines vermehrt werden soll. Es kommt uns
vor allen Dingen — besonders beim Unterrichte der Schwachen
— auf die Qualität der Bildung an, das ist die größtmöglichste
anschauliche Vorführung und die bildende Verarbeitung des
Stoffes. Soll eine Lehreinheit anschaulich vorgeführt, bildend
verarbeitet werden, so bedarf sie eben der Darstellung in irgend
einer Arbeitsform. Das Darstellen, bildliches und körperliches,
ist ein besseres Mittel der Aneignung und des Ausdrucks als
das bisher gebrauchte, die Sprache. Die Begriffe, die wir den
Kindern durch umständliche Erklärungen beizubringen suchen,
lernen sie durch Tun, durch Arbeit von selbst, aus eigner
Vernunft und Kraft; der Weg durch die Sprache zu den
Sachen ist ein Umweg; eine Stunde Arbeit lehrt mehr als
eine tagelange Auseinandersetzung. „Nicht logische Ueber-
führung, sondern sinnliche Ueberzeugung ist das Ziel des
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Erziehung und Arbeit.
171
Unterrichts" (Lay). Die neueren physiologischen und psycho-
logischen Forschungen weisen uns unbedingt darauf hin, daß
zu einem bildenden Unterrichte neben den bisher bekannten
und in den meisten Fällen wohl auch geübten Lehroperationen
noch das Tun, das Arbeiten, das Darstellen kommen muß,
und die bisherigen Unterrichtserfolge zeigen uns, daß es nicht
überflüssig ist, daß dieses Mehr der Durcharbeitung einer-
seits, der Einprägung andererseits wirklich notwendig ist. „Ein
Eindruck ohne Ausdruck, eine Anschauung ohne Darstellung
durch Sprache, Schrift, Zeichnung, Modell, Experiment ist
physiologisch unvollständig, unnatürlich und entbehrt der
Vollendung der Anschauung nach Deutlichkeit, Klarheit, Ge-
wandtheit, Gedächtniskraft und Willensreiz." 1 ) Erst wenn
dieser rechte Begriff von dem „Didaktischen Grundprozeß"
zur unumwundenen Anerkennung gelangt ist, werden wir zu
besseren Unterrichtsresultaten kommen.
Diejenigen nun, die immer noch meinen, das Darstellen
sei überflüssig für eine richtige und lebendige Anschauung,
erinnere ich an ihr von jeher betriebenes eigenes Tun, an
das Vermittelnwollen einer richtigen Anschauung durch Bilder.
Gewiß tragen Bilder einiges zum richtigen Verständnis einer
Sache bei, da aber das Bild nur einen Moment, eine Seite
der Sache veranschaulichen kann, muß zur Vermittlung des
Verständnisses noch die Sprache kommen. Beide, Bild und
Sprache, sind nützlich und können sich nicht gegenseitig er-
setzen. Anders beim Darstellen. Die Darstellung in irgend
einer Form muß für die Anschauungsvermittlung, für das
Zeigen des Verständnisses höher bewertet werden, höher als
das Bild, schon weil die körperliche Darstellung mehr räum-
liche Ausdehnung besitzt, sie muß höher bewertet werden als
die sprachliche Darstellung, weil sie diese einerseits entbehr-
lich machen kann, andererseits sie ohne weiteres zur Folge
hat; denn wer sein Verständnis, seine richtige Anschauung
durch das körperliche Darstellen gezeigt hat, dem wird es
nicht zu schwer fallen, diese Vorstellungen in richtiger, ge-
wandter, fließender sprachlicher Darstellung wiederzugeben.
Daher ja die Mangelhaftigkeit der sprachlichen Fertigkeit
unserer Schüler: sie sprechen nicht, weil sie keine Vorstellungen
') Dr. W. A. I-ay, Experimentelle Didaktik.
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172
Eduard Schulzr.
haben, sie sprechen mangelhaft, weil sie nur unzureichende,
unrichtige, falsche Vorstellungen haben.
Bei der Erziehung durch Arbeit kommt es uns nicht darauf
an, daß die Kinder „zur werktätigen Arbeit erzogen" werden,
sondern darauf, daß sie durch die Arbeit ihren Geist bilden;
auch nicht die „technische Fertigkeit", die bloße Abrichtung
der Finger, die Ausbildung der Hand ist uns die Hauptsache
— ebenso wie z. B. im Schreibunterrichte uns nicht das Buch-
stabennachmalen, das sog. Schönschreiben, als das Hauptsäch
lichste gilt — , wäre das Technische das Ziel der Arbeit, so
könnte man überhaupt nicht von „erziehlicher Arbeit" sprechen,
denn wir reden nur da von Erziehung, wo es sich um geistiges
Leben, um Bereicherung, Stärkung, Vervollkommnung, Ver-
edelung und sittliche Gestaltung desselben handelt. Außerdem
ist es falsch, wenn man meint, daß das Darstellen hauptsäch-
lich durch die Geschicklichkeit der Hand bedingt sei; die
Hand bedarf wohl der Uebung, aber die Richtigkeit der Arbeit
ist im wesentlichen doch abhängig von dem richtigen An-
schauen und Vorstellen.
Die Arbeit hat also keinen Selbstzweck, sie ist zuerst und
vor allem Mittel zu dem Zwecke, dauernde, vollständige, klare
und deutliche Vorstellungen zu erzeugen; ihre Bedeutung liegt
besonders in den Diensten, die sie der Entwicklung, Bereiche-
rung und Ordnung des Geisteslebens leistet.
Es sei mir gestattet, an dieser Stelle auch der pädagogischen
Klassiker zu gedenken. Die nachfolgenden Zeugnisse und Aus-
sprüche verschiedener Pädagogen und Volksfreunde zeigen,
daß man von jeher neben der Ausbildung des Geistes auch
die Bildung des Körpers, neben dem Denken das Tun betonte,
daß man den innigen Zusammenhang zwischen körperlichem
Tun und geistiger Arbeit und den förderlichen Einfluß der
Arbeit auf die Entwicklung und Ausbildung des Geisteslebens
ziemlich klar erkannte. Die Begründung ihrer Forderungen
müssen wir naturlich als unzulänglich bezeichnen, da ihnen
die Entwicklungsprozesse des menschlichen Geistes nicht
genügend bekannt waren.
Comenius schreibt in der Scholae Pansophicae Delineatio:
„Dem Wißbaren ist das Ausführbare beizufügen, in dem unsere
Schüler geübt werden sollen, d. h. der Kenntnis der Dinge
ist die Aktivität der Handlungen anzuschließen."
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Erziehung und Arbeit. 17$
Rousseau behauptet im III. Buche seines Emil: „So viel
man kann, muß man durch Tatsachen sprechen und nur sagen,
was man praktisch ausführen kann."
„Wenn ich ein Kind, anstatt es an Bücher zu fesseln, in
einer Werkstätte beschäftige, arbeiten seine Hände zum Nutzen
seines Geistes; es wird ein Philosoph und glaubt nur ein
Arbeiter zu sein."
Der Publizist Joh. Gottfr. Groß in Nürnberg betont in
einer seiner Schriften, „daß man bei dem Dozieren die Jugend
auch in Aktivität zu setzen suche, das ist, daß man sie ge-
wöhne, das, was sie siehet und lernet, auch nachzumachen
und zu verfertigen."
Bernh. Heinr. Blasche, Lehrer in Schnepfenthal, der ganz
besonders die intellektuelle Bildung durch mechanische Be-
schäftigungen fordern will, meint: „Der Unterricht erscheint
bei diesem Gange der Erziehung den Kindern als Mittel zur
vollkommeneren Erreichung nahliegender Zwecke; sie ge-
winnen die Unterrichtsgegenstände lieb, weil sie mit ihren
Beschäftigungen, in denen sie leben und weben, in so naher
Verbindung stehen."
Joh. Heinr. Gottl. Heusinger, Dozent der Pädagogik an.
der Universität in Jena, später Lehrer in Eisenach und Dresden,
kritisiert die damalige Erziehungsmethode mit den Worten:
„Die Erwerbung von Kenntnissen durch eigenes Anschauen,
durch eigene Versuche, durch eigenes Arbeiten ist etwas, wo-
zu die Erziehung den Kindern entweder noch gar keine An-
leitung, oder doch nur in Nebenstunden, gibt, weil man, dem
Schulgeiste gemäß, noch immerfort glaubt und handelt, als
sei das Lernen die Hauptsache bei der Erziehung," über sein,
Bestreben berichtet er, „das Prinzip der Tätigkeit ist es, das
ich überall in der Erziehung einzuführen versuche und nach
welchem ich den ganzen Plan der Erziehung entwerfe."
Auch Pestalozzi spricht für uns, wenn er feststellt: Durch
je mehr Sinne du das Wesen oder die Erscheinungen einer
Sache erforschest, je richtiger wird deine Erkenntnis über
dieselbe."
Fröbel, der unser Erziehungsideal am klarsten mit erkannt
hat, schreibt über sein Erziehungsziel: „Die Anstalt (Helba)
geht in ihrer Wirksamkeit vom Selbsttun, dem Selbstdarstellen
aus und setzt dies somit wieder in sein uraltes Recht als den
Digitized by Google
174
Eduard Schulst.
Grund alles wahren Erkennens und aller echten Bildung ein,
erhebt es so, geeint mit Sinnigkeit, zu einem unmittelbaren
Bildungs-, mit Denken geeint zu einem unmittelbaren Lehr-
mittel, und ordnet so das Arbeiten selbst mit unter die Lehr-
mittel ein." „Die Natur schon lehrt es jedem, wie das Auf-
nehmen und Auffassen der Sache im Leben und Handeln bei
weitem mehr entfaltend, ausbildend und stärkend ist als das
bloße Aufnehmen in Worte und Begriffe. So ist auch das
Gestalten an und durch Stoff im Leben, im Handeln und Tun,
geknüpft an Denken, Gedanken und Wort, für die Entwicklung
und Ausbildung des Menschen weit höher als die Darstellung
durch Begriffe und durch Wort ohne Gestaltung." „Von der
Tat, dem Tun, muß die echte Menschenerziehung, die ent-
wickelnde Erziehung der Menschen beginnen ; in der Tat, dem
Tim keimen, daraus hervorwachsen, darauf sich gründen."
,.Weil uns in dem Gange der Vorsehung bei Entwicklung und
Ausbildung des Menschengeschlechts als klar entgegentritt,
daß das Handeln, Darstellen, Tun früher war als das Nach-
denken, das Denken darüber, und so früher als das Erkennen
und Wissen, und daß zweitens das Nachdenken, das Denken,
das Erkennen und Wissen sich sogleich wieder am Tun, am
Darstellen, am Ausüben prüfte, fortentwickelte und ausbildete,
so . . . geht denn auch bei unscrm Erziehungs- und Lehr-
geschäft das Darstellen, Tun dem Erkennen und Wissen vor-
aus, und der Zögling bildet und schafft sich . . . selbst sein
Erkennen und Wissen, welches sonach ein lebendiges, Leben
gebendes, Leben weckendes, sich aus und durch sich selbst
lebendig fortentwickelndes und ausbildendes Wissen und
Können ist."
Dr. Daniel Georgens, Leiter einer Erziehungsanstalt bei
Wien, forderte schon vor ungefähr 50 Jahren die Aufnahme
„pädagogisch geregelter Arbeitsübung" in die Volksschule.
Die Arbeit betrachtet er als „ein absolut notwendiges Bildungs-
mittel", welches „den passiv empfangenden Schüler zu einem
aktiven machen und aus reiner Aktivität ihn produktivfähig
heraustreten lassen soll". Die Arbeitsübung muß aber, um
diesen Zweck zu erreichen, „in organische Verbindung" mit
dem theoretischen Unterricht treten, d. h. „aus der praktischen
Uebung muß sich das Wissen entwickeln und dieses in jener
seine Anwendung finden."
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Erziehung und Arbfit.
175
Der jüngst verstorbene Dr. Ernst Barth in Leipzig, der
ebenfalls den Arbeitsunterricht in engste Verbindung mit ein-
zelnen Unterrichtsfächern bringen will, betrachtet denselben
„als eine notwendige Ergänzung dessen, was die Schule als
Erziehungsschule zu leisten habe".
Welche Vorteile erhoffen wir nun von einem auf dem
Prinzip der Arbeit ruhenden Unterricht?
Zunächst erwarten wir davon großen Gewinn für die
Pflege eines wirklichen Interesses. Ein richtig betriebener
Unterricht soll nicht nur das Vorstellen üben, er soll auch
Stimmungen, Gefühle, Regungen, Handeln erwecken. Nichts
hilft die Freudigkeit im Lernen, dem Streben nach weiterer
Erkenntnis besser auf als das Gefühl, man habe wirklich etwas
gelernt, man könne das Geforderte leisten. Wenn es schon
für jeden Menschen der sehnlichste Wunsch ist, zu sehen,
daß er etwas fertig bringt, so ist eine solche Erkenntnis für
den Schüler der Hilfsschule um so ermutigender, je weniger
er beim jetzigen Unterrichte die Früchte seiner Mühe gewahr
wird. Unsere Schüler sind oft nur deshalb so stumpf und
teilnahmlos, weil gerade das im Unterrichte fehlt, wofür sie
zu haben sind, woran die Lust am Lernen überhaupt sich
wecken läßt. Bei dem bloßen Reden über eine Sache fühlt
sich das Kind, besonders das geistig schwache, unbefriedigt
und gelangweilt, weil es flicht soviel geistige Kraft besitzt,
um sich aus der konkreten in die abstrakte Welt zu erheben.
Langweilig zu sein ist aber die größte Sünde des Unterrichts.
Darum wird ein rechter Lehrer immer und immer bemüht
sein, durch seinen Unterricht in dem Kinde die innere Nötigung,
die es zum Lernen treibt, zu wecken, er wird vielfältige Ge-
legenheit geben zu frischer, aus dem Innersten heraufquellender
Tätigkeit. Und wodurch könnte er das wirksamer als durch
einen auf dem Prinzip der Arbeit beruhenden Unterricht? Die
Arbeit ist ganz besonders geeignet, eine wertvolle Ueberleitung
des Unterrichtseindruckes von den erkennenden zu den streben-
den Kräften der Seele zu bilden. Durch das Tun erlangen die
Schüler eine genaue und sichere Erkenntnis, die verbunden
ist mit einem Gefühl der Lust, mit einem Anreiz zu weiterer
Tätigkeit,*) und dieser Trieb wird um so stärker sein, je
*) «Das Gefühl des klaren Auffassens hielt ich längst für die einzige und
echte Würze des Unterrichts."
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Eduard Schulze.
lebendiger der Eindruck, die Vorstellung ist, die Stärke und
Wärme aber des Antriebs wird wieder um so reger sein, je
fester die Aufgaben in die Individualitätssphäre des Kindes
eingreifen. Aus diesem Grunde betrachten wir nur die Arbeit
als pädagogisch wertvoll, die ihre Direktiven aus den sach-
unterrichtlichen Fächern erhält. Wohl zeigen die Schüler auch
bei einem selbständig betriebenen Handarbeitsunterrichte
Interesse an der Arbeit; dasselbe ist aber ganz anderer Art
als bei unserem Unterrichte. Hier ist die freudige Hingabe
des Schülers bedingt durch das vom übrigen Unterrichte her
angeregte lebendige Interesse. Wie beim Rechnen nicht das
reine Zahlenrechnen, sondern das richtige Sachrechnen,
wie in der Raumlehre nicht die reinen mathematischen
Formeln, sondern die angewandten Aufgaben aus dem
täglichen Leben, wie im Zeichnen nicht ein systematischer
Lehrgang nach Stuhlmann, sondern das Darstellen von Stoffen
der Wissensfächer, wie im Singen nicht die Stimm- und Treff-
übungen, sondern das Singen der Lieder im Anschluß an die
Stoffe des übrigen Unterrichts dem Schüler ein höheres und
stärkeres Interesse abgewinnen können, so kann auch nur die
Arbeit von Nutzen sein, die mit dem sonstigen Schaffen des
Kindes in engster Verbindung steht; so nur wird ihm die
Arbeit einleuchten, so nur wird ihm die Notwendigkeit der
Kenntnisse überhaupt klar werden*. Es kann nichts gediegen
sein, als was in allen Stücken zusammenhängt.
Selbst bei dem Lehrer wird sich eine Steigerung des Inter-
esses an den Sachen bemerkbar machen, insofern sein Suchen,
Ueberlegen und Auswählen nach den verschiedenen Be-
ziehungen der Arbeit zu den sachunterrichtlichen Fächern ihn
den wertvollen Inhalt und den Gewinn, der beiden Teilen durch
das gegenseitige Ineinandergreifen zugute kommt, recht er-
kennen läßt. Wie lähmend und entmutigend ist es für den
Lehrer, wenn er nach vielen Mühen und Anstrengungen zu-
guterletzt doch gewahren muß, daß seine nach der herkömm-
lichen Methode verrichtete Arbeit zum größten Teile umsonst
gewesen ist, wenn er sehen muß, daß seine Hoffnung auf
eine bescheidene Ernte vergebens war. Gerade der Lehrer
der Schwachen wird solche Erfahrungen oft machen; sollte
er darum nicht dankbar jedes Mittel ergreifen, das ihn vor
diesen bitteren Enttäuschungen bewahren kann?
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Erziehung und Arbeit.
177
Endlich wird sich auch das Interesse des Lehrers für die
Kinder erhöhen, da er häufig die Beobachtung machen wird,
daß die Schüler, die er wegen ihrer geringen geistigen Kapa-
zität für formale Darbietungen schon gänzlich aufgegeben hatte,
daß diese auf dem Gebiete der Tat, des Handelns, der Willens-
energie sich besser erweisen als die „Musterknaben" der Schul-
stube — wenn wir von solchen in der Hilfsschule reden dürfen.
Durch das Tun der Kinder erhält der Lehrer nun auch Kennt-
nis davon, „wie der psychische Mechanismus in dem Kinde
wirkt", namentlich wie weit auch das von den Sinnen her-
kommende Empfinden und Wahrnehmen bei ihm gesund und
die daraus erwachsenden Vorstellungen ausgebildet sind.
Mit dem Interesse steigern wir die Lernlust des Schülers
und heben dadurch gerade bei unsern Schwachbegabten
Kindern das auf, um deswillen wir sie von den normalen be-
sonders genommen haben, die psychische Passivität. Das
Interesse, das wesentlich durch den Stoff und durch die Tätig-
keit an dem Stoffe bedingt ist, wird unbedingt zum Denken
treiben, wird die Energie des Denkens, die unsern Schülern
hauptsächlich abgeht — darum schwach im Sinnen — , un-
gemein fördern.
Eine weitere Folge eines lebhaften Interesses ist die Auf-
merksamkeit. Vielen unserer Kinder fehlt diese Tätigkeitsform;
deshalb nennen wir sie unaufmerksam, unruhig, undiszipliniert;
darum sind ihre Wahrnehmungen blaß und ungenau, ab-
geschwächt und unbestimmt ; deswegen sind ihre Vorstellungen
mangelhaft und das Bilden von Begriffen kommt nicht zu-
stande. Jede intellektuelle Tätigkeit setzt ja doch jene psychische
Tätigkeit, die alle Funktionen des Geistes verdichtet und
konzentriert, setzt die Tätigkeit der Aufmerksamkeit voraus,
und je leichter und sicherer diese sich einstellt, desto leichter
und sicherer wird auch die Ideenbildung sein. Als bestes Mittel
zu einer leichten und richtigen Einstellung der Aufmerksam-
keit bietet sich nur die Arbeit, das Tun an. Beim Tun wird
ein schärferes Aufmerken, d. i. eine gesteigerte Einstellung
aller in Betracht kommenden Sinnesorgane, ein schärferes
Sehen, ein besseres Hören, ein genaueres Betasten usw. nötig.
Durch die Arbeit bewirken wir, daß unsere Kinder genauer,
deutlicher und bestimmter wahrnehmen, daß sie Dinge wahr-
nehmen, die sie in anderem Falle leicht übersehen oder über-
Zeitschrifl für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 2
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178
Eduard Schuhe.
hört hätten, daß sie Sinnesempfindungen apperzipieren, die
sonst spurlos an ihrem Bewußtsein vorübergegangen wären
und dasselbe nicht mit neuen Inhalten bereichert hätten. Ebenso
werden wir bei unseren Kindern durch Tun einen Zuwachs
der Energie der Sinne erreichen, der sich darin äußern wird,
daß die physiologische Zeit des Wahrnehmungsablaufs von
immer kürzerer Dauer wird.
Im engsten Zusammenhange mit dem Interesse steht das
Gedächtnis. Der Psychologe Goethe kennzeichnet diesen Zu-
sammenhang mit den Worten: „Wo der Anteil sich verliert,
verliert sich auch das Gedächtnis." Das Gedächtnis, die un-
veränderte Wiederkehr der Vorstellungen, Vorstellungsverbin-
dungen, Gedanken, Gedankenreihen, der Gefühle und Be-
strebungen, ist die erste Voraussetzung aller Bildung. Je nach
dem Umfange, der Treue, der Dauerhaftigkeit und Dienstbar-
keit des Gedächtnisses werden auch Umfang und Inhalt der
Bildung verschieden sein. Man hält es für einen Vorzug der
heutigen Unterrichtsmethode, daß sie gerade das Gedächtnis
am wirksamsten pflege; man anerkennt auch, daß die heutige
Schule diese Seite der Seelentätigkeit am stärksten in Anspruch
nimmt; da man aber nur unzusammenhängende Einzelheiten
lehrt, da man den inneren gesetzlichen Zusammenhang der
Stoffe dabei zum großen Teile außer acht läßt, so kann von
einer wirksamen Pflege des Gedächtnisses, von seiner rechten
Ausbildung nicht gut die Rede sein, im Gegenteil : infolge der
falschen Inanspruchnahme hat es sich bisher stets als ein un-
zuverlässiger Wurzelboden aller Bildung erwiesen. Darum
haben es sich die Schulmänner auch zu allen Zeiten angelegen
sein lassen, nach einem nachhaltigen und wirksamen Mittel
zur Pflege eines guten Gedächtnisses auszuschauen. Um da-
bei keinen Fehlgriff zu tun, müssen wir fragen: welches sind
denn *die Bedingungen, unter denen die Vorstellungen resp.
Vorstellungsverbindungen, nachdem sie aus dem Bewußtsein
entschwunden, unverändert in dasselbe zurückkehren ? Es sind
Stärke und Rhythmus des geistigen Geschehens überhaupt,
es ist der Stärkegrad des speziellen psychischen Vorganges,
der bestimmt wird durch die Qualität des Objektes, es ist die
Zahl der Wiederholungen dieser seelischen Prozesse, es ist
die Verknüpfung der Vorstellungen mit schon vorhandenen,
es ist der Grad der physischen und psychischen Frische, der
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Erziehung und Arbeit.
179
Einfluß der physischen und psychischen Disposition und der
durch diese hervorgerufenen Stimmung, es ist die Zahl der
apperzipierenden Vorstellungen, welche alle den Verlauf sowie
die Wirkung der unveränderten Reproduktion — des Gedächt-
nisses — beeinflussen. Worin besitzt nun die heutige Didaktik
ein besseres und umfassenderes Mittel zur Erlangung eines
möglichst günstigen Einflusses all der genannten Faktoren auf
das Gedächtnis als in der Arbeit, in dem Handeln, in dem Tun ? !
Durch den auf dem Prinzip der Arbeit aufgebauten Unter-
richt passen wir uns auch mehr als es gegenwärtig im Unter-
richte geschieht den verschiedenen Sinnestypen unserer Schüler
an. Mit der Veranschaulichung unserer Unterrichtsstoffe ist
es keineswegs so einfach bestellt als wir zu glauben scheinen,
wenn wir die Vorstellungen und deren innere Verarbeitung
nur durch einen Sinn, etwa durch den Gesichtssinn, erwerben
lassen wollen: wer vorwiegend mit dem Auge aufnimmt, wird
nicht immer genau so gut die Gehörs-, Tast- oder Bewegungs-
vorstellungen perzipieren. Bei der Vorstellungsaufnahme zeigen
sich besonders bei unsern Kindern die verschiedensten indivi-
duellen Besonderheiten, und dann denke man noch weiter auch
an die vielen mit körperlichen Defekten behafteten Kinder
der Hilfsschule, an die Kurzsichtigen, Schwerhörigen, Ge-
lähmten usw. All denen werden wir gerecht, wenn wir den
Unterrichtsstoff durch Arbeiten erwerben lassen, d. h. wenn
wir ihn auf dem Wege der Gesichts-, Gehörs-, Tast- und Be-
wegungsvorstellungen an unsere Schüler heranbringen.
Von dem Gedächtnis, der unveränderten Reproduktion,
gehen wir über zur Phantasie, zur veränderten Reproduktion
der Vorstellungen. Sie ist für die Bildung des Geistes von
größter Bedeutung. Goethe nennt sie eine „Vorschule des
Denkens"; andere reden von ihr als von der „Lunge der
Seele" und Hippel sagt: seelenhektisch ist jeder, dessen Ein-
bildungskraft auf schwachen Füßen steht, ein Ausspruch, dem
die Erfahrung an unseren Schwachen zustimmen muß. Da-
gegen sprechen wir von einer gesunden Seele, von einem
Reichtume des Seelenlebens, sobald sich die Veränderung der
Vorstellungen mit Leichtigkeit vollzieht, sobald die veränderte
Reproduktion der Vorstellungen einen gewissen Umfang hat.
Hierfür von entscheidendem Einfluß ist es, ob das Leben des
Zöglings dürftig oder reich, einförmig oder wechselvoll ist,
2*
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Eduard Schuld.
ob die gewonnenen Vorstellungen scharf, klar und geordnet
oder unbestimmt und verworren sind. Denn gleichwie die wirk-
lichen Ernährungsmittel auf unsern Körper einen bestimmenden
Einfluß ausüben, also ist auch die Nahrung des geistigen Lebens
— Vorstellungen resp. Vorstellungsverbindungen — nicht ohne
Bedeutung für die Phantasie: dürftige Ernährung wird die
Phantasie dürftig lassen, reichliche Nahrung wird ihre Ge-
bilde reicher gestalten. Unsere Schüler sind meist arm an
Phantasie ; sie besitzen diese Seelentätigkeit fast gar nicht oder
doch nur in sehr bescheidenem Maße. Das können wir täg-
lich beobachten an ihrem Spiel, in den Unterrichtsfächern,
die oft unwillkürlich zur freien Reflexion auffordern wie z. B.
Zeichnen, beim sog. darstellenden Unterrichte sowie auch bei
rein praktischen Dingen. Aus diesem Grunde kann ich auch
dem Märchenunterrichte für die unteren Stufen, sowie dem
darstellenden Unterrichtsverfahren auf allen Stufen der Hilfs-
schule nicht das Wort reden. Warum zeigen nun gerade unsere
Schüler eine gewisse Armut in der Phantasie? Weil ihnen
die beiden wichtigsten Voraussetzungen für diese Tätigkeit
fehlen: ein Schatz vorhandener Vorstellungen und die Fähig-
keit des Schaffens neuer Vorstellungsverbindungen. Fehlt die
erste Voraussetzung, das durch die Anschauung gebotene
Mittel, der Reichtum an sinnlich-lebendigen Vorstellungen,
die Deutlichkeit, Klarheit und Intensität derselben, so kann
auch das schaffende, freie Schalten und Walten mit den auf-
gespeicherten Mitteln, die Beweglichkeit und Regsamkeit des
geistigen Lebens überhaupt nicht statthaben. Um nun hier
einiges zu erreichen, muß unser Unterricht für zweierlei sorgen:
i. für Vorstellungen, 2. für Bewegung der Vorstellungen. Da-
zu kann aber nicht unser bisher betriebener Wortunterricht
beitragen, sondern einzig und allein ein Unterricht, der die
Nötigung zum richtigen Sehen, zum genauen Betasten, zum
klaren Erfassen mit allen möglichen Sinnen in sich hat, der
auch hinreichend Raum, Gelegenheit und Anlaß zu freier,
selbsttätiger Reflexion des Schülers bietet. Und das ist ein
Unterricht durch Arbeit, ein Unterricht durch körperliche,
sprachliche, zeichnerische Darstellung der Stoffe im engsten
Anschluß an die sachunterrichtlichen Fächer.
Wir kommen nun zu den Vorteilen, die das Sprechen,
die Sprachbildung unserer Schwachen, unserer spracharmen
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Erziehung und Arbeit
181
und sprechgebrechlichen Kinder aus einem Unterrichte ziehen,
der das Prinzip der Arbeit berücksichtigt. Die geistige Reife
eines Menschen beurteilen wir neben anderem auch nach der
„Fertigkeit im mündlichen Ausdruck", darum muß in der
Schule heben den Fertigkeiten des Lesens und Schreibens auch
die des Redens gepflegt werden. Bei unsern Schülern suchen
wir Sprachfertigkeit zu erreichen durch besondere Sprech-
übungen, die meist losgelöst sind von allem übrigen Unter-
richte, die oft sogar jeglichen Inhaltes bar sind. Dieser bis-
her eingeschlagene Weg hat sich als ein Umweg erwiesen,
eben weil man die Sprache von der Sache trennte. Woher
kommt es denn, daß unsere Schüler so mangelhaft sprechen
oder überhaupt nicht sprechen ? Bei den wenigsten liegt dieser
Mangel in einem Fehler der Sprechorgane ; weitaus die meisten
unserer Schüler sind spracharm, sprechen nicht, weil sie nichts
zu sprechen haben, weil sie gedankenarm sind ; ihre Sprache
ist schwerfällig und unbeholfen, weil sie ihre Vorstellungen
schwer erwerben, weil sie mit den erworbenen Vorstellungen
nicht rationell zu arbeiten verstehen, weil ihnen manchmal auch
für die etwa vorhandenen Vorstellungen die passenden Aus-
drücke fehlen. Diese Wortarmut, Schwerfälligkeit und Un-
beholfenheit ist wieder eine Folge der Trennung des Wortes
von der Anschauung, des „Maulbrauchens", das schon von
Pestalozzi in die Acht getan ward, des Verbalismus, der seit
je das größte Schulübel ist, der aber auch heute noch sogar
in unsern Schulen herrscht. Eine wertvolle, rechte Sprach-
bildung werden unsere Kinder nur in und mit der Sachbildung
sich aneignen. „Gebt uns Sachen, Sachen," ruft Rousseau,
„mit unserer schwatzhaften Erziehungsweise bilden wir nichts
als^Schwätzer!" Diese Gefahr ist auch in der Hilfsschule vor-
handen und Unerfahrene lassen sich durch solches Schwatzen
einer bestimmten Kategorie Schwachbegabter leicht über den
geistigen Besitz derselben täuschen. — Jedes Kind hat das
unabweisbare Bedürfnis in sich, mit den Worten, die es ge-
braucht, auch einen Sinn zu verbinden, bei dem, was es hört,
sich etwas vorzustellen. Wird es vom Lehrer nun nicht auf
den rechten Sinn geführt, so dürfen wir uns nicht wundern,
wenn es auf den tollsten Unsinn kommt. In dieser Erkenntnis
liegt für jeden Pädagogen die Forderung : erst die Sache, dann
das Wort, liegt für jeden Lehrer der Schwachen die Mahnung :
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Eduard Schulze.
setze nichts voraus, veranschauliche jeden Begriff. Das
Kriterium des sprachlich richtigen Ausdruckes liegt stets in
der Uebereinstimmung mit der Sache, und bei dieser steht
immer die letzte Entscheidung. — Sprache ist Denken, und
die materielle Seite des Denkens besteht in den Anschauungen,
Vorstellungen und Begriffen, mit denen das denkende Wesen
arbeitet. Das Bilden der Begriffe, der Urteile und Schlüsse
hängt wiederum ab von der Genauigkeit, Deutlichkeit, Be-
stimmtheit und Sicherheit der Vorstellungen. Sobald der
Unterricht diese Qualitäten der Vorstellungen herbeiführt,
vermag der Schüler sich auch auszusprechen und zwar recht
und fertig auszusprechen, denn auch hier ist es so, daß mü-
dem der Mund überfließt, des das Herz (der Kopf) voll ist.
Den entgegengesetzten Fall, daß unsere Schüler wohl die Vor-
stellungen in ihrem Besitze haben, aber sie nicht mündlich
auszudrücken vermögen, diesen Fall können wir wohl seltener
beobachten. Welches ist nun der rechte und sicherste Weg
zu einer gewissen Fertigkeit im mündlichen Ausdruck? Er
geht durch einen auf dem Prinzip der Arbeit beruhenden Sach-
unterricht. Denn die Verknüpfung der Begriffe, den sprach-
lichen Ausdruck und eine gewisse Fertigkeit in demselben
können wir von unsern Schülern erst dann erwarten, wenn
sie genug Dinge besitzen, die sie sich durch eingehende, viel-
seitige und ausgedehnte Anschauung — eben durch Darstellung
— zu eigen gemacht haben. Wenn wir so durch Arbeit auf
die Beschaffung eines den anzueignenden sachlichen Kennt-
nissen entsprechenden Vorrats von Begriffen, von Ausdrucks-
mitteln bedacht sind, werden unsere Schüler auch eine Fertig-
keit im Ausdrucke selber erlangen. Durch die Arbeit kommen
Begrifie zur Darstellung, die das schwachsinnige Kind auf
anderm Wege nur höchst langsam oder spät erwirbt; bei der
Arbeit wird das Sprachmaterial, die Fülle der Wort- und Rede-
formen am anschaulichsten und damit am sichersten dem Geiste,
dem Ohre und dem Munde eingeprägt. Darum also Arbeiten
und dann Aussprechen: wo es so gehandhabt wird, da ist
dann dieses Aussprechen kein mangelhaftes und unbeholfenes,
es ist auch kein Sprechen über die Sache, sondern ein Sprechen
aus der Sache und darum zugleich die beste Einführung in
die Sache; das Verständnis der Sache hat nicht minder dabei
gewonnen als die Technik der Sprache. — Ein besonders
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Erziehung und Arbeit.
183
wichtiger Abschnitt in der Sprachentwicklung ist die Betätigung
des Nachahmungstriebes auf sprachlichem Gebiete. Viele
unserer Schwachsinnigen und Schwachbegabten sind über
diese Stufe noch nicht hinweg. Was liegt nun näher, als das
lautrichtige und deutliche Vorsprechen von Wörtern und Sätzen,
die sich an die Beschäftigung des Kindes, an sein Tun, an
seine Arbeit anschließen ? 1 In dem Maße, in dem hierdurch
das Sachverständnis fortschreitet, werden auch Sprachverständ-
nis und Sprechfertigkeit besser werden. Zum Schluß dieses
Abschnittes zusammenfassend, machen wir uns das ceterum
censeo Dörpfelds in bezug auf die Sprachbildung zu eigen
und sagen mit ihm: Wer dem Kinde eine tüchtige (auf das
Prinzip der Arbeit gegründete) Sachbildung mit ins Leben gibt,
der hat es zugleich mit den wirksamsten Sprachbildungs-
mitteln versorgt I
Von demselben Kapitale, von dem die Sprachfertigkeit
zehrt, erhält auch die „Fertigkeit im schriftlichen Ausdrucke"
ihren Hauptzuschuß. Der größere oder geringere Reichtum
an Sachvorstellungen ist auch maßgebend für die Gewandtheit
und Schönheit des schriftlichen Ausdruckes. Wir suchen sie
ebenfalls am besten zu fördern durch einen in obigem Sinne
betriebenen Unterricht durch Arbeit.
Weil ein Unterricht durch Arbeit immer und immer wieder
auf den Inhalt der Sache, auf das Wesen der Wahrheit dringt,
wird er auch zur Wahrheit erziehen, und die so Erzogenen
werden in ihren Worten jede Phrase vermeiden, sie werden,
wenn auch in schlichten und einfachen Worten, den Kern
der Sache treffen, sie werden jeden Wortschwall, alles Nebeln
und Schwebein hassen wie das Böse.
Zu den Unvollkommenheiten unseres bisherigen Unter-
richts müssen wir auch die Tatsache rechnen, daß er durch
den unvermittelten Uebergang aus dem einen Unterrichtsfache
in das andere, durch die Ausbildung unverbundener Vor-
stellungsmassen, durch die Beschäftigung mit einem zusammen-
hanglosen Allerlei zur Förderung der Einheit des Bewußtseins,
zur Einheit der Person, einem Bildungsziel, das gerade für
unsere leicht ablenkbaren, zerstreuten Zöglinge von ganz be-
sonderer Bedeutung ist, dessen Erreichung gerade bei der
Erziehung unserer Schwachen mit ganz besonderen Schwierig-
keiten verknüpft ist, nicht nur nichts beiträgt, sondern ?ie
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Eduard Schulze.
direkt ausschließt. Deshalb müssen wir den Unterricht durch
Arbeit freudig begrüßen als das beste und sicherste Mittel
zur Herstellung großer, zusammenhängender Gedankenmassen.
Denn wie die Arbeit einerseits dient zur Aufhellung des Sach-
lichen, so wird andererseits sie sel6°st nur dann recht gedeihen,
kann sie selbst ihre Bildungskraft nur dann im vollsten Maße
entfalten, wenn sie sich stellt auf die sachunterrichtlichen
Fächer. Dabei wird es vorkommen, daß infolge der klar durch-
gearbeiteten Verhältnisse sachliche Schwierigkeiten für das
Tun nicht mehr vorhanden sind, daß dann das ganze Schwer-
gewicht auf das Technische gelegt werden kann; es ist auch
möglich, daß mit dem einen Sachgebiete eine ganze Anzahl
von Arbeiten geleistet werden kann, wodurch wir eine Zer-
streuung, wie sie durch den bisher betriebenen Handfertigkeits-
unterricht immer vorhanden war, vermeiden. Die aus diesem
gegenseitigen Dienen sich ergebenden mannigfachen Ver-
knüpfungen und vielfachen Beziehungen der Vorstellungen
untereinander werden zur Bildung eines einheitlichen Gedanken-
kreises wesentlich beitragen, werden Oberflächlichkeit und
Arbeitsunlust, wie sie durch die oft heterogenen Stoffe des
heutigen Unterrichts hervorgerufen werden, nicht aufkommen
lassen. Indem wir den natürlichen Zusammenhang des kon-
kreten Tuns mit den sachunterrichtlichen Fächern auf das
Sorgfältigste beachten und pflegen, wird sich auch das Sinnen,
das Denken unserer Schwachsinnigen, deren Gedanken haupt-
sächlich am Konkreten, am Realen haften und nur von hier
aus zu bilden sind, reichlicher und kräftiger gestalten. Denken
und Handeln, Sachverstand und Tat sind zu gleicher Zeit auf
die Welt gekommen, — darum wollen sie auch zusammen ge-
schult seinl
Solange man über Erziehung und Unterricht nachgedacht,
hat man auch die Möglichkeit des Erfolges in der rechten
Behandlung der Eigenart, der Individualität des Schülers er-
blickt. Der Unterricht durch Arbeit ist so recht geeignet die
Kunst des Individualisierens zu üben. Gerade hierbei können
wir auf die so überaus ungleichmäßige intellektuelle Ent-
wicklung, auf die verschiedenartige körperliche Entfaltung
Rücksicht nehmen, gerade hierbei zeigt sich, daß das Schema,
auf dem die selbständigen Lehrgänge für den Arbettsunter-
richt beruhen, für unsere Kinder nicht paßt. Das Recht der
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Erziehung und Arbeit.
185
Individualität und in der Ausbildung ihrer eigentümlichen
Kräfte und Anlagen unterstützt zu werden, glauben wir ihnen
am besten in dem „Lernen durch Arbeiten" zu sichern.
Die Anhänger der Handarbeit als eines selbständigen
Unterrichtsfaches suchen das Notwendige dieser Selbständig-
keit damit zu begründen, daß sie sagen, sie wollten unsere
Schwachen dadurch für das Leben vorbereiten; sie halten es
für möglich, an dem Grade der technischen Fertigkeit, an
den Neigungen des Knaben nach dieser Seite hin während
der Schulzeit einen Einfluß üben zu können im Hinblick auf
seine zukünftige Berufswahl. Ich meine, daß der Junge, wenn
man ihm auf den Grad und die Art seiner technischen Fertig-
keit hin einen Rat erteilt in bezug auf die Wahl eines Berufes,
daß dann der Junge herzlich schlecht beraten ist, daß der
Junge, nachdem er diesen oder jenen Beruf auf den Rat seines
Lehrers ergriffen, bald einsehen wird, daß er seinen eigent-
lichen Beruf verfehlt hat. Und dann sehe man sich die Berufs-
arten an, die unsere Knaben erwählen, und sage mir, was
sie für diese Berufe aus dem selbständig betriebenen Hand-
fertigkeitsunterrichte verwerten können, inwiefern man sie zu
diesem Berufsleben durch den selbständigen Arbeitsunterricht
vorbereitet hat. Man verstehe mich nicht falsch: wenn ich
mich gegen dieses „fürs Leben vorbereiten" wende, so denke
ich ebensowenig wie die Befürworter dieses Zwecksatzes etwa
an eine Vorbereitung auf den Beruf des Tischlers durch die
sog. Hobelbankarbeit oder auf den Beruf eines Buchbinders
durch den Betrieb der Papparbeit; diese Deutung schließe
ich von vornherein aus, und doch halte ich auch jenes „Vor-
bereitenwollen fürs Leben" durch einen selbständig betriebenen
Handarbeitsunterricht für eine Phrase, für ein völliges Ver-
kennen unseres Erziehungszieles, für einen Irrtum, für den-
selben Irrtum, der sich auch ausspricht in der Ansicht: wir
wollen unsere Schüler für das Leben vorbereiten durch Unter-
richtsfächer, die seinem zukünftigen Leben nützlich und nötig
sind, das sind Fächer wie Lesen, Schreiben, Rechnen, diese
braucht er im späteren Leben, andere nicht, darum können
wir diese andern vom Stundenplane streichen. Wer so spricht,
der hat von der Theorie eines Lehrplans, die qualitative und
quantitative Vollständigkeit der Fächer verlangt, noch nichts
erfahren, der hat die Aufgabe der Schule überhaupt noch nicht
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Eduard Schulze.
erfaßt. (Als geschichtliches Beispiel der Gefährlichkeit dieser
Irrtümer sei erinnert an die Aera der Regulative.) Für das
Leben vorbereitet nenne ich einen Schüler, wenn ihm die
Schule durch eine rationelle Durcharbeitung der sachlichen
Stoffe wertvolle, genaue und richtige Vorstellungen mitgegeben
hat, wenn die Schule ihr Werk vollführt nach der anerkannten
Wahrheit, daß die Höhe der Schulbildung gemessen wird,
nicht quantitativ an der Größe des Wissensumfangs, sondern
qualitativ an der psychologisch vertieften Durcharbeitung der
Stoffe, wenn die Schule demgemäß den Schüler ausbildet zu
einem gründlichen Sachdenker und nicht zu einem oberfläch-
lichen Wortdenker. „Unter praktischer Richtung verstehe ich
nicht die unausgesetzte Berücksichtigung des künftigen und
unmittelbaren Bedarfs im engen Lebenskreise, sondern die Art
des Unterrichts, welche dem Schüler nichts gibt, ihn zu nichts
anleitet, was weder für die Erhellung des Kopfes, noch für
die Stärkung der Willenskraft eine Bedeutung hat," so zeichnet
uns Diesterweg das Ziel der Schulbildung. Und das glauben
wir zu erreichen durch unsere oben geschilderte Art der Arbeit.
Bloßes Wissen, namentlich oberflächliche, oft nutzlose, un-
verbunden bleibende, zu keiner eigentlichen Erkenntnis
führende Kennmisse, können wir nicht als eine wertvolle Mit-
gift für den aus der Schule Entlassenen und ins Leben Tretenden,
ansehen. Denn wie im Leben selber jedem Menschen die Auf-
gabe, die er zu lösen hat, aus dem Leben hervorgeht, so sind
auch schon in der Schule nur solche Aufgaben zu stellen,
„welche im Zusammenhang stehen mit dem was auf der Schule
getrieben wird oder in dem gemeinsamen Leben so vorkommt,
daß er die Jugend beschäftigt und auch in dem Kreise liegt,
daß sie ein Recht hat, darüber zu sprechen; eine Aufgabe,
abgerissen für sich und ohne Zusammenhang mit dem, was
in der Reihe der lebendigen Gedanken vorgeht, kann nicht
zum Ziele führen" (Schleiermacher). Dabei kommt es uns
weniger auf die Pflege der Fertigkeit an sich an; denn daß
diese das Haupt- und Endziel einer wahren Bildung ist, wird
ein einsichtiger Schulmann, ein Lehrer der Schwachen nicht
behaupten wollen. Die technischen Handgriffe, die Geschick-
lichkeit der Hand, die genaue Anpassung der Bewegung, das
sichere Auge usw. erhält der Schüler auch durch die von uns
betriebene Arbeit; es ist hier wie überall: wer vor allem nach
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Erziehung und Arbeit.
187
Hauptsache trachtet, nach einer gründlichen Sachkenntnis,
dem wird das andere, die technische Fertigkeit, von selber
zufallen.
Die Erziehung durch Arbeit ist aber nicht bloß zu pflegen
wegen der unermeßlichen Vorteile, die sie dem Unterricht
einträgt, sie ist auch notwendig zur Pflege einer rechten
Willens- und Charakterbildung. Durch das heutige System
wird gerade diese Seite der Erziehung zum ganzen Menschen
entweder arg vernachlässigt oder wohl gar gewaltsam unter-
drückt und Wandel wird hierin nur dadurch geschaffen werden,
daß das Prinzip der Arbeit in der Erziehung ausgiebig berück-
sichtigt wird. Wir Heilpädagogen haben diese Vorzüge der
Arbeit schon lange erkannt, uns ist sie schon längst: „Der
Unterricht mit der größten Heilkraft für das Handeln,"
uns ergeht es ähnlich wie dem Schulmeister von Bonnal,
von dem Pestalozzi sagt: „Mit jedem Tage ward ihm klarer,
die Arbeitsamkeit, die physische Tätigkeit unseres Geschlechts
sei das wahrhafte, heilige und ewige Mittel der Verbindung
des ganzen Umfangs unserer Kräfte zu einer einzigen gemein-
samen Kraft, zur Kraft der Menschlichkeit." Das ist's, was
wir vor allem unsern Schwachen mit auf den Lebensweg
geben wollen 1
Hat denn nun der bisherige Unterricht die Muskeltätig-
keit noch nicht benutzt als eines der wirksamsten Mittel zur
Entwicklung und Disziplinierung der Gehirntätigkeit? Wohl
hat man bisher schon durch sportliche Uebungen, durch Jugend-
spiele, durch Turnunterricht Bewegungen vornehmen lassen
in der Absicht, dadurch bestimmte Muskeln zu entwickeln und
zu stärken, aber man hat noch nicht gewußt, daß man damit
auch das dem betreffenden Muskel entsprechende Gehirn-
zentrum vervollkommnet und auf diese Weise auch auf den
Intellekt einen bildenden Einfluß ausübt. ,
Wohl hat man in Schülerwerkstätten und einigen Schulen
Handarbeit als selbständiges Unterrichtsfach getrieben; und
wo man sie eingeführt, war man sich ihrer Bedeutung — so-
weit man sie eben kannte — wohl bewußt, aber die haupt-
sächlichste Bedeutung der Arbeit als der Grundlegung alles
Geisteslebens wurde von den Anhängern der Knabenhand-
arbeit übersehen.
Wohl rühmt sich die jetzige Schule eines anschaulichen
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Eduard Schub,-
Unterrichts, sie fordert für jedes Unterrichtsfach die An-
schauung als die Grundlage aller Erkenntnis, und doch stellt
sich nur allzu oft heraus, daß die vom" Lehrer gewollten Vor-
stellungen in der Seele des Schülers nicht entstanden sind,
auch nicht entstehen konnten, weil man eben glaubte, daß
er nur aus Kopf und Gehirn bestehe. Sollten die „Nurunter-
richter", welche die Pflege des Gehör- und Gesichtssinnes durch
besondere Uebungen — genannt Anschauungsunterricht —
anerkennen, nun nicht konsequent bleiben und auch die Not-
wendigkeit einer Pflege der Tast- und Bewegungs- und der
ihnen entsprechenden Empfindungsapparate als eine Vervoll-
kommnung der Methode, als eine höhere Bewertung des Satzes
von der Anschauung als der Grundlage aller Erkenntnis
einsehen ?
Weiter hat die bisherige Praxis des Unterrichts auch
Darstellen lassen. Man hat die sprachliche Darstellung, die
Zusammenfassung, als eine bestimmte Stufe der Durch-
arbeitungsoperationen bei jeder Unterrichtsarbeit geübt; man
hat auch — wiewohl nicht überall — die Ergebnisse des Unter-
richts oft zeichnerisch darstellen lassen. Bei beiden genannten
Darstellungsformen übersah man, daß sie des eigentlich kon-
kreten, des körperlichen entbehrten; denn sowohl die sprach-
liche als auch die zeichnerische Darstellung setzen einen ge-
wissen Abstraktionsprozeß voraus, so daß wir von einer wirk-
lichen Durchführung des Anschauungsprinzips bis in seine
tiefsten Tiefen, von einer handelnden Anschauung nicht reden
können. Zu derselben Erkenntnis führt uns auch die oft über-
aus dürftige sprachliche Zusammenfassung und die ebenso
mangelhafte zeichnerische Darstellung der Schüler. Ehe wir
in unserer Schularbeit zu diesen letztgenannten Darstellungs-
formen kommen, müssen eben die andern von uns hier befür-
worteten ^chon angewandt sein.
Zum Schlüsse werden die Leser fragen: ist der vor-
geschlagene Weg auch gangbar? Hat die Schule die nötige
Zeit zu solchem „Tun"? Hat sie nicht Wichtigeres zu be-
wältigen? Dem entgegne ich, daß gerade durch dieses ,, Zeit-
vergeuden" viel Zeit gewonnen, viele bis jetzt weggeworfene
Kraft erspart wird; denn wieviele Vorstellungen entstehen
erst durch dieses „Tun", die bisher nur durch langweilige
Wiederholungen — das ist die eigentliche Vergeudung von
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Erzithnng und Arbeit.
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Zeit und Kraft sowohl von seiten des Lehrers als auch der
Schüler — gebildet werden konnten, wieviele falsche Vor-
stellungen werden durch dieses „Machen" sofort berichtigt —
das ist Ersparnis an Zeit und Kraft — , die der Geist des
Schülers sonst erst nach langem Irrtume aus eigener Vernunft
und Kraft richtig stellt, wieviele Vorstellungen werden durch
dieses „Handeln 44 gefestigt, die früher infolge ihrer geringen
Intensität bald unter die Schwelle des Bewußtseins sanken
— das ist Bereicherung der Kraft!
Es ist mir gewiß, daß alle Kollegen, die sich mit mir
zu Pestalozzis Prinzip der Anschauung bekennen, von der
Richtigkeit und Durchführbarkeit meiner Vorschläge über-
zeugt sind und eine baldige Neuform unserer Methodik nach
dieser Seite hin wünschen. Denjenigen strebsamen Lehrern,
deren Bemühen immer dahin gerichtet war, die größtmöglichste
Anschaulichkeit der Vorstellungen, eine möglichst vollkommene
Durcharbeitung des Stoffes und eine möglichst innige Ver-
bindung der einzelnen Lehrfächer herbeizuführen, die Schüler
fortwährend und bei jeder Gelegenheit anzuleiten, „von einer
Scienz in die andere 44 zu blicken, um auf diese Weise eine
durch die andere zu fördern, solchen Lehrern wird es immer
unverständlich bleiben, wie man das Prinzip der Arbeit bis-
her unberücksichtigt lassen konnte. Deshalb lebe ich der
Hoffnung, daß die Zeit nicht mehr fern ist, in der das Prinzip
der selbsttätigen physischen Arbeit zur Anerkennung gelangt
— vor allem in unsern Schulen für Schwachbegabte, wie dies
auch schon der geschätzte Kollege Weiß, Zwickau, aus-
gesprochen hat in seinem empfehlenswerten Aufsatze über
„Die Raumanschauung in ihrer Bedeutung tür die geistige
Entwicklung", der meine Ausführungen wesentlich ergänzt.
Auch bei dieser Frage wird es so sein, daß das, was
heute noch vielen als unüberwindliche Schwierigkeit erscheint,
in kürzerer oder längerer Zeit, wenn der Boden dafür zu-
bereitet ist, mit Leichtigkeit durchzuführen ist. Die Anfänge
zeigen sich schon; denn im Jahrgange 1903 der Zeitschrift
für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer lesen
wir, daß der Kollege Frenzel in seinem Berichte über den
IV. Verbandstag der Hilfsschulen der Schererschen Forderung r
in der Hilfsschule muß die Handarbeit „geradezu zur Grund-
lage alles Unterrichts 4 ' werden, eine „gewisse Berechtigung 44
190
Eduard Sdtulze.
zuspricht, und 20 Seiten weiter finden wir in derselben Zeit-
schrift zu unserer großen Freude die Nachricht, daß man in
der Wormser Hilfsschule zu der Erkenntnis gekommen ist,
daß der „ganze Unterricht in der Hilfsschule auf Anschauen
und Darstellen beruhen und der Muskelsinn eine sorgfältigere
Ausbildung erfahren muß", daß „das Formen den ganzen
Unterricht, alle Disziplinen durchweben und unterstützen muß".
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I
Erster Kongress
für Kinderforschung: und Jugendfürsorge.
I. Autorreferate (Fortsetzung).
Die kriminalistische Behandlung der Jugendlichen. 1 )
Von
W. Kulemann, Landgerichtsrat in Bremen.
Der Grundfehler der heutigen Gesetzgebung liegt in ihrem
unrichtigen Ausgangspunkte, der in der Vorschrift zu-
tage tritt, daß bei Personen zwischen ,12 und 18 Jahren, die
eine Straftat verübt haben, geprüft werden soll, ob sie bei
deren Begehung die zur Erkenntnis ihrer Strafbarkeit erforder-
liche Einsicht besessen haben. Je nach Beantwortung dieser
Frage werden sie bestraft oder freigesprochen. Einsichtsfähig-
keit ist, wie das Wort sagt, ein rein intellektualistisches
Moment. Von ihr die Scheidung zwischen Erwachsenen und
Unerwachsenen abhängig machen darf nur derjenige, der ent-
weder das Wesen des Menschen, wenigstens soweit es sich
um Verbrecher handelt, ausschließlich im Intellekt findet, oder
der Ansicht ist, daß nur hinsichtlich seiner eine Fortentwicklung
mit dem Lebensalter stattfindet. Beides ist falsch. Haben
wir auch die Lehre der älteren Psychologie von den Seelen-
vermögen aufgegeben, so bedeutet das doch nur, daß wir
sie nicht mehr als selbständige Provinzen des Geisteslebens
anerkennen, schließt aber nicht aus, in ihnen die Hauptrich-
tungen seiner Betätigung zu sehen. Ebenso zweifellos findet
*) Auf Wunsch der Herren Herausgeber dieser Zeitschrift gebe ich
im folgenden eine Skizze meines auf dem Kongreß füf Kinderforschung
und Jugendfürsorge gehaltenen Vortrages: „Die forensische Behandlung
der Jugendlichen," dessen Titel ich aus dem Grunde geändert habe, weil
der Vortrag nur die kriminalistische Seite der Frage behandelt. Der Vor-
trag ist als Heft XXVI : „Beiträge zur Kinderforschung und Heil-
erziehung" (Verlag Hermann Beyer & Söhne in Langensalza) erschienen.
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192
Eulemann, Kriminalist. Behandl. d. Jugendlichen.
nicht bloß hinsichtlich des Intellektes, sondern insbesondere
auch beim Willen eine Fortentwicklung statt, und gerade
auf ihm, auf der Fähigkeit, den andringenden Versuchungen
Widerstand zu leisten, beruht offenbar in erster Linie der
Entschluß des Täters, nicht auf der intellektuellen Unterschei-
dung zwischen "Recht und Unrecht. , Wenn heute der Fall
höchst selten ist, daß Jugendliche wegen mangelnder Ein-
sichtsfähigkeit freigesprochen werden, so ist daraus den Ge-
richten ebensowenig ein Vorwurf zu machen, wie daraus, daß
sie nicht bei der Entscheidung pädagogische und medizinische
Sachverständige zuziehen, denn die Frage, die der Gesetzgeber
stellt, ist in der Tat ohne deren Hilfe und fast stets im Sinne
ihrer Bejahung zu beantworten, denn ein zwölfjähriges Kind
weiß ausnahmslos, daß eine Straftat unerlaubt ist. Aber der
Fehler liegt eben darin, daß diese Frage überhaupt gestellt
wird. Deshalb ist der Angriff nicht .gegen die Gerichte, sondern
gegen den Gesetzgeber zu richten.
Will man den hier gerügten Fehler vermeiden, so muß
man an Stelle der nur die intellektuelle Seite berücksichtigenden
Einsichtsfähigkeit die allgemeine Kategorie der geisti-
gen Reife setzen. Damit wäre ein großer Fortschritt er-
zielt, aber man wird sich zu einem noch radikaleren Bruche
mit dem bisherigen System entschließen müssen.
Es handelt sich im Strafrecht um zwei Dinge, nämlich
einerseits die Straftat, bei der wir wieder den objektiven
und den subjektiven Tatbestand unterscheiden, und anderer-
seits die staatliche Reaktion, als deren Hauptarten Strafe
und Erziehung in Betracht kommen. Das bisherige Gesetz
nimmt bei der Begriffsbestimmung der Jugendlichen seinen
Ausgangspunkt von der Straftat, und zwar von ihrer sub-
jektiven Seite; man muß aber vielmehr statt dessen die Art
der staatlichen Reaktion zugrunde legen, d. h. man soll,
wie in den Leitsätzen gesagt ist, den bisherigen anthropo-
logischen durch den pädagogischen Gesichtspunkt er-
setzen. Wer das ablehnt, müßte davon ausgehen, daß Per-
sonen von gleicher Einsichtsfähigkeit oder überhaupt von
gleicher Stufe der geistigen Entwicklung auch hinsichtlich
der Mittel staatlicher Reaktion gleich zu behandeln seien.
Niemand, der die menschliche Natur kennt, wird das behaupten.
Bei der Frage, ob man gegenüber einem Verächter der staat-
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Erster Kongrass f. Khukrforschung und Jugendfürsorge. 193
liehen Ordnung besser zu Strafen oder zu Erziehungsmaßregeln
greift, entscheidet nicht allein die geistige Reife, sondern vor
allem die individuelleEigenart, mag sie auf natürlicher
Veranlagung oder auf den Einflüssen der Umgebung beruhen.
Bei Durchführung dieses Grundgedankens ergibt sich fol-
gendes : Im allgemeinen ist die Erziehung für Kinder, die Strafe
für Erwachsene bestimmt, so wenig beide Begriffe absolute
Gegensätze sind, denn wie die Erziehung nicht der Strafe ent-
behren kann, so verfolgt die Strafe neben dem Zwecke der
Vergeltung zugleich auch den der Erziehung. Da nun beide
Klassen nicht scharf voneinander getrennt werden können, so
wäre das Nächstliegende, die Entscheidung, ob Erziehung oder
Strafe als das richtigere Mittel anzusehen ist, in jedem Einzel-
falle dem Richter zu überlassen. Aber wollte man das einer-
seits bei fünfjährigen Kindern und andererseits bei dreißig-
jährigen Männern tun, so würde man offenbar unpraktisch
handeln, denn für so extreme Fälle kann der Gesetzgeber
selbst eingreifen durch eine allgemeine Norm. Nur in den
Grenzgebieten bedarf er der Hilfe des Richters, nämlich in den
Altersklassen, wo eine gesetzliche Regelung nicht möglich ist.
Aber auch in den Fällen, in denen die Frage zwischen Er-
ziehung oder Strafe zugunsten der letzteren entschieden ist,
wird noch außerdem hinsichtlich ihrer Art und Höhe ein Unter-
schied zu machen sei, wie es schon das heutige Gesetz tut,
indem es gewisse Strafen, wie Zuchthaus und Todesstrafe bei
Jugendlichen überhaupt ausschließt, dagegen den Verweis nur
bei ihnen gestattet und endlich bei den übrigen Straf arten
Abweichungen in der Höhe der Strafe vorschreibt.
Hiernach ist das Ergebnis: Zwischen den beiden Klassen
der Erwachsenen, bei denen die normale Art der Bestrafung,
und der Kinder, bei denen an Stelle jeder Strafe nur Erziehungs-
maßregeln stattfinden, ist eine dritte, die der Jugendlichen ein-
zuschalten, bei denen im Einzelfalle durch den Richter unter
Berücksichtigung der näheren Umstände der Tat und der
Persönlichkeit des Täters zu unterscheiden ist, einerseits, ob
überhaupt Strafe oder Erziehung den Vorzug verdient, und
andererseits, welche Mittel der einen oder der anderen Art
innerhalb des gesetzlichen Rahmens als geeignet anzusehen
sind. —
Handelt es sich nun darum, auf dieser Grundlage die
Zeitschrift fltr pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 3
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Kulemann, Kriminalist. DeJuxndl. d. Jugendlichen.
Altersgrenze der drei Klassen zu bestimmen, so können
die heutigen Vorschriften nicht als befriedigend anerkannt
werden.
Daß die unte re Grenze von 12 Jahren zu niedrig gezogen
ist, wird fast allgemein zugegeben. Wenn man ihre Erhöhung
auf 16 Jahre gefordert hat, so würde dem zuzustimmen sein,
wenn es sich, wie bisher, darum handelte, eine Grenze zu ziehen,
oberhalb deren niemals 'Erziehung, sondern stets Strafe
einzutreten hätte. Hat aber, im Sinne der bisherigen Aus-
führungen, die untere Grenze die Bedeutung, daß unterhalb
ihrer jede Bestrafung ausgeschlossen sein soll, so scheint das
Alter von 16 Jahren zu hoch gegriffen; es ist vielmehr das
14. Lebensjahr aus dem Grunde zu empfehlen, weil hier fast
in ganz Deutschland die Schulpflicht endet und ein Schulkind
niemals in das Gefängnis gesteckt werden sollte.
Daß die obere Grenze von 18 Jahren eine Erhöhung
fordkert, wird durch die Praxis der Gerichte bewiesen, die auch
dann, wenn das Gesetz es vorschreibt, höchst selten gegen
Personen im Alter von 18 — 20 Jahren auf Zuchthaus erkennen,
sondern mit Hilfe mildernder Umstände zu Gefängnisstrafen
gelangen. Läßt aber, wie bei der Todesstrafe, das Gesetz keine
Abweichung zu, so pflegt ausnahmslos im Gnadenwege eine
Umwandlung zu erfolgen. In der Tat muß man davon aus-
gehen, daß das Alter der vollen Verantwortlichkeit für die
eigenen Handlungen im Strafrecht nicht niedriger liegen darf,
als im Zivilrecht, da die Rechtsgüter, um die es sich handelt,
bei jenernvon höherem Werte sind als bei diesem. Deshalb
ist die obejß' Grenze auf das 21. Lebensjahr festzusetzen.
Was die zur Anwendung zu bringenden Mittel erziehe-
rischer und strafrechtlicher Art betrifft, so sind teils grund-
sätzliche Aendermhgen nicht vorzuschlagen, teils wird diese
Frage von anderffRednern behandelt werden. , Entscheidender
Wert ist nur d^auf zu legen, daß Maßregeln beider Art nicht
nur e 1 e k t i yTsondern auch kumulativ zulässig sein müssen.
Allerdings ist es zu verwerfen, einer durchgeführten Zwangs-
erziehung noch Strafvollziehung nachfolgen zu lassen, denn
das könnte nur vom Standpunkte des reinen Vergeltungsge-
dankens verteidigt werden, der aber gerade bei Jugendlichen
vor dem Besserungszwecke durchaus zurücktreten muß. Wenn
man auch das Umgekehrte, die Anknüpfung erzieherischer
Digitized by Google
Erster Kongress f. Kinderforsrft)^ und Jugendfürserge. 195
Maßregeln an vorhergegangene Bestrafung, angegriffen hat,
so ist das nicht überzeugend ; schlechte Erfahrungen werden
auf die unrichtige Art der Strafvollziehung, insbesondere auf
mangelnde Einzelhaft zurückzuführen sein. —
Die besten Gesetze verfehlen ihren Zweck, wenn ihre Hand-
habung ungeeigneten Organen anvertraut wird. Die heutigen
Strafgerichte sind solche. Ihrer Tätigkeit wird mit Recht der
Vorwurf des Formalismus und des handwerksmäßigen Schema-
tismus gemacht, wie sie denn selbst für die reformerischen
Ideen der modernen Straf rechts Wissenschaft kein Verständnis
beweisen und sich ihnen gegenüber auch da ablehnend ver-
halten, wo ihnen im Rahmen des heutigen Rechts Rechnung
getragen werden könnte. Aber wäre wirklich in dieser Hin-
sicht auf Besserung zu hoffen, so bleibt stets der Uebelstand,
daß die Strafgerichte naturgemäß ganz überwiegend mit Er-
wachsenen zu tun haben, so daß es ihnen an Erfahrung und
Uebung auf dem durchaus andersartigen Gebiete der Behand-
lung Jugendlicher fehlt. Umgekehrt besitzen diese Uebung
und Erfahrung die Vormundschaftsrichter, die täglich über
Erziehungsfragen zu entscheiden haben. In ihre Hand muß
deshalb die Aburteilung jugendlicher Verbrecher gelegt werden,
wobei man gut tut, ihnen noch Sachverständige, insbesondere
pädagogisch und medizinisch gebildete Laien nach Art der
Schöffen zur Seite zu stellen und nach dem Vorbilde von Nord-
amerika und Norwegen besondere Jugendgerichte zu
schaffen.
Für das Verfahren vor diesen Jugendgerichten bieten
sich insofern große Schwierigkeiten, als sie nach dem Gesagten
einen gemischten Charakter tragen, während das Verfahren
vor den Strafgerichten einerseits und vor den Vormundschafts-
gerichten andererseits auf völlig gegensätzlichen Prinzipien auf-
gebaut sind. Bei jenem herrscht das Anklageprinzip, der Partei-
prozeß, Oeffentlichkeit und Anklagemonopol der Staatsanwalt-
schaft ; bei diesem gibt es überhaupt keine Anklagebehörde und
es gilt im allgemeinen das frühere Inquisitionsverfahren. Da
nun das Hauptgewicht darauf zu legen ist, daß die Jugend-
gerichte nach ihrem Ermessen Strafen oder Erziehungsmaß-
regeln zu verhängen haben und sie ihre Entscheidung selbst-
verständlich erst am Schlüsse der Verhandlungen treffen
können, so ist es unmöglich, je nachdem diese Entscheidung
3*
Digitized by Google
196 Kvlemann, Kriminalist. Behandl. d. Jugendlichen.
ausfällt, das eine oder das andere Verfahren vorzuschreiben. Es
bleibt kein Ausweg, als für die erste Instanz, wo die erzieherische
Einwirkung im Vordergrunde stehen muß, grundsätzlich und
vorbehaltlich gewisser Einschränkungen das vormundschaft-
liche Verfahren zu übernehmen, die zweite Instanz dagegen,
in der es sich in der Regel überwiegend um Beweiswürdigung
und Rechtsfragen handelt, dem strafgerichtlichen Vorbilde an-
zupassen.
Leitsätze.
I.
Die Abgrenzung der Klasse der Jugendlichen in der
heutigen Strafgesetzgebung ist zunächst insofern verfehlt, als
ihr das rein intellektual istische Moment der E i n s i c h t s -
fähigkeit in die Strafbarkeit der begangenen Handlung zu-
grunde liegt und der Willensfaktor unberücksichtigt ge-
blieben ist. Eine Verbesserung würde deshalb darin bestehen,
daß an Stelle dieser Einsichtsfähigkeit die allgemeine geistige
Entwicklung gesetzt würde.
II.
Aber es erscheint richtiger, diesen Ausgangspunkt ganz
aufzugeben und die bisherige anthropologische durch die
pädagogische Grundlage zu ersetzen, d. h. das Unter-
scheidungsmoment zu entnehmen nicht aus der Person des
Täters, sondern aus der Art der staatlichen Reaktion
gegen das begangene Unrecht. Diese hat freilich auf die Per-
sönlichkeit des Täters Rücksicht zu nehmen, sich aber nicht
nach ihr allein, sondern daneben nach der Art und den näheren
Umständen der Tat zu bestimmen.
III.
Als staatliche Reaktionen kommen in Betracht: Er-
ziehung, Bestrafung und Unschädlichmachung.
Die letztere ist lediglich bestimmt für geistig normale, d. h.
solche Personen, auf welche weder Erziehung, noch Bestrafung
mit Aussicht auf Erfolg anwendbar ist. Sie entfallen aus der
vorliegenden Erörterung.
Digitized by Google
Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 197
IV.
Kinder unterliegen ausschließlich der Erziehung; Er-
wachsene ausschließlich der Bestrafung. Jugendliche
Personen bilden eine Mittelklasse, bei der nicht durch den
Gesetzgeber allgemein im voraus, sondern nur durch den
Richter im Einzelfalle nach Maßgabe der Individualität sowie
der Art und den näheren Umständen der Tat entschieden wer-
den kann, ob und in welchem Umfange Erziehung oder Be-
strafung am Platze ist.
V.
Die Grenze zwischen Kindern und Jugendlichen ist auf das
vierzehnte, diejenige zwischen Jugendlichen und Erwachsenen
auf das einundzwanzigste Lebensjahr festzusetzen.
VI
Gegen Jugendliche sind im Falle einer Verletzung der
Strafgesetze folgende Maßregeln zulässig:
A. Erzieherische: i. Ueberwachung und Beeinflussung der
Erziehung bei den bisherigen Erziehern; 2. Unterbringung
bei fremden Erziehern; 3. Aufnahme in eine Erziehungs-
anstalt.
B. Strafrechtliche: 1. Verweis; 2. Geldstrafe; 3. Haft;
4. Gefängnis.
Haft- und Gefängnisstrafe sind nicht allein in besonderen
Anstalten oder mindestens in besonderen, ausschließlich für
Jugendliche bestimmten Räumen, sondern auch möglichst
weitgehend in der Form der Einzelhaft zu vollziehen.
Erzieherische und strafrechtliche Maßregeln können mit-
einander verbunden werden.
VII.
Die Verhängung der unter VI bezeichneten Maßregeln ist
besonderen Behörden (Jugendgerichten) zu übertragen.
Sie werden gebildet aus dem Vormundschaftsrichter als Vor-
sitzendem und einer Anzahl von Beisitzern. Unter diesen soll,
sich stets ein Arzt und ein Lehrer befinden.
Digitized by Google
19S
Kulemann, Kriminalist. Behandl. d. Jugendlichen.
VIII.
Das Verfahren ist nach dem Vorbilde des schöffen-
gerichtlichen zu gestalten. Der Erlaß eines Strafbefehls
findet nicht statt.
Die Oeffentlichkeit kann auch dann ausgeschlossen werden,
wenn das Gericht von ihr eine ungünstige Wirkung auf den
Angeklagten befürchtet.
Die Einleitung des Verfahrens ist durch den Antrag der
Staatsanwaltschaft nicht bedingt, vielmehr ist der Vorsitzende
auf Grund einer an ihn gelangenden Anzeige oder von Amts
wegen zum Eingreifen befugt, doch hat er hiervon der Staats-
anwaltschaft Mitteilung zu machen. Diese ist zur Beteiligung
an dem Verfahren berechtigt, aber nicht verpflichtet.
Die Abgabe eines Eröffmingsbeschlusses findet nicht statt.
Hält der Vorsitzende nach dem Ergebnisse der angestellten
Ermittelungen die Verhängung einer der unter VI bezeich-
neten Maßregeln für geboten, so hat er Termin zur Haupt-
verhandlung anzusetzen und hiervon der Staatsanwaltschaft
Kenntnis zu geben sowie den Angeklagten, dessen gesetzlichen
Vertreter und die erforderlichen Auskunftspersonen zu laden.
Im Termin hat der Vorsitzende den Inhalt der Beschuldigung
vorzutragen, den Angeklagten zu vernehmen und die Beweise
zu erheben.
Die Zulassung eines Verteidigers unterliegt dem Ermessen
des Gerichtes.
Ein auf Strafe lautendes Urteil kann bestimmen, daß die
erkannte Strafe nicht vollzogen werden soll, wenn der Ver-
urteilte innerhalb einer gewissen Frist sich eines weiteren Ver-
stoßes gegen die Strafgesetze nicht schuldig macht.
IX.
Gegen die Entscheidungen des Gerichtes und des Vor-
sitzenden finden dieselben Rechtsmittel statt, wie im
schöffengerichtlichen Verfahren. Ueber die Berufung ist von
der Strafkammer des Landgerichts in der Besetzung von zwei
Richtern und drei Schöffen zu entscheiden. Zu den letzteren
soll stets ein Arzt und ein Lehrer gehören.
Dem Angeklagtan ist, falls er nicht selbst einen Verteidiger
gewählt hat, von Amts wegen ein solcher zu bestellen.
Digitized by Googl
Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 199
-
Jugendliche Verbrecher.
Von
Dr. von Rohden, Düsseldorf.
Bei dem Problem der Behandlung jugendlicher Verbrecher
handelt es sich um das Dilemma: Kriminalstrafe oder Er-
ziehung ?
i. lieber die großen Schädlichkeiten des strafrechtlichen
Verfahrens gegen Jugendliche sind alle Sachverständige einig.
Das System der kriminellen Repression ist nämlich durchaus
nur auf Erwachsene angelegt und seine Anwendung auf
Kinder kann pädagogisch nur ungünstig wirken. Sowohl der
gewichtige Apparat des öffentlichen Strafprozesses, wie
das fast ausschließlich zur Verfügung stehende Strafmittel
der Freiheit-Entziehung, wie der Strafbegriff selbst im
Sinne von Vergeltung und Sühne läßt sich auf geistig und
sittlich unreife Kinder nicht ohne schwere formale umd sach-
liche Bedenken und schlimme Folgen anwenden.. Aber auch
der Strafzweck der Besserung ist durch die kriminelle Be-
handlung, insbesondere durch die in der Regel verhängten
nur kurzen Freiheitsstrafen durchaus nicht zu erreichen, viel-
mehr geht dadurch meist der Respekt vor dem Gefängnis und
der Staatsautorität verloren. — Kurz, „m an wird erkennen
müssen, daß dort, wo noch Erziehung notwen-
dig, Kriminalstrafe nich t am Platze ist" (Prof.
Wach). Kinder sollten, wie überhaupt, so auch für ihre U ebel-
taten nicht als Erwachsene angesehen und behandelt, sie sollten
bevormundet und erzogen werden.
Das Recht der verwahrlosten Jugend auf Erziehung und
die Pflicht der Gesellschaft, das nachwachsende Geschlecht
erziehlich nicht zu vernachlässigen, sollte aber schon zur Gel-
tung kommen, bevor die Gefährdeten strafbare Handlungen
begehen. Die sozialen Verhältnisse erschweren in weitem Um-
Digitized by Google
200
v. Rohden, Jugendliche Verbrecher.
fange eine normale Zeugung und Erziehung und iühren mit
der überhand nehmenden Familienzersetzung und den verderb-
lichen Volksschäden der Trunksucht und Unzucht einerseits
die sittliche Schwäche und schlimme Veranlagung — erbliche
Belastung — der jungen Anwärter des Verbrechens, unter
denen sich ein großer Prozentsatz geistig Minderwertiger be-
findet, anderseits eine frühzeitige Ungebundenheit und Zucht-
losigkeit mit sich. „Die Gesellschaft ist der verwahrlosten und
straffällig gewordenen Jugend gegenüber in Schuld, die sie
nur durch eine besondere Fürsorgepolitik, die vom Zwecke der
Besserung ausgeht, zu lösten imstande ist." (Baernreither
Jugend-Fürsorge.)
Wird nun die gerichtliche Strafe mehr und mehr aus ihrer
bisherigen formalen Isolierung befreit und in den großen Zu-
sammenhang einer gesunden Kultur- und Gesellschaftspolitik
gestellt, so ergibt sich die Wichtigkeit des Grundsatzes der
Prophylaxe gegenüber der bloßen Repression in seiner be-
sonderen Anwendung auf die Jugendlichen ganz von selbst.
Dem Verbrechen muß man ernstlicher an die Wurzel gehen,
das Unkraut ausjäten, nicht nur abschneiden. Nicht Repression,
sondern Prävention sei die Losung für unser Problem, nicht
gerichtliche Strafe, sondern Erziehung; nicht der Strafrichter,
sondern der Vormundschaftsrichter habe gegenüber jugend-
lichen Verbrechern das erste entscheidende Wort!
2. Die Geschichte unseres Problems in den letzten
Jahrzehnten ist die Geschichte des Ringensdieserbeiden
Maximen der Bestrafung und Erziehung mitein-
ander. Sie zeigt zugleich, wie schwer sich auch richtige Er-
kenntnisse und Forderungen durchsetzen. Die Hauptschwie-
rigkeit liegt in diesem Falle darin, daß die pädagogischen und
die Rechtsprinzipien grundsätzlich nicht leicht miteinander in
Einklang zu bringen, daß sie disparater Natur sind. Schon
das Allgemeine Landrecht erhob die Erziehungsmaxime zu
einer staatlichen Maßnahme; da es aber den Eltern die Kosten
der erforderlichen anderweitigen Erziehung auferlegte, blieb
die bezügliche Bestimmung wirkungslos. Das Reichsstraf-
gesetzbuch erkennt die Erziehungsmaxime an, indem es die
Kinder unter 1 2 Jahren für strafunmündig erklärt und die jungen
Uebeltäter von 12 bis 18 Jahren der Zwangserziehung über-
Digitized by Google
i
Erster Kongress f. Kinderforwhung und Jugendfürsorge. 201
weist, falls sie ohne Erkenntnis der Strafbarkeit ihrer Hand
hing delinquiert haben. Die mit Einsicht straffällig Gewor-
denen werden aber als Jugendliche wesentlich gelinder be-
straft als Erwachsene, kommen also auch mit ihrer kurzen
Freiheitsstrafe sehr viel besser davon als die Beschränkten.
Darin liegt der erste Widerspruch (§§ 56 und 57 RStGB.), den
man sowohl in der gerichtlichen Praxis durch zwar pädago-
gische, aber rechtlich nicht einwandfreie Anwendungen, wie
in Kongreßvorschlägen durch prinzipiell nicht völlig geklärte
Auskunftsmittel vergeblich zu lösen versucht hat. Der zweite
Widerspruch knüpft an den ersten an: die für die Strafun-
mündigen bis zum 12. Lebensjahre (§55) und die Uneinsich-
tigen bis zum 18. Jahre vorgesehene Zwangserziehung wird
als Strafmittel verhängt und empfunden; Erziehung ist aber
Wohltat und keine Strafe.
Dieser Widerspruch wird nicht beseitigt durch das Für-
sorge-Erziehungsgesetz, wenn dieses auch wesentliche
pädagogische Fortschritte brachte, wie sie schon in dem Titel
Fürsorge-Erziehung statt Zwangserziehung und die Ausführung
durch den Vormundschaftsrichter gekennzeichnet sind. Aber
die rein pädagogische, also präventive Tendenz des Gesetzes
tritt doch alsbald wieder in den Hintergrund, sowie sein nur
subsidiärer Charakter als ultima ratio, namentlich durch die
Kammergerichtsbeschlüsse, wenn auch gewiß mit guten Grün-
den pointiert und maßgebend gemacht wird. Die Fürsorge-
Erziehung sinkt dadurch wieder zum Strafmittel herunter.
Am deutlichsten erweist sich die auch dem neuen Gesetze
anhaftende unklare Verquickung von Erziehung und Strafe
an der beklagenswerten Tatsache, daß viele ältere Fürsorge-
Zöglinge schwere Straftaten begehen, um aus der Besserungs-
Anstalt ins Gefängnis zu kommen. Sie widerstreben nicht ein-
zelnen Erziehungs-Maßregeln, sondern der Erziehung als
solcher'; sie wollen nicht mehr wie Kinder erzogen, sondern
lieber die Strafe der Erwachsenen erleiden. Die besondere
erziehliche Behandlung hat also zu spät bei ihnen eingesetzt,
das Selbstbewußtsein war schon zu stark entwickelt und sie
fügen sich nur noch der physischen Gewalt. Legt es nun
aber die grundsätzliche Handhabung des Fürsorge-Gesetzes
nahe, bis zum letzten mit seiner Anwendung zu warten, also
Digitized by Google
202
v. Rohden, Jugendliehe Verbrecher.
gerade die Altersklasse, die ursprünglich wohl nur ausnahms-
weise unter es fallen sollte, das 16. bis 18. Lebensjahr vorzugs-
weise zu berücksichtigen, so kommt dadurch der prophylak-
tische Zweck des Gesetzes erst recht zu kurz.
Es wird demnach eine pädagogisch-psychologisch richtigere
Klassifizierung der jugendlichen Uebeltäter geboten sein, in-
dem man den Haupteinschnitt bei dem 16. Lebensjahr macht
und gemäß früheren Vorschlägen, vor allem dem durchdachten
ersten Entwurf der Intern. Kriminalist. Vereinigung, Landes-
gruppe Deutsches Reich von 1891, die Strafunmündigkeit bis
zu diesem eigentlichen Abschluß der Kindheit hinaufrückt und
für die Zeit vom 16. bis 20. Lebensjahre zwischen Zwangs-
erziehung und KriminaJstrafe die Wahl stellt. Gewiß bildet
die Zeit zwischen dem 14. bis 16. Jahre physiologisch und
geistig den U ebergang von der Kindheit zur Adolescenz, aber
gerade diese „Flegel jähre" bedürfen der pädagogisch bevor-
mundenden Einwirkung am meisten; gerade kriminell muß
dieses gefährliche Alter von den Maßregeln für Erwachsene
scharf geschieden werden. Also für den Strafmündigen, bis
zum 16. Lebensjahr, Behandlung durch den Vormundschafts-
richter in Verbindung mit dem etwa auf grund der Fürsorge-
organisation auszugestaltenden Erziehungsamt nach nor-
wegischem Muster und Erziehung der Straffälligen und Ge-
fährdeten in Familien oder familiär geleiteten offenen privaten
Erziehungsanstalten; für die Strafmündigen vom 16. bis 20.
Lebensjahr nach Ermessen des Strafrichters nicht zu kurze
Freiheitsstrafen oder Unterbringung in geschlossene staatliche
Zwangsanstalten. Kurz: für die Strafunmündigen Prävention,
für die Strafmündigen Repression.
Digitized by Google
1
Erster Kongress f. Kinder for$chung und Jugendfürsorge. 203
Die Fürsorge für die schulentlassene Jugend.
Von
Geh. Admiralitätsrat Dr. Fe lisch.
Meine Damen und Herren 1 Wenn ich die Ehre habe, heute
über die Fürsorge für die schulentlassene Jugend vor Ihnen
zu sprechen, so ist es meine erste Aufgabe, den Begriff der
schulentlassenen Jugend festzulegen.
Wir haben im allgemeinen in Deutschland als den Schul-
entlassungstermin das 14. Lebensjahr; Bayern entläßt aber die
Volksschüler bereits mit dem 13. Lebensjahre. An diesen Schul-
entlassungstermin haben wir, trotzdem die Strafmündigkeit
schon mit dem 12. Lebensjahre beginnt, mit unserer Fürsorge
anzuknüpfen und sie während derjenigen Jahre fortzusetzen,
welche im Sinne der Wohlfahrtspflege als die besonders schutz-
bedürftigen erkannt worden sind. Die Erfahrung hat gelehrt,
daß es sich im allgemeinen um vier Jahre handelt. Wir ver-
stehen also unter der schulentlassenen Jugend die jungen Leute,
Knaben und Mädchen, während der ersten vier Jahre nach
der Schulentlassung, aber nicht die gesamte Jugend, sondern
nur die erwerbstätige. Das sind rund 3 Millionen Personen
in Deutschland oder 5,2 Prozent der Bevölkerung.
Ist so der Begriff der einen Hälfte unseres Themas fest-
gelegt, so ist das Gleiche für die andere Hälfte, für den Be-
griff der Schutzfürsorge, in diesem Kreise, in dem
er ausreichend bekannt ist, nicht erforderlich, und ich kann
mich sogleich dazu wenden, die in der Frage der Für-
sorge für die schulentlassene Jugend ruhenden
Probleme vor Ihnen zu entwickeln.
Ich bin der Meinung, daß die Unzahl der sich hier dar-
bietenden Probleme ihre letzte Wurzel in dem Umstände hat,
daß die Umbildung der Stände, die nach Auflösung des alten
Dreiständestaates und unter der Nachwirkung der französi-
schen Revolution jetzt vor einem Jahrhundert durch die Stein-
Hardenbergsche Gesetzgebung bei uns in Preußen und ähnlich
in den weitaus meisten übrigen deutschen Staaten einsetzte,
noch nicht derartig abgeschlossen ist, daß die neu gewonnenen
Digitized by Google
204 Fetisch, Fürsorge f. d. schulentlassene Jugend.
Verhältnisse schon vollständig gefestigt wären. Die Um-
bildung, die sich in diesem abgelaufenen Jahrhundert vollzogen
hat, ist in sich dadurch verzögert worden, daß sich als die
unterste Schicht eine solche der Deklassierten bildete. Außer-
dem ging neben der Neuformung der Stände einher : die große
Neubildung der Staaten und ihrer Grundlagen, das Durchringen
zur deutschen Einheit, die allmähliche Anbahnung einer Ent-
wicklung des Staates zu einem Rechtsstaate, die Neugestaltung
des Wirtschafts- und Verkehrslebens durch den Einfluß der
Naturwissenschaften, durch die großen Entdeckungen und Er-
findungen, die Aenderungen der gesamten Lebenshaltung und
das Auftauchen neuer sozialer Fragen. Mit diesen gewaltigen
Prozessen mußte sich eine Reihe von Folgeerscheinungen ver-
binden, welche auflösend wirkten und deshalb einen Ersatz
oder aber Ergänzungen erforderten, ohne daß solche in unserer
Gesellschaft schon vollständig gefunden wären. Hierher ge-
hören die Auflösung der alten patriarchalischen Verhältnisse,
die Stockungen in der Stetigkeit der Arbeit, die Bildung eines
zahlreichen Proletariats, die Einwirkungen des vermehrten Wett-
bewerbes, die Ueberfüllung der Berufe, das Darniederliegen
zahlreicher Erwerbszweige, die Ausbeutung Jugendlicher, die
Lehrlingszüchterei, die Zunahme ungünstiger Beeinflussung
durch Not, Elend und Versuchungen aller Art, das Anwachsen
der Kriminalität der Jugendlichen, die Vermehrung der Vor-
bedingungen für sittliche Gefährdung, Verrohung und Verwahr-
losung eines Teiles der Jugend und das Stellen auf die eigene
Erwerbstätigkeit in einem sehr jungen Alter bei gleichzeitiger
Abschwächung oder völligem Versagen der ehemaligen Für-
sorgemittel. Denn infolge der besseren äußeren Gestaltung
der Lebensführung tritt an die männliche und an die weibliche
Jugend heut nicht bloß in der Großstadt, sondern auch auf dem
platten Lande Versuchung und Verführung in vermehrter Zahl
und in verfeinerter Gestalt heran, während die alten Erziehungs-
faktoren, der feste sittliche Halt einer klaren Weltanschauung,
der Einfluß einer starken religiösen Ueberzeugung, das innige
Gefüge des Familienlebens, die patriarchalische Zucht des Lehr-
herrn immer schwächer und unwirksamer wurden. Es war
und ist geboten, aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus für
die schwindenden bisherigen erziehlichen Momente neue an
die Stelle zu setzen, insoweit die Neubelebung der alten nicht
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Eralcr Kongrcss f. Kinder jor schling und Jugend für sorge.
205
möglich ist. Dies wird um so mehr notwendig, als man heut
nicht mehr an der Scholle klebt. Selbst die Landwirtschaft
macht heute durch ihre Nebenindustrien Zu- und Abzug von
Arbeitern erforderlich, und die große Zahl der ungelernten
Arbeiter, die besonders unter dem Einflüsse des Schlafstellen-
wesens und auch des Alkoholmißbrauches leiden, vermehrt die
vorhandenen Schwierigkeiten.
So sind wir vor die Frage gestellt: soll hier eine Hilfe
durch die bürgerliche Gesellschaft selbst für diese heran-
wachsende Jugend eintreten? Ich glaube, wir können sie hier
in unserem Kreise mit einem „Ja" beantworten, ohne dies
„Ja" weiter zu begründen. Das Schwierige ist nicht, ob die
Hilfe erforderlich ist, sondern die Frage: wie soll die Hilfe
eintreten? Nicht die Selbstsucht darf durch sie gefördert
werden, sondern es muß durch die Fürsorge eine organische,
auf festem Fundament ruhende und nicht eine äußerliche Hilfe
geschaffen werden. Der Ausgangspunkt muß sein, daß man
die Erziehung nicht mit der Schulzeit beendet sein läßt, sondern
daß an die Schulerziehung eine weitere Erziehung angeknüpft
wird: die Erziehung der heranwachsenden Jugend durch die
bürgerliche Gesellschaft selbst. Und hierfür gilt es, die Leit-
sätze zu finden. Eine jede Erziehung will auf Freiheit beruhen
und ganz besonders eine solche durch die bürgerliche Gesell-
schaft erfolgende Erziehung der Jugend, bei der doch der
Selbstbetätigungsdrang ein durchaus berechtigter ist. Die Er-
ziehung wendet sich zunächst an den Naturmenschen, der durch
die Naturordnung auf den Kampf gestellt ist. Der Kampf aber
zwingt zur höchsten Anspannung der Kräfte, und diese läßt
den Naturmenschen zum Kulturmenschen werden. Unsere Auf-
gabe ist es, die Entfaltung der Kulturkräfte zu fördern und
Menschen mit festgeprägter Weltanschauung zu erziehen, die
innerhalb der heutigen Kultur tätig sind und an ihr mitarbeiten.
Wenn wir so an diese Frage herangehen, gewillt, unsere
Verpflichtung zu sozialer Arbeit anzuerkennen, dann dürfen
wir ein weiteres großes Problem nicht übersehen. Wir ge-
wöhnen uns im bürgerlichen Leben leider viel zu sehr daran,
die Dinge nur von der einen Seite zu beschauen, und vergessen,
daß jedes körperliche Ding und auch jede geistige Vorstellung
eine zweite Seite besitzt. Es gilt aber, mit geistigen Röntgen-
strahlen hindurch zu dringen durch diese sinnlichen Erschei-
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206 Felisch, Fürsorge f. d. schulentlassene Jugend.
nungen und durch diese geistigen Vorstellungen, um das Rück-
bild zu erblicken und zu erfassen. Wir müssen uns dazu
zwingen, von den Dingen gleichzeitig die subjekitve und die
objektive Vorstellung, die sinnliche und die geistige für uns
zu erhaschen; dann werden wir dessen inne werden, daß die
anscheinenden Gegensätze sich vereinigen. Wir müssen uns
klar darüber sein, daß die materialistische Anschauung auf
die Vielheit blickt und die idealistische auf die Einheit, daß
aber beide zusammen doch trotz oder vielmehr wegen der
fortwährenden Verwandlungen in einer großen Gesamtheit auf-
gehen. Es darf der Idealismus nicht außer acht lassen, daß,
wenn er mit seinen hohen Zielen an eine Aufgabe herangeht,
er des Realismus nicht entbehren darf. Es wäre falsch, immer
nach den Sternen zu schauen und zu vergessen, daß der Fuß auf
dem festen realen Boden stehen muß, und daß man Schritt für
Schritt, von Bülte zu Bülte schreiten muß, um vorwärt zu kom-
men. Ich stehe nicht an, zu erklären, daß auch der Materialismus
für ein bestimmtes Gebiet seine volle Berechtigung hat.
Und so soll der Altruismus nicht etwa den Egoismus
beseitigen — denn dieser ist nötig — , sondern auf ein ver-
ständiges Maß zurückführen. Man soll sich klar darüber
werden, daß beide in der wahren Sittlichkeit sich vereinen.
Die Gesellschaft stellt eben die Gesamtheit der Beziehun-
gen der Menschen zur Gütexwelt dar und wird deshalb durch
die vielfachen Abhängigkeitsverhältnisse beeinflußt, aus denen
der Kampf der abhängigen Nichtbesitzenden oder Minder-
besitzenden gegen die Besitzenden entspringt. Aufgabe des
Staates ist es, durch seinen Zwang dahin zu wirken, daß der
Einzelne über seine persönlichen Interessen hinaus sich in den
Dienst von an sich ihm fernliegenden Interessen stellt und
dadurch der Allgemeinheit dient. Der Zweck dieses Zwanges
ist, einen Ausgleich der Gegensätze herbeizuführen, die sich
widerstreitenden Interessen miteinander zu versöhnen. Die
bürgerliche, d. h. die staatlich organisierte Gesellschaft hat
die Pflicht, aus sich heraus von der Vielheit zu der Einheit
zu gelangen, aus sich heraus den großerf Kulruraufgaben ge-
recht zu werden und sie zu lösen. Schaut man sich so die
Dinge an, so kommt man zu der Ueberzeugung, daß zwischen
Staat und bürgerlicher Gesellschaft nicht ein Gegensatz ist,
sondern daß diese beiden zusammengefaßt werden in einer
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Erster Kongres* f. Kindtrforsehwig und Jugendfürsorge. 207
großen Einheit zu großen Aufgaben. Und ebenso muß dann
das Vorurteil schwinden, daß ein Gegensatz der verschiedenen
Stande vorhanden sei, der eine gedeihliche Entwicklung
hindere. Nicht um Gegensätze der Stände handelt es sich,
sondern um verschiedene Abstufungen, um aufeinander ge
lagerte Schichtungen, die aufeinander angewiesen sind und
gemeinschaftlich ein organisches Ganzes bilden. Wer Gegen-
sätzlichkeit da hineinträgt, wo liebevolle Forschung und vor-
urteilsloses Verständnis geboten ist, versündigt sich am
Volkswohle. Freilich kann nicht geleugnet werden, daß eine
Entfremdung zwischen den Gebildeten und den Mindergebil-
deten und Ungebildeten eingetreten ist, die tief beklagenswert
genannt werden muß. Aber die Schuld hieran trifft beide
Teile gleichmäßig: die Erstgenannten deshalb, weil sie die
Fühlung mit den eigenen Volksgenossen verloren haben, und
die Letztgenannten deshalb, weil ihnen das Gefühl für ihre
Verpflichtungen gegenüber dem Staatsganzen abhanden ge-
kommen ist, und sie sich in eine Gehässigkeit gegen Besser-
gestellte haben hineindrängen lassen. Weil aber auf beiden
Seiten Schuld liegt, läßt sich die Versöhnung ermöglichen.
Unter dieser Betrachtung will jede Wohlfahrtspflege ver-
standen werden. Die Wohlfahrtspflege ist ein sittlicher Zwang
für jeden, der sich in ihren Dienst stellt. Aus dieser sittlichen
Notwendigkeit heraus, aus der Pflicht zum sozialen Schaffen,
die man in erster Linie gegen sich selbst und erst in zweiter
gejjen seine Mitmenschen hat, soll die Arbeit auch auf dem
Gebiet der Fürsorge für die schulentlassene Jugend erwachsen.
Geschieht dies, dann werden wir nicht im Zweifel darüber
sein, daß auch auf diesem Felde das große Gesetz der Ent-
wicklung das ausschlaggebende ist, und daß wir nicht von
den Dingen und Ideen, die von außen hineingetragen werden,
die Lösung zu erwarten haben, sondern daß eine organische
Entwicklung von innen heraus erfolgen wird. Wir können
dessen gewiß sein: sie wird kommen, und es wird langsam
die Lösung sich durch die Tätigkeit der bürgerlichen Ge-
sellschaft finden. Denn die Probleme sind bereits im Prinzip
gelöst, und es handelt sich nur darum, sie immer allgemeiner
zu erkennen, und das, was sich aus ihnen ergibt, auszubauen.
Es muß die Ueberzeugung in die weitesten Kreise getragen
werden, daß die Gesellschaft die Pflicht zu erfüllen hat, zwecks
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208
Felisch, Fürsorge f. d. schulentlassene Jugend.
Lösung der einzelnen Probleme und der aus ihnen entsprin-
genden Aufgaben eigene Tätigkeit zu entfalten. Dann wird
der Teil der sogenannten sozialen Frage, der überhaupt lösbar
ist, keine sonderlichen Schwierigkeiten mehr bieten; denn alle
anscheinend getrennten Fragen: Fortbildungsschulzwang,
Volksbildung, Aufbesserung der Wohnungsverhältnisse, der ge-
samten Lebenshaltung usw. usw. gehen untereinander und mit
unserer Frage Hand in Hand.
Ich habe vor einiger Zeit meinen engeren Kollegen, den
Juristen, gesagt, was nach meiner Meinung ihre sozialen
Pflichten sind. Ich habe öffentlich eine anklagende Stimme
erheben müssen, weil so viele davon unerfüllt sind. Aber man
muß darüber hinaus an die Gesamtheit der bürgerlichen Ge-
sellschaft eine flammende Anklage richten, daß sie zwar be-
lehrt sind, aber weder selbst weiter lehren wollen, noch auch
nur das Gelernte zu betätigen die Lust haben. Ich spreche
nicht von den „.Wenigen, die 'was davon erkannt" Jiaben,
die man im Dienste sozialer Bestrebungen, auf den Kongressen
und auch beim Zahlen immer wieder findet. Ich spreche nicht
von den Allzuvielen, die da lau und träge sind, und die sich
nicht aufrütteln lassen wollen, um durch persönliche Arbeit
zu helfen, die beim Brande des Nachbarhauses nicht glauben,
daß es sich um ihre eigene Angelegenheit handelt.
Nach diesen allgemeinen Darlegungen komme ich zu den
Grundsätzen, nach welchen zur Erfüllung der
aus den Problemen erwachsenden Aufgaben die
Fürsorgetätigkeit sich zu entwickeln hat.
Zunächst ist eine Abgrenzung gegen Staat und
Kirche erforderlich. Diese haben gesonderte Aufgaben. Der
Staat hat die Macht und kann den Zwang ausüben. Die Kirche
hat den Glauben und die Fähigkeit, gerade durch den Glauben
begeisterte, tüchtige Hilfe von Glaubensgenossen und ge-
meiniglich auch nur für diese zu finden. Staat und Kirche,
Macht und Glauben wollen unterstützt werden durch die freie
Liebestätigkeit der bürgerlichen Gesellschaft. Diese drei
müssen einander gegenseitig befruchten. Weil das so ist, darum
kommt für die gesellschaftliche Fürsorge nicht die Konfessio-
nalität in Frage, und darum ist es unmöglich, für sie die
Grenzen zu ziehen nach der Partei oder nach dem Berufe.
Die Interkonfessionalität ist geboten, weil die er-
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irrster JLongre&s f. n.\na>'rjurscnHng una JugeMfurtorge.
209
richerischen Mittel, mit denen zu rechnen ist, ebensowenig
konfessionell sind wie all die tausend Einrichtungen, mit denen
das große Leben selbst das heranwachsende Geschlecht er-
zieherisch und wirtschaftlich heranbildet. Das Gleichnis vom
barmherzigen Samariter stammt nicht aus einem heidnischen
Fabelbuche, sondern aus dem Munde des Herrn. Es ist daher
zur Fürsorge jedermann berufen und hat sie auszu-
üben, der im Stande ist, für einen andern zu sorgen, einge-
schlossen diejenigen, welche die Jugend soeben aus der Schule
entlassen haben, die Lehrer und Lehrerinnen, und mit ihnen
Dienstherren und Arbeitgeber, Beamte und Rentner, ein jeder,
der über einen gewissen Schatz von Bildung oder von Besitz
oder von Gemüt verfügt, vor allem die Frauen, die die geborenen
Helferinnen auf diesem Gebiete sind. Erforderlich ist nur:
selbstlose Menschenliebe, Umsicht, Takt und Bereitschaft zur
Hilfegewährung durch persönliche Dienstleistungen.
Welches ist nun der Umfang der Fürsorgetätig-
keit? Die Fürsorge für die schulentlassene Jugend muß um-
fassen das sittliche, das geistige, das leibliche und das wirt-
schaftliche Wohl. In diesen vier Dingen eingeschlossen ist
zugleich die rechtliche Fürsorge, die eine große Reihe von
neuen Forderungen an Staat und Gesetzgebung stellt. Ich
erinnere daran, daß augenblicklich der Drang nach Jugend-
gerichten ganz besonders lebhaft und auch begründet ist. Und
dieser große Umfang der Fürsorgetätigkeit hat zu seinem
Arbeitsfelde die Bekämpfung aller derjenigen Erscheinungen,
welche gegenüber dem sittlichen, geistigen, leiblichen oder wirt-
schaftlichen Wohle schädigend wirken können. Gegenüber
dem sittlichen durch die Abwehr der Gefährdungen des Berufes,
des privaten und des öffentlichen Lebens und der Lockerung der
Familienzusamimengehörigkeit. Gegenüber dem geistigen
durch die Bekämpfung der Vernachlässigung der Fortbildung.
Gegenüber dem leiblichen durch Vorbeugung betreffs der
Schaden, die ein falsch ergriffener Beruf mit sich bringt, ins-
besondere durch ärztliche Feststellung, ob der Jugendliche
wirklich in den erwählten Beruf eintreten darf. Gegenüber
dem wirtschaftlichen durch das Entgegenwirken gegen alle
diejenigen Erscheinungen, welche die Ausbildung und das Er-
werbsleben der Jugend ungünstig gestalten.
Indem so das Negative gegeben ist, ist das Positive da
Zeitschrift für pädagogische Psychologie. Pathologie u. Hygiene. 4
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210 Erster Kongreu f. Kinderforschung und Jugendfür sorgt.
durch begrenzt, daß alle Mittel zu ergreifen sind, welche dahin
zielen, nicht nur Schaden zu beseitigen, sondern auf allen vier
Gebieten das vorhandene Gute zu festigen und zu mehren und
günstige Bedingungen für eine gedeihliche Entfaltung zu ver-
schaffen. Dieser große Umfang der Fürsorgetätigkeit muß
ferner in (der Weise ausgefüllt werden, daß man sich klar
darüber ist, daß nicht jeder Jugendliche gleichartig mit dem
andern behandelt werden darf, daß vielmehr eine große Zahl
von Schattierungen und von Abstufungen sich findet, die eine
individuelle Behandlung erheischen. Ich nenne die Waisen,
die sonstigen Verlassenen und die Verführten, diejenigen,
welche mit körperlichen oder geistigen Schäden behaftet sind,
insbesondere die Stotternden, Tauben, Blinden, die Tuber-
kulösen, Rhachitischen, Epileptischen und Verkrüppelten, die
geistig Minderwertigen und die geistig Schwachen, endlich die
Bettler und Landstreicher, die Gefährdeten, die Verwahrlosten
und die Verbrecher. Indem ich so eine Anzahl von Klassen
herausgreife, entrollt sich Ihnen von selbst das Bild, wie die
Behandlung verschiedenartig gestaltet werden muß, und wie
hierbei erbliche Belastung und persönliche Veranlagung,
soziale Einflüsse, namentlich die der Umgebung, und eigenes
Verschulden in Rücksicht zu ziehen sind.
Hiermit hängt die Frage nach der Art der Fürsorge-
tätigkeit zusammen.
Nicht zu empfehlen ist für unsere deutschen Verhältnisse
das romanische Patronagesystem, das mehr oder minder ein
Almosensystem ist. Almosen geben ist das Schlechteste, was
man der Jugend überhaupt antun kann. Das Beste wäre, nur
zu helfen durch Rat und durch Unterstützung mit persönlicher
Tat. Damit allein kommen wir aber in Notfällen nicht aus,
und darum darf eine gewisse finanzielle Unterstützung hinzu-
treten, aber niem* in Gestalt des Almosens, sondern in der
Gestalt der Zweckspende. Ich darf Gelder nur zu einem be-
stimmten Zwecke geben, und das Erstrebenswerte ist, daß ich
selbst den Zweck mit dem Gelde erfülle und dadurch in natura
dem Unglücklichen helfe. Wenn ich dem Bettler Suppe ver-
abreiche, so ist das eine Zweckspende zur Stillung des Hungers;
aber wenn ich ihm ein Zehnpfennigstück aushändige, so weiß
ich nicht, ob er es zum Ankauf von warmer Suppe oder von
Schnaps verwendet. Und darum muß ich mir klar darüber
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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
211
sein, daß ich durch ein Almosen die Gefahr der Verschlech-
terung des Beschenkten herbeiführe. Almosengeben bedeutet
einen Mangel an sozialen Kenntnissen oder an Nachdenken
oder aber eine falsche Bequemlichkeit.
Im Gegensatze zu der gedankenlosen Gewährung von
Almosen wird die Bereitschaft erfordert, so zu helfen, wie
man sich selbst oder einen Angehörigen helfen würde. Der
Entschluß muß gefaßt werden, den Einzelkampf gegen das
Uebei aufzunehmen. Und als solches darf nicht die Armut
an sich erscheinen, deren drohendes Schreckgespenst man
durch eine milde Spende verscheucht. Die innere Gesinnung
muß auf »Beseitigung der Entfremdung zwischen den be-
sitzenden und den nichtbesitzenden Klassen gerichtet sein, und
das äußere Verhalten muß sich dem zweckentsprechend an-
passen. Es gibt nichts Verkehrteres, als wenn man sich mit
dem Automobil in das Armenviertel begibt, um in rauschenden
Seidengewändern Ermittelungen vorzunehmen.
Geht man von diesen Grundsätzen aus, so gibt es nur
ein einziges System, das Hilfe zu bringen vermag, und dies
ist das Pflegersystem, das wir schon lange haben, und
das nur des Ausbaues bedurfte, den es auch gefunden hat. Ich
hoffe, nicht ruhmredig gescholten zu werden, wenn ich einschalte,
daß dieser Ausbau des Pflegersystems am besten in dem Ber-
liner „Freiwilligen Erziehungsbeirat für schulentlassene Waisen'*
gelungen ist. Ich bin zwar dessen Leiter, aber ich darf wohl
anführen, daß er der größte interkonfessionelle Erziehungs-
verein in Deutschland ist, und daß er die Grundsätze, die
ich Ihnen soeben entwickelt habe, folgerichtig durchzuführen
versucht hat. Er ist ein Verein, der 1500 bis 1600 Waisen-
kinder in jedem Jahr unterbringt und je vier Jahre in Pfleg-
schaft behält, ebensoviel Pfleger und Pflegerinnen hat und
durch 150 Vereinsärzte unentgeltliche Untersuchung und Be-
handlung der Pfleglinge sowie durch 100 fachmännische Bei-
stände Rat und Belehrung für die einzelnen Zweige der ver-
schiedenen Berufe gewährt. Ich habe mir erlaubt, eine Anzahl
von Drucksachen mitzubringen, und ich bitte Sie, diese in
Empfang zu nehmen. Weitere Exemplare übersendet gern
jederzeit das Vereinsbureau.
Ich habe mit dieser Abschweifung auf einen bestimmten
Verein nur sagen wollen, daß dasjenige, was ich vom Pfleger-
4»
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212 Erster Kongrcts f. Kinder fortchung und Jugendfürsorge.
system erwarte, nicht theoretische Gedanken sind, sondern daß
diese in der Praxis schon längst Betätigung gefunden haben,
und daß ihre Ausgestaltung nachgeahmt werden kann, wie
sie tatsächlich schon vielfach nachgeahmt worden ist.
Dieses Pflegersystem ist das System der werktätigen Hilfe
durch die eigene Arbeit, durch eigenes Herangehen an die
Jugend; es erfordert, daß man selbst in die Häuser der Hilfs-
bedürftigen sich begibt, daß man die Umwelt, in der diese
leben, erforscht und unter Zuhilfenahme dieser Kenntnis das
einzelne Kind beurteilt und demnächst es individuell behandelt,
um ihm richtig zu helfen.
Welches sind nun die MittelderFürsorge? Leitende
Grundsätze müssen {sein: Zusammenarbeiten aller beteiligten
Behörden, Körperschaften und Vereine, Gewährung von Unter-
stützungen nur im Falle unbedingter Notwendigkeit, gleich-
mäßige Berücksichtigung von Knaben und Mädchen, Vermei-
dung eines Wechsels in der Person des Pflegers und möglichst
auch in der Wahl des Berufes, Ausdehnung der Fürsorge auf
vier Jahre.
Die erste Aufgabe ist die Ermittlung der Hilfsbedürftigen,
die am leichtesten dann durchzuführen ist, wenn man mit der
Schul Verwaltung sich ins Einvernehmen setzt, um zu erfahren,,
welche Jugendlichen ein halbes Jahr später die Schulen ver-
lassen werden. Und hat man die Bedürftigen ermittelt, so
handelt es sich vor allem darum, Beistand bei der Berufs-
wahl zu leisten. Die Berufswahl ist ausschlaggebend für die
gesamte Lebensführung der Jugendlichen, für die jungen
Knaben wie für die jungen Mädchen, die ins Leben hinaus-
treten, ungeleitet, schlecht behütet, oft gefährdet durch die
eigene Umgebung und in manchen Fällen gar von Böswilligen
zum Schlechten angehalten. Hier handelt es sich darum, durch
die Tätigkeit der bürgerlichen Gesellschaft dafür zu sorgen,
daß eine verständige und richtig geleitete Berufswahl statt-
findet, daß unsere Jugend nur in solche Berufe eintritt, für
die der Einzelne nach Anlagen, Fähigkeiten und Neigungen,
nach körperlicher und sittlicher Beschaffenheit wirklich be-
stimmt ist, und daß das Ergreifen eines falschen Berufes ver-
mieden wird. Außerdem auch darum, daß eine ärztliche
Untersuchung auf die körperliche Geeignetheit stattfindet. Das
ist ein sehr schwieriges Kapitel, und es sind die wenigsten
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Erster Kongreß f. Kinder forsdtung und Jugendfürsorge.
213
Aerzte ohne weiteres im Sunde, zu sagen, welcher Beruf der
passendste für ein ihnen vorgestelltes Kind ist; da hat der
freiwillige Erziehungsbeirat durch die Herausgabe eines „Weg-
weisers für die Berufswahl" ein außerordentlich gutes Aus-
kunftsmittel allen Beteiligten an die Hand gegeben. Dieses
Buch ist das Ergebnis von 20000 versandten Fragebogen,
deren Verarbeitung Professor Sommerfeld, Privatdozent Dr.
Jaffe* und Dr. Sauer sich unter Mitwirkung vieler Fachleute
unterzogen haben. Es ist dort alles zusammengetragen über
die Erfordernisse jedes einzelnen, für die erwerbstätige Jugend
in Betracht kommenden Berufes in körperlicher und geistiger
Hinsicht, über die Berufsgefahren, über den Gang der Aus-
bildung, über die Aussichten des Berufes, über das Kapital,
das erforderlich ist, um sich in dem betreffenden Berufe selbst-
ständig zu machen, über die Lehrstellen- und Arbeitsnach-
weise usw.
Auf solcher Grundlage wird eine richtige Berufswahl ge-
troffen werden, wenn man eine gute Ausbildung höher stellt
als schnelles Geldverdienen. Besonderen Neigungen des
Kindes wird Rechnung zu tragen sein, jedoch nicht ohne Vor-
sicht und nur dann, wenn Wollen und Können miteinander
in Einklang stehen. Ein Herabsinken unter den Stand der
Eltern wird möglichst zu vermeiden, ein unverhältnismäßiges
Erheben darüber nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu
fördern sein.
An die Berufswahl muß sich die Beschaffung einer ge-
eigneten Lehr-, Dienst- oder Arbeitsstelle anschließen, und da
ist die Hilfe fachmännischer Beistände ratsam, die zu sagen
vermögen, was in dem einzelnen Falle das Rechte ist. Die
sogenannten gelernten Berufe sind den ungelernten unter allen
Umständen vorzuziehen. Bei ersteren ist geeignetenfalls die
Mitwirkung der Innungen und kaufmännischen Körperschaften
herbeizuführen, ebenso die von gemeinnützigen Stellennach-
weisen.
Dann kommt die Prüfung der mehreren, zur Verfügung
stehenden Stellen und erforderlichen Falles die Beschaffung
des Zuschusses, ohne den der Antritt der Stelle dem dazu
Tauglichen aus wirtschaftlichen Gründen verschlossen bleiben
würde. Darnach ist es die Aufgabe, diejenigen, welche körper-
lich nicht ausreichend im Stande sind, den erwählten Beruf
214 Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
zu ergreifen, in einen andren Beruf hineinzubringen, und die-
jenigen, welche zurzeit überhaupt nicht erwerbsfähig sind, auf
das Land hinauszuschicken, damit sie dort, falls sie nicht über-
haupt da bleiben, was in vielen Fällen das Wünschenswerteste
ist, Kräftigung finden, um später erwerbstätig werden zu
können. Ist das geschehen, so muß sich eine liebevolle Be-
ratung für die nächsten vier Jahre anschließen, die dafür
sorgen soll, daß der Einzelne mit seinem Meister oder sonstigen
Lehrherrn in guten Beziehungen steht, daß ein Besuch der
Fortbildungsschule, von dem wir alle hoffen, daß er bald im
ganzen Deutschen Reiche für beide Geschlechter obligatorisch
werde, ein Besuch der Fachschule, sowie ganz allgemein eine
geordnete Ausbildung stattfindet. Um dies zu erreichen, ist
es nötig, nach festgelegten Grundsätzen bei der Schaffung und
Regelung der Einrichtungen für die Ausbildung der Jugend-
lichen vorzugehen. Ich erinnere an die Lehrwerkstätten, an
die hauswirtschaftliche Unterweisung der jungen Mädchen, an
die Dienstlehrstellen usw. Daneben gehen die weiteren großen
Aufgaben sozialer Art. Zu ihnen gehört die Wohnungsfürsorge,
die für die schulentlassene Jugend die besondere Gestalt der
Lehrlingsheime, der Fabrikpensionate, der Mädchenheime, der
Arbeiterheime usw. annimmt. Weiter gehen damit Hand in
Hand die Fragen der Volksbildung, die bei der Jugend zunächst
damit einzusetzen nat, daß sie für ihren Beruf tüchtig und
geschickt werde; femer die verständige Ueberwachung des
Verkehrs und die Herbeiführung einer guten Geselligkeit, sei
es durch Einzelmaßnahmen, sei es durch Volksunterhalrungs-
abende, Lehrlings Versammlungen und dergleichen. Das Herbei-
schaffen einer guten Lektüre ist besonders wichtig, ebenso
die Weckung des Sparsinnes, die Verbesserung der Spar-
gelegenheiten, die Förderung der Mäßigkeitsbestrebungen usw.
So trifft eine große Reihe von sozialen Aufgaben zusammen,
von denen viele, wie z. B. die der Volkshygiene, hier nicht
einmal genannt werden können; aber sie alle erheischen eine
eigene Lösung der Frage nach den Zweckbestimmungen für
das besondere Gebiet der Jugendfürsorge.
Sind nun schon die Mittel der Fürsorge so mannigfaltig, wie
soll das alles ausgestaltet werden bei der unend-
lichen Verschiedenheit von Stadt und Land? Oder
kommt das Land etwa nicht in Betracht ? Im Gegenteile 1 Ich bin
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Erster Kongrus f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 215
tief davon durchdrungen, daß die .Fürsorge für die Jugend
ebenso eine sittliche Pflicht für den Gutsvorsteher auf deral
kleinsten Gute ist wie für die Angehörigen der Reichshaupt-
stadt. Allerdings wird die praktische Durchführung eine gana
verschiedene sein müssen. Auf dem Gute wird der Guts*
Vorsteher allein oder mit einer oder der anderen Person sich!
des einzelnen Kindes annehmen. In den kleinen Land- und
Stadtgemeinden wird der Orts- oder Amtsvorsteher, der Waisen-
rat oder der Bürgermeister die wenigen Ortsgenossen, die
solchen Fragen Verständnis entgegenbringen oder für sie
interessiert werden können, um sich! sammeln, um für ber
stimmte hilfsbedürftige Jugendliche zu sorgen. In größeren
Städten kann sich ein der gesamten Jugend sich widmender.
Verein bilden; in noch größeren kann eine Trennung nach!
einzelnen Klassen der Jugendlichen, in den größten sogar nach
Klassen der Schulentlassenen eintreten. In jedem Falle ist
aber allüberall die Fürsorge für die schulentlassene Jugend
mehr als bisher zu betätigen und in erster Linie den Verwaisten
und Verlassenen zuzuwenden. Wer dazu mithelfen will, muß
die Wege ebnen, damit die Jugendlichen nicht im wirtschaftr
lichen Kampfe ums Dasein straucheln, und zugleich den sitt-
lichen Halt stahlen, damit sie, wenn sie erwachsen sind, als
zielbewußte Männer, als tüchtige Frauen sich selbst die Gasse
durch das Wirrsal des Lebens bahnen und selbst sich das
Ziel setzen, dem sie zustreben. „Höchstes Glück der Erden-
kinder ist doch die Persönlichkeit.* 4 Darum sollen die Heran-
wachsenden Personen und nicht maschinenartige, nur dem
Erwerb und dem Essen obliegende Lebewesen werden.
Das alles sind Aufgaben nicht für Pessimisten, sondern
für Optimisten, wie denn auch bisher die Lösung der Auf-
gaben auf diesem Gebiet uns immer noch von denjenigen ge-
kommen ist, die mit gesundem Optimismus die Dinge an-
geschaut haben, und nach meiner Meinung auch von andern
nicht kommen kann. Jeder, der sich in den Dienst dieser
Sache stellt, ist Idealist und damit ein Stück Prophet. Und
da möchte es vielleicht nicht eine Anmaßung sein, den Schleier
der Zukunft ein wefriig prophetisch lüften zu wollen.
Es fragt sich, ob das von ihr Erwartete nicht Phantome
sind, oder ob wir wirklich eine viel ausgedehntere Betätigung
einer Schutzfürsorge zu gewärtigen haben, als es bisher der
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216 Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
Fall gewesen ist. Ehe darauf eine Antwort erteilt werden
kann, ist eine Vorbemerkung' notwendig. Wenn es wahr ist,
daß Gegenwart und Zukunft der bürgerlichen Gesellschaft die
große Aufgabe stellen, die Jugend so durch eigene werktätige
Mithilfe zu erziehen, daß die Jugendlichen selber zu Kultur-
trägern werden, so kann die Erreichung eines solchen Zieles
von niemand gefördert werden, der mit selbstischen Interessen
an die Dinge herangeht. Man muß vielmehr davon durch-
drungen sein, daß man lediglich: um des Dienstes an der
Jugend und um des Gemeinwohles willen zu arbeiten hat. Das
kann aber niemand, dem nicht das hohe Lied der Menschen-
liebe so erklungen ist, daß es einen Widerhall in seiner Brust
gefunden hat. Wir haben ein durstendes Land vor uns, und
es gilt, es zu tränken mit den befruchtenden Segensgaben der
Liebe. Die Kraft des Erbarmens muß gewonnen werden, das
herzliche Sichversenken in den andern, das die Samaritertat
erzeugt. Aber manchen, der sich dazu aufraffen möchte,
schreckt ein Bild auf die Richtung der gegenwärtigen Zeitläufte
zurück. Denn, täuschen wir uns nicht darüber: die Fabrik-
jugend ist frrüt Sicherheit für die nächsten Jahrzehnte einer
bestimmten Partei die neue Armee. Soll man da nicht, so
meint man, durch die Wohlfahrtspflege eine Beeinflussung der
Jugend zu bestimmten parteipolitischen Zwecken erstreben oder
sich noch lieber bei solchen Aussichten aller Tätigkeit ent-
halten ?
Wer so denkt, den kennzeichne ich als einen Menschen,
der sich weigert, seine Schuld zu tun. Wer innerhalb dieser
Arbeit darnach hinschielt, auf welches politische Gebiet sich
dereinst die heranwachsende Jugend begeben wird, anstatt es
als seine Aufgabe zu betrachten, sie zu tüchtigen Menschen
heranzubilden, wer mit dem Vorhaben an die Lösung nuserer
Frage herangeht, aus persönlichen Gründen oder seiner Partei
zu Liebe selbstische Beeinflussung auf einem Gebiete zu ver-
suchen, das nur der selbstlosen Hingabe erschlossen sein sollte,
der schändet die Wohlfahrtspflege, der bleibe zu Hause 1
Man soll sich lediglich in den Dienst des Menschenkindes
stellen und soll sich nach getaner Arbeit sagen können : dieses
Menschenkind habe ich mitentwickeln helfen zu einem tüch-
tigen Kulturmenschen. Und gehen wir in dieser Grundan
schauung an die Aufgabe heran, dann wird die Zukunft dem
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Erster Kongreu f. Kinder forechung und Jugendfürsorge. 217
großen Gedanken gehören, daß es für die bürgerliche Gesell-
schaft eine sittliche Notwendigkeit ist, aus freier Entschließung
heraus undtiurch eigene Tätigkeit unsere Jugend einem besseren
Lose dadurch entgegenzuführen, daß das Erziehungswerk der
Schule als ein Liebeswerk der Gesellschaft planmäßig fort-
gesetzt wirdl Die Wahrheit und die Vernunft haben noch
immer auf die Dauer gesiegt und das vernunftmäßige An-
schauen der in Wahrheit vorhandenen Dinge muß dahin
führen, daß die bürgerliche Gesellschaft anders als bisher in
werktätiger Liebe die Schulentlassenen auf ihrem Lebenswege
sittlich, geistig, körperlich und wirtschaftlich in den entschei-
denden Jahren der ersten Selbständigkeit führen und fördern
wird. Nicht, um die Jugend sich zu erobern, sondern um ihr
zu dienen I In solcher Auffassung der Lebenspflichten und des
Gesetzes der Entwicklung der Gesellschaft und des Staates
kann es kein Traum sein, wenn wir erhoffen, daß die Zukunft,
die unserer schulentlassenen Jugend beschieden ist, eine
goldene Zukunft sein wird!
Fröbelsche Pädagogik und Kinderforschung.
Referat von Hanna Mecke,
Leiterin des Ev. Fröbelseminars in Cassel.
Rednerin weist bei Fröbel nach, daß ein Genie weit-
schauend intuitiv erkennt, was auf langsamem Wege der Beob-
achtung und Erfahrung die Wissenschaft logisch begründet.
Die Natur, deren Offenbarungen das Genie ist, kann sich nicht
anders als auf natürlichem Wege natürlich äußern. Die Aeuße-
rung der Kindesnatur hat zu allen Zeiten nicht nur
<üe Berufenen, Pädagogen, anziehend gefunden, sondern es
ist erwiesen, daß alle genialen Menschen Interesse und Liebe
für Kinder gehabt. In Deutschland ist der Kontakt der
Wissenschaft der Kinderforschung mit der pädagogischen
Praxis noch nicht hergestellt. Ueber der Erkenntnis des
Wesensneuen sollte die Pädologie die gemeinsame Wesens-
wurzel, die in der Pädagogik liegt, nicht vernachlässigen.
Mit der Popularisierung der Psychologie durch die Pädagogik
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218 Erster Kongrese f. Kindcrforachung und Jugendfürsorge.
wird der Wissenschaft ein großer Dienst geleistet; sie wird
veranlaßt, ihre Ergebnisse dem inneren Zusammenhange nach
aufzudecken und auf die einfachste Formel ru bringen. Die
Geschichte bestätigt das besonders beim Blick auf die
Fröbelsche Pädagogik und die Kinderforschung.
Trotzdem die Anfänge der Kinderseelenkunde in Deutsch-
land liegen, wird das Interesse für die seelische Eigenart des
kleinen Kindes in Deutschland erst allgemeiner bei Gelehrten
und pädagogischen Praktikern, seit die genetische Psychologie
im Auslande sich entwickelt und in ihre Heimat zurückgetragen
wird. In Deutschland krankt die Pädagogik an dem Irrtum,
das Kind als kleinen Erwachsenen anzusehen, der möglichst
rasch auf die Stufe gegenwärtiger Kultur zu heben sei. Das
ist eine der Quellen des Konflikts zwischen Wollen und
Können, der als Unfrieden auf so vielen Menschen lastet.
Nicht nur in der theoretisierenden, auch das Originale in
ein System bringenden Art der Deutschen ist die Ursache dieser
Geringachtung des „Seelenbinnenlebens" im Kinde zu suchen,
sondern auch in zeitlichen Ursachen: das Naturevangelium
eines Rousseau hat im 18. Jahrhundert in Deutschland viel
Widerhall gefunden; Herders Offenbarungen in seinen Ideen
zur Philosophie der Geschichte der Menschheit zeigen, wie
der einzelne sein Selbst entdecken kann; der Philantropen
Wertlegen auf die Lustgefühle wird durch Pestalozzis Erkennt-
nisse vom Wesen der Menschennatur ergänzt; Herbart betont
die Wichtigkeit des vielseitigen, gleichschwebenden Inter-
esses; Fröbel entdeckt den Spieltrieb als die elementare,
schaffende Kraft im Menschen, aus der sich die Arbeit ent-
wickelt, während Schiller zeigt, daß der Mensch nur da ganz
Mensch ist, wo er spielt. Fröbel findet — wonach Pestalozzi
Zeit seines Lebens gesucht hat : das Abc der Kunst. Es bietet die
Mittel zur allseitigen Kräfteentfaltung durch frei schaffendes
Tun. Er sieht die Hauptaufgabe des Erziehers darin, den
Keim herauszuhorchen und aus dem Kinde herauszulocken,
damit nicht gleich der erste Zuschnitt — wie Kant sagt —
schon in den ersten Lebensanfängen, dem akademischen
Triennium, verfehlt werde; vielmehr sollen die Kräfte empor-
schießen, indem die Unlust weggenommen wird.
Statt das Werk seiner Vorgänger zu krönen, scheitert
Fröbels Mission äußerlich an dem Widerstand derjenigen, deren
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Erster Kongreß f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 219
Verstehen mehr auf die Wirkungen als auf die Ursachen
gerichtet war. Auch unterstützten die politischen Verhältnisse
das reaktionäre Betonen der geprägten Formen. Dazu kam,
daß Fröbels, erst unserer Geistesrichtung entsprechende Ideen,
nicht in eindrucksvoller Anschaulichkeit gesprochen und
geschrieben wurden, daß es ihnen an charakteristischer Formu-
lierung der Grundgedanken fehlte.
Die deutschen Frauen, an welche er sich vornehmlich
wandte, schlummerten noch in dem Vorurteil vom angeborenen
pädagogischen Talent, der steten psychologischen Erleuchtung
der Mutter; ihr Persönlichkeitsbewußtsein hatte sich, ent-
sprechend dem romantischen Frauenideal, noch nicht zum
Begriff geistiger Mütterlichkeit geklärt.
Ins Ausland getragen, werden Fröbels Schriften knapp
übersetzt und gut kommentiert; sie erscheinen den aller
Traumpädagogik abgewandten Amerikanern als eine Fund-
grube praktischer Weisheit. Die Förderung Fröbelscher Päda-
gogik wird als ein Staatsinteresse aufgefaßt; dieselbe wird
Lehrfach auf den Universitäten; Tausende von Müttern
sammeln sich zu den „Motherscouncils" ; unzählige Kindergärten
werden gegründet und als integrierender Teil der Schulen den
Colleges angeschlossen. Sic bilden nicht nur direkt einen Damm
gegen die sozialen Nöte, sondern werden auch eine gesunde
Mutterschule und psychische Lehrerklinik, wo Kindeswesen
beobachtet und naturgemäß behandelt wird — unter der
Aegide einer nicht fordernden, sondern von der Natur des
Kindes geforderten Methode. Die Child-studies eines Stanley
Hall, Baldwin, Tracy finden infolgedessen allgemeines Interesse.
In Deutschland, dem Mutterlande der wissenschaftlichen
Kinderforschung und der prychologischen Kinderklinik, wie
Virchow den Kindergarten genannt, gehen unterdes Fröbels
Ideen durch handwerksmäßigen, geistlosen Betrieb der meisten
Kindergärten fast verloren, während in den Kleinkinderschulen
ein Kleinhandel mit dem Wissen Erwachsener getrieben und
dem unreifen Kindesgeiste aufgepfropft wird.
Mangelnde wissenschaftliche Ausbildung der Anstalts-
leiterinnen werden die Ursache, daß sich als Dressur eine
Methode darstellt, durch welche Fröbel nichts weniger als
harmonische, freie Entwicklung aller körperlichen, geistigen
und sittlichen Kräfte anstrebt.
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220
Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
Inzwischen schicken die deutschen Regierungen, z. B. bei
Gelegenheit der Weltausstellung in Chicago und St. Louis,
deutsche Gelehrte nach Amerika. Sie berichten mit Bewunde-
rung vom amerikanischen Erziehungs- und Unterrichtssystem,
sie empfehlen amerikanische Bücher — die Fröbels Grund-
sätze praktisch den Zeitforderungen anzupassen verstehen —
als Wegweiser einer neuen Methode: Diese Methode, in der
Fröbel wie kaum ein anderer Pädagoge versucht, die elemen-
taren Triebe des Menschen in Kultur zu nehmen ; dabei immer
den Blick gerichtet auf die Kulturforderung der Gesamtheit,
durch die kleinen Beiträge des einzelnen. Auch seine Arbeit
war, wie Pestalozzi von der seinen sagt, ein Pulsgreifen der Kunst
In Deutschland hat diese Pädagogik bisher noch nicht
viele, aber begeisterte, wissenschaftliche Vertreter gefunden.
Schon 185 1 sagte Diesterweg: „Dieser Spielmann der Kleinen
gleicht einem Seher; er schaut in das Innere der Kindesseele,
wie vor ihm keiner. Er ist in Wahrheit der Entdecker der
Psychologie des unbewußten Kindheitslebens." Sein 1903 ver-
storbener begeisterter Interpret, Professor Eugen Pappenheini,
hier, urteilt: Fröbel wäre längst vergessen, wenn er nur ein
pädagogischer Schwärmer gewesen wäre. Aber er ist einer von
denen, welche wirken, gestalten über ihre Zeit hinaus. Und
diese — die wahren Idealisten — waren von jeher die Erzieher
der Menschheit.
Im zweiten Teil weist Rednerin dann nach,
inwiefern die Fröbelsche Pädagogik die wissenschaftlichen
Forderungen der Kinderseelenkunde praktisch erfüllt: Wie
Fröbel ganz auf dem Boden der biologischen Forschung, der
empirischen Methode steht ; er findet im Spiegel der Natur und
Kulturgeschichte die Methode und des Erziehers Aufgabe : An-
regung und Entwicklung des sich bewußt werdenden, denkenden
Wesens zur reinen und unverletzten Darstellung des Göttlichen
mit Bewußtsein und Selbstbestimmung.
Der Charakter des Kindergartens wird geschildert, wo den
Erscheinungen des Kindeslebens in ihren innersten Gründen
gefolgt werden soll; besonders wichtig sei dies beim Anfang
des religiösen Lebens im Kinde, das dem Samenkeimen im
Frühling gleiche, lange vorher da sei, ehe es unserem Auge
sichtbar werde; deshalb die Notwendigkeit der Pflege durch
äußere Eindrücke: vom Sichtbaren zum Unsichtbaren.
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Erster KongreiS f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 221
Die dreifache Tätigkeit der Seele besteht, indem Aeußer-
Jiches innerlich, Innerliches veräußert und für beides sich die
Einheit bildet. Die moderne Pädologie bestätigt Fröbels An-
sicht, daß die kräftige und vollständige Entwicklung jeder
folgenden Stufe von der vollständigen und eigentümlichen Ent-
wicklung aller und jeder einzelnen vorhergehenden Stufe ab-
hängt. Naturwissenschaft und Geschichtsphilosophie bestätigen,
was Fröbel seinerzeit nur ahnen konnte, daß „aus dem anfangs
Kleinsten in der Natur und im Entwicklungsgange des
Menschen das später so umfassend Wirkende hervorgeht".
Deshalb fordert er für die allererste Erziehung auch denkende
und pädagogisch geschulte Mütter. Er gibt ihnen auch prak-
tische Mittel neben der Anleitung für ihre Arbeit. Weiter weist
Rednerin nach, wie Fröbel Flechsigs Erkenntnisse über die
Sinnesleitungen, Sinneszentren, über die Stärkungen des
Gedächtnisses nach Quantität und Qualität vorahnend an-
gewandt, wie ernst er die Mütter mahnt, vom Lebensanfang
an die von Natur egoistisch gerichteten Triebe, welche die
sensorischen und motorischen Apparate regeln, so zu pflegen,
daß sie von vornherein den höheren, altruistisch gerichteten
dienstbar werden. Schon im ersten Spielen berücksichtigt
Fröbel die besonders von Baldwin und Groos formulierten
Wahrheiten; z. B. die lebhafte Neigung des Kindes für Rhyth-
mus und Reim, diesen Befreier der Phantasie und Einteiler
der Zeit; ferner die Freude am Wohlklang der Melodie, diesen
stimmlichen Ausdruck der Gemütsbewegung. Er wendet an,
was Fechner das Prinzip der Hilfe nennt; er berücksichtigt
schon vor 70 Jahren die Eindruckstheorie Ziehens, indem er
z. B. in den einfachen ersten seiner Gaben zum ersten Ins-
augefassen Grundformen und Grundfarben gibt, daran das
Kind das erste Prüfen, Wägen und Vergleichen vornehmen
kann. Dann beim Erwachen des spekulativen Interesses die
weiteren Gaben, damit das Kind das Innere erforschen und
nach Anschauung des Ganzen dasselbe in seine Teile zerlegen
kann, und wie bei den folgenden flächen-, Iinien- und punkt-
artigen Gaben, bei den wiederholten Erfahrungen über die
Elemente der Form, Zahl, Farbe sich die Lustgefühle,
die das als Spiel geübte Selbsttun des Kindes schafft, unwill-
kürlich einstellen und das Interesse erweitem und der Sprache
einen Inhalt geben. So gelangt das Kind, von Stufe zu Stufe
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222
Erster Kongre»s f. Kinder forschu n g und Jugendfürsorge.
fortschreitend, zur Stoffbewältigung, Stoffverwandlung und
Stoffvergeistigung, dem frei schaffenden Tun. Fröbel schreibt:
dunkle Ahnung bewußten Lebens in sich, wie des Lebens um
sich und somit Kräfte üben, prüfen und so vergleichen, Selb-
ständigkeit üben, prüfen und so vergleichen: das ist der
äußerste Punkt und innerste Grund aller Erscheinungen des
ersten, frühsten Kinderlebens, der frühsten Kindertätigkeit. Im
Kräfteüben ist charakteristisch das enthalten, worauf Fröbel
durch seine Beschäftigungen hinzuwirken sucht. Im Kräfte-
prüfen werden wir an die Wirksamkeit der Spielleiterin gemahnt,
welche das Maß der Leistungsfähigkeit erkennen muß und
zum Selbstgebrauch zu leiten hat. Im Kräftevergleichen ist
lebendig das Aufeinanderwirken der Kinder verborgen: ein
wesentliches Moment im Kindergarten. Compayre* urteilt von
der Bedeutung des Spieltriebes : „Mit Fröbel ist das Spiel zum
wesentlichen Bestandteile der Erziehung und zur Kunst
geworden."
In der unscheinbaren Form des Spiels wird alles, was
der Entwicklung des Kindes geboten wird, sofort in den
ganzen Lebenszusamimenhang gebracht. „Dem Menschen
muß frühe die Natur in ihrer Einheit, als großes, lebendiges,
gleichsam einen Gedanken Gottes darstellendes Ganzes, als
eine Lebensgestalt dargestellt werden.*' Comenius geht in
seinem Einheitsgedanken, z. B. im Orbis pictus, von Gott aus
und zu Gott zurück durch Natur und Menschheit. Sein kon-
zentrischer Lehrgang ist nur insoweit naturgemäß, als im Kinde
durch die Anschauung Tätigkeit ausgelöst wird, welche auf
Selbstbeobachtung und Selbsterfahrung sich gründet. Fröbel
hingegen will nicht in die ganze Fülle des Seins, sondern in die
Elemente einführen.
Weil er das Kind als Glied der Menschheit erkennt, so
muß es frühe den höchsten Lebensgesetzen gemäß behandelt
werden; also muß auch in seinen Spielen und Spielmitteln
der Zusammenhang beachtet und jede Lücke vermieden werden.
Erziehung und Unterricht müssen, wie das Leben selbst,
ineinander greifen. Das im Spiel Dargestellte wird zum innersten
Regulator des Wissens und Könnens und hilft den Erziehern,
neue Probleme aus den gewonnenen Tatsachen zu ziehen, des
Kindes Horizont zu erweitern, ohne ihm künstlich etwas auf-
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Er$Ur Kongrtss f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 223
zudrängen. Dabei kommt's wenig auf eine große Ansammlung
von Kennmissen an, wohl aber darauf, daß sofort zu ver-
wertender Stoff da ist; denn sicherlich wird der Erwachsene
immer die passenden Mittel finden, wenn seine Kräfte ent-
faltet und gestählt sind.
Der echte Kindergarten, welcher solche Aufgaben erfüllt,
wird ein Vorbild für die Schule der Zukunft werden. Er ver-
dient das Interesse der Familie, die er zu ergänzen und zu unter-
stützen sucht ; er verdient das Interesse des Kinderpsychologen,
dessen Forschungsresultate er unmittelbar zur Ausgestaltung
und Weiterentwicklung der Fröbelschen Pädagogik verwerten
kann. Er verdient aber auch die Förderung der Sozialpädagogen
und Nationalökonomen: Er gewöhnt das Kind an den Um-
gang mit Menschen; er entwickelt alle sozialen Tugenden
und bekämpft die Einseitigkeit und die Fehler der
Familienerziehung, indem er zugleich das Familiengefühl zu
stärken sucht.
Er baut soziale Brücken, denn er sammelt die Kinder aller
Stände, aller Konfessionen, und — was heut unendlich wichtig
ist — er erzieht zur Freude an der Arbeit, indem er vom
Spiel, als dem Urtrieb menschlicher Tätigkeit, ausgeht und
das Kind auf die von der Natur selbst gesetzten Durchgangs-
stufen der Menschheitsentwicklung führt. Jedes Kind, jedes
Himmelsstrichs, nimmt freudig die gebotenen Fröbelschen
Beschäftigungsmittel auf, welche Wiederholungen der Tätig-
keiten der Rasse sind, durch die dieselbe ihre geistige und
manuelle Fertigkeit gewonnen. Sie sind zugleich auch Vor-
übungen, welche der spätere Arbeiter, ob Handwerker oder
Künstler, braucht. Als Beispiel nenne ich nur das Flechten.
Je mehr die Maschinen dem Menschen die rohe Arbeit
abnehmen, je weiter die Mechanik sich entwickelt, desto
wichtiger ist frühe Kräftigung und Verfeinerung der
Hand einerseits — und andererseits ist's wichtig, daß der
Arbeitende frühe, wie es das Fröbelsche System erzielt, zum
sittlichen Bewußtsein des Zusammenhangs seiner Arbeit mit
den Leistungen der Kultur gebracht werde.
Rednerin weist auf des Amerikaners Dewey interessantes
Buch, das die gleichen Gedanken vertritt und eine Reform der
Schule im Sinne Fröbels anstrebt. Er meint: „Ehe wir nicht
in den Jahren der ersten Kindheit und Jugend die Triebe des
224 Erster Konffresa f. Kinderforschung und Jugendfürsorge.
Schaffens systematisch ausbilden, ihnen eine allgemein soziale
Richtung geben, wozu der Kindergarten den Anfang macht,
eher sind wir nicht in der Lage, die Quelle unserer wirtschaft-
lichen Uebelstände einzudämmen, geschweige denn diese
Uebelstände gründlich zu beseitigen.*'
Wieviel mehr würde bei dem Streben, zur Hebung des
Volkes ihm die Kunst durch die Schule zu bringen, erreicht
werden, wenn man die von Fröbel der beweglichen Phantasie
des Kindes schon im Kindergarten gebotenen Mittel benutzte,
Schönheitsformen vom Kinde selbst schaffen zu lassen, und
so das ästhetische Genießen als innerliches Erleben ermög-
lichte; die Beschäftigungsmittel sind dazu wahre Zaubermittel.
Solange sich aber die Schule vorwiegend an den intellektuellen
Teil unserer Natur wendet, wird der Kernpunkt derselben nicht
berührt : Er offenbart sich nur im eigenen Tun. —
Alle, welche, wie Goethe, in der Kindheit von heute die
Menschheit von morgen sehen, werden vom Interesse am Kinde
auch auf die soziale Seite der Frauenbewegung hingewiesen
und als wichtigste Aufgabe derselben die Ausbildung von
Müttern und Kindergärtnerinnen, die ihren menschheitbildenden
Aufgaben gewachsen sind, erkennen. Denn „es ist Bestimmung
des Menschen, nicht nur instinktiv, wie die Tiere, sondern mit
Bewußtsein von Ziel, Weg und Mitteln der Erziehungskunst
zu wirken".
Mir scheint, daß die in die Wissenschaft der Mütter ein-
geführten Frauen wohl geeignet wären, der wissenschaftlichen
Kinderforschung Helferdienste zu tun. Meine jahrelangen Be-
obachtungen beim psychologischen und pädagogischen Unter-
richt im Fröbelseminar in Cassel beweisen mir immer wieder,
daß meine Schülerinnen — es sind junge Mütter und junge
Mädchen — für kaum ein Fach mehr Interesse haben als für
pädagogische Psychologie ; sie bildet das Zentrum allen Unter-
richts. Der Eifer tut wohl nicht alles — aber doch viel. Hieran
anschließend fordert Rednerin obligatorische weibliche Fort-
bildungsschulen, ein sozial - pädagogisches Ein jährig - Frei-
willigenjahr statt des Vergnügungspensions jahres und berichtet
von den erfreulichen Erfolgen, welche man in Cassel mit
solchem Reformpensionat habe, wie es schon vor 70 Jahren
Fröbel organisierte, „um geistig klare, still sinnige und praktisch
tätige Frauen zu bilden".
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Erster Kongress f. Kinderfonchung und Jugendfürsorge. 225
Die Entwicklung der Wissenschaften im allgemeinen und
die Kinderforschung im besonderen zeigt uns je mehr und
mehr, wie tief Fröbel in seiner Arbeit sah ; sein Werk gewinnt
im Lichte unserer Tage eine ganz andere, viel umfassendere
Bedeutung. Wir werden Schritt für Schritt zu dem Bekenntnis
gezwungen, daß er die ernste Berücksichtigung aller Kräfte,
ihre Ursachen und Endziele richtig erkannt und eingeschätzt
hat und den Weg gefunden hat, welchen wir, wollen wir die
Ergebnisse der Kinderforschung befolgen, einschlagen müssen :
den Weg, durch Produktivität den Geist auf die Höhe, den
Menschen zur Sittlichkeit zu führen. Dieses Naturevangelium
hat Fröbel gefunden. Deshalb verdienen seine Ideen auch
das regste Interesse und die kräftigste Förderung aller derer,
welche die Wissenschaft nicht nur als Selbstzweck lieben,
sondern die auch Tatmenschen genug sind, sie ans Leben
anzuknüpfen und für die Kultur der Menschheit dienstbar zu
machen.
Literatur: Hanschmann : „Fr. Fröbel und die Entwicklung seiner
Erzichungsidee in seinem Leben", Eugen Pappenheim: „Aufsätze über
Fr. Fröbel" und „Menschenerziehung und Pädagogik des Kindergartens"
von Fröbel, Ausgabe von Dr. W. Lange. Ziehen: ..Physiologie und Psycho-
logie", Wundt. „Grundriß der Psychologie", Ament: „Litcraturberichte"
und „Die Seele des Kindes".
Eine erste Blütezeit der Kinderseelenkunde um die
Wende des 18. zum 19. Jahrhundert.
Von
Dr. phil. Wilhelm Ament, Würzburg.
Die moderne, um das Kind entstandene Bewegung ist
nicht die erste. Die Beobachtungen von Tiedemann 1786
sind nämlich nicht die einzigen ihrer Art im 18. Jahrhundert
gewesen, die Kinderforschung erlebte vielmehr damals schon
als Folgeerscheinung des durch Rousseaus Emile 1762 an-
geregten Aufschwungs der Pädagogik im Philanthro-
pin i s m u s einerseits und des durch den philosophischen Empi-
rismus, namentlich Locke 1690, angeregten Aufschwungs der
Erfahrungsseelenkunde andererseits eine förmliche
erste Blütezeit, die aber bis auf wenige Spuren wieder in Ver-
gessenheit geriet. Nach einigen zerstreuten Vorläufern setzte
Zeitschrift für p&d&gogischo Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 5
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226 Ertter Ktmgrcss f. Kinder Forschung und Jugendfürsorge.
sie etwa zwischen 1770—80, namentlich mit Basedows und
Camp es Philanthropischem Journal „Pädagogische Unter-
handlungen" seit 1777 und Campes „Allgemeiner Revision
des gesamten Schul- und Erziehungswesens" seit (1784) 1785
ein und erstreckte sich in langer Entwicklungskette bis etwa
nach 1830. Tiedemann erscheint mit großer Wahrschein-
lichkeit in Abhängigkeit von Rousseau und den Philanthropen.
Ganz wie die moderne Bewegung begann die damalige zuerst
mit Kinderbeobachtungen und sogar Kindertagebüchern
(Pestalozzi, Tiedemann, Dillenius, Manchart,
Jean Paul u. a.) und führte über vergleichende Lebens-
geschichten (W eiller, Schwarz, Grohmann) schließlich
zu systematischen Gesamtvorstellungen (S i c k e 1 , Handel).
Daneben behandelte sie mancherlei Einzelfragen, mit Vor-
liebe, z. B. Fähigkeiten (Huart, Ruder, Garve, Nic-
meyer), Charaktere, Kindheitserinnerungen (Moritz,
Pockels) u. a. Dem Berufe nach sind die Kinderforscher
außer Pädagogen namentlich Philosophen bezw. Psychologen,
Acrzte, Theologen, aber auch diese vielfach mit pädagogischem
Interesse. Hinsichtlich der Methode trotz des frühen Rufes
T r a p p s nach Experimenten ( 1 780) und trotz einiger Kindertager
bücher im allgemeinen auf nichts weiter als der subjektiven
Gemeinerfahrung fußend, hatte sich die Kinderforschung jener
Tage in diesen Werken bald erschöpft und nicht die Kraft, sich
gegen den Ansturm der nach Kant wieder neu auflebenden
spekulativen Systeme, besonders jenes Herbarts, zu halten.
Mit der Erfahrungsseelenkunde wurde von diesen auch ihr
Sprößling hinweggefegt.
(Der Vortrag wurde durch tine Austeilung der Literatur
der Kinderseelenkunde von Locke 1690 bis Preyer 1882 in
Erstlingsausgaben ergänzt.)
Zur Frage der Kinderlügen.
Von
F. Kerns i es.
In einer Reihe von Vorträgen und Berichten hat der Verein
für Kinderpsychologie zu Berlin zur Frage der Kinderlügen
Stellung genommen und zurzeit 12 einschlägige Publikationen
unter dem gemeinsamen Titel : „Beiträge zur Psychologie und
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Erster Kongress f. Kindelforschung und Jugendfürsorge.
227
Pädagogik der Kinderlügen und Kinderaussagen" in der Zeit-
schrift für Pädagogische Psychologie herausgegeben. Die nach-
folgende kleine Untersuchung gthört in denselben Rahmen.
Eine Schlägerei zwischen achtjährigen Schülern auf dem
Schulhofe in einer Zwischenpause wurde zum Gegenstand eines
dreimaligen Verhörs der Beteiligten und ihrer Zeugen gemacht.
Der Vorgang war denkbar einfach und konnte aus den Zeugen-
aussagen mit großer Wahrscheinlichkeit rekonstruiert werden.
Zwei Schüler Ka und Ki liefen beim Spiel unabsichtlich gegen-
einander, worauf sofort die Tätlichkeiten begannen, nämlich
je ein Schlag mit der Hand, darauf ein verhängnisvoller dritter
Schlag, der Ka s Nase traf, so daß sie blutete. Es lassen sich
drei Phasen mit je vier Momenten unterscheiden. Die drei
Verhöre beziehen sich nur auf die Handlungen und Vorgänge,
nicht auf die begleitenden Uimtände, Worte oder die räumh
liehe Umgebung; sie liegen zeitlich ca. je vier Monate aus-
einander.
Die Angaben variieren sowohl bei den zwei Hauptpersonen
wie bei den Zeugen, wie es scheint, in typischer Weise. Der
Kern der Handlung, die drei Schläge, ist fast in Frage gestellt,
während das Nasenbluten nicht bestritten wird. Bemerkens-
wert ist das Verhalten des einen Zeugen, der in der zweiten
Vernehmung Personen und Vorgänge verwechselt, jedoch vier
Monate später in der dritten Vernehmung die zweite Aussage
für unrichtig in allen Teilen erklärt („er verstehe sich selbst
nicht"), und die ersten Aussagen vor 7 1 /» Monaten für die allein
zutreffenden gehalten wissen will. Die Momente der ersten
Phase sind allgemein besser behalten, obwohl sie nichts Cha-
rakteristisches besitzen. Die Momente der zweiten und dritten
Phase sind teilweise in der Erinnerung ausgelöscht und durch
suggerierte, oder hineinexaminierte Vorstellungen ersetzt.
Es wird gefolgert, daß der Trozeß der Ausgestaltung erner
Aussage nach der sachlichen und sprachlichen Seite hin eine
wissenschaftliche Leistung ersten Ranges ist, für die Kinder
von acht Jahren nicht befähigt erscheinen; vielmehr sind sie
-als ganz unzuverlässige Zeugen anzusehen.
5*
Sitzungsberichte
Berliner Verein für Schulgesundheitspflege.
Sitzung vom 30. Oktober 1906, abends 8 Uhr,
im Bürgersaal des Rathauses.
Vorsitzender : Herr A. B a g i n s k y.
Schriftführer: Herr Th. Benda.
Herr B a g i n s k y eröffnet die erste Sitzung des Wintersemesters,
teilt mit, daß eine Reihe recht wichtiger Themata vorliege und gibt der
Hoffnung auf regen und lebhaften Zuspruch seitens der Mitglieder Aus-
druck. Alsdann widmet er dem verstorbenen Geheimrat Hermann
Cohn- Breslau, „einem der besten Kämpen auf dem Gebiete der
Schulhygiene", warmherzige Worte ehrenden Gedenkens. Cohn beschäf-
tigte sich auch, wie Baginsky hervorhebt, sehr wesentlich mit der Frage
der Schulärzte. Nach einem von ihm über die Einführung der Schulärzte
gehaltenen Vortrage ist die Schularztfrage nicht wieder aus den Debatten
geschwunden. Der Vorsitzende bat die Anwesenden, sich zu Ehren des-
Verstorbenen von den Plätzen zu erheben. (Geschieht.)
Alsdann sprach Zahnarzt Dr. Paul Ritter über :
„Die Bedeutung einer gesunden Mundhöhle
für die allgemeine Gesundhei t'\
Zu den Pflichten des Arztes gehört es, das große Publikum darauf
aufmerksam zu machen, wie es hygienisch richtig lebt. Die. meisten der
Infektionskrankheiten werden durch Sproßpilze hervorgerufen, deren Schäd-
lichkeit festgestellt ist. Auch in der Mundhöhle entfalten diese Pilze eine
für den örtlichen wie für den allgemeinen Gesundheitszustand höchst be-
deutsame Rolle. An einem an sich gesunden Gewebe können sie keine
Schädlichkeiten anrichten; dazu gehört ein locus minoris resistentiac. Durch
hohle Zähne und entzündetes Zahnfleisch wird eine Ansammlung der Pilze
befördert. Die Zähne bleiben nur so lange gesund, als sie von dem um-
gebenden Zahnschmelz geschützt sind. Gehen Speisereste in Zersetzung
über, so bilden sich chemische Stoffe, Säuren, welche die Oberfläche der
Zähne angreifen und dem Eindringen der Bakterien freie Bahn schaffen.
Infolgedessen bildet sich die Zahnkaries, die häufigste aller Erkrankungen.
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[
BilzungtbericJite. 229
Als Tolgen der Zahnkaries treten auf Zahnschmerzen, Gesichtsschmerzen,
Ohrenschmerren, Abszeßbildungen, Kiefererkrankungen, langwierige Fisteln:
auch Lymphdrüsenschwellungen kommen häufiger vor. Seltener werden
die Nachbarorgane der Mundhöhle, wie die Oberkieferhöhle, betroffen.
Die Vorteile einer gesunden Mundhöhle für die allgemeine Gesund-
heit sind außerordentlich groß, eine gesunde Mundhöhle wird wesentlich dazu
beitragen, das Individuum gesund und kräftig zu erhalten. Infolge schlechter
Zähne entstehen durch das Hinunterschlucken nicht gekauter Speisen Magen-
und Darmerkrankungen, Appetitlosigkeit, in deren Folge Blutarmut und
iVervosität auftreten. Es kommen die Schädigungen hinzu, die für die Armungs-
organ e durch den die Mundhöhle passierenden Luftstrom herbeigeführt
werden. Bei Erkrankungen in der Mundhöhle ist die Möglichkeit der
Erwerbung ansteckender Krankheiten besonders groß, so der Tuber-
kulose, Diphtherie, Influenza. Eine besondere Bedeutung hat die Mund-
hygiene bei der Akquisitkm und Propagation der sogenannten Gewerbe-
krankheiten, vor allem der Phosphor-, Blei- und Quecksilbervergiftung.
Die Gifte können nur dann festen' Fuß fassen, wenn ein gut
präpariertes Feld in der schlechten Mundhöhle gegeben ist. Einige
Krankheitsbehandlungen lassen sich bei schlechten Zähnen fast gar nicht
durchführen, weil das Medikament auf die Mundkrankheit verschlimmernd
wirkt. In erster Linie trifft dies bei der Behandlung der Syphilis mittels
Quecksilber zu.
Aus alledem folgt die dringende Notwendigkeit einer sachgemäßen
Mundpflege und frühzeitigen Behandlung von Zahnkrankheiten, die schon
bei dem Kinde einsetzen muß. Erkrankte Zähne müssen gefüllt und, wenn
dies unmöglich, entfernt werden. Die Einführung von Schulzahnärzten ist
dringend erforderlich, und wenn auch bisher der Antrag Ritter in der Stadt-
verordnetenversammlung keinen Erfolg hatte, so ist doch das Interesse für
diese Frage wachgerufen worden und wird erhalten bleiben, bis der An-
trag verwirklicht ist. Die Statistik der Untersuchungen der Kinder hat
traurige Resultate ergeben, und es steht fest, daß die Karies die ver-
breitetste Krankheit ist, die wir kennen, und besonders auf den jugendlichen
Körper von sehr schädigendem Einfluß ist. Es ist ferner eine bekannte
Tatsache, daß mit Zahnschmerzen behaftete Kinder dem Unterricht nur
sehr schwer folgen können, unaufmerksam sind und häufig aus der Schule
fortbleiben, so daß also auch die Schulmänner an der Lösung der Schul-
zahnarztfrage großes Interesse haben müssen.
In der Diskussion weist Herr Dr. Auerbach auf die Momente
hin, welche die Bildung der Zähne erschweren bezw. schlechtere Zähne bei
den Kindern entstehen lassen (Rhachitis), und führt besonders an, daß die
nicht gestillten Kinder schlechtere Zälme haben wie die natürlich ernährten.
Herr Schularzt Dr. Cohn sieht die Ursache des schlechten Zustandes
der Schulkinder besonderers darin, daß unser Volk in hygienischer» Be-
ziehung: leider völlig ununterrichtet ist. In achtjähriger schulärztlicher Tätig-
keit hat er kaum i °/o der Kinder mit gesunden Zähnen gefunden. Die
Mütter wissen nicht, wie sie die Zähne der Kinder pflegen müssen, zudem
werden die Kinder unzweckmäßig ernährt. Auch nach der zweiten Den-
tition läßt die Zahnpflege noch sehr viel zu wünschen übrig. Die Schul-
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Sitzungsberichte.
ärzte hätten die Pflicht, immer und immer wieder die Kinder auf die Pflege
der Zähne hinzuweisen, und die Kommunen werden' nicht umhin können, die
Errichtung von Schulzahnkliniken anzustreben.
Herr Rektor Rupnow hält es für ausreichend, wenn der Schularzt
und der Lehrer für die Aufklärung der Kinder sorgen, hauptsächlich in
prophylaktischer Beziehung betreffs der Art der Ernährung, der Warnung
vor allzu heißem Essen und Trinken usw. Eine unentgeltliche oder billige
Stelle für die Zahnbehandlung wäre allerdings sehr wünschenswert.
Herr Dr. Lennhoff will im Gegensatz zum Vorredner nicht zu viel
der Selbsthilfe anvertrauen; wenn die Selbsthilfe nicht genug g?übt
wird, so muß ein gelinder Zwang ausgeübt werden. Der Schulzahnarzt soll
nicht ein integrierender Teil des Schulkörpers werden.
Herr Zahnarzt L i p s c h ü t z verweist auf die Schulzahnkliniken in
Straßburg und vielen anderen Orten Deutschlands, deren glänzende Erfolge
er hervorhebt. Nach zahlreichen Erfahrungen werden die Kinder infolge
der Zahnbehandlung für den Unterricht wieder aufnahmefähig gemacht,
und es ist femer festgestellt, daß die Zeit, welche die kranken Kinder
zur Behandlung nötig hätten, nicht so umfangreich ist wie die Zeit, welche
die Kinder von der Schule wegen Zahnschmerzen fortbleiben müßten.
Beklagenswert ist es, daß in Berlin keine einzige Stellej geschaffen ist,
wo die Kinder unentgeltlich zahnärztlich behandelt werden können.
Herr Piper betont die Bedeutung der Zahnpflege mit Rücksicht
auf die Sprachentwicklung; besonders groß ist der W>rt der Zahnpflege
bei den Stammlern.
Herr Zahnarzt Lazarus vertritt den Standpunkt, daß die Kranken-
kassen die Schulzahnkliniken einrichten müßten'.
Herr Rektor U 1 b r i c h tritt ebenfalls dafür ein, daß die Kommunen
die Schulzahnkliniken errichten müssen; er hat auch Bedenken, außer dem
Schularzt noch einen Zahnarzt in die Schule hineinkommen zu lassen.
Frl. Dr. P r o f 6 beklagt die mangelnde Ausbildung der Lehrkräfte
in Anatomie und Physiologie, denn auf diesen Fächern baut sich die
Hygiene auf.
Herr Oberlehrer Dr. Junge hält die Belehrung der Kinder durch
den Zahnarzt für ersprießlicher als durch den Lehrer.
H err Prof. Baginsky erachtet es nicht für zweckmäßig, mit direkten
Anträgen an die Behörden betreffs Schulzahnkliniken zu gehen. Er be-
tont noch, daß es nach Auffassung der Kinderärzte keine. Erkrankungen
infolge der Dentition gibt.
In seinem Schlußwort erwidert Herr Dr. Ritter, daß die Ge-
lehrten sich über die Frage, ob es Erkrankungen infolge des Zahnwechscls
gibt, noch nicht einig sind. Die Stadt Berlin wird, nicht die Möglich-
keit haben, alle zahnkranken Kinder behandeln zu können. Die anzu-
stellenden Schulärzte sollen nur die Untersuchungen vornehmen und die
Eltern auf die Defekte der Gebisse aufmerksam machen. Für wohlhabende
Leute und JVbhlfahrtsinstirute ist hier ein weites Feld gegeben, Legate zur
Errichtung von Schulzahnkliniken zu spenden. Diese Institute könnten'
sicher auf städtische Zuschüsse rechnen.
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SiUungtbaricht*. 231
Den zweiten Vortrag hielt alsdann Herr Baginsky über die Frage:
„Soll man während des Unterrichts im ^Sinter die
Fenster öffnen?"
Der Referent kommt zur Verneinung dieser Frage. Die teil» infolge
der Ausatmung der vielen Kinder, teils durch Ueberhitzung schlechte Luft im
Schulzimmer bedarf allerdings der Erneuerung. Die natürliche Lüftung durch
die Fensterlücken und durch die Wände und Türen reicht für ein Schul-
zimmer nicht aus, wenn eine Anzahl Kinder vorhanden ist. Wird jedoch ein
Fenster geöffnet, so dringt die kalte Luft in das Zimmer hinein, senkt
sich zunächst auf den Boden, drückt allmählich die warme Luft in die
Höhe und treibt diese hinaus. Es kommt in jedem Falle ein Luftstrom
zustande, der in dem Maße stärker ist, als die Differenz zwischen der
kalten Außenluft und warmen Innenluft groß ist. Im Sommer, gibt es
kaum eine Differenz, deshalb nützt im Sommer oft das Ocffnen der Fenster
gar nichts. Im Winter tritt dagegen ein mächtiger Luftstrom auf beim
Oeffhen der Fenster, ein Luftstrom, der sich schon geltend macht durch die
Wände hindurch, nur nicht so fühlbar ist, weil hier die Widerstände so groß
sind, daß der Luftstrom zum Teil aufgehalten wird. Durch das Oeffnen der
Fenster kommt es infolge des rapiden Luftwechsels zu heftigen Erkäl-
tungen derjenigen Schulkinder, die am Fenster sitzen. Die Bazillen werden
infolge der durch die Erkaltung herbeigeführten Unregelmäßigkeit in der
Zirkulation mobil gemacht und es kommt je nach dem locus minoris re-
sistentiae zu Halsentzündungen, Brustfell-, Lungen-, Ohrenentzündungen usw.
Der Lehrer kann sich in der Klasse bei geöffnetem Fenster bewegen,
während die Kinder an ihren Plätzen sitzen bleiben müssen. Die künst-
lichen Lüftungsverfahren, wie Aspirations Ventilation, Padsionsventilatian sind
bisher nur in sehr wenigen Schulen eingeführt, sie erfüllen auch oft ihren
Zweck 'nicht; ihre Funktion wird sofort vernichtet, sobald ein Fenster
aufgemacht wird. Referent tritt deshalb nachdrücklich dafür ein, die Fenster
im Winter während des Unterrichts geschlossen zu halten und nur
während der Zwischenpausen öffnen zu lassen. Zulässig ist allenfalls das
Oeffnen hochgelegener Fensterklappen, durch welche die Luft im Zickzack
langsam eindringen kann.
In der Diskussion hebt Herr Dr. Auerbach hervor, daß
Lüftungsanlagen wegen ihrer Kostspieligkeit in den Schulen unverwendbar
sind. Bei Klappeneinrichtungen an den Fenstern kann!, wo Zentralheizung
vorhanden, die eintretende Luft vorgewärmt werden.
Herr Direktor Kemsies wirft die Frage der Abhärtung auf; er
kennt bei seinen Schülern keine Krankheitszustände, die infolge des
Ocffnens der Fenster herbeigeführt sind.
Herr Schularzt Dr. Cohn bestätigt, daß die künstlichen Lüftungs-
anlagen oft versagen, die Heizung der Schulzimmer ist meist unzu-
reichend. Die Klappenvorrichtungen an den oberen Fenstern funk-
tionieren meist sehr gut, aber sie reichen nicht aus. Während des größten
Teiles des Jahres ist es nach seiner Meinung möglich, die Fenster zu
öffnen. Notwendig sei eine bessere Ausnützung der Zwischenpausen, die
nach 45 Minuten Unterricht stets auf zehn Minuten bemessen werden
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Sitzungsberichte.
sollten. Bei solcher Einteilung würde jede Ventilationsanlage überflüssig
werden.
Herr Prof. Keesebiter tritt ebenfalls dafür ein, die Pausen, zur
guten Lüftung des Schulzimmers zu verwenden.
Herr Rektor Rupnow empfiehlt, falls das Ocffnen der Fensler
während des Unterrichts unvermeidbar sei, die Kinder sich während dieser
Zeit im Klassenzimmer bewegen zu lassen.
Sitzung vom 20. November 1906, abends 8 Uhr,
im Architcktenhaus.
Vorsitzender : Herr K e m s i e s.
Schriftführer: Herr Th. Benda.
In seinem Vortrage über:
„Schule und Tuberkulose"
ging Professor Dr. Th. Sommerfeld davon aus, daß man die Tuber-
kulose, diesen mächtigen Feind der Menschheit, von allen Seiten zu um-
zingeln und zu erdrücken suchen nmß und daß hierbei der Schule, die
in diesem Kampfe noch ziemlich abseits steht, eine wesentliche Rolle mit-
zuspielen bestimmt ist. Nach der preußischen Sterbestatistik ergibt sich
zweifellos, daß sich andauernd in jeder Schule stets eine recht erhebliche
Anzahl von tuberkulösen Kindern befindet. Der zahlenmäßige Nachweis,
inwieweit die Schule als Quelle der Infektion in Betracht kommt, ist
allerdings recht schwer zu erbringen. Jedenfalls kann die Schule zur
mittelbaren und selbst zur unmittelbaren Quelle der Tuberkulose werden.
Es ist deshalb unerläßlich, daß Schädlichkeiten ferngehalten werden,
welche den Körper schwächen. Dies kann die Schule bewirken, indem
sie einerseits ihre eigenen Verhältnisse möglichst günstig ausgestaltet,
andererseits durch Belehrung die Zöglinge zur gcsundhcitsgcmäßcn Lebens-
weise anhält.
Die Luft im Schulzimmcr muß andauernd gut sein; das Tageslicht
muß bequem Eingang finden, da die Sonne ein vortreffliches Desinfektions-
mittel ist, um die Bazillen unschädlich zu machen. Decken, Wände und Boden
des Zimmers müssen abwaschbar sein. Der Fußboden muß täglich gründ-
lich gereinigt werden. Tische und Bänke müssen behufs Reinigung ver-
schiebbar sein. Die Kinder dürfen selbstverständlich nicht selbst die Rei-
nigung übernehmen, was auf dem Lande noch vielfach geschieht. Auf
Lüftung und Heizung des Schulzimmers ist sorgfältig acht zu geben. Die
Temperatur der Klasse ist im allgemeinen auf 15 0 R zu erhalten; nicht
der Kalender, sondern die Witterungsverhältnisse müssen hier ausschlag-
gebend sein. Die Luft darf nicht zu trocken sein, um eine Reizung der
Luftwege zu verhüten. Von hoher Bedeutung ist die Besetzung der
Schulräumc und die Haltung der Kinder. Ein Luftkubus von 45 cbm pro
Person ist zu verlangen. Die Fenster müssen in jedem Falle in tden
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Sitzungsberichte. 233
Zwischenpausen geöffnet werden, die Kinder müssen das Schulzimmer in
der Pause verlassen ; bei ungünstiger Witterung müssen sie sich in hellen,
gut gelüfteten Korridoren oder in besonderen Wandelgängen aufhalten.
Als Ausgleich gegen die schädliche Haltung kommt ferner die zweckmäßige
Einrichtung der Schulbänke in Betracht. Lehrplan und Lehrmethode sind
darauf zuzuschneiden, daß eine Ucberbürdung der Kinder vermieden wird
und ihnen Zeit bleibt, sich im Freien zu ergehen. Zweckmäßig geleiteter
Turnunterricht, Schulausflüge, in mäßigen Bahnen gehaltener Schwimm-
und Rudersport sind von nöten. Diese Maßnahmen können der Tuber-
kulose einen gewissen Damm entgegensetzen.
Eine fernere Aufgabe der Schule ist es, die Kinder mit der gesund-
heitsgemäßen Lebensführung vertraut zu machen. Der Tuberkulose ist
im naturwissenschaftlichen Unterricht mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Die Kinder sind über das Wesen d.-r Tuberkulose und die Weg;?
ihrer Verbreitung aufzuklären, damit sie sich selber schützen und andere
nicht .gefährden. Die Schule muß die Tubcrkulosefälle ihrer Zöglinge
kennen, sie muß sich diese Kenntnis verschaffen durch eine systematisch
durchgeführte Musterung der Kinder und ständige Kontrolle seitens des
Schularztes. Das sich zur Schulaufnahme meldende tuberkulöse Kind ist
von der Einschulung zurückzustellen. Ist ein eingeschultes Kind während
der Schulzeit erkrankt, so sind die Eltern über den' Befund in Kenntnis
zu setzen; der Schularzt muß die Eltern aufklären und' mit ihnen die
Maßnahmen zur Heilung des Kindes beraten. Entleert das Kind Aus-
wurf, so muß es vom Schulbesuch ferngehalten werden, bis die Absonde-
rung aufgehört hat. Ist diese Maßregel nicht durchführbar, so; müssen
diese Kinder vom Lehrer sorgfältig beobachtet werden, das freie Ent-
leeren des Auswurfs oder das Speien in das Taschentuch) ist ihnen bei
Sirafr zu verbieten. Die Anschaffung von Spuckfläschchcn ist anzuordnen,
bei Bedürftigkeit der Eltern müssen diese Fläschchen von der Stadtver-
waltung zur Verfügung gestellt werden. In den Schulzimmern und Korri-
doren sind Spucknäpfe aufzustellen und deren Benutzung zu überwachen.
Den Kindern ist zu verbieten, sich mit Bleistiften und Federhaltern aus-
zuhelfen, weil diese Gegenstände noch oft in den Mund genommen werden.
Die Benutzung gemeinsamer Trinkbecher ist streng zu verbieten. Sache
der »Schulleitung ist es, tuberkulöse Lehrer so lange von der Schule fern-
zuhalten, bis ihr Auswurf aufgehört hat. Dem Schularzt soll,* wie bereits
erwähnt, die Pflicht obliegen, die Eltern über die einzuschlagende Behand-
lung der Kinder zu unterrichten. Es stehen Lungenheilstätten, Scehospize,
Ferienkolonien, Walderholungsstätten, Waldschulen zur Behandlung zur
Verfügung. Die Bedeutung der Ferienkolonien ist sehr gering, weil die in
Frage kommende Zeit zu kurz ist, um einigermaßen Erfblg i zu erzielen.
Das gleiche gilt von den Seehospizen, wenn nicht von vornherein auf
eine Kurdauer von 3 — 6 Monaten Bedacht genommen ist. Am zweck-
mäßigsten sind die Lungenheilstätten, deren Zahl in Deutschland noch sehr
klein ist. Als Notbehelf für diese wirken die Walderholungsstätten recht
günstig. Eine große Bedeutung kommt auch den Waldschulen zu, deren
L'nterricht keineswegs die Wirkung der Kur beeinträchtigt.
Als letztes Geschenk kann endlich die Schule noch den Kindern
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Sitzungsberichte.
ihren Beistand leihen bei der Wahl des Berufs. In einem gemeinsamen
Konsilium mit dem Schularzt und den Eltern soll diq künftige Beschäf-
tigung für die zu entlassenden Knaben und Mädchen ausgewählt werden.
Nach alledem ist also die Schule imstande, bei der Bekämpfung der
Tuberkulose eine recht wichtige, zuweilen eine führende Rolle zu spielen.
Daß sie dieses mit allergrößter Sorgfalt tun muß, dazu müßte sie die ein-
fache ErHvagung drängen: „Wer für unsere Kinder sorgt, sorge für die
Zukunft I"
Alsdann gab Herr Direktor Professor Kemsies einen Bericht über
den Eindruck der vom Verein gestifteten Gesundheitsregeln auf Realschüler.
Die Art der Abfassung der Regeln erschien den Schülern sehr inter-
essant; alle Schüler haben die Tafeln gern und mit Interesse gelesen.
In der Unter- und Obertertia wurden die Tafeln zum Gegenstände einer
halbstündigen Besprechung gemacht. Nach einem halben Jahre wurde
festgestellt, was die Schüler davon behalten hatten. Es wurde ein Be-
richt in Form einer Klassenarbeit den Schülern aufgegeben, auch
wurden die Tafeln zum Gegenstand eines Verhörs gemacht. Die Kinder
gaben an, daß die Regeln schwer zu erlernen seien, weil ihnen die
Gruppierung fehle; sie fügten auch einige neue Regeln hinzu, wie den
täglichen Spaziergang. Beim Verhör ergab sich, daß die Schüler alles
wußten, was in den Regeln stand. Die Nichtbeachtung der Regeln bezog
sich .hauptsächlich auf Alkohol und Nikotin; alle Schüler hatten schon
geraucht. Durchgehends forderten die Schüler eine Begründung der
Regeln.
Redner faßt seine Ausführungen dahin zusammen: Bei einer Neu-
anlage der Tafeln sollte berücksichtigt werden: i. die Uebersichtlichkdt
der Anordnung; 2. die Ergänzung der Regeln; 3. diej Begründung der
wichtigsten Regeln. Redner empfiehlt noch, derartige Enqueten auch in
anderen Schulen vorzunehmen, da sich hierdurch eine Feststellung über
das hygienische .Wissen und Verständnis verschiedener Altersstufen er-
möglichen lassen werde.
In der beiden Vorträgen gemeinsamen Diskussion weist
Dr. Radziejewski darauf hin, daß die bei den Realschülern erzielten
Erfolge bei den Gemeindeschülern nicht zu erwarten stehen, da den letz-
teren im Hause keine Anregung zur Betätigung der Regeln gegeben werde.
Zunächst müsse für die Kreise gesorgt werden, welche erst hygienisch er-
zogen werden sollen.
Schularzt Dr. Bernhard ist der Ansicht, daß die Merktafeln, nur
verdienstvoll wirken können, wenn sich Lehrer und Leiter der Schulen
finden, die sich auch darum kümmern, das Wissen in die Köpfe der
Kinder zu bringen; auch der Schularzt kann zur Verbreitung des hygie-
nischen Wissens bei seinen Schulbesuchen beitragen. In dem Kampfe
gegen die Tuberkulose ist seitens der Schulen bisher noch nichts geleistet
worden, obwohl die Zunahme der Sterblichkeit gerade im schulpflichtigen
Alter vom 6.— 15. Jahr eine sehr erhebliche ist. Die tuberkulösen Kinder
werden zwar ran der Einschulung zurückgestellt, müssen aber nach A!>-
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Sitzungsberichte.
lauf des gewährten Urlaubs, selbst wenn sich der Zustand nicht wesent-
lich gebessert hat, doch einmal eingeschult werden. Die Infektion findet
bei 4er Mehrzahl der Kinder nicht in der Schule, sondern im Hause statt ;
deshalb werden ohne staatliche Wohnungsaufsicht kaum Erfolge zu
erzielen sein.
Dr. Lennhoff hält es für notwendig, das Erforderliche im Kampfe
gegen die Tuberkulose mit aller Schärfe zu betonen; ob zurzeit durch-
führbar oder nicht, dürfe keinen Gesichtspunkt bilden, die Forderung
nicht vorzubringen. Die Merktafeln sollten in den Schulen immer wieder von
neuem eingeprägt werden.
Alsdann werden noch einige Vorschlage zur weiteren Verbreitung der
Gtsundheitsregeln gegeben. Es wird empfohlen, die Gesundheitsregeln den
Eltern bei Einschulung der Kinder zu geben, bei den Elternabenden von
den Schulärzten Vorträge über die Regeln halten zu lassen, auch in der Form
von Merkblättern in den höheren Schulen diese Tafeln anzubringen; durch
den Verein zur Anregung zu bringen, daß den Kindern Aufsätze über einzelne
Regejn gegeben werden, daß überhaupt in den Gemeindeschulen der Gesund-
heitspflege im Anschluß an den Lehrplan ein besonderer Raum gewährt
werden möge. ^
Direktor Kemsies weist noch auf die Möglichkeit hin, die Regeln
als Wandfries in den Klassen zu geben oder auch in die Schreibhefte
eindrucken zu lassen.
Sitzung vom 4. Dezember 1906, abends 8 Uhr,
im Hofmannhaus, gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft
für öffentliche Gesundheitspflege.
Herr Wehmer eröffnet die Sitzung mit dem Hinweis, daß die beiden
Vereine beute zum dritten Male zusammen tagen, und spricht die Hoff-
nung aus, daß die gemeinsame Arbeit wieder wie bisher besonders anregend
wirken möge. ^
Alsdann sprach Sanitätsrat T h. B e n d a über :
„H ygienische Trink Vorrichtungen."
Hedner weist auf die großen gesundheitlichen Schädigungen hin, die
durch einen gemeinsamen Trinkbecher in den Schulen, in Fabriken, auf
den Bahnhöfen usw. angerichtet werden können. Diese Schädigungen liegen'
in der Uebertragung ansteckender Krankheiten, wie dies für den Abend-
malilkelch Prof. Möller in seinen Untersuchungen dargetan hat. Redner
hat durch den Bakteriologen Dr. Paul Sommerfeld prak-
tische Untersuchungen anstellen lassen, um nachzuweisen, daß das Ab-
spülen der Trinkbecher zur Ausschließung der gesundheitlichen Gefahren
nicht genügt. Die Experimente wurden an drei Fällen von Diphtherie — zwei
frischen Fällen, einem Rekonvaleszenten — angestellt. In allen Fällen
erwies sich das zweimalige Spülen der Becher als durchaus ungenügend,
denn in einem Falle fanden sich an dem Rand des Glases zahlreiche Diphtherie-
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. 236
SitzungsbericlUe.
bazillen, in allen Fällen aber fanden sich mehr oder weniger zahlreiche Kokken,
darunter auch solche pathogener Natur. Deshalb ist der gemeinsame
Trinkbecher überall da, wo er nicht gründlich gereinigt werden kann,
zu beseitigen. Von den besonders für die Schulen gemachten Verbesse-
rungsvorschlägen verwirft Redner die Anordnung eines eigenen, in einem
verschlossenen Schulschrank aufzubewahrenden Bechers für jeden Schüler,
da auch hier die gründliche Reinigung aller Becher nicht vorgenommen
werden könnte; er hält ferner den Papierbechcr für unannehmbar, der
monatelang mit Speichel und Speiseresten täglich verunreinigt und naß
in einem Kuvert herumgetragen wird. Auch die Kosten — drei Pfennig
inkl. ,Kuvert — würden sich bei zweimonatlichem Wechsel des Bechers
zu hoch stellen. Auch ein dritter Vorschlag, die Hohlhand zum Trinken
zu benutzen, muß abgewiesen werden, da die menschliche Hand stets
stark bazillär verunreinigt ist. Dagegen empfiehlt er als einzige hygienisch
einwandfreie Trinkart zur Versorgung größerer Menschenmassen das Trinken
von sprudelndem Wasser direkt ohne Vermittlung eines Trinkgefäßes.
Derartige Einrichtungen bestehen bereits in Italien, in den Vereinigten
Staaten, je eine in Berlin (Kgl. Luisengymnasium in Moabit) und in Wien
in einer Staatsrealschule. Das Wesentliche der Einrichtung besteht darin,
daß aus einem Becken ein feiner Wasserstrahl bis zur Höhe von 5—10 cm
emporsteigt, in einem kleinen Bogen in das Becken zurückfällt und in das
Abflußrohr geht. Der Trinkende hat nur den Kopf über den Wasser-
strahl zu beugen. Der allgemeinen Verbreitung dieser Brunnen stehen die
bedeutenden Anschaffungskosten entgegen, da für größere Menschenmassen
natürlich nicht ein Brunnen mit einem Wasserstrahl ausreicht; im Winter
sind diese im Freien stehenden Trinkquellen in unserem Klima völlig unge-
eignet.
Redner schlägt eine Konstruktion vor, die das Prinzip der Trink-
brunnen in ganz vereinfachter Form beibehält, unabhängig von der Jahres-
zeit funktionieren kann und finanziell und bautechnisch leicht ausführbar
ist. In Schulen, Fabriken, Kasernen usw. sollen an den Wänden der
Korridore im Anschluß an die Wasserleitung oder in Verbindung mit einem
Reservoir nach aufwärts gebogene Röhren, etwa zehn nebeneinander, von
geringem Querschnitt (3 mm) angebracht werden, aus denen feine Wasser-
strahlen emporsteigen und in ein allen gemeinsames Abflußbecken zurück-
fallen. In den Schulen braucht das Wasser nur während der Zwischen-
pausen zu strömen, in Fabriken, Bahnhöfen müßte der Verschluß jedesmal
geöffnet werden. Auf den Straßen ließen sich solche Trinkquellen leicht
am Rande der Springbrunnen, an der Fassade der Häuser, oder für den
Winter z B. in den Wartehallen für Straßenbahnen anbringen. Der Wert
der Einrichtung ist ein mehrfacher: sie ist hygienisch einwandsfrei, der
Trinkende wird durch sie zu rationellerem Trinken gezwungen; in ge-
sundheitsschädlichen Gewerbebetrieben wird das so dringend erforderliche
Mundausspülen sehr erleichtert; und schließlich wird vielleicht infolge dieser
Einrichtung dem Alkoholismus entgegengewirkt.
1
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237
Alsdann spricht Herr E. Haumann, Direktor an der Pflichtfort-
Mdangsschule, über das Thema:
„Die Organisation der Berliner Pflichtfortbildungs-
schule und die Anforderungen, die sie an die Arbeits-
kraft der Schüler stellt."
Redner geht davon aus, daß sich zutreffende Schlüsse betreffs des
zweiten Teiles des Themas nur aus der genauen Kenntnis der Verhält-
nisse aeben lassen, und gibt deshalb eine ausführliche Uebersicht über
die Organisation der Pflichtfortbildungsschule, deren inneres Wesen
und ihre Aufgaben Höhere Anforderungen an Wissen und Können, anderer-
seits aber mangelnde Gelegenheit zu ihrer Erlangung haben mit Not-
wendigkeit zur Errichtung der Pflichtfortbildungsschule geführt, welche im
Gegensatz zur allgemein bildenden Schule, der Gemeindeschule, eine Be-
rufsschule ist, ihre Wissensstoffe nur aus dem Beruf entnimmt oder nur
auf den Beruf bezieht. Der Unterricht in der Pflichtfortbildungsschule
bietet dem Lehrling eine Ergänzung der Meisterlehre in technologischer,
kaufmännisch- wirtschaftlicher und staatsbürgerlicher Hinsicht. Durch die
Stoffauswahl und die Art des Unterrichts wird dafür gesorgt, daß an die
Arbeitskraft der Schüler nicht zu große Anforderungen gestellt werden.
Die Schüler haben wöchentlich vier Stunden, falls sie am Zeichnen teil-
nehmen müssen, sechs Stunden Unterricht. Die Bestimmung der geeig-
netsten Zeit für den Unterricht ist in vielen Fällen sehr schwer. Am
zweckmäßigsten wäre natürlich, den Unterricht früh, vor der Arbeit in
der Werkstätte, zu erteilen. Die feste Regelung der Unterrichtszeiten wird
sich erst ermöglichen lassen, wenn die Pflichtfortbildungsschule über
eigene Lehrer und eigene Schulhäuser verfügen wird. Die Pflichtfoit-
bildungsschule ist nicht nur eine Angelegenheit bestimmter Berufskreise,
sie ist eine Angelegenheit der Allgemeinheit, und deshalb kann, sie nur
gedeihen, wenn sie getragen wird von der verständnisvollen und opfer-
willigen Teilnahme und Fürsorge aller Kreise der Bevölkerung. Die
Schulhygicniker werden bei der Betätigung ihres Interesses für die
Pflichtfortbildungsschule im allgemeinen auch leicht die besonderen Auf-
gaben für ihre Bestrebungen auf dem Gebiete der SchulgesundheitspfU go
herausfinden.
Diskussion:
Herr Dr. Muskat wünscht Auskunft über die Strafmittel der Di-
rektoren, um Störungen des Unterrichts zu verhüten.
Herr Direktor Haumann erwidert, daß bisher in sehr wenigen
Fällen Schwierigkeiten entstanden sind. Meist genügte eine väterliche Er-
mahnung seinerseits, wenn die Kraft des Lehrers nicht ausreichte, dem
Schüler sein Unrecht zu zeigen. Die Pflichtfortbildungsschule kann nur
als Berufsschule vor den Schwierigkeiten der Disziplin bewahren; natürlich
kommt alles auf die Persönlichkeit des Lehrers an. Dem Lehrling soll
die Schule eine Heimstätte werden. Strafen können gegen die Arbeitgeber,
Schüler und eventuell auch gegen die Eltern verfügt werden. Falls die
Arbeitgeber den Bestimmungen des Ortsstatuts zuwiderhandeln, so erhalten
sie Strafmandate bis zur Höhe von 20 Mark. Gegen die Schüler steht der
238
Sitzungsberichte.
Schule noch kein offizielles Strafmittel zur Verfügung, auf polizeilichem Wege
kann eine Geldstrafe gegen den Schüler angeordnet werden. In der Hau*
mannschen Schule war die Zahl der Strafanträge gegen die Schüler sehr
gering, gegen die Arbeitgeber betrug sie seit April etwa lob.
Herr Hauptmann v. Z i e g 1 e r tritt dafür ein, den Zeichenunterricht
öfters ins Freie zu legen.
Direktor Haumann erklärt dagegen, daß der Unterricht in den
allermeisten Fällen an den Zeichensaal gebunden sei. Das Arbeiten in
der Natur liegt nicht im Rahmen der Fortbildungsschule.
Herr Prof. Baginsky ist der Ansicht, daß man von schulhygienischcr
Seite aus vor ganz neuen Aufgaben stehe, da es sich um in der Pubertät
stehende Kinder bei den Pflichtfortbildungsschulen handelt. In Zukunft
wird man sich mit diesem Gegenstand eingehender befassen müssen. Er
sieht nicht ein, weshalb man nicht das fachmännische Zeichnen ins Freie
verlegen kann; nach seiner Ansicht sollte der Unterricht auch so organi-
siert werden, daß gewisse allgemeine Unterrichtsgegenstände den Schülern
gemeinsam erteilt werden.
Herr Regierungsrat und Gewerbeschulrat Dr. Mayer ist im Gegenteil
der Ansicht, daß die Schule in erster Reihe immer wieder den Beruf be-
tonen muß. Je mehr die Berufskunde spezialisiert werden kann, desto besser
wird es sein. In mittleren Städten wird es allerdings möglich sein, daß der
allgemeine Unterricht für größere Gruppen von Schülern zusammen-
gefaßt wird. Das Ideal ist jedenfalls, daß man die Schüler in einer
Klasse nur von einem Beruf hat. Die ungeteilte Schulzeit hat nach
seiner Ansicht große Bedenken, in pädagogischer Hinsicht ist sehr 1 zu
wünschen, daß die jungen Leute im Alter von 14 — 17 Jahren vielleicht
dreimal wöchentlich in die Schule kommen. Zwei Rechenstunden hinter-
einander ist nach ihm eine Zumutung, die man nicht ungestraft wird an
die Schüler stellen können. Das Fachzeichnen muß unter Aufsicht des
Lehrers und nur an einem Zeichentisch im Saale erfolgen. Er weist noch
auf die Notwendigkeit für die Pflichtfortbildungsschule hin, eigene Räume
zu haben, da auch für die erwachsenen Menschen die» Tische und Sitze
anders eingerichtet werden müssen.
Frl. Dr. Prof 6 hält es für dringend erforderlich, auch für Mädchen
Pflichtfortbildungsschulen einzurichten, da diese im gewerblichen und kauf-
männischen Leben sehr unter einer schlechten Ausbildung leiden.
Herr Dr. Radziejewski hebt hervor, daß gesundheitliche
Schädigungen besonders in der Zeit der Pubertät auftreten. Man' sollte
deshalb dafür sorgen, daß die Schüler in dieser Zeit weiter Turnunterricht
genießen.
Herr Oberlehrer Dr. Junge vertritt die Ansicht, daß das* spezielle
Rechnen besonders anregend wirkt und daß deshalb die beiden Rechen*
stunden hintereinander nicht zur Ermüdung führen werden.
Herr Direktor Haumann fügt hoch im Schlußwort hinzu, daß die
Einrichtung von Pflichtfortbildungsschulen für Mädchen hUr verschoben
ist und wahrscheinlich Ostern 1908 die Eröffnung erfolgen soO.
Die Pflichtfortbildungsschulen besitzen schon fünf freie Schulhäuser,
die Stadt konnte beim besten Willen in der Kürze der Zeit
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Sitxungüerichie.
239
noch keine eigenen Schulhäuser erbauen. Es ist in Aussicht genommen,
einen Leseraum einzurichten, jeden zweiten Sonntag soll vor den Schülern
ein Vortrag gehalten werden, gemeinsame Ausflüge sind beabsichtigt, so
doli die Schüler in der Schule eine Heimstatte rinden werden. Gelegen-
heit ram Turnen finden die Schüler reichlich in den bereits bestehenden
grofien Turnvereinigungen. Es ist auch Vorsorge getroffen, daß in allen
Klassen Unterricht in der Gesundheitslehre erteilt wird.
Die Diskussion zu dem Vortrag des Herrn Sanitätsrat Dr.
Th. Benda über „Hygienische Trinkvorrichtungen" fand in der Februar-
srtrung der , .Deutschen Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege" statt.
Herr Hermann Scherk bezeichnet den Vorschlag Bendas als
unzweckmäßig und hält es auf Grund der im Luisengymnasium in Moabit
gemachten Erfahrungen für ausgeschlossen, daß diese Einrichtung eine
allgemeine werden könnte. Er empfiehlt die von ihm zurzeit beim Ma.
gistrat von Berlin in Vorschlag gebrachten Taschenbecher aus wasser-
dichtem Papierstoff, welche im Kuvert, das öfters gewechselt werden muß,
monatelang getragen werden können, ohne schmutzig zu werden. Eine
Elberfelder Firma liefert diese Becher mit 15 Mk. pro Tausend. Redner
bittet, auch seinen dem Magistrat im Jahre 1906 gemachten, aber ab-
gelehnten Vorschlag in Erwägung zu ziehen, ob nicht den} Trinkhallen-
gesellschaften bei Nachsuchung von Konzessionen die Bedingung auferlegt
werden sollte, frisches Wasser zu billigstem Preise abzugeben.
Herr Benda (Schlußwort) erwidert, daß er den Trinkbrunnen auf
dem Hofe des hiesigen Luisengymnasiums mehr oder weniger als Spielerei
bezeichnet und aus verschiedenen Gründen einer allgemeinen Einführung
desselben widerraten habe. Er habe doch in seinem Vortrag eine andere
Art von Trinkvorrichtungen vorgeschlagen. Die Kosten der Papierbecher
würden sehr erhebliche sein, da es mit der einmaligen Anschaffung, wie
erwähnt, nicht abgetan ist und der Becher mindestens fünfmal im Jahre
erneuert werden müßte.
Ordentliche Hauptversammlung
vom 22. Januar 1907, abends 8 Uhr, im Architektenhaus.
Vorsitzender: Herr Baginsky.
Schriftführer: Herr Benda.
Herr Baginsky gibt zunächst den Jahresbericht. Er weist darauf
hm, daß der Verein auch in diesem Jahre wieder in Vorträgen und Dis-
kussionen manche wichtige Frage in Behandlung genommen habe. Das
ergebe sich aus den Sitzungsthemen, die Redner einzeln aufführt. Die
hygienischen Merktafeln des Vereins haben überall große Aner-
kennung gefunden. Mit der Verlagshandlung Quelle & Meyer ist in-
zwischen ein Vertrag zustande gekommen, wonach die Firma die Verviel-
fältigung der Tafeln übernimmt. Auch das preußische Kulrusministerhxm
hat sich für die Tafeln interessiert, will sich zunächst aber noch abwartend
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240
Sitzungsberichte.
verhalten. Der Verein ist jedenfalls in der Oeffentlichkeit zu guter Wirksam-
keit gelangt. Der Vorsitzende schließt seinen Bericht mit einem Nachruf
an die verstorbenen Mitglieder Dr. Wolf Becher und Geheimrat
Dr. Hermann C o h n - Breslau. a
Herr S i 1 e x gibt alsdann den Kassenbericht. Der Verein hatte Ende
1905 einen Ueberschuß von 850 Mk. zu verzeichnen. Unter, Hinzurech-
nung dieses Ueberschusses beliefen sich die Eingänge des Jahres 1906
auf 1416 Mk., die Ausgaben auf 1153 Mk., so daß Ende 1906 ein Kassen-
bestand von 263 Mk. verbleibt. Die Decharge wird bewilligt.
Die Neuwahl des Vorstandes ergibt Wiederwahl durch Akklamation.
Statt des ausgeschiedenen Prof. Dr. Lehmann wird Frl. Dr. P r o f c
vorgeschlagen und gewählt.
Herr B a g i n s k y spricht alsdann über:
„Körperliche Uebungen während des Unterrichts."
Gegen zweckmäßig ausgeführte Freiübungen mitten in den Stunden
wird, wie Redner ausführt, kein verständiger Schulhygienikcr etwas einzu-
wenden haben. Das Sitzen, selbst in der bequemsten Haltung, ist eine
ermüdende Tätigkeit, und es ist gewiß nur von Vorteil, die Kinder auf
kurze Zeit aus dieser ermüdenden Haltung herauszubringen. Dagegen
können die Turnstunden schädlich wirken, welche zwischen die Stunden
geistiger Arbeit eingeschoben werden. Die Muskeln haben physiologisch
eine bestimmte Leistungsfähigkeit; sie werden nicht nur ermüdet durch
die Tätigkeit, die ihnen durch die Funktion zukommt, sondern auch durch
die geistige Arbeit. In der Muskelermüdung ist somit zugleich! ein Maß
der geistigen Ermüdung zu finden. Nach angestellten Messungen hat sich
ergeben, daß die Turnstunden mehr ermüden als geistige Arbeit, Mes-
sungen mit dem Ergographen ergaben, daß die Muskeln am allermeisten
versagten, wenn körperliche und geistige Uebungen auf einen Schultag
zusammenfielen. Somit ist große Vorsicht geboten mit der Einrichtung
von turnerischen Uebungen zwischen den Unterrichtsstunden.
Herr Hauptmann v. Z i e g 1 e r glaubt, daß die Ermüdung bei unserem
Turnunterricht in den Prinzipien desselben begründet sei, und daß man
zu dem bewährten griechischen Turnunterricht zurückkehren müßte.
Herr Keesebiter pflichtet den Ausführungen Baginskys bei. Statt
der dritten Turnstunde hätte eine Spielstundc zur Einführung gelangen
sollen. K. läßt im zweiten Teil der Unterrichtsstunde die Fenster öffnen,
die am Fenster sitzenden Schüler beiseite treten und zwei Minuten hin-
durch Freiübungen machen. Die Schüler werden hierdurch vollständig
frisch.
Herr Muskat empfiehlt körperliche Uebungen und Bewegungs-
spiele in den Freiviertelstunden. Vielleicht lassen sich auch Uebungen
nach Art der schwedischen Gymnastik (passive Bewegungen) anstellen.
Herr Junge tritt dafür ein, in der Oeffentlichkeit bekannt zu geben,
unter welchen Bedingungen die Fenster während des Unterrichts im
Winter geöffnet werden können.
Herr Sil ex hält die Nachteile der Turnstunde, selbst während der
Stunden geistigen Unterrichts, nicht für so groß. Nach seiner Meinung
komnit es wohl wesentlich auf die Art des Turnunterrichts an, ob er er-
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Sitzungsberichte.
241
bildend wirkt oder nicht. Er wie auch die Herren Keesebiter und
Babinsky sowie Frl. Dr. Prof 6 wenden sich gegen die empfohlenen
passiven Bewegungen und treten für die möglichst freie Bewegung der
Sdraler in den Zwischenpausen ein.
Herr Baginsky regt an, seitens des Vereins Erhebungen
ober die unzureichende Ernährung armer Schulkinder anstellen zu lassen
und Maßnahmen zu erwägen, wie in dieser schulhygienisch sehr bedeut-
samen Frage geholfen werden kann. Sein Vorschlag, eine Kommission
ad hoc zu ernennen, wird angenommen. Nach kurzer Debatte werden in
diese Kommission die Herren Baginsky, Benda, Strelitz,
Lennhoff, Fischer und Auerbach entsandt.
Sitzung vom 26. Februar 1907, abends 8 Uhr,
im Bürgersaal des Rathauses.
Vorsitzender: Herr Kemsies.
Schriftführer: Herr Benda.
Herr Geh. Med-Rat Prof. Dr. Eulenburg:
„Schülerselbstmord e."
(Der Aufsatz ist in extenso im Heft 1/2 der Zeitschrift abgedruckt und
liegt den Verhandlungen bei)
Diskussion:
Herr Dr. Muskat fragt an, ob bei der Statistik auf etwaige kör-
perliche Gebrechen der Kinder geachtet worden sei, da bekanntlich solche
Kinder viel empfindlicher gegen Unbilden seien, die ihnen zugefügt werden.
Diese Frage sei von außerordentlicher Bedeutung nicht nur für die Selbst-
/norde, sondern auch für die ganze seelische Entwicklung der Kinder.
Herr Eulenburg gibt das Vorkommen derartiger Fälle zu und
erklärt sich bereit, bei der noch nicht abgeschlossenen Bearbeitung des
Aktenmaterials auf diese Frage seine Aufmerksamkeit zu richten.
Herr Kemsies regt eine Vervollständigung der Statistik dahin an,
auch die Fälle zu zählen, wo Neigung und Dispositionen zu Schädigung
der Person, nicht zum Selbstmord, führen (Davonlaufen junger bestrafter
Leute usw.).
Herr Eulenburg glaubt, daß sich noch manches dem ihm vor-
liegenden Material in dieser Beziehung entnehmen lassen werde, wenn
auch die Akten bezüglich des Vorlebens nicht sehr ergiebig seien.
Zeitschrift für p&dagogfrehe Psychologie, Pathologie u. Hygiene, 6
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Sitzungsberichte.
Sitzung vom 19. März 1907, abends 8 Uhr,
im Architektenhaus.
Vorsitzender: Herr Baginsky.
Schriftführer: Herr Bernhard.
Herr Kern si es:
„Zur Frage der sexuellen Aufklärung der Jugend."
Herr Baginsky teilt einleitend mit, daß in einer früheren Sitzung
eine sehr eingehende Diskussion über die sexuelle Aufklärung der Jugend
stattgefunden habe und alle vier Redner darin übereingestimmt hätten, daß
etwas in dieser Frage getan werden müsse. Zurzeit sei eine Kommission
mit den Vorarbeiten betraut worden, diese habe sich jedoch noch nicht in
Tätigkeit gesetzt, weil man sich nicht über die Art des Vorgehens einig
gewesen sei und Herr Kemsies zuvor noch einige Thesen habe geben
wollen.
Herr Kemsies legt zunächst noch einmal den Gang der vier
Referate und der Diskussion über die Frage der sexuellen Aufklärung dar.
In der Oeffentlichkeit seien inzwischen zustimmende und ablehnende Aeuße-
rungen zu dieser Frage bekannt geworden. Dr. Flachs wendet sich gegen
die frühzeitige Aufklärung der Jugend. Auch in bezug auf die Frage,
wann die Aufklärung erfolgen solle, seien Meinungsverschiedenheiten vor-
handen, vor allem aber bezüglich des Punktes, ob die sexuelle Aufklärung
das treffe, was der Verein beabsichtige, nämlich die sexuelle Erziehung
der Kinder. Inzwischen habe sich auch die Deutsche Gesellschaft zur
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten dieser Frage angenommen und
für ihren am 24. und 25. Mai er. in| Mannheim tagenden Kongreß zehn
Referenten bestellt, welche diese Frage für niedere und höhere Schulen
behandeln sollen. Von diesem Verein sei auch die einschlägige» Literatur
zusammengestellt worden, welche weit über 100 Bücher bereits umfaßt.
Die Gesellschaft der deutschen Naturforscher und Aerzte verhalte sich ab-
lehnend und wünsche nicht die Aufklärung, auch die Wiener Gesellschaft
für Schulgesundheitspflege habe eine ablehnende Stellung eingenommen.
Redner bespricht alsdann noch eine in neuester Zeit erschienene beachtens-
werte Schrift von Höller, welcher von gesellschaftlich ästhetischen und
ethischen Gesichtspunkten sowie vom hygienischen Standpunkt aus für die
sexuelle Aufklärung eintritt und den Lehrer als Aufklärer bevorzugt, während
Geistlicher und Arzt mitwirkende Kräfte sein sollen; nach ihm soll der
Unterricht in der Naturgeschichtsstunde erfolgen.
Redner stellt alsdann folgende 8 Thesen zur Diskussion:
1. Während der Kinder- und Entwicklungsjahre soll durch da-s
Vorstellungs-, Gemüts- und Willensleben der Sexualtrieb idealisiert werden.
2. Die gelegentliche sexuelle Aufklärung in Schule und Haus ist
daher genau zu regeln.
3. Die wichtigsten Entwicklungsvorgänge der Pflanzen und Tiere
bis hinauf zu den Säugern sind in der höheren Lehranstalt in
exakter Weise auf allen Stufen zu behandeln, Begattungsvorgänge indessen
grundsätzlich auszuschließen.
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Sitzungsberichte.
243
4. In den unteren Klassen sind die Begriffe : männliches,
weibliches Geschlecht, Eltern, Vaterschaft, Mutterschaft, Bestäubung, Be-
fruchtung, Außen- und Innenbefruchtung aus den Tatsachen abzuleiten.
5. Die tierischen Fortpflanzungsorgane werden nicht beschrieben, je-
•doch werden sexuell-prophylaktische Weisungen in geeigneter Form und in
geeigneten Momenten angebracht und durch ethische und ästhetische Dar-
legungen vertieft.
6. In den Mittelklassen ist gleichzeitig auf die Gefahren
sexueller Verfehlungen hinzuweben.
7. In den oberen Klassen werden die mikroskopischen Vor-
gänge der Zell- und Kernteilung, der Eibefruchtung, und ihre Bedeutung
für Vererbung, natürliche und künstliche Auslese ausführlich dargelegt.
8. Für Abiturienten werden Belehrungen über Begattungsvor-
gänge bei den Säugetieren, über die Gefahren sexueller Verfehlungen und
Ausschweifungen, sowie über die intrauterine Entwicklung des Fötus emp-
fohlen.
Diskussion:
Herr Dr. Wreschner spricht sich ebenfalls dafür aus, daß die
Belehrung auf naturwissenschaftlicher Basis stattfinden soll, dagegen ist er
nicht mit These 8 einverstanden. Der Abgang der Schüler; ist zwar eine
sehr geeignete Zeit, um ihnen die Gefahren des Lebens vorzuführen, trotz-
dem hält er es für unnötig, die Begattungsvorgänge zu lehren. Unnötig
einmal deshalb, weil die meisten Schüler bereits aufgeklärt sind, und zweitens
deshalb, weil es sehr peinlich ist, jungen Leuten gegenüber derartige Dinge
in extenso zu behandeln, wo man doch nicht individualisierend' vorgehen
kann. Ob These 7 schon in der Sekunda und Prima darzulegen ist, möchte
Redner bezweifeln. Er vermißt einen Hinweis auf die Volksschule, und
-doch ist dieser Teil der wichtigste. Gerade in den Volkskreisen ist die
Aufklärung seitens der Eltern nicht möglich. Es ist vor allem eine indi-
vidualisierende Aufklärung anzustreben. Der Arzt kann die Aufklärung nicht
.geben, weil es das Institut der Familienärztc kaum mehr gibt. Der Lehrer
wird auch nicht immer die Schüler so genau kennen, daß er es wagen
kann, die Vorgänge darzustellen. Es blieben also die Elterm übrig, mit
deren Aufklärung begonnen werden müßte. Von großer Wichtigkeit für
die Lösung der ganzen Frage ist auch die Wohnungsfrage, in welcher
allerdings nur der Staat helfend eingreifen könnte.
Herr Dr. Bernhard erklärt sich mit den Thesen im großen Ganzen
einverstanden. Der naturwissenschaftliche Unterricht hat eigentlich mit der
sexuellen Aufklärung nur einen gewissen losen Zusammenhang, der
springende Punkt ist der direkte Hinweis auf das Sexuelle beim Menschen.
Er hält es für unendlich schwierig, auf schlechte Leistungen oder blasses
Aussehen hin die Schüler zu examinieren, und erachtet es für richtiger,
■die Kinder, bei denen der Verdacht auf Onanie besteht, den Eltern zu
6*
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244
Sitzungsberichte.
nennen. These 5 und 6 berühren sich; es erscheint stets geeigneter, den
Eltern Mitteilung zu machen, bevor der Lehrer eingreift. Die Abiturienten-
belehrung ist sehr zweckmäßig, auch in einigen Schulen bereits zur Ein-
führung gelangt. In manchen Schulen ist es den Eltern freigestellt, daran
teilzunehmen. Das Material der Gemeindeschulen ist unendlich different,
und hier ist es viel notwendiger, die sexuelle Aufklärung vor dem Ab-
gang aus der Schule zu geben, da die entlassenen Schüler sofort ins
Leben eintreten und mit älteren Arbeitskollegen sofort zusammenarbeiten
Herr Prof. B a g i n s k y hat seinen negierenden Standpunkt nicht
aufgegeben. Vom naturwissenschaftlichen Unterricht zum sexuellen Leben
gibt es keine Brücke. Der naturwissenschaftliche Unterricht soll so tief
wie nur möglich sein, aber den Begattungsvorgang und alles, was sich
auf den Menschen bezieht, sollte man daraus fortlassen. Durch Aufklärung
werden die Kinder niemals von Verfehlungen zurückgehalten werden, nur
durch dauernde geistige und körperliche Beschäftigung bis zur Ermüdung
können sie abgelenkt werden. In der Sekunda und Prima erwacht schon
das Sittlichkeitsmoment, und die jungen Menschen fangen an, sich zu
beherrschen. Ein dringendes Gebot ist, die Jünglinge und Mädchen vor
dem Schulabgang auf Schäden aufmerksam zu machen, denen sie ent-
gegengehen. Redner hält das Aufwerfen der Frage der sexuellen Auf-
klärung für nichts weiter als eine Modesache, der Sexualunterricht muß
heraus aus der Schule, er hat nichts mit der Schule zu tun.
Herr Dr. Wreschner kann den negierenden Standpunkt Ba-
ginskys nicht billigen. Durch Aufklärung können die Kinder sehr
wohl vor Schaden bewahrt werden. Der Schaden der Mastur-
bation ist gar nicht so gering anzuschlagen und legi/ ohne Zweifel oft
den Grund zu Nervenkrankheiten, welche später zum Ausbruch kommen.
Der echte Masturbant wird, selbst wenn er bis zur Ermüdung beschäftigt
wird, nicht von seiner Gewohnheit lassen. Bei ernster Belehrung dürften
sich diese Kinder aber doch beeinflussen lassen.
Herr Kern si es ist der Ansicht, daß sittliche Einsicht auch sitt-
liche Willensvorgänge nach sich ziehen kann, daß sexuelle Einsicht auch
ein gewisses sexuelles Verhalten zur Folge haben kann. Sittliche« Kräfte
werden nur durch Vorstellungen ausgelöst. Weil die Vorstellung ein Aus-
gangsglied ist für Handlungen, deshalb ist die Aufklärung anzustreben.
Darunter ist die Aufklärung über anatomisch-physiologische Vorgänge, über
hygienische und die anschließenden ethischen und ästhetischen Fragen
zu verstehen. Redner vermag nichts von seinen Ausführungen zurück-
zunehmen, die heutige Diskussion gibt ihm sogar Veranlassung, sein«*
Standpunkt noch zu verschärfen und zu vertiefen.
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Sitzungsberichte.
245
Psychologische Gesellschaft zu Berlin.
Donnerstag, den 27. April 1906.
Beginn: 8»/t Uhr.
Vorsitzender: Herr Moll.
Schriftführer: Herr Westmann.
Herr Dr. Curt Adam ist ausgetreten.
Herr Gramzow spricht über:
„Fcchnc r."
Die nachkantische Philosophie von Fichte bis Schopenhauer
sucht die Identität von Leib und Seele nachzuweisen. Fechneri sagt:
Die wissenschaftliche Erklärbarkeit der Welt setzt ausnahmslose Herrschaft
der Weltgesetze voraus. Die Folge wäre ein starrer Ursachenzusammen-
hang. Gilt dieser Ursachenzusammenhang nur für die Körperwelt, dann
bleibt ein unheilbarer Riß zwischen Körper- und Geisteswelt. Gilt der
Ursachenzusammenhang nur für Empfindungen und Vorstellungen, dann
gibt es kein Wissen von der äußeren Wirklichkeit. Um auf ein letztes um-
fassendes Gesetz zu kommen formuliert Fechner für die Begriffe Be-
wegung und Gesetz, ferner Empfindung und Bewußtsein neue Fassungen:
Gesetz von Ursache und Wirkung. Wie sich die Umstände, die als Ur-
sache gelten sollen, wandeln, ist gleichgültig. Sie ziehen bestimmte Er-
scheinungen als Wirkungen nach sich. Ursachen sind nur vorhanden! beim
Geschehen. Wo Geschehen, da Bewegung, wo Bewegung, da setzt das
Denkbedürfnis der Menschen eine Ursache. Die Kraft an sich ist nichts
Wahrnehmbares, wir nehmen nur Bewegungen wahr, Kraft ist eine Hypo-
these. Diese Bewegung gilt für das ganze Universum, für die organische
und anorganische Welt. In die Stoffwechselprozesse des Organismus wer-
den anorganische Prozesse hineingezogen. Die Grenzen ziehen wir nach
dem Zweck, nach der Verhältaismäßigkeit, damit wir die praktische Teil-
erscheinung entdecken.
Daß wir Bewußtsein haben, ist eine Tatsache. Weil wir Bewußtsein
haben, werden wir unserer selbst bewußt, wissen wir, daß die Welt da ist.
Wir dürfen nicht fragen: Wie kommt das Bewußtsein in die Welt? Wir
müssen fragen: Wie kann etwas ohne Bewußtsein bestehen? Daß ich mit
Bewußtsein bestehe, ist kein Rätsel. Fechner erweitert den Bewußt-
seinsbegriff nach unten. Das spezifisch menschliche Bewußtsein geht den
Bewegungen des Gehirns parallel. Indessen ist ein Bewußtsein geringeren
Grades denkbar, weniger kompliziert als das menschliche Bewußtsein. Jedes
Geschehen ist von der einen Seite gesehen physisch, von, der anderen
Seite gesehen psychisch. Wer sieht, wer das beobachtende Subjekt ist,
sagt Fechner nicht. Die ganze Welt ist ein Stufenbau psychophysischer
Wesen. Alles Geschehen ist physisch, es untersteht dem Ursachen- und
Wirkungsbegriff, es ist psychisch, wir erklären die Natur nach Zwecken.
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246
Sitzungsberichte.
Zweck heißt bei Fechner nicht Absicht, Absicht ist nur auf der hohen
Stufe des Menschen anzunehmen; es kann etwas zweckvoll sein, ohne daß
eine zwecksetzende Absicht im Sinne unseres Bewußtseins festzustellen
wäre. Jede Zweckursache wirkt als End- oder Finalursache.
Im Gegensatz zu der spekulativen Philosophie, welche von einem
einerigen Prinzip ausgehend die Einzelheiten aus dem Begriff herleitet,
geht Fechner von der Gesamtheit der Erfahrungen, der Einzelerkenntnis
aus und sucht diese zusammenzufassen. Fechner ist Schöpfer der
induktiven Metaphysik geworden.
Fechner illustriert die Allbeseelung der Natur in folgender Weise :
Daß Tiere, z. B. Hunde, welche eine der menschlichen) ähnliche Organi-
sation besitzen, Empfindung haben, nehmen wir wahr. Den Pflanzen
schreiben wir wegen der anders gearteten Organisation nicht Empfindung
zu, weil ihnen die willkürliche Bewegung, die Nervenorgane und; Sinnes-
bewegungen fehlen. Indessen die Grenze zwischen Tier und Pflanze be-
steht nicht, Empfindung muß nicht an ein Nervensystem gebunden sein,
die Pflanzen handeln nach Zwecken, sie durchsuchen den Boden, nach
Nahrung, treffen unter den vorhandenen Nahrungsstoffen Auswahl, drängen!
sich zum Lichte, arbeiten an einer Art von Fortpflanzung.) Der tierische
Körper ist zentralisiert, vom Zentralnervensystem sind alle Funktionen des
Körpers einheitlich geregelt. Im Pflanzenkörper ist Dezentralisation. Der
Pflanze als einem ganzen Organismus kann Bewußtsein nicht zukommen,
sondern nur der Zelle. Dieses Zellbewußtsein schließt aber ein einheit-
liches Lebensbewußtsein der Pflanze nicht aus. Die Pflanze hat einen
Trieb zur Freiheit. Dieser liegt in der Unregelmäßigkeit der Pflanze.
Freiheit heißt: das Lebewesen empfindet den Antrieb zu einer Tätigkeit
als einen eigenen Antrieb.
Dieselbe Gesetzmäßigkeit, dieselben Kräfte lassen sich nachweisen in
der kleinen Welt der Atome, wie in der Stemenwelt des Alls. Fechner
zieht daraus den Analogieschluß, daß die Weltkörper beseelte Körper sind,
indessen sei die Erde nicht als vergrößerte Menschenseele aufzufassen,
sondern als ihrem eigenen Organismus angemessene Seele. Die Erde sei
das größere System, das die kleinere Seele umschließt. Die Erde müsse
schon aus dem Grunde ein Individuallebcn besitzen, weil aus ihrem
Schöße viele bewußte Geschöpfe hervorgehen. Unsterblichkeit sei nichts
weiter als einheitlicher Fortbestand der Wirkung, die Geschöpfe gehen in
den Schoß der Erde zurück.
Psychische und physische Vorgänge gehen einander parallel, sind zwei
Seiten desselben. Die Gesetzmäßigkeit des einen Vorganges bedingt die
des anderen. Fechner hat den Versuch gemacht, die Empfindung zu
messen. Er sagt: Wir können nur Größen durch gleiche Größen messen.
Wir können nicht Längen durch Gewichte messen. Das Maß der Emp-
findungen werde gefunden durch den Zuwachs, der nötig sei, damit eine
Empfindung stärker sei als eine, die vorhergehe.
Bis dahin war man der Meinung, daß, wenn eine absolute Reiz-
größe zu einem Reiz hinzutritt, die Empfindung um dieselbe wachse. Ernst
Heinrich Weber hat diese Ansicht bereits erschüttert. Reiz ist Be-
wegung in der Außenwelt. Gewöhnlich ist der Reiz mit einer Empfindung
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Sitzungsberichte.
247
verbunden. Es gibt auch Reize, mit denen keine Empfindung verbunden
ist Jeder Reiz muß eine gewisse kleinste Größe erreichen, wenn er eine
Empfindung auslösen soll Diese kleinste Größe ist die Reizschwelle. Diese
Reizschwellen suchte man festzustellen. Soll ein Reiz von einem andern
unterschieden werden, dann muß auch der Reizunterschied eine gewisse
Größe erlangt haben. Diese Unterschiedsschwelle gibt das Maß der Emp-
findungen ab. Die Empfindungen wachsen wie die natürlichen Zahlen
in arithmetischer Progression, die Reize wachsen wie die Logarithmen
der natürlichen Zahlen. Die Empfindung wächst wie der Logarithmus des
Reizes (W e b e r- F e c hn e r sches Gesetz). Dieses Gesetz ist die Grund-
lage der experimentellen Psychologie geworden. Es gilt nicht ausnahmslos,
sondern nur für mittlere Empfindungsstarken.
In der Aesthetik lehrt Fechner, daß dasjenige, was schön sein
soD, eine gewisse Größe haben muß. In der Kunst müssen die verschie-
denen Mittel, die für sich allein niemals zu einem ästhetischen Eindruck
führen, miteinander so verbunden werden, daß sie einen ästhetischen
Eindruck hervorrufen. (Prinzip der ästhetischen Hilfen.) Drei Prinzipien:
i. Harmonische Verschmelzung der Teile, keine Widersprüche; 2. Wahr-
heit: man darf nichts Unmögliches verlangen; 3. Klarheit: alles Einzelne
muß sich dem Ganzen unterordnen, darf ihm nicht widersprechen. Sub-
jektiv ist der ästhetische Charakter bestimmt durch den assoziativen Cha-
rakter. Mit einem bestimmten Eindruck, z. B. der Apfelsine, assoziieren
sich die verschiedensten Bewußtseinselemente, die wir in uns Laben. Diese
Bewußtseinselemente nennt Fechner den assoziativen Charakter.
Eine Diskussion fand nicht statt.
Schluß der Sitzung 9 Uhr 50 Min.
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Berichte und Besprechungen
Ferdinand Burckhardt: Psychologische Skizzen zur
Einführung in die Psychologie. 6. Auflage. 1903.
318 Seiten.
Das Buch ist speziell mit Rücksicht auf die Pädagogik verfaßt. Der
Titel ist insofern nicht ganz richtig, als das Buch eigentlich ein abge-
schlossenes Lehrbuch darstellt. Es schließt sich im ganzen der Herbart-
sehen Psychologie an, wenn es auch nicht streng auf Hefbartschem Boden
steht. Die allerdings sehr populäre Form rechtfertigt sich durch den
Zweck des Buches. Es behandelt drei Seiten des psychischen Geschehens:
das Vorstellungsleben, das Gefühlsleben und das Willens-
leben.
Die Beispiele sind meistens den Klassikern entnommen. Wesentlich
neue Gesichtspunkte treten nicht hervor. Leider haben die neueren psycho-
logisch-pädagogischen Arbeiten, außer sehr dürftigen Andeutungen, so wenig
Berücksichtigung erfahren, daß die sehr große Verbreitung des Buches
von unserm Standpunkte aus zu beklagen ist.
Berlin. W. Poppelreuter.
Otto Gerlach: Pädagogische Psychologie und Logik
Breslau 1906. 436 Seiten.
Das Buch ist geschrieben sowohl für die lernenden Seminaristen und
Seminaristinnen, als auch zum Selbstunterricht für Lehrer und Erziehende.
Der Verfasser webt die Vermögenstheorie ab, nimmt aber zwischen ihr
und der Herbartschen Psychologie insofern eine Mittelstellung ein, daß
er eine ursprünglich vorhandene, aber freilich der Befruchtung durch die
Vorstellungen benötigende Anlage der Seele zum Fühlen und Wollen an-
nimmt. Dem Wundtschen Standpunkt der zwei Grundtätigkeiten stimmt G.
zwar zu, aber er hält sich >y aus Zweclanäßigkeitsgründen*' an die Ein-
teilung Vorstellen, Fühlen, Wollen; er betont aber, daß eine solche Trennung
in Wirklichkeit niemals stattfindet. Einen spezifischen, präzisen, prin-
zipiellen Ausdruck über die Prinzipienfragen aus dem Buch herauszulesen,
ist mir nicht gelungen. '
Zu tadeln ist auch hier, daß die neuere Psychologie viel zu wenig
Berücksichtigung gefunden hat Auch hier bestehen die Beispiele zumeist
aus Zitaten aus den Klassikern. Der logische Teil ist ein kurzer Abriß der
Schullogik. Beigefügt ist ein Literaturnachweis, in dem durch Sternchen
angegeben ist, welche Bücher sich zum Selbststudium eignen und welche nicht.
Berlin. W. Poppelreuter.
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Berichte und Besprechungen.
249
Ludwig Hohmann: Pädagogische Psychologie, darge-
stellt unter Berücksichtigung der Pädagogik so-
wie ihrer Grenzwissenschaften. Breslau 1006.
468 Seiten.
Das Buch schließt sich im wesentlichen der alten pädagogischen
Praxis an, ist aber durch die neueren experimentellen Arbeiten zeitgemäß
berichtigt und ergänzt worden. Es umfaßt nicht nur das Nötige aus der
allgemeinen und Kinderpsycbologie, sondern auch die gesamte pädagogische
Grundlegung und das Wichtigste aus der allgemeinen Erziehungs- und
Unterrichtslehre. — Im ersten Teil sind ausführliche, klare und doch
populäre Ausführungen über die Anatomie und Physiologie des Nerven-
systems und der Sinnesorgane gemacht, die hier, im Gegensatz zu den
anderen besprochenen Lehrbüchern, von zahlreichen instruktiven Abbil-
dungen begleitet sind. Sehr brauchbar ist, daß unmittelbar aus diesen
Ausführungen heraus die Schlüsse auf das Kindesleben gezogen werden.
Auf das Ucbrige brauche ich nicht näher einzugehen, ich würde sonst
nur das wiederholen müssen, was bei dem Buche von Zühlsdorf ge-
sagt ist. Letzterer hat aber vor dem ersteren den großen Vorzug der
Übersichtlichkeit und besseren Stoffanordnung voraus, während es uns
scheint, als ob Zühlsdorf auf seinen wenigen kleinen 1 Seiten mehr gebracht
habe, als Hohmann auf 468. Ich glaube, daß das Buch durch seine Fülle
von theoretischen Auseinandersetzungen nicht gewonnen hat. Es ist daher
auch weniger als Lehrbuch für den Seminaristen, als für den praktischen
Lehrer geeignet.
Berlin. W. Poppelreuter.
Jurist-psychiatr. Grenzfragen. IV. Bd. Halle, Marhold.
1906. C. G. Jung: Psycholog. Diagnose des Tat-
bestandes. Ilberg: Bericht über die ersten 100
Sitzungen d. forens. - psych. V. usw.
In der ersten Abhandlung gibt Jung eine ausführliche Darstellung
der Methodik der Assoziationsexperimente in ihrer Anwendung zur
Diagnostizierung eines bestimmten objektiven Tatbestandes. An einer Reihe
▼on Beispielen sucht er zu beweisen, daß es gelinge, aus bestimmten Merk-
malen, die sich bei den Assoziationsreaktionen der verschiedenen Ver-
suchtpersonen zeigen, bestimmte Rückschlüsse zu ziehen auf die Vor-
stellungskomplexe, die das Seelenleben der Personen im Moment beein-
flussen, konstellieren. Diese Merkmale beziehen sich auf den Inhalt der
Reaktionswörter, auf die Länge der Assoziationszeit, auf die Richtigkeit
der Reproduktion und auf die Erscheinung der sog. Perseveration, bei der
durch die Gefühlsbetonung bestimmter Reiz- oder Reaktionswörter länger
oder kürzer andauernde Veränderungen später folgender Assoziationen ge-
schaffen werden. Aus dem Auftreten dieser Merkmale, die Jung, wie
«r selbst zugibt, in sehr weitherziger Weise zur Anwendung bringt, bei
bestimmten „kritischen" Assoziationen versucht er dann zu einer Deutung
des Vorstellungskomplexes zu gelangen, der das Denken und Fühlen der
Versuchsperson beherrscht. Neben einigen rein experimentellen Beispielen
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250 Berichte und Besprechungen.
bespricht er ausführlich die Anwendung dieser „neuen Forschungsmethode",,
die sich eng an die „genialen" Psychoanalysen und Traumdeutungen
Freuds anschließe, in einem kriminellen Falle, in dem durch dieses
Vorgehen die Entdeckung des Schuldigen herbeigeführt wurde. Leider muß
Jung freilich zugeben, daß die nachträgliche Kontrolle der Versuchs-
ergebnisse an zwei unschuldigen Versuchspersonen nur wenig abweichende
Tatsachen zutage förderte, so daß er sich zur Rechtfertigung seines ver-
urteilenden Ediktes schließlich auf „ein Etwas berufen muß, das sich
nicht aufs Papier bannen läßt, auf jene Imponderabilien des menschliche^
Verkehrs, jene unzähligen und unmeßbaren mimischen Aeußcrungen", die
zum Teil nur unser Unbewußtes affizieren. Aus diesem „deprimierenden"
Ergebnis zieht Jung den Schluß, vor einer unberufenen Anwendung der
psychologischen Tatbestandsdiagnostik in der Gegenwart warnen zu sollen,
während er für die Zukunft dieser „unvergleichlich feinen psychologischen
Forschungsmethode" eine „nicht abzusehende Entwicklungsfähigkeit" zu-
spricht. Nach Ansicht des Ref. sollte die Warnung vor der Anwendung
dieser Methode eine ganz prinzipielle, allgemeine und andauernde sein.
Denn es läßt sich in der Tat nicht absehen, auf welche Irrwege eine
solche völlig haltlose, willkürliche und im höchsten Grade unzuverlässige
„Experimentalmethode" führen kann, bei deren Anwendung der Kunst des
Rätselratens und Hineindeutens keinerlei Schranken gesetzt sind.
Die zweite Abhandlung enthält einen sachlichen Ueberblick über die
bisherigen Arbeiten der forensisch-psychiatrischen Vereinigung zu Dresden,
denen einige treffende Bemerkungen über die zukünftigen Aufgaben ähn-
licher Vereinigungen angefügt sind.
Berlin. L. Hirschlaff.
„Ueber die Stimmungsschwankungen der Epileptiker."
Von Dr. Aschaffenburg, Köln. (Sammlung zwang-
loser Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven-
und Geisteskrankheiten, VII. Bd., I. Heft.) Verlag
von Marhold, Halle 1906. Preis 1,60 Mk.
Aschaffenburg nimmt in dieser Arbeit ein Thema wieder auf,
das er bereits im Jahre 1895 als einer der erste» behandelt hatte. Nach
einer orientierenden Uebersicht über die moderne Fassung des Epilepsie-
begriffes und der speziellen Literatur über die Frage der periodischen
Stimmungsschwankungen der Epileptiker wirft er folgende Fragen auf:
1. Sind die periodischen Stimmungsschwankungen ein charakteristisches
Symptom der Epilepsie? 2. Wodurch unterscheiden sich die Verstim-
mungen der Epileptiker von denen der Psychopathen überhaupt? — Die
erste dieser beiden Fragen bejaht Aschaffenburg auf Grund einer
Statistik von 50 Fällen meist krimineller Epileptiker, von denen er den
größten Teil klinisch zu beobachten Gelegenheit hatte. Bei 21 Epilep-
tikern mit Krampfanfällen beobachtete er in 20 Fällen Verstimmungen
(meist Depression oder Reizbarkeit), die 13 mal von körperlichen Erechei-
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Berichte und Besprechungen.
251
nungen begleitet waren; bei 29 Epileptikern ohne Krampfanfälle fanden
»ich in 15 Fällen Verstimmungen, 7 mal begleitet von körperlichen Erschei-
nungen. Nach dieser Statistik wären die Stimmungsschwankungen ein über-
aus häufiges Symptom der Epilepsie, das sich in 70 ofo sämtlicher EpUepsie-
fälle findet und an Häufigkeit alle anderen als charakteristisch geltenden
Symptome der Epilepsie z. T. sehr erheblich übertrifft — Bei der Dis-
kussion der zweiten oben aufgeworfenen Frage versucht Aschaffen-
burg die Stimmungsschwankungen der Epileptiker hauptsächlich von
denen der Hysterischen abzugrenzen. Er kommt zu dem Ergebnis, daß
die epileptischen Verstimmungen ausgezeichnet sind 1. durch den Mangel
an psychologischer Begründung; 2. durch eine Reihe schwerer, körper-
licher Begleiterscheinungen vorzugsweise vasomotorischer Natur (Herz-
klopfen, Blässe, Schweißausbruch usw.); 3. durch die Intoleranz gegenüber
geringen Mengen Alkohol. In einem Anhange werden die Kranken-
geschichten der 50 beobachteten Fälle kurz mitgeteilt.
So überzeugend im ganzen die vortrefflich vorgetragenen Unter-
suchungen Aschaffenburgs wirken, so ist Ref. doch geneigt, in
manchen einzelnen Fragen mit Heilbronner einen! etwas scharfer
formulierten Standpunkt einzunehmen. Wenn schon die Diagnose der
Epilepsie ohne Krampfanfälle zu manchen Bedenken Veranlassung gibt,
so sind doch vor allem zwei Schwierigkeiten besonders hervorzuheben,
die eine Uebertragung der gewonnenen Ergebnisse auf das große Gebiet
der Epilepsie schlechthin nicht zuzulassen scheinen: ad 1 handelt es sich
bei den Fällen Aschaffenburgs fast ausschließlich um kriminelle Pa-
tienten, deren Stimmung an sich doch wohl noch anderen Faktoren spezi-
fischer Art unterliegt, als es gemeinhin der Fall ist; ad 2 scheint die In-
tensität der Stimmungsschwankungcn nicht immer genügend berücksichtigt
ru sein. In den Tabellen wenigstens, die der Untersuchung eingefügt sind,
findet sich darüber keine Angabe, während doch die Intensitätsunterschiede
der Stimmungsschwankungen gerade für ihre pathologische und patho-
gnomonische Wertung nach Ansicht des Ref. eine ausschlaggebende Wür-
Berlin. L. Hirschlaff.
Digitized by Google
Mitteilungen.
XIV. Internationaler Kongress für Hygiene und Demographie.
Unter dem allerhöchsten Protektorat Ihrer Majestät der Kaiserin fand
vom 23. — 29. September 1907 in Berlin der XIV. Internationale Kongreß
für Hygiene und Demographie statt. Das Organisationskomitee, dem die
ersten Gelehrten aller Länder angehören (Vorsitzender: Bumm, Prä-
sident des Kaiserlichen Gesundheitsamts ; Generalsekretär : Dr. Nietner,
Berlin W. 9, Eichhornstr. 9), versandte zu diesem Zwecke Einladungs-
schreiben und umfangreiche Mitteilungen in den drei Verhandlungssprachen :
Deutsch, Französisch und Englisch, aus denen wir uns begnügen müssen,
aus Mangel an verfügbarem Raum nur das Verzeichnis der Sektionen und
der Verhandlungsgegenstände wiederzugeben:
Sektion I.
Hygienische Mikrobiologie und Parasitologio.
Verhandlnngsgc ge n stände.
i. Aetiologie der Tuberkulose.
2. Die Bazillen der Typhusgruppe.
3. Meningokokken und verwandte Bakterien.
4. Aetiologie der Syphilis.
5. Krankheitserregende Protozoen.
6. Krankheitserregende Spirochäten.
7. Insekten als Verbreiter von Krankheiten.
8. Bericht über die Methoden der Serumprüfung.
9. Ueber neuere Immunisierungsverfahren.
Sektion II.
Ernährungshygiene und hygienische Physiologie.
Verhandlungsgegens tAnde.
1. Bericht über den Stand der Nahrungsmittel-
Gesetzgebung und -Ueberwachung in den verschiedene n
Ländern.
Digitized by Google
Mitteilungen.
253
2. Der Stand der Verwendung von Konservierungs-
mitteln für Nahrungs- und GenußmitteL
3. Ueber die Bedürfnisse der Nahrungsmittel-
gesetzgebung.
4. Die volkswirtschaftlichen Wirkungen der Armenkost.
5. Die Frage des kleinsten Eiweißbedarfs.
6. Der Alkoholismus.
7. Einwirkung des Badens auf die Gesundheit.
Sektion III.
Hygiene des Kindesalters und der Schule.
Verhandl ungggege ns tände.
1. Das Fürsorgewesen für Säuglinge.
2. Säuglingsheime und ihre Erfolge.
Hebung des Hebammenstandes durch Fortbildung
in der S äu g 1 i n g s h y g i e ne.
4. Herstellung tadelloser Kindermilch.
5. Erfahrungen über das System der Schulärzte.
6. Die Frage der Ueberarbeitung in der Schule.
Die zweckmäßigste Regelung der Ferienordnung.
8. Fürsorge für Schwachsinnige.
Sektion IV.
Berufshygiene und Fürsorge für die arbeitenden Klassen.
Verhand 1 u ^«gegenstände.
1. Die Ermüdung durch Berufsarbeit.
2. Ueberblick über die Erfolge der Unfallverhütung.
3. Hygienische Vorbildung der Gewerbeinspektoren.
4. Arbeiterwohnhäuser.
5. Fabrikbäder und Volksbadeanstalten.
6. Die gewerbliche Bleivergiftung.
7. Neuere Erfahrungen, betreffend die Staub-
verhütung im Gewerbebetriebe.
8. Die Gefahren des elektrischen Betriebs und Hilfe
bei Unglücksfällen durch Starkstrom.
9. Wie können die gesundheitlichen Gefahren bei
Heimarbeitern herabgesetzt werden?
10. Die Ankylostomaf rage.
11. Ersatz der Quecksilbersekretage durch unschädliche
Prozeduren.
12. Die Berufskrankheit der Caissonsarbeiter.
13. Hebung der Hygiene der arbeitenden Klassen
durch die Invalidenversicherung.
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254
Mitteilungen.
Sektion V.
Bekämpfung der ansteckenden Krankheiten nnd Fürsorge für Kranke.
Verhandlungsgegenstände.
i. Einheitliche Regelung der Priifungsmcthodik für
Desinfektionsapparate und Desinfektionsmittel.
2. Kontrolle der Desinfektion.
3. Die Krankenversicherung und ihr sanitärer Erfolg.
4. Bekämpfung der Tuberkulose, Fürsorge für
Phthisiker.
5. Schutzimpfung gegen Typhus, Pest, Cholera.
6. Bekämpfung der übertragbaren Genickstarre.
7. Verbreitungsweise und Bekämpfung der Pest.
8. Moderne Typhusbekämpfung.
9. Verhaltungsmaßregeln bei Impflingen zur
Verhütung weiterer Ansteckung.
10. Die allgemeine Durchführung der Fleischbeschau
mit Rücksicht auf Krankheitsverhütung.
Sektion Via.
Wohnnngshygiene, Hygiene der Ortschaften nnd der Gewässer.
Verhandlungsgegenstände.
I. Wohnungsfürsorge für Minderbemittelte.
2. Die Ledigenheime.
3. Bericht über die Erfolge der mechanischen,
chemischen und biologischen Abwässerklärung.
4. Die bisherigen Erfahrungen über Trennungssysteme
der Abwässer.
5. Verwertung und Beseitigung des Klärschlammes aus
Reinigungsanlagen städtischer Abwässer.
6. Ueber den Einfluß geklärter Abwässer auf die
Beschaffenheit der Flüsse.
7. Neuerungen auf dem Gebiete der Trinkwasser-
filtrationstechnik.
8. Ozonosierung des Wassers.
9. Erfahrungen über Talsperrenwasser.
10. Ueber moderne Beleuchtungsarten und ihre
hygienische Bedeutung.
II. Bedeutung der künstlichen Ventilation.
12. Die Rauchplage in Großstädten.
13. Ueber Straßcnhygicnc.
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Mitteilungen.
255
Sektion VIb.
Hygiene des Verkehrs weseus. Rettung» Wesen.
Verhandlungsgegens t ü nde.
i. Einwirkung der Berufstätigkeit im Verkehrswesen
auf die Gesundheit.
2. Ueberwachung der Verköstigung im Eisenbahn-
betrieb.
3. Seuchengefahr und ihre Verhütung im Eisenbahn-
betrieb.
4. Ueber die Gefahren nervenkranker Bediensteter
für den Eisenbahnbetrieb.
5. Die Verletzungen im Eisenbahnbetrieb und ihre
Verhütung.
<. Erste Hilfeund Verkehr. Allgemeines Rettungswesen.
7. Aerztliche Mitwirkung bei den Schutzmaßregeln
gegen die Gefahren des Verkehrs. Aerztliches Rettungs-
wesen.
Sektion VII.
Militärhygiene, Kolonial- und Schiffshygiene.
Verhandlungsgegenstände.
1. Die Wasserversorgung für eine Armee im Felde.
2. Welche Erfahrungen sind mit den Typhusschutz-
impfungen in der Armee gemacht?
3. Die Beurteilung der Tropendiensttauglichkeit bei
Offizieren und Mannschaften.
4. Die Beseitigung der Abfallstoffe in militärischen
Lagern und im Felde.
5. Massenerkrankungen in der Armee durch Nahrungs-
mittel.
Beziehungen der Erkrankungen an Lungentuber-
kulose zu funktionellen Störungen der Herztätigkeit
vornehmlich bei Soldaten.
7. Ueber Pestrattenschiffe.
8. Schlafkrankheit.
9. Malariabekämpfung.
10. Ventilation und Heizung auf Kriegs- und Handels-
schiffen.
11. Schutzpockenimpfung in den Kolonien.
12. Ueber Sanatorien in den Tropen.
13. Die Gelbfieberbekämpfung.
14. Ständige Gesundheitsüberwachung der Häfen.
15. Wasch-, Bade- und Abort-Einrichtungen an Bord
der Kriegsschiffe.
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256
Mitteilungen.
16. Wärmeregulation des Körpers und ihre Erschwerung
und Behinderung im Schiffs- und Tropendienst. Hitz-
schlag, Heizerkrämpfe, Sonnenstich.
17. Bekämpfung der Infektionskrankheiten an Bord.
Sektion VIII.
Dcmographio.
Verhandl ungsgegenstände.
1. Sterbetafeln: a) Für das Deutsche Reich.
b) Für Preußen,
c) Für Großstädte.
2. Die Lebensdauer der Bevölkerung.
3. Säuglingssterblichkeit:
a) Methode der Säuglingssterblichkeitsstatistik,
b) Ernährungsweise und deren Einfluß.
Milchkontrolle,
c) Selbststillen der Mütter.
4. Bearbeitung der Bevölkerungsbewegung durch die
Statistischen Aemter im Deutschen Reich einschließ-
lich der Mehrlingsgeburten.
5. Familienstatistik.
6. Rekrutenstatistik.
7. Binnenwanderung.
8. Aus- und Einwanderung.
9. Schulhygiene und Statistik.
10. Berufs-Morbidität und -Mortalität.
11. Krankheitsschema für Krankheits- und Todes-
Ursachenstatistik.
12. Sterblichkeit und Wohlhabenheit.
13. Wohnungsstatistik und Wohnungspflege,
a) Wohnungspflege,
b) Wohnungsstatistik.
14. Vergleiche zwischen den Volkssterbetafeln und den
Tafelnder Lebens-, Renten - und Pensionsversicherung.
15. Unfallhäufigkeit und Unfallfolge nach den neuesten
Erhebungen.
16. Entwicklung der Fruchtbarkeit.
Schriftleituag : F. Kemsiea, Weißenau. Königs - Chaussee 6, u. L. Hirschlatt, Herlin W,
Hsbsburfrerstr. 6. — Verlag von Hermann Walthor Verlagsbuchhandlung G. m. b. H-,
Hortin W. 80, Nollendorfplati 7. - Verantwortlich für Geschäftlich« Mitteilungen und
1 minti: Ft. Paaschs-Berlin. - Druck : Paß Ii Garleb O. m. b. H., Berlin W. 67, Btilow.tr. 66.
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Zeitschrift
für
Pädagogische Psychologie,
Patltologit und Rygie«.
Herausgegeben
von
Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlaff.
Jahrgang IX. Berlin, November 1907. Heft. 4/5.
Meteorologische Beobachtungen an Schulen.
Vorschläge von Joseph Frühling.
In den letzten Jahrzehnten hat die Meteorologie wie die
verwandten Wissenschaften einen so bedeutenden Aufschwung
genommen, daß einige Kenntnis derselben von jedem Gebil-
deten erwartet werden darf. Dementsprechend ist auch in den
„Lehrplänen und Lehraufgaben für die höheren Schulen in
Preußen von 1901'* in der Physik die Anwendung der Wärme-
lehre auf Meteorologie verlangt, allerdings nur in der Ober-
sekunda des Gymnasiums. Die Meteorologie soll, wie aus dem
Wortlaut des Lehrplanes „Wärmelehre nebst Anwendung auf
Meteorologie" hervorgeht, auf der Schule nicht als selbständige
Wissenschaft gepflegt, sondern nur als Teil der Physik be-
handelt werden. Dies dürfte wohl auch für Schulen das Richtige
sein, da die Einführung der Meteorologie als selbständiger
Wissenschaft auch etwa zwei Stunden wöchentlich in den oberen
Klassen erfordern würde und dieser Zeitaufwand wohl kaum
von dem Nutzen, den diese Stunden bringen würden, auf-
gewogen werden dürfte. Aber es muß dem Schüler eine
reellere, umfassendere Kenntnis der Meteorologie beigebracht
werden. Denn bisher beschränken sich die Kennmisse gewöhn-
lich auf eine einfache Erklärung des Wesens und der Ent-
ZeitMhrift für pAdagoji.cüe Piychoiofi«, PÄtoolojie u. Hygiene. 1
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258
Joseph Frühling.
stehung der einzelnen Witterungselemente, jedoch ohne die
näheren Beziehungen zwischen diesen, die uns die praktische
Anwendung der Meteorologie, die praktische Witterungskunde,
lehrt. Und doch dürfte gerade einige Kenntnis dieser dem
Schüler besonderen Nutzen bringen, auf der Schule besonders
durch die Mittel, die zum Erwerb dieses Wissens dienen, später
durch die Anwendung dieses Wissens, nämlich durch leichteres
Verständnis der von den Wetterbureaus herausgegebenen
Wetterkarten und damit in Verbindung mit den ge-
lernten Beobachtungen durch eigene Aufstellung von einiger-
maßen zuverlässigen Lokalprognosen, die nicht nur für die
meisten Erwerbszweige nötig sind, sondern auch dem Ge-
nießenden, dem Touristen und selbst dem anspruchslosesten
Spaziergänger immerhin erwünscht sind. — Es wird sich so-
mit darum handeln, dem Schüler eine umfassendere Kenntnis
der Meteorologie ohne besondere Stunden beizubringen
und gleichzeitig die Mittel, die zum Erwerb dieser Kenntnisse
dienen sollen, so zu wählen, daß der Schüler auch für die
anderen Disziplinen hieraus Nutzen gewinnt. In dieser doppelten
Hinsicht will ich im folgenden einige Vorschläge machen, dabei
aber auch kurz auf den Nutzen, den die Meteorologie aus einer
etwas intensiveren Bearbeitung auf der Schule finden kann,
eingehen und endlich den Wert für die pädagogische Psycho-
logie im Anschluß hieran hervorheben.
Die Vermittlung der Kenntnis der Witterungskunde an
den Schüler geschieht am zweckmäßigsten zunächst durch von
den Schülern selbst anzustellende Beobachtungen der einzelnen
Elemente und im Anschluß hieran in den oberen Klassen durch
Erklärung der Witterung des Tages an Hand der von den
Wetterbureaus herausgegebenen Wetterkarten unter besonderei
Berücksichtigung der an der Schule angestellten Beobach-
tungen, ohne jedoch eine Prognose hinzuzufügen, da diese
meiner Ansicht nach den durch das Ziel der Schule über-
haupt geforderten Wissensumfang überschreitet. — Die Beob-
achtungen der einzelnen Elemente erfordern nur einen ver-
hältnismäßig ganz geringen Aufwand an Zeit und Kosten,
letztere bedingt durch Anschaffung von Apparaten, auf die
ich zunächst eingehen möchte.
Zur Beobachtung und Messung der Luftdruck-
schwankungen bedient man sich des Barometers. Je nach
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Meteorologische Beobachtungen an Schuln.
259
der Einrichtung unterscheidet man Gefäß-, Heber- und Ane-
roidbarometer. Für genauere Beobachtungen nimmt man ein
Gefäßbarometer mit reduzierter Skala, bei deren Teilung die
Schwankungen des Quecksilberniveaus im Gefäß berück-
sichtigt sind, so daß zur Ablesung nur eine einzige scharfe Ein-
stellung des an der Röhre verschiebbaren Nonius nötig ist,
ein sogenanntes Stationsbarometer, dessen Preis 1 10 bis 1 50 Mk.
beträgt. Um große Temperaturschwankungen zu vermeiden,
die bei der Ablesung mit berücksichtigt werden müßten, hängt
man das Barometer im Keller auf.
Für die Temperaturmessungen dient ein Minimum-
thermometer, gewöhnlich ein Weingeistthermometer, in dessen
Röhre ein Schwimmer bei sinkender Temperatur vom Wein-
geist mitgenommen wird, bei steigender Temperatur liegen
bleibt, ferner ein Maximumthermometer, in der Regel ein
Quecksilberthermometer, dessen Faden durch eine vermittels
eines eingeschmolzenen Glassplitters erzeugte Verengerung der
Rohre unmittelbar über der Kugel bei sinkender Temperatur
abreißt, und endlich ein einfaches Quecksilberthermometer mit
V» bis Ys 0 Einteilung (Celsius). —
Zur Berechnung der Luftfeuchtigkeit benutzt man
die Ablesungen eines einfachen Quecksilberthermometers, wozu
man das letztgenannte benutzen kann, in Verbindung mit den
Ablesungen eines zweiten, gleichartigen Thermometers, dessen
Kugel mit Musselin umwickelt ist und durch einen Baumwoll-
docht, der in der Wicklung befestigt ist und in einen kleinen
Wassernapf taucht, ständig feucht gehalten wird, des so-
genannten „feuchten" Thermometers. Beide Thermometer zu-
sammen ergeben das „Psychrometer". Die Kosten dieser
Apparate betragen etwa: für das trockene und feuchte Thermo-
meter in 7*° Teilung je 9, in 7s 0 je 17 Mk., für das Maximum-
Thermometer 11, für das Minimum-Thermometer 10 Mk.
Diese vier Thermometer findet man meist an einem Gestell
zusammen befestigt, das trockene und feuchte vertikal, die
beiden anderen horizontal. Zum Schutze gegen direkte oder
indirekte Sonnen- oder sonstige Wärmestrahlung, sowie gegen
Regen und Schnee sind die Thermometer von einer Schutz-
vorrichtung umgeben, die der Luft freien Zutritt läßt. Diese
Schutzvorrichtung besteht entweder aus einer Holzhütte mit
jalousieartigen Wänden, die im Garten oder Hof aufgestellt
1*
260
Joseph Frühling.
wird, oder aus einem Blechgehause, das an einem Fenster der
Nordseite des Gebäudes etwa 7s m von der Wand entfernt
angebracht ist und sich durch einen durchgehenden Riegel
ohne Oeffnung des Fensters zur Ablesung öffnen läßt. Stativ
18 Mk., Holzgehäuse 30 Mk., Blechgehäuse 60 bis 85 Mk.)
Ein Psychrometer, Verbindung eines trockenen und eines
feuchten Thermometers, das auch ohne Hütte, sogar im
hellsten Sonnenschein, unabhängig von der Sonnenstrahlung,
funktioniert, falls nur die eingesaugte Luft nicht gerade von
einem erwärmten benachbarten Gegenstand herkommt, ist das
Aßmannsche Aspirationspsychrometer. Bei diesem Apparat
werden durch ein Uhrwerk im oberen Teile zwei ziemlich dicht
übereinanderliegende Scheiben in Rotation versetzt, schleudern
hierdurch die zwischen ihnen befindliche Luft infolge der
Zentrifugalkraft heraus und saugen durch das Innere des
Apparates neue Luft an, die in fortwährender Strömung die
beiden Thermometer passiert und ihnen die Luftwärme
mitteilt. 1 )
Die W i n d beobachtungen zerfallen in die der Wind-
richtung und der Windstärke. Zur Beobachtung der Wind
richtung dient eine hoch und frei, auf dem Dache oder einem
Flaggenmast befestigte Windfahne mit Richtungskreuz, die sich
recht leicht in ihren Lagern dreht. Die Ablesungen erfolgen
nach den vier Hauptrichtungen und zwölf eingeschalteten
Zwischenrichtungen, z. B. S. (Süd), W. (West), SSW., SW.,
WSW. — Eine solche Windfahne mit durchgehender Stange,
so daß die Ablesungen im Innern des Gebäudes vorgenommen
werden können, kostet etwa 36 bis 42 Mk. — Die Windstärke
wird gewöhnlich geschätzt, und zwar bedient man sich zur
l ) Da die Beziehungen zwischen Luftfeuchtigkeit und dem Temperatur-
minimum weniger bekannt sein dürften, möchte ich hier einschalten, daß aus
der Beobachtung des feuchten Thermometers zu einer bestimmten Nach-
mittagsstunde mit ziemlicher Sicherheit auf das Temperaturminimum der
folgenden Nacht geschlossen werden kann, besonders an windstillen Tagen,
wo eben nicht durch den Wind stärkere Feuditigkeitsveränderungen zu
erwarten sind. Dies ist von größter Bedeutung für die Möglichkeit, im Früh-
jahr Nachtfröste, die ja meist in klaren, windstillen Nächten entstehen,
voraussagen zu können.
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Meteorologische Beobachtungen an Schulen.
261
Bezeichnung der verschiedenen Windstärken meist der Beau-
fort-Skala (o bis 12).»)
Mann kann allerdings auch die Wildsche Stärketafel oder
das Robinsonsche Schalenkreuz benutzen, doch ist die An-
schaffung dieser Apparate für die Schule nicht notwendig,
sogar nicht einmal ratsam, da für die praktische Anwendung
die geschätzten Stärken genügen und die Schüler daran gewöhnt
werden müssen, auch Schätzungen genau vorzunehmen.
Zur Beobachtung des Wolkenzuges bedient man sich
des Wolkenspiegels, eines nach der Windrose in Felder ein-
geteilten Spiegels, an welchem man die Bewegung der Wolken
gegen die auf dem Spiegel angebrachten Linien abliest (Preis
etwa 15 Mk.).
Zur Beobachtung der Wolkenformen und der Aus-
dehnung der Bewölkung, der Himmelsbedeckung, bedient man
sich keiner Apparate. Die Wolkenformen werden nach inter-
nationalem Uebereinkommen in zehn Klassen (Typen) unter-
schieden als:
1. j Cinus 2. / Cirro-Strarus 3. i Cirro-Cumulus 4. i Alto-Cumulus
(Federwolke. ISchleierwolke. (Schäfchen- Wolke. (Dickere Wolkenballen.
5.f Alto-Stratu* 6./ Strato-Cumulus 7./ Nimbus 8./ Cumulus
\Hohe Schichtwolke. \Dunkle Wolkenwülste. \Regenwolke. \Haufenwolke.
') Die Bedeutung der Skalenteile ist:
0 = Windstille.
1 — leiser Zug, Rauch steigt fast gerade empor.
2 = leichter Wind, für das Gefühl eben bemerkbar.
3 p= schwacher Wind, bewegt einen leichten Wimpel, auch die Blätter
der Bäume.
4 s=r mäßiger Wind, streckt einen Wimpel, bewegt kleine Zweige
der Bäume.
5 c=r frischer Wind, bewegt größere Zweige der Bäume, wird für das
Gefühl schon tinangenehm.
6 = starker Wind, wird an Häusern und anderen festem Gegenständen
hörbar, bewegt große Zweige der Bäume.
7 c= steifer Wind, bewegt schwächere Baumstämme, wirft auf
stehendem Wasser Wellen auf, die oben überstürxen.
8 = stürmischer Wind, ganze Bäume werden bewegt, ein gegen den
Wind schreitender Mensch wird merklich aufgehalten.
9 = Sturm, leichtere Gegenstände, wie Dachziegel, werden aus ihrer
Lage gebracht.
10 = starker Sturm, Bäume werden umgeworfen.
11 = heftiger Sturm, zerstörende Wirkungen schwerer Art.
12 = Orkan, verwüstende Wirkungen.
262
Joseph Frühling.
Zur Vergleichung und Einübung ist die Anschaffung von
Wolkenabbildungen zu empfehlen, so des „Atlas international
des nuages. — Paris 1896" — oder der „Wolkentafeln von
K. Singer".
Die Angabe der Himmelsbedeckung erfolgt in der
Art, daß man schätzt, welcher aliquote Teil der ganzen sicht-
baren Himmelsfläche von den Wolken überdeckt erscheint;
in der Regel gibt man den Grad der Himmelsbedeckung nach
einer Skala von o bis 10 an.
Beobachtungen der Dauer des Sonnenscheines haben
für die Schule zu wenig Wert, um den dazu nötigen Apparat
zu beschaffen.
Zur Messung des Niederschlages bedient man sich
des Regenmessers, eines mit einem Deckel verschließbaren zylin-
drischen Blechgefäßes mit 200 qcm oberer Oeffnung, das einen
Blechtrichter enthält; unter diesem steht die Sammelflasche.
Zweckmäßig wendet man zwei Regenmesser an, läßt jedoch
nur einen offen und benutzt den zweiten hauptsächlich als
Reserve, z. B. bei Schneefall, da zur Messung des nieder-
gefallenen Schnees der Regenmesser erst in die warme Stube
zum Schmelzen des Schnees gebracht werden muß. Bei der
Aufstellung der Regenmesser ist zu berücksichtigen:
1. daß die Niederschläge von allen Seiten freien Zutritt
haben,
2. daß der Regenmesser nicht allzusehr dem Winde aus-
gesetzt ist,
3. daß die Auf fangefläche etwa 1 Vi m über dem Erdboden
sich befindet.
Die Kosten eines Regenmessers belaufen sich auf 7,50 bis
19 Mk.
Von der Messung der Luftelektrizität gilt das gleiche
wie das von der Sonnenscheindauer gesagte.
Wann sind nun die Beobachtungen anzustellen? Die
meteorologischen Institute verlangen eine dreimal tägliche Be-
obachtung, und zwar um 7ha, 2h p, 9h p, oder um 8ha. 2h p,
8h p. Das letztere dürfte vorzuziehen sein, um die Ablesungen
mit den Wetterkarten vergleichen zu können, außerdem aber,
weil für die Schüler der 7h aTermin im Winter reichlich früh,
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Meteorologische Beobachtungen an Schulen.
263
der 9h p-Termin reichlich spät sein dürfte. Da die Ablesungen
nur wenige Minuten in Anspruch nehmen, können die Morgen-
und Nachmittag-Beobachtungen in der 8h- resp. 2h-Pause erledigt
werden. Man wird zweckmäßig die Beobachtungen der
einzelnen Elemente an verschiedene Schüler verteilen und dann
wöchentlichen oder zehntägigen Wechsel eintreten lassen, so
daß im Laufe des Jahres sämtliche Schüler einer Klasse (von
Untersekunda an) etwa zwei- bis mehreremal die Beobachtungs-
woche für jedes Element haben. Ein Wechsel ist ratsam, um
die subjektiven Beobachtungsfehler genau erkennen zu können ;
doch ist ein täglicher Wechsel zu vermeiden, da hierbei die
subjektiven Fehler unkontrollierbar werden. Eine Dauer von
etwa einer Woche oder einer Dekade genügt vollkommen, um
die Fehler in subjektive, längere Zeit hindurch konstante
Beobachtungsfehler und zufällige Ablesefehler zu sondern und
die Kontrolle derselben zu ermöglichen. Bei den meteoro-
logischen Beobachtungen tritt der Unterschied zwischen den
Beobachtern so deutlich und intensiv hervor, daß man ihn der
persönlichen Gleichung der Astronomen in bezug auf den Wert
für die Psychologie an die Seite stellen kann. Die Zugehörig-
keit bestimmter Beobachtungsfehler zu gewissen Veränderungen
der Stimmung und des Lebensgefühles der einzelnen Beob-
achter, zu ihrem Temperament, tritt so deutlich hervor, daß
man, wie ich aus eigener Erfahrung 3 ) behaupten kann, nach
mehrmaligem Wechsel zwischen einer bestimmten Anzahl Per-
sonen aus den Beobachtungen sofort den Beobachter selbst
angeben kann. Werden die Ablesungen aber außerdem, wie
es an der Schule sich von selbst ergibt, nicht nur nach den
Wetterkarten kontrolliert, sondern vom Lehrer stets selbst mit
ausgeführt, so sind auch die feineren Nuancen der Stimmung,
auch gelegentliche, Vorübergehende Aenderungen der Stimmung
und des Lebensgefühles deutlich zu erkennen, besonders bei den
Beobachtungen durch Schätzung. —
Da die Beobachtungen genau zu bestimmten Zeiten aus-
geführt werden müssen, werden die Schüler an Pünktlichkeit
gewöhnt. Weiter aber werden sie durch die Schnelligkeit des
Beobachtens, durch die erforderliche Genauigkeit der Ab-
*) Der Verfasser war mehrere Jahre an der Deutschen Seewarte in
Hamburg.
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264
Joseph Frühling
lesungen zu schnellem, exaktem Arbeiten veranlaßt. Es wird
bei diesen Beobachtungen nicht nur der Verstand in Anspruch
genommen und geschärft, das Gedächtnis gestärkt, sondern
besonders die schnelle Konzentration des Geistes auf eine
bestimmte Arbeit bewirkt. Dazu kommt noch, daß durch die
Reduktionen, Korrektionen und die Tabellenaufrechnung*) das
Rechnen, besonders das Kopfrechnen, in welchem die Mittel-
und Oberklassen trotz aller Repetition in den Mathematikstunden
doch mehr oder weniger stark aus der Uebung gekommen
sind, besonders geübt wird. Durch die ohne Apparate vor-
zunehmende Schätzung der Windstärke, der Wolkenform, der
Himmelsbedeckung usw. wird die Beobachtungsgabe in den
Schülern geweckt und durch andauernde Uebung verstärkt,
kurz: der Schüler lernt durch die Ablesungen und die Beob-
achtungen exakt zu arbeiten und seinen Geist auf eine bestimmte
Arbeit, ohne sich durch andere Gedanken ablenken zu lassen,
zu konzentrieren und alles, auch die scheinbar unwichtigen
Dinge zu beachten und für sich und seine Arbeiten nutzbar zu
machen. Dadurch kommt ihm die geringe Mehrarbeit, zu der
er durch die meteorologischen Beobachtungen gezwungen wird,
für die anderen Fächer zugute.
Die Beobachtungen können von den Schülern von Unter-
sekunda an ausgeführt werden. Eine einfache Erklärung
des Wesens und der Entstehung der meteorologischen
Elemente dürfte auch schon in Untersekunda gegeben
werden, woran sich in Obersekunda ein genaueres Ein-
gehen auf diese angliedern könnte, zum Beispiel über
die Ablenkung der Windrichtung durch die Rotation der
Erde, die Bildung von Zyklonen und Antizyklonen, Ursachen
für die Aenderungen des Luftdrucks u. a. Dies könnte in der
Physik in einigen wenigen Stunden leicht besprochen werden
und würde eine gute Vorbereitung auf die in Prima vorzu-
nehmende Erklärung des Wetters an Hand der Wetterkarten
bilden. Die Wetterkarten, die für diese Besprechungen dienen
*) Wie schon oben gesagt, sind die Beobachtungen und Messungen der
meteorologischen Elemente dreimal täglich vorzunehmen, außerdem aber
in ein besonderes Beobachtungsheft und in Monatstabellen mit den armi-
bringenden Korrektionen und Reduktionen einzutragen. Femer sind außer-
terminlich noch Gewitter, Hagelfälle, Regenschauer, Sonnen- und Mond-
höfe zu beobachten und auch einzutragen.
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Meteorologische Beobachtungen an Schulen.
265
sollen, können entweder die vom Berliner Wetterbureau —
Leitung Herr Privatdozent Dr. Less — herausgegebenen sein,
die sich durch klaren Druck und gute Uebersichtlichkeit aus-
zeichnen (Abonnementspreis vierteljährlich 4,50 Mk.), oder aber
die vom Reichs Wetterdienst für 0,50 Mk. monatlich verbreiteten,
die jedoch nicht so reichhaltig sind. 5 ) — Die vom Berliner
Wetterbureau herausgegebenen Wetterkarten geben auf der
ersten und letzten (vierten) Seite eine allgemeine Erläuterung
der Wetterkarten überhaupt; auf der zweiten Seite stehen zu-
nächst die Morgenbeobachtungen desselben Tages von über
50 deutschen und ausländischen Stationen, und zwar der Baro-
meterstand in ganzen Millimetern, Windrichtung und Wind-
stärke, Wetter (ob wolkenlos, heiter, Regen usw.), dann die
Temperatur in ganzen Graden Celsius und endlich bei 16 bis
17 Stationen die Höhe des in den letzten 24 Stunden gefallenen
Niederschlags in Millimetern. Unten auf der Seite ist der
Verlauf der Witterung seit dem Morgen des voraufgehenden
Tages unter besonderer Berücksichtigung der Aenderung des
Luftdrucks, der Verlagerung der Zyklonen und Antizyklonen,
sowie der Wärmeänderung kurz gekennzeichnet. Die dritte
Seite enthält oben die eigentliche Wetterkarte, deren Einrich-
tung wohl bekannt ist, die ich aber im Zusammenhang ganz kurz
erwähnen möchte. — Die schwarzen Linien auf der Karte sind
Isobaren, d. h. die Verbindungslinien der Orte gleichen Luft-
drucks (von 5 zu 5 mm), die beigeschriebenen Zahlen die Tempe-
raturgrade (Celsius), die Ausfüllung der Ortskreise das Wetter
(O wolkenlos, (3 heiter, (J halb bedeckt, wolkig, £ bedeckt,
• Regen, * Schnee, o° Dunst, s Nebel, Gewitter) und schließ-
lich die Pfeile die Windrichtungen (die Pfeile fliegen mit dem
Winde) und deren Befiederung die Windstärke (eine Fieder
entspricht der Windstärke 2, zwei Fiedern der Windstärke 4).
Wir sehen die Isobaren um Zentren gruppiert, nämlich rings
zusammenlaufend um die Zyklonen, Gebiete relativ niedrigen
Luftdrucks, und Antizyklonen, Gebiete relativ hohen Luftdrucks.
Die Winde wehen nach der Zyklone (Depression) hin, doch
wird die Windbewegung durch die Rotation der Erde eine
spiralförmige, mit einer dem Uhrzeiger entgegengesetzten
*) Die von der Seewarte herausgegebenen Wetterkarten sind für die
Schule zu teuer (vierteljährlich 15 Mk.).
266
Joseph Frühling.
Drehung, dagegen aus der Antizyklone in spiralförmiger
Drehung im Sinne des Uhrzeigers heraus, so, daß die Winde
bei schwachen Gradienten (d. h. bei weitem Abstand der Iso-
baren) den Isobaren fast parallel wehen, während bei steilen
Gradienten (d. h. bei engem Abstand der Isobaren) die Be-
wegung mehr gerade erfolgt und der Winkel zu der Isobare
größer wird. —
Diese Erklärungen, selbstverständlich ausführlicher und
genauer, müßten den Primanern zuerst gegeben werden, woran
sich dann anzuschließen hätten die Lehren, daß die Verteilung
des Luftdrucks sich fortwährend ändert, daß die Zyklonen
gewisse Bahnen (van Bebbers Zugstraßen) zu bevorzugen
scheinen, welches Wetter auf der Vorder- und auf der Rück-
seite der Zyklonen vorwiegt, welche Aenderungen beim Heran-
nahen und Vorüberziehen einer Depression eintreten, welche
Witterung bei gewissen, ähnlichen, häufiger wiederkehrenden
Luftdruckverteilungen (van Bebbers Wettertypen) zu erwarten
ist, nebst Erläuterungen der Isobarenformen (Keil, Zunge,
Gewittersäcke usw.). Dann würde man dazu übergehen müssen,
diese Erläuterungen an Kartenbeispielen zu veranschaulichen
und von den Schülern die Morgenbeobachtungen der Schule
in die Karten eintragen, event. sogar die in den Wetterkarten
des Berliner Wetterbureaus mitgeteilten meteorologischen Ele-
mente der 50 Stationen in besondere Karten eintragen und die
Isobaren selbst ziehen zu lassen, so daß die Schüler schließlich
selbst imstande sind, aus der Wetterkarte die Erklärung der
tatsächlichen Witterung ungefähr zu geben. —
Der Nutzen, den die Schüler der oberen Klassen aus diesen
Erläuterungen erzielen würden, dürfte zunächst darin bestehen,
daß sie kennen lernen, welchem Zwecke zum Teil die auch
auf der Schule angestellten Beobachtungen dienen, außerdem
aber in dem Verständnis der Wetterkarten selbst, ohne welche
ein richtiges Verstehen der von den Instituten herausgegebenen
Prognosen nicht möglich ist, da die Prognosen stets für ein
größeres Gebiet allgemein gelten und erst durch eigene Be-
obachtung in Verbindung mit dem Studium der Wetterkarte zu
einer zuverlässigen Lokalprognose ergänzt werden müssen. —
Solche Prognosen für ein größeres Gebiet sind z. B. bei den
vom Berliner Wetterbureau herausgegebenen Karten auf der
dritten Seite unterhalb der Wetterkarte gegeben.
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Meteorologische Beobachtungen an SchtUm.
267
Kurz zusammengefaßt: Zur Einrichtung des meteoro-
logischen Apparates an der Schule wären etwa 250 bis 400 Mk.
erforderlich. An laufenden Kosten wären nur die Beschaffung
der Beobachtungshefte und Monatstabellen, event. von Blanko-
karten, sowie der Bezug der Wetterkarten (6 bis 18 Mk. jährlich)
vorhanden. An Zeit würde dreimal täglich eine Zeitspanne von
10 Minuten erfordert, außerdem müßte die Physik einige wenige
Stunden der Meteorologie opfern. 8 ) Der Nutzen, den das
Studium der Meteorologie dem Schüler bringt, dürfte somit
wohl den geringen Aufwand an Zeit und Geld aufwiegen.
Auch die Meteorologie, oder vielmehr die praktische Witte-
rungskunde, dürfte großen Nutzen hieraus gewinnen, da die
Prognose an sich nur begrenzten Wert hat, wenn nicht als
Ergänzung die Wetterkarte selbst hinzukommt. Nur dann kann
man die allgemeine Prognose unter Berücksichtigung örtlicher,
meist konstanter Abweichungen zu einer zuverlässigen Lokal-
prognose umwandeln. Dazu gehört aber vor allem, daß die
große Masse der vom Wetter Abhängigen, Landwirte,
Handeltreibende usw., auch die Karte verstehen. Und wie läßt
sich leichter das Verständnis der Karten verbreiten als durch
die Schulen, die als Erziehungsinstitute gleichsam eine Brücke
zwischen dem Laien und dem Fachgelehrten bilden? Kennen
erst die Schüler der oberen Klassen höherer Lehranstalten,
sowie der Landwirtschaftsschulen u. a. die Wetterkarten und
verstehen sie zu deuten, so darf man mit Gewißheit erwarten,
daß die Verbreitung der Wetterkarten mehr zunimmt, als durch
Vorträge in landwirtschaftlichen und anderen Vereinen, da diese
Vorträge allein eine zu kurze Ausbildung geben, als daß diese
zu einem wirklichen Verstehen des Vorgetragenen führt, oder
die billige Verausgabung von Wetterkarten allein, und man
darf hoffen, daß damit auch das Vorurteil gegen die Zuverlässig-
keit der Prognosen, die meist noch immer als Lokalprognosen
*) Es könnte der Vorwurf erhoben werden, daß die Pausen zur Er-
holung dienen sollen, somit nicht der Beobachtung dienen können. Dem-
gegenüber möchte ich hier hervorheben, daß durch die Ablesungen der
Schüler selbst bei schlechtem Wetter immerhin zu einer Bewegung inner-
halb des Gebäudes in verschiedenen Stockwerken gezwungen wird, die
ebensogut wie ein langsames Umhergehen eine Erholung gewährleistet.
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268 Joseph FrÜkling.
für den jeweiligen Ort des Empfängers aufgefaßt werden und
so zu Irrtümern Anlaß geben, verschwindet.
Doch auch der Wert für die Psychologie dürfte, wie schon
früher hervorgehoben, nicht gering anzuschlagen sein. Er-
fahrungen nach diesen Richtungen hin hoffe ich demnächst
vorlegen zu können.
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Ueber anatomische Modelle«
Von
P. Osterloh.
Wenn der Laie auf einer Lehrmittelausstellung die
im Handel vorkommenden anatomischen Modelle kennen
lernt, so mag er vielleicht verwundert sein über die
prächtigen Mittel, mit denen heutzutage unsere Schulen
ausgestattet werden: Herz-, Ohr-, Augen- und Kehl-
kopraachbildungen finden sich in den mannigfachsten Aus-
führungen und Preislagen vor. Es müßte für den Lehrer eine
wahre Lust sein, mit Hilfe derartiger Lehrmittel die Schüler zu
unterweisen und ihnen die wichtigsten Organe fast so gut wie
in natürlichem Zustande vorführen zu können.
Der anatomische Unterricht stützt sich hauptsächlich auf
Abbildungen und Modelle, weil natürliches Material schwer zu
beschaffen ist, und es auch nicht immer angebracht erscheint,
es den Kindern direkt vorzuführen. Ob aber die Modelle korrekt
sind, kann der Lehrer schwer beurteilen, da sie ein eingehen-
deres Studium der natürlichen Organe voraussetzen. Es werden
anatomische Modelle meist auf Treu und Glauben von Schulen
gekauft. Viele freuen sich, im Besitze schöner und wertvoller
Objekte zu sein, die, näher betrachtet, doch recht unwissen-
schaftlich, mitunter sogar falsch sind. Es dürfte daher ange-
bracht sein, wo heute doch jede Volksschule danach strebt,
Modelle der wichtigsten Organe zu erwerben, sie vom wissen-
schaftlichen Standpunkt aus zu betrachten. Ich scheide von
vornherein die aus Gips hergestellten aus, weil das Material
manches nicht zuläßt, was in Papiermache-Ausführung mög-
lich ist, die auch jetzt wegen größerer Haltbarkeit mehr ein-
geführt ist. Es kommen die von Dr. Benninghofen und
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270
P. Osterloh.
A. Sommer in Berlin, und die von Marcus Sommer,
jetzt Fritz Sommer, in Sonneberg verfertigten hauptsäch-
lich in Betracht.
1. Das Kehlkopfsknorpelmodell.*) An diesem Modell ist ziem-
lich alles falsch wiedergegeben ; nicht einmal die äußern Formen,
Kehldeckel, Schildknorpel, Ring- und Stellknorpel, bei denen
Gelenkflächen nicht zum Ausdruck kommen, sind korrekt.
Gänzlich verfehlt ist die Funktion. Man erwartet, daß das
Modell das Oeffnen und Schließen der Stimmritze veranschau-
licht. Wie aber die Stimmritze geöffnet wird, darüber gibt das
Modell keinen Aufschluß. Ueber den Verschluß belehrt uns
Benninghofen in naiver Weise, daß ein Zug hinten am
Ringe, wo eigentlich der Musculus cricoarytaenoideus post. das
Oeffnen der Stimmritze bewirken müßte, in diesem Falle durch
Drehung der Stellknorpel die Stimmritze schließt. Es werden
dabei zwei Lappen, die sonderbarerweise am Schildknorpel
angeheftet sind, über dem Hohlraum des Ringes zusammen-
gezogen.
Wenn zwei Konkurrenzfirmen dieselben Fehler begehen,
so liegt die Annahme nahe, daß die eine der andern nach-
gearbeitet hat. Es ist ja freilich leichter, andere Sachen nach-
zuahmen, als sich eigenen wissenschaftlichen Studien hinzu-
geben. So basieren unsere bisherigen anatomischen Modelle
entweder auf den alten Bock'schen Gipsmodellen, die aber
in der Tat in vielem Besseres leisten, als die modernen, oder auf
älteren französischen Modellen. Und doch haben alle Nach-
ahmungen dieser Modelle nicht den Geist erfaßt, den sie be-
sitzen ; in den Bockschen den pädagogischen Wert, in den fran-
zösischen die wunderbar künstlerische Technik; nur die Fehler
sind getreu aufgenommen worden. Ich sollte meinen, die
Arbeiten von Luschka, Grützner, Pansch, Herrmann
und die Dissertation von Dr. Will (1895) im anatomischen
Institut des Herrn Geheimrats Prof. Dr. S t i e d a in Königsberg
müßten allen Fachmännern bekannt sein, die wissenschaftliche
und nicht bloß kaufmännische Institute gründen. Ich will da-
von absehen, daß sich unter meinen anatomischen Modellen
das unter spezieller Anleitung von Geheimrat Prof. Dr. St ie da
*) Im Kataloge von Dr. Benninghofen und A. Sommer wird es als neues
Modell io einzelne Teile zerlegbar, die Stimmritze beweglich, zum Preise von
25 Mk., bei Marcus Sommer, Sonneberg mit 123 Mk. angeboten.
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Ueber anatomische Modelle
271
angefertigte Stiedasche Kehlkopfknorpelmodell befindet, das
wegen seiner Korrektheit die weitgehendste Verbreitung und
Anerkennung gefunden hat. Bereits 1891 gibt Pansch in
seinem Grundriß der Anatomie des Menschen, 3. Auflage, eine
genaue Darstellung der Verhältnisse, die jedes Modell zu berück-
sichtigen hat. „Die Gelenke zwischen cartilago cricoidea und
cartilago arytaenoidea sind als zylindrische zu bezeichnen. Die
Achse steht schräg. Denken wir uns die Achsen beider Gelenke
verlängert, so müssen sie sich hinten oben in der Medianlinie
schneiden. (Nach Dr. W i 1 1 im Winkel von 50—60°.) Die Gieß-
kannenknorpel auf dem Ringe erzeugen das Senken des Pro-
cessus muscularis und das Heben des Processus vocalis; da
die Achse aber schräg steht, so wird mit der Hebung des
Processus vocalis auch eine Bewegung zur Seite stattfinden.
Das Resultat ist: die Stimmbänder werden voneinander ent-
fernt (Heben des Processus vocalis) oder einander genähert
(Senken des Processus), dadurch wird die Stimmritze ge-
schlossen." Ich verweile beim Kehlkopfs-Modell länger, weil
es auch beim Gesangunterricht für jede Schule eine höchst
willkommene Gabe ist.
2. Das Herzmodell ist durch Oeffnung der rechten
und linken Herzkammer von vorn und durch Wegnahme der
in der Mitte durchschnittenen Vorkammern von oben so zu
öffnen, daß man sofort einen Ueberblick über die Ostien und
die halbmondförmigen Klappen der Aorta und Arteria pulmo-
nalis erhält. Gegen den Schnitt läßt sich nichts einwenden.
Allein Benninghofen sollte als Arzt nicht ein solches
Modell als typisch geben, das an so erschreckenden Herz-
fehlern leidet, mit denen ein Mensch kaum leben könnte. Ihm
müßte doch vor allem die Stellung der drei Semilunarklappen
in der Aorta und Arteria pulmonalis auffallen. Jeder, der schon
ein natürliches Präparat gesehen hat, wird es in folgender
Stellung beobachtet haben. In der Pulmonal-Arterie steht die
eine halbmondförmige Klappe nach vorn, daher sie jeder Ana-
tom Valvula semilunaris pulmonalis anterior nennt, die
andern rechts und links als semilunaris dextra oder sinistra
bezeichnet. Bei der Aorta gibt es eine hintere Valvula semi-
lunaris aortae posterior, sowie eine rechte und linke. Das
Benninghofensche Modell belehrt uns oder Schulen eines
Besseren. An seinem Modell gibt es eine valvula semilunaris
272
P. Osterloh.
pulmonalis posterior und eine valvula semilunaris aortae
anterior! — Was die großen Herzeinmündungen betrifft,
so sind diese in dem hier geöffneten Zustande der Bicuspidal-
und Mitralklappe so jämmerlich verengt, daß ihr Lumen nicht
größer als der Durchschnitt der Aorta ist. Jeder Laie
würde am Naturpräparat die großen Unterschiede in den Ver-
hältnissen bemerken, ohne Mediziner zu sein oder geschickter
Modelleur, wie doch A. Sommer sein will. So ist auch die
rechte Herzkammer, die jedes gewöhnliche Schulbuch als ge-
räumiger und dünner wie die linke beschreibt, viel zu eng,
ihr gegenüber die linke zu weit. Obendrein ist noch ein ganz
besonderer Raum in der linken Herzkammer vor der zweizipf-
lichen Klappe geschaffen, der an keinem Naturherzen zu finden
wäre. Wahrscheinlich ist es geschehen, um die Basis der Aorten-
wurzel, die von der linken Herzkammer aus in der Natur
sehr versteckt liegt, sichtbar zu machen. In bildlicher Dar-
stellung wird es leider oft gemacht, daß man bei etwas er-
öffneter linker Kammer die Aortenbasis mit ihren Klappen,
ich möchte sagen, um die Ecke herum zeichnet. In der Plastik
ist es gar nicht nötig, wissentlich solche Fehler zu machen,
weil man von allen Seiten in das Präparat hineinsehen kann.
Gute Abbildungen, wie im Atlas von Prof. Spalteholz,
Fig. 425, werden so etwas auch selbst bildlich nicht zeigen.
Uebrigens leistet, beiläufig gesagt, Marcus Sommer in
dieser Beziehung an seinem Herzmodell zu 13,50 Mark für
Schulen noch Unglaublicheres. Er läßt die Aortenwurzel an
der hinteren Herzwand zwischen den Papillarmuskeln ein
münden, von anderen Fehlern gar nicht zu reden. In gleich
oberflächlicher Weise sind bei dem Benninghofenschen Modell
9 d l die Herzvorkammern behandelt. Auf Größen Verhältnisse
scheint er gar keine Rücksicht zu nehmen. Rechte wie linke
Herzvorkammer sind gleich groß und plump in der Wand,
während die rechte größer wie die linke sein müßte, ihre Wan-
dungen müßten viel dünner sein. Ferner läßt er ganz richtig
in die linke Vorkammer linkerseits zwei Lungenarterien ein-
münden, rechts äußerlich aber drei einmünden, die innen sogar
in eine zusammenfließen, während man nur zwei Hauptstämme
kennt. Wie oberflächlich dieses Herzmodell gemacht ist, sieht
man auch in den Details, die allerdings nach der Katalogangabe
vorzüglich fein sein sollen. Die Firma scheint sich nicht recht
Veber anatomische ModrUr.
273
klar über die Einmündungen der Herzgefäße in die Aorta
zu sein. Sie könnte sonst nicht die Einmündung der Arteria
coronaria dextra an der Grenze zweier zusammenstoßenden
Klappen angeben, während die coronaria sinistra ganz oberhalb
der falsch gestellten vorderen Klappe einmündet. Ich möchte
Dr. Benninghofen doch auf den Atlas von Prof. Spalte-
holz, Fig. 426, zum näheren Studium verweisen. Ein solches
Modell wie 9d* ist kaum ein schematisches zu nennen, ge-
schweige, daß es nach Naturpräparat gearbeitet sein soll. Von
anderen Details will ich absehen, aber wenn ein Modell der-
artige grobe Fehler aufweist, wie müssen da erst die Modelle
in geringeren Preislagen von 25 Mark bis zu 8 Mark sein ? Daß
dieselben Mängel in noch viel plumperer und roherer Weise
zum Ausdruck kommen, brauche ich wohl nicht erst zu er-
wähnen. Ich sehe daher von einer näheren Beschreibung des
Modells 9d u. a. ab, ebenso von denen der Firma Marcus,
Sommer. Solche Modelle, namentlich wenn sie von einem
Arzte herausgegeben werden, von dem man erwarten sollte, daß
er die Wissenschaft fördert, stehen sicher nicht auf dem heutigen
Standpunkte der Wissenschaft, nicht einmal auf einer mittel-
mäßigen Stufe. Nach diesen Erörterungen glaube ich nicht
erst nötig zu haben, andere Schulmodelle, wie Ohr und Auge,
heranzuziehen, da ich ja nicht durch Korrekturen jenen Firmen
nützen, sondern Aufklärung schaffen will, die der Wissenschaft
Nutzen bringt. Unsere deutsche Schule, von der Volksschule
an, steht heute auf einer ganz anderen Stufe, als vor 30 Jahren,
wo man froh war, wenn man ein mittelmäßiges Modell besaß.
Es mögen meine Erörterungen vielleicht manchen Lehrer be-
fremden, weil er selbst sich bisher nicht so eingehend von der
Oberflächlichkeit Rechenschaft gegeben hat. Unterstützt ist
allerdings die Oberflächlichkeit viel dadurch worden, daß
manche glauben, für die Schule genüge es, wenn es nur ungefähr
so ist. Wenn indes ein Schüler nur in einem deutschen Auf-
satz soviel grobe orthographische Fehler machte, was würde
da wohl ein Lehrer sagen ? Bei so wichtigen Lehrmitteln aber,
die jede Schule gebraucht und die unseren Organismus be-
treffen, ist man aber bisher so nachsichtig gewesen, führt sie
nicht nur einem Schüler, sondern einer ganzen Klasse mit
ihren Fehlern vor und der Schüler staunt über die Kunstwerke
der verpfuschten Natur.
ZeiUchrtfl fOr pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 2
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274
r Otterhh.
Daß darüber sich endlich einmal die Stimme eines Fach-
mannes, der in seiner Meinung nicht vereinzelt dasteht, erheben
muß, ist wohl begreiflich, um besseren Objekten Bahn zu
brechen. Andererseits wird weder Dr. Benninghofen noch
Sommer meine Auseinandersetzungen über das Kehlkopfs-
modell, begründet durch die angeführten Autoren, bestreiten
können, noch wird Dr. Benninghofen die Fehler der mir
zur Hand gestellten Herzmodelle 9d l , 9d wissenschaftlich
irgendwie verteidigen können.
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Der Stand des Unterrichts an den Schulen für
Schwachbefähigte in Deutschland.
Referat, erstattet beim II. internationalen Kongreß für Schul-
hygiene in London
Von
Heinrich Stadelmann.
Zwecks Berichterstattung „über den gegenwärtigen Stand
des Unterrichts in den Schulen für Schwachbefähigte in
Deutschland" schickte ich an 163 Orte, in denen solche Schulen
bestanden, Fragebogen aus. Die Adressen entnahm ich dem
von Frenzel, Schwenk und Schulze herausgegebenen und bei
Scheffer in Leipzig für den Jahrgang 1907/08 erschienenen
„Kalender für Lehrer und Lehrerinnen an Schulen und An-
stalten für geistig Schwache".
Von 107 Orten erhielt ich seitens der Schulleiter die ge-
wünschte Auskunft. Da an vielen Orten mehrere Hilfsschulen
sind, erhielt ich im ganzen 118 Fragebogen beantwortet.
32 Fragebogen kamen unbeantwortet zurück, mit der Bemer-
kung, daß behördlicherseits keine Erlaubnis bestehe, über
Schulangelegenheiten Auskunft zu erteilen. 24 Fragebogen
blieben unbeantwortet beziehungsweise von 24 Orten lief keine
Beantwortung ein. Die an die betreffenden Schulleiter gerich-
teten. Fragen waren folgende:
Wie viele Klassen hat die Hilfsschule?
Wie viele Kinder sind in einer Klasse vereinigt ?
Werden Knaben und Mädchen zusammen unterrichtet?
Angabe des Stundenplanes.
Wie werden die Pausen verwendet?
2*
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276
Heinrich Stadehnann.
Werden Speisen in der Schule verabreicht?
Angabe des (wenn auch nur allgemein gehaltenen) Lehr-
planes :
Werden Sprachheilübungen vorgenommen ?
Behält der Lehrer die Kinder mehrere Klassen hindurch?
Wie lange?
Wie lange verbleiben die Schüler in der Hilfsschule?
Welche Arten von Kindern werden aufgenommen ?
Welches ist das Aufnahmeverfahren?
Existieren Fragebogen ? Welche ?
Werden beim Eintritt in die Schule Intelligenzprüfungen
bei den Schülern vorgenommen? Nach welcher Methode?
Werden Schemata für eine Schülercharakteristik gebraucht ?
Welche ?
Werden Ermüdungsbestimmungen vorgenommen? Nach
welcher Methode?
Welche Ermüdungserscheinungen werden festgestellt?
Werden Schulprüfungen (am Ende des Schuljahrs) vor-
genommen? In welcher Weise?
Welches sind die Erfolge nach Entlassung der Schüler
aus der Hilfsschule ? Wodurch werden diese Erfolge festgestellt?
Wie sind die Fortschritte der geistigen Gesundheit? Wie
und in welchen Zwischenräumen werden sie festgestellt?
Werden Intelligenzprüfungen oder Schülercharakteristiken
am Ende eines Schuljahres beziehungsweise beim Austritt aus
der Hilfsschule vorgenommen?
Die Gedanken, die mich bei der Aufstellung des Frage-
bogens leiteten, waren folgende:
Wenn medizinischerseits über den Stand des Unterrichts
in den Schulen für Schwachbefähigte referiert werden soll,
muß die Frage zur Beantwortung kommen, inwieweit die
geistige Leistungsfähigkeit der geistig schwachen Schüler durch
den Unterricht gefördert wird. Die geistige Leistungsfähigkeit
hängt von mancherlei Faktoren ab. Sic ist einerseits bestimmt
durch die individuelle Veranlagung, sowie andererseits durch
Einflüsse, die auf diese Anlage einwirken.
Um eine Hebung der geistigen Leistungsfähigkeit bewerk-
stelligen zu können, bedarf es also einer Kenntnis der Anlage
und der diese irgendwie in der Leistungsfähigkeit fördernden
oder beeinträchtigenden Faktoren.
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Der Stand de* Unterrichts an den Schulen für Schwachbefähigte wnv. 277
Das Referat wird sich somit zu befassen haben:
1. mit den Abweichungen von der Norm bei dem Schüler-
material in den Schulen für Schwachbefähigte;
2. mit der psychologischen Analyse dieses Materials;
3. mit den Förderungserfolgen bei den Schülern;
4. mit der Unterrichtsmethode, der Lehrzeit, der Lehr-
dauer, dem Lehrplan und dem Lehrziel;
5. wird das Referat unter Zugrundelegung von gewonnenem
Tatsachenmaterial aus der Praxis Perspektiven zu geben
haben.
Es sollen diese Themen der Reihe nach behandelt werden.
Das erste Thema betrifft also das Schülermaterial, das Auf
nähme findet in der Schule für Schwachbefähigte; diese Fest-
stellung fällt zum Teil zusammen mit dem zweiten Thema, das
von der psychologischen Analyse des Materials handelt, in-
sofern nämlich das Schülermaterial vor der Aufnahme psycho-
logisch untersucht wird.
Unter 116 Schulen für Schwachbefähigte nehmen 108 die-
jenigen Schüler auf, die nach Ablauf von 2 Jahren in der
Normalschule das Ziel der Unterschule nicht erreicht haben;
3 Schulen nehmen die Kinder bereits nach einem Jahr des Ver-
bleibes in der Normalschule auf; 3 Schulen nach 1 — 2 Jahren;
1 Schule teilt mit, daß sie die Kinder bereits während, des
ersten Schuljahres, wenn nötig aufnimmt ; 1 Schule bringt die den
Anforderungen nicht genügenden Schüler nach 1 Jahre in die
Förderklasse und danach erst in die Hilfsklasse; 1 Schule er-
wähnt noch, daß sie auch spätere Jahrgänge der Volksschule
berücksichtige ; 5 erwähnen, daß sie sich Ausnahmen vorbe-
halten.
Die aufzunehmenden Schüler sind Schwachsinnige,
Schwachbefähigte, Imbezille. Es ist wohl anzunehmen, daß diese
Bezeichnungen nicht an allen Orten für das gleiche Material
Geltung haben. 28 Schulen betonen ausdrücklich, daß sie keine
Idioten, Epileptiker, Schwerhörige, Taubstumme, Blinde, sitt-
lich Verwahrloste aufnehmen; auch nicht Tuberkulöse, Lue-
tische, mit ekelerregenden Krankheiten Behaftete. — 2 Schulen
nehmen laut Angabe leichte Grade von Epilepsie auf; 1 Schule
betont, daß sie jede Form der Psychopathie aufnimmt.
Die Bildungsfähigkeit des Schülermaterials wird fast von
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278
Heinrich Stadelmann.
jeder Schule betont, wenn die Aufnahme der Schüler in Frage
kommt.
Das Aufnahmeverfahren ist ein sehr verschiedenfaches. Der
Aufnahme geht eine Beobachtung beziehungsweise Prüfung
des Schülers voraus, die ausschlaggebend sind für dessen Auf-
nahme in die Hilfsschule. Es beteiligen sich bei der Begut
achtung zwecks Aufnahme in die Hilfsschule Lehrkräfte der
Normalschule, der Hilfsschule, sowie Aerzte an 74 Hilfs-
schulen ; darunter sind 5 Schulen, an denen die Prüfung zwecks
Ueberweisung zur Hilfsschule auf Antrag des Arztes geschieht.
An 31 Hilfsschulen entscheidet zur Aufnahme nur eine voraus-
gegangene Prüfung und Beobachtung durch Lehrer von Nor-
malschulen und Hilfsschulen. An 6 Hilfsschulen ist zur Auf-
nahme nur der Entscheid des Lehrers der Normalschule nötig;
an zwei Schulen entscheidet nur der Hilfsschullehrer; an
1 Schule der Lehrer der Normalschule mit dem Arzt; an
1 Schule wird in zweifelhaften Fällen der Arzt zu Rate gezogen ;
an 1 Schule wird in besonderen Fällen ein Psychiater befragt.
Mit der Beobachtung und Prüfung des Materials gelangen
wir zu Thema II, das von der psychologischen Analyse des
Materials handelt.
Meine Rundfragen ergaben, daß vor Aufnahme, beziehungs-
weise beim Eintritt in die Hilfsschule an 52 Hilfsschulen
Intelligenzprüfungen vorgenommen werden. Diese Prüfungen
werden nach verschiedenen Methoden vorgenommen. —
7 Hilfsschulen bedienen sich der Schülercharakteristik nach
Kläbe, 4 des von Horrix-Düsseldorf vorgeschlagenen Musters,
3 prüfen nach Frankfurter, 3 nach Stolper Methode; 2 ver-
wenden die diesbezüglichen Angaben Ziehens; 1 Schule richtet
sich nach Kändlers Personalbogen ; Koller, Marr, Trüper, Lieb-
mann sind je einmal vertreten, ebenso einmal die in Zwickau,
Köln, Mannheim, Berlin, Leipzig, Hannover gebräuchlichen
Fragebogen; in 2 Hilfsschulen werden zu Aufzeichnungen die
Charakteristikbogen der Normalschule verwendet. Andere
Hilfsschulen haben eigene Bogen, um sich entsprechende
Notizen bezüglich der Intelligenz machen zu können. Ferner
existieren noch sogenannte Gesundheitsbogen und Personal-
bogen. 38 Hilfsschulen bedienen sich keiner Formularien für
die ursprünglichen Aufzeichnungen bei der Sichtung des
Schülermaterials ; es werden dort die dem Lehrer jeweils auf-
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Der Stand d(s Unterrichts an den Schulen für Schwaclibefähigtc usw. 279
fällig und abnorm erscheinenden Befunde in ein Buch ein-
getragen. Eingehende Intelligenzprüfungen werden nicht vorge-
nommen. Es erstreckt sich diese Prüfung meist auf allgemeine
Angaben über Farbensinn, Formensinn, Zahlbegriffe, Zeit- und
Raumvorstellung; Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Sprache; auch
die Reaktionszeit ist mitunter berücksichtigt.
In 30 Hilfsschulen, in denen Intelligenzprüfungen nicht
angewandt werden, werden sogenannte Charakteristiken ge-
führt, die über das Verhalten des Schülers in der Schule, über
Aufmerksamkeit, Fleiß, Betragen, Fortschritte berichten. In
10 Hilfsschulen werden weder besondere noch allgemeine In-
telligenzprüfungen vorgenommen, noch Charakteristikbogen
gebraucht.
Als beobachtete Ermüdungserscheinungen bei den Schülern
während des Unterrichts wurden angegeben intellektuelle und
motorische Dissoziationen, Kopfschmerz, blasse Gesichtsfarbe,
Unruhe, Teilnahmslosigkeit, Zittern der Hände beim Schrei-
ben, gesteigerte Schwerfälligkeit im Auffassen, Behalten und
Sprechen; Ungehorsam, Streitsucht. In einem Falle wurde
erwähnt, daß die Kinder nur 7a Stunde lang dem Unterricht
folgen können, Vi Stunde ist schon zuviel.
Ermüdungsmessungen wurden an einer Hilfsschule vor-
genommen, und zwar nach der Additionsmethode und mit der
Zirkelspitze.
Zu Thema III, den Förderungserfolg der Schüler betreffend,
ist zu bemerken: Die Fortschritte der geistigen Gesundung
werden im allgemeinen festgestellt durch eine fortlaufende
Buchführung über den einzelnen Schüler, ohne daß ein be-
sonderes Zeitintervall eingehalten wird; in 3 Hilfsschulen ge-
schehen die Einträge zur Ergänzung der Charakteristik im
Jahre viermal; in 1 Hilfsschule dreimal; in 21 Hilfsschulen
zweimal; in 10 Schulen einmal im Jahre; in 3 Schulen erst
bei der Entlassung des Schülers. Von 5 Schulen wird berichtet,
daß der Arzt zu diesen Eintragungen herangezogen wird; in
1 Schule wird eventuell auch ein Psychiater konsultiert, wenn
es nötig erscheint. Eigene Intelligenzprüfungen und Auf-
stellungen von Schülercharakteristiken bei der Schulentlassung
werden vorgenommen in 12 Hilfsschulen. Schulprüf ungpen
werden vorgenommen m 45 Hilfsschulen. In 1 Hilfsschule er-
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280
Heinrich Stadclmatm.
halten die Schüler ein Schulzeugnis; in einer anderen halb-
jährige Zensuren.
Die Erfolge nach der Entlassung der Schüler aus der
Hilfsschule werden durch den jeweiligen Grad der Erwerbs-
fähigkeit bestimmt. 10 Hilfsschulen machen darüber genaue
Angaben: 2 geben 100% als erwerbsfähig an; 2 = 90 o/o ;
4 = 80% ; 1 = 40% völlig, 55% teilweise, 5% nicht erwerbs-
fähig; und 1 Schule gibt als erwerbsfähig nach der Entlassung
80% an, dazu 12 o/o teilweise, 8 o/o nicht.
Unter 108 Hilfsschulen ist die geringste Durchschnittszahl
der Lehrstunden in einer Woche 22; die größte 25.
Die geringste Stundenzahl pro Woche ist 11 bei einer Zahl
von 15 Schülern; diese Stundenzahl ist unter 108 Hilfsschulen
einmal vertreten. Die größte Stundenzahl ist 30 bei einer Durch-
schnittszahl von 27 Schülern; diese Stundenzahl ist 19 mal ver-
treten.
Die Unterrichtszeit fällt auf den Vormittag; in 29 Schulen
wird vormittags und nachmittags unterrichtet. Der Beginn der
Schule geschieht in 24 Schulen um 7 Uhr morgens; in den
übrigen um 8 Uhr beziehungsweise 9 Uhr und 10 Uhr je
nach Schülerklassc. Die Unterrichtsdauer ist V* — 1 stündig.
— Pausen.
Der Unterricht trägt fast ausschließlich erziehlichen Cha-
rakter; er „sucht die Kinder für das tägliche Leben tüchtig
zu machen und ihre Erwerbsfähigkeit anzubahnen". Das Lehr-
ziel gipfelt in dem Gedanken „den Schülern einen bescheidenen
Bildungsabschluß für das praktische Leben mitzugeben", wie
die diesbezüglichen Mitteilungen lauten, oder „vom Notwen-
digen das Notwendigste, dieses aber sicher".
Die Unterrichtung der Schüler basiert auf einer möglichst
breiten Anschauung. 24 Hilfsschulen haben diesen Gedanken
besonders hervorgehoben.
Als Unetrrichtsfächer sind angegeben: Religion, Deutsch,
Rechnen, Geschichte, Schreiben, Turnen, Handarbeit, Zeichnen,
Anschauung, Heimatkunde, Geographie, Naturkunde, Singen,
Handfertigkeit, Weltkunde, Fröbelbeschäftigung, Sprachheil-
übungen.
Sätze wie: „Alles mit geringster Belastung" oder „Gram-
matik auf das äußerste Minimum beschränkt" ; oder : „mehrere
kurze Sätze logisch und grammatisch richtig aneinander reihen
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Der Stand dt* Unterrichts an den Schulen für Schicachbefähigte usw. 28 1
können"; oder „die Kinder sollen befähigt werden, die in
Wort und Schrift dargelegten Gedanken anderer und ihre
eigenen richtig aufzufassen und auszudrücken"; oder „rich-
tiges Sprechen und Schreiben des Sprachschatzes der unteren
Stände"; oder „die im täglichen Verkehr am häufigsten vor-
kommenden Rechenfälle zum Verständnis bringen"; oder „die
schlummernden und verkümmernden körperlichen und geistigen
Kräfte des Kindes zu wecken und möglichst harmonisch zu
Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln" solche Sätze, die
bei der Frage nach dem Lehrplan unter den Antworten sich
finden, sprechen für die Rücksichtnahme auf das kranke In-
dividuum und auf eine spätere Betätigung im künftigen Leben.
Als methodologisch wichtig für den Unterricht gibt eine Schule
an: „jede Unterrichtsstunde läuft in bestimmte, innerlich zu-
sammenhängende Ergebnissätze aus". Eine andere betont:
„Leicht faßliche Stoffe werden als Ausgangspunkt für den
Unterricht in den üblichen Fächern genommen"; eine dritte
Schule spricht direkt von diesen Stoffen und nennt Märchen,
Robinson, Nibelungen; oder: es wird überhaupt die Umgebung
des Kindes zum Ausgangspunkt genommen oder auch die
Person des Kindes.
Neben den üblichen Fächern, die der Hilfsschüler im all-
gemeinen bei seiner Entlassung soweit beherrschen soll, daß
er ein Wissen hat, wie es ungefähr der Mittelstufe der Volks-
schule entspricht, gibt es neben den bereits genannten noch
in 1 Hilfsschule statt Turnen auch Baden; in je 2 Hilfsschulen
werden noch Gartenarbeiten geübt und Hobelbankarbeiten.
Bezüglich des Lehrplans seien noch einige Sätze erwähnt,
die eine Lehrordnung an einer Hilfsschule als Vorbemerkungen
aufstellt : „In der Hilfsschule ist die Persönlichkeit des Lehrers
von noch größerer Bedeutung als in den Normalklassen. Der
Lehrplan darf deshalb nicht allzu detailliert sein, sondern muß
der Wirksamkeit des Hilfsschullehrers einen größeren Spiel-
raum lassen. Je nach der Klassenfrequenz und der Begabung
der Kinder wird der Lehrstoff sich im einzelnen gestalten
müssen. Ferner wird die praktische Erfahrung dem Hilfsschul-
lehrer Richtpunkte für die Auswahl und Anordnung des Lehr-
stoffes geben. Aus diesen Gründen ist die nachstehende Lehr-
orclirung mehr nach allgemeinen Gesichtspunkten als Einzel-
vorschriften ausgearbeitet."
Digitized by Google
282
Heinrich Stadelmann.
Beginnen wir bei der Durchsicht und Besprechung dieses
zusammengestellten Tatsachenmaterials auch wieder mit dem
Schülermaterial. Vom ärztlichen Standpunkt aus betrachtet ist
das Schülermaterial, das Aufnahme findet in der Hilfsschule,
ein sehr verschiedenes; vom pädagogischen Standpunkt aus
ist es ein einheitliches, insofern bei der Aufnahme als Regel
gilt, daß Kinder herangezogen werden, die nach Ablauf von
zwei Jahren in der Normalschule das Ziel der Unterstufe nicht
erreicht haben. Während also nach der ersten Betrachtungs-
weise verschiedene Ursachen einer herabgesetzten geistigen
Leistungsfähigkeit sich konstatieren lassen werden, kommt
vom andern Standpunkt aus nur die Tatsache der geistigen
Minderleistung in Betracht.
Ein Unterscheiden der Schüler nach der Ursache der
Minderleistung wird jedoch sowohl für die unterrichtliche Be-
handlung selbst von ausschlaggebender Bedeutung sein, als
insbesondere für die Voraussage der gedeihlichen Weiterent-
wicklung des Kindes nach der Entlassung aus der Schule,
denn die Erfolge der erziehlichen und unterrichtlichen Be-
handlung der Schüler nach dem Austritt aus der Hilfsschule
richten sich nach dem Grad der Erwerbsfähigkeit.
Schwachbegabte, Schwachbefähigte, Imbezille, heißt es
durchschnittlich, sind diejenigen, die in die Hilfsschule geschickt
werden. Diese Bezeichnungen sind jedoch sehr dehnbar. Die
geringere geistige Leistungsfähigkeit beruht sowohl auf der
Veranlagung als auch auf äußeren Einflüssen. Die geistige
Veranlagung hat vielerlei Abstufungen. Auch gestattet be-
kanntermaßen die geringere Leistungsfähigkeit bezüglich der
Schulfächer keinen Rückschluß auf das Vorhandensein von
Schwachsinn, denn ein starkes Innenleben, wie es die gemein-
hin als Träumer bezeichneten Schüler haben, deutet im all-
gemeinen auf eine stark entwickelte aktive Apperzeption und
aktive Aufmerksamkeit hier zum Nachteil einer passiven; so
kommt es, daß den von außen kommenden unterrichtlichen
Beeinflussungen wenig Interesse seitens solcher Kinder ent-
gegengebracht wird. In anderen Fällen besteht Begabung und
Interesse nur für geistige Betätigungen, die nicht zu den
Schulfächern gehören.
Die Ursachen der geistigen Minderleistung liegen nicht
nur in der mangelnden geistigen Begabung, die dem „Schwach-
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De* Stand des Unterrichts an dm Schulen für Schtvachbefähigte usw. 283
sinnigen" eigen ist, sie können in einer psychopathischen Ver-
anlagung überhaupt zu suchen sein, fernerhin in körperlichen
Schwächezuständen nach überstandcnen Krankheiten oder dergl.
Die psychopathische Veranlagung muß nicht geistige Minder-
leistung ergeben; sie kann sie zur Folge haben, und zwar für
anhaltend lange Zeit, oder in Zwischenräumen periodisch wieder-
kehrend. Diese psychopathische Veranlagung, die sich formal
von der Schwachsinnsanlage unterscheidet, neigt wie diese
sehr leicht zu Ermüdung. Das Wesentliche bei den Symptomen
dieser abnormen Anlagen ist die relativ zu leicht und zu rasch
auftretende Ermüdung. Hat diese Anlage mehr unter dem
ersten Stadium der Ermüdung zu leiden, unter dem der ge-
steigerten Reizbarkeit, dann mag sogar eine geistige üeber-
leistung resultieren. Erst das Studium der herabgesetzten
Reizbarkeit bringt die Anlage zu den Aeußerungen, die die
Schwachsinnsanlage von vornherein zeigt. Sind auch diese
beiden Anlagen wesensgleich, so sind sie doch formal sehr
verschieden und bedürfen einer verschiedenen untcrrichtlichcn
Beeinflussung. Zu der psychopathischen Veranlagung gehört
auch die Anlage der epileptischen Kinder, die namentlich an
periodisch wiederkehrenden Ermüdungen leiden und das eine
Mal mehr gesteigerte, das andere Mal mehr herabgesetzte
geistige Reizbarkeit haben, die sie das Ziel der Unterstufe der
Normalschule nach zwei Jahren nicht erreichen lassen.
Nach der Schwachsinnsanlage und der quantitativ von ihr
unterschiedenen psychopathischen Veranlagung, die selbst
einige Typen hat, die als Ursache des Zurückbleibens mancher
Kinder in der Schule angesehen werden muß, und neben an-
deren geistig oder körperlich gebrechlichen, die aus besonderen
Gründen nicht in der Hilfsschule Aufnahme finden können,
sind die Ursachen des Zurückbleibens auch in äußeren Dingen
zu suchen, die sekundär schwächend auf das kindliche Gehirn
wirken und es in seiner Leistungsfähigkeit stören. Es sind
häusliche Unzweckmäßigkeiten und Vernachlässigungen, die
das Kind bezüglich seiner Ernährung erfährt, Erregungen
g-emütlicherseits durch unerquickliche Familienverhältnisse;
Alkoholmißbrauch; mangelnder Schlaf; Heranziehen der Kin-
der zur Erwerbsarbeit und die durch solche nicht hygienische
Vorkommnisse erzeugten Ermüdungen und Erschöpfungen des
Gehirns, die die geistige Leistungsfähigkeit herabsetzen.
Digitized by Google
284
Heinrich Stadelmann.
Es ist gewiß von großer Wichtigkeit, neben der Tatsache
der geistigen Minderleistung im einzelnen Falle auch deren
Ursache genau festzustellen, und zwar im Interesse des unter-
richtenden und erziehenden Lehrers und im Interesse des
einzelnen Schülers und der Mitschüler.
Die Grade des Schwachsinns sind sehr weit ausgedehnt;
von völliger geistiger Stumpfheit angefangen bis hinauf zu
dem Schwachsinn, den ich mehr als Feinsinn bezeichnen möchte
wegen der gesteigerten Reizbarkeit, ist eine große Skala. Der
erfahrene Lehrer kennt wohl aus seiner Praxis die Unterschiede
und bildet sich selbst gewissermaßen Typen einzelner Schwach-
sinnsformen und schafft sich so eine Grundlage, die er zum
Ausgangspunkt seines Wirkens nimmt.
Allein im Interesse einer wissenschaftlich und nicht nur
empirisch-praktisch begründeten Pädagogik, sowie einer wissen-
schaftlichen Forschung überhaupt erscheint es angezeigt, daß
Analysen der verschiedenen Grade der Schwachsinnsanlagen
vorgenommen werden.
Wie meine Einholungen ergeben haben, werden an
66 Schulen Prüfungen und Untersuchungen nach bestimmter
Methode vorgenommen, die in Form von Fragebogen nieder-
gelegt sind. Es sind, wie mir bekannt wurde, 19 Muster von
solchen Fragebogen in Gebrauch. An 32 Schulen, erfuhr ich,
hat der Lehrer seine eigene Methode zur Erforschung des
geistigen Zustandes. An 42 Schulen existieren gar keine Frage-
bogen, die die Ergebnisse einer methodischen Intelligenz-
prüfung aufnehmen. Eine Schule bemerkte, „jede Frage ist
eine Intelligenzprüfung, das beste Experiment ist der ent-
wickelnde Unterricht". Dieser Ausspruch ist gewiß sehr richtig;
allein der Wissenschaft dient er nicht, soweit diese methodische
Forschung ist. Denn nicht das subjektive Beurteilen der Kinder
kommt hier in Frage, sondern das objektive Unteruchungs-
ergebnis. Soll dieses Ergebnis allgemeine Giltigkeit besitzen,
dann muß es gewonnen werden aus einer exakten methodischen
Untersuchung. Das methodische Untersuchen hat aber nur
dann allgemeinen Wert, wenn die gleiche Methode bei allen
Kindern angewandt wurde.
Ist auch hierbei eine Reihe von Versuchsfehlern nicht zu
umgehen, so muß doch die Anwendung des gleichen objektiven
Der Stand des Unterrichts an den Schulen für Schwachbefähiyte usw. 285
Maßstabes die brauchbarsten Ausblicke für die Behandlung
des Materials ergeben.
Denn nicht alle Unterrichtenden haben in gleichem Grade
die nämlichen Fähigkeiten in sich, geistige Defekte oder
geistige Wucherungen zu erkennen, wenn auch reiche Er-
fahrung hier einen gewissen Ausgleich schafft.
Auszuführen, wie geprüft werden soll, würde über den
Rahmen dieses Referats hinausgehen. Es soll nur erwähnt
werden, daß die Frage der Intelligenzprüfungen ihre letzte
Beantwortung noch nicht gefunden hat, namentlich die metho-
dische Prüfung des kindlichen Intellekts. Für die Feststellung
des geistigen Inhalts gibt es wohl eine Anzahl recht brauch-
barer Methoden, die darauf abzielen, ein geistiges Inventar
gewissermaßen aufzustellen. Bei einem solchen Inventar der
menschlichen Intelligenz handelt es sich darum, die Perzep-
tion und Apperzeption bezüglich aller Sinnesgebiete festzu-
stellen; inbegriffen ist das Gedächtnismaterial. Es begreift
also eine derartige Untersuchung nur die Empfindungen und
Vorstellungen in sich, allerdings auch in ihrer gegenseitigen
Verknüpfung. Für die Untersuchung der geistigen Kombination
jedoch ist eine derartige Methode nicht anwendbar. Hier
müssen andere Methoden einsetzen, wie überhaupt überall da,
wo der subjektive Faktor, das Gefühl, in Frage kommt. Es
sei hier nur darauf hingewiesen, daß die Feststellung des Wahr-
genommenen bei einem Menschen nicht allein ausschlaggebend
sein kann für die Beurteilung seiner Intelligenz, sondern viel-
mehr noch die Untersuchung der Gefühle, die gerade für die
Verknüpfung der Vorstellungen und für das Gedächtnis von
ganz besonderer Bedeutung sind.
Daß bei einer derartigen Feststellung nur ganz genaue
Prüfungen eine methodische Unterrichtung ermöglichen,
braucht nicht erwähnt zu werden. Allerdings verursachen diese
Prüfungen viel Mühen und sind sehr zeitraubend. Es sollte
jedoch diese psychologische Kleinarbeit nicht umgangen
werden. Die daraus sich ergebenden Vorteile wiegen die Mühen
wieder auf.
Es wird auf Grund eingehender Intelligenzprüfungen sich
ermöglichen lassen, die bezüglich der geistigen Leistungs-
fähigkeit gleichgearteten Kinder besser zusammenzustellen als
es bisher der Fall war.
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280
Heinrich Sta Jeimann.
Der Lehrer spart Kraft und Zeit, wenn er ein verhältnis-
mäßig gleichmäßiges Material beisammen hat. Es mag sein,
daß dieses Vorgehen sich noch nicht überall wird durchführen
lassen können, namentlich da, wo der Ort klein ist und nur
eine Hilfsschule besteht, aber auch hier wird die vorgenom-
mene exakte Intelligenzprüfung dem Unterrichtenden große
Dienste tun. Zu fragen ist hier noch, wer eine derartige Methode
der Intelligenzprüfung, aufstellen soll. Da es sich um psycho-
pathische Kinder handelt, ist notwendig, daß Aerzte und
Pädagogen zusammen sich beraten über die Aufstellung des
Schemas, das bei der methodischen Untersuchung in Anwen-
dung kommen soll. Das Schema soll jedoch so beschaffen sein,
daß es demjenigen, der prüft, keine Fesseln anlegt.
In Betracht kommt noch, wie oft derartige Intelligenz-
prüfungen vorgenommen werden sollen. Damit ist schon
Thema III, die Frage nach den Förderungserfolgen, ange-
schnitten.
In wissenschaftlichem Interesse ist es gelegen, daß die
Erfolge der Behandlung schwachbefähigter Schüler nicht nur
durch den Grad der Erwerbsfähigkeit bestimmt werden. Wenn
auch gehobenere geistige Leistungsfähigkeit eine erhöhte Er-
werbsfähigkeit nach sich zieht, so ist doch bei der bisherigen
Beurteilung der Förderungserfolge auch hier ein subjektiver
Faktor in Rechnung gesetzt, an dessen Stelle ein objektiver
treten könnte. Wenn Prüfungen der Intelligenz in bestimmten
Zeitintervallen vorgenommen werden nach der stets gleichen
Methode, wird sich dieser Forderung am besten gerecht werden
lassen. Ob jedesmal bei diesen Untersuchungen die nämlichen
Reize gegeben werden sollen, ist eine weitere Frage, die hier
nicht beantwortet werden soll. Es ist nur darauf aufmerksam
zu machen, daß es sehr viel für sich hat, den stets gleich-
bleibenden Reiz zu nehmen bei den Versuchen; man darf
jedoch nicht vergessen, daß dann die Gewöhnung eine Rolle
spielen wird als Versuchsfehler, abgesehen davon, daß die
Kinder inzwischen intellektuelle Fortschritte gemacht haben.
Den Förderungserfolg der geistigen Leistungsfähigkeit durch
eine Prüfung festzustellen, wie sie in der Normalschule am
Ende eines Schuljahres geübt wird, ist für die Hilfsschule noch
weit unzweckmäßiger als für die erstgenannte Schule. Unter-
liegt das normale Kind schon Schwankungen bezüglich der
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Der Stand des Unterrichts an den Schulen für Schumdibefähigte usw.
287
Aufmerksamkeit, wievielmal mehr das abnorme Kind. Es ist
deshalb auch von besonderem Wert, Intelligenzprüfungen oder
Teile derselben hinsichtlich der Gebiete, wo ein Kind besondere
Defekte hat, öfter vorzunehmen als nur einmal im Jahre. Es
ist ja gewiß, daß die Hilfsschule für die Praxis zu arbeiten
hat; allein gerade deshalb vielleicht sollte nicht allein der
Grad einer Erwerbsfähigkeit ausschlaggebend sein für die Be-
urteilung des Erfolges, sondern das Resultat von wiederholten
Intelligenzprüfungen, weil dieses immer wieder Ausgangspunkt
sein kann für die weitere fördernde Beeinflussung, die zu einem
möglichst hohen Grad der Erwerbsfähigkeit führen will.
Es ist deshalb von großer Bedeutung, möglichst brauch-
bare Methoden bei der Förderung der geistigen Leistungs-
fähigkeit der Schwachbeanlagten zu besitzen. Bei der Be-
sprechung des IV. Themas, das vom Unterricht selbst handelt,
ist medizinischerseits, d. h. ärztlich-psychiatrischerseits, insbe-
sondere die Methode, die beim Unterricht in Frage kommt,
von Wichtigkeit. Da sich aber der zu behandelnde Stoff oft
eng 1 in die Methode schließt, ist auch der Wissensstoff hier zu
berücksichtigen. Dem Psychiater handelt es sich bei der Unter-
richtung der Schwachbefähigten um eine Therapie, eine Psycho-
therapie im weiteren Sinne. Durch diese Psychotherapie soll
die Möglichkeit zu denken erleichtert werden; unter mög-
lichster Schonung der vorhandenen Energien soll die geistige
Leistungsfähigkeit gehoben werden.
Das schwachbefähigte Kind ist sehr leicht zur Ermüdung
geneigt. Aus den Ermüdungen kommen die Dissoziations-
erscheinungen, die zu Fehlern im Denken führen. Ermüdung
verursacht unrichtige Vorstellungs- und Gedankenverbindungen.
Denk-, Sprech-, Lese-, Schreib- und Rechenfehler sind die
Folge. Die Aufmerksamkeit zerfällt. In ihrer weitesten Folge
sind die psychischen Dissoziierungen Symptome eines psycho-
tischen Menschen. Als Kinderfehler sind die Ermüdungs-
erscheinungen Analoga zu den Symptomen der Psychose.
Diejenige Unterrichtsmethode wird also die beste sein, die
möglichst der Entstehung psychischer Dissoziationserschei-
nungen vorbeugt. Die Ermüdungsgrenze der Individuen ist
m erster Linie zu berücksichtigen. Wenn auch bei Nichtberück-
sichtigung der Ermüdung die Natur sich gewissermaßen hilft,
um keine Dissoziationserscheinungen zustande kommen zu
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288
Heinrich Studrlmann.
lassen, indem sie die Aufmerksamkeit und das Interesse er
lahmen läßt, so ist es doch aus mancherlei Gründen nicht rat-
sam, über die individuelle Grenze der Ermüdung beim Unter-
richt hinauszugehen.
Wie aus dem Tatsachenmaterial hervorgeht, wird auf die
Ermüdung der Schüler stets gebührende Rücksicht genommen
durch Kürze der Lehrstunden, durch Einschalten von Pausen,
durch Wechseln im Lehrstoff. Auf diese Weise wird geistige
Kraft geschont und die Dissoziierung möglichst vermieden.
Durch eine Lehrmethode, die zu assoziieren sucht, wird der
Dissoziierung direkt vorgebeugt. Die Assoziierung der Vor-
stellungen und Gedanken beim Unterricht ist erleichtert, wenn
der Konzentrationsgedanke den Unterricht leitet. Dadurch wird
ebenfalls Kraft gespart; die Assoziationen gehen rascher und
leichter vor sich, die Erinnerung an den beigebrachten Wissens-
stoff haftet besser, wie das Experiment ergeben hat.
Wie das schwachbefähigte Kind schwer zu unterrichten ist,
ist es auch schwer zu erziehen. Es ist hier besonders zu unter-
scheiden zwischen Erziehung und Dressur; denn schwachbe-
fähigte Kinder sind mitunter leicht an das Befolgen von Geboten
zu gewöhnen, wenn ihre Schwäche eine sogenannte Befehls-
automatie in geringem Grade in sich schließt, die eigenes
Denken als Gegenmotiv für ein Gebot nicht aufkommen läßt.
Bei der Erziehung ist vor allem die Einsicht des) Kindes maß-
gebend, das lernen soll zu beurteilen, warum es gut ist in
einem gegebenen Falle in bestimmter Weise zu handeln. Die
Erziehung zu dieser Einsicht verlangt einen ganzen und
psychisch geschlossenen Menschen. Den schwachbefähigten,
aber insbesondere den Kindern mit der psychopathischen Ver-
anlagung und deren gesteigerter Reizbarkeit fällt es schwer,
wenn sie sich auf sich selbst konzentrieren sollen. Ihre Er-
müdungsanlage und die auf dieser basierenden Dissoziierungen
erschweren dem Lehrer und dem Zögling sehr die Aufgabe.
Die Methode der Erziehung kann hier nur die nämliche sein,
wie beim Unterricht : eine Assoziationsmethode, die die Gefühle
zu einer Einheit schließen soll. Die Ermüdung bringt die Im-
pulsivitäten und die Gegensätzlichkeiten hervor; es kann also
auch hier bei der Erziehung, wie dort beim Unterricht, die
Rücksichtnahme auf die Ermüdungsgrenze viel Gutes stiften.
Es darf an dieser Stelle nicht übergangen werden zu be-
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Der Stand des Unterrichts an den Schulen für SchwarhbefähigU Htm: 289
Berken, daß „moralische Minderwertigkeiten" vielfach zu den
Frühsymptomen der genuinen Epilepsie gehören, auch ihre
Begleitsymptome sind oder Aequivalente eines Anfalles dar-
stellen; ähnlich bei einer sich entwickelnden Hysterie, wenn
auch die Symptome der moralischen Minderwertigkeit hier
wegen einer anderen Wertungsmöglichkeit des eigenen Ich
und der Umgebung sich scharf von den analogen Symptomen
der epileptischen Anlage abheben können.
Um zu der richtigen Beurteilung des Schülermaterials ge-
langen zu können, sowie die hierfür nötigen Untersuchungen
vorzunehmen, und den Unterricht entsprechend der Veran-
lagung der Kinder erteilen zu können, bedarf es besonderer
Erfahrung, die sich am besten fundieren läßt durch ein be-
sonderes Studium, das dem Lehrer die Arbeit erleichtern kann.
Der Unterricht an den Hilfsschulen ist, wie bekannt, mit
großen Mühen für den Lehrer verbunden. Viel Kraft und
Geduld wendet der Lehrer auf, den Armen im Geiste gerecht
zu werden. Deshalb sollen die nachfolgenden Sätze, die auf
Grund der gewonnenen Tatsachen Perspektiven geben für die
Weiterentwicklung des Unterrichts in der Schule für Schwach-
befähigte, als Vorschläge angesehen werden, dem Lehrer die
mühevolle und oft wenig lohnende Arbeit zu erleichtern.
V. 1. Das Schülermaterial in den Schulen für Schwachbe-
fähigte wird im Interesse des Lehrers und der Schüler besser
zu sortieren sein; insbesondere sind die psychopathischen Kinder
mit der gesteigerten psychischen Reizbarkeit zu sondern von
den Psychopathen, deren Symptome hauptsächlich durch herab-
gesetzte Reizbarkeit veranlaßt sind. Mögen auch gesteigerte und
herabgesetzte Reizbarkeit bei einem Kinde oft wechseln, so
kann doch hier die Unterscheidung nach der vorwiegend ge-
steigerte 11 oder herabgesetzten Reizbarkeit getroffen werden.
2. Die Analyse des vorliegenden psychischen Materials
wird noch genauer vorgenommen werden können, um für die
Praxis besser sondern zu können und bezüglich des wissenschaft-
lichen Interesses die Schwachsinnsformen besser zu gruppieren.
3. Die Förderung der geistigen Leistungsfähigkeit wird
durch mehr objektive Methoden sich feststellen lassen können.
4. Die Unterrichtsmethode wird Rücksicht nehmen auf die
leichte Ermüdbarkeit der Psychopathen, wie es bisher fast
allgemein schon durchgeführt wird. Es läßt sich nach besserer
Zeitschrift für pädagogische Payoholotfe, Pathologie o. Hygiene. 3
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290
Sichtung des Materials die Unterrichtszeit kürzen, auch der
Schulbeginn mancherorts nicht so frühzeitig einführen wie
bisher.
ö. Die an Hilfsschulen tätigen Lehrer sollten vor ihrer
Wirksamkeit einen Kursus durchmachen, durch den sie in den
Stand gesetzt werden, das Schülermaterial bezüglich der Ur-
sachen der herabgesetzten geistigen Leistungsfähigkeit zu er-
kennen, um sich selbst eine Voraussage geben zu können und
um sich danach Lehrziel, Lehrplan und Lehrmethode selbst bis
zu einem gewissen Grade aufstellen zu können.
Auch die an den Hilfsschulen tätigen Aerzte sollten eine
besondere psychiatrische Vorbildung, namentlich eine Kenntnis
der psychologischen Untersuchungsmethoden besitzen. Durch
die Errichtung von „Musterhilfsschulen' 4 , vielleicht in Verbin-
dung mit einem Internat, von Hilfsschulseminaren, an denen
praktiziert werden könnte und von denen aus die gedachten
Kurse gehalten werden könnten, wäre die Verwirklichung der
angegebenen Vorschläge nähergerückt.
Es ist auf dem Gebiete des Hilfsschulwesens viel, sehr viel
Ersprießliches geleistet worden, wie die Tatsachen ergeben.
Ein relativ junges Unternehmen kann nicht vollendet dastehen;
es kann wachsen und wird wachsen. Die Lehrer der Hilfs-
schule sind berufen, an einem großen sozialen Werke mitzu-
arbeiten, dessen Schöpfung sich vor unseren Augen vollzieht:
Die geregelte Fürsorge für Anwärter auf Geisteskrankheit und
Verbrechertum.
Hier ist das Feld, wo der Lehrer mit dem Arzt zusammen
zu arbeiten eine Befriedigung finden kann. Es ist bei den
gegebenen diesbezüglichen Verhältnissen heute noch nicht das
Band so geschlossen, wie es wünschenswert und notwendig
erscheint; allein es läßt sich gewiß ein Modus finden, der
Lehrer und Arzt bei gegenseitig unabhängiger Stellung zu-
sammenführt zu gemeinsamer Arbeit.
In der Erstehung von Vereinigungen, die das pädagogisch
psychiatrische Gebiet bearbeiten in Form von Vorträgen, Dis-
kussionen, Demonstrationen usw. liegt eine Möglichkeit, die
hier angedeuteten Wünsche und Forderungen zu erfüllen, be-
züglich der gedeihlichen Weiterentwicklung des schon kräftig
blühenden Hilfsschulwesens in Deutschland.
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I
I
Aufklärungsarbeit über die Bewahrung der Jugend vor
den Genußgiften.
Autorreferat über den Vortrag auf dem II. internationalen
Kongreß für Schulhygiene in London.
Von
F. Weigl.
Meine Berufstätigkeit in der Erziehung und Bildung
körperlich und geistig minderwertiger Kinder, die Tätigkeit
im Münchener Männerverein zur Bekämpfung der öffentlichen
Unsittlichkeit, in dessen Arbeit ich mich besonders auch um
die positiven Mittel des Schutzes vor sexueller Gefährdung
der Jugend bekümmerte, endlich mannigfache soziale Tätig-
keit hat mich immer wieder an die Notwendigkeit gemahnt,
daß dafür Sorge zu tragen sei, die breitesten Volkskreise über
die Schädigungen der Jugend durch Alkohol, Koffein und
Nikotin aufzuklären.
Diese Erkenntnis hat mich veranlaßt, im Herbst des vorigen
Jahres ein Preisausschreiben für ein Heft meiner Broschüren-
sammlung „Pädagogische Zeitfragen" zu erlassen über die drei
besten Beantwortungen der Frage : „Wie läßt sich die Auf-
klärung der breitesten Volksschichten über die Schädigung
der Jugend durch Genußgifte am besten erreichen?" Hervor-
ragendste Kräfte unseres deutschen pädagogischen, hygie-
nischen und sozialen Lebens, Geheimer Medizinalrat, ordent-
licher Universitätsprofessor Dr. A. Eulenburg, Hofrat
Universitätsprofessor Dr. Otto W i 1 1 m a n n , Seminardirektor
Dr. Alwin P a b s t , Frau Kommerzienrat Hedwig H e y 1 hatten
3*
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202
F. Weigl
sich mir für das Preisrichteramt zur Verfügung gestellt und
lockten auch die tüchtigsten Kräfte in Kreisen der Lehrer,
Aerzte, Geistlichen, Sozialpolitiker zur Bearbeitung an. 67 Ar-
beiten wurden eingeliefert, die einstimmig oder fast einstimmig
vier große Gesichtspunkte betonten, die ich mir auch für die not-
wendige Aufklärungsarbeit zurechtgelegt hatte und auf die ich
an dieser Stelle besonders die weiten Kreise der Schulhygie-
niker aufmerksam machen will.
Dadurch, daß die vier Grundforderungen durch die große
Zahl durchwegs gründlich wissenschaftlich bearbeiteter und
auf reicher praktischer Lebenserfahrung aufgebauter Preis-
bewerbungsarbeiten gestützt werden, 1 ) glaube ich den Aus-
führungen besonderes Gewicht zu geben, namentlich für jene
Kreise, denen der Löwenanteil an der Aufklärungsarbeit zu-
kommen muß — für die staatlichen Behörden, die nicht gerne
auf das Urteil eines einzelnen hin Maßnahmen treffen wollen,
vielmehr ihre Entschließungen auf der breiten Basis eines
reichen Gutachtenmaterials aufbauen.
Der erste leitende Gedanke nun, der mir durch die sämt-
lichen Preisarbeiten bestätigt wurde, ist der:
Die Antialkoholbewegung ist zur Antigenußgiftbewegung
auszubauen, da auch Koffein und Nikotin, namentlich bei der
Jugend, erwiesenermaßen schwere physische und psychische
Störungen hervorrufen.
Es braucht keines Beweises, daß die heurige Abstinenz-
und Temperenzbewegung insofern einseitig vorgeht, als sie
ausschließlich Bier, Wein, Schnaps, kurz alkoholhaltige Ge-
tränke bekämpft, während sie Kaffee und Tee unberücksichtigt
läßt, ja vielleicht sogar als Ersatzgetränke für die Alkoholika
empfiehlt und auch an dem Tabakmißbrauch achtlos vorüber-
geht.
Nicht nur Vereine, die sich in lobenswerter Weise gebildet
haben zur Verbreitung von Aufklärung über die Schäden des
Alkohols und zur Stärkung und Festigung derjenigen, welche
sich gegenseitig zur Alkoholabstinenz oder Temperenz ver-
pflichten, sondern auch städtische und staatliche Behörden
haben den breiten Weg der Volksgesundheit verlassen, der
*) Die drei besten Arbeiten sind abgedruckt in Heft 16 der „Päd.
Zeitfragen'*, München, Höfling, 1907.
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!
Aufklärunasarbeit über die ßewahruna der Juoend vor Genu&saiften 2Q3
auf die Bekämpfung sämtlicher Genußgifte weist, und einen
Seitenweg eingeschlagen, der sich in einem Teilziel verliert.
Sie haben beispielsweise Merkblätter gegen den Alkohol hinaus-
gegeben, obwohl gerade für die Jugend ebenso wichtig Merk-
blätter gegen Kaffee-, Tee- und Tabakgenuß wären. Ich will
darauf näher eingehen.
Mancherorts hat man sich schon an dem Ausdruck „Genuß-
gifte" gestoßen, indem 1 man in ihm eine Uebertreibung finden
wollte. Demgegenüber sei zunächst auf die Erfahrung ver-
wiesen, die von jeher diese Auffassung geltend machte, wenn
man auch jederzeit lieber den harmloseren Titel „Genußmittel"
den fraglichen Stoffen beilegte. Wie z. B. vor einem halben
Jahrhundert schon ihre Giftwirkung wissenschaftlich energisch
betont wurde, erzählt Universitätsprofessor Eulenburg in
dem Vorwort, das er der Broschüre „Genußmittel — Genuß-
gifte? Betrachtungen über Kaffee und Tee auf Grund einer
Umfrage bei den Aerzten" von Dr. med. W. Röttger, 8 )
gewidmet hat. Er sagt dort: „. . . . Es war mir dabei (bei
Prüfung der Röttgerschen Untersuchungen. D. V.) unmög-
lich, nicht meines verehrten Lehrers, des großen Berliner
Chemikers Eilhart Mitscherlich, zu gedenken, der in
seinen Vorlesungen (vor fast einem halben Jahrhundert) nicht
müde wurde, gegen die mörderische, universalgiftigc Dreiheit :
Kaffee, Tee und Tabak sein vernichtendes wissenschaftliches
Anathema zu schleudern." Auch in den auf Röttgers Umfrage
eingelaufenen ärztlichen Gutachten spielt die Erfahrungstat-
sache von der Giftwirkung des Kaffees, Tees und Tabaks
gleich dem Alkohol übereinstimmende Rolle.
Es stehen indessen auch exakte Untersuchungen für die
Berechtigung dieses Terminus zur Verfügung. Ich will hier
besonders mit Bezug auf den jugendlichen Organismus
sprechen, für den Dr. med. J. Weigl in der Broschüre
„Jugenderziehung und Genußgifte 14 8 ) das bezügliche Material
gesammelt hat.
Bezüglich des Alkohols schreibt er: „Die Giftwertigkeit
des Alkohols ist den Zellen des jugendlichen Körpers gegen-
über sehr viel deutlicher ausgeprägt als gegenüber jenen des
») Berlin, E. Staude, 1906.
München, Höfling, 21.— 25. Tausend, 1907.
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294
F. Weigl.
erwachsenen. Zufolge unserer Beobachtungen in der gericht-
lichen Medizin wissen wir, daß für Kinder unter 10 — 12 Jahren
die akut gifttödlich wirkende Einzelabgabe ungefähr 15 g
reinen Alkohol — also etwa ein bis drei Eßlöffel Branntweins
— beträgt! Zur chronischen Alkoholvergiftung genügen für
jugendliche Individuen kleinste Mengen, um so eher, wenn
sie in regelmäßiger Wiederkehr Tag für Tag gegeben werden.
Man beobachtet schwere entzündliche Vorgänge in den Ver-
dauungswegen, hartnäckige Magendarmkatarrhe mit Neigung
zu Erbrechen und schwächenden Diarrhöen, Störungen im
Lymphsystem, Erkrankungen des Herzens, der Blutgefäße,
Nieren, Leber; Hemmungsvorgänge in der Blutbildung; all-
gemeine und örtliche Kreislaufstörungen; Neigung zu krank-
haftem Fettansatz und anderen Stoff Wechselerkrankungen
infolge gestörter Ausnutzung der Nahrung. Ein solcher Körper
steht dauernd unter dem Eindrucke der Unterernährung. Im
Gesamtwachstum bleibt er zurück. Das Aussehen ist gedunsen,
schwammig, das Knochengerüst schwach. Das Gehirn, dessen
Zellen und Faserzüge noch in der Ausbildung begriffen sind,
wird in seiner normalen Entwicklung gehemmt und funktions-
schwach. Der ganze Körper zeigt eine geringe Widerstands-
fähigkeit gegen äußere Schädlichkeiten, besonders auch gegen-
über Infektionskrankheiten. Ermüdung tritt rascher und
leichter ein. Schon geringe Anstrengungen machen schnell
müde und abgeschlagen; Mattigkeit in den Knochen und
Muskeln, Kopfschmerzen stellen sich ein. Als die natürliche
Folge der mangelhaften Entwicklung des Zentralnervensystems
ergibt sich ein mehr oder weniger stark von der Norm ab
weichendes Seelenleben." *)
Nicht weniger trifft die Giftwirkung für Koffein zu. Nach
eingehenden Untersuchungen des gleichen Autors über „Das
Koffein" *) ist dieser Stoff schon in sehr kleinen Dosen ein
starkes Gift, und zwar handelt es sich dabei um Bruchteile
von Grammen. Bei Erwachsenen, welche dieses Rohstoffes
ungewohnt sind, und bei jugendlichen Personen rufen bereits
0,02 g eine nachweisbare Störung des Wohlbefindens hervor.
In den angestellten Untersuchungen wurde kurze Zeit nach
*) a. a. O. S. 16 ff.
Ä ) Rcichsmedizinalanzeigcr (für Deutschland), Berlin 1905, Nr. 3 u. 4
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1
Aufklärung tarbeit über die Bewahrung der Jugend vor Oenueegiften. 295
Einnahme der genannten Gaben Herzklopfen, Beschleuni-
gung des Pulses, Zittern der Hände, Aufschrecken, Unruhe,
allgemeines Unbehagen gefunden. Gaben von 0,1 g riefen
bei den bezeichneten Individuen ausgesprochene akute Ver-
giftungserscheinungen hervor. Diese bestanden in Magen-
schmerzen mit Uebelkeit und Erbrechen, Verlangsamung des
Pulses, Herzangst, Eingenommenheit des Kopfes, Ohrensausen,
Zittern der Glieder, Muskelkrämpfen, Schwindel, deiirienähn-
hchen Aufregungszuständen. Die Gabe von 0,02 g mindestens
ist enthalten in einer Tasse Kaffee, wenn auf drei Tassen von
zusammen 500 cem Wasser 8 — 9 g Bohnen genommen werden,
oder in einer Tasse Tee, welche aus 1 g Blätter aufgegossen
wird. Der vermeintliche dünne Familienkaffee und Five
o'clock tea erweisen sich demnach als nicht so harmlos, wie
meistens von den Frauen angenommen wird. Ferner muß
berücksichtigt werden, daß die gewöhnlichen billigen Sorten
von Kaffee und Tee durchschnittlich mehr Koffein enthalten
als die feinen Marken.
Auch der dritte der fälschlich als Genußmittel bezeich-
neten Stoffe, das Nikotin, kann den Giftcharakter nicht ver-
leugnen. Mit allen sogenannten narkotischen Giften teilt das
Nikotin die Eigenschaft, erst die Nerven zu erregen und dann
zu lähmen. Schon kleinere Dosen desselben bewirken heftige
Krämpfe; die Atmungstätigkeit wird gehemmt, der Puls un-
regelmäßig, Erblassen des Gesichtes, Erkalten der Hände und
Füße tritt ein und der Verdauungsapparat zeigt die Reaktion
wie bei anderen schweren Vergiftungen.
Angesichts dieser Giftwirkungen von Alkohol, Koffein und
Nikotin — zunächst auf das physische Leben — ist wohl die
Bezeichnung Genußgifte für alle drei Stoffe gerechtfertigt.
Wir haben aber auch reiches Erfahrungsmaterial und exakte
Untersuchungen über die physischen Schädigungen der Genuß-
gifte in der Literatur gesammelt. Ich darf mich hier beziehen
auf eine Zusammenstellung, die ich für einen Vortrag auf dem
„Kongreß für Kinderforschung und Jugendfürsorge" in Berlin
(vom 1.— 4. Oktober 1906) über Bildungsanstalten für Schwach-
sinnige im Deutschen Reiche 0 ) gemacht habe.
•) Offizieller Bericht über die Verhandlungen des Kongresses von
K. L. Schaf er, Langensalza, Beyer & Söhne, S. 307 ff.
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296 F. Wngl
Demzufolge hat T r ü pe r in seiner Schrift „Psychopathische
Minderwertigkeiten im Kindesalter" 7 ) schon vor 13 Jahren auf
die nervenzerrüttende Wirkung von Alkohol, Koffein und
Nikotin und die damit bedingte geistige Minderwertigkeit hin-
gewiesen. Inzwischen hat der bekannte Strümpell sich
dahin geäußert: „Unter den akuten wie unter den chronischen
Vergiftungen, sofern sie Ursache sind für das Eintreten nicht
nur flüchtiger, sondern auch länger dauernder psychopathischer
Erscheinungen, spielt die größte Rolle die Vergiftung mit
Alkohol und überhaupt mit Reiz- und Genußmitteln (Kaffee,
Tabak). Dieser Mißbrauch ist besonders unter Kindern sehr
gefährlich und ruft unter ihnen eine übergroße Zahl von Er-
krankungen mit psychopathischen Folgen hervor." s ) Und
Dr. Heller schließt „russischen Tee und Bohnenkaffee"
gleich dem Alkohol für die Ernährung dieser Kinder aus. Er
schreibt: „Diese Genußmittel müssen unter allen Umständen
entzogen werden, selbst wenn sie zunächst keinen ungünstigen
Einfluß auf das körperliche und geistige Befinden auszuüben
scheinen. Die ungünstige Wirkung der erwähnten Genußmittcl
gelangt häufig erst nach einiger Zeit zum Ausdruck, wenn
die hierdurch veranlaßten Schädlichkeiten eine gewisse Höhe
erreicht haben. Hierbei lass.m sich folgende Symptome be-
obachten: hochgradige Reizbarkeit, gesteigerter Bewegungs-
drang, Schlaflosigkeit, Unaufmerksamkeit, Gedächtnisschwäche,
bei den Kindern in der Pubertätsentwicklung auch sexuelle
Erregungszustände und dadurch bedingte Masturbation."*)
Welchen Umfang diese Schädigungen angenommen haben,
zeigt — um auch noch exakte statistische Forschungen sprechen
zu lassen — ein in der „Psychiatrisch-Neurologischen Wochen-
schrift" 10 ) erschienener Statistischer Beitrag zur Actiologie
der Idiotie" von Dr. F. Heyn, der in 17,6 Prozent der Fälle
die falsche Ernährung der Kinder mit alkohol- und koffein-
haltigen Getränken als Ursache des Schwachsinns feststellt.
Dieses Erfahrungsmaterial samt den wissenschaftlich er-
kundeten Tatsachen begründet wohl die Berechtigung der
ersten hier gestellten Forderung.
7 ) Gütersloh, Bertelsmann, 1895, S. 59.
8 ) Pädag. Pathologie, Leipzig, 1899, S. 325.
9 ) Grundriß der Heilpädagogik, Leipzig, 1904, S. 154.
»") Halle, Marhold, Bd. VIII, 1906, Nr. 19, S. 173 H
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Aufklärungsarbeit über die BetcaJuuny der Jugend vor Gennugiften. 297
Der nächste leitende Gedanke, der sich in der Erörterung
der Frage aufdrängt, ist der :
Zur Aufklärung des Volkes über die Giftwirkung von Al-
kohol und Koffein muß die Bekanntmachung mit den besten
Ersatzstoffen — für Alkohol Fruchtlimonaden, für Bohnen-
kaffee Malzkaffee — treten.
Die Bedeutung der Ersatzstoffe ist in der Abstinenz- und
Temperenzbewegung allgemein anerkannt. Wer praktisch in
der Sache arbeitet, wird immer vor die Frage gestellt: was
gibst du mir an Stelle dessen, was du mir nimmst? Was nun
zunächst das Rauchen betrifft, so erledigt sich diese Frage
hier einfach. Ich spreche immer von der Aufklärung über
die Schädigung der Jugend durch die Genußgifte. Da stößt
nun die Belehrung darüber, daß Kinder und unreife Jugend
überhaupt des Rauchens sich zu enthalten haben, auf keinen
Widerstand. Das natürliche Volksempfinden ist dafür noch
zu gesund, als daß es der Darbietung von Ersatzstoffen hierfür
bedürfte. Anders ist es bei den alkohol- und koffeinhaltigen
Getränken. Mit dem' Hinweis auf die natürlichen Getränke —
Milch und Wasser — ist es nicht getan, die breite Masse
verlangt für die Genußgifte wenigstens unschädlich wirkende
Genußmittel, die in ihren Eigenschaften mindestens den
ersteren Getränken ziemlich nahe kommen, und sie bevorzugt
jene Ersatzmittel, die dem gewohnten Getränk am meisten
ähnlich sind.
Für die auch der Jugend ausgiebigen zugänglichen, alko-
holischen Getränke (Bier, Wein, Most) gelten als bevorzugte
Eigenschaften der kühlende, erfrischende, durstlöschende und
wohlschmeckende Charakter. Dieser ist am meisten eigen den
natürlichen Fruchtlimonaden. Die Herstellung mit frischem
Brunnen- oder Leitungswasser sichert die kühlende erfrischende
Wirkung ; die in den Fruchtsäften enthaltene Obstsäure erhöht
die durstlöschende Wirkung und der natürliche Zuckergehalt
der Fruchtsäfte samt dem jeder Fruchtart eigenen Aroma
macht die natürlichen Fruchtlimonaden zum besten Ersatz für
die alkoholischen Getränke. Zu den verschiedenen Obstsäften
ist in neuerer Zeit gekühlter Malzkaffeeabsud getreten, der
sich rasch Verbreitung verschafft hat, da er die genannten
Eigenschaften in hervorragender Weise in sich vereinigt.
Die Malzkaffeefabrikation hat überhaupt erfreulicherweise
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298
F. Weigl.
der Notwendigkeit der Darbietung von Ersatzgetränken die
rechte Bahn gewiesen. Während lange Zeit die Alkohol-
abstinenzbewegung Gefahr lief, an Stelle des einen Giftes Al-
kohol ein neues, das Koffein, in Bohnenkaffee und Tee ins
Volk zu werfen, ist mit dem Fortschritt, der in der Herstellung
von Malzkaffee zu verzeichnen war, das Mittel gefunden worden,
das den weitestgehenden Ansprüchen an ein Ersatzgetränk ent-
sprach. Für den Bohnenkaffeersatz ist die Frage heute voll-
ständig gelöst. Bekanntlich wurde sogar das Aroma des Bohnen-
kaffees beim Malzkaffee erzielt, ohne des ersteren schädliche
Stoffe zu übernehmen. Damit ist ein Ersatzgetränk geschaffen,
das wir leider in gleicher Güte für die alkoholischen Getränke
nicht besitzen. Wir müssen der Industrie dankbar sein, daß
sie uns in dieser wirksamsten Weise der Bewahrung von den
Genußgiften zu Hilfe kam und die Aufklärung? über die rechten
Ersatzstoffe mit der Aufklärung über die Schädigungen durch
die Genußgifte verbinden ließ.
Wenn wir uns des Umfanges der Schädigungen erinnern,
die für Alkohol, Koffein und Nikotin in der ersten Forderung
skizziert wurden, so ergibt sich als weiterer leitender Gedanke:
Angesichts der Bedeutung dieser Aufklärung für die Volks-
gesundheit und für das soziale Leben hat der Staat die Pflicht,
sich an der Aufklärungsarbeit zu beteiligen. Er kann sie am
besten vermitteln lassen:
a) bei der standesamtlichen Anmeldung der Neugeborenen
durch ein belehrendes Merkblatt oder sonstige Belehrung;
b) in der Schule durch unterrichtlichc Maßnahmen für
die Kinder und durch belehrendes Material für die Eltern;
c) in der Militärdienstzeit durch Belehrung mit Flug-
schriften, Vorträge und durch praktische Gewöhnung.
Diese Forderung braucht keine umfangreiche Begründung.
Liegt die Aufklärung im Interesse des Volkswohles, was ange-
sichts der in der Begründung des ersten Leitsatzes geschilderten
Schädigung der Genußgifte nicht zu verkennen ist, so darf
sie nicht dem Zufall überlassen bleiben ; es muß vielmehr darauf
Bedacht genommen werden, daß systematisch an alle inter-
essierten Kreise die Aufklärung herankommt. Bei der Tätig-
keit der Presse, von Vereinen usw., auf deren nicht zu unter-
schätzenden Wert ich noch zu sprechen kommen werde, » st
Aufklärungsarbeit übet die Bewahrung der Jugend cor Genusagiften. 299
namentlich ein Erreichen aller Interessenten ausgeschlossen.
Dieses ist nur dem Staat ermöglicht, der bei gewissen Anlässen,
alle Interessenten an eine seiner Amtsstellen, zu einem seiner
Organe heranbringt, so bei der standesamtlichen Anmeldung
der Neugeborenen und bei der Anmeldung der Kleinen für
die Schule. Bei diesen Gelegenheiten ist noch dazu das Gros
des Publikums in einer geistigen und Gemütsverfassung, in
der es der Belehrung über das körperliche und geistige Wohl
der Kinder und über Schädigungen derselben warmes Interesse
entgegenbringt. Daher ist zu fordern, daß bei der standes-
amtlichen Meldung, ähnlich wie es mancherorts schon über
das Stillen der Säuglinge, allgemeine Körperpflege, Alkohol-
abstinenz u. a. geschieht, allgemein an die Anmeldenden auch
Aufklärungsmaterial über . die Wirkungen aller Genußgifte,
namentlich auch Behütung der Kleinen vor Bohnenkaffee ab-
gegeben wird. Ob dieses nun in Form eines Antigenußgift-
Merkbiattes oder durch Aufnahme bezüglicher Belehrungen
in schon bestehenden Aufklärungsschriftchen geschieht, hängt
von den lokalen und prinzipiellen Verhältnissen ab.
Für die erste Schulauf nähme der Kleinen hat sich im all-
gemeinen bezüglich des Alkohols die Merkblattform bewährt;
sie ist unter Ausdehnung auf Koffein und Nikotin beizubehalten.
An die Kinder selbst kann die Schule bei Dutzenden von Ge-
legenheiten mit Aufklärung herankommen. Ich möchte durch-
aus kein neues Fach oder eine neue Stunde, oder eigens darauf
zugeschnittene Lesestücke empfehlen, sondern der gelegent-
lichen wirksamen Belehrung das Wort reden. Schon im
Anschauungsunterricht, wenn von Körperpflege oder Lebens-
gewohnheiten die Rede ist, kann der kluge Lehrer intensiv
in dieser Beziehung auf die Kinder einwirken; mehr noch im
naturkundlichen Unterricht, hier wiederum speziell in den
Lektionen vom menschlichen Körper, von Gesundheitspflege
und Lebenskunde. Auch die religiöse Unterweisung mit ihrer
Forderung des gesundheitlichen Schutzes gibt Gelegenheit. Es
ist nur zu wünschen, daß Weisung für Berücksichtigung aller
drei Genußgifte an den Schulen hinausgeht, wie dies für den
Alkohol von verschiedenen Behörden schon geschah.
Ich habe in diesem Leitsatz noch die Militärzeit genannt.
Kür sie kommt es hauptsächlich auf die dabei gegebene Gelegen-
heit zur praktischen Gewöhnung an. Wenn der junge Mann
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300 F. Weigl
in den Kantinen, die gute alkoholfreie Getränke für billiges
Geld zu führen haben, den Segen der Alkoholabstinenz oder
-temperenz an sich kennen lernte, wenn er statt des üblichen
schwächenden Bohnenkaffees am Morgen wohlschmeckenden
und zugleich nährenden Malzkaffee längere Zeit erhielt, so
wird er auch später nicht mehr von den neuen guten Gewohn-
heiten lassen.
Ich möchte nun aber, wie schon erwähnt, diese Tätigkeit
für Volksgesundheit und soziales Wohl nicht zum Monopol
der Staaten machen; im Gegenteil vertrete ich als letzten
leitenden Gedanken:
Unterstützt soll die Aufklärungsarbeit werden durch das
öffentliche Vortragswesen, durch Vereine und die Presse.
Das öffentliche Vortragswesen nimmt in den heutigen
Bildungsorganisationen eine bedeutsame Stelle ein und in
Deutschland ersetzt es zum guten Teil die großen nordischen
Volkshochschulen. Seinen Tendenzen nun, Aufklärung in die
breitesten Kreise des Volkes zu tragen, ist die Arbeit für Schutz
der Jugend vor Alkohol, Koffein und Nikotin besonders ent-
sprechend.
Von den Vereinen kamen in erster Linie die populär-
gesundheitlichen Vereine, so die Organisationen des „Roten
Kreuzes" und die Volkshygienevereine in Betracht. Großes
Interesse haben auch die pädagogischen Vereinigungen aller
Art an der Aufklärungsarbeit, wenn wir uns der geistigen
Schädigungen erinnern, die die Genußgifte hervorrufen. Die
charitativen Vereine werden ebenfalls diese prophylaktische
Arbeit nicht verschmähen und die Vereine gegen die Aus-
wüchse der Unsittlichkeit, so die in Deutschland entstandenen
,, Männervereine zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlich-
keit", werden das Stück positiver vorbeugender Arbeit, das
ihnen mit der Bekämpfung der Genußgifte zukommt, zu wür-
digen wissen. Die wissenschaftlichen Forschungen haben ja
ergeben, daß nicht nur der Alkohol geschlechtlich erregend
wirkt, was ja allgemein bekannt ist, sondern daß dies auch bei
Bohnenkaffee der Fall ist. Privatdozent Dr. med. E. Reich
schreibt in seiner „Nahrungs- und Genußmittelkunde" 11 ) fol-
gendes: „. . . . Schon C. G. Lehmann sah nach Koffein-
u ) Güttingen» Vandenhoek & Ruprecht, S. 101.
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Außlärungaarbeit über die Bewahrung der Jugend vor Gmutsgiften. 301
gebrauch geschlechtliche Aufregung erfolgen, und ich mache
seit einigen Jahren bereits an mir selbst die Beobachtung,
daß der Kaffeeabguß sexuelle Erregung und Vermehrung der
Harnausscheidung hervorbringt, daß sogenannter starker
Kaffee, spät abends getrunken, wollüstige Träume und Pollu-
tionen verursacht." Der Generaloberarzt Dr. W. F. Nicolai
bringt in seiner Schrift : „Der Kaffee und seine Ersatzmittel" 12 )
folgendes Urteil :„.... Ebenso schädlich ist den Kindern der
Kaffee aus dem gleich näher zu erörternden Grunde, nämlich
der Reizung des Rückenmarkes und der Harn bereitenden und
ausführenden Organe, womit eine vorzeitige Erweckung und
Reizung des Geschlechtstriebes verbunden ist. Nichts aber
ist mehr geeignet, das Nervensystem eines heranwachsenden
Knaben und Mädchens zu zerrütten und zu kränkelnder
Empfindsamkeit herunterzubringen, als die vorzeitige Er-
weckung eines dunklen Triebes, von dem sie sich entweder
keine Rechenschaft geben können, oder der sie, falls sie die Ent-
deckung des Grundes ihrer quälenden Empfindungen machen,
zu noch unheilvolleren Folgen, zu lasterhaften Mißbräuchen
treibt."
Der Vereinstätigkeit tritt unterstützend noch zur Seite die
Presse. Hier wären besonders die bestehenden feuilletonisti-
schen Korrespondenzen zu gewinnen, die auch ungemein viel
belehrendes Material gerade durch die kleinen Zeitungen in
die breitesten Volkskreise bringen.
Wird so in systematisch umfassender Weise durch die Be-
hörde einerseits und in freiem gelegentlichen Schaffen durch
Vereine und Presse andererseits die geschilderte Aufklärung
hineingetragen in jeden Palast und in jede Hütte, wo Kinder
aus und ein gehen, so ist damit eine prophylaktische Arbeit
geleistet, die unzählbares und unwägbares physisches und
psychisches Elend hintanhält. Darum möge von dieser Stätte
aus der Ruf mit Macht hinausgehen in weite Lande und alle
wecken, die es angeht!
18 ) Braunschweig, Vieweg, S. 36.
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Zur Psychologie der Schulprüfungen.
Von
Hans Plecher.
Interessant sind die Versuche, welche Lobsien- Kiel anstellte und
in den „Pädagogisch-psychologischen Studien" (Beilage zur „Schulpraxis*')
veröffentlichte. Veranlaßt durch die auch von der Vulgärbeobachtung oft
bestätigte Tatsache, „daß die Sonderindividuen sich der Prüfung gegenüber
überaus ungleich verhalten'', schrieb er auf eine Schultafel 20 einfache
Rechenaufgaben (47 + 49, 95 — 63 usw.), welche von 54 Knaben im
Alter von 8 Jahren gelöst werden sollten. Das Experiment wurde zweimal
gemacht : der Normalversuch (N) glich einer gewöhnlichen Rechen-
stunde mit stillem Rechnen. Vor Beginn des Kasualversuches (K)
aber wurde den Kindern gesagt, daß ihre Arbeit als Prüfungsarbeit
angesehen werde und als Grundlage für die Bestimmimg der Zensuren
dienen solle. Es ergab sich folgendes: Bei N wurden 39%, bei K 500/0
der Aufgaben falsch gelöst. Der Prüfungscharakter wirkte demnach ver-
schlechternd auf die Gesamtleistung. Dabei machten sich auch die Unter-
schiede der Begabung bemerkbar. Begabte Schüler zeigten bei
K gegenüber N ein Minus von 220/0, mittelbegabte von 170/0 und
schlechtbegabte von 220/0.
Um eine „sorgsamere Fehleranalyse" zu ermöglichen, machte er
später einen ähnlichen Versuch mit Diktatstoffen. Zur Verarbeitung kamen
diesmal die Aufgaben von 48 Schülern, wovon 14 gut (g), 21 mittelmäßig (m)
und 13 schlecht (schl) begabt waren. Natürlich mußten beim N- und
K-Versuch die Anforderungen objektiv möglichst gleich gestellt werden.
Er wählte daher für den N-Versuch 27, für den K-Versuch 23 Wörter
aus, für die nach allen Richtungen die Möglichkeit von Verfehlungen in
annähernd gleichem Maße vorhanden war. Es zeigte sich folgendes pro-
zentuale Ergebnis (um einen Vergleich mit dem Vorversuch zu
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ermöglichen, wurde neben den absoluten Werten eine Verrechnung
gegeben nach der Fonnel — r = richtig, f= falsch.)
Begabung
Mit Examens Wirkung
Ohne Examenswirkung
Fehler (•/„)
—
r
'+ t
Fehler (*/ 0 )
r
* + '
g-
30
70
11
89
m.
51
49
30
70
schl.
65
35
40
60
49
51
27
73
Begabte Schüler: Mittelbegabte:
N = 89 N = 70
K = 70 K = 49
Differenz = 19 = — 22 % der Differenz - 21 = — 30 % der
Normalleistung. N-Letstung.
Schwachbegabte:
N = 60
K = 35
Differenz = 25 = — 42 % der N- Leistung.
Es wurde demnach das erste Resultat, bestätigt; die Prüfung ergab
in allen Fällen eine Verdunkelung der tatsächlichen Leistungsfähigkeit; am
stärksten trat diese bei den schwachen Schülern hervor.
Lobsien dehnte seinen Versuch auch noch auf die qualitative Fehler-
wertung aus, indem er diejenigen Diktatstoffe, die am längsten getrieben
wurden, mit dem Multiplikator 4, die anderen mit 3, 2 und 1 versah.
Da zeigte sich z. B. die Tatsache, daß beim K-Versuch die Fehlerzahl
bei der Gleichschreibung um 32,740% stieg, bei den Wörtern, die im
Wortklang deutliche Hinweise für eine abweichende Schreibimg ent-
halten, um 42,738 °/o, während sie bei Wörtern, die nach bestimmten
Regeln geübt wurden, um 6,508 °/o fiel, bei Wörtern endlich, die durch
Abschreiben oder Memorieren eingeprägt waren, um 2,269 0 /° «»eg- ^>och
im allgemeinen dürfte einer qualitativen Fehlerwertung weniger Gewicht
beizulegen sein. Sic hängt so sehr von äußeren Umständen ab, von der
Art und Weise, wie der Lehrer die einzelnen Wörtertypen übt, resp. wann
er sie geübt hat, von der Aussprache des Diktierenden usw. Dazu
kommen die vielen Ausnahmen bei allen orthographischen Regeln, daß
eine einigermaßen zutreffende Würdigung ziemlich ausgeschlossen erscheint.
Bei den Versuchen, die ich selbst machte, um die Ergebnisse Lob-
siens auf ihre Richtigkeit zu prüfen, sah ich deshalb von der Fehler-
qualität ab und erstreckte sie lediglich auf die absolute Wertung, die ja
auch bei den usuellen Schulprüfungen fast ausschließlich angewandt wird.
Als Versuchspersonen dienten 43 zwölfjährige Mädchen, 40 zwölf-
jährige Knaben, 44 elfjährige Mädchen und 57 elfjährige Knaben, je in
einer Schulklasse. Sie erhielten zuerst ein Diktat in einer gewöhnlichen
Rechtschreibstunde, und zwar aus dem für die betreffende Klasse vor-
geschriebenen und bereits, behandelten Lehrstoff, nach einiger Zeit unter
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304
Hans Plecher.
möglichst gleichen Bedingungen ein anderes, mit gleichviel und ähnlich
schweren Wörtern und Ausdrücken, das ihnen als Prüfungsschrift, als be-
stimmend für ihre Noten bezeichnet ward. Natürlich machte die Aus-
wahl der Wörter große Schwierigkeiten; es wurde aber immerbin eine
relative Konformität erzielt. Um das Milieu möglichst zu wahren, er-
folgten die Rechtschriften im letzten Drittel des Schuljahres, und zwar
immer am gleichen Tage von zwei aufeinanderfolgenden Wochen, jedesmal
von 9—10 Uhr. Sämtliche Fehler wurden, wie dies auch bei den offi-
ziellen Prüfungen erfolgt, mit i bewertet — all das, um eine tunlichst
sichere Vergleichsbasis zu schaffen.
Die zwölfjährigen Mädchen (A) und Knaben (B) erhielten die gleiche
Arbeit, je 72 Wörter. Das Resultat war folgendes:
Absolute Fehlertabelle.
A. B.
Begabung
Gesamtzahl
der Wörter
Fe hierzahl
K^eräTiN-Verä
Begabung
Gesamtzahl
der Wörter
Fehlerzahl
K-Vtri. |N-V*i».
8 g-
57b
20
14
♦ g-
288
6
5
29 m.
2088
156
151
30 m.
2160
169
145
6 schl.
432
46
50
6 schl.
432
43
40
43
3096
222=
+7
215
40
2880
218=
+28
190
Prozentuale Berechnung.
A. B.
Begabung
Fehler (%)
Differenz
°/o
Begabuog
Fehler (%)
Differenz
%
K-Vers.
N-Vere.
K-Vers.
N-Vers.
g-
m.
schl.
3,5
7.4
10,65
2.4
7.2
11.55
+ 1.1
+ 0,2
— 0,9
g-
m.
schl.
2,08
7.82
10.00
1.74
6,71
9.29
+ 0.34
-1,11
--0,71
21,55 _
21,15
3 ~
1 7,05
+ 0,4_
19.90 _
17,74
2.16
3
7.18
3
+ 0,13
3
6,6
3
5,91
3
+ 0.72
Den elfjährigen Mädchen (C) wurden 52, den achtjährigen Knaben (D)
25 Wörter diktiert:
Absolute Fehlerberechnung.
C. D.
Begabung
Gesamtzahl
Feblerzahl
Begabung
Gesamtzahl
Fehle
nrabl
der Wörter
K-Vera.
N-Veru.
der Wörter
K-Vers.
N-Ve».
6 g-
25 m.
13 schl.
312
1300
676
8
110
110
9
94
90
8 g.
42 m.
7 schl.
200
1050
175
17
224
74
12
163
61
44
2288
228 -
+ 35
193
57
1425
315 =
+79
236
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Zur Psychologie der Schulprüfungen. 305
Prozentuale Berechnung.
C. D.
Begabung
Fehler (%)
Differenz
%
Begabung
Fehler (%)
Differenz
%
K-Vers.
N-Vers.
K-Vers.
N-Vere.
IT-
in.
scbl.
2,56
8,5
16,27
2,9
7.2
13,3
— 0.34
+ 1,3
+ 2.97
ß-
m.
ftcbl.
8.5
21,3
42,2
6
15,5
35
+ 2,5
--5,8
+ 7,2
27,33
23,4
3,98
72,0
3
24
56,5
3
18,8
15,5
3
9,11
3 "
7.8
3
+ 1,31
3
5,16
Die schlechtbegabten Mädchen bei Gruppe A und die gutbegabten bei
Gruppe C erzielten in der Prüfung bessere Leistungen ; sonst ergab sich
allenthalben eine Minderung. Sämtliche Versuchspersonen, ausgeschieden
nach der Begabung, ließen sich folgende Durchschnittswerte konsta-
tieren :
Begabung
DiirchschnilUprozente der Kehler
Differenz
Ursprüngliche
K -Versuch
N -Verfluch
Fehlerzahl
g-
m.
scbl.
4.16
11,25
19,8
3.26
9,15
17.3
+ 0,9 = +
-2,1= +
+ 2,5 = +
27,6%
23,0%
14,5 %
Während also im Hinblick auf die Fehlerzahl die gutbegabten
Schüler relativ die größte, die Schwachbegabten die kleinste Prozentual-
zunahme aufzuweisen haben, ist das Verhältnis in bezug auf die Nor-
malleistung (im positiven Sinne) umgekehrt. Es zeigen die guten
Schüler die geringste, die schlechten die bedeutendste Abnahme der ur-
sprünglichen Leistung — dasselbe Ergebnis also, welches von Lobsien
festgestellt wurde.
Bezüglich des Geschlechtes der Versuchspersonen ist zu be-
merken, daß die beiden kleinen Abteilungen, welche, wie schon erwähnt,
bei der Prüfung bessere Leistungen erzielten als bei dem Normalversuch,
den Mädchenklassen angehörten. Ein Vergleich zwischen Knaben und
Mädchen läßt sich bloß anstellen bei den Gruppen A und B, wo die
Altersstufen, die Prüfungsstoffe und -zeiten vollständig gleich sind. Im
allgemeinen ergab sich bei den Mädchen eine geringere Differenz zwischen
Normal- und Prüfungsleistung als bei den Knaben; hinsichtlich der Be-
gabung waren die Ergebnisse zum Teil direkt umgekehrt. Allerdings resul-
tieren diese Zahlen aus einem einzigen Versuche und kommen infolge-
dessen mehr oder minder als Zufallsergebnisse in Betracht.
Auffallend ist das rasche Hinaufschwellen der Fehlerzahlen bei den
achtjährigen Schülern gegenüber den elf- und zwölfjährigen. Es kommen
da allerdings verschiedene Umstände in Betracht: geringere Adaption der
Aufmerksamkeit, Mangel an mechanischer Fertigkeit usw. Immerhin
zeigte sich der P rü f u n gs e i n f 1 u ß bei den Kleinen am
stärksten und mit den Jahren abnehmend.
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 4
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306
Hans Pierher.
Bei den Rechtschriften waren die Schüler immer an die Zeit ge-
bunden. Um nun den Einfluß der Schulprüfungcn auf die Arbeits-
dauer zu konstatieren, machte ich später denselben Versuch mit einer
Aufgabe aus dem schriftlichen Rechnen, und »war unter den
gleichen Bedingungen. Eine Anzahl 13 jähriger Knaben (beim N -Versuch
waren es 38, beim K-Versuch 36) erhielten jedesmal sechs Rechnungen
aus den für die Prüfung vorgeschriebenen Sachgebieten, zuerst in einer
sog. „stillen Rechenstunde", dann als Probearbeit. Bezüglich der sach-
lichen und technischen Schwierigkeiten wurde die größtmöglichste Kon-
formität hergestellt. Eine reine mechanische Wertung — jeder Fehler mit
1 bezeichnet — ist allerdings bei derartigen Aufgaben nicht durchführbar,
da Verstöße gegen die logische Beurteilung wie auch rein äußerliche
Rechenfehler vorkommen; es wurde daher o, 1 oder 2 gewertet. Als
Arbeitszeit war eine Stunde angegeben, ein Zeitraum, der erfahrungs-
gemäß zur Bearbeitung der Rechnungen genügte. Jeder Schüler, der mit
seiner Aufgabe fertig war, mußte sie sofort abliefern, wobei die Arbeits-
zeit auf dem Blatte vermerkt wurde.
Absolute Fehler- und Zeittabelle.
Be-
gabung
Prüfungsarbeit
Be-
gabung
Normale Arbeit
Gesamt-
aufgabe
Fehler
Getarnt*
lOit
Durch- 1
schnitts-
zeit 1
Gesamt-
aufgäbe
Fehler
Gesamt-
zeit
Durch-
schnitts-
zeit
22 m.
7 schl.
42
132
42
10
60
31
348Mln.
1277 .
421 .
50 Min.
58 .
60 . |
7 g-
23 m
8 schl.
42
138
48
8
47
34
273MID.
1085 „
387 „
39 Min.
47 .
48 „
36
216
101 = 12046
46,8%| Min.
57 Min. |
38
228
89 =
39%
1745
Min.
46 Min.
Prozentuale Berechnung.
Begabung
Pififungsarbeit
Begabung
Nonnale Arbeit
Fehler °/ 0 j Zeitdifferenz
Feblor %
Difter.nx der
Prüfungsarbeit
S
m.
schl.
24
45
74
4-11 Min. ^ + 28%-
+ 11 „ = + 230/ 0
+ 12 „ +25%
S-
m.
schl.
' 19
34
71
- 6,2 %
-16«/,%
-10,0 %
Gesamt
46,8
+ 13Min.-+240/ 0 |
39
- 13,0 %
Diese Ergebnisse zeigten, daß die Schulprüfungen auch die Arbeits-
zeit in ungünstigstem Sinne beeinflussen. Hinsichtlich der Qualität und
Dauer der Arbeiten ließen sich folgende Schwankungen bei der Prüfung
konstatieren. Es arbeiteten :
Begabung
Besser
Gleich
Schlechter
7 fS-
1
4
2
21 m.
6
7
8
7 schl
2
4
1
35
9 = 25%
16 = 43%
11-32%
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Zur Psychologie der SMprüfungm.
307
Begabung
J Kuriere Zeit (
Gleich lang |
Länger
7 *
1
6
21 m.
2
1
18
7 schl.
1
6
35
3-S,6«Yo
2 = 5,4 o/ 0
30 = 86 %
Zahlen beweisenl Es steht also fest, daß die Schulprüfungen
kein richtiges Bild von den tatsächlichen Leistungen
einer Klasse geben. Geheimrat Prof. Dr. Münch drückt in
seinem Buche „Geist des Lehramts" das mit Worten aus, was hier die
Zahlen sprechen, indem er schreibt: „Nur ein Bruchteil der zu Prüfenden
verfügt ruhig und sicher über seinen geistigen Besitz, ein noch kleinerer
Teil wird sogar durch die ungewohnte Situation zu erhöhter Lebendigkeit
und Gewandtheit geführt, der größere erfährt — in verschiedener Ab-
stufung — Verwirrung oder Lähmung."
Nun muß allerdings zugegeben werden, daß auch bei der größten
Konformität der Aufgaben die Schwierigkeiten nie ganz gleich sind,
daß also das experimentelle Ergebnis immer nur ein relatives ist.
Dabei ist aber nicht zu übersehen, daß ja durch die .Versuche keine
eigentlich neue Tatsache festgestellt, sondern bloß eine wenigstens in
ihren Rudimenten bekannte erhärtet, gleichsam in Zahlen gesetzt werden
soll Daher haben die Zahlen auch als relative Werte ihre Bedeutung.
Wohl jeder Lehrer hat es schon selbst erfahren, daß bei der Prüfung
die besten Schüler versagen, nicht bloß im Rechtschreiben und Rechnen,
sondern in den verschiedensten Fächern, während schwächere Verhältnis*
mäßig „gut abschneiden", daß also das gesamte Prüfungsergebnis den
sonstigen Leistungen der Klasse nicht entspricht. Um so auffallender ist
diese Erscheinung, weü doch die Annahme naheliegt, daß die Prüfung
infolge der höchsten Anspannung der Aufmerksamkeit, wie sie doch ge-
wöhnlich zu verzeichnen ist, auch die höchste Leistung erzielte.
Welches sind nun wohl die Ursachen der konsta-
tierten Leistungsdifferenzen? Sie hegen zunächst in gewissen
Gefühlswirkungen. „Bei keiner Gelegenheit ist der Examinand
weniger imstande und geneigt, mit seinem Denken und Leben ans Licht
zu kommen, als bei der Prüfung." Er denkt an einen allenfallsigen un-
günstigen Ausgang, weiß auch, daß er in dem einen oder anderen Fache
jederzeit ungenügende Leistungen erzielte; dazu kommt die Anwesenheit
eines fremden Prüfungskornmissärs, unter Umständen auch der Eltern;
vielleicht hat ein besonders übereifriger Lehrer für ungenügende Arbeiten
mit Strafe gedroht, kurz: es entstehen die verschiedensten Gefühls- und
Vorstellungsassoziationen, die einen geregelten Verlauf der Vorstellungen
von vornherein ausschließen. Es treten Hemmungs- und Errcgungsirmer-
vationen der Atmungsorgane und des Herzens auf mit all ihren sinn-
liehen Begleiterscheinungen : Befangenheit, rascher Pulsschlag, Geaichts-
b lasse usw. Wie könnte es sonst möglich sein, daß vor einer Prüfung drei
Knaben, die das ganze Jahr kerngesund waren, halb ohnmächtig das Schul-
zimmer verlassen mußten! „Durch die Examina ist in den Unterrichts-
betrieb ein ganz neues psychisches Moment gekommen, das ist die Be-
4*
308
Hans PUcher.
sorgnis, die Angst, die Furcht vor der drohenden Abrechnung. Je nach
der Individualität äußert sie sich bei den einzelnen Schülern in verschie-
dener Form und in verschiedenem Grade." (Dr. Andreae: Zur Psycho-
logie der Examina.*)
Daß diese Angstzustände wirklich vorhanden sind, beweist ein Versuch,
den ich mit 38 zwölfjährigen Schülern einer VI. Volksschulklasse an-
stellte. Einige Tage nach der offiziellen Jahresschlußprüfung ließ ich sie
einen sog. „freien Aufsatz" über „Die Schulprüfung" anfertigen. Acht
Schüler verstanden die Aufgabe falsch und ergingen sich in allgemeinen
Redensarten und Reflexionen, anstatt ihre eigenen Gedanken und Erfah-
rungen mitzuteilen. Diese Arbeiten mußten also ausgeschieden werden.
Von den übrigen 30 Knaben bestätigten 20 das Vorhandensein eines Angst-
gefühles, natürlich in den verschiedensten Ausdrucksweisen: „Ich habe
Angst". „Ich getraue mich nicht zu reden", „Ich freue mich
auf die Prüfung, aber wenn der Herr Oberlehrer kommt, habe
ich auch Angst", „Wenn ich zum Beispiel zwei Stunden schriftlich
rechne, komme ich ganz aus den Sinnen", „Wenn ich bei der Prüfung im
Rechnen aufgerufen werde, weiß ich nicht mehr, was ich überhaupt sage" u. a.
Ein Schüler schreibt: „Wenn es heißt, heute haben wir Prüfung, so über-
kommt mich eine große Angst, weü ich immer meine, ich mache alles falsch.
Der Gedanke arbeitet immer in mir und da bringe ich mit dem besten Willen
nichts fertig. Sind wir dann fertig, so ist die Angst nicht mehr da"
Ein anderer detailliert den psychischen Prozeß mit folgenden Worten: „Ich
habe bei der Prüfung immer sehr viel Angst. Immer denke ich mir,
ich könnte eine schlechte Note bekommen. Werde ich dann aufgerufen
und der Herr Oberlehrer oder der Herr Lehrer hat die Rechnung schon
vorgelesen und ich soll sie rechnen, dann kann ich keine Zahl mehr
sagen. Vor lauter Angst habe ich nicht auf die Rechnung Obacht ge-
geben, sondern dachte immer an die schlechten Noten, die ich bekomme."
U eberall die gleiche Erscheinung: durch hemmende Einflüsse von
außen tritt eine Ablenkung resp. eine vollständige Verwirrung des nor-
malen Vorstellungsverlaufes ein, die für den Augenblick die ganze Denk-
fähigkeit lähmt. „Examensfieber" wird dieser Zustand gewöhnlich genannt,
der sich auf allen Altersstufen in mehr oder minder größerer Stärke zeigt.
Ein höchst merkwürdiges Beispiel davon, wie die Prüfungsangst sich auch
auf die Umgebung des Prüflings übertragen kann, wurde vor
einiger Zeit in der „Med. Klinik" erzählt: „Ein 48 jähriger Beamter,
sonst das Muster von Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit, versagte mit
einemmal in rätselhafter Weise; er konnte nicht mehr arbeiten, wurde
reizbar, unzufrieden, unruhig und reiste hin und her. Nach einiger Zeit
kehrte er frisch und diensteifrig auf seinen Posten zurück. Das Rätsel
fand darin seine Lösung, daß in dieser Zeit der Sohn des Beamten sein
Offiziersexamen gemacht und bestanden hatte, an dessen Ausfall dem Vater
viel gelegen war." 1
Naturgemäß äußern sich diese Wirkungen bei mündlichen Prüfungen
*) Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene,
Jahrg. 1 899.
Digitized by Googl
Zur Ftychologie der Schulprüfungen. 309
noch viel mehr als bei schriftlichen, nur sind sie dort weniger kontrollierbar,
da wegen der vielen Imponderabilien, mit denen hier gerechnet werden muß,
überhaupt mehr dem Zufall anheimgegeben sind. „Eine ungeschickte Frage
oder eine unüberlegte Antwort gleich zu Anfang kann hier auf den
ganzen Ausfall der Prüfung einen ungünstigen Einfluß ausüben." (Paulsen.)
Die Wahrheit dieses Satzes zeigt sich gar oft, wenn der Examinand mit
dem schwächsten Schüler beginnt oder einem Prüfling eine Aufgabe zu-
weist, die seiner Geisteskraft nicht gewachsen ist. Werden nun in rascher
Folge einige Nachbarn gerufen, um einzuspringen, so zeigen sich bei
einer ganzen Reihe von Schülern gewisse Suggestivwirkungen,
besonders aber dann, wenn vielleicht gar der Visitator dem einen oder
anderen vor versammelter Klasse ein kurzes Privatissimum darüber liest,
was ein fleißiger Schüler wissen müsse, daß es nur an der nötigen Auf-
merksamkeit fehle, anstatt Irrtümer und Fehler nach Galater 6/1 zu be-
handeln: „Liebe Brüder, so ein Mensch von einem Fehler übereüt würde,
so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geiste, die ihr geistlich seid,
und sieh auf dich selbst, daß du nicht auch versuchet wirst."
Ueberhaupt können äußere Einflüsse verschiedener Art die Examens-
wirkungen in mancher Hinsicht modifizieren, verstärken und dem Prüfurigs-
ergebnis noch mehr die Signatur des Zufälligen aufdrücken. An einem
recht heißen Tage zeigen sich die Kinder anders als an einem kühlen, am
Vormittage anders als am Nachmittage, am Montag anders als am Samstag.
Stern hat bei seinen Untersuchungen über die „Aufmerksamkeit", welche
er mit Hilfe der Methode des Tastklopfens anstellte, gefunden, daß im
Laufe des Vormittags ein Maximum von Energieentfaltung, gegen Mittag
aber ein Rückgang zu verzeichnen ist, der bis zwei Stunden nach dem
Mittagessen andauert. Der Spätnachmittag bringt ein zweites Maximum
an Leistungsfähigkeit, dann abermals einen Rückgang. Bezüglich der
Periodizität, welche sich im Laufe eines Jahres ergibt, stellte Lay*) fest,
daß die psychische Energie der Klassen vom März bis Juli abnimmt, von
da an wieder wächst, um dann neuerdings zu fallen. Zu einem ähnlichen
Ergebnis kam S c h u y t e n**), der Leiter des pädagogischen Seminars in
Antwerpen. Bei seinen Experimenten über die „Schwankungen 1 der Auf-
merksamkeit stellte er fest, daß folgende Anzahl von Schülern bei Lese-
übungen die Aufmerksamkeit festhielten:
1
Jan.
Febr.
M9rz
April
Mai
Juni
Jon !
Okt. |
Nov.
Dez.
•/o d Auf-]
m*rk«am.|
68
1 63 1
77
69
64
«1
~48 \
62
~67~
„Weitere Kurven ergaben: Die Kurve ist in oberen Klassen höher
als in niederen, größer bei Knaben ab bei Mädchen, fällt von 8V» Uhr
vormittags bis 1 1 Uhr und von 2 bis 4 Uhr nachmittags, ist größer um
*) Lay, Experimentelle Didaktik.
**) Lobsien, Arbeiten aus dem städtischen pädagogischen Labora-
torium Antwerpens. (Experimentelle Pädagogik, IV. Bd.)
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310
Hann Pkcher.
2 Uhr nachmittags als um 10 Uhr vormittags, immer dann aber geringer
als um 8 Uhr des Morgens."
Mag auch aus diesen Einzeluntersuchungen kein Gesetz resultieren,
immerhin decken sie sich mit der Vulgärbeobachtung, und es ist eigen-
tümlich, daß den Ergebnissen so wenig Beachtung geschenkt, daß der
Anpassungsfähigkeit des Kindes bei der Schulprüfung so gar nicht Rech-
nung getragen wird. Da bestimmt z. B. eine Schulbehörde, daß in den
niederen Klassen die Unterrichtsfärher in jeder halben Stunde wechseln
sollen, daß in den oberen Klassen in der Rechenstunde eiri Wechsel ein-
treten soll zwischen schriftlichem und mündlichem Rechnen, um einer Er-
müdung vorzubeugen. Eine ziemlich selbstverständliche Bestimmung in An-
betracht der Tatsache, daß ,,auch noch in dem späteren Kindesalter die
Aufmerksamkeit viel schneller ermüdet als beim Erwachsenen und teils
einen größeren Wechsel, teils häufigere Ruhepausen verlangt." (Wundt,
Physiol. Psychologie.) Bei der Prüfung kommt nun ein Vertreter derselben
Schulbehördc und prüft im Rechnen allein gleich zwei volle Stunden, prüft
vielleicht gerade dieses schwierige Fach erst nachmittags um 4 Uhr, ob-
wohl anerkanntermaßen diese Stunden für geistige Schülerarbeit nicht viel
mehr als Null sind. Es ist eine bekannte Erscheinung, wie sich das Kind
an einen gleichmäßigen Verlauf seiner intellektuellen Aeußerungeri gewöhnt,
sobald diese jeden Tag in den gleichen Bahnen sich bewegen, wie schon
das ganz kleine Kind im zartesten Alter seine Triebäußerungen durch die
Gewöhnung in ein bestimmtes Geleise bringt. Die Schule hat dem das
ganze Jahr hindurch Rechnung zu tragen, und nun soll auf einmal in so
starkem Maße von dem Gewohnten abgewichen werden? Wer das fordert,
verkennt die Kindcsnaturl Und er sündigt dagegen!
Er sündigt dagegen nicht nur an dem einen Tage, sondert!, die Prü-
fungswirkungen in Betracht gezogen, das ganze Jahr hindurch, da die-
selben das ganze Schuljahr ihre Schatten vorauswerfen. Man macht be-
sonders unserer Volksschule nicht allzu selten den Vorwurf, daß ihrem
Unterrichte die Dauerhaftigkeit mangelt. Es steckt auch ein gut Teil
Wahrheit in diesem Vorwurfe. Allein woher soll eigentlich eine richtige
Dauerhaftigkeit kommen, wo das ganze Schul- und Prüfungv
system die Flüchtigkeit begünstigt, ja geradezu bedingt ? Vom ersten
Tage des Schuljahres an kennen sehr häufig Lehrer und Schüler nur ein
Ziel: die Prüfung. Und da gibt es nun ein Hasten und Drangerl und
Stürmen — vorwärts! Ob schwache Schüler zurückbleiben, ob die Geistes-
kost nur halb verdaut wird, das macht keinen Unterschied — nur vor-
wärts! Ar. einladenden Stellen länger zu verweilen, schwere Stellen gründ-
licher zu nehmen, öde Orte flüchtiger zu durcheilen: nichts von alledem!
Das Jahrespensum muß durchgepeitscht werden. Dr. Andreae führt
über diese Erscheinungen in dem schon erwähnten Aufsatz aus : „ . . . Damit
ist aber nicht nur die Auswahl der Stoffe alteriert, sondern auch Form und
Tendenz der Aneignung erscheinen wesentlich verändert. Die sogenannte
Dauerhaftigkeit des Unterrichts wurde zu einem ..Präsenthaben" einer
mehr oder weniger großen Summe für wertvoll oder doch für notwendig
erklärter Vorstellungen, die wie Dinge behandelt werden; and da es sich
beim Prüfer doch nur um ihr Symbol, um Worte handelt, so liegt hier
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Zw Psychologie der Sehulprüfungrn
311
der tiefste Grund für den Kultus des Wortwissens, für jenes öde Geschäft
des Dressierens, Einpaukens usw., das nur ein Glied in dem großen System
von Täuschungen ist, dessen Mittelpunkt das Examen und bei dem Lehrer
und Schüler, Prüfungsbehörden und Publikum gleichermaßen mitwirken. An
Stelle des Unterrichtszieles ist das Prüfungsziel getreten, an die des Be-
zeichneten das Zeichen." — Die Folgen davon hat unsere Jugend aus-
zukosten, wenigstens zum großen Teüe. Und um diese Folgen zu besei-
tigen, gäbe es nur einen Weg: die Prüfungen überall da, wo sie einiger-
maßen entbehrlich sind, auszuschalten, wo sie aber, durch das herrschende
Schulsystem bedingt, nicht zu umgehen sind, wenigstens zu reformieren,
entsprechend den Forderungen der Psychologie, der Hygiene und der
pädagogischen Praxis.
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Sitzungsberichte.
Psychologische Gesellschaft zu Berlin.
Sommersemester 1906 (Fortsetzung).
Donnerstag, den 3. Mai 1906.
Beginn: 8# Uhr.
Vorsitzender : Herr Moll.
Schriftführer: Herr West mann.
H err Prof. Rudolf Lehmann spricht über :
„Poetik als Psychologie der Kunst".
Die Aesthetik des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
wollte eine Metaphysik, jetzt will sie eine Psychologie des Schönen
sein. Wir suchen das Wesen des Schönen nicht im objektiven
Verhalten der Welt, ihren Formen, Erscheinungen, sondern in unserer
Art, die Welt ru sehen, in uns wirken zu lassen. Das Schöne ist in
seinem Wesen und in seinen Lebensäußerungen aus der menschlichen Psyche
abzuleiten. Welche Abhängigkeit besteht zwischen den einzelnen Künsten
und der psychischen Organisation des Menschen?
Auf dem Gebiete jeder einzelnen Kunst gibt es eine dreifache Be-
trachtungsweise: 1. die technische, die die Formen und Mittel der Kunst
als solche betrachtet, 2. die kunstgeschichtliche, 3. die psychologische.
Am weitesten vorgeschritten ist die psychologische Behandlung weise in
der Poesie, weil die Sprache zugleich zur Technik der Dichtkunst gehört.
Das Problem der Poetik hat sich geschichtlich in folgender Weise
entwickelt : Bis zur ersten Hälfte des 1 8. Jahrhunderts ist die Poetik nur
eine praktische Anleitung zum Dichten und zur Kritik. Man stellt Defi-
nitionen für die Formen der Dichtung auf; was man nicht in diese Defi-
nitionen einrubrizieren kann, verwirft man. Herder bahnt zuerst eine
wissenschaftliche Betrachtung an: die Dichtung soll sich aus dem ge-
schichtlicher und geschichtsvergleichcnden Wesen ergeben. Die Poesie der
Naturvölker sei ebenso Poesie wie die Dichtung Homers. Diese Auf-
fassung zeigt nicht, wie man dichten soll.
Schlegel usw. führen diese Herder sehen Gedanken lediglich
aus: die Poetik wird zu einer Art von allgemeiner Literaturgeschichte.
Sitzungsberichte.
313
Die Geschichte allein beantwortet die allgemeine Frage, was Poesie ist,
nicht Es bedarf eines allgemeineren Elementes. Dieses finden Herders
Zeitgenossen und die Romantiker in der allgemeinen Spekulation ethischer
Natur aus allgemeinen Begriffen, wo bestimmte Definitionen, bestimmte
Postulate, bestimmte Gestaltungen abgeleitet werden, die durch die ge-
schichtlichen Erscheinungen hm durchschimmern. Zwitterwesen zwischen
geschichtlicher und spekulativer Betrachtung. Beispiel: Schillers ästhe-
tische Schriften. Schiller geht auf Herd e t s induktive Methode ein,
er zählt die tragischen Stoffe auf, in denen sich z. B. das Erhabene zeigen
kann, teils induktiv, teils deduktiv aus ganz allgemeinen Begriffen, die bei
Schiller gar nicht psychologisch gemeint sind. „Natur" und „Mensch"
sind bei Schiller nur Idealbegriffe, teils ethisch, teils ästhetisch. Aehn-
lich Hegel, welcher — wenig stichhaltig — das Historische aus der
Idee des Schönen ableitet. Umschwung von der Metaphysik zur Psycho-
logie seit Taine 1865 und Fechners Vorschule der Aesthetik. Taine
geht von dem Begriff der Völkerpsychologie aus. Wir müssen aus Rasse,
Zeitalter, Milieu das Kunstwerk erklären. F e c h n e r geht vom gegebenen
Kunstwerk aus und fragt, wie und warum wirkt es so? Das künstlerische
Wirken sei ein psychisches Geschehen. Welche Wirkungen übt ein fertiges
Kunstwerk auf den Beschauer aus, worin besteht das Wesen des künst-
lerischen Eindrucks und damit das Wesen des Kunstwerks? Von hier
aus einen Schritt weiter: Wie entsteht das Kunstwerk in der Seele des
Künstlers, des Dichters, das schaffende Vermögen wird analysiert, aus
welchen psychischen Bedingungen geht die Dichtung hervor ? Scherer:
Wir brauchen eine geschichtliche Betrachtung, nicht eine wertende: Analyse
des dichterischen Prozesses, Ergründung der schaffenden Seelenkräfte des
Dichters. D i 1 1 h e y : Zwischen technischer und psychologischer Betrach-
tung sei ein Unterschied: wir werden niemals imstande sein, aus einer
bloßen psychologischen Analyse die Poesie zu erklären. Dazu erforderlich:
1. technisch-historische Betrachtungsweise aus der historischen Entwick-
lung; 2. Analysis des schöpferischen Vermögens. In den psychologischen
Vorgänger», ist die allgemeine Natur des Schaffens begründet. Die Poesie
sei geschichtlich und zeitlich gebunden. Die Historie habe die Führung.
Die Psychologie ist die Ursachen weisende und erklärende Grund-
lage der Poetik, wie für jede Geisteswissenschaft. Lehmann erachtet
eine derartige Behandlung als Psychologie der Dichtung, nicht als Poetik.
Welches sind die Quellen unseres Wissens über die psychologische Ent-
stehung der Poesie? Ausgeschlossen ist die Beobachtung des Dichters
bei der Konzeption; einmalige Beobachtung nützt wenig. Selbstbeobachtung
hat ebenfalls Bedenken, denn der Moment der dichterischen Konzeption
ist ein Moment der höchsten seelischen Erregung. In solchen Fällen beob-
achtet man sich sehr schlecht. Was der Dichter von nachher mitteilt,
hat wenig Chance. Die Dichter machen solche Mitteilungen nicht aus
psychologisch - wissenschaftlichem Interesse, sondern um zu zeigen, wie
sie es machen im Gegensatz zu anderen Dichtern. Dies reicht aber
nicht aus, um so einen Ueberblick über den Gang der psychischen Ent-
wicklung zu verschaffen. Goethe sagt: Alle Dichtung besteht aus der
Umsetzung eines persönlichen Erlebnisses in die Poesie. Indessen, wie
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314
Sitrungtberichle.
hat man sich diese Umsetzung vorzustellen? Psychologisch: ein assozia-
tives Gebilde, dazu die überlieferten oder gefundenen Formelemente, die
Phantasie sei wesentlich ein Medium, durch das die Personen durchgehen.
Erstes Stadium : die Phantasie verhält sich rezeptiv, passiv, aber ein
Dichtwerk wird erst daraus, wenn ein formendes, gestaltendes, schöpfe-
risches Moment hinzukommt; die Ergründung der Phantasie schafft in-
dessen noch keinen Einblick in die psychologischen Gründe des dichte-
rischen Schaffens. Jede Schöpfung, auch die künstlerische, setzt einen
Willensakt voraus. Diese Willenserscheinimg ist eine höchst komplizierte:
phantasiert der Dichter, so kann er sich als ein behaglicher Träumer bei
dem Gang seiner Phantasien beruhigen; schafft er ein Kunstwerk, so hat
er die Absicht, das, was er erlebt, zu einem Erlebnis für andere zu machen,
seine 'Stimmung anderen mitzuteilen. Dies bei der Poesie und der bil-
denden Kunst. Darin besteht der Schaffenstrieb, der ihn drängt, das
außer sich zu stellen, was in ihm liegt, die Absicht, das anderen zugänglich
zu machen, was bis dahin in ihm war. In Worten auszudrücken, was man
empfindet, ist schwierig. Hierzu gehört eine eigentümliche Konzentration.
In jedem Gedicht ist ein Willcnselement, keine rein passive Willens-
assoziation. Die Arbeit der Konzentration ist die Auswahl der Worte,
der Charakterzüge, der Situationen, in denen der Dichter den Charakter
darstellt oder sich aussprechen läßt, eine Auswahl, die immer ein starkes
verstandesmäßiges Urteil voraussetzt. Ein wahrer Dichter ist sich dieser
Sache bei der Tätigkeit nicht bewußt, sondern findet sie unmittelbar,
und wenn er sie gefunden hat, so erscheinen sie ihm notwendig. Er
schwankt höchstens zwischen zwei oder drei Situationen; das Phänomen
ist das einer unbewußten Auswahl, eines Instinktes. Da wir noch nicht
einmal den einfachsten, den tierischen Instinkt erklären können, so können
wir erst recht nicht den Instinkt in seiner höchsten Erscheinung, den
künstlerischen, erklären. Wir können die Aufgaben der Psychologie der
Dichtkunst heute noch nicht lösen.
D i sku ssion:
' Herr Moser führt folgendes aus : Zu jeder künstlerischen Arbeit
gehört eine ungeheure physische Arbeit, wir kennen bei Gelegenheits-
gedichten im Goetheschen Sinne nur die causa occastonalis, dagegen nicht
die causa novens und die causa efficiens.
Herr Martens: Nicht die Willensanspannung schafft ein Kunst-
werk, sondern die innere seelische Zerrissenheit, zu deren Heilung der
Dichter eine Auseinandersetzung mit den ihm entgegentretenden Disso-
nanzen sucht. Es komme nicht darauf an, was ein Künstler wirklich
erlebt hat, das äußere Erlebnis ist gleichgültig, es komme nur darauf an,
was die Seele eines Menschen bewegt, welches Problem im Leben er
als das wichtigste hält. Dieses Suchen nach der Lösung einer wichtigen
Lebensfrage, eines Problems, geschieht nicht nur im Intellekt, es erfüllt
den ganzer. Menschen. Ein grelles Erlebnis tritt in das Bewußtsein, das
sind die Urelemente des Kunstwerkes, um die der Dichter die anderen
Elemente technisch herumkonstruiert, herumschafft.
Herr Leo Berg: Das Drama ist teilweise zu erklären aus den
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SiUmg»beriekU. 315
gesellschaftlichen Zuständen, teils aus der Psychologie des Zuschauers her-
aus, nicht aus dem Objekt, das der Künstler darstellt, noch aus dem Er-
lebnis. Ein Teil des Erlebnisses setzt sich beim Künstler zusammen aus
der Umgestaltung einer Vision mit dem Effekt, den alles das bei anderen
hervorrufen soll. In der Seele des Zuschauers sehen die Dinge ganz anders
aus ab in der Seele dessen, der es schafft. Die Absicht, eine bestimmte
Wirkung hervorzurufen, veranlaßt den Dichter zur Schöpfung des Kunst-
werkes. Ein Gedicht ist kein Kunstwerk, wenn es nicht einheitlich auf
den Leser wirkt. Dagegen ist es gleichgültig, ob ein Kunstwerk in eine
bestimmte Definitive hineinpaßt.
Herr Hochdorf: Die Diltheyschen und Schererschen Be-
mühungen zielen darauf ab, den dichterischen Vorgang aus dem Milieu
Tain es herauszulösen und in den dichterischen Vorgang hineinzulegen,
was in dem isolierten Wesen des Dichters liegt. Die rein aus der Vision
heraus schaffenden Dichter sind zu trennen von den sogenannten Artisten.
Bei den Artisten geht zwar das Erlebnis ihrem Dichten voraus, aber das
Finden der Worte ist nicht unbewußt, sondern sie ziselieren die Worte,
sie ermessen rein verstandesmäßig, wie sie imstande sind, durch Worte
die von ihnen beabsichtigte Stimmung auf den Genießenden zu über-
pflanzen. Die Artisten entdecken nicht blindlings neue Werte, sondern
sie führen verstandesmäßig, bewußt, neue Schönheiten herauf.
Herr Feigs: Um zu allgemeinen Gesetzen und Regeln zu kommen,
die bei der Kritik als Anhalt dienen können, muß man von der Art und
Weise ausgehen, wie das Kunstwerk auf den Beschauer zu wirken pflegt
und wie es wirken muß, damit der Beschauer zu dem anerkennenden Wert-
urteil kommt: das Kunstwerk ist schön.
Herr Lehmann führt in seinem Schlußwort aus: Das Erlebnis sei
nicht die ausschließliche Ursache für das Gedicht. Beim künstlerischen
Schaffen gibt es immer eine Rücksicht auf das Publikum. Die Art, wie
weit dies verstandesmäßig geschieht, ist individuell verschieden.
Herr cand. med. Scharpff ist als Mitglied ausgeschieden.
Schluß der Sitzung 101/4 Uhr.
Donnerstag, den 17. Mai 1906.
Beginn: 8 Uhr 20 Min.
Vorsitzender : Herr Moll.
Schriftführer: Herr Westmann.
Herr Hochdorf spricht über:
„Artistische Weltanschauung.' 4
Eine Weltanschauung kann erwachsen aus gerechtem, vorsichtig
wägendem wissenschaftlichen Urteil. Sie kann aber auch basiert sein auf
einer Stimmung, auf einer individuellen Anlage einer Person. Das letztere
ist die Weltanschauung der sogenannten Artisten. Der Artist setzt einen
Eigenwillen, eine Stimmung, eine Kaprice an die Stelle der vorsichtigen
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316 8itsungtberickte.
Erwägung. Er erweitert willkürlich eine Regung, der sich gewöhnliche
Menschen nur momentan hingeben, rum Regulativ seines Lebens. Um
festzustellen, ob die Wertungen der Erscheinungswelt durch den artistischen
Geist Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhalten können, bedarf es einer
geschichtlichen Untersuchung der verschiedenen Gruppen der Artisten. Es
gibt Artisten des Oekonomischen, des Ethischen, des Metaphysischen und
des Künstlerischen. Artisten des Oekonomischen und Ethischen waren die
Sophisten: Anaxagoras: der menschliche Geist schaffe die Welt, die
Welt sei nichts anderes als ein Produkt dieses Geistes. Protagoras:
der Mensch ist das Maß aller Dinge. Die Sophisten leiten aus dem
Menschen die Welt ab. Die Absichten der Sophisten waren weniger er-
kenntnistheoretische als pädagogische. Die sizilianische Rednerschule des
Korax sagt: nicht der Geist, sondern das Wort schaffe die Welt. Sie
kennt die Tätigkeit der sprachlichen Apperzeption, die Wahrheit, daß sich
Wort an Wort entzündet, daß Denken ein Reden ist und neues« Denken!
das Wechselspiel mit Worten. Deshalb ist das sophistische Denken elastisch,
es will die starre, unbewegliche Wahrheit durch schillerndes, einer Stimmung
entfließendes Interpretieren der Lebensgüter ersetzen. Das ist artistisches
Verhalten. Die Sophisten entfalten ihre Haupttätigkeit als Lehrer. Sie
erziehen nach ihrer Methode rum öffentlichen Wirken, zum Klugsein in
dem Oekonomischen und Ethischen. Subjektiv begnügen sie sich mit sitt-
lichen und wirtschaftlichen Möglichkeiten an Stelle des Oekonomischen und
Sittlichen an sich. Ihre Scheu vor klaren und festgefügten Gesetzen ist
keine ethische Skepsis, sondern eine dialektische. Ihre Lehre ist nicht
im System zu fassen, sondern nur in Aphorismen. Die Weltbegebenheiten
sind Würfel, die nach Belieben hin und her gewendet werden können.
Sie schätzen nicht moralisch, sondern stellen nur die Tatsachen dar.
Metaphysisches Artistentum: die indischen Yogin, die christlichen
Mystiker und Ekstaten schalten bewußt oder unbewußt einen Teil der
vom Leben gegebenen Ideenkomplexe aus ihrem Denken aus. Ihre ganze
innere Energie ist darauf gerichtet, durch mystische Vertiefung die Ver-
bindung zwischen dem Geist, der im Menschen wohnt, und dem anderen,
der in der Natur schwebt, herzustellen. Dieses Sehnen nach Flucht aus
dem Wirklichen ist bei ihnen zum Selbstzweck der Persönlichkeit erwei-
terte Weltanschauung. Diesem Artisten ist vorgeschrieben, wie er sich
durch Selbstzucht von semer irdischen Umwelt emanzipieren soll, um in
den Genuß des Ucberirdischen sich emporzuheben. Es ist ihm genau
vorgeschrieben, wie er zu gehen, zu atmen, sich zu bewegen, kurz, sein
ganzes Verhalten einzurichten hat ; erfüllt er diese Vorschriften, dann ist
die Welt ein Würfel in seiner HanH. Diese Tätigkeit ist ein Akt des
Willens, der Erziehung, der Absicht und Energie, eine Abscheidung von
tausend Lebensgütern zugunsten eines einzigen aus Gewohnheit, contem-
platio acquisita der mittelalterlichen Kirche. Die Mystik der mittelalterlichen
Kirche kennt außerdem noch eine contemplatio infusa, ein eingeborenes, tri"-
stinktives Sichversenken in die Mystik : die Inspiration sei über die Menschen
gekommen, nur dem Göttlichen zu leben (Franciscus von Assisi,
Teresa von Alvila). Wilhelm von Humboldt: die Daten der
Geschichte seien gar nicht von Wichtigkeit. Wer imstande sei, eine wirk-
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Sitzungsberichte.
317
liebe Welt zu gestalten, sei Dichter, sei Herr über die Geschichte,, finde
erst die historischen Wahrheiten in seinen harmonischen Phantasiebildungen.
Wo mehr geschehe als Elementares, wo sich die historischen Begebnisse
abhängig von ihrem geistigen Urheber verworren haben, habe der Dichter
allein die Kraft, das Wirrwarr zu entfädeln und zu klären. Die Poesie sei
darum die Wahrheit der Geschichte. Dieser Humboldt sehe — nur halb
richtige — Satz ist von den Artisten des Künstlerischen zum obersten
Prinzip erhoben worden. Sie sagen schlechthin, ihr dichtender Eigenwille
allein bestimme die Geschichte. Dem Begriff der Geschichte geben sie
indessen den verschiedenartigsten Inhalt, sie wollen das Sehen nicht von
der Welt lernen, sondern der Welt ihre subjektiven Augen einsetzen.
Grillparzer: der Tragiker müsse Geschichte fälschen, um ein
wahres geschichtliches Trauerspiel zu dichten. Er müsse die Stoffe so dar-
stellen, wie seine Persönlichkeit ihn treibe und von der kalten Tatsachen-
überlieferung abseben. Jose* Maria de Heredia entwickelt schon in
dem Titel „Les trophöes" das Programm für das Artistent um.. Die Ar-
tisten sträuben sich, ihr „Erlebnis", was der Tag zuträgt, darzustellen, sie
wollen der Welt gegenüber ein rein objektives Verhältnis einnehmen, sie
wollen Welten gestalten, die zwar nach ihnen aussehen, aber nicht in
Kausalnexus stehen mit dem, was auf sie eingewirkt hat. Heredia
will mit seiner Dichtung keine dynamischen Wirkungen erzielen, sondern
eher mathematische, optische. Er benutzt die Elemente des Sehens, des
Auges, um die Kulturepochen darzustellen. Er schildert z. B., wenn er
ausdrücken will, daß er auf einer griechischen Ruine wandelt, zuerst die
Gegend, wie ein französischer Freilicht- und Freiluf tmalcr : überfließende
Helligkeit, die ganze Landschaft ist von einer gleißenden Sonne über-
gössen. Innerhalb der hellen Landschaft befindet sich etwas Dunkles, an
dem das Auge besonders haften bleiben müsse. Er schafft einen Blick-
punkt, einen Ruhepunkt für das Auge. Dieser Ruhepunkt ist ein Hirte,
der auf der Muschel bläst. Diesen Hirten isoliert er vollständig, so daß
der Eindruck seiner Einsamkeit für das optische Aufnehmen auf das
prägnanteste hervorgehoben wird. In der Technik stellt Heredia stets
das Düstere dem Hellen rein optisch gegenüber. Dichterisch ist ein ein-
zelnes derartiges Produkt bestechend, aber nicht ein ganzer Band der-
artiger dichterischer Erzeugnisse.
Die artistische Weltanschauung erachtet die Welt als eine Chiffre,
mit der der Dichter rechnet; der Dichter könne nach Belieben sich und
alles, was um ihn existiert, schwer, leicht, groß, winzig, tief, hoch machen,
wie e3 gewöhnlich dem Menschen in seiner Stimmung vorübergehend er-
scheinen kann, beim Artisten ist dies Maxime, Widerbild seiner Persön-
lichkeit. Stendhal hält die Emanzipierung der Menschen von den
Wirklichkeiten, daß sie Zeit ihres Lebens in solchen eigenen Welten
leben, für krankhaft, clownartig, der Hysterie verwandt.
Die Artistengruppe tritt immer in den Vordergrund, wenn eine Epoche
vorangegangen war, in der man auf das scharfe Erforschen der Natur
besonderen Wert gelegt hatte. Heute in Deutschland z. B. ist dasj Ar«
tistentum auf den Naturalismus gefolgt. Kant bezeichnet das Artistentum
als steril und unfruchtbar. Man soll sich der Welt gegenüber nicht ver-
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318
Sitzungsberichte.
halten nach der Eigenliebe, die den Menschen sich einspinnen laßt in
dem Dämmer einer kleinen Welt von Gedanken, die nur ein Segment
dessen ist, was an Wahrheiten existiert.
Diskussion:
Herr Schächter führt aus, er halte die Sophisten nicht für
Artisten, sie konstruieren nicht ein Weltbild aus der Stimmung heraus, sie
sehen die Welt formal logisch, dialektisch logisch an. Die indischen Philo-
sophen seien reflektierende Menschen, aber sie gingen nicht aus Stimmung
an ihre Anschauung heran. Die Welt, gesehen durch das Temperament,
sei nicht Artistentum, sondern sei eben die Kunst.
Welcher Gesichtspunkt für uns maßgebend ist, sei abhängig von dem
Kreis der Vorstellungen, den wir besitzen, wenn an uns eine Sache heran-
kommt.
Der Vortragende verzichtete auf das Schlußwort
Schluß der Sitzung 9 Uhr 50 Min.
Donnerstag, den 7. Juni 1906.
Beginn: 8yi Uhr.
Vorsitzender : Herr Moll.
Schriftführer : Herr Westmann.
Der Vorsitzende hielt einen Nachruf auf Eduard v. Hartmann,
die Anwesenden erhoben sich von den Plätzen.
Als Mitglieder wurden aufgenommen Herr Dr. F e i g s , Herr Dr.
Metzger.
Herr Möller hielt den angekündigten Zyklusvortrag über:
„Wundt als Psychologe.' 4
Eine Diskussion fand nicht statt.
Der Vortrag des Herrn Möller erscheint im Sonderabdruck.
Schluß der Sitzung 10 Uhr.
Donnerstag, den 21. Juni 1906.
Beginn: 8y 4 Uhr.
Vorsitzender : Herr Martens.
Schriftführer: Herr Westmann.
Frl. Kölling hielt den angekündigten Vortrag über:
„Persönlichkeitsbilder zweier schwachsinniger
Kinder",
der in dieser Zeitschrift als Originalaufsatz erschienen ist.
Eine Diskussion fand nicht statt.
Schluß der Sitzung 9 Uhr.
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Sitzu ngaberkh te.
319
Donnerstag, den 5. Juli 1906.
Beginn: 8 1 /» Uhr.
Vorsitzender : Herr Moll.
Schriftführer: Herr Westmann.
Ausgetreten sind die Herren Grimm, Major, Leman.
Herr Hirschlaff hielt den angekündigten Zyklusvortrag über :
„Brentano."
Der Vortrag wird später in erweiterter Form in dieser Zeitschrift er-
scheinen. I
An der Diskussion beteiligte sich Ii err D e s s o i r. Der Vor-
tragende hatte das Schlußwort.
Schluß der Sitzung q»/* Uhr.
Wintersemester 1906/07.
Donnerstag, den 18. Oktober 1906.
Beginn: 8V 9 Uhr.
Vorsitzender: Herr Moll, später Herr Baerwald.
Schriftführer : Herr Westmann.
Herr Moll spricht über das Thema:
„Ueber den Einfluß der Medizin auf die moderne
Psychologi e."
Der Einfluß der Medizin auf die moderne Psychologie ist ein außer-
ordentlich großer. Die Medizin und die Naturwissenschaft im allgemeinen
haben die Aufgabe der Psychologie verändert, indem sie diese der Meta-
physik entrissen und zu einer Erfahrungswissenschaft machten. Es hat
sich dabei auch gleichzeitig die Methode geändert, indem neben die innere
Beobachtung (die Introspektion) die äußere Beobachtung, und ganz
besonders das Experiment, getreten sind.
Nachdem Weber seine grundlegenden Untersuchungen über den
Tastsinn und das Gemeingefühl 185 1 veröffentlicht und Fechner 1860
Bausteine zur Psychophysik geliefert hatte, war es besonders W u n d t ,
der die Methoden der Physiologie auf die Psychologie übertrug und damit
jene Wissenschaft schuf, die man als physiologische Psychologie bezeichnet,
ein Ausdruck, der allerdings leicht zu Mißverständnissen führt und auch zu
solchen schon Veranlassung gegeben hat. Das Experiment ist von den
Naturwissenschaften, besonders von der Physiologie, auf die Psychologie
übertragen worden, und man hat damit einen großen TeÜ dessen, was zur
modernen Psychologie gerechnet wird, geschaffen. Hierher gehören die zahl-
losen Untersuchungen über das Weber-Fechner sehe Gesetz und seine
Grenzen, über den Einfluß der Schwingungszahlen auf die Tonhöhe; hier-
her gehören die Untersuchungen über die Klangfarbe, über Farben-
mischungen usw. Der Name H e 1 m h o 1 1 z beweist an sich die Bedeutung
der Medizin für diese Forschungen. Ebenso gehören in dieses Gebiet
die zahlreichen Untersuchungen über die Reaktionszeiten, über den Ein-
fluß der Vorstellungen auf die Bewegungen usw. Die zahlreichen Unter-
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320
Sitzungsberichte.
suchungen über Sinnesempfindungen sind erst durch die Physiologie ermög-
licht worden, indem diese die Funktionen der Sinnesorgane vorher bearbeitete.
Auch manche Arbeiten über Hirnphysiologie sind für die Psychologie
bedeutungsvoll geworden.
Gleichzeitig mit der Entwickelung der Psychophysik in Deutschland
haben in England zwei Psychologen unabhängig von der experimentellen
Psychologie, aber gleichfalls auf der Physiologie fußend, psychologische
Systeme geschaffen, B a i n und Spencer. Ersterer räumt der Beobachtung,
aber kombiniert mit den Erfahrungen der Physiologie, eine große Bedeutung
ein, Spencer begründet die Psychologie wesentlich entwickelungs-
geschichtlich, wobei er sich auf die Entwickelung des Zentralnerven-
systems stützt.
Auch andere psychologische Auffassungen der Psychologie zeigen Be-
ziehungen zur Medizin, z. B. W u n d t s Apperzeptionstheorie, ferner die
Assoziationstheorien. Mediziner haben auch zum großen Teil die psycho-
logische Bedeutung der Sprache erforscht, und zwar im Anschluß an patho-
logische Sprachstörungen, besonders an die Aphasie. Die psychologischen
Bedingungen des Handelns suchen andere ebenso in neuerer Zeit auf Grund
pathologischer Fälle zu studieren. Das Studium der Hypnose, des Schlafes
und der Träume ist ebenfalls zum großen Teil Medizinern zu danken. Des-
gleichen haben diese zu den gegenwärtig vielfach vorgenommenen Unter-
suchungen über das Gedächtnis wichtige Vorarbeiten geliefert. Die Psycho-
pathologie wurde von M a u d s 1 e y und Hack Tuke in England, später
besonders von T a i n e und R i b o t in Frankreich für die normale Psycho-
logie verwertet. Auf die Beziehungen von Genie und Irrsinn haben Medi-
ziner hingewiesen. Die Kinderpsychologie verdankt der Medizin ebenfalls
sehr viel; ich erwähne nur Preyers Werk über die Seele des Kindes.
Mediziner haben auch für die Tierpsychologie gearbeitet; genannt seien
nur F o r c 1 und B e t h e , die die psychischen Eigenschaften der Ameisen
studierten. Für die Völkerpsychologie nenne ich nur Bastian und W u n d t,
die beide ursprünglich Aerzte waren. Hierher gehören auch die Unter-
suchungen über Massenpsychologie, deren Studium gleichfalls von Medi-
zinern gefördert wurden.
Freilich war der Einfluß der Medizin nicht immer nur ein guter.
Die extrem materialistische Strömung, wie sie z. B. von Büchner ver-
treten wurde, die Lehre vom geborenen Verbrecher und manches andere
waren Uebertreibungen, wie sie gerade durch das Aufblühen der Physio-
logie, der Anatomie und der Naturwissenschaften im allgemeinen veranlaßt
wurden. Auch sonst finden wir oft Uebertreibungen und eine vorschnelle
Uebertragung physiologischer Begriffe auf die Psychologie. Manche
Arbeiten der experimentellen Psychologie, die zunächst nur für das Labo-
ratorium Interesse haben, sucht man vorschnell für die Praxis zu verwerten.
Dies gilt für viele experimentelle Untersuchungen über Ermüdung, den
Alkoholgenuß usw. Auch darf man nicht vergessen, daß für manche Pro-
bleme der Psychologie die Medizin wenig geleistet hat, z. B. für das Problem
der Bewußtseinseinheit. Trotz alledem aber ist der Einfluß der Medizin
ein außerordentlich großer und auf vielen Gebieten der Psychologie überaus
wohltätiger gewesen. (Eigenbericht)
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321
Diskussion:
An der Diskussion beteiligte sich Herr Dr. Feigs. Der Vortragende
hatte das Schlußwort.
Schluß der Sitzung 10 Uhr.
Donnerstag, den i. November 1906.
Beginn: 8 Uhr 20 Minuten.
Vorsitzender : Herr M o 1 1.
Schriftführer: Herr West mann.
Als Mitglieder ausgetreten sind die Herren Fr. Schulz, Bauer,
Dr. Valentin, aufgenommen Dr. Rodenwaldt, Dr. Schulz,
stud. v. d. B e r g h.
Herr Hennig spricht
„Ueber Naturgenu ß'\
Mit fortschreitender Kultur wächst die Lust- und Unlustempfindung.
Die Genußfähigkeit für Genüsse, die seelischen Empfindungen für Leiden
wachsen qualitativ und quantitativ. Wie alle Bedürfnisse, so wächst auch
das Bedürfnis, Naturfreuden aufzusuchen und zu genießen, mit der Möglich-
keit der Befriedigung. Die Verkehrserleichterung ermöglicht die erleichterte
Befriedigung des Naturgenusses und vergrößert das Bedürfnis dazu.
Der Naturgenuß besteht in der Freude an Naturkräften und Bildern,
im Anschauen der Sonne, Sterne, Wolken, Blitze, Berge, Meer, Heide,
Wald, Dorf, er kann aber auch bei gewaltigen Naturkatastrophen, Feuer,
Vulkan, Erdbeben empfunden werden. Der Ungebildete hat nur die Emp-
findung für das Nützliche. Im Anfang der Kultur ist nur das schön, was
dem Menschen nützlich ist; so bei den heutigen Wilden, so aber auch bei
den alten Hellenen, bei Homer insbesondere.
Eine Steigerung des Naturgcfühls wurde hervorgerufen durch das
religiöse Fühlen und Trachten der alten Zeit. Es knüpft an Kultstätten
an : Grotten, Seen, Felswände, in denen sich die Gottheiten aufhalten.
Diese Naturstätten galten als heilig, als bevölkert von Geistern, ein Gefühl
der Erhabenheit für Natureindrücke äußert sich hierin. Bei den Römern
eine Vorliebe und objektives Verständnis für die Schönheit des Meeres;
dagegen ist die Empfindung für die Schönheit der Berge und der mit
Schnee bedeckten Alpen erst eine sehr späte Erscheinung, weil die Alpen-
reisen so beschwerlich waren, daß von einem Genuß von vornherein keine
Rede sein konnte. Die Besteigung der Berge im Altertum fand nicht
zum Genüsse der Aussicht auf den Höhen statt. Der Aetna ist der einzige
Berg, welcher im Altertum vielfach bestiegen wurde, aber nur zum Zwecke
des Studiums des Wesens des feuerspeienden Berges.
Im Altertum war das Reisen zu Studienzwecken sehr weit verbreitet,
ferner zu Gesundheitszwecken. Das Nahe erschien reizlos. Bei den Römern
überwiegt die verstandesmäßige Auffassung der Natur.
Naturgefühl des Mittelalters.
Das Naturgefühl des Mittelalters ist unter dem Einfluß der christ-
lichen Ideen, welche alles Irdische für sündig erklärten, sehr dürftig zur
Zeitschrift fttr pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 5
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Sitzungalterichtc.
Entwickelung gelangt. Die Vorliebe für die Einsamkeit, die Weltfhicht,
das Bedürfnis, Gott in allen seinen Werken zu erkennen und zu verehren,
bringt zur Entwickelung das Gefühl der göttlichen Größe in der Natur,
dagegen nicht eine ästhetisch-lyrische Ausgestaltung des Naturgefühls. Das
romantische Naturgefühl ist dem Altertum und Mittelalter fremd. Bei
Shakespeare grandiose Beschreibungen von Naturvorgängen* Hinein-
empfinden menschlicher Gedanken, Freude an der Natur nur da, wo es
sich um Landschaften und ähnliches handelt.
Das Verständnis für die Berges-, speziell für die Alpenschönheit ist erst
im 16. Jahrhundert bemerkbar. Damals auch die ersten Hochgebirge als
Sujets der Malerei, z. B. als Hintergrund bei Gemälden Lionardos.
Das Gewöhnen an eine Gegend führt nach und nach dazu, sie als Schön-
heit zu erkennen und objektiv zu genießen. Im 16. Jahrhundert erwacht das
Gefühl für das Romantische. R u y s d a 1 e usw. Holland galt damals als
eins der schönsten Länder der Welt, die schottischen Hochlande als scheuß-
lich wild, in das Schaudergefühl über die Berg- und Alpennatur mischt
sich erst im 18. Jahrhundert, wo die Bergbesteigung bereits häufiger wurde,
ein angenehmes Gefühl.
Rousseau ist das Erwecken des modernen Naturgefühls zu verdanken.
Er liebte die Einsamkeit. Er verbreitete eine subjektive Auffassung von
der Natur, hauchte ihr eine Seele ein und erweckte den Sinn für das Er-
habene. Das Gefühl der Erhabenheit der Natur, die „Einfühlung", macht
den modernen Menschen aus, der moderne Mensch legt in die Natur seine
eigene Empfindung hinein. Die Gefühle, die sich darin äußern, sind die
eigentlich romantischen. Es beginnt das Schwärmen für die Mondland-
schaften, für Nachtlandschaften, die Vorliebe für das Altertum beginnt.
Goethe, durch O s s i a n angeregt, hatte einen intensiven Naturgenuß.
Heidepoesie, Meerpoesie (Heine, Byron), sentimentales Gefühl der Lust
am Walde. Durch die Freude am Wald wird die Freude an den Schön-
heiten Deutschlands entdeckt. Romantische Landschaften (B Ö c k 1 i n s
Toteninsel). Lust an gewaltigen Naturkatastrophen, wenn man nicht daran
beteiligt ist. Es ist ein Gefühl der Erhabenheit, etwas dem Menschen Ueber-
legenes, was der Mensch in der Natur zu empfinden sucht, was er in sie
hineinfühlt. Heute, im Zeitalter der Nervosität, werden ruhige Landschaften
mit besonderer Vorliebe aufgesucht. U eberall derselbe Grund für den Genuß
an der objektiven Natur: das Vertrautwerden mit einer Gegend aus irgend-
welchen anderen Motiven. Der Naturgenuß wird durch das Auge ver
mittelt, bei dem Blinden, der ebenfalls hohen Naturgenuß empfindet, spielen
die sekundären Elemente mit. Eine große Rolle bei dem Naturempfinden
spielt die Nachahmung, ferner die Erziehung der Kinder zur Naturschön-
heit. Dem Kinde muß man einfache Eindrücke bieten, es auf Schönheiten
von Wald, Feld, Meer hinweisen, aber die größten Naturschönheiten soll
man ihm versagen, damit es nicht abgestumpft wird. Der höchste Natur
genuß kann sich nur dem Einsamen eröffnen, jeder Reisegefährte lenkt ab.
Der heutige Naturgenuß ist im Wachsen. Der vollkommenste Narur-
genuß wird Eigentum der Gebildeten bleiben. Landbewohner, einfache
Menschen, liaben Heimatsgefühle, aber keine ästhetischen Narurgcfühle.
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Das Naturgefühl verschafft mit geringen Mitteln Genüsse der edelsten Art.
Dadurch Steigerung des Glücksgefühls.
Diskussion:
Herr Dr. Rodenwaldt: Die Empfindungen hängen mit der Aus-
bildung unserer Sinnesorgane zusammen. Die Griechen haben den Geruchs-
sinu starker kultiviert, wir dagegen den Gesichtssinn, den Farbensinn, die
Empfindungen für feine Nuancierungen.
Herr Dr. Metzger bestreitet den Zusammenhang des Naturgefühls
mit der Ausbildung der Sinne, da die Naturvölker schärfer entwickelte
Sinne haben. Die Alten waren Natur, sie waren mit der Natur durch tausend
Fäden verbunden, und es war ihnen nicht möglich, sich der Natur gegen-
überzustellen. Aesthetisch können wir erst das genießen, was ab Realität
uns gegenüber seine Bedeutung verloren hat. Wir betrachten als Groß-
städter uninteressiert die Natur als ein Kunstwerk, das uns eigentlich nichts
angeht.
Herr H e n n i g erwiderte im Schlußwort folgendes :
Das ästhetische Gefühl für die Natur entwickelte sich überall dadurch,
daß man angenehme Empfindungen mit der Natur verband. Der Gesichts-
sinn hat sich seit dem Altertum sehr verschärft. Den Ausführungen
Dr. Metzgers über Naturempfinden als Folge der Unabhängigkeit von
der Natur tritt der Vortragende bei. Beim Bauer wird der krasse Nützlich-
keitsstandpunkt gegenüber der Schönheitswahrnehmung dominieren.
Schluß der Sitzung 101/4 Uhr.
Donnerstag den 15. November 1906.
Beginn: 8V4 Uhr.
Vorsitzender : Herr B a c r w a 1 d.
Schriftführer: Herr West mann.
Aus dem Verein als Mitglied ausgeschieden ist Herr Dr. v. Schulz e-
Vorden.
Herr Privatdozent Dr. Frischeisen-Köhler spricht über
„Psychologie des Schreiben s".
Die Psychologie der Individualität ist erst im Entstehen, ebenso die
Psychologie der Individualität der Handschrift, die Graphologie. Die Grapho-
logie als dilettantenhaftes Verfahren ist alt. Sie stützt sich auf Intuition.
Der Handschriftenkenner sieht eine Handschrift eine Zeitlang an und sagt
dann, der Schreiber sei ein guter, ein schlechter usw. Charakter. Dieses Ver-
fahren beruht auf keiner bestimmten Methode, es ist nicht übertragbar,
nicht erlernbar und kommt wissenschaftlich nicht in Betracht. Versuche
zu methodischer Erforschung sind in folgender Weise gemacht worden:
der Graphologe sammelt eine Reihe von Handschriften, deren Urheber
ihm genau bekannt sind, er konstatiert: ist in dieser Reihe eine gewisse
Art von Eigentümlichkeiten allen gemeinsam und weisen ihre Urheber
gewisse Eigentümlichkeiten auf, so erscheint die Berechtigung nicht
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Sitzungtherirhte.
unbegründet, aus dieser Gemeinsamkeit auf den gemeinsamen Charakter zu
schließen. Die französischen und italienischen Graphologen haben in dieser
Weise ein System von Zeichen, von individuellen Eigentümlichkeiten der
Handschriften aufgestellt, welche sie ru einem System von Eigenschaften
und Eigentümlichkeiten des Schreibens in Beziehung setzen. Dieses System
ist zunächst ziemlich willkürlich gewählt. Z. B. eine große Handschrift deute
auf einen großen Charakter hin, offene Naturen machen offene Buchstaben,
weitschweifige Naturen Schnörkel usw. Diese Ergebnisse sind fragwürdig
und dilettantenhaft. Bedenken sind vorhanden i. bezüglich der Schrift.
2 bezüglich der Anschauungen vom Charakter. Bestimmte Zeichen, z. B. ein
Schlußhaken korrespondiert nicht mit Eigensinn, Lügenhaftigkeit usw., so-
dann bestehen die Schriftzüge in einem Zusammenhang untereinander, der
Charakter als solcher ist nicht etwas Losgerissenes. Die Beobachtung von
Handschriften, Physiognomien und Schädeln zeigt, daß alle äußeren
gegebenen Anzeichen vorhanden sein können und dennoch die korrespon-
dierenden Geisteseigenschaften fehlen. Diese Methode berücksichtigt nicht
die negativen Instanzen, sie läßt sämtliche Fälle beiseite, in denen sich die
Charaktereigentümlichkeiten finden, aber nicht die bestimmten Eigenartig-
keiten der Handschrift und umgekehrt.
Die wissenschaftliche Psychologie bedient sich des Experimentes und
versucht die Handschrift auf Grund der die Bewegung beeinflussenden
Faktoren zu analysieren. Sie geht nicht von der falschen Charakterologie
aus, als ob der Charakter nichts weiter als ein Bündel von konstanten Eigen
schaffen wäre.
Die Handschrift ist als Handschrift individuell. Die Grenzen der Ver-
stellbarkeit der Handschriften sind ziemlich eng. Das Papier gibt beim
Schreiben nicht nach, sondern die Feder. Diese verbreitert sich an der
Spitze, es entsteht eine dicke Fläche. Die Fcderstrichdickc ist äquivalent
dem angewandten Druck. Die Druckschwankungen unterliegen sehr wenig
der Willkür bei der Handschrift. Charakteristische Druckschwankungen
treten sogar bei der Niederschrift eines Punktes durch verschiedene;
Personen auf.
Die Unterschiede bei der Handschrift bestehen darin: der eine Buch-
stabe ist steil, der andere schief, die Schriftlage ist eine markant hervor
tretende Eigentümlichkeit, mit Druck, ohne Druck, dünn, dick, der Aus
dehnungsbereich ist ein verschiedener, verschieden die Schreibgcschwindig
keit, der eine Buchstabe hat Absetzungen, der andere ist kontinuierlich,
Unterschiede sind in der Zeilenrichtung, verhältnismäßig regelmäßige oder
unregelmäßige Züge, Anordnung der ganzen Schriftzüge auf dem gegebenen
Räume, Größe des Randes usw. Diese sind selbständige Eigentümlichkeiten,
die unabhängig voneinander geändert werden können. Kein Ausgangspunkt
ist der Vergleich der individuellen Handschrift mit dem Normaltypus, weil
der Normaltypus weiten Spielraum läßt. Eingeschränkter ist der Spielraum
bei der Stenographie, weil Druckverteilung, Enge, Weite usw. eine bestimmte
Buchstaben- und Wortbedeutung hat.
Charakteristisch ist der Bindungsgrad bei den einzelnen Teilen der
einzelnen Buchstaben, als auch bei den Buchstaben selbst, ferner die Bindungs-
form. Diese kann eckig, spitzig, rund usw. sein Auf diese Weise ist es
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möglich, eine erschöpfende Charakteristik der Handschrift nach ihren äußeren
Formelementen zu geben. Die Frage erhebt sich, ob diese Formelemente
Auskunft geben über die psychischen, sie hervorrufenden Faktoren. Welche
Momente führen eine Variation des normalen Schriftbildes herbei? Unter
Umständen genügt die Variation eines Momentes, um andere gleichzeitig
zu variieren. Zwischen den einzelnen Elementen der Schrift bestehen kor
relative Beziehungen. Wird die Handschrift beschleunigt, dann nimmt der
Ausdehnungsbereich der Handschrift häufig zu, mitunter der Druck und dergl.
Die Momente sind nicht isoliert variabel, die physiologischen Bedingungen
der Entstehung der Handschrift sind kompliziert. Gewisse, in der mensch-
lichen Natur begründete Dispositionen psychischer Art sind geeignet, die
Handschrift zu beeinflussen, ohne individuell zu sein. Es besteht die Tendenz,
arhythmischc Bewegungen zu rhythmisieren. Wir sind geneigt, alle unsere
Handlungen zu rhythmisieren. Wir teilen das Wort in so viele Abschnitte,
wie es Buchstaben enthält. Jeder Abschnitt ist eine Takteinheit in diesem
Wort. Das Schreiben ist ein Vorgang, der Assoziationen aller Art voraus-
setzt, beim Diktat Reaktion auf Schall, sodann ist der optische Eindruck
wesentlich.
Die modernen Graphologen argumentieren: die Handschrift kann in
doppelter Beziehung einen Rückschluß auf den Charakter des Schreibenden
schaffen :
i. Begriff der unwillkürlichen Ausdrucksbewegung, 2. Begriff der
willkürlichen Ausdrucksbewegung. Im Prinzip kommen hier zwei Gesichts-
punkte zur Anwendung: 1. die Bewegung, welche das Schriftbild hervor-
bringt, wird als unwillkürliche Ausdrucksbewegung erfaßt, 2. als Ergebnis
einer Zweckhandlung. Es ist bekannt, daß auch unwillkürliche Bewegungen
zum Ausdruck psychischer Zustände werden. Für die Psychologie des
Schreibens kommen nur diejenigen Ausdrucksbewegungen in Betracht, welche
Zustände der Muskulatur im allgemeinen betreffen. Durch Experiment ist
feststellbar, daß Stimmungsgestaltungen Einfluß auf die Handschrift haben.
Z. B. ist das Schreiben bei gewissen Erkrankungen, die gesteigerte oder
geschwächte Stimmungen hervorrufen, verschieden. Aus den so auf-
tretenden Eigentümlichkeiten läßt sich auf gewisse Stimmungen, Affekte,
Affektsschwankungen zurückschließen. Atisdrucksbewegungen können auch
unwillkürlich als Reste ehemaliger Zweckbewegungen sein, die unter die
Schwelle des Bewußtseins gesunken sind. Wir machen viele Zweck-
bewegungen mit der Hand, die gar keinen Zweck mehr haben. Die Grapho-
logen behaupten, in der Handschrift liegen Zweckbewegungsreste vor.
Die Gebundenheit oder Ungebundenheit der Buchstaben wird von den
Graphologen darauf zurückgeführt, daß das menschliche Denken sich in
einer Aneinanderreihung von Elementen bewegt. Die Bindung der Worte
kann als Bindung der Vorstellungen betrachtet werden. Werden die Worte
gebunden, dann größere Fähigkeit der Assoziationen und entsprechend um-
gekehrt. Wer gebunden schreibt, denkt logisch, wer unterbrochen schreibt,
denkt nicht zusammenhängend, gibt sich Einfällen hin usw.
Bei vielen Personen kann die Handschrift nicht mehr Zweck sein,
sondern nur Mittel, einen Gedanken au fixieren oder mitzuteilen. Sie geben
ein Minimum von Aufwendungen. Die Handschrift wird kurz, undeutlich,
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326
Sitzungsberichte.
so daß sie lediglich für den Autor zu entziffern ist. Oder die Handschrift
war einmal Zweck und wird dann zwecklos, dann bleiben die Eigenarten.
Will z. B. jemand original erscheinen, wie dies bei jungen Menschen
zuweilen vorkommt, so entstehen gewisse Eigenarten. Diese bleiben. So-
dann kann jemand sich bemühen, ästhetisch seine Handschrift zu vervoll
kommnen oder das Bestreben größter Deutlichkeit betätigen.
Die Graphologen schließen in folgender Weise auf den Charakter:
Gewisse Eigentümlichkeiten beruhen auf einer Stimmung, einem Geschmack.
Jede Stimmung, jeder Geschmack hat eine Beziehung zum Charakter. Daraus
kann man ein genaues Bild einer Individualität gewinnen. Dieser Schluß
ist in dieser Form falsch. Zunächst ist der Begriff Charakter nicht eindeutig
hierbei bestimmt. Teilt man die verschiedenen Anlagen und geistigen
Betätigungsweisen in drei Klassen ein: intellektuelle, gemütliche (Lebhaf
tigkeit, Zornigkeit, Temperament usw.), ferner in Anlagen, welche auf die
eigentliche Konstitution des Charakters Bezug nehmen, so ergibt sich für
die graphologische Argumentation folgendes: die intellektuellen und die
Willensanlagen werden in ihrem wesentlichen Bestände nicht durch ihren
formalen Zug charakterisiert, sondern durch ihre Inhaltlichkeit. Diese Inhalt
lichkeit ist kein psychisches dauerndes Erlebnis, sondern ist bedingt durch
die historische Situation. Das mathematische Denken ist z. B. keine
besondere Art des Denkens, sie ist trotz gradueller Abstufungen bei jedem
Menschen vorhanden, denn sonst wäre sie ja nicht für andere verständ-
lich. Daraus ergibt sich die Folge: Wenn es berechtigt ist, aus der vor-
liegenden individuellen Eigenschaft der Handschrift auf die psychischen
Faktoren im gegebenen Fall zurückzuschließcn, dann ist es nicht berechtigt,
aus den so ermittelten Faktoren auf den Charakter zu schließen, weil sie
nicht vollständig sind.
Die Methode der Graphologen hat zwei Schranken:
i. ein gegebener Effekt kann in einem Schriftbild auf verschiedene
psychische Faktoren zurückgeführt werden. Hierbei weiß man nicht, welches
psychische Moment man als Maßstab der gegebenen Eigentümlichkeit an
rechnen soll. Druckverteilung kann ebenso gut auf Energie als auf einen
Geschmack, der Gegensätze von Hell und Dunkel bevorzugt, zurückgeführt
werden. Die Methode der Graphologen gestattet niemals die Umkehrung.
man darf aus dem Fehlen einer gegebenen Schrifteigentümlichkeit nicht auf
das Fehlen des in dem Charakter anzunehmenden seelischen Faktors
schließen.
Es liegen in der Handschrift individuelle Momente vor, gewisse
psychische Momente beeinflussen das Bild der Handschrift, diese sind
Schwankungen in einem formalen Vollzug, sie geben kein Bild des
Charakters, sie gestatten Bestimmung der Individualität in beschränktem
Umfange, indessen nicht in dem Sinne, wie wir von einem Charakter
bilde sprechen.
Diskussion:
Herr Baerwald: Ob es individuelle Handschriften gibt, ist frag
lieh, da man sich verschiedene Handschriften angewöhnen kann. Die
Graphologie ist keine systematische Wissenschaft gegenwärtig; sie nutzt
das psychologische Material, welches wir besitzen, gar nicht aus.
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Sitzun gsbtrich tt
327
Der Vortragende führt in seinem Schlußworte aus: es gibt Eigentüm-
lichkeiten der Schriftzüge, die sich der willkürlichen Beeinflussung entziehen.
Schluß der Sitzung 9 s / 4 Uhr.
Donnerstag, den 29. November 1906.
Beginn: 8 Uhr 20 Minuten.
Vorsitzender: Herr Moll.
Schriftführer : HÄt Westmann.
Ausgetreten ist Herr Lehrer Schurirk c. Als Mitglieder auf-
genommen wurden die Herren Referendar Kuntzc, Kinderarzt Dr. Arthur
Mayer und Frl. Rosa Oppenheim, Assistentin am Institut für an-
gewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung.
Herr Privatdozent Dr. Vierkandt' sprach :
„lieber die Anfänge des Zeichnens und Ornamentierens
{mit Lichtbildern)".
Der Vortrag erscheint in der Zeitschrift für angewandte Psychologie.
An der Diskussion beteiligten sich die Herren Pappenheim,
Stephan und H c n n i g. Der Vortragende hatte das Schlußwort.
Schluß der Sitzung 9V* Uhr.
Donnerstag, den 13. Dezember 1906.
Vorsitzender: Herr M o 1 1.
Schriftführer: Herr West mann.
Herr Dr. Dessoir spricht
„Zur Theorie der Hypnos e".
Beim Menschen treten manchmal Zustände ein, die Verwandtschaft
mit Schlaf oder Vergiftungszuständen zeigen. Die Autohypnose ist zum
Ausgangspunkt einer Theorie der Hypnose zu nehmen. Hier wird dieser
Zustand nicht durch fremde Menschen hergestellt, noch besteht die dauernd
festgehaltene Beziehung zwischen Hypnotiseur und Hypnotisierten. Wird
dieser Zustand der Atitohypnose absichtlich herbeigeführt, so geschieht dies
zum Zwecke einer gewissen Selbstvernichrung. Von der einen Seite aus
gesehen ist der Grundsatz des Lebens die Selbsterhalrung. Demgegenüber
existiert ein ebenso lebhafter und natürlicher Trieb der Selbstvernichtung.
Damit verbunden ist eine Erhöhung des eigenen Ich. Ebendieselben, die
ihr Bewußtsein so zu verändern oder zu ertöten bemüht sind, versprechen
sich davon wiederum eine Erhöhung ihres Ich, entweder in der groben
Form, daß magische Kräfte entbunden werden sollen in der Autohypnose,
Dieser Zustand mache gewisse höhere Kräfte, Kräfte der Zauberei oder
magische Fähigkeiten frei, aber in einer höheren Form ist damit verknüpft
ein Sichaufheben in das höchste Wesen, es ist die unio mystica. Diese
328
SitsungiberirMe.
beiden Richtungen stellen keinen Gegensatz dar, sondern eben eine mög-
liche Vereinigung, denn die Preisgabe des eigenen Ich oder das Hinaus
treten aus dem gebundenen Ablauf des wachen Lebens ermöglicht eine
neue Beziehung zu höchsten fernen übersinnlichen Welten, Aufgehen in das
All, Verlust des Ich und Gewinn des Höheren. Diese teleologische Unter-
lage der Autohypnose erweist sich auch für die wissenschaftliche Be-
trachtung als richtunggebend: Jede Autohypnose wird psychophysisch her-
gestellt. Zu Beginn jeder Autohypnose entsteht eine Veränderung in der
motorischen Tätigkeit. Die Veränderungen in der sensomotorischen Sphäre
pflegen erst später aufzutreten. Dies stimmt überein mit der Erfahrung bei
leichten Vergiftungen. Zuerst ist keine Veränderung vorhanden in den
Sinnesbeziehungen zur Außenwelt. Aber innerhalb der motorischen Tätig
keit ist eine allgemeine Inkoordination, die Zunge gehorcht beim Sprechen
nicht so leicht wie sonst; alsdann tritt eine Herabsetzung oder eine Erhöhung
innerhalb der Sinnestätigkeit ein. Die Gefühlstöne werden verstärkt, Gr
räusche, die vorher gleichgültig waren, werden jetzt mit einem Male unan-
genehm. Man wird stumpfer im Verhältnis zu den Geräuschen, man hört
anstatt klarer Stimmen etwas Wirres, die Stimmen werden unerträglich, die
man hören muß. Bei der Aetherintoxikation z. B. stellt sich eine Veränderung
innerhalb des Gedächtnisses und der Erinnerung ein. Diese Schädigung des
Gedächtnisses ist meist nur eine teilweise. Gewisse Sondergedächtnisse
werden besonders empfindlich geschädigt, z. B. das Gedächtnis für Namen
und Zahlen. Derartige Störungen führen dann zur Zerrüttung der ganzen
Persönlichkeit, sie zerrütten den Charakter, verändern ihn derart, daß der
Anschein entsteht, als seien zwei Charaktere, zwei Ichs vorhanden.
Es gibt neben graduell verschiedenen zwei wesentlich verschiedene
Arten der Hypnose ohne Suggestion: i. Hypnose erhöhter, 2. verminderter
Reizbarkeit, Erhöhung bezw. Verminderung der Sehschärfe, des Hörens,
Ricchens usw., bei der Erhöhung Hellsehen und Hellhörcn auf Grund
von Hyperästhesie, Erhöhung der Geruchsfähigkeit, Typen gesteigerter
Erregbarkeit. Die Hyperästhesie führt auch zum leichten Auftreten von
Halluzinationen und Illusionen. Unterschied zwischen Hypnose und wachem
Leben : es ist in den Elementartätigkeiten irgend etwas anders, als es Her
Regel nach ist. T a i n e hat für die Empfindungen zuerst den Satz aus-
gesprochen: die natürliche Anlage des Menschen sei, alles zu versinn-
lichen. In der Hypnose ist die Tendenz, alles Vorgestellte zu einem vollen
Erleben auswachsen zu lassen, gerade am stärksten. Jede Vorstellung hat
die natürliche Neigung, sinnlich ru werden, den Charakter einer Wahr
nchmung anzunehmen. Diese Tendenz braucht nicht immer die wirklichen
Halluzinationen in vollster Sinnlichkeit auftreten zu lassen. Z. B. ich werde
hypnotisiert, mein Freund, der dort sitzt, sei ein Einbrecher, ich solle ihn
niederschießen. Ich tue das nicht, mir bleibt das Gefühl übrig, das ist nicht
ein Einbrecher, das ist mein Freund. Dem Hypnotisierten wird gesagt,
sobald ich ein Wort x spreche, dann ist der Stuhl dort leer. Die Versuchs
person bestätigt, nachdem das Wort x gesprochen ist, der Stuhl sei leer.
Man hat gesagt: eingegeben wird die Vorstellung des leeren Stuhles.
Das ist die Suggestion. Diese Vorstellung erhält eine solche sinnliche
Lebhaftigkeit, daß die Wahrnehmung des darauf sitzenden Mannes ver
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Sitzungsberichte. 329
drängt wird. Dann müsste die Halluzination eine außerordentliche sinn-
liche Kraft haben. Das ist als ausgeschlossen zu erachten. Durch die Vnr-
drangungskraft läßt sich die positive Halluzination nicht erklären. Viel-
mehr ist das Entscheidende bei den Sinneswahrnehmungen, daß innerhalb
ihrer Sphäre eine neue Erkenntnis und ein neues Erlebnis gewonnen wird.
A. starrt auf eine Farbe sehr lange, dann auf ein weißes Blatt Papier,
dann sieht er zum ersten Male auf dem Papier das komplementäre Nach-
bild. Dies kann durch Suggestion nur erzielt werden, wenn die Person in
ihrer Erfahrung komplementäre Nachbilder schon gehabt hat. Man kann
innerhalb der Sphäre der Halluzination die Farbe so lange mischen lassen, wie
man will, es entstehen nur diejenigen Resultate der Farbenmischung, die der
Versuchsperson schon bekannt sind. Der Unterschied von wirklichen Wahr-
nehmungen besteht darin, innerhalb dieser Sphäre der Halluzinationen ist ein
neues Erlebnis nicht möglich. Demnach handelt es sich bei den Halluzinationen
die in der Hypnose auftreten können, nicht um den sinnlichen völlig ähn-
liche Wahrnehmungen mit körperlicher Realität, sondern um etwas, was
dazwischen steht. Die Aufnahme dieser Halluzinationen oder die Beur-
teilung, die sich an sie anschließen kann, ist in der Hypnose meist die-
selbe wie in der Norm. Dadurch unterscheiden sich diese Halluzinationen
deutlich von den Traumbildern. Das Charakteristische des Traumes sind
einerseits solche Bilder, denen in der Wirklichkeit nichts ihnen Gemäßes
entspricht. Aber noch viel wichtiger ist, daß im Traum die Apperzeption
dieser Bilder geändert ist. Wir fällen über diese Erscheinung ein anderes Urteil
wie im Wachen. Die Apperzeption dieser Vorsiellungsbilder ist eine andere
im Traum, dagegen nicht in der Hypnose, nicht in anderen der Hypnose
verwandten Dämmerungszuständcn. Die Apperzeption, d. h. jedes Urteil,
das an die vermutete Erscheinung angeschlossen wird, ist so korrekt und
logisch wie im wachen Zustande. Die Störung der Apperzeption ist nicht
vorhanden, solange die Suggestion nicht eingreift. Es bleibt immer ein
wirkliches Bewußtsein von dem Sachverhalt und daher eine logische Hand-
lungsweise. Die verbrecherischen Suggestionen werden in der Regel nicht
ausgeführt werden. Im Traum und in leichten Schlaf zuständen hat man
das Bewußtsein, man könne alles tun, weil man dunkel fühlt, es ist nicht
Wahrheit. Einmal ist das Bewußtsein einer Realität, das andere Mal das
Bewußtsein einer Irrealität vorhanden. Nur formale Aehnlichkeit zwischen
Traum und Hypnose; sachlich ist der Zustand entgegengesetzt.
In der Hypnose findet eine Veränderung in der Zusammensetzung
der psychischen Gebilde statt, nicht eine Veränderung in der Beurteilung
der Apperzeption, auch nicht in der Art der Gebilde, sie sind qualitativ
dieselben wie im Wachen, wohl aber eine Veränderung in der Festigkeit
der Gebilde. Die Komplexe, die aus der Elementartätigkeit entstehen,
sind lockerer zusammengesetzt, z. B. man glaubt, etwas bereits gesehen
211 haben, was man nicht gesehen hat, „falsche Bekanntheitsqualität".
Gegenstück: irrtümliche Fremdheit vertrauter Objekte. Bei nervöser Er-
schöpfung« großer Ermüdung begegnet es uns, daß Gegenstände, die uns
ver traut sind, uns als ganz fremd erscheinen, als distanziert, oder man
betrachtet mit einem Male das Gesicht seines Bruders als ein noch nie
erblicktes Gesicht. Diese falsche Fremdheit entsteht so: ich habe
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Sitzungsberichte.
unbeschädigt alle meine Sinneswahrnchmungen, auch alle Fähigkeiten zur
Reproduktion, ich weiß, das ist mein Bruder, trotzdem liegt ein anderer
Gefühlston darüber, der Gefühlston der Fremdheit. Diese beiden Faktoren, die
sonst aufs Innigste verschmolzen sind, die Wahrnehmung dieses Gesichts
und die Reproduktion, das Gesicht unzählige Male gesehen zu haben, ver
schmelzen nicht miteinander, sie bleiben in einer Entfernung, es klafft
dazwischen. Dies ist in der Hypnose zu beobachten, sobald es sich um
zusammengesetzte Komplexe handelt. Meist ist die Folge dieser Zerrüttung
in dem Komplex, daß die Suggestion nun leicht dazu kommen kann. Sobald
die Gebilde erweicht sind oder Lücken und Risse zeigen, kann die Suggestion
neue Kombinationen herstellen. Analogie in der Entstehung der Zwangs
Vorstellungen: die primitive Angst, die Lebensangst, die den Menschen
beherrscht, • eine Stimmung der Furcht, der Angst ist der Urgrund der
Zwangsvorstellungen. Dieses Angstgefühl ist ein Zersetzungsmoment gegen
über den psychischen Gebilden. Sobald eine solche innerliche allgemeine
Dissoziation durch Angst vorhanden ist, entstehen solche zwingende Vor-
stellungen. Es wird auseinandergesprengt, was zusammengehört, nun kann
eine Zwangsvorstellung, eine Suggestion einsetzen. Diese Zerrüttung oder
diese Erweichung der psychischen Gebilde zeigt deutlich das Problem der
Suggestion, nicht, wie die suggerierten Vorstellungen entstehen, sondern
wie die veränderte Bedingung entsteht, durch die die Hypnose ihre Macht
erhält : durch nichtaffektive Zerspaltung. Die psychischen Gebilde können
in der Hypnose völlig unverletzt sein. Es besteht eine Abänderung derart,
daß der Zusammenhang modifiziert ist. Das ist Bewußtseinsstörung im
engeren Sinne des Wortes. Bewußtsein ist Zusammenhang der psychischen
Gebilde. Wo dieser Zusammenhang ganz aufzuhören scheint, wie in dej
Ohnmacht, im tiefen Schlaf, sprechen wir von Bewußtlosigkeit. Hier ist
dieser Zusammenhang in anderer Weise modifiziert.
Diskussion:
Herr Moll: Es sei zweifelhaft, ob die erhöhte oder verminderte Er-
regbarkeit einen ausreichenden Einteilungsgrund abgibt. Zutreffend sei die
Einteilung in die beiden Grade, i. wo die motorischen Funktionen gestört
sind, 2. wo die sensorischen Funktionsstörungen hinzukommen. Dagegen
bedenklich sei die Einteilung in die Typen. Für dasselbe Sinnesorgan
kann zweifellos für bestimmte äußere Eindrücke eine erhöhte, für andere
Eindrücke eine verminderte Eindrucksfähigkeit bestehen. Dieses individuali-
sierende Moment muß erst ausgeschaltet werden, che daraus ein Einteilungs-
prinzip gemacht werden kann. Die aktive und passive Hypnose haben mit
erhöhter und verminderter Erregbarkeit nichts zu tun.
Herr Dcssoir erwidert in seinem Schlußwort: Seinen Betrachtungen
lirge die Autohypnosc zugrunde. Zieht man einen Operator heran, dann sind
die Dinge verändert. Es sei nichts dagegen einzuwenden, daß man die
beiden qualitativ verschiedenen Richtungen als aktiven und passiven Typus
bezeichnet. Gehört aber jemand dem passiven Typus zu, dann an bestimmten
Punkten erhöhte Erregbarkeit. Die Anregung M o 1 1 s sei zu befolgen,
wenn es möglich ist, den aktiven Typus mit Zurückhaltung in anderen Be
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Sitzungsbericht*. 331
liehungen zu vereinigen und umgekehrt, ohne Widerspruch mit seinen Dar-
legung*^
Schluß 9 s / 4 Uhr.
Donnerstag, den 10. Januar 1907.
Beginn: 8V4 Uhr.
Vorsitzender: Herr Moll.
Schriftführer: Herr West mann.
Aufgenommen wurde Herr Dr. Sperling.
Herr Gramzow sprach über
„Ibsen als Psychologe".
Einleitend führte der Vortragende aus, welche Bedeutung die Welt-
anschauung eines Dichters für dessen Schaffen hat. Er zeigte die Wege,
die das Dichtergenie bei Erwerbung seiner Weltanschauung, und Insonder-
heit seiner psychologischen Erkenntnisse, geht. Die psychologischen An-
schauungen Ibsens charakterisierte der Vortragende durch folgende Haupt-
punkte. 1. Ibsen hält den Verstand nicht für fähig, eine restlose Er-
kenntnis der Welt und namentlich ihres innem Wesens zu erwerben. Viel-
mehr haftet der Verstand an der Oberfläche der Welt, und nur traumhaftes
Ahnen führt uns in die Welt des wahren Seins oder der Dinge an sich ein.
Unter „Ahnungen" versteht Ibsen aber nicht die Intuitionen der Roman-
tiker, sondern nur subjektive Deutungen des Unerkannten, Rätselvollen. —
2. Ibsen ist Voluntarist in metaphysischem wie in psychologischem Sinne.
Der Wille ist ihm der Weltgrund, aus dem die Individualwillen entspringen,
die nicht frei sind, sondern nur „Freigegebene unter der Notwendigkeit".
Der Weltwille wählt die Individuen für eine Aufgabe oder einen Beruf aus,
durch deren Erfüllung das Individuum dem Zwecke des Weltwillens dienen
muß. — 3. Besondere Aufmersamkeit wendet Ibsen dem Verhältnis
von zwei Individualwillen zu. Der stärkere Wille bricht den schwächeren
oder unterjocht ihn. Menschen mit unterjochtem Willen sind keine Persön-
lichkeiten. — 4. Mit der Ansicht vom Weltwillen hängt die Ansicht von
der Vererbung aufs engste zusammen. Der Weltwille gibt dem Einzelwillen
Ziel und Richtung. Diese innere Bestimmtheit des Willens vererbt sich, das
Gesetz der Vererbung gilt im Psychischen wie im Physischen. Wegen der
inneren Bestimmtheit des Willens ist es nicht möglich, einem Menschen
eine Lebensaufgabe von außen zu oktroyieren, die nicht in ihm selbst
gewurzelt ist. Die Vererbung ist das Fatum im modern naturwissenschaft-
lichen Sinne. — 5. Teil am Walten dieses Fatums hat die psychische Tat-
sache der Unauslöschlichkeit des Erlebnisses.
Schließlich ging der Vortragende auf die Frage ein, ob Ibsen nicht
allzu häufig pathologische Charaktere dargestellt habe. Nach Ansicht des
Vortragenden sind wir gewöhnlich zu freigebig mit dem Begriff des Patho-
logischen. Ein Charakter ist nicht als pathologisch zu bezeichnen, wenn
er sich unter dem Einfluß der ererbten Faktoren und der Umwelt folge-
richtig entwickelt hat und sich der in ihm gewordenen Ausbildung gemäß
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Sitz uttgsbßrtchte.
verhält. Die Psychologie eines großen Dichters betrachtet der Vortragende
als Anregung und Aufgabe für die Wissenschaft. Die großen Maler haben
die Gesetze des Lichts richtig angewendet, noch bevor diese Gesetze experi-
mentell und mathematisch erwiesen waren. Die wissenschaftliche Psycho-
logie hat die Aufgabe, der Richtigkeit dichterischer psychologischer An
schauungen nachzuspüren. (Eigenbericht.)
Eine Diskussion fand nicht statt.
Schluß der Sitrung: o»/* Uhr.
Donnerstag, den 24. Januar 1907
Beginn: 8V 4 Uhr.
Vorsitzender : Herr Moll.
Schriftführer : Herr Westmann.
Herr Medizinalrat Dr. Leppmann spricht
„Zur Psychologie der internationalen Verbrecher'.
Man teilt die Verbrecher ein in Gelegenheits-, Gewohnheits- und gewerbs-
mäßige Verbrecher. Der Ausdruck gewerbsmäßige Verbrecher ist unpräxisc.
v. L i s z t nennt diese Zustandsverbrecher. Gewerbsmäßige Verbrecher
sind solche, deren ausschließlicher oder vorwiegender Erwerb im Ver-
brechen liegt. Die Personen, welche mit dem Strafgesetzbuch wiederholt
in Konflikt kommen, warten nur darauf, aus dem Gefängnis herauszu-
kommen, um sofort wieder Verbrechen zu begehen. Solche aktiven Ver
brechcr gibt es relativ wenige. Die meisten Zustandsverbrecher verlassen
mit der ehrlichen Absicht das Gefängnis, nicht wieder bestraft zu werden,
sich auf gesetzmäßigem Wege zu halten, indessen genügt ein kleiner An
stoß, um sie wieder zu Verbrechern zu machen. Beispiel: der Hauptmann
von Köpenick. Die Gefährlichkeit der chronisch Kriminellen wird über
schätzt.
Internationale Verbrecher sind solche, die ihre verbrecherischen Hand-
lungen in einer Mehrheit von Ländern ausüben als Zustandsverbrecher.
Das Verbrechen bildet bei ihnen den wesentlichen Teil ihrer Lebens-
betätigung. Diese internationalen Verbrecher sind gefährlicher als die
sonstigen, weil sie von vornherein darauf ausgehen, mit der menschlichen
Gesellschaft in Krieg zu treten, ihr Leben durch das Verbrechen zu fristen.
Existiert hat das internationale Verbrechen immer, es ist durch die moderne
Technik und den modernen Verkehr vermehrt und gefährlicher geworden.
Internationale Vaganten haben das Verbrechen zum Erwerbe. Der Hand-
werksbursche bettelt sich durch alle Länder Europas, Hilfskräfte der großen
Dampfergesellschaften sind zum erheblichen Teil Leute, die sich nach Amerika
hinüberarbeiten, weil sie hier Straftaten begangen haben.
Eine zweite Gruppe sucht deswegen fremde Länder auf, weil ihre
Tricks schon in der Heimat bekannt sind und weil sie durch Verschwinden
in ihrer Persönlichkeit geschützter sind, internationale Einbrecherbanden.
Diese arbeiten mit präzisen Instrumenten und großem Kapital. Indessen
sind internationale Verbrecher meist solitär für sich, nicht in Banden.
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Sitmnggherirhtf.
333
3. Internationale Taschendiebe suchen gewöhnlich Orte auf, wo größere
Menschenmengen sind. Das Taschendiebstum als lokale Erscheinung ist
rurückgegangen, dagegen nicht als internationale.
4. Kassendieb und Eisenbahndieb in den langen Gängen der D-Züge.
Diese fast nur international. Der eine hindert den Reisenden auszusteigen,
der andere bestiehlt ihn von hinten.
5. Hochstapler. Dies ist kein reines Betrügertum, sondern häufig
eine Mischung von Betrug und Diebstahl. Juwelen- und Diamantendiebe
am häufigsten.
Unter den internationalen zahlreiche männliche Prostituierte.
Ursache zu internationalen Verbrechen: die anthropologischen Ursachen
des Verbrechens, die in der Eigenart des Individuums liegen, überwiegen
die sozialen Ursachen. Das Verbrechen ist fast kein Gewerbe mehr, weil
es sich nicht von Familie zu Familie forterbt. Das Gros der Bestraften
stammt aus unbescholtenen Familien, bei denen nicht einmal Not geherrscht
hat. Verbrecherfamilien, bei denen das Verbrechen von Vater auf Sohn
in der Jugend angelernt werden, sind selten.
7oo ;o der gewerbsmäßigen Verbrecher sind bis zum 25. Lebensjahre dem
Verbrechen unrettbar verfallen. Diese Personen straucheln infolge mangel-
hafter geistiger Rüstigkeit des Gehirns leichter über das Strafgesetzbuch
wie die übrigen Menschen, ferner ist die geistige Minderwertigkeit Haupt-
ursache des Verfalls ins Verbrechertum. Minderwertigkeit entsteht dadurch,
daß unser Gehirn entweder vom Beginn unseres Lebens ab sich kümmerlich
entwickelt oder in einer frühen Zeit des Lebens verkümmert, geschädigt
wird, und zwar vor vollendeter Entwicklung des Gehirns. Ein großer Teil
der Verbrecher ist erblich belastet, in der Aszendent war geistiges Siech-
tum, Trunksucht, Epilepsie und Geisteskrankheit der Erzeuger. Sodann
haben solche Personen, deren Gehirnentwicklung nicht normal ist, meist
Fehler und Mängel in ihrer körperlichen Bildung, sogenannte Entartungs-
zeichen. Ferner ist Ursache eine Schädigung der Gehirntätigkeit in der
Jugend und in früherer Zeit — schwere Kopfverletzungen.
Die Minderwertigen sind
1. die geistig Beschränkten im allgemeinen. Diese sind im allgemeinen
konkurrenzunfähiger, sowohl als Arbeiter wie im Lebenskampf. Die all-
gemeine Geistesschwäche, auch wenn sie keine Geistesstörung im engeren
Sinne bedeutet, macht die Leute minderwertig und zu Zustandsverbrechern.
2. Paranoide, Leute, die allgemein normal sind, aber in einzelnen
Beziehungen Bixarrcrien haben, verrückte Ideen, Sonderlinge, Träumer,
Phantasten usw.
3. Willensfehler: die Unsteten. Es gibt eine Menge Personen mit
normalem Verstand und Gemüt, denen es aber an Stetigkeit fehlt; sie
geben von Ort zu Ort, von Land zu Land, dadurch kommen sie sozial
aus dem Geleise und gehen zum Verbrechen über.
Für das internationale Verbrechertum ist die geistige Minderwertig-
keit signifikant. Kommt ein minderwertiger Mensch in Strafhaft, so ist
die Minderwertigkeit der Boden, in dem unter Freiheitsentziehung die
Geisteskrankheit erzeugt wird; sodann erzeugen mangelhafte Sprarhkennt-
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334
nisse das Gefühl der Einsamkeit. Internationalität also günstiger Boden
für Geisteskrankheiten, Labilität für Geisteskrankkheitcn :
a) intellektuell — paranoid oder unstet — , b) beschränkt — einfach
Schwachsinnige.
Mischformen zwischen beiden Gruppen bilden die internationalen
Vaganten: sie sind unstet und geistig beschränkt; sie haben erbliche Be-
lastung, leidliche Schulkenntnisse, nettes Gemüt, sind nicht faul oder träge,
nur halten sie es an einem Orte nicht aus, sie wandern ohne Bildung, ohne
Sprachkenntnisse von Land zu Land, in die gefährlichsten Gegenden zu
Fuß usw. — minderwertig Unstetige.
Die Intellektuellen sind die Hochstapler und Einbrecher, Diamantendiebe.
Geistig beschränkt sind die Taschendiebe, die wegen ihrer geistigen
Beschränktheit zu manueller Geschicklichkeit geeignet sind und aus Ländern
kommen, in denen der Diebstahl gewerblich angelernt wird. Die haupt
sächlichsten internationalen Verbrecher kommen aus Galizien, Rußland,
Amerika und England, ferner in Deutschland Gebürtige, die ihre krimi-
nelle Betätigung von Land zu Land tragen, in fremdem Gewände, welches
ihnen vor Entdeckung mehr Sicherheit gewährt, wieder zurückzukommen.
Verschwiegenheit ist das Kennzeichen der internationalen Verbrecher.
Vielfach sind die internationalen Verbrecher Märtyrer ihrer Phantasie,
deren Einbildungsvermögen überwiegt, sie wollen eine Rolle spielen, sie haben
Lieblingsphantasien, sie sehen das Leben nicht so, wie es ist, sondern nach
ihren Ideen. N
Schwierigkeit der internationalen Verfolgung der Verbrecher. Die
internationale Auslieferung ist beschränkt, der erste Angriff auf das Ver-
brechen scheitert an der Landesgrenze.
Die Wesenszüge der internationalen Verbrecher weisen darauf hin,
daß wir solche Personen nicht bestrafen, in den Strafanstalten geistig erkranken
lassen dürfen. Anstatt der abgegrenzten Strafen müssen andere Sicherungs-
maßregeln treten, die die Pubertätszeit betreffen. In dieser Zeit treten
die Minderwertigkeitserscheinungen schärfer hervor, in dieser Zeit müssen
die Verbrecher kaltgestellt werden. An Stelle der Jugendgefängnisse müssen
Besserungsanstalten treten.
Diskussion:
Herr Regierungsassessor Dr. Lindenau : Ein spezifischer Zusammen-
hang zwischen dem internationalen Verbrechertum und den Minderwertigen
ist gegenwärtig nicht mit Sicherheit zu behaupten. In stärkerem Maße, als
die Veranlagung zum Wandern, zum Unsteten und Phantastischen sprechen
die sozialen Faktoren mit: Leute, die in ihrem sozialen Milieu Gelegenheit
haben, in das große internationale Getriebe hineinzukommen. Die Gefähr-
lichkeit beruht darauf, daß wir in unserer gesamten Entwicklung einen
starken internationalen Einschlag haben, der vom Verbrecher systematisch
ausgenutzt wird. Deutschland ist ein günstiger Boden für internationale
Verbrecher, der Deutsche hat Ehrfurcht vor Fremden und läßt sich von
Fremden düpieren. Wird der internationale Verbrecher für geisteskrank
erkannt, dann lehnt es jeder Staat ab. den Ausländer in den Irrenanstalten
lebenslänglich zu ernähren.
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Sitzungsberichte.
335
Herr Rechtsanwalt Dr. L ö w e n s t e i n ist der Auffassung, daß zu dem
internationalen Verbrechertum eine erhöhte Intelligenz, größere Organisation
und Fehlen jedes moralischen Empfindens erforderlich ist in weiterem Um-
fange wie beim nationalen Verbrechertum. Zuverlässige Resultate in dieser
Benehung ließen sich nur durch internationale Untersuchungen erzielen.
Herr Dr. Munter: Bei vielen Geisteskranken und Verbrechern, ins-
besondere Paranoiden, findet man für gewisse Dinge eine hohe Intelligenz,
erhöhte Phantasie, Sucht, zu vagabundieren, durch besonders brillierende,
besonders auffällige Momente ein Verbrechen durchzuführen.
Herr Dr. Möller: Geistig Beschränkte sind oft in einzelnen Be-
ziehungen glänzend entwickelt und technisch sehr geschickt. Stimmungs-
und Willensanomalien haben mit Intelligenz nichts zu tun.
Herr Dr. Leppmann bemerkt in seinem Schlußwort: Zu gewissen
Berufen drängen sich gewisse psychopathischc Personen. Unstetige und
Phantasiereiche sind Kandidaten des internationalen Verbrechertums.
Schluß der Sitzung 101/4 Uhr.
Donnerstag, den 7. Februar 1907.
Beginn: 8 Uhr 20 Minuten.
Vorsitzender. Herr Moll.
Schriftführer : Herr W c s t m a n n.
Herr Dr. Gutzmann spricht über
„Die Bedeutung der Erblichkeit für die Entstehung von
Sprachstörungen".
Der Vortrag erscheint im Sonderabdruck.
An der Diskussion beteiligten sich die Herren Moll und Stern.
Der Vortragende hatte das Schlußwort.
Schluß der Sitzung 9V» Uhr.
Donnerstag, den 21. Februar 1907.
Beginn: 8»/ 8 Uhr.
Vorsitzender: Herr Moll.
Schriftführer: Herr West mann.
Ausgetreten ist Herr Lehrer Hollenbach.
Herr Dr. Hohenemser spricht
„Ueber das Seelenleben der Blindgeborenen und der
früh Erblindete n".
Die Blindheit, das Fehlen des Augenlichtes, ist ein körperliches, kein
geistiges Gebrechen. „Früh erblindet" ist derjenige, der aus der Zeit, wo
er noch gesehen hat, keinerlei Erinnerung an die Gesichtseindrücke mitbringt.
Wirkung der Außenwelt auf den Blinden. Die „Erkenntnis" wird zuerst durch
das Gesicht vermittelt. Der Tastsinn entwickelt sich in den ersten Monaten.
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Sitzitngtbtrich tc
Das Kind orientiert sich an seinem eigenen Körper. Der Tastsinn muß das
Auge ersetzen, nicht der Gehörssinn. Der Gehörssinn vermittelt nur diejenigen
Bewegungen, die schnell genug sind, daß sie durch Fortpflanzung durch
die Luftwellen Schall erzeugen können; außerdem vermittelt das Gehör
Worte. Dies sind aber nur konventionelle Zeichen, nichts ohne Sacb-
vorstellungen. Der eigentliche Wirklichkeitssinn ist der Tastsinn. Der Tast-
sinn vermittelt dem Blinden die wichtigsten Vorstellungen von der Außen-
welt. In den Tastsinn ist zugleich Raumsinn bis zu einem gewissen Grade
eingeschlossen. Mit der Berührung zugleich Körperflächenempfindung.
Bewegungsempfindungen, Muskelempfindungen und Tastsinn wirken zu-
sammen, um uns eine vollständige Raumvorstellung zu geben. Der Tastsinn
ist kein Fernsinn. Die Hand ist gleichzeitig zum Tasten und zum Tun,
zum Bilden da. Der Blinde muß mit der Hand viele Verrichtungen vor-
nehmen. Deshalb kommt der mit der Hand ungeschickte Blinde sehr schwer
im Leben vorwärts. Das Manko ist viel schwerer als beim sehenden
Ungeschickten. Das Betasten ist ein Nachschaffen des Gegenstandes. Auf
das systematische Tasten ist Wert zu lagen, damit zusammenhängende
Vorstellungen entstehen. Es muß ferner die Vereinigung von Gehör und
Tastsinn geübt werden.
Die Blinden haben keine schärferen Sinne als die Sehenden. Die
scheinbare Schärfe der Sinne rührt von größerer Aufmerksamkeit her und
davon, daß die Uebung die psychischen Verhältnisse umgestaltet.
Beim Gehörssinn ist größere Konzentration vorhanden.
Die Sinne unterstützen sich gegenseitig. „Der sechste Sinn", die Fern-
empfindung für Gegenstände, die die Blinden nicht berühren, ist nur vor-
handen, wenn die Gegenstände nicht zu klein sind. Dieser Sinn existiert
auch bei Sehenden, diese achten aber nicht darauf. Der sechste Sinn
besteht in der Empfindung, daß ein Gegenstand in der Nähe ist. Dieser
Sinn ist auf Aenderung des Luftdrucks zurückzuführen.
Die Orientierung des Blinden geschieht hauptsächlich durch die
Bewegungsempfindungen und den Muskelsinn. Man erhält das Distanz-
gefühl, wenn man eine gewisse Distanz durchgegangen ist. Sodann Lokali-
sierung der Gesichtseindrücke. Wir können die Schallquellen feststellen,
ob der Schall von vorn, rechts oder links usw. kommt. Entfernungen werden
durch Schall abgeschätzt.
Der Blinde hat keine Surrogatvorstellungen von dem, was er nicht
sieht, aus eigener Anschauung. Der Blinde hat keine Vorstellung von der
Farbe, trotzdem fällt es ihm nicht auf, wenn von Farben gesprochen wird.
Es sind nämlich mit den bekanntesten Farben Stimmungen verbunden. Diese
Stimmungen nimmt der Blinde aus dem Gebaren des Sehenden auf, er weiß,
daß dann schönes Wetter ist, aus dem ganzen Stimmungskomplex versteht
man das einzelne Element, aber dem Wort Farbe gibt der Blinde nicht
einen bestimmten Inhalt.
Denken. Die Denkfähigkeit ist beim normalen Blinden genau so aus
gebildet wie beim Sehenden. Der Blinde ist zum Betriebe einer Wissen-
schaft befähigt, so weit ihm das Material zu derselben zugänglich ist.
Gefühl. Das Gefühl ist eine Abstraktion. Es kommt niemals isoliert
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SiUunvsbrricJite
337
in der Seele vor. Das Gefühl ist ebenso wie beim Sehenden. Ebenso der
WilJe als Fähigkeit des Wählens.
Das Bewußtsein der Blindheit. Dem Kind kommt die Blindheit nur
bei besonderen Anlassen zum Bewußtsein. Solange das Kind klein ist,
vergleicht es nicht, sobald es die Fähigkeit, zu vergleichen bekommt, ist
es in seine Lebensart zu sehr eingearbeitet, daß es daran gewöhnt ist.
In der Erziehung muß darauf gesehen werden, daß sich das Kind harm-
los entwickeln kann. Die Eltern müssen harmlos mit dem Kind sprechen,
daß es nicht sehen kann, sonst wird das Kind verwirrt. Hat das Kind das
Bewußtsein, es sei etwas anderes wie andere Menschen, dann wird es
zurückgezogen und verbittert. Hiergegen wirkt nur die Ausbildung seiner
übrigen Fähigkeiten, es muß zum Selbstbewußtsein und zum Selbstvertrauen
erzogen werden. Es muß der Blindenanstalt übergeben werden. In gewissem
Alter kommt das Vergleichen immer. Das Kind ist noch nicht reif genug,
aus eigener Kraft mit Sehenden zu wetteifern, bevor seine Fähigkeiten aus-
gebildet sind.
Falsches Mitleid verletzt auch erwachsene Blinde.
Infolge des Bewußtseins seiner Blindheit ist der Blinde mißtrauisch.
Vorurteile gegen sie im Berufsleben. Hat sich ein Blinder in. die Höhe
gearbeitet, dann wird er Optimist.
Konzentriertheit der Blinden. Die Gedanken, mit denen sich der Blinde
beschäftigt, kann er leichter und ungestörter ausführen. Zwei Arten von
Konzentration: a) man will sich von allem anderen abschließen, außer
von seinen Gedanken. Der Blinde hat sich nur gegen Gehör und körper-
liche Empfindungen abzuschließen. Will man dagegen die Ursache eines
Eindrucks konstatieren, dann ist der Sehende in besserer Lage.
b) Passivität seines Innenlebens. Die Gedanken gehen sehr leicht vom
Hundertsten ins Tausendste, seine Phantasie löst sich sehr leicht.
Gedächtnis. Die Uebung des Gedächtnisses ist in der Regel bei den
Blinden sehr groß. Er muß sich Dinge im Zusammenhang herstellen, um
sie sich zu merken. Zum Absoluten haben die meisten Blindgeborenen
Gedächtnis, für Namen und Zahlen, absolutes Tonbewußtsein.
Passivität des Innenlebens. Weil verhältnismäßig wenig von Außen
auf das blinde Kind einwirkt, beschäftigt es sich mit sich selbst. Es
spintisiert zu viel über sich, sodann überläßt es sich der Phantasie, d. h.
es reproduziert die Vorstellungen, die ihr zusagen. Dadurch Entfremdung
von der Welt. Das blinde Kind ist vielfach auf die Hilfe des Sehenden
angewiesen, dadurch Passivität des Willens. Das Kind ist nicht gewöhnt,
in die Außenwelt handelnd einzugreifen. Es ist gewöhnt, daß andere für
es handeln, aber daß es selbst nicht handelt. Diese Passivität führt zu geistigem
Hochmut. Die Blinden wissen, daß sie viel innerlich beschäftigt sind, man
stellt das Geisiige über das Körperliche. Aufgabe, das passive Innen-
leben in ein aktives zu verwandeln. Man muß den Tätigkeitssinn entwickeln,
sie zu einer greifbaren konkreten Tätigkeit führen.
Beurteilung anderer Menschen durch Blinde: mit Hilfe des Gehörs-
sinnes. Aus der Stimme beurteilt man, abgesehen vom Inhalt des Gespräches,
gewöhnlich, ab der Sprechende alt ader jung ist, seinen Charakter, Stand.
Naturgenuß des Blinden: angenehme Luft, Wännc, Waldgeruch, Wald-
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygieae. ^
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Sitzungsberichte.
kühle, klimatische Verhältnisse, zahlreiche Geräusche, Vogelgesang, Arbeit
auf dem Felde, Holzfällen usw., Freude an der Anstrengung, Ueberwindung
von Schwierigkeiten, Stimmung des sehenden Begleiters. Diese Stimmung
bildet einen wesentlichen Teil des Naturgenusses.
Kunstgenuß: Malerei scheidet aus. Plastik: Das Tasten kann uns
niemals einen Kunstgenuß vermitteln. Der Kunstgenuß beruht auf dem
Fernhalten des Körperlichen von dem wahrnehmenden Organ. Beim Sehen
und Hören können wir unser reales empirisches Gesicht vergessen, beim
Tastsinn dagegen nicht. Ich empfinde nicht nur die Statue, sondern mich
an der Stelle der Haut, wo ich die Statue betaste. Ich empfinde das Material,
den Marmor als glatt, kalt, hart, rauh. Die bildende Kunst über Menschen-
darstellung können die Blinden nicht genießen, weil ihnen die Erfahrung
über den Gesichtsausdruck abgeht: Güte, Grazie, Zorn kennt der Blinde
nicht. Deshalb ein ästhetischer Genuß beim plastischen Werk ausgeschlossen.
Genuß am Tasten, um das Werk zu erkennen, ist intellektuelle Freude, aber
kein ästhetischer Genuß.
Poesie: Der Blinde hat bei manchen Ausdrücken andere Ideen-
assoziationen wie der Sehende. U eberwiegend steht er der Poesie als
Genießender, weniger als Schaffender gegenüber. Grund: Passivität und
eigene Art des Innenlebens. Rhythmus, Reim und schöne Sprache spielen
eine große Rolle.
Musik ist dem Blinden zugänglich. Als Beruf ist sie aber wegen der
technischen Schwierigkeiten für Blinde wenig geeignet. Schwierig ist auch
das Komponieren, das Ausdenken komplizierter kontrapunktischer Gebilde
ist ohne Unterstützung des Auges zu umständlich.
Religion: liegt dem Blinden nahe, da er sich viel mit sich selbst
beschäftigt.
Die schädlichen Einwirkungen der Blindheit können dadurch gehoben
werden, daß der Blinde durch Erziehung und eigenen Willen dem Voll-
sinnigen genähert wird. Nicht Eudämonismrus, sondern Perfektionismus ist
das Prinzip, nach dem der Mensch will und handelt. Das Lustgefühl und
das Glücksgefühl werden durch positive Leistungen und Zuwüchse, die die
Seele erhält, gegeben. Es ist kein Glück, blind zu sein, für die Blindgeborenen
und die Lüh Blindgewordenen ist es auch kein Unglück, sie empfinden
es nicht.
An der Diskussion beteiligten sich die Herren Dr. Bruck,
Dr. B a e r w a 1 d , Dr. Feigs, Westmann, Dr. Moser, Dr. Poppe,
Deutsch, Dr. Thiele. Der Vortragende hatte das Schlußwort.
Schluß ioV» Uhr.
Donnerstag, den 21. März 1907.
Beginn: 8V a Uhr.
Vorsitzender: Herr Moll.
Schriftführer: Herr West manu.
Herr Dr. Fritz Lepproann ist als Mitglied aufgenommen.
Herr Baerwald spricht
„Zur Psychologie des K 1 a v i e r s p i e 1 s".
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8itztmg$berich te.
339
Worauf beruht die Schwierigkeit weiter Sprünge, wie sie etwa die
linke Hand bei Walzern zu bewältigen hat ? Zunächst auf dem Weber-
sehen Gesetz, das sich ja nicht nur mit Bezug auf die Intensität der Reize,
sondern auch auf ihre räumliche (Augenmaß) und zeitliche Schätzung bewährt
hat und zu dessen Konsequenzen es gehört, daß die unbemerkt bleibenden
Abweichungen von einem Normalreiz um so größer werden, je größer er
selbst ist. Infolgedessen taxiert schon das Auge weite Distanzen auf dem
Klavier, die eine Hand überspringen soll, ungenauer als nahe, und ebenso
kontrolliert die Bewegungsempfindung einen großen Sprung minder exakt
ab einen kleinen, und da die Erinnerung von der Wahrnehmung abhängt,
ist drittens sogar die Bewegungsvorst eilung, die der ganzen Tätigkeit zu-
grunde liegt, beim weiten Sprunge relativ vage. Hierzu kommt als weiteres
Moment, daß sich mit dem Gedanken an eine zu überspringende Distanz
die Vorstellungen der Zwischentöne resp. Zwischentasten verbinden, die
um so zahlreicher werden, je größer die Distanz ist. Daher scheint die
Schwierigkeit der weiten Sprünge bei Personen mit engem Bewußtseins-
umfang und wenig Uebersicht, denen es schwer fällt, komplizierte Vorstellungs-
massen gleichzeitig zu bewältigen, besonders groß zu sein.
Auch da, wo es sich nicht um das „Treffen", sondern wie etwa bei
raschen Terzenläufen um Geschwindigkeit und Isolierung der Bewegung
handelt, wird sie fehlerfreier und exakter, wenn man die spielende Hand
scharf ansieht. Das Gesichtsbild der Bewegung kann letzterer nicht direkt
zu Hilfe kommen, da sich willkürliche Bewegungen immer nur von der
kinästhetischen Vorstellung aus erzeugen lassen, wohl aber indirekt, indem
das Gesichtsbild der Bewegung kinästhetische Assoziationen erzeugt, die die
schon ursprünglich vorliegende kinästhetische Zielvorstellung ergänzen und
verfeinern.
Der Spielende hört manche von ihm begangene Fehler gar nicht oder
erst nachträglich, während sie ihm, wenn er nur Zuhörer wäre, sofort auf-
fallen würden. Wir haben es hier mit einer Störung und Aufsaugung einer
Wahrnehmung durch eine schon vorher vorhandene ähnliche Vorstellung
zu tun, wie sie uns gerade auf musikalischem Gebiete noch öfter vorkommt.
So hört man leicht in den Gesang der Vögel musikalische Intervalle hinein,
obgleich solche in Wirklichkeit gar nicht vorliegen. Eine Erklärung der Er-
scheinung kann wohl einzig die Annahme bieten, daß ähnliche Vorstellungen
teilweise in gleichen Gehirnpartien stattfinden und so der eine Prozeß in
die Bahn des anderen hineingerät oder dessen Eigenart auf ihn abfärbt.
Die geschilderte Tatsache spricht also dafür, daß alle Aehnlichkeit, wenigstens
physiologisch, als teilweise Gleichheit aufzufassen ist.
Manche Klavierstücke bestehen aus drei Teilen, a, b und c, von denen der
zweite, b, wiederholt werden soll. Gesetzt, man kann ein solches Stück
auswendig, hat sich aber gewöhnt, Teil b nicht zu wiederholen, so stößt
man, wenn man ihn doch ausnahmsweise wiederholen will, auf Schwierig-
keiten. Man bleibt dann leicht stecken oder fühlt wenigstens bei denselben
Noten, die man soeben noch, beim erstmaligen Spiel, ganz mühelos beherrschte,
eine deutliche Unsicherheit. Hier wirkt die psychische Konstellation mit.
Wenn man Teil b das erste Mal spielt, ist das Bewußtsein noch erfüllt von
dem Ende des Teiles a, bei der Wiederholung dagegen von dem Ende des
6«
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Teiles b. Wer also nur ausnahmsweise einmal die Wiederholung vornimmt,
tut es mit einer ganz veränderten und ungewohnten psychischen Konstellation.
Je mehr man sich allerdings in Teil b hineinspielt, desto ähnlicher wird der
Bewußtseinsinhalt dem gewohnten, beim ersten Spielen von b vorherrschenden,
desto mehr nimmt demnach jenes Unsicherheitsgefühl ab, bis es nach einer
Reihe von Takten ganz schwindet. Ebenso ist es zu erklären, daß jemand,
der Teil b regelmäßig wiederholt, einen bestimmten Fehler immer nur beim
zweiten, nicht beim ersten Durchspielen sich einbürgern sieht. Einen solchen
Fehler beobachtete der Vortragende einmal noch im siebenten Takte, ungefähr
bei der 100. Note des Teiles b. Die Differenzen der Konstellation, die dabei
ausschlaggebend waren, lagen natürlich noch vor diesen 100 Noten, die
an sich ja beim ersten und zweiten Durchspielen dieselben sind. Es müssen
also im Momente des Fehlers noch mehr als ico Notenvorstellungen (resp.
entsprechende vorstellungswertige unbewußte Prozesse) wirksam und aktuell
gewesen sein, eine Menge, die um so gewaltiger erscheint, wenn man bedenkt,
daß zu jeder Note eine Ton-, Tasten-, Drucknoten- und Bewegungsvorstellung
gehört. Derartige Erfahrungen können uns Anhaltspunkte über den Umfang
der vom Gehirn gleichzeitig bewältigten Arbeit geben, wie sie uns die expen
menteUe Psychologie bisher noch nicht einwandfrei geliefert hat.
(Eigenbericht.)
An der Diskussion beteiligten sich die Herren Dr. Hohenemser,
Dr. Marcinowski, Dr. Moser, Dr. Friedemann, Dr. Moll. Der
Vortragende hatte das Schlußwon.
Schluß io»/ 4 Uhr.
Sitzung vom 25. April 1907 in der Wohnung des Herrn
Dr. Moll.
Beginn: 7V4 Uhr.
Vorsitz: Herr Baerwald.
Schriftführer: Herr West mann.
Herr Moll sprach
„Ueber die sexuelle Entartung im Spiegel der Weh
1 i t c r a t u r" (mit Demonstrationen aus seiner Bibliothek).
Der Ausdruck Entartung soll hier nicht so sehr im psychiatrischen Sinne,
als vielmehr im kulturgeschichtlichen aufgefaßt werden. Man erkennt dann
ohne weiteres, daß die eine Zeitperiode Dinge zur sexuellen Entartung
rechnet, die für eine andere eine solche Bedeutung nicht haben. Die An-
schauungen über die äußeren Formen des sexuell Sittlichen sind eben nicht
zu allen Zeiten gleich, und man soll sich hüten, Abweichungen ohne weiteres
als einen Beweis sexueller Entartung anzusehen. Eine Zeit kann sehr sitt-
lich sein und über das Sexuelle freier sprechen, als eine andere. Zeigt doch
die Literatur, daß die Genitalorgane, z. B. das männliche Glied, nicht nur
bei den Alten, sondern noch in neuerer Zeit in der christlichen Religion eine
Rolle spielten. Ueberaus wichtig für die Beurteilung der sexuellen Entartung
ist die erotische Literatur, in der die obszöne oder pornographische besonders
abgetrennt werden muß. Die erotische Literatur ist ein Spiegelbild des Zeit
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SiUungri>erichte
341
und Volksgeistes. Man findet diese Gruppe der Literatur bei allen Völkern
und wohl zu allen Zeiten verbreitet. Das Hohe Lied S a 1 o m o s kann man
nihig rur Erotik rechnen. Von den alten Griechen nenne ich nur Anakrcon,
l o n g u s , der den bekannten Schäferroman D a p h n i s und C h 1 o e schrieb ;
aus Rom Ovid, Petron, Juvcnal, Catull, Martial usw. Auch
das Latein des Mittelalters ist vertreten. In Deutschland war die Literatur-
periode von 1618 bis 1759 vielfach erotisch gefärbt (Celander, Hoff-
mannswaldau, Lohenstein); ganz besonders aber findet sich die
erotische Literatur in der klassischen Periode von 1759 bis 1830, aber auch
sehr reichhaltig in der neuesten Zeit. Ebenso sind die anderen Kulturländer
vertreten, nicht nur Frankreich, von dem es am meisten bekannt ist, sondern
sehr stark auch England. Auch kulturgeschichtliche und historische Werke
bringen uns wertvolles Material, desgleichen viele Kuriosa und Scherzstücke.
In gewissen Grenzen sind die erotischen Dichtungen auch für das Fühlen
des Dichters von Wert, so daß die Individualpsychologie Stoff in der erotischen
Literatur findet. Ich nenne hier nur Bürger, Voß, Goethe; aus
Frankreich Beranger, Mirabeau, Musset. Ebenso sei hier die
erotische Novelle L u c r e t i a und E u r i a 1 u s , die der spätere Papst
Pius II. vor seiner Papstwahl schrieb, erwähnt. Manche erotische Schrift-
steller sind zweifellos pathologische Naturen, aber keineswegs alle. Inter-
essant ist, daß auch zu allen Zeiten bestimmte Verleger diese Art Literatur
bevorzugten. Die Autornamen sind oft nicht mit Sicherheit festzustellen.
Mitunter wird ein berühmter Autor fälschlich der anonymen Schrift an-
gedichtet.
Wichtig ist die erotische Literatur zur Beurteilung des Zeitabschnittes
und des Sittlichkeitsniveaus, sowie der Sittlichkeitserscheinungen. Man
betrachte das Zeitalter der Renaissance und die für die damalige Zeit enorme
erotische Literatur; besonders Italien hat damals viel auf diesem Gebiet
produziert. Viele der heutigen Pornographika und Erotika sind nur Kopien
der früheren. Zur Beurteilung eines Landes kann die erotische Literatur
sehr wichtig sein : ist doch ein großer Teil der französischen und deutschen
Erotika nur die Uebersetzung der englischen Originale. Ueberhaupt kann
man in der erotischen Literatur den Einfluß des Verkehrs oft genug beob-
achten. So ging von Südfrankreich die eigentümliche provencalische Lyrik
auf Spanien und Italien, ebenso wie auf Nordfrankreich und auf Deutschland
über. Nicht nur die erotische Literatur, sondern auch die erotischen Emp-
findungen verbreiten sich oft, den Verkehrswegen folgend. Manche erotische
Schriften sind weniger durch die Persönlichkeiten des Verfassers, als durch die
der darin geschilderten von Bedeutung. Kaum ein Monarch dürfte der Aus-
nützung durch die erotische Literatur entgangen sein, aber ebensowenig viele
andere Persönlichkeiten, z. B. Kotzebue, Voltaire, Mazarin,
Heinrich III. von Frankreich. Eine ganz besondere Gruppe bildet die
gegen die Päpste und den Klerus im allgemeinen gerichtete erotische Literatur.
Die sexuellen Perversionen, z. B. die Homosexualität, sind ebenfalls
in der erotischen Literatur vielfach dargestellt worden. Aus dem Altertum
nenne ich Plato, Anakreon, Theokrit, Martial, Petronius.
Aus der neueren Zeit besonders Platen. Der Masochismus und Sadismus
finden sich in früheren Zeiten gelegentlich, in neuerer Zeit, besonders etwa
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seit 100 Jahren, überaus stark vertreten. Z. B. die englische erotische Literatur
ist voll von diesen Perversionen. Auch die Abhängigkeit bestimmter Männer
von ihren weiblichen Maitressen bildet eine besondere Gruppe. Weiter
findet sich in ihr als eine Spezialität der Geschlechtsverkehr zwischen
Blutsverwandten, Vater und Tochter, vielfach beschrieben; ebenso der Ver-
kehr zwischen Mensch und Tier. Dies kommt schon in der alten Mythologie
vor. Man denke an Jupiter und I o und L e d a mit dem Schwan. Auch
die Teufelscrotik spielt hier hinein, indem sich sehr oft der Teufel in Form
eines Tieres zu der geschlechtlichen Vermischung dem Menschen nähert.
Die Teufelsbündnisse spielen weiter in die schwarze Messe hinein. Die
Liebe zu unreifen Kindern ist ebenfalls viel vertreten, desgleichen der
Fetischismus. Der Verkehr mit Hermaphroditen findet sich in Fragoletta,
einem 1 797 erschienenen Roman von Latouchc, desgleichen in manchen
neueren Pornographika ; die Onanie als Gegenstand der Darstellung in dem
Buch von Bonnetain: Charlot s'amuse. Erwähnt sei auch der Ver-
kehr mit Kastraten, der nicht so selten in der erotischen Literatur eine
Rolle spielt. (Autorreferat.)
Eine Diskussion fand nicht statt.
Zur Mitgliedschaft meldete sich Herr Schriftsteller K u r t z.
Schluß der Sitzung 9V4 Uhr.
Sommersemester 1907.
Donnerstag, den 2. Mai 1907.
Beginn: 8V1 Uhr.
Vorsitzender : Herr M o 1 1.
Schriftführer : Herr Westmann.
Der Vorsitzende gedachte der Verstorbenen Ottomar Rosenbach,
von Bergmann, Otto von Leixner. Sodann fand eine Besprechung
geschäftlicher Angelegenheiten statt, insbesondere von Bibliotheksangelegim
heiten. Als Mitglied aufgenommen wurde Herr Schriftsteller Rudolf
Kurtz. Neugemeldet wurde Herr Dr. Kind. Ausgetreten sind die Herren
Rektor Walter Pagel, Oberstabsarzt Adrian, Dr. Meißner,
Dr. Eisenberg, Dr. Metzger.
Herr Oberlehrer Dr. Samuel Sänger spricht über
„Philosophie auf Schulen".
r. Der Unterricht auf den modernen Bürgergymnasien (G., RG., OR.)
hat kein Zentrum mehr, um das sich die Lehrfächer organisch gruppieren
könnten, und gleicht einer Rhapsodie ohne Ziel. Der herrschende Bildungs
begriff ist ein enzyklopädischer, kein organischer; daher wird das Bildungs
streben der Schüler, statt auf ein Ziel gelenkt zu werden, dem die zweck
mäßig ausgewählten Fächer dienen, durch das Nebeneinander zusammen
hanglos erscheinender Unterweisungen zerrissen.
2. Streben nach Bildung ist Streben nach Konzentration der Bildungs
elemente, hat also eine ganz natürliche Richtung auf die Philosophie, als
den Versuch einer Zusammenfassung der sinnlichen und sittlichen Mannig
faltigkeit zu einer Einheit. Pädagogen, die der Philosophie im Lehrplan dir
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höheren Lehranstalten Raum schaffen wollen, halten es für die dringendste
Aufgabe des Tages, das Konzentrationsverlangen der Schüler zu befriedigen,
und empfehlen eine Wiedereinführung des 1887 in Preußen abgeschafften
Unterrichts in Philosophischer Propädeutik für das einzig wirksame Mittel
seiner Befriedigung.
3. Diese psychologisch richtige Motivierung eines Philosophieunterrichtes
auf dem Bürgergymnasium halte ich für einwandfrei, stehe aber der Mög-
lichkeit, ihn unter den obwaltenden Umständen fruchtbar zu machen,
skeptisch gegenüber. Aus drei Gründen: a) wegen des heutigen Zustandes
der Philosophie; b) wegen der heutigen Vorbildung der Lehrer; c) wegen
der heutigen Beschaffenheit des Schülermaterials.
4. Zu 3a: Die heutige wissenschaftliche Philosophie ist Grenzfragen-
Philosophie. Es wäre unphilosophisch und unpädagogisch, auf einer modernen,
von wissenschaftlich gebildeten Spezialisten geleiteten Schule eine andere
als wissenschaftliche Philosophie lehren zu wollen. Diese wissenschaftliche
oder Grenzfragen Philosophie läßt aber eine elementare Behandlung
kaum oder wenigstens nur in sehr beschränktem Maße zu. Die in den
Systemen großer Denker niedergelegten Weltbilder sind aber wieder nur
aus der Kulturläge heraus zu verstehen, die ihre Entstehung bedingen und
ihre letzten Absichten allererst verständlich machen ; setzen, um nach-
konstruiert zu werden, die volle Herrschaft über den kritischen und historischen
Apparat des Forschers voraus. Mit ihnen durch Realien gebildete Gym-
nasiasten (RG., OR.) bekannt zu machen, wäre daher ein noch aussichts-
loseres Beginnen als die Einführung in die Wissenschaft der Grenzfragen,
zu denen der in philosophischem Geiste erteilte Unterricht in den wissen-
schaftlichen Schulfächern vielfach ohne Zwang und wie von selbst hinführt.
Geschichte der Philosophie als Bestandstück des Philosophieunterrichts auf
Schulen ist unter allen Umständen auszuschalten.
5. Zu 3 b : Die heutigen Lehrer sind wissenschaftlich gebildete Spezialisten
mit Spexialistenehrgeiz. Der überwiegenden Mehrzahl unter ihnen ist Philo
sophie kein Lebensbedürfnis, das vorhanden sein muß, um die Philosophie
im Munde des Lehrers zur Weisheit, zur erhöhenden Macht zu machen. Die
„Fakultas" in der Philosophischen Propädeutik gewährleistet die philosophische
Persönlichkeit nicht; garantiert, so wie sie heute erteilt wird und nach
der heute gültigen Prüfungsform nicht einmal eine annähernd höhere Ver-
trautheit mit der Grenzfragen-Philosophie.
6. Zu 3 c. Das heutige Bürgergymnasium ist keine Schule für die
Aristokratie des Talents mehr, hat seinen selektiven Charakter fast
völlig: verloren. Es ist den Massen zugänglich gemacht, ist eine demo-
kratische Institution geworden. Es konnte, als Parallelerscheinung der Kapi-
talisierung und Demokratisierung der Gesellschaft und der kollektistischen
Organisierung des Wissenschaftsbetriebes, nicht anders werden, als es ist.
Es ist gut oder kann gut, zweckdienlich werden, wenn man sich an seinen
Zweck halt, der Masse Bildung in Form einer großen Menge von Wissens-
eJementen und Fertigkeiten zuzuführen. Diesem Zweck dient die Verbesserung
der Lehrtechnik, welche sich die Spezialisten angelegen sein lassen. Den
Zusammenhang mit dem, was „man" allgemeine Bildung nennt, hält auf dieser
Schule der Unterricht in der Religion, der Geschichte, dem Deutschen auf-
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SiteungkbttrichU.
recht. Die wirkliche allgemeine Bildung, diejenige, die die allgemeinen
Grundlagen und Zwecke des Wissenwollens und Handelnmüssens bloßlegt,
kann nur auf Philosophie gegründet sein; aber es ist noch der Zukunft vor-
behalten, erst den Schulorganismus zu schaffen, der auf sie angelegt ist.
Darüber gedenkt der Vortragende in einer größeren Schrift ausführlich
zu handeln. (Autorreferat.)
An der Diskussion beteiligten sich die Herren Oberlehrer Ziert
mann, Prof. Dessoir und Dr. Baerwald. Der Vortragende hatte
das Schlußwort.
Schluß der Sitzung ioy 4 Uhr.
Donnerstag, den 23. Mai 1907.
Beginn: 8y 4 Uhr.
Vorsitzender: Herr Moll.
Schriftführer: Herr West mann.
Herr Moser sprach
„Zur Psychologie des Klaviertones"
und demonstriete den Inhalt seines Vortrages, an Klavieren, Harmonhun,
Blasinstrumenten und Gesang.
Dem Klavier werden zwei Fehler nachgesagt : es sei nicht dauerhaft, und
der Ton genüge nicht höheren musikalischen Ansprüchen, das Klavier
entbehre der Wahrhaftigkeit. Zahlreiche Klavierspieler und Komponisten
erachten das Klavier als ein unzureichendes Instrument. Richard
Wagner sagt, Blasinstrumente ahmen die menschliche Stimme nach, aber
das Klavier deute den Ton nur an, dessen wirklichen Körper sich zu denken,
überlasse es der Gehörsphantasie. Der Musiker begnüge sich mit dem „ton-
losen", d. h. die Töne nur schildernden Instrument, weil er auf demselben
ohne Beihilfe anderer Menschen arbeiten könne. Die Klangfarben seien
beim Klavier vermischungsunfähig. Klavier und Gesang oder Orchestermusik
paßten schlecht zusammen. Eugen d * Albert antwortete auf eine Rund
frage der „Zukunft": Der Musiker könne das Klavier benutzen, um seine
musikalischen Gedanken zur Darstellung zu bringen, als Surrogat deute es
den Ton nur an, übe dagegen keine unmittelbare sinnliche Klangwirkung aus,
die den Intentionen der Komponisten wie Beethoven nahe komme.
L i s z t fühlte sich ebenfalls vom Klavier nicht befriedigt und hat früh-
zeitig das öffentliche Spiel aufgegeben und nur für Gesang und Orchester
komponiert. Oscar Bie, der feine Aesthetiker und Geschichtsschreiber
des Klaviers und seiner Meister, preist das Klavier wegen seiner Viel-
tönigkeit, aber er will es allein, intim, vor wenigen bekannten Zuhörern, haben,
er erachtet es nicht für brauchbar im Saal, auf dem Podium, vor Tausenden
von Zuhörern, es dürfe nicht verglichen werden mit der Violine und dem
englischen Horn.
Moser: Das Klavier kann nicht gebraucht werden neben der Orgel,
neben dem Orchester und hebt sich ab von der menschlichen Stimme. Der
begleitende Klavierspieler soll den Sänger d i s k r <• t begleiten, während ein
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aittungnberichtr.
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80 oder, wie bei Musikfesten, ein 200 Mann starkes Orchester einen Sänger
begleiten kann. Dieser Widerspruch kann also nicht in der Quantität, sondern
nur in der Qualität des Klaviertones liegen. Helmholtz hat die ab-
solute Bewegung der Saiten theoretisch festgelegt, aber das hier vorliegende
Problem wissenschaftlich kaum berührt. Um den Klavierton zu beeinflussen,
müssen wir Masse und Elastizität der Saiten, Weichheit und Dicke der Saiten
und des Hammers und die Zeit, in der der Hammer an der Saite anliegt,
ins Auge fassen. Wir hören nicht die Saite, sondern nur den Boden, nur
die Flache. Der Boden, das Stück Holz, wird gezwungen, mitzuschwingen.
Das Klavier ist kein Saiten-, sondern ein Platteninstrument, wie die Glocke,
nur ist diese eine gekrümmte Platte aus Mettall, der Resonanzboden eine
ebene Platte aus Holz. Der Ton selbst entsteht durch Zusammenschwingen
von Boden und Saite, die durch den Hammeranschlag in Bewegung gerät.
Die Diskrepanz zwischen Klavierton und Orchesterklang liegt in dem Auf-
bau des Tones, in dem Verhältnis zwischen den Grund- und Obertönen
des Klaviers und den Tönen anderer Instrumente und der menschlichen
Stimme. Der Ton der menschlichen Stimme ist unser Idealklang, dem sich alle
übrigen musikalischen Klänge anzupassen haben. Der Stimmklang aber geht
nicht über den achten noch harmonisch klingenden Oberton hinaus, während
beim Klavier noch der n. und 12. Oberton gehört werden. Diese sind
aber ihrer Natur nach untereinander und gegen die tieferen Teiltöne dis-
harmonisch. Helmholtz hat dies erkannt, aber die Diskrepanz nur für
schwach und nicht für ausschlaggebend erachtet. Das ist aber ein Irrtum,
wie die tägliche Erfahrung im Konzertsaal beweist, wo immer wieder vom
Pianisten „diskrete Begleitung" gefordert wird. Den Grund dafür, daß die
oberen und obersten Tciltöne zu stark hervortreten, sehe ich darin, daß
das Energiezentrum der von den Saiten geleisteten mechanischen Arbeit
nicht tief genug liegt, sondern nach oben hin verschoben ist, so daß der
Grundton nicht der absolut stärkste Ton ist. Dies zeigt sich z. B. deutlich
bei alten Pianinos, wo die Kontra- und Subkontratöne nicht tiefer, sondern
höher zu werden scheinen. Soll also der Klavierton dieselbe harmonische
Wertigkeit wie der Stimmton erhalten, so muß das Energiezentrum aus der
Mitte heraus nach unten gebracht werden, der Grundton muß der stärkste
sein, damit ich die oberen disharmonischen nicht mehr höre.
Ist dies möglich?
In alter Zeit verwendete man Messingsaiten, dann im Anfang des
19. Jahrhunderts weiche Stahlsaiten. In den fünfziger Jahren wurde der
Gußstahl erfunden, der wegen seiner größeren Härte und Elastizität die
zehnfache und noch größere Arbeit, d. h. Spannung vertragen kann wie
die einfache Stahlsaite. Infolgedessen mußte aus dem Holzbau des Klaviers
ein Eisenbau werden, d. h. die mechanische Montierung der Saite
erfuhr eine wesentliche Veränderung. Leider machte die akustische Mon-
tierung diese Veränderung nicht mit, und darin liegt der Grundfehler des
„modernen" Klaviers, die physikalisch-mechanische Ursache dafür, daß unsere
so überaus „vollkommenen" Instrumente viel weniger musikalisch klingen
als etwa die berühmten Wiener Flügel von Steiner aus dem ersten Drittel
d-es 19. Jahrhunderts. Das erhellt aus folgender Ueberlegung: Der Resonanz
Doden wird durch die bewegte schwingende Saite in sog. Zwangsschwingungen
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versetzt. Der Boden muß also zu den übrigen Teilen hinsichtlich Elastizität
und Masse in richtigem Verhältnisse stehen. Früher war der Boden dünn,
5 — 8 mm stark ; als Gußstahl aufkam, wurde diese Stärke im wesentlichen
kaum verändert, weil bei der herkömmlichen berippten Platte Masse und
Elastizität feindliche Faktoren sind. Der Klavierbauer hat also die Wahl
zwischen einem kurzen aber starken und einem singenden aber verhältnis-
mäßig schwachen Ton. Er wählt die Mitte nach seinem und seiner Kunden
Geschmack; stets aber erzielt er nur ein Tonfragment, weil Masse und
Elastizität des berippten, also nicht homogenen, sondern mechanisch geteilten
Bodens unmöglich der Masse und Elastizität der Gußstahlsaite vollkommen
angepaßt werden können. Das Resultat ist: der dünne berippte Boden muß
verlassen und durch den starken, rippenlosen Boden ersetzt werden. Bei
ihm ist der erzeugte Ton in seinem Aufbau nach Grund- und Obertönen gleich-
wertig und daher die Amalgamierung beider Klangfarben nicht nur
befriedigend, sondern absolut. Dem entspricht auch die tonpsychologische
Wirkung beim Zusammenklang von Klavier und Orchester : die Ver-
schmelzung ist eine vollkommene. Eine dritte, sehr bemerkenswerte Bestäti-
gung liegt darin, daß Stücke für zwei und mehr Klaviere orchestral wirken,
wenn sie mit orchestermäßiger Besetzung der Stimmen gespielt werden,
d. h. wenn die beiden Außenstimmen Baß und Sopran zwei- und mehrfach,
die Mittelstimmen nur einfach erklingen.
An den Vortrag schloß sich ein experimenteller Teil, der durch mannig
fache Kombinationen von zwei Klavieren (Flügel und Pianino) mit Gesang,
Tenorposaune und Harmonium die behauptete Amalgamierung des Klavier
toncs demonstrierte.
An der Diskussion beteiligte sich Herr Dr. C o w 1. Der Vor-
tragende hatte das Schlußwort.
Zur Mitgliedschaft meldeten sich Herr Dr. Knoche und Hen- Lehrer
1*' reymuth.
Schluß der Sitzung lotyi Uhr.
Donnerstag, den 6. Juni 1907.
Beginn: 8 1 /» Uhr.
Vorsitzender: Herr Martens.
Schriftführer : Herr Westmann.
Herr Hochdorf spricht
„Zur Psychologie der Press c*\
Es gibt Naturen, die absichtlich Erscheinungen des täglichen Lebens,
die ihnen begegnen, aus ihrem Denken und Wollen ausschalten, die bewußt
darauf Verzicht leisten, sich mit einer großen Zahl ökonomisch, sozial oder
auch künstlerisch wichtiger Dinge zu beschäftigen, sogenannte Artisten.
Die meisten Menschen besitzen nicht diese Fähigkeit der Selbst-
beschränkung, sie sehnen sich danach, sich in die Umwelt hineinzuleben,
zu erfahren, was aus der Umwelt auf sie einfließt, was aus der Umweh
sie interessieren könnte. Die We*e zur Befriedigung dieses Interesses sind
verschiedenartig.
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_ 347
Primitivstes Stadium: Umfrage, mündliche Unterhaltung, eine Nach
rieht wird von dem einen zum andern getragen. Dies ist die ungeschriebene
Zeitung.
Anfangsform der geschriebenen Zeitung : acta dhirna zur Zeit Casars,
Stadtklatsch in der römischen Urbs.
Eine Zeitung im heutigen Sinne finden wir zuerst in den 8oer Jahren
des 15. Jahrhunderts in Venedig. Der Zeitungsschreiber macht für etwas
Stimmung bei seinen Lesern. Gaza, der Kaufpreis der Zeitung, Ursprung
des Namens Gazette, stammt aus jener Zeit. Der Nachrichtendienst wird
verlassen.
Aufklärungszeit: Titel und Form der Zeitung werden auf das Neuig-
keitsbedürfnis der Menschen gemünzt: der Beobachter, der Plauderer, der
Erzähler usw. Zunächst wird das Material von den Ereignissen der Außen-
welt gebracht. Es gab damals keine in so kurzen Perioden aufeinander
folgende Zeitung wie heute. Es werden fixe, eilige Berichte mit ewiger
Historie zusammengeworfen. „Geschichtskurier" lautet ein Zeitungsnamen.
Es wird über Tagesgeschichte berichtet. Erst in der Zeit vor der franzö-
sischen Revolution entstehen Titel für Neuigkeitsblätter, die eine bestimmte
Tendenz in das Zeitungsblatt legen wollen, Gör res hat 1798 in Deutsch-
land das rote Blatt gegründet. Sodann entstanden literarische Richtungen,
die sich mit den Neuerscheinungen beschäftigten. „Bibliotheken der schönen
Künste, der schönen Wissenschaften, Frankfurter Gelehrte Anzeigen".
„Intelligenzblatt". Hier ist angedeutet, daß das Tagesbegebnis geleitet
werden soll von einer Einsicht, die durch historische und gründliche Er-
fahrung genährt ist.
Die Zeitungen und Zeitschriften der Romantiker geben in ihren Namen
nur geringe Eindrücke in das, was die Verfasser ihren Lesern imputieren
wollten. Rückstand in der Entwicklung der Tendenzzeirung. „Athenäum".
Man war zu träumerisch. Die Zeitung heutigen Charakters entstand in
den Revolution» jähren : nicht bloß Nachrichten, sondern Bekehrung zu
bestimmter Meinung. Napoleons Regime entwickelte eine gesinnungs-
rüchtige Tendenzpresse. Napoleon gab den Journalisten Anweisung :
„Nennen Sie nur immer mich, mich, mich." Er wollte damit sagen, daß die
Zettung es in der Hand habe, rein durch die Masse dessen, was sie bringe,
irgendein Ding wichtig zu machen oder zu töten. Wer selbst mit skeptischer
Vorsicht eine Zeitung in die Hand nimmt, wird, wenn er oft etwas vor Augen
bekommt, sich damit beschäftigen. Die bloße häufige Nennung in der
Presse kann einer Sache Wichtigkeit oder Nichtigkeit beilegen, zum mindesten
auf kurze Zeit
Aenderung der Zeitung infolge technischer Fortschritte der letzten
vier Dezennien: Früher Zeitung ohne erhebliches Betriebskapital möglich.
Im Jahre 1800 Rekord einer Elberfelder Zeitung, daß sie in sechs Tagen Nach-
richten aus Paris erhielt. Heute sind Geschehnisse um n Uhr in Paris,
um 11 1/4 Uhr in Berlin auf der Straße zu lesen. Die heutige Zeitung
muß sich ins Riesenhafte ausdehnen können, sie muß infolgedessen auf
großen, jederzeit flüssig zu machenden Kapitalien basiert sein. Es stehen
infolgedessen bei einem Zeitungsunternehmen Riesensummen auf dem Spiele,
welche geschützt und vor Verlust bewahrt werden müssen. Heute will der
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Leser nicht die persönliche Meinung irgendeines Mannes aus der Tages-
zeitung erfahren. Zu diesem Zwecke nimmt er sich eher eine Zeitschrift.
Die Tageszeitung darf ihm Aufsätze größeren Umfangs nur an Sonn- und
Feiertagen vorsetzen. Der Leser will von der Tageszeitung Sensationen
erfahren. Eine ganz bestimmte Form hat das typographische Bild der
Zeitung erhalten. Nach englischem Muster findet man an der Spitze den
Leitartikel. Dieser soll ein Summarium dessen sein, was am bedeutendsten
die Oeffentlichkeit erregt. Früher wurden die Leitartikel mit der Chiffre
des Verfassers gezeichnet, heute s eltcncr. Dies nicht zufällig. Die
Leitartikler finden, daß ein großer Teil ihres Verantwortlichkeits-
gefühls durch das Verlangen der Zeitung aufgewogen wird, etwas
weniger kompakt zu geben, etwas weniger intensiv die Empfindungskräfte
des Lesers zu beschäftigen. Die Anonymität ist bei der Presse ab politischer
und sozialer Macht trotz mancher Bedenken zweckmäßig, in der Kunst-
kritik wird dagegen noch der Name gezeichnet. Auch in die Kunstkritik
ist allmählich das Unpersönliche hineingekommen, es wird unterschieden
zwischen unterhaltender Reportage und ernstem Kunstbericht.
Die Technik der Nachtkritik des Theaters gefährdet die Qualität
des Kunstjournalisten. Der Journalist muß alles in Formeln fassen, sich
auf einen bestimmten Raum einrichten, er hat kaum Gelegenheit, sein Urteil
zu begründen, er darf nur hinschreiben, was er von Ja oder Nein zu einer
Kunstsache zu sagen hat; deshalb wird er leicht verführt, eine gewisse
unruhige Ungerechtigkeit in seinen Stil hineinfließen zu lassen. Der Jour-
nalist könnte vielfach vorsichtiger, bedächtiger urteilen, wenn er Zeit hatte,
sich in aller Ruhe über die Dinge zu äußern. Da um 12% Uhr Redaktions-
schluß ist, damit die Blätter rechtzeitig in die Provinz gesandt werden
können, so hat der Journalist »/« Stunden Zeit, über das, was er vor sich
gesehen hat, zu schreiben. Die am Uebertegc erscheinende Kritik ist noch
hastiger. Sie erscheint in der Abendzeitung des nächsten Tages, 150 bis
200 Zeilen lang, und muß gegen V»2 — 2 Uhr in die Setzmaschine kommen.
Dieser Zwang treibt den Journalisten in das Gefühl hinein, daß er unmöglich
etwas Geschlossenes geben kann, es veranlaßt ihn, leichtsinnig zu werden.
Dies Gefahr der Zeitung. Sie saugt nicht nur die Persönlichkeit auf, sondern
sie führt auch der Persönlichkeit Gewohnheiten zu, von denen sie sich nur
mit großer Energie befreien kann.
Die moderne Zeitung gewährt einer Anzahl von Kräften Unterkommen,
deren Vorzug die Fixigkeit ist, Worte aneinander zu reihen. Die Zeitung
ist aber auch gefährlich der Gesinnung, dem Bewußtsein dessen, was der
einzelne Mitarbeiter als sozialer und politischer Mensch repräsentiert, der
politische Redakteur vertritt, ohne daß er sich vielleicht dessen bewußt
wird, die Meinung einer bestimmten Gruppe, mit deren Augen zu sehen
er sich gewöhnt hat. Wenn man eine Nachricht vor sich hat, kann man den
Eindruck crmessen, den die Nachricht auf den Kreis derjenigen haben
wird, die die Zeitung lesen. Der Redakteur bemüht sich, eine Nachricht,
einen Artikel, Aeußerungen, die ihm zu persönlich sind, abzuschleifen. Er
„redigiert". Die Zeitung mit ihren ganz bestimmten Bedürfnissen, ihrer
jeweiligen Tendenz hat eine Menge Menschen groß gezogen, die dem
Redakteur die Möglichkeit lassen, durch Streichungen usw. dem Aufsatz
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SitzunvsU richte 340
den Ton zu geben, den er für die Zeitung braucht. Das Prinzip, Aufsätze
und Nachrichten auf den bestimmten Ton der Zeitung herzurichten, hat
die Zeitungskorrespondenz erzeugt. Diese besteht darin, daß ein Unter-
nehmer wöchentlich eine Anzahl von Nachrichten und Artikeln versendet,
der Redakteur nimmt davon, was er für seine Tendenz brauchen kann, und
stutzt dies für die Zeitung zu. Die ganze Bedienung der Zeitung mechanisiert
sich infolgedessen.
Eine Diskussion fand nicht statt.
Schluß der Sitzung g 1 /» Uhr.
Donnerstag, den 20. Juni 1907.
Beginn: 8Va Uhr.
Vorsitzender: Herr Moll.
Schriftführer: Herr Feigs.
Aufgenommen sind die Herren Lehrer Max Freymuth und Nerven-
arzt Dr. Otto Leers.
Herr Fritz Leppmann spricht über
„G estehen und Leugne n".
Der Vortrag erscheint im Sonderdruck.
Schluß der Sitzung 10 Uhr.
Donnerstag, den 4. Juli 1907.
Beginn: 8 Uhr 25 Minuten.
Vorsitzender : Herr Martens.
Schriftführer : Herr W e s t m a n n.
Herr Dr. B e r t h o 1 d spricht über
„Symptome exzentrischer Zeitregunge n".
Exzentrische Winkel: im Gegensatze zu Zentriwinkeln, deren Spitze
im Kreismittelpunkt hegt. Daher exzentrische Gedanken und Handlungen:
solche, denen gleichsam der feste Mittelpunkt fehlt. Von Gustave
Flaubert berichtet Brandes, er habe sich förmliche Sammlungen
von Dummheiten angelegt. Nach diesem Vorbild sammelt Vortragender
seit Jahren Dokumente menschlicher Narrheit. Aus seinem Museum, das
bereits gut gefüllt sei, wolle er einiges vorlegen und kommentieren.
1. Die im Jahre 1900 begründete „Neue Gemeinschaft" der Brüder
Heinrich und Julius Hart. Der Ideenkreis der „Neuen Gemein-
schaft": Weltanschauungs-, Lebens- und Gesellschaftsreform, kurz Mensch-
heitsbeglückung. Diese von jeher ein Tummelplatz der Exzentrizität des
karikierten Apostolates. Weitere Proben : Einladungen der Frau Helene
v. W. ; Astl-Leonhard „Ein deutsches Testament" (Wien 1897);
„Kulturfundamente" und „Kulturziele" (G. F. M ü 1 1 e r , Berlin 1907) ; Dr. Nor
bert Grabowsky; Robert Wihans „Veritas", „Organ zur Fest-
stellung der Wahrheit in den wichtigsten Fragen der Menschheit und zur
Herstellung des geistigen Kontaktes aller Denker", Hans Würtz - Altona
„Neuland des Mädchenturnens" ; Dr. F. Wollny „Moderne Kultur" (Berlin
1905); J. Cimburek „Wir bewohnen eine allgegenwärtige Volleinheit ab
soluter Reinheit, die uns erleuchtet".
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II. Soziales und Politisches: R. Dost „An die Machthaber der Weh"
(Berlin 1905) ; H. G a n s w i n d t „Das jüngste Gericht" ; G ö s 1 i n g c/a Prof.
Reinhold; J. Lanz - Liebcnf eis „Theozoologie oder die Kunde von den
Sodomsäf Hingen und dem Götterelektron (Wien 1906); zwei Petitionen an
den Reichstag.
III. Belletristische Vcrlagsankündigungcn : Axel Juncker, Stutt-
gart, als cxemplum vitiis imitabile; dessen Weihnachtskatalog von 1903:
autobiographische Notizen und Besprechungen, verschroben und markt-
schreierisch ; Margarethe Beutler; Verlagsbericht von Jacques
Hegner 1905; S. Fischer, Berlin; einige andere; Schuster &
L o e f f 1 e r , Berlin : deren Ankündigung von WandaSacher-Masochs
„Lebensbeichte", hinüberleitend zu
IV. Das sexuelle Problem und das Konträrsexuelle, das Erotomanische,
die Obszönität und der Exhibitionismus in der gegenwärtigen deutschen Lite-
ratur. Der Spohr sehe Verlag in Leipzig als Infektionsherd ; die Oscar
W i 1 d e - Apotheose ; das sogenannte Wissenschaftlich-Humanitäre Komitee
der Herren Spohr und Dr. Magnus Hirschfeld; Dr. Iwan Bloch
(alias: Dr. Dühren, Dr. Hagen, Dr. Veriphantor) und Inhalts-
verzeichnis seiner „Sexuellen Osphnesiologie" ; die Versandbuchhandlung
K. Singerfc Co.; Friedrich S. Krauß' „Anthropophyteia" und „Bei-
werke zum Studium der Anthropophyteia" ; „S a g i 1 1 a s Bücher der namen-
losen Liebe" (Berlin 1905) ; Frank Wedekind und Erich Mühsam.
V. Literarische, musikalische, ästhetische Kritik : Alfred Kerr; Sieg-
fried Jacobsohn; Oscar Bie; Otto Roese „R ichard Strauß'
Salome. Ein Wegweiser durch die Oper" (Berlin 1906); F. H. Clark
„Liszts Offenbarung"; Dr. Volbach; Zeitungsartikel von
Dr. Georg S i m m e 1 an der Berliner Universität : „R o d i n s Plastik und
die Geistesrichtung der Gegenwart" und über „Den Bilderrahmen" (1902).
VI. Auch im Felde der Wissenschaft — zumal wenn man autodidaktische
oder autoignorante Pseudowissenschaft darunter mit einbegreift — fehle
es nicht an Exzentrizitäten. Vortragender brauche nur an den Schulfall des
„Klugen Hans", an die Exzesse sog. okkulter Wissenschaft, des Spiri-
tismus und der Theosophie, Christian science, Gesundbeten und Telepathie usw.
erinnern. Dr. Wilhelm Fließ „Der Ablauf des Lebens, Grundlagen der
exakten Biologie" (Wien 1906); Dr. Christoph Ruths „Induktive Unter-
suchungen über die Fundamentalgesetze der psychischen Phänomene" (Darra-
stadt 1897); Ingenieur A. Patschke „Lösung der Welträtsel durch das
einheitliche Weltgesetz der Kraft" (München 1905); Dr. Bellermanns
Beweis aus der neueren Raumtheorie für die Realität von Zeit und Raum
und für das Dasein Gottes" (Programm des Königstädtischen Realgymnasiums,
18S9) und als Pendant dazu Dr. Piper „Ein mathematischer Beweis der
Unsterblichkeit des Menschen" (Lemgo 1888); schließlich noch zwei Kleinig-
keiten aus der Niederung des Schwachsinns. (Autorreferat.)
In der Diskussion sprachen die Herren Dr. Knoche und
Martens.
Schluß der Sitzung ioV» Uhr.
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Sit +Mnn*h*rLshtß
Oll* r*/»y»l/cr friert tc
351
Wintersemester 1907/08.
Vortragsplan.
17. Oktober, Herr Privatdozent Dr. Frischeisen-Köhler: Die Be-
deutung der Psychologie für die Geisteswissenschaften.
31. Oktober, Herr Dr. R. Hennig: Okkultismus und wissenschaftliche
Forschung.
7. November, Herr Prof. Dr, Max Dessoir: Die Psychologie der Aus-
sage, angewendet auf okkultistische Berichte.
21. November, Herr Prof. Dr. Karl Schleich: Psychophysik des
Rhythmus.
5. Dezember, Herr Dr. P. Möller, Nervenarzt, Berlin-Grunewald :
Ueber Anomalien der Begabung.
12. Dezember, Herr Dr. Feigs: Suggestion und Pädagogik.
9. Januar, Herr Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Eulenburg: Pathologische
Schlaf zustände.
23. Januar, Herr Oberarzt Dr. Gallus: Geisteszustand der Epileptiker.
6. Februar, Herr Dr. Georg Flatau, Nervenarzt: Psychologie der
nervösen Kinder.
20. Februar, Herr Oberlehrer Dr. Pappenheim: Experimentieren im
Unterricht und Gewinnung theoretischer Kenntnisse auf Schulen.
5. März, Herr Dr. R. B ä r w a 1 d : Beobachtungen bei Erinncrungs versuchen.
19. März, Herr Dr. Albert Moll: Homosexualität und Freundschaft.
Außerdem wird beabsichtigt, durch die Psychologische Gesellschaft,
mit Rücksicht auf die Zunahme der okkultistischen Strömung, eine Umfrage
bei gebildeten Personen über okkultistische Phänomene stattfinden zu lassen.
Alle Anfragen sind an den I. Vorsitzenden, Herrn Dr. Albert Moll,
Berlin W., Kurfürstendamm 45, zu richten.
VI. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands zu Char-
lottenburg (3.-5. April 1907).
(Bericht, erstattet von Friedrich Lorcntz.)
Das große Interesse, welches man den Bestrebungen der Hilfsschul-
sache entgegenbringt, zeigte sich deutlich in dem regen Besuch des dies
jährigen Hilfsschultages zu Charlottenburg. Wohl an 1000 Teilnehmer ver-
einigten sich in dem künstlerisch geschmückten Saale des Tiergartenhofes
zu den Beratungen, welche von dem Verbandsvorsitzenden, Stadtschulrat
Dr. W e h r h a h n - Hannover, geleitet wurden.
In der Vorversammlung am 3. April wurden hauptsächlich organi-
satorische Fragen beraten. Es wurde die Einrichtung eines Verbandsaus-
schusses und auch die Gründung einer nordwestdeutschen Hilfssehul-
Vereinigung beschlossen. Die Herausgabe eines besonderen Verbandsorgans
wurde empfehlend der Hauptversammlung anheimgegeben, welche hernach
den Vorstand zur weiteren Erledigung dieser Angelegenheit ermächtigte.
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Es soll hinfort eine eigene Zeitschrift erscheinen, welche den Verbands-
interessen gewidmet ist.
In seiner Begrüßungsansprache wies der Vorsitzende hin auf zwei
wichtige Verfügungen und Entscheidungen, die in neuerer Zeit ergangen
sind. Durch eine Entscheidung des Kammergerichts ist die Hilfsschule
als öffentliche Schule anerkannt worden, so daß deren Besuch hinfort auch
zwangsweise herbeigeführt werden kann. Eine Im Herbst des vorigen Jahres
ergangene gemeinsame Verfügung des Kultusministeriums sowie der Mini«
sterien des Innern und des Krieges betrifft die Regelung der militärischen
Ausbildung der Schwachbefähigten, dergestalt, daß jeder Freund der Hilfs-
schulsache daran seine besondere Freude haben muß, umsomehr, als diese
Verfügung in so kurzer Zeit nach Besprechung dieser Angelegenheit erfolgt ist.
Den ersten Vortrag hielt Hauptlehrer Horrix- Düsseldorf über
das Thema:
„Der Personalbogen in der Hilfsschul e".
Die Notwendigkeit der Individualisierung beim erziehenden Unter-
richt, insbesondere bei den Hilfsschülern, die Mannigfaltigkeit der Schüler-
typen einer Klasse oder Schule und die mangelnde Treue unseres Gedächt-
nisses verlangen nach einer schriftlichen Fixierung aller jener Charakter-
eigentümlichkeiten der Einzelpersönlichkeit, welche zum Zwecke genauer
Beurteilung und richtiger Behandlung durchaus beachtenswert sind. Diese
Aufzeichnungen geschehen am besten auf einem Personalbogen, der für
jeden Hilfsschüler auszufertigen wäre. Der Vortragende legte der Ver
Sammlung ein von ihm entworfenes Schema zu einem solchen
zur Begutachtung und Annahme vor, das in möglichst einheit-
licher Form an allen Hilfsschulen zur Einführung gelangen soll.
Derselbe würde dann nicht allein für die Erziehung und Bildung des Schwach-
sinnigen nur nutzbar gemacht werden können; er würde für denselben auch
im späteren Leben von großer Bedeutung sein, insofern, als er ihm einen
Schutz gewähren würde vor falscher Beurteilung vor Gericht oder gegen
eine etwaige Aushebung zum Militärdienste. Aus Rücksicht auf die leib-
liche und seelische Beschaffenheit des Hilfsschülers zerfällt der Personal
bogen in zwei Teile, den medizinischen und den pädagogischen, von denen
der erstere seitens des Hilfsschularztes, der andere dagegen vom Hilfs-
schullchrer ausgefüllt werden soll. Ganz spezielle Anweisungen gab der
Redner dann noch über die bureaukratischc Behandlung des Personalbogens.
Die sich daran anschließende Diskussion führte des weiteren zur Er
örterung der Frage über die Wirksamkeit von Schularzt und Lehrer in der
Hilfsschule. Dieselbe dürfte sich dann wohl von selbst erübrigen, wenn
erst einmal die Vorbedingungen für die Wirksamkeit der beiden und ihre Kom-
petenzen festgelegt sind. Sobald der Lehrer genügende psychiatrische Kennt
nisse besitzt und sich auch mit der Psychopathologie vertraut gemacht hat, wird
er aus den ärztlichen Angaben mit Erfolg seine psychischen Beeinflussungen
und pädagogischen Maßnahmen herleiten können. Die Angaben aber des
besonders psychiatrisch geschulten Hilfsschularztes decken die ätiologisschen
Beziehungen auf, stellen die prognostischen Daten fest und zeigen dem
Lehrer die therapeutischen Beeinflussungen. So wird auch die von dem
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Sitzungsberichte. 353
Mannheimer Stadtschulrat Dr. S i c k i n g e r geforderte freie Bahn
geschaffen sein für uneingeschränkte Aeußerung des einen oder des anderen
zum Wohle der Schwachbefähigten. Auch die schultechnische Behandlung
des Personalbogens erfuhr in der Debatte eine eingehende Besprechung.
Der zweite Vortrag behandelte „Die schriftlichen Arbeiten in der Hilfs-
schule". Der Referent F r e n z e 1 , Leiter der Hilfsschule in Stolp i. P.,
stellte die Weckung der Selbständigkeit des Schülers in den Vordergrund
seiner Ausführungen. Als schriftliche Arbeiten forderte der Referent : die
Uebungen im Schön- und Rechtschreiben sowie die freie schriftliche Dar-
stellung eigener Gedanken. Diese üebungen sollen bereits auf der Unter-
stufe beginnen und auch auf den übrigen Stufen fortgesetzt werden; dabei
immer im Zusammenhang bleibend mit den unterrichtlichen Uebungen und
Unterweisungen in der Muttersprache. Wenn wir auch mit dem Vortragenden,
die Befähigung der Hilfsschüler zur Anfertigung einfacher schriftlicher
Arbeiten, wie sie das Leben vom kleinen Handwerker und Geschäftsmann
fordert, als Ziel dieser Uebungen anerkennen, so soll man doch diesem zu-
liebe nicht etwa die Eigenart des Schülers opfern. Musteraufsätze, wie sie
von einem Teilnehmer der Versammlung vorgelegt wurden, sind kaum als
Produkte eines „HiuV'schülers zu bezeichnen. Nach kurzer Debatte, in der
besonders auf die Planmäßigkeit und Ausdauer bei solchen schriftlichen
Arbeiten hingewiesen wurde, wurden die vom Referenten vorgeschlagenen
Thesen angenommen.
Die im Auftrage des Vorstandes aufgenommene Statistik ergab die erfreu-
liche Tatsache, daß keine Stadt unter iooooo Einwohnern ohne eine besondere
Unterrichtsanstalt für Schwachbefähigte in Deutschland vorhanden ist. Von
den Entlassenen aus den Hilfsschulen waren 66,97 Prozent erwerbsfähig, zu
welchem Resultate wohl auch die Hilfsschule ihr Teil beigetragen haben
mag, wodurch ihre soziale Notwendigkeit eine weitere Begründung erfährt.
Die Hauptversammlung am 4. April wurde durch die Begrüßungsreden
der Vertreter der verschiedensten Ministerien und Körperschaften eröffnet.
Geheimrat Hcuschen begrüßte die Versammlung namens des Kultus-
ministeriums. Geheimer Oberregierungsrat Heinrichs sprach als Ver-
treter des Ministeriums des Innern. Schulrat Schütz und Schulrat
Dr. Langer vertraten das württembergische und das sächsische Kultus-
ministerium. Namens der Stadt Charlottenburg bewillkommnete Bürger-
meister Dr. M a 1 1 i n g die Versammlung. Er wies hin auf die mannigfachen
Bestrebungen und Reformen, die Charlottenburg auf dem Gebiete des
höheren und niederen Schulwesens verwirklicht hat, und welche ihr den wohl-
verdienten Ruf als „Stadt der Schulen" eingetragen haben. Von ganz
besonderem Eindruck waren auch die Worte des Sekundarlehrers Auer-
Schwanden, der als Vertreter des Schweizerischen Bundesrats und als Ver-
treter der Konferenz für das Idiotenwesen erschienen war. Nach einer
Würdigung Deutschlands für die Verdienste auf dem Gebiete des Hilfsschul-
wesens wies er hin auf seinen großen Landsmann Pestalozzi, dem auch
diese Tagung äußerlich ihre Huldigung erwiesen habe. Durch die Arbeit
an den Schwachen und Hilfsbedürftigen wird am besten der Geist dieses
Volkserziehers lebendig erhalten.
Hierauf hielt Stabsarzt Dr. Stier von der Kaiser Wilhelm-Akademie
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie a. Hygiene. 7
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Sitzungsberichte.
einen Vortrag über „den Militärdienst der geistig Minderwertigen". Aus-
gehend von dem Zweck des Heeres und der großen Bedeutung des Heeres-
ersatzgeschäftes, fordert er auch die Mitarbeit weiterer Kreise, besonders
die der städtischen Kollegien und der Pädagogen bei diesem wichtigen
Werke der Ausscheidung dienstuntauglicher Leute. Zu diesen gehören auch
jene Naturen, welche man zusammenfaßt unter dem Namen der „psycho-
pathischen Minderwertigen". Psychiatrisch betrachtet ergeben sich hier drei
Gruppen: die intellektuell Schwachen, die intellektuell einseitig Begabten
und die moralisch Defekten. Während unsere heutige Zeit mit ihrem sozialen
Sinn auch für den Schwachbegabten noch ein Plätzchen zu seiner Betätigung
gefunden hat, ist deren Verwendung im Heere bei jeglichem Mangel an
Individualisierung sehr erschwert. Nur einzelne moralisch Gutmütige werden
hier manchmal günstig beeinflußt, indem die straffe Disziplin ihr Selbst-
vertrauen weckt und stärkt und damit die Ergebnisse einer falschen Erziehung
zu paralysieren vermag. Oft stellt sich aber ein Zwiespalt zwischen Wollen
und Können bei diesen Elementen ein. Aus einer daraus folgenden dauernden
seelischen Depression resultieren dann häufig Heeresflucht oder Gehorsams-
verweigerung. Anders verhalten sich die Schwachsinnigen mit reizbarem,
leicht empfindlichem Charakter und einseitiger Willensschwäche. Sie leisten
aktiven und passiven Widerstand, vergehen sich tätlich an ihren Vorgesetzten
und treiben bewußte Opposition gegen deren Anordnungen und Befehle.
Sie verfallen darum oft der gerichtlichen Bestrafung, füllen die Gefängnisse
und bilden so nur eine Gefahr für den Staat und die Gesellschaft. Die dritte
Kategorie, die moralisch Defekten, sind oft schon vor ihrer Einstellung
kriminell geworden. Ihr Kampf mit den Gegensätzen der bestehenden Ordnung
findet auch in der Armee seine Fortsetzung und macht sie untauglich zum
Heeresdienst.
Der Schaden, der aus der Einstellung solcher Elemente in das Heer
erwächst, besteht zunächst in der unnützen Zeitverschwendung bei ihrer ver-
suchten Ausbildung, sodann in den vermehrten Krankenzugängen
und in der unnötigen Aufwendung pekuniärer Mittel für den
Rücktransport solcher Untauglicher. Bedeutender ist noch der
moralische Schaden, den sie anrichten, indem sie den gleichmäßigen Gang der
Ausbildung der übrigen Mannschaft hemmen. Sie sind aber besonders oft
die Ursache der Soldatcnmißhandlungen seitens mancher doch pädagogisch
ungeschulter Ausbildner. Es ist darum schon seit Jahren das Bestreben der
Heeresverwaltung, der Einstellung solcher untauglicher Elemente zu begegnen.
So sind die ärztlichen Verwaltungen stetig bemüht, den Sanitätsoffizieren
Gelegenheit zur gediegenen psychiatrischen Ausbildung zu geben, insbesondere
durch Abkommandierung derselben an psychiatrische Anstalten. Durch Er-
richtung von psychiatrischen Beobachtungsstationen an den größeren Gamison-
lazarcttcn soll des weiteren eine rasche Auffindung von psychiatrischen
Störungen ermöglicht werden. Besonders aber ist man in neuerer Zeit
bestrebt, die Einstellung geistig Schwacher überhaupt zu verhindern. Dieses
wird sich am besten ermöglichen lassen, wenn bei dem Ausmusterungsgeschaft
eine Vorgeschichte des zu Musternden vorhanden ist, welche den Sanitäts-
offizieren Fingerzeige gibt. Es wird darum Pflicht der Hilfsschulleitcr sein,
in genauester Weise der Ersatzbehörde zu berichten, um die Schwach
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SiUungtberichtc.
355
sinnigen rechtzeitig vor ihrer Einstellung in das Heer erkennen zu können.
Des weiteren verbreitet sich der Referent noch über die soziale Be-
deutung der Hilfsschulen überhaupt, als deren Vorzüge er folgende anführte:
1. Die Befreiung der Volksschulen von den Nichtvollsinnigen und damit
die Möglichkeit der besseren Ausbildung beider Gruppen.
2. Die Anbahnung einer Umgestaltung des bis jetzt bestehenden Ver-
gelrungsrechtes unserer heutigen Kriminalpolitik in Erziehungsmaßnahmen.
3. Die Verbreitung einer milderen Anschauung im Volke bezüglich der
Geistesschädigungen.
Die Früchte des gemeinschaftlichen Vorgehens von Hilfsschule und
Musterungsbehörde behufs Vermeidung der Einstellung von geistig Minder-
wertigen zeigen sich jetzt schon in der Minderung der Abgänge aus der Armee
auf Grund geistiger Schwäche, in dem Sinken der Selbstmordziffern in dem
Heere und in dem Verstummen der Klagen über Soldatenmißhandlungen,
auch zum Teil in der Verminderung der verhängten gerichtlichen Be-
strafungen. Als schönsten Erfolg vereinten Zusammengehens verkündet der
Redner zum Schluß seiner Ausführungen:
„Gewiß! Schutz den geistig Minderwertigen! Aber mehr noch: Schutz
der Armee vor den geistig Minderwertigen!"
Von einer Diskussion dieses mit reichem Beifall aufgenommenen Vortrags
wurde abgesehen.
Der Korreferent, Hauptlehrer K i e 1 h o r n - Braunschweig, legte der
Versammlung zwei Exemplare vor, die als Bericht über jeden schwachsinnigen
Schüler seitens der Schule ausgefüllt und in Listen der Ersatzbehördc zur
Erleichterung des Musterungsgeschäftes übergeben werden sollen.
Im zweiten Vortrage des Tages berichtete Filialleiter Fuchs über „Die
Organisation und die Erfolge der Fortbildungsschule für Schwachbeanlagte
in Berlin". Im Jahre 1906 wurde eine solche Anstalt zuerst in Berlin in das
Leben gerufen, deren Leiter der Vortragende ist. Die Unterrichtserfolge
dieser Anstalt sind sehr erfreuliche in dem ersten Jahre ihres Bestehens.
Die Notwendigkeit einer solchen Institution ergibt sich, wenn man bedenkt,
wie gerade die Schwachsinnigen den mannigfachsten sozialen Gefahren
ausgesetzt sind. Die Art und Weise des Unterrichts in der Fortbildungsschule
paßt sich der Hilfsschule durchaus an. Elementares Lesen, Schreiben,
Rechnen, aber auch Haushaltungsunterricht für die Mädchen und Gcsetzes-
Jcundc für Knaben sind die Unterrichtsfächer. Durch alle Unterweisungen
sollen die Schüler hineinwachsen in das praktische Leben. Als besonders
erwünscht sieht der Referent die Angliederung eines Arbeitsnachweises an
und betont für die Auswahl der Berufe für Schwachsinnige insbesondere
die Forderung, sie nicht hineinzuführen in selbständige Handwerksbetriebe.
Sie eignen sich vielmehr weit besser für Tcildienste, die nicht ein so scharfes
Nachdenken erfordern. Die Fürsorge für das persönliche Wohlergehen der
Zöglinge ist auch die Aufgabe der Fortbildungsschulen für Schwachbeanlagte.
Eä wäre wünschenswert, wenn recht viele Kommunen gleich der Reichshaupt-
stadt gleiche Fortbildungsanstalten auch für schwachbefähigte Jünglinge und
Jungfrauen einrichten würden. Für die letzteren insbesondere wurde in der
Diskussion der Wunsch geäußert nach besonderen gesetzlichen Bestimmungen,
7«
356
Silzungnherirhtf.
welche sie vor einer zweiten Verführung und damit oft vor ihrem gänzlichen
moralischen Niedergange bewahren sollen.
Als letzter Punkt stand zur Beratung: „Die Neuorganisation der Char-
lottenburger Gemeindeschulen mit Rücksicht auf die minderbegabten und
minder leistungsfähigen Schüler", über welchen Punkt Rektor Sandt-
Charlottenburg referierte. Er schilderte die Gruppierung der Charlotten
burger Volksschüler, welche nach dem Vorschlage des Stadtschulrates
Dr. N e u f e r t daselbst zur Einführung gelangt ist. Anlehnend an das
Mannheimer System, soll eine Gruppierung des Schülermaterials derart
erfolgen, daß eine Berücksichtigung der Schülerindividualität mehr als bis-
her erfolgt. Zur Vorbereitung solcher Kinder, welche vorerst noch vom
Schulbesuch zurückgestellt worden sind, werden Schulkindergärten ein-
gerichtet. Die Förderung schwacher Kinder, welche in den eigentlichen
Normalklassen nicht mit fortkommen, geschieht in den Grundklassen. Hier
wird ihnen vom Klassenlehrer in drei Stunden wöchentlich Nachhilfeunter-
richt erteilt. Auch in den eigentlichen Normalklassen erfahren die schwach
begabten Kinder eine ganz besondere Berücksichtigung. Für diejenigen
Kinder nun, deren mangelnde geistige Kräfte beim Fehlen von Defekten
eine Ueberweisung in die Hilfsschule nicht notwendig erscheinen lassen,
werden B-Klassen eingeschoben. Dieses System ist fünfklassig mit meist
1 1/2 jährigen Cötcn. In c!en geminde rten Klassenfrequenzen und der Er-
teilung von Nachhilfestunden liegt eine besondere Bürgschaft für die Fort
bildung minderbegabter Schüler, denen bei Hebung ihrer geistigen Kräfte
der Zutritt zu den Normalklassen wieder gestattet wird. Auch für die
besonders Begabten ist eine Einrichtung -- die A- Klassen — vorgesehen,
welche sie über die Ziele der allgemeinen Volksschule hinaus fördern soll.
Dieser organisatorische Ausbau der Volksschulen legt der Stadt Charlotten
bürg nicht unbedeutende Kosten auf.
Die sich daran anschließende Diskussion brachte mancherlei Punkte
für und gegen das Charlottenburger und Mannheimer System. Die Befür
worter dieser Systeme hoben besonders hervor, wie durch eine möglichst
weitgehende Differenzierung des Schülermaterials die Leistungen der ein
zelnen Klassen ganz erheblich erhöht werden könnten. Die Gegner wollen
die Notwendigkeit der Zersplitterung der Schülermassen nicht einsehen,
umsomehr, als für die Teilung nach Begabungsgruppen in den Versetzungs-
prüfungen kein ausreichendes Hilfsmittel zu sehen ist. Die möglichste Herab-
setzung der Klassenfrequenzen wurde als eine Maßnahme von weit größerer
Oekonomie gepriesen, welche für sich noch einen weiteren Vorzug bean-
spruchen kann, nämlich den der allgemeinen Durchführbarkeit sowohl in
städtischen als auch in den ländlichen Schulvcrhältnisscn.
I
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[
1
Berichte und Besprechungen.
L. Habrich. Pädagogische Psychologie. Die wichtigsten
Kapitel der Seelenlehre unter durchgängiger An-
wendung auf Unterricht und Erziehung vom Stand-
punkt christlicher Philosophie anschaulich dar-
gestellt für Lehrer und Erzieher. 2. AufL Kempten
1903. 659 Seiten.
Gemäß der Annahme der zwei Grundvermögen der Seele zerfällt
das Buch in zwei Abteilungen, deren erste behandelt : das Erkenntnis-
vermögen, deren zweite : das Strebevermögen. Das zweite Ver-
mögen findet aber schon in der ersten Abteilung Berücksichtigung.
In der Einführung spricht sich H. über seine Prinzipien aus :
„Das Ziel der Erziehung ist uns gegeben in der Sittenlehre des
Christentums. Aber auch der christliche Unterricht, die christliche Er-
ziehung müssen sich auf die Gesetze des Seelenlebens stützen, wenn sie
ihr Ziel auf dem besten und sichersten Wege erreichen will." In der Be-
handlung der Fragen hat H. darauf Bedacht genommen, sich in allen
Hauptpunkten in wesentlicher Uebereinstimmung mit der aristotelisch-scho-
lastischen Philosophie zu halten. Das will aber trotzdem den Verfasser
nicht gehindert haben, die haltbaren Ergebnisse der neuen Seelenlehre,
der Kinderforschung, der Experimentalpsychologie, der Psychophysik anzu-
erkennen und aufzunehmen. In der Lehre von der Wahrnehmung, der Vor-
stellung, der Verknüpfung der Vorstellungen, der Apperzeption will H. die
Ergrebnisse der neueren Seelenlehre, insbesondere auch die von Herbart,
benutzt haben. Schade nur, daß man davon sehr wenig bemerkt, wie über-
haupt H.s Polemik gegen die ,,ncue Seelcnlehre" durchaus engherzig und
einseitig erscheint.
I>ie Haupt- und Grundfrage des menschlichen Lebens ist für H. : Hat der
Mensch eine unsterbliche Seele? Es scheint ihm dies auch die wichtigste Frage
für denjenigen, der sich dem Studium der Seelenlehre zuwendet. Bezeich-
nend für die ganze Auffassung H.s von der Psychologie sind folgende
Aerußerungen : . . . was gelten mir alle Lehren von der Wahrnehmung,
der Vorstellung, dem Gedächtnis, oder die neueren Fragen von der Er-
müdung, von der physiologischen Zeit, oder die Fragen der Kinder-
psycJüologie . . . neben der Hauptfrage: Habe ich eine unsterbliche Seele?
Sie sind ein unbedeutender Kleinkram neben der großen Hauptsache."
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358 Berichte und Besprechungen.
H. ist der Menschengeist mit seinen Gott ebenbildlichen Kräften,
Vernunft und Willensfreiheit, der Hauptgegenstand der pädagogischen' Psycho-
logie. Unter den psychologischen Erscheinungen aus dem Gebiete des
Wollcns ist H. die christliche Tugend die wichtigste. Sie soll
auch psychologisch erforscht und verstehen gelernt werden. Auch die
Gnadenwirkung in der menschlichen Seele ist ein psychologischer Vor-
gang. Die Lehre von der Erbsünde ist H. nicht nur ein, unentbehrlicher
Ausgangspunkt der praktischen Emehungstätigkeit, sondern auch ein Licht,
zur rechten Erfassung des Verhältnisses zwischen sinnlichem und geistigem
Begehren in der pädagogischen Psychologie.
H. richtet an die Vertreter der übrigen christlichen Konfessionen
die Aufforderung zu gemeinsamer Pflege der christlich - pädagogischen
Wissenschaft und zu vereinter Abwehr der verderblichen Bestrebungen einer
ungläubiger. Pädagogik.
Wie sich mit all diesem sterilen Dogmatisicren der Satz reimt:
,, Wahre Wissenschaft kann nie ohne Streben nach Fortschritt gedacht
werden," ist mir ein Rätsel.
I. Einleitung in die Seelenlehre. Die Seelcnlehrc ist dk
Lehre von den Kräften, Zuständen und Tätigkeiten der menschlichen Seele,
und deshalb muß sich auf sie die Wissenschaft von der Erziehung gründen.
Die Psychologie baut sich auf auf theologischen Wahrheiten über die
menschliche Seele, von denen neun mitgeteilt werden. H. gibt dann
eine oberflächliche, durch Popularisierung direkt verfälschende Uebersicht
über Anatomie und Physiologie des Nervensystems in dem Kapitel:
II. Die S i n n e s w e r k z e u g e und ihre Tätigkeit.
Dankenswert sind die Bemerkungen über Erkrankung und Pflege
dieser Organe. Die Sinnesempfindungen sind das objektive, die
Empfindungen von Lust und Unlust das subjektive Element der
Sinneswahrnehmung. Es tritt hierbei der theologische Gesichtspunkt stark
in den Vordergrund. Bei der Erörterung der Vorzüge der höheren Sinne
gegenüber den niederen kommt H. zu dem höchst merkwürdigen Schluß:
Streng genommen kann man sich den Geruch oder Geschmack der
Speisen gar nicht vorstellen, sondern nur, daß man den Geruch oder
Geschmack bei einer oder mehreren bestimmten Gelegenheiten empfunden
hat. Die Klarheit der zurückgebliebenen Vorstellungen reicht höchstens
aus, um bei erneuter Wahrnehmung diesclhcn als mit der früheren überein-
stimmend wiederzuerkennen." — Eigentlich unstatthaft ist der mittel-
alterliche Terminus ..Gefühl" für den Tastsinn. Beigefügt sind die
,, Vorzüge der höheren Sinne" vom hl. Thomas. — Die Frage: „Wo
nimmt die Seele wahr", beantwortet H. dahin, daß beim Sehen z. B.
die Seele sowohl im Auge als im Gehirn tätig ist. Das Sehen findet
also schon im Auge statt und wird durch das Gehirn zu einem bewußt«
Die Seele ist im Körper gleichmäßig gegenwärtig, und sowohl die be-
wußten als auch unbewußten Sinnestätigkeiten sind ihr zuzuschreiben. ~~
Der Unterschied zwischen Empfindung und Wahrnehmung wird so gefaßt,
daß die Empfindung sich nur auf Erkenntnis der Zustands Veränderung'""
im empfindenden Subjekt beschränkt, also subjektiv ist, die
Wahr-
nehmung dagegen faßt die Dinge und Erscheinungen der Umgebung auf,
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BerichU und Besprechungen.
359
sie ist also objektiv. Die Wahrnehmung stellt also eine Erkenntnis
der Außenwelt dar. Die Leibesempfindung (Organempfindung) schreibt H.
einem besonderen Sinn, dem inneren Sinn", zu; dieser steht den fünf
Sinnen, die uns die Außenwelt gibt, selbständig gegenüber, indem er
sich auf die eigenen inneren Zustände der erkennenden Persönlichkeit
richtet. Wegen der hemmenden Wirkung des Ueberwiegens der Leibes-
empfindung soll der Lehrer zwischen den Stunden einige Turnbewegungen
machen lassen. Auffallend ist es, daß H. den Terminus ,, Reizschwelle"
erst Fechner und , .Empfindungsschwelle" erst Wundt zuschreibt. Die
Klarheit und Deutlichkeit einer Vorstellung hängt ab von der ange-
messenen Stärke und Wiederholung des Reizes, von der Aufmerksamkeit
und von den Vorkenntnissen. Wenn der Unterricht deutliche Wahrneh-
mungen erzielen will, muß der Lehrer immer das Neue an da» bereits
Bekannte anknüpfen. Bei Darbietung des Neuen soll der Lehrer stets
die Schüler an das erinnern, was sie vom Gegenstande bereits wissen. —
III. Vorstellungen, ihre Verknüpfung. Einprägung,
Wiedererzeugung, Umgestaltung. Die Vorstellung ent-
spricht der Wahrnehmung; sie stimmt mit ihr überein, — sie ist ja der
von der Wahrnehmung fortdauernde Eindruck — , nur daß den Vor-
stellungen die sinnliche Lebhaftigkeit der Wahrnehmungen fehlt. Die
Vorstellungen sind an Ilirntätigkeiten gebunden, dagegen nicht der allge-
meine Begriff (?). Die Begriffe, z. B., daß Tugend und Heiligkeit hohe
Güter seien, sind geistige Vorgänge und sind nicht an bestimmte Spuren
im Gehirn geknüpft (!). Alle Einzelwahrnehmungen vereinigen sich zu
einer Gesamtwahrnehmung, die vom innern Sinn als einem Dirige zu-
kommend, als eine Einheit aufgefaßt wird. Diesen Gesamtwahrnehmungen
entsprechen Gesamtvorstcllungen. Sind hierin einzelne Be-
standteile oder Merkmale klar unterschieden, so haben wir eine An-
schauung. Die Erhöhung der Gesamtvorstellung zur Anschauung er-
fordert ein aufmerksames Wahrnehmen. In dem Maße, wie Anschauungen
klarer sind, sind sie für die höheren Erkenntnistätigkeiten, die auf ihr
beruhen, wertvoller. Deshalb strebt der Unterrieht danach, klare An-
schauungen zu vermitteln. Ein besonderes Kapitel bespricht die An-
schaulichkeit des Unterrichts. Anschaulichkeit kann aber nur Grundlage,
nicht Vollendung des Unterrichts sein. Von der sinnlichen Anschaulichkeit
unterscheidet H. eine geistige Anschaulichkeit, die sich auch auf abstrakte
Begriffe erstrecken kann (?). Ein besonderes Mittel zur Erzielung der
Klarheit ist die Beschreibung, die Vergleichung, das Erzählen von Bei-
spielen und Gleichnissen. Der Unterricht trägt Sorge, die Haftbarkeit und
leichte Wiedererzeugung der Vorstellungen zu sichern durch geeignete Ver-
knüpfungen. Die willkürliche Wiedererzeugung der Vorstellungen ist die
Grundlage des Unterrichtes. Der Lehrer muß die Einflüsse, welche die
Reproduktion hemmen, fern zu halten suchen und auf die Umstände Be-
dacht nehmen, welche sie erleichtern. Es sollte deshalb der Lehrer
schärfere Bestrafungen erst am Schlüsse des Unterrichts ausführen.
Den Begriff der Apperzeption entnimmt H. der Herbartschen
Psychologie und definiert ihn als die Art der Erfassung des Neuen mit
Wilfe vorhandener, verwandter Vorstellungen. Die Perzeption ist eine
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Berichte und Besprechungen.
bloße Auffassung durch die Sinne ohne Eingliederung in die bereits vor-
handene Vorstellungswelt. Der Unterricht muß für Apperieption Sorge
tragen durch Anknüpfung an das Bekannte, durch Fragen und durch die
Aufforderung auszusprechen, was schon gewußt wird, und vor allem durch
eine „Konzentration des Unterrichts", d. h. eine solche Auswahl, Be-
schränkung und einheitliche Verbindung der Stoffe der verschiedenen
Unterrichtsfächer, daß diese sich untereinander ergänzen und überall auf
den Gesamtzweck bezogen werden können. Diese gibt sich vor allem
kund in einer richtigen Auswahl der Lesestücke. Die andern wichtigen
Faktoren zur Verknüpfung der Vorstellungen sind Wiederholung und
U e b u n g. Die Befähigung der Wiedergabe des Gelernten darf von der
Schule auf dem Gebiete des Wissens als dasjenige Können angesehen
werden, das sich als die zweite Stufe des Unterrichts der ersten, der Ver-
mittlung des Verständnisses, anzuschließen hat.
Beim Gedächtnis unterscheidet H. ein niederes, sinnliches, ein
Anschauungsgedächtnis und ein höheres, begriffliches oder intellektuelles
Gedächtnis, welches die Erzeugnisse des höheren Erkennens festhält
H. bespricht dann die Mittel zur Erzielung eines guten Gedächtnisses. Zu
beklagen ist, daß H. all die neueren exakten Forschungen über das Ge-
dächtnis, wie z. B. die von Ebbinghaus, nicht heranzieht oder verwertet. So
vertritt er den Grundsatz, daß man satz-, absatz- oder strophenweise aus-
wendig lernt und nicht ein ganzes Stück auf einmal, während doch das
Umgekehrte durch Ebbinghaus mit unanfechtbarer Evidenz dargetan
worden ist. Es ist auch nicht richtig, daß bei jedem Individuum das laute
Auswendiglernen das förderlichere wäre. Einen Unterschied zwischen ver-
schiedenen Typen scheint H. nicht zu machen. Vom Gedächtnis trennt
H. die Einbildungskraft, indem er das Gedächtnis als das Vermögen der
unveränderten, die Einbildungskraft als das Vermögen der veränderten
Wiedererzeugung von Vorstellungen definiert; eine scharfe Grenze zwischen
beiden sei aber nicht zu ziehen. Die Einbildungskraft scheidet sich in
eine wegnehmende, abstrahierende, eine zufügende, determinierende und
eine zusammensetzende, kombinierende. Letztere spielt die Hauptrolle in
Spiel und Kunst. Die Erzeugnisse der Kunst sind eben nicht Erzeugnisse
der Einbildungskraft allem, sondern der von der Vernunft geleiteten. Die
Tätigkeit der Einbildungskraft steht in einem gewissen Gegensatze zu der
des Verstandes. Der Verstand generalisiert, die Einbildungskraft speziali-
siert (?). Die Einbildungskraft hat im Unterricht eine große Bedeutung
insofern, als das, was der Lehrer zur Veranschaulichung des Unterrichtes
liefert, nur unter Mitarbeit der kindlichen Einbildungskraft zustande
kommt. Die erziehliche Behandlung der Einbildungskraft hat die rechte
Entwicklung dieser so wichtigen Kraft zu leiten und sie mit einem reichen,
edlen und reinen Inhalt zu erfüllen, hierbei aber auf die Individualität
Rücksicht zu nehmen. Die Erziehung muß auch darauf bedacht sein,
vor einer überwuchernden Entwicklung der Einbildungskraft den Schüler
zu bewahren-
IV. Das höhere Erkenntnisvermögen. DeT Ver-
stand ist das Vermögen der Begriffsbildung, des Urteilens und des
Schließens. Das Urteilen ist diejenige Erkenntnistätigkeit, durch welche
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Berichte und Besprechungen.
361
einem Gegenstande eine Erscheinung zu- oder abgesprochen wird. Nur
durch Urteilen ist die Erwerbung eines klaren Begriffes möglich. Ein
Schluß ist ein abgeleitetes Urteil. H. schließt sich ganz an den
hL Thomas an, indem er behauptet, daß der eigentliche Gegenstand des
menschlichen Verstandes die Wesenheit (quidditas) oder Natur des in
stofflicher Materie Existierenden sei. Wesen und Ursächlichkeit sind
Gegenstände der Verstandeserkenntnis. Durch den Verstand erkennt der
Mensch sich selbst als erkennend, strebend, wollend. Auf diesem Selbst-
bewußtsein beruht unsere Fähigkeit zum sittlichen Handeln und unsere
sittliche Verantwortlichkeit. Aller Unterricht, soweit er nicht in mecha-
nischer Einprägung besteht, bildet die Denkkraft. Der Lehrer hat Sorge
zu tragen, daß die durchbildende Kraft, die in den verschiedenen Gegen-
ständen liegt, zur Geltung kommt und ausgenutzt werde. Ein wichtiges
Hilfsmittel hierzu ist die entwickelnde Methode. Sie veranlaßt
den Schüler selbst zu überlegen und zu urteilen und findet besondere An-
wendung im Rechnen, in der Raumlehre, in der Naturlehre und in der
Erdkunde. Die genauen Unterscheidungen, welche Begriffe des Re-
ligionsunterrichtes (z. B. Sakrament und Sakramentale, heiligmachende
Gnade, Gnade des Beistands) erfordern, sind nach H. vorzügliche Denk-
mitteL In einem Abschnitt ,, Irrige Ansichten" tut H. den Sensualismus.
Kant, Herbart ab. Die wenigen Zeilen, die H. Kant widmet, ent-
halten ganz erhebliche Mißverständnisse seiner Lehre. So soll
Kant nach H. den Begriff als eine ..Zutat" (!) des Geistes zu der
sinnlichen Wahrnehmung erklärt haben. Die Entstehung der Begriffe faßt
H. im Sinne der aristotelischen Scholastik, und nicht, wie er zu glauben
scheint, hn Sinne des Aristoteles auf. — Das Ziel des Unterrichts ist
die begriffliche Klarheit, und zu diesem liehufe muß der Lehrer die
Schüler den Weg führen, auf dem die Begriffsbildung zustande kommt;
die Herbartschen „Formalstufen" sind nicht völlig richtig. Die ver-
ständige und begriffliche Auffassung vollzieht sich in folgenden vier Stufen:
a) Blick auf das Ganze;
b) genaue Betrachtung der einzelnen Teile;
c) nochmaliger Blick auf das Ganze, wobei auch die Teilvorstellungen
mit Klarheit erfaßt sind;
d) Handhabung des Gegenstandes und Versuche mit demselben.
Die Vernunft ist das Vermögen der Erkenntnis des U ebersinnlichen,
das Vermögen der Ideen. Diese sind gewissermaßen Musterbilder, Muster-
begriffe. Sie stellen ihren Gegenstand nicht so vor, wie er m Wirkhch-
fceit ist, sondern wie er in seiner Vollkommenheit zur Verwirklichung
seines Zweckes sein sollte oder konnte. Das Ideal ist eine Gestalt oder
Erscheinung, welche eine Idee in ihrer Vollkommenheit darstellt. Die
Geistigkeit der höheren Erkenntnis ist ein Beweis für die Geistigkeit der
Seele. Die Bildung der Vernunft fällt mit der sittlich-
religiösen Bildung zusammen.
Am Schlüsse der ersten Abteilung gibt H. eine Polemik gegen die
neuere Psychologie, die etwas an die Berkeleysche Argumentationsweise
erinnert: die neuere Psychologie wird nicht widerlegt, sondern abgelehnt
wegen ihrer vermeintlichen Konsequenzen für Sittlichkeit und Religion.
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Berichte und Besprechungen.
Die zweite Abteilung : Das Strebevermögen wird auch wieder
eingeleitet durch eine , Einführung" (an Freunde und Gegner).
Die Tätigkeiten des Fuhlens und Wollens beziehen sich mehr auf
die Erziehung als auf den Unterricht. Es ist wichtig, das Wesen der
Tugend von ihrer psychologischen Seite richtig zu fassen, und hier
kann nur eine richtige Psychologie, welche mit dem Ziele der
christlichen Tugend, die wir beim Zögling anzustreben haben, nicht im
Widerspruche steht, uns die rechten Wege zuverlässig zeigen. Ebenso
wichtig ist die Psychologie zur Selbstcrziehung. Es erfolgt eine
erneute, oben charakterisierte Polemik gegen die moderne Psychologie.
H. will in diesem zweiten Teile der physiologischen Psychologie eine
größere Beachtung schenken und auch die Entwicklung des seelischen
Lebens mehr in den Vordergrund stellen.
I. Das Strebevermögen im allgemeinen: Be-
griff, Arten und Bedeutung desselben. Die Tätig-
keiten des Strebevermögens haben eine der Erkenntnistätigkeit
entgegengesetzter Richtung: sie gehen vom Innern der Seele aus.
Das menschliche Streben wird angeregt durch die innere Welt
der Erkenntnis, welche die Seele sich von der Außenwelt gebildet hat
und erstreckt sich auf die Außenwelt selber. Auch in der vernunftlosen
Natur finder wir ein gewisses Streben (Pflanze nach Licht), ein Natur-
streben, appetitus naturalis. Dieses finden wir auch beim Menschen: das
Auge strebt nach Licht usw. (?). Nach seiner Richtung ist das Streben
ein zweifaches : es geht entweder nach den Dingen hin oder flieht dieselben.
Begehren und Furcht, Freude und Trauer stehen sich gerade
gegenüber als die Ilauptarten des Strebens. Als ein Gut erscheint das,
was zum erstrebten Zwecke förderlich oder nützlich, als ein Uebel das-
jenige, was demselben hinderlich oder schädlich ist. Innere Gutheit
klommt den Dingen zu, die nicht um des Genusses willen, auch nicht
als Mittel, sondern ihres inneren Wertes an sich wegen erstrebt werden. —
Geistiges Begehren und Wollen oder Wille ist das-
selbe. Ohne Vernunft ist keine freie Willenshandlung möglich. Vernunft
und Willensfreiheit bedingen sich gegenseitig. Der Wille ist eine ver-
nünftige Scclcnkraft. Der Wille bewegt alle anderen Kräfte der Seele zu
ihrer Tätigkeit und erstrebt das Gute überhaupt; durch ihn nimmt
der Mensch in gewissem Sinne teil an der Schöpfcrmacht Gottes. Auf-
gabe der Erziehung ist es, in der rechten Weise auf die Entwicklung der
menschlicher. Strebekraft einzuwirken. Man tmterscheidet sinnliches
Streben und geistiges Streben. Das letztere hat stets einen
allgemeinen Charakter. Sinnliches und geistiges Streben sind auch in ihrem
Sitz verschieden. Der Sitz der sinnlichen Begehrungcn ist der leibliche
Organismus, besonders das Herz ( ! ! ). In der Mitte zwischen Erkennen und
Streben liegen die Gefühle der Gemütsbewegungen, d. h. das Gemüt.
Auch hierin sind erfassende und abwehrende Strebungen enthalten; sie
sind seelische Zustände oder Tätigkeiten, welche dem höheren und nie-
deren Strebevermögen zugleich angehören. Die Gefühle unterscheidet man
in Lustgefühle, Unlustgefühlc und gemischte Gefühle. Die Gemüts-
bewegungen sind nicht an sich zu verwerfen, sondern nur die verkehrte
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Berichte und Besprechungen.
363
Wirkung derselben ist fernzuhalten. Die Auflösung der Religion in Ge-
fühl, wie sie sich in den Faustworten findet, ist ,,eine gefährliche An-
sicht". — Der Erzieher muß den Willen seines Zöglings zu festem Ent-
schlüsse zu führen suchen. Es existiert kein besonderes Gcfühlsvcrmögcn.
Die Annahme des letzteren ist als eine bedenkliche und schädliche Neue-
rung zu verwerfen und außerdem auch überflüssig.
II. Die Arten der Gefühle nach dem Ver-
laufe der begleitenden Vorstellungen. Die Ge-
fühle der Tätigkeit sind lustvoll. H. bespricht dann die Folge-
rungen für den Unterricht und zählt des weiteren die verschie-
denen Gefühle, Erwartung, Langeweile usw., auf. Die Aufmerksam-
keit ist eine Hinwendung des Geistes auf den Gegenstand unseres Erkennens
und Tuns. Sie ist eine willkürliche und eine unwillkürliche. Erstere be-
ruht auf der Apperzeption. In einem Zusatz über Ermüdung wird auf
die Arbeit von Kemsies (konstant Kremsies zitiert) rekurriert, H. glaubt aber,
daß all diese Methoden nicht ausreichen. Ein Hauptmittel, die Aufmerk-
samkeit anzuregen, ist der Wechsel im Lehrton.
III. Die Gemütszustände nach ihren Gegenständen.
II. unterscheidet Gefühle des Wahren, Schönen, Guten und Göttlichen. Nichts
wesentlich Neus bieten die Abschnitte über die Lüge. Zahlreiche Werke der
Künste sind sittlich höchst gefährlich. Die weiteren Kapitel über Gefühle
sind sehr weitschweifig und bieten gar nichts Neues. In einem Zusatz: ,,Die
körperliche Seite des Gedächtnisses und der Gewöhnung 44 setzt sich II.
mit einigen neueren physiologischen Arbeiten auseinander. Die weiteren
Kapitel kann ich übergehen, da sie nur Ausführungen schon berichteter
Grundgedanken sind.
Im Nachtrag behandelt H. die Entwicklung des geistigen Lebens
beim Kinde an der Hand der Werke von Prcyer, Compayre\ Stimpfl u.a.
H. meint, daß die alte Vermögenslehre auch in modernen Forschern —
vielleicht ohne daß sie es wissen oder meinen — Stützen erhält. H. kommt
(TU dem Schlüsse, daß die Kinderpsychologie, so anziehend sie auch ist,
dem Lehrer weniger nötig und nützlich ist als die allgemeine Psychologie.
Weitere Abschnitte sind der pädagogischen Pathologie gewidmet. Die
„Nachträge zur ersten Abteilung" stellen eine Art erkenntnistheroretischer
Ergänzung dar und behandeln die Wahrnehmung nach der scholastischen
Erkenntnislehre, die Bewegungen und Geberden.
Zum Schlüsse bemerken wir zusammenfassend: An sich wird es dem
Verfasser nicht verwehrt oder verargt werden können, wenn' er in seinem
Buche den Versuch macht, die psychologischen Tatsachen im Einklang mit
älteren und kirchlichen Lehren zu erklären und darzustellen, für sehr be-
klagenswert müßten wir es aber erachten, wenn weitere Lehrerkreise da-
durch abgehalten würden, sich mit der exakten, naturwissenschaftlichen
(und darum nicht etwa notwendig irreligiösen I) Forschung der modernen
Psychologie vertraut zu machen, wovon allein ein reicher Ertrag und Fort-
schritt für die Pädagogik — die praktische nicht minder als die theo-
retische — erwartet werden kann.
Berlin. W. Poppelreuter.
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3h4
Berichte und Besprechungen.
E. Zühlsdorff: Die Psychologie als Fundamentalwissen-
schaft der Pädagogik, in ihren Grundzügen dar-
gestellt. Hannover 1905. 252 Seiten. Geb. 3,60 M k.
Die Zwecke und der Aufbau des Buches sind ausgesprochen in dem
Begleitwort des Seminardirektors Bauckmann. Das Buch hat sich die
Aufgabe gestellt, die psychologischen Erscheinungen und Gesetze der prak-
tischen Pädagogik unmittelbar dienstbar zu machen und einen innigen Zu-
sammenhang zwischen Theorie und Praxis herzustellen. Das gesamte Ge-
biet der Psychologie ist in elf Kapiteln streng systematisch aufgebaut. Die
gewonnenen Ergebnisse sind in kurzen, klaren Sätzen' jedem Kapitel un-
mittelbar angeschlossen. Diese Ergebnisse bilden dann die abschließende
„pädagogische Nutzanwendung". Es ist immer auf die neuesten Ergeb-
nisse und Bestrebungen besondere Rücksicht genommen. Jedem Kapitel
ist die wichtigste einschlägige Literatur beigefügt. Das Programm der
Arbeit ist: das werdende Menschenkind zu betrachten
als ein auf Eindrücke reagierendes Individuum und
hierauf gründend zu zeigen, wie die Erziehung jene
Reaktionen zu bestimmen und vollkommen zu machen
habe.
I. Teil: Das Vorstellungsleben. In den ersten Kapiteln,
die sich mit der Anatomie und Physiologie des Nervensystems und der
Sinnesorgane befassen, hat Z. es trefflich verstanden, eine übersichtliche
populäre, aber dennoch exakte Darstellung zu geben. Das gleiche gilt
auch besonders von den Kapiteln über die Ermüdung. Leider ist das
Kapitel über Ausbildung und Pflege der Sinnesorgane etwas dürftig aus-
gefallen. Z. leitet dann die bekannten Regeln über die zeitliche Anord-
nung von Arbeit und Erholung aus den Versuchen über Ermüdung ab.
Die Kapitel über die Anschauung mit ihrer pädagogischen Nutz-
anwendung werden wohl mit zu dem Besten gehören, was bis jetzt dar-
über geschrieben worden ist. Z. legt mit Recht besonderen Wert auf
den heimatkundlichen Anschauungsunterricht. Für jeden Schulmann zu be-
herzigen ist die Forderung: ,,Da die Anschauung ein Produkt der Seele"
selber ist und das Kind die Natur am liebsten so betrachtet, wie sie
sich ihm bietet, so sollte jegliches Systematisieren ver-
mieden und die poetische Einheit der kindlichen Auffassung nicht zer-
stört werden." Psychologisch unrichtig, wenn auch für die pädagogische
Behandlung gewisse Vorteile bietend, baut Z. die Vorstellung auf der
Anschauung auf. Die Gliederung der Unterrichtsstoffe muß sich aufbauen
auf dem methodischen Drcischritt : Auffassung des Ganzen — Vertiefung in
die Einzelheiten — Wiederbesinnung auf das Ganze. Aus der Enge des
Bewußtseins ergibt sich die Forderung der weisen Beschränkung des
Stoffes: „Weniger Wissen — mehr Bildung!" In den der Reproduktion
und Assoziation folgenden Ausführungen über die Lernmethoden gibt Z.
der „kombinierten Methode" den Vorzug. Gebührende Berücksichtigung
finden hier die Ebbinghaus-Ziehenschen Arbeiten. Pädagogisch sehr brauch-
bar scheinen mir die Kapitel: „Di« Sprache 4n ihrem Verhältnis zur Re-
produktion, Assoziation und Gi-uächtnis". Im Abschnitt über die Recht-
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Berichte und Besprechungen.
365
Schreibung stützt sich Z. hauptsächlich auf die Laysche Arbeit. Aus den
Befunden über das Gedächtnis leitet dann Z. seine Forderungen für die
„Konzentration" und die ,,unterrichtliche Pflege des Gedächtnisses" ab.
In dem Kapitel „Phantasie" wird der Nachdruck darauf gelegt,
daß die Phantasie nicht schöpferisch, sondern nur „bildnerisch"
ist. Angenehm berührt die wenig dogmatische und allem Tatsächlichen
Rechnung tragende Behandlung der „Phantasie". Aus der pädagogischen
Nutzanwendung seien zwei Sätze hervorgehoben: „Das Spielzeug sei der
Form nach möglichst unbestimmt und vielseitig". „Der Lehrer störe mög-
lichst wenig den unwillkürlichen Zug der Vorstellungen und der Bewegungs-
tätigkeit." „Der erste Grundsatz sei und bleibe: Freiheit im Spiel 1"
Die psychologische Grundlegung der Zeit-, Raum- und Zahlvorstellung
enthält die m. E. irrtümliche Ansicht, daß das Zeitliche und Räumliche
nicht in der Empfindung selbst gesucht werden könne, sondern daß es
seinen Ursprung habe in den Beziehungen, in welche die Vorstellungen
notwendig untereinander geraten, daß also die Dauer in der Zeit und
alle räumlichen Eigenheiten vom Verstände herrühren. Z. meint Kant
durch die Tatsache widerlegen zu können, daß ein Kind in frühen Lebens-
jahren nach allen seinem Auge sich darbietenden Gegenständen greife,
ganz gleich, ob sie nah oder fern sind. Die Entstehung des Raumes
aus dem ursprünglich flächenhaft Gesehenen entsteht durch Eindrücke des
Tast- und Muskclsinnes. Im Abschnitt über die Zahlvorstellungen stützt
sich Z. auf die oben besprochene Arbeit Walsemanns und Lays.
Z. schließt sich — im Gegensatz zu Walsemann — der Lay sehen An-
sicht an: je vielseitiger die Zahlvcrsinnlichung, um so
klarer die Z a h 1 vo r s t e 1 1 u n gl
Zur Ausbildung der Raumvorstellungen erachtet Z. u. a. mit Recht
planmäßige Augenmaßübungen für vorteilhaft.
Das Bewußtwerden der Gleichheit, Aehnlichkcit oder Verschiedenheit
- zwischen dem Alten und dem Neuen, überhaupt die Deutung, Einreihung
und Aneignung des Neuen mit Hilfe des Alten wird im Gegensatz zu
Wundt „Apperzeption" genannt. Wenn dies nun auch keine Definition,
oder Erklärung der Apperzeption, sondern nur eine Beschreibung der
Apperzeptionswirkung ist, so ist doch für die Pädagogik diese Beschrän-
kung m. E. von manchem Vorteile. In der pädagogischen Nutzanwendung
aus der Apperzeption spricht sich Z. für den W i g g e sehen Lehrplan aus,
der herausgewachsen ist aus dem Grundgedanken, den Sachgebieten der
Heimat, als den Hauptlebensgebieten des Kindes, im Unterricht eine
zentrale Stellung zu geben.
Das gleiche, was ich oben über die Z.sche Fassung der Apper-
zeption sagte, gilt auch von der Aufmerksamkeit. Sie ist die
sich als geistige Arbeit charakterisierende und durch
ein eigentümliches S p a n n u n g s g e f ü h I uns zum Bewußt-
sein kommende Konzentration der Gedanken auf ein
bestimmtes Bewußtseinsobjekt. Es folgt eine Besprechung
der Versuche über Schwankungen der Aufmerksamkeit von Lay, Schuy-
t e n und L o b s i e n.
Das Kapitel über das Denken zeichnet sich, da es die in Rede
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3öö
Berichte und Besprechungen.
stehenden Erscheinungen mehr beschreibt als erklärt, durch seine
außerordentliche Klarheit und Faßlichkeit aus. In den Vordergrund tritt
— sehr wichtig für die pädagogische Behandlung — der Gesichtspunkt
der Oekonomie.
II. Teil: Das Gefühlsleben. Die Ausführungen werden be-
herrscht von dem Grundsatz der ausschließlichen Subjektivität des Gefühls-
lebens, sowie ihres teleologischen Zusammenhangs im psychischen Leben.
Bei der Behandlung der ethischen Gefühle, die aus dem Selbstgefühle ab-
geleitet werden, werden das Gefühl für die Gemeinschaft der Menschen und
die daraus sich ergebenden Pflichten in den Vordergrund gestellt. Ganz
richtig wird darauf hingewiesen, daß die ethischen Gefühle allein die
Sittlichkeit noch nicht ausmachen, sondern daß die Reflexion noch stützend
und regulierend hinzukommen muß. Als eine besondere Klasse von Ge-
fühlen rechnet Z. dann noch — wohl fast unabsichtlich von der alten
Psychologie herübergenommen — die religiösen Gefühle. Gediegen, modern,
aber doch allem Utopischen fernliegend, sind die praktischen Winke zur
Pflege der ästhetischen Gefühle.
Das Willensleben wird aus dem Triebleben abgeleitet. Der
Wille ist Z. eine zusammengesetzte Erscheinung, nicht das Primäre,
sondern das Sekundäre, wie im Gegensatz zu Lay betont wird. Die Er-
scheinungsformen des Willens sind: Wunsch, Begierde und Entschluß.
Diese von Bergemann übernommene Behauptung dürfte wohl etwas zu
weit gehen.
Eine „Wahlfreiheit" stellt Z. zwar in Abrede, behauptet aber doch
die „Willensfreiheit", d. h. die Fähigkeit, nach eigenem Ermessen die
Entscheidungen zu treffen. Es schließen sich an die Besprechung neuerer
Arbeiter über „die vitale Kapazität" und über die Beeinflussung
der Arbeit durch die Gcnußmittel. — Charakter (sittüchen) nennt man
die konsequente Ucbereinstimmung des gesamten Wollens und Handelns
mit bestimmten Absichten, Grundsätzen. Die Schlußabschnitte sind der
eigentlichen „Erziehung" gewidmet.
Wie ja überhaupt das Referat gerade bei einem Lehrbuche etwas
Mißliches ist, so kann dies besonders hier gelten.. Ich möchte dem
Buche wegen seiner Uebersichtlichkeit, Kürze (252 Seiten) und trotzdem
Reichhaltigkeit, und vor allem wegen der wirklich modernen Psychologie,
die hier nicht bloß, wie bei so vielen Lehrbüchern, nur so als Schmuck
nebenhergeht, die weiteste Verbreitung wünschen. Vor allem wird es dazu
dienen, der exakten modernen Psychologie — was leider heute nur zu
wenig der Fall ist — auch in den Kreisen der Lehrer Mitarbeiter zu
gewinnen. Den Hauptwert des Buches erblicke ich darin, daß die Psycho-
logie hier so geboten wird, daß auch für die jungen, psychologisch nicht
vorgebildeten Seminaristen alles verständnisgebend angeordnet und dar-
gestellt ist.
Berlin. W. Poppclreuter.
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Berichte und Besprechungen.
367
Gustav Voigt, Lehrbuch der pädagogischen Psycho-
logie. Vierte verb. und verm. Auflage 1905.
Es ist dies die 13. Auflage des IL Teiles des Lehrbuches der Päda-
gogik von Gottlob Schumann und Voigt. Dieser II. Teil, die
Psychologie, hat Voigt allein zum Verfasser.
Die christliche Auffassung von der Bestimmung des Menschen muß als
das Ziel der Erziehung bestimmt werden. Der Gedanke der Entwicklung
fordert, daß das Verfahren der Erziehung nach der Auffassung vom
Wesen des Menschen zu regeln ist. Deshalb muß die Einführung in die
Erziehungskhre mit der Psychologie beginnen. Kurz antezipierend leitet
dann Voigt den Aufbau des geistigen Lebens ab aus den verschiedenen
Seelcnzuständen der Kassandra in Schillers Gedicht. Das Buch hält sich
an die Dreiteilung: Vorstellen, Fühlen, Wollen. Jedem Abschnitt sind,
an diesen sich inhaltlich anlehnend, eine Reihe von Aufgaben angeschlossen.
Dem II. Abschnitt über das Vorstellen ist eine leider sehr kurze Aus-
führung über die physiologischen Grundlagen der Empfindung und der
Willenstätigkcit vorangestellt. Für unrichtig halten kann man wohl die
Gegenüberstellung von Empfindimg und Bewegung. Weiter macht Voigt
eine Gegenüberstellung von Empfindung und Wahrnehmung. Wenn
mehrere einfache und unvergleichbare Empfindungen, die gleichzeitig
gegeben sind, eine überwiegende Stärke gewinnen und sich vom übrigen
Empfindungsinhalt abheben, so führt dies zur Wahrnehmung. Die Gesichts-
empfindung bildet ihren Mittelpunkt und der so vereinigte Empfindungs-
inhalt wird nun nach außen versetzt und dort räumlich bestimmt ( ? ).
Wir können daher den Raum nur als die unserer Natur entsprechende
Anschauungsform betrachten. Indem wir uns der Folge der Empfindungen
bewußt werden, entsteht die Anschauungsform der Zeit ( ? Die Vor-
stellung ist der vom Vorgang der Wahrnehmung losgelöste Wahrnehmungs-
inhalt (?). Die Vorstellung, die der deutlichen und klaren Wahrnehmung
so nahe als möglich kommt, beißt Anschauung, in dieser ist die
Erfahrung geschaffen. Das begriffliche Denken bezieht sich
ausschließlich auf den Inhalt der Anschauungen ohne Rücksicht auf
ihre Entstehung und auf die ursprüngliche Aufeinanderfolge der in ihnen
wirksamen Reize. Das begriffliche Vorstellen oder Denken wird da-
durch veranlaßt, daß in gewissen Anschauungen bestimmte Merkmale
regelmäßig wiederkehren. Die Bildung der logischen Begriffe erörtert V.
an dem Beispiel der Begriffe der imaginären Wurzelgrößc. Er geht aber
hier aus von der ,,Ansc hauung von Wurzelgrößen", und da diese
eben keine Anschauung, sondern wieder auch ein Begriff sind, so stellt
sich das Ganze als ein petitio prineipii dar. Hieraus werden die Ver-
hältnisse des Inhalts und Umfangs eines Begriffes abgeleitet. Begriffs-
bildung und Sprachentwicklung stehen in Wechselwirkung. Eine Vor-
stellung, welche die Erfahrung überschreitet, ist eine Idee; die Vernunft
ist die Zusammenfassimg der Ideen. Mit den nun folgenden Ausführungen,
welche eine extrem idealistische Grundanschauung dokumentieren, tritt aber
V. zu seineu eigenen Ausführungen über die Empfindung und Wahr-
nehmung in vollsten Widerspruch. Im § 18 der „Anwendung" der vor-
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36S
Berichte und Besprechungen.
hergehenden Ausführungen bespricht V. die für die Pädagogik sich er-
gebenden Forderungen. Was die Aufgabe: „Es soll die Tonlosigkeit der
Gesichtsempfindung erklärt werden", eigentlich soll, ist mir nicht recht
klar geworden. Es überwiegen, gemäß dem Standpunkt des Verfassers,
die Beispiele und Aufgaben aus der Religion. Das Kapitel II, das die
Vereinigung der Vorstellungen behandelt, ist eine weitere Ausführung der
schon entwickelten Prinzipien unter Hineinziehung Herbartscher Ge-
danken. Die Kapitel über die elementare Logik sind auf psychologischer
Grundlage aufgebaut. Das Gesetz der Reproduktion faßt V. so: „Ent-
gegengesetzte Vorstellungen, sowie Vorstellungen, die gleichzeitig im
Bewußtsein waren, reproduzieren einander". Gegensatz oder Gleichzeitig-
keit hinsichtlich der reproduzierenden und der reproduzierten Vorstellung
sind die Bedingungen für das Eintreten der mittelbaren Reproduktion.
Je nachdem die eine oder die andere vorhegt, ist die Verknüpfung eine
innere oder äußere. Bei der Lehre vom Gedächtnis vertritt Voigt den
Standpunkt, daß die unveränderte Reproduktion schon als ursprünglich
die Beteüigung des Willens voraussetzte. Es dürfte V. schwer fallen,
diesen Satz aufrecht zu erhalten. Ich weise nur hin auf die Reproduktion
in Dämmerzuständen, die meistens an Genauigkeit jede willkürliche Re-
produktion übertrifft. Das für die Pädagogik wichtigste Gebiet, die Lehre
vom Gedächtnis, ist sehr kurz, auf zweieinhalb Seiten, und ohne die Be-
rücksichtigung der wichtigen experimentellen Arbeiten über das Gedächtnis
abgehandelt Vom Gedächtnis trennt V. die Einbildungskraft, der er
eine bedeutsame Rolle auch bei der Begriffsbildung zuweist. Die Ein-
bildungskraft gestaltet die bereits vorhandenen Erscheinungen zu neuen
Gebilden. — Die Apperzeption ist der Vorgang, durch den ge-
gebene Vorstellungsinhalte durch bereits vorhandene gestaltet werden. Die
Apperzeption ist nicht veranlaßt durch eine äußere Wahrnehmung, sondern
durch das Aufeinanderstoßen zweier reproduzierter Vorstellungskreise.
M. E. aber kann V. auf Grund obiger Definitionen nun nicht eine
Trennung von willkürlicher und unwülkürlicher Apperzeption, so wie er
es tut, vornehmen. Er tut dies, indem er in den folgenden Abschnitten,
wohl gegen seine Absicht, mit der Apperzeption als einem Vermögen ope-
riert. In bezug auf die Einwirkung der Apperzeption auf die reprodu-
zierende Vorstellung unterscheidet V. die formale und die materiale Wir-
kung: in formaler Hinsicht wird der gegebene Vorstcllungsinhalt durch
die Apperzeption in seiner Stärke, sowie in seiner Klarheit und Bestimmt-
heit gesteigert, nach seinem Umfang erweitert, nach seinem Inhalt be-
richtigt und eingeordnet. — Die Gefühle bestimmt V. als Erregungs-
zustände, deren Entstehung durch die Erscheinungen des Vorstellens, durch
Empfindungen, Wahrnehmungen, reproduzierte Vorstellungen, Urteile und
Ideen, vermittelt, aber nicht verursacht sind. V. bringt die Gefühle in
inneren Zusammenhang mit der Hemmung oder Förderung des Vor-
stellungsverlaufes. Das Gefühl ist ihm zwar ein unmittelbarer, aber nicht
ursprünglicher Geisteszustand. Die Empfindungen beziehen sich auf
Nervenerregung, die Gefühle dagegen auf Vorstellungsbewegung; die Vor-
stellung ist Voraussetzung des Gefühls (?).
Die Gefühle scheiden sich erstens nach ihrem Inhalt in die der
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Berichte und Iiespre^hungen.
36y
Lust und die der Unrast, zweitens nach ihrem Ursprung danach, ob
sie entstehen ausschließlich durch das formale Verhältnis der Vorstel-
lungen, oder ob ihre Entstehung auch mit dem Inhalt der zugrunde-
liegenden Vorstellungen zusammenhängt. Die höheren Gefühle umfassen
die Erkenntnis-, die Schönheit*- , die Sittlichkeits- und die Glaubens-
gefühle. V. unterscheidet dann noch Gefühle der Erwartung und der
Ueberraschung, Kraftgefühlc und Arbeitsgefühle.
Die auf Sinnesempfindungen zurückgehenden Gefühle trennt V. von]
den übrigen als „sinnliche Gefühle" ab. — Das Begehren ist eine zwar
vermittelte, aber dennoch unmittelbare Erscheinung. Es wird durch Vor-
st eilen und Fühlen veranlaßt, aber nicht begründet. Zu seinem Gegenstand
hat es die Veränderung innerer oder äußerer Zustände. Das Begehren
hat mehrere Klarheitsstufen; das dunkle Begehren äußert sich als Trieb.
Dieser ist keine wirkende Kraft, sondern ein abgezogener Begriff. In
'■hm werden die Merkmale gedacht, die dem dunklen Begehren in seiner
Naturbestimmtheit wesentlich sind. Ebenso sind Neigung, Hang, Leiden-
schaft abgezogene Begriffe, in denen die Merkmale zusammengefaßt wer-
den, die gewissen Erscheinungsgruppen des Begehrens gemeinsam sind. —
Das Wollen entsteht, indem das Begehren, das zunächst nur dem von
ihm verfolgten Ziel gilt, auch auf die Mittel erstreckt wird, die seiner
Verwirklichung dienen. Dieses Ziel kann sich auf Veränderung innerer
und äußerer Verhältnisse richten. Das vernünftige Wollen beruht auf
idealen Vorstellungen und erreicht im sittlichen Wollen seinen Höhepunkt.
Die Freiheit des Willens ist ein Postulat der sittlichen Beurteilung des
Lebens. — Die seelischen Erlebnisse sind wohl an die physiologischen
Verhältnisse gebunden, aber sie sind dennoch nicht als bloße Folge-
erscheinung der physiologischen Voraussetzungen zu begreifen Das ein-
heitliche Ichbewußtsein ist nur als Aeußemng eines Wesens verständlich,
das nicht Gegenstand, sondern letzter Grund aller inneren Wahrnehmung
ist. Das Wesen der Empfindung, des Vorstellens, Fühlens und Wollens
nötigt zur Anerkennung einer Seele. In dem Sinne, daß die Außenwelt
durch die Empfindung mitgesetzt ist, besteht Wechselwirkung zwischen
Seele und Leib.
Die Abschnitte ,,Anwendung" enthalten fast nur Ausführungen ^er-
zieherischer", nicht unterrichtlich-technischer Art. Das Buch enthält leider
auch gar nichts von allen den fruchtbaren Ergebnissen der modernen
pädagogischen Psychologie. Auch hier sind die Beispiele, statt aus dem
unmittelbaren Leben der Schule und Schüler, den Klassikern entnommen,
was ja an und für sich sehr zur Lebendigmachung des Buches beiträgt.
Der Lehrer soll aber doch die Psychologie lernen an den Vorkomm-
nissen des Unterrichts und der Erziehung. Sehr leicht wird durch eine
solche Behandlung der Psychologie, wie sie Voigt vornimmt, die Auf-
merksamkeit der Lehrer von den psychologisch so sehr interessanten
profaneren Vorkommnissen des Unterrichts abgezogen.
Berlin.
W. P o p p e 1 r e u t e r.
■
Zeitschrift für pXdagogiacbe Psychologie Pathologie u. Hygiene.
8
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370
BericJUc und Besprechungen.
Dr. H. Walsemann: Die Anschauung. Beiträge zur pä-
dagogischen Psychologie. Berlin 1903. 208 Seiten.
Das Buch enthält Arbeiten, welche z. T. in Zeitschriften, der
„Deutschen Schule", der „Pädagogischen Reform" und im „Deutschen
Schulmann" früher schon veröffentlicht waren. Wenn wir es jetzt noch
besprechen, so ist es aus dem Grunde, weil die W.schen Arbeiten in der
Fachliteratur eine lebhafte Erörterung hervorgerufen haben und sich der
Walsemannsche Begriff der „Anschauung", besonders der Zahlanschauung,
fast ohne weitere Kritik eingebürgert hat. Die Anstellung und Deutung
der Experimente, welche W. in letzterer Hinsicht angestellt hat, soll beim
Referat in den Vordergrund treten, und es sollen alle weiteren', etwas sehr
spekulativ gehaltenen Ausführungen des Verfassers als unnötig die Sache
verdunkelnd beiseite gelassen werden. Die erste Abhandlung:
I. Vom psychischen Bilden überhaupt und dem
Verblassen der Erinnerungsbilder im besonderen, bietet
kein speziell pädagogisch-psychologisches Interesse, und die hier enthal-
tenen Hypothesen über die Raum- und Farbenwahrnehmung dürften wohl
kaum allgemeinen Anklang finden. Allerdings erscheint der ausdrückliche
Hinweis darauf, daß der „Durchsichtigkeitseffekt", das Verschwinden der
Doppelbilder, von großer theoretischer Bedeutung für die Raumwahr-
nehmung ist, sehr wertvoll.
II. Versuche über Zahlbilder. Zur Klärung und Verdeut-
lichung dei Zahlbegriffe sowie zur Uebung des Operierens mit Mehr-
heiten erachtete W. eine Versinnlichung für notwendig, die, soweit als
möglich, alles, was in sinnlichen Materien nicht Zahl bedeutet, ausscheidet
und die Zahl, mit einem Minimum materieller Eigenschaften behaftet, zur
Darstellung bringt. Die Punktmaterie erschien hierfür in einer einheitlichen
Anordnung am geeignetsten. Es sollte die Frage der Anordnung, sowie
die Frage, ob eine oder zwei Qualitäten, entschieden werden.
Es sollten erstens folgende Anordnungen geprüft werden: a) die An-
ordnung der Punkte in zwei Reihen (Pestalozzi); b) die Anordnung der
Punkte in drei Reihen (anfängliche Meinung Lays). Zweitens sollte die
Frage entschieden werden, ob die unterschiedliche Farbe oder die bloße
Trennungslinie die Zahlbilder leichter zerlegbar macht.
Um nach W.s Meinung die Zählfunktion selbst auszuschließen, wur-
den die Versuche an einem Demonstrationsfalluchistoskop angestellt. Die
Zahlbilder wurden auf Papptafeln (leider sind die Dimensionen nicht an-
gegeben) dargeboten. Das Tachistoskop war so eingerichtet, daß auch
gleichzeitig zwei Papptafeln gesehen werden konnten. Die Exposition
war die Dauer von 3 / 4 Sekunden. (Höchst ungenau durch eine Taschenuhr
hergestellt I) Es sollte die relative Häufigkeit der richtigen Fälle bei den
verschiedenen Reihen Aufschluß geben über die Leichtigkeit resp Schwie-
rigkeit der Auffassung der Zahlbilder. Die Versuche wurden angestellt
an den vier Klassen (7c, 70, 7e, jf) einer Knabenschule in Hamburg.
Als mit den Versuchen begonnen wurde, war in jeder der vier Klassen die
Behandlung der Zahlreilien bis 20 im wesentlichen erledigt. Die ange-
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Berichte und Bcxprechunge*.
371
wandte Methode war in den Klassen 7 c und 7 e insofern eine andere
gewesen, als in 7 d und 7 f mit Gegenständen und Zahlen, hier mit
Gegenständen und Zahlbildern gearbeitet worden war. Die Schüler der
Klasse 7 d standen noch in der Arbeit mit versinnlichten Zahlinhalten,
während die der Klasse 7 f seit zwei bis drei Monaten damit abgeschlossen
und seitdem ohne dieses Hilfsmittel den Unterricht empfangen hatten.
Von den Ergebnissen in Klasse 7 c und 7 e versprach man sich
namentlich die Gewinnung einer bestimmten Aussage hinsichtlich
des Einflusses der Arbeit mit Zahlbildern auf die Tätigkeit, sinn-
liche Materien der Zahl nach zu bestimmen. Die Reihen der ersten und
leichtesten Versuchsgruppe sind auch in allen vier Klassen durchgeübt
worden. Bei der zweiten erheblich schwierigeren Gruppe stellte sich indes
schon die Unfähigkeit der Schüler in 7 c und 7 e, die verlangten Be-
stimmungen auszuführen, der anfänglichen Absicht in einem Grade ent-
gegen, daß die Fortsetzung der Versuchsarbeit in diesen Klassen völlig
zwecklos erschien. Es ergab sich somit die Notwendigkeit, den zweiten
und dritten Teil der Versuchsarbeit auf die Klassen 7d und 7f zu be-
schränken. (Ich komme auf die Bedeutung dieser Tatsachen für die ge-
samte Versuchsanstellung am Schlüsse zurück.) Es wurden in jeder Klasse
Vorversuche angestellt und auf Grund dieser Ergebnisse eine Auswahl
von 14 Schülern getroffen, von denen 12 als Reagenten verwandt wurden.
Der Modus der Protokolle, die die Schüler selber zu führen hatten,
wurde vorher eingeübt. Als ein Uebelstand muß der Umstand gelten,
daß sich die einzelnen Versuchspersonen in ungleichen Entfernungen vom
Apparat befanden, was doch von bedeutendem Einflüsse auf die Auf-
fassung sein mußte. Vor Beginn jeder Uebungsgruppe wurden die Schüler
mit dem in Betracht kommenden Material hinreichend bekannt gemacht.
Die verwendeten Papptafeln wurden zu diesem Zwecke
erst frei vorgezeigt und ihrem Inhalt nach gemeinsam
bestimmt. Die Versuchsmethode war die der richtigen und falschen
Fälle. Die Reihenfolge der einzelnen Tafeln war eine beliebige vnd wurde
nach jeder Reihe anders gestaltet.
Es wurden erstens einfache (eine Tafel) und zweitens
doppelte (zwei Tafeln) Bestimmungen gemacht. Bei den letzteren
wurden die Schüler angeleitet, den Blick zunächst auf die linksseitige
Hälfte der Gesichtsbilder zu richten und dann die Punktgruppe rechts mit
ins Auge zu fassen. Eine dritte Versuchsreihe befaßte sich mit der Zer-
legung. Dieselben Tafeln wurden verwandt, doch erhielt jedes zwei-
reihige Zahlbild zuvor einen roten Trennungsstrich; von jedem dreireihigen
wurde ein Teü der Punkte mit roten Papierscheibchen überklebt. Es
wurden nicht alle Zerlegungen verwandt, sondern hinsichtlich jedes Bildes
nur zwei, erfahrungsgemäß nicht besonders leichte Zerlegungen. Von
diesen wurde nur eine Tafel am Apparat gezeigt. Die Bestimmung eines
aolchen setzte sich zusammen aus der Bestimmung dex gleichen Punkt-
gruppen und den Bestimmungen ihrer beiden Teile. Es sollte bei den
zweireihigen Zahlbildern stets zuerst der linksseitige, dann der rechts-
seitige Teil, hei den dreireihigen zuerst das schwarze, dann das rote
Teilbild bestimmt werden. Es wurde auch noch eine Vergleichsreihe an-
8»
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372
Berichte und Besprechungen.
gestellt, in der die Zerlegung auch bei den zweireihigen Zahlbildem durch
Verwendung roter und schwarzer Punkte bewerkstelligt werden sollte.
Die Ergebnisse der Versuche sind folgende:
Unter den festgesetzten Bedingungen hat die Zahlanschauung, sowohl
mit Hilfe der zweireihigen, als auch dreireihigen Punktmaterien von den
48 Versuchspersonen (d. h. von denen, welche überhaupt schon mit Zahl-
bildern gearbeitet hatten) im Durchschnitt mit ziemlicher Sicherheit ge-
leistet werden können. Da die Versuche sich auf die Zahlinhalte bis 20
erstreckt haben und die Bestimmungsarbeit von siebenjährigen Kindern ge-
leistet worden ist, so muß das nach W. als volle Bestätigung der Behaup-
tung gelten die Zahlanschauung ist möglich und kann
auch noch beträchtlich über 10 hinaus fortgeführt
werden. W. nimmt an, daß die Auffassung der Zahlbilder überall eine
simultane gewesen sei. Wenn dies auch wohl nicht richtig ist, wie
später gezeigt werden wird, so kann man W. doch darin beistimmen, daß
die Zählfunktion im eigentlichen Sinne nicht angewandt wurde. Ein
Hilfsmittel der Zahlbestimmung hierbei sind Begriffe und Erkenntnisse, was
aber trotzdem nicht dem Begriffe der Anschauung widerstreitet. Es zeigte sich,
daß diejenigen Schüler, welche die Zahlen vornehmlich an den Kugeln
der Rechenmaschine statt an Realitäten der Außenwelt gelernt hatten,
eine geringere Leistungsfähigkeit besaßen. Der Mangel an Uebung machte
sich auch bei diesen Schülern ganz auffallend bemerkbar. Die zwei-
reihigen Zahlbüder waren vor den dreireihigen durch ihre ge-
ringere Fehlerzahl bei den schwierigeren Zahlbildem ausgezeichnet, da-
gegen ergab sich bei den weniger schwierigen Zahlbildem keine Ver-
schiedenheit. Zusammenfassend stellt W. fest:
Die zweireihige Punktmaterie hat sich gegenüber
der dreireihigen sowohl für die Bestimmung der
Grundzahlen, als auch für Uebungen im Kombinieren
und Zerlegen von Zahlinhalten als die unbedingt und
ganz erheblich günstigere erwiesen. — Die Anwendung von
Trennungslinien hat sich nur ab günstiger erwiesen bezüglich der zwei-
reihigen Materie gegenüber der Anwendung von Farbe in der drei-
reihigen. Der Ersatz der Trennungsstriche durch farbige Unterschiede in
der zweireihigen Materie hat noch ein wenig günstigere Ergebnisse gehabt
als die Anwendung von Trennungslinien. — Für die Praxis folgert W.
aus seinen Versuchen: Für die Zwecke des Lehrens ist die Sache „Zahl"
den Kindern durch Schemata (Zahlbilder) vor Augen zu bringen. Diese
verdienen besonders vor den Rechenmaschinen den Vorzug. Hierbei sind
wiederum die zweireihigen Zahlbilder vor den dreireihigen zu empfehlen,
und zwar mit Trennungslinien.
Ich komme zu einer Kritik der Versuche. W. hat vor allen Dingen
durch seine Versuche gar nicht nachgewiesen, daß es überhaupt praktisch ist.
die Sache „Zahl" den Kindern durch Schemata vor Augen zu bringen.
Der Arbeit liegt als Selbstverständlichkeit die Annahme zugrunde, daß
die Zahlbüder eine Versinnlichung der Zahl darstellen. Es ist damit aber
noch gar nichts gesagt. Diese Versinnlichung kann, psychologisch betrachtet,
eine doppelte sein. Erstens kann ein Zahlbild darstellen ein einfaches
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Berichte und Besprechungen. 373
konventionelles Symbol, wie z. B. das Zeichen ,,5", oder aber
ein natürliches Symbol, das in sich noch Elemente vereinigt, welche
direkt dem psychischen Komplex entnommen sind, für welche das Symbol
festgestellt werden soll; also etwa das Zahlbild : : ist ein natür-
liches Symbol für den Zahlbegriff 4. Letzteres aber nur unter der Be-
dingung, daß wenigstens einmal die Zählfunktion an diesem Zahlbild in
Tätigkeit trat und dadurch ein assoziativer Zusammenhang gestiftet wurde,
sowohl zwischen dem optischen Bilde und dem Zahlbegriff oder Zahlwort,
als auch zwischen dem optischen Bilde und den bei der Zählfunktion
statthabenden psychischen Erlebnissen. So wäre also das Zahlbild : : :
für ein Kind, das die einzelnen Punkte nicht abgezählt hätte, und für das
nur ein assoziativer Zusammenhang gestiftet worden wäre, zwischen diesem
optischen Eindruck und dem Zahlbegriff vier, kein natürliches, son-
dern auch ein konventionelles Symbol, d. h. nur eine bestimmte
Gestaltqualität. Also es ist nötig, daß auch die Erlebnisse bei
der Zählfunktion als Mittelglieder assoziativ reproduziert werden.
Diese Reproduktion der Mittelglieder kann natürlich eine simultane
(oder nahezu simultane) oder eine sukzessive sein, oder aber sie
kann ganz ausfallen. Bei den kleineren Zahlbildern sind auch diese reprodu-
zierten Mittelglieder der Zahl nach geringer als bei den größeren Zahl-
bildern. Es kann auch statthaben, daß diese Komplexe der Zählfunktion
nicht vor der Reproduktion der Zahlwörter, sondern erst nachher geschieht.
Werm wir also z. B. den Moment, in dem ein Zahlbild perzipiert wird,
mit a, den Moment, wo die Komplexe der Zählfunktion anoziativ reprodu-
ziert werden, mit b. und den Moment, in dem das Zahlwort mit dem
Zahlbegriff reproduziert wird, mit c bezeichnen, so können wir uns den
zeitlichen Verlauf so vorstellen:
a| 4 —\ c
Es wäre aber, wenn a sofort c reproduziert, a ein konventionelles, wenn
a erst b und dann c reproduzierte, von einem natürlichen Symbol zu
sprechen. Würde c vor b reproduziert, so wäre es im ersten Augen-
blick ein konventionelles, im zweiten aber ein natürliches Symbol. Damit
kommen wir auf die von W. behauptete Simultanität. Vorher ist aber
eine Berichtigung zu machen. Die Versuche W.s stellen gar keine reinen
Auffassungsversuchc, sondern vielmehr Wicdcrerkennungsver-
suche dar Die Zahlbilder wurden, wie auf S. 32 und 33 geschildert,
vorher mit den Schülern, denen sie an sich schon bekannt waren, durch-
genommen und dieses von W. folgendermaßen begründet : „Ein Zahlbild
bestimmen, heißt in die sinnliche Materie desselben einen Zahlbegriff hin-
eintragen. Der Bestimmungsakt gelangt mit dem Bewußtsein der abso-
luten Richtigkeit zum Abschluß, wenn unter den zur Bestimmung sich an-
bietenden Zahlbegriffen der mit dem sinnlichen Zahlmoment des Eindrucks
identische getroffen und diese Tatsache durch Zurückführung der be-
stimmten Gruppe auf bekannte TeÜe (Einheiten oder Mehrheiten) kon-
statiert wird. Angenommen, der Schüler wüßte von dem, was ihm nur in
einem kurzen Moment gezeigt werden soll, gar nichts, so würde der Be-
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374
Berichte und Besprechungen.
Stimmungsakt ein so umständlicher sein, daß er m dem kurzen Zeitteile
schwerlich zu irgend einem Abschluß kommen könnte." W. hat also selbst
den Versuchen durch das vorausgeschickte Vorzeigen jeden Boden entzogen.
Was geschieht, wenn nach vorheriger Durchnahme der verwendeten Tafeln nun
dem Schüler ein oder zwei derselben am Apparat gezeigt werden ? Auf jeden
Fall eine Wiedererkennung. Die Frage, ob diese mit der Auf-
fassung eine simultane ist, ist bei leichteren Fällen wohl zu bejahen, bei
schwereren zu verneinen. Es würde in letzterem Falle bei unserem Schema
also hinter a noch ein Punkt d liegen, der den Moment bezeichnet, wo
das Wiedererkennen eintritt. Es ist nun hier gar nicht nötig, auf das
Nähere des Wiedererkennungs Vorganges einzugehen, über den ja auch
zurzeit die Meinungen sehr geteilt sind. Soviel ist sicher, daß bei den
Bildern größerer Zahlen diese nur als GcstaJtquali täten, als konventionelle,
nicht als natürliche Symbole wiedererkannt werden. Man kann hier annehmen,
daß die Zeit, die zur Wiedererkennung nötig ist (resp. auch die Zahl der fal-
schen Reaktionen) direkt proportional ist der Schwierigkeit des Wieder-
erkennens. Das Resultat der Versuche ist also kein anderes, als daß
sich der Wicdererkennungsvorgang leichter gestaltet bei den zweireihigen,
als bei den dreireihigen Punktmaterien. Das ist aber weiter kein ver-
wunderliches Resultat, weil es ein längst bekanntes Faktum ist, daß die
Auffassung und Wiedererkennung räumlich ausgedehnter Objekte leichter
in horizontaler als in vertikaler Richtung sich vollzieht.
Weiter ist gegen die behauptete Simultanität zu sagen: Jeder Sinnes-
cindruck perseveriert fast regelmäßig eine kürzere oder längere
Zeit. So kann ich aus meiner eigenen Selbstbeobachtung ganz bestimmt
versichern, daß ich an einem tachistoskopisch gegebenen Eindruck noch
hinterher Einzelheiten auffasse. Das findet natürlich besonders statt bei
komplizierteren Eindrücken. So findet also auch bei komplizierten Zihl-
bildern ein Zählen statt, wenn auch nicht nach einzelnen Punkten, sondern
durch Addition von Punktgruppen. Oder aber es fällt auch dies ganz weg
und das Zahlbild wird nur als konventionelles Symbol wiedererkannt. Der
ganze Vorgang stellt sich wohl bei einfachen Zahlbildern wie folgt dar:
Vorher werden Assoziationen geschaffen zwischen einer bestimmten Ge-
stalt, ihrem Auszählen und ihrem Zahlwort. Wird diese Gestalt nun
wiedergegeben, so fasse ich sie auf, erkenne sie wieder und das Zahlwort
wird reproduziert. Dann ist das Zahlbild ein natürliches Symbol. Bei
zunehmender Ucbung, und diese wird, da si- sich sehr rasch vollzieht,
schon toi der Ausführung der tachistoskopischen Versuche vorhanden ge-
wesen sein, fallen die Mittelglieder, die durch die vorhergehende Zähl-
funktion entstanden sind. aus. und in diesem Falle ist also das Zahfbild
gleichwertig einem konventionellen Symbol geworden. Es wird einfach
mit dem Wiedererkennen der Gestaltqualität des Zahlbildes das Zahlwort re-
produziert. Daß es sich so verhält, ergibt sich ja auch aus der von W. ange-
rührten Tatsache, daß die Schüler, die ni<- vorher mit Zahlbildern gearbeitet
hatten, zu den Versuchen unbrauchbar waren. Komplizierter wird der
Vorgang bei schwierigen Zahlbildern. HieT perseveriert der Eindruck
kaum, die Zählfunktion tritt im oben angedeuteten Sinne in Wirksamkeit
und ei wird dann ebensogut abstrakt gerechnet, wie ohne Zahlbilder, oder
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Berirhlr und Besprechungen.
375
aber das Zahlbild wird als ein konventionelles Symbol wiedererkannt und
benannt.
Was wollen also die Zahlbilder beim Unterricht? Sie erleichtern die
erste Auffassung und später das Operieren mit Zahlen. Eine ruweitgehende
Anwendung würde aber dem Endziel d?s Rechenunterrichts (Rechen-
fertigkeit) entgegenwirken. Die ursprüngliche optische Fixierung der
Zahlen, wie wir aie heute bei Naturvölkern finden, ist ja die in
nebeneinandergesetzten Strichen, in Zahlbildem. Es soll doch auf
der Schule erreicht werden, daß die Kinder abstrakt mit konventionellen
Symbolen, mit Ziffern und schließlich mit bloßen Assoziationen operieren
können. Werden die Kinder angeleitet, im Rechnen immerfort auf die
Anschauimg zu rekurrieren, so bildet das eher einen Hemmschuh für die
Entwicklung der Fähigkeit für Rechenoperationen. Erfahrungsgemäß
können viele auf Grund des falschen Unterrichts, das große Einmaleins
mit 9 immer nur durch Subtraktion der mit 9 zu multiplizierenden Zahl
von dem Produkt mit 10 bilden. Um die Ueberlegenheit der Zahlbilder
darzutun, wäre es richtiger gewesen, zu zeigen, daß wirklich die Kinder,
die mit Zahlbildern operiert haben, späterhin besser rechnen können
als die. die das nicht getan hätten.
Auf keinen Fall ist es von W. erwiesen — und das glaube ich be-
sonders hervorheben zu müssen — , daß ein simultanes Vorstellen von Zahl-
inhalten über 6 oder 10 hinaus möglich ist. Pestalozzi darf W. nicht,
wie er es tut, als Gewährsmann zitieren, da dieser ausdrücklich vom
Wiedererkennen nach voraufgegangener Zählfunktion spricht.
III. Die Ausprägung einfachster Raumformen. Anlaß
zu dieser Arbeit gaben die Versuche Scyferts über die Auffassung ein-
fachster Raumfbrmcn (Dreiecke) (Philos. Studien, Bd. XIV. S. 550 ff.),
hei denen W. selbst als Versuchsperson mitgewirkt hatte. Eine kurze
Orientierung über diese Versuche wird vorausgeschickt. Seyfert hatte den
Aitgenbewegungsempfindungen die dominierende Rolle bei der Auffassung
der Raumformen zugewiesen. Die Erfahrungen W.s als Versuchsperson
geben ihm mit Recht Anlaß zur Opposition gegen die Seyfertschen Aus-
führungen und zur Aufstellung einer Theorie, die entgegen Seyfert
vom subjektiven Standpunkt ausgeht : Das gesehene Dreieck ist meine
sinnliche Vorstellung, und es ist also gar keine Veranlassung mehr, von dem-
selben noch eine Vorstellung zu gewinnen. Alles, was geschehen kann,
ist eine , .vollkommenere Ausprägung" der gesehenen Raumform.
Diese kann erreicht werden durch schärferes Hinsehen, Akkomodation und
Augenbewegungen. Letzten- sind lediglich ein Hilfsmittel, das Gesichtsfeld und
die Sphäre des deutlichen Sehens zu erweitern. Von den ,, Augenbewegungen"
trennt W. die „Blickbewegungen". Letzteres aber ist wohl besser mit der
Wanderung der Aufmerksamkeit zu bezeichnen, wenn auch letzterer Aus-
druck gerade kein idealer ist. Diese ,, Blickbewegungen" werden dann
noch erörtert unter dem Gesichtspunkt der Erscheinungen des „Wettstreits
der Sehfelder". Eine andere Lücke in der gesehenen Raumform ist der
Mangel an „Festigkeit und Dauerhaftigkeit der Gefüge". Dieser wird be-
seitigt durch die bewußte, allseitige, genaue Einpassung der sinnlichen
Raumform in gewisse, dem Bewußtsein bereits feststehende Richtungs- und
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376
Beruhte und Besprechungen.
Maßverhältnisse des Gesichtsraumes. Was „senkrecht", was „wagerecht*"
ist, pflegt jedem schon von der Gleichgewichtslage des eigenen Körpers
her so klar und gewiß zu sein, daß jedermann leicht imstande ist, mit dem
Blick bezügliche Strecken im Gesichtsfelde zu durchlaufen, und es ist mithin
auch die Möglichkeit gegeben, die Raumform zu dieser in Beziehung xu
setzen. — Als Stütze seiner Ausführungen führt W. Pestalozzi und Herbart
an, deren Ausführungen er, als in dem schärfsten prinzipiellen Gegensatz
zu Seyfert stehend, ausführlich zitiert. Wenn ich nun auch die Versuche
Seyferts ablehnen muß, so scheint mir doch bei der Polemik W.s gegen
Seyfert ein Mißverstehen des Wesens der experimentellen Arbeit unter-
zulaufen. W. wendet sich gegen das isolierte Gegebensein einzelner Fak-
toren, und es ist doch gerade im Wesen des Experiments ein solches
Verfahren begründet.
Die einzige Kritik der Seyfertschen Versuche kann (vergl. das Re-
ferat in der Zeitschrift für Psychologie, Bd. 22, S. 150) dahin gehen,
daß Seyfert in Wirklichkeit gar nicht die einzelnen Faktoren isoliert ge-
geben hat, da es in diesem Falle überhaupt durch die engen Assoziationen
zwischen den durch die verschiedenen Faktoren vermittelten Empfindungen
keine Isolierung geben kann. Zustimmen muß man W., daß eine Erziehung
zum Auffassen von Raumformen nur mit rein geistigen Mitteln an-
gestrebt werden muß.
Der Kritik an den Seyfertschen Versuchen, die eigentlich schon in
allem Vorhergehenden in reichlichstem Maße angewendet wurde, widmet
W. noch einen gesonderten Abschnitt. Wie W. Seyfert als einen naiven
Realisten hinstellen kann, weil dieser von „objektiven Bedingungen", wie
Größe, Helligkeit usw.. spricht, kann ich nicht recht begreifen. Es müßte
dann W. ja selbst ein solcher sein.
Als pädagogische Forderung stellt Walsemann die Sätze auf : „Vor
allem handelt es sich darum, mit rein geistigen Mitteln den durch die
Sinne gesetzten Raumformen beizukommen. Eine Mannigfaltigkeit von
Grundrichtungen und Grundformen muß zunächst in den Verstand und
erst durch Vermittlung desselben in das Auge und die Hand der Kinder
gebracht werden. Wie solches geschehen könne, hat Pestalozzi in seinem
ABC der Anschauung vortrefflich gezeigt."
IV. Das Prinzip der Anschauung mit besonderer Be-
rücksichtigung der Zahlanschauung. — 'Durch eine Er-
örterung des Begriffs und des Prinzips der Anschauung will W. Pesta-
lozzis „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" zu einer gerechteren und hohen
Würdigung verhelfen. — Die Zahlen sind nichts der Außenwelt Ange-
höriges, deshalb kann vom relativen (?) Standpunkt aus die Zahl kein
Gegenstand des Unterrichtes sein. Es ist ein besonderer psychischer Akt
erforderlich, durch den auf Grund der sinnlichen Momente die Zahl erst
gesetzt wird. Man kann also die Zahlen nicht anschauen, sondern nur
veranschaulichen. Nach Pestalozzi ist die Zahl eine Abstraktion,
ein Begriff, wie Pestalozzi überhaupt in seinem Prinzip der Anschauung
durchaus auf idealistischem Boden steht. W. zeigt durch Zitate, »-as
Pestalozzi unter ..Anschauung" verstanden hat. W. verquickt seine Aus-
führungen s> mit umständlichen Auseinandersetzungen erkenntnistheo-
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Berichte und Besprechungen.
377
retischer und polemischer Art, daß es schwer ist, seinen eigentlichen
Meinungen über die „Zahlanschauung' 4 auf die Spur ru kommen.
W. erhebt, wie Pestalozzi, die Forderung von „Anschauungsübungen"'
und macht hierfür genauere Vorschläge. Er präzisiert seine Anschau-
ungen schließlich dahin: „Das Anschauungsprinzip in Wahrheit befolgen,
heißt in elementaren Unterrichtsgängen eine syste-
matische Schulung des A n s c h a u u n g s v e r m ö g e n s be-
treiben, dabei die begriffliche Erkenntnis als vor-
nehmstes Mittel benutzen und durch die Anwendung
derselben auf Anschauungen zu neuer Erkenntnis
fortschreiten."
V. Zur philosophischen Grundlegung der Elemen-
tarpädagogik. — Der Aufsatz ist eine polemische Erwiderung auf
die Kritik Natorps über W.s Schrift: „Pestalozzis Rechenmethode".
VI. Die Anschauung im philosophischen System
Schopenhauers. — W. sucht hierin im wesentlichen die vielfachen
Uebereinstimmungen von Schopenhauers Prinzip der Anschauung mit dem
von Pestalozzi nachzuweisen.
Berlin. W. Poppelreutcr.
J. van der Torren. Ueber Auffassungs- und Unterschei-
dungsvermögen für optische Bilder bei Kindern.
Ztschr. f. angewandte Psychologie I (3), 189 — 232. Leipzig
»907.
Verf. wendet eine neue Methode Prof. Heilbronners für die
psychiatrische Klinik zum ersten Male für die normale Psychologie und bei
Schulkindern an. — Das Wesen der Methode liegt in folgendem: V. P.
waren etwa 180 Knaben und Mädchen im Alter von 4 — 12 Jahren. Jedem
Prüfling wurden in einem eigenen Zimmer eine Reihe kleiner Bildchen
vorgelegt. Die Bilderfolgc bestand aus 103 Blättern, auf denen die mehr
oder minder vollständige Abbildung von 17 verschiedenen Gegenständen in
einfachen Umrissen dargestellt war. Das jeweils folgende Bild war immei
um etwas weiter ausgeführt als das voraufgehendc. Die verschiedenen
Bilder wurden den Kindern stets in derselben Reihenfolge vorgeführt. Das
erste Bild wurde mit der Frage vorgelegt: „Was ist das?" „Nach was sieht
das aus?" „Was kann noch werden?" Jedes folgende wurde gezeigt in der
Absicht, Antwort zu erhalten auf die Fragen: „Was ist daran verändert?"
„Was ist noch dazugekommen ?" — v. d. T o r re n kommt zu folgenden
Resultaten: 1. Kinder beobachten außergewöhnlich scharf die Unterschiede
an Gegenständen, die in anderer Hinsicht genau einander gleichen — ein
Beweis, daß die Kinder während des Versuchs ausgezeichnet aufgepaßt
haben. Das richtige Wahrnehmen von Unterschieden erklärt auch teil-
weise die stets wieder überraschende Tatsache, daß sogar kleine Kinder
nach dem Warum und der Ursache der Dinge fragen. 2. Knaben fassen
unvollständige Bilder und Gegenstände leichter auf als Mädchen. 3. Mädchen
konfabulieren mehr und sinnloser als Knaben. 4. Zwischen den verschiedenen
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378
ftvühie und Besprechungen.
Altersstufen, Kindern verschiedener Stände, zwischen Dorf- und Stadtkindern
bestehen bedeutsame Unterschiede.
Kiel. Marx Lobsien.
Over Gehengenvariatie bij Schoolkinderen.
Im neuesten „Paedologisch Jaarbook" der Stadt Antwerpen untersucht
Prof. Schuyten die Gedächtnisvariationen bei Schulkindern. Er beab-
sichtigte in erster Linie, dem akustischen Zifferngedächtnis nachzugehen, wie
es sich verhält im Verlaufe eines Jahres. Daneben gelang ihm auch, die
anderen, in einer vorläufigen Untersuchung entwickelten Variationsfaktoren
zu berücksichtigen : die Ermüdung, die Ucbung, die Reihenfolge der zu
behaltenden Glieder und die geistige Entwicklung der Schüler; nur der
Einfluß verschiedenen Alters der Prüflinge mußte außer Rechnung bleiben.
— Sch. wählte Schüler von t6 Knaben- und ebenso vielen Mädchenschulen
aus, die Kinder wurden in vier soziale Gruppen (nach Höhe des Schul-
geldes) eingeteilt. Je vier Knaben- und Mädchenschulen kamen für die
vier Jahreszeiten zur Beobachtung in den Monaten Januar, April, Juli und
Oktober, und zwar vor- wie nachmittags. Die Prüflinge waren alle in dem
gleichen Quartale des Jahres 1891 geboren. — Verf. kommt zu folgenden
Resultaten: 1. Die Ermüdung wirkt überall hemmend auf das Gedächtnis
ein; ob sie auf den Prozeß der Aufnahme oder des Festhaltens besonderst
einwirkt? Begabte Kinder zeigen sich ihr gegenüber widerstandsfähiger als
schwächere, scheinen gar über eine Reserveenergie zu verfügen, wenn die
gewöhnliche verbraucht ist. 2. Durch Uebung wird die Gedächtniskraft er-
höht. 3. Weist man verschiedene aufeinanderfolgende homologe Begriffe dem
Gedächtnis zu, werden das erste und letzte Glied am besten behalten. 4. Be-
gabte Kinder haben das beste Gedächtnis; Ausnahmen von dieser bekannten
Regel sind nur in geringem Umfange nachweisbar. Schwächere Schüler
aber phantasieren mehr als begabte, suchen die vergessenen Glieder in
höherem Maße aufs Geratewohl hin zu ersetzen durch eingebildete. 5. Die
Mädchen haben ein besseres Gedächtnis als die Knaben. Dieses Ergebnis
steht heute fest, doch ist wohl möglich, daß künstliche Umstände, wie etwa
Stimuluswirkung, das Verhältnis zwischen den Geschlechtern umzukehren
vermögen. Knaben sind der Stimulanzwirkung mehr unterworfen als Mäd-
chen, und zwar begabte mehr als unbegabte. 6. Daß sozial bevorzugte Kinder
besseres Gedächtnis haben, weisen Schuytcns Untersuchungen nicht mit
gleicher Entschiedenheit auf, doch hält er für wahrscheinlich, daß die
Klassifizierung der sozialen Gruppen nicht immer mit genügender Unter-
scheidung hat geschehen können. 7. Im allgemeinen haben die begabtesten
Kinder die größte Muskelkraft, die leiblich am besten entwickelten das
stärkste Gedächtnis. 8. Die Jahreskurve der Gcdächtniscntwicklung ist nicht
mit bestimmter Regelmäßigkeit zutage getreten. Es müssen mehr positive
Ergebnisse gesammelt werden.
Kiel. Marx Lobsien.
De opperolakte van het Geschrift.
Prof, Schuyten will Beiträge liefern zum Studium der Grapho
logie des Kindes. Dieser erste Beitrag (Paed. Jaarbook VI 8 ) beschäftigt sich
mit der experimentellen Untersuchung der Schriftgröße.
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Berichte und Besprechungen.
379
Methode. Bei der Messung sind folgende Umstände ins Auge zu
fassen: Höbe der Schriftzeichen, Länge der Zeilen, Oberfläche der Zeilen,
Größe der beschriebenen Papierfläche, Größe der unbeschriebenen Zwischen-
räume. Sch. ließ schreiben auf unliniierten Blättern von gleicher Größe.
Er konstruierte 2X8X8 sinnlose Zeichenverbindungen, derart, daß ein
Vokal mit r oder v, oder zwei einfache Vokale miteinander verbunden
wurden ae, aa, av, ar usw. Diese wurden abgeschrieben. Prüflinge waren
30 Schülerinnen einer zahlenden Gemeindcschule im Alter von 1 1 bis
16 Jahren. Sie erhielten die Weisung, in gewohnter geläufiger und deut-
licher Steilschrift zu schreiben. Die Vorschrift stand auf der Rückseite der
Wandtafel, die bei Beginn des Versuchs umgekehrt wurde. Der Versuch
dauerte io\ Die Messungen wurden im Laboratorium ausgeführt und
geschahen auf l / l0 mm Genauigkeit : für Buchstaben ward gemessen die
senkrechte Höhe derselben, für die Zeilengröße galt folgendes: der 16. Teil
der gesamten Letternhöhe ergab die Durchschnittshöhe der Zeile. Die ganze
Zeilenlänge ward gemessen bis zum Ende des letzten Federstrichs, e X b ist die
Zeilenoberfläche. Die Oberflächensumme der ersten acht Zeilen galt als
Oberfläche der ersten, die der folgenden als Oberfläche der Schrift der
zweiten Hälfte. Das Messen des Abstandes zwischen den Letternpaaren und
der Zeilenzwischenräume stieß anfangs auf erhebliche Schwierigkeiten, deren
Ueberwindung aber doch gelang. Die beschriebene Papieroberfläche ward
durch feine Bleistiftlinien eingeschlossen, eine Diagonale zwischen der achten
und neunten Zeile teilte die Schreibfläche in zwei unregelmäßige Vielecke,
deren Inhalt berechnet wurde. Die Differenz zwischen der totalen Lettern-
oberfläche und der beschriebenen Papieroberfläche ergab die Größe des
frei gelassenen Raumes zwischen den Zeilen. Auf Grund dieser Messungen
konnte Schuyten an seine Frage herantreten, ob ein Unterschied nach-
weislich sei zwischen den Schrifthälften bezüglich ihrer Flächenausdehnung.*)
Ergebnisse: 1. Zu Beginn der Schriftseite schreiben Kinder kürzere
Zeilen als später. Aeltere Schüler schreiben kürzere Zeilen als jüngere,
ebenso begabte Schüler kürzere als schwache. Gegen Ende der Seite zeigt
sich nur ein sehr geringes Uebergewicht in der Letternhöhe. Es besteht
eine Neigung zu direkter Proportionalität zwischen dem Alter der Kinder
und der Höhe der Ziffern. Die Lettern des zweiten Schriftteils nehmen
einen größeren Raum ein als die des ersten; ältere Kinder brauchen weniger
Raum für ihre Buchstaben.**) Die Papieroberfläche ist im zweiten Teile
für jüngere Kinder kleiner, für ältere ist das Umgekehrte der Fall, ähn-
liches gilt für eine Anordnung nach den Unterschieden der Begabung. 2. Die
Zeilenlänge wächst von der ersten zur achten und bleibt von der neunten
bis sechzehnten Zeile unregelmäßig auf gleicher Höhe; Alter und Intelligenz-
Unterschiede treten nicht zutage. Die mittlere Höhe der Lettern beider
Zeilengruppen ist als identisch zu betrachten. Beides gilt auch für die Zeilen-
*) Die Verrechnung geschah nach der KotTelationsformel A. S 6 c s :
**) Die Korr.-Ber. wies keine sonderlich deutlichen Ergebnisse auf;
Durchscha-Rt
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380
Berichte und BesprecJmngen.
Oberfläche. Mit zunehmendem Alter der Prüflinge bemerkt man gegen Ende
jeder Zeilengruppe deutlich ein Größerwerden der Buchstaben. 3. Gegen Ende
der Handschrift wurde mehr weißes Papier freigelassen. Die älteren Kinder
nahmen mehr Papier in Anspruch. Die intellektuell minderwertigeren Prüf-
linge ließen mehr Raum frei zwischen den einzelnen Letternkombinationen,
jedoch weniger zwischen den Zeilen.
Kiel. MarxLobsien.
Ziehen: Die Geisteskrankheiten des Kindesaltcrs, mit
besonderer Berücksichtigung des schulpflichtigen
Alters. III. Teil. Berlin, Verlag von Reuther &
Reichard. Einzelpreis 3 Mk.
Mein Urteil, welches ich in Heft 3/4 des Jahrganges 1906 dieser Zeit-
schrift über die beiden ersten Teile der „Geisteskrankheiten des Kindes-
altcrs" abgab, wende ich auch unbedenklich auf den III. Teil an: Das Buch
ist in jeder Beziehung klar, anregend und belehrend geschrieben und kann
allen denen rückhaltlos empfohlen werden, welche mit der Behandlung
anormaler Kinder zu tun haben.
Z. behandelt zunächst die Geistesstörung aus Zwangsvorstellungen. Dabei
gibt er zunächst einen allgemeinen Krankheitsbegriff. Als charakteristisch
für die Zwangsvorstellungen ist vor allen Dingen zu nennen 1. das Erhalten
bleiben des Krankhcitsbcwußtscins und 2. namentlich ihre Ueberwcrtig
keit. Darauf folgt ein ausführliches Literaturverzeichnis über den Gegen
stand, eine Abhandlung über Häufigkeit und Aetiologic sowie Symptoma-
tologie der Zwangsvorstellungen. In dem letzten Abschnitt sind besonders
viele Krankheitsbilder aus der Praxis des Verfassers angeführt, welche die
Krankheit in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit und in ihrer Einwirkung auf die
verschiedenen Funktionen des Körpers und der Seele schildern. Nachdem
dann der Verlauf und Ausgang der Krankheit, ihre Abgrenzimg gegen andere
Krankheitsbilder, Komplikationen und Diagnose erörtert sind, folgt ein Ab-
schnitt über die Behandlung der Kranken. Auch hierbei erkennt man den
Praktiker, der nicht alles über einen Kamm scheren will und das betr. Kind
gleich einer Anstalt überweist. Nein, ganz individuell, entsprechend dem
jeweilig auftretenden Krankheitsbild, soll die Behandlung eingerichtet werden.
Der Lehrer und der Arzt werden aus diesem Abschnitt trotz seiner Kürze
manche Anregungen erhalten.
Eine besonders ausführliche Erörterung wird in den folgenden Ab
schnitten den psychopathischen Konstitutionen zuteil, welche ja nächst dem
angeborenen Schwachsinn die häufigste, praktisch weitaus wichtigste Geistes
Störung des Kindesalters bilden. Unter psychopathischen Konstitutionen ver
steht Ziehen, im Gegensatz zu den vollentwickelten Psychosen, psychische
Krankheitszustände, welche nur leichtere, wenn auch oft sehr mannigfaltige
psychische Krankheitssymptome darbieten und nur hin und wieder und vor
allem nur vorübergehend zu schweren Krankheitssymptomcn führen. ' Der
Einteilung der psychopathischen Konstitutionen hat Ziehen die sympto
manschen Kennzeichen zugrunde gelegt. Er behandelt dementsprechend der
Reihe nach die allgemeine, degenerative psychopatlüschc Konstitution, die
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Berichte und Besprechungen.
381
hysterische, die epileptische, neurasthenische, chorcatische, depressive, para-
noide und die obsessive oder kompulsive psychopnthischc Konstitution. Auch
hier werden die einzelnen Arten durch gut gewählte Krankheitsbilder, Erleb-
nisse aus dem Leben der Kranken, Briefe, Aufsätze usw. verdeutlicht.
Damit sind die sogenannten einfachen Psychosen erledigt, und es folgt
nun noch eine Abhandlung über die zusammengesetzten Psychosen : Periodische
Manie, periodische Melancholie, zirkuläres Irresein, periodische halluzina-
torische Paranoia oder Amentia und periodische impulsive (phrenoleptische)
Zustände.
In einem Anhang holt der Verfasser dann über die Abhandlungen aus
den früheren Bänden und dem vorliegenden Bande noch eine große Anzahl
von Literaturangaben nach. Den Schluß des III. Bandes bildet eine
schematische Anweisung zur psychischen Untersuchung bei geisteskranken
Schulkindern. Diese Anweisung soll nur ganz im allgemeinen auf die wich-
tigsten Punkte hinweisen. Im individuellen Falle wird manches hinzugefügt,
anderes wieder weggelassen werden müssen. Die Prüfung geschieht nach
folgenden Hauptgesichtspunkten: Prüfung der Empfindungen, der motorischen
Funktionen; Vorstellungsinventar, Differenzierung der Vorstellungen und Be-
griffe, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Ideenassoziation, Affekte, Handeln, Aus-
drucksbewegungen und Gestikulation. Aus dem Angeführten ist zu ersehen,
wie reichhaltig der Inhalt dieses III. Bandes ist, und daß meine Empfehlung
zu Beginn der Besprechung wohl berechtigt ist. Jeder, der das Werkchen
durcharbeitet, wird es nur mit großer Befriedigung aus der Hand legen.
Wuhlgarten-Berlin. F. Schepp.
Dr. Eugen Schlesinger: Schwach begab te Schulkinder.
Vorgeschichten und ärztliche Befunde. Stuttgart,
Verlag von Ferdinand Enke, 1907. Preis 2 Mk.
Der Verfasser dieses Buches ist Schularzt zu Straßburg i. E. Er will
das Material, welches er in seiner Eigenschaft als Schularzt gesammelt
hat, nicht von psychiatrischer, sondern von pädiatrischer Seite aus bearbeiten.
Verfasser hofft durch diese Behandlungsweise einige ätiologische Punkte
stärker in den Vordergrund rücken zu können, als dies in den entsprechenden
psychiatrischen Arbeiten der Fall ist.
Bei dem vorliegenden Schulmatcrial handelt es sich um sogenannte
debile Kinder der Hilfsschule. Am brauchbarsten erscheint dem Verfasser eine
pädagogisch-praktische Einteilung nach dem Grade der schwachen Begabung.
Sie soll den Vorzug haben, daß sie gerade auf das Hauptsymptom, die intellek-
tuelle Schwäche, am meisten Bezug nimmt. So teilt er denn ein: 1. Grad der
Debilttas solche Kinder, die das Ziel der Hilfsschule, annähernd das der
Mittelstufe der normalen Volksschule, glatt erreichen. Die erste Gruppe
bildet die große Mehrzahl der Hilfsschüler, etwa 54 Prozent; 2. Grad der
Debilitas: solche Schüler, bei denen eine Wiederholung des einen oder
anderen Jahreskurses nötig wurde : etwa 33 Prozent ; 3. Grad : solche Kinder,
welche trotz Wicderholens das stark reduzierte Pensum einer solchen Schule
nicht in sich aufnehmen: etwa 13 Prozent.
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382
Berichte und Besprechungen.
Der Verfasser bearbeitet das gesammelte Material nach zwei Richtungen
hin: Die Ursachen der schwachen Begabung — das ist das Ziel seiner Arbeit
— werden erforscht auf Grund der Familienanamnese und des Status praesens.
Er kommt dabei u. a. zu folgenden Ergebnissen : Die Zahl der schwach-
begabten Kinder betrag! 1,1 Prozent der Schuljugend. Das Verhältnis der
Knaben zu den Mädchen ist 123: 100. Psychoneuropathische Belastung fand
sich bei 22, Trunksucht der Eltern 30, luetische Belastung 3, sichere kongeni-
tale Lues 1,5, tuberkulöse Belastung 24. Somatische und psychische Traumen
der Mutter während der Gravidität bei 18, darunter gehäufte epileptische
Anfälle 2,3; schwere Erkrankungen im Säuglingsalter bei 52, von Geburt ab
künstliche Ernährung bei 55; überstandene Rachitis bei 36; Rachitis invete-
rata bei 20; spätes Zahnen bei 46, spätes Gehenlernen bei 44; Epilepsie: 3,6;
Chorea: 0,8; Lues mit Krämpfen 1,4; zerebrale Kinderlähmung 0,8; schwere
Kopfverletzungen 5. Die Schädelmessungen führten zu folgenden Resul-
taten: Schädel abnorm groß: 10; davon hydrokephal: 2,8; abnorm klein: o;
eckig: 4,1; asymetrisch: 10; Turmschädel: 2,8. Mangelhaften Farbensinn
hatten 70, totale Farbenblindheit 4,7; gleichmäßige Leistungen in den
einzelnen Elementarfächern zeigten 43, besondere Schwäche im Schreiben 9,
im Lesen 18, im Rechnen 24, Mangelhaftigkeit der Auffassungsgabe 12, des
Gedächtnisses 20, der Aufmerksamkeit 23.
Der Raum gestattet mir nicht, hier alle Ergebnisse genauer
zu besprechen. Das Buch bietet ein reichhaltiges Material, welches gut
nach allen Richtungen hin durchgearbeitet ist. Die Darstellung ist über-
sichtlich und klar.
Zum Schluß erörtert der Verfasser noch einige „hilfsschulärztliche Forde-
rungen". Von diesen will ich nur die erwähnen, daß er verlangt, der Schul-
arzt soll an der Hilfsschule nicht nur als beratender, sondern als direkt
behandelnder Arzt angestellt werden. Mit diesem Verlangen wird er wohl
bei den Schulverwaltungen, bei den Eltern und — last not least — bei
seinen eigenen Berufsgenossen, also bei allen in Betracht kommenden Fak
toren, auf berechtigten Widerspruch stoßen. Daß diese zwangsweise schul-
ärztliche Behandlung im weiteren Ausbau des Hilfsschulwesens unerläßlich
sei, will mir trotz mancher Gründe, welche dafür sprechen, nicht recht ein-
leuchten.
Hoffentlich regt das Buch, welches sowohl Aerzten als auch Lehrern zum
Studium empfohlen werden kann, zu weiteren Veröffentlichungen auf diesem
Gebiete an.
Wuhlgarten. F. Schepp
Oskar Pfungst: „Das Pferd des Herrn von Ostc n" (d e r
kluge Hans), ein Beitrag zur experimentellen Tier-
und Menschen-Psychologie, mit einer Einleitung
von Professor C. Stumpf.
In diesem Werke gibt uns der Verfasser, Herr cand. phil. et med.
O. Pfungst, eine eingehende Schilderung der Experimente, die Herr
Geheimrat Professor Dr. Stumpf in Verbindung mit ihm und Herrn
Dr. von Hornbostel mehrere Wochen hindurch mit dem ..klugen Hans"
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Berichte und Besprechungen.
383
angestellt hat. Wir haben hier unantastbare wissenschaftliche Beweise für
das Gutachten des Herrn Prof. Stumpf vom 9. Dezember 1904. Herr
Prof. Stumpf behauptete darin, daß von einer Denkfähigkeit des „klugen
Hans" keine Rede sein kann, daß Hans weder zu rechnen noch zu lesen
oder zählen vermag. Die richtigen Antworten des Tieres sind weiter nichts
als Reaktionen der feinen und feinsten Bewegungen, die es an dem Frage-
steller wahrnimmt. Verschließt man dem Hengste die Ohren so, daß er
selbst das leiseste Geräusch nicht hören kann, so löst er seine Aufgaben
dennoch richtig. Läßt man aber seine Ohren frei und entzieht den Fragenden
seinen Blicken, so ist nie eine richtige Antwort aus ihm herauszubringen.
Das Tier reagiert auf keine akustische Frage und hat nie darauf reagiert,
wold aber auf optische Zeichen. Nicht jedem gelingt es, erfolgreich mit Hans
zu experimentieren. Am besten glückt dies außer den Herren von Osten
und Schillings dem Verfasser des vorliegenden Werkes. Herr P f u n g s t
war zunächst selbst darüber überrascht, daß das Pferd ihm richtig ant-
wortete; er wußte zuerst selbst nicht, daß er durch unwillkürliche Bewegungen
dem Tiere die Antwort „zeigte". Dies ist insofern wichtig, als damit bewiesen
ist, daß kein Betrug vorliegt.
Herr P f u n g s t unterscheidet je nach der Lösung dreierlei Aufgaben :
nämlich solche, die durch Treten, durch Kopfbewegungen oder durch Hin-
gehen des Pferdes gelöst werden. Zur ersten Kategorie gehören die Rechen-
aufgaben. Das Pferd hat die Lösung durch eine bestimmte Anzahl Tritte
mit einem der beiden Vorderhufe anzugeben. Der Fragende steht dabei an
der Seite des Tieres, und zwar am besten 1/4— 1/2 m nach hinten. Weiter als
4 Vi m darf er sich nicht entfernen, da er dann schon aus dem Ciesichts-
felde des Pferdes gewichen ist. Der „kluge Hans" hilft sich in solchen
Fällen überdies selbst, indem er den Kopf, soweit das geht, nach dem
zurückgetretenen Fragesteller wendet, wie er überhaupt stets offensichtlich
bemüht ist, den Fragenden im Auge zu behalten.
Er hört mit Treten auf, sowie er eine wenn auch noch so geringe Auf
wärtsbewegung des Kopfes an dem Fragenden wahrnimmt. Steht der
Fragende aufrecht, so gibt das Pferd keine Antwort, er kann fragen, was
er will. Erst von dem Augenblicke an, wo er sich etwas bückt, beginnt das
Pferd zu klopfen, selbst wenn gar keine Frage gestellt wird. Wie kommt nun
das Pferd dazu, erst dann zu treten, wenn der Fragesteller eine gebeugte
Haltung einnimmt? Die Antwort liegt auf der Hand! Jeder Fragende m-igt
sich unwillkürlich, und sei es nur etwas mit dem Kopfe, um den Huf
des Pferdes zu beobachten, ob derselbe mit der richtigen Anzahl Tritte
antwortet. Dies hat Herr von Osten gleich von der ersten „Rechen-
stunde" ab getan, und anstatt des Rechnens hat er den aufmerksamen
Hengst gelehrt, zu scharren, wenn eine neben ihm stehende Person nach
seinem Hufe blickt. Die Stellung ist hierbei nicht maßgebend, wenn sich
auch der Hengst daran gewöhnt hat, daß der Fragende an seiner Seite
steht, da er hier denselben am besten beobachten konnte. Von aus-
schließlicher Bedeutung allein ist die Haltung des
Fragestellers, sowohl für den Beginn als für de n Schluß
des Trete n s. Das Schlußzeichen für das Treten ist <-ine Aufwärts
bewegung, weicht- das Tier an dem Fragenden wahrnimmt, und sei sie noch
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384
Berichte und Besprechungen.
so gering. Der Grund hierfür ist in derselben Erklärung wie für den Beginn
des Tretens zu finden: der Erwartungsaffekt bewirkt, daß der Fragende
unwillkürlich den Kopf wieder hebt, wenn der Hengst die gewünschte
Anzahl Tritte getreten hat. Läßt sich der Tragende nicht von dem Er-
warrungsaffekt beeinflussen, behält er also die beobachtende gebeugte
Haltung bei, so tritt der Hengst ruhig weiter. Das haben sämtliche Versuche
bewiesen. Die Tatsache, daß der Erwartungsaffekt oder die dadurch hervor-
gerufene Hebung des Kopfes den Schluß des Tretens bedingt, ist auch der
Grund dafür, daß nicht jeder Fragesteller die richtige Antwort erzielt,
da der Erwartungsaffekt nicht bei jedermann stark genug ist, um eine
Bewegung des Körpers zur Folge zu haben. Die gesprochene Frage spielt
bei sämtlichen Experimenten keine Rolle. Man kann den größten Unsinn
fragen, das Pferd antwortet nur gemäß der Haltung des Fragestellers.
Auf die Haltung kommt es auch bei den beiden anderen Kate-
gorien von Fragen an. Die Kopfbewegungen, die zur Lösung der Aufgaben
der zweiten Kategorie dienen, bestehen in Heben und Senken, Nicken
und Schütteln oder Wendungen des Kopfes nach rechts und links. Sie ant-
worten auf Fragen, wie: „Hans, wo ist dein Kopf, wo sind deine Beine?" usw.
Auch hier kommen nur optische Zeichen, in keiner Weise aber akustische
Aufforderungen in Betracht. Daß eine Kopfbewegung und kein Treten
verlangt war, merkte der Hengst sofort an der Stellung und Haltung des
Fragenden. Dieser steht hierbei vor oder neben dem Kopfe des Pferdes
und muß eine aufrechte Haltung annehmen. Blickt der Fragende den
Hengst geradeaus an, nimmt er also sozusagen eine neutrale Haltung
an, so macht das Pferd alle möglichen Kopfbewegungen — es weiß eben
nicht, was von ihm verlangt wird. Hebt oder senkt der Fragende den Kopf,
wendet er ihn nach rechts oder links, so ahmt ihm das Pferd hierin nach.
Und dabei kann man die beliebigsten Fragen stellen! Sic werden nur
dann richtig beantwortet, wenn die Frage — zu der Bewegung paßt. So
blickte z. B. auf die Frage: „Hans, wo sind deine Beine?" das Pferd gen
Himmel, wenn der Experimentator, Herr Pfungst, den Kopf etwas
hob, u. a. m. Auch hier sind die Bewegungen, die das Pferd an dem Kopfe
des Fragestellers wahrnimmt, weiter nichts als Aeußerungen des Erwartungs-
affektes, wenn sie unbewußt geschehen.
Schließlich wurden dem „klugen Hans" Fragen gestellt, die durch
Hingehen zu lösen waren. Man lüng hierzu etwa acht farbige Lappen von
ca. Vi m Breite und 1/2 m Länge in Mannshöhe auf einer Schnur auf oder
legte sie nebeneinander auf die Erde, und zwar so, daß zwischen den
einzelnen Lappen ungefähr '/* in Zwischenraum war. Größe, Farbe und
Zwischenraum sind bei dem Versuch von nebensächlicher Bedeutung; nur
wird dem Pferde die Arbeit dadurch bedeutend erleichtert, daß man die
Zwischenräume möglichst groß macht und das Pferd nicht zu weit weg
stellt, so daß das Tier immer sofort merkt, welchem Lappen man sich zu-
neigt. Denn auch bei diesen „Fragen" las der „kluge Hans" die Antwort
aus der Haltung seines Examinators ab. Man nannte dem Hengste die
Farbe eines Lappens und befahl ihm, den betreffenden Lappen zu holen.
Unwillkürlich neigt der Fragend? Kopf oder Hand in der Richtung des
Lappens. Ist die Bewegung deutlich genug, so findet das Pferd den ver-
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Btrirhte und Besprechungen
385
langten Lappen, ergreift ihn mit den Zähnen, wenn er auf der Erde
liegt, und stößt ihn mit der Nase an, wenn er auf der Schnur hängt. Gerade
bei diesen Versuchen sind Irrtümer 9ehr leicht möglich, da aus der Be-
wegung des Fragenden die Richtung des Lappens oft nicht deutlich genug
zu erkennen ist, besonders wenn die Lappen noch dazu etwas eng hängen.
Daß Hans meist auch beantworten mußte, an welcher Stelle der Lappen
von rechts nach links gezählt hing, ist hierbei nur nebensächlicher Natur und
muß wieder zu den Fragen der ersten Kategorie gerechnet worden. Statt
der Lappen konnte man auch beschriebene Papptafeln nehmen.
Um noch einmal kurz zusammenzufassen: das vorliegende Werk bringt
uns den wissenschaftlichen Beweis für das Gutachten des Herrn Geheimrat
Stumpf vom 9. Dezember 1904. Hans kann weder rechnen, zählen, lesen
noch Farben unterscheiden. Der Schlüssel zur Erklärung seiner richtigen
Antworten liegt einzig und allein in der Haltung des Fragestellers. Die*
Menge und Regellosigkeit seiner Fehler, dann die Tatsache, daß er richtig
antworten kann, wenn man sein Gehör völlig abschließt, daß er aber nie
richtig antwortet, wenn man den Fragenden seinen Blicken entzieht, oder
wenn sich der Fragende absichtlich an seiner Haltung nichts merken läßt,
sind die hauptsächlichsten Belege dafür. Wir können das Werk des Herrn
P f u n g s t angelegentlichst empfehlen ; es ist klar und übersichtlich
geschrieben und gibt uns nicht nur einen deutlichen U eberblick über die
Geschichte des „klugen Hans" und der mit ihm angestellten Versuche,
sondern ist auch ein wichtiger Beitrag zur experimentellen Tier und
Menschenpsychologie.
Weißensee. Markowski.
F. Gansberg (Lehrer in Bremen): Streifzüge durch die
Welt der Großstadtkinder. Verlag von Teubner,
Leipzig und Berlin.
Die Schrift zeigt dem Anschauungsunterrichte neue Bahnen, mit dem
Pestalozzi sehen Prinzip soll gebrochen werden. Fort mit An-
schauungsobjekten, mit Modellen und Bildern, mit Naturgeschichtlichem
und Dörflichem. Diese Dinge sind tot, das Stadtkind kennt sie noch nicht.
Aber das Leben in der Stadt, das sich in lebendigen Worten darstellen
läßt, bietet einen passenden und anregenden Anschauungsstoff. Die selbst-
geschauten Dinge, wie sie sich geben und verändern, wie sie miteinander
wirken und sich bedingen, sind ein Problem des Unterrichts. Erzählung und
Schilderung, weil sie als Hauptmittel das Leben zur Darstellung bringen,
müssen zu Methoden des Anschauungsunterrichts werden. Die Kinder tragen
zusammen, was sie auf der Straße und .anderswo erlebt haben ; dabei muß
ihre Phantasie produktiv mitwirken.
Der Verfasser schildert in ansprechenden Erzählungen die Jahres-
zeiten: wie man den Frühling im Krankenzimmer durch das geöffnete Fenster
wahrnimmt, ihn erkennt an Blütenduft und Vogclgesang, an Kinderspiel
und zankenden Spatzen; wie man den Sommer verspürt durch das Treiben
auf der Promenade, den Herbst an den Obstwagen und aufsteigenden
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 9
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Berichte und Bcm» uchungen.
Drachen, wie der Winter sich z. B. durch den im Pelze steckenden Droschken
kutscher charakterisiert. Anschließend folgen Gänge durch Kaufläden; vor
einem Neubau wird „Halt" gemacht und allerlei Arbeit und Erfindung
besprochen. Auch wird erzählt, auf welche Weise man selbst zum tüchtigen
Handwerker, Kaufmann und Künstler werden kann.
Es ist nicht zu verkennen, daß Gansberg in seinen Streifzügen einen
lebensvollen Unterricht schafft. — Doch ist freilich nicht zuzugeben, daß
er etwas ganz Neues bringt.
Wer z. B. die Schulstube bespricht, hat jederzeit das Tun und Treiben
in ihr in den Vordergrund gerückt. Man ist wohl auch mit den Kindern
nach Hause gewandert und ließ sich von dem Leben in Kinder- und Wohn-
stube, von dem Treiben auf dem Hofe, in der Werkstätte und im Laden
berichten. Auf dem Rückwege betrachtete man das Rathaus, das Post-
amt, und spricht von den Einrichtungen und Vorgängen in ihnen.
Mit der Verbannung guter Bilder aus dem Anschauungsunterrichte kann
man sich gar nicht einverstanden erklären. Wer nach dem Holzel sehen
Bilde den Sommer bespricht, wird beispielsweise bei der Ernte von dem
Leben und der Arbeit der Schnitter und Schnitterinnen, von der Sense
und dem Getreide, von Korn ^md Stroh, von Mühle, Müller und Mehl,
Bäcker und Brot reden müssen. Da haben wir das Leben bis in die feinsten
Auszweigungen.
Weißense c. R. Leuen berg.
Kalender für Lehrer und Lehrerinnen an Schulen und
Anstalten für geistig Schwache, herausgegebe n von
Fr. Frenzel, J. Schwenk und E. Schulze. Dritter Jahr-
gang (1907/08). Verlag von K. G. Th. Schefferin Leipzig.
2 Mk.
Der Hilfsschulkalender erschien zu Ostern zum drittenmal; daß er
sich zunehmenden Beifalls auch bei Behörden und Magistraten erfreut,
darf man wohl annehmen, denn das Großherzogliche Ministerium in Darm-
stadt hat 100 Mk., die Städte Weimar, Erfurt, Breslau und Metz haben je
20 Mk. für seine Fortführung bewilligt. Denn man darf nicht verkennen:
dieser Kalender konnte von Beginn an nicht auf einen so großen Kreis
von Berufsgenossen zurückgreifen wie mancher andere „Fachkalcnder", und
so hat er sich allmählich erst seinen Platz zu erobern. Er tut's durch Sorgfalt
in den Nachrichten und Statistiken, und letztere verheißen ihm für die
Zukunft wohl eine günstigere Lage, als er sie bisher hatte: ist doch die Zahl
der Hilfsschullehrer — wie sich aus einem Vergleich der beiden letzten
Jahrgänge ergibt — von ca. 600 auf 800 gestiegen. Immerhin ist das für
ein Kalenderwerk noch nicht viel, und wir sprechen deshalb den auf
richtigen Wunsch aus, daß alle Hilfsschullchrer sich des Buches bedienen
wollen. Dadurch wird es möglich sein, ihn in Zukunft allmählich zu ver-
billigen.
Aus dem Inhalt ist hervorzuheben Frenzcls Umschau und seine
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Berichte und Besprechungen. 38?
Statistik der Hilfsschulen und die Personalien. Die Statik der Anstalten
und die Personalien der Anstaltslehrkräfte rührt von Schwenk her. Die
gesetzlichen Bestimmungen lassen sich in der Kalenderausgabe angenehm
mitführen. Von Rektor H enze rührt ein „Ueberblick über die Entwicklung
des Hilfsschulwesens' * her; Pieper behandelt dasselbe Thema für die
„Konferenz für das Idioten- und Hilfsschulwesen". F r e n z e 1 wiederum
hat die Literarurübersicht aus den Jahren 1905 und 1906 geliefert. Schulze
die Uhr- und Lernmittel bearbeitet. Es folgt der übliche Kalenderinhalt
tiod dann der Notizenraum für die 52 Wochen, der diesmal Anregungen zu
Beobachtungen an Fluß und Teich bringt.
Weißensee. R. Leuenberg.
1
9"
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Mitteilungen.
Deutscher Lehrertag.
In der am 4. Juni in München abgehaltenen Vertreterversammlung des
Deutschen Lehrervereins wurde die Tagesordnung für die beiden Haupt«
Versammlungen wie folgt festgesetzt. 1 . Festvortrag von Prof. Dr. Theobald
Z i e g 1 e r - Straßburg über die deutsche Volksschule am Anfang des
20. Jahrhunderts. 2. Die Lehre rinnenfrage. Referent Oberlehrer
Laube- Chemnitz. 3. Die Simultanschule. Referenten Oberlehrer Gärtner-
München und Lehrer Lütgemeier - Heiden (Lippe). Beschlossen wird,
für die mit den deutschen Lehrerversammlungen verbundenen Lehrmittel-
ausstellungcn einen wissenschaftlichen Beirat einzusetzen. Ein Antrag, für
die Verhandlungen auf den Versammlungen neue Satzungen zu vereinbaren,
wurde vertagt. Stadt und Lehrerverein Dortmund laden die nächste Deutsche
Lehrervcrsammlung nach Dortmund ein.
Zu Vorsitzenden der Hauptversammlungen wurden gewählt: Lehrer
Röhl- Berlin, Oberlehrer Schubert-Augsburg und Oberlehrer Reinlein-
München.
Der Begrüßungsabend, der von 7 bis 8000 Personen besucht war, wurde
vom Oberlehrer Dr. Reinlein eröffnet. Oberlehrer Strobl, Vor-
sitzender des Münchencr Lehrervereins, hielt die Begrüßungsrede. Alle
deutschen Stämme, so führt Redner aus, sind vertreten. Die deutschen
Stämme können nicht oft genug zusammenkommen. In München, die nicht
nur die Bierstadt, sondern auch die Stadt der allgemeinen Volksschule ist,
im „dunklen Bayern", ist für die Volksbildung in den erwerbenden und ge-
bildeten Volksklasscn ein lebhaftes Interesse. Herzlich willkommen im gast-
lichen München! (Lebhafter Beifall.)
Oberlehrer Noll- München, Vorsitzender des Oberbayerischen Bezirks-
lchrervercins. spricht die Freude der altbayerischen Lehrer über die Tagung
der Deutschen Lehrerversammlung in ihrem Kreise aus. Die Altbayern stehen
treu im deutschen Bruderbünde. Sie wollen Vasallen des großen Gedankens
sein, der im Deutschen Lehrervercin lebt. Der schulpolitische Himmel
im Bayerlande ist schwarz. Aber die Begeisterung der Lehrerschaft wird
niemand ertöten können. Wie der Wanderer auch in trüben Tagen, so
wird die Lehrerschaft doch fortschreiten. Unsere gute Sache wird siegen,
wenn wir alle „in eine Kerbe schlagen". Fest wie die Häupter ihrer Berge
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Mitteüunam
389
steht die altbayeriachc Lehrerschaft im großen Bruderbunde. „In Eintracht
furchtlos vorwärts!" so schließt der Redner unter brausendem Jubel der
Versammlung. Die Räume sind inzwischen so überfällt, daß ein großer
Teil der Anwesenden auf polizeiliche Anordnung das Lokal verlassen muß.
Lehrer Ernst Weber - München spricht einen Prolog, der den
Anschluß des Bayerischen Lchrervercins an den Deutschen Lehrerverein be-
handelt. (Großer Beifall.)
Stadtschulrat Studienrat Dr. Kerschensteiner heißt die Ver-
sammlung seitens der Münchener Stadtverwaltung willkommen, und erörtert
in interessanten Ausführungen den Kampf um die Volksschule. Alle, die ihr
Vaterland lieben, die an seine Zukunft glauben, verfolgen die Entwickelung
der Volksschule. Die Volksschule streute die Saaten, die die nächste
Generation ernten wird. Die Ideale der deutschen Volksschullehrer sind* schwer
ru verwirklichen. Aber sie mögen danach „klettern", das gibt Kraft zur
Arbeit und zum Kampfe. (Jubelnde Zustimmung.)
Ein „Münchener Kindl" trägt ein humoristisches Gedicht im Münchener
Dialekt vor.
Oberschulrat Dr. Salwürk begrüßt namens der badischen Unter»
richtsvcrwaltung, die nach Kräften an der Hebung des Volksschulwesens
arbeitet, die Versammlung. (Beifall.)
Fräulein Siegl überbringt die Grüße des Münchener Lehrerinnen-
vereins.
Namens des geschäftsführenden Ausschusses des Deutschen Lehrer-
vereins spricht Lehrer Höhne- Berlin. Harte Arbeit, schwere Kämpfe
haben die deutschen Lehrer zusammengeführt. Möge Kampf und Arbeit
zum schönen Ziele führen. (Lebhafter Beifall.)
Noch eine große Zahl von Rednern schließt sich an.
Die Besucherzahl ist größer als auf irgendeiner früheren Ver-
sammlung.
In der ersten Hauptversammlung sandte der Lchrertag Huldigungs-
tt-lcgramme an den Kaiser und den Prinzregenten von Bayern. Das Tele-
gramm an den Kaiser lautete:
„An Seine Majestät den Kaiser. Die Deutsche Lehrerversammlung,
der Tausendc von Schulmännern aus allen Gauen des Reiches bei-
wohnen, huldigt Euer kaiserlichen Majestät mit dem Gelöbnis, in die
Herzen der deutschen Jugend die Liebe zu Kaiser und Reich zu
pflanzen."
Hierauf hielt Professor Z i e g 1 e r - Straßburg, von stürmischem Bei-
fall empfangen und wiederholt von Reifallskundgebungen unterbrochen,
seinen zweistündigen Vortrag über das Thema: „Die deutsche Volksschule
am Anfang des 20. Jahrhunderts", über den wir unten ausführlich berichten.
Erste Hauptversammlung.
Der große Saal des Münchener Kindl ist wie am Begrüßungsabend
bis auf den letzten Platz gefüllt. Auffallend stark sind die Lehrerinnen ver-
treten. Von dem BegrüDungsabend ist noch nachzutragen eine imit stürmischem
Beifall aufgenommene Ansprache von Prof. Dr. S i e p e r - München namens
der Neuphilologen, der die Volksschullehrer der wärmsten Sympathien der
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390
^ t $ y% ^^^^ '
Oberlehrer für die allgemeine selbständige Volksschule versichert, sowie
Begrüßungen aus Oesterreich, Hessen und Königsberg.
Der erste Vorsitzende des Deutschen Lehrervereins, Lehrer R ö h 1 •
Berlin, eröffnet die Versammlung, dankt der Stadt München für ihre gast-
liche Aufnahme und begrüßt die Vertreter der Staats- und Gemeindebe-
hörden. Die letzteren sind besonders zahlreich, Lehrer und Schulmänner
sind auch aus anderen Staaten erschienen. Besonderen Beifall erregt die
Teilnahme französischer Lehrer.
Nach einem Festgesange teilt der Geschäftsführer der Versammlung,
Rektor B ö 1 1 n e r - Friedrichsroda, mit, daß auf der Versammlung 1 10 ooo
deutsche Lehrer durch 310 Abgeordnete vertreten sind, dazu 80 Vcr
treter von Staats- und Gemeindebehörden. Anwesend sind über 500 Teil-
nehmer.
Der Vorsitzende widmet dem am 28. Dezember v. J. verstorbenen
langjährigen Vorsitzenden des Deutschen Lehrervereins, Leopold Claus-
nitz e r , einen warmen Nachruf, den die Versammlung stehend anhöru
Der Vorsitzende führt des weiteren aus: Die Deutsche Lehrerversammlung
sei nach München berufen worden, um den bayerischen Lehrern die Sym-
pathien der 'Gesamtheit auszusprechen und um in München die Stadt
der allgemeinen Volksschule und der aufstrebenden Simultanschule kennen
zu lernen. Die Versammlung möge fest und sicher Stellung nehmen zu
den auf der Tagesordnung stehenden Gegenständen, auch zu der Lehrerinnen-
frage, trotz der an die Versammlung selbst angeschlossenen Agitation aus
den Kreisen der Lehrerinnen. Die deutsche Schule gehört dem deutschen
Volke. Diese Erkenntnis zu befestigen, ist der Vortrag des Protestredners
bestimmt.
Namens der bayerischen Regierung und des Kultusministeriums begrüßt
Staatsrat B u m m die Versammlung. In der Ansprache wurde die große
Aufgabe der Volksschule und die hohen Ziele der Lehrervereine besonders
hervorgehoben und die Berechtigung der Kritik der Unterrichtsverwaltun-
gen durch die Lehrervereine anerkannt. (Beifall.) Der Vertreter der Kreis-
regierung von Oberbayern, Baron von Klingenberg begrüßt namens
seiner Behörde.
Bürgermeister B r u n n e r (mit starkem Beifall empfangen) begrüßt
die Versammlung namens der Stadt München. Redner weist darauf hin,
daß die Entwickelung des deutschen Volksschulwesens eine Frucht des
nationalen Aufschwunges gewesen ist. Was die deutschen Städte für die
Volksschule getan haben, ist ihr schönstes Ruhmesblatt. Auch München
habe die Fürsorge für die Volksschule stets als ihre erste Aufgabe be
trachtet. 1 1
Oberlehrer Dr. R c i n 1 e i n kennzeichnet in seiner Begrüßung
namens des Münchener Lehrervereins und des Ortsausschusses die Ent
wickelung des Münchener Volksschulwesens und die Bildungsfreundlichkeit
des Münchener Bürgertums. Auch die Lehrerinnen- und Schulaufsichts
frage sei in München glücklich gelöst. Oberlehrer S c h u b e r t - Augsburg,
Mitglied des Landtages (mit großem Beifall empfangen), betont, daß dem
Bayerischen Lehrerverein nur einige hundert Lehrer Bayerns nicht auge
hören. Der Bayerische Lehrerverein werde den Kampf um die Volksschule,
i
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Mitteilungen.
391
wenn's sein müsse, auch mit den schärfsten Waffen fortführen. Der Verein
bekümmert sich nicht um Konfession und Partei, er kämpft für die Kultur
des Volkes. Darum haben die feindlichen Mächte den Verein nicht sprengen
können. Auch der Vertrauensseligste werde bald darüber belehrt, wo die
christliche Liebe wohnt. Heute erhebt die Reaktion im ganzen Deutschen
Reiche ihr Haupt. Darum müssen wir uns fester zusammenschließen als
je. „Vom Fels zum Meere, von dem fernen Osten bis zum Wasgau mit
blanker Waffe und festem Blicke vorwärts!" (Großer Jubel, der sich oft
wiederholt.)
Dann nimmt das Wort Univexsitätsprofessor Dr. Theobald Zieg-
ler zu seinem Vortrage über die deutsche Volksschule am Anfang des
zwanzigsten Jahrhunderts.
Redner führt aus: „Wir sind in einer schweren Schlacht besiegt
worden. Die Annahme der preußischen Schulvorlage erscheint gesichert.
Konfessionalismus, Bureaukratismus und Opportunismus haben den Sieg
davongetragen. Das ist ein schwerer Schlag für die ganze deutsche Schule.
Um das Urteil der deutschen Lehrerschaft, der in erster Linie Sachver-
standigen, hat sich niemand dabei bekümmert. Wir waren diejenigen, die dem
Staate die Schule erhalten wollen. Wir werden weiter kämpfen, wie Rom
nach der Schlacht bei Cannä und Preußen nach Jena. Wir beraten hier in
München über die Simultanschule, die man in Berlin zum Hungertode ver-
urteilt hat. Die große Teilnahme der Bevölkerung an den Kämpfen um die
Volksschule beweist, daß sie nicht mehr das Aschenputtel ist. Die Ver-
treter von Kunst und Wissenschaft wissen, daß die Kultur ihre Wurzel
in der Volksschule hat. Zwei große Ideen beherrschen unser Volksleben,
die demokratische und die individualistische Richtung. Die Volksschule
wird von der demokratischen Richtung getragen. Wir sind nicht mehr
die willenlosen „Untertanen", sondern mitratende und mittatende Staats-
bürger. Erst auf diesem Boden kann eine allgemeine Volksschule sich ent-
wickeln. Aus dem Grundsatz der staatsbürgerlichen Gleichheit folgt die
gemeinsame Grundschule, ohne Standes- und Vorschulen, die dem Tüchtigen
den Weg ebnet. Der Volksschullehrer unserer Zeit muß die Augen weit
aufmachen, um den Aermsten und Elendesten den Weg zur Bildung frei
zu machen. Sozial erziehen, heißt die Kraft im Volke frei machen, für die
Arbeit erziehen, aber auch alles andere Große und Gute im Menschen ent-
wickeln, so daß die Seelen nicht „ tagelöhnern". Darum muß der Lehrer
ein sozialer, ein ideal gerichteter Mensch sein, er muß die Anlage dazu
mitbringen und in seiner Ausbildungszeit dazu erzogen werden. Ideale
Gesinnung läßt sich nicht lehren, sie ist angeboren und überträgt sich
von einem warmen Herzen auf ein anderes. In jedem Unterricht läßt sie
sich pflegen, nicht nur im Religionsunterricht, dessen Mcmoriermaterialis-
mus Redner in scharfen Worten geißelt. Aber die Religion gehört in die
Schule, der Lehrer darf sie der Kirche nicht allein überlassen. Solange
Religion und Schule Volkessachc sind, gehören beide zusammen. Aber
zwischen Wissen und Religion besteht ein scharfer Gegensatz, der sich auch
den Kindern in der Schule nicht mehr verschleiern läßt. Den Gegensatz
zwischen Religion und Wissenschaft kann man nicht so beseitigen, daß der
Pfarrer im Religionsunterricht etwas anderes sagt als der Lehrer in der
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392
Mitteilungen
Naturkunde. Nur der Lehrer, dem es weder um die Wissenschaft, noch
um die Religion an sich ru tun ist, sondern um das Kind, kann dem
Kinde über jene Konflikte hinweghelfen. Darum muß auch die Schule
von jeder geistlichen Fremdherrschaft frei sein. (Beifall.)
Der sozialen Richtung unserer Zeit steht die individualistische Tendenz
gegenüber. Die Volksschule gibt Massenerziehung, sie kann nicht indi-
vidualisieren, sie muß alles Feminine und Sentimentale abweisen. In ihr
muß das eherne Gesetz der Gleichheit herrschen. Und doch muß die
Volksschule auch dem Individualismus Rechnung tragen. Das kann sie,
wenn der Lehrer selbst eine feingebildete Persönlichkeit ist. Der Bildungs-
eifer der deutschen Volksschullehrer steht beispiellos da. Aber die Vor-
bildungsanstalten entsprechen ihrer Bestimmung nicht. Sic müssen frei,
nicht konfessionell, sondern simultan und human sein. Der Lehrerbildung
müssen auch die Universitäten dienen. Die Univershätsausdehnungsbewegung
muß sich zu allererst an die Volksschullehrer wenden. Der Lehrer muß
insbesondere als FortbildungsschuUehrcr ein ganzer Mann sein. Nur solch
ein Lehrerstand wird in der Lage sein, die Jugend in die nationale Kultur
ohne kleinliche, schulmeisterliche Pedanterie, die den Inhalt über der Form
vergißt, eindringen zu lassen.
Eine Vermittelung zwischen der sozialen und individualistischen Richtung
bietet das Nationale. Durch unser Volk geht eine zu gewollte, gezüchtete
Vaterlandslosigkeit. Welche Schuld trägt die Volksschule daran ? Wenn
die „kleinen Leute" ihr Vaterland lieben sollen, muß es ihnen auch liebens
wert gemacht werden. Das kann die Heimatkunde, die deutsches Land und
Volk schildert, »deutsche Sprache und Sitte und deutsches Lied dem Kinde
gibt. FreUich müssen die staatlichen Verhältnisse auch danach sein. Die
Schule ist ein Staat im kleinen. Wie sie regiert wird, so wächst unsere
Jugend in die bürgerliche Gemeinschaft hinein. Daneben aber soll der
Unterricht das Werden und Sein des deutschen Volkes schildern. Dann wird
eine Generation heranwachsen, die frei ist von allem Konfessionalismus und
Bureaukratwmus, und die stark ist tn sozialen Taten. Wenn die Volksschule
in diesem Geiste arbeitet, werden die Besiegten von heute die Sieger
von morgen sein. (Brausender, sich oft wiederholender Beifall.)
Hiermit erhält Oberlehrer L a u b e - Chemnitz das Wort zu seinem
Vortrage über
die Lehrerinnenfrage:
Die deutsche Lehrerversammlung hat seit 25 Jahren über die Lehrerin
nenfragc nicht verhandelt. Nicht „Konkurrenzneid" und die Sorge um die
Zukunft unseres Standes haben uns zur Wiederaufnahme des Gegenstandes
veranlaßt, sondern die Sorge um die Schule. Die starke Zunahme der
Lehrerinnen und die Ansprüche der Lehrerinnen auf die Schulleitung haben
in erster Linie den Anstoß dazu gegeben. Redner weist das Wachstum der
Lehrcrinnenzahl im einzelnen nach. Die Lehrerinnen verlangen die Mädchen-
schule ganz für sich, einzelne sogar alle gemischten Klassen und die
unteren Knabenklassen, so daß den Männern nur noch die drei oberen
Knabenklassen verbleiben sollten. Referent will die Lehrerinnenfrage nicht
als Standes-, sondern als Schulfrage betrachten. Die Lehrerin ist au*
sozialen, nicht aus pädagogischen Gründen in die Schule gekommen. !>«■'
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303
Deutsche Lehrcrversammlung könne sich der Frauenfrage gegenüber weder
auf den reaktionären, noch auf den radikalen Standpunkt stellen. Sie
müsse als eine geistige und wirtschaftliche aufgefaßt werden. Darum mußte
den Frauen auch der Lehrerberuf eröffnet werden. Aber die Schule dürfe
nicht iur Versorgungsanstalt für unverheiratete Frauen herabsinken. Nur
das Interesse der Schule könne über die Art und den Umfang der Zu-
lassung der Lehrerinnen entscheiden. Der Mann ist der Schöpfer des Kultur-
fonds, die Frau die Prägerin und Bewahrerin der Sitte. Danach bestimmt
sich auch der Anteil der Geschlechter an der Erziehung. Die Frau kann
nicht, wie die Frauenrechtlerinnen sagen, nur von der Frau, sondern muß
von Mann und Frau erzogen werden. Die häusliche Erziehung liegt fast
ganz in den Händen der Frau, der Mutter. Der Vater ist an der Aus-
übung seiner Erzieherfunktionen in vielen Kreisen ganz gehindert. Darum
muß die öffentliche Erziehung ein großes Plus an männlichen Erziehungs
cinflüssen aufweisen, in erster Linie in Knaben-, aber auch in Mädchen-
schulen. In einer Zeit, in der viele Mädchen in das Leben, in den
Konkurrenzkampf hinaustreten, ist es nötig, daß sie die Waffen in diesem
Kampfe aus den Händen des Mannes entgegennehmen. Darum kann die
Forderung, die Mädchenschulen ganz der Lehrerin auszuliefern, nicht ge-
billigt werden. Auch die Gründe, die von den Führerinnen der Lehrerinnen
für ihre Forderungen vorgebracht werden, sind nicht stich haltig. Die
Lehrerin kennt die Mädchenseele keineswegs besser als der erfahrene
Lehrer. Erfahrungsgemäß sind die Beziehungen zwischen Lehrern und Schüle-
rinnen in der Regel inniger, die Aufmerksamkeit in von Lehrern geleiteten
Mädchenklassen durchweg größer als in Klassen, die von Lehrerinnen ge
führt werden. Redner zitiert hier den Direktor des Berliner Lehrerinnen-
Seminars Dr. Wychgram. Die Kenntnis des weiblichen Pflichtenkreises
ist bei den Lehrerinnen ebenfalls in der Regel nicht größer als bei ver-
heirateten Lehrern. Ebenso ist die Behauptung, der Lehrerin stehe eine
gröbere Auswahl von Erziehungsmitteln zur Verfügung, nicht richtig. Unseren
Mädchen fehlt auch bei mäßigem Lehrerinnenkontingent das weibliche Bei-
spiel nicht. Die Lehrerin kommt aber in höherem Alter recht oft in
eine Verfassung, die in dieser Beziehung kein Vorteil ist. Die oft angeführte
sexuelle Belehrung ist für die Lehrerin ebenso delikat als für die Lehrer.
Der weibliche Direktor sei solange nicht diskutierbar, als noch Männer
an den Mädchenschulen arbeiten.
Mann und Frau sind für die Erziehung gleichwertig, aber nicht
gleichartig. Jedes Geschlecht hat seine besonderen Qualifikationen, die
man abwägen muß, wenn es sich um die Volksschule im besonderen handelt.
Die Volksschule stellt große physische Anforderungen, die sich in der Sterb-
lichkeitsziffer aussprechen. Diesen Ansprüchen kann der Lehrer leichter
genügen als die Lehrerin. Das beweisen wissenschaftliche Untersuchungen
und die Berichte der städtischen Unterrichtsverwaltungen.
Redner erörtert sodann die Gründe, die der Frau die Schultorc so
schnell erschlossen haben: den Lehrcrmangel, das Interesse kirchlicher Kreise,
wirtschaftliche Verhältnisse und die angebliche größere Billigkeit der
Lehrerinnen. Es ist ein unhaltbares Phantom, den Mann durch die Frau
zu ersetzen. Beide Geschlechter sind nicht nur körperlich, sondern auch
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Mitteilungen.
geistig durchaus verschieden. Auch der Versuch, die Lehrerin als Schul-
erzieherin mit dem Mutterwert des Weibes zu begründen, ist nicht ge-
glückt. Die Lehrerin ist nicht Mutter, und die Schule ist nicht das Haus.
Das Zölibat der Lehrerinnen aufzuheben, ist nicht zu empfehlen. Zwei
eine ganze Kraft erfordernde Berufe können nur wenige Frauen ausfüllen.
Und in der Schule sind andere Aufgaben zu lösen, als in der häuslichen
Erziehung. Für den Mann ist der Lehrerberuf Lebensaufgabe, für die Frau
oft nur Durchgangsstadium. Darum liegt auf der männlichen Seite die
größere Wahrscheinlichkeit für volle Hingabe an den Beruf. Die Lehrerin
ist mehr als der Lehrer vom Leben abgeschlossen, darum oft pedantischer
als dieser. Aus allen diesen Gründen kann die Lehrerin den Lehrer nicht
ersetzen, sondern nur ergänzen. Der Frau soll die Schule nicht verschlossen
werden, sie mag neben dem Manne wirken, ihre Kraft erproben. Dann
wird man in einem späteren Stadium das Arbeitsgebiet der Lehrerinnen
genauer eingrenzen und bestimmen können. Die Lehrerinnenfrage hat aber
auch eine soziale und eine politische Seite. Es ist nicht von Vorteil, das
konservative Element der Frau in dem Kulturübermittelungsprozeß unver-
hältnismäßig zu verstärken. Die klerikale Schulpolitik erblickt in den Lehrerin-
nen ihre besten Werkzeuge, insbesondere in den in Klöstern vorgebildeten.
Gerade die deutsche Nation soll sich hüten, die männlichen
Geisteswerte durch weibliche zu ersetzen. Bei aller Bereitwilligkeit, die
Schule den Frauen zu öffnen, soll man dem Mann seinen Platz in der
Schule lassen. (Lebhafter Beifall.)
Referent legt folgende Leitsätze vor:
1. Für die Anstellung von Lehrerinnen an den Volksschulen darf
nicht das Bedürfnis der Frauen nach Erweiterung des Kreises weiblicher
Berufstätigkeit, sondern nur das Interesse der Schule bestimmend sein.
2. Die Erziehung der Jugend ist die gemeinsame Aufgabe beider
Geschlechter. Da aber in der Familie der weibliche Erziehungseinfluß vor-
herrscht, so muß die öffentliche Schulerziehung, die eine Ergänzung der
Familienerziehung bringen soll — in Knaben- und Mädchenschulen — vor-
nehmlich unter männlichem Einflüsse stehen.
3. Die Forderung, an Mädchenschulen nur Lehrerinnen anzustellen,
muß überdies noch aus folgenden Gründen abgelehnt werden: die Lehrerin
kann für sich weder ein tieferes Verständnis der Mädchennatur noch eine
größere* Kenntnis des weiblichen Pflichtenkreises beanspruchen, noch ver
fügt sie als Frau dem Mädchen gegenüber über eine reichere Auswahl
wirksamer Erziehungsmittel als der Lehrer.
4. Nach ihrer physischen und psychischen Verfassung, nach ihrer
Vorbildung, nach ihren sozialen Verhältnissen sind im allgemeinen die
Lehrerinnen nicht in dem Maße für die Arbeit in der Volksschule geeignet
wie der Lehrer. Sie können darum in der Volksschultätigkeit die Lehrer
nicht ersetzen, sondern nur ergänzen.
5. In der Verweiblichung des Lehrkörpers der Volksschule liegt eine
Gefahr für die Entwickelung der Schule, für ihre Unabhängigkeit und für
unser gesamtes Volkstum.
In der Debatte führt Fräulein S u m p c r München aus: Das eigene
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Mitteilungen.
Geschlecht hat die größere Fähigkeit, die besonderen Eigenschaften beim
Kinde erziehend zu entwickeln. Die Frau kann bei dem Mädchen nicht nur
das erkennen, was an der Oberfläche liegt. Darum sei auch ihre Einwirkung
eine größere. Die Einwirkung der Mutter werde von dem Referenten über-
schätzt. Die Frau werde oft durch Erwerbsarbeit absorbiert, auch seien
die Mütter oft nicht zur Erziehung geeignet. Die Lehrerin könne das spätere
Leben der Frau mehr berücksichtigen als der Lehrer. Darum verlangt sie die
Oberklassen der Volksschulen und die Fortbildungsschulen. (Rednerin hat
die geschäftsordnungsmäßige Redezeit erreicht, muß deswegen ihre Aus-
führungen abbrechen.)
Rektor Dr. B r ü c k m a n n - Königsberg spricht für größere Aner-
kennung der Lehrerin, ohne wesentlich Neues dabei vorzubringen.
Fräulein Helene Lange - Berlin nennt die Thesen eine Beleidigung
gegen die Lehrerinnen und droht mit einer Protestvcrsammlung am nächsten
Donnerstag. Sie bemängelt die praktische Erfahrung des Referenten.
In bezug auf die Frauenfrage sei fast jedes Wort eine Unwahrheit gewesen.
Die Lehrerinnen hätten die extremen Forderungen nicht in ihren Statuten
vertreten. Die Zeit gestatte leider nicht, die einzelnen Ausführungen gründ-
lich zu behandeln. Sie bittet, die Leitsätze des Referenten abzulehnen.
(Teilweiser Beifall.)
Lehrer Gräve-Hamm unterstützt die Ausführungen des Referenten
durch eine Reihe von schulpädagogischen Ausführungen. Bürgermeister
M a 1 1 i n g - Charlottcnburg teilt die Befürchtungen des Referenten in bezug
auf die politischen Fragen der Verweiblichung der Schulen. Im übrigen
bezeichnet er die Erfahrungen der Stadt Charlottenburg mit den Lehrerinnen
als günstige. Aber in dem Lehrerinneninstitut seien auch viele Schatten-
seiten, insbesondere in bezug auf die körperliche Leistungsfähigkeit. Ober-
lehrer Gelfert- Chemnitz verteidigt die Ausführungen und Thesen des
Referenten. Lehrer Schumann - Hamburg spricht dagegen. Dr. Barth-
Stuttgart wendet sich insbesondere gegen Fräulein Helene Lange. Fräulein
S i e g 1 - München beleuchtet die Gründe für die häufigen Erkrankungen
der Lehrerinnen.
Der Referent weist die Vorwürfe von Fräulein Helene Lange energisch
zurück, ebenso wie die der übrigen Redner. Er konstatiert, daß die beiden
praktischen Lehrerinnen, die in der Versammlung gesprochen, im Gegensatz
zu Fräulein Lange sachlich und ruhig gesprochen hätten. Fräulein Lisch-
ne ws ka- Spandau verteidigt sich in einer sehr gereizten persönlichen Be
merkung gegen die Beurteilung ihrer Agitation für geschlechtliche Be-
lehrung.
Angenommen wird folgende, von Rektor B ö 1 1 n e r - Friedrichsroda
eingebrachte Resolution:
„Die Deutsche Lehrervcrsammlung erkennt bereitwilligst an, daß neben
dem männlichen auch das weibliche Geschlecht an dem Werke der Volks-
erziehung beteiligt werde. Sie weist dagegen aus gewichtigen pädagogischen
Gründen alle die Forderungen ab, nach welchen die Mädchenschulen ganz
oder überwiegend unter den Einfluß von Lehrerinnen gestellt werden
sollen."
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396
Mitteilungen.
Zweite Hauptversammlung.
Die zweite Hauptversammlung ist ganz für die Behandlung der Simul-
tanschule reserviert. Es kam die Vereinsleitung darauf, gerade bei diesem
Thema die ausführlichste Erörterung herbeizuführen; zumal die ver-
schiedenen Richtungen in der Frage über ihre tatsächliche Stärke bisher
selbst nicht genügend unterrichtet waren. Das Referat erstattete Ober-
lehrer Gärtner- München, ein alter angesehener Schulmann, der die
Simultanschule wie die Konfessionsschule aus eigener Arbeit kennt. Der
Redner legte seinen Ausführungen folgende auf Grund der Stellungsnahme
der Landesvereine beschlossenen Leitsätze zugrunde:
1. Unter Simultanschulen sind Bildungsanstalten zu verstehen, in denen
Kinder aller Konfessionen gemeinsam unterrichtet werden, den Religions-
unterricht jedoch nach Konfessionen getrennt erhalten. Die Zusammen-
setzung des Lehrkörpers an einer Simultanschule soll möglichst dem zahlen-
mäßigen Verhältnis der Konfessionen unter den Schulkindern entsprechen.
2. Die von Gegnern der Simultanschule an ihre Einführung geknüpften
Befürchtungen in religiös-sittlicher Beziehung sind durch die Erfahrung
widerlegt. Die Simultanschule fördert vielmehr die sittlich-religiöse Er-
ziehung, indem sie ihre Schüler zur Achtung gegenüber fremden Lieber-
Zeugungen erzieht und so zu einer Pflegstätte der Religion, der Liebe und
der gegenseitigen Duldung wird.
3. Die Frage der Errichtung von Simultanschulen ist weniger eine
religiöse als eine nationale, soziale und pädagogische. Durch die Simultan-
schule kommt die nationale Einheit unseres Volkes am treffendsten zum
Ausdruck; sie ist das getreue Abbild des paritätischen Staates und der
modernen sozialen Gemeinschaften und entspricht daher ihrem Wesen und
ihren Anforderungen im erhöhten Maße.
4. In allen Orten mit konfessionell gemischter Bevölkerung bietet
die Simultanschule wesentliche pädagogische Vorteile, indem sie
a) die Errichtung vollentwickelter Schulsysteme,
b) eine bessere unterrichtliche Versorgung der Kinder der konfessionellen
Minderheit selbst bei geringeren finanziellen Aufwendungen,
c) die Erfüllung berechtigter Forderungen der Schulhygiene durch den
Besuch der nächstgelegenen Schule ermöglicht
5. Für alle Staaten, in denen die Simultanschule noch nicht durch
Gesetz anerkannt ist, ist daher mindestens die Gleichberechtigung der Simul-
tansehulc mit der Konfessionsschule zu fordern.
6. Die Voraussetzung der Simultanschule bilden konfessionell gemischte
Lehrerbildungsanstalten und eine vom Staate ausgeübte fachmännische Schul-
aufsicht. ,
Im Anschluß daran führt er aus:
Die Erörterungen über die Simultanschule seien eine Fortsetzung der
auf der Königsberger Lehrerversammlung gepflogenen Verhandlungen über
die allgemeine Volksschule. Die Besprechung sei aber auch durch die
Zeitereignisse nötig geworden. Es sei mit Freuden zu begrüßen, daß in
dieser I rage alle Richtungen in der Lehrerschaft das Wort genommen haben.
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Mitteüungen.
397
Das sei nicht nur ihr Recht, sondern auch ihre Pflicht. Die einzelnen Ver-
eine hätten gesprochen. Jetzt gelte es, das Fazit zu ziehen.
Die Simultanschule ist keine religionslose Schule. Die deutsche Lehrer-
schaft würde sich gegen die Entfernung des Religionsunterrichtes aus der
Schule wehren. (Zustimmung.) Dem Menschen die Religion nehmen, heißt
die Beziehungen zum Ewigen vernichten, den Urquell des geistigen
Lebens verstopfen. Die Simultanschule ist aus äußeren Verhältnissen her-
ausgewachsen. Sie kommt einem unabweisbaren Bedürfnis entgegen. In
der Simultanschulc kann es christlicher zugehen als in der Konfessionsschule.
(Lebhafter Beifall.) Die Reform des Religionsunterrichts hängt nur lose
mit der Simultanschule zusammen. Die Konfessionsschule führt zur Kirchen-
schule, sie ist darum rückschrittlich, die Simultanschule fortschrittlich. Das
Feldgeschrei im Schulkampfe heißi nicht: Hie Christentum, hie Atheis-
mus 1 sondern: Hie Kirchenpolitik, hie Schulpolitik! (Bravo). Die heftigsten
Gegner der Simultanschule sind diejenigen, die an der Erhaltung der Kon-
fessionsschule das meiste Interesse haben, die Geistlichen. Aber auch ernste
Schulmänner treten ihr entgegen. Sie behaupten, der Religionsunterricht
werde aus dem Mittelpunkt der Schule verdrängt Steht denn der Reli
gionsunterricht überhaupt im Mittelpunkt der Schule? Redner verneint das.
Die Simultanschule ist die Schule der Toleranz, die Schule der Humanität.
Sic zerstört nicht die Religiosität, In Nassau ist man nicht weniger religiös
als anderswo. Auch die Sittlichkeit hat nicht gelitten. In München und
Nürnberg melden sich viel mehr Kinder für die Simultanschulen an, als
aufgenommen werden können, trotzdem dagegen agitiert wird.
Die Simultanschule ist die Schule des paritätischen Staates. Der Staat
sollte ihr deswegen wenigstens freie Bewegung einräumen. Der paritätische
Staat stützt sich auf die moderne Kultur. Er braucht Klammem, um die
Bürger aneinander zu bringen. Die preußische Regierung läßt darum in
Posen die Simultanschule bestehen, trotzdem man doch sonst nicht sagen
kiann, daß Preußen die Simultanschule fördert. (Heiterkeit.) Der kon-
sequente Gegner der Simultanschule will die Kluft erweitern. Vom Kinder-
garten bis zur Hochschule soll die Jugend und damit das Volk getrennt
werden. Ob sie die Konsequenzen für unsere politische Zukunft sich genügend
vergegenwärtigen, könne man dahingestellt sein lassen.
In pädagogischer Beziehung sei die Simultanschulc der Konfessions-
schule überlegen. Sic habe mehr Bildungsmomente als diese. (Lebhafter
Beifall.) Die Schulen können auch vorteilhafter organisiert werden und
seien zudem wohlfeiler, weil die Kinder zweckmäßiger auf Schulen und
Klassen verteilt werden können. Schon jetzt sind die Gemeinden oft über-
lastet, und doch müssen sie konfessionelle Zwergschulen errichten. Hier
könnten große Summen gespart werden. Die Schulwege lassen sich ab-
kürzen, für die jüngeren und schwächeren Schüler ein großer Vorteü.
Man wendet ein, man könnte nicht zwei Weltanschauungen in eine
Schule zwingen. Die jüngeren Kinder haben noch keine Weltanschauung,
wohl aber die älteren Schüler der höheren Lehranstalten, und doch seien
diese simultan. Auch der Vorwurf, der Simultanschulc fehle der ideale
Charakter, sei verfehlt, der ideale Charakter der Schule werde durch ideale
Lehrer und nicht durch die Organisation bestimmt. Auch Liebe und Ver-
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3QS
Mitteilungen.
trauen sollen fehlen. Wer Simultanschulen kennt, weiß, daß in dieser
Beziehung alles so ist wie in einer guten Schule überhaupt Daß der
Geschichtsunterricht nicht „herzhaft" erteilt werden könne, ist ebenso un-
zutreffend. Wer allerdings meine, daß der Geschichtsunterricht die Aufgabe
habe, einen Teil unseres Volkes zu verketzern, könne recht haben. (Leb-
hafter Beifall.)
Im Gemeindeleben scheiden sich weder die Alten noch die Jungen,
noch Konfessionen, und dem entsprechen auch die höheren Schulen. Kommt
aber ein Kind aus diesen in die Volksschule, so muß es in die Kon-
fessionsschule. Das Lehrerseminar ist die einzige konfessionelle höhere Lehr-
anstalt. Damit hangt auch sein klösterlicher Charakter zusammen und
die Tatsache, daß viele Lehrer religiös so befangen sind.
Redner begründet die Notwendigkeit simultaner Lehrerseminare, die
die Grundlage für eine einheitliche Schule, für einen geschlossenen Lehrer-
stand bilden. Die Simultanschulc ist die Grundlage der Fachaufsicht. Sie
ist und bleibt die conditio sine qua non der deutschen Lehrerforderungen.
Die Simultanschulen werden nicht wie Pilze aus der Erde schießen.
In den schweren Zeiten heißt es, glauben, hoffen und kämpfen. Die
Simultanschule kommt, sie muß kommen, sie ist die Schule der Zukunft.
Sie wird auf die jetzigen Schulformen folgen wie der Winter auf den
Frühling. (Großer, sich wiederholender Beifall.)
Der Korreferent Lehrer Lütgemeier - Heiden (Lippe) nimmt das
Wort. Er habe nicht nur Gegensätzliches, sondern auch viel Ueberein-
summendes zu sagen. Einig sei er mit dem Referenten darin, daß die
Schule das Interesse des Kindes in erster Linie beachten müsse. Darum
gebühre der Familie ein maßgebender Einfluß. Die Schulen seien Ver-
anstaltungen des Staates. Der Staat bedürfe aber der sittlichen Persönlich-
keiten. Kann der Staat diese Persönlichkeiten erziehen? Redner verneint
diese Frage. Unser Volk ist ein religiöses Volk. Die christliche Religion
als herrschende könne eine bevorzugte Stellung beanspruchen. Die christ-
liche Kirche sei die Lehrerin der Religion. Sie dürfe sich nicht auf die
Schule der Kirche vereinigt werden. Entweder müsse die Kirchenschulc
die Aufgaben der Staatsschule oder die Staatsschule die Aufgaben der
Kirchenschulc mitübernehmen. Redner ist für letzteres. Die reinen Kirchen-
schulen würden an großen Einseitigkeiten leiden, darum sollte die Staats-
schulc die Pflege des religiösen Lebens, kirchliche Aufgaben mitüber-
nehmen. Angesichts der kirchlichen Trennung seien evangelische Lehrer
verpflichtet, die Kinder auf dem Boden ihrer Kirche zu erziehen, die katholi-
schen Lehrer ebenso auf dem Boden der ihrigen. Die Freunde der Simul-
tanschule mit konfessionellem Religionsunterricht machen einen Schnitt durch
jede einzelne Schule und durch die Schularbeit, das sei zu verwerfen.
Darum sei die geschlossene konfessionelle Schule vorzuziehen. Sie ermögliche,
daß der Religionsunterricht im Mittelpunkt der Schule steht, daß die Religion
in Persönlichkeiten verkörpert ist. Die Simultanschule könne nicht eine
Erziehungsschule sein. (Große Unruhe.) Die Schule erscheine dem Kinde
als Missionsfabrik. (Lebhafter Widerspruch.) Darum möglichst wenige Simul-
tanschulen ! Der Religionsunterricht müsse in das ganze Schullcben hüiein-
wirken. Das sei Tn der Simultanschule schwer oder unmöglich, der Lehrer
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MlileUuntjcH.
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dürfe Religiöses nicht berühren, er wisse ja nicht, ob ihm nicht Kinder
der anderen Konfession zu Aufpassern bestellt seien. (Starker Widerspruch.)
In der Simultanschule könne auch die Geschichte, zum Beispiel die Per-
sönlichkeit Luthers, nicht ausreichend behandelt werden. Auch in der
Simultanschule könnten konfessionelle Gegensätze geschürt werden. Die
nationale Erziehung werde durch die Konfessionsschule nicht beschränkt.
Die durch die Simultanschule ermöglichte Errichtung vielklassiger Schulen
sei nicht ein Vorteil. (Starker Widerspruch.) Es schade nichts, wenn
statt einer achtklassigen, zwei wenigklassigc Schulen errichtet werden. (Star-
ker Widerspruch.) Nur die Errichtung stark besuchter einklassiger Schulen
aus konfessionellen Gründen müsse auch er verwerfen. Die konfessionelle
Schule bedinge aber nicht die geistliche Aufsicht. Auch er sei ihr Gegner.
Die Simultanschulc verlange neben der staatlichen Aufsicht auch eine kirch-
liche Aufsicht des Religionsunterrichts, und diese doppelte Aufsicht sei
schlimmer als eine nicht fachmännische.
Redner wendet sich nun derjenigen Simultanschulreform zu, die nicht
getrennten, sondern gemeinsamen Religionsunterricht hat. Dieser Unter-
richt sei nicht möglich. Auch Juden und Dissidenten müßten berücksichtigt
werden, und damit würde ein dogmenloser Religionsunterricht oder bloßer
Moralunterricht entstehen. So würde eine neue Konfession sich bilden.
Redner meint, die Sirnultanschulfreunde seien zu ihrer Stellung viel-
fach durch die Mangelhaftigkeit des Religionsunterrichts gekommen. Dar-
um sei eine Reform des Religionsunterrichts notwendig. (Teilweiser Bei-
fall.) Redner legt folgende Thesen vor:
1. Unter Simultanschulen sind Bildungsaustalten zu verstehen, in denen
Kinder verschiedener Konfessionen gemeinsam unterrichtet werden. Es sind
zwei Erscheinungsformen der Simultanschule zu unterscheiden: Schulen mit
konfessionell getrenntem und Schulen mit einem allgemeinen Religions-
unterricht.
2. Der Simultanschule der ersten Art fehlt die zentrale Stellung
des Religionsunterrichtes und die Einheit der ganzen Erziehungsarbeit. Die
Simultanschule der zweiten Art muß entweder wertvolle Stoffe des Ge-
sinnungsunterrichtes ausscheiden oder auf die Bildung einer neuen Konfession
hinarbeiten. Jene ist darum der konfessionellen Schule nicht gleichwertig,
diese hat erst dann ein Existenzrecht, wenn die „neue" Konfession in
ähnlicher Weise gemeinschafdich bildend gewirkt haben wird.
3. Die Scheidung unserer Nation in Konfessionen wird durch die
Simultanschule der ersteren Art den Kindern ebenso zum Bewußtsein ge-
bracht wie durch die konfessionelle Schule. Die nationale Einheit kommt
treffender als durch irgend eine Schulform durch national gesinnte Lehrer
und durch national wertvolle Unterrichtsstoffe zum Ausdruck.
4. In Orten mit konfessionell gemischter Bevölkerung kann unter Um-
ständen die Simultanschule mit getrenntem Religionsunterricht als Notbehelf
gestattet werden. Vollentwickelte Schulsysteme haben der einfachen Schul-
cinrichtung gegenüber nicht nur Vorzüge, sondern auch Nachteile.
5. Eine vom Staate ausgeübte fachmännische Schulaufsicht wird durch
das Wesen der konfessionellen Schule nicht ausgeschlossen. Die Simultan-
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400
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schule mit getrenntem Religionsunterricht bringt den ihr selbst eigenen
Zwiespalt auch in die Schulaufsicht hinein.
Der Allgemeine Deutsche Lehrerinnenvcrcin gibt bekannt, daß er am
Donnerstag, morgens 9 Uhr, eine Protestversammlung gegen die Beschlüsse
der Versammlung in der Lehrerinnenfrage veranstalte. (Da zur selben
Zeit die Vertreterversammlung des Deutschen Lehrervereins stattfindet, ist
eine Beteiligung von Lehrern an der Versammlung jedenfalls nur in geringer
Zahl möglich.)
In der Debatte zur Simultanschulf rage führt Lehrer Holimeier-
Hremen aus: „Die preußische Schulvorlage sei durch die Macht der
Kirche zur Annahme gelangt. Dieser Macht gegenüber könne nur eine andere
ebenso konsequente und starke Macht sich zur Geltung bringen. Wenn
die Gegner ihrer Sache so sicher wären, so sollten sie nicht nach dem
Arm des Staates schreien. In der Schule habe die Kirche nichts zu
schaffen. Mit Ricsengewalt lastet auf all unserem Geistesleben die Kirche,
das Christentum. Namens des Christentums soll niemand in die Arbeit
der Schule eingreifen dürfen; wenn es geschieht, so tut es die organisierte
Kirche. Die Wissenschaft habe sich frei gemacht. Auch mit der Schule
müsse es geschehen. Auch die letzte Dorfschule müsse frei sein. Die
Zukunft habe nicht die Simultanschule, sondern die weltliche Schule. Für
sie müsse die deutsche Lehrerschaft sich aussprechen. Die Bibel könne
nicht mehr die Quelle des Sittenunterrichtes sein. (Starker Widerspruch.)
Die Urkunden des Christentums hatten mit der Entwickelung des Christentums
nicht fortschreiten können, darum müsse der Unterricht sich von ihnen
freimachen. (Beifall und Widerspruch.) Redner legt namens der Harn
burger und Bremer Vertreter folgende Thesen vor:
1. Der Gedanke der nationalen Volksschule verlangt, daß alle Schulen
nach einheitlichen Grundsätzen und in einheitlichem Geiste eingerichtet
und geleitet werden.
2. Dieser einheitliche Geist kann nicht durch die Lehrmeinungen der
verschiedenen Religionsgemeinschaften (Konfessionen) bestimmt werden; denn
diese Lehrmeinungen bilden vielmehr eine Quelle und einen Ausgangspunkt
der Trennung und Zersplitterung im deutschen Geistesleben; auch werden
sie von weiten Kreisen der Bevölkerung nicht mehr geteilt.
3. Deshalb kann weder die Konfessionsschule noch die Simultanschule
unseren Ansprüchen genügen. Denn beide setzen einen" Anspruch und
ein Mitbestimmungsrecht der Konfessionen auf die öffentliche Schule voraus
und sind nur über die Einschätzung und Befriedigung dieser Ansprüche vor
schiedener Meinung.
4. Den Bedürfnissen der einheitlich eingerichteten Staatsschuir kann
nur die rein weltliche Schule genügen.
Diese erteilt keinen Religionsunterricht. Ihr verbleibt die wichtige
Aufgabe, durch die starken Stoffe ihres Gesamtunterrichtes jene Kräfte des
Geistes und des Gemütes lebendig zu machen, durch welche der reifende
Mensch seine Weltanschauung und damit auch seinen persönlichen Stand-
punkt gegenüber den Fragen des religiösen Lebens sich erkämpft.
Die Religionsgcschichte ist als Zweig der Kulturgeschichte <-in inte-
gricre/idcr Bestandteil des Geschichtsunterrichtes.
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Itl i t teil un^cn
401
t
Schulrat S c h e r e r - Büdingen vertritt persönlich die nationale Simul-
tanschule mit allgemeinem Religionsunterricht, hält aber die Forderungen
des Referenten für die einzigen, für die der Deutsche Lehrerverein sich
aussprechen könne. Wenn man sich nicht lediglich an die kirchliche
Gliederung halte, so gebe es in Deutschland drei religiöse Richtungen: den
deutschen Katholizismus, den deutschen Protestantismus und die konfessions-
lose Religion. Die letztere würde, wenn alle Gebildeten offen sprächen, die
Mehrheit haben. Auch diese im deutschen Geistesleben herrschende Religion
müsse respektiert werden, auch in der Schule. Ghristus habe kein Dogma ge-
schaffen, keine Kirche errichtet, aber eine neue Sittenlehre begründet.
Unsere deutsche Kultur sei auf christlichem Boden gewachsen. (Großer
Beifall.) Das Christliche sei aus der deutschen Literatur nicht auszu-
scheiden. (Zustimmung.) Jeder Unterricht müsse darauf zurückgreifen.
Religion und Sittlichkeit lasse sich nicht trennen. Die Simultanschule mit
konfessionellem Unterricht habe Mängel. Der konfessionelle Religionsunter-
richt mit seinem Wunderglauben lasse sich mit dem unter dem Gesetz
der Kausalität stehenden sonstigen Unterricht nicht unter einen Hut bringen.
Darum müsse die Schule einen allgemeinen Religions- und Sittenunter-
richt erteilen. Auch der französische Moralunterricht sei kein reiner Moral-
unterricht, er enthalte ein Kapitel „Pflichten gegen Gott". Im englischen
Unterhause sei ein dogmenloser Religionsunterricht beschlossen worden.
Auch in deutschen Parlamenten wird man einst Aehnliches beschließen.
(Großer Beifall.)
Es hegt eine Reihe von Anträgen vor, die zur Verlesung kommen.
Schulvorsteher Schäfer- Bremen legt dar, daß die Ansichten des
Herrn Holzmeier nicht die der Mehrheit der bremischen Lehrerschaft
seien. Nur eine radikale Gruppe, zu der allerdings die jüngeren Lehrer vor-
wiegend gehörten, stehe auf diesem Standpunkte. Bremen habe einen
dogmenlosen Bibelunterricht, dieser Unterricht habe die Parteien durchaus
befriedigt.
Lehrer P r e t z e 1 - Berlin will nur einige Bemerkungen richtigstellen.
Daß die Simultanschule weniger erziehlich wirke, sei eine völlig unbe-
wiesene Behauptung. Die Persönlichkeit des Lehrers werde auch auf
Kinder anderer Konfessionen wirken. Die Bremer Lehrer wollen eine der
wichtigsten Provinzen der Schule preisgeben. Sie scheinen die Bedeutung
der Geschichte überhaupt zu unterschätzen. Man solle nicht den zweiten
Schritt vor dem ersten tun. Die französische Schule sei nicht eine Schule
ohne Gott, trotzdem habe sie sich nicht halten können. In Holland sei es
ebenso. Das könne nicht zur Nachfolge veranlassen. Was die Bremer ver-
langen, ist auch nur eine Konfessionsschule. (Lebhafter Beifall.)
'Lehrer Langermann - Barmen : Der Streit drehe sich nicht so sehr
um die Schulform, als um die Macht über die Schule. Die Hierarchie
werde ihre Macht in der Schule mit allen Mitteln festhalten, auch mit un-
sauberen. Ein solches Mittel ist der Vorwurf, die Arbeiterschaft sei religions-
lund vaterlandslos. Die Hierarchie sei die größte Feindin der Religion.
Von ihr weg, heiße der Religion sich nähern. Redner begründet sodann die
folgenden von ihm eingebrachten Thesen:
Zeitschrift für p&dAgogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 10
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402
\1 itteilunarti
Der Deutsche Lehrertag lehnt nicht nur die Konfesstons, sondern
auch die Simultanschule ab:
a) weil ihrem Wesen nach auch die Simultanschule nur eine Kon-
fessionsschule ist;
b) weil beide dem Hauptzweck der öffentlichen Jugenderziehung —
Mitarbeit an der Herbeiführung der inneren Einheit des deutschen Volkes
— entgegenwirken;
c) weil beide auf die Jugend unseres Volkes moral- und religions-
feindlich einwirken;
d) weil beide im Interesse der wirtschaftlichen und politischen Macht-
stellung der Hierarchie den Lehrerstand zwingen und herabwürdigen, das
Individuum in einem seiner heiligsten Menschenrechte, dem Recht auf
Gewissensfreiheit, schon als Kind zu vergewaltigen.
Der Deutsche Lehrertag fordert anstatt der Konfessions- und Simul-
tanschule die Nationalschule im Sinne und Geiste Fichtes, Steins und
Pestalozzis.
In dieser Schule sind Religion und Ethik nicht Sache des „Maul-
brauchens", sondern des Lebens. Konfession ist Sache jedes einzelnen,
Professor Dr. Z i e g 1 e r - Straßburg stellt sich auf den von Pretzel
gekennzeichneten Standpunkt. Die Frage sei schwer zu entscheiden. Was
die Bremer Lehrer wollen, sei Dr. Eisenbart Kur. Dieser Standpunkt habe
uns vielleicht schon viel geschadet, die Annahme ihrer Thesen würde uns
sicher in der Zukunft sehr viel schaden. Dadurch würde nur dem Kleri
kalismus und Konfessionalismus der größte Gefallen geschehen. Aber auch
aus sachlichen Gründen müsse man bei der Simultanschule bleiben. Ks
müsse ein modus vivendi gefunden werden für das „Zusammenleben der
Konfessionen. Dazu müsse das Volk im Geiste der Toleranz erzogen werden.
Auch die höhere Schule habe bei gemeinsamem Unterricht konfessionellen
Religionsunterricht. Ebenso sei die Universität simultan. Mögen sich alle
in der Forderung der Simultanschule vereinigen. (Jubelnder Beifall.)
Lehrer P a u 1 s e n - Hamburg legt dar, daß die Hamburger Beschlüsse
die Religion nicht aus der Schule verweisen, sondern sie in den Gesamt
Unterricht aufnehmen wollen.
Lehrer P a u t s c h • Berlin erkennt an, daß die Bremer zwar mit
* sittlichem Ernst, aber recht ungeschickt in der Form ihre Ansichten ver-
treten hätten. Aber ihre Ansichten seien auch sachlich unzutreffend. Der
Vertreter der Konfessionsschule gebe die Selbständigkeit des Staates auf.
Der Versuch, nachzuweisen, daß die geistliche Schulaufsicht mit der Kon-
fessionsschule nicht untrennbar verbunden sei, sei nicht gelungen. Die Be-
hauptung, daß jeder, der erziehen wolle, konfessionell gebunden sein müsse,
sei völlig unhaltbar. (Beifall.)
Lehrer G u t m a n n • München steht zwar grundsätzlich auf dem Boden
der Bremer Anträge, aber dem Deutschen Lehrerverein könne nicht zu-
gemutet werden, sich ihre Anträge zu eigen zu machen. Diese Anträge
wären zurzeit überhaupt nicht ausführbar. (Beifall.)
Es sind noch neunundzwanzig Redner zum Wort gemeldet. Die all
gemeine Debatte wird geschlossen.
Lehrer L ü t g c m e i e r - Heiden (als Korreferent) legt dar, daß er
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Mitteilungen.
403
gewußt habe, daß er keine Mehrheit für sich habe. Es sei ihm Ge-
wissenssache gewesen, hier die Ansicht einer Minderheit zu vertreten. Er
glaube aber, daß alle deutschen Lehrer in der Liebe zur Jugend einig
sind. (Beifall.)
Die Thesen des Referenten werden mit allen gegen etwa zehn Stimmen
angenommen.
Oberlehrer Schubert- Augsburg schließt die Versammlung mit einem
mit großem Beifall aufgenommenen Resümee der Verhandlungen, Er be-
tont dabei, daß bei Behandlung der Lehrerinnenfrage die Dissonanz nicht
durch den Referenten, sondern durch das Auftreten von Fräulein Helene
Lange herbeigeführt worden sei. Der Gegensatz zwischen Lehrern und
Lehrerinnen sei von den Regierungen und Stadtgeineinden dadurch her-
beigeführt worden, daß man die Lehrer auf die entlegensten Dörfer schicke,
die Lehrerinnen aber in den Städten anstelle. Bei einer Kritik der Bremer
Ausführungen erheben die Hamburger und Bremer Delegierten Widerspruch
und es kommt zu einer stürmischen Szene, die mit einer kurzen Erklärung
von Lehrer H o 1 z m e i e r beendet wird.
Am Nachmittag fand eine Reihe von Nebenversammlungen statt.
Am Morgen vor der Hauptversammlung sprach Lehrer Tews- Berlin über
die Aufgaben und Leistungen der deutschen Volksbildungsvereine.
Redner führte aus: Die Volksbildungsvereine wenden sich an das ganze
Volk ohne Unterschied des Standes, der Partei und der Konfession. Sic
wollen die Bildungsarbeit der Schule bei den Erwachsenen fortsetzen. Frei-
lich sei es nicht möglich, bei den arbeitenden Klassen eine tiefere und
reichere wissenschaftliche Bildung zu erzielen, aber gerade hier sei die
Freude an geistigem Besitz eine um so innigere. Es gebe auch auf dem
geistigen Gebiete viele „arme" Reiche und viele ,,reiche" Arme. Volks-
bildung sei nicht Halbbildung; Halbbildung finde sich auch in den gebildetsten
Kreisen bei mangelhaften Anlagen und unzureichender Arbeitslust. Der
Gefahr der Halbbildung im Volke müsse man durch eine sorgsame Methode
begegnen. Nicht Vieles, nicht Fremdes, sondern wenig unter Anknüpfung
an Bekanntes. Die Bildungsvereine dürften sich auf nüchterne Belehrung
über Aeußeres und Nützliches nicht beschränken, das sei freilich das
tagliche Brot, noch weniger aber bloße Kampforgane sein. Sie müssen dem
Suchen und Ringen nach Wahrheit entgegenkommen, darum auch die
Probleme behandeln, die die Wissenschaft beschäftigen. Sie sollen dem
Volke einen Einblick in die Werkstätten der Gelehrten verschaffen, so
daß die Wissenschaft dem Volke auch als Menschenarbeit erscheint. Das
erzeugt Achtung vor der Wissenschaft. Die Bekanntschaft mit den Irrungen
und Täuschungen, denen auch große Geister nicht entgehen, zerstört die
Leichtgläubigkeit. Volksbildungsvereine dürfen nicht verflachen. Theologen
müssen in der Wissenschaft stehen, das Wissen, aber mehr noch den
Schüler lieben. Die Lehrmethode muß volkstümlich sein, das heißt, nicht
oberflächlich und halb, sondern unter Berücksichtigung der vorhandenen
Kenntnisse. Neben der Belehrung müsse auch die Unterhaltung Platz
finden. Aber niemals dürfe der ernste Zweck zurücktreten. Das Wissen
sei dir Brücke, die das Volk mit den führenden Kreisen verbinde. Jeder
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Mitteilungen.
Nebenzweck müsse ausgeschaltet sein. Dann werde auch den Vereinen
volles Vertrauen entgegengebracht werden.
Redner schildert nun die Wirksamkeit der Gesellschaft für Verbreitung
von Volksbildung und begrüßt mit besonderer Freude die Begründung eines
nord- und südbayerischen Verbandes.
Der Vortrag wurde beifällig aufgenommen.
Auf die Telegramme an den Kaiser und den Prinzregenten ist von
beiden Monarchen ein herzliches Danktelegramm eingegangen.
Am Abend fand im großen Saale des Münchener Kindls ein Ab-
schiedskommers statt mit den üblichen Reden und Toasten. Am folgen-
den Tage hatten die Vertreter noch eine längere geschäftliche Sitzung.
Der Allgemeine deutsche Lehrerinncnvercin hielt am 7. Juni in den
Prinzensälen des Cafe Luitpold die von Helene Lange auf dem Lehrertage
angekündigte Protestversammlung ab. Die Versammlung war äußerst zahl-
reich besucht, nicht nur von Lehrerinnen, sondern auch von Lehrern.
Den Vorsitz führte Helene Lange, die mitteilte, daß die Thesen des Haupt-
referenten Laube-Chemnitz zwar nicht vom Lehrerverein angenommen seien,
daß also die hiergegen beabsichtigte Protestkundgebung eigentlich in Weg-
fall kommen müßte, daß aber andererseits der Lehrertag die Lehrerinnen
so wenig habe zu Worte kommen lassen, daß es durchaus angebracht sei,
gegen die Injurien zu protestieren, die auf dem Lehrertag gegen die
Lehrerinnen erhoben worden seien. Die Rednerin behandelte ausführlich
die verschiedenen Ausführungen der verschiedenen Lehrer auf dem Lehrer-
tag und wurde dabei durch lauten Beifall der Lehrerinnen unterstützt,
während die anwesenden Lehrer wiederholt durch lebhafte Zwischenrufe ihren
Gegenstandpunkt zu wahren suchten. Nachdem in der Diskussion eine ganze
Reihe von Lehrerinnen das Wort genommen hatte, einigte man sich schließ-
lieh auf folgende Resolution:
1. In jedem Lehrkörper, und zwar sowohl an Mädchen- als auch an
Knabenschulen, unterrichten männliche und weibliche Lehrkräfte in der
Weise, daß der ausschlaggebende Einfluß bei der Knabenerziehung dem
Manne, bei der Mädchenerziehung der Frau eingeräumt wird. 2. Bei
gleicher Vorbildung und beruflicher Tüchtigkeit der Bewerber ist in den
Knabenschulen dem Manne, in den Mädchenschulen der Frau der Vorzug
bei der Besetzung leitender Stellungen zu geben. 3. Der Lehrerin ist
eine Ausbildung zu gewähren, die der des Lehrers gleichmäßig ist. Auch
auf die körperliche Ausbildung ist Gewicht zu legen. 4. Für die Be-
soldungsverhältnisse gilt der Grundsatz: gleicher Lohn für gleiche Arbeit.
Auf dem 34. deutschen Aerztetage in Halle hielt Prof. Dr. A. Hart-
mann- Berlin einen V ortrag über Unterweisung und Erziehung der Schul-
jugend zur Gesundheitspflege. Redner ging im einzelnen die Verbesse-
rungen durch, die mit der Einrichtung der Schulärzte erreicht wurden.
Schulärzte gibt es jetzt fast in allen größeren Städten Deutschlands, wo
sie noch nicht sind, geht man mit der Absicht um, sie anzustellen. Es
gehört zwar zu den Obliegenheiten der Kreisärzte, die Schulen zu beauf-
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Mitteilungen
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sichtigen, doch sind sie nur alle fünf Jahre zur Vornahme einer Revision
verpflichtet, auch hindert sie ihre sonstige amtliche Tätigkeit und die
Notwendigkeit, sich Nebeneinnahmen zu verschaffen, sich ausreichend um
die Schule zu kümmern. Die höheren Schulen haben sich bis jetzt dem
Schularzt gegenüber ablehnend verhalten, dagegen hat der Pädagoge
Professor H a r t m a n n - Leipzig auf dem Oberlehrertag in Eisenach unter
dem Beifall seiner Kollegen ausgeführt, daß die höheren Schulen nur
gewinnen können, wenn sie sich die Mitarbeit der Aerzte sichern. Durch
seine Tätigkeit in der Berliner städtischen Schuldeputation wurde es dem
Vortragenden möglich, die Ventilation zu verbessern, für gesundheitsgemäßc
Schulbänke zu sorgen, schlecht gedruckte Schulbücher abzuschaffen, für
Alkoholbekämpfung zu wirken und manches andere. Es genügt nun nicht,
neue Einrichtungen zu schaffen, ihre Durchführung muß auch dauernd
überwacht werden. Der Vortragende faßt seine Ausführungen in den
Leitsätzen zusammen: „I. Unser Volk muß mit den Regeln der Gesund-
heitspflege bekannt gemacht und daran gewöhnt werden, gesundheitsgemäß
zu leben und die heranwachsende Jugend gesundheitsgemäß zu erziehen.
2. Zu der Unterweisung in der Gesundheitspflege sind in erster Linie die
Aerzte berufen, welche durch ihre Ausbildung und durch ihren Beruf die
Gewähr dafür bieten, daß die Unterweisung eine zeckmäßige ist. 3. Außer
der Belehrung, welche von Aerzten gelegentlich der Behandlung von Kranken
gegeben werden kann, erweist sich zur Verbreitung der Grundregeln der
Gesundheitspflege die Schule am geeignetsten. 4. Die an der Schule an-
gestellten Aerzte haben, neben der Ueberwachung des Gesundheitszustandes
der Kinder und der bezüglich der Gesundheit der Kinder in Betracht
kommenden Einrichtungen der Schule, dafür Sorge zu tragen, daß die
Kinder mit der Gesundheitspflege vertraut gemacht und mit Hilfe der
Schule daran gewöhnt werden, gesundheitsgemäß zu leben. 5. Da der
Arzt mit dem Schüler nicht in so enger und andauernder Berührung steht
wie der Lehrer, müssen außer der direkten Unterweisung durch die Aerzte
auch die Lehrer zu dieser Unterweisung herangezogen werden. 6. Nicht
nur in den Städten an den Volksschulen, sondern auch auf dem Lande und
an den höheren Schulen sind Aerzte als Berater für die gesundheitsgemäße
Erziehung der Kinder den Lehrern beizugeben. 7. Ebenso ist es erforderlich,
daß Aerzte den Provinzialschulkollegien, den Schuldeputationen und den Schul-
konferenzen als Berater beigegeben werden. 8. Sowohl die Lehrer der
Volksschule als die Lehrer der höheren Schulen müssen eine besondere
Ausbildung in der Gesundheitspflege erhalten. 9. Den Lehrern ist zur
Pflicht zu machen, bei jedem Unterrichtsstoffe, der hierzu geeignet erscheint,
auf die Gesundheitspflege hinzuweisen und im Verkehr mit den Schülern
und bei der Beaufsichtigung derselben darauf hinzuwirken, daß die Grund-
regeln der Gesundheitspflege von den Schülern beachtet werden. 10. Be-
sonderer Unterricht über Gesundheitspflege ist hauptsächlich für die älteren
Schüler der höheren Schulen und der Fortbildungsschulen erforderlich.
Dieser Unterricht ist am zweckmäßigsten durch Aerzte zu erteilen." 11. (An-
trag der Kurpfuscherei-Kommission): „Am geeigneten Orte ist auf den
Schaden hinzuweisen, den das Kurpfuschertum der Gesamtheit und dem Ver-
mögen des einzelnen sowie der Gesamtheit zufügt."
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MiUeduit'jrn.
Dr. C o h n - Charlottenburg beantragte: „i. Die Unterweisung der
Schuljugend in den Lehren der Gesundheitspflege muß durch die Schule
geschehen. 2. Schulhaus und Schulbetrieb müssen den Anforderungen der
modernen Schulhygiene entsprechen. 3. Den Schulkindern sollen durch die
für alle Schulen anzustellenden Schulärzte bei Gelegenheit der Klassen-
besuche kurze, leicht verständliche Vorträge über Gesundheitspflege ge-
halten werden; im Pubcrtätsaltcr ist dabei in angemessener Weise die
sexuelle Hygiene zu behandeln. 4. Alle Lehrer müssen während ihrer
Ausbildungszeit in der Gesundheitspflege unterrichtet werden. 5. Die Lehrer
sollen die Schulkinder bei jeder Gelegenheit zur Beachtung der Regeln
der Gesundheitspflege anhaken unter Berücksichtigung der von den Schul-
ärzten gegebenen Unterweisungen." Schulten- Köln und Stephan y-
Mannheim halten den Arzt als für den Hygieneunterricht nicht geeignet,
nur der Lehrer sei imstande, in der Schule zu unterrichten. Hiergegen wendet
sich sehr scharf K o r m a n n • Leipzig, der selbst seit vielen Jahren mit
gutem Erfolge und in bester Harmonie mit den Lehrern an Schulen
Hygiene unterrichtet. Dem Lehrer ist um so weniger der Unterricht in
Gesundheitspflege zu übertragen, als viele Lehrer nach ihrer besten Uebcr-
zeugung für Kurpfuschermethoden begeistert sind. Im übrigen verlangen
ja gerade die Lehrer, daß, wer über eine Materie unterrichtet, sie auch
verstehen müsse. Einige Stunden Seminarunterricht können aber nicht
befähigen, dauernd über alle Einzelheiten der Gesundheitspflege auf dem
Laufenden zu sein. — Zu einer Beschlußfassung über die vorliegenden
Anträge kam es nicht. Sic wurden alle einer Kommission überwiesen, die
nächstes Jahr Bericht erstatten soll. (Med. Reform.)
Italienische Schulzustände.
Im italienischen Parlament ist jüngst durch ärztliche Fachmänner die
Notwendigkeit betont worden, nicht nur gegen die Malaria und die Pellagra,
sondern auch gegen die noch zahlreichere Opfer fordernden Augenkrtnkbeitcn
von Staatswegen vorzugehen. Nach neuen Erhebungen ist die Bindehaut-
entzündung namentlich m einigen südlichen Landesteilen in erschrecken-
dem Umsichgreifen, was, abgesehen von der gesundheitlichen Schädigung
und dem traurigen Lose der zahlreichen Erblindenden gewaltige wirtschaft-
liche Nachteile mit sich bringt. Es ist soweit gekommen, daß in erheblichem
Umfange der Schulbesuch leidet, die Militärtüchtigkeit beeinträchtigt wird
und der Auswanderung sich Schwierigkeiten entgegenstellen, da den augen-
kranken Auswanderern — die vielfach ihre letzten Mittel für die Kosten
der Ueberfahrt geopfert haben — in den Bestimmungshäfen die Landung
versagt wird.
Angesichts des bekannten Elends, das in vielen Teilen Unteritaliens
und der Inseln herrscht und der zum Teil darauf beruhenden traurigen
hygienischen Zustände darf man sich über das Umsichgreifen ansteckender
Krankheiten nicht allzusehr verwundern; augenscheinlich hat Italien es
nur seinem günstigen Klima, dem weitreichenden Einflüsse der Seeluft
und besonders seiner Sonne zu verdanken, daß es von Krankheiten nicht
noch mehr heimgesucht wird. Wie wenig von den Berufenen und Interessierten
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bisher getan worden ist, um nur den allerdringendsten Anforderungen der
Gesundheitslchrc gerecht zu werden, lehrt ein gerade zur rechten Zeit
kommender Bericht eines Mitgliedes des Obergesundheitsrates, Prof. Lustig,
über die Zustände der Schulräumlichkeiten im Süden und auf den Inseln.
Die Kammer hat vor einiger Zeit aus finanziellen Gründen die von sozia-
listischer Seite beantragte Verstaatlichung der Volksschulen abgelehnt. Wenn
nach diesem Bericht die Regierung nicht wenigstens ihr Aufsichtsrecht be-
nutzt, um die Gemeinden zur pflichtmäßigen Abstellung der krassesten
gesundheitlichen Uebelstände abzuhalten, so wird man sagen müssen, daß
sie an einem Verbrechen gegen die Volksgesundheit mitschuldig ist.
In Sardinien — um damit zu beginnen — erstrecken sich die Er-
hebungen auf 233 Schulgebäude mit 709 Klassenzimmern. Nur 31 von
diesen Gebäuden — wenig mehr als ein Siebentel — smd eigens für Schul-
zwecke errichtet worden; 107 sind gemietete Räume, die in keiner Weise
für die Schulzwecke passend gemacht sind. Aber auch unter den 31 „ent-
sprechen nur sehr wenige den elementarsten gesundheitlichen Anforderungen
und den vorgeschriebenen Bedingungen, ja einige sind in geradezu beklagens
wertem Zustande." Die anderen sind „durchweg unanständig, teilweise fenster-
los ( I ), nur mit einer direkt auf die Straße gehenden Tür, in unmittelbarer
Nachbarschaft von Schenken, Ställen, Düngerhaufen, Schlachthäusern oder
anderen der Gesundheit nachteiligen oder für eine Schule wenig angemessenen
Orten. Vom gesundheitlichen Standpunkte möchte man es demnach bei-
nahe als einen Vorteil für Sardinien bezeichnen, daß mindestens ein Drittel
der Schulpflichtigen nicht in der Schule erscheint und die Zahl der
Analphabeten in der Provinz Sassari 63,57, in Cagliari 71,42 v. H. der über
sechs Jahre alten Bevölkerung beträgt.
Mehr als die Hälfte aller Schulen ist ungesund und unruhig; 84 sir.J
„feucht im höchsten Grade", was Erkältungskrankheiten, Rheumatismus
u. ä. hervorruft, in manchen läßt das Dach den Regen, die Mauer die
Feuchtigkeit durch, manche liegen unter dem Straßenniveau. Mit Aus-
nahme von 74 werden alle Schulgebäude noch anderweitig bewohnt. 95 v. H.
der Klassenräume haben keinen besonderen Raum zum Ablegen der Klei-
dungsstücke, 90 v. H. ermangeln des Trink- und Wasch wassers, 70 v. H.
der Bedürfnisanstalt! Nur 31 Schulen besitzen einen Hofraum, nur 7 ein^n
Turnplatz — obwohl das Turnen zu den obligatorischen Unterrichtsgegen-
ständen gehört I In der Provinz Sassari haben 47 v. H. der Schulzimmer
nicht den vorgeschriebenen Luftraum; in vielen ist die Luft mangels jeder
Ventilation aufs äußerste verdorben. Uebcr 90 v. H. müssen als unzu-
länglich betrachtet werden" Von Heizung keine Spur; die Reinigung
läßt viel zu wünschen übrig, weil es an Wasser und an Bedienung fehlt."
77 v H. der Klassen haben ungeeignete Bänke, so daß sie der körper-
lichen Entwicklung nachteilig sowie Ursache zu fehlerhafter Körperhaltung
und zur Kurzsichtigkeit werden. Sehr groß ist nach dem Prof. Lustig
die Ansteckungsgefahr in diesen Schulen, in denen schwindsüchtige, mit
Lupus und mit Bindehautentzündungen behaftete Schüler verkehren. Die
letztgenannte Krankheit ist in 30 Schulen festgestellt worden; in einer hat
sie 40 v. H. der Schüler ergriffen, ohne daß man Vorkehrungen dagegen
getroffen hat.
408
Mitteilungen.
In der Provinz Palermo hat sich die Untersuchung auf 158 Klassen-
zimmer mit 7 191 Schülern erstreckt. Auch hier herrschen Augenkrank
heiten ansteckender Art. „Die Reinlichkeit laßt überall zu wünschen übrig,
109 Klassenzimmer sind gesundheitlich ganz schlecht zu nennen." 56 v. H.
pind ohne Wasser, 96 v. H. ohne Garderobe und ohne Bedürfnisorte!
Auf dem südlichen Festlande sieht es nicht viel besser aus. Ueberall ein
hoher Prozentsatz von Analphabeten, keinerlei ärztliche Schulaufsicht, un
geeignete Schulbänke, unzureichende schlecht gelüftete Klassenzimmer, üble
Lage der Schulen, Mangel an Höfen und Garderoberäumen. In der Provinz
Teramo können drei Viertel der Bevölkerung (im Alter von über 6 Jahren I)
nicht lesen und schreiben. Ein Drittel der schulpflichtigen Kinder bleibt
ganz ohne Unterricht. Nur 6 v. H. der Schulgebäude sind eigens für diesen
Zweck errichtet; nur 16 v. H. der Schulzimmer besitzen die vorgeschriebene
Größe, fast alle sind voll Staub und gesundheitsschädlich; 61 v. H. haben
kein Wasser, 70 v. H. keinen Schuldiener und deshalb zumeist keine
Reinigung, 91 v. H. ungeeignete Bänke. „Im Winter finden sich hustende
Kinder in allen Schulen, desgleichen tuberkulöse und in vielen auch augen-
kranke, ohne daß sich jemand darum kümmert." — In der Provinz Caserta
sind „65 v. H. der Schulzimmer absolut ungeeignet; die übrigen sind nur
ziemlich genügend, denn sie sind schmutzig und schlecht beleuchtet."
Für einen Staat, der in diesem Augenblicke sich seiner günstigen
Finanzlage rühmt, sind derartige Zustände — gelinde ausgedrückt — kein
Ruhmestitel. Wird tnan die unerläßlichen Maßregeln hinausschieben, bis
die Zurückweisung der die öffentliche Gesundheit bedrohenden italienischen
Auswanderer und -die Aufwendungen für die Erkrankten einen empfind-
lichen Umfang annehmen — wie man mit den Bemühungen um Ver-
minderung der Analphabeten gewartet hat, bis diese in Nordamerika keine
Zulassung mehr fanden? (Voss. Zeitung.)
Der Vortragende Rat im Kultusministerium, Geheimer Regierungsrat
Dr. Karl Jansen, unterzieht die Vorschläge der Gesellschaft deutscher
Naturforscher und Aerzte zur Reform des mathematischen und natur-
wissenschaftlichen Unterrichts in der „Monatsschrift für höhere
Schulen" einer eingehenden Erörterung. Im allgemeinen erklärt er,
daß sich trotz der sorgfältigen Arbeit der Unterrichtskommission der Ge
Seilschaft ganz erhebliche Schwierigkeiten der Durchführung ihrer Vorschlag« 1
entgegenstellen, Schwierigkeiten, die in dem historisch gewordenen Orga-
nismus der höheren Lehranstalten begründet sind, und denen gegenüber
etwaige pekuniäre Hemmnisse und solche, die aus dem zeitweiligen Mangel
an genügend vorgebildeten Lehrkräften sich ergeben, eine untergeordnete
Rolle spielen. Auf der anderen Seite dürfe es aber auch als eine erfreuliche
Tatsache hingestellt werden, daß die Erkenntnis der Anforderungen, welche
die Gegenwart an den mathematischen und naturwissenschaftlichen Unter-
richtsbetrieb stellt, immer weitere Kreise durchdringt, und daß bereits an einer
großen Zahl von Anstalten dieser Unterricht sich mit den modernen Ideen
durchsetzt hat. Abgesehen davon, daß bei dem zoologischen und botanischen
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Unterricht den spezifisch biologischen Gesichtspunkten doch schon mancher-
orts Rechnung getragen wird, ist für eingehendere Beobachtungen an nicht
wenigen Schulen durch Schaukästen, Terrarien, Aquarien, Versuchsbeete,
Schulgarten' und ähnliches Fürsorge getroffen. Chemische Uebungen sind
bei den Oberrealschulen verbindlich, bei vielen Realgymnasien bestehen
sie als wahlfrei. Auch physikalische Schülerübungen gibt es hier und da,
und soweit es bis jetzt beurteilt werden kann, herrscht bei vielen, vielleicht
sogar bei der Mehrzahl der betreffenden Lehrer der beste Wille, sie einzu-
führen, sobald durch Beseitigung gewisser Hindemisse der Weg dafür frei
gemacht sein wird. Ueber alle diese Dinge wird eine Rundfrage, die vor
einiger Zeit an alle neunklassigen Schulen des preußischen Staates ergangen
ist, deren Beantwortung aber noch nicht aus allen Provinzen vorliegt, den ge-
wünschten Aufschluß geben. Was die freiere Gestaltung des Unterrichts
in den Oberklassen anlangt, so würde es auch nach Geheimrat Jansens
Meinung den Charakter des Gymnasiums nicht in Frage stellen, wenn einzelnen
zu mathematischen und naturwissenschaftlichen Studien hinneigenden Schülern
unter angemessener Befreiung vom sprachlichen Unterricht eine besondere
Pflege ihrer Sonderart zuteil würde; im Gegenteil, es würde dann der
andere Teil der Schüler mit um so größerem Nachdrucke den altsprachlichen
Studien' sich hingeben können. Namentlich kleineren Städten, in denen es
nur eine einzige Anstalt gibt, würde dieses Verfahren unter Umständen von
großem Nutzen sein. Bekannt ist, daß an den Gymnasien in Straßburg und
Elbing, an jedem in besonderer Weise, Versuche nach dieser Richtung im
Gange sind. Aber auch bei Realgymnasien ist ähnliches denkbar, und bei
ihnen vielleicht um so erwünschter, als die freiere Gestaltung des Prima-
Unterrichts dazu beitragen kann, der in der Natur des realgymnasialen
Lehrplans liegenden Gefahr der Zersplitterung einen gewissen Damm ent-
gegenzustellen. Die Realgymnasien in Elberfeld und Essen haben seit Ostern
dieses Jahres in der Unterprima mit solchen Versuchen begonnen.
So fehlt es also an Ansätzen üu einer zeitgemäßen Gestaltung des
mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts nicht. Ob freilich
die von der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Aerzte und ihrer
Unterrichtskommission gesteckten Ziele jemals erreicht werden können, das
— so führt Geheimrat Jansen aus — sei eine Frage, die sich zurzeit
nicht entscheiden lasse. Jedenfalls haben sie das Gute, die Augen weiter
Kreise auf den Gegenstand hingelenkt zu haben, und es werde eine heilsame
Wirkung im Unterrichtsbetriebe nicht ausbleiben.
Gesellschaft für experimentelle Psychologie.
In der Angelegenheit des III. Kongresses für experimen-
telle Psychologie, den die Gesellschaft für experimentelle Psycho-
logie für die Zeit vom 22. bis 25. April 1908 in die Wejge geleitet hat,
erlaube ich mir folgendes mitzuteilen.
Der Kongreß findet in Frankfurt a. M. in den Räumen der Aka-
demie statt.
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Mitteilungen.
Der Besuch des Kongresses ist außer den Mitgliedern der Gesell-
schaft allen anerkannten Männern der Wissenschaft als Teilnehmern ge-
stattet. Die zu entrichtende Gebühr beträgt für Nichtmitgliedcr der oben
genannten Gesellschaft 10 Mk. Außerdem ist vom Vorstand die Aus-
gabe von Hörerkarten genehmigt worden; der Preis derselben beträgt
20 Mk. ; für Lehrer und Lehrerinnen, für immatrikulierte Studenten und
Studentinnen 10 Mk. Die Damen der Mitglieder können den Kongreß
ohne Entrichtung von besonderen Gebühren besuchen.
Mit dem Kongreß wird eine den Bedürfnissen und Interessen der
Zusammenkunft entsprechende Ausstellung von psychologischen Apparaten
verbunden sein.
Während des Kongresses steht dessen Besuchern die gleichfalls im
Akademiegebäude befindliche Bibliothek des Seminars für Philosophie und
Pädagogik sowie des Psychologischen Institutes zur Verfügung. Außerdem
können die Freiherrlich Carl von Rothschildsche öffentliche Bibliothek in
Frankfurt sofort und die Universitätsbibliothek in Würzburg auf tele-
graphisches Ersuchen in kürzester Zeit weitgehenden Anforderungen
gerecht werden.
Zur Vorbereitung des Kongresses ist ein Lokalkomitee zusammen
getreten. Die Mitglieder desselben sind folgende Frankfurter Herren:
Dr. med. Franz A dickes, Oberbürgermeister. — Dr. phil.
Christian W. Berghocffer, Direktor der Freiherrlich Carl
von Rothschildschen öffentlichen Bibliothek. — Theodor Curti,
Direktor der Frankfurter Zeitung. — Dr. phil. Carl D6guisne, Dozent
am physikalischen Verein. — Dr. phil. Franz Dörr, Direktor der Liebig
Realschule. — Professor Dr. Ludwig Edinger, Direktor des neurolo-
gischen Institutes. — Dr. phil. Bruno Eggert, Oberlehrer. — Pro-
fessor Dr. phil. Martin Freund, Rektor der Akademie. — Franz
Herber, Stadtschulinspektor. Adam Linker, Stadtschulinspektor.
— Dr. Wilhelm Lüngen, Stadtschulrat. — Dr. Karl Marbe, Pro-
fessor der Philosophie an der Akademie. - Dr. Wilhelm Merton. —
Dr. phil. Heinrich Morf, Professor der romanischen Sprachen an
der Akademie. — Professor Dr. phil. Ludwig Pohle, Prorektor der
Akademie. — Dr. phil. Ferdinand Reinhold, Direktor der Viktoria-
Schule. — Dr. med. et phil. Otto Schultze, Assistent am Seminar
für Philosophie und Pädagogik und am psychologischen Institut der
Akademie. - Professor Dr. med. Alb. S i p p c 1. — Dr. phil. Ernst
T c i c h 111 a n 11 , Redakteur an der Frankfurter Zeitung. — Professor
Dr. phil. Andreas Voigt. Sekretär des Großen Rates der Akademie. —
Dr. phil. Julius Ziehen, Stadtrat.
Innerhalb dieses Lokalkomitees hat sich zur Vereinfachung des
Geschäftsganges der laufenden Arbeiten ein Organisationskomitec gebildet;
ihm gehören außer mir die Herren Dr. Schultze und Dr. Teichmann
an. Die Aufgaben des Schriftführers und Kassierers hat Herr Dr. Schultze
übernommen. Anmeldungen und Zuschriften bitte ich an ihn zu senden;
Geldsendungen jedoch wolle man an die Diskontogcsellschaft in Frank-
furt a. M. einsenden, und zwar mit dem ausdrücklichen Bemerken, daß
das Geld für das Konto des psychologischen Kongresses bestimmt ist.
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Mitteilungen. 4 1 1
Weitere Mitteilungen und ein ausführliches Programm werden später
rechtzeitig vom Organisationskomitee verschickt werden.
Dr. phil. Karl Marbe,
Professor der Philosophie an der Akademie.
Institut für ungewandte Psychologie und psychologische Sammclfornchung.
Wir erhielten seinerzeit folgende Zuschrift, der wir erst heute einen
Platz einräumen können. Das Institut ist ms Leben getreten und hat eine
Reihe großzügiger Arbeiten begonnen.
Berlin W. 50, Aschaffcnburgerstr. 27.
Ende September 1906.
Der Vorstand der „Gesellschaft für experimentelle Psychologie" hat
beschlossen, ein „Institut für angewandte Psychologie und psychologische
Sammelforscbung" ins lieben zu rufen, welches am 1. Oktober 1906
eröffnet wird.
Das Institut hat nicht den Charakter eines psychologischen Labora-
toriums, tritt also nicht in Konkurrenz zu den bestehenden psychologischen
Instituten; es soll vielmehr als Zentralstelle für die Organisation gemein-
schaftlicher Untersuchungen und für die Anlage psychologischer Sammlungen
dienen. Es will nicht nur die Fachpsychologen untereinander, sondern auch
diese mit den Vertretern der mannigfachen Anwendungsgebiete zu systema-
tischer Arbeitsgemeinschaft verbinden.
Ueber Ziele und Betriebsweise des Instituts erlauben sich die Unter
zeichneten, die im Auftrage des von dem Vorstande der Gesellschaft
gewählten Ausschusses die unmittelbare Verwaltung der Geschäfte des
Instituts übernehmen werden, folgendes mitzuteilen.
I. Aufgaben des Instituts.
Neben der stillen Forscher- und Laboratoriumsarbeit der reinen Psycho
logic, für welche die Analyse der Bewußtscinserschcinungcn und die Fest
Stellung psychischer Gesetzmäßigkeiten Selbstzweck ist, beginnt sich seit
einigen Jahren eine Forschungsweise von sehr abweichender Tendenz und
Methode geltend zu machen.
Die Absicht geht auf Gewinnung solcher psychologischer Ergebnisse,
die auf andere Gebiete des Lebens und des Wissens Anwendung gestatten,
auf die der Erziehung und des Unterrichts, der Rechtspflege, der Psychiatrie
und Psychopathologie einerseits, andererseits auf eine Reihe theoretisscher
Disziplinen, wie Sprachwissenschaft, Erkenntnistheorie, Ethik, Aesthetik usw.
Dem Verfahren nach muß die angewandte Psychologie in ganz anderem
Maße als die reine Psychologie sammelnd vorgehen. Da sie die Fülle der
seelischen Differenzierungen. Entwicklungsformen und Umweltbedingunge«
berücksichtigen muß, bedarf sie zu ihren Schlüssen eines umfangreichen
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Mitteilungen
Massenmaterials. Ferner darf sie nicht, wie die reine Psychologie, das
Studium der künstlich vereinfachten elementaren Bewußtseinserscheinungen
bevorzugen, sondern sie muß, durch Einbeziehung der komplexen Seelen
phänomene und Fähigkeiten, eine größere Lebensnähe ihrer Ergebnisse
erstreben.
Bei der Durchführung dieser Forderungen erhoben sich aber Schwieng-
keiten, welche den Erfolg dieses so aussichtsreichen Forschungsgebietes teil
weise ernsthaft bedrohten.
Die erste Schwierigkeit bestand darin, das Postulat der größeren Lebens
nähe mit demjenigen Grade wissenschaftlicher Exaktheit ru verbinden, der
eine einwandfreie Verwertung der Ergebnisse rechtfertigt. Hier wird z. T.
erst eine, den besonderen Aufgaben angepaßte, Methodik ausgearbeitet
werden müssen.
Sodann aber führt das Verlangen, Massenmaterial zu schaffen, leicht zu
einem rein extensiven Betrieb, der sich auf Kosten der Intensität mit der
schnellen Anhäufung und der Verrechnung recht großer Materialmengen begnügt
(hierher gehören nicht wenige der im Auslande sehr verbreiteten Fragebogen-
erhebungen) Verzichtet aber der Forscher — wie meist in der deutschen
Wissenschaft — auf so fragwürdigen Untersuchungsstoff, dann vermag er
als einzelner eben nur an einer kleinen Zahl von Versuchs- und Beobachtungs
personen fragmentarische Arbeit zu leisten.
Diese Mißstände haben in den letzten Jahren schon mehrfach dazu
geführt, daß die Forderung einer Organisation psychologischer Arbeits
gemeinschaft erhoben wurde. Für Einzelprobleme ist sie auch bereits hier
und da verwirklicht worden, und einige Laboratorien haben sich auch
schon die Pflege eines besonderen Anwendungsgebietes (namentlich der experi-
mentellen Pädagogik) zur Aufgabe gemacht. Aber alle diese Unternehmungen
sind, so dankenswert sie sein mögen, von der privaten Initiative des einzelnen
Forschers abhängig; die bedauerliche Zersplitterung der Kräfte ist nicht
beseitigt; die Forderung des einwandfrei gewonnenen und verarbeiteten
Massenmaterials harrt noch immer der Erfüllung.
So ergibt sich die Notwendigkeit einer dauernden Organisation, welche
für die Probleme der angewandten Psychologie die Arbeitsgemeinschaft der
Interessenten herbei- und durchzuführen und das Verfahren der Sammel-
forschung methodisch auszubauen hätte.
Ein Bedenken sei schon im voraus beseitigt. Bei der Heterogeneität
der verschiedenen oben aufgezählten Anwendungsgebiete kann es zweifelhaft
erscheinen, ob ihre gemeinsame Unterstellung unter eine Zentrale zweck-
mäßig und ob nicht Sonderinstitute für pädagogische Psychologie, für
forensische Psychologie usw. empfehlenswerter wären. Demgegenüber muß
hervorgehoben werden, daß die angewandte Psychologie in vielen Be
Ziehungen eine wirkliche Forschungscinheit darstellt. Gemeinsam sind den
mannigfachen Anwendungsgebieten zunächst gewisse methodologische Be-
sonderheiten, die eine Zentralisation der Bearbeitung wünschenswert machen:
die Forderungen des Massenmaterials, des sammelnden und statistischen Ver
fahrens, der größeren Lebensnähe, der höheren Komplexion der zu unter-
suchenden Phänomene. Sodann aber haben sie auch sachlich so viele Pro-
bleme gemeinsam, daß ihre Trennung unzweckmäßig wäre; ja, es gibt
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Mitteilungen.
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Fragen, bei deren Untersuchung man noch gar nicht übersehen kann, nach
wie vielen Richtungen sich die Anwendbarkeit der Ergebnisse erstrecken
wird. So sind Ermüdungsmessungen, Intelligcnzprüfungen, Gedächtnis-
forschungen für den Pädagogen ebenso wichtig wie für den Psychiater.
Die Aussage ist nicht nur ein Problem der forensischen, sondern auch der
pädagogischen und pathologischen Psychologie, sogar auch der Geschichts-
wissenschaft. Vor allem aber ist es das weite Gebiet der seelischen Ent-
wicklung (Psychogenesis), auf dem sich die Kindespsychologen und Päda-
gogen mit Vertretern der Kulturwissenschaften: Historikern, IJnguisten,
Kunstwissenschaftlern usw. treffen. Hier bestehen also Aufgaben, die nur
ein die ganze Psychologie umfassendes Institut zu losen vermag.
II. Betrieb des Institutes.
Den Aufgaben des Instituts (dessen Tätigkeit durch private Mittel
für längere Zeit sichergestellt ist) dienen folgende Einrichtungen:
i. Kommissionen.
Für jedes zu bearbeitende Spezialthema wird vom Ausschuß eine
Kommission gebildet, die ihrerseits wieder Hilfskräfte zur Durchführung
ihrer Untersuchungen heranzieht. Auch Nichtmitglieder der Gesellschaft
können einer Kommission angehören oder als Hilfskräfte fungieren.
Die Kommissionen beraten und beschließen über:
a) die ru wählende Methode,
b) Umfang, Zeit, Orte, Material der Untersuchung,
c) die heranzuziehenden Hilfskräfte,
d) die Art der statistischen Verarbeitung,
e) die Art und Herausgabe der Publikation.
Ihre Beschlüsse unterliegen der Genehmigung durch den Ausschuß.
2. Sammelarchiv und Bibliothek.
Das Sammelarchiv ist bestimmt:
a) für die vom Institut selbst zu veranstaltenden Sammlungen, die
sich auf bestimmte psychische Acußerungcn und Leistungen beziehen,
b) als Depot von psychologischen Gelegenheits- und Rohmaterialien
(Tabellen, Protokollen, kasuistischen Beobachtungen usw.), welche der einzelne
Forscher nicht zu verwerten gedenkt oder schon verwertet hat, und nun
weiter zur Benutzung zur Verfügung stellt.
c) Dem Sammelarchiv soll eine Bibliothek angegliedert werden, welche
die sehr zersplitterte Literatur zur angewandten Psychologie in ihren Haupt-
erscheinungen umfaßt.
Die Materialien des Sammelarchivs und der Bibliothek können gegen
eine Gebühr im Institut benutzt und z. T. auch nach auswärts ent-
liehen werden.
3. Ueber nähme fremder Materialien.
Das Institut übernimmt in gewissen (vom Ausschuß zu genehmigenden)
Fällen gegen eine Gebühr die rechnerische Verarbeitung übersandter Proto-
kolle und überläßt die Resultate dieser Verarbeitung dem Autor zur Ver-
wertung.
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Mitteilungen.
Das Institut befindet sich in Berlin-Wilmersdorf, Aschaffenburgerstr. 27
(dicht am Pragerplatz), Gartenhaus 4 Treppen.
Als reguläre Arbeitszeit gelten wochentäglich die Stunden von 9 bis
2 Uhr. Außerdem findet Sonnabend nachmittag von 6—7 Uhr Sprechstunde
des Sekretärs statt.
Organ des Instituts ist die vom Jahre 1907 ab erscheinende Zeitschrift
für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung", heraus-
gegeben von William Stern und Otto Lipmann.
Für den Arbeitsplan der ersten Zeit sind, vorbehaltlich der Genehmigung
durch den Gesamtausschuti, folgende Themen in Aussicht genommen:
1. Entwicklung des Sprechens und Denkens in den ersten Lebens-
jahren des Kindes (nebst Berücksichtigung völkerpsychologischer
Parallelen).
2. Die Aussage in ihrer
a) forensischen,
b) pädagogischen Bedeutung.
3. Intelligenzprüfung.
4. Eigenart und Entwicklung der hypernormalen Begabungen.
5. Anschauungstypen.
Sammlungen sollen zunächst angelegt werden über:
1. Kinderzeichnungen und andere kindliche Kunstbetätigungen,
2. kindliche Sprachentwicklungen, Sprachschatze und besondere Sprach-
Phänomene,
3. hypernormalc Begabungen.
Ej> ergeht hierdurch an die Psychologen und die Vertreter der An-
wendungsfächer die Bitte, das Institut in seinen wisscnscltaft liehen Be-
strebungen zu unterstützen, und zwar durch Mitwirkung an den Kommissions-
arbeiten, durch Förderung der Sammlungen und der Bibliothek, durch An-
regung und Vorschläge, die sich auf Probleme der angewandten Psychologie
und psychologischen Sammelforschung beziehen.
Privatdoz. Dr. William Stern, Breslau V, Brandenburgerstr. 54.
Dr. Otto Lipmann, Berlin W. 50, Pragersir. 23.
Petition
an den Herrn Minister der geistlichen pp. Angelegen-
heiten betr. Unterrichtszeit und häusliche Arbeiten an
den höheren Schulen.
Berlin, im Oktober 1906.
An den Herrn Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-
angelegenheiten in Berlin.
Ew. Exzellenz bitten die gehorsamst unterxeichneten preußischen Mit-
glieder des Deutschen Hauptkomitees zur Vorbereitung des 2. Internat.
Schulhygiene-Kongresses (London 1907), denen die in beiliegender Liste
Genannten sich anschließen,*) die nachstehenden Vorschläge in betreff der
*) Weitere Zustimmungen nimmt Prof. V i e t o r in Marburg entgegen.
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Mitteilungen.
415
Unterrichtszeit und der häuslichen Arbeiten an den höheren Schulen
wenigstens für ausgedehntere Versuche in geneigte Erwägung zu ziehen.
1. Verlegung des gesamten verbindlichen Unterrichts auf den Vor-
mittag bei Einführung der „Kurzstunde" von 45 oder 40 Minuten.
2. Ermäßigung der häuslichen Arbeiten durch Verzicht auf schrift-
liche Flausaufgaben in den Unter- und Mittelklassen und durch deren Ein-
schränkung in den Oberklassen.
3. Einführung eines Spielnachmittags mit Erlaß der häuslichen Arbeiten
für den folgenden Tag.
Zur Begründung erlauben wir un> das Folgende hinzuzufügen.
Zu 1. — Die Zahl der Unterrichtsfächer und Unterrichtsstunden ist so
groß, daß allein durch die verbindlichen Fächer einschl. des Turnens
und des Chorsingens die bei ungeteiltem Unterricht verfügbare Vormittags-
zeit von wöchentlich 30 Stunden um wöchentlich 5 — 6 Stunden überschritten
wird. Die Heranziehung des Nachmittags für diesen Ueberschuß beeinträchtigt
wiederum die für die wahlfreien Fächer nötige Zeit und bringt insbesondere
in größeren Städten andere Mißstände mit sich. Eine Verminderung der
Fächer und Stundenzahl ist auf die Dauer kaum zu umgehen, ließe sich
jedoch ohne tiefgreifende Veränderungen der Lehrpläne nicht durchführen.
Ein näher liegendes Mittel zur Abhilfe bietet sich in der sog. Kurzstunde,
über deren günstige Erfolge in der Beilage zum 38. Jahresbericht des
Realgymnasiums mit Gymnasialabteilung zu Karlsruhe (190^) Genaueres zu
finden ist. In Stockholm wird in Kurzstunden zu je 45 Minuten mit drei
Pausen zu je 15 und einer zu 30 Minuten von 8- i Uhr unterrichtet. Der
noch kürzere 40 Minuten Betrieb hat sich am Gymnasium zu Winterthur so
gut bewährt, daß der Schulrat nach l'/sjähriger Erfahrung auf einstimmigen
Wunsch der Lehrerschaft am 19. Januar d. J. gleichfalls einstimmig
beschlossen hat, der Gemeindeversammlung Winterthur die endgültige Ein-
führung des 40 Minuten-Betriebes zu empfehlen. Als Vorzüge werden
geringere Ermüdung, größere und gleichmäßigere Aufmerksamkeit und
Sammlung, erhöhte Leistungsfähigkeit und größere geistige Frische, zumal
in der fünften Vormittagsstundc (d. h. Kurzstunde), genannt. Bei dieser
Einrichtung ist es möglich in der Zeit von 8—12 Uhr fünf Kurzstunden mit
Pausen von durchschnittlich 10 Minuten zu erteilen. Es würde somit einer-
seits der namentlich in Großstädten lästige frühe Beginn um 7 Uhr im
Sommer vermieden, andererseits das Ende des verbindlichen Unterrichts
einschl. des Turnens und Singens in den Unterklassen bis 12 Uhr mittags,
in den Mittel- und Oberklassen mit Benutzung der fünften Zeitstundc
(12.10 — 12.50) noch vor 1 Uhr herbeigeführt. Daß bei geringerem als dem
jetzigen Zeitaufwand die vorgeschriebenen Lehrziele zu erreichen sind, beweist
übrigens auch der Umstand, daß die Zahl der wöchentlichen Vollstunden
aller Klassen in den bayerischen Gymnasien (246) um etwa 50 hinter der
der preußischen (295) zurückbleibt.
Zu 2. — Bei der heutigen Verteilung des Unterrichts sind auch die
Nachmittage durch verbindliche und wahlfreie Stunden dermaßen in Anspruch
genommen, daß der Schüler oft erst um 5 oder 6 Uhr die Schule verläßt.
Nach Abzug der für Schulwege und Mahlzeiten, Erholung und Selbstbetätigung
erforderlichen Zeit bleiben im allgemeinen nur die Abendstunden für dio
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416
Mitteilungen.
häuslichen Arbeiten übrig. Dies muß bei dem frühen Beginn des Unter-
richts am Vormittag um so eher zur Ueberanstrengung durch Verkürzung
des Schlafes führen, je mehr der Schüler der freilich nur allzu gewöhnlichen
Anwendung täuschender Mittel bei der Anfertigung seiner häuslichen Arbeiten
widerstrebt. Gerade der gewissenhafte Schüler läuft daher Gefahr, weniger
vollendete häusliche Arbeiten aufzuweisen und im Unterricht in Frische
und Leistungsfähigkeit zurückzustehen. Schon aus den angedeuteten Miß-
ständen ergibt sich, daß auch durch Umfragen bei den Schülern die Ein-
haltung der vorgeschriebenen Maximalzeit bei den häuslichen Arbeiten nicht
gewährleistet, und daß die Erziehung zum selbständigen Arbeiten durch die
Hausaufgaben in der Mehrzahl der Fälle nicht erreicht wird. Es erscheint
daher wünschenswert, ohne etwaige Vermehrung des Memorierstoffes in
den Unter- und Mittelklassen auf schriftliche Hausarbeiten ganz zu ver-
zichten und in den Oberklassen in mäßigem Umfange nur solche zuzulassen
(freie Wiedergaben, Aufsätze usw.), deren Lösung die individuelle Betätigung
des Schülers mit einiger Sicherheit erkennen läßt.
Zu 3. — Es ist zu wünschen, daß die Schule den Zusammenhang mit der
Pflege von Spiel und Sport, die zum Turnen mehr und mehr ergänzend hinzu-
tritt, nicht verliere. Als das geeignetste Mittel erscheint die Verallgemeinerung
des Spielnachmittags, wie er an manchen Schulen bereits eingeführt ist, mit
Erlaß der häuslichen Arbeiten für den folgenden Tag. Die zweistündige
Spielzeit könnte auf die späten Nachmittagsstunden (5 — 7 oder 6 — 8 Uhr)
verlegt werden.
Die gehorsamst Unterzeichneten versprechen sich von der Erfüllung
ihrer /Wünsche einen wichtigen Fortschritt zugunsten der körperlichen,
geistigen und sittlichen Entwicklung unserer Jugend.
Prof. Dr. med. B a g i n s k y , Vorsitzender des Berliner Vereins für Schul-
gesundhcitspflege, Berlin. D e 1 i u s , Geh. Ober- Baurat, 2. Vorsitzender des
Deutschen Vereins für Schulgesundheitspflege, Berlin. — Realschuldirektor
F. Dörr, Frankfurt a. M.-Bockcnheim. — Prof. Dr. phil. R. Eickhoff,
Mitglied des Deutschen Reichstages und des Preuß. Hauses der Abgeordneten,
Remscheid. — Geh. Medizinalrat Dr. med. E. von Esmarch, Professor
der Hygiene, Göttingen. — Geh. Mcdizinalrat Dr. med. Albert Eulen-
burg, Professor der Neurologie, Berlin. — Prof. Dr. med. Arthur Hart-
mann, Ohrenarzt, Berlin. — Oberbürgermeister Müller, Mitglied des
Preuß. Herrenhauses, Kassel. — Sanitätsrat Prof. Dr. med. F. A. Schmidt,
Bonn. — Dr. med. H. S e 1 1 e r , Privatdozent der Hygiene, Bonn. —
Dr. phil. Wilhelm Vietor, Professor der englischen Philologie, Mar-
burg. — Regierungs- und Geh. Medizinalrat Dr. med. R. W e h m e r , stell-
vertretender Vorsitzender des Berliner Vereins für Schulgesundheitspflege
und Vorsitzender des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege,
Berlin. — Stadtschulrat Dr. phil. Wehrhahn, 3. Vorsitzender des Deut-
schen Vereins für Schulgesundheitspflege, Hannover. (Auch der mittlerweile
verstorbene Geh. Medizinalrat Dr. med. et phil. Herrn. Cohn, Professor
der Augenheilkunde, Breslau, hatte s. Z. seine Zustimmung erklärt.)
Schriftleitung : F. Kemsias, Weissensee, Königs -Chaussee 6, u. L. Hirschlatt, Berlin W.,
Habsburgers»-. 6. — Verlas; von Hermann Waltbor, Verlagsbuchhandlung, G. m. b. H., Berlin
W. 30, Nollendorfplatx 7. — Verantwortlich für Geschäftliche Mitteilungen und Inserat«:
Fr. Paache- Berlin. - Druck: Pass fc Garleb G. m. b. H., Berlin W. 67, Bülowstr. 66.
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Zeitschrift
Ar
Pädagogische Psychologie,
Pathologie und fjy$\m.
nerausgegeoen
von
Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlaff.
Jahrgang X. Berlin, März 1908. Heft 6.
Die forensische Bedeutung der modernen Forschungen
über die Aussagepsychologie.')
Von
ALBERT MOLL.
(Vortrag, gehalten in der Freien gerichtsarztlicheu Vereinigung am
16. Januar 1908.)
Die modernen Forschungen über die Aussagepsychologie
sind dadurch ausgezeichnet, daß die Methoden der modernen
Psychologie hier Verwertung gefunden haben, daß sie in
größerem Maßstab vorgenommen sind, und daß sie erheblich
mehr ins einzelne gehen, als es jemals vorher der Fall war.
Es wäre aber ein Irrtum, die Aussagepsychologie selbst als
ein vollständig neues Gebiet zu betrachten, dessen Bedeutung
erst in neuerer Zeit bekannt geworden wäre. Wahrscheinlich
ist vielmehr der Gegenstand, seitdem Menschen miteinander
verkehren, besonders aber, seitdem eine geordnete Rechts-
pflege besteht, wenn auch nicht immer in dem notwendigen
Grade, berücksichtigt worden. Viele Beweise für diese Auf-
fassung findet man in alten Rechtsbüchern. Wie wenig neu
l ) Anm. d. Red.: Dieser Aufsatz erscheint mit Genehmigung des Verfasser«
und des Herausgebers zu gleicher Zeil in der Aerztlicheu Sachverständigen-Zeitschrift.
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Uygicue. I
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418
Allnrt Moll.
die Berücksichtigung der Zeugenpsychologie ist, möge eine
historische Ausgrabung Löffle rs zeigen, wonach schon
Ulpian, ein Rechtslehrer, der um 200 nach Christus lebte,
mit aller Klarheit und Präzision Suggestivfragen ausgeschlossen
haben wollte : „Qui quaestionem habiturus est, non debet spezi-
aliter interrogare, an Lucius Titius homicidium fecerit, sed
generaliter, quis id fecerit: alterum enim magis suggerentis
quam inquirentis videtur; et ita Divus Trajanus rescripsit."
Dieser Grundsatz ist später auch in einigen Artikeln der Carolina
aufgenommen worden. Auch in andern Gesetzbüchern ist die
Zeugenpsychologie berücksichtigt worden. Hierher gehört z. B.
unsere Strafprozeßordnung, wo § 68 bestimmt: „Der Zeuge ist
zu veranlassen, dasjenige, was ihm von dem Gegenstande seiner
Vernehmung bekannt ist, im Zusammenhange anzugeben
zur Aufklärung und zur Vervollständigung der Aüssage sind
nötigenfalls weitere Fragen zu stellen." Ich werde später aus-
führen, daß diese Bestimmung, die den Unterschied zwischen
dem spontanen Bericht und dem Verhör berücksichtigt, einen
wichtigen psychologischen Grund hat. Freilich entstammen
diese und ähnliche Gesetzesbestimmungen der reinen Er-
fahrung, während in neuerer Zeit das Experiment einen
großen Teil des Arbeitsgebietes beherrscht.
Immerhin sind auch die Experimente über die Aussage-
psychologie nicht etwas ganz neues. Ich erwähne, daß im
Anschluß an 'das Studium des Hypnotismus und der Suggestion
schon vor mehreren Jahrzehnten solche Versuche gemacht
wurden. So hat der Nanziger Bern he i m schon 1886 in seinem
Buch über die Suggestion einzelne derartige Experimente ver-
öffentlicht, zu denen er gerade durch den Prozeß von Tisza-
Eszlär angeregt wurde. Er und L i c* g e o i s fanden damals
schon, daß man manchem ganz komplizierte Szenen auch
ohne Einleitung der Hypnose als erlebt suggerieren kann.
Unter den Forschern, die auf diesem Gebiete damals gearbeitet
haben, nenne ich weiter B e* r i 1 1 o n (Revue de l'Hypnotisme
1891/92) und Joire (1896). Auch schlug B£rillon schon 1896
auf dem Kongreß für Kriminalanthropologie in Genf eine
These vor, des Inhalts, bei der Untersuchung das Geheim-
verfahren durch ein kontradiktorisches Verfahren zu ersetzen,
um den Einfluß der unbewußten Suggestion auf die Zeugen-
aussagen möglichst zu verhindern. Und im Anschluß an die
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Hypnotismus- und Suggestionsforschungen war bereits 1892
bei einer Gerichtsverhandlung in l'Aisne die Freisprechung eines
wegen Mordes und Mordversuches Angeklagten erfolgt, weil
man annahm, daß die Suggestion bei der Zeugenaussage eine
Hauptrolle spielte."»)
Auch im Anschluß an okkultistische Untersuchungen ist
die Aussagepsychologie öfters behandelt worden, z. B. vor
fast vierzig Jahren von englischen Forschern. 1869 trat ein
wissenschaftliches Komitee in England zusammen mit der be-
sonderen Aufgabe, die spiritistischen Phänomene zu unter-
suchen. Wer die Berichte liest, wird erkennen, wie sehr die
Bedeutung der Aussagepsychologie dabei von skeptischen
Komiteemitgliedern gewürdigt wurde. So schrieb z B. damals
Edmunds: „Durchaus wahrheitsliebende Menschen werden
ohne Zweifel Dinge berichten, welche, wenn sie wahr sind,
unerklärlich bleiben, es sei denn, daß man die Hypothese einer
übernatürlichen Einmischung zu Hilfe nimmt. Aber ich habe
hinreichend Erfahrung gesammelt, um mich zu überzeugen,
daß dergleichen Erzählungen ein Resultat von Selbstbetrug
in der einen oder anderen Form sind; die Erzählung ist viel-
mehr ein Produkt der Phantasie als ein Bericht von Tatsachen.
Wenn man z. B. ein halbes Dutzend der glaubwürdigsten Per-
sonen aufforderte, jede für sich möge einen Bericht über die
Ereignisse in einer dieser Sitzungen niederschreiben, so würden
ihre Erzählungen ganz sicher in einem bedenklichen Maße
voneinander abweichen." Lehmann, der in seinem aus-
gezeichneten Buche über Aberglauben und Zauberei dies
erwähnt, fügt hinzu, daß Edmunds dann einige Beispiele
hinzufüge, wie die Angaben eines Teilnehmers über gewisse
merkwürdige Einzelheiten in einer Versammlung von anderen
Teilnehmern bestimmt geleugnet wurden. Auch sonst ist gerade
im Anschluß an den Okkultismus die Aussagepsychologie viel-
fach studiert worden. Wenn daher einzelne Forscher heute
glauben, daß sie erst die Wichtigkeit der Aussagepsychologie,
sei es für ( die .Rechtsprechung, sei es für andere Aufgaben,
erkannt haben, so irren sie sich. Wir sind sehr leicht geneigt,
auf unsere wissenschaftlichen Ergebnisse uns stolz zu gebärden
und mitleidig auf frühere Zeiten herabzusehen. So dumm aber,
>) Moll, Der Hypnotismus, 4. Auflage, Berlin 1907, S. 448.
1*
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420
Albert Moll.
wie manche heute glauben, sind die Forscher und Praktiker
früherer Zeiten auch nicht gerade gewesen.
Max Dessoir faßt die Hauptfrage der Aussagepsycho-
logie in folgender Weise: Von welchen Umständen hängt es
ab, ob die Aussage eines Menschen, seinen Wahrheitswillen
vorausgesetzt, ein Erlebnis mehr oder weniger genau schildert ?
Es ist, wie man sieht, damit die absichtliche Un-
wahrheit, die Lüge, ausgeschlossen. In praxi ist es freilich
oft sehr schwer, die absichtliche Unwahrheit von der
unabsichtlichen zu unterscheiden. Ich brauche nur an die
Pseudologia phantastica zu erinnern, ferner an die Re-
nommistereien mancher Schwachsinnigen. Theoretisch ist aber
die Trennung nötig. Wenn wir die absichtliche Unwahrheit
ausschließen, sind es zwei seelische Funktionen, auf deren
Mangel die Fehler der Aussage zurückzuführen sind. In
Betracht kommen Fehler des Gedächtnisses und
Fehler der Wahrnehmung. Die ersteren sind aber viel-
fach überschätzt worden. Hans Groß, dem sich Paul
Möller in seiner Arbeit über die Bedeutung des Urteils für
die Auffassung 1 ) anschließt, führt demgegenüber Gründe an,
die in Wahrnehmungsfehlern eine Hauptquelle der falschen
Aussagen erkennen lassen. Ein sehr einfaches und instruktives
Experiment pflegt er gewöhnlich seinen Zuhörern vorzuführen.
Er läßt sich eine Flasche Wasser und mehrere Gläser bringen,
fordert die Anwesenden auf, auf den Hergang zu achten, und
gießt etwas Wasser in ein Glas. Nachdem alles fortgetragen
ist, fragt er die Anwesenden sofort, was er gezeigt habe. Beim
Fragen nach Einzelheiten werde unglaublich wenig dann richtig
beantwortet. Mit Recht führt H a n s G ro ß an, daß hierbei die
Fehler des Gedächtnisses doch keine Rolle spielen könnten,
und daß es sich nur um Wahniehmungsfehler handeln könne.
Aehnlich liegt es bei dem Vorgang, der als bekannter Scherz
über die notwendigen Eigenschaften eines Mediziners erzählt
wird. Der Kliniker schildert den anwesenden Hörern, daß
für den Arzt zwei Dinge notwendig seien: erstens gute Be-
obachtung, zweitens dürfe er sich vor nichts ekeln. Das letztere
demonstriert er dann den Studenten in der Weise, daß er ein
Glas Urin von einem Patienten nimmt, einen Finger eintaucht,
l ) Schriften der Gesellschaft für psychologische Forschung, Heft 15, Leipwgl905.
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Formt. Bedeut. d. mod. Forach tmgeM üb. d. AuMagcptycliologie. 421
und nun den Finger in den Mund nimmt. Bei dem Ekelgefühl,
das bei den Zuhörern auftritt, zeigt er ihnen sofort, wie schlecht
sie beobachtet haben; sie hätten nicht gesehen, daß er den
Zeigefinger in den Urin, den Mittelfinger aber in den Mund
genommen hätte. Wer sich mit der Taschenspielerei beschäftigt
hat, wird zahllose Fälle finden, wo die Wahmehmungsfehler
die Hauptrolle bei der Täuschung spielen. Wenn der Taschen-
spieler anscheinend eine Münze von der rechten Hand in die
linke nimmt, so bleibt sie in Wirklichkeit in der rechten Hand
liegen, und trotzdem nehmen die Zuschauer an, daß er sie
in die linke gelegt habe. Sie haben es nicht wahrgenommen,
aber sie glauben das wahrzunehmen, was sie sich selbst kon-
struieren. Man beschreibt die Vorgänge nicht nach ihrem
objektiven Ablauf, sondern wie man sie sich denkt. Oder
um mit Hans Groß 1 ) zu reden: Der Zeuge bietet viel mehr
Erschlossenes als Beobachtetes. Mit der Wertung der Be-
obachtungsfehler ist natürlich nicht gesagt, daß die des Gedächt-
nisses bei der Aussagepsychologie keine Rolle spielen. Sie
sind ebenfalls von größter Bedeutung, nur soll man sie nicht
zugunsten der Wahmehmungsfehler überschätzen. Wie wichtig
die Gedächtnisfehler sind, ergibt sich schon aus den Unter-
schieden, die die Beschreibung eines Vorganges oder eines
Bildes dann bietet, wenn sie unmittelbar nach dem Vorgange
erfolgt von der, die erst nach Ablauf einiger Zeit stattfinflet.
Dies vorausgeschickt, will ich jetzt mit einigen Worten
auf die neueren Versuche zur Aussagepsychologie eingehen.
Viel Zeit und Mühe haben Stern-) und manche andere
auf die sogenannten Bild versuche verwendet. Es wurde
ein buntes Biki, eine Bauernstube darstellend, genommen, das
eine ganze Reihe Einzelheiten zeigte. Besonders wurden die
Versuche an Schülern gemacht. Die Schüler wurden in einem
leeren Schulzimmer einzeln vorgenommen. Die Betrachtung
des Bildes wurde ungefähr damit eingeleitet, daß Stern dem
Kinde etwa sagte: „Ich möchte einmal sehen, ob du ein gutes
') Krinünalpsychologie, 2. Auflage, Leipzig 1905, S. 5.
'-') Sehr viel Material findet man in den Beiträgen zur Psychologie der Aus-
sage, herausgegeben von L. William Stern, Leipzig 1903 bis 1906. Auch in
der eist seit kurzer Zeit erscheinenden Zeitschrift für angewandte Psychologie und
psychologische Sammelforschitng, wie im Archiv für Kriminal-Anthropologie und
*u vielen andern Stellen findet man viele Materialien.
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422
Albert Moll.
Gedächtnis hast. Ich werde dir ein Bild zeigen, das du dir
ganz genau ansehen sollst. Ich lasse dir reichlich Zeit, dir
alles, was darauf ist, zu merken. Nachher wirst du mir er-
zählen, was du alles auf dem Bilde gesehen hast." Dann
wurde dem Prüfling das Bild in die Hand gegeben, und bei
heller Tagesbeleuchtung betrachtete er es einige Minuten. Dann
wurde es fortgenommen, und nun hatte der Prüfling mitzuteilen,
was er gesehen hat, und zwar zunächst in einem spontanen
Bericht, der höchstens durch Worte wie „vielleicht fällt Dir
noch etwas ein", gefördert wurde. Nachher wurde, wenn der
spontane Bericht stockte, der Prüfling einem Verhör unter;
worfen, bei dem ihm Fragen gestellt wurden, auf die er zu
antworten hatte. Bei den Fragen waren eine Anzahl, die als
suggestive Fragen dienten, vorhanden. Der Bericht und die
Verhörsantworten des Kindes wurden sofort, teilweise steno-
graphisch, aufgenommen. Es folgte nun nach einiger Zeit
der sekundäre Versuch, indem das Kind ein zweites Mal zu
schildern hatte, was es früher gesehen.
Stern, Lipmann und andre haben ausführliche Me-
thoden ausgearbeitet, die uns in den Stand setzen sollen, die
Zuverlässigkeit dieser Berichte zahlenmäßig abzuschätzen. Das
einfachste wäre natürlich, wenn man jeden Irrtum als einen
Fehler rechnet. Aber dies gäbe gewisse Schwierigkeiten, indem
der eine Fehler wichtiger ist, als der andre. Zweifel bieten
auch die unbestimmten Antworten. Ein Kind antwortete etwa
auf die Frage, ob der Mann nicht schwarze Hosen anhabe,
„ich weiß nicht."
Soll man eine solche Antwort ebenso rechnen, wie eine
falsche? Soll man, wenn gefragt wird, „wieviel Löffel liegen
auf dem Tisch", die falschen Zahlen, die angegeben werden
stets als einen Fehler rechnen, gleichviel, ob die Zahl sich
von der Wirklichkeit sehr entfernt oder ihr sehr nahe steht?
Kurz und gut, die Frage der Wertung der Fehler war sehr
bald eine Hauptschwierigkeit, und diese ist auch bis heute
nicht überwunden. Immerhin ist eine gewisse zahlenmäßige
Berechnung, wenn sie auch mit großen Fehlerquellen verknüpft
ist, in der experimentellen Psychologie nicht zu umgehen und
trotz der vielen Einwürfe, die sich gegen die Fehlerwertung,
soweit sie in Zahlen ausgedrückt wird, erheben lassen, muß
doch zugegeben werden, daß die Zahlen wenigstens einen ge-
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Forens. Bedeut. d. mod. Forschungen üb. d. Äussagepsyckologie. 423
wissen Anhaltepunkt, wenn auch sehr unbestimmter Art, ge-
währen. Ich will aber auf die Methode der Fehlerwertung
bei diesen Bildversuchen aus dem Grunde nicht weiter ein-
gehen, weil sich heute wohl alle darin einig sind, daß diese
Versuche zwar ein psychologisches Interesse bieten, vielleicht
auch ein pädagogisches, daß sie aber für unsre Frage, die
gerichtliche Aussagepsychologie, verhältnismäßig wenig in Be-
tracht kommen.
Die Mangelhaftigkeit dieser Bildversuche ist nun den For-
schern auch nicht entgangen. Sie haben deshalb auch soge-
nannte Wirklichkeitsversuche vorgenommen, indem sie ganze
Vorgänge zum Ausgangspunkt der Aussageforschung machten.
Die Beschreibung eines Bildes, eines Gegenstandes, kommt bei
der Zeugenaussage vor Gericht viel weniger in Betracht, als
die Beschreibung eines Vorganges, den man beobachtet hat.
Wenn nun aber auch die Spezialforscher diesen Mangel der
Bild versuche gesehen haben und in einzelnen Fällen soge-
nannte Wirklichkeitsversuche anstellten und ganze
Vorgänge beschreiben ließen, so ist doch nicht zu verkennen,
daß dieses Material, wenigstens was das Experiment anlangt,
erheblich hinter dem ersteren quantitativ zurücksteht. Schon
dieser Umstand zwingt zu größter Vorsicht mit praktischen
Schlußfolgerungen. Was die Wirklichkeitsversuche betrifft, so
ist vielleicht am bekanntesten geworden jenes Experiment, das
im kriminalistischen Seminar der Universität Berün ausge-
führt wurde. Es ist ausführlich von S. Jaffa 8 ) veröffentlicht
worden. Bei einer Debatte im kriminalistischen Seminar ge-
raten zwei Herren miteinander in Wortwechsel, bei dem schließ-
lich auch die Drohung mit einem Revolver eine Rolle spielt.
Alles war vorher mit den tätigen Personen verabredet worden.
Nachher wurden die Anwesenden aufgefordert, den ganzen
Vorgang zu beschreiben. Hierbei sind nun ebenfalls ausführ-
lich die Fehler geprüft und gewertet worden; desgleichen wur-
den die Fehlerquellen recht gut zusammengestellt. Jaffa kriti-
siert sehr ausführlich den Versuch, und wie schwer es ist, zu
wirklich exakten Ergebnissen zu kommen, mag sich daraus
ergeben, daß Jaffa selbst den ganzen Versuch mehr als zurück-
haltend kritisiert. Es ist nämlich nicht einmal absolut sicher
*) Ein psychologisches Experiment im kriminalistischen Seminar der Universität
Berlin. Beitrüge zur Psychologie der Aussage. Leipzig 1903, S. 79.
Alhert Moll.
festgestellt worden, daß dieser Wirklichkeitsversuch sich so
abgespielt hat, wie er protokolliert ist und wie er den Akteurs
aufgetragen war.
Es sind ja auch noch eine ganze Reihe andrer Wirklich-
keitsversuche gemacht worden. Audi für sie ist eine genaue
Fehlerwertung von den zuständigen Forschern vorgenommen
und rum Teil in überaus fleißigen Berechnungen versucht
worden.
Wenn wir das Resultat aller dieser Experimente der mo-
dernen Aussageforschung betrachten, so haben sie das Gute
gehabt, die Aufmerksamkeit auf die Aussage-
fehler hinzulenken. Dieses fortwährende Erwähnen der
Aussagefehler, die bei den Experimenten beobachtet wurden,
hat die allgemeine Aufmerksamkeit auf dieses Gebiet gerichtet.
Die Menschen sind so geartet, daß gewisse Dinge immer wieder-
holt und mit dem nötigen Geräusch gesagt werden müssen,
um endlich durchzudringen. Insofern ist es auch ganz gut,
daß die Untersuchungen zur Aussagepsychologie mit einem
gewissen Geräusch der Welt verkündet wurden, das wohl
manchen esoterisch veranlagten Wissenschaftler gestört, das
aber viel Gutes bewirkt hat. Freilich ist auch der Vorwurf
erhoben worden, dadurch, daß diese Frage die Oeffcntlichkeit
beschäftigte, sei das Vertrauen in die Rechtspflege erschüttert
worden, weil diese so sehr auf dem Zeugenbeweis beruhe.
Dieser Nachteil soll gern anerkannt werden; es muß aber
anderseits zugegelx i n werden, daß es heute kaum möglich ist,
es zu verhindern, daß solche Dinge aus den Kreisen der Wissen-
schaftler heraus in die breitere Oeffentlichkeit gelangen. Die
Forschung würde, wie Stern mit Recht erklärt, lahm gelegt
werden, wenn sie aus Furcht davor ruhen würde. Man kann
von ihr nur verlangen, daß sie nicht selbst in taktloser Weise
Volksinstinkte benutzt, um unser Vertrauen in die Rechtspflege
zu erschüttern. Und dieser Vorwurf kann gegen die in Be-
tracht kommenden Hauptpersonen nicht erhoben werden. Ich
bin jedenfalls überzeugt davon, daß, wenn nicht immer und
immer wieder von den Forschern auf die Unzuverlässigkeit
der Zeugenaussage hingewiesen worden wäre, die Aufmerk-
samkeit nicht auf diese Frage hingelenkt worden wäre.
Insofern haben diese Untersurhungen schon manches Gute
gehabt.
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Foren*. Bedeut. d. mod. Fot Rehungen fih. d. Auxxnfjrpsychologie. 425
Anderseits muß aber zugegeben werden, daß die posi-
tiven Resultate dieser modernen Forschungen
doch verhältnismäßig dürftig sind. Sie haben
meines Erachtens wesentlich Neues, soweit es sich um ge-
sicherte Ergebnisse handelt, nicht erbracht. Nur die Bestäti-
gung bekannter Dinge ist erfolgt, was übrigens als Verdienst
auch nicht unterschätzt werden soll.
Hierher gehört z. ß. die Tatsache, daß Kinder sug-
g e s t i b 1 e r sind als »Erwachsene, eine Tatsache, die aber
bereits vor zwanzig Jahren von der Nanziger Suggestionsschule
begründet wurde. Man braucht nur die Untersuchung der
Nanziger Schule über die Suggestion ä veille zu lesen, nur
einige alte Jahrgänge der Revue de l'Hypnotisme nachzusehen,
um hierfür eine Bestätigung zu finden. Hier haben die mo-
dernen Aussageforschungen nichts neues gefunden, wenn
sie auch durch Ignorierung der alten Literatur
diesen Schein erwecken. Ich bin eher geneigt, anzu-
nehmen, daß die modernen Forschungen über die Aussage-
psychologie die richtige Wertung der Kinderaussagen außer-
ordentlich geschädigt haben. Mit Recht hat Gottschalk
hervorgehoben, daß die Verallgemeinerung dieser Forscher,
betreffend die Unglaubwürdigkeit der Kinder, unberechtigt
ist, daß vielmehr gerade bei den Kind»' raussagen von ihnen
nicht scharf unterschieden würde, ob die Kinder beeinflußt
sind und bereits Unter haltungen mit andern über die in Frage
kommenden Vorgänge geliabt haben oder ob sie ohne solche
Einflüsse die Beobachtungen mitteilen. Gerade die Aussage-
forscher sollten dies auf das schärfste trennen. Auf diesem
von ihnen begangenen Kardinalfehler beruht es wohl auch, daß
sie teilweise mit den gründlichen Erfahrungen von HansGroß
in Widerspruch stehen. Hans Groß 1 ) drückt sich über die
Kinder als Zeugen so aus, daß sie in gewisser Beziehung die
besten Zeugen sind, weil Leidenschaften und Sonderinteressen
auf sie noch nicht so einwirken, wie auf Erwachsene. Er ist
weiter der Ansicht, „daß der der ersten Kindheit entwachsene
Knabe, wofern er gut geartet ist, überhaupt der beste Beob-
achter und Zeuge ist, den es gibt, der mit Interesse alles ver-
l ) Beiträg« zur Psychologie der Aussage, Leipzig 1906, S. 561. Krimüial-
psychologie, 2. Auflage, Leipzig 1905, S. 477 f.
426
Albtrt Holl
folgt, was um ihn herum vorgeht, unbefangen kombiniert und
treu wiedergibt, während das gleichaltrige Mädchen oft eine
unverläßliche, mitunter gefährliche Zeugin abgibt. Dies ist
immer dann der Fall, wenn das Mädchen auf der Stufenleiter
von Begabung, Schwung, Träumerei, Romantik und Schwär-
merei auf dem Punkt einer Art von Weltschmerz, verbunden
mit Langeweile angelangt ist." Dies komme schon ^frühzeitig,
früher als man gewöhnlich annimmt, vor, und wenn dann das
Mädchen auch noch mehr oder minder mit ihrer eigenen Per-
son in den Kreis der fraglichen Ereignisse einbezogen ist,
dann seien wir vor argen Uebertreibungen niemals sicher. Man
sieht, daß dies etwas weit spezielleres ist, als was Stern in
einer seiner Thesen sagt : Kindern wird im allgemeinen noch
viel zu viel geglaubt, und was L i p m a n n fordert, wenn er meint,
daß auf alleinige Bekundung von Kindern eine Verurteilung
nicht stattfinden dürfe. Ich erkenne die Bedeutung dieser
Thesen durchaus an. Aber trotz ihrer Begründung wirkt eine
so allgemein ausgesprochene These sehr leicht ganz anders,
als der Autor es beabsichtigt hat, und sie kann eher ungünstige
Folgen herbeiführen, als die vorsichtige Behauptung, die aus
den Erfahrungen des praktischen Kriminalpsychologen herge-
leitet ist. Kinder sind oft sehr gefährliche Zeugen, meistens
aber nicht deshalb, weil sie schlechter beobachten, oder ein
schlechteres Gedächtnis haben, sondern weil sie sehr oft Ein-
flüssen ausgesetzt sind, die gerade bei ihnen die Aussagetreue
schädigen, insbesondere der Suggestion. Man soll, wenn man
die Behauptung von der Unzuverlässigkeit der Kinderaussage
aufstellt, nicht übersehen, daß ganz bestimmte Umstände daran
schuld sind, die meiner Ansicht nach in den Thesen unsrer
Experimentalpsychologen zum Ausdruck kommen müßten und
nicht nur in der Begründung.
Es sei mir gestattet, an dieser Stelle über einen Prozeß zu
berichten, dem ich im letzten Sommer als Sachverständiger
beiwohnte. Er spielte in einer kleinen ostpreußischen Stadt;
es handelte sich um unzüchtige Handlungen an Kindern unter
vierzehn Jahren. Der Angeklagte war ein Dorfschullehrer der
dortigen Gegend, der offenbar sehr viele Neider hatte, da er
sich und seinen Kindern weit über das Niveau eines Dorfschul-
lehrers hinaus eine Position errungen hatte. Anscheinend spielte
dieser Umstand eine wesentliche Rolle, indem alles, was gegen
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Forens. Bedeut. d. mod. Forschungen üb. d. Aussagepsychologie. 427
ihn gesagt wurde, sofort von seinen Neidern für wahr gehalten
und verbreitet wurden. Es traten schließlich zehn Mädchen als
Belastungszeuginnen auf. Ich wurde als Sachverständiger über
die Bedeutung der Aussage dieser Kinder vernommen. Es
stellten sich die Aussagen als derartig unglaubwürdig heraus,
daß Freisprechung erfolgte. Gerade die Suggestion spielte
hierbei eine große Rolle. Der Prozeß gab übrigens auch eine
ganz hübsche Beleuchtung von der Unschuld vom Lande. Wer
etwa glaubt, daß unsre Kinder in der Stadt mehr oder früher
Schweinereien treiben, als die Kinder jener Gegend, wäre im
Irrtum.
Was nun den eigentlichen Prozeß betrifft, so konnte man
bei jeder Belasrungszeugin, die gegen den Lehrer ins Feld
geführt wurde, so viel äußere Einflüsse oder sonstige Beweise
von Unglaubwürdigkeit nachweisen, daß eben ein Beweis
schließlich nicht als erbracht angesehen werden konnje. Zu-
nächst war es äußerst charakteristisch, daß der Lehrer, der
sechzig Kinder unterrichtete, darunter vierzig Mädchen und
zwanzig Knaben, nur von Mädchen belastet wurde, obwohl die
unzüchtigen Handlungen, die er angeblich zum großen Teil
im Schulzimmer vorgenommen hatte, ebensogut von den Kna-
ben wie von den Mädchen hätten gesehen werden müssen.
Es ist dieser Umstand eine glänzende Illustration zu der Groß-
serien Kennzeichnung des Zeugenmaterials der zweiten Kind-
heit, d. h. etwa des Alters von acht bis vierzehn Jahren. Groß
macht hier, wie ich oben erwähnte, einen typischen Unterschied
rwischen Knaben und Mädchen und zwar zu Ungunsten der
Mädchen. Im einzelnen konnte nachgewiesen werden, daß
die Kinder so viel über die Dinge gesprochen hatten, und daß
es ein ganz bestimmtes Mädchen war, auf das alles zurück-
geführt werden konnte. Dieses war aber wiederum durch einen
Lehrer und durch andre Kinder als verlogen gekennzeichnet.
Ebenso zeigte sich auch sonst der Verdacht auf sittliche Minder-
wertigkeit dieses Mädchens begründet.
Sehr charakteristisch war die Aussage eines Mädchens, das
einen vortrefflichen Eindruck machte und das den Lehrer auf
das schwerste belastete. Als bereits das Ermittlungsverfahren
eingeleitet war und der Richter in das Dorf hinauskam, um
die Kinder zu vernehmen, hatte dieses Kind noch der Mutter
zu Hause gesagt, ihr hätte der Lehrer nie etwas getan. Als
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428
Albert Moll
sie dann zur Vernehmung ging, drohte ihr ein Mädchen, wenn
sie dem Richter nicht sage, daß der Lehrer mit ihr unzüchtige
Handlungen vorgenommen hätte, würde sie, d. h. die Drohende,
es ihm sagen. Und dieses drohende Mädchen war ein bos-
haftes und dabei offenbar auf die Kinder sehr eindrucksvolles
Kind. Bekanntlich finden wir das sehr häufig, daß ein solches
Kind einen suggestiven Einfluß auf die andern ausübt. In
diesem Falle konnte die Vornahme der unzüchtigen Hand-
lungen sozusagen objektiv widerlegt werden. Das Mädchen
an dem sie angeblich vorgenommen waren, war stets eine halbe
Stunde vor Beginn des Unterrichts in der Schule, weil die
Eltern sehr zeitig das Haus verließen, und zu dieser Zeit waren
die Handlungen angeblich vorgenommen worden. Es konnte
aber nachgewiesen werden, daß gerade dieses Mädchen kaum
je allein im Schulzimmer war und daß in der Zeit, wo die
angeblichen unzüchtigen Handlungen mit ihr vorgenommen
sein sollten, der Lehrer überhaupt noch nicht im Schulzimmer
war, weil er infolge einer früheren Influenza länger zu Bett lag.
Festgestellt konnte auch werden, daß sehr starke suggestive
Einflüsse von andrer Seite auf die Kinder eingewirkt hatten.
Der Ortsschulinspektor und Pfarrer vernahm die Mädchen, be-
vor die Angelegenheit dem Gericht unterbreitet wurde, und
er gab in der Hauptverhandlung zu, daß er bei dem einen
Mädchen die Vernehmung damit begann, daß er ihr sagte,
sie solle nur alles sagen, er wisse schon alles. Auch der Er-
mittehmgsrichtcr hatte, wie sich herausstellte, wenigstens bei
der Vernehmung einiger Zeugen, bereits die Ueberzeugung von
der Schuld und er bestreitet nicht, daß er z. B. einer Frau ge-
sagt hat, die den Lehrer entlastete, er sei es doch gewesen.
Zwei andere Mädchen waren wieder durch den Amtsvorsteher
vernommen und auch dieser, der übrigens dem Angeklagten
sehr wohl wollte, gab zu, daß er den Mädchen gegenüber
eine Aeußerung getan hatte, die man nur als unabsichtliche
Suggestion betrachten kann.
In welcher Weise die Kinder Erschlossenes und Gesehenes
vermischten, konnte durch den Augenschein deutlich nach-
gewiesen werden. Wir begaben uns am zweiten Verhandlungs-
tag in das Schulzimmer. Hier mußten die Belastungszeuginnen
die Plätze einnehmen, die sie auch während des Unterrichts
eingenommen hatten. Es war nun dem Lehrer nachgesagt
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Foren* Bedeut. d. mod. Fornchitngtn üb. d. Aussagcpsychologie. 429
worden, daß er, wenn er Mädchen vorn an den Katheder heran-
treten ließ, sie unter dem Rock angefaßt hätte. Mehrere Mäd-
chen haben in der Voruntersuchung behauptet, daß sie dies
häufig gesehen hätten. Die Augenscheineinnahme ergab, daß
dies die Kinder garnicht sehen konnten. Sie konnten nicht
einmal den Arm des Lehrers sehen, sondern höchstens teil-
weise noch die Schulter. Wenn nun weiter berücksichtigt wird,
daß die Mädchen, und zwar wiederum auf Veranlassung von
einer oder zwei andern, stets, wenn ein Mädchen vorgerufen
wurde, schon erwarteten, daß der Lehrer unter die Röcke
greifen würde, so wird man einsehen, wie leicht eine harm-
lose Bewegung mit der Schulter oder eine seitliche Bewegung
des Lehrers die Kinder zu diesem Glauben veranlassen konnte.
Der Ermittelungsrichter selbst sagte aus: Irgendetwas machte
K., das dachten sich die Mädchen, besonders, wenn er jemand
an den Katheder bestellte oder sich hinten zu ihr setzte. Man
wird begreifen, wie weit aus solcher Erwartung dann eine
Urteilstäuschung oder auch eine Autosuggestion entstehen kann.
Aehnlich lag es in einem andern Fall. Die K., von der
die ganze Sache ausging, hatte im Ermittelungsverfahren aus-
gesagt, sie habe gesehen, daß der Angeklagte einem andern
Mädchen im Stall unter die Röcke gegriffen hätte. In der
Hauptverhandlung erklärte sie, als sie darüber gefragt wurde,
das habe sie nicht gesehen, sie habe mir gesehen, daß der
Angeklagte bei ihrem Eintritt in den Stall zur Seite trat, und
daß die N., d. h. das andere Mädchen, dabei blaß wurde.
Außerordentlich charakteristisch war auch, wie, je mehr
die Kinder sich untereinander unterhielten, und je mehr sie
vernommen wurden, die Zahl der unzüchtigen Handlungen
zunahm. Das eine Kind hatte z. B. angegeben, sie hätte einmal
gesehen, wie der Lehrer dem andern Kind unter den Rock
gegriffen hätte. Als nun dieses andere Kind sagte, der Lehrer
hätte ihr zehnmal unter den Rock gefaßt, erklärte auch die
beobachtende Zeugin, zehnmal hätte sie es gesehen. Datui
konnte man aber auch weiter erkennen, wie einige der Be-
zichtigungen wieder zurückgezogen wurden, wenn man den
Kindern ihre Widersprüche nachwies.
In einem anderen Falle lag es folgendermaßen: Ein
Mädchen N. hatte erklärt, daß der Angeklagte sie im Stalle
unsittlich berührt hätte. Sie hatte aber nichts davon gesagt,
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430
Albert Moll.
daß es auch in der Schule geschehen sei. In der Hauptver-
handlung erklärte aber ein anderes Mädchen, B., sie hätte
gesehen, wie der Angeklagte der N. in der Bank unter die
Röcke gefaßt hätte, und jetzt sagte die N. in der Haupt-
verhandlung, der Lehrer hätte in der Tat auch in der Bank
den Versuch gemacht, sie unsittlich zu berühren. Das Mädchen
B. wurde übrigens selbst vom Gericht schließlich für schwach-
sinnig erklärt; es ist aber äußerst charakteristisch, welchen
Einfluß auch dieses Mädchen aujf die ganze Verhandlung ge-
winnen konnte.
Ich habe im vorhergehenden die Kinderaussage be-
sprochen, und die geringe Förderung hervorgehoben, die die
experimentellen Aussageforschungen auf diesem Gebiete
gebracht haben. Die Aussageforschung hat nun weiter ein
großes Gewicht auf die Frage gelegt, welche Verschiedenheiten
in einer Aussage auftreten, wenn man sie als einen spon-
tanen Bericht stattfinden, und wenn man sie als V e r h ö r s -
produkt Zustandekommen läßt. Nun ist, wie schon aus dem
oben erwähnten Paragraphen der Strafprozeßordnung hervor-
geht, wonach der Zeuge möglichst im Zusammenhang erzählen
soll, der Gedanke nicht neu, daß der spontane Bericht weit zu-
verlässiger ist. 1 ) Immerhin muß zugegeben werden, daß durch
die Art, wie die Aufmerksamkeit auf den Unterschied des
spontanen Berichts und des Verhörprotokolls gelenkt wurde,
eine Bestätigung der früheren praktischen Erfahrungen ge-
liefert worden. So hat sich Stern in einer Versuchsreihe
bemüht, den Unterschied zwischen der Zuverlässigkeit zu
berechnen.
Es ergibt sich, daß der positive Inhalt der Aussagen zum
vierten Teil falsch war. Wenn man dann untersuchte, welchen
Anteil jede der beiden Aussagehälften (Bericht und Verhör)
in den Fehlern hatte, so ergab sich, daß der spontane Bericht
nur 6 o/o falsche positive Angaben lieferte, das Verhör hin-
gegen 33 o/o.
Haben wir in diesen und in manchen anderen Ergebnissen
nur die Bestätigung bekannter Wahrheiten gefunden, so ist
nach anderer Richtung das Ergebnis der Aussageforschung
') Ueber die Gpfabren mancher Verhöre habe ich in meinem Aufsatz „Arzt
und Richter", der am 12. Januar 1901 in der Zukunft erschienen ist, gesprochen-
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Forens Bedeut. d. mod. Forschungen üb. d. Aussagepsychologie. 43 1
überhaupt noch äußerst widerspruchsvoll. Ich erwähne z. B.
die Untersuchungen über die Aussagetreue bei den ver-
schiedenen Geschlechtern. Wreschner hat, im Gegen-
satz zu Ste rn , der das männliche Geschlecht bei weitem höher
stellte, sich zugunsten des weiblichen geäußert, und die Unter-
suchungsergebnisse von Marie Borst ergeben zum Teil
einen Panegyricus auf das weibliche Geschlecht.
Während Stern den Satz aufstellte, die Frauen vergessen
weniger, aber sie verfälschen mehr, und auch später aufrecht
erhielt, kommt Marie Borst, wie schon erwähnt, zu einem
ganz anderen Ergebnis. Ihre Versuche, die an zwölf Herren
und zwölf Damen, sämtlich aus den gebildeten Kreisen, gemacht
wurden und auch Bildversuche darstellen, ergeben eine kon-
stante Superiorität der Frauenaussagen gegenüber den Männer-
aussagen. Es ist die Inferiorität der Männer geringer, sowohl
in Beziehung auf die Qualität der Aussage, als in Beziehung"
auf die Quantität; der Aussageumfang der Männer betrug
durchschnittlich für den Bericht nur 76 0/0 der Frauenaussage,
für das Verhör 83 0/0. Ferner war die Treue der Männer-
aussage gleich 96 0/0 der Treue der Frauenaussage.
Es ist von verschiedenen Forschern unterschieden worden,
was bei den Aussagen subjektiv so feststeht, daß es eventuell
mit dem Eide bekräftigt werden würde, von dem sonstigen
Inhalt der Aussage, der zwar für wahr gehalten wird, aber
nicht in so hohem Maße, daß er beeidet werden würde. Auch
hier zeigen sich erhebliche Differenzen der Forscher. Stern
fand, daß die Männer weniger geneigt sind, ihre Aussage
zu beschwören, als die Frauen. Marie Borst hingegen fand,
daß die Männer eine größere Tendenz zum Schwören hätten,
als die Frauen, und neben dieser größeren Tendenz zum Schwur
weist die Männeraussage bei den Versuchen von Marie
Borst eine geringere Zuverlässigkeit des Schwurs auf. Die
weiteren detaillierten Untersuchungen von Marie Borst
zeigen dann, daß Aussagen über bestimmte Dinge, über räum-
liche Beziehungen, Handlungen und Merkmale, außer Farben,
vorzugsweise von Männern beschworen wurden, von Frauen
hingegen hauptsächlich Farben, Zahlen und Objekte.
Sehr abfällig hat sich über die die Aussagepsychologie
betreffenden Experimente Specht ausgesprochen. Er hat
u. a. die Voreiligkeit getadelt, mit der bedeutungsvolle Schlüsse
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432
Albert Moll
■
aus ganz ungenügenden Versuchen gezogen wurden. Ich muß
Specht zum großen Teil darin beistimmen; deutlich zeigt
sich die Mangelhaftigkeit der Versuchsergebnisse in den erheb-
lichen Widersprüchen, die sich in Beziehung auf die Zuver-
lässigkeit des einen oder anderen Geschlechts vorfinden.
Verhältnismäßig wenig positives Material haben die Aus-
sageforschungen auch für die Frage geliefert, welchen Anteil
die Aufmerksamkeit an der Zuverlässigkeit der Aussage
hat. Man ist sich längst darüber einig gewesen, daß ein
Gegenstand oder ein Vorgang, wenn sie mit Aufmerksamkeit
betrachtet wurden, zuverlässiger reproduziert werden konnten,
als ein solcher, bei dem dies nicht der Fall war. Die Wichtig-
keit dieser Frage ist auch den Experimentalpsychologen nicht
entgangen; sie ist aber verhältnismäßig wenig als spezielles
Problem untersucht worden ; nur gelegentlich ist es geschehen.
Neues ist dabei nicht festgestellt worden.
Eine besondere Gruppe von Versuchen bezieht sich ferner
auf den Einfluß eines längeren Zwischenraumes zwischen dem
Vorgang und der Aussage, beziehungsweise über den Einfluß,
den eine frühere Aussage auf die spätere gewinnt. Hier sind
ebenfalls bestimmte Gesetze, die uns etwa vorher unbekannt
gewesen wären, nicht gefunden worden. Daß die Länge des
Zeitraums eine Rolle spielt, ist durch Experimente mehrfach
bestätigt worden, und ebenso spricht bei den Experimenten
manches dafür, daß bei einer zweiten Vernehmung des Zeugen
sehr leicht das, was er wirklich wahrgenommen hat. er mit
dem verwechselt, was er bei der ersten Aussage als wahr ge-
schildert hat. Man hat hierbei ebenfalls früher bekanntes
bestätigt.
Eine äußerst wichtige Frage ist die, welchen Einfluß
Affekt e und Gefühle auf die Aussage haben. In einer Arbeit
ül>er das Gedächtnis für affektiv bestimmte Eindrücke hat
Kate Gordo n 1 ) die Beziehungen der Lustbetonung und
Unlustbetonung von Vorgängen auf das Gedächtnis untersucht.
Die Arbeit zielt weniger auf eine praktische Verwertung für die
Aussagepsyehologic hin, als auf eine Theorie des Gedächtnisses
und der Gefühle. Immerhin ist diese Arbeit auch für die Aus-
sagepsychologie verwertet worden, ebenso wie einige ver-
') Archiv fflr die gesamte Psychologie, 4. Bd., 4. Heft, Leipzig 1903.
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Foren«. Bedeui. d. mod. Forschungen üb. d. Aussagepsychologie. 433
wandte Arbeiten. Die Verfasserin kam bei ihren Versuchen,
wo verschiedene Bilder, angenehme, indifferente und miß-
fällige in den Versuchen eine Zeitlang gezeigt wurden, zu
dem Resultat, daß bei Beschreibung der mißfälligen Bilder
wesentlich weniger Fehler gemacht wurden, als bei den ge-
fälligen. Ich glaube nicht, daß wir imstande sind, diese Be-
obachtungen irgendwie für eine Aussagepsychologie zu ver-
werten. Die Versuche stehen auch im Widerspruch mit manchen
anderen Ergebnissen. Hat Hans Groß recht, wenn er er-
wähnt, daß die affektive Betonung die Reproduktion des von
ihr begleiteten Ergebnisses, über welches ausgesagt werden
soll, wesentlich befördert ? Alfred Groß wendete dem-
gegenüber ein, daß gerade für die Aussage die Art des Affektes
wohl eine Rolle spielt, und daß eine angenehme affektive
Betonung der Begleiterscheinung auf die Reproduktion einen
Einfluß in optimistischer, der unangenehme Affekt in pessi-
mistischer Beziehung ausüben werden. „Hat also jemand über
ein Geschehenes, z. B. über ein Wortgefecht auszusagen, welches
bei einem frohen Anlasse, etwa einem Feste erfolgte, so wird
wohl auch die Aussage selbst, infolge der angenehm betonten
assoziativen Hilfe eine mehr günstige optimistische Färbung
annehmen, während im entgegengesetzten Falle, wo sich das
Ereignis bei einem traurigen Anlasse abspielte, die Aussage
hierüber ganz gegen den Willen des Aussagenden in ungün-
stigerem pessimistischen Lichte erscheinen wird." Alfred
Groß meint, daß Fälschungen der Aussage durch das affektive
Lust- oder Unlustgefühl sehr leicht erfolgen, das den zu repro-
duzierenden Eindruck begleitet hat.
Sicherlich spielt der Affekt für die Aussagepsychologie eine
große Rolle, und zwar sowohl der Affekt, der bei der Aussage
selbst stattfindet, als auch der, der bei der Wahrnehmung
des Aussagenden geherrscht hat. Auf das deutlichste zeigt sich
dies in jener affektiven Stimmung, die wir als Erwartungs-
affekt bezeichnen können. Man ist unwillkürlich geneigt,
das zu sehen, was man erwartet, besonders, wenn man sich
lebhaft danach sehnt. Wir lernen diese Fehlerquelle sehr gut
in dem Studium des Okkultismus kennen. Es gibt Personen,
die unter allen Umständen den Nachweis führen wollen, daß
die Lebenden mit den Toten in Verbindung treten können, oder
Geister ihrer verstorbenen Angehörigen ihnen erscheinen und
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 2
431
Albert Moll.
sich ihnen auf diese oder jene Weise kund tun. Solche Personen
werden darum alles, was sich begibt, nach dieser Richtung hin
deuten. Ein kleines Beispiel. Es hat eine Dunkelsitzung statt-
gefunden, und es zeigt sich nun, daß ein Objekt im Zimmer
von einer Stelle an die andere befördert wurde, obwohl das
Medium gefesselt worden war, mithin dies künstlich anscheinend
nicht bewirken konnte. Hierbei passiert es nun sehr häufig,
daß ein Anwesender von dem Gegenstand behauptet, daß
er zu einer bestimmten Zeit noch an der Stelle ä gewesen sei,
während er in Wirklichkeit zu diesem Termin bereits an der
Stelle b war.
Dasselbe gilt für die Klopftöne. Wenn man um den Tisch
herumsitzt, und es treten nun Klopftöne auf, die im allgemeinen
künstlich von dem Medium hervorgebracht werden, so kann
man dabei über die Richtung und Art der Klopftöne ganz
verschiedene Ansichten hören, je nach der Stimmung und
Stellung des Betreffenden zum Spiritismus. Der Skeptiker
projiziert die Klopftöne ganz richtig in die Gegend des
Mediums; andere, die unter allen Umständen Geistermani-
festationen haben wollen, erklären, daß die Klopftöne nicht
von der Richtung des Mediums herkämen, sondern aus dem
Tische selbst oder aus einer Ecke des Zimmers.
Auch bei der Materialisation der Geister spielt die Er-
wartung eine erhebliche Rolle. Wenn ein sogenannter Geist
sichtbar wird, der gewöhnlich aus einem Gazeläppchen oder
in ähnlicher Weise vom Medium künstlich gemacht ist, so
wird der ruhige Beobachter keine Einzelheiten erkennen. Man
kann aber beobachten, wie die Spiritisten in eine solche Er-
scheinung alles mögliche hineinlegen. Da erkennen sie eine
frappante Aehnlichkeit mit einem verstorbenen Angehörigen
oder auch einer verstorbenen historischen Persönlichkeit, die
sich manifestiert. Jeder glaubt dann die Person, die er zu
sehen wünscht, zu erkennen.
Ich habe bisher die Aussagepsychologie soweit berück-
sichtigt, wie sie in der Breite der Gesundheit eine Rolle spielt.
Wir wissen aber längst, und die Mediziner haben seit langem
darauf hingewiesen, daß es krankhafte Zustände gibt,
wo die Zeugnisfähigkeit erheblich leidet. Ich will hier nicht
diejenigen Fälle erwähnen, die eine ausgesprochene Geistes-
krankheit, etwa eine progressive Paralyse oder Paranoia be-
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Forens. Bedtut. d. mod. Forschungen iih. d. Auasage psgchologie. 435
treffen. Dies dürfte natürlich für uns kein wesentliches Interesse
bieten. Aber, auch abgesehen von diesen typischen, allgemein
anerkannten und erkennbaren Geisteskrankheiten, gibt es
Krankheit szustände, durch die die Aussagetreue leidet. Hierher
gehören manche Formen der Hysterie. Binswanger,
wie andere, rechnen besonders die degenerativen Formen der
Hysterie hierher. Wir dürfen jedenfalls nicht so ver-
allgemeinern, daß wir nun jede Hysterische ohne weiteres für
absolut unglaubwürdig halten. Wenn wir aber eine Hysterie-
form vor uns haben, bei der erfahrungsgemäß die Phantasie eine
überaus große Rolle spielt, desgleichen die Autosuggestibilität.
so werden wir berechtigt sein, in die Angaben einer solchen
Hysterischen die größten Zweifel zu setzen. In neuerer Zeit
hat hier in Berlin ein Prozeß gespielt, bei dem die Hysterie
einer Frau besonders diskutiert wurde. Mit großer Lebhaftig-
keit hat der Staatsanwalt das Wort „Quaevis hysterica mendax"
in die Verhandlung hineingeworfen. Von jeher haben die
Hysterischen als unglaubwürdig gegolten. Wir dürfen dies aber
nicht überschätzen. Die Annahme von der Unglaubwürdigkeit
der hysterischen Frauen hat zum Teil einen besonderen Grund.
Jemehr die anatomische Richtung in der Medizin aufblühte,
umso weniger waren die Aerzte geneigt, Affektionen eine ernste
Bedeutung beizumessen, die nicht eine solche anatomische
Grundlage erkennen ließen. Da nun noch dazu derartige
Patientinnen sehr oft für die Ehemänner, für die Umgebung
und für die Aerzte eine crux bildeten, und zwar zum größten
Teil wegen des vielfach wechselnden Charakters ihrer Be-
schwerden und der schweren Heilbarkeit derselben, so er-
kannte man einen gewissen Gegensatz zwischen dem, was die
pathologisch-anatomische Richtung der Medizin als die reale
Grundlage der Krankheitssymptome den Aerzten allmählich
eingepflanzt hatte, und den durch eine solche Grundlage nicht
begründeten Beschwerden. Dadurch kam es sehr häufig, daß
den hysterischen Patientinnen vorgeworfen wurde, sie litten
an Einbildungen, sie nähmen sich nur nicht zusammen, sie
übertrieben, oder auch sie erdichteten ihre Beschwerden voll-
ständig. Das letztere wurde umso eher dann verallgemeinert,
als sich eben gezeigt hatte, daß ein Teil der hysterischen
Patientinnen absichtliche oder unabsichtliche Unwahrheiten
öfters zu Tage förderten. In mancher Beziehung hat die neuere
2*
Digitized by Google
436
Albrrt Moll.
Medizin, die die psychologischen und auch die funktionellen
Gesichtspunkte bei den Krankheiten mehr in den Vordergrund
schob, aufklärend gewirkt. Es ist aber das alte Odium von den
Hysterischen nicht gewichen. Sie gelten nach wie vor als
verlogen und unglaubwürdig. Es gehört aber in Wahrheit nur
eine bestimmte Gruppe von Hysterischen in diese Kate-
gorie. Es soll nicht geleugnet werden, daß diese äußerst ge-
fährlich sind. Es sind dies schwerere Formen der Hysterie,
insbesondere die degencrativen, bei denen die Patientin Wahr-
heit und Dichtung vermengt, die Wahrheit mit ihren Phantasie-
bildern ausschmückt, und bald unabsichtlich die Unwahrheit
sagt, bald durch die bei der degenerativen Hysterie so oft
vorkommenden ethischen Defekte bewußt lügt. Diese Hyste-
rischen sind als Zeuginnen äußerst gefährlich, zumal da sie
alles, was sie sagen, mit dem Stempel der Wahrhaftigkeit vor-
tragen. Es darf aber nicht — wie es jetzt noch gelegentlich
geschieht, und auch in dem Hardcn-Prozeß geschehen ist —
erklärt werden : Quaevis hysterica mendax. Ich habe in dem
Prozeß, dem ich als Sachverständiger beiwohnte, der ver-
allgemeinernden Auffassung des Staatsanwalts selbst bereits
aufs entschiedenste widersprochen.
Die Fälle, die man unter Pseudologia phantastica
oder krankhaftes Lügen zusammengefaßt hat, gehören nicht
in dasselbe Gebiet. Es handelt sich hierbei teilweise um
schwachsinnige Personen, teils um hysterische, teils um dege-
nerierte. Jedenfalls spielt bei diesen Fällen nicht ausschließ-
lich die Hysterie, wie gelegentlich wohl angenommen wird,
eine Rolle.
Ebenso sind äußerst gefährlich als Zeugen und Zeuginnen
schwachsinnige Personen, und gerade jene Formen von
Schwachsinn, die oft genug dem Richter als solche ent-
gehen. Ich erinnere mich aus einem Prozeß der Zeugin
mit welch ruhiger Miene sie den Angeklagten bald belastete,
bald entlastete. Jede Partei glaubte, was sie glauben wollte;
der Staatsanwalt glaubte, wenn sie belastete, und redete ihr
eindringlich zu, die Wahrheit zu sagen, wenn sie entlastete,
und umgekehrt. Als damals die Schwachsinndiagnose gestellt
wurde, wurden auch Personen, die die Zeugin kannten, über
sie vernommen ; dieser Punkt ist für die Juristen äußerst wichtig-
Die Zeugen haben damals wenigstens teilweise — ich erinnere
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Foren*. Bedeut. d. mod. Forschungen üb. d. Aussagepaycliologic. 437
mich noch eines Lehrers — als der Vorsitzende sie fragte,
ob die E. schwachsinnig sei, ausgesagt : O nein, sie ist im
Gegenteil ein äußerst raffiniertes Mädchen. Diese einseitige
Raffiniertheit der Schwachsinnigen ist so oft daran schuld,
daß der Schwachsinn übersehen wird, und was die Zeugnis-
fähigkeit ..betrifft, so wird dann, wenn die Betreffenden nicht
geradezu als Idioten jedem Laien auffallen, ihren Aussagen
eine Bedeutung vor Gericht beigemessen, die dem wirklichen
Sachverständigen nur ein Bedauern abnötigen kann.
Uebrigens sind auch bereits Versuche gemacht worden, dio
Aussage normaler und kranker Personen miteinander zu ver-
gleichen. Eine derartige Arbeit veröffentlichte Marx Lob-
sien über Aussage und Wirklichkeit bei Imbecillen, verglichen
mit normal begabten Schulkindern. Es handelte sich dabei
u. a. um Bildversuche, wo den Kindern einfache Gegenstände,
oder auch ein etwas komplizierteres Bild gezeigt wurde, und an
die Kinder dann die Fragen gerichtet wurden über das, was
sie auf dem Bilde gesehen hatten. Marx Lobsien gibt als
wesentliches Ergebnis an, daß die Aussagen Imbeciller denen
Normaler gegenüber zuverlässiger sind, wo es auf mechanische
Gedächtnisleistungen ankommt, daß sie aber überall zurück-
stehen, wo ein freieres Spiel der Vorstellungen und ein be-
stimmtes Maß absichtlicher Bemühung notwendig ist, Vor-
stellungen so zu dirigieren (zu trennen, neu zu ordnen usw.),
daß sie geeignet sind, vorhandene Lücken auszufüllen. Schon
wenn ein Bild, wie das vorgezeigte, Knabe und Fischlein, be-
trachtet wurde, wo es sich nicht lediglich um mechanische
Abläufe handelte, wo vielmehr die Vorstellungsmassen so ein-
geteilt werden mußten, daß sie ein möglichst weites Blick-
feld ermöglichen und der Blickpunkt wandern mußte, da wich
die Aussage der Imbecillen von der normal befähigter Schüler
ganz erheblich und zwar zu Ungunsten ab.
Noch manche andre Krankheitszustände wären wohl zu
berücksichtigen, z. B. Kopfverletzungen, Fälle von allgemeiner
Degeneration, die nicht gerade in das Gebiet der Geisteskrank-
heit gehören. Auch verwandte Zustände spielen eine gewisse
Rolle, z. B. die akuten Folgezustände des Alkoholgenusses.
Ks gibt nicht nur Verbrecher, die vor der Tat sich erst Mut
antrinken, sondern auch Zeugen, die vor der Vernehmung
etwas trinken. Systematische Untersuchungen über die Zu-
438
Albert Moll
verlässigkeit solcher Zeugenaussagen bestehen meines Wissens
nicht. Interessant ist eine Einzelbeobachtung von HansGroß.
Kr erzählt 1 ) von einem Institutsdiener, der die Schlacht bei
Königgrätz mitgemacht hatte und am 40 jährigen Gedenktage
dieser Schlacht mehrere Stunden an der Tür des Prüfungs-
saales warten mußte. Am Morgen des betreffenden Tages hatte
er Hans Groß noch erzählt, als dieser ihn nach seinen Er-
lebnissen in der Schlacht bei Königgrätz fragte: „Gott Lob
und Dank, so arg es damals auch zugegangen ist, geschehen
ist mir nicht das mindeste." Als Hans Groß ihn dann nach
einigen Stunden wieder fragte, hatte X. bereits etwas getrunken,
und es war ihm auf die erneute Frage über die Schlacht bei
Königgrät2 eine Kugel quer durch den Tornister gegangen und
sie hatte ihn ein wenig gestreift. Nachdem er dann einige
weitere Stunden gewartet hatte, fragte ihn Hans Groß von
neuem, und drückte seine Freude aus, daß dem X. in der
Schlacht damals nichts geschehen sei. Er erwiderte: „Nichts
geschehen ?" und hiermit zeigte er mitten auf die Brust : „Da
hat der verdammte Preuß hingeschossen, und fast neben dem
Rückgrat ist die Kugel hinausgeflogen usw." Hans Groß
führt alles auf den Alkohol zurück und meint, daß der Mann,
der nicht mehr viel vertrage, die Zeit, wo er vor der Tür
des Prüfungssaales sitzen mußte, benutzte, immerfort die Er-
innerungen der Schlacht von Königgrätz wachzurufen, wobei
schließlich Wahrheit und Phantasie zusammenflössen, und er
an seine eigenen falschen Bekundungen glaubte. Das wesent-
lichste ist, daß nach Hans Groß die Benommenheit des alten
Mannes sehr gering und kaum bemerkbar war. Bewußt ge-
logen habe er aber bestimmt nicht, und, wenn er als Zeuge
vernommen worden wäre, so hätte der Vernehmende an dem
sonst so zuverlässigen Menschen die Spur von Rausch nicht
entdeckt und ihm daher geglaubt.
Ich habe im vorhergehenden natürlich nur eine Reihe
Gesichtspunkte, die sich auf die Aussagepsychologic bezichen,
besprechen können. Das Gebiet ist, wie wir ja wissen, bereits
außerordentlich umfangreich. Aber soviel auch auf diesem
Gebiet geforscht worden ist, es bleibt noch außerordentlich
viel zu tun. Wir dürfen bei den experimentellen Untersuchungen
») Archiv für Kriminalanthropologie, 29. Band, 1. IleA, 1907.
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Porens. Bedeut. d. mod. Forschungen üb. d. Aussagepsychologie. 43$
nicht versäumen, auch die früheren Methoden zu
befolgen, die in der Beobachtung und Erfahrung
bestehen. Man ist gegenwärtig allzusehr geneigt, sowohl
in der Medizin wie auch in der Psychologie, das Experiment
als das alleinseligmachende Forschungsmittel anzusehen. Wir
wollen demgegenüber nicht verkennen, daß für die Aussage-
forschung, besonders aber für die praktische Ausnutzung der-
selben, die Bedeutung des Experiments nicht überschätzt werden
darf. Die Experimente werden stets unter mehr oder weniger
künstlichen Bedingungen vorgenommen, Bedingungen, die von
den Bedürfnissen der Praxis weit entfernt sind. Wir sollten
vielmehr danach streben, auch die Erfahrungen, die nicht auf
experimenteller Basis beruhen und für die uns die forensische
Praxis großes Material liefert, für die Aussageforschung zu
benutzen. Wenn wir beispielsweise stenographische Berichte
von Gerichtsverhandlungen erhalten und nun nachprüfen,
welche Zeugenaussagen miteinander in Widerspruch stehen,
oder welche Zeugenaussagen durch die Verhältnisse als unmög-
lich nachweisbar sind, so würden wir für die praktischen Be-
dürfnisse ein außerordentlich großes Material gewinnen, ein
Material, das für die forensischen Zwecke einen ganz andern
Wert hätte, als die künstlichen Experimente der Experimental-
psychologen. Eine gewisse Ueberschätzung der Resultate hat
seitens der Experimental-Psychologen stattgefunden. Vorschnell
verlangten sie, daß Schlußfolgerungen, die für die experi-
mentelle Psychologie recht interessant sein mögen, Eingang in
den Gerichtssaal finden. Wir wollen hier die altbewährte Skepsis
nicht vergessen. Es ist in der Natur des Forschers begründet,
daß er seinem Arbeitsgebiet sehr leicht eine übertriebene Be-
deutung für die Allgemeinheit beimißt. Solche Uebertreibungen
haben ja oft auch dann einen Wert, wenn sie objektiv unbe-
rechtigt sind. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf das Gebiet,
und wenn auch eine gewisse Ueberschätzung dabei zunächst
auftritt, so wird doch meistens nach längerer Zeit dadurch,
daß die Diskussion eröffnet ist, die Bedeutung des Gebietes
wieder auf das richtige Niveau zurückgeführt. Ich stehe den
praktischen Ergebnissen der experimentellen Aussageforschung
einstweilen sehr skeptisch gegenüber. Wenn ich ein Buch,
wie das von Hans Groß, sei es das Handbuch für Unter-
suchungsrichter, sei es das Buch über Kriminalpsychologie, in
Digitized by Google
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Albert Mull.
die Hand nehme und die Summe praktischer Erfahrungen und
darauf gegründeter guter Ratschläge mit dem vergleiche, was
die Experimentalpsychologen für die gerichtliche Aussage bis-
her geschaffen haben, so sind deren Resultate mehr als be-
scheiden.
Es ist bereits die Forderung gestellt worden, es sollen
Psychologen als Sachverständige zugelassen werden,
um die Zeugnisfähigkeit, die Treue der Aussage der Zeugen
zu prüfen. L i p m a n n hat unter anderm in einem Vortrag
im hiesigen Kriminalistischen Seminar die These aufgestellt,
Zeugen, die Aussagen von entscheidender Wichtigkeit machen,
seien, wenn letztere von den Aussagen anderer Zeugen in
wesentlichen Punkten abweichen, von psychologisch geschulten
Sachverständigen auf ihre Glaubwürdigkeit zu untersuchen. Es
würde damit zwar eine besondere Art von Sachverständigen
vor Gericht auftreten, es ist aber an sich schlechterdings nicht
einzusehen, weshalb nicht auch Psychologen als Sachverständige
auftreten sollen, da wir Dutzende von anderen Arten Sach-
verständiger haben. In Wirklichkeit sind ja auch bereits Sach-
verständige vor Gericht zur Beurteilung der Aussagetreue von
Zeugen tätig gewesen. Im Fall Sternberg z. B. waren wir
Sachverständigen ja ausschließlich geladen, um die Haupt-
zeugin zu beurteilen. Im Prozeß Harden vor der Straf-
kammer haben wir im Verlauf der Verhandlung ähnlich die
Aufgabe der Sachverständigen sich erweitern sehen. Ich habe
vorhin auch den Fall aus Ostpreußen erwähnt. In München
waren seinerzeit Sc hrenck - Notzing und G r a s h e y ge-
laden, um bei dem Prozeß Berchthold die Fehlerquellen
für das Gedächtnis aufzudecken und über den Geisteszustand
einer Anzahl von Zeugen mit Rücksicht auf ihre Glaubwürdig-
keit Gutachten abgegeben. Ein Novum wäre die Sache nicht.
Trotzdem ist es notwendig, auf eine große Gefahr hierbei heute
schon hinzuweisen. Sie besteht in der Ueberschätzung
des Experiments für die gerichtliche Praxis.
Die Methoden der experimentellen Psychologie
müssen unter allen Umständen hochgehalten
werden. Und wenn auch die experimentelle Psychologie nicht
das gehalten hat, was man von ihr für die Psychologie ursprüng-
lich erwartete, so wäre es gänzlich verkehrt, deshalb das Expe-
riment zurückzuweisen oder auch nur zu unterschätzen. Aber
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Foren». Bedeut. d. mod. Forschungen üb. d. Aussage psychohgie. 44 1
etwas ganz anderes, als diese rein wissenschaftliche Verwertung
des Experiments ist seine Hineintragung in den Gerichtssaal,
und ebenso die Uebcrschätzung des Experimentalpsychologen
zur Aufklärung psychologisch wichtiger, forensischer Fälle. Der
tüchtigste Experimentalpsychologe kann ein ganzlich unbrauch-
barer gerichtlicher Sachverständiger sein. Es besteht die
Gefahr, daß er den Gerichtssaal mit seinem Arbeitszimmer ver-
wechselt, wo man unter ganz anderen Bedingungen Experimente
ausführt. Ein Zeuge, der auf seine Fälligkeit der Reproduktion
im Gerichtssaale geprüft werden soll, wird ganz andere Re-
sultate liefern, als ein solcher, der bei ruhiger Laboratoriums-
arbeit untersucht worden ist. Beides ist eben wesentlich ver-
schieden. Wir alle wissen, wie verschieden ein Milieu auf uns
wirkt. Die wirklich praktische Situation ist eben meistens eine
andere, als die theoretisch konstruierte. Und aus diesem Grunde
halte ich die Zuziehung von Experimentalpsychologen für ein
zweischneidiges Schwert. Mindestens sollte man niemals jene
Fachpsychologen als Sachverständige zuziehen, die ausschließ-
lich oder hauptsächlich unter künstlichen Bedingungen, wie sie
das Experiment bietet, gearbeitet haben. Sie sind keine brauch-
baren Sachverständigen. Man stelle sich etwa den Fall vor,
ein Zeuge hat über einen von ihm beobachteten Vorgang etwas
ausgesagt, was von einem andern Zeugen bestritten wird. Es
liat z. B. an einer Straßenkreuzung ein Zusammenstoß einer
Autodroschke mit der elektrischen Straßenbahn stattgefunden,
und nun sagt der eine Zeuge aus, der Droschkenführer hätte
zu Unrecht noch die Schienen kreuzen wollen und dadurch
sei das Unglück geschehen, während der andere aussagt, es
sei noch genügend Zeit gewesen, die Schienen zu kreuzen. Der
Experimentpsychologe würde nun dazu geneigt sein, beide
Zeugen einer Untersuchung zu unterziehen, um festzustellen,
welcher von beiden im Laboratorium Entfernungen und Zeiten
am besten schätzt, und derjenige, der hierzu am meisten be-
fähigt ist, würde alsdann als der glaubwürdige Zeuge er-
scheinen. Dies wäre die notwendige Folge, wenn heute Experi-
mentalpsychologen als Sachverständige zugezogen würden.
Demgegenüber muß, um auf den Vorgang des Zusammenstoßes
zurückzukommen, berücksichtigt werden, daß zahlreiche andere
Momente für den Zeugen eine Rolle spielen, die bei der expe-
rimentellen Nachprüfung nicht konstruiert werden können;
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Albert Moll.
z. B. die Frage, wie weit des Zeugen Aufmerksamkeit auf der
Straße abgelenkt war, ob er sehr ermüdet war, ob er vorher
etwas getrunken hatte usw. Vielleicht kommt auch in Betracht,
ob er ein Freund der Autodroschken ist oder nicht. Diese so
wichtigen Bedingungen können bei der Nachprüfung durch den
Experimentalpsychologen, wenigsten heute, nicht beliebig ge-
schaffen werden. Deshalb wird im allgemeinen die Prüfung
durch den Experimentalpsychologen bedeutungslos sein. Es
wird nur sehr wenige Fälle geben, wo man von der Experimental-
psychologie eine Aufklärung des Tatbestandes erwarten könnte,
und hier Wird man gerade ohne sie ebenfalls zum Ziele kommen.
Mit Recht hat Adolf Gottschalk hervorgehoben, daß
zwei Dinge sehr leicht miteinander konfundiert werden: die
Zuziehung psychologisch geschulter Sachverständiger, und die
psychologische Schulung des Juristen. Stern meint, daß vorläufig
psychologische Sachverständige nötig wären, da die Juristen noch
nicht die nötige psychologische Schulung besäßen, daß aber
später, wenn dies der Fall sei, sie auf die psychologischen
Sachverständigen würden verzichten können. Ich bin in dieser
Beziehung etwas anderer Ansicht. Ich glaube nämlich, daß, je
mehr ein Richter auf einem Gebiet bewandert ist, er umso
eher einen Sachverständigen zuziehen und würdigen wird. Am
ehesten setzen sich diejenigen Richter über psychiatrische Gut-
achten hinweg, denen die psychiatrische Vorbildung fehlt, wenn
auch nicht zu bestreiten ist, daß die früheren Uebertreibungen
der Psychiatrie, die heute zum großen Teil verschwunden sind,
einen Teil der Schuld trugen. Wenn aber heute ein Richter
erklärt, ihn hätte das Gutachten nicht überzeugt, so beruht
dies, ich will nicht sagen immer, aber doch meistens nicht darauf,
daß das Gutachten falsch oder unklar ist, sondern darauf, daß
dem Richter die notwendige psychiatrische Vorbereitung fehlt,
den psychiatrischen Sachverständigen zu verstehen. Ein kleines
Beispiel, wie es sicherlich jedem einigermaßen erfahrenen Sach-
verständigen sehr häufig vorgekommen ist. Eines Tages wurde
ich als Sachverständiger geladen, weil ein Mann ein xMädchen
unzüchtig berührt haben sollte. Alles sprach dafür, daß der
Betreffende in einem Dämmerzustande die Handlung ausgeführt
hatte; Alkohol, Blutverlust, große Hitze und manches andere
deuteten darauf hin. Wir gaben trotzdem kein endgültiges Gut-
achten ab, sondern beantragten die Beobachtung in der Irren-
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Forens. Bcdeul. d. mod. Forschungen üb. d. Aussagepsychologie. 443
anstatt. Dies bekämpfte der Staatsanwalt, indem er entgegnete :
„Sehen Sie sich doch mal den Mann hier an, ob er irgendwie
auf Sie den Eindruck eines Geisteskranken macht." Das ist in
der Tat ein Einwand, den man öfter hört und der nur erklärbar
ist dadurch, daß dem Juristen die Vorbereitung und jede Mög-
lichkeit, psychiatrisch zu denken, abgeht. Glücklicherweise sind
ja derartige Entgleisungen heute nicht mehr sehr häufig. Es
hat sich vielmehr dadurch, daß sich auch die Psychiater von
früheren Uebertreibungen fernhalten, andererseits aber die
Juristen mehr und mehr Fühlung mit der Psychiatrie gewonnen
haben, ein, ich möchte sagen friedlicheres Verhältnis allmäh-
lich herausgebildet, indem sich eben beide Fakultäten mehr
verstehen lernten.
Ebenso aber, wie der psychiatrische Sachverständige umso
eher bei dem Richter Verständnis finden wird, der psychiatrisch
geschult ist, ebenso würde der psychologische Sachverständige
weit eher beim psychologisch geschulten Richter Berück-
sichtigung finden, wenn er sie verdient. Andererseits würde
ein Richter, der einen Psychologen heute als Sachverständigen
zulassen würde, ihm jeden Einfluß auf das Urteil entziehen,
wenn er selbst nicht durch eigene Vorbildung befähigt ist, die
Bedeutung eines solchen Sachverständigen zu verstehen. Oder
es besteht die Gefahr, daß er durch einige Schlagworte irre
geführt wird und der experimentellen Methode eine unver-
diente Bedeutung beimißt. Schon aus diesem Grunde mag es
wünschenswert sein, daß auch der Richter die Methoden der
Experimentalpsychologen kennen lernt, aber für noch
wichtiger halte ich die Kenntnis der praktischen
Psychologie. Mehrfach ist in neuerer Zeit das Wort von
der Weltfremdheit der Richter gebraucht worden, eine Welt-
fremdheit, die eben einen Mangel der praktischen Psychologie
bedeutet. Jedenfalls verwechsle man nicht diese aus der Er-
fahrung hervorgegangene praktische Psychologie mit der Ex-
perimentalpsychologie.
Was die Stellung des Sachverständigen betrifft, so würde
in manchen Fällen dessen Einmischung für die Beurteilung
eines Zeugen geradezu schädlich wirken. Man nehme etwa
an, es sollte die Suggestionsfähigkeit eines Zeugen geprüft
werden. Der Nanziger B e r n h e i m , der schon vor langer Zeit
auf Vorsichtsmaßregeln hinwies, die den Richter vor der Ver-
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Mbcrt Moll.
wertung suggerierter Zeugenaussagen schützen sollten, schlug
vor, man solle die Suggestibilität des Zeugen prüfen, und zwar
dadurch, daß man ihm, natürlich ohne Hypnose, eine Antwort
zu suggerieren sucht, deren Unrichtigkeit leicht nachgewiesen
werden kann. Zeigt sich dabei, daß der Zeuge für solche
Suggestion leicht empfänglich ist, so soll der Richter mit größter
Vorsicht seine Angaben verwerten. Man wird begreifen, daß
die Suggestibilität solcher Zeugen am unbefangensten vom
Richter im Laufe der Vernehmung geprüft werden wird, nicht
aber von irgendeinem sich in die Frage hineinmischenden Sach-
verständigen, der gerade durch diese Hineinmischung sehr
leicht ganz neue und unerwünschte Bedingungen schafft. Man
vergesse nicht, daß es sich bei der Psychologie um Impon-
derabilien handelt.
Praktische Psychologie, Erfahrung und Menschenkenntnis
wird in zahllosen Fällen dem Richter wichtiger sein, als das
Laboratoriums-Experiment. Jene lassen viel eher eine Wertung
der Zeugenaussagen zu, als das letztere. Aber auch die größte
Erfahrung wird allein den Richter nicht befähigen, ein gutes
Urteil über 'die Zeugenaussage zu fällen, wenn nicht die andern
Bedingungen hierfür günstig sind. Hierher gehört z. B., daß
er mit Ruhe und Geduld die Glaubwürdigkeit der einzelnen
Zeugen prüft. Natürliche Anlage wird hierfür unentbehrlich
sein. Aber manchmal können diese auch durch äußere Bedin-
gungen unwirksam gemacht werden. Ueberlastung, z. B. geist-
tötende Schreibereien, müssen schließlich ermüden und jede
Individualität unterdrücken. Die beste Aussageforschung, mag
sie experimentell stattfinden oder nicht, wird nicht imstande
sein, etwas gutes zu bringen, wenn nicht in dieser Hinsicht die
Bedingungen geschaffen werden, die für die Ausnutzung in der
Praxis notwendig sind.
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■
Zur Psychologie der nervösen Kinder.
Von
GEORG FLATAU.
Vortrag, gehalten in der Psychologischen Gesellschaft (Berlin 1908).
Wer sich mit der Psychologie des nervösen Kindes be-
schäftigt und darüber weiteren Kreisen Mitteilung machen
will, ist der Mühe überhoben, den Nachweis zu führen, daß
es nervöse Kinder gibt; allerdings liegt die Zeit noch nicht
lange hinter uns, in der man Aeußerungen der Kinder-Ner-
vosität als Unart, Schlechtigkeiten auffaßte, von Lügenhaftig-
keit, Verstocktheit, Bosheit sprach, während es sich in der
Tat um krankhafte Veränderungen, um Funktionsstörungen
handelt. Die Erkenntnis von dem Bestehen einer Kinder-
Nervosität ist jetzt in so weite Kreise gedrungen, daß man
auch bei einem nicht ärztlichen Publikum nicht erst damit
anzufangen braucht, den Nachweis des Vorhandenseins der
Nervosität zu führen. Man weiß nunmehr, daß es eine ange-
borene Nervosität der Kinder und auch eine frühzeitig er-
worbene gibt, so daß es nicht mehr als ein Vorrecht der Er-
wachsenen gilt, Nervosität zu haben.
Wir setzen also in Anfang unserer Besprechungen, es gibt
nervöse Kinder, ebenso wie es nervöse Erwachsene gibt. Was
ist aber die Besonderheit, die das nervöse Kind von dem nor-
malen trennt und welchen Gesetzen gehorcht diese Abweichung
vom normalen Zustande. Schließlich wird man fragen, wie
rechtfertigt sich Hie gesonderte Besprechung der Psychologie
des nervösen Kindes von der des nervösen Erwachsenen.
Ich glaube, daß diese Frage im Verlauf unserer Unter-
redungen sich von selbst beantworten wird und möchte vorher
nur auf einige Schwierigkeiten hinweisen. Wir wissen, daß wir
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Georg Fla tau.
unter Nervosität eine allgemeine Funktionsstörung zu ver-
stehen haben, gewisse Abweichungen in der Funktion des
Nervensystems, aber um diese als Abweichung zu erkennen,
müßte man erst einen Canon des normalen Erwachsenen auf-
stellen. Hat mm dieses schon sc in€ Schwierigkeiten, so ist
diese noch erheblich größer, wenn es sich darum handelt,
zu sagen: wann ist das Verhalten eines Kindes normal, und
in welcher Beziehung sind Abweichungen als nervös an-
zusehen. Wir werden dabei sehen, daß eine Reihe von
psychischen Zuständen bei Kinder für nicht abnorm gilt,
deren Bestehen beim Erwachsenen als Abweichung anzusehen
wäre. Für die Betrachtung müssen wir die Grenze des Kindes-
alters festsetzen, von dem ersten Lebenstage bis zur Geschlechts-
reife, wobei ich nicht verkenne, daß die Schlußgrenze will-
kürlich gesetzt ist, immerhin ist sie aber anders nicht praktisch
brauchbar festzusetzen.
Wenden wir uns nun einer kurzen Darstellung des Be-
griffes „nervös" zu, so sehen wir uns einer neuen Schwierigkeit
gegenüber.
Wir kennen den Begriff wohl alle, und stellen uns wohl
das gleiche darunter vor, aber eine kurz gefaßte Begriffs-
bestimmung ist gleichwohl nicht einfach. Einmal bedeutet das
Wort nervös, daß eine Störung vorhanden ist, etwa Schmerzen,
Verdauungsbeschwerden, Schwäche, die auf Störungen der
Nerven beruhen, und noch spezieller soll damit gesagt sein*
daß diese Störung der Nerven nicht eine auf organischem
Lacsionen beruhende ist, sondern daß sie lediglich eine ab-
norme Funktion darstellen. Der Kranke, der den Arzt auf-
sucht und die Auskunft erhält, daß sein Leiden nervös sei,
geht gewöhnlich zufrieden davon, und ist glücklich zu hören,
daß keine tieferen Störungen, etwa ein Krebsleiden oder ein
Knochenlcidcn, vorliegen. Aber diese Begriffsbestimmung trifft
nicht das Wesen dessen, was wir als nervös ansehen. . . .
Es handelt sich bei unsern Betrachrungen gar nicht um
die Feststellung der Grundlage einzelner Beschwerden, sondern
um einen veränderten psychischen Gesamthabitus. Gehen wir
von der Betrachtung des nervösen Erwachsenen aus, so finden
wir bei einem anscheinend körperlich gesunden Menschen eine
Anzahl von Erscheinungen, unter denen eine allgemeine Reiz-
barkeit, Empfindlichkeit, ein übermäßig hochgradiges Auf-
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Zur Psychologie der nervösen KimUr.
447
treten von Affektzuständen im Vordergrund stehen, mit dieser
verbindet sich eine gewisse Erschöpfbarkeit, die zu Vermim-
derungen der Arbeitsfähigkeit führt und welche nur mit Mühe
und Unlust überwunden werden kann. Von dieser allgemeinen
Nervosität lassen sich nur die speziellen Krankheitsbilder der
sogenannten Neurosen und Psycho-Neurosen ableiten. Immer-
hin ist aber die Nervosität das allgemeinere, umfassendere.
Ich brauche nicht weiter anzuführen, daß das wesentliche
dieser Nervosität in einer abnormen Reaktion besteht, indem
entweder die Art oder das Maß der Reaktion, oder beides
verändert ist. Weiter ist die Art und das Maß der psychischen
Betätigung durch gewisse normale Hemmungsvorgänge
bestimmt, und je nachdem diese Hemmungsvorgänge verändert
sind, ist auch die psychische Betätigung und deren Folge-
zustände im gewissen Grade verändert.
Wir sehen nun beim Kinde, und zwar beim normalen Kinde,
eine Reihe von Reaktionen, entweder fehlen, oder in anderer"
Weise erfolgen, als es beim Erwachsenen der Fall zu sein
pflegt. Diese Veränderung wird je nach der Stufe der Ent-
wickelung mehr oder weniger bemerkbar. Die Literatur über
die Psychologie des Kindes ist durch eine große Zahl
von umfassenden Arbeiten und von einzelnen Studien außer-
ordentlich reichhaltig geworden. Ich muß es mir natür-
lich versagen, hier allzuweit auf die normale Psychologie des
Kindes einzugehen. Bevor ich ihnen aber die notwendige
Grundlage dazu gebe, möchte ich anführen, daß als Kennf
zeichen der Nervosität des Kindes aus der Literatur und
natürlich auch aus praktischen Beobachtungen sich folgende
Merkmale ergeben haben:
Man findet nervöse Kinder überempfindlich in körperlicher
und psychischer Beziehung, es fällt an ihnen eine übermäßige
Sensibilität auf, Unruhe, Furchtsamkeit, Schüchternheit, ander-
mal aber eine abnorme Lebhaftigkeit, geistige Frühreife,
motorische Unruhe, Auftreten krankhafter Triebe und Lieb-
habereien, übermäßig phantastisches Wesen, Flatterhaftigkeit,
Zerstreutheit, seltener findet man, daß die Kinder besonders
ruhig und still sind. 1 ) In den ersten Lebenstagen ist das normale
_____ • ' , ■ \ : J
!) Natürlich nicht alles, oder auch nur zum größten Teil immer bei
einem Kinde vereint.
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44*
Georg Fla tau.
Kind ruhig, die größte Zeit des Tages wird im Schlaf i zu-
gebracht. Was wir sehen, sind lediglich Vorgänge, die wir den
Redexen zurechnen. Lichtreize, Schmerzreize veranlassen be-
stimmte motorische Aeußerungen. Auch in dieser Zeit machen
sich Zeichen einer Uebererregbarkeit bei nervösen Kindern
schon bemerkbar, derart, daß die reflektorisch motorischen
Folgeerscheinungen äußerst heftig ausfallen. Man bezeichnet
solche Kinder als übermaßig schreckhaft, bei stärkeren Ge-
räuschen sieht man heftiges Zusammenfahren des Säuglings,
und bekommt man später solche Kinder zu Gesicht, so erfährt
man wohl von aufmerksamen Müttern, daß sie schon in den
ersten Lebenstagen und Lebenswochen eine solche abnorme
heftige Reaktion bei ihren Kindern bemerkt haben. Eine gegen-
über dem Erwachsenen erhöhte reflektorische Erregbarkeit
kann man in mancher Beziehung beim normalen Kinde schon
finden und erklärt sich das daraus, daß infolge der noch unge-
nügenden Ausbildung und Markversorgung von wichtigen
Bahnen ordnende und hemmende Impulse noch nicht in Aktion
treten können.
Aber selbst unter dieser Einschränkung findet sich doch
eine auch über die beim Kinde normale erhöhte reflektorische
Erregbarkeit hinausgehende, die schon als Zeichen einer Ab-
normität zu gelten hat.
Während noch in dem ersten Monat des Lebens ein be-
sonderes Schlafbedürfnis beim normalen Kinde besteht, ein
Schlafbedürfnis, das immer mehr und mehr nachläßt, unid
beim Erwachsenen unter Umständen auf ein verhältnismäßig
geringes Maß reduziert ist, finden wir bei dem nervösen Kinde
schon eine Einschränkung.
Es fällt auf, daß solche Kinder leichter aus dem Schlaf
erwachen, auf kleine Geräusche hin wach werden, als normale
Kinder, es fällt ferner aüf, daß bei ihnen das Schlafbedürfnis
sehr schnell abnimmt, und von einer gewissen motorischen
Unruhe abgelöst wird.
Solche krankhafte Ausbildung der Störung finden wir schon
als richtige Form von nervöser Schlaflosigkeit bei ganz jungen
Kindern. Indessen ist das ganz selten.
Auf andere Störungen des Schlafes komme ich noch. Wenn
wir weiter in der Betrachtung der Entwickelung vorschreiten, so
wird uns beim Kind zunächst das Vorherrschen der Gefühle
Digitized by Google
Zur Psychologie der nervösen Kinder.
410
gegenüber den Erfahrungsinhalten auffallen. Wir wollen dabei
vor allen Dingen das eine im Auge behalten, daß wir unter dem
Begriff des Gefühls zunächst alles das zählen, was wir als Lust
und Unlust bezeichnen. Diese Gefühle treten offenbar schon
sehr früh auf, und ihre Wirkung besteht in der Auslösung
körperlicher und psychischer Veränderungen. Diese Gefühle
sind nun beim Kinde schon eher entwickelt und ausgebildet,
che man von einer Entwickclung der Intelligenz sprechen kann,
so daß im Gegensatz zum Erwachsenen wir eine Reihe von
psychischen und körperlichen Veränderungen beim Kinde ent-
stehen sehen, bei welchen die Erfahrung noch keine wesentliche
hemmende oder fördernde Rolle spielt. Diese hochgradige
Abhängigkeit von den Affekten ist nun bei nervösen Kindern
noch in ganz bestimmter Weise vermehrt. Sie erklären uns
auch warum, ohne das bestimmte Erfahrungen vorliegen, viele
Kinder Erscheinungen einer übermäßigen Furchtsamkeit dar-
bieten, z. B. Dinge fürchten, über deren Schädlichkeit oder
Unschädlichkeit sie noch nichts wissen können. Z. B. : Das
Kind sieht eine Flamme, der Anblick löst Lustgefühl in ihm
aus, das Begehren, die Flamme zu berühren, die Erfahrung hat
es noch nicht gelehrt, dem Bewegungsimpuls zu widerstehen,
weil die Flamme es verbrennen wird.
Ich will auf die Erscheinungen der Furcht der Kinder nicht
allzuweit eingehen, es gibt über diesen Gegenstand eine Reihe
von Arbeiten, amter denen ich ihnen besonders die von
Hirschlaff nenne. Nach diesen gehören zu der Furcht,
die eine unveräußerliche Eigenschaft der Psyche ist, drei
Dinge, eine drohende Gefahr, die Beurteilung und Erkenntnis
derselben, die hierauf folgende körperliche und seelische Re-
aktion des sich Fürchtenden. . . . Für die zweite Bedingung
würde es nun notwendig sein, daß das Kind aus gewissen kEr-
fahrungen heraus zu einer Beurteilung und Erkenntnis der ihm
drohenden Gefahr imstande ist.
Es gibt aber nervöse Kinder, welche vor allen möglichen
Dingen in Furcht und Entsetzen geraten, die sie nie vorher
kennen gelernt haben, die in allem neuen, was ihnen entgegen-
tritt, ein solches drohendes ahnen, die aus der Neuheit des
Reizes einen Unlustaffekt hohen Grades und den Wunsch
des Vermeidens zeitigen. Solche Kinder bleiben nicht allein
im Zimmer, wollen nicht im Dunklen bleiben, nicht im Dunklen
Zeitschrift für padagogiache Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 3
450
Georg Flatau.
schlafen, im frühesten Lebensalter ruft neues und ungewohntes
nicht den Ausdruck des Staunens, sondern den der Unlust
und Furcht hervor. Später bildet sich die Neigung zu Angst
noch mehr aus; kleine Tiere werden im großen Bogen um-
kreist, vor jeder fremden Person verkriecht sich das Kind hinter
der Mutter, hier muß aber bemerkt werden, daß ein großes
Maß von Scheu und Schüchternheit den meisten Kindern eignet,
und zwar scheint nach dem ersten und zweiten Lebensjahre
diese aufzutreten, um unter normalen Verhältnissen wieder
zu verschwinden, ,nur beim Vorliegen einer Nervosität dauert
der Zustand auch später noch an. Solche Kinder bilden
ganz besonders eine unerwünschte Klientel des Arztes, indem
sie jeder an ihnen vorzunehmenden Untersuchung Widerstand
entgegensetzen, nicht zu bewegen sind, den Mund zu öffnen,
die Zunge zu zeigen oder sonst irgend eine harmlose Mani-
pulation vornehmen zu lassen, sie vereiteln jeden Versuch durch
Ungebärdigkeit, heftiges Schreien und Zurückweisung jedes
beruhigenden Zuspruches. Manchmal gelingt es wohl mit vieler
Mühe, diesem Zustand entgegenzutreten. Diese pathologisch
furchtsamen Kinder führen in der Großstadt ein recht unruhiges
Leben, und die Eltern sind in einem gewissen Dilemma : einmal
wollen sie die Kinder vor den Gefahren der Großstadt warnen
und sie lehren, sich zu hüten, auf der anderen Seite soll die
schon vorhandene Furchtsamkeit nicht gesteigert werden. Nach
den letzten Kindermorden sahen wir einen Knaben von zehn
Jahren, der nun nicht mehr zu bewegen war, allein auf die
Straße zu gehen, und mehrfach waren diese Mordtaten der
Inhalt schreckhafter und unruhiger Träume bei nervösen
Kindern unserer Beobachtung. Wir kommen dabei auf eine
weitere Störung des Schlafes. Außer der allgemeinen Un-
ruhe ist es die nachhaltige Wirkung der Tagesereignisse, die
den Schlaf stört, sei es, daß z. B. erlittene Strafen, Schulauf-
gaben und ähnliches mit schreckhafter Vergrößerung im
Traume und im Halbschlaf durchlebt werden, sei es, daß die
Kenntnis von Morden und Unglücksfällen, von Krankheit in
der Familie dazu führt, die Kinder aus dem Schlaf zu
schrecken. Ks kommt zu Aufschreien, Verwirrtheit, schreck-
haften Halluzinationen u. a. m. Zu den weiteren Erscheinungen
gehört neben der von Hirschlaff schon erwähnten besonderen
körperlichen Beschaffenheit des sich Fürchtenden (meistens
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Zur T$ychologic der nervösen Kinder.
451
handelt es sich um von hause aus kränkliche und schwäch-
liche Kinder), auch eine» besondere Reizbarkeit und Weh-
leidigkeit. Ich hatte ihnen diese schon unter den Erscheinungen,
die beim nervösen Kinde gefunden werden, genannt:
Die Wehleidigkeit besteht darin, daß auch geringere Unan-
nehmlichkeiten körperlicher oder psychischer Art als große
Schrecknisse und als besonders entsetzenerregend empfunden
werden.
Ein einfacher Nadelstich, der zur Prüfung der Sensibilität
dient, läßt solche Kinder unter lautem Schreien und Weinen
zusammenfahren und flüchten.
Ihnen erscheint jeder leichte Schmerz als gewaltig und
unerträglich, sie vermeiden bei etwaigen Schmerzen jede Be-
wegung, so daß man bei einer nicht genauen Untersuchung
zu der Annahme einer Lähmung oder sonstwie hervorgerufenen
Bewegungsstörung kommen kann. Dem gleichstehend sind die
Empfindungen von Ekel, die der Anblick von Speisen bei
Kindern hervorruft und welche die Eßlust bei nervösen
Kindern oft recht stark beeinträchtigen. Diese Kinder gelten
dann als kiesätig, wählerisch und als schlechte Esser, auf Zwang
zum Essen antworten sie leicht mit Erbrechen.
Im vorgeschrittenen Alter, im schulpflichtigen zum Beispiel,
findet sich diese Neigung zur Uebertreibung der Krankheits-
erscheinungen noch in viel höherem Maße beim nervösen Kinde
ausgeprägt. Vermehrt wird diese meistens durch unzweck-
mäßiges Verhalten der Angehörigen, die durch fortwährendes
Befragen und Wiederhindeuten auf die Affektion, die Wett-
schätzung, die das Kind schon an sich diesen Beschwerden ange-
deihen läßt, noch erheblich vermehren.
Zu solcher körperlich - psychischen Ueberempfindlichkeit
gesellt sich nicht selten eine rein psychische derart, daß solche
Kinder schon über das leiseste Tadelswort außer sich geraten
und sich in ihrem Ehrgeiz gekränkt fühlen und stundenlang
durch Unbehagen und Weinen reagieren.
Man sieht das oft schon bei ganz jungen Kindern, bei denen
man etwa im Scherz mit gerunzelter Stirn böse Worte spricht
und die daruf mit Zeichen äußersten Unbehagens und Schreiens
reagieren, ehe sie noch imstande sind, einen wirklich tadeln-
den Sinn aus den Worten zu entnehmen.
3*
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452
Georg Flatau.
Ich nannte unter den Kennzeichen des nervösen Kindes
zu Anfang die motorische Unruhe. Diese äußert sich nicht
so sehr in bestimmten Tiebewegungen oder durch ähnliche
Erscheinungen, als es ganz besonders die allgemeine Unruhe
ist, die Sucht, irgendeine Bewegung auszuführen; solche Kinder
bilden häufig ein störendes Moment in den Schulen, sind
die Verzweiflung der Lehrer und Lehrerinnen, sie rutschen
unruhig hin und her, erheben sich ohne Grund, machen
unruhige Bewegungen mit den Fingern, alles Ausflüsse einer
inneren Unruhe, die nach Befriedigung drängt.
Auch hier handelt es sich um die Steigerung eines schon
normal vorhandenen Bewegungsdranges.
Schon bevor das junge Kind anfängt zu gehen oder be-
stimmte Zweckbewegungen auszuführen, macht es solche so-
genannten Unruhebewegungen, deren Zweck die Vorbereitung
und Erlernung der Zweckbewegungen sind.
Zum Kennzeichen der Nervosität des Kindes werden diese
Bewegungen erst dann, wenn die Zweckbewegungen schon
vorhanden sind und doch weiterhin Unruhe und Bewegungs-
drang fortbestehen. Diese Störungen setzen sich häufig auch
in der Zeit des Schlafes fort, und sind auch bei sonst vor-
handenem tiefen Schlafzustand dadurch zu erkennen, daß das
Kind sich herumwälzt, aufrichtet, ohne aus dem Schlaf zu
erwachen. Wir sehen in diesen Bewegungen ein Fortbestehen
des Reizzustandes des Gehirns, welcher durch die sonst nicht
wirksamen exogenen Reize einen akustisch sensiblen oder ähn-
liche fort und fort aufrecht erhalten wird.
Ich könnte noch über verschiedene Formen der Furcht
weiteres sagen, so auch die Furcht vor Alleinsein in einem
dunklen Zimmer, Furcht und Abscheu vor Tieren, doch brauche
ich bezüglich dieser Wahrnehmungen nur auf die ihnen schon
genannte Arbeit von Hirschlaff zu verweisen. Die
motorische Unruhe, auf die ich hingewiesen hatte, entspricht
zum Teil auch dem nervösen Beschäftigungsdrange des
wachsenden Kindes, welcher eine immanente Eigenschaft des
wachsenden Kindes ist, und verbunden mit der Nachahmungs-
sucht und einer gewissen phantastischen Veranlagung zu dem
führt, was als Spiel des Kindes bezeichnet wird. In seiner
pathologischen Steigerung führt das einmal zur motorischen
Unruhe, zweitens zu einer übermäßigen Sucht des Kindes, zu
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Zur Psychologie der nervösen Kinder.
453
spielen und darüber die Arbeit, Essen, Trinken und Schlafen
zu vergessen.
Die Nachahmungssucht kann in ihrer Steigerung auch
noch zu anderen Erscheinungen führen, indem solche Kinder
krankhafte Bewegungen anderer nachahmen zu suchen und
diese dann zu einem Teil ihres eigenen Leidens machen,
solche Kinder sind in dem Nachahmen von choreatischen
(Veitstanz) Bewegungen, Lahmen, steifen abnormen Haltungen
besonders geschickt.
Die beim Kinde besonders lebhafte Affekttätigkeit, die
besondere Wirkung der Gefühle, macht sich in ihrer krank-
haften Steigerung auch noch in einer anderen Richtung bemerk-
bar, es sind das die Zeichen der krankhaften Zuneigung
und Abneigung Angehörigen und sonstwie ihnen näherstehen-
den Personen gegenüber.
Im Sinne der krankhaften Zuneigung ist zu deuten, daß
solche Kinder auch noch so kurz andauernde Trennung nicht
vertragen, sondern in einen Zustand krankhafter Depression
auf lange Zeit hinaus geraten.
Sind solche Kinder fortwährend mit der Mutter oder mit
der die Mutterstelle vertretenden Erzieherin zusammen, so sind
sie schwer an andere Personen zu gewöhnen, ja unter Um-
ständen kann die Krankheitserscheinung nach der Trennung
so lebhaft werden, daß es zu recht bedenklichen körperlichen
Zuständen kommen kann.
Auch die sonst nicht begründete Abneigung, die lediglich
in irgend einem unklaren Gefühlsurteil besteht, wird beobachtet,
wenn auch im ganzen seltener als das erstgenannte Verhalten.
Wir sehen oben, daß dem heranwachsenden Kinde ein be-
sonderes Schlaf- und Ruhebedürfnis zukommt. Insbesondere
wird man beachten, daß nach körperlicher oder geistiger An-
strengung das Ruhebedürfnis gesteigert ist. Daß die Leistungs-
fähigkeit des heranwachsenden Kindes in vielen Beziehungen
geringer ist, als die des Erwachsenen, dafür braucht hier nur
auf das obengesagte hingewiesen zu werden.
Bei einer ganzen Reihe nervöser Kinder zeigt sich nun,
daß die Leistungsfähigkeit unter dem normalen steht, insofern,
als schon geringe Anforderungen an ihre Leistungsfähigkeit
mit ganz abnormen Reaktionen beantwortet werden. Schon
nach wenig Uebungen versagen die Kinder, sind nicht mehr
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Georg Flatau.
imstande, auch das leichteste, was sie früher geleistet haben,
zu arbeiten, man sieht ihnen die Erschöpfung auch körperlich
an, sie zeigen Zittern und Gesichtszuckungen, seltener treten
auch die Erscheinungen des Kopfschmerzes auf, die ich an
anderer Stelle als Erschöpfungskopfschmerz geschildert habe.
Bei diesen Kindern fällt selten ein sehr wechselndes
Verhallen auf; während sie manchmal ohne Schwierigkeiten
wochenlang sehr gut arbeiten, ja sogar eine besonders erhöhte
Leistungsfähigkeit zeigen, sind sie zu andern Zeiten völlig
unbrauchbar.
Die körperlichen Klagen treten wieder in den Vordergrund
und die Leistungen sind außerordentlich gering. Gerade in
dieser Zeit pflegen sich dann Störungen des Schlafes und des
körperlichen Befindens in den Vordergrund zu stellen.
Die Zeit der geistigen Entwickelung ist ja auch diejenige,
in welcher sich die Assoziationen verschiedenster Art zu bilden
pflegen. Ich will hier auf die Assoziationsgesetze nicht weiter
eingehen, aber darauf hinweisen, daß im wesentlichen die Ge-
setze des Aufeinanderfolgens, des Nebeneinanderbestehens, der
Aehnlichkeit und des Kontrastes die Assoziation beherrschen.
Namentlich die zeitlichen Assoziationen bilden sich sehr früh,
und alles, was im Anfang gedächtnismäßig erlernt wird, ist
ja kaum etwas anderes als die zeitliche Aufeinanderfolge von
Begriffen, deren logischer Zusammenhang keine wesentliche
Rolle spielt.
Eine große Rolle spielen im Kindesalter auch die Aehn-
lichkeitsassoziationen, auch diese pflegen schon zeitlich früh
aulzutreten, und ganz besonders sind es die Aehnlichkeiteti
von Wortklangbüdern, die im Kindesalter beliebt sind und
festgehalten werden. In Uebertreibung dieser normalen kind-
lichen Verhältnisse der Assoziation sehen wir besonders bei
nervösen Kindern die Neigung zu sinnlosem Schwatzen und
ideenflüchtigem Verhalten, indem sie beim Erzählen und Fragen
aus dem Hundertsten ins Tausendste kommen und gerade diese
Kinder, die bei den Eltern als ganz besonders lebhaft, rege
und klug gelten, weil sie nach allem fragen, bilden nicht
selten wiederum die Verzweiflung des Erziehers, und unter
Umständen auch des mißgelaunten Vaters oder der Mutter,
die schließlich, der immerwährenden Fragen müde, mit einem
Machtwort die sich übereinanderstürzenden Assoziationen zum
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Zur Pmjrhohgte der nervösen Kinder.
455
Aufhören bringt, allerdings oft ohne dauernden Erfolg, da
kurze Zeit später wiederum das Fragen und Erzählen anfängt.
In starkem Gegensatz zu diesem quantitativen Ueberfluß
von Assoziation in Erzähle- und Frageform steht bei den
nervösen Kindern die Qualität und Nachhaltigkeit der Vor-
stellungen. Einmal mangelt der Anfangsvorstellung, an welche
sich die anderen Begriffe in eigener Erfahrung oder beim
schulmäßigen Lernen anschließen sollen, die Dauerhaftigkeit,
indem zwar zunächst alles gegebene festgehalten wird und
scheinbar auch aufgefaßt, aber schon nach ganz kurzer Zeit
ist alles vergessen und verschwunden. Auch jene andere Wir-
kung der Vorstellung, die man als Selcundärfunktion bezeichnet,
nämlich, daß sie zwar zunächst für das Bewußtsein zu ver-
schwinden scheint, aber der ihr zugrunde liegende psychische
Prozeß noch als Nachwirkung bestehen bleibt und den folgen-
den Assoziationen eine bestimmte Richtung gibt, pflegt zu
leiden. Ist diese Sekundärfunktion von sehr geringer Kraft, so
kommt es leicht zu wähl- und ziellosen rein äußerlichen Assozi-
ationsreihen, zu jenem Wortgeklingel ohne Sinn und Verstand,
das von überlebhaften nervösen Kindern häufig produziert wird.
Ziehen hatte auf experimentellem Wege gezeigt, daß das Kind
nicht in dem Umfange im allgemeinen Begriffe denkt, wie
der Erwachsene, sondern das bei ihm die individuelle Vor-
stellung durchaus im Vordergrunde steht. Nun, auch hier
sehen wir wiederum in Erweiterung dieses an sich im Gegensatz
zum Erwachsenen normalen Verhalten, die nervösen Kinder
an einzelnen Vorstellungen festhaften, während es nicht gelingt
oder nur schwer, ihnen Vorstellungen und Begriffe allgemeiner
Art beizubringen.
Hier ist an der Zeit, uns mit dem berühmten Gedächtnis
der Kinder, welches ja dem des Erwachsenen überlegen sein
soll, zu beschäftigen und gerade ganz besonders regen Kindern
wird es nachgerühmt, daß sie imstande seien, das einmal ge-
hörte und gelesene sofort zu behalten. Aber sehr bald zeigt
sich, daß dieses Behalten nur für eine ganz kurze Zeit hinreicht,
daß das Behaltene ebenso auch wieder vergessen wird. Die
stolzen Eltern, die ihr zwei- und dreijähriges Kind vorführen,
welches nach einmaligem Anhören ein ganzes Repertoir von
Gedichten und Liedern festhält und reproduziert, müssen von
diesem Stolz bald zurückgehen, wenn sie sehen, daß nach
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456 Georg Flotan.
kaum acht Tagen, wenn das Gedächtnis nicht wieder auf-
gefrischt wird, der ganze Schatz fast wieder zerronnen ist.
Ebbinghaus und Groß haben gezeigt, daß die Ge-
dächtnisleistung des normalen Kindes durchaus nicht mit der
des Erwachsenen zu vergleichen ist. Es ergab sich, daß Er-
wachsene beim Aufnehmen von mechanischen Reihen und
solchen assozierter Art die Schulkinder um das drei- bis vier-
fache übertreffen. Noch schlimmer steht es bei den nervösen
schwachen Kindern, bei welchen gerade das Auswendiglernen
solcher Dinge, bei denen es sich nicht um Klangassoziationen
handelt, auf große Schwierigkeiten stößt, und ganz besonders
ist bei diesen die Zeit, für welche das Gedächtnis vorhalten soll,
recht erheblich gekürzt. Aus diesem Grunde erklärt es sich
auch, daß die Kinder im Kopfrechnen, überhaupt im Rechnen,
sehr schlechte Leistungen aufzuweisen pflegen, während sie
Dinge, die ihre Phantasie anregen, zunächst wengistens besser
behalten und beherrschen.
Zum Schluß noch ein Wort über die Beeinflußbarkeit
oder Suggerierbarkeit der nervösen Kinder.
Wenn wir unter Suggestion die Aufnahme von Vor-
stellungen verstehen, welche inadäquate Wirkungen haben,
weil kritische Gegenvorstellungen aus diesem oder jenem
Grunde nicht zur Geltung kommen, so werden sie ohne weiteres
sich sagen, daß, da das Auftreten kritischer Gegenvorstellungen
einen gewissen Erfahrungsschatz voraussetzt, der dem Kinde
fehlt, dieses in besonderer Weise suggeribel sein muß. Unter
Umständen wird natürlich diese Suggestilität noch gesteigert,
wenn es sich um besonders erregbare, phantastische und zu
Erinnerungstäuschungen geneigte Kinder handelt.
Bei diesen spielt häufig eine Sucht, etwas Interessantes
zu erzählen, eine Rolle dahin, daß sie unwichtige Dinge so
lange in ihrem Innern aufbauschen und in einer sie selbst in
den Vordergrund stellenden interessanten Weise überdenken,
daß sie schließlich völlig phantastische Entstellungen mit dem
Gefühl erzählen, etwas subjektives Wahres zu berichten.
Kommen nun neben dieser phantastischen Veranlagung noch
andere Gründe hinzu, etwa daß das Kind Vorteile sucht oder
Nachteile zu vermeiden wünscht, so kommt es zu jenen lügen-
haften Erzählungen von Ueberfällen und Attentaten, zu Zeugen-
aussagen verdrehter und entstellter Natur.
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Zur Psychologie der nervösen Kinder.
457
Gewiß sind die Großstadtkinder zu solchen Phantasien
mehr geneigt und findet man auch in der Großstadt mehr An-
regung dazu als in der, Kleinstadt und auf dem Lande. In der
Großstadt passiert immer etwas, was in ausgeschmückter Weise
zur Wiedererzählung paßt oder als Entschuldigung gebraucht
werden kann und die frühzeitige Zeitungslektüre mit Berichten
von Zeugenaussagen von Schulkameraden reizen geeignete
Kinder wohl dazu, zu versuchen, ob sie nicht in gleicher inte-
ressanter Weise auftreten können. Daher falsche Beschuldi-
gungen, Erfindungen von Attentate und ähnliches.
Ich habe in diesem Vortrage nur die wichtigsten Merk-
male des nervösen Kindes und ihre prologische Bedeutung
besprochen. Auf die frühzeitig auftretenden Triebe bin ich
absichtlich nicht weiter eingegangen, weil die Besprechung
dieses Themas einen besonderen Vortrag erfordern dürfte,
ebensowenig halte ich es für angezeigt, über die Prophylaxe und
die Behandlung dieser Zustände hier zu sprechen.
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Sitzungsberichte.
Psychologische Gesellschaft zu Berlin.
Wintersemester 1907/08.
Vorsitzender : Herr M o 1 1.
Schriftführer : Herr F e i g s.
Donnerstag, den 17. Oktober 1907.
I. Generalversammlung im Langenbeckhaus.
Beginn: 7 v' 4 Uhr.
Tagesordnung: „Ergänzung der Satzungen." Ks wurde be-
schlossen, folgenden § 15a in die Satzungen aufzunehmen: „Der Vorstand
ist befugt, Mitglieder von der Mitgliederliste zu löschen, die mit ihren Bei-
trägen zwei Semester im Rückstand sind und trotz Aufforderung Zahlung
nicht leisten.'"
Schluß der Generalversammlung 7 Vi» Uhr.
II. Vereinssitzung. t
Beginn: 8 l < Uhr.
Ausgetreten sind Kunstmaler Herr Mor£, Herr Oberstabsarzt
Dr. Roden waldt. Als Mitglieder aufgenommen sind Herr Dr. W i 1 1 •
kowsky und Herr Privatdozent Dr. Heller.
H«rr Privatdozent Dr. Frischeisen-Köhler spricht über
„D ie Bedeutung der Psychologie für die Geisteswissen-
schaft e n."
Für die Klärung der Frage, welche Bedeutung die Psychologie
für die Geisteswissenschaften beanspruchen kann. bedarf es zu-
nächst einer Klärung dessen, was unter Psychologie zu verstehen
ist. Nicht unter den Begriff der Psychologie als Wissenschaft
fällt der Inbegriff von Deutungen, Interpretationen und intuiven
Verständnisses, das wir schon im gewöhnlichen Leben permanent
verwenden, das von den großen Historikern zu einer wahren Kunst des Nach-
verständnisses und Nachlebens fortgebildet ist. Allein dieses intuitive Ver-
stehen hat Grenzen; sehr komplexen oder sehr niedrigen oder sehr fremd-
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Sitzungsberichte
459
artigen Geisteszuständen gegenüber versagt es. Hier vermag aHein eine
wissenschaftliche Psychologie zu helfen; unter ihren Begriff füllen die ver-
schiedenen zurzeit auch noch divergierenden Richtungen (Funktionspsycho-
logie, Strukturpsychologie), denen allen doch gemeinsam ist, daß sie Regel-
mäßigkeiten als solche herausheben und dem Erlebniszusammeuhang einen
Zusammenhang von Koexistenz und Sukzession substituieren. Indes muß die
Psychologie den Geisteswissenschaften noch andere Dienste als die bloße
Materialhcrbeischaffung leisten. Kann sie vermittelst Unterordnung und
eines gegebenen Tatbestandes unter allgemeine Regeln das Singulare, mit
dem es alle Geisteswissenschaften zu tun haben, zu einem allgemeinen Ver-
ständnis erheben? Diese Frage wird aus rein logischen Gründen verschiedent-
lich verneint; aber die genauere Analyse zeigt, daß prinzipiell keine unüber-
windlichen Schwierigkeiten bestehen. Aber wohl stellt sich heraus, daß auch
bei denkbar vollkommenster Durchbildung der Psychologie sie aHein nicht
ausreichend ist, das geistige Leben zu erklären und zu leiten; denn in
jedem Individuum wie überhaupt in dem geistig -historischen Leben ist
etwas enthalten, was mehr als ein Komplex psychischer Funktionen ist; das
ist seine Inhaltlichkeit; an ihm findet die Psychologie ihre Grenze. Denn
dasselbe zu erklären und zu verstehen sind andere, insbesondere teleologische
Methoden erforderlich; eine Subsumtion unter Kausalregeln ist hier nicht
möglich. Es ist das Problem der einzelnen Geisteswissenschaften, das Ver-
hältnis der psychologischen \ind der teleologischen Methoden zu bestimmen;
von dieser Einsicht aus ergibt sich auch die allein berechtigte Einschränkung,
die von kritisistischcr Seite der Psyclwlogismus sich gefallen lassen muß.
(Eigenbericht.)
Eine Diskussion fand nicht statt.
Schluß der Sitzung 9V2 I hr.
Donnerstag, den 31. Oktober 1907.
Beginn: 8> 4 Uhr.
Vorsitzender: Herr Moll.
Schriftführer : Herr Westmann.
Herr Moll begründete den Antrag des Vorstandes, eine Okkultismus-
umfrage zu halten und erörterte den vom Vorstand ausgearbeiteten Frage-
bogen, der an Interessenten versendet werden soll.
Herr H e n n i g spricht über
„Okkultismus und wissenschaftliche Forsch u 11 g."
Als Einleitung zu der von der Psychologischen Gesellschaft geplanten
Umfrage über den Okkultismus hatte der Vortrag sich die Aufgabe gestellt,
in knappen, skizzenhaften Umrissen zu zeigen, wie im bisherigen Entwicklungs-
gang der wissenschaftlichen Forschung der mystische Charakter okkulter
Phänomene durch ein vorurteilsfreies psychologisches Eindringen in die
scheinbaren Geheimnisse zu schwinden pflegte, und in wie großem L'mfangc
sich schon jetzt Flournoys Wort bestätigt habe, daß dor gereinigte
Okkultismus nichts anderes sei als Psychologie.
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460
8itzujiq*herirhfe.
Die Zerstörung des mystischen Elements in den okkulten Problemen
setzte etwa am Ende IT. Jahrhunderts mit dem Aufkommen des wissen-
schaftlichen Experiments ein, und der erste greifbare Erfolg dieser Wand-
lung war die endliche Vernichtung des fürchterlichen Hexenwahns. Auch
in der Folgezeit waren Erweiterungen der psychologischen Erkenntnis oft
genug mit den überraschendsten Einblicken in die wahren Ursachen der
mannigfachsten, zunächst oft scheinbar ganz fernliegenden okkulten Probleme
verbunden.
Kein anderes Gebiet der psychologischen Arbeit hat soviel Verdienste
um die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnis und Aufklärung als das
der Hypnose, deren Durchforschung eine erstaunliche Fülle von dunklen,
rätselhaften Tiefen des okkulten Seelenlebens plötzlich erhellte. Der Vor
trag führte dies nun im einzelnen aus: mit der Kenntnis von der Macht der
Suggestion im Wach- wie im Schlafzustand schwand das alte Rätsel der
Wunderheilungen, der Reliquienwunder, des Stigmatismus, vieler Zaubermittel
und Hexenkünste, schwand der Nimbus der Quacksalber und Kurpfuscher
und neuerdings auch der Hcilmagnetiseure. Die Forschungen über Ver-
tauschungen der Persönlichkeit in der Hypnose, die gleichfalls durch bloße
Suggestion zu erzielen waren, warfen weiterhin ein Schlaglicht auf gewisse
Dämmerzustände, in denen das normale Ich plötzlich durch ein total anderes
Doppel-Ich verdrängt wird, ferner auch auf gewisse hysterische Krankheits-
bilder schwerer Natur, deren psychische Begleiterscheinungen sich früher
im Glauben an teuflische oder dämonische Besessenheit, an Werwölfe.
an göttliche Eingebungen, an ein Ergriffensein vom heiligen Geist, von
Dämonen, an ein „Entführtwerden" usw. wiederspiegelten. Auch die oft so
staunenswerten Darbietungen der modernen spiritistischen Schreib- und
Trancemedien, der Schwarmprediger und verzückten Zungenredner fanden
durch die Erkenntnis von den in allen pathologischen Zuständen so leicht
auftretenden Verzerrungen und Vertauschungen des Persönlichkeitsbildes eine
nach jeder Richtung befriedigende Aufklärung, und ebenso gelang nunmehr
die Identifizierung eines Teiles der angeblichen Spukphänomene mit den
krankhaften Zwangsempfindungen und Zwangshandlungen der Hysterischen
und ihre Zurückführung auf den hysterischen Trieb, sich interessant zu
machen um jeden Preis. i
Weiter wurden durch die Bekanntschaft mit den sogenannten ideomoto-
rischen Bewegungen in und außer der Hypnose die Probleme des Tisch-
rückens und Tischklopfens, der Gedankenübertragung, der Wünschelrute
(wenigstens soweit diese Erscheinung psychologisch zu deuten ist), 'des
Psychographen, der Geisterschriften, ja sogar gewisse Vorkommnisse schein-
baren Hellsehens in überraschend einfacher Weise erklärt. Die Erforschung
der Sinnestäuschungen und Halluzinationen und die Erkenntnis von der
früher unterschätzten Tragweite aller Arten von Wahrnehmungsfehlem er-
klärten u a. die Künste der Seherinnen und Wahrsagerinnen (soweit sie bona
fidc handelten), viele Geheimnisse des antiken Tempelschlafs, die „Ge-
sichte" aller Art, wie Geister- und Gespenstererscheinungen, viele Materiali-
sationen in spiritistischen Sitzungen, I>oppelgänger Gestalten, das Sichselbst
sehen, angebliche Odausströmungcn usw. Inwieweit der Okkultismus außer-
dem gefördert wurde durch unbewußt fehlerhafte Aussagen, Wahrnehmungs
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Sitzungsberichte.
461
und Krinnenmgsfchlcr wird in acht Tagen durch Herrn Prof. D c s s o i r in
einem Sondervortrag klargelegt werden.
Die allgemeine Erfahrung, daß in den Träumen des normalen Schlafs
wie aller pathologischen Schlafruständc drfc vom Oberbewußtscin vergessenen
Eindrücke und Erinnerungen mit besonderer Vorliebe an die Oberfläche zu
tauchen pflegen, hat sehr zahlreiche Fälle von Wahrträumcn, von Hellsehen
in Zeit und Raum und von anfangs unbegreiflichen, übernatürlichen Leistungen
des menschlichen Intellekts, z. B. die bei Trancemedien wie auch bei
Fiebernden und Sterbenden gelegentlich vorkommende „Kenntnis" nie
gelernter Sprachen, ihres mystischen Charakters einwandfrei entkleidet.
Noch freilich sind nicht alle Gebiete des ehrlichen Okkultismus von der
psychologischen Forschung erobert worden. Ueber einen Bruchteil von
ihnen, freilich einen verhältnismäßig nur noch sehr kleinen, ist das letzte
Wort noch nicht gesprochen, so über das gegenwärtig besonders aktuelle
Thema der Wünschelrute, über gewisse Vorkommnisse von Hellsehen,
Ahnungen, zweitem Gesicht, Telepathie, die man nicht durchweg a priori
als Irrrum oder Betrug ablehnen darf, vielleicht auch über manche Künste
der Fakire u. a. Auf diesen Gebieten bleibt für die Forschung auch weiterhin
noch viel zu tun. Daß aber das schließliche Ergebnis der wissenschaftlichen
Aufklärungsarbeit auch hier dasselbe sein wird, das es bisher immer gewesen
ist, daß auch hier alle Rätsel und Geheimnisse schließlich eine „natürliche
Erklärung" ohne jeden übersinnlichen Beigeschmack finden werden, darf
man schon heute zuversichtlich erwarten, und es wird sich immer wieder
bestätigen, daß der von allen phantastischen Hypothesen gereinigte Okkul-
tismus nichts weiter ist als Psychologie, d. h. eine Erweiterung der bis
herigen psychologischen Erkenntnis.
Diese notwendige Entwicklung will die von der Gesellschaft geplante
Umfrage ein wenig fördern; ein solches Beginnen ist um so mehr mit Dank
zu begrüßen, als ein großes, periodisch erscheinendes kritisch-fachwissenschaft-
liches Publikationsorgan, das speziell der Zersetzung von Okkultismus und
Aberglauben aller Art durch aufklärende psychologische Detailarbeit dient,
in der deutschen Literatur leider nicht vorhanden ist. So mag denn der Pflicht
zur Aufklärung, die neuerdings von der psychologischen Forschung leider
stark vernachlässigt worden ist, durch unsere Umfrage ein wenig genügt
werden. (Autorreferat.)
An der Diskussion beteiligte sich Herr Moll.
Herr Dr. Selbiger wurde als Mitglied aufgenommen.
Schluß der Sitzung 10 Uhr.
Donnerstag, den 7. November 1907.
Vorsitzender : Herr Moll.
Schriftführer: Herr West mann.
Ausgetreten sind die Herren Lammerich und Körte. Als Mitglied
aufgenommen ist Herr justizrat Dr. Sello.
462
Sitzungsberichte.
i
Herr Dessoir spricht über
„Die Psychologie der Aussagt, angewendet auf okkul
tistische Berichte."
Stellt man sich auf den Standpunkt der Okkultisten und nimmt an,
daß es unerklärliche und bedeutungsvolle Vorkommnisse gibt, so muß man
alsbald hinzufügen, daß diese Tatsachen jedenfalls seltene, launische Natur-
ereignisse sind. Eine beliebige, experimentelle Wiederholung ist im all-
gemeinen unmöglich. Daher sind die Forscher wesentlich auf Berichte an-
gewiesen. Mit ihnen scheint es keine Not zu haben, denn sie sind zahllos
vorhanden und imponieren zuerst ungemein. Aber schon sobald man die
Grundsätze der literarischen und historischen Kritik auf diese Zeugnisse
anwendet, beginnen sie zu verbleichen, und noch mehr büßen sie an Farbe
ein, wenn die Methoden und Ergebnisse der sogenannten Aussagepsychologie
an sie herangebracht werden.
Die Hauptfrage der Aussagepsychologie ist folgendermaßen gefaßt
worden. Von welchen Umständen hängt es ab, ob die Aussage eines Menschen,
seinen \V ahrhcitswillen vorausgesetzt, über ein Erlebnis dieses mehr oder
weniger genau schildert ? Die bedingenden Umstände liegen teils in dem
Gegenstand der Aussage, teils in der Person des Aussagenden. Erstens ist
also das, was geschieht, von Einfluß auf den erreichbaren Grad des Wissens
und die Treue der Aussage, lebcr Vorkommnisse ähnlicher Art, die bald
aufeinander folgen, wird gewöhnlich ungenau berichtet, weil die Unterschiede
übersehen und die Vorgänge einander gleich gemacht werden. Ein Taschen-
spieler braucht nur ein paarmal dieselbe Bewegung hintereinander zu machen,
so wird, wenn nun eine etwas abweichende, den Trick enthaltende Bewegung
kommt, niemand den Unterschied bemerken. Besonders unzuverlässig sind
ferner Mitteilungen über die Reihenfolge von Ereignissen, von Zahlenangaben
und nachträglichen Zeitschätzungen. Was die Person des Aussagenden
betrifft, so sind offenbar Mängel der Sinnesorgane (Kurzsichtigkeit, Schwer-
hörigkeit) mehr oder weniger hinderlich. Noch bedenklicher ist natürlich
die psychische Minderwertigkeit in allen ihren Formen. Hierfür bietet die
spiritistische Literatur Beispiele in Hülle und Fülle.
An dem Beispiel eines Berichtes über ein sogenanntes Schiefertafel-
medium zeigte der Vortragende, wie schwer es ist, zuverlässige Beobachtungen
zu machen und einwandfreie Berichte zu liefern. Ferner unterzog er
Zöllners Mitteilung, die den Versuch der Schürzung von Knoten in einem
endlosen Bindfaden schildert, einer genaueren Kritik. Dabei stellt sich
heraus, daß Zöllner sich in völliger Unkenntnis der notwendigen psycho-
logischen Gesichtspunkte befand. Kurz gesagt : Zöllner wußte nicht,
vvorauf es ankommt. Und so geht es den meisten Berichterstattern über
okkultistische Vorgänge. Ein gutgläubiger Zeuge erzählt etwa, er habe
einen Gegenstand auf den Tisch gelegt. In Wahrheit hat das Medium in
dem Augenblick, wo des andern Finger sich dem Tisch näherte, ihm in
selbstverständlicher und unauffälliger Weise das Objekt aus der Hand
genommen und selbst hingelegt. Das hat der Zeuge im Augenblick gewiß
bemerkt, später jedoch als etwas ganz nebensächliches vergessen. Aber
der Trick hing eben davon ab. Von einem Hellseher wurde mit Begeisterung
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Sitsungaberichte.
463
erzählt, er habe Namen ganz unbekannter Personen und Orte richtig erraten.
Das Erraten bestand indessen lediglich darin, daß der Hellseher die von
dem Fragesteller aufgeschriebenen Namen heimlich lesen und nachher wieder-
holen konnte. Offenbar ist es nicht schwerer, Pf eff entlausen zu lesen wie
Berlin, obgleich jener Ort nur wenigen, dieser allen bekannt ist. Eine so
starke Verschiebung der VVcrtbetonung im Denken ist anscheinend die Regel.
Als subjektiv günstige Momente für Aussagen sind zu nennen sichere
Einstellung der Aufmerksamkeit und Freisein von Gemütserregung. Beide
Bedingungen finden sich gegenüber okkulten Ereignissen höchst selten
erfüllt. Bei der Unberechenbarkeit des Auftretens dieser Erscheinungen kann
die Aufmerksamkeit nur schwer und selten auf den wesentlichen Punkt ein-
gestellt werden, und die Stimmung ist teils eine solche der Ungeduld, teils
der begeisterten Gläubigkeit. Die Spiritisten sind oft in einem Affekt, in dem
sie einerseits alles, selbst das Unglaubliche für möglich, andererseits alles,
selbst das Einfachste für wunderbar halten. Endlich ist es ein bedenklicher
Mangel der meisten Berichte, daß sie erst Jahre, selbst Jahrzehnte nach dem
Zeitpunkt der Beobachtung abgefaßt werden.
Zusammenfassend wäre zu sagen: Die zahllosen Zeugnisse über okkulte
Erscheinungen beweisen in den meisten Fällen nur, daß die Aussagenden
nicht wissen, was in solchen Fallen wissenschaftliche Evidenz heißt. Denn
ist überhaupt schon menschliches Zeugnis unzuverlässig, so wird es ganz
besonders unzuverlässig unter den Umständen, die mit okkulten Erscheinungen
verknüpft sind. (Autorreferat.)
Herr Moll veranstaltete Demonstrationen aus seiner okkultistischen
Bücherei.
An der Diskussion beteiligten sich die Herren Moser, Land-
gerichtsrat K a d e , Moll.
Schluß der Sitzung o*/ 4 Uhr.
Donnerstag, den 21. November 1907.
Beginn: 8 Uhr 20 Minuten.
Vorsitzender : Herr Moll.
Schriftführer : Herr Westmann.
Herr Prof. Dr. Schleich spricht über die
„P sychophysik des Rhythmu s".
Nat!' den Ausführungen des Redners ist der Rhythmus, der in gleicher
Weise am bewegten und Unbewegten, an der belebten und unbelebten Materie
beobachtbar ist. der eigentliche Quell aller Bewegung, aller Formen, aller
Kigenschaften. Sein letzter Urgrund ist die pendelnde Einstellung zweier
sich widerstrebender Urmächte: der Kraft und der Hemmung. Der Rhythmus
ist der Pulsschlag des Universums, in ihm bekundet sich der Wcltalls-
odem, der alles Seiende durchdringt. Denn nicht nur das Bewegte ist rhyth-
misch, auch das scheinbar Feste enthält den rasenden, rhythmischen Tanz
der Atome, Jone, Elektrone umeinander und scheint nur fest, ähnlich wie
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464
SitTungsberirhte
die rollende Erde nur stillzustehen scheint. Auch das körperliche und geistige
Leben ist auf Rhythmus gestimmt. Auch hier ist der Rhythmus die Resul-
tante der aktiven Nervenkraft und der Widerstandsbewegung der isolierenden
Brutsäfte. Puls und Atmung haben die mannigfachsten Einflüsse auf rhyth-
misches geistiges Geschehen. Die Seele des Menschen ist selbst eine Art
Hemmung, so etwas wie ein Prisma, in dem sich Weltwellen brechen, eine
Harfe, auf der der Odem des Universums spielt. (Autorreferat.)
An der Diskussion beteiligten sich die Herren Teigs und
Moser. Der Vortragende hatte das SchhiUwort.
SchruO der Sitzung 9V2 Uhr.
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Berichte und Besprechungen.
Dr. med. Eugen Neter: „Das einzige Kind und seine Er-
ziehung." Der Arzt als Erzieher, Heft 25.
Es ist ein ungemein wichtiges Kapitel, das der Verfasser hier einer
eingehenden Betrachtung unterzieht. Das Thema ist zeitgemäß, einerseits,
weil das einzige Kind eine „bedauerliche Erscheinung der Neuzeit" ist,
anderseits, weil heute im allgemeinen zu viel erzogen wird und das natur-
gemäß bei einzigen Kindern ganz besonders der Fall ist.
Dr. Neter schildert in der kleinen Broschüre, welcher ein Geleit-
wort von Professor Adolf Baginsky vorangestellt ist, den Typus des
einzigen Kindes, wie er uns häufig im Leben begegnet. Ohne zu sehr zu
verallgemeinern, wird uns gezeigt, wie gewisse Charaktereigenschaften
(Egoismus, Unselbständigkeit, Frühreife z. B.) sich bei den Einzigen auf-
fallend entwickeln. Der Verfasser führt dies auf das Fehlen eines „sozialen
Zusammenlebens" mit anderen Kindern zurück und weist darauf hin, wie
gefährlich es für das körperliche und seelische Gedeihen des Kindes ist,
wenn die Sorge und Liebe der Eltern ihm ungeteilt zufällt. Besonders
wichtig erscheint mir der Hinweis auf die allzu große Aengstlichkeit der
Eltern, die oft zur Hypochondrie erzieht und einen guten Boden für
psychogene Störungen bildet; auch die geistige Ucberanstrengung des
vorschulpflichtigen Kindes — durch die elterliche Eitelkeit veranlaßt — , und
anderseits oft die Langeweile desselben sind Faktoren, welche in dieser
Beziehung ins Gewicht fallen. — Die Broschüre ist nicht nur für Eltern und
Erzieher einziger Kinder lesenswert, denn manche Erziehungsfehler, welche
darin einet Kritik unterzogen werden, sind allgemein verbreitet; vor allem
haben aber alle „Nachzügler" und auch einzige Schwestern oder Brüder
unter einer ähnlichen Ungunst der Verhältnisse zu leiden.
Dr. N e t e r erörtert am Schluß seiner Arbeit die Frage, ob dem
einzigen Kinde geholfen werden kann, ob es möglich ist, durch künstliche
Mittel den Ausfall bestimmter erzieherischer Faktoren zu ersetzen, wenn
man nicht überhaupt dazu gelangt, das Ein-Kinder-System wieder ein-
zuschränken. Zwar verkennt er nicht, daß bei der Erziehung dieser so
benachteiligten Kinder geeigneter Verkehr, Kindergarten, Schule, gemein-
same Spielnachmittage u. a. m. Hilfe leisten können, aber vollwertigen
Ersatz für den fehlenden Geschwisterkreis bieten sie nicht, auch die beste
Erziehung, die an die Eltern die Forderung größter Selbstdisziplinierung
stellt, kanr< hier nur sehr schwer ausgleichen. „Hier gibt es keine anderen
Mittel und Wege, die schlimmen Folgen bei der Erziehung eines einzigen
Kindes zu vermeiden, als dadurch, daß man das Uebel als solches in seinen
Ursachen bekämpft, und das ist nicht unmöglich." — Der Verfasser ver-
smcht es deshalb mit „Vernunftgründen", die Motive, die Eltern in vielen
Fällen dacu führen, sich mit einem Kinde zu begnügen, zu widerlegen.
Zeitschrift für pädagogische Ptyohologie, Pathologie u. Hygiene. 4
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466
Berichte und Besprechungen.
Die Schrift schließt rak den schönen Worten Diester wegs: „Die
höchste pädagogische Weisheit besteht überall darin, der Natur getreu
ru verfahren."
Berlin. N e 1 1 y W o 1 f f h c i m.
Ernst und Gertrud S cupin: Bubib erste Kindheit. Hin
Tagebuch über die geistige Entwicklung eines
Knaben während der ersten drei Lebensjahre. Leip-
zig, Griebens Verlag.
Den Anregungen Preyers folgend, haben E. und G. S c u p i n über
die geistige Entwicklung ihres Kindes Tagebuch geführt, anfangs, ohne
daß die Absicht bestand, das Buch der Oeffentlichkcit zu übergeben. Nur
der Wunsch, das Beobachtete festzuhalten, um später einen U eberblick
über das allmähliche Fortschreiten der kindlichen Geisteskräfte zu haben,
und wohl die Lust an psychologischen Studien, war die Veranlassung dazu.
Für die Veröffentlichung dieses Tagebuches muß man den Heraus-
gebern dankbar sein, denn das Werk bietet für Psychologen und Pädagogen
viel interessantes Beobachrungsmaterial ; auch Eltern, denen daran liegt,
tieferes Verständnis für die Psyche des kleinen Kindes zu gewinnen, können
daraus lernen, und überhaupt wird jeder, der Kinder liebt, mit Vergnügen
,, Bubis" Entwicklungsgang verfolgen.
Natürlich muß man sich hüten, nach derartigen Aufzeichnungen
allzusehr zu verallgemeinern und die in dem Tagebuch vermerkten Beob-
achtungen als eine Norm aufzufassen. Das geschilderte Kind scheint mir
außergewöhnlich begabt zu sein, und manche der angeführten Tatsachen
erscheinen fast unwahrscheinlich; so klingt es z. B. erstaunlich, daß ein
drei Wochen altes Kind schon auf Farbengegensätze reagieren soll, und
daß es in der fünften Woche „den Kopf der Schallquelle zuwandte und
mit erstaunten Augen auf den Mund der Mutter sah, als diese zu pfeifen
begann". (S. 3 u. 5.) Mir kamen beim Lesen des Buches mitunter Zweifel,
ob alle Beobachtungen ganz den Tatsachen entsprechen. Es ist natürlich
keine Frage, daß die Verfasser nach bestem Wissen ihre Aufzeichnungen
machten, aber jeder, der einmal bewußt psychologische Studien gemacht
hat, weiß, wie schwer es ist, vollkommen objektiv zu bleiben, und wie
leicht mar» dazu kommt, das zu sehen, was man zu sehen erwartet. Aber
das sind kleine Ausstellungen, als Ganzes bleibt das Buch höchst be-
achtenswert, und besonders sind die Tabellen über die Entwicklung des
Faibensinnes und über das allmähliche Heranwachsen des Wortschatzes
von größtem Interesse. Eine chronologische Uebersicht am Schluß des
Buches gibt in gedrängter Form eine klare Zusammenfassung der ge-
wonnenen psychologischen Erfahrungen und erleichtert — ebenso wie das
Sachregister — das Wiederauffinden der Punkte, die beim Lesen be-
sonders interessierten, die man miteinander zu vergleichen wünscht oder
in ihrer Entwicklung nochmals verfolgen will.
Für die Erziehung wichtige Momente, wie man sie nur dem Leben
ablauschen kann, finden sich viele in dem Tagebuch, und der Krache r
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Berichte und Besprechungen.
467
erhält bei der Lektüre manchen Fingerzeig. Wie sich die Eindrücke, welche
das Kind empfängt, in seinem Spiele wiederspiegeln, wie das Kind kom-
biniert, beobachtet, was es betrübt und erfreut, was es erschreckt und
ängstigt — all das ist in den Aufzeichnungen zu finden. Sehr inter-
essant ist z. B. nachgewiesen, wie ein Traum des Kindes (im 36. Monat)
die Ursache zu einer vorläufig unausrottbaren Angst vor Spinnen wird. —
So weit das Buch in seiner Bedeutung für den Leserl Zum Schluß
möchte ich aber noch ein paar Worte über das Anlegen derartiger Tage-
bücher sagen. Im allgemeinen soll man sich hüten, ein Kind allzusehr
zum Studienobjekt zu machen. Wie bei so vielen Dingen, ist auch hier die
Frage: Was ist größer, der Nutzen für die Allgemeinheit oder der Schaden
für den Einzelnen? Wie oben nachgewiesen, ist diese Veröffentlichung
nützlich, — schädlich könnte sie aber werden, wenn sie viele Eltern zum
Anlegen eines so eingehenden Tagebuches anspornen würde. Denn
ein Kind weiß bald, wenn es beobachtet wird, und auch so junge Kinder
bemerken schon, wenn das, was sie sprechen, umgehend gebucht wird;
welche Nachteile dies in erziehlicher Hinsicht hat, brauche ich Wer nicht
auseinanderzusetzen. Und vor einem muß man sich vor allem hüten: kein
Vorgreifen, kein Ucbcreilen, sondern den Geist naturgemäß sich entwickeln
lassen; deshalb hüte man sich vor einem Experimentieren, wie es die
„Farbenübungen" bei einem zweijährigen Kinde sind.
Berlin. Nelly Wolffheim.
Helene Niehusen: „Musik für unsre Kleinen*'. Verlag
Alexander Dunker. 1 Mk.
Diese kleine Schrift ist aus der Praxis entstanden; die Verfasserin
hat als Kindergärtnerin und Leiterin der Musikstunden im Pestalozzi-
Fröbelhaus zu Berlin reichlich Gelegenheit, Erfahrungen auf dem
Gebiet zu sammeln, das sie hier mit Liebe und Begeisterung dem Leser
nahebringen möchte. Und niemand wird das Buch aus der Hand legen,
ohne Anregungen daraus empfangen zu haben. Gerade weil Helene
N i e h u s e n von vornherein betont, nur Fingerzeige, kein Schema geben
zu wollen, ist diese Veröffentlichung von Wert.
Die meisten kleinen Kinder freuen sich, wenn sie Musik hören, und
man kann sagen, alle sind beglückt, wenn sie selbst „Musik" machen
können. Wenige Spielsachen bereiten so viel Vergnügen wie Trompete,
Trommel, Hammer- Klavier usw.; teils ist der hervorgebrachte Ton, teils
ein gewisser Rhythmus die Ursache. Mir erscheint jede Freude der
Kinder (die nicht Nachteile mit sich bringt) Selbstzweck zu sein und wert,
gepflegt zu werden; wieviel mehr ist das bei der Freude an der Musik
der Fall, die, wenn sie gepflegt wird, eine Glücksquelle für das ganze
Leben bedeuten und zur Verfeinerung und Vexinnerlichung der ganzen
Persönlichkeit beitragen kann.
Wenn man liest, wie die Verfasserin mit kleinen — vorschulpflich-
tigen und größeren — Kindern Musik treibt, wird man unwillkürlich an-
geregt, es ihr nachzumachen, um sich selbst und den Kindern eine frohe
Stunde zu bereiten, und die Furcht, etwa einen verfrühten Unterricht damit
zu geben, wird man bald verlieren. Denn hier wird nichts geboten, was
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Berichte und Besprechungen.
nicht mit Kindern erprobt und von Kindern glückstrahlend aufgenommen
wurde. Trommel, Becken, Tamburin, Triangel, Glockenspiel und Kastag
netten sind die Instrumente der Kinder, mit denen sie in entsprechender,
dem jeweiligen Musikstück angepaßter Weise, das Klavierspiel begleiten.
Ueber die Art der Anleitung und Ausführung, über die Auswahl der Musik-
stücke, über den Inhalt der ausgearbeiteten Musikstunden will ich hier
nichts berichten, um der Lektüre des Buches nicht vorzugreifen. Er-
staunlich ist es, wie schnell die Kinder selbst herausfinden, wann das be-
treffende Instrument am Platze ist, welchen feinen Sinn für Melodie und
Rhythmus sie haben, wie das Gehör sich bildet und das Unterscheidungs-
vermögen sich durch diese Musikübungen schärft. Die Einführung dieser
Art Musik in die obere Abteilung der Kindergärten, vor allem aber in die
Vorschulklassen, halte ich für erstrebenswert und wünsche deshalb Helene
Niehusens Buch rechte Verbreitung in pädagogischen Kreisen. Doch
auch die Familienerziehung kann mancherlei Anregungen daraus schöpfen.
Hier kommt auch besonders der Schlußteil in Betracht, der Anleitung gibt,
was man den Kindern an musikalischen Vorträgen — Gesang und Instru-
mentalmusik — bieten kann und wie man es tun soll. Daß das Hören guter
Musik ganz besonders ins Gewicht fällt, wenn man musikalisches Empfinden
und die Liebe zur Musik in das kindliche Gemüt pflanzen will, ist nicht zu
bezweifeln. Musikalisches Talent kann man nicht anerziehen, aber ein ge-
wisses Verständnis für die Musik und die Freude an ihr läßt sich durch rechte
Leitung erzielen.
Berlin. Nelly Wolffheim.
Dr. Fr. W. Foerster: Jugendlehrc. Ein Buch für Eltern,
Lehrer, Geistliche. — Berlin, Georg Reimer. 1905.
724 Seiten. Geb. 6 M k.
Derselbe: Lebcnskundc. Ein Buch für Knaben und
Mädchen. (Die Beispiele der „Jugendlehre" für die
Hand der Kinder gesammelt.) Verlag wie oben.
Geb. 3 Mk.
Fr. W. Foersters „Jugendlehre" ist ein pädagogisches Buch, das
auch außerhalb der Fachkreise Interesse verdient und das von allen Eltern
und Erziehern gelesen werden sollte. Ich gehe sogar weiter und behaupte,
daß jede denkende Persönlichkeit, auch wenn sie keine Gelegenheit hat,
erzieherisch zu wirken, aus diesem Werk Anregung und Nutzen ziehen wird.
Foerster gibt in seinem Buch zuerst einen Ueberblick über die
Ausdehnung und Wirkung, die der Moralunterricht in Schulen verschiedener
Länder (Amerika, England, Frankreich, Schweiz) gewonnen hat, und erklärt
uns vor allem, was unter diesem Lehrfach zu verstehen ist, wie es erteilt
werden muß. Moralunterricht — besser mit dem treffenderen und schöneren
Ausdruck „Lebenskunde" zu bezeichnen — soll nach Ansicht vieler Päda-
gogen an Stelle des Religionsunterrichtes treten oder eine Ergänzung zu
ihm bilden. Die „Lebenskunde" vermittelt den Kindern die Grundsätze
der Ethik und soll sie dadurch für das Leben vorbereiten, und vor allem
helfen, sie innerlich zu vertiefen und zu ethisch hochstehenden Menschen
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Berichte und Besprechung eil.
zu erziehen. Es würde hier zu weit führen, darauf einzugehen, ob es
wünschenswert wäre, den Religionsunterricht aus der Schule zu verbannen
und ihn ganz als Sache der Familienerziehung zu betrachten; ich will
nur darauf hinweisen, worin der Nutzen der „Jugendlehre" nach Foerster-
schen Grundsätzen (sei sie nun neben oder an Stelle der Religionsstundc
geboten) besteht
„Moralunterricht", dies Wort ist häßlich, es klingt zu schulmeisterlich,
pedantisch und läßt die Befürchtung entstehen, daß Moral und Tugend-
haftigkeit durch weise Lehren den Kindern eingetrichtert werden sollen.
Und ich muß bekennen, daß mich das, was ich früher über diesen Gegen-
stand gelesen habe, auch durchaus nicht dafür einnahm. Kann man Moral
lehren? Neinl Aber man kann zum Denken erziehen, zum Beobachten,
zum Vergleichen; man soll den Boden schaffen, auf dem das Gute sich
entwickelt, und muß die Samenkörner ausstreuen, die dort keimen und
Wurzel fassen können; man kann den Wunsch nach Selbstemporhebung
und wahrem Menschentum anregen und vor allem zum rechten Handeln
erziehen. Dazu hilft uns die Foerst ersehe „Jugendlehre", die, wie ge-
sagt, durchaus nicht nur der Jugend nutzbar zu sein braucht. Vor allem
weist sie allen erzieherisch tätigen Menschen den Weg; dem Familien-
leben kann sie eine Stütze werden.
Foerster geht vom täglichen Leben aus, und die vielen Beispiele,
welche er in seinem Buche für die Art der Besprechungen gibt, wie cc
sie mit Kindern praktisch durchgeführt hat, zeigen, daß er weiß, was
not tut. Kleine, scheinbar unwichtige Vorkommnisse und Tätigkeiten bilden
oft den Ausgangspunkt. „Was man beim Staubwischen lernen kann", ist
z. B. ein Thema. Ja, haben wir Größten uns das selbst schon einmal über-
legt, daß man aus einer so „nebensächlichen" Arbeit Nutzen für sich
selbst, für seine innere Persönlichkeit ziehen kann? „Warum wir arbeiten",
„Beseelte Hände", womit die durch Sorgfalt, Umsicht und zarte Liebe
geleiteten Handreichungen gemeint sind, sind Themen, die u. a. zur Be-
sprechung der Psychologie und Pädagogik der Arbeit dienen. — Die
Stellung des Kindes zu seinen Eltern und Geschwistern, zum Lehrer, zu
den Mitmenschen, Arm und Reich, Freund und Feind, wird dem Leser
vor Augen geführt und seinem Nachdenken empfohlen. Das komplizierte
Verhältnis der Kinder zu den Dienstboten beleuchtet Foerster in ein-
gehender Weise, wie ja natürlich das ganze soziale Leben in Betracht
gezogen wird.
Ueber Erziehung zur Selbständigkeit, über das Verantwortlichkeits-
gefühl sich selbst und der Allgemeinheit gegenüber, von den Gewohn-
heiten, der Selbstbeherrschung, über die Rückwirkung unseres Tuns auf
uns selbst spricht Foerster mit den Kindern. Nicht zu vergessen ist
das so überaus wichtige Kapitel über die sexuelle Aufklärung der Jugend,
über die ethischen Gesichtspunkte der Beziehungen der Geschlechter usw.
Die Beispiele sind fertig ausgeführte Lektionen. — Aus dem Vorher-
gehenden wird man sehen, daß sehr viele dieser Lehrstoffe schon immer in
dem Religionsunterricht besprochen wurden. Foerster geht aber von der
richtigen Beobachtung aus, daß all das den Kindern nachhaltigsten Eindruck
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Berichte und Besprechungen.
macht, was aus ihrnn Gesichtskreis genommen ist und an Selbsterlcbtcs
und Selbstgeschautes anknüpft.
Doch der Grund, weshalb ich das Buch für die Familicncrzichung
nutzbar gemacht sehen will, liegt auf einem anderen Gebiet. Nicht etwa
soll neben dem Schulunterricht eine neue Last — eine „Moralstunde" —
den Kindern aufgebürdet werden, sondern ich wünschte, der Geist des
Foerster sehen Buches würde in die Familien eindringen. Wohl wäre
es gut, wenn Mütter und Erzieherinnen gelegentlich in Stunden der Ein-
kehr, der Gemütlichkeit, der Andacht, Unterhaltungen nach dem Muster
des Buches, das ihnen ein Leiter sein könnte, pflegen würden. Die Haupt-
sache ist und bleibt aber das Ausströmen der Idee, die Belebung und Ver-
innerlichung der Persönlichkeiten nach Art des Foerster sehen Ideals.
Wer mit Foerster und vielen anderen Pädagogen, z. B. Friedrich
F r ö b e 1 , der Ansicht ist, daß Erziehung in erster Linie „das Heraus-
ziehen von angeborenen Anlagen" ist — „durch die Beförderung und Er-
mutigung des Guten stirbt viel Schlechtes schon von selbst ab" — , wird
den Wert des Buches anerkennen. Das Gesunde und Gute im Kinde
muß entwickelt werden, daß es sich kräftigt, stärkt und die schlechten
Eigenschaften überwuchert und so im Keime erstickt. Natürlich alles kann
die Erziehung nicht machen, aber „es hängt von ihr ab, welche Seite
des angeborenen Charakters zu vorwiegender Entwicklung gelangt und
welche zur Verkümmerung bestimmt wird". Die häusliche Atmosphäre soll
eben den Einfluß in dieser Richtung geben, unterstützt von dem Wirken
der Schule. Solange aber unsere Unterrichtsanstalten noch in so hohem
Grade nur Lernschulcn sind, hat das Haus die doppelte Verantwortung.
Und solange an Einführung eines ethischen Unterrichts in obigem Sinne
in den Schulplan noch nicht zu denken ist, müßte das Foerster sehe Werk
ein rechtes Familienbuch werden. Es kann auch dazu beitragen, die Eltem
für ihre Aufgabe zu erziehen und sie allseitig zu beeinflussen; bei der
Wichtigkeit, die das Beispiel in der Erziehung ausmacht, ist das von
nicht zu unterschätzender Bedeutung. Vielerlei zum Nachdenken findet
der Leser in dem Buch: die Prügelstrafe wird einer ernsten Kritik unter-
zogen, das Verhältnis der Moralpädagogik zur Pathologie wird erörtert,
die Alkoholfrage in ihrer Beziehung zur Erziehung beleuchtet — Ich
glaube, es is: genug aus dem reichen Inhalt angeführt, um einen Ueber-
blick über die weitumfassende Bedeutung des Werkes zu gewinnen. Als
kurze Zusammenfassung kann man sagen: „Das Leben selbst sei der Lehr-
meister, darum Menschenkunde, Lebenskundc. Es gilt zu beobachten und
die Bedürfnisse seiner selbst und anderer zu erforschen und su prüfen."
Aus der Fülle eigenen ethischen Lebens will der Schriftsteller ein tiefes
Bedürfnis in der Jugend erwecken, die täglichen Lebensformen in den
Dienst eines höheren Zieles, einer feineren Sitte zu stellen. Ein Wort
Moritz von Egidys möchte ich hinzufügen, das sich mit den
Foerster sehen Gedanken deckt : „Religion nicht mehr neben unserem
Leben, unser Leben selbst Religion." Und vielleicht kann uns die
Foerster sehe „Jugendlehre" als Wegweiser dienen !
Berlin Nelly Wolffheim.
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Mitteilungen.
Schulärztliche».
Der Jahresbericht über den Stand der dem Volksschulrektorate unter-
stellten städtischen Schulen in Mannheim vom Jahre 1905/06 enthält über
die Tätigkeit des Schularztes folgende Ausführungen:
Mit dem Ostertermin 1905 begann die regelmäßige Tätigkeit des Schul-
arztes. Dieselbe erstreckte sich in der Hauptsache auf die hygienische
Ueberwachung der Schulgebäude und des Schulbetricbs einerseits, auf die
individuellen Gesundheitsverhältnisse der Schulkinder andererseits. Der
Schularzt besuchte die einzelnen Schulabteilungen in der Regel einmal monat-
lich, wobei zunächst mit den Oberlehrern über allgemeine Gesundheitsverhält-
nisse Rücksprache genommen wurde. Besuche in einzelnen Kreisen gaben
Veranlassung, die Sitzhaltung der Kinder beim Schreiben, sowie die Reinigung,
Lüftung und Heizung der Lokale zu kontrollieren. Es wurden im ganzen
404 Klassenbesuche vorgenommen. In den einzelnen Schulabteilungen wurde
gelegentlich der monatlichen Besichtigung durch den Schularzt in einem
besonders zur Verfügung gestellten Zimmer jeweils eine Sprechstunde ab-
gehalten, in der diejenigen Kinder untersucht wurden, die von ihren Klassen-
lehrern bezw. Klassenlehrerinnen hierfür vorgemerkt waren. Für diese Vor-
merkung ist in jeder Schulabteüung eine besondere schulärztliche Unter-
suchungsliste aufgelegt.
Die Befunde der Untersuchung werden sofort schriftlich vermerkt. Ueber
die Notwendigkeit besonderer Fürsorge (Solbad, Ferienkolonie, Schülerfrüh-
stück oder Volksküchenernährung) oder vom Bestehen wichtiger Krankheits-
erscheinungen, welche weitere ärztliche Behandlung als notwendig erscheinen
lassen, wird jeweils eine geeignete Mitteilung an das Elternhaus gegeben, die
durch einen diesbezüglichen Vermerk in einer besonderen Rubrik der Unter-
suchungsliste notiert wird. Die Zahl der in den Schulabteilungen vor-
genommenen Sprechstunden betrug 168 mit 1561 Schüleruntersuchungen.
Ueber die näheren Einzelheiten gibt folgende Zusammenstellung Aus-
kunft: Zahl der untersuchten Kinder 1561, Krankheiten von Lunge, Herz
und Bauchorganen 387, Blutarmut und chronische Erkrankung 168, Haut-
krankheiten und Parasiten 379, Verkrümmung der Wirbelsäule und des
Knochengerüstes 51, Krankheiten der Augen 329, Krankheiten der Ohren 92,
Mund-, Nasen- und Rachenkrankheiten 77, Psychische und nervöse Störungen
78, Mitteilungen an die Eltern 356.
Um den praktischen Nutzen der Erhebungen und Mitteilungen für das
Elternhaus festzustellen, wurde angeordnet, daß die Mitteilungsformularc
nach acht Tagen, mit einem Vermerk über positiven oder negativen Erfolg
versehen, an den Klassenlehrer zurückzugeben sind. Auf Grund der Mit-
teilungen wurde in etwa zwei Drittel aller Fälle ärztliche Behandlung ein-
geleitet. Im Monat Januar wurden unter Mithilfe der Lehrerschaft in einer
besonderen, 369 Kinder umfassenden Nachuntersuchung die Erfolge der
Ferienkolonien nachgeprüft. Die Untersuchung erstreckte sich auf die Zahl
der Krankheitsversäumnisse, welche die Koloniekinder vor und nach dem
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Mitteilungen.
Landaufenthalte hatten, auf den allgemeinen Gesundheitszustand, wie er
sich nach der Auffassung der Klassenlehrer geändert hatte, und auf das
Urteil des Kolonieführers über die Veränderung des Aussehens der Kinder
zwischen dem Tag der Rückkehr aus der Kolonie und dem Tag der Nach-
untersuchung. Durch den Arzt wurde Aussehen und allgemeiner Gesund-
heitszustand festgestellt, wobei berücksichtigt wurde, ob nach dem Kolonie-
aufenthalt noch weitere Unterstützungen durch Milchabgabe oder Volksküchen»
ernährung gewährt worden war. Zahlenmäßig sind die Ernährungsverhältnisse
durch Feststellung des Körpergewichts im Vergleich zum früheren Gewicht
ermittelt worden. Die Vorteile für den Unterricht wurden bei allen Kindern
durch Erhebung der Fleiß- und Leistungsnote nachgeprüft. Für die Kinder
der Hilfsklassen wurden weitere Erhebungen über den beobachteten Fort-
schritt in psychischer Hinsicht angestellt. Während des Winters wurde der
Milchabgabe an bedürftige Kinder insofern besondere Aufmerksamkeit zu-
gewendet, ab für die richtige Behandlung der angelieferten Milch besondere
Vorschriften getroffen und die richtige Handhabung der Milchverteilung
teilweise an Ort und Stelle kontrolliert wurde. Auch die Verabreichung von
Schulbädern wurde gelegentlich einer Nachschau unterzogen. Um die Ein-
ordnung der Schüler in die ihrer Körpergröße entsprechenden Schulbänke
zu ermöglichen, wurden auf Veranlassung des Schularztes durch die Lehrer-
schaft an 5426 Knaben und 3356 Mädchen Schülermessungen vorgenommen.
Die Haupttätigkeit des Schularztes erstreckte sich auf die Gesundheits-
verhältnisse der Schulanfänger. Für jedes in die unterste Klasse der Volks-
und Bürgerschule neu eingetretene Kind wurde ein besonderer Personalbogen
angelegt. Die Form der hier benutzten Personalbogen weicht in nicht unerheb-
licher Weise von den sonst gebräuchlichen Gesundheitsscheinen ab. Es
wurde der Gedanke zugrunde gelegt, daß Feststellungen hinsichtlich der
Körperbeschaffenheit allein nicht genügen, um ein Urteil über ein Kind
abzugeben, sondern daß diese Angaben zu ergänzen sind durch Erhebungen
betreffs der häuslichen Verhältnisse, der früheren überstandenen Krankheiten
und der geistigen und moralischen Eigenschaften, die sich schon in der
Kinderstube bemerkbar gemacht haben. Auch die bisherigen Leistungen in
der Schule und die bei bedürftigen Kindern ergriffenen fürsorglichen Maß-
nahmen und deren Erfolg sollen in späteren Jahren zur Vervollständigung
des Gesamtbildes der Eigenschaften eines Kindes herangezogen werden.
Die Erhebung der Personalien und früheren gesundheitlichen Verhält-
nisse der Kinder geschah durch einen besonderen Fragebogen an das
Elternhaus, dessen Text sich mit dem ersten Teile des Personalbogens deckt.
Bei der Anmeldung gelangten im ganzen 3549 Fragebogen zur Ausgabe, die
innerhalb drei Tagen ausgefüllt wurden. Nur in 154 Fällen -<ca. 41/t Prozent)
mußten die Eltern an die Ausfüllung der Bogen erinnert werden; in keinem
einzigen Falle wurde, in erfreulichem Gegensatz zu den anderwärts gemachten
Erfahrungen, die Ausfüllung des Bogen verweigert. Die große Reihenunter-
suchung der Schulanfänger wurde in drei Terminen vorgenommen. Im
ersten Termin fand eine kurze Besichtigung aller Kinder statt, um die infolge
mangelhafter Körperentwicklung noch Unfähigen auszuscheiden und Kinder
mit ansteckenden Krankheiten zu ermitteln. Für erstere wurden im ganzen
43 Schulbefreiungen beim Rektorat beantragt, bei den letzteren die nötigen
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Mitteilungen.
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Vorbeugungsmaßregeln gegen Weiterverbreitung durch die Schule angeordnet.
Im zweiten Termine erfolgte eine genaue Besichtigung und Untersuchung
des Knochengerüstes, der Brustorgane und der Gesamtkonstitution mit Er-
mittlung des Körpergewichts, der Größe und Atemweite. Der dritte Termin
war der Prüfung der Sehschärfe und des Gehörs vorbehalten, lieber alle
Befunde machte der Klassenlehrer einen Vermerk in den im Personalbogen
enthaltenen Gesundheitsschein. Die Resultate dieser großen Schulrekruten-
musterung sind bei der obigen Zusammenstellung außer acht gelassen und
bleiben besonderer Bearbeitung vorbehalten.
Die gleichen Untersuchungen wie für die Schulanfänger — nicht aber in
Terminen getrennt — fanden für die Kinder von drei Wiederholungs-
klassen statt. Bei 33 Kindern, die aus den verschiedensten Jahrgängen zur
Ueberweisung in das Hilfsklassensystcm in Frage kamen, wurden außer der
körperlichen Untersuchung noch die eingehendsten Erhebungen über die
Erblichkeitsverhältnisse, den Grad und die klinische Beurteilung der vor-
liegenden geistigen Schwächezustände vorgenommen. In der außerhalb der
Schulzeit in der Friedrichsschule abgehaltenen Sprechstunde des Schularztes
sind 564 Personen beraten worden. Der Schularzt nahm an den Sitzungen der
Schulkommission und an verschiedenen amtlichen Konferenzen bezüglich bau-
licher Veränderungen und Planausarbeitung von Neubauten teil.
Statistik der Krüppelkinder.
Amtliche Erhebungen auf Grund ministerieller Verfügung.
Man weiß, daß die Zahl der Krüppel sehr groß ist, es gibt mancherlei
Krüppelstatistiken, aber durchweg zuverlässige Zahlen besitzt man nicht.
Man weiß auch, daß für sehr viele Krüppel nicht nur mit Menschenliebe,
sondern auch mit Chirurgie gesorgt werden kann, wie viele aber zu ver-
sorgen sind, w i e groß das Bedürfnis nach Krüppenlheimen ist, das weiß
man nicht. Dabei hat die Krüppelfrage eine eminent soziale Bedeutung.
Man bedenke nur, daß die Mehrzahl der Krüppel dauernd zu den unselb-
ständigen Personen gehören, man bedenke, wie viele Arbeitskräfte in ihnen
dem Wirtschaftsleben verloren gehen und wie sehr sie selbst durch die
Kosten ihrer Pflege und Unterhaltung, durch die Behinderung anderer an
der Arbeit das Wirtschaftsleben belasten. Seitdem man erkannt hat, daß
mit den Mitteln der orthopädischen Chirurgie eine sehr große Zahl von
Krüppeln zu erwerbsfähigen Menschen gemacht werden können, hat eine
lebhafte Agitation für Krüppelheime eingesetzt Diese Agitation kann erst
dann dauernden Erfolg haben, wenn dem Publikum und den Behörden die
Größe des Bedürfnisses zahlenmäßig nachgewiesen wird.
Der Deutsche Zentralverein für Jugendfürso rge hat
vor kurzem den Kultusminister und den Minister des Innern zu bestimmen
gewußt, amtliche Erhebungen über die Zahl der Krüppelkinder zu veran-
lassen. Am 10. Oktober d. J. werden in Preußen alle Krüppelkinder ge-
zählt werden. Das eingehende Material wird von der Abteilung „Gesund-
heitspflege" bez. deren Gruppe „K^üppelfü^so^ge ,, des Zentralvereins für
Jugendfürsorge verarbeitet werden, die auch die Zählkarten liefert. Von
Bedeutung ist, daß nicht nur die Zahl der Krüppelkinder, «ondern ihre
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Mitteilungen.
wirtschaftlichen Verhältnisse und vor allem die Besonderheit der
Verkuppelungen festgestellt werden sollen. Die Verfügung des Kultus-
ministers lautet:
Der Minister der geistlichen,
Unterrichts- und Medizinal- ,
angelegenheiten.
M. d. g A. M. Nr. 7083 U III A.
M. d. Inn. IVc. Nr. 1316.
Berlin W. 64, den 3a Juli 1906.
An
die Herren Oberpräsidenten.
Der Deutsche Zentral verein für Jugendfürsorge beabsichtigt, Er-
hebungen über die Zahl der Krüppelkinder anzustellen, um eine zu-
verlässige Unterlage für den Ausbau der praktischen Krüppelfürsorge
zu gewinnen, deren Erweiterung und Neugestaltung mit Hilfe der ortho-
pädischen Chirurgie und dadurch die besondere Art des Unterrichts
in geeigneten Krüppelanstalten angestrebt wird. Der Verein will die er-
forderlichen Feststellungen und deren Bearbeitung auf eigene Kosten
ausführen lassen und bittet nur insofern um die Unterstützung der Behörden,
ab die von ihm zu liefernden Zählkarten und Beiblätter, von denen je
eine Abschrift beigefügt ist, durch die Ortspolizeibehörden bezw. unter
deren Aufsicht ausgefüllt werden möchten.
Derartige Erhebungen mit Hilfe der Ortspolizeibehörden sind bereits
vor einigen Jahren durch auf dem Gebiete der Krüppelfürsorge bewährte
Persönlichkeiten für den Umfang der Provinzen Schlesien, Sachsen,
Schleswig-Holstein und Rheinprovinz angeregt und durch die betreffenden
Herren Oberpräsidenten mit gutem Erfolge veranstaltet worden.
Bei der hohen sozialen Bedeutung einer geordneten Fürsorge für
die verkrüppelten Kinder erscheint es auch uns erwünscht, über die Zahl
und Eigenart der vorhandenen Krüppelkinder in Stadt und Land unterrichtet,
zu werden.
Eure Exzellenz ersuchen wir daher ergebenst, die vom deutschen
Zentralverein für Jugendfürsorge erbetenen Erhebungen gefälligst zu ver-
anlassen und die nachgeordneten Behörden mit entsprechender Weisung
zu versehen, indem wir dazu folgendes bemerken:
Der genannte Verein wird die überschlägig ermittelte Anzahl von
gedruckten Zählkarten nebst den Beiblättern für die Ortspolizeibehörden
an die Regierungspräsidenten unmittelbar einsenden, welche anzuweisen
sind, die für jeden Kreis festgestellte Zahl von Exemplaren nach dem
von dem Verein ebenfalls mitzuliefernden Ziffernverzeichnis an die Land-
rät c (Oberbürgermeister) mit dem Ersuchen zu übersenden, die Zähl-
karten und Beiblätter durch die Ortspolizeibehörden mit Hilfe der Ge-
meindevorsteher und Lehrer in den einzelnen Gemeinden am 10. Ok-
tober d. Js. ausfüllen zu lassen. Sollte die Zahl der übersandten Zähl-
karten nicht ausreichen, so sind weitere Exemplare direkt von dem
Bureau des Deutschen Zentral Vereins für Jugendfürsorge, Gruppe Krüppel-
fürsorge", Berlin S. 59, Hasenhaide 66, zu erfordern.
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Mitteüungen.
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Die ausgefüllten Zählkarten und Beiblätter sind sodann an die
Kreisärzte zur Nachprüfung und Aufstellung einer kurzgefaßten Ueber-
sicht für die Kreisarztakten zu übersenden. Die Kreisärzte haben die
Zählkarten nebst Beiblättern und einer Abschrift der Kreisübersicht durch
die Hand des Landrats (Oberbürgermeister) an die Regierungspräsidenten
und diese das Bezirksmaterial an mich, den mitunterzeichneten Minister
der Medizinalangelegenheiten, weiterzureichen.
Eure Exzellenz wollen hiernach das Erforderliche gefälligst veran-
lassen und dafür Sorge tragen, daß alle Zählkarten und Beiblätter am
15. November d. Js. hier eingegangen sind.
Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten.
I. V.: gez. Wever.
Der Minister des Innern.
I. V.: gez. Bischoffshausen.
Für jedes einzelne Krüppelkind wird je eine Zählkarte verwendet, deren
Vorderseite alle Personenangaben, deren Rückseite sehr eingehende Er-
läuterungen enthält.
Wortlaut der Zählkarte.
(Vorderseite.)
Zählkarte für das einzelne Krüppelkind.
(Erläuterungen auf der Rückseite.)
Zählung der Krüppelkinder am 10. Oktober 1906.
Diese Karte ist bis 15. Oktober 1906 zu senden an den Königlichen
Kreisarzt.
Bundesstaat :
Provinz, Kreishauptmannschaft pp. :
Kreis pp. : . . . Gemeinde :
1. Vor- und Zuname des Krüppelkindes:
2. Geboren am (Tag, Monat, Jahr):
Konfession :
3. Wo hält sich der Krüppel auf? (Genaue Adresse und Stand der
Eltern oder Pfleger): (Zutreffendes unterstreichen.)
In einer öffentlichen, privaten (Kranken- oder Pflege-) Anstalt ?
Ist er landarm?
4. Wer unterhält den Krüppel? .... ausreichend, kümmer-
lich ? (Zutreffendes unterstreichen.)
Außerdem noch private oder öffentliche Unterstützung? (Kirche,
Armenpflege.) (Zutreffendes unterstreichen.)
Wie hoch ist diese jährliche Beihilfe?
Erwirbt der Krüppel selbst mit? und wieviel jähr-
lich? Durch welche Tätigkeit? Betteln?
Schaustellung?
5. Betrifft die Verkrüppelung Kopf, rechte, linke Körperhälfte, Rumpf,
rechten, linken Arm, rechte, linke Hand, rechtes, linkes Bein, rechten,
linken Fuß? (Zutreffendes unterstreichen.)
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Mitteilungen.
Genaue Bezeichnung des krüppelhaftcn Leidens (möglichst im An-
schluß an die Krankheitsbezeichnungen in der Erläuterung).
Ist die Verkrüppelung angeboren oder später (in welchem Lebensjahr ?
) und wodurch entstanden?
6. Bestehen außer der Verkrüppelung noch epileptische Krämpfe oder
Muskelzuckungen oder dauernder Muskelkrampf? (Zutreffendes unter-
streichen.) Oder Lähmung einzelner und welcher Glieder?
oder Nervenschwäche? oder Taubstummheit, Blindheit?
(Zutreffendes unterstreichen.)
Sonstige chronische Krankheiten? welche?
7. Ist der Krüppel geistig gesund? oder gar hervor-
ragend befähigt? oder besteht sonst Schwachsinn, Blödsinn, Stumpfsinn,
Reizbarkeit, Neigung zu Böswilligkeit und Verbrechen?
(Zutreffendes unterstreichen.)
8. Hat der Krüppel Unterricht in einer VoHschule (Höhere Schule,
Volksschule) erhalten? oder Privatunterricht? oder in einer Schule für
Schwachbefähigte ? (Zutreffendes unterstreichen.)
Wie lange ? Welchem Alter eines geistig normalen Kindes
entspricht seine Schulbildung? Ist er noch gar nicht unter-
richtet? Warum nicht? Hat er Handfertigkeits-
Unterricht erhalten? welchen? Mit oder ohne
Erfolg?
9. Sind bei leiblichem Vater, Mutter, Schwester, Bruder, Großvater,
Großmutter, bei Blutsverwandten, Onkel, Tante, beobachtete Verkrüppe-
lungen r welche? Schwachsinn, Blödsinn, Epilepsie, Taub-
stummheit, Blindheit? (Zutreffendes unterstreichen.)
Sind die leiblichen Eltern miteinander blutsverwandt?
Wie?
10. Sind Heilungs versuche unternommen? Wann?
Von wem? (Adresse des Arztes) Wo?
Wie lange? Wodurch? Operation (an Knochen, Muskeln,
Sehnen?) Verbände (Gips, Streckverband, Korsetts, künstliche Glieder.
Schienenapparate.) Ist der Krüppel geheilt (soweit sein Leiden heilbar isü,
gebessert, ungeheilt, in Behandlung? (Zutreffendes unterstreichen.) Ist eine
Unterbringung in einem Krüppclheim erwünscht?
Unterschrift und Adresse des Auskunftgebers.
(Rückseite.)
Erläuterungen.
Infolge einer Verfügung der hohen Landesregierung soll eine Zählung
der im Staate vorhandenen jugendlichen Krüppel vorgenommen werden.
Krüppelkinder sind Kinder, welche infolge angeborener Fehler oder
durch Verlust, Verkrümmung oder Lähmung oder Muskelkrampf einzelner
Körperteile in der Bewegungs- und Gebrauchsfähigkeit ihrer Gliedmaßen
dauernd beeinträchtigt sind.
Gezählt werden nur Krüppelkinder, die am 10. Oktober 1906 das
15. Lebensjahr noch nicht erreicht haben. Als Gemeinde, in welcher das
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Krüppettrind gezählt wird, ist sein Aufenthaltsort maßgebend, nicht der
Wohnsiti der Familie, zu welcher es gehört.
Für jedes krüppelhafte Gebrechen gibt es eine ganz bestimmte Krank*
heitsbezeichnung. Um für die Statistik Einheitlichkeit in der Benennung
zu erzielen, ist es dringend wünschenswert, sich der in den nachstehenden
Bezeichnungen angewandten Ausdrucksweise zu bedienen.
Vor allem aber ist möglichste Genauigkeit und Ausführlichkeit un-
bedingt nötig. Es ist falsch, zu sagen: „Beinverkürzung wegen Knochen-
tuberkulose", sondern es muß z. B. heißen: „Verkürzung, Unbeweglich-
keit, falsche Stellung des linken Beins nach ausgeheilter Hüft gelenkt uber-
kulose".
Wo es ohne Mühe geschehen kann, ist die Beantwortung der Fragen
9 — Ii durch einen Arzt erwünscht.
Die häufigsten krüppelhaften Gebrechen sind:
1. Hochgradiger Schiefhals.
2. Hochgradige Verkrümmung des Brustkorbes nach Brust- und
Rippenfellentzündung.
3. Hochgradige Verkrümmung der Wirbelsäule, seitlich oder nach
hinten ohne Entzündungserscheinungen.
4. Tuberkulose der Wirbelsäule mit Buckelbildung (Spondylitis).
5. Angeborener Hochstand des Schulterblattes.
6. Angeborenes oder erworbenes Fehlen eines Gliedes oder eines
Gliedabschnittes (Arm, Vorderarm, Hand, Finger, Bein, Unterschenkel,
Fuß, Zehen.)
7. Verunstaltung der Glieder infolge von Knochenbrüchen, Verren-
kungen, Knochentuberkulose oder Knochenfraß.
8. Verkrümmung und. Schwäche der Glieder nach Muskelschwund
(Progressive Muskelatropie).
9. Folgezustände nach hochgradiger allgemeiner englischer Krank-
heit, besonders stark verunstaltende oder bewegungshemmende Knochen-
verkrümmungen. Rachitischer Zwergwuchs.
10. Ueberzählige Finger oder Zehen oder diesen ähnliche Gebilde,
welche den Gebrauch von Hand oder Fuß stark beeinträchtigen.
11. Angeborene oder nach Entzündung (besonders Tuberkulose) oder
Verletzung erworbene Versteifung oder Verwachsung eines oder vieler Ge-
lenke, gegebenenfalls mit Verkürzung oder falscher Stellung der Glieder.
13. Hochgradiges Schlottergelenk.
14. Angeborene oder erworbene hochgradige und starre Beugestellung
eines oder mehrerer Finger, gegebenenfalls auch Zehen (Hammerzehe,
Klumpzehe).
15. Angeborene oder erworbene starre Verwachsung einzelner Finger
oder Zehen.
16. Angeborenes Fehlen eines Vorderarmknochens (Klumphand).
17. Angeborene seitliche Verschiebung der Fingergelenke.
18. Angeborenes Fehlen der Kniescheibe.
19. Starke Ausbiegung des Knies nach hinten (Genu recurvatum).
20. Starkes X- oder O-Bcin.
21. Angeborenes Fehlen des Schienbeins (angeborener Klumpfuß).
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478
Mitteilungen.
■
22. Angeborenes Fehlen des Wadenbeins (angeborener Plattfuß).
23. Angeborener oder erworbener Klumpfuß ohne Fehlen eines Unter-
schenkelknochens.
24. Hochgradiger Spitzfuß, Hackenfuß, Plattfuß, Hohlfuß.
25. Wasserkopf.
26. Muskelunruhe (Athetose, Tic).
27. Krampf einzelner Muskeln.
28. Angeborene Gliederstarre (Littlcschc Krankheit).
29. Lähmung einzelner Muskeln.
30. Kinderlähmung (halbseitige — doppelseitige — der Arme — der
Beine — des Rückens).
Wortlaut des Beiblattes.
(Vorderseite.)
Beiblatt für die Ortspolizeibehörde.
Zählung der Krüppclkinder am 10. Oktober 1906.
Dieses Blatt mit der zugehörigen Karte ist bis 15. Oktober 1906 zu
senden an den Königlichen Kreisarzt.
A. Erläuterungen.
(Auch auf der Rückseite der Einzelkarte vorhanden.)
(Folgt derselbe Wortlaut wie auf der Rückseite der Einzclkartc.)
(Rückseite.)
B. Auskunft der Ortspolizeibehörde.
Im ganzen sind in der Gemeinde vorhanden:
Männliche Krüppelkinder
Weibliche Krüppelkinder .....
Zusammen
für welche die Einzelkarten ausgefüllt beigefügt werden
oder:
In der Gemeinde ist kein Krüppelkind vorhanden.
(Nicht Zutreffendes ist zu durchstreichen.)
(Ort und Datum):
Die Ortspolizeibehörde.
Unterschrift.
Man muß dem Zentralerem für Jugendfürsorge für seine Anregungen
und die Opfer, die er an Zeit und Geld bringen will, Dank wissen. Zwei-
fellos werden die Erhebungen im einzelnen auf Schwierigkeiten stoßen, aus
mangelnder Intelligenz unterer Beamten und aus Indolenz oder Mißtrauen
der Befragten. Ebenso zweifellos werden aber voraussichtlich die Aerzte
in Stadt und Land das Gelingen der Statistik unterstützen, sei es durch
direkte Mitwirkung bei den Erhebungen, sei es durch Aufklärung des
Publikums. (Med. Reform.)
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Mitteilungen.
479
Die schlechten Schüler und ihre verspätete Entwicklung.
Erich Witte weist in einer »ehr beachtenswerten Studie : „Die ersten
der Schule und die ersten des Lebens" darauf hin, daß diejenigen Männer,
welche im Leben zur größten Bedeutung gelangt sind, oft selbst in dem
Fache, das sie spater weit berühmt gemacht hat, als Schüler recht schlecht
waren, weil überhaupt die Leistungen des Lebens von denen der Schule
ganz unabhängig sind, und führt zum Beweise der Richtigkeit seiner Be-
hauptung eine große Zahl Namen von rühmlichem Klange an. Längst bekannt
ist, daß gerade die Genies, namentlich die musikalischen, einseitig sind,
d. h. sich mit ganz besonderer Beschränkung von frühster Jugend an auf
ein Fach geworfen hatten und daher für die meisten anderen Fächer nur
ein geringes Interesse zeigten. Witte bemerkt nun ganz richtig, daß Kennt-
nisse in fremden Sprachen und in Mathematik, wonach bei uns ein Schüler
hauptsächlich beurteilt wird, zwar die allgemeine Bildung zu erhöhen vermögen,
für die Gewinnung von Ansehen und Ruhm jedoch bei Gelehrten, Künstlern,
Dichtern, Politikern, Großindustriellen usw. fast ganz bedeutungslos sind.
Völlig verkehrt ist es daher, einen Schüler von tatsächlich genialer Veran-
lagung für ein Fach, die zu zeigen er auf der Schule noch keine Gelegen-
heit hatte, für beschränkt oder oberflächlich zu halten, denn schlechte
Zeugnisse sind oft ein Zeichen von Talent oder Genie, gute dagegen der
geistigen Minderwertigkeit. So sagt schon Lessing, daß es einem Genie,
selbst wenn es entwickelt ist, vergönnt sei, tausend Dinge nicht zu wissen,
die jeder Schulknabe weiß, und daß wir stehen und staunen und die
Hände zusammenschlagen und rufen: „Aber wie hat ein so großer Mann
nicht wisser können — überlegte er denn nicht 1 Laßt uns schweigen; wir
glauben ihn zu demütigen, und wir machen uns in seinen Augen lächerlich;
alles, was wir besser wissen als er, beweist bloß, daß wir fleißiger zur
Bchule gegangen sind als er, und das hatten wir leider nötig, wenn wir nicht
vollkommene Dummköpfe bleiben wollten."
Besonders interessant ist nun die Reihe der von Wite angeführten
ehemaligen schlechten Schüler, die später im Leben zu einer sehr hohen
Bedeutung gelangt sind. So leistete, wie er berichtet, Pestalozzi, der
Begründer der neueren Pädagogik, auf der Schule in allen Fächern, nament-
lich aber in der Rechtschreibung, sehr wenig und wurde wegen seiner geistigen
und körperlichen Schwerfälligkeit von seinen Mitschülern als Heinrich
Plumpsack verspottet. Eduard von Hartmann, der allerdings wegen
seiner vielseitigen Fähigkeiten immer regelmäßig versetzt wurde, erklärt in
seiner Lebensbeschreibung, daß er die Schule stets als eine drückende
Last empfunden habe. „Ich war indes," fährt er fort, „weit davon entfernt,
diese gleich meinen Kameraden reflexionslos und geduldig zu ertragen,
sondern rebellierte heftig gegen ein System des Unterrichts, der auf vielen
Punkten offenbar Zeitvergeudung, auf anderen Gebieten wieder die Bewälti-
gung eines Wissensstoffes verlangte, von dem ich damals nicht den geringsten
Nutzen ausfindig zu machen wußte und welche sogar solche empörenden
Dinge zumutete, wie das monatliche Auswendiglernen eines Kirchenlicdefe
in Prima. War ich schon immer halb faul aus Unlust an geistigen Dingen
und weil ich aus Erfahrung wußte, daß ich doch mit anderen Schritt hielt, so
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480
wurde ich von Obersekunda an ganz faul aus systematischer Rebellion gegen
den verhaßten Schulzwang und weil ich meine Mußezeit für das, was mir
am Herzen lag, völlig frei haben wollte. Gerhard Hauptmann ist
in Sexta und Quinta verschiedene Male sitzen geblieben und zuletzt aus
Quarta abgegangen ; Zola fiel zweimal im Bakkalaureatsexamen durch,
weil er in den neueren Sprachen und namentlich in der französischen Sprache
und Literatur, also gerade auf dem Gebiet, wo eT später ein so epoche-
machender Reformator wurde, nicht für reif galt.
Ganz besonders interessant dürfte folgende Tatsache sein. Ernst
von Wildenbruch schrieb an Witte, daß das gewöhnliche Urteil
unter seinen deutschen Aufsätzen auf mittelmäßig lautete, manchmal darunter,
darüber nie, er aber damit keinen nachträglichen Vorwurf gegen seine
Lehrer erheben wolle, da er in der Tat ein schlechter Schüler gewesen sei.
Die Erklärung dieser merkwürdigen Tatsache, fügt er hinzu, liege darin, daß
er einem Geschlechte angehöre, das mit seltenen Ausnahmen erst lange
Jahre später geboren werde, als es zur Welt komme. W i t e bemerkt auch
mit Recht, daß der in Eckermanns Gesprächen mit Goethe erwähnte
Karl Meyer im Alter von achtzehn Jahren hochbedeutsame, von Goethe
selbst bewunderte Gedichte schrieb, nachher aber auf diesem Gebiete ver-
sagte. Auch der erste Präsident Frankreichs, Thiers, war den größten
Teil seiner Schulzeit hindurch ein schlechter Schüler; es wird von ihm
mit Bestimmtheit erzählt, daß er seine Schulbücher zwecks Gewinnung von
Schusterpech verkaufte; dieses klebte er auf den Sitz des Lehrers, so daß
dieser nicht aufstehen konnte und die Klasse in ein schallendes Gelächter
ausbrach.
So kann man aus diesen Erscheinungen mit Bestimmtheit schließen,
daß, wie in der Natur, so auch im Menschenleben, das Große erst allmählich
heranreift, wie denn der Mensch, das vollkommenste lebende Wesen, in
seinen ersten Lebensjahren eine viel geringere Entwicklung als die Tiere
aufweist.
Freilich stammen diese Erscheinungen nicht aus dem zwanzigsten Jahr-
hundert, in dem unsere Pädagogik so glänzende Fortschritte gemacht hat,
ja noch täglich macht, und der Erzieher in jeder Unterrichtsstunde darauf
ausgeht, daß, wo möglich, alle Schüler regelmäßig ihre Ziele erreichen.
Das schließt aber auch jetzt noch keineswegs aus, daß selbst heute gerade
die genialsten Menschen oft die schlechtesten Schüler gewesen sind, weil
sie sich von Anfang an auf ein bestimmtes Fach konzentriert und alle ihre
freie Zeit darauf verwendet haben, denn „in der Beschränkung zeigt sich
erst der Meister".
Hettstedt. Löschhorn.
Schriftleitung: F. Kemsies. Weissensee, Königs- Chaussee 6, u. L. Hirschlatt, Berlin W ,
Bnbslnu-Krorstr. 6. — Verlag von Hermann Walther, Verlarwbuchhandlung-, Q. m. b. H., Berlin
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einem solchen Buche ausgesprochen; jetzt liegt es
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der Verfasser neuerdings auf sexuelle Fragen ein.
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ordentlich dankenswert.« Möchten recht viele Eltern
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9. Jahrgang. I1KW. Heft 6.
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I lOVI II III UNIV. OF AUCH.
far JAN J.C 1909
Pädagogische Psychologie,
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Albert Moll, Die forensische Bedeutung der modernen Forschungen
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Neter, ..Das einzige Kind und seine Erziehung."— Jfi. u. G. Soupin,
Bubis erste Kindheit — Niehusen, Musik für unsere Kleinen. — Förster,
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ßerfirkatcbtlraaa/ der elnsehtia-irreii Litera-
tur, sowohl der wissenschaftlichen wie
der belletristischen.
II. Kapitel : Raa nadFanktloa dertJeschleeht«-
orgaae : AuatotnibChc Unterschiede
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tieschletbtera, soweit die tioschlechti»-
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däre Gesehlechtscharakterc bei Kindern.
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fahrungen über Gesihlo<hli»uulerschieilu
in der Kindheit.
IV. Kapitel: Die eigeatllehe Symptomatologie
des (ieschlcrhtnlcbenS. Die verschiedenen
Arten, wie Bich da* Ge.schlochtslel.eu des
Kindes» äussert. Beispiele von Erschei-
nungen desUeschtachlstricbes in dcrKind-
heit. Ei*cktiou, Ejakulation. Die Sami-i<-
beßtandtfilc in der Kindheit Das Wol-
luslgcfühl. Undifferenzierte Richtung des
Gesclile<-htjitriet<Cb. LielH-sleideuschalten
von Kindern. Schamgefühl. Kiloisuchi..
< JescblechU* eikelir von Kindern. Onanie.
Pollutionen. Lifbca^pielti und Liclieslcl« u
h.'t jugendlichen Tiereu; ähnliche Er-
M.'heinuugeu beim .Meii>chen. Experi-
mentelle Beweise (Kastration.! für »las
«ieschluchtslehcn des Kindes. Zurück-
weisung der l'ebertreib'.mgeii Freuds und
anderer.
Y. Kapitel: DU- l'atboloirle de» tieartalechts-
loben» de« Kindes, l alle von Pollution
•im 1 Menstruation bei g.'iuz jungen, x. Ii.
/.wcijabrigeu Kindern. Paraduxin des
' icschlechtelriebe*. Wurzeln des Sadismus,
\l.tM)i'hi«mii8, Fetischismus, der Homo-
sexualität.
VI. Kapitel: letioloirie und Piaanoae de»
Sexualleben» de* Kindes Einlluss vou
iMsso, Klinw, GMollsch.ifiskbt.-^e, Stndt-
und Landleben. Familie, erbUcle-r Anlag»
usw. auf dus Geschlechtsleben de« Kindes.
;Der Autor betrachtet hier nicht nur die
europäischen Hassen, soudern auch die
Sexualität andorerVfdkor, z.B.dorEskimos
und Neger.,. Einfluss von Verftibrunc.
Kleidung, - Hautausschlägen, Alkohol.
Schwierigkeit der Feststellung Mxxueller
Erseliciniinvcn beim Kind. DifTorenzial-
diagnose. I liier tritt der Autor vielen ein •
ire wurzelten falschen Anschauungen
entgegen.) Warnung- <llzu le-icbt au*
Kindererlebnissen «uf Porver*ion zu
sehliessen.
VH.K.ij'.'- ;: Bedeutuna de» Gesrhlerkulebeae
de» Kindes« Zuweilen •■in Zeichen von
Krankhaftigkeit. Knigen de« kindlichen
Sex ii:i Huben*» für die Zukunft. Gefahren
der Onanie und des frühzeitigen Ge-
s< tili*bu> verkehr*. Gefahr für die Ent-
stehung vou Perversionen. Die Bedeutung
liir sexuelle Delikte.
VIII. KapiteJ: Des Kind «1» Objekt de» Senat-
triebe« aaderer. SittlichkeitBvcrbr\ k oheD
«in Kindern; sadistische Misshaudlungen.
IX. . Kapitel: Praktische Kehl«».ifolgeruagea.
Sexaelle Pädagcglk ul Therapie. Un-
möglichkeit, alle sexuellen Reize beim
Kinde auszuschalten. Hygiene des Körper»
'Ernährung, Spurt, Kleidungl. Entwicklunu
des Schamgefühls. Bedeutung des Ekel-
irefühls. tmtliiss deP Nackten. Gefahren
erotischer Schriften u.Bilder. Koedukation,
(tiemeinsanu- Erziehung beblerGeschlech-
ter > Jnu-rtiatc. Psychiücjje Hygiene: Ab-
lenkung. Ancfziebung von Willensstarke.
Wc'.kuiuf eittlicher Ideal«*. Verbindcrung
psychischer Infektion. Bedeutung der
•ifypnose, der Succrostion und der Breuer-
Freuds« hen psychoanalytischen Methode
Einlluss der religiösen Erziehung und der
Beichte. Sexuelle AutkiHrong in der
Schule und an Huus, ihre Uebertreibungi*o
uud Uire richtige Abgrenzung TJeber-
schlitzung der rationalistischen Erxiehung
Verhiltutig di>r Perversionen. Gefahren
<!"!• Z'ichti fingen.
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